und des
Verwaltungsrechts
mit Vergleichung der Literatur und Geſetzgebung von Frankreich,
England und Deutſchland.
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung.
1870.
[[II]]
Buchdruckerei der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung in Stuttgart.
[[III]]
Vorwort.
Ich übergebe mit dem vorliegenden Werke dem Publikum einen
wenigſtens formalen Abſchluß des Verſuches, die Verwaltungslehre
zu einer ſyſtematiſchen Wiſſenſchaft zu erheben. Der nächſte Grund,
der mich dazu bewog, war das Bedürfniß, den Vorleſungen über
Verwaltungslehre eine ausreichende Baſis zu geben. Das größere
Werk, welches ich vor zehn Jahren begonnen habe, iſt ſo um-
fangreich, daß es für das allgemeine Studium der Verwaltungs-
lehre ſich kaum eignet. Ich habe außerdem ſchon früher erklären
müſſen, daß es kaum in Eines Menſchen Kraft liegt, es in dem-
ſelben Umfange zu vollenden, in welchem es begonnen wurde. Ich
habe dennoch nie geglaubt, daß es, auch in dieſem Umfange,
wirklich ausreiche. Ich habe nur den Beweis zu liefern geſucht,
daß die poſitiven und praktiſchen Fragen der Verwaltung einer
höheren wiſſenſchaftlichen Behandlung fähig und werth ſind, und
ich würde mich glücklich ſchätzen, wenn ich dieſe Ueberzeugung auch
für andere gewonnen hätte. Jetzt kam es darauf an, in dem-
ſelben Geiſte die Umriſſe des Ganzen feſtzuſtellen. Es war die
Aufgabe des vorliegenden Werkes, dieſen Verſuch zu machen. Ich
übergebe ihn, obwohl ich ſeine Mängel und Unfertigkeiten ſehr
wohl erkenne, der Oeffentlichkeit. Ich wage das aber, weil ich
einen andern, weiter gehenden Gedanken ſchon hier vertreten zu
müſſen glaube. Und ſo vieler und tiefer Widerſpruch mir dabei
auch entgegen treten wird, ich ſtehe keinen Augenblick an, ihn
auszuſprechen.
Unſere ganze juriſtiſche Bildung an den deutſchen Hochſchulen
iſt ohne allen Zweifel durchaus hinter unſrer großen Gegenwart
zurück. Es gibt, ſo weit das geiſtige Auge reicht, keinen einzigen
[IV] Theil der Wiſſenſchaft, der ſeit fünfzig, ja eigentlich ſeit dreihundert
Jahren ſo ſtabil geweſen wäre, ja ſo wenig Fortſchritte gemacht
hätte, als die Rechtswiſſenſchaft. Im Großen und Ganzen gibt
es nur Einen Punkt, auf dem wir weiter gekommen ſind, und
das iſt die Rechtsgeſchichte der alten Zeit. Im Uebrigen ſtehen
wir da, wo im vorigen Jahrhundert Selchow und Runde, in
unſerem Makeldey und Wennig-Ingenheim ſtanden. Der
große Impuls, den der geniale Thibaut gegeben, iſt erfolglos
geblieben. Doch das iſt nicht die Hauptſache, weil es nur die
Conſequenz der Hauptſache iſt. Die aber beſteht in der ſehr ernſten
Thatſache, daß wir, mitten in einem Leben, das nach allen Seiten
hin ſeine Blüthen einer neuen Zukunft entgegen treibt, mit unſerem
ganzen juriſtiſchen Bewußtſein weſentlich noch im Corpus Juris
und den Pandekten ſtecken. Es iſt faſt unglaublich, daß faſt an
allen deutſchen Univerſitäten das Maß der Kenntniß des römiſchen
Rechts als das Maß der juriſtiſchen Bildung gilt; daß die Pan-
dekten die Hauptſache des Studiums ſind, daß das römiſche Recht
die Literatur beherrſcht, und daß man alles, was ihm nicht ange-
hört, als Sache zweiter Ordnung betrachtet. Und wenn man für
das römiſche Recht noch irgend eine Vorſtellung von der Grenz-
beſtimmung deſſen hätte, was aus ihm gilt und nicht gilt, oder
eine Vorſtellung von ſeinem Verhältniß zum deutſchen Privatrecht,
oder eine Vorſtellung von der Geſchichte eben dieſes römiſchen
Rechts ſeit den letzten zwei Jahrhunderten! Iſt es nicht wunder-
bar, daß unſre jungen Männer mehr wiſſen von Atilius und
Plautius, von Ulpian und Hermogenian, als von Leyſer,
Stryk, Pothier, Merlin, Blackſtone und andern Männern,
auf deren Schultern unſere Rechtsbildung ſteht? Iſt es nicht
wunderbar, daß es die erſte Aufgabe jedes deutſchen Juriſten iſt,
ſich mit Servius Tullius und den zwölf Tafeln auf möglichſt
guten Fuß zu ſetzen, daß man die Weisthümer, Bannrechte und
Regalien, die eben ſo wenig jetzt noch exiſtiren wie das Edictum
perpetuum, genau kennen muß, daß aber in ganz Deutſchland
keine einzige Univerſität und keine einzige Vorleſung
exiſtiren, wo der junge Mann auch nur die gegen-
wärtige Civilgeſetzgebung eben dieſes ganzen Deutſch-
lands kennen lernen könnte. Deutſchlands gegenwärtiges
[V] Recht exiſtirt auf den deutſchen Rechtsfakultäten nicht; an der
Stelle des deutſchen Rechts ſteht das Pandektenweſen, an der Stelle
der organiſchen Auffaſſung deſſelben die Caſuiſtik, und das was
die deutſchen Juriſten zu einem Ganzen macht — die Quelle des
deutſchen Rechtsbewußtſeins, der deutſchen einheitlichen Rechts-
bildung iſt — das Recht der Römer, von dem drei Viertel abſolut
unbrauchbar für uns ſind, und wo man bei dem letzten Viertel
nicht mehr weiß, was noch für uns einen Werth haben kann, was
nicht. Daß dabei von einem Verſtändniß der franzöſiſchen und
engliſchen Rechtsbildung keine Rede iſt, iſt in einem Volke natür-
lich leicht klar, wo der Preuße nicht lernt, was in Sachſen, der
Sachſe nicht was in Bayern, der Bayer nicht was in Württem-
berg und keiner von ihnen was in Oeſterreich gilt. Und während
dieſe Leute ſitzen und ihre Antiquitäten tradiren, geht das gewal-
tige Leben unſrer Zeit über ſie hinweg, verbindet die Völker und
Länder, läßt nirgends eine Abſonderung und Abgeſchloſſenheit zu;
jeder junge Geſchäftsmann ſucht Frankreich und England, jeder
Techniker weiß Beſcheid von der Oſtſee bis zum Mittelmeer, aber
der Juriſt, an ſeine Pandekten gekettet, ward erzogen und gegängelt
von der Vorſtellung, daß er neben dieſen Pandekten nicht einmal
die Kenntniß der in ſeinem Vaterlande geltenden Geſetzbücher,
geſchweige denn der Rechtsbildung und der Literatur unſeres Jahr-
hunderts bedürfe, um ein „tüchtiger“ Juriſt zu ſein. Während
in dieſem ſich ſelbſt in hundert Commiſſionen prüfenden und teſti-
renden Volke hundertmal an Einem Tage die Frage nach der lex
Aquilia oder Rhodia vorkommt — wir fragen, ob auch nur ein
einzigesmal ſeit hundert Jahren in Preußen bei einem Examen eine
Frage nach dem bayriſchen oder öſterreichiſchen Landrecht vorge-
kommen, oder nach irgend einem nichtpreußiſchen Recht dieſſeits
oder jenſeits der Mainlinie oder umgekehrt? Und dann fragt
man noch, weßhalb die Franzoſen uns in der Weiſe achten und
behandeln, wie man etwas Unverſtändliches behandelt?
Und dennoch iſt das nur Eine Seite der Sache. Die zweite
nicht weniger ernſte iſt die, welche ſich dem öffentlichen Leben und
ſeinem Recht zuwendet. Und hier wieder wollen wir nicht vom
eigentlichen Staatsrecht reden. Es iſt ein eigenes Ding mit dem
Staatsrecht unſerer Zeit, vor allem mit dem deutſchen Staatsrecht,
[VI] und viele Gründe erklären, weßhalb man daſſelbe in ſeinen einzelnen
poſitiven Beſtimmungen für unwichtig erklären muß; denn das
poſitive Recht wechſelt und die Principien ſtehen nicht feſt. Allein
ein anderes iſt gewiß. Das, was ſich namentlich in Deutſchland
am ſtärkſten entwickelt, iſt das Syſtem und der Organismus der
Selbſtverwaltung, mit ihr der beſtändige Drang, die Aufgaben
der Verwaltung der alten Bureaukratie zu entziehen. Um das zu
können, muß man Eins, man muß nicht bloß das Recht, man
muß auch die Fähigkeit haben zu verwalten. Dieſe Fähigkeit hat
aber ihre Vorausſetzungen, wie jede andere. Sie fordert Arbeit
und Kenntniſſe. Und eben deßhalb, wo immer die Selbſtverwaltung
auftritt, wendet ſie ſich zunächſt an die, denen man in öffentlichen
Dingen die meiſten Kenntniſſe zutraut. Das aber ſind die Rechts-
kundigen aller Art. Und was haben die Rechtskundigen gelernt?
Von welchen Geſichtspunkten gehen ſie aus? Was iſt die Baſis
ihrer Kenntniſſe? Wir bedauern, ſagen zu müſſen, daß die Bil-
dung für das öffentliche Leben in Deutſchland für die meiſten Fach-
juriſten mitten in der gewaltigen Zeit, in der wir ſtehen, ſich nach
wie vor weſentlich auf jenes römiſche Recht, auf Inſtitutionen und
Pandekten beſchränkt, von denen nicht einmal das Verhältniß zum
übrigen poſitiven bürgerlichen Recht klar iſt. Mit dem römiſchen
Recht ausgerüſtet, tritt der Fachjuriſt in die Gemeindevertretung,
in den Kreis und Landtag, in den Reichs- und Bundestag. Hier
aber handelt es ſich um etwas anderes als um Titus und Sem-
pronius; hier treten die praktiſchen Fragen des öffentlichen Lebens
auf; hier iſt es das Gemeindeweſen, das Gewerbe, das Vereins-
weſen, die Wege, Brücken, die Grundbücher, das Geſundheits-
weſen und hundert andere Dinge, welche eine verſtändige Erledigung
fordern, eine Erledigung, von der nicht etwa ein Beweisinterlocut
oder ein Endurtheil im Proceß zwiſchen jenem Titus und Sem-
pronius, ſondern das Wohl und Wehe vieler Menſchen, ja ganzer
Körper und Staaten abhängen. Und was hilft ihm hier der Geiſt
des römiſchen Rechts, den er anruft, wo das Wort ihn im Stiche
läßt, und den er nicht zu beherrſchen weiß, wenn er erſcheint?
Was nützen ihm Inſtitutionen und Pandekten, die ja nicht einmal
ein lateiniſches Wort für die Hauptbegriffe haben, um die es ſich
handelt? Kann jemand die Gemeinde, das Gewerbe, die Geſundheits-
[VII] pflege, das Heimathsweſen, das Grundbuchsweſen, das Wegeweſen,
die Poſt und hundert andere Dinge auch nur ins Lateiniſche über-
ſetzen? Kann ihm daher eine Disciplin, welche für die Haupt-
verhältniſſe unſrer Zeit gar keinen Namen hat, helfen, wenn
ihn das Volk wählt, weil es meint, er müſſe verſtändliche Sachen
verſtehen, da er ja unverſtändliche verſtehe. Kann er ſelbſt das
Gefühl haben, im öffentlichen Leben etwas zu leiſten, wenn er nie
gelernt hat, ſich mit demſelben geiſtig zu beſchäftigen? Kann er
zufrieden ſein mit einer Fachbildung, deren Schwerpunkt in hiſto-
riſcher und caſuiſtiſcher Doktrin beſteht, und die in Geſchichte und
Syſtem da aufhört, wo unſere Zeit anfängt, mit dem weſtphäli-
ſchen Frieden? Und was iſt die Folge davon, daß er das nicht
kann, und daß er an ſeinen Univerſitäten alles lernt, nur nicht
das, was er am nöthigſten braucht, das wirkliche Leben der menſch-
lichen Gemeinſchaft und ſeine Anſtalten und Bedürfniſſe? Die
erſte Folge davon iſt die, unter der wir alle leiden, die „Phraſe.“
Deutſchland, das Land der tiefen Denker und der exakten Gram-
matiker, iſt das Land der politiſchen Phraſe wie kein anderes der
Welt; das Land, in welchem die Phraſe um der Phraſe willen
geſagt wird; das Land, in welchem die eine Hälfte der öffentlichen
Stimmen die andere ermüdet durch ewig neues Suchen nach Worten,
die zu vieles bedeuten, um etwas zu gelten; das Land, in dem
man redet, weil man wenig zu ſagen hat. Die zweite Folge aber
iſt die, daß in allen Volks- und Reichsvertretungen die gebildeten
Fachjuriſten allmählig ganz verſchwinden, daß die glatte Journa-
liſtik ſtatt ihrer in der Tagespreſſe, der Geſchäftsmann und der
Bürger ſtatt ihrer in den Vertretungen das Wort nimmt. Die
wichtigſte Thatſache unſerer Gegenwart und auch unſerer nächſten
Zukunft iſt die, daß unſere heutige Jurisprudenz vollkommen un-
fähig iſt, Männer des öffentlichen Lebens, deutſche Staatsmänner
zu erzeugen; der Grund davon iſt, daß auf den Hochſchulen die
Pandekten Hauptſache und die Staatswiſſenſchaften Nebenſache ſind;
und nicht weil wir gelehrt ſind, ſondern weil wir auf einem
verkehrten Punkte gelehrt ſind, ſtehen wir zurück hinter
den Engländern und Franzoſen, denen wir überlegen ſind in allem,
was alle anderen angeht, die uns aber überragen in allem, was
das Verſtändniß der eigenen praktiſchen Intereſſen betrifft. So
[VIII] lange unſere juriſtiſchen Fakultäten ihre gegenwärtige Geſtalt und
Ordnung behalten, werden wir mit allen Reichs-, Landes- und
Gemeindeverfaſſungen ewig regiert werden, ſtatt zu regieren; ſo
lange die Pandekten zu viel bedeuten an den deutſchen Univerſitäten,
werden die Deutſchen zu wenig bedeuten in Europa.
Darum nun, um der kommenden Zeit mit ihrem ſtaats-
männiſchen Inhalt vorzuarbeiten, ſo weit die geringen Kräfte eines
Einzelnen gehen, habe ich verſucht, das Handbuch der Inſtitutionen
des Verwaltungsrechts auszuarbeiten, der Zeit in Treue harrend,
wo das öffentliche Recht dieſelbe Stelle an den Univerſitäten ein-
nehmen wird, welche das öffentliche Leben allmählig im deutſchen
Volke einnimmt, und wo man ſeine Studien nicht eher für abſol-
virt halten wird, bis man neben den Pandekten Tribonians auch
die der Verwaltung, ihres Organismus, ihrer Geſchichte und ihrer
großen Aufgaben ſich eigen gemacht hat. Es iſt eine andere Frage,
wie ſich das in der Oekonomie der Studienzeit dann geſtalten
wird; wir behandeln ſie ſeiner Zeit an einem andern Ort. Wir
wären aber ſtolz darauf, wenn dieſe Erſtlingsarbeit auf dieſem
Gebiete den Anſtoß zur ernſteren Erwägung über die Einrichtung
der Fachbildung für das öffentliche Rechtsleben geben würde.
Wien, Juni 1870.
Dr. Lorenz von Stein.
[[IX]]
Inhalt.
Die Innere Verwaltung.
Einleitung.
Der organiſche Staatsbegriff.
- Seite
- I. Der Staat und ſeine organiſchen Grundbegriffe 4
- II. Der organiſche Begriff und Inhalt der Verwaltung 7
- III. Begriff, Geſchichte und Vergleichung des Verwaltungsrechts 10
- Die vollziehende Gewalt.
Begriff und Weſen.
Allgemeiner Theil.
I. Die Vollzugsgewalten und die Staatsgewalt 14 - II. Die organiſchen Grundformen der vollziehenden Gewalt 15
- III. Das Recht der Vollzugsgewalt und ſeine Entwicklung zum verfaſſungs-
mäßigen Verwaltungsrecht 16 - Beſonderer Theil.
A. Die Regierung und das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht 19 - I. Begriff und Organismus der Regierung. Das Staatsoberhaupt
und die Regierung im eigentlichen Sinne 19 - II. Die Funktion der Regierung 21
- III. Das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht 22
- B. Die Selbſtverwaltung 25
- I. Begriff und Organismus 25
- II. Die Funktion der Selbſtverwaltung 28
- III. Das Rechtsſyſtem der Verwaltung 29
- C. Das Vereinsweſen 32
- I. Begriff und Syſtem 32
- II. Die Vereinsarten als Funktionen des Vereins 34
- III. Das Syſtem des Vereinsrechts 37
[X]
Die Innere Verwaltung.
Allgemeiner Theil.
- Seite
- Begriff und Idee derſelben 43
- Das Princip der inneren Verwaltung 44
- Das innere Verwaltungsrecht 45
- Elemente der Geſchichte der Verwaltung und ihres Rechts 46
- Die nationale Geſtalt des inneren Verwaltungsrechts und die vergleichende
Rechtswiſſenſchaft 51 - Das Syſtem der inneren Verwaltung.
Erſter Theil.
Die innere Verwaltung und das perſönliche Leben.
A. Die Verwaltung und das phyſiſche Leben56 - I. Das Bevölkerungsweſen57
- Begriff und Syſtem 57
- A. Die Statiſtik und das Zählungsweſen 58
- I. Der Begriff der adminiſtrativen Statiſtik. (Die Lehre von der
Wiſſenſchaft der Thatſachen) 58 - II. Das Zählungsweſen 60
- B. Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung 63
- Begriff und Weſen 63
- I. Die öffentlich-rechtliche Bevölkerungsordnung 64
- Begriff 64
- a) Die adminiſtrative Competenz und Zuſtändigkeit 65
- b) Competenz und Zuſtändigkeit in der Selbſtverwaltung. Ge-
meindeangehörigkeit und Heimathsrecht 66 - II. Die Standesregiſter 68
- III. Das Paß- und Fremdenweſen 70
- C. Die Bevölkerungspolitik 73
- I. Das öffentliche Eherecht 73
- II. Das Einwanderungsweſen 76
- III. Das Auswanderungsweſen 78
- II. Das öffentliche Geſundheitsweſen81
- Begriff 81
- Entwicklung der Geſetzgebung und der Organiſation des Geſundheits-
weſens bis zur Gegenwart 83 - A. Das Sanitätsweſen 85
- Begriff 85
- I. Die Sanitätspolizei 85
- a) Die Seuchenpolizei 86
- b) Die Geſundheitspolizei 87
- Seite
- II. Die Geſundheitspflege 88
- B. Das Heilweſen (Medicinalweſen) 90
- I. Der Heilungsberuf 90
- a) Die Aerzte und ihr Berufsrecht 90
- b) Das Apothekerweſen 92
- c) Hebammenweſen 92
- d) Heildiener 93
- II. Die Heilanſtalten 93
- a) Hoſpitäler und Armenärzte 93
- b) Das Irrenweſen 94
- c) Gebär- und Ammenanſtalten 94
- d) Geſundbäder 95
- III. Das Polizeiweſen95
- Hiſtoriſche Grundlage 95
- Begriff und Elemente des Syſtems 97
- A. Die Sicherheitspolizei 99
- Begriff und Rechtsprincip 99
- I. Die höhere Sicherheitspolizei 100
- II. Die Einzelpolizei 102
- B. Die Verwaltungspolizei 103
- I. Begriff und Syſtem 103
- II. Rechtsprincip. Die Polizeiſtrafgeſetze 104
- IV. Das Pflegſchaftsweſen106
- B. Die Verwaltung und das geiſtige Leben. (Das Bildungsweſen) 107
- Begriff und Bildung des Bildungsweſens 107
- Geſchichtliche Epochen des Bildungsweſens 109
- Das neunzehnte Jahrhundert und ſein Bildungsweſen 112
- 1) Das Syſtem des Bildungsweſens 112
- 2) Das Recht und die Geſetzgebung des Bildungsweſens 113
- 3) Principien des Organismus des Bildungsweſens 114
- Charakter des Bildungsweſens in England, Frankreich und Deutſchland 116
- A. Das Elementar- oder Volksſchulweſen 117
- Begriff und Elemente der Geſchichte 117
- Syſtem des Volksſchulweſens 119
- I. Die Schulordnung 119
- II. Das Lehrerweſen 121
- III. Die Schulverwaltung 121
- a) Organismus der Volksſchulverwaltung 122
- b) Die Gemeinde und die Schullaſt 123
- c) Das Privatſchulweſen 124
- B. Das Berufsbildungsweſen 125
- Begriff und Princip 125
- Elemente der Geſchichte 126
- Seite
- Das Syſtem des Berufsbildungsweſens 129
- a) Die gelehrte Berufsbildung 129
- b) Die wirthſchaftliche Berufsbildung 130
- c) Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen 130
- Das Berufsbildungsrecht 131
- a) Die Lehrordnung 132
- b) Das Prüfungsſyſtem 133
- C. Die allgemeine Bildung 134
- Weſen und Syſtem derſelben 134
- I. Die Sittenpolizei 135
- II. Die Bildungsanſtalten 136
- III. Die Preſſe 136
- Zweiter Theil.
Die Verwaltung und das wirthſchaftliche Leben.
Begriff und Weſen 140 - Die geſchichtliche Entwicklung derſelben 141
- Die Elemente des Syſtems und des Organismus derſelben 142
- Allgemeiner Theil. Elemente des Syſtems 144
- Erſtes Gebiet. Die Entwährung 144
- Weſen und Syſtem 144
- I. Die Entlaſtungen 145
- II. Die Enteignung 148
- III. Das Staatsnothrecht 150
- Zweites Gebiet. Die Verwaltung und die Elemente 150
- Begriff und Weſen 150
- I. Die Feuerpolizei 151
- Weſen. Elemente der hiſtoriſchen Entwicklung 151
- Syſtem der Feuerpolizei 152
- II. Das Waſſerrecht 153
- Begriff und Syſtem 153
- Elemente der Geſchichte des Waſſerrechts 154
- A. Das Privatwaſſerrecht 157
- B. Das öffentliche Waſſerrecht 159
- Begriff und Weſen 159
- a) Der Waſſerſchutz und Waſſerbau 160
- b) Die Waſſerverſorgung 161
- c) Die Waſſertriebkraft 161
- d) Die Waſſerverkehrswege 162
- e) Das Waſſerrecht der Landwirthſchaft 163
- III. Das Schadenverſicherungsweſen 165
- Begriff und hiſtoriſche Entwicklung 165
- A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt 169
- Seite
- B. Grundlagen des öffentlichen Rechts des Verſicherungsweſens 170
- I. Der Verſicherungsvertrag 171
- II. Die Verſicherungsverwaltung 171
- Drittes Gebiet. Das Verkehrsweſen 173
- Begriff 173
- I. Die Elemente des Syſtems 174
- II. Das Princip des Verkehrsweſens und ſeine hiſtoriſche Entwick-
lung aus der Regalität 175 - III. Das öffentliche und das bürgerliche Verwaltungsrecht des Ver-
kehrsweſens 177 - Erſter Theil. Die Verkehrsmittel und die Verwaltung 178
- I. Das Wege- und Bauweſen 178
- Begriff und Syſtem 178
- A. Das Landwegeweſen 179
- Elemente ſeiner Rechtsgeſchichte 179
- Das Syſtem des Wege- und Bauweſens und ſeines Rechts 182
- a) Das öffentliche Bauweſen 182
- b) Das eigentliche Wegeweſen 184
- 1) Die Organiſation 184
- 2) Die Wegeordnung 184
- 3) Die Wegelaſt 185
- B. Waſſerwege 186
- II. Das Schifffahrtsweſen 188
- Begriff und Elemente der Geſchichte 188
- A. Seerecht. Weſen und Gebiete 191
- B. Die Schifffahrtsverwaltung in Schutz und Förderung 192
- Zweiter Theil. Die Verkehrsanſtalten. Begriff und Weſen der drei
Grundformen 194 - I. Das Poſtweſen 197
- Natur ſeiner Funktion und Elemente ſeiner Geſchichte 197
- A. Die Poſtverwaltung 200
- 1) Organismus der Poſtverwaltung 200
- 2) Organiſation des Betriebes 202
- 3) Das Portoſyſtem 203
- B. Das Poſtrecht 205
- Begriff 205
- Syſtem des Poſtrechts. Zwangsrecht, Poſtpflicht, Poſtſtrafrecht,
Poſtnothrecht 206 - II. Das Eiſenbahnweſen 208
- Natur ſeiner Funktion 208
- Die rechtsbildenden Elemente des Eiſenbahnweſens 209
- Die Elemente der Geſchichte des Bahnweſens 210
- Syſtem 211
- Seite
- 1) Organiſation des Bahnweſens 214
- 2) Conceſſionsrecht der Eiſenbahnen 215
- 3) Betriebsrecht 217
- 4) Verkehrsrecht 219
- III. Oeffentliche Dampfſchifffahrt 221
- IV. Das Telegraphenweſen 222
- Dritter Theil. Das Umlaufsweſen. Begriff und Inhalt 224
- A. Der Güterumlauf. Maß- und Gewichtsweſen 225
- B. Der Werthumlauf. Das Geldweſen 229
- Begriff und Inhalt 229
- I. Das Münzweſen 231
- II. Das Währungsweſen 236
- III. Das Papiergeldweſen 239
- IV. Das Inhaberpapier 242
- Vierter Theil. Das Creditweſen. Begriff und Weſen des Credits 244
- Das wirthſchaftliche und das öffentliche Creditweſen 246
- a) Der Organismus des wirthſchaftlichen Creditweſens 246
- b) Princip und Organe des öffentlichen Creditweſens 247
- c) Elemente der Geſchichte der Organiſation des Credits 250
- A. Perſonal-Creditweſen 252
- a) Der Darlehenscredit und die Zins- und Wuchergeſetze 253
- b) Der Pfandcredit, die Pfand- und Leihhäuſer 257
- B. Das Real-Creditweſen 259
- Begriff 259
- I. Das Grundbuchsweſen 260
- Unterſchied vom Pfandrecht 260
- Princip und Begriff des Grundbuchsweſens 261
- Elemente der Geſchichte des Grundbuchsweſens 262
- Syſtem 266
- 1) Organismus der Grundbuchsverwaltung 266
- 2) Grundbuchs-Ordnung 267
- 3) Die Grundbuchsführung 269
- 4) Das Grundbuchsrecht 272
- a) Die Priorität 273
- b) Die Specialität 274
- c) Die Legalität 274
- d) Publicität 276
- II. Die Realcredit-Anſtalten 277
- Begriff und Weſen 277
- Der Realcredit-Verein 279
- a) Princip und Syſtem deſſelben 279
- b) Die Arten der Realcredit-Vereine 281
- c) Oeffentliches Recht der Realcredit-Vereine 283
- Seite
- C. Der Geſchäftscredit 284
- Wirthſchaftlicher Begriff 284
- Das Princip des Verwaltungsrechts des Geſchäftscredits 285
- Die drei Grundformen des Geſchäftscredits: der Zahlungs-, Unter-
nehmungs und Vorſchußcredit 286 - I. Der Zahlungscredit und ſeine öffentlich-rechtliche Ordnung 288
- 1) Der kaufmänniſche Credit und die Handelsbücher 288
- 2) Das Zahlungsweſen der Bankhäuſer und das Wechſelrecht 288
- 3) Das Vereinsweſen des Zahlungscredits. Das Bankweſen 290
- Begriff und Rechtsprincip 290
- a) Das Bankweſen als Organismus des reinen Zahlungs-
credits. Volkswirthſchaftliche Funktion der Notenbank 291 - b) Das öffentliche Recht des Bankweſens 294
- II. Der Unternehmungscredit und ſein öffentliches Recht 300
- Wirthſchaftliche Funktion 300
- 1) Das Geſellſchaftsweſen des Unternehmungscredits und die
Handelsgeſetzbücher 301 - 2) Der organiſche Unternehmungscredit und die Creditanſtalten 303
- III. Der Vorſchußcredit und die geſellſchaftlichen Creditvereine 309
- Wirthſchaftliche und geſellſchaftliche Funktion 309
- Beſonderer Theil der Volkswirthſchaftspflege311
- Begriff deſſelben und Princip ſeiner Verwaltung 311
- Elemente der Rechtsgeſchichte des beſondern Theils der volkswirthſchaft-
lichen Verwaltung 312 - I. Das Bergweſen und ſein öffentliches Recht 314
- Begriff und Princip 314
- Elemente der Geſchichte des Bergweſens 315
- Syſtem des Bergrechts 317
- II. Das Forſtweſen 319
- Begriff und Princip 319
- Elemente der Geſchichte des Forſtweſens 321
- Syſtem des Forſtrechts 322
- Jagdrecht 325
- Fiſchereiordnung 327
- III. Die Landwirthſchaftspflege 327
- Princip derſelben 327
- Elemente der Geſchichte 330
- Syſtem der Landwirthſchaftspflege 332
- 1) Die Organiſation 332
- 2) Eigentliche Landwirthſchaftspflege 333
- a) Allgemeiner Theil 333
- b) Beſonderer Theil 338
- IV. Das Gewerbeweſen 339
- Begriff und Princip 339
- Seite
- Elemente der Geſchichte des Gewerberechts 341
- Syſtem des Gewerberechts 344
- a) Organiſation des Gewerbeweſens 344
- b) Allgemeine Gewerbspflege 346
- c) Gewerberecht 347
- I. Die Gewerbeordnung 347
- II. Die Gewerbegerichte 348
- III. Die Gewerbepolizei 349
- IV. Einzelne Gewerbeordnungen und ihre Polizei 350
- V. Die Induſtrie und die Verwaltung 351
- Begriff und Princip 351
- Elemente der Geſchichte 352
- Syſtem des Induſtrieweſens 354
- 1) Organiſation 355
- 2) Allgemeine Verwaltung 356
- 3) Beſonderer Theil 357
- I. Erwerbsgeſellſchaften 357
- II. Die Arbeiterordnung 358
- VI. Der Handel und die Verwaltung 363
- Begriff 363
- Elemente der Geſchichte 364
- Syſtem der Handelsverwaltung 368
- 1) Eigentliche Handelspflege 369
- A. Organismus des Handels 369
- B. Handelsverträge 370
- C. Das Zollweſen 371
- 2) Das Handelsrecht 376
- Begriff, Princip und Inhalt 376
- Handelsrecht und Gericht 377
- 3) Einzelne Handelszweige 379
- VII. Der geiſtige Erwerb 382
- Begriff und Princip. Das Werthrecht der geiſtigen Produkte 382
- 1) Das literariſche Eigenthum und das Nachdrucksrecht 384
- 2) Das Recht der Erfindungen. Begriff und Princip 388
- a) Das Patentrecht 389
- b) Muſter- und Markenſchutz 391
- Dritter Theil.
Die Verwaltung und das geſellſchaftliche Leben.
Das geſellſchaftliche Leben 393 - Elemente der Geſellſchaftslehre 393
- Begriff der Geſellſchaft 393
- Das Geſellſchaftsrecht 396
- Seite
- Die beiden Principien in der Geſchichte der Geſellſchaft 398
- Die geſellſchaftliche Verwaltung 400
- Die Principien derſelben 400
- Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung 401
- Erſter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Freiheit 402
- Begriff und Princip 402
- A. Die Familie und das Geſindeweſen 403
- B. Das Geſchlechterrecht 405
- Begriff und Inhalt 405
- Das Geſchlechtererbrecht und die Majorate 408
- C. Das Berufsrecht 410
- Zweiter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Noth 411
- Begriff und Princip 411
- Syſtem und Elemente der Geſchäfte 413
- I. Geſellſchaftliche Polizei der Noth 414
- a) Die Theurungspolizei 414
- b) Bettelpolizei und Arbeitshäuſer 417
- II. Das Armenweſen 419
- Armuth und Armenweſen 419
- Elemente der Geſchichte des Armenweſens 421
- A. Armenverwaltung 425
- Organiſation derſelben 425
- B. Das Armenrecht 430
- C. Das Syſtem der Armenpflege 432
- 1) Die Armenkinderpflege 432
- a) Waiſenpflege 432
- b) Findelkinder 433
- c) Krippen und Warteſchulen 434
- d) Armenſchul- und Armenerziehungsweſen 435
- 2) Das Armenkrankenweſen 436
- a) Hoſpitäler, Taubſtummen-, Blinden- und Irrenan-
ſtalten 436 - b) Armenkrankenpflege 437
- 3) Die eigentliche Armenunterſtützung 437
- a) Die Armenbetheilung 438
- b) Verſorgungshäuſer 439
- Dritter Theil. Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Entwicklung 439
- Begriff der ſocialen Frage 439
- Elemente der Geſchichte der ſocialen Verwaltung 442
- Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung 444
- I. Das Hülfskaſſenweſen. Funktion derſelben 446
- a) Pfand- und Leihanſtalten 446
- b) Die Sparkaſſen 447
- Seite
- II. Das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen (Prévoyance mutuelle,
Friendly societies) 449 - III. Die Selbſthülfe und ihr Vereinsweſen 453
- Princip 453
- Syſtem 454
- a) Arbeitervereine 454
- b) Arbeiterverbindungen 456
Einleitung.
Begriff der Inneren Verwaltung
und der
Vollziehenden Gewalt.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 1
[[2]][[3]]
Die Innere Verwaltung.
Einleitung.
Je weiter die Geſittung unſerer Zeit fortſchreitet, um ſo klarer
wird die Bedeutung des Satzes, daß wir im Weſentlichen die Epoche
der Verfaſſungsbildung überwunden haben, und daß der Schwerpunkt
der weiteren Entwicklung in der Verwaltung liegt. Nicht als ob
die Verfaſſung dadurch ihre Bedeutung verlöre, ſondern weil wir durch
die Verfaſſung zur Verwaltung gelangen.
Es ſcheint daher eine der großen Aufgaben der nächſten Zukunft
zu ſein, dieſe Verwaltung nicht bloß auszubilden, ſondern ſie mit ihren
Principien und ihren Gebieten zu einem inwohnenden, ſtets lebendigen
Theile des öffentlichen Lebens zu machen. Während man bisher ge-
fordert hat, daß jeder Staatsbürger ein Bewußtſein von der Verfaſſung
ſeines Staats haben müſſe, werden wir in Zukunft ſagen, daß die
wahre Berechtigung zur Theilnahme am öffentlichen Leben mindeſtens
eben ſo ſehr in einem klaren Bewußtſein von der Verwaltung,
ihren Grundſätzen, ihren Aufgaben und ihrem Recht liegt. Das wird
zwar nur langſam ein Theil der öffentlichen Meinung werden, aber
unſere Zeit lebt raſch und arbeitet unaufhaltſam vorwärts.
So behaupten wir denn, daß es keine fertige ſtaatliche Bildung
gibt, wenn ſie nicht die Lehre von der Verwaltung mit gleichem Recht
neben die der Verfaſſung ſtellt. Ja wir behaupten, daß die Verwal-
tungslehre die Pandekten der Staatswiſſenſchaft ſind, und für dieſe
Pandekten ſoll das vorliegende Syſtem die Stelle der Inſtitutionen
vertreten.
Allein ſoll das erreicht werden, ſo muß man für die Verwaltung
anerkennen, was für alle Theile der menſchlichen Erkenntniß gilt. Der
Theil empfängt ſein Weſen und ſein Verſtändniß durch das Ganze.
Dieß Ganze iſt der lebendige Staat, wie er ſich mit ſeinen abſolut
organiſchen Elementen durch die großen Faktoren von Land und Volk,
[4] Wirthſchaft und Geſellſchaft zu ſeinen hundertfach verſchiedenen indivi-
duellen Geſtaltungen hiſtoriſch ausgebildet hat. Die künftige Verwal-
tungslehre wird dieſe Grundlage vorausſetzen können, wenn man ſich
darüber einig geworden ſein wird; wir können es bis jetzt noch nicht.
Die Inſtitutionen des Verwaltungsrechts werden daher nothwendig die
erſten Elemente der Lehre vom Staat mit in ſich aufnehmen müſſen,
um die erſte Bedingung richtigen Verſtändniſſes, den organiſchen Zu-
ſammenhang mit dem Ganzen des Staatslebens auf jedem Punkte in
lebendigem Bewußtſein auf ſich zu nehmen. So wird ſie die Wahrheit
auch des Satzes beweiſen, daß zuletzt ſtets der Beweis für die Richtig-
keit des Einzelnen nicht in ihm, ſondern in ſeinem Zuſammenhange
mit dem Ganzen beſteht.
Das große Verbindungsglied zwiſchen der Idee des Staats und
der Verwaltung überhaupt, im beſondern der innern Verwaltung, iſt
nun der Begriff und der Inhalt der vollziehenden Gewalt. Sie
iſt der große ſelbſtändige Organismus, durch welchen die Grundſätze
der Verfaſſung in die Verwaltung übergehen. Denn in jedem
Punkte der Verwaltung erzeugt die Verfaſſung das Geſetz derſelben, die
vollziehende Gewalt aber ihre Ausführung. So tritt uns in Verfaſſung,
Vollziehung und Verwaltung der lebendige Staat entgegen. Und dieß
darzulegen, iſt die Aufgabe dieſer Inſtitutionen des Verwaltungsrechts.
Wir dürfen eine Bemerkung vorauf ſenden. Nachdem in der zweiten
Auflage der vollziehenden Gewalt (3. Bd.) der Stoff mit ziemlicher Reichhaltig-
keit gegeben iſt und die erſten Gebiete der inneren Verwaltung (Bd. 2 bis 7)
ausführlich behandelt ſind, ſo haben wir die vollziehende Gewalt nur in ganz
kurzer Ueberſicht hier mit aufgenommen, und die erſten Gebiete der Verwaltung
gleichfalls in möglichſter Gedrängtheit dargeſtellt. Das Mißverhältniß zwiſchen
den ſpätern noch nicht ausführlich behandelten und jenen erſten Theilen dürfte
dadurch erklärt und motivirt erſcheinen.
Der organiſche Staatsbegriff.
I. Der Staat und ſeine organiſchen Grundbegriffe.
Die Gemeinſchaft der Einzelnen iſt ein durch das Weſen der ein-
zelnen Perſönlichkeit ſelbſt gegebenes Moment derſelben. Als ſolches,
nicht durch den Willen und die Willkür, ſondern durch den Begriff
der Einzelnen ſelbſt geſetztes Leben wird ſie ſelbſt zur Perſönlichkeit.
Und dieſe zur ſelbſtändigen, ſelbſtbewußten und ſelbſtthätigen Perſön-
lichkeit erhobene Gemeinſchaft iſt der Staat.
[5]
Als Perſönlichkeit beſitzt er die Elemente alles perſönlichen Daſeins.
Er iſt zuerſt ein thatſächliches Daſein; als ſolches beſteht er aus Körper
und Seele. Er iſt aber zweitens ein ſelbſtbeſtimmtes Weſen. Seine
Selbſtbeſtimmung beruht daher auf den drei Elementen, welche den
Inhalt derſelben überhaupt bilden. Er hat ſein Ich, ſeinen bewußten
Willen und ſeine That. Er iſt aber darum die höhere Form der Per-
ſönlichkeit, weil in ihm dieſe drei Elemente zu ſelbſtändigen, von ein-
ander geſchieden erkennbaren und wirkenden Organismen werden.
Auf der Scheidung dieſer Organismen beruht ihre ſelbſtändige
Funktion. Jeder derſelben hat ſeine Aufgabe. Das Zuſammenwirken
derſelben bildet das, was wir das Staatsleben nennen. Ein geord-
netes Staatsleben iſt dasjenige, in welchem jedes Organ nur ſeine
Funktionen vollzieht. Unorganiſch wird daſſelbe, wenn ein Organ die
Funktion des andern übernimmt. Der Staat hat daher ſeine Geſund-
heit und ſeine Krankheit. Verſtändlich werden beide erſt durch den
organiſchen Staatsbegriff. Dieſer aber iſt nichts anderes, als die Auf-
löſung des Begriffs der Perſönlichkeit und ſeines Inhalts. Klar wird
dieſe Auflöſung, ſo wie wir jene Elemente mit dem Namen bezeichnen,
den ſie im Staate haben.
Der Körper des Staats iſt das Land. Die Verſchiedenheit des
Landes iſt eben ſo wichtig für den Staat, wie die Verſchiedenheit des
Körpers für den Menſchen. Die Beſchreibung des Landes iſt die Geo-
graphie; die höhere Auffaſſung des Landes würde die Phyſiologie des
Staatslebens ergeben.
Die Seele des Staates iſt ſein Volk. Die Beſchreibung des
Volkes iſt die Ethnographie. Die Völkerlehre faßt die Beſonderheit
des Volkes vom höheren Standpunkt als ſtaatbildenden Faktor auf.
Sie kann nur mit dem geiſtigen Auge erſchaut werden.
In Land und Volk hat der Staat ſeine Individualität. Beide
wirken beſtändig, aber gegenſeitig auf einander ein. Das Verſtändniß
dieſer gegenſeitigen Einwirkung bildet den Beginn und die Grundlage
alles Verſtändniſſes der Entwicklung und Geſtalt des Staats. Aus
ihrer nie ruhenden Wechſelwirkung entſteht das, was wir das natür-
liche Leben des Staats nennen. Eine ſolche individuelle Geſtalt
ſeines natürlichen Lebens hat jeder Staat. Man kann durch daſſelbe
nicht alles, aber ohne daſſelbe im wirklichen Staat nichts vollſtändig
erklären und verſtehen.
Dieſem natürlichen ſteht das perſönliche Leben des Staats
gegenüber.
Sein erſtes Organ iſt das Staatsoberhaupt. Seine Funktion
iſt es, die perſönliche Einheit aller Momente des Staats darzuſtellen
[6] und in einem perſönlichen Daſein und Willen zu vertreten. Es iſt das
Ich des Staats. Es kann kein Staat ohne ein ſolches ſelbſtändiges
Oberhaupt ſein; denn in ihm iſt der Punkt gegeben, in welchem das
Leben des Staats, ſich über alle Beſonderheit und alle Intereſſen er-
hebend, ſeine höchſte perſönliche Einheit fühlt und zur Geltung bringt.
Das zweite Organ iſt das des Staatswillens.
Wie der Staat an ſich zuerſt die Einheit einzelner Perſönlichkeiten
iſt, ſo kann der Staatswille auch zuerſt der rein perſönliche Wille des
Staatsoberhaupts ſein. Allein da jede einzelne Perſönlichkeit zugleich
ihrem Weſen nach ſelbſtbeſtimmt iſt, ſo iſt der Wille des Staats ſo
lange ein unorganiſcher, als dieß Moment der individuellen Selbſt-
beſtimmung nicht in den Staatswillen aufgenommen iſt. Die Aner-
kennung dieſer Selbſtbeſtimmung des Einzelnen innerhalb der Einheit
des Staats nennen wir die Freiheit. Der Staatswille iſt daher erſt
dann ein organiſcher, wenn er ein freier iſt. Die Aufnahme der indi-
viduellen Selbſtbeſtimmung in den perſönlichen Willen des Staats
fordert einen Organismus, und die Bildung des einheitlichen Willens
aus der Selbſtbeſtimmung aller Einzelnen iſt nothwendig ein Proceß.
Jenen Organismus demnach, der vermöge dieſes Proceſſes den freien
Staatswillen bildet, nennen wir die Verfaſſung. Einen Staats-
willen hat jeder Staat; aber zum freien Staatswillen gelangt er erſt
nach einer langen, unter den härteſten Entwicklungskämpfen vor ſich
gehenden Arbeit der Geſchichte. Dieſer Entwicklungskampf iſt die Ge-
ſchichte der Freiheit; die Erkenntniß, daß auch hier große Geſetze
walten, und das Verſtändniß dieſer Geſetze bildet die Wiſſenſchaft
dieſer Geſchichte.
Das dritte Organ iſt das der That des Staats.
Die That des Staats entſteht, indem der in der Verfaſſung
organiſch gebildete Wille deſſelben ſich in den thatſächlichen Lebensver-
hältniſſen verwirklicht. Dieſe nun ſind in Land und Volk, Wirthſchaft
und Geſellſchaft verſchieden und ewig wechſelnd. Der Wille des Staats
dagegen iſt wie jeder Wille, eine Einheit. Zwiſchen dieſen beiden
großen Faktoren, der Beſonderheit des thatſächlichen Daſeins, das den
Staat erfüllt, und der Einheit ſeines Willens, welche jene beherrſcht,
beſteht daher ein beſtändiger, nie ruhender Kampf, in welchem ſich
gegenſeitig beide Elemente im Dienſte der höchſten Idee der perſönlichen
Entwicklung mit oder ohne Bewußtſein gegenſeitig erfüllen, erſetzen
und der Zukunft entgegendrängen. Und dieſer wunderbare Proceß des
Werdens, dieſe hö[ch]ſte Form des Kampfes zwiſchen Natur und Perſön-
lichkeit, iſt das Leben des Staats. Sein Verſtändniß aber, auf das
organiſche Verſtändniß der einzelnen ihn beſtimmenden Faktoren zurück-
[7] geführt, iſt die Geſchichte. Nur die Menſchheit hat in ihrem Staate
eine Geſchichte, denn nur für das perſönliche, nicht für das natürliche
Daſein gibt es eine Zeit, wie es nur für ſie ein Maß gibt. Das
alles nun aber gilt nicht bloß für den Staat im Ganzen, ſondern
zugleich — und das iſt der Reichthum des menſchlichen Lebens — für
jeden einzelnen Theil deſſelben. Der Theil, von dem hier die Rede
iſt, iſt die Verwaltung.
II. Der organiſche Begriff und Inhalt der Verwaltung.
Die Verwaltung iſt daher, ihrem allgemeinen Begriffe nach, das-
jenige Gebiet des organiſchen Staatslebens, in welchem der Wille des
perſönlichen Staats durch die That der dazu beſtimmten Organe in
den natürlichen und perſönlichen Lebenselementen des Staats verwirk-
licht wird. Wie die Geſetzgebung der wollende, ſo iſt die Verwal-
tung der thätige Staat.
In dieſem Sinne entwickelt der Begriff der Verwaltung ſeine
beiden Seiten. Er iſt, wie jede That, zuerſt ein formaler, ſyſte-
matiſch darzulegender Organismus, und dann das, was wir einen
organiſchen Faktor des Lebens der Staaten nennen.
A.Das formale Syſtem der Verwaltung. Es iſt das
höhere Weſen des Staats, daß in ihm die, ungeſchieden in der Einzel-
perſönlichkeit liegenden Elemente als ſelbſtändige Organe zur Erſcheinung
gelangen. So ſcheidet ſich denn in der Verwaltung die That an ſich
von der wirklichen Thätigkeit, das iſt die Vollziehung und die
eigentliche Verwaltung.
1) Die vollziehende Gewalt. Alle Verwaltung iſt nämlich
zuerſt die ſelbſtändig gedachte Funktion der Verwirklichung oder Aus-
führung an ſich, noch ohne Rückſicht auf alle die Modifikationen, welche
durch die ſpezielle Aufgabe der Ausführung in der wirklichen praktiſchen
Thätigkeit entſtehen. Dieſe Funktion erſcheint äußerlich als ein zur
Ausführung beſtimmter Organismus; innerlich enthält ſie die Bedin-
gungen der Ausführung, d. h. das Recht auf alles, ohne welches die
Ausführung nicht möglich iſt. Dieſe ſelbſtändig geſetzte, mit eigenem
Organ und eigenem Recht verſehene Funktion der Ausführung des
Staatswillens iſt die Vollziehende Gewalt.
2) Die wirkliche Verwaltung im weiteſten Sinne. — Der
Inhalt der wirklichen Verwaltung entſteht, indem wir zweitens die
großen, gleichfalls ſelbſtändig gedachten Lebensgebiete des Staats,
welche wir als ſelbſtändige Aufgaben ſowohl für die Geſetzgebung als
für die Vollziehung, die Verwaltungsgebiete (und nach ihren
[8] Verwaltungsorganen des verfaſſungsmäßigen Staates die Miniſterien)
nennen, für ſich betrachten.
Aus dem Weſen des Staats ergibt es ſich, daß ſich dieſe Ver-
waltungsgebiete in zwei Gruppen theilen. Die erſte bezieht ſich auf
die Verhältniſſe des einzelnen Staats zu andern Staaten; die zweite
auf ſeine innern Lebensverhältniſſe.
Aus dem Verhältniß zu andern Staaten geht zunächſt die Auf-
gabe hervor, den friedlichen Verkehr mit denſelben zu regeln. Dieſer
Verkehr iſt entweder ein Verkehr der Staaten als einheitlicher Perſön-
lichkeiten, oder ein Verkehr der einzelnen Staatsangehörigen unter-
einander. Die Verwaltung der erſteren nennen wir die Verwaltung
(Miniſterium) der auswärtigen Angelegenheiten, die der zweiten
iſt das Conſulatweſen.
Die Selbſtändigkeit, Ehre und Macht des einzelnen Staates gegen-
über dem andern iſt der Gegenſtand der Verwaltung der bewaffneten
Macht (des Kriegsminiſteriums).
Das Recht beider Verwaltungsgebiete iſt das Völkerrecht; die
Wiſſenſchaft des erſteren iſt die Staatskunſt (Politik), die des zweiten
die Kriegswiſſenſchaft.
In den innern Lebensverhältniſſen iſt der erſte Gegenſtand der
Verwaltung das wirthſchaftliche Leben des Staats, das wir nach ſeinem
Haupttheile die Finanzen, und ihre Verwaltung die Finanzverwal-
tung (Finanzminiſterium) nennen. Die Geſammtheit der dafür geltenden
Beſtimmungen bildet das Finanzrecht; die Grundſätze, nach welchen
dieſe Verwaltung vorzugehen hat, lehrt die Finanzwiſſenſchaft.
Der zweite Gegenſtand iſt die Erhaltung der Unverletzlichkeit der
einzelnen Perſönlichkeit im Verkehr mit der andern, oder die Verwirk-
lichung des Privatrechts. Die Geſammtheit der dafür geltenden Be-
ſtimmungen enthalten das bürgerliche und das Strafrecht. Die
Geſammtheit der Regeln, nach welchen die Verwaltung beider Rechts-
gebiete vollzogen wird, bildet das Recht des (bürgerlichen und Straf-)
Proceſſes; die Wiſſenſchaft deſſelben iſt die Rechtswiſſenſchaft;
die wirkliche Verwaltung iſt die Rechtspflege (Juſtizminiſterium).
Das dritte Gebiet des inneren Lebens beruht nun darauf, daß
der wirkliche Staat eben in der Geſammtheit ſeiner Angehörigen beſteht,
und daß daher der Grad der ganzen perſönlichen Entwicklung jedes
Einzelnen zugleich zum Grad und Inhalt der Entwicklung des Staates
ſelber wird. Damit wird dann dieſer Fortſchritt jedes Einzelnen zu
einer weſentlichen Aufgabe des Ganzen; die darauf bezügliche Thätig-
keit des Staats nennen wir die innere Verwaltung, das für
dieſelbe geltende Recht das innere Verwaltungsrecht, die Grundſätze,
[9] nach denen ſie vorzugehen hat, ſind die Verwaltungslehre, und
der Organismus heißt im Allgemeinen die Verwaltung des Innern.
3) Auf dieſe Weiſe ergibt ſich nun, daß wie die That an ſich
allen einzelnen Thätigkeiten mit ihren organiſchen Grundverhältniſſen
zum Grunde liegt, ſo auch die vollziehende Gewalt allen Gebieten der
Verwaltung in ihren Principien gleichmäßig angehört, weßhalb wir
auch ſagen, daß die vollziehende Gewalt durch alle Miniſterien ge-
bildet wird. Die Lehre von der vollziehenden Gewalt iſt daher nicht
etwa der allgemeine Theil der inneren Verwaltung, ſondern der allge-
meine Theil der Verwaltung überhaupt. Wir ſenden ſie aber
ſpeziell der inneren Verwaltung voraus, theils weil überhaupt noch
eine Darſtellung derſelben mangelt, theils aber weil ſie allerdings erſt
in der inneren Verwaltung ihre volle Entwicklung enthält, und auf
dieſen Elementen beruht der formale Inhalt des Folgenden.
B.Das organiſche Weſen der Verwaltung. Das nun,
was wir das organiſche Weſen der Verwaltung nennen, iſt das Ver-
hältniß der letzteren zu dem perſönlichen Willen des Staats, dem
Geſetze, den ſie zu verwirklichen beſtimmt iſt. Kein perſönliches Leben
vermag mit ſeinem einzelnen beſtimmten Willen ſein ganzes Weſen
zum Ausdruck zu bringen. In der wirklichen That erſt geſtaltet ſich
der ganze Inhalt ſeines Lebens. Wo ſich daher dieſe That von dem
Willen ſelbſtändig ſcheidet, wie in der Verwaltung die That des
Staats, da ſcheidet ſich auch das Leben ſelbſt in zwei große Funk-
tionen, die ſelbſtthätig neben einander ſtehen. Es kann nicht ge-
nügen, daß die Verwaltung bloß den beſtimmten einzelnen Willen des
Staats einſeitig ausführe; ſie muß vielmehr, indem ſie das wirkliche
Daſein auf allen Punkten in ſich aufnimmt, die Geſetzgebung erfüllen
und zum Theil erſetzen. Sie iſt daher nicht ein bloß der Geſetzgebung
untergeordnetes Gebiet, ſondern ſie hat vielmehr mit der Geſetzgebung
zugleich das allgemeine Weſen des Staats zum Ausdruck
und zur Geltung zu bringen. Das iſt ihre höhere in keinem
einzelnen Punkte erſchöpfte Bedeutung und dieſe kehrt uns in jedem
Gebiete ſowohl der vollziehenden Gewalt und ihres Organismus, als
der Verwaltung und ihrer einzelnen Aufgaben, am meiſten gerade in
der inneren Verwaltung, wieder. In dieſem Geiſte muß die Verwal-
tungslehre arbeiten; dadurch iſt ſie jeder höheren Entwicklung unfähig,
ſo lange ſie ſich nicht eben dieſes Weſen des Staats zur klaren An-
ſchauung bringt, und jeden ihrer Theile damit durchdringt; und erſt
in dieſem Sinne iſt ſie das wichtigſte und mächtigſte Gebiet nicht
etwa der poſitiven Kenntniß der beſtehenden Ordnungen, ſondern ſie
iſt die praktiſche Vollendung der Staatswiſſenſchaft.
[10]
III. Begriff, Geſchichte und Vergleichung des Verwaltungsrechts.
Während nun ſomit der organiſche Begriff des Staats ſich aus
dem Weſen deſſelben entwickelt, enthält das Recht die zweite Grund-
form des Daſeins der letzteren. Es iſt deßhalb nothwendig, zu wiſſen,
was eigentlich das Recht des Staats überhaupt, und das Recht der
Verwaltung im Beſondern bedeuten.
A.Begriff und Elemente des öffentlichen Rechts, wie
des Verwaltungsrechts im Beſondern. Das Recht iſt formell
die unverletzliche Gränze eines perſönlichen Daſeins gegenüber dem an-
dern. Es beruht darauf, daß die Perſönlichkeit ihr eigenes Weſen
zur äußeren Erſcheinung bringt; die Selbſtbeſtimmung der Perſönlich-
keit an ſich wird damit zur Unverletzlichkeit ihrer Erſcheinung für an-
dere. Will ich daher erkennen, was durch das Recht geſchützt iſt, ſo
muß ich fragen, was durch die Perſönlichkeit geworden iſt. Das Recht
alſo, indem es für jeden Theil und jede Bethätigung dieſes werdenden
Lebens der Perſönlichkeit gilt, enthält die concrete Geſtalt dieſes Le-
bens der letzteren, und zwar nicht mehr als einen philoſophiſchen Ge-
danken, ſondern als eine objektive Thatſache für den Andern. Erſt in
dem Rechte iſt die eine Perſönlichkeit für die andere als Ganzes und
in ihren einzelnen Lebensverhältniſſen als ſolche vorhanden.
Daraus folgt, daß jedes Recht nur für die wirkliche Perſönlichkeit,
nicht für die Natur und auch nicht für den Geiſt da iſt. Es folgt
ferner, daß der Inhalt je des beſtimmten Rechts ſtets ein dem Weſen
der Perſönlichkeit entſpringendes Verhältniß ſein muß; denn nur das
Perſönliche kann die einzelne Perſönlichkeit begränzen. Es folgt mit-
hin endlich, daß, wenn ich das Recht begreifen will, ich daſſelbe in
ſeiner Quelle, dem perſönlichen Leben begreifen muß. Bleibt das Recht
bei der Kenntniß ſeiner einzelnen Sätze ſtehen, ſo entſteht die Rechts-
kunde. Erhebt es ſich dazu, dieſe einzelnen Rechtsſätze als organiſche
Folgen des Weſens der Perſönlichkeit zu erkennen, ſo entſteht die
Rechtswiſſenſchaft.
Der Staat nun iſt die perſönliche Einheit aller einzelnen Perſön-
lichkeiten. Als ſolche muß er die Selbſtändigkeit der letzteren beſtim-
men. Dadurch entſteht eine Gränze für beide, aus dem Weſen beider
entſpringend, welche das ganze Staatsleben durchdringt, weil es eben
aus der Einheit und Selbſtändigkeit aller in ihm entſpringt. Und die
Geſammtheit aller daraus folgenden Rechtsſätze nennen wir das öffent-
liche Recht, im Gegenſatze zum Privatrecht, das aus den Berüh-
rungen des Einzelnen mit dem Einzelnen entſpringt. Das öffentliche
[11] Recht enthält daher die Geſammtheit der Begränzungen der Einzelnen
durch ihre Einheit mit der Perſönlichkeit des Staats.
Da nun der Staat ein organiſches Weſen iſt, ſo folgt, daß jedes
ſeiner organiſchen Elemente wieder ſein eigenes Recht hat.
So entſteht der Begriff des Syſtems des öffentlichen Rechts,
das wir das Staatsrecht nennen, indem es das Recht der Perſön-
lichkeit des Staats iſt. Das Staatsrecht enthält daher das Recht des
Staatsoberhaupts, das Recht der Verfaſſung und das Recht der Ver-
waltung, und innerhalb des letzteren das Recht der vollziehenden Ge-
walt und der eigentlichen Verwaltung. Und auch hier wieder iſt es
klar, daß die Rechtskunde die Kenntniß der poſitiv beſtehenden Rechts-
normen iſt, während die Rechtswiſſenſchaft dieſelben aus dem Weſen
des Staats entwickelt. Die Wiſſenſchaft des Verwaltungs-
rechts zeigt daher das Recht der Verwaltung im weiteſten Sinne als
Conſequenz und Bedingung der Funktionen, welche wir die Verwaltung
nennen; die Wiſſenſchaft des Verwaltungsrechts iſt daher keine ſelb-
ſtändige Wiſſenſchaft, ſondern das Correlat der Verwaltungslehre —
die Verwaltung als rechtlich anerkannte Thatſache neben der Verwaltung
als organiſche Funktion. Dieß ſind die formalen Grundbegriffe des
Rechtsſyſtems; und es ergibt ſich ſomit, daß es kein eigenes Rechts-
ſyſtem der Verwaltung geben kann, ſondern daß das Rechtsſyſtem der-
ſelben mit ihrem organiſchen Syſtem identiſch iſt und ſein muß.
B.Die Elemente der Rechtsgeſchichte. Das Eine, was bei
dieſer Auffaſſung ungelöst bleibt, iſt nun die Frage nach dem Wechſel
des Rechts. Der allgemeine Begriff des Werdens aller Perſönlichkeit,
alſo auch des Staats, erklärt zwar die Verſchiedenheit, nicht aber den
Inhalt deſſelben. Von allen Gebieten des Rechts wechſelt aber das
Verwaltungsrecht am meiſten. Hier am wenigſten reichen daher Rechts-
kunde und Rechtswiſſenſchaft aus. Erſt die zur Wiſſenſchaft erhobene
Geſchichte des Rechts gibt das Verſtändniß dieſes zum Theil höchſt
intereſſanten Wechſels von Erſcheinungen, welche das ganze Leben der
Rechtsbildung in der Verwaltung durchdringen.
Die Grundlage dieſer Wiſſenſchaft, die hier vorausgeſetzt werden
muß, iſt nun die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft.
Die Geſellſchaft hat drei große Grundformen, die ſich in der ganzen
Welt wiederholen, oft in der wechſelndſten Weiſe verbunden und ver-
mengt ſind, oft in den ſtärkſten Kämpfen einander entgegentreten.
Die erſte dieſer Formen iſt die Geſchlechterordnung, deren Lebens-
princip die Einheit der Menſchen unter einander auf Grundlage der
gemeinſamen Abſtammung iſt; die zweite iſt die ſtändiſche Ordnung,
in welcher die Gemeinſchaft des Berufes die Grundlage und der Zweck
[12] der Einheit iſt. Die dritte iſt die ſtaatsbürgerliche Ordnung,
deren Princip die Gleichheit und Freiheit des Einzelnen innerhalb der
Einheit iſt.
Jede dieſer Geſellſchaftsordnungen erzeugt nun eine ihr angehörige
Geſtalt des Lebens aller Menſchen; mit dieſer Geſtalt auch das ihr
entſprechende Recht; jede Geſellſchaftsordnung hat daher das ihrem
Weſen entſprechende Staatsrecht, das iſt ihr Recht des Oberhaupts,
ihre Verfaſſung und ihre Verwaltung, wie es andererſeits nicht minder
feſtſteht, daß jede Geſellſchaftsordnung auch ihr Privatrecht erzeugt.
Die Geſchichte der Geſellſchaft wird damit zur Grundlage auch der Ge-
ſchichte der Verwaltung und ihres Rechts, und der leitende Grundſatz
für die Entwicklung der Rechtsgeſchichte der Verwaltung iſt daher der,
daß alles poſitive Recht der letzteren auf die herrſchende Geſellſchafts-
ordnung, aller Wechſel und alles Werden des Rechts auf den Kampf
und die Entwicklung derſelben zurückgeführt werden muß. Dieſer Kampf
oder dieſer Lebensproceß der Geſellſchaft aber, oder das Werden der
einen Ordnung aus der andern, beruht wieder auf dem Zuſammen-
wirken dreier großer Faktoren.
Der erſte dieſer drei Faktoren iſt der arbeitende Geiſt ſelbſt, deſſen
Ergebniſſe uns als die Rechtsphiloſophie erſcheinen. Der zweite
iſt die Natur des gewerblichen Beſitzes. Der dritte iſt die zum
Bewußtſein ihres Weſens gelangende Idee des Staats; die Perſön-
lichkeit des Staats, die erkennt, daß das Maß und die Kraft ihrer
Entwicklung in dem Maß und der Kraft der Entwicklung aller der
Einzelnen gegeben iſt, welche eben die Gemeinſchaft bilden. So ent-
ſteht in jedem Rechtsgebiet im Staate im Allgemeinen, aber zugleich
in jedem Verwaltungsgebiet im Beſondern ein Leben, in welchem die
Idee des Rechts — das Gerechte, το δικαιον — mit dem poſitiven,
durch die beſtehende Geſellſchaftsordnung geſetzen Rechte kämpft, und
ſich gegenüber den geſellſchaftlichen Ordnungen ihre Anerkennung und
Geltung zu erzwingen ſucht. Dieſe Bewegung iſt der größte
organiſche Proceß, den die Welt kennt. Es iſt der Entwick-
lungsproceß, in welchem der Geiſt ſich durch ſeine eigene Arbeit zur
Herrſchaft über das thatſächliche Daſein erhebt. Das iſt das wahre
und ewige Leben der Erde, und die Geſchichte dieſes gewaltigen, alle
vergangenen Jahrtauſende umfaſſenden und alle kommenden erfüllenden
Proceſſes iſt die Weltgeſchichte. Und indem die Verwaltungslehre
dieſe höchſten Geſichtspunkte in ſich verarbeitet, wird ſie das, was ſie
ſein ſoll, nicht ein beſchränktes Gebiet der praktiſchen Bildung, ſondern
eine beſtimmte Geſtalt der höchſten Wiſſenſchaft des menſchlichen Lebens
überhaupt. Und erſt darin wird ſie ihre Vollendung finden.
[13]
C. Dem vergleichenden Verwaltungsrecht liegt nun die
Thatſache zu Grunde, daß jedes Volk und Land jene großen Elemente
der poſitiven Rechtsbildung in ſeiner Weiſe beſitzt und entwickelt, und
dadurch der Verwaltung im Ganzen und den einzelnen Gebieten der-
ſelben ihre nationale und ſtaatliche Individualität gibt. Erſt in dieſer
individuellen Verſchiedenheit des an ſich Gleichen erſcheint der wahre,
unerſchöpfliche Reichthum des Lebens der Welt, und wir können unbe-
dingt ſagen, daß derſelbe nirgends größer iſt, als gerade auf dem Ge-
biete der Verwaltung und ihres Rechts. Das vergleichende Verwal-
tungsrecht enthält nun zuerſt die formale Vergleichung, als ver-
gleichende Rechtskunde, in dem bloßen Nebeneinanderſtellen der geltenden
Verſchiedenheiten, das ſeinerſeits nur den Werth hat, das Material
für die wahre Vergleichung zu bieten. Dieſe oder die organiſche
Vergleichung iſt die Darſtellung der poſitiven Verſchiedenheiten des gel-
tenden Rechts der Verwaltung als Ausdruck und Conſequenz
des Charakters und Lebens des Volkes, für welche es gilt und durch
welche es gebildet iſt. Ihre Grundlage iſt das Studium der wirth-
ſchaftlichen, geſellſchaftlichen und politiſchen Zuſtände des Landes einer-
ſeits und des Volkscharakters andererſeits; ihre Vollendung iſt das
organiſche und lebendige Bild des innern Staatslebens
Europas. Die Hauptformen deſſelben ſind und bleiben die drei großen
Culturvölker unſeres Welttheils, England, Frankreich und Deutſchland
mit ihrer tiefen Gleichartigkeit in den Elementen und ihrer oft ſchlagen-
den Verſchiedenheit in der wirklichen Geſtalt ihres Rechts — Englands,
wo das rechtlich freie und gleiche Individuum die Gewalt der Regie-
rung zu wenig; Frankreichs, wo der Glanz der centralen Staatsent-
wicklung der Regierung zu viel Gewalt gegeben hat, und Deutſchlands,
das, mit ſeinen ſelbſtändigen Staaten und Stämmen eine Welt für
ſich, in der Wiſſenſchaft die Harmonie zwiſchen beiden Grundformen
geſucht und in der Geſetzgebung ſie zum Theil auch gefunden hat.
Die übrigen Völker reihen ſich mehr oder weniger klar an dieſe Grund-
formen an; es mag daher im Beginne der Wiſſenſchaft genügen, die
Vergleichung bei jenen drei Hauptvölkern ſtehen zu laſſen. Und damit
ſind dann die Elemente des Folgenden angedeutet, welches auf Grund-
lage des wiſſenſchaftlichen Syſtems die Geſchichte und das poſitive Recht
der Verwaltung darlegen und vergleichen wird, zuerſt für die voll-
ziehende Gewalt und dann für das Syſtem der inneren Ver-
waltung.
[[14]]
Die vollziehende Gewalt.
Begriff und Weſen.
Die vollziehende Gewalt iſt demnach die, vermöge der höher ent
wickelten Perſönlichkeit des Staats ſelbſtändig erſcheinende, mit
eigenem Organismus und eigenem Recht verſehene That des Staats,
deren Inhalt eben die Verwaltung iſt. Sie iſt als ſolche die große,
den ganzen Staat durchziehende, auf jedem Punkte thätige Vermittlung
zwiſchen dem Willen des Staats und ſeinen wirklichen, natürlichen und
perſönlichen Zuſtänden. Sie kommt in allen Gebieten des Staatslebens
beſtändig zur Erſcheinung; allerdings aber tritt ſie in der inneren Ver-
waltung bei weitem am deutlichſten hervor, ſo daß die letztere ohne
ſie nie ganz erkannt werden kann. Von ihr als von einem ſelbſtän-
digen Theile der Staatswiſſenſchaft iſt daher auszugehen.
Die Lehre von der vollziehenden Gewalt zerfällt in den allgemeinen
Theil mit der Darſtellung der Vollzugsgewalten, der Organiſa-
tion und dem Recht derſelben, und den beſondern mit der Anwen-
dung dieſer Grundbegriffe auf die drei Grundformen der Regierung,
der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens.
Allgemeiner Theil.
I. Die Vollzugsgewalten und die Staatsgewalt.
Die Grundlage der Lehre von der vollziehenden Gewalt ſind
einzelne Momente derſelben, welche wir die Vollzugsgewalten
nennen. Dieſe Momente ſind nichts, als die Auflöſung des abſtrakten
Begriffes der That in die einzelnen Momente, deren Vorhandenſein die
Bedingung jeder Thätigkeit iſt, und die nur im Staate ſelbſtändig zur
Erſcheinung gelangen. Das erſte iſt der auf die Thätigkeit ſelbſt ge-
richtete ſelbſtändige Wille, den wir als Willen der vollziehenden Gewalt
die Verordnung nennen, von der ſich wieder die Verfügung
ſcheidet als der Vollzugswille der niederen Organe. Das zweite iſt die
[15] Herſtellung der für dieſe Thätigkeit nothwendigen Organe der voll-
ziehenden Gewalt. Das dritte iſt die Anwendung der äußeren wirk-
lichen Macht, um die Ausführung ſowohl gegen die Natur als gegen
den Willen der Einzelnen zu verwirklichen, der Zwang. Alle Voll-
ziehung enthält daher die drei Momente der Verordnung und Ver-
fügung mit ihren Unterarten, der Organiſation und des Zwanges.
Als Inhalt der vollziehenden Gewalt nennen wir ſie die Verordnungs-,
Organiſations- und Zwangsgewalt; als dem Staate immanente Ge-
walten bilden ſie wieder ein Ganzes, und heißen in dieſem Sinne die
Staatsgewalt. Sie ſtehen alle jedem Vollziehungsorgane des Staates
bis zu einem gewiſſen Grade zu; ihre Vertheilung und Geſtaltung
aber beruht zunächſt auf dem Organismus der vollziehenden Gewalt.
II. Die organiſchen Grundformen der vollziehenden Gewalt.
Wie der Begriff der vollziehenden Gewalt, ſo gehen auch die
Grundformen derſelben aus dem Weſen des Staats hervor; denn ſie
haben eben dieſes Weſen ſelbſt im thätigen Leben deſſelben zur Ver-
wirklichung zu bringen.
Die vollziehende Gewalt iſt demgemäß wie der Staat ſelbſt, eine
perſönliche und einheitliche; und dieſe perſönliche und einheitliche Geſtalt
der Vollziehung iſt die Regierung. Sie iſt aber zugleich eine Ein-
heit von ſelbſtändigen Perſönlichkeiten; und indem die Thätigkeit der
letzteren mitwirkend in die Vollziehung aufgenommen wird, entſteht die
freie Verwaltung. Die freie Verwaltung hat wieder zwei Grund-
formen, die Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen, beide
mit eigener Grundlage und eigenem Wirkungskreis. Aus Regierung,
Selbſtverwaltung und Vereinsweſen beſteht daher der Organismus der
vollziehenden Gewalt in allen Staaten und zu allen Zeiten.
Allerdings aber iſt ſowohl jedes dieſer Organe für ſich, als ihr
Verhältniß zu einander in den verſchiedenen Zeiten ſehr verſchieden,
und damit auch das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht, das ſie alle
zugleich umfaßt. Die nähere Betrachtung dieſer Verhältniſſe ergibt,
daß gerade in dieſer Verſchiedenheit ein weſentliches Element der In-
dividualität der Staaten und Völker liegt; der große Zug der
Geſammtentwicklung bildet dann das, was wir die Geſchichte des innern
Staatrechts nennen. Je weiter aber die organiſche Entwicklung geht,
um ſo klarer tritt jedes Gebiet für ſich hervor; und durch die ſelbſtän-
dige Behandlung aller dieſer Theile für ſich, in dem gemeinſamen
Grundbegriffe des Staats zuſammengefaßt, entſteht das, was wir das
Syſtem des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts nennen.
[16]
III. Das Recht der Vollzugsgewalt und ſeine Entwicklung zum
verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrecht.
Für dieſen Begriff und Organismus der vollziehenden Gewalt
erſcheint nun das Recht überhaupt dadurch, daß die Vollziehung faktiſch
das ganze Leben des Staats mit ihren Organen durchdringt, ihrem
Weſen nach aber dennoch nur ein Theil des Staatslebens iſt. Das Recht
der Vollzugsgewalt iſt daher die durch die organiſche Natur des Staats
geſetzte Gränze für die erſtere: das allgemeinſte Princip dieſes Rechts
beruht darauf, daß die That dem Willen untergeordnet ſein ſoll. Der
Wille des Staats aber iſt das Geſetz. Wir ſagen daher, daß das
Princip des Rechts der vollziehenden Gewalt die Unterordnung deſſelben
in Verordnung, Organiſation und Zwang unter das Geſetz iſt, ſo
weit eben ein Geſetz vorhanden iſt; daß aber die vollziehende Gewalt
das Geſetz da zu erſetzen hat, wo es nothwendig iſt und dennoch
fehlt. Dieß ſind die Grundlagen des Rechts der vollziehenden Gewalt.
Die hohe Bedeutung dieſes Rechtsprincips beruht nun darauf,
daß ohne daſſelbe der Wille von der That, und das Ganze des
Staats von ſeinen einzelnen Organen beherrſcht und damit unfrei
wird. Die Grundlage der wahren Freiheit eines Staates iſt daher
das richtige, auf ſtrenger rechtlicher Baſis hergeſtellte Verhältniß zwi-
ſchen Geſetzgebung und Vollziehung. Nun iſt die Vollziehung zu allen
Zeiten beſtimmt und lebendig vorhanden geweſen. Allein es hat Jahr-
tauſende gedauert, bis man Begriff und Recht des Geſetzes von der-
ſelben zu ſcheiden und dieſen Unterſchied als den Unterſchied der beiden
großen rechtlichen Kategorien des Geſetzes und der Verordnung beſtimmt
hat. Dieſer Unterſchied liegt im ganzen Staatsleben der Verfaſſungs-
mäßigkeit zum Grunde; durch ihn erſt iſt auch der Begriff des ver-
faſſungsmäßigen Verwaltungsrechts möglich. Die Geſchichte des letzteren
iſt daher die Geſchichte des ſich zur klaren und bewußten Geltung er-
hebenden Begriffes und Rechts des Geſetzes. Dieſe nun, und mit
ihr das Rechtsprincip der Verwaltung, hat drei große Stadien oder
Grundformen.
Urſprünglich fallen Geſetz und Verordnung in dem perſönlichen
Willen des Staatsoberhaupts zuſammen; das iſt, jede Verordnung
iſt Geſetz. Die Folge iſt, da der Geſetzgeber unverantwortlich und
das Geſetz abſolut iſt, daß die vollziehende Gewalt als geſetzgebende
auf jedem Punkte das ganze Staatsleben beherrſcht. Und da nun die-
ſelbe nothwendig eine perſönliche iſt, ſo iſt damit der ganze Staat dem
perſönlichen Willen des Staatsoberhaupts unterworfen, das iſt, unfrei.
Dieſen Zuſtand nennen wir die abſolute Monarchie; iſt der Wille
[17] des Staatsoberhaupts ein willkürlicher, ſo reden wir vom Deſpotis-
mus; iſt ſeine Abſicht eine auf die Entwicklung des Volks gerichtete,
ſo entſteht der aufgeklärte Deſpotismus will er nur die Herrſchaft
als ſolche, ſo entſteht die Tyrannis; nie aber iſt dieſer Zuſtand ein
freier. Seine Heimath iſt der Orient. Durch ihn gehen mit der Frei-
heit der Einzelnen die Völker und Staaten als Ganzes zu Grunde.
Den Gegenſatz dazu bildet dasjenige ſtaatliche Princip, nach wel-
chem wieder die vollziehende Gewalt unſelbſtändig iſt, und die Geſetz-
gebung, durch die Geſammtheit des Volkes gebildet, ſelbſt die Voll-
ziehung übernimmt. Hier wird jedes Geſetz zugleich Verordnung.
Die Folge iſt, daß die Vollziehung zu nichts berechtigt iſt, als was
das Geſetz ausdrücklich vorgeſchrieben hat, und daß daher zwar die
Freiheit gewahrt iſt, aber die Entwicklung des wirklichen Lebens ſtill
ſteht. Die weitere Folge aber beſteht dann in der Herrſchaft der In-
tereſſen über die Geſetzgebung; es entſteht die Verwaltung der
Majorität der Intereſſen und damit die Hemmung der freien
geſellſchaftlichen Bewegung. Dieſen Zuſtand nennen wir die Republik;
die Herrſchaft der Mächtigen über die Unmächtigen im Namen ihrer
Intereſſen die Claſſenherrſchaft; der Kampf der unterworfenen
Claſſe gegen die herrſchende iſt der Bürgerkrieg; die Folge iſt die Auf-
löſung der Freiheit durch denſelben. Ihr Typus iſt die alte Welt der
Griechen und Römer; durch ſie iſt der Begriff und das Recht des Ge-
ſetzes entſtanden, aber das der freien Vollziehung untergegangen; auch
ſie vermag nicht, ein Verwaltungsrecht zu bilden.
Erſt die germaniſche Welt ſcheidet nun feſt und beſtimmt im
Princip, wenn auch langſam und unter den härteſten Kämpfen, die
Geſetzgebung von der Vollziehung. Sie trägt das Princip der Bildung
des Staatslebens durch die organiſirte Geſammtheit der Staatsbürger
von Anfang an in ſich; aber ſie ſtellt das der ſelbſtändigen Staats-
gewalt im Königthum daneben hin. So liegt in ihr von Anfang
an der Keim des Begriffes vom Geſetz als Wille des Volkes im
Unterſchiede vom Begriff der Verordnung als Wille des Königs.
Jahrhunderte hindurch vermag nun auch dieſe Welt wieder in ihrem
Königthum den Begriff und das Recht des Staatsoberhaupts von dem
der auch ihm gegenüber ſelbſtändigen Gewalt nicht zu ſcheiden; der
öffentlich rechtliche Charakter der Geſchlechter- und der Ständeordnung
iſt eben dieſe Vermiſchung des Staatsoberhaupts und ſeiner Vollziehung;
und dieſe Vermengung hat zur Folge, daß das Princip der Unverant-
wortlichkeit, das im unabweisbaren Weſen des Staatsoberhaupts liegt,
die Bildung eines eigentlichen, freien Verwaltungsrechts und die Klärung
über das Verhältniß zwiſchen Geſetz und Verordnung nicht zuläßt. Erſt
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 2
[18] in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft tritt dieſe Scheidung ein. Erſt
hier entſteht die Selbſtändigkeit der geſetzgebenden Gewalt in den
Kammern, und die der vollziehenden Gewalt in den Miniſterien, wäh-
rend das Staatsoberhaupt über beiden ſteht, und jetzt iſt daher auch
ein Verwaltungsrecht als das Recht dieſer drei Faktoren in Beziehung
auf Wille und That des Staats möglich und nothwendig. Allerdings
muß ſich zu dem Ende zuerſt die Selbſtändigkeit und das Recht des
Geſetzes ausbilden; der rechtliche Begriff des „Geſetzes“ iſt das große
Kriterium des Beginnens dieſer Epoche, oder des durch die Volksver-
tretung unter Zuſtimmung des Staatsoberhaupts zu Stande gekommenen
Staatswillens. So wie aber dieſer feſtſteht, ſchließt ſich daran die
Bildung des Verwaltungsrechts als des Rechts der ſelbſtändigen
Verordnung gegenüber dem Geſetze; und dieſes Recht iſt es,
welches wir das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht nennen.
Natürlich beſteht auch dieſes zuerſt nur im Princip. Seine Entwicklung
empfängt es, indem es klar wird, daß für die vollziehende Gewalt die
bloße Ausführung der beſtehenden Geſetze nicht genügen kann, ſondern
daß ſie eine, faſt auf allen Punkten über daſſelbe hinausgehende, das
Geſetz erfüllende und zum Theil erſetzende Funktion hat. Mit dieſer
Erkenntniß iſt dann die zweite gegeben, daß die Vollzugsgewalt auch
in dieſer ihrer ſelbſtändigen Funktion in Harmonie mit dem Geſetze
ſtehen muß. Daraus entſteht ein Proceß, der dieſe Harmonie auf jedem
Punkte des Staatslebens erhält und wieder herſtellt, wenn ſie geſtört
iſt. So wie dieſer Proceß nun ſeinerſeits wieder in feſte rechtliche Form
gebracht wird, entſteht daraus das Syſtem des verfaſſungsmäßigen
Verwaltungsrechts. Dieſes Syſtem aber ſchließt ſich naturgemäß an
die einzelnen Vollzugsgewalten der Vollziehung an, und ſo entſtehen
die elementaren Principien deſſelben, nach dem Weſen und dem Begriff
der Verordnung, der Organiſation und des Zwanges geordnet.
Das oberſte Princip dieſes verfaſſungsmäßigen Verwaltungs-
rechts iſt demnach, daß die Verordnung nie mit dem Geſetze im
Widerſpruche ſtehen darf, ſo weit ein ſolches da iſt. Wo ſie es
dennoch thut, wird dieſe Unterordnung hergeſtellt durch die Klage
gegen die ungeſetzliche Verordnung; ſteht aber die Verfügung mit der
Verordnung im Widerſpruch, ſo entſteht die Beſchwerde. Beide ſind
abſolute verfaſſungsmäßige Rechte der Staatsbürger. Wo aber die
Verordnung über das Geſetz hinausgeht, weil es mangelt, da tritt die
Verantwortlichkeit der Vollzugsgewalt ein, durch welche die Har-
monie des Willens und der That deſſelben nicht mehr mit dem Wort-
laut, ſondern mit dem Geiſte der Geſetzgebung hergeſtellt wird. Das
iſt das verfaſſungsmäßige Verordnungsrecht.
[19]
Das zweite Princip iſt das Recht der Organiſation, nach welchem
jede Funktion nur zu demjenigen berechtigt iſt, wozu es durch die
Organiſation beſtimmt war. Das Recht nennen wir die Competenz.
Die Aufrechthaltung der Competenz wird gleichfalls durch Klage und
Beſchwerde geſichert; ſie ſelbſt bildet das zweite Element der verfaſſungs-
mäßigen Ordnung.
Das dritte Princip iſt dasjenige, nach welchem der Zwang ſeine
rechtliche Grenze findet. Die Herſtellung dieſer rechtlichen Grenze ge-
ſchieht durch das Princip der individuellen Haftung der vollziehenden
Organe, die durch Klage zur Geltung gelangt. Die Entwicklung des-
ſelben bildet das verfaſſungsmäßige Zwangsrecht.
Die Geſammtheit dieſer Grundſätze des öffentlichen Rechts bildet
nun das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht. Die Entwick-
lung deſſelben zu einem ausgebildeten Syſteme iſt aber nur dann
möglich, wenn man daſſelbe wieder auf die drei Grundformen der voll-
ziehenden Gewalt, die Regierung, die Selbſtverwaltung und das Ver-
einsweſen anwendet, indem die beſondere Natur jeder derſelben dieſem
verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrecht wieder ſeine Geſtalt gibt. Damit
entſteht der Inhalt der letzteren, von welchem allerdings jeder Theil
wieder ſein Recht, ſeine Ordnung und ſeine Geſchichte hat. Das
nun bildet ſomit den beſondern Theil des verfaſſungsmäßigen Ver-
waltungsrechts.
Beſonderer Theil.
A. Die Regierung und das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht.
I. Begriff und Organismus der Regierung. Das Staatsoberhaupt und
die Regierung im eigentlichen Sinne.
Die Regierung iſt die perſönliche Geſtalt der vollziehenden Gewalt,
und damit die Vertreterin der Perſönlichkeit des Staats in ſeiner That.
Die Regierung beſteht daher aus zwei Elementen, dem Staats-
oberhaupt, das zugleich das Haupt der geſetzgebenden Gewalt iſt,
und der eigentlichen Regierung, die den perſönlichen Organis-
mus der vollziehenden Gewalt enthält. Auf dem Unterſchied ihrer
Funktionen beruht zunächſt der Unterſchied ihrer Organiſation, dann der
Unterſchied ihres Rechts; auf der Verbindung und Einheit beider die
formale Natur und das Weſen der Vollziehung.
I. Das Staatsoberhaupt, an ſich das perſönliche Haupt der
[20] Vollziehung, urſprünglich nur in der allein herrſchenden Perſon des
Königs beſtehend, entwickelt in den höher gebildeten Staaten einen
ſelbſtändigen, ihm angehörigen Organismus, deſſen einzelne Theile
ſpecifiſche Funktionen und Rechte auch für die Vollziehung haben.
Das Cabinet und der Hof ſind für den perſönlichen Dienſt des
Staatsoberhaupts beſtimmt, jenes für die perſönlichen Thätigkeiten,
dieſer für die perſönlichen Bedürfniſſe deſſelben.
Die Staatswürden ſind die organiſirte Vertretung der Würde
und Ehre des Staats; das Königthum als Haupt der Staatswürden
iſt die Krone.
Das Heer iſt die organiſirte phyſiſche Macht des Staats. Es iſt
daher unfähig, einem andern als dem einheitlichen perſönlichen Willen
des Staatsoberhaupts zu dienen.
Der Staatsrath iſt ſeinem Weſen nach, in ſeiner Scheidung
vom Miniſterrath, das berathende Organ für die Funktion des Königs
in Geſetzgebung und Vollziehung; in der Wirklichkeit iſt er in den ver-
ſchiedenen Ländern ſehr verſchieden organiſirt und berechtigt, ſo daß
ſehr verſchiedene Dinge unter dieſem Namen zuſammengefaßt werden.
II. Während das Staatsoberhaupt die Vollziehung als individuellen
Willen enthält, enthält die Regierung im eigentlichen Sinne dieſelbe
als ein Syſtem von Thätigkeiten, in welchem jede große Aufgabe des
Staats ſich durch die Mannichfaltigkeit ihrer Objekte zu einem ſyſtema-
tiſchen Organismus entfaltet.
Der Grundbegriff iſt der des Amts; das Amt iſt das einzelne,
mit ſelbſtändiger Competenz zur Vollziehung einer beſtimmten Aufgabe
vom Staatsoberhaupt oder in ſeinem Namen eingeſetzte, und im Namen
des Staats thätige Organ.
Das Syſtem der Aemter zerfällt in die beiden Grundformen des
Miniſterial- und des Behördenſyſtems.
Das Miniſterialſyſtem iſt die perſönliche Organiſirung der (fünf)
großen Verwaltungsgebiete. Der Miniſter iſt die perſönliche Spitze;
die Geſammtheit der Miniſter bildet das Geſammtminiſterium,
das im Miniſterrath als Ganzes thätig iſt. Erſt im Syſtem der Mi-
niſterien ſcheidet ſich formell die vollziehende Gewalt von der geſetz-
gebenden; und erſt dadurch wird das Syſtem des verfaſſungsmäßigen
Verwaltungsrechts zur Wirklichkeit.
Das Behördenſyſtem entſteht theils durch die beſondere Natur
der Verwaltungsaufgaben an ſich, theils durch die Anforderungen der
örtlichen Verhältniſſe. In erſterer Beziehung ſchließt es ſich an die
allgemeine Entwicklung des ſtaatlichen Lebens an, und ſchreitet mit ihr
vor und zurück; in zweiter Beziehung ſchließt es ſich an die Beſonder-
[21] heiten von Land und Volk, und iſt ein anderes in Gebirgsländern,
in Ebenen, in Küſtenländern, in den Städten und auf dem Lande.
Hier erſcheint die Individualität der Staaten wieder in ihrer vollen
Bedeutung, die im Miniſterialſyſtem mehr und mehr durch die Gleich-
artigkeit der ſtaatlichen Entwicklung verwiſcht wird.
Mit allen dieſen Organen wirkt nun die Regierung gleichzeitig,
das Gleiche in den verſchiedenſten Formen und Verhältniſſen wollend
und vollziehend, Wir müſſen daher die Funktion dieſes Organismus
ſelbſtändig betrachten, da ſie dem Rechte deſſelben zum Grunde liegt.
II. Die Funktion der Regierung.
Die Funktion der Regierung iſt ihrem Begriff nach einfach die
Vollziehung des Staatswillens. Allein dieſe Funktion ſelbſt iſt an das
Syſtem der Organe derſelben nach der Natur derſelben vertheilt.
Das Staatsoberhaupt macht durch ſeine perſönliche Zuſtim-
mung den Willen der Regierung zum Staatswillen. Die Voll-
ziehungsrechte, welche es unabhängig von der Regierung ausübt, bilden
die Prärogative der Krone. Das Rechtsprincip in ſeinem Ver-
hältniß zur Regierung iſt, daß ohne ſeine Zuſtimmung kein Wille der
letzteren gültig iſt, und daß deßhalb vermöge dieſer Zuſtimmung jeder
Vollzugsakt in jedem Gebiete der Verwaltung in ſeinem Namen aus-
geübt wird.
Für die Regierung ſelbſt theilt ſich dann die vollziehende Funktion
nach dem Miniſterial- und dem Behördenſyſtem.
Die Miniſterien haben die eigentliche Verordnungs- und Or-
ganiſationsgewalt. Aus ihrem Verhältniß zum Staatswillen gehen
die drei Arten der Verordnungen hervor, welche der Anwendung des
verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts zum Grunde liegen.
Die Beſtimmung für die Vollziehung der beſtimmt vorliegenden
Geſetze bildet die Vollzugsverordnung.
Wo ein Geſetz mangelt, aber das Bedürfniß nach einer höchſten
Beſtimmung vorliegt, entſteht die Verwaltungsverordnung.
Wo eine wahre Gefahr die Ausübung eines Geſetzes unausführbar
oder gefährlich macht, kann die Nothverordnung das Geſetz ſus-
pendiren, und den Willen der vollziehenden Gewalt zeitweilig an ſeine
Stelle ſetzen.
Die Behörden dagegen haben nur die Verfügungs- und
Zwangsgewalt.
Die Verfügung kann nur den ausführenden Willen einer Ver-
ordnung enthalten. Es gibt daher Vollzugsverfügungen, Verwaltungs-
[22] Verfügungen, welche den Mangel einer beſtimmten Verordnung er-
ſetzen und Nothverfügungen, welche im Falle der Gefahr die Verord-
nung ſuſpendiren. Ein Geſetz kann durch keine Verfügung ſuſpendirt,
wohl aber kann in der Noth eine mangelnde geſetzliche Beſtimmung
durch eine Verfügung erſetzt werden.
Der Zwang iſt die Anwendung phyſiſcher Mittel gegen den
Widerſtand des Einzelnen. Dieſe Mittel ſind dreifacher Natur.
Sie ſind zuerſt Ordnungsſtrafen, welche von der Behörde
gegen den Ungehorſam auferlegt und nach den Regeln der gerichtlichen
Exekution eingetrieben werden.
Zweitens beſtehen ſie in der Drohung, daß die Verfügung im
Falle des Ungehorſams auf Gefahr und Koſten des Betreffenden aus-
geführt werde.
Drittens ſind ſie wirklicher Zwang. Für den Vollzug des Zwangs
beſtehen eigene Organe, theils in den eigenen Dienern der Behörde,
theils in dem ſelbſtändigen Organismus der Gendarmerie. Die letztere
beſitzt ihre eigene Organiſation und eigene Vollzugsvorſchriften (In-
ſtruktionen ꝛc.). Das Verhältniß derſelben zu den Behörden iſt weſentlich
verſchieden, je nachdem ſie eine ſelbſtändige Thätigkeit als Organe der
Sicherheitspolizei entfalten, oder nur die Vollziehungsorgane der Be-
hörden ſind.
Die Geſammtheit aller, die Ordnung des Zwanges betreffenden
Beſtimmungen und Organe nennt man auch wohl die Polizei. Name
und Stellung der Polizei ſind weſentlich hiſtoriſch. Es wäre beſſer,
dieſelbe ſtrenge auf die Sicherheitspolizei zu beſchränken.
Dieß ſind die elementaren Funktionen der Regierung; an ſie
ſchließt ſich das Recht derſelben.
III. Das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht.
Das Regierungsrecht überhaupt iſt ſeinem Begriffe nach das Recht,
welches aus der obigen Funktion der Regierung in ihrem Verhältniß theils
zu den übrigen Elementen des Staats, theils zum Rechte des Staats-
bürgerthums entſteht. Das verfaſſungsmäßige Regierungsrecht
iſt dieß Recht, in ſofern es aus der in der Volksvertretung gegebenen
Scheidung der geſetzgebenden Gewalt von der vollziehenden hervorgeht.
Es iſt klar, daß das erſtere allerdings ſeinem Weſen und Begriff nach
immer beſteht, daß aber erſt die Selbſtändigkeit der Geſetzgebung das-
ſelbe im letzteren zu einem klaren und praktiſchen Rechtsſyſtem ent-
wickeln kann.
Alles Regierungsrecht beruht darauf, daß der Wille und die
[23] That deſſelben, da ſie ſelbſtändig neben der Geſetzgebung daſtehen, auch
mit dem Inhalt der letzteren in Widerſpruch gerathen können. Da
nun das Geſetz der höchſte Wille des Staats iſt, ſo folgt, daß das
Princip jenes Rechts die Herſtellung der Harmonie zwiſchen Geſetz-
gebung und Vollziehung ſein muß. Die Verwirklichung dieſes Princips
hat nun nach der Organiſation der Funktionen der Regierung drei
Grundformen.
Das Staatsoberhaupt iſt unverantwortlich. Denn die Be-
dingung der Geltung ſeines Willens iſt die Zuſtimmung der Miniſter;
dieſe Zuſtimmung macht dann die letzteren für den Willen des Ober-
haupts verantwortlich. Wo ſie in beſtimmten Fällen nicht nöthig iſt, da
hat jener Wille dadurch an und für ſich d[as] Recht des höchſten Staats-
willens. Das iſt das Rechtsprincip des verfaſſungsmäßigen König-
thums.
Für die Regierung dagegen gelten die beiden Grundrechte der
Verantwortlichkeit und der Haftung, ſowohl für das Mini-
ſterial- als für das Behördenſyſtem. Nur erſcheinen beide für jedes
derſelben in verſchiedener Form.
Das Weſen der Verantwortlichkeit beruht darauf, daß die
Geſetze neben ihrem Wortlaut auch einen Geiſt haben, und daß die
höhere Natur des Staats eine geiſtige iſt. Die Regierung iſt ver-
pflichtet, ſich dieſen Geiſt des Staats, ſowie den der beſondern Geſetze
anzueignen, und in ihrer Thätigkeit denſelben in der geſammten Ver-
waltung zur Geltung zu bringen. Die Grundlage der Haftung beſteht
darin, daß die einzelnen Handlungen der einzelnen Organe der voll-
ziehenden Gewalt nicht dem Wortlaut der Geſetze widerſprechen dürfen.
Die Verantwortlichkeit des Miniſterium erſcheint in dem, durch
die Abſtimmungen der Volksvertretung gegebenen Urtheil derſelben
über die Harmonie zwiſchen dem Geiſt der Verwaltung und dem der
Geſetze. Die Verantwortlichkeit der Behörde dagegen erſcheint als die
Verpflichtung derſelben, in ihren Verfügungen den Geiſt der Verord-
nungen zum Ausdruck zu bringen, und wird verwirklicht durch die Be-
ſchwerde gegen jedes Organ in ſeiner Thätigkeit, gerichtet an die
höhere Behörde. Das Recht der Beſchwerde iſt daher ein eben ſo ab-
ſolutes ſtaatsbürgerliches Recht, als das der Abſtimmung in der Volks-
vertretung. Es iſt eine der weſentlichen Bedingungen eines verfaſſungs-
mäßigen Regierungsrechts, daß das Beſchwerdeverfahren geſetzlich
und gerecht geordnet, und mit dem Disciplinarverfahren im Amts-
ſtrafrecht in engſte Verbindung gebracht ſei. Beides fehlt in allen
Staaten Europas.
Bei der Haftung des Miniſteriums muß man unterſcheiden.
[24] Die miniſterielle Haftung tritt da ein, wo eine in der Competenz
liegende Vollziehung durch die Verordnung der Miniſter entweder das
beſtimmte Geſetz verletzt oder daſſelbe nicht vollzogen hat. Die
perſönliche Haftung derſelben tritt bei allen denjenigen einzelnen
Thätigkeiten derſelben ein, welche nicht zur Competenz der Miniſter ge-
hören. Daſſelbe gilt von der Haftung der Behörden. Nur haben die-
ſelben zugleich der höheren Behörde und dem Einzelnen dafür zu
haften, daß ihre Verfügungen und Zwangshandlungen einerſeits mit
dem Wortlaute der Geſetze, andererſeits mit dem der Verordnungen
übereinſtimmen, während perſönliche Haftung nur mit ſolchen Hand-
lungen der Behörde zu thun hat, welche ſich nicht auf die amt-
liche Competenz beziehen. Die Verwirklichung der Haftung geſchieht
durch die Klage. Es ſteht daher der Volksvertretung gegen die Mini-
ſterien, und jedem Einzelnen gegen jede Behörde das Klagerecht in
jedem Falle zu, wo dieſelben ein geſetzliches Recht durch Verordnung,
Verfügung und Zwang verletzen. Das Organ, welches über die Klage
entſcheidet, iſt dem Principe nach das Gericht; bei der Klage gegen
die Miniſter das Staatsgericht, bei der Klage gegen die Behörde
das ordentliche Gericht. Das Verfahren iſt im erſten Falle beſon-
ders normirt, im zweiten Falle gilt das gewöhnliche Gerichtsverfahren
wie in jedem andern Proceß.
So einfach nun dieſe Grundſätze an ſich ſind, ſo langdauernd und
ernſt iſt der Kampf, der ſie zur Geltung bringt. Die hiſtoriſche Ent-
wicklung des Staatenlebens hat es mit ſich gebracht, daß von einer
Miniſterverantwortlichkeit und Haftung bis zu unſerem Jahrhundert
nur in England die Rede ſein konnte, während der Gedanke einer ge-
richtlichen Haftung der Behörde auch bis zur Gegenwart nirgends mit
Ausnahme Englands zur Geltung gelangt iſt. Der Charakter des jetzt
beſtehenden rechtlichen Zuſtandes iſt daher die Verſchmelzung der
Verantwortlichkeit und des Klagerechts, welche bei den Miniſtern in
Unklarheit über den Begriff der Miniſterverantwortlichkeit, die zugleich
die unklar gedachte Haftung derſelben enthält, bei den Behörden in
dem Princip der Ausſchließung des Klagerechts durch das Beſchwerde-
recht beſteht, ſo weit es ſich um amtliche Funktionen handelt. Die
erſten, noch unfertigen Vermittlungsverſuche für beide Auffaſſungen
iſt die Einſetzung von „Verwaltungsgerichten“ nach dem Muſter der
Conseils de Préfecture; allein man hat gewiß Recht, ſie nur als ein
Uebergangsſtadium zu betrachten. Das Weſen und die Würde des Gerichts
fordern eben ſo gut als das Recht, daß das Gericht als ſolches
entſcheide. Doch gehört ein hoher Grad der Entwicklung des ſtaats-
bürgerlichen Lebens dazu, um dieſen Gedanken zur Geltung zu bringen.
[25]
Dieſen Rechten und Pflichten der Regierung entſpricht nun von
Seiten des Einzelnen der Gehorſam, der, in ſofern ſeine Gränzen
durch das Geſetz gegeben ſind, der verfaſſungsmäßige Gehorſam
iſt. Der Widerſtand iſt an und für ſich ein Unrecht; dagegen iſt das
Recht des paſſiven Widerſtandes ein organiſches Recht, und der Ein-
zelne haftet dabei ſeinerſeits dafür, daß er zu demſelben berechtigt
war oder nicht.
B.Die Selbſtverwaltung.
I. Begriff und Organismus.
Die Selbſtverwaltung iſt die erſte Form, in welcher die Idee der
freien Verwaltung als der organiſirten und berechtigten Theilnahme
der Staatsbürger an der Funktion der Vollziehung im Allgemeinen,
in der Verwaltung im Beſondern zur Verwirklichung gelangt. Sie
entſteht dadurch, daß nicht ſo ſehr der freie und ſelbſtthätige Wille des
Einzelnen, als vielmehr die Natur gegebener Verhältniſſe jene Theil-
nahme erzeugt und nothwendig macht.
Es folgt daraus, daß das Syſtem dieſer Selbſtverwaltung auf dem
Syſtem eben dieſer natürlichen Faktoren beruht, welche ſie ſelbſt erzeu-
gen. Man muß deßhalb davon ausgehen, daß die Selbſtverwaltung
kein einfacher Begriff iſt, und daher auch keine einfache Funktion hat
und haben kann; zugleich aber auch, daß ſie wie ihre natürlichen Grund-
lagen den ganzen Staat umſchließt, und ſomit ein zweites organiſches
Syſtem der Vollziehung neben dem der Regierung bildet, aus deren
gegenſeitigen Berührung dann das Recht beider hervorgeht.
Zwei große Gebiete des wirklichen Lebens ſind es nun, mit
denen die Vollziehung zu thun hat; und die Selbſtverwaltung hat da-
her auch im allgemeinſten Sinne zwei Grundformen. Das erſte Gebiet
iſt das der Intereſſen, das zweite iſt das des feſten, begränzten
Grundbeſitzes. Die Organiſation der Betheiligung des Staats-
bürgerthums an der Vollziehung in Beziehung auf die Intereſſen nen-
nen wir die Vertretungen, in Beziehung auf den örtlich begränzten
Grundbeſitz die eigentliche Selbſtverwaltung. Jede dieſer Organi-
ſationen bildet dann, für ein beſtimmtes Gebiet thätig, das was
wir den Selbſtverwaltungskörper nennen.
Die Organiſation aller dieſer Selbſtverwaltungskörper beruht ge-
meinſchaftlich auf dem Princip, die Thätigkeit des Einzelnen an den
Funktion der Vollziehung zuzulaſſen, während ſie im Ganzen des Staates
als ſelbſtändige Organe, in ihren höheren Stufen als ſelbſtändige
Perſönlichkeit daſtehen. Die Verwirklichung dieſes Princips geſchieht
[26] dadurch, daß die Organe dieſer Selbſtverwaltungskörper aus der Wahl
ihrer Angehörigen hervorgehen, und daß die ſo gewählten Vertreter
das Recht haben, den Willen der Körper zu beſtimmen, und das
Recht, dieſen Willen auszuführen. Die Ordnung des erſteren bildet
demgemäß ihre Verfaſſung, die Ordnung des zweiten ihre Verwaltung.
Ihre perſönliche Einheit aber wird nach außen durch ihr Oberhaupt
vertreten, das gleichfalls aus der Wahl derſelben hervorgehen ſoll.
Es iſt aber natürlich, daß dieſe allgemeinen Grundſätze je nach der
Natur der Selbſtverwaltungskörper eine vielfach verſchiedene Geſtalt
annehmen.
Die Vertretungen zunächſt heißen da, wo ſie von dem freien Willen
und den Intereſſen der Einzelnen ausgehen, um über die Aufgabe
der Vollziehung Wünſche und Forderungen auszuſprechen, Geſuche
und Petitionen; da wo die Anſichten einzelner Fachmänner von
der Regierung veranlaßt werden, Gutachten; wo ſich alle Betheilig-
ten auf Veranlaſſung der Regierung ausſprechen, Vernehmungen
(Enquêtes). Wo dagegen dauernde Körper auf Grundlage der Wahl zu
dieſem Zweck gebildet werden, entſtehen die Räthe für die Aufgaben
der Verwaltung überhaupt, die Kammern für beſtimmte Aufgaben
der Volkswirthſchaftspflege. In den höheren Stadien der Selbſtver-
waltung gehen die erſteren in amtliche Stellungen, letztere in die freien
Vereine über. Die ſtrenge adminiſtrative Organiſirung herrſcht im
Syſtem der Conseils in Frankreich, die freiere in den Associations
in England; in Deutſchland wirken noch beide neben einander.
Die Selbſtverwaltung im eigentlichen Sinne hat drei, in ſich und
ihren Funktionen und Rechten ſehr verſchiedene Körper.
Die Landſchaft iſt die, auf der hiſtoriſchen Staatenbildung be-
ruhende, Land und Stamm in ihrer Beſonderheit umfaſſende Selbſt-
verwaltung. Ihre weſentliche Bedeutung beruht darauf, daß ſie die
Selbſtverwaltung da am kräftigſten vertritt, wo ſie am meiſten gefährdet
wird, in ſtreng adminiſtrativ centraliſirten Staaten. Sie hat daher
in den verſchiedenen Zeiten und Ländern ein ſehr verſchiedenes Schickſal
in Europa gehabt. Ihre dauernde Heimath ſcheint Mitteleuropa zu
ſein. Ihre Organiſation iſt unter allen Organen der freien Verwal-
tung faſt allein fähig, die Elemente der Geſchlechter- und ſtändiſchen
Ordnung dauernd zu erhalten. Eben deßhalb wird ihre Competenz ſich
mit der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft faſt von ſelbſt
beſchränken.
Die Gemeinde iſt die ausgebildete Organiſation der örtlichen
Selbſtverwaltung. Sie iſt daher beſtimmt und fähig, die Grundformen
und Organe des Staats für ihr begränztes Gebiet in begränzter Weiſe
[27] herzuſtellen, und dadurch die großen Principien des verfaſſungsmäßigen
Regierungsrechts bei ſich zur Anwendung zu bringen. In dieſem
Sinne iſt die Gemeinde die Erzieherin des Einzelnen zum ſtaatsbürger-
lichen Leben. Die Gemeinde hat daher ihr Oberhaupt, ihre Verfaſſung
und ihre Verwaltung; ſie ſoll wenigſtens die Organe dieſer Funktionen
in Bürgermeiſter, Gemeinderath (Magiſtrat) und Gemeindevertretung;
ſie ſollte in den Magiſtratsräthen das Analogon der Miniſter haben,
um das Syſtem der Verantwortlichkeit und Haftung ausbilden zu
können. Eben darum iſt das Gemeindeweſen der Kern aller Selbſtver-
waltung, die Gemeinde die Heimath der freien Verwaltung, und ein
Volk ohne freie Gemeinde trotz aller freien Verfaſſung ein nicht freies,
ſondern adminiſtrativ unfreies Volk. Deßhalb ſagen wir, daß die Ver-
faſſung nur der erſte, die freie Verwaltung in der Gemeinde aber der
zweite Schritt zur Freiheit des Volkes ſei. Und die Geſchichte des Ge-
meindeweſens beweist zu allen Zeiten und in allen Völkern, daß in ihm
der Maßſtab der inneren Freiheit gegeben iſt.
So lange nun das Gemeindeweſen allein auf hiſtoriſch entſtandenen
Ortsgemeinden beruht, iſt eine organiſch entwickelte Selbſtverwal-
tung nicht möglich, weil die Ortsgemeinden bei gleichen Aufgaben
und gleichen Rechten ſo verſchieden in Umfang und Kraft ſind, daß
der bei weitem größte Theil derſelben unfähig erſcheint, die Organe der
Verfaſſung und Verwaltung bei ſich auszubilden. Die Zukunft des
Gemeindeweſens liegt daher in der Bildung von Verwaltungsgemein-
den, für deren Beſchlüſſe die Ortsgemeinde das vollziehende Organ iſt.
Die bisherigen Verſuche der Kreis- und Bezirksgemeinden ſind nur noch
der erſte Beginn dieſer höheren Organiſation, da ſie meiſt entweder
bloß Rathskörper an der Seite der Beamteten, wie namentlich in
Frankreich (Arrondissements und Souspréfets) oder Verbände mit
einer einzelnen Aufgabe ſind, wie in England. Deutſchland wird die
Arbeit und die Ehre haben, die Verwaltungsgemeinde aus der Orts-
gemeinde zu erſchaffen, und damit das wahre Syſtem der Selbſtver-
waltung zu verwirklichen.
Die Corporationen endlich ſind Selbſtverwaltungskörper für
einen beſtimmten einzelnen Zweck auf Grundlage eines eigenen Ver-
mögens. Sie ſind wieder entweder Körperſchaften, welche die ein-
heitliche, öffentliche Organiſation einer Berufsthätigkeit enthalten, oder
Stiftungen, deren Mittel für einen ſocialen Zweck verwaltet werden.
Die Organiſation der erſteren beruht daher meiſtens auf ſtändiſchen Prin-
cipien, die des zweiten auf den individuellen Vorſchriften der Stifter.
Beide gehen in Staatsanſtalten über, wenn der Staat ihnen für die
wachſende Bedeutung ihrer Aufgabe die Mittel aus ſeiner Verwaltung
[28] geben muß. Daher haben nur wenige unter dieſen Körpern die Fähig-
keit, ſich dauernd zu erhalten.
II. Die Funktion der Selbſtverwaltung.
Die Funktion der Selbſtverwaltung iſt ihrem Begriff nach die
Uebernahme der Funktion der Regierung, ſoweit die letztere durch be-
gränzte Intereſſen und örtliche Verhältniſſe modificirt werden kann.
Sie kann daher niemals eine geſetzgebende, und nur ausnahms-
weiſe eine verordnende Gewalt beſitzen; ihre Funktion iſt ſtets die der
verfügenden Behörde. Und auch dieſe Funktion iſt nach der Ver-
ſchiedenheit der Selbſtverwaltungskörper eine weſentlich verſchiedene.
Die Vertretungen kennen, da ſie den Sonderintereſſen innerhalb
der Vollzugsthätigkeit der Regierung Ausdruck geben, auch keine ver-
fügende, ſondern nur eine berathende Funktion. Nur die eigentlichen
Selbſtverwaltungskörper können verfügen, und haben damit auch
die Zwangsgewalt (Polizei). Da ſie aber zugleich ſelbſtändig und
auch Organe der Einheit des Staats ſind, ſo hat ihre Verfügungs-
und Zwangsgewalt einen doppelten Charakter, der dem doppelten Recht
derſelben zum Grunde liegt.
Die Geſammtheit der Funktionen nämlich, welche aus der Selb-
ſtändigkeit der Selbſtverwaltungskörper hervorgehen, nennen wir den
natürlichen oder freien, die Geſammtheit derjenigen, welche aus ihrem
organiſchen Verhalten zur Einheit des Staats hervorgehen, den amt-
lichen, ſtaatlichen oder übertragenen Wirkungskreis der Selbſtverwaltung.
Es iſt klar, daß die Geſetzgebung den letzteren verengern oder erweitern
kann; die Beſtimmung deſſelben bildet einen weſentlichen Theil des ge-
ſetzlichen Gemeinderechts (Gemeindeordnung oder Gemeindeverfaſſung)
und iſt wieder ſehr verſchieden in den verſchiedenen Staaten.
Der Umfang und Inhalt beider Arten der Funktionen iſt nun
wieder ein anderer, je nachdem es ſich um Landſchaften, Gemeinden
oder Corporationen handelt. Gemeinſchaftlich aber ſind für alle die
folgenden Grundſätze.
Die Funktionen der Rechtsverwaltung müſſen ſtets und unbedingt,
ſoweit ſie überhaupt der Selbſtverwaltung übergeben werden können,
als amtliche angeſehen werden; eben ſo diejenigen, welche dem Heer-
weſen angehören.
Die ſtaatswirthſchaftlichen Funktionen ſind amtlich, ſofern ſie die
Finanzen betreffen; freie, ſo weit ſie auf die Mittel der eigenen Ver-
waltung Bezug haben.
Die Aufgaben der inneren Verwaltung ſind grundſätzlich freie
[29] Funktionen, ſo weit ſie eine örtliche Begränzung zulaſſen; wo dieſe
aufhört, beginnt die ſtaatliche Natur derſelben.
Dieſes Weſen der Funktionen bildet nun die Grundlage des Rechts-
ſyſtemes der Selbſtverwaltung.
III. Das Rechtsſyſtem der Verwaltung.
Das Rechtsſyſtem der Selbſtverwaltung beruht darauf, daß dieſe
Körper dem Obigen gemäß einerſeits ſelbſtändige Organe der vollziehen-
den Gewalt des Staats, andererſeits zugleich organiſche Einheiten
ihrer Angehörigen ſind. Die Geſammtheit der Rechtsſätze, welche aus
dem erſteren Momente hervorgeht, iſt das öffentliche (ſtaatliche), die-
jenige, welche aus dem zweiten Momente folgt, das innere Rechts-
ſyſtem der Selbſtverwaltung.
Das öffentliche Rechtsſyſtem der Selbſtverwaltung entſcheidet die
Gränze, bis zu welcher die letztere als Glied des ſtaatlichen Organis-
mus in Verfügung und Zwang ſelbſtändig iſt.
Das Princip für dieſes Rechtsſyſtem iſt die einfache Conſequenz
des Weſens der Verfügung, angewendet auf den Unterſchied zwiſchen
freiem und amtlichem Wirkungskreis. Für den erſten geht das Recht
auf die freie Verfügung ſo weit, als kein Geſetz und keine Verordnung
entgegenſteht; keine Selbſtverwaltung kann zu einer Verfügung ge-
zwungen werden, ſondern hat das Recht auf den paſſiven Widerſtand;
keine Behörde hat ein Recht zur Verfügung in dem anerkannten Wir-
kungskreis der Selbſtverwaltung; gegen die Verordnung hat die letztere
das Recht der Klage und Beſchwerde wie jeder Einzelne. Wo dagegen
der Wirkungskreis ein amtlicher iſt, haben die Organe der Selbſtver-
waltungskörper die Stellung der Behörde, und damit ihre Rechte, nicht
aber auch ihre Pflichten, ſpeziell in Beziehung auf den Erlaß von Ver-
fügungen und ihrer zwangsweiſen Ausführung. Darum iſt es von
praktiſcher Wichtigkeit, den erſteren möglichſt genau zu beſtimmen, weil
im Zweifel die Mittelbehörde als berechtigt angeſehen werden muß,
ohne Suſpenſiveffekt der Selbſtverwaltung als unterer Vollzugsbehörde
Befehle zu geben.
Die drei Grundbegriffe, an denen ſich dieß öffentliche Recht der
Selbſtverwaltung verwirklicht, ſind die der juriſtiſchen Perſönlichkeit,
der Autonomie und der Oberaufſicht.
1) Die juriſtiſche Perſönlichkeit entſteht, wenn die Gemeinſchaft
Einzelner zu einheitlichem Wollen und Handeln vom Staate als Per-
ſönlichkeit anerkannt wird. Bis zu dieſer Anerkennung bleibt ſie
eine vertragsmäßige Perſönlichkeit. Das Rechtsprincip der juriſtiſchen
[30] Perſönlichkeit beſteht darin, daß der Inhalt des Rechts der Organe
derſelben, die Mitglieder zu verpflichten, bei ihr nicht mehr auf dem
Vertrage, ſondern auf dem Weſen der Einheit beruht, welche jene
Perſönlichkeit bildet. Je nach dem Inhalt dieſer Einheit unterſcheiden
wir nun drei Arten der juriſtiſchen Perſönlichkeit. Die wirthſchaft-
liche Perſönlichkeit iſt die für wirthſchaftliche Zwecke gebildete perſön-
liche Einheit, die verwaltungsrechtliche diejenige, welche neben
dem wirthſchaftlichen Zweck auch Funktionen der vollziehenden Gewalt
enthält, für welche ihre materiellen Mittel die Bedingungen enthalten;
die ſtaatsrechtliche endlich erſcheint da, wo zu der Theilnahme an
der Vollziehung auch eine Theilnahme an der Geſetzgebung in Wahl-
recht oder Virilſtimme hinzukommt. Die Selbſtverwaltungskörper ſind
ſtets und nothwendig verwaltungsrechtliche, zuweilen auch (Virilſtimmen
von Corporationen ꝛc.) ſtaatsrechtliche Perſönlichkeiten. Das ſpecifiſche
Recht ihrer Perſönlichkeit als ſelbſtthätiger Einheit iſt ſtets durch ihr
Oberhaupt ausgeübt. Grundſatz: daß wie im Staate nur das als
perſönlicher Wille des Selbſtverwaltungskörpers gilt, was die Zuſtim-
mung (Unterſchrift) des Hauptes beſitzt.
2) Die Autonomie iſt das Recht der juriſtiſchen Perſönlichkeit,
durch ihre Organe Beſchlüſſe zu faſſen und Thätigkeiten mit dem Rechte
der vollziehenden Gewalt gegenüber ihrer Angehörigen auszuführen.
Auch hier iſt der freie von dem amtlichen Wirkungskreis zu ſcheiden.
Aus der Autonomie des erſteren folgt, daß die Beſchlüſſe der Organe
das Recht der Verordnung, die Vollzugsthätigkeiten das Recht des
öffentlichen Zwanges (der Polizei) haben. Es folgt zweitens,
daß die Objekte dieſer Autonomie das Gebiet der autonomen Ver-
waltung bilden. Princip der letzteren iſt, daß ſie, wie die Voll-
ziehungsgewalt ſelbſt, zunächſt die geſetzlich verſchiedenen Verwaltungs-
aufgaben erfüllen muß. Die Geſammtheit der der Autonomie der
Selbſtverwaltung überwieſenen Aufgaben bildet ihre Competenz.
Das Recht derſelben iſt die Ausſchließung der Verfügungsgewalt der
Behörde für das, wozu die Selbſtverwaltung competent iſt; zweitens
das Recht, die Mittel dafür durch eigene Beſchlüſſe aufzubringen und
zu verwalten; drittens das Recht, über die Verwendung der nach Er-
füllung des beſtimmten Zweckes übrig bleibenden Mittel ſelbſtändig zu
verfügen. — Die Autonomie für den ſtaatlichen Wirkungskreis beſteht
jedoch nur darin, die Organe durch eigenen Beſchluß zu beſtimmen,
welche die Vorſchriften der Vollzugsorgane auszuführen haben, und die
Mittel dafür aufzubringen. Im Uebrigen tritt ganz das Verhältniß
einer Behörde ein.
3) Die Oberaufſicht beruht nicht darauf, daß die Autonomie
[31] etwa das Recht des Einzelnen verletzen könnte; hierfür tritt vielmehr
das innere Selbſtverwaltungsrecht ein. Sie iſt die rechtliche Conſe-
quenz des Satzes, daß jede Selbſtverwaltung ſtets ein organiſches
Glied des Ganzen bleibt; der Inhalt ihres Rechts beſteht demnach
darin, die Harmonie zwiſchen der Autonomie in Verfaſſung und Ver-
waltung der Selbſtverwaltungskörper mit den Geſetzen der Verwaltung
des Staats herzuſtellen. Sie hat daher zuerſt zu ſorgen, daß die
Competenz nicht überſchritten werde; ſie hat zu dem Ende das Recht
der Kenntnißnahme von den Beſchlüſſen und Vollziehungen der Selbſt-
verwaltung; ſie hat das Recht der Siſtirung und der Nichtigkeits-
erklärung der Beſchlüſſe und der Auflöſung der Organe, ſtets unter
der Haftung der verordnenden Gewalt, und zwar nach den Regeln der
Haftung bei den Verordnungen. Hier ſind nun Begriffe und Recht
noch ſehr im Werden und ſehr verſchieden in den einzelnen Ländern;
es iſt ein weites Gebiet und nur durch eingehende Studien an der
Hand feſter Begriffe zu bewältigen.
B. Das innere Rechtsſyſtem der Selbſtverwaltung iſt an ſich
ſehr einfach, in der Wirklichkeit aber höchſt unausgebildet. Denn faſt
allenthalben fehlt ſeine Grundlage, die klare und bewußte Scheidung
der drei Organismen, namentlich der vollziehenden von der beſchließen-
den Gewalt in den Gemeinden.
Das Princip dieſes ganzen Rechtsſyſtems iſt kein anderes, als die
Anwendung der Grundſätze von Verantwortlichkeit der Vollzugsorgane
gegenüber den beſchließenden (Magiſtrat gegenüber der Gemeindever-
tretung) und der Haftung derſelben für jeden einzelnen Akt, mit dem
ſie das [beſtehe]nde Recht von Geſetz oder Verordnung verletzen. Es gibt
daher ein [Beschw]erderecht gegen die ganze Gemeinde ſo wie gegen die
einzelnen [O]rgane eben ſo können Gemeinde und Gemeindeorgane vor
dem ordentlichen Gerichte gellagt werden. Um das zur vollen Ent-
wicklung zu bringen, bedarf es allerdings ſtatt der Ortsgemeinde der
Verwaltungsgemeinde, denn nur dieſe iſt fähig, die einzelnen Organe
bei ſich zu entwickeln und ihr beſonderes Recht feſtzuſtellen. Hier liegt
der Fortſchritt auf dieſem hochwichtigen Gebiete.
Natürlich nun ſind alle dieſe Grundſätze je nach den beſtehenden
Geſetzen über Landſchaft, Gemeinde und Corporationen ſehr verſchieden
mehr oder weniger im Geiſte einer freieren Bewegung durchgeführt,
und mehr oder weniger je nach den einzelnen Ländern noch mit den
hiſtoriſchen Grundſätzen des Geſchlechter- und ſtändiſchen Rechts durch-
flochten. Die Erklärung des Beſtehenden aus dieſen Grundlagen iſt die
Geſchichte der Selbſtverwaltung.
[32]
C.Das Vereinsweſen.
I. Begriff und Syſtem.
Der Begriff des Vereinsweſens im weiteſten Sinne umfaßt alle
Formen, in denen ſich Einzelne zu einem beſtimmten Zweck freiwillig
verbinden. Das Vereinsweſen als Theil der vollziehenden Gewalt da-
gegen betrifft nur diejenigen Vereinigungen, deren Zweck die Vollziehung
irgend einer Aufgabe der Verwaltung durch freie Verbindung
von Mitteln und Kräften iſt. Dadurch tritt dieſer Theil des Vereins-
weſens nothwendig in den Organismus und das Recht der Verwaltungs-
lehre überhaupt und der vollziehenden Gewalt insbeſondere hinein, ſo
daß in der That die letztere ohne ſie unvollſtändig erſcheint. Der bis-
herige Entwicklungsgang in Geſetzgebung und Literatur macht es aber
nothwendig, das ganze Syſtem des Vereinsweſens zu überſehen, um
einen feſten Boden für das Vereinsrecht zu finden.
Die unterſten Formen der menſchlichen Vereinigungen entſtehen
theils durch das natürliche Element des Geſchlechts in Ehe und Familie,
theils durch die einzelnen und vorübergehenden Akte des Verkehrslebens
in der Communio und den Verträgen aller Art. Sie gehören beide
dem eigentlichen Vereinsweſen nicht an.
Das eigentliche Vereinsweſen beginnt, wenn man in dem Verein
die Elemente eines ſelbſtändigen perſönlichen Lebens erkennt, alſo nebſt
dem Körper und der Seele das Oberhaupt, den Willen und die That.
Erſt auf dieſer Grundlage iſt ein Syſtem des Vereinsweſens möglich.
Innerhalb dieſes Syſtems entſtehen dann die Arten der Vereinigungen
und Vereine durch den Zweck oder das Objekt, welches ſie ſich ſetzen.
Gemeinſchaften nennen wir diejenigen Formen der Vereini-
gung, welche nur durch das materielle Element, den Beſitz, entſtehen,
und daher weſentlich einen hiſtoriſchen Charakter haben. Eben dadurch
bilden ſie den Uebergang zu den Corporationen.
Verſammlungen ſind diejenigen Vereinigungen, welche nur
dazu dienen, eine gemeinſame Anſicht auszuſprechen; ihr Inhalt iſt
rein geiſtiger Natur; ſie bilden den Uebergang zu den Vertretungen.
Die Geſellſchaften ſind diejenigen Vereinigungen, die um des
Erwerbes ihrer Mitglieder willen entſtanden ſind, und bei denen daher
die Vereinigung nur das Mittel für dieſe wirthſchaftlichen Erwerbs-
zwecke der Einzelnen ſind. Das ſind die ſtille, die offene und die
Commandit-Geſellſchaft.
Die Aktiengeſellſchaften bilden den Uebergang zu den eigent-
lichen Vereinen, indem der Zweck ſtets der Erwerb der Geſellſchafter
[33] iſt, während das Mittel, die Aktie, durch ihr Verhältniß zum Werth
und Creditumlauf ſich weit über die Grenzen der urſprünglichen Geſell-
ſchafter hinaus erſtreckt. Dadurch wird der Organismus und die
Thätigkeit der Geſellſchaft nothwendig Gegenſtand des Verwaltungs-
rechts, während der Zweck derſelben ein rein wirthſchaftlicher ſein
kann. Iſt aber der Zweck der, vermöge der Ausübung irgend einer
Verwaltungsaufgabe einen Erwerb zu erzielen, ſo nehmen ſie als Ver-
waltungsvereine den Charakter und damit auch das Recht derſelben an;
das Verhältniß der Aktie iſt dann ein Gebiet des wirthſchaftlichen
Geſellſchaftsrechts, das Verhältniß der Thätigkeit der Geſellſchaft als
Ganzes gehört dem Vereinsweſen.
Die eigentlichen Vereine ſind dann endlich diejenigen Ver-
einigungen, deren Zweck die dauernde Ausübung einer Verwaltungs-
aufgabe iſt. Die hiſtoriſche Form der Vereine auf Grundlage der Ver-
waltung der unbeweglichen wirthſchaftlichen Güter und ihrer Intereſſen
iſt dann der Verband (Waſſerverbände, Schulverbände, Wegever-
bände ꝛc.); auf Grundlage der Arbeit und ihrer ſpeziellen Intereſſen
erſcheinen die hiſtoriſchen Genoſſenſchaften (Zunft, Innung ꝛc.).
Beide werden nun von dem Vereinsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft ſo weit überragt, daß ſie nur noch in Ausnahmen vorkommen.
Das Princip für das eigentliche ſtaatsbürgerliche Vereins-
weſen iſt, daß jedes Gebiet des öffentlichen Lebens Gegenſtand einer
dafür beſtimmten dauernden und organiſirten Vereinigung ſein kann.
In dem Vereine iſt daher die volle freie Bethätigung der Einzelnen
im öffentlichen Leben gegeben, da ſich in ihm die Einzelnen Mittel,
Zweck und Organismus ſelbſt ſetzen. Die Bedeutung dieſes Auftretens
der Vereine für das Geſammtleben beſteht darin, daß in ihnen ſich
die Individualitäten für das öffentliche Leben geltend machen können,
die ſonſt mit ihrer Bedeutung keinen Raum gewinnen. In einem
freien Staate erfüllt ſich daher das ganze Leben deſſelben mit dem
Vereinsweſen; und indem es auf dieſe Weiſe ein Faktor des Geſammt-
lebens wird, entſteht die Nothwendigkeit, das in allen Vereinen ge-
meinſame Element zu finden und in dieſem das Verhältniß zur Voll-
ziehung feſtzuſtellen. Dieſes gemeinſame Element iſt nun das, was
wir die organiſchen Grundbegriffe des Vereins nennen, und ohne welche
ein Vereinsrecht nicht entwickelt werden kann.
Jeder Verein iſt zuerſt ſeinem Begriffe nach eine juriſtiſche
Perſönlichkeit. Es bedarf dazu keiner beſonderen Verleihung des
Rechts der letzteren, ſondern nur des durch die Regierung nicht wider-
ſprochenen Akts der öffentlichen Conſtituirung deſſelben.
Jeder Verein hat das Element der Geſellſchaft dadurch in ſich,
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 3
[34] daß er ein wirthſchaftlicher Körper iſt, der ein Vermögen haben kann,
aber eine Einnahme haben muß. Nach der Art wie dieſe Einnahme
zuſammenkommt, unterſcheiden wir Beitrags-, Gegenſeitigkeits- und
Aktienvereine.
Jeder Verein hat einen einzelnen beſtimmten Zweck; dieſer Zweck
iſt zugleich Ausdruck der Thätigkeit des Vereins als Ganzem und
Grundlage der Competenz ſeines Vorſtandes nach Innen und Außen.
Jeder Verein hat endlich einen perſönlichen Organismus, das iſt,
ein Oberhaupt (Präſidium), einen Organismus der beſchließenden Ge-
walt (Generalverſammlung) und der vollziehenden Gewalt (Verwaltungs-
rath); das Analogon des Behördenſyſtems ſind ſeine Angeſtellten und
Diener. Je klarer dieſe Grundorgane entwickelt ſind, deſto höher ſteht
der Verein; jede unklare Verſchmelzung derſelben iſt ein Nachtheil und
oft eine Gefahr für den Verein; ohne beſtimmte und bewußte Schei-
dung derſelben iſt ein inneres Vereinsrecht nicht möglich.
Alle dieſe Momente ſind allen Vereinen gemein. Die durch den
Willen der Mitglieder für jeden einzelnen Verein beſtimmte Ordnung
derſelben nennen wir, indem ſie der öffentlichen Conſtituirung zum
Grunde gelegt wird, die Statuten. Die Statuten bilden daher das
Grundrecht jedes Vereins; ſie enthalten die Baſis für die Anwendung
des Vereinsrechts auf jeden einzelnen Verein.
In der weiteren Entwicklung des Vereinslebens ergibt es ſich dann,
daß das geſellſchaftliche Princip des Erwerbes der Mitglieder mit dem
Vereinsprincip der Förderung der Geſammtentwicklung vielfach ver-
bunden wird (Vereine auf Aktien). Damit wird dann aber weder das
Weſen noch das Recht des Vereins geändert.
II. Die Vereinsarten als Funktionen des Vereins.
Die Funktionen des Vereinsweſens erſcheinen nun in den Vereins-
arten. Die Art des Vereins entſteht durch den Zweck, den ſich der
Verein im öffentlichen Leben ſetzt. Mithin iſt das Syſtem der Vereins-
arten nichts anderes, als das Syſtem des Geſammtlebens der Menſchen
im Staate.
Demnach unterſcheiden wir zunächſt die politiſchen Vereine und die
Verwaltungsvereine.
Die politiſchen Vereine oder Verbindungen ſind ſolche, deren
Zweck die Entwicklung des Verfaſſungslebens und ſeiner Geſetze iſt.
Ihre Vorausſetzung iſt entweder ein tiefer Widerſpruch zwiſchen der
beſtehenden Verfaſſung und den Anforderungen des Volkes, oder eine
lebendige Entwicklung des inneren Staatsrechts. Im erſten Falle
[35] erſcheinen ſie allerdings als eine Gefahr für das Beſtehende, und werden
daher meiſtens verboten und verfolgt; im zweiten ſind ſie der Ausdruck
ihrer Zeit und ein organiſches Element des Fortſchrittes.
Die Verwaltungsvereine, gleichviel ob Aktien-, Beitrags- oder
Gegenſeitigkeitsvereine, umfaſſen ihrem Begriffe nach die ganze Ver-
waltung, und treten daher in allen denjenigen Gebieten derſelben auf,
wo die Natur der Verwaltungsthätigkeit die Hülfe der Einzelnen zuläßt.
Während es daher Gebiete gibt, in denen das Vereinsweſen ausge-
ſchloſſen iſt, gibt es andere, in denen es neben der Regierung und
Selbſtverwaltung auftritt, und wieder andere, in denen nur das Ver-
einsweſen die Aufgabe des Geſammtlebens zu erfüllen vermag. So
wird in der That erſt durch das Vereinsweſen für die Vollziehung ein
wahrhaft vollſtändiges Bild gewonnen.
Die Vereine für das perſönliche Leben theilen ſich in ſolche
für die phyſiſche und geiſtige Entwicklung.
Die Vereine für die phyſiſchen Lebensverhältniſſe erſcheinen zum
Theil im Bevölkerungsweſen (Einwanderungs- und Auswanderungs-
Vereine), zum Theil in der Geſundheitspflege, wo ſie vielfach mit den
Hülfs- und Unterſtützungs-Vereinen zuſammenfallen (Kranken-Vereine).
Die Vereine für das geiſtige Leben haben zu ihrem Gegenſtand
theils den Bildungsberuf (Leſevereine und ähnliche), theils die Fach-
bildung ihrer Mitglieder (Vereine für Fachbildungsanſtalten, Handels-
akademien ꝛc., wiſſenſchaftliche Vereine aller Art), theils die Volks-
bildung, theils endlich die allgemeine Bildung. Dahin gehören im
weiteſten Sinne die geſelligen Vereine, die faſt immer mit einem geiſti-
gen Bildungselemente verbunden ſind, dann die Kunſtvereine, Volks-
ſchriftenvereine und andere. Schon hier kann ſich das Element der
Geſellſchaft, der Zweck eines Einzelerwerbes, mit dem des Vereins ver-
ſchmelzen, wo eine Bildungsanſtalt (z. B. Theater, Muſeum, Bibliothek)
auf Aktien errichtet wird; oft iſt ſogar eine ſolche Verſchmelzung der
Sache ſehr förderlich, indem ſie die Strenge der Geſellſchaftsverwaltung
in die Vereinsverwaltung hineinbringt.
Die Vereine für das wirthſchaftliche Leben theilen ſich in zwei
Hauptgruppen.
Die erſte Gruppe bilden die Unternehmungsvereine, in denen
die Vereinigung das Mittel iſt, das kleine Capital der Herrſchaft des
Größengeſetzes der Capitalien zu entziehen und an den Vortheilen des
großen Capitals Theil zu nehmen. Dieß geſchieht theils durch die
organiſche Verbindung der kleinen Ueberſchüſſe zu einem Geſammtcapital
in der Form der Aktie, theils durch die Verbindung des Einzelcredits
mit dem der andern als Gegenſeitigkeit, theils durch die Verſchmelzung
[36] beider, indem ſowohl Capital als Credit von den Mitgliedern herge-
geben wird. Im erſten Falle entſtehen die Aktienvereine, im zweiten
die wechſelſeitigen Vereine, im dritten entweder die Gewerbe-
banken, wo das Capital von der einen Gruppe der Mitglieder als
Aktionäre, der Credit als wechſelſeitige Haftung von der andern, den
Theilnehmern, hergegeben wird, — oder die Vorſchußkaſſen, bei
denen ſowohl das Capital als der Credit von allen Mitgliedern zu-
ſammengebracht und einheitlich verwaltet wird. Es iſt klar, daß in
dem Unternehmungsverein mit dem Intereſſe der Mitglieder auch das
Weſen und Recht der Geſellſchaften vorwaltet, obgleich die Wirkung
für die geſammte Entwicklung unabweisbar in allen zugleich lebendig
iſt. Dieſe Doppelnatur dieſer großen Vereinsgruppe kommt dadurch
zur Erſcheinung, daß man ſie eben ſo oft und mit gleichem Recht
„Geſellſchaften“ und „Vereine“ nennt.
Die zweite Gruppe bilden die Intereſſenvereine, deren Objekt
und Ziel nicht der Erwerb der Mitglieder, ſondern die Entwicklung
und Herſtellung der Bedingungen für die einzelnen Zweige der
Volkswirthſchaft, und zwar ſowohl der geiſtigen als der materiellen iſt.
Dahin gehören alle Gewerbevereine und Landwirthſchaftsvereine nebſt
ihren Neben- und Unterarten. Durch ihre innige Beziehung zur Volks-
wirthſchaftspflege nehmen ſie zum Theil den Charakter von Anſtalten
an, und werden fähig, direkte Hülfe vom Staate zu empfangen.
Die Vereine für das geſellſchaftliche Leben ſind diejenigen,
welche ſich zur Aufgabe ſtellen, die aufſteigende Claſſenbewegung
durch ihre Mittel und Thätigkeiten zu fördern. Sie theilen ſich in
drei Gruppen.
Die Unterſtützungsvereine werden durch die Beiträge der
höheren Claſſen gebildet und auch von ihnen verwaltet. Ihr Gebiet
iſt das der Noth der niederen Claſſe; ihre Aufgabe die Bekämpfung
derſelben (Armenvereine, Krankenvereine, Krippenvereine u. a.).
Die Hülfsvereine ſind diejenigen, in denen die höhere Claſſe
die Mittel der Selbſthülfe von der niederen ſammelt und ſie zum Vor-
theile derſelben verwaltet. Dahin gehören namentlich Sparkaſſen und
zum Theil die unterſten Formen der Vorſchußkaſſen, ſo lange der Vor-
ſchuß nicht zur Produktion, ſondern zur Conſumtion gegeben wird.
Das Vereinsweſen der Selbſthülfe iſt nun ohne Zweifel das
wichtigſte und zukunftreichſte Gebiet der geſellſchaftlichen Vereine. Es
umfaßt alle Vereine, in denen die niedere Claſſe durch eigne Kraft
ihren Mitgliedern die Bedingungen der aufſteigenden Bewegung darzu-
bieten ſtrebt. Sie theilen ſich in zwei Gruppen.
Die Arbeitervereine wollen den Mitgliedern theils die Bedin-
[37] gungen des Erwerbes durch Gemeinſchaft der Elemente aller Pro-
duktion, des Stoffes oder Kapitals und der Arbeit, für beſtimmte
Arten der Produktion bieten, und dieſe Art nennen wir die Arbeiter-
genoſſenſchaft; oder ſie wollen den Reinertrag im Verdienſte ſichern
und heben durch Gemeinſchaft der Conſumtion, gemeinſchaftlichen Kauf
und Verkauf der Lebensbedürfniſſe, und das ſind die Wirthſchafts-
genoſſenſchaften. Beide Arten können nun ſo viel Erwerb machen,
daß ſie, wenn ſie denſelben nicht vertheilen, zu der Claſſe der Vorſchuß-
kaſſen übergehen; daher denn die Verwechslung der letztern mit den
Genoſſenſchaften überhaupt, die viel Unklarheit in dieß Gebiet gebracht
hat, deſſen hohe Bedeutung nicht zu verkennen iſt.
Die Arbeiterverbindungen dagegen wollen durch die Vereini-
gung der Arbeiter Preisſteigerungen des Lohnes von den Arbeit-
gebern erzwingen. Es iſt ein wirthſchaftlicher Krieg durch Organiſirung
der beiden Elemente aller Produktion, oft eben ſo unvermeidlich, immer
aber ſo unheilſam als der wirkliche Krieg.
Dieß nun ſind die großen Grundformen des Vereinsweſens. Die
Funktion des letzteren beſteht demnach darin, daß alle dieſe Arten
gleichzeitig wirkſam ſind, auf allen Punkten die Kraft der Intereſſen
und die der Individualitäten zur Geltung bringen, und ſo das Leben
jedes Einzelnen in das der Gemeinſchaft hineinziehen. Die Gewalt
dieſer Erſcheinungen iſt eine große; wir ſtehen erſt am Beginne ihrer
Entwicklung; der nächſte und allgemeinſte Erfolg aber iſt die Thatſache,
daß nur eine tüchtige, ihrer großen Aufgabe bewußte Volksvertretung
fähig iſt, in jener Vielgeſtaltigkeit die Einheit des ſtaatlichen Lebens
aufrecht zu halten.
Die Baſis dafür iſt das Vereinsrecht.
III. Das Syſtem des Vereinsrechts.
Das Vereinsrecht iſt wie das der freien Verwaltung überhaupt
theils ein öffentliches, theils ein inneres. Es iſt indeß klar, daß bei
der Verſchiedenheit aller einzelnen Vereine das öffentliche wie das innere
Vereinsrecht nur diejenigen Grundſätze enthalten kann, welche für alle
Arten des Vereinsweſens gleichmäßig gelten. Und obwohl es dafür
keine irgendwie ausreichende Geſetzgebung gibt, ſo ſind dieſelben den-
noch ſehr einfach.
Das öffentliche Vereinsrecht der polizeilichen Epoche beruhte
darauf, die Vereine vorzugsweiſe als eine Macht anzuſehen, und ſtrebte
daher vor allem der Gefahr zu begegnen, die in dieſen Erſcheinungen
zu liegen ſchien. Daher denn die ſtrenge Oberaufſicht, auf Grundlage
[38] der Erlaubniß des Verbotes und der ſcharfen Ueberwachung. Die ver-
faſſungsmäßige Epoche, nach Ueberwindung des erſten Eindruckes, daß
die Vereine abſolut frei ſein ſollten, erkennt jetzt in ihnen Organe
des lebendigen, ſelbſtthätigen Staatsbürgerthums und der Vollziehung,
und aus dieſem Geſichtspunkte entſteht das neue öffentliche Vereins-
recht unſerer Zeit.
Dieß öffentliche Vereinsrecht iſt nun nichts anderes, als die An-
wendung der Principien der juriſtiſchen Perſönlichkeit, der Autonomie
und der Oberaufſicht auf das Vereinsweſen.
Demnach iſt jeder Verein vermöge ſeiner der Regierung anzuzei-
genden Conſtituirung eine juriſtiſche Perſönlichkeit. Der Genehmigung
bedürfen nur die Vereine, welche ein beſonderes Recht der vollziehenden
Gewalt oder eine Unterſtützung des Staats nöthig haben (Eiſenbahnen,
Banken mit Notenausgabe).
Die Regierung hat das Recht, die Thätigkeit der Vereine zu beob-
achten, dieſelben zu ſiſtiren und die Vereine zu ſuſpendiren. Auflöſungen
ſollen nur vom Gericht ausgeſprochen werden.
Jeder Verein, als Organ des öffentlichen Lebens, muß als juri-
ſtiſche Perſönlichkeit dem Gerichte, in ſeiner Thätigkeit dem Publikum
bekannt ſein. Daher ſind geheime Vereine an und für ſich ver-
boten. Aus dem erſten Satze folgt, daß jeder Verein ſich und ſeine
Organe dem Gerichte anzuzeigen hat; aus dem zweiten folgt, daß
jeder Verein ſeine Rechenſchaftsberichte veröffentlichen muß. Ge-
nehmigung der Beſchlüſſe, ſelbſt bei Statutenänderungen, tritt nur
da ein, wo die Genehmigung der Conſtituirung aus den obigen Grün-
den nothwendig ward.
Das innere Vereinsrecht entſteht ſeinerſeits durch die — in der
bisherigen Geſetzgebung höchſt mangelhafte — Scheidung der drei Or-
gane und ihrer Funktion. Dabei iſt feſtzuhalten, daß es die große
Aufgabe der Aktiengeſellſchaften war und bleiben wird, vermöge des
wirthſchaftlichen Intereſſes der einzelnen Mitglieder, das nur bei ihnen
recht lebendig iſt, eine ſtrenge und klare Formulirung des inneren
Vereinsrechtes zu erzeugen.
Das Präſidium vertritt die Einheit. Zunächſt nach außen,
indem ſeine Zuſtimmung zu jedem Akte des Vereins erforderlich iſt,
um als Vereinsakt zu gelten. Nach innen hat das Präſidium die
Statuten und das ſtaatliche Recht gegenüber den Organen des Vereins
zur Geltung zu bringen und kann daher die Beſchlüſſe ſiſtiren. Dafür
iſt es aber nicht bloß verantwortlich, ſondern auch haftbar.
Die Generalverſammlung iſt der beſchließende Körper. Sie
iſt nothwendig. Ihre Beſchlüſſe ſind gegenüber den übrigen Organen
[39] des Vereins Geſetze. Es gibt keinen Theil des Vereinsweſens, über
welchen ſie nicht berechtigt wäre Beſchlüſſe zu faſſen. Wenn die Sta-
tuten ihr beſtimmte Aufgaben ausdrücklich reſerviren, ſo bedeutet das,
daß dieſe Gebiete ohne ihre Zuſtimmung gar nicht beſtimmt werden
dürfen. Jedes Mitglied iſt berechtigt Theil zu nehmen; es iſt dafür
gleichgültig, daß die Mitgliedſchaft in ſehr verſchiedener Weiſe erworben
werden kann. Jedes Mitglied ſollte eine beſchließende Stimme haben.
Jedes Mitglied ſollte Anfragen ſtellen können.
Der Verwaltungsrath iſt die vollziehende Gewalt. Er hat
daher das Analogon der Verordnungsgewalt, die Vollzugsverordnung,
die eigentliche Verordnung und ſelbſt die Nothverordnung gegenüber
den Beſchlüſſen der Generalverſammlung. Dafür iſt er verantwortlich
im Allgemeinen und haftbar im Beſondern. Nur müſſen dieſe Grund-
ſätze, da die Generalverſammlungen nur wenig thätig ſein können, in
erhöhtem Maße Anwendung finden.
Die Controle ſollte durch ein eigenes Organ, den Reviſions-
ausſchuß, mit eigenem Berichte und eigener Stellung ſtattfinden. Die
Generalverſammlung ſollte das Abſolutorium immer erſt auf Grund-
lage dieſes Berichts machen. Gerade hier ſind die Geſetze wie die
Statuten am mangelhafteſten.
Die Direktion iſt das Analogon des Behördenſyſtems, jedoch
weſentlich modificirt. Sie iſt nur dem Verwaltungsrath verantwort-
lich, aber dem Vereine haftbar. Die Haftbarkeit bezieht ſich bei ihr
auch auf den Mangel an Fachkenntniß, nicht bloß auf ſonſtiges Ver-
ſchulden. — Die Angeſtellten ſtehen im einfachen Dienſtverhältniß, das
aber allerdings ein Analogon des Amts iſt, und daher beſtändige und
wohlbegründete Neigung hat, auch die Grundſätze und Rechte des
Staatsdienſtes auf ſich anzuwenden. Ob und wie weit das thunlich
iſt, hängt dann weſentlich von Art und Umfang des Vereins ab.
Bisher mangelt in der Geſetzgebung aller europäiſchen Staaten
eine einheitliche Auffaſſung des Vereinsweſens; nur einzelne Arten
haben eine eingehende Behandlung gefunden. Um ſo wichtiger iſt die
Natur der Sache, deren Studium als eine weſentliche Aufgabe der
Verwaltung angeſehen werden muß.
Wir dürfen hier, nachdem wir jede Einzelheit und jedes Citat ſtrenge
vermieden haben, wohl auf unſere Lehre von der vollziehenden Ge-
walt, 2. Auflage in 3 Bänden (Regierungsrecht, Selbſtverwaltungsrecht und
Vereinsrecht), 1869—70, verweiſen, in welcher man eine eingehende Erörterung
aller betreffenden Punkte finden wird.
[[40]][[41]]
Die Innere Verwaltung.
Begriff und allgemeiner Theil.
[[42]][[43]]
Die Innere Verwaltung.
Allgemeiner Theil.
Begriff und Idee derſelben.
Die innere Verwaltung iſt nun ihrem formalen Begriffe nach die
Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten des Staates, welche dem Einzelnen
die von ihm ſelber durch eigne Kraft und Anſtrengung nicht erreichbaren
Bedingungen ſeiner individuellen Entwicklung darbietet.
Die Idee der inneren Verwaltung beruht darauf, daß das Ideal
der menſchlichen Entwicklung der vollendete Menſch iſt. Die Vollendung
des Einzelnen aber iſt durch ihn allein nicht möglich. Nur die Gemein-
ſchaft der Menſchen iſt fähig, die Mängel der individuellen Kraft zu
erſetzen, indem in ihr und durch ſie Alle für jeden Einzelnen thätig
ſind. Jeder Einzelne aber iſt ſelbſt wieder ein Theil dieſer Gemein-
ſchaft. Der Fortſchritt des Einzelnen durch die Hülfe der Gemeinſchaft
erhebt und vermehrt daher die Kraft der letzteren, für jeden zu ſorgen.
Dadurch wird die Entwicklung jedes Einzelnen durch die thätige Hülfe
Aller wieder zur organiſchen Bedingung dafür, daß die Gemeinſchaft
ſelbſt kräftiger und fähiger werde, jedem Mitgliede förderlich zu ſeyn;
in der Thätigkeit für jeden Einzelnen ſorgt daher die Geſammtheit für
ſich ſelber, und durch ſie wieder der Einzelne für den andern, und ſo
ſagen wir, daß erſt in der inneren Verwaltung das höchſte Princip
alles menſchlichen Geſammtlebens, nach welchem die Entwicklung aller
Einzelnen ſich gegenſeitig bedingt und erzeugt, zur That wird.
Die Perſönlichkeit, welche dieſe Idee der inneren Verwaltung will
und vollzieht, iſt der Staat. Aus ſeinem auf dieſelbe gerichteten
Willen entſpringt die Verwaltungsgeſetzgebung; die Verwirk-
lichung derſelben iſt der Organismus der vollziehenden Gewalt, und
zwar in der Weiſe, daß hier Regierung, Selbſtverwaltung und Vereins-
weſen gemeinſchaftlich arbeiten. Erſt in der inneren Verwaltung er-
ſcheinen alle drei Organismen der vollziehenden Gewalt gleichmäßig
[44] berechtigt und beſtimmt, thätig zu ſein, jeder nach ſeiner Natur und
ſeiner Stellung. Die Geſammtheit aller dieſer Thätigkeiten aber faſſen
wir nun zuſammen, indem wir die innere Verwaltung als den für
die höchſte Entwicklung jedes Einzelnen arbeitenden organiſchen Staat
bezeichnen.
Die Gränze dieſer Arbeit des Staates ergibt nun das Princip
der inneren Verwaltung, das im inneren Verwaltungsrecht ſeine
feſte Geſtalt empfängt, in der Geſchichte der Elemente ſeine Entwicklung
zeigt, in der Vergleichung das Leben Europa’s umfaßt, und im
Syſteme ſich zu einem organiſchen Ganzen entwickelt.
Das Princip der inneren Verwaltung.
Das Princip der inneren Verwaltung beruht darauf, daß auch in
der Gemeinſchaft jeder Einzelne eine ſelbſtändige Perſönlichkeit bleibt.
Es folgt, daß nur dasjenige für ſie eine wahre Entwicklung enthält, was
ſie ſich ſelbſt durch eigene Thätigkeit gewannen. Die Gränze für die
Aufgabe des Staates in ſeiner inneren Verwaltung iſt mithin dadurch
gegeben, daß die Gemeinſchaft dem Einzelnen nie darbieten darf, was
er durch eigene Kraft ſich erwerben kann; nicht die perſönliche Ent-
wickelung, geiſtige, phyſiſche, wirthſchaftliche oder ſociale, ſondern nur
die Bedingungen derſelben ſoll die Verwaltung geben. Jede Ver-
waltung, die mehr gibt, verdirbt den Fortſchritt des Volks; jede, die
weniger gibt, hindert denſelben. Das höchſte Verſtändniß aller inneren
Verwaltung beſteht darin, das richtige Maß zunächſt an ſich, dann in
der Wirklichkeit den gegebenen und wechſelnden Verhältniſſen entſprechend,
zu finden und feſtzuhalten. Und das iſt keineswegs eine leichte Aufgabe.
Thut ſie das aber, ſo erzeugt ſie das höchſte Gut, die wirkliche
Freiheit. Die Freiheit der Verfaſſung beſteht in dem Recht der Ange-
hörigen des Staates, an ſeinem Willen Theil zu nehmen; die Freiheit
der Vollziehung in ihrem Rechte, in Selbſtverwaltung und Verein an
der vollziehenden Gewalt mitzuarbeiten; die wirkliche Freiheit aber be-
ſteht in dem Beſitz der Bedingungen der individuellen Selbſtändigkeit.
Für dieſe aber ſorgt die innere Verwaltung; ſie iſt das wahre Lebens-
princip derſelben. Und ſo wird die innere Verwaltung die Arbeit des
Staats für die höchſten Bedingungen der perſönlichen Freiheit. Es iſt
ein hoher Grad von Verſtändniß des Geſammtlebens erforderlich, um
dieß zu bethätigen. Die Geſchichte hat Jahrtauſende gebraucht, um
jenes abſolute Geſetz zum Ausdruck zu bringen. Wir ſind in dem
Beginn der Epoche, wo die Staaten dieß erkennen; wir ſind im Ueber-
gange von der Zeit der verfaſſungsmäßigen zur perſönlichen Freiheit,
[45] und damit im Uebergange von der Zeit, wo die Vollendung des Staats-
begriffes und der Staatsthätigkeit in der Verfaſſung gefunden wurde,
zu derjenigen, wo der Werth einer Verfaſſung nach demjenigen
gemeſſen wird, was ſie für dieſe Verwaltung erzeugt und
leiſtet.
Das Gefühl dieſer Wahrheit iſt nicht neu. Allein das was wir
für die letztere in kommender Zeit zu thun haben, beſteht in der prak-
tiſchen Durchführung dieſes Gedankens in allen einzelnen Gebieten des
Staatslebens. Aus dem Principe der Verwaltung muß eine ſyſtema-
tiſche und zugleich praktiſche Wiſſenſchaft derſelben werden. Die Baſis
der letzteren aber iſt zuerſt das Syſtem der Verwaltungsaufgaben, dann
das Verſtändniß ihrer bisherigen geiſtigen und materiellen Geſchichte.
Das innere Verwaltungsrecht.
Das innere Verwaltungsrecht iſt es nun, welches dieſer großen
Funktion des Staatslebens ſeine feſte Geſtalt gibt. Es iſt daher formell
die Geſammtheit der auf die Verwaltungsthätigkeit gerichteten Willens-
beſtimmungen des Staats. Allein ſeinem inneren Weſen nach bringt
es, gleichviel ob mit oder ohne Bewußtſein, durch die Geſammt-
auffaſſung des Staats von ſeiner eigentlichen Aufgabe in ſeiner eigenen
inneren Welt zum Ausdrucke. Das nun nennen wir den Geiſt des
innern Verwaltungsrechts. Seine endliche Erſcheinung iſt allerdings
ſtets das einzelne Geſetz; allein faßbar wird es in der Verbindung
der einzelnen Geſetze untereinander, und in ihnen erſcheint erſt das
innere Verwaltungsrecht jeder Zeit und jedes Staats als ein Ganzes.
Nach der Anſchauung dieſes Ganzen aber muß die wahre Lehre vom
inneren Verwaltungsrecht vor allem ſtreben.
Das ganze Gebiet deſſelben zerfällt nun in zwei Kategorien.
Wir nennen den allgemeinen Theil des inneren Verwaltungs-
rechts die Geſammtheit derjenigen rechtlichen Beſtimmungen, nach welchen
die vollziehende Gewalt mit ihren Organen, ihren Principien und ihren
Rechten auf die innere Verwaltung Anwendung findet. Und es iſt
kein Zweifel, daß gerade in der inneren Verwaltung das eigenliche
Weſen der Regierung, Staatsverwaltung und Verein zur rechten Gel-
tung gelangt. Jedes einzelne Gebiet der inneren Verwaltung hat daher
wieder gleichſam ſeinen allgemeinen Theil, deſſen genaue Beachtung eben
ſo wichtig als ſchwierig iſt.
Der beſondere Theil oder das eigentliche Verwaltungsrecht enthält
nur die Beſtimmungen oder das geltende Recht für die einzelnen
ſelbſtändig geſetzten Gebiete als Aufgaben der Verwaltung. Die formale
[46] Einheit aller dieſer bei allen Völkern unendlich reichhaltigen und in
ſtetem Wechſel und Werden begriffenen Rechtsbildung iſt nun das
Syſtem der Verwaltung. Die höhere Einheit iſt der Geiſt, aus dem
die einzelnen Beſtimmungen hervorgehen. Bisher nun ſind dieſelben in
höchſt zerfahrener Weiſe erlaſſen, und es iſt ſchwer, ſich von ihnen ein
weſentliches Bild zu machen. Allein dennoch fallen ſie alle unter gewiſſe
gemeinſame Geſichtspunkte für die in ihnen enthaltene Rechtsbildung.
Alles Verwaltungsrecht unterſcheidet ſich nämlich formell in das
geſetzmäßige und das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht.
Das erſtere hat zu ſeinem Inhalt ſtets, vermöge der Natur des Geſetzes,
die allgemeinen Verhältniſſe und Principien; das letztere enthält weſentlich
die beſonderen Anwendungen des Geſetzes auf beſtimmte Fragen und
Zuſtände. Das verordnungsmäßige Verwaltungsrecht entſteht daher
durch die Dinge ſelbſt, das geſetzmäßige dagegen ſetzt nicht bloß einen
ſelbſtändigen Organismus der geſetzgebenden Gewalt, ſondern auch ein
höheres Verſtändniß des ganzen menſchlichen Lebens in ſeinen Grund-
lagen und Principien voraus. Das geſetzmäßige Verwaltungsrecht
gehört daher ſtets der höheren geiſtigen Entwicklung eines Volkes; das
verordnungsmäßige dagegen wird mehr durch die wirkliche Thätigkeit
des letzteren erzeugt. Das erſtere dauert mit ſeinen Beſtimmungen
länger, das zweite wechſelt raſcher. So erſetzen ſich beide und erfüllen
das Leben; immer aber iſt ihre Wirkung eine wechſelſeitige. Indem die
Beſtimmungen der Verordnung allmälig zu feſten und organiſchen Ge-
ſetzen werden, müſſen ſich aus den Geſetzen wieder die Verordnungen
entwickeln, und ſo zuſammen ein eben ſo großes als lebendiges Ganze
bilden.
Dennoch iſt für die innere Verwaltung das nicht erreichbar, was
für die übrigen Theile der Verwaltung als das höchſte Ziel erſcheint,
eine Codification des beſtehenden Verwaltungsrechts; ſondern die
höhere Einheit des letzteren wird ſtets durch die Wiſſenſchaft gegeben
werden müſſen. Daher iſt die Verwaltungslehre die natürliche und
nothwendige Grundlage des Syſtems des Verwaltungsrechts. In dem-
ſelben aber bildet jeder Theil wieder ein ſelbſtändiges Ganzes; und
jeder dieſer Theile hat daher auch ſeine Geſchichte, die jedoch wieder
von den allgemeinen Faktoren beherrſcht wird.
Elemente der Geſchichte der Verwaltung und ihres Rechts.
Offenbar nun hat die Verwaltung in ihrem weiteſten Sinne, als
Thätigkeit der Gemeinſchaft für ſich ſelber, zu allen Zeiten ihre Ge-
ſchichte gehabt; ſie iſt wie die Einheit der Menſchen ſo alt wie die Welt.
[47] Allein im eigentlichen Sinne des Wortes reden wir doch erſt da
von einer Geſchichte, wo dieſe Verwaltung zum ſelbſtändigen und be-
wußten Gegenſtand des Staatswillens wird. Auch hier empfängt die-
ſelbe erſt ihren feſten Inhalt durch das Recht. Und die Geſchichte der
inneren Verwaltung erſcheint daher zunächſt als die Geſchichte des
Verwaltungsrechts.
Allerdings aber hat eine ſolche Rechtsbildung einen ſelbſtändigen
und ſelbſtthätigen Staat zur Vorausſetzung. Der Träger und Aus-
druck dieſes Staates iſt das Königthum. Und dadurch ergibt ſich die
bedeutſame Thatſache, daß die eigentliche Geſchichte der inneren Ver-
waltung erſt mit dem ſelbſtändigen Königthum, das iſt ungefähr ſeit
dem fünfzehnten Jahrhundert, beginnt, und daß die großen Epochen,
welche ſie ſeit dieſer Zeit durchlaufen hat, ſich auf allen Punkten an
das Königthum und die von ihm ausgehende Regierung anſchließen.
Man wird daher ſagen müſſen, daß bis zur Entwicklung dieſes
ſelbſtändigen Königthums das innere Verwaltungsrecht ſtatt auf der
Idee des Staats, vielmehr auf dem Weſen und der Geſtalt der Ge-
ſellſchaftsordnung beruht. Dieſe rein geſellſchaftliche Geſtalt derſelben
bildet daher den erſten großen Abſchnitt in der Geſchichte des Ver-
waltungsrechts. Der zweite entſteht dadurch, daß das Königthum die
Verwaltung in ſeine Hand nimmt. Der dritte endlich, in deſſen Be-
ginne wir ſtehen, beruht darauf, daß die Selbſtthätigkeit des Volkes
neben der der Regierung auftritt, und Selbſtverwaltung und Vereins-
weſen auf allen Punkten zur Geltung gelangen.
Nach dieſen entſcheidenden Elementen geſtaltet ſich nun die Geſchichte
der inneren Verwaltung in folgender Weiſe.
Die beiden Grundformen der noch ohne Königthum und Regierung
ſich bildenden Anfänge der inneren Verwaltung bezeichnen wir als die
der Grundherrlichkeit und als die corporative Verwaltung.
Sie greifen ſo tief und in Deutſchland namentlich ſo weit bis in die
neueſte Zeit hinein, daß es nothwendig iſt, wenigſtens ihren Charakter
feſtzuſtellen.
Wie die Grundherrlichkeit ſich aus der freien Geſchlechterverfaſſung
des alten Bauerndorfes ſeit dem zehnten Jahrhundert entwickelt hat,
das darf hier als bekannt vorausgeſetzt werden. Einmal entſtanden
aber, bildet ſie alsbald für alle Verhältniſſe, und ſo auch für die
erſten Anfänge der inneren Verwaltung ihren ſpecifiſchen Charakter aus.
Ihr großes Princip iſt das Eigenthumsrecht an allen öffentlichen Rechten
vermöge des Eigenthumsrechts an Grund und Boden. Jede Grund-
herrlichkeit iſt daher zwar in der Verfaſſung dem Ganzen, rechtlich ver-
treten durch die Idee der Lehnshoheit, faktiſch durch den höchſten
[48] Lehnsherrn, unterworfen; allein in allen Verhältniſſen der Ver-
waltung iſt die Grundherrlichkeit ſouverain wie ihre Grund-
lage, das Eigenthumsrecht. Jede Grundherrlichkeit bildet daher einen
ſouverainen, von dem perſönlichen Willen des Herrn abhängenden Ver-
waltungskörper und zwar zugleich für Steuer, Rechtspflege und innere
Verwaltung (Schulen, Wege, Polizei, Grundbuchsweſen u. ſ. w.).
Damit iſt dieſe Verwaltung im Princip auf die individuelle Willkür,
in ihren Mitteln auf das äußerſte Minimum, in ihrem Inhalte aber
ſo ſehr auf der Herrſchaft des Beſitzenden über den Nichtbeſitz baſirt,
daß ſie zuletzt kaum noch den Namen derſelben verdient. Die Beſeiti-
gung derſelben durch die königliche Regierung war daher eine der großen
Bedingungen alles Fortſchrittes, und in der That fängt der Kampf
deſſelben auch faſt mit dem Auftreten der wahren königlichen Gewalt
an. Die Form, in der ſich dieſe königliche Verwaltung neben und über
der grundherrlichen verwirklicht, iſt nun die Regalität. Das Regal
iſt ſeinem wahren Weſen nach das allerdings auch urſprünglich auf
dem Eigenthumsrecht der Krone beruhende königliche Verwaltungs-
recht. Es gibt daher hiſtoriſch ſo viele Regale, als es Gebiete der
Verwaltung gibt; ſie erklären ihrerſeits die Geſchichte der inneren Ver-
waltung; nur muß man ſie als hiſtoriſche Erſcheinungen und nicht als
Begriffe behandeln wollen. Der Kampf zwiſchen Grundherrlichkeit und
Regalität dauert nun bis zum ſiebenzehnten Jahrhundert in England,
bis zur Revolution in Frankreich und bis auf die Gegenwart in Deutſch-
land, wo ſich die erſtere noch immer in nicht unbedeutenden Reſten als
„Patrimonialgerichtsbarkeit“ erhält, welche neben der Rechts-
pflege auch einen nicht unbedeutenden Theil der eigentlichen Verwal-
tung, namentlich Armenweſen, Wegweſen und Polizeiweſen ſelbſtändig
behält. Nur in Oeſterreich exiſtirt auch keine Spur mehr von dieſer
hiſtoriſchen Geſtalt, während für das Folgende gerade das Umgekehrte
der Fall iſt.
Auch das Ständeweſen und die Körperſchaften ſetzen wir als be-
kannt voraus. Immerhin ſind die Körperſchaften freiere und höhere
Formen der Verwaltung als die Grundherrſchaften. So iſt das An-
gehören an die einzelne Körperſchaft ein Lebensberuf, und die letztere
hat daher die Aufgabe und das Recht, die Erfüllung deſſelben, die
wirkliche Thätigkeit des Einzelnen zu überwachen und zu leiten. Allein
ſie ſind ihrem eigenſten Princip nach vereinzelt. Sie vertreten daher
in ihrer Rechtsbildung kein allgemeines, ſondern immer nur ein beſon-
deres Intereſſe, werden naturgemäß feindlich gegen jedes andere, ge-
ſtalten ihre beſondere Aufgabe zur rechtlichen Ausſchließlichkeit und
werden ſo allmählig zu Feinden des allgemeinen Fortſchrittes. Auch
[49] mit ihnen beginnt daher die entſtehende Regierung ihren Kampf, um
ſie der Idee und der Rechtsbildung der Verwaltung zu unterwerfen.
Die Form, in der dieſer Kampf aufgenommen und geführt wird, iſt
das Eingreifen der Krone in ihre Verwaltung durch das Princip der
Beſtätigung der Statuten und der daraus ſich ergebenden Ober-
aufſicht, von denen die Entwicklung mit dem neunzehnten Jahrhun-
dert zu dem Princip der Aufhebung aller Vorrechte gelangt und die
alten ſtändiſchen Körperſchaften daher nur noch ſo weit beſtehen läßt,
als ſie vermöge ihres Beſitzes oder ihrer Funktion als Selbſtverwal-
tungskörper erhalten werden können.
Während nun dieſer große Proceß vor ſich geht, ſtellt ſich die
Regierung des neuen Königthums mit dem ſechzehnten Jahrhundert
grundſätzlich an die Spitze aller Verwaltung, und damit beginnt nun
eigentlich erſt das, was wir die Geſchichte der inneren Verwaltung
nennen. Wir ſcheiden hier drei große Grundformen, welche ihrerſeits
drei Stadien in der Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
bedeuten. Das Verhältniß derſelben zu einander iſt aber nicht das
der Ausſchließung des einen durch das andere, ſondern vielmehr die
Aufnahme des vorhergehenden in die folgenden. So entwickelt ſich
gleichzeitig mit der Freiheit des Princips der Reichthum ſeines Inhalts.
Das erſte Stadium iſt das der reinen, durch die Regierung her-
geſtellten Sicherheitspolizei. In ihm winden ſich die Zuſtände der
Völker aus dem Zuſtande des Fauſt- und Fehderechts heraus, und die
äußere Rechtsordnung als Bedingung alles Fortſchrittes wird gewonnen.
Das iſt die Zeit des ſechzehnten Jahrhunderts. Eine eigentliche Literatur
gibt es in dieſer Epoche noch nicht. Die Geſetze ſind vorwiegend Polizei-
geſetze, und ſelbſt da, wo ſie es dem Inhalte nach nicht ſind, wie etwa
die Armengeſetzgebung Englands oder die Arbeitergeſetze der deutſchen
Reichsabſchiede, ſind ſie es doch in Veranlaſſung und Zweck. Der
Unterſchied von Geſetz und Verordnung geht aber in dieſer Nothwendig-
keit für die Regierung, praktiſch durchzugreifen, verloren; der Wille
des Souverains wird alleinherrſchend, und damit iſt der Uebergang des
ſiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts zum aufgeklärten Deſpo-
tismus begründet.
Das zweite Stadium dieſer Geſchichte charakteriſirt ſich theoretiſch
als die rechtsphiloſophiſche Geſtalt der Verwaltungslehre, praktiſch
als die Hauptepoche der Volkswirthſchaftspflege. Das erſte entſteht
dadurch, daß die Rechtsphiloſophie, welche überhaupt das Weſen und
Princip des öffentlichen Rechts zum Bewußtſein bringen ſollte, natur-
gemäß zugleich das Princip für die Verwaltung ſucht, obgleich ſie den
formalen Begriff derſelben nicht hatte. Sie formulirt mit der Mitte
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 4
[50] des ſiebenzehnten Jahrhunderts dieſes Princip als den Eudämonis-
mus, die Pflicht und das Recht der Staatsgewalt, nicht etwa im
Namen eines Geſetzes, ſondern im Namen des Jus naturae das Wohl-
ſein aller durch die Gewalt der Polizei herzuſtellen. Sie lernt daher
mit dem achtzehnten Jahrhundert zwar zu unterſcheiden zwiſchen der
Wohlfahrts- und der Sicherheitspolizei, aber die Begriffe von Freiheit
und Unfreiheit ſind ihr gänzlich unbekannt. Die Regierung ſoll alles
für alle thun; aber ſie ſoll nur ſich ſelber verantwortlich ſein. Dieſe
Grundauffaſſung, welche weſentlich den Deutſchen angehört, und aus
der die Werke von Pufendorf und Wolf hervorgingen, empfängt nun
ihren poſitiven Inhalt durch die großen Schulen der Nationalökonomie.
Durch ſie entſteht der Grundzug in der Anſchauungsweiſe Europa’s,
daß der wirthſchaftliche Reichthum das höchſte Ziel der Saatsaufgabe
ſei; jede einzelne dieſer Schulen iſt ihrerſeits daher eben ſo ſehr ein
Verwaltungs- als ein volkswirthſchaftliches Syſtem; das Merkantilſyſtem
ſucht die Aufgabe der Regierung für die Volkswirthſchaft in Schutz
und direkter Staatshülfe, das phyſiokratiſche Syſtem in der Beſeitigung
der Privilegien und Hebung der Landwirthſchaft, das induſtrielle Syſtem
in der Förderung der gewerblichen Produktion. So liegt der Schwer-
punkt der Verwaltung dieſer Zeit in den Principien der National-
ökonomie; allein daneben entwickeln ſich auch ſchon in bedeutſamer
Weiſe die übrigen Gebiete. Zunächſt wird die praktiſche Polizei Gegen-
ſtand einer eigenen Wiſſenſchaft (bei Heumann Jus politiae und
Delamare De la police); dann entſtehen ſelbſtändige Geſetzgebungen,
wie über Geſundheitsweſen, Schulweſen, Wegeweſen, Waſſerrecht,
Grundbuchsweſen und andere; ſchon wird das Verſtändniß aller dieſer
Dinge als eine Bedingung der Verwaltung angeſehen, und das Ende
des vorigen Jahrhunderts ſieht dieſelben bereits zu einer ſelbſtändigen
Wiſſenſchaft erhoben, nur daß man ſich, über den Begriff nicht klar,
auch über den Namen nicht einigen kann, indem man ſie bald Cameral-
wiſſenſchaft, bald Polizeiwiſſenſchaft, bald Polizeirecht, bald alles zu-
gleich nennt. Aber das bleibt doch das Geſammtreſultat, daß die
innere Verwaltung allmählig als ein großes Ganze ihre Selbſtändigkeit
neben der Rechtspflege und der Staatswirthſchaft gewinnt, jedoch noch
von beiden als Nebenwiſſenſchaft zurückgedrängt erſcheint. Denn die
alte Rechtsphiloſophie hat die Fähigkeit verloren, den neuen Staat
auch als Thätigkeit zu begreifen; ſie weiß auch ſeit Kant in ihm nichts
zu ſehen als eine Rechtsordnung, und ihr höchſtes und letztes Ziel iſt
die Verfaſſung. Die Wiſſenſchaft, die allein berufen iſt, die Einheit
zum Ausdruck zu bringen, gelangt daher zwar zu ſehr tief gehenden
Unterſuchungen einzelner Gebiete der Staatsaufgaben, aber ſie bleiben
[51] unzuſammenhängend und zerſtreuen ihre Wirkung; ja das neunzehnte
Jahrhundert vermag nicht einmal die Höhe feſtzuhalten, die politiſch
in den Werken von H. Berg und juriſtiſch in denen von Fiſcher
ſchon gewonnen war. Die Codifikation iſt der Idee der Verwaltung
gegenüber unmächtig; es iſt klar, daß das neunzehnte Jahrhundert
einen andern Inhalt zur Geltung zu bringen hat. Und dieſer nun iſt
der ſociale Standpunkt der inneren Verwaltung.
Dieſer ſociale Standpunkt beginnt ſeinerſeits mit der Behandlung
des Armenweſens, und lange glaubte man, daß hierin das ſociale
Element ausſchließlich liege. Allein mit der Mitte unſeres Jahrhun-
derts tritt an ſeine Stelle das Bewußtſein von dem Gegenſatz der
Claſſen, und es wird klar, daß zuletzt alle innere Verwaltung ihren
Schlußpunkt in der Frage habe, was denn der Staat für dieſe
Claſſenbewegung zu thun habe und thun könne? Je weiter
wir kommen, je beſtimmter wird es uns, daß dieſe Frage nicht etwa
ein für ſich beſtehendes, in einem einzelnen Gebiete erſchöpftes Gebiet
enthält, ſondern daß ſie vielmehr die ganze innere Verwaltung
durchdringt. Das iſt der Standpunkt, auf dem wir ſtehen. Seine
Vorausſetzungen ſind einerſeits die freie Entwicklung der Selbſtverwal-
tung und des Vereinsweſens, andererſeits ein einheitliches, organiſches
Syſtem der inneren Verwaltung. Daß wir beider Dinge bedürfen, iſt
nicht mehr zu bezweifeln. Für beides arbeiten wir. Das erſtere kann
uns die Kraft geben, die ſociale Frage zu löſen, das zweite die Kate-
gorien, durch welche wir ihren Inhalt verſtehen. Aber die Löſung
ſelbſt gehört der Zukunft; denn nirgends mehr als hier ſoll man die
Gegenwart mit ihren Zweifeln, Kämpfen und ſelbſt mit ihren Erfolgen
als einen Durchgangspunkt für eine höhere, beſſere Zukunft zu erkennen
wiſſen.
Die nationale Geſtalt des inneren Verwaltungsrechts und die
vergleichende Rechtswiſſenſchaft.
Ohne Zweifel nun hat dieſe innere Verwaltung neben ihrer all-
gemeinen europäiſchen Entwicklung, wie wir ſie ſo eben charakteriſirt,
zugleich in jedem Staat eine individuelle Geſtalt, welche in vielfacher
Beziehung von der jedes andern weſentlich verſchieden iſt und daher
auch zuerſt als ein ſelbſtändiges Ganze betrachtet werden muß.
Andererſeits aber ſind die großen Grundlagen des Lebens wieder
in allen Staaten gleichartig und durch die Gemeinſamkeit der Geſittung,
der Wiſſenſchaft und der Erfahrung in gleichmäßiger Weiſe ausgebildet.
Es iſt bei genauerer Betrachtung nicht fraglich, daß gerade im Gebiete
[52] der inneren Verwaltung der Unterſchied des Rechts wie der Entwick-
lung deſſelben ein viel geringerer iſt, als es auf den erſten Blick
erſcheinen dürfte.
Es wird daher für dieſe Wiſſenſchaft, welche geiſtig umfaſſen ſoll,
was das Leben Europa’s faktiſch umfaßt, nothwendig, die Elemente
zu beſtimmen, welche die Beſonderheit erzeugen, und ſich die Aufgabe
zu vergegenwärtigen, welche die wahre Vergleichung dieſer Beſonder-
heiten zu löſen hat.
In der That kann es kaum zweifelhaft ſein, daß die nationale
Beſonderheit der inneren Verwaltung unſerer Zeit nicht mehr ſo ſehr
in den Principien und letzten Zielen beſteht, welche dieſelbe verfolgt,
als in der Natur der Organe, welche ſie zur Vollziehung bringt. In
den erſteren ſind die Staaten Europa’s gegenwärtig faſt alle gleich,
in den letzteren ſind ſie faſt alle von einander verſchieden. Daſ-
ſelbe Princip und Recht aber, je nachdem es von der Regierung, von
der Selbſtverwaltung oder vom Vereinsweſen zur Verwirklichung ge-
bracht wird, erſcheint in ſeiner öffentlichen Geltung und Wirkung ſo
verſchieden, daß man es zuweilen kaum wieder erkennt. Während
daher der quantitative Unterſchied der inneren Verwaltung in der Ent-
wicklung der einzelnen theoretiſchen und praktiſchen Conſequenzen eines
angenommenen Grundſatzes beſteht, liegt er qualitativ in dem Verhält-
niß der drei Grundformen der vollziehenden Gewalt zur Ausführung
deſſelben. Dieſes Verhältniß aber, als Corollar des Verfaſſungsrechts,
geht wieder mit Nothwendigkeit aus demjenigen Verhältniß hervor, in
welchem die drei geſellſchaftlichen Ordnungen zur Staatsgewalt ſtehen.
Auf dieſe Weiſe bringt das innere Verwaltungsrecht eines jeden Staats
in der That den ganzen Charakter eines Staats zum Ausdruck; eine
Vergleichung wird wieder nicht thunlich, ohne die ganze Individualität
des Staats vor Augen zu haben; und ſo entſteht der Begriff und
Inhalt der vergleichenden Verwaltungslehre. Dieſelbe hat auf
Grundlage der großen, ewig gleichen organiſchen Kategorien des Syſtems
die Unterſchiede des poſitiven Verwaltungsrechts aus dem lebendigen
Zuſammenwirken der geſellſchaftlichen Elemente mit den Faktoren des
geiſtigen, des wirthſchaftlichen und des ſtaatlichen Lebens zu erklären.
Ihr Princip muß ſein, daß jedes poſitive Recht eine hiſtoriſche Conſe-
quenz iſt; ihre Aufgabe, daſſelbe in dieſem ſeinem cauſalen Verhältniß
nachzuweiſen.
Geht man nun davon aus, ſo iſt es keinem Zweifel unterworfen,
daß es drei Grundgeſtaltungen der inneren Verwaltung in Europa
gibt, welche durch die drei großen Culturvölker unſeres Welttheiles
repräſentirt werden, und deren Betrachtung uns eigentlich erſt die
[53] unendliche Einfachheit des Lebens der Menſchheit in ſeinen letzten Ele-
menten, aber auch ſeinen unendlichen Reichthum in ſeinen einzelnen
Erſcheinungen erſchließt. Die erſte iſt die des engliſchen Volkes,
in welchem die Vollziehung und damit die innere Verwaltung grund-
ſätzlich auf der Thätigkeit der Selbſtverwaltung und des Vereinsweſens
beruhen, während die Regierung an beiden nur wenig — in vielen
Dingen viel zu wenig — Antheil hat. Die zweite bietet das fran-
zöſiſche Volk, in welchem die ganze innere Verwaltung faſt ausſchließ-
lich in den Händen der Regierung ruht, während Selbſtverwaltung
und Vereinsweſen faſt macht- und rechtlos ſind. Die dritte iſt das
deutſche Volk, welches in mannigfach verſchiedener Weiſe dennoch
ſtets denſelben Gedanken zum Ausdruck zu bringen trachtet, der per-
ſönlichen und der freien Verwaltung je ihren natürlichen und organiſchen
Antheil an dem Leben des Staats zu geben. England und Frankreich
ſind daher mit ihrem Charakter im Ganzen vorläufig fertig und arbeiten
am Einzelnen in der inneren Verwaltung; Deutſchland iſt noch mitten
in der Arbeit für ſeinen Charakter, hat dagegen im Einzelnen bereits
Außerordentliches geleiſtet, während es in andern einzelnen Gebieten
oft noch ſehr weit zurück iſt. Das durch alle Gebiete des innern Lebens
Europa’s durchzuführen, iſt die größte Aufgabe, welche der menſchlichen
Wiſſenſchaft geſtellt werden kann. Sie überſteigt jede einzelne Kraft,
und darum iſt ſie Aufgabe unſeres Jahrhunderts.
Die erſte Vorausſetzung dafür iſt nun wohl die, daß man ſich
einig werde über die organiſchen Grundbegriffe und das Syſtem deſſen,
was wir nun als die Verwaltungslehre vorzulegen haben.
[[54]]
Das Syſtem der inneren Verwaltung.
Aus den obigen allgemeinen Begriffen entſteht nun das Syſtem
der inneren Verwaltung, nicht etwa indem der Begriff und das Weſen
der letzteren weiter unterſucht werden, ſondern indem das Objekt der-
ſelben, das Leben der Perſönlichkeit in der menſchlichen Gemeinſchaft,
ſich ſelbſt als eine organiſche, aus ſehr verſchiedenen Gebieten ein
Ganzes bildende Einheit zeigt. Während die Idee der Verwaltung
nun dieß Ganze im Auge hat, fordert natürlich die Verſchiedenheit der
einzelnen Gebiete wieder eine verſchiedene, zu Geſchichte und Recht ſich
ſelbſtändig entwickelnde Thätigkeit der Gemeinſchaft. Das heißt, jeder
Theil des menſchlichen Lebens hat ſeine Verwaltung. Damit entſteht
ein Reichthum und eine Vielgeſtaltigkeit des thätigen Daſeins der
Menſchheit, die jedes andere Leben unendlich übertrifft. Aber in dieſer
faſt unabſehbaren Mannigfaltigkeit, dem beſtändigen Wechſel des Ein-
zelnen und der nationalen Geſtaltung des Ganzen muß doch die orga-
niſche Einheit das letztere beherrſchen. Dieſe nun iſt, wiſſenſchaftlich
zum Bewußtſein gebracht, das Syſtem. Das Syſtem der inneren
Verwaltung erfüllt daher die allgemeine Idee derſelben mit ſeinem
mächtigen Leben voll concreter Kämpfe, voll feſt beſtimmter, juriſtiſch
zum Ausdruck gebrachter Thatſachen. Und deßhalb iſt es ſelbſt nicht
ein Hülfsmittel und nicht eine Sache der Zweckmäßigkeit, ſondern eine
abſolute Vorausſetzung der geiſtigen Beherrſchung dieſes ſo hochwichtigen
Lebensgebietes.
Die Elemente dieſes Syſtemes erſcheinen daher ihrerſeits als die
elementaren Grundverhältniſſe des perſönlichen Lebens ſelbſt. Aus dem
rein für ſich geſetzten Leben der Perſon geht der erſte Haupttheil, aus
dem wirthſchaftlichen Leben derſelben der zweite, und aus dem geſell-
ſchaftlichen Leben der dritte hervor. Jedes dieſer Gebiete iſt nun wieder
nicht eine einfache Thatſache, ſondern zeigt ſich alsbald ſelbſt wieder
als ein großes Syſtem in einander greifender und doch ſelbſtändiger
Lebensverhältniſſe, ſo daß damit die Verwaltungslehre gleichſam in
Einem großen, das ganze Geſammtleben umfaſſenden und ordnenden
[55] Bilde die fundamentalen Lebensverhältniſſe der Menſchheit über-
haupt darſtellt. Das iſt die wahre Aufgabe und der Werth eines
ſolchen Syſtems. Es handelt ſich bei ihm nicht um Formeln und De-
finitionen, ſondern um eine Weltanſchauung; wer einmal mit der Ver-
waltung ſich ernſtlich beſchäftigt hat, der wird bald erkennen, daß es
keine Wiſſenſchaft gibt, die ihr an Reichthum und Bedeutung gleich
käme. Die Verwaltungslehre iſt die Erfüllung der Selbſterkenntniß
der menſchlichen Gemeinſchaft, mit der ganzen Fülle ihrer organiſchen
Thatſachen, wie das Verwaltungsrecht die Fixirung der letzteren in
einem beſtimmten gegebenen Momente iſt.
Allerdings aber hat dieſe Auffaſſung ihre Grenze. Denn nicht
alles, was zum menſchlichen Leben gehört, gehört auch der Verwaltung.
Ihr Gebiet umfaßt nur das, worin das Leben des Einzelnen und das
der Gemeinſchaft ſich gegenſeitig beſtimmen und bedingen. Da
wo der Einzelne ganz auf ſich angewieſen iſt, ſo wie da wo der
Staat nur als individuelle Perſönlichkeit auftritt, gehört der Verwal-
tung überhaupt nicht, alſo auch nicht der inneren Verwaltung. Daher
erſcheint denn auch der Inhalt des Syſtems der letzteren ſo weſent-
lich verſchieden von dem des perſönlichen Einzellebens; es kommen
Kategorien in jener vor, die in dieſem nothwendig wegfallen, und um-
gekehrt. Nur die obigen drei größten Gebiete bleiben; ſie ſind die
Kategorien, in denen eben die Gemeinſchaft und der Einzelne ihr Leben
gegenſeitig austauſchen; und wie nun dieſe große, die ganze Welt um-
faſſende Gegenſeitigkeit ihre feſte Geſtalt gewinnt, das zeigt uns das
poſitive Verwaltungsrecht jedes ſeiner einzelnen Theile.
Es iſt endlich klar, daß jene drei großen Gebiete nicht nach ein-
ander da ſind, wie in der wiſſenſchaftlichen Darſtellung, ſondern gleich-
zeitig und ſich gegenſeitig durchdringend fortleben. Aber die Theorie
muß bei dem Einfachen beginnen. Das aber iſt die rein perſönliche
Exiſtenz, welche mithin den erſten Theil bildet.
Erſter Theil.
Die innere Verwaltung und das perſönliche Leben.
Das perſönliche Leben enthält nun für die innere Verwaltung den
Menſchen, inſofern er als Einzelner, noch ohne alle die Entwicklungs-
momente, die durch Güterleben und geſellſchaftliche Ordnung für ihn
entſtehen, Glied der Gemeinſchaft iſt. Das heißt nun, inſofern er mit
[56] dieſem rein perſönlichen Daſein einerſeits die Gemeinſchaft beſtimmt,
andererſeits von ihr beſtimmt wird. Das perſönliche Leben hat daher
wie immer zwei Gebiete. Das eine iſt ſeine phyſiſche Perſönlich-
keit, oder ſeine Perſon, das andere iſt das geiſtige Leben der-
ſelben. In beiden ſchreitet der Menſch fort und entwickelt ſich, und
mit ſich die Gemeinſchaft. In beiden aber finden Daſein und Fort-
ſchritt des Einzelnen eine Reihe von Bedingungen, die ſich der Einzelne
nicht ſelbſt zu geben vermag. Dieſe ihm ſo weit darzubieten, daß ſeine
eigene perſönliche Selbſtändigkeit nicht beſchränkt wird, iſt die erſte
Aufgabe der innern Verwaltung. Dieſelbe zerfällt daher in die obigen
zwei Theile; in jedem dieſer Theile erſcheint aber nur das, was eben
Gegenſtand der Gemeinſchaft und ihrer Aufgabe iſt, nicht was der
Einzelne für ſich und durch ſich allein ſein ſoll. Und ſo entſteht das
Syſtem dieſes erſten Theiles, deſſen Elemente die folgenden ſind.
Da wir dieſen erſten Theil in der inneren Verwaltungslehre (Verwaltungs-
lehre, Bd. 1—6) bereits ausführlich behandelt haben, ſo werden wir kaum
etwas anders liefern können, als einen kurzen Auszug. Die Aenderungen im
Syſtem ſehen wir als eine Verbeſſerung an und hoffen, daß wir darin Recht
haben werden.
A.
Die Verwaltung und das phyſiſche Leben.
Das phyſiſche Leben des Einzelnen iſt ohne Zweifel zunächſt ſeine
eigenſte Thatſache. Aber dennoch iſt es ein Theil des phyſiſchen Lebens
und Daſeins der Gemeinſchaft. Die Beziehungen, in welchen es zu
dem letztern ſteht, erſcheinen in vier Kategorien. Zuerſt iſt der Einzelne
eine individuelle Thatſache, das iſt eine, der Gemeinſchaft angehörige
Perſon; und das Verhalten der erſteren zu der letzteren bildet das
Bevölkerungsweſen. Dann hat der Einzelne in ſeiner individuellen
phyſiſchen Kraft und Geſundheit einen Theil und ein Moment der
Geſammtkraft und Geſundheit, und daraus entſteht das Geſundheits-
weſen. Ferner hat der Einzelne in ſeiner individuellen Unverletzlich-
keit die erſte äußere, rein materielle Bedingung ſeines Daſeins und
ſeines Fortſchritts, und dieſe gibt ihm die Gemeinſchaft durch das
Polizeiweſen. Und endlich bedarf der Einzelne unter Umſtänden
einer öffentlich anerkannten Verbreitung ſeiner Perſönlichkeit überhaupt,
und dieſe wird ihm im Pflegſchaftsweſen geboten. Dieſe Gebiete
zuſammengefaßt bilden das, was wir die innere Verwaltung des phy-
ſiſchen Lebens der Perſönlichkeit nennen. Das Verwaltungsrecht for-
mulirt dann Maß und Inhalt deſſen, was die Gemeinſchaft durch
[57] Regierung, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen für dieſe drei Gebiete
gethan hat in der Rechtsgeſchichte und wirklich thut im poſitiven
Verwaltungsrecht.
I.
Das Bevölkerungsweſen.
Begriff und Syſtem.
Die Bevölkerung in allen ihren verſchiedenen Beziehungen bildet
die Grundlage des Staatslebens. Sie iſt daher die erſte und natür-
lichſte Aufgabe der auf die eigenen Verhältniſſe gerichteten Thätigkeit
des Staats. Und die Geſammtheit aller dieſer Thätigkeiten, ſowie der
Grundſätze, nach denen ſie verfährt und zu verfahren hat, bildet das
Bevölkerungsweſen.
In dieſem Bevölkerungsweſen bildet wieder die Darſtellung der
natürlichen Geſetze, nach denen die Bevölkerung entſteht, ſich vermehrt
und vermindert, die Bevölkerungslehre; die Darſtellung des Zu-
ſtandes der Bevölkerung als einer auf durchſchnittliche Verhältniſſe zu-
rückgeführten Thatſache, die Bevölkerungsſtatiſtik; beide zuſammen-
gefaßt nennt man auch wohl Populationiſtik.
Die Populationiſtik iſt ſomit allerdings an ſich kein Theil der Ver-
waltung der Bevölkerung, ſondern diejenige Vorausſetzung der-
ſelben, welche die Geſetze zeigt, die ihrerſeits Ordnung und Maß der
Verwaltungsthätigkeit in Beziehung auf die Bevölkerung bedingen.
Aber auch dieſe werden Gegenſtand der Verwaltungsthätigkeit durch
die Statiſtik, welche wieder auf dem Zählungsweſen beruht.
Mit dieſem beginnt die innere Verwaltung ihre ſyſtematiſche Ord-
nung. Von ihr aus entſtehen die folgenden beiden Kategorien.
Die Bevölkerungsordnung entſteht durch die Nothwendigkeit,
den Wechſel in der Zahl und in der Angehörigkeit der Einzelnen feſt-
zuſtellen, da die individuellen Angehörigkeitsverhältniſſe von entſchei-
dender Bedeutung für den Verkehr und ſein Recht ſind, ohne daß es
dem Einzelnen möglich wäre, ſich die ihm nothwendige Gewißheit dar-
über durch eigene Mittel zu verſchaffen. Die Bevölkerungsordnung
enthält daher die Geſammtheit von Verwaltungsmaßregeln und Rechts-
ſätzen, welche auf die Standesregiſter, das Paß- und Fremden-
weſen und das Heimathsweſen Bezug haben. Jedes dieſer Ge-
biete hat gleichfalls ſein eigenes Rechtsſyſtem.
Die Bevölkerungspolitik beruht auf der Bedeutung, welche
die Zahl der Bevölkerung für den Staat hat. Sie geht davon aus,
daß die Thätigkeit des Staats auf die Vermehrung und Verminderung
[58] dieſer Zahl Einfluß haben könne und ſolle, und enthält daher die
Grundſätze und Regeln, nach denen dieſer Einfluß ausgeübt wird.
Dieſe ſind wieder nach den Gebieten der Bevölkerungspolitik ſowohl
grundſätzlich als hiſtoriſch verſchieden. Dieſe Gebiete ſind die Ehe,
die Einwanderung und die Auswanderung, von denen jede
ſein eigenes Rechtsſyſtem und ſeine Geſchichte hat.
Geſetzgebung. Unthunlichkeit der Codifikation über das ganze Bevölke-
rungsweſen; dagegen zum Theil ſehr weitläuftige und detaillirte Rechtsbeſtim-
mungen über die einzelnen Gebiete.
Literatur. Entſtehen der Berückſichtigung der Bevölkerungsfragen aus
rein volkswirthſchaftlichem Geſichtspunkt. England, Verbindung mit ſocialen
Fragen. MontesquieuL. XXIII. Entſtehen der eigentlich populationi-
ſtiſchen Literatur. Grundlage: die Geſetze der Bewegung der Bevölkerung in
Zunahme und Abnahme, auf Baſis von Zählungen und Beobachtungen:
Süßmilch: Göttliche Ordnung in den Verminderungen des menſchlichen Ge-
ſchlechts, 2 Bände, 1761. Erſter Vertreter einer ſelbſtändigen rationellen
Thätigkeit der Verwaltung für die Vermehrung der Bevölkerung: Juſti
(„Grundreguln der Bevölkerung“ in deſſen Grundſätzen der Polizeiwiſſenſchaft,
I. 2 B.). Auftreten der Idee der Uebervölkerung: Malthus, Essays
on population 1791. Kampf dagegen. Uebergang zur phyſiologiſchen Auf-
faſſung und Bearbeitung der ganzen Frage, theils auf Grundlage der Phyſio-
logie (Burdach, Phyſiologie), theils auf Grundlage der eigentlichen Bevölke-
rungsſtatiſtik: Caſpar, Bernoulli, Quetelet, de l’homme 1841. Aufnahme
der gewonnenen Reſultate in die Staatswiſſenſchaft (Pölitz, Staatswiſſenſchaft,
II. B.), theils in die Statiſtik, welche faſt ganz populationiſtiſch wird, theils in
die Nationalökonomie. Rau, §. 111, Roſcher, §. 11, als Erörterung der
Uebervölkerungsfrage. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft, §. 33, beſ. Gerſtner, Staats-
verwaltung, II. Bd. 1. Abth., mit Hinneigung zur phyſiologiſchen Behandlung.
— Die ganze Bevölkerungsordnung und ihr Recht in dieſen Auffaſſungen
ohne alle Berückſichtigung; dagegen Behandlung der einzelnen Gebiete, aber
ohne Bewußtſein des Zuſammengehörens. Stein, Verwaltungslehre, II. Bd.
S. 114 ff. Carey, Lehrbuch der Volkswirthſchaft von Adler, 1870, Cap. 38.
A. Die Statiſtik und das Zahlungsweſen.
Wiſſenſchaft der Thatſachen.)
Allerdings geht der Begriff der Statiſtik weit über die innere Ver-
waltung hinaus; aber auch er findet hier ſeine wichtigſte Anwendung.
Es iſt daher durchaus nothwendig, denſelben für ſich, und aus ihm
den Begriff der adminiſtrativen Statiſtik zu beſtimmen.
Die Statiſtik iſt ihrem Begriffe nach die Wiſſenſchaft der
Thatſachen überhaupt. Sie enthält in dieſem Sinne die Methode,
[59] für das richtige Verſtändniß jeder Thatſache, alſo auch der des Staats-
lebens. Sie hat damit ihr eigenes Syſtem; es iſt die Logik und Dia-
lektik der Erſcheinungen neben der des Gedankens. Ihre Elemente
ſind folgende.
Der Akt, durch welchen ich das Daſein einer Thatſache mir zum
Bewußtſein bringe, indem ich denſelben meſſe, iſt die Beobachtung.
Der Werth der Beobachtung wird daher beſtimmt von der Genauigkeit
und Zweckmäßigkeit des Maßes, und ſteigt in umgekehrtem Verhält-
niß zu der Kleinheit der Differenzen, welche ſie ergibt. Dieſe Diffe-
renzen verſchwinden nie ganz, möge der Grund nun liegen wo er will.
Ich kann daher mit gar keiner einzelnen Beobachtung eine Thatſache
genau meſſen, ſondern ich muß einen Durchſchnitt bilden, deſſen
Werth — oder Wahrheit — um ſo größer iſt, je größer die Zahl der
Beobachtungen und je geringer der Grad ihrer Differenz. So gelange
ich zu der Thatſache, deren Begriff daher die durch die Beobachtung
gemeſſene einheitliche Erſcheinung iſt. Jedes gewiſſe, als eine ſelb-
ſtändige Einheit erkannte Daſein iſt demnach eine Thatſache.
Dieſe Thatſache wechſelt. Der Wechſel enthält zwei Momente,
welche ich Grund und Folge nenne. Wenn ich nun Grund und Folge
ſelbſt wieder als ſelbſtändige Thatſache beobachte und mithin meſſe, ſo
entſtehen die Begriffe von Urſache und Wirkung. Die Urſache
iſt der beobachtete Grund, die Wirkung iſt die beobachtete Folge.
Allein die Urſache iſt mit ihrer einmaligen Wirkung nicht erſchöpft;
denn die letztere iſt nicht bloß Erſcheinung des Grundes, ſondern auch
Erſcheinung der auf denſelben einwirkenden unendlichen Mannichfaltig-
keit anderer Kräfte. Das wahre Maß des Grundes liegt daher nicht
in ihm ſelbſt, ſondern in ſeiner Kraft dritte Erſcheinungen durch ſich
zu beſtimmen. An dieſem erſcheint jene Kraft. Ich meſſe daher den
Grund, indem ich die möglichen Wirkungen nach den vorhandenen
und beobachteten berechne; und das ſo entſtandene Maß der Kraft,
die ich in Beziehung auf ihre einmalige Erſcheinung die Wirkung
nannte, iſt dann die Wahrſcheinlichkeit. Die Wahrſcheinlichkeit
alſo iſt das durch die Wirkung dritter Kräfte geſetzte Maß der beob-
achteten Grundkraft. Indem ich durch dieſes Maß zur Gewißheit der
ſelbſtwirkend vorhandenen Kraft gelange, entſteht der Begriff des Ge-
ſetzes. Jede Beobachtung ſtrebt daher zum Geſetze zu gelangen; jede
Thatſache iſt nur die Erſcheinung eines Geſetzes; die Geſammtheit aller
Thatſachen löst ſich durch die Geſetze in eine große harmoniſche Ord-
nung aller Dinge auf; und ſo iſt die Wiſſenſchaft der Thatſachen die-
jenige Weltanſchauung, welche vom Einzelnen zum Ganzen gelangt.
Für ſie gibt es keinen Zufall und keinen Unterſchied des Werthes
[60] oder der Wichtigkeit der Thatſachen, ſondern dieſe liegen wie der Be-
griff des Maßes ſelbſt, nur im Menſchen, nicht in den Dingen. Für
ſie gibt es aber auch kein Gebiet, das ſie nicht bewältigen könnte; ihr
gehört alles, und daher gehört ihr auch das Leben des Staats.
Dieſe Wiſſenſchaft der Thatſachen, indem ſie nur auf den Staat
und ſein Leben angewendet wird, iſt die Statiſtik. Die Theorie
der Statiſtik, im Unterſchied von der Wiſſenſchaft der Thatſachen, iſt
demnach wiſſenſchaftlich definirt, die Lehre von der Art und Weiſe, wie
der Staat ſeine Beobachtungen macht, ſeine Durchſchnitte und That-
ſachen feſtſtellt, und durch Unterſuchung der in ſeinem Leben wirkſamen
Urſachen und Wirkungen zum Verſtändniß der Geſetze gelangt, welche
daſſelbe beherrſchen. Das Ergebniß der Statiſtik ſind dann dieſe
nach der Theorie derſelben aufgeſtellten Thatſachen und Geſetze
des Staatslebens. Das iſt ſehr einfach.
Sobald man nun, wie das meiſtens geſchieht, dieſe Ergebniſſe
ſelbſt als die eigentliche Statiſtik betrachtet, ſo entſteht nicht bloß Ver-
wirrung in den Begriffen, ſondern man gelangt überhaupt nicht zu
einer Theorie der Statiſtik, und noch viel weniger zu einer Lehre von
den Thatſachen. Der Gang der Geſchichte hat nun dieſen letzten Weg
eingeſchlagen, und als Statiſtik gilt nur das Sammeln von Beobach-
tungen und die Darſtellung derſelben, auf gewiſſe mehr oder weniger
ſtichhaltige Einheiten reducirt. Noch iſt der Verſuch nicht anerkannt,
die Statiſtik aus dieſem modernen und rein praktiſchen Stadium der
bloßen Kenntnißnahme zu einer bewußten Wiſſenſchaft zu erheben.
Nur auf Einem Punkte liegt ein ſolcher Verſuch vor, und der iſt das
Zählungsweſen.
Wir glauben die Geſchichte der adminiſtrativen Statiſtik, die eigentlich
wohl theoretiſch mit Seckendorf, Teutſcher Fürſtenſtaat 1635 (ſpeciell II. c. 5),
beginnt, eben ſo wenig als die Geſchichte der Lehre von den Thatſachen, die
Pascal zuerſt mathematiſch formulirte, verfolgen zu ſollen, als das gründ-
liche Mißverſtändniß unſres Verſuches einer Lehre von den Thatſachen (Syſtem
der Staatswiſſenſchaft I.) bei Mohl. Wir würden zugeben, im letzten Punkte
vollkommen unrecht zu haben, wenn in der ganzen Statiſtik nur Einmal
die Frage unterſucht wäre, was denn eigentlich eine „Thatſache“ iſt. Mohl
hat deßhalb auch die Bedeutung Quetelets und ſeiner Lettres sur la Pro-
babilité nicht hervorgehoben. Seine übrigen Angaben (Literatur der Staats-
wiſſenſchaft III. XIX.) ſind übrigens eben ſo reich als zuverläſſig.
Das Zählungsweſen enthält die Geſammtheit von Vorſchriften und
Maßregeln der Verwaltung, vermöge welcher dieſelbe ſich ein auf
[61] Zahl und Vertheilung der Bevölkerung beruhendes Bild derſelben und
ihrer perſönlichen, wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Zuſtände für
ihre Zwecke ſchafft. Daſſelbe entſteht daher erſt mit dem Bewußtſein
von dieſen Zwecken, und bildet ſich in gleichem Schritte mit demſelben
aus. Die Geſchlechter- und ſtändiſche Ordnung haben daher keine
Zählungen. Sie beginnen ſtets mit der polizeilichen Verwaltung, ſind
anfangs auf militäriſche und finanzielle Zwecke beſchränkt, und behalten
auch ſpäter vorwiegend dieſen Charakter. Mit der Entſtehung der Be-
völkerungslehre und der inneren Verwaltung entwickelt jedoch das
Zählungsweſen ein rationelles Syſtem, ſowohl für die Momente des
Zuſtandes der Bevölkerung als für den Vorgang der Zählungen ſelbſt,
das ſeinerſeits auf dem bereits im vorigen Jahrhundert entſchieden
ausgebildeten Zuſtand der Wiſſenſchaft beruht, und, obwohl in den
verſchiedenen Staaten noch ſehr verſchieden, dennoch bereits einer
gleichartigen, und das ganze Leben der Bevölkerung umfaſſenden Dar-
ſtellung entgegen geht, deren Wichtigkeit von Jahr zu Jahr mehr an-
erkannt wird. Die Grundlagen, die ſich dabei herausbilden, beſtehen
in dem Uebergang von der Schätzung zur Kopfzählung, und von
dieſer zum eigentlichen Zählungsweſen, das zuerſt bei der tabella-
riſchen Conſtatirung der perſönlichen Verhältniſſe (Alter, Geſchlecht,
Familie, Confeſſion) beginnt, dann zu den wirthſchaftlichen Ver-
hältniſſen übergeht (Erwerbsverhältniſſe, Beſitzſtand, Viehſtand, Häuſer,
Anlagskapitalien, Unternehmungen) und endlich die geſellſchaft-
lichen Verhältniſſe aufnimmt (Stand, Beruf, Bildung). — Das or-
ganiſche Verhältniß der ſo gewonnenen Reſultate zu den Aufgaben und
den Erfolgen der inneren Verwaltung iſt nur noch in ſehr einzelnen
Gebieten (Steuern, Schulbeſuch, zum Theil Geſundheitspflege, Land-
wirthſchaft) unterſucht, und fordert allerdings, daß die künftigen Zäh-
lungen mit der geſammten Verwaltungsthätigkeit als in einem beſtän-
digen und cauſalen Wechſelverhältniß ſtehend erkannt werden. Darin
liegt die Zukunft des Zählungsweſens, das ſtets der Mittelpunkt der
Verwaltungsſtatiſtik bleiben wird.
Eben wegen dieſer Unfertigkeit des Verhältniſſes zwiſchen Verwal-
tung und Statiſtik hat ſich bisher das Zählungsweſen nicht gleichmäßig
in den einzelnen Staaten ausbilden können. Zählungsprincip, Recht
und Ordnung ſind noch ſehr verſchieden, obwohl die Anerkennung der
Wichtigkeit, ja der Nothwendigkeit deſſelben in ganz Europa als ent-
ſchieden angeſehen werden dürfen.
Literatur und Statiſtik. Erſte Verſuche: allgemeine Erkenntniß der
Wichtigkeit, ohne Syſtem; einzelne örtliche Beobachtungen. Montesquieu,
L. 23. Mohl, Literatur der Staatswiſſenſchaft I. S. 424 ff. Süßmilch,
[62] erſte Verbindung der Bevölkerungsphyſiologie mit der Zählung. Juſti, II. 1. 2,
erſte Theorie der rationellen Zählung. Kopetz, I. 39. Schätzungen und
Zählungen geſchieden. Necker in Frankreich. Scheidung des Zählungs-
weſens von der Staatswiſſenſchaft in unſrem Jahrhundert; Betrachtung des-
ſelben als ſelbſtändiges Gebiet der Adminiſtration, damit Verſchwinden der bloßen
Schätzungen; ſtrenge Zählung, aber meiſt reine Kopfzählung als Grundlage.
Dann Wiederaufnahme des phyſiologiſchen Standpunkts durch Quetelet,
und daraus ſelbſtändige Theorie der Zählungen, bei denen die Adminiſtra-
tion und Geſetzgebung der Theorie ſich unterordnet. Czörnig (Oeſterreich),
Legoyt (Frankreich), Farr (England), Engels (Sachſen und Preußen),
Herrmann (Bayern). Die Zollvereinszählungen, ihr Grund und ihr
Inhalt.
Geſetzgebung. England. Einführung der regelmäßigen Zählungen
durch Anſchluß an die Standesregiſter und ihre geſetzliche Ordnung. Grund-
lage: Regulations for Registrars 1838. MohlI. S. 241.
Frankreich. Anſchluß an die innere Verwaltung als Grundlage der
Bemeſſung öffentlicher Berechtigungen und Laſten der Selbſtverwaltungskörper.
Anfang: Geſetz vom 22. Juli 1791. Begründung jener Verbindung: Arr. 17
Germ. an XI. und folgende Geſetze; Verbindung mit der Beſteuerung: Geſetz
vom 21. April 1832 und 1844; mit der Gemeindeverwaltung: Geſetz vom
5. Mai 1855. Juglar, de la population en France depuis 1772. (Journ.
d. Ec. XXX—XXXII.); Fayet de l’accroissem. de la population en France.
Journ. d. Ec. XII.
Oeſterreich. Im Anfang: Anſchluß an die Militärſtellung; Einrichtung
des ganzen Zählungsweſens darnach; ſeit Hofdecret vom 19. Jan. und 16. Febr.
1754; beſtimmte Ordnung: Patent vom 18. Sept. 1777; ſ. Kopetz, Polizei-
geſetzkunde I. 165. Neueſtes, nach den Grundſätzen der Theorie bearbeitetes
Volkszählungsgeſetz vom 23. März 1856 (Czörnig); ſ. Stubenrauch, öſterr.
Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 164 und 167. Das Geſetz vom 29. März 1869
hält die Hauptgrundſätze des alten aufrecht.
Deutſche Staaten. Grundlage: zuerſt die Bundesmatrikel, dann
die Zählungen für den Zollverein, welche dann je nach der Höhe der Wiſſen-
ſchaft in einzelnen Staaten ſehr weit ausgebildet, in andern weniger entwickelt
ſind. Zolleinigungsverträge ſeit 1833; Zählungen grundſätzlich nur nach der
Kopfzahl. Daher in allen übrigen Momenten Willkür. Vgl. Zuſammen-
ſtellung der in Bezug auf die Volkszählungen in verſchiedenen deutſchen
Staaten getroffenen Anordnungen, vom 8. Juli 1864 und Nachtrag 1865;
nach welchem „demnach zwiſchen den Zählungsvorſchriften der einzelnen deutſchen
Staaten noch immer ſo erhebliche Verſchiedenheiten beſtehen, daß hiedurch
die Vergleichbarkeit weſentlich beeinträchtigt wird.“ Engels Thätigkeit
in Sachſen und Preußen. Die Darſtellung der geltenden (faſt ausſchließlich
verordnungsmäßigen) Vorſchriften mangelt in allen deutſchen Verwaltungs-
geſetzkunden. L. Stein, innere Verwaltungslehre, S. 213—226. Preußens
Volkszählungen werden angenommen auf Grund der Erläſſe vom 6. Juli 1846,
[63] 20. Okt. 1858 und 16. Okt. 1861. (Auſtria 1864, Nr. 49.) — Königreich
Sachſen, Verordnung vom 1. Okt. 1864. (Liſten von den Behörden, Zählung
durch die Gemeinden.)
B. Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung.
Begriff und Weſen.
Die adminiſtrative Ordnung der Bevölkerung beruht darauf, daß
die Conſtatirung einerſeits der Angehörigkeit des Einzelnen an ſeinen
Staat und die Organe ſeiner Verwaltung, andererſeits der Identität
der Perſönlichkeit überhaupt in dem Grade mehr eine Bedingung für
die Entwicklung des Geſammtlebens wird, je mehr der Verkehr die
Einzelnen durcheinander wirft. Es iſt klar, daß beide Bedingungen
von dem Einzelnen als ſolchem nicht erfüllt werden können. So wie
daher die Staatsthätigkeit und zugleich die Bewegung der Bevölkerung
wechſeln, wird es nothwendig, dafür objektive gültige Beſtimmungen
zu treffen. Und die Geſammtheit dieſer Beſtimmungen für die Staats-
angehörigkeit im weiteſten Sinne, ſo wie für die öffentlich rechtliche
Conſtatirung der Identität des Einzelnen bilden die adminiſtrative
Ordnung der Bevölkerung.
Es leuchtet ein, daß es gar keinen Zuſtand eines Volkes geben
kann, in welchem nicht wenigſtens bis zu einem gewiſſen Grade die
Elemente dieſer Ordnung vorhanden wären. Allein eine ſyſtematiſche
Entwicklung kann erſt dann eintreten, wenn einerſeits der Staat ſich
in Geſetzgebung und Verwaltung zu einem durchgearbeiteten Organis-
mus geſtaltet, und andererſeits die Schranken zwiſchen den Völkern im
Ganzen, und den einzelnen Orten innerhalb der Staaten gebrochen
werden. Alsdann aber muß dieſe Angehörigkeit auch als eine große,
auf jedes Lebensverhältniß ſich beziehende Ordnung aufgefaßt werden.
Dabei nun iſt es der naturgemäße Gang der Entwicklung, daß im
Anfange deſſelben dieſe Ordnung eine unfreie iſt, das heißt, daß der
Staat die Aenderung der gegebenen Verhältniſſe nicht von dem Ein-
zelnen, ſondern von ſeiner Erlaubniß abhängig macht. Erſt mit dem
neunzehnten Jahrhundert tritt auch hier die ſtaatsbürgerliche Freiheit
ein, und das Rechtsprincip derſelben wird der Satz, daß der Staat
dieſe Ordnung nur in ſo weit fordert, als ſie im Geſammtintereſſe
nothwendig iſt, während da, wo es ſich bloß um Einzelintereſſen han-
delt, der Einzelne ſich ſelbſt überlaſſen bleibt. Von dieſem Geſichts-
punkte aus hat ſich das folgende Syſtem praktiſch gebildet und iſt zum
öffentlichen Recht geworden.
[64]
Begriff.
Die öffentlich rechtliche Ordnung der Bevölkerung beruht zunächſt
darauf, daß die Conſtatirung der Staatsangehörigkeit für den
Einzelnen die erſte und materielle Bedingung für die Vollziehung jeder
Staatsthätigkeit iſt, ſo weit dieſelbe auf den Einzelnen Bezug hat.
Dieſe Staatsangehörigkeit iſt eine doppelte, eine äußere, gegenüber
dritten Staaten, und eine innere. Dieſe innere zerfällt wieder ver-
möge des Weſens der Staaten in zwei Grundformen. Sie iſt ein An-
gehören an die Verfaſſung des Staats, deren Inhalt das Recht auf
den Antheil iſt, den der Einzelne an der Geſetzgebung hat. Hat er
gar keinen Antheil, ſo iſt er Staatsunterthan; hat er einen Antheil,
ſo iſt er Staatsbürger. Die genauere Entwicklung dieſer Begriffe
gehört dem Verfaſſungsrecht.
Zweitens aber gehört der Einzelne auch der Verwaltung an.
Dasjenige Recht, vermöge deſſen die Verwaltung überhaupt befugt iſt,
ihre Funktion gegen den Einzelnen geltend zu machen, iſt die Com-
petenz. Das Recht, vermöge deſſen der Einzelne der Ausübung be-
ſtimmter Funktionen der Verwaltung unterworfen iſt, iſt die Zuſtän-
digkeit. Jeder Competenz entſpricht daher eine Zuſtändigkeit. Die
organiſche Auflöſung des Begriffes der Verwaltung erſchließt daher
einen großen Organismus von Competenzen der Staatsgewalt und
Zuſtändigkeiten des Einzelnen in allen fünf Gebieten der Verwaltung.
Es gibt Competenzen und Zuſtändigkeiten im Aeußern, im Heerweſen,
in den Finanzen, in der Rechtspflege, und im Innern. Während nun
die übrigen je ihre Ordnung haben, iſt es die Ordnung der Compe-
tenz und Zuſtändigkeit in der inneren Verwaltung, die
wir im eigentlichen Sinne die adminiſtrative Ordnung der Be-
völkerung nennen.
Dieſe nun hat nach dem Weſen der vollziehenden Gewalt zwei
Grundformen. Die erſte iſt die eigentliche amtliche Competenz
und Zuſtändigkeit, als das Verhältniß, vermöge deſſen der Ein-
zelne einem beſtimmten Organ der inneren Verwaltung mit ſeinen
ſtaatsbürgerlichen Geſetzen unterworfen iſt. Die zweite iſt die Ange-
hörigkeit an die Selbſtverwaltungskörper, die ihren am meiſten
bekannten Ausdruck im Heimathsweſen findet. Eine Zuſtändigkeit
an das Vereinsweſen gibt es in obigem Sinne nicht, da die Mit-
gliedſchaft, welche ihr entſpricht und ſie begründet, auf dem freien
Willen des Einzelnen beruht, und daher nicht die Geltung eines öffent-
lichen Rechts hat.
[65]
Die adminiſtrative Competenz und Zuſtändigkeit iſt nun zwar
ihrem Begriffe nach ſehr einfach, in der Wirklichkeit aber nicht bloß
vielfach verworren, ſondern auch in beſtändiger Entwicklung begriffen.
Das leitende Princip für dieſelbe iſt, daß jede beſtimmte Funktion
ihre beſtimmte Competenz und Zuſtändigkeit hat, die ihrerſeits nach
der Zweckmäßigkeit feſtgeſtellt werden. Es gibt daher Competenzen
und Zuſtändigkeiten für Zählungs-, Geſundheits-, Sicherheits-, Wege-,
Poſt-, Eiſenbahnweſen u. ſ. w. Dieſe Competenzen und Zuſtändig-
keiten ſind Beſtimmungen der Organiſationsgewalt. Die Darſtellung
der Competenzen iſt die Aufgabe der Staatshandbücher, die der
Zuſtändigkeiten bildet, ſoweit ſie auf Grund und Boden beruht, den
Inhalt der politiſchen Geographie. Der Charakter dieſer Ord-
nung iſt in Deutſchland und England die hiſtoriſche Staatenbildung,
in Frankreich, Italien, Belgien das adminiſtrative Bedürfniß. Das
Recht deſſelben beruht auf dem Grundſatz, daß die competente Behörde
die Zuſtändigkeit des Einzelnen für ſich gültig ausſpricht, und daß der
Beweis des Gegentheils von dem Einzelnen geleiſtet werden muß,
wenn er die Competenz in Frage ſtellt. Die Entwicklung geht im
Großen und Ganzen dahin, die Competenzen und Zuſtändigkeiten ſo
viel als möglich zu vereinfachen; doch müſſen bei ihr ſtatiſtiſche
Darſtellungen die theoretiſche Behandlung vertreten, da eine einmal
feſtgeſtellte Competenz nie ohne Schwierigkeit zu ändern iſt. Es iſt
demnach klar, daß in Competenz und Zuſtändigkeit der Körper der
einzelnen Verwaltungszweige gegeben iſt; erſt die Ausbildung des
ſyſtematiſchen Klage- und Beſchwerderechts wird für die Lehre von
beiden Begriffen in der Wiſſenſchaft einen nicht unwichtigen Platz
finden.
Literatur. Aelteres Recht in den Rechtsgeſchichten. Neuere Literatur
mit neunzehntem Jahrhundert, getheilt zwiſchen der Frage nach dem Syſtem
der amtlichen Competenzen, dem Gemeindeweſen und der politiſchen Geographie.
Malchus, Politik der innern Staatsverwaltung 1833, 3. Bd. Ebenſo iſt
die Politik dieſer Verwaltungsfragen immer nur für die einzelnen Gebiete auf-
gefaßt; namentlich zeigen z. B. die Staatshandbücher hier eine große Be-
ſchränkung auf das Amtsweſen. Die neueſte Staatenkunde ſteht ſtatiſtiſch weit
höher, indem ſie die geſammte adminiſtrative Bevölkerungsordnung und ihr
Recht aufnimmt und ſtatiſtiſch verarbeitet. Vortrefflich iſt in dieſer Beziehung
Brachelli, die Staaten Europa’s 1865; für Deutſchland deſſen Staaten-
kunde. — Stein, Innere Verwaltungslehre (Organismus der vollziehenden
Gewalt, S. 232 ff.).
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 5
[66]
Gemeindeangehörigkeit und Heimathsrecht.
Die Geſchichte der Competenz und Zuſtändigkeit der Selbſtverwal-
tungskörper bildet einen ſo weſentlichen Theil der ganzen Rechts-
geſchichte, daß ſie von derſelben gar nicht ſtrenge zu trennen iſt. Denn
urſprünglich iſt die Gemeinde im weiteren Sinne das eigentliche Organ
der inneren Verwaltung überhaupt, und ihre Competenz umfaßt alle
Competenzen. Als ſich dann Stadt und Land ſcheiden, erſcheint die
Angehörigkeit an die Stadt als das Gemeindebürgerthum mit
ſeinen untergeordneten Begriffen und Rechten der Pfahl- und Schutz-
bürger, während auf dem unfrei gewordenen Grundbeſitz die Guts-
herrlichkeit eintritt, und die urſprüngliche Geſchlechterangehörigkeit
zur Leibeigenſchaft und Hörigkeit wird. Daneben entſteht dann die
zweite große Form der Competenz und Zuſtändigkeit, die ſtändiſche,
in der die ſtändiſchen Corporationen, namentlich Geiſtlichkeit und Uni-
verſitäten, ihre ganze innere Verwaltung ausüben, ſo weit der Einzelne
wieder ihnen angehört. Erſt mit dem ſtaatlichen Amt greift die admi-
niſtrative Zuſtändigkeit und Competenz in die der Selbſtverwaltungs-
körper auf allen Punkten hinein, und jetzt ſcheidet ſich allmählig,
namentlich aber erſt ſeit dem neunzehnten Jahrhundert, auch in dieſer
Beziehung die Regierung von der Selbſtverwaltung. Die Form, in
der dieſe Scheidung ihre feſte Geſtalt gewinnt, iſt vor allem die neue
Gemeindegeſetzgebung. Sie ſchafft der Selbſtverwaltung ein be-
ſtimmtes Gebiet ihrer Thätigkeit und ihres Rechts gegenüber der Re-
gierung, und zuletzt entſteht auch für ſie die doppelte Geſtalt der
Competenz und Zuſtändigkeit, die wir als Gemeindebürgerthum
und Heimathsweſen begrüßen.
Das Gemeindebürgerthum bezeichnet demnach das Angehören des
Einzelnen an die Akte der Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinde
überhaupt, ſpeciell das Recht auf Theilnahme an der Gemeindever-
faſſung. Das allgemeine Princip derſelben iſt, daß jeder Staats-
bürger einer Gemeinde angehören muß; die Ausführung deſſelben oder
der Inhalt dieſer Angehörigkeit iſt dann eben die Lehre vom Ge-
meindeweſen in der Selbſtverwaltung.
Während auf dieſe Weiſe die Gemeindeangehörigkeit weſentlich die
Rechte der Gemeindeglieder enthält und beſtimmt, entwickelt ſich im
Heimathsweſen ein ganz anderes Verhältniß.
Das Heimathsweſen enthält nämlich denjenigen Theil der Ver-
waltungsordnung der Bevölkerung, nach welcher die einzelne Gemeinde
die Angehörigkeit der Einzelnen in Beziehung auf ihre Verpflich-
[67] tungen gegen denſelben, ſpeciell ihre Verpflichtung zur Armen-
unterſtützung anzuerkennen hat. Die Grundſätze für das Heimaths-
recht ſind an ſich einfach. Das Heimathsrecht wird in der ganzen
Welt unbedingt erworben durch Geburt und Erwerb von Grundbeſitz
(natürliches Heimathsrecht); es kann erworben werden durch gewerb-
lichen, längeren Aufenthalt (gewerbliches Heimathsrecht). Da nun
das gewerbliche Heimathsrecht das Recht auf die Armenunterſtützung
und mithin eine Verpflichtung für die Gemeinde enthält, ſo iſt von
jeher die Frage entſtanden, unter welchen Bedingungen der gewerb-
liche Aufenthalt das Armenheimathsrecht erzeugen ſoll. Das Intereſſe
der Gemeinden hat dabei ſtets gefordert, daß dieſer Erwerb des Hei-
mathsrechts von der Zuſtimmung der Gemeinde abhängig ſein, und
daher der letzteren das Recht der Ausweiſung bei drohender Ver-
armung zuſtehen ſolle; das Intereſſe des freien Verkehrs dagegen
fordert, daß der Einzelne in der Wahl und Dauer ſeines dauernden
Aufenthalts nicht beſchränkt werde. Alle poſitiven Heimathsrechte laufen
darauf hinaus, zwiſchen dieſen Forderungen eine den gerechten Grund-
lagen beider entſprechende Gränze zu finden. Je ſtrenger nun
die Armenpflicht der Gemeinde iſt, deſto ſtrenger wird dieſelbe ihrerſeits
auf dem Recht der Ausweiſung bei drohender Verarmung beſtehen; je
raſcher die örtliche Bewegung der Bevölkerung erſcheint, deſto mehr
wird das Intereſſe der freien Arbeit mit dem Rechte der Ausweiſung
in Kampf gerathen. Daher denn eine große Verſchiedenheit der Geſetz-
gebung, aber doch zugleich eine entſchiedene Hinneigung zur Beſchrän-
kung des Ausweiſungsrechts, oder zur Erleichterung des Erwerbes
des Heimathsrechts für die capitalloſe Arbeit. Die Löſung
der Frage liegt ohne Zweifel in der Aufſtellung von großen Verwal-
tungsgemeinden für das Armenweſen an der Stelle der ausſchließlich
armenpflichtigen Ortsgemeinden, ſo wie in der Aufſtellung einer ein-
heitlichen Verwaltung für den ganzen Staat. Bis dahin reduciren ſich
naturgemäß die Grundſätze für den Erwerb des gewerblichen Heimaths-
rechts zwiſchen den armenpflichtigen Ortsgemeinden auf folgende drei
mehr oder weniger durchgreifend angenommene Grundſätze: 1) Be-
ſtimmung der Zeit, innerhalb deren das Heimathsrecht erworben wird;
2) Recht der Ausweiſung, wenn innerhalb dieſer Zeit die Unter-
ſtützung faktiſch eintritt, unter Aufhebung des Rechts auf die Ehebe-
willigungen der Gemeinden; 3) Recht auf unbedingten Aufenthalt
gegen Heimathsſcheine.
Literatur und Geſetzgebung. England: Kries, Engliſches
Armenweſen (1856). — Die Settlements Act von 1672. 14. Ch. II. 12.
Einführung der Heimathſcheine (35 G. III. 101). Die Irremoveable Paupers
[68] Act 1846 (9. 10. Vict. 66). Die Bodkins Act 1847 (10. 11. Vict. 110).
Ueber das Heimathsrecht der Engländer im Ausland und der Ausländer in
England betreffs des Erbrechts, neueſtes Geſetz 24. 25. Vict. 121. Auſtria
1864. S. 326. — Frankreich: Ohne eigentliches Heimathsrecht; allgemeine
Armenpflege. — Deutſchland. Hier iſt das Heimathsweſen ohne alle Einheit,
weil die Gemeindeordnungen ohne Klarheit und Princip in Beziehung auf die
Angehörigkeit ſind (ſ. Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 422 ff). Gothaer
Convention vom 15. Juli 1851. Reviſion von 1854. Beitritt Oeſterreichs
am 15. November 1860. Darauf 1861 Commiſſion des Bundestages ohne
Erfolg (Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 477). Oeſterreich, Swieceny:
öſterr. Heimathsrecht 1861. Neueſtes Geſetz vom 3. Dec. 1863. — Preußen:
Döhl, Preuß. Armenrecht. Bitzer, Freizügigkeit S. 182—192. RönneII. 339.
Armenpflege, Geſetz vom 31. December 1842. Geſetz vom 21. Mai 1855. —
Bayern: Pötzl, Verfaſſungsrecht 93. Geſetz vom 11. September 1825. —
Württemberg: Geſetz vom 17. September 1853. Bitzer S. 230. — Sachſen:
Geſetz vom 26. November 1834. FunkeII. S. 284. — Hannover: Geſetz vom
6. Juli 1827. — Baden: Regulativ vom 31. October 1863. Ausführlich:
Stein, Innere Verwaltungslehre S. 306 ff.
Die Standesregiſter entſtehen aus dem Bedürfniß, die Thatſachen
von Ehe, Geburt und Tod des Einzelnen theils für die adminiſtra-
tiven Funktionen, theils für die volkswirthſchaftlichen Rechts- und Ver-
kehrsverhältniſſe mit objektiver Gültigkeit feſtſtellen zu können. Die
darauf bezüglichen Anſtalten und Vorſchriften bilden das Recht der
Standesregiſter.
Dieſelben haben ſich, wie es in der Natur der Sache liegt, mit
dem Bedürfniß des Verkehrs erſt allmählig zu ihrer heutigen, ſyſtema-
tiſchen und allgemein gültigen Form entwickelt. Sie beginnen mit den
Gemeindekirchenbüchern (Cons. Trident. I. 24. 1. 2.) — Daraus
entſtehen die Geburts- und Todtenregiſter als allgemeine Ein-
richtung, letztere bereits im vorigen Jahrhundert in den größten deut-
ſchen Staaten von der Confeſſion abhängig gemacht, allgemein vor-
geſchrieben und organiſirt, und mit juriſtiſcher Beweiskraft verſehen.
In unſerem Jahrhundert werden ſie neben dieſer juriſtiſchen Bedeutung
für die Rechte der Einzelnen zunächſt zu Mitteln der Volkszählung,
indem durch ſie die (populationiſtiſche) Bewegung der Bevölkerung
(Abnahme und Zunahme) regelmäßig verfolgt wird. Von Frankreich
aus tritt dann der Grundſatz ins Leben, daß ſie zugleich als öffent-
liche Dokumente für die Eingehung der Civilehe gelten. Die große
praktiſche Wichtigkeit derſelben erzeugt damit eine genaue zum Theil
ſehr ausführliche Geſetzgebung, die ſchon im vorigen Jahrhundert,
[69] namentlich in Oeſterreich und Preußen ſehr genau ausgebildet iſt. Die
Grundlagen dieſer Geſetzgebung beziehen ſich 1) auf die Form der
Führung dieſer Regiſter, welche ſo eingerichtet ſein muß, daß ſie die
Elemente des juriſtiſchen Beweiſes in ihrem Inhalt geben, alſo die
amtliche (kirchliche oder behördliche) Conſtatirung der Identität der Per-
ſonen, und die Zuziehung von Zeugen; 2) auf die adminiſtrative
Oberaufſicht und Benützung derſelben für allgemeine Reſultate
durch Reviſion und durch Sammlung und Publicirung ihrer Reſultate;
3) auf die Anerkennung ihres Rechts als Beweismittel, verbunden
mit der Beſtimmung über ihre Benützung durch den Einzelnen.
Die Frage, ob und welche andere Geſichtspunkte und Thatſachen bei
dieſer Führung noch in die Standesregiſter aufgenommen werden kön-
nen und ſollen, namentlich in populationiſtiſcher Hinſicht (Alter, Er-
werbsfähigkeit, Todesart, eheliche und uneheliche Kinder) iſt nicht
gleichmäßig entſchieden. Die Theorie hat ſich faſt ausſchließlich mit
dem Geſichtspunkte der Volkszählung bei demſelben beſchäftigt, und
nur die Geſetzgebung den nicht weniger bedeutſamen des Beweisrechts
conſequent feſtgehalten.
Literatur. Faſt nur im vorigen Jahrhundert von Bedeutung. Süß-
milch erkennt zuerſt die hohe Wichtigkeit der Geburts- und Todtenregiſter;
erſte Verbindung mit dem Verſicherungsweſen. JuſtiII. 6. 1 erſter
eigentlicher Syſtematiker für dieſelben, jedoch noch ohne Beziehung auf das
juriſtiſche Element. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. 16. Gerſtner, Bevölkerungs-
lehre S. 73. — In den übrigen Lehren der Staatswiſſenſchaft fehlend.
Geſetzgebung. Die deutſche Geſetzgebung iſt der engliſchen und fran-
zöſiſchen weit voraus und als Gründerin des ganzen Syſtems anzuſehen.
Oeſterreich: Beginn der Geſetzgebung (Dekret vom 10. Mai 1774); Haupt-
geſetz, noch gegenwärtig auf der Höhe der Zeit (Patent vom 20. Februar
1784); Einführung für alle Confeſſionen in gleichartiger Form; Reviſion; for-
melle Scheidung von Ehe, Geburt und Tod; jährliche Summarien über
die Bevölkerungsbewegung (Kopetz, Polizeigeſetzkunde II. S. 74—86; Stuben-
rauch 167—176). Das Geſetz hat ſpäter nur geringer Zuſätze bedurft. —
Preußen, doppeltes Recht: im Oſten Einführung (allgemeines Landrecht
II. 11. 27); juriſtiſche Beweiskraft nur für anerkannte Religionsgeſellſchaften
(Religionsedikt vom 9. Juli 1788); dieß iſt erſt geändert durch Patent vom
30. März 1847; Juden-Verordnung vom 23. Juli 1847. Im Weſten das
franzöſiſche Recht (Rönne, Staatsrecht I. §. 97. II. 318). Im übrigen
Deutſchland zum Theil Unklarheit und Verſchiedenheit der Beſtimmungen, weil
man nach franzöſiſchem Vorgange die Eintragung der Ehe in die Standes-
regiſter nicht als amtliche Conſtatirung, ſondern als Eingehung der Ehe ſelbſt
anſehen wollte. Daher keine Einigung (Reichsverfaſſung von 1849. §. 150).
Anerkennung: preußiſche Verfaſſungsurkunde von 1850, §. 19 (Hinweiſung
auf ein beſonderes Geſetz). Anhalt-Bernburg, Verfaſſungsurkunde von 1850.
[70] §. 33. Waldeck 1832. §. 40. — Dagegen Führung der Standesregiſter durch
bürgerliche Behörden zwar in der Reichsverfaſſung von 1849 §. 151,
aber nur in die Verfaſſung von Schwarzburg-Sondershauſen von 1849,
§. 24 eingeführt und 1852 aufgehoben. Iſt im Ganzen als locales Recht
wohl allgemein den Geiſtlichen vorbehalten, und wird es bleiben, bis eine
Civilehe eingeführt wird (Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 293). — In
Bayern Strafe für Unterlaſſung der Anzeige von Geburten und Todes-
fällen (Polizeiſtrafgeſetz von 1861, Art. 53). Die ſpecielle deutſche Geſetzgebung
war uns unzugänglich. Bei Pötzl, Mohl, Funke, Moy, Weiß keine Angaben.
Frankreich. Anfänge ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert. Organiſation
der Führung durch die Maires, jedoch erſt ſeit dem Geſetz vom 20. September
1791; vollſtändige Ordnung durch Geſetz vom 28. Pluv. an VIII. — Die Ein-
tragung wird durch Code civ. I und II des actes de l’État civil aus einem
Akt der juriſtiſchen Conſtatirung zu einem Akt der gerichtlichen Entſcheidung
durch den Gemeindevorſtand (Code civ. art. 353—357) was entſchieden falſch
iſt; eben ſo iſt die Strafe der Unterlaſſung (16—300 Franken Buße oder Ge-
fängniß von ſechs Tagen bis ſechs Monaten) zwar an ſich richtig, weil es
ſich um ein öffentliches Intereſſe handelt, aber zu hart. — Benützung für die
Statiſtik der Bewegung der Bevölkerung, offenbar nach deutſchem Muſter
ſchon im Geſetz vom 20. September 1791; dann feſte Ordnung derſelben durch
Decret vom 20. Juli 1807 (mit tables decennales), ſpäter im Einzelnen ge-
nauer geordnet durch Verordnung vom 9. Januar 1815, Decret vom 24. Sep-
tember 1833 und 18. Oktober 1855. Das rechtliche Verhältniß der Maires
hat dabei eine vollſtändige Literatur, jedoch faſt ausſchließlich für den Dienſt,
ohne wiſſenſchaftliche Zuthat, hervorgerufen (ſ. Legoyt in Block, Dictionn.
de l’administration, v. État civil). — Dem franzöſiſchen Syſtem iſt das
neueſte italieniſche Recht durch Geſetz vom 20. März 1865 vollkommen
nachgebildet.
England. Früher Zuſtand: ganz der Selbſtverwaltung überlaſſen;
daher große Verwirrung und Uebelſtände. Dann Unterſuchung der Frage
durch einen Parlamentsausſchuß (1833); in Folge deſſen Uebertragung der
geſammten Führung der Bücher (register) an das Amt der Registrars,
mit dem (faſt unverſtändlichen) formellen Recht der Ehebewilligung für den
letzten, und Gültigkeit der Ehe erſt nach Eintragung in die Geburts-
und Todtenregiſter (6. 7. Will. IV. 86); Eheregiſter (6. 7. Will. 85.)
(1836). Allgemeine Organiſation: I. Vict. 22. (1837). Regiſtrirung der Be-
gräbniſſe: 27. 28. Vict. 97. Einführung in Schottland 1854. — Hauptquelle:
Daniels Civilſtandsgeſetzgebung für England und Wales (1851). Gneiſt,
Engliſches Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht I. §. 78. Mohl, Literatur der
Staatswiſſenſchaft III. 428. Stein, Innere Verwaltungslehre S. 229—242.
Die örtliche Bewegung der Einzelnen in der Bevölkerung (der ſo-
genannte Wechſel derſelben) iſt eine Thatſache, welche theils in die
[71] öffentlichen Zuſtände, theils in das Recht der Einzelnen, theils auch
in Recht und Intereſſen Dritter ſehr tief hineingreifen kann. Die Ver-
haltniſſe, welche auf dieſe Weiſe aus dem Wechſel des Aufenthalts für
das Ganze wie für die Einzelnen entſtehen, ſind daher ſtets Gegen-
ſtand öffentlich rechtlicher Beſtimmungen geweſen, und die Geſammtheit
dieſer Beſtimmungen bildet das Paß- und Fremdenweſen. Die
Geſchichte deſſelben iſt ein nicht unwichtiger Theil der Rechtsgeſchichte
überhaupt, und bezeichnend für die Geſammtentwicklung des inneren
Lebens des Volkes.
Das Rechtsprincip für das älteſte Fremdenrecht (Geſchlechterord-
nung) war die Rechtloſigkeit der Fremden, die nur durch das Gaſt-
recht, und ſpäter das Geleitsrecht des Mittelalters für Einzelne
aufgehoben ward. Mit dem Entſtehen des Verkehrs wird es dann noth-
wendig, den Grundſatz des Mittelalters aufzuheben, und die recht-
liche Freiheit der Bewegung auszuſprechen, indem man zunächſt dem
Einzelnen überließ, ſich vorkommenden Falles zu legitimiren. Die poli-
zeiliche Epoche kommt dann zur Erkenntniß der Gefährdung der Staaten
einerſeits, und der individuellen Sicherheit andererſeits bei der ſchranken-
loſen Ausübung dieſes Rechts in den zerwühlten Zuſtänden der unter-
gehenden ſtändiſchen Epoche, und ſtellt dagegen theils im Intereſſe des
Staats, theils in dem der Bevölkerung und der Gemeinden zuerſt den
Grundſatz auf, daß überhaupt jede örtliche Bewegung von einer
obrigkeitlichen Erlaubniß für den Einzelnen abhängig ſein und
daß der Mangel derſelben ſtrafbar ſein ſolle. So entſteht für die
Reiſe aus einem Staatsgebiet in das andere das Paßweſen, aus
einer Gemeinde in die andere das Meldungsweſen, als äußeres
und inneres Fremdenrecht. Dieß Syſtem des polizeilichen Frem-
denrechts, mit dem vorigen Jahrhundert beginnend und zum Theil
gültig bis auf die neueſte Zeit, hatte nun neben ſeinem unfreien Ele-
mente der obrigkeitlichen Erlaubniß für die ihrem Weſen nach freie Be-
wegung des Einzelnen zugleich das zweite organiſche und wichtige Ele-
ment in ſich, daß es die öffentliche Legitimation als Feſtſtellung
der Identität der Perſönlichkeit, Staats- und Gemeindeangehörigkeit
enthielt, welche für jeden von Wichtigkeit werden konnte. Die neueſte
Zeit daher, indem ſie durch die gewaltigen Bewegungen in den Bevöl-
kerungen das Syſtem der Erlaubniſſe unmöglich machte, ſuchte dagegen
naturgemäß das Syſtem der Legitimationen feſtzuhalten, und zwar zu-
erſt als ein obligates, was aber wieder nur bei größeren Reiſen,
namentlich in fremde Länder, ausführbar erſchien; dann aber als fa-
cultatives, indem dem Einzelnen im eigenen Intereſſe freigeſtellt
ward, einen Paß als öffentliches Legitimationsdokument zu erwerben,
[72] oder nicht. Dabei wurde jedoch in den meiſten Staaten die obligate
Legitimation mit ſpecieller Beziehung auf das Heimathsrecht, das
eigentliche Meldungsweſen, in den Gemeinden beibehalten, obwohl
ſein Werth in der Praxis höchſt zweifelhaft iſt. Das facultative Legi-
timationsweſen durch obrigkeitliche Päſſe ward dagegen im Intereſſe
des immer lebendiger ſich geſtaltenden perſönlichen Verkehrs in immer
einfachere Formen gebracht; entſcheidend war dafür der Grundſatz,
daß man nicht mehr für die einzelne Reiſe einen einzelnen Paß, ſon-
dern überhaupt nur eine individuelle Legitimation brauche, oder das
Eintreten der Paßkarten für alle Ueberſchreitungen der äußeren
Gränze, der Legitimationskarten für jeden Aufenthalt im In-
nern. Daß ſich dabei jeder Staat das Recht vorbehält, nöthigenfalls
das ſtrenge Erlaubnißſyſtem wieder herzuſtellen, bleibt ſelbſtverſtändlich.
Daneben wurden die Fremdenbücher der Gaſthäuſer für nächtlichen
Aufenthalt neu geordnet, während wieder in einzelnen Staaten die
Erlaubniß zum längeren Aufenthalte durch eine „Aufenthaltskarte“
gegeben werden muß, und die „Wanderbücher“ und „Hauſirpäſſe“
für ihre ſpeciellen Zwecke noch beſtehen bleiben. Man erkennt leicht
daraus, daß der Uebergang zum freien Legitimationsſyſtem
bis jetzt weder vollſtändig noch gleichmäßig in Europa vollzogen iſt,
während es wiederum nicht als zweckmäßig erſcheint, das ganze Paß-
und Legitimationsweſen mit der bezeichneten facultativen Benützung
wie in England und Nordamerika aufzuheben.
Literatur. Das Syſtem des alten „Gaſtrechts“ bei Grimm Rechts-
alterth. 396; Oſenbrüggen, Gaſtgerichte der Deutſchen im Mittelalter. Das
Syſtem des Geleitsrechts nach dem Landfrieden 1548 und dem weſtphäli-
ſchen Frieden (Art. IX und Art. V.) bei Moſer, Nachbarliches Staatsrecht,
S. 676 ff. Die Literatur des vorigen Jahrhunderts iſt faſt durchgehend gegen
das polizeiliche Paßweſen, das damals eigentlich erſt entſtand. Berg, Polizei-
recht II. 59. IV. 26. Niemann, Blätter für Politik und Cultur 1861.
Daneben Anerkennung der Nothwendigkeit des inneren Legitimationsweſens
und detaillirte Ausbildung ſchon am Ende des vorigen Jahrhunderts (Polizei-
vorſchriften bei Berg, I. 20. IV. 13. 610). Syſtem des gegenwärtigen Jahr-
hunderts nach dem Vorbilde von Frankreich auf Grundlage des Bundesbe-
ſchluſſes vom 5. Juli 1832 bei Zachariä, Deutſches Staats- und Bundes-
recht II. 164. Die ſtaatswiſſenſchaftliche Literatur hat ſich um das Ganze
wenig gekümmert; Mohl (Präventivjuſtiz S. 116) ſehr einſeitig.
Geſetzgebung. Frankreich. Aufhebung des Paßweſens. Geſetz vom
14. September 1791; Herſtellung (Decret vom 6. Februar 1793, 10. Vend.
an IV und 17. November 1797). Definitive Ordnung (Decret vom 18. Sep-
tember 1807); Erlaubniß zu inneren Reiſen; Recht zur Ausweiſung der
Fremden (Geſetz vom 19. October 1797); Verpflichtung der Conſtatirung der
[73] Identität durch zwei Zeugen vor dem Maire (Code Pén. art. 155 und Geſetz
vom 5. Mai 1855) — das unfreieſte Paßweſen Europas! Ueber die „feuilles
de route“ ſ. Schubweſen; Livrets (Laferrière, Droit administr. I. Ch. II.);
Batbie, Droit publ. et administr. II. p. 347 ff.
Deutſchland. Charakter: durchgreifender Unterſchied des Paßweſens
und Fremdenweſens; jenes fällt dann ins Völkerrecht. Juſti 11. Buch 43.
Mohl, Präventivjuſtiz §. 11, nebſt Literatur und Beziehung auf das ältere
Recht. — Preußen; erſte freiere Bewegung durch Paßedikt vom 22. Juni 1817
(Rönne und Simon, Polizeiweſen der preußiſchen Monarchie I. S. 291;
Rönne, Staatsrecht II. S. 333); nach innen zum Theil Freiheit, nach außen
Strenge. Darnach die übrigen deutſchen Staaten: Bayern (Verordnung vom
17. Januar 1837; Pözl, §. 80. 81). Strafe bei Unterlaſſung der ortspolizei-
lichen Fremdenanzeigen, bei Mangel an Wanderpäſſen ꝛc. (Polizeiſtrafgeſetzbuch
von 1861 Art. 78—86). — Württemberg (Generalverordnung vom 11.
September 1807; Mohl, württembergiſches Verwaltungsrecht §. 185). —
Sachſen. (Regulativ vom 27. Januar 1818; Funke, Polizeigeſetz II. Bd.
III. Abſchn.) — Oeſterreich (Verordnung vom 9. Februar 1857 und Frei-
heit (Verordnung vom 9. November 1865). Stubenrauch, Verwaltungs-
geſetzkunde I. S. 177. — Mecklenburg (Verordnung vom 9. November und
22. December 1863). — Lübeck: Aufhebung des Paßzwanges (Verordnung
vom 11. April 1864).
Entwicklung des gemeinſamen Paßweſens für die deutſchen Staaten.
Anfänge ſeit 1841. Entſtehung des Paßkartenſyſtems (Vertrag vom 21.
Oktober 1850). Nachträge vom 7. Juli 1853. Sehr verſtändige Paßconvention
zwiſchen Hannover und faſt allen deutſchen Staaten vom Jahre 1865. Ver-
träge ſeit dem 7. Februar 1865 mit geringen Einführungsmodalitäten in den
einzelnen Staaten.
Das Meldungsweſen hat einen ganz localen Charakter behalten, und
iſt ſo verſchieden, daß eine allgemeine Darſtellung nicht thunlich ſcheint. — Im
Ganzen Stein, Innere Verwaltungslehre S. 245—272.
C. Die Bevölkerungspolitik.
Das Verhältniß der Verwaltung zu der an ſich freien Ehe beruht
darauf, daß die Ehe in geſellſchaftlicher, volkswirthſchaftlicher und end-
lich rein populationiſtiſcher Hinſicht auf die Bevölkerung im Allgemeinen
und die Rechte und Pflichten Einzelner von entſcheidendem Einfluſſe
wird. Die Verwaltung, um dieſen Einfluß nach den Bedürfniſſen des
allgemeinen Wohles zu geſtalten, hat daher in den verſchiedenen Zeiten
gewiſſe Beſtimmungen über Eingehung und Folgen der Ehen getroffen,
welche das öffentliche Eherecht bilden. Die Principien dieſes
öffentlichen Eherechts erſcheinen durch die ſocialen Zuſtände der Zeit
beſtimmt, für die ſie aufgeſtellt werden.
[74]
Das öffentliche Eherecht der Geſchlechterordnung beruht auf
dem Recht des väterlichen Conſenſes zur Eingehung der Ehe, und auf
der Pflicht der Geſchlechter, Ehen einzugehen, deren Erfüllung all-
mählig mit Strafen für die Hageſtolzen und dann mit Belohnungen
für die Heirathen erzwungen werden ſoll.
Das öffentliche Eherecht der ſtändiſchen Ordnung beginnt bei
dem Conſensrecht des Herrn zur Ehe des Unfreien, und des Lehns-
herrn zur Ehe des Vaſallen, entwickelt ſich zum ſtändiſchen Berufs-
recht der Ehe (Cölibat, Eheconſens für Militärs und Beamtete) und
geht damit zum Theil über in die folgende Epoche, während das Hage-
ſtolzenrecht und die Beförderungen der Ehe verſchwinden.
In der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beginnt die polizeiliche Epoche,
die Eherechtsbildung der Verwaltung zu gleicher Zeit auf der entgegen-
geſetzten Grundlage der Beförderung der Ehen, um durch ſie die
Bevölkerung zu vermehren, und der Verhinderung derſelben, um
die Armuth zu bekämpfen. Daher gilt als allgemeine Tendenz der
Regierung und ihrer dadurch oft einander direkt entgegengeſetzten Be-
ſtimmungen und Maßregeln, die Ehen Erwerbsfähiger zu erleichtern,
die Ehen Erwerbsunfähiger zu erſchweren. Indeſſen ſind dieſe all-
gemeinen Vorſchriften der Regierung noch von geringem Einfluß und
nehmen mehr einen theoretiſchen als einen praktiſchen Standpunkt an.
Die wahre Heimath des öffentlichen Eherechts dieſer Zeit für das ent-
ſtehende Bürgerthum iſt vielmehr das Gemeinderecht, indem der
Grundſatz, daß die Geburt das Heimathsrecht und mithin die Unter-
ſtützungspflicht der Gemeinden erzeugt, zu der Berechtigung der letzteren
führt, ihren Conſens zu der Ehe namentlich bei neuen Niederlaſſungen
zu geben, was dann mit dem Zunftrecht in engſte Verbindung tretend,
die Abhängigkeit der Ehen von dem Gemeindeconſens zu
einem faſt allgemeinen Rechtsſatz macht, neben dem die rein polizei-
lichen Ehevorſchriften nur noch wenig bedeuten.
Erſt in unſerem Jahrhundert, namentlich aber mit der Gewerbe-
freiheit einerſeits und mit der Anerkennung der ſtatiſtiſchen Thatſache
andererſeits, daß die Eheverbote nur die Zahl der unehelichen Kinder
und der wilden Ehen vermehren, tritt die völlige Freiheit der Ehe,
die Beſeitigung aller öffentlich rechtlichen Eheconſenſe und Ehebeförde-
rungen als allgemein gültiger Grundſatz auf, der in England und
Frankreich unbeſtritten beſteht, in Deutſchland aber freilich noch immer
gegenüber den Rechten und Intereſſen der Gemeinden nicht zur völli-
gen Geltung hat gelangen können. Die Regierungen haben dabei faſt
ohne Ausnahme ſich direkter Anwendung polizeilicher Ehevorſchriften
mehr und mehr enthalten. Es iſt daher vorausſichtlich das öffentliche
[75] Eherecht der Zukunft nur auf das Recht der Zuſtimmung der Familie
und die Reſte des ſtändiſchen Eherechts mit zweifelhaftem, jedenfalls
ſehr beſchränktem Werthe zu begründen, während das populationiſtiſche
Element der Ehebeförderung gänzlich verſchwunden iſt.
Altes germaniſches Eherecht der Conſenſe in der deutſchen Rechtsgeſchichte.
Die Literatur des Hageſtolzenrechts bei Fiſcher, Polizeirecht I. S. 569. Stein,
Inneres Verwaltungsrecht S. 129—132.
Das ſtändiſche Eherecht des Lehnsweſens in den Rechtsgeſchichten, aber
meiſt unvollſtändig. Die Literatur des Cölibats (Carové, über Cölibats-
geſetze 2 Bde. 1835). Die Religionsverſchiedenheit als bürgerliches Ehehinderniß
förmlich aufgehoben in Schwarzburg-Sondershauſen (Verfaſſungsurkunde
von 1849. §. 36). — Anhalt-Bernburg (Verfaſſungsurkunde 1850 §. 23).
— Oldenburg (Verfaſſungsurkunde 1852 §. 33). — Coburg 1852 §. 30.
— Das amtliche und militäriſche Conſensrecht in einzelnen Verordnungen
faſt in allen Staaten Deutſchlands. Oeſterreich: Verordnung vom 12. Ja-
nuar 1815. (Beamte.) Verordnung vom 25. November 1826. (Militärehen.)
Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde §. 340. — Preußen: Conſens für Be-
amte. Allgemeines Landrecht II. 1. S. 70 und Rönne, Preußiſches Staatsrecht
§. 295. — Bayern: dienſtliche Ehebewilligung (Verordnung vom 2. Februar 1845).
Pözl, Verfaſſungsrecht §. 29. — Württemberg: Dienſtpragmatik §. 9. Mohl,
württembergiſches Verwaltungsrecht §. 162.
Eheconſensrecht der Gemeinden in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft.
— Voriges Jahrhundert: Zunftbewilligungen. Fiſcher, Polizeirecht I. §. 1051.
Berg, Polizeirecht III. 2. S. 29. — Alte Geſetze in Oeſterreich: Kopetz,
Polizeigeſetzkunde I. S. 124. — Ehegeſetz vom 25. Mai 1868. Stubenrauch
§. 339. — Sachſen: Funke, Polizeirecht II. S. 991. Mandat vom 10. Oktober
1826; Zeugniß der „Obrigkeit.“ — Württemberg: Hartmann, Ehegeſetze
des Herzogthums Württemberg. Neues Recht: das Conſensrecht der Gemeinden
formell anerkannt (revidirtes Bürgerrechtsgeſetz, Geſetz vom 4. Decem-
ber 1833, Art. 42. 43); erhalten im Eherechtsgeſetze vom 5. Mai 1852!
Bitzer, Freizügigkeit. — Bayern: gleichfalls Gemeindeconſens; Geſetz über
Anſäßigmachung und Verehelichung vom 11. September 1825. Revi-
dirt am 1. Juli 1834. Pötzl, Verfaſſungsrecht §. 29. Strafe für Eingehung
einer Ehe mit Ausländern (?) ohne „Bewilligung der zuſtändigen Behörde“
bis 100 fl. (bayeriſches Polizeiſtrafgeſetzbuch von 1861. Art. 52). — Baden:
hier das Recht zur Ehe mit dem Indigenat zwar gegeben (Conſtitutionsgeſetz von
1808, §. 7); aber bei wirklicher Ehe dagegen Abhängigkeit vom Vermögens-
nachweis bei den Gemeinden (Geſetz vom 13. Februar 1851). Fröhlich, badi-
ſche Gemeindegeſetze. 1861. — Großherzogthum Heſſen: daſſelbe. (Geſetz
vom 30. Juni 1821 und Geſetz vom 19. Mai 1852.) — Hannover: daſſelbe.
Eckhardt, Geſetze, Verordnungen und Ausſchreibungen für das Königreich Han-
nover. 1840. Bitzer, Freizügigkeit S. 223—225. — Sachſen-Altenburg:
Eheordnung vom 12. Mai 1837. Das Verbot der Ehe für Handwerksgeſellen
(§. 47) aufgehoben durch Verordnung vom 6. Juli 1863. Stein, Inneres
[76] Verwaltungsrecht S. 132—160. — Eine Art von internationalem Ehe-
recht zwiſchen den deutſchen Staaten durch die Gothaer Convention vom
15. Juli 1851; Princip: keine Ehe der Angehörigen eines Staates mit dem
eines andern geſtattet „ohne Conſens der Heimathbehörde.“ (!) Zu dem
Vertrage ſind 1853—1854 die übrigen deutſchen Staaten hinzugetreten, 1860
am 15. November auch Oeſterreich; über die von demſelben vorgeſchlagenen
Modalitäten eine Bundestagscommiſſion vom 25. Juli 1862 ohne Erfolg.
Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 477. Specielle Darſtellung der „unzu-
läſſigen Beſchränkungen des Rechts der Verehelichung“ von Fr. Thudichum,
1866. Ausführlich über das ſüddeutſche Gemeindeconſensrecht, nebſt Literatur.
Während der bloß zeitliche Aufenthalt einer Perſon außerhalb ihrer
Heimath den Begriff des Fremdenweſens, der dauernde, aber bloß
zum Zwecke des Erwerbes, alſo jeden Augenblick zu ändernde Aufent-
halt das Niederlaſſungsweſen erzeugt, iſt die Einwanderung
vielmehr der Akt, durch welchen der Fremde mit ſeinem ganzen ſtaats-
bürgerlichen Leben in einen neuen Staat eintritt. Sie ſteht daher in
unmittelbarer Beziehung zur Bevölkerung, und die Geſammtheit der
daraus hervorgehenden Maßregeln und Rechtsſätze für die Einwande-
rung bilden das Einwanderungsweſen.
Das Einwanderungsweſen enthält daher zuerſt die rechtlichen Be-
ſtimmungen, welche durch den Eintritt eines fremden Mitgliedes in die
bisherige geſellſchaftliche Ordnung hervorgerufen werden. Dann aber
erſcheint daſſelbe als eine poſitive Maßregel der Verwaltung für die
Vermehrung der Bevölkerung.
Bis zum Eintritt der polizeilichen Verwaltung ſind nun die erſteren
Beſtimmungen allein maßgebend geweſen. In der Geſchlechterordnung
erſcheint alle Einwanderung nur als förmliche Aufnahme in den be-
ſtehenden Geſchlechterverband und ſeine öffentlichen Rechte. In der
ſtändiſchen Ordnung wird die Einwanderung zunächſt durch Erwerb von
Grundbeſitz, dann durch Berufung als Aufnahme in den berufsmäßigen
ſtändiſchen Körper (Geiſtlichkeit, Hochſchulen, dann Beamtete) vollzogen.
In den ſtädtiſchen Gemeinden endlich iſt urſprünglich die Niederlaſſung
auf dem Weichbild identiſch mit der Einwanderung (Schutz- und Pfahl-
bürger); ſpäter vollzieht ſie ſich erſt durch Erwerb von Grundbeſitz oder
durch Aufnahme in die Zünfte. Mit dem Streben nach Vermehrung
der Bevölkerung haben alle dieſe Rechtsfolgen noch nichts zu thun.
Die polizeiliche Verwaltung, ausgehend von der Vermehrung der
Bevölkerung als Grundlage der Entwicklung des Staats, macht nun
aus der Einwanderung eine förmliche Aufgabe der Verwaltung, und
ſo entſteht das auf die Vermehrung der Einwanderung berechnete
[77]populationiſtiſche Einwanderungsweſen. Grundſatz deſſelben iſt die
möglichſte Beförderung der Einwanderung, und zwar theils durch
direkte Unterſtützung, theils durch Einräumung von großen Rechten
der Selbſtverwaltung; es kommt jedoch überhaupt nur in einzelnen
Staaten Deutſchlands vor und verſchwindet mit dem Ende des vorigen
Jahrhunderts. Der Grundſatz des gegenwärtigen Jahrhunderts iſt
das Aufgeben aller Art ſolcher Unterſtützungen, dagegen auch die Be-
ſeitigung aller ſtändiſch rechtlichen Hemmniſſe der Niederlaſſung, alſo
die freie Bewegung der Einwanderung, jedoch in der Weiſe, daß bei
völlig (England, Frankreich) oder beinahe völlig (deutſche Staaten)
freier Niederlaſſung (Freizügigkeit) der Erwerb der Gemeindeangehörig-
keit und des Heimathrechts von den Grundſätzen der Gemeindeordnung,
der Erwerb des Staatsbürgerthums oder Indigenats dagegen von
denen des Staatsrechts abhängig wird, ſo daß das Einwanderungsrecht
jetzt ſich in drei ſelbſtändigen Theilen oder Momenten auflöst: 1) Nie-
derlaſſungsrecht oder Freizügigkeit; 2) Heimathsrecht, oben dar-
geſtellt, und 3) Indigenat, das als Erwerb des Staatsbürgerthums
dem Verfaſſungsrecht angehört. Das Einwanderungsweſen des vorigen
Jahrhunderts iſt ſomit als verſchwunden anzuſehen, und im Grunde
beſteht das Einwanderungsrecht gegenwärtig nur noch im freien Nieder-
laſſungsrecht oder der Freizügigkeit, die wiederum als Theil des Heimath-
weſens anzuſehen iſt.
Literatur. Durch Mangel an Unterſcheidung zwiſchen Einwanderung
und Auswanderung ohne bedeutenden Einfluß. Colonienfrage. Roſcher,
Colonien. Rau, II. 1. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. 113. GerſtnerII.
195. 196. — Gegenſtand ſpecieller Unterſuchung noch für Oeſterreich: Czörnig,
Ethnographie der öſterreichiſchen Monarchie Bd. II.Höfken, Coloniſation
von Ungarn 1858. Frühere Literatur: populationiſtiſcher Standpunkt, jedoch
mit Zweifel über den unbedingten Werth der Einwanderung. Süßmilch
II. 14. Juſti, II. 8. Hauptſt. Anerkennung der Freiheit der Bewegung
als beſtes und allein leitendes Princip mit Anfang dieſes Jahrhunderts. Berg,
II. 38. Möſer, Phantaſien Bd. II.Jacobs, Polizeigeſetzgebung §. 100.
Hervorheben des ethiſchen Elements: Soden, nach Heerens Ideen. Natio-
nalökonomie 1807.
Geſetzgebung. Deutſchland. Abſtrakte Anerkennung der Einwan-
derungsfreiheit durch Erwerb von Grundbeſitz (Bundesakte Art. 18); in der
Wirklichkeit nicht geltend. Zöpfl, Deutſches Staatsrecht II. §. 288. Selb-
ſtändig nur im vorigen Jahrhundert, ſpeciell in Preußen für die (franzöſiſche)
Einwanderung: Fiſcher, Polizeigeſetze Bd. I. §. 527—47. 571. Berg, Polizei-
recht II. 39. — Oeſterreich: Kopetz, Polizeigeſetzkunde I. 108. Gegen-
wärtig als ſelbſtändiges Gebiet verſchwunden, und nur noch als Theil des
Heimathsrechts zu betrachten. Stein, Innere Verwaltungslehre S. 168—182.
[78]
Die Auswanderung iſt das Aufgeben des Staatsbürgerthums unter
Verlaſſung der Heimath. Der Grund der Auswanderung iſt, ſofern
ſie nicht als vereinzelter Fall auftritt, ſtets ein tieferer geſellſchaftlicher
Gegenſatz. Die nächſte rechtliche Folge derſelben dagegen iſt das Auf-
geben aller theils örtlichen, theils wirthſchaftlichen, theils rechtlichen
Beziehungen des Auswandernden mit ſeiner bisherigen Heimath. Die
Auswanderung iſt daher in ihren Gründen und in ihren äußern Folgen
eine große geſellſchaftliche und dadurch welthiſtoriſche Thatſache, durch
ihre inneren Folgen dagegen ein Gegenſtand der Verwaltung. Und
die dadurch entſtehenden öffentlichen Rechte und Thätigkeiten der letz-
teren bilden das Auswanderungsweſen.
Das Auswanderungsweſen erſcheint daher unter den verſchiedenen
Geſellſchaftsformen als ein ſehr verſchiedenes, und wenig von dem
früheren iſt in der gegenwärtigen Zeit zu gebrauchen, obwohl es allen
Zeiten gemein iſt, daß die Auswanderung ſtets nur entweder von den
rechtlich oder von den wirthſchaftlich unterdrückten Claſſen ausgeht,
und ſtets ſich ſolchen Ländern und Zuſtänden zuwendet, in denen
der Auswanderer die ihm in der Heimath mangelnde Freiheit wieder
zu finden hofft.
In der Geſchlechterordnung erſcheint die Auswanderung regelmäßig
als Eroberungszug; aus ihm gehen Niederlaſſungen, Colonien hervor,
welche bei gleicher Grundlage mit dem öffentlichen Recht der Heimath
meiſtens den Erwerb von Grundbeſitz (ſog. Militär-Colonien — im
Großen die ganze germaniſche Völkerwanderung) oder den, der heimath-
lichen Concurrenz entfliehenden gewerblichen Beſitz zum Zweck haben
(Handelscolonien). Es iſt falſch, Handelscomptoire als Auswande-
rungen zu betrachten; ſie können ſie höchſtens veranlaſſen (Geſchichte
der Hanſe; des transatlantiſchen Handels). Rechtlicher Grundſatz iſt
dabei der Verluſt aller Rechte in der bisherigen Heimath.
In der ſtändiſchen Ordnung iſt die Auswanderung entweder eine
confeſſionelle, deren Grund die confeſſionelle Verfolgung iſt, oder die
grundherrliche. Das Recht der letzteren beginnt mit dem Verbot
und der Beſtrafung der Auswanderung, da die Perſon des Auswan-
dernden dem Grundherrn eigen iſt, und geht dann über zum wirth-
ſchaftlichen Recht des Detracts (census oder gabella emigrationis,
Nachſchoßrecht), welches bei perſönlicher Freiheit der Auswanderung das
aus dem Gerichtsbereich gezogene Vermögen, ſogar bei Erbſchaften, be-
ſteuert. Dieß Recht verſchwindet erſt in unſerem Jahrhundert mit der
Aufhebung der Grundherrlichkeit.
[79]
Den Uebergang zum freien Recht der Auswanderung bildet dann
das polizeiliche Auswanderungsrecht auf populationiſtiſcher Grund-
lage. Daſſelbe entſteht mit dem Ende des ſiebenzehnten Jahrhunderts
und enthält das Princip der amtlichen Erlaubniß für die Aus-
wanderung aus dem Staate, dem die Beſtrafung der unerlaubten
Auswanderung zur Seite ſteht. Dieſe polizeiliche Erlaubniß bezieht ſich
aber dann nur auf den Staat und läßt daher das Retractrecht für
die Grundherrlichkeit als Gemeindeauswanderungsrecht noch fortbeſtehen.
Durch das Zuſammenwirken beider wird nun die freie Bewegung der
Bevölkerung in hohem Grade gehemmt und das neue Recht der Aus-
wanderung vorbereitet.
Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft erkennt auch für die Auswande-
rung die individuelle Freiheit an und hebt die Auswanderungsverbote
auf. Das Retractrecht und die Erbſchaftsſteuer bleiben nur noch als
Retorſionsmaßregeln beſtehen. Doch erhält ſich der Gedanke, daß der
Staat die Erfüllung bereits eingegangener Verpflichtungen der Aus-
wandernden gegen ſich und gegen Einzelne ſo weit thunlich zu ſichern
habe; daher die zweckmäßige Verpflichtung der Auswandernden zur
öffentlichen Anzeige und Grundſatz, daß das zurückgelaſſene Ver-
mögen des Auswandernden, bez. Berechtigungen deſſelben im Inlande
dafür zur Haftung gehalten werde. Grundſätzlich iſt zweitens die Er-
füllung der Wehrpflicht als Bedingung der freien Auswanderung;
drittens das Aufhören des Heimathsrechts mit der Uebergabe des
Auswanderungspaſſes. Auf dieſen Grundſätzen beruht das Auswan-
derungsrecht der Gegenwart.
Die hohe Bedeutung jedoch, welche die Auswanderung als That-
ſache für das wirthſchaftliche und ſociale Leben der Völker hat, hat
nun das unmittelbare Eingreifen der inneren Verwaltung in die wirk-
liche Auswanderung zu einer Aufgabe der letzteren gemacht, und ſo die
Auswanderungspolitik erzeugt. Dieſe Auswanderungspolitik hat
drei Hauptgebiete, welche freilich ſehr verſchieden entwickelt ſind.
Die Beförderung der Auswanderung, theils durch direkte Auf-
forderung, theils durch Gemeinde- oder Staatsunterſtützung kann ihrer
Natur nach nur örtlich und zeitlich vorkommen und ſich nur auf ört-
liche Anhäufung der nichtbeſitzenden Claſſe beziehen. Auch da bleibt
ſie von zweifelhaftem Werthe, da ſie viel koſtet und keine Sicherheit
des Erwerbes für die Auswandernden darbieten könne.
Der Schutz der Auswanderungen enthält die Vorſichtsmaßregeln
der Regierung gegen Ausbeutung der Auswanderungsluſtigen durch
Geſellſchaften und ihre Agenten. Derſelbe wird theils durch das Princip
der Genehmigung zu Auswanderungsagenturen, theils durch Aufklärungen
[80] über die Ausſichten der Auswanderungen von Seiten der Behörden
erzielt. Es iſt nothwendig, dieſen Schutz ſyſtematiſch zur Anwendung
zu bringen.
Die zweite Form dieſes Schutzes bezieht ſich dann auf den Aus-
wanderertransport und findet ſeine Anwendung faſt nur bei den
Vorſchriften für Auswandererſchiffe und ihrer Einrichtung und Ver-
pflegung. Es iſt aber zugleich nothwendig, daß auch die Landſtaaten
dieſe Vorſchriften kennen und ſie ſelbſt, ſo wie ihre faktiſche Befolgung
ihren Angehörigen zur Kunde bringen, da das das beſte Mittel iſt,
den Transport zu einem wohleingerichteten zu machen.
Die Hülfe für die Auswanderer muß, wo ein Staat keine eigenen
Colonien hat, dem freien Vereinsweſen überlaſſen bleiben und iſt auch
bereits von demſelben übernommen.
Im Ganzen ſteht dieſes freie Auswanderungsweſen noch in Be-
ziehung auf Princip, Geſetzgebung und Verwaltung auf einer niederen
Stufe, und wird erſt beſſer werden, wenn das Conſulatweſen zur
Dienſtleiſtung regelmäßig und organiſch herbeigezogen werden wird.
Für Deutſchland iſt ohne eine Bundesverwaltung auch in dieſer Be-
ziehung an keine Beſſerung zu denken.
Literatur. Selbſtändige Betrachtung des Auswanderungsweſens erſt
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts im Sinne des freien Auswanderungs-
rechts. Bis dahin Geſchichte der Auswanderung der Geſchlechterordnung in
den Werken über alte Geſchichte. Das grundherrliche Auswanderungs- und
Detractsrecht ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert in den Werken über deutſches
Privatrecht, ſ. bei Fiſcherl. c. §. 622. Heineccius, Ludolf, Mevius u. A.
Geſtalt im achtzehnten Jahrhundert: Fiſcher §. 611. 612. Neuere Aufhebung
zwiſchen den Bundesſtaaten (deutſche Bundesakte Art. 18 und ſpeciell durch
Bundesbeſchluß vom 23. Juli 1817). In den einzelnen Ländern theils unbe-
dingt; Preußen (Geſetz vom 21. Juni 1816). — Württemberg (Geſetz
vom 19. November 1833). Darauf bezügliche Staatsverträge bei Mohl,
Württembergiſches Verwaltungsrecht §. 75, theils bedingt. — Sachſen-Alten-
burg (Verfaſſungsurkunde von 1831 §. 69. 70). — Literatur vom Stand-
punkt der populationiſtiſchen Verbote: Juſti, II. IX. 2. SüßmilchI. 14.
Freiere Anſchauung: Berg, Polizeirecht I. 51 ff. Roſcher, Colonien. Rau,
Volkswirthſchaftspflege §. 17. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 21. Gerſtner,
Verwaltungslehre S. 217. Specielle Abhandlung: Mohl, Zeitſchrift für Geſetze
der Staatswirthſchaft 1847. S. 320. Geßler, ebd. Bd. 18, S. 375. Vogt,
Armenweſen 1. 2. 233. Brater, Staatswörterbuch Art. Auswanderung.
Stein, Innere Verwaltungslehre S. 206 ff. Carup, Anſicht über Volksver-
waltungslehre 1860 Cap. 40.
Geſetzgebung. England: Verbote aus dem vorigen Jahrhundert 1744;
Verbote für Maſchinenbauer aus dieſem Jahrhundert; gegenwärtig frei. —
Frankreich (Decret vom 15. Januar 1855). — Oeſterreich: Kopetz,
[81] Polizeigeſetzkunde 1. 87. Auswanderungspatent vom 10. Auguſt 1784 (Verbot und
Erlaubniß). Neues Auswanderungspatent vom 24. März 1832; gleiche Strenge.
— Preußen: Freiheit: Allgemeines Landrecht II. 17. 127—141. Andere
Geſetze für Bayern, Sachſen, Heſſen-Darmſtadt aus dem vorigen Jahrhundert.
(Stein, Innere Verwaltungslehre S. 193 ff.) Im Allgemeinen iſt jedoch die
Auswanderungsfreiheit anerkannt. Bis 1848 meiſt nur in Beziehung auf
andere Bundesſtaaten auf Grundlage der deutſchen Bundesakte Art. 18. Nach
1848 verſchiedene Rechtsbildungen in folgenden Gruppen: a)Völlige Frei-
heit Württemberg: Verfaſſungsurkunde §. 32. — Schwarzburg-Sonders-
hauſen: Verfaſſungsurkunde von 1849 §. 47. — b) Nur durch die Militär-
pflicht beſchränkt (Unionsparlament in Erfurt) vor 1848. — Bayern: Ver-
faſſungsurkunde 1818. IV. 14. Miniſterialerlaß vom 13. Auguſt 1846. (Pötzl,
Verfaſſungsrecht §. 31.) — Sachſen: 1831 §. 29. Mandat vom 6. Februar 1830.
(Funke, Polizeigeſetz VIII. 4.) — Sachſen-Altenburg: 1831. 69. — Braun-
ſchweig: neue Landesordnung 1832. 35. Am genaueſten Preußen: Geſetz
vom 31. December 1842. Dann nach 1848 Preußen: Verordnung vom
4. Januar 1849. (Verfaſſungsurkunde 1850. 11. Rönne, Staatsrecht.) —
Mecklenburg: Verordnung vom 15. April 1857 (Auswanderung nach außer-
europäiſchen Ländern) Verordnung vom 4. Februar 1864. Ausdehnung der-
ſelben auf die europäiſchen Staaten. Auswanderungs-Agenturen: früheres
Geſetz vom 8. Juli 1852. Neues Geſetz vom 4. Februar 1864 (Strafe für
„Verleitung“ zur Auswanderung, genauere Beſtimmung der Verpflichtungen
der Agenten). — Anhalt-Bernburg: Verfaſſung von 1850. 15. — Olden-
burg: Verfaſſungsurkunde von 1852. §. 55. — Reuß: Verfaſſungsurkunde
von 1852. — Waldeck: Verfaſſungsurkunde von 1852. §. 32. Die Beſtim-
mungen über die Rechtswirkungen der Auswanderung als Verluſt der
Staatsangehörigkeit, zum Theil mit Bezug auf die Familienglieder ſ. Zöpfl,
deutſches Staatsrecht II. S. 300.
Auswanderer-Transport. Geſetze. Englands erſte Passengers
Act 9. G. IV. 21. (1825); dann Pass. Act von 1855 und Pass. Amendm.
Act 1864. — Belgien: 1843. — Bremen: 1832. Geſetz vom 14. Juli 1854.
— Hamburg: Verordnung vom 20. Februar 1865. Strafe für Betreibung von
Auswanderungsgeſchäften (Agenturen) ohne polizeiliche Erlaubniß. —
Bayern: Polizeiſtrafgeſetzbuch 1861. §. 51. (Stein, Innere Verwaltungs-
lehre S. 190—209.) Das neueſte Geſetz iſt die obrigk. Verordnung die Beför-
derung von Schiffspaſſagieren nach außereuropäiſchen Ländern betreffend, vom
9. Juli 1866 von Bremen, ſehr umſichtig und eingehend.
II.
Das öffentliche Geſundheitsweſen.
Begriff.
Das Geſundheitsweſen bildet das zweite Gebiet der Verwaltung
des perſönlichen Lebens. Ihr Objekt iſt die Geſammtheit der Bedingungen
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 6
[82] der individuellen Geſundheit, ſo weit dieſelben durch das Leben des Ein-
zelnen in der Gemeinſchaft gegeben ſind.
Die Geſundheit iſt an ſich eine Sache des Einzelnen. Sie iſt als
ſolche die erſte Vorausſetzung des Wohlſeins und zugleich der geiſtigen
und wirthſchaftlichen Entwicklung. Ohne ſie kann es für jeden tauſend
Güter geben, aber keinen Werth derſelben. Sie ſelbſt aber iſt das
Reſultat einer Menge von Urſachen, die auf den Einzelnen einwirken,
ohne daß er im Stande wäre, ſie immer zu beherrſchen. Was ſo für
den Einzelnen gilt, gilt auch für Alle. Und nun nennen wir den-
jenigen Zuſtand der Geſundheit, der durch die Verhältniſſe des Zu-
ſammenlebens der Einzelnen erzeugt und beherrſcht wird, die öffent-
liche Geſundheit.
Der hohe Werth derſelben und die Unmöglichkeit für den Einzel-
nen, ſich durch eigene Kraft zu ſchaffen, was ſie bedingt, macht ſie zu
einem weſentlichen Gegenſtand der inneren Verwaltung. Und die Ge-
ſammtheit der Rechtsbeſtimmungen, Anſtalten und Thätigkeiten, vermöge
deren die Verwaltung für die dem Einzelnen unerreichbaren Bedingungen
dieſer öffentlichen Geſundheit ſorgt, bildet das Geſundheitsweſen.
Weſentlich davon verſchieden iſt die gerichtliche Medicin, welche
die Regeln feſtſtellt, nach denen die Grundſätze der Heilkunde als
Beweismittel im gerichtlichen Verfahren gelten. Allerdings iſt das
Geſundheitsweſen aus ihr hervorgegangen und lange mit ihr verwechſelt
worden. Jetzt aber iſt kein Zweifel mehr, daß es durchaus verſchiedene
Gebiete ſind, die mit einander künftig wenig mehr zu thun haben.
Das Geſundheitsweſen zerfällt demnach in die Darſtellung des
Organismus, der für daſſelbe thätig iſt, in das Sanitätsweſen,
mit ſeinen beiden Aufgaben, in denen es die Geſundheit ſchützt (Ge-
ſundheitspolizei) und ſie fördert (Geſundheitspflege), und das Medi-
cinalweſen oder Heilweſen, welches die wirklich vorhandenen
Störungen der Geſundheit zu bekämpfen beſtimmt iſt.
Andeutung des Unterſchiedes von Geſundheitsweſen und gerichtlicher Me-
dicin ſchon im ſiebzehnten Jahrhundert. Starke Entwicklung der letztern in
der Theorie des Strafproceſſes. Trotz der weitläuftigen Geſetzgebungen des
ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts kein feſter Begriff des erſteren. Erſte
große Grundlage: P. Frank, Syſtem der mediciniſchen Polizei ſeit 1779.
Darauf eine reiche und gelehrte, aber ſyſtemloſe Literatur; die Scheidung wird
faſt nur in Sammelwerken feſtgehalten. Frankreich: Trébuchet, Juris-
prudence de la médicine 1834. — Preußen: Horn, preußiſches Medicinal-
weſen. Mangel an ſelbſtändiger wiſſenſchaftlicher Behandlung. Stein, Ver-
waltungslehre Bd. III. S. 4—17. — England: Sander, die engliſche
Sanitätsgeſetzgebung. 1869.
[83]
Entwicklung der Geſetzgebung und der Organiſation
des Geſundheitsweſens bis zur Gegenwart.
Es gehört ein hochgebildetes Volk dazu, um die Bedeutung des
Geſundheitsweſens zu erkennen und die Forderungen deſſelben zur Gel-
tung zu bringen. Denn es bedarf eines lebendigen Gemeinweſens, um
den Werth, den die Geſundheit eines jeden Einzelnen für Alle und
umgekehrt hat, zu verſtehen, und tiefgehender Wiſſenſchaft, um die
allgemeinen Gründe allgemeiner Geſundheit und Krankheit zu erkennen.
Daher iſt das Geſundheitsweſen bei all ſeiner unendlichen Wichtigkeit
vielleicht der unentwickeltſte Theil der ganzen inneren Verwaltung
Europa’s.
Die Geſchlechterordnung kennt nicht einmal die Heilkunde, geſchweige
denn ein Geſundheitsweſen. Die ſtändiſche Ordnung erzeugt die Wiſſenſchaft
der Medicin, doch vermag ſie keine Geſundheitspflege hervorzubringen,
indeß wird die Medicin, die ſie (an den Univerſitäten) erzeugt, die
Mutter des Geſundheitsweſens. Denn ſo wie die neue Staatenbildung
auftritt, nimmt ſie das letztere in ihre Verwaltung auf. Anfangs
freilich nur örtlich und bloß als Seuchenpolizei, dann aber mit dem
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in großen umfaſſenden Geſetz-
gebungen und mit Errichtung eigener, den ganzen Staat umfaſſender
Sanitäts-Organiſationen.
In dieſer Beziehung ſcheiden ſich nun zwei große Epochen. Die
erſte reicht vom Anfange des vorigen Jahrhunderts bis zu den dreißiger
Jahren unſerer Zeit. Ihr Charakter beſteht darin, daß ſie weſentlich
durch Regierungsorgane die Geſundheit in ihrem Sinne verwalten
will und ſich daher zur eigentlichen bis auf das Leben des Individuums
herab erſtreckenden Geſundheitspolizei geſtaltet. Ihr Inhalt iſt vor
allem Schutz der Geſundheit gegen unmittelbar und äußerlich drohende
Gefahren und eine möglichſt allgemeine Organiſation des Heilweſens,
die ſie durch Verbindung der amtlichen Thätigkeit mit den mediciniſchen
Fakultäten zu erzielen ſucht. Erſt gegen Ende des vorigen Jahrhun-
derts wird der Gedanke lebendig, daß die Baſis der Geſundheit in den
elementaren Verhältniſſen liegt und daß der Schwerpunkt des Geſund-
heitsweſens ſtatt in der Polizei und der Heilung der bereits vorhan-
denen Krankheiten vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die
Erhaltung der Geſundheit liege. Dieſer Gedanke kommt zum
Durchbruche durch die Cholera, die in dieſer Beziehung ein Segen für
Europa geworden iſt. Die neueſte Zeit hat dieſe Richtung zur ſocialen
Geſundheitspflege entwickelt; ſie beginnt, wenn auch langſam, den
großen Kampf mit den ewigen elementaren Feinden der Geſundheit bei
[84] der nichtbeſitzenden Klaſſe; und ſo gehen wir allmählig aus dem Sta-
dium des negativen Geſundheitsweſens in das poſitive hinüber, das
ſchon bei der Schule beginnend unſer ganzes öffentliches Leben durch-
dringen wird.
Allein noch immer zu ſehr gewöhnt, von der Regierung zu viel
zu erwarten, haben ſich die Völker bisher zu wenig mit dieſem Gebiete
beſchäftigt, dem keine Regierung allein genügen kann. Der allgemeine
Standpunkt iſt faſt allenthalben noch vorwiegend der, ſtatt des Werthes
und der Bedingungen friſcher und kräftiger Geſundheit ausſchließlich
die Gefahren, Urſachen und Hebungen der Krankheiten ins Auge zu
faſſen. Für das letztere kann die Regierung viel, für das erſtere nur
wenig thun. Hier kann nur die freie Verwaltung helfen. Damit
beginnt ſich das Geſundheitsweſen definitiv zu organiſiren. Der Regie-
rung bleibt die allgemeine Oberaufſicht und Leitung aller derjenigen
Elemente, welche über jede örtliche Gränze hinaus allgemein wirken.
Die örtliche Geſundheitspflege dagegen wird Sache der Selbſtverwal-
tungskörper, vor allem der Gemeinde. Erſt wenn die Gemeinden
erkennen, daß die Krankheiten ihrer Angehörigen ſie das Zehnfache von
dem koſten, was die Geſundheit derſelben koſten würde, wird es beſſer
werden. Es iſt die weſentlichſte Aufgabe des ärztlichen Vereins-
weſens, dieſe Wahrheit zur Geltung zu bringen und in dieſem Sinne
für die Anſtrengungen zu wirken, die das herrliche Gut der öffentlichen
Geſundheit fordert. Durch das kräftige Zuſammenwirken dieſer Faktoren
wird es dahin kommen, daß die Wiſſenſchaft die Principien, der Staat
die Geſetzgebung und die freie Verwaltung in Gemeinde und Vereins-
weſen die örtliche Verwirklichung des Geſundheitsweſens übernehmen.
Dieſer Zukunft gehen wir entgegen, und es iſt kein Zweifel, daß wir
gerade in unſerer Zeit mitten in einem höchſt erfreulichen Uebergange
zur größeren Auffaſſung dieſes ſo hochwichtigen Gebietes begriffen ſind.
Literatur. Beginn des Verſtändniſſes der Aufgabe eigentlich erſt ſeit
P. Frank. Aber er und ſeine Nachfolger, Stoll, Eberhardt, Haller, Horn,
Trébuchet, Tardieu und andere ſehen noch immer den Schwerpunkt des Ge-
ſundheitsweſens in dem Kampfe gegen Krankheiten, nicht in der Herſtellung
der Faktoren der Geſundheit. Das Geſundheitsweſen geht erſt jetzt aus ſeiner
negativen in ſeine poſitive Epoche über. Ideen der hygiène populaire, mit
ſpecieller Beziehung auf die Fabrikarbeit zuerſt Gerando, Bienfais. publ. III.
p. 345 (1839). Denſelben Charakter haben die Organiſationen des Sanitäts-
weſens und die Medicinalgeſetzgebungen.
Beginn der eigentlichen Verwaltung und Geſetzgebung für das Geſund-
heitsweſen in Europa: Preußens Medicinalordnung von 1725; Medicinal-
collegium ſeit 1684. Zweite große Geſetzgebung: Oeſterreichs Sanitäts-
normativ 1770. Beide umfaſſen das geſammte Geſundheitsweſen. Darauf
[85] folgen im achtzehnten Jahrhundert alle deutſchen Staaten; mit Weiterbildung
im Einzelnen in reicher Fülle, aber ohne einen zweiten Verſuch, das geſammte
Medicinalweſen zu codificiren. Neueſtes umfaſſendes Geſetz von Baden vom
20. September 1864. Frankreich hat einen ſolchen Verſuch überhaupt nie
gemacht, ſondern nur einzelne, zum Theil treffliche Geſetze gegeben. England:
früher ohne Geſetz; dann die General Health Act mit Einrichtung der Officiers of
Health or Inspectors of Nuisances, der auch die Polizei der Nahrungsmittel
hat (nach 26. 27. Vict. 217) und die Nuisances Removal Act. 11. 12. Vict. 63
und 123 (1855); endlich die Medical Act 1858, weſentlich Geſundheitspolizei
und ihre Organiſation. — Der Organismus des Geſundheitsweſens beruht in
allen deutſchen Ländern auf einem Centralorgan beim Miniſterium des
Innern, auf Landes- oder Bezirksorganen und Ortsorganen; Competenz
weſentlich nur Oberaufſicht und Seuchenpolizei. In Frankreich treten ſtatt der
amtlichen Organe die Conseils auf, gleichfalls in drei Inſtanzen; von ihrer
praktiſchen Thätigkeit verlautet gar wenig. (Commissions de santé. Organiſi-
rung, Geſetz vom 15. April 1850. Vergrößert 1864.) England hat erſt in
letzter Zeit dieſelbe Grundlage in dem Gen. Board of Health, dem Inspector
und den Local Boards. So iſt die Regierung organiſirt; aber für die Selbſt-
verwaltungskörper und ihre entſcheidende Thätigkeit iſt bisher ſo gut als
nichts geſchehen, höchſtens die niedere Geſundheitspolizei iſt organiſirt, und
auch das nur in den größeren Städten. Das Vereinsweſen iſt hier zerfahren,
zerſtreut, vereinzelt. Eine Fachbildung für das Geſundheitsweſen exiſtirt
nicht. Hier iſt für die Wiſſenſchaft viel, für die Praxis noch faſt alles zu
ſchaffen, ſo wie es ſich um das höhere Stadium der Geſundheitspflege,
und namentlich der ärmeren Claſſen handelt. Doch hat die Cholera den An-
ſtoß zu einer Bewegung in dieſer Richtung gegeben, die nicht mehr unter-
gehen kann!
A. Das Sanitätsweſen.
Begriff.
Das Sanitätsweſen umfaßt daher die Geſammtheit derjenigen
rechtlichen Beſtimmungen und Verwaltungsmaßregeln, welche die öffent-
liche Geſundheit erhalten und fördern ſollen. Es zerfällt ſeinem Begriffe
nach in die Geſundheitspolizei und die Geſundheitspflege.
Die Geſundheitspolizei iſt ihrem Begriffe nach die Geſammtheit
von Maßregeln und Einrichtungen, durch welche die öffentliche Geſund-
heit vor denjenigen Gefahren geſchützt wird, die der Einzelne durch
eigene Kraft nicht von ſich abwenden kann.
Es liegt nun im Ganze der Geſchichte, daß die Aufgabe beginnt
bei der unmittelbaren allgemeinen Gefährdung der öffentlichen Geſund-
[86] heit durch die Seuchen, dann ſich nach und nach im Einzelnen ent-
wickelt zum Schutze gegen einzelne Gefährdungen, und ſich erſt zuletzt
und langſam zur organiſchen Arbeit der menſchlichen Gemeinſchaft für
Herſtellung der öffentlichen Bedingungen allgemeiner Geſundheit
erhebt. Aus dem erſten Element entſpringt die Seuchenpolizei, aus dem
zweiten die Geſundheitspolizei, aus dem dritten die Geſundheitspflege.
Die Seuchenpolizei, der alten Geſchichte unbekannt, ſchließt ſich
an das Eindringen anſteckender Krankheiten aus dem Orient in Europa
und erſcheint daher als das im Princip einfache, in der Ausführung
vielfach verſchiedene Syſtem der örtlichen Abſperrung des Verkehrs,
welche durch ihre für den Seeverkehr (aus dem Orient) geltenden Regeln
die Quarantaine heißt. Princip und Syſtem der Quarantaine gelten
noch, hauptſächlich für das Mittelmeer, erſcheinen jedoch als Ausnah-
men; das Syſtem der Abſperrung zu Lande (des Landcordons) iſt wohl
ziemlich aufgegeben. Erſt durch die Entdeckung der Schutzblattern ent-
ſteht bei der Blatternſeuche das Syſtem der Impfung als organiſirter,
poſitiver Kampf mit einer Epidemie; die Impfung ward in Deutſchland
faſt gleich bei ihrer Entdeckung zwangsweiſe eingeführt; in Frankreich
begnügen ſich Geſetzgebung und Verwaltung mit den Maßregeln zur
Beförderung der Impfung; England hat das Zwangsſyſtem erſt in
neueſter Zeit angenommen; für die übrigen Staaten beſteht noch immer
die Impffreiheit. In Beziehung auf die übrigen Epidemien zeigten
Erfahrung und Wiſſenſchaft bald, daß weder die Abſperrung, wie bei
der Peſt, noch ein einzelnes Heilmittel, wie bei den Blattern, das
wahre Mittel zur Bekämpfung der Seuche ſei, ſondern daß die wahre
Aufgabe des Seuchenweſens vielmehr theils in der Organiſirung des
Heilweſens, theils aber und vorzüglich in der Entwicklung der Geſund-
heitspflege liege. Die Cholera namentlich hat ſchließlich die Ueber-
zeugung feſtgeſtellt, daß man die Seuchen viel beſſer in ihren Urſachen,
den geſundheitsverderblichen öffentlichen Verhältniſſen, namentlich von
Wohnung und Nahrung, als in ihren Erſcheinungen, der wirklichen
Seuche, bekämpft werden. Das Auftreten der Cholera bezeichnet daher
den Wendepunkt in der ganzen Geſchichte des Seuchenweſens, wo das-
ſelbe von ſeiner negativen, polizeilichen Aufgabe zur poſitiven der Ge-
ſundheitspflege übergeht, auf deſſen Anerkennung die geſammte Zukunft
des Geſundheitsweſens beruht.
Jeder Theil dieſes Seuchenweſens hat nun ſeine Geſetzgebung, ſeine Lite-
ratur und ſo auch ſeine Geſchichte; das Mangelnde iſt die Auffaſſung des
[87] Ganzen als Einheit. Quarantaine. Frankreich: Verordnung vom
3. März 1822 und Geſetz vom 24. December 1850. (Tardieu: Dict. d’hyg.
publique. II. 381—415). — England: Aufgabe der Verordnungsgewalt als
Ordre in Council; Hauptgeſetz 6. G. IV. 78. (Gneiſt, Engliſches Verwal-
tungsrecht II. §. 113). — Oeſterreich: erſte Peſtpolizeiordnung von 1728,
neueſte von 1837; nähere Beſtimmungen für das Seeſanitätsweſen (Verord-
nung vom 13. December 1851). — Preußen: nach engliſchem Vorbild dem
Miniſterium des Aeußern untergeordnet (Reglement vom 3. Juli 1863). Rönne,
§. 362. — Blatternweſen. England: Einführung des Impfzwangs
erſt durch 16. 17. Vict. 100. — Frankreich: noch ohne eigentlichen Zwang
bloß Beförderungsſyſtem. (Tardieu a. a. O. III. 256 ff.) — Oeſterreich:
ſeit 1790; Grundlage der Impfpflicht (Verordnung vom 30. Juni 1806); Orga-
niſirung ſeit 1836. — Preußen: Regulativ vom 28. October 1835; beſondere
Impfordnungen für die Regierungsbezirke. (Stein, Geſundheitsweſen S. 46—48.)
— Für die übrigen Seuchen zum Theil ſehr genaue Vorſchriften in Preußen:
Horn, preußiſches Medicinalweſen I. Grundlage das Regulativ von 1835;
darnach die Seucheninſtruktion vom 15. Auguſt 1838 für Oeſterreich. — In den
übrigen Staaten meiſt nur einzelne temporäre Vorſchriften. Stein a. a. O. S. 50.
Die Geſundheitspolizei umfaßt ihrem Begriffe nach alle Vorſchriften
und Maßregeln, durch welche die Geſundheit des Einzelnen gegen die
einzelnen Gefährdungen geſchützt wird, die aus dem Verkehre
erwachſen. Sie entſteht daher naturgemäß in den Städten, und
findet auch jetzt nur verhältnißmäßig wenig Anwendung auf dem Lande.
Ihr erſtes Gebiet ſind die äußeren, ſichtbaren Gefährdungen der Ge-
ſundheit; daher beginnt ſie bei der Polizei der Nahrungsmittel (Markt-
polizei) und bei der Straßen- und Wegepolizei; mit der Entſtehung
der wiſſenſchaftlichen Medicin geht ſie über zur Polizei der Gifte und
der Quackſalberei; das vorige Jahrhundert ſchließt daran die ärzt-
liche Todten- und Begräbnißpolizei, die ſich aus der juriſtiſchen
entwickelt, mit Todtenbeſchau und Begräbnißordnungen, die ſich in un-
ſerem Jahrhundert weiter entwickelt und die Unmäßigkeitspolizei,
von der nur noch das Element der Sittenpolizei und der Schenkenpolizei
übrig bleibt, während die Polizei der Syphilis ſpeciell der neueſten
Zeit angehört, ohne noch zum Abſchluß in Princip und Ausführung
gediehen zu ſein. In der Gewerbepolizei geht ſie dann in die Geſund-
heitspflege über.
Eine Reihe einzelner örtlicher Vorſchriften über Marktpolizei (Fleiſcher-
ſchau, Mühlordnungen, Bäckerordnungen, Bier- und Weinpolizei) ſehr alt.
Erſt Peter Frank erhebt dieß Gebiet zur wiſſenſchaftlichen Betrachtung.
Von da an Uebergang in die Polizeiwiſſenſchaft; die Geſetzgebungen für alle
[88] Punkte erſcheinen theils in den großen Sanitätsordnungen des vorigen Jahr-
hunderts, theils in ganz einzelnen Vorſchriften. In unſerem Jahrhundert
bilden ſich auf Grundlage der Wiſſenſchaft namentlich nur die Giftpolizei,
die in Giftſorten und Geheimmittelpolizei ſehr genaue und zweckmäßige
Beſtimmungen enthält, und andererſeits die Begräbniß- und Todten-
polizei mit genauen Vorſchriften über Leichenkammern. Daneben hat die
Strafgeſetzgebung in der Beſtrafung culpoſer Gefährdungen der Geſund-
heit ein zweites Schutzſyſtem entwickelt, das namentlich durch Art. 471 des
Code Pénal begründet, die Sicherheitspolizei in die Geſundheitspolizei hinüber-
führt. Uebrigens liegt es in der Natur der Sache, daß das Wichtigſte dabei
nur von der Thätigkeit der Selbſtverwaltung ausgehen kann, die bisher
faſt nur in den großen Städten gehörig entwickelt iſt, aber hier die eben
ſo ſchwierige als wichtige Aufgabe hat, die Gefährdung der Geſundheit der
ärmeren Claſſen durch billige, aber gefährliche Nahrungsmittel zu begreifen und
zu hindern (ſ. über das ganze Gebiet Stein, Geſundheitsweſen S. 51 ff.).
Die Aufgabe und das Weſen der Geſundheitspflege, der Geſund-
heitspolizei gegenüber ſelbſtändig aufgefaßt, beſteht darin, einerſeits
diejenigen Verhältniſſe des Verkehrs im weiteſten Sinne zu beſeitigen,
welche langſam aber ſicher die Geſundheit gefährden und untergraben,
andererſeits ſolche Anſtalten und Einrichtungen des öffentlichen Lebens
herzuſtellen, welche als allgemeine Bedingungen der Sicherung und
Entwicklung der öffentlichen Geſundheit betrachtet werden müſſen. Hier
liegt das Gebiet, wo das höhere Verſtändniß des öffentlichen Werthes
der Geſundheit aller Einzelnen beginnt und wo die Wiſſenſchaft dieſem
Verſtändniß zu Hülfe kommen und Mittel und Wege für das große
Ziel angeben muß. Es liegt daher in der Natur der Sache, daß das
Gebiet das jüngſte und unentwickeltſte des ganzen Geſundheitsweſens
iſt; ſeine Anerkennung liegt noch mehr im Gefühle als in dem Syſtem
der Geſetze und dem der Maßregeln der Verwaltung; es iſt klar, daß
gerade hier die Wiſſenſchaft (weſentlich durch ärztliche Vereine) die ge-
fährlichen oder nützlichen Thatſachen und die Principien des Fortſchrittes
aufſtellen, die Geſetzgebung die leitenden Grundſätze geben und die
Selbſtverwaltung ſie ausführen ſoll. Hier iſt noch unendlich viel zu
thun; doch ſind die Grundlagen des Gebietes bereits angedeutet.
Man kann dieſelbe eintheilen in die Geſundheitspflege für die
Erziehung, für das Bau- und Wohnungsweſen und für die Ge-
werbe. Die Geſundheitspflege der Erziehung iſt zugleich ein Theil
der geſellſchaftlichen Verwaltung; ſie erſcheint in den Krippen und
Warteſchulen, dann in der Sorge für die Schulräume, dann in
der phyſiſchen Erziehung des Turnweſens, endlich aber in den,
[89] namentlich von Frankreich ausgehenden Beſtimmungen über Kinder-
arbeit. Jeder dieſer Theile hat ſeine eigene Geſetzgebung und Ge-
ſchichte. — Die Geſundheitspflege im Bau- und Wohnungsweſen
beginnt ihrerſeits mit den Vorſchriften der Feuer- und Sicherheits-
polizei bereits im vorigen Jahrhundert; erſt in unſerem Jahrhundert,
und zwar namentlich ſeit der Cholera, erſcheinen die Maßregeln, welche
ſich zuerſt auf geſunde und lichte Raumverhältniſſe der Wohnungen
und Straßen beziehen und damit wieder zugleich den Charakter ſocialer,
polizeilicher und ſanitärer Beſtrebungen verbinden; dann erkennt man
den großen Werth des Waſſers und ſorgt für daſſelbe; endlich An-
lagen der Städte, freie Plätze, Straßen, Pflanzungen u. a. — Die
Geſundheitspflege des Gewerbeweſens endlich ſteht faſt allenthalben
noch auf dem vorwiegend polizeilichen Standpunkt, vor den direkt ſchäd-
lichen Einflüſſen des Gewerbes zu ſchützen; die Geſundheitspolizei der
Anlagen bezieht ſich vorzugsweiſe auf das Verhalten des Gewerbes
zu der Geſundheit Dritter, während die des Betriebes in Verbin-
dung mit den Arbeitern ſelbſt ſteht. Es iſt natürlich, daß jedes Ge-
werbe ſeine Geſundheitspolizei hat (Conceſſion, Polizei der Maſchinen,
Zündhölzer, Gifte, Schifffahrt u. ſ. w.) Allein bisher hat ſich dieſe
Polizei nur noch auf die größeren Unternehmungen beſchränkt. Sie
wird ihre wahre Idee erſt dann erhalten, wenn ſie jede Werkſtatt
ihrer Unterſuchung unterzieht und die Forderungen der Geſundheits-
pflege von der größten Fabrik bis zum kleinſten Arbeitslokale hinab
mit unerbittlicher Strenge zur Geltung bringt. Das kann und ſoll
nun zwar das Vereinsweſen anregen, aber zuletzt kann und ſoll es nur
die Selbſtverwaltung ausführen. Hier beginnt ein weites und hoch-
wichtiges Gebiet dieſes Theiles der inneren Verwaltung, das bis jetzt
noch der Zukunft gehört.
Jeder Theil dieſer Geſundheitspflege hat ſeine Geſetzgebung und zum Theil
ſeine Literatur. Kinderarbeit. Frankreich: Geſetz vom 22. März 1841
als Grundlage der ganzen Bewegung (Villermé); ſpätere Entwicklung. —
England: ſpecielle Geſetze von 1842—1864. — Oeſterreich: Gewerbeordnung
von 1859 §. 86—88. — Preußen ſeit Geſetz vom 9. März 1839; erweitert
durch Geſetz vom 16. Mai 1863. Stein a. a. O. S. 74—76. — Gewerbe-
weſen. Frankreich: ſtrenge Ordnung bei der Conceſſion ſeit dem Geſetz vom
12. Februar 1806; dann die drei Claſſen der Gewerbe mit Decret von 1810.
(Pappenheim, Sanitätspolizei; Tardien, Dictionnaire.) — Deutſchland:
Aufnahme des Princips in die Gewerbeordnungen (Preußen 1845. Oeſter-
reich 1859). Ohne eine eingehende Beachtung von Seiten der bisherigen Lite-
ratur; faſt durchgehend überlaſſen an die Gemeinden, und von dieſen wenig
verſtanden und ausgeübt. Auch in den Gewerbsgenoſſenſchaften noch ohne
Heimath; hier ſteht noch faſt alles auf dem Standpunkt, für die Heilung der
[90] Krankheit, ſtatt für die Verhinderung des Krankwerdens zu ſorgen. Ueber die
Geſundheitspflege im Betriebe der Gewerbe (Werkſtattspolizei) außerhalb der
Fabriken noch gar keine Geſetzgebung. Möchte doch das ärztliche Vereins-
weſen dieſe Frage bald ernſtlich in die Hand nehmen!
B. Das Heilweſen (Medicinalweſen).
Das Heilweſen umfaßt den Inbegriff derjenigen Beſtimmungen
und Anſtalten, welche von der Verwaltung für die Heilung bereits
ausgebrochener Krankheiten getroffen werden.
Die Heilung der Krankheit iſt zunächſt Sache des Einzelnen.
Allein je höher die Geſittung in einem Volke ſteht, um ſo mehr wird
es klar, daß die Bedingungen der Heilung in den meiſten Fällen
außerhalb der Kräfte des Einzelnen liegen. Denn dieſe Bedingungen
beſtehen einerſeits in einer hohen Ausbildung der wiſſenſchaftlichen
Heilkunde, andererſeits in Anſtalten, welche die Vorausſetzungen der
Heilung nach wiſſenſchaftlichen Principien vereinen. Beides kann nur
die Gemeinſchaft der Einzelnen darbieten. Und ſo entſtehen die beiden
großen Gebiete des Heilweſens, die Bildung des Heilperſonals
und die Herſtellung der Heilanſtalten.
Das Heilperſonal iſt die Geſammtheit der Perſonen, welche die
Heilung von Krankheiten zum Lebensberuf gemacht haben. Der ſelb-
ſtändige Heilungsberuf entſteht eben deßhalb erſt mit der ſtändiſchen
Geſellſchaftsordnung, ſchließt ſich an die Corporation der ſtändiſchen
Wiſſenſchaft, die Univerſität und ihre Facultät, und wird erſt mit dem
ſiebzehnten und achtzehnten Jahrhundert Gegenſtand der Geſetzgebung
und Verwaltung des Staats. Das Princip dieſer Geſetzgebung und
Verwaltung iſt, daß nur die regelmäßige wiſſenſchaftliche Bildung die
rechtliche Bedingung für die Ausübung des Heilberufes ſein ſoll; daß
für jeden Theil eine beſondere Fachbildung erfordert wird, und daß
mit dem Eintreten in deſſen Bereich auch beſtimmte Rechte der Be-
treffenden verbunden ſein ſollen. Auf dieſer Grundlage hat ſich das
gegenwärtige Recht des Heilberufs entwickelt, das in dem Recht der
Aerzte, der Apotheker, der Hebammen und der Heildiener ſeinen Aus-
druck empfängt.
Obgleich es zu allen Zeiten Perſonen gegeben hat, welche die
Heilung von Krankheiten zu ihrem Lebensberuf gemacht haben, ſo ent-
[91] ſtehen die eigentlichen Aerzte doch erſt mit der ſtändiſchen Geſellſchaft
und ihre Fachbildung an den Univerſitäten. Doch bleibt ihre Stellung
und ihr Recht noch ein bloßes Standesrecht, bis mit der Entſtehung
des ſtaatlichen Geſundheitsweſens auch die Aerzte und ihre Verhältniſſe
Gegenſtand der Verwaltung wurden. Seit dieſer Zeit bildet ſich das
Berufsrecht der Aerzte heraus. Die Grundlage deſſelben iſt die
Forderung einer wiſſenſchaftlichen Fachbildung, durch die öffentlich recht-
liche Prüfung conſtatirt. Der Inhalt iſt das Recht auf die Praxis,
geſchützt durch Maßregeln gegen Kurpfuſcherei und Quackſalberei und
geordnet durch die ärztliche Taxe und Vorrecht des Honorars. Bis
ins achtzehnte Jahrhundert beſtehen nun die alten gewerbsmäßig be-
triebenen Heilgewerbe (Bader, Feldſcheerer u. ſ. w.) neben dem Berufs-
arzte fort, wenn auch in untergeordneter Stellung; mit dem achtzehn-
ten Jahrhundert aber wird die Forderung wiſſenſchaftlicher Bildung
allgemein, und jene Gewerbe gehen in das Gewerberecht über, wäh-
rend die Berufsärzte ihrerſeits ſich noch in die zwei Hauptklaſſen der
Chirurgen und Mediciner mit verſchiedener Bildung und verſchiedenem
Recht ſcheiden. Erſt in unſerem Jahrhundert entſteht aus der Erkennt-
niß, daß die Wiſſenſchaft für alle Theile der Medicin die gleiche ſei,
der rechtliche Grundſatz der gleichen Bildung für alle und das Ver-
ſchwinden auch jenes Unterſchiedes, wogegen allerdings wieder Special-
fächer (Augen-, Zahnärzte ꝛc.) ſich ausbilden. Zugleich beginnt die
Verwaltung gegenüber jenen Rechten auch die öffentlichen Pflichten der
Aerzte zu formuliren und ſtellt ſie unter die Oberaufſicht der Ge-
ſundheitsorgane, während die ärztlichen Intereſſen neben der Wiſſen-
ſchaft durch das ärztliche Vereinsweſen auf allen Punkten gefördert wird.
So iſt das ärztliche Berufsweſen im Großen und Ganzen in lebendi-
gem Aufſchwunge begriffen.
Behandlung faſt nur in der ärztlichen Literatur; hauptſächlich ſeit Frank
a. a. O. Bd. VII. — Die Geſetzgebung beginnt mit dem ſtändiſchen Berufs-
recht (Facultät von Salerno), Eid der Aerzte. Beginn des ſtaatlichen Berufs-
rechts bei den Phyſikaten in den größeren Städten ſeit dem ſechzehnten Jahr-
hundert und ſtädtiſche Reglements für dieſelben (Stein a. a. O. S. 98 ff.)
Mit den großen Medicinalgeſetzgebungen des achtzehnten Jahrhunderts Ein-
führung eines allgemeinen öffentlichen Berufsrechts, das wieder in den einzel-
nen Staaten ein beſonderes iſt. Preußen: Allgemeines Landrecht II. §. 505.
(Aerzte als Beamte betrachtet) ſpätere Geſetzgebung bei HornII. S. 1 ff. —
Oeſterreich: Kopetz, Polizeigeſetzkunde I. S. 389. Frank Bd. VII. S. 321.
Das Fachbildungs- und Prüfungsweſen fällt unter das Univerſitätsweſen. —
In Frankreich geringe Ausbildung des Berufsrechts; doch Grundlage die Fach-
bildung und Prüfung (Doctorat); Hauptgeſetz vom 19. Vend. an XI.Amette,
Code médical 1855. — In England noch größerer Mangel; nicht einmal Fach-
[92] bildung nothwendig, und bis zur letzten Zeit auch keine Art von Oberaufſicht.
Einziges Geſetz bisher St. 21. 22. Vict. 96. (Medical Act.) Andere Geſetz-
gebung bei Stein a. a. O. S. 105.
Das Apothekerweſen hält in allen Hauptſachen gleichen Schritt
mit dem ärztlichen Recht. Seine Selbſtändigkeit beginnt mit der Facul-
tätsfachbildung (Salernum). Von da an werden die beiden Grundſätze
feſtgehalten: erſtens, daß die Apotheken öffentliche Anſtalten ſind, und
zweitens, daß zu ihrer Betreibung Fachbildung nothwendig iſt. Aus
dem erſten Grundſatz geht die Organiſation der öffentlichen Oberaufſicht
über die Apotheken hervor, die durch die Aerzte ausgeübt wird; aus
dem zweiten die öffentlich rechtliche Ordnung der Fachbildung der Apo-
theker, die faſt nur in Deutſchland ſyſtematiſch ausgebildet iſt. Die
gemeinſame Conſequenz beider ſind das Princip der Genehmigung
der Anlage von Apotheken, das Princip der Prüfung für die Apo-
theker, endlich die Aufſtellung der Pharmacopöen mit den officiellen
Heilmitteln und die damit eng verbundene Apothekertaxe und das
ausſchließliche Diſpenſationsrecht, während andererſeits das rein
gewerbliche Element im Apothekerweſen gleichfalls in der Lehrzeit mit
ihren Pflichten und zum Theil in den alten Apothekergenoſſenſchaften
(Gremien) ſeinen Ausdruck findet. Doch iſt das ganze Apothekerweſen
faſt nur in Deutſchland rationell organiſirt.
Literatur ſchließt ſich an die Entſtehung des Medicinalweſens; Frank
Bd. VII.Pappenheim, Handbuch der Sanitätslehre III. S. 34. Geſetzgebung
mit der Entſtehung der großen Medicinalordnungen; Preußen ſeit 1725; Oeſter-
reich ſeit 1770. Locale Apothekerordnungen ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert;
Stoll Bd. I. Anhang. — Frankreich (Ordnung durch Geſetz vom 21. Germ.
an XI.) — England: St. 35. G. III. 194; gewerbliche Ordnung (Gneiſt
§. 114. Stein S. 111 ff).
Das Hebammenweſen ward erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert
Gegenſtand des öffentlichen Geſundheitsweſens; mit dem neunzehnten
Jahrhundert tritt der Grundſatz in Kraft, daß eine Fachbildung recht-
liche Bedingung zur Ausübung dieſes Berufes ſei. Daher Errichtung
von Hebammenſchulen, Prüfungen, formelle Verpflichtung derſelben,
und Oberaufſicht.
Einzelne Ordnungen in allen Staaten, mit Ausnahme Englands; ſpecielle
Vorſchriften ſeit Beginn dieſes Jahrhunderts (vergl. Stein S. 118. 119).
Hannover: Reglement für Hebammen vom Februar 1864.
[93]
Bisher noch ganz unentwickelt, und faſt ausſchließlich der Privat-
thätigkeit überlaſſen, trotz der hohen Wichtigkeit des Inſtituts. Hier
kann in der That nur die Selbſtverwaltung den feſten organiſchen Kern
eigener Stellung abgeben; das Vereinsweſen iſt dann berufen, daſſelbe
nach den einzelnen Richtungen auszubilden.
Geringe Beachtung bis jetzt, auch noch von Seiten der ärztlichen Vereine!
Vergl. Stein S. 119—121.
Die Heilanſtalten beginnen faſt ausſchließlich als milde Stiftungen,
bei denen das ſociale Element vorherrſcht, und das ärztliche und recht-
liche in den Hintergrund tritt. Sie werden in die Verwaltung des
Geſundheitsweſens erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert hineingezogen,
theils als Lehrmittel für die Fachbildung der Univerſitäten, theils in-
dem ſie unter ärztliche und verwaltungsrechtliche Oberaufſicht und Lei-
tung kommen. Sie beſtehen daher auch jetzt noch theils als Stiftungen,
theils als Gemeinde-, theils als Vereinsanſtalten; aus ihrer verſchie-
denen Aufgabe iſt aber ein ſehr verſchiedenes, zum Theil ſehr entwickeltes
Recht derſelben geworden. Ihre Hauptformen ſind die Hoſpitäler und
die Irrenanſtalten; von geringerer Bedeutung ſind die Gebär- und
Ammenanſtalten und die Geſundbäder.
Die Hoſpitäler ſind urſprünglich Stiftungen, mehr für die Noth
der armen Kranken als für die Heilung derſelben beſtimmt. Ihre ra-
tionelle Behandlung beginnt mit der Zeit, wo ſie mit der Fachbildung
verbunden worden; von den für die Kliniken beſtimmten Hoſpitälern
geht die Organiſation auf die Gemeinde- und Stiftungsſpitäler über.
Grundlage iſt: Trennung der Verwaltung von dem Heilweſen, und
Unterordnung der erſteren unter das letztere. In neueſter Zeit
Entſtehung von Vereinsſpitälern der Gewerbsgenoſſen; dafür
mangelt die allgemeine Geſetzgebung für das Hoſpitalweſen. Dagegen
vertreten ihre Stelle die Beſtimmungen über das Armenarztweſen,
das der Selbſtverwaltung angehört, und bisher nur höchſt einſeitig
für Heilung der Krankheiten beſtimmt war, während es unendlich mehr
wirken könnte und ſollte, wenn das Gebiet der Geſundheits-
pflege der niederen Claſſe als ſeine Hauptaufgabe betrachtet und
öffentlich anerkannt würde.
[94]
Das Verhältniß der Hoſpitäler iſt in den verſchiedenen Staaten ſehr ver-
ſchieden, und ermangelt einer Behandlung im Ganzen. England hat gar keine
allgemeine Geſetzgebung. Frankreich: Hoſpitäler ſind Staatsanſtalten, werden
zum Theil durch eigene Steuern erhalten, nur auf Genehmigung errichtet, und
ſtreng adminiſtrativ verwaltet; daher mangelt gänzlich das Inſtitut der Armen-
ärzte. Grundlage iſt das Geſetz vom 16. Vend. an V (1796); ſpäter den
Behörden unterworfen, wie alle Selbſtverwaltung in Frankreich; es vertritt
das Heimathsrecht des Armen. In Deutſchland Grundlage: Armenhoſpitäler,
Univerſitätskliniken und Armenärzte; in Oeſterreich wenig, in Preußen gut
geordnet (vergl. Stein S. 124 ff).
Das Irrenweſen iſt überhaupt erſt mit dem öffentlichen Geſund-
heitsweſen entſtanden, und daher gleich von Anfang an als Gegen-
ſtand der Verwaltung behandelt. Seine Aufgabe iſt eine doppelte.
Zuerſt das Irrenheilweſen, dem der große Gedanke der phyſiſchen
Heilbarkeit geiſtiger Krankheiten zum Grunde liegt. Dann das Irren-
recht, weil die Geiſteskrankheit das Aufhören der Rechtsfähigkeit mit
ſich bringt. Das Irrenweſen, nach beiden Richtungen hin erſt mit
unſerem Jahrhundert ausgebildet, iſt in jeder Beziehung als ein
Triumph der neueren Civiliſation anzuerkennen; die ärztliche Behand-
lung hat hier niemals das Bewußtſein der Wichtigkeit des öffentlich
rechtlichen Elementes verloren, und namentlich verdient das, was in
dieſer Beziehung von den Deutſchen geleiſtet wird, die höchſte Achtung,
da Deutſchland hier wenigſtens auf dem Gebiet der Wiſſenſchaft Allen
voranſteht.
Statt der Literatur im Einzelnen, die in den verſchiedenen Staats- und
Verwaltungsrechten enthalten iſt, verweiſen wir auf die treffliche Sammlung
aller europäiſchen Geſetzgebungen in der Allgemeinen Zeitſchrift für Pſychiatrie
Bd. XIX. Suppl. von 1862; mit Scheidung in Civil-, Straf- und Polizei-
recht. S. ſchon Gerando, Bienf. publ. IV. 394 ff. (1839). England:
Lunacy-Regul. Act. 25. 26. Vict. 86 (1862). Vergl. dazu Naſſe, Vorſchläge
zur Irrengeſetzgebung (1850). Stein S. 128—130.
Erſte Andeutung in Paris ſeit 1715; ſpätere Ausbildung nur in
den Kliniken; namentlich geringe Beachtung des Ammenweſens; auch
das iſt eine der künftigen wichtigen Aufgaben der Selbſtverwaltung.
Literatur ſeit Frank gering; in Frankreich Geſetz vom 10. Januar 1849.
Ordnung in Deutſchland meiſt örtlich. Stein S. 131.
[95]
Nothwendige Scheidung zwiſchen Heilbädern (Geſundbrunnen)
und öffentlichen Bädern. Erſtere ſind ihrer Natur nach Privat-
unternehmungen, deren Benützung die ärztliche Praxis regelt; letztere
ſind ein wichtiges Element der Geſundheitspflege, hängen aufs
engſte mit der Waſſerverſorgung zuſammen, und werden eine weſent-
liche Aufgabe der künftigen rationellen Selbſtverwaltung bilden.
Verwaltungsrechtliche Literatur mangelt, bei großer Fülle der hygie-
niſchen. Die franzöſiſche Geſetzgebung des vorigen Jahrhunderts ſeit 1772 iſt
durch Decret vom 24. Mai 1790 für Frankreich als dauernd anerkannt, mit
ſtrenger polizeilicher Ueberwachung: Block, Eaux minérales. In Deutſchland
ſtehen die Heilbäder meiſt unter der Gewerbeordnung; mit den öffentlichen Bädern
hat England im Vereinswege begonnen. Wann werden die deutſchen Selbſt-
verwaltungskörper die Sache in ihre Hand nehmen? Vergl. Stein S. 123—133.
III.
Das Polizeiweſen.
Hiſtoriſche Grundlage.
Bei keinem Theil der Verwaltungslehre iſt eine möglichſt klare
Begriffsbeſtimmung ſo nothwendig als beim Polizeiweſen, weil aus
hiſtoriſchen Gründen bei keinem Theile eine ſo große Verwirrung der
Auffaſſung geherrſcht hat. Es iſt daher auch keine einfach formale
Definition hier möglich, ſondern der gegenwärtige Begriff muß hiſto-
riſch entwickelt werden, wie er hiſtoriſch entſtanden iſt.
Bis auf unſere Zeit nämlich bedeuten Polizei und Polizeiweſen
eigentlich alle Formen, in denen überhaupt ein Eingreifen der
Regierung in die Verwaltung ſtattfindet. Erſt mit unſern letzten
Jahrzehnten gewinnt das Wort einen anderen, beſtimmten Sinn; es
ward zu einem beſtimmten einzelnen Verhältniß zwiſchen Regierung
und Verwaltung, und erſcheint ſomit als ein Theil der Verwaltungs-
lehre. Der Proceß, durch den das entſtanden iſt, iſt eben die Entwick-
lung des Begriffes des Polizeiweſens.
Die Polizei entſteht nämlich in Wort und Inhalt erſt mit der
Entſtehung der Regierung, und umfaßt als innere Staatskunſt (πολι-
τεία) im Gegenſatz zur „Politik“ alle Thätigkeiten derſelben. Im
ſiebzehnten Jahrhundert ward nun aus dieſer Polizei eine Wiſſenſchaft;
die junge Rechtsphiloſophie verſucht, ihr Princip und Syſtem im Jus
naturae zu geben; dieß Princip für die Geſammtheit aller Aufgaben
der immer mächtiger werdenden Regierung ausgedehnt, iſt der Eudämo-
nismus; mit ihm aber tritt zugleich die erſte Scheidung in dem Begriff
[96] der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da
gerade durch dieſe Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der
Regierung zum Volke umfaßt, ſo entſteht die Vorſtellung, daß die
Polizeiwiſſenſchaft eigentlich identiſch mit der Staatswiſſenſchaft ſei,
während man ſich andererſeits nicht läugnen kann, daß ſie dieſes Ge-
biet nicht erſchöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit
dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwiſſenſchaften,
bald auch Auffaſſung derſelben als das von Finanzen und Volkswirth-
ſchaft geſchiedene ſelbſtändige, aber alle Verhältniſſe umfaſſende ge-
ſammte Gebiet der inneren Verwaltung überhaupt, deren Be-
griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieſer Standpunkt, von
Heumann und Delamare begründet, von Juſti und Sonnenfels durch-
geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie
bis auf die neueſte Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne
unſeres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieſer nun
iſt es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen
Begriff der Polizei begründet hat.
Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert iſt
nämlich die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung, und
damit Allgewalt des Staats. Mit unſerem Jahrhundert ſcheiden ſich
beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Geſetz iſt, welches
alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen ſoll. Damit entſteht der
ſelbſtändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erſte und ver-
ſtändlichſte Form iſt die der Regierung. Offenbar nun iſt die Re-
gierung ſelbſt keine bloße Polizei, ſondern die Polizei erſcheint vielmehr
als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieſer
Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutſchen, wenn auch
noch unter dem Geſichtspunkt der „Polizeihoheit“ aus. Damit denn
entſteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der
Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all-
gemeine Begriff, ſowohl der vollziehenden Gewalt, als der ſyſtematiſche
Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und ſo gab es hier zwar das
Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Geſtaltung des Neuen.
In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe
machten es hauptſächlich ſchwierig. Erſtlich erſchien die Polizei faktiſch
zugleich als ein Organ der namentlich ſtrafrechtlichen Verwaltung, und
die Gränze zwiſchen Polizei und Gericht war ſchon hier ſchwer zu ziehen.
Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrſchaft des Ge-
ſetzes der Polizei doch eine gewiſſe Befugniß zur Erlaſſung von gül-
tigen Vorſchriften auch außerhalb des Geſetzes zugeſprochen werden
müſſe, wenn ſie ihre Thätigkeit vollziehen ſolle. Und drittens war es
[97] nicht zu verkennen, daß dieſe Polizei ſchließlich in allen Gebieten der
Verwaltung auftrete, ob dieſelben durch Specialgeſetze geordnet waren
oder nicht, während ſie wieder doch nur einen Theil dieſer Gebiete
umfaßte. Es war daher ſehr ſchwer, Begriff und Gränze dieſer Polizei
und ihres Rechts aufzuſtellen. Daher die Unſicherheit über alle dahin
gehörigen Fragen, und die Unbeſtimmtheit ſowohl in Geſetzgebung als in
Theorie, ſo daß es in der That faſt erſcheint, als wäre erſt mit der
definitiven Bewältigung dieſes Begriffes die innere Staatswiſſenſchaft
ein Fertiges.
Dieſe elementaren Grundzüge deſſelben ſind nun wohl folgende.
Wir ſtehen keinen Augenblick an, zu erklären, daß auch unſere Arbeit
(Polizeirecht, als vierter Band der Verwaltungslehre) uns nicht hat genügen
können, obwohl wir auf dem richtigen Wege waren. Jedoch ſind wir in Fol-
gendem wohl zum Abſchluß gelangt; das Material unſeres Polizeirechts dürfte
ſich darnach von ſelber ordnen.
Begriff und Elemente des Syſtems.
Geht man nämlich von dem Begriffe der inneren Verwaltung aus,
ſo ergibt ſich zuerſt, daß die Sicherheit der äußeren Exiſtenz eine der
erſten Bedingungen der Entwicklung iſt, die ſich der Einzelne nicht
immer ſelbſt ſchaffen kann. Es iſt daher Aufgabe der inneren Ver-
waltung, dieſe Sicherung vor Gefahren herzuſtellen, ſo weit ſie vermag,
und die Geſammtheit von Ordnungen und Beſtimmungen, durch welche
das geſchieht, bildet das Polizeiweſen.
Das Polizeiweſen als ſelbſtändiger Organismus gedacht, hat nun
wieder die Fähigkeit, einerſeits für die ganze innere Verwaltung als
Organismus der Zwangsgewalt zu dienen, andererſeits iſt es durch-
aus geeignet, in vielen Fällen die Vollziehung für die Rechtspflege
zu bieten. Beide Aufgaben der Polizei gehören aber offenbar eben
nicht dem Polizeiweſen, ſondern ſind nur (cumulative) Verwendungen
der Polizeiorgane für die Verwirklichung der Verwaltung in
Finanz, Recht und Innerem. Hier handelt die Polizei nicht vermöge
ihres Weſens, ſondern auf Anordnung eines andern Organes, dem
ſie zu gehorchen verpflichtet ſein kann und gewöhnlich auch iſt. Sie
hat ſich hier daher auch nicht an ihre eigene Anſicht oder ihren
Willen, ſondern an die ihr gegebenen amtlichen Aufträge zu halten
und hat deßhalb auch weder Verantwortlichkeit noch Haftung für das,
was ſie hier thut. Das Recht, welches für dieſe ihre Funktion
(z. B. bei Exekution, gerichtlicher Verhaftung ꝛc.) gilt, iſt deßhalb auch
kein Polizeirecht, ſondern das Zwangsrecht, und gehört in die
Lehre von der vollziehenden Gewalt.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 7
[98]
Das eigentliche Polizeiweſen beginnt daher erſt da, wo die Auf-
gabe der inneren Verwaltung, die Geſammtheit vor Gefahren zu ſichern,
als ſelbſtändige Funktion mit eigenem Organismus und eigenem Recht
auftritt.
Offenbar werden nun Syſtem und Recht dieſes Polizeiweſens ſich
nach der Natur eben dieſer ſpecifiſchen Aufgabe geſtalten, welche dem-
gemäß daſſelbe in der inneren Verwaltung übernimmt, und in der
Entwicklung der erſteren aus der zweiten beſteht demnach das, was
wir jetzt die Wiſſenſchaft des Polizeirechts zu nennen haben.
Das Weſen dieſer Aufgabe beſteht nun darin, daß die Polizei es
mit der Abwendung von Gefahren zu thun hat, welche die Sicher-
heit bedrohen. Ihr Objekt iſt alſo nicht eine bereits geſchehene
That, die ſtets der Rechtspflege angehört und bei deren Verfolgung
die Polizei dienen, die ſie aber nicht ſelbſt übernehmen kann, ſondern
eine mögliche und wahrſcheinliche. Sie wendet ſich daher nicht der
geſchehenen Verletzung der Sicherheit zu, ſondern vielmehr der Kraft,
welche dieſe Verletzung hervorzubringen droht. Ihr Objekt iſt daher,
ſtets etwas ſeinem Weſen nach Unbeſtimmtes, und es folgt daher,
daß auch ihr Recht dieſen Charakter des Unbeſtimmten an ſich tragen
muß. Sie muß daher rechtlich befugt ſein, je nach Natur, Größe und
Gefahr dieſer Kraft ihre Verfügungen nach eigenem Ermeſſen zu
erlaſſen. So entſteht der Begriff und das Princip der Polizei-
Verfügungen. Aber in dieſem Princip liegt auch wieder die Mög-
lichkeit, je nach dieſem Ermeſſen der Polizei die perſönliche Freiheit zu
beſchränken und ſomit die Polizeiverfügung über das Recht zu
ſtellen. So lange nun Geſetz und Verordnung identiſch waren, war
das nur eine mit dem ganzen Rechtszuſtande harmonirende Conſequenz.
Als aber mit dem neunzehnten Jahrhundert der Grundſatz Geltung
gewinnt, daß jede Funktion der Verwaltung unter dem Geſetze ſtehen
ſolle, alſo auch die der Polizei, mußte der Verſuch entſtehen, auch der
Polizei für ihre Funktion gegenüber den gefährlichen Kräften eine ge-
ſetzliche Gränze zu geben. Auf dieſe Weiſe entſtand das Bedürfniß
nach einem geſetzlichen Polizeirecht. Nun aber ſind Gefahren auf
jedem Punkte vorhanden; das ganze Leben der Gemeinſchaft iſt be-
ſtändig von menſchlichen und natürlichen Kräften durchdrungen und
umgeben, welche ſeine Sicherheit bedrohen. Ein ſyſtematiſches Polizei-
recht hatte daher zur Vorausſetzung eine ſtreng ſyſtematiſche Auffaſſung
eben dieſes Geſammtlebens, um genügen zu können, und das iſt eben ein
Syſtem der Verwaltung. Dieſes nun fehlte. Und ſo bildete ſich zwar
ein Polizeirecht, aber ſtückweiſe und ohne Zuſammenhang. Die Sache
iſt da, aber das Syſtem fehlt. Daher denn die natürliche Erſcheinung,
[99] daß bisher nur wenig Geſetzgebungen es zu einer ſelbſtändigen Polizei-
geſetzgebung gebracht haben und daß es zwar treffliche Commentare der
letzteren, aber keine Wiſſenſchaft des Polizeirechts an ſich gibt.
Um nun zu dieſer zu gelangen, muß man ſcheiden zwiſchen dem,
was wir die Sicherheits- und die Verwaltungspolizei nennen.
Die Natur der Gefahren, mit denen die innere Verwaltung im
Polizeiweſen zu kämpfen hat, iſt nämlich eine doppelte. Inſofern ſie
nämlich in der losgelaſſenen, an ſich maßloſen Kraft des Menſchen
beſteht, iſt ſie ihrem Weſen nach unbeſtimmt und umfaßt ohne Gränze
alle Lebensverhältniſſe der Gemeinſchaft. Sie kann aber auch nicht
mehr in der Perſönlichkeit überhaupt, ſondern in einer beſtimmten
Handlung derſelben beſtehen, und in dieſem Falle bezieht ſie ſich
auch nur auf beſtimmte Verhältniſſe der Einzelnen oder der Geſammtheit.
In dieſem Falle gibt es ſo viele Arten der gefährlichen Handlungen,
als es einzelne Gebiete der Verwaltung gibt, während im erſten Falle
die Gefahr ſich auf alle gleichmäßig bezieht. Demnach ſagen wir, daß
die Abwendung der in der ſchrankenloſen Kraft der Perſönlichkeit
überhaupt liegenden Gefahr die Sicherheitspolizei bildet, wäh-
rend die gegen einzelne und beſtimmte gefährliche Handlungen
gerichtete Polizei die Verwaltungspolizei iſt. Jene erſcheint deß-
halb als ein durchaus ſelbſtändiges Gebiet, während dieſe vielmehr
einen immanenten Theil jedes einzelnen Theiles der Verwaltung bildet
und daher eine ſelbſtändige Darſtellung bezw. Geſetzgebung nur in
ſofern fordert, als ſie durch den Organismus der Sicherheitspolizei
allgemein vollzogen wird.
Dieſe Unterſcheidung nun iſt um ſo wichtiger, als jeder dieſer
Theile der Polizei wieder vermöge ſeiner beſondern Aufgabe auch ſein
eigenes Recht und meiſt auch ſeine eigene Geſetzgebung hat. Daraus
dann ergibt ſich folgendes Syſtem des Polizeiweſens und ſeines Rechts.
In dem Mangel dieſer Unterſcheidung der Sicherheits- und Verwaltungs-
polizei liegt der weſentliche Fehler ſowohl von Mohls Präventivjuſtiz, der
übrigens auch die gerichtliche Funktion der Polizei nicht hinreichend ſcheidet,
als Maiers Polizeirecht. Die Geſtalt des ganzen Gebiets wird erſt durch dieſe
Scheidung klar und verſtändlich.
A. Die Sicherheitspolizei.
Begriff und Rechtsprincip.
Die Sicherheitspolizei iſt demnach die Aufgabe und das Recht der
inneren Verwaltung, die perſönliche Freiheit im Allgemeinen durch ihre
Verbote und Maßregeln da zu beſchränken, wo vermöge derſelben dem
[100] Zuſtande der allgemeinen Sicherheit Gefahr droht. Das Element der
Willkür, das darin liegt, empfängt erſt mit der franzöſiſchen Revolution
ſeine Gränze durch das Princip, daß ein ſolches Eingreifen nur „im
Namen des Geſetzes“ ſtattfinden dürfe. Die Nothwendigkeit aber, der
Verwaltung das obige Recht zu laſſen, erzeugte die zweite, nicht bei
einem allgemeinen Princip ſtehen zu bleiben, ſondern die einzelnen
Fälle und Gränzen geſetzlich zu beſtimmen, in denen und bis zu denen
die Polizei in die perſönliche Freiheit wirklich eingreifen dürfe. So
entſtanden die beiden Elemente, aus denen das Recht der Sicherheits-
polizei ſich bildet. Einerſeits die verfaſſungsmäßige Anerkennung
eben der perſönlichen Freiheit in ihren Grundformen, und anderer-
ſeits die Geſetze, nach denen die innere Verwaltung durch die Polizei
dieſelbe zu beſchränken berechtigt iſt, und die im Gegenſatz zur Ver-
faſſung auch wohl die „Ausnahmsgeſetze“ genannt werden. Dieſe nun
bilden ſomit ein Syſtem, deſſen beide Theile, die höhere und die
Einzelpolizei, jede wieder ihr ſelbſtändiges Rechtsgebiet beſitzen.
Die höhere Sicherheitspolizei entſteht da, wo durch irgend eine
Vereinigung von Menſchen eine öffentliche Gefahr droht. Es iſt ihre
Aufgabe, dieſe Gefahr zu beſeitigen; ſo wie aber die Vereinigung
bereits eine Ungeſetzlichkeit wirklich begangen hat, ſoll ſie nur noch
als gerichtliche Polizei die Maßregeln zur Verfolgung des Unrechts
ſichern. Ihr Recht beſteht demnach in der ſtrengen Ausübung der
geſetzlichen Vorſchriften, nach welchen ſie durch ihr Einſchreiten die an
ſich freien Vereinigungen hindern oder beſchränken kann, und dafür
beſtehen ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts faſt in allen Staaten genaue
geſetzliche Beſtimmungen. Ihr Syſtem entſteht an der Verſchiedenheit
dieſer gefahrbringenden Vereinigungen. Ihr Inhalt iſt folgender.
Ihr erſtes Gebiet iſt das des Vereinsweſens im weiteſten
Sinne. Ihr Recht geht hier nur auf Kenntnißnahme derſelben; das
aber iſt ein principielles Recht, und daher, ganz abgeſehen von dem
Zwecke, der an und für ſich ſchon ſtrafbar ſein kann, der Grundſatz,
daß geheime Verbindungen an und für ſich verboten und von der
Sicherheitspolizei zu verfolgen ſind. Ihr zweites Gebiet ſind die
öffentlichen Verſammlungen. Es iſt ihre Aufgabe und damit ihr
Recht, bei denſelben gegenwärtig zu ſein, und wenn ihrem Ermeſſen
nach durch die Thätigkeit oder die Bewegung derſelben eine öffentliche
Gefährdung entſteht, ſie aufzulöſen; jedoch kann ſie dieſelben wegen
Vergehen und Verbrechen, welche von einzelnen Mitgliedern in ihr
[101] geſchehen, nur dann auflöſen, wenn die Verſammlung als Ganzes das
Mitglied gegen die Anordnung der Polizei thätlich in Schutz nimmt.
Eben deßhalb hat ſie das Recht auf Anzeige und Verbot der Verſamm-
lung. Ihr drittes Gebiet bildet die Geſammtheit von Erſcheinungen,
welche wir als Volksbewegungen bezeichnen, Auflauf, Tumult
u. dergl. Ihre Aufgabe iſt, dieſelben auf dem Punkte zu hindern,
wo ſie durch erregte Leidenſchaften zu einer öffentlichen Gefahr werden.
Es muß ihrem Ermeſſen überlaſſen bleiben, zu beſtimmen, wann dieſer
Zeitpunkt eingetreten iſt; iſt er eingetreten, ſo hat ſie die Mittel zu
beſtimmen, welche dieſelben bändigt; doch ſind die Bedingungen der
Anwendung von Waffengewalt geſetzlich vorgeſchrieben und ſie haftet
für die Innehaltung dieſer Bedingungen (Aufruhrsakte). Das vierte
Gebiet endlich tritt da ein, wo entweder ein äußerer Feind das Land
angreift, oder die Volksbewegung zur thätlichen Bedrohung des ge-
ſammten Rechtszuſtandes übergeht; im erſten Falle tritt das Kriegs-
recht ein, im zweiten das Standrecht als Einführung der militä-
riſchen Gerichtsbarkeit ſtatt der bürgerlichen, meiſt nur für einzelne
beſtimmte Verbrechen, oder bei allgemeiner Auflöſung des Rechtszuſtandes
der Belagerungszuſtand, deſſen Recht das des militäriſchen Gehor-
ſams und ſeiner Pflichten und Folgen ſtatt des ſtaatsbürgerlichen iſt.
Dieſes Recht hat nun da, wo die einzelnen ſtaatsbürgerlichen Rechte
durch ſpecielle Geſetze formulirt ſind, ſeine geſetzliche Ordnung nach
Vorbild der Aufhebung der Habeas Corpus-Akte in den Ausnahme-
geſetzen gefunden, welche das Recht der Regierung auf Suſpenſion
der ſtaatsbürgerlichen Rechte genau beſchränken und ordnen. Gegen
alle dieſe Maßregeln als ſolche gibt es kein Klagerecht, ſondern nur
Beſchwerderecht. Dagegen tritt das Klagerecht für die einzelnen Akte
der Polizeigewalt ein, wenn ſie ein beſtimmtes, für die Sicherheits-
polizei gegebenes Recht verletzt.
Dieſe höhere Sicherheitspolizei kann, weil ſie allgemeine Verhält-
niſſe betrifft, nur von der Regierung ausgeübt werden. Anders die
folgende.
Die Geſetzgebung für dieſe Polizei tritt erſt ins Leben mit den Verfaſ-
ſungen; ſie iſt kein Syſtem, ſondern beſteht aus einzelnen Geſetzen für die ein-
zelnen Aufgaben der Polizei.
Das Verbindungs- und Verſammlungsrecht iſt meiſt mit dem Ver-
einsrecht bis auf die neueſte Zeit verſchmolzen; die Unfreiheit des Vereins-
weſens beſtand weſentlich darin, daß man ſie als Verbindungen behandelte. Da-
her Erlaubniß- und Verbotsrecht für beide; doch unbedingtes Verbot
geheimer Verbindungen ſchon in Frankreich (Decret vom 29. Sept. 1791); das
Princip der Erlaubniß fortgeſetzt (Code Pén. Art. 291). Auf gleichem Stand-
[102] punkt das frühere deutſche Recht; ſo in allen Verfaſſungen (Bundesbeſchluß von
1854). Dann freies Vereins- und Verſammlungsrecht. Preußen: Rönne,
Staatsrecht I. 100. Oeſterreich: Früheres polizeiliches Vereinsrecht (Geſetz
von 1852); neues freies Recht (Geſetz vom 25. Dec. 1867). Bayern: Geſetz
vom 26. Febr. 1850. Vergl. Stein, Polizeirecht S. 112—115.
Die Volksbewegungen im vorigen Jahrhundert noch rechtlos; dann
Entſtehung der franzöſiſchen Geſetzgebung über Attroupements ſeit Geſetz vom
21. Okt. 1789, und Subſummirung unter das Strafgeſetz (Code Pén. I. 4).
Darnach das deutſche Recht gebildet: Preußen (Verordnung von 1798 und
17. Aug. 1835); wichtig das Princip der Solidarität der Theilnahme und
Haftung der Gemeinden (Geſetz vom 11. März 1850). Rönne, Staatsrecht
II. 346. Bayern: Geſetz vom 12. März 1850 (über Haftung der Gemeinden)
und Geſetz vom 4. Mai 1851 über Anwendung von Waffen. Sachſen (Geſetz
vom 11. Mai 1851). Uebrigens iſt das Ganze nicht ſehr ausgebildet.
Belagerungszuſtand: Grundlage die franzöſiſche Geſetzgebung vom
10. Frim. an V und Hauptgeſetz vom 24. Dec. 1810. In Deutſchland wenig
klar; meiſt unbeſtimmt unter das Weſen der Nothverordnungen (Ausnahms-
geſetze) ſubſumirt, ohne genaue Beſtimmungen. (Vergl. Mittermaier, Archiv
des Criminalrechts 1849. Stein, Polizeirecht S. 124—132.) Das beſte
Geſetz über den Ausnahmszuſtand iſt unzweifelhaft das öſterreichiſche Geſetz
vom 5. Mai 1869 über Suſpenſion der Art. 8. 9. 10. 12. 13 des Staatsgrund-
geſetzes vom 31. Dec. 1867 bei hochverrätheriſchen oder ſonſt die Verfaſſung
bedrohenden oder die perſönliche Freiheit gefährdenden Umtrieben“ mit genauer
Bezeichnung des ganzen von der Regierung einzuhaltenden Verfahrens.
Die Einzelpolizei tritt nun da ein, wo eine einzelne Perſönlichkeit
als ſolche eine gefährliche iſt. Gerade nun das, daß dieſer Begriff ſich
nicht formell definiren und daß ſich andererſeits das Recht der Polizei,
gegen den wirklich Gefährlichen einzuſchreiten, nicht beſtreiten läßt,
hat bis zur Entſtehung der Verfaſſung die ganze perſönliche Freiheit
in das Ermeſſen der Polizei geſtellt. Es kam daher dem neunzehnten
Jahrhundert, da es das Polizeirecht an ſich weder gänzlich negiren
wollte noch konnte, darauf an, gerade dieß Recht der Polizei mit den
möglichſt genau beſtimmten geſetzlichen Schranken zu umgeben. Das
ſind die Geſetze über die „perſönliche Freiheit“ der Staatsbürger, ent-
weder in der Verfaſſungsurkunde enthalten wie in den meiſten deutſchen
Verfaſſungen, oder als ſelbſtändige Geſetze erlaſſen, wie die Habeas
Corpus-Akte oder die vortrefflichen öſterreichiſchen Geſetze vom 27. Okt.
1862 zum Schutze der perſönlichen Freiheit und des Hausrechts und
Briefgeheimniß (Staatsgrundgeſetz vom 21. Dec. 1867, Art. 10). Die
Entwicklung dieſer Geſetze enthält die Beſtimmung über Recht und Ver-
fahren der Polizei bei Verhaftung, Hausdurchſuchung und Beſchlagnahme.
[103] Leitender — nicht immer klar feſtgehaltener Grundſatz: die Polizei ſoll
ſtets ſtreben, die perſönliche Freiheit nur auf gerichtlichen Befehl zu be-
ſchränken; thut ſie es ohne denſelben, ſo ſoll ſie ſofort das Gerichtsver-
fahren eintreten laſſen, haftet aber perſönlich für das, was ſie ohne
Gerichtsbefehl thut. Was zu geſchehen hat, wenn die Aktion der Rechts-
pflege beginnt, iſt nicht mehr Sache der Sicherheitspolizei und ihres
Rechts, ſondern der Strafrechtspflege. An dieſe Grundſätze hat ſich
eine ganze Theorie angeſchloſſen, welche namentlich in Deutſchland noch
vielfach Strafproceß und Polizei vermengt, zugleich aber in den ver-
ſchiedenen Staaten ſehr verſchieden iſt, vorzugsweiſe im Gebiete der
Verhaftung und ihres Rechts. Einen ganz ſpeciellen Theil dieſer
Polizei bildet endlich die Waffenpolizei, die ſelbſt wieder zum Theil
mit der Jagdpolizei zuſammenhängt.
Ueber das vielbeſprochene und ſelten ganz vorurtheilsfrei betrachtete Gebiet
der Einzelpolizei iſt viel von Criminaliſten und wenig von der Staatswiſſen-
ſchaft gearbeitet. Das engliſche Syſtem und die einſeitigen Vorſtellungen
darüber: Glaſer, Engliſch-ſchottiſches Strafverfahren 1860; Bertrand, de
la détention prévent. en France 1862. Das franzöſiſche ſeit 1790 im Code
de l’Instr. Crim. V. 50. Die deutſche Rechtsbildung auf Grundlage des eng-
liſchen Princips des Rechts der polizeilichen Verhaftung mit der Pflicht der
Uebergabe an das Gericht binnen vierundzwanzig Stunden; nebſt den Beſtim-
mungen über polizeiliches Haus- und Beſchlagsrecht: in zu enger Verbindung
mit dem Strafverfahren: Sundelin, die Habeas-Corpus-Akte 1862. Zöpfl,
Staatsrecht II. 290 ff. Stein, Polizeirecht S. 133 ff. nebſt den geſetzlichen
Beſtimmungen; die öſterreichiſchen Geſetze vom 27. Okt. 1862 und 1867 (ſ. oben)
ſind noch das Beſte hierüber; die meiſten Beſtimmungen finden ſich ſonſt leider
ausſchließlich in den Strafgeſetzbüchern, die von der Polizei keine Vorſtellung
haben. Das Verhältniß der Gemeinde zur niederen Sicherheitspolizei noch
ſehr unklar; Grundlage meiſt wie in Preußen: nur die Feldpolizei derſelben
überlaſſen. Eintreten des Vereinsweſens für Bettler und Sträflinge, nebſt
(mangelhaften) geſetzlichen Beſtimmungen. (Stein, Polizeirecht S. 166 ff.)
B. Die Verwaltungspolizei.
Die Verwaltungspolizei im Unterſchiede von der Sicherheitspolizei
entſteht nun da, wo es ſich nicht mehr um die in einer Perſönlichkeit
überhaupt liegende, ſondern um eine, ein beſtimmtes Lebensver-
hältniß der Gemeinſchaft oder Einzelner bedrohende Thätigkeit eines
Einzelnen handelt. Ihre Aufgabe iſt daher der Schutz eines ganz
beſtimmten Gebietes des öffentlichen Lebens, und da das letztere der
Verwaltung überhaupt unterliegt, ſo ergibt ſich, daß die Verwaltungs-
[104] polizei der geſammten Verwaltung inwohnend, das iſt, nicht mehr eine
beſondere Funktion, ſondern vielmehr der polizeiliche Theil der
Funktion in jedem Gebiete der Verwaltung iſt. Es hat dieſe
Polizei daher auch kein ſelbſtändiges Syſtem, ſondern ſie erſcheint in
dem geſammten Syſtem der Verwaltung als der für den Schutz
der letzteren beſtimmte Theil der öffentlichen Thätigkeit. Es gibt daher
eine Bevölkerungs-, Geſundheits-, Wege-, Poſt-, Kredit-, Landes-,
Forſt-, Bergbaupolizei u. ſ. w. Das bedarf mithin keiner Erklärung.
Es muß nur hinzugefügt werden, daß die Bettel- und Vagabunden-
polizei der geſellſchaftliche Theil der Verwaltungspolizei iſt und
daher noch im dritten Abſchnitt der Verwaltungslehre wieder ſelbſtändig
auftritt. Daß einzelne Gebiete der letzteren, wie z. B. die Forſtver-
waltung, noch im Allgemeinen als (Forſt-) Polizei bezeichnet werden,
wird als hiſtoriſche Erſcheinung wohl niemand mehr irre machen.
Dagegen bedarf das Rechtsprincip und die Rechtsbildung dieſer
Polizei einer ſpeciellen Darſtellung.
Während nämlich die Sicherheitspolizei es nur mit der Möglichkeit
einer That zu thun hat, muß die Verwaltungspolizei ſtets eine be-
ſtimmte Handlung als gefährlich bezeichnen und daher dieſelbe aus-
drücklich verbieten. Thut ſie das, ſo wird damit die Begehung einer
ſolchen polizeilich verbotenen Handlung eine Verletzung des öffentlichen
Willens und iſt damit an und für ſich ſtrafbar. So lange nun die
Strafgeſetzgebung ſich mit dieſen Uebertretungen verwaltungspolizeilicher
Verbote nicht beſchäftigte, mußte das Verbot, die Strafe und das
Verfahren bei ſolchen Uebertretungen ganz der Polizei ſelbſt überlaſſen
werden; ſie war damit Geſetz, Verordnung und Gericht zugleich.
Aus dem Widerſpruch, der darin mit dem Principe des Staatsbürger-
thums lag, ging nun der erſte große Verſuch hervor, das ganze Gebiet
dieſer Uebertretungen aus der Verwaltungspolizei herauszunehmen und
es zu einem integrirenden Theile der Strafgeſetzgebung zu machen,
um ſtatt polizeilicher Willkür wenigſtens irgend ein Geſetz dafür zu
haben. Das geſchah zuerſt durch den Code Pénal, der den Begriff der
Contravention zu einem ſtrafrechtlichen machte und die erſten Verſuche
eines ſtrafrechtlichen Syſtems dieſer Contravention im Art. 471 aufſtellte.
Die deutſchen Strafgeſetzgebungen folgten mit mehr oder weniger Be-
wußtſein, und ſo entſtand das Strafrecht der „Uebertretungen,“ die
nichts anderes ſind, als Vergehen gegen die Verwaltungspolizei. Allein
trotz dem blieb theils die Natur der Uebertretung, da ſie keine Perſön-
[105] lichkeit verletzt, ſelbſt von der des Vergehens weſentlich verſchieden;
theils konnte man daher auch die Folgen der Uebertretung keine rechte
Strafe nennen; theils endlich genügten die kurzen Andeutungen des
eigentlichen Strafgeſetzbuches für das zweite Gebiet derſelben nicht. So
blieb der Polizei das Recht, durch ihre einſeitigen Vorſchriften Befehle
zu geben: das war das Gebiet der Polizeiverfügungen neben den
Straf- und Polizeigeſetzen; ſie behielt conſequent das Recht, die Ueber-
tretung ſolcher Polizeiverfügungen mit eigenen Strafen zu belegen und
ſo entſtanden die Ordnungsſtrafen neben den peinlichen Strafen;
und endlich ergab es ſich als zweckmäßig, für dieſe Uebertretungen ein
eigenes Verfahren vor der Polizei beizubehalten, das Polizeiver-
fahren neben dem Strafproceß, dem gleichfalls aus Gründen der
Zweckmäßigkeit für jene Ordnungsſtrafen das Polizeigericht neben
dem Strafgericht entſpricht. Alle dieſe Rechtsverhältniſſe bildeten ſich
nur durch ihre eigene Natur aus und zwar meiſtens neben der
Strafgeſetzgebung, alſo eigentlich im Widerſpruche mit dem Princip,
daß keine Strafe ohne ordentliches Gericht und Verfahren ſein ſoll.
Erſt in der neueſten Zeit löst ſich das ganze Gebiet als ein ſelbſtän-
diges von dem übrigen Verwaltungs- wie von dem Strafrecht los, und
ſo entſtehen die Polizei-Strafgeſetzbücher der letzten Decennien,
welche in ihrem allgemeinen Theil das Verfügungsrecht, die Com-
petenz und das Verfahren der Polizei überhaupt, in dem beſondern
Theil das Syſtem der Uebertretungen nach dem Elemente der Verwal-
tung enthalten. Es iſt demnach kein Zweifel über den Standpunkt,
auf dem wir jetzt ſtehen. Wir faſſen denſelben in folgender Weiſe.
1) Die Polizeiſtrafgeſetzbücher ſind ein nothwendiges Element des inneren
Verwaltungsrechts; 2) ein eigenes dem ſummariſchen Verfahren ent-
ſprechendes polizeigerichtliches Verfahren iſt bei Ordnungsſtrafen zweck-
mäßig; und 3) da trotz der Polizei-Strafgeſetzbücher dennoch nicht alle
Fälle von demſelben vorhergeſehen werden können, ſo muß der Ver-
waltungspolizei das Recht zum Erlaß von Verfügungen mit Ordnungs-
ſtrafen bleiben, jedoch ſoll dieſe Geſetzgebung für Ordnungsſtrafen ſtets
unter Zuziehung der Gemeinde und nur innerhalb einer beſtimmten
Gränze ausgeübt werden; allerdings kann ſie dann ſich auch auf alle
Gebiete der inneren Verwaltung beziehen. Es wird die Aufgabe der
Zukunft ſein, auf Grundlage dieſer Unterſcheidung von peinlicher und
Ordnungsſtrafe einerſeits und der Sicherheits- und Verwaltungspolizei
andererſeits hier zu einer genügenden Geſetzgebung und Praxis zu
gelangen.
Seit Berg, Allgemeines Teutſches Polizeirecht (1799) iſt allerdings die
Verwaltungspolizei in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen, aber theils mit
[106] dieſer, theils mit der Sicherheitspolizei ſo vollſtändig identificirt, daß der ſelb-
ſtändige Begriff damit verloren ging; Mohl hat wieder in der Präventivjuſtiz
den erſten, aber nicht zum klaren Bewußtſein gelangten Verſuch gemacht, eine
ſelbſtändige Sicherheitspolizei aufzuſtellen. Mein Polizeirecht (Verwaltungs-
lehre Bd. 4) iſt durch den Mangel der obigen Unterſcheidungen gleichfalls nicht
klar geworden, und hat daher auch die Stellung der verſchiedenen Polizeiſtraf-
geſetzbücher und ihre Aufgabe nicht verſtanden. Hier iſt alſo noch faſt alles
zu thun. Der Charakter des Verwaltungspolizeirechts in England beruht
darauf, daß die Polizei nur im Namen eines beſtimmten Geſetzes vorgehen
darf; daher gibt im Grunde nur das Parlament Polizeiverfügungen und
Ordnungsſtrafen (Bußen = fees). In Frankreich dagegen beginnt die Polizei
mit ſelbſtändigem Ordnungsſtrafrecht, was auch in Preußen und Oeſter-
reich gilt. Dagegen haben die ſüddeutſchen Staaten eigene Polizeiſtrafgeſetz-
bücher: Württemberg 1837; Baden 1863; Bayern 1866. Ueber die-
ſelben gibt es vortreffliche Commentare, aber noch keine wiſſenſchaftliche Be-
handlung.
IV.
Das Pflegſchaftsweſen.
Die letzte Aufgabe der inneren Verwaltung des perſönlichen Lebens
tritt nun da ein, wo eines der beiden Momente der Perſönlichkeit, das
phyſiſche Daſein einer Perſon oder die freie Selbſtbeſtimmung fehlt,
und die Perſönlichkeit daher, obwohl vorhanden, nicht fähig iſt zu
funktioniren. Da nun aber dieſe Thätigkeit der einzelnen Perſönlichkeit
ein Theil und Element des Geſammtlebens iſt, ſo muß derſelben die
Fähigkeit zur Funktion wiedergegeben werden, indem das ihr fehlende
Element erſetzt, und ſie dadurch wieder als verkehrsberechtigte Perſön-
lichkeit hergeſtellt wird. Dieß nun kann nicht durch den Einzelnen,
ſondern nur mit allgemeiner Gültigkeit durch die Verwaltung geſchehen;
und die dafür geltenden Grundſätze bilden das Pflegſchaftsweſen.
Die Arten des Pflegſchaftsweſens beruhen demgemäß auf den-
jenigen Elementen der Perſönlichkeit, welches eben erſetzt werden müſſen.
Das Vormundſchaftsweſen hat die Aufgabe den mangelnden ſelb-
ſtändigen Willen ſowohl des Mündels als der Frau zu erſetzen; im
Verlaſſenſchaftsweſen fehlt der wirthſchaftlichen Perſönlichkeit die
phyſiſche und die Verwaltung leitet daher den Proceß des Ueberganges
der Güter an die Erben; in der Maſſenverwaltung (dem Concurs-
weſen) iſt dagegen die rechtliche Scheidung der wirthſchaftlichen und
phyſiſchen Perſönlichkeit eins; der Concurs iſt der wirthſchaftliche Tod
der letzteren und die Verwaltung leitet den Auflöſungsproceß des Ver-
mögens. Das Recht aller drei Arten des Pflegſchaftsweſens iſt daher
zugleich ein öffentliches und ein bürgerliches. Das öffentliche Recht
[107] enthält die Grundſätze, nach denen der Einzelne berufen und berechtigt
wird, die mangelnde Perſönlichkeit zu erſetzen; das bürgerliche Recht
die einzelnen Folgen, welche dieſe Vertretung ſowohl im Verkehr mit
Dritten als im Verhältniß zu dem Vertreter erzeugt. Die hiſtoriſche
Entwicklung der Rechtswiſſenſchaft hat es mit ſich gebracht, daß die
wiſſenſchaftliche Behandlung aller drei Gebiete nie als ein Ganzes auf-
gefaßt worden iſt, und daß man den Inhalt derſelben ſtets ausſchließlich
als einen Theil des Privatrechts angeſehen hat; trotzdem daß ander-
ſeits die Geſetzgebung über Verlaſſenſchaft und Concursweſen ihren ganz
ſelbſtändigen Weg gegangen ſind. Erſt das Verſtändniß der inneren
Verwaltung wird dieſem großen Gebiete als dem Schlußpunkt der Sorge
für das perſönliche Leben des Einzelnen ſeinen richtigen Platz und damit
ſeine Behandlung anweiſen. Vor der Hand muß man den Inhalt dieſes
Rechts theils im Privatrecht, theils im ſogenannten außergerichtlichen
Verfahren ſuchen, auf die wir hier verweiſen dürfen.
B.
Die Verwaltung und das geiſtige Leben.
(Das Bildungsweſen.)
Begriff der Bildung und des Bildungsweſens.
Das zweite große Gebiet der Verwaltung des perſönlichen Lebens
iſt gegeben durch das zweite Element aller Perſönlichkeit, den Geiſt und
ſeine Entwicklung.
Den beſtimmten Zuſtand der geiſtigen Entwicklung des Einzelnen
als die Geſammtſumme der von ihm erworbenen geiſtigen Güter nennen
wir die Bildung. Es iſt kein Zweifel, daß die Bildung den höchſten
Werth für jeden Einzelnen hat; ſie iſt zugleich die Bedingung und die
Conſequenz alles Fortſchrittes; ihr Maß und ihre Tiefe ſind das Maß
und der Werth des Einzelnen überhaupt. Sie hat daher ihre eigenen
Geſetze und ihre eigenen Gebiete, und erfüllt das ganze menſchliche Da-
ſein mit ihrem geiſtigen Inhalt. Allein auch in dieſer Bildung iſt der
Menſch kein alleinſtehendes Weſen. Es hängt auch hier von allen andern
ab, und wirkt mit ihr auf alle andern ein. Dieſe Gemeinſchaft der
[...]ldung nennen wir die Geſittung; die Geſittung iſt die Bildung
aller Einzelnen als die wichtigſte Thatſache des öffentlichen Lebens.
Damit aber ergibt ſich, daß der Einzelne weder dazu beſtimmt noch
auch dazu fähig iſt, ſeine Bildung für ſich allein zu erwerben oder zu
behal [...]n. Wie die wichtigſten Bedingungen derſelben, ſo liegen auch
[108] ihre bedeutendſten Folgen außerhalb der Sphäre des Einzellebens. Sind
aber Bildung und Geſittung auf dieſe Weiſe Elemente und Faktoren
des Geſammtlebens, ſo werden ſie damit auch Gegenſtand der für
ihre eigene Entwicklung thätigen Gemeinſchaft, die auch hier im Staate
und ſeiner Verwaltung ihren perſönlichen Ausdruck findet. In dieſem
Sinne erſcheint der Bildungszuſtand der Bildung aller Einzelnen als
die öffentliche Bildung, und demgemäß nennen wir die organiſche
Geſammtheit der Thätigkeit in Staat und Verwaltung für die Bildung
und Geſittung des Volkes als öffentliche Bildung das Bildungsweſen.
Das Bildungsweſen iſt daher die Verwaltung der geiſtigen Welt;
es iſt die Arbeit des Geiſtes für den Geiſt. Es iſt ein mächtiges und
unendlich wichtiges Gebiet des Staatslebens, aber es hat große Vor-
ausſetzungen, um zu ſeiner vollen Bedeutung zu gelangen. Dieſe
Vorausſetzungen liegen theils in der Erkenntniß der Geſetze, nach denen
ſich der Geiſt bildet, der Pädagogik und Methodologie, theils
in dem Verſtändniß ihrer richtigen Anwendung durch die für die Bil-
dung beſtimmten Organe, das durch das Unterrichtsweſen geboten
wird, theils endlich in der Unterſcheidung der organiſchen Stufen und
Gebiete der Bildung, dem Bildungsſyſtem. Das Verhältniß dieſer
Begriffe zu einander iſt, daß in dem Bildungsſyſteme die praktiſche
Verwendung der Pädagogik und Methode als Unterricht zu Geltung
gelangt. Ein Bildungsweſen iſt daher ſo lange unorganiſch und zum
Theil ſogar unverſtändlich, bis es zu den feſten Kategorien dieſes Sy-
ſtems gelangt iſt.
Natürlich hat es nun Jahrtauſende gedauert, bis dieſer allgemeine
Grundgedanke der öffentlichen Bildung eine feſte Geſtalt, ein klares
Syſtem und ein beſtimmtes öffentliches Recht angenommen hat, und
bis die Erkenntniß auch wiſſenſchaftlich feſtſtand, daß alle Gebiete des
Bildungsweſens eine Einheit ſind. Das gegenwärtige Syſtem deſſelben
in Europa muß daher als das große Reſultat der ganzen Geſchichte
des menſchlichen Geiſtes erkannt, und daher von dem Standpunkt dieſer
Geſchichte aus behandelt werden.
Bei großem Reichthum der Literatur über die einzelnen Gebiete und da-
hinein ſchlagenden Fragen nur geringe Berückſichtigung der Einheit derſelben.
Sie wurden erſt im vorigen Jahrhundert in das Syſtem der Staatswiſſenſchaft
aufgenommen. (Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 10. Bd. S. 38. Sonnenfels,
I. 80. Berg, Polizeirecht II. Hauptſtück V.) Mit unſerem Jahrhundert ſcheidet
ſich die Frage in die zwei Gebiete des öffentlichen Rechts des Unterrichtsweſens
und der Syſtematik deſſelben. Das erſte ſ. unten. Die ſyſtematiſche Behand-
lung zieht ſich durch die Polizei oder Staatswiſſenſchaft ziemlich gleichförmig
hindurch (JacobI. 146. Pölitz, ſtaatswiſſenſchaftliche Erziehungspolizei II. [...][19]
[109]Lotz, Polizei S. 379. Soden, Staatsnationalbildung (Nationalökonomie Bd. 8)
letztere das bedeutendſte; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. II. 2. Bezeichnend, daß
die ganze Lehre von der Preſſe gar nicht als Theil des Bildungsweſens be-
handelt war, ſondern nur als Polizeirecht erſcheint. Stein, Bildungsweſen
(Verwaltungslehre Bd. V) S. 17 ff. — Die Geſchichte und Theorie der Päda-
gogik meiſt auf die Elementarſchulen bezogen, während die Methodologie für
die Berufsbildung gilt; Literatur erſt ſeit dem vorigen Jahrhundert; in unſerem
Jahrhundert gründlich und ſyſtematiſch, aber immer nur für den Volksunter-
richt behandelt. (Vergl. Stein S. 87 f.)
Geſchichtliche Epochen des Bildungsweſens.
Die Geſchichte des Bildungsweſens in Europa bietet einen ſolchen
Reichthum an Erſcheinungen und Einzelheiten, daß man ſie nur von
dem höchſten Standpunkt aus als ein Ganzes zu betrachten vermag.
Thut man das aber, ſo erkennt man, daß bei aller noch ſo tief
greifenden Verſchiedenheit dennoch Eine große Thatſache dieß ganze Leben
beherrſcht, die zuletzt auch die Individualität der Culturſtaaten allein
ganz verſtändlich macht.
Kein Erwerb der Bildung iſt denkbar, ohne Selbſtthätigkeit des
Einzelnen; keine erworbene Bildung iſt denkbar ohne Gleichheit des Ge-
bildeten. Jedes Werden der Bildung iſt daher die durch die geiſtigen
Faktoren ſich vollziehende Entwicklung der Völker zur freien Geſittung.
Die großen Geſtaltungen der Geſittung aber ſind die Geſellſchaftsord-
nungen. Jede Geſellſchaftsordnung hat daher ihr Bildungsweſen; jedes
beſtimmte Bildungsweſen iſt der Ausdruck einer beſtimmten Geſellſchafts-
ordnung. Und dieß nun gilt nicht bloß für jedes der drei Gebiete,
ſondern auch für das Verhältniß derſelben zu einander und den
Organismus des Bildungsweſens.
Die Geſchlechterordnung zuerſt hat kein ſtaatliches Bildungsweſen;
die Bildung iſt und bleibt Sache der Familie und des Einzelnen; es
kann unter ihr eine große (Griechenland) und eine geringe (das alte
Deutſchland) Arbeit des geiſtigen Lebens, aber nie eine Verwaltung
deſſelben geben. Daher mangelt gänzlich und unbedingt die Scheidung
der drei Gebiete, und der Hauptgegenſtand der Bildung bleibt ſtets
die phyſiſche Bildung in Kraft, Waffen und Schönheit. Die ſtändiſche
Ordnung dagegen, durch das höhere Weſen des Berufes organiſirt, er-
zeugt nothwendig die Berufsbildung, während ſie gegen die Volks-
bildung gleichgültig bleibt, und der allgemeinen Bildung ſogar feindlich
iſt. Dadurch wird ſie die Mutter der „Wiſſenſchaft;“ denn die Wiſſen-
ſchaft iſt ihr die zu einem ſelbſtändigen Ganzen zuſammengefaßte Berufs-
bildung. Aus demſelben Grunde hat jeder Stand ſeine Bildung und
[110] Wiſſenſchaft, von der er die andern Stände ausſchließt, und ſie inner-
halb ſeiner Körperſchaft organiſirt in Lehre und Recht. Jeder Stand
wird dadurch zu einem ſelbſtändigen Lehr- und Prüfungskörper, und
vermag es, innerhalb ſeiner Gränzen Großes zu leiſten. Allein das
Princip der Ausſchließlichkeit zieht ſeine ſcharfen Gränzen; damit wird
dem geiſtigen Leben ſeine höchſte Natur, die Entwicklung jedes Einzelnen
zur gleichen geiſtigen Beſtimmung, genommen; die unterworfenen Klaſſen
werden alsbald zur Bildung gar nicht zugelaſſen, und das Leben des
Geiſtes erſtarrt in Tradition und Formel.
Hier ſind es nun die großen Faktoren aller Entwicklung, welche
die neue Epoche des Bildungsweſens der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
gründen. Der arbeitende Geiſt beginnt die „Wiſſenſchaften“ als Ein
großes Ganze zu begreifen und derjenige Theil der ſtändiſchen Berufs-
bildung, welcher als der große Träger dieſer Idee der Einheit Jahr-
hunderte lang dageſtanden und gearbeitet hat und noch arbeitet, ohne
bisher in dieſem Sinne eine Geſchichte gefunden zu haben, iſt die
Philoſophie und ihre philoſophiſche Facultät. Der gewerbliche Beſitz
macht die Volksbildung zu einer weſentlichen Bedingung jedes wirth-
ſchaftlichen Fortſchrittes, und die entſtehende organiſche Staatsidee er-
kennt, daß es ihr Intereſſe — das Intereſſe des Reichthums und der
Macht des Staats — und mithin auch ihre Aufgabe ſei, die Allgemein-
heit und Einheit der Bildung herzuſtellen. So entſteht das, was das
Bildungsweſen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft charakteriſirt, die ſtaat-
liche Verwaltung und ein öffentliches Recht deſſelben. Doch iſt dieſe
Entwicklung eine langſame, obgleich von Anfang an alle Elemente der-
ſelben vorhanden ſind. Man kann im Großen und Ganzen drei Epochen
mit ſelbſtändigem Charakter unterſcheiden.
In der erſten Epoche, die mit der Buchdruckerei beginnt, beſchränkt
ſich der Staat darauf, in den Gymnaſien und Univerſitäten eine ge-
lehrte Vor- und Fachbildung theils herzuſtellen, theils zu ordnen; wäh-
rend die Volksbildung noch dem Selbſtverwaltungskörper des gewerb-
lichen Beſitzes, den Städten überlaſſen bleibt, und die allgemeine
Bildung durch die bereits in ihren Grundformen entſtehende Preſſe
(Flugſchriften und Bücher) vertreten wird. Aber ſchon in dieſer Epoche
zeigt ſich die große organiſche Thatſache, daß mit dem Fortſchreiten der
Volksbildung die Macht der Preſſe immer ſteigt; daher die erſten Anfänge
des Kampfes der Regierung mit der Preſſe, während die gelehrte Bil-
dung raſch fortſchreitet. Dieſe Elemente entwickeln ſich weiter bis zum
Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts und bilden die neue Epoche, während
die wirthſchaftliche Bildung ſich von allen am meiſten auf dem ſtändiſchen
Standpunkt der gewerblichen Zunftlehrlings-Wirthſchaft erhält.
[111]
Das achtzehnte Jahrhundert iſt nun die Epoche, in welcher die
Regierungen beginnen, die Elementarbildung als Volksſchulweſen
in die Staatsverwaltung aufzunehmen, und die Leitung der gelehrten
Vor- und Fachbildung gleichfalls derſelben unterzuordnen. Dadurch
entſteht zuerſt der Gedanke einer Einheit des ganzen Bildungsweſens,
indem daſſelbe jetzt auch die Elemente der künſtleriſchen Bildung ent-
wickelt, und Staatsanſtalten für die allgemeine Bildung, Bibliotheken,
Muſeen u. ſ. w. herzuſtellen beginnt. Allein die wirthſchaftliche Bil-
dung bleibt noch unfrei und zufällig, und die Preſſe wird unter ſcharfe
Ueberwachung geſtellt. Der Charakter dieſer Epoche iſt der Ausſchluß
der freien einzelnen Arbeit für das Ganze und die Herrſchaft der
polizeilichen Bevormundung, die im Volksſchulweſen viel Gutes wirkt,
dagegen das Berufsbildungsweſen vielfach beſchränkt und der freien
allgemeinen Bildung geradezu feindlich iſt.
Die dritte Epoche, das neunzehnte Jahrhundert, iſt nun die Zeit
des entſcheidenden Kampfes der freien Bildung, ſowohl mit den Reſten
der ſtändiſchen Wiſſenſchaft, als mit der polizeilichen Bevormundung.
Hier treten an die Stelle der Regierung das wirthſchaftliche Leben und
die Preſſe in erſte Reihe. Der Erwerb wird ſeinerſeits zu einem Beruf
und die Arbeit der Preſſe zu einem allgemeinen Bedürfniß und Recht.
Die Elementarbildung empfängt allmälig ihre gleichartige Organiſation;
ſie wird Sache der Selbſtverwaltung unter Aufſicht der Regierung; die
Berufsbildung erzeugt neben dem gelehrten das wirthſchaftliche Bildungs-
weſen in all ſeinen verſchiedenen Formen, und nach langem und hartem
Kampfe wird die Preſſe frei. In dem Kampfe dieſer Elemente wird
nun die große Thatſache klar, daß die Bildung nicht bloß die Grund-
lage der individuellen Entwicklung, ſondern auch alles Werthes der
Formen des öffentlichen Rechts und des Fortſchrittes in Ver-
faſſung und Verwaltung ſei; und damit verſchwinden die letzten
Gränzen der ſtändiſchen Epoche zwiſchen den Gebieten des menſchlichen
Wiſſens, das geiſtige Leben erſcheint in ſeiner großen, machtvollen Ein-
heit, die Verwaltung des Bildungsweſens wird ein äußerliches und
innerliches Ganzes, und jetzt erſt beginnt das Bildungsweſen der Na-
tionen das zu werden, was es ſeinem höhern Weſen nach iſt, das zur
ſelbſtändigen und thätigen Organiſation gewordene Bewußtſein der Völker,
daß in ihm der Geiſt ſich zum Gegenſtande und Ziel ſeiner eigenen Arbeit
erhoben hat.
Allein in dieſer organiſchen Einheit und Anſchauung des Bildungs-
weſens bleiben nun die drei großen Grundformen. Sie behalten nach
wie vor ihr ſelbſtändiges Recht, ihre ſelbſtändige Aufgabe und ihre
ſelbſtändige Geſchichte. Während in dem Obigen die Idee des Bildungs-
[112] weſens gegeben iſt, iſt in ihnen der Inhalt deſſelben geſetzt; und nach
wie vor muß das Syſtem des Bildungsweſen zu ihnen zurückkehren.
Zugleich aber entwickelt ſich auf Grundlage der beſondern geſell-
ſchaftlichen Verhältniſſe der einzelnen Völker Europas das, was wir
die nationale Individualität derſelben nennen, welche wiederum als
ein weſentliches Element des Verſtändniſſes für jedes einzelne Volk be-
trachtet werden muß.
Die Geſchichte des Bildungsweſens iſt im Ganzen viel zu wenig behandelt.
(Raumer, Geſchichte der Pädagogik; vergl. dazu Niemeyer, Grundſätze der
Erziehung II. Bd. S. 453.) Ueber die alte Welt: Graßberger, Erziehung
und Unterricht im klaſſiſchen Alterthum II. Bd. 1866. Charakteriſtiſch iſt auch
hier die gänzliche Vernachläſſigung des allgemeinen Bildungsweſens. Dagegen
iſt die Geſchichte der einzelnen Gebiete zum Theil ſehr gründlich behandelt;
namentlich das Volksſchulweſen, obgleich ſtets mehr Rückſicht auf die Pädagogik
und Theorie gelegt wird. Hier iſt für das Ganze noch faſt alles zu thun.
(Vergl. Stein, Bildungsweſen S. 16 ff. und 88 f.)
Das neunzehnte Jahrhundert und ſein Bildungsweſen.
Das neunzehnte Jahrhundert hat nun das geſammte Bildungs-
weſen in die Aufgabe der ſtaatlichen Gemeinſchaft aufgenommen, und
daſſelbe theils zum Gegenſtande großer und umfaſſender Geſetzgebung,
theils zur Aufgabe ſeiner das ganze geiſtige Leben umfaſſenden
Bildungsanſtalten, theils zum Objekt eingehender wiſſenſchaftlicher Unter-
ſuchungen gemacht. Es iſt daher jetzt die Aufgabe der Verwaltungs-
lehre, in dieſem großen und ſo unendlich reichen Gebiete die Einheit
in Auffaſſung und Behandlung zu ſchaffen, indem die für alle Theile
deſſelben gültigen Grundbegriffe zuerſt feſtgeſtellt werden. Dieſe ſind
die Elemente des Syſtems, die leitenden Principien für das öffent-
liche Recht, die Fundamente für den Organismus, und die natio-
nale Geſtalt des Bildungsweſens überhaupt, wobei dann jeder Theil
ſchon hier wieder ſeine elementaren Grundverhältniſſe zeigt, die den
Inhalt des Syſtems des Verwaltungsrechts der Bildung abgeben.
1) Das Syſtem des Bildungsweſens.
Indem nun das neunzehnte Jahrhundert die ganze öffentliche Bil-
dung gleichmäßig als Aufgabe der Gemeinſchaft umfaßt, erſcheinen drei
große Grundgebiete derſelben, die allerdings in Bedeutung, Inhalt
und Recht ſo verſchieden ſind, daß man ſie nur vom höchſten Stand-
punkt des geiſtigen Lebens als eine organiſche Einheit verſtehen kann.
Das erſte Gebiet iſt das der elementaren Bildung, das wir
[113] deßhalb auch wohl das Unterrichts- oder Volksbildungsweſen
nennen. Das zweite iſt das der Berufsbildung oder Fachbildung,
das dritte iſt das der allgemeinen Bildung. In jedem dieſer Ge-
biete arbeitet der Geiſt für ſeine eigne Geſammtentwicklung in hundert-
facher Weiſe; aber nicht das was hier auf geiſtigem Gebiete überhaupt
geſchieht, ſondern ſpeciell nur das, was der thätige Staat für jedes
dieſer Gebiete thut, iſt dasjenige, was wir das öffentliche Bildungs-
weſen nennen. Das Syſtem des letzteren iſt daher die objektive
Rechtsordnung für die Bewegung der geſammten öffentlichen Bil-
dung. Und daraus entſteht dann das Rechtsſyſtem derſelben,
deſſen Princip wie deſſen Inhalt für jeden Theil des Ganzen ein natur-
gemäß verſchiedenes iſt.
2) Das Recht und die Geſetzgebung des Bildungsweſens.
Das Recht des Bildungsweſens umfaßt demnach formell die Ge-
ſammtheit von öffentlichen Beſtimmungen für die Thätigkeit der
Verwaltung in Beziehung auf die Erhaltung und Ent-
wicklung der Geſittung des Volkes.
An ſich iſt die Bildung des Einzelnen abſolut frei. Allein einer-
ſeits ſind ihre Bedingungen dem Einzelnen unerreichbar, andrerſeits
iſt die Bildung des Einzelnen eine Bedingung der Entwicklung der
Geſammtheit. Die Aufgabe der Verwaltung in Beziehung auf das
Bildungsweſen iſt demgemäß eine doppelte. Sie hat einerſeits die dem
Einzelnen unerreichbaren Bedingungen der Bildung herzuſtellen, und
andrerſeits das ganze Maß derſelben zu ſichern, welches für die thätige
Betheiligung des Einzelnen am Geſammtleben theils im Allgemeinen,
theils für die einzelnen Berufe und ihre Ausübung gefordert wird.
Damit greift die Verwaltung tief in das geiſtige Leben des Einzelnen
hinein; und die daraus entſtehenden Beſchränkungen der Freiheit des
Einzelnen bilden den Inhalt des öffentlichen Bildungsrechts.
Indem ſich nun dieß Rechtsprincip an das Syſtem des Bildungs-
weſens anſchließt, entſteht das, was wir das Rechtsſyſtem der öffent-
lichen Bildung nennen.
Das Rechtsprincip des Volksunterrichts iſt der Schulzwang mit
ſeinen Vorausſetzungen, die ſtaatsbürgerliche Verpflichtung zur Erwer-
bung der Elementarkenntniſſe, auf Grundlage der confeſſionellen Frei-
heit und der Unentgeldlichkeit des Volksunterrichts.
Das Rechtsprincip der Berufsbildung iſt, daß die Fachbildung und
Prüfung die rechtliche Bedingung für die Ausübung öffentlicher
Funktionen ſei, woraus die Ordnung der Studien und das Recht des
Geprüften folgen.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 8
[114]
Das Rechtsprincip der allgemeinen Bildung iſt die Freiheit,
welche die Beſchränkung der Verwaltungsthätigkeit auf die Verhinde-
rung und Beſtrafung der Rechtsverletzungen fordert, die das geiſtige
Leben erzeugen kann.
Es iſt demnach nicht möglich, von einem einfachen und gleichen
Rechtsprincip, und demgemäß von einer einheitlichen Geſetz-
gebung für das ganze Gebiet zu reden. Denn es iſt nicht die Auf-
gabe der Verwaltung, ihre Thätigkeit oder ihr Recht an die Stelle der
freien Thätigkeit des Einzelnen zu ſetzen, ſondern nur das Maß und
diejenige Ordnung derſelben zu beſtimmen, welche als Bedingung der
Geſammtentwicklung angeſehen werden müſſen. Selbſt der größte Verſuch,
der je den Bildungsproceß des geſammten Volkslebens der Verwaltung
ausſchließlich unterordnen wollte, die franzöſiſche Geſetzgebung Napo-
leons I., hat das nicht vermocht. Das Bildungsweſen fordert daher
für jedes ſeiner drei Gebiete mit dem ſelbſtändigen Syſtem derſelben auch
ein eignes Bildungsrecht; die drei Gebiete ſind aber ein Ganzes in der
gemeinſamen Idee der Verwaltung des geiſtigen Lebens der Geſammtheit.
Den erſten Ausdruck dieſer Auffaſſung der Einheit des Ganzen und der
Selbſtändigkeit der Theile auf Grundlage der Idee der (polizeilichen) Staats-
verwaltung mit der Polizeiwiſſenſchaft des vorigen Jahrhunderts, fortgeſetzt in
der heutigen. Die poſitiven Beſtimmungen in den Lehrbüchern des Staatsrechts
jedoch höchſt ungleichmäßig behandelt, und nicht als Einheit aufgefaßt, ſondern
jeder Theil für ſich dargeſtellt. Das beſte Material in Schmid, Encyclopädie.
3) Principien des Organismus des Bildungsweſens.
Der Organismus des Bildungsweſens enthält formell die Organe
und ihre Competenz, durch welche die Gemeinſchaft ihre Thätigkeit für
das Bildungsweſen ausübt.
Es liegt in der Natur der Geſchichte des letzteren, daß dieſer Or-
ganismus in den verſchiedenen Zeiten ein ſehr verſchiedener war, und
daß jedes Land ſich ſeine Geſtalt deſſelben ſelbſtändig herausbildete.
Dennoch iſt in ganz Europa ein durchgreifender Grundzug unverkenn-
bar; und dieſer beruht wieder auf dem Weſen der drei Gebiete der
Bildung, ihrem beſonderen Inhalt und ihrer ſchließlichen organiſchen
Einheit. Man muß denſelben aber kennen, um unſre Gegenwart zu
beurtheilen.
Während in der Geſchlechterordnung noch gar kein Organ für das
Bildungsweſen exiſtirt, und in der Ständeordnung die Körperſchaften
allein die Verwaltung deſſelben haben, tritt mit dem polizeilichen Staat
des achtzehnten Jahrhunderts zuerſt der Gedanke einer einheitlichen
Leitung der geſammten Bildung auf, die dann im neunzehnten Jahr-
[115] hundert im Miniſterium (für Cultus und Unterricht) zum verfaſſungs-
mäßigen Verwaltungsorganismus wird. Anfänglich beherrſcht dann
die Regierung in dieſer Form das ganze Bildungsweſen faſt ausſchließ-
lich, bis mit der freieren Entwicklung auch hier die Selbſtverwaltung
und das Vereinsweſen thätig auftreten, und ſich neben dem öffent-
lichen Bildungsweſen auch das private entwickelt, das in der Form von
Unternehmungen aller Art auftritt. Damit entſteht die Frage nach
dem Verhältniß dieſer Organe und der Einzelthätigkeit gegenüber dem
Organismus der Einheit, die man gewöhnlich als die Frage der Frei-
heit des Bildungsweſens bezeichnet.
Das Princip dieſer Freiheit iſt nun im Allgemeinen das Recht der
Selbſtverwaltung, der Vereine und des Einzelnen, die Bildung nach
eigner Anſicht und Methode zu erzeugen. Die Idee der geiſtigen Ein-
heit des Bildungsweſens erſcheint dem gegenüber in der Oberaufſicht
der Regierung. Dieſe Oberaufſicht iſt dann wieder je nach den drei
Gebieten, in denſelben je nach ihren einzelnen Theilen ſehr verſchieden;
ihr gemeinſamer Grundſatz iſt aber der, daß die Regierung auf Grund-
lage der Geſetze einerſeits die geiſtigen Gefährdungen der Geſittung zu
hindern (Bildungspolizei in allen Gebieten) und andrerſeits das Minimum
der Bildung feſtzuſtellen und zu conſtatiren hat, das die Gemeinſchaft
von dem Einzelnen überhaupt oder von dem Manne eines beſtimmten
Berufes zu fordern berechtigt iſt. Die große und namentlich praktiſche
Frage nach dem rechtlichen Verhältniß, in welchem dem gemäß die
Organe der Regierung als Vertreter der Einheit zu denen der Selbſt-
verwaltung, der Vereine und dem Einzelnen ſtehen, iſt in Form und
Inhalt eine ſo vielfache, daß ſich nichts weiter im Allgemeinen darüber
ſagen läßt, als daß der Natur der Sache nach die Fachbildungsanſtalten
Sache der Regierung, die Volks- und Vorbildungsanſtalten Sache der
Selbſtverwaltung, Fortbildungsanſtalten für ganz ſpecielle Gebiete Sache
der Vereine, die Preſſe Sache des Einzelnen iſt, ohne daß objektiv eine
ſcharfe Gränze gezogen werden könnte. In der Art und Weiſe aber, wie ſich
dieſe Thätigkeiten faktiſch in einem Lande vertheilen, ſpiegelt ſich theils die
Geſchichte des Volkes, theils ſeine Nationalität in bedeutſamer Weiſe ab.
Alle dieſe Ordnungen haben nun in jedem Volke wieder ihre indi-
viduelle Geſtalt. Der Charakter derſelben in den drei Haupt-Cultur-
völkern Europas iſt der folgende.
Der amtliche Organismus des Bildungsweſens im Anfange dieſes Jahr-
hunderts: Malchus, Politik Bd. I. Neueſte Zeit: Brachelli, Staatenkunde
Europas S. 533 ff. Für Preußen ſpeciell: Rönne, Unterrichtsweſen der
preußiſchen Monarchie. Oeſterreich: Brachelli, das Kaiſerthum Oeſter-
reich 1868.
[116]
Charakter des Bildungsweſens in England, Frankreich und
Deutſchland.
England entbehrt in ſeinem Bildungsweſen von allen Staaten
Europas am meiſten der Verwaltung. Es hat kein Miniſterium des
Unterrichts, ſondern nur das Committee for Education im Privy Council,
das nur mit einem Theile des Volksſchulweſens zu thun hat. Die
Universities ſind ganz ſtändiſche Anſtalten, eben ſo die Colleges; der
übrige Unterricht beruht auf Privatanſtalten. Dagegen ſind für Bil-
dung und Geſittung die beiden andern Faktoren, der gewerbliche Beſitz
und die Preſſe, freier und thätiger als in irgend einem Lande Europas.
Die Folge iſt der ſtark ausgeprägte Charakter der Individualität in
der Bildung, bei großem Mangel der Bildung in den untern Claſſen.
Frankreich dagegen hat ſich, nach faſt gänzlicher Bewältigung der
ſtändiſchen Elemente, ſein Bildungsweſen unter Napoleon I. durch Geſetz
vom 17. März 1808 büreaukratiſch als ein adminiſtratives, auf jedem
Punkte unter der amtlichen Verwaltung ſtehendes Ganze organiſirt,
indem es daſſelbe als Instruction publique, als reine Verwaltungsaufgabe
anſah, und dem geſammten Bildungsorganismus von dem höchſten
Lehrkörper bis zur mindeſten Volksſchule herab als „Université“ hin-
ſtellt, welche die Instruction primaire (Elementarbildung), secondaire
(Vorbildung) und supérieure (Fachbildung) umfaßt. Dadurch iſt der
freien Bewegung des Geiſtes eine enge Schranke gezogen, welche durch
die Rechtloſigkeit der Selbſtverwaltungskörper und des Vereinsweſens
noch enger und härter, und durch eine allgemeine thätige und freie
Preſſe nicht ganz gut gemacht werden kann.
Das Bildungsweſen Deutſchlands hat den einzig richtigen Weg
eingeſchlagen, indem es zunächſt jedes Gebiet für ſich gründlich nach
allen Richtungen bearbeitet hat. Es hat dadurch die Fähigkeit behal-
ten, jeden Theil des Ganzen ſich in ſeiner Eigenthümlichkeit nach ſeinen
Bedürfniſſen und Forderungen entwickeln zu laſſen, ohne doch die Lei-
tung des Ganzen aufzugeben. Allerdings wird es dadurch ſchwer, die
Einheit in Anſchauung und Darſtellung, in Geſetz und Thätigkeit feſt-
zuhalten; dafür aber wirken namentlich in neueſter Zeit ſeit Befreiung
der Preſſe alle drei Elemente gleichmäßig und in großer Kraft, und es
iſt durch dieß Zuſammenwirken kein Zweifel, daß Deutſchland in jeder
Beziehung den erſten Rang im Bildungsweſen Europas einnimmt,
indem es die innere und äußere Einheit Frankreichs mit der freien
individuellen Bildung Englands verbindet.
Die übrigen Völker Europas haben ſich nun meiſtens formell dem
franzöſiſchen, dem Inhalte nach dem deutſchen angeſchloſſen; und ſo
[117] hat bei aller Verſchiedenheit des Charakters der einzelnen Staaten das
Bildungsweſen Europas eine Gleichartigkeit der Geſtaltung und des
öffentlichen Rechts gewonnen, durch welche ſich unſer Erdtheil an die
Spitze der Geſittung der Welt erhoben hat.
Das Beſte über das engliſche Bildungsweſen haben die Deutſchen geſagt.
Hiſtoriſche Notizen bei Buckle, Geſchichte der Civiliſation I. S. 202. Ueber
den gegenwärtigen Zuſtand namentlich Wieſe, Briefe über engliſche Erziehung
(1852), welcher vorzugsweiſe den Charakter, und Guglers Ueberſetzung von
Taylors Industry and schools 1865, welche die Inſtitutionen, jedoch vorzugs-
weiſe des Volksſchulweſens beſpricht. Das öffentliche Recht bei GneiſtI. S. 326.
— Frankreich hat ſelbſt wenig Literatur über ſein Bildungsweſen; da das-
ſelbe vorzugsweiſe unter die Verwaltung fällt, ſo muß man die franzöſiſchen
Bearbeitungen in den Werken über das droit administratif ſuchen. Die Ge-
ſchichte der Université ſeit 1808 ſehr kurz und klar bei Laferrière, Droit
publ. et admin. II. p. 265 ff. — Deutſchlands Literatur iſt unendlich reich
im Einzelnen; doch fehlt im Ganzen genommen die eingehende Behandlung
des Berufsbildungsweſens, namentlich der Univerſitäten. Vortreffliches Material
in Schmids Encyclopädie des Unterrichtsweſens ziemlich über alle Staaten
Europas; dazu das Werk von Hochſtetter und Beer, die Fortſchritte des
Unterrichtsweſens in den Culturſtaaten Europas Bd. I. 1867. Bd. II. 1868.
(Vergl. über die übrigen Länder ſo wie die übrigen Staaten die kurze Dar-
ſtellung bei Stein, Bildungsweſen S. 39—65.)
A. Das Elementar- oder Volksſchulweſen.
Die Elementarbildung umfaßt ihrem formalen Begriffe nach
die Geſammtheit von Kenntniſſen und Fähigkeiten, welche an und für
ſich keinen Werth haben, ſondern nur als die Bedingung jeder
Bildung und Geſittung erſcheinen. Das Volksſchulweſen
iſt die Geſammtheit von Anſtalten und Thätigkeiten, durch welche dieſe
Elementarbildung als Aufgabe der Verwaltung erzeugt wird.
So lange nun die Geſchlechterordnung herrſcht, beruht dieſe ele-
mentare Bildung allein auf der Familie; daher hat es in der Ge-
ſchlechterordnung wohl einzelne Schulen, wie bei den Griechen und
Römern, aber nie ein Volksſchulweſen gegeben. In der ſtändiſchen
Ordnung entſteht allerdings der Gedanke der „Volksſchule,“ aber er
gehört in Auffaſſung und Durchführung ganz der Geiſtlichkeit. Erſt
im achtzehnten Jahrhundert beginnt mit der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft der Gedanke, daß die Volksbildung ein nothwendiges Element
der Geſammtentwicklung des Staats ſei. Die erſte Erſcheinung dieſes
Gedankens iſt die Gründung der Gemeindeſchulen, die urſprünglich
nur in den Städten, dann aber ſich auch aufs Land verpflanzen; dann
[118] tritt der polizeiliche Standpunkt namentlich ſeit der Mitte des achtzehn-
ten Jahrhunderts in den Vordergrund, und zwar am kräftigſten in
Preußen, welches das ganze Volksſchulweſen zur Sache der Selbſtver-
waltung macht, theils eine höchſte Behörde dafür einſetzt, theils die Ge-
meinden zur Herſtellung der Schulen verpflichtet, theils endlich durch
ſyſtematiſche Geſetzgebung das innere Schulweſen ordnet. Das was
die norddeutſchen Staaten ſomit als Theil der Verwaltung lange an-
erkannt und durchgeführt, ward dann durch die franzöſiſche Revolution
zu einem Princip der Verfaſſung und durch Napoleon 1808 zu einem
ſtreng adminiſtrativen Syſtem, während in Deutſchland ſich ſchon die
höheren Fragen der Pädagogik an den elementaren Unterricht anſchließen,
und die Geſetzgebung neben der Schulverwaltung immer tiefer in die
Schulordnung und das Lehrerweſen eingreift, die Aufgabe und die Er-
füllung derſelben immer mehr erhebend und veredelnd. England da-
gegen hat es bis jetzt weder zu einem Volksſchulgeſetz noch zu einem
Volksſchulweſen, ſondern nur zu einer Unterſtützung des Privatſchul-
weſens gebracht. Die Verſchiedenheit des Volksſchulweſens zwiſchen dieſen
drei Ländern iſt eine große und tiefgehende; aber auch in Deutſchland iſt
ſie keineswegs ganz verſchwunden. Die Baſis der Beurtheilung des Ganzen
iſt daher ein durchgreifendes Syſtem, deſſen Elemente folgende ſind.
Charakter des öffentlichen Rechts des Elementarunterrichts. England
hat auch jetzt noch den ganzen Elementarunterricht weſentlich der individuellen
Fürſorge überlaſſen. Seine Geſetzgebung iſt bis zum Revised Code nur ein
Schulweſen für arme und verwahrloste Kinder: Peels Kinderarbeitsbill
(42. Georg. III. 73); Einführung der District pauper schools; Zwangsſchulen
für Armenkinder (11. 12. Vict. 82); die Adderley Act 20. 21. Vict. 40):
Zwangsſchulen für verwahrloste Kinder; Einführung der Zwangsſchulen; Kinder
der Fabrikarbeiter: Industrial school Act (24. 25. Vict. 113. 1861); dann
tritt das Syſtem der Unterſtützung von Seiten der Regierung auf, die durch
das Education Committee gegeben, durch Inſpektoren überwacht, und an die
Bedingung der Benützung ſtaatlich anerkannter Lehrer und Innehaltung des
vorgeſchriebenen — höchſt beſchränkten — Lehrplanes gebunden iſt. Grundlage
das Revised Code ſeit 1863, jährlich mit den einzelnen neuen Beſtim-
mungen. Jede Schule, die keine Unterſtützung braucht, iſt abſolut ohne alle
Oberaufſicht (vergl. Wagner, das Volksſchulweſen Englands in ſeiner neueſten
Entwicklung 1865. Schmid, Encyclopädie, Art. Großbritannien und bei
Stein, Bildungsweſen S. 93—100). Gegenwärtig geht bekanntlich das ganze
Volksſchulweſen einer gründlichen Reform entgegen, in welcher England end-
lich die deutſchen Grundſätze über das Schulweſen bei ſich einzuführen be-
abſichtigt. Die Sache wird gut, wenn ſich die Gemeinden derſelben ernſtlich
annehmen. — Frankreich hat das Volksſchulweſen erſt 1791 in ſeine Ver-
faſſung (Tit. 1) aufgenommen mit dem Satze der Droits de l’homme: „II
sera crée et organisée une instruction publique.“ Die Université
[119] Napoleons nahm dann die durch die verſchiedenen Verfaſſungen bereits aus-
gebildeten Kategorien der Instruction primaire, secondaire et supérieure als
amtlichen Organismus auf, aber erſt das Geſetz vom 28. Juni 1833 iſt das
eigentliche Volksſchulgeſetz, das auch durch das Geſetz von 1850 nicht geändert,
aber praktiſch viel zu wenig durchgeführt iſt, während die Abhängigkeit der
Gemeinde einerſeits, und das Enseignement libre der Privatſchulen ohne
alle Aufſicht des Staats andererſeits auch die Weiterentwicklung ernſtlich in
Frage ſtellen. — In Deutſchland hat die Theorie das Volksſchulweſen ſchon
ſeit Mitte des vorigen Jahrhunderts in die Staatswiſſenſchaft aufgenommen
(Juſti, Bd. 10. S. 58); das preußiſche Generallandſchulreglement vom
12. Aug. 1763 iſt die erſte große ſyſtematiſche Schulordnung für das eigentliche
Unterrichtsweſen. Schulrecht im Allgemeinen Landrecht II. T. 12. Vergl.
Rönne, Staatsrecht I. §. 200. Die übrigen Staaten ſind dann gefolgt;
Oeſterreich erſt 1808 mit ſeiner „Verfaſſung der teutſchen Schulen,“ die mit
vielen Aenderungen bis jetzt galt, und erſt durch das Volksſchulgeſetz vom
14. Mai 1869 umgeſtaltet iſt. Seit 1848 iſt nun das Princip des Volksunter-
richts auch vielfach in die Verfaſſungen aufgenommen, eigentlich nutzlos. Aretin
(Conſtitutionelles Staatsrecht II. S. 265) führt es in die Verfaſſungslehre (als
„Garantie der Verfaſſung“) ein; Mohl in das Verwaltungsrecht (württem-
bergiſches Verwaltungsrecht II. S. 393 ff.); Zöpfl ins deutſche Staatsrecht
§. 480. Die Auffaſſung vom Standpunkt der Pädagogik ſeit Peſtalozzi,
Niemeyer und Düntzer; neueſte zugleich lehrreiche publiciſtiſche Behandlung
von Hohenegger und Beer. Verſuch der Syſtematik mit Material bei
Stein, Bildungsweſen S. 72 ff.; encyclopädiſche Darſtellung bei Schmid;
ſtatiſtiſche Zuſammenſtellung bei Brachelli, Staaten Europas S. 533 ff.
Das Syſtem des Volksſchulweſens enthält in der Schulordnung
das Recht derſelben gegenüber den Einzelnen, in dem Lehrerweſen
das Recht für die Lehrer, und in der Schulverwaltung die Grund-
ſätze für das Verhältniß der Schule zur inneren Verwaltung überhaupt.
a) Die Schulordnung enthält zuerſt in der Schulpflicht die ge-
ſetzliche Anerkennung der ſtaatsbürgerlichen Pflicht des Einzelnen, die
Kinder zum Erlernen der elementaren Bildung anzuhalten. Das Geſetz
ſpricht dieſe Pflicht aus; die Gemeinde ſoll ihre Vollziehung bewirken;
die Regierung durch ihre Organe dieſe Vollziehung überwachen. Die
Vorausſetzung der letzteren bleibt daher ein tüchtiges Gemeindeweſen;
die elementare Bildung ſoll dem Zufall und der Willkür nicht über-
laſſen bleiben. Demnach gehört ſchon ein gebildetes Volk dazu, um ſie
einzuführen; aber ein noch gebildeteres, um ſie überflüſſig zu machen.
[120]
England kennt keine Schulpflicht, nicht zu ſeinem Heil. Frankreich
bleibt bei der allgemeinen Vorſchrift ſtehen. Nur Deutſchland hat die Schul-
pflicht principiell durchgeführt, und zwar meiſtens zwiſchen dem ſiebenten bis
vierzehnten Jahre (vergl. Brachelli, Staaten Europas S. 534; Stein
S. 121 ff). Entſchiedene, gewiß berechtigte Tendenz des preußiſchen Schul-
weſens, die Kinder in die öffentliche Schule zu bringen (RönneI. §. 200)
ſchon ſeit dem Generallandſchulreglement von 1763. — Bayern: Schulzwang
bis zum ſechzehnten Jahre (Verordnung vom 31. Dec. 1864). — Das neue öſter-
reichiſche Schulgeſetz von 1869 ſetzt acht Jahre Schulpflicht ſtatt der früheren
ſechsjährigen und der Wiederholungsſchule, mit Strafen für Nichtbeſuch, und
gibt den Inſpektoren das Recht, ſich von dem wirklichen Schulbeſuch der
Schulpflichtigen zu vergewiſſern.
b) Der Schulplan enthält zwei Theile. Zuerſt das Claſſenſyſtem,
und dann den Lehrplan deſſelben. Beide ſind das Ergebniß einer
langen und tiefgehenden Arbeit der Geſchichte. Der urſprüngliche Lehr-
plan beruht auf der Vorſtellung, daß die Volksſchule nur für die
unterſte Volksclaſſe exiſtire; daher nichts als die „drei Species“ und
der Religionsunterricht, und keine Schulclaſſen. Mit dem neunzehnten
Jahrhundert fällt die Scheidewand zwiſchen der gelehrten und der Volks-
bildung. Jetzt beginnen die Vorbildungsanſtalten auch den höheren
Elementarunterricht, und die Volksſchule ihrerſeits nimmt die Aufnahme
der Elemente der allgemeinen Bildung, namentlich im Anſchauungs-
unterricht, in Geographie und Geſchichte in ſich auf; die „Bürgerſchule“
und „Mittelſchule“ wird die Vorbildung für das allgemeine Leben,
und ſcheidet ſich von der Elementarſchule; jede von ihnen empfängt
ihren Lehrplan; die Mädchen werden von den Knaben getrennt; an
die Knabenſchulen ſchließen ſich die Fortbildungs- und Sonntags-
ſchulen; aus der einfachen Volksſchule iſt ein Syſtem geworden, und
dieſes Syſtem, ſeiner ethiſchen Aufgabe immer klarer bewußt, nimmt
mit unſerer Zeit auch die ſociale Idee mehr und mehr in ſich auf;
nirgends iſt die tiefe ſchaffende Kraft der Geſittung lebendiger, als
in dieſem Gebiete!
Kein Volk kann ſich mit Deutſchland vergleichen. England hat bis jetzt
gar keinen öffentlichen Lehrplan gehabt; laute Klagen bei Senior, Report. —
Frankreichs Claſſenſyſtem (Instruction primaire, élémentaire et supérieure)
durch das Geſetz vom 28. Juni 1833 aufgeſtellt, aber wenig inne gehalten. —
In Preußen erſetzen örtliche Ordnungen und die Forderung des Volkes den
Mangel der neuen, bis jetzt nur verſprochenen Volksſchulgeſetzgebung (Rönne
a. a. O.; vieles auch in Wieſe, höheres Schulweſen in Preußen). — Oeſter-
reich: Gründliche Neugeſtaltung des Volksſchulweſens (Geſetz vom 14. Mai
1869); Volksſchulgeſetz: Errichtung von 8claſſigen Bürgerſchulen ſtatt der alten
4claſſigen; Schulpflicht vom 6—14. Jahre. Lehrerbildungsweſen: §. 43 ff.;
[121] Schullaſt §. 62 ff. (Geſetz vom 25. Mai 1868); Verhältniß der Schule zur
Kirche; amtliche Oberaufſicht ſtatt der kirchlichen hergeſtellt (Geſetz vom 26. März
1869); Errichtung von amtlichen Landes- und Bezirksſchulräthen, mit Inſtruk-
tionen vom 18. Mai und 11. Juni, und Organiſation des Bildungsweſens für
Lehrer und Lehrerinnen (Verordnung vom 12. Juli 1869). — Speciellere An-
gaben bei Schmid unter den einzelnen Staaten. Poſitive Literatur fehlt.
a) Die Vorausſetzung für alles, was die Schulordnung vorſchreibt
und beabſichtigt, iſt die Lehrerbildung. Sie iſt Jahrhunderte hin-
durch mit der Lehre ſelbſt nicht viel anders als ein Gewerbe geweſen.
Der gebildete Lehrer war allein der Geiſtliche. Daher die natur-
gemäße Abhängigkeit der Schule von der Kirche. Es war zugleich
falſch und nutzlos, dieſe zu bekämpfen, bevor die Verwaltung in den
Seminarien ein eigenes Lehrerbildungsweſen gründete. Durch ſie iſt
aus dem Lehrerweſen ein Lehrerberuf entſtanden; und erſt an dieſen,
der ſeine große ethiſche Auffaſſung ſeit Peſtalozzi geiſtig erzeugt hat,
ſchließt ſich die höhere Entwicklung des ganzen Volksſchulweſens.
b) Unmittelbar daran ſchließt ſich die geſellſchaftliche Stellung der
Lehrer als Beamteter der Gemeinde und des Staats, die wirth-
ſchaftliche Stellung derſelben in Beziehung auf Gehalt und Ruhe-
gehalt, und endlich die Selbſtverwaltung des Lehrerberufs in den
Lehrer conferenzen und den Lehrer vereinen. Sie ſind berufen,
die Entwicklung des Lehrerweſens vor allem zu fördern.
England hat gar kein eigentliches Lehrerweſen; ſeine Lehrer haben höch-
ſtens einen individuellen Beruf, aber keine Stellung. Erſt in jüngſter Zeit
die „Normal school“ und das „Trinity College“ mit ihrer misdirected in-
struction (Senior, Report S. 21). Vergl. Literatur bei Stein S. 131. —
Frankreich hat zuerſt das Princip des „Enseignement libre“ aufgeſtellt,
das mit der „Lehrfreiheit“ gar nichts zu thun hat, ſondern die rein negative
Abtrennung von der Kirche in dem Satze enthält: daß jeder Franzoſe mit acht-
zehn Jahren auf Grundlage eines brevet de capacité, ausgeſtellt durch einen
andern Lehrer, ſich als Lehrer niederlaſſen kann (Geſetz vom 28. Juni 1833, T. II.
§. 4). Die Stellung der Lehrer iſt jedoch bei den öffentlichen Schulen eine
ſo abhängige von den amtlichen Behörden, daß ſchon darum die tüchtigen Lehrer
Privatſchulen gründen müſſen. Errichtung einer Art von Seminarien in den
Ecoles normales (Geſetz von 1850. Stein S. 133). — In Deutſchland
Seminarien ſchon im vorigen Jahrhundert; das Seminarienweſen in den Auf-
ſätzen bei Schmid; Auszug bei Stein S. 133 ff. Neuere Bewegung in
Preußen: „Zur Vorlage des Unterrichts- und Dotationsgeſetzes,“ von einem
deutſchen Pädagogen 1868; Erhöhung der Lehrergehalte in Baden (Geſetz
vom 27. Nov. 1864). Oeſterreich: Lehrerbildung (Geſetz von 1869, §. 26 ff.).
[122]
Die Schulverwaltung entſteht nun, indem der Staat die Ver-
wirklichung jener im Weſen der Schule liegenden Forderungen durch
ſeinen Organismus verwirklicht. Sie iſt zuerſt allerdings eine rein
örtliche, und gehört der Gemeinde. Erſt mit dem achtzehnten Jahr-
hundert, wo der Volksunterricht als Aufgabe der Geſammtheit aner-
kannt wird, unterzieht der einheitliche Staat denſelben ſeiner Gewalt,
und jetzt wird die Schulverwaltung zu einem Syſteme, indem ſie das
Rechtsverhältniß der Schule zum Staate, zur Gemeinde und zum Einzelnen
feſtſtellt. Aus dem erſten entſteht das, was wir den Organismus
der Schulverwaltung nennen; aus dem zweiten die öffentliche Ordnung
der Schullaſt; aus dem dritten das Verhältniß der Privatſchulen.
Die Organiſation des Schulweſens beginnt allenthalben in den
Stadtgemeinden. Ihre Grundlage iſt anfänglich eine doppelte: die
Schule iſt entweder eine rein kirchliche Inſtitution, oder eine ſtädtiſche.
Von den Städten geht die Bildung von Schulen auf das Land über,
und das grundherrliche Schulweſen entſteht neben dem ſtädtiſchen.
Mit dieſem Reſultat tritt daſſelbe in das achtzehnte Jahrhundert. Das
dauernde Ergebniß der erſten Epoche iſt der Grundſatz, daß die Schule
eine Gemeindeangelegenheit ſei. Das achtzehnte Jahrhundert
erzeugt nun auch hier das Princip, daß die neuentſtehende Regierungs-
gewalt nicht bloß die Oberaufſicht, ſondern auch die eigentliche Ver-
waltung der Schule habe, für welche die Gemeinde nunmehr nur die
Mittel bieten ſolle. So entſteht aus dem Gemeindeſchulweſen das
Landesſchulweſen mit dem Syſtem der Schulbehörden. Oertlich
ſteht an der Spitze der letzteren die Geiſtlichkeit; für das ganze Land
gewöhnlich ein eigenes höchſtes Schulorgan. Dem Princip nach herrſcht
der Staat, der Wirklichkeit nach die Kirche. Dieſer Zuſtand wird nun
mit dem Ende des vorigen Jahrhunderts zuerſt ernſtlich angegriffen
durch die Entſtehung der Pädagogik, welche die Lehre aus einer bloßen
Uebung zu einer Wiſſenſchaft, und aus der Lehre einen der Kirche
und ihrem Gebiete gleichſtehenden Stand macht. Dann kommt mit
dem Beginne unſeres Jahrhunderts die Bildung des freien Gemeinde-
weſens hinzu, und damit entſtehen die Grundlagen der neuen Organi-
ſation des Volksſchulweſens. Die Baſis dieſer Verwaltung iſt die
Oberaufſicht der Regierung, welche die Einheit in das Schulweſen
zu bringen hat, und unter dem Miniſterium für Unterricht durch
Schulinſpektoren geübt wird, andererſeits die örtliche Verwaltung
der Schule durch die Gemeinde, welche principiell die Herrſchaft der
[123] Kirche über die Schule ausſchließt, und die erſtere nur noch für das Gebiet
der Religion zuläßt. Zwiſchen Miniſterium und Gemeinde ſtehen dann
die höchſten Landesbehörden, und die Schulangelegenheiten ſind mit
Recht als Angelegenheiten des Landes der Landesvertretung überwieſen.
Bei großen Verſchiedenheiten im Einzelnen iſt das wenigſtens auf dem
Continent die Grundlage für den Organismus der Schulverwaltung.
Feſtzuhalten, daß bei aller Gleichheit der Form die Verſchiedenheit der
Organiſation und ihr Charakter in der Stellung liegt, welche die Vertretung
der Gemeinde namentlich in Beziehung auf den Schulplan und das Lehrer-
weſen beſitzt. Der Charakter Englands beſteht darin, daß der Einfluß der
Regierung überhaupt erſt dann entſteht, wenn die Schule eine Unterſtützung
fordert, alſo ein facultativer iſt. Der Charakter Frankreichs beſteht
darin, daß bei ſcharf ausgeprägtem Syſtem der Einfluß der Gemeinde durch
Mangel an Selbſtverwaltung ein ſtets geringer iſt, und das Schulweſen daher
nur eine formale Freiheit hat. Der Charakter der deutſchen Schulverwaltung
iſt der Kampf der Gemeinde mit dem noch immer in vielen Theilen herrſchen-
den Elemente der Grundherrlichkeit und der Kirche. In den Städten iſt der
Sieg meiſtens entſchieden, auf dem Lande nicht. Ihren Abſchluß kann dieſe
ganze Bewegung erſt erhalten, wenn die ſyſtematiſche Lehrerbildung durchgeführt
iſt. (Vergl. das Syſtem bei Stein, Bildungsweſen S. 114—121.) Intereſſant
iſt die Vergleichung zwiſchen Preußen, in welchem auf dem Lande noch Patrone
und Geiſtliche die leitenden Faktoren ſind, und Oeſterreich mit ſeinem neuen
Geſetze von 1869, das den Schwerpunkt in die Gemeinde legt, durch Landes-
und Bezirksinſpektoren das Schulweſen überwacht, und den Landesvertretungen
die höchſte Selbſtverwaltung einräumt; Trennung von der Kirche (Geſetz vom
25. Mai 1868); Inſtruktion für die Bezirksſchulinſpektoren (Verordnung vom
18. Mai 1869); für die Landesſchulinſpektoren (Verordnung vom 11. Juli 1869).
Neueſte bedeutende Bewegung in Preußen: Gneiſt, die confeſſionelle Schule
1869, und beſonders: Gneiſt, die Selbſtverwaltung der Volksſchule 1869; das
öſterreichiſche Geſetz vom 25. Mai 1868 hat unſeres Wiſſens das Princip der
„confeſſionsloſen“ Volksſchule am klarſten formulirt und daſſelbe auf die beiden
einfachen Grundſätze zurückgeführt: 1) jede mit öffentlicher Unterſtützung arbeitende
Schule muß Kinder ohne Unterſchied der Confeſſion aufnehmen und 2) die Con-
feſſion iſt weder Bedingung noch Hinderniß für die Lehrerſtellung an der Volksſchule.
Die hiſtoriſche Anknüpfung an die Gemeinde hat zuerſt den Grundſatz
erzeugt, daß jede Gemeinde geſetzlich zur Aufſtellung von Volksſchulen
verpflichtet ſei. Aus dieſer Verpflichtung iſt durch die Armuth vieler
Gemeinden der zweite Grundſatz entſtanden, daß bei Unvermögen der
Gemeinde der Staat verpflichtet ſein müſſe, die Gemeinde zu unterſtützen.
Dieſe letztere Verpflichtung iſt meiſtens dahin formulirt, daß die Gemeinde
Haus, Holz, Lehrmittel ganz, der Staat höchſtens die Lehrerbeſoldung
[124] zu geben habe. Daran ſchließt die Frage nach dem Schulgeld. Es
iſt naturgemäß entſtanden, allein mit unſerem Jahrhundert durch den
Grundſatz beherrſcht, daß die Fähigkeit das Schulgeld zu zahlen nicht
die Bedingung des Rechts auf Schulbeſuch ſein dürfe (Freiſchüler —
Armenſchüler). Aus dieſem Grundſatz hat ſich dann der höhere Geſichts-
punkt entwickelt, daß das Schulgeld überhaupt aufzuheben und der
Volksunterricht ganz unentgeldlich ſein ſolle, was an ſich richtig,
durch das Privatſchulweſen wieder ſehr bedenklich wird, da ſich gerade
dadurch der Unterſchied zwiſchen der beſitzenden und nicht beſitzenden
Claſſe wieder herſtellt.
Die obigen Grundſätze gelten wohl jetzt im Weſentlichen in ganz Europa
(ſ. die einzelnen Aufſätze bei Schmid a. a. O. und kurz bei Stein S. 123 ff.).
Gegen alles Schulgeld: Gneiſt, Vortrag in Berlin 1869; beſonders Fr. Hof-
mann, die öffentliche Schule und das Schulgeld 1869. Oeſterreich: Geſetz
von 1869, §. 62 ff.
Das Privatſchulweſen iſt das Recht jedes Einzelnen, neben der
öffentlichen Schule eine Schule als Privatunternehmen zu gründen.
Das Recht darauf iſt die Freiheit des Unterrichtsweſens, in Deutſchland
und England von jeher anerkannt, in Frankreich als enseignement
libre erſt mit der Revolution ausgeſprochen. Das Recht iſt an ſich
unzweifelhaft; allein auch die Privatſchule bleibt ein öffentliches Inſtitut
als organiſcher Theil des Unterrichtsweſens und ſoll daher der Ober-
aufſicht der Regierung unterworfen ſein. Die beiden Formen, in
denen dieſelbe zu Tage tritt, iſt zuerſt die Forderung einer öffentlichen
Lehramtsprüfung für die Privatlehrer, zweitens die Gleichſtellung
der Privatſchule mit der öffentlichen Schule in der Unterordnung unter
die Schulorgane der Behörde und der Gemeinde. Dieſe Grundſätze
ſind an ſich ſehr einfach; ſie werden erſt Gegenſtand des heftigſten
Kampfes da, wo ſich kirchliche Körperſchaften des Privatſchul-
weſens bemächtigen und das enseignement libre als Ausſchließung der
Oberaufſicht verſtehen. Hier iſt der Punkt, wo ſich das katholiſche
und evangeliſche Schulweſen ſo tief ſcheiden, daß eine äußerliche Ver-
mittlung unthunlich erſcheint.
Gänzliche Freiheit in England. In Frankreich hat ſich dieſelbe erſt nach
der Revolution als enseignement libre ausgebildet; das Geſetz von 1833 be-
zieht ſich noch weſentlich auf Privatſchulen. Das Geſetz von 1850 macht auch
die kirchlichen Schulen jeder Oberaufſicht baar. In Deutſchland hat die Tüchtigkeit
der Volksſchule das Privatſchulweſen auf die höheren Bildungsſtufen beſchränkt,
und den Grundſatz der Prüfung der Lehrer und Oberaufſicht im Weſentlichen
durchgeführt (ſ. Stein S. 145—147). Oeſterreich: Geſetz von 1869, §. 68 ff.
[125]
B. Das Berufsbildungsweſen.
Unter dem Berufe an ſich verſtehen wir die zum Bewußtſein
gekommene beſondere Lebensaufgabe des Einzelnen. Der Beruf empfängt
ſeine öffentliche Erſcheinung durch die Erklärung des Einzelnen, ſeine
Thätigkeit auch praktiſch der Ausübung dieſes Berufes widmen zu
wollen. Dadurch entſteht der Begriff des Standes im weiteren Sinne,
als der Geſammtheit derer, welche einen gemeinſamen Beruf haben.
Im engeren Sinne aber bedeutet der Stand dieſe Geſammtheit, inſo-
fern ſie in irgend einer Weiſe vom Staate als ſolche anerkannt iſt.
Beruf und Stand ſind nun zunächſt Sache des Einzelnen und
Sache des Einzelnen iſt es auch, ſich an den für den Beruf gebildeten
und vorkommenden Fall zu wenden oder nicht. Allein die Natur des
Berufes bringt es mit ſich, daß die Einzelnen ſich der Berufsgenoſſen
ſtets in dem Falle bedienen werden, wo es ſich um Thätigkeiten han-
delt, die der Ausübung des Berufes angehören. So wie das der Fall
wird, ſo wird auch die Fähigkeit der Berufsgenoſſen für ſeinen Beruf
die Bedingung dafür, daß dem Einzelnen geholfen werde. Je weiter
ſich nun die Berufe entwickeln, je weniger wird der Einzelne fähig,
darüber zu urtheilen, ob jene Fähigkeit vorhanden iſt, und je ſchwie-
riger wird es, die Höhe der Berufsbildung ſich durch vereinzelte Kraft
anzueignen. Demnach wird eben dadurch die Tüchtigkeit des Einzelnen
im Berufe eine der großen Vorausſetzungen für die Entwicklung des
Geſammtlebens. Und hier iſt daher der Punkt, wo die Verwaltung
eingreift und zugleich das Princip derſelben entſteht.
So wie nämlich mit der ſteigenden Geſittung die Theilung der
geiſtigen Arbeit der Menſchen in den Berufen gleichfalls ſteigt, ſo wird
einerſeits die Bildung für den Beruf und zweitens die Gewißheit,
daß dieſe Bildung für die einzelnen Standesgenoſſen auch wirklich vor-
handen ſei, eine der großen Bedingungen der Entwicklung des Ge-
ſammtlebens. Damit entſteht die Aufgabe der Verwaltung des geiſtigen
Lebens, für die Bildungsmittel der Berufe und für das nothwendige
Maß derſelben ihrerſeits zu ſorgen; und die Geſammtheit der dafür
beſtimmten Grundſätze und Einrichtungen der Verwaltung iſt das
öffentliche Berufsbildungsweſen.
Ueber die Begriffsbeſtimmungen von Beruf und Stand ſ. Stein, Bildungs-
weſen S. 149 ff. Die Begriffe ſelbſt ſind wenig unterſucht; die Thatſachen
bekannt, aber wenig geordnet.
[126]
Das große Syſtem des Berufsbildungsweſens, wie es ſich im
Laufe der Jahrhunderte ausgebildet hat, iſt das Ergebniß einer der
machtvollſten Arbeiten der Geſchichte; das Verſtändniß deſſelben hat in
unſerer Gegenwart einen neuen Inhalt gewonnen.
Jeder Beruf enthält ſtets eine höhere geiſtige Entwicklung des
Individuums. Es iſt daher natürlich, daß die Berufsbildung ſtets die
entſchiedene Neigung hat, eine Bildungsform der höheren Klaſſen
der Geſellſchaft und eine der Grundlagen ihrer Herrſchaft über die
niederen zu werden. Die Entwicklung der Freiheit greift nun dieſe
Thatſache an; ihr großes Ziel iſt es, den Beruf mit ſeinem ethiſchen
Inhalt und ſeinem geiſtigen Beſitzthum allen Klaſſen der Geſellſchaft
gemeinſam zu machen — nicht etwa die Berufsbildung an ſich auf-
zuheben oder zu beſchränken. Das iſt das große Princip in der Ge-
ſchichte des Berufsbildungsweſens und der Standpunkt für die Beur-
theilung des Charakters deſſelben in jeder beſtimmten Zeit und in jedem
Lande. Und aus ihm ergeben ſich die leitenden Grundſätze, welche die
Entwicklung des Berufsbildungsweſens als Aufgabe der über jedes
Sonderrecht und jedes Sonderintereſſe erhabenen Staatsidee und ihrer
Verwirklichung in der inneren Verwaltung erfordern.
Der erſte dieſer leitenden Grundſätze in der Geſchichte iſt dem-
nach der, durch das Eingreifen der Verwaltung jeden Beruf für jeden
zugänglich zu machen; der zweite iſt der, jeder Lebensaufgabe eine
ſelbſtändige Berufsbildung zu geben; der dritte iſt der, jede ſelbſtän-
dige Berufsbildung mit den Elementen der allgemeinen Bildung und
darin die höhere Einheit des geiſtigen Lebens für alle mit der vollſten
Entwicklung in jedem Theile zu verbinden. Das erſte iſt das ſociale,
das zweite iſt das wiſſenſchaftliche, das dritte iſt das ethiſche
Princip des Berufsbildungsweſens. Und die Geſchichte deſſelben im
höheren Sinne iſt daher die allmählige Verwirklichung nicht bloß dieſer
oder jener vollkommenen Berufsbildungsform, ſondern der langſame,
aber ſichere Sieg dieſer drei großen Principien im Bildungsweſen
Europa’s, ſo daß erſt durch ſie das Syſtem des Berufsbildungsweſens
in ſeiner ganzen, nicht mehr bloß formalen Bedeutung eben ſo ver-
ſtändlich wird, wie die Elemente der poſitiven Geſchichte deſſelben.
Dieſe nun ſind an ſich einfach.
Die Geſchlechterordnung kennt nur die Herrſchaft der Geſchlechter
über die Geſchlechterloſen. Das Mittel dafür iſt die Waffe und das
Gericht. Die Bildung iſt daher in dieſer Ordnung zuerſt nur auf
die Glieder der herrſchenden Geſchlechter beſchränkt, dann enthält ſie
[127] nichts als Waffenbildung und die Bildung für die Rechtspflege im
Volksrechte, neben völliger Bildungsloſigkeit der beherrſchten Claſſe.
Die Ständeordnung ihrerſeits iſt eben nichts anderes, als die
Ordnung der ganzen Gemeinſchaft nach den zu herrſchenden Stän-
den erhobenen Berufen. Naturgemäß ſtellt ſie daher den rein geiſtigen
Beruf in der Geiſtlichkeit an die Spitze, neben ſich durch die Aufnahme
der Geſchlechterordnung den Waffenberuf und unter ſich den gewerb-
lichen Beruf in Zunft- und Innungsweſen. Sie iſt ein unendlicher
Fortſchritt gegenüber der Geſchlechterordnung; mit ihr erwacht das
geiſtige Leben, und im Grundſatz iſt wenigſtens in Kirche und Zunft
auch das Mitglied der beherrſchten Claſſe nicht ausgeſchloſſen. Allein
das körperſchaftliche Element, das dieſe ganze ſtändiſche Welt durch-
dringt, ſchließt faktiſch dieſe Körperſchaften in geiſtiger wie zuletzt auch
in geſellſchaftlicher Beziehung von einander ab, und ſo entſteht der
Charakter des ſtändiſchen Bildungsweſens, dem bei wenn auch großer,
ſo doch einſeitiger wiſſenſchaftlicher Bildung ſowohl das ſociale als das
höhere ethiſche Element verloren zu gehen droht.
Das iſt nun der Punkt, auf welchem ſich die welthiſtoriſche Er-
ſcheinung der Univerſitäten entfaltet. Das große Princip der Uni-
verſitäten iſt geiſtig die Idee der Einheit aller Wiſſenſchaft, die wieder
in den Fakultäten als Berufsbildungsanſtalten erſcheinen, während es
die große nie genug gewürdigte Aufgabe der philoſophiſchen Fakultät
war und iſt, eben die Einheit der Fakultäten zum wiſſenſchaftlichen
Ausdruck zu bringen; geſellſchaftlich das Princip der freien Zulaſſung
jedes Einzelnen zur Univerſität, die Negation des ſtändiſchen Unter-
ſchiedes in dem „akademiſchen Bürgerthum.“ An dieſe Macht der Uni-
verſitäten ſchließt ſich ihr zweiter Einfluß. Durch ſie ſcheidet ſich die
Vorbildung von der Fachbildung. Das „Gymnaſium“ und die
„Schola“ werden Vorbildungsanſtalten und die wiſſenſchaftliche Bildung
empfängt ihre erſte Organiſation. Das iſt der Anfang des eigent-
lichen Berufsbildungsweſens Europa’s.
Allein auch die Univerſitäten und ſelbſt die Gymnaſien und hohen
Schulen behalten doch den ſtändiſchen Charakter. Nicht allein daß ſie
ſtändiſche Körperſchaften bilden, ſondern ihr Grundcharakter bleibt der
Satz, daß es doch zuletzt keine höhere Bildung außer der Univerſitäts-
bildung und daß es keinen wahren Beruf außer dem auf der „claſſiſchen
Gelehrſamkeit“ beruhenden gebe. Ein großer Fortſchritt bleibt daher
zu machen; es iſt der, die Idee, die Aufgabe und die öffentliche An-
erkennung des Berufes auch außerhalb der Univerſität, im Geſammt-
leben des Volkes, zu finden. Und dieſen Schritt thut das achtzehnte
Jahrhundert.
[128]
Das achtzehnte Jahrhundert iſt der Wendepunkt in der Geſchichte
des Berufsbildungsweſens von Europa. Sein Inhalt iſt das Auftreten
des wirthſchaftlichen Berufes und ſeine Berufsbildung. Und
gleich die erſte Grundlage dieſer neuen Berufsbildung zeigt ihre Eben-
bürtigkeit. Sie beginnt einerſeits mit der völligen Negation des
Werthes der gelehrten Bildung, die von Frankreich ausgehend ihren
geiſtreichen Vertreter in Rouſſeau und ſeinem Emile findet, gleichzeitig
aber mit der poſitiven Geſtaltung der Realſchule in Deutſchland.
Sie findet ſogar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Platz
an den Univerſitäten in der [Cameralwiſſſenſchaft], dieſer Mutter
der Staatswiſſenſchaft. Allein zu einer ſtaatlichen Anerkennung bringt
es die Idee des wirthſchaftlichen Berufes in dieſem Jahrhundert doch
nicht, während die erſten Anfänge des künſtleriſchen Berufes mit ſeiner
Bildung bereits ſich an die Galerien und Theater anſchließen. Erſt das
neunzehnte Jahrhundert bringt die Vollendung deſſen, was das acht-
zehnte begonnen hat. Seine allgemeine Bildung ſteht viel zu hoch, um
den Werth der claſſiſchen Bildung zu verkennen; allein das große Princip
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat geſiegt: es gibt auch im Begriffe
wie im öffentlichen Rechte des Berufes kein Vorrecht mehr; jeder Beruf
iſt dem andern gleich; jeder Beruf hat ſeine Berufsbildung zu fordern;
der Staat hat in gleicher Arbeit alle Gebiete des menſchlichen Lebens
mit ſeiner höchſten Bildungsaufgabe zu umfaſſen, und ſo entſteht das,
was das neunzehnte Jahrhundert auch hier zur entſcheidenden Epoche
im geiſtigen Leben der Völker macht; das iſt das Berufsbildungsweſen
unſerer Zeit. Das was das Berufsbildungsweſen umfaßt, gibt nun
ein ſo reiches und mannigfaltiges Bild, daß nur eine ſtrenge ſyſtema-
tiſche Auffaſſung im Stande iſt, die Summe ſeiner Erſcheinungen zu
beherrſchen. Dieſe Elemente aber, die der Betrachtung alles Einzelnen
zum Grunde liegen müſſen, ſind einfach. Das ganze Gebiet theilt ſich
in das Syſtem und das öffentliche Recht des Berufsbildungs-
weſens, und die Darlegung der höchſten Principien beider wird zeigen,
daß trotz des Mangels aller Codifikation und ſelbſt aller ſyſtematiſchen
wiſſenſchaftlichen Behandlung, und trotz der tiefen Verſchiedenheit der
Berufsbildung bei den großen Culturvölkern dennoch Ein Geiſt das
Geſammtleben Europa’s auch hier beherrſcht.
Der Charakter der Literatur über die Geſchichte des Berufsbildungs-
weſens iſt einfach in ganz Europa die noch immer herrſchende Trennung
derſelben von der Geſchichte des Volksſchulweſens einerſeits, und das zum
Theil gründliche Eingehen auf die Geſchichte einzelner Erſcheinungen, ohne die
Einheit aufzufaſſen. — Der Charakter der Geſetzgebung iſt weſentlich ver-
ſchieden in England, Frankreich und Deutſchland. In England fehlt jede
[129] Geſetzgebung über das Vorbildungsweſen, und die Fachbildungsanſtalten (Uni-
versities und Colleges) ſind rein ſtändiſche Körperſchaften. In Frankreich
dagegen, das bis zur Revolution ganz den Charakter der deutſchen Berufs-
bildung, jedoch ohne Realſchulen und Cameralwiſſenſchaften hat, der erſte
große Verſuch einer Codifikation des ganzen Berufsbildungsweſens als der
„Université“ ſeit 1808, unverändert bis jetzt geltend. In Deutſchland
dagegen neben der körperſchaftlichen Selbſtverwaltung der Univerſitäten die
allgemeine Geſetzgebung über das Vorbildungsweſen in Gymnaſien und höhern
Schulen, und vielfache einzelne Geſetze auch über das Univerſitätsweſen, jedoch
bisher ohne formale Einheit in der Legislatur und ohne Syſtem in der Theorie.
Das Syſtem des Berufsbildungsweſens nun, wie es ſich mit dem
neunzehnten Jahrhundert ziemlich definitiv geſtaltet hat, beruht auf
zwei allgemeinen Grundlagen. Die erſte iſt die grundſätzliche Unter-
ſcheidung zwiſchen Vorbildung und Fachbildung, die zweite iſt die
Aufſtellung und Durchführung der drei großen Kategorien des Berufs-
bildungsweſens, der gelehrten, der wirthſchaftlichen und der
künſtleriſchen Berufsbildung. Das Element der allgemeinen Ent-
wicklung dieſes Syſtems beruht dann auf denjenigen Inſtitutionen,
welche das Uebergehen von einem Gebiete in das andere enthalten.
Die beſondere Entwicklung dagegen wird feſtgehalten durch den Grund-
ſatz, daß jeder Beruf zugleich ſein eigenes Vorbildungsweſen beſitzen
ſoll und beſitzt. Darnach ſind die formalen Elemente des Syſtems
einfach. An ſie muß jede Vergleichung ſich anſchließen.
a) Die gelehrte Berufsbildung beruht nach wie vor auf der
claſſiſchen Bildung oder der Vorbildung für jede gelehrte Fach-
bildung. Die Vorbildungsanſtalten ſind die hohen Schulen oder Gym-
naſien. Die großen Fachbildungskörper ſind die Univerſitäten; die
Fachbildungskörper für die einzelnen Berufe ſind die Fakultäten, in
denen die philoſophiſche Fakultät wieder die doppelte Aufgabe hat, theils
der Fachbildungskörper für das Lehrerweſen der Vorbildungsanſtalten,
theils aber auch die Vertreterin der höchſten wiſſenſchaftlichen Einheit
aller ſpeciellen Fachbildung zu ſein, während die Naturwiſſenſchaften
wieder die höchſte wiſſenſchaftliche Form der wirthſchaftlich-techniſchen
Bildung, die Staatswiſſenſchaften aber endlich die höchſte wiſſen-
ſchaftliche Form der allgemeinen Bildung enthalten. Das iſt das
organiſche Weſen der Univerſitäten. In ihrer formalen Ordnung
und Eintheilung herrſcht ſelbſt in Deutſchland noch ſo viel Unklarheit,
daß es formell unthunlich iſt, dieſe Kategorien durchzuführen. Der
Sache nach iſt jedoch kein Zweifel vorhanden. Ein weſentlicher
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 9
[130] Mangel iſt und bleibt dagegen die Unfertigkeit des Verhältniſſes der
Univerſitäten zu den höchſten wirthſchaftlichen Bildungsanſtalten. Ver-
ſtändniß und Ordnung dieſes Gebiets wird die Aufgabe der nächſten
Zukunft ſein.
b) Die wirthſchaftliche Berufsbildung geht zunächſt in den
Gewerbeſchulen aller Art aus der Volksbildung hervor, erhebt ſich
aber im Realſchulſyſtem zum Vorbildungsweſen für die Fachbildung,
und dieſe nun hat hier zwei Grundformen. Die erſte iſt diejenige,
welche wir die techniſche nennen müſſen und deren Organ die poly-
techniſchen Inſtitute ſind; die zweite beſteht in einer Reihe von
wirthſchaftlichen Specialſchulen, wie Landwirthſchafts-, Handels-,
Bergbau- und anderen höheren Lehranſtalten. In dieſem Organismus
iſt kein feſter Abſchluß und die Verhältniſſe des wirthſchaftlichen Lebens
verbieten einen ſolchen. Die große Frage dieſes Fachbildungsweſens iſt
ohne Zweifel das Verhältniß zu den Univerſitäten. Sie kann nicht
gelöst werden ohne eine gründliche Organiſation der Staatswiſſenſchaft
und der Naturwiſſenſchaft. Wir ſtehen hier noch auf dem Standpunkt,
daß England das wirthſchaftliche Berufsbildungsweſen gar nicht kennt,
Frankreich es in ſeinem viel beſprochenen „Bifurcationsſyſtem“ in der
Vorbildung zu viel, in der Fachbildung zu wenig mit der wiſſenſchaft-
lichen Bildung in Verbindung gebracht hat, während Deutſchland beide
Gebiete formell von oben bis unten ſondert und ſie nur in der Sache
ſelbſt, zu ſehr nur geiſtig, verbindet. Dennoch iſt mit Recht Deutſch-
land das Vorbild, und wird es bleiben.
c) Das künſtleriſche Berufsbildungsweſen hat ſeine Vorbildung
in doppelter, die Fachbildung in vielfacher Form gefunden. Die Vor-
bildung beſteht nämlich theils in der Aufnahme des Zeichnens in die
Gewerbeſchulen, theils in ſelbſtändigen Vorbildungen der Akademien.
Dieſe ſelbſt ſind dann nur für die bildende Kunſt, während Muſik
und Tanzfachbildung für ſich beſtehen. Das Ganze iſt für das Ganze
der Berufsbildung noch zu wenig beachtet.
Dieſes nun ſind die feſten Elemente des Syſtems. Sie geſtalten
ſich allerdings weſentlich anders bei den verſchiedenen Völkern und die
künftige vergleichende Staatswiſſenſchaft hat hier eine eben ſo große
als ſchöne Aufgabe.
Bei ungemein reicher Literatur über einzelne Erſcheinungen und Fragen
mangelt die einheitliche Auffaſſung des Berufsbildungsweſens ſowohl in Be-
ziehung auf Geſchichte als auf Syſteme. Nachrichten über die alten scholae
bei Vitriar. T. III. V. 35. Erſte ſyſtematiſche Anſchauung bei Seckendorf,
Teutſcher Fürſtenſtaat 1666. II. 4. Mit dem Ende des achtzehnten Jahrhun-
derts nur noch vom Standpunkte des öffentlichen Rechts behandelt. Streit
[131] des Realismus mit dem Humanismus; Entſtehung der wirthſchaftlichen Vor-
bildung ſeit Mitte des vorigen Jahrhunderts: „Realſchulen ſind die Lyccen des
Bürgerſtandes“ Rottenhauer 1795. Gewerbeſchulen erſt im neunzehnten Jahr-
hundert, in gleichem Schritt mit der Gewerbefreiheit. Die „Gymnaſialfrage“
hauptſächlich ſeit den zwanziger Jahren in Anregung: Thierſch, Ueber ge-
lehrte Schulen. Die Literatur wie die Geſetzgebung hat hier durchgehend den
Charakter der Oertlichkeit, trotz der großen Gleichartigkeit der Grundlage.
Statiſtik: Brachelli, Staaten Europas S. 535 ff. „Humanismus und Realis-
mus“ Schmid, Encyclopädie. Geſchichte der Univerſitäten noch immer nur
Meiners tüchtige, aber ſehr unvollſtändige Arbeit; Kink, Geſchichte der
Wiener Univerſität. — Cameraliſtiſche Fachbildung ſeit Mitte vorigen Jahr-
hunderts Stein S. 267; theoretiſche Literatur der techniſchen Bildung ſeit
Dingler: Nothwendigkeit der Gründung einer polytechniſchen Akademie 1821.
Vorbild dafür war und blieb Frankreich, obwohl man es nur wenig kannte.
Das Material für Studien bei Stein, Bildungsweſen S. 191—282. Ueber
künſtleriſches Bildungsweſen exiſtiren gar keine Arbeiten. Stein S. 282—286.
— Der Charakter der Berufsbildung in Frankreich iſt ein weſentlich von
dem deutſchen verſchiedener. Der Ausdruck Université bedeutet nicht die Uni-
verſität, ſondern die Geſammtheit des ganzen ſtaatlichen Bildungsweſens, ein-
getheilt in die Instruction primaire (Volksſchule), secondaire (Vorbildungs-
weſen, lycées und gymnases) und supérieure (facultés der einzelnen Fach-
wiſſenſchaften). Eine Univerſität im deutſchen Sinne gibt es in Frankreich
überhaupt nicht. Die wirthſchaftliche Vorbildung als section des sciences mit
der gelehrten als section des lettres in den Lyceen verbunden; die Spitze der
erſteren in der Ecole polytechnique (untergeordnet) und dem Conservatoire
des arts et métiers (höchſte Bildungsanſtalt die „gewerbliche Univerſität.“ Dar-
ſtellung bei Stein, nebſt den Specialſchulen S. 286—318). — Ueber Eng-
lands Berufsbildungsweſen, das in ſeinen Universities und Colleges ganz
den ſtändiſchen Charakter hat, und kein öffentliches Syſtem zu entwickeln ver-
mochte, vergl. V. Huber, Engl. Univerſitäten; Wieſe, Briefe über engliſche
Erziehung 1852; Gneiſt (Verfaſſung der Univerſitäten) Verwaltungsrecht I.
S. 142. Stein S. 319. 331. Gerando, Bienf. publ. über die Origine
des écoles d’industrie in den verſchiedenen Staaten Europas II. S. 524; über
den Plan Pitts zur Organiſirung derſelben und den Zuſtand zwiſchen 1830
und 1840 ebend. S. 552.
Das öffentliche Recht der Berufsbildung entſteht nun da,
wo der Staat durch ſeine Anſtalten die Berufsbildung in Fach- und
Vorbildung einerſeits möglich macht, andererſeits im höchſten Geſammt-
intereſſe die wirklich gewonnene Berufsbildung zur rechtlichen Bedin-
gung für die Ausübung des Berufes erhebt. Aus dem erſten Punkte
entſteht die Lehrordnung mit der Lern- und Lehrfreiheit, und die
Studienordnung; aus dem zweiten das Prüfungsweſen. Beide ſind
[132] jedoch ſehr verſchieden, ſowohl für die Vorbildung, als für die einzel-
nen Berufe andererſeits. Für die erſteren ſind ſie beide nothwendig
und allgemein; für die zweite ſind ſie nur für die gelehrte Fachbildung
ganz durchzuführen, während für die wirthſchaftliche Fachbildung die
Prüfung nur theilweiſe nothwendig, theilweiſe frei, für die künſtleriſche
Bildung dagegen unthunlich iſt. Daher haben einerſeits die Vorbil-
dungsanſtalten, andererſeits die Fachbildungskörper jede ihr eigenes
Rechtsſyſtem, deſſen Elemente ſehr einfach, deſſen Einzelheiten ſehr
mannichfaltig, und deſſen Codifikation in Einem Geſetze weder thunlich
noch auch wünſchenswerth iſt. Die geſetzlichen Beſtimmungen beziehen
ſich daher faſt nur — mit Ausnahme Frankreichs und ſeiner Univer-
sité, die wieder das ganze wirthſchaftliche und künſtleriſche Bildungs-
weſen nicht kennt — auf die einzelnen Anſtalten. Die Einheit
in dieſem großen Ganzen liegt daher in der Aufgabe der Regierung;
die wahre Bedeutung des Miniſteriums des Unterrichts erſcheint erſt
dann, wenn man neben dem Princip der Selbſtändigkeit jedes Lehr-
körpers zugleich die Idee des einheitlichen Berufsbildungsweſens
feſthält. Denn dieſe in jedem Theile feſtzuhalten, iſt eben die wahre
Aufgabe der höchſten Verwaltung des Bildungsweſens.
Der weſentliche Inhalt jener beiden großen Gebiete des öffentlichen
Rechts der Berufsbildung iſt nun folgender.
a) Die Lehrordnung. Das erſte Princip der Lehrordnung
des neunzehnten Jahrhunderts iſt das der Lern- und Lehrfreiheit.
Sie iſt in der That weſentlich negativ. Sie iſt der Grundſatz, daß
nachdem die großen Grundlagen aller Berufsbildung feſtſtehen, die in-
dividuelle Lehrthätigkeit und die individuelle Selbſtbeſtimmung für
die Bildung entſcheidend ſein ſollen. Sie hebt die formelle Ordnung
auf, und ſetzt an ihre Stelle die freie Thätigkeit. Ihre Voraus-
ſetzung aber iſt der Gewinn des feſten wiſſenſchaftlichen Minimums
jeder Berufsbildung; ohne ſie wird ſie zur Ungründlichkeit. Ihre bei-
den praktiſchen Hauptanwendungen ſind einerſeits die freie Zulaſ-
ſung von Vorbildungsanſtalten als Privatunternehmungen, andererſeits
die Freiheit im Uebergang von einem Berufe zum andern. Auf dieſem
Gebiete ſind freilich ſowohl die Grundſätze als ihre organiſche Ausfüh-
rung noch ſehr unklar und im Werden begriffen.
Die Studienordnungen enthalten die gleichmäßigen Vorſchriften
für den Plan und die Disciplin der Studien durch die Schüler, als
Gränzen der Lernfreiheit. Sie ſind naturgemäß für jeden Zweig der
Berufsbildung verſchieden, haben für die Vorbildungsanſtalten den
Charakter von Vorſchriften, für die Fachbildungsanſtalten den Charakter
eines fachmänniſchen Rathes; ihre Handhabung iſt dem Lehrkörper
[133] überlaſſen, während die wirthſchaftliche Verwaltung faſt ganz dem-
ſelben entzogen, und der Regierung übergeben iſt.
b) Das Prüfungsſyſtem wird in dem Maße wichtiger, in
welchem die Lernfreiheit die Strenge der Studienordnung durchbricht.
Es iſt kein Zweifel, daß hier die ſchwierigſte Frage der nächſten Zu-
kunft liegt. Durch die frühere ſtändiſche Geſtalt des gelehrten Unter-
richts hat namentlich Deutſchland große Neigung, auf dieſem Gebiete
überhaupt zu viel zu thun und zu fordern, während England
entſchieden zu wenig thut, und Frankreich die Sache vorwiegend formell
und ziemlich ſyſtemlos behandelt. Nur Deutſchland hat daher ein aus-
gebildetes Prüfungsſyſtem und Prüfungsrecht, das übrigens
hoffentlich einer Neugeſtaltung entgegen gehen wird. Die Grundlage
iſt die Unterſcheidung der drei Kategorien des Prüfungsweſens der
Claſſenprüfung als Bedingung für die Benützung einer beſtimmten
Abtheilung der Berufsbildung, die Berufsprüfung als Beweis der
für den Beruf erforderlichen Minimalbildung, und die Dienſtprüfung
als Bedingung für die Ausübung beſtimmter öffentlicher Berufe. Die
Theorie mangelt faſt ganz; das poſitive Recht iſt ſich über das Claſſen-
prüfungsweſen ziemlich einig, dagegen wenig über Inhalt, Form und
Verhältniß der Berufs- und Dienſtprüfung; die neuere Zeit erkennt
jedoch mehr und mehr, daß es dabei vor allem auf die Organiſirung
der Prüfungsſtellen ankommt. Hier nun waltet noch eine große Ver-
ſchiedenheit in Auffaſſung und Einrichtungen ob; dennoch ſteht es ſchon
jetzt feſt, daß die beiden Bedingungen einer guten Prüfung einerſeits
die Oeffentlichkeit derſelben, andererſeits das Herbeiziehen von
Fachmännern als Examinatoren ſind. Auf dieſen Grundlagen wird
das Prüfungsweſen der Zukunft beruhen.
Auch hier die Erſcheinung, daß die Literatur der einheitlichen Auffaſſung
ermangelt, während ſie über einzelne Punkte in hohem Grade reich, jedoch un-
gleichmäßig entwickelt iſt. Es gibt bisher keinen andern Verſuch als Stein,
Bildungsweſen S. 149 bis Ende. — In Deutſchland hat jedes Gebiet ſeine
eigene Geſetzgebung, und dieſe iſt wieder in den einzelnen Ländern ver-
ſchieden. Ziemlich gleichmäßig geordnet iſt das Gymnaſialweſen. Schmid,
Encyclopädie unter den einzelnen Ländern; Stein S. 212 ff. Realſchul-
weſen ſeit 1817 zuerſt in Preußen als Gewerbeſchulweſen organiſirt, von da
an allmählige Ausbildung bis zur Gegenwart, Stein S. 256 ff. Wirth-
ſchaftliche Fachbildungsordnungen Stein S. 277 ff. Prüfungsweſen:
Zuſammenſtellung Stein S. 170—176. Statiſtik bei Brachelli S. 542.
Die Geſetzgebung Frankreichs; allgemeiner Charakter ebend. 45—52; ſpeciell
S. 295 ff.; Block, Dictionn. v. Instruction.Schmid, Encyclopädie Art.
Frankreich (Bücheler). Beer und Hochſtetter, Fortſchritte des Unterrichts-
weſens. 1867. 1. Bd. Speciell das ſog. „Bifurkationsſyſtem.“ Bücheler a. a. O.
[134]Stein S. 299. Specialanſtalten ebend. S. 307. — In England mangelt
alles allgemeine Recht; jede Berufsbildungsanſtalt beruht theils auf dem alten
rein ſtändiſchen Recht, ſogar mit eigener wirthſchaftlicher Verwaltung, wie die
Universities und die meiſten alten Colleges, theils ſind ſie Vereinsanſtalten
oder Unternehmungen. Recht: GneiſtI. S. 141. Huber, Engl. Univerſi-
täten II. Bd. Stein S. 328 ff.
C. Die allgemeine Bildung.
Weſen und Syſtem derſelben.
Die allgemeine Bildung iſt nun diejenige geiſtige Entwicklung aller
Einzelnen, welche nicht mehr einen beſtimmten Zweck, ſondern die ge-
ſammte geiſtige Entwicklung des Einzelnen zum Inhalt hat. Sie iſt
daher das geiſtige Leben der Gemeinſchaft als ſolches; ſie iſt zugleich
Ergebniß und Grundlage jeder beſonderen Bildung; ſie iſt die geiſtige
Geſittung der Menſchheit, und in ihrer nationalen Geſtalt die höchſte
Individualität jedes Volkes. Aber ihr Lebenselement iſt die Idee der
gleichen und gemeinſamen Beſtimmung aller Menſchen. Es ent-
ſteht daher auch eine allgemeine Bildung in den beiden Geſellſchafts-
ordnungen, welche auf der rechtlichen und ſocialen Ungleichheit der
Menſchen beruhen; allein in der Geſchlechter- und Ständeordnung iſt
ſie nur das natürliche Reſultat der geiſtigen Einzelarbeiten. Das höchſte
Kennzeichen der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft iſt dagegen, daß hier
das Weſen und der Werth der allgemeinen Bildung zuerſt zum Be-
wußtſein kommt, und dann in den höheren Stadien Gegenſtand der
ſelbſtändigen Arbeit der Gemeinſchaft wird. Auch dieſe Arbeit
bleibt nicht bei allgemeinen Thatſachen ſtehen, ſondern nimmt allmählig
bekannte Formen an, die ihrerſeits ſich wieder mit beſtimmten Rechten
umgeben; auf dem Verſtändniß dieſer Formen beruht dann die Wiſſen-
ſchaft der allgemeinen Bildung, als organiſcher Theil des Bildungs-
weſens; und ſo entſteht das, was wir das Syſtem des allgemeinen
Bildungsweſens nennen.
Das Syſtem wird nun von dem Princip beherrſcht, daß jede all-
gemeine Bildung eine freie iſt. Freiheit heißt hier, daß jeder ſich
die allgemeine Bildung ſelbſtthätig aneigne, und daß jeder dafür in
ſeiner Weiſe arbeite. Dieſe Thätigkeit für die allgemeine Bildung,
dieſe Thätigkeit für dieſelbe vertheilt ſich daher an den Organismus des
Lebens, und ſo entſtehen die Grundformen derſelben.
Die Aufgabe des Staates iſt dabei die, die öffentlichen Gefähr-
dungen der Geſittung zu bekämpfen; die Aufgabe der Selbſtverwaltung
und des Vereinsweſens iſt es, die Mittel für dieſelbe herzuſtellen und
[135] zu verwalten; die Aufgabe des Einzelnen, mit ſeiner individuellen Ar-
beit für das Ganze beizutragen. Aus dem erſten Element entſteht die
Sittenpolizei, aus dem zweiten die öffentlichen Bildungsan-
ſtalten, aus dem dritten die Preſſe. Jedes von ihnen hat ſeine
reiche Geſchichte, ſein Recht und ſeine nationale Geſtalt; aber keines
wird von dem andern erſetzt, ſie wirken gemeinſchaftlich und es iſt
viel gewonnen, wenn man ſich dieß lebendige Zuſammenwirken zum
Bewußtſein bringt.
Frühere Auffaſſung als „Culturpolizei,“ der das polizeiliche Element zum
Grunde lag, ohne viel auf die andern Gebiete Rückſicht zu nehmen. Eine
ſyſtematiſche Auffaſſung erſt in Mohls Polizeiwiſſenſchaft. Dagegen fehlt faſt
allenthalben, namentlich im öffentlichen Recht, das Verſtändniß der Preſſe als
Bildungselement (vergl. Stein, Allgemeine Bildung und Preſſe S. 1—15).
Der Begriff der Unſitte iſt ſo alt wie die Geſchichte, aber ihr
Recht iſt ſehr verſchieden. In der Geſchlechterordnung gibt es faſt nur
die geſchlechtliche Unſittlichkeit, die aber ſehr hart beſtraft wird; in der
ſtändiſchen Ordnung entwickelt jede Körperſchaft die eigene Sittenord-
nung und wacht darüber mit Strafen; erſt im Polizeiſtaat entſtehen Be-
griff und Recht der öffentlichen Vergehen gegen die Sittlichkeit, die
zuerſt als Sittenzwang (Unmäßigkeitsſtrafen aller Art) auftreten, und
in der neueſten Zeit durch den Grundſatz beherrſcht werden, daß nicht
das Unſittliche an ſich, ſondern nur die öffentliche Verletzung der
Sitte verboten und ſtrafbar iſt. Das geſetzliche Strafrecht der Un-
ſitte zuerſt im Code Pénal art. 471; von da geht es in die neueren
deutſchen Strafgeſetzgebungen über, bis es ſich in den Polizeiſtraf-
geſetzbüchern wieder ſelbſtändig hinſtellt. Sie ſind daher die Quelle
des Rechts der Sittenpolizei; daneben gelten eine Reihe von Einzel-
beſtimmungen, namentlich über die Fälle der Unzucht, der öffentlichen
Unmäßigkeit (Trunkenheit ꝛc.), der Glücksſpiele, der Feiertage
und endlich der Thierquälerei. Die bisherige Polizeigeſetzgebung
hat dieſe Hauptgebiete nur zum Theil zu verarbeiten vermocht. — Die
Verwaltung der Sittenpolizei iſt meiſt Sache der Selbſtverwaltungs-
körper.
Das geltende Recht der Sittenpolizei ward zuerſt in den „Polizeirechten“
der vorigen Jahrhunderte (Juſti, Berg u. a.) verarbeitet, verflacht ſich in
den „Polizeiwiſſenſchaften“ unſeres Jahrhunderts zu allgemeinen Sätzen, er-
ſcheint dagegen in den Bearbeitungen des Verwaltungsrechts der einzelnen
Staaten (Mohl, Pözl, Stubenrauch, Roller, Jolly u. a.) und wartet wie oben
geſagt, auf eine ſyſtematiſch und von einem höhern Standpunkte aufgefaßte
[136] Polizeigeſetzgebung (vergl. das Syſtem und Material Stein a. a. O. S. 11—27).
Ueber die Sonn- und Feiertagsordnung in Oeſterreich Leonhardt, Verhandl.
des niederöſterr. Gewerbevereins 1867.
Weſen und Bedeutung der Bildungsanſtalten ſind bisher weder in
der Wiſſenſchaft noch in der Praxis zu ihrer wahren Entwicklung ge-
diehen. Allerdings gehören ſie der ſtaatsbürgerlichen Epoche, und ihr
Princip iſt das der freien und unentgeldlichen Benützung zum
Zweck der allgemeinen Bildung. Allein bisher ſind ſie faſt nur noch
vom Staate gegründet und verwaltet; das Verſtändniß ihrer hohen
Bedeutung und ihrer Nothwendigkeit iſt im Volke noch ſehr wenig all-
gemein. Erhebt man ſich zu der Vorſtellung, daß ſie Aufgaben der
Geſammtheit für ſie ſelber enthalten, ſo entſtehen drei große Kategorien
von wirklichen Anſtalten, deren Benutzung eine der wichtigſten Auf-
gaben der Zukunft bilden. Die erſte ſind die Staatsanſtalten
(Muſeen, Sammlungen, große Bibliotheken). Die zweite Kategorie hat
von der Selbſtverwaltung und den Vereinen auszugehen. Es muß die
Zeit kommen, wo jede Gemeinde ihre Volksbibliothek und ihr
Syſtem von populär wiſſenſchaftlichen Vorträgen organiſirt; und
daneben kann drittens das Gebiet ſpecieller Anſtalten, auch Theater,
Leſezimmer u. ſ. w. von einzelnen Unternehmungen ausgehen. Was
bisher in dieſer Beziehung geſchehen iſt, iſt noch ganz unorganiſch und
zufällig. Doch ſcheint die Zeit nicht fern, wo auch dieß Gebiet als
ein integrirender Theil in den Organismus des thätigen Bildungs-
weſens aufgenommen werden wird.
Sowohl in Literatur als Geſetzgebung fehlt jede einheitliche Auffaſſung.
Für die Theater gibt es nur noch Polizei, für Sammlungen und Bibliotheken
nur noch einzelne Ordnungen, für die Errichtung eines zweckmäßigen Syſtems
des Gemeindebibliothekweſens und der öffentlichen Vorträge nur noch Wünſche,
Hoffnungen und zerfahrene einzelne Anfänge. — Ueber die Einzelheiten vergl.
Stein a. a. O. S. 27—44.
Die Preſſe iſt vermöge der Natur des Buchdruckes die Form, in
welcher der Einzelne für Alle arbeitet. Sie vermag es daher, je-
dem Einzelnen auf jedem einzelnen Gebiet die Bildung Aller zu geben.
Sie iſt daher ihrer Natur nach weder in Beziehung auf die Gegen-
ſtände, noch auf die Auffaſſung, noch auf die Perſonen begränzt. Sie
iſt die Verkörperung und thätige Verwirklichung des Geſammtlebens
[137] des Geiſtes. Sie iſt daher eine gewaltige Macht; denn ſie iſt die
Macht des Werdenden und Zukünftigen über das Gegenwärtige.
Eben darum entwickelt ſie ſich mit der höheren Geſittung, und
nimmt alle Formen an, in denen die geiſtige Arbeit zu dem geiſtig
Arbeitenden redet. Dieſe Formen entſtehen mit ihr, daſſelbe und doch
verſchieden. Sie ſind das Buch, die Zeitſchrift, die Flugſchrift
und die Tagespreſſe, an welche ſich die Zeichnung anſchließt.
Jede dieſer Formen wirkt in ihrer Weiſe; keine vermag die andere ganz
zu erſetzen. Aber eben deßhalb haben ſie auch auf Grundlage des ge-
meinſam für ſie geltenden Princips ein beſonderes Recht, das jedoch
erſt mit der Entwicklung der Tagespreſſe ſeine feſte Geſtalt empfängt.
Das Recht nun geht einerſeits aus dem Weſen der Preſſe an ſich
hervor, andererſeits aus der Natur der geſellſchaftlichen und ſtaatlichen
Zuſtände, in denen ſie thätig iſt.
Die Preſſe nämlich erſcheint ſtets zuerſt als eine große und zu-
gleich unbeſtimmte Gewalt eines Einzelnen über Alle, und damit als
eine öffentliche Gefahr. Dieſe Gefahr verſchwindet, wo die Ueber-
zeugungen Aller über Staat und Geſellſchaft in der Hauptſache feſt-
ſtehen; ſie wächst in dem Grade, in welchem die Elemente beider in
Gegenſatz treten. Die Preſſe aber iſt zweitens ein Mittel, um durch
ſie Verbrechen zu verſuchen, oder geradezu zu begehen. Aus dem erſten
Verhältniß geht die Preßpolizei hervor, aus dem zweiten das Preß-
ſtrafrecht.
Es hat nun Jahrhunderte gedauert, bis man ſich über das Ver-
halten beider zu einander klar geworden iſt, wie man erſt nach Jahr-
hunderten über Polizei und Strafrecht überhaupt klar ward. Denn das
Preßrecht hat bis auf die neueſte Zeit den Standpunkt feſtgehalten,
daß das Gefährliche ſtrafbar ſei. Dieſer Gedanke beruhte aller-
dings auf der Thatſache, daß die Preſſe der mächtigſte Hebel für jede
neue Geſellſchafts- und Rechtsbildung und damit an und für ſich
ein Gegner des Beſtehenden wird. Aus dieſer Auffaſſung ſind die großen
Grundformen des Preßrechts hervorgegangen.
Die erſte nennen wir das Prohibitivſyſtem. Sein Princip
iſt, die Gefahren der Preſſe durch die Erlaubniß der Veröffent-
lichung zu beſeitigen. Seine beiden Conſequenzen ſind, daß jede
nicht erlaubte Veröffentlichung an und für ſich ein Vergehen enthalte,
während die erlaubte gegen kein Recht verſtoßen konnte. Der Name
dieſes Syſtems iſt die Cenſur. Ihr Organ iſt in der ſtändiſchen
Epoche die Corporation, in der polizeilichen die Cenſurbehörde. Ihr
Erfolg war von jeher, den Umfang der Wirkſamkeit der Preſſe aller-
dings zu vermindern, die Intenſivität derſelben aber zu erhöhen. Als die
[138] größere Bewegung der Geiſter jene die Beſchränkung des Umfangs
durch die Polizei vernichtet, verſchwindet die Prohibition ganzer Werke,
wie die Cenſur der einzelnen Stellen; ſie ward lächerlich durch ihre
Wirkungsloſigkeit.
Ihr folgt das Repreſſivſyſtem. Das Repreſſivſyſtem beruht
darauf, den Schriftſteller und Verleger zu ihren eigenen Cen-
ſoren zu machen. Die Vorausſetzung für dieſen Zweck iſt, daß jede
Veröffentlichung zugleich als ein wirthſchaftliches Unternehmen erſcheint.
Das Mittel ſeiner Verwirklichung iſt das Recht des Verbotes in
den Händen der Polizei, welches durch den verhinderten Abſatz das
Unternehmen ruinirt. Die Bedingung dafür war die gewerbliche Ge-
nehmigung, ſowohl für Drucker wie für Verleger, und die Stellung
der Caution für die Tagespreſſe. Die Formen waren die Verwar-
nung, die Suſpenſion und das Verbot der Publikation. Der Natur
der Sache nach traf das am meiſten die Tagespreſſe; daher erſcheint
von jetzt an das ganze Preßrecht weſentlich als das Recht der Tages-
preſſe. Allein alle jene Mittel ſind dennoch nicht fähig, weder den
Kampf einer Idee mit dem alten Recht, noch ein Verbrechen durch die
Preſſe zu hindern. Es muß daher neben der Preßpolizei, die im
Obigen liegt, noch ein Preßſtrafrecht geſchaffen werden. So ſcheiden
ſich beide. Jetzt iſt das Objekt der Preßpolizei die gefährliche Macht
der Preſſe, das des Preßſtrafrechts ein durch dieſelbe wirklich unbegan-
genes Verbrechen. Das war einfach. Allein im Kampfe der Rechts-
bildungen in Staat und Geſellſchaft gingen die herrſchenden Elemente
ſo weit, nicht mehr den Inhalt der Druckſache, ſondern die Folge-
rungen, die aus demſelben gezogen werden konnten, für ein Preß-
vergehen zu erklären. Der Ausdruck dieſes Gedankens war der aus
England nach Frankreich, aus Frankreich nach Deutſchland wandernde
Satz, daß „jede Verleitung zu Haß und Verachtung gegen die be-
ſtehende Rechtsordnung“ ſtrafbar ſei. Damit ward thatſächlich der
Unterſchied zwiſchen Polizei und Strafe wieder aufgehoben, und das
geſammte Preßrecht ein Polizeirecht, und ſo formulirte ſich der Wider-
ſpruch, der den eigentlichen Grundgedanken des Repreſſivſyſtems bildet,
und alle Preßfreiheit untergrub, daß nicht mehr der formelle Inhalt,
ſondern daß die „Tendenz als Geiſt der Preſſe,“ das Objekt von
Strafrecht und Polizei zugleich ſein ſolle.
Erſt in der neueſten Zeit bricht ſich nun das wahre Recht der
freien Preſſe Bahn. Seine Grundſätze ſind folgende.
Die Freiheit der Preſſe bedeutet einerſeits die volle gewerbliche
Freiheit des wirthſchaftlichen Unternehmens der Preſſe, andererſeits
den Rechtsgrundſatz, daß die durch geiſtige Arbeit erſt zu gewinnenden
[139]Folgerungen aus dem Wortlaut einer Druckſchrift nie Gegen-
ſtand des Rechts ſind, alſo auch keine Verbrechen enthalten können,
ſondern nur der Wortlaut ſelber. Es gibt daher keine Preßvergehen
mehr, ſondern nur Verbrechen und Vergehen, die auch durch das
Mittel der Preſſe begangen werden können (Verbrechen und Beleidi-
gungen gegen Staat, Kirche, Einzelne).
Die Polizei der Preſſe beſteht neben der Preßfreiheit; ſie hat
aber jetzt nur noch ein doppeltes Gebiet. Einerſeits hat ſie ein
Recht auf diejenigen Maßregeln und Vorſchriften, welche als Bedin-
gung der Entdeckung und Beſtrafung eines durch die Preſſe begangenen
Verbrechens erſcheinen (Angabe des Druckes, Druckortes und Pflicht-
exemplar), andererſeits hat ſie bei drohender Gefahr das Recht der
Beſchlagnahme — der Verhaftung des Gedankens, die ſie, wie die
perſönliche Verhaftung, unter eigener Verantwortlichkeit vor dem Gericht
zu vertreten hat.
Das Recht des Nachdruckes dagegen gehört anerkannt nur dem
Rechte des geiſtigen Eigenthums an.
Kampf gegen die Cenſur ſchon im vorigen Jahrhundert (Juſti, Polizei-
weſen IX. 110; Hoffmann, Geſchichte der Cenſur 1819; Phillips, Kirchen-
recht VI. 324; Stein S. 100—103). Im neunzehnten Jahrhundert beginnt
derſelbe mit Gentz, Sendſchreiben an Friedrich Wilhelm III. 1797; Fortſetzung
ſeit 1816. R(ühle v.) L(ilienſtern), Studien zur Orientirung 1820. Dagegen
Ancillon und Gentz (bei Rühle v. L.), einzelne Arbeiten bis 1830; Stein
S. 85. Kampf des deutſchen Bundes gegen die Preßfreiheit und für die Cenſur;
Forderung nach Aufhebung Welker, Die vollkommene und ganze Preßfreiheit
1830: Juriſtiſche Verſchmelzung von Preßpolizei und Strafrecht: Löffler, Ge-
ſetzgebung der Preſſe 1837; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft III. 126. — Erſter
Verſuch der Preßfreiheit: 1848. Erlaß der einzelnen Preßgeſetze: Aufhebung
der Cenſur, aber faſt allenthalben ſyſtematiſche Durchführung des Repreſſiv-
ſyſtems: Preußen (Geſetz vom 12. Mai 1851). Oeſterreich (Geſetz vom
13. März 1849) und Repreſſivgeſetz vom 27. Mai 1852. Bayern (Geſetz vom
17. März 1850). Sachſen (Geſetz vom 14. März 1851). Württemberg
(Geſetz vom 26. Aug. 1849). Baden (Geſetz vom 16. Febr. 1851). Dann
der Bundesbeſchluß von 1854, als Formulirung des Repreſſivſyſtems.
Gegenwärtiges Recht: unfertige Entwicklung. Oeſterreichs freie Geſetz-
gebung von 1862. In den übrigen Staaten keine neue Geſetzgebung; daher
hier Mangel an Einheit.
England. Ueber die falſchen Vorſtellungen von Englands Preßfreiheit
Stein S. 124 ff.; das Repreſſivſyſtem gilt ſtrenge bis 1848 (vergl.
Lorbeer, Engl. Preßgeſetzgebung). Die Fox-Libel Bill. 32. Georg. III. 60)!
Polizei und Strafrecht noch verſchmolzen, die Tendenz wird als ſtrafbar an-
erkannt! Quelle des deutſchen Bundesbeſchluſſes von 1854. Campbells
Libel Bill 7. Vict. 96. (1843) erſter Verſuch, das Preßſtrafrecht (diffam [...]
[140] tory words) von der Preßgeſetzgebung zu ſcheiden. GneiſtI. 195. Erſt durch
11. Vict. 12 (1848) wird das Recht die Tendenz zu verfolgen, aufgehoben;
die Preßpolizei bleibt im Weſentlichen beſtehen; ſo iſt die engliſche Preſſe jetzt
auch formell eine freie.
Frankreich dagegen führt ſchon durch Conſtitution von 1791 das Re-
preſſivſyſtem mit ſtrenger Polizei durch; die „Tendenz“ „l’esprit d’un journal
résultant d’une succession d’articles“ ſelbſtändig als ſtrafbar anerkannt (Loi
des tendances 17. März 1822); aufgehoben 1828; definitive Aufhebung der
Cenſur: Charte 1830; darauf Repreſſivgeſetz vom 6. Febr. 1834. Nach der
Freiheit unter der Revolution wieder noch ſtrengere Herſtellung deſſelben ſeit
dem Geſetz vom 18. Juli 1850, hauptſächlich durch Decret organique vom
17. Febr. 1852; Verwarnung, Suſpenſion und Unterdrückung bloß als mésure
de sureté (Batbie, Droit publique I. 45. Mousset, N. Code annoté
de la Presse). Literatur: Mohl, Literatur deutſcher Staatswiſſenſchaft III.
S. 177. Stein S. 133—139. Ebendaſ. über Holland, Belgien, Italien
und Schweden.
Zweiter Theil.
Die Verwaltung und das wirthſchaftliche Leben.
Begriff und Weſen.
Das zweite große Gebiet des Lebens iſt die wirthſchaftliche Welt,
die Erfüllung des natürlichen Daſeins mit der Arbeit und den Zwecken
der Perſönlichkeit und die organiſche Herrſchaft der Menſchen über die
Natur. Die Grundbegriffe, welche hier erſcheinen, und die Geſetze,
nach denen dieß geſchieht, bilden die Volkswirthſchaftslehre. Die
Volkswirthſchaftslehre aber zeigt uns, daß auch hier der Einzelne durch
ſeine eigne Kraft ſeine Beſtimmung nicht zu erfüllen vermag. Auf allen
Punkten bedarf er der Herſtellung der Bedingungen, welche die Vor-
ausſetzung ſeiner individuellen wirthſchaftlichen Entwicklung ſind. Um
dieſe zu erreichen, muß er zuerſt dem Staate in der Form von Steuern
die wirthſchaftlichen Mittel dazu bieten. Der Staat wird dadurch
wieder zunächſt ein wirthſchaftlicher Körper, und ſo entſteht der Begriff
und Inhalt der Staatswirthſchaft, in welcher der Staat für ſich
als wirthſchaftende Perſönlichkeit auftritt mit Einnahmen, Ausgaben
und Reproduktion, wie der Einzelne. Indem nun der Staat die ihm
auf dieſe Weiſe hauptſächlich durch die Steuern zur Verfügung geſtellten
Mittel wirklich verwendet, um jene Bedingungen der wirthſchaftlichen
Entwicklung jedes Einzelnen herzuſtellen, ohne welche die letztere nicht
[141] möglich iſt, entſteht die Volkswirthſchaftspflege als dasjenige
große Gebiet der inneren Verwaltung, deſſen Aufgabe die Entwicklung
und Vollendung der Volkswirthſchaft durch die organiſirte Thätigkeit
der Gemeinſchaft für diejenigen materiellen Vorausſetzungen iſt, ohne
welche der Einzelne ſeine wirthſchaftliche Beſtimmung nicht erreichen
kann. Wir nennen ſie deßhalb die wirthſchaftliche Verwaltung.
Die hohe Bedeutung dieſer wirthſchaftlichen Verwaltung liegt zu-
nächſt in der Gewalt, welche Beſitz und Arbeit über das perſönliche
Leben haben, und deren Ausdruck der Satz iſt, daß die wirthſchaft-
liche Unabhängigkeit den Körper der Freiheit und die
Grundlage alles Fortſchrittes bildet. Die organiſche Lehre
der Nationalökonomie zeigt aber anderſeits, daß die Bedingung des
Erwerbes des Einen ſtets die Fähigkeit des Andern iſt gleichfalls zu
erwerben; indem die Verwaltung daher für jeden Einzelnen ſorgt, ſorgt
ſie zugleich für alle; ſo wird dieſe wirthſchaftliche Verwaltung die orga-
niſche Verwirklichung der Idee der Harmonie der Intereſſen,
und mit ihr erſcheint daher die Verkörperung der großen, die Zukunft
beherrſchenden Wahrheit, daß die Harmonie das Intereſſe, die
Verwirklichung alles Fortſchrittes und aller Freiheit ent-
hält. Erſt von dieſem höchſten Standpunkte entfaltet ſich die Volks-
wirthſchaftspflege zu ihrer ganzen Bedeutung für das Leben der Menſch-
heit, und ihr Inhalt wird auch in ſeinen einzelnſten, materiellſten
Theilen zu einer der großartigſten Aufgaben der Wiſſenſchaft.
Die geſchichtliche Entwicklung derſelben.
Eben deßhalb iſt die Grundlage der geſchichtlichen Entwicklung der
wirthſchaftlichen Verwaltung das allmälige Entſtehen des Verſtändniſſes
dieſer Idee derſelben, der freien und gleichen Beſtimmung aller wirth-
ſchaftlichen Bewegung. Die Geſchlechterordnung entbehrt darum der-
ſelben ganz. Die ſtändiſche Ordnung löst ihr wirthſchaftliches Leben
in die Sonderintereſſen der einzelnen Stände und ihrer Körperſchaften
und in den auch wirthſchaftlichen Kampf derſelben untereinander auf.
Erſt mit dem Siege der Staatsidee entſteht der Gedanke und der Ver-
ſuch einer wirthſchaftlichen Verwaltung.
Dieſe ſelbſt entfaltet ſich nun aus ihrer urſprünglichen Einfachheit
nur allmälig zu einer, das geſammte Leben mit vollem Bewußtſein
ihrer Aufgabe umfaſſenden Thätigkeit. Den Ausdruck der Standpunkte,
welche die Verwaltung nach einander ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert
einnimmt, bilden zunächſt die drei ſogenannten Schulen der National-
ökonomie, die in der That weſentlich Principien und Syſteme der
[142] wirthſchaftlichen Verwaltung enthalten. Das Merkantilſyſtem ſucht
die Zukunft und Vollendung aller Volkswirthſchaft in dem Erwerb durch
den internationalen Verkehr, und erſchöpft ſich damit in den Principien
des Schutzſyſtems für den Handel nach Außen und der Staatsunter-
ſtützung nach Innen. Das phyſiokratiſche Syſtem erkennt die
Aufgabe der Verwaltung in der Hebung der Urproduktion, und fordert
daher die großen Elemente desjenigen, was wir die Landwirth-
ſchaftspflege nennen. Das ſogenannte Induſtrieſyſtem endlich er-
kennt in der Arbeit die Quelle alles Wohlſtandes, und fordert von der
Verwaltung im Namen derſelben die Freiheit des Handels und
der Gewerbe. So entſtehen die großen Principien der wirthſchaft-
lichen Verwaltung, aber zu einem Syſteme wird ſie nicht, weil ſie nur
Eine Seite des Ganzen umfaßt. Unterdeſſen entwickelt ſich in Deutſch-
land theoretiſch das Syſtem des Eudämonismus, deſſen Princip
die allgemeine Förderung des Volkswohlſtandes iſt, praktiſch die Ver-
waltung der Regalien, aus der die Cameralwiſſenſchaft entſteht.
Beide unterſcheiden ſich von dem obigen Syſteme dadurch, daß ſie das
geſammte Gebiet der Volkswirthſchaftspflege umfaſſen; ſie ſind aber
mit ihnen darin wieder gleich, daß auch ſie die Volkswirthſchaftslehre
von der Volkswirthſchaftspflege nicht zu ſcheiden, und daher keinen feſten
Begriff der letzteren zu finden vermögen. Dieſe Unklarheit ſetzt ſich bis
zu unſrer Zeit fort, indem theils Staats- und Volkswirthſchaftspflege
in der „Staatswirthſchaftslehre“ verſchmolzen bleiben (Lotz), theils die
Verſchmelzung mit der reinen Nationalökonomie fortgeſetzt wird (Roſcher),
während in der Polizeiwiſſenſchaft (Mohl) der Eudämonismus eine
inhaltsleere Exiſtenz fortſetzt. Die volle Scheidung der Volkswirthſchafts-
pflege von der Nationalökonomie (Rau) iſt dem gegenüber ein großer
Fortſchritt, hat aber den Begriff der Verwaltung wieder feſtgehalten.
So iſt es die Aufgabe unſerer Zeit, die wirthſchaftliche Verwaltung
als organiſchen Theil des Ganzen, und zugleich als einen ſelbſtändigen
Organismus aufzufaſſen und zu entwickeln.
Es gibt noch keine Geſchichte der inneren Berwaltung. Mohl, Literatur
der Staatswiſſenſchaft hat ſich hier ausſchließlich auf das Recht der vollziehen-
den Gewalt beſchränkt; die Geſchichte der Nationalökonomie von Kantz u. A.
halten die Verſchmelzung feſt. Die in der Polizeiwiſſenſchaft (Mohl, Pötzl)
gegebenen Anfänge ſind unentwickelt geblieben (vergl. Stein, wirthſchaftliche
Verwaltung S. 1—61).
Die Elemente des Syſtems und des Organismus derſelben.
Das Syſtem der wirthſchaftlichen Verwaltung beruht nun darauf,
daß die Verwaltung daſſelbe von ihrem Gegenſtand empfängt. Das
[143] Syſtem derſelben iſt daher die organiſche Einheit derjenigen Lebens-
verhältniſſe, in denen die Bedingungen der wirthſchaftlichen Entwicklung
nicht mehr durch Kraft und Thätigkeit der Einzelnen erreichbar ſind,
ſondern durch die Geſetzgebung und Vollziehung des Staats gegeben
werden müſſen. Die Elemente dieſes Syſtems ſind der Allgemeine
Theil, der die für alle einzelnen Zweige des wirthſchaftlichen Lebens
gleichmäßig nothwendigen Bedingungen enthält, und der beſondere
Theil, der ſich auf die Arten der Unternehmungen bezieht. Jeder dieſer
Theile hat wieder ſein eigenes reiches Syſtem und bildet ein Ganzes für
ſich, das mit dem Geſammtgebiet nur ſeine innere wirthſchaftliche Ver-
bindung gemein hat.
Das Gebiet ſelbſt iſt nun ſo reich in Umfang und Inhalt, daß
der für die Volkswirthſchaftspflege thätige Organismus nicht etwa bloß
die Regierung umfaßt, wo dieſelbe theils dem Miniſterium des Innern,
theils dem des Handels und des Ackerbaues, theils dem der öffentlichen
Arbeiten unterſteht; im Gegentheil ſind faſt auf jedem Punkte deſſelben
alle drei Organismen, Regierung, Selbſtverwaltung und Vereinsweſen
gleichmäßig thätig. Während nun im vorigen Jahrhunderte die ganze
Volkswirthſchaftspflege grundſätzlich und beinahe auch faktiſch nur in
den Händen der Regierung lag (Volkswirthſchaftspflege als Theil der
„Polizeiwiſſenſchaft“) iſt es der Charakter unſerer Zeit, mehr und mehr
die freie Verwaltung für dieſelbe eintreten zu laſſen. Namentlich breitet
ſich das Vereinsweſen mit jedem Jahre mehr aus, nicht ſo ſehr da-
durch, daß es die Thätigkeit der Regierung übernimmt, ſondern dadurch,
daß es für die Volkswirthſchaftspflege ganz neue Bahnen bricht, und
damit Aufgaben der Thätigkeiten der Geſammtheit für die volkswirth-
ſchaftliche Entwicklung eröffnet, von denen die frühere Zeit eben deßhalb
gar keine Ahnung hatte, weil eben die Regierung ihrem Weſen nach
außer Stand war, für dieſelben zu ſorgen. In der That iſt es das
lebendige Vereinsweſen, durch welches die Volkswirthſchaftspflege unſrer
Zeit eine ſo weſentlich andere Geſtalt empfängt, als die der frühern.
Und zwar nicht bloß dem Umfang nach. Sondern das Vereinsweſen
bedeutet vielmehr die Entwicklung der freien Volkswirthſchaftspflege,
in der vermöge der Vereine das in ihnen lebendige Geſammt-
intereſſe für das Einzelintereſſe thätig wird, und umgekehrt;
es iſt daher die Verwirklichung des großen Princips der Harmonie der
wirthſchaftlichen Intereſſen durch das freie Verſtändniß des Einzelnen
ſelbſtthätig geworden. Wir ſtehen noch in der Kindheit dieſer Bewe-
gungen. Es fehlt uns ſogar das erſte poſitive Element der Beurthei-
lung, die rationelle Statiſtik des wirthſchaftlichen Vereinsweſens vom
Standpunkt der freien wirthſchaftlichen Verwaltung. Wir müſſen uns
[144] hier daher noch mit Andeutungen begnügen. Erſt wenn man Regie-
rung und Verein als Organ derſelben Idee erkennen wird, wird man
in beiden und ihrer Wechſelwirkung das Bild der für ſich ſelbſt thätigen
Gemeinſchaft der Intereſſen gewinnen.
Allgemeiner Theil.
Elemente des Syſtems.
Der allgemeine Theil der wirthſchaftlichen Verwaltung enthält
ſeinem formalen Begriffe nach die Geſammtheit derjenigen Thätigkeiten,
welche ſich auf die allen Arten von Unternehmungen gemeinſamen Be-
dingungen beziehen. Seinem Inhalte nach iſt er der bei weitem rich-
tigſte, da gerade hier die Kraft des Einzelnen am wenigſten ausreicht.
In ſeinen Elementen iſt er daher von jeher dageweſen; ſo wenig es
einen Staat ganz ohne Verfaſſung gibt, ſo wenig gibt es einen ſolchen
ganz ohne allgemeine wirthſchaftliche Verwaltung. Seine Entwicklung
beginnt mit dem Königthum und ſeinem Sieg über die ſtändiſche Ge-
ſellſchaft; ſeine Vollendung aber kann erſt durch die freie Entwicklung
des Vereinsweſens gegeben werden. Sein Syſtem endlich beruht auf
den großen Elementen alles Lebens, dem perſönlichen, dem natürlichen
und dem wirthſchaftlichen Element. Auf das erſte bezieht ſich die
Entwährung, auf das zweite die Verwaltung der Elemente, auf
das dritte die Verwaltung des Verkehrsweſens unter den Einzelnen.
Der Reichthum dieſer Gebiete, deren jedes wieder ſein Syſtem und
ſeine Geſchichte hat, iſt ſo groß, daß derſelbe wohl nie von einem
Einzelnen ganz erfaßt, geſchweige denn in Geſchichte und Geſetzgebung
vollſtändig bewältigt werden wird.
Erſtes Gebiet. Die Entwährung.
Weſen und Syſtem.
Die Entwährung entſteht da, wo die Aufhebung eines beſtimmten
einzelnen Rechts als unabweisbare Bedingung der allgemeinen Ent-
wicklung der Geſammtheit erſcheint, und als ſolche vom Staate aner-
kannt iſt. Bedürfniß und Inhalt einer ſolchen allgemeinen Entwicklung
aber entſtehen ihrerſeits aus der Bewegung der Geſellſchaftsordnungen.
Jede Entwährung iſt daher eine Forderung des geſellſchaftlichen Fort-
ſchrittes an den Einzelnen; der Staat erzeugt keine Entwährung, ſon-
dern ordnet und vollzieht ſie nur; jede Entwährung iſt daher ihrem
Weſen nach ein geſellſchaftlicher Proceß und ihr Recht ein geſell-
ſchaftliches Recht, beide durch die Verwaltung des Staats geordnet.
[145] Und dadurch, daß der Staat dieß thut, entſteht das Rechtsſyſtem der
Entwährung.
Denn das Weſen der Unverletzlichkeit der Perſönlichkeit erſcheint
darin, daß nie das ganze Recht Gegenſtand der Entwährung ſein kann;
ſondern nur dasjenige, welches ſich die Gemeinſchaft ohne die Entwäh-
rung überhaupt nicht zu verſchaffen im Stande iſt. Das nun iſt immer
nur das natürliche Element, die Sache, nie das perſönliche, der Werth.
Das Rechtsprincip aller Entwährung iſt daher die Rückſtellung des
Werthes der Sache an den Entwährten, das iſt die Entſchädi-
gung. Eine geſellſchaftliche Gewaltthat iſt eben nichts anderes, als
eine Entwährung ohne Entſchädigung. Dieſe nun erſcheint in der
ganzen Weltgeſchichte ſtets da, wo ſich ausſchließlich die geſellſchaftlichen
Claſſen gegenüber ſtehen. Erſt wo der Staat im Königthum erſcheint,
erſcheint auch das Princip der Entſchädigung und damit ein Recht der
Entwährung. Das Syſtem dieſes Rechts wird dann gebildet durch
die Grundſätze, nach denen die Verwaltung des Staats bei der Ent-
währung zu verfahren hat. Erſt mit dieſem Rechtsſyſtem tritt das
verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht an die Stelle der geſellſchaftlichen
Gewaltthaten, welche die ganze alte Geſchichte des Volkslebens erfüllen.
Der geſellſchaftliche Lebensproceß Europas iſt nun zuerſt die Ent-
faltung der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung mit ihren Principien
der Freiheit und Gleichheit, auch des wirthſchaftlichen Lebens aus der
Geſchlechter- und Ständeordnung; dann die Entwicklung der Thatſache
und der Gewalt der Geſammtintereſſen gegenüber dem Einzelrecht. Aus
dem erſten Theile entſtehen die Entlaſtungen, welche mit dem völ-
ligen Siege der freien Geſellſchaft abſchließen, und daher als hiſtoriſche
Erſcheinung gelten müſſen; aus dem zweiten die Enteignung, welche
der freien Geſellſchaftsbildung angehören, daher erſt in unſerm Jahr-
hundert auftreten, und den dauernden Inhalt des Entwährungsrechts
bilden. Deßhalb hat man auch bisher in der Wiſſenſchaft nur die
letzteren beachtet. Die größte Frage der wirthſchaftlichen und damit der
geſellſchaftlichen Zukunft Europas liegt aber in dem Ende dieſes Pro-
ceſſes, deſſen eigentliche Bedeutung uns erſt durch die ſociale Auf-
faſſung des Enteignungsrechts erſchloſſen wird. Das Staatsnoth-
recht endlich iſt nur die zeitweilige Enteignung des Gebrauches einer
Sache und hat daher keine ſociale, ſondern nur eine adminiſtrative
Berechtigung.
I. Die Entlaſtungen.
Die Entlaſtungen gehen aus der Thatſache hervor, daß ſowohl das
Geſchlechter- als das Ständeweſen die unfreie Ordnung des Grund-
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 10
[146]beſitzes erzeugen, welche vermöge der geſellſchaftlichen Rechtsbildung
den Charakter eines Privatrechts annehmen. Ihre Aufgabe iſt es,
durch die Entwährung dieſes Privatrechts die Freiheit des Grundbeſitzes
herzuſtellen, und damit die Principien der ſtaatsbürgerlichen Geſell-
ſchaft für ländliche Selbſtverwaltung und Landwirthſchaft zur Geltung
zu bringen.
Sie theilen ſich daher in zwei große Gebiete. Das erſte iſt das
der Grundentlaſtungen, das auf der Grundherrlichkeit beruht; das
zweite das der Gemeinheitstheilungen, das mit dem Eigenthums-
verhältniß der alten Geſchlechterdörfer zu thun hat. Die Aufhebung
der unfreien Arbeit gehört allerdings demſelben hiſtoriſchen Proceß,
aber nicht der Entwährung und zwar deßhalb nicht, weil bei ihnen
keine Entſchädigung vorkommt, da kein wirthſchaftlicher Werth des auf-
gehobenen Vorrechts nachgewieſen werden kann. Die Aufhebung der
Bann- und Realrechte bildet daher den Uebergang von der Befreiung der
gewerblichen Arbeit durch die Gewerbefreiheit zu den Grundentlaſtungen.
1) Die Grundentlaſtungen umfaſſen daher eine mehr als zwei-
hundertjährige Arbeit der Geſchichte theils auf dem Gebiete der Wiſſen-
ſchaft, theils auf dem der Geſetzgebung, theils auf dem der Verwaltung.
In der erſten Epoche derſelben handelt es ſich um die Aufhebung der
Leibeigenſchaft, in der zweiten um die Regulirung der Frohnden und
Zehnten, in der dritten, der eigentlichen Periode der Grundentlaſtung,
um die volle Entwährung derſelben. Die Wiſſenſchaft hat in dieſem
Proceſſe das Princip der Freiheit, ihre höhere Nothwendigkeit und
ihren wirthſchaftlichen Werth, die Geſetzgebung die rechtliche Ordnung
der Entwährung und die Verwaltung die Umgeſtaltung der Grund-
herrlichkeit in amtliche und Selbſtverwaltung der Gemeinde zu vertreten.
Natürlich gehen dieſe Verhältniſſe vielfach durcheinander. Doch kann
man im Allgemeinen ſagen, daß das achtzehnte Jahrhundert die Noth-
wendigkeit der Befreiung des Bauernſtandes zu erkennen beginnt, die
erſte Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit derſelben anfängt und
erſt die zweite Hälfte ſie auf Grundlage der Entwährung zum Princip
des öffentlichen Rechts gemacht hat. Die Epoche derſelben iſt daher
im Großen und Ganzen als abgeſchloſſen zu betrachten.
2) Die Gemeinheitstheilungen und Ablöſungen haben
dagegen einen ganz andern Charakter. Sie erſcheinen von Anfang an
nicht als ein ſocialer Proceß, ſondern als eine volkswirthſchaftliche
Maßregel, da das Gemeindegut (Almend, Hutweide ꝛc.) ſo wenig als
die Weide- und Holzſervituten den Ausdruck der Herrſchaft einer Claſſe
über die andere enthalten. Daher iſt auch ihre Geſchichte eine ganz
andere. Während ſie im achtzehnten Jahrhundert im Namen der Volks-
[147] wirthſchaft zum Theil polizeilich erzwungen wurden, werden ſie mit dem
Beginne des neunzehnten ſchon großentheils der freien Wahl der Be-
theiligten überlaſſen, und in neueſter Zeit hat ſich der Charakter des
Verhältniſſes ganz umgeſtaltet, indem die Gemeinweide zum Gemeinde-
eigenthum erklärt wird, während ſie früher nur Eigenthum der
Bauern in der Gemeinde war und ihre Benützung faſt ausſchließlich
von dem Viehſtande abhing. Hier erſcheint die Entwährung der Alt-
berechtigten daher als Uebergang aus dem Geſchlechter-Eigenthum in
die Gemeindeverwaltung und damit eröffnet ſich eine ganz neue Geſtalt
dieſer Verhältniſſe. Die Ablöſung der Grunddienſtbarkeiten dagegen
behielt, obwohl auch die letzteren faſt ausnahmslos aus dem Gemein-
gut der Geſchlechterordnung herſtammen, ihren ſtreng volkswirthſchaft-
lichen Charakter und iſt natürlich in Schätzung und Entſchädigung je
nach der Natur der Dienſtbarkeiten in Feld und Wald principiell und
örtlich ſehr verſchieden. Auch hier iſt daher ein Abſchluß theils ſchon
gemacht, theils bevorſtehend, ſo weit überhaupt das Princip der Ent-
währung Platz greift.
Die Geſchichte der Entlaſtungen als Theil der neueren Geſchichte der euro-
päiſchen Völker und Staaten bis auf die neueſte Zeit durchgeführt bei Stein,
Entwährung (Verwaltungslehre Bd. VII.). Vergl. dazu vorzüglich Sugen-
heim, Geſchichte der Aufhebung der Leibeigenſchaft. Nachweiſung, daß bei
großer Verſchiedenheit im Einzelnen die Haupterſcheinungen und Epochen des
Entlaſtungsweſens in allen Staaten Europas dieſelben ſind.
Englands früheres feodal system und die feudale Gutsherrlichkeit.
Herſtellung des bürgerlichen Eigenthums aller Grundbeſitzer durch Stat. 12.
Ch. II. 24. Dann Beginn der eigentlichen Entlaſtungen mit 6. 7. Will. IV.
71; Durchführung mit 4. 5. Vict. 35 (1844) und 9. 10. Vict. 73 (1849).
Stein S. 108—140. — Die engliſchen Gemeinheitstheilungen, das alte manor
oder waste of the Lord (Gemeingründe); feſte Verkoppelungen ſeit dem vori-
gen Jahrhundert; die Enclosures (Thaer, Engl. Landwirthſch. III. S. 333 ff.);
die Enclosure Act 8. 9. Vict. 118 (1848) und ihre Erfolge: Stein S. 269 f.
Frankreich. Frühere Zuſtände (Stein, Franz. Rechtsgeſchichte Bd. III.).
Das entſcheidende und erſte Geſetz über die Grundentlaſtung Decret vom
4. Auguſt 1789, mit Anerkennung des Princips der Entſchädigung; Durch-
führungsgeſetz vom 25. Auguſt 1792 und 17. Juli 1793; gänzliche Störung
des Entlaſtungsproceſſes durch die Emigration und die Kriege; die Milliarde
der Emigrirten als nachträgliche Grundentlaſtung: Stein, Entwährung
S. 146—150. — Die Gemeinheitstheilung Frankreichs; ſchon ſeit der
früheren Zeit Gemeindeeigenthum an der Gemeinweide; ſeit der Revolution
Durchführung dieſes Princips durch das Syſtem der Parcellarverpachtung der-
ſelben, der Allottements; die alten Weide- und Walddienſtbarkeiten in ihrer
gegenwärtigen Geſtalt: Hauptgeſetz das Code Rural vom 28. Sept. 1791.
Stein S. 272 ff.
[148]
Deutſchlands Entlaſtungsgeſchichte; der theoretiſche Kampf um das
dominium eminens, das Recht der Grundherren, der Bauern, ihrer Hörigkeit
und ihrer Frohnden und Zehnten mit dem achtzehnten Jahrhundert. (Stein
S. 150—178.) Die wirkliche Entlaſtung des neunzehnten Jahrhunderts, ihr
Sieg ſeit 1848 und ihre Geſtalt in Preußen: zwar Aufhebung der Patrimo-
nialjurisdiktion (Verordnung vom 2. Jan. 1849) und Zuläſſigkeit der Ab-
löſungen und definitiven Entlaſtungen; aber zur grundſätzlichen Befreiung
des Bauernſtandes hat ſich Preußen nicht erheben können (Rönne, Staats-
recht I. 53; Laſſalle, Erworbene Rechte I. 133: Judeich, Grundentlaſtung
S. 48, 49. In den übrigen deutſchen Staaten ſehr verſchieden; in den meiſten
bis 1848 wenig geſchehen; Geſetzgebung und Regierung überließen die Sache
ſich ſelbſt; erſt mit dem Jahr 1848 durchgreifende Entlaſtung, indem faſt
allenthalben die bisherige freiwillige Ablöſung zur Pflicht gemacht, von den
Behörden durchgeführt und durch Rentenbanken die Entſchädigung ermöglicht
wird; jedoch ſteht Deutſchland vermöge vieler Ausnahmen noch immer weſent-
lich hinter Frankreich zurück; daher ein großer Theil der geiſtigen
Suprematie des franzöſiſchen Volkes. Nur in Oeſterreich iſt das Princip der
Entlaſtung gründlich und vollſtändig durchgeführt: Patent vom 7. Sept. 1848;
Ausführung durch Patent von 1850 und 1851. Vergl. über die einzelnen
Geſetze beſonders Judeich, Grundentlaſtung; Stein S. 192—234) — Die
Gemeinheitstheilungen der polizeilichen Epoche (Stein S. 280—285). Die
preußiſche Theilungsordnung von 1821; der neuere Standpunkt des Gemeinde-
eigenthums (ebend. S. 285—292); Ablöſungen und ihr Syſtem nebſt der
großen Verſchiedenheit in den einzelnen Territorien (Stein S. 234—253).
II. Die Enteignung.
Während nun die Entlaſtungen den Sieg der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft gegenüber der Geſchlechter- und Ständeordnungen begleiten
und vollziehen, erſcheint die Enteignung innerhalb der erſteren als Er-
füllung ihres Princips gegenüber dem einzelnen Privatrecht. Sie tritt
da auf, wo ein Einzelrecht die Lebensbedingung der freien Geſellſchaft,
die allgemeine Freiheit in Erwerb und Verkehr aufhebt oder hemmt.
Das allgemeine Princip derſelben iſt daher ſchon im ſiebenzehnten Jahr-
hundert anerkannt; im achtzehnten Jahrhundert wird es im polizeilichen
Verordnungswege für einzelne beſtimmte Betriebe — Waſſer-, Berg-,
Waldinduſtrie — in Anwendung gebracht; im neunzehnten Jahrhundert
wird es als ein Theil des öffentlichen Rechts anerkannt, und damit
entſteht das verfaſſungsmäßige Enteignungsrecht („Expropriation“ nach
dem erſten ſyſtematiſchen Enteignungsgeſetz von Frankreich 1841).
Von da an wird es ein organiſcher Theil der Wiſſenſchaft und empfängt
ſein Syſtem und ſeine Jurisprudenz.
Das Enteignungsrecht zerfällt daher in zwei Theile.
[149]
Zuerſt muß die Aufhebung des Eigenthums als nothwendige
Bedingung der öffentlichen Verkehrs- und Betriebsfreiheit von der Re-
gierung anerkannt werden. Die Formen, in denen dieß geſchieht,
bilden das eigentliche Enteignungsverfahren. Daſſelbe beginnt mit
der Genehmigung des Enteignungsplanes, als deren Vorausſetzung je
nach Umſtänden die Genehmigung der Unternehmung ſelbſt voraufgehen
muß, wie bei Eiſenbahnen, und enthält die genaue Bezeichnung der
Objekte der Enteignung auf Grundlage der Erklärung, daß die Ent-
eignung ſelbſt ein öffentliches Bedürfniß (cause d’utilité publique) ſei.
Das Entſchädigungsverfahren hat dann die Aufgabe, dem Ent-
eigneten den Werth des enteigneten Gutes zu beſtimmen und zurück-
zugeben. Daſſelbe beginnt mit der Schätzung, welche gleich nach der
Genehmigung eintreten kann; wenn auf dieſe Weiſe die letztere das
Objekt und die erſtere den Werth der Enteignung feſtgeſtellt hat, ſo
tritt der Enteignungsſpruch ein, der auf Grundlage beider den
rechtlichen Uebergang des Eigenthums und die Zahlungspflicht ausſpricht
und den immer das Gericht erlaſſen ſollte; hier herrſcht namentlich
in der deutſchen Geſetzgebung noch viel Unklarheit. Den Schluß bildet
dann die Einweiſung in den Beſitz, bedingt durch die wirkliche Aus-
zahlung, für welche nicht das privatrechtliche Zahlungsrecht, ſondern
das behördliche Auszahlungsverfahren eintritt und haftet.
Ueber die Anklänge im Röm. Recht ſehr gut G. Meyer, Recht der Ex-
propriation 1868. Früheres deutſches Recht: Stein S. 301—303. (Verhält-
niß zum Dominium und Jus eminens.) Zuſammenfaſſung dieſer Anfänge in
der franzöſiſchen Decl. des droits art. 17. Von da übergegangen in der
Form eines allgemeinen Grundſatzes in die neueſten deutſchen Verfaſſungen
(Stein S. 314). Die eigentliche Entwicklung aber findet die Enteignung erſt
durch das Eiſenbahnweſen; daraus geht zunächſt das franzöſiſche Expro-
priationsgeſetz von 1841 hervor, das der übrigen europäiſchen Geſetzgebung
zum Grunde liegt (Stein S. 312, 313). Deutſchland gelangt zu einer
eigenen und ſelbſtändigen Geſetzgebung nicht; bis auf die letzte Zeit vielfache
Verwechslung mit dem Nothverordnungs- und Staatsnothrecht (Biſchof in
Linde’s Archiv III. 3). Die Anwendung auf Eiſenbahnweſen am beſten bei Koch,
Deutſchlands Eiſenbahnen I. S. 8—133. Eigene Literatur im Grunde ganz
neu: Thiel, das Expropriationsrecht und Expropriationsverfahren 1866 und
G. Meyer (ſ. oben). Einzelne Andeutungen ohne Entwicklung in den Ver-
waltungsrechten Stein S. 318, ſo wie einzelne Abhandlungen ebend. S. 317.
Wendt, Expropriationscodex (Nürnberg nur bis 1837). Das engliſche
Recht hat die Expropriation gleichfalls erſt bei Gelegenheit der Bahnbauten
geſetzlich, und zwar in allem Weſentlichen nach den franzöſiſchen Principien
geordnet in der Lands Clauses Act Vict. 18. (1845); Stein S. 309—312.
[150]
III. Das Staatsnothrecht.
Das Staatsnothrecht — wohl zu unterſcheiden von der Noth-
verordnung — tritt da ein, wo aus irgend einem plötzlich eintretenden
und vorübergehenden Grunde der Staat den vorübergehenden Gebrauch
eines Beſitzes in Anſpruch nimmt, oder den Einzelnen zu einer nicht
dauernden Leiſtung zwingen muß. Es unterſcheidet ſich von der Ent-
eignung dadurch, daß es ſich dabei zuerſt nur um das Eigenthum
handelt, und daß zweitens die einfache Verfügung der Behörde daſ-
ſelbe eintreten laſſen kann, während das Entſchädigungsverfahren erſt
ſpäter folgt, wenn es nicht von kurzer Hand abgemacht wird. Die
Hauptanwendung iſt das militäriſche Nothrecht des Krieges; für den
friedlichen Dienſt ſollte es geſetzlich geordnet ſein; es kann auch in
andern Fällen (Waſſer-, Feuersnoth ꝛc.) eintreten und iſt daher weſent-
lich anderer Natur als die Entlaſtungen und Enteignungen. So wie
aber eine dauernde Entziehung des Gebrauches erforderlich wird, ſoll
ſtatt deſſelben die Enteignung mit ihren Grundſätzen eintreten.
Ueber die unklare Stellung deſſelben, Verhältniß zum alten Jus eminens und
Verwechslung mit dem Nothverordnungsrecht Stein, Entwährung S. 342—344.
Zweites Gebiet. Die Verwaltung und die Elemente.
Begriff und Weſen.
Das ganze phyſiſche und wirthſchaftliche Leben des Menſchen iſt
ein beſtändiger Kampf mit den elementaren Kräften. Allerdings ge-
horchen ſie dem Verſtändigen und Thätigen; allein theils werden ſie
eine übermächtige Gefahr, wenn ſie ihre wirthſchaftlichen Gränzen durch-
brechen, theils ſind ſie in Kraft und Macht zu umfaſſend, als daß der
Einzelne ſie ganz dienſtbar machen könnte, theils endlich kann auch die
größte Vorſicht ſie nicht ganz bändigen; ſie greifen vernichtend in das
Einzelleben hinein und der Schaden, den ſie bringen, wird zu einer
regelmäßigen Erſcheinung im wirthſchaftlichen Leben. Hier muß daher
die Kraft der menſchlichen Gemeinſchaft der Kraft der Natur entgegen-
geſtellt werden. Dieſelbe erſcheint zunächſt als Polizei derſelben, ſpeciell
in der Feuerpolizei; dann als rechtliche Ordnung ihrer Benutzung
im Waſſerrecht und endlich als Organiſirung des Erſatzes für den
Elementarſchaden in der Schadenverſicherung. Die Geſammtheit
dieſer Thätigkeiten der Verwaltung gegenüber den Elementen nennen
wir die Elementar-Verwaltung; ſie iſt die Verwaltung im Kampfe
mit dem natürlichen Daſein, ſeinen Kräften und ſeinen Bewegungen.
Es liegt nun in der Natur der Sache, daß der Organismus
dieſer Verwaltung ſtets zuerſt ein rein örtlicher iſt und daher anfangs
[151] ganz unter die Selbſtverwaltung fällt. Erſt mit der Entwicklung des
Verkehrs tritt die Erkenntniß ein, daß die techniſchen Bedingungen jener
Verwaltung allenthalben weſentlich eben ſo gleichartige ſind, wie das
Intereſſe an der Thätigkeit der letzteren. Aus dem erſten dieſer
Momente geht dann eine für jeden Theil der Verwaltung geltende
allgemeine Geſetzgebung, aus dem zweiten das Auftreten des Ver-
einsweſens hervor, welches in mehr als Einer Geſtalt helfend ein-
greift. Und ſo entſteht ein Syſtem der Elementar-Verwaltung, das
freilich zu einer formellen Einheit unfähig iſt, wohl aber in ſeinen drei
Grundformen denſelben Gedanken verwirklicht und damit ein weſent-
liches Gebiet der wirthſchaftlichen Verwaltung bildet.
Das Waſſer- und Feuerweſen ſchon ſeit dem vorigen Jahrhundert in jedes
Polizeirecht aufgenommen, jedoch nur vom Standpunkt der Polizei. Der Be-
griff einer Verwaltung fehlt. Vergl. etwa Berg, Polizeirecht Theil III. Haupt-
ſtück 8. I. (ſehr reich an Angaben aus der Feuerpolizei des vorigen Jahrhunderts).
Jacoby, Polizeiwiſſenſchaft §. 137; Lotz, Staatswirthſchaft II. §. 102, Mohl
(Polizeiwiſſenſchaft Buch III. Cap. 2) iſt der erſte, der nach Bergs Vorgange
das Verſicherungsweſen auch mit dem Waſſerſchaden in Verbindung bringt.
I. Die Feuerpolizei.
Die Feuerpolizei umfaßt die Geſammtheit von Thätigkeiten der
Gemeinſchaft, um den Ausbruch von Feuer zu verhüten und das aus-
gebrochene zu löſchen. — Der Gedanke, daß die Gemeinſchaft dieſe
Pflicht habe, entſteht erſt da, wo das Feuer für Dritte gefährlich
wird. Er tritt daher ſtets erſt in den Städten auf, entwickelt ſich mit
der Dichtigkeit der Bevölkerung und wird erſt im ſiebenzehnten Jahr-
hundert ein ſelbſtändiger Gegenſtand der Geſetzgebung und Verwaltung
und der daraus entſtehenden allgemeinen Feuerordnungen. Der erſte
und natürliche Inhalt derſelben iſt dann die Sorge gegen den Aus-
bruch des Feuers, namentlich auch die Bauordnung und die Ordnung
der Löſchung; erſt im achtzehnten Jahrhundert tritt die Rettung der
bedrohten Güter hinzu; im neunzehnten, bei wachſender Höhe und
Dichtigkeit der Wohnungen auch das Rettungsſyſtem für Menſchen.
Während nun alle dieſe Vorſchriften noch den Schutz in die Hände der
Verwaltung legen, fügt das jetzt entſtehende Syſtem der Verſicherungen
das ſubjektive Moment des Einzelintereſſes hinzu, indem es einerſeits
die Niedrigkeit der Prämie von der Sicherheit des Baues abhängig,
andererſeits die Agenten der Verſicherungsgeſellſchaften zu den natür-
lichen Vertretern der Löſch- und Rettungsanſtalten macht oder doch
machen ſollte. So iſt allmählig ein Syſtem des öffentlichen Feuer-
[152] weſens entſtanden, deſſen Grundlage zunächſt ein allgemeines (Landes-)
Geſetz, deſſen Vollziehung vorzugsweiſe der Selbſtverwaltungskörper
der Landſchaft und Gemeinde iſt, dem das Vereinsweſen theils im
Löſchweſen, theils im Verſicherungsweſen zur Seite tritt. Dabei bleibt
ihm aber ſein vorzugsweiſe lokaler Charakter, indem ſeine örtliche Aus-
bildung ſtets in geradem Verhältniß zur Dichtigkeit der Bevölkerung,
zum Theil auch zur Ausbildung feuergefährlicher Gewerbe ſteht.
Das Beſte über das Feuerweſen und die alten Feuerpolizeiordnungen ſeit
dem ſiebzehnten Jahrhundert: Juſti, Polizeiweſen I. §. 247 ff. „Anſtalten
wider die Feuersbrünſte“ Sonnenfels, Handlung V. 229. Berg, Polizei-
recht Theil III. S. 21 ff. — Die Literatur des vorigen Jahrhunderts war
ziemlich reich, aber faſt ausſchließlich techniſch; das neunzehnte Jahrhundert
hat wenig in dieſer Beziehung hervorgebracht. Vergl. Berg a. a. O. und dazu
MohlIII. 2. — Die Geſetzgebung der neueſten Zeit hat ziemlich allenthalben
den Standpunkt feſtgehalten, den Landſchaften die Geſetze und die Oberauſſicht,
den Gemeinden die Vollziehung zu überlaſſen (vergl. ſchon in dieſem Sinne
Berg S. 20; Rönne, Preuß. Staatsrecht II. §. 365; Preuß. Allgem. Land-
recht II. 7. 13. §. 37. Württemb. Löſchordnung von 1808. §. 57 f.). Der
Mangel einer guten Organiſirung liegt daher nicht im Princip, ſondern in der
Selbſtthätigkeit der Gemeinde. Grundſatz ſollte ſein: Löſchanſtalten von der
Gemeinde herzuſtellen, mit Pflicht zur Stellung von Pferden; häusliche
Löſchanſtalten: Pflicht des Eigenthümers; dann Bildung von freien Löſchcorps
mit ſelbſtgewähltem Vorſtand, unter Verbindung mit den Turnvereinen; da-
gegen Oberaufſicht über die Löſchanſtalten durch die Landſchaft, ſowie Vor-
ſchriften über die gegenſeitige Gemeindehülfe. Dagegen muß in großen Städten
das Feuerweſen ein ſelbſtändiger Verwaltungszweig unter dem Magiſtrate ſein.
Die Polizei des Feuers hat zwei Hauptgebiete. Das erſte iſt das
der Verhütung der Feuersbrunſt. Sie beginnt mit der Polizei feuer-
gefährlicher Gegenſtände, geht dann über zur Feuerpolizei in den
Bauordnungen, ſo weit dieſelben die Feuerſtellen und Rauchfänge ꝛc.
betreffen, und wird bei der Entwicklung der Gewerbe zugleich zur Feuer-
polizei des Betriebes derſelben. Die Vorſchriften darüber ſind all-
gemein; die Ueberwachung iſt Sache der Gemeinde; das Recht dieſer
Polizei iſt dann ein, meiſt — freilich nicht allenthalben — geſetzlich
beſtimmtes Bußrecht.
Der zweite Theil iſt das Löſchweſen. Das Löſchweſen enthält
zwei Theile. Der erſte betrifft die Löſchanſtalten. Dieſe ſcheiden
ſich in die öffentlichen Löſchanſtalten (Spritzen ꝛc.) und in die privaten
(Eimer, Waſſervorrath ꝛc.). Das Minimum derſelben iſt geſetzlich vor-
geſchrieben oder ſollte es ſein; die Oberaufſicht über dieſelben iſt amtlich
[153] oder ſollte es ſein. — Der zweite iſt die Löſchordnung. Dieſe
iſt nun ſtets in zwei Theile getrennt. Der erſte iſt die eigentliche
Löſchordnung, die Ordnung der Thätigkeit beim Löſchen. Dieſe ent-
hält wieder die öffentliche Feuerwache, mit der Organiſation der
Löſchmannſchaft, die wiederum in großen Städten ein eigenes Corps
bildet, während in kleinen Orten an ihre Stelle die bürgerliche „Feuer-
wehr“ tritt, welche in neueſter Zeit höchſt zweckmäßig durch die Turner-
vereine erſetzt wird; und die Löſchpolizei, welche die öffentliche
(Straßen-) Ordnung beim Löſchen enthält. — Den zweiten Theil bildet
das Rettungsweſen, das durch die große Entwicklung der Städte
zu einer ſelbſtändigen Technik ausgebildet worden iſt und Großes leiſtet.
Hätten wir eine tüchtige adminiſtrative Statiſtik, ſo würde es möglich
ſein, die Ergebniſſe dieſer Ordnungen im Verhältniß zur Dichtigkeit
der Bevölkerung zu conſtatiren und dadurch ein Maß für ihren Werth
zu bekommen.
Urſprung aller Feuerordnungen in den alten Stadtrechten, ſchon im
dreizehnten Jahrhundert, wenn auch nur noch in Beziehung auf die Elemente
der Feuerpolizei. Das Löſchweſen gehört hauptſächlich dem achtzehnten Jahr-
hundert an. Feuerordnung für Berlin von 1727 bei JuſtiI. 247 ff. ſchon
als Muſter aufgeſtellt. Die Feuerordnungen des vorigen Jahrhunderts ent-
halten daher ſchon alle weſentlichen Punkte dieſes Syſtems: vergl. Berg a. a. O.
und Mohl ebend. Preußen: Landesfeuerordnungen ſeit 1720 bei Rönne,
Staatsrecht II. 365. — Oeſterreich: Landesfeuerlöſchordnungen ſeit 1782
(Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 257). — Württemberg: die
Stuttgarter Feuerordnung von 1703 wird zur allgemeinen Landesfeuerordnung
im achtzehnten Jahrhundert (Mohl, Württemb. Verwaltungsrecht I. §. 253).
Neueſte ausführliche Feuerlöſchordnung vom 20. Mai 1808 und Feuerpolizei-
ordnung vom April 1808. Genau bei Roller, Württemb. Polizeirecht §. 352—405.
Uebrigens iſt die Feuerordnung von Breslau 1630 (ſelbſt ſchon Reviſion)
wieder das Muſter der Berliner. — Bayern: Pötzl, Verwaltungsrecht §. 125.
(Locale Entwicklung).
Die Literatur des vorigen Jahrhunderts ſchon bei Berg; dann bei
Mohl; ſie iſt ihrer Natur nach faſt ausſchließlich techniſch. Ueber Frankreich:
Geſetz vom 24. Aug. 1790, welches die ganze Feuerordnung unter den amt-
lichen Maire ſtellt; ſpecielle Entwicklung in den großen Städten (vergl. Block,
Dict. v. Incendie und Sappeurs-Pompiers.
England: Neueſte Feuerpolizei: 24. 25. Vict. 130 (1861) Auſtria 1864 p. 41.
II. Das Waſſerrecht.
Das Waſſerrecht beruht in Begriff und Inhalt darauf, daß das
Waſſer für das Geſammtleben eine doppelte Natur hat. Es iſt erſtlich
[154] fähig, Gegenſtand des Privateigenthums zu ſein. Es hat aber zweitens
vermöge ſeiner Natur die Beſtimmung, als ein allgemeines Element
des geſammten perſönlichen und wirthſchaftlichen Lebens zu dienen.
Daraus entſtehen die beiden naturgemäßen großen Theile der Bildung
des Waſſerrechts, die wir demnach das Privatrecht und das öffent-
liche Recht des Waſſers nennen. Das letztere beruht darauf, daß
das Waſſer in allen Formen als Bedingung der perſönlichen und wirth-
ſchaftlichen Entwicklung Gegenſtand der Verwaltung und daß ſein
öffentliches Recht daher unbedingt ein Theil des Verwaltungsrechts iſt.
Und die Geſammtheit derjenigen Beſtimmungen, Anſtalten und Thätig-
keiten, vermöge deren die Verhältniſſe des Waſſers in der Weiſe im
allgemeinen Intereſſe geordnet werden, daß daſſelbe alle Bedin-
gungen der Entwicklung des phyſiſchen und wirthſchaft-
lichen Lebens eines Volkes erfüllt, welche zu erfüllen
es fähig iſt, nennen wir das Waſſerweſen.
So einfach nun auch dieſe Begriffe an ſich ſind, ſo iſt es dennoch
die Aufgabe von Jahrhunderten geweſen, die erſte Vorausſetzung alles
Waſſerverwaltungsrechts, die Gränze zwiſchen dem Privat- und öffent-
lichen Recht des Waſſers feſtzuſtellen. Der Kampf zwiſchen beiden bildet
die Geſchichte des Waſſerrechts. Erſt nachdem derſelbe nach den heftig-
ſten Bewegungen beendet iſt, iſt das heutige Syſtem in ſeinen Grund-
lagen, wenn auch noch nicht in ſeiner Form, dafür anerkannt worden.
Die Geſchichte des Waſſerrechts muß demnach vom höheren Stand-
punkt aufgefaßt werden als derjenige Proceß, durch welchen die Idee des
volkswirthſchaftlichen Waſſerweſens ſich gegenüber dem (bürgerlichen),
privaten und ſtändiſchen Waſſerrecht und ſeinen Waſſerordnungen Gel-
tung verſchafft.
Ein Waſſerweſen kann überhaupt erſt da entſtehen, wo das wirth-
ſchaftliche Leben des Volkes Zuſtände und Unternehmungen entwickelt,
für welche Gebrauch und Verwendung des Waſſers zu unabweisbaren
Bedingungen werden, ſo weit es ſich nicht um örtlichen Waſſerſchutz
handelt. So lange das nicht der Fall iſt, erſcheint das Waſſer im
Rechtsleben eines Volkes überhaupt nicht. Es entwickelt ſich deßhalb
ſtets erſt da, wo das Privateigenthum an Waſſer mit dem öffentlichen
Gebrauch deſſelben in Gegenſatz tritt. Sein erſter und naturgemäßer
Inhalt iſt deßhalb ſtets die Beſtimmung der Gränze zwiſchen dem
Privat- und öffentlichen Waſſer, ſeine erſte Aufgabe, den Gebrauch des
als öffentlich anerkannten Waſſers vor den Eingriffen der Einzelnen
zu ſchützen (Waſſerrecht und Waſſerpolizei). Dieß iſt der Standpunkt
[155] des römiſchen Rechts. Der leitende Gedanke deſſelben iſt dabei, daß
das Waſſer, wenn es nicht ausdrücklich als öffentlich anerkannt iſt,
Acceſſorium des Grundes und Bodens ſei. Mit dieſem Princip tritt
es in die germaniſche Rechtsbildung. Hier traf es zuſammen mit dem
Princip der Grundherrlichkeit einerſeits und der Lehenshoheit anderer-
ſeits. Aus dem erſten entwickelt ſich der Gedanke, daß auch das
fließende Waſſer Eigenthum des Grundherrn ſei, ſo weit ſein Grund-
beſitz reicht; aus dem zweiten der Grundſatz, daß auch dieſes Recht
unter der Hoheit des oberſten Lehnsherrn ſtehe, dem vermöge ſeiner
Lehnshoheit daher alles fließende Waſſer, auch die Flüſſe, Ströme,
ja die Meere unterſtehen. Das erſte erzeugt dann das grundherr-
liche (germaniſche) Waſſerrecht, deſſen Princip es iſt, den an ſich öffent-
lichen Gebrauch des fließenden Waſſers zum Privateigenthum der herr-
ſchaftlichen Grundbeſitzer des Ufers zu machen. Das zweite erzeugt
dagegen den Gedanken des Waſſer-Regals, der hier wie immer
zuerſt das bloße Obereigenthum bedeutet, aber mit dem ſechzehnten und
ſiebenzehnten Jahrhundert ſich zu der Idee erhebt, daß der König oder
die „Krone“ vermöge dieſes Regals nicht bloß den Rechtstitel, ſondern
auch die Pflicht habe, das Waſſerweſen im öffentlichen Intereſſe durch
ſeine Beſtimmungen zu ordnen. So entſtehen jetzt drei Richtungen;
die erſte behandelt das Waſſer als Eigenthum (römiſches Recht), die
zweite als grundherrliches Recht (deutſches Privatrecht), die dritte als
öffentliches Recht (Waſſerregal als „Hoheit“ im jus publicum), die
ſich gegenſeitig kreuzen und verwirren. Daraus ergibt ſich denn ſchon
im ſiebenzehnten Jahrhundert das Bedürfniß, dieſen Zuſtand durch
ein einheitliches Waſſergeſetz zu ordnen. Den erſten Verſuch macht
Frankreich, dem im achtzehnten Jahrhundert mehrere deutſche Staaten
folgen. Allein eine feſte Ordnung entſteht nicht, und zwar deßhalb
nicht, weil dieſe Waſſergeſetzgebungen das Princip des grundherrlichen
Waſſerrechts beſtehen laſſen und dadurch ihr Hauptobjekt, gerade die
kleinen fließenden Gewäſſer, verlieren, die nach wie vor mit ihrem an
ſich öffentlichen Gebrauch Gegenſtand des Privateigenthums und Privat-
rechts bleiben. Auch in unſerem Jahrhundert bleibt man lange Zeit in
Geſetzgebung und Wiſſenſchaft bei dieſem Standpunkt und all ſeiner Ver-
wirrung ſtehen, welche er in Auffaſſung und Folgerung mit ſich bringt.
Erſt in dem letzten Jahrzehent tritt das wahre Verſtändniß ein, welches
als Grundlage des Waſſerweſens der Zukunft anerkannt werden muß
und deſſen Inhalt ſich in drei Punkten zuſammenfaſſen läßt.
Es gibt nicht bloß ein Privateigenthum am Waſſer, ſondern es
kann auch ein hiſtoriſch erworbenes Privatrecht an dem öffentlichen
Gebrauch deſſelben geben. Das iſt das Waſſerrecht.
[156]
Die Verwaltung hat dagegen die Aufgabe, das Waſſerweſen in
jeder Rückſicht ſo zu ordnen, daß das Waſſer alle Bedingungen der
allgemeinen Entwicklung erfüllt, zu denen es vermöge ſeiner Natur
fähig iſt. Das iſt die Waſſerverwaltung.
Tritt zwiſchen dieſem Princip der Verwaltung und dem obigen
des Privatrechts ein Widerſpruch ein, ſo hat die Verwaltung das letz-
tere wie jedes andere Privateigenthum zu entwähren. Das iſt die
Enteignung des Waſſerrechts.
Die Anwendung dieſer Grundſätze auf das Waſſerweſen ergibt
nun das folgende Syſtem.
Den Ausgangspunkt für Wiſſenſchaft und Geſetzgebung des Waſſerweſens
bildet die Ordonnance des Eaux et forêts von 1699, welche zuerſt die Grenze
zwiſchen dem hiſtoriſchen Waſſerrecht der Grundherrlichkeit und dem neuen Recht
der Verwaltung des Waſſers zum ſyſtematiſchen Ausdruck bringt, und bereits
alle Punkte enthält, welche das ganze Waſſerweſen des ſiebzehnten und acht-
zehnten Jahrhunderts bilden. Sie formulirte den die Geſchichte des letztern
beherrſchenden Gegenſatz zwiſchen dem grundherrlichen und öffentlichen Waſſer-
recht in der Beſtimmung desjenigen, was zum „domaine de la Couronne“
und was zur „justice seigneuriale“ gehört, und bildet dafür die dauernde
Grundlage bis zur Revolution. In Deutſchland kam es zu keiner ſelbſtändigen
Geſetzgebung, da es keine einheitliche Staatsgewalt gab, welche der Idee der
Waſſerverwaltung gegenüber dem hiſtoriſchen Rechte ihren Ausdruck zu geben
vermochte. Die Literatur beſchränkte ſich daher darauf, das beſtehende Recht
in drei Formen zu verfolgen — die reinen Grundbegriffe des Waſſerrechts in
der Interpretation der betreffenden Titel der Digeſten, die örtlichen Gerechtſame
der Grundherrlichkeit in den verſchiedenen Bearbeitungen des deutſchen Privat-
rechts, und endlich das ſtaatliche Verwaltungsrecht und ſeinen Inhalt in der
Lehre vom Waſſerregal. Erſte Hauptbearbeitung: A. Fritſch, Jus fluviati-
cum, 1672; letzte und gründlichſte Cancrin, Abhandlungen vom Waſſerrecht
1789—1800. 4. Bde. Vom Regal zur Idee des Verwaltungsrechts gelangt man
jedoch noch nicht, vergl. Berg, Polizeirecht III. S. 76 ff. Quellen und Ueber-
ſicht der Geſchichte des Waſſerregals nebſt Literatur ſ. Mittermaier, deutſches
Privatrecht I. 222. Auch die Geſetzgebung kommt nicht weiter. Die öſterreichi-
ſche Strompolizeiordnung von 1770 iſt eigentlich eine Schifffahrtsord-
nung für die Donau; an dieſelbe ſchließen ſich bis auf die jüngſte Zeit eine
Reihe von Strompolizeiordnungen für die einzelnen Ströme (bei Stubenrauch
I. §. 224), erſt in den neueſten Beſtrebungen für eine einheitliche Waſſergeſetz-
gebung. Ueberdieß beginnt namentlich die preußiſche Geſetzgebung ſchon neben
dem Deichrecht auch die eigentliche Waſſerverwaltung, Ent- und Bewäſſerung
zu ordnen. Erſtes Edict 1704; folgende bei Nieberding, Waſſerrecht und
Waſſerpolizei im preuß. Staate 1866. S. 10 ff. Doch bleibeu dieſe Beſtim-
mungen localer Natur. Erſt in unſerem Jahrhundert beginnt ein allgemeines
Verſtändniß. Beginn: die franzöſiſche Verbindung des Waſſerrechts mit der
[157] Landwirthſchaftspflege: Decret vom 28. Sept. 1791 (Code Rurale): Laferrière,
Droit adm. I. 1. 5; das Verwaltungsrecht iſt hier ſchon entſchieden dem Privat-
recht untergeordnet. Preuß. Allgem. Landrecht, Theil I. 8; folgende Ver-
ordnung dieſes Jahrhunderts bei Nieberding, Anhang. Unterdeſſen aber
halten ſowohl das römiſche Recht als das deutſche Privatrecht an dem Privat-
eigenthum feſt, und jetzt beginnen ſich die Begriffe zu verwirren, da ſie nun-
mehr durch die neue Bewegung der Geſetzgebung in engſte Berührung geſetzt
werden. Die Nothwendigkeit einer neuen Auffaſſung des ganzen Gebietes wird
klar, und die geſetzlichen Beſtimmungen treten in raſcher Folge in allen deut-
ſchen Staaten auf und ſo entſtehen die Elemente des Syſtems des Waſſerrechts
unſerer Gegenwart, in denen Deutſchland entſchieden ſowohl England als Frank-
reich voraus iſt.
Um zu einem durchgreifenden Begriff des Privatwaſſerrechts zu
kommen, muß man die Unterſcheidung des Waſſers als begränzte
Subſtanz und des Waſſers als bewegende Kraft oder des fließen-
den Waſſers zum Grunde legen. Alles Waſſer kann in beiden Be-
ziehungen Gegenſtand des Privateigenthums ſein; nur hat das letztere
in beiden Fällen einen weſentlich verſchiedenen Inhalt.
Die Bedingung dafür, daß das Waſſer ſeiner Subſtanz nach
Privateigenthum ſei, iſt die, daß es ein begränztes und damit be-
ſtimmtes Quantum bilde. Daher ſind von dieſem Eigenthum aus-
geſchloſſen nicht bloß die Meere und Seen, ſondern auch das fließende
Waſſer. Iſt aber eine beſtimmte Waſſermenge eine Sache und damit
ein Eigenthum, ſo folgt, daß auf daſſelbe ganz einfach alle Grundſätze
des Eigenthums angewendet werden. Es gibt für daſſelbe Erwerb und
Verluſt, Beſitz und Tradition, Servituten, Pfandrecht, Verjährung
und die Grundſätze der Culpa, des Schadens und Schadenerſatzes ganz
nach der lex Aquilia. Das Syſtem dieſer Anwendung des Privat-
rechts auf das Waſſer bildet dann das Syſtem des Waſſereigen-
thumsrechts. Und hier wie im ganzen Eigenthumsrecht iſt es das
römiſche Recht, welches die Quelle dieſes Rechtsſyſtems zu bilden hat.
Wo aber ein fließendes Waſſer vorhanden iſt, da iſt durch die
Natur deſſelben das Eigenthum an der Subſtanz ausgeſchloſſen.
Das Objekt des Rechts iſt bei fließendem Waſſer nur der Gebrauch
deſſelben. Dieſer Gebrauch iſt ferner naturgemäß nicht ein Recht eines
Einzelnen, ſondern das Recht kann ſich immer nur auf einen beſtimm-
ten und begränzten Gebrauch beziehen. Es iſt kein Zweifel, daß ein
ſolcher Gebrauch auch von einem Einzelnen erworben werden und als
Eigenthum deſſelben angeſehen werden kann. Iſt das der Fall, ſo ge-
hört ein ſolcher Gebrauch zu den unbeweglichen Gütern, und es iſt
[158] durchaus rationell, denſelben mit dem Grundſtück, dem er angehört,
auch in die Grundbücher eintragen zu laſſen und ihm damit das
Recht des Grundbuchs in Beziehung auf Eigenthum und Beſitz zu
geben. Die Natur dieſes Gebrauches bringt es dann mit ſich, daß er
ſelbſt den bereits von einem Andern erworbenen Gebrauch an demſelben
Waſſer nicht ſtöre und ausſchließe. Iſt er aber erworben, ſo gilt für
ihn wie für jedes erworbene Recht der Grundſatz, daß wenn das öffent-
liche Intereſſe eine Aufhebung jenes Rechts fordert, dafür die Enteig-
nung nach den allgemeinen Grundſätzen einzutreten hat. An das
Eigenthum und das Grundbuch des fließenden Waſſers ſchließt ſich
daher das Princip der Waſſerenteignung. Alle dieſe Sätze ſcheinen
klar zu ſein.
Fraglich wird das Syſtem des Privatwaſſerrechts nur da, wo
das fließende Waſſer der Art iſt, um neben dem Einzelgebrauch auch
einen öffentlichen Gebrauch zuzulaſſen. Offenbar iſt ein jedes Waſſer,
welches für alle einen Gebrauch zuläßt, ſeiner Natur nach unfähig,
ein Privateigenthum zu werden. Das iſt der Begriff des flumen publi-
cum des römiſchen Rechts, den die germaniſche Rechtsbildung dahin
beſtimmte, daß die ſchiff- und flößbaren Waſſer öffentliches Eigen-
thum ſeien und als ſolche dem öffentlichen Waſſerrecht unterſtehen.
Dieſer an ſich einfache Satz wird nun durch das Princip der Grund-
herrlichkeit gebrochen, indem dieſelbe aus dem Obereigenthum an dem
ganzen Ufer das Eigenthumsrecht auch an dem öffentlichen Gebrauche
des Waſſers ableitete. Das iſt das Rechtsprincip des grundherr-
lichen Waſſerrechts, deſſen Inhalt und Entwicklung dann das deutſche
Privatrecht gegeben hat.
Die Geſchichte des Waſſerrechts zeigt nun den Kampf und Sieg
der Idee des öffentlichen Intereſſes mit dieſem grundherrlichen Waſſer-
recht zuerſt in der Idee des Waſſerregals, und dann in der ſeit
dem ſiebenzehnten Jahrhundert entſtehenden Waſſergeſetzgebung.
Der ſchließliche Inhalt dieſer Bewegung iſt der Uebergang aller eigent-
lich grundherrlichen Waſſerrechte an die Verwaltung. Auf dieſe Weiſe
haben ſich mit dem neunzehnten Jahrhundert die beiden Kategorien des
Privat- und des öffentlichen Waſſerrechts der Sache nach feſtgeſtellt,
wenn auch in der theoretiſchen Form namentlich dadurch viel Unſicher-
heit hineingekommen iſt, daß entweder das römiſche Recht mit ſeinen
Begriffen, die es höchſtens bis zur Waſſerpolizei bringen, für die ganze
Lehre vom Waſſerrecht zum Grunde gelegt, oder das deutſche Privat-
recht, das nur hiſtoriſche Rechtsbildungen kennt, als einfacher und
unerkannter Gegenſatz des römiſchen Rechts angenommen wurde. So
wie aber die Verwaltungslehre ihren Platz findet, ſo ergibt ſich ſofort,
[159] daß weder das eine noch das andere dieſer Rechte fähig und beſtimmt
iſt, das ganze Waſſerrecht zu beherrſchen, ſondern daß man ſie, will
man nicht alle Begriffe verwirren, auf die beiden Fragen nach dem
Eigenthum an Subſtanz und begränztem Gebrauch des Waſſers be-
ſchränken muß, während das zweite große Gebiet, das öffentliche Waſſer-
recht, einzig und allein der Verwaltungslehre angehört.
Die Geſchichte der Literatur des Waſſerrechts von dieſem Standpunkt —
dem Verſuche ſich von der ungenügenden privatrechtlichen Theorie des römiſchen
und deutſchen Rechts loszumachen, ohne daß man doch zu einem feſten Reſultate
gelangt wäre, ſind ſehr intereſſant und einer eigenen Darſtellung werth. Vergl.
darüber Mittermaier, deutſches Privatrecht I. §. 222 nebſt Literatur; in
neuer Zeit namentlich die ſchöne Arbeit von Ubbelohde a. a. O. Schenk,
die Waſſerrechtsfrage 1860 und Stein, die Waſſerrechtslehre, in Haimerls
Magazin Bd. XVIII. H. 2. In der Literatur Frankreichs iſt der Streit dem
deutſchen ganz gleich: ſchon Pothier (Traité de la propriété 1784;
Proudhon, Domaine public III. 947; Championnière, Eaux courants;
Laferrière, Droit administr. L. I. P. I. T. VI. p. 703) ſagt ſchon ſehr gut:
„l’usage est un démembrement de la propriété et par conséquent il suppose
la propriété.“ — Die Polizeiwiſſenſchaft läßt die Frage ganz beiſeite. Da-
gegen die Enteignung ſtets richtig behandelt im Sachſen-Altenb. Geſetz I. III.
Begriff und Weſen.
Das öffentliche Waſſerrecht beginnt demnach da, wo der Gebrauch
eines Waſſers vermöge ſeiner Natur nicht mehr durch die Subſtanz
begränzt, ſondern ein allgemeiner iſt. Hier tritt die höhere Natur des
Waſſers ein; es wird aus einem Gegenſtand des Privatrechts ein Ge-
genſtand der inneren Verwaltung, und das leitende Princip dieſes
Rechts iſt, diejenigen Ordnungen zu treffen, vermöge deren das Waſſer
der Geſammtheit alle die Dienſte leiſtet, welche zu leiſten es fähig
und beſtimmt iſt.
Das öffentliche Waſſerrecht empfängt nun ſein Syſtem dadurch,
daß eben jedes der Grundverhältniſſe, in denen es dem allgemeinen
Bedürfniſſe entgegenkommt, ſelbſtändiger Gegenſtand einer eigenen Ver-
waltungsthätigkeit und damit Rechtsbildung wird. Daſſelbe iſt daher
nicht ein abſtraktes Syſtem der Theorie, ſondern ein praktiſches des
wirklichen Lebens. Seine Gebiete ſind der Waſſerſchutz, und die recht-
liche Ordnung des Waſſerweſens für die Geſundheit, die Verkehrs-,
die gewerblichen und die landwirthſchaftlichen Zwecke. Die Waſſer-
polizei iſt der Schutz gegen die Störungen dieſer Ordnungen auf
jedem Punkte und daher kein eigenthümliches Gebiet. Der Geſichts-
[160] punkt für die Behandlung dieſer Fragen darf aber nicht der des Privat-
rechts, ſondern muß der des öffentlichen Intereſſes ſein. Erſt das
neunzehnte Jahrhundert hat nun dieſen Grundſatz durchgehend aner-
kannt, und ſo ſind die Ausführungen deſſelben, die Waſſergeſetz-
gebungen entſtanden, die mit mehr oder weniger Klarheit und Ein-
heit die Codifikationen des Waſſerrechts unſerer Gegenwart bilden, und
deren Inhalt ſich demgemäß in die folgenden Gebiete auflöst.
England hat keine vollſtändige Waſſergeſetzgebung, ſondern von jeher
einzelne Parlamentsbeſchlüſſe, die dann in der erſten Waterworks-Clauses
Act von 1847 und dann in der neuen Waterworks-Clauses Act 26. 27. Vict. 93
zuſammengefaßt ſind, ſich aber weſentlich auf die Baulichkeiten für das Waſſer
bezieht. Vergl. Gneiſt, Verwaltungsrecht II. 737 ff. Daneben ſpecielle Akte;
ſ. unten. — Frankreich hat in ſeiner großen Ordonnance de la marine vom
Auguſt 1681 die allgemein gültigen Beſtimmungen für das öffentliche Waſſer-
recht des Meeresufers aufgeſtellt; eine einheitliche Waſſergeſetzgebung entbehrt
es (vergl. Laferrière, Dr. publ.). P. 1. Tit. 4. Die Grundlage des eigentlichen
Waſſerrechts iſt dagegen die große Ordonnance des eaux et forêts vom Aug. 1669.
— Deutſchland zeichnet ſich durch reiche und zum Theil ausgezeichnete Ge-
ſetzgebungen aus, zum Theil in den allgemein bürgerlichen Geſetzbüchern, wie
im Allgem. Landrecht II. 15. 62; dann in eigenen Geſetzen bis 1856 geſammelt
von Glaß: die waſſerrechtliche Geſetzgebung. Die Literatur darüber bei Ubbe-
lohde und Nieberding S. 23, 24. — Das bayeriſche Waſſerrecht von
1852 erläutert von Pözl, bei Dollmann. — Heſſen-Darmſtadt: Waſſer-
rechtsgeſetz von 1853 und 1858. — Lübeck: Waſſerlöſungsordnung vom
2. Dec. 1865. Das rationellſte Geſetz iſt das Sachſen-Altenb. Waſſerrecht,
Geſetz vom 18. Okt. 1865. — Ueber das preußiſche Waſſerrecht außer
Nieberding a. a. O. Rönne und Lette, Landw. Culturgeſetzgebung Bd. III. Das
neueſte öſterreichiſche, kaum genügende Geſetz vom 30. Mai 1869.
a) Der Waſſerſchutz und Waſſerbau.
Der Waſſerſchutz iſt diejenige Ordnung der Verwaltung, welche
der elementaren phyſiſchen Gewalt des Waſſers und ihren zerſtörenden
Wirkungen entgegentritt. Der Waſſerſchutz iſt urſprünglich wie die
Waſſergefahr örtlich. Es iſt zuerſt dem Einzelnen überlaſſen; dann
wird es Gegenſtand der Selbſtverwaltung, und daraus bildet ſich das
Deich- und Dammweſen und ſeine Organiſation; erſt mit dem achtzehn-
ten Jahrhundert tritt die Staatsverwaltung thätig hinzu, und ſo ent-
ſteht die große techniſche Organiſation, welche wir das Waſſerbau-
weſen nennen. Grundlage deſſelben iſt, daß die allgemeinen techniſchen
Vorſchriften von der Regierung, die rechtlichen Beſtimmungen nament-
lich über die Waſſer laſt oder die Vertheilung der Koſten von der Geſetz-
gebung, der wirkliche Waſſer bau dagegen von den Deichverbänden
[161] unter techniſcher Leitung und Oberaufſicht ausgehen. Bei hoher ört-
licher Wichtigkeit der Sache fehlt natürlich die allgemeine Bedeutung
der Sache. Daher auch die ſehr ungleichmäßige Behandlung derſelben.
Ueber das alte Deichrecht und die Deichverbände in jedem deutſchen
Privatrecht vergl. für die neuere Zeit Gierke, Genoſſenſchaftsrecht §. 587.
Mittermaier, deutſches Privatrecht I. §. 223—226. Beſeler, deutſches
Privatrecht §. 198. — Entſtehung der verwaltungsrechtlichen Behandlung im
vorigen Jahrhundert vergl. Berg, Polizeirecht III. 2. 8. Neue Zeit: Mohl,
Polizeiwiſſenſchaft II. §. 124. — Specielle Geſetzgebung vergl. Nieberding
a. a. O. S. 208—243. Ubbelohde S. 4—6. Roller, württembergiſches
Polizeirecht S. 103. 206. — Hannover: Deichordnung vom 2. März 1864.
— Oeſterreich: örtliche Vorſchriften, die aber analog angewendet werden
bei StubenrauchI. §. 258. — Bayern: Hauptgeſetz für den Uferſchutz
vom 28. Mai 1852. Mayer, Verwaltungsrecht S. 172. Pözl, Verwaltungs-
recht. — Das engliſche Recht iſt nicht ausgebildet. — Das franzöſiſche Deich-
recht iſt geordnet durch Geſetz vom 14. Flor. XI. und Geſetz vom 16. Sept. 1807.
Hier ſind die erſtenAssociations syndicales in Frankreich entſtanden. Vergl.
Block, Art. Endiguement. Neueſtes Geſetz über die Associations syndicales
bei Waſſerbauten vom 21. Juli 1865.
b) Die Waſſerverſorgung.
Die Waſſerverſorgung — das Waſſerrecht der Geſundheitspflege
— bei den Alten hoch ausgebildet, gehört für unſere Epoche erſt der
neueſten Zeit. Sie hat aus naheliegenden Gründen einen weſentlich
localen Charakter, und iſt bisher mehr auf das Bedürfniß als auf die
Geſundheitspflege berechnet. Eigentliche Geſetzgebungen gibt es dafür
nicht; es wird ſolche erſt dann geben, wenn die öffentliche Geſundheits-
pflege dieſe erſte Bedingung aller Geſundheit nicht mehr dem zufälligen
Verſtändniß der einzelnen Gemeinden überläßt. Die bisherigen Waſſer-
verſorgungen haben mehr den Charakter von Unternehmungen als den
von öffentlichen Anſtalten. Das wird in der Zukunft anders werden.
Mangel der Berückſichtigung in den Geſetzgebungen. In England jedoch
ſchon in der Waterworks Clauses Act ausführlich berückſichtigt. Sonſt nur ein-
zelne theils ſicherheitspolizeiliche und hygieniſche Beſtimmungen in den Strom-
und Waſſerpolizeiordnungen. Das Ganze iſt grundſätzlich, aber nicht rationell,
Sache der Gemeindeverwaltungen.
c) Die Waſſertriebkraft.
Die Triebkraft des Waſſers bildet den Punkt, wo ſich das Privat-
und das öffentliche Waſſerrecht in der germaniſchen Welt, vorzugweiſe
aber in dem bergigen Deutſchland am engſten berühren, während das
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 11
[162] Gebiet in dem flachen England und ſelbſt in Frankreich nahezu fehlt.
Das Recht deſſelben hat zwei Epochen. Die erſte iſt die grundherr-
liche, in der der Grundherr als Eigenthümer auch des fließenden
Waſſers auftritt; daher Recht auf Anlage von Mühlen ꝛc. als Perti-
nenz der Grundherrſchaft. Die zweite beginnt mit dem achtzehnten
Jahrhundert ſich klarer zu bilden, erſcheint jedoch noch weſentlich als
Recht der beſtehenden Waſſergewerke, namentlich der Mühlen; daher
erſchöpft ſich das Recht in den Mühlwaſſerordnungen, die dem römi-
ſchen Recht ganz unbekannt ſind, mit Vorfluths-, Staurecht, Wehrrecht
und anderen Punkten. Dadurch Verbindung mit gewiſſen Servituten,
und daran ſich knüpfend eine große Jurisprudenz, welche noch immer
alle Fragen aus dem einſeitigen privatrechtlichen Geſichtspunkt be-
handelt.
Vergl. das betreffende Recht für Preußen bei Nieberding a. a. O.
Letzte preußiſche Mühlordnung vom 15. Nov. 1811. — Oeſterreich: Stand-
punkt der Verleihung von Waſſergefällen (niederöſterreichiſche Verordnung vom
28. Febr. 1858; StubenrauchI. S. 258).
d) Die Waſſerverkehrswege.
Die zweite große Form des Gebrauchs des Waſſers iſt die der
Waſſerverkehrswege. Der einfache Grundſatz, daß ein Gewäſſer
welches die Fähigkeit hat, als Verkehrsweg benützt zu werden, auch
der Geſammtheit gehöre, entſteht mit dem Verkehr ſelbſt, und iſt daher
dem römiſchen Recht wie dem älteſten deutſchen Recht ein unbezweifeltes
Princip. Die Entſtehung der Grundherrlichkeit hat nun dieſen Grund-
ſatz ſeit dem Mittelalter wieder in Zweifel geſtellt, die Benützung der
Waſſerſtraßen als ein Recht der erſteren, und vermöge derſelben Zoll-
und Wegegeld von der Flußſchifffahrt gefordert. Der Kampf gegen
dieſen verderblichen Grundſatz erſcheint dann in der Regalität des
Waſſers. Dieſelbe wird in verſchiedener Weiſe ausgedrückt, enthält
aber zunächſt und urſprünglich nur den negativen Gedanken, daß alle
ſchiffbaren Ströme und Flüſſe, als Eigenthum der Krone, nicht der
Grundherrlichkeit angehören. In dem theils theoretiſchen, theils prak-
tiſchen Kampf um das Princip erſchöpft ſich dann das achtzehnte Jahr-
hundert; doch gelangt daſſelbe ſchon zu den allgemeinen Strom- und
Flußpolizeiordnungen, welche zugleich Schifffahrtsordnungen ſind,
während für die kleineren fließenden Gewäſſer wieder die Leinpfade-
ordnungen und das Flößerrecht, obwohl meiſt örtlich entſtanden,
dennoch gleichfalls den Gedanken des allgemeinen Rechts an jedem
ſchiffbaren Gewäſſer in ihrem Gebiete durchführen. Aber erſt das
neunzehnte Jahrhundert gelangt zu einer größeren Auffaſſung. Während
[163] in dem achtzehnten Jahrhundert die ſchiffbaren Gewäſſer noch immer
den Charakter örtlicher Verkehrswege haben, erſcheinen dieſelben im
neunzehnten Jahrhundert ſchon als Verkehrswege der allgemeinen
Handelsbewegung. Die Verwaltung fängt daher jetzt an, unmittelbar
für dieſelben thätig zu ſein. So entſtehen zuerſt die Canalbauten
einerſeits, und die Strom- und Flußregulirungen andererſeits.
Aber auch ſie ſind zunächſt nur als Aufgaben der angränzenden Länder
aufgefaßt; den Ausdruck dieſes Princips bilden theils die Privilegien
für beſtimmte Schifffahrtsgeſellſchaften, theils die Belegung fremder
Schiffe mit beſonderen Abgaben. Erſt die Mitte unſeres Jahrhunderts
ſtellt ſich auf den Standpunkt, die großen ſchiffbaren Ströme als Theil
des Meeres zu betrachten; und ſo bricht ſich der Gedanke der vollen
Verkehrsfreiheit Bahn, der theils in der Aufhebung der noch be-
ſtehenden Stromzölle, wie auf Rhein und Elbe, theils in der unbe-
ſchränkten Zulaſſung fremder Dampfſchifffahrtslinien, wie auf der
Donau, theils in großen internationalen Stromarbeiten wie an der
Sulinamündung, theils in nicht minder bedeutenden Weltcanalbauten,
wie der Suezeanal ſeinen großartigen Ausdruck findet. Hier reicht das
Waſſerrecht dem Schifffahrtsweſen die Hand, und das Princip der Ge-
meinſchaft des Verkehrslebens von ganz Europa erringt einen neuen,
hochbedeutenden Sieg über Grundherrlichkeit und Partikularismus der
früheren Epochen.
Zuerſt und am klarſten iſt das Princip der Unterordnung aller ſchiffbaren
Flüſſe geſetzlich ausgeſprochen in der Ord. des eaux et forêts 1669: „toutes
les eaux portants bateaux de leur fonds — sont domaine de la Couronne.“
Stein bei Haimerl a. a. O. Laferrière, Droit publ. I. 1. Tit. 4. (Geſchichte.)
Ueber die Entwicklung des deutſchen Rechts Mittermaier, deutſches Privat-
recht I. §. 221. 222 nebſt Literatur. Oeſterreichs Strompolizeiordnung von
1770. (ſ. oben). Preuß. Allgem. Landrecht I. 8 und 22 und das Geſetz über
die Benützung der Privatflüſſe vom 28. Febr. 1843. Vergl. Nieberding
a. a. O. und Glaß. Alte Rhein- und Elbzölle Klüber, Oeffentliches Recht
§. 568 ff. mit all den früheren Beſtimmungen auch über Main, Neckar, Moſel,
Maas und Schelde als internationale Verträge. Elbzölle ſpeciell: Aktenſtücke
und Nachweiſe 1860. Freiheit der Donau 1859. Befreiung von den Elbzöllen
in Ausſicht geſtellt (Norddeutſche Bundesverfaſſung Art. 54). — Convention über
internationale Schifffahrt auf dem Pruth von 1869.
e) Das Waſſerrecht der Landwirthſchaft.
Das was wir das Waſſerrecht der Landwirthſchaft nennen, ent-
ſteht endlich da, wo die Fähigkeit des Waſſers der Produktion, na-
mentlich in der Landwirthſchaft zu dienen, nicht mehr der Einzelthätig-
keit überlaſſen, ſondern Gegenſtand der Verwaltung wird. Nach dem
[164] Weſen der letzteren kann dieß nur da der Fall ſein, wo der Einzelne
nicht mehr im Stande iſt, auf Grundlage einzelner Kräfte und Rechte
dieſe Fähigkeit des Waſſers auszunutzen. Die Vorausſetzung dafür iſt
ein höheres Verſtändniß der produktiven Qualitäten des Waſſers. Der
Zweck iſt die möglichſt allgemeine Verwerthung dieſer Qualitäten. Der
Organismus dafür iſt vermöge der örtlichen Natur des Waſſers, weſent-
lich das Vereinsweſen in der Geſtalt der Waſſerverbände. Das
Recht derſelben enthält einerſeits die Aufſtellung der Principien für
die Ordnung dieſer Waſſerkörperſchaften und ihrer Verwaltungsthätig-
keiten, andererſeits die Durchführung der Enteignung für die Zwecke
derſelben. Die beiden Hauptgebiete ſind die Entwäſſerung, zu
einem ſpeciellen Rechtsverhältniß ausgebildet durch das Drainirungs-
ſyſtem, und die Bewäſſerung in ihren verſchiedenen Formen. Die
Grundſätze, nach denen beide anzulegen und zu betreiben ſind, gehören
der Landwirthſchaftslehre; die Waſſerverwaltung hat nur die rechtlichen
Bedingungen herzuſtellen, welche die Vorausſetzung für beide bilden.
Hier tritt daher die Thätigkeit des Staats hinter die des Einzelnen
zurück, und Verſtändniß und Energie der Vereine und der Individuen
übernehmen die Aufgabe, das Waſſer zu einem integrirenden Elemente
des produktiven Lebens der Volkswirthſchaft zu machen.
Das nun ſind die drei Hauptgebiete der Waſſerverwaltung. Ge-
ſchichtlich ſucceſſiv entſtanden, und örtlich ſehr verſchieden ausgebildet,
ſind ſie dennoch ſtets alle zugleich in jeder Verwaltung gegenwärtig
und thätig; ſie ſind ein Ganzes, und müſſen als ſolches aufgefaßt
und erkannt werden.
Die Epoche der Strompolizei und des Waſſerordnungsrechts kennt geſetz-
lich noch das Gebiet nicht. Doch iſt bei JuſtiI. §. 37. 80 die Entwäſſerungs-
lehre techniſch ſchon verarbeitet. Die Ent- und Bewäſſerungsgeſetzgebung hat
ihre örtliche Heimath aus phyſiſchen Gründen in der Lombardei und Holland
(Waterſtaat). Anfang für Deutſchland im achtzehnten Jahrhundert in Preußen
mit Edikt von 1704; die folgenden Verordnungen bei Nieberding S. 10 ff.
In unſerem Jahrhundert ward ſie ein integrirender Beſtandtheil aller Waſſer-
geſetzgebung; Geſetze bei Glaß, Waſſerverordnungen. Geſetzgebung; Preußen:
bei Nieberding S. 91—116 und 122—170. Lette und Rönne Landeskultur-
geſetz Bd. III.Hannover bei Ubbelohde S. 27 ff. Neueſte Deich- und
Abwäſſerungsordnung vom 22. Jan. 1864. Waſſergenoſſenſchaften:
vergl. Gierke a. a. O. Allgemeine Bemerkungen bei Stein a. a. O. Fort-
ſchreitende Bildung von Ent- und Bewäſſerungsverbänden mit eigener
Verwaltung und Enteignungsrecht; Statuten derſelben nach den Grundſätzen
des Vereinsweſens beſtätigt; vergl. preuß. Geſetzſamml. 1865—69. Grundlage
iſt dabei ſtets das Geſetz vom 11. März und 14. Nov. 1853 für die Entwäſſe-
rungsverbände. — In Frankreich haben ſich Irrigation (servitude
[165] légale d’irrigation L. 29. Avr. 1845) und Desséchement (Code de des-
séchement v. Poterlet) zu ſelbſtändigen Geſetzgebungen entwickelt, (Loi sur
le drainage vom 10. Juni 1854), und ſind für beide die Verbände als Asso-
ciations syndicales eingeführt. Geſetz über die Associations syndicales für
Entwäſſerungen vom 24. Juli 1865. Auſtria 1866 S. 364. Vergl. Lafer-
rière, Droit. admin. I. P. 1. Tit. IV. Ch. 1—2. — In Belgien gleiche
Grundſätze: de Fooz, Droit admin. belge 1861. III. S. 241. Neben dem
holländiſchen Waterſtaat ſ. de Boſch Kemper, Nederl. Staatsregt §. 201 ff.
— In England gilt für den Waſſerbau die Waterworks Clauses Act von
1863. 26. 27. Vict. 93. Früheres Recht GneiſtII. S. 737. Waterworks
Clauses Act von 1847. Für das Drainage-Recht 24. 25. Vict. 133 mit Drai-
nage boords und districts und die Drainage Act 26. 27. Vict. 58. Auſtria
1865. N. 8. Die frühere Drainage Act 9. 10. Vict. 101 hatte 1 Million
Vorſchuß gewährt. RoſcherII. 36—39.
III. Das Schadenverſicherungsweſen.
Begriff und hiſtoriſche Entwicklung.
Im Waſſerweſen und Feuerweſen ſchützt nun der Einzelne unter
Hülfe der Gemeinſchaft ſeine Güter vor den Elementen. Da aber, wo
dieſer Kampf für das Gut aufhört, beginnt ein zweiter. Es iſt der
Verſuch, auch bei wirklichem elementarem Untergang des Gutes das-
jenige zu erhalten, um deſſentwillen er das Gut eigentlich beſitzt, den
Werth deſſelben.
Dieſe Erhaltung des Werthes bei Untergang des Gutes iſt nun
dem Einzelnen für ſich geradezu unmöglich. Sie iſt nur denkbar, in-
dem er mit Anderen in eine Gemeinſchaft tritt, welche auf Grundlage
gegenſeitiger Leiſtungen ihm den Erſatz für den wirklich eingetretenen
Elementarſchaden darbietet. Eine ſolche Gemeinſchaft bedarf der Ord-
nung ſowohl für die Beſtimmung der Leiſtungen und Gegenleiſtungen,
als für die daraus entſtehenden Rechtsverhältniſſe; und dieſe Ordnung
iſt, als öffentlich anerkannte Organiſation des gegenſeitigen Erſatzes
für Elementarſchäden, das Schadenverſicherungsweſen.
Es iſt klar, daß ein ſolcher Erſatz anfänglich nur auf dem guten
Willen des Einzelnen beruht. Zu einer öffentlichen Organiſation ge-
langt die Sache erſt dann, wenn ſich aus den Einzelwirthſchaften
größere Unternehmungen entwickeln, die nur vermöge der Sicherung
eines Erſatzes in Schadensfällen ihre Verpflichtungen aufrecht halten
können. Sie werden damit die Baſis des Credits, und ſchreiten in
dem Grade vor, in welchem der Unternehmungscredit ſeinen privaten
Charakter verliert und die Gefährdung der Zahlungsfähigkeit des einen
Unternehmens zu einer Gefahr für die des andern wird. Alle Orga-
[166] niſation des Verſicherungsweſens geht daher von gleichartigen Unter-
nehmungen aus, und entſteht zunächſt in der Form des Vereinsweſens.
Aus dem letzteren Grunde kennt die alte Welt kein Verſicherungsweſen,
aus dem erſteren das Mittelalter nicht. Daſſelbe entſteht erſt mit dem
Welthandel im fünfzehnten Jahrhundert und zwar für die Schifffahrt
als Seeverſicherung durch freie Verſicherungsvereine; von da geht
es über auf die Städte als örtliche (ſtädtiſche) Feuer-Aſſecuranzen;
im ſiebzehnten Jahrhundert greifen dann die Regierungen hinein, und
errichten öffentliche Brandſchadenverſicherungen auch für das flache
Land mit Verpflichtung zur Theilnahme und unter amtlicher Verwal-
tung. Frankreich und England halten ſich allerdings davon frei, da-
für aber entſteht die erſte große Seeverſicherungsgeſetzgebung in der
Ordonnance de la marine von 1667, während mit dem engliſchen
Handel das Vereinsweſen aufblüht. Im achtzehnten Jahrhundert geht
das Verſicherungsweſen dann auf die Theorie über; das Verſicherungs-
recht wird Gegenſtand hiſtoriſcher und juriſtiſcher Forſchung, und die
großen Verſicherungsgeſellſchaften, namentlich Englands, beginnen zu
internationalen Inſtituten zu werden. Im neunzehnten Jahrhundert
löst ſich dann auch das Feuerverſicherungsweſen in den übrigen euro-
päiſchen Staaten von der Vormundſchaft der Regierung ab, mit Aus-
nahme Preußens und einiger andern deutſchen Staaten, welche an den
Beſchränkungen des vorigen Jahrhunderts auch jetzt noch feſthalten.
Das Verſicherungsweſen entwickelt ſich nunmehr in gleichem Schritte
mit Verkehr und Credit zu einem integrirenden Element des geſammten
volkswirthſchaftlichen Lebens; es bildet ſich einerſeits das Schadenver-
ſicherungsweſen in ſeinen Hauptzweigen, der See- und der Feuer-
verſicherung, daneben in Hagel- und Viehverſicherung zu einem
großartigen Syſteme aus, an das ſich die Lebensverſicherung als neue
und eigenthümliche Form der Capitalbildung anſchließt; die große Ge-
meinſamkeit des Verkehrs verbindet die Geſellſchaften in der Form der
Rückverſicherungen wieder unter einander, und erzeugt in den Rück-
verſicherungsgeſellſchaften ſelbſtändige Organe dieſer Gegen-
ſeitigkeit, ſo daß jetzt das Verſicherungsweſen, von kleinen Anfängen
ausgehend, zu einem alle Welttheile in Credit und Verkehr gleichmäßig
umfaſſenden, gewaltigen Organismus geworden iſt, eine der großartig-
ſten Erſcheinungen, welche die Weltgeſchichte kennt, und die nunmehr
auf allen Punkten der Erde jeden Einzelnen zwar nicht vor dem ele-
mentaren Verluſt ſeiner Güter, wohl aber ihres Werthes ſchützt.
Auf dieſem hohen Standpunkte nun verlieren offenbar die Verei-
nigungen für die Verſicherung ihren urſprünglichen Charakter. Sie
können gegenüber einer ſolchen, die ganze Welt umfaſſenden und den
[167] ganzen Völkerverkehr durchdringenden Funktion weder bloß örtliche
Staatsanſtalten, noch bloße Erwerbsgeſellſchaften bleiben. Sie ſind
ihrem Weſen nach freie Organismen der Verwaltung; das iſt, ſie ſind
Vereine, und ihr Recht, urſprünglich nichts als Vertrags- und ad-
miniſtratives Recht, wird ein Theil des Verwaltungsrechts im höchſten
Sinne des Wortes. Sie ſind Organe des öffentlichen Lebens
geworden; ſie verwalten uns die wichtigſten öffentlichen Intereſſen und
Recht und Theorie ihrer Funktion ſollte daher jetzt nicht mehr als
bloßes Privatrecht und Geſchäftslehre, ſondern als ein weſentlicher
Theil der Verwaltungslehre erkannt werden.
Allerdings nun ſtehen wir in dieſer Beziehung vor dem entſchei-
denden Uebergange von der früheren Auffaſſung. Die Zukunft des
Schadenverſicherungsweſens im Beſonderen (wie des Verſicherungsweſens
im Allgemeinen) beruht darauf, daß man die Principien, das Recht
und die Verwaltung der Vereine als Elemente des Verwaltungsrechts
erkennt, und daher das Sonderintereſſe derſelben den großen Forderun-
gen des Geſammtintereſſes ſich organiſch unterordnet. Dazu hat nun
die neuere Zeit noch das große Element des internationalen Ver-
ſicherungsweſens hinzugefügt, indem die Zulaſſung fremder Geſell-
ſchaften, die nicht einmal dem einheimiſchen Vereinsrecht unterliegen,
und die daher in ihrer unbegränzten Freiheit das Verſicherungsweſen
ganz als ein Geſchäft und freie unbeſchränkte internationale Zulaſſung
als eine einfache Conſequenz der leeren Handelsfreiheit erſcheinen laſſen.
Offenbar genügt hier das formale Element des Rechts nicht mehr; es
muß vielmehr das Weſen der Sache für die Verwaltung zur Geltung
kommen. Um das darzulegen, muß man das Princip und die Ent-
wicklung der Rechtsbildung des Verſicherungsweſens ins Auge faſſen.
See-Aſſecuranz als Grundlage des organiſchen Verſicherungsweſens,
nur durch Vereine möglich. Erſte Aſſecuranz wahrſcheinlich im vierzehnten
Jahrhundert in Flandern; im fünfzehnten Jahrhundert Ausbreitung derſelben
namentlich von Holland aus. Hauptwerk noch immer Beneke, Syſtem des
Aſſecuranz- und Bodmereiweſens 1805. 4. Bde. Geſchichtliche Einleitung Bd. I.
S. 1 ff. Literatur: Mittermaier, deutſches Privatrecht III. Bd. §. 303.
Uebergang zur Feuerverſicherung im ſiebzehnten Jahrhundert. Beginn
als ſtädtiſche Verſicherungen; Angaben von Hellwig in Zeitſchrift des ſtat.
Bur. 1868. Im achtzehnten Jahrhundert in Deutſchland geſetzliche Aus-
dehnung auf das ganze Land im Verordnungswege: „die Staatspolizei iſt zur
Einführung ſolcher Anſtalten nicht nur berechtigt, ſondern auch verpflichtet“
Berg, Polizeirecht III. S. 68. Dieß Princip erhält ſich noch immer in
mehreren deutſchen Staaten. — Preußen ſcheint mit der obrigkeitlichen Orga-
niſation der „Feuerſocietäten“ voranzugehen (Feuerkaſſenreglement von 1705
und 1706); Beibehaltung dieſes Standpunktes in neueſter Zeit (Geſetz von 1841
[168] und 1845); Literatur bei Rönne, Staatsrecht II. 439; ſehr excluſiv gegen die
freie Bewegung der Verſicherungsvereine, dagegen ohne Geſetz für die See-
verſicherung u. ſ. w. — Aehnlich in Bayern; neueſtes Geſetz vom 28. Mai 1852.
Pözl, Verwaltungsrecht §. 130 und bei Dollmann. — In Württemberg
ſchon ſeit 1773 Umwandlung der ſeit 1753 beſtehenden Geſellſchaft in eine
Staatsanſtalt mit Zwang durch Brandverſicherungsordnung vom 16. Jan.;
darauf die Brandſchadenordnung von 1807. Mohl, württembergiſches Ver-
waltungsrecht II. §. 255. — Oeſterreich: Im vorigen Jahrhundert Stand-
punkt der öffentlichen Unterſtützungen ohne Verſicherungsanſtalt (Kopetz,
Polizeigeſetzkunde II. 118 Art.; Entſchluß vom Sept. 1819 wodurch „die Er-
richtung von Feuerverſicherungen bloß dem Privatunternehmen anheimgeſtellt
werden ſoll“ vergl. Dorninger, Feuerverſicherungsanſtalten 1822 S. 14—17;
daher jetzt bloß Vereinsweſen. — In Frankreich ohne alle geſetzliche Rege-
lung. Grundſatz nur, daß die Beſtimmungen über Seeverſicherungen (ſ. unten)
analog auf Feuerverſicherung angewendet werden. Literatur bei Block, Dict.
de l’adm.; dagegen das Seeverſicherungsweſen früh geregelt; Aſſecuranz-
ordnung ſchon 1435 (Barcelona), dann 1523 (Florenz) u. a. Beneke a. a. O.
S. 10 ff. Erſtes vollſtändiges Aſſecuranzrecht in der Ord. de la marine 1681;
dieß Geſetz liegt noch jetzt dem franzöſiſchen Recht zum Grunde; der Code de
Com. T. 10. 1. 2 iſt nur Redaction der Ordonnanz und des Geſetzes von 1779;
Zuſammenſtellung bei Beneke in Bd. IV. — England beſitzt keine Geſetz-
gebung; Deutſchland auch nicht. Dabei gilt, daß das Feuerverſicherungsrecht
materiell als Interpretationsmittel für das Schadenverſicherungsrecht angeſehen
wird (Block, Assecurances.) — Während deſſen ſtarke Entwicklung der Theorie,
für Brandſchaden jedoch weſentlich vom polizeilichen Standpunkt; Gäng,
Verſicherungsanſtalten wider Feuerſchaden 1792. Frank, landwirthſchaftliche
Polizei II. 313. Dorninger, Feuerverſicherungsanſtalten 1822. Krünitz,
Encyclopädie XIII. 214. Brüggemann, Mobiliarverſicherung in Preußen
1838. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 127 ff. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 23 ff.
— Bayern: Feuerverſicherungsweſen unter öffentliche Controle geſtellt (Geſetz
vom 10. Febr. 1865). Was ſpeciell die Seeverſicherung betrifft, ſo hat
ſie ihrer Natur nach von jeher einen Theil des Seerechts gebildet, und eine
eigene ſehr eingehende Jurisprudenz erzeugt, die ſich an die Geſetzgebung an-
ſchließt. Wie lange werden wir warten müſſen, bis das Feuerverſicherungs-
weſen Bearbeitungen wie die von Pöhls aufzuweiſen haben wird? (ſ. unter
Seerecht). — Ueber Weſen und Recht der internationalen Verſicherungen
mangelt noch alles, bis auf den einfachen, wir möchten ſagen rohen Satz, daß
die Zulaſſung fremder Geſellſchaften von Verträgen oder im einzelnen Falle
von Genehmigungen abhängt. Es wird aber die Zeit kommen, wo man auch
für die Verſicherungsgeſellſchaften internationale Rechtsſätze als völkerrechtliche
Bedingung ihrer Zulaſſung aufſtellen wird! Vorläufig haben faſt alle Zulaſ-
ſungsverträge fremder Aktiengeſellſchaften die Verſicherungsgeſellſchaften aus-
geſchloſſen, in dem richtigen Gefühl, daß es bei denſelben noch auf mehr an-
komme, als auf die bloße Sicherheit des Capitals (ſ. Stein, im Compaß 1869).
[169]
Die Rechtsbildung des ganzen Verſicherungsweſens beruht nämlich
darauf, daß in jeder Verſicherung zwei Elemente zuſammenwirken. Das
erſte dieſer Elemente iſt der privatrechtliche Verſicherungsvertrag, das
zweite iſt die öffentliche Funktion des Verſicherungsweſens als Theil
der organiſchen Verwaltung der Volkswirthſchaft. In dem erſten ſteckt
das Sonderintereſſe der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung
des öffentlichen Intereſſes, die auch hier in ſcharfen Gegenſatz kommen
können. Der gegebene Rechtszuſtand des Verſicherungsweſens beſteht
deßhalb weſentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander;
die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erſtere.
Der Gang derſelben aber bis zum gegenwärtigen Zuſtand iſt in ſeinen
Hauptpunkten folgender.
Die Verſicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den
Seeverſicherungen; allein faſt gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na-
mentlich im Anſchluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen-
heit anerkannt, und dadurch Gegenſtand der Geſetzgebung in den alten
Aſſecuranzordnungen. Das iſt die erſte Epoche der Rechtsbildung. Sie
bleibt jedoch dabei ſtehen, daß ſich die Geſetzgebung nur auf die Be-
ſtimmung des rechtlichen Inhalts dieſes Verſicherungsvertrages be-
ſchränkt, und ſich um die Verwaltung der Verſicherungsanſtalten
noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entſteht da, wo der Staat
die polizeilichen Brandſchadenanſtalten einführt; in dieſen ver-
ſchwindet wieder das Vertragsrecht und an ſeine Stelle tritt das Ver-
ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Verſicherungsweſen durch
ſeine Beamtete, entweder ausſchließlich, oder unter Zuziehung der
Betheiligten (Deutſchland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die
Seeverſicherung davon ausgeſchloſſen bleibt, ſo geſchieht es, daß für
das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entſteht, während ſie für
das Feuerverſicherungsweſen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz
dem erzeugt dieſe polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite-
ratur, theils durch ſpecielle Geſetze das Verſtändniß für die wichtige
öffentliche Funktion alles Verſicherungsweſens. Die Regierungen er-
kennen die Nothwendigkeit, daſſelbe im öffentlichen Intereſſe ihrer
Oberaufſicht zu unterwerfen. Das iſt der Grund, weßhalb ſich der
unfreie Zuſtand der geſetzlichen Zwangsverſicherungsanſtalten noch theil-
weiſe erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und
das Verſicherungsweſen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung
Erfahrung und Theorie, um daſſelbe einer ausreichenden Controle zu
unterziehen, und ſie muß ſich deßhalb genügen laſſen, jene Oberauf-
[170] ſicht durch einfache Anwendung der Grundſätze des Vereins-
rechts auf die Geſellſchaften auszuüben, während ſtatt feſter Prin-
cipien die Concurrenz der letzteren für das ganze Verſicherungs-
weſen maßgebend wird. Das deutſche Handelsgeſetzbuch hat dieß ſo
wenig geändert wie der Code de Com. und ſeine Nachbildungen in
den übrigen Staaten. Dieß iſt der gegenwärtige Zuſtand. Sein
Charakter iſt der Mangel einer, auf einer feſten Theorie beruhenden
Oberaufſicht trotz richtigem Verſtändniß der öffentlichen Bedeutung der
Sache. Die Aufgabe der Zukunft iſt demnach, die erſtere zu formu-
liren, wie der zweiten ihren wahren Inhalt zu geben. Dafür aber
ſind die leitenden Grundſätze folgende.
Die Stellung der Theorie des Verſicherungsweſens in der Staatswiſſen-
ſchaft (JuſtiI. 718) iſt falſch; Berg, Sonnenfels, Handbuch VII. 256
nehmen es noch allgemein a. a. O.; ähnlich Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 127 ff.
Rau dagegen hat es in die „Landwirthſchaft“ verwieſen (Volkswirthſchaftspflege
I. 105), dem Roſcher (Volkswirthſchaft II. C. 13) gefolgt iſt. Wie gering
iſt aber das verſicherte landwirthſchaftliche Capital gegenüber dem übrigen!
Ein Verſtändniß des Verwaltungsrechts für dieſes Gebiet mangelt gänzlich.
Gierke (Genoſſenſchaft S. 1049 ff.) hat wieder nichts darin geſehen, als eine
Form der Genoſſenſchaft, und behandelt nur ihre formalen Elemente. Döhl,
Verſicherungsweſen des preuß. Staates 1865 iſt eine ſehr fleißige Zuſammen-
ſtellung der preußiſchen Geſetzgebung. Die eigentliche Verſicherungslehre
iſt neben der Verſicherungsjurisprudenz höchſt unentwickelt; ihr Vater bleibt
noch immer Maſius (ſyſtematiſche Darſtellung des geſammten Verſicherungs-
weſens 1846, rein geſchäftlich). Die neuere Zeit arbeitet dagegen kräftig;
viel Inhalt in Elsners Aſſecuranzalmanach 1867 f. Freilich alles nur vom
Standpunkt des Verſicherungs geſchäfts, ſogar ohne alle Rückſicht auf die
innere Verwaltung des Geſellſchafts- geſchweige denn des öffentlichen Intereſſes.
Es iſt kein Zweifel, daß jede Verſicherungsgeſellſchaft zunächſt ein
Unternehmen iſt, und daher berechtigt, frei nach eigenem Intereſſe zu
handeln. Es iſt aber auch kein Zweifel, daß das Intereſſe des Ver-
ſicherten zugleich ein öffentliches iſt, das ſie trotz alles allgemeinen
Vereinsrechts nicht vertreten können. Wenn daher die Geſellſchaften
den Einzelnen gegen Elementarſchaden ſchützen, ſo hat die Verwaltung
die Aufgabe, die Anſprüche der letzteren gegen die Geſellſchaft und
ihre Intereſſen zu ſichern. Die Kenntniß der Elemente des Verſiche-
rungsweſens, das jetzt tauſende von Millionen umfaßt, iſt daher ein
weſentlicher Theil der Verwaltungslehre, nicht in Beziehung auf die
einzelnen Geſchäfte, ſondern auf ihre prineipiellen Grundlagen; nur
ſie zeigt die wahre Stelle für die Oberaufſicht des Staats in allen
[171] Verſicherungsgebieten. Ihren Inhalt bildet das öffentliche Recht der
Verſicherungen.
Das letztere zerfällt in zwei Haupttheile; das Recht des Ver-
ſicherungsvertrages, und das Recht der Verſicherungsver-
waltung.
I. Der Verſicherungsvertrag enthält diejenigen Modifikationen des
allgemeinen Vertragsrechts, welche durch das Weſen der Verſicherung
gefordert werden. Der Verſicherungsvertrag entbehrt noch jeder Ge-
ſetzgebung, nur das Seeverſicherungsweſen hat ihn ausgebildet. Die
Folge iſt, daß ſich die Verſicherungsanſtalten ihr Vertragsrecht ſelber
bilden theils in ihren Statuten, theils in den Policen. Das iſt ein
weſentlicher Mangel unſeres Rechtslebens.
II. Die Verſicherungsverwaltung umfaßt die Geſammtheit der
Thätigkeiten der Verſicherungsanſtalten, durch welche ſie jene Verträge
einerſeits abſchließen, andererſeits erfüllen. Dem erſten liegt die
Tariflehre zum Grunde, dem zweiten die Lehre von den Reſerven.
Die eigentliche Geſchäftsführung hat die in beiden enthaltenen
Grundſätze nur zur Ausführung zu bringen.
a) Die Elemente der Tariflehre ſind folgende:
Der durch den Verſicherungsvertrag (Police) dem Verſicherten von
der Geſellſchaft zugeſicherte Betrag im Falle des vertragsmäßig be-
ſtimmten Schadens iſt das Riſico. Die Geſellſchaft kann nur dann
ihre Verpflichtungen erfüllen, wenn jeder Verſicherte ſucceſſive einen
Betrag bezahlt, der dem Riſico und den Koſten der Geſellſchaftsver-
waltung gleichkommt. Dieſer von dem Verſicherten zu zahlende Be-
trag iſt die Prämie, ihre regelmäßige Zahlung die Bedingung des
Rechts auf die verſicherte Summe. Die erſte Aufgabe der Geſellſchaft
iſt es daher, die Höhe der Prämien zu beſtimmen. Die theoretiſche
Grundlage iſt dafür die Diviſion des Riſicos mit der wahrſcheinlichen
Zahl der Prämienzahlungen, mit Berückſichtigung der Zinſen der ein-
gezahlten Prämien; das Facit iſt die geſuchte Höhe der Prämie. Die
Schwierigkeit beſteht demnach allein in der Beſtimmung dieſer wahr-
ſcheinlichen Zahl. Dieſe nun iſt natürlich für die einzelnen Zweige der
Verſicherung (Leben, Feuer, Waſſer, Hagel, Vieh, Transport u. ſ. w.)
ſehr verſchieden und die Entwicklung dieſer Verſchiedenheit bildet den
Inhalt der Lehre von den Arten der Verſicherung. Allein die allen
gemeinſame Grundlage dafür iſt die Eintheilung der Riſiken in
Claſſen. Statiſtiſche Erfahrung und richtige Beurtheilung der ein-
zelnen Fälle innerhalb dieſer Claſſen beſtimmen dann das Syſtem der
Claſſenprämien, und dieſe Höhe ergibt den Prämientarif, den
die Geſellſchaft ihrem Geſchäfte zum Grunde legt.
[172]
Es folgt, daß die Bedingung einer ſoliden Verſicherungsverwaltung
eine gute Claſſeneintheilung und eine richtige Claſſificirung
der einzelnen Fälle in dieſe Claſſen iſt. Beides iſt Sache der Direk-
tion. Eine gute Controle ſollte daher mit der Unterſuchung und
Motivirung dieſer Claſſen beginnen, und Stichproben der Claſſi-
ficirung machen. Ohne dieß Verfahren iſt jede Controle werthlos.
b) Das zweite Element aller Verſicherung iſt die Reſerve. Es
iſt klar, daß die eingezahlten Prämien geſammelt vorhanden ſein
müſſen, um das Riſico zahlen zu können, wenn der Schaden eintritt.
Die geſammelte Prämie iſt die Reſerve. Jede Verſicherung muß daher
durch ihre Prämie zunächſt ihre eigene Reſerve bilden; die letztere
muß aber ſo hoch ſein, daß ſie, wenn der Verſicherte ſeine Prämie regel-
mäßig zahlt, am wahrſcheinlichen Ende der Verſicherung die ganze ver-
ſicherte Summe deckt. Addirt man nun die ganze Summe aller nach
dieſem Grundſatze von dem Einzelnen wirklich bereits gezahlten und
von der Geſellſchaft geſammelten Reſerven, ſo entſteht der Reſerve-
fond. Das was dieſen Reſervefond ſteigen läßt, ſind daher die
Einnahmen durch die Prämien; das was ihn vermindert, iſt die
Auszahlung des Riſicos im Schadenfalle. Die Höhe des Reſerve-
fondes muß daher ſtets gleich ſein der addirten Summe der bereits
gebildeten Einzelreſerven. Iſt ſie das nicht, ſo iſt die Sicherheit jeder
einzelnen Verſicherung gefährdet. Die Aufgabe beſteht deßhalb zunächſt
darin, die richtige Höhe des Reſervefonds zu beurtheilen, und die Er-
haltung und Verfügbarkeit deſſelben zur rechtlichen Bedingung
der Thätigkeit der Geſellſchaft zu machen. Daher iſt es zu-
nächſt Sache des Verwaltungsrathes, dieſen Reſervefond gegen jede
andere Verwendung als die Auszahlung der Schadenfälle zu ſchützen.
Die Controle des Staats hat dieſe Funktion des Verwaltungsrathes
zu bewachen. Sie muß zu dem Ende ſelbſt die Reſerve nachrechnen.
Das nun iſt wieder nur thunlich durch die auf den Claſſen beruhende
Syſtemiſirung der Reſerven. Es iſt klar, daß jede Claſſe ihre
Reſerve haben muß, und daß daher der Reſervefond als Addition
der Claſſenreſerven erſcheint. Die Controle ſoll daher die Höhe
der Claſſenreſerve mit den Erfahrungen über die Dauer der Verſiche-
rungen nach den Claſſen vergleichen; das Reſultat wird die Beantwor-
tung der Frage ſein, ob die Reſerven ausreichen, um den Verſicherten
volle Sicherheit für ihre Forderung zu gewähren, wenn ſie ihre Prä-
mien richtig einzahlen. Es iſt falſch, dieß den Geſellſchaften allein
zu überlaſſen. Denn wenn die Reſerven nicht ausreichend oder nicht
flüſſig ſind, muß ſtets das eine Riſico aus den Reſerven des andern
bezahlt werden, ſo daß, da dieß letztere ja doch auch zur Erhebung
[173] gelangt, die Exiſtenz der Geſellſchaft allein noch auf Erwerb von
neuen Riſiken beruht, und der Untergang von dem Augenblick an be-
ginnt, wo die Zunahme der Einnahme aufhört. Dieſe Grundſätze
zur Geltung zu bringen, iſt Sache der künftigen Verſicherungsgeſetz-
gebung; ſie für jede Verſicherungsgeſellſchaft anzuwenden, wäre Sache
der inneren Verwaltung. Freilich gehört dazu, daß das Verſiche-
rungsweſen als ein hochwichtiger Theil der Verwaltungslehre in Theorie
und Praxis nicht bloß der Unternehmungen, ſondern auch des Staats-
lebens ſeinen gebührenden Platz finde.
Drittes Gebiet. Das Verkehrsweſen.
Begriff.
Während nun die Entwährung die Bedingungen der allgemeinen
Entwicklung herſtellt, ſo weit ſie im perſönlichen Recht, und die Ele-
mentarverwaltung, ſo weit ſie in den natürlichen Kräften liegen, hat
das Verkehrsweſen es mit denjenigen zu thun, welche im Güterleben
liegen.
Es ſcheint nun durchaus nothwendig, den Begriff des Verkehrs-
weſens als einen ſelbſtändigen und organiſchen in der geſammten Volks-
wirthſchaftspflege zu entwickeln, um dieſes große Gebiet klar überſehen
zu können.
Keine Einzelwirthſchaft kann durch ſich allein fortſchreiten. Die
Quelle aller Entwicklung beruht darauf, daß das, was die eine beſitzt,
für die zweite einen höheren Werth hat, als für die erſte. Die
Fähigkeit, ſolche Güter zu erzeugen, nennen wir die Produktivität.
Die Produktivität iſt daher die lebendige Seele aller Produktion. Aber
wenn ſolche Güter wirklich erzeugt ſind, ſo entſteht ſofort ein Proceß,
der dieſelben derjenigen Wirthſchaft zuführt, für welche ſie den geſuchten
höheren Werth beſitzen, der die Produktivität verwirklicht. Dieſen
Proceß nennen wir den Verkehr. So wird der Verkehr die Bedingung
aller wirklichen Produktivität und vermöge derſelben aller Produktion,
das iſt, die Bedingung aller Entwicklung der Volkswirth-
ſchaft überhaupt; und es ergibt ſich, daß wiederum die Bedingungen
des Verkehrs die Vorausſetzung des Fortſchrittes in der Volks-
wirthſchaft werden.
Nun liegen die Bedingungen des Verkehrs nur ſo weit in der
Einzelperſönlichkeit, als ſie in der Berechnung jener Differenz des
Werthes für Art und Umfang der Produktion einerſeits und für die
Eingehung des Vertrages andererſeits beſtehen. Da wo die wirkliche
Bewegung des Ueberganges der Güter und Leiſtungen von einer Wirth-
[174] ſchaft zur andern beginnt, hängen die Bedingungen der Verwirklichung
des Verkehrsaktes nicht mehr von den Einzelnen ab.
Hier beginnt alſo die dritte große Aufgabe der wirthſchaftlichen
Verwaltung. Dieſelbe beſteht darin, diejenigen Bedingungen des wirk-
lichen Verkehrs herzuſtellen, welche der Einzelne ſich nicht mehr ſchaffen
kann, und die Geſammtheit der dafür beſtimmten Rechtsſätze, Thätig-
keiten und Anſtalten der Verwaltung bilden das Verkehrsweſen.
I. Die Elemente des Syſtems.
Das Verkehrsweſen bildet daher ſeiner Natur nach ein inneres
Ganzes. Seine großen Gebiete entwickeln ſich aber an der Natur
jener Bedingungen, die es herzuſtellen hat. Dieſe nun theilen ſich
vermöge des Weſens der Güter in zwei große Gruppen. Die erſte hat
es mit dem Gute an ſich zu thun, die zweite mit der Grundlage aller
Produktivität, dem Werthe des Gutes. Die Bedingungen der Be-
wegung der Güter bilden daher den erſten Theil jenes Syſtems, die
der Bewegung der Werthe den zweiten Theil.
Der erſte Theil umfaßt daher die Herſtellung der außerhalb der
Macht der Einzelnen liegenden Bedingungen der räumlichen und
örtlichen Bewegung des Verkehrs. Dieſe erſcheinen wieder als
ſolche, deren Benutzung noch durch individuelle Thätigkeit möglich iſt,
die Verkehrsmittel im Wegeweſen und Schifffahrtsweſen, und in
ſolche, welche der Staat ſelber im Geſammtintereſſe in Bewegung ſetzt,
die Verkehrsanſtalten in Poſt, Bahnen, öffentlichen Dampfſchiff-
fahrtslinien und Telegraphen. Man kann dieſe Anſtalten als das
Verkehrsweſen im engeren Sinne zuſammenfaſſen.
Der zweite Theil zerfällt gleichfalls in zwei Theile. Zuerſt kommt
es darauf an, durch eine öffentlich geltende Ordnung des Maßes
und des Rechts des Werthes demſelben die Fähigkeit zu geben, Gegen-
ſtand des ſelbſtändig auf ihn gerichteten Verkehrs zu werden; und
dieſen Theil nennen wir die Werthordnung, auf welcher der Werth-
umlauf beruht. Dann aber muß der an ſich mit dem Gute ver-
bundene Werth die Fähigkeit gewinnen, ſich von den Gütern zu tren-
nen und ſelbſtändig in den Verkehr zu treten und die Bedingungen
dafür, auf das Innigſte mit dem Leben der Einzelwirthſchaft verbunden,
bilden das, was wir das Creditweſen nennen, durch welches der
Werth der Güter und Leiſtungen der Einzelwirthſchaft zum Objekt und
Inhalt des geſammten Güterlebens wird. Hier muß die Verwaltungs-
lehre die Grundbegriffe der Nationalökonomie im Allgemeinen, ſpeciell
aber die elementare Scheidung von Gut und Werth als bekannt vor-
[175] ausſetzen; dafür aber hat ſie die Fähigkeit, durch ihren Inhalt die
Richtigkeit dieſer organiſchen Auffaſſung der Güterlehre endgültig zu
beweiſen.
II. Das Princip des Verkehrsweſens und ſeine hiſtoriſche Entwicklung
aus der Regalität.
Es iſt nun kein Zweifel, daß das ganze Verkehrsweſen der Aus-
druck eines und deſſelben Gedankens iſt. Allein es hat lange gedauert,
bis man es als eine formale Einheit zuſammenſtellte und es als eine
organiſche anerkannte. Der geſchichtliche Entwicklungsproceß dieſes Ge-
dankens iſt aber vom höchſten Intereſſe, weil derſelbe zugleich die an
Einzelheiten faſt unüberſehbare reiche Geſchichte jedes einzelnen Theiles
allein beherrſcht und klar macht.
Auch das Verkehrsweſen als Aufgabe der Verwaltung entſteht erſt
da, wo durch die Loslöſung der perſönlichen Staatsidee von der Ge-
ſchlechter- und Ständeherrſchaft der Gedanke klar wird, daß überhaupt
die erſte Bedingung der Entwicklung des Staats der wirthſchaftliche
Fortſchritt des Einzelnen und die erſte Bedingung des letzteren wieder
die freie Bewegung deſſelben iſt. Dieſer Gedanke knüpft ſich nun an
das alte Syſtem der öffentlichen Staatsrechte, der Regalien. Zwar
fehlt urſprünglich dem Regal gänzlich der Gedanke der Verwaltung;
es iſt nur ein Recht des Staats gegenüber dem Rechte der Grundherr-
lichkeit; es wird nur ausgeübt, um Einnahmen zu verſchaffen; aber
die alten Regalien ſind ihrem Inhalte nach faſt ausnahmslos die
öffentlichen, einzeln hingeſtellten Rechte des Staats in
Beziehung auf das Verkehrsweſen. Der Inhalt der juriſti-
ſchen Lehre von den Regalien iſt daher die erſte juriſtiſche Geſtalt der
Lehre vom Verkehrsweſen. Als nun mit dem ſiebenzehnten Jahrhundert
das Merkantilſyſtem die hohe Bedeutung der Volkswirthſchaft und der
Eudämonismus die hohe Aufgabe der Staatsidee zu entwickeln be-
ginnen, werden aus den Regalrechten (Wegeregal, Poſtregal, Münz-
regal ꝛc.) Aufgaben der noch jungen und unfreien, aber gegen die
Beſchränkungen des ſtändiſchen Rechts rückſichtsloſe Staatsaufgaben,
was wohl niemand klarer fühlte, als Juſti, der ſchon 1766 in ſeinem
„Finanzweſen“ S. 423 ſagt, daß dem Staate die Direktion vermöge
des Regals zuſtehe. Mit dem achtzehnten Jahrhundert entſteht daher
eine neue Epoche. Die Staatsgewalt übernimmt es, auf Grundlage
ihrer Regalien die Verkehrsverhältniſſe theils durch ihre Geſetze, theils
durch ihre Organe zu ordnen; die Staatswiſſenſchaft in der Geſtalt
der „Polizeiwiſſenſchaft“ lehrt den Zuſammenhang mit dem Geſammt-
leben; die Technik in der Geſtalt der „Cameralwiſſenſchaft“ lehrt die
[176] Ausführung, und ſo bildet ſich allmählig eine erſte, freilich noch un-
zuſammenhängende Verwaltung des Verkehrsweſens. Allein dieſe Epoche
kennt noch weder die Einheit deſſelben, noch die Freiheit, noch das
Princip der Betheiligung des Einzelnen an ihrer Ausführung. Das
nun wird anders in der zweiten Epoche. Mit dem Siege der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft wird das Verkehrsweſen in ſeiner ganzen Be-
deutung erkannt, als die höchſte Bedingung des wirthſchaftlichen Fort-
ſchrittes des Einzelnen; die neue Wiſſenſchaft der freien Nationalökonomie
mit ihrem größten Vertreter, Adam Smith, zeigt die unabweisbare
Nothwendigkeit eines großen und freien Verkehrsweſens; die neue Ge-
ſetzgebung der Volksvertretung ſchafft ein neues Recht für alle Zweige
deſſelben und hebt die rechtlichen Hemmniſſe und Willkürlichkeiten, die
noch aus der ſtändiſchen Epoche übrig blieben, auf; die neue Organi-
ſation der Verwaltung in der Regierung erzeugt die Einheit und Gleich-
artigkeit in jedem Gebiete, die Selbſtverwaltung gibt den örtlichen
Verhältniſſen ihre Berechtigung und das Vereinsweſen lernt, die Be-
dürfniſſe des Verkehrs zum Gegenſtande ſeiner freien Unternehmungen
zu machen. So wird jetzt das Verkehrsweſen ein mächtiges, das ge-
ſammte volkswirthſchaftliche Leben umfaſſendes Ganze; die alten Be-
griffe des Regals und der Regalsrechte führen nur noch ein Schein-
leben in der deutſchen Rechtslehre fort und an ihre Stelle treten tief-
einſchneidende Behandlungen der einzelnen Theile in Princip und
Ausführung; in unſerer Zeit iſt es kein Zweifel mehr, daß es unter
allen dasjenige Gebiet der Verwaltung iſt, auf welchem in unſerem
Jahrhundert das Größte geleiſtet wird, was je in der geſammten Ge-
ſchichte der Verwaltung der Welt geſchehen iſt, und das Bewußtſein
iſt gewonnen, daß, während bisher der Schwerpunkt der Volkswirth-
ſchaftspflege in der Sorge für die einzelnen Produktionsarten lag,
von jetzt an derſelbe in der Verwaltung des Verkehrsweſens
gefunden werden muß. Das iſt der Charakter der gegenwärtigen
Epoche, die in der Frage nach dem Creditweſen bereits den Keim zum
Uebergange in die folgende, zukünftige enthält. Und jetzt bleibt nur
das Eine übrig, die Erkenntniß, daß alle einzelnen Theile deſſelben
ein Ganzes bilden und daß ſie daher auch alle von denſelben Principien
beherrſcht werden, die wiederum ihrerſeits nur der Ausfluß der großen
Elemente der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſind, und daß jeder der-
ſelben wie das Ganze ſich auf Grundlage der letzteren organiſch ent-
wickelt und ſeine gegenwärtige Geſtalt gebildet hat. Jene Principien
aber ſind einfach. Die Idee der organiſchen Einheit des Staatslebens
erzeugt das Princip der Einheit für das Syſtem der Verkehrsbedin-
gungen; das Princip der ſtaatsbürgerlichen Gleichheit erzeugt das
[177] Princip der Allgemeinheit derſelben, welche ihre Benützung jedem
zugänglich macht; und das Princip der volkswirthſchaftlichen Entwick-
lung erzeugt den Grundſatz der vollen Gleichheit und Freiheit in
der Benützung derſelben für jeden Einzelnen. Dieſe leitenden oberſten
Grundſätze erſcheinen nun in jedem Theile wieder und das höhere
Weſen jedes dieſer Theile iſt eben die gleichmäßigere Geltendmachung
jener Grundſätze für jeden der großen Zweige des Verkehrsweſens,
deren organiſche Einheit das Syſtem des letzteren bildet.
Charakter der ſtaatswiſſenſchaftlichen Literatur: Zerſplitterung in einzelne
Gebiete, theils in die Finanzwiſſenſchaft, theils in die Volkswirthſchaftspflege,
wo ſie meiſt, wie bei Rau und Roſcher, nur in ihrer Verbindung mit der
Landwirthſchaft dargeſtellt werden. Nur die Polizeiwiſſenſchaft (Mohl) hält die
Idee der Selbſtändigkeit feſt, ohne jedoch zu einem Syſtem zu gelangen. Da-
neben ausgezeichnete Einzelarbeiten, die jedoch entweder nur den volkswirth-
ſchaftlichen oder den techniſchen Standpunkt durchführen. Aufgabe: die einheitliche
Idee der Verwaltung für das Ganze zur Geltung zu bringen.
III. Das öffentliche und das bürgerliche Verwaltungsrecht des
Verkehrsweſens.
Die Verwirklichung dieſer großen Principien, die als eines der
wichtigſten Reſultate der neueren Staatengeſchichte betrachtet werden
müſſen, hat nun zwei Grundformen.
Die erſte entſteht dadurch, daß der Staat ſelbſt die Bedingungen
des Verkehrs durch ſeine Thätigkeit herſtellt und dann die Benützung
dieſer Bedingungen durch die Einzelnen im Geſammtintereſſe rechtlich
ordnet. Das nun wird vollzogen durch alle drei Organe der voll-
ziehenden Gewalt zugleich, und zwar im Großen und Ganzen der Natur
derſelben entſprechend in der Weiſe, daß die Geſetzgebung die leiten-
den Principien gibt, die Regierung die Einheit und Gleichheit in
dem vielfältigen Organismus des Verkehrsweſens aufrecht hält, die
Selbſtverwaltung die örtlich begränzte Ausführung übernimmt und
das Vereinsweſen da eintritt, wo es ſich um einzelne beſtimmte
Aufgaben und Zwecke handelt. Die öffentlich rechtlichen Beſtimmungen,
nach denen jedes dieſer Organe das Verkehrsweſen innerhalb ſeines
Gebietes ordnet, bildet dann das öffentliche Verkehrsrecht. Jeder
Theil deſſelben hat daher erſtlich ſein Syſtem, dann ſeinen Organismus
und endlich wieder ſeine Geſchichte, und es iſt Sache der Wiſſenſchaft,
den unendlich reichen Inhalt all dieſer Theile in Eins zuſammenzufaſſen,
während eine Codifikation ſchon für die einzelnen Gebiete ſchwierig,
für das Ganze aber unmöglich erſcheint. Dieß nun hat das Folgende
zu zeigen.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 12
[178]
Die zweite Grundform entſteht dadurch, daß die Verwirk-
lichung der Idee des Verkehrsweſens die an ſich abſolut freie Willens-
beſtimmung des Einzelnen im Einzelverkehr in ſo weit beſchränkt und
beſtimmt, als dieß im Intereſſe des Verkehrsweſens gefordert wird.
Dieſe durch das letztere gegebene Beſchränkung des Vertragsrechts iſt
nun dasjenige, was wir das bürgerliche Verwaltungsrecht des Verkehrs
nennen, und das, obgleich es einen formellen Theil des bürgerlichen
Vertragsrechts bildet, dennoch dem Weſen nach dem öffentlichen Rechte
angehört. Die Verwaltungslehre muß ſich begnügen, auf das Gebiet
aufmerkſam zu machen; die vollendete Rechtswiſſenſchaft hat es im Ein-
zelnen durchzuführen.
Von dieſem Standpunkte aus muß das folgende Syſtem im Gan-
zen wie im Einzelnen betrachtet werden.
Erſter Theil.
Die Verkehrsmittel und die Verwaltung.
Begriff und Syſtem.
Der Weg im weiteſten Sinne des Wortes iſt die erſte materielle,
unbedingte Vorausſetzung alles Verkehrs und damit aller Produktivität,
ja des gemeinſamen Lebens überhaupt. Es gibt aber keinen Weg an
ſich, ſondern der Begriff des Weges iſt ein rein verwaltungsrecht-
licher. Ein Weg iſt dasjenige örtliche Verkehrsmittel zwiſchen beſtimm-
ten Orten, deſſen Benützung jedem Einzelnen zum Zwecke ſeines
Verkehrs rechtlich zuſteht. Aus dieſem einfachen Begriffe des Wege-
rechts entſteht nun der Begriff und Inhalt der Wegeverwaltung
und ihres Rechts, indem der auf dieſe Weiſe dem öffentlichen Leben
angehörende Weg eine Reihe von techniſchen Bedingungen und admini-
ſtrativen Ordnungen fordert, um ſeine Beſtimmung ganz erfüllen zu
können. Das nun iſt die Aufgabe der Verwaltung, die ihr Objekt aus
den Händen des Rechts empfängt. Die wirklichen Wege theilen ſich
dann in Land- und Waſſerwege; die Anwendung der obigen Begriffe
auf beide Arten iſt eine ſehr verſchiedene theils nach der Natur der
Sache, theils auch örtlich und hiſtoriſch beſtimmt. Immer aber bleiben
die obigen Principien die einheitliche und gemeinſame Grundlage, und die
Geſammtheit aller Rechte, Anſtalten und Anordnungen, durch welche
die Wege vermöge der Geſetzgebung und Verwaltung in den Stand
geſetzt werden, ihren Zweck zu erfüllen, bilden das Wegeweſen.
[179]
Beginn der Behandlung des Gegenſtandes erſt mit der Regalität. Die
hiſtoriſch rechtliche Auffaſſung ſetzt ſich fort in der deutſchen Rechtsgeſchichte
und dem deutſchen Privatrecht, ohne ſtaatswiſſenſchaftliches Verſtändniß. Auf-
nahme in die Polizeiwiſſenſchaft im achtzehnten Jahrhundert (Juſti und Sonnen-
fels) und Beibehaltung in derſelben (Mohl) jedoch mit vorwiegend techniſcher
Auffaſſung. Uebergang in die Verwaltungsgeſetzkunde (Mohl, Württemb. Ver-
waltungsrecht), von da an als Excerpt aus den einzelnen geſetzlichen Anord-
nungen. In der Praxis weſentlich örtliche Auffaſſung.
Elemente ſeiner Rechtsgeſchichte.
Das gegenwärtige Princip des Landwegerechts iſt das Ergebniß
einer vielhundertjährigen Geſchichte, die innig mit der Entwicklung von
Staat und Volkswirthſchaft zuſammenhängt und welche den langſamen
Sieg der Idee der Verwaltung über das hiſtoriſche Wegerecht in ziem-
lich klaren Stadien darlegt. Man kann daher die geſchichtliche Ent-
wicklung des Wegeweſens in die zwei großen Epochen des Wege-
rechts und der Wegeverwaltung theilen. Die erſte reicht bis zum
achtzehnten Jahrhundert, die zweite empfängt erſt mit dem neunzehnten
ihren wahren Inhalt.
Anfänglich ſind alle Wege Theile der Grundbeſitze, welche ſie ver-
binden. Nur die Heerſtraßen gehören dem Ganzen. Das öffentliche
Recht iſt nur noch das des Wegefriedens. Als aus der bäuerlichen
Geſchlechterordnung ſich die ſtändiſche der Grundherrlichkeit entwickelt,
erzeugt jenes Princip das des grundherrlichen Wegerechts; aus
dem Eigenthum am Wege gehen die Zölle und das Mauthrecht hervor
(telonium und passagium), ſo wie die öffentliche Dienſtbarkeit des
Straßenzwanges. Das Wegeweſen wird unfrei. Ueber das grund-
herrliche Wegerecht erhebt ſich mit dem ſechzehnten Jahrhundert das
Princip des Wegeregals, das anfänglich rein negativ nur noch das
Recht des Staats enthält, gegen die Bedrückungen des Grundherren als
Eigenthümer der Wege einzuſchreiten, freilich aber auch das Recht der
Zölle auf den Heerſtraßen erzeugt. Das Wegeregal bildet den Uebergang
vom bloßen Wegerecht des Mittelalters zur Wegeverwaltung der neueren
Zeit. Es bildet den rechtlichen Boden für die Verwirklichung der For-
derungen, welche das entſtehende Verſtändniß der Volkswirthſchaft an
die neue Auffaſſung des öffentlichen Wegeweſens ſtellt. Man beginnt
mit dem achtzehnten Jahrhundert den wirthſchaftlichen Werth der
Wege zu begreifen; die Staatswiſſenſchaft gibt der Regalität ihren
erſten poſitiven Inhalt in der Forderung nach guten Wegen; ſchon
beginnt die Technik des eigentlichen Wegebaues ſich an das allgemeine
[180] Princip anzulehnen, und die Geſetzgebung entwickelt, wenn auch noch
weſentlich auf dem Wege örtlicher Verordnungen, die Wegepolizei und
Wegeordnung. Allein noch fehlt die ſyſtematiſche Auffaſſung derſelben
als einer allgemeinen Anſtalt; noch immer bleibt der Grundherr die
vollziehende Gewalt für die Gemeindewege und die Oberaufſicht faſt
immer eine nominelle, während an Anlage neuer Wege gar nicht ge-
dacht wird. Dieß nun geſtaltet ſich erſt mit dem Anfang unſeres
Jahrhunderts um. Der Beginn der Volksvertretung läßt organiſche
Wegegeſetze entſtehen; die Aufhebung der Grundherrlichkeit übergibt die
Gemeindewege der freien Selbſtverwaltung; die Regierung fängt an,
aus den Elementen des alten Rechts ein Syſtem des Wegeweſens zu
bilden, und die Belebung der Volkswirthſchaft, die ſich vor allen
Dingen in der vermehrten Benützung aller Wege äußert, vermehrt
damit auch den Werth und folgeweiſe die Nothwendigkeit der guten
Wege. So entſteht jetzt der Grundſatz, daß das geſammte Wegeweſen
Ein rechtliches Ganzes und daß die Verwaltung deſſelben mithin be-
rechtigt und verpflichtet ſei, demſelben diejenige Geſtalt und Ordnung
zu geben, welche als die Bedingungen des allgemeinen Verkehrs von
der Volkswirthſchaft gefordert werden. Damit bildet ſich der Inhalt
der zweiten Epoche, die Wegeverwaltung mit ihren Rechten und
Syſtemen als Geſtalt des Wegeweſens unſerer Gegenwart, bei aller ört-
lichen Verſchiedenheit im Princip allenthalben gleich und gleichmäßig
thätig.
Das alte Recht der Heerſtraßen (vergl. Eichhorn, Rechtsgeſchichte IV.
§. 312 und Deutſches Privatrecht §. 214; Mittermaier, deutſches Privat-
recht §. 534). Im deutſchen Reich wird allerdings ſchon durch R-A. von 1668
(Gerſtlacher, Handbuch IX. 1382) den Reichsſtänden die Wegepflicht auf-
erlegt, aber nur die Reichskreiſe hatten die Oberaufſicht und thaten nichts.
Vergeblich blieb das Kreisrecht von 1764; doch ſtand theoretiſch das Recht der
Kreisſtände feſt, Vernachläſſigung zu ahnden (Möſer, Teutſche Kreisverfaſ-
ſung S. 738); Anlage von gemeinſchaftlichen Straßen konnte nur auf gemeinſamen
Beſchluß ſtattfinden (Berg, Polizeirecht III. S. 546 f.); die Hauptſache blieb
daher den großen Territorialherren. Hier geſchah von Einzelnen ſchon im acht-
zehnten Jahrhundert vieles; muſtergültig war die preußiſche Verordnung vom
28. März 1738 (vergl. Fiſcher, Cameral- und Polizeirecht III. 409). Indeß
entſtand keine gleichartige Wegeverwaltung, obgleich die Regalität ſchon als
„Recht der landesherrlichen Straßen- und Wegepolizei“ anerkannt wird (Berg
a. a. O. 548; Fiſcher edend. 513; Moſer, Landeshoheit in Anſehung Erde
und Waſſers S. 9). Die Theorie forderte indeß laut eine gute Wegverwaltung.
Juſti, Finanzwiſſenſchaft §. 287; Polizei Bd. IV. Hauptſt. 15. §. 434: „Laſſet
nur erſt unſere Hufner von dem großen Nutzen ſolcher Straßen überzeugt ſein,
ſo werden ſich die Koſten dazu bald finden.“ Sonnenfels ſtellt ſchon das
[181] leitende Princip auf: „der Vortheil gut angelegter Wege beſteht in der Er-
ſparung der Zeit und des Zuges,“ Handlung V. 229. Dennoch Feſthalten
des grundherrlichen Wegerechts: namentlich im Preuß. Allgem. Landrecht
II. 15. §. 15 unter der Formel, daß „die Provinzialgeſetze oder beſonderen
Wegeordnungen“ gegenüber dem Allgem. Landrecht in Kraft zu verbleiben haben.
Dadurch Entkräftung aller ſtaatlichen Inſtitutionen, trotz vielfacher einzelner
polizeilicher Vorſchriften (Rönne, Preuß. Staatsrecht II. 415). Erſt das Ent-
ſtehen der Kunſtſtraßen gibt Veranlaſſung zu neuer Thätigkeit. Die Theorie
bleibt jedoch dabei faſt ausſchließlich techniſch; die Geſetzgebungen beſchränken
ſich auf Ordnung der Wegelaſt und des Wegebaues und auch dieß nur in faſt
durchgehend localer Weiſe. Eine ſyſtematiſche Wegegeſetzgebung und eine orga-
niſche Wegeverwaltung iſt aus dem vielfachen Material noch nirgends hinaus-
gewachſen. Der Theorie fehlt der Mittelpunkt der Behandlung; das ganze
Wegeweſen erſcheint namentlich ſeit Berg als Theil der Handelspolizei, oder
nach Frank, landwirthſch. Polizei II. 256 als Theil der Landwirthſchafts-
polizei (vergl. Lotz, Staatswiſſenſchaft I. §. 67; Rau, Volkswirthſchaftspflege
§. 256; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 168; Wirth, Nationalökonomie S. 192.
Das alte Princip der Regalität zuletzt noch formell vertreten von Klüber,
öffentliches Recht §. 409. 410. Von da an verſchwindet es aus dem allge-
meinen Strafrecht, und die territorialen Staatsrechte führen es nach Mohls
Vorgange (württemb. Staatsrecht II. S. 30. 604) im Verwaltungsrecht fort.
— Mecklenburg: Landſtraße und Communikationsweg (Ductus viae) vom
12. Mai 1829. Der Grund des Mangels iſt weſentlich der Mangel der Einheit
Deutſchlands, obgleich Rönne mit Recht klagt, daß Preußen es auch noch zu
keinem allgemeinen Wegegeſetz gebracht hat (Staatsrecht II. 415). Staats-
baudienſt-Ordnung nebſt Organiſation des Bildungsweſens für Bautechnik.
— Baden: Bekanntmachung vom 14. Mai und 14. Aug. 1864. — Bayern:
Baupolizeiordnung vom 30. Juni 1864. — In Frankreich nimmt die Sache
einen andern Verlauf. Vor der Revolution gab es zwar einen Grand Voyer,
ſchon ſeit 1607; aber er hatte mit dem Wegeweſen gar nichts zu thun, wie
Robert bei Block (Dict.) meint, ſondern nur die Einnahme von den Wegen
(Gujot, Repert. de jurisprudence, Vol. 17, v. Voirie). Die wegepolizei-
lichen Vorſchriften ſtanden unter den Gerichten. Erſt das Decret vom 26. Juli 1790
hob alle Grundherrlichkeit der Wege auf; dann wurden die alten Ordnungen
proviſoriſch anerkannt (Decret vom 19. Juli 1791), bis das Grundgeſetz des
ganzen franzöſiſchen Wegeweſens (Decret vom 10. Dec. 1811) daſſelbe voll-
ſtändig ordnete; es gilt in allem Weſentlichen bis auf den heutigen Tag. Die
Literatur, die ſich daran geſchloſſen, bei Block, Dict. v. Voirie; die techniſche
bei Mohl, Polizeiwiſſenſchaft a. a. O. Unterſchied der Routes nationales
(Staat), départementales (Departement); Chemin de grande vicinalité (zwi-
ſchen mehreren Gemeinden), de petite vicinalité (innerhalb der Gemeinde):
Geſetz vom 21. Mai 1836. Laferrière, Droit publ. et adm. I. 1. T. IV.
— Englands Wegeweſen unterſcheidet ſich weſentlich dadurch, daß es nie
ein grundherrliches Wegerecht hatte, ſondern die Wege von jeher Gemeinde-
angelegenheit waren; das Parlament erließ viele einzelne Verordnungen als
[182]Statutes, und dieſe wurden in der üblichen Form in allgemeinen Wegeord-
nungen geſammelt. Ihr Hauptinhalt war Strafpolizei. Die jetzt geltende
eigentliche Wegeordnung iſt 5. 6. Will. IV. 50 (vergl. über das engliſche Wege-
recht Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht II. §. 42). Die Wegeverwaltung
dagegen entwickelt ſich erſt mit den Chauſſeen und nimmt faſt ganz den fran-
zöſiſchen Charakter an (ſ. unten).
Das Syſtem des Wege- und Bauweſens und ſeines Rechts.
Während nun auf dieſe Weiſe mit dem achtzehnten Jahrhundert
das Princip durchgreift, daß das Wegeweſen als Ganzes eine Aufgabe
der Geſammtheit ſei, der ſich jedes einzelne Wegerecht unterzuordnen
habe, bildet das neunzehnte Jahrhundert, durch den immer allgemeine-
ren Verkehr gezwungen, die Principien aus, nach denen die Benütz-
barkeit der Wege für alle Arten und Theile derſelben gleichmäßig
hergeſtellt wird.
Die Grundlage dieſes Syſtems iſt nun eine doppelte, das Bau-
weſen und das eigentliche Wegeweſen. Das erſte enthält die
techniſchen, das zweite die rechtlichen Verhältniſſe und Bedingun-
gen des Wegeweſens und ſeiner Entwicklung.
a) Das öffentliche Bauweſen.
Das Bauen iſt an ſich ein freies Gewerbe, wie jedes andere. Der
Begriff und das Recht des öffentlichen Bauweſens entſteht jedoch da,
wo überhaupt für öffentliche Zwecke ein Bau geführt wird. Das leitende
Princip für das öffentliche Bauweſen iſt daher, daß daſſelbe ohne Rückſicht
auf Privatintereſſen dem öffentlichen Bedürfniß diene, und daher, da dieſes
ſelbſt beſtändig dauernd und ſtets lebendig iſt, auch allen Forderungen
der ſoliden und zweckmäßigen Technik entſpreche. Daraus entſteht der
Grundſatz, daß das öffentliche Bauweſen ſelbſt wieder eine vollendete
Fachbildung einerſeits, und eine öffentliche Oberaufſicht über die
geführten Bauten andererſeits enthalte. Und die Geſammtheit der für
beide Theile geltenden Beſtimmungen bilden das Recht des öffentlichen
Bauweſens. Das Princip dieſes Rechts iſt, daß zu öffentlichen Bau-
ten nur diejenigen zugelaſſen werden ſollen, welche die vorgeſchriebene
Fachbildung an den Bau- oder techniſchen Bildungsanſtalten gewonnen
und die Prüfung dafür beſtanden haben; die Ausführung ruht in
der Hand des dafür eingeſetzten amtlichen Körpers, der theils Inſtruk-
tionen zu erlaſſen, theils die Oberaufſicht über die Ausführung zu
leiten hat.
Natürlich umfaßt nun das öffentliche Bauweſen alle öffentlichen
Bauten, alſo auch diejenigen, welche mit dem Wegeweſen nichts zu
[183] thun haben. Allein es iſt keine Frage, daß das Wegeweſen die Haupt-
anwendung der Grundſätze bildet, welche dafür gelten. Man ſcheidet
daher mit Recht Hochbauten, Brückenbauten, Waſſerbauten und Wege-
bauten. Jede derſelben hat ihre Technik und daher ihre techniſche Fach-
bildung, welche die Verwaltungslehre als bekannt vorauszuſetzen hat.
Dagegen iſt für die Beurtheilung dieſes Gebietes in erſter Linie das
Verhältniß maßgebend, in welchem die Regierung zur Selbſtverwaltung
ſteht; je weniger dieſe letzterer überhaupt überlaſſen iſt, deſto ſtärker
iſt gegenüber dem Privatbau die Entwicklung des amtlichen Baukörpers
und ſeiner Thätigkeit; und umgekehrt entſteht daraus der große Unter-
ſchied zwiſchen England, Frankreich und Deutſchland in dieſer Beziehung.
Aus demſelben Grunde erklärt ſich auch die ſehr verſchiedene Entwick-
lung der Sache in den einzelnen Staaten Deutſchlands, ſowie anderer-
ſeits das Hineingreifen in das Privatbauweſen wieder ein eigentlich
wiſſenſchaftliches Syſtem nicht thunlich macht.
In England gibt es gar kein öffentliches Bauweſen, wie es keine öffent-
liche Fachbildung für die Technik gibt. Hier iſt alles der Privatthätigkeit und
Induſtrie überlaſſen. Dagegen iſt mit unſerem Jahrhundert das Wegeweſen
ſtark amtlich entwickelt, theils auch durch die Geſellſchaftsunternehmungen der
Turnpike Roads weſentlich gefördert (ſ. Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II.
§. 119). Das gerade Gegentheil davon iſt Frankreich. Hier ward ſchon 1722
der Plan gefaßt, das ganze Reich mit 12000 lieues Wegen vom Staat aus
zu verſehen: 1750 ward das Corps der Ponts et Chaussées errichtet, das 1791
erhalten, mit mannichfachen Organiſationen verſehen, und zuletzt durch Decret
vom 13. Okt. 1851 neu organiſirt wurde. Grundlage iſt die Eintheilung in
den Conseil général des Ponts et Chaussées und die Inspecteurs erſter und zweiter
Claſſe. Unter ihnen ſteht das ganze öffentliche Bauweſen Frankreichs, ſpe-
ciell das Wege- und Brückenweſen. Strenge und ſehr detaillirte Vorſchriften
über das Verfahren (ſ. beſonders Laferrière, Droit publ. T. I. p. 620 sq.).
Kurze Darſtellung der Organiſation mit der ſich daran ſchließenden Literatur
bei Block, v. Ponts et Chaussées; Errichtung der Ecole des Ponts et Chaus-
sées ſchon 1750. Stellung des ganzen Körpers unter den Miniſter des Innern
durch Decret vom 25. Aug. 1804; unter das Ministère des travaux publics
(Decret vom 25. Juli 1833). Ueber das Verfahren bei Ueberlaſſung der
Arbeiten an Private, die Cahiers, die licitation etc. ſ. Laferrière a. a. O.
§. 2. 3. Das Conseil des bâtiments civils ib. §. 3. In Preußen beſteht
nach franzöſiſchem Vorbilde die durch Verordnung vom 22. Dec. 1849 neu
organiſirte techniſche Baudeputation als Oberaufſichtsbehörde; daneben
die königliche Bauakademie in Berlin (errichtet durch Verordnung vom
20. April 1799); von da an mehrfach reorganiſirt dem Miniſterium für Handel
und öffentliche Arbeiten untergeordnet (Verordnung vom 18. März 1855);
ſ. Rönne, Baupolizei 2. Ausgabe S. 44 ff.; Rönne, Staatsrecht II. §. 228
(Kurz.) In Oeſterreich iſt das öffentliche Bauweſen noch nicht organiſirt;
[184] die Fachbildung auf dem polytechniſchen Inſtitute. Aehnlich in den meiſten
deutſchen Staaten, wo ſich die Verwaltung auf die Herſtellung der techniſchen
Fachbildungsanſtalten beſchränkt. Allerdings auch hier mit ſteter Berückſichti-
gung des Wegeweſens.
b) Das eigentliche Wegeweſen.
Das eigentliche Wegeweſen enthält nun die Grundſätze, Beſtim-
mungen und Organe, durch welche die Anforderungen des öffentlichen
Wegebauweſens an die Wege eines Reiches in Vollzug geſetzt werden.
Die Aufgabe dieſes Wegeweſens iſt nun eine zweifache. Zuerſt bilden
alle Wege eines Reiches gegenüber dem Geſammtverkehr deſſelben ein
Ganzes, und die für das geſammte Wegeweſen beſtehenden gleich-
artigen geſetzlichen Beſtimmungen bilden die Wegeordnung, welche
durch die Behörden für das Wegeweſen örtlich in Ausübung gebracht
werden. Zweitens aber kommt es darauf an, die Bedingungen der
Herſtellung der Wege durch die geſetzliche Ordnung der Wegelaſt feſt-
zuſtellen.
1) Die Organiſation des Wegeweſens hat faſt allenthalben, wo
eine ſolche exiſtirt, denſelben Charakter; das Wegeweſen ſteht im Cen-
trum unter den Organen des öffentlichen Bauweſens. Oertlich beſteht
das Inſtitut der Wegeinſpektoren, das allerdings mit mehr oder
weniger Nachdruck thätig iſt. Speciell gehören dieſem Organismus die
Brücken aus naheliegenden Urſachen. Das Wegeweſen einer Land-
ſchaft ſoll allerdings Sache dieſes Selbſtverwaltungskörpers ſein, je-
doch ſoll feſtgehalten werden, daß die ausführenden Techniker wie die
Landesbehörden der öffentlichen Fachbildung bedürfen.
2) Die Wegeordnung iſt in den meiſten continentalen Staaten
Gegenſtand eigener Geſetzgebung, die jedoch vorzugsweiſe die
Wegelaſt betreffen (ſ. unten). Die Wegepolizei iſt der Schutz der
Wege gegen die verderbliche Benützung derſelben durch Einzelne, und
zwar theils als eigentliche Wegepolizei, welche den Wegekörper gegen
den Verderb durch Bäume ſchützt, Gräben offen hält u. ſ. w. Dann
aber die Fuhrwerkspolizei, die früher, namentlich ſeit dem Ent-
ſtehen der Wegebautechnik nach der Methode Mac Adams als „Chauſſee“
ſehr genau ausgebildet und gehandhabt ward (Räderbreite, Zahl der
Pferde, Gewicht der Fuhr), jetzt aber durch ein adäquates Syſtem von
Wegeabgaben rationell überflüſſig gemacht iſt. Einen ſpeciellen Theil der
Wegeordnung bildet die Straßenordnung und die Straßen- und
Straßenfuhrpolizei der Städte, an die ſich die zwar lokale, aber
höchſt wichtige Fuhrpolizei der Lohnfuhrwerksordnung anſchließt,
die der Selbſtverwaltung überlaſſen bleiben ſoll.
[185]
3) Die Wegelaſt als Summe der Leiſtungen für die Herſtellung
der Wege hat ſich dadurch organiſirt, daß eben durch ſie aus dem ur-
ſprünglich rein rechtlichen Syſtem der Reichs-(Heer)ſtraßen, Land-
ſtraßen und Gemeindewege ein Syſtem der Wegeverwaltung mit
dem Princip der Verpflichtung zur Herſtellung brauchbarer Wege
geworden iſt. Die Verwirklichung dieſes Princips hatte nun die Claſſi-
fikation der Wege für dieſen Zweck zur Vorausſetzung und zwar in
der Weiſe, daß Wegelaſten und Wegeeinnahmen je nach der Claſſe des
Weges dem Staate, dem Lande, der Gemeinde, oder gemeinſchaftlich
beiden zufallen und in dieſer Beziehung iſt Frankreich mit ſeiner for-
malen Eintheilung das Muſter geworden. In Deutſchland hat ſich
dagegen noch vielfach leider das aus dem grundherrlichen Wegeweſen
entſtandene Recht der Wegefrohnden erhalten. Daran hat ſich dann
das Syſtem der Unterſtützung der Gemeinden aus Staatsmitteln
für den Wegebau gebildet, mit Unrecht von Adam Smith (V. B.)
gänzlich verurtheilt, und ebenſo mit Unrecht von Say unbedingt ver-
treten, dem in oft unklarer Weiſe die deutſche Literatur zu ſehr gefolgt
iſt. Das Richtige liegt offenbar darin, daß bei guter Claſſifika-
tion die Unterſtützung nur Ausnahme ſein kann, dann aber ein-
treten ſoll.
Der Wegelaſt gegenüber ſteht dann das Syſtem der Wegeab-
gaben oder der Mauth als ein Theil des Gebührenſyſtems. Die
Wegeabgaben ſind gerechtfertigt, wenn ſie zur Herſtellung der Wege
wirklich benützt werden. Bei Brücken ſind ſie an ſich immer richtig,
wenn ſie auch nicht immer durchführbar ſind. — Das Recht auf Wege-
abgaben für die Benützung von Wegen und Brücken, welche Private
erbauen, iſt begründet, bedarf aber der Zuſtimmung der Behörde.
Die Form der Erhebung iſt am beſten die Verpachtung; die
Straßenmauthen gehören in Princip und Ausführung der Selbſt-
verwaltung.
Die einzige ſyſtematiſche Sammlung für Preußen: Rönne, Wegepolizei
vergl. deſſen Staatsrecht §. 415—418. Das Preuß. Allgem. Landrecht II. 15
iſt mit all ſeinen Mängeln und Unklarheiten noch immer die Grundlage des
Wegerechts und hat zuerſt das Princip ausgeſprochen, daß alle Orte mit
öffentlichen Wegen verbunden ſein ſollen. Die Claſſifikation als Grundlage
der einheitlichen Verwaltung fehlt. Zerſtreute Angaben bei Mayer, Verwal-
tungsrecht (bayeriſche Verordnung vom 18. Febr. 1835); Kunſtſtraßenordnung
(kurheſſiſche Verordnung von 1858, S. 171—174); Pözl, bayeriſches Ver-
waltungsrecht §. 166. 167; Mohl, württembergiſches Verwaltungsrecht II. §. 116
(Straßenbauinſpektion) und §. 246 (Verwaltung); Römer, kurſächſiſches Staats-
recht II. 807; Weiß, ſächſiſches Staatsrecht II. 191. Ueber die frühere Literatur
ſ. Klüber, Literatur S. 426. Neuere für Frankreich: Mohl, Literatur
[186] der Staatswiſſenſchaft III. 273; Königreich Sachſen ebend. II. 366. Das
frühere, örtlich behandelte Wegeweſen Oeſterreichs bei Stubenrauch, Ver-
waltungsgeſetzkunde II. 527. Die neue Ordnung der Verwaltung auf der fach-
gemäßen Grundlage der Competenz der Landtage und Gemeindeverwaltung
mit Oberaufſicht und entſcheidender Stimme der erſteren ſeit 1861. Nach dem
Patent vom Febr. 1861 iſt die Geſetzgebung über das Wegeweſen der „Landes-
ſtraßen“ den Landtagen überlaſſen; beſtätigt im Grundgeſetz vom 21. Juni 1867
§. 17. Das Grundgeſetz vom 16. April 1864 gibt die Gemeindeſtraßen den
Gemeinden, die Bezirksſtraßen durch Geſetz vom 25. Juli 1864 den Bezirks-
vertretungen. Die Wegelaſt iſt ſpeciell als Straßenconcurrenzgeſetz durch
Geſetz vom 12. Auguſt 1864 regulirt. — Den techniſchen einfachen Grund-
gedanken ſpricht ſchon Juſti aus (1760) I. §. 427: „Man muß den Schluß
machen, daß alle Landſtraßen ſehr wenig taugen, wenn man nicht durch die
Kunſt einen feſten Grund gelegt hat.“ Das Syſtem Mac Adams (Remarks
on the present systeme of road making 1819 6. Auflage 1822) hat dieſen
Grundſatz dem zweiten hinzugefügt, auf der feſten Grundlage eine gleich feſte
Decke zu bilden. So ſind die eigentlichen Kunſtſtraßen entſtanden (vergl.
Mohl, Polizeiwiſſenſch. II. §. 168; deutſche techniſche Literatur bei LotzI. S. 354;
Mohl a. a. O.; Rau 256). Der Streit über die Anſicht von Adam Smith,
die weſentlich auf engliſche Verhältniſſe berechnet war, gut in Block, Dict.
de l’Econ. pol. v. Alignement und Voirie. Das franzöſiſche Recht iſt
namentlich klar über das Wegerecht; der Wegebau iſt dagegen ganz dem amt-
lichen Körper der Ponts et Chaussées übergeben; die Ecole des Ponts et
Chaussées gegründet 1750; letzte Organiſation des Corps: Decret vom
13. Okt. 1851 (vergl. Annales des Ponts et Chaussées ſeit 1831; Literatur
bei Mohl und Block; vergl. Rau §. 256); die beſte Darſtellung bei Lafer-
rière, Droit adm. L. I. 1. T. 4) nebſt der Geſchichte. Das Recht und die
Geſchichte des engliſchen Wege- und Brückenweſens gewinnt erſt mit der
Wegeordnung von 5. 6. Will. IV. eine allgemeine und feſte Geſtalt; das Syſtem
der Surveyors of highways und der beſoldeten Beamteten iſt unzweifelhaft
dem franzöſiſchen Recht nachgebildet. Die Justices of the Peace haben die
Wegepolizei; mit den Chauſſeen (Turnpike Roads) tritt dann das neue
Syſtem der Chauſſeeverwaltung ein; das durch die General Turnpike Act
3. G. IV. 126 ins Leben, das durch mehrere neue Geſetze weiter entwickelt
wird (ſ. Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht II. §. 117—122).
Die Waſſerwege haben zunächſt denſelben Charakter wie die Land-
wege, ſoweit die Natur des Waſſers ſie nicht ändert, und im weſent-
lichen daher auch dieſelbe Geſchichte. Allein daneben ſind ſie zugleich
die großen volkverbindenden Verkehrslinien; ſie berühren damit das
Gebiet des internationalen Verwaltungsrechts, und müſſen daher von
dieſem Geſichtspunkt betrachtet werden, während andererſeits der
Unterſchied von Fluß- und Seeweg auf die einzelnen Beſtimmungen
[187] entſcheidenden Einfluß hat. Endlich ſind ſie ihrer Natur nach örtlich,
und Recht und Verwaltung derſelben haben daher ſtets einen vor-
wiegend örtlichen, je nach den Verhältniſſen des betreffenden Landes
ſehr verſchieden entwickelten Inhalt. Doch bleiben die beiden Gedanken
gemeinſam.
1) Das Recht der Waſſerwege wird wie das der Landwege ur-
ſprünglich von dem Grundbeſitze beherrſcht. Die Geſchichte dieſes Rechts
iſt die langſame Befreiung jedes Waſſerweges von dieſer Herrſchaft
des Grundbeſitzes, und die Verwirklichung der Idee der vollen Frei-
heit des Verkehrs auf demſelben. Den Ausgangspunkt gibt auch hier
der Begriff des Waſſeregals. Die erſte Frage des öffentlichen
Waſſerrechts war daher die nach der rechtlichen Gränze zwiſchen dem
Recht des Grundherrn am fließenden Waſſer, und dem der Gemein-
ſchaft, welche der Staat vertrat. Sie ward nach römiſchem Vorgang
dahin entſchieden, daß die Fähigkeit des Waſſers, zum Verkehr benützt
zu werden, demſelben das Recht des öffentlichen Weges gebe (flumen
navigabile, Schiffbarkeit). Daſſelbe galt von den Häfen, ſowohl den
Fluß- als den Seehäfen. Allein eben dieſe Regalität erzeugt in ihrer
erſten Epoche für die Flüſſe und Meerwege das Recht der Zölle in
internationalem Verkehr, für die Häfen vielfach das Stapelrecht und
die Differentialabgaben der Schiffe fremder Flaggen. Erſt das neun-
zehnte Jahrhundert wendet das innere Rechtsprincip der Freiheit der
Benützung auch auf den internationalen Verkehr an; Zölle und Diffe-
rentialabgaben verſchwinden mehr und mehr, und Schiffbarkeit und
Verkehrsfreiheit werden zum Heile des Volkes gleichbedeutend.
2) Einen ähnlichen Entwicklungsgang nimmt die Verwaltung
der Waſſerwege. Dieſelbe hat die Aufgabe für den öffentlichen
Waſſerweg einerſeits die Sicherheit, andererſeits die Leichtigkeit der
Benützung herzuſtellen. Das erſte geſchieht durch die Strompolizei,
die ſeit dem ſiebzehnten Jahrhundert für die Flußwege zu umfaſſen-
den Geſetzen geordnet und lokal entwickelt wird, und durch die Hafen-
polizei, welche ſich ihrer Natur nach vorzugsweiſe lokal entwickelt.
Das zweite erzeugt die öffentlichen Anſtalten und Unternehmungen,
welche theils in den Canälen eigene neue Waſſerwege bauen, theils
in den Baggerungen und Regulirungen die Schiffbarkeit gegen
die natürlichen Verſandungen ſchützen, theils endlich in Damm- und
Hafenbauten die örtliche Benützung ſichern und fördern. Bis zum
neunzehnten Jahrhundert bleiben auch dieſe Anſtalten auf die ein-
zelnen Staaten beſchränkt; erſt in der neueſten Zeit beginnt ein großes
internationales Leben, und auf all den Punkten, wo europäiſche Ver-
kehrslinien zu Waſſer vorhanden ſind, entſtehen Völkerverträge und
[188] Unternehmungen, welche den rechtlichen und volkswirthſchaftlichen Aus-
druck der großen Gemeinſchaft der Intereſſen unſeres Erdtheils bilden.
Es iſt die große Schwierigkeit, hier theoretiſch aus einander zu halten,
was im wirklichen Leben beſtändig in einander übergeht, Waſſerordnung, Waſſer-
wege und Schifffahrtsweſen. Doch hat die Theorie ſeit JuſtiI. §. 459—462
und Sonnenfels, Handlung VI. (Waſſerfracht) dieſe Scheidung mit Recht
feſtgehalten (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 172). Ueber das alte Recht des
Waſſerweſens ſ. die deutſchen Privatrechte; der Kampf über das Mare clausum
(Hugo Grotius: Mare liberum, im 17. Jahrh.); Beginn des Strebens nach Frei-
heit für Fluß- und Seewege Mitte des vorigen Jahrhunderts; ſchon Juſti
klagt über die „erſchrecklich hohen und ſo vielfältigen Zölle“ namentlich auf
dem Rhein, der Elbe und der Weſer. Das Princip des öffentlichen Eigen-
thums vermöge der Schiffbarkeit formell zuerſt in der Ordonnance de la
Marine von 1681. Darnach das Preuß. Allgem. Landrecht II. 14. 21. Die
öſterreichiſche Geſetzgebung ſcheidet zuerſt ſtrenge zwiſchen der Strompolizei
(1770) und dem Schifffahrtsweſen (Editto von 1782); die franzöſiſche Verwal-
tung hat die Binnenwaſſer mit der Waldverwaltung in den Eaux et forêts
verbunden. Specielle Geſetzgebung für Preußen: Rönne, Staatsrecht II. 418
und Literatur. Aufhebung aller Binnenzölle II. 350. Oeſterreich: Stuben-
rauch, Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 224. 258 und II. 527. Neuere Literatur
faſt nur techniſch; bei Mohl a. a. O. — Bayern: Schifferordnung vom
4. Juni 1865. — Die neueſte Zeit hat gerade hier mächtigen Anlauf genom-
men auf internationalem Gebiet; Aufhebung des Sundzolls 1857; Freigebung
der Donau 1856, nach langem Hadern und Klagen die Ausführung der
Wiener Congreß-Akte §. 109—117 über die Rhein-, Elb- und Weſerſchifffahrt
eine Reihe von Verträgen, welche zugleich die Verpflichtung zur Regulirung
enthalten (Rönne, Staatsrecht II. §. 531). Europäiſche Donauregulirungs-
commiſſion ſeit 1856; Suezcanal; inniger Zuſammenhang mit dem internatio-
nalen Schifffahrtsrechte (ſ. unten).
Begriff und Elemente der Geſchichte.
In ganz anderer Weiſe wie das Wegeweſen bildet nun das Schiff-
fahrtsweſen einen Theil der Verwaltung des Verkehrs. Denn während
bei jenem der Weg allgemeines Eigenthum, und in jedem Augenblicke
und auf jedem Punkte bewachbar iſt, iſt das Objekt des Schiff-
fahrtsweſens, das Schiff, immer ein Privatgut; der Dienſt, den es
dem Verkehr leiſtet, beruht zunächſt auf einem Vertrage, das Ver-
kehrsrecht iſt und bleibt hier ſtets vorwiegend ein Vertragsrecht, und
das Schiff entfernt ſich ſo weit von ſeiner Heimath, daß es durch die
gewöhnliche Thätigkeit der Verwaltung gar nicht zu erreichen iſt. Soll
daher hier dennoch ein Verwaltungsrecht entſtehen, ſo muß es durch
[189] die Natur des Schiffes und der Schifffahrt ſelbſt ſowohl in ſeinem
Princip als in ſeinem Syſtem beſtimmt und ſo verſtändlich ſein, daß
das erſtere, richtig aufgefaßt, das letztere ſeinen Inhalt faſt von ſelbſt
ergibt.
Das Schiff, obgleich Privatgut, iſt dennoch eine unabweisbare Be-
dingung für den Verkehr, und namentlich für denjenigen, der nicht
ſo ſehr die Einzel- als vielmehr die Volkswirthſchaften verbindet.
Dennoch hat der, der es benützt, vermöge der Natur der Schifffahrt
weder Sicherheit für die Leiſtungen von Schiff und Schiffer, noch für
die Haltung der mit dem letzteren geſchloſſenen Verträge. Da nun
aber beides eine für den Einzelnen unerreichbare Bedingung des See-
verkehrs iſt, ſo iſt von jeher das auf die Schifffahrt bezügliche Ver-
tragsrecht ſeinem Charakter als reines Privatrecht zum Theil verloren,
und iſt zu einem öffentlichen Recht geworden; wir nennen das das See-
recht; und dieß Seerecht iſt eben daher das erſte ſyſtematiſch entwickelte
Verkehrsrecht in der Rechtsgeſchichte. Allein während dieß Seerecht noch
immer nur das Recht des Vertragsverhältniſſes zwiſchen den Einzelnen
enthält, die an der Schifffahrt betheiligt ſind, entſteht mit der Ent-
wicklung des transatlantiſchen Verkehrs und den glänzenden Erfolgen,
welche die Theilnahme an der Weltſchifffahrt den Nationen bereitet, die
Erkenntniß, daß die Schifffahrt als Ganzes ein weſentlicher Zweig der Ent-
wicklung des materiellen und geiſtigen Lebens der Völker ſei, und die
Regierungen fangen an, durch die Maßregeln ihrer Verwaltung das
Aufblühen der Schifffahrt unmittelbar zu fördern. So entſteht neben
dem Seerecht der zweite Theil des Schifffahrtsweſens, die Verwal-
tung deſſelben; und dieſe, zunächſt auf die internationale Schifffahrt
beſchränkt, wird in den Grundſätzen des Merkantilſyſtems zum theore-
tiſchen Ausdruck gebracht, und breitet ſich dann auch über die Binnen-
ſchifffahrt aus. Der Beginn dieſer zweiten Epoche iſt die Mitte des
ſiebzehnten Jahrhunderts mit der Navigationsakte in England und der
Ordonnance de la Marine in Frankreich; während aber mit der freie-
ren Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts die daraus entſtandenen
Beſchränkungen des Verkehrs im Sinne des Schutzſyſtems allmählig
verſchwinden, entſteht dafür eine Reihe von poſitiven, mehr und mehr
geordneten Maßregeln für Ordnung und Hebung der Schifffahrt; und
ſo entwickelt ſich in Seerecht und Schifffahrtsverwaltung ein großes
und hochbedeutendes Syſtem der Verwaltung, das aber freilich direkt
nur von Werth für die Küſtenländer iſt, und daher nur bei dieſen
volles Verſtändniß und eingehende Würdigung findet. Doch muß man
die elementaren Grundſätze des Schifffahrtsweſens als einen integriren-
den Theil der Verwaltung des Verkehrsweſens betrachten.
[190]
Das Schifffahrtsweſen hat eine beſchränkte, aber zum Theil ausgezeichnete
Literatur und Geſetzgebung. Man muß im Allgemeinen ſagen, daß ſich die
letztere in zwei große Epochen theilt. Die erſte geht vom Anfange der Handels-
ſchifffahrt (12. Jahrh.?) mit dem Seerecht von Oleron bis zur Mitte des ſieb-
zehnten Jahrhunderts; ihr gehören neben der Roole des jugemens d’Oleron
der Guidon de la mer, das berühmte Consolato del mare (13. Jahrh.), das
Wisby’ſche Seerecht, das hanſeatiſche Seerecht und mehrere andere. Voll-
ſtändige Sammlung von Pardeſſus, Collection des lois maritimes jusqu’au
18. siècle 1828; vgl. Pöhls Seerecht Bd. I. S. 11 ff.; Beneke, See-Aſſecuranz-
recht I. S. 6 f.; reiche Literatur bei Berg, Polizeirecht III. 563; Mitter-
maier, Deutſches Privatrecht, §. 541; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II.
S. 270 (Schifffahrtspolitik und Verträge). Die zweite Epoche beginnt mit
der Navigationsakte (Büſch, Geſchichte der engliſchen Navigationsakte) und
der Ordonnance de la Marine von 1681, welche letztere als ein Muſter der
Geſetzgebung nicht bloß die unvollkommene Nachbildung des preußiſchen See-
rechts von 1727 und der unvollſtändigen des öſterreichiſchen im Editto poli-
tico di navigazion mercantile von 1774 erzeugte, ſondern auch die maßgebende
Grundlage des Code de commerce und aller aus demſelben hervorgehenden
Handelsgeſetzbücher im ganzen Weſten von Europa geworden iſt, während
Deutſchlands Handelsgeſetzbuch das Seerecht faſt ganz übergeht. Der Charakter
der öffentlichen Rechtsbildung der erſten Epoche iſt die Entwicklung des See-
rechts im eigentlichen Sinne, der Charakter der zweiten iſt die Aufnahme
der Elemente der Schifffahrtsverwaltung und ihre ſyſtematiſche Ver-
arbeitung neben dem erſteren, und zwar in der Weiſe, daß Englands
Rechtsbildung durch die Navigationsakte ſich faſt ausſchließlich auf den Schutz
der eigenen Flagge im großen Seeverkehr beſchränkt, Frankreichs Geſetz-
gebung dagegen zugleich das Seerecht höchſt ſyſtematiſch und praktiſch ausbildet
und die Schifffahrtsverwaltung zur Staatsangelegenheit macht, Deutſchland
dagegen in den Hanſeſtädten (Hamburg) das Seerecht ohne Verwaltung,
und in Preußen und Oeſterreich die Verwaltung ohne Seerecht (mit Aus-
nahme des Editto) entwickelt. Daraus ergibt ſich, daß Seerecht und Ver-
waltung nicht bloß die beiden ſyſtematiſchen Gebiete des Schifffahrtsweſens
find, ſondern auch jedes für ſich ihre ſelbſtändige Geſchichte haben. Die
Literatur iſt bisher faſt nur für das Seerecht von Werth; in England als
Sammlung von Urtheilen; in Frankreich als Commentar der Ordonnance
(Valin) und des Code de commerce; in Deutſchland als wiſſenſchaftliche Be-
handlung. Hier ſteht ohne Zweifel Pöhls in ſeinem Seerecht (als 3. Theil
ſeines Handelsrechts) und See-Aſſecuranzrechts 1832 oben an (1830,
2 Bde.). Hartes Urtheil deſſelben (p. VI.) über Beneke, Syſtem des Aſſecuranz-
und Bodmereiweſens (4 Bde. 1810); nicht unbegründet. Das Seekriegsrecht
in den verſchiedenen Völkerrechtslehren; das Conſulatweſen in dem reich-
haltigen Handbuch des Conſulatweſens von L. Neumann 1854, nebſt An-
hang der öſterreichiſchen Schifffahrtsgeſetze. Die deutſchen Privatrechte haben
viel zerſtreutes hiſtoriſches Material, bei weitem am beſten Mittermaier
a. a. O. Die Angaben bei Mohl, Polizeiwiſſenſchaft Bd. II. §. 169 ff.
[191] nicht von Bedeutung. Von den Territorialrechten haben nur Rönne, Staats-
recht II. §. 396 und Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. S. 531 dar-
auf Rückſicht genommen; der erſtere faßt das Ganze leider nur als „Gewerbe“
auf, der letztere gibt einen Auszug aus dem Editto, ohne Eingehen auf die
Sache. — Die Beſtimmungen über Verhüten des Zuſammenſtoßens der
Schiffe auf offener See: Gegenſtand der Geſetzgebung und internationale Ver-
träge (ſ. Preußen, Geſetz vom 22. Febr. 1864); Zuſtimmung der übrigen
Seeſtaaten; Organiſirung des Schifffahrtsweſens und eigene Schifffahrtsord-
nung (Geſetz vom 26. März 1864).
Das Seerecht umfaßt daher die Geſammtheit derjenigen Modiſi-
kationen des bürgerlichen Sachen-, Perſonen- und Vertragsrechts, welche
durch die Natur des Schiffes und der Schifffahrt gefordert werden,
und die mithin als rechtliche Bedingungen des Seeverkehrs zum gelten-
den öffentlichen Recht erhoben ſind. Das Gebiet des Seerechts iſt
demnach ſtrenge begränzt auf die Rechtsverhältniſſe zwiſchen den
einzelnen bei der Schifffahrt betheiligten Perſonen; daß in die See-
geſetze auch Gegenſtände des Seeverwaltungsrechts aufgenommen ſind,
ändert natürlich an der Sache nichts. Die Gebiete deſſelben ſind
folgende.
a) Das ſpecifiſche ſeerechtliche Sachenrecht erſcheint für das
Schiff in den Beſtimmungen über den Bielbrief (Eigenthumsrecht),
der Bodmerei (Seepfandrecht) und dem Abandon (Recht des Caſus).
Für die Ladung in dem Recht des Seewurfs(lex Rhodia), dem
Strandrecht und dem Bergerecht.
b) Das ſeerechtliche Perſonenrecht iſt in dem Rechte des Ca-
pitäns über die Mannſchaft gegeben, ſpeciell in dem Disciplinar-
Strafrecht deſſelben, in dem Strafrecht für Deſertion, und der
ſtrengen Organiſation des Rechts auf Befehl und Gehorſam.
c) Das ſeerechtliche Vertragsrecht enthält zwei große Theile.
Der erſte iſt einerſeits das Recht der Fahrt zwiſchen Capitän und
Eigenthümer, und andererſeits das Recht der Verfrachtung zwiſchen
Schiffer und Rheder. Der zweite iſt das wichtige Gebiet der See-
verſicherung, die hier vermöge der beſondern Verhältniſſe des Scha-
dens zur See (der Havarie), eine eigenthümliche, höchſt entwickelte
Geſtalt des Schadenverſicherungsweſens, und mit ihr eine ausgebildete
Geſetzgebung und Jurisprudenz erzeugt.
d) Die Elemente dieſes Rechts ſind nun ſchon in den alten See-
rechten vorhanden; die große Entwicklung der transatlantiſchen Schiff-
fahrt hat dazu das letzte Element als organiſches Mittel der Sicherung
[192] der Anſprüche und als Analogon der Handelsbücher in den Schiffs-
büchern, die Pflicht zu ihrer Führung und dem Rechte ihrer Beweis-
kraft hinzugefügt; ſie ſollten in allen Landen einen weſentlichen Be-
ſtandtheil des Seerechts bilden.
Die Ausbildung dieſes Seerechts iſt noch ungleichmäßig. England: „In
privatrechtlicher Hinſicht ſind die engliſchen Geſetze ſehr mangelhaft. Pöhls
I. 33. FrankreichsOrdonnance de la Marine iſt ein Muſter für alle
Theile, mit Ausnahme der Schiffsbücher, die erſt im Code de commerce
(Livre II. du commerce maritime) ihre volle Entwicklung findet; die Aſſe-
curanz iſt jedoch in allem Weſentlichen trefflich organiſirt. Das öſterreichiſche
Editto hat das Perſonen- und Vertragsrecht nach franzöſiſchem Muſter vor-
trefflich; Aſſecuranz fehlt; die Literatur ſowie die genaue Zuſammenſtellung aller
Geſetzgebungen über jeden Punkt bei Pöhls, Bodmerei und Aſſecuranz in
den deutſchen Privatrechten; namentlich bei Mittermaier mit kurzer Gründ-
lichkeit als Theil „des Rechts der Forderungen“ II. §. 303 ff. Rönne hat
zwar das Seerecht weggelaſſen, dagegen das Flußſchifffahrtsrecht aufgenommen
II. 399, während die Frage, ob die Grundſätze des Seerechts auch auf
Flußſchifffahrt Anwendung finden, bei keinem Geſetz oder Schriftſteller
zur Erwägung gelangt. Es iſt klar, daß dieß nicht ganz der Fall ſein kann;
wie weit das aber thunlich? — Das deutſche Handelsgeſetzbuch iſt arm,
ſeine Exegeten hier nicht reich.
Die Schifffahrtsverwaltung entſteht nun neben dem Seerecht durch
die Erkenntniß, daß die Schifffahrt als weſentliches Element der all-
gemeinen volkswirthſchaftlichen Entwicklung durch die Thätigkeit des
Staats diejenigen Bedingungen fordern müſſe, welche die Schiffer ſo wenig
als die Rheder ſich ſelbſt verſchaffen können. Sie löst ſich erſt im ſieb-
zehnten Jahrhundert von dem Seerecht ab; ihr erſtes Gebiet iſt das der
Navigationsgeſetze zum Schutz der eigenen Flagge in der internationalen
Concurrenz auf dem Gebiete des Welthandels; ihr zweites, zwar
gleichzeitig in den Anfängen entſtehendes, aber mit dem neunzehnten
Jahrhundert entwickeltes Gebiet iſt das der Maßregeln zur Hebung
der Schifffahrt auf Grundlage des freigewordenen Welthandels. Jeder
dieſer Theile hat ſeine Geſchichte und ſein Syſtem. Die Elemente der-
ſelben ſind folgende.
A. Der Schutz der Schifffahrt im internationalen Verkehr ent-
ſteht mit der Navigationsakte von 1651 als geſetzliches Princip der
völligen Ausſchließung jeder Schifffahrtsconcurrenz im eigenen
Handel; ſein zweites, gemildertes Stadium, weſentlich von Frankreich
ausgehend, iſt das der Differentialabgaben von fremden Flaggen
in den eigenen Häfen; beide bilden den Grundſatz der Nationalität
[193] einerſeits des Schiffes und andererſeits der Mannſchaft zu einem ganzen
Syſtem von Beſtimmungen aus, die dann bis auf die neueſte Zeit
beibehalten werden. Beide Syſteme der direkten und indirekten Prohi-
bition werden dann ſeit dem achtzehnten Jahrhundert ſchrittweiſe ge-
mildert und abgeſchwächt durch die Handels- und Schifffahrts-
verträge, deren Baſis faſt immer die Gegenſeitigkeit in dem Erlaß
der Differentialabgaben („Gleichſtellung mit den meiſt begünſtigten
Nationen“) iſt; nur in dem Syſtem der Küſtenſchifffahrt (Cabotage)
bleibt die Ausſchließung des Fremden beſtehen, und auch das nur für
einzelne Länder. So geht die Entwicklung auf dieſem Gebiete der Frei-
heit des Verkehrs entgegen, und der Schwerpunkt der Verwaltung fällt
mit unſerem Jahrhundert in das Gebiet des zweiten folgenden Theiles.
B. Die Förderung der Schifffahrt beginnt allerdings auch hier
mit dem Verſuch, durch Belohnungen aufzumuntern, der jedoch bald
verſchwindet und in vielen Ländern gar nicht Platz greift. Anſtatt
derſelben entwickelt ſich allmählig aber ſicher ein Syſtem von Anſtalten,
deren Grundlage mehr und mehr der einzig richtige Gedanke iſt, daß
die Verwaltung nie die Sache ſelbſt, ſondern nur die Bedingungen
ihrer Entwicklung zu geben hat. Jeder der Theile dieſes Syſtems hat
nun wieder ſeine Geſchichte und ſeine Ordnung: die weſentlichen ſind
folgende.
Zuerſt haben die Verwaltungen des Continents in den Navi-
gationsſchulen ein Fachbildungsſyſtem hergeſtellt, und zugleich die
letzteren in der Form von Zeugniſſen (Patenten) zur rechtlichen Bedin-
gung der Schiffsführung gemacht (Steuermannsexamen; Patente
für kurze und lange Fahrt ꝛc.) — Zweitens beziehen ſich die öffent-
lichen Einrichtungen auf Hülfsanſtalten für die Fahrt der Schiffe, je
mit eigener Ordnung; Lootſenweſen, Leuchtfeuer und Thürme; Baken-
weſen. — Drittens entſtehen Hülfsanſtalten und Ordnungen theils
für die elementaren Seegefahren, Rettungsanſtalten u. ſ. w.; theils
für erwerbsunfähig gewordene Seeleute in den Marinehoſpitälern.
— Viertens endlich iſt die eigentliche Schifffahrtspolizei ſyſte-
matiſch entwickelt, und zwar wieder theils für die Fahrten in den ge-
ſetzlich ſanktionirten Signalordnungen, theils für die Häfen in
den Hafenordnungen, theils für die Dampfſchifffahrt in der Polizei
der Dampfmaſchine, theils endlich für Mannſchaft und Paſſagiere
in der Ueberwachung der Proviantvorräthe und der Pflicht zur Auf-
ſtellung von Schiffsärzten. Für die Vollziehung dieſer Anordnungen,
ſowie überhaupt für thätige Ausführung der Schifffahrtsverwaltung
ſind eigene Organe geſchaffen; die Vertretung der Intereſſen der
Schifffahrt in fremden Häfen iſt einem ſehr ausgebildeten Conſulat-
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 13
[194]ſyſtem übergeben, und ſo iſt das Schifffahrtsweſen der neuſten Zeit
auf ſeine wahren Elemente, die Kraft und Tüchtigkeit des Einzelnen
unter der Hülfe des Staats zurückgeführt.
Charakteriſtiſcher Unterſchied namentlich Englands von Frankreich
und den meiſten nach Frankreichs Muſter arbeitenden Völkern, daß England
bis zur neueſten Zeit die Aufgabe der Schifffahrtsverwaltung von jeher mit
Ausnahme der Navigationsakte ganz der privaten Thätigkeit überließ; nur die
registry act für die Eintragung der Schiffe in die öffentlichen Schiffscatafler
(26. G. III. 1786) hat für Europa die letzteren ins Leben gerufen; dafür mangeln
ſogar Vorſchriften über die nöthigen Schiffspapiere (PöhlsI. 33). Dann er-
ſcheint die große Merchant Shipping Act von 1854 (17. 18. Vict. 104), welche
allerdings ein vollſtändig ausgebildetes Seerecht enthält, und zugleich die Schiff-
fahrtsordnung beſtimmt. Dazu die Merchant Shipping Amendement Act
18. 19. Vict. 91. Organiſation unter dem Board of Trade; über Lootſen ꝛc.
örtlicheStatutes. Rettungsanſtalten durch Vereine. — FrankreichsEcole
de navigation, ſtrenge Hafenordnungen unter den Hafencapitänen ſchon
nach der Ordnung von 1681. Das Hafenweſen in England wird für jeden
einzelnen Hafen, beſonders für die Landungsplätze, nebſt den Hafenabgaben
beſonders geordnet; daher die beſtändig wiederholten Pier and Harbour Acts
in den engliſchen Parlamentsakten. Allgemeine Hafenordnung 24. 25.
Vict. 45. (Unternehmungen unter Oberaufſicht der Admiralty); dem nach-
folgend das öſterreichiſche Editto von 1774; lokales Recht in den Hanſeſtädten.
Organiſation unter dem Marineminiſterium nach franzöſiſchem Vorbild; in
Oeſterreich das höchſt nützliche Organ der Centralſeebehörde in Trieſt ſeit 1851
(vergl. StubenrauchI. §. 19. 50). In Preußen und Oeſterreich Navi-
gationsſchulen; Einrichtung und Rechte der Prüfungen (RönneII. 454;
Regulativ vom 24. April 1863; Stellung des „Navigationsdirektors“ ebend.
und II. §. 228). Lootſen- Barken- und Leuchtthurmweſen in einzelnen
örtlichen Verordnungen und Regulativen (StubenrauchI. 515; Lootſen-
corps von Trieſt 1850). — Preußen: RönneII. §. 398. Hülfe im Auslande
durch die Conſuln: Rönne ebend. (Verordnung vom 4. Okt. 1832). — Sardi-
nien: neueſte Schifffahrtsgeſetzgebung für die Handelsmarine (Codice marit-
timo vom 26. Juni 1865). Die Behandlungen des Seerechts haben alle
dieſe Gegenſtände nicht aufgenommen; eine ſelbſtändige Bearbeitung der Schiff-
fahrtsverwaltung im Sinn einer Geſammtauffaſſung mangelt.
Zweiter Theil.
Die Verkehrsanſtalten. Begriff und Weſen der drei Grundformen.
Die Verkehrsanſtalten eröffnen nun ein anderes Gebiet.
So wie die Geſittung eines Volkes höher ſteigt, genügt das Ver-
kehrsmittel, zu deſſen Benützung die individuelle Thätigkeit nothwendig
iſt, die nicht immer alle Bedingungen beſitzt, der Idee des Verkehrs
nicht mehr. Je klarer es wird, daß der Fortſchritt aller Einzelnen
[195] auf der möglichſt lebendigen Berührung derſelben untereinander ſowohl
in geiſtiger als in wirthſchaftlicher Beziehung beruht, wird es zur Auf-
gabe der Verwaltung, dieſe Berührung durch eigene Anſtalten herzu-
ſtellen und durch die Thätigkeit derſelben jene Gegenſeitigkeit der Ein-
zelnen und jene Gemeinſchaft des Ganzen ſelbſtthätig ins Leben zu
rufen, welche die abſolute Vorausſetzung aller Civiliſation iſt. Aller-
dings entſtehen dieſe Anſtalten langſam und breiten ſich auch langſam
über alle Verhältniſſe aus; allein dennoch iſt dieſe Ausbreitung eine
unwiderſtehliche, und ſo bildet ſich allmählig ein ſelbſtwirkendes Syſtem,
welches den Geſammtverkehr in ſich aufnimmt, organiſirt und weiter
führt. Die Geſammtheit dieſer Anſtalten nennen wir die Verkehrs-
anſtalten.
Dieſe Verkehrsanſtalten haben nun drei Grundformen. Sie ſind
die Poſt, die Eiſenbahnen mit der dazu gehörenden öffentlichen
Dampfſchifffahrt und die Telegraphen. Scheinbar durch äußer-
liche Anläſſe und Erfindungen entſtanden, bilden ſie dennoch ein inneres
Syſtem, und zwar indem jede derſelben eine beſtimmte Funktion
erfüllt, ſo daß ſie obwohl geſchieden und verſchieden, dennoch in Wahr-
heit ein Ganzes ſind, das zuletzt den Ausdruck Eines Gedankens bildet
und daher auch von Einem Princip beherrſcht wird. Die Poſt iſt das-
jenige Organ, welches den individuellen Verkehr vermittelt, die
Eiſenbahn iſt der Verkehrsorganismus für die Bewegung des Geſammt-
verkehrs der Maſſen in Perſonen und Gütern, der Telegraph beſtimmt
ſich von ſelbſt für den Verkehr des Augenblicks. Techniſch und
mechaniſch laſſen ſich dieſe Anſtalten ſehr viel weiter entwickeln; orga-
niſch aber ſcheint mit ihnen die Baſis des geſammten ſelbſtthätigen
Verkehrs gegeben zu ſein. Sie ſind daher alle drei in jedem civiliſirten
Volke vorhanden und thätig; an ihrer Weiterbildung wird auf allen
Punkten der Erde mächtig gearbeitet; ſie wirken unwiderſtehlich dem-
ſelben Ziele auf allen Punkten entgegen; ſie verwiſchen die Gränzen
aller hiſtoriſchen und nationalen Beſonderheit; beginnend bei dem
inneren Leben eines Staates, ſchreiten ſie, ſelbſt durch Unglück und
Krieg nicht aufgehalten, beſtändig fort, und indem ſie die Länder und
Völker in unermüdeter Arbeit verbinden, erzeugen ſie ein Geſammt-
leben der Welt, das ohne ſie nicht möglich wäre, für das die frühere
Geſchichte kein Beiſpiel hat und das als die lebendige Grundlage alles
Fortſchrittes angeſehen werden muß. Und ſo groß iſt die Gewalt dieſer
vielleicht mächtigſten Thatſache unſeres Jahrhunderts, daß ſie ſogar
die Selbſtändigkeit der einzelnen Staaten in Geſetzgebung und Ver-
waltung ſich zu unterwerfen gewußt hat. Ihre Funktionen und ihre
Bedürfniſſe ſind Weltthatſachen, und die einzelnen Staaten, indem ſie
[196] ſich den letzteren willig fügen, werden damit gleichſam zu Vollzugs-
organen dieſes allgemeinen Lebens; die geltende Ordnung für jene An-
ſtalten iſt vorwiegend eine internationale, und die ſtaatlichen Geſetz-
gebungen ſind gezwungen, ſich dem anzuſchließen, was in dieſen
internationalen Ordnungen gemeinſchaftlich feſtgeſtellt wird, weil der
Weltverkehr es fordert. Wege und Brücken baut der Staat für ſich und
ordnet und verwaltet ſie wie er will; allein der Zug des Poſtwagens,
der Lokomotive und des elektriſchen Funkens, der über beide hinaus-
geht, gehört nicht mehr ihm. Es iſt ein großes und gewaltiges Bild,
das ſich uns hier entwickelt.
Das ſtatiſtiſche Bild nun wird zum Gegenſtande der Wiſſenſchaft,
indem für daſſelbe die beiden allgemeinen Kategorien gelten, die wir
dem ganzen Gebiete zum Grunde gelegt haben. Die Verwaltung
dieſer Theile beſtimmt das, was der Staat für jede Grundform der
Verkehrsanſtalt zu thun hat; das Recht formulirt die Verhältniſſe,
welche aus der Thätigkeit derſelben in Beziehung zu den Einzelnen
hervorgeht. Wir haben daher von einer Poſtverwaltung und einem
Poſtrecht, von Eiſenbahnverwaltung und -recht und von Telegraphen-
verwaltung und -recht zu reden. Das ſind die Elemente aller ſyſte-
matiſchen Behandlung dieſer Gebiete.
So verſchieden nun auch dabei die letzteren im Einzelnen ſind, ſo
gleichartig und einfach iſt die Grundlage, auf der ſie ſich entwickeln.
Dieſe Grundlage iſt der Sieg der Idee der Verwaltung über das
hiſtoriſche Rechtsprincip, ein Proceß, der ſich in verſchiedener Weiſe in
jedem Theile gleichartig wiederholt.
Alle Verkehrsanſtalten ſind nämlich in erſter Reihe als unzweifel-
haft allgemeine Angelegenheiten Sache des Staats. Dieß Recht
des Staats auf die Verkehrsanſtalten heißt das Regal. Alle Ver-
kehrsanſtalten ſind daher grundſätzlich Regalien. Als Regalien ſind
ſie urſprünglich nur Einnahmsquellen; ihre große Verkehrsfunktion wird
dieſem Princip unbedenklich untergeordnet. Das bleibt ſogar, als man
ſchon mit dem achtzehnten Jahrhundert den allgemein volkswirthſchaft-
lichen Werth derſelben zu verſtehen beginnt, und erhält das ausſchließ-
liche Recht des Staats gegenüber jeder Privatthätigkeit auf dieſem
Gebiet. Erſt mit dem neunzehnten Jahrhundert und dem Auftreten
der Eiſenbahnen wird es anders. Der Staat gibt auch hier zum Theil
ſeine Regalität auf; die Verkehrsanſtalten werden Gegenſtand von
Privatunternehmungen, und jetzt entſteht die entſcheidende Frage über
das Verhältniß der Verwaltung zum Rechtsbegriffe und ſein Inhalt.
Hier nun ſiegt die höhere Idee des Verkehrsweſens auf jedem Punkte
und die alle jene Gebiete beherrſchenden Grundſätze ſind von jetzt an,
[197] daß die Benützung aller dieſer Verkehrsanſtalten für alle ohne Unter-
ſchied gleich, frei und gemeinſam ſein ſollen, daß ſie als Quelle von
Einnahmen nur ſo weit gelten dürfen, als dadurch ihre große volks-
wirthſchaftliche Funktion nicht geſtört wird, und endlich daß auch
alle Privatunternehmungen für den Verkehr als öffentliche An-
ſtalten gelten und daher ſich dem öffentlichen Recht zu unterwerfen
haben. Aus der ſyſtematiſchen Anwendung dieſer leitenden Grundſätze
auf die drei erwähnten Gebiete entſteht dann das Syſtem des Rechts
der Verkehrsanſtalten, das allerdings in den verſchiedenen Ländern in
ſeinen Principien zwar weſentlich gleich, in ſeiner Ausführung dagegen
vielfach tiefgehend modificirt iſt.
Eine gemeinſchaftliche Literatur über das ganze Gebiet der Verkehrsan-
ſtalten fehlt; die „Polizeiwiſſenſchaft“ hat nur die allgemeinſten Geſichtspunkte
feſtgehalten. Auch die einzelnen Theile ſind noch ſehr ſporadiſch und unſyſte-
matiſch behandelt; das techniſche Element bildet neben der einfachen Statiſtik
faſt den ausſchließlichen Inhalt. Erſt in neueſter Zeit iſt das juriſtiſche Element
hinzugekommen. Im Allgemeinen aber ſehen wir auch hier den Charakter der
drei großen Staaten wieder ausgeprägt. Frankreich iſt klar, einfach, aber im
höchſten Grade adminiſtrativ; England hat der Selbſtverwaltung und dem Ver-
einsweſen viel, oft zu viel überlaſſen; in Deutſchland ſucht man nach der Ver-
einigung beider Principien. Dieß iſt nun wieder ſehr verſchieden, je nachdem
es ſich um Poſt, Bahnweſen oder Telegraphen handelt, ſo daß die Einheit der
Auffaſſung beſtändig zu verſchwinden droht. Dennoch ſind ſie ein Ganzes,
und von denſelben Principien beherrſcht und in ihrer Entwicklung beſtimmt.
Es iſt die Aufgabe der Verwaltungslehre, eben dieß feſtzuhalten.
Natur ſeiner Funktion und Elemente ſeiner Geſchichte.
Das Poſtweſen beruht darauf, daß der beſtändige, tägliche, regel-
mäßige Verkehr der Einzelnen eine der großen Bedingungen aller
Entwicklung iſt, welche ſich der Einzelne nicht ſchaffen kann. Die An-
ſtalt, durch welche der Staat dieſe Bedingung herſtellt, iſt das Poſt-
weſen. Die wiſſenſchaftliche Behandlung des Poſtweſens enthält daher
die Lehre von den Bedingungen und Ordnungen, durch welche das
Poſtweſen dieſe organiſche Funktion zu erfüllen im Stande iſt und
welche wieder in die beiden Kategorien der Poſtverwaltung und
des Poſtrechts zerfällt.
Bevor jedoch das Poſtweſen in dieſem höheren Sinne aufgefaßt
und verwaltet worden iſt, ſind Jahrhunderte unter ſehr verſchiedenen
Verſuchen hingegangen. Regelmäßige Verbindungen zum Zwecke der
Regierung haben wohl in allen Staaten der Welt Platz gefunden.
[198] Das, was wir das Poſtweſen nennen, beginnt jedoch erſt da, wo dieſe
Regierungsanſtalten auch den Verkehr der Einzelnen in ſich auf-
nehmen. Dadurch entſteht die erſte Epoche des Poſtweſens, in welcher
die Regierungspoſt noch die Hauptſache iſt und die Briefe der Einzel-
nen nur noch mitgenommen werden. Sie geht ungefähr bis zum
achtzehnten Jahrhundert. Die zweite Epoche ſteht bereits auf dem
Standpunkt, die Beförderung des Einzelverkehrs als ſolche zur Auf-
gabe der Poſt zu machen, und daher ſich, wenn auch nur langſam
und unvollkommen, nach den Bedürfniſſen des Verkehrs ſtatt wie
früher nach denen der Regierung zu richten. Es entſtehen daher in
dieſer zweiten Epoche bereits die drei formalen Kriterien einer jeden
wirklichen Poſtverwaltung, die centrale Organiſation, die örtliche Aus-
dehnung und Ordnung der Poſtlinien und Poſtſtationen und der Unter-
ſchied von Brief- und Fahrpoſt, nebſt dem dazu gehörigen Syſtem
der Poſtgebühren. Allein noch iſt das ganze Poſtweſen vorzugsweiſe
eine Einkommensquelle und die Forderung eines von derſelben zu er-
zielenden Reinertrags wird noch immer für alle Theile des Poſtweſens
ausſchließlich maßgebend. Erſt im neunzehnten Jahrhundert entſteht
unter heftigen Kämpfen der Gedanke, daß die Poſt nicht ſo ſehr ein
finanzielles Inſtitut, als vielmehr eine Verwaltungsanſtalt ſein ſolle;
und jetzt entwickelt ſich auf Grundlage dieſer Idee das Poſtweſen
der Gegenwart, das in Princip, Syſtem und Ausführung eine der
großartigſten Erſcheinungen aller Zeiten iſt. Die Elemente deſſelben
ſind folgende.
Die Geſchichte des Poſtweſens in Deutſchland, wo man zuerſt über das-
ſelbe nachgedacht hat und zuletzt zu einer tüchtigen Verwaltung der Poſt ge-
langt iſt, beruht von Anfang an auf dem Gegenſatz zwiſchen dem Kaiſer und
den Reichsſtänden mit ihrem Territorialrecht. Erſte regelmäßige Poſt 1516
zwiſchen Wien und Brüſſel, beſorgt durch die Familie Taxis, erſte Anerkennung
als Reichspoſt (Reichsabſchd. 1522); darauf Entſtehung einzelner Linien; Reichs-
poſt als Regal des Kaiſers; Verleihung an Taxis 1615; zugleich territoriale
Poſtlinien; der Kampf zwiſchen beiden bricht aus; Ausbreitung des Verkehrs
durch die einzelnen Reichsſtände; vergebliche Verſuche des Kaiſers, hier zu helfen:
J. P. Osn. Art. 9. §. 1 — „ut immoderata postarum onera et impedi-
menta tollantur.“ Das Haus Taxis erwirbt indeſſen durch Verträge die Poſt
in vielen Kleinſtaaten; dagegen führt Oeſterreich ſein eigenes Poſtweſen ein
(1624 Verleihung an das Haus Paar); die meiſten norddeutſchen Staaten be-
halten ihr Territorialpoſtweſen. Unter dem Streit über die Gränze der Reichs-
regalität geht faſt das Poſtweſen zu Grunde; vergebliches Bemühen der kaiſer-
lichen Regierung Gleichheit und Ordnung herzuſtellen (Wahlcapitulation 1. 8;
Moſer, Reichstagsgeſchäfte S. 1370; weitläuftige Literatur über die Regalität
Klüber, öffentliches Recht §. 434 ff.) Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 4. Buch,
[199] 16. Hauptſt. §. 436 ff. Häberlin, Handbuch des deutſchen Staatsrechts III. 65;
Pütter, Reichspoſtweſen (Erörterungen, Heft I.). So entſteht in der ganzen
Literatur die Klage über das Poſtweſen, und der, nur aus den damaligen Ver-
hältniſſen erklärliche Wunſch, daß das Reichspoſtweſen dem Hauſe Taxis aus-
ſchließlich übergeben werden möge (Berg, Polizeirecht III. S. 553 ff.; Bergius,
Polizei- und Cameral-Magazin Bd. VII. 149 ff.). Die Folge war allerdings
die höhere Auffaſſung des Poſtweſens überhaupt; „die Poſten ſind nichts anderes
als eine Polizeianſtalt zur Bequemlichkeit des gemeinen Weſens und Beför-
derung der Commerzien und Gewerbe“ (Bergius a. a. O. S. 151); das
Hauptwerk in dieſer Richtung iſt Klübers Schrift: „das Poſtweſen in Teutſch-
land 1811“ („Weder als Gewerbewucher der Unternehmer, noch als unmittel-
bare Quelle der Staatsfinanzen iſt die Poſt zu behandeln“ S. 144 ff.). —
Damit ward die Frage angeregt, ob denn überhaupt die Regalität der Poſt
richtig ſei, oder die volle Freigebung; für die letztere beſonders Lotz, Staats-
wirthſchaftslehre III. S. 152 ff.; für die Regalität beſonders Malchus, Finanz-
wiſſenſchaft I. S. 132 ff. Unterdeſſen ſchreitet allerdings die Territorialgeſetz-
gebung vorwärts; eine Reihe von Poſtgeſetzgebungen am Ende des achtzehnten
und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in den verſchiedenen Staaten bei
Berg und Klüber a. a. O.; die preußiſche von 1782 und die Beſtimmungen
des Allgem. Landrechts II. 15. 4 bei Rönne, Staatsrecht II. §. 424 nebſt
der preußiſchen Poſtliteratur. Das deutſche Poſtweſen und ſein Recht während
des Rheinbundes und unter dem deutſchen Bunde: (Klüber, öffentliches Recht
§. 434 und ein wenig in den Staatsrechten. Entwicklung der Poſtverwaltung
und ihrer ſtrengern Organiſation in den erſten Jahrzehnten; Poſtgeſetzgebung
in den dreißiger Jahren; namentlich Oeſterreich (Poſtgeſetz von 1837, Stuben-
rauchII. §. 528). Von da an beginnt die gegenwärtige Epoche; allmählige
Einführung des Briefmarkenſyſtems und daran Anſchluß der Poſtverträge
und der Poſtvereine ſeit 1850. Die Gedanken des Anfangs dieſes Jahrhunderts
tragen den vollſtändigen Sieg über die finanzielle Behandlung davon; das Poſt-
weſen ſpaltet ſich gleichſam in zwei Theile: die internationale Poſtverwaltung
auf Grundlage des deutſch-öſterreichiſchen Poſtvereins (vom 6. April 1850)
und des deutſch-öſterreichiſchen Poſtvereinsvertrags vom 5. Dec. 1851,
deſſen definitive Geſtaltung der neue Poſtvereinsvertrag vom 18. Aug. 1860
bildet. Von da an empfängt die ganze Poſtverwaltung der deutſchen Staaten
einen andern Charakter: die territoriale Poſtverwaltung wird die
Executive für die Beſtimmung des internationalen Poſtrechts.
Die territorialen Geſetze ſchließen ſich unmittelbar an jenen Vertrag an; nament-
lich Oeſterreich (Organiſation von 1851 bis 1854; StubenrauchI. §. 19
namentlich aber Deſſory, die öſterreichiſche Poſtverfaſſung 1848). — Preußen:
Poſtgeſetz vom 3. Juni 1852 und freiere Reform (Geſetz vom 21. Mai 1860.
RönneII. §. 424). Die Behandlung in der Literatur gewinnt gleichfalls
einen neuen Charakter, und beginnt ſich wiſſenſchaftlich zu geſtalten; vorzüglich
Hersfeld (Reform des Poſt- und Transportweſens 1841), deſſen bedeutender
Nachfolger Hüttner (Beiträge zur Kenntniß des Poſtweſens 1847, 1848;
beſonders das Poſtweſen unſerer Zeit 1854); Einfluß der engliſchen Reform;
[200] neue Ordnung des Portoſyſtems, jedoch noch immer Mangel an adminiſtra-
tiver Einheit und ſyſtematiſcher Wiſſenſchaft. Allgemeiner Standpunkt ungefähr
der von Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 173 ff.
In Frankreich hört das Princip der Verleihung der Poſten mit der
Revolution auf; dagegen das Princip der ſtrengen Regalität feſtgeſtellt durch
Geſetz vom 29. Aug. 1790 und folgende Geſetze; die Geſetze von 1793 und
1798 namentlich die Fahr- und Briefpoſtordnungen; dann nach der Reſtau-
ration namentlich Entwicklung der Poſthaltereien im zweiten Jahrzehnt;
neue Organiſation ſeit 1839 (Geſetz vom 11. und 21. Okt.). Charakter des
franzöſiſchen Poſtweſens; feſte ſtrenge Centraliſation; Benützung der Meſſagerien,
nach Englands Vorbild. — Das frühere Poſtweſen Englands vom adminiſtra-
tiven Geſichtspunkt am beſten bei Mac Culloch, Dict. of Commerce Bd. II,
S. 517—527; das neuere vom finanziellen bei Bocke, Steuern des brittiſchen
Reiches 1866 S. 265 ff. — Die Literatur iſt ſeit einem Jahrzehnt faſt ganz
ſtatiſtiſch; der einzige ernſthaft vertretene Geſichtspunkt iſt der der Billigkeit
des Portos und die, faſt ſchon übertriebene Beſeitigung jedes finanziellen Ge-
ſichtspunktes (ſ. unten). Daneben große und höchſt anerkennenswerthe Entwick-
lung des Details, und andererſeits wachſende Ausbreitung des internationalen
Poſtweſens durch Verträge.
Nach der Ueberwindung des früheren finanziellen Standpunktes
iſt das Princip der Poſtverwaltung, der Geſammtheit der Bevölke-
rung einen allgemeinen, einheitlichen, leicht zugänglichen und billigen
Organismus zur beſtändigen und regelmäßigen Vermittlung des Einzel-
verkehres darzubieten.
Die Entwicklung dieſes Princips zu ſeinen Hauptaufgaben und
Organen enthält das Syſtem der Poſtverwaltung.
Das Syſtem der Poſtverwaltung hat drei Gebiete: die Organi-
ſation der Poſt, die Grundſätze des Poſtbetriebes und das Princip
des Portos.
1) Organismus der Poſtverwaltung.
Die Organiſation der Poſtverwaltung ſoll die Einheit und Ver-
theilung der Organe enthalten, durch welche jene Idee der Poſtverwal-
tung im Ganzen wie im Einzelnen verwirklicht werden kann. Zu dem
Ende zerfällt ſie in zwei Hauptkategorien.
1) An der Spitze der geſammten Verwaltung der Poſt ſteht die
Generalpoſtdirektion mit den ihr untergeordneten Landespoſtdirek-
tionen (unter verſchiedenen Namen), welche die Einheit und Gleich-
mäßigkeit der Funktionen der Verwaltung aufrecht hält. Obwohl ſie
formell bald dem Miniſterium der Finanzen, bald dem des Handels
[201] zugetheilt, bald ſelbſtändig iſt, iſt ſie ihrem Weſen nach ſtets dieſelbe;
ſie hat ſelbſtändig die verordnende und oberaufſehende Gewalt und iſt
ein Theil des Miniſteriums.
2) Die örtliche Funktion des Poſtweſens übernimmt das ört-
liche Poſtorgan, die Poſtſtation. Die Beſonderheit der Aufgaben,
welche dieß örtliche Organ zu vollziehen hat, löst daſſelbe wieder in
verſchiedene Organe auf, deren Verbindung oder Scheidung, Rechte und
Funktionen eben die Poſtgeſetze beſtimmen.
Die Grundlage für dieſe Organiſation iſt die Verſendung der
Briefe; in ihr beſteht die weſentliche Funktion jeder Poſtſtation, der
ſich alle anderen unter- und nebenordnen. Das Organ, welches dieſe
Verſendung zu beſorgen hat, iſt die Poſtmeiſterei. Jene Verſendung
ſelbſt beſteht in zwei Theilen: der Beſorgung der Briefbewegung im
Ganzen (Briefpakete), welche durch den Poſtmeiſter geſchieht, und der
Beſorgung der einzelnen Briefe an ihre Adreſſen (Austragung), wel-
ches dem Briefbotenweſen unter dem Poſtmeiſter übergeben wird. —
An die Briefpoſt ſchließt ſich dann einerſeits die Perſonen- und
anderſeits die Frachtpoſt an, zuſammengefaßt unter dem Ausdrucke
der Fahrpoſt. Grundſatz iſt, daß Perſonen und Güter mit den
Briefen in ſo weit ſogleich befördert werden ſollen, als dieß vermöge
der Einrichtung der Briefpoſt thunlich iſt. Die Nothwendigkeit des
freien Verkehrs fordert aber auch die Möglichkeit der außerordent-
lichen Beförderung ſowohl von Briefen als von Perſonen und Gütern.
Daraus entſteht die Verpflichtung der Poſtſtation, auch für dieſen Fall
vorbereitet zu ſein (das Extrapoſt- und Expreſſenweſen). Das
dafür beſtimmte Organ iſt die Poſthalterei. Der Poſtmeiſter kann
zugleich Poſthalter ſein; ſie können aber auch getrennt ſein; feſt ſteht
nur, daß jede Poſtſtation eine Poſthalterei haben muß mit Briefboten-
und Extrapoſtweſen. Allgemeiner Grundſatz iſt, daß auf den Haupt-
verkehrslinien der Schwerpunkt in der guten Organiſirung des Brief-
botenweſens, auf den Nebenlinien dagegen in der der Poſtmeiſterei liegt.
Das entſcheidende Moment in der Entwicklung dieſes Organismus
iſt die Beſeitigung der rein gewerblichen Stellung der Poſtmeiſterei, ſowie
des letzten Reſtes der erblichen und Lehensrechte, und die Erhebung derſelben
zu einem amtlichen Organismus, womit die eigentliche Verwaltung der
Poſt beginnt. In Deutſchland geſchieht dieß definitiv erſt durch die Poſtgeſetze
unſeres Jahrhunderts. Poſtweſen zur Zeit des deutſchen Bundes: Klüber
§. 426; gut bei Zöpfl, deutſches Staatsrecht II. §. 303; Denkſchrift an die
deutſche Nationalverſammlung vom 31. Mai 1848 von Hüttner (ſ. deſſen
Beiträge II. S. 313 ff.). Geſchichte dieſer Entwicklung für Oeſterreich:
Linden, Abhandlungen über Cameralgegenſtände 1842, S. 55—101; letztes
[202] Geſetz der alten Zeit (Poſtgeſetz vom 5. Nov. 1837) ebendaſelbſt; definitive
amtliche Organiſation durch Entſchließung vom 7—15. Nov. 1851; von da an
nur Ausbildung auf Grundlage der Poſtdirektion, Poſtämter und Poſtſtationen.
— Für Preußen: Geſchichte der preußiſchen Poſt von H. Stephan 1859.
Auch hier hat erſt das Geſetz vom 5. Juni 1852 den richtigen Standpunkt
durchgeführt (Rönne, Staatsrecht II. §. 424). Poſtweſen unter der Polizei
(Publ. vom 16. Dec. 1808); dann unter dem Miniſterium des Innern (Ver-
ordnung vom 27. Okt. 1810); dann 1848 unter dem Handelsminiſterium. —
Bayern: Berordnung vom 14. Nov. 1851; Pözl, bayeriſches Verwaltungs-
recht §. 34 und 173 ff. — Württemberg: Roller, württemb. Polizeirecht
1841; Scholl, das württemb. Poſtweſen 1838. — Sachſen: Poſtverfaſſung
des K. Sachſen 1849.
In Frankreich ward das ganze alte Rechtsverhältniß ſchon durch die
Revolution aufgehoben und das amtliche Poſtweſen ſtrenge durchgeführt; ver-
gleiche die reiche, jedoch vorzugsweiſe praktiſch-techniſche Literatur bei Block,
Dict. v. Postes und Mohl, Polizeiwiſſenſchaft a. a. O. — Englands
früheres Recht bei BlackſtoneI. 322. Hauptgeſetz, zum Theil als Codifi-
kation des älteren Rechts, zum Theil als neue Organiſation auf Grundlage
amtlicher Verwaltung und des neuen Poſtrechts (1. Vict. 32—36; vgl. Gneiſt,
Engliſches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. Bd. II. S. 814).
2) Organiſation des Betriebes.
Der Betrieb der Poſt iſt die Geſammtthätigkeit der obigen Organe
der Poſtverwaltung. Aus der Bewegung der früheren Zeit hat ſich
nun das gegenwärtige Princip des Poſtbetriebes entwickelt, wonach
die Poſt in allen ihren Funktionen weder als Finanzquelle noch als
Privatunternehmen, ſondern als Verwaltungsorgan für den perſön-
lichen Verkehr dienen ſoll. Das Syſtem des Poſtbetriebes, das ſich
daraus ergibt, beruht im Weſentlichen auf folgenden Elementen.
Erſter Grundſatz iſt, daß jeder Punkt des Staates in irgend
eine möglichſt regelmäßige Briefverbindung mit dem Geſammtverkehr
geſetzt werde, ſo wie daß die Extrapoſten gleichfalls nach jedem Punkt
die Möglichkeit perſönlichen Verkehrs eröffnen.
Zu dem Ende iſt zweitens ein möglichſt einfaches Syſtem der
Verbindungslinien herzuſtellen und nach Bedarf zu entwickeln.
Das Organ dafür iſt das centrale Poſt-Coursbureau.
Die dritte Aufgabe iſt die Aufnahme und Ordnung einerſeits
der verſchiedenen Briefſendungen (Briefe, Zeitungen, Kreuzband,
Muſterſendungen und damit verbunden die Ordnung und Erleichterung
der Geldſendungen (Regeln für Poſtvorſchüſſe und Poſtnachnahmen)
— andererſeits die möglichſte Verbindung der Perſonen- und Fracht-
gutſendungen mit den Briefſendungen, um den erſteren die Schnellig-
[203] keit und Regelmäßigkeit der letzteren zu geben — Syſtem der Malle-
poſten.
Um dieſe Aufgaben nun auf die möglichſt billige und ſchnelle
Weiſe zu erfüllen, tritt der Poſtbetrieb viertens in immer engere
Verbindung mit allen auf regelmäßigen Perſonen- und Güterverkehr
berechneten Unternehmungen, und hier entſteht ein neues Gebiet
der Poſtverwaltung, das ſich nach zwei Richtungen entwickelt hat.
Die erſte beruht auf der theils conceſſionsmäßigen, theils ver-
tragsmäßig formulirten Verbindung der Poſt mit den Eiſenbahnen
und der Dampfſchifffahrt: Grundlage iſt die Verpflichtung der-
ſelben, Briefe, Geldſendungen und die Poſtgüter (ſ. unten) entweder
unentgeldlich (Poſtwaggons der Bahnen) oder gegen jährliche Abfindung
oder Staatsſubvention (ſubventionirte Dampferlinien) mitzunehmen.
Die einzelnen Fragen über Umfang dieſer Verpflichtung und Haftung
bei derſelben ſind oft ſehr verwickelter Natur.
Die zweite dieſer Richtungen umfaßt das Verhältniß der Poſt
zum Lohnfuhrweſen und hat das öffentliche Recht der Lohnfuhr
erzeugt, das einen weſentlichen Theil des Poſtrechts bildet. — Die
volle Entwicklung dieſer Grundſätze tritt hiſtoriſch erſt da ein, wo die
Staaten einerſeits die freie Bewegung des Perſonenverkehrs nicht mehr
hemmen können und wollen (Beſeitigung des polizeilichen Paßſyſtems
für Poſtreiſende), und andererſeits die wachſende Maſſe der Briefe die
Aufmerkſamkeit auf den einzelnen Brief unmöglich macht (Beſeitigung
des Kartirungſyſtems für Briefe). Das erſte verdanken wir den Bahnen,
das zweite den Briefmarken. Erſt durch ſie iſt ein rationeller Poſt-
betrieb zugleich unabweisbar und möglich geworden.
Der Poſtbetrieb iſt das Gebiet des Poſtreglements einerſeits, und der
techniſchen Poſtliteratur andererſeits. In den meiſten Ländern eigene Poſt-
verordnungsblätter (Verordnungsblätter für Verkehrsanſtalten u. ſ. w.).
Die wiſſenſchaftliche Behandlung des Poſtbetriebes iſt faſt ganz verſchwunden,
ſeit das Poſtweſen hier den Anforderungen der Zeit zu entſprechen verſteht
(vgl. oben und Mohl, Polizeiwiſſenſchaft §. 133; Block, Dict. v. Postes).
Das Syſtem der franzöſiſchen „Messageries,“ die als Messageries impériales
zu Perſonenpoſten und als Messageries publiques zu Lohnfuhrunternehmungen,
aber der Poſt zum Dienſt verpflichtet ſind (gegenwärtig faſt 4000 ſolcher Unter-
nehmungen) gut dargeſtellt ebend. v. Messageries.
3) Das Portoſyſtem.
Das Portoſyſtem iſt das Ergebniß eines langen Kampfes der
Bedürfniſſe des Verkehrs und der Idee des Poſtweſens mit der Fähigkeit
der letzteren eine finanzielle Einnahmsquelle zu bilden. Eine Geſchichte
[204] deſſelben fehlt noch trotz ihres großen Intereſſes. Man kann drei
Grundformen unterſcheiden.
Die erſte hiſtoriſche Form entſteht daraus, daß die Poſt im Ganzen
verliehen und verpachtet und die Poſtſtationen verkauft werden. Von
einem ſtaatlichen Princip für die Höhe und das Syſtem des Portos
iſt keine Rede, der ganze Poſtbetrieb iſt ein finanzielles Regal, jede
einzelne Poſtſtation erſcheint als ein Unternehmen und der Poſt-
meiſter beſtimmt die Taxe.
In der zweiten Epoche tritt bereits die Verwaltung ein. Sie ent-
wickelt zwei Momente. Zuerſt regelt ſie geſetzlich die Taxe, anfäng-
lich nach ziemlich rohem Ermeſſen, dann nach dem Syſtem der Ent-
fernungen. Zweitens aber zieht ſie aus jeder Taxe eine finanzielle
Einnahme und ſteigert daher die letztere ſo hoch als möglich. Dadurch
entſteht ein zwar höchſt einſeitiges, aber doch geregeltes Syſtem ſowohl
des Portos der Briefe als der Meilen und Fahrtaxen für die Fahr-
poſt. Natürlich wird die Poſt jetzt einträglicher für den Staat, aber
die Verhaltungskoſten, namentlich das Porto wachſen, während durch
die Höhe des Portos bei ſteigender Entfernung der perſönliche Verkehr
weſentlich auf örtlich enge Gränzen beſchränkt bleibt.
Dieß iſt erträglich, ſo lange Handel und Verkehr der einzelnen
Unternehmungen nur ausnahmsweiſe weitere Kreiſe ſuchen. Es wird
unerträglich, ſo wie das Geſammtleben durch die Eiſenbahnen und die
Dampfſchifffahrt ſeine gewaltigen Dimenſionen auf jede einzelne Perſon
zur Geltung bringt. Die bloße ſyſtematiſche Ordnung und Genauigkeit
in der Beförderung, wie ſie die Geſetze der dreißiger Jahre erzeugen,
reichen nicht aus. So entſteht ein ganz neues Princip, deſſen Grund-
lagen die beiden Sätze ſind, daß bei einem feſten Minimalgewicht die
Geſtehungskoſten des Poſtbetriebes nicht in dem Transport, ſondern
in der Aufnahme und Abgabe der Briefe beſtehen, und daß das
Baarzahlen bei der Frankirung theurer zu ſtehen komme als das Porto
ſelbſt. Dieſe beiden Sätze in Verbindung mit dem oberſten Princip,
daß das Porto nicht mehr principiell eine Einkommensquelle für die
Finanzen bilden ſolle, bilden zuſammengenommen das gegenwärtige
Portoſyſtem Europa’s, deſſen Gründer Rowland Hill iſt (1839—41)
und deſſen Grundlagen das gleiche, niedrige und in Marken zu
zahlende Porto ſind. Seine weitere Entwicklung empfängt dann daſſelbe
theils durch Syſtemiſirung nach den Verſendungen (Briefe, Muſter,
Zeitungen u. ſ. w.), theils durch das Syſtem der Rayons, die wieder
in neueſter Zeit verſchwinden und an deren Stelle die Einheit der
Länder tritt, während die Poſtverträge das Syſtem bereits durch
gegenſeitige Zugeſtändniſſe über die ganze Welt ausgedehnt haben.
[205] Die Fahrpoſtentaxen bleiben dagegen naturgemäß territorial; das inter-
nationale Syſtem derſelben hat man in den Conventionen der Eiſen-
bahnen zu ſuchen.
Eine Geſchichte des Portoweſens mangelt; ſehr viele Klagen und ſehr
viel einzelnes Material bei Klüber, Herrfeld, Müller, Reform des Poſt-
weſens 1843. Die beſte Geſchichte des Entſtehens und der Kämpfe des Hill-
ſchen Syſtems in Hüttner, Beiträge zur Kenntniß des Poſtweſens, 2. Jahrg.
1848. Den Kampf in Deutſchland bei Herrfeld und Müller. Die wich-
tige Frage, ob dann das Herabgehen des Portoſatzes unter die Geſtehungs-
koſten des Poſtbetriebes, wenn auch mit Ausſicht auf Ausgleichung durch
ſpätere Zunahme, gerechtfertigt ſei, iſt wenig unterſucht. Ueber England
vgl. Vocke a. a. O.; Morton Peto, On taxation 1863.
Begriff.
Das Poſtrecht im weiteſten Sinne enthält nun die Geſammtheit
von Rechtsverhäliniſſen, welche durch die Thätigkeit dieſer Poſtverwal-
tung zwiſchen ihr und den Einzelnen entſtehen. Das Princip für das-
ſelbe iſt die Modifikation des an ſich privatrechtlichen Beförderungs-
unternehmens und Beförderungsvertrages durch das höhere adminiſtrative
Weſen der Poſt. Das letztere iſt ausgedrückt im Begriff der Regalität.
Das Poſtrecht erſcheint daher als das rechtliche Syſtem der Regalität
der Poſt.
Dieſe Regalität aber hat zwei hiſtoriſche Grundformen. Sie iſt
hier wie immer zuerſt eine reine finanzielle, welche die Poſt als
Einnahmsquelle behandelt; dann wird ſie mit dem neunzehnten Jahr-
hundert ein wirthſchaftliches Hoheitsrecht, in welchem das aus-
ſchließliche Recht des Regals nur deßhalb und nur ſo weit aufrecht
erhalten wird, als die ſtaatliche Funktion der Poſt es fordert.
Jeder Theil des Poſtrechts hat daher beide Epochen durchgemacht,
und vermöge derſelben eine doppelte Geſtalt. Die Grundlage der Ent-
wicklung aber iſt die Bewegung zur größeren Freiheit im ganzen
Poſtweſen, welche zwar nicht das Poſtregal aufhebt, wohl aber es
gegenüber der Einzelthätigkeit auf die möglichſt engen Gränzen zurück-
führt. Es iſt keine Frage, daß wir in dieſer Beziehung noch vielfach
im Uebergange, namentlich in den einzelnen Beſtimmungen der Regalität
begriffen ſind. Um ſo nothwendiger iſt es, die feſten ſyſtematiſchen
Grundlagen für das ganze Gebiet aufzuſtellen, um daran die weitere
Entwicklung meſſen zu können.
Die Begriffe von der Regalität ſind überhaupt nur dadurch unklar, daß
man regelmäßig bei dem hiſtoriſch begründeten finanziellen Regal ſtehen
[206] bleibt, ohne das Weſen des volkswirthſchaftlichen Hoheitsrechts als die zweite,
freie Geſtalt deſſelben aufzunehmen. Daher kommt es, daß man in England
und Frankreich, wo man das letztere gerade ſo gut als in Deutſchland beſitzt,
weder Wort noch Bedeutung des deutſchen „Regals“ kennt, während die
deutſche Literatur daſſelbe bald als rein hiſtoriſch, bald ſtaatswiſſenſchaftlich
behandelt (vgl. Stein, Finanzwiſſenſchaft, S. 138 ff.); das neueſte bedeutende
Werk: Gab, das deutſche Poſtrecht 1865. Einen weſentlichen Theil der Frei-
heit in der Verkehrsbewegung iſt die des periodiſchen Perſonentrans-
ports; vollkommene Freigebung in Oeſterreich (Geſetz vom 11. März 1865);
jedoch unter Aufſicht.
Syſtem des Poſtrechts. Zwangsrecht, Poſtpflicht, Poſtſtrafrecht,
Poſtnothrecht.
Die einzelnen Gebiete des Poſtrechts ſind nun das Poſtzwangs-
recht, die Poſtpflicht, das Poſtſtrafrecht und das Poſtnothrecht.
1) Das Poſtzwangsrecht erſcheint als das Poſtregal im engeren
Sinne, und enthält die ausſchließliche Befugniß der Poſt auf Beför-
derung von Briefen, Perſonen und Gütern innerhalb gewiſſer geſetz-
licher Gränzen.
Das Briefregal iſt der weſentliche Theil dieſes Poſtregals, der ſich
noch erhalten hat. Es erſcheint als das geſetzliche Verbot, ſowohl
durch eigene Unternehmungen als durch einzelne Perſonen Briefe zu
befördern. Das Frachtenregal der Poſt iſt dagegen auf Güter von
gewiſſem Gewicht beſchränkt. Das Perſonenregal endlich erſcheint
nur noch in dem Grundſatz, daß Unternehmungen, welche die regel-
mäßige Beförderung von Perſonen zum Zweck haben, nur unter Er-
laubniß der Regierung beſtehen dürfen. Dieſe Erlaubniß (Conceſſion)
iſt dann regelmäßig mit geſetzlicher Oberaufſicht, meiſt auch mit geſetz-
lich beſtimmten Taxen verbunden, in vielen Fällen zugleich mit der
Verpflichtung, die der Poſt ſelbſt zukommenden Perſonen, Güter und
ſelbſt Briefe unentgeldlich oder gegen Entgelo mit zu befördern. Das
daraus entſtehende Syſtem der Beförderung ſcheidet ſich dann wieder
in das Lohnfuhrweſen mit ſeinen öffentlichen Rechtsverhältniſſen,
das in allen Ländern Europas in ſeinen Grundlagen gleich iſt (die
Meſſagerien Frankreichs haben bei dem letzteren meiſt das Muſter ge-
geben) — und die Verpflichtungen der Eiſenbahnen und Dampf-
ſchiffe zu Mitnahme der Briefe und Güter, wogegen die Perſonen-
beförderung ihnen freigegeben iſt (Poſtwagen der Bahnen, Poſtcabinet
der Dampfſchiffe.) Das Recht derſelben hat ſich in neuerer Zeit zu
einer großen Reihe von einzelnen Beſtimmungen entwickelt, welche jedoch
territorial mannigfach verſchieden ſind.
2) Die Poſtpflicht enthält die Geſammtheit von Rechten, welche
[207] den Einzelnen aus der Verpflichtung entſtehen, das Poſtregal ſich für
ihre Anforderungen zu unterwerfen. Die Hauptmomente dieſer Poſt-
pflicht ſind die Pflicht zur Aufnahme und wirklichen Beförderung
der Objekte des Poſtregals, die Innehaltung der Lieferzeit, und
endlich das Poſtgarantieſyſtem als Haftungsrecht der Poſt für die
ihr übergebenen Briefe und Güter. Dieſes Garantieſyſtem hat zur
Aufgabe, erſtlich die Haftung für den einfachen Brief, dann für die
ihm gleichſtehenden Sendungen (Zeitungen, Muſter ꝛc.), dann diejenige
für rekommandirte und Werthbriefe zu beſtimmen. Das einfachſte
iſt freilich, wenn die Poſtgeſetzgebung die erſte überhaupt abweist,
die zweite nur nach einſeitig von ihr beſtimmten Tarifen anerkennt,
während ſie für Lieferungszeit ꝛc. gar keine Haftung übernimmt. So
hat ſich das gegenwärtige Syſtem gebildet, daß ſie unbedingt für ihren
Poſtbetrieb das Verordnungs- und Verfügungsrecht hat, ohne
daß aber mit dem Inhalt einmal erlaſſener gültiger Verordnungen auch
das Klagerecht der Einzelnen gegen die Poſt verbunden wäre, was
aber um ſo mehr eintreten ſollte, als eben jenes Verordnungsrecht
der Poſt die Möglichkeit gibt, ſich ſelber die Bedingungen ihrer Haf-
tung vorzuſchreiben. Auch hier iſt daher eine Poſtgeſetzgebung als
Grundlage der Poſtverordnungen im höchſten Grade wünſchenswerth
und nothwendig.
3) Das Poſtſtrafrecht enthält ſeinerſeits die Strafbeſtimmungen
für die Verletzung des Poſtregals; auch dieſe können und ſollen nur
als Geſetze erlaſſen werden. Es iſt natürlich, daß das Poſtſtrafrecht
in dem Maße verſchwindet, in welcher die freie Concurrenz der Privat-
unternehmungen neben dem ſtaatlichen Poſtbetrieb zugelaſſen wird.
4) Das Poſtnothrecht endlich iſt das Recht des Poſtbetriebes
im Falle elementarer Gefährdung des Poſtbetriebes die Einzelnen zu
zwingen, der Poſt Hülfe zu leiſten, oder ihren Betrieb auch auf
eigenem Grund und Boden zuzulaſſen. Die Entſchädigung bleibt hier
wie bei dem Staatsnothrecht überhaupt vorbehalten. Die Befreiung
von Wegeabgaben u. ſ. w. iſt jedoch eigentlich durch die admini-
ſtrative Natur der Poſt begründet.
Eine ſyſtematiſche Behandlung des Poſtregals vom Standpunkt der obigen
einzelnen Punkte mangelt. In der That haben ſich namentlich die Begriffe
der Poſthaftung erſt in unſerem Jahrhundert entwickelt und bilden jetzt zum
Theil ein völliges und eingreifendes Syſtem von Rechtsſätzen. Die Frage nach
dem Poſtzwang erſcheint erſt im vorigen Jahrhundert als Gegenſtand der
Geſetzgebung, indem der Zweifel Platz greift, ob überhaupt das Poſtregal ver-
nünftig und berechtigt ſei. (Vergl. über den Standpunkt der Mitte des vorigen
Jahrhunderts in dieſer Beziehung Juſti, Polizeiwiſſenſchaft 4. Bd. 16. Hauptſt.
[208] §. 436 ff.; für unſer Jahrhundert ſ. Lotz, Staatswirthſchaftslehre III. S. 153;
Mohl, Polizeiwiſſenſchaft §. 173; Herfeld, Reform des Poſt- und Trans-
portweſens in Deutſchland 1841. S. 49.) Die geſetzliche Anerkennung des
Poſtzwanges wird jedoch ſtreng aufrecht gehalten; daneben harte Strafen für
die Umgehung (vergl. Preuß. Allgem. Landrecht II. 15. 141). In Frankreich
gab das Decret vom 16. Okt. 1794 völlige Freiheit der Beförderung bis 1 Kilo-
gramm, und forderte nur Poſtzwang für Briefe und Extrapoſt. Dann ent-
ſtand die Beſteuerung der Unternehmungen 1804; die Beförderung von Reiſen-
den wieder verboten 1805; dann Entwicklung des Syſtems der Meſſagerien,
deren jetzt gegen 4000 als Privatunternehmungen beſtehen. Das deutſche Poſt-
recht als Haftungsrecht und in ſyſtematiſcher Behandlung eigentlich erſt ſeit dem
Poſtvertrag von 1850; dieſer Poſtvertrag wird die Baſis der Bildung des
deutſchen Poſtrechts; ihm folgt das preußiſche Poſtgeſetz vom 5. Juni 1852;
dem Vertrage von 1860 folgt das preußiſche Geſetz vom 21. Mai 1860 (vergl.
Rönne, Staatsrecht II. §. 424; Pötzl, bayeriſches Verwaltungsrecht §. 173
bis 176). — Badiſches Poſtgeſetz vom 1. Juli 1864. — Braunſchweig:
Poſtgeſetz vom 1. Juli 1864. Sehr klar iſt das franzöſiſche Poſtrecht behandelt
von Lavallée bei Block, Dict. v. Postes. — Die deutſche Literatur über das
Poſtrecht iſt ſeit den letzten zwanzig Jahren ſehr einſeitig entwickelt; das Ge-
ſchichtliche ſchließt ſich faſt ausſchließlich an die Thurn- und Taxis’ſche Poſt-
frage (Zöpfl, Staatsrecht II. §. 303). Die bedeutendſte Arbeit iſt in neueſter
Zeit der adminiſtrative, meiſt einfache Auszug aus den Geſetzen wie bei Rönne,
Mayer, Verwaltungsrecht (unklar an mehreren Orten); die caſuiſtiſche Behand-
lung der Haftpflicht der Poſt geht vom reinen privatrechtlichen Standpunkt aus,
ohne es zu einer geſammten wiſſenſchaftlichen Auffaſſung zu bringen (Linde,
Haftverbindlichkeit der Poſtanſtalt 1859; Schellmann, Rechtliche Natur des
Poſtbeförderungsvertrages von 1861; Kompe, Poſttransportvertrag (Zeitſchrift
für deutſches Recht XVIII.)
Während nun die Poſt den Verkehr der Einzelnen zum Gegenſtand
der Staatsthätigkeit macht, bilden die Eiſenbahnen den Organismus,
der den Geſammtverkehr der Maſſen, ſowohl der Perſonen als der
Güter einerſeits in ſich aufnimmt, andererſeits erzeugt. Die Eiſen-
bahnen ſind daher das Mittel und der Ausdruck des Zuſammen-
lebens der Theile des Staates und der Staaten unter einander.
Ihre Bedeutung iſt daher eben ſo groß, als es ihr Erfolg iſt. Und
es iſt deßhalb natürlich, daß Geſetzgebung und Literatur im Anfang
dieſer Erſcheinung die verſchiedenen Geſichtspunkte, die für daſſelbe
gelten, zuſammenwerfen. Die erſte Aufgabe iſt daher für die Verwal-
tungslehre die, ihr eigenes Gebiet von dem verwandten zu ſondern,
[209] und daſſelbe auf der Grundlage einer feſten Deſinition und eines klaren
Principes feſtzuſtellen.
Die Fragen über Werth, Einfluß, wirthſchaftliche Bedingungen
und geiſtige Bedeutung der Eiſenbahnen gehören der Nationalökonomie
und Geſellſchaftslehre.
Die Frage über Ausdehnung, Linien, Bewegung und Capitals-
verwendung gehören der Statiſtik.
Die Fragen über die Zweckmäßigkeit in Bau und Betrieb im
weiteſten Sinne gehören der Technik.
Der Verwaltungslehre dagegen gehört das Eiſenbahnweſen,
inſofern daſſelbe als eine jener großen organiſchen Bedingungen be-
trachtet wird, welche der Einzelne nicht mehr entbehren, die er aber
auch als Einzelner nicht ſchaffen kann, und die daher durch die Ge-
meinſchaft hergeſtellt werden muß. Die Verwaltungslehre hat es daher
nur mit demjenigen zu thun, was der Staat für das Eiſenbahn-
weſen zu leiſten und von demſelben zu fordern hat. Dieſe Leiſtungen
und Forderungen des Staats bilden die Eiſenbahnverwaltung;
die Beſtimmungen über Eiſenbahnverwaltung, zum geltenden Recht
formulirt, bilden das Eiſenbahnrecht; und die Geſammtheit aller
auf die Eiſenbahnen bezüglichen öffentlich rechtlichen Erſcheinungen und
Thatſachen, in Verbindung mit der ſtatiſtiſchen und techniſchen Ent-
wicklung deſſelben nennen wir das Eiſenbahnweſen.
Dieſe formalen Begriffe ſind einfach. Aber die poſitive Geſtal-
tung derſelben hat einen ganz ſpeciellen Charakter, der ſeinerſeits auf
den dem ganzen Bahnweſen eigenthümlichen Elementen deſſelben beruht.
Es iſt kein Zweifel mehr, daß die Auffaſſung des ganzen Bahn-
weſens ſich weſentlich in dem letzten Jahrzehnt umgeſtaltet hat. Als
die Bahnen entſtanden, erſchienen ſie vielen als ein Vortheil, manchen
als eine Annehmlichkeit, den meiſten aber wohl als eine Anſtalt von
örtlichem Werth und örtlicher Bedeutung. Dieſer Standpunkt iſt
überwunden. Die Eiſenbahnen ſind als eine volkswirthſchaftliche Noth-
wendigkeit, als die unabweisbare Bedingung für die wirthſchaftliche
und ſelbſt geiſtige Entwicklung der ganzen Gemeinſchaft anerkannt.
Das iſt der Grundgedanke unſerer Zeit, der mit jedem Tage ſich feſter
einprägt, und zur allgemeinen Ueberzeugung aller Völker wird.
Iſt das der Fall, ſo ſind an ſich betrachtet die Eiſenbahnen eine
Aufgabe der Verwaltung in Herſtellung und Betrieb, wie Wege
und Poſtweſen. Dem Princip nach ſoll der Staat ſich ſelber ſeine
Bahnen bauen und ſie ſelbſt verwalten.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 14
[210]
Allein er kann es nicht; theils weil die Bahnen ein zu großes
Capital fordern, theils aber weil ſie den Charakter von Unternehmungen
haben, die der Staat nie gut verwaltet, ſo lange ein Reingewinn ihre
Vorausſetzung und ihr Zweck iſt. Weder Regierung noch Selbſtver-
waltung genügen hier. Um die Bahnen herzuſtellen, muß daher der
dritte große Organismus der vollziehenden Gewalt eintreten, das Ver-
einsweſen. Und zwar iſt diejenige Form deſſelben, in der es das
Bahnweſen in ſich aufnimmt, die Aktiengeſellſchaft. Das Bahn-
weſen faſt der ganzen Welt beruht daher auf der Bildung von Aktien-
geſellſchaften.
Nun aber vertritt jede Erwerbsgeſellſchaft oder ſelbſtändiges Unter-
nehmen das Lebensprincip des letzteren, das Erwerbsintereſſe der
Unternehmer (Aktionäre). Dies Intereſſe geht dahin, den möglichſt
großen Erwerb vermöge des Unternehmens in Anlage und Betrieb zu
machen. Dieſer Erwerb beruht auf der möglichſt hohen Zahlung
der Einzelnen für die Benützung der Bahn. Der Staat aber, das
allgemeine Intereſſe vertretend, muß im Namen deſſelben vor allem
den möglichſt niedrigen Betrag für dieſe Benutzung fordern. Die
Unternehmer fordern daher eine Verwaltung und ein Recht, welches
dem möglichſten Ertrage ihres Capitals dienen, der Staat eine Ver-
waltung und ein Recht, welche ſich dem Geſammtintereſſe unterordnen.
Jedes von beiden Elementen macht daher die volle Herrſchaft des andern
unmöglich. Dennoch iſt es kein Zweifel, daß ſie beide gleich berechtigt
ſind. So wie daher die Bahnen entſtehen, treten beide Faktoren,
jeder mit ſeinen Anſprüchen, mit einander in Gegenſatz; es entſteht
ein im Ganzen wie auf jedem einzelnen Punkte wiederholter Kampf
des Geſellſchafts- mit dem öffentlichen Intereſſe, ein beſtändig wieder-
holter Verſuch, beide in Harmonie zu bringen; und dieſer Gegenſatz iſt
es, welcher als das eigentlich rechtsbildende Element des Bahnweſens,
und als die Grundlage für die Geſchichte und das Syſtem deſſelben
angeſehen werden muß. Er durchdringt das Ganze, und bildet den
Charakter des öffentlichen Bahnweſens in jedem Lande und das Ver-
hältniß, in welchem beide Elemente zu einander ſtehen, die Stadien
der Entwicklung in dem Kampfe beider mit einander, und gibt dem
formalen Syſtem ſeinen concreten Inhalt. Von ihm aus iſt erſt das
wiſſenſchaftliche Verſtändniß des Ganzen möglich.
Geht man nun von dem obigen Standpunkt aus, ſo erſcheint
die hiſtoriſche Entwicklung des Bahnweſens in drei Hauptſtadien, die
von der ſtatiſtiſchen, techniſchen und volkswirthſchaftlichen Frage ganz
[211] unabhängig ſind, ſondern vielmehr die wahre Grundlage der Geſchichte
des Eiſenbahnrechts und der Eiſenbahnverwaltung bilden.
Die erſte Zeit, der Beginn des Bahnweſens, geht noch von dem
einfachen Gedanken aus, daß alle Bahnen nur durch Geſellſchaften
entſtehen können, erkennt aber zugleich, daß ſie eine öffentlich rechtliche
Function haben. Noch ſind die wichtigen Fragen, die ſich an den
eigentlichen Betrieb knüpfen, nicht bekannt. Die Rechtsbildung dieſer
Zeit, etwa von 1830 bis zur Mitte der vierziger Jahre, beſchränkt ſich
daher auf die Ausbildung des Conceſſionsrechts und die Elemente
der Bau- und Betriebspolizei. Aber mit dem Ende der vier-
ziger Jahre wird ſchon der Gedanke lebendig, daß die Eiſenbahnen in
der That Verwaltungsanſtalten ſind. Die Staaten beginnen daher
unmittelbar in das Bahnweſen einzugreifen, und ſo bildet ſich das
Unterſtützungsſyſtem einerſeits, und der Verſuch andererſeits, die
Bahnen als Staatsbahnen zu bauen. Der letztere Verſuch wird
aber aufgegeben; die Staaten ſind nicht reich genug, um mit den
Steuern die Anlagecapitalien aufzubringen; ſie treten zurück, und die
geſellſchaftlichen Bahnen werden die Hauptform der Bahnunternehmung.
So wie das mit der Mitte der fünfziger Jahre feſtſteht, entwickelt ſich
nunmehr das eigentliche Syſtem des Bahnrechts, in welchem in Princip
und Ausführung die Vermittlung zwiſchen den Forderungen des öffent-
lichen Intereſſes und der einzelnen Bahnunternehmung auf allen Punk-
ten zugleich geſucht wird. In dieſer Epoche ſteht noch die Gegenwart.
Ihr Charakter iſt demgemäß die möglichſte Förderung der Anlage
von Bahnen durch die Aufnahme des Princips der Unterſtützung in
das Conceſſionsweſen, aber zugleich die Erhaltung des Princips
der Verwaltung in dem Grundſatz des Heimfallsrechts im Allge-
meinen und der Ausübung der Oberaufſicht in Adminiſtration und
Betrieb in den einzelnen Punkten. Das ſind im Weſentlichen die
Grundzüge des Bahnverwaltungsrechts. Sie bilden die Baſis der Ver-
gleichung des Bahnweſens bei den einzelnen Völkern, der Beurthei-
lung des Werthes der einzelnen Beſtimmungen des Bahnrechts, und
endlich den Ausgangspunkt der Wiſſenſchaft des Verwaltungsrechts,
indem das Verhältniß beider Elemente zu einander für jede
Betrachtung des Bahnweſens zum Grunde gelegt wird.
Daraus nun ergibt ſich auch Weſen und Werth des Syſtems
für dieſe wiſſenſchaftliche Behandlung. Das Syſtem hat die Grund-
verhältniſſe des Bahnweſens zum Grunde zu legen, und in jedem
derſelben das Verhalten jener beiden Faktoren nachzuweiſen. Als ſolche
[212] erſcheinen die Organiſation, die Anlage, der Betrieb und der
Verkehr der Bahnen. Allerdings ſind nun hier die oberſten Prin-
cipien ziemlich gleichartig in ganz Europa; allein der ſpecifiſche Cha-
rakter der drei großen Culturvölker wiederholt ſich auch in ſeinem
Eiſenbahnweſen. Während in England das Bahnweſen als Sache der
Geſellſchaften angeſehen wird, und der Staat ſich zu keiner Unter-
ſtützung herbeiläßt, dafür aber auch kein Heimfallsrecht beanſprucht,
ſondern die Bahn wie ein Privatunternehmen unter öffentlicher Ober-
aufſicht behandelt, ſind in Frankreich und Deutſchland die meiſten
Bahnen mit Unterſtützung entſtanden, heimfallsverpflichtet, und unter
Mitwirkung der Regierung in Bau und Betrieb. Nur iſt das Syſtem
viel weiter ausgebildet in Frankreich als in Deutſchland, wo die Bahnen
nie ihrer Selbſtändigkeit beraubt worden ſind, ſo daß man ſagen kann,
daß die Bahnen in Frankreich durch die Intervention der Regierung
nur noch als Erwerbsgeſellſchaften erſcheinen, während ſie in Deutſch-
land als Verwaltungsvereine auftreten. Auf dieſem Charakter
beruht der Unterſchied im Syſteme des Bahnweſens und ſeinen einzelnen
Theilen.
England. Der Gang der Eiſenbahngeſetzgebung Englands iſt unzweifel-
haft der belehrendſte von allen. Die erſte Railway Act für Pferdebahnen
(Wandsworth-Crowden) iſt von 1801, erſte Conceſſion für die Locomotivbahn
von Darlington nach Stockton 1823; Liverpool-Mancheſter-Conceſſion 1825;
1836 waren 490 miles in England und 50 in Schottland. Koſten: 13,300,000
Pfund Sterling; 1840 (3. 4. Vict. 97); Uebertragung des Conceſſionsrechts
an den Board of Trade (organiſche Geſetzgebung 1844); die Companies Clauses
Act (8. Vict. 16); Aufbringung des Anlagecapitals, die Lands Clauses Act
(8. Vict. 18. Expropriation) und die Railways Clauses Act (8. Vict. 20.
Bauordnung mit sect. 76 über Vicinalbahnen). Die genaueren Beſtimmungen
bei jeder Bahn in den einzelnen Conceſſionen jeder Bahn, die Private Acts,
aus denen die franzöſiſchen Cahiers de Charge entſtanden ſind (ſ. unten).
1846 Einſetzung der Board of Commissioners of Railways, dem die Compe-
tenz des Board of Trade übertragen wird, ſpeciell in Beziehung auf Conceſ-
ſionen; Einſetzung des Clearing House 1847; die Traffic Act, (1853) verbietet
die Bevorzugung einzelner Parteien. Die Verſchiedenheit des Inhaltes der
Conceſſionen erzeugte dann die Nothwendigkeit geſetzlich für alle Bahnen gül-
tige Betriebsordnungen aufzuſtellen (die Railw. Comp. Powers Act) und die
Bauordnung gleichförmig zu machen (die Railw. Construction Facilities Act)
1858, 27. 28. Vict. 120 und 121. Die Railw. Comp. Securities Act 1866
ſchreibt die halbjährliche Angabe über die Anlehen und Schulden der Bahnen
bei der Regiſtratur der Joint Stock Companies vor; die neueſte Betriebsordnung
iſt dann die Bill von 1868 (31. 32. Vict. 119). S. Report der Royal Com-
mission on Railways 1867. p. I—CXXVI und die Minutes of evidence (Ver-
nehmungen) vom März 1865 bis Mai 1866 S. 1—889.
[213]
Frankreichs Syſtem iſt weſentlich anders. Grundlage iſt nach wie vor
das Geſetz vom 11. Juni 1842, dem nur einzelne polizeiliche Verordnungen
vorhergehen. Grundgedanke: Die Eiſenbahnen bilden Ein Ganzes; ſie ſind
als ſolche öffentliche Anſtalten; der Staat nimmt direkt an ihrer Herſtellung
Theil; er gibt den Unterbau (die Theilnahme des Departements und der Com-
mune ſeit 1845 zurückgenommen), die Geſellſchaft die Schienen, den Ober-
bau und Betrieb. Der Staat beſtimmt daher das Syſtem der zu bauenden
Linien (le réseau), die Geſellſchaft führt ſie aus. Daher kurzes Heimfallsrecht
(40 Jahre urſprünglich ſ. unten). Der Staat ſchreibt daher die Tarife vor,
ſo wie den ganzen Bau und Betrieb für die Compagnie; die Beſtimmungen
über Bau und Betrieb werden als Vertrag zwiſchen Staat und Compagnie
feſtgeſtellt, und dieſer Vertrag heißt das Cahier des Charges. Die natürliche
Folge iſt ein ſtrenges Oberaufſichtsrecht des Staats mit ausgebildetem Syſtem
der Inſpektion; die Bahnpolizei umfaßt den ganzen Betrieb (erſtes Geſetz
vom 15. Juli 1845 mit erläuternder Conceſſion und Verordnung vom 15. Nov.
1846). An dieſem Standpunkt iſt bis zur neueſten Zeit nichts geändert; nur
iſt das Syſtem der réseaux auf neue Grundlagen geſtellt (1859 ſ. unten) und
die Bahnaufſicht ſehr genau durch Conceſſion und Verordnung ausgeführt, wo-
durch das Unterſtützungsweſen ſich dem deutſchen ſehr genähert hat. — Die Lite-
ratur iſt weſentlich noch exegetiſch; das an Material reichſte, aber ungeordnete
Werk iſt der Code annoté des Chemins de fer von Fleury, 2 Bde. 1861;
Bibliographie S. XI (vergl. Block, Dict. v. Chemin de fer, mit Literatur).
In Deutſchland konnte nur in den beiden größeren Staaten ſich das
Bahnweſen zu einem ſyſtematiſchen Ganzen entwickeln, da die kleineren Staaten
mit einigen wenigen und kurzen Linien es zu keinem ſelbſtändigen Bahnrecht
brachten; geſetzliche Beſtimmungen faſt nur als Inhalt der Conceſſionen und
Statuten. Selbſtändig nur in Preußen und Oeſterreich. — Preußen: Erſte
Epoche: Auffaſſung der Bahnen als Privatunternehmungen unter öffentlicher
Aufſicht; Grundlage: Geſetz vom 3. Nov. 1838. Zweite Epoche: Verſuch des
Staats, die Herſtellung der Bahnen ganz in eigene Hand zu nehmen. (Be-
ſteuerungsperiode). Dritte Epoche: Subvention, Garantie und Heimfall ohne
beſondere Entwicklung der Geſetzgebung (vergl. Rönne, Staatsrecht II. S. 419 ff.
Derſ. Wegepolizei II. Literatur über das preußiſche Bahnweſen ebend. §. 419.
Fürſtemann, das preußiſche Eiſenbahnrecht 1869 (ſtatiſtiſch). — Oeſterreich:
derſelbe Gang; erſte Epoche bis 1848 (Nordbahn, Wien-Gloggnitz) — zweite
bis 1854; Staatsbahnen; Hauptgeſetz: Eiſenbahn-Betriebsordnung vom
16. Nov. 1851 (vergl. Michel, öſterreichiſches Eiſenbahnrecht 1860; dritte ſeit
1854; Subvention, Garantie, Heimfall; Eiſenbahn-Conceſſionsgeſetz vom
14. Sept. 1854; Michel S. 202). Daneben Entwicklung des gemeinſchaft-
lichen deutſchen Eiſenbahnrechts einerſeits durch die Literatur; Hauptwerke:
Beſchorner, das deutſche Eiſenbahnrecht 1858, mit vielem Material, jedoch
vorzugsweiſe über Aktien- und Enteignungsgeſetzgebung; bedeutender W. Koch,
Deutſchlands Eiſenbahnen 2 Bde. 1860; ſehr reich an Literatur, erſte Aufnahme
des eigentlichen Verkehrsrechts. Zugleich gemeinſchaftliche Geſetzgebung theils
im Handelsgeſetzbuch über Aktien- und Frachtgeſchäft, der erſte als Theil des
[214] Vereinsrechts (Bd. I. Tit. 3), der zweite als Theil des eigentlichen Handels-
rechts (Bd. IV. Tit. 4 und 5) mit der Literatur des Handelsrechts; theils
aber durch die Bildung und Thätigkeit des Vereins deutſcher Eiſenbahnen
(Vereinsreglement vom 1. Dec. 1856, im weſentlichen unverändert, bei
Beſchorner und Koch). Doch mangelt bei großer techniſcher Bildung noch durch-
aus die adminiſtrative für das Eiſenbahnweſen, und es iſt falſch, zu glauben,
daß hier Nationalökonomie und Statiſtik genügen.
Für das Verſtändniß der erſteren wäre feſtzuhalten, daß das geſammte
Bahnrecht ſich aus dem Zuſammenwirken von Regierung und Vereins-
weſen bildet. Das Folgende gibt nur die das Einzelne beherrſchenden Ge-
ſichtspunkte.
1) Organiſation des Bahnweſens.
Jenes doppelte Element des ganzen Bahnweſens erſcheint nun zu-
nächſt in der Organiſation deſſelben.
Jede Bahn iſt zuerſt ein ſelbſtändiger Vereinsorganismus, der
durch das Weſen des Aktienvereins und durch die Bedürfniſſe des
Unternehmens gegeben iſt. Aus dem erſten gehen die bekannten Kate-
gorien der Generalverſammlung, des Präſidenten und des Verwaltungs-
rathes, aus dem zweiten die der Direktion, der Angeſtellten und der
Bedienſteten hervor. Der Unterſchied in dieſer Beziehung iſt im Bahn-
weſen des geſammten Europas ein ſehr geringer.
Jede Bahn iſt aber zugleich ein öffentlicher Verwaltungskörper.
Alle Bahnen unterſtehen daher in Conceſſion, Bau und Betrieb dem
(Handels)Miniſterium, das meiſtens für das Bahnweſen eine eigene
Sektion hat. Die Vertretung der Regierung bei den Thätigkeiten der
Geſellſchaft in Generalverſammlung und Verwaltungsrath hat der
Regierungscommiſſär, bei dem Betriebe die Inſpektion. Recht
und Competenz beider großen Faktoren ſind an ſich und ihrem gegen-
ſeitigen Verhältniß noch unbeſtimmt, haben ſich aber allmählig zu einem
feſten Syſtem durch die ſelbſtändige Entwicklung des Baues und Be-
triebes ausgebildet.
England. Das Board of Trade ſchon ſeit 1840 als höchſte Behörde
(Abtheilung des Privy Council); genehmigendes Organ; die Einführung der
Inspectors ſchon 3. 4. Vict. 97; ſpäter genauer definirt. Recht auf bye laws
ausdrücklich in die Railway Regul. Act unter Genehmigung des Board of
Trade anerkannt. Vergl. Gneiſt, Engliſches Verwaltungsrecht II. §. 106. —
In Frankreich Unterordnung unter das Ministère des travaux publics; ſo
gut als gar keine Verfügungsgewalt. — In Preußen bis 1851 mit dem
öffentlichen Bauweſen vereinigt; ſeit 1851 Abth. II. des Handelsminiſteriums;
Eiſenbahnconceſſion ſchon durch das Geſetz von 1838. — In Oeſterreich
unter dem Handelsminiſterium mit Generalinſpektion. — Das Vereinsweſen
der Bahnen in England zu dem ſelbſtändigen, aber nur mit der Verrechnung
[215] beſchäftigten Railway Clearing House erhoben; geſetzlich geordnet durch 13. 14.
Vict. 33 (1850) und mit beſonderen Rechten verſehen; in Frankreich durch das
Syſtem der réseaux unthunlich; in Deutſchland großartige Entwicklung durch
den Verein der Eiſenbahnen begonnen 1847, für ganz Deutſchland orga-
niſirt 1850; daneben die einzelnen Eiſenbahnverbände für gewiſſe Trans-
portkreiſe und -Fragen, mit dem Princip bindender Majorität, jedoch ohne
ſelbſtberechtigte Executive. Organiſation des Bahnbetriebes ſehr gut bei Koch,
a. a. O. Anlage S. 1—46. Die Verhältniſſe des deutſchen Eiſenbahn-
vereins ſo wie der Verbände Derſ. Bd. II. T. III. §. 126 und §. 129 ff.
— Ueber das Syſtem der Nebenbahnen, ſeit 1861 in Frankreich begonnen,
und den ſchottiſchen und iriſchen Betrieb ſolcher Bahnen ſ. Revue des deux
Mondes, Janvier 1866.
2) Conceſſionsrecht der Eiſenbahnen.
Das erſte große Gebiet nun, wo ſich jene beiden Faktoren begegnen
und ein keinesweges einfaches Syſtem bilden, iſt das Conceſſions-
weſen.
Jede Conceſſion als ſolche hat einen doppelten Inhalt, weil ſie
eine doppelte Aufgabe hat. Sie hat einerſeits den Capitalien,
welche die Geſellſchaft bietet, die Bedingungen zu geben, unter denen
die letztere das Unternehmen überhaupt beginnen kann, und an-
drerſeits dieſe Bedingungen ſo zu formuliren, daß ſchon in der
erſten Anlage das Geſammtintereſſe gegenüber dem Erwerbsintereſſe
der Geſellſchaft gewahrt wird. Aus dem Zuſammenwirken beider Ge-
ſichtspunkte hat ſich allmählig ein Syſtem gebildet, das in jedem ſeiner
Theile beide Principien vertritt, und das Conceſſionsweſen ſchon an
und für ſich zu einem reichhaltigen Gebiete des Verwaltungsrechts
macht.
Seine leitenden Geſichtspunkte ſind folgende.
a) Die Vorconceſſion iſt die Verleihung des Rechts die Vor-
arbeiten zu unternehmen. Ihr poſitiver Inhalt iſt die Verleihung des
Enteignungsrechts in Beziehung auf diejenige Benützung des Grundes
und Bodens, welche zu den Vorarbeiten (Tracirung und Vermeſſung)
nothwendig ſind. England kennt ein ſolches Recht noch nicht; in
Deutſchland iſt das Princip deſſelben klar, aber über den Inhalt
exiſtirt noch keine beſondere Beſtimmung.
b) Die eigentliche Conceſſion iſt nun der Akt, durch welchen
die Geſellſchaft von der Regierung zur Anlage der Bahn berechtigt
wird. Der nothwendige Inhalt dieſer Conceſſion iſt ſtets ein
doppelter. Einerſeits enthält ſie die Verbürgung des Enteignungs-
rechts der Geſellſchaft für die beſtimmte und zwiſchen zwei Punkten
meiſtens ausſchließlich berechtigte Linie; daneben zweitens das Recht
[216] auf Aktien- und Prioritätenemiſſion. Andererſeits ſichert die Re-
gierung das öffentliche Intereſſe durch die Verhandlungen, welche der
Conceſſionsertheilung vorauf gehen. Principien und Vorlage der
Tracen mit allen dazu gehörigen Arbeiten; Beſtimmung theils der
Linie ſelbſt, theils auch der Hauptſtationen als Bedingung der Geneh-
migung; Sicherſtellung des wirklichen Baues durch Friſten und ſelbſt
durch Cautionen; endlich Genehmigung der Statuten der Geſellſchaft
als Theil der Conceſſion. An dieſe an ſich einfachen Grundſätze ſchließt
ſich nun aber ein weiteres Gebiet, das ſehr oft — in neueſter Zeit
zum letzteren Theil immer — in den Conceſſionen ſelbſt enthalten iſt.
Daſſelbe bezieht ſich auf die Unterſtützungen und das Heim-
fallsrecht.
c) Die Staatshülfe, welche der Staat den Geſellſchaften ge-
währt, hat die Aufgabe, durch die Sicherung der Ertragsfähigkeit das
Einzelcapital zur Betheiligung an den Bahnen herbeizuziehen. Hier
iſt es das Einzelintereſſe, welchem der Staat entgegenkommt. Die
Grundformen ſind dreifach. Die erſte iſt die direkte Betheiligung am
Bau durch den Staat, das urſprüngliche franzöſiſche Syſtem, in welchem
der Staat den Grund und Boden hergab, die Geſellſchaft das Uebrige.
Die zweite iſt die deutſche Form der Zinsgarantie, die ſtets mit
einem Amortiſationsſyſtem verbunden iſt. Die dritte iſt die neue
Form der Unterſtützung durch Befreiung von Steuern und Gebühren
für die Anlage und ſelbſt für Betrieb und Dividende. Jede dieſer Arten
hat ihre Vorzüge, Mängel und Folgen, ſpeciell für das Verhältniß
der Regierung zum Betriebsrecht. Ihr Werth wird meiſt von der
wahrſcheinlichen Ertragsfähigkeit der Bahnen, wie von den finanziellen
Zuſtänden des Staates bedingt.
d) Dem Princip der Unterſtützung gegenüber hat nun die Ver-
waltung das zweite des Heimfallsrechts als „Dauer der Conceſſion“
formulirt. Objekt derſelben nach franzöſiſchem Muſter iſt der Unter-
und Oberbau, nicht das Betriebscapital. Princip für die Dauer iſt
die Annahme einer Periode, in welcher der wahrſcheinliche Ueberſchuß
das Anlagecapital amortiſirt hat. Daher gar kein Rückfall in Eng-
land, urſprünglich ſehr kurzer in Frankreich, verlängert mit der Aus-
dehnung in dem Riſiko der Unternehmung, in Deutſchland urſprünglich
bei manchen Bahnen gar keiner, ſeit 1848 bei allen Bahnen meiſt
90 Jahre. Grundlage für das Heimfallsrecht daher in Maß und Art
der Unterſtützung.
Alle dieſe Punkte ſind in England in den Eiſenbahngeſetzen, in
Frankreich theils in den Conceſſionen und Statuten, theils in den
Cahiers de Charge, in Deutſchland weſentlich in den Conceſſions-
[217] urkunden feſtgeſtellt. Ein allmähliges Ausgleichen der Unterſchiede iſt
dabei unverkennbar, ſoweit überhaupt mit dem Princip der Unter-
ſtützung das des Heimfallsrechts zur Geltung gelangt.
Die Conceſſion in England iſt die gewöhnliche Incorporation der Geſell-
ſchaft durch Private bill, jedoch nach vorhergegangenem Gutachten der Railway
Commission im Board of Trade über die Pläne, und ſelbſt über die Tarife.
Subvention und Garantie exiſtiren nicht. — In Frankreich erſtes Syſtem
der Subvention nach dem Geſetz von 1842; Dauer nach der Wahrſcheinlichkeit
der Erträgniſſe auf vierzig Jahre; bei der Erweiterung im nouveau réseau
durch Convention von 1859, ſchon Garantie von 4,65 Procent und Dauer
auf neunundneunzig Jahre; zugleich geſetzlich fixirtes Baucapital; das troisième
réseau von 1862 garantirt mit einem größeren Baukapital, das um 160 Mil-
liarden Franken erhöht ward, 12,664 Kilometer umfaßt und 1871 fertig ſein
ſoll. — In Deutſchland reine Staatsbahnen, ungarantirte mit abſolutem
Eigenthum, garantirte mit 5 Procent, ſolche bei denen eine feſte und ſolche bei
denen die nachgewieſene Bauſumme garantirt iſt; neuere Zeit ſtatt der Garantie
Befreiung von Steuern (öſterreich. Geſetz vom 20. Mai 1869).
Ueber Verpflichtungen und Heimfallsrecht, ſo wie über Conceſſionsweſen
im beſondern vergl. in England die verſchiedenen Railway Regulations Acts
oben, namentlich die Railway Clauses Act von 1845, Pflicht die Poſt zu be-
fördern ſchon 1. Vict. 36 und öfter; für Deutſchland in Preußen das Eiſen-
bahngeſetz von 1838, welches zuerſt die Betriebsverpflichtungen gegen die
Regierung (Poſt, Militärtransporte ꝛc.) beſtimmt formulirte; Oeſterreichs beide
Geſetze von 1851 und 1854; über die Vorconceſſion und Bildung des Aktien-
geſetzes das Vereinsgeſetz von 1852. Das franzöſiſche Syſtem der „Cahiers
de Charge“ iſt ſehr beachtenswerth, indem es die öffentlich-rechtlichen Ver-
pflichtungen der Bahngeſellſchaft in Form eines privatrechtlichen Ver-
trages zuſammenfaßt; allgemein angenommene Formel für jede Conceſſion
bei Fleury a. a. O. I. S. 99 ff. Die Entwicklung des Conceſſionsweſens in
Frankreich beruht auf der Ausbreitung des réseaux. Es gibt daher in Frank-
reich gar keine Conceſſion für eine einzelne Bahn, ſondern jede wird als Theil
des ganzen Syſtems(réseau) conceſſionirt und nimmt mit allen gleich-
mäßig an allen Rechten und Pflichten Theil. England kennt nur einzelne
Bahnen; in Deutſchland bilden große Linien ſelbſtändige Syſteme, oft mit
ganz verſchiedenen Conceſſionsbedingungen. Statiſtik darüber fehlt aus meh-
reren Gründen. Die Unterſtützung für die Bahnen als Steuerbefreiung
(Einkommen-, Coupon-, Stempelſteuer bei Verträgen und erſte Aktienmiſſion
öſterreich. Geſetz vom 20. Mai 1802).
3) Betriebsrecht.
Aus denſelben beiden Faktoren geht nun in ihrem Zuſammen-
wirken auch das Betriebsrecht hervor. Der Betrieb ſelbſt iſt mit ſeiner
Ordnung durch die Natur des Bahnweſens überhaupt gegeben; ſeine
[218] nächſte Quelle iſt das Intereſſe der Unternehmung, ſein nächſter In-
halt die techniſchen Erforderniſſe für die Güterbewegung. Allein auch
hier arbeitet der Betrieb der Geſellſchaft zugleich im Intereſſe des
Ganzen. Daſſelbe macht ſich auf jedem Punkte geltend und ſo entſteht
das Betriebsrecht als die Geſammtheit von Beſtimmungen über
den Betrieb, in welchen das geſchäftliche Intereſſe des Unternehmens
nach dem allgemeinen Intereſſe des Verkehrs geregelt wird. Das
Verhältniß der eigenen Verwaltung der Bahn zur Regierung in dem
Gebiete des Betriebsrechts beruht nun darauf, daß die Bahnverwal-
tung ihrerſeits den Betrieb unter eigener Verantwortlichkeit ſelbſt zu
führen hat, daß aber die Regierung nicht bloß im Allgemeinen, ſon-
dern vielmehr auf jedem einzelnen Punkte ſich vermöge ihrer Oberauf-
ſicht die Vertretung des allgemeinen Intereſſes und ſeiner Anforderun-
gen vorbehält. So greifen hier beide Elemente ſo eng in einander,
daß das Betriebsrecht formell ein Ganzes wird. Seine Abtheilungen
ſind folgende.
a) Die Bahnordnung und Bahnpolizei hat zur Aufgabe,
Fahrbarkeit und Sicherheit der Bahn herzuſtellen. Grundlage: Eröff-
nung der Bahn erſt nach geſchehener Inſpektion auf Genehmigung
der Bahnbehörden. Erhaltung der Bahn und der „Objekte“ durch
die Bahnverwaltung unter Aufſicht der Inſpektoren, ebenſo Fahrbar-
keit durch beſtändige Ueberwachung der Bahnſtrecke durch die Bahn-
inſpektoren, Ingenieure, Stationschefs, Bahnwärter.
b) Betriebsmittel; Maſchinen, unter dem Gewerbepolizei-
recht der Maſchinen, Wagen und Laſtwagen: Zahl, Einrichtung und
Sicherheit; Grundſatz: Aufgabe der Bahnen im eigenen Intereſſe in
allen dieſen Beziehungen dem Bedürfniß des Verkehrs zu genügen;
Recht der Regierung, ſie dazu zu veranlaſſen.
c) Die Betriebsordnung enthält erſtlich die Fahrordnung;
Verpflichtung der Bahnen im öffentlichen Intereſſe, erſtlich auf gehörige
Veröffentlichung, dann auf regelmäßige Innehaltung, endlich auf paſ-
ſenden Anſchluß der Züge. Recht der Regierung, auf dieſe Punkte zu
achten, ausgedrückt in dem Recht der Genehmigung der Fahr-
ordnungen. Zweitens die Zugsordnung mit den Beſtimmungen
über Paſſagier- und Frachtenpolizei, Wagenordnung und das wichtige
Signalweſen. Hier ſind die Inſtruktionen der Bahndirektionen maßgebend.
d) Der Bahntelegraphendienſt mit ſeiner ſelbſtändigen Orga-
niſation und Aufgabe, als weſentlicher Faktor der Sicherheit und Ord-
nung des Betriebes.
Vergl. die früher angeführten Geſetze, welche meiſtens die Beſtimmungen
über Betrieb oder Betriebsperſonal enthalten; der Unterſchied liegt weſentlich
[219] in dem größeren oder geringeren Fleiß, den die Behörden darauf nehmen.
Natürlich iſt die Maſſe von einzelnen Geſetzen und Verordnungen gerade hier
am größten; namentlich in England und Frankreich, ſo daß viele die Eiſen-
bahngeſetzgebung faſt ganz auf dieſem Gebiete ſuchen. — In Frankreich iſt
das Meiſte in dem Cahier des Charges beſtimmt; daneben ſehr genaue
Inſtruktionen an das Bahnperſonal; das polizeiliche Betriebsreglement iſt das
Geſetz vom 13. Nov. 1846. In England ſehr ausführliche Beſtimmungen in
den Regulations. Neueſtes Geſetz: Locomotive Act 1865, 28. 29. Vict. 83
mit Oberaufſicht der Board of Trade; Bahntelegraphen (26. 27. Vict. 112).
In Deutſchland Verbindung von Geſetz und Inſtruktionen in den größeren
Staaten; in den kleineren nur letztere. Preußen: Eiſenbahnbetriebs-Regle-
ment der unter Staatsverwaltung ſtehenden Bahnen (Verordnung vom 3. Sept.
1865). Oeſterreich: Betriebsordnung von 1851 (Michel, Eiſenbahnrecht,
S. 4 ff.). Pollanctz und Wittek Sammlung 1869.
4) Verkehrsrecht.
Das Verkehrsrecht der Bahnen entſteht nun da, wo die Thätig-
keit des Betriebes nunmehr mit dem Einzelnen in Berührung kommt.
Dieſe Berührung iſt dem Princip nach eine privatrechtliche und das
Recht derſelben ein gewöhnliches Vertragsrecht. Allein auch hier wird
das an ſich einfache Rechtsſyſtem modificirt durch die öffentliche Natur
der Funktionen der Bahnen, und auch hier entſteht daher aus dem
Zuſammenwirken beider Faktoren das, was wir als das Verkehrsrecht
der Bahnen kennen.
Das Verſtändniß der doppelten Natur deſſelben bildet ſich erſt da
aus, wo die Idee der Regalität in den Hintergrund tritt, und die
Bahn Dritten gegenüber als ein reines Privatunternehmen erſcheint.
Die Funktion des öffentlichen Rechts iſt dabei die, das freie Privat-
recht der Bahnen in ſo weit zu beſchränken, als das öffentliche In-
tereſſe es fordert. Die drei, wiſſenſchaftlich zwar im Einzelnen, nicht
aber im Ganzen bisher bearbeiteten Gebiete dieſes Rechts ſind:
a) Das Tarifrecht. Der Tarif iſt der Preis für die Trans-
portleiſtung der Bahnen. An ſich haben die Bahnen ein unbegränztes
Tarifrecht. Die öffentliche Natur des Betriebs aber erſcheint darin,
daß die Conceſſion den Bahnen erſtlich überhaupt ein Maximum des
Tarifs vorſchreibt, und zweitens jeder Tarif der Regierung zur Ge-
nehmigung vorgelegt werden muß. Pflicht der Bahnen zu möglichſt
großer Veröffentlichung des Tarifs. Beſtandtheile des Tarifs (Aſſe-
kuranz, Speſen ꝛc.). Die Frage nach der Höhe des Tarifs iſt aller-
dings von der größten volkswirthſchaftlichen Wichtigkeit, aber an ſich
keine Sache der Verwaltung. Innerhalb des Maximums muß die
Bahn unbedingt freie Bewegung haben. Dagegen hat unzweifelhaft
[220] die Regierung das Recht, ein Herabgehen unter das conceſſionsmäßige
Maximum zu fordern, aber ſie muß dafür nach den Grundſätzen der
Enteignung ein Verfahren einleiten und Entſchädigung leiſten.
Das natürliche Correktiv dieſes Rechts iſt nicht das Eingreifen der
Regierung, ſondern die Concurrenz der Bahnen, die mit jedem
Tage bedeutender wirkt.
b) Das Transportrecht iſt gleichfalls zunächſt das reine Privat-
recht für den Transport von Perſonen und Gütern; das öffentliche
Recht erzeugt den Grundſatz der Pflicht zur Aufnahme beider gegen
Zahlung des Tarifs und zur Beförderung derſelben nach Maßgabe der
Fahrpläne. Die Entwicklung des Transportrechts beginnt da, wo der
Transport zugleich eine Spedition und eine Lieferung wird; daſſelbe
fällt damit unter das Frachtgeſchäft; dabei muß den Bahnen die Be-
rechtigung gelaſſen werden, den Transport auf Grundlage der geneh-
migten Fahrpläne nach ihrem Ermeſſen zu ordnen. Die betreffenden
Fragen können erſt durch ihre Scheidung von dem Haftungsrecht richtig
beurtheilt werden.
c) Das Haftungsrecht der Bahnen, das ſeinerſeits erſt durch
die Anerkennung ihrer privatrechtlichen Natur zur Entwicklung gediehen
iſt, enthält drei Grundformen. Es iſt zuerſt das rein bürgerliche
Haftungsrecht, mit den gewöhnlichen Grundſätzen über dolus und
culpa ohne Rückſicht auf das Objekt oder die Art der Beſchädigungen,
die Dritten durch den Betrieb entſtehen; es iſt zweitens die han-
delsrechtliche Haftungspflicht nach den Grundſätzen des Handels-
geſetzbuches, und für die dem Handelsrecht angehörigen Leiſtungen; es
iſt drittens das öffentliche Haftrecht, das wieder theils die Haf-
tung der Geſellſchaft als Ganzes gegenüber der Regierung für die Er-
haltung ihrer Betriebsfunktion iſt, theils aber die, durch die Natur
des Betriebes bedingte vielbeſtrittene oneroſe Haftung der Bahnen
gegenüber den einzelnen Beſchädigten, deren Grundprincip darin be-
ſteht, daß nicht wie bei bürgerlicher Haftung dem Beſchädigten der
Beweis der Verſchuldung durch die Bahn, ſondern umgekehrt der Bahn
der Entlaſtungsbeweis der unabwendbaren Gewalt obliegt, um ſich von
der Erſatzpflicht zu befreien. Die Höhe des Erſatzes iſt immer Sache
des Gerichts.
Das Princip der Genehmigung der Tarife iſt faſt ſo alt wie die Bahn-
geſetzgebung ſelbſt; formell im preuß. Geſetz von 1838 anerkannt §. 29. 30; ebenſo
in den engliſchen Regulations. Das Princip der Cheap trains bereits ein-
geführt mit 7. 8. Vict. 85, und genauer regulirt 21. 22. Vict. 75 (1858).
Das franzöſiſche Recht betrachtet überhaupt den Tarif nur von dem Standpunkt
der Erlaubniß der Regierung „le Gouvernement accorde à la société l’au-
[221] torisation de percevoir les droits de péage et les prix de transport suivants“
(Cahier des Charges art. 42; Fleury l. c. II. p. 120). In Deutſchland
hängt das Maximum des Tarifs ſtets eng mit der Garantie, und dieſe wieder
mit den Bau- und Betriebsſchwierigkeiten zuſammen, und erſcheint daher meiſt
in den einzelnen Conceſſionen. Das Transportrecht tritt faſt nur als
Transportpolizei auf; daneben als Bahnverfügungsrecht über die Paſſagier-
ordnung, Güteraufnahme, Verpackung u. ſ. w. Seine eigentliche Entwicklung
hat es natürlich erſt an dem handelsrechtlichen Haftungsrecht gefunden. Hier
ſtehen ſich, weder durch Geſetzgebung noch durch Wiſſenſchaft ganz vermittelt,
das deutſche Handelsgeſetzbuch und das Vereinsreglement gegenüber, und eine
ſelbſtändige Jurisprudenz iſt im Begriffe ſich zu bilden; ſiehe namentlich Koch
a. a. O. mit reichhaltiger Sammlung; vgl. auch Michel, öſterreich. Eiſen-
bahnrecht, S. 156—199; Haftpflicht der Eiſenbahnen in England von H. A.
Simon, deutſch von M. Frhr. v. Weber 1868. Das polizeiliche und
adminiſtrative Haftrecht wird mehr ſelbſtverſtändlich angenommen als ſpeciell
entwickelt; das oneroſe namentlich in neueſter Zeit ausdrücklich anerkannt für
Oeſterreich durch Geſetz vom 5. März 1869.
Die Dampfſchifffahrt gehört ihrem allgemeinen Weſen nach unter
die Schifffahrt; vermöge ihrer Maſchinen ſteht ſie unter der Maſchinen-
polizei; ihre Bedeutung für das volkswirthſchaftliche Leben iſt groß,
fehlt aber der Nationalökonomie und Statiſtik. Begriff und Recht der
öffentlichen Dampfſchifffahrt entſtehen erſt da, wo die Linien der-
ſelben als Fortſetzung der Eiſenbahnlinien auftreten. Hier beginnt das
Intereſſe des Verkehrs, ſeine Forderung an einen regelmäßigen An-
ſchluß und Beförderung aufzuſtellen; um dieß zu bewirken, muß der
Staat entweder ſelbſt Dampferlinien errichten, oder den errichteten
durch Subventionen ſolche Verpflichtungen auferlegen, und die ſich
daraus ergebenden geſetzlichen, beziehungsweiſe vertragsmäßigen Be-
ſtimmungen bilden dann das Recht der öffentlichen Dampfſchifffahrt.
Dem Principe nach iſt dieſes Recht ganz dem der Eiſenbahnen
gleich; bezeichnend iſt nur, daß die oneroſe Haftpflicht gerade hier am
wenigſten ausgebildet iſt. Natürlich iſt, daß die Unterſtützung der
Dampfſchifffahrt je nach den Linien eine ſehr verſchieden geartete ſein
muß, ſo weit nicht der Staat ſelbſt die Dampfſchiffe herſtellt (Poſt-
dampfer). Es ſind daher die betreffenden Fragen ſtets von Fall zu Fall
zu erwägen.
Der öſterreichiſche Lloyd und ſeine Verhältniſſe und Subventionsverträge;
die Donau-Dampfſchifffahrtsgeſetze; Ablöſung ihres ausſchließlichen Privilegiums
ſeit 1856 gegen Garantie von 7 Procent; die Meſſagerien von Marſeille für
[222] den Orient; italieniſche und griechiſche Dampferlinien; engliſche Linien über
den Ocean. — England: neueſtes Geſetz 25. 26. Vict. 63 (namentlich polizei-
licher Natur, Ordnung und Zahl der Engineers u. a.).
Das Telegraphenweſen vermittelt den momentanen Verkehr. Es
dient daher dem öffentlichen Intereſſe, wie Poſt und Bahnen. Es hat
aber zugleich den Charakter und das Recht eines Privatunternehmens;
die Bedingung des letzteren iſt aber wieder aus naheliegenden Gründen
entweder die Ertragsfähigkeit, oder die Subvention. Und da nun bis-
her der weſentlichſte Theil der Telegramme aus Staatsdepeſchen beſteht,
ſo beſteht demgemäß mit wenig Ausnahmen das ganze Telegraphen-
weſen noch in Staatstelegraphen.
Das Telegraphen recht iſt daher faſt nur noch von der Seite der
reinen Verwaltung ausgebildet und hängt enge mit der Geſchichte der
Telegraphen zuſammen. Die urſprünglichen optiſchen Telegraphen
waren reine Staatsanſtalt, ausſchließlich im Dienſt der höheren Ver-
waltung, wie der Anfang der Poſt. Die Einführung der Telegraphen
beim Bahndienſte war der entſcheidende Schritt zur Bildung neuer
Verhältniſſe. Zunächſt benützte man die Bahntelegraphen auch für
Verwaltungszwecke; dann geſtatteten die Bahnen ausnahmsweiſe auch
Privatdepeſchen; dann fingen die Verwaltungen an, ſelbſtändige Linien
anzulegen und die Privatdepeſchen neben den öffentlichen zuzulaſſen;
daraus entſtand die Nothwendigkeit, das Telegraphenweſen in Gemein-
ſchaft mit den Nachbarſtaaten zu ordnen; ſo wurden die Verträge die
Faktoren der Rechtsbildung für das Telegraphenweſen und ſind es für
Deutſchland geblieben, während Englands Telegraphen als Privat-
unternehmungen auftreten und Frankreich ſein Telegraphenweſen
durch eigene Geſetze geordnet hat.
Das Telegraphenrecht iſt dadurch ſehr einfach. Es theilt ſich in
das Betriebsrecht und das Verkehrsrecht, zu welchen bei den
Telegraphengeſellſchaften noch das Conceſſionsrecht hinzukommt,
das aber nichts als ein Analogon des Bahn-Conceſſionsrechts iſt.
Das Betriebsrecht iſt weſentlich techniſcher Natur; die Betriebs-
ordnung muß auch bei Privattelegraphen der Aufſicht des Staates
unterworfen bleiben. Die Grundlage iſt das Betriebsreglement
mit den Inſtruktionen. Der Organismus iſt ausſchließlich techniſcher
Natur mit Inſpektion und Stationen. Weſentlich iſt dabei die ſtrenge
Polizei der Telegraphenlinien mit eigenem Strafrecht.
Das Verkehrsrecht hat dieſelben Momente wie das der Bahnen,
mit den durch die Natur der Telegraphen gebotenen Modifikationen.
[223] Die Tarife ſetzt die Verwaltung ſelbſt; das Beförderungsrecht
beſteht in der Verpflichtung, die Aufnahme und Abgabe nach dem
ſtets zu veröffentlichenden Reglement vorzunehmen. Dagegen iſt das
Haftungsrecht noch unausgebildet. Feſt ſteht nur, daß die Anſtalt für
falſche Telegramme haftet; die Haftung für Mißbrauch des Telegraphen-
geheimniſſes iſt bisher nur als eine perſönliche für den betreffenden
Beamteten betrachtet; der Grundſatz, daß auch dafür die Haftung der
Anſtalt auf dem Punkte eintreten ſollte, wo dieſer Mißbrauch durch
die Aufſicht der oberen Organe hätte verhütet werden können, iſt noch
nicht zur Geltung gelangt; der Grundſatz, daß bei Beſchädigungen der
Anſtalt der Beweis der vis major auferliegt, iſt nicht anerkannt; wie
weit dieſe Haftung in Beziehung auf die Zuſtellung geht, iſt nicht
unterſucht, namentlich nicht die Frage der Zeit der Zuſtellung. Hier
muß ſich daher erſt eine Jurisprudenz bilden, wie beim Eiſenbahnweſen.
England: Recht auf Anlage von Privattelegraphen an den Bahnlinien
in der Regul. Act 7. 8. Vict. 85. art. 13; art. 14 Verpflichtung zur Beför-
derung von Privattelegrammen für jede Telegraphenlinie; genauer in 26. 27.
Vict. 112; Telegraphenpolizei (24. 23. Vict. 97). Die Regierung ſchließt mit
den Telegraphengeſellſchaften für ihre Depeſchen eigene Verträge (25. 26. Vict.
39); das neueſte, ziemlich vollſtändige Geſetz (26. 27. Vict. 112; the Telegraf
Act). Auſtria 1866, Nr. 15. — Frankreich: durch erſtes Geſetz vom 29. Nov.
1850 der elektriſche Telegraph dem Privatdienſt eröffnet; weitere Entwicklung
dieſer Geſetzgebung namentlich durch Dekret vom 17. Juni 1852 und Geſetz
vom 28. Mai 1853 und 24. Juni 1854. — Preußen: Telegraphendirektion
dem Poſtamt untergeordnet (Organiſation durch Erlaß vom 12. Febr. 1856)
und Telegraphen-Reglement vom 10. Dec. 1858. RönneII. §. 429.
— Oeſterreich: Organiſations-Erlaß vom 24. Auguſt 1856; mit dem Poſt-
weſen vereinigt ſeit 1851 (Regulativ für den Betrieb vom 6. Febr. 1850;
StubenrauchII. §. 532). — Der erſte Vertrag für das deutſche Tele-
graphenweſen vom 16. Mai 1850; deutſch-öſterreich. Telegraphenverein
vom 25. Juli 1850 (Vertrag vom 14. Oct. 1851); daraus das gegenwärtige
Betriebsreglement von 1863, das jetzt an die Stelle aller örtlichen Betriebs-
reglements getreten iſt; Vertrag in Rohrſcheidt, Staatsverträge S. 245;
ein Vertrag vom 21. Juni 1868 mit Erweiterungen und Modifikationen. —
Bayern: Grundlage Geſetz vom 6. Juni 1850 und Schutzgeſetz vom 24. Dec.
1849; Pözl, Verwaltungsrecht §. 176. Vom Standpunkte der Volkswirth-
ſchaft in ihrer Entwicklung Knies, der Telegraph als Verkehrsmittel 1857. —
Sardiniſche Geſetzgebung vom 18. Sept. 1865. Die große Idee des euro-
päiſchen internationalen Telegraphenweſens hat in jüngſter Zeit ihren Ausdruck
gefunden in dem Centralbureau für das internationale Telegraphenweſen
in Zürich, ſeit 1868 thätig, mit ſeinem Centralblatt für das europäiſche Tele-
graphenweſen ſeit 1870.
[224]
Dritter Theil.
Das Umlaufsweſen. Begriff und Inhalt.
Der Umlauf ſchließt ſich nun unmittelbar an den Verkehr, aber
als ſelbſtändiger Theil der wirthſchaftlichen Bewegung. Der Umlauf
iſt ſeinem Begriffe nach derjenige Akt, durch welchen die im Verkehr
örtlich bewegten Perſonen- und Güterverhältniſſe aus dem wirthſchaft-
lichen Leben des Einen in das des Andern übertragen werden. Der
Umlauf als rechtlicher Akt iſt der Vertrag; ſein wirthſchaftlicher Inhalt
iſt die Verwirklichung des Gewinnes, den der Verkehr beabſichtigt.
Der Umlauf iſt daher zunächſt ein rein nationalökonomiſcher Proceß
und ein Verhalten, das an und für ſich rein dem Einzelnen gehört.
Dennoch hat er Eine Bedingung, welche der Einzelne nicht her-
ſtellen kann, wenigſtens nicht ohne eine mit dem Gewinne in keinem
Verhältniß ſtehende Anſtrengung. Das iſt die Sicherheit für das rich-
tige Maß in Gut und Werth bei den Leiſtungen. Dieſe Sicherheit
kann nur gegeben werden, indem das Maß objektiv feſtſteht und der
ſubjektiven Willkür entgegen iſt. Dieſe zur objektiven Geltung gelangende
Beſtimmung des feſten Maßes kann nun weder die Selbſtverwaltung
noch der Verein geben, weil ſie für alle Umlaufsverhältniſſe in gleicher
Weiſe gelten ſoll. Sie muß durch das Geſetz des Staats aufgeſtellt
und durch die Verwaltung deſſelben durchgeführt werden, und die
Geſammtheit der darauf bezüglichen Beſtimmungen und Maßregeln
bilden nun das, was wir im Sinne der Verwaltung das Umlaufs-
weſen nennen.
Dieſes Umlaufsweſen hat nun, nach dem Weſen des Gutes, einen
doppelten Inhalt. Es bezieht ſich zuerſt auf das Gut für ſich und
erſcheint hier als Gütermaß im Maß- und Gewichtsſyſtem; dann
bezieht es ſich auf den Werth im Syſtem der Münze und des Papier-
geldes. Mit dem letzteren geht es in das Creditweſen über, dem auch
die Frage nach den Werthpapieren angehört.
Das Umlaufsweſen iſt nun an ſich ſo nothwendig und natürlich,
daß es als öffentliches Recht faſt mit dem Entſtehen der menſchlichen
Einigung überhaupt entſteht. Dennoch iſt es weder praktiſch noch theo-
retiſch zum Abſchluß gebracht. Das beruht darauf, daß dieſer Abſchluß
nicht etwa in dem Finden dieſes oder jenes Syſtems, ſondern in der
einheitlichen Gültigkeit derſelben Größenmaße und Grundſätze
für den ganzen Weltverkehr liegt. Die Geſchichte des Umlaufs-
weſens iſt aber nichts anderes, als der allerdings höchſt langſame und
zugleich bei dem Maß- und Geldweſen ſehr verſchieden verlaufende
[225] Proceß, der dieſe Einheit des Umlaufsweſens im Weltverkehr herbei-
führt und der gerade in gegenwärtiger Zeit in eine hochbedeutſame
Epoche für beide getreten iſt.
Es gibt kein Maß und Gewicht an ſich. Alles Maß und Gewicht
geht von Menſchen aus; jedes einzelne Maß und Gewicht ſo wie das
Syſtem derſelben iſt zunächſt nur die Anwendung körperlicher Verhält-
niſſe auf die natürliche Erſcheinung. Das Maß und Gewicht entſteht
daher auch durch die Thätigkeit der Perſon, ſei es die phyſiſche, ſei es
die geiſtige. So bildet ſich ein natürliches Maß- und Gewichts-
ſyſtem, das in den Elementen bei allen Völkern gleichartig iſt.
Innerhalb der damit geſetzten Größenverhältniſſe aber haben
Zufall und Willkür ihren Raum. So wie dagegen der Verkehr ent-
ſteht, fordert er die allgemeine Geltung des Maßes. So lange nun
der Verkehr bloß vom Einzelnen zum Einzelnen geht, können die Ein-
zelnen ſich untereinander darüber individuell einigen. Sobald aber der
Umlauf allgemein wird, muß die Geltung des feſtſtehenden Maßes zu
einer objektiv rechtlichen werden. Alsdann wird ein beſtimmtes Maß
durch die geſetzgebende Gewalt anerkannt und durch die vollziehende
durchgeführt. Damit entſtehen die drei Momente, welche zuſammen
das Maß- und Gewichtsweſen im öffentlichen Recht bilden.
Das erſte dieſer Momente iſt die Aufſtellung eines geltenden
Syſtemes von Maßen und Gewichten, das meiſt hiſtoriſch entſtanden
und nach einem gegebenen Grundmaß ausgebildet wird. Es gehört
ein ſehr hoher Grad von Bildung dazu, um die verſchiedenen Maße und
Gewichte als eine organiſche Einheit aufzufaſſen, namentlich das Längen-
maß als Grundlage des Raummaßes zu beſtimmen; ja es iſt ſogar
ſchon ſehr ſchwierig, auch nur die vorhandenen Maße, die oft nur
einen ganz örtlichen Werth haben, ſtatiſtiſch genau feſtzuſtellen und auf
gleiche Einheiten zu reduciren. Hier liegt daher der Kern der Geſchichte
des Maß- und Gewichtsweſens, die in den beiden folgenden Punkten
ſich im Weſentlichen faſt zu allen Zeiten gleich geblieben iſt.
Das zweite Moment iſt das Recht des Maßes und Gewichts.
Das Recht beſteht einfach in der Verpflichtung, allenthalben wo der
geſetzlich anerkannte Ausdruck im Verkehr gebraucht wird, auch das
dafür geſetzlich beſtimmte Quantum zu leiſten, ſo daß jede ſubjektive
Interpretation des erſteren damit ausgeſchloſſen iſt. Das Recht iſt die
Grundlage des wirthſchaftlichen Werthes eines jeden geſetzlichen Maß-
ſyſtems.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 15
[226]
Das dritte Moment iſt die Maß- und Gewichtspolizei. Das
Objekt dieſer Polizei ſind die Maße und Gewichte des Kleinverkehrs;
die Ausübung derſelben iſt theils der polizeiliche Grundſatz, daß nur
geſtempelte Maße und Gewichte gebraucht werden dürfen, theils die
polizeiliche Ueberwachung der wirklich in Gebrauch befindlichen Maße;
die Sicherung gegen falſches Maß und Gewicht beſteht dann in den
Ordnungsſtrafen für den Gebrauch derſelben.
Es liegt nun in der Natur der Sache, daß die geſetzliche Ordnung
und das Recht von Maß und Gewicht von der Regierung ausgehen,
während die örtliche Ueberwachung Sache der Selbſtverwaltung iſt.
Das Bedeutſame dabei iſt eben der Gang der Entwicklung im Ganzen,
der zugleich von der volkswirthſchaftlichen Bewegung, von der Staaten-
bildung und der Wiſſenſchaft bedingt erſcheint. Man kann dabei drei
Grundformen unterſcheiden.
Die erſte Geſtalt alles öffentlichen Rechts von Maß und Gewicht
geht immer von den Städten aus und ihr Objekt ſind ſtets zuerſt
gewerbliche Produkte, die durch Pfund und Elle gemeſſen werden können,
während die Bodenprodukte des Landmannes meiſt ganz örtliche, jedoch
auch hier ſtets an die Produktionsverhältniſſe ſich anſchließende Maße
zeigen. Die Ausbreitung des einzelnen Maßſyſtems ſchließt ſich dann
an die des einzelnen ſtädtiſchen Handelsgebietes; die großen Städte
werden für den Weltverkehr maßgebend, wogegen die kleinen meiſt ihre
eigenen Maße und Gewichte für den Verkehr zwiſchen Land und Stadt
beibehalten. Die Maß- und Gewichtspolizei iſt dabei vorwiegend eine
Markt- und Kleinhandelpolizei; doch beſtehen öffentliche Maß- und
Gewichtstypen (unſere Ellen an den Kirchen und Rathhäuſern, Raths-
wagen u. ſ. w.).
Mit dem Eintreten der Staatenbildung tritt auch die Erkenntniß
ein, daß ein einheitliches Maß- und Gewichtsſyſtem einen volkswirth-
ſchaftlichen Werth habe. Das iſt die große Epoche des Merkantilſyſtems.
Sie iſt charakteriſirt durch die erſten Verſuche, ein gemeingültiges Maß
und Gewicht zunächſt innerhalb des eigenen Staats geſetzlich feſtzuſtellen.
Der geringe Erfolg beruht in den meiſten Fällen darauf, daß das Ver-
hältniß der letzteren zu den ortsüblichen Maßen und Gewichten nicht
genau angegeben iſt. Daher treten in dieſer Zeit die geſetzlichen Maße
und Gewichte faſt nur für den Großhandel ein, während der ganze
Kleinhandel noch an den ortsüblichen Maßen feſthält.
So wie dagegen der eigentliche Weltverkehr beginnt, ergreift der-
ſelbe auch die verſchiedenen beſtehenden Maß- und Gewichtsſyſteme.
Die Berührung der Nationen fordert eine klare, allgemein anerkannte
Form, um die mehr oder weniger ſelbſtändigen Maß- und Gewichts-
[227] ſyſteme der einzelnen Völker und Staaten auf eine gemeinſchaftliche
Einheit reduciren zu können. So beginnt mit unſerem Jahrhundert
eine doppelte Arbeit. Die eine geht weſentlich von Frankreich aus
und fordert, daß mittelſt der Annahme ſeines großen metriſchen
Syſtems auf dem Wege der Geſetzgebung jene Einheit für die ganze
Welt hergeſtellt werde. Die zweite iſt vorzugsweiſe deutſch; ſie iſt
wiſſenſchaftlicher Natur und ſtrebt durch wiſſenſchaftliche Reducirung
aller verſchiedenen Maße und Gewichte auf eine gemeinſchaftliche Größe
das Bedürfniß des internationalen Verkehrs zu befriedigen. Daraus
nun viel Streit, deſſen Endergebniß als Grundlage der künftigen
Geſtaltung folgendes iſt.
Es iſt falſch zu behaupten, daß ein Syſtem als ſolches einen
größeren Werth habe als ein anderes; ſondern was den größten Werth
hat, iſt die Einheit des Syſtems. Es iſt falſch, ein ſolches Syſtem
durch Zwang für alle Theile des wirthſchaftlichen Lebens durchführen
zu wollen; richtig iſt es dagegen, ſeine Einführung für diejenigen
Güterverhältniſſe zu fordern, welche den Gegenſtand des internatio-
nalen Verkehrs bilden. Das Gebiet des einheitlichen Maßes und
Gewichtes wird daher ſtets nur ein verhältnißmäßig enges ſein, und
ſich — mit Ausnahme des Gebietes wiſſenſchaftlicher Unterſuchungen —
naturgemäß auf diejenigen Produkte beſchränken, welche durch die Eiſen-
bahnen und Dampfſchifffahrt Artikel des Weltverkehrs werden, während
es ziemlich werthlos und auch erfolglos iſt, den örtlichen (Markt) Ver-
kehr mit ſeinem, meiſt der örtlichen Produktion angepaßten Syſtem
einem ſolchen allgemeinen Syſtem unterwerfen zu wollen. — In der
That folgen auch die Bewegungen der neueſten Zeit auf dieſem Gebiete
faſt unwillkürlich den obigen Grundſätzen. Daneben genaue und leicht
zugängliche Ordnung des inneren Maß- und Gewichtsſyſtems theils
durch Aufſtellung feſter Typen, theils durch gut eingerichtete öffent-
liche Wag- und Meßanſtalten, theils durch ſtrenge Stempelungs-
und Aichungspolizei des Kleinverkehrs. Da, wohin dieſe praktiſchen
Maßregeln nicht reichen, beginnt die Aufgabe der Wiſſenſchaft mit
ihren Sammlungen und Reducirungen der verſchiedenen Syſteme in
den einzelnen Staaten.
England. Gegenüber dem alten geſetzlichen Maß- und Gewichtsſyſtem
geordnet in 5. G. IV. 74 (1824) und 4. 5. Will. 49 (1834) als Conceſſion
an die Beſtrebungen zur Annahme des metriſchen Syſtems die Metric Weights
and Mesures Act 27. 28. Vict. 167 (1864), daß kein Vertrag ungültig ſein
ſoll, der nach metriſchem Maß und Gewichtsſyſtem geſchloſſen iſt. Oertliche
Maß- und Gewichtspolizei (justice of peace) 5. 6. Will. IV. 68. GneiſtII. 104.
— Frankreich: Zuſtand vor der Revolution wie in Deutſchland; jede Provinz
[228] und jeder Ort hatte ſein Maß- und Gewichtsſyſtem. Darauf Begründung des
metriſchen Syſtems durch Decret vom 26. März 1791. Auffaſſung des Meters
als zehnmillionſten Theil des Viertelmeridians, und Annahme des Decimal-
ſyſtems; Ausführung mit Geſetz vom 18. Germ. III. (1795); das Maß- und
Gewichtsſyſtem mit ſeinen Namen (Geſetz vom 12. Frim. VIII.); Vollendung:
die Geſetzgebung erklärt das metriſche Syſtem für „ein Syſtem für alle Zeiten
und Völker“ (Decret vom 12. Febr. 1812); geordnete Beſtimmung zu den alten
Gewichten. Dieß Decret wird endlich durch Geſetz vom 4. Juli 1837 auf-
gehoben und die unbedingte Gültigkeit des Syſtems durchgeführt, welches
einerſeits die Anwendung jedes andern Maßes und Gewichtes in allen
öffentlichen Ankündigungen unter Ordnungsſtrafe verbietet, das Syſtem der
Vérificateurs (mindeſtens einen in jedem Arrondiſſement) einführt, welche die
Gewichte und Maße für den Verkehr ſtempeln (la vérification première), eine
Liſte verfaſſen, und den Gebrauch überwachen (vérification périodique) unter
Beihülfe der Maires. Jede Abweichung wird mit Ordnungsſtrafen belegt
(Ord. vom 17. April 1839), vergl. Système légal des poids et mesures par
Lamotte 14. Aufl. Weitere Literatur bei Block, Dict. — In Deutſchland
war das Maß- und Gewichtsweſen ein Theil des „Commerzienregals“ der Terri-
torialhoheit; die Zerfahrenheit blieb auch unter dem deutſchen Bunde. Schon
Juſti, Polizeiwiſſenſchaft II. Bd. Hauptſt. 42. §. 215: „Es würde nicht wenig
zur Beförderung der Commerzien beitragen, wenn alle europäiſchen Völker
Ein Maß und Gewicht hätten.“ Beziehung auf Deutſchland mit dem neun-
zehnten Jahrhundert; Klüber, öffentliches Recht §. 414: „zu wünſchen wäre
ein allgemeines Maßſyſtem für alle Bundesſtaaten;“ frühere Literatur ebend.
— In Preußen: Maßweſen als „Majeſtätsrecht“ unklar (Allgem. Landrecht
II. 13. 12). Erſte Maß- und Gewichtsordnung vom 16. Mai 1816, mit erſter
Organiſation (Probemaße beim Miniſterium für Handel; Provinzial-Eichungs-
commiſſion, Eichungsämter mit Stempelung und Prüfungsrecht, und Pflicht
zur Anwendung von geſtempelten Maßen und Gewichten); dann erſter Schritt
zur Einheit in der Einführung des preußiſchen Pfundes als Zollpfund für
den ganzen Zollverein durch Verordnung vom 31. Okt. 1839. Weiter iſt die
Sache nicht gediehen. Aehnlich in den kleinern deutſchen Staaten. — Würt-
temberg: Geſetz vom 1. Dec. 1806. Mohl, Verwaltungsrecht II. 626. —
Bayern: Geſetz vom 28. Februar 1809; Pözl, §. 178. — Baden: Geſetz
vom 10. Nov. 1810; Gewichts- und Maßordnung vom 2. Juni 1829. —
Oeſterreich: erſter Verſuch bereits im vorigen Jahrhundert 1764. 1787 ein
öſterreichiſches Maß- und Gewichtsſyſtem, fortgeſetzt durch eine Reihe von Ver-
ordnungen von 1770 bis auf unſere Zeit. Die Eichungsämter ſeit 1784 ein-
geführt; die Gemeindeordnung von 1849 überträgt die Polizei definitiv den
Gemeinden (§. 137); zeitweiſe (alle drei Jahre) Unterſuchung ſeit 1790 vor-
geſchrieben; Errichtung von öffentlichen Wäge- und Meßanſtalten (Geſetz vom
19. Juli 1865). Neueſtes ſehr rationelles Geſetz vom 19. Juni 1866; Einfüh-
rung öffentlicher Wäge- und Meßanſtalten; auch ſie haben die Gemeindever-
waltung und Polizei. Ueber den Kampf mit dem metriſchen Syſtem vergl.
Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 176 und Literatur. — Seit 1848 nun viele
[229] Beſtrebungen zur Einführung des metriſchen Syſtems, namentlich auch in Deutſch-
land. Dieſe Beſtrebungen (namentlich Erklärung des deutſchen Handelstages
in Heidelberg 1861) leiden daran, daß ſie die unbeſchränkte Einführung
fordern, während dieſelbe nur innerhalb des obigen Kreiſes von wirklichem
Werth iſt (vgl. Rau, Verwaltungspflege II. §. 230 ff). Einſetzung der Bundes-
Commiſſion für die Einführung der deutſchen Maß- und Gewichtsordnung;
Schlußprotocoll vom 9. Aug. 1865.
Begriff und Inhalt.
Das Geld iſt ein national-ökonomiſcher Begriff. Derſelbe kann
nicht verſtanden werden ohne die ſtrenge Scheidung von Gut und Werth.
Denn das Geld iſt eben der vom Gute geſchiedene, ſelbſtändig erſchei-
nende und daher auch ſelbſtändig funktionirende Werth. Auf dieſem
Gedanken beruht das ganze Syſtem des Geldweſens.
Es iſt nun klar, daß dieſe Selbſtändigkeit des Werthes im Gelde
die erſte Vorausſetzung jedes Umlaufes iſt. Jeder Kauf iſt in der
That nichts anderes, als die Hingabe des Werthes für das Gut.
Mit dem Gelde iſt daher das gemeinſame Werthmaß für alle Güter,
und damit die erſte Vorausſetzung aller wirthſchaftlichen Gegenſeitigkeit
gegeben.
Eben darum entſteht Geld ſtets unmittelbar mit der Produktion
des Einen für den Andern. Aber eben deßhalb kann auch das Geld
nicht der Willkür des Einzelnen unterworfen ſein. Es muß die Grund-
ſätze, welche für Maß und Gewicht gelten, auf den ſelbſtändigen
Werth anwenden; das iſt, es muß ſelbſt ein Syſtem von öffentlich
anerkanntem Maß und Gewicht ſein. Damit iſt es der Thätigkeit ſo-
wohl der Selbſtverwaltung als der Vereine entzogen; es iſt in ſeiner
Herſtellung nothwendig eine ausſchließliche Aufgabe der Regierung;
dieſes ausſchließliche Recht nennen wir die Regalität; das Geldweſen
iſt daher ein Regal, und die Geſammtheit von Anſtalten und Be-
ſtimmungen der Regierung über Ordnung und Recht des Geldes als
Grundlage des ſelbſtändigen Werthumlaufes nennen wir das Geld-
weſen.
Ein Geldweſen iſt daher zu allen Zeiten mit der Staatsordnung
zugleich entſtanden, mit ihm ſeine ſyſtematiſchen Hauptgebiete, welche
in ſeiner Natur ſelbſt liegen. Dieſe ſind das Münzweſen, welches
die Ordnung, das Wahrungsweſen, welches das Recht, und das
Papiergeldweſen, welches die Quantität des Geldes zum Objekt
hat. Dieſe drei Theile bilden daher die Verwaltung des Geld-
weſens.
[230]
Dieſe Verwaltung des Geldweſens iſt nun an ſich eine ſehr ein-
fache. Ihre Entwicklung beginnt erſt da, wo die unabänderliche wirth-
ſchaftliche Natur des Geldweſens von den Regierungen erkannt wird,
und der Verſuch entſteht, dieſe Natur und ihre organiſche Funktion
den Verwaltungsmaßregeln zu unterwerfen. An den Verwirrungen
und wirthſchaftlichen Krankheitszuſtänden, die daraus entſtehen, bildet
ſich dann langſam aber ſicher das Bewußtſein vom wahren Weſen des
Geldes und von der Aufgabe der Verwaltung aus, und die letztere
empfängt auf dieſe Weiſe ihre rationellen Grundſätze durch die Er-
kenntniß der Fehler, welche dieſelben verletzt haben.
Dieſes nun tritt naturgemäß da ein, wo die organiſche Funktion
des Geldes ſich von dem unmittelbaren Umlauf der Güter losläßt,
und als ſelbſtändiger wirthſchaftlicher Proceß erſcheint. Dieſe organiſche
Funktion iſt die Zahlung (des Preiſes.) Auf den niederen Stufen
des wirthſchaftlichen Lebens iſt die Zahlung ſtets mit dem einzelnen
Vertrage verbunden, und das Geld erſcheint daher ſtets als Theil des
Vertrages. So wie aber der Weltverkehr entſteht, wird die Zahlung
für die einzelne Leiſtung unmöglich, die Zahlung der Rechnung tritt
an die Stelle der Zahlung der Waare, und damit entwickelt ſich ein
ſelbſtändiger Geldumlauf, allerdings als Bedingung und Ausdruck des
Güterumlaufs, aber äußerlich doch von demſelben unabhängig. Das
beginnt mit dem überſeeiſchen Handel, entwickelt ſich durch die Ma-
ſchinenproduktion, und durchdringt zuletzt das ganze Volksleben im
Creditweſen. Jetzt erſcheint das Geldleben als ein vom Güterleben
vollſtändig geſchiedenes und ſelbſtändiges, und jetzt beginnt daher auch
die Frage, ob und wie weit daſſelbe ſeine wirthſchaftliche Natur dem
Willen der Geſetzgebung und Verwaltung unterwerfen kann. Dieſe
Frage hat drei Grundformen und in ihnen zugleich aus naheliegenden
Gründen die drei Stadien ſeiner Geſchichte. Die erſte Frage iſt die,
ob es die Prägung iſt, die der Münze den Werth gibt; aus dieſer
Frage entſteht das Münzweſen und Recht; die zweite Frage iſt die
nach dem Verhältniß von Gold und Silber, aus welcher die Währung
und ihr Recht entſteht; die dritte Frage iſt die nach der für den Ver-
kehr nothwendigen Summe Geldes, welche das Papiergeldweſen erzeugt.
Jede dieſer Fragen hat ihre Geſchichte, ihre Geſetzgebung, ihre Literatur;
dennoch bilden ſie innerlich ein Ganzes mit ſeiner reichen Geſetzgebung
und Literatur.
Bei der Verſchmelzung der volkswirthſchaftlichen und verwaltungsrechtlichen
Geſichtspunkte im Geldweſen iſt es ſchwer, den Gang der Literatur, welche
hier am meiſten die allmählige Entwicklung des Bewußtſeins bedeutet, in
feſte Geſtalt zu bringen. Doch ſind die Hauptſtadien folgende. Die Literatur
[231] beginnt mit dem Verſtändniß des eigentlichen Münzweſens — italieniſche Epoche;
die zweite Epoche fängt an mit der Frage nach dem Papiergeld durch J. Laws
Considérations sur la Monnaie, die mit Riccardo’s Schrift On the high
price of bullion (1808) eine ſtreng wiſſenſchaftliche Geſtalt empfängt; von da
an beginnen die deutſchen Arbeiten mit Büſch, an das Bankweſen anlehnend,
Hoffmanns Lehre vom Gelde 1838 und Soetbeers Unterſuchungen über
Gold und Silber, letztere namentlich angeregt durch den Kampf gegen die
Silberwährung, der in England praktiſch, in Frankreich bis auf die neueſte
Zeit theoretiſch geführt wird (M. Chevalier und Wolowski) während die deutſche
Nationalökonomie alles durch einander wirft, und faſt nur Rau den Stand-
punkt der Verwaltung in ſeiner Volkswirthſchaftspflege feſthält. Es iſt aber
kein Zweifel, daß wir gegenwärtig einer definitiven Klärung in Geſetzgebung
und Wiſſenſchaft entgegen gehen.
Die Münze iſt das Geld, inſofern daſſelbe an der Subſtanz der
edlen Metalle Maß und Gewicht empfängt. Das Syſtem der Münzen
wird daher das Maßſyſtem des Werthes für ſich betrachtet. Die Her-
ſtellung dieſes Maßſyſtems in den Münzen iſt, als Aufgabe der Ver-
waltung, das Münzweſen.
Die allgemeinen Grundlagen des Münzweſens ſind folgende.
Die Münze bedarf eines Grundgewichts; die Eintheilung des
Grundgewichts iſt die Stückelung; das Syſtem der Stückelung iſt der
Münzfuß; die Münze des Münzfußes iſt die Hauptmünze. Die
Prägung iſt die durch die Münzſtempelung vollzogene ſtaatliche An-
erkennung, daß die geprägte Münze wirklich ſo viel Edelmetall enthält,
als der Münzfuß fordert. Die techniſchen Elemente der Prägung for-
dern die Legirung (Schrot zum Korn) und laſſen ein Minimum der
Abweichung vom Münzfuß, das Remedium zu. Der Umlauf der
Münze erzeugt mit der Abreibung einen Werthverluſt, der durch be-
ſtändige, aber geregelte Umprägung aufgehoben wird. Die Ge-
ſtehungskoſten der Prägung können als Schlagſchatz von jeder Münze
abgezogen werden. Die Münzen aus unedlem Metalle ſind die Scheide-
münzen, mit eigenem Münzfuß. Dieß ſind die formalen Grundbegriffe
des Münzweſens.
Das rechtliche Princip iſt das der Regalität. Auch die Nach-
ahmung vollkommen richtiger Münze iſt ein volkswirthſchaftliches Ver-
brechen.
Das Verwaltungsprincip beſteht nun offenbar einfach darin,
in jeder einzelnen Münze die höchſte Genauigkeit des Maßes herzuſtellen,
da auch die geringſte Abweichung durch den unendlich wiederholten
Gebrauch derſelben im Zahlungsproceß eine große und allgemeine
[232] Störung des Werthes hervorruft. Grundgewicht und Münzfuß ſowie
die Stückelung ſind an ſich gleichgültig, und gewinnen erſt Bedeutung,
wo der Weltverkehr die Münzſyſteme der Völker in allgemeine Berüh-
rung bringt. Die Scheidemünze behält unter allen Umſtänden den
Charakter einer örtlichen Münze.
Mit dieſen an ſich höchſt einfachen Begriffen wäre nun das ganze
Münzweſen rein der ausführenden Technik der Münzämter überwieſen,
wenn ſich nicht im Laufe der Geſchichte zwei Fragen ergeben hätten,
durch welche eigentlich die Welt erſt zum Bewußtſein der hohen Be-
deutung des Münzweſens gekommen iſt.
1) Offenbar iſt die Vorausſetzung jeder Geltung der Münze die
Prägung. Daraus iſt auf den unteren Stufen der wirthſchaftlichen
Bildung die Meinung entſtanden, daß es auch die Prägung ſei, welche
der Münze den Werth gebe. Die Conſequenz davon war der Verſuch
der Regierungen, bei eintretendem Geldmangel den Münzfuß zu ändern,
und theils zwar offen, indem man das Grundgewicht in mehr Theile
theilte, aber der ſo entſtandenen leichteren Hauptmünze den Werth der
ſchwereren geſetzlich beilegte, obwohl ſie ihn faktiſch nicht hatte; theils
heimlich, indem man ohne Geſetz mehr Münzen aus dem Grundgewicht
ſchlug, als der Münzfuß zuließ. Damit begann jener merkwürdige
Kampf der Regierungen mit der höheren Natur des Geldes. Die
letztere ließ ſich aber nicht bewältigen. Der Verkehr, der ohne einen
feſten Maßſtab des Werthes nicht beſtehen kann, ließ die geſetzlichen
Werthbeſtimmungen der Münze fallen, und berechnete ſie ſofort durch
Reducirung ihres wirklichen Feingehalts auf das Grundgewicht nur
nach dem letzteren, während da, wo einmal ein leichter Münzfuß ge-
ſetzlich eingeführt war, und der alte Name der Hauptmünze daher auch
für die neue leichtere Münze blieb, der Nominalpreis der Güter ſtieg,
während ihr Werth der gleiche blieb. So gewannen die Regierungen
nichts, da ſie immer mindeſtens daſſelbe Quantum edler Metalle,
wenn auch in anderer Form, zahlen mußten; der Verkehr aber verlor
die Sicherheit ſeines Werthmaßſtabes, und der Nachtheil dieſes Ver-
luſtes war für das Geſammtleben ein ſo großer, daß endlich mit unſerem
Jahrhundert die abſolute Unverletzlichkeit der höchſtmöglichen
Genauigkeit der Ausbringung für alle europäiſchen Staaten feſtſteht.
Die Geſchichte des Münzweſens iſt bis auf die neueſte Zeit faſt nur
die Geſchichte dieſes merkwürdigen Kampfes zwiſchen Staat und National-
ökonomie, in welchem die letztere den entſchiedenen Sieg davon trägt.
Aus demſelben Princip iſt mit dem neunzehnten Jahrhundert der
Schlagſchatz aufgehoben; die Geſtehungskoſten der Münze ſind jetzt
Verwaltungskoſten, da der Werth der abſolut genauen Ausbringung
[233] größer iſt als der eines Erſatzes der Prägungskoſten durch Abzug am
Münzgehalt.
2) So lange nun die volkswirthſchaftliche Bewegung mit ihren
Zahlungen eine innere iſt, bewegt ſich das ganze Münzweſen noch faſt
ausſchließlich auf dem Gebiet jener erſten Frage. So wie aber, wie
namentlich in unſerem Jahrhundert, der Völkerverkehr mächtiger wird,
entſteht das Bedürfniß, mit der Münze des einen Landes eine Forde-
rung des andern möglichſt leicht zahlen zu können. Die erſte techniſche
Bedingung dafür iſt nun natürlich die möglichſte Gleichheit erſtlich
an Grundgewicht, dann im Münzfuß, endlich in der Legirung. Der
erſte und zweite Punkt ſchließen ſich an die werdende Einheit des
Maß- und Gewichtsſyſtems, der dritte an das Währungsweſen und
ſeine Geſchichte. Als erſter Schritt dazu muß daher die Identificirung
des Grundgewichts und der Stückelung mit dem geſammten Maß- und
Gewichtsſyſtem, als zweiter der Verſuch des internationalen Währungs-
weſens erſcheinen. Das nun wieder ſteht im engſten Zuſammenhang mit
dem Verhältniß zwiſchen Gold und Silber. Je weiter aber der einheit-
liche Verkehr der Völker unter einander fortſchreitet, je nothwendiger wird
ein ſolches internationales Münzweſen. Nur muß man auch hier die
Grundſätze feſthalten, die für Maß und Gewicht gelten. Das künftige
internationale Münzweſen braucht nicht das ganze Münzweſen der
Völker zu umfaſſen, ſondern nur denjenigen Theil, der eben für den
internationalen Verkehr beſtimmt iſt. Nun ergibt ſich, daß dieſer Theil
naturgemäß in den Goldmünzen beſteht. Es folgt daraus die Grund-
lage für das ganze internationale Münzweſen der Zukunft; das Syſtem
der Goldmünzen muß auf internationalen Prägungsordnungen
beruhen; die Silbermünzen fordern nur eine Landesmünzordnung;
die Scheidemünzen ſind ihrem Weſen nach dem örtlichen Münzweſen
zu überweiſen.
In der That nun entſpricht der Gang der Geſchichte in Europa
im Großen und Ganzen dieſen in der Sache ſelbſt liegenden Elementen,
und die große Münzliteratur, welche dieſelbe begleitet, hat dabei nur
die Aufgabe, jene Geſetze und Verhältniſſe zum Bewußtſein zu bringen.
Die Epoche des örtlichen Münzregals, die bis zum ſiebenzehnten
Jahrhundert dauert, iſt die Zeit der völligſten Verwirrung im Münz-
weſen Europas; das achtzehnte Jahrhundert iſt die Zeit, in welcher
der Werth und die Nothwendigkeit eines feſten, ſelbſt für die höchſte
Staatsgewalt unantaſtbaren Münzſyſtems klar und geſetzlich anerkannt
wird; das gegenwärtige Jahrhundert hat dann den großen Verſuch
begonnen, ein internationales Münzweſen durch Verträge zu erzeugen,
was dann wieder, wie die Natur der Sache es fordert, faſt nur noch
[234] für das Goldmünzenſyſtem der Staaten in Geltung gelangt iſt. So
ſind wir auch hier noch in erſter Entwicklung begriffen, und die Münz-
literatur behält die Aufgabe, durch theoretiſche Reducirung der ver-
ſchiedenen Syſteme auf das gleiche Gewicht die Ausgleichung der Werthe
der Münzen im Verkehre möglich zu machen. Dieſe ganze hiſtoriſche
Bewegung des Münzweſens hat nun in den verſchiedenen Staaten
wieder eine verſchiedene Geſtalt. Das Princip der örtlichen Entwick-
lung iſt dabei, daß die Münzordnung in dem Grade ſich beſtimmter
und feſter entwickelt, in welchem die königliche Gewalt die feudale
Selbſtändigkeit der Territorien überwältigt, während die europäiſche
Einheit des Syſtems ihrerſeits ſich der Ausbildung des Eiſenbahnſyſtems
und Eiſenbahnverkehrs der Länder unter einander anſchließt.
Der Grund, weßhalb es ſo ſchwierig iſt, ſich über den Gang der Geld-
und Münzfrage in Europa klar zu werden, beſteht theils in der beſtändigen
Verſchmelzung der Frage nach Werth und Geld, theils in der Verſchmelzung
des Münzweſens mit der Währung und dem Papiergelde; dabei gehört die
Literatur über dieſe Gegenſtände ganz Europa, während die Geſetzgebung in
jedem Lande eine verſchiedene iſt. Wir ſcheiden ſie.
Die italieniſche Literatur beginnt eigentlich mit der reinen Münzfrage
(Blanqui, Hist. de l’Econ. pol.). Die ſyſtematiſche Auffaſſung fängt erſt
mit dem Merkantilſyſtem an. Der Charakter dieſer ganzen Richtung iſt der bei
allem noch unfertige Verſuch, den Werth vom Gelde zu ſcheiden, ohne daß
man zu einem definitiven Reſultat gelangt. Beginn: Locke, Considerations
of the cons. of raising the interest and of raising the value of money
1691. Law, Considérations sur le numéraire (Coll. d’Econ. ſ. unten bei
Papiergeld). So entſteht die Geſtalt, welche wir die Lehre vom „Werthe des
Geldes“ nennen wollen, und die namentlich Ad. SmithI. 4 entwickelt.
Erſt in der Mitte des vorigen Jahrhunderts trennt ſich das Münzweſen vom
Geldweſen und zwar namentlich in Deutſchland; während die deutſche National-
ökonomie, vollſtändig von Ad. Smith beherrſcht, die obige Unklarheit beibehält,
entſteht die ſelbſtändige Lehre vom Münzweſen theils in der ſelbſtändigen Theorie
der Münztechnik (Buſſe, Krünitz), theils in dem erſten Entſtehen einer ratio-
nellen Münzpolitik. Juſti (Polizeiwiſſenſchaft 6. Bd. 24. Hauptſt.) ſieht ſchon,
daß 1760 der Umlauf des Geldes von dem Umfang des Waarenverkehrs be-
dingt wird. „Ja, wenn die Völker Europas wahrhaftig weiſe wären, ſo ſollten
ſie ſich in einem Friedensſchluß über ein gemeinſames Markgewicht von einerlei
Schwere und Eintheilung vergleichen, das in allen Staaten Europas auf das
Genaueſte übereinſtimmt.“ Vom engeren praktiſchen Geſichtspunkte Büſch,
Grundſätze über Münzpolitik 1779, theils im Anſchluſſe daran, in der Frage
nach dem Münzregal, ſeinem Zuſtand, ſeinen Folgen und ſeinem rechtlichen
Inhalt (Klüber, das Münzweſen in Deutſchland 1828 — erſte wiſſenſchaftliche
Behandlung der Geſchichte des Münzrechts), theils indem die Polizeiwiſſenſchaft
das Münzweſen ſelbſtändig behandelt (Jacob, Polizeiwiſſenſchaft 611 ff. Lotz,
[235] Staatswirthſchaftslehre II. §. 113); ſelbſtändig, aber mit ſpecieller Beziehung
auf das preußiſche Münzweſen Hoffmann (Lehre vom Gelde 1838 und
kleinere Arbeiten), Rau nimmt dann das Gebiet in die Volkswirthſchaftspflege
auf II. 232 ff., während RoſcherI. 117—127 wieder alles durch einander wirft.
Ueber Begriff und Recht des Geldes: Goldſchmid, Handbuch des Handelsrechts
I. Abth. VI. S. 1060 ff., reiches Material, viel Recht, wenig Volkswirthſchaft.
Die neueſte Zeit hat dann die Münzfrage der Währungsfrage und zwar theils
in Beziehung auf Gold und Silber, theils auf Papiergeld theoretiſch unter-
geordnet (Enquête sur la Monnaie fiduciaire 6 Bde. 1869) mit reichem aber
durchaus ungeordnetem Material und vielen ſelbſtändigen Aufſätzen; daneben
aber ſchreitet die Einheit des Münzweſens, und zwar noch geſchieden vom
Währungsweſen, durch internationale Verträge fort: Vertrag vom 19. Febr. 1857
für Deutſchland; der große Goldmünzungsvertrag zwiſchen Frankreich,
Belgien, Italien und der Schweiz vom 23. Dec. 1865, aus welchem die inter-
nationale Münzconferenz zu Paris 1867 zwiſchen Frankreich, Oeſterreich,
Preußen, Belgien, Holland, Dänemark, Ver. Staaten, Großbritannien, Griechen-
land, Italien, Rußland, Schweden und Norwegen, Schweiz, Türkei und den
deutſchen Staaten hervorging, deren Zweck allerdings neben der Goldmünz-
einheit die Herſtellung der einheitlichen Goldwährung war; daneben eine
reiche Literatur über die Nothwendigkeit und den Werth der Münzeinheit für
Europa. Grundlage: Forderung nach völliger Gleichheit in Grund-
gewicht, Stückelung, Ausbringung und Umprägung zunächſt der Goldmünze
als Völkerverkehrsmünze; erſt wenn dieß geſchehen, kann die Währungseinheit
(für Geld) ſich entwickeln. Sehr gut: Gſchwendner, zur allgemeinen Münz-
einheit 1869 (vergl. beſonders zur Orientirung Beil. I. S. 172). Dazu Ein-
führung des Decimalſyſtems im Münzweſen von Spanien (Geſetz vom 26. Juni
1864); jedoch auch hier die Währungs- nicht von der Münzfrage gehörig ge-
ſchieden; die Papiergeldfrage iſt nicht in Betracht gekommen.
Was nun die Geſetzgebung betrifft, ſo iſt ſie in England von jeher ſehr
einfach und klar geweſen, in Frankreich iſt ſie es ſeit der Revolution geworden,
in Deutſchland dagegen arbeitet ſie noch jetzt nach Einheit und Syſtem. Das
definitive Münzſyſtem Englands durch 14. G. III. 92 und 56. G. III. normirt.
Münzrecht Gneiſt, Verwaltungsrecht §. 67. MacCulloch, Dict. ſ. Münzen.
Rau §. 214. Das Münzweſen Frankreichs im innigſten Anſchluß an das Maß-
und Gewichtsſyſtem; der Frank als Hauptmünze ſeit Geſetz vom 18. Germ. III;
die Goldmünzung ſeit 1848 und 1854 erweitert (Stücke zu 5 und 100 Fr.)
das Prägungsweſen durch eine Reihe von Geſetzen und Verordnungen beſtimmt.
Material und Literatur bei Block, v. Monnaies. Das deutſche Münzrecht:
Klüber, öffentliches Recht §. 416 ff. — Preußen: erſte allgemeine Ordnung
von 1750; dann Geſetz über die Münzverfaſſung des preußiſchen Staates von
1821; erſte Münzconvention von 1838; Münzvertrag vom 19. Febr. 1853.
Rönne, Staatsrecht II. §. 430. — Oeſterreich: das gegenwärtige Münz-
ſyſtem auf Grundlage des Vertrags von 1857 neu geregelt als „öſterreichiſche
Währung“ durch Patent vom 19. Sept. 1857.
[236]
Offenbar nun genügt auch das beſte Münzweſen nicht allein. Der
Verkehr fordert mit Recht, mit einer beſtimmten Münze in der Weiſe
ſeine Zahlungen machen zu können, daß derſelben ein beſtimmtes, ge-
ſetzlich anerkanntes Zahlungsrecht und ein geſetzlicher Zahlungswerth
beigelegt werde, da ohne beide jede Zahlung von der Willkür des
Gläubigers abhängen würde. Dies Recht und dieſer Zahlungswerth,
oder die geſetzliche Zahlungsfähigkeit iſt nun die Währung, und die
darauf bezüglichen Beſtimmungen bilden das Währungsweſen.
Die Währung iſt nun an ſich gegen die Prägung gleichgültig;
allein es iſt naturgemäß, daß zunächſt die Landesmünze und ihr
Syſtem die Währung beſitzen. Das Mittelalter, das Geld und Werth
nicht zu ſcheiden vermochte, kam dadurch zu der Meinung, daß die ge-
ſetzliche Währung auch die Fähigkeit beſitze, der Münze einen beliebigen
wirthſchaftlichen Werth zu geben, woraus die Münzverſchlechterungen
hervorgingen. Erſt mit dem achtzehnten Jahrhundert erkannte man,
daß der geſetzlich ausgeſprochene Zahlungswerth der Münze nur dann
im Verkehr Gültigkeit behalte, wenn er mit dem wirthſchaftlichen Werth
möglichſt genau übereinſtimme. Von da an verſchwinden daher aus
dem geſetzlichen Währungsweſen die Verſuche, über den Werth der
Münzen Beſtimmungen zu treffen, und daſſelbe, auf das Zahlungs-
recht ſich ſtrenge beſchränkend, entwickelt nunmehr ein neues und ſelb-
ſtändiges Syſtem.
Dieſes Syſtem ſchließt ſich nun zuerſt an den Unterſchied der bei-
den edlen Metalle und ſo entſteht die Frage nach der Gold- und
Silberwährung, mit der die Frage nach der Währung der Scheide-
münze unmittelbar zuſammenhängt. Der große Weltverkehr erzeugt
dann die Frage nach der internationalen Währung, deren Baſis
allerdings die Annahme eines internationalen Münzweſens iſt. Das
entſtehende Papiergeld endlich erzeugt dann den Unterſchied zwiſchen
Staatswährung und Verkehrswährung, in welchem die erſtere das
Recht auf Zahlung bei den Staatskaſſen, die letztere das Recht auf
Zahlung im Verkehr bedeutet; die erſtere nennen wir deßhalb die halbe,
die zweite, die ohne die erſtere nicht denkbar iſt, die volle Währung.
Dieſe Papierwährung iſt aber ihrerſeits nur als Theil des Papiergeld-
weſens überhaupt zu verſtehen, und ſo bildet die Metallwährung das
eigentlich ſelbſtändige Syſtem des Währungsweſens.
Dieſes gegenwärtige Metallwährungsweſen muß nun als ein hiſto-
riſcher Uebergangspunkt zu dem definitiven Währungsweſen angeſehen
werden, dem wir unzweifelhaft entgegen gehen.
[237]
Urſprünglich war alle Währung Silberwährung ohne eine beſonders
geſchiedene Scheidemünzwährung. Die Goldmünze war Waare, ohne
Zahlungsrecht und Zahlungswerth. Mit dem wachſenden Völkerverkehr
wird vermöge ſeiner Natur die Goldmünze mehr und mehr zuerſt ein
internationales Zahlungsmittel. Als einerſeits die induſtrielle Pro-
duktion und Conſumtion ſich entwickeln, und andererſeits der oſtindiſche
Handel die Zahlungen nach dem Orient in einem ſteigenden Maße hebt,
vermag die Maſſe des Silbers allmälig auch dem Zahlungsbedürfniß
des inneren Verkehrs nicht mehr zu genügen, und das Gold wird da-
her neben dem Silber zur umlaufenden Münze, die in dem Grade
unentbehrlicher wird, in welchem der überſeeiſche Verkehr das Silber
abſorbirt, und die fortſchreitende Geſittung den Geldbetrag auf den
Kopf der Bevölkerung ſteigert. Damit wird nun auch für die Gold-
münze nicht bloß eine genaue und ſtrenge Münzung, ſondern auch die
Währung nothwendig, und ſo entſtehen jetzt drei Währungsſyſteme:
die Goldwährung, welche die Silberwährung nur noch als Scheide-
münze mit kleiner Verkehrswährung neben ſich aufnimmt, die Doppel-
währung, welche die Gold- und Silberwährung zugleich anerkennt,
und daher ſtets gezwungen iſt, einen geſetzlichen Zahlungswerth neben
dem Zahlungsrecht für das Werthverhältniß beider Metalle aufzuſtellen,
und die Silberwährung, in der die Goldmünze noch Waare ohne
Zahlungsrecht, und mit bloßem Verkehrswerth iſt. Es iſt nun kein
Zweifel, daß dieſelben Gründe, welche die Goldwährung erzeugt haben,
ſie auch allmälig bei allen Völkern des Weltverkehrs einführen werden,
da die Maſſe des Silbers anerkannt ſich vermindert, und für den
Münzbedarf nicht mehr ausreicht. Die Goldwährung erſcheint daher
als natürliche Währung des Völkerverkehrs, die Silberwährung als
die des inneren Verkehrs, ſo zwar, daß dem entſprechend die Münzung
des Goldes Sache der Völkerverträge, die Münzung des Silbers Sache
der einheimiſchen Geſetzgebung bleibt. Die einzige Frage iſt dabei die
über die Modalitäten der Einführung der Goldwährung. Die lei-
tenden Grundſätze dafür ſind: 1) das Gold muß bereits als Verkehrs-
zahlungsmittel bekannt ſein, ehe man ihm die Währung gibt; 2) man
muß ihm zuerſt nur die halbe, und dann die volle Währung geben;
3) die Einlöſungen des Papiergeldes und die Verzinſung der Staats-
ſchulden in Gold gleichfalls der Verkehrswährung voraufgehen; 4) mit
Uebergehung jeder Doppelwährung dem Silber als Scheidemünze ſeinen
eigenen leichteren Münzfuß und ſeine eigene Scheidemünzwährung bei-
legen.
Man wird den großen theoretiſchen Streit zwiſchen Gold und Silber nur
dann richtig beurtheilen, wenn man ſich dem Obigen gemäß darüber einig iſt,
[238] daß die Frage überhaupt keine rein wiſſenſchaftliche, ſondern ausſchließlich eine
Frage der Statiſtik des Goldes und Silbers, und der ſich daraus regelnden
Zweckmäßigkeit der Einführung der Geldwährung iſt. Die Frage ſelbſt ſtammt
aus der neueren Zeit; die bisherige Nationalökonomie hat ſie ſo gut als gar
nicht berückſichtigt. Die Heimath des Streits iſt Frankreich wegen ſeiner
Doppelwährung. (M. Chevalier, De l’Or 1866; Wolowsky, Question
monétaire 1867); beide machen viel zu ſehr einen theoretiſchen Streit
daraus. Dagegen hat Soetbeer „die Goldfrage und deren Einfluß auf die
Handel treibenden Länder“ (Zeitſchrift für Staatswiſſenſchaft, Bd. 18), den
einzig richtigen Standpunkt der ſtatiſtiſchen Behandlung durchgeführt, und die
entſcheidende Thatſache feſtgeſtellt, daß die Silberausfuhr ſeit den letzten Jahr-
zehnten die Silberproduktion und Einfuhr in Europa übertroffen hat; daß
demgemäß, unter Mitwirkung der neuen Goldentdeckungen, das Silber im
Verhältniß zum Golde gegen 3½ Procent theurer geworden, und daher mehr
und mehr aus dem Verkehr verſchwunden iſt, und daß der Uebergang zur
Goldwährung dadurch unabweisbar wird. Speciell für Gold: H. Contzen,
Geſchichte des Goldes und der Goldwährung 1868. Die Frage ſelbſt ſchon in
der Münzconferenz in Wien 1855 und 1856 in Hamburg unterſucht; die
Handelstage von 1862 und 1865 haben ſie einſeitig vom Standpunkt der
deutſchen Münzeinheit betrachtet. Das gegenwärtige Metallwährungsſyſtem
der Hauptſtaaten iſt folgendes:
Vereinigte Staaten: Doppelwährung eingeführt durch Congreßakte
vom 18. Jan. 1837 und 21. Febr. 1853; Siſtirung der Ausprägung des
Silberdollars; ½ Dollar als Scheidemünze; Goldwährung mit 5 Dollar als
Hauptmünze.
Frankreich: Doppelwährung durch Bericht von Mirabeau angenommen,
12. Dec. 1790; definitives Währungsgeſetz vom 28. März 1803, mit feſtem
Werth zwiſchen Gold und Silber; Streit über die Goldwährung ſeit 1849;
Commiſſion von 1854 ohne definitives Ergebniß (vgl. Soetbeer a. a. O. 32 ff.).
Italien: Einführung der franzöſiſchen Währung und Münzſyſtems ſeit
Geſetz vom 26. Okt. 1826.
Schweiz: Vor 1848 rein lokales Münz- und Währungsſyſtem; die
Bundesverfaſſung von 1848 hebt die Münzhoheit der Cantone auf (Geſetz vom
7. Mai 1850); Einheit des Syſtems und Silberwährung. Seit 1858 Frage
der Goldwährung. Darauf Geſetz vom 31. Jan. 1860; Einführung der Gold-
währung mit Silberwährung bis 20 Franken.
Belgien: Streit über die von Holland überkommene Silberwährung ſeit
1837; Verſuche der Erhaltung der letzteren (Geſetz vom 11. Auguſt 1854);
Seltenheit der Silbermünzen, Bericht von 1859, und Einführung der Gold-
währung (Geſetz vom 4. Juni 1861).
Portugal: Bis 1854 Doppelwährung, durch Münzgeſetz vom 1. Auguſt
1854 Goldwährung eingeführt.
Holland: Altes Münzgeſetz vom 28. Sept. 1816. Nach vielem Kampf
darüber die Silberwährung 1850 definitiv angenommen. — Ebenſo für
[239]Britt. Oſtindien die Silberwährung durch Geſetz vom 1. Auguſt 1855 aus-
ſchließlich angenommen.
Die deutſchen Staaten durch die Münzverträge von 1857 Silberwährung;
Bremen Goldwährung. Erſter weſentlicher Schritt zur Goldwährung die
internationale Commiſſion von 1867 in Paris (Gſchwendner, Münzeinheit
I. II.;Contzen a. a. O. S. 18 ff.).
Das ganze Gebiet des Papiergeldweſens iſt theils durch die hiſto-
riſche Entwicklung, theils durch die Verſchmelzung mit Credit- und
Bankweſen, und theils durch den Mangel des ſelbſtändigen Geſichts-
punktes für die Verwaltung und ihre Aufgabe ſo verwirrt, daß die
volkswirthſchaftliche Definition des letzteren unabweisbar vorauf gehen
muß, um zu einem beſtimmten Reſultate zu gelangen.
Die Grundlage des letzteren iſt die ſcharfe Scheidung zwiſchen
Kreditpapier und Papiergeld.
Der Mangel an Geld, die Koſten und Schwierigkeiten der Zah-
lung in Münze und das natürliche Princip der Compenſation erzeugen
ohne alles Zuthun der Verwaltung als naturgemäßen Erſatz der Münze
Werthſcheine, Anweiſungen aller Art, als ein die Münzzahlung ver-
tretendes Zahlungsmittel. Da nun dieſes Zahlungsmittel aus dem
Verkehr der gegenſeitig Verpflichteten in den Verkehr Dritter übergeht,
welche ſich deſſelben in der Ueberzeugung der Zahlungsfähigkeit der
Verpflichteten als gegenſeitiges Zahlungsmittel bedienen, entſteht das
Syſtem der Noten, welche an ſich weder Münze noch Geld, ſondern
Creditpapiere ſind. Allerdings ſtehen auch ſie unter der Verwal-
tung des Creditweſens, ſie haben aber mit dem Geldweſen gar nichts
zu thun. Ihre Bedeutung für das letztere beruht nur darauf, daß
ſie die Form des eigentlichen Papiergeldes abgeben.
Denn ſo wie einmal die Noten in den Verkehr treten, gewinnt
mit ihnen der Staat die Möglichkeit, entweder ſolche Noten, obwohl
ſie nicht von ihm ausgegeben werden, als Geld anzuerkennen, indem
er ihnen die Währung verleiht, oder ſelbſt Noten mit geſetzlicher
Währung auszugeben: Banknoten, Staatsnoten. Solche, mit einer
geſetzlichen Währung verſehene Noten heißen Papiergeld,
und die Grundſätze, nach welchen die Verwaltung für die Ausgabe ſolchen
Papiergeldes ſich zu richten hat, bilden das Papiergeldweſen.
Kein Werthzeichen iſt daher Papiergeld, welches nicht geſetzliche
Währung hat; jedes Werthzeichen wird zum Papiergeld durch
die Währung; die bloße Fähigkeit, die Funktion der Metallmenge
als Zahlungsmittel im Verkehr, ganz gleich ob gut oder ſchlecht, zu
[240] übernehmen, macht aus dem Creditpapier kein Papiergeld, eben ſo
wenig wie die Oberaufſicht über das Notenweſen, und wie die faktiſche
Annahme der Noten bei den Staatskaſſen, oder gar die bloße Con-
ceſſion von Banken mit Notenausgabe. Sondern zum Papiergelde
gehört die ausdrückliche geſetzliche Verleihung mindeſtens
der halben Währung. Und jetzt erſt iſt es klar, daß die Papiergeld-
frage nichts anderes iſt, als die Frage, unter welchen Bedingun-
gen der Staat einer Note dieſe Währung verleihen ſoll.
Dieſe Bedingungen liegen nun nicht etwa in dem Begriff des
Geldes an ſich oder des Werthes, wo man ſie zu ſuchen pflegt, ſondern
vielmehr in der durch den Preis der Münze ausgedrückten Höhe
des Münzbedarfs im Verkehr.
Der Grundſatz für die Bemeſſung dieſer Höhe muß folgender
ſein. Das Steigen des Münzbedarfs zeigt ſich in dem Preiſe, der für
den Gebrauch der Münze zur Zahlung gezahlt werden muß. Steigt
dieſer Preis für das Zahlungsmittel im Verkehr, ſo ſchafft ſich der
Verkehr ſelbſt ein ſeinem Bedarf entſprechendes Verkehrszahlungs-
mittel in den Noten. Steigt er aber auch für die nothwendig in
der Währung zu leiſtenden Zahlungen, wie bei Steuern, Kündigungen,
Hypotheken, bis zu dem Grade, daß bei voller Sicherheit für das Geld
zu ſolchen Zwecken mehr als 6 Procent (5 Procent Zins, 1 Pro-
cent Proviſion) regelmäßig gezahlt werden muß, ſo iſt zu wenig
Geld vorhanden, und das Fehlende kann für dieſe Zwecke nicht mehr
durch die Thätigkeit der Einzelnen geſchaffen werden. Hier muß daher
die Verwaltung eintreten, und das Papiergeld ſchaffen, indem ſie der
Note die Währung gibt, und ſo entſteht das Papiergeldweſen als Ver-
mehrung nicht der Zahlungsmittel überhaupt, welche der Selbſthülfe
des Creditweſens zu überlaſſen iſt, ſondern als Vermehrung der mit
Währung verſehenen Geldmaſſe des Staats für diejenigen Zahlungen,
welche der Währung bedürfen.
Steht dieß Princip nun feſt, ſo entſteht die zweite Frage nach der
Quantität des auf dieſe Weiſe nothwendig gewordenen Papiergeldes.
Denn das richtige Maß des letzteren iſt zwar nicht mehr die Bedingung
ſeiner rechtlichen, wohl aber ſeiner wirthſchaftlichen Fähigkeit, ſeines
Werthes, als Münze zu functioniren. Gibt der Staat zu wenig aus,
ſo nützt er nicht, gibt er zu viel aus, ſo ſinkt der Werth der Note,
und tritt mit dem Rechte derſelben, mit ſeinem Nominalbetrag als
Zahlung gebraucht zu werden, in Widerſpruch, und Werthordnung und
Zahlungsweſen ſind gleichmäßig geſtört. So wie daher der Verkehr
ſeine Abneigung gegen Papiergeld, der durch den Mißbrauch deſſelben
entſteht, überwunden hat, tritt die Frage nach der richtigen Quantität
[241] in den Vordergrund. Die Schwierigkeit ſie zu beantworten, liegt als-
dann im Anfange ſtets in der Vermiſchung mit der Frage nach der
richtigen Fundation der Banknoten, die man vom Papiergeld nicht zu
unterſcheiden vermag, und das iſt noch gegenwärtig der allgemeine
Standpunkt in der Behandlung der Sache. Scheidet man ſie aber,
ſo erſcheinen folgende allgemeine Grundſätze.
Da der Staat nie die Geldmaſſe als ſolche, ſondern nur das
Währungsgeld vermehren ſoll, ſo muß er die Quantität des Papier-
geldes nach den beiden Punkten bemeſſen, wo eben das Währungsgeld
erſcheint. Das ſind die Steuern und die Hypotheken.
So lange noch die Steuern zur Hälfte mit Metall gezahlt werden,
iſt die Summe des ausgegebenen Papiergeldes nicht zu groß; ebenfalls
iſt ſie nicht zu groß, ſo lange bei voller Sicherheit nicht mehr als
5 Procent Zins gezahlt werden. Sinkt die Metallzahlung bei den Steuern
unter ein Drittel, oder ſteigt der Zinsfuß über 6 Procent, ſo iſt die
Quantität des Papiergeldes ſo groß, daß ſein wirthſchaftlicher Werth
gefährdet iſt. Und zwar beruht das darauf, daß dieſer Werth des
Papiergeldes von der Möglichkeit abhängt, anſtatt der Metallwährung
verwendet zu werden; es iſt klar, daß dieſe Möglichkeit im umgekehrten
Verhältniß zu ihrer Quantität ſteht. Damit dieß Verhältniß nicht geſtört
werde, ſoll der Staat nie den bloßen Noten die Steuerwährung geben.
Iſt aber einmal das Metall durch Emiſſion von Papiergeld aus dem
Verkehr verdrängt, ſo hilft nur noch die Einführung einer neuen
Währung, und die ſtrenge Feſthaltung des Grundſatzes, nur noch für
Gold- und unter keiner Bedingung für Silbermünze Papiergeld aus-
zugeben. Die Geſammtheit dieſer Grundſätze bilden das Syſtem der
Steuerfundation, die alſo ganz andere Grundſätze hat wie die
Bankfundation, und nur dann mit der letzteren verbunden werden
ſollte, wenn die niedrigſte Staatsnote ſo hoch iſt, daß ſie bei der
überwiegenden Mehrzahl der Steuern nicht in Anwendung kommt.
Es iſt nicht thunlich, von einer ſelbſtändigen Literatur des Staatspapier-
geldes zu ſprechen, da dieſelbe bisher durchſtehend die Creditpapiere und das
Papiergeld vermengt. Der Grund liegt darin, daß England und Frankreich,
als die Heimath des Creditpapiers, gar kein reines Staatspapiergeld haben,
und daß Deutſchland, welches allein das letztere beſitzt, auch hier in ſeiner
Theorie gänzlich von der engliſchen und franzöſiſchen Literatur abhängig iſt.
Der von mir dargeſtellte Unterſchied von Steuerfundation und Bank-
fundation, ſo klar er iſt, iſt eben deßhalb unbeachtet geblieben. Stein,
Volkswirthſchaftslehre, S. 57 ff. Am meiſten Verſtändniß noch in Wagners
Schriften: die Geld- und Credittheorie der Peel’ſchen Bankakte 1862 und Her-
ſtellung der öſterreich. Nationalbank 1862. Hier können nur die Grundſätze
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 16
[242] der Verwaltungslehre Klarheit bringen. Die beiden Beiſpiele des eigentlichen
Staatspapiergeldes: die preußiſchen Kaſſenſcheine, bloß mit halber Währung
und reiner Steuerfundation, die öſterr. Banknoten, welche die Steuer-
fundation mit der Bankfundation verbinden, und die Staatsnoten, welche
nur Steuerfundation haben; letztere beide Arten haben dagegen die volle
Staats- und Verkehrswährung. Daneben iſt durch Erlaß vom 4. März 1866
auch den Coupons der Staatsobligationen die Staatswährung gegeben
(Steuerzahlungsmittel an allen Kaſſen). Damit iſt der Unterſchied zwiſchen
halber und voller Währung eine der praktiſchen Finanzwelt vollkommen bekannte
Thatſache; der Theorie iſt ſie noch immer unbekannt geblieben.
Allerdings geſtaltet ſich auf dieſer Baſis nun auch das ganze Creditpapier-
weſen als Theil der Verwaltung ganz anders, als in der gewöhnlichen Theorie.
Während nun das Geld in ſeinen verſchiedenen Formen den
Werth an ſich darſtellt und im Umlauf erhält, erſcheint das Inhaber-
papier da, wo der Werth eines beſtimmten Gutes oder einer beſtimmten
Leiſtung Gegenſtand des allgemeinen Verkehrs wird. Die Form, in
der dieß geſchieht, iſt das Werthpapier als Beweismittel des Eigen-
thums an dem vom Gute getrennten Werth. So wie man überhaupt
den Werth als von jedem Gute trennbar und ſomit als ſelbſtändigen
Verkehrsgegenſtand erkennt, hat das Verſtändniß der Sache keine
Schwierigkeit. Im Beginne des Verkehrs indeß erſcheint der Umlauf
des Werthes durch das Werthpapier im obigen Sinne ſtets als Ueber-
tragung deſſelben an eine beſtimmte Perſon, und ſetzt daher einen Ver-
trag und ſomit den Beweis des geſchloſſenen Vertrags voraus, der
durch den Beweis des auf Annahme des betreffenden Werthpapieres be-
ſtimmten Aktes zu führen iſt. In den höhern Stadien der wirthſchaft-
lichen Entwicklung dagegen löst ſich der Werth der Güter, Leiſtungen und
Unternehmungen vollſtändig von demſelben los, und wird dann ſelbſtändig
Gegenſtand des Verkehrs. Es iſt kein Zweifel, daß darin eines der mäch-
tigſten und wichtigſten Elemente des wirthſchaftlichen Fortſchrittes beſteht;
allein die erſte Bedingung dafür iſt, daß dieſer Werth die Natur und damit
auch das Recht des Geldes empfange, ſo weit dieſes durch die Natur des
Werthpapieres möglich iſt. Nun enthält des Werthpapier zwei recht-
liche Hauptmomente: zuerſt das Recht auf den Werth eines beſtimmten
Gutes, und dann die Berechtigung ſeines Beſitzers auf dieſen Werth.
In der erſten Beziehung kann das Werthpapier, ohne ſein Weſen zu
verlieren, überhaupt nie die Natur des Geldes annehmen, das princi-
piell nur den Werth an ſich enthält; in der zweiten Beziehung da-
gegen iſt die Identificirung mit dem Gelde möglich; und dieſe geſchieht,
[243] indem der Uebergang des Eigenthumsrechts nicht mehr von dem Be-
weiſe eines beſtimmten Erwerbsvertrages, ſondern wie beim Gelde von
der bloßen Tradition abhängig gemacht, und der Beſitz daher mit
dem Eigenthum identificirt wird. Damit entſtehen nun zwei
Grundformen des Werthpapiers: das eigentliche Werthpapier, bei
welchem der Erwerb des Rechts auf den Werth durch einen beſtimm-
ten Akt bewieſen werden muß, der im Intereſſe des Verkehrs ſehr
vereinfacht werden kann, aber ſtets und unbedingt vorhanden ſein
muß (Wechſel und Giros in blanco, Papiere auf Inhaber) und das
Inhaberpapier, bei welchem wie beim Gelde der Beſitz das Recht
des Eigenthums gibt, bis von Dritten ein Beſitzerwerb vi, clam, pre-
cario bewieſen wird. Die natürliche und für den Verkehr durchaus
nothwendige Conſequenz iſt, daß auch der unrechte Beſitzer dem Dritten
volles Eigenthum überträgt, da das letztere eben durch den Beſitz ſelbſt
gegeben iſt. Ohne dieſe ſtrenge Unterſcheidung iſt es unmöglich, zum
Princip und Syſtem des Rechts beider Arten zu gelangen.
Denn wie es jedem Nationalökonomen klar iſt, daß im wirth-
ſchaftlichen Leben die Funktion beider Arten weſentlich verſchieden iſt,
ſo iſt auch das Recht derſelben ein durchaus anderes.
Das Recht der eigentlichen Werthpapiere gehört ohne Zweifel
in das Obligationenrecht, und iſt eine ganz beſtimmte Form des Ver-
tragsrechts, das zwar im Intereſſe des Verkehrs Modifikationen an-
nimmt wie beim Wechſel, aber im Princip unbedingt Privatrecht bleibt.
Das Recht der Inhaberpapiere iſt dagegen ſchon in ſeinem Princip
ein öffentliches Recht, da nur die Verwaltung den Beſitz mit dem
Eigenthum im Geſammtintereſſe modificiren kann, und das Privatrecht
derſelben beſchränkt ſich daher auf das Erwerbsrecht des Beſitzes,
ohne ſich um den Unterſchied von Beſitz und Eigenthum zu kümmern.
Daraus folgt das Rechtsſyſtem beider Arten, deſſen Unterſchied zugleich
den tiefgehenden des bürgerlichen und des öffentlichen Rechtsweſens
zeigt. Seine Hauptmomente ſind folgende.
1) Die Ausſtellung von eigentlichen Werthpapieren ſteht jeder-
mann frei, da ſie nur dem Einzelverkehr angehören. Die Ausſtellung
von Inhaberpapieren dagegen, durch welche der Werth auf den ſie
lauten, Inhalt des Geſammtverkehrs wird, kann nur unter Zuſtim-
mung der Verwaltung geſchehen, da der obige Rechtsſatz dem Ein-
zelnen die Möglichkeit nimmt, ſich auf privatrechtlichem Wege gegen
den Verluſt des Werthes dieſer Papiere zu ſchützen. Daher der
Grundſatz der Conceſſion und der Oberaufſicht bei Verſicherungsanſtalten
und Sparkaſſen, deren Policen und Bücher jedem Ueberbringer ausge-
zahlt werden. Eine Ausnahme davon bilden diejenigen Inhaberpapiere,
[244] die auf eine ganz beſtimmte einzelne Leiſtung einer Unternehmung
lauten (Fahrbillets, Entréekarten ꝛc.)
2) Bei eigentlichen Werthpapieren gilt daher auch die Haftung
des Cedenten, wenn nichts anderes ausgemacht iſt; bei Inhaberpapieren
fällt wie bei dem Gelde dieſe Haftung naturgemäß hinweg.
3) Die Mortifikation (Amortiſation) der eigentlichen Werth-
papiere erzeugt nicht an und für ſich das Recht auf Reproduktion
derſelben Papiere von Seiten des Gläubigers, bei den Inhaber-
papieren dagegen iſt dieſelbe eine nothwendige Forderung des Verkehrs.
Es iſt wohl kühn, mit ſo wenig Worten einer ſo reichen Literatur und
ſpeciell ſo ausgezeichneten Werken wie Contze’s Inhaberpapieren gegenüber
zu treten. Dennoch können wir nicht umhin, zu wiederholen, daß der Haupt-
irrthum aller bisherigen Bearbeitung des Gegenſtandes darin lag, das Weſen
und den Inhalt eines öffentlich rechtlichen Inſtituts durch die Begriffe des
Privatrechts verſtehen zu wollen; der zweite nicht minder große Irrthum iſt
der, Werthpapiere und Inhaberpapiere beſtändig zu confundiren. Daß man
die Natur der letzteren ohne Anſchluß an das Weſen des Geldes und ſpeciell
des ſelbſtändigen Werthes hat erklären wollen, zeigt auch hier die Folgen
davon, daß die beiden Gebiete der Güterlehre und der Rechtswiſſenſchaft ſich
gegenſeitig beinahe gänzlich unbekannt ſind.
Vierter Theil.
Das Creditweſen. Begriff und Weſen des Credits.
Mit dem Creditweſen betreten wir nun einen ganz anderen Boden.
Um ſo wichtiger iſt es, ſich über die Grundlagen des Folgenden voll-
kommen klar und einig zu ſein.
Während nämlich Verkehrs- und Umlaufsweſen ſich auf diejenigen
Bedingungen der wirthſchaftlichen Entwicklung beziehen, welche außer-
halb der Einzelwirthſchaft liegen, gehört der Credit ſowohl wie das,
was die Verwaltung für denſelben thun kann, dem inneren wirth-
ſchaftlichen Leben an.
Der Credit iſt nämlich die Fähigkeit der einen Wirthſchaft, das
Capital der andern zur Benutzung und zum Erwerb herbeizuziehen.
Das Vertrauen auf die Zahlungsfähigkeit des Schuldners (objektives
Moment) und die wirkliche Zahlungsfähigkeit (ſubjektives Moment)
ſind nur die zwei ſelbſtändig gedachten Elemente des wirklichen Credits.
Der Credit iſt daher zunächſt Sache des Einzelnen. Er muß ihn
ſelbſt begründen und ſich ihn ſelbſt ſchaffen. Er iſt daher an ſich ein
durchaus volkswirthſchaftlicher Begriff. Eben deßhalb iſt es von
entſcheidender Bedeutung, den Punkt zu beſtimmen, auf welchem der
Credit ſeine öffentliche Natur entwickelt.
[245]
Es iſt kein Zweifel, daß die Vertheilung der Fähigkeit, die Capi-
talien zu benützen, eine andere iſt, als die Vertheilung der Capitalien
ſelbſt. Es iſt kein Zweifel, daß das Capital in den Händen des
Fähigen ſowohl für dieſen, als für den weniger fähigen Beſitzer, als
endlich durch beides für die Gemeinſchaft am meiſten leiſtet. Eine der
erſten Bedingungen der höchſten wirthſchaftlichen Entwicklung iſt daher
dasjenige Element, welches beſtändig dahin arbeitet, die Verwerthung
des vorhandenen Capitals den Erwerbfähigſten zuzuführen. Dieſes
Element iſt der Credit. Es iſt daher zunächſt kein Zweifel, daß der
Beginn der Entwicklung des Credits zugleich der Beginn alles volks-
wirthſchaftlichen Aufſchwunges iſt. Allein der Credit iſt eben ſo ſehr
ein gewaltiger geſellſchaftlicher Faktor. Der tiefſte Widerſpruch aller
geſellſchaftlichen Zuſtände beruht nicht darauf, daß die perſönliche
Fähigkeit kein Capital beſitzt, ſondern daß ſie nicht im Stande iſt,
zur Benützung des ihr entſprechenden Capitals zum Zwecke des Er-
werbs zu gelangen. Der Credit iſt es, der dieſen Widerſpruch löst.
Der Credit gleicht nicht das Eigenthum aus, ſondern den Beſitz. Er
gibt nicht die Gleichheit im Capital, wohl aber die Gleichheit im Er-
werb; er iſt es, der, indem er das Recht beſtehen läßt, zugleich die
gleiche Berechtigung der wirthſchaftlichen Kraft gegenüber der Ungleich-
heit des Vermögens verwirklicht. Er iſt damit die Quelle des Erwerbs
und der Capitalbildung durch ſeine Vertheilung der Capitalsbenützung
nach der Tüchtigkeit und Thätigkeit der Perſönlichkeit; durch ihn ge-
langt jede Perſönlichkeit zu ſo viel Capital, als ſie zu beſitzen wirklich
werth iſt; in ihm lebt daher an letzter Stelle etwas viel Höheres, als
ein bloß wirthſchaftliches Verkehrsverhältniß; er iſt in der That die
höchſte Harmonie zwiſchen der unantaſtbaren Härte des Eigenthums-
rechts und den unabweisbaren Forderungen der freien perſönlichen
Entwicklung; denn während das Capital zeigt, was jemand werth ge-
weſen iſt, gibt der Credit, was jemand werth iſt. Der Credit iſt daher
beſtimmt, durch ſeine wirthſchaftlichen Geſetze die große ſociale Frage
des Gegenſatzes zwiſchen Beſitz und Arbeit zu löſen; in ihm lebt die
Zukunft der Volkswirthſchaft und die der Geſellſchaft, und in dieſem
Sinne hat unſere Zeit vollkommen Recht, wenn ſie in ihm den Schwer-
punkt ihrer höchſten theoretiſchen und praktiſchen Aufgaben anerkennt.
Iſt dem nun ſo, ſo iſt endlich auch kein Zweifel, daß Weſen
und Organiſation dieſes Faktors nicht bloß mehr Sache der Einzelnen,
des Creditgebers und Nehmers, ſondern zugleich eine hochwichtige An-
gelegenheit der Verwaltung iſt. Das kann daher nicht mehr
die Frage ſein, ob das Creditweſen als ein organiſcher Theil des Ge-
ſammtlebens zu betrachten ſei; die Frage, um welche es ſich handelt,
[246] iſt vielmehr die, auf welchem Punkte, in welchen Formen, und mit
welchem Inhalt es der Verwaltung als Angelegenheit der Gemein-
ſchaft angehört.
Um nun zum Begriff des öffentlichen Creditweſens zu gelangen,
muß man bei der Natur des wirthſchaftlichen Credits beginnen.
Jeder wirkliche Credit iſt zunächſt ein rein wirthſchaftlicher Ver-
kehrsakt, in welchem der Gläubiger ein Capital zur Benutzung hergibt,
während der Schuldner nebſt dem Capital den Werth dieſer Benutzung
als Zins erſtattet. Die Differenz zwiſchen dieſem Werth und dem da-
für als Zins gezahlten Preis iſt der Erwerb des Schuldners; der
(arbeitsloſe) Zins iſt der Ertrag des Capitals für den Gläubiger. Der
Verkehrsakt, in welchem dieß feſtgeſtellt wird, heißt Darlehen.
Das Darlehen empfängt ſeine drei Formen nach demjenigen Mo-
ment, in welchem die Zahlungsfähigkeit des Schuldners, das iſt alſo
ſeine wirthſchaftliche Fähigkeit lag, das Capital als Darlehen zu ver-
mehren. Das erſte dieſer Momente iſt die rein perſönliche Fähig-
keit der Rückzahlung; ſie begründet das perſönliche Darlehen. Das
zweite iſt die ſachliche, durch den Beſitz beſtimmter Güter gegebene
Fähigkeit; ſie begründet das Darlehen auf Pfand. Das dritte iſt
die in dem Unternehmen des Schuldners liegende Fähigkeit der
Rückzahlung, und erzeugt das geſchäftliche Darlehen. Der Grund-
gedanke des Darlehens iſt aber noch immer ein Verkehrs- und Rechts-
verhältniß zwiſchen den zwei beſtimmten Individuen des Gläubigers
und Schuldners. So wie dagegen in der Auffaſſung beider die Zah-
lungsfähigkeit des Schuldners von der eines Dritten abhängt, der
die Produkte aus dem gedachten Capital von dem Schuldner ge-
liehen hat, und daher dem Schuldner zahlen muß, damit dieſer dem
erſten Gläubiger zahlen kann, ändert das einfache Darlehen ſeinen
Charakter, und wird zum Credit im eigentlichen Sinne. Bei jedem
Darlehen gibt es daher nur Einen Gläubiger, bei jedem Credit da-
gegen mindeſtens zwei, von denen der eine ſtets Gläubiger und Schuld-
ner zugleich iſt; bei höherer Entwicklung des Geſchäftslebens ſteigt
die Zahl der bei jedem Credit betheiligten Perſonen; der Credit des
Einen wird zur Bedingung des Credits des Andern, und die Zahlung
des Einen zur Bedingung der Zahlung des Andern; der Credit fängt
an, die Grundlage aller gegenſeitigen Leiſtungen und Zahlungen zu
werden; er durchdringt die ganze Volkswirthſchaft; jeder Unternehmer
[247] bedarf deſſelben; jeder findet ihn auch: er wird ein ſelbſtthätig wir-
kender Faktor des wirthſchaftlichen Lebens und das Darlehen in ihm
beginnt ſeine Natur zu ändern. Der Credit wird ein integrirender
Beſtandtheil jedes Unternehmens; er beherrſcht das Unternehmenscapital,
ja er kann es ganz erſetzen; das Creditgeben wird daher aus einem
einzelnen und zufälligen Geſchäft wie beim Darlehen zu einem ſelb-
ſtändigen Unternehmen (Bankhäuſer, Wechſelhäuſer); damit verſchwindet
für die Volkswirthſchaft der Begriff des Darlehens, und an ſeine
Stelle treten Name und Begriff des Credits als perſönlicher Credit,
Realcredit, Geſchäfts credit; jeder derſelben empfängt ſeine eigenen
Regeln und wirthſchaftlichen Geſetze; aus der Privatwirthſchaft iſt das
Darlehen in die Volkswirthſchaft hineingetreten.
Allein damit beginnt auch im Creditweſen ſein eigenthümlicher
Widerſpruch hervorzutreten. Es iſt ſeinem Weſen nach ein Theil des
Geſammtlebens; in der Wirklichkeit aber iſt es nach wie vor ein Ein-
zelgeſchäft. Alle hängen von dem Credit ab, aber jeder Einzelne ent-
ſcheidet über ihn. Jeder Credit iſt formell von der Willkür oder der
Fähigkeit des Einzelnen in Darlehen und Rückzahlung bedingt, mate-
riell dagegen iſt keiner mehr im Stande, ſeinem Capitalsbedürfniß
ohne Creditgeben und Nehmen allein zu genügen. Auf dem Organis-
mus und der lebendigen Thätigkeit des Credits beruht die Bewegung
der ganzen Volkswirthſchaft; aber der wirkliche Credit beruht noch auf
der zufälligen Unternehmung oder der Willkür des Einzelnen. Das
iſt ein Widerſpruch; und hier iſt der Punkt, wo aus dem rein wirth-
ſchaftlichen Leben des Credits das öffentliche Creditweſen wird.
So wie nämlich der Credit das Stadium ſeiner Entwicklung er-
reicht, in welchem der Credit eines Unternehmens die unabweisbare
Bedingung für das Beſtehen und die Entwicklung Anderer wird, ohne
daß man die Gränze dieſes gegenſeitigen Bedingtſeins beſtimmen kann,
ſo iſt der Credit eines von denjenigen Gebieten, deren Herſtellung und
Verwaltung Sache der Gemeinſchaft werden, wie das Verkehrs- und
Umlaufsweſen.
Das perſönliche Haupt des Gemeinweſens iſt nun der Staat.
Die erſte unfertige Vorſtellung iſt daher die, daß der Staat die Ver-
waltung des Creditweſens durch die Staatsverwaltung zu beſor-
gen, und durch die Geſetzgebung zu organiſiren habe.
Allein der Credit verliert dabei ſeine wirthſchaftliche Natur nicht.
Es gibt im wirthſchaftlichen Leben keinen allgemeinen Credit, ſondern
[248] nur einen Credit des Einzelnen. Es iſt überflüſſig, das hier zu
begründen. Jedem Creditgeben muß daher das wirthſchaftliche Urtheil
des Einzelnen über die Creditfähigkeit des Einzelnen voraufgehen; denn
im höheren Sinne iſt nicht der Creditbedarf, ſondern die Credit fähig-
keit die ſowohl wirthſchaftliche als geſellſchaftliche Berechtigung zum
Credit. Der Staat als Perſönlichkeit hat nun dieſes Urtheil faktiſch
nicht, weil es ſeiner Natur widerſpricht, es zu beſitzen. Denn vor
dem Staate ſind alle Angehörigen gleich; ein gleicher Credit für Alle
iſt ein Unſinn. Soll daher dennoch der Staat in das Creditweſen
eingreifen, ſo kann er das organiſch nur in der Form, in welcher er
in ſeiner ganzen Verwaltung, alſo auch im Creditweſen, dasjenige
Element zur Geltung und zur Theilnahme an ſeiner Thätigkeit bringt,
ohne welches kein Creditweſen beſtehen kann. Das Element iſt das
der Individualität und ihrer individuellen Auffaſſung und Thätigkeit
im öffentlichen Leben. Die große Form, in welcher der Staat das
Element der individuellen Perſönlichkeit für ſeine Verwaltung verwendet,
iſt nun das Vereinsweſen. Das Vereinsweſen allein hat die
Fähigkeit, in ſeiner allgemeinen Thätigkeit auch das individuelle Leben,
die individuelle Wirthſchaft und Tüchtigkeit wie das individuelle Be-
dürfniß zur Geltung zu bringen. Das Vereinsweſen iſt daher auch
allein fähig, das öffentliche Element in dem Creditweſen zum Ver-
ſtändniß und zur Verwirklichung zu bringen, während es ohne das-
ſelbe ein ewig unfertiger Widerſpruch bleibt. Es bedarf nicht einmal
des Bewußtſeins davon, daß es dieſe Funktion hat; es vollzieht dieſelbe
ſeiner Natur nach von ſelbſt. Und wir ſagen daher, daß aus der
wirthſchaftlichen Organiſation des Creditweſens die öffentliche auf dem
Punkte wird, wo das Vereinsweſen durch ſeine Creditvereine
im weiteſten Sinne des Wortes die Creditverwaltung der
Volkswirthſchaft in die Hand nimmt.
Natürlich nun übernimmt das Vereinsweſen das Creditweſen weder
in ſeinem ganzen Umfang, noch ohne Unterſchied, noch wird es geſetzlich
oder durch die Regierung dazu berufen, noch arbeitet es, einmal in
Bewegung geſetzt, von jenem höchſten Standpunkt eines allgemeinen
Intereſſes. Im Gegentheil tritt es langſam, ſtückweiſe, vorſichtig an
die Stelle des Einzelcredits; es bildet ſich von ſelbſt, und tritt nur
inſofern auf, als es aus dem Creditgeben einen Erwerb macht; es
will eben nur dieſen Erwerb, und überläßt mit vollem Recht die wirth-
ſchaftlichen und geſellſchaftlichen Folgen jener Thätigkeit der Natur der
Dinge. Die Creditvereine ſind daher zuerſt Erwerbgeſellſchaften.
Als ſolche haben ſie ihre hiſtoriſche Entwicklung, die von Geſetzgebung
und Theorie unabhängig, ſich weſentlich nach dem Geſetze der Produk-
[249] tivität wie bei jedem andern Unternehmen richtet. Allein ihre höhere
Natur behalten ſie darum nicht weniger. Und dieſe nun erſcheint da-
rin, daß ihnen Geſetzgebung und Regierung theils mit ihrer Macht zu
Hülfe kommen, theils ſie unter ihre Oberaufſicht ſtellen, wie jeden an-
dern Theil der freien Verwaltung, indem und weil ſie den Credit mit
ſeiner ganzen Bedeutung in ſich aufnehmen und verwalten. So wer-
den ſie aus bloßen Erwerbsgeſellſchaften langſam, aber unwiderſtehlich
das, was wir im Vereinsweſen als Verwaltungsvereine be-
zeichnet — Vereine, die den Erwerb ihrer Mitglieder in der Voll-
ziehung einer öffentlichen Aufgabe ſuchen. Sie gehen daher jetzt mit
Geſetzgebung und Regierung Hand in Hand, und in dieſem damit
im Creditvereinsweſen ſich ſelbſtändig ordnenden Creditweſen gewinnt
das letztere erſt feſte Geſtalt und klare Aufgabe; die Theile und Ge-
biete ſcheiden ſich und ordnen ſich; es wird ein Stück des Geſammt-
lebens, deſſen Weſen und Werth ſich nun auch rechtlich beſtimmen
läßt; und die Geſammtheit von Organen, Thätigkeiten, Geſetzen und
Rechten, die daraus hervorgehen, nennen wir die öffentliche Organi-
ſation des Creditweſens.
Dieſe Organiſation des Credits durch das Creditvereinsweſen und
ihre Natur als Verwaltungsverein muß ſich nun natürlich an die
wirthſchaftlichen Grundformen des Credits anſchließen. Es gibt daher
Vereine für den perſönlichen, für den Real- und für den Geſchäfts-
eredit; jede dieſer Gruppen hat ihre Geſchichte, ihre wirthſchaftlichen
Regeln und ihre Funktion und Rechte. Allein daneben haben ſie zu-
gleich eine gemeinſame hiſtoriſche Entwicklung, welche auf ihrer gemein-
ſamen organiſchen und rechtlichen Natur beruht. Dieſe Entwicklung
bildet die Geſchichte der Organiſation des Credits. Sie hat noch nicht
einmal Verſuche ihrer Bearbeitung gefunden. Ihre letzten Elemente
indeß ſind folgende.
Jeder, der die Literatur der Nationalökonomie kennt, wird aus dem
Obigen begreifen, weßhalb wir ſie weder auf andere Autoren noch auf Geſetz-
gebungen verweiſen können. Trotz der ungeheuren Maſſe von Schriften über
die einzelnen Fragen und Verhältniſſe des Credits gibt es unſres Wiſſens
keinen Verſuch, die Bedeutung und den Inhalt der vielbeſprochenen „Organi-
ſation des Credits“ wiſſenſchaftlich zu beſtimmen, oder auch nur alle dahin
gehörigen Verhältniſſe und Thatſachen als ein Ganzes zu betrachten, weder
in der Nationalökonomie noch in den der Verwaltung angehörigen Arbeiten.
Die ganze Literatur erſchöpft ſich im Geſchäftscredit, und auch hier ohne feſte
Sondirung der wirthſchaftlichen und verwaltungsrechtlichen Principien, trotz-
dem daß das Vereinsweſen mit ſeiner entſcheidenden Bedeutung ſo nahe lag.
Uebrigens iſt die ſociale Bedeutung des Credits bekanntlich erſt durch die
St. Simoniſten erkannt, und durch die ſocialiſtiſchen Arbeiten der 40ger und
[250] 50ger Jahre in Frankreich zu dem Syſtem des ſocialen Creditweſens ausge-
bildet worden, auf Grundlage deſſen Hildebrand, Nationalökonomie der
Zukunft I. 276 geiſtreich den Charakter der kommenden Volkswirthſchaft als
Creditwirthſchaft gegenüber der gegenwärtigen „Geldwirthſchaft“ bezeichnet.
RoſcherI. 90.
Auch die Geſchichte des Credits zeigt uns, wie die übrigen Ge-
biete der Verwaltung, daß es nicht das wirthſchaftliche, ſondern das
geſellſchaftliche Element iſt, welche dieſelbe beſtimmt.
Im Darlehen wie im Credit iſt es das gewerbliche, und daher
freie, aus der perſönlichen Thätigkeit erzeugte Capital, welches in Be-
wegung iſt. Die Selbſtthätigkeit und Freiheit des Einzelnen aber,
wirthſchaftlich ausgedrückt in ſeinem Capital, iſt das Princip der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung gegenüber der Geſchlechter- und
Ständeordnung, die auf erblichem Grundbeſitz und Vorrecht beruhen.
Der Credit wie das Darlehen ſind daher zwar immer vorhanden,
allein da alle Verfaſſung und Verwaltung und mithin auch das, was
ſie für den Credit leiſten, von der herrſchenden Geſellſchaftsordnung
beſtimmt werden, ſo ergibt ſich als allgemeinſte Grundlage für die Ge-
ſchichte des Creditweſens, daß die Organiſation des Credits überhaupt
erſt mit dem Siege über ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung auf-
treten kann, dafür aber den weſentlichen Charakter derſelben im Ge-
biete der volkswirthſchaftlichen Verwaltung bildet.
Die Geſchichte des Creditweſens hat daher zwei große Epochen
oder Grundformen.
Das Princip ihrer erſten Epoche, der Zeit der Geſchlechter- und
Ständeordnung beſteht darin, das Recht des Darlehens ſo zu beſtim-
men, daß es den Beſitz und das Vorrecht nicht angreifen kann. Den
Inhalt des Creditweſens dieſer Zeit bilden daher weſentlich Beſchrän-
kungen des Rechts der Gläubiger theils in Beziehung auf die Zinſen,
theils in Beziehung auf die Exekution der Forderungen. Soweit bei
beiden nicht die Unterwerfung des Grundbeſitzes oder der ſtändiſchen
Rechte in Frage kommt, erſcheint die Sorge des Staats für den
Creditumlauf in der einfachen Herſtellung des zur Einbringung der
Forderungen geeigneten gerichtlichen Verfahrens. Das iſt der Stand-
punkt des römiſchen und gemeinen deutſchen Rechts und Proceſſes, und
es iſt daher charakteriſtiſch, daß beide den Credit weder als Begriff
noch als Rechtsgebiet kennen, ſondern ihn einfach als Obligatio und
Darlehen behandeln. Sie haben ſich auch in neueſter Zeit unfähig ge-
zeigt, jenen Begriff aufzunehmen. Um das Recht deſſelben zu ſchaffen,
[251] hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaftsordnung neben ihnen ganz neue
Rechtsgebiete erzeugen müſſen.
Die zweite Epoche beginnt da, wo mit den entſtehenden gewerb-
lichen und Handelsunternehmungen Natur und Umfang des Darlehens
nicht mehr ausreichen, und nicht mehr augenblickliche Bedürfniſſe durch
Anlehen gedeckt, ſondern die Capitalien durch den Credit erzeugt und
in Thätigkeit erhalten werden. In der erſten Zeit dieſer Epoche küm-
mert ſich der Staat um dieſe neue Erſcheinung noch ſehr wenig; erſt
mit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts zwingt ihn das Be-
dürfniß nach eigenem Credit, das Creditweſen überhaupt in Geſetz-
gebung und Verwaltung zu berückſichtigen. Er thut es deßhalb auch
anfangs nur da, wo er ſelbſt Credit braucht. So entſteht das Bank-
und Notenweſen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts beginnt
dann mit dem regelmäßig gewordenen Creditbedürfniß der Grundherren
der erſte Verſuch, theils das Grundbuchsweſen zu ordnen, theils den
Realcredit zu organiſiren; daran ſchließen ſich die Geſetzgebungen für
das Handels- und Wechſelrecht, die ihrem Lebensprincip nach das
Privatrecht des Credits gegenüber dem des Darlehens bilden. Aber
noch herrſcht die ſtändiſche Geſellſchaftsordnung, und das Creditrecht
ſelbſt erſcheint noch als ein beſchränktes Recht des „Handelsſtandes“
wie ſich der Realcredit nur noch auf die Grundherren bezieht. Erſt
mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung im neun-
zehnten Jahrhundert tritt eine neue Bewegung ein. Dieſelbe beginnt
mit der immer lauter werdenden Forderung nach der Freiheit des Credit-
verkehrs bei der beſitzenden, und mit der Forderung nach Capital bei
der nichtbeſitzenden Claſſe; beide, durchdrungen von der Bedeutung des
Capitals als Grundlage der perſönlichen Stellung und Entwicklung
erzeugen zunächſt die negative Bewegung der erſten Hälfte unſeres
Jahrhunderts, die bei der erſten als Kampf gegen die Zinsgeſetzgebung,
bei der zweiten als Socialismus und Communismus erſcheint. Gegen
beide verhält ſich der Staat noch ablehnend; noch halten und tragen
ihn ſtändiſche Elemente, und andererſeits das Bewußtſein, daß er
nicht berufen ſei, weder Capital noch Credit zu gewähren. Die zweite
Hälfte erſt findet den richtigen Weg, die Vermittlung zwiſchen Beſitz
und Nichtbeſitz in dem, wenn auch nicht klar begriffenen Worte der
Organiſation des Credits, und den einzig dafür geeigneten Organismus
im Creditvereinsweſen. Das Vereinsweſen bricht ſich mit einer
faſt unglaublichen Gewalt Bahn, ohne auf eine ſyſtematiſche oder
auch nur richtige Theorie der Geſetze zu warten; und ſo wie das ge-
ſchieht, wird nun dieß Creditvereinsweſen Gegenſtand einer ſelbſtändigen
Verwaltung, die naturgemäß, wenn auch keineswegs immer mit vollem
[252] Bewußtſein oder mit ſyſtematiſcher Ergründung, ganz richtig das Credit-
weſen und ſein Recht in dem Creditvereinsweſen und ſeinem Rechts-
leben ſucht. Auf dieſem Punkte ſteht unſere Gegenwart. Wenn auch
vielfach beirrt durch Streit der Theorie und Mißbrauch der Privilegien
und Statuten im Einzelnen, ſind dennoch die Grundzüge des öffent-
lichen Creditweſens unzweifelhaft klar erkennbar; wir reduciren dieſelben
als Baſis des Folgenden zunächſt auf zwei allgemeine Kategorien.
Die Organiſation des Credits bedeutet nämlich nicht etwa eine
von der Regierung ausgehende Einrichtung zur Creditirung auf Grund-
lage eines vom Staate dazu beſtimmten Capitals, ſondern diejenige
durch die wirthſchaftlichen Geſetze erzeugte Geſtalt des Creditvereins-
weſens, nach welchem für jede Art des Credits ſich — wenn auch lang-
ſam ſo doch ſicher — eine beſtimmte, den wirthſchaftlichen und geſell-
ſchaftlichen Funktionen deſſelben entſprechende Vereinsgruppe bildet.
Das Creditrecht iſt daneben diejenige Modifikation, theils des
bürgerlichen, theils des Vereinsrechts, welche durch das Weſen und
die wirthſchaftliche und geſellſchaftliche Funktion des Credits gefordert
und von Geſetzgebung und Verwaltung geſetzt wird.
Durch die allmählige Entwicklung des Credits aus dem Darlehen
einerſeits und des Creditvereinsweſens andererſeits entſteht die Ge-
ſchichte — und durch den Anſchluß des Creditrechts an die Organi-
ſation des Credits das Syſtem des Creditweſens, deſſen Elemente
folgende ſind.
Die Geſchichte des Credits beſchränkt ſich bis jetzt faſt nur noch auf die
Geſchichte des Wechſels und ſeines Rechts und auf die des Notenweſens
(ſ. unten). Die Polizeiwiſſenſchaft unſres Jahrhunderts hat dieſen Gegenſtand
nur etwas weitläuftiger behandelt, als die des vorigen. Dabei beſtehen ſehr
eingehende Arbeiten über die einzelnen Theile; ein großer Mangel iſt die
Nichtberückſichtigung des Vereinsweſens, welches der Creditorganiſation zum
Grunde liegt. Eine einheitliche und ſyſtematiſche Behandlung des Ganzen
mangelt vollſtändig.
Das Perſonal-Creditweſen beginnt da, wo in dem gewöhnlichen
bürgerlichen Darlehen ſich die erſten Momente der öffentlichen rechtlichen
Bedeutung des eigentlichen Credits zeigen. Während daher das Dar-
lehen noch ganz dem Privatrecht angehört, ſchließt ſich an jene Momente
die Verwaltung an, die auf ihren höchſten Stufen ſchon hier das Ver-
einsweſen und ſeine Funktion zur Geltung bringt.
Wir haben dabei den Darlehens- und den Pfand credit zu unter-
ſcheiden. Das Recht jedes derſelben hat ſeine eigene Geſchichte.
[253]
Das Darlehen iſt zunächſt ein rein privatrechtlicher Vertrag. Allein
der Keim ſeiner höheren Bedeutung liegt darin, daß in ihm der Beſitz
des Werthes als Geld in ſeiner Herrſchaft über den Beſitz des Gutes
zur Geltung kommt. Werth und Geld ſind unendlich und unbedingt
durch perſönliche Fähigkeit erwerbbar, das erworbene Geld wird zum
Geldcapital und beginnt nun ſich den Güterbeſitz zu unterwerfen, indem
es die Bedingungen vorſchreibt, unter denen es dem letztern dient, ohne
Rückſicht darauf, ob der Güterbeſitz und der Güterbeſitzer durch die
Erfüllung dieſer Bedingungen zu Grunde geht. Dieſe Bedingungen
faſſen wir zuſammen als den Zins. Der Zins kann daher größer
ſein als der Ertrag, den das Darlehen (durch den in ihm enthaltenen
produktiven Gebrauch des Geldcapitals) überhaupt geben kann. Wo
dieß der Fall iſt, ändert das Darlehen ſeine Natur und wird
aus einem Faktor der Produktion für die Empfänger zu einem Element
der Verzehrung ihrer Wirthſchaft, da der Zins ſtatt aus dem Ertrage
des Capitals aus dem Vermögen des Schuldners bezahlt werden muß.
Das Geben ſolcher Darlehen kann nun zu einem ſelbſtändigen im
Sonderintereſſe der Einzelnen auf jenen Erfolg berechneten Geſchäft
gemacht werden; es iſt kein Zweifel, daß ſolche Unternehmungen auf
die Ausbeutung des Einen durch den Andern berechnet ſind; und
ein ſolches, durch ſeinen Zins das Vermögen verzehrende Darlehens-
geſchäft iſt der Begriff des wirthſchaftlichen Wuchers.
Der wirthſchaftliche Wucher gehört nun unzweifelhaft dem Güter-
lehen an und ſteht zunächſt unter den Geſetzen deſſelben. Nach dieſen
Geſetzen ſtehen Sicherheit des Capitals und Höhe des Zinsfußes im
umgekehrten Verhältniß; wenn jene ſinkt, muß dieſer ſteigen, und
zwar ſteigt derſelbe alsdann ſo hoch, daß er, obwohl nationalökonomiſch
vollkommen gerechtfertigt, dieſelbe Höhe und mithin auch dieſelbe Folge
haben kann und muß, wie der wirkliche Wucher. Es ergibt ſich daraus,
daß auch die größte Höhe des Zinsfußes nicht an ſich einen
Wucher enthält, ſondern daß dieſe Höhe immer nur die Höhe der
Sicherheit für Capital und Zins ausdrückt. Die Zahlung eines
ſolchen Zinſes aber, der auf dieſe Weiſe eine Rückzahlungsprämie für
die Schuld enthält, wird daher zur abſoluten Bedingung des Darlehens,
ohne Rückſicht darauf, ob jener Zins das Vermögen des Schuldners
aufzehrt. Dieß Geſetz der Volkswirthſchaft kann nun in ſeiner Wirkung
durch kein Geſetz des Staats aufgehoben werden. Wenn daher die
ſtaatliche Geſetzgebung, um die Vernichtung des Vermögens durch die
Zinsforderung aufzuhalten, den Zinsfuß beſchränkt, ſo iſt die unab-
[254] weisbare Folge, daß entweder auch in der größten Noth kein Darlehen
gegeben oder der geſetzliche Zinsfuß umgangen wird. Es gibt kein
Mittel der Geſetzgebung oder Verwaltung, dieſe Folgen zu hindern.
Das erſtere aber iſt für den Schuldner noch verderblicher wie der hohe
Zins, das zweite untergräbt das Rechtsgefühl im Namen der National-
ökonomie und hindert die wirthſchaftlichen Folgen des Wuchers dennoch
nicht. Es ergibt ſich daraus, daß der volkswirthſchaftliche Wucher durch
ſtaatliche Maßregeln darum nicht zu bekämpfen iſt, weil man ihn nie-
mals von dem wirthſchaftlich berechtigten Zinsfuß ſcheiden kann. Alle
dahinzielenden Verſuche enden mit der völligen Erfolgloſigkeit derſelben.
Es kann als ein durch Jahrhunderte lange Kämpfe definitiv gewonnenes
Ergebniß angeſehen werden, daß jeder geſetzliche Zinsfuß geradezu
falſch und jede andere Beſchränkung des Darlehens nutzlos iſt.
Dennoch iſt der zu hohe Zinsfuß ein Uebel, der Wucher ein un-
ſittliches und gefährliches Element und das Streben, beide zu beſeitigen,
ein natürliches und berechtigtes. Es iſt aber klar, daß der nothleidende
Einzelne ſich nicht ſelbſt gegen jene Gefahr ſchützen kann, eben ſo wenig
vermag es die Regierung. Hier zuerſt tritt daher im Credit das Ver-
einsweſen auf. Es beſitzt allein die Fähigkeit, ohne Ausbeutung
der Noth den Zins nach ſeiner wirthſchaftlich gerechtfertigten Höhe zu
beſtimmen und das Darlehen zu geben. Die Hülfe gegen Wucher und
zu hohen Zins liegt daher im Creditvereinsweſen, und wir ſtellen
daher feſt, daß dieſes Creditvereinsweſen alle Wucher- und Zinsgeſetze
überflüſſig macht; wo der Creditverein nicht mehr helfen kann, iſt jede
Hülfe überhaupt vergebens; das Vereinsweſen allein iſt fähig und
beſtimmt, das geſammte Wucherrecht zu beſeitigen und auch hier der
Capitalsbewegung im Darlehen ſeine volle Freiheit wieder-
zugeben.
Wenn aber trotzdem die Wuchergeſetze bis auf die neueſte Zeit
beſtanden haben, ſo muß der Grund dafür, wie die Gewalt welche ſie
bewältigt hat, nicht in Nationalökonomie und Verwaltung, ſondern
wieder in der Geſellſchaft geſucht werden.
Die Geſchlechterordnung nämlich ſowohl als die Ständeordnung
beruhen auf dem Grundbeſitze; jene ganz, dieſe in allem Weſentlichen.
In beiden iſt die Stellung, die Ehre, ja das Recht jedes Einzelnen
durch ſeinen Grundbeſitz bedingt. Nun aber bietet der Grundbeſitz
zwar große Sicherheit des Capitals, aber er hat geringe Fähigkeit zur
Rückzahlung und zum Zinserträgniß; je höher der Zinsfuß, je ſchwerer
die Rückzahlung. Der Darleiher hat daher vermöge ſeines Rechts auf
Exekution gegen den Grundbeſitz, namentlich aber bei hohem Zins,
die ganze geſellſchaftliche und rechtliche Stellung des Debitors in der
[255] Hand. In der erſten Zeit der Geſchlechterordnung nun, wo die großen
Grundbeſitzer die Darleiher für die kleinen waren, wie in Rom und
Deutſchland, ward jenes Recht zur Sicherung und Ausdehnung der
Claſſenherrſchaft der beſitzenden über die mittlere und niedere Claſſe
gebraucht; es ſtimmte mit ihrem Intereſſe, und daher die furchtbare
Härte aller älteſten Schuldgeſetze. Als aber das Capital ſich neben dem
Grundbeſitze ſelbſtändig hinſtellt, und auch die herrſchende Claſſe Dar-
lehen gegen Zins empfängt, fühlt dieſelbe wiederum ſich in der Hand
der Geldbeſitzer, und die rechtliche Auffaſſung kehrt ſich um. So ent-
ſteht die Anſicht, daß gar kein Zins gegeben werden ſolle; als ſich
nun das Capital weigert, Darlehen ohne Zins zu geben, entſtehen die
geſetzlichen Zinsfüße einerſeits und andererſeits die Vorſtellung,
daß jedes Darlehen gegen einen hohen Zins ein (geſellſchaftliches)
Unrecht ſei (usuraria pravitas). Beide Elemente gewinnen nun die
feſte Geſtalt der Zins- und Wucher geſetzgebung mit dem Auftreten
der ſelbſtändigen Regierungsgewalt in den verſchiedenen Staaten Euro-
pas, namentlich mit dem ſechzehnten und ſiebenzehnten Jahrhundert,
weil eben die Regierungen allenthalben noch auf ſtändiſchen Grundlagen
ruhen und von ihnen umgeben ſind. An dieſe Geſetzgebungen ſchließt
ſich eine weitläuftige Wucherjurisprudenz, die bis auf die neueſte
Zeit dauert. Unterdeſſen entwickeln ſich Handel und Gewerbe. In dem
jungen Unternehmen wird die Möglichkeit des Verdienſtes mit dem ge-
liehenen Capital ſo groß, die Zahlung ſo wichtig, und die Sicherheit
der Darlehen oft ſo unbeſtimmbar, daß ein geſetzlicher Zinsfuß zu
einer wirthſchaftlichen Unmöglichkeit wird. Somit beginnt der Kampf
gegen den geſetzlichen Zinsfuß, der ſich aber noch auf das Gebiet der
wirthſchaftlichen Unternehmungen beſchränkt, während derſelbe ſich im
Realcredit noch unangegriffen erhält. Dieſe Epoche dauert bis zum
Anfang unſeres Jahrhunderts. Jetzt aber iſt die ſtändiſche Geſellſchaft
im Weſentlichen bewältigt, die öffentliche Stellung beruht nicht mehr
auf dem Grundbeſitz, das ganze volkswirthſchaftliche Leben iſt bereits
von der Nothwendigkeit des Credits durchdrungen, und der geſetzliche
Zinsfuß, mehr noch aber die eigentliche Wuchergeſetzgebung treten in
ſcharfen Gegenſatz zu dem erſten Bedürfniß der ſich neuentwickelnden
Geſellſchaftsordnung, der freien Bewegung von Credit und Capital,
die durch die beſtändig ſteigende Creditbenützung der Grundbeſitzer den
Grundbeſitz auch wirthſchaftlich allen andern Gebieten gleichſtellt. Jetzt
wird die Zinsgeſetzgebung in ihrem Fundamente angegriffen; der volks-
wirthſchaftliche Widerſpruch, der in ihr liegt, wird der Ausgangs-
punkt des Kampfes; aber noch ſteht der völligen Freiheit der Capitals-
bewegung die Furcht vor ihren Folgen, namentlich in den Fällen
[256] wirthſchaftlicher Noth entgegen. Da nun beginnt namentlich ſeit der
Mitte unſeres Jahrhunderts, die neue Bewegung auf dem Gebiete des
Vereinslebens; der Credit wird eine der Hauptgegenſtände der Vereins-
unternehmungen; mit ihnen verſchwindet nun auch der letzte Halt für
Zins- und Wuchergeſetz, und auf allen Punkten in Europa wird die
Capitalsbewegung vollſtändig freigegeben, ſo daß die letzten Reſte des
früheren Standpunktes mit dem vollſtändigen Siege der ſtaatsbürger-
lichen Geſellſchaft nach einander beſeitigt werden. Es iſt einer der
größten Siege, den die letztere durch ihr Vereinsweſen in der Geſchichte
errungen hat; mit ihm gibt es kein öffentliches Recht des Dar-
lehens mehr, ſondern nur noch ein Privatrecht deſſelben.
Die Literatur und Geſetzgebung über Zins und Wucher iſt ſo reich, daß
man ſie nur dann beherrſcht, wenn man ſie von dem obigen Standpunkt aus
als einen in ſich weſentlichen Entwicklungsproceß betrachtet (ſ. Stein in
Haimerls Magazin Bd. XIV. Heft 3, als erſter Verſuch, die Wuchergeſetz-
gebung auf die geſellſchaftlichen Beſitzverhältniſſe zurückzuführen). Sehr gute,
aber vom Standpunkt der Vertheidigung des Wuchers aufgefaßte Geſchichte der
Geſetzgebung bei Th. Rizy, über Zins- und Wuchergeſetze 1859. S. 35 ff.
Die großen Epochen der legislativen Entwicklung ſind folgende. Aelteſte Zeit:
äußerſte Strenge der Schuldgeſetze: der Schuldner ward Knecht „zu Hand und
Halfter“ (Sachſenſpiegel III. 39; Grimm, Reichsalterthümer S. 612 ff.).
Zweite Epoche. Standpunkt der Kirche: Verdammung nicht bloß des Wuchers,
ſondern der Zinszahlung überhaupt (C. 2. X. de pignoribus,Buckle, Hist.
of Civ. I. 215); daneben große Unſicherheit in den Beſtimmungen der Landes-
herrn über die Berechtigung Zins zu nehmen; Auffaſſung und Verleihung der
letzteren als Privilegium, namentlich an die Juden (ſ. Rizy a. a. O.
S. 69 ff.). Dritte Epoche: ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert mit der Ent-
wicklung des Verkehrs die Nothwendigkeit, allgemein gültige Beſtimmungen
dafür aufzuſtellen. Geſetzlicher Zinsfuß in Frankreich von 8½ Proc. (1567)
bis auf 5 Proc. (Ord. Dec. 1655 auf 5 Proc.). — In England durch 37.
Henry III. 9. das verzinsliche Darlehen mit 10 Proc. beſtätigt durch 13. Elis. 9;
bis das Stat. 12. Ann. 16 einerſeits den geſetzlichen Zins auf 5 Procent feſt-
ſtellt, andererſeits aber ſtrenge Wucherſtrafen ausſpricht (völlige Ungültigkeit
der Verträge und dreifacher Betrag des Darlehens). Stephens, New Com-
mentaries 182. v. II. 141. — In Deutſchland nach manchen örtlichen
Bewegungen (Oeſterreich bei Rizy S. 76 ff.) die allgemeine Feſtſtellung des
5proc. Zinsfußes im Reichsabſchd. von 1654. Die vierte Epoche ward ein-
geleitet durch die neue nationalökonomiſche Anſchauung der Engländer, von
Culpepper (A treaty against the high rate of usery 1623); Chill
(ſ. Roſcher, Geſchichte der engliſchen Nationalökonomie 1851) und namentlich
Locke, fortgeſetzt durch die Phyſiokraten, vorzüglich Turgot, Mém. sur les
prêts d’argent à interêt 1769 (Econ. fr.DaireV. 278) und durch Adam
Smith eigentlich definitiv begründet, der den Zins als Preis des Capital-
[257] gebrauches den wirthſchaftlichen Geſetzen unterordnet (vergl. Roſcher a. a. O.).
BenthamsDefense of usery 1787 formulirte die Sache dialektiſch. Daraus
ging der erſte Verſuch hervor, die Wuchergeſetze ganz aufzuheben; zuerſt in
Oeſterreich durch Joſeph II. und (Patent vom 29. Jan. 1787; vergl. nament-
lich Rizy S. 98 ff.); dann die faktiſche, wenn auch nicht formelle (Rizy
S. 124 und 145 ff.) Beſeitigung des Wuchergeſetzes durch die verſchiedenen
Geſetze von 1791 bis 1796. (Rizy S. 136). — England bleibt bei bloßen
Erleichterungen des Zinsweſens ſtehen (5. 8. G. III. 93); doch wird die Auf-
hebung alles geſetzlichen Zinsfußes für Wechſel bis auf zwölf Monate durch
1. Vict. 80. (1837) anerkannt; Aufhebung der Wuchergeſetze erſt 17. 18. Vict. 90.
Allein dieſer noch rein negative Kampf hat keinen dauernden Erfolg; in Oeſter-
reich neues Wucherpatent vom 2. Dec. 1803; in Frankreich nach harten Kämpfen
das Wuchergeſetz Napoleons I. vom 3. Sept. 1807; in Italien eingeführt durch
Decret vom 31. Okt. 1807. Dem entſprechend halten im Anfange unſeres
Jahrhunderts die deutſchen Geſetzgebungen nicht bloß den Grundſatz der
Zinsgeſetzgebung feſt, ſondern führen auch die peinliche Beſtrafung des
Wuchers in den neuen Strafgeſetzbüchern durch. — Preußen: Allgem. Land-
recht §. 1273 und Strafgeſetzbuch Art. 263; ähnlich in Württemberg und
Baden, jedoch vorſichtiger; Hannover und Oeſterreich: Strafgeſetzbuch
1852; vergl. Lotz, Staatswiſſenſchaftslehre II. 283; RauII. 319. 320; Braun
und Wirth, die Zinswuchergeſetze 1856 S. 174 ff. Unterdeß bereitet ſich die
Umgeſtaltung des Verkehrs auf allen Punkten vor, und ſeit dem Jahre 1848
erſcheint das Vereinsweſen als die neue Creditorganiſation der ſiegenden freien
Geſellſchaft. Jetzt iſt der poſitive Boden für die Freiheit des Credits gefunden,
und nunmehr hebt ein Staat nach dem andern ſowohl den geſetzlichen Zinsfuß
als die Wucherſtrafe auf. England ging voran mit 2. 3. Vict. 37. (1839);
dem die definitive und durchgreifende Aufhebung des Wuchergeſetzes der Königin
Anna durch 17. 18. Vict. 90. (1854) folgte. Während nun Frankreich bei
ſeinem Geſetze von 1807 einfach ſtehen blieb, haben Preußen und Oeſter-
reich unter gleichzeitiger energiſcher Entwicklung des wirthſchaftlichen Vereins-
weſens ihre Wuchergeſetzgebungen beſeitigt; Aufhebung der Lex Anast.
(Geſetz vom 1. Febr. 1864); in Preußen und Hannover: Geſetz vom
2. Juni 1864. Dann Aufhebung aller Zinsbeſchränkungen für Darlehen
ohne Immobilienſicherheit (Verordnung vom 12. Mai 1866).
Der Pfandcredit entſteht, im Gegenſatz zum Darlehenscredit
da, wo das Suchen nach einem Darlehen auf perſönlicher Noth beruht,
und demnach die perſönlichen Verhältniſſe des Schuldners keine Sicher-
heit für Zins und Capital bieten. Hier macht daher die Noth die
Gefahr der Ausbeutung viel größer als bei dem Darlehen, die Aus-
beutung ſelbſt aber, da in dem Pfande doch die Sicherheit für Capital
und Zins geboten iſt, erſcheint um ſo härter, indem der ganze
Pfandcredit der Regel nach nur in den niederen, nichtbeſitzenden
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 17
[258] Claſſen der großen Städte vorkommt. Der Gewinn, den derſelbe
bietet, erzeugt das Pfandleihgewerbe; die Gefahr, die mit ihm verbun-
den iſt, hat dieſes Gewerbe theils unter ſtrenge gewerbliche Oberauf-
ſicht geſtellt (Conceſſionsſyſteme), theils aber nach dem Muſter der
Monts de Piété die Stadtgemeinden veranlaßt, ſelbſt ſtädtiſche Pfand-
häuſer mit eigener öffentlicher Einrichtung aufzuſtellen, was der Regel
nach mit ſtrengem Verbot gegen private Pfandleihanſtalten verbunden
wird, bis endlich in neueſter Zeit auch hier das Vereinsweſen aufge-
treten iſt, und ſich als die beſte Form der Hülfe bewährt.
Das öffentliche Recht dieſer Anſtalten beruht nun darauf, daß
der möglichſt niedrige Zins für das Darlehen erzielt werde; daraus folgt,
daß die Verwaltung den Anſtalten diejenige Sicherheit für ihre Dar-
lehen geben muß, welche ſie durch die eigene Verwaltung nicht erzielen
können. Das nun geſchieht durch die Grundſätze, auf denen das ganze
öffentliche Pfandleihhausweſen beruht; erſtens bekommen ſie an den
Pfandobjekten durch die Uebergabe das Recht auf ihre conceſſions-
mäßige Veräußerung ohne Rückſicht auf den Urſprung des Be-
ſitzes von Seiten des Verpfänders; zweitens übernehmen ſie dafür die
Pflicht der öffentlichen Verſteigerung; ihr Zinsfuß iſt geſetzlich normirt,
und ihre Papiere (Verſatzſcheine) ſind Inhaberpapiere. Es iſt klar, daß
dieſe Rechte den conceſſionirten Privatleihhäuſern nicht gegeben werden
können, und daß andererſeits bei der örtlichen Bedeutung dieſer Anſtalten
dieſelben ſtets unter der Oberaufſicht der Städte ſtehen ſollen.
Entſehen der öffentlichen Ordnung mit der Noth in den großen Städten;
Anfang bereits im vierzehnten Jahrhundert; Entwicklung namentlich in Ita-
lien; zur ſyſtematiſchen Ausbildung jedoch erſt in Frankreich und Deutſchland;
vergl. Laferrière, Droit publ. et admin. I. 1. 2; Wanderung von Italien
1491, nach Flandern; Statut Ludwigs XIV. in Frankreich; 1771 zuerſt in
Paris; 1707 in Wien, neue Organiſation 1765 daſelbſt. Im vorigen Jahrhundert
noch rein als polizeiliche Inſtitute gegen den Wucher betrachtet (vergl. Mar-
perger, Mons pietatis oder Leihaſſiſtenz oder Hülfshäuſer, 2. Aufl. 1760.
In Paris unter Ludwig XIV. mit 15 Proc. Zins; ſpäter 10 Proc.; gegen-
wärtig 9 Proc.; der Ueberſchuß erfällt an die Hospices (Laferrière a. a. O.)
Berg, Polizeirecht I. 379 und vorzüglich Bergius, Magazin IV. 188. Mit
dem Entſtehen des Claſſengegenſatzes in den großen Städten Verbindung mit der
neuen Lehre von der Armuth (Gerando, Bienf. publ. III. 13); eine ziemlich
reiche ſelbſtändige Literatur; namentlich Blaize, des Monts-de-piété et des
banques de prête sur gage 1843 und 1856. Recht: Laferrière, Droit publ.
et admin. I. 1. 2 (Geſetz vom 24. Juni 1851), als cause d’utilité publique
anerkannt. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 332. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I.
§. 58. Oeſterreich (StubenrauchII. 214); neueſte Ordnung von 1864;
Preußen (RönneII. §. 402, Conceſſionsweſen) Pözl, Verwaltungsrecht §. 123.
[259]
Bei dem Realcredit betritt die Verwaltung nun einen ganz anderen
Boden.
Der Realcredit iſt undenkbar ohne das Verſtändniß des national-
ökonomiſchen Satzes, daß der Werth auch von dem einzelnen beſtimm-
ten Gute geſchieden, und in dieſer ſeiner Selbſtändigkeit umlaufen
und benutzt werden kann. Da wo das geſchieht, iſt nun das einzelne
beſtimmte Gut, deſſen Werth von ihm geſchieden und ſelbſtändig ein
Eigenthum und Beſitz eines andern iſt, das Pfand; der Erwerb des
Werthes durch die Hingabe des Darlehens geſchieht, indem das Dar-
lehen als Kaufpreis des Werthes und die Uebertragung des letzteren
an den Käufer als die Pfandbeſtellung erſcheint; das ſo entſtandene
Eigenthum am Werthe iſt als Schuld (oder Forderung) die Pfand-
ſchuld, die wir lieber gleich die Hypothek nennen; und die rechtliche
Beſtimmung des Verhältniſſes zwiſchen beiden iſt das Pfand-
recht, oder in ſpecieller Beziehung auf die Immobilien das Hypo-
thekenrecht.
Dieſe Möglichkeit nun, den Werth von dem Gute durch das
Pfandrecht zu ſcheiden, und dem erſteren einen andern Eigenthümer
zu geben als dem letzteren, iſt nun für die Volkswirthſchaft von höch-
ſter Wichtigkeit. Denn während das Gut für ſich ſeine Produktivität
behält, gewinnt der ſelbſtändige Werth eine zweite neben jenem; es
verdoppelt ſich der Stoff für die menſchliche Arbeit, und damit der
Fortſchritt des wirthſchaftlichen Lebens. Allerdings nun iſt es kein
Zweifel, daß dieſer Proceß der Scheidung von Gut und Werth in der
Hypothek zuerſt von dem Einzelnen ausgeht und ſein Bedürfniß befrie-
digt; allein daß jeder dieſen Proceß je nach ſeiner perſönlichen und
wirthſchaftlichen Individualität vornehmen könne, iſt eine der großen
Forderungen des allgemeinen wirthſchaftlichen Intereſſes. Das nun
aber hat gewiſſe Bedingungen, welche weder allein von dem Gläubiger
noch von dem Schuldner erfüllt werden können. Es iſt daher eine
weſentliche Aufgabe der Verwaltung, dieſe Bedingungen herzuſtellen,
und die Geſammtheit derjenigen Geſetze, Maßregeln und Anſtalten,
durch welche jene Bedingungen wirklich hergeſtellt werden, bilden das
Realcreditweſen.
Dieſe Bedingungen theilen ſich nun in zwei große Gruppen. Die
erſte dieſer Gruppen umfaßt die Geſammtheit aller Vorausſetzungen
für die Sicherheit der Hypothek, die zweite dagegen bezieht ſich
auf die Herſtellung eines, für die Anlage in Hypotheken beſtimmten
[260]Capitales. Aus dem erſten geht dasjenige hervor, was wir das Grund-
buchsweſen nennen, aus dem zweiten das Vereinsweſen des
Realcredits, der die Organiſirung des Realcredits enthält und
daher auch wohl das Realcreditweſen im eigentlichen Sinne heißt.
Vor allem mangelt auch hier die einheitliche Auffaſſung in der bisherigen
Literatur; aus naheliegenden Gründen haben Nationalökonomie und Volks-
wirthſchaftspflege ſich faſt nur mit dem eigentlichen Realcredit beſchäftigt, und
das Grundbuchsweſen der ſtrengen Jurisprudenz überlaſſen. Es iſt klar, daß
dieß falſch iſt; das Grundbuchsweſen beruht in allen Punkten auf öffentlichem
Intereſſe und nicht auf Privatrecht; mit Recht interpretirt die Jurisprudenz
ſeine geſetzlichen Beſtimmungen, aber verſtehen kann es nur die Verwaltungs-
lehre durch Verſtändniß der Gründe, welche es ſelbſt erzeugt haben. Bericht
des volkswirthſchaftlichen Congreſſes zu Cöln über die Zuſtände des Real-
credits (Sachſen und Oeſterreich) 1866.
Unterſchied vom Pfandrecht.
Es iſt allerdings kein Zweifel, daß jedes Darlehen auf Hypothek
als Kauf des Werthes eines unbeweglichen Gutes zunächſt ein bürger-
licher Vertrag iſt, der alle Vorausſetzungen und Rechte eines ſolchen
enthält. An ſich iſt es daher Sache jedes Einzelnen, ſich aller juriſti-
ſchen und wirthſchaftlichen Bedingungen des Eigenthumserwerbes an
dem Werthe des Immobile zu vergewiſſern, nicht anders wie bei jedem
andern Kaufvertrage. Es iſt ſeine Sache, die Bedingungen für
ſein Darlehen ſowohl in juriſtiſcher als wirthſchaftlicher Beziehung ſo
zu ſtellen, wie er es für nöthig hält; die Verwaltung hat ihn in
dieſem ſeinem Rechte nur ſo weit zu ſchützen, wie in jedem andern;
ſie hat zunächſt für das Kaufrecht des Werthes kein anderes Recht
aufzuſtellen, als für jedes andere; das Darlehen iſt ein gewöhnliches
Geſchäft, das Gericht wahrt daſſelbe, ſo weit es erworben iſt, aber
Sicherheit, Gewinn und Verluſt und wirthſchaftliche Folgen gehen die
Verwaltung auf dieſem Punkte gar nichts an. Die Geſammtheit aller
Rechtsverhältniſſe, die ſich daraus ergeben, bilden das, was die Juris-
prudenz das Pfandrecht nennt.
So wie aber mit dem Auftreten der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft
der ſelbſtändig werdende Werth ſeine Funktion beginnt, beginnen auch die
Bedingungen, unter denen der Einzelne ein Darlehen auf Immobilien
gibt, eine öffentliche Bedeutung zu gewinnen. Und jetzt entſteht daher
die Frage, zuerſt welches dieſe Bedingungen ſind, und zweitens ob
und was die Geſetzgebung und Verwaltung dafür thun kann, um ſie
in ſo weit herzuſtellen, als der Einzelne ſelbſt es nicht vermag.
[261]
Nun ſind dieſe Bedingungen zwar im Allgemeinen leicht klar,
allein es iſt keineswegs einfach, ſie im Einzelnen in der Art auszu-
führen, daß ſie ihren öffentlichen Zweck erreichen, ohne die Freiheit
des individuellen Verkehrs zu beſchränken. Es kommt deßhalb darauf
an, ſie zuerſt in Princip und Begriff zu bezeichnen, und dann ſie zu
ihrem elementaren Syſteme zu entwickeln.
Wenn dereinſt das römiſche Recht im deutſchen Rechtsbewußtſein ſeine rich-
tige Stellung eingenommen haben wird, wird es eine unabweisbare Aufgabe
für das römiſche Pfandrecht werden, ſich und Andern zum Bewußtſein zu
bringen, daß es ſelbſt im Realcredit nur eine höchſt beſchränkte, weſentlich
hiſtoriſch intereſſante Stellung einnimmt, und jeder Rechtslehrer wird damit
beginnen oder damit ſchließen, daß erſt im Grundbuchsweſen, welches er weder
im Corpus Juris finden noch ins Römiſche überſetzen kann, das höhere Recht
des Realcredits liegt; bis dahin muß das Verwaltungsrecht allein ausreichen.
Princip und Begriff des Grundbuchsweſens.
Die Geſammtheit aller einzelnen Forderungen, welche der Dar-
lehengeber aufſtellen muß, um auf ein Immobile ein Darlehen zu
geben, laſſen ſich zuſammenfaſſen in dem Begriffe der Sicherheit für
Capital und Zins. Dieſe Sicherheit liegt nun zwar zuerſt in dem
guten Willen des Schuldners und der Gültigkeit des Vertrages, und
für beide haben die Contrahenten zu ſorgen. Allein die beiden Haupt-
vorausſetzungen der Sicherheit liegen nicht innerhalb des Vertragsrechts.
Dieſe nun ſind die objektive Gewißheit einerſeits dafür, daß der
Schuldner auch wirklich Eigenthümer des Pfandes und ſeines
Werthes ſei, und andererſeits dafür, daß durch das Darlehen als
Kauf des Werthes auch dieſer Werth wirklich als Eigenthum zu voller
Dispoſitionsfreiheit dem Gläubiger erworben werde.
Bei genauerer Betrachtung nun löſen ſich dieſe Forderungen wie-
der in ganz beſtimmte einzelne Fragen auf. Die Frage nach dem
Eigenthumsrecht des Schuldners enthält zuerſt die Frage, wer über-
haupt das Eigenthumsrecht an dem betreffenden Immobile hat; dann
die zweite Frage, welche einzelne Güter dieſem Eigenthümer ange-
hören, da das Pfandrecht ſtets als Eigenthumsrecht nur an einem be-
ſtimmten Gute beſtehen kann, und drittens die Frage, ob überhaupt
auch der Werth vorhanden iſt, der durch die Pfandbeſtellung Eigen-
thum des Gläubigers wird. Die letztere Frage ſcheidet ſich wieder in
die, wie viel von dem überhaupt vorhandenen Werth bereits in das
Eigenthum Dritter übergegangen iſt, ſei es als Steuern, ſei es als
Laſten und Servituten, ſei es als Hypothek; und die, wie groß der
Werth des Immobile an ſich ſei. Die Forderung der Sicherheit des
[262] durch die Pfandbeſtellung erworbenen Eigenthums am beſtimmten
Werth enthält wieder die Frage, wie dieſes Eigenthumsrecht gegen
Dritte unbedingt, wie jedes Eigenthum an einem Gute, geſchützt wer-
den könne, ſo daß einerſeits das Recht auf den Werth als ſolchen,
andererſeits das Recht auf den Zins (Gebrauchswerth des Darlehens)
ſowohl gegenüber dem Eigenthümer als den dritten Gläubigern objektiv
feſtſtehe. Es iſt klar, daß alle dieſe Forderungen durch den bloßen
Willen der beiden Contrahenten zwar zwiſchen ihnen, nicht aber gegen-
über Dritten mit objektiver Gültigkeit erfüllt werden können, und den-
noch die Bedingung eines billigen Darlehens ſind; denn werden ſie
nicht erfüllt, ſo wird nach den wirthſchaftlichen Geſetzen über die
Zinshöhe die mangelnde Sicherheit durch hohen Zins erſetzt werden
müſſen. Die Verwaltung muß daher Anſtalt treffen, um denſelben
durch ihre Maßregeln nachzukommen. Und diejenige Einrichtung nun,
welche die obigen Forderungen erfüllt, nennen wir das Grundbuchs-
weſen.
Von dieſem ſpecifiſchen Begriffe des Grundbuchsweſens bildet der Verſuch,
Pfandſcheine einzelner Beſitzer auf Inhaber auszuſtellen, einen unvollkom-
menen Uebergang zu den eigentlichen Realcreditanſtalten, und iſt nur durch
den Mangel derſelben zu erklären und zu vertheidigen (vergl. darüber Maſcher
a. a. O. S. 750 ff.).
Elemente der Geſchichte des Grundbuchsweſens.
Die Geſchichte des Grundbuchsweſens, ſehr reich an Einzelnheiten,
iſt im Großen und Ganzen ſehr einfach.
Das Entſtehen des Grundbuchsweſens beruht darauf, daß erſtlich
der Werth als ein ſelbſtändiges Element neben dem Gute als fähig
erkannt werde, auch ein ſelbſtändiges Objekt des Eigenthums und des
Verkehrs zu ſein; zweitens darauf, daß es eine Verwaltung gebe,
welche die Entwicklung des Verkehrs für ihre Aufgabe hält. So lange
beides nicht da iſt, gibt es zwar eine Pfandſchuld, aber kein Grund-
buchsweſen.
Beides nun war weder im römiſchen noch im alten germaniſchen
Recht der Fall. Beide haben die Pfandſchuld überhaupt nur als ein
Vertragsverhältniß der Contrahenten aufgefaßt, und daher auch es
ganz den Betheiligten überlaſſen, für die Sicherheit zu ſorgen. Das
Immobiliarpfandrecht iſt ein reines Privatrecht.
Das Grundbuchsweſen beginnt vielmehr erſt da, wo vermöge des
ſtändiſchen Rechts die landtaflichen Grundſtücke durch Execution für den
bürgerlichen Erwerber nicht erſtanden werden können, und daher das
Darlehen nur gegeben wird, wenn es ein ſelbſtändiges Recht
[263] neben dem Grundſtück ſelbſt empfängt. Dieß geſchieht durch öffentliche
Anerkennung der Schuld vermöge der Landtafel. Das iſt die erſte
Epoche des Grundbuchsweſens. Sie hat nur noch mit der Pfandſchuld
zu thun; das Eigenthumsrecht liegt außerhalb ihrer Sphäre. Daran
ſchließt ſich die erſte wiſſenſchaftliche Behandlung in dem (germaniſchen)
Privatrechte in England, Frankreich und Deutſchland.
Die zweite Epoche beginnt im achtzehnten Jahrhundert mit dem
allgemeineren Bedürfniß der Landwirthſchaft nach Geldkapital. Die
Nothwendigkeit des letzteren für die erſtere, namentlich durch die Kriege
hervorgebracht, wird ſo groß, daß die Verwaltungen beginnen, die
Bedingungen der öffentlichen Sicherheit des Darlehens ihrerſeits her-
zuſtellen, und die Grundſätze der Pfandſchuld auch auf das Eigenthums-
recht auszudehnen. So entſteht aus der Landtafel das Grundbuch.
Noch aber iſt der Verkehr überhaupt, alſo auch der Verkehr im
Werth, kein allgemeiner. Das Bedürfniß iſt ein örtliches; daher behält
auch das Grundbuch ſeine durchaus örtliche Geſtalt. Ja in England
und Frankreich kommt es überhaupt noch zu keinem Grundbuchsweſen;
nur in den deutſchen Staaten entwickelt ſich daſſelbe. Aber auch hier
iſt es ganz auf die Intelligenz der Regierungen angewieſen, und tritt
daher in ſelbſtändiger und rationeller Form als eigene „Hypotheken-
geſetzgebung“ nur in Preußen und Oeſterreich auf (preußiſches Hy-
potheken-Geſetz von 1783 auf Grundlage der erſten Verſuche ſeit
1722; in Oeſterreich Hypothekengeſetze für die einzelnen Kronländer,
Grundbuchs-Ordnung in der Manz’ſchen Geſetzausgabe), während die
übrigen deutſchen Staaten ſich begnügen, daſſelbe bloß in ihren Landes-
rechten aufzunehmen (vgl. Mittermaier, deutſches Privatrecht I. §. 261).
Die Folge davon iſt, daß das entſtehende Grundbuch ſich mit wenigen
Ausnahmen auf die öffentlichen Bedingungen der Sicherheit des Einzel-
darlehens beſchränkt, ohne noch einen höheren Standpunkt anzu-
nehmen.
Erſt mit dem völligen Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft in
unſerem Jahrhundert, die in ihrer wirthſchaftlichen Grundlage auf dem
ſelbſtändigen Werth und Credit beruht, ſiegt die Anſicht, daß das
Grundbuchsweſen den Bedürfniſſen des Credits überhaupt zu entſprechen
habe, und daher ein allgemeines, alle Punkte umfaſſendes und
gleichartiges ſein müſſe. Dieſe Erkenntniß iſt jetzt allgemein.
Frankreich und zuletzt ſogar England erkennen es, und haben daher
jedes in ſeiner Weiſe das Grundbuchsweſen geſetzlich eingeführt. Allein
zwei Gründe haben bisher die volle Entwicklung dieſer Verwaltungs-
anſtalt gehindert. Erſtlich iſt es ſehr ſchwierig, ein einmal eingeführ-
tes Grundbuchsſyſtem zu ändern; zweitens aber hatte der hiſtoriſche
[264] Gang der Dinge die ganze Grundbuchsfrage vorwiegend zu einer
juriſtiſchen gemacht, ſo daß es ſich in der Grundbuchsliteratur ſeit
fünfzig Jahren mehr um die Interpretation des beſtehenden Rechts
als um die wirthſchaftlichen Grundſätze deſſelben handelte. Daher finden
wir bei großer Uebereinſtimmung in den Principien eben ſo große
Unterſchiede in ihrer Durchführung. Doch führt die Vergleichung
zu folgenden allgemeinen Ergebniſſen.
Deutſchlands Grundbuchsweſen ſcheidet ſich in zwei große
Gruppen, von denen die erſte, an deren Spitze Preußen und
Oeſterreich ſtehen, ſowohl das volle Syſtem des Grundbuchs als das
der Legalität wenigſtens principiell ausgebildet haben, obgleich in den
einzelnen Provinzen wieder unvollkommene Syſteme herrſchen. An
beide ſchließen ſich namentlich Sachſen und Bayern, während andere
wie Hannover und Naſſau Beſonderheiten mannigfacher Art darbieten.
Die zweite Gruppe iſt die vorwiegend ſächſiſche, welche zwar das Hypo-
theken-, nicht aber das Grundbuchsweſen und ſeine Legalität ausgebildet
hat. Die neueſte Zeit hat viele Beſtrebungen nach Einheit gezeigt,
ohne doch zu einem Reſultate zu gelangen.
Frankreich hat ein Grundbuchsweſen, das in der Mitte zwiſchen
beiden ſtehend, die volle Legalität nur für die Hypothek anerkennt, und
die Priorität durch die geſetzlichen Pfandrechte zur Hälfte vernichtet;
dem franzöſiſchen Pfandrecht ſchließen ſich das badiſche und rheiniſche an.
Englands Grundbuchsweſen hat weder die volle Legalität, noch
die volle Priorität, noch auch die Publicität, ſondern iſt bloß auf
Sicherheit der einzelnen dinglichen Rechte berechnet.
Auf dieſe Kategorien laſſen ſich nun die übrigen geltenden Ord-
nungen leicht zurückführen; jedoch muß die Grundlage dafür das Syſtem
der Grundbuchsordnung und des Grundbuchsrechts ſein, deſſen Elemente
folgende ſind.
Deutſchland. Die Literatur über das Grundbuchsweſen theilt ſich
in drei Gruppen. Die erſte beſteht aus den Interpretatoren der betreffenden
bürgerlichen Geſetzbücher, die zweite in der hiſtoriſchen Behandlung namentlich
im deutſchen Privatrecht, die dritte ſparſame aus den Verſuchen einer volks-
wirthſchaftlichen Behandlung derſelben. Munde, Patriotiſche Phantaſien S. 225;
Meck, das deutſche Credit- und Hypothekenweſen 1831. 2 Theile. Dünkel-
berg, Landwirthſchaft und Capital 1860. Reiches Material bei Mitter-
maier, deutſches Privatrecht §. 201 ff. — Preußen: Erſte allgem. Hypotheken-
ordnung vom 4. Febr. 1722. Neue Ordnung beſchloſſen 1751; daraus die
von Suarez entworfene Hypothekenordnung vom 20. Dec. 1783, die noch gegen-
wärtig gilt, und Allgem. Landrecht I. 10; Führung der Grundbücher (In-
ſtruktion vom 2. Jan. 1849). Rönne, Staatsrecht II. §. 321. Neues Geſetz
ſpeciell das Grundbuchsverfahren betreffend vom 24. März 1853. Ausführlich
[265] bei Maſcher, das deutſche Grundbuch- und Hypothekenweſen 1869. Cap. 7).
Daneben die verſchiedenen Syſteme, die im preußiſchen Staate gelten, und
weit hinter der Hypothekenordnung von 1783 zurückſtehen. — Oeſterreich;
Geſchichte: L. Haan, Studien über das Landtafelweſen 1866, höchſt gründlich;
Chlumetzky, die Landtafel von Mähren 1856. Die allgemeinen Principien
für das Grundbuchsrecht im Allgem. bürgerl. Geſetzbuch §. 331—446, die aber
nur die Rechtsprincipien der Einverleibung betreffen, daneben Commentare von
Winiwarter und Protabevera; jedes Kronland hat dann ſeit dem vorigen Jahr-
hundert ſeine ſpecielle Grundbuchsordnung (ſ. StubenrauchII. §. 411).
Geiſtreich und gründlich, wenn auch etwas kurz, namentlich Franz Neumann,
der landwirthſchaftliche Credit in Oeſterreich 1864 (aus der öſterr. Revue 1864).
Die übrigen Staaten haben theils mit unſerem Jahrhundert ſelbſtändige Hypo-
thekenordnungen: Bayern (Hypothekenordnung vom 1. Juni 1822); Württem-
berg (Geſetz vom 15. April 1825); theils beſtehen die alten höchſt unfertigen Hypo-
thekenordnungen des vorigen Jahrhunderts noch fort. Mittermaier a. a. O.
§. 262. 363. — K. Sachſen: Ordnung des Grundbuchsweſens (Verordnung
vom 9. Jan. 1865). In der rationellen Vergleichung iſt die deutſche Literatur
noch hinter der franzöſiſchen und engliſchen zurück. Ausführliche, aber principloſe
Zuſammenſtellung aller deutſchen Hypothekenordnungen bei Maſcher a. a. O.
Cap. 7—28. — Hannover: Hypothekengeſetz vom 14. Dec. 1864 (Vollzugs-
verordnung vom 22. März 1865).
Frankreich. Recht bis zur Revolution: Loiſel, Institut. coutumières
II. 51. Basnage, Traité des hypothèques 1788. Das gegenwärtige Recht
beruht theils auf dem Code Civil L. II. T. XVIII., der auf der Hypotheken-
ordnung vom 5. Sept. 1804 beruht. Commentare der erſten von Troplong
und Guichard. Sehr charakteriſtiſche Kritik des franzöſiſchen Hypotheken-
weſens von Foelix: Gebrechen des franzöſiſchen Hypothekenweſens, Zeitſchrift
für Rechtswiſſenſchaft des Auslandes Bd. II. 1836. Vergleichende Darſtellungen
nebſt Text von St. Joſeph, kritiſche Zeitſchrift für Rechtswiſſenſchaft des
Auslandes Bd. XX. S. 101 und Pierre Odier, des systèmes hypothé-
caires 1840. Verhandlungen über die Hypothekarreform in der Assemblée
nationale 1848; Anſchütz in der citirten Zeitſchrift Bd. XXIII. Neueſte Be-
wegung namentlich durch den Crédit foncier angeregt; vorzüglich Wolowsky
in der Revue de lég. et jurispr. 1852.
England. Früheres Recht in BlackſtoneII. C. 10. Beginn der
Studien und Unterſuchungen ſchon im vorigen Jahrhundert; vergebliche Ver-
ſuche, Grundbücher geſetzlich einzuführen ſchon ſeit 1652; neue Bewegung in
dieſem Jahrhundert: Humphrey, Actual state of the English laws of real
property 1825; Hayes, A Popular view of the law of real property 1831.
Niederſetzung eines Committees des Parlaments, und deſſen zwei Reports mit
genauer Vergleichung der beſtehenden Hypothekenordnungen in den verſchie-
denen Staaten Europas 1830 (vergl. über den Inhalt Mittermaier in
der kritiſchen Zeitſchrift Bd. IV. 1832). Nach vielen Kämpfen dann die neuen
Hypothekengeſetze 25. 26. Vict. 53 und 67; jedoch ſtreng auf dem Stand-
punkt des Einzelcredits (vergl. Auſtria 1864. Nr. 45). Weitere Entwicklung
[266] dieſes erſten Beginns in der Mortgage debenture Act 1865 28. 29. Vict. 78.
Die neueſte Bewegung in Deutſchland arbeitet nun kräftig dahin, in die höchſt
unfertigen und ungleichartigen Syſteme der deutſchen Geſetze vor allen Dingen
Einheit zu bringen. In Oeſterreich bereits Berathungen in dieſem Sinne
ſeit 1851 (Stubenrauch II. 411). In Preußen Entwurf von Forkenbeck und
Henning 1852 (Maſcher S. 159 nebſt Literatur) und Regierungsentwurf von 1864.
Die Schwierigkeit liegt aber in der That in den einfachen Grundbegriffen. Dieſe
nun ſind die folgenden.
1) Organismus der Grundbuchsverwaltung.
Die Organiſation der Grundbuchsverwaltung beſtimmt die Organe,
welche das Grundbuch zu führen haben. Dieſe Beſtimmung hängt
ihrerſeits von dem Standpunkte ab, den die Geſetzgebung für das
ganze Grundbuch einnimmt. Urſprünglich wird die Landtafel von den
Landtagen ſelbſt, das erſte Grundbuch von den Magiſtraten geführt.
So wie der Gedanke der rechtlichen Sicherheit des Einzelcredits maß-
gebend wird, geht die Führung des Grundbuchs auf die Gerichte über;
die Berückſichtigung des Werthes erzeugt dann die Frage, ob nicht
eine eigene Hypothekenbehörde errichtet werden ſolle. Es kann, in
Gemäßheit der richtigen Principien über das Verfahren kaum zweifel-
haft ſein, daß die Verbindung mit dem Gerichte das Richtige iſt, ſo
daß man die eigenen Hypothekenbehörden des franzöſiſchen Rechts jetzt
wohl ziemlich allgemein als mit der eigentlichen Aufgabe des Grund-
buchsweſens fallen läßt, und die Organiſation des letzteren ſomit mit
der Gerichtsorganiſation identiſch wird.
In Deutſchland iſt meiſtens das Gericht zugleich Grundbuchsbehörde.
Die Frage hat eine neue Geſtalt bekommen durch die Aufhebung der Patri-
monialgerichte, wodurch das Grundbuchsweſen derſelben an die ordent-
lichen Gerichte übergegangen iſt, während es eben deßhalb da, wo ſolche nicht
beſtand, zum Theil den Gemeinden überlaſſen blieb. Preußen: durch Ver-
ordnung vom 2. Januar 1849 den Gerichten übertragen. RönneI. §. 321. —
Oeſterreich: Grundbuchsämter und Verbindung mit dem Gericht je nach den
Kronländern; Prüfung für das Grundbuchsweſen (Verordnung vom 10. Juni
1855). — Bayern: Regul.; Führung durch das Untergericht (Pötzl, Ver-
waltungsrecht §. 59). — Württemberg, Baden, Naſſau: Führung durch
die Gemeindevorſtände (vergl. Archiv für civiliſt. Praxis Bd. XVIII). — Frank-
reich: Conservateurs des hypothèques ſchon im Code Civil als ſelbſtändige
Behörde. — England: Einſetzung einer höchſten Behörde: Office of Land
Registry mit den Grundbuchsführern (Registrars) Geſetz von 1862 Art. 108 ff.
Neuere Bewegung in dieſer Frage mit dem ziemlich allgemeinen Reſultat, die
Grundbuchsführung den Gerichten zu übergeben bei Maſcher a. a. O. Cap. X;
ausführlich und gut.
[267]
2) Grundbuchs-Ordnung.
Die Grundbuchsordnung iſt nun die Geſammtheit der geſetzlichen
Beſtimmungen, welche über die Form entſcheiden, nach der das
Grundbuch die Verhältniſſe angibt, welche die Sicherheit des Darlehens
auf Hypothek bedingen. Es ergibt ſich daraus, daß die Ordnung der
Grundbücher ſehr verſchieden iſt, je nach dem Umfang und der Klarheit
der geſetzlichen Auffaſſung über den oben angegebenen Inhalt des
Princips des Grundbuchsweſens. Es bleibt daher nichts übrig, als
diejenigen Kategorien aufzuſtellen, welche als die abſoluten angeſehen
werden müſſen, und auf welche daher die einzelnen poſitiven Beſtim-
mungen vergleichend zurückzuführen ſind.
A. Das Folium bedeutet die wirthſchaftliche Einheit, deren Ver-
hältniſſe im Stand- und Hypothekenbuch einzeln aufgeführt werden.
Das Perſonal-Folium, bei welchem die Perſon des Eigenthümers
als wirthſchaftliche Einheit angenommen wird, iſt eigentlich nur da
denkbar, wo die Beſitzer wenig oder gar nicht wechſeln; bei ihm be-
ginnt daher das Grundbuchsweſen in den Landtafeln. Das Real-
Folium ſetzt die wirthſchaftliche Einheit des Grundbeſitzes, bei welcher
der Beſitzer ſelbſt nur als Moment erſcheint, und iſt um ſo praktiſcher,
ja nothwendiger, je ſyſtematiſcher ſich das Grundſteuerſyſtem ausbildet.
Namentlich in den Städten iſt faſt nur das letztere möglich.
B. Die Eintheilung des Foliums in die Rubriken iſt das
eigentliche Syſtem des Grundbuches. Dieſe Rubriken beziehen ſich nun
mit ihren Unterabtheilungen auf die drei elementaren Verhältniſſe des
Credits, und bilden ſomit den ſyſtematiſchen Inhalt des Fo-
liums. Sie ſind Eigenthum, Werth und Schuld.
a) Das Eigenthums- oder Beſitzfolium (oder Rubrik) enthält zu-
erſt die Angabe über den gegenwärtigen Eigenthümer (Namen, Wohn-
ort ꝛc.), dann über ſein Eigenthumsrecht (titulus possessionis) und
drittens über die Objekte dieſes Eigenthums. Bei unentwickelten
Zuſtänden des Grundbuchsweſens begnügt ſich daſſelbe mit einer all-
gemeinen, meiſt ortsüblichen Bezeichnung des Grundſtücks oder der
Hausnummer. Ein vollſtändiges Grundbuch fordert dagegen die genaue
Angabe der Größe des Grundſtücks. Dieſe nun iſt ohne einen Par-
cellenkataſter und eine Flurmappe nicht möglich. Letztere müſſen daher
als erſte Vorausſetzung eines guten Eigenthumsfoliums angeſehen
werden. Leider fehlt dieß Element noch faſt in allen Grundbuchs-
ordnungen.
b) Das Werthfolium oder Laſtenbuch ſoll enthalten alle
dauernden Rechte an Werth und Gebrauch des Grundſtücks, welche
[268] den Werth deſſelben unabhängig von Privatverträgen vermindern.
Zuerſt die auf dem Grundſtück haftenden dinglichen Rechte, dann
die Summe der direkten Steuern, und endlich die geſetzlichen
Pfandrechte. Es iſt klar und man iſt ſich vollkommen darüber einig,
daß geſetzliche Pfandrechte, wenn ſie ohne Einverleibung beſtehen dürfen,
durch die Unſicherheit des Werthes, die ſie erzeugen, den Werth des
Grundbuches ſelber in Frage ſtellen, jedenfalls ihn weſentlich vermin-
dern. Endlich muß gefordert werden, daß auch der Kaufpreis als
Verkehrswerth ſo weit ſelbſtändig aufgenommen werde, als er aus den
Akten erſichtlich iſt; ein Zwang zur Angabe deſſelben iſt weder durch-
führbar noch räthlich.
c) Das Schuldfolium oder das eigentliche Hypotheken-
buch enthält nun die Geſammtheit von Rubriken, welche den Erwerb
und das Aufgeben des Eigenthums am Werthe für den Gläubiger
feſtſtellen und zwar als perſönliche Momente Namen des Gläubigers,
als wirthſchaftliche die Höhe der Summe und des Zinſes, und
als juriſtiſche das Datum der Urkunde, ihrer Einreihung, ihre etwaige
Ceſſion, die Kündigungsfriſt und die wirkliche Löſchung. Dieß ſind
abſolut nothwendige Elemente. Bei ſehr entwickeltem Grundbuchs-
weſen kommen dazu noch die Proteſtationen und Pränotationen,
die gleichfalls eigener Rubriken bedürfen.
C. Die volle Erfüllung der Aufgabe des Grundbuches in allen
Theilen ſetzt nun neben demſelben noch zwei Bücher voraus. Zuerſt
das Tagebuch oder Einlaufsregiſter mit Rubriken für Objekt, Tag
und Stunde der Präſentation, und zweitens das Urkundenbuch, in
welchem die Dokumente bewahrt werden, die als Beweis für den In-
halt der drei Folien (oder Bücher) dienen. Es iſt ſelbſtverſtändlich,
daß Bücher, Journal und Urkunden mit correſpondirenden Nummern
verſehen ſein müſſen.
Das ſind nun die Beſtandtheile und Ordnung eines vollkommenen
Grundbuches. Die wirklichen Grundbücher ſind dagegen von ein-
ander in allen dieſen Beziehungen ſehr verſchieden. Die Vergleichung
dieſer Verſchiedenheit iſt ein weſentliches Element des Verſtändniſſes
der eigentlichen Aufgabe des Grundbuchsweſens überhaupt.
Am letztern Orte beruht nämlich jene Verſchiedenheit darauf, ob
das Grundbuch die Sicherheit des Einzelcredits zur Hauptſache
macht, und dadurch nur indirekt das allgemeine Realcreditweſen för-
dern will, oder ob es grundſätzlich eine Anſtalt des öffentlichen,
allgemeinen Realcreditweſens iſt, und den Einzelcredit nur in ſich auf-
nimmt. Dieſer doppelte Charakter durchzieht das geſammte Grund-
buchsweſen und erſcheint, wenn man darnach die Grundbücher überhaupt
[269] in zwei große Claſſen theilt, für die Grundbuchsordnung in folgenden
Punkten.
Die erſte Claſſe, Grundbücher des Einzelcredits, fordern nur un-
bedingt das einfache Schuldfolium; die Aufnahme des Beſitzfoliums
als ſelbſtändiges Folium iſt ein allerdings unabweisbarer Fortſchritt.
Das letztere kann dann die höchſte Ausbildung erfahren, ohne daß das
Grundbuch noch ſeinen Charakter ändert.
Die zweite Claſſe dagegen, Grundbücher des eigentlichen Realcredits,
ſollen ein vollſtändiges Bild des Gutes als Grundlage des Credits
feſtſtellen. Sie müſſen daher ein genaues Laſten- oder Werthfolium
enthalten, namentlich alle dergleichen Rechte, Steuern und Laſten, ge-
ſetzliche Pfandrechte, Angabe der Kaufpreiſe, und Pränotationsrubrik.
Sehr häufig nun ſind, namentlich in den deutſchen Grund- und Hypo-
thekenbüchern, allerlei Verbindungen der Elemente beider Claſſen; im
Allgemeinen iſt eine Entwicklung der erſten Claſſe zur zweiten, und
damit die Anerkennung der Nothwendigkeit eines vollſtändigen
Grundbuches unverkennbar; die Herſtellung deſſelben muß, wie das
Folgende zeigt, die erſte Aufgabe der neuen Geſetzgebung ſein.
Es verwirrt das richtige Urtheil, wenn man die Claſſifikation der Grund-
bücher bloß auf die beiden Principien der Legalität zurückführt, wie es bisher
üblich war (vergl. Mittermaier, deutſches Privatrecht §. 263). — Englands
Grundbuchsweſen gehört durchaus der erſten Claſſe, wie denn auch in England
überhaupt keine Realcreditanſtalten beſtehen. — Frankreich fällt durch ſeine
geſetzlichen, der Einverleibung nicht unterworfenen Hypotheken in die erſte Claſſe;
auch hat es keine Steuern, jedoch die Aufnahme der dinglichen Rechte; for-
mell iſt es dabei höchſt unvollkommen. — In Deutſchland iſt die preußi-
ſche Hypothekenordnung das große Muſter der zweiten Claſſe, jedoch noch der
Vervollkommnung fähig. — Oeſterreichs Grundbuchsordnungen haben größten-
theils die meiſten Elemente der zweiten Claſſe aufgenommen, ohne gleichmäßig
oder formell durchgebildet zu ſein; namentlich Tirol iſt ſelbſt in der erſten
Claſſe weit zurück. Aehnliches gilt von Bayern und Württemberg, wäh-
rend Baden und der Rhein den franzöſiſchen Standpunkt vertreten, und
Sachſen der erſten Claſſe gehört. Doch ſind die geſetzlichen Pfandrechte allent-
halben, bis auf gewiſſe ärariſche Forderungen, ohne Einverleibung ungültig.
Das im Einzelnen durchzuführen, iſt eine ſchwierige, aber wichtige Arbeit.
Das Material dafür in reichem Maße gehäuft bei Maſcher a. a. O. S. 94;
die Vielgeſtaltigkeit der deutſchen Grundbücher macht allerdings eine erſchöpfende
und klare Ueberſicht ſehr ſchwer (vergl. „Foliografie“ bei Maſcher a. a. O.
Cap. 8; Fr. Neumann a. a. O. S. 138 ff.
3) Die Grundbuchsführung.
Die Grundbuchsführung enthält nun die Thätigkeiten des Grund-
buchsorgans, durch welche den Betheiligten das Recht des Grundbuches
[270] erworben wird, und deren formale Richtigkeit daher die Vorausſetzung
des Credits bildet. Dadurch werden die einzelnen Momente dieſes
Verfahrens von entſcheidender Bedeutung, und fordern eine eingehende
Erwägung.
Natürlich ſind dieſelben verſchieden, je nachdem bloß ein Schuld-
oder auch ein Beſitz- und Laſtenbuch vorliegt. Die für alle Momente
gemeinſamen Grundlagen ſind das Princip, die Führung, die Haftung
und die Koſten.
A. Das leitende Princip aller Grundbuchsführung muß ein
ſolches ſein, das dem ganzen Verfahren ſelbſt objektive Gewißheit und
Sicherheit gibt; die Grundbuchsakten dürfen demnach nicht einfach von
dem Willen und der Angabe der Parteien abhängen, ſondern müſſen
durch ein öffentliches Organ anerkannt werden. Dieß aber iſt bei allen
Verkehrsakten das Gericht. Das leitende Princip alles Grundbuchs-
verfahrens iſt demnach, daß die Gültigkeit jedes Akts einen gericht-
lichen Beſcheid als Grundlage fordert. Die Uebelſtände dabei
durch mögliche Verzögerung ſind groß, der Werth einer objektiven
Gültigkeit der Erklärungen iſt aber für den Credit weit größer, und
die erſten werden durch das Princip der Führung (ſ. unten) im
Weſentlichen wieder aufgehoben.
Dagegen hat das Gericht nicht über die Natur und Gültigkeit des
den Grundbuchsakten zum Grunde liegenden Geſchäfts, ſondern nur
über die Diſpoſitionsfähigkeit der Perſonen und die formale
Gültigkeit des Vertrages zu entſcheiden und die Ein- und Austragung
nur aus ſolchen Gründen zurückzuweiſen. Denn die erſte macht das
Geſchäft ſelbſt ungültig, die zweite dagegen läßt das Recht auf die
Priorität beſtehen, wenn die Ungültigkeit zu ändern iſt.
B. Die Führung umfaßt im weitern Sinne auch das Verfahren
von Seiten der Betheiligten, im engern nur das des eigentlichen Grund-
buchsorgans. Sie beginnt mit der Einreichung, für welche Tag
und Stunde als Grundlage der Priorität angemerkt werden, darauf
folgt die Eingabe an das Gericht, der Beſcheid deſſelben, und dann
die Eintragung oder Löſchung. Die letzteren, als zweite weſent-
liche Aufgabe der Führung, ſollen ſich auf das Geſchäft nicht beziehen,
ſo wenig wie auf das Recht deſſelben, ſondern nur die Thatſache des
geſchehenen Aktes (unter Angabe des erworbenen Rechts) und ſeinen
Zeitpunkt conſtatiren, natürlich mit Bezug auf die zum Grunde liegen-
den Akten. Es iſt von Wichtigkeit, daß dafür beſtimmte Formeln be-
ſtehen; jede Grundbuchsordnung ſollte dieſelben genau vorſchreiben.
Jeder hat das Recht, eine Beſtätigung der geſchehenen Akte für ſich
zu fordern, ohne Rückſicht auf das Princip der Publicität (Recognitions-
[271] ſchein). Wollen die Betheiligten mehr, ſo haben ſie eben ſo unzweifel-
haft das Recht auf einen Grundbuchsauszug, als auf eine vollſtändige
Abſchrift. Gegen die Führung geht der Recurs an das Gericht;
gegen das letztere iſt offenbar nur die Appellation berechtigt. Die
Gültigkeit der Entſcheidungen des Gerichts gehen dagegen unbedingt
auf den Tag der Einreichung zurück.
C. Mit dieſen Grundſätzen iſt auch die Haftung eine einfache.
Für das Gericht gibt es keine Haftung; die Haftung der Führung
bezieht ſich weſentlich auf die Genauigkeit des Einreichungsprotokolls;
gegen alle andern Akte der Führung genügt der Gegenbeweis. Die
Haftungsfrage wird nur dann ſchwierig, wenn die Grundbuchsbehörde
vom Gericht getrennt iſt.
D. Von großer Bedeutung ſind endlich die Koſten des Grund-
buchsverfahrens, nicht bloß für den Betreffenden, ſondern für die Ent-
wicklung des Creditweſens überhaupt. Ueber die Nothwendigkeit mög-
lichſt niedriger Anſätze iſt man ſich einig; nicht ſo über das folgende.
Das Syſtem dieſer Koſten enthält erſtlich die Gebühr für Eintragung
und Löſchung, und zweitens die (meiſt in Stempelform erhobene) Ver-
kehrsſteuer auf das Darlehen (Schuldſcheinſtempelung). Das Princip,
welches dafür gilt, iſt bisher das der Gleichheit, und zwar der
Gleichheit des Betrages bei der Gebühr, und des Steuerfußes bei
dem Schuldſtempel. So natürlich dieß Princip erſcheint, ſo iſt es den-
noch falſch, denn gerade dieſe formale Gleichheit wird zur Ungleich-
heit im wirklichen Creditverkehr. Die Natur gerade des kleinen land-
wirthſchaftlichen Credits und ſeiner ſteigenden Nothwendigkeit fordert,
daß man vermöge eines nach der Höhe des Darlehens ſteigenden
Gebühren- und Steuerfußes für den kleinen Realcredit die Benutzung des
Grundbuches ſo billig als möglich, und den kleinſten Credit ganz
koſtenfrei mache; die höhere Belaſtung, die der große Credit leicht
trägt, ſoll dazu beſtimmt ſein, den Ausfall zu decken. Die genauere
Begründung dieſer Forderung iſt wohl eine ſehr einfache, wenn ihr
auch bisher keine Grundbuchsordnung nachgekommen iſt.
In Beziehung auf das Princip des Verfahrens ſcheiden ſich zwei große
Syſteme, welche formell von der Organiſation des Grundbuchsamts abhängen.
Das eine iſt das franzöſiſch-engliſche, nach welchem die Intervention eines
gerichtlichen Beſcheides grundſätzlich ausgeſchloſſen iſt, und das Gericht nur im
Falle der Streitigkeit aufgerufen wird. In dem deutſchen Hypothekenweſen
ſteht durchgehends der Grundſatz feſt, daß der gerichtliche Beſcheid die Voraus-
ſetzung jedes Aktes ſein ſoll. Der Urſprung dieſes Princips iſt allerdings ein
hiſtoriſcher, da die Grundbuchsämter der Patrimonialgerichte zugleich Ver-
waltungsbehörden waren, und daher ihr Recht auf Führung von keinem
[272] Standpunkt in Zweifel gezogen werden konnte. Bei der theilweiſen und gänz-
lichen Auflöſung hielt jedoch die deutſche Grundbuchsordnung um ſo entſchie-
dener an dem Grundſatz der gerichtlichen Beſcheide feſt, als dieſelbe mit wenig
Ausnahmen die Legalität auch für das Eigenthum forderte. Streit darüber
bei Maſcher S. 690 ff. Vergl. Mittermaier a. a. O. §. 263. Haftung
der Hypothekbehörden (Mittermaier §. 267; Code Civ. Art. 2197 ff.). Die
formelle Frage nach Inſcription und Transſcription Maſcher S. 699; erſtere
nur in Frankreich und England nothwendig, nach deutſchem Syſtem mehr als
überflüſſig. Ueber die großen Koſten des Grundbuchverfahrens f. Ran, Volks-
wirthſchaftspflege a. a. O. In Frankreich ſchon Hauteville (de la revision
du Syst. hypothécaire 1843); dann Enquête von 1846 ohne Erfolg; dann
neuer Kampf (Wolowsky, Revue de législat. et jurisprud. 1852; vergl.
Dünkelberg, Landwirthſchaft und Capital, 1860; zu kurz Maſcher S. 803).
— Wichtig iſt die Geſetzgebung über grundbücherliches Verfahren bei Zerthei-
lung von Liegenſchaften: öſterreich. Geſetz vom 6. Febr. 1869.
4) Das Grundbuchsrecht.
Das Grundbuchsrecht iſt nun ſeinem formellen Begriffe nach die
Geſammtheit von Rechten, welche mit den einzelnen Akten des
eben bezeichneten Grundbuchsverfahrens verbunden ſind.
Seinem Weſen nach iſt das Grundbuchsrecht, als Theil des Ver-
waltungsrechts, die Geſammtheit derjenigen Modifikationen des
bürgerlichen Pfand- und in zweiter Reihe Erwerbs- und Beſitz-
rechtes unbeweglicher Güter, welche durch die Natur des öffentlichen
oder allgemeinen Realcredits im Gegenſatze zum Einzeldarlehen gefor-
dert ſind.
Es gibt daher im römiſchen Recht überhaupt kein Grundbuchsrecht.
Die bürgerlichen Geſetzbücher der germaniſchen Welt aber haben das
Grundbuchsrecht meiſtens ganz oder doch zum Theil in ſich aufgenom-
men, und dadurch das Verſtändniß des öffentlichen Charakters deſſelben
und ſeiner Begründung im Creditweſen ſehr erſchwert, ſo daß die ganze
Behandlung des Grundbuchsrechts ſich in bei weitem überwiegendem
Grade als Interpretation der bürgerlichen Geſetze herausſtellt. Daher
der Mangel an ſelbſtändiger wiſſenſchaftlicher Behandlung, den nur
die Lehre vom Credit in der Verwaltungslehre zu heben vermag.
Dennoch iſt man über die ſelbſtändigen Elemente des Grund-
buchsrechts im weſentlichen einig, wenn man daſſelbe auch noch nicht
immer von dem Grundbuchsverfahren zu unterſcheiden vermag. Jene
Elemente ſtehen in einem hiſtoriſchen Verhältniß zu einander, und
müſſen daher auch nicht als einfaches Nebeneinander, ſondern als inner-
lich bedingtes Ganze aufgefaßt werden. Sie ſind die Priorität, die
Specialität, die Legalität und die Publicität, welche gemeinſam nur
[273] als Conſequenzen des Weſens des öffentlichen Credits und nicht bloß
als Inhalt der bürgerlichen oder ſelbſt öffentlichen Geſetzgebung an-
erkannt werden müſſen.
Unterſcheidung der doppelten Richtung in der deutſchen und der ihr fol-
genden franzöſiſchen Literatur: die Interpretatoren der Geſetzbücher, an
welche ſich die ſelbſtändigen Darſtellungen und Sammlungen der poſitiven
Grundbuchsbeſtimmungen, und ſelbſt die kurzen Angaben in den Staatsrechten
(wie bei Rönne, Pötzl, Stubenrauch) anſchließen und die Literatur über den
landwirthſchaftlichen Credit, der mit unſerem Jahrhundert entſteht, und theils
das Creditweſen vom vorwiegend rechtlichen, theils aber vom volkswirthſchaft-
lichen Standpunkt betrachtet, letzteres jedoch meiſt ohne Eingehen auf die Sache,
wie bei Rau und Roſcher, während es bei den meiſten andern gänzlich fehlt.
Maſcher, Abſchn. II. verwechſelt geradezu die „Hypothekenpolitik“ mit dem
Hypothekenrecht.
a)Die Priorität.
Die Priorität iſt der erſte Schritt vom römiſchen Recht zum
Grundbuchsweſen. Sie beſteht in dem Grundſatz, daß unter den nach
bürgerlichem Recht gültigen Pfandbeſtellungen diejenige den Vorzug
hat, welche eingetragen iſt, und zwar nach Maßgabe des Datums der
Einverleibung. Sie enthält zweitens die nähere Beſtimmung über den
Umfang, in welchem in Beziehung auf Zinſen und Früchte das
eingetragene Pfandrecht zur Gültigkeit kommt. Sie wird gerechnet
vom Tage der Anmeldung, auf welchen der gerichtliche Beſcheid zu-
rückwirkt. Sie enthält an ſich noch weder die Specialität noch die Le-
galität, aber ſie führt unmittelbar auf beide hinüber. Ihr gegenüber
ſteht das Princip der geſetzlichen Pfandrechte (geſetzliche im eigent-
lichen Sinne und richterliche), deren Weſen die Priorität ohne Ein-
tragung, und zwar vor jeder eingetragenen Poſt iſt. Juriſtiſch durch-
aus richtig, ſind die geſetzlichen Pfandrechte vermöge der Natur des
Credits mit dem Grundbuchsweſen unvereinbar, daher obwohl anfäng-
lich anerkannt, doch in allen deutſchen und engliſchen neueren Geſetzen
abgeſchafft, und nur das franzöſiſche Recht hat ſie in einem Umfange
beibehalten, der trotz der von ihm anerkannten Legalität den Werth des
franzöſiſchen Hypothekenweſens für den Credit in hohem Grade beein-
trächtigt.
Völlige Einſtimmigkeit der deutſchen und ſelbſt der franzöſiſchen Literatur
über die Verkehrtheit der geſetzlichen Hypothek: Mittermaier, deutſches Privat-
recht §. 203; Maſcher S. 94 — 125; Foelix a. a. O.; Geſchichte der
Priorität aus der Ingroſſation (Mittermaier §. 260. 261 nebſt Literatur;
Maſcher S. 63 ff. faſt ohne Literatur).
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 18
[274]
b)Die Specialität.
Aus der Priorität ergibt ſich von ſelbſt der Grundſatz, daß jedes
eingetragene Pfandrecht, um ein Eigenthum am Werthe conſtatiren zu
können, ſich auf ein beſtimmt angegebenes Gut mit einem beſtimmt
angegebenen Betrage beziehen müſſe. Der römiſche Grundſatz der
Hypotheca omnium bonorum iſt mit dem Weſen des Realcredits un-
vereinbar, und wird daher in allen deutſchen Grundbuchsgeſetzen aus-
drücklich, theils indirekt wie in der engliſchen, welche nur eine beſtimmte
Schuld eintragen läßt, beſeitigt. Die weitere Conſequenz iſt die Auf-
hebung der geſetzlichen Hypotheken ſchon darum, weil die meiſten
nur auf unbeſtimmte Summen lauten.
Priorität und Specialität ſind nur noch ſpecifiſche Grundſätze des
Hypothekenrechts; von dem Eigenthumsrecht iſt bei ihnen noch keine
Rede. Sie beziehen ſich daher auch nur noch auf den Einzelcredit, und
bilden damit das Element und die Aufgabe des erſten Theiles der Ge-
ſchichte des Grundbuchsrechts. Der zweite Theil beginnt da, wo die
Verwaltung auch die Vorausſetzung des Werthes der Forderung in
den Eigenthums- und Beſitzverhältniſſen erkennt, und daher auch dieſe
in das Grundbuchsweſen als Legalität und Publicität ſyſtematiſch auf-
nimmt, ohne natürlich das Recht der Priorität und Specialität für
die Pfandſchulden damit anzugreifen.
Geſchichte der Beſeitigung der Generalhypothek (Mittermaier §. 265).
Unbeſtimmtheit der Hypothekenordnung für den Fall, wo die Hypothek mit
ungetheilter Summe auf mehrere Güter eingetragen iſt. In einigen Hypo-
thekenordnungen noch Fortbeſtand der Generalhypothek, jedoch unter Beſchrän-
kungen. Oldenburg: §. 51. — Braunſchweig (Geſetz von 1823) §. 1. —
Das franzöſiſche Recht hat ſie einfach erhalten (vergl. Maſcher S. 636 ff.;
Götz, Gutachtliche Vorſchläge S. 28; Matern, volkswirthſchaftliche Aufgaben
der landwirthſchaftlichen Hypothekeninſtitute).
c)Die Legalität.
Die Legalität des Grundbuchs iſt nun das für alle Theile
deſſelben geltende Princip, daß gegenüber dem bürgerlichen Rechte und
ſeinen Grundſätzen jeder Erwerb von dinglichen Rechten wirk-
lich nur durch das Grundbuch und nach den Regeln des Grund-
buchsverfahrens ſtattfindet, während jeder auf das unbewegliche
Eigenthum bezügliche Vertrag ohne Eintragung nur ein perſönliches
Recht gegen die Verpflichteten begründet.
Es gehört nun ſchon ein hoher Grad von Entwicklung des Credit-
lebens einerſeits und des Verſtändniſſes deſſelben andererſeits dazu, um
dieſe Legalität in ihrem vollen Umfange zur Geltung kommen zu laſſen.
[275] Sie hat daher auch ihre Geſchichte, deren Stadien ſtrenge zu ſcheiden
ſind; verwiſcht man ſie, ſo iſt auch die rechte Vergleichung unmöglich.
Grundlage iſt die Unterſcheidung zwiſchen der Legalität der Hypothek,
und der Legalität des Eigenthums. Die Legalität der Hypothek iſt
der Grundſatz, daß ohne Eintragung in das Hypothekenbuch über-
haupt kein Pfand an Immobilien beſtellt werden kann, ſo daß jede
bürgerliche Pfandbeſtellung nur das Recht auf eine Hypothekbeſtellung,
nicht die letztere ſelber gibt. Mit dieſem Grundſatz beginnt eigentlich
erſt das Grundbuchsweſen, und die folgenden Begriffe und Rechte
ſind nur die Conſequenzen deſſelben; denn erſt mit ihm ſcheidet ſich das
Grundbuchsrecht von der römiſchen hypotheca. Die Entſtehung der
Legalität der Hypothek bildet daher das erſte Stadium des Grund-
buchsweſens, und findet ihre volle Formulirung in dem Rechte der
Priorität und Specialität. Erſt langſam entwickelt ſich daraus, durch
den höheren Standpunkt des allgemeinen Credits, der zweite Grundſatz,
daß auch kein Eigenthum und kein Beſitz ohne Eintragung in das
Grundbuch erworben werden könne, die Legalität des Eigenthums.
Mit ihr tritt das ein, was wir die volle Legalität des Grundbuchs-
weſens nennen. Sie iſt es, welche einerſeits die möglichſt klare Ord-
nung des Grundbuchs, und andererſeits die möglichſte Genauigkeit des
Grundbuchsverfahrens erzeugt; erſt mit ihr iſt daher das ganze Grund-
buchsweſen zu ſeiner vollen Entwicklung und die folgenden Begriffe zu
ihrer ganzen Bedeutung gelangt. Man wird ſie mit Recht das deutſche
Princip des Grundbuchsweſens nennen.
Ihr gegenüber ſteht das proceſſuale Princip deſſelben, nach welchem
die Eintragung in das Grundbuch nicht das Recht ſelber, ſondern nur
den unanfechtbaren Beweis deſſelben bildet. Man hat es auch wohl
das römiſche Syſtem genannt.
Vergleicht man demnach die beſtehenden Syſteme, ſo ſteht das eng-
liſche Grundbuchsweſen auf dem rein proceſſualen Standpunkt; das
franzöſiſche Syſtem hat die halbe Legalität, indem es nur die Lega-
lität der Hypothek im obigen Sinne, nicht aber die des Eigenthums
anerkennt; das preußiſche und öſterreichiſche haben die volle Legalität,
alſo die des Eigenthums und Beſitzes durchgeführt; viele deutſche
Staaten ſind ihnen gefolgt, andere dagegen ſtehen noch auf dem rein
proceſſualen, andere auf dem Standpunkt der halben Legalität. Das
nun hängt natürlich ſo eng mit der Grundbuchsordnung zuſammen,
daß man als leitendes Princip für die Entwicklung des ganzen Grund-
buchsweſens, und namentlich als Baſis für die neue Geſetzgebung den
Grundſatz aufſtellen muß, daß die volle Legalität ohne eine ſyſte-
matiſche Grundbuchsordnung gar nicht möglich iſt, während die
[276] ſyſtematiſche Grundbuchsordnung ſie ſelbſt, und mit ihr die Vollendung
des Grundbuchsweſens von ſelber erzeugt. Die klare Scheidung
dieſer Faktoren iſt daher die erſte Bedingung des Fortſchrittes im
Grundbuchsweſen.
Durchſtehend bei allen Beſprechungen des Grundbuchsweſens iſt die Un-
klarheit über Grundbuchsordnung und Grundbuchsrecht, ihre Selbſtändigkeit
und ihr gegenſeitiges Bedingtſein. Namentlich bei dem reichen Werke von
Maſcher (vergl. namentlich S. 552 und 586). Von dieſem Standpunkt müſſen
auch die einzelnen Grundbuchsordnungen und Rechte verglichen werden. —
Englands Grundbuchsweſen beruht nicht auf dem Bedürfniß nach Credit,
ſondern auf der Vielgeſtaltigkeit und zum Theil Unklarheit der Eigenthums-
verhältniſſe, und der Schwierigkeit der Proceſſe. Daher will es vor allen
Dingen eine „indefensible Title“ für alle dinglichen Rechte herſtellen (vergl.
Auſtria a. a. O). Früheres Recht, falſch als noch beſtehend angenommen bei
Maſcher S. 555. 556. Es iſt daher eine regiſtrirte Sammlung von Beweis-
urkunden. — In Frankreich vermengen ſich die Syſteme; die Hypothek
exiſtirt allerdings nur durch die Eintragung bei dem Conservateur; von andern
dinglichen Rechten iſt dagegen keine Rede, und das Recht der Transſcription
für das Eigenthum iſt Grund von hundert Streitigkeiten (ſ. Foelix a. a. O.
und Maſcher 94—125, S. 556; Mittermaier, deutſches Privatrecht §. 262).
— Preußen und Oeſterreich haben die volle Legalität grundſätzlich aus-
geſprochen; in beiden aber haben die Kronländer und Provinzen wieder ihre
eigenen Grundbuchsordnungen, ſo daß die Durchführung des Princips vielfache
Schwierigkeiten findet, daher auch die Modifikation in Preußen ſeit 1864, daß
Grundeigenthum nur durch Tradition erworben wird (Maſcher S. 552 ff.).
Die von Maſcher S. 225 ff. ſog. Länder des ſächſiſchen Rechts (nur nicht
das Königreich Sachſen ſelbſt) unterſcheiden ſich von denen des öſterreichiſch-
preußiſchen Rechts dadurch, daß ſie nur die Legalität des Pfandrechts an-
erkennen, und auch das zum Theil nur unvollkommen. Das wäre die Auf-
gabe der Vergleichung geweſen. Die leitenden Grundſätze über Legalität bei
Maſcher unter der Rubrik „Publicität.“
d)Publicität.
Der letzte Grundſatz zur vollen Geltung des Grundbuchsweſens
als Baſis des Realcredits iſt nun der, daß jeder das Recht der
Einſicht in das Grundbuch haben ſoll. Dieſer Grundſatz iſt ſo-
wohl im Princip als in der Ausführung beſtritten. So lange das
Grundbuch ein reines Hypothekenbuch iſt, iſt die allgemeine Einſicht in
daſſelbe nicht motivirt, und die Erlaubniß des Schuldners erforderlich;
mit der vollen Legalität wird ſie nothwendig. Die natürliche Form
iſt das Recht auf einen Grundbuchsauszug gegen Gebühr. Daneben
ſteht das Recht jedes Beſitzers, eine Beſcheinigung der Eintragung von
[277] der Führung zu verlangen. Die Bedeutung der Sache für den Werth-
umlauf bedarf keiner Motivirung.
Verwechslung der Publicität mit der Legalität ſchon bei Mittermaier
§. 262; Maſcher a. a. O. Streit über die Publicität ſchon ſeit Gönner (vergl.
Mittermaier §. 262. Nr. 2). Anerkennung im franzöſiſchen Recht (Code Civ.
Art. 2196).
Begriff und Weſen.
So wichtig nun auch das Grundbuchsweſen iſt, ſo iſt es dennoch
unfähig, das höhere Bedürfniß des Realcredits zu erfüllen. Der
Hypothekencredit wird ſtets von einem einzelnen Capitale gegeben und
entſpricht daher auch nur einem einzelnen Bedürfniß. Er macht zwar
den Verkehr mit dem Pfandrecht nicht unmöglich, aber ſchwerfällig.
Die Schuld ſelbſt iſt zwar ſicher, aber wird ſchwer zurückgezahlt; ſelbſt
die Zinſen finden oft Schwierigkeiten, regelmäßig einzukommen. So
wie daher das Capital überhaupt in raſcherem Kreislauf raſcheren und
gleich verwerthbaren Gewinn findet, ſucht es trotz der Sicherheit im
Grundbuch doch den Realcredit nicht mehr auf, und wo es das thut,
wird es theurer, als es die Produktivität der landwirthſchaftlichen und
der ihr analogen Produktion zuläßt.
Zu gleicher Zeit ſteigt aber der Bedarf am Capital für die Ur-
produktion; ſie wird eine rationelle, indem ſie Capital auf die Pro-
duktivkräfte ſelbſt verwendet. Dieſer Bedarf iſt allgemein für die ge-
ſammte Urproduktion. Dadurch entſteht ein Mißverhältniß, dem auch
das beſte Grundbuchsweſen nicht abzuhelfen vermag. Es ſtellt ſich
mehr und mehr heraus, daß der Credit des Grundbuchs nur in den
Fällen einzelner Noth zu helfen fähig iſt, während für die allgemeine
Herbeiziehung von eigentlichen Anlagecapitalien für die Urproduktion
ein eigener Proceß entſtehen muß.
Dieſer nun hat offenbar zur Vorausſetzung, daß den als Anlage-
capital für die Urproduktion verwendeten Creditcapitalien zu der durch
das Grundbuchsweſen gegebenen Sicherheit auch noch die Fähigkeit hin-
zukomme, in den Werthumlauf einzutreten. Dieſe Fähigkeit
aber können weder Schuldner noch Gläubiger allein ſolchen Capitalien
geben. Sie kann nur durch Theilnahme der Staatsgewalt geſchehen.
Es iſt daher natürlich, daß im Beginn dieſer Entwicklung die Regie-
rung daran denkt, der Urproduktion direkte Hülfe durch öffentlichen
Credit zu verſchaffen. Allein das Weſen des Credits macht ein Eingreifen
durch die Regierung auch hier wirthſchaftlich undurchgreifbar (ſ. oben).
Die Form, in der das Geſammtleben ſich daher jene große Bedingung
[278] der Entwicklung der Urproduktion verſchafft, iſt das Vereinsweſen.
So tritt das Vereinsweſen in das Syſtem des Realcredits hinein, und
der daraus entſtehende, nicht durch Geſetze und Verwaltungsmaßregeln
gebildete, ſondern auf der freien Thätigkeit des Einzelnen und den
wirthſchaftlichen Geſetzen des Credits beruhende Organismus des Real-
credits nennen wir die Realcreditvereine. Jede Realcreditanſtalt
iſt daher ein Realcreditverein.
Das Princip der Realcreditanſtalten iſt daher, daß ſie ein eigens
für die Anlage im Realcredit beſtimmtes Capital ſchaffen, und daſſelbe
durch ihre Thätigkeit ſo verwalten, daß es mit der vollen Sicherheit
des Realcredits die volle Beweglichkeit des Geſchäfts-
credits verbindet. Erſt damit werden Begriff und Funktion des
Credits für die unbeweglichen Güter vollſtändig gültig, und im Real-
creditweſen beginnt eine neue, hochwichtige Epoche.
Natürlich hat das Eintreten dieſer Epoche nicht bloß das Ein-
treten wirthſchaftlicher Verhältniſſe des Credits zum Inhalt. Es be-
deutet und enthält vielmehr die Zeit, wo das gewerbliche Capital der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft die ſpecifiſche Form des Beſitzes der ſtän-
diſchen Geſellſchaft, den Grundbeſitz, ſich unterwirft und wirthſchaftlich
mit ihren Bedingungen und Folgen beherrſcht. Das Auftreten der
Realcreditanſtalten iſt daher nicht bloß eine große wirthſchaftliche und
rechtliche, ſondern auch eine mächtige geſellſchaftliche Thatſache, und
greift damit auf das tiefſte, langſam aber gewaltig wirkend, in das
ganze innere Leben Europas ein.
Es iſt daher leicht verſtändlich, daß die Realcreditanſtalten ſich
weder plötzlich noch gleichförmig entwickelt haben. Ihre Grundformen
ſind zugleich ihre Geſchichte. Ihre Darſtellung aber zerfällt in ihr
wirthſchaftliches und ihr öffentlich rechtliches Element, von denen bei
den zwei Grundformen, den gegenſeitigen und den Aktivcreditvereinen
das erſte ſehr verſchieden, das zweite aber ſehr gleichartig iſt.
Erſt in neueſter Zeit in der Literatur die Grundlage richtiger Behandlung
in dem Verſtändniß dafür, daß Grundbuchsweſen und Realcreditanſtalten bei
tiefſter Verſchiedenheit dennoch zwei Seiten des allgemeinen Begriffes des Real-
creditweſens ſind. Vergl. namentlich die Auffaſſung bei Rau, Volkswirth-
ſchaftspflege II. §. 110 ff.; RoſcherII. §. 133 ff. Uebrigens hat der Gang
der Dinge es mit ſich gebracht, daß auch die geſammten Realcreditanſtalten
ausſchließlich auf die Landwirthſchaft bezogen werden; bei den Bedürfniſſen
der letzteren beginnend, iſt die Theorie auch bei ihnen ſtehen geblieben, und
in der That iſt auch die Hauptanwendung die Landwirthſchaft. Man kann
übrigens in der ziemlich reichen Literatur, die mit den Aufſätzen über die
ſchleſiſchen Vereine in Bergius Magazin, und ſyſtematiſch in Berg, Polizei-
[279] wiſſenſchaft Bd. V. 494 f. beginnt, zwei Hauptformen ſcheiden; die erſte, die
ſich auf die Intereſſen der Landwirthſchaft überhaupt bezieht, und die zweite,
an deren Spitze Rau ſteht, die mit tiefer gehendem Verſtändniß das Vereins-
weſen als Quelle des Realcredits anſieht, und daher mit Recht den Schwer-
punkt in die Charakteriſtik der Statuten der betreffenden Vereine legt. Roſcher
hat dann das hiſtoriſche Element betont. Jetzt iſt die Auffaſſung des Ganzen
als Theil der Verwaltungslehre zu vollziehen.
Der Realcredit-Verein.
Die Bedeutung des Vereinsweſens als Grundlage der Realcredit-
anſtalten beſteht nun zuerſt darin, daß durch ſie die Möglichkeit und
zweitens das eigentliche Gebiet des Realcreditweſens zum Bewußtſein
gekommen, und in die Creditverwaltung aufgenommen iſt. Sie haben
die Aufgabe gelöst, das Geſammtintereſſe der Volkswirthſchaft an der
Entwicklung des Immobiliarcredits, mit der erſten Vorausſetzung alles
Credits, den Forderungen des beweglichen Capitals, in Harmonie zu
bringen. In der Art und Weiſe, wie ſie das gethan, beſteht ihr
Princip; in den Formen, in denen es geſchieht, beſtehen ihre Arten.
Das Princip iſt allen Arten gemein; die Formen ſind, und zwar auf
hiſtoriſcher Baſis, verſchieden.
a) Princip und Syſtem deſſelben.
Das Princip der Realcreditvereine beſteht darin, für den Immo-
biliarcredit ein ſeiner Natur entſprechendes und mithin ſelbſtändig wir-
kendes Capital zu ſchaffen und ihm ſeine gehörige Sicherheit zu
geben. Beides kann nur dann geſchehen, wenn die Vorausſetzungen
beider Elemente ſtatt wie im Hypothekarcredit zum Gegenſtand der in-
dividuellen Thätigkeit, hier vielmehr zur Aufgabe der Vereinsthätigkeit
auf Grundlage der Vereinshaftung werden. Aller Realcredit kann daher
nur als Gegenſtand einer Vereinsverwaltung gedacht wer-
den, welche in ihm das allgemeine Intereſſe mit dem Einzelintereſſe
in Harmonie bringt.
a) Um das zu erzielen, muß zuerſt der Realcredit, ſtatt ein bloßes
Eigenthum am Werth zu ſein, eine Waare für den Markt wer-
den, und damit den Charakter und das Recht eines jeden anderen
Verkehrsgegenſtandes annehmen. Dieß geſchieht, indem der Verein
nicht mehr den Werth eines einzelnen beſtimmten Gutes, wie beim
Grundbuchscredit, ſondern die durch ſolidariſche Haft vereinigte Werth-
maſſe vieler Güter als ein Ganzes in den Verkehr bringt, und dabei
jedem Einzelnen es möglich macht, von dieſem Werth ſo viel zu er-
werben, als er braucht. Die Form dafür iſt der Pfandbrief, der
[280] als Inhaberpapier dem Schuldner für die Ueberlaſſung des Wer-
thes ſeiner Güter an den Verein übergeben wird. Durch den Pfand-
brief iſt die Möglichkeit für den Schuldner gegeben, ſo lange und ſo
weit Eigenthümer ſeines eigenen Werthes zu ſein, als er will; dem
Gläubiger die, den durch den Kauf dieſes Werthes erworbenen Werth
jeden Augenblick zu verkaufen; dem Werthe endlich die, zur Waare zu
werden, und dadurch das zu finden, deſſen der Werth der Immobilien
ſo gut bedarf wie ein jedes andere Gut, ſeinen Markt (Börſe) und
ſeinen Preis (der Curs der Pfandbriefe). Und damit iſt das Mittel
gefunden, für jedes Immobile Credit zu erhalten, da gerade die durch
den Markt-(Börſen)-Verkehr mit dem Werthe im Pfandbriefe her-
geſtellte Möglichkeit, denſelben gleichgültig gegen den Nominalbetrag
des Pfandbriefes mit ſeinem Preiſe durch den Curs in Harmonie
zu bringen, das Capital für jeden Grundwerth in jedem Augenblick
finden läßt.
b) Zugleich aber muß der Pfandbrief die Gewißheit geben, daß,
möge ſein Preis (Curs) ſein welcher er wolle, der Werth deſſelben
wirklich vorhanden iſt. Es iſt die weſentlichſte Aufgabe des Vereins,
vermöge der Grundſätze ſeiner Verwaltung eben dieſe Sicherheit als
integrirenden Theil dem Pfandbriefe mitzugeben, und zwar ſowohl für
das Capital als für ſeinen Ertrag, den Zins. Dieſe Aufgabe iſt ſo noth-
wendig, daß die Grundſätze für ihre Erfüllung mit dem Realcreditweſen
gleichzeitig entſtanden, und ſtets anerkannt ſind. Dieſelben ſind folgende.
Erſtlich genaue Schätzung jedes Gutes, und Feſtſtellung —
meiſt Auszahlung — ſeiner bisherigen Hypothekenſchulden, als Grund-
lage für die richtige Berechnung der Höhe des in den Pfandbriefen
zu gebenden Darlehens.
Zweitens die Verwaltung der Zinſen und Rückzahlung
durch den Verein, ausgedrückt in den Coupons und ihren von der
Zahlung der Vereinsſchuldner ganz unabhängigen Zahlungsverpflichtung
durch den Verein ſelbſt.
Drittens aber in dem Grundſatze, welche dem Verein die Inne-
haltung dieſer ſeiner Verpflichtung möglich machen, und die mithin
als die Grundlage der ganzen Vereinsverwaltung angeſehen werden.
Dieſe nun ſind; erſtlich die ſolidariſche Haftung aller Schuldner mit
ihrem ganzen Vermögen für jeden Pfandbrief; zweitens die Verbin-
dung der Rückzahlung mit der Zinszahlung des Schuldners, das Amor-
tiſations-Procent; drittens endlich die Bildung eines ſelbſtändigen
Capitals, das für den Fall des Ausbleibens der Einzelzahlung dem
Verein die Zahlung von Zins und Schuld dennoch möglich macht
(Garantie und Reſervefond).
[281]
Auf dieſen gemeinſamen Grundlagen haben ſich nun die Arten
der Realcreditvereine ausgebildet.
Das praktiſche Verſtändniß und die wiſſenſchaftliche Formulirung dieſer
Grundſätze ſind eines der größten Verdienſte, das Deutſchland um die
Volkswirthſchaft Europas ſich errungen hat. England hat zwar ſein Grund-
buch, aber gar keinen Realcreditverein; Frankreichs Crédit foncier iſt ein
ſehr unfertiges Gebäude; die deutſchen Realcreditvereine ſind fähig und beſtimmt,
das Muſter der Welt zu werden. Für den methodiſch gebildeten deutſchen Geiſt
hat die Sache nie ernſtliche Schwierigkeit gehabt, und iſt zu einem integriren-
den Beſtandtheil der Wiſſenſchaft geworden (vergl. vor allem Rau, Volks-
wirthſchaftspflege II. §. 211 und Roſcher, Syſtem II. §. 133). Preußen:
Hypothek-Aktiengeſetzkunde (Geſetz vom 18. März 1865).
b) Die Arten der Realcredit-Vereine.
Die Arten der Realcreditvereine entſtehen nun, indem die Sicher-
heit entweder auf den Werth der Immobilien, oder auf ein eigenes
Capital, zurückgeführt wird.
A. Die gegenſeitigen Realcreditvereine beruhen darauf, daß die
Sicherheit jedes einzelnen Pfandbriefes durch die ſolidariſche Haft
aller Mitglieder begründet wird, während in allen übrigen Punkten
die Verwaltung mit der folgenden Art gleich iſt. Die Folge dieſes
Princips aber iſt, daß, namentlich bei der Verſchiedenheit des Grund-
buchsrechts, ſolche Vereine nur von Beſitzern gebildet werden können,
die in Art und Umfang ihres Beſitzes weſentlich gleichartig ſind.
Sie gehören daher der Epoche der rechtlichen Verſchiedenheit des Grund-
beſitzes an, und ſchließen ſich naturgemäß an die ſtändiſche Ordnung
des Grundbeſitzes. Sie entſtehen deßhalb meiſtens aus der Noth, und
haben zur Aufgabe, den Widerwillen des Capitals gegen Hingabe an
bevorrechtete Claſſen zu überwinden. Sie haben den Vortheil, keinen
Gewinn zu beabſichtigen, aber den Nachtheil, gerade den kleinen Beſitz
creditlos zu machen. Sie verfügen über große Werthe, aber ihre
Einzelſchätzung iſt leicht von Standesintereſſen beeinflußt. Sie haben
kein bewegliches freies Capital zur Verfügung, und müſſen daſſelbe
daher theils durch Garantie der Landſchaften, theils durch Bildung
eines Reſervefonds erſetzen, während ſie als ſtändiſcher Verein erſt in
unſerem Jahrhundert die Principien der Oeffentlichkeit und Rechen-
ſchaftsablage angenommen haben. Sie ſind daher als die erſte und
hochwichtige, aber hiſtoriſche Form der Realcreditvereine zu betrachten.
B. Die Bodencreditvereine (Hypothekenbanken) ſind dagegen
Unternehmungen, welche mit eigenem Aktiencapital und unter Haf-
tung deſſelben gegenüber den Inhabern der Pfandbriefe den Realcredit
[282] fördern. Bei ihnen iſt die Verwaltung ein Geſchäft. Sie wollen
Gewinne, aber ſie laſſen auch jeden Realbeſitz zu. Ihre Schätzung
iſt geſchäftlich, ihre Berechnung kaufmänniſch, aber ſie geſtatten volle
und freie Concurrenz, und erkennen alle Grundſätze des Vereinsweſens
für ſich als maßgebend. Sie ſind daher die ſtaatsbürgerliche
Form des Vereins für Realcredit, und allein der größeren Entwicklung
fähig. Eben deßwegen gehören ſie auch der neuen Zeit, und bilden
ſich raſch und ſyſtematiſch aus, indem ſie das Creditgeben zum Geſchäft
machen, ohne doch den Beſitzer zu gefährden. Nur in ihnen liegt die
Zukunft des Realcredits. An dieſe Erſcheinung ſchließt ſich die zweite,
daß in vielen Staaten auch die eigentlichen (Geſchäfts-) Credit-
anſtalten Darlehen auf Grundſtücke geben. Hier iſt aber in der That
nur ein Einzelcreditverhältniß vorhanden, das auf unentwickelte Zu-
ſtände des Geſchäftslebens hinweist. Ueber die Landescreditkaſſen
ſ. unten.
C. Die Hypotheken-Verſicherungsvereine beruhen ihrerſeits
nur darauf, daß die Bodencreditanſtalten noch nicht zur vollen Ent-
wicklung gediehen ſind, und das Grundbuchsrecht und Verfahren dem
Einzelcredit kaum volle Sicherheit gewähren. Ihre ſehr beſchränkte Be-
deutung verſchwindet mit der Ausbildung der Bodencreditvereine faſt
von ſelbſt.
Im Allgemeinen gehören die wechſelſeitigen (ſtändiſchen) Creditvereine natur-
gemäß dem vorigen Jahrhundert, die Bodencreditanſtalten dem gegenwärtigen
und die Literatur, welche ſich an die erſten anſchloß (Bergius, Berg, Struen-
ſee u. A.; vergl. Rau §. 114) hat das Verdienſt, den letzteren den Weg ge-
bahnt zu haben, die dann ſelbſt wieder eine reiche Literatur erzeugten, deren
Geſammtreſultate die Volkswirthſchaft dann (Rau, Roſcher) als ein Ganzes
verarbeitet hat. Was nun das poſitive Recht betrifft, ſo muß man für Deutſch-
land drei Gruppen unterſcheiden. Die erſte iſt die öſterreichiſche, ſie be-
ſteht aus der galiziſchen ſtändiſchen Creditanſtalt, welche 1841 errichtet der
ſtändiſchen Form angehört; zweitens aus der Hypothekenabtheilung der
Nationalbank, welche für den Grundbeſitz des ganzen Reiches 1856 als Theil
der Nationalbank errichtet ward; und drittens aus den Bodencredit-
anſtalten, die für die einzelnen Kronländer ſucceſſive errichtet, für alle Theile
wirken und ganz auf dem Standpunkt der Aktienunternehmungen ſtehen; ſ. be-
ſonders Franz Neumann a. a. O. S. 115 ff. Die zweite Gruppe bildet
Preußen mit ſeinen ſeit 1770 ins Leben gerufenen ſtändiſchen Creditver-
bänden, die unter der Landſchaft ſtehen und dadurch mehr Inſtitute als Ver-
eine ſind (ſ. Rönne, Staatsrecht II. §. 79 nebſt Literatur). Erſt in neueſter
Zeit ſind auch einige Bodencreditanſtalten entſtanden, jedoch neben den ſtändi-
ſchen Anſtalten nicht von Bedeutung. Die dritte Gruppe wird von den Anſtalten
der kleineren deutſchen Staaten gebildet, in denen die Geſchäftscreditanſtalten
[283] zugleich für den Realcredit beſtimmt oder eigene öffentliche Anſtalten errichtet
wurden. — Bayern: Hypotheken- und Wechſelbank, mit der Verpflichtung
⅗ ihres Fonds zu Anlagen auf Grund und Boden zu verwenden (Geſetz vom
1. Juli 1834). — Hannover: Creditanſtalt von 1848 (Bening im Archiv ꝛc.
neue Folge IX. 272). — Naſſau: Landesbank von 1849, an der Stelle der
Landescreditkaſſe von 1840 (Inſtruktion vom 14. April 1849; Rau §. 113).
— Gotha: Landescreditanſtalt vom 25. Dec. 1833. — K. Sachſen: Erb-
licher Creditverein von 1844 (vergl. Rau und Roſcher a. a. O.). Eine all-
gemein ſyſtematiſche Darſtellung für Deutſchland fehlt. — England hat der-
artige Inſtitute überhaupt ſchon wegen des Mangels an einem Grundbuch nicht
ausbilden können. — Frankreich dagegen hat durch Decret vom 28. Febr. 1852
die Creditvereine ins Leben gerufen, die durchaus nach deutſchem Muſter, aber
ſtrenge als Aktiengeſellſchaften, organiſirt und conceſſionirt ſind; bisher vier
(vergl. Block, Dict. v. Crédit foncier).
c) Oeffentliches Recht der Realcredit-Vereine.
Das öffentliche Recht der Realcreditvereine beſteht nun in den-
jenigen geſetzlichen Beſtimmungen, welche ſolchen Vereinen diejenigen
rechtlichen Bedingungen der Sicherheit ihrer Forderungen geben, für
welche das Grundbuchsweſen nicht mehr ausreicht. Dieſe nun
ſcheiden ſich in zwei Gruppen.
Die erſte iſt nichts anderes, als die Anwendung der geltenden
Beſtimmungen des Vereinsrechts auf dieſe Vereine, die jedoch nur
in der zweiten Claſſe ganz zur Geltung gelangen, da die erſte Claſſe
ſeit ihrem Entſtehen den Charakter von Corporationen nie ganz hat
beſeitigen, und deßhalb auch nicht mit vollem Erfolg hat wirken
können.
Die zweite Gruppe jedoch enthält das eigentliche öffentliche, nur
auf die Bedürfniſſe der Creditoren bezügliche Recht derſelben. Hier
nun ſcheiden ſich die beiden Arten.
Die ſtändiſchen Creditvereine ſind meiſtens auf Grundlage direkter
Staatshülfe gegründet, unterſtehen daher der unmittelbaren Oberauf-
ſicht der Regierung, und genießen (Preußen) die Garantie der (ſtändi-
ſchen) Landſchaft, wofür die letztere auch die Sequeſtration bietet.
Erſt bei dem eigentlichen Creditverein kommt daher die reine Natur
des Verwaltungsrechts zur Geltung. Der Staat gibt demſelben gar
keine direkte Unterſtützung, ſondern nur Rechte. Dieſe ſind principiell
doppelter Natur: erſtlich enthalten ſie die Berechtigung, die Zinſen
mit dem Rechte der Steuern einzutreiben, und zweitens Vorrechte
bei der Execution der Schuldſumme. Wo noch Zinsbeſchränkungen
beſtehen, werden auch dieſe aufgehoben; Stempel- und andere Befreiun-
gen können nur durch beſondere Gründe motivirt erſcheinen. Dieſe
[284] Rechte ſind meiſt auch den Banken verliehen, wo dieſelben das Recht
oder gar die Pflicht haben, auf Immobilien Credit zu geben.
In Deutſchland beſtehen über dieſe Rechte keine allgemeinen Geſetze, ſon-
dern dieſelben ſind in den Statuten der einzelnen Anſtalten enthalten (ſ. Buſch,
Einfluß des Handelsgeſetzbuches auf das Grund- und Hypothekenrecht; Archiv
des allgem. deutſchen Hypothekenrechts IV. 1. 2). — In Preußen hat jede
Landesbank ihre eigene geſetzliche Geſchichte; kurz bei RönneII. 379. Der
landſchaftliche Charakter derſelben hat meiſt die Verwaltung unter Abgeordnete
der Landtage (Deputirte) geſtellt; Oeſterreich iſt viel weiter, indem die Ver-
waltungen ganz als Vereinsverwaltungen behandelt werden. Das Hauptvor-
recht der Vereine geht dahin, daß ſich ihre Exekution auch auf bewegliche Güter
erſtreckt, daß ſie die ihr vorgehenden Prioritäten ablöſen kann. Als geſetzliche
Grundlage der Schätzung gilt die hundertfache der Grundſteuer. Für die all-
gemeine Boden-Creditanſtalt: Erlaß vom 1. Juni 1864, namentlich in
Bezug auf Eintreibung der Gelder und Geltung der Dokumente (Stat. Art. 83).
Neueſtes allgemeines Geſetz vom 28. Okt. 1864 über die den Anſtalten, welche
Creditgeſchäfte betreiben, zukommenden Ausnahmen von den allgemeinen Juſtiz-
geſetzen; namentlich Recht auf Exekution für ihre Fauſtpfänder nach Art. 310,
311 des Handelsgeſetzbuches; 2) auf den Zahlungsauftrag für Hypotheken
nach dem bloßen Auszug ihrer Bücher; 3) und auf Verpachtung wenn die
Hypothek zugeſprochen iſt. — In Frankreich ſtehen die Creditvereine direkt
unter dem Miniſter, der die Direktion ernennt, und ihre Abrechnungen
werden den Finanzbehörden zur Verifikation vorgelegt, wobei die Com-
missairesjeden Akt der Société überwachen. Natürlich konnte unter dieſen
Umſtänden ein ſolches ſtreng bureaukratiſches Vereinsweſen keinen bedeutenden
Erfolg haben. Die kurze Exekutionsfriſt (ſechs Wochen) hilft dagegen nicht,
eben ſo wenig das Recht, die andern Hypotheken einſeitig zu löſchen, und die
Beſtimmung, daß die Hypothek nie die Hälfte des Schätzungswerthes über-
ſteigen darf, hindert mehr die natürliche Entwicklung als ſie dieſelbe fördert.
Wirthſchaftlicher Begriff.
Während nun der Perſonalcredit ſich auf die wirthſchaftliche Per-
ſönlichkeit bezieht, der Realcredit den Werth der einzelnen Güter zum
Gegenſtand des Verkehrs macht, iſt der Geſchäftscredit der Credit der
Unternehmung, und eben deßhalb der eigentliche Credit. Für
ihn erſt gelten daher in ihrem vollen Umfange die Grundſätze einer-
ſeits und die Forderungen andererſeits, welche über den Credit über-
haupt aufgeſtellt ſind. Erſt mit dem Geſchäftscredit beginnt die höhere
wirthſchaftliche Entwicklung der Völker. Denn erſt beim Geſchäftscredit
wird das Darlehen gegeben, regelmäßig mit der Abſicht, immer aber
mit dem Bewußtſein, daß es durch Produktion und Verkehr verwerthet
[285] werden ſoll, und daß daher Rückzahlung und Zins von dieſer ſeiner
Verwerthung im weiteſten Sinne durch das Unternehmen abhängt.
Der Geſchäftscredit hat daher zu ſeiner Grundlage weder das Vermögen
noch den guten Willen des Debitors, ſondern den Werth der Unter-
nehmung deſſelben; die beiden erſten Momente ſind für ihn unter-
geordnet. Eben darin liegt ſeine große Gewalt; denn dieſer Werth
der Unternehmung beruht eben ſo ſehr auf der perſönlichen Tüchtigkeit
als auf dem Capital; der Geſchäftscredit iſt daher auch ohne Capital
möglich; einmal gegeben aber, gibt er dem Schuldner das Capital,
das ein dritter ihm für die Leiſtungen ſeiner Unternehmung ſchuldig
iſt, noch vor der wirklichen Fälligkeit deſſelben, und während daher die
capitalloſe perſönliche Tüchtigkeit durch ihn Capital findet, empfängt
der capitalbeſitzende Unternehmer die Möglichkeit, mit doppeltem und
dreifachem Capital zu arbeiten. Erſt mit dem Geſchäftscredit iſt daher
der Aufſchwung, den das Capital überhaupt geben kann, nicht mehr
an den zufälligen Beſitz des Capitals gebunden. Nicht der perſönliche
und auch nicht der Realcredit, ſondern der Geſchäftscredit iſt es, der
jedem gibt, was er für ſein Geſchäft braucht; er iſt die abſolut freie
Bewegung des Capitals, und daher der Beginn und die Grundlage
der wirthſchaftlichen Freiheit für die wirthſchaftlich tüchtige Perſönlichkeit.
Seine Entwicklung iſt daher die Bedingung des allgemeinen volks-
wirthſchaftlichen Fortſchrittes; und es iſt daher nothwendig, daß er
wieder mit demjenigen, was für ihn Bedingung iſt, Gegenſtand der
Frage werde, was die Verwaltung dafür thun könne und dürfe.
Die Natur des Geſchäftscredits aber macht die Antwort hierauf
nicht einfach.
Wenn die obige Begriffsbeſtimmung des Geſchäftscredits als des Credits
der Unternehmung neu erſcheint, ſo wird hier nur darauf verwieſen werden
können, daß das Kriterium ſeiner Richtigkeit nicht in der Definition, ſondern
in der Auffaſſung des geſammten Creditweſens als eines organiſchen
Ganzen geſucht werden muß!
Iſt es nämlich zuerſt wahr, daß der Geſchäftscredit auf dieſe Weiſe
die Grundlage der ganzen freien ſtaatsbürgerlichen Volkswirthſchaft
wird, und daß die letztere, ſo wie ſie ſich aus der ſtändiſchen Geſtalt
der letzteren erhebt, ohne ihn nicht mehr ſein kann, ſo folgt, daß ſich
dieſe ſtaatsbürgerliche Volkswirthſchaft die Organiſation dieſes Credits
ſelbſt ſchaffen muß. Der Staat kann den Geſchäftscredit nicht
geben, und ſoll es nicht. Er kann und ſoll es darum nicht, weil die
Vorausſetzung des Geſchäftscredits die individuelle Geſtalt und
[286] Tüchtigkeit des Unternehmens und ſeiner Unternehmung iſt. Es gibt
keinen allgemeinen Geſchäftscredit, ſondern nur der Credit eines ein-
zelnen, beſtimmten Unternehmens, bemeſſen nach dem in ſeinem
Capital und ſeinem Unternehmen. Das was wir die Organiſirung
des Geſchäftscredits nennen, der durch ſelbſtändige Organe verliehene
Geſchäftscredit, kann daher nur auf ſolchen Organen beruhen, welche
eben fähig ſind, ihrem Credite ein ſolches, für den Staat unmögliches
individuelles Urtheil zum Grunde zu legen. Nicht alſo eine Reihe
von Gründen der Zweckmäßigkeit, ſondern die unabänderliche Natur
der Individualität des Geſchäftscredits macht eine direkte Credit-
verleihung durch den Staat an die Geſchäftswelt unmöglich.
Wenn es daher dennoch ein Verwaltungsrecht des Geſchäftscredits
überhaupt geben ſoll, ſo muß daſſelbe aus dem allgemeinſten Princip
der Verwaltung überhaupt hervorgehen, nach welchem die letztere dem
perſönlichen Leben nur diejenigen Bedingungen ſeiner Entwicklung
im Ganzen wie im Einzelnen zu geben hat, die ſich der Einzelne ſelbſt
vermöge ihrer Natur nicht verſchaffen kann. Dieſe nun liegen für den
Geſchäftscredit nicht im Gebiete des Güter-, ſondern des Rechtslebens.
Die geſchäftliche Tüchtigkeit, welche den Credit verdient, und die Be-
rechnung der Sicherheit und des Ertrages, welche ihn gibt, ſind Sache
des Einzelnen; aber die Rückzahlung darf nicht Sache der Willkür
deſſelben in Form und Zeit ſein, weil der Creditgebende ſeinerſeits mit
derſelben rechnet und rechnen ſoll. Dasjenige demnach, was der Staat
für den Geſchäftscredit thun kann, beſteht in der Herſtellung derjenigen
rechtlichen Grundſätze, durch welche dem gegebenen Credit dasjenige
verliehen wird, das ſeine einzige formale Sicherheit bietet, ſeine recht-
liche Gültigkeit und Zahlungspflicht; und die Geſammtheit der
hierauf bezüglichen geltenden Beſtimmungen bilden das Verwaltungs-
recht des Geſchäftscredits.
Dieſes nun hat drei Grundformen, nach den Grundformen, in
denen das wirthſchaftliche Leben die Organiſation des Geſchäftscredits
herſtellt. Dieſe aber ſchließen ſich eng an die drei Grundformen des
Geſchäftscredits ſelbſt, die wir daher zuvörderſt ſelbſtändig ins Auge
faſſen müſſen.
Unternehmungs- und Vorſchußcredit.
An ſich iſt nun der Credit ſtets gleich. Seine Arten aber ent-
ſtehen dadurch, daß er ſelbſt zu einem verſchiedenen Zwecke gegeben
werden kann und gegeben wird. Dieſer Zweck ändert mit der Beſtimmung
des als Credit gegebenen Capitals auch die Forderungen des Darleihers
[287] an Sicherheit und Rückzahlung, und damit treten dann diejenigen
Modifikationen des Geſchäftscreditrechts ein, welche das Syſtem des-
ſelben bilden. Dem Syſteme des Creditrechts liegen daher eben ſo wohl
als dem der Creditorganiſation die Arten der Grundformen des Ge-
ſchäftscredits zum Grunde. Sie ſind folgende.
Der Zahlungscredit entſteht da, wo die Zahlungspflicht früher
eintritt, als die Fälligkeit der Schuld, mit der die betreffende Zahlung
gedeckt werden ſoll. Die Beſtimmung des im Zahlungscredit dargeliehenen
Capitals iſt daher nicht die, für die Produktion verwendet zu werden,
ſondern einzig und allein die, als Zahlungsmittel für eine fällige Ge-
ſchäftsſchuld ſo lange zu dienen, bis die Zahlung des zweiten Schuldners
an den erſten erfolgt. Der Zahlungscredit iſt daher ganz gleichgültig
gegen den Reinertrag; er hat nothwendig kurze Termine; er muß
aber, da das rückgezahlte Capital wieder als Credit begeben werden ſoll,
gegen den Schuldner rückſichtslos ſein. Darauf beruht ſein Recht.
Der Unternehmungscredit dagegen enthält ein Darlehen,
welches zum geſchäftlichen Betriebe beſtimmt iſt, und ſich daher in Anlage-
oder Geſchäftscapital verwandelt. Die Sicherheit beruht hier nicht auf
der Zahlungsfähigkeit eines Dritten, ſondern auf der Produktivität des
Unternehmens; die Rückzahlung kann nicht kurz, und braucht nicht
rückſichtslos zu ſein; dafür aber wird ſie Sicherheit in Unterpfändern
ſuchen, und daher iſt der Unternehmungscredit ſo eng mit dem perſön-
lichen und Realcredit verwandt, daß er äußerlich erſt ſelbſtändig er-
ſcheint, indem ſelbſtändige Organe für ihn entſtehen.
Der Vorſchußcredit iſt ſeinerſeits nichts als der Unternehmungs-
credit ohne geſchäftliche oder reale Sicherheit, und daher ſtets ein Credit
für die entſtehende Unternehmung der nicht beſitzenden Claſſe. Es iſt
daher an ſich eine ſelbſtändige Form nicht durch die Güter-, ſondern
durch die Geſellſchaftslehre, und erſcheint als ſolche für die Verwaltung
erſt durch die eigenen Organe, die für ihn beſtimmt ſind.
An dieſe drei Funktionen des Geſchäftscredits ſchließen ſich nun
die Organe der Volkswirthſchaft, die für ihn wirken; und für dieſe
Organe entſteht das Syſtem des Geſchäftscreditrechts, das ſich
darnach in drei Theile theilt, das kaufmänniſche, das Banquiers- und
das Vereinscreditrecht.
Die Unterſcheidung zwiſchen Zahlungs- und Unternehmungscredit aufgeſtellt
bei Stein „das Bankweſen Europas und die Geſetzgebung“ in Jahrb. für
Geſetzkunde und Statiſtik 1. Jahrg. 1861. Ueber den Vorſchußcredit ebend.
und Stein, Vereinsweſen S. 166 ff. Bei den übrigen Autoren fehlt auch
die Anknüpfung an dieſe Unterſcheidung. Die Folge zeigt, daß ohne ſie eine
Behandlung des öffentlichen Creditrechts unthunlich iſt.
[288]
I. Der Zahlungscredit und ſeine öffentlich-rechtliche Ordnung.
1) Der kaufmänniſche Credit und die Handelsbücher.
Der kaufmänniſche Credit iſt derjenige Geſchäftscredit, der in
gegenſeitiger Leiſtung und Abrechnung durch die Natur des Handels
ſelbſt erzeugt wird. Der kaufmänniſche Verkehr macht die formale Ab-
ſchließung des einzelnen Vertrages für die einzelne Leiſtung eben ſo wie
die jedesmalige Zahlung für dieſelbe thatſächlich unthunlich. Er ſelbſt
wird daher unmöglich, und mit ihm alle ſeine die ganze Volkswirth-
ſchaft umfaſſenden Folgen, wenn die Gültigkeit des Vertrags und des
daraus entſpringenden Creditverhältniſſes von dem formalen Vertrags-
abſchluſſe abhängig wären. Der kaufmänniſche Verkehr hat daher die
ſeiner Natur entſprechende Vertragsform für Lieferungen, Vertrag und
Schuld ſich ſelbſt erzeugt; und dieſe Form nennen wir das Handels-
buch. Das Handelsbuch iſt daher zugleich die kaufmänniſche Form
der Schuld- und Zahlungsurkunden für den im kaufmänniſchen Verkehr
erſcheinenden Geſchäftscredit; und die Aufgabe des Staats beſteht nun
einfach darin, dieſen Handelsbüchern dasjenige Recht beizulegen, durch
welches ſie die Fähigkeit empfangen, jenem kaufmänniſchen Verkehre
als Stellvertreter formeller Verträge zu dienen. Dieß Moment iſt die
Beweiskraft der Handelsbücher, die wieder die Beobachtung der
formalen Beſtimmungen über ihre Führung zur Vorausſetzung hat.
Die Beweiskraft der Handelsbücher für den kaufmänniſchen Credit iſt
daher das erſte und ſehr wichtige Gebiet des Geſchäftscreditrechts, und
die Geſetzgebung, welche über daſſelbe beſtimmt, iſt die des Handels-
rechts in den Handelsgeſetzbüchern.
Der kaufmänniſche Credit enthält nun noch ganz ungeſchieden alle
drei Arten des Credits. Er ſelbſt entſteht langſam namentlich aus dem
internationalen Verkehr; ſeine Grundlage iſt die Scheidung des ſelb-
ſtändigen Handels von der auf denſelben berechneten Produktion, und
ſein Recht iſt Jahrhunderte lang ein bloßes Gewohnheitsrecht der kauf-
männiſchen Welt. Daſſelbe wird erſt klar, wenn ſich der Zahlungs-
credit ſelbſtändig durch den Handelsverkehr ausbildet.
2) Das Zahlungsweſen der Bankhäuſer und das Wechſelrecht.
Je weiter ſich nun das Verkehrsleben ausbildet, um ſo klarer wird
es, daß der geſammte Proceß des wirthſchaftlichen Lebens in Produktion
und Conſumtion und ihrer beſtändigen, durch den Handel vermittelten
Wechſelwirkung auf der regelmäßigen Innehaltung der gegenſeitigen
Verbindlichkeiten in der Form der Zahlung beruht. Nach dem Weſen
des Handels aber ſetzt die Zahlung des Einen ſtets die des Andern
[289] voraus; ja ſie wird zur Bedingung der ganzen gewerblichen Leiſtung
und Stellung jedes Unternehmers. Das Ausbleiben der Zahlung eines
Einzelnen wird daher zu einer Gefahr für den ganzen Verkehr; der
organiſche Proceß des Güter- und Werthumlaufs iſt geſtört; und an
dieſe Gefahr und Störung ſchließt ſich nun, als Hilfe und Heilmittel,
die weitere Entwicklung des Creditweſens.
Dieſe nun beginnt damit, daß zunächſt die Creditirung der zur
Zahlung beſtimmten Summe durch den hohen Werth, den die prompte
Zahlung für jedes Geſchäft hat, ſelbſt zu einem Unternehmen wird.
Ein ſolches Unternehmen heißt ein Bankhaus (Banquier). Das
Entſtehen der Bankhäuſer daher, ſowohl als die Funktion derſelben im
wirthſchaftlichen Leben iſt ein volkswirthſchaftlicher Proceß, der zunächſt
rein volkswirthſchaftlichen Geſetzen folgt. Je weiter aber die wirth-
ſchaftliche Bewegung fortſchreitet, und je nothwendiger daher das Da-
ſein und die Funktion dieſer Bankhäuſer erſcheint, um ſo klarer wird
es, daß die erſte Bedingung dieſer Funktion die Sicherheit und Genauig-
keit der Rückzahlung des zum Zwecke der Zahlung eingeräumten Credits
iſt, da dieſe Rückzahlung allein es iſt, welche das Bankhaus in dem
nie ruhenden Proceß des gegenſeitigen Zahlungsweſens in den Stand
ſetzt, durch beſtändig wiederholte Creditirung die Störung des Verkehrs
in Handel und Produktion zu beſeitigen. Damit wird dieſer Credit
der Bankhäuſer aus einem urſprünglich rein privatrechtlichen Vertrage
eine Funktion im allgemeinen Intereſſe, eine öffentliche Funktion; ſie
wird ein integrirendes, für kein Geſchäft mehr entbehrliches Element
des Zahlungsweſens der geſammten Volkswirthſchaft, und jetzt wird es
daher auch Aufgabe der Geſetzgebung und Verwaltung, dieſer für das
Ganze nothwendigen Funktion diejenige Bedingung zu geben, ohne
welche ſie ſelbſt eben dieſen allgemeinen Charakter verlieren würde.
Dieſe Bedingung aber iſt die unbedingte und unmittelbare
Pflicht zur Rückzahlung eines ſolchen Zahlungscredits. Die Vor-
ausſetzung dafür iſt, daß ein Credit als Zahlungscredit von den Be-
theiligten anerkannt ſei; dazu bedarf es einer klaren, zu dieſem Zweck
genau beſtimmten Form; dieſe Form iſt der Wechſel; und die geſetz-
lich ausgeſprochene unbedingte Zahlungspflicht des Wechſels iſt das
Wechſelrecht.
Der Wechſel unterſcheidet ſich daher von der Anweiſung, die ihm
hiſtoriſch voraufgeht und ihn natürlich auch ferner begleitet, formell
durch ſeine Zahlungsverpflichtung; der Sache nach aber entſteht der
Wechſel erſt da, wo ſich der reine Zahlungscredit von dem kaufmänni-
ſchen Credit ſcheidet, und in den Bankhäuſern ſeine eigenen Organe
ſucht. Die Geſchichte der kaufmänniſchen Anweiſungen als einfaches
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 19
[290] Zahlungsmandat darf daher nicht mit der des Wechſels verſchmolzen
werden, wie es gewöhnlich geſchieht; denn der Anweiſung liegt ein
kaufmänniſcher Credit und ein Handelsbuch zum Grunde, dem Wechſel
nicht. Der Wechſel beginnt, wo ſeine Form die geſetzliche Be-
dingung ſeines Rechts wird, und das darum, weil eben dieſe Form
den reinen Zahlungscredit ohne alle Beziehung auf vorhergegangene
Geſchäfte bedeutet. Die zweite Epoche des Wechſelrechts iſt die, wo
vermöge der Entwicklung des geſchäftlichen Lebens der Creditumlauf
ſich über alle wirthſchaftlichen Verhältniſſe erſtreckt, und enthält daher
die Ausdehnung der Wechſelfähigkeit über alle wirthſchaftlichen
Perſönlichkeiten. Das Syſtem des Wechſelrechts endlich entſteht da-
durch, daß dieſe Form des Wechſels eine Reihe von Modifikationen
der Zahlungspflicht zuläßt, die aber das Princip nicht ändern können.
Das Wechſelrecht ſelbſt aber iſt demgemäß ein ſelbſtändiges Gebiet des
Rechtslebens, deſſen wiſſenſchaftliche Grundlage nicht der Vertrag, ſon-
dern die Lehre vom Credit iſt. Sie iſt es, welche uns das Wechſel-
recht als das erkennen läßt, was es wirklich iſt, nämlich das Ver-
waltungsrecht des Zahlungscredits der einzelnen Unter-
nehmung. Und darin liegt auch der Uebergang zur folgenden
Geſtaltung des Creditweſens.
Es liegt wohl in dem Mangel eines feſten Begriffes von der inneren
Verwaltung, daß einerſeits auch das Wechſelrecht keine beſtimmte ſyſtematiſche
Stellung in der Wiſſenſchaft hat, und daß ihm weder die Nationalökonomie,
noch die Polizeiwiſſenſchaft, noch die Volkswirthſchaftspflege eine ſolche hat geben
können. Das Obige wird wohl feſtſtellen, daß ohne den entſcheidenden Unter-
ſchied zwiſchen Zahlungs- und Unternehmungscredit zwar die Exegeſe des Wechſel-
rechts, nicht aber das organiſche Verſtändniß deſſelben zum Abſchluſſe gedeihen
kann. Im Uebrigen muß es hier genügen, ſowohl in Beziehung auf Geſchichte
als Theorie und Geſetzgebung auf die ausgezeichneten Werke von Thöl, Contze
u. A. zu verweiſen, bei denen wir einzig den klaren Unterſchied zwiſchen An-
weiſung und Wechſel vermiſſen, der freilich von der obigen Unterſcheidung ab-
hängig iſt. Jedenfalls gehört hierher auch das Geſetz über die Cheques, ſo
weit es ein ſolches gibt (franzöſiſches Geſetz vom 28. Mai 1865; ſ. Auſtria
1865, Nr. 65).
3) Das Vereinsweſen des Zahlungscredits. Das Bankweſen.
Begriff und Rechtsprincip.
Mit kaufmänniſchem und Bankhauscredit, mit Handelsbuch und
Wechſelrecht ſind nun zwar die Elemente des Creditweſens und Rechts
gegeben, allein der Credit ſelbſt erſcheint noch immer als Sache der
Einzelnen, welche ihn brauchen und geben. So wie aber das Credit-
weſen ſich weiter entwickelt, und jede Wirthſchaft ſtreben muß, durch
[291] Credit den Werth ihrer ausſtehenden Forderungen in ein unmittelbar
benutzbares Capital zu verwandeln, erhebt es ſich über das zufällige
und willkürliche Verhältniß des Einzelcredits, und erzeugt mit dem
allgemeinen Geſchäftscredit einen ſelbſtändigen Organismus für den-
ſelben. Dieſer Organismus entſteht durch das Eintreten des Vereins-
weſens in den Geſchäftscredit.
Die Vereine für den Geſchäftscredit beruhen nun zunächſt darauf,
daß der Credit fähig iſt, Gegenſtand einer Unternehmung zu ſein.
Jeder Creditverein iſt daher zuerſt eine Geſellſchaft. Allein die All-
gemeinheit ihrer Funktion läßt das Stehenbleiben bei Einer Art des
Credits nicht zu. Sie breitet ſich daher aus über den geſammten Credit,
und ſo entſteht das Syſtem der Creditgeſellſchaften durch die Theilung
der Arbeit im Creditgeben in den Geſellſchaften für Zahlungs-, Unter-
nehmungs- und Vorſchußcredit. Mit dieſem Syſtem iſt nun das ge-
geben, was wir die Organiſation des Credits nennen. In dieſer
Organiſation nun wird nicht bloß mehr das Einzelintereſſe der Mit-
glieder, ſondern auch das Geſammtintereſſe des Creditweſens vertreten;
die Geſellſchaften werden damit Vereine; und ſomit empfangen ſie
auch den doppelten Inhalt ihres Rechts. Daſſelbe iſt zuerſt das reine
Geſellſchaftsrecht, und dann das Vereinsrecht, von denen das erſte das
Einzelintereſſe der Mitglieder, das zweite das öffentliche Intereſſe ver-
tritt. So bildet ſich die Organiſation des Credits zu einem Syſtem
von Verwaltungsvereinen des Credits, deren Recht nun wieder
je nach der Art ihrer Funktion ein verſchiedenes iſt und ſo zum Sy-
ſteme des öffentlichen Creditrechts wird, deſſen einzelne Gebiete nun
folgende ſind.
Unmöglichkeit, den Gegenſtand gründlich zu behandeln, ſo lange man nicht
ein ſelbſtändiges Bild vom Vereinsweſen hatte. Darum auch die Unmöglich-
keit, die rein nationalökonomiſche Auffaſſung von der verwaltungsrechtlichen zu
ſcheiden. Demnach iſt ohne dieſe Scheidung ein genügendes Reſultat nicht
zu finden.
a) Das Bankweſen als Organismus des reinen Zahlungscredits.
Volkswirthſchaftliche Funktion der Notenbank.
Das Bankweſen in ſeiner öffentlichen Stellung und Bedeutung
muß nun zuerſt in ſeinem Verhältniß zur Entwicklung des Zahlungs-
credits aufgefaßt werden.
I. Sobald nämlich durch die Bankhäuſer und das Wechſelrecht
der Zahlungscredit ſelbſtändig funktionirt, wird die erſte Bedingung
dafür, daß dieſe Bankhäuſer ſelbſt einen höheren und regelmäßigen
Zahlungscredit finden, um den übrigen Geſchäften regelmäßig Credit
[292] geben zu können. Dieſe Bedingung ſelbſt kann wieder nur erfüllt
werden, indem ſich die Bankhäuſer ſelbſt eine Geſellſchaft bilden, deren
Aufgabe es iſt, ihnen den für ihre Creditgeſchäfte nöthigen Credit unter
möglichſt billigen und gleichartigen Bedingungen zu geben, da in der
That ihr Credit die Bedingung für den Einzelcredit iſt, den ſie den
einzelnen Geſchäften geben. Die Bildung einer ſolchen Geſellſchaft iſt
daher ſchon an und für ſich die Bedingung der vollen Ordnung
und der Entwicklung des Creditweſens überhaupt. Sie hat
mithin von vorn herein den Charakter eines Organes des öffentlichen
Intereſſes, und erſcheint daher, obwohl zunächſt auf den Erwerb ihrer
Mitglieder berechnet, als ein Verwaltungsverein des öffentlichen Credit-
weſens, und iſt von jeher als ſolcher behandelt. Eine ſolche Geſellſchaft
als Verwaltungsverein anerkannt, iſt eine Bank. Die Bank iſt da-
her die Vollendung und Spitze des öffentlichen Creditweſens im obigen
Sinne. Das iſt ihre wahre Bedeutung. Nur hat ſich dieß erſt ſtufen-
weiſe ausgebildet, und die ſogenannten Arten der Banken ſind nichts
als die Stadien, welche das öffentliche Creditweſen in dieſer ſeiner
höchſten Spitze durchmacht. Denn die Grundlage derſelben ſind nur
die Formen, in welchen der Zahlungscredit je nach der Entwicklung
der Volkswirthſchaft gefordert und gegeben wird.
II. Die erſte Art iſt die Depoſitenbank, in welcher die
Sicherheit der Zahlungen auch ohne Credit durch das von der Geſell-
ſchaft übernommene einfache Depoſitum erzielt wird. Sie iſt die noch
gänzlich unentwickelte Form des Bankweſens.
Erſt in der Girobank wird durch das Depoſitum nicht mehr
bloß die Zahlung geſichert, ſondern ſie wird auch durch das Giro
vollzogen. Das Rechtsprincip derſelben iſt, daß die Umſchreibung
als wirkliche Zahlung gilt. Die nothwendige Vorausſetzung dafür
aber iſt die Reduktion der Depoſiten auf eine gemeinſame Rechnungs-
münze, das Bankgeld. Auch in der Girobank iſt daher noch von
Credit keine Rede; wohl aber entſteht hier zuerſt ein Geld, das keiner
Münze entſpricht. Die Gründe, weßhalb das geſchah, ſind bekannt.
Aber mit dem Bankgelde iſt die Form für die Note gegeben, die nun-
mehr zur Geltung gelangt.
III. So wie nämlich, namentlich durch die Entwicklung des trans-
atlantiſchen Handels, der Credit in ſeiner Quantität nicht wie das
Geld an ein beſtimmtes Quantum gebunden iſt, ſondern ſich nach Be-
dürfniß vermehren und vermindern wird, entſteht die Note. Mit ihr kann
die Bank in jedem Augenblick über das ganze Capital verfügen, deſſen
der Credit bedarf, da die Grundlage des Notenwerthes in der That
die gegenſeitige Zahlungsfähigkeit der Noteninhaber ſelbſt bildet. Und
[293] aus dieſer Natur der Notenbank folgen nun die wirthſchaftlichen Grund-
ſätze ihrer Verwaltung, welche zugleich die Verwaltung des Zah-
lungscredits in der Volkswirthſchaft enthalten.
Die Form nämlich, in welcher die Bank ihren Credit in Noten
gibt, iſt die des eigentlichen Zahlungscredits im Gegenſatz zum Unter-
nehmungscredit. Die Bank darf kein Darlehen geben, anders als
gegen Inhaberpapiere, ſondern ſie discontirt die Wechſel, und
zwar weſentlich die Wechſel der Bankhäuſer, die den gegen ihr Accept
von der Bank entnommenen Notenbetrag den einzelnen Unternehmungen
creditiren. Für das Urtheil über die Zahlungs- (nicht bloß Credit-)
Fähigkeit der Ausſteller iſt das Organ der Cenſoren beſtimmt. Die
Summe des in der Form der discontirten Wechſel dem allgemeinen
Credit zugeführten Notenmaſſe iſt das Portefeuille der Bank; die
Summe der gegen Inhaberpapiere dargeliehenen Noten iſt der Lom-
bard. Die Zeit, für welche der Zahlungscredit bewilligt wird, iſt die
Sicht. Es darf, wie geſagt, keine lange Sicht des Bankaccepts
geben. Wenn jedoch das Creditbedürfniß der einzelnen Unterneh-
mungen größer wird als das Capital der Bankhäuſer, das ſie ſelbſt
oder die Bank beſitzen, muß der Credit ſtatt mit wirklichem Gelde,
mit Zahlungsanweiſungen gegeben werden, welche die Bank auf ſich
ſelber ausſtellt. Die Bedingung dafür, daß dieſe Anweiſungen die
Funktion des Geldes übernehmen, und daher dem Credit dienen können,
beſteht in der Fähigkeit der Bank, dieſelben einzulöſen. Die Grund-
ſätze und Errichtungen, welche dieſe Fähigkeit ſichern, bilden die Fun-
dation der Bank; die Summe, welche dafür zunächſt beſtimmt iſt,
iſt der Bankfonds. Die auf die unmittelbare Zahlung durch den
Bankfonds lautenden Anweiſungen der Bank ſind die Noten, und die
für die Ausgabe von ſolchen Noten beſtimmte Bank iſt die Notenbank.
Erſt mit der Note wird die Bank ein Creditverein. Denn die Vor-
ſtellung, daß irgend eine Bank ihre Noten wirklich gegen Münze ein-
löſen könne und ſolle, iſt bekanntlich durchaus falſch und gehört der
niederen Entwicklung der Volkswirthſchaft. Die Fähigkeit der Note,
als Zahlungsmittel zu dienen, beruht vielmehr darauf, daß der erſte
Empfänger der Note Forderungen an Dritte hat, durch deren Zahlung
er ſeine Verpflichtung gegen die Bank deckt, während ſein Schuldner
wieder Gläubiger von Dritten iſt, und ſo fort. Die wahre Sicherheit
der Note iſt daher die gegenſeitige Zahlungsfähigkeit aller Unterneh-
mungen, welche die Noten brauchen. Die Fähigkeit der Noten aber,
dem Credit zu dienen, beſteht darin, daß ſie für die Anlage in der
Unternehmung beſtimmt ſind. Der Lombard muß ſtets auf kurze
Kündigung gelten. Der Preis, den die Bank für ihren Credit in Noten
[294] fordert, iſt der Discont. Seine Höhe richtet ſich nach den Geſetzen
des Preiſes überhaupt; allein da die Bank ihrem Weſen nach mit den
Bankhäuſern verkehrt, und daher die größte Sicherheit für ihren Credit
hat, ſo iſt der Bankdiscont ſtets der niedrigſte Zahlungszinsfuß, wäh-
rend ſein Steigen und Fallen das Steigen und Fallen der in den
Zahlungspflichtigkeiten ausgedrückten Bewegung der Unternehmungen
bedeutet. So iſt die (eigentliche) Bank das Haupt des Creditumlaufs,
aber in ihrer Thätigkeit zunächſt geregelt durch das Intereſſe ihrer
Mitglieder; denn dieß Intereſſe fordert, was das volkswirthſchaft-
liche Leben ſelbſt von der Bank fordern muß: möglichſte Thätigkeit für
den Credit, um des Gewinns willen, der damit verbunden iſt, und
möglichſte Sicherheit für die Note, welche die Sicherheit des Geſell-
ſchaftscapitals bedeutet, und nur durch Beſchränkung der Notenausgabe
auf das Nothwendige, ſtrenge Innehaltung der Discontregeln, und
ſcharfe Cenſur erzielt werden kann. Es würde daher gar kein Grund
vorhanden ſein, die Bank anders als jeden andern Verein zu be-
handeln, wenn nicht ein ganz ſpecifiſches Element hinzukäme, welches
die Quelle eines ihm entſprechenden oder des eigentlichen Bank-
rechts wird.
Der Grund weßhalb es für unſer Gebiet ganz werthlos iſt, einfach die
Arbeiten über das Nationalbankweſen von Laws Considerations und Adam
Smith bis hinab auf Fullarton, Mac Leod und Wagner zu citiren, liegt wohl
klar vor. So lange man nicht einerſeits Zahlungs- und Unternehmungscredit
ſcheidet, und damit beſtändig Banken und Creditinſtitute verſchmilzt, und ſo
lange man nicht andererſeits die von allen öffentlich-rechtlichen Beſtimmungen
unabhängigen rein wirthſchaftlichen Geſetze des Bankweſens von dem öffentlichen
Recht derſelben trennt, kann nur eine ins Einzelne gehende kritiſche Bearbei-
tung das große Material, in dem jedoch ſehr ſelten etwas wirklich Neues
geſagt wird, behandeln. Wir ſetzen nun hier alles was die reine Nationalöko-
nomie betrifft, hier als bekannt voraus. Unſere Aufgabe liegt im Folgenden.
Sie iſt im Grunde ſehr einfach.
b) Das öffentliche Recht des Bankweſens.
Sobald nämlich das Creditleben der Völker ſich entwickelt, dringen
mit dem Credit, den die Bank gibt, die Noten in das geſammte
Völkerleben hinein und werden allgemeines Zahlungsmittel, indem der
Credit der Bank ſich auf jede einzelne Note erſtreckt. Dadurch ſtellt
ſich in der Notencirculation zunächſt faktiſch ein zweites Geldweſen, das
Papiergeldweſen, neben das Münzgeldweſen. Die Gründe, aus dem das
erſtere zunächſt an den großen Handelsplätzen, dann aber auch im ganzen
Verkehr allmälig das letztere verdrängt, ſind bekannt. Sie liegen theils
[295] in der Bewegung namentlich des Silbers nach Oſten, theils in dem
wachſenden Bedarf des Verkehrs nach Umlaufsmitteln, denen die Stei-
gerung der Zunahme der Edelmetalle nicht zu entſprechen vermag. So
wie dieß der Fall iſt, wird die Frage nach dem Verhältniß beider
Geldſyſteme zu einander eine entſcheidende für Europa; ſie iſt
natürlich zugleich die Frage nach dem Verhältniß der Bank als Organ
des Papiergeldweſens zu der Regierung als Organ des Metallgeld-
weſens; und die Entſcheidung dieſer Frage iſt die Geſchichte und der
Inhalt des öffentlichen Rechts der Banken ſeit dem Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart.
Natürlich nun iſt es, daß die gegenwärtige zum geltenden Recht
gewordene Auffaſſung ſich nur langſam gebildet hat. Es iſt durchaus
nothwendig, die Sache in ihrer hiſtoriſchen Entwicklung aufzufaſſen.
Denn die großen Grundſätze dieſes Rechts ſind in der That nichts
anderes, als ſchwer erkaufte Ueberzeugungen über die Elemente des
öffentlichen Bankrechts.
Man kann hier drei Epochen ſcheiden.
I. Die erſte beginnt mit der Anſicht der Regierungen, daß die
Banken geeignet und auch verpflichtet ſeien, ihren Credit in der Form
von Notenemiſſionen gegen bloße Schuldverſchreibungen oder Haftungs-
erklärungen von Seiten des Staates demſelben zur Verfügung zu
ſtellen. Die wirthſchaftliche Folge iſt natürlich eine Vermehrung
der Noten über das Credit- und Zahlungsbedürfniß der Volkswirth-
ſchaft; damit Entwerthung der ihrer wahren Funktion entzogenen
Noten; damit die heftigſten Störungen und Krämpfe des volkswirth-
ſchaftlichen Lebens, die namentlich mit den Napoleoniſchen Kriegen be-
ginnen, und bekannt genug ſind. Die rechtliche Folge aber iſt die,
daß die Banken, obwohl bloße Erwerbsgeſellſchaften, jetzt im Princip
als Verwaltungsorgane angeſehen werden, ſo daß einige Staaten
das Notenweſen ganz der Regierung übergeben, andere es dem Willen
der Regierung anbedingt unterordnen; dieſes letztere Verhältniß bleibt
als Princip; die Banknoten ſind allgemeines Zahlungsmittel, ſie
müſſen von den Staaten, die ihre Emiſſion veranlaßt, als geſetzlich
anerkannt werden; ihre Emiſſion iſt daher jetzt das Analogon des
Münzregals, und es ergibt ſich daher, daß die Verwaltung der Banken
dauernd aus einem Gegenſtande der Vereinsverwaltung zu einem
Objekt der Geſetzgebungen und Regierungen wird, die zwar
in verſchiedener Weiſe, immer aber grundſätzlich über die Banken ent-
ſcheiden. Dabei ſtellten ſich nun ſchon damals als Inhalt dieſer Ge-
ſetzgebung zwei Grundſätze heraus, welche ſeit dieſer Zeit auf Grund-
lage der Erfahrungen der Notencurſe als Baſis dieſes öffentlichen Rechts
[296] der Banken angeſehen werden müſſen: zuerſt die Beſchränkung der
Notenemiſſion durch eine beſtimmte, geſetzliche Fundation, und
zweitens die Beſchränkung des Bankcredits auf den Zahlungscredit,
theils durch Verbot des Ankaufs von Immobilien, theils durch die
geſetzliche Vorſchrift der kurzen Sicht bei Bankdiscont. Die Regierungs-
organe haben dabei die Aufgabe, dieſe beiden Punkte zu überwachen;
die Creditverwaltung bleibt in den Händen der Vereinsorgane. Das
iſt das dauernde Reſultat dieſer erſten Epoche, welche bis zum zweiten
Jahrzehnt geht.
II. Mit der Herſtellung des Friedens tritt nun eine gewaltige,
ganz Europa umfaſſende Entwicklung des Credits ein. Das edle Metall
reicht als Zahlungsmittel nirgends mehr aus; die neu entſtehenden
Unternehmungen beginnen daher, ſich auf Umwegen aus dem Zahlungs-
credit Unternehmungscredit zu machen. Noch iſt der weſentliche Unter-
ſchied beider nicht klar. Die Banken, an ihrer Spitze die Bank von
England, geben nach, und discontiren Wechſel, deren Baſis nicht mehr
eine Zahlungspflicht Dritter, ſondern nur ein rentables Unternehmen
iſt, das zwar den hohen Discont trägt, nicht aber zur Rückzahlung
des Capitals fähig iſt. Die Folge iſt mit der eintretenden Wechſel-
zahlungspflicht der Concurs der auf dem Bankcredit beruhenden Unter-
nehmungen; durch die allgemeine Gegenſeitigkeit des Credits wird er
ſelbſt allgemein, und ſo entſtehen die Handelskriſen (1820). Die
Handelskriſen zeigen, daß die Stellung der Banken auch jetzt noch keine
klare iſt. Theorie und Geſetzgebung geben ſich gleichzeitig alle Mühe,
Grund und Beſeitigung des Uebels zu entdecken; theoretiſcher Streit
und praktiſche Verſuche ziehen ſich hin bis zu den fünfziger Jahren,
und da erſt wird es verſtanden, daß die Bank ihre Funktion erſt dann
ungeſtört vollziehen könne, wenn der Zahlungscredit zur aus-
ſchließlichen Aufgabe der Banken, und der Unternehmungs-
credit, von ihnen definitiv getrennt, Gegenſtand ſelbſtändiger
Creditvereine wird. Das iſt das Reſultat der Epoche, welche von
der Peels-Akte bis auf unſere Zeit geht. Sie hat in dem Rechte der
Banken nicht viel geändert, ſondern daſſelbe nur klarer gemacht; wohl
aber hat ſie den alten Gedanken Laws aufs neue geboren und zu
einem Syſteme gemacht, dem die Zukunft gehört. Das iſt der Grund-
ſatz, überhaupt an die Stelle des Metallgeldes das Papiergeld-
ſyſtem zu ſetzen. Mit ihm wird eine ganz neue Verwaltung und
ein neues Recht des Bankweſens eintreten. Die leitenden Grundſätze
dieſes Rechts, vielbeſtritten aber ſiegreich vordringend, ſind erſtlich,
daß es nur Eine Note und nur Eine Notenbank geben dürfe,
zweitens, daß die Note die volle Währung habe, und drittens,
[297] daß die Bank an die Stelle der finanziellen Caſſenverwaltung trete.
Dieſe Grundſätze beginnen bereits ſich Bahn zu brechen. Unterdeſſen
ſchließt die bisherige Epoche mit dem großen Reſultate, das als Vor-
ausſetzung der nächſten Epoche betrachtet werden muß: der Scheidung
der Notenbanken von den Creditbanken. Dieſe iſt daher bis
jetzt der herrſchende Charakter des öffentlichen Bankrechts unſerer Zeit
und hat das gegenwärtige Bankrecht definitiv geſtaltet.
III. Die leitenden Grundſätze dieſes öffentlichen Bankrechts, als
Ergebniß dieſer hiſtoriſchen Entwicklung, ſind nun folgende:
- 1) Das Bankrecht iſt kein reines Vereins- ſondern ein Verwal-
tungsrecht, in welchem die Geſetzgebung (durch Geſetz oder Bank-
ſtatut) die Principien der Funktion der Bank beſtimmt, und der Bank-
verein unter amtlicher Oberaufſicht die Vollziehung hat. - 2) Es darf nur Eine Notenbank geben.
- 3) Die Fundation und Emiſſion der Noten werden vom Geſetze
beſtimmt. - 4) Die geſetzliche Aufgabe der Creditverwaltung der Bank iſt der
Zahlungscredit mit ſtrengem Ausſchluß des Unternehmungscredits. Da-
her kein Erwerb von Immobilien, keine Betheiligung an Unterneh-
mungen, kein Handel in Werthpapieren, kein Disconto auf lange
Sicht. Conſequent iſt dafür, daß den Noten der Bank die volle
Währung, Staatswährung ſowohl als Verkehrswährung gegeben werde. - 5) Die Erfüllung dieſer Aufgabe ſetzt ein Syſtem von Filialen
voraus, und dieſe wieder machen es möglich und werden es hervor-
bringen, daß das ganze Zahlungsweſen des Staats in Ein- und Aus-
gabe durch die Bank verwaltet werde.
Dieſe Grundſätze des Bankrechts ſowohl als der hiſtoriſche Ent-
wicklungsgang des Bankweſens iſt in jedem Staate Europas wieder
verſchieden. Die Banken haben eben ſo wohl ihre ſtaatliche Indi-
vidualität wie die übrigen Theile der Verwaltung. Bei dieſer natio-
nalen Darſtellung des Bankweſens beginnt daher das beſondere
Gebiet der Banklehre, das ſelbſtändige und weitläufige Bearbeitung
bedarf.
Die bisherige Literatur über das Bankweſen iſt aus zwei Gründen nur
als Material für die Beurtheilung zu gebrauchen. Erſtlich mangelt ihr die
Beachtung des öffentlichen Rechts der Banken, zweitens aber und vor allem
jede Vergleichung der verſchiedenen Bankſyſteme. Wagner iſt zu einſeitig
im engliſchen Bankweſen, Hübner zu einſeitig compilirend. Die Engländer
wiſſen wenig von Frankreich und gar nichts von Deutſchland; die Franzoſen
kennen nur Frankreich; die Deutſchen kennen beide, aber ſind eben nur Natio-
nalökonomen, die von Buſch und Adam Smith bis zu Wagner faſt nur über
[298] die Gefahren und Geſetze der Emiſſion reden, ohne auf das öffentliche Recht
einzugehen, ſo weit daß Neuere wie Roſcher und die Zahl von Handbüchern
gar nicht mehr vom Bankweſen reden. Das Verſtändniß beginnt hier bei der
Vergleichung. Der erſte Verſuch einer ſolchen organiſchen Vergleichung:
Stein, das Bankweſen Europas und die Geſetzgebung (Jahrb. für Geſetzkunde
und Statiſtik 1862. S. 113—165). Vortrefflich ausgeführt in dem ſchönen
Werke von Wolowsky(la question des Banques 1864); nur kennt er
Deutſchland nicht. Die Elemente ſind folgende.
England. Bis zu unſerem Jahrhundert Auffaſſung der Banken als
reine Erwerbsgeſellſchaften; daher die Note als reiner Wechſel derſelben
auf Sicht; daher volle Freiheit der Errichtung und der Notenausgabe. Ein-
treten der Regierungsthätigkeit 1796 mit der erſten Suſpenſion der Baarzahlung.
Von da an Gegenſatz der Bank von England mit den Privats Banks (örtliches
Bankſyſtem); die Bank von England wird allmählig zur eigentlichen Bank, und
die örtlichen Banken zu Creditinſtituten. Erſter Schritt: Akte vom 26. Mai
1826; Bank von England ausſchließlich zur Notenausgabe für London und
den Umkreis von 65 Meilen berechtigt, Abhängigkeit der andern Banken von
ihr. Akte von 1836: Errichtung von Creditinſtituten (ſ. unten). Darauf Akte
von 1844: Bank Charter vom 19. Juli; Organiſation der Fundation und
Emiſſion (Banking Department) und Creditverwaltung (Issuing Department):
Verbot neuer, Einziehung alter örtlicher Banken: Joint Stock Banks Act
vom 19. Sept. 1844: Organiſation der Creditinſtitute ohne Noten. Das iſt
die Baſis des gegenwärtigen Rechts. Daran ſchließt ſich in neuerer Zeit die
eigentliche Papiergeldfrage (Fullarton, Mac Leod, die Currency-theorie
und die Mancheſterſchule, ſehr gut bei Wagner. Beiträge zur Lehre von den
Banken 1857; beſonders die Geld- und Credittheorie der Peelſchen Bankakte 1862.
Stein a. a. O. 128—144. Wolowsky, Question des banques S. 307—381.
Frankreichs Bankweſen iſt einfach. Die banque de France iſt ſeit ihrer
Entſtehung beherrſcht von der Furcht vor dem Aſſignatenweſen. Entſteht als
société anonyme 1800; Unſicherheit ihrer Noten; dann geſetzliche Errichtung
der eigentlichen banque de France (L. 24. Germ. an XI.) Statuten beſtätigt
am 10. Jan. 1808. Entſtehung des Princips der Fundation und das Auf-
treten und die Nothwendigkeit örtlicher Banken als Filiale derſelben: Mollien
und Napoleon; vortrefflich bei Wolowsky S. 37 und ff. Streng bureau-
kratiſches Syſtem; aber bei Mangel an Vorſchriften ſehr gute Leitung: Ce
que la loi impose à la banque d’Angleterre, la bonne et sage direction
donnée à la banque de France permet de le réaliser en grande partie
(Wolowsky S. 376). Die Provinzialbanken und ihr Kampf mit der banque
de France bis 1848; dann 1848 Kampf um die Einheit hervorgerufen durch
die Creditſtörungen der örtlichen Banken (Wolowsky S. 131 ff). Sieg 1848.
Alle örtlichen Banken werden der banque de France incorporirt (Decret vom
27. April und 2. Mai 1848) ebend. S. 235 ff. Die örtlichen Banken ſind jetzt
Creditinſtitute, welche mit den Noten der banque de France operiren.
Ihr gegenwärtiger Beſtand und die Vorſchriften über die formale Verwaltung
der Bank bei Block, Dict. v. Banque de France.
[299]
Von beſonderem Intereſſe iſt das Princip des Bankweſens von Nord-
amerika, das nach langen Kämpfen zu folgenden einfachen Grundſätzen gelangt
iſt durch das Geſetz vom 30. Juni 1864: „Jede Notenbank hat den Betrag
ihrer zu emittirenden Noten in Staatspapieren zu deponiren, und erhält
dafür 90 Proc. in United States Notes.Damit hat ſie zu operiren. Der
Geſammtbetrag iſt auf 300 Mill. Doll. feſtgeſtellt; Pflicht: 25 Proc. der Staats-
ſchuldverſchreibungen im Depot zu haben und vierteljährliche Reviſion (vergl.
das treffliche Werk von K. v. Hock, Finanzen und Finanzgeſchichte der Ver-
einigten Staaten (S. 731—743).
Deutſchland. In keinem Lande der Welt iſt das Bankweſen ſo un-
organiſch als in Deutſchland; es fehlt nicht bloß alle Einheit, ſondern auch
die formale Anerkennung gleichartiger Principien, und es iſt klar, daß das
Bankweſen Deutſchlands erſt durch die Einheit ſeiner Verwaltung überhaupt
entſtehen kann. Die Literatur hat ſich viel mit den theoretiſchen Grund-
fragen, aber wenig mit den faktiſchen Zuſtänden des Bank- und Notenweſens
Deutſchlands beſchäftigt. Der Gedanke des deutſchen Bankweſens ſchon an-
geregt Juſti, Polizeiweſen 6. Buch, Hauptſt. 24. und Buch 7. Hauptſt. 36.
Hübner, Banken. Dennoch iſt gerade das Bankweſen Deutſchlands höchſt
belehrend, denn es trägt auch hier durchaus den Charakter der ſtattlichen
Entwicklung.
Preußens Bankweſen hat eine kurze und klare Geſchichte. Sie ward
als reine Regierungsanſtalt „königl. Giro- und Lehnbank“ am 17. Juni
1765 errichtet, ohne Noten, alſo als ein Creditinſtitut für Unternehmungscredit.
Dieſen ſtreng amtlichen Charakter behielt ſie; 1808 dem Finanzminiſterium
untergeordnet, bloß mit Staatsmitteln fundirt; dann 1817 neue Organiſation,
jedoch unter ausſchließlicher Leitung des königl. Commiſſarius. Aber erſt
durch Kabinetsordre vom 3. Okt. 1846 Errichtung einer eigentlichen Bank,
fundirt auf Aktien neben dem Staatscapital, mit Notenausgabe und grund-
ſätzlicher Beſchränkung auf den Zahlungscredit und Feſtſtellung der Drittel-
deckung. Jedoch ward das Issuing Department in der „königl. Immediatcom-
miſſion zur Controlirung der Banknoten“ durch Kabinetsordre vom 11. Jan.
1846 wiedergegeben; die Leitung hat nach wie vor ein amtlicher Chef, unter
ihm ein gewählter Bankausſchuß; Comptoire und Filiale in den Provinzen;
neuere Beſtimmungen durch Geſetz vom 7. Mai 1856. Neben dieſer eigent-
lichen Bank die örtlichen Banken mit beſchränkter Zettelausgabe (7 Mill.),
deren Zweck neben den Filialen der preuß. Bank nicht einzuſehen iſt, und un-
klare Scheidung des Unternehmungscredits (Caſſenverein, ſ. unten) während die
Banknoten dennoch keine Währung haben. Ohne eigene Literatur. Vergl.
Rönne, Staatsrecht II. §. 235. Stein a. a. O. S. 150 ff. — Oeſter-
reichs Bankweſen datirt eigentlich von dem Entſtehen der Nationalbank
(Patent vom 1. Juli 1816). Sie war beſtimmt, vor allem Ordnung in das
zerrüttete Papiergeldweſen Oeſterreichs zu bringen. Ihr Princip war und iſt
daher von Anfang an allerdings das einer eigentlichen Bank für den Zah-
lungscredit, aber dadurch daß ſie ihre fundirten Noten an die Stelle der durch
ſie einzuziehenden Währungsſcheine ſetzen mußte, entſtand das Verhältniß, das
[300] eigentlich ihre Geſchichte bildet; ihre weſentliche Fundation war die dadurch
entſtandene Schuld des Staates an die Bank, durch welche ſie ſo innig
mit der Finanzverwaltung zuſammenhängt. (Vergl. J. v. Hauer, Beiträge
zur Geſchichte der öſterr. Finanzen und Bidermann, die Wiener Stadtbank.
1859.) Die Errichtung der Creditanſtalt ſchied dann definitiv den Unternehmungs-
credit vom Zahlungscredit. — Die übrigen deutſchen „Banken“ bilden nur eine
Anzahl von Inſtituten, von denen die meiſten zugleich Unternehmungscredit
gewähren, und einige ſogar direkt durch ihre Statuten dazu verpflichtet ſind,
während über die Notenemiſſion und Fundation durchaus kein gemeinſames
Princip exiſtirt, vielmehr die widerſprechendſten Grundſätze zur Geltung gelangt
ſind. Das iſt nur erklärlich durch den Mangel einheitlicher Geſetzgebung in
Deutſchland, und wird ohne dieſelbe auch nicht beſſer werden. Von einem
deutſchen Bankrecht oder Bankweſen kann dabei keine Rede ſein (ſ. das Material
bei Hübner; die Zuſammenſtellung bei Stein S. 155 ff.).
II. Der Unternehmungscredit und ſein öffentliches Recht.
Wirthſchaftliche Funktion.
Urſprünglich nun erſcheint in der Volkswirthſchaft das Creditweſen
mit dem Darlehen einerſeits und dem Zahlungscredit andererſeits er-
ſchöpft. Allein das Darlehen beruht auf einem beſtehenden Vermögen,
und der Zahlungscredit auf einem abgeſchloſſenen Geſchäft. Wo daher
eine künftige Unternehmung für Anlage und Betrieb Credit ſucht,
genügen beide nicht. Die neue Unternehmung ſucht eine andere Art
des Credits. Das Weſen dieſes Credits beſteht darin, daß derſelbe
ſeine Sicherheit in dem Werthe der Unternehmung an ſich, und ſeine
Verzinſung in dem Ertrage derſelben ſucht, während er die Rückzahlung
nur als gewöhnliche induſtrielle Amortiſation der Anlage betrachtet.
Er erſcheint daher nicht als ein Darlehen eines Gläubigers an einen
Schuldner, ſondern als eine Betheiligung eines Capitals an einem
Unternehmen. Er kann daher zu ſeiner Entwicklung weder durch die
Anſtalten für Darlehen, noch durch Realcredit, noch durch Zahlungs-
credit gelangen, ſondern fordert und erzeugt ſich ſeinen eigenen Kreis
von Organen, deren Lebensprincip nach dem Obigen nicht bloß das
Hingeben eines Capitals, ſondern die Theilnahme der Creditoren an
der Unternehmung ſelbſt iſt; das iſt, der Unternehmungscredit wird,
unentwickelt in vielen Darlehen liegend und meiſt nur durch die Höhe
des Zinsfußes angedeutet (foenus nauticum) erſt durch das Geſell-
ſchaftsweſen zu einer ſelbſtändigen Creditform, die alsbald
neben Zahlungs- und Vorſchußcredit eine mächtige und wichtige Stelle
in der ganzen Volkswirthſchaft einnimmt. Das Entſtehen und die
Organiſirung des Unternehmungscredits muß daher zunächſt als ein
naturgemäßer Proceß des volkswirthſchaftlichen Lebens betrachtet werden.
[301]
Allein ſo wie nun mit der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft ſich der
Unternehmungsgeiſt, die Bethätigung der freien wirthſchaftlichen Per-
ſönlichkeit, entwickelt, treten dieſe Organe, die „Geſellſchaften“ aus der
Sphäre des Privatrechts (societas) hinaus; ſie umfaſſen nicht mehr
bloß das Verhalten zu einander, ſondern ſie werden Organe des Ge-
ſammtlebens und ſeines Verkehrs; damit wird ihr Recht ein öffentliches,
wie es ihre Stellung iſt, und ſo entſteht das Verwaltungsrecht des
Unternehmungscredits als das öffentliche Recht der Unterneh-
mungsgeſellſchaften.
Dieſes Recht hat nun, wie das was wir die Funktion dieſer Ge-
ſellſchaften nennen, zwei große Grundformen, welche ſelbſt wieder die
zwei geſchichtlichen Epochen der öffentlichen Geſtaltung des Unter-
nehmungscredits bezeichnen.
1) Das Geſellſchaftsweſen des Unternehmungscredits und die
Handelsgeſetzbücher.
Es iſt tief im Weſen der geſellſchaftlichen Geſchichte begründet,
daß der Unternehmungscredit überhaupt erſt dann zur ſelbſtändigen
Geltung und Organiſirung in den Geſellſchaften und Vereinen gelangt,
wenn die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft ſich von der ſtändiſchen trennt.
Das römiſche Recht kennt die letztere daher ſo wenig, als das alte
deutſche Privatrecht. Sie entſtehen von ſelbſt, aber ſie werden erſt
Gegenſtand des öffentlichen Rechts mit dem vorigen Jahrhundert, und
entwickeln dann drei Formen, von denen die erſten beiden die erſte,
die letztere wieder die zweite Epoche des Unternehmungscredits bilden,
und die ſich wieder durch das leitende Princip für die Berechtigung der
Theilnehmer als Mitglieder weſentlich unterſcheiden.
Die erſte Form iſt die der ſtillen Geſellſchaft, in welcher der
Creditor ſich noch mit dem bloßen Antheil am Unternehmungsgewinn
begnügt, ohne die Leitung der Unternehmung zu übernehmen.
Die zweite Form iſt die der offenen Geſellſchaft, in welcher
neben der gleichen Berechtigung jedes Theilnehmers am Unternehmungs-
gewinn auch die gleiche Berechtigung derſelben an der Leitung des
Unternehmens gilt.
In dieſen beiden Formen herrſcht nun noch das privatrechtliche
Element, weil beide ſich auf beſtimmte einzelne Mitglieder beziehen,
obwohl das öffentliche Recht bereits in der Geltung der Einheit nach
Außen und zwar als das Recht der Firma zur beſtimmten Er-
ſcheinung gelangt. Erſt in der zweiten Epoche, die im achtzehnten
Jahrhundert mit den Handelscompagnien beginnt, wird auch
das gegenſeitige Verhältniß der Mitglieder Gegenſtand des öffentlichen
[302] Rechts, und der Unternehmungscredit empfängt damit eine neue
Geſtalt.
Die dritte Form iſt nämlich die Unternehmung auf Aktien. Die
Zeichnung und Einzahlung der Aktien iſt wirthſchaftlich nichts als ein
Creditverein des betreffenden Betrages an die Unternehmung; das Recht
der Aktien auf Dividende iſt nur der Ausdruck des Weſens alles Unter-
nehmungscredits; der weſentliche Unterſchied von den beiden andern
Geſellſchaften aber beſteht darin, daß die leitenden Organe von den
Creditoren (Aktionären) gewählt werden, ihrem Beſchluſſe unter-
worfen, und für die Leitung der Unternehmung ihnen verantwortlich
ſind. Erſt in der Aktiengeſellſchaft beginnt daher das, was wir die
eigentliche Organiſation des Unternehmungscredits nennen. Aber
die Aktienunternehmung bildet doch zunächſt nur Credit und Capital
für die beſtimmte einzelne Unternehmung, für welche ſie ſelbſt ge-
gründet iſt. Sie iſt daher im Einzelgeſchäft wie jede andere Unter-
nehmung. Das Princip aber, das in ihr lebendig iſt, erzeugt nun
vorübergehend die Form, welche fähig iſt, den Unternehmungscredit
als ſolchen zu organiſiren.
Alle dieſe Formen des Unternehmungscredits entſtehen nun nicht
durch die Verwaltung und ihre Thätigkeit, eben ſo wenig wie der kauf-
männiſche Credit und die Bankhäuſer. Sie ſind zunächſt rein volks-
wirthſchaftliche Geſtaltungen, und für ſie gelten in allen Epochen daher
in erſter Reihe die Geſetze der Nationalökonomie und des Privatrechts.
Allein mit der Entwicklung des volkswirthſchaftlichen Lebens treten ſie
in den allgemeinen Verkehr, und nehmen in ihm ſelbſt eine bedeutendere
Stellung ein, wie die Einzelunternehmungen. So wie das geſchieht,
treten diejenigen Momente bei ihnen in den Vordergrund, die die for-
male Bedingung ihrer Wirkſamkeit ſind, die rechtliche Gültigkeit ihrer
Einheit gegenüber Dritten, und die rechtliche Ordnung der Betheiligung
ihrer Mitglieder an der Unternehmung als Ganzem. Dieſe nun müſſen,
damit das Capital willig ſeinen Credit gebe, über individuelle Willkür
und Streitigkeiten erhaben ſein. Das aber kann nur geſchehen, indem
das Recht der Mitglieder gegen einander und das Recht des Ganzen
gegen Dritte als objektives Recht feſtgeſtellt wird. Der Inhalt dieſes
Rechts iſt dann wieder nicht eine Entwicklung des Rechts des Dar-
lehens oder des Mandats, ſondern iſt die Conſequenz des Weſens des
Unternehmungscredits, gleichviel ob man denſelben kennt oder nicht.
Die volle und rechtlich abgeſchloſſene Entwicklung dieſer Grundſätze tritt
nun bei den Aktiengeſellſchaften ein; zunächſt empfangen nun dieſe Ge-
ſellſchaften ihr Recht in der Form der Statuten, die ihrem Begriff
nach ſtets auf die Einzelgeſellſchaften berechnet ſind. Mit ihrer Aus-
[303] dehnung aber entſteht ein allgemeines öffentliches Recht des Geſellſchafts-
weſens, und das Recht ſcheidet ſich um ſo beſtimmter von dem übri-
gen Privatrecht, je klarer der Unternehmungscredit ſeine ſelbſtändige
Function einnimmt. Die daraus entſtehende Geſetzgebung bilden die
Handelsgeſetzbücher. Die Handelsgeſetzbücher ſind daher das ſyſte-
matiſche Recht der Organiſation des Unternehmungscredits,
wie die Wechſelrechtsordnungen das des Zahlungscredits.
Es iſt klar, daß das ganze Gebiet zu ſeiner erſten Vorausſetzung das
Vereinsweſen und ſeine ſyſtematiſche Organiſation hat, da das ganze Ge-
ſellſchaftsweſen einen Theil deſſelben bildet. Wir müſſen hiefür auf unſer
„Syſtem des Vereinsweſens und Vereinsrechts“ (1869, vollz. Gewalt 3. Thl.)
verweiſen. Die Fragen ferner, welche die obige Auffaſſung ſowohl an die
geſchichtliche Behandlung des Handelsrechts als an die Interpretation der
Handelsgeſetzbücher vom Standpunkte der Creditlehre ſtellen muß, namentlich
die Entſtehung und das Recht der Firma und den Zeitpunkt ihrer Scheidung
von der societas, ſind ſehr einſchneidender Natur, und ſcheinen uns eben ſo
wenig genügend behandelt, als die nach der Geſchichte der Aktiengeſetzgebung.
Ueber die letztere und die Mängel der Handelsgeſetzbücher ſ. unſer Vereins-
weſen S. 63 u. a. Erſte Anregung in Deutſchland von Friedrich Har-
kort (über Volksbanken 1851).
2) Der organiſche Unternehmungscredit und die Creditanſtalten.
Während nun das ganze Geſellſchaftsweſen nur noch den einem
einzelnen beſtimmten Unternehmen zum Grunde liegenden Credit
enthält, wächst das Bedürfniß nach dem Unternehmungscredit zu einem
allgemeinen, und die Möglichkeit, für jedes Unternehmen Credit zu
gewinnen, wird namentlich in der internationalen Concurrenz eine Be-
dingung aller Entwicklung der Volkswirthſchaft. Der Unternehmungs-
credit wird daher als ſolcher Gegenſtand von Unternehmungen,
ohne ſich auf eine beſtimmte Unternehmung zu beſchränken; der all-
gemeine Unternehmungscredit fordert und erzeugt ſeine Organe ſo
gut wie der beſondere, und die auf dieſe Weiſe für den Unternehmungs-
credit überhaupt gebildeten Geſellſchaften ſind die (eigentlichen) Credit-
anſtalten.
Aus dieſer Natur der Funktion der Creditanſtalten folgen nun
zunächſt die wirthſchaftlichen Grundſätze, welche für ihre Thätigkeit
gelten, und welche als nothwendige Bedingungen der Erfüllung ihrer
Aufgabe ſie ſowohl von den Zahlungs- als von den Vorſchußanſtalten
ſcheiden.
Zuerſt kann ſie Darlehen geben; allein nur als Discont oder
Lombard, um nicht dauernd das Capital zu binden. Dafür aber ſind
[304] ſie in der Sicht der Wechſel und der Prolongation der Lombards
naturgemäß unbeſchränkt, ſo daß ſie nicht bloß eben ſo kurze, ſondern
auch lange Wechſel escomptiren; und gerade das letztere iſt das Gebiet,
auf welchem das Discontogeſchäft der Creditanſtalten das der Banken
erſetzt und erhält, in der Form gleich, im Weſen tief verſchieden.
Zweitens können ſie Immobilien werden, aber nicht als dauern-
der Beſitz.
Drittens können ſie ſich an einem Unternehmen in jeder Form,
als ſtille und offene Geſellſchafter, oder als Gründer oder Aktionäre
betheiligen.
Viertens können ſie ſowohl Güter- als Werthgeſchäfte (Effekten-
handel) betreiben.
Das ſind nun die an ſich einfachen Grundſätze für das Recht und
die Funktion der Creditanſtalten. Allein gerade durch die letzteren
wird ihre Aufgabe ſo umfaſſend, daß ſie, da ſie im Grunde mit den
geſammten Unternehmungen zu thun haben, mit keinem eigenen Capi-
tale mehr ausreichen. Sie müſſen daher ihrerſeits Credit nehmen.
Das geſchieht nun zunächſt in der gewöhnlichen Form des Wechſel-
credits. An dieſe aber ſchließt ſich eine zweite. Sie ziehen die für
den Augenblick müßigen Capitale der Einzelnen an ſich, theils als
Depoſitoren — ohne Zins, aber gegen augenblickliche Kündigung —
theils als Leiher mit Verzinſung, oder gegen Kündigungsfriſt. Mit
dieſen Capitalien arbeiten ſie jetzt, in der Mitte des ganzen Geſchäfts-
credits ſtehend; und hier nun beginnt die Frage, welche als Lebens-
frage für das ganze Creditweſen und die Werthordnung der Volks-
wirthſchaft anzuſehen iſt, und namentlich das Verhältniß der Credit-
anſtalten zu den Banken ſcheidet.
II. So wie die erſteren nämlich die obige Stellung eingenommen
haben, ſo erſcheint ihre Funktion eben ſo groß und wichtig als die der
Banken, und die nächſte Folge iſt, daß ſie nun auch daſſelbe Recht
für ſich in Anſpruch nehmen, welches das eigentliche Weſen der Bank
ausmacht; das iſt das Recht der Notenausgabe.
So lange man nun nicht vollkommen klar iſt über das Weſen
der Noten, kann es fraglich ſein, ob dieſe Forderung eine berechtigte
iſt oder nicht. Die ſchweren Folgen aber, welche ſich an das wirkliche
Notenrecht der Creditanſtalten anſchließen, rufen ernſte Zweifel daran
hervor. So entſtehen die zwei Syſteme, welche jedes Volk durch-
machen muß, um zu einer definitiven Ordnung ſeines Geld- und Bank-
weſens zu gelangen, deren Bewegung die Geſchichte des öffentlichen
Creditweſens, und deren Abſchluß die definitive Geſtaltung deſſelben iſt.
Das erſte Syſtem iſt das der freien Banken. Princip deſſelben:
[305] Recht auf Notenausgabe für jede Creditanſtalt, unter irgend einer
Beſtimmung über die Fundation derſelben. Dieſe Noten ſind dann
im Unterſchiede von den Banknoten die Creditnoten. Begrün-
dung: erſt durch die Note der Creditanſtalt wird die Möglichkeit des
Credits auch für die Unternehmung gewährt, die bei dem ſtrengen
Banknotenſyſtem nur auf bereits fertige Unternehmungen und ihre
wirklich ſchon fälligen Zahlungen beſchränkt wird. Daher iſt ohne
das Recht der Creditnoten ein Aufſchwung des Geſammtlebens in einer
Zeit nicht möglich, in der daſſelbe ganz auf dem Credit ruht. Da die
Creditnote keine Währung hat, ſo iſt es ja Sache jedes Einzelnen, ſie
anzunehmen oder nicht anzunehmen. Der Freiheit in dieſer An-
nahme muß die Freiheit in der Ausgabe entſprechen. Das
und nichts anderes iſt die wahre „free trade in banking.“
Das zweite Syſtem iſt das einheitliche Bankſyſtem. Das
Syſtem erklärt, daß das freie Recht der Notenemiſſion für die Credit-
anſtalten unabweisbar verderblich wirken müſſe, indem trotz aller
Freiheit in der Annahme die Creditnote wenn auch nicht das Recht,
ſo doch die Funktion der Banknote übernehme, und unaufhaltſam
als Geld circulire. Auf dieſe Weiſe werde ein Theil des umlaufen-
den Geldes ſtets von dem Credit der Banken abhängig; wichtiger aber
ſei es, daß damit die Vermehrung und Verminderung der Geldmaſſe
von der Emiſſion an Creditnoten abhänge, und daß, da der Preis ſtets
von der Geldmaſſe bedingt iſt, das Recht zur Emiſſion der Creditnote
die geſammte Preisordnung der Volkswirthſchaft in Gefahr bringe.
Die Creditanſtalten ſollen daher unter keiner Bedingung das Recht auf
ſelbſtändige Emiſſion haben, ſondern ſollen ſich bei den Banken einen
Credit eröffnen, groß genug, um dem ſoliden Unternehmungscredit
den ſie vertreten, zu genügen, und den ſie dann mit Banknoten be-
friedigen. Trete ein Bedürfniß ein, ſo könne man die Emiſſion der
Banknoten vermehren, nie aber die Creditnote als Zahlungsmittel
zulaſſen.
Dem theoretiſchen Kampfe dieſer Syſteme ging die praktiſche Er-
fahrung zur Seite; da wo die Creditanſtalten das Recht der Emiſſion
von Creditnoten bekamen, entſtand allerdings ein plötzlicher gewalt-
ſamer Aufſchwung des Unternehmungsgeiſtes; allein die glänzendſten
Erfolge des letztern konnten die Natur der Note nicht ändern.
Die Creditnote hatte keine Fundation im Capital, ſondern nur im Er-
trage deſſelben; ihr Werth hing daher von dem letztern ab, und wo
dieſer Ertrag fehlte, trat unfehlbar Werthloſigkeit der Credit-
note ein. Die Folge war diejenige Störung des geſammten, auf
dieſe Note wenigſtens zum Theil angewieſenen Zahlungsproceſſes in
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 20
[306] der Volkswirthſchaft, welche wir die Handelskriſen nennen. Es
war damit kein Zweifel, daß die Nachtheile der Handelskriſen viel
größer waren, als die Vortheile der Creditnote. Darüber wurde man
ſich allmählig, wenn auch nach heftigen Kämpfen einig, und die Folge
war das nunmehr ziemlich feſtſtehende Reſultat, die Zulaſſung der
Emiſſion der Creditnoten aufzuheben. Dagegen aber mußte man
andererſeits den Creditanſtalten das Recht laſſen, die auf kurze Zeit
unbeſchäftigten Capitale an ſich zu ziehen, ohne ihnen doch die Fähig-
keit des Umlaufs zu nehmen. Das Mittel dafür war nun der Cre-
ditcaſſenſchein, deſſen Weſen es iſt, auf eine beſtimmte Summe
(nicht unter 100) zu lauten, feſte Zinſen zu tragen und feſte Kün-
digungsfriſt zu enthalten. Zu der Emiſſion ſolcher verzinslichen
Kaſſenſcheine ſoll jede Creditanſtalt berechtigt ſein, zu weiteren nicht.
Auf dieſe Weiſe hat ſich nun das Syſtem des Rechts dieſer Credit-
anſtalten gerade durch ihr Verhältniß zum Recht des Bankweſens feſt-
geſtellt. Seine fundamentalen Grundſätze ſind: Eine Bank, aber ſo
viele Creditanſtalten als möglich; Eine Note, oder freie Zulaſſung
von Kaſſenſcheinen, ſo daß die Summe der Banknoten das na-
türliche Correctiv der Summe der Kaſſenſcheine iſt und blei-
ben kann. Das muß die Grundlage der Geſetzgebung im Allgemeinen,
und der Statuten der Creditanſtalten im Einzelnen ſein.
III. Die wirkliche Geltung dieſer einfachen Grundſätze iſt nun
natürlich auch hier ein Werk der Zeit und der Erfahrung. Wir ſind
weder in der Form noch in der Sache damit fertig. Es iſt aber feſt-
zuhalten, daß die Schwierigkeit hiefür namentlich auf Einem Punkte
liegt. Das iſt das Wort „Bank“. Da urſprünglich in England alle
Creditanſtalten das Recht der Notenausgabe hatten, ſo war es aller-
dings natürlich, daß man ſie alle, wie die engliſche Bank ſelbſt, auch
„Banken“ nannte, ihre Creditnoten mithin als „Banknoten“ bezeichnete,
und dadurch die größte Verwirrung in das poſitive Recht, wie in die
Theorie ſelbſt hineinbrachte. Die ſcharfe Unterſcheidung beider hat da-
her bis jetzt nicht ſtattgefunden. Dennoch iſt ohne ſie zu keinem defi-
nitiven Reſultat zu gelangen. Es ſollte in Theorie und Praxis feſte
Uebung werden, das Wort „Bank“ und „Note“ nur von der eigent-
lichen Bank, „Creditanſtalt“ oder „Verein“ und „Kaſſenſchein“ nur
von den Unternehmungscreditinſtituten zu gebrauchen. Aus dem Obi-
gen aber ergibt ſich zunächſt, daß die Grundlage einer richtigen Beur-
theilung der thatſächlichen und rechtlichen Zuſtände und namentlich ihre
wahre Vergleichung bei den verſchiedenen Völkern nur das Ver-
hältniß ſein ſoll, in welchem das eigentliche Bankweſen zur Stel-
lung und zum Rechte der Creditanſtalten ſteht.
[307]
Von dem obigen Standpunkt aus iſt nicht mehr ſchwierig, weder den
Charakter der Literatur noch den der poſitiven Geſetzgebung feſtzuſtellen. Was
die erſtere betrifft, ſo leidet ſie an der Unklarheit über den Unterſchied zwiſchen
Banken und Creditanſtalten, während über die Folgen des Rechts der freien
Notenemiſſion durch die letzteren kein Zweifel iſt. Die Sache bei Rau, Volks-
wirthſchaftspflege §. 312; dagegen Unklarheit über das Notenweſen §. 247 ff.
Hübner nennt alles Banken. Leider ebenſo Röpel, Borgung der deutſchen
Banken. Gegen das Notenrecht der Creditanſtalten (auch hier Banken ge-
nannt) Hertz, zu Büſch; Moritz Mohl, Bankmanöver, Bankfrage und Kriſis
1858. Der engliſche und nordamerikaniſche Streit über free trade in banking
bei Wagner, Beiträge zur Lehre von den Banken 1857, jedoch auch ohne
Unterſcheidung; doch in der Sache klar und auf die Bullion theory zurück-
kommend: Fullarton: „Papiergeld wird in Zahlungen, Noten“ (er meint
Creditnoten) „als Darlehen ausgegeben;“ Wagner S. 64—68. Der Grund
der engliſchen Unklarheit in der Bedeutung des Wortes „bank“ und in der
falſchen Vorſtellung die Torrens ausſpricht „daß Geld in allem beſtehe, was
als Umlaufsmittel dient“ (die ſog. banking discipline); die Sache: Botſchaft
des Präſidenten der Vereinigten Staaten von 1858: „Es iſt offenbar, daß
unſer Mißgeſchick lediglich aus unſerem extravaganten und fehlerhaften Syſtem
des Papiergeldes und Bankcredits hervorging“ namentlich aus dem Recht der
1460 Creditanſtalten in Nordamerika, welche ſich alle „Banken“ nannten und
Zettel emittirten. So lange man nicht die obige Unterſcheidung macht, iſt die
Diskuſſion endlos.
Führt man nun die Vergleichung des poſitiven Rechts der einzelnen Völker
auf die obigen Grundbegriffe zurück, ſo iſt das Reſultat ein einfaches.
England hat dieſelben drei Syſteme ausgebildet, welche in anderer Weiſe
in Deutſchland beſtehen. Die engliſche Bank iſt für den reinen Zahlungscredit,
neben ihr beſtehen die örtlichen Banken, die in der That nur Creditanſtalten
mit Notenrecht ſind, die aber in den meiſten Fällen darauf beruhen, daß
ſie die unbeſchäftigten Capitalien als Depoſiten empfangen, ſo daß ihre Depo-
ſita ihre Fundation ſind. Eine geſetzliche Vorſchrift über die Fundation
beſteht nicht. Die Folge iſt, daß die Gefahr dieſer ſog. „Banken“ in der
plötzlichen Kündigung dieſer Depoſita beſteht, welche, wenn ſie mit der Prä-
ſentation der Noten zur Einzahlung zuſammentrifft, die „Bank“ ſtürzt. Früher
half dann die engliſche Bank, nach der Bank Charter Act nicht mehr, weil
die örtliche Bank ihr Privilegium an die engliſche Bank verliert, wenn ſie ſich
auflöst. Der Sieg der engliſchen Bank ſeit 1844 iſt daher eine Beſeitigung
der Creditinſtitute mit Notenausgabe; dafür aber hat gleichzeitig die Akte von
1833 die geſetzliche Organiſation der neuen engliſchen Creditinſtitute ohne
Notenausg [...]be begründet; ſie erlaubte allenthalben (auch innerhalb des
Bankrayons) [d]urch Geſellſchaften von mehr als ſechs Perſonen „Banken“ zu
errichten, aber „ohne Noten auf Sicht oder zahlbar in weniger als ſechs
Monaten auszugeben“ (vergl. Schwebemayer Aktengeſchichte Englands,
der die Sache erkennt. Stein S. 136). Die Joint Stock Comp. Act von 1844
hat dann dieſe Banken als Aktieninſtitute organiſirt. Das Unorganiſche,
[308] die zweite Claſſe der „Banken“ mit Noten verſchwindet daher mehr und mehr,
und England nähert ſich daher langſam aber ſicher dem franzöſiſch-öſterreichi-
ſchen Syſtem.
Frankreich nämlich hatte bis 1848 in ſeiner Banque de France ſeine
eigentliche Bank, und in den Provinzbanken ſeine Creditinſtitute.
Mit der Einverleibung der letzteren in die Banque de France gingen eigent-
lich die Creditanſtalten als ſolche unter; die Umwandlung in Filiale machte ſie
aus Anſtalten für den Unternehmungscredit zu Anſtalten für den Zahlungs-
credit. Es war daher ganz natürlich, daß der erſtere wieder eines eigenen
Inſtitutes bedurfte, und dieß fand er in dem Crédit mobilier (Stat. vom
12. Okt. 1852). Der Crédit mobilier iſt die erſte vollkommen klare Schei-
dung des Unternehmungscredits vom Zahlungscredit; er hat Europa eigentlich
erſt zum Bewußtſein darüber gebracht, daß der erſtere der Notenemiſſion über-
haupt nicht bedarf, die er nicht haben ſoll. Mißverſtanden von Tooke, Hist.
of Prices VI. 104. Von ihm aus gehen die großen Capitalunternehmungen,
namentlich in Eiſenbahnen; ſeine Gefahr war nicht die Ueberſpekulation, ſondern
das verkehrte Urtheil über den Werth der von ihm ausgehenden Aktienunter-
nehmungen. — In Oeſterreich begriff der geniale Bruck zuerſt die ganze
Bedeutung der Sache. Errichtung der Creditanſtalt (1855) als rein für
den Unternehmungscredit beſtimmt; neben ihr die nicht minder bedeutſame
niederöſterreichiſche Escomptegeſellſchaft, die ſich zwar auf Wechſelcredit,
aber nicht mit kurzer Sicht beſchränkte und dadurch innerhalb dieſes Gebiets,
ohne ſich bei Aktienunternehmungen zu betheiligen, Unternehmungscredit gibt.
In neueſter Zeit Entſtehung einer ganzen Anzahl von „Banken“ alle ohne
Notenemiſſion; in der That nur Creditanſtalten. Gemeinſchaftlich iſt dieſen An-
ſtalten das Recht der Emiſſion von zinstragenden Kaſſenſcheinen mit feſter
Kündigung. So iſt in Oeſterreich das Syſtem der Creditanſtalten am klarſten
wohl in der ganzen Welt ausgebildet. Vollſtändige Aufzählung im Compaß,
Jahrb. für Handel und Induſtrie 1869; Verordnung vom 28. Okt. 1865 über
„die den Anſtalten, welche Creditgeſchäfte betreiben, zukommenden Ausnahmen
von den allgemeinen Juſtizgeſetzen.“ Dagegen im übrigen Deutſchland in dieſer
Beziehung vollſtändige Verwirrung. Grundlage iſt die Scheidung der
Banken vor und nach Brucks Schöpfung. Vor 1854 ſind die verſchiedenen
„Darlehenskaſſen,“ „Leihanſtalten“ u. ſ. w. Banken mit Notenausgabe, die
aber zugleich Creditanſtalten, ja ſogar Realcreditanſtalten ſind (bayeriſche
Hypotheken- und Wechſelbank). Ihr Schutz lag darin, daß überhaupt wenig
Geſchäfte von Bedeutung gemacht wurden, und der Grundſatz feſtgehalten ward,
daß die Summe ihrer Noten an eine Fundation in Metall gebunden war. Nur
Preußen hat ſeine Reichsbank, während ſeine ſieben örtlichen Banken in der
That Creditanſtalten, die Noten derſelben Creditnoten mit Bankfundation, die
Sicht aber eine Unternehmungs- und keine Zahlungsſicht war. Nach 1854
Entſtehung einer Maſſe von ſog. „Banken,“ die alle, obgleich ſie reine Credit-
inſtitute waren, doch Notenausgabe mit den verſchiedenſten Fundationen be-
ſaßen (Leipziger, Darmſtädter, Meininger, Deſſauer, Coburger Bank u. ſ. w.;
ſ. bei Hübner, Banken). Da ſich nirgends das deutſche Geſchäftsleben con-
[309] centrirt hat, ſo hat ſich auch keine Kriſis dadurch ergeben. Es iſt eben nur
ein unfertiger Zuſtand, den nur die Einheit Deutſchlands auf dieſem
wie auf andern Gebieten beſſern kann (vergl. Stein a. a. O. S. 154 ff.).
II. Der Vorſchutzcredit und die geſellſchaftlichen Creditvereine.
Wirthſchaftliche und geſellſchaftliche Funktion.
Der Vorſchußcredit entſteht nun, zunächſt nach ſeinem formalen
Weſen betrachtet da, wo es ſich um Unternehmungs- und Zahlungs-
credit für einen ganz beſtimmten einzelnen Act handelt. Es iſt for-
mell die Verbindung beider Arten in demſelben Credit.
Denn er wird gegeben, um die Produktion möglich zu machen und
rechnet darauf, daß er bei dem Verkauf des ſpeciellen, durch ihn er-
worbenen Produkts wieder gezahlt werde. Er iſt daher der Punkt,
wo der Geſchäftscredit in den perſönlichen Credit einerſeits und in
das Hülfsweſen andererſeits übergeht. Das iſt es, was ſeine eigent-
liche Bedeutung und damit auch ſein Recht ausmacht.
Denn vermöge jener Funktion iſt dieß die ſociale Form des Ge-
ſchäftscredits, das iſt, diejenige Form, in welcher vermöge des Credits
die Erhebung der niederen Claſſe in die höhere durch ſelbſtthätiges
Streben des Einzelnen möglich wird. Der Vorſchußcredit hat daher
zwei Grundformen, die zugleich ſeine hiſtoriſchen Stadien ausmachen.
Die erſte beruht darauf, daß die Regierung die Nothwendigkeit eines
Vorſchußcredits erkennt, und denſelben daher als Regierungsmaßregel
aus öffentlichen Mitteln anordnet. Es iſt natürlich, daß dieſe Form
alsbald in das öffentliche Hülfsweſen fällt, und faktiſch den Charakter
der Armenunterſtützung annimmt. Die zweite Epoche dagegen entſteht
erſt aus dem Gegenſatz der beſitzenden und nichtbeſitzenden Claſſe.
Seine Aufgabe wird hier nicht damit erſchöpft, daß er dem Einzelnen
einen helfenden Credit gebe, ſondern beſteht vielmehr darin, die Ver-
leihung des zur Produktion nöthigen Credits zu einer allgemeinen An-
gelegenheit zu machen. Die Form, in der dieß geſchieht, iſt der Ver-
ein. Und ſo verwirklicht ſich der geſellſchaftliche Vorſchußcredit in
einem Vorſchußvereinsweſen.
Das Vorſchußvereinsweſen nimmt nun die Elemente alles Credit-
vereinweſens in ſich auf, verarbeitet ſich aber vermöge ſeines eigenthüm-
lichen Lebensprincips in ſeiner Weiſe. Dieſes Lebensprincip iſt die
Gegenſeitigkeit. Sie iſt auf allen Punkten das bildende Element
im Vorſchußverein. Zuerſt bringt ſie das nöthige Capital durch
Beiträge der Einzelnen auf und wirkt ſo über den Credit hinaus
capitalbildend für jeden einzelnen Theilnehmer. Dann erzeugt ſie,
[310] da das auf dieſe Weiſe gebildete Capital nicht zureicht, den Credit
durch das große Princip der gegenſeitigen Haftung für den Credit
eines jeden Theilnehmers; dieſe gegenſeitige Haftung aber erzeugt wieder
die möglichſt große Theilnahme an der Thätigkeit des Creditvereins
ſelbſt; die Mitglieder verwalten ihre Angelegenheiten ſelber, ſtatt die
Verwaltung einem Vorſtand zu übertragen. Durch dieſe Theilnahme
entſteht weiter der Grundſatz, daß überhaupt die Vorausſetzung der-
ſelben ein gewiſſes Maß der gegenſeitigen Achtung enthalte; damit
greifen ſie über das rein wirthſchaftliche Gebiet hinaus und werden ein
allgemeines Bildungselement für die vorwärtsſtrebende Claſſe. Und ſo
müſſen ſie in jeder Weiſe als ein höchſt bedeutſames und heilſames
Element angeſehen werden.
Ihr öffentliches Recht aber liegt dem Obigen gemäß zunächſt ein-
fach im Vereinsrecht, in welchem ſie ihre beſondere Stelle einnehmen.
Dann aber hatte zweitens das Handelsgeſetzbuch die Aufgabe, ihre
Creditfähigkeit, welche weſentlich auf der Gegenſeitigkeit beruht, durch
genaue Entwicklung der ſolidariſchen Haft und ihres Rechts fort-
zubilden, was erſt in neueſter Zeit theilweiſe geſchehen iſt. So wie
dieſe feſtſteht, wird ſich daran als Schlußpunkt der weitere Grundſatz
ſchließen, daß auch dieſe Vereine Vorſchußſcheine auf Grundlage
ihres feſten Capitals ausgeben dürfen; mit dieſen Vorſchußſcheinen wird
dann die Nothwendigkeit einer Gemeinſamkeit des ganzen Vorſchuß-
vereinsweſens, die bisher nur theoretiſch exiſtirt, praktiſch werden, und
dann erſt wird das Vorſchußvereinsweſen ſeine ganze wirthſchaftliche
ſowohl als geſellſchaftliche Bedeutung empfangen.
Die Literatur für das Vorſchußvereinsweſen iſt ſehr gering, aber ſelb-
ſtändig. In der alten Polizeiwiſſenſchaft erſcheinen ſie gar nicht. In der neueren
Volkswirthſchaftspflege werden ſie, wie bei Rau, mit dem Syſtem der Leihbanken
verſchmolzen. Den Anſtoß zur ſelbſtändigen Bildung und Beſprechung gab,
auf Grundlage der Proudhonſchen Idee der Banque du Peuple, aber praktiſch
und ausführbar, Schulze-Delitzſch, (Vorſchuß- und Creditvereine als Volks-
banken. 1. Aufl. 1855). Die daraus entſtehende Bewegung hat nun die Geſetz-
gebung hervorgerufen, die übrigens faſt nur noch die privatrechtliche Seite
im Auge hat. Das engliſche Geſetz Act relating to Industrial and Pro-
vident Societies (1862) ſtellt (als Fortſchritt gegenüber der Akte von 1852)
die Begünſtigungen ſolcher Vereine auf: Steuerbefreiung, Schiedsgericht
und Verpflichtung jedes Mitgliedes durch Geſellſchaftsbeſchluß. Das franzö-
ſiſche Geſetz vom 24. Juli 1867 sur les sociétés bezieht ſich eigentlich nur
auf das Recht der Einlagen (T. III. Soc. à Capital variable). Die deutſche
Geſetzgebung gewinnt erſt eine feſte Geſtalt durch das Geſetz vom 4. Juli 1868
(privatliche Stellung der Erwerbs- und Wirthſchaftsgenoſſenſchaften; dazu das
ſächſiſche Geſetz vom 15. Juni 1868, die juriſtiſchen Perſönlichkeiten betreffend)
[311] haben das Creditweſen nur indirekt berührt. Schultze-Delitzſch, Geſetz-
gebung über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthſchafts-
genoſſenſchaften 1869; Parrhiſius, Commentar zum Geſetz vom 4. Juli.
Als Theil des geſammten Vereinsweſens aufgefaßt; hiſtoriſch und rechtlich,
nebſt Material: Gierke, Genoſſenſchaftsweſen 1869. Syſtematiſch Stein,
Syſtem des Vereinsweſens und Vereinsrechts 1869, S. 166 ff.
Beſonderer Theil der Volkswirthſchaftspflege.
Begriff deſſelben und Princip ſeiner Verwaltung.
Während nun der allgemeine Theil der Volkswirthſchaftspflege es
mit denjenigen Verhältniſſen zu thun hat, welche die Bedingung für
jeden Theil der Volkswirthſchaft ohne Rückſicht auf ſein Capital bilden,
entſteht der beſondere Theil, indem die einzelnen Arten der Unterneh-
mungen theils durch die beſondere Natur ihres Capitals, theils durch
die ihrer Arbeit, beſondere Bedingungen ihrer Entwicklung fordern,
die ſich der Einzelne nicht ſelbſt ſchaffen kann.
Das Syſtem dieſes beſondern Theiles liegt daher nicht, wie das
des allgemeinen, in einem organiſchen Begriffe, ſondern in der that-
ſächlichen Verſchiedenheit der Capitals- und Arbeitsverhältniſſe. Dar-
nach ſcheiden wir die Urproduktion, Forſtwirthſchaft, Jagd, Fiſcherei,
Landwirthſchaft, Gewerbe, Induſtrie, Handel und geiſtige Produktion.
Jedes dieſer Gebiete iſt ein ſelbſtändiger Theil der beſonderen Volks-
wirthſchaftspflege; jeder hat ſein eigenes Recht, ſeine eigenen Aufgaben
und ſeine eigenen Geſchäfte, und in ihnen iſt der zweite Theil der
Verwaltung vollſtändig.
Daneben aber haben ſie trotz ihrer Verſchiedenheit die großen
allgemeinen Grundlagen ihrer Entwicklung gemein. Dieſe Grund-
lage iſt die Auffaſſung des Staats von demjenigen, was er in Bezie-
hung auf die Volkswirthſchaft ſeinerſeits zu thun habe. Dieſe Auf-
faſſung wieder beſtimmt ſich hiſtoriſch nicht nach dem wirthſchaftlichen
Weſen jener einzelnen Gebiete, ſondern vielmehr auch hier durch das
große Element aller ſtaatlichen Entwicklung, die geſellſchaftliche Ord-
nung und ihre Kämpfe und Grundſätze. Sie ſind es, welche das
Princip der Volkswirthſchaftspflege für jene einzelnen Gebiete abgeben,
an das ſich dann das ſpecielle Recht derſelben als Ausführung der ge-
gebenen Verhältniſſe anſchließt. Es iſt daher nothwendig, dieſe Ele-
mente als die allgemeine Grundlage für jeden beſonderen Theil feſt-
zuſtellen.
Das ganze Gebiet der hierher gehörigen Literatur hat zwei Hauptrichtungen,
die ſich ſchon im vorigen Jahrhundert trennen. Die erſte iſt die volkswirth-
[312] ſchaftliche, welche jedoch vermöge ihres Gegenſtandes vorzüglich das tech-
niſche Element vertritt, und ſo das ganze Gebiet erzeugt, das wir die Cameral-
wiſſenſchaft nennen, deren letzter bedeutender Vertreter Baumſtark iſt.
Die zweite iſt die juriſtiſche, welche ihrerſeits an den Begriff der Regalität
und vermöge deſſelben theils im deutſchen Privatrecht auftritt, theils zu ſelb-
ſtändigen Arbeiten wird. Daneben hat die Polizeiwiſſenſchaft ſchon ſeit
dem vorigen Jahrhundert verſucht, ein Syſtem in dieſe Gebiete hineinzubringen,
und ſie vom Standpunkte der Verwaltung aufzufaſſen, wobei Berg an der
Spitze ſteht; Mohl hat den Gedanken formeller ausgeführt, Rau dagegen bleibt
bei dem vorwiegend nationalökonomiſchen Standpunkt.
Elemente der Rechtsgeſchichte des beſondern Theils
der volkswirthſchaftlichen Verwaltung.
Es iſt klar, daß die Epoche der Geſchlechterordnung, die überhaupt
neben ihrer ſpecifiſchen Rechtspflege und Polizei noch keine innere Ver-
waltung kennt, auch noch kein Recht der einzelnen Arten der volks-
wirthſchaftlichen Verwaltung beſitzen kann. Die großen wirthſchaftlichen
Erwerbsformen ſind noch weder ausgebildet, noch zum Bewußtſein ge-
bracht; ſie ſind weder frei noch unfrei; ſie ſind eben Sache des Ein-
zelnen, und eben deßhalb ohne öffentliches Recht.
Dieß öffentliche Recht kann daher erſt da entſtehen, wo jene Er-
werbsformen zu ſelbſtthätigen Faktoren des Geſammtlebens werden,
indem ſie in die geſellſchaftliche Ordnung als mitwirkende Potenzen
eintreten. Damit erſt empfangen ſie Geſtalt und Recht; und dafür
unterſcheiden wir drei Epochen, deren öffentliche Principien dem ge-
ſammten wirthſchaftlichen Leben gemeinſam ſind.
Die erſte Epoche iſt die der ſtändiſchen Geſellſchaft. In ihr
verliert jede Art der Unternehmung den individuellen Charakter der
Geſchlechterzeit; ſie nimmt, als Trägerin der neuen Geſtalt des Beſitzes
und Erwerbes die große Form der neuen geſellſchaftlichen Ordnung
an, und verbindet die ihr angehörigen Wirthſchaften zu ſelbſtändigen
Corporationen. Das iſt die Epoche, in welche die corporative Ge-
ſtalt der Selbſtverwaltung das öffentliche Recht des beſonderen Theiles
der Volkswirthſchaft bildet. Ihr Charakter iſt die mit dem Weſen der
Corporation verbundene ſtrenge Ordnung, aber auch die ſtändiſche
Unfreiheit. Sie kann den Erwerb entſtehen laſſen und erhalten,
aber ſie kann ihn nicht fortbilden.
Die zweite Epoche iſt die, wo die im Königthum und ſeiner Re-
gierung vertretene perſönliche Staatsidee ſich die ſtändiſche Selbſtändig-
keit unterwirft. Wir nennen ſie in Beziehung auf die Verwaltung
die polizeiliche Epoche. Die polizeiliche Epoche bricht nun auch das
[313] corporative Recht der Erwerbsarten. Sie ſetzt an ſeine Stelle theils
das Gefühl und das Beſtreben, durch poſitive Maßregeln alle dieſe
Gebiete der Volkswirthſchaft zu fördern, theils aber glaubt ſie auch,
die wahren Bedürfniſſe derſelben am beſten zu kennen, und erſchöpft
ſich daher in bevormundenden Vorſchriften. Um dieſe zur Geltung zu
bringen, muß ſie ihre Berechtigung an die Stelle des corporativen
Rechts ſetzen; die Form daher iſt das Privilegium; und ſo iſt dieſe
Epoche vor allem die des privilegirten Erwerbsrechts. Der
Charakter deſſelben iſt die Herſtellung der Freiheit des Erwerbs im
Einzelnen, dafür aber auch die Beſeitigung des Princips der Selbſt-
verwaltung. Es iſt die Epoche, wo die großen Erwerbsgeſetz-
gebungen aller Art beginnen, wo aber mehr das Streben nach eudä-
moniſtiſcher Fürſorge durch die Regierung als die perſönliche Tüchtig-
keit und als die Grundlage der ganzen Entwicklung angeſehen wird.
So bildet auch hier dieſe Epoche, die bis in unſer Jahrhundert hinein-
reicht, den Uebergang zu der folgenden Epoche.
Die dritte Epoche iſt die ſtaatsbürgerliche, welche eine neue
Geſtalt auch in dieſes Gebiet der Verwaltung bringt. Ihr erſtes
großes Princip iſt das der individuellen Freiheit, im Erwerbe wie
auf andern Gebieten. Sie ſetzt daher zuerſt an die Stelle der Cor-
porationsrechte und der Privilegien die freie Beſtimmung und Aus-
übung jedes Gewerbes. Allein in ihr iſt der Staat mit ſeiner Re-
gierung zugleich der Träger des höchſten allgemeinen Intereſſes.
In dieſem Sinne erkennt er den Werth der möglichſten Entwicklung
aller Erwerbsarten. Daraus entſteht das zweite Princip ſeiner Thätig-
keit, das Streben, jedem einzelnen Zweige des Erwerbs die beſondern
Bedingungen ſeiner Entwicklung ſo weit zu geben, als derſelbe ſie
ſich nicht ſelbſt zu ſchaffen vermag. Eben daraus folgt nun das, was
den Charakter der äußeren Form der volkswirthſchaftlichen Verwaltung
in dieſer Epoche unſerer Gegenwart bildet. Geſetzgebung und Voll-
ziehung theilen ſich in die Aufgabe. Die Intereſſen der Erwerbs-
formen werden der polizeilichen Verordnungsgewalt entzogen und zum
Gegenſtand ſelbſtändiger Geſetze auf Grundlage ſelbſtändiger Freiheit
des Einzelnen. Grundlage iſt dabei das Streben, an die Stelle der
früheren Vorſchriften über die Produktion ein Syſtem von Special-
bildungsanſtalten zu ſetzen, und die erſten auf die innere Sicher-
heitspolizei zu beſchränken. Die eigentliche Regierung ihrerſeits bildet
ſich für die Vollziehung dieſer Aufgabe des Staats jetzt eigene nach den
Haupterwerbsformen organiſirte ſelbſtändige Miniſterien mit eigenen
Sektionen; die Selbſtändigkeit jener Erwerbsformen aber empfängt
ihren frei arbeitenden Organismus in dem von der corporativen
[314] Beſchränkung befreiten Vereinsweſen für alle Arten der Unter-
nehmungen, und hier iſt das Gebiet, wo ſich eigentlich die Unter-
nehmungs- und die Intereſſenvereine am deutlichſten in Be-
griff und Funktion ſcheiden, eine Wirkſamkeit enthaltend, die allmählig
nicht bloß eine großartige und heilſame wird, ſondern auch im richti-
gen Verſtändniß der wahren Bedürfniſſe in das ſociale Gebiet hinein-
reicht. Zugleich bildet ſich die rationelle Güterlehre einerſeits, und
die Betriebstechnik andererſeits immer weiter aus, und ihr weſent-
liches Ergebniß iſt, daß ſie die Gränze feſtſtellen, wo ſtatt der öffent-
lichen Rechtsbeſtimmungen und Maßregeln die organiſchen und die
techniſchen Geſetze der Produktion allein zu herrſchen beſtimmt ſind.
Und ſo beginnt mit der Mitte unſeres Jahrhunderts in Wahrheit die
Epoche der wirklichen Verwaltung des Erwerbes, deren einzelne Theile
viel zu reich ſind, um hier erſchöpft werden zu können, deren Haupt-
gebiete aber folgende ſind.
I. Das Bergweſen und ſein öffentliches Recht.
Die Urproduktion iſt im wirthſchaftlichen Sinne diejenige Produk-
tion, welche durch ihre Arbeit den natürlichen Stoff von der Erde
trennt, und ihn dadurch zu einem Erzeugniß und einem Gute macht.
Die darauf gerichtete Unternehmung iſt der Bergbau.
Der Bergbau iſt zunächſt eine Unternehmung wie jede andere,
und ſteht daher unter den allgemeinen Geſetzen der Produktion und
der Produktivität. Seine Technik iſt die Lehre vom Bergbau. Er iſt
daher zunächſt Sache des Einzelnen. Allein er bildet mit Stoff und
Arbeit einen ſo weſentlichen Faktor des geſammten wirthſchaftlichen
Lebens, daß er, ſowie die allgemeine Produktion ſich entwickelt, ſofort
eine ſelbſtändige öffentliche Bedeutung empfängt, die ſich als ein eigenes
Rechtsgebiet zur Geltung bringt. Das letztere beruht nun auf den
Punkten, mit denen derſelbe über die Gränze der Einzelwirthſchaft
hinausgreift.
Zuerſt iſt bei allem Reichthum die Maſſe des Urprodukts eine
begränzte, und dennoch für das Ganze abſolut nothwendig. Aus dem
erſten Moment folgt das allgemeine Intereſſe daran, daß die Produk-
tion eine rationelle ſei; aus dem zweiten die Forderung, daß ſie
nicht durch Einzelrechte an Grund und Boden unmöglich gemacht werde.
Zweitens iſt das Anlage- und Betriebscapital ſo groß, daß ihm nur
das Princip der Erwerbsgeſellſchaft genügen kann, das ein genügendes
Vereinsrecht vorausſetzt. Drittens endlich iſt der Betrieb ſeiner Natur
[315] nach mit eigenthümlichen Gefahren für die Arbeit verbunden, welche
im Sonderintereſſe der Unternehmer nur zu leicht unberückſichtigt bleiben.
Das Geſammtintereſſe fordert daher eine öffentlich rechtliche Ordnung
und Verwaltung dieſer Punkte, und die Geſammtheit der darauf be-
züglichen Beſtimmungen bildet das Bergweſen.
Das Bergweſen iſt daher die öffentlich rechtliche Ordnung des
Bergbaus, durch welche das Sonderintereſſe und Recht der einzelnen
Betheiligten dem allgemeinen Intereſſe untergeordnet wird. Er hat
daher dieſelben hiſtoriſchen Bildungsepochen durchgemacht, wie die übri-
gen Gebiete, bis es mit unſerer Zeit hier wie immer ſeine feſte Ge-
ſtaltung im Bergrecht empfangen hat.
Die reiche Literatur über das Bergweſen hat drei Richtungen, die tech-
niſche, die wirthſchaftliche und die juriſtiſche, von denen die letztere bei weitem
die entwickeltſte iſt, da ſich in ihr in der That die ganze Lehre vom Bergweſen
in rechtlicher Form zuſammenfaßt. Dieſelbe begleitet daher auch die Rechts-
bildung, die gerade hier von großem Intereſſe iſt.
Die Geſchlechteordnung kennt noch kein vom Grundbeſitz geſchie-
denes eigenes Bergrecht. Daſſelbe entſteht erſt da, wo der Bergbau zu
einer ſelbſtändigen Unternehmung wird, und daher die Frage auftritt,
ob das Privateigenthum berechtigt ſein ſolle, ein ſolches Unternehmen
vom eigenen Grund und Boden auszuſchließen. Ein Aufheben dieſer
Berechtigung war offenbar für die ganze Volkswirthſchaft unabweisbar
nothwendig, aber ſie konnte nur vom Oberhaupt verliehen werden.
Dieſe Verleihung iſt die Freierklärung des Bergbaues, welche als
Beginn des öffentlichen Rechts deſſelben angeſehen werden muß (drei-
zehntes Jahrhundert). Aus dieſem Entwährungsrecht der Krone fol-
gerte nun die öffentliche Jurisprudenz die Regalität, und zwar mit
ihrem doppelten, bis zu unſerem Jahrhundert nicht zum klaren Be-
wußtſein gelangenden Inhalt, das Princip eines Obereigenthums
an den Urprodukten, und dem Princip der Oberaufſicht über den
wirklichen Betrieb. Aus dem erſten ging der Gedanke hervor, daß
das Recht auf den Beginn des Bergbaues einer förmlichen Belehnung
bedürfe, wobei es fraglich war, wer ſie zu geben habe, der Kaiſer oder
der Landesherr. Aus dem zweiten entſteht der Grundſatz der Beſtä-
tigung der rechtlichen Ordnungen, welche ſich durch die Natur des
Bergbaues von ſelbſt gebildet hatten und alle Verhältniſſe deſſelben
umfaßten und ordneten. Das iſt der Inhalt der ſtändiſchen Epoche
des Bergweſens, in welcher jede ſolche Unternehmung noch als ſelb-
ſtändige Corporation mit eigener corporativer Rechtsbildung auftritt.
[316] Im achtzehnten Jahrhundert beginnt dann das Bewußtſein zur Gel-
tung zu kommen, daß der Bergbau ein Element des geſammten volks-
wirthſchaftlichen Lebens ſei, und daß daher der Regierung die Aufſicht
zuſtehe, „daß ſolches Regal geſetzmäßig und zum Nutzen des Publici
verwaltet werde“ (Magdeburger Bergordnung von 1772. C. 1. §. 5),
daher denn Errichtung eigener Verwaltungsbehörden, principielle Durch-
führung der Polizei, Auftreten des Kampfes gegen den Raubbau u. a.
Aus dieſer Epoche gehen nun die neuen Bergordnungen des ſieben-
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts hervor, an die ſich die neue
Wiſſenſchaft des Bergrechts anſchließt, die jedoch noch immer
auf der Verſchmelzung der beiden Elemente der Regalität beruht. Sie
erſcheint theils in eigenen größeren Werken, theils als Theil des deut-
ſchen Privatrechts und ſelbſt des Staatsrechts. Erſt mit unſerem Jahr-
hundert beginnt nun die Epoche, in welcher die Freiheit des Bergbaues
mit den volkswirthſchaftlichen Anforderungen verbunden, und das Ganze
zugleich als ein Theil der Verwaltung anerkannt wird. So entſteht
das Syſtem der Verwaltung des Bergweſens, das künftig einen
organiſchen Theil des Verwaltungsrechts bilden wird.
In Deutſchland, der Heimath des europäiſchen Bergweſens, eben ſo
reiche Literatur als Geſetzgebung. Einerſeits als Theil der Rechtslehre:
öffentliches Recht; alte Staatsrechtslehrer; vergl. Klüber, öffentliches Recht
§. 446 ff. Dann als Theil des deutſchen Privatrechts, gleichfalls ſeit dem
vorigen Jahrhundert Runde §. 161—163; ſehr reichhaltig Mittermaier
I. 241 ff.; dann in der Cameralwiſſenſchaft namentlich Fiſcher, Cameral-
und Polizeirecht II. 813 ff. 1255 ff.; juriſtiſch: Baumſtark, Encyclopädie §. 83
und 431. 402; techniſch, in der Polizeiwiſſenſchaft beſonders Berg, Deutſches
Polizeirecht Bd. III. S. 384 ff. (rationeller Standpunkt). Dann in ſelbſtändigen
Sammlungen: Hauptwerk Wagner, Corpus jur. metallici 1791; dann
eine Menge juriſtiſcher Unterſuchungen (vergl. bei Berg und Mitter-
maier); ſelbſtändige Arbeiten Cancrin, teutſches Berg- und Salzrecht; Beyer,
Bergrechtslehre. Literatur: Pütter, Liter. III. 621; Klüber, Liter. §. 1382 ff.
beſonders Karſten, Grundriß der deutſchen Bergrechtslehre. — Geſetzgebung:
Bergordnungen ſeit dem zwölften Jahrhundert; Bergrecht des Königs Wenzel
von 1295; Wagner, Corpus jur. met. p. XX. (Mittermaier §. 241); Kampf
über die Belehnungen, Meyer, Geſchichte des teutſchen Bergrechts. Sachſen-
ſpiegelI. 35. — Aeltere Bergordnungen, als corporatives Recht, bereits
ſeit dem elften Jahrhundert. Gmelin, Beiträge zur Geſchichte des deutſchen
Bergweſens 1783. (Iglauer Bergordnung 1086—93; Klotz, Geſchichte §. XII).
Dann die eigentlichen Bergordnungen der Regierung ſeit dem ſechzehnten
Jahrhundert, reichlicher im ſiebzehnten. Muſter: die Joachimsthaler Berg-
ordnung von 1584; darnach die folgenden: Mittermaier §. 242; Fiſcher
II. 814. Daraus ergibt ſich der formale Charakter der ganzen Bergrechts-
geſetzgebung: örtliche Entſtehung auf Grundlage gemeinſamer Prin-
[317] cipien. Preußiſches Bergrecht, bisheriges Syſtem deſſelben: das Berg-
recht hier als Theil des allgem. preuß. Landrechts II. 14; daneben die ört-
lichen, provinziellen Bergrechte; weſentlicher Unterſchied der früheren von den
Geſetzen unſeres Jahrhunderts; größere Freiheit der Unternehmung gegen-
über dem ſtreng entwickelten Behördenſyſtem und genaue Aufzeichnung des
Eigenthumsrechts. (Geſetz vom 12. Mai 1831 und vom 21. Mai 1860.)
Rönne, preuß. Staatsrecht II. 384 nebſt der reichen preuß. Literatur. Dieſes
Syſtem iſt nun durch das neue Berggeſetz vom 24. Juni 1865 aufgehoben,
ein einheitliches Bergrecht, weſentlich wie das öſterreichiſche, an ſeine Stelle
geſetzt, und das Provinzialrecht nur noch in einzelnen Punkten zugelaſſen. —
Naſſauiſche Bergordnung von 1857. — Bayern: vier verſchiedene Berg-
ordnungen (Pötzl, Verwaltungsrecht S. 209); die eigentlich kurbayeriſche Berg-
ordnung von 1784. — Oeſterreich dagegen unter Aufhebung aller örtlichen
Rechte Einführung des großen Berggeſetzes vom 23. Mai 1854 nebſt den ſehr
wichtigen Vollzugsverordnungen. Manzſche Geſetzausgabe Bd. V. — Das
franzöſiſche Bergrecht beruht auf dem Principe der Regalität bis zur Revolu-
tion. Kurze Geſchichte: Laferrière, Droit publ. et adm. I. Liv. I. P. I. T. VII.
Beſchluß der Assemblée nationale von 1791: Recht der Nation auf alle
Urprodukte. Darauf Hauptgeſetz vom 21. April 1810 (Grundlage der Gedanke
des Code Civ. art. 552); Organiſation der Oberaufſicht (Geſetz vom 27. April
1838); Ausdehnung auf Salz, Mineralquellen und Salzbrunnen (Geſetz vom
17. Juni 1840); die ganze Geſetzgebung iſt (trotz Rönne §. 385) doch nichts
als eine Formulirung der deutſchen Grundſätze, die weder Villefort du
Heron (de la richesse minérale 1810—19 und Etat actuel de la legislat.
sur les mines 1816) noch Dunoyer, Liberté du travail 1840 gehörig kannten.
Mittermaier a. a. O. mit Literatur; RauI. §. 38. Oeſterreich: Exegeſen
des Bergrechts von Hingenau, Handbuch von 1856 und Wenzel, Hand-
buch 1855.
Das Syſtem des Bergrechts enthält nun die Geſammtheit der Be-
ſtimmungen des öffentlichen Rechts über das Bergweſen, welche das
Geſammtintereſſe in dieſem Zweige der Produktion zur Geltung bringen.
Seine weſentlichen Punkte ſind folgende.
I. Der Organismus des Bergweſens ſcheidet ſich in zwei Ge-
biete. Das erſte iſt die Organiſation der Bergbehörden, welche die
Oberaufſicht des Staats ausüben, und die erſt mit unſerem Jahrhundert
ſich von den Finanzbehörden getrennt haben. Das zweite iſt das des
Vereinsweſens. Das Bergrecht entſteht überhaupt erſt in Deutſch-
land mit den Gewerkſchaften, der ſtändiſchen Form der Erwerbs-
geſellſchaften, von deren Rechte ſich in dem Kuxenweſen noch ganz un-
motivirte Ueberreſte erhalten haben. An ihre Stelle treten jetzt die
Aktiengeſellſchaften, und mit ihnen das Recht des Vereinsweſens, welches
[318] bis auf einen Punkt (Zahl der Kuxe und Beſchränkung der Ueberlaſſung
der Antheile) ganz das Gewerkſchaftsrecht enthält.
Die höchſte Leitung unter dem Finanzminiſterium mit örtlichen Berg-
behörden (Berghauptmannſchaften ꝛc.) Preußen: RönneII. 227. Neue Or-
ganiſirung im Berggeſetz von 1865. T. VIII. — Oeſterreich: Grundlage
der Unterſchied von Bergämtern und Berggerichten (Einführungspatent
vom 25. Mai 1854 und Organ. Patent Art. VII. und Organ. Patent vom
13. Sept. 1858). — Frankreich: Conseil des mines als oberſte Behörde
und Ingenieurs des mines.Block, Dict. v. Mines.
II. Das Erwerbs- und Eigenthumsrecht beruht auf dem
Gedanken, daß das Eigenthum an unterirdiſchen Gütern ein von dem
der Oberfläche unabhängiges ſei, und daher ein eigenes Syſtem des
Erwerbes und Beſitzes habe. Das iſt eigentlich das Princip der Re-
galität. Daher das Syſtem dieſes Erwerbes und Beſitzes ein Haupt-
theil der Berggeſetzgebung. Es beruht auf dem Recht eines Jeden,
auch auf fremdem Grund und Boden Minerale zu ſuchen, wozu die
Bewilligung (als Form der Enteignung) ertheilt wird, der Schür-
fung, welche das Beſitzrecht gibt, den Freiſchurf, aus welchem
durch die Belehnung das Eigenthum wird, für welche ein Grund-
buch eingerichtet wird. Dieſe Rechtsverhältniſſe bilden dann das Berg-
recht im eigentlichen Sinne.
Ueber das Vereinsrecht in ſeiner Anwendung auf den Bergbau ſ. ſyſte-
matiſch Stein, Vereinsrecht S. 74; hiſtoriſch Gierke, Genoſſenſchaften S. 965 ff.
Das übrige Recht in den Bergordnungen. Der franzöſiſche Grundgedanke, daß
jedes Eigenthum des Grundes das Schürfrecht habe, daſſelbe aber durch Con-
ceſſion auch für andere erworben werden könne, iſt nichts als eine andere
Form des deutſchen Gedankens. Es wäre am beſten, die „Regalität“ ganz aus
der Terminologie wegzulaſſen; die Beſtimmung der Metalle und Erden, für
welche das Schürfrecht gegeben werden kann, bedeutet in der That nicht Re-
galität, ſondern kann nur die Bezeichnung der Objekte ſein, für welche das
Enteignungsverfahren der Schürfbewilligung eintritt. Die Ablieferungspflicht
der edlen Metalle mit Recht in Oeſterreich aufgehoben 1856. Sehr nachahmens-
werth die franzöſiſche Ertheilung des Geſetzes von 1810 in Minières, Carrières
und Tourbières, welche viele Unklarheiten des deutſchen Rechts beſeitigen würde.
III. Das beſondere Recht der Arbeiterverhältniſſe beim
Bergbau beruht nun theils auf dem alten ſtändiſchen Rechte der Knapp-
ſchaften, theils auf der Natur des Bergbaues. Die erſteren ſind
faſt verſchwunden. Nur iſt polizeilich eine gewiſſe Organiſation des
Arbeiterweſens vorgeſchrieben (Steiger, Oberſteiger, Schichtmeiſter u. ſ. w.)
und die Verpflichtung zu gegenſeitigen Hülfsvereinen in den Bundes-
landen zum Geſetz geworden; jedoch nur im deutſchen Bergrecht.
[319]
Oeſterreichiſches Berggeſetz §. 210—214. — Preußiſches Geſetz vom 10. April
1854 (Bruderlade und Knappſchafts-Kaſſen und -Vereine; in Preußen aus-
gedehnt auf die Metallproduktion. Wiederholt im Berggeſetz von 1865 T. VII.
Die Entwicklung des Verſicherungsweſens macht das mehr und mehr überflüſſig.
IV. Die Theilnahme der Staatsverwaltung an dem wirk-
lichen Betrieb als Ausübung der Oberaufſicht, im vorigen Jahrhundert
ſtark ausgebildet, iſt mit unſerem Jahrhundert auf die feſte Gränze
der Ausführung der beſtehenden Vorſchriften über die Betriebspolizei
zurückgeführt, die ſich wieder in die Sicherheitspolizei und die
Vorſchriften über Raubbau beſchränkt. Die Thätigkeit der Behörden
iſt jetzt vorwiegend eine richterliche; die direkte Unterſtützung der
früheren Zeit (Holzlieferung, Darlehenscaſſen, Vorrechte) iſt ver-
ſchwunden.
Vergl. für frühere Zeit Berg, Polizeirecht III. S. 384 ff. Preußen:
Beſeitigung des „Direktionsprincips“ der alten Bergordnung durch Geſetz vom
21. Mai 1860; Freiheit des Betriebes und Freizügigkeit der Bergleute (vergl.
RönneVI. §. 384). Dagegen Aufhebung der alten Berggerichtsbarkeit, der
Oberbergämter und Uebergang an die ordentlichen Gerichte (Verordnung vom
26. Dec. 1808. Rönne §. 259). Neues Berggeſetz von 1865 T. VIII. Berg-
behörden und T. XI Bergpolizei. — In Oeſterreich iſt ein ſolches Princip
nie vorhanden geweſen. Organiſation der Berggerichte (mit ſachkundigen Bei-
ſitzern). Einf. Patent Art. VII. Manzſche Geſetze S. 13 ff. Stubenrauch,
Verwaltungsgeſetzkunde I. §. 17. — In Frankreich iſt das Recht der Ingenieurs
ſehr allgemein gehalten und gering (vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 38).
V. Der wichtigſte Theil der Sorge des Staats für den Bergbau
ſind nun die unſerem Jahrhundert angehörigen Fachſchulen. Das
deutſche Princip iſt, daß die darin gebotene Bildung die öffentlich recht-
liche Bedingung für die Leitung des Betriebes ſein ſoll; die fran-
zöſiſche Fachbildung iſt nur für die Behörde geltend.
Ueber das deutſche Berufsbildungsweſen vergl. Stein, Bildungsweſen
S. 261 ff., über die Ecole des mines ebend. S. 316. Preußen: Organiſation
des Bildungs- und Prüſungsweſens (Reglement vom 31. Dec. 1863). Rönne
II. 293. — Oeſterreich: Organiſation der montaniſtiſchen Lehranſtalten (Ver-
ordnung vom 25. März 1851; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 412).
II. Das Forſtweſen.
Das Forſtweſen hat einen anderen Charakter als das Bergweſen.
Es wird daher vor allem nöthig, hier die Grundbegriffe feſtzuſtellen.
Jede Waldung iſt zuerſt ein Capital wie ein anderes, und unter-
liegt daher den allgemeinen Geſetzen und Rechten der Privatwirthſchaft.
[320] Aber es liegt im Weſen der Forſte, daß ſie mit ihrem Beſtand als
Bedingung der allgemeinen Produktion, alſo als Gegenſtand des all-
gemeinen Intereſſes anerkannt werden. Die Nachweiſung dieſes im
Allgemeinen unbezweifelten Satzes hat die Volkswirthſchaftslehre ge-
liefert. Dieſes allgemeine Intereſſe faßt ſich nun zuſammen in dem
Grundſatz der dauernden Erhaltung und Produktion des Waldcapitals.
Und nun nennen wir diejenigen Grundſätze, nach denen die Bewirth-
ſchaftung der Forſte in jenem öffentlichen Intereſſe auf die dauernde
Erhaltung des Capitals und ſeiner regelmäßigen Produktion
berechnet iſt, im eigentlichen Sinne die Forſtwirthſchaft.
Die Geltung der wirthſchaftlichen Grundſätze einer ſolchen eigent-
lichen Forſtwirthſchaft für jede Bewirthſchaftung von Waldungen er-
ſcheint daher als eine Forderung des Geſammtintereſſes der Volks-
wirthſchaft an jeden einzelnen Beſitzer, gleichviel ob es der Staat
oder ein Einzelner iſt. Inhalt und Unabweisbarkeit dieſer Forderung
kommt nun dem Geſammtleben mit der ſteigenden Geſittung zum Be-
wußtſein, und aus dieſem Bewußtſein geht dann der Grundſatz hervor,
daß es Aufgabe des Staats und ſeiner Verwaltung ſei, jene Forde-
rung zur geſetzlichen Geltung und Durchführung zu bringen. Und die
Geſammtheit der Geſetze, Vorſchriften und Anſtalten, welche auf dieſe
Weiſe die Grundſätze der Forſtwirthſchaft im obigen Sinne für alle
Bewirthſchaftungen von Forſten zur Geltung bringen, nennen wir das
Forſtweſen.
Auch das Forſtweſen hat nun ſeine Geſchichte und ſein Syſtem,
deren Elemente in Folgendem enthalten ſind.
Die ſehr reiche Literatur über Forſtwirthſchaft und Forſtweſen muß in
ihre Hauptrichtungen geſchieden werden, um den Ueberblick zu gewinnen. Die
erſte iſt die rein juriſtiſche, welche ſich an die Frage nach dem rechtlichen
Inhalt des Forſtregals anknüpft, und bereits im ſiebzehnten Jahrhundert
beginnt (Pütter, Literatur III. 639; Klüber, Literatur §. 1399). Sie theilt
ſich im achtzehnten Jahrhundert in die Behandlung im deutſchen Privatrecht
(bei Runde §. 140. DanzII. 11, zuletzt und am reichſten Mittermaier
I. §. 304 ff.) und in die Behandlung als Theil des Staatsrechts (Moſer,
Landeshoheit in Anſehung Erde und Waſſers; dann die Staatsrechtslehrer
herab bis Klüber, öffentliches Recht §. 451). Die zweite iſt die Auffaſſung
der Forſtwirthſchaft als Gegenſtand der Polizei, welche in der That bereits
das ganze Forſtweſen in ſeinen Grundſätzen enthält, aber von der techniſchen
Lehre ſich noch fern hält; voriges Jahrhundert vorzüglich Berg, Polizeirecht
III. 344 ff., während Fiſcher (Cameral- und Polizeirecht II. 868 ff.) mehr für
die poſitiven Beſtimmungen ein reiches Material bietet, bis in unſerem Jahr-
hundert die abſtrakt allgemeine Behandlung in der Polizeiwiſſenſchaft Boden
gewinnt (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. §. 142). Damit ſcheidet ſich die rein
[321] techniſche Forſtwirthſchaftslehre als Gebiet der eigentlichen Cameralwiſſenſchaft;
namentlich Baumſtark, Encyclopädie §. 262 u. a. O. Während nun die
eigentliche Nationalökonomie bei Allgemeinheiten ſtehen bleibt, tritt mit unſerem
Jahrhundert die Frage auf, ob die Freiheit der Privatwirthſchaft auch für die
Forſtwirthſchaft gelten ſolle. Der Anfang des Jahrhunderts neigt ſich in ſeiner
Literatur dem Princip der Freiheit zu (vergl. Literatur bei Mohl a. a. O. §. 142);
mit den zwanziger Jahren dagegen ſiegt der Grundſatz der Nothwendigkeit
eines geſetzlichen Forſtweſens, dem vor allem in Verbindung mit gründlicher
Forſtwirthſchaftslehre Hundeshagen in dem Hauptwerk Lehrbuch der Forſt-
polizei ſeit 1835 zum Siege hilft. Dieſer Grundſatz iſt jetzt der gemein-
gültige, und liegt den neueren Arbeiten von Mohl a. a. O., Rau, Volks-
wirthſchaftspflege II. §. 168 ff. zum Grunde, während er durch die neuen
Forſtlehranſtalten immer größere Geltung empfängt und in den Forſtgeſetz-
gebungen entſchiedene Anerkennung findet. — Die Verwaltungslehre nun muß
feſthalten, daß ſie alle techniſchen und volkswirthſchaftlichen Grundſätze voraus-
zuſetzen und nur die Momente darzuſtellen hat, in denen das Geſammtintereſſe
gegenüber dem Recht und Intereſſe der Einzelwirthſchaft zur Geltung gelangt.
Die Geſchichte des Forſtweſens iſt nun die allmälige Entwicklung
des Sieges der Ideen des öffentlichen Rechts über das Princip der
freien Einzelverwaltung. Ihre Stadien zeichnen ſich deßhalb bei großer
Thätigkeit der einzelnen Geſetzgebung im Ganzen klar ab. Wir nennen
ſie die Epoche des Forſtregals, die der Forſthoheit, und die des Forſt-
weſens.
In der Epoche des Forſtregals ſchließt ſich der Gedanke der
Herrſchaft des Staats über die Forſtwirthſchaft an die allerdings
falſche Vorſtellung von einem Recht des Obereigenthums der Krone an
allen Waldungen; der Streit über die Gränze des öffentlichen und
Privatrechts erzeugt damit das Syſtem und die Lehre vom Forſtrecht
mit ſeinen Forſtgerichten, Bann- und Jagdrechten, Servituten und
Gemeinheitsrechten.
In der Epoche der Forſthoheit, die mit der Polizeiwiſſenſchaft
des vorigen Jahrhunderts ihre feſte Geſtalt gewinnt, ſiegt die Erkennt-
niß, daß die Regierung vermöge des öffentlichen Intereſſes die
Berechtigung zu geſetzlicher und polizeilicher Ordnung des Forſtweſens
habe. Daraus entſtehen ſeit dem ſiebenzehnten Jahrhundert die Forſt-
ordnungen und Forſtgeſetze nebſt der Organiſation eigener Forſt-
ämter; zugleich aber ſcheidet ſich die Bewirthſchaftung der Staats-
forſte als eigentlicher Gegenſtand der Cameralwiſſenſchaft aus, und
das Forſtweſen findet in ihr ſeinen Schwerpunkt, während das Forſt-
recht ziemlich in ſeiner Entwicklung ſtillſteht.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 21
[322]
Das gegenwärtige Jahrhundert, das weder des Begriffes des
Regals noch des Princips einer beſondern „Hoheit“ bedarf, faßt da-
gegen die Forſtwirthſchaft des Volkes als ein Ganzes auf, und be-
gründet das eigentliche Forſtweſen als einen ſelbſtändigen Theil der
inneren Verwaltung und ihres Rechts, indem es alle Gebiete des Forſt-
weſens in Eine Geſetzgebung und Verwaltung ſyſtematiſch zuſammenfaßt.
Die Elemente dieſes Syſtems ſind folgende.
Literatur der Geſchichte Mittermaier §. 204 ff. Etwas über das Forſt-
regal ebend. §. 206. Erſte Forſtordnungen bereits aus dem fünfzehnten
Jahrhundert (Rheingau 1487; Naſſau 1465 u. a). Beginn der eigentlichen
Forſtgeſetzgebung im ſiebzehnten Jahrhundert: Fiſcher, Cameral- und Polizei-
recht II. 787; Fritſch, Corp. Jur. venator. forest. 1705; bayeriſche Forſt-
ordnung 1616. — Württembergiſche Jagd- und Forſtordnung. — Braun-
ſchweig 1768 (vergl. Mittermaier a. a. O.; Pfeil, Forſtpolizeigeſetze.
Berg, Polizeirecht III. 363). — Neuere Epoche. Preußen: Allgemeine Grund-
ſätze im Allgem. Landrecht I. T. 8. 83—89; völlige Freiheit im Landescultur-
edikt vom 14. Sept. 1811, und vielfache örtliche Geſetzgebungen (RönneII.
§. 380 ff). — Oeſterreich: Syſtematiſche Geſetzgebung (Geſetz vom 3. Dec.
1852 nebſt einzelnen Geſetzen in der Manzſchen Ausg. Bd. 8). — Bayern:
Forſtgeſetz vom 2. April 1852; Pözl, Verwaltungsrecht §. 150. — Frank-
reich: das Geſetz vom 21. Mai 1827 (Code Forestier);Block, Diction. v.
Forêts nebſt Literatur. — Italien: neueſte Forſtgeſetzgebung (Geſetz vom
1. Juni 1865 mit Vollzugsverordnung; Auſtria 1865. Nr. 36).
A.Princip deſſelben.
Das Syſtem des Forſtweſens entſteht nun, indem der allgemeine
Grundgedanke deſſelben, die Erhaltung von Beſtand und Produktion
der Forſte wegen ihrer allgemeinen Bedeutung für die Volkswirthſchaft,
auf alle wirkliche Bewirthſchaftung von Waldungen nach ihren ein-
zelnen Theilen hin geſetzlich und adminiſtrativ durchgeführt wird.
Hier nun iſt es, wo die rechtliche Thatſache, daß die Waldungen
theils Eigenthum des Staats, theils der Selbſtverwaltungskörper in
Landſchaften, Gemeinden und Corporationen, theils Einzelner ſind,
Unſicherheit und Unklarheit in die Syſteme des Forſtweſens bringt, ſo
lange man nicht zu einem ſelbſtändigen, allgemein gültigen Princip
deſſelben gelangt.
Dies Princip beruht nun darauf, daß vom höheren Standpunkte
der Volkswirthſchaft alle Waldungen des Staats als ein Ganzes
betrachtet, mithin ohne Rückſicht auf das Eigenthum Einer großen
Geſammtwirthſchaft unterworfen werden müſſen, die ausſchließlich im
[323] Intereſſe der Volkswirthſchaft die Grundſätze der Forſtwirthſchaft voll-
zieht; daß zweitens die Waldbeſtände in jedem Reich ſtatiſtiſch auf-
genommen werden müſſen, um diejenigen auszuſcheiden, welche nicht
fähig ſind, eine dauernde Wirthſchaft zuzulaſſen, und dieſe der Privat-
wirthſchaft mit unbeſchränkter Freiheit zu überlaſſen; endlich aber
diejenigen, welche dadurch ihr Eigenthumsrecht verlieren, in derſelben
Weiſe zu entſchädigen, wie bei der Grundentlaſtung und der Ab-
löſung.
So lange dieſer Grundſatz nicht durchgeführt, und die geſammte
Forſtwirthſchaft nicht als Ein großes, einheitlich behandeltes Verwal-
tungsgebiet behandelt wird, bleibt die Idee des Forſtweſens unfertig,
ſo weit auch die Theorie und Praxis der Forſtwirthſchaft ſonſt fort-
geſchritten ſein mag. In der That iſt noch die Geſchichte des Forſt-
weſens die langſame, aber ſichere Entwicklung dieſes Gedankens, der bis
jetzt ſeinen Hauptausdruck in zwei Grundſätzen hat: erſtlich darin, daß
die Staatsforſte die Muſterwirthſchaft für die Privatforſtwirthſchaft ſei,
und zweitens daß die letztere ohne ſie gezwungen iſt, bei der Rodung
die Zuſtimmung der Forſtverwaltung zu ſuchen. Geht man aber von
dem obigen Geſichtspunkt aus, ſo iſt das eigentliche Syſtem des Forſt-
weſens ſehr einfach.
Die vielfache Unklarheit ſowohl in Geſetz als Theorie über die Geltung
gewiſſer öffentlich-rechtlicher Beſtimmungen (z. B. Forſtpolizei, Forſtabtrag)
auch für die Privatwirthſchaft zeigt in der That, daß wir dem obigen Gedanken
näher ſtehen als wir glauben. Die jährlich ſteigenden Holzpreiſe werden
ihn nur zu bald praktiſch machen. Sehr bedeutſam iſt daher die klare Be-
ſtimmung des Code forestier, welche zuerſt alle Forſte in Reichs-, Communal-
und Privatforſte getheilt und den Grundſatz ausgeſprochen hat, daß die erſteren
unbedingt dem „régime forestier“ unterworfen ſein ſollen (T. I. 1). Darnach
das öſterreichiſche Forſtgeſetz von 1852 I. 1.
B. Die Entwicklung dieſes Princips zum eigentlichen Syſtem zer-
fällt nun in drei Theile.
I. Die Forſtbehörden und ihr Organismus ſind bisher nur
für die Staatsforſten da geweſen. Sie ſollen demnach das Forſtweſen
des ganzen Reiches verwalten.
Aeltere Ordnungen: Berg a. a. O. Neuere: Oeſterreich: Organiſirung
1850; StubenrauchI. §. 18. Forſtgeſetz 5. Abſchn. Ausführliche Inſtruk-
tionen: Manzſche Ausg. S. 43 f. — Preußen: Zutheilung der Inſpektionen
zu den Regierungen (RönneII. 255 und 240). — Frankreich: Code forest.
Art. 1 und Decret vom 6. Mai 1854 (drei Adminiſtratoren unter dem Finanz-
miniſter, und örtliche Inſpektionsbezirke). So wie das obige Princip des Forſt-
weſens angenommen wird, werden dann zwei Dinge nothwendig: erſtlich
[324] ein ganz genauer öffentlicher Waldkataſter, und zweitens das Recht der
Landſchaften, die Anlegung und Aenderung derſelben zu verwalten, und
bei der Forſtverwaltung mitzuwirken. Darin liegt die Zukunft der Organi-
ſation des Forſtweſens.
II. Das Forſtbildungsweſen, das erſt unſerem Jahrhundert
als öffentliche Berufs- und Fachbildung angehört, ſoll mit ſeinem Recht
der Prüfung und Anſtellung für alle Forſte gelten.
Früher bloß als Theil der Cameralwiſſenſchaft. Selbſtändige Bildungs-
anſtalten. Oeſterreich: Grundzüge für das Fortbildungsweſen (Miniſterial-
erlaß vom 9. Juni 1849; Errichtung der Forſtlehranſtalt zu Mariabrunn nebſt
Inſtruktion und Prüfungsordnung (Miniſterialerlaß vom 30. April 1852). —
Preußen: Errichtung der Forſtlandsanſtalt zu Neu-Eberswalde (Kabinets-
ordre vom 27. März 1830); Organiſirung: Erlaß vom 7. Febr. 1864; Rönne
II. S. 227 und 456. — Frankreich: Ecole forestière zu Nancy (Decret vom
1. Dec. 1824. Block, Dict. art. Ec. forest.).
III.Eigentliche Forſtverwaltung (Service forestier). Das
Princip der eigentlichen Forſtverwaltung als der im Geſammtintereſſe
geordneten Forſtwirthſchaft für alle Forſte muß demnach ſein, die
als öffentliche Forſte erklärten Waldungen mit Ausſchluß jedes
augenblicklichen Gewinns als ein dauerndes Capital zu verwalten,
wofür die Forſtwirthſchaftslehre die Grundſätze gibt und der Forſt-
organismus die Verantwortlichkeit hat. Die praktiſche Anwendung er-
gibt zwei Kategorien, deren Ausfüllung dann Aufgabe der Forſtwiſſen-
ſchaft bildet.
a) Der Forſtſchutz. Der Forſtſchutz zerfällt wieder 1) in die
Forſtpolizei, welche den Beſtand der Waldungen gegen Menſchen
und Elemente ſchützt: Polizei α) der Waldbenutzung (Waldſtreu, Wald-
weide) und β) der Waldgefährdung (Feuer, Waſſer); 2) das Rodungs-
recht, Grundſatz, daß kein Boden dem Wald ohne Beſchluß entzogen
werden darf; 3) das Bannrecht; Grundſatz, daß gewiſſe Waldungen
auch der wirthſchaftlichen Benutzung zu entziehen ſind aus elementaren
Gründen; 4) genaue Beſtimmungen über den Erſatz des Waldſcha-
dens, und Strafen für den Waldfrevel und Diebſtahl; zum Theil
peinliches, zum Theil Ordnungsſtrafrecht.
b) Die Forſtpflege. Die allgemeinen Grundſätze der Forſt-
pflege ſind Sache der Forſtwirthſchaftslehre, welche die Verwaltungs-
lehre als bekannt vorauszuſetzen hat. Die Anwendung derſelben auf
das öffentliche Recht ergibt folgende Kategorien:
1) Die Freiheit der Forſtwirthſchaft fordert die Ablöſung der
meiſten Servituten, die meiſt auf hiſtoriſcher Baſis aus der Zeit
der Werthloſigkeit des Holzes ſtammen. Entſtehung, Inhalt und Princip
[325] der Ablöſung ſolcher Dienſtbarkeit (Holzlieferung, Streuſammeln,
Maſtung, Weide). Keine Ablöſung durch Abtheilung.
2) Pflanzungsordnungen: 1) bei geſchlagenen Waldflächen;
2) bei unbeſtandenem abſolutem Waldboden; 3) Baumpflanzen (bei
Wegen ꝛc.); Nutzbäume (Fruchtbäume, Maulbeerbäume ꝛc.) gehören
nicht der Forſtwirthſchaft.
3) Schlagordnung, mit dem Grundſatz, daß keine Rodung
ohne Erlaubniß der höheren Stelle, und genaue Vorſchrift über das
Verfahren ſowohl beim Schlagen als beim Verkaufe der Waldprodukte.
4) Holzbringung, theils durch eigene Straßen, theils mit
ſog. Rieſen, theils zu Waſſer mit Trift- und Schwemmrecht, nebſt dem
Recht der Holzwehren. Princip der eventuellen Expropriation für die
Nachbargrundſtücke.
Für die einzelnen Fragen Verweiſung auf die Forſtwirthſchaftslehre (Forſt-
polizei). Dieſelben ſind in den meiſten Fällen nur dadurch verwickelt, daß das
bisherige Recht den Unterſchied zwiſchen den Staatsforſten und den Privat-
forſten aufrecht hält, und daher ſtets die Frage zu entſcheiden bleibt, wie weit
das öffentliche Recht des Forſtweſens in das Privatrecht im öffentlichen In-
tereſſe hineingreifen dürfe und ſolle. Daher hier Schwanken der Geſetzgebung.
Faſt allgemein iſt jedoch ſchon jetzt der Grundſatz, daß keine Rodung ohne
Genehmigung der Forſtbehörde, wobei merkwürdiger Weiſe das Princip der
Entſchädigung fehlt. — Frankreich: Code forest. Art. 147. Neues und ſehr
ausführliches Decret über Bergbewaldung vom 10. Nov. 1864. — Oeſter-
reich: Forſtgeſetz Art. 2. 3. Badens neues Forſtgeſetz von 1854 hat die
durch das Forſtgeſetz von 1833 eingeführte volle Freiheit der Einzelwirthſchaft
wieder aufgehoben (Rau §. 156). — Preußen ſtellte früher die ganze Privat-
wirthſchaft unter behördliche Oberaufſicht; als das zu Widerſprüchen führte,
ſchlug die Geſetzgebung in das Gegentheil um, und gab durch das Landes-
kulturedikt vom 14. Sept. 1811 die volle Freiheit, die jedoch durch die vielen
lokalen Forſtordnungen (bei Rönne §. 382) im Einzelnen weſentlich beſchränkt
iſt. Aus dieſem Zuſtand der Geſetzgebung der Uebelſtand, daß es mit Aus-
nahme des Rodungsverbotes und zum Theil der Servitutenablöſung (Frank-
reich: Code For. 130; Oeſterreich: Geſetz vom 5. Juli 1853 bei Manz, nebſt
Verwaltungsverordnung; Preußen: Rönne §. 381) und einer Reihe von An-
pflanzungsvorſchriften, ſtets zweifelhaft iſt, ob die geſetzlichen Beſtimmungen
auf Privatwirthſchaft Anwendung finden, während doch die Waldungen der
Selbſtverwaltung den ſtaatlichen Vorſchriften unterworfen ſind (vergl. öſterreich.
Staatsforſtgeſetz Art. 1. 2). — Rönne über Preußen §. 381. — Baden:
Forſtſtrafrecht (Verordnung vom 25. Jan. 1865). — Code forest. Art. 90. 128.
Die Jagd iſt zunächſt wirthſchaftlich eine Form der Benützung des
Grundes und Bodens. Allein ſie iſt zugleich die einzige Art, wie
[326] gewiſſe Grundſtücke, namentlich der Wald, ihre volle Benützung erzielen.
Aus dem erſten geht die volle Freiheit der Jagd hervor, aus dem
zweiten die Beſchränkung derſelben im allgemeinen Intereſſe. Die
öffentlich rechtliche Ordnung, die daraus entſteht, bildet das Jagd-
weſen.
Auch das Jagdweſen hat bekanntlich ſeine Geſchichte, und zwar
hängt dieſelbe innig mit der allgemeinen Geſchichte der Geſellſchaft zu-
ſammen. Darin liegen Intereſſe und Bedeutung derſelben. Die Ge-
ſchlechterordnung erkennt das Jagdrecht als ſelbſtverſtändlich mit dem
Grund und Boden verbunden. Mit der Trennung der herrſchenden
Claſſe derſelben von der beherrſchten, des Adels vom Bauern, trennt
ſich auch die Jagd vom Grundbeſitz; der Bauer verliert ſie und die
Grundherrlichkeit gewinnt ſie. Die Idee, daß alle Grundherrlichkeit
als Lehn vom Souverain abſtamme, erzeugt die Vorſtellung vom
Jagdregal; die wachſende Unfreiheit der niederen bäuerlichen Claſſe
die Jagdſervituten, Jagddienſte und Frohnden; aus der entſtehen-
den landesherrlichen Gewalt geht dagegen der Gedanke der Jagdhoheit
als des Rechts derſelben auf Geſetzgebung und Verwaltung der Jagd
hervor, die dann aber erſt zur wahren Bedeutung und Thätigkeit ge-
langt, als die Grundentlaſtung die Freiheit alles Grundes, alſo auch
principiell die der Benützung derſelben durch die Jagd herſtellt. Jetzt
erſt gibt es eine eigentliche Jagdgeſetzgebung. Das Princip der-
ſelben iſt die Herſtellung der Bedingungen, unter denen auch bei
dem Jagdrecht auf eigenem Grund und Boden die Jagd als ein Pro-
duktionszweig des allgemeinen Intereſſes erhalten werden kann.
Als dieſe drei Bedingungen erſcheinen die Hegezeit, die Herſtellung
angemeſſener Jagdreviere, und der Grundſatz der Ausübung des
Jagdrechts für die letzteren durch Verpachtung, namentlich bei den
Gemeinden, während die Jagd auf Raubthiere der Polizei der
Landwirthſchaft angehört. Die Annahme des obigen Syſtems des
Forſtweſens würde dieſe Fragen in hohem Grade vereinfachen. Die
Grundſätze der Jagdverwaltung ſind dabei ein Theil der Forſtwiſſenſchaft.
Literatur der Geſchichte des Jagdrechts: Fiſcher, Cameral- und Polizei-
recht II. 847 ff. ſehr reich; Mittermaier deutſches Privatrecht I. §. 213—218;
Berg, Polizeirecht III. S. 376 (rationeller Standpunkt). Neuerer rechtlicher
Standpunkt: Klüber, öffentliches Recht §. 455 ff. nebſt reicher Literatur.
Volkswirthſchaftlich: Rau, Volkswirthſchaftspflege I. §. 174; RoſcherII. §. 173.
Techniſch: Baumſtark §. 246 ff. Sehr gut und gründlich mit Angabe der
neueſten Geſetzgebung: Brünneck, das heutige deutſche Jagdrecht und das
Eigenthumsrecht am Wild (ſ. Archiv für Civilpraxis Bd. 48 Heft 1. S. 80 ff. Neue
Geſetze: Oeſterreich: Jagdfreiheit (Patent vom 7. März 1849). Jagdpolizei:
[327] Erlaß vom 15. Dec. 1852. — Preußen: Jagdfreiheit (Geſetz vom 31. Okt.
1848); Jagdpolizei (Geſetz vom 7. März 1850). — K. Sachſen: Jagdgeſetz
vom 1. Dec. 1864. — Frankreich: Begriff und Syſtem des Régime forestier
und Inbegriff der niederen Jagd in daſſelbe (Geſetz vom 3. März 1844). Lite-
ratur: Block, Dict. v. Chasse. — England: Jagdgeſetz gegen Wilddieberei
25. 26. Vict. 64.
Die Fiſcherei hat für ihre Geſchichte und ihre Principien in der
Hauptſache dieſelben Grundlagen wie die Jagd; doch iſt weſentlich zu
unterſcheiden zwiſchen der Fiſcherei zur See und der Fiſcherei im
Süßwaſſer. Die Seefiſcherei iſt von jeher als eine Schule der See-
fahrt betrachtet, und bei ihr daher die Sache um der erwerbenden
Thätigkeit willen eben ſo ſehr geſchützt als wegen des Produkts ſelbſt.
Die Süßwaſſerfiſcherei iſt zunächſt ein Ausfluß des Eigenthums am
Waſſer, dann aber eine Sache des allgemeinen Intereſſes, die aller-
dings einer beſtimmten Sorge von Seiten der Verwaltung werth iſt.
Das Recht auf Eingreifen der letzteren entwickelt ſich auch hier aus
der vollen Freiheit zum Regal, aus dieſem zur Fiſchereigeſetzgebung,
zunächſt mit den Beſtimmungen über Hegezeit und Fangart. Die
neueſte Zeit hat dem Fiſchereiweſen die künſtliche Fiſchzucht hinzu-
gefügt, die noch als Privatunternehmung auftritt, wohl aber werth
wäre, Gegenſtand ſpecieller Sorge der Verwaltung zu werden.
Die Literatur über das Fiſchereiweſen iſt faſt immer mit der über das
Jagdweſen verbunden; daher vergl. die im vor. Abſchn. citirten Schriftſteller
und Angaben. — Frankreich hat eine ſehr entwickelte Geſetzgebung nament-
lich für die Seefiſcherei, mit Vorſchriften und Prämienſyſtem als Concurrenz-
mittel gegen England und Holland; Süßwaſſerfiſcherei (Geſetz vom 15. April
1829). — Oeſterreich dagegen ſehr unvollſtändig; es gilt noch die Verordnung
vom 24. März 1771 ohne rationelle Geſetzgebung. StubenrauchII. §. 470.
— Preußen: gleichfalls noch auf dem einfachen Standpunkt der Regalität
und der Polizei. (Allgem. Landrecht II. 16; RönneII. §. 378.)
III. Die Landwirthſchaftspflege.
In der Landwirthſchaft tritt uns nun zuerſt das Gebiet entgegen,
in welchem nicht mehr, wie bei Berg- und Forſtwirthſchaft, die Wirth-
ſchaft durch die Natur ihres Stoffes Gegenſtand des Geſammtintereſſes
und damit des Verwaltungsrechts iſt. Sie iſt vielmehr die urſprüng-
liche, und damit auch ſyſtematiſch erſte Geſtalt der freien Wirthſchaft.
Und hier beginnt daher auch die Frage, was die Verwaltung für das
an ſich freie wirthſchaftliche Leben überhaupt thun könne und ſolle.
[328] Namentlich iſt das und zuerſt für die Landwirthſchaft der Fall, und
viele denken ſich unter der „Landwirthſchaftspflege“ ein förmliches be-
ſtändig thätiges Syſtem von Verwaltungsmaßregeln, denen die Land-
wirthſchaft ihre weſentliche Blüthe verdanken ſolle. Es iſt daher noth-
wendig, dieſe Vorſtellung auf ihr feſtes Maß zurückzuführen.
1) Begriff und Natur der freien Wirthſchaften ſchließen nämlich
zuerſt eine unmittelbare Theilnahme der Verwaltung an derſelben aus.
In ihnen ſoll ſich die einzelne Perſönlichkeit durch ſich ſelber entwickeln,
ſie ſollen ſich ſelber helfen. Sie werden werthlos für die Menſch-
heit, wenn die Verwaltung die Aufgabe übernimmt, ihre innere Ent-
wicklung direkt zu fördern, oder gar ihre Ordnung zu beſtimmen. Da-
gegen gibt es ein zweites Gebiet, bis zu welchem das große Princip
der freien Selbſtthätigkeit nicht reicht. Das iſt die Geſammtheit der
außerhalb der Einzelwirthſchaft liegenden allgemeinen Bedingungen
des wirthſchaftlichen Fortſchrittes. Mit dem Auftreten der freien
Einzelwirthſchaft ſcheiden ſie ſich von der letzteren; von da an ſind
ſie ſelbſtändige Gebiete der Verwaltung; und ſo entſteht der allgemeine
Satz, der ſeine erſte Anwendung in der Landwirthſchaft findet, daß
mit ihnen der Schwerpunkt der ganzen wirthſchaftlichen Verwaltung in
den allgemeinen Theil der Volkswirthſchaftspflege fällt,
und der beſondere Theil eben nur aus denjenigen beſonderen und ein-
zelnen Beſtimmungen und Thätigkeiten der Verwaltung beſteht, welche
durch die beſondere Natur der einzelnen Wirthſchaftsart gefordert
werden. Die freie Wirthſchaft fordert demnach vor allem die tüchtige
Verwaltung des Communikations- und des Creditweſens; das Uebrige
— die beſondere Volkswirthſchaftspflege — hat von da an nur einen
ſuppletoriſchen Charakter.
2) Aber freilich hat die volle Gültigkeit dieſes Standpunkts Eine
große Vorausſetzung. Das iſt, daß eben die einzelnen Wirthſchaften
frei ſeien. Und nun hat der Gang der hiſtoriſchen Entwicklung es
mit ſich gebracht, daß alle Arten der Einzelwirthſchaft, von der Ge-
ſchlechter- und Ständeordnung beherrſcht, erſt durch einen Jahrhunderte
dauernden Kampf wirklich zu freien Unternehmungen geworden ſind.
In der That verwirklicht ſich eigentlich erſt mit dieſer Freiheit der
Einzelwirthſchaft die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft unſeres Jahrhunderts.
Die werdende Geſchichte ihres öffentlichen Rechts iſt auf allen Punkten
zuerſt die Geſchichte der freien Geſellſchaftsordnung und damit der für
ſie geltenden freien Verwaltung. Bis das geſchehen iſt, kann weder
eine hinreichende Lehre von der wirthſchaftlichen Technik, noch ein
rechter Werth der beſonderen, auf die Eigenthümlichkeit der Wirth-
ſchaftsarten berechneten Verwaltungsmaßregeln entſtehen, ſo klar auch
[329] das Princip an ſich ſein mag. Und von dieſem Standpunkt aus muß
daher die folgende Darſtellung ihre Ordnung empfangen.
3) Dieſe nun wird, ſo wie man über die Idee der Freiheit der
Einzelwirthſchaft als erſte Grundlage der wahren Entwicklung einig iſt,
durch Einen großen Gedanken beherrſcht. Allerdings vermögen Staat
und Verwaltung, welche jene Befreiung vollzogen, auch nach derſelben
noch viel für die Entwicklung der freien Wirthſchaft überhaupt, und
ſpeciell der Landwirthſchaft zu leiſten. Allein das, was die Verwaltung
für die Landwirthſchaft poſitiv thun und die Punkte, auf denen ſie
in den Landwirthſchaftsbetrieb eingreifen kann, ſind ſehr unweſentlich,
und weit unbedeutender als bei irgend einem andern Theile der Volks-
wirthſchaftspflege. In der That war es zuerſt die große Miſſion der
Verwaltung, die Landwirthſchaft frei zu machen. So wie ſie
dieſe erfüllt hat, iſt auch das Gebiet ihrer poſitiven Thätigkeit im
weſentlichen erſchöpft. Von dieſem Punkte aus muß ſich dieß Gebiet
der Volkswirthſchaft, von den Feſſeln der früheren Zuſtände befreit,
ſelbſt helfen. Das Bewußtſein der Wichtigkeit ſeiner großen volks-
wirthſchaftlichen Funktion und der Geſetze, nach welchen durch eigene
Thätigkeit ſein Beſitz ihm Selbſtändigkeit und Einkommen gibt, muß
an die Stelle der poſitiven Fürſorge der Regierung treten; in ihm
liegt die Hülfe gegen die Gefahren der Landwirthſchaft, in ihm auch
die wahre und beſte Entſcheidung über die Zweifel, die über den Werth
und Erfolg der Geſetze und Regierungsmaßregeln ſtets entſtehen wer-
den. Die Freiheit der Landwirthſchaft iſt zuletzt nur die Negation der
hiſtoriſchen Beſchränkungen derſelben; die dann noch nöthigen ſpeciellen
Beſtimmungen für das öffentliche Recht derſelben ſind Ausnahmen; die
wahre Baſis des Fortſchrittes der Landwirthſchaft iſt der tüchtige, durch
die möglichſte Entwicklung der allgemeinen Volkswirthſchaftspflege unter-
ſtützte und getragene Landwirth ſelber; das Organ, durch welches
er thätig iſt, das landwirthſchaftliche Vereinsweſen neben der Regie-
rung, wird nur noch die höhere Ordnerin für die Einheit und Gleich-
artigkeit deſſen ſein, was die Landwirthe für ſich ſelber thun.
Die Literatur der Landwirthſchaft iſt ſehr groß, aber ſie iſt keine Einheit.
Faßt man ſie als Ganzes, ſo erſcheinen folgende Grundzüge. Sie beginnt
in der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit der Anerkennung der Wichtigkeit
der Landwirthſchaft überhaupt. Daraus entſtehen die erſten Bearbeitungen,
die ſich zunächſt an die Polizeiwiſſenſchaft anſchließen, und zwar theils als
ſelbſtändige Werke, namentlich Frank, landwirthſchaftliche Polizei 2 Bde. und
Benekendorf, Oeconomia forensis 2 Bde. 1776, theils als unmittelbarer
Theil der eigentlichen Polizeiwiſſenſchaft, zuerſt bei Heumann, Jus politiae
Cap. 27; dann Juſti, Grundſätze 1. Buch, 1. Theil; beſonders bei Berg,
[330] Teutſches Polizeirecht III. S. 243 ff.; theils auch in den Encyclopädien wie
in Krünitz Bd. XV. Daneben geht das ſog. Landwirthſchaftsrecht als die
rechtliche Darſtellung der bäuerlichen Laſten und Beſchränkungen einher; ſ. beſ.
Fiſcher, Cameral- und Polizeirecht S. 692 ff. und Literatur; Stein, Ent-
währung von S. 150 ff. Erſt mit dem Anfang unſeres Jahrhunderts ſcheidet
ſich die Landwirthſchaftslehre als ſelbſtändige Wiſſenſchaft von Polizei und Recht;
der Vater dieſer ganzen Richtung iſt Thaer in ſeinen Werken: die engliſche
Landwirthſchaft und die rationelle Landwirthſchaft ſeit 1808. Dieſe Richtung
entwickelt ſich zunächſt zur höheren, chemiſchen Bodenkunde (namentlich Hundes-
hagen, Bodenkunde in land- und forſtwirthſchaftlicher Hinſicht 1830). Dann
zur Phyſiologie der Landwirthſchaft und Düngerlehre durch Liebigs Arbeiten.
Dieſe Richtungen werden nun in der Cameralwiſſenſchaft (Baumſtark, Ency-
clopädie §. 133 ff.) vom techniſchen Standpunkt bearbeitet, während die Natio-
nalökonomie, namentlich Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 121 ff. mit großem
Reichthum des Materials, und vorwaltend vom wirthſchaftlichen, Roſcher da-
gegen (Nationalökonomie Bd. II.) mehr vom rechtshiſtoriſch geſchichtlichen Stand-
punkt die wirthſchaftlichen und Verwaltungsfragen verſchmelzen, und dabei ſehr
viel leiſten, aber auch viel verwirren. Neben ihnen hält ſich die Verwaltungs-
geſetzkunde, wie Rönne, Pötzl, Stubenrauch, auf der Gränze des gegebenen
Rechts, und ſtellt damit die Scheidung zwiſchen Wirthſchaft und Verwaltung
wieder her. Es iſt feſtzuhalten, daß erſt das Verwaltungslehre und Recht
der Landwirthſchaft iſt, was übrig bleibt, wenn die Rechtsgeſchichte der Be-
freiung abgezogen wird.
Das Princip und das Ziel der Geſchichte des Landwirthſchaftsrechts
ſind ſehr einfach; die Bewegungen derſelben dagegen außerordentlich
reich an Einzelheiten, und gehören im Großen und Ganzen der Ent-
währungslehre an. Sie beginnt da, wo die Regierungen zum Be-
wußtſein nicht etwa von dem Recht des Bauernſtandes auf Freiheit des
Grundbeſitzes, ſondern von der Wichtigkeit der landwirthſchaftlichen
Produktion für die Finanzen und für die Volkswirthſchaft gelangen.
Das iſt mit der Mitte des vorigen Jahrhunderts der Fall; in Deutſch-
land ſchon bei Juſti; aber erſt die Phyſiokraten erhoben dieſe Wahr-
heit zu einem allgemein anerkannten Satze. Die Folge, die erſte
Epoche der Landwirthſchaftspflege iſt dann einerſeits der deutſche Ver-
ſuch, für die letztere ein eigenes Behördenſyſtem (Landwirthſchafts- oder
landwirthſchaftliche Oekonomiecollegien) zu ſchaffen, neue Dorfordnungen
mit ſpecieller Beziehung auf die „Feldpolizei“ einzuführen, und nament-
lich in der Aufhebung der Leibeigenſchaft. Erſt mit der franzöſiſchen
Revolution jedoch, welche die völlige Aufhebung aller Beſchränkungen
des Bauernſtandes am 4. Auguſt 1789 decretirt und dann im Ein-
zelnen durchführt, beginnt die zweite große Epoche, deren Inhalt die
[331] langſam aber ſyſtematiſch fortſchreitende rechtliche Befreiung der Land-
wirthſchaft von der Grundherrlichkeit enthält, und die wir als Grund-
entlaſtungs- und Ablöſungsweſen bezeichnen. Beides ſind nicht
Maßregeln für die Entwicklung der eigentlichen Landwirthſchaft, ſondern
nur die rechtlichen Vorausſetzungen derſelben. Erſt da, wo beide wenig-
ſtens principiell zur Geltung gelangt ſind, entſtehen die beiden großen,
die Landwirthſchaft beſonders betreffenden Fragen und ihr Recht, das
Recht der Theilbarkeit und das Recht des Schutzes durch den
Kornzoll. Die erſte beginnt bei der Frage nach den Gemein-
heitstheilungen bereits im vorigen Jahrhundert und geht allmählig
von dem Princip der abſoluten Theilungspflicht über zu dem Gedanken,
die Gemeindeweide als Grundlage der Gemeindefinanzen zu betrachten;
die Kornzollfrage, urſprünglich das Gebiet ſtrengen Schutzes, wird mit
unſerem Jahrhundert die eigentliche Heimath des Freihandels. Die
erſte ſchließt ſich daher mehr an die ſocialen Gegenſätze, die zweite an
die Entwicklung der Induſtrie an. Je beſtimmter nun alle dieſe Ge-
biete im Sinne der freien Bewegung des Beſitzes, wie der Produktion
ſich entſcheiden, um ſo enger wird das Gebiet der eigentlichen Land-
wirthſchaftspflege, und es bildet ſich mehr und mehr die Ueberzeugung
heraus, daß die wahre Sorge des Staats für den Landbau zwar
innerhalb der Aufgaben der allgemeinen wirthſchaftlichen Verwal-
tung liege, daß dieſelbe aber allerdings die Fähigkeit habe, ſpeciell
die Intereſſen der Landwirthſchaft in ihren Anwendungen zur Geltung
zu bringen. Die Verwaltung der Landwirthſchaft muß daher jetzt von
einem allgemeinen und von einem beſonderen Theile reden, welche
wieder beide durch ihr gemeinſames Princip zuſammengehalten, das
gegenwärtige Syſtem der Landwirthſchaftspflege bilden.
Wir glauben in Beziehung auf die Befreiung des Grundes und Bodens
und die auf Entlaſtung und Ablöſung bezüglichen Geſetze und ihre Geſchichte
auf unſere Darſtellung in der „Entwährungslehre“ (Innere Verwaltungs-
lehre Bd. 7) verweiſen zu können. In ihrer Anwendung auf die obigen Prin-
cipien erſcheinen folgende Sätze. England kennt eigentlich keine ſelbſtändige
Landwirthſchaftspflege, da durch das Syſtem der Verpachtung jede Landwirth-
ſchaft den Charakter eines freien Unternehmens hat. Auch Frankreich beſitzt
dafür mit Ausnahme der Flurpolizei keine Theorie und keine ſyſtematiſchen
Geſetze. In Deutſchland iſt der Charakter der preußiſchen Geſetzgebung
von dem der öſterreichiſchen weſentlich dadurch verſchieden, daß Preußen
allerdings viel früher und ſyſtematiſcher die Befreiung des Grundes und Bodens
von den ſtändiſchen Laſten herſtellte (Aufhebung der Unterthänigkeit ſchon im
Edikt vom 9. Okt. 1807: „Fortan ſoll es nur freie Leute in Preußen geben“)
was durch das Landesculturedikt vom 15. Sept. 1811 und durch die Ablöſung
der Reallaſten (Geſetz vom 7. Jan. 1831) weiter ausgeführt ward; das Geſetz
[332] vom 2. Nov. 1830 hat dieſe Beſtimmungen, die an weſentlichen Mängeln litten,
aufgehoben, und das gegenwärtige Ablöſungs- und Entlaſtungsverfahren ge-
ordnet. Allein die politiſche Freiheit iſt dem Grundbeſitz doch nicht gegeben,
indem die Patrimonialjurisdiktion zum Theil beſtehen blieb. Oeſterreich da-
gegen hat zugleich nebſt der vollen Freiheit auch die volle Freiheit der Selbſt-
verwaltung gegeben. Dagegen hat Preußen für die Entlaſtung eine eigene
Rentenbank (Geſetz vom 27. Jan. 1860) wogegen Oeſterreich das Syſtem
der Grundentlaſtungsobligationen eingeführt hat. Für das Uebrige vergl. Rau
und Roſcher a. a. O. Es iſt nur ein nicht unweſentlicher Fehler, noch immer
das Ablöſungs- und Entlaſtungsweſen als Theil der gegenwärtigen Land-
wirthſchaftspflege aufzuführen, was nur Verwirrung bringen kann.
Das Syſtem der Landwirthſchaftspflege entſteht nun, indem die
Verwaltung mit ihren Organen und Beſtimmungen auf denjenigen
Punkten eintritt, wo nach dem Erwerbe der Freiheit der Landwirth-
ſchaft beſtimmte Bedingungen ihrer Entwicklung eintreten, welche ſich
die Einzelnen nicht mehr ſelber verſchaffen können.
Das Princip dafür iſt, durch dieſe Maßregeln nicht mehr direkt
in die Landwirthſchaft einzugreifen, ſondern durch Schutz und Hülfe
im Einzelnen den Landmann in den Stand zu ſetzen, ſeine wirthſchaft-
liche Freiheit mit vollem Bewußtſein für die wirthſchaftliche Entwicklung
zu gebrauchen. Daraus ergeben ſich folgende Hauptgebiete.
Die Organiſation der landwirthſchaftlichen Verwaltung mit
dem vorigen Jahrhundert beginnend, legt bis auf die neueſte Zeit den
Schwerpunkt in die amtlichen Stellen, deren Aufgabe eben in der
rechtlichen Durchführung der Befreiungsmaßregeln beſteht. Zugleich
beginnt neben der Regierung auch die freie Verwaltung als Vereins-
weſen thätig einzugreifen, jedoch hauptſächlich auf dem Gebiete der
landwirthſchaftlichen Bildung; je weiter die Befreiung und Selbſtändig-
keit der Landwirthſchaft geht, je unbedeutender wird die Funktion der
Regierungsorgane und je wichtiger das Vereinsweſen. Die Zukunft
des letzteren liegt in der Verbindung der landwirthſchaftlichen
Creditvereine mit den landwirthſchaftlichen Bildungs-
vereinen, für welche noch die Formel nicht gefunden iſt.
Eine Geſchichte dieſer Organiſation wäre von nicht geringem Intereſſe.
Für das vorige Jahrhundert über die „Landesökonomiecollegien“ der verſchie-
denen Staaten Deutſchlands Berg a. a. O. Eben ſo über die verſchiedenen
Landwirthſchaftsgeſellſchaften Berg ebend. Thüring. Civilgeſetzgebung
[333] von 1762. Leipziger Ackerbaugeſetz von 1764. Geſellſchaft zu Celle 1764.
Vergl. auch Stubenrauch, Vereinsweſen in Oeſterreich 1857. S. 183. Auf-
forderung von Maria Thereſia an „gelehrte und praktiſche Landwirthe in den
einzelnen Provinzen,“ dann Geſellſchaftsplan für Oeſterreich 1769, und Sta-
tuten von 1773. Mit unſerem Jahrhundert ſtehen amtliche Organe und Land-
wirthſchaftsvereine faſt in allen Staaten neben einander, die erſteren meiſt für
die Durchführung der rechtlichen Ordnung thätig, die letzteren theils als Bil-
dungs- und theils als Intereſſenvereine. Den Anſtoß zur neueſten Ent-
wicklung des Vereinsweſens P. Jordan, Vorleſung über „rationelle Land-
wirthſchaft 1796,“ darauf Bildung vieler, zum Theil ſehr gut organiſirter
Vereine (vergl. auch RauI. 146). Oeſterreich. Niederöſterreichiſche
Landwirthſchaftsgeſellſchaft ſeit 1806; neue Statuten 1850. Steiermärkiſche
Landwirthſchaftsgeſetze ſeit 1848; Forſtverein 1852; andere Vereine theils
für den Landbau im Allgemeinen, theils für die einzelnen Zweige deſſelben
ſ. bei Stubenrauch nebſt kurzer Geſchichte und Regiſter a. a. O. S. 192.
Darauf Errichtung des Ackerbauminiſteriums 1868. — In Preußen:
Generalcommiſſion und landwirthſchaftliche Regierungsabtheilungen; Geſchichte
und (meiſt rechtliche) Aufgaben ſeit 1848 bei Rönne, Staatsrecht II. §. 262.
Landesökonomiecollegium, als Haupt der eigentlichen Landwirthſchafts-
pflege, auf Grundlage des Landesculturedikts von 1811 durch Kabinetsordre
vom 16. Jan. 1842 errichtet; neue Organiſation durch Regulativ vom 24. Juni
1859; zugleich Mittelpunkt des landwirthſchaftlichen Vereinsweſens. Dieſes ins
Leben gerufen durch Landesculturedikt von 1811, Anzahl und Stellung der-
ſelben RönneII. §. 378. — In Bayern liegt der Schwerpunkt in dem
landwirthſchaftlichen Verein ſeit 1809, der ein förmliches Verwaltungsorgan
geworden iſt (Pötzl, Verwaltungsrecht §. 147). — Für Frankreich exiſtiren
die Conseils d’Agriculture, die aber, da ſie nur durch den Préfet ernannt
werden, faſt gar keine Bedeutung haben. Sie haben eine ſtreng begränzte,
conſultative Funktion. Daneben die Comices agricoles, Vereinsform, wieder
unter behördlicher Leitung, jedoch in Ausdehnung begriffen (1865 über 500)
Block, Dict. v. Com. agric. — Eine Geſammtdarſtellung dieſes wichtigen
Gebietes für Deutſchland fehlt; auch bei Rau und Roſcher. Dagegen vom
Standpunkt der neueren Zeit G. Schönberg, die Landwirthſchaft der Gegen-
wart und das Genoſſenſchaftsprincip 1869.
Die eigentliche Landwirthſchaftspflege entſteht nun da, wo aus
dem allgemeinen Princip die einzelnen Maßregeln für die Hebung der
Landwirthſchaft hervorgehen; und dieſe theilen ſich wieder in zwei Ge-
biete, die wir als den allgemeinen und den beſonderen Theil zu be-
zeichnen haben.
a) Allgemeiner Theil.
Das, was wir die allgemeine Landwirthſchaftspflege nennen,
iſt nun die beſondere Geſtalt, welche die allgemeinen Grundſätze der
[334] Volkswirthſchaftspflege in ihrer Anwendung auf die Landwirthſchaft
empfangen. Dieſelben ſind an ſich ſehr einfach, ihre Verwirklichung
aber fordert große Fachkenntniß, und in ihr beſteht jetzt eigent-
lich der Inhalt der Volkswirthſchaftspflege unſerer Epoche. Die
betreffenden Gebiete ſind die Verkehrsfreiheit des Grundes und Bodens,
der Schutz der Produktion, das Communikationsweſen für die erzeugten
Produkte, und das Creditweſen für die landwirthſchaftlichen Unter-
nehmungen, welche ſie erzeugen.
a) Die rechtliche Verkehrsfreiheit des Grundes und Bodens iſt die
freie Theilbarkeit. Das Recht der Theilbarkeit hat zwei Epochen.
In der erſten erſcheint es als einfacher Ausdruck der wirthſchaftlichen
Befreiung des Grundbeſitzes von der ſtändiſchen Herrſchaft, und iſt
eben deßhalb der freieren Richtung überhaupt nicht zweifelhaft. In der
zweiten tritt die Frage nach der Zweckmäßigkeit derſelben auf,
welcher die Vorſtellung von der einerſeits wirthſchaftlichen und anderer-
ſeits geſellſchaftlichen Gefahr zum Grunde liegt, die mit der Zerſtücke-
lung in zu kleine Theile und der Anhäufung zu großer Grundbeſitze
verbunden iſt. Der Streit darüber kommt weder auf Grundlage ſtati-
ſtiſcher Thatſachen noch theoretiſcher Erwägungen zu einem feſten Re-
ſultat, obwohl er ſeit einem halben Jahrhundert auf das lebhafteſte
geführt wird, da immer neue Thatſachen bisher anerkannte wiſſenſchaft-
liche Principien wieder zweifelhaft machen. Es wird daher klar, daß
ein definitives Reſultat innerhalb der Gränze der bloßen Zweckmäßig-
keit oder Gefahr überhaupt nicht gefunden werden kann. Der einzig
richtige Standpunkt iſt der, der über beiden ſteht. Zerſtückelung und
Zuſammenlegung ſind an und für ſich weder gut noch ſchlecht; Verbote
der Theilung des Gutes können die Theilung des Werthes durch Hy-
potheken doch nicht aufhalten, ſo wenig wie man geſetzlich die Bildung
von Latifundien hindern kann; und was man nicht thun kann, ſoll
man nicht thun wollen. In der That iſt jeder Rechtsſatz, der den
freien Verkehr hindert, nicht ein Ausdruck nationalökonomiſcher Auf-
faſſungen, ſondern der Reſt der Geſchlechterordnung im Recht
des Grundbeſitzes, und die freie Theilbarkeit die rechtliche Geltung der
ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft und ihrer Principien auch auf dieſem
Gebiet. Und darum iſt ihr Sieg unvermeidlich, und der Kampf da-
gegen nutzlos. Denn jede freie Bewegung iſt heilſam, ſo lange die
perſönliche wirthſchaftliche Tüchtigkeit nicht darunter leidet. Beſchrän-
kungen derſelben ſind nicht bloß immer volkswirthſchaftlich bedenklich,
ſondern ſtets die Unmündigkeitserklärung des Standes der Landwirthe,
und die iſt an und für ſich ſchlimmer, als alle Folgen der Zerſtücke-
lung. Die Latifundienbildung aber iſt nie bedenklich, ſo lange die
[335] gebildeten großen Beſitze nicht durch Fideicommiſſe dem freien Verkehr
entzogen werden. Im richtigen Verſtändniß dieſer Wahrheit, daß die
Uebelſtände, welche der freie Verkehr bringt, allein durch denſelben
freien Verkehr wieder geheilt werden, iſt daher jetzt die freie Theilbar-
keit des Bodens in allen civiliſirten Staaten als eine der weſentlichſten
Grundlagen der tüchtigen Landwirthſchaft anerkannt, und der Streit
über ihren Werth als ein hiſtoriſcher anzuſehen.
Die ganze Literatur über die Theilbarkeit mit ihrer Reſultatloſigkeit reſul-
tatlos zuſammengeſtellt namentlich bei Roſcher, Nationalökonomie II. (vergl.
Mohl, Polizeiwiſſenſchaft II. 170 und Rau, Volkswirthſchaftspflege I. §. 76. 77).
Allmählige Entwicklung der Freiheit des Verkehrs aus den früheren Verboten
theils der „Niederlegung“ von Bauerngütern, theils „Gebundenheit“ derſelben,
theils der „Größe“ derſelben. Ausführliche und gründliche Zuſammenſtellungen
von Bernhardi, Kritik der Gründe für großes und kleines Grundeigenthum
1849. Der theoretiſche Streit iſt naturgemäß endlos. — Frankreich hat
die volle Freiheit des Verkehrs; Preußen hat ſie bereits durch das Landes-
culturedikt von 1811 eingeführt; Oeſterreich durch das neue Geſetz vom
25. Mai 1868. — Bayern hat noch das Geſetz über gewerbsmäßige Guts-
zertrümmerung vom 28. Mai 1852. — Sachſen-Weimar: Verordnung vom
4. Jan. 1864 (Ordnung der Theilbarkeit). Noch haben keine ſtatiſtiſchen Thatſachen
die Verkehrsfreiheit als nachtheilig bewieſen (ſ. gründliche ſtatiſtiſche Bearbeitung
von Engels Zeitſchrift des ſtat. Bureaus 1865; Ergebniſſe der Theilbarkeit
von 1816—1859).
b. Der Schutz der Landwirthſchaft iſt ein doppelter.
1) Der Schutz der Produktion beſteht in der Anwendung des
Schutzollprincips auf den Handel mit der Produktion der
Landwirthſchaft, gewöhnlich als Kornzoll bezeichnet. Jeder Kornzoll
iſt an und für ſich falſch, weil er überhaupt nicht die Fähigkeit hat,
die Produktion zu ſteigern, da die jährliche Produktion von der Ernte,
die allgemeine aber von der Entwicklung der Gewerbe und Induſtrie
abhängt. Er iſt aber auch als Ausgleichung der Grundſteuer falſch,
weil er zu einer ſolchen gleichfalls nicht fähig iſt. Er iſt endlich für das
ganze Volk um ſo ſchädlicher, als er durch Vertheuerung der Nahrungs-
mittel um ſo nachtheiliger wirkt, je mehr er einträgt. Es gibt gar
keinen rationellen Geſichtspunkt, von dem aus man ihn vertheidigen
könnte.
Natürlich auch hierüber großer Streit; Bewußtſein über den Nachtheil der
Kornzölle zuerſt in der phyſiokratiſchen Schule. Bedeutung der Kornzölle im
geraden Verhältniß zu den Communikationsmitteln. Lotz, Staatswirthſchafts-
lehre II. §. 110 ff. gründlich und ausführlich für Freiheit des Getreidehandels.
Reiche und umfaſſende Darſtellung der Zollgeſetzgebungen bei Rau, Volks-
wirthſchaftspflege §. 131. Es iſt durchaus nicht abzuſehen, welcher vernünftige
[336] Zweck noch mit den Einfuhrzöllen auf landwirthſchaftliche Produkte in unſerer
Zeit noch erreicht werden ſoll.
2) Der Schutz des Betriebes und der Produktion. Ge-
wöhnliche Auffaſſung als bloße Anwendung der Sicherheitspolizei auf
die Landwirthſchaft. Im höheren Sinne iſt ſie dagegen ein ſyſtemati-
ſcher Kampf gegen alle Gefährdungen und Hemmniſſe der landwirth-
ſchaftlichen Produktion durch die Elemente zuerſt, und dann durch
die Menſchen. Daher erſtlich: Elementarpolizei der Landwirth-
ſchaft, und zwar: a) landwirthſchaftliche Flurpolizei; b) die landwirth-
ſchaftliche Waſſerordnung, ſpeciell die Entwäſſerungs- und Be-
wäſſerungsordnungen, die eben deßhalb vielfach als rein landwirth-
ſchaftliche Maßregel und Rechtsverhältniſſe behandelt werden; c) land-
wirthſchaftliches Verſicherungsweſen, ſpeciell die Hagel- und
Viehverſicherungen. Es iſt ſchon früher dargeſtellt, daß dieſe drei
Aufgaben weſentlich dem Vereinsweſen angehören; die Landwirth-
ſchaftsvereine ſollen, was ſie bisher nicht oder zu wenig gethan haben,
das Vereinsweſen für dieſe Zwecke theils ins Leben rufen, theils ordnen,
indem ſie hierfür ſo viel als thunlich das Princip der Gegenſeitig-
keit zur Geltung bringen. Daran ſchließt ſich als ſelbſtändiges wich-
tiges Gebiet das Viehſeuchenweſen und ſein Polizeirecht mit dem
bisher nur in Deutſchland ausgebildeten Syſtem der unbedingten Ver-
nichtung des ganzen angeſteckten Viehſtandes, ſtrengſter Polizei des
Viehverkehrs bei Seuchen, Abſchließung, amtlicher Unterſuchung, aber
zugleich öffentlicher Entſchädigung, wo Vieh bloß wegen der Gefahr
der Anſteckung vernichtet wird.
Das zweite Gebiet iſt die eigentliche Flurpolizei, Aufgabe der
Selbſtverwaltung; die Geſetze ſollen die Grundſätze geben, die Land-
ſchaften die Verordnungen, und die Ortsgemeinde die Ausführung.
Die Grundſätze über Elementarpolizei ſ. oben. Das landwirthſchaftliche
Verſicherungsweſen nebſt Literatur: Rau, Volkswirthſchaftspflege I. §. 105 ff.
Ueber Entwäſſerung und Urbarmachung Rau ebend. §. 103. Die Flur- oder
Feldpolizeigeſetzgebung Gegenſtand eigener Geſetze, weil ſie ein ſelbſtändiges
Ordnungsſtrafrecht enthält, deſſen Ausübung den Gemeinden übergeben
wird. — Preußen: örtliche Feldpolizeiordnungen der früheren Zeit (Rönne
II. §. 377; neueſte Feldpolizeiordnung vom 1. Nov. 1847; Lette und Rönne,
Landeskulturgeſetzgebung II. 2). — Oeſterreich: Geſetz über Waldſchutz und
Waldfrevel vom 30. Jan. 1860. Hauptſache in beiden das Verfahren von
Seiten der Feldhüter gegen Perſonen, welche die Ordnung verletzen. Die Vieh-
ſeuchenpolizei namentlich in Preußen und Oeſterreich zu einem höchſt ratio-
nellen Syſtem ausgebildet, und zwar auf Grundlage eigener Thierarznei-
ſchulen und eigener Geſetzgebung. — Preußen: Patent vom 2. April 1803.
[337] Regulativ vom 28. Okt. 1835 und Geſetz vom 11. März 1850. Einzelne Be-
ſtimmungen Rönne und Simon, Medicinalweſen I. 613; Rönne, Staats-
recht II. 367. — Oeſterreich: erſte Inſtruktion ſchon vom 6. Okt. 1803;
neueſte Ordnung durch Geſetz vom 4. April 1864.
c. Das landwirthſchaftliche Communikationsweſen wird
erſt ein ſelbſtändiges innerhalb des geſammten Wegeweſens, wo die
großen Handelswege mit Eiſenbahnen verſehen ſind. Grundſatz
daher, daß die Zufahrtswege zu den Eiſenbahnen als das
eigentlich landwirthſchaftliche Communikationsweſen angeſehen und als
ſolches behandelt werden müſſen.
Außerordentliche Wichtigkeit gerade dieſer Linien für die Landwirthſchaft.
Aufgabe der Landtage und Verwaltungsgemeinden. Eigentliche Bedeutung der
Vicinalbahnen als Landwirthſchaftsbahnweſen.
d. Das landwirthſchaftliche Creditweſen beſteht in der
Verbindung des Perſonal- und Realcredits für den landwirthſchaft-
lichen Credit. Der Realcredit wird ſogar faſt allgemein nur als land-
wirthſchaftlicher Credit aufgefaßt, obgleich der letztere nur die Hauptart
des erſteren iſt, der vielmehr jedem Unternehmen angehört. Der
landwirthſchaftliche Perſonalcredit wird dadurch Gegenſtand beſonderer
Fürſorge, daß auf dem Lande das Geld ſeltener und theuerer iſt, und
die Rückzahlung in größeren Terminen vor ſich geht, als bei den Ge-
werben in den Städten. Daher Errichtung eigener Anſtalten für die-
ſelben: theils die Beſtimmung der Waiſen- und Depoſitenkaſſen,
theils eigene Darlehens- oder Leihkaſſen. Der Erfolg iſt ſtets
zweifelhaft.
Vergl. RauI. §. 120 ausführlich und reich. RoſcherII. §. 133 ff.;
die Waiſen- und Depoſitenkaſſenordnung in Oeſterreich (Verordnung vom 16. Nov.
1850 und 14. Juli 1851, nebſt Inſtruktion vom 17. Mai 1853); Ausdehnung
des wichtigen Inſtituts auf die einzelnen Provinzen. — Die preußiſchen Dar-
lehenskaſſen (Rönne II. §. 379) ſind offenbar nur für den größeren Credit
beſtimmt und daher nicht ausreichend. — Bayern: Kreishülfskaſſen, ge-
gründet 1828 (Pötzl, Verwaltungsrecht §. 90 und 148. — K. Sachſen:
Organiſation eines landwirthſchaftlichen Creditvereins (Verordnung vom 27. April
1866). Nur fehlt allenthalben die ſtatiſtiſche Veröffentlichung ihrer Thätigkeit.
Gut: E. Richter, die landwirthſchaftlichen Creditvereine Preußens und die
Hypothekenbanken Frankreichs und Belgiens; Lette, das landwirthſchaftliche
Credit- und Hypothekenweſen 2. Aufl. 1868; Faucher, Vierteljahrsſchrift 1864.
2. Bd. S. 40 ff.; Ernſt Jäger, das landwirthſchaftliche Betriebscapital, Weſen
und Entwicklung der Bodencreditinſtitute 1868. (Württemberg.)
e. Das Fachbildungsweſen für die Landwirthſchaft beginnt
im vorigen Jahrhundert mit Aufnahme des Gegenſtandes in die Uni-
verſitätslehre, theils als Landwirthſchaftspolizei, theils als Theil der
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 22
[338] Cameralwiſſenſchaft, bis ſich in unſerem Jahrhundert eigene Muſter-
wirthſchaften und dann ſelbſtändige Lehranſtalten entwickeln. Doch
fehlt noch immer die Hauptſache, die vernünftige Verbindung der Ele-
mente der Landwirthſchaftslehre mit dem höheren Volksſchulweſen
auf dem Lande. Die allgemeine landwirthſchaftliche Fortbildung hat
in den Ausſtellungen jetzt ihr öffentliches Hauptorgan, die durch
die Vereine veranſtaltet und geleitet werden, während die Lehranſtalten
dem Staate gehören, eben ſo wie die Muſterwirthſchaften.
Aeltere Zuſtände: Berg, Polizeirecht III. S. 251. Erſte eigentliche Land-
wirthſchaftsſchule von Thaer gegründet in Mögelin 1804; dann Anſtalten
in Eldena 1825 und Poppelsdorf 1847 (Preußen) nebſt mehreren andern;
Oeſterreich: Altenburg in Ungarn 1849; Sachſen: Tharand; Württemberg:
Hohenheim 1818; Bayern: Weihenſtephan (vergl. Rau §. 145; Rönne
II. §. 229; Pözl §. 148; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 412;
Roſcher §. 172). Landwirthſchaftliche Lehranſtalten in Deutſchland (Allgemeine
Zeitung, März 1865).
b) Beſonderer Theil.
Der beſondere Theil der Landwirthſchaftspflege entſteht nun durch
die Anwendung der Grundſätze und Einrichtungen des allgemeinen
Theils auf die einzelnen Zweige der Landwirthſchaft. Es iſt klar,
daß dazu eine ganze Reihe von Fachkenntniſſen gehört, und daß eben
deßhalb die Regierung nur ſehr wenig dafür thun kann. Hier iſt das
eigentliche Gebiet des Vereinsweſens, das theils durch ſeine Fach-
verſammlungen, theils durch periodiſche Organe, theils aber und nament-
lich in der neueſten Zeit durch Ausſtellungen mit Prämien und ſonſtigen
Anregungen thätig iſt, und hier hat das letztere bisher auch bei weitem
am meiſten geleiſtet, da ſich hier je nach Verhältniſſen Wünſche und
Bedürfniſſe der Menſchen und Dinge geltend machen. Die Hauptgebiete
ſind: 1) Der Gartenbau mit ſeinen Vereinen für Nutzgewächſe und
Blumen; 2) Viehzucht, in der namentlich die Pferdezucht eine
weſentliche Stelle einnimmt, die unter allen Zweigen der Landwirth-
ſchaft die meiſte direkte Unterſtützung von der Regierung empfängt
(Geſtüte, Beſchälweſen, Pferderennen); 3) Handelsgewächſe, nament-
lich in Verbindung mit dem Seidenbau; 4) Obſtbaumzucht;
5) Bienenzucht. Es wäre ſehr weſentlich, alle dieſe verſchiedenen
Vereine um die allgemeinen landwirthſchaftlichen Vereine zu centrali-
ſiren. Die Einheit fehlt in allen dieſen Dingen.
Specielle Berückſichtigung namentlich der Viehzucht ſchon im vorigen
Jahrhundert. Berg a. a. O. Außer den Fachſchriften ſ. Rau, Volkswirth-
ſchaftspflege 1. Buch, Hauptſt. 2 und Roſcher, Nationalökonomie Buch 3.
[339] Abth. 2 (unvollſtändig). Natürlich iſt hier das techniſche Element das wichtigſte.
Nur bei der Pferdezucht tritt in dem Landesbeſchälweſen außerdem das
militäriſche Element ſpecifiſch hervor, das zu beſondern Anſtalten und Geſetz-
gebungen Anlaß gibt.
IV. Das Gewerbeweſen.
Das Verſtändniß des Gewerbeweſens als eines ſelbſtändigen Ge-
bietes der Verwaltung entſteht erſt da, wo man in Begriff und Princip
das Gewerbe von Handel und Induſtrie ſcheidet.
Das Gewerbe iſt ſeinem formalen Begriffe nach diejenige Erwerbs-
form, bei welcher das perſönliche Capital die Hauptſache, und die
auf einen beſtimmten und dauernden Erwerb berechnet iſt. Von
der Induſtrie ſcheidet es ſich formell im Weſentlichen dadurch, daß es
mit dem Werkzeug ſtatt mit der Maſchine arbeitet; die neue Entwick-
lung des gewerblichen Lebens überhaupt hat es aber unmöglich gemacht,
künftig noch eine formelle Gränze des Gewerbes feſtzuhalten. Seine
eigentliche Bedeutung muß daher jetzt von einem allgemeinen Stand-
punkt aus erfaßt werden.
Seinem höheren Weſen nach iſt nämlich das Gewerbe die Pro-
duktion des Individuums für das individuelle Bedürfniß. Es
ſchließt ſich daher an das individuelle Leben ſowohl der Producenten
als der Conſumenten; es ſetzt individuelle Zwecke und Mittel für den
Conſumenten, individuelle Erfahrung und Fähigkeit bei den Producenten
voraus. Es kann daher keine Entwicklung finden, ohne tüchtige Ent-
wicklung der Individualität; iſt es aber ausgebildet, ſo iſt es wieder
der Körper der individuellen ſelbſtändigen Perſönlichkeit. Daher iſt
ein Gewerbe unmöglich ohne ſtaatsbürgerliche Freiheit und Selbſtändig-
keit; daher hat die alte Welt kein rechtes Gewerbe; daher löst ſich
mit dem Gewerbe die freie Geſellſchaftsordnung von der Geſchlechter-
und Ständeordnung ab; daher iſt es unfähig, auf den Maßregeln der
Verwaltung zu beruhen, ſondern muß in allen ſeinen Theilen auf ſich
ſelber ſtehen; daher ſind alle rechtlichen und polizeilichen Beſtimmungen,
welche in den Betrieb der Gewerbe hineingreifen, nur Uebergangsmaß-
regeln; und alle dieſe Sätze faſſen wir in den einen zuſammen: das
höchſte Princip des Verwaltungsrechts der Gewerbe iſt die höchſte ge-
werbliche Freiheit.
Dennoch hat auch das Gewerbe gewiſſe Bedingungen, welche durch
dieſes Princip des Gewerbes nicht allein erfüllt werden können. Dieſe
Bedingungen beſtehen einerſeits in dem Schutze gegen die Gefahren,
welche theils in dem Gewerbe ſelbſt, theils durch das Gewerbe entſtehen,
[340] und die Verhinderung derſelben iſt Sache der Regierung; andererſeits
aber in gewiſſen Vorausſetzungen für die Entwicklung des Einzelgewerbes,
welche nach dem Weſen der gewerblichen Freiheit nur theilweiſe durch
die perſönliche Regierung, theilweiſe aber nur durch das freie Vereins-
weſen geboten werden können. So wie nun das Gewerbe ſich ſelb-
ſtändig theils aus den früheren Beſchränkungen, theils aus der Ver-
ſchmelzung mit der Induſtrie herauslöst, beſtimmen ſich jene Maßregeln
nach der beſondern Natur der gewerblichen Erwerbsarten, und ſo ent-
ſteht als Geſammtheit der ſpeciell auf das Gewerbe berechneten öffent-
lichen Ordnungen und Beſtimmungen das Gewerbeweſen, das man
auch wohl, aber unklar, als „Organiſation der Gewerbe“ bezeichnet hat.
Jedoch hat es manche Jahrhunderte gedauert, bis wir zu dem
gegenwärtigen Standpunkte gelangt ſind.
Es iſt wohl nicht zweifelhaft, daß die wiſſenſchaftliche Behandlung des
Gewerbeweſens einer ganz neuen Geſtalt entgegengeht, die von einem höheren
als dem bisherigen Standpunkte ausgehen wird. Die bisherige Auffaſſung des
Gewerbes namentlich in Deutſchland beruht im Grunde noch auf der formellen
Scheidung der einzelnen Gewerbe, wie ſie ſich hiſtoriſch gebildet haben,
während unſere Zeit auch hier die feſte Gränze aufhebt, und an ihre Stelle
den des gewerblichen Betriebes überhaupt ſetzt, auf dem, gegenüber dem alten
Recht, der Begriff und das Recht der Gewerbefreiheit beruht. Die Literatur
der eigentlichen Gewerbe ſchließt ſich zunächſt an die Gewerbeordnungen theils
der Reichs-, theils der Landesgeſetze, ihre erſte Geſtalt iſt die der Polizei-
wiſſenſchaft, welche allerdings noch Handel, Induſtrie und Gewerbe ver-
mengt, im Allgemeinen jedoch das Princip der Freiheit und die Erkenntniß
des hohen Werthes derſelben vertritt. So SonnenfelsII. 210 ff; Juſti,
Polizeiwiſſenſchaft 1. Th. 2. Buch; Berg, Teutſches Polizeirecht III. (Manufaktur-,
Fabrik,- Gewerke- und Handelspolizei, als beſonderer Theil der „Stadtwirth-
ſchaftspolizei“). Mit dem Anfange dieſes Jahrhunderts jedoch bereits eine
eigene Literatur des Gewerbes, anſchließend an die Frage nach Aufhebung
der Zünfte. Chriſtiani, Grundlage eines Planes zur Veredlung des Hand-
werkerſtandes in Dänemark 1801; Höck und Roth, Materialien für das Hand-
werksrecht und die Handwerksprivilegien 1808; Meerbach, Theorie des Zunft-
princips 1806. Der Kampf über das Zunftweſen beginnt eigentlich erſt
mit Ad. Smith eine feſte Geſtalt anzunehmen (vergl. die Literatur bei Rau,
Volkswirthſchaftspflege II. §. 178) und zieht ſich bis in unſer Jahrhundert
hinein. Die bedeutendſte Vertretung der früheren Principien von Hofmann,
die Befugniß zum Gewerbebetriebe, zur Berichtigung der Meinungen über
Gewerbefreiheit und Gewerbezwang 1840. Die Nationalökonomie iſt, vom
Standpunkte Smiths, durchſtehend, wenn auch meiſt beſchränkt, für Gewerbe-
freiheit (vergl. Bülau, der Staat und die Induſtrie, jedoch auch ohne Scheidung
von Induſtrie und Gewerbe; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 9465; Mohl,
Polizeiwiſſenſchaft II;Baumſtark, Encyclopädie §. 467). Daneben ſteht die
[341]juriſtiſche Literatur, die ſchon ſeit Runde den Stoff in das deutſche Privat-
recht aufnimmt; vergl. hier Mittermaier, deutſches Privatrecht. So hat
ſich ein gewaltiger Stoff angeſammelt, der weſentlich nur hiſtoriſchen Werth
hat. Den richtigen Standpunkt bezeichnet zuerſt Geßler, „zur Gewerbeord-
nung“ (Zeitſchrift für Staatswiſſenſchaft Bd. 18) mit der Frage, ob es noch
eine eigentliche „Gewerborganiſation“ durch die Geſetzgebung bei voller Gewerbe-
freiheit geben könne? Nur will er doch noch zu viel „organiſiren“ (Bezirks-
eintheilung mit Bezirksausſchuß S. 458; Mangel des Verſtändniſſes des Vereins-
weſens). Statiſtiſch hat dem eigentlichen Gewerbeverein, Kleingewerbe, in ſeiner
Scheidung von der Induſtrie ſeine Selbſtändigkeit gegeben G. Schmoller,
Geſchichte der deutſchen Kleingewerbe im neunzehnten Jahrhundert 1869.
Auch die Geſchichte des Gewerberechts iſt außerordentlich reich an
Einzelnheiten, und zugleich höchſt einfach in ihren Grundzügen. Es
iſt im Großen und Ganzen kein Zweifel, daß wir gegenwärtig am
Anfang einer neuen Epoche ſtehen, deren Grundcharakter nach dem
Siege der gewerblichen Freiheit über die ſtändiſche Unfreiheit der Kampf
ſeiner höheren Natur, der individuellen durch das Gewerbe gegebenen
Selbſtändigkeit, mit der Gewalt des Capitals iſt, das auch die
gewerbliche Arbeit ſich dienſtbar machen will. Daran ſchließt ſich das
Princip des Gewerbeweſens unſerer Gegenwart, das erſt auf Grund-
lage dieſer hiſtoriſchen Auffaſſung ſeine wahre Bedeutung empfängt.
Das Gewerbe beginnt mit der Ablöſung der freien Arbeit von
der Grundherrlichkeit, und bildet ſich ſeine Heimath und Ordnung in
den Städten. Aber die Gewalt der ſtändiſchen Elemente iſt ſo groß,
daß ſich die corporative Unfreiheit auch der Gewerbe bemächtigt. Die
Zünfte und Innungen (urſprünglich Gilden) des freien Vereinsweſens
der gewerblichen Arbeit, werden ſchon im dreizehnten Jahrhundert zu
ſtändiſchen Corporationen mit ausſchließlichen Rechten, und eigener
ſtändiſcher Geſetzgebung und Verwaltung. Die Folge des tiefen Wider-
ſtreites der freien Natur des Gewerbes mit der ſtändiſchen Gebundenheit
und der Herrſchaft der Sonderintereſſen iſt der Verfall der Gewerbe,
der gleichen Schritt hält mit dem Zurückgehen des freien Bauernſtandes,
namentlich ſeit dem ſechzehnten Jahrhundert. Dem entgegen tritt nun
die neue Staatenbildung dieſer Zeit mit ihrem beginnenden volkswirth-
ſchaftlichen Bewußtſein und ihrer Negation jeder außerhalb ihres Rechts
ſtehenden Selbſtändigkeit, und der Kampf für die Gewerbefreiheit
beginnt. Seine erſte Geſtalt iſt das Auftreten der Polizei gegen die
ſchreiendſten Mißbräuche; ſeine zweite iſt das Conceſſionsweſen
der Regierungen, welche neben den ſcharf begränzten Zünften und
Innungen neue Zweige der gewerblichen Arbeit einzeln genehmigen;
[342] ſeine dritte iſt das Auftreten der „Manufaktur,“ in der ſich mit dem
vorigen Jahrhundert die Induſtrie (noch ohne Maſchinen, aber ſchon
im Großbetrieb) vom Gewerbe ablöſt; ſeine vierte ſind die „Beſtätigun-
gen“ der „Privilegien,“ welche die hiſtoriſche Selbſtändigkeit der aus-
ſchließlichen Berechtigungen allmälig auflöſen; zugleich beginnt mit dem
achtzehnten Jahrhundert die phyſiokratiſche und die Smith’ſche Schule
theoretiſch den Gedanken der Arbeitsfreiheit zu vertreten, bis die fran-
zöſiſche Revolution den Anſtoß zu der dritten Epoche der eigentlichen
Gewerbefreiheit gibt.
Dieſe dritte Epoche beruht nun in ihrer Rechtsbildung einerſeits
allerdings auf der Gleichheit des ſtaatsbürgerlichen Rechts für alle,
andererſeits aber auch auf der wirthſchaftlichen Unmöglichkeit, die
hiſtoriſch feſte Gränze der einzelnen Gewerbe faktiſch oder rechtlich feſt-
zuhalten. Die Beſchränkung des Gewerbes wird damit ein immer
härterer Widerſpruch mit dem neuen Leben der Volkswirthſchaft, dem
nur noch Begriff und Recht der Gewerbefreiheit genügen. Die-
ſelbe hat nun neben ihrer unbedingten franzöſiſchen und engliſchen
Anerkennung in Deutſchland wieder ihre eigene Geſchichte. Sie beginnt
mit der preußiſchen Gewerbefreiheit, deren Grundgedanke wir als
die polizeiliche bezeichnen. Ihr Princip iſt die völlige Unabhängig-
keit des Gewerbes von den bisherigen Zunftbeſchränkungen, dagegen
die polizeiliche, faſt alle Gewerbe umfaſſende Genehmigung, die
in der Form von Prüfungen, reſp. Verboten durch die Behörde
auftritt. Das war ein großer Fortſchritt vor dem übrigen Deutſch-
land, das bis auf unſere Zeit noch immer ſeine Zünfte und ihre
Privilegien, die Realgewerbe und Bannrechte des Mittelalters nicht
los werden konnte. Die Bewegung von 1848 erſchütterte freilich auch
hier das bisherige Syſtem, aber den entſcheidenden Schritt that doch
erſt Oeſterreich in ſeiner Gewerbeordnung von 1859, welche die
volle Freiheit des Gewerbebetriebes zuerſt durchführte. An das Bei-
ſpiel Oeſterreichs ſchloßen ſich alsbald die meiſten übrigen Staaten an,
und es iſt zu hoffen, daß auch Preußen dieſer allein berechtigten Rich-
tung Raum geben werde.
Erſt dadurch iſt nun die Frage praktiſch geworden, ob es neben
dem poſitiven Gewerberecht in den geſetzlichen Gewerbeordnungen noch
eine Verwaltung des Gewerbeweſens geben könne. Und dieſe nun
enthält folgende weſentlichen Grundlagen, die in ihren Hauptformen
dem Landwirthſchaftsweſen analog ſind.
In Deutſchland beginnt der Kampf des Staats mit der Zunftordnung
bereits mit dem Reichsabſchied von 1558; Gerſtlacher, Handbuch IX. (1722)
und X. (1996) (Reichsgeſetze mit Anmerkungen). Das Hauptgeſetz iſt der Reichs-
[343] abſchied von 1731, das auf das Entſchiedenſte gegen die Zunft- und Handwerks-
mißbräuche auftritt, ohne jedoch auch nur im Entfernteſten die Idee einer
gewerblichen Freiheit anzuregen. Sein Inhalt bildet die Baſis der polizei-
lichen Literatur bis zum neunzehnten Jahrhundert (vergl. Berg, Teutſches
Polizeirecht III. 473 ff; von allen die freieſte und umfaſſendſte Behandlung
ſchon bei Juſti, Polizeiweſen II. §. 480 ff.). Daneben erhält ſich dann die
ſtreng juriſtiſche Behandlung des hiſtoriſchen Gewerberechts theils für das
Zunftrecht überhaupt, theils für die einzelnen Gewerbe, wie Mühlen, Braue-
reien, Bäckereien u. a. ſowohl in ſelbſtändigen Werken wie Fricke, Grundſätze
des Rechts der Handwerker 1771—1778, theils in den Staatsrechten jener
Zeit, wie bei Moſer, Kretſchmann u. a., theils im deutſchen Privatrecht
wie bei Runde, theils im Cameralrecht wie bei Fiſcher (vergl. Literatur bei
PütterIII. 644; Mittermaier, deutſches Privatrecht II. §. 507 ff.). Die
neuere Staatslehre faßt das Recht von der Vorſtellung eines „Induſtrieconceſſions-
regals“ auf (Klüber, öffentliches Recht §. 461 ff.), bis mit unſerem Jahr-
hundert der Kampf der Geſetzgebung beginnt. Preußen: Edikt vom 2. Nov.
1810; Princip: bloße Anmeldung; Normirung (Geſetz vom 7. Sept. 1811);
dabei Fortbeſtehen der Zünfte; dieſelben Grundſätze weſentlich in der neuen
Gewerbeordnung vom 17. Jan. 1845 beibehalten; Erhaltung der Zünfte, aber
ohne Ausſchließlichkeit; dagegen weitläuftiges Syſtem der behördlichen Meiſter-
prüfung (vergl. Rönne, Staatsrecht II. §. 401 ff.). — Bayern: Recht der
Conceſſionirung an der Stelle der Zünfte (Geſetz vom 11. Sept. 1825); jedoch
Aufrechthaltung der Realgewerberechte und Prüfungsſyſtem (Verordnung vom
17. Dec. 1853; Pözl, Verwaltungsrecht §. 155). — Hannover: Zunftweſen
aufgehoben 1807; Wiedereinführung 1817. — Naſſau: Aufhebung der Zünfte
1819 (Edikt vom 15. März). — Sachſen: Gewerbeordnung von 1842. —
Württemberg: Gewerbeordnung von 1837 auf Grundlage der Zünftigkeit
einer beſtimmten Anzahl von Gewerben; Durchführung der polizeilichen Auf-
ſicht (Mohl, württemb. Verwaltungsrecht §. 240). Dieß ſind die Grundzüge
der preußiſchen Epoche in der Gewerbeordnung. Die zweite bedeutſamere
iſt die öſterreichiſche, die mit dem Gewerbegeſetz vom 20. Dcc. 1859 beginnt.
Das Geſetz ſchließt die Conceſſionsepoche ab; Grundſatz das Handwerkerpatent
von 1731: die Errichtung neuer Zünfte und die Beſtätigung der alten nur vom
Landesherrn. Die Generalzunftartikel von 1739. Dann Zulaſſung unzünftiger
Gewerbe mit den Schutzdecreten ſeit 1725. Lombardei mit der franzöſiſchen
Gewerbefreiheit ſeit 1806. Dann in unſerem Jahrhundert das neue Gewerbe-
geſetz von 1859; dann das naſſauiſche von 1860; Bremen (Geſetz von
1861); Oldenburg (Geſetz vom 11. Juli 1861); Sachſen (Geſetz vom
15. Okt. 1861); Württemberg (Geſetz vom 12. Febr. 1862); Baden (Geſetz
vom 20. Sept. 1862); vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege §. 192 ff. Ueber
das Gewerberecht Badens ſpeciell Dietz, die Gewerbe in Baden 1863 vor
der Gewerbefreiheit S. 231—256 (Gewerbegeſetz von 1862 S. 256 ff.). Braun-
ſchweig: Gewerbegeſetz vom 3. Aug. 1864 (nach der öſterreich. Gewerbeord-
nung). Heſſen: Einführung der Gewerbefreiheit (Geſetz vom 16. Febr. 1866).
Charakter iſt die volle Freiheit in der Errichtung eines Gewerbebetriebes, ohne
[344] Prüfung, und nur mit Genehmigung in einzelnen Fällen. — Frankreich:
älteſte Ordnung Livre des metiers von Boileau 1260 (1. Thl. Statut von
hundert Gewerben; 2. Thl. Ordnung der Wegeabgaben und Zölle; 3. Thl. die
gewerbliche Gerichtsbarkeit in Paris); 1467 L. XI.: militäriſche Errichtung der
Zünfte (61 bannières). Erſter Verſuch einer Gewerbeordnung (Edikt von
1581 in ganz Frankreich); dann Einführung des Conceſſionsweſens als Syſtem
der „Offices“ gegen Abgaben; der tiers Etat von 1714 bittet ſchon um größere
Freiheit, jedoch vergeblich. Dann erſte Gewerbefreiheit: Edikt Turgots von
1776 (droit au travail), Zurücknahme deſſelben, bis die Ass. constit. 1791
die volle Gewerbefreiheit unter völliger Beſeitigung aller Zünfte einführt. Dar-
nach noch eine Reihe von Geſetzen über das innere und das polizeiliche Recht
der Gewerbe (ſ. unten). — England hatte gar kein Zunftweſen in ſeinen
Städten, wohl aber eine Fortſetzung der alten Gilden und eine Reihe meiſt
unwichtiger polizeilicher Beſtimmungen (Kleinſchrod, Engl. Gewerbegeſetz-
gebung; Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht I. §. 38; Princip des Rechts: Syſtem
von Popularklagen, ſ. unten).
Geht man nun davon aus, daß die Gewerbefreiheit das allein
richtige Princip für das öffentliche Recht der Gewerbe iſt, ſo erſcheint
das Syſtem des Gewerberechts als die Geſammtheit von denjenigen
öffentlich rechtlichen Grundſätzen, welche die öffentlichen Intereſſen gegen-
über dieſer Freiheit zur Geltung bringen, während das Gewerberecht,
inſofern es nur noch dieſe Freiheit herſtellt, faſt allenthalben als eine
bloß hiſtoriſche Thatſache angeſehen werden muß.
Dieſes Syſtem hat auch hier die drei Gebiete der Organiſation
des allgemeinen und des beſonderen Theiles der Gewerbever-
waltung.
Bei der Behandlung dieſes Gegenſtandes muß man ſich vor allem hüten,
die „Gewerbeordnungen“ zum Grunde zu legen. Sie ſind ſelbſt mit ihrem
ganzen Inhalt nur ein Theil und eine Conſequenz des Princips des Gewerbe-
weſens. Eben ſo ſollte alles noch beſtehende Recht der Unfreiheit der Gewerbe
aus dem Syſtem der Verwaltung des Gewerbeweſens beſeitigt, und in die
Geſchichte verwieſen werden.
Die Organiſation des Gewerbeweſens hat die drei Grundformen
aller Verwaltung.
Die amtliche Organiſation enthält das Recht und die Competenz
der Behörden, in die Gewerbepflege einzugreifen. Die Aufgaben ſind
der Regel nach örtlicher Natur; ſo wie ſie weiter greifen, umfaſſen ſie
Handel, Induſtrie und Landwirthſchaft zugleich. Je freier das Gewerbe,
[345] je geringer iſt die Thätigkeit der Behörde. Die Frage nach der Er-
richtung beſonderer Gewerbegerichte muß durchaus verneint werden.
Die Selbſtverwaltung erſcheint in den Gewerbekammern, die
meiſt mit den Handelskammern verbunden ſind, und die Vertretung
der Gewerbe übernehmen.
Das Vereinsweſen entwickelt ſich in dem Grade, in welchem
die Gewerbe freier werden, als der eigentliche Träger der Gewerbe-
verwaltung. Es beginnt mit dem vergeblichen Verſuch der preußiſchen
Gewerbeordnung, die alten Zünfte zu Gewerbevereinen umzugeſtalten;
derſelbe Gedanke ſetzt ſich fort in den Genoſſenſchaften der öſter-
reichiſchen Gewerbeordnung; aber erſt da, wo die Gewerbetreibenden
ſelbſt aus freiem Antrieb Vereine bilden, entwickelt es ſeine Bedeutung.
Die ſpeciell auf die Gewerbe berechneten Hülfs- und Bildungsvereine
gehen in allgemeine Vereine auf; dagegen entſtehen die gewerblichen
Unternehmungsvereine, meiſt als Verkaufsgeſellſchaften u. ſ. w.
und von großer Bedeutung die gewerblichen Intereſſenvereine, die
eigentlich ſog. Gewerbevereine, welche mit der Verbreitung höherer
gewerblicher Bildung das Verſtändniß der wahren Intereſſen der Ge-
werbe verbinden, und dadurch höchſt wohlthätig wirken.
England hat weder eigene Gewerbebehörden noch Gewerberäthe, noch
Gewerbegerichte. Das Gericht iſt der Friedensrichter (Gneiſt, Engl. Ver-
faſſung I. 312; Verwaltung I. §. 38). — Frankreich hat die Gewerbe nicht
ſpeciell in ſein Syſtem der Conseils aufgenommen (Stein, Selbſtverwaltung
S. 118 f.), wohl aber ſind ſie in den Chambres de Commerce vertreten. Da-
gegen iſt das Conseil des prudhommes (Geſetz vom 18. März 1806) als Ge-
werbegericht der Urſprung der „Gewerbegerichte“ namentlich in Deutſchland.
(Meißner, Fabriksgerichte 1856); die Hauptaufgabe dieſer Conseils liegt je-
doch nicht im Gebiete der Gewerbe, ſondern der Induſtrie. — Preußen:
Art. 91 der Verfaſſung (Verordnung vom 9. Febr. 1849; RönneII. §. 294;
vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 198); Gewerberäthe in Preußen
als Gewerbekammern fakultativ (Geſetz vom 9. Febr. 1849); Bauräthe in Baden
(Dietz, Gewerbe S. 229). Handelskammern ſeit 1808; Gewerbeſchulräthe ebend.
S. 242 f. — Bayern: Gewerbekammer (Verordnung vom 27. Jan. 1850;
Pözl, Verwaltungsrecht S. 337). — In Oeſterreich mit den Handelskammern
als ſelbſtändige Sektion verbunden (StubenrauchII. §. 514). Neue Handels-
kammerordnung von 1868. Ueber die Genoſſenſchaften der öſterreich. Gewerbe-
geſetze ſ. StubenrauchII. §. 500. — Preußen ſeit 1849 (RönneII. §. 395).
— Oeſterreich: Stubenrauch, Vereinsweſen S. 216 ff. Das Gewerbe-
geſetz hat die Gewerbegenoſſenſchaften fakultativ mit Gerichtsbarkeit über Streitig-
keiten zwiſchen Meiſter und Hülfsperſonal ins Leben rufen wollen, Hauptſt. VII.
und §. 102, ohne rechten Erfolg. — Baden: zweiundzwanzig Vereine (Dietz
a. a. O. Bayern: Pözl, Verwaltungsrecht §. 160).
[346]
Die allgemeine Gewerbspflege erſcheint als Anwendung der allge-
meinen Volkswirthſchaftspflege auf das gewerbliche Leben, ſo weit das
letztere eine beſondere Geſtalt des erſteren fordert. Das iſt der Fall
im Bildungs- und Creditweſen. Das gewerbliche Bildungsweſen
als Theil des wirthſchaftlichen Berufsbildungsweſens beruht in ſeinem
Princip auf dem höheren Weſen des Gewerbes, und zwar im weſent-
lichen Unterſchied von der Induſtrie darin, daß es das Moment der
individuellen Produktionskraft zu entwickeln hat. Das nun kann
nur durch Bildung des Geſchmackes geſchehen, welcher den Produkten
den freien Werth gibt. Die ſpecielle Gewerbebildung beſteht daher
weſentlich in Zeichnen- und Muſterſchulen für die Lehrlinge, wäh-
rend für die Meiſter die Vorträge in den Gewerbevereinen und die
Ausſtellungen eintreten. Dieſe Bildungsanſtalten ſind naturgemäß
Sache der Vereine. Der gewerbliche Creditverein iſt vermöge
der Natur der gewerblichen Produktion weder ein ſtrenger Zahlungs-
noch ein Unternehmungscredit, ſondern diejenige Verbindung beider,
die wir den Vorſchußcredit genannt haben, da er nur kleine Capi-
talien fordert, ſeine Sicherheit zunächſt in der producirten Waare findet,
und mit dem Erlös derſelben zurückgezahlt wird. Das gewerbliche
Creditvereinsweſen beruht daher auf der Gegenſeitigkeit, dem zwar
ein Aktiencapital als Grundlage zu Hülfe kommen kann, dem aber
nothwendig die gewählte Creditverwaltung die Sicherheit für jeden
einzelnen Credit, und die gegenſeitige ſolidariſche Haftung die Sicherheit
und damit den billigen Zinsfuß für das Ganze geben muß. Dieſe
Gruppe von gewerblichen Creditanſtalten bezeichnen wir als das Syſtem
der Gewerbe- und Volksbanken, die ſich bisher nur noch theilweiſe
von dem übrigen Creditweſen losgelöst haben. Neben ihnen ſtehen
Anſtalten für den perſönlichen Credit, Leihanſtalten ꝛc., die in der
Regel mehr auf die Noth als auf die gewerbliche Unternehmung be-
rechnet ſind.
Ueber die eigentlichen gewerblichen Bildungsanſtalten war man
ſchon im vorigen Jahrhundert im Weſentlichen einig. Benſen, Staatslehre,
Abth. 3. §. 728; Vogt: durch welche Mittel können unſere Handwerker dazu
gebracht werden, daß ſie Verbeſſerungen ihrer Gewerbe nützen ꝛc. 1799; Berg,
Polizeirecht III. S. 444. Neuere Zeit: Grundſatz der organiſchen Einfügung
des gewerblichen Bildungsweſens in den Volks- und Berufsunterricht, des
erſteren in dem Syſtem der Realſchulen, des letzteren in dem der eigentlichen
Gewerbeſchulen. Damit hat das gewerbliche Unterrichtsweſen ſeine organiſche
Stellung empfangen. Falſch iſt nur die Verſchmelzung des Gewerbeunterrichts
mit der Handels- und Kunſtbildung. RauII. §. 204; Mohl, Polizeiwiſſen-
[347] ſchaft I. §. 77 ff. II. §. 160. Gewerbeſchulen in Oeſterreich: Stubenrauch
II. §. 411. Die Provinzialgewerbeſchulen und das techniſche Gewerbeinſtitut:
Rönne, Unterrichtsweſen des preuß. Staates I. 260; Staatsrecht II. §. 452.
— Gewerbeſchulen in Bayern ſeit 1833 (Geſetz vom 16. Febr.; Pözl, Ver-
waltungsrecht §. 153). — Baden: Dietz S. 64. — Ueber die franzöſiſchen
Ecoles de dessin vergl. Stein, Bildungsweſen S. 286 ff. — England:
Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. 63 ff.; Stein, Bildungsweſen S. 319 f.;
über Englands Mechanics Institutes, Vereine für gewerbliche und zugleich all-
gemeine Fachbildung ſ. Fallati, Zeitſchrift für Staatswirthſchaft 1846.
Ueber die Gewerbebanken ſ. oben. Nothwendigkeit, ſie von den gewöhn-
lichen Banken zu ſcheiden, und das Princip der Gegenſeitigkeit beſſer hervorzuheben.
Das Gewerberecht entſteht nun, indem die Natur des Gewerbes
das allgemeine bürgerliche Recht des Gewerbetreibenden theils in Be-
ziehung auf ſein Verhältniß zum eigenen Unternehmen, theils in Be-
ziehung auf Dritte modificirt. Aus dem erſten Faktor entſteht die
eigentliche Gewerbeordnung, aus dem zweiten die Gewerbepolizei.
Beide zuſammen bilden das Gewerberecht in der Gewerbefreiheit, und
iſt daſſelbe wieder theils ein allgemeines, für alle Arten des Gewerbes
gemeinſchaftliches, theils ein beſonderes.
I. Die Gewerbeordnung enthält zwei Gebiete; einerſeits das
Recht auf den Gewerbebetrieb, andererſeits das Rechtsverhältniß zwi-
ſchen Meiſter und Hülfsperſonal (Unternehmer und Arbeiter).
a) Das Princip der Gewerbefreiheit fordert das an ſich unbe-
ſchränkte Recht auf das Unternehmen eines jeden Gewerbes durch jede
Perſon, ſo weit ſie überhaupt nach bürgerlichem Recht dispoſitionsfähig
iſt. Es iſt weder richtig, durch die Begriffe von Unbeſcholtenheit ꝛc.,
noch durch Mangel an Heimathsberechtigung den Beginn eines Ge-
werbsunternehmens aufzuhalten. Die Anzeige muß als eine Steuer-
pflicht beurtheilt werden.
Es iſt nicht richtig, den Standpunkt der preußiſchen und öſterreichiſchen
Gewerbeordnung (Verbot des Gewerbebetriebes durch gerichtliches Urtheil, Un-
fähigkeit wegen begangenen Verbrechens ꝛc.) aufrecht zu halten, um ſo weniger
als die Gränze für den Begriff des gewerblichen Unternehmens überhaupt
nicht mehr feſtzuhalten iſt. Prüfungen ꝛc. gehören ſchon der Gewerbepolizei.
b)Meiſter, Geſellen, Lehrlinge ſind nach der vollen Ge-
werbefreiheit im Grunde nur noch hiſtoriſche Begriffe und Rechtsverhält-
niſſe; für alle dabei zur Sprache kommenden Beziehungen gilt nur das
allgemeine bürgerliche Recht. Allein die Natur der meiſten, als dauernde
und ſelbſtändige Unternehmungen auftretenden eigentlichen Gewerbe, hat
einen großen Theil jener Verhältniſſe der früheren Gewerbeordnung
[348] erhalten, und wird ſie erhalten. Es muß daher als Grundſatz ange-
nommen werden, daß für alle Verhältniſſe des „Hülfsperſonals“ zu-
nächſt der eingegangene Vertrag gilt, wenn ein ſolcher nachgewieſen
werden kann; wo aber kein ſolcher beſteht, muß das Recht der Ge-
werbeordnungen als ſubſidiäres Recht gelten. Das iſt der
Standpunkt, von dem aus die Bedeutung dieſes Theiles der beſtehen-
den Gewerbeordnungen zu betrachten iſt.
Obgleich die deutſchen Gewerbeordnungen ſich nicht klar darüber ausſprechen,
iſt doch wohl über dieſen Satz kein Zweifel aus ihrem Inhalt herzuleiten. Am
klarſten iſt derſelbe anerkannt in dem Lehrlingsgeſetz von Frankreich
(22. Febr. 1851; vergl. Block, Dict. v. Apprentissage;Kleinſchrod a. a. O.
95; Rau §. 199).
II. Die Gewerbegerichte. Die hiſtoriſche Grundlage derſelben
iſt ohne Zweifel das Recht der Selbſtverwaltung der alten Körper-
ſchaften in Zunft und Innung. Das neue Princip der Gewerbefreiheit
hat dieſelben jedoch zum Theil aufgenommen auf Grundlage des Ge-
dankens, daß die Verhältniſſe zwiſchen Meiſter, Geſellen und Lehrling
noch immer einen beſonderen Inhalt haben, und daß andererſeits ein
eigentliches Gerichtsverfahren dafür nicht geeignet ſei. England hat
in dieſer Beziehung jedoch dem Friedensrichter noch ſeine alte Gewalt
gelaſſen; Frankreich, das die Gewerbe mit der Induſtrie im Grunde
mehr principiell als wirklich ſcheidet, hat das Conseil des Prudhommes
vielmehr als ein Arbeitergericht hergeſtellt; nur in Deutſchland hat
man die eigentlichen, übrigens wohl für das Lehrlingsweſen kaum ſehr
praktiſchen Gewerbegerichte beibehalten, reſpektive neu eingeführt.
In England ſtand die Jurisdiktion über Streitigkeiten zwiſchen Meiſter
und Lehrlingen ſchon ſeit 5. Eliz. 4. den Friedensrichtern zu; 20. Georg. II. 19;
ausgedehnt auf Strafrecht, bei Gericht von zwei Friedensrichtern. Das Zwangs-
lehrlingsweſen als Theil der Armenkinderpflege gleichfalls ſchon durch 43. Eliz. 2.
eingeführt und durch 56. Georg. III. 139. für die Kirchſpiele organiſirt; nach
7. 8. Vict. 101. ſtehen dieſe Lehrlingscontrakte unter den guardians of the
poor; ſ. Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 47. — Die Prudhommes
Frankreichs unterſcheidet ſich weſentlich davon, theils durch die Zuſammenſetzung
(Wahl und Bildung aus Miniſtern, Arbeitgebern und Arbeitern) theils durch
ihre Competenz (neben louage d’ouvrage auch propriété industrielle). Erſte
Bildung 1806; neue Organiſation ſeit 1850 (Geſetz vom 1. Juni 1853; mehrere
Geſetze über einzelne Fragen; Literatur bei Block, Dict. v. Prudhomme;
Meißner, Fabrikgerichte). — Die öſterreichiſche Geſetzgebung hat den
bereits in der Gewerbeordnung von 1859 liegenden Grundſatz zu einem eigenen
Syſtem im Geſetz vom 14. Mai 1869 entwickelt; Competenz: Streit zwiſchen
Herren und Arbeitern; Organiſation: Wahl von beiden Seiten; Recht: In-
appellabel bis 30 fl. Grundlage des Verfahrens: Vergleichsverſuch. — Preußens
[349] Gewerbegerichte auf Grund der Verfaſſungsurkunde ſchon durch Verordnung
vom 2. Jan. 1849 eingerichtet, gleichfalls nach dem franzöſiſchen Muſter,
weſentlich mit derſelben Verſchmelzung von Gewerbe und Induſtrie (vergl.
Rönne, Staatsrecht II. §. 274).
III. Die Gewerbepolizei enthält die Geſammtheit derjenigen
geſetzlichen Beſtimmungen und Maßregeln, welche den Zweck haben,
die Einzelnen gegen die Nachtheile zu ſchützen, welche ihnen durch die
Ausübung des Gewerbes entſtehen können. Die Auffaſſung derſelben
iſt weſentlich verſchieden nach dem engliſchen, franzöſiſchen und deutſchen
Recht. Nach dem engliſchen Princip gibt es überhaupt keine allge-
meine, für alle Gewerbe gültige Gewerbepolizei, ſondern dieſelbe tritt
nur bei einzelnen Gewerben ein, und zwar nicht auf Grundlage eines
Einſchreitens der Behörde, ſondern durch Popularklagen der Be-
theiligten beim Friedensrichter. Nach franzöſiſchem Recht iſt dagegen
die Polizei der „Etablissements dangereux“ ſelbſtändige Aufgabe der
Behörde, während ſonſt keine eigenen Maßregeln beſtehen. Nach deut-
ſchem Recht endlich iſt mit der Aufhebung der Gewerbefreiheit ein
ausgebildetes Syſtem der polizeilichen Vorſorge geſchaffen. Dieſes
beruht auf drei Punkten. Zuerſt wird für gewiſſe Gewerbe ein ge-
wiſſes Maß von Fachbildung gefordert zur Sicherung des Publi-
kums. Dann wird aus dem Geſichtspunkte der Elemente der Geſund-
heitspolizei, ſo wie zum Schutze der Anwohner für gewiſſe Gewerbe
die Anlage der behördlichen Genehmigung unterworfen, und für ge-
wiſſe andere im Intereſſe der öffentlichen Sicherheit der Betrieb unter
Conceſſion geſtellt; das Recht des Verbotes von Seiten der Behörde
iſt das Correlat dieſes Rechts der Gewerbsbewilligung. Es iſt
kein Zweifel, daß in gewiſſen Gränzen dieſes Princip das richtige iſt,
da die Popularklagen daſſelbe für das praktiſche Leben nicht erſetzen.
Dieſe Gewerbepolizei bildet faſt allenthalben den Haupttheil der neuen
Gewerbeordnungen; die darauf bezüglichen Beſtimmungen haben eigentlich die
Aufgabe, die Gränze zwiſchen dem Recht des Einzelnen und dem des öffent-
lichen Intereſſes im Gewerbe geſetzlich feſtzuſtellen. Ueber England
vergl. Kleinſchrod, gewerbliche Geſetzgebung und Gneiſt, Engl. Verwaltungs-
recht, Gewerbepolizei §. 38. Das franzöſiſche Geſetz über die Établisse-
ments dangereux, das Decret vom 15. Okt. 1810 war eigentlich nur die Ab-
hülfe gegen die große und höchſt unbeſtimmte polizeiliche Gewalt der Maires,
die ihnen das Geſetz vom 13. Nov. 1792 gegeben hatte. Das Decret vom
15. Okt. 1810 ſtellt drei Claſſen auf (établissements dangereux, insalubres
et incommodes);erſte Claſſe: Anlagen, welche wegen elementarer Gefahr
von den Wohnungen entfernt ſein müſſen; zweite Claſſe: ſolche Anlagen,
welche durch ihren Umfang in die Intereſſen der Nachbarn eingreifen (nament-
lich Fabriksanlagen); dritte Claſſe: ſolche welche bloß Nachtheile bringen und
[350] dadurch die Nachbarn beeinträchtigen. Ueber die Begränzung und das Verfahren
bei ſolchen Genehmigungen, das zuletzt durch das Decret vom 6. April 1852
geregelt ward, ein faſt endloſer Streit und eine Reihe von Verordnungen,
welche beweiſen, daß das ganze Princip der Claſſeneintheilung falſch, und nur
das deutſche Syſtem der ſpeciellen Bezeichnung der zu genehmigenden An-
lagen richtig iſt. Doch halten die Franzoſen noch feſt daran. Trebuchet
(Code administratif des établissements dangereuses, insalubres et incom-
modes, Paris 1832) und Aviſſi (Etablissements industriels; industries
dangereuses, insalubres et incommodes, Paris 1851). Ueber das Ver-
fahren derſelbenDecentralisation administrative, ses effets sur le
régime administrative des établissements, Paris 1852; Block, Dict. v. Eta-
blissements publ. — Das deutſche Recht ſcheidet ſich in Beziehung auf
den erſten Punkt in den preußiſchen Standpunkt, der die polizeiliche
Prüfung für den Beginn des Gewerbes zur Regel, und den freien Beginn
zur Ausnahme macht (Gewerbeordnung von 1845; ſehr kurz: Rönne, Staats-
recht II. §. 402) und den öſterreichiſchen, der umgekehrt den freien Beginn
zur Regel und die Prüfung zur Ausnahme macht. Das preußiſche Recht iſt,
zum Nachtheil der freien Entwicklung, noch bedeutend verſchärft durch die Ver-
ordnung vom 9. Febr. 1849 und Geſetz vom 15. Mai 1854; Rönne §. 403.
Die öſterreichiſche Gewerbeordnung hat ferner den Unterſchied zwiſchen Geneh-
migung der Anlage und des Betriebes klar durchgeführt in den richtigen Kate-
gorien der freien (§. 13), der conceſſionirten §. 16 ff. („geſetzlich vorge-
ſchriebenen beſondern Befähigung zur Erlangung des conceſſionirten Ge-
werbes“ wegen elementaren und Geſundheitsgefahren) und der genehmigten
Gewerbe §. 31. („Genehmigung der Betriebsanlage“) durchgeführt, das Ver-
fahren dabei iſt mit gutem Recht den formellen Beſtimmungen des franzöſiſchen
Rechts nachgebildet (Ediktalverfahren mit Rekurs §. 35 ff.).
IV.Einzelne Gewerbeordnungen und ihre Polizei. In
dieſem Sinne des freien Gewerberechts löst ſich die Gewerbepolizei nun
eigentlich auf in die polizeilichen Vorſchriften für die ein-
zelnen Gewerbe, deren ordnungsmäßiger Betrieb entweder eine Be-
dingung oder eine Gefahr für das Geſammtleben enthält. Das
erſte iſt der Fall bei den für die tägliche Ernährung ſorgenden Ge-
werben, namentlich Bäckerei, Schlächterei, Brauerei und Gaſtgeberei;
das zweite bei den mit elementaren Stoffen und Kräften arbeitenden
Betrieben, namentlich bei Maſchinen, Baugewerben, Schiffern, Rauch-
fangskehrern u. A. Der Inhalt der polizeilichen Vorſchriften ergibt
ſich als Conſequenz der Natur des Gewerbes ſelbſt, und es iſt daher
erklärlich, daß hier zum Theil auch das frühere Recht vielfach eingreift,
ſo daß hier jedes dieſer Gewerbe ſein eigenes Recht hat, das be-
ſonderer Darſtellung bedarf.
Engliſche ſpecielle Gewerbepolizei für eine ganze Reihe von Einzelge-
werben bei Gneiſt a. a. O. §. 38. — Frankreich hat namentlich das Recht
[351] und die Ordnung der Schlächterei und Bäckerei ausgebildet, vergl. Block
v. Boucherie und Boulangerie. — Das preußiſche Recht bei Rönne a. a. O.
und §. 404. — Das öſterreichiſche: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde
II. §. 472 ff. Mühlordnungen ebend. I. II. §. 315. Schlachtviehordnung
II. §. 271. Beachtenswerth der §. 56 der öſterreich. Gewerbeordnung über
Verpflichtung zu Vorräthen und §. 57 Verpflichtung zur zweimonatlichen Fort-
führung des Gewerbes bei Bäckern, Fleiſchern und Rauchfangkehrern.
V. Die Induſtrie und die Verwaltung.
Es muß wie geſagt, als eine weſentliche Forderung der Volks-
wirthſchaftspflege angeſehen werden, daß man die Induſtrie von dem
Gewerbe ſcheide, damit das Gebiet der Verwaltung der erſteren mit
ihren ſpecifiſchen Aufgaben gegenüber der letzteren ſelbſtändig hervortrete.
Denn es iſt zugleich ein weſentlich verſchiedenes Rechtsgebiet, welches
wir hier betreten.
Die Induſtrie umfaßt ihrem formalen Begriffe nach die Geſammt-
heit derjenigen wirthſchaftlichen Produktionen, welche auf der Verwen-
dung der Maſchinen als Arbeitskraft beruhen. Es ändert auch hier
das Weſen der Sache nicht, daß die äußere Gränze zwiſchen Gewerbe
und Induſtrie vielfach in einander übergeht.
Aus dieſer formalen Grundlage ergibt ſich die höhere Natur der
Induſtrie dahin, daß durch das Auftreten der Maſchinen das Güter-
capital die Bedingung des Unternehmers wird, und das perſönliche
Capital nicht mehr ausreicht, wie bei dem Gewerbe. Die Folge davon
iſt, daß während bei dem Gewerbe Capital und Arbeit noch Hand in
Hand gehen, bei der Induſtrie Capital und Arbeit ſich ſcheiden. So
wie ſie geſchieden ſind, haben ſie nicht bloß jedes für ſich ſelbſtändige
Intereſſe, ſondern ſie treten auch mit einander in Gegenſatz. Die
Aufgabe der Verwaltung wird damit nicht bloß die, für jedes dieſer
beiden Elemente die Bedingungen herzuſtellen, die ſie ſich nicht ſelber
geben können, ſondern auch die dritte große Bedingung aller indu-
ſtriellen Entwicklung, der ſociale Inhalt des Induſtrieweſens, die
Harmonie, bei den großen Faktoren der Induſtrie da einzugreifen,
wo die Störung derſelben eine Gefahr für die letztere wird, und in
dieſem Sinne müſſen wir von einem ſelbſtändigen Syſtem der Verwal-
tung der Induſtrie neben dem der Gewerbe reden.
Es iſt wohl als eine unabweisbare Forderung anzuerkennen, daß wir
die Induſtrie von dem Gewerbe in Theorie und Geſetzgebung trennen, da das
Recht der erſteren von dem des letzteren ſo weſentlich verſchieden iſt. So viel
auch von „Induſtrie“ die Rede iſt, ſo ſind wir doch in dieſer Beziehung nicht
[352] weiter als die Literatur des vorigen Jahrhunderts, indem man bald wie Rau
die Induſtrie unter das Gewerbe fallen läßt, bald wie Bulau das Gewerbe
in die Induſtrie zieht, bald wie Mohl die letzteren überhaupt nicht erwähnt.
Die Nationalökonomie freilich müßte mit gutem Beiſpiel vorangehen.
Die Geſchichte der Induſtrie im obigen Sinn und ihres Rechts hat
daher auch einen ganz anderen Charakter als die des Gewerbes. Die
Induſtrie iſt ihrem Weſen nach unfähig, wie das Gewerbe, das ſtändiſche
Element überhaupt in ſich aufzunehmen. Sie gehört an und für ſich
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft; ihre Grundlage iſt das ſelbſtändige
Capital; ihre Entwicklung iſt die der Dampfmaſchine; ihr Inhalt, der
über beide weit hinausgeht, iſt die zu einer europäiſchen Thatſache ſich
erhebende Bildung des Bewußtſeins von dem Verhältniß und Gegen-
ſatz zwiſchen Capital und Arbeit. Wohl aber muß man auch
hier drei Stadien unterſcheiden, die wieder ihrerſeits in der Verwaltung
ihren entſprechenden Ausdruck finden.
Das erſte Stadium, meiſt der Maſchinenverwendung voraufgehend,
iſt das der Hülfloſigkeit und inneren Unſicherheit des Capitals, das noch
nicht wagt, ſich auf ſich ſelbſt zu verlaſſen. Dem entſpricht das Princip
der direkten Unterſtützung der entſtehenden, aber nur noch in ver-
einzelten Anfängen auftretenden Induſtrie, die zum Theil mit einzelnen
Staatsunternehmungen begleitet iſt. Letztere erſcheinen allerdings
weſentlich als Muſteranſtalten und Vorbilder; ſie verſchwinden aber mit
der direkten Unterſtützung gleichzeitig ſo wie die Dampfmaſchine auftritt.
Mit der Dampfmaſchine beginnt nämlich die Epoche, in der nicht
mehr ein einzelner Capitaliſt, ſondern das Geldcapital der Volks-
wirthſchaft überhaupt in die Unternehmungen hineintritt, und
ſeine volle Produktionskraft entfaltet. Der Einfluß dieſer Bewegung
erſtreckt ſich alsbald auf jede Art der Unternehmung; jede Unter-
nehmung ſtrebt von da, durch Verwendung von Capital eine höhere
Produktivität zu gewinnen, und zwar nicht bloß durch Aufſtellung und
Gebrauch von Maſchinen, ſondern überhaupt durch Entwicklung der
Produktion zum eigentlichen Betriebe. So geſchieht es, daß der Be-
griff der Induſtrie ſowohl als der Name derſelben ſich über Bergbau,
Forſtwirthſchaft und Gewerbe ausdehnt, und in dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch ſeine feſte Bedeutung verliert. Allein das Weſen der
Sache bleibt in allen Formen; die Induſtrie iſt das Capital
als producirende Kraft, und alles producirende Capital iſt In-
duſtrie. Das iſt die große volkswirthſchaftliche Thatſache, welche dieſe
Epoche ausſchließlich beherrſcht.
[353]
Das Bewußtſein von dieſer Thatſache und die Scheidung derſelben
vom Gewerbe entſteht nun durch den internationalen Kampf der Capi-
talien, und erſcheint für die Verwaltung als Princip und Syſtem des
Schutzzolles. Der Schutzoll iſt das Verwaltungsrecht des produ-
cirenden Capitals. Er hat noch kein Bewußtſein von dem Arbeiter,
ſondern nur von der Arbeit; er kümmert ſich noch gar nicht um die
geſellſchaftlichen, ſondern bloß um die wirthſchaftlichen Verhältniſſe; ſo
hoch man auch bei ihm greifen mag, ſo wird er nie Frage des Princips,
ſondern nur der Zweckmäßigkeit; ſo lange er allein herrſcht, iſt es
ein Beweis, daß die Induſtrie noch nicht ihre volle Bedeutung ent-
wickelt hat.
Das iſt nun erſt der Fall in dem dritten Stadium, wo das Ca-
pital ſeine volle Kraft entfaltet, der capitalloſe Arbeiter überhaupt
nicht mehr Unternehmer werden, und daher ſich aus der Abhängigkeit
vom Capital nicht mehr losmachen kann. Damit entſteht das Bewußt-
ſein von dem Gegenſatze zwiſchen Capital und Arbeit, und damit der
Punkt, auf welchem die wirthſchaftliche Frage in das ſociale Gebiet
hinübergreift. Die Verwaltung der Induſtrie aber behält dabei ihre
beſtimmte Aufgabe. Sie hat die ſociale Frage nicht zu löſen; aber ſie
hat zu verhindern, daß das organiſche Verhältniß von Arbeit und
Capital nicht durch die Willkür der einzelnen Arbeiter und Unter-
nehmer geſtört werde. Ihr Princip iſt nicht, die wirthſchaftlichen und
geſellſchaftlichen Geſetze ändern zu wollen, ſondern nur das, denſelben
durch Aufrechthaltung der Ordnung freien Lauf zu laſſen. Während
wir daher den Kampf um das Capital als die Arbeiterfrage bezeichnen,
iſt die Aufgabe der Verwaltung gegenüber der Induſtrie die Arbeiter-
ordnung. Und die Herſtellung dieſer Ordnung und ihrer Harmonie
mit der ſocialen Entwicklung iſt der Inhalt der nächſten, gegenwärtigen
Epoche, die übrigens die Anforderungen der übrigen Verhältniſſe keines-
wegs ausſchließt. Und ſo können wir jetzt von einem ſelbſtändigen Syſtem
dieſes Gebietes reden, das dann wieder dieſelben formalen Elemente,
aber einen andern Inhalt hat, als das Syſtem des Gewerberechts.
Der Charakter der Geſetzgebung iſt für das Induſtrieweſen ganz dem der
Literatur analog. Es gibt kein ſelbſtändiges Syſtem derſelben; die geltenden
Beſtimmungen ſind theils in den Gewerbeordnungen enthalten, theils ſind es
einzelne legislative Akte und Maßregeln, welche eben für einzelne Verhältniſſe
der Induſtrie entſtanden ſind und gelten. In der That kann es auch keine
einheitliche Codifikation dafür geben; die Wiſſenſchaft muß und wird die Ein-
heit erſetzen, ſobald ſie beginnt Induſtrie und Gewerbe zu ſcheiden, und die
ſociale Verwaltung ſelbſtändig zu betrachten. Ueber die engliſche Fabriks-
ordnung und ihre Geſchichte ſ. Auſtria 1865. S. 294 ff.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 23
[354]
Wenn ſchon bei dem Gewerbe der leitende Gedanke für die Thätig-
keit der Verwaltung und die öffentliche Rechtsbildung die Selbſtthätig-
keit der kleinen Unternehmungen ſein muß, ſo iſt dieß natürlich bei der
Induſtrie, in der jede Unternehmung zugleich ihr eigenes Capital beſitzt,
in noch höherem Grade der Fall. Die Induſtrie ſoll ſich nicht bloß im
Allgemeinen ſelber helfen, und die Hülfe von Seiten der Regierung
ſoll nur eine ausnahmsweiſe ſein, ſondern ſie ſoll ſogar, ſo weit ſie
vermag, ihre eigene Organiſation und ihr eigenes Recht bilden. Die
größte Bedeutung der Induſtrie liegt für das Verwaltungsrecht deßhalb
eben darin, daß ſie das mächtigſte Gebiet der freien Verwal-
tung iſt. In dieſem Punkte beruht ihr wichtigſter Einfluß auf das
Geſammtleben des öffentlichen Rechts; ſie iſt es in der That, welche
man als die Erzieherin der wirthſchaftlichen Selbſtändigkeit in jedem
Volke anzuſehen hat. Und daraus folgt nun, daß ſie zugleich das-
jenige Organ am ſtärkſten entwickelt, das wir als die Baſis der freien
Verwaltung anſehen müſſen, das wirthſchaftliche Vereinsweſen, an
welches ſich hier das geſellſchaftliche anſchließt. Dieſes Princip
durchdringt das ganze Gebiet des Induſtrieweſens und gibt ihm ſeine
Selbſtändigkeit; man kann ſagen, daß während alle andern Theile uns
zeigen, was die Regierung zu thun hat, die Induſtrie uns zeigt, was
ohne ſie geſchehen kann und geſchehen ſoll. Im Induſtrieweſen hat
die Thätigkeit der Regierung einen ſtreng ſuppletoriſchen Cha-
rakter; und das im Einzelnen nachzuweiſen, iſt die Sache des Syſtems
des Induſtrieweſens.
Von dieſem Standpunkt aus muß namentlich die Wirkung Adam Smiths
auf dem Continent betrachtet werden. Adam Smith iſt es, der die alte Tra-
dition von der Nothwendigkeit einer direkten Unterſtützung der Induſtrie durch
die Regierungen, wie ſie das Merkantilſyſtem groß gezogen, zuerſt geradezu
und unbedingt verneint: ſein Wort, es ſei eine „impertinence and presump-
tion to watch over the industry of private people“ iſt das Schlagwort ge-
worden, das den Continent zunächſt von der Bevormundung im Gebiete der
Volkswirthſchaft befreit, und die Geſetze der Nationalökonomie an die Stelle
der Verordnungen der Behörden geſetzt hat. In ihm liegt ein unmeßbarer
Fortſchritt, und dieſer Gedanke von Adam Smith iſt der erſte und eigent-
liche Inhalt der Idee des Freihandels, von dem die Zollfrage nur
eine ſpecielle Anwendung iſt. Aber auch dieſe Idee hatte noch ſo lange keinen
Körper, als ihr das Vereinsweſen fehlte; denn nicht darauf kam es an, daß
überhaupt nichts für die Induſtrie geſchehe, ſondern darauf, daß das Noth-
wendige durch das freie Element des Vereins geſchehe. Und ſo ſtehen
wir erſt mit dem letzteren vor der zweiten und größeren Epoche der freien
wirthſchaftlichen Entwicklung der Induſtrie.
[355]
Die Organiſation der Induſtrie iſt nun ihrem formalen Begriff
nach die Geſammtheit der Organe, welche einerſeits die Intereſſen der
Induſtrie vertreten, und andererſeits das Recht derſelben bilden. Das
vorige Jahrhundert ſteht dabei noch auf dem Standpunkt, die Organe
der Regierung zur Hauptſache zu machen; die „Geſellſchaften“ treten
jedoch ſchon damals neben der Regierung auf, wenn auch in ſehr un-
beſtimmter Geſtalt und mit unklarem Recht. Erſt mit unſerem Jahr-
hundert und ſeiner unwiderſtehlichen Selbſtthätigkeit des Capitals
erſcheint das Vereinsweſen als Grundlage deſſen, was wir die
Organiſation der Induſtrie nennen müſſen. Die Macht und Thätigkeit
deſſelben, einmal zum Fluſſe gelangend, iſt nun ſo groß, daß die Stel-
lung der Regierung dadurch eine ganz andere wird. Denn gerade in
dieſem Vereine iſt neben, ja über dem großen Geſammtintereſſe zugleich
das Sonderintereſſe der beſtimmten Unternehmungen und indu-
ſtriellen Gebiete thätig und es wird daher jetzt neben der Aufgabe der
Regierung, alles Wichtige und Förderliche ſelbſt zu thun, die zweite
und nicht leichtere, dem durch die einzelnen Vereine vertretenen Sonder-
intereſſe im Namen des Geſammtintereſſes ſeine Gränzen zu ſetzen.
Und zwar gewinnt dieſe Wahrheit ihre ganze Bedeutung erſt dann,
wenn man feſthält, daß die Entwicklung der Induſtrie eben zugleich
ein Kampf von Capital und Arbeit iſt, der wie alles andere weſent-
lich durch die Entwicklung des wirthſchaftlichen Vereinsweſens der Ca-
pitalien zu den geſellſchaftlichen Vereinen der Arbeiter ſeinen Ausdruck
findet. Während daher die Sorge für das Capital faſt ganz der Re-
gierung durch die erſte Art von Vereinen genommen iſt, wird die Auf-
gabe derſelben durch die letztere eine doppelt ſchwierige. Und ſo hat
ſich hier ein ganz eigenthümlicher Organismus herausgebildet, deſſen
Elemente im Handelsminiſterium als Haupt der Regierungsthätigkeit,
in den Handels- und Gewerbekammern als Formen der Selbſtverwal-
tung, und im Vereinsweſen für Capital und Arbeit beſtehen, und
deſſen Funktion und Charakter gerade durch das letztere als ein noch
weſentlich unfertiger, im Werden begriffener betrachtet werden muß.
In der That iſt die wirkliche Verwaltung der Induſtrie das Gebiet,
auf welchem dieſer Charakter zu ſtudiren iſt.
Vielleicht in keinem Theile der ganzen Verwaltung tritt ſo ſehr der Cha-
rakter der einzelnen Staaten zu Tage, als in dem Gebiete der Induſtrie; nur
muß das Einzelne einer genaueren Unterſuchung unterzogen werden. In Eng-
land liegt der Schwerpunkt im Vereinsweſen und zwar nach allen Richtungen;
in Frankreich ſtellt ſich dagegen die Regierung an die Spitze, und läßt der
[356] freien Verwaltung in Chambres de Commerce und Associations nur geringen
Spielraum; in Deutſchland endlich arbeiten beide Elemente mit einander faſt
durchſtehend in Harmonie, aber ohne Bewußtſein ihrer Gemeinſchaft. Allerdings
ſieht man die ganze Bedeutung der Sache erſt in dem Folgenden. Ueber das
Vereinsweſen ſ. Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht.
Die allgemeine Volkswirthſchaftspflege hat nun, in ihrer ſpeciellen
Anwendung auf die Induſtrie, davon auszugehen, daß die allgemeinen
Bedingungen der Entwicklung der letzteren nicht etwas Beſonderes for-
dern, ſondern ihrem Weſen nach genau dieſelben ſind, welche für
das Gewerbe gelten, ſo daß in dem, was von Seiten des Staats dafür
geſchieht, gar keine feſte Gränze zwiſchen Gewerbe, Handel und Indu-
ſtrie vorhanden iſt. Das gilt ſowohl für die Anſtalten der wirthſchaft-
lichen Berufsbildung, dem geſammten Realſchulweſen, als für die all-
gemeine induſtrielle Bildung durch öffentliche Sammlungen und Aus-
ſtellungen, als endlich für das Verkehrsweſen in allen ſeinen Zweigen.
Wohl aber fordert die Induſtrie dieſelben Leiſtungen in größerem Um-
fange; und hier tritt zuerſt das ſpecifiſche Element der induſtriellen
Verwaltung ein. In der That kann nicht der Staat den Umfang
deſſen beſtimmen oder ausfüllen, was ſpeciell die Induſtrie fordert, da
er für alle gleichmäßig thätig ſein muß, ſondern die Induſtrie muß
in dieſer Beziehung ſelbſt helfen. Das nun geſchieht durch das Ver-
einsweſen, und zwar nach den beiden großen Kategorien des Ver-
einsweſens durch die Intereſſenvereine, welche die ſpeciellen Be-
dürfniſſe der Induſtrie zum Ausdruck und zum Bewußtſein bringen,
und andererſeits durch die Unternehmungsvereine, indem dieſe
die Herſtellungen der allgemeinen Bedingungen für die Induſtrie und
ihre maſſenhafte Güter- und Werthbewegung zum Gegenſtande ſelbſtän-
diger Unternehmungen machen. Die Hauptformen der letzteren ſind
die Eiſenbahngeſellſchaften für das Communikationsweſen, und die
Banken und Creditanſtalten für das Creditweſen. So ergibt ſich der
leitende Grundſatz für die Induſtrie und ihre Verwaltung, daß die
letztere für die erſtere durch das Vereinsweſen verwirklicht wird,
und daß ſomit die Thätigkeit der Regierung hier vorzugsweiſe in den
Funktionen der Oberaufſicht für dieſe Vereine beſteht, deren
Grundſätze und Inhalt bereits oben bezeichnet wurden. Je weiter die
Induſtrie ſich entwickelt, deſto beſtimmter tritt dieſes Princip hervor,
und deſto klarer wird es, daß der Staat ſelbſt durch unmittelbares
Eingreifen weder der Natur der Induſtrie entſpricht, noch auch etwas
poſitiv Förderliches zu leiſten im Stande iſt. Und derſelbe Charakter
[357] erſcheint nun auch für den beſonderen Theil, in welchem er eine vor-
zügliche Wichtigkeit empfängt.
Es iſt klar, daß ohne organiſche Auffaſſung des Vereinsweſens das Gebiet
nie richtig beurtheilt, und das ſpecifiſche Element der Sorge für die Induſtrie,
die ſich damit nur ſelbſt helfen kann und ſoll, nicht feſtgeſtellt werden kann.
Der Staat kann nur der Selbſthülfe helfen (vergl. Stein, Vereinsweſen
und Vereinsrecht, S. 166 ff.).
Derſelbe Gedanke ſetzt ſich nun in dem beſondern Theile fort; auch
hier liegt das eigentlich fördernde und poſitive Element in den Ver-
einen, und nur das ordnende und eventuell negative in den Funktionen
der Regierung. Das nun erſcheint in den beiden ſpeciellen Gebieten
der Induſtrie, zuerſt der einzelnen Unternehmungen, dann in dem Ver-
hältniß von Capital und Arbeit.
I. Die einzelnen Arten der induſtriellen Unternehmungen bedürfen
neben dem allgemeinen Zahlungs- und Unternehmungscredit und den
allgemeinen Communikationsverhältniſſen, vor allem der ſpeciellen Fach-
kenntniß und des ſpeciellen Capitals. Nachdem der Gedanke aufgegeben
iſt, dieſes durch den Staat zu geben, gilt für unſere Zeit der Grund-
ſatz, daß die Bildung von Aktiengeſellſchaften das einzige Mittel
iſt, ſolche Unternehmungen ins Leben zu rufen und ihnen durch die
Aktie den Charakter und das Recht öffentlicher Unternehmungen zu
geben. Die Freiheit in der Bildung von Aktiengeſellſchaften iſt daher
die einzige Regierungsmaßregel, durch welche eine poſitive Förderung
der Juduſtrie erzielt werden kann. — Daneben ſteht dann die indu-
ſtrielle Polizei, welche namentlich in der Maſchinenpolizei
gegen die elementaren Gefahren der Verwendung der Naturkraft für
die Arbeit ſorgt, und die, im Principe der allgemeinen Gewerbeord-
nung gehörend, in ihrer Ausführung ein techniſches Syſtem von
Vorſichtsmaßregeln über die Sicherheit der Maſchinen enthält.
Zunächſt gewinnen die Aktiengeſellſchaften für einzelne Unternehmungen
durch den obigen Standpunkt ein ganz anderes Licht; es iſt ſehr wahrſcheinlich,
daß der öffentliche Charakter von ſolchen Unternehmungen, den ſie durch
das Weſen der Aktie annehmen, als der Beginn einer ganz neuen Geſtaltung
dieſes Gebietes zu erkennen iſt, deren Tragweite noch kein menſchlicher Blick
zu ermeſſen vermag. Die induſtrielle Polizei wird aber dadurch nie un-
nöthig. Vorſchriften über Maſchinenpolizei weſentlich von Frankreich
ausgehend ausgebildet, ſeit der erſten Ordonnanz vom 29. Okt. 1823 an, daß
Grundlage ſtreng techniſcher Inſtruktion (Hauptgeſetz vom 22. Mai 1843; vergl.
Fournel bei Block, Dict. v. Mach. à vapeur). — Deutſchland: Princip
[358] der Genehmigung jeder Dampfkeſſelverwendung; Forderung der techniſchen
Bildung für die Maſchinenführer, und ſyſtematiſche Keſſelprobe. Preußen:
RönneII. 402. — Oeſterreich: Regulativ vom 11. Febr. 1854 (Stuben-
rauchI. §. 221). — Bayern: Verordnung vom 9. Sept. 1852 (Pözl,
Verwaltungsrecht II. §. 113; vergl. Stein, Sicherheitspolizei S. 169 f.).
II. Die Arbeiterordnung. Während die oben berührte Frage
die Verhältniſſe des in der Induſtrie thätigen Capitals betreffen, ent-
ſteht nun das zweite Gebiet dadurch, daß vermöge der Induſtrie ſich
die Arbeit ſelbſtändig vom Capital trennt, und daß dadurch inner-
halb derſelben ihre beiden großen Faktoren als zwei ſelbſtändige Körper,
und zwar mit entgegengeſetztem Intereſſe ſcheiden. Die Form,
in der dieß geſchieht, und die Verhältniſſe, die dadurch entſtehen, be-
zeichnen wir als die Arbeiterfrage.
Die Arbeiterfrage kann nun nur dann richtig gelöst werden, wenn
man ihren doppelten Inhalt ſcheidet. Sie iſt zuerſt ein rein wirth-
ſchaftliches Intereſſenverhältniß; ſie iſt aber zweitens auch eine
geſellſchaftliche Erſcheinung. Es iſt klar, daß nur der erſte Ge-
ſichtspunkt hierher gehört.
Für dieſen nun hat die Verwaltung davon auszugehen, daß es
ſich dabei um einen Gegenſatz der Intereſſen handelt, deſſen Inhalt
von Seiten der Unternehmung der möglichſt geringe Lohn bei möglichſt
großer Arbeitszeit, von Seiten der Arbeiter dagegen umgekehrt der
möglichſt hohe Lohn bei möglichſt geringer Arbeitszeit iſt. Nun können
allerdings durch einzelne, mehr oder weniger begünſtigte Anſtrengungen
hier zeitweilige außerordentliche Erfolge von der einen oder andern
Seite gewonnen werden; allein die Wiſſenſchaft des Güterlebens iſt
weit genug, um mit abſoluter Gewißheit behaupten zu können, daß
das Verhältniß zwiſchen Arbeit und Lohn ſich durch keine menſchliche
Willkür und kein Einzelintereſſe definitiv feſtſtellt, ſondern daß hier
am letzten Orte ein unwandelbares Geſetz entſcheidet. Der Lohn der
Arbeit kann nie größer ſein, als der im Preiſe des Pro-
dukts ausgedrückte Werth derſelben; und nie geringer, als die
Summe des durch die Art und das Maß der Arbeit geſetz-
ten Bedürfniſſes.
Iſt das nun richtig, ſo folgt, daß es niemals Aufgabe der Ver-
waltung ſein kann, in die Preisverhältniſſe der Arbeiter direkt einzu-
greifen, ſondern daß ſie vielmehr die Regelung der wirthſchaftlichen
Arbeiterfrage der zwar langſamen aber unwiderſtehlichen Wirkung
jenes auch für ſie unabänderlichen Geſetzes zu überlaſſen
hat. Sie kann und ſoll ferner eben ſo wenig die Erſcheinungen jener
entgegengeſetzten Intereſſen des Capitals und der Arbeit beſeitigen oder
[359] unterdrücken, als ſie es vermag, dieſe Intereſſen und ihren Gegenſatz
ſelbſt zu beſeitigen. Ihr erſtes Princip muß daher ſein, den Kampf
jener Intereſſen ſich ſelber zu überlaſſen, ſoweit derſelbe nicht zu
einer Störung der öffentlichen Ordnung oder des öffentlichen Rechts
wird; ſie hat nur dafür zu ſorgen, daß das obige rein wirthſchaftliche
Geſetz in ſeiner Wirkung nicht durch die Vornahmen der Betheiligten
äußerlich geſtört werde. Die Verwaltung wird daher niemals
ernſtlich daran denken, die Arbeiterfrage löſen zu wollen; ſie
darf nie verſuchen, die natürliche Löſung derſelben hindern zu wollen;
ſondern ſie ſoll eben nur die Polizei der Arbeiterfrage ſein und
aufrecht erhalten. Und in dieſem Sinne ſagen wir, daß die Aufgabe
der Verwaltung die Herſtellung der Arbeiterordnung in der In-
duſtrie ſei.
Dieſe Ordnung nun hat zwei Gebiete. Das erſte umfaßt das
Auftreten der beiden entgegengeſetzten Intereſſen als organiſirte Ge-
meinſchaft durch das Vereinsweſen, das zweite die Verhältniſſe und
das Recht des einzelnen Arbeiters und ſeines Lohnes. So enge
auch beide zuſammen hangen, ſo müſſen beide Aufgaben dennoch ſcharf
geſchieden werden, um zu einem klaren Reſultat zu gelangen.
a) Das Vereinsweſen in der Arbeiterfrage hat mit den In-
tereſſen, welche es vertritt, zwei Hauptformen: die Verbindung der
Unternehmer zur Einigung über den möglichſt niedrigen Lohn und
die Verbindung der Arbeiter zur Einigung über die Mittel, um den
möglichſt hohen Lohn zu erzielen. Es iſt in Beziehung auf die letztere
nun vor allen Dingen wohl zu unterſcheiden zwiſchen den Aſſociationen
und Conſumvereinen, welche der ſocialen Selbſthülfe angehören, und
den Coalitionen, welche auf Erhöhung des Lohnes abzielen. Hier
handelt es ſich um die letzteren.
Der frühere Standpunkt nun, nach welchem die Verwaltung in
ſolchen Vereinen eine Gefährdung des öffentlichen Intereſſes und der
Geſammtordnung erblickte, und den Gegenſatz und Kampf der beiden
Intereſſen durch einfaches Verbot, namentlich der Coalitionen, be-
ſeitigen zu können glaubte, muß gegenwärtig als ein überwundener
angeſehen werden. Die Verwaltung iſt im Gegentheil zu der Erkenntniß
gelangt, daß die Vereine, ſo lange ſie ſich in den Gränzen des Ver-
einsrechts halten, vielmehr dazu dienen, um einerſeits die Intereſſen
zum Bewußtſein von dem wirthſchaftlich Erreichbaren zu bringen, und
ihre Anſtrengungen auf dieſe Weiſe auf das richtige Maß zurückzu-
führen, andererſeits die Ausbeutung ſowohl der Arbeit durch das
Capital, als die des Capitals durch die Arbeit zu hindern. Das
Princip der neuen Zeit iſt daher die Freiheit des Vereinsrechts,
[360] aber neben demſelben auch die volle Strenge deſſelben verbunden mit
der Strenge des Verſammlungsrechts. Das, was dazu gehört, iſt vor
allen Dingen nicht ſo ſehr ein hartes Auftreten der Polizei, als viel-
mehr ein ausgebildetes Recht und ſtrenges Rechtsbewußtſein von
beiden Seiten. Dazu gehört eine bisher noch faſt ganz mangelnde
Jurisprudenz des Vereinsrechts, und die regelmäßige Thätigkeit des
öffentlichen Gerichtsverfahrens. Dagegen iſt es klar, daß die
Arbeiterverbindung als ſolche ſtrafbar wird, und daher der Auf-
löſung durch gerichtlichen Beſchluß ſo wie der Siſtirung durch die
Polizei unterliegt, ſo wie ſie zum Zweck hat, die einzelnen Arbeiter
zur Theilnahme, oder auch nur zur Befolgung der Beſchlüſſe der
Verbindung direkt oder indirekt zu nöthigen. Es iſt dabei ſelbſt-
verſtändlich, daß die Sicherheitspolizei gegenüber Verſammlungen
und Coalitionen nach den für ſie geltenden Grundſätzen ihrer Berech-
tigung und ihrer Haftung in jedem einzelnen Falle einzuſchreiten hat.
Der Standpunkt, den die verſchiedenen Geſetzgebungen in Beziehung auf
dieß Gebiet einnehmen, hängt zwar einerſeits mit dem Princip derſelben wie
das Vereinsrecht überhaupt, andererſeits aber auch mit der Entwicklung eines
concentrirten Arbeiterſtandes zuſammen. Aus beiden Faktoren hat ſich dann
das gegenwärtige Rechtsverhältniß gebildet. — England muß bekanntlich die
völlige Freiheit des Vereinsrechts für Unternehmer ſowohl als für Arbeiter
anerkennen; hier iſt daher auch der Kampf der beiderſeitigen Intereſſen ſchon
ſo weit im Vereinsweſen organiſirt, daß gerade dieſe Vereine jede Störung
des wirthſchaftlichen Lebens durch Gewalt unmöglich gemacht haben. S. über
Arbeits- und Lehrlings- (apprentices) Weſen Englands Gneiſt, Engl. Ver-
waltungsrecht II. 308 ff. und oben (Gewerbegerichte). — Frankreich hat
ſeinen Standpunkt des Code Pénal Art. 414—420 noch immer ſtrenge beibe-
halten; jede Verbindung von mehr als zwanzig Perſonen bleibt ohne Geneh-
migung verboten, wenn auch das Geſetz von 1865 in Beziehung auf die Ver-
ſammlungen einige Freiheit gewährt hat (vergl. Stein, Vereinsweſen S. 54. 55).
Dabei eine ziemlich abſtrakt gehaltene Literatur, welche faſt allenthalben das
Recht der Aſſociation mit dem der Coalition vermengt (vergl. Journ. d’Écon.
Bd. XLII. und XLVII. S. 81. Batbie bei Block, Dict. d. Pol. v. Salaires.
Ueber die alten Geſellenverbindungen (Compagnonnage) Em. Laurent,
Assoc. de prévoyance L. II. Ch. 3. — In Deutſchland waren die Coali-
tionen bis zur neueſten Zeit polizeilich verboten. — Oeſterreich: bisheriger
Standpunkt: Verbot der Verabredung ſowohl von Seiten der Gewerbsleute
als der Arbeiter (Strafgeſetzbuch §. 479, 480 mit Strafe). Neuer Standpunkt:
Geſetz vom 4. Mai 1869, Errichtung von Gewerbegerichten und Entwurf für
1870 mit Beſtimmungen über Lehr- und Dienſtverhältniß, Verhältniß zwiſchen
Unternehmern und Gehülfen, weſentlich aber die Errichtung von Fabriks-
inſpektoren, ſehr rationell. Der zweite Entwurf: Freiheit des Coalitions-
rechts; die Frage, wie ſich dieß Recht zu dem freien Vereinsrecht des Geſetzes
[361] von 1867 verhält, dahin nach dem neuen Entwurf über Arbeitercoalitionen
entſchieden, daß ſolche Verabredungen keine rechtliche Gültigkeit haben ſollen.
— Preußen: noch immer Strafbarkeit nach der Gewerbeordnung von 1845
§. 181—184. Hier mangelt noch allenthalben die freie Auffaſſung (Stein,
Vereinsrecht S. 194).
b) Neben dem Arbeitervereinsrecht hat die Arbeiterordnung
die Aufgabe, die rechtlichen Bedingungen für die Verhältniſſe zwiſchen
den einzelnen Arbeitern und der Unternehmung herzuſtellen. Dieſe
Arbeiterordnung hat drei Hauptgebiete.
1) Die Arbeitsbücher ſollen zunächſt den rein polizeilichen Zweck
haben, die Identität der Arbeiter und den Beſtand wie die Dauer des
Arbeits- und Lohnvertrages zu conſtatiren. Die Geſetzgebung hat ſich
daneben der Hoffnung hingegeben, daß ſie zugleich als Arbeits-
zeugniß einen heilſamen Einfluß auf die Arbeiter haben werden,
und daraus hauptſächlich iſt das Recht der Arbeitsbücher entſtanden.
Die Principien dieſes Rechts ſind erſtlich die Verpflichtung zum Beſitz
eines ſolchen Arbeits- oder Dienſtbuches und zum Eintragen des über-
nommenen oder aufgegebenen Dienſtes mit Zeit und Ort; zweitens das
Recht der Unternehmer oder Arbeitgeber überhaupt, ein direktes oder
indirektes Zeugniß über den Arbeiter auszuſtellen. Die Praxis hat
gezeigt, daß das erſtere nur dann zu erzielen iſt, wenn die Intereſſen
der Arbeiter und der Arbeitgeber es ihnen ſelbſt wünſchenswerth
machen, daß aber das zweite faſt ganz nutzlos iſt. Während daher
geſetzlich die Arbeitsbücher fortbeſtehen, haben ſie praktiſch faſt alle
Bedeutung für die Arbeiterfrage verloren, und erſcheinen nur noch als
Heimathsausweiſe und perſönliche Legitimationsurkunde.
Das franzöſiſche Recht iſt die eigentliche Quelle der Jurisprudenz der
Arbeitsbücher, während die Sache aus den deutſchen Wanderbüchern ſtammt.
Die Aufhebung aller Zünfte und Innungen ſtellte in Frankreich die Geſellen
und Arbeiter gleich, und ſchon das Decret vom 22. Germ. XI. ſtellte für alle
Arbeiter die gleiche Verpflichtung zur Führung des livret d’ouvrier feſt, deren
Rechtsverhältniſſe durch Geſetz vom 14. Mai 1851 und 22. Juni 1854 neu
geordnet wurden; Ausführungsordnung: Decret vom 30. April 1855. —
Oeſterreich hat das Syſtem derſelben in der Gewerbeordnung von 1859 auf-
genommen und die Arbeitsbücher vorzugsweiſe vom Standpunkt eines Arbeits-
zeugnißbuches durchgeführt (Anhang zur Gewerbeordnung §. 1—8), dem die
übrigen Gewerbeordnungen gefolgt ſind; praktiſche Erfolge hat das ganze Syſtem
für dieſen Standpunkt ſo wenig erzielt, als die Geſindezeugniſſe. — K. Sachſen:
Arbeitsbücherordnung (Verordnung vom 20. Mai 1864). — Braunſchweig:
Einführung derſelben durch Verordnung vom 11. Nov. 1864.
2) Die Beſtimmung der Arbeitszeit durch die Geſetze kann nicht
das freie Uebereinkommen über dieſelbe aufheben, ſondern hat nur den
[362] Sinn, die Arbeitsdauer da feſtzuſtellen, wo ſie nicht ausdrücklich be-
dungen iſt, und zweitens ſie für Frauen und Kinder aus geſund-
heitspolizeilichen oder geiſtigen Rückſichten auf ein beſtimmtes Maß zu
reduciren. Die Beſtimmung der Arbeitszeit im erſten Fall ſoll daher
eben ſo wenig Gegenſtand der Geſetzgebung ſein, als die des Arbeits-
lohnes; im zweiten Falle iſt ſie durch höhere Rückſichten als die des
Erwerbes geboten und mit Recht durch das Verwaltungsrecht beſtimmt.
Beginn der Geſetzgebung über die Arbeitszeit in Frankreich mit dem
Geſetz vom 22. März 1841. Verſuch der Aufſtellung von öffentlichen Lohn-
tagen ſchon im Reichsarchiv 1517; Berg, Polizeiordn. I. 352; RauII. 317.
Erſte allgemeine Auffaſſung der Kinderarbeit vom ſocialen Standpunkt nebſt
Geſetzgebung: Gerando, Bienf. publ. VI. 540 ff. — England: Haupt-
geſetz 7. 8. Vict. 15. nebſt vielen einzelnen Beſtimmungen. — Oeſterreich:
Gewerbeordnung von 1859 Art. 87. — Preußen: Geſetz vom 16. Mai 1853
(ſ. Stein, Geſundheitsweſen S. 74—76 und dazu Stein, Polizeirecht S. 170,
171; Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 202).
3) Die Aufſtellung eigener Arbeitergerichte für den Fall der
Streitigkeit der einzelnen Arbeiter mit den Arbeitgebern beruht darauf,
daß zur richtigen Entſcheidung in den meiſten Fällen eigene Fachkenntniß
nothwendig, der gewöhnliche Gerichtsgang dagegen zu koſtſpielig und
ſchleppend iſt. Offenbar nun iſt dieſe Inſtitution da von Bedeutung,
wo es ſich um Streitigkeiten über den Stücklohn oder Arbeit auf
Lieferung handelt, und über die Qualität Streit entſteht, während
in allen andern Fällen das ſummariſche gerichtliche Verfahren vorzu-
ziehen iſt. So lange es ferner noch Arbeitsbücher mit Zeugniſſen gibt,
kann eine Thätigkeit derſelben auch hier gedacht werden. In jedem
Falle erſcheint ihr moraliſcher Werth größer als ihr praktiſcher.
Urſprüngliche Idee der franzöſiſchen Geſetzgebung: Erſatz der alten Rechte
des Meiſters in der Werkſtatt durch das gewählte Conseil des prudhommes:
„Tout délit tendant à troubler l’ordre et la discipline de l’atelier peut
ètre puni par les prudhommes“ (Geſetz vom 3. Auguſt 1810 und Geſetz
vom 18. März 1806); dann bloß Rechtsſtreitigkeiten: Geſetz vom 22. Febr.
und 14. Mai 1831; Wahl und Organiſation (Geſetz vom 1. Juni 1853). Lite-
ratur bei Block, Droit admin. Aufnahme des Gedankens in der öſterreich.
Gewerbeordnung (§. 102); den Genoſſenſchaften iſt die „Entſcheidung über Streitig-
keiten zwiſchen Gewerbtreibenden und Geſellen und Lehrlingen“ übertragen;
doch ohne rechte Anwendung überhaupt, am wenigſten auf die Induſtrie zu
finden. — In Preußen auf Grund der Verfaſſung Art. 91 allerdings durch
Verordnung vom 2. Jan. 1849 eine Anzahl ſolcher Gerichte eingeſetzt; ſie haben
aber den Erwartungen nicht entſprochen und ſind allmählig eingegangen.
RönneII. §. 274; Meißner, Fabrikgerichte. Auffaſſung der Arbeiterfrage
vom rein polizeilichen Standpunkt bei Jacob, Grundſätze der National-
[363] ökonomie 3. Aufl. §. 457. Aehnlich bei Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 95.
Ausführlich und umſichtig bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 203. Neues
öſterreich. Geſetz vom 9. Mai 1869.
VI. Der Handel und die Verwaltung.
Von jeher war man ſich einig über die hohe Wichtigkeit des Handels;
aber auch von jeher uneinig über das, was der Staat für denſelben
zu thun habe. Um darüber klar zu werden, muß man den Begriff
des Handels allerdings in der beſtimmteſten Weiſe feſtſtellen.
Während wir nämlich als Verkehr die Geſammtheit aller der-
jenigen Bewegungen im Güterleben bezeichnen, durch welche ein Gut
von einer Wirthſchaft zur andern übergeht, muß der Handel als der-
jenige Theil des Verkehrs betrachtet werden, in welchem die Vermitt-
lung dieſes Ueberganges als ein ſelbſtändiges Unternehmen
erſcheint. Die wirthſchaftliche Aufgabe dieſes Unternehmens beſteht
darin, für jedes Gut ſeinen höchſten Preis zu ſuchen, indem es aus
der Differenz des Kaufs- und Verkaufspreiſes ſeinen Gewinn zieht.
Allerdings iſt ſomit jede Handelsunternehmung zunächſt auf den eigenen
Gewinn berechnet. Allein es iſt klar, daß die Funktion des Handels
von entſcheidender Bedeutung für das Geſammtleben der Volkswirth-
ſchaft iſt; denn der Preis, den er für jedes Gut ſucht und findet, wird
natürlich zur Grundlage und Bedingung der Produktion und Conſum-
tion jedes Produkts; er erſcheint daher als der große Lebensproceß,
durch den ſich die beiden Grundgeſetze des ganzen Güterlebens verwirk-
lichen, das Geſetz des Werthes und das der Produktivität. Erſt durch
den Handel kann daher der regelmäßige Fortſchritt der Volkswirthſchaft
erzeugt werden, und erſt in ihm ſeinen Ausdruck und ſein äußeres
Maß finden. Es iſt daher leicht begreiflich, daß man nicht bloß ſtets
für den Handel zu ſorgen geſucht hat, ſondern auch daß ſich Jahr-
hunderte hindurch das ganze volkswirthſchaftliche Bewußtſein in der
Hochachtung deſſelben und dem Streben nach ſeiner Entwicklung con-
centrirt hat. Und zu allen Zeiten wird die Frage von entſcheidender
Bedeutung ſein, was denn von Seiten der Geſammtheit und ihres
Staates für dieſen Handel, der beiden ſo wichtig iſt, geſchehen könne
und ſolle.
Auch dieſe Frage hat natürlich ihre Geſchichte. Allein die Ge-
ſchichte bringt zuletzt doch nur das Weſen der Dinge zur Geltung.
Der Handel iſt nämlich unter allen Gebieten der Volkswirthſchaft
dasjenige, welches am meiſten auf der individuellen Tüchtigkeit und
[364] Fähigkeit beruht, die Werth- und Preisdifferenzen der Güter an ver-
ſchiedenen Orten zu berechnen. Der Handel beruht daher vor allem
auf perſönlichem Capital, auf perſönlicher Thätigkeit und Bildung.
Dasjenige, deſſen dieſe Elemente bedürfen, iſt vor allem die Möglichkeit
ihrer vollen freien Bethätigung im wirthſchaftlichen Leben eines Volkes.
Die wahren und letzten Bedingungen der Entwicklung des Handels
ſind daher nicht einzelne, noch ſo großartige Maßregeln der Verwal-
tung, ſondern Bildung und Freiheit. Mit ihnen entſteht er, und
mit ihnen geht er unter. Sein wahres Lebensgebiet liegt daher in
den Elementen der Verwaltung überhaupt, ſpeciell in denen der all-
gemeinen Volkswirthſchaftspflege. Nur auf einzelnen, ganz beſtimmten
Punkten fordert er beſondere Ordnungen und Anſtalten, die ihm eigen-
thümlich gehören. Und von dieſem Princip aus wird ſowohl die Ge-
ſchichte des Handels als das Syſtem des öffentlichen Rechts deſſelben
auf jedem Punkte beherrſcht.
Der Begriff des Handels iſt in der Wiſſenſchaft eben ſo unbeſtimmt, wie
die Vorſtellung von demſelben beſtimmt zu ſein ſcheint. Aufgabe, den Handel
zuerſt von dem allgemeinen Begriff des Verkehrs zu ſcheiden, dann Handel
und Induſtrie ſtreng getrennt zu behandeln. Das erſte iſt die abſolute Be-
dingung für die richtige Auffaſſung des Verkehrs- und Vertragsrechts, welches
rein bürgerliches Recht iſt, und des eigentlichen Handelsrechts, welches das
durch das Weſen des Handels im Sinne des Geſammtintereſſes modificirte
Vertragsrecht enthält. Das zweite iſt die Bedingung für eine ſelbſtändige Be-
handlung des Handels in der Verwaltungslehre. Es iſt der Hauptmangel der
Handelsgeſetzbücher ſeit dem Code de Com., Handel und Verkehr nicht ge-
ſchieden zu haben; es gibt kaum eine unvollkommenere Definition des Handels
als die des „Handelsgeſchäfts“ im Handelsgeſetzbuch. Das „Handelsgeſchäft“
iſt das Geſchäft (der einzelne Verkehrsakt) nicht eines Wiederverkäufers, ſondern
einer Firma; ohne dieſen Begriff iſt hier nicht weiter zu kommen. Es iſt un-
glücklich, wenn andere den allgemeinen Begriff des „Gewerbes“ an die Spitze
ſtellen; namentlich wenn man nicht klar feſthält, daß der Handel keine Güter,
ſondern Werth producirt. Uebrigens gibt es wohl kaum einen Begriff in der
ganzen Nationalökonomie, der ſo verſchieden behandelt wurde, wie der des
Handels; man vergl. z. B. die Volkswirthſchaftslehren von Lotz und Kraus
an bis auf Glaſer, Dietzel, Schulze, Maurus, Dühring und neben
Roſcher Stein. Hier iſt offenbar völlige Unſicherheit in der Hauptſache.
Rau hat den Handel in der Volkswirthſchaftspflege ausführlich behandelt, Mohl
in der Polizeiwiſſenſchaft gar nicht.
Der Verkehr unter den Menſchen iſt natürlich ſo alt wie die Welt.
Der Handel aber beginnt innerhalb des Verkehrs da, wo die Völker ſich
[365] nähern; er gewinnt ſeine äußere Selbſtändigkeit zunächſt an der See,
und erſcheint als die Organiſation des Völkerverkehrs; allein das öffent-
liche Handelsweſen, in welchem derſelbe Gegenſtand ſelbſtändiger Thätig-
keit der Verwaltung wird, entſteht doch erſt mit dem Auftreten des
Welthandels durch die Entdeckung Amerikas, und erſcheint thatſächlich
in dem Streben jedes Staats, an dieſem Handel Theil zu nehmen,
theoretiſch in dem Grundſatz des Merkantilſyſtems, daß der Handel die
Quelle des Reichthums ſei oder doch ſein ſolle. Von da an beginnt
eine Reihe von Erſcheinungen, die wir in zwei große Epochen theilen.
Die erſte dieſer Epochen nennen wir die der Handelspolitik, die
zweite die der Handelsfreiheit. Jede von ihnen enthält dasjenige
Syſtem von Grundſätzen und Maßregeln, deſſen Verwirklichung der
Staat als Aufgabe ſeiner Verwaltung gegenüber dem ſelbſtändigen
Handelsweſen anerkennt.
I. Die Handelspolitik beruht auf dem Princip, daß der Staat
auch für den Handel unmittelbar thätig ſein ſolle, und auf der Anſicht,
daß er die Baſis des Reichthums der Staaten ſei. Es iſt die polizei-
liche Epoche des Handelsweſens. Sie will den Handel durch den Staat
organiſiren und produktiv machen. Sie findet nun die ſtändiſche
Organiſation des Gewerbes überhaupt auch auf den Handel ausgedehnt
in den Handelsinnungen und Kaufläden der Städte des Mittelalters
vor, zum Theil mit großen Capitalien, zum Theil mit großen Privi-
legien verſehen, mächtig, aber doch nicht gewaltig genug, um den neu
entſtehenden Welthandel zu bewältigen. Sie lehnt ſich daher an dieß
Vorbild, und bildet die großen Geſellſchaften, welche wir als die
Handelscompagnien des ſiebenzehnten Jahrhunderts bezeichnen,
und in denen allen das Capital zu den großen transatlantiſchen Unter-
nehmungen durch große öffentlich rechtliche Privilegien und wirthſchaft-
liche Monopole herbeigezogen wird. Die nun gehen ihren eigenen Weg.
Einmal conſtituirt, nimmt die Verwaltung wenig Einfluß mehr auf ſie,
aber dennoch ſind ſie es, welche der Epoche der Handelspolitik ihren
zweiten Inhalt geben. Ihre große welthiſtoriſche Funktion iſt es aller-
dings zunächſt, Europa zum Mittelpunkt des Welthandels und damit
des einheitlichen Weltlebens zu erheben; eben dadurch aber erzeugen
ſie die Concurrenz der europäiſchen Staaten unter einander, und da-
mit den Gedanken, daß auch in dieſer Concurrenz jede Regierung
trachten müſſe, den europäiſchen Handel ihres Landes mit dem anderen
ſo vortheilhaft als möglich zu machen. Damit entſteht die Grundlage
der europäiſchen Handelspolitik neben der transatlantiſchen der
Handelscompagnien, und den Ausdruck derſelben bildet die Idee der
günſtigen oder ungünſtigen Handelsbilanz. Sie hat eine hoch-
[366] bedeutende Stelle in der Geſchichte Europas. Sie iſt es zuerſt, welche
durch den innigen Zuſammenhang des Handels mit der geſammten
Volkswirthſchaft die letztere mit ihren ſtatiſtiſchen Thatſachen und ihren
organiſchen Geſetzen zum Gegenſtande des Nachdenkens gemacht, und
das volkswirthſchaftliche Bewußtſein der europäiſchen Staaten
erzeugt hat, das ihnen von da an geblieben iſt. Sie iſt es aber auch
ferner, welche im Geſammtverkehr Europas die beiden großen Maß-
regeln ins Leben rief, an die ſich die individuelle Geſtaltung des
volkswirthſchaftlichen Lebens angeſchloſſen hat. Die erſte beſteht in dem
Auftreten der Handelsverträge, die zweite in dem, in ihrem Sinne
entwickelten ſyſtematiſchen Zollweſen, das, von dem Schutzzollſyſtem
weſentlich verſchieden, in der Prohibition und den Ausfuhrprämien
culminirt, und nicht die Induſtrie, ſondern das Geld der Unterthanen
ſchützen will. In dieſer Richtung werden große Anſtrengungen gemacht;
allein noch fehlt das Bewußtſein, daß die wahre Quelle der Entwick-
lung des Handels nicht in den Maßregeln der Regierung für den
Handel als ſolchen, ſondern in einem höheren Gebiete liege.
II. Dieſes höhere Gebiet betritt nun die zweite Epoche, die wir
als die der Handelsfreiheit bezeichnen. Ihre Grundlage iſt die
Erkenntniß, daß die erſte Vorausſetzung der Blüthe des Handels nach
der Natur deſſelben die freie Bewegung der Handelsunternehmungen
ſelbſt ſein müſſe. Sie beginnt mit dem vorigen Jahrhundert. Ihren
erſten, noch negativen Ausdruck bildet die phyſiokratiſche Schule, ihren
zweiten die Lehre von Adam Smith, deſſen Hauptverdienſt es iſt, zu-
erſt den inneren Zuſammenhang der Induſtrie mit dem Handel und
die Folgen des Prohibitiv- und Privilegienſyſtems für die Entwicklung
der Volkswirthſchaft zum Bewußtſein gebracht zu haben. Von da an
zeichnen ſich in dem Verhältniß der Verwaltung zum Handel drei Grund-
richtungen ab, die zugleich in hiſtoriſchem Verhältniß zu einander ſtehen.
Die erſte iſt das Auftreten des ſchon am Ende des vorigen Jahrhunderts
zur Klarheit gelangenden Princips der Handelsfreiheit, welche nicht
die Beſeitigung der Schutzzölle, ſondern die Freiheit der Handelsunter-
nehmungen überhaupt, und die grundſätzliche Beſeitigung aller Monopole,
Privilegien und örtlichen Gerechtſame bedeutet, welche die Bewegung
des Handels hemmen. Die zweite iſt die neue Tendenz der Handels-
verträge, welche ſeit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr dar-
auf berechnet ſind, beſondere Vortheile für einzelne Nationen zu
erzielen, ſondern vielmehr die Gleichheit aller Unternehmungen im
Handelsverkehr zu verwirklichen. Die dritte endlich iſt der Kampf
zwiſchen Schutzzoll und Freihandel, aus welchem das rationelle
Zollſyſtem und die Erkenntniß der Geſetze hervorgeht, nach denen
[367] das induſtrielle Capital ſich entwickelt. Alle dieſe Richtungen zuſammen-
wirkend mit der ſteigenden volkswirthſchaftlichen Bildung zugleich machen
es nun mit jedem Jahre klarer, daß die wahre Vorausſetzung für die
Hebung des Handels nicht mehr in den Maßregeln der „Handelspolitik“,
ſondern in der möglichſten Entwicklung der Aufgaben der allgemeinen
Volkswirthſchaftspflege, namentlich des Credit- und Verkehrsweſens
liege; daß der Handel unter allen Zweigen der Volkswirthſchaft der-
jenige ſei, der ſich ſelber am beſten helfen kann und ſoll, und daß die
direkte Einwirkung der Regierung ſich weſentlich auf Einen Punkt zu
beſchränken habe, nämlich auf die Herſtellung einer feſten Rechts-
ordnung für die Handelsverhältniſſe und Geſchäfte. Das dauernde
Reſultat der wechſelnden Beſtrebungen iſt daher die, nach Muſter des
franzöſiſchen Code de Commerce ſich über ganz Europa ausbreitenden
Bildung des Handelsrechts durch die Erlaſſung des Handels-
geſetzbuches und die ſich daran knüpfende Jurisprudenz. Bisher nun
ſind dieſe Handelsgeſetzbücher allerdings weſentlich juriſtiſch aufgefaßt
worden; es wird die Aufgabe der nächſten Epoche ſein, ſie ſelbſt durch
die Natur des Handels und des Geſchäfts zu verſtehen, und ſo aus
dem Handelsrecht in die Handelswiſſenſchaft zurückzukehren.
Die Geſchichtſchreibung des Handels hat ſich bisher viel zu wenig mit dem
Handelsrecht, und die Jurisprudenz des Handelsrechts zu wenig mit der wirth-
ſchaftlichen Natur des Handels abgegeben. Die „Handelswiſſenſchaft“ ſoll die
Entwicklung des Rechts aus dem Weſen des Handels enthalten. Ablöſung der
ſelbſtändigen Geſchichte des Handels von der allgemeinen Geſchichte vorzüglich ſeit
Heeren (Geſchichte der Kreuzzüge und Sartorius, Geſchichte der Hanſeſtädte).
Das ältere Handelsrecht: Literatur bei Mittermaier, deutſches Privatrecht
§. 25. Stapelrechte: Rau, Verwaltungspflege II. §. 269; Lotz, Staatswirth-
ſchaftslehre II. 220. Vertheidiger der Monopole als Hoheitsrecht (Ausfluß
der merkantiliſtiſchen und eudämoniſtiſchen Auffaſſung nach Hugo Grotius
Jus Belli et Pac. II. C. 12. §. 16; Pufendorf, Jus Nat. et Gent. V. C. 5. §. 7;
Chr. Wolf, Inst. J. N. G. §. 1112: „si commercio exercendo gens lucrum
alterius gentis abrumpit.“ Die Handelscompagnien des ſiebzehnten Jahr-
hunderts: holländiſch-oſtindiſche Compagnie beginnt 1595, Auflöſung am
16. Okt. 1795; holländiſch-weſtindiſche Compagnie begründet 1621, auf-
gelöst 1795; brittiſch-oſtindiſche Compagnie errichtet 1559; definitiv auf-
gelöst 21. 22. Vict. 106 (1858); brittiſch-afrikaniſche Geſellſchaft 1663—1710;
franzöſiſch-oſtindiſche Compagnie und franzöſiſch-weſtindiſche Geſellſchaft,
beide von 1664 in der Revolution untergegangen; verſchiedene andere unbedeu-
tende Geſellſchaften bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 279. Die Doktrin
der Handelsbilanz am eingehendſten bei Lotz, Staatswirthſchaftslehre II.
§. 107—111. Hauptvertreter: Stewart, Grundſätze der Staatswirthſchaft II.
224; Aretin, Staatsrecht der conſtitutionellen Monarchie II. 289. Dagegen
ſchon Büſch, Geldumlauf II. 247; Mac Culloch, Dictionary: Handelsbilanz.
[368]Say, Cours complet V. 19. Verbote der Abſperrung der Gränze durch die
Reichsſtände (Reichsabſch. 1555. §. 14; vergl. Berg, Polizeirecht III. S. 493 ff.).
Ausfuhrprämien ebend. §. 108; privilegirte Handelsgeſellſchaften S. 255. Beginn
des Kampfes der Handelsfreiheit: ſchon Verbot der Monopole (Reichspolizei-
ordnung 1577). Klare Formulirung des Begriffes und Weſens der Handels-
freiheit ſchon bei Berg, Polizeirecht III. 490: „Handelsleitung iſt Handels-
unterdrückung“ und „die freyeſte Thätigkeit des Handels ſicher zu ſtellen,
iſt Handelspolizei.“ Das neunzehnte Jahrhundert bringt dann die Entwicklung
des Syſtems der Handelspflege, von der jeder einzelne Theil wieder ſeine Ge-
ſchichte und ſein Recht hat; ſ. das Folgende.
Wenn nun auf dieſe Weiſe die Selbſtthätigkeit des Einzelnen, die
Freiheit der Handelsunternehmung die Grundlage aller Entwicklung
des Handels iſt, ſo empfängt dadurch die Aufgabe des Staats gegen-
über dem Handel auch im Einzelnen ihren ſpeciellen Charakter. Der
Staat hat für dieſelbe keine beſondere Anſtalten herzuſtellen, welche
ihm in ſeinen einzelnen Zweigen die Bedingungen ſeiner Entwicklung
bieten, ſondern er ſchafft ſich dieſe Anſtalten ſelber, und muß
ſie auch ſelber verwalten. Daher der große hiſtoriſche Satz, daß
der Handel die Völker frei macht; es gibt dem Volke in ſeiner Ver-
waltung gleichſam die Freiheit zurück, die er in der Handelsfreiheit
von ihnen empfängt. Daher die Thatſache, daß Handelsſtaaten einen
tief republikaniſchen Charakter haben, und im Einzelnen das Polizei-
regiment hartnäckig abweiſen. Von den großen Knotenpunkten des
Handels in Europa iſt die ſtaatliche Freiheit ausgegangen, in ihnen
die Selbſtverwaltung erhalten, und durch ſie das Vereinsweſen erzeugt
worden. Und daher ſchließlich auch die Schwierigkeit für die Theorie,
der „Handelspolizei“ oder Handelspflege einen ſelbſtändigen ſyſtemati-
ſchen Inhalt zu geben, ohne ſie mit Gewerbe und Induſtrie zu ver-
ſchmelzen.
Damit nun ergibt ſich, daß die Summe deſſen, was die Verwal-
tung für den Handel im Beſondern thun kann, ſich in der Herſtellung
der äußern und der innern Bedingungen dieſer Freiheit zu-
zuſammenfaßt. Die erſteren nun beziehen ſich auf den Handel nach
Außen, die andern auf diejenigen innern Zuſtände und Verhältniſſe,
die ſich der Handel für ſeine eigene Entwicklung ſelber geſchaffen hat.
Jene enthalten die Freiheit des internationalen Verkehrs, dieſe die
rechtliche Ordnung der Handelsbewegung im Ganzen und ihrer be-
ſondern Formen. Beide aber werden vertreten und getragen durch den
Organismus des Handels, der ſeinerſeits wieder die Aufgabe hat,
[369] die lebendige Verbindung deſſelben mit den übrigen Gebieten der Volks-
wirthſchaft für das Ganze aufrecht zu halten, gegenüber dem einzelnen
Handelsunternehmen, das ſtets nun ſein eigenes ſpecielles Intereſſe
vertritt, gleichviel ob es eine Einzelfirma oder eine Geſellſchaft iſt.
A.Organismus des Handels. Der Charakter und die Stel-
lung der Organe, welche die Handelspflege enthalten, iſt demnach ein
doppelter. Sie ſind einerſeits dazu beſtimmt, den innern Zuſammen-
hang des Handels mit den Vorausſetzungen aller Blüthe deſſelben, der
Ordnung und Entwicklung der allgemeinen Volkswirthſchaftspflege, und
den Forderungen und Fortſchritten der Gewerbe und der Induſtrie, welche
ihm ſeine Subſtanz liefern, zum Bewußtſein und zur Geltung zu
bringen, andererſeits die beſondern Aufgaben des Handels im Einzelnen
zu vertreten. Es iſt demnach weſentlich, die Organe gerade hier nach
ihren Funktionen mehr als nach ihrer Form zu beurtheilen.
Das Handelsminiſterium hat die Aufgabe, nicht etwa bloß
für den Handel zu ſorgen, ſondern vielmehr die Bedingungen des
Handels in der geſammten Volkswirthſchaft herzuſtellen. Indem es
das Miniſterium der ganzen Volkswirthſchaftspflege iſt, iſt es das
höchſte Organ für die harmoniſche Einheit der Intereſſen der Volks-
wirthſchaft, inſofern dieſelben in dem Handel ihren Hauptausdruck finden.
Die Selbſtverwaltung des Handels iſt in den Handels-
kammern gegeben, die aus demſelben Grunde nicht bloß vom Handel,
ſondern zugleich von Induſtrie und Gewerbe gebildet werden.
Das Vereinsweſen entwickelt gerade im Handel ſeine drei
Grundformen; die Geſellſchaften im engern Sinne, die ſtille, offene
und die Commandite, ſind vor allem eben Handelsgeſellſchaften; ſie
ſind daher auch im Gebiete des Handels viel häufiger, als die Unter-
nehmungsvereine für denſelben, die meiſt der Induſtrie angehören;
in den Intereſſenvereinen dagegen verſchmilzt ſich wieder das
Handelsintereſſe ſo eng mit dem der Induſtrie, daß die äußere Schei-
dung nicht mehr aufrecht zu halten iſt.
Alle dieſe Organe nun wirken gleichzeitig. Je weiter aber die
Selbſtverwaltung und das Vereinsweſen gedeihen, um ſo beſtimmter
empfängt das Handelsminiſterium ſeinen Charakter als dasjenige Organ,
welches anſtatt poſitiv einzugreifen, vielmehr die ſtreitenden Intereſſen
zu verſöhnen und die Einheit in der Bewegung des Handels herzu-
ſtellen hat.
Handelsminiſterium in England als Board of Trade bloß auf den
Handel beſchränkt (Gneiſt, Engliſche Verfaſſungskunde, §. 104—107). — In
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 24
[370]Frankreich zuerſt die verſchiedenen Funktionen geſchieden als Min. de l’agri-
culture, du commerce et des travaux publ. — In Preußen das Miniſterium
für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten; in Oeſterreich das Miniſterium
für Handel und Volkswirthſchaft und das Miniſterium für Ackerbau. — Ueber
Handelskammern ſ. Stein, Selbſtverwaltung S. 117. (Freie Intereſſen-
vereine in England als associations, in Frankreich als Conseils, in Deutſch-
land organiſirte Vertretungen mit eigener Wahl.) Ueber die Geſellſchaften und
Vereine ſ. Stein, Vereinsweſen.
B.Handelsverträge. Das erſte Gebiet der Handelspflege iſt
nun die Aufgabe, den Handelsunternehmungen im Verkehr mit
andern Staaten diejenigen Bedingungen ihrer freien Bewegung zu
verſchaffen, die ſie als einzelne nicht erreichen können. Das nun ge-
ſchieht durch Handelsverträge und Zollweſen.
Die Handelsverträge haben die Aufgabe, die eigenen Handels-
unternehmungen im Verkehr mit andern Staaten in Beziehung auf
Niederlaſſung, Betrieb und Verkehr der Unternehmungen mit
den Angehörigen der letzteren gleichzuſtellen. Der Inhalt der ein-
zelnen Handelsverträge richtet ſich natürlich je nach den beſondern Ver-
hältniſſen und Bedürfniſſen des betreffenden Landes; die Geſchichte der
Handelsverträge aber iſt die Erhebung des Grundſatzes der Gemeinſchaft
und Gleichheit des wirthſchaftlichen Lebens Europas zum formalen
internationalen Recht. Sie entſtehen daher als Theile und Zuſätze
zu den Friedensverträgen; erſt mit der Mitte des achtzehnten Jahr-
hunderts, wo der Staatenbildungsproceß im Weſentlichen zu Ende iſt,
löſen ſie ſich ab von denſelben, und beginnen von da an ein ſelbſtän-
diges Gebiet des internationalen Rechtsſyſtems zu bilden; im neun-
zehnten Jahrhundert aber empfangen ſie einen andern Charakter. Mit
der ſteigenden volkswirthſchaftlichen Bildung wird nämlich die Erkenntniß
allgemein, daß die freie Bewegung der fremden Unternehmungen den
Fortſchritt der einheimiſchen bedingt. Aus dieſer Erkenntniß geht die
Gegenſeitigkeit im internationalen Recht der Unternehmungen her-
vor, deren Ausdruck die Formel iſt, nach der die einzelnen Völker ſich
gegenſeitig mit „dem Recht der meiſt begünſtigten Nationen“ zulaſſen.
Dieß allgemeine Princip der Handelsverträge erhält nun ſeine Ent-
wicklung, indem die Hauptverhältniſſe des Verkehrs ſelbſtändige
Handelsverträge erzeugen, und ſich ſo allmählig ein Syſtem derſelben
ausbildet. Die Hauptgebiete deſſelben ſind die Niederlaſſungs-
verträge, an welche ſich die Verträge über gegenſeitige Zulaſſung von
Aktiengeſellſchaften anſchließen; die Verträge über die Com-
munikationsmittel, namentlich über Schifffahrt und in der neue-
ſten Zeit über Eiſenbahnen; die Verträge über die Verkehrsanſtalten
[371] der Poſt und die Verträge über das Münzweſen; das letzte Gebiet
dieſer Verträge dagegen, das man als den Höhepunkt des internatio-
nalen Vertragsweſens betrachten kann, die Verträge über die gegen-
ſeitige Vollziehbarkeit der gegenſeitigen rechtskräftigen Urtheile iſt
noch ſehr unentwickelt; dennoch iſt es bei der immer ſteigenden Ver-
ſchmelzung von Intereſſen und Geſchäften als ein nothwendiger
Schritt anzuſehen.
Die Handelsverträge ſind bis jetzt nur für die einzelnen Staaten Europas
bearbeitet, und auch hier nur in dem Werke von Cuſſy vollſtändig für Frank-
reich; ſchon im vorigen Jahrhundert gute Reflexionen bei Mably, droit publ.
de l’Eur. Bd. II. bis 1740. Die einzelnen Verträge bei Martens; ſpe-
ciell für Frankreich die Verträge dieſes Jahrhunderts aufgezählt bei Block,
Dict. v. traités; für Oeſterreich: Neumann, Récueil des tr. de l’Autriche;
Preußen: Rohrſcheidt, Preußens Staatsverträge 1852 (vergl. RauVI.
§. 303; RönneII. 530). Allgemeine Betrachtungen vom Standpunkte der
Handelsfreiheit bei Ad. SmithII. 308; Liſt, Nat. Syſtem ſ. unten.
C.Das Zollweſen. Um die hervorragende Bedeutung des
Zollweſens in der Volkswirthſchaftspflege zu erkennen, kann es nicht
genügen, ſeine formale Definition aufzuſtellen oder ihren Inhalt dar-
zulegen. Man muß vielmehr daſſelbe in ſeiner allmähligen und orga-
niſchen Entwicklung verfolgen.
Der Zoll iſt formell die Abgabe, welche der Staat bei dem Ein-
gang, Ausgang oder Durchgang gewiſſer Waaren über gewiſſe Linien
erhebt.
Ein ſolcher Zoll iſt ein Steuerzoll, wenn der Zweck deſſelben
eine bloße Beſteuerung der betreffenden Waaren iſt; der Zoll ſelbſt iſt
darum die Steuerhebungsform. Wenn derſelbe dagegen einen wirth-
ſchaftlichen Zweck hat, ſo wird er ein Verwaltungs- oder Schutz-
zoll. Die äußere Gränze zwiſchen beiden iſt eben ſo ſchwer zu ziehen,
als die principielle leicht zu beſtimmen iſt; denn es können in einem
und demſelben Zollſatze beide Arten vereinigt ſein. In dieſem Falle
iſt derjenige Theil des betreffenden Zollſatzes Schutzzoll, der nicht
mehr durch die Beſteuerung motivirt iſt. Der Steuerzoll gehört nun
der Finanzwiſſenſchaft; die (Verwaltungs- oder) Schutzzollfrage dagegen
gehört der Volkswirthſchaftspflege. Seine Aufgabe iſt formell die Ver-
theuerung der Waare um den Betrag des Zolles, und damit ein
weſentlicher Einfluß auf die Mitwerbung derſelben mit den einheimi-
ſchen Waaren. Das Zollweſen iſt die Geſammtheit von Beſtimmungen
und Maßregeln, durch welche dieſe Erhöhung des Preiſes der verzollten
Waaren erzielt wird. An dieſe Fähigkeit deſſelben ſchließt ſich ſeine
hiſtoriſche Entwicklung, die in den zwei großen Epochen des Prohi-
[372] bitiv- und des Schutzzollſyſtems zerfällt, und die bei gleicher
äußerer Form einen weſentlich verſchiedenen Charakter haben.
a) Das Prohibitivſyſtem war der Ausdruck des Gedankens,
den Abfluß des Geldes durch Zahlungen für eingeführte Waaren an
das Ausland zu hindern. Das Prohibitivſyſtem war daher ganz gleich-
gültig gegen die Einnahmen; es belaſtet nicht bloß den Preis der
Waare bis zur Unverkäuflichkeit, ſondern verbietet ſie vielmehr allent-
halben, wo es ſich um die einfache Conſumtion fremder Produkte
handelt, während es die zur weitern Produktion beſtimmten Produkte
frei zuläßt. Es hat daher noch keinen klaren Begriff von dem inneren
Zuſammenhang aller Arten der Produktion; es iſt faſt ausſchließlich
ein Syſtem der Pflege von Gewerbe und Induſtrie. Es kann nur ſo
lange beſtehen, als die Produktionen der einzelnen Staaten weſentlich
verſchieden, und namentlich einige Staaten hinter den andern weit
zurück ſind. Es will der entſtehenden einheimiſchen Induſtrie ihren
einheimiſchen Markt ſchaffen. Es hat noch keine Vorſtellung von
Capital und Unternehmung, ſondern nur noch von Geld und Arbeitslohn.
b) Das Schutzzollſyſtem dagegen entſteht, wo durch Induſtrie
und Handel die Capitalien und Unternehmungen entſtanden, aber noch
nicht gleichmäßig entwickelt ſind. Die Ungleichheit der Capitalien der
Amortiſation, der Erfahrung und des Credits macht nun auch bei
größter Anſtrengung eine Concurrenz der einheimiſchen Unternehmung
mit der auswärtigen nicht thunlich; es fehlen der jüngeren Induſtrie
die Bedingungen für den niederen Marktpreis der älteren; ohne dieſe
Bedingungen kann ſie nicht beſtehen; ſie kann ſich dieſelben nicht ver-
ſchaffen; es erſcheint daher als Aufgabe der Verwaltung, ihr den Er-
folg für dieſe Bedingungen zu bieten; das thut ſie durch adminiſtrative
Erhöhung des Marktpreiſes der fremden Waare vermittelſt des Zolles.
Ein ſolcher Zoll heißt der Schutzzoll, und das Syſtem, vermöge
deſſen er zur Anwendung gelangt iſt, das Schutzzollſyſtem.
Das Schutzzollſyſtem betrifft daher zunächſt den Handel, aber es
ſchützt in Wirklichkeit die Induſtrie als die Geſammtheit der für die
Produktion thätigen Capitalien. Es iſt an ſich gleichgültig gegen Geld
und Arbeitslohn, und ſcheidet ſich ſtrenge vom Steuerzoll. Allein es
tritt ſofort in direkten Gegenſatz zum Intereſſe des Handels, der
natürlich vermöge der Vertheuerung der fremden Waare in ſeinen Ge-
ſchäften beſchränkt wird. Durch den lebhaften Gegenſatz dieſer Intereſſen
des Handels mit dem der Induſtrie entſteht nun ein Kampf, deſſen
nächſter und wichtigſter allgemeiner Erfolg die Erwirkung des öffent-
lichen Bewußtſeins von dem inneren Zuſammenhange aller Zweige
der Induſtrie unter einander iſt; dann aber die Nothwendigkeit, den
[373] Schutzzoll, der immer eine Belaſtung des einen Capitals zu Gunſten
des andern iſt, aus einer einfachen Verwaltungsmaßregel zu einem
Syſtem zu erheben. Erſt vermöge eines ſolchen Syſtemes kann der-
ſelbe ſeiner Idee entſprechen. Die Elemente dieſes Syſtems ſind das
Princip, die Ordnung und die Verwaltung des Schutzzolles.
1) Das Zollprincip iſt nichts als die Anwendung des allge-
meinen Princips der Verwaltung auf das Zollweſen. Der Schutzzoll
ſoll nur die Bedingungen für die einheimiſchen Capitalien geben, die
ſich dieſelben nicht ſelbſt verſchaffen können. Das Verhältniß tritt
nun überhaupt nur da ein, wo die eigene Induſtrie mit fremden
Capitalien kämpft, welche bereits durch Amortiſation billigere Preiſe
ſtellen, alſo mit geringerer Verzinſung des Capitals arbeiten können,
als junge Unternehmungen, ohne doch zu verlieren. Die Bedingung
der Entwicklung der letzteren iſt daher ein Preis, der ihnen die Amor-
tiſation noch möglich macht. Iſt nun durch den Schutzzoll ein ſolcher
Preis da, ſo iſt es Aufgabe der Unternehmung, die Amortiſation
wirklich vorzunehmen. Und tritt nun dieſe ein, ſo iſt es klar, daß
damit der Schutzzoll ſelbſt unnöthig wird. Das höchſte Princip
des Schutzzolles iſt daher das, ſich ſelber überflüſſig zu
machen. So lange man unter „Freihandel“ nicht „Zollloſigkeit“ ver-
ſteht, iſt das die einfache Löſung des Streites zwiſchen beiden Principien.
Das richtige Zollprincip kann daher weder die Ausfuhr- noch die
Durchgangszölle anerkennen. Der Schutzzoll hat ferner weder gleiche
noch dauernde Zollſätze. Im Gegentheil wird der Zollſatz je nach
den beſondern Verhältniſſen jedes Induſtriezweiges zu bemeſſen ſein,
und ſomit jeder rationelle Schutzzoll zu einem ſyſtematiſchen, auf
möglichſt genauer Statiſtik beruhenden Zolltarif führen. Die Auf-
ſtellung eines ſolchen Zolltarifes muß ferner feſthalten, daß jeder Zoll-
ſatz nur für eine beſtimmte Dauer gegeben werden ſoll. Grund-
ſätzlich ſollte jeder Schutzzollſatz von vorn herein drei Epochen geſetzlich
aufſtellen. In der erſten ſoll er volle Geltung haben; in der zwei-
ten ſoll er (bis zur Hälfte) vermindert werden; in der dritten ſoll er
aufhören. Der Tarifſatz für die Zolleinheit ſoll ferner je nach der
Höhe des Capitals, das zu ſeiner Produktion nothwendig iſt, höher ſein.
Gegenſtände, die zu ihrer Produktion kein ſelbſtändiges Capital erfor-
dern, alſo der Induſtrie nicht angehören, ſollen keinen Schutzzoll
zulaſſen, daher ſollen die Rohprodukte und die Gewerbsprodukte zoll-
los ſein. Der Gedanke, durch den Zoll die Verſchiedenheit der Be-
ſteuerung des Landes auszugleichen, iſt an ſich richtig, aber unpraktiſch.
Die äußerſte Gränze des Zollſatzes aber iſt unter allen Verhältniſſen
die Höhe der Schmuggelprämie; und ſchließlich darf nie vergeſſen werden,
[374] daß die Zollbehandlung bei den meiſten Waaren wichtiger iſt als
der Zollſatz.
Der Streit zwiſchen Schutzzoll und Freihandel beruht einerſeits auf der
Vermengung der Handelsfreiheit mit dem Freihandel, andererſeits auf der Un-
klarheit über das Weſen der Zollloſigkeit. Endlich haben ſich bedeutſame poli-
tiſche Motive hineingemiſcht, ſo daß eine objektive Behandlung ſehr ſchwierig iſt.
Die faſt endloſe Literatur bei Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 205 ff. für
und gegen die Handelsfreiheit; meiſt in allgemeinen Sätzen ſich bewegend.
Fr. Liſt hat das unſterbliche Verdienſt, den organiſchen Begriff des Schutz-
zollſyſtems in ſeinem nationalen Syſtem der polit. Oekon. 1841 zuerſt begründet
zu haben, dem in der That die Zollgeſetzgebungen des Continents entſprechen.
Vergl. Stein, Volkswirthſchaftslehre S. 350 ff. „Die Aufhebung des Schutz-
zolles wird trotz aller Theorie ſtets nur als die praktiſche Folge der Gleichheit
der Capitalverhältniſſe zur Geltung gelangen.“
2) Die Zollbegünſtigungen entſtehen da, wo einzelne theils
örtliche, theils im Weſen des Handels liegende Verhältniſſe beſondere
Ausnahmen von der allgemeinen Zollordnung als Bedingung der
Handelsentwicklung erſcheinen laſſen. Dieſe ſind
Freihäfen, die man ſo lange für nothwendig hielt, als das
Syſtem der Lagerhäuſer nicht zur vollen Geltung und Ausdehnung
gelangt war.
Lagerhäuſer (Waarenhäuſer, Zolldepots, docks, entrepôts) ſind
Anſtalten, in denen die Einfuhren unverzollt niedergelegt werden, ſo
daß der Zoll erſt bezahlt wird, wenn der Handel die Waare für den
inländiſchen Conſum aus denſelben bezieht. Sie ſind eine vollkommen
logiſche Conſequenz des Schutzzollſyſtems, da ſie den Zwiſchenhandel
zollfrei machen, ohne den Eigenhandel vom Zoll zu befreien. Principiell
ſollten ſie bei jeder Zollſtelle ſein; praktiſch ſind ſie nur bei den größten.
Sie fordern eine ſelbſtändige, aber möglichſt einfache, freie und koſten-
loſe Verwaltung.
Zollcredite, Creditirung des Zollbetrages mit regelmäßiger
Liquidirung, als große Erleichterung für bedeutende Importgeſchäfte.
Rückzölle bei Wiederausfuhr von Waaren ſind conſequente Fol-
gerungen aus dem Zollprincip, aber nie ohne bedeutende Uebelſtände
und Gefahren; daher nur als ſpecielle und genau erwogene Ausnahmen
zuzulaſſen.
Steuervergütungen als Erſtattung der Produktionsbeſteue-
rung bei der Ausfuhr ſind an ſich falſch, und nur unter beſonderen
Umſtänden und bei durchaus einzelnen Artikeln anzuwenden.
Das Syſtem der Freihäfen bedeutet ſtets ein unentwickeltes Zollſyſtem,
und ſie verſchwinden daher faſt gänzlich. RauII. §. 308. Das Syſtem der
[375]Waarenhäuſer dagegen bildet ſich mehr und mehr aus, und wird mit der
Zeit die Baſis des Großhandels gegenüber dem Kleinhandel werden. In
England ſchon im vorigen Jahrhundert angedeutet, ſeit 1803 organiſirt;
Friedländer, das brittiſche Zollſyſtem, Packhofsordnung 6. Georg. VI. 112.
(1825), ſeit dem Zollſyſtem von 1862 nur noch Packhäuſer. — Frankreich
hat das Entrepotſyſtem ſchon ſeit Colbert (1664 und 1668) eingeführt (elf Städte);
erſte Organiſirung durch Geſetz vom 8. Flor. XI., welche dieſelben jedoch nur in
einzelnen Städten zuließ; dann allmählige Ausdehnung; das Geſetz vom 9. und
27. Febr. 1832 ließ die Errichtung auch in den inneren Städten zu; Unter-
ſcheidung des entrepôt réel und fictif, welche letztere eigentlich nur ein Zoll-
credit iſt; Zulaſſung im Zollverein durch Zollvereinsordnung von 1837. §. 59.
72—75; ſ. auch Rönne, Staatsrecht II. §. 256. Organiſirung des Syſtems
der Waarenhäuſer und Freilager in Oeſterreich durch Geſetz vom 20. Sept.
1865 und Verordnung vom 19. Juni 1866. Rückzölle in Frankreich orga-
niſirt durch Ordnung vom 23. Juli 1818. Verhältniſſe in Deutſchland: Leuchs,
Gewerbe- und Handelsfreiheit S. 207. Beſchränkung im Zollverein auf Tabak
und Rohzucker; vergl. RauII. §. 307. Steuervergütung ſpeciell für
Zucker und Spiritus.
3) Die Zollverwaltung hat die Zollordnung nach dem Tarif
auszuführen. Sie gehört naturgemäß der Finanzverwaltung. Princip
muß billige und raſche Beförderung ſein; Zollſtrafgeſetze mit Confis-
kation; Formalitäten ſind Gegenſtand eigener Anordnungen. Schwierig-
keiten entſtehen nur, wo die Zolleinheit auf dem Werthe beruht, oder
wo die Qualitäten zu ſehr verſchiedenen Anſätzen im Tarif Anlaß geben.
Daher Vermeidung der Werthzölle und möglichſte Einfachheit der
Tarifſätze.
Aus dem Obigen ergeben ſich für die Beurtheilung des Zollweſens der
einzelnen Länder Europas überhaupt drei Geſichtspunkte. Zuerſt hat jeder
einzelne Tarifſatz ſeine Begründung und oft auch ſeine Geſchichte,
die nicht ohne Bedeutung iſt. Zweitens hat die Zollgeſetzgebung jedes ein-
zelnen Landes einen ganz beſtimmten Geſammtcharakter, der mit der ganzen
Capitalsentwicklung deſſelben auf das Engſte zuſammenhängt, und deſſen Princip
iſt, daß je nachdem die Unternehmungen alt und die Capitalien billig ſind,
die Schutzzölle verſchwinden. Der Charakter Englands iſt daher die volle
Zollfreiheit; die ſieben einzigen Tarifſätze, welche England noch hat, ſind in
der That ausſchließlich Steuerzölle, und zwar ſpeciell Verzehrungsſteuerzölle.
Die franzöſiſche Zollgeſetzgebung trägt noch immer den Charakter der Colbert-
ſchen Epoche an ſich; ſie hat ihr Syſtem von Tarifſätzen zu einer Freiheit der
Beſtimmungen und Unterſcheidungen ausgearbeitet, die nur theoretiſch zu be-
gründen iſt, die aber praktiſch eher nachtheilig. Daneben ſind die Vorſchriften
über die Zollverwaltung zwar ſtreng bureaukratiſch, aber ſehr genau ausgeführt;
von großem Werth iſt dabei die Durchführung des Beſchwerdeverfahrens auf
Grundlage des Contentieux. Der Zollvereinstarif iſt im Weſentlichen nach
[376] dem franzöſiſchen Vorbilde; aus dem ſogleich anzuführenden Grunde entbehrt
er in Princip und Ausführung der rechten Selbſtändigkeit, was gleichfalls von
dem öſterreichiſchen gilt. Es iſt nämlich drittens unzweifelhaft, daß ſeit 1848
ganz Europa demſelben Zuge folgt, der für Deutſchland ſeit 1824 für das
ganze Zollweſen thätig geweſen iſt. Das Zollſyſtem iſt ein Mittel in der
Hand der Politik geworden. An dem Zolle iſt zuerſt Deutſchlands Einheit
groß geworden; die Geſchichte des Zollvereins iſt ein Theil der Geſchichte Deutſch-
lands, und die Tarifſätze ſind in den meiſten Fällen Compromiſſe zwiſchen
den Intereſſen der Theile des Ganzen, ſo daß der reine Charakter der Zölle
dabei verloren geht. Seit 1848 iſt dagegen dieſe Verwendung des Zollweſens
allgemein geworden. Seinen Hauptausdruck fand jenes Princip zuerſt in dem
Februarvertrag von 1853 für das Verhältniß zwiſchen Oeſterreich und Preußen,
dann aber in dem franzöſiſchen Handelsvertrag mit England vom 23. Jan.
1860 und im franzöſiſch-deutſchen Zollvertrag vom 2. Aug. 1862; die Verträge
zwiſchen Frankreich und Belgien von 1854 gehören gleichfalls in dieſe Kategorie.
Es dürfte jedoch kaum zweifelhaft ſein, daß dieſe Epoche als eine im Weſent-
lichen überwundene zu gelten hat. Das Zollweſen Europas wird in nächſter
Zeit wieder die Selbſtändigkeit der einzelnen Länder zum Grunde
legen. Die Literatur iſt meiſt Parteiliteratur, die ſtreng wiſſenſchaftliche Be-
handlung beſchränkt ſich auf den Streit über das Princip, das Eingehen auf
ſyſtematiſche Behandlung fehlt. Die Nationalökonomie überläßt die Frage der
Volkswirthſchaftspflege, und dieſe ſelbſt iſt noch unfertig. Vergl. Rau, Volks-
wirthſchaftspflege II. §. 207 und 305 ff. Die bedeutendſte Arbeit bleibt der
Bericht der volkswirthſchaftlichen Commiſſion der württembergiſchen Kammer
über den preußiſch-franzöſiſchen Handelsvertrag (Moritz Mohl). J. G. Cotta’ſche
Buchhandlung 1864.
Begriff, Princip und Inhalt.
Während nun in Handelsverträgen und Zollweſen der Handel als
internationaler Verkehr erſcheint, iſt das, was wir unter der Handels-
ordnung verſtehen, der Inhalt desjenigen, was die Verwaltung für
den inneren Handel zu leiſten hat.
So wie nämlich der Handel ſich in der Volkswirthſchaft zu ſelb-
ſtändigem Leben entwickelt, erzeugt er zwei Dinge, die ſpeciell ihn
und ſein Weſen enthalten und vertreten. Das erſte iſt eine neue
Geſtalt und ein neues Gebiet des Verkehrs und ſeines Rechts, ein
dem Handel als ſolchem angehöriges Vertragsrecht, das wir im
engeren Sinne des Wortes das Handelsrecht nennen. Das zweite
ſind ſpecielle, ſelbſtändige Anſtalten und Formen des Handels, die
gleichfalls ihre eigene Ordnung fordern. Allerdings nun erzeugt ſich
das im Handel raſtlos thätige und auf jedem Punkte lebendige Einzel-
intereſſe der Unternehmungen beider mit eigener Thätigkeit; allein die
[377] raſche Bewegung des Umlaufs fordert für die Ordnung beider Elemente
eine in jedem Punkte feſtſtehende objektive Gültigkeit. Dieſe nun
kann ſich der Handel nicht ſelber geben. Der Staat muß ſie zum
Gegenſtande eigener Geſetzgebung machen; allein gerade, weil ſie aus
der Natur des Handels unmittelbar hervorgehen, fordert der letztere
bei der Verwirklichung der auf dieſe Weiſe geſetzlich beſtimmten recht-
lichen Ordnung des Handels eine ſelbſtthätige Mitwirkung, die aller-
dings je nach dem ſpeciellen Gebiete eine ſpecielle Geſtalt hat. Und
die Geſammtheit der dadurch bedingten Beſtimmungen und Einrich-
tungen nennen wir die als öffentlich geltendes Recht formulirte
Handelsordnung. Sie iſt das eigentliche Gebiet der Verwaltung
des Handels; und die Entwicklung ihrer beiden Grundlagen ergibt ſo-
mit das, was wir das Syſtem derſelben zu nennen haben.
Handelsrecht und Gericht.
Das allgemeine Handelsrecht iſt dasjenige, welches aus der
Natur des Handels an ſich folgend, für alle Theile und Gebiete des
Handelsverkehrs gleichmäßig gültig iſt. Es iſt nicht möglich, das all-
gemeine Weſen und die Stellung des Handelsrechts in der Wiſſenſchaft
zu beſtimmen, wenn man es nicht in ſein Verhältniß zum übrigen
bürgerlichen Rechte ſtellt. Die tiefen Unterſchiede beider beruhen auf
folgenden Punkten.
Während das bürgerliche Recht die einzelne Perſönlichkeit als
Rechtsſubjekt anerkennt, erſcheint im Handelsrechte als das Rechtsſub-
jekt das Unternehmen. Der Verkehr der einzelnen Perſönlichkeiten
im bürgerlichen Recht erſcheint als Vertrag; der Vertrag, den die
Unternehmungen ſchließen, iſt dagegen ein Geſchäft. Der Inhalt
eines Vertrages wird grundſätzlich nur von dem wohlerwogenen Willen
des Contrahenten beſtimmt; das Geſchäft iſt ſeinem Weſen nach und
wird daher auch ſtets im Handelsverkehr aufgefaßt als bedingt von
allen andern Geſchäften, die ihm voraufgehen oder nachfolgen. Wie
daher das wirthſchaftliche Weſen des Geſchäfts ein anderes iſt als das
des Vertrages, ſo iſt auch das Recht deſſelben ein beſonderes. Und in
dieſem Sinne nennen wir das Recht der Unternehmungen und ihrer
Geſchäfte im Unterſchiede von dem der Wirthſchaft und ihrer Verträge
das allgemeine Handelsrecht.
Aus dieſer Natur des Handelsrechts folgt nun auch der Inhalt
ſeines Syſtems. Daſſelbe zerfällt in drei Theile. Das Unternehmen
als Perſönlichkeit iſt die Firma. Sie hat die Fähigkeit in ſich, wie
das Unternehmen das ſie vertritt, nicht bloß in einzelner Perſon, ſon-
dern als eine organiſirte Geſellſchaft, ja als ein Verein aufzutreten.
[378] Die handelsrechtliche Perſönlichkeit, rechtlich in der Firma
anerkannt, hat daher drei Grundformen: die einzelne Perſon, die drei
Formen der Geſellſchaft, ſtille, offene und Commandite, und Aktien-
geſellſchaft. Die Rechtsverhältniſſe, die ſich daraus ergeben, bilden den
erſten Theil des Handelsrechts. Der zweite enthält diejenigen Modifi-
kationen des bürgerlichen Vertragsrechts, welche durch die Natur des
Geſchäfts geſetzt werden, in Begriff, Abſchließung, Erfüllung und Be-
weiskraft der Handelsbücher. Das iſt das natürliche Syſtem des all-
gemeinen Theiles des Handelsrechts. Für den Handel ſelbſt aber iſt
es eine erſte weſentliche Bedingung, daß dieſes Recht objektive Gültig-
keit und Selbſtändigkeit gegenüber dem Privatrecht habe; die Herſtellung
dieſer rechtlichen Selbſtändigkeit iſt daher eine weſentliche Aufgabe der
Verwaltung; und ſo entſtehen die Handelsgeſetzbücher. Zweitens
aber fordert der Handel, eben weil dieſes ſein Recht auf eigenen, vom
Privatrecht weſentlich verſchiedenen Grundlagen beruht, daß auch die
gerichtliche Organiſation, welche das Handelsrecht vollzieht, die Mit-
wirkung des Handelsſtandes aufnehme; und aus der natürlichen und
im Grunde nie beſtrittenen Anwendung dieſes Princips geht das
Handelsgericht hervor. Das iſt der erſte Theil innerer Verwal-
tung des Handels.
Das bisherige Handelsrecht theilt noch immer das Schickſal aller Rechts-
gebiete; es bildet einen iſolirten Theil der Rechtswiſſenſchaft, und wird ſein
Verſtändniß erſt empfangen, wenn es ſeine organiſche Verbindung mit Privat-
recht und Verwaltungsrecht durchführt. Bekanntlich beſteht das Handelsrecht
viel länger als die Handelsgeſetzbücher; eben ſo die Handelsgerichte (vergl. über
die Handelsgerichte des vorigen Jahrhunderts: Fiſcher, Cameral- und Polizei-
recht III. 220 f.; Berg, Teutſches Polizeirecht III. S. 491). Handelsgebrauch
(Uſance) vergl. Mittermaier, deutſches Privatrecht II. §. 530. Neuere Zeit:
Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. 205. Die Erkenntniß, daß die Hauptaufgabe
der Verwaltung in der Bildung eines Handelsrechts liege, ſchon von Lotz am
klarſten erkannt (Staatswirthſchaftslehre VI. 203 ff.). Die Geſchichte des Handels-
rechts in allen Commentaren der deutſchen Handelsgeſetzbücher. Die Geſchichte
der Handelsgerichte und ihres Rechts ſpeciell Craizenach, Weſen und Wirken
der Handelsgerichte 1861. Langer Kampf namentlich in Preußen über Stel-
lung und Errichtung derſelben auf Grundlage der Verſchiedenheit des deutſchen
und rheiniſch-franzöſiſchen Rechtsgebietes; Badener Handelsbl. Nr. 696. —
Oeſterreich: Handelsgerichtsbeiſitzer aus dem Handelsſtand (Erlaß vom 2. Dec.
1864). — Hannover: Errichtung von Handelsgerichten 1865 von Leonhardt.
Die Rechtslehre von den einzelnen Orten der Handelsunternehmungen in den
Lehrbüchern des Handelsrechts; vergeblicher Verſuch den Begriff des „Geſchäfts“
zu beſtimmen. Ueber die Geſellſchaften und Vereine Stein, Vereinsweſen
und Recht S. 63 ff.
[379]
Der beſondere Theil des Handelsrechts entſteht nun, indem einer-
ſeits innerhalb des Verkehrs der Unternehmungen einzelne Geſchäfts-
gebiete ſich ſelbſtändig ausbilden, andererſeits gewiſſe ſelbſtändig für
den Güterverkehr beſtimmte Anſtalten entſtehen, welche die Angelegen-
heiten des Verkehrs vertreten oder enthalten. Auch dieſe letztere ſchafft
ſich der Handel ſelbſt eben ſo gut wie die erſteren ſich von ſelbſt aus
ihm herausbilden. Allein auch hier iſt für beide eine feſte, durch die
Verwaltung beſtimmte rechtliche Ordnung derſelben nothwendig; und
die Geſammtheit der hierfür geltenden Rechtsſätze bilden den beſon-
deren Theil des Handelsrechts.
1) Die einzelnen Handelsgeſchäfte, um welche es ſich handelt, ent-
halten eine Theilung der Arbeit innerhalb des Handels. Sie ſind
einzelne Funktionen des Handelsverkehrs, welche zu ſelbſtändigen Unter-
nehmungen geworden ſind. Darauf beruht das Princip ihres Rechts.
Daſſelbe enthält diejenige Modifikation des bürgerlichen Rechts, welche
durch die Funktion entſteht, die durch jene Unternehmungen für den
Verkehr ſelbſtändig unternommen wird; die commerzielle Natur dieſer
Funktion iſt es, welche als das rechtbildende Element derſelben ange-
ſehen werden muß. Dieſe Arten der Handelsgeſchäfte ſind die Com-
miſſions-, das Speditions- und das Frachtgeſchäft. Die Ab-
hängigkeit der Güterbewegung von denſelben macht ihre rechtliche
Ordnung zu einer Bedingung der regelmäßigen Bewegung des Handels;
und in dieſem Sinne iſt das Recht derſelben ein wichtiger Theil der
Handelspflege, und bildet daher auch einen Theil des Handelsgeſetz-
buches.
Die Literatur über dieſelben gehört der Interpretation der Handelsgeſetz-
bücher; ſie iſt bisher eine weſentlich juriſtiſche geweſen. Der höhere Stand-
punkt iſt entſchieden der volkswirthſchaftliche. Bedeutſamer Kampf zwiſchen den
Beſtimmungen der Handelsgeſetzbücher und den Eiſenbahnen über die Lieferungen
und die Gefahr (Handelsgeſetzbuch IV. Buch- und Vereins-Reglement der Eiſen-
bahnen, vergl. oben die Literatur des Eiſenbahnrechts).
2) Die ſpeciellen Handelsanſtalten gehen nun ihrerſeits aus
dem Bedürfniß des Handels hervor; ſie erſcheinen als die Formen, in
denen ſich der Handel ſeinen Markt ſelbſt ordnet. Die Natur
des Verkehrs auf dieſen Märkten fordert nun ganz beſtimmte Ord-
nungen, die objektive Gültigkeit haben müſſen, um den Gang des
Handels nicht zu ſtören. Daraus nun entſtehen die Formen, deren
Werth, Ordnung und Einfluß wieder bedingt erſcheinen von dem Um-
fang des Handels und ſeiner Selbſtändigkeit.
[380]
a) Die Börſe bildet den Markt der Geſchäfte. Sie iſt zu-
nächſt nur der Geſchäftsmarkt. Allein der Natur des Handels ent-
ſprechend iſt nur ein Handelsunternehmen börſefähig. Das Börſen-
geſchäft unterſcheidet ſich an ſich nicht von jedem andern Geſchäft; allein
es iſt die Aufgabe der Börſe, zuerſt einen Marktpreis zu bilden,
der eventuell den individuellen Vertragspreis erſetzt, und zweitens
die Erfüllungspflicht zu normiren, wo keine ſolche vertragsmäßig
beſtimmt war. Die Wichtigkeit beider Punkte bei der Fluth der Ge-
ſchäfte iſt es, welche das Börſenrecht erzeugt hat. Nach demſelben wird
zu einem gegebenen Zeitpunkt der Marktpreis als „Cours“ oder „Preis“
erklärt und eine Lieferzeit geſetzlich für die abgeſchloſſenen Börſen-
geſchäfte beſtimmt. Die Vollziehung dieſer Ordnung unterliegt der
Börſenkammer, der ein Regierungscommiſſär beigegeben zu ſein
pflegt, und die auch in Streitigkeiten des Börſenrechts entſcheidet.
Dieſe Börſeordnung iſt Gegenſtand der Geſetzgebung, und zwar ohne
Unterſchied, ob es ſich um eine Geld- oder Waarenbörſe handelt,
obwohl die Verſchiedenheit des Objekts einige Modifikationen für jede
derſelben erzeugt, namentlich in Beziehung auf Zeit und Form der
Erfüllung des Börſengeſchäfts.
Das Börſenrecht gehört entſchieden dem Handelsrecht, obgleich es nicht
in demſelben behandelt und im deutſchen Handelsgeſetzbuch ſelbſt berührt wird.
(Art. 331.) Erſte Form bereits in Italien; dann in Flandern (Hüllmann,
Städteweſen I. 302). Weitere Entwicklung im 18. Jahrhundert; dann ſelb-
ſtändige Börſenordnungen im Anſchluß an das Handelsgeſetzbuch; vergl. die
Börſenordnung Preußens bei Rönne (Staatsrecht II. §. 436). — Oeſter-
reich: Geld-Börſenordnung vom 11. Juli 1854; Waaren-Börſenordnung vom
20. Febr. 1860). — Frankreich: örtliche Börſenordnung vor der Revolution;
allgemeine Börſenordnung (Geſetz vom 28. Vent. IX. nebſt ſpäteren Be-
ſtimmungen; Foubert bei Block; RauII. 283).
b) Die Makler ſind Handelsorgane, welche dazu beſtimmt ſind,
durch ihre Intervention den Abſchluß des Geſchäfts in Beziehung auf
Objekt, Preis und Lieferung ſicher zu ſtellen, und ſo durch die Beweis-
kraft ihrer Aufzeichnungen die Unſicherheit der Geſchäfte zu beſeitigen.
Das Bedürfniß nach einer ſolchen entſcheidenden Intervention liegt im
Weſen des Geſchäftsverkehrs; Grundſatz daher, daß ſie als ſolche durch
den Selbſtverwaltungskörper der Börſe, die Börſenkammer (oder Handels-
kammer) oft unter Zuziehung der Regierung ernannt, unter beſtimmte
geſetzliche Vorſchriften geſtellt und mit entſprechender Haftung belaſtet
werden. Daher bilden die Maklerordnungen meiſt einen Theil der
Börſeordnung, und ſollten ein Theil der Disciplin des Handelsrechts
bilden. Die Bedingungen ihrer Anſtellung, ihre Cautionen, ihre Buch-
[381] führung, die Beweiskraft derſelben ſind geſetzlich normirt, jedoch mit
Verſchiedenheiten je nach dem Gebiet der Geſchäfte, für welche ſie
die Vermittler machen (Geld-, Wechſel-, Waarenmakler ꝛc.); das freie
Weſen des Handels hat aber auch für ſie die Selbſtverwaltung in den
Maklergenoſſenſchaften erzeugt, deren Hauptaufgabe es iſt, die Ueber-
wachung über die Führung des Geſchäfts der Genoſſen auszuüben.
Große Verſchiedenheit in der Ausbildung des Rechts und der Ordnung
des Maklerweſens in Frankreich mit ſtrenger Organiſation und großer
Haftung (Agents de change); bereits ſeit dem 16. Jahrhundert organiſirt als
offices; Aufhebung derſelben 1791; neue Ordnung in Verbindung mit der
Börſenordnung vom 28. Vent. IX.; Aufnahme in den Code de Comm. I. 5;
ſtrenge und ſyſtematiſche Cautionsgeſetzgebung, durch eine Reihe von geſetzlichen
Beſtimmungen geordnet, Ernennung durch den Kaiſer; Eid derſelben; chambre
syndicale (vergl. Lefort bei Block mit Literatur). Die Waarenmakler (Courtiers)
ſtehen im Weſentlichen unter denſelben Principien, jedoch mit weniger Strenge;
Geſetz über die Maklerordnung vom 28. Juni 1866. — In Deutſchland
war das Maklerrecht ein lokal entwickeltes bis zum Handelsgeſetzbuch; aber
auch ſchon damals faſt immer mit den Börſenordnungen verbunden (RauII.
§. 282); namentlich die hiſtoriſchen Daten bei Mittermaier, deutſches Privat-
recht II. §. 539. Dann Princip des Handelsgeſetzbuches: die Makler bedürfen
ſtets der Anſtellung. Preußen: Anſtellung mit Beeidigung vor den Handels-
gerichten, auf Antrag der Handelskammer und unter Beſtätigung der Regie-
rung (RönneII. §. 402 und 435). — Oeſterreich: Prüfung und Anſtellung
durch den Finanzminiſter auf Vorſchlag der Handelskammern, mit Beeidigung
(Wiener Geld-Börſenordnung §. 17 ff.), bei den Waarenmaklern nur Beſtätigung
durch die Behörde (Waaren-Börſenordnung §. 18); dagegen keine Pflicht ſich
derſelben zu bedienen; nur das Recht der Beweiskraft ihrer genau vor-
gezeichneten Aufzeichnungen ausgeſprochen (ebend. §. 11); ſtrenge Disciplin auch
hier (§. 54 ff.) und Strafe gegen Winkelmakler §. 63; vergl. auch Rau, Volks-
wirthſchaftspflege II. 282).
c) Meſſen und Märkte (Jahr- und Wochenmärkte) haben mit
der höheren und allgemeineren Organiſirung des Handelsweſens ihre
allgemeine Bedeutung mit wenigen Ausnahmen faſt ganz verloren.
Sie ſind wie die Buchhändlermeſſe, entweder nur für ganz einzelne
Zweige von Bedeutung oder wie die gewöhnlichen Wochenmärkte nur
noch der Ortspolizei untergeordnet. Die Aufgabe der Regierung be-
ſteht hier nur noch darin, die Zeit und Dauer derſelben zu ordnen;
die Gemeinden haben die Ordnung und Polizei derſelben zu handhaben.
Eine beſondere Fürſorge bedürfen ſie nicht.
Hiſtoriſche Elemente der Meſſen: Mittermaier, deutſches Privatrecht II.
§. 570; alte Meßgerichte: Craizenach a. a. O. S. 13. Gegenwärtiges
Princip: Genehmigung der Abhaltung durch die Regierung und Oberauf-
[382] ſicht durch die Gemeinde. — Frankreich: Beibehaltung der alten Markttage
nach dem Decret vom 7. Therm. VIII.; das Geſetz vom 10. Mai 1838 gab
den Conseils généraux das Recht, auf Ordnung derſelben anzutragen; der
Maire iſt die leitende Behörde. — Preußens Grundſatz ſchon im Allgem.
Landrecht II. 8. 103 ff. mit näheren Beſtimmungen in der Gewerbeordnung
von 1845; RönneII. §. 433. — Oeſterreich: Princip der Conceſſion nach
Erlaß vom 4. Mai 1849 (Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde §. 522).
d) Markthallen, für den örtlichen Verkehr, Städte für Nah-
rungsmittel ſind in dem Grade wichtiger, je größer die Städte. Sie
ſind aber durchaus Gegenſtand der Selbſtverwaltung und auch als
ſolche in beſtändiger ſeltſamer Entwicklung begriffen.
Alles was darüber geſagt werden kann, mit voller Kenntniß der Sache
und der beſtehenden Ordnungen im Bericht über die Markthallen in
Deutſchland, England, Frankreich, Belgien und Italien von Theodor Rieſen,
Berlin 1867.
e) Der Hauſirhandel, im vorigen Jahrhundert noch mit vielem
Bedenken angeſehen, und zum Theil mit Recht, iſt jetzt ein einfaches
conceſſionirtes Gewerbe, das jedoch mit beſonderen polizeilichen Maß-
regeln zum Schutze des Publikums umgeben iſt. Das Hauptorgan für
die Bewachung ſollten die Gemeinden ſein.
Vergl. das Recht der früheren Zeit: Berg, Privatrecht I. 351; RauII.
§. 290 ff. — England: Mac Culloch, Dict. I. 871; Licenzſyſtem 50.
Georg. III. 41; Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. 322. — Preußen: pol.
Controle-Regul. vom 4. Dec. 1836; RönneII. §. 336 und 359. — Oeſter-
reich: Regelung durch Erlaß vom 4. Sept. 1852; Hauſirpäſſe: Stubenrauch,
Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 511.
VII. Der geiſtige Erwerb.
Begriff und Princip. Das Werthrecht der geiſtigen Produkte.
Das geiſtige Leben erſcheint allerdings zunächſt als eine Welt für
ſich, nach eigenen Geſetzen, nach eigenen Zielen ſtrebend, geſchieden
von der wirklichen Welt, und ohne Zuſammenhang mit dem, was ſie
fordert und leiſtet. Allein dieſe Scheidung iſt nur eine formale. Alles,
und vor allem das wirthſchaftliche Leben iſt vom Geiſte und ſeiner
Arbeit durchdrungen und beſeelt. Je höher die Geſittung ſteigt, je
mehr erkennt man, daß die letztere geradezu der wichtigſte Faktor für
die fortſchreitende Entwicklung der erſteren iſt. An dieſe Erkenntniß
ſchließt ſich die zweite, daß die Förderung des geiſtigen Lebens mithin
auch zu der Aufgabe der Volkswirthſchaftspflege gehöre. Und
damit tritt die Frage auf, was dieſe Verwaltung der Volkswirthſchaft
[383] ihrerſeits nicht etwa für die geiſtige Entwicklung überhaupt, die dem
Bildungsweſen angehört, ſondern dafür thun könne, daß dieſelbe zu-
gleich ſich der wirthſchaftlichen Produktion zuwende und ſie bilde.
Um dieſe Frage beantworten zu können, muß man wieder zwiſchen
dem allgemeinen und dem beſonderen Theile unterſcheiden.
Die Geſammtheit von Thätigkeiten, welche die Verwaltung für
den geiſtigen Erwerb im Allgemeinen leiſtet, bezeichnen wir als die
wirthſchaftliche Berufsbildung. Sie gehört zwar mit ihrem
Zwecke der Volkswirthſchaft, mit ihrem Inhalt und ihren Mitteln aber
dem Bildungsweſen an, und hat daher auch dort ihre Darſtellung ge-
funden.
Der beſondere Theil dagegen umfaßt diejenigen Arten des geiſtigen
Erwerbes, in denen eine beſtimmte und begränzte geiſtige Arbeit einen
beſtimmten und begränzten wirthſchaftlichen Erwerb durch ihre Produk-
tion erzielt. Die beiden Arten, um welche es ſich hier handelt, ſind
die wiſſenſchaftlichen und künſtleriſchen Werke, und die techniſchen Er-
findungen. Ueber ihren hohen Werth für die Geſammtentwicklung
kann kein Zweifel ſein; allein beide ſind freie Thaten des Geiſtes, und
die Verwaltung kann ſie vor allem nie direkt, ſondern nur dadurch
fördern, daß ſie ihnen diejenigen Bedingungen gibt, ohne welche ſie
nicht fortſchreiten können. Dieſe Bedingungen nun ſind aber doppelter
Natur. Zuerſt ſind ſie geiſtig; es iſt die ſchaffende Kraft des indivi-
duellen Geiſtes, der was er leiſtet, in ſich ſelbſt finden muß. Hier
kann keine Verwaltung helfend eingreifen. Allein ihre zweite Bedin-
gung iſt wirthſchaftlicher Natur. Jene Arbeiten enthalten neben
ihrem geiſtigen auch einen wirthſchaftlichen Werth, um deſſent-
willen ſie ſtets wenigſtens zum Theil entſtehen. Ob dieſer Werth vor-
handen und wie groß er iſt, iſt nicht Sache der Verwaltung. Allein
ſo weit er da iſt, erſcheint die Sicherung des Rechts auf demſelben
allerdings als eine weſentliche Bedingung dafür, daß ſich der tüchtige
Einzelne dieſer Art der Arbeit überhaupt zuwende. Unzweifelhaft liegt
nun dieſe Sicherung wie die eines jeden andern Rechts zunächſt in der
allgemeinen bürgerlichen Rechtspflege. Allein das bürgerliche Recht hat
bis jetzt den Werth überhaupt noch nicht als ſelbſtändigen Gegenſtand
des Eigenthumsrechts erkannt; und ſelbſt wenn es das hätte, würde
der Beweis in vielen Fällen ſo ſchwierig und koſtbar werden, daß das
Recht auf den (wirthſchaftlichen) Werth ſelbſt werthlos werden würde.
Hier tritt daher die Verwaltung im Namen des allgemeinen Intereſſes
ein, und ſind die Principien derſelben wohl klar. Ihre erſte Aufgabe
iſt es, den ſelbſtändigen wirthſchaftlichen Werth überhaupt in dieſen
geiſtigen Arbeiten zur Anerkennung zu bringen; ihre zweite, ihn
[384] durch ihre Maßregeln zu einer beſtimmten und nachweisbaren Sache
und dadurch ihn vor Gericht verfolgbar zu machen. Das Verwaltungs-
recht des geiſtigen Erwerbes iſt daher gar nichts anderes, als die Auf-
ſtellung und Organiſirung des Eigenthumsrechts am wirth-
ſchaftlichen Werthe einer geiſtigen Produktion, wie das
Pfandrecht das Eigenthumsrecht an dem Werthe eines wirthſchaftlichen
Gutes enthält, oder die durch Verwaltungsmaßregeln geſicherte Aus-
dehnung des Werthrechts oder die Gebiete des geiſtigen Lebens. Und
dieſe Aufgabe hat nun eine doppelte Geſtalt: für die geiſtigen Werke,
oder das ſogenannte literariſche Eigenthum, und für die Erfin-
dungen mit dem Patentrecht, dem Muſterſchutz und dem Markenrecht.
Es iſt wohl ſehr ſchwierig, das Gebiet in überzeugender Weiſe zu behan-
deln, ſo lange man in der Rechtswiſſenſchaft nicht als Grundlage das Eigen-
thumsrecht beſitzt, Gebrauch und Werth als ſelbſtändige Momente des Eigen-
thums anerkennt, die ihrerſeits wieder fähig ſind, ſelbſtändige Gegenſtände des
Eigenthums werden zu können. Allein es gibt keinen andern Weg zu einem
definitiven und klaren Reſultate zu gelangen. Die bisherige Literatur hat ſich
dabei ſtets auf dem Standpunkt gehalten, jene Gebiete des literariſchen Eigen-
thums und der Erfindungen getrennt, ohne Bewußtſein ihres Zuſammen-
gehörens, zu bearbeiten. Es fehlt daher ſchon der allein richtige Ausgangs-
punkt, eben ſo ſehr, wie die Stellung der ganzen Lehre im Syſtem der Staats-
wiſſenſchaft. Das Folgende muß ſich daher auf die einfachſten Grundlagen
beſchränken.
Es iſt wohl durchaus unmöglich, zum Begriff und Weſen des lite-
rariſchen Rechts zu gelangen, wenn man nicht die des Sachenrechts
zum Grunde legt.
Es iſt ganz richtig, daß die geiſtige Schöpfung an ſich kein Eigen-
thum ſein kann, da ſie keine Sache iſt. Allein in ihrer Erſcheinung
wird ſie Sache. Als ſolche iſt ſie das Manuſcript, die Zeichnung ꝛc.
So wie ſie das iſt, empfängt ſie die Momente derſelben; ſie läßt einen
Beſitz (das Manuſcript), ſie läßt einen Gebrauch (zum Setzen, Drucken,
Leſen ꝛc.), ſie läßt einen Werth (im Honorar), ſie läßt ein Erbrecht
und eine Verjährung (ſchriftſtelleriſches Erbrecht), ja ſie läßt den Ver-
kehr (im Verlagsvertrage) zu. So wird die geiſtige Produktion ein
ſachliches Eigenthum.
Allein ſie iſt zugleich ein Gut. Sie wird nicht bloß erzeugt durch
die Arbeit des Geiſtes aus geiſtigem Stoff und conſumirt, ſondern ſie
hat auch einen wirthſchaftlichen Werth, und wird dadurch die
Grundlage des wirthſchaftlichen Einkommens, da das Honorar als
[385] Preis für das Produkt den Produkten die Mittel zur Weiterarbeit gibt.
Es läßt ſich das eben ſo wenig beſtreiten, als es ſich leicht weiter
führen laßt.
Iſt dem nun aber ſo, ſo folgt, daß das Vorhandenſein jenes
wirthſchaftlichen Werthes für die geiſtige Produktion eine eben ſo abſo-
lute Bedingung ihres Entſtehens iſt, wie für jedes andere wirthſchaft-
liche Gut. Es iſt ein eben ſo abſoluter Widerſpruch, das ganz Werth-
loſe für Andere zu erzeugen, als es unmöglich iſt, das für alle Werth-
volle zu erzeugen, ohne den Werth deſſelben ſelbſt zu erwerben. So
wie aber die mechaniſche Vervielfältigung durch den Druck möglich wird,
tritt ein anderes Verhältniß ein. Dieſe Vervielfältigung iſt nach dem
Geſetze des Werthes fähig, den Werth des Produktes zu vernichten,
indem ſie die Maſſe des Produkts um ſo viel vermehrt, daß der
Werth bis auf den der mechaniſchen Herſtellungskoſten verſchwindet.
Das unbeſchränkte Recht auf die mechaniſche Vervielfältigung eines ge-
kauften geiſtigen Produkts iſt daher ein unlösbarer Widerſpruch mit
dem Weſen der Güter, da es das geiſtig werthvolle Produkt zu einem
wirthſchaftlich werthloſen machen, und ihm dadurch das Weſen des
Gutes nehmen würde. Es iſt klar, daß damit die Produktion ſolcher
Güter gleichfalls zu Ende wäre. Iſt daher die geiſtige Produktion
ein nothwendiges Element des geſammten und ſpeciell des wirthſchaft-
lichen Lebens, ſo iſt es die Aufgabe der Verwaltung, dieſen wirth-
ſchaftlichen Werth des geiſtigen Produkts, und in ihm die materielle
aber unerläßliche Bedingung der geiſtigen Produktion überhaupt zu
ſchützen.
Dieſes nun iſt wiederum nur dadurch möglich, daß das rechtliche
Verhältniß des Gebrauches zum Werthe objektiv feſtgeſtellt, das
iſt, daß die Frage geſetzlich unzweifelhaft entſchieden werde, ob der
Erwerb der Sache das unbeſchränkte Recht des Gebrauches der-
ſelben, alſo namentlich auch des Gebrauches zur mechaniſchen Verviel-
fältigung geben könne. Es iſt klar, daß dieß nach dem Obigen an
ſich unmöglich iſt, ohne dem geiſtigen Gut das Weſen des wirthſchaft-
lichen Gutes zu nehmen. Das Recht des Eigenthums des geiſtigen
Produkts auf die Beſchränkung des Gebrauchsrechts derſelben wird
daher zur nothwendigen Conſequenz des wirthſchaftlichen Weſens
der geiſtigen Güter. Den juriſtiſchen Ausdruck dieſer Conſequenz bildet
der Rechtsgrundſatz: das Recht auf die mechaniſche Vervielfältigung
eines geiſtigen Produkts iſt ein ſelbſtändiges Recht, das mit dem Er-
werb des letzteren nicht auf den Erwerber übergeht, ſondern als
ein ſelbſtändiger Gegenſtand des Verkehrs und Vertrages anerkannt
werden muß. Und dieſes ſelbſtändige Recht auf die mechaniſche Ver-
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 25
[386] vielfältigung ſolcher geiſtigen Produkte nennen wir das literariſche
Eigenthum.
Dieſes literariſche Eigenthum hat daher einen dreifachen Inhalt.
Es beſteht zuerſt in der Anwendung des Erbrechts auf die Be-
rechtigung zur mechaniſchen Vervielfältigung. Der Grundſatz derſelben
iſt, daß der Tod des Verfaſſers die Möglichkeit einer Weiterbildung
dieſes Produkts aufhebt, und damit das wirthſchaftliche Weſen des
Werthes verſchwindet, ſo daß mit dem Werthe auch das Recht auf
denſelben aufhört; daher Freiheit der mechaniſchen Produktion in einer
gegebenen Zeit nach dem Tode des Verfaſſers. Zweitens erſcheint
jenes Recht in dem Verlagsvertrage, bei welchem die Zahl der mecha-
niſch producirten Exemplare oder Abzüge feſtgeſtellt werden kann; aus
der Natur der Druckerei folgt der Satz, daß wenn dieſe Zahl nicht
beſtimmt iſt, ſie auf die der erſten Auflage beſchränkt erſcheint. Die
dritte Anwendung des literariſchen Eigenthums endlich iſt der jetzt
an ſich einfache Rechtsſatz, daß der Nachdruck, als widerrechtliche Be-
nützung des Eigenthums Dritter (des Verfaſſers oder Verlegers) nicht
bloß unrechtmäßig, ſondern auch ſtrafbar iſt.
Das iſt das literariſche Eigenthum, das an ſich ſehr einfach iſt;
freilich unter der Bedingung, daß man auch hier den Werth als ein
ſelbſtändig im Verkehr begriffenes Gut anerkenne. So wie man das
thut, erſcheint auch die Stellung der Lehre in ihrem einzig wahren
Licht. Das literariſche Eigenthum iſt ein Theil des bürgerlichen
Rechts und zwar im Erbrecht, im Eigenthumsrecht und im Verkehrs-
recht; die Beſtrafung des Nachdrucks iſt ein Theil des Strafrechts;
die Herſtellung von Maßregeln und Anſtalten zur leichteren Nach-
weiſung des literariſchen Eigenthums dagegen, ſo wie die Verträge
zur Gültigmachung deſſelben im internationalen Verkehr gehören
dem Verwaltungsrechte, als Theil der Verwaltung des geiſtigen Er-
werbes.
Anſtatt einer Kritik der höchſt reichen und zum Theil ſehr gründlichen
Literatur über das literariſche Eigenthum, iſt es vor allem wichtig, die hiſto-
riſche Entwicklung ſeines Begriffes zum Grunde zu legen. Daſſelbe liegt ſo
tief im Weſen der Sache, daß keine Zeit es ganz überſehen hat; andererſeits
erſcheint es dem gewöhnlichen Rechte ſo fremd mit ſeiner Anwendung des
Eigenthumsbegriffes und -Rechts auf die Abſtraktion des Werthes, daß es erſt
im Laufe der Jahrhunderte klar geworden iſt. Wir unterſcheiden drei Epochen
ſeiner Entwicklung. Die erſte iſt die der Privilegien gegen den Nachdruck,
in der noch das Erbrecht und Verkehrsrecht nicht zur ſelbſtändigen Erſcheinung
gelangen. Aelteſtes Buchdruckerprivilegium vom 3. Juni 1491 (Venedig); 1495
Sforza in Mailand; 1501 Reichstag zu Nürnberg (Pütter, Beiträge I. 241;
G. D. Hoffmann, von den älteſten Bücherprivilegien 1777). — In Frank-
[387] reich erſtes Privilegium 1507; England 1518 Hofbuchdruckerei. Die zweite
iſt die der Frage nach dem Nachdruck und ſeinem Recht. Von ihm aus be-
ginnt das Verſtändniß des Weſens des literariſchen Eigenthums; ſchon
Thurneiſen 1738 erklärt den Nachdruck für ein furtum usus; andere auch
damals gegen den Eigenthumsbegriff, wie Reimarus und Hopfer; Aus-
bildung der eigenen Literatur, und zwar einerſeits als juriſtiſche Deduktion,
theils in eigenen Schriften (zuerſt Pütter, Abhandlungen vom Büchernach-
druck 1774; Becker, Eigenthumsrecht an Geiſteswerken 1789; vergl. weitere
Literatur: Pütter, Literatur III. 595; Klüber, Literatur §. 1358); theils
als Gegenſtand des deutſchen Privatrechts: Runde §. 197; namentlich mit
reicher Literatur: Mittermaier §. 296; andererſeits die rechtsphiloſophiſche
Unterſuchung: zuerſt Fichte, Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks (1793)
und Kant, Rechtsphiloſophie 1797 S. 127; Thurneiſen „ein Verbrechen
der Entwendung des Vortheils, den der Verleger (Verfaſſer) aus dem Ge-
brauch ſeines Rechts ziehen konnte und wollte, furtum usus;“ (Schmid,
über den Büchernachdruck 1823). Daraus entwickelt ſich dann die erſte Geſetz-
gebung über das literariſche Eigenthum als Verbot des Nachdrucks, die in
Deutſchland naturgemäß zuerſt als Verträge unter den Staaten (von Preußen
ausgehend ſeit 1827, Rönne, Staatsrecht II. §. 532, auf Grundlage der Zu-
ſage der Bundesakte Art. 18) und einer Petition von zweiundachtzig Buchhänd-
lern auftreten, dann zu ſelbſtändigen Bundesbeſchlüſſen (Bundesbeſchluß vom
6. Dec. 1832), daß jeder Autor ſich des Rechts der andern Bundesſtaaten be-
dienen kann (Bundesbeſchluß vom 2. April 1835); daß der Nachdruck nach
gleichen Grundſätzen von allen Staaten zu verbieten ſei (Bundesbeſchluß
vom 4. Nov. 1837); Erblichkeit des Autorrechts (Bundesbeſchluß vom 22. April
1841); Ausdehnung auf dramatiſche Aufführung 1842 und 1843); Dauer des
Rechts. Dadurch ging das Nachdrucksrecht zugleich in die Staatsrechtslehre
über (Klüber, öffentliches Recht), namentlich §. 505; reiche Literatur: Mauren-
brecherII. 557; ZöpflII. 474; Zachariä, deutſches Staats- und Bundes-
recht II. §. 165. Aus dieſer Behandlung entwickelt ſich die Frage nach dem
Verlagsvertrage und ſeinem rechtlichen Inhalt, ſo wie die der Dauer
deſſelben. Zuerſt preuß. Allgem. Landrecht (1794) I. II. 996 ff.; Verlagsver-
trag II. 20. 1294, Nachdruck. Literatur: Mittermaier, deutſches Privat-
recht §. 296. Daran ſchloß ſich die Aufnahme des Verlagsvertrages auch in
das Handelsrecht (Pöhls, Handelsrecht I. 242). Damit waren die Elemente
der dritten Epoche gegeben, welche nun den Begriff und das Princip des
literariſchen Eigenthums an die Spitze ſtellt und ausbildet, ohne ſich
jedoch über Stellung und Inhalt einig zu werden. (Der Ausdruck propriété
des auteurszuerſt im Geſetz vom 7. Jan. 1791.) — Daneben deutſche Ge-
ſetze: Oeſterreich (Geſetz vom 19. Okt. 1846 zum Schutze literariſchen und
artiſtiſchen Eigenthums). — Bayeriſches Nachdrucksgeſetz vom 28. Juni 1865
(ſ. vollſtändige Angabe in Kloſtermann, das geiſtige Eigenthum an Schriften,
Kunſtwerken und Erfindungen nach preuß. und internationalem Recht I. Bd.
1867); Dogmengeſchichte S. 119 ff. — Geſetze (S. 86 ff.): Ruſſiſches vom
20. Jan. 1830. — Nordamerikaniſches vom 3. Febr. 1833. — Holland:
[388] Geſetz vom 25. Jan. 1837; während für Deutſchland die Bundesbeſchlüſſe das
örtliche Recht vertreten. — Frankreich: Geſchichte des literariſchen Eigenthums
mit Quellen, ſeit dem Regl. sur la Librairie et Imprimerie 1723; Laboulaye
und Guiffrey, la propriété littéraire au XVIII. siècle 1859. Locré, legislat.
civile IX. 1—27; Renouard, traité des droits d’auteur. Neue Geſetzgebung
ſeit 1791; Grundlage für die Scheidung des Verlagsrechts vom Darſtellungs-
recht, die in der deutſchen Geſetzgebung erſt ſpät erſcheint; Kampf über die
Neugeſtaltung der Geſetzgebung ſeit 1835; Literatur bei Mittermaier §. 296
und Block, Dict. v. Propriété littéraire nebſt den Geſetzen bis 1854; dazu
das ſardiniſche Geſetz vom 25. Juni 1865 nach franzöſiſchem Vorbild. —
England: „Copyright“ Hauptgeſetz 5. 6. Vict. 45 (Erwerbung durch Ein-
tragung); Dauer: ſieben Jahre nach dem Tode (25. 26. Vict. 68). Geſchichte:
Maugham, Treatise on the law of literary propriety 1828; die Bill von
1837: Mittermaier §. 296. Gegenwärtiges Recht: 5. 6. Vict. c. 45. und
Erlaß von Verordnungen in Angelegenheiten des internationalen Verlagsrechts
(7. 8. Vict. 12. Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 55).
Stehen nun auf dieſe Weiſe Weſen und Recht des literariſchen
Eigenthums feſt, ſo iſt auch das Recht der Erfindungen in allen ſeinen
Formen ſehr einfach.
Eine Erfindung iſt eben nichts anderes, als ein ſelbſtändig neu
erzeugter und ſelbſtändig gedachter wirthſchaftlicher Ge-
brauchswerth. Auch die Erfindung erſcheint als Sache erſt in dem
Muſterſtück. Auch dieſes wird Gegenſtand des Verkehrs. Auch hier
iſt die unabweisbere Bedingung für die Gutseigenſchaft der Erfindung,
daß das Recht auf Vervielfältigung, das iſt auf unbeſchränkten Ge-
brauch des erworbenen Muſterſtückes mit demſelben nicht erworben
wird, ſondern ſtets Gegenſtand eines ſelbſtändigen Verkehrsaktes bleibt.
Auch hier erſcheint dieſer Rechtsſatz, der der Erfindung allein ihren
wirthſchaftlichen Werth gibt, als eine Bedingung der Arbeit in den
Verwendungen auf das Erfinden. Und auch hier wird es daher Auf-
gabe der Verwaltung, das mangelnde bürgerliche Eigenthumsrecht durch
beſondere Vorſchriften und Maßregeln theils geradezu zu erſetzen, theils
leicht durchführbar zu machen. Die darauf bezüglichen Grundſätze bilden
das Recht der Erfindungen.
Hält man dieſen Standpunkt feſt, ſo iſt die Frage, ob ein ſolches
Recht auch wirklich durch den Nutzen den es bringt, motivirt ſei,
an ſich falſch, denn es iſt eben keine Maßregel der Zweckmäßigkeit,
ſondern einfach eine beſtimmte Art des Eigenthumsrechts, und die
Maßregeln der Verwaltung, ob ſie nun Monopol, Patent oder wie
immer heißen, ſollen es nicht ſchaffen, ſondern nur ſo zweckmäßig
[389] ordnen, daß dieſe Ordnung der Verwaltung zur Bedingung
für die auf Erfindungen gerichtete Thätigkeit werde. Nur in dieſem
Sinne iſt das Erfindungsrecht eine Frage der Zweckmäßigkeit, und nur
dieſer Theil gehört eigentlich der Verwaltungslehre an.
Steht nun dieſer Standpunkt feſt, ſo iſt die Aufgabe der Verwal-
tung in Beziehung auf das Erfindungsrecht eine einfache. Sie ſoll
nur den Beweis des Rechts auf die Erfindungen möglich machen,
nicht dieß Recht ſelbſt erſt erzeugen. Zu dem Ende hat ſie drei Mittel:
zuerſt muß ſie das Daſein der Erfindung conſtatiren; dann muß ſie
die Beweismittel darbieten; und endlich muß ſie die Verfolgung
des durch die Erfindung erzeugten Rechts erleichtern. Aus der Anwen-
dung dieſer Grundſätze auf die drei Arten der Erfindung entſteht das
Syſtem des Erfindungsrechts, das im Patent-, Muſter- und Marken-
recht erſcheint, welches wieder in den Schutzverträgen für die Er-
findungen ſeinen internationalen Ausdruck empfängt.
Das Verhältniß dieſer drei Arten des Erfindungsrechts iſt nun
zugleich die Grundlage ſeiner hiſtoriſchen Entwicklung im Ganzen. An
dem Patentrecht iſt nämlich überhaupt erſt die ganze Frage entſtanden,
und durch das Weſen des Patents hat das Erfindungsrecht zugleich
den Charakter einer beſonderen Begünſtigung von Seiten des Staats
im Intereſſe der geſammten Volkswirthſchaft empfangen, während
am Muſter- und Markenrecht der einfache Grundſatz eines unbeſtreit-
baren Privatrechts gleich anfangs in den Vordergrund getreten iſt.
Das, und der Mangel eines klaren Begriffes vom Verwaltungsrecht
hat dann die Auffaſſung zu keinem rechten gemeinſamen Reſultate ge-
langen laſſen. Es iſt kein Zweifel, daß das ganze Gebiet erſt dann
ſeine definitive Geſtaltung finden wird, wenn das Privatrecht ſich auch
hier grundſätzlich vom Verwaltungsrecht ſcheidet.
Das Patentrecht iſt ſeinem Begriffe nach die Geſammtheit von
Rechtsgrundſätzen und Maßregeln, durch welche das Recht auf eine
Erfindung feſtgeſtellt und verwirklicht wird.
Die erſte Bedingung für den Werth einer Erfindung iſt dabei
offenbar die Feſtſtellung der Thatſache, daß dieſelbe wirklich einen
neuerzeugten Gebrauchswerth enthalte. Es iſt unzweifelhaft zweck-
mäßig, dieſe Feſtſtellung anſtatt durch einen regelmäßigen Beweis
vor Gericht, vielmehr durch eine öffentliche Anſtalt vollziehen zu laſſen.
Das geſchieht durch die Aufſtellung einer Patentcommiſſion mit eige-
nem Verfahren. Es folgt, daß in dieſem Verfahren der erſte öffent-
liche Schritt zugleich den Erwerb des Nechts auf die Erfindung enthalte.
[390] Es folgt, daß der Erfinder das Recht auf Geheimhaltung ſeiner Er-
findung habe. Es folgt, daß die Commiſſion berechtigt ſein muß, zu
erklären, daß die Erfindung nichts Neues enthalte. Es folgt aber
nicht, daß das Recht auf eine Erfindung nur dann beſtehe, wenn die
Commiſſion ſich darüber ausgeſprochen hat, ſondern conſequent muß es
jedem freiſtehen, vor jedem Gericht den Beweis zu führen, daß er
zuerſt die Erfindung gemacht, daß ſie etwas Neues enthalte, und
daß derjenige, der ſie benützt, nach allgemeinen Rechtsgrundſätzen zur
Hinausgabe des Vortheils verbunden ſei, den er durch die Erfindung
gewonnen. Allerdings aber kann die Geſetzgebung aus naheliegenden
Gründen der Zweckmäßigkeit beſtimmen, daß wegen des öffentlichen
Nutzens die Nachahmung einer ſolchen Erfindung, ſogar bei Strafe,
verboten ſein ſoll. Nur wo das der Fall iſt, hat die Geſetzgebung
aus denſelben Gründen der Zweckmäßigkeit das Recht, dieſem Verbote
auch eine beſtimmte Zeitdauer vorzuſchreiben; das Recht auf die Er-
findung an ſich iſt allerdings wie das des Eigenthums ein ewiges.
Natürlich muß die Commiſſion ein Prüfungsrecht haben, und zweck-
mäßig iſt entſchieden die Veröffentlichung. Allein es ſcheint kein Zweifel,
daß das Patentrecht und Verfahren gegenüber dem reinen Erfindungs-
recht nur einen ſubſidiären Charakter hat. Die wahre Schwierigkeit der
Sache beſteht eigentlich darin, das Privatrecht von dem öffentlichen
Recht zu ſcheiden, und dazu hat die franzöſiſche Auffaſſung, daß das
Patent ſtets als „cause d’utilité publique“ gegeben wird, das meiſte
beigetragen. Die Geſetzgebungen der verſchiedenen Staaten ſind übri-
gens im Weſentlichen übereinſtimmend, da es ſich hier eben um Maß-
regeln der Zweckmäßigkeit und nicht des Rechts handelt.
Beginn des Patentrechts ſchon im 17. Jahrhundert, in England 1623.
In Nordamerika: der Auftrag an den Congreß ein Geſetz zum Schutze der
Erfindungen zu erlaſſen 1787; Erlaß des Geſetzes ſelbſt 1793. — Frankreich:
Anregung ſchon 1787; dann das erſte Hauptgeſetz vom 7. Jan. 1791. Bei
dieſem Geſetz erſcheint zuerſt die Frage nach dem Eigenthum: Rap. von
Boufflers: der Erfinder ſei Eigenthümer der Erfindung, und habe das Recht
des propriété; dagegen heftige Oppoſition; gegenwärtiges Recht (Geſetz vom
3. Juli 1844) mit ſehr genauen und für den Erfinder ſehr günſtigen Beſtim-
mungen (ſ. Kleinſchrod, internationale Patentgeſetzgebung 1855, S. 105 ff.).
An dieſes Geſetz ſchloß ſich aufs neue der Streit über das Eigenthumsrecht,
das zuerſt von Jobard in ſeinem Monautopol industriel, artistique, com-
mercial et industriel 1844 im vollen Umfange vertreten wurde; vergl. auch
Kleinſchrod S. 6; modificirt in Tillière, Traité théorique et pratique des
brevêts d’invention 1854 (Commiſſion zum belgiſchen Patentgeſetz). Dagegen
erhoben ſich andere, welche die völlige Freiheit der Nachahmung theils aus
der praktiſchen Unmöglichkeit, die Erfindungen zu unterſcheiden, theils vermöge
[391] der Entwicklung neuer Erfindungen aus den früheren, theils um des allge-
meinen Nutzens willen, theils auch wegen der angeblichen Werthloſigkeit der
Patente forderten; vergl. Literatur bei Block, Brevêts d’invention;Lotz,
Staatswirthſchaftslehre II. §. 96; RauII. §. 203; während die Geſetzgebung
nicht bloß davon nicht berührt wurde, ſondern ſogar das Princip auch auf
Muſter- und Markenſchutz ausdehnte. — In England: Grundgeſetz 2. Jacob I.
3. (1623); viel zu ſtrenge für die Entwicklung der Induſtrie; das neue
Geſetz 15. 16. Vict. 83 (1852), das die Jury als entſcheidendes Organ auf-
ſtellt, und dem Erfinder ſelbſt die Möglichkeit der Verbeſſerung ohne Verluſt
des Patents gibt (vergl. Kleinſchrod S. 79 ff.). Engl. Literatur vor 1852
bei Lotz, Staatswirthſchaftslehre II. §. 96. — In Deutſchland fehlt durch-
aus Einheit und Gleichartigkeit, ſo nothwendig und wichtig ſie auch wäre
(ſ. Friedr. Bitzer, Vorſchläge für ein deutſches Patentgeſetz, beantragt durch
die von der deutſchen Bundesverſammlung 1862 berufene Commiſſion von Fach-
männern, 1866). — In Oeſterreich früheres Recht: Geſetz von 1821; Re-
viſion durch Geſetz vom 31. März 1832; Kraus, Geiſt der öſterreich. Geſetz-
gebung zur Aufmunterung von Erfindungen 1838; vergl. Stubenrauch,
Verwaltungsgeſetzkunde II. §. 512. An die Stelle der früheren Privilegiengeſetze
tritt das neueſte Geſetz vom 13. Aug. 1852, anerkannt vortrefflich; ſ. Klein-
ſchrod S. 131 ff.; Stubenrauch a. a. O. — In Preußen das Recht der
Privilegienertheilung als Regal anerkannt (preuß. Allgem. Landrecht II. 13. 7);
das blieb der Standpunkt der deutſchen Theorie, welche auf Grundlage des
Röm. Rechts Begriffe des Eigenthumsrechts definitiv läugnete, und das Patent-
recht nur als Sache der Zweckmäßigkeit auffaßte (vergl. Mittermaier, deutſches
Privatrecht a. a. O.; Rönne, Staatsrecht I. §. 50; Lotz a. a. O.; ebenſo
RauII. §. 203); preuß. Patentgeſetzgebung: Grundlage: Patent vom 14. Okt.
1815 nebſt Erläuterungen (Juli 1853) bei Kleinſchrod S. 162 — 172. —
Bayern: Gewerbegeſetz vom 11. Sept. 1823. Art. 9; Inſtruktion vom 21. April
1862; Pözl, Verwaltungsrecht §. 161. — Württemberg: revidirte Gewerbe-
ordnung von 1836 §. 141 ff.; Mohl, Verwaltungsrecht II. §. 242. — Baden:
Dietz, die badiſchen Gewerbe S. 351. Verſuche zu einer gemeinſamen
Patentgeſetzgebung der Zollvereinsſtaaten: Protokoll vom 21. Sept. 1841; Ueber-
einkunft vom 21. Sept. 1842; Dietz a. a. O.; Kleinſchrod S. 181—196;
vergebliche Verſuche des Bundestages ſeit 1860; Zöpfl, deutſches Staats-
recht II. §. 479 c.
Während bei der Erfindung das Recht derſelben ſich auf einen
ganz beſtimmten Gebrauchswerth bezieht, erſcheint der letztere bei den
Muſtern und Marken als ein auf die geſammte Produktion einer
beſtimmten Unternehmung ausgedehnter und mit demſelben bezeichneter
Werth der Produktion. Muſter und Marken ſind die Form, in der
die Individualität der Produktion zum Ausdruck gelangt; ihr
Werth iſt daher der Werth dieſer Individualität; er iſt an ſich aller-
[392] dings unfaßbar, aber im wirklichen Leben gelangt er dennoch theils
im höheren Preiſe der einzelnen Artikel, theils aber in der Sicherung
des Abſatzes (der Kunden) zur Geltung. Auch bei ihm gilt daher der
Grundſatz, daß das Recht auf mechaniſche Vervielfältigung durch andere
Unternehmungen mit dem einzelnen Patent nicht übertragen wird,
wenn nicht der Verkäufer ein beſonderes Uebereinkommen darüber
ſchließt. Und die geſetzlichen Beſtimmungen und Maßregeln, welche
auch dieſes Recht nicht ſchaffen, ſondern ſchützen, bilden das
Muſter- und Markenrecht. Daſſelbe gehört daher in ſeiner Ausführung
dem Verwaltungsrecht, in ſeiner Grundlage dem Werthrecht. Sein
Princip iſt nur, die Verfolgung des Rechts auf die Marken und
Muſter ſo leicht und ſicher als möglich zu machen. Seine Verwirk-
lichung geſchieht durch die amtliche Eintragung und durch die Be-
ſtrafung der wiſſentlich unberechtigten Nachahmung beider, um durch
dieſelbe dem Berechtigten ſeinen Abſatz zu nehmen.
Frankreich hat das Muſter- und Markenrecht gleich anfangs als einen
Theil der propriété industrielle anerkannt; die Sache an ſich nie bezweifelt.
Muſterrecht: ſchon von 1791 anerkannt; principiell aufgehoben durch die
Gewerbefreiheit von 1791; dann aber durch Decret vom 16. März 1806 neu
organiſirt und dem Conseil des prudhommes zur Entſcheidung übertragen,
bis das Geſetz vom 29. Aug. 1825 die „Depoſition“ der Muſter (dessins de
fabrique) beim Handelsgericht einführte, und damit den Grund der übrigen
europäiſchen Geſetzgebung legte. Die Marken (marques de fabrique) ſchon
durch Geſetz vom 22. Germ. XI. und Decret vom 11. Juni 1809 ſo wie durch
den Code Pénal Art. 142. 143 geſchützt, gleichfalls gegen Depot. Darnach
zunächſt England: Errichtung der design office als Depot durch 5. 6. Vict.
100. (1842); Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 107. Strafrecht: 25. 26.
Vict. 38. (Verfahrung als misdemeanor). Dann auch Rußland (Verordnung
vom 11. Juni 1864). — Oeſterreichs treffliches Geſetz vom 7. Dec. 1858
zum Schutze der gewerblichen Marken und das gleichzeitige vom 7. Dec. 1858
zum Schutze der Muſter und Modelle, mit polizeilicher Hülfe und Beſtrafung,
und wohlgeordnetem Verfahren; ſ. Stubenrauch, das öſterreich. Marken-
und Muſterſchutzgeſetz, Wien 1859. Zuſammenſtellung der in den übrigen
deutſchen Staaten geltenden (zum Theil ſehr unfertigen) Beſtimmungen ſ. monatl.
Bericht der Wiener Handelskammer (Sitzung vom 13. Juni 1866). — Olden-
burg: Markenſchutzgeſetz von 1864. — Baden: Schutz der Waarenbezeichnung
(Geſetz vom 23. Jan. 1864).
[393]
Dritter Theil.
Die Verwaltung und das geſellſchaftliche Leben.
Das geſellſchaftliche Leben.
Das dritte große Gebiet des Geſammtlebens und damit der Ver-
waltung iſt nun das, das wir die Geſellſchaft nennen.
Die Verwaltungslehre hat in dieſem Gebiete nicht den Vorzug
wie in den beiden vorhergehenden, ſich auf bekannte und anerkannte
Begriffe zu ſtützen. Sie muß daher bis zu einem gewiſſen Grade das
Gebiet ſelbſt ſchaffen, das ſie bearbeiten ſoll. Das nun wäre unthun-
lich in den engen Gränzen eines kurzen Syſtems, wenn nicht zwei
Dinge aushülfen. Das erſte iſt, daß alle einzelnen Theile dieſes
Gebietes bereits mehr oder weniger durchgearbeitet vorliegen; während
ihnen nur der organiſche Zuſammenhang fehlt; das zweite iſt, daß das
leitende Princip denn doch nicht hier zuerſt aufgeſtellt wird. Daher
iſt es möglich, das geſellſchaftliche Leben als ſelbſtändigen Theil der
Verwaltung aufzunehmen, und auch hier das einfache Princip derſelben
zur Geltung zu bringen.
Elemente der Geſellſchaftslehre.
Begriff der Geſellſchaft.
Die Grundlage der Geſellſchaft iſt der Begriff der menſchlichen
Gemeinſchaft, welche die Geſammtheit aller Einzelnen als gleich-
berechtigter und gleichbeſtimmter Perſönlichkeiten enthält.
Aus der menſchlichen Gemeinſchaft geht die menſchliche Geſellſchaft
hervor, indem zunächſt die Vertheilung der perſönlichen, wirthſchaft-
lichen und geiſtigen Momente und Güter unter den Einzelnen eine
Verſchiedenheit hervorbringen. Dieſe Verſchiedenheit wird zu einer
Verſchiedenheit des ganzen äußeren Lebens, indem ſie zunächſt die
Kräfte, dann die Anſichten und Beſtrebungen, dann die Bedürfniſſe
und damit endlich die ganze Perſönlichkeit verſchieden geſtalten. Den
Ausdruck dieſer Verſchiedenheit bildet dann einerſeits die Anerkennung
der höheren Stadien der perſönlichen Entwicklung durch die niederen,
die höhere Achtung, aus der, in Verbindung mit dem Beſitze der
Mittel andern zu helfen oder ihnen zu ſchaden, die Geltung hervor-
geht. Die Formen, in denen beide im Geſammtleben zur allgemeinen
anerkannten Erſcheinung gelangen, ſind die Ehre und die Macht.
[394] Es ergibt ſich daher zunächſt, daß mit der Verſchiedenheit der Men-
ſchen eine das ganze Leben derſelben umfaſſende Verſchiedenheit der
Ehre und Macht entſteht.
Dieſe Verſchiedenheit iſt nun nicht bloß eine Thatſache, ſondern
ſie erſcheint vielmehr als das größte organiſche Princip des Lebens der
Menſchheit. Denn aus ihr geht das Streben der Niederen nach der
höheren Entwicklung der Anderen, und zugleich die höchſte Befriedigung
der Höheren in der Hingabe des Eigenen an die Niederen hervor,
welche erſt dem Daſein die Fülle des geiſtigen Lebens verleihen. Denn
Leben iſt auch hier Wechſelwirkung, und die abſolute Gleichheit iſt der
Tod. Es hat daher nie gleiche Menſchen gegeben und kann und darf
ſie nicht geben.
Iſt dem nun ſo, ſo wird dieſe Verſchiedenheit alsbald den Cha-
rakter des perſönlichen Daſeins annehmen, indem ſie daſſelbe ganz
umfaßt. Sie wird ſich organiſiren; das iſt, ſie wird Bewußtſein,
Willen und äußere Geſtalt annehmen. Dieſe Organiſirung kann aber,
da ihr Inhalt ein im Weſen der Perſönlichkeit liegender iſt, und da
Unterſchied und Bewegung in dieſer Verſchiedenheit abſolute Elemente
der Entwicklung werden, nicht bloß auf dem Zufall oder der Will-
kür beruhen, ſondern das Leben erſchafft ſie ſelber mit unwiderſteh-
licher Gewalt. Das nun kann wieder nur geſchehen, indem ſich
dieſelbe an die ſelbſtändigen Elemente des letzteren anſchließt. Dieſe
nun ſind das perſönliche, das geiſtige und das wirthſchaftliche Element.
Und ſo entſtehen die drei Grundformen, in denen ſich die Verſchieden-
heit der Menſchen von jeher organiſirt hat und organiſiren wird. Die
erſte dieſer Ordnungen iſt die, welche an das perſönliche Element des
Geſchlechts anſchließt und aus der Familie hervorgehend, das ganze
Leben der Menſchheit umfaßt. Wir nennen ſie daher die Geſchlechter-
ordnung. Die zweite legt das an ſich rein geiſtige Element der
geiſtigen Arbeit und That zum Grunde, die wir, indem ſie das ganze
Leben erfüllen, den Beruf nennen; aus dem Berufe wird in ſeiner
äußeren Organiſirung der Stand, und die auf dem Stande beruhende
Ordnung der menſchlichen Geſammtheit iſt dann die Standesord-
nung. Die dritte endlich legt der geſammten perſönlichen Entwicklung
und ihren Verſchiedenheiten den freien, gewerblichen Beſitz zum Grunde,
erzeugt und verlöſcht mit ihm die Verſchiedenheiten in Ehre und Macht,
und heißt, indem hier die freie Arbeit die Ordnung für jeden Einzelnen
bildet und erhält, die freie, oder nach dem aus ihr erzeugten Rechte
die ſtaatsbürgerliche Ordnung. Das nun ſind die drei elementaren
Ordnungen der Menſchen in ihrem Geſammtleben. Natürlich hat das
letztere eine Menge von Uebergangszuſtänden und höchſt verſchiedene
[395] Verſchmelzungen jener drei elementaren Grundverhältniſſe; und eben
ſo klar iſt es, daß, da jene Elemente ja nicht nur einzelnen Perſön-
lichkeiten vermöge des Weſens der Menſchen allein angehören, die-
ſelben ſtets gleichzeitig vorhanden und auch gleichzeitig wirkend
ſind; ſo zwar, daß die Keime derſelben in jedem Zuſtande vorhanden
erſcheinen. Es gibt Elemente der Stände- und der ſtaatsbürgerlichen
Ordnung in der Geſchlechterordnung, Elemente der erſteren in den
beiden anderen und ſo fort; eine vollkommene reine Ordnung hat es
nie gegeben und wird es nie geben. Das aber iſt keine bloß natür-
liche Thatſache, ſondern iſt wieder der Ausdruck eines viel höheren
Verhältniſſes; denn die tiefere Betrachtung zeigt, daß jede dieſer Ord-
nungen zugleich eine ſehr ethiſche Funktion hat. Die Geſchlechter-
ordnung erhebt die Ehre des Geſchlechts zu einem Faktor des Strebens
nach Ehrenhaftigkeit aller ſeiner Angehörigen; die Berufsordnung er-
zeugt die Veredlung und Erhebung der geiſtigen Arbeit; die ſtaats-
bürgerliche Ordnung vertritt die Kraft und den Muth des individuellen
Kampfes mit der Verſchiedenheit und ihrem Einfluß auf den Menſchen.
So wirken ſie gemeinſam; es iſt ein großes organiſches Geſetz, daß
keine Ordnung die andere ganz zu erſetzen, und daß auch keine die
andere ganz zu verdrängen vermag. Erſt in der mächtigen und
unerſchöpflich reichen Wechſelwirkung derſelben erfüllt ſich das Bild des
menſchlichen Lebens; und dieſe Ordnungen nun, ihr Princip, ihr Be-
wußtſein, ihre Geſtaltung und ihre Wechſelwirkung bilden die Geſell-
ſchaft. Die Wiſſenſchaft aber von ihnen, die Erkenntniß der Herr-
ſchaft von elementaren Begriffen und Geſetzen in dieſem Leben der
Geſellſchaft iſt die Wiſſenſchaft der Geſellſchaft, und die Dar-
ſtellung derſelben die Geſellſchaftslehre.
Es iſt bekannt genug, daß kein Begriff ſo unbeſtimmt iſt, als der der
Geſellſchaft. Der einfachſte Weg, zunächſt zur Nothwendigkeit eines feſten Be-
griffes zu gelangen, iſt wohl die hiſtoriſche Entwicklung der Bedeutung des
Wortes. Erſte Geſtalt iſt die Vorſtellung von der societas des Jus naturae
und der franzöſiſchen société; die menſchliche Gemeinſchaft überhaupt, mit dem
Gefühle, daß ſie Verſchiedenheiten enthalte, die von höchſter Bedeutung ſind.
Die zweite feſtere Geſtalt beginnt da, wo der Socialismus und Communis-
mus zeigen, daß ſich dieſe Unterſchiede zu den feſten Claſſen der Beſitzenden
und Nichtbeſitzenden geſtalten, die wiederum in einem ſcharfen Gegenſatze ſtehen,
den man weder durch die bloße Nationalökonomie noch durch das Staatsrecht
erſchöpfen kann. Erſtes Verſtändniß des ethiſchen Weſens des „Beſitzes“ (Stein,
Socialismus und Communismus 1842). Die dritte Epoche beginnt mit der
Erkenntniß, daß die Geſellſchaft mit dem einfachen Gegenſatz zwiſchen beſitzen-
der und nicht beſitzender Claſſe nicht erſchöpft iſt, ſondern daß dieſe Erſcheinungen
ſelbſt wieder nur Theile eines größeren Lebens ſind, welches die ganze
[396] Geſchichte der Menſchheit erfüllt; Entſtehung des organiſchen Begriffes der Geſell-
ſchaft. Es iſt hier nicht der Ort zur Kritik. (Literatur: Stein, Geſchichte der
ſocialen Bewegung und deſſen Syſtem der Staatswiſſenſchaft; Coſter, Syſtem
der Geſellſchaftswiſſenſchaft 1855; Treitſchke, Geſellſchaftswiſſenſchaft 1859.)
Das Geſellſchaftsrecht.
So klar nun auch jene Elemente an ſich ſind, ſo wird dennoch
das Ganze erſt da faßbar, wo daſſelbe zu einem Rechtsſyſteme wird.
Die Grundlage dieſes Rechts der Geſellſchaft beſteht darin, daß
die Bedingungen, welche den Unterſchied erzeugen und damit der leben-
digen Wechſelwirkung zum Grunde liegen, als geiſtige oder wirthſchaft-
liche Güter Gegenſtand des Rechts ſind, und daß daher die Wirkungen,
welche die Vertheilung hat, gleichfalls das rechtliche Element in ſich
aufnehmen. Indem der Einzelne ein beſtimmtes Gut hat, empfängt
er mit dem Recht auf daſſelbe auch das Recht auf die Wirkung deſſelben,
ſeine geſellſchaftliche Stellung; in dem Recht auf das erſtere beſitzt und
vertheidigt er das Recht auf die zweite; und da das zweite das höhere
iſt, ſo ergibt ſich bald, daß er das erſtere um des zweiten willen
vertheidigt. So entſteht das, was wir als die Grundlage aller
Rechtsbildung anerkennen müſſen, daß nämlich in jedem Rechte auf
jedes Gut zugleich ein, und zwar an ſich herrſchendes geſellſchaft-
liches Element enthalten iſt, ſo daß in Wahrheit das geſammte Rechts-
leben als eine durch die Ordnung der Geſellſchaft beherrſchte
Rechtsordnung erſcheint; das reine Recht kommt dadurch nie zur
allein gültigen Erſcheinung, ſondern jedes geltende Recht iſt ſtets und
unbedingt das Ergebniß der Wechſelwirkung des reinen und gleichen
Weſens aller Perſönlichkeit an ſich und der geſellſchaftlichen Perſönlich-
keit. Demgemäß ſagen wir, daß die Rechtsphiloſophie das Recht
lehrt, in ſo ferne es aus dem reinen Weſen der Perſönlichkeit folgt,
während die Rechtswiſſenſchaft das lebendige Recht in ſeinem poſi-
tiven Verhältniß zum wirthſchaftlichen und geſellſchaftlichen Leben zur
Erkenntniß bringt. Das nun führt hinüber auf ein anderes Gebiet.
Allein es iſt klar, daß hier das reine und das geſellſchaftliche
Recht ſo innig verſchmolzen ſind, daß das letztere noch zu keiner ſelbſt-
ſtändigen Darſtellung gelangen kann. Das nun geſchieht erſt da,
wo die geſellſchaftlichen Elemente nicht mehr durch ihre ſelbſtwirkende
Kraft das Recht bilden, ſondern wo die geſellſchaftlichen Ordnungen
mit Bewußtſein und Willen in die Rechtsbildung hineingreifen. Das
wiederum kann nur da geſchehen, wo dieſe geſellſchaftlichen Ordnungen
ſich der rechtsbildenden Kraft des Staats bemächtigen. Das Intereſſe,
[397] welches ſie an ihrem Beſitz und der auf ihn beziehenden geſellſchaft-
lichen Stellung haben, bringt ſie daher unmittelbar dazu, nach dem
Beſitze dieſer rechtsbildenden Kraft des Staats zu ſtreben. Dieß nun
gelingt aus naheliegenden Gründen ſtets der höheren Klaſſe. Es iſt
daher ein organiſches Geſetz des Staatslebens, daß ſich dieſe höhere
Claſſe jeder der drei Geſellſchaftsordnungen der Staatsgewalt bemächtigt,
und dieſelbe benutzt, um das ihren Intereſſen entſprechende Recht
zum geltenden Recht zu erheben. So wie ihr das erſtere gelingt,
entſteht die geſellſchaftliche Geſetzgebung und Verwaltung.
Dieſelbe beruht darauf, daß der wirkliche Staat zwar in ſeinen ab-
ſtrakten Elementen aus dem Weſen der Perſönlichkeit folgt, daß aber
ſeine wirkliche Individualität ſtets aus der in ihm herrſchenden
geſellſchaftlichen Ordnung hervorgeht; daß dieſe ſtets das ihr
entſprechende Recht durch Geſetz und Gericht zu geltendem Recht
macht, und damit die ganze Geſellſchaftsordnung mit der be-
ſtehenden Rechtsordnung identificirt. In dieſem Sinne ſagen
wir, daß jede Verfaſſung und Verwaltung eine geſellſchaftliche iſt,
und daß jedes poſitive Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht nur aus
den geſellſchaftlichen Elementen und Intereſſen verſtanden werden kann,
welche daſſelbe gebildet haben. Aus demſelben Grunde ergibt ſich die
große Thatſache, daß auch jede bürgerliche Geſetzgebung, das ganze
geltende Privatrecht, nichts als die geſellſchaftliche Geſtalt des reinen
Rechts iſt, und daß daher die großen Codifikationen des bürgerlichen
Rechts ſtets die Folge großer geſellſchaftlicher Umgeſtaltungen ſind,
denen ſie eben im bürgerlichen Recht ihren Ausdruck verleihen. Von
dieſen Geſichtspunkten aus ergibt ſich daher eine neue Auffaſſung des
Rechtslebens, die hier gleichfalls nicht weiter verfolgt werden kann.
Zunächſt aber wird dieſe geſellſchaftliche Rechtsbildung ſich ſtets auf
die Ordnung des Beſitzes und der Stellung der herrſchenden Claſſe
und ihres Verhältniſſes zur beherrſchten beziehen, und die Unantaſt-
barkeit der wirthſchaftlichen und geiſtigen Bedingungen der geſellſchaft-
lichen Herrſchaft zum Princip des jedesmaligen geltenden Rechts er-
heben; und dieß, auf dieſe Weiſe ſelbſtändig daſtehende Recht der
Geſellſchaftsordnungen nennen wir nun im eigentlichen Sinne das
Geſellſchaftsrecht.
Es iſt nun klar, daß damit auch das Gebiet bezeichnet iſt, auf
welchem die eigentliche Thätigkeit der Verwaltung beginnt. Um dieſes
aber beſtimmter formuliren zu können, muß zuerſt das Princip der
Geſchichte der Geſellſchaft, namentlich in ihrem Verhältniß zum
Staate, beſtimmt werden.
[398]
Der Hauptgrund, weßhalb die bisherigen Arbeiten über die Geſellſchafts-
lehre ſo wenig Reſultate geliefert haben, beſteht darin, daß man den Zuſam-
menhang der Geſellſchaft und ihrer Gegenſätze mit der Rechtsbildung nicht
ſtrenger unterſucht hat (vergl. Stein, Geſchichte der ſocialen Bewegung, Ein-
leitung). Die beiden Verſuche, den inneren Zuſammenhang nachzuweiſen in
Stein, franzöſiſche Rechtsgeſchichte von Warnkönig und Stein Bd. III. und
Gneiſt, Engl. Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht. Es dürfte noch einige
Zeit dauern, bis die deutſche Rechtsgeſchichte dieſe Auffaſſung zulaſſen wird.
Die beiden Principien in der Geſchichte der Geſellſchaft.
Von dem obigen Standpunkt erſcheint nun allerdings die Geſell-
ſchaft mit ihrer Entwicklung und ihren Gegenſätzen als der wahre
Inhalt deſſen, was wir die innere Geſchichte der Völker, ja der Welt
nennen möchten. Um ſo nothwendiger iſt es, die beiden Principien
feſtzuſtellen, welche ihrerſeits dieſe mächtige, die ganze Weltgeſchichte
beherrſchende Bewegung ſelbſt wieder beherrſchen.
Das erſte dieſer Principien iſt der allmählige aber unabweisbare
Sieg der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die Geſchlechter- und
Ständeordnung. Denn nur ſie beruht ganz auf dem letzten Element
alles Werdens, der durch eigene That ſich Ehre und Macht verſchaffen-
den Perſönlichkeit. Allerdings vernichtet ſie niemals ganz die beiden
letzten Ordnungen, ſondern ſie nimmt ſie vielmehr in ſich auf und
geſtaltet ſie um; allein nur diejenigen Völker ſind wahrhaft lebensfähig,
welche fähig ſind, dieſe freie Geſellſchaftsordnung bei ſich zu erzeugen
und zur Geltung zu bringen. Alle anderen Völker gehen zu Grunde.
Und da nun nur der gewerbliche Beſitz die Fähigkeit hat, dieſer Ge-
ſellſchaftsordnung die ihr entſprechende freie materielle Baſis zu geben,
die ihrerſeits die freie, ſelbſtändige Perſönlichkeit erzeugt und enthält,
ſo ergibt ſich der vielgeſuchte Punkt, auf welchem die Nationalökonomie
mit der Geſchichte der Geſellſchaft zuſammenhängt; der Kampf und die
Geſchichte der gewerblichen Thätigkeit ſind der Kampf und die Geſchichte
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft. Da aber endlich jede Geſellſchafts-
ordnung ihre Verfaſſung, ihre Verwaltung und ihr bürgerliches Recht
erzeugt, ſo folgt, daß der Schlußpunkt und zugleich der Keim aller
Rechtsgeſchichte den Sieg der ſtaatsbürgerlichen Rechtsordnung über die
der Geſchlechter- und Ständeordnung enthält. So greifen hier die
größten Faktoren lebendig wirkend in einander, in dem unendlichen
Reichthum des Lebens ihre organiſche Einheit erzeugend.
Dem nun zur Seite ſteht das zweite große Princip dieſer Ent-
wicklung; und dieſes Princip iſt die eigentliche Grundlage der Verwal-
tung der Geſellſchaft und ihres Rechts.
[399]
Jede Geſellſchaftsordnung hat ihre drei Claſſen, die höhere, die
mittlere und die niedere. Der Unterſchied iſt ein organiſcher, und jedes
Streben das die Claſſenunterſchiede aufheben will, iſt ein Widerſpruch
mit dem Geſetze des Lebens, das ſich nur durch Verſchiedenheit ent-
wickeln kann. In dieſem Unterſchiede der Claſſen erſcheint nun die
unendliche Beſtimmung jeder Perſönlichkeit in dem Satze, daß jeder
die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der
niederen Claſſe in die höhere hinaufzuſteigen, während er anderer-
ſeits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent-
wicklung von der höheren auch zur niederen hinabſteigen kann.
Dieſer Proceß vollzieht ſich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben.
Wir nennen ihn die geſellſchaftliche Claſſenbewegung. In ihr
wird weder die geſellſchaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört ſie
an ſich bloß Einer dieſer Ordnungen an. Es gibt eine Claſſenbewegung
der Geſchlechter-, der Stände- und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung.
Sie iſt aber mehr als eine bloße Thatſache. In ihr verwirklicht ſich das
Princip, daß das Leben der Perſon nicht durch die zufällig ihr gewor-
dene geſellſchaftliche Stellung dauernd beſtimmt iſt, ſondern daß der
Einzelne auch in der Geſellſchaft die höchſte Stufe durch ſeine That
ſoll erringen können. Dieſes Princip iſt das der geſellſchaftlichen
Freiheit. Die geſellſchaftliche Freiheit iſt daher nicht die geſellſchaft-
liche Gleichheit, die nie geweſen iſt und nie ſein wird, ſondern die
rechtliche und thatſächliche Möglichkeit der aufſteigenden Claſſen-
bewegung für jedes Mitglied der niederen Claſſe. Da, wo dieſe
Möglichkeit genommen iſt, ſteht das Leben der Geſellſchaft ſtill; da wo
ſie durch das von den höheren Claſſen gegebene Recht aufgehoben
iſt, wird ſie unfrei. Der Kampf in der Geſellſchaft iſt daher ſeinem
wahren Weſen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, ſondern
ſtets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit
des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den
Gliedern der höheren Claſſe zu gelangen. Dieſer Kampf hat nun eine
ſehr verſchiedene Geſtalt, je nachdem es ſich um die Geſchlechter-, die
Stände- oder die ſtaatsbürgerliche Ordnung handelt; aber ſeinem inner-
ſten Weſen nach iſt er ſtets derſelbe, und es zeigt ſich dabei bei tieferem
Eingehen auf dieſe Erſcheinungen das Princip, daß die Geſellſchafts-
ordnungen überhaupt, und die geſellſchaftlichen Zuſtände eines jeden
Volkes um ſo beſſer und edler ſind, je leichter und freier
die organiſche Claſſenbewegung vor ſich geht. In der That
erſcheint aber nur aus dieſem Grunde die Ständeordnung höher ſtehend
als die Geſchlechterordnung, und die ſtaatsbürgerliche Ordnung wieder
höher ſtehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geiſtige oder
[400] wirthſchaftliche Reichthum als ſolcher, ſondern die lebendige und freie
Bewegung, welche ihn für jedes Mitglied der Geſellſchaft erreichbar
macht, iſt das Wohlſein des Volkes. Dieſem höchſten Lebensprincip
der Geſellſchaft aber tritt nun das Intereſſe der höheren Claſſen ent-
gegen; es arbeitet in ſeiner Weiſe; denn nicht das Viel oder Wenig
was die Einzelnen beſitzen, ſondern der Unterſchied unter ihnen
iſt die höchſte Befriedigung des Einzelnen; und dieſen aufrecht zu halten
ſtrebt das Intereſſe, das ſomit zum unverſöhnlichen Feinde der Freiheit
zu werden beſtimmt ſcheint. Hier liegt der tiefſte Widerſpruch im Leben
der Menſchheit; und hier iſt daher auch der Punkt, wo der Staat als
höchſte perſönliche Form derſelben in die Geſellſchaft hineingreift; und
die daraus entſtehenden, mit dem obigen Weſen der letzteren auf das
Innigſte zuſammenhängenden Aufgaben dieſes ſtaatlichen Lebens ſind
es, welche die Principien und den Inhalt der Verwaltung der
Geſellſchaft bilden.
Die geſellſchaftliche Verwaltung.
Die Principien derſelben.
Iſt dem nämlich ſo, ſo ergeben ſich in einfacher Weiſe die zwei
Grundgedanken, welche das Verhalten des Staats zur Geſellſchaft und
ihrer Bewegung enthalten.
Zuerſt ſteht feſt, daß der Staat weder die Geſellſchaft bilden,
noch die gebildete Ordnung durch ſeine Macht leiten kann. Die geſell-
ſchaftlichen Ordnungen und Erſcheinungen bilden ſich ſelbſt, wie die
Ordnungen und Erſcheinungen der Volkswirthſchaft; ſie leben nach ihren
eigenen Geſetzen, die unabänderlich ihren Weg gehen; es iſt nicht minder
unverſtändig, auf die ſociale Geſtaltung einen unmittelbaren Einfluß
nehmen zu wollen, als auf die Geſetze nach denen Werth und Preis ſich
richten. Alsdann aber fragt es ſich, wozu denn der Staat auf dieſem
Gebiete berufen iſt.
Das nun iſt einfach, ſowie man den Begriff der geſellſchaftlichen
Entwicklung, wie ſie in dem Begriffe der aufſteigenden Claſſenbewegung
liegt, feſthält. Der Staat kann und ſoll dieſe Entwicklung und Be-
wegung nicht ſelbſt erzeugen, denn ſie ſoll durch und für das freie
Individuum vor ſich gehen; aber er ſoll die Bedingungen herſtellen,
welche der Einzelne in der gegebenen geſellſchaftlichen Ordnung ſich
durch eigene Kraft nicht mehr ſchaffen kann, um aus der niederen
in die höhere Claſſe hinaufzuſteigen. Das große Princip der
perſönlichen Selbſtbeſtimmung fordert, daß der Staat mit ſeiner Thätig-
keit immer erſt da beginne, wo die Kraft des Einzelnen ihrem Weſen
[401] nach unfähig iſt, jenes Ziel zu verwirklichen; allein auf dieſem Punkte
ſoll er auch beginnen. Denn der Staat als perſönliche Einheit Aller
iſt zugleich der Vertreter der höchſten Harmonie der Intereſſen Aller;
ſeinem Weſen nach wird er daher im Geiſte dieſer Harmonie arbeiten,
oder er wird an dem Mangel dieſer Fähigkeit ſelbſt untergehen. Denn
wenn der Staat nicht ſeine höchſte ſociale Funktion, die nicht in der
Unterwerfung eines Intereſſes unter das andere, ſondern in der har-
moniſchen Löſung ihrer Gegenſätze beſteht, zu erfüllen vermag, ſo tritt
die elementare Gewalt der phyſiſchen Kräfte an ſeine Stelle, und der
bürgerliche Krieg vernichtet mit dem Wohlſein Aller auch den Staat
ſelbſt, der es nicht zu verſtehen und zu ſchützen vermochte. Das iſt
das allgemeine Princip der geſellſchaftlichen Verwaltung; um nun aber
zu ſeinem poſitiven Inhalte zu gelangen, muß man es zum Syſtem
entwickeln.
Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung.
Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung iſt daher nicht das
Syſtem der Geſellſchaft, ſo wenig wie das Syſtem der wirthſchaftlichen
Verwaltung das der Volkswirthſchaft iſt. Da ferner in der Geſellſchaft
alle Elemente des Lebens ihre Geltung finden, ſo iſt es zweitens klar,
daß im allgemeinſten Sinne auch die Sorge für die leibliche, geiſtige
und wirthſchaftliche Entwicklung als Vorausſetzung der geſellſchaftlichen
Aufgabe erſcheine, ohne welche dieſelbe nicht gelöst werden kann. Allein
es iſt für Wiſſenſchaft wie für Praxis von Wichtigkeit, daß man zwar
das ſociale Moment in allen dieſen Gebieten anerkenne, aber die
eigentliche geſellſchaftliche Verwaltung in Gemäßheit der Grundbegriffe
der Geſellſchaftslehre auf die Thätigkeit des Staats für die Be-
dingungen der freien geſellſchaftlichen Bewegung beſchränke.
Darnach ergeben ſich Syſtem und Organiſation der geſellſchaftlichen
Verwaltung in folgender Weiſe.
Das Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung enthält drei Ge-
biete. Das erſte iſt das der geſellſchaftlichen Freiheit, welches die
rechtlichen Hinderniſſe jener Bewegung durch den Staat beſeitigt. Das
zweite iſt die Sorge des Staats für die geſellſchaftliche Noth, welche
dem Einzelnen die phyſiſchen Vorausſetzungen der perſönlichen Selb
ſtändigkeit gibt. Das dritte endlich iſt das der geſellſchaftlichen Ent-
wicklung, das ſich ſpeciell der aufſteigenden Claſſenbewegung zuwendet.
Jedes dieſer Gebiete hat wieder ſein Syſtem und ſeine Aufgabe.
Dieſe nun aber werden beide erſt dann ganz klar, wenn man den
Organismus der Verwaltung gerade für die geſellſchaftliche Welt be-
trachtet. Denn für gar keinen Theil der Verwaltung iſt der Charakter
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 26
[402] der drei Grundformen der vollziehenden Gewalt in der Verwaltung ſo
prägnant, als gerade hier.
Es ergibt ſich nämlich, daß die Herſtellung der geſellſchaftlichen
Freiheit die weſentliche Aufgabe der Geſetzgebung und Regierung,
der Kampf mit der geſellſchaftlichen Noth die der Selbſtverwaltung,
und die geſellſchaftliche Entwicklung die des Vereinsweſens iſt. Es
iſt ſelbſtverſtändlich, daß das eine Organ das andere in ſeinem Gebiete
nicht ausſchließt; aber der Charakter bleibt. Und die Elemente des
Bildes, welche ſich daraus ergeben, ſind folgende.
Erſter Theil.
Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Freiheit.
Begriff und Princip.
Die geſellſchaftliche Freiheit beruht darauf, daß in jeder geſell-
ſchaftlichen Ordnung die höheren Elemente derſelben vermöge ihres
Intereſſes nach den im Weſen der Geſellſchaft liegenden Geſetzen dahin
ſtreben, ſich durch die Staatsgewalt ein ausſchließliches Recht auf
die Bedingungen ihrer höheren Stellung zu gewinnen. Die Idee des
Staats fordert, daß dieſe Ausſchließlichkeit aufgehoben und die recht-
liche Erwerbbarkeit jedes wirthſchaftlichen und geiſtigen Gutes an die
Stelle der Ausſchließlichkeit geſetzt werde. Es iſt nun eine der wich-
tigſten Aufgaben der Weltgeſchichte, den allmähligen Sieg des freien
Rechts über die geſellſchaftliche Ausſchließlichkeit der Geſchlechter- und
Ständeordnung durch Geſetzgebung und Regierung zum Verſtändniß
zu bringen. Das Ergebniß dieſer langen und ſchweren Arbeit iſt die
definitive Geltung des Rechtsprincips der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft,
nach welchem die negative Gleichheit alles Rechts in der Beſeitigung
aller Privilegien und Vorrechte jener beiden Geſellſchaftsordnungen
ausgeſprochen iſt. Aber die letzteren ſind dadurch an ſich nicht auf-
gehoben, und ſollen es nicht ſein; denn ſie ſind in ihrer freien Form
organiſche Elemente der Geſellſchaft an ſich. Indem ſie aber theils
noch mit ihren mittelalterlichen Reſten in die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaft hineinragen, theils auch die Tendenz behalten, dieſe natürliche
Herrſchaft der höheren Claſſen zu einer rechtlichen zu machen, ſo bleibt
die Aufgabe des Staats, die freie geſellſchaftliche Bewegung gegenüber
dieſen Elementen feſtzuſtellen; und die Erfüllung dieſer Aufgabe iſt die
Herſtellung der geſellſchaftlichen Freiheit. Wir unterſcheiden in
derſelben die einzelnen Gebiete und das dieſelben gleichmäßig beherrſchende
Princip für Geſetzgebung und Verwaltung.
[403]
Die Gebiete derſelben ſind die Familie mit dem Hausweſen, die
Geſchlechterbildung und die Standesordnung. Das Princip, das ſie
beherrſcht, iſt folgendes.
Die Bildung der Familien, der Geſchlechter und der Stände iſt
ein naturgemäßer Proceß, den der Staat weder ſchaffen noch ſtören,
noch hindern ſoll. Sie ſind ſelbſtändige und ſelbſtthätige Organe der
Geſellſchaft, und wirken je in ihrer Weiſe für das Ganze. Sie ſollen
daher in ihrer ſelbſtändigen Bildung frei ſein wie die Einzelnen, aus
denen ſie hervorgehen. Allein ſie ſollen kein Recht ſchaffen, das
auch nur innerhalb ihrer eigenen Sphäre die freie Bewegung ihrer
Glieder mit objektiver Gültigkeit zu beſchränken im Stande wäre. Und
die ſyſtematiſche Beſeitigung ſolcher Rechtsbildung vermöge
der Durchführung des Princips der geſellſchaftlichen Freiheit iſt eben
der Grundgedanke des erſten Theils der geſellſchaftlichen Verwaltung
in der ſtaatsbürgerlichen Ordnung.
A. Die Familie und das Geſindeweſen.
Die Familie iſt nicht bloß die erſte Form der einheitlichen Perſön-
lichkeit, ſondern auch der erſte und noch rein natürliche geſellſchaftliche
Körper. Seine Elemente ſind die Ehe, die eigentliche Familie, und
das Geſinde. Es ſind das abſolute, d. i. organiſche Erſcheinungen des
Lebens. Sie bilden ſich daher von ſelbſt, und erzeugen ſich ſelbſt ihre
Ordnung, welche zuletzt nur wieder der Ausdruck ihrer natürlichen
Grundverhältniſſe iſt. Dieſe Ordnung iſt eine ethiſche, ſo weit ſie auf
dem freien geiſtigen Einfluß und ihrer höher ſtehenden Perſönlichkeit
auf die niedere beruht. Allein das ethiſche Element geſtaltet ſich als-
bald zu einem rechtlichen, das den individuellen Willen des Ober-
haupts zum objektiv geltenden für jedes einzelne Glied macht. Dadurch
wird die Familie unfrei. Die Entwicklung der Geſittung beginnt
dann den Kampf mit dieſer Unfreiheit, und ihre Reſultate formulirt
dann die Rechtsbildung, indem ſie die Herrſchaft des Oberhaupts ſo
weit begränzt, als dieß durch die freie Entwicklung der Mitglieder
der Familie gefordert wird. So entſteht die Geſchichte des Fami-
lienrechts. Sie beginnt mit der Anerkennung der wirthſchaftlichen
Selbſtändigkeit des Sohnes im peculium, mit derjenigen der Frau
im Dotalſyſtem; ſie erſcheint im Erbrecht, im Teſtirrecht des Oberhaupts,
die aber alsbald im Namen der Selbſtändigkeit der Glieder durch das
Pflichttheilsrecht beſchränkt wird; ſie erhebt ſich endlich in der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft zur öffentlich rechtlichen Begränzung der natür-
lichen Gewalt, und wird damit ein Theil der bürgerlichen Geſetzgebung,
[404] während andererſeits das Recht der freien Ehe und der Eheſcheidung
der Stellung der Frau ihre Selbſtändigkeit zurückgibt. So liegt hier
ein Proceß vor, der der Rechtsgeſchichte angehört, und der nur durch
die Elemente der Geſellſchaft erklärt werden kann. Es iſt ein Theil
desjenigen Gebietes, das wir das bürgerliche Verwaltungsrecht nennen,
und das ſeiner ſelbſtändigen Behandlung harrt.
Den zweiten ſelbſtändigen Theil des Familienweſens bildet das
Geſindeweſen. Daſſelbe umfaßt die zum häuslichen Dienſt be-
ſtimmten Perſonen; ihre Stellung iſt daher naturgemäß die einer un-
beſtimmten Abhängigkeit, ihr Rechtsverhältniß das des häuslichen Ge-
horſams auf der einen, aber auch eines gewiſſen unbeſtimmten Ange-
hörens an das Haus auf der andern Seite. Es beginnt deßhalb
bei der Sklaverei, und geht dann über zum Dienſt der Unfreien, dem
eigentlichen Geſinde, bis ſich allmählig die dritte Epoche des reinen
Lohnverhältniſſes zwiſchen Familie und Geſinde herausbildet, in
welchem Gehorſam und Verpflichtung auf den reinen Privatvertrag
zurückgeführt werden. Es iſt nun kein Zweifel, daß das rein vertrags-
mäßige dienſtliche Verhältniß allein der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchafts-
ordnung entſpricht, nicht weil das Angehören an das Haus an ſich
verkehrt wäre, ſondern weil die Gränze des Gehorſams und der
Verpflichtung ſich von jedem anderen Standpunkte der genauen Be-
ſtimmung entzieht, und die dann entſtehenden Fragen nur auf der
Grundlage der Abhängigkeit gelöst werden können. Das ſtaatsbürger-
liche Geſindeweſen beruht daher auf dem Grundſatze, daß die ethiſche
Beziehung zwiſchen Herrſchaft und Geſinde rein auf den individuellen
Verhältniſſen beruhen, und daß ihr Recht das freie Recht des
einfachen Vertrages ſein ſoll. Allerdings iſt der Uebergang von
dem früheren Standpunkt zu dieſem ſtaatsbürgerlichen mit einer Reihe
von Uebelſtänden verbunden; allein es iſt vergeblich, den Proceß auf-
halten zu wollen, der die Dienſtboten als einfache Lohnarbeiter der
Herrſchaft ſelbſtändig gegenüber ſtellt. England und Frankreich haben
denſelben vollzogen; dort gibt es keinen Begriff und kein Recht des
„Geſindes“ mehr. Es iſt falſch, daß die deutſchen Geſetzgebungen
zum Theil noch den Geſichtspunkt des Angehörens an die Familie
rechtlich feſthalten wollen; bildet ſich das letztere nicht von ſelbſt, ſo
ſoll und kann das Geſetz ihn nicht weiter führen.
Das deutſche Geſinderecht beginnt mit dem Grundſatze der Angehörigkeit
des Geſindes an das Haus, der Forderung des Gehorſams, der dann das
(mäßige) Züchtigungsrecht und die Pflicht zur Pflege kranker Dienſtleute ent-
ſpricht. Das blieb um ſo mehr unbezweifelt bis zum 18. Jahrhundert als
die Dienſtboten ohnehin meiſtens aus den unfreien Familien herſtammten, und
[405] ihre häusliche Unfreiheit nur eine beſtimmte Modifikation der Geſchlechterunfrei-
heit war. Mit dem 19. Jahrhundert beginnt dagegen der Gedanke der perſön-
lichen Selbſtändigkeit auch für das Geſinde Platz zu greifen; die alten Verhältniſſe
werden unklar, und jetzt fängt die Geſetzgebung an, die eigentlichen Geſinde-
ordnungen zu entwerfen, die noch bis in die dreißiger Jahre unſeres Jahr-
hunderts den Grundſatz der Abhängigkeit, der leichten häuslichen Züchtigung
und des Anſpruches auf Hülfe von Seiten der Herrſchaft feſthalten, obwohl im
Ganzen das rein privatrechtliche Rechtsverhältniß vorwiegt und die einzelnen
Beſtimmungen beherrſcht. Bis zur völligen Gültigkeit des reinen Lohnver-
trages iſt es noch nicht gediehen, obwohl das wirkliche Leben die Loslöſung des
Geſindes vom Hausweſen und Hausrecht vollzogen hat, und jede neue Geſetz-
gebung nur noch die franzöſiſchen Grundſätze anwenden konnte (vergl. über
louage d’ouvrage in dieſer Beziehung namentlich Duvergier, Droit civil
XIX. 322. 338). Geſindeordnungen des vorigen Jahrhunderts: Bayern:
von 1781; Detmold: 1752. Mit dem Jahre 1809 (badiſche Geſindeordnung
vom 15. April 1809) beginnt die deutſche Geſetzgebung der Uebergangsepoche;
Wiener Geſindeordnung von 1810; Stubenrauch, Verwaltungsgeſetzkunde
II. §. 433; neue öſterreich. Geſindeordnungen nach den einzelnen Provinzen
von 1856 und 1857; preußiſche erſte Geſindeordnung vom 8. Nov. 1810;
beſondere Geſindeordnung von 1844—1847; vergl. Rönne, Staatsrecht II. 349;
nebſt einer nicht unbedeutenden Literatur (ſeit 1840); Bayern: Geſindeordnung
von 1781 und die folgenden von 1804, 1815 und 1828; Pözl, Verwaltungs-
recht §. 112. — K. Sachſen: Dienſtbotenordnung von 1835. — Württem-
berg: Stuttgarter Geſindeordnung vom 27. Okt. 1819. Andere bei Mitter-
maier, deutſches Privatrecht II. §. 294; Vorſtellung von einem „Gemeinen
deutſchen Geſinderecht.“
B. Das Geſchlechterrecht.
Begriff und Inhalt.
Die zweite große geſellſchaftliche Erſcheinung iſt das Geſchlecht.
Das was wir unter dem Geſchlechterweſen und Geſchlechterrecht ver-
ſtehen, bildet eine der wichtigſten Thatſachen der Geſchichte. Das
Gegenwärtige aber ſowohl als die daraus ſich ergebende Aufgabe der
Verwaltung kann nur als Theil eines großen, noch keineswegs abge-
ſchloſſenen Proceſſes erkannt werden. Man muß in dieſer Beziehung
nothwendig das Weſen des Geſchlechts, den Adel und das Majorat
unterſcheiden.
1) Das Geſchlecht iſt die durch mehrere Generationen erhaltene
Familie, deren geiſtiges Element die Tradition beſtimmter öffentlicher
Leiſtungen und die damit verbundene Ehre iſt. Das Daſein eines Ge-
ſchlechts bedeutet daher eine Kraft in der Familie, welche ſtark genug
iſt, der Auflöſung zu widerſtehen, und den Sporn für jedes Mitglied,
die Ehre des ganzen Geſchlechts durch eigene Leiſtungen zu bewahren.
[406] Der Trieb, aus der Familie ein Geſchlecht zu bilden, iſt daher nicht
bloß hoch achtbar an ſich, ſondern für das Geſammtleben höchſt werth-
voll. Die Geſchlechterbildung ſelbſt vollzieht ſich demnach durch die
Natur der Familie; ſie iſt kein Gegenſtand weder der Geſetzgebung noch
der Verwaltung, ſondern ein freier Proceß in der geſellſchaftlichen
Welt, der allen edleren Völkern und Zeiten gemeinſam iſt. Erſt da,
wo der Adel beginnt, ändert er ſeinen Charakter und ſein Recht.
2) Der Adel entſteht, indem das Geſchlecht durch ſeine innere
Kraft ſich dauernd derjenigen öffentlichen Stellung bemächtigt, deren
Beſitz die Ehre und die Macht der Familie ausmacht. Der dauernde
Beſitz derſelben erzeugt dann das Streben, das Recht auf eine ſolche
Stellung erblich zu machen; die Geſammtheit derer, welche auf dieſe
Weiſe den erblichen Beſitz der öffentlich leitenden Stellung für ſich ge-
winnen, bilden dann eine Gemeinſchaft, welche wir dann die „Ge-
ſchlechter“ nennen; diejenige Ordnung, nach welcher die Herrſchaft auf
dieſe Weiſe in den Beſitz der Geſchlechter kommt, nennen wir die „Ge-
ſchlechterherrſchaft,“ und die einzelnen dazu gehörigen Familien bilden
den „Adel“ im weitern Sinne des Wortes. Im engern und eigent-
lichen Sinne nennen wir den Adel dagegen diejenigen Familien und
Geſchlechter, die vermöge des grundherrlichen Beſitzes und ſeiner
Rechte die Herrſchaft ausüben; die Bezeichnung „von“ bedeutet eben
den Beſitz der Grundherrſchaft als Baſis der herrſchenden Stellung.
Es hat daher herrſchende Geſchlechter bei allen Völkern gegeben, Adel
dagegen nur da, wo es eine Grundherrlichkeit mit ihren Rechten gab,
alſo bei den germaniſchen Völkerſchaften.
Aus dieſem an ſich natürlichen, auf dem Weſen des Geſchlechts
beruhenden Verhältniß entwickelt ſich nun vermöge des Sonderintereſſes
diejenige Rechtsbildung, welche das Angehören an das Geſchlecht zur
ausſchließlichen Bedingung für die Theilnahme an gewiſſen
Zweigen der Staatsgewalt macht. So entſteht aus der Thatſache
des Geſchlechts und des Adels das Vorrecht deſſelben. An dieſes
Vorrecht des Adels ſchließt ſich, ſo wie es einmal beſteht, ein Syſtem
von Rechtsbeſtimmungen über die Vorrechte, welche auch ohne Beſitz
mit der bloßen Abſtammung von dem herrſchenden Geſchlecht verbun-
den ſind, namentlich über das Gericht, das Adelsprädikat, das Wappen,
die Siegel u. ſ. w. Dieſe Rechtsbildung nun iſt es, welche mit der
freien Bewegung der Geſellſchaft und zugleich mit den höheren Bedürf-
niſſen der fortſchreitenden Geſittung in Widerſpruch tritt, da ſie die
Berechtigung zu beſtimmten öffentlichen Stellungen nicht mehr von der
perſönlichen Fähigkeit, ſondern von dem Zufall der Geburt abhängig
macht, und ſo eine Ungleichheit rechtlich normirt, welche die Kraft und
[407] der Werth des Einzelnen nicht mehr zu durchbrechen vermag. So wie
daher das Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft zur Geltung ge-
langt, ſo entſteht ein Proceß, der den Adel bekämpft; und in dieſem
Proceß nimmt der Staat vermöge ſeiner Regierung eine hochwichtige
Stellung ein. Derſelbe hat zwei Epochen. In der erſten wird dem
Adel das Vorrecht genommen; in der zweiten wird der Adel als
ſolcher angegriffen. Die erſte hat wieder zwei Hauptrichtungen. Einer-
ſeits fordert die ſteigende Wichtigkeit der Regierungsaufgaben, daß die
herrſchenden Stellungen ohne Rückſicht auf das Geſchlecht von den
Fähigſten beſetzt werden; das thun die Regierungen, ſeitdem ſich mit
dem ſiebzehnten Jahrhundert die Staatsidee von der Geſchlechter- und
Ständeherrſchaft frei macht, und das Staatsoberhaupt ſich demſelben
gegenüber einen durch eigene Tüchtigkeit dazu berufenen Amtsorga-
nismus um ſich bilden muß. Mit dem neunzehnten Jahrhundert
tritt dieſer Proceß in ein neues Stadium, den Kampf gegen das Adels-
recht in den Verfaſſungen. Hier entwickelt ſich eine Reihe von Er-
ſcheinungen, welche der Verfaſſungsgeſchichte angehören, und die
wir als den Unterſchied der ſtändiſchen von der ſtaatsbürger-
lichen Vertretung, und die Frage nach dem Oberhauſe bezeichnen.
Es iſt der Kampf der individuellen Berechtigung zur Vertretung des
Volkes mit der auf Geburt und Beſitz beruhenden; das daraus ent-
ſtehende Recht iſt das Verfaſſungsrecht, das hier nicht zu erörtern iſt.
Die zweite Richtung iſt aber eine weſentlich andere. Sie enthält die
Aufhebung aller perſönlichen Vorrechte des Adels, und die volle
Gleichſtellung deſſelben mit den Nichtadelichen. In dieſem Kampf
hat die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft bereits in England, Frankreich
und Oeſterreich den vollen Sieg gewonnen; der Reſt des beſonderen
„Adelsrechts“ in den übrigen Staaten bildet in der That nur noch
den Schein von beſonderen Rechten, und auch dieſer verſchwindet mit
jedem Tage mehr. Als Schlußpunkt dieſer Epoche erſcheint ſomit der
Satz, daß der Adel nur noch eine Thatſache und kein Recht iſt;
aus dem urſprünglichen „Adel“ ſind jetzt „Geſchlechter“ geworden, und
die Prädikate bedeuten nur noch „Geſchlechter-Prädikate“. Daraus
folgt allerdings, daß dieſe Prädikate nicht willkürlich angenommen
werden können, da eine Familie noch kein Geſchlecht iſt. Die weitere
Folge iſt die „Verleihung“ derſelben durch das Staatsoberhaupt, die
als Beginn der Geſchlechterordnung betrachtet werden muß, indem ſie
den Zufall der Geburt vertritt, und daher ſich von ſelbſt verliert,
wenn die Familie nicht fähig iſt, ein Geſchlecht zu bilden. Es ſoll
aber dem auf dieſe Weiſe zuerkannten Recht auf Führung des Prädi-
kats kein Verbot zur Seite ſtehen; nur darf natürlich eine rechtliche
[408]Geltung der Führung des Prädikats (bei Taufen, Firmen, Beſtal-
lungen u. ſ. w.) nicht anerkannt werden. Das Weſen der Freiheit des
Adels als geſellſchaftliche Beziehung liegt daher, ſoweit ſeine Vorrechte
beſeitigt ſind, nicht in ſeiner Vernichtung, ſondern in ſeiner Erwerb-
barkeit für jedermann, aber in der Rückkehr des Adelsweſens zur
Geſchlechterbildung.
Die deutſche Literatur hat ſich mit dem Adel faſt nur ſo weit beſchäftigt,
als er vermöge ſeiner Vorrechte Gegenſtand des deutſchen Privatrechts und der
Rechtsgeſchichte war. Die höhere Auffaſſung von Adel tritt in Europa erſt
durch Montesquieu auf (Esprit des Lois L. V. Ch. 8); Ende vorigen Jahr-
hunderts Suarez, Entwurf des Allgem. preuß. Landrechts, Adel als „Stütze
des Thrones;“ Kamptz, Jahrbücher XLI. S. 1681; Steins Princip der
Aufhebung aller Vorrechte des Adels; RönneI. §. 95. Das preuß. Land-
recht bleibt jedoch mit ſeinem Syſtem des Adelsweſens beſtehen II. 472. Die
neue Staatenbildung Deutſchlands bringt dann das Element der Standesherren
hinzu, deren Rechte vertragsmäßig garantirt werden und auf die neueren
Verfaſſungen übergehen. In Oeſterreich vollſtändige Aufhebung aller Vorrechte;
dagegen noch immer Syſtem des Adelsrechts mit den Grundſätzen über Ver-
leihung und Verluſt und Rechte auf Wappen ꝛc.: RönneI. §. 95; Pözl,
Verfaſſungsrecht §. 40 ff.; Mohl, württemb. Verfaſſungsrecht I. 498 ff. Die
neuere Auffaſſung, wie ſie namentlich Eiſenlohr über den Beruf des Adels
1852 vertritt, iſt allerdings eine viel höhere; allein ſie verwechſelt Adel und
Geſchlecht, und das Wahre, das ſie unverkennbar enthält, gehört dem Weſen
des letzteren und nicht dem des erſteren an.
Das Geſchlechter-Erbrecht und die Majbrate.
Wo nun einmal eine bevorrechtigte Stellung des Adels iſt, da
iſt das Intereſſe an der Erhaltung derſelben für das ganze Geſchlecht
die natürliche Conſequenz. Und da nun die materielle Baſis dieſer
Stellung auch hier wie aller geſellſchaftlichen Ordnung der Beſitz
iſt, ſo erzeugt jenes Intereſſe das Streben, den Beſitz ſelbſt dauernd
in dem Geſchlechte zu erhalten. Das nun kann nur geſchehen, indem
der Beſitz dem Verkehr entzogen und ein ungetheilter Gegenſtand der
Erbfolge wird. Einen ſolchen Geſchlechterbeſitz nennen wir ein Ma-
jorat oder Fideicommiß. Der Ausſchluß aus dem Verkehr kann
nun in zwei Weiſen erfolgen. Zuerſt durch das Erbrecht, dann durch
einen Akt des Landesherrn. Das Recht auf die Beſtimmung, nach
welchem der Beſitz der Erbtheilung durch den Willen des Familien-
hauptes dauernd entzogen, und die Ordnung der Erbfolge für die
Nachkommen feſtgeſtellt wird, nennen wir die Autonomie, deren hiſto-
riſches Princip die urſprüngliche Selbſtherrlichkeit der Grundherren war,
und die in einzelnen Fällen noch ausnahmsweiſe erhalten iſt. Dem
[409] Nichtadeligen kann jenes Recht nur durch ein beſonderes Privilegium
der Krone für den beſtimmten einzelnen Beſitz verliehen werden.
Die Majorate bilden daher das eigentliche Erbrecht der Geſchlechter-
ordnung, und in der That iſt ihre Erſcheinung beim Adel nur der
Reſt der alten Rechtsbildung der Geſchlechter. So wie die ſtaatsbür-
gerliche Epoche entſteht, treten ſie in unlösbaren Widerſpruch mit dem
freien Princip der auf- und abſteigenden Claſſenbewegung; ſie ſchließen
die ganze ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft für ihr Gebiet aus, und erſchaffen
einerſeits einen für jeden dritten, auch für den verkehrsrechtlichen
Gläubiger unerwerbbaren Beſitz, während ſie andererſeits dem Beſitzer
eine geſellſchaftliche Stellung geben, die ganz gleichgültig iſt gegen die
perſönliche Tüchtigkeit. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft bekämpft ſie
daher grundſätzlich, und das Recht der Majorate bildet damit einen
von den Maßſtäben, nach denen das Verhältniß derſelben zu dem
Reſte der Geſchlechterordnung gemeſſen werden. Daher der tiefe
Unterſchied des beſtehenden Rechts derſelben in England, Frankreich
und Deutſchland; und von dieſem Geſichtspunkt ergibt ſich das Princip,
nach dem das allmählige Verſchwinden der Majorate die unzweifelhafte
Folge der weiteren Entwicklung der Geſellſchaft ſein wird.
Wir unterſcheiden für das Geſchlechter-Erbrecht drei große Epochen. Die
erſte iſt die der bäuerlichen Geſchlechterordnung, in welcher zuerſt der
Grundſatz zur Geltung gelangt, der den Charakter des Geſchlechter-Erbrechts
überhaupt bildet: der Grundbeſitz iſt nicht Eigenthum des Einzelnen, ſondern
des ganzen Geſchlechts, ſteht aber unter der Verwaltung des Erſtgeborenen,
und iſt dem Teſtirrecht entzogen. Das gilt dann von dem kleinſten Geſchlechter-
hofe bis zur größten Grundherrlichkeit. Die zweite Epoche iſt die, welche
wir die Epoche der Autonomie nennen würden, das iſt das Vorrecht der
adeligen Geſchlechter, die Erbfolge in die Grundherrlichkeit zu beſtimmen.
In dieſer Epoche tritt neben der Autonomie des adeligen Geſchlechts das Recht
des Souverains auf, als Oberlehensherr die Beſchlüſſe der Autonomie zu
beſtätigen, während ſich das alte bäuerliche Geſchlechter-Erbrecht der ungetheilten
Höfe, aber auch nur für den bäuerlichen Beſitz, forterhält. Das 17. Jahr-
hundert hebt nun dieß Lehensrecht des Landesherrn in England, die Revolution
des 18. daſſelbe in Frankreich auf, und im 19. Jahrhundert zerbröckelt es
langſam mit der Grundherrlichkeit; aber die Majorate bleiben. In der
dritten Epoche greift nun das Princip derſelben auch in die ſiegreiche ſtaats-
bürgerliche Geſellſchaft hinein, und zwar in der Form, daß das Majorat nicht
mehr ein Vorrecht des Adels ſein, ſondern daß jeder das Recht haben ſolle,
unter gewiſſen Bedingungen ein Majorat zu errichten, und ſomit die mate-
rielle Geſchlechterbildung an die Stelle der geiſtigen zu ſetzen.
Das iſt der Grundzug des gegenwärtig geltenden Rechts, das kaum unſer
Jahrhundert überdauern wird, nachdem bereits das Geſchlechter-Erbrecht der
Bauernhöfe durch das Princip der Theilbarkeit faſt allenthalben aufgehoben
[410] iſt. Dabei theilt ſich das europäiſche Majoratsrecht in drei große Syſteme.
Das engliſche Recht iſt das des Entail. Das alte Princip: „Jus descendit
ad primogenitum“ iſt kein engliſcher, ſondern ein europäiſch-germaniſcher
Grundſatz der Geſchlechterordnung. Die frühe Entwicklung der ſtaatsbürgerlichen
Geſellſchaft in England hat nun hier zuerſt das Teſtament auch bei dem Grund-
beſitz eingeführt (32. Henry VIII. c. 1). Das Stat. 24. Charl. II. 12. hat
das Lehenseigenthum des Königs aufgehoben, aber an dem Erbrecht nichts ge-
ändert. Der Grundſatz des engliſchen Teſtamenterbrechts iſt: „daß der Erb-
laſſer den Grundbeſitz vererben kann auf die Zeit von einem oder mehreren
lebenden Erben oder für einundzwanzig Jahre nach dem Tode des über-
lebenden Erben“ (vergl. Eiſenlohr a. a. O. S. 196 ff.). — In Frank-
reich bereits ſeit dem 16. Jahrhundert Verſuche die Errichtung von Majoraten
zu beſchränken. Das Geſetz vom 14. Nov. 1792 hebt die Majorate abſolut
auf; der Code Nap. (1804) behält die Aufhebung bei; aber das Decret vom
30. März 1806, das Geſetz vom 17. Mai 1806 erweiterte das Napoleoniſche
Princip zum Rechte jedes Einzelnen, nach engliſchem Muſter die Subſtitution
bis zur zweiten Linie teſtamentariſch auszudehnen. Ein Senatus-Conſult vom
30. Aug. ſtellte die Majorate jedoch nur als „Gnadenakt des Kaiſers“ wieder
her. Das Geſetz vom 12. Mai 1835 verbot dann definitiv die Errichtung
neuer Fideicommiſſe; das Geſetz vom 7. Mai 1849 hob das Geſetz von 1806
auf, ſo daß jetzt der urſprüngliche Standpunkt des Code Nap. wieder gilt.
So iſt das Geſchlechter-Erbrecht in Frankreich aufgehoben. — In Deutſch-
land dagegen beſteht es noch zum Theil als integrirender Beſtandtheil des
öffentlichen und bürgerlichen Rechts fort. — In Preußen anerkannt im Allgem.
Landrecht II. 4. 72. 73, und jedem geſtattet (ebend. 47); darüber eine Reihe
von einzelnen Beſtimmungen RönneI. §. 95; das Recht auf Familien-
beſchlüſſe allgemein (Geſetz vom 15. Febr. 1840). — Bayern: Errichtung
der Majorate (Edikt vom 28. Juli 1808 und 22. Dec. 1811); erhalten in der
Verfaſſung von 1818, Beil. VII; vergl. Pözl, Verfaſſungsrecht §. 47. 48. —
Oeſterreich, Princip: Errichtung nur durch beſondere Bewilligung des Landes-
herrn: Allgem. bürgerl. Geſetzbuch §. 627 nebſt genauer Ausführung im Decret
vom 13. Juli 1832, und ausführlich im Patent vom 9. Aug. 1854 über Er-
richtung von Familienfideicommiſſen.
C. Das Berufsrecht.
Während ſich nun die Geſchlechterordnung noch immer in einzelnen
Erſcheinungen erhält, hat das Berufsrecht durch den Sieg der ſtaats-
bürgerlichen Geſellſchaft ganz ſeinen ſtändiſchen Charakter bereits ver-
loren. So wie der Beruf noch durch Corporationen vertreten iſt,
wie in Kirche und Wiſſenſchaft, gehört das Berufsrecht dem ſtändiſchen
Corporationsrecht an. So weit aber der Beruf jetzt noch als ſelb-
ſtändige Lebensaufgabe auftritt, iſt er kein ſtändiſches Ganze mehr,
empfängt er ſein Sonderrecht aus dem Weſen des Berufes ſelbſt,
[411] und hat daher auch nur da ein ſolches, wo der Beruf es fordert.
Das nun iſt nur da der Fall, wo der Beruf dem öffentlichen Dienſte
gehört; nur noch in dieſem Sinne gibt es „Stände“ mit eigenem
Recht in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft (Militärſtand, Beamten-
ſtand, Lehrſtand u. ſ. w.) und das Berufsrecht und ſeine Vorrechte
ſind daher nichts als Theile und Gebiete des Staatsdienſtrechts,
und fallen in dieſer Beziehung unter die Staatsdienſtgeſetzgebung.
Hier hat alſo die Verwaltung gar kein Gebiet mehr, während das der
Geſchichte ſtets ein reiches bleiben wird.
Zweiter Theil.
Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Noth.
Begriff und Princip.
Neben der rechtlichen Begränzung der Perſönlichkeit iſt nun das
zweite Element, welches der freien geſellſchaftlichen Bewegung entgegen-
ſteht, der Mangel an den materiellen Bedingungen des perſönlichen
Daſeins. Den Zuſtand, der daraus hervorgeht, nennen wir die
Noth. Die Beſeitigung der Noth iſt daher die zweite große Voraus-
ſetzung der Entwicklung in der Geſellſchaft. Der Begriff der Noth
ſetzt aber ſelbſt ſchon voraus, daß ſich der Einzelne durch eigene Kraft
nicht helfen kann. Sie iſt daher eine Aufgabe der Verwaltung, und dieſe
Aufgabe bildet dann den zweiten Theil der Verwaltung der Geſellſchaft.
Allerdings nun hat die Noth verſchiedene Formen und Grade.
Allein allen iſt Eins gemein. Die Noth unterwirft die an ſich freie
Perſönlichkeit der Gewalt derjenigen Dinge, welche ihr Bedürfniß be-
friedigen. Die Noth iſt daher nicht bloß eine Gefahr, ſondern ſie iſt
Unfreiheit für den, der ſie leidet. Eben deßhalb iſt ihre Beſeitigung
nicht mehr bloß Sache des Einzelnen, ſondern der Gemeinſchaft. Es
iſt daher das erſte Princip dieſes Theiles der Verwaltung, daß die
Gemeinſchaft mit ihren Kräften der wirklichen Noth des Einzel-
nen abhelfen müſſe.
Das mächtige ethiſche Element nun, das darin liegt, hat nun von
jeher da wo eine ſolche wirkliche Noth vorhanden war, auch theils
die Herzen, theils den Verſtand der Einzelnen beſtimmt, als Einzelne
dem nothleidenden Einzelnen zu Hülfe zu kommen. Das was vom
Einzelnen zum Einzelnen geſchieht, iſt aber nicht Sache der Verwaltung.
Allein die Noth iſt in allen Verhältniſſen der Menſchheit ein ſtets vor-
handener Zuſtand, der niemals bei dem Einzelnen ſtehen bleibt; das,
was der Einzelne thut und thun kann, iſt daher auch nie ausreichend,
[412] um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi-
nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und
demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der
Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der
großen Aufgaben der Verwaltung. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo
lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat.
Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen
der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe
durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen;
es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein-
ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die
Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen
nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit
ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt,
und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich
alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe
eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden Princips, es
bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver-
ſtehenden und behandelnden Syſtems, und es bedarf endlich eines
eigenen und ſelbſtthätigen Organismus. Und die organiſche Dar-
ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der
geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen-
weſen nennen.
Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi-
ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die
Einheit der letzteren in dem gemeinſamen Princip für alle ihre
Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des
höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen
wie des Ganzen.
Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes
Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann.
Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die Unmöglichkeit für
den Einzelnen vorliegt, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll
nur ſo weit gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig-
keit zur Selbſthülfe aufhalten. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in
der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und wie weit ſie geht, das kann, wo es
ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das
Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die
Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen-
über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in
dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem
[413] ihrer Organe muß ein Syſtem der Fälle der Noth zur Seite ſtehen;
die gemeinſam von dem übrigen Principe beherrſcht, das Syſtem der
Verwaltung bilden. Die Elemente deſſelben ſind folgende.
Syſtem und Elemente der Geſchäfte.
Auch die Noth erſcheint im Anfang als ein einfaches Verhältniß.
Wiſſenſchaft und Praxis zeigen aber bei ſteigender Geſittung, daß ſie
aus weſentlich verſchiedenen Elementen beſteht, deren jedes ſeine Natur
hat, und ſeine Behandlung fordert. Dieſe Elemente ſind zunächſt die
Theurung mit ihren Folgen, als materieller Urſprung der Noth;
dann der Hang zur Trägheit, der die Noth in der Perſönlichkeit er-
zeugt, indem er zum Bettel führt; dann die Noth der Kinder, theils
der Findelkinder, theils der Waiſen; und endlich die eigentliche
Armuth mit dem eigentlichen Armenweſen. Dieſe Gebiete bilden das
Syſtem der Verwaltung der geſellſchaftlichen Nothzuſtände.
An dieſes Syſtem der Sache ſchließt ſich nun das Syſtem der
Organe für die Verwaltung. Auch dies Syſtem liegt im Weſen der
Noth ſelbſt, und iſt keineswegs ein zufälliges. Die Noth hat unter
allen Geſtalten gewiſſe gleichartige Elemente; dieſe bilden die Aufgabe
der Geſetzgebung und Regierung, welche daher auch hier die Ein-
heit herzuſtellen hat. Sie hat aber zweitens ſtets einen vorwiegend
örtlichen Charakter, ſowohl in ihren Gründen, als in den Mitteln der
Abhülfe; damit iſt der Selbſtverwaltung ihr Antheil an dem
Ganzen gegeben. Endlich berührt ſie in Entſtehung und Intenſität
das Individuum und hier beginnt das Gebiet des Vereinsweſens.
So theilt ſich die große Aufgabe des Kampfes mit der geſellſchaftlichen
Noth; jeder dieſer Theile hat nun wieder ſeine Geſchichte und ſeine
ſpeciellen Principien und ſeinen Organismus. Aber mitten in dieſer
Verſchiedenheit iſt der Gang der hiſtoriſchen Entwicklung nicht bloß ein
gemeinſamer, ſondern er iſt zugleich ſo innig mit dem Weſen aller Theile
verbunden, daß ſeine Elemente als die einfachſte gemeinſame Einleitung
für jeden Abſchnitt gelten dürfen.
Die urſprüngliche Form aller Hülfe iſt die der Geſchlechterordnung.
Die Noth iſt zunächſt eine Sache der Familie, in zweiter Reihe des
Geſchlechts, wie der Beſitz ſelber; eine allgemeine Verwaltung gibt es
hiefür ſo wenig, wie für die andern Gebiete. Aus der Geſchlechter-
ordnung geht die Pflicht zur Hülfe an die Gemeinde über; aber die
erſte Selbſtverwaltung der wirthſchaftlichen Noth in Dorf und Grund-
herrſchaft iſt doch zuletzt nur eine Form des Geſchlechterrechts. Die
zweite Epoche beginnt dagegen da, wo aus dem Berufe der Stand
[414] wird. Hier wird das ethiſche Element der Hülfe zum Grunde gelegt,
und aus der natürlichen Verpflichtung, dem Verwandten zu helfen,
eine chriſtliche, jedem zu helfen. Das iſt an ſich ſchön und trefflich;
aber die Folgen ſind, daß die Hülfe im Namen der chriſtlichen Pflicht
ausgeübt, nicht mehr nach Grund und Maß fragt, ſondern der per-
ſönlichen Bitte ſtatt dem wirklichen Bedürfniß gibt. Damit empfängt
die Trägheit ihre Prämien, und der Bettel entſteht. Gegen Bettelei
und Vagabundenthum erhebt ſich dann die Polizei, und verfolgt die
Arbeits- und Heimathsloſigkeit mit ihren Maßregeln und Strafen;
allein das genügt doch nur im Einzelnen. Das Correlat iſt die Ueber-
nahme der Unterſtützung bei wirklicher Noth von Seiten der Gemein-
ſchaft; dieſelbe, indem ſie dieſe Verpflichtung anerkennt, fordert natürlich
auch das Recht, die objektive Ordnung für ihre Thätigkeit aufzuſtellen.
So entſteht als dritte große Epoche die ſyſtematiſche Verwaltung in
Geſetzgebung und Verwaltung. Allein in dieſe Epoche ragt ſchon die
folgende herein. Die Erkenntniß, daß die Arbeit die Baſis der wirth-
ſchaftlichen Selbſtändigkeit ſei, zeigt, daß das was man bisher Noth
genannt, einen zweifachen Inhalt habe. Es gibt einen wirklichen Zu-
ſtand des Mangels; es gibt aber auch einen Zuſtand, in welchem
nur das Gefühl des geſellſchaftlichen Gegenſatzes der Hülfloſigkeit
der niederen Claſſe gegenüber der höheren das Analogon der Noth
bildet. Die Claſſe der Armen ſcheidet ſich von der der Beſitzloſen;
die Erkenntniß greift Platz, daß beides, bis dahin vermengt, zwei
weſentlich verſchiedene Gebiete der geſellſchaftlichen Zuſtände enthalte,
und daß demgemäß auch die Aufgabe für jedes derſelben eine weſentlich
verſchiedene ſei. Das iſt der Charakter der Gegenwart; ſo wird jetzt
das Gebiet der wirthſchaftlichen Noth zu einem durchaus ſelbſtändigen,
gegenüber dem der aufſteigenden Bewegung der nichtbeſitzenden Claſſe,
und jetzt unterſcheiden wir daher das Unterſtützungsweſen als
Gegenſtand des Folgenden, von dem Hülfsweſen als dem dritten
Theile der geſellſchaftlichen Verwaltung.
I. Geſellſchaftliche Polizei der Roth.
Der Begriff der Theurung iſt zunächſt ein nationalökonomiſcher
und wird meiſt ausſchließlich als die Höhe der Preiſe der nothwendigen
Lebensbedürfniſſe aufgefaßt. Das iſt richtig. Allein ſeine höhere Be-
deutung iſt die geſellſchaftliche. Im Sinne der Geſellſchaftslehre iſt
die Höhe der Preiſe für den Begriff der Theurung ganz gleichgültig;
die Theurung iſt für ſie diejenige Höhe der Preiſe, welche gegen-
[415] über der regelmäßigen Einnahme aus der capitalloſen Arbeit die Ca-
pitalbildung, und damit das Aufſteigen vom Nichtbeſitz zum
Beſitze hindert oder unmöglich macht.
An ſich iſt nun weder die wirthſchaftliche noch die geſellſchaftliche
Theurung ein Gegenſtand der Verwaltung. Sie weiß und muß
wiſſen, daß ſie in die Preisordnung weder eingreifen kann noch ſoll.
Eine Thätigkeit der Verwaltung daher, welche die capitalloſe Arbeit
vor derſelben ſchützt, kann daher nur da denkbar ſein, wo ganz be-
ſtimmte örtliche Gründe ganz beſtimmte Theurungszuſtände hervor-
rufen. Dieſe ganz beſtimmten Gründe nun liegen in derjenigen Zu-
nahme der örtlichen Conſumtion, welche ſtärker iſt, als das durch
die damit entſtehende Nachfrage gegebene Zuſtrömen des Angebots.
Das iſt der Fall bei raſch entſtehender örtlicher Dichtigkeit der Bevöl-
kerung, alſo namentlich in den großen Städten. Hier kann die Ver-
waltung helfen; ſo wie daher die großen Städte entſtehen, entſteht
auch der Kampf mit der Theurung, oder das was wir die Theu-
rungspolizei nennen.
Die Theurungspolizei hat zwei ganz beſtimmt geſchiedene Epochen,
deren erſte jetzt im Weſentlichen als eine überwundene angeſehen wer-
den darf.
Die erſte Epoche geht von der Vorſtellung aus, daß die Theu-
rung theils durch das Intereſſe des Handels, theils durch dasjenige
der für die Bedürfniſſe producirenden Gewerbe weſentlich erzeugt werde.
Aus der erſten Vorſtellung entſtehen die Ausfuhrverbote für die
Länder im Ganzen, und die polizeilichen Verbote und Verfolgungen
der Vor- und Aufkäuferei für die einzelnen größeren Städte; aus
dem zweiten Geſichtspunkt dagegen die Taxen, und zwar die Brod-,
Fleiſch-, Wein- und Biertaxen, welche für ein beſtimmtes Maß
einen beſtimmten Preis ſetzen. Beide Syſteme gehören weſentlich dem
ſiebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert, und die Ortsgeſetze ſind
voll von dahin zielenden Beſtimmungen.
Das ganze Syſtem wird nun zuerſt dem Princip nach ange-
griffen durch die phyſiokratiſche Schule. Ihr großer Gedanke iſt der,
daß die Freiheit in der Bewegung des Handels und des Gewerbes
das einzige Heilmittel gegen die Theurung ſei. Die Schule von Ad.
Smith führt denſelben dahin aus, daß die Geſetze, welche Werth und
Preis beſtimmen, abſolut ſind, und daß das Erreichbare ſich von
ſelbſt regelt, wenn man nicht polizeilich eingreift. Damit beginnt
dann das allmählige Verſchwinden des ganzen Verbots- und Taxweſens
mit unſerem Jahrhundert. Allein zugleich iſt die Zunahme der großen
Städte ſo bedeutend, daß die örtliche Theurung in Verbindung mit
[416] dem Drucke, den das Capital auf die Arbeit übt, dennoch eine Ge-
fahr der Verarmung erhält. Man beginnt zu erkennen, daß die Ver-
kehrs- und Gewerbefreiheit doch nur negative Maßregeln ſind; und ſo
entſteht der zweite, aber poſitive Gedanke dieſer Epoche, die Ver-
ſorgung der großen Städte. Dieſelbe iſt als Princip anerkannt,
als Ausführung noch ſehr im Werden. Die letztere hat ihrerſeits wieder
zwei Stadien und Grundformen; die erſte beginnt, den Markt der
Nahrungsmittel zum Gegenſtande der Verwaltung zu machen, indem
ſie öffentliche Marktanſtalten, Markthallen, Fleiſchſchränke u. ſ. w.
herſtellt; dieſe gehören ihrer Natur nach der Selbſtverwaltung und
ſind ſtädtiſche Anſtalten. Die zweite iſt noch kaum begonnen. Ihr
Inhalt iſt die Herſtellung der Verſorgung der Städte durch große Ver-
ſorgungsunternehmungen als Aktiengeſellſchaften, die wieder erſt
dann, wenn ſie ſich auf die einzelnen Zweige beſchränken, das Bedeu-
tende leiſten. Die Schwierigkeit ſolcher Unternehmungen hat ſie bisher
zurückgehalten; dagegen bricht ſich eine zweite Richtung immer be-
ſtimmter Bahn. Das iſt die Herſtellung von Arbeiterwohnungen
durch Aktienunternehmungen, die ihrer Natur nach örtlich, dennoch für
die ganze geſellſchaftliche Bewegung die höchſte Bedeutung haben, und
vielleicht unter allen derartigen Unternehmungen am deutlichſten be-
weiſen, daß die Harmonie der Intereſſen auch zwiſchen Capital und
Arbeit nur einer praktiſchen Löſung harrt, um zur vollen Geltung
zu gelangen.
Es hat doch lange Zeit gedauert, bis die Culturvölker von dem Syſtem
der polizeilichen Taxordnungen zu der Freiheit im Verkehr, und wieder von
dieſer zur Herſtellung poſitiver Maßregeln geſchritten ſind. Immer aber iſt aller-
dings die ganze Theurungs- und Taxpolizei als Aufgabe der ſtädtiſchen Selbſt-
verwaltung angeſehen worden. Das Syſtem der Hauptvölker iſt dabei ein
weſentlich verſchiedenes. — England hat ſich einfach mit völliger Aufhebung
ſowohl der Brodtaxen (ſeit 1815) als der Einfuhrzölle auf Nahrungsmittel be-
gnügt (mit Ausnahme von Malz, Spiritus und Zucker) und es dem freien
Verkehr allein überlaſſen, die Preiſe zu regeln. — Frankreich dagegen hat
ein ſehr bedeutſames Syſtem von poſitiven Maßregeln aufgeſtellt, das nach
Aufhebung der Brodtaxen durch Decret vom 21. Juli 1863 noch drei Theile
hat, aber freilich hier wie immer faſt nur auf Paris berechnet iſt: die Fleiſch-
kaſſe, die Bäckerkaſſe und die Markthallen (die kürzeſte und klarſte Dar-
ſtellung der beiden erſten bei Block, Dict. v. Boucherie und Boulangerie;
die Markthallen bei Th. Riſch, Bericht über Markthallen 1867. S. 48 und
öfter). — In Deutſchland iſt man formell über das Taxweſen noch nicht
hinaus, obwohl es der Sache nach wohl ohne praktiſche Bedeutung iſt. Die
theoretiſche Begründung ſchon im vorigen Jahrhundert: Juſti, Polizeiweſen
I. 715, BergVII.;erſte ſyſtematiſche Behandlung der „Theurungspolizei“
[417] Hauptſt. IX. Abtheil. 3; vergl. Hauptſt. X. Abh. 3; dann Lotz, Staatswirth-
ſchaft II. 278; ſyſtematiſch entwickelt bei Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 46 ff.
nebſt reicher Literatur, namentlich über den Getreidehandel, Vorrathsmagazine
(S. 306) u. ſ. w. Viel Material im Einzelnen bei Rau, Verwaltungspflege
II. §. 313. Poſitives Recht Preußen: Princip der Aufhebung aller Taxen,
Gewerbeordnung von 1845 §. 88, mit Ausnahme der örtlichen Brodtaxen
(RönneII. 345). Vor- und Aufkauf an ſich frei, jedoch Zulaſſung örtlicher
Beſchränkungen (Gewerbeordnung ebend. und Rönne a. a. O.). — Oeſter-
reich: Freiheit des Brodhandels zum Theil eingeführt; Aufhebung der Fleiſch-
taxe für Wien und Errichtung einer Fleiſchkaſſe ſeit 1850; örtliche weitere Be-
ſtimmungen, StubenrauchII. 316—317. — Bayern: gleichfalls örtliche
Taxen, namentlich Biertaxen (Rau a. a. O. und Pözl, Verwaltungsrecht
§. 99 ff.). — Württemberg: Brodtaxenordnung (Verfügung vom 24. Mai
1864; Mohl, württemb. Verwaltungsrecht); Theurungspolizei §. 209 ff. Das
bedeutendſte Werk über dieß Gebiet Roſcher, Kornhandel und Theurungs-
polizei (3. Aufl. 1852) im Sinne der Freiheit, jedoch noch ohne Rückſicht auf
poſitive Anſtalten. — Die Frage der Arbeiterwohnungen Gegenſtand viel-
facher Unterſuchungen und Verſuche, bis jetzt noch vorwaltend techniſcher Natur
(vergl. namentlich über Wohnungsgenoſſenſchaften Gierke, Genoſſenſchaften
S. 1069 ff.). Das reichſte Material über die eigentliche Wohnungsfrage bei
Em. Sax, die Wohnungszuſtände der arbeitenden Claſſen und ihre Reform, 1869.
Der Bettel entſteht, wo die individuelle Armuth ſich an das in-
dividuelle Gefühl wendet, um die individuelle Form der Unterſtützung,
das Almoſen, zu empfangen. Seinem Weſen nach iſt derſelbe frei,
ſo lange er in dieſer Gränze der ganz individuellen Beziehung bleibt.
Allein ſo wie er öffentlich auftritt, entweder als Straßenbettelei
oder als Sammlung, tritt er in Widerſpruch mit dem Grundſatz, daß
die Unterſtützung der Armuth Gegenſtand der Verwaltung iſt. Dieſer
Widerſpruch liegt darin, daß bei dem Bettel das Maß für den Geber
und die Gewißheit der wirklichen Noth für den Empfänger fehlen,
und der öffentliche Bettel daher aus der Arbeitsloſigkeit eine Einnahms-
quelle macht. So wie daher das Armenweſen ſich organiſirt, beginnt
der Bettel Gegenſtand der Polizei zu werden, die um ſo energiſcher
iſt, je unſicherer überhaupt die öffentlichen Zuſtände erſcheinen. Jede
Bettelpolizei iſt daher eine Verbindung von geſellſchaftlicher und Sicher-
heitspolizei. Die Gefährdung, welche der Bettel mit ſich bringt, ver-
bunden mit dem Gefühl des wirthſchaftlichen Widerſpruches, der bei
geordnetem Armenweſen in ihm liegt, erzeugt dann den Satz, daß der
Bettel und das mit ihm verbundene oder zu ihm führende Vagabundiren
polizeilich ſtrafbar ſind. Dieſe Strafe erſcheint bei unſicheren Zuſtän-
den vorwaltend als peinlich. Strafe; ſo wie die Zuſtände ſicher werden,
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 27
[418] tritt an ihre Stelle der Arbeitszwang in den dazu errichteten
Arbeitshäuſern. Nach vielen Verſuchen und Unterſuchungen iſt
man ſich einig, daß die Produktivität der Arbeitshäuſer eine ſehr
geringe iſt, und daß man den in ihnen zur Geltung gelangenden
Arbeitszwang als wirthſchaftliche Ordnungsſtrafe betrachten
und behandeln muß. Darnach bleibt auch dieſes Syſtem noch ein rein
negatives der Repreſſion. Zu einem poſitiven, die Uebelſtände zugleich
aufhebenden Syſtem wird es erſt durch zwei Momente, deren Keim
unſere Gegenwart empfangen hat, und die ſich mit der Zeit vollſtändig
und in heilſamer Weiſe ausbilden werden. Das erſte iſt die Einfüh-
rung der, wenn auch nur elementaren geiſtigen Bildung in die Auf-
gabe der Arbeitshäuſer; das zweite iſt die Errichtung von öffentlichen
Lagerſtätten mit Bett, Bad und Wäſche für Unterſtandsloſe. Es
iſt klar, daß das alles faſt nur für große Städte thunlich iſt, und daß
es daher der Selbſtverwaltung angehört. Wir ſtehen in dieſer
Beziehung in einer Uebergangsepoche; die Baſis der künftigen Geſtal-
tung iſt die allmählig immer klarer werdende Erkenntniß, daß die Ver-
ordnungen und Koſten für dieſe Anſtalten ſich durch die Verminderung
der Quellen der Armuth, Mangel an Ordnung und Bildung, und
damit durch Verminderung der Armenlaſt reichlich wieder erſetzen.
Hier liegt noch eine große Aufgabe zu löſen.
Ueber Recht und Pflicht, Bettel und Vagabundiren polizeilich zu unter-
drücken, hat niemals, auch in der Geſchlechterordnung nicht, ein Zweifel
beſtanden. Die erſte Epoche der peinlichen Strafe für beides reicht bis in
unſer Jahrhundert; für Deutſchland ſ. Berg, Polizeirecht III. 241; vom poli-
tiſchen, Quiſtorp, Grundſätze des teutſchen peinlichen Rechts I. 437; vom
ſtrafrechtlichen Standpunkt. Ueber das allerdings der Sicherheitspolizei ange-
hörige Landſtreicher- und Gaunerweſen namentlich Mohl, Präventivjuſtiz §. 19
und 20, mit reicher Literatur; für England ſtrenge Geſetze ſchon ſeit Hein-
rich VIII.; Hauptgeſetz 17. G. II. 5 mit den noch heute beſtehenden drei Claſſen
von „Vagabonds“ bei Gneiſt, Engl. Verwaltungsrecht II. §. 37 und Straf-
ſyſtem für dieſelben. — Für Frankreich ſtrenge Strafen ſchon 1351 und
1541 von Franz I. Andere Verordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts bei
Block, Mendiants. Das 18. Jahrhundert gelangt von der einfachen Strafe
zum Syſtem der Arbeitshäuſer und dem Correlat, der Ordnungsſtrafe.
Das engliſche Syſtem bei Kries, Engliſche Armenpflege S. 17 ff. Vor-
trefflich über die Workhouses und die Abneigung der Armen gegen dieſelben,
die dieſelben als Gefängniſſe anſehen S. 19 f. Die Workhouses als in door
relief gegenüber der eigentlichen Armenpflege als out door relief (vergl. Klein-
ſchrod, Pauperismus in England S. 162). Charakter derſelben iſt die enge
Verbindung mit dem eigentlichen Armenweſen, während die Bettelei für
ſich ſtrafbar iſt. — In Frankreich ſchon vor der Revolution Errichtung der
Maisons de correction (Strafarbeitshäuſer ſeit 1764); damals, nach Einfüh-
[419] rung des neuen Armenweſens, Anerkennung des Bettels als Vergehen, und
Umwandlung in die Maisons de correction. Das Syſtem des Code Pénal
Art. 269 ff. macht dann den Bettel zu einer bloßen Uebertretung, und ſtraft
ihn durch die Police correctionelle;daneben die Errichtung der dépots
de mendicité mit Zwangspäſſen und mechaniſcher gezwungener Arbeit und
Tagelohn; anbefohlen durch Decret vom 5. Juli 1808 für jedes Departement;
es exiſtiren jedoch nur zwanzig. Ueber entlaſſene Sträflinge GerandoIII.
441 ff. — In Deutſchland wird die Frage nach der Errichtung rationeller
Arbeitshäuſer in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Gegenſtand
eifriger Unterſuchungen mit Literatur für und gegen dieſelben ſeit Rulffs,
über die Preisfrage der vortheilhafteſten Errichtung der Arbeitshäuſer 1785;
dagegen Naville, dafür GerandoIII. 558. Rau fordert mit Recht die
Unterſcheidung der freien Arbeitshäuſer von den Zwangsarbeitshäuſern;
freilich erſcheinen die erſteren als gänzlich unpraktiſch. (Literatur bei RauII.
§. 345. 348.) Poſitives Recht der deutſchen Strafgeſetzgebung iſt im Allgemeinen
auf dem Standpunkt der Beſtrafung des Bettelns geblieben, meiſt in Ver-
bindung mit den Beſtimmungen über Heimathsrecht, Schulweſen und einem
ſehr wenig entwickelten Syſtem von Arbeitshäuſern. Das klaſſiſche Werk über
Vagabundenthum: Avé Lallemant, das deutſche Gaunerthum 4 Bde; der
Proceß der Scheidung der Zucht- und Strafhäuſer von den Arbeitshäuſern:
Wagnitz, die merkwürdigſten Zucht- und Arbeitshäuſer in Deutſchland. —
Preußen: Simon und Rönne, Polizeiweſen I. 522; die älteren Edikte ſeit
1669; ſ. Döhl, Armenweſen S. 5; dann das Allgem. Landrecht II. 19. 3—5
(Strafe der Arbeitsſcheu); dann Strafgeſetzbuch §. 117—119. Arbeitshäuſer
ſind nur lokal (Rönne, Staatsrecht II. §. 338). Reglement über Verwaltung
des Armen- und Corrigendenweſens vom 26. Sept. 1864 (durch eine vom
Kreistag gewählte Commiſſion von vier Mitgliedern). — Oeſterreich: die
Bettelpäſſe aufgehoben 1785; Verſuche, das „unordentliche Almoſengeben“ zu
beſeitigen (in Verbindung mit dem Armeninſtitute, ſ. unten) ſeit 1783; Bettel-
polizei den Magiſtraten übertragen (Gewerbeordnung von 1849, §. 120); Er-
richtung von Zwangsarbeitshäuſern 1811 und 1817 (Strafgeſetzbuch §. 518
und 519); Ordnung der Arbeitshäuſer nach den Provinzen; ſ. Stubenrauch,
Verwaltungsgeſetzkunde §. 338 und I. §. 198. — Bayern: „Vagantenweſen“
Mandat von 1816 (Pözl, Verwaltungsrecht §. 84). — Württemberg:
Mohl, Verwaltungsrecht §. 186. Verordnung von 1825. — Waldburg: das
Princip der Individualiſirung in der Strafrechtspflege 1869, Abth. VIII. Ein-
zelne Geſetzgebungen ſ. Stein, Polizeirecht S. 161 ff. Ueber Lagerſtätten
leider noch wenig Literatur; ſ. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. §. 342.
II. Das Armenweſen.
Vielleicht iſt es bei dem mächtigen Stoffe, der hohen Wichtigkeit
der Sache und den tiefgreifenden Conſequenzen derſelben nirgend wich-
tiger als hier, ſich über die formalen Grundlagen einig zu ſein.
[420]
Zu dem Ende muß man in der Armuth ihren wirthſchaftlichen
und ihren geſellſchaftlichen Begriff ſcheiden.
Die Armuth als wirthſchaftlicher Begriff enthält denjenigen
Zuſtand, in welchem der Mangel an den nothwendigen Exiſtenzmitteln
für das Daſein und Leben der Perſönlichkeit gefahrbringend wird.
Die Armuth als ſocialer Begriff bedeutet den Zuſtand des
Einzelnen, in welchem ihm alle Mittel fehlen, um, auch bei voller
Erwerbskraft, zu einer ſelbſtändigen geſellſchaftlichen Stellung zu ge-
langen, und in die aufſteigende Claſſenbewegung einzutreten.
Aeußerlich decken ſich daher die beiden Begriffe der wirthſchaftlichen
und geſellſchaftlichen Armuth beinahe ganz. Allein ihrem Weſen nach
ſind ſie tief verſchieden. Denn bei der wirthſchaftlichen Armuth liegt
der Grund derſelben in dem Mangel der Perſönlichkeit, bei der geſell-
ſchaftlichen Armuth in der Störung der Claſſenbewegung. Es iſt kein
Zweifel, daß beide Zuſtände einen Widerſpruch mit den höchſten For-
derungen des Geſammtlebens enthalten. Allein der weſentlich verſchie-
dene Inhalt derſelben erzeugt daher auch eine weſentlich verſchiedene
Aufgabe für die Geſammtheit gegenüber beiden Zuſtänden. Und bei
der erſteren Gleichartigkeit beider gelangt jener weſentliche Unterſchied
erſt dann zur Erſcheinung, wenn der Staat beginnt, ſeine Grundſätze
und Organe der Verwaltung auf ſie anzuwenden. Erſt dann wird es
klar, daß es falſch iſt, beides zugleich als „Armenweſen“ zu bezeichnen
und für beide von denſelben Geſichtspunkten aus daſſelbe zu fordern.
Mit der Scheidung der wirthſchaftlichen von der geſellſchaftlichen Ar-
muth erſt kann die wiſſenſchaftliche Bearbeitung und die praktiſche
rationelle Behandlung beginnen, indem ſich Begriff und Inhalt der
geſellſchaftlichen Armuth als das Gebiet der Verwaltung der geſell-
ſchaftlichen Entwicklung von demjenigen loslöst, was wir die
wirthſchaftliche Armuth nennen.
Dieſe rein wirthſchaftliche Armuth nun oder der für die Erhaltung
der Perſönlichkeit ſelbſt gefahrbringende Mangel an Unterhaltsmitteln
iſt nun in erſter Reihe im Widerſpruch mit der Perſönlichkeit ſelbſt.
Daher muß das, was der Einzelne ſeinem Weſen nach für ſich thut,
um nicht dem Mangel zu erliegen, von Seite Aller für den geſchehen,
der dem Mangel zu unterliegen droht. Und die Organiſirung dieſer
Hülfe gegen Mangel als regelmäßige Aufgabe der Verwaltung iſt das
Armenweſen.
Das Armenweſen hat daher zu ſeinem Inhalt nicht die Herſtellung
der Bedingungen für die aufſteigende Claſſenbewegung der niederſten
Claſſe, ſondern nur die Hingabe der Mittel, um den Einzelnen gegen
Mangel zu ſchützen. Sein allgemeinſtes Princip iſt daher, dem Ein-
[421] zelnen nichts darzureichen, als die allgemein menſchlichen Bedingungen
der perſönlichen Erhaltung, und das nur dann und nur ſo
weit, als der Einzelne ſich dieſelben nicht zu ſchaffen vermag. Es
folgt, daß das Armenweſen daher vorzugsweiſe eine Thätigkeit der eigent-
lichen Verwaltung iſt, während die geſellſchaftliche Entwicklung ohne
die kräftige Mitbetheiligung der Einzelnen nicht denkbar iſt. Wir
nennen deßhalb auch das Armenweſen die Organiſation des Unter-
ſtützungsweſens, während wir die Förderung der geſellſchaftlichen
Entwicklung als das Hülfsweſen bezeichnen.
Die Scheidung dieſer beiden Begriffe und Thätigkeiten nun, welche
als die erſte Vorausſetzung aller rationellen Erfüllung beider Verwal-
tungsaufgaben gelten muß, iſt langſam vor ſich gegangen und eine
der wichtigſten Thatſachen der Geſchichte. Die Elemente der letzteren
ſind in dieſer Beziehung folgende.
Die Nothwendigkeit der Hülfe bei wirklicher wirthſchaftlicher Noth
liegt ſo tief im Weſen der Perſönlichkeit, daß es nie ganz an derſelben
gefehlt hat. So lange ſie nun von dem Einzelnen allein ausgeht,
nennen wir ſie das Almoſen. Das Almoſen aber genügt nicht, weder
der principiellen Forderung der Noth, noch den allgemeinen Zuſtänden
gegenüber. In den letzteren kann nur die Geſammtheit helfen. Ein
Armenweſen entſteht daher da, wo ſich die Unterſtützung organiſirt.
Die Grundlage dieſer Organiſation iſt auch hier die geſellſchaftliche
Ordnung, und die Geſchichte des Armenweſens hat daher zu ihrer
Grundlage die großen Epochen der Geſchichte und der Geſellſchaft.
Das Armenweſen der Geſchlechterordnung beruht darauf, daß auch
der Arme der Familie und dem Geſchlecht angehört, und von ihm
unterſtützt werden muß. Daher iſt die urſprüngliche Geſtalt des Ge-
ſchlechterarmenweſens die Unterſtützung durch das Dorf; mit der Ent-
wicklung der Grundherrlichkeit und ihrer polizeilichen Rechte geht dieſe
Pflicht auf die Grundherren über, welche theils die Unterſtützung ſelbſt
geben, theils ihre Leiſtung durch das unterthänig gewordene Dorf an-
befehlen und mehr oder weniger gut leiten. Dieſe erſte Form iſt daher
das Armenweſen der Grundherrſchaft. Es erhält ſich mit ſeinem
Einfluß und ſeinen Reſten ſo lange, als es noch Grundherrlichkeit gibt;
dauernd aber bleibt aus dieſer Epoche der Grundſatz, daß die Ge-
meinde der eigentliche Armenkörper iſt.
In der ſtändiſchen Geſellſchaft empfängt das Armenweſen einen
zweiten Inhalt und eine zweite Form. Das ethiſche Element der
[422] chriſtlichen Religion tritt auf, und macht die Armenunterſtützung zu
einer Pflicht des geiſtigen Berufes. So wie daher die Kirche aus
einem Berufe ein Stand mit organiſirter Thätigkeit und eigenem Be-
ſitze wird, ſo übernimmt ſie neben der Gemeinde die Aufgabe, aus
ihren Mitteln eine Armenunterſtützung zu geben. Das kirchliche
Armenweſen ſtellt ſich neben das der Grundherrlichkeit. Ihr ethiſches
Princip iſt, daß die Armuth im Namen der Religion die Unterſtützung
des Beſitzes fordern kann; ihr praktiſches, daß dieſe Unterſtützung nicht
wie die der Grundherrlichkeit an die Gemeinde gebunden, ſondern eine
allgemeine menſchliche Pflicht ſein ſolle. Von ihr aus gehen daher die
Inſtitute, welche die Mittel für die Armenhülfe im allgemein menſch-
lichen Sinne darbieten, einerſeits die kirchlichen Sammlungen (Kling-
beutel ꝛc.), andererſeits auch die Stiftungen. Es war natürlich, daß
ſie dafür die Verwaltung derſelben behielt. Dieſe Auffaſſung des all-
gemein menſchlichen Elements in der Armenpflicht bleibt dauernd; eben
ſo der Gedanke, daß die kirchlichen Organe der Armuth die geiſtige
Erhebung und den religiöſen Troſt geben ſollen; endlich die Verſchmel-
zung der Kirchengemeinde mit der Ortsgemeinde im Armenweſen. Allein
eine objektive Pflicht zur Armenunterſtützung entſteht auch dadurch nicht.
Dieſe nun tritt erſt ein in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsord-
nung; und hier gewinnt ſie auch den Charakter der Verſchmelzung mit
dem geſellſchaftlichen Hülfsweſen, die erſt in unſerer Zeit behoben wird.
Sie beginnt ſtets erſt da, wo die Kirche durch die Reformation ihre
ſtändiſche Stellung verliert, und daher auch die Armenpflege nicht
weiter führen kann. Da nun die Armuth natürlich dauert, und die
Pflicht zur Unterſtützung gleichfalls dauernd anerkannt wird, ſo muß
jetzt der Staat ſie ordnen. Aus dieſer Nothwendigkeit geht daher die
neue, dritte Epoche des Armenweſens hervor, welche wir die der ge-
ſetzlichen Armenordnungen nennen. Das Princip der geſetzlichen
Armenordnung iſt, daß jeder Arme als ſolcher ein öffentliches Recht
auf die Unterſtützung gegen die Noth habe; daß mithin die Pflicht zur
Unterſtützung ein Theil des öffentlichen Rechts ſei; daß die Geſetzgebung
daher einerſeits allerdings den Mißbrauch des Armenrechts durch
Bettel und Vagabundenthum polizeilich bekämpfen müſſe, aber auch
dafür zu ſorgen habe, daß die wirkliche Armenpflege durch die Gemeinde
mit Hülfe der kirchlichen Inſtitute auch regelmäßig und genügend aus-
geübt werde. Das Armenweſen wird daher ein Theil der Verwaltung,
ausgeführt weſentlich durch den Selbſtverwaltungskörper der Gemeinden,
nach den gleichartig geltenden Grundſätzen der Armengeſetzgebung, und
unter der Oberaufſicht der Regierung, die freilich in ſehr verſchiedener
Weiſe ausgeführt wird.
[423]
Aus dieſer dritten Epoche geht nun die vierte hervor, indem mit
dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Gewerbe die Induſtrie
und mit ihr die lokale Uebervölkerung entſteht, von denen die erſte
durch Arbeitsmangel den Mangel an Unterhalt, die zweite durch Theue-
rung den Mangel an hinreichendem Lohn erzeugt. Es iſt die Armuth
der Erwerbsfähigen, die ſich neben die Armuth der Erwerbs-
unfähigen hinſtellt, und die durch die Ausdehnung der Induſtrie zu
einem allgemeinen Zuſtand innerhalb der nichtbeſitzenden Claſſe ent-
wickelt, namentlich im Anfange des Auftretens der Maſchinen. Dieſer
Zuſtand heißt die Maſſenarmuth oder der Pauperismus. Mit
ihm ſcheiden ſich innerhalb des allgemeinen Begriffes der Armuth die
zwei großen Elemente deſſelben, die eigentliche wirthſchaftliche Armuth
mit Erwerbsunfähigkeit, und die Anfänge der geſellſchaftlichen Armuth
mit Erwerbsfähigkeit. Jene iſt dauernd, dieſe iſt vorübergehend; jener
kann nur durch Unterſtützung geholfen werden, dieſe fordert keine
Unterſtützung, ſondern Arbeit und Erwerb. Im Anfange, faſt ein
halbes Jahrhundert lang, gehen ſie nun in einander über, und es
herrſcht die Vorſtellung, daß ſie beide mit gleichartigen Maßregeln zu
bekämpfen ſind. Während durch das letztere die Geſetzgebung daher
ihren alten Standpunkt für alle Formen beibehält, kommen in Theorie
und wirklichem Leben doch endlich die tiefen Verſchiedenheiten beider
zur Geltung, und das Armenweſen wird damit Gegenſtand einer ein-
gehenden Behandlung. Es erzeugt daſſelbe zuerſt, und zwar ſchon ſeit
dem Ende des vorigen Jahrhunderts eine ſehr reiche Literatur, und
der Charakter derſelben iſt faſt in ganz Europa derſelbe. Sie leidet
allerdings wegen des Mangels der geſellſchaftlichen Auffaſſung unter
der fortgeſetzten Verſchmelzung beider Formen der Armuth, und bildet
daher auch nur ſehr langſam und unſicher den Gedanken, daß die Hülfe
der geſellſchaftlichen Armuth überhaupt nicht in der organiſchen, ſondern
in der freien Verwaltung, dem Vereinsweſen liege; allein dafür hat
ſie andererſeits, namentlich in unſerem Jahrhundert ſeit den dreißiger
Jahren, ihren Blick erweitert, und, alle einzelnen Verhältniſſe und
Erſcheinungen der Armuth ſelbſtändig betrachtend, ein Syſtem erzeugt,
deſſen hoher Werth unverkennbar iſt. Der Charakter dieſes Syſtems
beſteht darin, daß jeder einzelne Theil Gegenſtand einer ſelbſtän-
digen Theorie und dem entſprechend auch nur ſelbſtändigen Verwaltung
und Rechtsbildung geworden iſt; daß die eigentliche Armenpflege, früher
das einzige Gebiet des Armenweſens, jetzt ſelbſt nur als ein Theil der-
ſelben daſteht; und endlich daß die ganze Armenpflege auf jedem Punkte
von der höheren ſocialen Idee der Entwicklung der geſellſchaftlichen
Bewegung durchdrungen iſt, während die letztere wieder ſich zu einem
[424] eigenen Gebiete geſtaltet. So ſind wir hier in mächtigem Fortſchritte
begriffen. Allein andererſeits ergibt ſich, wie überhaupt die Behand-
lung des Armenweſens auf geſellſchaftlicher Baſis ruht, daß dieſelbe
in den verſchiedenen Ländern auch ſehr verſchieden ſowohl in Princip
als in Ausführung iſt. Und zwar wird es klar ſein, daß in dieſer
Verſchiedenheit ſich weſentlich der geſellſchaftliche Zuſtand überhaupt,
vor allem aber die Stellung der Kirche zur Gemeinſchaft abſpiegelt.
Die höhere Wiſſenſchaft muß daher von dem Gedanken ausgehen, daß
die Beſonderheiten der poſitiven Armenverwaltung nicht etwa zufällig
ſind, ſondern daß dieſelben im Ganzen als Folgen des geſellſchaftlichen
Organismus des betreffenden Volkes erkannt und verſtanden werden
müſſen. Dieſe Beſonderheiten aber richten ſich weſentlich nach zwei
Punkten: nach dem Grade, in welchem die Kirche in einem Lande noch
eine Macht in weltlichen Dingen iſt, und nach dem Grade der Ent-
wicklung der eigentlichen Regierung und ihres centralen Organismus,
während das Princip der Vollziehung des Armenweſens durch die Selbſt-
verwaltungskörper ein ganz Europa gemeinſames iſt.
Die Literatur über das Armenweſen iſt eine ungemein reiche; obwohl ſyſte-
matiſche Werke ſelten ſind (vergl. Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 52: RauII.
§. 315 ff.; de GerandoI. Einleitung). Der Charakter der Hauptvölker in
Beziehung auf das Armenweſen in Geſetzgebung und Verwaltung iſt
ein ſpecifiſcher, und wird ſelten verglichen. — England iſt das erſte Volk,
welches eine vollſtändige Armengeſetzgebung mit 13. Eliz. 2. (1539) beſitzt,
deren Veranlaſſung die Aufhebung der Klöſter war. Geſchichte: Eden, State
of the poor 1793 höchſt gründlich. Ihr bekanntes Princip iſt die geſetzliche,
den Gemeinden zur Verwaltung übergebene Armenpflicht, deren Grund-
lage die Selbſtbeſteuerung für die Armenlaſt in der poor rate iſt. Die All-
gemeinheit dieſer Pflicht erzeugte ihre Gleichartigkeit; das Entſtehen der Induſtrie
ſeit dem vorigen Jahrhundert das Wachſen der Laſt, und ſo entſtand die Noth-
wendigkeit, dem Armenweſen eine einheitliche Organiſation zu geben, die mit
dem Jahr 1834 eintrat. Dieß ſtreng adminiſtrative Armenweſen iſt daher auch
faſt ausſchließlich auf die eigentliche Armenpflege beſchränkt, während die übrigen
Gebiete wenig zur Entwicklung gelangen, hat aber für dieſe Armenpflege gerade
durch ihre ſtreng geſetzliche Normirung zugleich einen durchgreifenden juriſti-
ſchen Charakter, wie in keinem andern Lande, ohne Rückſicht auf die geſell-
ſchaftliche Armuth, die hier zuerſt ſich ſelbſt helfen gelernt hat. — In Frank-
reich iſt mit der Revolution das Armenweſen der Kirche gleichfalls definitiv
entzogen; doch beſtehen hier die Reſte der ſtändiſchen Ordnung in gewaltigen
Stiftungen (Hoſpitäler ſ. unten), während andererſeits die örtliche Armenpflege
durch den allgemeinen Mangel an freier Selbſtverwaltung wenig zur Entwick-
lung gediehen iſt, und die Stiftungen daſſelbe zu viel erſetzen müſſen. — In
Deutſchland iſt große Verſchiedenheit, je nach der ſocialen Entwicklung. —
Oeſterreich hat es, vermöge der Stellung ſeiner Kirche, nie zu einer einheit-
[425] lichen Geſetzgebung oder vermöge der verſchiedenen Bildungsſtufen ſeiner Theile
auch nur zu einer gleichartigen Verwaltung bringen können. — Preußen hat,
nachdem ſein Armenweſen bis auf die neueſte Zeit faſt ganz der Selbſtverwal-
tung überlaſſen war, dieſelbe mit ſtrenger Beſchränkung auf die eigentliche
Armenpflege durch das Geſetz vom 11. Dec. 1842 geordnet; in den übrigen
Staaten beſtehen faſt nirgends Codifikationen; gemeinſchaftlicher Charakter aller
deutſchen Armenpflege iſt der Mangel einer oberſten einheitlichen Leitung, der
wieder durch die höchſt thätige und ausgezeichnete Literatur erſetzt wird. Zu-
ſammenſtellungen der Geſetzgebungen in de Gerando, de la bienfaisance
publique, 4 Bde. 1839, der bei jedem einzelnen Theile des ganzen Armen-
weſens die Staaten Europas und ihr Recht vergleicht; allgemeiner Ueberblick
über die europäiſchen Geſetzgaben Bd. IV. S. 540; und jetzt Emminghaus,
das Armenweſen und die Armengeſetzgebung in europäiſchen Staaten 1870. —
Im Gange der Literatur muß man zwei große Epochen unterſcheiden. Die
erſte iſt die, welche ſich ſpeciell auf die Armenpflege als Armenpolizei bezieht,
noch ohne ſich um das ſociale Element zu kümmern; die zweite faßt die
Armuth als einen innerlich organiſirten Zuſtand auf, und legt den Schwer-
punkt der Unterſuchung theils in die Frage nach den Gründen und der Ver-
hütung der Armuth, theils behandelt ſie die ſpeciellen Armuthsverhältniſſe
als Theile des ganzen Gebietes. An der Spitze dieſer ganzen Richtung ſteht
ohne Zweifel Gerando; ſein Werk iſt noch immer das Bedeutendſte über das
ganze Armenweſen. Er bezeichnet zugleich den Punkt, wo die Frage nach dem
ſocialen Inhalt der Armenfrage ſich von der der Armenpflege ablöst, ſelb-
ſtändig wird, und ſich ſchon damals der Frage nach dem Eigenthum und dem
Socialismus zuwendet. (Erſte Idee der Organisation du travail II. 281 ff.)
Sein, ihm jedoch nicht gewachſener Nachfolger: Em. Laurent, le paupé-
risme et les associations de prévoyance 1865. Dann ſelbſtändige Entwick-
lung der ſocialen Frage ſeit L. Reybaud und L. Stein (ſ. unten). Das
Verhältniß der Kirche zum Armenweſen: Chalmers, die kirchliche Armen-
pflege; D. v. Gerlach 1847 und Georg Ratzinger, Geſchichte der kirch-
lichen Armenpflege 1868; gründlich aber ſtreng auf ſein Gebiet beſchränkt (vergl.
de GerandoII. 23 und RauII. §. 337 a;Kries, Engl. Armenweſen
§. 24). Seit der neuen Geſtaltung der Staatswiſſenſchaft iſt das Armenweſen
theils ſelbſtändig dargeſtellt, wie Döhl, Armenpflege des preußiſchen Staats
1860 (Exegeſe des Geſetzes von 1842); Kries, Engl. Armenpflege; theils in
alle Staatsrechte aufgenommen. — Oeſterreich: Stubenrauch, Verwal-
tungsgeſetzkunde II. 348. — Preußen: Rönne, Staatsrecht II. §. 339. —
Bayern: Pözl, Verwaltungsrecht §. 87 ff. — Württemberg: Mohl,
Verwaltungsrecht §. 204 ff. Das Gebiet iſt auf keinem Punkte in ſich fertig.
Organiſation derſelben.
Die Organiſation des Armenweſens entſteht nun dadurch, daß
das letztere als allgemeiner Zuſtand einerſeits Aufgabe der Verwaltung
[426] iſt, und andererſeits vermöge der Verſchiedenheit der Verhältniſſe, welche
es umfaßt, durch verſchiedene Organe verwaltet werden muß. Sie iſt
von hoher Wichtigkeit, aber bisher nur wenig ſelbſtändig behandelt.
Ihr inniger Zuſammenhang mit dem ganzen Leben der Völker gibt ihr
wieder in jedem Staate einen individuellen Charakter; jedoch ſind die
Elemente derſelben ſtets die gleichen. Zu dem Ende iſt es allerdings
nothwendig, dieſelbe auf die Grundformen aller Vollziehung zurückzu-
führen, ſtatt bei allgemeinen Grundſätzen ſtehen zu bleiben. Darnach
geſtaltet ſich dieſelbe in folgender Weiſe.
I. Die Armengeſetzgebung hat auch hier die Aufgabe, das
Gleichartige in dem geſammten Armenweſen feſtzuſtellen; die Regie-
rung ihrerſeits ſoll die von der Geſetzgebung aufgeſtellten allgemeinen
Regeln zur gleichmäßigen Durchführung bringen. Beide entſtehen eben
deßhalb erſt dann, wenn die Armuth nicht mehr örtlich auftritt, ſon-
dern als allgemeiner Zuſtand erſcheint. Sie gehört daher der neueren
Zeit an; es iſt aber eben deßhalb klar, daß die Geſetzgebung ſtets zu-
gleich das Hülfsweſen direkt oder indirekt mit umfaßt, während die
Regierung in ihrem Recht und ihrer Funktion weſentlich durch die
Rechtsbildung und Thätigkeit der folgenden Organe beſtimmt wird.
Demnach iſt es klar, daß die centrale Verwaltung, eine Oberbehörde
für das Armenweſen, in dem Grade nothwendiger wird, je mehr
die Elemente des Hülfsweſens in daſſelbe aufgenommen, und je mehr
ſich das geſellſchaftliche Armenweſen aus dem rein wirthſchaftlichen
entwickelt.
II. Den zweiten großen Organismus der Armenverwaltung bilden
die Selbſtverwaltungskörper. Sie ſind die eigentlichen Träger
des Armenweſens. Auch hier ſind Landſchaft, Gemeinde und Stiftungen
zu ſcheiden, weil nicht bloß jedes derſelben ſeine eigene Organiſation,
ſondern auch ſeinen eigenen Charakter hat. Die Landſchaften haben
einerſeits diejenigen Aufgaben, welche für die Gemeinden und Stif-
tungen zu groß ſind; andererſeits ſollen ſie die Oberaufſicht über die
Armenverwaltung der beiden letzteren haben, und es ſollte in jeder
Landſchaft dafür ein eigenes Organ beſtimmt ſein. Die Gemeinde
hat das örtliche Armenweſen zu verwalten und zwar auf der Grund-
lage, daß in jedem Gemeinderath eine eigene Sektion dafür beſtimmt
ſein muß, während die wirkliche Ausübung der Armenpflege im Ein-
zelnen wieder auf dem Organismus der Armenväter beruhen ſoll.
Die Stiftungen endlich ſind für ihren ſpeciellen Zweck beſtimmt,
und empfangen die Organiſation deßhalb theils durch die Stiftungs-
urkunde, theils aber da, wo ſie wie die Hoſpitäler u. ſ. w. zum Theil
von den Gemeinden mit erhalten werden, unter Mitwirkung der
[427] Gemeindebeſchlüſſe; und wo ſie weſentlich auf eine Gemeinde beſchränkt
ſind, unter Oberaufſicht derſelben.
Die Entwicklung und freie Bewegung dieſes formalen Syſtems
der Organiſation beruht nun auf drei Punkten.
Zuerſt auf der Bildung von Verwaltungsgemeinden aus den
Ortsgemeinden für das Armenweſen, die ſtets da eintreten muß, wo
die Armenanſtalten für eine Gemeinde zu groß werden. Es iſt eine
weſentliche Aufgabe ſowohl der Regierung als der Landſchaft, dieſe
Bildung auf jede Weiſe zu fördern und zu ordnen, namentlich da, wo
die Armen arbeit in die Armenpflege ſyſtematiſch aufgenommen wird.
In dieſer Beziehung iſt England das Muſter, dem bis jetzt nur Preußen
ſeit 1842 nachgefolgt iſt.
Zweitens ſoll die innere Ausbildung des Armenweſens nicht
mehr wie bisher bloß auf der Literatur und dem Zufalle der indivi-
duellen Theilnahme an der Armenfrage beruhen, ſondern es ſoll jeder
Armenkörper verpflichtet ſein, durch jährliche Berichte ſowohl ſtatiſtiſch
als rationell auf die Natur der Armenhülfe im Allgemeinen und die
Bedürfniſſe der örtlichen Verhältniſſe einzugehen. Die Landſchaftskörper
ſollen darüber wachen, daß das regelmäßig geſchehe, und aus dem
jährlichen Geſammtbericht eine regelmäßige Landſchaftsangelegenheit
machen. Daran fehlt es bis jetzt am meiſten, und daher liegt bis
jetzt der Schwerpunkt des Bewußtſeins über die Armenfrage mehr in
der Literatur als in der Verwaltung ſelbſt.
Das dritte und wichtigſte Gebiet iſt nun das Syſtem, nach
welchem dieſe Verwaltungskörper der Armuth ihre Mittel zur
Unterſtützung gewinnen. Dieſes Syſtem zerfällt in drei Theile:
1) Die zufälligen Beihülfen. Dieſe beſtehen wieder zuerſt
aus ſolchen, die von Individuen ausgehen und daher durchaus
unregelmäßig ſind, wie Schenkungen und Vermächtniſſe. Zweitens
aber erſcheinen ſie als Organiſation des Almoſenweſens, und
zwar in den beiden Inſtituten des Klingbeutelweſens und der
Sammlungen. Beide haben die Aufgabe, die Mängel, welche in
dem rein zufälligen Almoſengeben, deſſen Nachtheile in dem Grade
größer werden, in welchem die Armenpflege ſich ſyſtematiſch ausbildet,
aufzuheben, ohne das freie individuelle Element der Unterſtützung zu
beſeitigen. Daher werden beide geſetzlich geordnet; Princip: Ord-
nung des Klingbeutelweſens durch die Kirchenvorſtände und Bewilli-
gung der Sammlungen für einzelne Fälle von der Gemeinde. Es
ſollte keine Sammlung geſtattet werden, ohne öffentliche Rechenſchafts-
ablage.
2) Das eigene Vermögen der Armenanſtalten, das natürlich
[428] je nach der Art deſſelben verſchieden iſt, aber nie, auch da wo es
ſpeciell unter den kirchlichen Organen ſteht, ohne regelmäßige öffentliche
Rechenſchaftsablage verwaltet werden ſoll.
3) Die Armenſteuer. Die Frage nach der Armenſteuer entſteht,
wo die Armuth als allgemeiner Zuſtand vom Staate anerkannt wird.
Eine allgemeine Armenſteuer als Theil der allgemeinen Beſteuerung
iſt nicht richtig, ſchon darum, weil ſie durch das Syſtem der Armen-
ſteuer vollſtändig erſetzt wird. Dieſes nun beſteht aus drei Theilen.
Die eigentliche Armenſteuer iſt eine Gemeinde- und Landes-
ſteuer. Es iſt nicht richtig, die Beſteuerung einfach in das Steuer-
ſyſtem einzubeziehen, ſondern ſie muß ſpeciell berechnet und aus-
geſchrieben werden, wie ſie ſpeciell zu verwalten iſt. Nur unter dieſer
Vorausſetzung iſt die Selbſtbeſteuerung fähig, ihren Werth ſpeciell
für das Armenweſen zu entwickeln.
Die geſetzlichen Armeneinnahmen als Beſteuerung gewiſſer Ein-
kommenszweige (wie Steuer auf Theater, öffentliche Luſtbarkeiten, das
öſterreichiſche Armendrittel u. ſ. w.) ſind nicht richtig, da ſie ihren
höheren Zweck, die Theilnahme der Einzelnen an der Armenfrage nicht
erreichen.
Die dritte Art entſteht da, wo eine beſtimmte Gemeinde nicht
im Stande iſt, entweder vorübergehend oder dauernd ihrer Armenpflege
zu genügen. Grundſatz: Unterſtützung durch die Landtage, als
Gegenſtand der Berathung und Beſchlußfaſſung der Landesvertretung.
Nur in außerordentlichen Fällen kann der Staat als Einheit eine ſolche
Unterſtützung gewähren.
Das ſind die Elemente der Organiſation des Armenweſens inner-
halb der Selbſtverwaltung. Es waltet nun nirgends eine größere
Verſchiedenheit ob, als gerade in dieſem Gebiet. Dennoch iſt die Rechts-
bildung auf demſelben in unſerer Zeit ſehr lebendig. Ihre Grundlage
aber muß allerdings die engliſch-preußiſche ſein, daß auch in dieſer
Organiſation das Armenweſen von dem Hülfsweſen für die ſociale
Bewegung durchſtehend zu ſcheiden iſt, da beide ganz verſchiedene
Principien und Aufgaben haben. Jede Vermengung ſtört den Erfolg.
Daſſelbe gilt von dem Folgenden.
III. Der dritte große Organismus iſt das Vereinsweſen und
zwar als das Gebiet der Hülfsvereine. Dieſelben bedürfen keiner
beſonderen Organiſation, ſondern finden die letztere in den allgemeinen
Grundſätzen über die Freiheit und über das Recht des Vereinsweſens
überhaupt.
Die ſyſtematiſche Organiſation des Armenweſens als Ganzes iſt viel zu
wenig behandelt (vergl. de GerandoIV. S. 584 ff.; Mohl, Polizeiwiſſen-
[429] ſchaft I. §. 65 ff.). Der Charakter deſſelben iſt im Ganzen, mit Ausnahme des
Vereinsweſens, ſehr verſchieden in den verſchiedenen Ländern. — Englands
Organiſation beruht auf dem ſtreng durchgeführten Gedanken, daß das Armen-
weſen principiell eine Angelegenheit des Staats, in ſeiner einzelnen Durch-
führung eine Aufgabe der Gemeinde ſei. Daher ſtrenge Scheidung zwiſchen
den beiden Organen, von denen das letztere erſt ſeit dem Geſetz von 1834 hin-
reichend entwickelt iſt. Armengemeinde gleich Kirchengemeinde mit voller
Selbſtverwaltung und Selbſtbeſtimmung in der Poor rate, die faſt allen andern
direkten Steuern zum Grunde liegt. Innerhalb der Armengemeinde die
eigentliche Verwaltung durch die Guardians, welche die obere Leitung des
Armenweſens und die Bewilligung der Unterſtützung haben (Armenpfleger);
die Overseers, welche die letztere austheilen (Armenväter) und Auditors,
welche die Rechnung führen. Daran ſchließen ſich die Unions, als die Armen-
verwaltungsgemeinden mit den Arbeitshäuſern (Workhouses) und ihrer Orga-
niſation, und die Centralleitung mit dem Poor Law Board. Daneben ſteht,
ohne weiteren Zuſammenhang damit, die Ordnung der Armenkinderpflege und
der einzelnen großen Armenanſtalten, während endlich das Vereinsweſen nament-
lich für Errichtung von Krankenhäuſern eine Entwicklung empfangen hat wie
nirgends in der Welt. Die Literatur iſt gerade über dieſe Organiſation außer-
ordentlich reich. Vergl. außer den bei Rau und Mohl citirten alten Werken:
Kries, Engl. Armenpflegweſen §. 9 ff.; de GerandoIII. 526; und bei
jedem einzelnen Theile: LaurentP. III. Ch. 3; über die Armenſteuer S. 33;
Vocke, Geſchichte der Steuern des brittiſchen Reiches 1866 S. 623; Gneiſt,
Engl. Verwaltungsrecht II. §. 116. — In Frankreich dagegen liegt der
Schwerpunkt des Armenweſens in den Hoſpitälern, während die Gemeinde-
armenpflege durch die Bureaux de bienfaisance, die in jeder Gemeinde ſein
ſollen, aber nicht immer ſind, verwaltet wird. Dieſelben ſind nach franzö-
ſiſchem Muſter ernannte Gemeindeorgane. Gerando hat die Organiſation
bei jedem Punkte des Syſtems aufgenommen; über das Ganze vergl. Gerando
IV. am Ende; LaurentP. III. Ch. 2; Block, v. Bureaux de bienfaisance.
Eine centrale Leitung angeſtrebt, aber nicht durchgeführt in dem Grand
Conseil, das ſich jedoch wie es ſcheint, weſentlich auf die sociétés de pré-
voyance bezieht (Laurent S. 280 ff.). — Die deutſchen Organiſationen
ſind principiell Gemeindeorgane, in Preußen bloß weltliche, in Oeſterreich
zugleich kirchlich. Organiſation, Preußen durch Geſetz vom 31. Dec. 1842;
Gemeinde- und Landarmenverbände (Döhl, Armenpflege des preuß. Staats
1860; Rönne, Staatsrecht II. §. 341). Das ſog. Bucquoi’ſche Armen-
inſtitut in Oeſterreich nur für Armenpflege: Stubenrauch, Verwaltungsgeſetz
II. §. 348 ff. Ueber alle übrigen Staaten, ſo wie ſpeciell über die obgenannten
gibt jetzt die umfaſſendſte Darſtellung das Sammelwerk von Emminghaus
a. a. O. Ueber die Frage nach der in Deutſchland noch durchaus fehlenden
centralen Organiſation ſ. ſchon Godefroy, Theorie der Armuth 2. Aufl. 55.
und Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 67. Das Recht und das Syſtem der
Unterſtützungsvereine bei Stein, Vereinsweſen S. 171 ff.
[430]
Während nun der Organismus des Armenweſens die Funktion
des Staats in Beziehung auf den Zuſtand der Armuth organiſirt,
enthält das Armenrecht die Geſammtheit der Beſtimmungen, nach
welchen der Einzelne berechtigt iſt, an dieſer unterſtützenden Thätig-
keit des Ganzen Theil zu nehmen. Dieß Armenrecht zerfällt in drei
Gebiete.
I. Das Heimathsrecht enthält die Grundſätze, nach denen
durch dauernde Niederlaſſung das Recht des Einzelnen auf Unterſtützung
gegen eine Gemeinde als Armenverwaltungskörper gewonnen wird.
Das Heimathsrecht iſt daher im Grunde nur die Anwendung der
Grundſätze der Angehörigkeit an die Gemeinde für die Armen-
pflege. Es unterſcheidet ſich jedoch weſentlich von den letzteren dadurch,
daß es auch gegen den Willen der Gemeinde gewonnen werden kann,
und daher ein objektives Rechtsverhältniß für dieſelbe bildet. Daher
langer und faſt immer in derſelben Weiſe ſich bewegender Kampf um
die Frage, auf welchem Punkt dieß Recht der Heimath gewonnen wird,
und vielfaches Schwanken der Geſetzgebung. Die Grundzüge, auf denen
daſſelbe beruht, ſind jedoch einfach, ſobald die Gebundenheit an die
Scholle mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft aufhört.
Grundlage iſt, daß ſo lange keine andere Heimath gewonnen iſt, der
Geburtsort die natürliche Heimath bildet. Die freie Bewegung von
einer Gemeinde zur andern iſt die Freizügigkeit, die als freies
Niederlaſſungsrecht erſcheint. Wenn dieſe Niederlaſſung eine ge-
ſetzlich beſtimmte Zeit gedauert hat, ſo erzeugt ſie ohne beſtimmten
Akt das Heimaths- und damit das Armenrecht. Die eigentliche
Frage bewegt ſich alſo nur darum, erſtlich, was als Niederlaſſung
anzuſehen ſei (z. B. wann Dienſt und Arbeit die Niederlaſſung ent-
halten) und zweitens, ob die Gemeinde, und unter welchen Bedingungen
ſie das Recht hat, a) die Auswärtigen während der Zeit der Nieder-
laſſung in ihre frühere Heimath zu befördern, und b) die etwa gemach-
ten Auslagen für die während dieſer Zeit unterſtützten Armen der
Heimathsgemeinde aufzurechnen. Die Geſetzgebungen ſind auf dieſem
Punkte ſehr genau und oft ſehr hart, und an dieſen faßbaren Gegen-
ſtand hat ſich daher eine förmliche Jurisprudenz des Armenrechts an-
geſchloſſen, die dem folgenden Punkte fehlt.
II. Das Armenrecht im eigenen Sinne iſt nun das durch
die Heimath für den einzelnen Armen erworbene Recht auf die
Unterſtützung ſelbſt. Die Grundlage dafür iſt die Aufnahme in
das Armenregiſter, der Inhalt iſt ein Privatrecht auf den Bezug der
[431] betreffenden Unterſtützung; die Folge iſt der ſchließliche, jedoch natürlich
wenig praktiſche Grundſatz, daß dieſe Unterſtützung ſelbſt nur als
Vorſchuß behandelt wird. Alle dieſe drei Punkte werden nun ge-
wöhnlich nur vom Standpunkte der eigentlichen Armenpflege betrachtet,
obwohl ſie bei allen Arten der letzteren vorkommen, allerdings aber
bei jeder eine andere Geſtalt annehmen. Dieß Recht nun hat ſeine
hiſtoriſchen Grundformen durchgemacht, und iſt auch jetzt noch im Wer-
den begriffen. Urſprünglich iſt es nur ein ſittlicher Anſpruch, den der
Einzelne hat, und ſeine Befriedigung iſt freie Gewährung. Dann
treten an die Stelle der letzteren gewiſſe Regeln der betreffenden
Anſtalten, die aber noch keinen Anſpruch des einzelnen Armen begrün-
den. Dann wird die Armenpflicht eine öffentlich rechtliche Verpflich-
tung der Armenorgane, zu deren Erfüllung dieſelben gezwungen werden
können; damit entſteht zugleich der erſte Zweifel an einer ſolchen
Verpflichtung und der feſte Begriff der charité légale, die übrigens
nur ausnahmsweiſe als privatrechtlicher Anſpruch auf Unterſtützung
anerkannt wird. Die Vorausſetzung des letzteren iſt allerdings die
ſtrenge Unterſcheidung zwiſchen dem Armenweſen und dem Hülfsweſen
des geſellſchaftlichen Fortſchrittes, und die Leiſtungen, auf welche der
Arme ein Recht hat, ſind natürlich ſehr verſchieden je nach der Anſtalt,
um die es ſich handelt. Wohl aber wäre es nothwendig, dieß ganze
Rechtsverhältniß als geſetzliches Armenverfahren durch ein Geſetz feſt-
zuſtellen, und für alle Anſtalten zu ordnen.
Das Heimathsweſen und -Recht hat eine lange und mit vielen Kämpfen
durchwobene Geſchichte, ſ. Stein, Innere Verwaltung, 1. Theil (Bevölke-
rungsweſen S. 272) engliſche, franzöſiſche und deutſche Rechtszuſtände
(vergl. dazu Döhl, die Niederlaſſung des preußiſchen Staats oder das Geſetz
vom 31. Dec. 1842 und deſſen Armenpflege des preuß. Staates von S. 131
bis 171. Engl. Heimathsweſen: Kries §. 22 ff.; die Peels Settlements Act
§. 26; Emminghaus a. a. O. S. 13). — Das franzöſiſche Heimathsweſen
Block bei Emminghaus S. 601 ff. — Oeſterreich: Heimathsgeſetz vom
3. Dec. 1803 als Corollar zum Gemeindegeſetz vom 5. März 1862. — Das
Armenrecht im engeren Sinne iſt noch wenig ausgebildet. Direkte Negation des
Rechts der Armen: RauII. §. 339 und Literatur. In England iſt ein Privat-
und Klagerecht auf die Unterſtützung anerkannt (Kries §. 27); Klagerecht in
Schottland (Kries a. a. O. S. 168. 169). Frankreich verſagt ein ſolches Privat-
recht ausdrücklich, und erkennt nur bei Irren und Findelkindern eine beſtimmte
Verpflichtung (vergl. Emminghaus S. 12. 13). Die deutſchen Geſetze ſtehen
auf dem Standpunkt der öffentlichen Verpflichtung und Erzwingung durch
die Behörde, ohne privatrechtlichen Anſpruch; die meiſten übergehen die Frage
ſtillſchweigend; vergl. das preuß. Recht, das ein verfolgbares Recht auf Alimen-
tation nur ſehr beſchränkt einräumt (RönneII. §. 340. 341).
[432]
Das Syſtem der Armenpflege entſteht nun, indem die Verſchieden-
heit der Verhältniſſe der Armuth der unterſtützenden Thätigkeit eine
verſchiedene Aufgabe und mithin auch verſchiedene Formen gibt. Das
Syſtem bildet ſich eben deßhalb auch nicht einheitlich und als ein
Ganzes aus, ſondern vielmehr geht jedes Gebiet mit eigener Grund-
lage, eigenen Mitteln, eigener Verwaltung und meiſt ſogar mit eigener
Geſetzgebung vor. Die Wiſſenſchaft erkennt es aber als ein Ganzes,
das im Weſentlichen in drei Gebiete zerfällt; die Armenkinder-
pflege, das Armenkrankenweſen und die eigentliche Armen-
pflege.
Die Pflege der Armenkinder gibt es urſprünglich nicht; ſie iſt mit
der eigentlichen Armenpflege ungeſchieden verbunden. Es iſt das un-
ſterbliche Verdienſt von Vincent de St. Paul, die Sorge für die Ar-
menkinder von der allgemeinen Armenpflege getrennt, und die ſittliche
Nothwendigkeit, der erſteren eine ſelbſtändige Grundlage zu geben, feſt-
geſtellt zu haben. Das achtzehnte Jahrhundert hat daraus die recht-
lichen Elemente eines eigenen Syſtems in der Waiſenpflege und
den Findelhäuſern gebildet; das neunzehnte Jahrhundert hat das
ganze Gebiet mit dem Bewußtſein einer ſocialen Aufgabe durchdrungen
und die Sorge für den Unterhalt der Kinder zugleich zu einer Er-
ziehungsaufgabe gemacht, indem ſie die Krippen und Warteſchulen
hinzufügte. So iſt aus dem Ganzen ein hochwichtiges, zugleich prakti-
ſches und wiſſenſchaftliches Syſtem geworden, das wiederum den Ueber-
gang zur geſellſchaftlichen Bewegung und Entwicklung der niederen
Claſſe bildet. Jeder einzelne Theil beſitzt jetzt ſeine Anſtalten, ſeine
Literatur und zum Theil auch ſeine Geſetzgebung.
a) Waiſenpflege.
In der Waiſenpflege zuerſt löst ſich die Sorge für die Armen-
kinder zuerſt von der allgemeinen Armenpflege los; ihre nächſte Auf-
gabe beſteht allerdings darin, die Eltern für die Kinder in Beziehung
auf das materielle Bedürfniß zu erſetzen; ihre höhere Entwicklung
geht aber dahin, durch eine möglichſt gute Erziehung ſie für die Zu-
kunft erwerbsfähig zu machen. Die erſten Waiſenhäuſer ſind daher
Armenkinder-Anſtalten, die Waiſenhäuſer werden aber namentlich mit
dem neunzehnten Jahrhundert Armen-Erziehungsanſtalten. Das
iſt ihr gegenwärtiger Standpunkt. Sie ſind daher örtliche Armen-
anſtalten. Sie ſind nur möglich, wo die Gemeinde ſo groß iſt,
[433] nicht daß eine bloße Ernährung, ſondern daß eine förmliche Erziehung
mit Lehrmitteln gegeben werden kann. Iſt das nicht der Fall, ſo
iſt es beſſer, die Waiſen bei Familien unterzubringen. Beſteht aber
ein Waiſenhaus, ſo ſoll es nicht bloß für eigentliche Waiſen da ſein,
ſondern es ſoll theils auch temporär Kinder, deren Eltern unfähig
ſind, aufnehmen, theils ſoll die Waiſenſchule ſtets den Kern der
Armenkinderſchule abgeben, und mithin niemals bloß Waiſen-
ſchule ſein. Die Verwaltung iſt Gemeindeverwaltung unter der Land-
ſchaft; ſie wird von dem Armenrathe der Gemeinde geleitet, mit Ober-
aufſicht über Unterhalt und Unterricht. Die Dauer der Waiſenpflege
ſoll bis zur Vollendung des erſten Grades gewerblicher Bildung gehen;
niemand wird hier an confeſſionelle Unterſchiede denken. Die vollſte
Oeffentlichkeit, namentlich die Verbindung der Waiſenſchule mit den
Armenkinderſchulen iſt die Grundlage ihres Werthes für ihre geſell-
ſchaftliche Stellung.
Die Waiſenpflege iſt in England wenig ausgebildet, ſie wird ſich erſt
an den Armenſchulen entwickeln. Eigentliche Waiſenhäuſer gibt es wohl nur
wenige. GerandoII. 85. — In Frankreich wird die Waiſenpflege unter
den weiten Begriff der Hospices (H. des enfants) zuſammengefaßt. Sie be-
ſtehen ſchon ſeit dem 14. Jahrhundert; das Geſetz vom 28. Juni 1793 über-
nahm alle Armenkinder auf den Staat, verſchmolz ſie aber mit den enfants
abandonnés, bis die Waiſenpflege 1814 wieder ſelbſtändig und in den Hospices
hergeſtellt ward. Geſchichte bei GerandoII. 88 ff. — Preußen hat eben
ſo ſelbſtändige örtliche Waiſenhäuſer (RönneII. §. 13). — Oeſterreich:
Stubenrauch, Verwaltungsgeſetz I. 45 (Waiſencommiſſion) Verordnung vom
16. Nov. 1850 und 14. Juli 1854 und II. 357. Ueber die übrigen Staaten
ſ. Emminghaus; vergl. dazu RauII. 355 mit Literatur, jedoch ohne be-
ſondere Unterſcheidung des Verhältniſſes der Armenſchulen.
b) Findelkinder.
Die Anerkennung, daß verlaſſene Neugeborene der öffentlichen
Sorge anheimfallen, iſt ſchon vom Concil von Nicäa im vierten Jahr-
hundert ausgeſprochen und niemals beſtritten. Das Findelhaus-
weſen beginnt jedoch erſt da, wo die Anſtalt getroffen wird, daß
Neugeborene in einem eigens dazu errichteten Hauſe von den Müttern
der öffentlichen Pflege ohne weitere Angabe der Eltern übergeben wer-
den können. Damit erſt iſt die eigentliche Frage der Findelhäuſer
entſtanden, bei denen jene Aufnahme weſentlich im Intereſſe des
Schutzes der Ehre der Mutter und zum Theil auch als Abwehr gegen
Kindesmorde und Fruchtabtreibung hergeſtellt wird, während der Unter-
halt der Findlinge als durchaus identiſch mit dem Waiſenweſen erkannt
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 28
[434] wird und deßhalb unter die Waiſenpflege fällt. Der Werth der ge-
heimen Aufnahme der Neugeborenen (Drehladen) beruht daher am
letzten Ende auf der Frage, ob dieſelbe jene Zwecke auch wirklich er-
füllen; und mit Recht erſcheint daher das von der Waiſenpflege ge-
trennte Findelweſen vielmehr als eine Anſtalt der Sicherheitspolizei
als der Armenpflege. Die Statiſtik zeigt nun, daß die eigenen Findel-
häuſer jene Zwecke eben nicht erfüllen, indem ſie weder Kindesmorde
noch Abtreibungen vermindern. Es kommt daher darauf an, das Findel-
weſen auf die Aufnahme in die erſte Abtheilung der Waiſenhäuſer
(à bureau ouvert) zu reduciren, alle übrigen Beſtimmungen über
Findlinge dagegen mit denen über die veredelte Waiſenpflege in
ein Ganzes zu verſchmelzen.
In England Verſuche ſeit dem 18. Jahrhundert; das Londoner Findel-
haus 1756 als Staatsanſtalt mit Beibehaltung der Kinder bis zum fünfzehnten
Jahre; Literatur und Kampf über daſſelbe bei GerandoII. 196—276 und 348.
— In Frankreich ſeit dem 16. Jahrhundert; Recht der Findlinge in der
Conſt. von 1791 anerkannt (I. 15). Später Organiſation der Hospices des
enfants trouvés (GerandoII. 271 ff.). Decret vom 19. Jan. 1841 über en-
fants abandonnés. Andere Länder ebend. 284 ff. — In Deutſchland Ver-
bindung mit den Gebäranſtalten; die Frage ſelbſt weſentlich vom polizeilichen
Geſichtspunkt aufgefaßt (RauII. 355), ſonſt mit der der Waiſenhäuſer iden-
tificirt (Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. 63). Eigene Geſetzgebungen mangeln.
Vergl. Franz Hügel, das Findelweſen Europas, Jahrbuch für Geſetzkunde
und Statiſtik 1862. S. 272; beſonders aber deſſen gründliches Werk: die
Findelhäuſer und das Findelweſen Europas 1863. — Findelaufſicht in Oeſter-
reich: StubenrauchII. 266.
c) Krippen und Warteſchulen.
Waiſenhäuſer und Findelhäuſer haben es nur mit der wirklichen
Noth der Armenkinder zu thun; da aber, wo ſtatt der wirklichen Noth
vermöge der Zuſtände der Familie, ſei es verſchuldet oder unverſchuldet,
nur noch die Gefahr des Verſinkens der ungeſchützten Kinder ein
phyſiſches und ſittliches Verkommen entſteht, treten die Krippen und
die Warteſchulen ein. Ihre Aufgabe iſt es, die erſte Kinder-
erziehung da zu erſetzen, wo die Lage oder die Beſchäftigung der
Eltern es nicht möglich machen. Sie ſind natürlich in dem Grade noth-
wendiger, in welchem die Eltern mehr vom Hauſe entfernt ſind, und
in dem Grade wichtiger, in welchem die Dichtigkeit der Arbeiterbevöl-
kerung zunimmt. Sie ſind bis jetzt nur noch durch das Vereinsweſen
entſtanden und erhalten. Es wird und muß aber die Zeit kommen,
wo die Krippen und Warteſchulen mit dem großen Segen, den ſie über
[435] die Bevölkerung zu bringen vermögen, als eine ganz unabweisbare
Aufgabe jeder Gemeinde vom Geſetze eingeführt, von der Verwal-
tung öffentlich geleitet, und von jedem verſtändigen Manne
anerkannt werden. Sie ſind dazu beſtimmt, die erſte Grundlage
für das ganze öffentliche Bildungsweſen der Armen zu werden, und
damit den Uebergang zur Verwaltung der geſellſchaftlichen Entwicklung
zu bilden.
In England ſcheint das Krippen- und Warteſchulweſen wenig ausge-
bildet. — In Frankreich vertreten die Hospices d’enfants die Warteſchulen;
die eigentlichen Crêches in Paris gegründet, jedoch gegen Zahlung der Eltern
(Block, v. Crêches). — In Oeſterreich ſeit zwanzig Jahren als Aufgabe
der Krippenvereine (vergl. namentlich die Krippenkalender für Wien 1870);
Warteſchulen ſchon ſeit 1832 begonnen; StubenrauchII. §. 364. Salles
d’asile (GerandoII. 21) ſchon ſeit Anfang dieſes Jahrhunderts.
d) Armenſchul- und Armenerziehungsweſen.
Das Armenſchul- und Erziehungsweſen ſoll nun da anfangen,
wo die Armenkinder aus den Warteſchulen in die Volksſchule übergehen.
Das Armenſchulweſen hat es bis zur Reife, das Erziehungsweſen nach
derſelben mit den Kindern der Armen zu thun. Die Armenſchule be-
ſteht aber nicht in dem bloßen Recht der Freiſchule für arme Kinder,
ſondern es beruht vielmehr auf zwei ſelbſtändigen Principien. Zuerſt
enthält es die ſtrenge Schulpolizei mit dem Recht derſelben, jedes
herumvagirende Kind polizeilich in dieſe Schule zu ſenden; zweitens
aber als nothwendiges Corollar der Grundſatz, daß in dieſen Schulen
den Kindern Nahrung während der Schulzeit gegeben und Rein-
lichkeit von ihnen erzwungen wird. Keine Gemeinde ſollte
daran ſparen, den Lehrern dazu die Mittel zu geben; keine Schul-
aufſicht ſollte einen Bericht erſtatten, ohne dieſe Frage zu berühren.
Sind eigene Waiſenſchulen unvermeidlich, ſo ſind ſie die natürliche
Armenſchule. Die Armenerziehung dagegen reicht ſchon bis in das
reifere Alter hinein. Sie hat zur Aufgabe, namentlich verwahrloste
Jünglinge und Mädchen, dann entlaſſene jugendliche Verbrecher aufzu-
nehmen und ſie zu erziehen. Während das Armenſchulweſen in jeder
Gemeinde möglich und nothwendig iſt, fordert das Armenerziehungs-
weſen bereits größere Armenverwaltungsgemeinden, und ſollte direkt
von der Landſchaft ausgehen. Hier iſt noch faſt alles zu ſchaffen.
England hat das Armenſchulweſen faſt ausſchließlich auf die Polizei ge-
gründet; ſeine district ragged und pauper schools ſind Polizeiſchulen, ohne
weiteren ſocialen Inhalt (vergl. Kries, Engl. Armenpflege 31; Gerando
II. 23). Vereinsweſen in England für verwahrloste Kinder II. 420. Geſetz-
[436] gebung: 8. 9. Vict. 38 und 117, nebſt 10. 11. Vict. 33; dann 25. 26. Vict.
113 mit Warrants of removal gegen Eltern mit Strafen durch den Friedens-
richter. — Frankreich: Institutions préservatrices ebend. II. 399. 425.
Ueber die einzelnen Anſtalten Ducpetiaux, Situation des Ecoles de réforme
1861; vgl. Literatur und Angaben: Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 353. 354.
Geſetzgebung und Literatur über das Armenſchulweſen bei Stein, Innere
Verwaltung (Bildungsweſen), namentlich S. 141 ff. über England, Frankreich
und Deutſchland. Auch Angaben zerſtreut bei Emminghaus a. a. O.
Das Armenkrankenweſen entſteht allerdings faſt gleichzeitig mit
dem Armenweſen, aber zu einem ſelbſtändigen Gebiete wird es erſt in
unſerem Jahrhundert. Seine erſte Geſtalt iſt die der Hoſpitäler,
die aber als Stiftungen beſchränkt und örtlich ſind; erſt mit unſerem
Jahrhundert bildet ſich die Armenkrankenpflege als ſyſtematiſch aufge-
faßter Theil der Armenpflege heraus; und auch jetzt ſteht daſſelbe im
Grunde noch auf der niederen Stufe, ſich weſentlich nur mit der Hei-
lung der Krankheiten, und wenig mit der Bekämpfung der Urſache der-
ſelben zu beſchäftigen.
a) Hoſpitäler, Taubſtummen-, Blinden- und Irrenanſtalten.
Die Hoſpitäler ſind die erſte hiſtoriſche Form der Sorge für die
Heilanſtalten; die Taubſtummen-, Blinden- und Irrenanſtalten folgen
ihnen ſeit dem vorigen Jahrhundert. Sie ſind urſprünglich Stiftungen,
und als ſolche ſelbſtändig mit ſelbſtändiger corporativer Verwaltung.
Dann treten ſie ſeit dem vorigen Jahrhundert unter die Oberaufſicht
der Geſundheitsverwaltung, zum Theil auch mit wiſſenſchaftlichen In-
ſtituten verbunden, mit eigenem Recht, und nach eigenen Grundſätzen
verwaltet. Je größer die Stadt, um ſo nothwendiger ſind ſie. Ihre
beſondere Darſtellung gehört jedoch, da ſie nicht bloß auf die Armen
beſchränkt ſein ſollen, vorwiegend in das Geſundheitsweſen.
In England beruht das Hoſpitalsweſen vorzugsweiſe auf dem Vereins-
weſen; Armenkrankenhäuſer ſind geſetzlich nur mit den Workhouses verbunden.
— In Frankreich muß man die Hospices ſtreng von den Hospitaux ſcheiden;
innere Einrichtung und Organiſation bei Block in Emminghaus a. a. O.
Dazu Laurent a. a. O. S. 152. (1324 Hoſpitäler in Frankreich, allerdings
die Hospices inbegriffen mit 85 Mill. Vermögen.) GerandoIV. 278. Ge-
ſchichte und Geſetzgebung in den europäiſchen Staaten. Reform der letzteren
in Frankreich ſeit 1750, S. 363. Im Uebrigen ſ. über das Recht dieſer An-
ſtalten Stein, Geſundheitsweſen, Heilanſtalten S. 121 ff. — Preußen:
RönneII. §. 341. — Oeſterreich: StubenrauchII. 231.
[437]
b) Armenkrankenpflege.
Die Armenkrankenpflege iſt nun das für die Krankheiten der
Hausarmen organiſirte Heilweſen. Daſſelbe beruht bisher auf zwei
Punkten: zuerſt der unentgeldlichen Benützung der Apotheken, dann
die Herſtellung eigener Armenärzte. Die Nothwendigkeit dieſer In-
ſtitution kann nicht, wie in England und Frankreich, wo beides fehlt,
erſetzt werden durch die Hoſpitäler. Aber eben ſo wenig genügt wie
in Deutſchland, das bloße Heilweſen durch die Armenärzte der Ge-
meinde, um ſo weniger, als dieſelben doch nur in den großen Städten
eingerichtet werden. Die höhere, künftige Aufgabe der Armenärzte
iſt die Vertretung der Forderungen der Geſundheitspflege im
Kreiſe der Armuth, namentlich in Beziehung auf Wohnungen und
Arbeitslokale. Was ſie hier zu thun haben, zeigt die Lehre vom
Sanitätsweſen. Wir ſind von einer ſolchen Thätigkeit noch weit ent-
fernt; vielleicht daß die Erkenntniß, daß in der Hälfte aller Fälle der
Geſunde durch den Kranken und der Wohlhabende durch den Armen
krank wird, der Geſundheitspflege des Armenweſens ihre rechte Ent-
wicklung geben wird.
Das Syſtem der Armenkrankenpflege im obigen Sinne iſt noch wenig be-
handelt, und hat allerdings eine durchgreifende Anerkennung des Geſundheits-
weſens als Theil der Verwaltungslehre zur Vorausſetzung (ſ. Stein, Geſund-
heitsweſen S. 122 ff.).
Die eigentliche Armenunterſtützung umfaßt nun die Ge-
ſammtheit an Unterſtützungen, die den erwachſenen Armen in ihrer
Nothlage gegeben werden. Ihr Gebiet iſt jetzt ein feſt beſtimmtes;
aber gerade in ihm zeigen ſich am deutlichſten die drei großen Stadien
des Armenweſens, am deutlichſten das zufällige und unorganiſche Al-
moſen, die Unterſtützung durch kirchliche Corporationen, und
endlich die organiſirte Verwaltung des Unterſtützungsweſens, deren
Baſis die geſetzlich ausgeſprochene Pflicht der Unterſtützung durch die
Gemeinde, deren Syſtem aber die Auflöſung der Armuth in ihre ein-
zelnen Zuſtände iſt. Wiſſenſchaft und Praxis haben an dem letzteren
gleichmäßig gearbeitet; ſein Inhalt iſt ein dreifacher: die eigentliche
Unterſtützung, die Verſorgungshäuſer, wieder mit Verſuchen
zur Herſtellung von Armenarbeit verbunden. Alle dieſe Thätig-
keiten können vom Verein übernommen werden; allein die Selbſtver-
waltung iſt das eigentliche Organ dafür, und kein Vereinsweſen kann
ſeine Pflicht und ſeine Funktion hier überflüſſig machen.
[438]
Es iſt nun ein weſentlicher Fortſchritt unſerer Zeit, daß wir ge-
lernt haben, die Aufgabe der Armenunterſtützung von der ſocialen
Frage zu ſcheiden. Die Nothwendigkeit dieſer Scheidung bedarf
keines weiteren Nachweiſes. Aber es iſt feſtzuhalten, daß nur ſie es
iſt, welche das ganze Armenunterſtützungsweſen zuletzt ſo einfach macht,
wie es in Folgendem erſcheint.
a) Armenbetheilung.
Die Armenbetheilung als die direkte Armenunterſtützung, im Ein-
zelnen unendlich vielgeſtaltig, iſt in ihren Grundzügen ſehr einfach.
Wird dieſelbe von Gemeinden gegeben, ſo iſt es richtig dieſe Grundſätze
durch Gemeindebeſchluß feſtzuſtellen; Unterſtützungsvereine ſollten die-
ſelben principiell durchführen.
Die Armenkreiſe ſollen möglichſt klein ſein, um die Einzelbeur-
theilung zuzulaſſen. Sie ſoll ſo wenig als möglich in baarem Gelde,
ſondern ſo viel als thunlich in Naturalien beſtehen. Sie ſoll in mög-
lichſt kurzen Terminen gegeben werden. Sie ſoll nie größer ſein,
als zur Deckung des dringendſten Bedürfniſſes. Sie ſoll nie gegeben
werden, ohne vorhergehende Conſtatirung der Noth, nicht bloß der
Armuth. Sie ſoll ſtets darauf bedacht ſein, ſo bald als möglich zu
enden. Sie ſoll geradezu verweigert werden, wenn der Noth-
leidende nachweisbar einen Erwerb, wenn er auch noch ſo gering iſt,
ausſchlägt. Sie ſoll daher ſtets verbunden ſein mit dem Verſuche, den
Armen irgend eine Arbeit zu geben. Jede Unterſtützung, welche dem
Erwerbfähigen, der Arbeit finden kann, gegeben wird, iſt ein Unrecht.
Die Frage nach der Errichtung eigener Arbeitshäuſer iſt keine
Frage des Princips, ſondern der Zweckmäßigkeit, ebenſo die ihrer Ein-
richtung. Es iſt Pflicht der Gemeindeglieder, wo ſie können, den
Unterſtützten irgend eine Arbeit zu geben. Das Uebrige muß den
lokalen Verhältniſſen überlaſſen bleiben.
Es iſt eben ſo leicht, dieſe Grundſätze theoretiſch weiter auszubilden, als
es ſchwer iſt, ſie praktiſch gut durchzuführen. — Das engliſche Syſtem be-
ruht auf der ſtrengen Unterſcheidung der Unterſtützung der Hausarmen (out
door relief) und der Aufnahme in die Arbeitshäuſer (in door relief); das
continentale Syſtem hat das Syſtem der Arbeitshäuſer mehr als ein Straf-
mittel aufgefaßt. Die Literatur darüber war früher viel reicher als in neueſter
Zeit, wo das ſociale Element in den Vordergrund getreten iſt (vergl. Rau
§. 342 ff.; Mohl, Polizeiwiſſenſchaft I. §. 62; GerandoIV. 193 ff.); in Frank-
reich werden die Hausarmen vielfach in Familien untergebracht, ebend. 211.
Die engliſchen Workhouses:Kries, Engl. Armenweſen S. 19 ff.; Gerando
III. 520 mit Vergleichung analoger Einrichtungen in Frankreich, der Schweiz,
[439] Italien. — Die Idee der Armencolonien iſt wohl abgeſchloſſen (vergl.
RauII. §. 349; Gerando, Colonisation de l’intérieur IV. 49 ff.). Ueber
die öffentliche Ordnung der Unterſtützung das preußiſche Geſetz von 1842 von
Döhl a. a. O. und StubenrauchII. 231.
b) Verſorgungshäuſer.
Die Verſorgungshäuſer ſind wohl allenthalben Stiftungen, und
ſollen es ſein; denn man wird wohl kaum die Errichtung ſolcher An-
ſtalten als Aufgabe der Armenpflege empfehlen. Sie beruhen daher
auf ihrem eigenen Stiftungsrecht und ſollen nach demſelben, ſtets
aber unter Oberaufſicht der Gemeinde verwaltet werden. Das gegen-
wärtige Jahrhundert erſetzt ſie auf allen Punkten durch das Syſtem
der Selbſthülfe, das ſchon jetzt überhaupt das des Armenweſens zu
überwiegen beginnt.
Angaben und Nachrichten bei RauII. §. 356 und Einzelheiten bei
Emminghaus. Die franzöſiſchen Hospices ſind die Verſorgungshäuſer
Frankreichs, haben aber daneben manche andere Aufgabe, namentlich für die
Waiſen- und Krankenpflege der Armen, und laſſen ſich daher auch ſchwer von
den Hospitaux in der Praxis ſcheiden (vergl. Block, Dict. v. Hospices und
Hospitaux). — England kennt ſie faſt gar nicht, ſondern erſetzt ſie durch die
Workhouses.
Dritter Cheil.
Die Verwaltung und die geſellſchaftliche Entwicklung.
Begriff der ſocialen Frage.
Je weiter die Geſittung vorwärts ſchreitet, um ſo beſtimmter löst
ſich die ſociale Frage mit ihrem Inhalt von dem Armenweſen ab und
überragt das letztere auf allen Punkten.
Ohne eine Zurückführung der ſocialen Frage auf ihren letzten ein-
fach formulirten Inhalt iſt die Beherrſchung dieſes mit jedem Tage
mächtigeren Gebietes nicht möglich.
Dieß Weſen der ſocialen Frage ergibt ſich aber faſt von ſelbſt aus
der Wiſſenſchaft der Geſellſchaft.
Die Geſellſchaft überhaupt, und in derſelben jede Ordnung ſcheidet
ſich in Claſſen. Das Weſen der perſönlichen Freiheit erzeugt in dieſen
Claſſen das, was wir die aufſteigende Bewegung genannt haben. Dieſe
aufſteigende Bewegung iſt eine organiſche Forderung des geſellſchaft-
lichen Lebens. Wo ſie aufhört, entſteht bei freien Völkern eine Gefahr
für den Geſammtzuſtand; wo ſie ſtattfindet, iſt allgemeines Wohlſein.
Ihre Vorausſetzung iſt allerdings die geſellſchaftliche Freiheit auf der
[440] einen, die Bekämpfung der geſellſchaftlichen Noth auf der andern Seite.
Allein ihr Inhalt iſt die Fähigkeit für den Einzelnen, durch ſein per-
ſönliches Capital zu einem wirthſchaftlichen zu gelangen; ihre Verwirk-
lichung iſt der wirkliche Erwerb eines Capitals. Dieſer Verwirklichung
gegenüber ſtehen nun nicht nur das Intereſſe des Capitals überhaupt,
das die capitalloſe Erwerbsfähigkeit für ſich ausbeuten will, ſondern
auch das Geſetz, nach welchem das große Capital das kleine in der
Mitwerbung überwinden muß, das Größengeſetz der Capitalien. Aus
dieſem Gegenſatz entſteht nun ein tiefer Widerſpruch in der Geſellſchaft,
der die freie Entwicklung derſelben hemmt, und der zugleich als wirth-
ſchaftliche und damit zuletzt auch perſönliche Unfreiheit von den Ein-
zelnen gefühlt wird. Aus dem Widerſpruch entwickelt ſich eine Gefahr;
aus der Gefahr die Frage, wie dieſelbe zu löſen iſt; und dieſe Frage,
wie die capitalloſe Arbeit zur wirthſchaftlichen Selbſtän-
digkeit durch den Erwerb des Capitals gelangen könne, iſt die
ſociale Frage.
Es iſt daher klar, daß dieſe Frage etwas weſentlich verſchiedenes
von der Armenfrage iſt. Es iſt aber auch klar, daß auch ſie einen
hochwichtigen, und zwar ſelbſtändigen Theil der Verwaltung bildet.
Und die Geſammtheit von Thätigkeiten und Anſtalten der Gemeinſchaft
und des Staats zur Löſung dieſer Frage bildet die Verwaltung
des geſellſchaftlichen Fortſchrittes.
Dieſelbe hat nun wie jedes andere ſelbſtändige Gebiet ihre eigene
Geſchichte, ihren eigenen Organismus und ihr eigenes Syſtem, das
ſich freilich erſt in unſerer Zeit organiſch zu entwickeln beginnt.
Allerdings aber knüpft ſich daran nun die Frage, ob der Staat,
der doch auch die ſocialen Intereſſen der aufſteigenden Bewegung ver-
tritt, dieſe letztere ſich ganz ſelbſt überlaſſen ſolle. Und hier iſt der
Punkt, wo noch bisher die volle Klarheit nicht eingetreten iſt; die
Frage der nächſten Zukunft iſt die Frage nach der Gränze der Staats-
verwaltung in der ſocialen Bewegung. Eine ſolche Gränze iſt aber
nur durch ein Princip möglich. Und je weiter wir kommen, je be-
ſtimmter entwickelt ſich daſſelbe. Das Weſen der ſocialen Verwal-
tung beſteht darin, daß nicht etwa ein einzelnes beſtimmtes Gebiet,
ſondern daß die ganze Verwaltung auf allen Punkten von dem Princip
durchdrungen und durchgeiſtigt ſei, den arbeitenden Claſſen alle
diejenigen Bedingungen der Entwicklung zu bieten, welche ſie ſich
durch den Mangel an Capital ſowohl für ihre phyſiſche wie für ihre
geiſtige Erwerbsfähigkeit nicht ſelbſt ſchaffen können, dagegen
den wirklichen Erwerb des Capitals derſelben ſelbſt zu überlaſſen. Es
gibt daher kein ſpecielles Syſtem der ſocialen Verwaltung über die
[441] Selbſthülfe hinaus, ſondern einen ſocialen Geiſt der Verwaltung;
und es iſt, wenn man die letztere überſchaut, kein Zweifel, daß wir
der höheren und klareren Entwicklung dieſes Elementes mit jedem
Tage mehr entgegen gehen. Daneben aber bildet die Selbſthülfe
nun ein ſelbſtändiges Syſtem, deſſen Elemente die folgenden ſind.
Die wichtigſte Thatſache im Leben der Verwaltung unſeres Jahrhunderts,
die Scheidung der ſocialen Idee der Verwaltung von dem Armenweſen und
das Bewußtſein von dem weſentlich verſchiedenen Princip beider iſt das Dauernde,
was wir dem Auftreten der communiſtiſchen und ſocialiſtiſchen Lehre zu ver-
danken haben. Damit iſt die Armuth vom Nichtbeſitz geſchieden. Stein,
der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, 1. Aufl. 1842.
Von da an Beachtung der capitalloſen Arbeit; zuerſt A. Grün, die arbeiten-
den Claſſen Englands 1845; die ſocialiſtiſch-communiſtiſche Literatur in Stein
2. Aufl. 1847. Die Idee der Selbſthülfe iſt in dieſer erſten Bewegung nur
noch unklar in der Vorſtellung des „Aſſociationsrechts“ vertreten. Mit dem
Jahre 1848 beginnt die zweite Epoche. Allgemeines Stimmrecht und Republik
in Frankreich; Kampf der Arbeiter in den Junitagen; Kampf um das Recht
auf Arbeit; le droit au travail à l’Assemblée nationale (vollſtändiges Re-
pertorium der Reden und Anſichten) von J. Garnier 1848; die Frage nach
dem Eigenthum von Proudhon und Thiers; Geſchichte der Arbeit im ſocialiſti-
ſchen Sinne von Riccord (1845); Histoire des ateliers nationaux par Emile
Thomas 1848; Louis Blancs und Proudhons Arbeiten; ähnliche Bewegungen
in Deutſchland. Entwicklung des Gedankens, daß jede geſellſchaftliche Bewe-
gung ihre Verfaſſung und Verwaltung erzeuge, und Auffaſſung der damaligen
Bewegungen als ſpecieller Theil der Geſchichte: Stein, Geſchichte der ſocialen
Bewegung in Frankreich 1850, 3 Bde.; Uebergang in deutſche Wiſſenſchaft;
Auffaſſung der Claſſengegenſätze als „Maſſenarmuth“ Mohl, Polizeiwiſſen-
ſchaft I. §. 67—70 noch immer als Gegenſtand der Staatsverwaltung; Suchen
nach dem Begriffe der Geſellſchaft; dann aber in den fünfziger Jahren all-
mähliges Auftreten der Idee der Selbſthülfe, vorzüglich durch die Arbeiten
von Schulze-Delitzſch, dem entgegen die Auffaſſung Laſſalles mit dem
Principe der Staatshülfe; dem entſprechend Entwicklung der Associations de
prévoyance und secours mutuels ſ. Em. Laurent a. a. O. 1865. Letzte
Wendung: Organiſirung dieſer Bewegung durch das Hineintreten des Princips
des Vereinsrechts, zuerſt in der Form der Erwerbsgenoſſenſchaft nach
deutſchem Muſter, dann in der des Coalitionsrechts nach engliſchem Vorbild;
Kampf dagegen; daneben aber ſyſtematiſche Entwicklung des Vereinsweſens
in allen ſeinen ſocialen Formen und des unklaren Begriffes der „Socialdemo-
kratie.“ Hauptergebniß: die ſociale Frage iſt definitiv ein Theil des öffentlichen
Lebens, und wird dauernd ein Gegenſtand der Verwaltung. Damit ſtehen wir
am Beginne einer neuen Epoche, in der man vor allem den allgemein ſocia-
len Geiſt der Verwaltung von den einzelnen Anſtalten für die Entwicklung
der capitalloſen Arbeit ſcheiden muß. Die letzteren ſind folgende.
[442]
Elemente der Geſchichte der ſocialen Verwaltung.
Es iſt kein Zweifel, daß es einen Claſſengegenſatz in allen Zeiten
der Geſchichte und in allen Geſellſchaftsordnungen gegeben hat. Allein
dieſe Gegenſätze haben in der Geſchlechter- wie in der Ständeordnung
einen weſentlich von der Gegenwart verſchiedenen Charakter. Denn
der aufſteigenden Bewegung ſtand in beiden nicht der Mangel des
Capitals entgegen, ſondern der Mangel des Rechts, daſſelbe zu er-
werben. Der Widerſpruch dagegen wird daher nicht zu einem Gegen-
ſatz zwiſchen Capital und Arbeit, ſondern zu einem Gegenſatz der
niederen Claſſe gegen das Recht der höheren, und der Kampf, der
ſich daraus entwickelt, wird damit zu einem Kampfe gegen die ganze
geſellſchaftliche Rechtsordnung. Erſt wo dieſe geſtürzt, und die Freiheit
der Geſellſchaft hergeſtellt iſt, beginnt die große, poſitive Epoche der
geſellſchaftlichen Bewegung unſerer Gegenwart und der Zukunft
Europas. Denn wir ſtehen erſt im Beginne deſſen, was ſich hier
entwickeln und bilden will.
In dieſer Bewegung laſſen ſich nun drei große Grundformen
ſcheiden, deren feſte Beſtimmung als die Baſis des Urtheils auch über
das Kommende angeſehen werden muß.
Die erſte dieſer Grundformen beginnt im vorigen Jahrhundert faſt
gleichzeitig mit dem Siege der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft über die
Unfreiheit der Geſchlechter- und Ständeordnung. Ihre Grundlage iſt eine
doppelte. Einerſeits beruht ſie auf dem großen Princip der Gleichheit
in Recht und Beſtimmung aller Perſönlichkeit; andererſeits auf der nicht
minder großen Thatſache des Entſtehens der capitalloſen Arbeitskraft,
die ſich durch die Induſtrie über ganz Europa ausbreitet, und durch die
Städte an einzelnen Orten zu der gewaltigen erwerb- und capitalloſen
geſellſchaftlichen Geſtaltung des Pauperismus zuſammenballt. Die
geiſtige Bewegung, die das obige Princip in dieſer Thatſache erzeugt,
bringt die arbeitende Claſſe zunächſt zum Bewußtſein ihrer Selbſtändig-
keit und zu der Forderung, an dem Capital Theil zu nehmen, das ſie
durch ihre Arbeit zuerſt geſchaffen zu haben meint. Es entſteht das
erſte Nachdenken über die geſellſchaftliche Bedeutung des Capitals
neben der Erkenntniß ſeiner wirthſchaftlichen Funktion und Macht.
Die Ergebniſſe dieſes Nachdenkens ſind die beiden großen Erſcheinungen,
die wir den Communismus und den Socialismus nennen. Das
Princip des erſten iſt die Negation des Capitals und mit ihm des
Eigenthums überhaupt, das des zweiten eine noch unpraktiſch gedachte
Unterordnung, das deſſelben unter die Arbeit. Es ſind die erſten
Strahlen, welche die neue Zeit auf ein bisher noch nie durchforſchtes
[443] Gebiet wirft. Ein faßbares Reſultat liefern ſie dem Leben nicht; aber
der Gedanke iſt erwacht und weiter arbeitend gelangt er zu ſeinem
zweiten, weit ernſteren Ergebniß.
Das nämlich wird klar in dieſer Epoche, daß es unmöglich iſt,
von dem Capital zu verlangen, es ſolle ſich ſelbſt freiwillig ſeiner
herrſchenden Stellung in der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft entäußern,
und zu dem Ende ſich ſelber aufgeben. Soll daher etwas für die auf-
ſteigende Bewegung der niederen capitalloſen Claſſe geſchehen, ſo wird
das nicht durch die rohe Gewalt des Communismus und nicht durch
die ſchönen Theorien des Socialismus geſchehen, ſondern es kann nur
vollzogen werden durch eine dritte Potenz, welche ihrerſeits über Ca-
pital und Arbeit, aber doch nicht über der höchſten Idee der geſell-
ſchaftlichen Entwicklung ſteht. Dieſe Potenz iſt der Staat. Und jetzt
bereits in der Mitte der vierziger Jahre, beginnt jene Bewegung der
arbeitenden Claſſen, welche die Macht und ſelbſt die Idee des Staats
zu Dienern der aufſteigenden Claſſenbewegung, oder genauer der In-
tereſſen der capitalloſen Arbeit machen wollen. Es iſt durchaus noth-
wendig, die hier eintretenden Erſcheinungen zu ordnen, um nicht in
Allgemeinheiten zu verfallen. Dieſer Staat, dem jenes geſellſchaftliche
Intereſſe ſich unterwerfen wollte, war und blieb ein doppelter. Er
hatte und hat eine Verfaſſung und eine Verwaltung. Man kann ſich
daher nicht an den Staat im Allgemeinen, ſondern man muß ſich an
ſeine Verfaſſung oder an ſeine Verwaltung wenden, wenn man will,
daß er thätig ſein ſoll. So groß iſt die Macht dieſes organiſchen Ver-
hältniſſes, daß dieß auch da geſchieht, wo man ſich jenes Unterſchiedes
nicht klar bewußt wird. Auch die geſellſchaftliche Bewegung entwickelte
dem entſprechend ſofort die zwei Richtungen, die in Namen und In-
halt jedem bekannt ſind. Die eine Forderung derſelben richtete ſich auf
die Verfaſſung; ihr Princip war die Vertretung der capitalloſen
Arbeit in der Geſetzgebung, und damit die ſtaatsrechtliche Möglichkeit,
den Willen des Staats den Intereſſen der niederen Claſſe dienſtbar zu
machen; ihr Programm war daher die Wahlreform und zwar auf
Grundlage des von jedem Capitalbeſitz unabhängigen, das iſt
allgemeinen Stimmrechts. Die zweite Forderung, gleichzeitig ent-
ſtehend, richtete ſich dagegen auf die Verwaltung; ihr Princip war
das Eintreten des Staats für die capitalloſe Arbeit; ihr erſtes Pro-
gramm war der Verſuch, das „Recht auf Arbeit“ zu einem verfaſſungs-
mäßigen Rechte der Arbeiter zu machen; ihr zweites dagegen die Her-
ſtellung von ſolchen Staatsanſtalten, durch welche der Staat dem
Arbeiter ein Capital zur Verfügung ſtellen ſolle; ihr Programm war
das der Staatshülfe. In den verſchiedenſten Formen tritt dieſe
[444] Bewegung auf; zuerſt mit den Waffen in der Hand, dann als Re-
publikanismus, dann als Demokratie, dann als Socialdemokratismus,
aber mit derſelben Tendenz und immer mit demſelben Schickſal. Sie
unterliegt. Und es iſt wichtig zu wiſſen, warum ſie unterliegt.
Denn der Staat iſt die perſönliche Einheit aller berechtigten
Intereſſen. Ein berechtigtes Intereſſe iſt das, was eine Bedingung
für die Geſammtentwicklung enthält. Gewiß iſt die Arbeit eine ſolche
in erſter Reihe; aber das Capital iſt es nicht minder. Die Störung
deſſelben in ſeiner natürlichen Entwicklung, und die Störung des ent-
wickelten Capitals in ſeiner natürlichen Funktion im wirthſchaftlichen
Leben iſt eine Gefährdung auch für den Erwerb der capitalloſen Arbeit.
Der Staat kann und wird daher nie der letzteren die Herrſchaft über
das erſtere durch ſeine Machtmittel geben; er wird im Gegentheil jede
äußerliche Herrſchaft mit ſeiner letzten Kraft bekämpfen. Auch die ge-
waltigſte Macht der Arbeit kann dieß höhere Weſen des Staats nicht
ändern. Auf dieſem Wege iſt daher ein Sieg dieſer Richtung nicht zu
erreichen. Damit beginnt eine neue Epoche.
Dieſe Epoche nun liegt dem Gedanken zum Grunde, daß jede
perſönliche Entwicklung, alſo auch die der Arbeit, nur dann der höheren
Idee des Lebens entſpricht, wenn jeder Einzelne durch ſich ſelbſt zu
dem gelangt, was er ſein und beſitzen will. Die Werthloſigkeit des
äußerlich Gegebenen für den wahren Fortſchritt ſoll auch für das Ge-
ben des Capitals an die capitalloſe Arbeit gelten. Soll daher die
letztere zum Capital und damit zu der wirthſchaftlichen und geſellſchaft-
lichen Stellung gelangen, die ſie fordert, ſo muß ſie ſich ihr Capital
ſelber bilden. Ihr Princip iſt daher die Bildung des Capitals aus
eigenen Mitteln; ihre Forderung geht nur ſo weit, daß ihr in dieſem
Streben kein Hinderniß in den Weg gelegt werde; ihr Programm iſt
das der Selbſthülfe. Sie übernimmt damit eine große und ſchwere
Arbeit; allein das Ziel dieſer Arbeit iſt kein geringeres als die Unab-
hängigkeit der Arbeit vom Capital durch die eigene Capitalbil-
dung. Und offenbar iſt nur dieſer Standpunkt einer weiteren Ent-
wicklung fähig. Denn dieſe Selbſthülfe iſt kein einfacher Akt, ſondern,
wo einmal ihr Princip anerkannt iſt, entfaltet ſie ſich allmählig zu
einem Syſteme von Beſtrebungen; und in der That ſind es dieſe
Anſtrengungen, welche zu beſtimmten und ſelbſtthätigen Organen ſich
entwickelnd, die gegenwärtige Geſtalt der ſocialen Frage und die Or-
ganiſation der Verwaltung des geſellſchaftlichen Fortſchrittes enthalten.
Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung.
Seinem allgemeinen Begriffe nach enthält nun das Syſtem der
geſellſchaftlichen Verwaltung alles, was von der Gemeinſchaft für die
[445] freie Claſſenbewegung der nicht beſitzenden Claſſe geſchieht. Das nun
theilt ſich in zwei große Gebiete. Zuerſt gehört dahin alles dasjenige,
was innerhalb der einzelnen Gebiete der Verwaltung für dieſe Hebung
der niederen Claſſe geſchieht, und was daher auch theoretiſch innerhalb
dieſer Theile des Syſtems darzulegen iſt. Dahin gehört das ſociale
Element im Geſundheits- und Unterrichtsweſen, im Credit-
weſen, und namentlich die Arbeiterfrage in der Induſtrie; nicht
aber, wie geſagt, die Hülfe in der geſellſchaftlichen Noth. Weſentlich
in jenen Punkten erſcheint das, was wir den ſocialen Geiſt der Ver-
waltung genannt haben, und was daher hier nicht wiederholt, aber ſtets
im wachen Bewußtſein erhalten werden muß. Der zweite ſpecielle
Theil, oder das eigentliche Syſtem der geſellſchaftlichen Verwaltung
beruht nun darauf, daß die geſellſchaftliche Bewegung eben ſo wenig
durch ſtaatliche Geſetze geregelt werden könne, ſondern daß hier nur
die geſellſchaftlichen Elemente ſelbſt helfen können. Das Organ der
Selbſtthätigkeit iſt auch hier der Verein. Das Syſtem der geſell-
ſchaftlichen Verwaltung wird daher, und das iſt ſeine große Bedeutung,
identiſch mit den Syſtemen der geſellſchaftlichen Vereine, in
denen jene Selbſtthätigkeit ſich organiſirt. Dieſe aber ſcheiden ſich in
zwei große Gruppen. Die erſte Gruppe ſind die Hülfsvereine, aus
denen das Hülfscaſſenweſen hervorgeht. Ihr Princip iſt, daß
in ihnen die höhere Claſſe der niedern für ihre Capitalbildung ihre
Hülfe als verwaltendes Organ anbietet; neben ihnen ſteht die Selbſt-
hülfe, in der ſich die nichtbeſitzende Claſſe zu einem ſelbſtändigen
Vereinsweſen erhebt, und die Intereſſen der Capitalbildung durch ihre
eigenen Mitglieder vertritt. Hier wie allenthalben finden Uebergänge
ſtatt; das Princip jedoch wird damit nicht geändert. Ebenſo haben
dieſe Vereine eine weſentlich verſchiedene Geſtalt in den verſchiedenen
Ländern Europas; aber immer bringen ſie dieſelben elementaren Ver-
hältniſſe zum Ausdruck.
Es iſt hier der Punkt, ſich über die Unklarheit der Begriffe zu verſtändigen,
welche die Behandlung dieſer Gebiete ſchwierig macht. Sie beruht auf dem
Mangel der formalen Unterſcheidung des Hülfsweſens und ihrem Verein von
der Selbſthülfe. Die ältere Literatur, namentlich ſeit Gerando ſtellt alles
unter die Bienfaisance publique; die Deutſchen wie Rau und Mohl unter
Verhütung der Armuth. Die neuere ſcheidet zwar faktiſch, aber nicht ſyſte-
matiſch, wie Em. Laurent a. a. O. und Hobbard, le Paupérisme et les
associations de prévoyance 1852. Zum Grunde liegt die Unbeſtimmtheit des
engliſchen Begriffes der friendly societies, welche alle Vereine, ſowohl Ver-
ſicherungen als Selbſthülfsvereine formell umfaſſen, und der franzöſiſche der
prévoyance oder der association mutuelle, in der gleichfalls alle Vereine der
Selbſthülfe mit denen des Hülfsweſens zuſammen fallen. Es iſt die Aufgabe
[446] der Wiſſenſchaft, dieſe Begriffe aufzulöſen, nicht etwa der Form wegen, ſondern
weil jede einzelne Erſcheinung auf dieſem Gebiete eine weſentlich ſelbſtändige
Funktion und damit einen ſelbſtändigen Organismus hat. Auch hier iſt
das Verſtändniß der organiſchen Beſonderheiten die Grundlage der Beherr-
ſchung deſſen, was wir die „ſociale Frage“ nennen. Das formale Syſtem der
Vereine bei Stein, Vereinsweſen und Vereinsrecht.
I. Das Hülfskaſſen-Weſen.
Funktion derſelben.
Unter den Hülfskaſſen verſtehen wir diejenige Gruppe von Ver-
einen, in denen die höhere Claſſe der niederen ihre Hülfe zur
Bildung des Capitals ihrer Mitglieder anbietet. Die Hülfskaſſen ſetzen
daher ſchon das Beſtehen des Claſſenunterſchiedes voraus. Ihre erſte
Grundlage iſt ſtets die nationalökonomiſche der bloßen Sorge für die
Erſparniß in der capitalloſen Wirthſchaft; ſie erſcheinen daher im An-
fange ſtets als Verhinderungsmittel der Armuth, und werden als ſolche
auch von der Theorie betrachtet. Erſt dann, wenn der Claſſengegenſatz
ſich ausbildet und mit ihm die Selbſthülfe auftritt, tritt auch für jene
das geſellſchaftliche Element hervor, und eben ſo natürlich iſt es, daß
ſie ſich in dieſer zweiten Epoche dieſer Selbſthülfe unterordnen, indem
ſie jetzt erſt ihren wahren Charakter entwickeln. Dieſer nun beſteht
gegenüber der Selbſthülfe darin, daß ſie ſehr viel für den Ein-
zelnen, aber ſehr wenig für das Ganze der ſocialen Frage
zu leiſten vermögen, und daher einen großen Werth, aber eine geringe
Macht haben. Ihre Grundformen ſind dreifach.
Die Creditanſtalten für den perſönlichen Credit der nicht beſitzenden
Claſſe, oder die Pfand- und Leihanſtalten, gehören ihrem for-
malen Begriffe nach der Organiſation des Credits, ihrem Inhalte nach
aber dem geſellſchaftlichen Leben der nichtbeſitzenden Claſſe. Ihre Auf-
gabe iſt weſentlich nicht ſo ſehr die Hülfe zur Bildung von Capitalien,
ſondern die Hülfe in augenblicklicher Noth gegen die Ausbeutung
der letzteren durch das Geldcapital. Sie erſcheinen daher als
die geſellſchaftliche Creditpolizei für die nichtbeſitzende Claſſe, und bilden
damit den Punkt, wo die Selbſtverwaltung als Gemeinde in die
geſellſchaftliche Bewegung hinein greift. Sie ſind ſomit zwar das älteſte,
aber auch das unterſte Stadium der geſellſchaftlichen Verwaltung.
S. oben unter Organiſation des Credits. Faſt von allen unter das
„Armenweſen“ geſtellt in dem weiteren Sinn, in welchem es noch die geſell-
ſchaftliche Verwaltung enthält. So Gerando, Monts de piété III. 1. ff.
[447] Die betreffende Geſetzgebung der europäiſchen Staaten ebend. III. 469.
Eben ſo RauII. §. 332. Beide mit reicher Geſchichte und Literatur.
Das Weſen der Sparkaſſen iſt nun die Förderung der Capital-
bildung für die capitalloſe Wirthſchaft, und zwar durch Sammlung
und Verwaltung der in ihrer Zerſtreuung bei den Einzelnen zu jeder
Produktivität unfähigen kleinen Beträge. Ihre Aufgabe iſt es daher,
zuerſt dieſen kleinen Ueberſchüſſen die Möglichkeit der Anſammlung,
und dann vermöge der letzteren ihnen wieder die Fähigkeit zum Zins-
ertrage zu geben. Zugleich aber bilden ſie ein Hülfscapital für
den Fall der Noth. Aus den erſten beiden Momenten geht die Noth-
wendigkeit hervor, die Einzahlungen feſt und zinstragend anzulegen,
aus den letzteren die den Betrag derſelben dennoch ſtets für den Ein-
leger zur Rückzahlung verfügbar zu halten. Auf der Löſung beider
Aufgaben beruht die Verwaltung der Sparkaſſen. Ihre formelle
Grundlage iſt die des wirthſchaftlichen Vereinsweſens, indem jeder Ein-
leger ſofort Mitglied des Vereins wird und ſtets wieder austreten kann
durch Rückforderung ſeiner Einlage, während der Verwaltungsrath die
vorhandenen Einlagen verwaltet; ihr geſellſchaftliches Princip
dagegen beſteht darin, daß die wirkliche Verwaltung unentgeldlich
von Mitgliedern der beſitzenden Claſſe vollzogen werden muß, und
daß daher ſtatt der allgemeinen Wahl eine Selbſtergänzung der leiten-
den Organe eintritt. Eben dadurch bilden die Sparkaſſen den Ueber-
gang vom Vereinsweſen zur Selbſtverwaltung, indem die Elemente
beider in denſelben vertreten ſind. Sie haben deßhalb den Charakter
öffentlicher Anſtalten und ſtehen in ihrer ganzen Verwaltung unter
öffentlicher Aufſicht. Die formelle Verwaltung hat drei Hauptaufgaben.
Zuerſt die Aufnahme durch die Einlage mit dem Sparkaſſenbuch;
die freie Bewegung des Capitals fordert für daſſelbe das Recht des
Inhaberpapiers trotz der Ausſtellung auf den Namen, ſo wie die
Amortiſation. Der geſellſchaftliche Geſichtspunkt, der in jeder
Sparkaſſe liegt, tritt dabei in dem zuerſt in Frankreich ausgeführten
Grundſatz hervor, daß nur Einlagen bis zu einer gewiſſen Höhe an-
genommen, und die Capitalien bis zu einem beſchränkten Betrage in
der Sparkaſſe belaſſen werden. Der wirthſchaftliche Grund dafür
beſteht darin, daß Einlagen und Kündigungen über eine gewiſſe Summe
hinaus einen zu ſtarken Umſatz erzeugen würden, um bei vollkommener
Sicherheit der Geldverwaltung noch regelmäßige Zinſen geben zu können.
Zweitens die Verwaltung der Einlagen. Um die Einlagen ver-
zinſen zu können, ſind zwei Syſteme möglich. Das erſte iſt das ganz
[448]freie Syſtem, in welchem die Verwaltung die Capitalien nach ihrem
Ermeſſen anlegt. Das zweite iſt das Syſtem der theilweiſen oder voll-
ſtändigen geſetzlichen Anlage, in welchem die letztere als Uebergabe
der geſammelten Capitalien an die Staatskaſſe, beziehungsweiſe als
Ankauf von Staatspapieren vorgeſchrieben iſt. Die deutſchen Spar-
kaſſen ſtehen mit Recht auf dem erſten, die franzöſiſchen und engliſchen
auf dem zweiten Standpunkt. Doch iſt es vollkommen berechtigt, die
Anlage eines weſentlichen Theiles des feſt gewordenen Capitals theils
in Hypotheken, theils in guten Papieren zu fordern. Der dritte
wenig unterſuchte Punkt beſteht in dem Recht für das durch Ueber-
ſchüſſe entſtandene Vermögen der Sparkaſſe. Allerdings iſt kein
individuelles Eigenthum deſſelben nachzuweiſen; wohl aber muß an-
genommen werden, daß derſelbe ein öffentliches Gut iſt, und be-
ſtimmt ſein ſoll, als Grundlage des kleinen gewerblichen Credits
zu dienen. Aus jeder Sparkaſſe ſollte daher eine Gemeinde-Vor-
ſchußkaſſe, jedoch unter ſolidariſcher Haftung der Debitoren und unter
Selbſtverwaltung derſelben hervorgehen. Damit wäre der natur-
gemäße Uebergang von der Sparkaſſe zur Organiſation der Selbſthülfe
gegeben, und die höhere Bedeutung der erſteren gefunden. Das alles
wird ſich entwickeln, wenn der Organismus der Selbſthülfe erſt ſein
volles Verſtändniß empfängt.
Die hohe Wichtigkeit der Sache zugleich in volkswirthſchaftlicher und ge-
ſellſchaftlicher Beziehung wird erſt in dieſem Jahrhundert anerkannt, und ſteigt
natürlich mit der Entwicklung des geſellſchaftlichen Gegenſatzes. Die Geſetz-
gebung hat daher feſte Syſteme gebildet. Die Grundlage der ſtaatlichen Syſteme
iſt das engliſche Recht, das von dem franzöſiſchen nachgeahmt iſt; das
deutſche iſt dagegen das Syſtem der freien Verwaltung. Die engliſche
Geſetzgebung entſteht bereits 1818; Hauptgeſetz die Bill vom 28. Juli 1828.
Princip: die Einlagen können den öffentlichen Kaſſen übergeben werden
und werden von dieſen verzinst (4 Proc.), ſo daß die Verwaltung nur
die Einlagen und Auszahlungen, nicht aber das Capital zu verwalten hat;
daher Begränzung der Einlagen auf 30 Pfund Sterling jährlich, und 150 Pfund
im Ganzen. Die Geſammtheit aller Einlagen gilt als Theil der National-
ſchuld. Pflicht der Verwaltung: jährliche Rechnungsablage; Gründung meiſt
durch Vorſchüſſe der Beſitzenden; Minimum der Einlagen 1 Schill.; Capitali-
ſirung alle Halbjahr. Hauptgeſetz 26. 27. Vict. 87. (1863); vergl. Mitter-
maier, Zeitſchrift für das geſammte Handelsrecht VIII. S. 140. Vergl. auch
Gierke, Genoſſenſchaft S. 1079. Spätere Entwicklung zu den Post saving
banks, mit dem Grundſatz, daß es zur Einlage überhaupt keiner beſondern
Sparkaſſe bedürfe, ſondern daß dieſelbe bei jeder Poſtſtation gegen Buch
erfolgen kann (24. Vict. 14. und 26. Vict. 14). Dieſes Syſtem iſt von der
franzöſiſchen Geſetzgebung nachgeahmt; Grundgeſetz vom 5. Juni 1835; eine Reihe
von weiteren Geſetzen iſt bis 1852 gefolgt. Zuſammenſtellung bei Block, Dict.
[449] v. Caisses dépargnes. Grundgedanke: der Staat übernimmt und verwaltet
ausſchließlich das Capital, jede verfügbare Summe muß in vierundzwanzig
Stunden der Caisse des dépots übergeben werden. Dagegen ſoll jede Ge-
meinde eine Sparkaſſe haben; Vorſtand iſt wieder der Maire; die Verwaltung
wird auf drei Jahre gewählt; Inſpektion durch die Finanzbehörden; ſtrenge
Ordnung der comptabilité;keine Succurſalen; Zurückzahlung, ſo viel mög-
lich erſt gegen ſchriftliches Erſuchen; Einlagen, Minimum 1 Frank, Maxi-
mum wöchentlich 300 Franken, abſolutes 1000 Franken; was darüber geht,
wird in Renten angelegt. Jede Sparkaſſe hat ihr Statut, das ſpeciell ge-
nehmigt wird. Juriſtiſche Literatur bei Block a. a. O. — Das deutſche Syſtem
iſt ein weſentlich anderes. Grundſatz: die Sparkaſſe geht von Gemeinde oder
Verein aus, und iſt in ihrer Verwaltung frei; daher im Anfange gänzliche Ueber-
laſſung an die Selbſtthätigkeit beider. Die wachſende Bedeutung derſelben ver-
anlaßt dann den Staat, gewiſſe allgemein gültige Grundſätze geſetzlich feſtzu-
ſtellen. Geſichtspunkt dafür: „die Errichtung von Sparkaſſen ſind vorzüglich
Vereinen von Menſchenfreunden überlaſſen;“ Gemeinden nur dann, wenn
dieſelben durch Stimmeneinheit die Haftung übernehmen. — Oeſterreich: Regu-
lativ vom 26. Sept. 1846 (vergl. StubenrauchII. 344). Ueberſchuß zu
wohlthätigen Zwecken; die Verwendung der angelegten Summe iſt weſent-
lich der Sparkaſſenverwaltung ſelbſt überlaſſen; hauptſächlich Anlage in
Hypothek; daneben Vorſchüſſe auf Staatspapiere und dann erſt Geldgeſchäfte.
Pflicht zur öffentlichen Rechnungsablage; natürlich Genehmigung der Sta-
tuten. Auf ganz gleicher Grundlage das preußiſche Sparkaſſenweſen; Haupt-
regulativ vom 12. Dec. 1838; Errichtung durch Vereine oder Gemeinden;
Verwaltung nach den Grundſätzen des Vereins- und Gemeinderechts, und
Verordnung vom 24. Aug. 1847 über Verwendung der Ueberſchüſſe. Daneben
iſt es als Aufgabe der Regierung anerkannt, das Sparkaſſenweſen zu fördern
(Erlaß vom 27. April 1850), namentlich auf dem Lande; zu dem Ende Errich-
tung der Hülfskaſſen, wie ſie zum Theil auch in Süddeutſchland beſtehen,
ohne recht klare Aufgabe; ſeit 1854 als eine Art von öffentlichen Vorſchuß-
kaſſen ausgebreitet; älteſte in Weſtphalen ſeit 1851 (vergl. Rönne, Staats-
recht VI. 339). Etwas Aehnliches ſind die Waiſenkaſſen Oeſterreichs mit
ſehr eingehender Geſetzgebung in engſter Verbindung mit dem Depoſiten- und
Grundbuchsweſen; Hauptgeſetz: Verordnung vom 16. Nov. 1850 und Erlaß vom
11. Dec. 1850. Eine ſehr unbeſtimmte Oberaufſicht durch die Regierung. Dieſen
Grundlagen entſpricht das ganze Sparkaſſenweſen Deutſchlands; ſ. die Literatur
deſſelben zuerſt bei Malchus, die Sparkaſſen in Europa 1838 (weſentlich
ſtatiſtiſch; dann GerandoIII. 171 ff.; Statiſtik bis 222; Schmid, das Spar-
kaſſenweſen I. Oeſterreich und Preußen 1863; Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 365.
II. Das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen.
(Prévoyance mutuelle, Friendly societies.)
Während das Weſen der Sparkaſſen darin beſteht, durch An-
ſammlung ein kleines freies Capital zu bilden, beſteht das Weſen der
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 29
[450] Verſicherung darin, durch regelmäßige Beiträge für einen beſtimmten
Fall wirthſchaftlicher Bedrängniß ein Capital zu ſchaffen. Das Ver-
ſicherungsweſen gehört daher ſeinem allgemeinſten Begriffe nach der
Volkswirthſchaftspflege überhaupt, da es an ſich keinen Stand und
keine Größe des Capitals ausſchließt. Und eben ſo hat es für alle
Claſſen dieſelbe geſellſchaftliche Aufgabe. Es ſoll durch das verſicherte
Capital das Hinabſinken der Familie in die niedere geſellſchaftliche
Stufe bei dem Eintritte namentlich des Todes des Familienhauptes
hindern, gleichviel ob dieß bei Vermögenden oder Beſitzloſen gilt.
Allerdings aber kommt dieſe große ſociale Funktion deſſelben vorzugs-
weiſe bei der arbeitenden Claſſe zur Geltung. Wir nennen daher das
für die letztere eintretende Verſicherungsweſen vorzugsweiſe das geſell-
ſchaftliche, und mit Recht ſcheiden wir daſſelbe in dieſem Sinne als
Lebensverſicherung von der Schadenverſicherung (ſ. oben). Wir
ſagen daher, daß die Lebensverſicherung in allen ihren Formen vorzugs-
weiſe eine geſellſchaftliche Inſtitution iſt.
Allein dieſe geſellſchaftliche Aufgabe ändert das Weſen derſelben
nicht. Die Verſicherung iſt ein Unternehmen, welches auf beſtimm-
ten, von jeder ſocialen Frage faſt gänzlich unabhängigen Regeln beruht.
Soll ſie daher ihren Zweck auch für die nicht beſitzende Claſſe erfüllen,
ſo muß ſie auch für dieſe nach ihren unabänderlichen Regeln geführt
werden. Nun liegt es zwar ſcheinbar nahe, Verſicherungen ſpeciell für
die nichtbeſitzende Claſſe zu errichten. Allein das große Princip aller
Verſicherung iſt, daß die Sicherheit der Prämie wie die der rationellen
Verwaltung ſteigt, und daß die Regiekoſten ſinken, je größer und
ausgedehnter die Zahl der Verſicherungen iſt. Es iſt daher falſch,
ein Verſicherungsweſen für die nichtbeſitzende Claſſe allein
zu fordern, ſondern der einzig richtige Standpunkt des geſellſchaftlichen
Verſicherungsweſens beſteht vielmehr darin, die Verſicherungen der
nichtbeſitzenden Claſſe mit denen der beſitzenden in der
Weiſe zu vereinigen, daß jede Verſicherungsgeſellſchaft Verſiche-
rungen auch für die kleinſten noch zinstragenden Capitalien bis herab
zu 100 fl. annehme und verwalte. Es muß ausdrücklich bemerkt werden,
daß die Gegenſeitigkeit dabei keinen Unterſchied macht. Aber auch in
Beziehung auf dieſes Princip nehmen die großen Culturvölker einen
ſehr verſchiedenen Standpunkt ein.
Englands Verſicherungsweſen nämlich beruht auf dem ächt eng-
liſchen Princip, daß ſich die eigentlichen Verſicherungen, die Assurances,
auf eine kleine, für den Nichtbeſitzenden noch erſchwingbare Ver-
ſicherungsſumme überhaupt nicht einlaſſen, ſo daß das Lebens-
verſicherungsweſen der arbeitenden Claſſen von dem der beſitzenden
[451] thatſächlich vollſtändig getrennt, und ſich ſelbſt überlaſſen iſt. Um daher
zu dem letzteren zu gelangen, haben die Capitalloſen ſich unter ein-
ander Verſicherungen, die natürlich nur auf Gegenſeitigkeit beruhen
können, ſelbſt gegründet und verwalten ſie ſelbſt; und dieſe eng-
liſchen Verſicherungsvereine des Nichtbeſitzers ſind die friendly societies.
Ihr Princip iſt eben deßhalb viel beſſer als ihre Verwaltung.
Frankreich hat auch hier die Idee des geſellſchaftlichen Verſiche-
rungsweſens als Association mutuelle und Prévoyance lebhaft aufge-
griffen, allein eben deßhalb dieſelbe nur auf die kleinen Capitalien
und ihre Gegenſeitigkeit beſchränkt, ohne jedoch wie in England dem
Vereinsweſen vollkommen freie Bahn zu laſſen. Die Folge von dieſem
Widerſpruch zwiſchen abſtraktem Princip und formalem Recht iſt eine
ſchöne Literatur, aber faſt völliger Mangel an wirklichen kleinen, ſelb-
ſtändigen Verſicherungsgeſellſchaften, ſo daß auch hier die Regierung
hat einſchreiten und das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen der nicht-
beſitzenden Claſſe als Caisse des retrait hat organiſiren müſſen.
Nur in Deutſchland hat man von Anfang an richtig erkannt,
daß das Verſicherungsweſen der Nichtbeſitzer nur in Verbindung mit
dem des Capitals gedeihen könne. Deutſchland hat daher in ſeinem
Verſicherungsweſen den Fehler Englands in der Ausſcheidung der kleinen
Beträge, und den Fehler Frankreichs in der gouvernementalen Verſiche-
rung vermieden. Es hat ferner in ſein Verſicherungsweſen neben den
kleinſten Summen zugleich alle Eventualitäten der Nothfälle auf-
genommen, und die geſchäftlich richtige Berechnung des Prämienſyſtemes
ſo ſtreng durchgeführt, daß das deutſche Verſicherungsweſen als das
beſte der Welt auch in ſeiner geſellſchaftlichen Beziehung unzweifel-
haft anerkannt werden muß. Erſt durch dieß ausgezeichnete Syſtem iſt
es endlich möglich, den Begriff und Inhalt der Selbſthülfe von
dem des Hülfskaſſenweſens, der in England und Frankreich beſtändig
damit verſchmolzen iſt, zu ſcheiden, und ſelbſtändig darzuſtellen. Das
deutſche Verſicherungsweſen aber zeigt auf dieſe Weiſe in einem der
wichtigſten Gebiete, wie die Harmonie der Intereſſen zwiſchen
Beſitz und Nichtbeſitz ſich bei wohlverſtandener Entwicklung des geſell-
ſchaftlichen Lebens von ſelbſt vollzieht.
Literatur: Zuerſt bei GerandoIII. 57 mit Vergleichung (sociétés
de prévoyance, jedoch ohne Verſtändniß des Verſicherungsweſens). — Für
England zuerſt Eden, State of the poor (1797) I. ch. 3.; vergl. Hobbard,
de l’organisation des sociétés de prévoyance 1852, und Em. Laurent
a. a. O. ch. IV; sociétés de secours mutuels (1865), beide die nichtbeſitzende
Claſſe für ſich betrachtend. Dieſen Elementen entſpricht auch der Charakter
der Geſetzgebung in dieſen Ländern.
[452]
Grundzug der Geſchichte: Loslöſung von dem Princip des Hülfsweſens der
Innungen, Zünfte und Geſellenverbindungen (compagnonnage) mit der fran-
zöſiſchen Revolution in England und Frankreich. Schwache Verſuche, das
Princip in den „Gewerbsgenoſſenſchaften“ Deutſchlands noch aufrecht zu halten
(vergl. GerandoVII. 57; LaurentP. II. Ch. III. IV.). — England:
Erſte Lebensverſicherung ſchon 1706 in Frankreich (Gerando, Bienf. publ.
III. 133); Entwicklung in England ſeit dieſer Zeit. Seit 1793, wo das erſte
Geſetz über die friendly societies entſteht, bis jetzt 21 Akte über die Verhält-
niſſe derſelben. Anerkennung ihres Werthes, und beſtändige Verſuche, den
organiſchen Mangel durch allerlei Vorrechte und genaue Definirung der Rechte
ihrer Vorſtände zu erſetzen. Große Enquête vor 1829; dann die Bill von
1829 (10. Georg. III.) als Consolidation Act bis zum neueſten Hauptgeſetz
18. 19. Vict. 63. (1855); Regiſtration der Statuten; Beſchränkung der ver-
ſicherten Summe auf 750 Franken jährlich oder ein Capital von 5000 Franken (!)
Errichtung des Registrar of friendly societies mit Oberaufſicht, aber im
Grunde ohne Rechtsmittel, ſie auszuüben. Vielfache Klagen; nur wenige
dieſer societies ſind lebensfähig, und der Registrar (Tidd Pratt) außer Stande
auch nur ihre Exiſtenz zu conſtatiren, geſchweige denn ihre Jahresrechnungen
zu bekommen (vergl. Rau, Volkswirthſchaftspflege II. 334 b und die einzelnen
Geſetze bei Gierke, Genoſſenſchaft S. 1098). — In Frankreich durch die
ſtrenge Controle der Vereine bis zur neueſten Zeit faſt Unmöglichkeit der Bil-
dung ſolcher Associations mutuelles. Vergebliche Verſuche vor 1848. Gerando
III. 92.: „Il est pénible, mais il est utile de signaler l’imperfection dont
est empreinte la constitution de ces sociétés“ etc.; 1848 volle Freiheit, aber
auch ohne Reſultat. Dann das erſte Hauptgeſetz vom 15. Juli 1850 mit dem
Princip, daß die sociétés de secours mutuels als „établissements d’utilité
publique“ anerkannt werden können. Damit wird die Leitung wieder in
die Hände der Adminiſtration gelegt; der amtliche Maire iſt geſetzlicher Vor-
ſtand (96 c); dafür gibt die Gemeinde gratis Lokal und Schreibrequiſiten (!)
Das Decret vom 26. März 1852 ging noch einen Schritt weiter: der Staat
kann, wenn er die société anerkannt (reconnue ou approuvée) hat, subven-
tions geben; dafür ernennt er den Vorſtand, verbietet die pensions im
Falle der Chômage auszuzahlen, und überhaupt ohne hinreichende Zahl von
Ehrenmitgliedern Penſionen zu verſichern ꝛc. Natürlich war unter dieſen Ver-
hältniſſen keine Entwicklung möglich (vergl. Laurent a. a. O. P. III. Ch. 2;
M. Block, franzöſiiſches Armenweſen in Emminghaus S. 627 ff.); daher
Aufſtellung der rein amtlichen Caisses des retraitesneben den sociétés, die
einen durchaus örtlichen Charakter haben (Decret vom 18. Dec. 1850 mit
Reglement vom 18. Aug. 1853; vergl. Blockv. Caisses des retraites als
Staatsinſtitut). Daß hier im Grunde ein Verſicherungsweſen vorliegt, durch
die Verwaltung degenerirt, wird nicht erkannt. — In Deutſchland gar
keine beſondere Geſetzgebung für dieſes Gebiet, als das allgemeine Recht der
Verſicherungen, aus den obigen Gründen nothwendig. Dagegen allerdings
Genehmigung der Statuten und Behandlung nach dem Vereinsrecht (Stein,
Vereinsweſen nnd Vereinsrecht S. 180 ff.). Daneben viele einzelne Penſions-
[453] und Krankenvereine bei großen Gewerkſchaften, zum Theil auch bei gewiſſen
Claſſen (vergl. Gierke, deutſche Genoſſenſchaften S. 1049; Rau, Volkswirth-
ſchaftspflege II. 368 ff.). Gierke, Genoſſenſchaft S. 1049 ff. (ohne ſociale
Beziehung, aber viel Material) ſ. oben „Verſicherungsweſen.“
III. Die Selbſthülfe und ihr Vereinsweſen.
Die Selbſthülfe ihrem formalen Begriffe nach bildet endlich die
Geſammtheit von Erſcheinungen, welche dem Gedanken angehören, daß
die wahre aufſteigende Bewegung der nichtbeſitzenden Claſſe nur von
ihr ſelbſt ausgehen dürfe und ſolle. Ihre Form iſt daher das ſelb-
ſtändige Vereinsweſen der Nichtbeſitzenden. Ihre große Vor-
ausſetzung iſt nicht bloß die äußere und thatſächliche, ſondern die innere
und bewußte Scheidung der arbeitenden Claſſe vom Capital. Ihr In-
halt iſt die Erkenntniß, daß ſie ein zunächſt weſentlich verſchiedenes
Intereſſe von dem des Capitals habe. Ihr Princip iſt der Gedanke,
daß die rechtliche Gleichheit ihrer Mitglieder zu einer geſellſchaftlichen
durch eigene Anſtrengungen erhoben werden müſſe. Sie gehört daher
der Zeit, in welcher der geſellſchaftliche Gegenſatz der Claſſen zu dem
Bewußtſein der Gründe gelangt, welche den Unterſchied der Claſſen
erzeugen und erhalten. Ihre erſte und natürliche Neigung, die politiſche,
iſt die, durch das möglichſt allgemeine Stimmrecht das entſcheidende
Gewicht in der Geſetzgebung zu erlangen; ihre zweite praktiſche Rich-
tung entſteht dadurch, daß ſie die Capitalbildung für ihre Mit-
glieder zum Gegenſtande ihrer Vereinsthätigkeit macht. Sie ent-
ſteht daher erſt nach 1848 und bildet von da an den Kern der ſo-
cialen Bewegung, das Organ der ſocialen Frage. Das Wort, welches
ihr Auftreten mit ihrem ſpecifiſchen Inhalt bezeichnet, iſt die „Aſſocia-
tion.“ Daſſelbe geht naturgemäß aus dem Socialismus hervor; in
der Aſſociation wendet ſich der letztere von der Theorie dem praktiſchen
Leben zu; die Société wird zu einem wirthſchaftlichen, die Aſſociation
zu einem geſellſchaftlichen Begriffe. An ihrer materiellen Baſis aber
entwickelt ſich ihre ſyſtematiſche Geſtaltung. Der Erwerb des Beſitzers
hat zwei Grundformen. Einerſeits entſteht er als Capitalbildung
durch Herſtellung eines Capitalerwerbs; andererſeits richtet er ſich auf
die Bedingung der Capitalbildung, den Arbeitslohn. So entſtehen
die zwei großen Claſſen dieſer Vereine, die Aſſociations- oder die
Arbeitervereine, und die Coalitions- oder die Arbeiterverbin-
dungen. Naturgemäß gehen die erſteren den letzteren vorauf; allein
die letzteren ſchließen die erſteren nicht aus. Ihr Recht iſt ein gleiches
— das Vereinsrecht; ihr Syſtem aber iſt die Auflöſung der abſtrakten
[454] und allgemeinen Forderung der aufſteigenden Bewegung in ihre ein-
zelnen Gebiete und Aufgaben. Das iſt die große Bedeutung der
ſyſtematiſchen Betrachtung dieſer Vereine und ihre Stellung in der ge-
ſellſchaftlichen Verwaltung. Aber ſie ſelbſt ſind noch unfertig und
ſporadiſch, ſo hochbedeutend ſie auch für die Zukunft erſcheinen. Sie
ſtehen deßhalb in der Praxis noch unvermittelt neben einander, und
werden in der Theorie als einzelne Erſcheinungen, die von mehr
Intereſſe als Bedeutung ſind, behandelt. Dennoch ſind ſie Ausdruck
derſelben großen Thatſache; ſie ſind die Formen der freien Verwaltung
der ſocialen Frage, wie bei allen verſchiedenen Einzelheiten iſt es das,
was ihnen in der Verwaltung ihre Stellung, zugleich aber ihren na-
tionalen Charakter gibt. In England ſind ſie es, in denen bei
völliger Freiheit des Vereinsrechts ſich der ganze ſociale Gegenſatz zwi-
ſchen Capital und Arbeit zuſammenfaßt, und daher die natürliche Folge,
daß in England der Schwerpunkt nicht in den Arbeitervereinen, ſondern
in den Arbeiterverbindungen liegt. In Frankreich hält das
ſtrenge Vereinsrecht die Vereine überhaupt zurück, und daher hier die
beſtändige Neigung zu geheimen Verbindungen, die bereits mit der
Julirevolution entſtehen, während die Vereine ohne allgemeine Bedeu-
tung ſind. In Deutſchland beginnt die Bewegung ganz organiſch
mit den Arbeitervereinen für Credit und Capital, und geht dann nach
engliſchem Muſter auf die Arbeiterverbindungen und ihren Lohnkampf
über, während die Polizei nach franzöſiſchem Vorgange gerne das Coa-
litionsrecht ſtören möchte, das wieder von dem Princip der ſtaatsbür-
gerlichen Freiheit als berechtigt anerkannt wird. So muß es bis jetzt
genügen, die Elemente dieſer Erſcheinungen anzudeuten.
Die Arbeitervereine ſind demnach Vereine der nichtbeſitzenden
Claſſe, durch ſelbſtgewählte Mitglieder geleitet, deren Zweck es iſt, die
aufſteigende Bewegung durch eine vermöge des Vereins ſelbſt unter-
ſtützte Capitalbildung zu fördern. Sie ſind daher alle nothwendig
auf Gegenſeitigkeit gegründet, deren Inhalt theils die Gleichheit
der Beiträge, theils die Gemeinſchaft der Haftung gegenüber Dritten
iſt. Die Natur dieſer Aufgabe fordert nun, daß dieſe Vereine ſich zu
verſchiedenen ſelbſtändigen Arten entwickeln; ihre wahre Wirkſamkeit
beruht eben auf dieſer ihrer ſyſtematiſchen Entfaltung. Dieſe
Hauptarten aber ſind folgende.
I. Die geſellſchaftlichen Creditvereinsweſen oder die Vorſchuß-
caſſen ſind diejenigen, welche durch Vereinigung der kleineren Capitalien
[455] und der vollen Haftung ihrer Mitglieder nicht ſo ſehr einen Capitals-
erwerb, als vielmehr einen möglichſt hohen Credit für ihre Mitglieder
wollen. Sie ſind daher ganz auf Grundlage der Creditvereine gebildet,
und ſogar in den Gewerbebanken fähig, fremdes Capital in ſich auf-
zunehmen. Zu ihrer Entwicklung gehört ruhige und dauernde Arbeit;
ihre Heimath iſt Deutſchland.
II. Die Produktionsvereine oder eigentlichen Associations ſind
diejenigen, welche nicht mehr Credit für ihre eigenen Mitglieder, ſondern
ein Anlage- und Betriebscapital für ein gemeinſames Unternehmen bilden.
Sie ſind unmöglich ohne eine ſtrenge Subordination der einzelnen Mit-
glieder unter ein ſelbſtgewähltes Haupt, und hängen von der Hinge-
bung des Einzelnen an das Ganze, dem devouement ab. Ihre Hei-
math iſt Frankreich.
III. Die Conſumvereine endlich beruhen darauf, daß zunächſt
durch Selbſtverwaltung des Abſatzes der täglichen Bedürfniſſe, dann
durch Ankauf und Verkauf der Rohmaterialien für die kleine Produk-
tion der Gewinn des Zwiſchenhandels an die Mitglieder des Vereins
fällt. Ihre höhere Entwicklung beruht darauf, daß der ſo erzeugte
Gewinn wieder als Anlage- und Betriebscapital für neue Unterneh-
mungen verwendet, und ſo der Conſum ſelbſt zur Grundlage der Pro-
duktion wird. Zu ihrer Entwicklung gehört vor allem kaufmänniſche
Begabung; ihre Heimath iſt England.
Es iſt kein Zweifel, daß die deutſche Literatur den Ruhm hat, die
Darſtellung der Selbſthülfe in allen ihren Zweigen zuerſt verſtanden und ſyſte-
matiſch bearbeitet zu haben. Den Beginn macht Schultze-Delitzſch mit „Vorſchuß-
und Creditvereine als Volksbanken“ 1855, während V. Huber in ſeinen „eng-
liſchen Reiſebriefen“ zuerſt die Conſumvereine Englands, namentlich die merk-
würdigen Pionnears von Rochdale bekannt macht. Die engliſchen Loansocieties
geordnet 3. 4. Vict. 40. und ſpäter 26. 27. Vict. 56. Erſte Entſtehung der
Vorſchuß- und Creditvereine 1848 in Berlin, 1850 in Delitzſch, Entwicklung
derſelben Schultze-Delitzſch S. 152 ff. Ausdehnung des Princips auf die
landwirthſchaftlichen Verhältniſſe: G. Schönberg, die Landwirthſchaft der
Gegenwart und das Genoſſenſchaftsprincip 1869; Erlemeyer, die Vorſchuß-
und Creditvereine in Anwendung auf die ländliche Bevölkerung 1863; Raiff-
eiſen, Darlehenskaſſenvereine als Mittel zur Abhülfe der Noth der ländlichen
Bevölkerung 1866. Huber im Staatswörterbuch, Genoſſenſchaft. Mehrere
treffliche Aufſätze von Engel, Gierke a. a. O. S. 1078 ff. Uebergang auf
die Conſumvereine; Richter, die Conſumvereine 1867 (vergl. Gierke, Ge-
noſſenſchaft S. 1074 ff.). Die Arbeit von Laurent (ſ. oben) iſt daneben un-
bedeutend. — Die Aufgabe der Geſetzgebung war, dieſen neuen Erſcheinungen
ihre rechtliche Individualität zu geben. In England kam es darauf an, erſt-
lich alle dieſe Geſellſchaften formell den großen Aktiengeſellſchaften gleich zu
[456] ſtellen, und ſie dadurch an dem großen Credit derſelben Theil nehmen zu laſſen
(Hauptgeſetz vom 7. Aug. 1862). Industrial and provident societies Act
25. 26. Vict. 87. (Auſtria 1865. Nr. 48); kein Mitglied darf mehr als 200
Pfund Antheil haben; Verleihung des Rechts der Companies Act; Prüfung
der Rechnung durch den Board of trade; über die Akte von 1844 vergl.
Schwebemayer, die engliſchen Aktiengeſellſchaften, Bank- und Verſicherungs-
weſen 1857. — In Frankreich erzeugte die Beſchränktheit des Code de
Commerce, unter deſſen enge Formen das ganze Vereinsweſen nicht paßte,
das neue Geſetz vom 24. Juli 1867; über die société à capital variable;
Enquête über die sociétés cooperatives als Grundlage dieſes Geſetzes: Plener
in der Tübinger Vierteljahrsſchrift Bd. 24. S. 550 ff.; vergl. Schultze-Delitzſch,
die Geſetzgebung über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirth-
ſchaftsgenoſſenſchaften 1869. S. 148. — In Deutſchland lag durch das Ana-
logon des Handelsgeſetzbuches derſelbe Fall vor; daher Nothwendigkeit einer
eigenen Geſetzgebung. Dieſe Geſetzgebung iſt eigenthümlich durch die noch nicht
überwundene Scheidung der zwei Momente, welche zwei Richtungen in den
Geſetzen erzeugt haben. Das eine Princip derſelben enthält mit der Freiheit
das Vereinsrecht überhaupt, ohne beſtimmte Beziehung auf die ſociale Frage,
allerdings das erſte Element der Entwicklung der Selbſthülfe; das andere
dagegen überträgt die alte Idee der Zunft und Innung auf die letztere, will
die Vereine der Selbſthülfe an die Gewerbe binden, und ſo entſtand der ſpe-
cifiſch deutſche Begriff der „Genoſſenſchaft,“ zuerſt in der öſterreich. Gewerbe-
ordnung, von da zum Theil übergehend in die andern Gewerbeordnungen,
und endlich in allgemeiner Geſtalt organiſirt in dem bekannten Geſetz vom
4. Juli 1868; das ſächſiſche Geſetz vom 15. Juni 1868 (nebſt Verordnung
gl. Dat.) hat ſich zwar davon freier erhalten, iſt aber dennoch bei dem Weſen
der juriſtiſchen Perſon ſtehen geblieben. Es iſt kein Zweifel, daß der Kern der
Entwicklung nicht in dieſen Geſetzen, ſondern im Vereinsweſen liegt
(vergl. Schultze-Delitzſch und Parrhiſius über das Geſetz von 1868). Dazu die
Angaben bei Gierke, Genoſſenſchaft S. 1106. Das Syſtem bei Stein,
Vereinsweſen S. 185 ff.
Die Arbeiterverbindungen haben nun alle Elemente mit dem Ar-
beitervereine gemein bis auf ihren Zweck. Dieſer Zweck iſt, vermöge
der Verbindung durch alle denſelben zu Gebote ſtehenden Mittel eine
Erhöhung des Lohnes zu erzielen und zwar nicht durch Erhöhung
des Werthes der Arbeit, ſondern das Mittel der gemeinſamen Arbeits-
niederlegung. Ihre volkswirthſchaftliche Grundlage iſt der Gedanke,
durch die damit erzwungene Lohnerhöhung indirekt an dem Unterneh-
mungsgewinne Theil zu nehmen; ihr ſocialer Gedanke iſt, der nicht-
beſitzenden, bloß arbeitenden Claſſe die Gleichſtellung mit dem
Capital in der wirthſchaftlichen, und durch dieſelbe auch in der
geſellſchaftlichen Welt zu geben. Die Mittel, wodurch ſie dieſen Zweck
[457] erreichen, ſind zweifacher Natur. Zuerſt bilden ſie durch regelmäßige
Beiträge einen Unterſtützungsfonds für die Arbeiter, welche durch die
ſyſtematiſch von der Verbindung ausgehende Niederlegung der Arbeit
ihren Unterhalt verlieren. Dann aber ſtreben ſie das Bewußtſein des
Arbeiterſtandes durch Preſſe und Vorträge zu heben, und ihnen geiſtig
den Kampf mit dem Capitale möglich zu machen. Ihre Rechtsbaſis iſt
der Satz, daß die Arbeit frei iſt. Ihr Verfahren iſt der Verſuch,
nach geſchehener Niederlegung mit den Unternehmern in Verhandlung
zu treten, und die Lohnerhöhung — oft auch andere Wünſche — da-
durch vertragsmäßig zu erzielen. Die Verwaltung ihrerſeits kann einer-
ſeits die durch dieſes Syſtem entſtehende Gefahr für die wirthſchaftliche
Ordnung nicht verkennen, indem nicht bloß Noth und Armuth vieler
Einzelnen, ſondern auch eine ſyſtematiſche Ausbeutung des Capitals
durch die Arbeit dadurch entſteht. Es iſt daher erklärlich, daß ſie an-
fangs das Entſtehen und die Wirkſamkeit ſolcher Vereine zu hindern
ſucht. Allein ſie erkennt bald, daß ihre Beſtrebungen in dieſer Rich-
tung einerſeits nichts nützen, und zweitens, daß ſie die freie Selbſtbe-
ſtimmung der Arbeiter nicht hindern kann, ohne überhaupt die Frei-
heit der Volkswirthſchaft aufzuheben. Die natürliche Entwicklung des
öffentlichen Rechts hat daher den in den meiſten Geſetzgebungen auch
ſchon formell anerkannten Grundſatz erzeugt, daß die Arbeiterverbin-
dungen an ſich frei ſein, aber unter den allgemeinen Rechtsprincipien
des Verſammlungs- und Vereinsrechts ſtehen ſollen. Dieſe aber ſind
volle Oeffentlichkeit jedes Theiles ihrer Verhandlungen, und
Aufhebung des Vereins nebſt Beſtrafung der Mitglieder, wenn er
die Anwendung von direkten oder indirekten Zwangsmitteln gegen
Mitglieder oder Dritte für ſeine Zwecke beſchließt oder durchführt. Ein
feſtes Syſtem in dieſer Beziehung iſt noch nicht gewonnen. Es wird
eine der großen Aufgaben der nächſten Zukunft ſein, ein allgemeines
Rechtsbewußtſein über dieſe bedeutſame Frage zu bilden, und die Rechts-
principien im Einzelnen mit Maß und Nachdruck zugleich durchzuführen.
Die wahre Löſung derſelben aber liegt auch hier in der Idee der
Harmonie der Intereſſen, welche nicht bloß örtlich, ſondern volkswirth-
ſchaftlich nachweist, daß wenn die eine Bedingung des wirthſchaftlichen
Fortſchrittes allerdings die Funktion des großen Capitals iſt, die zweite
in der Fähigkeit der Arbeit liegt, durch ſich ſelbſt zur wirthſchaftlichen
und geſellſchaftlichen Unabhängigkeit zu gelangen. Hier aber, wie bei
andern großen Fragen, beginnt das wahre Verſtändniß der gegebenen
Zuſtände und Bewegungen damit, daß man alles Gegenwärtige als
ein Entwicklungsſtadium der Zukunft erkennt, die uns das Falſche wie
das Gute allein richtig meſſen lehrt.
Stein, Handbuch der Verwaltungslehre. 30
[458]
Die Geſchichte des Rechts der Arbeiterverbindungen hat wohl allenthalben
die obigen zwei Epochen; das Stadium des mehr oder weniger ſtrengen poli-
zeilichen Verbotes, und das der rechtlichen, oder durch das Vereinsrecht
gegebenen Freiheit der Verbindungen. Das letztere Stadium tritt meiſt erſt
ein, wo ſich die politiſchen Verbindungen von denſelben ſcheiden. England:
Verbot aller Verbindungen mit Oberhaupt und Abſtufungen ſchon ſeit 1793,
die Verabredung der Arbeiter um Erhöhung der Löhne als felony erklärt 39.
40. Georg. III. 106; dann aber, da die Arbeiterverbindungen dieß zu ver-
meiden wiſſen, volle Freiheit dieſer trades unions. Bill von 1824 6. G. IV.
29. zuerſt die Freiheit der Arbeiterverbindungen, jedoch mit Strafe gegen
Gewalt und Drohung gegen Mitarbeiter (vergl. Auſtria, Nr. 24. 1864). Die
folgenden Beſtimmungen haben denſelben Charakter, Geſetzgebung bei Klein-
ſchrod, großbritann. Geſetzgebung S. 93; vergl. auch Gierke a. a. O. 884. —
Frankreich hat dagegen noch lange den ſtrengen Standpunkt ſeines Code
Pénal Art. 414—420 mit Verbot und Strafe beibehalten; freilich fordert der-
ſelbe eine Verbindung mit Abſicht auf „Zwang“ gegen Dritte; aber auch die
nicht auf Zwang gerichteten Verbindungen ſind noch unter polizeilicher Ueber-
wachung, und praktiſch entſcheiden vor der Hand die Behörden über die
Frage, ob eine Aſſociation oder eine Coalition vorliegt (Code Pénal Art. 291;
Geſetz vom 10. April 1834: Schärfung; Abſchaffung 1848; vollſtändige Reak-
tivirung des Code Pénal durch Decret vom 25. März 1852). Eine Unter-
ſcheidung zwiſchen Arbeiter- und andern Verbindungen fand ſich nicht. Bis
jetzt die Art. 414—416 des Code Pénal aufgehoben und die Coalition frei-
gegeben, mit Strafe für Drohung oder „betrügeriſchen Umtrieben“ zu Abhal-
tung von der Arbeit. Bei weitem am klarſten zeichnen ſich beide Epochen in
Deutſchland ab. Die über Arbeiterverbindungen haben ſich hier ganz beſtimmt
von den Verbindungen im Allgemeinen abgelöst, und eine ſelbſtändige Geſetz-
gebung hervorgerufen. Dieſe beginnt mit dem Princip, daß jede Arbeiter-
verbindung zum Zweck der Lohnerhöhung an und für ſich, und zwar ohne
Rückſicht auf die angewendeten Mittel ſtrafbar ſei. Am klarſten das öſter-
reichiſche Strafgeſetzbuch §. 479 ff.; doch liegt dem Verbote mehr ein poli-
zeilicher als ſocialer Gedanke zum Grunde. Den Uebergang zum Princip des
freien Verbindungsrechts bildet dann die Anerkennung des freien Vereins-
rechts, dem das freie Verſammlungsrecht zur Seite geht. Daß damit
der Grundſatz des freien Coalitionsrechts anerkannt iſt, iſt ſelbſt noch nicht
anerkannt. Die Aufhebung aller Beſchränkungen des Coalitionsrechts nach
dem Antrage von Schultze-Delitzſch im norddeutſchen Reichsrath vom 14. Okt.
1867. Der Entwurf des Coalitionsgeſetzes an den öſterreichiſchen Reichs-
rath 1870 erkennt gleichfalls das freie Coalitionsrecht an. Es iſt kein Zweifel,
daß die übrigen deutſchen Geſetzgebungen dieſem Vorgange folgen, oder ihr
freies Vereinsrecht werden aufgeben müſſen (vergl. übrigens Stein, Vereins-
weſen und Vereinsrecht S. 194 und 210 ff.).
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CC-BY-4.0
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- TextGrid Repository (2025). Stein, Lorenz von. Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmqk.0