[][][][][][][][][]
Der Nachſommer.

Erſter Band.
[][]
Der Nachſommer.


Eine Erzählung

Erſter Band.

Peſth,:
Verlag von Guſtav Heckenaſt.
1857.
[][]
[figure]
[][[1]]

1.
Die Häuslichkeit.

Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen
Theil des erſten Stockwerkes eines mäßig großen
Hauſes in der Stadt, in welchem er zur Miethe war.
In demſelben Hauſe hatte er auch das Verkaufsge¬
wölbe die Schreibſtube nebſt den Waarenbehältern
und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe ſeines
Geſchäftes bedurfte. In dem erſten Stockwerke wohnte
außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten
Leuten beſtand, einem Manne und ſeiner Frau, welche
alle Jahre ein oder zwei Male bei uns ſpeiſten, und
zu denen wir und die zu uns kamen, wenn ein Feſt
oder ein Tag einfiel, an dem man ſich Beſuche zu
machen, oder Glück zu wünſchen pflegte. Mein Vater
hatte zwei Kinder, mich den erſtgeborenen Sohn und
Stifter, Nachſommer. I. 1[2] eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich.
Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen,
in welchem wir uns unſeren Geſchäften, die uns ſchon
in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen
mußten, und in welchem wir ſchliefen. Die Mutter
ſah da nach, und erlaubte uns zuweilen, daß wir in
ihrem Wohnzimmer ſein und uns mit Spielen er¬
gözen durften.


Der Vater war die meiſte Zeit in dem Verkaufs¬
gewölbe und in der Schreibſtube. Um zwölf Uhr
kam er herauf, und es wurde in dem Speiſezimmer
geſpeiſet. Die Diener des Vaters ſpeiſten an unſerem
Tiſche mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und
der Magazinsknecht hatten in dem Geſindezimmer
einen Tiſch für ſich. Wir Kinder bekamen einfache
Speiſen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen
einen Braten und jedes Mal ein Glas guten Weines.
Die Handelsdiener bekamen auch von dem Braten und
ein Glas desſelben Weines. Anfangs hatte der Vater
nur einen Buchführer und zwei Diener, ſpäter hatte
er viere.


In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziem¬
lich groß war. In demſelben ſtanden breite flache
Käſten von feinem Glanze und eingelegter Arbeit.
[3] Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln
grünen Seidenſtoff, und waren mit Büchern angefüllt.
Der Vater hatte darum die grünen Seidenvorhänge,
weil er es nicht leiden konnte, das, die Aufſchriften der
Bücher, die gewöhnlich mit goldenen Buchſtaben auf
dem Rücken derſelben ſtanden, hinter dem Glaſe von
allen Leuten geleſen werden konnten, gleichſam als
wolle er mit den Büchern prahlen, die er habe. Vor
dieſen Käſten ſtand er gerne und öfter, wenn er ſich
nach Tiſche oder zu einer andern Zeit einen Augen¬
blick abkargen konnte, machte die Flügel eines Kaſtens
auf, ſah die Bücher an, nahm eines oder das andere
heraus, blickte hinein, und ſtellte es wieder an ſeinen
Plaz. An Abenden, von denen er ſelten einen außer
Hauſe zubrachte, außer wenn er in Stadtgeſchäften
abweſend war, oder mit der Mutter ein Schauſpiel
beſuchte, was er zuweilen und gerne that, ſaß er häu¬
fig eine Stunde öfter aber auch zwei oder gar darüber
an einem kunſtreich geſchnizten alten Tiſche, der im
Bücherzimmer auf einem ebenfalls alterthümlichen
Teppiche ſtand, und las. Da durfte man ihn nicht
ſtören, und niemand durfte durch das Bücherzimmer
gehen. Dann kam er heraus, und ſagte, jezt könne
man zum Abendeſſen gehen, bei dem die Handels¬
1 *[4] diener nicht zugegen waren, und das nur in der Mut¬
ter und in unſerer Gegenwart eingenommen wurde.
Bei dieſem Abendeſſen ſprach er ſehr gerne zu uns
Kindern, und erzählte uns allerlei Dinge, mitunter
auch ſcherzhafte Geſchichten und Märchen. Das Buch,
in dem er geleſen hatte, ſtellte er genau immer wieder
in den Schrein, aus dem er es genommen hatte, und
wenn man gleich nach ſeinem Heraustritte in das
Bücherzimmer ging, konnte man nicht im Geringſten
wahrnehmen, daß eben jemand hier geweſen ſei, und
geleſen habe. Überhaupt durfte bei dem Vater kein
Zimmer die Spuren des unmittelbaren Gebrauches
zeigen, ſondern mußte immer aufgeräumt ſein, als
wäre es ein Prunkzimmer. Es ſollte dafür aber aus¬
ſprechen, zu was es beſonders beſtimmt ſei. Die ge¬
miſchten Zimmer, wie er ſich ausdrückte, die mehreres
zugleich ſein können, Schlafzimmer Spielzimmer und
dergleichen, konnte er nicht leiden. Jedes Ding und
jeder Menſch, pflegte er zu ſagen, könne nur eines
ſein, dieſes aber muß er ganz ſein. Dieſer Zug ſtren¬
ger Genauigkeit prägte ſich uns ein, und ließ uns auf
die Befehle der Eltern achten, wenn wir ſie auch nicht
verſtanden. So zum Beiſpiele durften nicht einmal
wir Kinder das Schlafzimmer der Eltern betreten.
[5] Eine alte Magd war mit Ordnung und Aufräumung
deſſelben betraut.


In den Zimmern hingen hie und da Bilder, und
es ſtanden in manchen Geräthe, die aus alten Zeiten
ſtammten, und an denen wunderliche Geſtalten ausge¬
ſchnitten waren, oder in welchen ſich aus verſchiedenen
Hölzern eingelegte Laubwerke und Kreiſe und Linien
befanden.


Der Vater hatte auch einen Kaſten, in welchem
Münzen waren, von denen er uns zuweilen einige
zeigte. Da befanden ſich vorzüglich ſchöne Thaler,
auf welchen geharniſchte Männer ſtanden, oder die
Angeſichter mit unendlich vielen Locken zeigten, dann
waren einige aus ſehr alten Zeiten mit wunderſchönen
Köpfen von Jünglingen oder Frauen, und eine mit
einem Manne, der Flügel an den Füßen hatte. Er
beſaß auch Steine, in welche Dinge geſchnitten wa¬
ren. Er hielt dieſe Steine ſehr hoch, und ſagte, ſie
ſtammen aus dem kunſtgeübteſten Volke alter Zeiten,
nehmlich aus dem alten Griechenlande her. Manchmal
zeigte er ſie Freunden, dieſe ſtanden lange an dem
Käſtchen derſelben, hielten den einen oder den andern
in ihren Händen, und ſprachen darüber.


Zuweilen kamen Menſchen zu uns, aber nicht oft.
[6] Manches Mal wurden Kinder zu uns eingeladen, mit
denen wir ſpielen durften, und öfter gingen wir auch
mit den Eltern zu Leuten, welche Kinder hatten, und
uns Spiele veranſtalteten. Den Unterricht erhielten
wir in dem Hauſe von Lehrern, und dieſer Unterricht
und die ſogenannten Arbeitsſtunden, in denen von
uns Kindern das verrichtet werden mußte, was uns
als Geſchäft aufgetragen war, bildeten den regelmäßi¬
gen Verlauf der Zeit, von welchem nicht abgewichen
werden durfte.


Die Mutter war eine freundliche Frau, die uns
Kinder ungemein liebte, und die weit eher ein Ab¬
weichen von dem angegebenen Zeitenlaufe zu Gunſten
einer Luſt geſtatte hätte, wenn ſie nicht von der Furcht
vor dem Vater davon abgehalten worden wäre. Sie
ging in dem Hauſe emſig herum, beſorgte alles, ord¬
nete alles, ließ aus der obgenannten Furcht keine Aus¬
nahme zu, und war uns ein eben ſo ehrwürdiges
Bildniß des Guten wie der Vater, von welchem Bild¬
niſſe gar nichts abgeändert werden konnte. Zu Hauſe
hatte ſie gewöhnlich ſehr einfache Kleider an. Nur zu¬
weilen, wenn ſie mit dem Vater irgend wohin gehen
mußte, that ſie ihre ſtattlichen ſeidenen Kleider an und
nahm ihren Schmuck, daß wir meinten, ſie ſei wie
[7] eine Fee, welche in unſern Bilderbüchern abgebildet
war. Dabei fiel uns auf, daß ſie immer ganz ein¬
fache obwohl ſehr glänzende Steine hatte, und daß ihr
der Vater nie die geſchnittenen umhing, von denen er
doch ſagte, daß ſie ſo ſchöne Geſtalten in ſich hätten.


Da wir Kinder noch ſehr jung waren, brachte die
Mutter den Sommer immer mit uns auf dem Lande
zu. Der Vater konnte uns nicht Geſellſchaft leiſten,
weil ihn ſeine Geſchäfte in der Stadt feſthielten; aber
an jedem Sonntage und an jedem Feſttage kam er,
blieb den ganzen Tag bei uns, und ließ ſich von uns
beherbergen. Im Laufe der Woche beſuchten wir ihn
einmal bisweilen auch zweimal in der Stadt, in wel¬
chem Falle er uns dann bewirthete und beherbergte.


Dies hörte endlich auf, anfänglich weil der Vater
älter wurde, und die Mutter, die er ſehr verehrte,
nicht mehr leicht entbehren konnte; ſpäter aber aus
dem Grunde, weil es ihm gelungen war, in der Vor¬
ſtadt ein Haus mit einem Garten zu erwerben, wo
wir freie Luft genießen, uns bewegen, und gleichſam
das ganze Jahr hindurch auf dem Lande wohnen
konnten.


Die Erwerbung des Vorſtadthauſes war eine große
Freude. Es wurde nun von dem alten finſtern Stadt¬
[8] hauſe in das freundliche und geräumige der Vorſtadt
gezogen. Der Vater hatte es vorher im Allgemeinen
zuſammen richten laſſen, und ſelbſt, da wir ſchon da¬
rin wohnten, waren noch immer in verſchiedenen Räu¬
men desſelben Handwerksleute beſchäftigt. Das Haus
war nur für unſere Familie beſtimmt. Es wohnten
nur noch unſere Handlungsdiener in demſelben, und
gleichſam als Pförtner und Gärtner ein ältlicher Mann
mit ſeiner Frau und ſeiner Tochter.


In dieſem Hauſe richtete ſich der Vater ein viel
größeres Zimmer zum Bücherzimmer ein, als er in der
Stadtwohnung gehabt hatte, auch beſtimmte er ein
eigenes Zimmer zum Bilderzimmer; denn in der Stadt
mußten die Bilder wegen Mangel an Raum in ver¬
ſchiedenen Zimmern zerſtreut ſein. Die Wände dieſes
neuen Bilderzimmers wurden mit dunkelrothbraunen
Tapeten überzogen, von denen ſich die Goldrahmen
ſehr ſchön abhoben. Der Fußboden war mit einem
mattfarbigen Teppiche belegt, damit er die Farben der
Bilder nicht beirre. Der Vater hatte ſich eine Staffe¬
lei aus braunem Holze machen laſſen, und dieſe ſtand
in dem Zimmer, damit man bald das eine bald das
andere Bild darauf ſtellen und es genau in dem rech¬
ten Lichte betrachten konnte.


[9]

Für die alten geſchnizten und eingelegten Geräthe
wurde auch ein eigenes Zimmer hergerichtet. Der
Vater hatte einmal aus dem Gebirge eine Zimmerdecke
mitgebracht, welche aus Lindenholz und aus dem
Holze der Zirbelkiefer geſchnizt war. Dieſe Decke ließ
er zuſammen legen, und ließ ſie mit einigen Zuthaten
verſehen, die man nicht merkte, ſo daß ſie als Decke
in dieſes Zimmer paßte. Das freute uns Kinder ſehr,
und wir ſaßen nun doppelt gerne in dem alten Zim¬
mer, wenn uns an Abenden der Vater und die Mut¬
ter dahin führten, und arbeiteten dort etwas, und
ließen uns von den Zeiten erzählen, in denen ſolche
Sachen gemacht worden ſind.


Am Ende eines hölzernen Ganges, der in dem
erſten Geſchoſſe des Hauſes gegen den Garten hinaus
lief, ließ er ein gläſernes Stübchen machen, das heißt,
ein Stübchen, deſſen zwei Wände, die gegen den Gar¬
ten ſchauten, aus lauter Glastafeln beſtanden; denn
die Hinterwände waren Holz. In dieſes Stübchen
that er alte Waffen aus verſchiedenen Zeiten und mit
verſchiedenen Geſtalten. Er ließ an den Stäben, in
die das Glas gefügt war, viel Epheu aus dem Gar¬
ten herauf wachſen, auch im Innern ließ er Epheu an
dem Gerippe ranken, daß derſelbe um die alten Waffen
[10] rauſchte, wenn einzelne Glastafeln geöffnet wurden,
und der Wind durch dieſelben herein zog. Eine große
hölzerne Keule, welche in dem Stübchen war, und
welche mit gräulichen Nägeln prangte, nannte er Mor¬
genſtern, was uns Kindern gar nicht einleuchten wollte,
da der Morgenſtern viel ſchöner war.


Noch war ein Zimmerchen, das er mit kunſtreich
abgenähten rothſeidenen Stoffen, die er gekauft hatte,
überziehen ließ. Sonſt aber wußte man noch nicht,
was in das Zimmer kommen würde.


In dem Garten war Zwergobſt, es waren Ge¬
müſe- und Blumenbeete, und an dem Ende desſelben,
von dem man auf die Berge ſehen konnte, welche die
Stadt in einer Entfernung von einer halben Meile
in einem großen Bogen umgeben, befanden ſich hohe
Bäume und Grasplätze. Das alte Gewächshaus hatte
der Vater theils ausbeſſern theils durch einen Zubau
vergrößern laſſen.


Sonſt hatte das Haus auch noch einen großen
Hof, der gegen den Garten zu offen war, in dem wir,
wenn das Gartengras naß war, ſpielen durften, und
gegen welchen die Fenſter der Küche, in der die Mut¬
ter ſich viel befand, und der Vorrathskammern herab
ſahen.


[11]

Der Vater ging täglich Morgens in die Stadt in
ſein Verkaufsgewölbe und in ſeine Schreibſtube. Die
Handelsdiener mußten der Ordnung halber mit ihm
gehen. Um zwölf Uhr kam er zum Speiſen ſo wie
auch jene Diener, welche nicht eben die Reihe traf,
während der Speiſeſtunde in dem Verkaufsgewölbe
zu wachen. Nachmittag ging er größtentheils auch
wieder in die Stadt. Die Sonntage und die Feſttage
brachte er mit uns zu.


Von der Stadt wurden nun viel öfter Leute mit
ihren Kindern zu uns geladen, da wir mehr Raum
hatten, und wir durften im Hofe oder in dem Garten
uns ergözen. Die Lehrer kamen zu uns jezt in die
Vorſtadt, wie ſie ſonſt in der Stadt zu uns gekommen
waren.


Der Vater, welcher durch das viele Sizen an dem
Schreibtiſche ſich eine Krankheit zuzuziehen drohte,
gönnte ſich nur auf das Andringen der Mutter täglich
eine freie Zeit, welche er dazu verwendete, Bewegung
zu machen. In dieſer Zeit ging er zuweilen in eine
Gemäldegallerie, oder zu einem Freunde, bei welchem
er ein Bild ſehen konnte, oder er ließ ſich bei einem
Fremden einführen, bei dem Merkwürdigkeiten zu treffen
waren. An ſchönen Sommerfeſttagen fuhren wir auch
[12] zuweilen ins Freie, und brachten den Tag in einem
Dorfe oder auf einem Berge zu.


Die Mutter, welche über die Erwerbung des Vor¬
ſtadthauſes außerordentlich erfreut war, widmete ſich
mit geſteigerter Thätigkeit dem Hausweſen. Alle
Samſtage prangte das Linnen „weiß wie Kirſchen¬
blüthe“ auf dem Aufhängeplaze im Garten, und Zim¬
mer für Zimmer mußte unter ihrer Aufſicht gereiniget
werden, außer denen, in welchen die Koſtbarkeiten des
Vaters waren, deren Abſtäubung und Reinigung im¬
mer unter ſeinen Augen vor ſich gehen mußte. Das Obſt
die Blumen und die Gemüſe des Gartens beſorgte ſie
mit dem Vater gemeinſchaftlich. Sie bekam einen Ruf
in der Umgebung, daß Nachbarinnen kamen, und von
ihr Dienſtboten verlangten, die in unſerem Hauſe ge¬
lernt hätten.


Als wir nach und nach heran wuchſen, wurden
wir immer mehr in den Umgang der Eltern gezogen,
der Vater zeigte uns ſeine Bilder, und erklärte uns
manches in denſelben. Er ſagte, daß er nur alte habe,
die einen gewiſſen Werth beſizen, den man immer
haben könne, wenn man einmal genöthigt ſein ſollte,
die Bilder zu verkaufen. Er zeigte uns, wenn wir
ſpazieren gingen, die Wirkungen von Licht und Schat¬
[13] ten, er nannte uns die Farben, welche ſich an den
Gegenſtänden befanden, und erklärte uns die Linien,
welche Bewegung verurſachten, in welcher Bewegung
doch wieder eine Ruhe herrſche, und Ruhe in Bewe¬
gung ſei die Bedingung eines jeden Kunſtwerkes. Er
ſprach mit uns auch von ſeinen Büchern. Er erzählte
uns, daß manche da ſeien, in welchen das enthalten
wäre, was ſich mit dem menſchlichen Geſchlechte ſeit
ſeinem Beginne bis auf unſere Zeiten zugetragen habe,
daß da die Geſchichten von Männern und Frauen er¬
zählt werden, die einmal ſehr berühmt geweſen ſeien,
und vor langer Zeit, oft vor mehr als tauſend Jah¬
ren, gelebt haben. Er ſagte, daß in anderen das ent¬
halten ſei, was die Menſchen in vielen Jahren von
der Welt und anderen Dingen von ihrer Einrichtung
und Beſchaffenheit in Erfahrung gebracht hätten. In
manchen ſei zwar nicht enthalten, was geſchehen ſei,
oder wie ſich Manches befinde, ſondern was die Men¬
ſchen ſich gedacht haben, was ſich hätte zutragen kön¬
nen, oder was ſie für Meinungen über irdiſche und
überirdiſche Dinge hegen.


In dieſer Zeit ſtarb ein Großoheim von der Seite
der Mutter. Die Mutter erbte den Schmuck ſeiner vor
ihm geſtorbenen Frau, wir Kinder aber ſein übriges
[14] Vermögen. Der Vater legte es als unſer natürlicher
Vormund unter mündelgemäßer Sicherheit an, und
that alle Jahre die Zinſen dazu.


Endlich waren wir ſo weit herangewachſen, daß
der gewöhnliche Unterricht, den wir bisher genoſſen
hatten, nach und nach aufhören mußte. Zuerſt traten
diejenigen Lehrer ab, die uns in den Anfangsgründen
der Kenntniſſe unterwieſen hatten, die man heut zu
Tage für alle Menſchen für nothwendig hält, dann
verminderten ſich auch die, welche uns in den Gegen¬
ſtänden Unterricht gegeben hatten, die man Kindern
beibringen läßt, welche zu den gebildeteren oder aus¬
gezeichneteren Ständen gehören ſollen. Die Schweſter
mußte nebſt einigen Fächern, in denen ſie ſich noch
weiter ausbilden ſollte, nach und nach in die Häus¬
lichkeit eingeführt werden, und die wichtigſten Dinge
derſelben erlernen, daß ſie einmal würdig in die Fu߬
ſtapfen der Mutter treten könnte. Ich trieb noch, nach¬
dem ich die Fächer erlernt hatte, die man in unſeren
Schulen als Vorkenntniſſe und Vorbereitungen zu den
ſogenannten Brodkenntniſſen betrachtet, einzelne Zweige
fort, die ſchwieriger waren, und in denen eine Nach¬
hilfe nicht entbehrt werden konnte. Endlich trat in
Bezug auf mich die Frage heran, was denn in der
[15] Zukunft mit mir zu geſchehen habe, und da that der
Vater etwas, was ihm von vielen Leuten ſehr übel ge¬
nommen wurde. Er beſtimmte mich nehmlich zu einem
Wiſſenſchafter im Allgemeinen. Ich hatte bisher ſehr
fleißig gelernt, und jeden neuen Gegenſtand, der von
den Lehrern vorgenommen wurde, mit großem Eifer
ergriffen, ſo daß, wenn die Frage war, wie ich in
einem Unterrichtszweige genügt habe, das Urtheil der
Lehrer immer auf großes Lob lautete. Ich hatte den
angedeuteten Lebensberuf von dem Vater ſelber ver¬
langt, und er dem Verlangten zugeſtimmt. Ich hatte
ihn verlangt, weil mich ein gewiſſer Drang mei¬
nes Herzens dazu trieb. Das ſah ich wohl troz mei¬
ner Jugend ſchon ein, daß ich nicht alle Wiſſenſchaften
würde erlernen können; aber was und wie viel ich ler¬
nen würde, das war mir eben ſo unbeſtimmt, als mein
Gefühl unbeſtimmt war, welches mich zu dieſen Din¬
gen trieb. Mir ſchwebte auch nicht ein beſonderer
Nuzen vor, den ich durch mein Beſtreben erreichen
wollte, ſondern es war mir nur, als müßte ich ſo
thun, als liege etwas innerlich Gültiges und Wichti¬
ges in der Zukunft. Was ich aber im Einzelnen be¬
ginnen, und an welchem Ende ich die Sache anfaſſen
ſollte, das wußte weder ich, noch wußten es die Mei¬
[16] nigen. Ich hatte nicht die geringſte Vorliebe für das
eine oder das andere Fach, ſondern es ſchienen alle
anſtrebenswerth‚ und ich hatte keinen Anhaltspunkt,
aus dem ich hätte ſchließen können, daß ich zu irgend
einem Gegenſtande eine hervorragende Fähigkeit be¬
ſäße, ſondern es erſchienen mir alle nicht unüberwind¬
lich. Auch meine Angehörigen konnten kein Merkmal
finden, aus dem ſie einen ausſchließlichen Beruf für
eine Sache in mir hätten wahrnehmen können.


Nicht die Ungeheuerlichkeit, welche in dieſem Be¬
ginnen lag, war es, was die Leute meinem Vater übel
nahmen, ſondern ſie ſagten, er hätte mir einen Stand,
der der bürgerlichen Geſellſchaft nüzlich iſt, befehlen
ſollen, damit ich demſelben meine Zeit und mein Leben
widme, und einmal mit dem Bewußtſein ſcheiden
könne, meine Schuldigkeit gethan zu haben.


Gegen dieſen Einwurf ſagte mein Vater, der
Menſch ſei nicht zuerſt der menſchlichen Geſellſchaft
wegen da ſondern ſeiner ſelbſt willen. Und wenn jeder
ſeiner ſelbſt willen auf die beſte Art da ſei, ſo ſei er es
auch für die menſchliche Geſellſchaft. Wen Gott zum
beſten Maler auf dieſer Welt geſchaffen hätte, der
würde der Menſchheit einen ſchlechten Dienſt thun,
wenn er etwa ein Gerichtsmann werden wollte: wenn
[17] er der größte Maler wird, ſo thut er auch der Welt den
größten Dienſt, wozu ihn Gott erſchaffen hat. Dies
zeige ſich immer durch einen innern Drang an, der
einen zu einem Dinge führt, und dem man folgen
ſoll. Wie könnte man denn ſonſt auch wiſſen, wozu
man auf der Erde beſtimmt iſt, ob zum Künſtler zum
Feldherrn zum Richter, wenn nicht ein Geiſt da wäre,
der es ſagt, und der zu den Dingen führt, in denen
man ſein Glück und ſeine Befriedigung findet. Gott
lenkt es ſchon ſo, daß die Gaben gehörig vertheilt ſind,
ſo daß jede Arbeit gethan wird, die auf der Erde zu
thun iſt, und daß nicht eine Zeit eintritt, in der alle
Menſchen Baumeiſter ſind. In dieſen Gaben liegen
dann auch ſchon die geſellſchaftlichen, und bei großen
Künſtlern Rechtsgelehrten Staatsmännern ſei auch
immer die Billigkeit Milde Gerechtigkeit und Vater¬
landsliebe. Und aus ſolchen Männern, welche ihren
innern Zug am weiteſten ausgebildet, ſeien auch in
Zeiten der Gefahr am öfteſten die Helfer und Retter
ihres Vaterlandes hervorgegangen.


Es gibt ſolche, die ſagen, ſie ſeien zum Wohle
der Menſchheit Kaufleute Ärzte Staatsdiener gewor¬
den; aber in den meiſten Fällen iſt es nicht wahr.
Wenn nicht der innere Beruf ſie dahin gezogen hat,
Stifter, Nachſommer. I. 2[18] ſo verbergen ſie durch ihre Ausſage nur einen ſchlech¬
teren Grund, nehmlich daß ſie den Stand als ein Mittel
betrachteten, ſich Geld und Gut und Lebensunterhalt
zu erwerben. Oft ſind ſie auch ohne weiter über eine
Wahl mit ſich zu Rathe zu gehen in den Stand ge¬
rathen oder durch Umſtände in ihn geſtoßen worden,
und nehmen das Wohl der Menſchheit in den Mund,
das ſie bezweckt hätten, um nicht ihre Schwäche zu
geſtehen. Dann iſt noch eine eigene Gattung, welche
immer von dem öffentlichen Wohle ſpricht. Das ſind
die, welche mit ihren eigenen Angelegenheiten in Un¬
ordnung ſind. Sie gerathen ſtets in Nöthen, haben ſtets
Ärger und Unannehmlichkeiten, und zwar aus ihrem
eigenen Leichtſinne; und da liegt es ihnen als Ausweg
neben der Hand, den öffentlichen Zuſtänden ihre Lage
ſchuld zu geben, und zu ſagen, ſie wären eigentlich
recht auf das Vaterland bedacht, und ſie würden alles
am beſten in demſelben einrichten. Aber wenn wirk¬
lich die Lage kömmt, daß das Vaterland ſie beruft,
ſo geht es dem Vaterlande, wie es früher ihren eige¬
nen Angelegenheiten gegangen iſt. In Zeiten der Ver¬
irrung ſind dieſe Menſchen die ſelbſtſüchtigſten und oft
auch grauſamſten. Es iſt aber auch kein Zweifel, daß
es ſolche gibt, denen Gott den Geſellſchaftstrieb und
[19] die Geſellſchaftsgaben in beſonderem Maße verliehen
hat. Dieſe widmen ſich aus innerem Antriebe den
Angelegenheiten der Menſchen, erkennen ſie auch am
ſicherſten, finden Freude in den Anordnungen, und
opfern oft ihr Leben für ihren Beruf. Aber in der
Zeit, in der ſie ihr Leben opfern, ſei ſie lange oder
ſei ſie ein Augenblick, empfinden ſie Freude, und dieſe
kömmt, weil ſie ihrem innern Andrange nachgegeben
haben.


Gott hat uns auch nicht bei unſeren Handlungen
den Nuzen als Zweck vorgezeichnet, weder den Nuzen
für uns noch für andere, ſondern er hat der Ausübung
der Tugend einen eigenen Reiz und eine eigene Schön¬
heit gegeben, welchen Dingen die edlen Gemüther
nachſtreben. Wer Gutes thut, weil das Gegentheil
dem menſchlichen Geſchlechte ſchädlich iſt, der ſteht auf
der Leiter der ſittlichen Weſen ſchon ziemlich tief. Die¬
ſer müßte zur Sünde greifen, ſobald ſie dem menſch¬
lichen Geſchlechte oder ihm Nuzen bringt. Solche
Menſchen ſind es auch, denen alle Mittel gelten, und
die für das Vaterland für ihre Familie und für ſich
ſelber das Schlechte thun. Solche hat man zu Zeiten,
wo ſie im Großen wirkten, Staatsmänner geheißen,
ſie ſind aber nur Afterſtaatsmänner, und der augen¬
2 *[20] blickliche Nuzen, den ſie erzielten, iſt ein Afternuzen
geweſen, und hat ſich in den Tagen des Gerichtes als
böſes Verhängniß erwieſen.


Daß bei dem Vater kein Eigennuz herrſchte, be¬
weiſt der Umſtand, daß er im Rathe der Stadt ein
öffentliches Amt unentgeltlich verwaltete, daß er öfter
die ganze Nacht in dieſem Amte arbeitete, und daß
er bei öffentlichen Dingen immer mit bedeutenden
Summen an der Spize ſtand.


Er ſagte, man ſolle mich nur gehen laſſen, es werde
ſich aus dem Unbeſtimmten ſchon entwickeln, wozu ich
taugen werde, und welche Rolle ich auf der Welt ein¬
zunehmen hätte.


Ich mußte meine körperlichen Übungen fortſezen.
Schon als ſehr kleine Kinder mußten wir ſo viele kör¬
perliche Bewegungen machen, als nur möglich war.
Das war einer der Hauptgründe, weßhalb wir im
Sommer auf dem Lande wohnten, und der Garten,
welcher bei dem Vorſtadthauſe war, war einer der
Hauptbeweggründe, weßhalb der Vater das Haus
kaufte. Man ließ uns als kleine Kinder gewöhnlich
ſo viel gehen und laufen, als wir ſelber wollten, und
machte nur ein Ende, wenn wir ſelber aus Müdigkeit
ruhten. Es hatte in der Stadt ſich eine Anſtalt ent¬
[21] wickelt, in welcher nach einer gewiſſen Ordnung Leibes¬
bewegungen vorgenommen werden ſollten, um alle
Theile des Körpers nach Bedürfniß zu üben, und ihrer
naturgemäßen Entfaltung entgegen zu führen. Dieſe
Anſtalt durfte ich beſuchen, nachdem der Vater den
Rath erfahrener Männer eingeholt, und ſich ſelber
durch den Augenſchein von den Dingen überzeugt
hatte, die da vorgenommen wurden. Für Mädchen
beſtand damals eine ſolche Anſtalt nicht, daher ließ
der Vater für die Schweſter in einem Zimmer unſerer
Wohnung ſo viele Vorrichtungen machen, als er und
unſer Hausarzt, der ein Begünſtiger dieſer Dinge war,
für nothwendig erachteten, und die Schweſter mußte
ſich den Übungen unterziehen, die durch die Vorrich¬
tungen möglich waren. Durch die Erwerbung des
Vorſtadthauſes wurde die Sache noch mehr erleichtert.
Nicht nur hatten wir mehr Raum im Innern des
Hauſes, um alle Vorrichtungen zu Körperübungen in
beſſerem und ausgedehnterem Maße anlegen zu können,
ſondern es war auch der Hofraum und der Garten da,
in denen an ſich körperliche Übungen vorgenommen
werden konnten, und die auch weitere Anlagen möglich
machten. Daß wir dieſe Sachen ſehr gerne thaten,
begreift ſich aus der Feurigkeit und Beweglichkeit der
[22] Jugend von ſelber. Wir hatten ſchon in der Kindheit
ſchwimmen gelernt, und gingen im Sommer faſt täg¬
lich, ſelbſt da wir in der Vorſtadt wohnten, von wo
aus der Weg weiter war, in die Anſtalt, in welcher
man ſchwimmen konnte. Selbſt für Mädchen waren
damals ſchon eigene Schwimmanſtalten errichtet. Auch
außerdem machten wir gerne weite Wege, beſon¬
ders im Sommer. Wenn wir im Freien außer der
Stadt waren, erlaubten die Eltern, daß ich mit der
Schweſter einen beſonderen Umgang halten durfte.
Wir übten uns da im Zurücklegen bedeutender Wege
oder in Beſteigung eines Berges. Dann kamen wir
wieder an den Ort zurück, an welchem uns die Eltern
erwarteten. Anfangs ging meiſtens ein Diener mit
uns, ſpäter aber, da wir erwachſen waren, ließ man
uns allein gehen. Um beſſer und mit mehr Bequem¬
lichkeit für die Eltern an jede beliebige Stelle des Lan¬
des außerhalb der Stadt gelangen zu können, ſchaffte
der Vater in der Folge zwei Pferde an, und der Knecht,
der bisher Gärtner und gelegentlich unſer Aufſeher
geweſen war, wurde jezt auch Kutſcher. In einer Reit¬
ſchule, in welcher zu verſchiedenen Zeiten Knaben und
Mädchen lernen konnten, hatten wir reiten gelernt,
und hatten ſpäter unſere beſtimmten Wochentage, an
[23] denen wir uns zu gewiſſen Stunden im Reiten üben
konnten. Im Garten hatte ich Gelegenheit, nach
einem Ziele zu ſpringen, auf ſchmalen Planken zu
gehen, auf Vorrichtungen zu klettern, und mit ſteiner¬
nen Scheiben nach einem Ziele oder nach größtmög¬
lichſter Entfernung zu werfen. Die Schweſter, ſo
ſehr ſie von der Umgebung als Fräulein behandelt
wurde, liebte es doch ſehr, bei ſogenannten gröberen
häuslichen Arbeiten zuzugreifen, um zu zeigen, daß ſie
dieſe Dinge nicht nur verſtehe, ſondern an Kraft auch
die noch übertreffe, welche von Kindheit an bei dieſen
Arbeiten geweſen ſind. Die Eltern legten ihr bei dieſem
Beginnen nicht nur keine Hinderniſſe in den Weg,
ſondern billigten es ſogar. Außerdem trieb ſie noch
das Leſen ihrer Bücher, machte Muſik, beſonders auf
dem Klaviere und auf der Harfe, zu der ſie auch ſang,
und mahlte mit Waſſerfarben.


Als ich den lezten Lehrer verlor, der mich in
Sprachen unterrichtet hatte, als ich in denjenigen
wiſſenſchaftlichen Zweigen, in welchen man einen
längeren Unterricht für nöthig gehalten hatte, weil
ſie ſchwieriger oder wichtiger waren, ſolche Fortſchritte
gemacht hatte, daß man einen Lehrer nicht mehr für
nothwendig erachtete, entſtand die Frage, wie es in
[24] Bezug auf meine erwählte wiſſenſchaftliche Laufbahn
zu halten ſei, ob man da einen gewiſſen Plan entwer¬
fen, und zu deſſen Ausführung Lehrer annehmen ſollte.
Ich bath, man möchte mir gar keinen Lehrer mehr
nehmen, ich würde die Sachen ſchon ſelber zu betreiben
ſuchen. Der Vater ging auf meinen Wunſch ein,
und ich war nun ſehr freudig, keinen Lehrer mehr zu
haben, und auf mich allein angewieſen zu ſein.


Ich fragte Männer um Rath, welche einen großen
wiſſenſchaftlichen Namen hatten, und gewöhnlich an
der einen oder der andern Anſtalt der Stadt beſchäf¬
tigt waren. Ich näherte mich ihnen nur, wenn es
ohne Verlezung der Beſcheidenheit geſchehen konnte.
Da es meiſtens nur eine Anfrage war, die ich in Be¬
zug auf mein Lernen an ſolche Männer ſtellte, und da
ich mich nicht in ihren Umgang drängte, ſo nahmen
ſie meine Annäherung nicht übel, und die Antwort
war immer ſehr freundlich und liebevoll. Auch waren
unter den Männern, die gelegentlich in unſer Haus
kamen, manche, die in gelehrten Dingen bewandert
waren. Auch an dieſe wandte ich mich. Meiſtens be¬
trafen die Anfragen Bücher, und die Folge, in welcher
ſie vorgenommen werden ſollten. Ich trieb Anfangs
jene Zweige fort, in denen ich ſchon Unterricht erhal¬
[25] ten hatte, weil man ſie zu jener Zeit eben als Grund¬
lage einer allgemeinen menſchlichen Bildung betrach¬
tete, nur ſuchte ich zum Theile mehr Ordnung in die¬
ſelben zu bringen, als bisher befolgt worden war, zum
Theile ſuchte ich mich auch in jenem Fache auszudehnen,
das mir mehr zuzuſagen begann. Auf dieſe Weiſe
geſchah es, daß in dem Ganzen doch noch eine ziem¬
liche Ordnung herrſchte, da bei der Unbeſtimmtheit
des ganzen Unternehmens die Gefahr ſehr nahe war,
in die verſchiedenſten Dinge zerſplittert, und in die
kleinſten Kleinlichkeiten verſchlagen zu werden. In
Bezug auf die Fächer, die ich eben angefangen hatte,
beſuchte ich auch Anſtalten in unſerer Stadt, die
ihnen förderlich werden konnten: Bücherſammlungen,
Sammlungen von Werkzeugen und namentlich Orte,
wo Verſuche gemacht wurden, die ich wegen meiner
Unreifheit und wegen Mangel an Gelegenheit und
Werkzeugen nie hätte ausführen können. Was ich
an Büchern und überhaupt an Lehrmitteln brauchte,
ſchaffte der Vater bereitwillig an.


Ich war ſehr eifrig und gab mich manchem einmal
ergriffenen Gegenſtande mit all der entzündeten Luſt
hin, die der Jugend bei Lieblingsdingen eigen zu ſein
pflegt. Obwohl ich bei meinen Beſuchen der öffent¬
[26] lichen Anſtalten zu körperlicher oder geiſtiger Ent¬
wickelung, ferner bei den Beſuchen, welche Leute bei
uns oder welche wir bei ihnen machten, ſehr viele
junge Leute kennen gelernt hatte, ſo war ich doch nie
dahin gekommen, ſo ausſchließlich auf bloße Vergnü¬
gungen und noch dazu oft unbedeutende erpicht zu ſein,
wie ich es bei der größten Zahl der jungen Leute ge¬
ſehen hatte. Die Vergnügungen, die in unſerem Hauſe
vorkamen, wenn wir Leute zum Beſuche bei uns hatten,
waren auch immer ernſterer Art. Ich lernte auch viele
ältere Menſchen kennen; aber ich achtete damals weni¬
ger darauf, weil es bei der Jugend Sitte iſt, ſich mit
lebhafter Betheiligung mehr an die anzuſchließen, die
ihnen an Jahren näher ſtehen, und das, was an äl¬
teren Leuten befindlich iſt, zu überſehen.


Als ich achtzehn Jahre alt war, gab mir der Vater
einen Theil meines Eigenthumes aus der Erbſchaft
vom Großoheime zur Verwaltung. Ich hatte bis
dahin kein Geld zu regelmäßiger Gebarung gehabt,
ſondern, wenn ich irgend etwas brauchte, kaufte es
der Vater, und zu Dingen von minderem Belange
gab mir der Vater das Geld, damit ich ſie ſelber kaufe.
Auch zu Vergnügungen bekam ich gelegentlich kleine
Beträge. Von nun an aber, ſagte der Vater, werde
[27] er mir am erſten Tage eines jeden Monats eine be¬
ſtimmte Summe auszahlen, ich ſolle darüber ein Buch
führen, er werde dieſe Auszahlungen bei der Verwal¬
tung meines Geſammtvermögens, welche Verwaltung
ihm noch immer zuſtehe, in Abrechnung bringen, und
ſein Buch und das meinige müßten ſtimmen. Er gab
mir einen Zettel, auf welchem der Kreis deſſen auf¬
gezeichnet war, was ich von nun an mit meinen mo¬
natlichen Einkünften zu beſtreiten hätte. Er werde
mir nie mehr von ſeinem Gelde einen Gegenſtand
kaufen, der in den verzeichneten Kreis gehöre. Ich
müſſe pünktlich verfahren und haushälteriſch ſein;
denn er werde mir auch nie und nicht einmal unter
den dringendſten Bedingungen einen Vorſchuß geben.
Wenn ich zu ſeiner Zufriedenheit eine Zeit hindurch
gewirthſchaftet hätte, dann werde er meinen Kreis
wieder erweitern, und er werde nach billigſtem Er¬
meſſen ſehen, in welcher Zeit er mir auch vor der er¬
reichten geſezlichen Mündigkeit meine Angelegenheiten
ganz in die Hände werde geben können.

[[28]]

2.
Der Wanderer.

Ich verfuhr mit der Rente, welche mir der Vater
ausgeſezt hatte, gut. Daher wurde nach einiger Zeit
mein Kreis erweitert, wie es der Vater verſprochen
hatte. Ich ſollte von nun an nicht blos nur einen
Theil meiner Bedürfniſſe von dem zugewieſenen Ein¬
kommen decken, ſondern alle. Deßhalb wurde meine
Rente vergrößert. Der Vater zahlte ſie mir von nun
an auch nicht mehr monatlich ſondern vierteljährig
aus, um mich an größere Zeitabſchnitte zu gewöhnen.
Sie mir halbjährig oder gar nach ganzen Jahren ein¬
zuhändigen wollte er nicht wagen, damit ich doch
nicht etwa in Unordnungen geriethe. Er gab mir
nicht die ganzen Zinſen von der Erbſchaft des Gro߬
oheims ſondern nur einen Theil, den andern Theil
legte er zu der Hauptſumme, ſo daß mein Eigenthum
[29] wuchs, wenn ich auch von meiner Rente nichts er¬
übrigte. Als Beſchränkung blieb die Einrichtung,
daß ich in dem Hauſe meiner Eltern wohnen, und an
ihrem Tiſche ſpeiſen mußte. Es ward dafür ein Preis
feſtgeſezt, den ich alle Vierteljahre zu entrichten hatte.
Jedes andere Bedürfniß, Kleider Bücher Geräthe
oder was es immer war, durfte ich nach meinem Er¬
meſſen und nach meiner Einſicht befriedigen.


Die Schweſter erhielt auch Befugniſſe in Hinſicht
ihres Theiles der Erbſchaft des Großoheims, in ſo
weit ſie ſich für ein Mädchen ſchickten.


Wir waren über dieſe Einrichtung ſehr erfreut,
und beſchloſſen, nach dem Wunſche und dem Willen
der Eltern zu verfahren, um ihnen Freude zu machen.


Ich ging, nachdem ich in den verſchiedenen Zwei¬
gen der Kenntniſſe, die ich zulezt mit meinen Lehrern
betrieben hatte, und welche als allgemein nothwendige
Kenntniſſe für einen gebildeten Menſchen gelten, nach
mehreren Richtungen gearbeitet hatte, auf die Mathe¬
matik über. Man hatte mir immer geſagt, ſie ſei die
ſchwerſte und herrlichſte Wiſſenſchaft, ſie ſei die Grund¬
lage zu allen übrigen, in ihr ſei alles wahr, und was
man aus ihr habe, ſei ein bleibendes Beſizthum für
das ganze Leben. Ich kaufte mir die Bücher, die man
[30] mir rieth, um von den Vorkenntniſſen, die ich bereits
hatte, ausgehen, und zu dem Höheren immer weiter
ſtreben zu können. Ich kaufte mir eine ſehr große
Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen
zu können. So ſaß ich nun in manchen Stunden, die
zum Erlernen von Kenntniſſen beſtimmt waren, an
meinem Tiſche, und rechnete. Ich ging den Gängen
der Männer nach, welche die Geſtaltungen dieſer
Wiſſenſchaft nach und nach erfunden hatten, und von
dieſen Geſtaltungen zu immer weiteren geführt wor¬
den waren. Ich ſezte mir beſtimmte Zeiträume feſt,
in welchen ich vom Weitergehen abließ, um das bis
dahin Errungene wiederholen, und meinem Gedächt¬
niſſe einprägen zu können, ehe ich zu ferneren Theilen
vorwärts ſchritt. Die Bücher, welche ich nach und
nach durchnehmen wollte, hatte ich in der Ordnung auf
einem Bücherbrett aufgeſtellt. Ich war nach einer ver¬
hältnißmäßigen Zeit in ziemlich ſchwierige Abtheilungen
des höheren Gebiethes dieſer Wiſſenſchaft vorgerückt.


Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im
Sommer eine Zeit hindurch entfernt von den Eltern
auf irgend einem Punkte des Landes zu wohnen. Zum
erſten Aufenthalte dieſer Art wurde das Landhaus
eines Freundes meines Vaters nicht gar ferne von der
[31] Stadt erwählt. Ich erhielt ein Zimmerchen in dem
oberſten Theile des Hauſes, deſſen Fenſter auf die
nahen Weinberge und zwiſchen ihren Senkungen durch
auf die entfernten Gebirge gingen. Die Frau des
Hauſes gab mir in ſehr kurzen Zwiſchenzeiten immer
erneuerte ſchneeweiße Fenſtervorhänge. Sehr oft ka¬
men die Eltern heraus, beſuchten mich und brachten
den Tag auf dem Lande zu. Sehr oft ging ich auch
zu ihnen in die Stadt, und blieb manchmal ſogar
über Nacht in ihrem Hauſe.


Der zweite Aufenthalt im nächſt darauf folgenden
Sommer war viel weiter von der Stadt entfernt in
dem Hauſe eines Landmanns. Man hat häufig in
den Häuſern unſerer Landleute, in welchen alle Wohn¬
ſtuben und andere Räumlichkeiten ebenerdig ſind,
doch noch ein Geſchoß über dieſen Räumlichkeiten, in
welchem ſich ein oder mehrere Gemächer befinden.
Unter dieſen Gemächern iſt auch die ſogenannte
obere Stube. Häufig iſt ſie blos das einzige Ge¬
mach des erſten Geſchoſſes. Die obere Stube iſt
gewiſſermaßen das Prunkzimmer. In ihr ſtehen die
ſchöneren Betten des Hauſes, gewöhnlich zwei, in ihr
ſtehen die Schreine mit den ſchönen Kleidern, in ihr
hängen die Scheiben- und Jagdgewehre des Mannes,
[32] wenn er dergleichen hat, ſo wie die Preiſe, die er im
Schießen etwa ſchon gewonnen, in ihr ſind die ſchöne¬
ren Geſchirre der Frau, beſonders wenn ſie Krüge aus
Zinn oder etwas aus Porzellan hat, und in ihr ſind
auch die beſſeren Bilder des Hauſes und ſonſtige Zier¬
den, zum Beiſpiel ein ſchönes Jeſukindlein aus Wachs,
welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer
ſolchen oberen Stube des Hauſes eines Landmanns
wohnte ich. Das Haus war ſo weit von der Stadt
entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal mit
Benuzung des Poſtwagens beſuchen konnte, ſie aber
gar nie zu mir kamen.


Dieſer Aufenthalt brachte Veränderungen in mir
hervor.


Weil ich mit den Meinigen nicht zuſammen kom¬
men konnte, ſo lebte die Sehnſucht nach Mittheilung
viel ſtärker in mir, als wenn ich zu Hauſe geweſen
wäre, und ſie jeden Augenblick hätte befriedigen können.
Ich ſchritt alſo zu ausführlichen Briefen und Berichten.
Ich hatte bisher immer aus Büchern gelernt, deren
ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine Bücher¬
käſten von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte
mich nie geübt, etwas ſelber in größerem Zuſammen¬
hange zuſammen zu ſtellen. Jezt mußte ich es thun,
[33] ich that es gerne, und freute mich, nach und nach die
Gabe der Darſtellung und Erzählung in mir wachſen
zu fühlen. Ich ſchritt zu immer zuſammengeſezteren
und geordneteren Schilderungen.


Auch eine andere Veränderung trat ein.


Ich war ſchon als Knabe ein großer Freund der
Wirklichkeit der Dinge geweſen, wie ſie ſich ſo in der
Schöpfung oder in dem geregelten Gange des menſch¬
lichen Lebens darſtellte. Dies war oft eine große Un¬
annehmlichkeit für meine Umgebung geweſen. Ich
fragte unaufhörlich um die Namen der Dinge um ihr
Herkommen und ihren Gebrauch, und konnte mich
nicht beruhigen, wenn die Antwort eine hinausſchie¬
bende war. Auch konnte ich es nicht leiden, wenn
man einen Gegenſtand zu etwas Anderem machte, als
er war. Beſonders kränkte es mich, wenn er, wie ich
meinte, durch ſeine Veränderung ſchlechter wurde.
Es machte mir Kummer, als man einmal einen alten
Baum des Gartens fällte, und ihn in lauter Klöze
zerlegte. Die Klöze waren nun kein Baum mehr,
und da ſie morſch waren, konnte man keinen Schemel
keinen Tiſch kein Kreuz kein Pferd daraus ſchnizen.
Als ich einmal das offene Land kennen gelernt, und
Fichten und Tannen auf den Bergen ſtehen geſehen
Stifter, Nachſommer. I. 3[34] hatte, thaten mir jederzeit die Bretter leid, aus denen
etwas in unſerem Hauſe verfertigt wurde, weil ſie
einmal ſolche Fichten und Tannen geweſen waren.
Ich fragte den Vater, wenn wir durch die Stadt gingen,
wer die große Kirche des heiligen Stephan gebaut
habe, warum ſie nur einen Thurm habe, warum die¬
ſer ſo ſpizig ſei, warum die Kirche ſo ſchwarz ſei,
wem dieſes oder jenes Haus gehöre, warum es ſo
groß ſei, weßhalb ſich an einem andern Hauſe immer
zwei Fenſter neben einander befänden, und in einem
weiteren Hauſe zwei ſteinerne Männer das Sims des
Hausthores tragen. Der Vater beantwortete ſolche
Fragen je nach ſeinem Wiſſen. Bei einigen äußerte
er nur Muthmaßungen, bei anderen ſagte er, er wiſſe
es nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich
alle Gewächſe und Steine kennen, und fragte um die
Namen der Landleute und der Hunde. Der Vater
pflegte zu ſagen, ich müßte einmal ein Beſchreiber der
Dinge werden, oder ein Künſtler, welcher aus Stoffen
Gegenſtände fertigt, an denen er ſo Antheil nimmt,
oder wenigſtens ein Gelehrter, der die Merkmale und
Beſchaffenheiten der Sachen erforſcht.


Dieſe Eigenſchaft nun führte mich, da ich auf dem
Lande wohnte, in eine beſondere Richtung. Ich legte
[35] die Mathematik weg, und widmete mich der Betrach¬
tung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen
Vorkommniſſen des Hauſes, in dem ich wohnte, zu¬
zuſehen. Ich lernte nach und nach alle Werkzeuge
und ihre Beſtimmungen kennen. Ich ging mit den
Arbeitern auf die Felder auf die Wieſen und in die
Wälder, und arbeitete gelegentlich ſelber mit. Ich
lernte in kurzer Zeit auf dieſe Weiſe die Behandlung
und Gewinnung aller Bodenerzeugniſſe des Land¬
ſtriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch ihre erſte
ländliche Verarbeitung zu Kunſterzeugniſſen ſuchte ich
in Erfahrung zu bringen. Ich lernte die Bereitung
des Weines aus Trauben kennen, des Garnes und
der Leinwand aus Flachs des Butters und des Käſes
aus der Milch des Mehles und Brotes aus dem Ge¬
treide. Ich merkte mir die Namen, womit die Land¬
leute ihre Dinge benannten, und lernte bald die Merk¬
male kennen, aus denen man die Güte oder den ge¬
ringeren Werth der Bodenerzeugniſſe oder ihre näch¬
ſten Umwandlungen beurtheilen konnte. Selbſt in
Geſpräche, wie man dieſes oder jenes auf eine viel¬
leicht zweckmäßigere Weiſe hervorbringen könnte, ließ
ich mich ein, fand aber da einen hartnäckigen Wider¬
ſtand.


3 *[36]

Als ich dieſe Hervorbringung der erſten Erzeug¬
niſſe in jenem Striche des Landes, in welchem ich mich
aufhielt, kennen gelernt hatte, ging ich zu den Gegen¬
ſtänden des Gewerbfleißes über. Nicht weit von mei¬
ner Wohnung war ein weites flaches Thal, das von
einem Waſſer durchſtrömt war, welches ſich durch ſeine
gleichbleibende Reichhaltigkeit und dadurch, daß es
im Winter nicht leicht zufror, beſonders zum Treiben
von Werken eignete. In dem Thale waren daher
mehrere Fabriken zerſtreut. Sie gehörten meiſtens
zu anſehnlichen Handelshäuſern. Die Eigenthümer
lebten in der Stadt, und beſuchten zuweilen ihre
Werke, die von einem Verwalter oder Geſchäftsleiter
verſehen wurden. Ich beſuchte nach und nach alle
dieſe Fabriken, und unterrichtete mich über die Erzeug¬
niſſe, welche da hervorgebracht wurden. Ich ſuchte
den Hergang kennen zu lernen, durch welchen der
Stoff in die Fabrik geliefert wurde, durch welchen
er in die erſte Umwandlung, von dieſer in die zweite,
und ſo durch alle Stufen geführt wurde, bis er als
leztes Erzeugniß der Fabrik hervorging. Ich lernte
hier die Güte der einlangenden Rohſtoffe kennen, und
wurde auf die Merkmale aufmerkſam gemacht, aus
denen auf eine vorzügliche Beſchaffenheit der endlich
[37] in der Fabrik fertig gewordenen Erzeugniſſe geſchloſſen
werden konnte. Ich lernte auch die Mittel und Wege
kennen, durch welche die Umwandlungen, die die
Stoffe nach und nach zu erleiden hatten, bewirkt wur¬
den. Die Maſchinen, welche hiezu größtentheils ver¬
wendet wurden, waren mir durch meine bereits er¬
worbenen Vorkenntniſſe in ihren allgemeinen Einrich¬
tungen ſchon bekannt. Es war mir daher nicht ſchwer,
ihre beſonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken,
die hier erreicht werden ſollten, einſehen zu lernen.
Ich ging durch die Gefälligkeit der dabei Angeſtellten
alle Theile durch, bis ich das Ganze ſo vor mir hatte,
und zuſammen begreifen konnte, als hätte ich es als
Zeichnung auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher
alle Einrichtungen ſolcher Art nur aus Zeichnungen
kennen zu lernen Gelegenheit hatte.


In ſpäterer Zeit begann ich, die Naturgeſchichte
zu betreiben. Ich fing bei der Pflanzenkunde an. Ich
ſuchte zuerſt zu ergründen, welche Pflanzen ſich in
der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt.
Zu dieſem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus,
und beſtrebte mich, die Standorte und die Lebensweiſe
der verſchiedenen Gewächſe kennen zu lernen, und alle
Gattungen zu ſammeln. Welche ich mit mir tragen
[38] konnte, und welche nur einiger Maßen aufzube¬
wahren waren, nahm ich mit in meine Wohnung.
Von ſolchen, die ich nicht von dem Orte bringen
konnte, wozu beſonders die Bäume gehörten, machte
ich mir Beſchreibungen, welche ich zu der Sammlung
einlegte. Bei dieſen Beſchreibungen, die ich immer nach
allen ſich mir darbiethenden Eigenſchaften der Pflan¬
zen machte, zeigte ſich mir die Erfahrung, daß nach
meiner Beſchreibung andere Pflanzen in eine Gruppe
zuſammen gehörten, als welche von den Pflanzenkun¬
digen als zuſammengehörig aufgeführt wurden. Ich
bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die Einthei¬
lungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen
Merkmalen, zum Beiſpiele nach den Samenblättern
oder nach den Blüthentheilen gemacht wurden, und
daß da Pflanzen in einer Gruppe beiſammen ſtehen,
welche in ihrer ganzen Geſtalt und in ihren meiſten
Eigenſchaften ſehr verſchieden ſind. Ich behielt die
herkömmlichen Eintheilungen bei, und hatte aber auch
meine Beſchreibungen daneben. In dieſen Beſchrei¬
bungen ſtanden die Pflanzen nach ſinnfälligen Linien,
und, wenn ich mich ſo ausdrücken dürfte, nach ihrer
Bauführung beiſammen.


Bei den Mineralien, welche ich mir ſammelte,
[39] gerieth ich beinahe in dieſelbe Lage. Ich hatte mir
ſchon ſeit meiner Kinderzeit manche Stücke zu erwerben
geſucht. Faſt immer waren dieſelben aus anderen
Sammlungen gekauft oder geſchenkt worden. Sie
waren ſchon Sammlungsſtücke, hatten meiſtens das
Papierſtückchen mit ihrem Namen auf ſich aufgeklebt.
Auch waren ſie wo möglich immer im Kriſtallzuſtande.
Das Siſtem von Mohs hatte einmal großes Aufſehen
gemacht, ich war durch meine mathematiſchen Arbeiten
darauf geführt worden, hatte es kennen und lieben
gelernt. Allein da ich jezt meine Mineralien in der
Gegend meines Aufenthaltes ſuchte, und zuſammen
trug, fand ich ſie weit öfter in unkriſtalliſirtem Zu¬
ſtande als in kriſtalliſirtem, und ſie zeigten da allerlei
Eigenſchaften für die Sinne, die ſie dort nicht haben.
Das Kriſtalliſiren der Stoffe, welches das Siſtem von
Mohs vorausſetzt, kam mir wieder wie ein Blühen
vor, und die Stoffe ſtanden nach dieſen Blüthen bei¬
ſammen. Ich konnte nicht laſſen, auch hier neben
den Eintheilungen, die gebräuchlich waren, mir eben¬
falls meine Beſchreibungen zu machen.


Ungefähr eine Meile von unſerer Stadt liegt
gegen Sonnenuntergang hin eine Reihe von ſchönen
Hügeln. Dieſe Hügel ſezen ſich in Stufenfolgen und
[40] nur hie und da von etwas größeren Ebenen unter¬
brochen immer weiter nach Sonnenuntergang fort,
bis ſie endlich in höher gelegenes noch hügligeres
Land das ſogenannte Oberland übergehen. In der
Nähe der Stadt ſind die Hügel mehrfach von Land¬
häuſern beſezt und mit Gärten und Anlagen ge¬
ſchmückt, in weiterer Entfernung werden ſie ländlicher.
Sie tragen Weinreben oder Felder auf ihren Seiten,
auch Wieſen ſind zu treffen, und die Gipfel oder auch
manche Rückenſtrecken ſind mit laubigen mehr buſch-
als baumartigen Wäldern beſezt. Die Bäche und
ſonſtigen Gewäſſer ſind nicht gar häufig, und oft traf
ich im Sommer zwiſchen den Hügeln, wenn mich
Durſt oder Zufall hinab führte, das ausgetrocknete
mit weißen Steinen gefüllte Bett eines Baches. In
dieſem Hügellande war mein Aufenthalt, und in dem¬
ſelben rückte ich immer weiter gegen Sonnenuntergang
vor. Ich ſtreifte weit und breit herum, und war oft
mehrere Tage von meiner Wohnung abweſend. Ich ging
die einſamen Pfade, welche zwiſchen den Feldern oder
Weingeländen hinliefen, und ſich von Dorf zu Dorf
von Ort zu Ort zogen, und manche Meilen ja Tage¬
reiſen in ſich begriffen. Ich ging auf den abgelegenen
Waldpfaden, die in Stammholz oder Gebüſchen ver¬
[41] borgen waren, und nicht ſelten im Laubwerk Gras
oder Geſtrippe ſpurlos endeten. Ich durchwanderte
oft auch ohne Pfad Wieſen Wald und ſonſtige Land¬
flächen, um die Gegenſtände zu finden, welche ich
ſuchte. Daß wenige von unſeren Stadtbewohnern auf
ſolche Wege kommen, iſt begreiflich, da ſie nur kurze
Zeit zu dem Genuſſe des Landlebens ſich gönnen
können, und in derſelben auf den breiten herkömm¬
lichen Straßen des Landvergnügens bleiben, und von
anderen Pfaden nichts wiſſen. An der Mittagſeite
war das ganze Hügelland viele Meilen lang von
Hochgebirge geſäumt. Auf einer Stelle der Baſteien
unſerer Stadt kann man zwiſchen Häuſern und Bäu¬
men ein Fleckchen Blau von dieſem Gebirge ſehen.
Ich ging oft auf jener Baſtei, ſah oft dieſes kleine
blaue Fleckchen, und dachte nichts weiter, als: das iſt
das Gebirge. Selbſt da ich von dem Hauſe meines
erſten Sommeraufenthaltes einen Theil des Hochge¬
birges erblickte, achtete ich nicht weiter darauf. Jezt
ſah ich zuweilen mit Vergnügen von einer Anhöhe
oder von dem Gipfel eines Hügels ganze Strecken
der blauen Kette, welche in immer undeutlicheren
Gliedern ferner und ferner dahin lief. Oft, wenn ich
durch wildes Geſtrippe plözlich auf einen freien Abriß
[42] kam, und mir die Abendröthe entgegen ſchlug, weithin
das Land in Duft und rothen Rauch legend, ſo ſezte
ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglim¬
men, und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz.


Wenn ich wieder in das Haus der Meinigen zu¬
rückkehrte, wurde ich recht freudig empfangen, und
die Mutter gewöhnte ſich an meine Abweſenheiten„
da ich ſtets gereifter von ihnen zurück kam. Sie und
die Schweſter halfen mir nicht ſelten, die Sachen,
die ich mitbrachte, aus ihren Behältniſſen auspacken,
damit ich ſie in den Räumen, die hiezu beſtimmt waren,
ordnen konnte.


So war endlich die Zeit gekommen, in welcher es
der Vater für gerathen fand, mir die ganze Rente der
Erbſchaft des Großoheims zu freier Verfügung zu
übertragen. Er ſagte, ich könne mit dieſem Einkom¬
men verfahren, wie es mir beliebe, nur müßte ich da¬
mit ausreichen. Er werde mir auf keine Weiſe aus
dem Seinigen etwas beitragen, noch mir je Vorſchüſſe
machen, da meine Jahreseinnahme ſo reichlich ſei,
daß ſie meine jezigen Bedürfniſſe, ſelbſt wenn ſie noch
um Vieles größer würden, nicht nur hinlänglich decke,
ſondern daß ſie ſelbſt auch manche Vergnügungen be¬
ſtreiten könne, und daß doch noch etwas übrig bleiben
[43] dürfte. Es liege ſomit in meiner Hand, für die Zu¬
kunft, die etwa größere Ausgaben bringen könnte,
mir auch eine größere Einnahme zu ſichern. Meine
Wohnung und meinen Tiſch dürfe ich nicht mehr,
wenn ich nicht wolle, in dem Hauſe der Eltern neh¬
men, ſondern wo ich immer wollte. Das Stammver¬
mögen ſelber werde er an dem Orte, an welchem es
ſich bisher befand, liegen laſſen. Er fügte bei, er
werde mir dasſelbe, ſobald ich das vier und zwanzigſte
Jahr erreicht habe, einhändigen. Dann könne ich es
nach meinem eigenen Ermeſſen verwalten. „Ich rathe
dir aber,“ fuhr er fort, „dann nicht nach einer größeren
Rente zu geizen, weil eine ſolche meiſtens nur mit
einer größeren Unſicherheit des Stammvermögens zu
erzielen iſt. Sei immer deines Grundvermögens
ſicher, und mache die dadurch entſtehende kleinere
Rente durch Mäßigkeit größer. Sollteſt du den Rath
deines Vaters einholen wollen, ſo wird dir derſelbe
nie entzogen werden. Wenn ich ſterbe, oder freiwillig
aus den Geſchäften zurück trete, ſo werdet ihr beide
auch noch von mir eine Vermehrung eures Eigenthums
erhalten. Wie groß dieſelbe ſein wird, kann ich noch
nicht ſagen, ich bemühe mich, durch Vorſicht und durch
gut gegründete Geſchäftsführung ſie ſo groß als mög¬
[44] lich und auch ſo ſicher als möglich zu machen; aber
alle ſtehen wir in der Hand des Herrn, und er kann
durch Ereigniſſe, welche kein Menſchenauge vorher
ſehen kann, meine Vermögensumſtände bedeutend ver¬
ändern. Darum ſei weiſe, und gebahre mit dem Dei¬
nigen, wie du bisher zu meiner und zur Befriedigung
deiner Mutter gethan haſt.“


Ich war gerührt über die Handlungsweiſe meines
Vaters, und dankte ihm von ganzem Herzen. Ich
ſagte, daß ich mich ſtets beſtreben werde, ſeinem Ver¬
trauen zu entſprechen, daß ich ihn inſtändig um ſeinen
Rath bitte, und daß ich in Vermögensangelegenheiten
wie in anderen nie gegen ihn handeln, und daß ich
auch nicht den kleinſten Schritt thun wolle, ohne nach
dieſem Rath zu verlangen. Eine Wohnung außer
dem Hauſe zu beziehen, ſolange ich in unſerer Stadt
lebe, wäre mir ſehr ſchmerzlich, und ich bitte in dem
Hauſe meiner Eltern und an ihrem Tiſche bleiben zu
dürfen, ſolange Gott nicht ſelber durch irgend eine
Schickung eine Änderung herbei führe.


Der Vater und die Mutter waren über dieſe Worte
erfreut. Die Mutter ſagte, daß ſie mir zu meiner bis¬
herigen Wohnung, die mir doch als einem nunmehr
ſelbſtſtändigen Manne beſonders bei meinen jezigen
[45] Verhältniſſen zu klein werden dürfte, noch einige
Räumlichkeiten zugeben wolle, ohne daß darum der
Preis unverhältnißmäßig wachſe. Ich war natürlicher
Weiſe mit Allem einverſtanden. Ich mußte gleich mit
der Mutter gehen, und die mir zugedachte Vergröße¬
rung der Wohnung beſehen. Ich dankte ihr für ihre
Sorgfalt. Schon in den nächſten Tagen richtete ich
mich in der neuen Wohnung ein.


Den Winter benuzte ich zum Theile mit Vorbe¬
reitungen, um im nächſten Sommer wieder große
Wanderungen machen zu können. Ich hatte mir vor¬
genommen, nun endlich einmal das Hochgebirge zu
beſuchen, und in ihm ſo weit herum zu gehen, als es
mir zuſagen würde.


Als der Sommer gekommen war, fuhr ich von der
Stadt auf dem kürzeſten Wege in das Gebirge. Von
dem Orte meiner Ankunft aus wollte ich dann in ihm
längs ſeiner Richtung von Sonnenaufgang nach
Sonnenuntergang zu Fuße fort wandern. Ich begab
mich ſofort auf meinen Weg. Ich ging den Thälern
entlang, ſelbſt wenn ſie von meiner Richtung abwichen,
und allerlei Windungen verfolgten. Ich ſuchte nach
ſolchen Abſchweifungen immer meinen Hauptweg wie¬
der zu gewinnen. Ich ſtieg auch auf Bergjoche, und
[46] ging auf der entgegengeſezten Seite wieder in das
Thal hinab. Ich erklomm manchen Gipfel, und ſuchte
von ihm die Gegend zu ſehen, und auch ſchon die
Richtung zu erſpähen, in welcher ich in nächſter Zeit
vordringen würde. Im Ganzen hielt ich mich ſtets, ſo¬
weit es anging, nach dem Hauptzuge des Gebirges, und
wich von der Waſſerſcheide ſo wenig als möglich ab.


In einem Thale an einem ſehr klaren Waſſer ſah
ich einmal einen todten Hirſch. Er war gejagt wor¬
den, eine Kugel hatte ſeine Seite getroffen, und er
mochte das friſche Waſſer geſucht haben, um ſeinen
Schmerz zu kühlen. Er war aber an dem Waſſer ge¬
ſtorben. Jezt lag er an demſelben ſo, daß ſein Haupt
in den Sand gebettet war, und ſeine Vorderfüße in
die reine Fluth ragten. Ringsum war kein leben¬
diges Weſen zu ſehen. Das Thier gefiel mir ſo, daß
ich ſeine Schönheit bewunderte, und mit ihm großes
Mitleid empfand. Sein Auge war noch kaum ge¬
brochen, es glänzte noch in einem ſchmerzlichen Glanze,
und daſſelbe, ſo wie das Antliz, das mir faſt ſpre¬
chend erſchien, war gleichſam ein Vorwurf gegen ſeine
Mörder. Ich grif den Hirſch an, er war noch nicht
kalt. Als ich eine Weile bei dem todten Thiere ge¬
ſtanden war, hörte ich Laute in den Wäldern des
[47] Gebirges, die wie Jauchzen und wie Heulen von
Hunden klangen. Dieſe Laute kamen näher, waren
deutlich zu erkennen, und bald ſprang ein Paar ſchöner
Hunde über den Bach, denen noch einige folgten.
Sie näherten ſich mir. Als ſie aber den fremden Mann
bei dem Wilde ſahen, blieben einige in der Entfernung
ſtehen, und bellten heftig gegen mich, während andere
heulend weite Kreiſe um mich zogen, in ihnen dahin
flogen, und in Eilfertigkeit ſich an Steinen überſchlu¬
gen, und überſtürzten. Nach geraumer Zeit kamen
auch Männer mit Schießgewehren. Als ſich dieſe dem
Hirſche genähert hatten, und neben mir ſtanden,
kamen auch die Hunde herzu, hatten vor mir keine
Scheu mehr, beſchnupperten mich, und bewegten ſich,
und zitterten um das Wild herum. Ich entfernte mich,
nachdem die Jäger auf dem Schauplaze erſchienen wa¬
ren, ſehr bald von ihm.


Bisher hatte ich keine Thiere zu meinen Beſtre¬
bungen in der Naturgeſchichte aufgeſucht, obwohl ich
die Beſchreibungen derſelben eifrig geleſen und gelernt
hatte. Dieſe Vernachläſſigung der leiblichen wirklichen
Geſtalt war bei mir ſo weit gegangen, daß ich, ſelbſt
da ich einen Theil des Sommers ſchon auf dem Lande
zubrachte, noch immer die Merkmale von Ziegen Scha¬
[48] fen Kühen aus meinen Abbildungen nicht nach den
Geſtalten ſuchte, die vor mir wandelten.


Ich ſchlug jezt einen andern Weg ein. Der Hirſch,
den ich geſehen hatte, ſchwebte mir immer vor den
Augen. Er war ein edler gefallner Held, und war
ein reines Weſen. Auch die Hunde ſeine Feinde erſchie¬
nen mir berechtigt wie in ihrem Berufe. Die ſchlan¬
ken ſpringenden und gleichſam geſchnellten Geſtalten
blieben mir ebenfalls vor den Augen. Nur die Men¬
ſchen, welche das Thier geſchoſſen hatten, waren mir
widerwärtig, da ſie daraus gleichſam ein Feſt gemacht
hatten. Ich fing von der Stunde an, Thiere ſo auf¬
zuſuchen und zu betrachten, wie ich bisher Steine und
Pflanzen aufgeſucht und betrachtet hatte. Sowohl
jezt, da ich noch in dem Gebirge war, als auch ſpäter
zu Hauſe und bei meinen weiteren Wanderungen be¬
trachtete ich Thiere, und ſuchte ihre weſentlichen Merk¬
male ſowohl an ihrem Leibe als auch an ihrer Lebens¬
art und Beſtimmung zu ergründen. Ich ſchrieb das,
was ich geſehen hatte, auf, und verglich es mit den
Beſchreibungen und Eintheilungen, die ich in meinen
Büchern fand. Da geſchah es wieder, das, ich mit
dieſen Büchern in Zwieſpalt gerieth, weil es meinen
Augen widerſtrebte, Thiere nach Zehen oder anderen
[49] Dingen in einer Abtheilung beiſammen zu ſehen, die
in ihrem Baue nach meiner Meinung ganz verſchieden
waren. Ich ſtellte daher nicht wiſſenſchaftlich aber
zu meinem Gebrauche eine andere Eintheilung zu¬
ſammen.


Einen beſondern Zweck, den ich bei dem Beſuche
des Gebirges befolgen wollte, hatte ich dieſes erſte
Mal nicht, außer was ſich zufällig fand. Ich war nur
im Allgemeinen in das Gebirge gegangen, um es zu
ſehen. Als daher dieſer erſte Drang etwas geſättigt
war, begab ich mich auf dem nächſten Wege in das
flache Land hinaus, und fuhr auf dieſem wieder
nach Hauſe.


Allein der kommende Sommer lockte mich abermals
in das Gebirge. Hatte ich das erſte Mal nur im
Allgemeinen geſchaut, und waren die Eindrücke wir¬
kend auf mich heran gekommen, ſo ging ich jezt ſchon
mehr in das Einzelne, ich war meiner ſchon mehr
Herr, und richtete die Betrachtung auf beſondere
Dinge. Viele von ihnen drängten ſich an meine Seele.
Ich ſaß auf einem Steine, und ſah die breiten Schatten¬
flächen und die ſcharfen oft gleichſam mit einem Meſſer
in ſie geſchnittenen Lichter. Ich dachte nach, weßhalb
die Schatten hier ſo blau ſeien und die Lichter ſo kräf¬
Stifter, Nachſommer. I. 4[50] tig und das Grün ſo feurig und die Wäſſer ſo blizend.
Mir fielen die Bilder meines Vaters ein, auf denen
Berge gemalt waren, und mir wurde es, als hätte ich
ſie mitnehmen ſollen, um vergleichen zu können. Ich
blieb in kleinen Ortſchaften zuweilen länger, und be¬
trachtete die Menſchen, ihr tägliches Gewerbe ihr
Fühlen ihr Reden Denken und Singen. Ich lernte
die Zither kennen, betrachtete ſie, unterſuchte ſie, und
hörte auf ihr ſpielen, und zu ihr ſingen. Sie erſchien
mir als ein Gegenſtand, der nur allein in die Berge
gehört, und mit den Bergen Eins iſt. Die Wolken,
ihre Bildung ihr Anhängen an die Bergwände ihr
Suchen der Bergſpitzen ſo wie die Verhältniſſe des
Nebels und ſeine Neigung zu den Bergen waren mir
wunderbare Erſcheinungen.


Ich beſtieg in dieſem Sommer auch einige hohe
Stellen, ich ließ mich von den Führern nicht blos auf
das Eis der Gletſcher geleiten, welches mich ſehr an¬
regte, und zur Betrachtung aufforderte, ſondern be¬
ſtieg auch mit ihrer Hilfe die höchſten Zinnen der
Berge.


Ich ſah die Überreſte einer alten untergegangenen
Welt in den Marmoren, die in dem Gebirge vorkom¬
men, und die man in manchen Thälern zu ſchleifen
[51] verſteht. Ich ſuchte beſondere Arten aufzufinden, und
ſendete ſie nach Hauſe. Den ſchönen Enzian hatte ich
im früheren Sommer ſchon der Schweſter in meinen
Pflanzenbüchern gebracht, jezt brachte ich ihr auch
Alpenroſen und Edelweis. Von der Zirbelkiefer und
dem Knieholze nahm ich die zierlichen Früchte. So
verging die Zeit, und ſo kam ich bereichert nach Hauſe.


Ich ging von nun an jeden Sommer in das Ge¬
birge.


Wenn ich von den Zimmern meiner Wohnung in
dem Hauſe meiner Eltern nach einem dort verbrachten
Winter gegen den Himmel blickte, und nicht mehr ſo
oft an demſelben die grauen Wolken und den Nebel
ſah, ſondern öfter ſchon die blauen und heiteren Lüfte,
wenn dieſe durch ihre Farbe ſchon gleichſam ihre grö¬
ßere Weichheit ankündigten, wenn auf den Mauern
und Schornſteinen und Ziegeldächern, die ich nach
vielen Richtungen überſehen konnte, ſchon immer
kräftigere Tafeln von Sonnenſchein lagen, kein Schnee
ſich mehr blicken ließ, und an den Bäumen unſeres
Gartens die Knospen ſchwollen: ſo mahnte es mich
bereits in das Freie. Um dieſem Drange nur vor¬
läufig zu genügen, ging ich gerne aus der Stadt, und
erquickte mich an der offenen Weite der Wieſen der
4 *[52] Felder der Weinberge. Wenn aber die Bäume blüh¬
ten und das erſte Laub ſich entwickelte, ging ich ſchon
dem Blau der Berge zu, wenngleich ihre Wände noch
von manigfaltigem Schnee erglänzten. Ich erwählte
mir nach und nach verſchiedene Gegenden, an denen
ich mich aufhielt, um ſie genau kennen zu lernen, und
zu genießen.


Mein Vater hatte gegen dieſe Reiſen nichts, auch
war er mit der Art, wie ich mit meinem Einkommen
gebahrte, ſehr zufrieden. Es blieb nehmlich in
jedem Jahre ein Erkleckliches über, was zu dem
Grundvermögen gethan werden konnte. Ich ſpürte
deßohngeachtet in meiner Lebensweiſe keinen Abgang.
Ich ſtrebte nach Dingen, die meine Freude waren, und
wenig koſteten, weit weniger als die Vergnügungen,
denen meine Bekannten ſich hingaben. Ich hatte in
Kleidern Speiſe und Trank die größte Einfachheit,
weil es meiner Natur ſo zuſagte, weil wir zur Mäßig¬
keit erzogen waren, und weil dieſe Gegenſtände, wenn
ich ihnen große Aufmerkſamkeit hätte ſchenken ſollen,
mich von meinen Lieblingsbeſtrebungen abgelenkt hät¬
ten. So ging alles gut, Vater und Mutter freuten
ſich über meine Ordnung, und ich freute mich über
ihre Freude.


[53]

Da verfiel ich eines Tages auf das Zeichnen. Ich
könnte mir ja meine Naturgegenſtände, dachte ich, eben
ſo gut zeichnen als beſchreiben, und die Zeichnung ſei
am Ende noch ſogar beſſer als die Beſchreibung. Ich
erſtaunte, weßhalb ich denn nicht ſogleich auf den Ge¬
danken gerathen ſei. Ich hatte wohl früher immer
gezeichnet, aber mit mathematiſchen Linien, welche
nach Rechnungsgeſezen entſtanden, Flächen und Körper
in der Meßkunſt darſtellten, und mit Zirkel und Richt¬
ſcheit gemacht worden waren. Ich wußte wohl recht
gut, daß man mit Linien alle möglichen Körper dar¬
ſtellen könne, und hatte es an den Bildern meines
Vaters vollführt geſehen: aber ich hatte nicht weiter
darüber gedacht, da ich in einer andern Richtung be¬
ſchäftigt war. Es mußte dieſe Vernachläſſigung von
einer Eigenſchaft in mir herrühren, die ich in einem
hohen Grade beſaß, und die man mir zum Vorwurfe
machte. Wenn ich nehmlich mit einem Gegenſtande
eifrig beſchäftigt war, ſo vergaß ich darüber manchen
andern, der vielleicht größere Bedeutung hatte. Sie
ſagten, das ſei einſeitig, ja es ſei ſogar Mangel an
Gefühl.


Ich fing mein Zeichnen mit Pflanzen an, mit
Blättern mit Stielen mit Zweigen. Es war Anfangs
[54] die Ähnlichkeit nicht ſehr groß, und die Vollkommen¬
heit der Zeichnung ließ viel zu wünſchen übrig, wie
ich ſpäter erkannte. Aber es wurde immer beſſer, da
ich eifrig war, und vom Verſuchen nicht abließ. Die
früher in meine Pflanzenbücher eingelegten Pflanzen,
wie ſorgſam ſie auch vorbereitet waren, verloren nach
und nach nicht blos die Farbe ſondern auch die Ge¬
ſtalt, und erinnerten nicht mehr entfernt an ihre ur¬
ſprüngliche Beſchaffenheit. Die gezeichneten Pflanzen
dagegen bewahrten wenigſtens die Geſtalt, nicht zu
gedenken, daß es Pflanzen gibt, die wegen ihrer Be¬
ſchaffenheit und ſelbſt ſolche, die wegen ihrer Größe in
ein Pflanzenbuch nicht gelegt werden können, wie zum
Beiſpiele Pilze oder Bäume. Dieſe konnten in einer
Zeichnung ſehr wohl aufbewahrt werden. Die bloßen
Zeichnungen aber genügten mir nach und nach auch
nicht mehr, weil die Farbe fehlte, die bei den Pflan¬
zen beſonders bei den Blüthen eine Hauptſache iſt.
Ich begann daher, meine Abbildungen mit Farben
zu verſehen, und nicht eher zu ruhen, als bis die
Ähnlichkeit mit den Urbildern erſchien, und immer
größer zu werden verſprach.


Nach den Pflanzen nahm ich auch andere Gegen¬
ſtände vor, deren Farbe etwas Auffallendes und Fa߬
[55] liches hatte. Ich gerieth auf die Falterne, und ſuchte
mehrere nachzubilden. Die Farben von minder hervor¬
ragenden Gegenſtänden, die zwar unſcheinbar aber doch
bedeutſam ſind, wie die der Geſteine im unkriſtalli¬
ſchen Zuſtande, kamen ſpäter an die Reihe, und ich
lernte ihre Reize nach und nach würdigen.


Da ich nun einmal zeichnete, und die Dinge de߬
halb doch viel genauer betrachte mußten, und da das
Zeichnen und meine jezigen Beſtrebungen mich doch
nicht ganz ausfüllten, kam ich auch noch auf eine an¬
dere viel weiter gehende Richtung.


Ich habe ſchon geſagt, daß ich gerne auf hohe
Berge ſtieg, und von ihnen aus die Gegenden betrach¬
tete. Da ſtellten ſich nun dem geübteren Auge die
bildſamen Geſtalten der Erde in viel eindringlicheren
Merkmalen dar, und faßten ſich überſichtlicher in
großen Theilen zuſammen. Da öffnete ſich dem Ge¬
müthe und der Seele der Reiz des Entſtehens dieſer
Gebilde, ihrer Falten und ihrer Erhebungen, ihres
Dahinſtreichens und Abweichens von einer Richtung,
ihres Zuſammenſtrebens gegen einen Hauptpunkt und
ihrer Zerſtreuungen in die Fläche. Es kam ein altes
Bild, das ich einmal in einem Buche geleſen und wie¬
der vergeſſen hatte, in meine Erinnerung. Wenn das
[56] Waſſer in unendlich kleinen Tröpfchen, die kaum durch
ein Vergrößerungsglas erſichtlich ſind, aus dem Dunſte
der Luft ſich auf die Tafeln unſerer Fenſter abſezt,
und die Kälte dazu kömmt, die nöthig iſt, ſo entſteht
die Decke von Fäden Sternen Wedeln Palmen und
Blumen, die wir gefrorene Fenſter heißen. Alle dieſe
Dinge ſtellen ſich zu einem Ganzen zuſammen, und
die Strahlen die Thäler die Rücken die Knoten des
Eiſes ſind durch ein Vergrößerungsglas angeſehen
bewunderungswürdig. Eben ſo ſtellt ſich von ſehr
hohen Bergen aus geſehen die niedriger liegende Ge¬
ſtaltung der Erde dar. Sie muß aus einem erſtarren¬
den Stoffe entſtanden ſein, und ſtreckt ihre Fächer und
Palmen in großartigem Maßſtabe aus. Der Berg ſel¬
ber, auf dem ich ſtehe, iſt der weiße helle und ſehr
glänzende Punkt, den wir in der Mitte der zarten
Gewebe unſerer gefrorenen Fenſter ſehen. Die Pal¬
menränder der gefrorenen Fenſtertafeln werden durch
Abbröklung wegen des Luftzuges oder durch Schmel¬
zung wegen der Wärme lückenhaft und unterbrochen.
An den Gebirgszügen geſchehen Zerſtörungen durch
Verwitterung in Folge des Einfluſſes des Waſſers der
Luft der Wärme und der Kälte. Nur braucht die Zer¬
ſtörung der Eisnadeln an den Fenſtern kürzere Zeit
[57] als der Nadeln der Gebirge. Die Betrachtung der
unter mir liegenden Erde, der ich oft mehrere Stun¬
den widmete, erhob mein Herz zu höherer Bewegung,
und es erſchien mir als ein würdiges Beſtreben, ja als
ein Beſtreben, zu dem alle meine bisherigen Bemüh¬
ungen nur Vorarbeiten geweſen waren, dem Ent¬
ſtehen dieſer Erdoberfläche nachzuſpüren, und durch
Sammlung vieler kleiner Thatſachen an den verſchie¬
denſten Stellen ſich in das große und erhabene Ganze
auszubreiten, das ſich unſern Blicken darſtellt, wenn
wir von Hochpunkt zu Hochpunkt auf unſerer Erde
reiſen, und ſie endlich alle erfüllt haben, und keine
Bildung dem Auge mehr zu unterſuchen bleibt als die
Weite und die Wölbung des Meeres.


Ich begann, durch dieſe Gefühle und Betrach¬
tungen angeregt, gleichſam als Schlußſtein oder Zu¬
ſammenfaſſung aller meiner bisherigen Arbeiten die
Wiſſenſchaft der Bildung der Erdoberfläche und da¬
durch vielleicht der Bildung der Erde ſelber zu betrei¬
ben. Nebſtdem, daß ich gelegentlich von hohen Stellen
aus die Geſtaltung der Erdoberfläche genau zeichnete,
gleichſam als wäre ſie durch einen Spiegel geſehen
worden, ſchaffte ich mir die vorzüglichſten Werke an,
welche über dieſe Wiſſenſchaft handeln, machte mich
[58] mit den Vorrichtungen, die man braucht, bekannt
ſo wie mit der Art ihrer Benüzung.


Ich betrieb nun dieſen Gegenſtand mit fortgeſeztem
Eifer und mit einer ſtrengen Ordnung.


Dabei lernte ich auch nach und nach den Himmel
kennen, die Geſtaltung ſeiner Erſcheinungen und die
Verhältniſſe ſeines Wetters.


Meine Beſuche der Berge hatten nun faſt aus¬
ſchließlich dieſen Zweck zu ihrem Inhalte.

[[59]]

3.
Die Einkehr.

Eines Tages ging ich von dem Hochgebirge gegen
das Hügelland hinaus. Ich wollte nehmlich von einem
Gebirgszuge in einen andern überſiedeln, und meinen
Weg dahin durch einen Theil des offenen Landes neh¬
men. Jedermann kennt die Vorberge, mit welchen das
Hochgebirge gleichſam wie mit einem Übergange gegen
das flachere Land ausläuft. Mit Laub- oder Nadelwald
bedeckt ziehen ſie in angenehmer Färbung dahin, laſſen
hie und da das blaue Haupt eines Hochberges über
ſich ſehen, ſind hie und da von einer leuchtenden Wieſe
unterbrochen, führen alle Wäſſer, die das Gebirge
liefert, und die gegen das Land hinaus gehen, zwiſchen
ſich, zeigen manches Gebäude und manches Kirchlein,
und ſtrecken ſich nach allen Richtungen, in denen das
[60] Gebirge ſich abniedert, gegen die bebauteren und be¬
wohnteren Theile hinaus.


Als ich von dem Hange dieſer Berge herab ging,
und eine freiere Umſicht gewann, erblickte ich gegen
Untergang hin die ſanften Wolken eines Gewitters,
das ſich ſachte zu bilden begann, und den Himmel
umſchleierte. Ich ſchritt rüſtig fort, und beobachtete
das Zunehmen und Wachſen der Bewölkung. Als
ich ziemlich weit hinaus gekommen war, und mich in
einem Theile des Landes befand, wo ſanfte Hügel
mit mäßigen Flächen wechſeln, Meierhöfe zerſtreut
ſind, der Obſtbau gleichſam in Wäldern ſich durch das
Land zieht, zwiſchen dem dunkeln Laube die Kirch¬
thürme ſchimmern, in den Thalfurchen die Bäche rau¬
ſchen, und überall wegen der größeren Weitung, die
das Land gibt, das blaue gezackte Band der Hoch¬
gebirge zu erblicken iſt, mußte ich auf eine Einkehr
denken; denn das Dorf, in welchem ich Raſt halten
wollte, war kaum mehr zu erreichen. Das Gewitter
war ſo weit gediehen, daß es in einer Stunde und
bei begünſtigenden Umſtänden wohl noch früher aus¬
brechen konnte.


Vor mir hatte ich das Dorf Rohrberg, deſſen
Kirchthurm von der Sonne ſcharf beſchienen über
[61] Kirſchen- und Weidenbäumen hervor ſah. Es lag nur
ganz wenig abſeits von der Straße. Näher waren
zwei Meierhöfe, deren jeder in einer mäßigen Entfer¬
nung von der Straße in Wieſen und Feldern prangte.
Auch war ein Haus auf einem Hügel, das weder ein
Bauerhaus noch irgend ein Wirthſchaftsgebäude eines
Bürgers zu ſein ſchien, ſondern eher dem Landhauſe
eines Städters glich. Ich hatte ſchon früher wieder¬
holt, wenn ich durch die Gegend kam, das Haus be¬
trachtet, aber ich hatte mich nie näher um dasſelbe
bekümmert. Jezt fiel es mir um ſo mehr auf, weil
es der nächſte Unterkunftsplaz von meinem Standorte
aus war, und weil es mehr Bequemlichkeit als die
Meierhöfe zu geben verſprach. Dazu geſellte ſich ein
eigenthümlicher Reiz. Es war, da ſchon ein großer
Theil des Landes mit Ausnahme des Rohrberger
Kirchthurmes im Schatten lag, noch hell beleuchtet,
und ſah mit einladendem ſchimmerndem Weiß in das
Grau und Blau der Landſchaft hinaus.


Ich beſchloß alſo, in dieſem Hauſe eine Unter¬
kunft zu ſuchen.


Ich forſchte dem zu Folge nach einem Wege, der
von der Straße auf den Hügel des Hauſes hinauf¬
führen ſollte. Nach meiner Kenntniß des Landesge¬
[62] brauches war es mir nicht ſchwer, den mit einem
Zaune und mit Gebüſch beſäumten Weg, der von der
Landſtraße ab hinauf ging, zu finden. Ich ſchritt auf
demſelben empor und kam, wie ich richtig vermuthet
hatte, vor das Haus. Es war noch immer von der
Sonne hell beſchienen. Allein, da ich näher vor das¬
ſelbe trat, hatte ich einen bewunderungswürdigen An¬
blick. Das Haus war über und über mit Roſen be¬
deckt, und wie es in jenem fruchtbaren hügligen Lande
iſt, daß, wenn einmal etwas blüht, gleich alles mit
einander blüht, ſo war es auch hier: die Roſen ſchie¬
nen ſich das Wort gegeben zu haben, alle zur ſelben
Zeit aufzubrechen, um das Haus in einen Überwurf
der reizendſten Farbe und in eine Wolke der ſüßeſten
Gerüche zu hüllen.


Wenn ich ſage, das Haus ſei über und über mit
Roſen bedekt geweſen, ſo iſt das nicht ſo wortgetreu
zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich hohe Ge¬
ſchoſſe. Die Wand des Erdgeſchoſſes war bis zu den
Fenſtern des oberen Geſchoſſes mit den Roſen bedeckt.
Der übrige Theil bis zu dem Dache war frei, und er
war das leuchtende weiße Band, welches in die Land¬
ſchaft hinaus geſchaut, und mich gewiſſermaßen her¬
auf gelockt hatte. Die Roſen waren an einem Gitter¬
[63] werke, das ſich vor der Wand des Hauſes befand,
befeſtigt. Sie beſtanden aus lauter Bäumchen. Es
waren winzige darunter, deren Blätter gleich über der
Erde begannen, dann höhere, deren Stämmchen über
die erſten empor ragten, und ſo fort, bis die lezten
mit ihren Zweigen in die Fenſter des oberen Geſchoſ¬
ſes hinein ſahen. Die Pflanzen waren ſo vertheilt,
und gehegt, daß nirgends eine Lücke entſtand, und daß
die Wand des Hauſes, ſoweit ſie reichten, vollkommen
von ihnen bedeckt war.


Ich hatte eine Vorrichtung dieſer Art in einem ſo
großen Maßſtabe noch nie geſehen.


Es waren zudem faſt alle Roſengattungen da,
die ich kannte, und einige, die ich noch nicht kannte.
Die Farben gingen von dem reinen Weiß der weißen
Roſen durch das gebliche und röthliche Weiß der
Übergangsroſen in das zarte Roth und in den Pur¬
pur und in das bläuliche und ſchwärzliche Roth der
rothen Roſen über. Die Geſtalten und der Bau
wechſelten in eben demſelben Maße. Die Pflanzen
waren nicht etwa nach Farben eingetheilt, ſondern
die Rückſicht der Anpflanzung ſchien nur die zu ſein,
daß in der Roſenwand keine Unterbrechung ſtatt fin¬
[64] den möge. Die Farben blühten daher in einem Ge¬
miſche durch einander.


Auch das Grün der Blätter fiel mir auf. Es war
ſehr rein gehalten, und kein bei Roſen öfter als bei
andern Pflanzen vorkommender Übelſtand der grünen
Blätter und keine der häufigen Krankheiten kam mir
zu Geſichte. Kein verdorrtes oder durch Raupen zer¬
freſſenes oder durch ihr Spinnen verkrümmtes Blatt
war zu erblicken. Selbſt das bei Roſen ſo gerne ſich
einniſtende Ungeziefer fehlte. Ganz entwickelt und in
ihren verſchiedenen Abſtufungen des Grüns prangend
ſtanden die Blätter hervor. Sie gaben mit den Farben
der Blumen gemiſcht einen wunderlichen Überzug des
Hauſes. Die Sonne, die noch immer gleichſam ein¬
zig auf dieſes Haus ſchien, gab den Roſen und den
grünen Blättern derſelben gleichſam goldene und feu¬
rige Farben.


Nachdem ich eine Weile mein Vorhaben vergeſſend
vor dieſen Blumen geſtanden war, ermahnte ich mich,
und dachte an das Weitere. Ich ſah mich nach einem
Eingange des Hauſes um. Allein ich erblickte keinen.
Die ganze ziemlich lange Wand desſelben hatte keine
Thür und kein Thor. Auch durch keinen Weg war
der Eingang zu dem Hauſe bemerkbar gemacht; denn
[65] der ganze Plaz vor demſelben war ein reiner durch
den Rechen wohlgeordneter Sandplaz. Derſelbe ſchnitt
ſich durch ein Raſenband und eine Hecke von den an¬
grenzenden hinter meinem Rücken liegenden Feldern
ab. Zu beiden Seiten des Hauſes in der Richtung
ſeiner Länge ſezten ſich Gärten fort, die durch ein
hohes eiſernes grün angeſtrichenes Gitter von dem
Sandplaze getrennt waren. In dieſen Gittern mußte
alſo der Eingang ſein.


Und ſo war es auch.


In dem Gitter, welches dem den Hügel heranfüh¬
renden Wege zunächſt lag, entdeckte ich die Thür oder
eigentlich zwei Flügel einer Thür, die dem Gitter ſo
eingefügt waren, daß ſie von demſelben bei dem erſten
Anblicke nicht unterſchieden werden konnten. In den
Thüren waren die zwei meſſingenen Schloßgriffe, und
an der Seite des einen Flügels ein Glockengrif.


Ich ſah zuerſt ein wenig durch das Gitter in den
Garten. Der Sandplaz ſezte ſich hinter dem Gitter
fort, nur war er beſäumt mit blühenden Gebüſchen
und unterbrochen mit hohen Obſtbäumen, welche
Schatten gaben. In dem Schatten ſtanden Tiſche
und Stühle; es war aber kein Menſch bei ihnen gegen¬
wärtig. Der Garten erſtreckte ſich rückwärts um das
Stifter, Nachſommer. I. 5[66] Haus herum, und ſchien mir bedeutend weit in die
Tiefe zu gehen.


Ich verſuchte zuerſt die Thürgriffe, aber ſie öffneten
nicht. Dann nahm ich meine Zuflucht zu dem Glocken¬
griffe, und läutete.


Auf den Klang der Gloke kam ein Mann hinter
den Gebüſchen des Gartens gegen mich hervor. Als
er an der innern Seite des Gitters vor mir ſtand, ſah
ich, daß es ein Mann mit ſchneeweißen Haaren war,
die er nicht bedeckt hatte. Sonſt war er unſcheinbar,
und hatte eine Art Hausjacke an, oder wie man das
Ding nennen ſoll, das ihm überall enge anlag, und
faſt bis auf die Knie herab reichte. Er ſah mich einen
Augenblick an, da er zu mir herangekommen war, und
ſagte dann: „Was wollt ihr, lieber Herr?“


„Es iſt ein Gewitter im Anzuge,“ antwortete ich,
„und es wird in Kurzem über dieſe Gegend kommen.
Ich bin ein Wandersmann, wie ihr an meinem Ränz¬
chen ſeht, und bitte daher, daß mir in dieſem Hauſe
ſo lange ein Obdach gegeben werde, bis der Regen
oder wenigſtens der ſchwerere vorüber iſt.“


„Das Gewitter wird nicht zum Ausbruche kom¬
men,“ ſagte der Mann.


„Es wird keine Stunde dauern, daß es kommt,
[67] entgegnete ich, „ich bin mit dieſen Gebirgen ſehr wohl
bekannt, und verſtehe mich auch auf die Wolken und
Gewitter derſelben ein wenig.“


„Ich bin aber mit dem Plaze, auf welchem wir
ſtehen, aller Wahrſcheinlichkeit nach weit länger be¬
kannt als ihr mit dem Gebirge, da ich viel älter bin
als ihr,“ antwortete er, „ich kenne auch ſeine Wolken
und Gewitter, und weiß, daß heute auf dieſes Haus
dieſen Garten und dieſe Gegend kein Regen nieder¬
fallen wird.“


„Wir wollen nicht lange darüber Meinungen
hegen, ob ein Gewitter dieſes Haus nezen wird oder
nicht,“ ſagte ich; „wenn ihr Anſtand nehmet, mir dieſes
Gitterthor zu öffnen, ſo habet die Güte, und ruft den
Herrn des Hauſes herbei.“


„Ich bin der Herr des Hauſes.“


Auf dieſes Wort ſah ich mir den Mann etwas
näher an. Sein Angeſicht zeigte zwar auch auf ein
vorgerücktes Alter; aber es ſchien mir jünger als die
Haare, und gehörte überhaupt zu jenen freundlichen
wohlgefärbten nicht durch das Fett der vorgerückteren
Jahre entſtellten Angeſichtern, von denen man nie
weiß, wie alt ſie ſind. Hierauf ſagte ich: „Nun muß
ich wohl um Verzeihung bitten, daß ich ſo zudringlich
5 *[68] geweſen bin, ohne Weiteres auf die Sitte des Landes
zu bauen. Wenn eure Behauptung, daß kein Gewitter
kommen werde, einer Ablehnung gleich ſein ſoll, werde
ich mich augenblicklich entfernen. Denkt nicht, daß ich
als junger Mann den Regen ſo ſcheue; es iſt mir
zwar nicht ſo angenehm, durchnäßt zu werden, als
trocken zu bleiben, es iſt mir aber auch nicht ſo unan¬
genehm, daß ich deßhalb jemanden zur Laſt fallen
ſollte. Ich bin oft von dem Regen getroffen worden,
und es liegt nichts daran, wenn ich auch heute ge¬
troffen werde.“


„Das ſind eigentlich zwei Fragen,“ antwortete der
Mann,“ und ich muß auf beide etwas entgegnen. Das
Erſte iſt, daß ihr in Naturdingen eine Unrichtigkeit
geſagt habt, was vielleicht daher kommt, daß ihr die
Verhältniſſe dieſer Gegend zu wenig kennt, oder auf
die Vorkommniſſe der Natur nicht genug achtet. Die¬
ſen Irrthum mußte ich berichtigen; denn in Sachen
der Natur muß auf Wahrheit geſehen werden. Das
Zweite iſt, daß, wenn ihr mit oder ohne Gewitter in
dieſes Haus kommen wollt, und wenn ihr geſonnen
ſeid, ſeine Gaſtfreundſchaft anzunehmen, ich ſehr gerne
willfahren werde. Dieſes Haus hat ſchon manchen
Gaſt gehabt, und manchen gerne beherbergt; und wie
[69] ich an euch ſehe, wird es auch euch gerne beherbergen,
und ſo lange verpflegen, als ihr es für nöthig erach¬
ten werdet. Darum bitte ich euch, tretet ein.“


Mit dieſen Worten that er einen Druck am Schloſſe
des Thorflügels, der Flügel öffnete ſich, drehte ſich
mit einer Rolle auf einer halbkreisartigen Eiſenſchiene,
und gab mir Raum zum Eintreten.


Ich blieb nun einen Augenblick unentſchloſſen.


„Wenn das Gewitter nicht kömmt,“ ſagte ich, „ſo
habe ich im Grunde keine Urſache, hier einzutreten;
denn ich bin nur des anziehenden Gewitters willen
von der Landſtraße abgewichen, und zu dieſem Hauſe
heraufgeſtiegen. Aber verzeiht mir, wenn ich noch
einmal die Frage anrege. Ich bin beinahe eine Art
Naturforſcher, und habe mich mehrere Jahre mit Na¬
turdingen mit Beobachtungen und namentlich mit die¬
ſem Gebirge beſchäftigt, und meine Erfahrungen ſagen
mir, daß heute über dieſe Gegend und dieſes Haus
ein Gewitter kommen wird.“


„Nun müßt ihr eigentlich vollends herein gehen,“
ſagte er, „jezt handelt es ſich darum, daß wir gemein¬
ſchaftlich abwarten, wer von uns beiden recht hat.
Ich bin zwar kein Naturforſcher, und kann von mir
nicht ſagen, daß ich mich mit Naturwiſſenſchaften be¬
[70] ſchäftigt habe; aber ich habe manches über dieſe Gegen¬
ſtände geleſen, habe während meines Lebens mich be¬
müht, die Dinge zu beobachten, und über das Geleſene
und Geſehene nachzudenken. In Folge dieſer Beſtre¬
bungen habe ich heute die unzweideutigen Zeichen ge¬
ſehen, daß die Wolken, welche jezt noch gegen Sonnen¬
untergang ſtehen, welche ſchon einmal gedonnert haben,
und von denen ihr veranlaßt worden ſeid, zu mir her¬
auf zu ſteigen, nicht über dieſes Haus und überhaupt
über keine Gegend einen Regen bringen werden. Sie
werden ſich vielleicht, wenn die Sonne tiefer kömmt,
vertheilen, und werden zerſtreut am Himmel herum
ſtehen. Abends werden wir etwa einen Wind ſpü¬
ren, und morgen wird gewiß wieder ein ſchöner Tag
ſein. Es könnte ſich zwar ereignen, daß einige ſchwere
Tropfen fallen, oder ein kleiner Sprühregen nieder
geht; aber gewiß nicht auf dieſen Hügel.“


„Da die Sache ſo iſt,“ erwiederte ich, „trete ich gerne
ein, und harre mit euch gerne der Entſcheidung, auf
die ich begierig bin.“


Nach dieſen Worten trat ich ein, er ſchloß das
Gitter, und ſagte, er wolle mein Führer ſein.


Er führte mich um das Haus herum; denn in der
den Roſen entgegengeſezten Seite war die Thür. Er
[71] führte mich durch dieſelbe ein, nachdem er ſie mit einem
Schlüſſel geöffnet hatte. Hinter der Thür erblickte ich
einen Gang, welcher mit Amonitenmarmor gepflaſtert
war.


„Dieſer Eingang,“ ſagte er, „iſt eigentlich der Haupt¬
eingang; aber da ich mir nicht gerne das Pflaſter des
Ganges verderben laſſe, halte ich ihn immer geſperrt,
und die Leute gehen durch eine Thür in die Zimmer,
welche wir finden würden, wenn wir noch einmal um
die Ecke des Hauſes gingen. Des Pflaſters willen
muß ich euch auch bitten, dieſe Filzſchuhe anzuziehen.“


Es ſtanden einige Paare gelblicher Filzſchuhe gleich
innerhalb der Thür. Niemand konnte mehr als ich
von der Nothwendigkeit überzeugt ſein, dieſen ſo edlen
und ſchönen Marmor zu ſchonen, der an ſich ſo vor¬
trefflich iſt, und hier ganz meiſterhaft geglättet war.
Ich fuhr daher mit meinen Stiefeln in ein Paar ſol¬
cher Schuhe, er that desgleichen, und ſo gingen wir
über den glatten Boden. Der Gang, welcher von
oben beleuchtet war, führte zu einer braunen getäfel¬
ten Thür. Vor derſelben legte er die Filzſchuhe ab,
verlangte von mir, daß ich dasſelbe thue, und, nach¬
dem wir uns auf dem hölzernen Antritte der Thür der
Filzſchuhe entledigt hatten, öffnete er dieſelbe, und
[72] führte mich in ein Zimmer. Dem Anſehen nach war
es ein Speiſezimmer; denn in der Mitte deſſelben ſtand
ein Tiſch, an deſſen Bauart man ſah, daß er vergrößert
oder verkleinert werden könne, je nachdem eine größere
oder kleinere Anzahl von Perſonen um ihn ſizen ſollte.
Außer dem Tiſche befanden ſich nur Stühle in dem
Zimmer und ein Schrein, in welchem die Speiſe¬
geräthſchaften enthalten ſein konnten.


„Legt in dieſem Zimmer,“ ſagte der Mann, „euern
Hut euerm Stock und euer Ränzlein ab, ich werde euch
dann in ein anderes Gemach führen, in welchem ihr
ausruhen könnt.“


Als er dies geſagt, und ich ihm Folge geleiſtet
hatte, trat er zu einer breiten Strohmatte und zu Fu߬
bürſten, die ſich am Ausgange des Zimmers befanden,
reinigte ſich an beiden ſehr ſorgſam ſeine Fußbekleidung,
und lud mich ein, dasſelbe zu thun. Ich that es, und
da ich fertig war, öffnete er die Ausgangsthür, die
ebenfalls braun und getäfelt war, und führte mich
durch ein Vorgemach in ein Ausruhezimmer, welches
an der Seite des Vorgemaches lag.


„Dieſes Vorgemach,“ ſagte er, „iſt der eigentliche
Eingang in das Speiſezimmer, und man kommt von
der andern Thür in dasſelbe.“
[73] Das Ausruhezimmer war ein freundliches Ge¬
mach, und ſchien recht eigens zum Sizen und Ruhe¬
halten beſtimmt. Es befaßte nichts als lauter Tiſche
und Size. Auf den Tiſchen lagen aber nicht, wie es
häufig in unſern Beſuchzimmern vorkömmt, Bücher
oder Zeichnungen und dergleichen Dinge, ſondern die
Tafeln derſelben waren unbedeckt, und waren ausneh¬
mend gut geglättet und gereinigt. Sie waren von
dunklem Mahagoniholze, das in der Zeit noch mehr
nachgedunkelt war. Ein einziges Geräthe war da,
welches kein Tiſch und kein Siz war, ein Geſtelle mit
mehreren Fächern, welches Bücher enthielt. An den
Wänden hingen Kupferſtiche.


„Hier könnt ihr ausruhen, wenn ihr vom Gehen
müde ſeid, oder überhaupt ruhen wollt, „ſagte der
„Mann, ich werde gehen, und ſorgen, daß man euch
etwas zu eſſen bereitet. Ihr müßt wohl eine Weile
allein bleiben. Auf dem Geſtelle liegen Bücher, wenn
ihr etwa ein wenig in dieſelben blicken wollet.“


Nach dieſen Worten entfernte er ſich.


Ich war in der That müde und ſezte mich nieder.


Als ich ſaß, konnte ich den Grund einſehen, we߬
halb der Mann vor dem Eintritte in dieſes Zimmer
ſo ſehr ſeine Fußbekleidung gereinigt, und mir den
[74] Wunſch zu gleicher Reinigung ausgedrükt hatte. Das
Zimmer enthielt nehmlich einen ſchön getäfelten Fu߬
boden, wie ich nie einen gleichen geſehen hatte. Es
war beinahe ein Teppich aus Holz. Ich konnte das
Ding nicht genug bewundern. Man hatte lauter
Holzgattungen in ihren natürlichen Farben zuſammen¬
geſezt, und ſie in ein Ganzes von Zeichnungen gebracht.
Da ich von den Geräthen meines Vaters her an ſolche
Dinge gewohnt war, und ſie etwas zu beurtheilen
verſtand, ſah ich ein, daß man alles nach einem in
Farben ausgeführten Plane gemacht haben mußte,
welcher Plan mir ſelber wie ein Meiſterſtück erſchien.
Ich dachte, da dürfe ich ja gar nicht aufſtehen, und
auf der Sache herum gehen, beſonders wenn ich die
Nägel in Anſchlag brachte, mit denen meine Gebirgs¬
ſtiefel beſchlagen waren. Auch hatte ich keine Veran¬
laſſung zum Aufſtehen, da mir die Ruhe nach einem
ziemlich langen Gange ſehr angenehm war.


Da ſaß ich nun in dem weißen Hauſe, zu welchem
ich hinauf geſtiegen war, um in ihm das Gewitter ab¬
zuwarten.


Es ſchien noch immer die Sonne auf das Haus,
blickte durch die Fenſter dieſes Zimmers ſchief herein,
[75] und legte lichte Tafeln auf den ſchönen Fußboden des¬
ſelben.


Als ich eine Weile geſeſſen war, bemächtigte ſich
meiner eine ſeltſame Empfindung, welche ich mir An¬
fangs nicht zu erklären vermochte. Es war mir nehm¬
lich, als ſize ich nicht in einem Zimmer, ſondern im
Freien und zwar in einem ſtillen Walde. Ich blickte
gegen die Fenſter, um mir das Ding zu erklären;
aber die Fenſter ertheilten die Erklärung nicht: ich ſah
durch ſie ein Stück Himmel, theils rein theils etwas
bewölkt, und unter dem Himmel ſah ich ein Stück
Gartengrün von emporragenden Bäumen, ein Anblick,
den ich wohl ſchon ſehr oft gehabt hatte. Ich ſpürte
eine reine freie Luft mich umgeben. Die Urſache davon
war, daß die Fenſter des Zimmers in ihren oberen
Theilen offen waren. Dieſe oberen Theile konnten
nicht nach Innen geöffnet werden, wie das gewöhnlich
der Fall iſt, ſondern waren nur zu verſchieben, und
zwar ſo, daß einmal Glas in dem Rahmen vorge¬
ſchoben werden konnte, ein anderes Mal ein zarter
Flor von weißgrauer Seide. Da ich in dem Zimmer
ſaß, war das Leztere der Fall. Die Luft konnte frei
herein ſtrömen, Fliegen und Staub waren aber aus¬
geſchloſſen.


[76]

Wenn nun gleich die reine Luft eine Mahnung
des Freien gab, ſah ich doch hierin nicht die völlige
Erklärung allein. Ich bemerkte noch etwas anderes.
In dem Zimmer, in welchem ich mich befand, hörte
man nicht den geringſten Laut eines bewohnten Hau¬
ſes, den man doch ſonſt, es mag im Hauſe noch ſo
ruhig ſein, mehr oder weniger in Zwiſchenräumen
vernimmt. Dieſe Art Abweſenheit häuslichen Ge¬
räuſches verbarg allerdings die Nachbarſchaft bewohn¬
ter Räume, konnte aber eben ſo wenig als die freie
Luft die Waldempfindung geben.


Endlich glaubte ich auf den Grund gekommen zu
ſein. Ich hörte nehmlich faſt ununterbrochen bald
näher bald ferner bald leiſer bald lauter vermiſchten
Vogelgeſang. Ich richtete meine Aufmerkſamkeit auf
dieſe Wahrnehmung, und erkannte bald, daß der
Geſang nicht blos von Vögeln herrühre, die in der
Nähe menſchlicher Wohnungen hauſen, ſondern auch
von ſolchen, deren Stimme und Zwitſchern mir nur
aus den Wäldern und abgelegenen Bebuſchungen be¬
kannt war. Dieſes wenig auffallende mir aus meinem
Gebirgsaufenthalte bekannte und von mir in der That
nicht gleich beachtete Getön mochte wohl die Haupt¬
urſache meiner Täuſchung geweſen ſein, obwohl die
[77] Stille des Raumes und die reine Luft auch mitgewirkt
haben konnten. Da ich nun genauer auf dieſes ge¬
legentliche Vogelzwitſchern achtete, fand ich wirklich,
daß Töne ſehr einſamer und immer in tiefen Wäldern
wohnender Vögel vorkamen. Es nahm ſich dies wun¬
derlich in einem bewohnten und wohleingerichteten
Zimmer aus.


Da ich aber nun den Grund meiner Empfindung
aufgefunden hatte, oder aufgefunden zu haben glaubte,
war auch ein großer Theil ihrer Dunkelheit und mit¬
hin Annehmlichkeit verſchwunden.


Wie ich nun ſo fortwährend auf den Vogelgeſang
merkte, fiel mir ſogleich auch etwas anderes ein. Wenn
ein Gewitter im Anzuge iſt, und ſchwüle Lüfte in dem
Himmelsraume ſtocken, ſchweigen gewöhnlich die Wald¬
vögel. Ich erinnerte mich, daß ich in ſolchen Augenbli¬
ken oft in den ſchönſten dichteſten entlegenſten Wäldern
nicht den geringſten Laut gehört habe, etwa ein ein¬
maliges oder zweimaliges Hämmern des Spechtes
ausgenommen oder den kurzen Schrei jenes Geiers,
den die Landleute Gießvogel nennen. Aber ſelbſt er
ſchweigt, wenn das Gewitter in unmittelbarer An¬
näherung iſt. Nur bei den Menſchen wohnende Vögel,
die das Gewitter fürchten wie er, oder ſolche, die im
[78] weiten Freien hauſen, und vielleicht deſſen majeſtätiſche
Annäherung bewundern, zeigen ſein Bevorſtehen an.
So habe ich Schwalben vor den dicken Wolken eines
heraufſteigenden Gewitters mit ihrem weißen Bauch¬
gefieder kreuzen geſehen, und ſelbſt ſchreien gehört,
und ſo habe ich Lerchen ſingend gegen die dunkeln Ge¬
witterwolken aufſteigen geſehen. Das Singen der
Waldvögel erſchien mir nun als ein ſchlimmes Zeichen
für meine Vorausſagung eines Gewitters. Auch fiel
mir auf, daß ſich noch immer keine Merkmale des
Ausbruches zeigten, welchen ich nicht für ſo ferne ge¬
halten hatte, als ich die Landſtraße verließ. Die Sonne
ſchien noch immer auf das Haus, und ihre glänzenden
Lichttafeln lagen noch immer auf dem ſchönen Fu߬
boden des Zimmers.


Mein Beherberger ſchien es darauf angelegt zu
haben, mich lange allein zu laſſen, wahrſcheinlich, um
mir Raum zur Ruhe und Bequemlichkeit zu geben;
denn er kam nicht ſo bald zurück, als ich nach ſeiner
Äußerung erwartet hatte.


Als ich eine geraume Weile geſeſſen war, und das
Sizen anfing, mir nicht mehr jene Annehmlichkeit zu
gewähren wie Anfangs, ſtand ich auf, und ging auf
den Fußſpitzen, um den Boden zu ſchonen, zu dem
[79] Büchergeſtelle, um die Bücher anzuſehen. Es waren
aber blos beinahe lauter Dichter. Ich fand Bände
von Herder Leſſing Göthe Schiller, Überſetzungen
Shakspeares von Schlegel und Tieck, einen griechiſchen
Odyſſeus, dann aber auch etwas aus Ritters Erd¬
beſchreibung aus Johannes Müllers Geſchichte der
Menſchheit, und aus Alexander und Wilhelm Hum¬
boldt. Ich that die Dichter bei Seite, und nahm
Alexander Humboldts Reiſe in die Äquinoctialländer,
die ich zwar ſchon kannte, in der ich aber immer gerne
las. Ich begab mich mit meinem Buche wieder zu
meinem Size zurück.


Als ich nicht gar kurze Zeit geleſen hatte, trat
mein Beherberger herein.


Ich hatte, weil er ſo lange abweſend war, gedacht,
er werde ſich etwa auch umgekleidet haben, weil er
doch nun einmal einen Gaſt habe, und weil ſein An¬
zug ſo gar unbedeutend war. Aber er kam in den
nehmlichen Kleidern zurük, in welchen er vor mir an
dem Gitterthore geſtanden war.


Er entſchuldigte ſein Außenbleiben nicht, ſondern
ſagte, ich möchte, wenn ich ausgeruht hätte, und es
mir genehm wäre, zu ſpeiſen, ihm in das Speiſezimmer
folgen, es würde dort für mich aufgetragen werden.


[80]

Ich ſagte, ausgeruht hätte ich ſchon; aber ich ſei
nur gekommen, um um Unterſtand zu bitten, nicht
aber auch in anderer Weiſe beſonders in Hinſicht von
Speiſe und Trank läſtig zu fallen.


„Ihr fallt nicht läſtig,“ antwortete der Mann, „ihr
müßt etwas zu eſſen bekommen, beſonders da ihr ſo
lange da bleiben müßt, bis ſich die Sache wegen des
Gewitters entſchieden hat. Da ſchon Mittag vorüber
iſt, wir aber genau mit der Mittagſtunde des Tages
zu Mittag eſſen, und von da bis zu dem Abendeſſen
nichts mehr aufgetragen wird, ſo muß für euch, wenn
ihr nicht bis Abends warten ſollet, beſonders aufge¬
tragen werden. Solltet ihr aber ſchon zu Mittag ge¬
geſſen haben, und bis Abends warten wollen, ſo fo¬
dert es doch die Ehre des Hauſes, daß euch etwas
gebothen werde, ihr möget es dann annehmen oder
nicht. Folgt mir daher in das Speiſezimmer.“


Ich legte das Buch neben mich auf den Siz, und
ſchickte mich an, zu gehen.


Er aber nahm das Buch, und legte es auf ſeinen
Plaz in dem Büchergeſtelle.


„Verzeiht,“ ſagte er, „es iſt bei uns Sitte, daß die
Bücher, die auf dem Geſtelle ſind, damit jemand, der
in dem Zimmer wartet, oder ſich ſonſt aufhält, bei
[81] Gelegenheit und nach Wohlgefallen etwas leſen kann,
nach dem Gebrauche wieder auf das Geſtelle gelegt
werden, damit das Zimmer die ihm zugehörige Ge¬
ſtalt behalte.“


Hierauf öffnete er die Thür, und lud mich ein, in
das mir bekannte Speiſezimmer voraus zu gehen.


Als wir in demſelben angelangt waren, ſah ich,
daß in ausgezeichnet ſchönen weißen Linnen gedeckt
ſei, und zwar nur ein Gedecke, daß ſich eingemachte
Früchte Wein Waſſer und Brod auf dem Tiſche be¬
fanden, und in einem Gefäße verkleinertes Eis war,
es in den Wein zu thun. Mein Ränzlein und meinen
Schwarzdornſtock ſah ich nicht mehr, mein Hut aber
lag noch auf ſeinem Plaze.


Mein Begleiter that aus einer der Taſchen ſeines
Kleides ein, wie ich vermuthete, ſilbernes Glöcklein
hervor, und läutete. Sofort erſchien eine Magd, und
brachte ein gebratenes Huhn und ſchönen rothgeſpren¬
kelten Kopfſallat.


Mein Gaſtherr lud mich ein, mich zu ſezen, und
zu eſſen.


Da es ſo freundlich gebothen war, nahm ich es
an. Obwohl ich wirklich ſchon einmal gegeſſen hatte,
ſo war das vor dem Mittag geweſen, und ich war
Stifter, Nachſommer. 6[82] durch das Wandern wieder hungrig geworden. Ich
genoß daher von dem Aufgeſezten.


Mein Beherberger ſezte ſich zu mir, leiſtete mir
Geſellſchaft, aß und trank aber nichts.


Da ich fertig war, und die Eßgeräthe hingelegt
hatte, both er mir an, wenn ich nicht zu müde ſei,
mich in den Garten zu führen.


Ich nahm es an.


Er läutete wieder mit dem Glöcklein, um den Be¬
fehl zu geben, daß man abräume, und führte mich
nun nicht durch den Gang, durch welchen wir herein
gekommen waren, ſondern durch einen mit gewöhn¬
lichen Steinen gepflaſterten in den Garten. Er hatte
jezt ein kleines Häubchen von durchbrochener Arbeit
auf ſeinen weißen Haaren, wie man ſie gerne Kindern
aufſezt, um ihre Locken gleichſam wie in einem Neze
einzufangen.


Als wir in das Freie kamen, ſah ich, daß, wäh¬
rend ich aß, die Sonne auf das Haus zu ſcheinen
aufgehört hatte, ſie war von der Gewitterwand über¬
holt worden. Auf dem Garten ſo wie auf der Gegend
lag der warme trockene Schatten, wie er bei ſolchen
Gelegenheiten immer erſcheint. Aber die Gewitter¬
wand hatte ſich während meines Aufenthaltes in dem
[83] Hauſe wenig verändert, und gab nicht die Ausſicht auf
baldigen Ausbruch des Regens.


Ein Umblick überzeugte mich ſogleich, daß der
Garten hinter dem Hauſe ſehr groß ſei. Er war aber
kein Garten, wie man ſie gerne hinter und neben den
Landhäuſern der Städter anlegt, nehmlich, daß man
unfruchtbare oder höchſtens Zierfrüchte tragende Ge¬
büſche und Bäume pflegt, und zwiſchen ihnen Raſen
und Sandwege oder einige Blumenhügel oder Blu¬
menkreiſe herrichtet, ſondern es war ein Garten, der
mich an den meiner Eltern bei dem Vorſtadthauſe er¬
innerte. Es war da eine weitläufige Anlage von Obſt¬
bäumen, die aber hinlänglich Raum ließen, daß frucht¬
bare oder auch nur zum Blühen beſtimmte Geſträuche
dazwiſchen ſtehen konnten, und daß Gemüſe und Blu¬
men vollſtändig zu gedeihen vermochten. Die Blumen
ſtanden theils in eigenen Beeten, theils liefen ſie als
Einfriedigung hin, theils befanden ſie ſich auf eigenen
Pläzen, wo ſie ſich ſchön darſtellten. Mich empfingen
von je her ſolche Gärten mit dem Gefühle der Häus¬
lichkeit und Nüzlichkeit, während die anderen einerſeits
mit keiner Frucht auf das Haus denken, und anderer¬
ſeits Wahrhaftig auch kein Wald ſind. Was zur Ro¬
ſenzeit blühen konnte, blühte und duftete, und weil
6 *[84] eben die ſchweren Wolken am Himmel ſtanden, ſo
war aller Duft viel eindringender und ſtärker. Dies
deutete doch wieder auf ein Gewitter hin.


Nahe bei dem Hauſe befand ſich ein Gewächs¬
haus. Es zeigte uns aber gegen den Weg, auf dem
wir gingen, nicht ſeine Länge ſondern ſeine Breite
hin. Auch dieſe Breite, welche theilweiſe Gebüſche
deckten, war mit Roſen bekleidet, und ſah aus wie
ein Roſenhäuschen im Kleinen.


Wir gingen einen geräumigen Gang, der mitten
durch den Garten lief, entlang. Er war Anfangs
eben, zog ſich aber dann ſachte aufwärts.


Auch im Garten waren die Roſen beinahe herr¬
ſchend. Entweder ſtand hie und da auf einem geeigne¬
ten Plaze ein einzelnes Bäumchen, oder es waren Hecken
nach gewiſſen Richtungen angelegt, oder es zeigten ſich
Abtheilungen, wo ſie gute Verhältniſſe zum Gedeihen
fanden, und ſich dem Auge angenehm darſtellen konn¬
ten. Eine Gruppe von ſehr dunkeln faſt violetten Ro¬
ſen war mit einem eigenen zierlichen Gitter umgeben,
um ſie auszuzeichnen, oder zu ſchüzen. Alle Blumen
waren wie die vor dem Hauſe beſonders rein und klar
entwickelt, ſogar die verblühenden erſchienen in ihren
Blättern noch kraftvoll und geſund.


[85]

Ich machte in Hinſicht des lezten Umſtandes eine
Bemerkung.


„Habt ihr denn nie eine jener alten Frauen ge¬
ſehen,“ ſagte mein Begleiter, „die in ihrer Jugend ſehr
ſchön geweſen waren, und ſich lange kräftig erhalten
haben. Sie gleichen dieſen Roſen. Wenn ſie ſelbſt
ſchon unzählige kleine Falten in ihrem Angeſichte haben,
ſo iſt doch noch zwiſchen den Falten die Anmuth herr¬
ſchend und eine ſehr ſchöne liebe Farbe.“


Ich antwortete, daß ich das noch nie beobachtet
hätte, und wir gingen weiter.


Es waren außer den Roſen noch andere Blumen
im Garten. Ganze Beete von Aurikeln ſtanden an
ſchattigen Orten. Sie waren wohl längſt verblüht,
aber ihre ſtarken grünen Blätter zeigten, daß ſie in
guter Pflege waren. Hie und da ſtand eine Lilie an
einer einſamen Stelle, und wohl entwickelte Nelken
prangten in Töpfen auf einem eigenen Schragen, an
dem Vorrichtungen angebracht waren, die Blumen
vor Sonne zu bewahren. Sie waren noch nicht auf¬
geblüht, aber die Knospen waren weit vorgerückt,
und ließen treffliche Blumen ahnen. Es mochten nur
die auserwählten auf dem Schragen ſtehen; denn ich
ſah die Schule dieſer Pflanzen, als wir etwas weiter
[86] kamen, in langen weithingehenden Beeten angelegt.
Sonſt waren die gewöhnlichen Gartenblumen da,
theils in Beeten theils auf kleinen abgeſonderten Pläzen
theils als Einfaſſungen. Beſonders ſchien ſich auch die
Levkoje einer Vorliebe zu erfreuen, denn ſie ſtand in
großer Anzahl und Schönheit ſo wie in vielen Arten
da. Ihr Duft ging wohlthuend durch die Lüfte.
Selbſt in Töpfen ſah ich dieſe Blume gepflegt, und
an zuträgliche Orte geſtellt. Was an Zwiebelgewäch¬
ſen Hiazinthen Tulpen und dergleichen vorhanden ge¬
weſen ſein mochte, konnte ich nicht ermeſſen, da die
Zeit dieſer Blumen längſt vorüber war.


Auch die Zeit der Blüthengeſträuche war vorüber,
und ſie ſtanden nur mit ihren grünen Blättern am
Wege oder an ihren Stellen.


Die Gemüſe nahmen die weiten und größeren
Räume ein. Zwiſchen ihnen und an ihren Seiten liefen
Anpflanzungen von Erdbeeren. Sie ſchienen beſonders
gehegt, waren häufig aufgebunden, und hatten Blech¬
täfelchen zwiſchen ſich, auf denen die Namen ſtanden.


Die Obſtbäume waren durch den ganzen Garten
vertheilt, wir gingen an vielen vorüber. Auch an
ihnen beſonders aber an den zahlreichen Zwergbäu¬
men ſah ich weiße Täfelchen mit Namen.


[87]

An manchen Bäumen erblickte ich kleine Käſtchen
von Holz, bald an dem Stamme bald in den Zweigen.
In unſerem Oberlande gibt man den Staaren gerne
ſolche Behälter, damit ſie ihr Neſt in dieſelben bauen.
Die hier befindlichen Behältniſſe waren aber anderer
Art. Ich wollte fragen, aber in der Folge des Ge¬
ſpräches vergaß ich wieder darauf.


Da wir in dem Garten ſo fortgingen, hörte ich
beſonders aus ſeinem bebuſchten Theile wieder die
Vogelſtimmen, die ich in dem Wartezimmer gehört
hatte, nur hier deutlicher und heller.


Auch ein anderer Umſtand fiel mir auf, da wir
ſchon einen großen Theil des Gartens durchwandert
hatten; ich bemerkte nehmlich gar keinen Raupenfraß.
Während meines Ganges durch das Land hatte ich
ihn aber doch geſehen, obwohl er mir, da er nicht
außerordentlich war, und keinen Obſtmißwachs be¬
fürchten ließ, nicht beſonders aufgefallen war. Bei
der Friſche der Belaubung dieſes Gartens fiel er mir
wieder ein. Ich ſah das Laub deßhalb näher an, und
glaubte zu bemerken, daß es auch vollkommener ſei
als anderwärts, das grüne Blatt war größer und
dunkler, es war immer ganz, und die grünen Kirſchen
und die kleinen Äpfelchen und Birnchen ſahen recht
[88] geſund daraus hervor. Ich betrachtete durch dieſe That¬
ſache aufmerkſam gemacht nun auch den Kohl genauer,
der nicht weit von unſerm Wege ſtand. An ihm zeigte
keine kahle Rippe, daß die Raupe des Weißlings ge¬
nagt habe. Die Blätter waren ganz und ſchön. Ich
nahm mir vor, dieſe Beobachtung gegen meinen Be¬
gleiter gelegentlich zur Sprache zu bringen.


Wir waren mittlerweile bis an das Ende der
Pflanzungen gelangt, und es begann Raſengrund,
der ſteiler anſtieg, Anfangs mit Bäumen beſezt war,
weiter oben aber kahl fortlief.


Wir ſtiegen auf ihm empor.


Da wir auf eine ziemliche Höhe gelangt waren,
und Bäume die Ausſicht nicht mehr hinderten, blieb
ich ein wenig ſtehen, um den Himmel zu betrachten.
Mein Begleiter hielt ebenfalls an. Das Gewitter
ſtand nicht mehr gegen Sonnenuntergang allein, ſon¬
dern jezt überall. Wir hörten auch entfernten Donner,
der ſich öfter wiederholte. Wir hörten ihn bald gegen
Sonnenuntergang, bald gegen Mittag, bald an Orten,
die wir nicht angeben konnten. Mein Mann mußte
ſeiner Sache ſehr ſicher ſein; denn ich ſah, daß in
dem Garten Arbeiter ſehr eifrig an den mehreren
Ziehbrunnen zogen, um das Waſſer in die durch den
[89] Garten laufenden Rinnen zu leiten, und aus dieſen
in die Waſſerbehälter. Ich ſah auch bereits Arbeiter
gehen, ihre Gießkannen in den Waſſerbehältern füllen,
und ihren Inhalt auf die Pflanzenbeete ausſtreuen.
Ich war ſehr begierig auf den Verlauf der Dinge, ſagte
aber gar nichts, und mein Begleiter ſchwieg auch.


Wir gingen nach kurzem Stillſtande auf dem
Raſengrunde wieder weiter aufwärts, und zulezt
ziemlich ſteil.


Endlich hatten wir die höchſte Stelle erreicht, und
mit ihr auch das Ende des Gartens. Jenſeits ſenkte
ſich der Boden wieder ſanft abwärts. Auf dieſem
Plaze ſtand ein ſehr großer Kirſchbaum, der größte
Baum des Gartens vielleicht der größte Obſtbaum
der Gegend. Um den Stamm des Baumes lief eine
Holzbank, die vier Tiſchchen nach den vier Weltgegen¬
den vor ſich hatte, daß man hier ausruhen, die Gegend
beſehen, oder leſen und ſchreiben konnte. Man ſah
an dieſer Stelle faſt nach allen Richtungen des Him¬
mels. Ich erinnerte mich nun ganz genau, daß ich
dieſen Baum wohl früher bei meinen Wanderungen
von der Straße oder von anderen Stellen aus geſehen
hatte. Er war wie ein dunkler ausgezeichneter Punkt
erſchienen, der die höchſte Stelle der Gegend krönte.


[90]

Man mußte an heiteren Tagen von hier aus die ganze
Gebirgskette im Süden ſehen, jezt aber war nichts
davon zu erblicken; denn alles floß in eine einzige
Gewittermaſſe zuſammen. Gegen Mitternacht erſchien
ein freundlicher Höhenzug, hinter welchem nach mei¬
ner Schäzung das Städtchen Landegg liegen mußte.


Wir ſezten uns ein wenig auf das Bänklein. Es
ſchien, daß man an dieſem Pläzchen niemals vorüber
gehen konnte, ohne ſich zu ſezen, und eine kleine Um¬
ſchau zu halten; denn das Gras war um den Baum
herum abgetreten, daß der kahle Boden hervorſah,
wie wenn ein Weg um den Baum ginge. Man mußte
ſich daher gerne an dieſem Plaze verſammeln.


Als wir kaum ein Weilchen ausgeruht hatten,
ſah ich eine Geſtalt aus den nicht ſehr entfernten
Büſchen und Bäumen hervortreten, und gegen uns
empor gehen. Da ſie etwas näher gekommen war,
erkannte ich, daß es ein Gemiſche von Knabe und
Jüngling war. Zuweilen hätte man meinen können,
der Ankommende ſei ganz ein Jüngling, und zuweilen,
er ſei noch ganz ein Knabe. Er trug ein blau- und
weißgeſtreiftes Leinenzeug als Bekleidung, um den
Hals hatte er nichts und auf dem Haupte auch nichts
als eine dichte Menge brauner Locken.


[91]

Da er herzugekommen war, ſagte er: „Ich ſehe,
daß du mit einem fremden Manne beſchäftigt biſt, ich
werde dich alſo nicht ſtören, und wieder in den Garten
hinab gehen.“


„Thue das,“ ſagte mein Begleiter.


Der Knabe machte eine ſchnelle und leichte Verbeu¬
gung gegen mich, wendete ſich um, und ging in derſel¬
ben Richtung wieder zurück, in der er gekommen war.


Wir blieben noch ſizen.


Am Himmel änderte ſich indeſſen wenig. Dieſelbe
Wolkendecke ſtand da, und wir hörten denſelben Don¬
ner. Nur da die Decke dunkler geworden zu ſein ſchien,
ſo wurde jezt zuweilen auch ein Bliz ſichtbar.


Nach einer Zeit ſagte mein Begleiter: „Eure Reiſe
hat wohl nicht einen Zweck, der durch den Aufenthalt
von einigen Stunden oder von einem Tage oder von
einigen Tagen geſtört würde.“


„Es iſt ſo, wie ihr geſagt habt,“ antwortete ich,
„mein Zweck iſt, ſoweit meine Kräfte reichen, wiſſen¬
ſchaftliche Beſtrebungen zu verfolgen, und nebenbei,
was ich auch nicht für unwichtig halte, das Leben in
der freien Natur zu genießen.“


„Dieſes Lezte iſt in der That auch nicht unwichtig,“
verſezte mein Nachbar, „und da ihr euren Reiſezweck
[92] bezeichnet habt, ſo werdet ihr gewiß einwilligen, wenn
ich euch einlade, heute nicht mehr weiter zu reiſen,
ſondern die Nacht in meinem Hauſe zuzubringen.
Wünſchet ihr dann am morgigen Tage und an meh¬
reren darauf folgenden noch bei mir zu verweilen, ſo
ſteht es nur bei euch, ſo zu thun.“


„Ich wollte, wenn das Gewitter auch lange ange¬
dauert hätte, doch heute noch nach Rohrberg gehen,“
ſagte ich. „Da ihr aber auf eine ſo freundliche Weiſe
gegen einen unbekannten Reiſenden verfahrt, ſo ſage
ich gerne zu, die heutige Nacht in eurem Hauſe zuzu¬
bringen, und bin euch dafür dankbar. Was morgen
ſein wird, darüber kann ich noch nicht entſcheiden,
weil das Morgen noch nicht da iſt.“


„So haben wir alſo für die kommende Nacht ab¬
geſchloſſen, wie ich gleich gedacht habe,“ ſagte mein
Begleiter, „ihr werdet wohl bemerkt haben, daß euer
Ränzlein und euer Wanderſtock nicht mehr in dem
Speiſezimmer waren, als ihr zum Eſſen dahin kamet.“


„Ich habe es wirklich bemerkt,“ antwortete ich.


„Ich habe beides in euer Zimmer bringen laſſen,“
ſagte er, „weil ich ſchon vermuthete, daß ihr dieſe
Nacht in unſerm Hauſe zubringen würdet.“

[[93]]

4.
Die Beherbergung.

Nach einer Weile ſagte mein Gaſtfreund: „Da ihr
nun meine Nachtherberge angenommen habt, ſo könn¬
ten wir von dieſem Baume auch ein wenig in das
Freie gehen, daß ihr die Gegend beſſer kennen lernet.
Wenn das Gewitter zum Ausbruche kommen ſollte,
ſo kennen wir wohl beide die Anzeichen genug, daß wir
rechtzeitig umkehren, um ungefährdet das Haus zu
erreichen.“


„So kann es geſchehen,“ ſagte ich, und wir ſtan¬
den von dem Bänkchen auf.


Einige Schritte hinter dem Kirſchbaume war der
Garten durch eine ſtarke Planke von der Umgebung
getrennt. Als wir zu dieſer Planke gekommen waren,
zog mein Begleiter einen Schlüſſel aus der Taſche,
[94] öffnete ein Pförtchen, wir traten hinaus, und er ſchloß
hinter uns das Pförtchen wieder zu.


Hinter dem Garten fingen Felder an, auf denen
die verſchiedenſten Getreide ſtanden. Die Getreide,
welche ſonst wohl bei dem geringſten Luftzuge zu wan¬
ken beginnen mochten, ſtanden ganz ſtille und pfeilrecht
empor, das feine Haar der Ähren, über welches un¬
ſere Augen ſtreiften, war gleichſam in einem unbe¬
weglichen goldgrünen Schimmer.


Zwiſchen dem Getreide lief ein Fußpfad durch.
Derſelbe war breit und ziemlich ausgetreten. Er ging
den Hügel entlang, nicht ſteigend und nicht ſinkend,
ſo daß er immer auf dem höchſten Theile der Anhöhe
blieb. Auf dieſem Pfade gingen wir dahin.


Zu beiden Seiten des Weges ſtand glührother
Mohn in dem Getreide, und auch er regte die leichten
Blätter nicht.


Es war überall ein Zirpen der Grillen; aber die¬
ſes war gleichſam eine andere Stille, und erhöhte die
Erwartung, die aller Orten war. Durch die über den
ganzen Himmel liegende Wolkendecke ging zuweilen
ein tiefes Donnern, und ein blaſſer Bliz lüftete zeit¬
weilig ihr Dunkel.


Mein Begleiter ging ruhig neben mir, und ſtrich
[95] manchmal ſachte mit der Hand an den grünen Ähren
des Getreides hin. Er hatte ſein Nez von den weißen
Haaren abgenommen, hatte es in die Taſche geſteckt,
und trug ſein Haupt unbedeckt in der milden Luft.


Unſer Weg führte uns zu einer Stelle, auf wel¬
cher kein Getreide ſtand. Es war ein ziemlich großer
Plaz, der nur mit ſehr kurzem Graſe bedeckt war.
Auf dieſem Plaze befand ſich wieder eine hölzerne
Bank, und eine mittelgroße Eſche.


„Ich habe dieſen Fleck freigelaſſen, wie ich ihn von
meinen Vorfahren überkommen hatte,“ ſagte mein
Begleiter, „obwohl er, wenn man ihn urbar machte,
und den Baum ausgrübe, in einer Reihe von Jahren
eine nicht unbedeutende Menge von Getreide gäbe.
Die Arbeiter halten hier ihre Mittagsruhe, und ver¬
zehren hier ihr Mittagsmahl, wenn es ihnen auf das
Feld nachgebracht wird. Ich habe die Bank machen
laſſen, weil ich auch gerne da ſize, wäre es auch nur,
um den Schnittern zuzuſchauen, und die Feierlichkeit
der Feldarbeiten zu betrachten. Alte Gewohnheiten
haben etwas Beruhigendes, ſei es auch nur das des
Beſtehenden und immer Geſehenen. Hier dürfte es
aber mehr ſein, weßhalb die Stelle unbebaut blieb,
und der Baum auf derſelben ſteht. Der Schatten
[96] dieſer Eſche iſt wohl ein ſparſamer, aber da er der
einzige dieſer Gegend iſt, wird er geſucht, und die
Leute, obwohl ſie roh ſind, achten gewiß auch auf die
Ausſicht, die man hier genießt. Sezt euch nur zu mir
nieder, und betrachtet das Wenige, was uns heute
der verſchleierte Himmel gönnt.“


Wir ſezten uns auf die Bank unter der Eſche, ſo
daß wir gegen Mittag ſchauten. Ich ſah den Garten
wie einen grünen Schooß ſchräg unter mir liegen.


An ſeinem Ende ſah ich die weiße mitternächtliche
Mauer des Hauſes, und über der weißen Mauer das
freundliche rothe Dach. Von dem Gewächshauſe war
nur das Dach und der Schornſtein erſichtlich.


Weiter hin gegen Mittag war das Land und das
Gebirge kaum zu erkennen wegen des blauen Wolken¬
ſchattens und des blauen Wolkenduftes. Gegen Mor¬
gen ſtand der weiße Thurm von Rohrberg, und gegen
Abend war Getreide an Getreide, zuerſt auf unſerm
Hügel, dann jenſeits desſelben auf dem nächſten
Hügel, und ſo fort, ſoweit die Hügel ſichtbar waren.
Dazwiſchen zeigten ſich weiße Meierhöfe und andere
einzelne Häuſer oder Gruppen von Häuſern. Nach
der Sitte des Landes gingen Zeilen von Obſtbäumen
zwiſchen den Getreidefeldern dahin, und in der Nähe
[97] von Häuſern oder Dörfern ſtanden dieſe Bäume dich¬
ter, gleichſam wie in Wäldchen beiſammen. Ich fragte
meinen Nachbar theils nach den Häuſern theils nach
den Beſizern der Felder.


„Die Felder von dem Kirſchbaume gegen Sonnen¬
untergang hin bis zu der erſten Zeile von Obſtbäu¬
men ſind unſer,“ ſagte mein Begleiter. „Die wir von
dem Kirſchbaum bis hieher durchwandert haben, ge¬
hören auch uns. Sie gehen noch bis zu jenen langen
Gebäuden, die ihr da unten ſeht, welche unſere Wirth¬
ſchaftsgebäude ſind. Gegen Mitternacht erſtrecken ſie
ſich, wenn ihr umſehen wollt, bis zu jenen Wieſen mit
den Erlenbüſchen. Die Wieſen gehören auch uns,
und machen dort die Grenze unſerer Beſizungen. Im
Mittag gehören die Felder uns bis zur Einfriedigung
von Weißdorn, wo ihr die Straße verlaſſen habt.
Ihr könnt alſo ſehen, daß ein nicht ganz geringer
Theil dieſes Hügels von unſerm Eigenthume bedeckt
iſt. Wir ſind von dieſem Eigenthume umringt, wie
von einem Freunde, der nie wankt und nicht die Treue
bricht.“


Mir fiel bei dieſen Worten auf, daß er vom Eigen¬
thume immer die Ausdrücke uns und unſer gebrauchte.
Ich dachte, er werde etwa eine Gattin oder auch Kin¬
Stifter, Nachſommer. 7[98] der einbeziehen. Mir fiel der Knabe ein, den ich
im Heraufgehen geſehen hatte, vielleicht iſt dieſer ein
Sohn von ihm.


„Der Reſt des Hügels iſt an drei Meierhöfe ver¬
theilt,“ ſchloß er ſeine Rede, „welche unſere nächſten
Nachbarn ſind. Von den Niederungen an, die um den
Hügel liegen, und jenſeits welcher das Land wieder
aufſteigt, beginnen unſere entfernteren Nachbarn.“


„Es iſt ein geſegnetes ein von Gott beglücktes
Land,“ ſagte ich.


„Ihr habt recht geſprochen,“ erwiederte er, „Land
und Halm iſt eine Wohlthat Gottes. Es iſt unglaublich,
und der Menſch bedenkt es kaum, welch ein unerme߬
licher Werth in dieſen Gräſern iſt. Laßt ſie einmal von
unſerem Erdtheile verſchwinden, und wir verſchmach¬
ten bei allem unſerem ſonſtigen Reichthume vor Hun¬
ger. Wer weiß, ob die heißen Länder nicht ſo dünn
bevölkert ſind, und das Wiſſen und die Kunſt nicht ſo
tragen, wie die kälteren, weil ſie kein Getreide haben.
Wie viel ſelbſt dieſer kleine Hügel gibt, würdet ihr
kaum glauben. Ich habe mir einmal die Mühe ge¬
nommen, die Fläche dieſes Hügel, ſoweit ſie Getreide¬
land iſt, zu meſſen, um auf der Grundlage der Er¬
trägniſſe unſerer Felder und der Erträgnißfähigkeit der
[99] Felder der Nachbarn, die ich unterſuchte, eine Wahr¬
ſcheinlichkeitsrechnung zu machen, welche Getreide¬
menge im Durchſchnitte jedes Jahr auf dieſem Hügel
wächſt. Ihr würdet die Zahlen nicht glauben, und
auch ich habe ſie mir vorher nicht ſo groß vorgeſtellt.
Wenn es euch genehm iſt, werde ich euch die Arbeit
in unſerem Hauſe zeigen. Ich dachte mir damals,
das Getreide gehöre auch zu jenen unſcheinbaren nach¬
haltigen Dingen dieſes Lebens wie die Luft. Wir
reden von dem Getreide und von der Luft nicht weiter,
weil von beiden ſo viel vorhanden iſt, und uns beide
überall umgeben. Die ruhige Verbrauchung und
Erzeugung zieht eine unermeßliche Kette durch die
Menſchheit in den Jahrhunderten und Jahrtauſenden.
Überall, wo Völker mit beſtimmten geſchichtlichen
Zeichnungen auftreten, und vernünftige Staatseinrich¬
tungen haben, finden wir ſie ſchon zugleich mit dem
Getreide, und wo der Hirte in lockreren Geſellſchafts¬
banden aber vereint mit ſeiner Heerde lebt, da ſind es
zwar nicht die Getreide, die ihn nähren, aber doch
ihre geringeren Verwandten, die Gräſer, die ſein
ebenfalls geringeres Daſein erhalten. — Aber ver¬
zeiht, daß ich da ſo von Gräſern und Getreiden rede,
es iſt natürlich, da ich da mitten unter ihnen wohne,
7 *[100] und auf ihren Segen erſt in meinem Alter mehr achten
lernte.“


„Ich habe nichts zu verzeihen,“ erwiederte ich;
„denn ich theile eure Anſicht über das Getreide voll¬
kommen, wenn ich auch ein Kind der großen Stadt
bin. Ich habe dieſe Gewächſe viel beachtet, habe
darüber geleſen, freilich mehr von dem Standpunkte
der Pflanzenkunde, und habe, ſeit ich einen großen
Theil des Jahres in der freien Natur zubringe, ihre
Wichtigkeit immer mehr und mehr einſehen gelernt.“


„Ihr würdet es erſt recht,“ ſagte er, „wenn ihr
Beſizthümer hättet, oder auf euren Beſizthümern euch
mit der Pflege dieſer Pflanzen beſonders abgäbet.“


„Meine Eltern ſind in der Stadt,“ antwortete ich,
„mein Vater treibt die Kaufmannſchaft, und außer
einem Garten beſizt weder er noch ich einen liegenden
Grund.“


„Das iſt von großer Bedeutung,“ erwiederte er,
„den Werth dieſer Pflanzen kann keiner vollſtändig er¬
meſſen, als der ſie pflegt.“


Wir ſchwiegen nun eine Weile.


Ich ſah an ſeinen Wirthſchaftsgebäuden Leute be¬
ſchäftigt. Einige gingen an den Thoren ab und zu,
in häuslichen Arbeiten begriffen, andere mähten in
[101] einer nahen Wieſe Gras, und ein Theil war bedacht,
das im Laufe des Tages getrocknete Heu in hochbela¬
denen Wägen durch die Thore einzuführen. Ich konnte
wegen der großen Entfernung das Einzelne der Arbeiten
nicht unterſcheiden, ſo wie ich die eigentliche Bauart
und die nähere Einrichtung der Gebäude nicht wahr¬
nehmen konnte.


„Was ihr von den Häuſern und den Beſizern der
Felder geſagt habt, daß ich ſie euch nennen ſoll,“ fuhr
er nach einer Weile fort, „ſo hat dies ſeine Schwierig¬
keit, beſonders heute. Man kann zwar von dieſem
Plaze aus die größte Zahl der Nachbarn erblicken;
aber heute, wo der Himmel umſchleiert iſt, ſehen wir
nicht nur das Gebirge nicht, ſondern es entgeht uns
auch mancher weiße Punkt des untern Landes, der
Wohnungen bezeichnet, von denen ich ſprechen möchte.
Anderen Theils ſind euch die Leute unbekannt. Ihr
ſolltet eigentlich in der Gegend herumgewandert ſein,
in ihr gelebt haben, daß ſie zu eurem Geiſte ſpräche,
und ihr die Bewohner verſtündet. Vielleicht kommt
ihr wieder, und bleibt länger bei uns, vielleicht ver¬
längert ihr euren jezigen Aufenthalt. Indeſſen will
ich euch im Allgemeinen etwas ſagen, und von Beſon¬
derem hinzufügen, was euch anſprechen dürfte. Ich
[102] beſuche auch meiner Nachbarn willen gerne dieſen
Plaz; denn außerdem daß hier auf der Höhe ſelbſt
an den ſchönſten Tagen immer ein kühler Luftzug geht,
außerdem daß ich hier unter meinen Arbeitern bin,
ſehe ich von hier aus alle, die mich umgeben, es fällt
mir manches von ihnen ein, und ich ermeſſe, wie ich
ihnen nüzen kann, oder wie überhaupt das Allgemeine
gefördert werden möge. Sie ſind im Ganzen unge¬
bildete aber nicht ungelehrige Leute, wenn man ſie
nach ihrer Art nimmt, und nicht vorſchnell in eine
andere zwingen will. Sie ſind dann meiſt auch gut¬
artig. Ich habe von ihnen manches für mein Inneres
gewonnen, und ihnen manchen äußeren Vortheil ver¬
ſchafft. Sie ahmen nach, wenn ſie etwas durch längere
Erfahrung billigen. Man muß nur nicht ermüden.
Oft haben ſie mich zuerſt verlacht, und endlich dann
doch nachgeahmt. In Vielem verlachen ſie mich
noch, und ich ertrage es. Der Weg da durch meine
Felder iſt ein kürzerer, und da geht Mancher vorbei,
wenn ich auf der Bank ſize, er bleibt ſtehen, er redet
mit mir, ich ertheile ihm Rath, und ich lerne aus ſei¬
nen Worten. Meine Felder ſind bereits ertragfähiger
gemacht worden als die ihrigen, das ſehen ſie, und
das iſt bei ihnen der haltbarſte Grund zu mancher
[103] Betrachtung. Nur die Wieſe, welche ſich hinter un¬
ſerem Rücken befindet, tiefer als die Felder liegt, und
von einem kleinen Bache bewäſſert wird, habe ich nicht
ſo verbeſſern können, wie ich wollte; ſie iſt noch durch
die Erlengeſträuche und durch die Erlenſtöcke verun¬
ſtaltet, die ſich am Saume des Bächleins befinden,
und ſelbſt hie und da Sumpfſtellen veranlaſſen; aber
ich kann die Sache im Weſentlichen nicht abändern,
weil ich die Erlengeſträuche und Erlenſtöcke zu anderen
Dingen nothwendig brauche.“


Um meine Frage nach dem Einzelnen ſeiner Nach¬
barn zu unterbrechen, die er, wie ich jezt einſah, nicht
beantworten konnte, wenigſtens nicht, wie ſie geſtellt
war, fragte ich ihn, ob denn zu ſeinem Anweſen nicht
auch Waldgrund gehöre.


„Allerdings,“ antwortete er, „aber derſelbe liegt
nicht ſo nahe, als es der Bequemlichkeit wegen wün¬
ſchenswerth wäre; aber er liegt auch entfernt genug,
daß die Schönheit und Anmuth dieſes Getreidehügels
nicht geſtört wird. Wenn ihr auf dem Wege nach
Rohrberg fortgegangen wäret, ſtatt zu unſerem Hauſe
herauf zu ſteigen, ſo würdet ihr nach einer halben
Stunde Wanderns zu eurer Rechten dicht an der
Straße die Ecke eines Buchenwaldes gefunden haben,
[104] um welche die Straße herum geht. Dieſe Ecke erhebt
ſich raſch, erweitert ſich nach rückwärts, wohin man
von der Straße nicht ſehen kann, und gehört einem
Walde an, der weit in das Land hinein geht. Man
kann von hier aus ein großes Stück ſehen. Dort
links von dem Felde, auf welchem die junge Gerſte
ſteht.“


„Ich kenne den Wald recht gut,“ ſagte ich, „er
ſchlingt ſich um eine Höhe, und berührt die Straße
nur mit einem Stücke; aber wenn man ihn betritt,
lernt man ſeine Größe kennen. Es iſt der Alizwald.
Er hat mächtige Buchen und Ahorne, die ſich unter
die Tannen miſchen. Die Aliz geht von ihm in die
Agger. An der Aliz ſtehen beiderſeits hohe Felſen mit
ſeltenen Kräutern, und von ihnen geht gegen Mittag
ein Streifen Landes mit den allerſtärkſten Buchen
thalwärts.“


„Ihr kennt den Wald,“ ſagte er.


„Ja,“ erwiederte ich, „ich bin ſchon in ihm ge¬
weſen. Ich habe dort die größte Doppelbuche gezeich¬
net, die ich je geſehen, ich habe Pflanzen und Steine
geſammelt, und die Felſenlagen betrachtet.“


„Jener Waldſtreifen, der mit den ſtarken Buchen
beſtanden iſt, und noch mehreres Land jenes Waldes
[105] gehört zu dieſem Anweſen,“ ſagte mein Beherberger.
„Es iſt weiter von da gegen Mittag auch ein Bergbühel
unſer, auf dem ſtellenweiſe die Birke ſehr verkrüppelt
vorkommt, welche zum Brennen wenig taugt; aber
Holz zu feinen Arbeiten gibt.“


„Ich kenne den Bühel auch,“ ſagte ich, „dort geht
der Granit zu Ende, aus dem der ganze mitternächt¬
liche Theil unſeres Landes beſteht, und es beginnt
gegen Mittag zu nach und nach der Kalk, der endlich
in den höchſten Gebirgen die Landesgrenze an der
Mittagſeite macht.“


„Ja der Bühel iſt der ſüdlichſte Granitblock,“ ſagte
mein Begleiter, „er überſezt ſogar die Wäſſer. Wir
können hier troz des Duftes der Wolken hie und da
die Grenze ſehen, in der ſich der Granit abſchneidet.“


„Dort iſt die Klamſpize,“ ſagte er, „die noch Gra¬
nit hat, rechts der Gaisbühl, dann die Aſſer, der
Loſen, und zulezt die Grumhaut, die noch zu ſehen iſt.“


Ich ſtimmte in Allem bei.


Der Abend kam indeſſen immer näher und näher,
und der Nachmittag war bedeutend vorgerückt.


Das Gewitter an dem Himmel war mir aber
endlich beſonders merkwürdig geworden.


[106]

Ich hatte den Ausbruch desſelben, als ich den
Hügel zu dem weißen Hauſe empor ſtieg, um eine
Unterkunft zu ſuchen, in kurzer Zeit erwartet; und
nun waren Stunden vergangen, und es war noch
immer nicht ausgebrochen. Über den ganzen Himmel
ſtand es unbeweglich. Die Wolkendecke war an man¬
chen Stellen faſt finſter geworden und Blize zuckten
aus dieſen Stellen bald höher bald tiefer hervor. Der
Donner folgte in ruhigem ſchwerem Rollen auf dieſe
Blize; aber in der Wolkendecke zeigte ſich kein Zuſam¬
menſammeln zu einem einzigen Gewitterballen, und
es war kein Anſchicken zu einem Regen.


Ich ſagte endlich zu meinem Nachbar, indem ich
auf die Männer zeigte, welche weiter unten in der
Niederung, in welcher die Wirthſchaftsgebäude lagen,
Gras machten: „Dieſe ſcheinen auch auf kein Gewitter
und auf kein gewöhnliches Nachregnen für den morgi¬
gen Tag zu rechnen, weil ſie jezt Gras mähen, das
ihnen in der Nacht ein tüchtiger Regen durchnäſſen,
oder morgen eine kräftige Sonne zu Heu trocknen
kann.“


„Dieſe wiſſen gar nichts von dem Wetter,“ ſagte
mein Begleiter, „und ſie mähen das Gras nur, weil
ich es ſo angeordnet habe.“
[107] Das waren die einzigen Worte, die er über das
Wetter geſprochen hatte. Ich veranlaßte ihn auch
nicht zu mehreren.


Wir gingen von dieſem Felderſize, auf dem wir
nun ſchon eine Weile geſeſſen waren, nicht mehr wei¬
ter von dem Hauſe weg, ſondern, nachdem wir uns
erhoben hatten, ſchlug mein Begleiter wieder den
Rückweg ein.


Wir gingen auf demſelben Wege zurück, auf dem
wir gekommen waren.


Die Donner erſchallten nun ſogar lauter, und ver¬
kündeten ſich bald an dieſer Stelle des Himmels bald
an jener.


Als wir wieder in den Garten eingetreten waren,
als mein Begleiter das Pförtchen hinter ſich geſchloſſen
hatte, und als wir von dem großen Kirſchbaume
bereits abwärts gingen, ſagte er zu mir: „Erlaubt,
daß ich nach dem Knaben rufe, und ihm etwas be¬
fehle.“


Ich ſtimmte ſogleich zu, und er rief gegen eine
Stelle des Gebüſches: „Guſtav!“


Der Knabe, den ich im Heraufgehen geſehen hatte,
kam faſt an der nehmlichen Stelle des Gartens zum
Vorſcheine, an welcher er früher herausgetreten war.
[108] Da er jezt länger vor uns ſtehen blieb, konnte ich ihn
genauer betrachten. Sein Angeſicht erſchien mir ſehr
roſig und ſchön, und beſonders einnehmend zeigten
ſich die großen ſchwarzen Augen unter den braunen
Locken, die ich ſchon früher beobachtet hatte.


„Guſtav,“ ſagte mein Begleiter, „wenn du noch an
deinem Tiſche oder ſonſt irgendwo in dem Garten blei¬
ben willſt, ſo erinnere dich an das, was ich dir über
Gewitter geſagt habe. Da die Wolken über den gan¬
zen Himmel ſtehen, ſo weiß man nicht, wann über¬
haupt ein Bliz auf die Erde niederfährt, und an wel¬
cher Stelle er ſie treffen wird. Darum verweile unter
keinem höheren Baume. Sonſt kannſt du hier bleiben,
wie du willſt. Dieſer Herr bleibt heute bei uns, und
du wirſt zur Abendſpeiſeſtunde in dem Speiſezimmer
eintreffen.“


„Ja,“ ſagte der Knabe, verneigte ſich, und ging
wieder auf einem Sandwege in die Geſträuche des
Gartens zurück.


„Dieſer Knabe iſt mein Pflegeſohn,“ ſagte mein
Begleiter, „er iſt gewohnt, zu dieſer Tageszeit einen
Spaziergang mit mir zu machen, darum kam er da wir
bei dem Kirſchbaume ſaßen von ſeinem Arbeitstiſche, den
er im Garten hat, zu uns empor, um mich zu ſuchen;
[109] allein da er ſah, daß ein Fremder da ſei, ging er wie¬
der an ſeine Stelle zurück.“


Mir, der ich mich an den einfachen folgerichtigen
Ausdruck gewöhnt hatte, fiel es jezt abermals auf,
daß mein Begleiter, der, wenn er von ſeinen Fel¬
dern redete, faſt immer den Ausdruck unſer gebraucht
hatte, nun, da er von ſeinem Pflegeſohne ſprach, den
Ausdruck mein wählte, da er doch, wenn er etwa ſeine
Gattin einbezog, jezt auch das Wort unſer gebrau¬
chen ſollte.


Als wir von dem Raſengrunde hinab gekommen
waren, und den bepflanzten Garten betreten hatten,
gingen wir in ihm auf einem anderen Wege zurück,
als auf dem wir herauf gegangen waren.


Auf dieſem Wege ſah ich nun, daß der Beſizer
des Gartens auch Weinreben in demſelben zog, ob¬
wohl das Land der Pflege dieſes Gewächſes nicht ganz
günſtig iſt. Es waren eigene dunkle Mauern aufge¬
führt, an denen die Reben mittelſt Holzgittern empor
geleitet wurden. Durch andere Mauern wurden die
Winde abgehalten. Gegen Mittag allein waren die
Stellen offen. So ſammelte er die Hize, und gewährte
Schuz. Auch Pfirſiche zog er auf dieſelbe Weiſe, und
[110] aus den Blättern derſelben ſchloß ich auf ſehr edle
Gattungen.


Wir gingen hier an großen Linden vorüber, und
in ihrer Nähe erblickte ich ein Bienenhaus.


Von dem Gewächshauſe ſah ich auf dem Rück¬
wege wohl die Längenſeite, konnte aber nichts Näheres
erkennen, weil mein Begleiter den Weg zu ihm nicht
einſchlug. Ich wollte ihn auch nicht eigens darum
erſuchen: ich vermuthete, daß er mich zu ſeiner Fa¬
milie führen würde.


Da wir an dem Hauſe angekommen waren, geleitete
er mich bei dem gemeinſchaftlichen Eingange desſelben
hinein, führte mich über eine gewöhnliche Sandſtein¬
treppe in das erſte Stockwerk, und ging dort mit mir
einen Gang entlang, in dem viele Thüren waren.
Eine derſelben öffnete er mit einem Schlüſſel, den er
ſchon in ſeiner Taſche in Bereitſchaft hatte, und ſagte:
„Das iſt euer Zimmer, ſolange ihr in dieſem Hauſe
bleibt. Ihr könnt jezt in dasſelbe eintreten, oder es
verlaſſen, wie es euch gefällt. Nur müſſet ihr um
acht Uhr wieder da ſein, zu welcher Stunde ihr zum
Abendeſſen werdet geholt werden. Ich muß euch nun
allein laſſen. In dem Wartezimmer habt ihr heute in
Humboldt's Reiſen geleſen, ich habe das Buch in die¬
[111] ſes Zimmer legen laſſen. Wünſchet ihr für jezt oder
für den Abend noch irgend ein Buch, ſo nennt es, daß
ich ſehe, ob es in meiner Bücherſammlung enthal¬
ten iſt.“


Ich lehnte das Anerbieten ab, und ſagte, daß ich
mit dem Vorhandenen ſchon zufrieden ſei, und wenn
ich mich außer Humboldt mit noch andern Buchſtaben
beſchäftigen wolle, ſo habe ich in meinem Ränzchen
ſchon Vorrath, um theils etwas mit Bleifeder zu
ſchreiben, theils früher Geſchriebenes durchzuleſen, und
zu verbeſſern, welche Beſchäftigung ich auf meinen
Wanderungen häufig Abends vornehme.


Er verabſchiedete ſich nach dieſen Worten, und
ich ging zur Thür hinein.


Ich überſah mit einem Blicke das Zimmer. Es
war ein gewöhnliches Fremdenzimmer, wie man es in
jedem größeren Hauſe auf dem Lande hat, wo man
zuweilen in die Lage kömmt, Herberge ertheilen zu
müſſen. Die Geräthe waren weder neu noch nach der
damals herrſchenden Art gemacht, ſondern aus ver¬
ſchiedenen Zeiten, aber nicht unangenehm ins Auge
fallend. Die Überzüge der Seſſel und des Ruhe¬
bettes waren gepreßtes Leder, was man damals ſchon
ſelten mehr fand. Eine geſellige Zugabe, die man
[112] nicht häufig in ſolchen Zimmern findet, war eine
alterthümliche Pendeluhr in vollem Gange. Mein
Ränzlein und mein Stock lagen, wie der Mann geſagt
hatte, ſchon in dieſem Zimmer.


Ich ſezte mich nieder, nahm nach einer Weile mein
Ränzlein, öffnete es, und blätterte in den Papieren,
die ich daraus hervor genommen hatte, und ſchrieb
gelegentlich in denſelben.


Da endlich die Dämmerung gekommen war, ſtand
ich auf, ging gegen eines der beiden offenſtehenden
Fenſter, lehnte mich hinaus, und ſah herum. Es war
wieder Getreide, das ich vor mir auf dem ſachte hinab¬
gehenden Hügel erblickte. Am Morgen dieſes Tages,
da ich von meiner Nachtherberge aufgebrochen war,
hatte ich auch Getreide rings um mich geſehen; aber
daſſelbe war in einem luſtigen Wogen begriffen ge¬
weſen; während dieſes reglos und unbewegt war
wie ein Heer von lockeren Lanzen. Vor dem Hauſe
war der Sandplaz, den ich bei meiner Ankunft ſchon
geſehen und betreten hatte. Meine Fenſter gingen
alſo auf der Seite der Roſenwand heraus. Von dem
Garten tönte noch ſchwaches Vogelgezwitſcher herüber,
und der Duft von den tauſenden der Roſen ſtieg wie
eine Opfergabe zu mir empor.


[113]

An dem Himmel, deſſen Dämmerung heute viel
früher gekommen war, hatte ſich eine Veränderung
eingefunden. Die Wolkendecke war getheilt, die Wolken
ſtanden in einzelnen Stücken gleichſam wie Berge an
dem Gewölbe herum, und einzelne reine Theile blickten
zwiſchen ihnen heraus. Die Blize aber waren ſtärker
und häufiger, die Donner klangen heller und kürzer.


Als ich eine Weile bei dem Fenſter hinaus geſehen
hatte, hörte ich ein Pochen an meiner Thür, eine
Magd trat herein, und meldete, daß man mich zum
Abendeſſen erwarte. Ich legte meine Papiere auf das
Tiſchchen, das neben meinem Bette ſtand, legte den
Humboldt darauf, und folgte der Magd, nachdem ich
die Thür hinter mir geſperrt hatte. Sie führte mich
in das Speiſezimmer.


Bei dem Eintritte ſah ich drei Perſonen; den alten
Mann, der mit mir den Spaziergang gemacht hatte,
einen andern ebenfalls ältlichen Mann, der durch
nichts beſonders auffiel als durch ſeine Kleidung, welche
einen Prieſter verrieth, und den Pflegeſohn des Haus¬
beſitzers in ſeinem blaugeſtreiften Linnengewande.


Der Herr des Hauſes ſtellte mich dem Prieſter
vor, indem er ſagte: „Das iſt der hochwürdige Pfarrer
von Rohrberg, der ein Gewitter fürchtet, und deßhalb
Stifter, Nachſommer. I. 8[114] dieſe Nacht in unſerm Hauſe zubringen wird,“ und
dann auf mich weiſend fügte er bei: „das iſt ein frem¬
der Reiſender, der auch heute unſer Dach mit uns
theilen will.“


Nach dieſen Worten und nach einem kurzen ſtum¬
men Gebethe ſezten wir uns zu dem Tiſche an unſere an¬
gewieſenen Pläze. Das Abendeſſen war ſehr einfach.
Es beſtand aus Suppe Braten und Wein, zu welchem
wie zu dem an meinem Mittagsmahle verkleinertes
Eis geſtellt wurde. Dieſelbe Magd, welche mir mein
Mittageſſen gebracht hatte, bediente uns. Ein männ¬
licher Diener kam nicht in das Zimmer. Der Pfarrer
und mein Gaſtfreund ſprachen öfter Dinge, die die
Gegend betrafen, und ich ward gelegentlich einbezogen,
wenn es ſich um Allgemeineres handelte. Der Knabe
ſprach gar nicht.


Die Dunkelheit des Abends wurde endlich ſo ſtark,
daß die Kerzen, welche früher mit der Dämmerung
gekämpft hatten, nun vollkommen die Herrſchaft be¬
haupteten, und die ſchwarzen Fenſter nur zeitweiſe
durch die hereinleuchtenden Blize erhellt wurden.


Da das Eſſen beendet war, und wir uns zur
Trennung anſchickten, ſagte der Hauswirth, daß er
den Pfarrer und mich über die nähere Treppe in unſer
[115] Zimmer führen würde. Wir nahmen jeder eine Wachs¬
kerze, die uns angezündet von der Magd gereicht wurde,
während deſſen ſich der Knabe Guſtav empfahl, und
durch die gewöhnliche Thür entfernte. Der Haus¬
eigenthümer führte uns bei der Thür hinaus, bei der
ich zuerſt herein gekommen war. Wir befanden uns
draußen in dem ſchönen Marmorgange, von dem eine
gleiche Marmortreppe emporführte. Wir durften die
Filzſchuhe nicht anziehen, weil jezt über den Gang
und die Treppe ein Tuchſtreifen lag, auf dem wir
gingen. In der Mitte der Treppe, wo ſie einen Ab¬
ſaz machte, gleichſam einen erweiterten Plaz oder eine
Stiegenhalle, ſtand eine Geſtalt aus weißem Marmor
auf einem Geſtelle. Durch ein paar Blize, die eben
jezt fielen, und das Haupt und die Schultern der
Marmorgeſtalt noch röther beſchienen, als es unſere
Kerzen konnten, erſah ich, daß der Plaz und die
Treppe von oben herab durch eine Glasbedeckung
ihre Beleuchtung empfangen mußten.


Als wir an das Ende der Treppe gelangt waren,
wendete ſich der Hauswirth mit uns durch eine Thür
links, und wir befanden uns in jenem Gange, in
welchem mein Zimmer lag. Es war der Gang der
Gaſtzimmer, wie ich nun zu erkennen vermeinte.
8 *[116] Unſer Gaſtfreund bezeichnete eines als das des Pfar¬
rers, und führte mich zu dem meinigen.


Als wir in dasſelbe getreten waren, fragte er mich,
ob ich zu meiner Bequemlichkeit noch etwas wünſche,
beſonders ob mir Bücher aus ſeinem Bücherzimmer
genehm wären.


Als ich ſagte, daß ich keinen Wunſch habe, und
bis zum Schlafen ſchon Beſchäftigung finden würde,
antwortete er: „Ihr ſeid in eurem Gemache und in
eurem Rechte. Schlummert denn recht wohl.“


„Ich wünſche euch auch eine gute Nacht,“ erwie¬
derte ich, „und ſage euch Dank für die Mühe, die ihr
heute mit mir gehabt habet.“


„Es war keine Mühe,“ antwortete er, „denn ſonſt
hätte ich ſie mir ja erſparen können, wenn ich euch gar
nicht zu Nacht geladen hätte.“


„So iſt es,“ antwortete ich.


„Erlaubt,“ ſagte er, indem er ein kleines Wachſ¬
kerzchen hervorzog, und an meinem Lichte anzündete.


Nachdem er dieſes Geſchäft vollbracht hatte, ver¬
beugte er ſich, was ich erwiederte, und ging auf den
Gang hinaus.


Ich ſchloß hinter ihm die Thür, legte meinen Rock
ab, und lüftete mein Halstuch, weil, obgleich es ſchon
[117] ſpät war, die ruhige Nacht noch immer eine große
Hize und Schwüle in ſich hegte. Ich ging einige
Male in dem Zimmer hin und her, trat dann an ein
Fenſter, lehnte mich hinaus, und betrachtete den
Himmel. So viel die Dunkelheit und die noch immer
hell leuchtenden Blize erkennen ließen, war die Ge¬
ſtalt der Dinge dieſelbe, wie ſie am Abend vor dem
Speiſen geweſen war. Wolkentrümmer ſtanden an
dem Himmel und, wie die Sterne zeigten, waren
zwiſchen ihnen reine Stellen. Zu Zeiten fuhr ein
Bliz aus ihnen über den Getreidehügel und die
Wipfel der unbewegten Bäume, und der Donner
rollte ihm nach.


Als ich eine Weile die freie Luft genoſſen hatte,
ſchloß ich mein Fenſter, ſchloß auch das andere, und
begab mich zur Ruhe.


Nachdem ich noch eine Zeit lang, wie es meine
Gewohnheit war, in dem Bette geleſen, und mitunter
ſogar mit Bleifeder etwas in meine Schriften ge¬
ſchrieben hatte, löſchte ich das Licht aus, und richtete
mich zum Schlafen.


Ehe der Schlummer völlig meine Sinne umfing,
hörte ich noch wie ſich draußen ein Wind erhob, und
die Wipfel der Bäume zu ſtarkem Rauſchen bewegte.
[118] Ich hatte aber nicht mehr genug Kraft, mich zu er¬
mannen, ſondern entſchlief gleich darauf völlig.


Ich ſchlief recht ruhig und feſt.


Als ich erwachte, war mein Erſtes, zu ſehen, ob
es geregnet habe. Ich ſprang aus dem Bette, und
riß die Fenſter auf. Die Sonne war bereits aufge¬
gangen, der ganze Himmel war heiter, kein Lüftchen
rührte ſich, aus dem Garten tönte das Schmettern
der Vögel, die Roſen dufteten, und die Erde zu mei¬
nen Füßen war vollkommen trocken. Nur der Sand
war ein wenig gegen das Grün des begrenzenden
Raſens gefegt worden, und ein Mann war beſchäftigt,
ihn wieder zu ebnen, und in ein gehöriges Gleich¬
gewicht zu bringen.


Alſo hatte mein Gegner Recht gehabt, und ich
war begierig, zu erfahren, aus welchen Gründen er
ſeine Gewißheit, die er ſo ſicher gegen mich behauptet
hatte, geſchöpft, und wie er dieſe Gründe entdeckt und
erforſcht habe.


Um das recht bald zu erfahren, und meine Abreiſe
nicht ſo lange zu verzögern, beſchloß ich, mich anzu¬
kleiden, und meinen Gaſtherrn ungeſäumt aufzu¬
ſuchen.


Als ich mit meinem Anzuge fertig war, und mich
[119] in das Speiſezimmer hinab begeben hatte, fand ich
dort eine Magd mit den Vorbereitungen zu dem
Frühmale beſchäftigt, und fragte nach dem Herrn.


„Er iſt in dem Garten auf der Fütterungstenne,“
ſagte ſie.


„Und wo iſt die Fütterungstenne, wie du es
nennſt?“ fragte ich.


„Gleich hinter dem Hauſe und nicht weit von den
Glashäuſern,“ erwiederte ſie.


Ich ging hinaus, und ſchlug die Richtung gegen
das Gewächshaus ein.


Vor demſelben fand ich meinen Gaſtfreund auf
einem Sandplaze. Es war derſelbe Plaz, von dem
aus ich ſchon geſtern das Gewächshaus mit ſeiner
ſchmalen Seite und dem kleinen Schornſteine geſehen
hatte. Dieſe Seite war mit Roſen bekleidet, daß das
Haus wie ein zweites kleines Roſenhäuschen hervor
ſah. Mein Gaſtfreund war in einer ſeltſamen Be¬
ſchäftigung begriffen. Eine Unzahl Vögel befand ſich
vor ihm auf dem Sande. Er hatte eine Art von
länglichem geflochtenem Korbdeckel in der Hand, und
ſtreuete aus demſelben Futter unter die Vögel. Er
ſchien ſich daran zu ergözen, wie ſie pickten, ſich über¬
kletterten, überſtürzten und kollerten, wie die geſättig¬
[120] ten davon flogen, und wieder neue herbei ſchwirrten.
Ich erkannte es nun deutlich, daß außer den gewöhn¬
lichen Gartenvögeln auch ſolche da waren, die mir
ſonſt nur von tiefen und weit abgelegenen Wäldern
bekannt waren. Sie erſchienen gar nicht ſo ſcheu, als
ich mit allem Rechte vermuthen mußte. Sie trauten
ihm vollkommen. Er ſtand wieder barhäuptig da,
ſo daß es mir ſchien, daß er dieſe Sitte liebe, da er
auch geſtern auf dem Spaziergange ſeine ſo leichte
Kopfbedeckung eingeſteckt hatte. Seine Geſtalt war
vorgebeugt, und die ſchlichten aber vollen weißen
Haare hingen an ſeinen Schläfen herab. Sein An¬
zug war auch heute wieder ſonderbar. Er hatte wie
geſtern eine Art Jacke an, die faſt bis auf die Knie
hinab reichte. Sie war weißlich, hatte jedoch über
die Bruſt und den Rücken hinab einen röthlichbraunen
Streifen, der faſt einen halben Fuß breit war, als
wäre die Jacke aus zwei Stoffen verfertigt worden,
einem weißen und einem rothen. Beide Stoffe aber
zeigten ein hohes Alter; denn das Weiß war gelblich
braun, und das Roth zu Purpurbraun geworden.
Unter der Jacke ſah eine unſcheinbare Fußbekleidung
hervor, die mit Schnallenſchuhen endete.


Ich blieb hinter ſeinem Rücken in ziemlicher Ent¬
[121] fernung ſtehen, um ihn nicht zu ſtören, und die Vögel
nicht zu verſcheuchen.


Als er aber ſeinen Korb geleert hatte, und ſeine
Gäſte fortgeflogen waren, trat ich näher. Er hatte
ſich eben umgewendet, um zurückzugehen, und da er
mich erblickte, ſagte er: „Seid ihr ſchon ausgegangen?
ich hoffe, daß ihr gut geſchlafen habt.“


„Ja, ich habe ſehr gut geſchlafen,“ erwiederte ich,
„ich habe noch den Wind gehört, der ſich geſtern
Abends erhoben hat, was weiter geſchehen iſt, weiß
ich nicht; aber das weiß ich, daß heute die Erde trocken
iſt, und daß ihr Recht gehabt habet.“


„Ich glaube, daß nicht ein Tropfen auf dieſe
Gegend vom Himmel gefallen iſt,“ antwortete er.


„Wie das Ausſehen der Erde zeigt, glaube ich es
auch,“ erwiederte ich; „aber nun müßt ihr mir auch
wenigſtens zum Theile ſagen: woher ihr dies ſo gewiß
wiſſen konntet, und wie ihr euch dieſe Kenntniß er¬
worben habt; denn das müßt ihr zugeſtehen, daß ſehr
viele Zeichen gegen euch waren.“


„Ich will euch etwas ſagen,“ antwortete er, „die
Darlegung der Sache, die ihr da verlangt, dürfte
etwas lang werden, da ich ſie euch, der ſich mit Wiſſen¬
ſchaften beſchäftigt, doch nicht oberflächlich geben kann;
[122] verſprecht mir, den heutigen Tag und die Nacht noch
bei uns zuzubringen, da kann ich euch nicht nur die¬
ſes ſagen, ſondern noch Vieles Andere, ihr könnt Ver¬
ſchiedenes anſchauen, und ihr könnt mir von eurer
Wiſſenſchaft erzählen.“


Dieſes offen und freundlich gemachte Anerbiethen
konnte ich nicht ausſchlagen, auch erlaubte mir meine
Zeit recht gut, nicht nur einen ſondern mehrere Tage
zu einer Nebenbeſchäftigung zu verwenden. Ich ge¬
brauchte daher die gewöhnliche Redeweiſe von Nicht¬
läſtigfallenwollen, und ſagte unter dieſer Bedin¬
gung zu.


„Nun ſo geht mit mir zuerſt zu einem Frühmale,
das ich mit euch theilen will,“ ſagte er, „der Herr
Pfarrer von Rohrberg hat uns ſchon vor Tagesan¬
bruch verlaſſen, um zu rechter Zeit in ſeiner Kirche zu
ſein, und Guſtav iſt bereits zu ſeiner Arbeit ge¬
gangen.“


Mit dieſen Worten wendeten wir uns auf den
Rückweg zu dem Hauſe. Als wir dort angekommen
waren, gab er das, was ich Anfangs für einen Korb¬
deckel gehalten hatte, was aber ein eigens geflochte¬
nes ſehr flaches und längliches Fütterungskörbchen
[123] war, einer Magd, daß ſie es auf ſeinen Plaz lege,
und wir gingen in das Speiſezimmer.


Während des Frühmales ſagte ich: „Ihr habt
ſelbſt davon geſprochen, daß ich hier Verſchiedenes
anſchauen könne, wäre es denn zu unbeſcheiden, wenn
ich bäte, von dem Hauſe und deſſen Umgebung Man¬
ches näher beſehen zu dürfen. Es iſt eine der lieblich¬
ſten Lagen, in der dieſes Anweſen liegt, und ich habe
bereits ſo Vieles davon geſehen, was meine Aufmerk¬
ſamkeit aufregte, daß der Wunſch natürlich iſt, noch
Mehreres beſehen zu dürfen.“


„Wenn es euch Vergnügen macht, unſer Haus
und einiges Zubehör zu beſehen,“ antwortete er, „ſo
kann das gleich nach dem Frühmale geſchehen, es
wird nicht viele Zeit in Anſpruch nehmen, da das
Gebäude nicht ſo groß iſt. Es wird ſich dann auch
das, was wir noch zu reden haben, natürlicher und
verſtändlicher ergeben.“


„Ja freilich,“ ſagte ich, „macht es mir Vergnü¬
gen.“


Wir ſchritten alſo nach dem Frühmale zu dieſem
Geſchäfte.


Er führte mich über die Treppe, auf welcher die
weiße Marmorgeſtalt ſtand, hinauf. Heute fiel ſtatt
[124] des rothen zerſtreuten Lichtes der Kerzen und der Blize
von der vergangenen Nacht das ſtille weiße Tageslicht
auf ſie herab, und machte die Schultern und das Haupt
in ſanftem Glanze ſich erhellen. Nicht nur die Treppe
war in dieſem Stiegenhauſe von Marmor, ſondern
auch die Bekleidung der Seitenwände. Oben ſchloß
gewölbtes Glas, das mit feinem Drahte überſpannt
war, die Räume. Als wir die Treppe erſtiegen hat¬
ten, öffnete mein Gaſtfreund eine Thür, die der ge¬
genüber war, die zu dem Gange der Gaſtzimmer
führte. Die Thür ging in einen großen Saal. Auf
der Schwelle, an der der Tuchſtreifen, welcher über
die Treppe empor lag, endete, ſtanden wieder Filz¬
ſchuhe. Da wir jeder ein Paar derſelben angezogen
hatten, gingen wir in den Saal. Er war eine Samm¬
lung von Marmor. Der Fußboden war aus dem
farbigſten Marmor zuſammengeſtellt, der in unſeren
Gebirgen zu finden iſt. Die Tafeln griffen ſo inein¬
ander, daß eine Fuge kaum zu erblicken war, der Mar¬
mor war ſehr fein geſchliffen und geglättet, und die
Farben waren ſo zuſammengeſtellt, daß der Fußboden
wie ein liebliches Bild zu betrachten war. Überdies
glänzte und ſchimmerte er noch in dem Lichte, das bei
den Fenſtern hereinſtrömte. Die Seitenwände waren
[125] von einfachen ſanften Farben. Ihr Sockel war matt¬
grün, die Haupttafeln hatten den lichteſten faſt weißen
Marmor, den unſere Gebirge liefern, die Flachſäulen
waren ſchwach roth, und die Simſe, womit die
Wände an die Decke ſtießen, waren wieder aus ſchwach
Grünlich und Weiß zuſammengeſtellt, durch welche
ein Gelb wie ſchöne Goldleiſten lief. Die Decke war
blaßgrau, und nicht von Marmor, nur in der Mitte
derſelben zeigte ſich eine Zuſammenſtellung von rothen
Amoniten, und aus derſelben ging die Metallſtange
nieder, welche in vier Armen die vier dunkeln faſt
ſchwarzen Marmorlampen trug, die beſtimmt waren,
in der Nacht dieſen Raum beleuchten zu können. In
dem Saale war kein Bild kein Stuhl kein Geräthe,
nur in den drei Wänden war jedesmal eine Thür aus
ſchönem dunklem Holze eingelegt, und in der vierten
Wand befanden ſich die drei Fenſter, durch welche der
Saal bei Tag beleuchtet wurde. Zwei davon ſtanden
offen, und zu dem Glanze des Marmors war der
Saal auch mit Roſenduft erfüllt.


Ich drückte mein Wohlgefallen über die Einrich¬
tung eines ſolchen Zimmers aus, den alten Mann,
der mich begleitete, ſchien dieſes Vergnügen zu er¬
freuen, er ſprach aber nicht weiter darüber.


[126]

Aus dieſem Saale führte er mich durch eine der
Thüren in eine Stube, deren Fenſter in den Garten
gingen.


„Das iſt gewiſſermaßen mein Arbeitszimmer,“
ſagte er, „es hat außer am frühen Morgen nicht viel
Sonne, iſt daher im Sommer angenehm, ich leſe
gerne hier, oder ſchreibe, oder beſchäftige mich ſonſt
mit Dingen, die mir Antheil einflößen.“


Ich dachte mit Lebhaftigkeit, ich könnte ſagen, mit
einer Art Sehnſucht auf meinen Vater, da ich dieſe
Stube betreten hatte. In ihr war nichts mehr von
Marmor, ſie war wie unſere gewöhnlichen Stuben;
aber ſie war mit alterthümlichen Geräthen eingerich¬
tet, wie ſie mein Vater hatte, und liebte. Allein die
Geräthe erſchienen mir ſo ſchön, daß ich glaubte, nie
etwas ihnen Ähnliches geſehen zu haben. Ich unter¬
richtete meinen Gaſtfreund von der Eigenſchaft meines
Vaters, und erzählte ihm in Kurzem von den Din¬
gen, welche derſelbe beſaß. Auch bat ich, die Sachen
näher betrachten zu dürfen, um meinem Vater nach
meiner Zurückkunft von ihnen erzählen, und ſie ihm
wenn auch nur nothdürftig beſchreiben zu können.
Mein Begleiter willigte ſehr gerne in mein Begehren.
Es war vor allem ein Schreibſchrein, welcher meine
[127] Aufmerkſamkeit erregte, weil er nicht nur das größte
ſondern wahrſcheinlich auch das ſchönſte Stück des
Zimmers war. Vier Delphine, welche ſich mit dem
Untertheil ihrer Häupter auf die Erde ſtüzten, und
die Leiber in gewundener Stellung emporſtreckten,
trugen den Körper des Schreines auf dieſen gewun¬
denen Leibern. Ich glaubte Anfangs, die Delphine
ſeien aus Metall gearbeitet, mein Begleiter ſagte mir
aber, daß ſie aus Lindenholz geſchnitten, und nach
mittelalterlicher Art zu dem gelblich grünlichen Me¬
talle hergerichtet waren, deſſen Verfertigung man jezt
nicht mehr zuwege bringt. Der Körper des Schreines
hatte eine allſeitig gerundete Arbeit mit ſechs Fächern.
Über ihm befand ſich das Mittelſtück, das in einer
guten Schwingung flach zurückging, und die Klappe
enthielt, die geöffnet zum Schreiben diente. Von dem
Mittelſtücke erhob ſich der Aufſaz mit zwölf geſchwun¬
genen Fächern und einer Mittelthür. An den Kanten
des Aufſazes und zu beiden Seiten der Mittelthür
befanden ſich als Säulen vergoldete Geſtalten. Die
beiden größten zu den Seiten der Thür waren ſtarke
Männer, die die Hauptſimſe trugen. Ein Schildchen,
das ſich auf ihrer Bruſt öffnete, legte die Schlüſſel¬
öffnungen dar. Die zwei Geſtalten an den vorderen
[128] Seitenkanten waren Meerfräulein, die in Überein¬
ſtimmung mit den Tragfiſchen jedes in zwei Fiſchen¬
den ausliefen. Die zwei lezten Geſtalten an den hin¬
tern Seitenkanten waren Mädchen in faltigen Ge¬
wändern. Alle Leiber der Fiſche ſowohl als der Säu¬
len erſchienen mir ſehr natürlich gemacht. Die Fächer
hatten vergoldete Knöpfe, an denen ſie herausgezogen
werden konnten. Auf der achteckigen Fläche dieſer
Knöpfe waren Bruſtbilder geharniſchter Männer oder
gepuzter Frauenzimmer eingegraben. Die Holzbele¬
gung auf dem ganzen Schrein war durchaus einge¬
legte Arbeit. Ahornlaubwerk in dunkeln Nußholzfel¬
dern umgeben von geſchlungenen Bändern und ge¬
flammtem Erlenholze. Die Bänder waren wie geknit¬
terte Seide, was daher kam, daß ſie aus kleinem fein¬
geſtreiftem vielfarbigem Roſenholze ſenkrecht auf die
Axe eingelegt waren. Die eingelegte Arbeit befand
ſich nicht blos, wie es häufig bei derlei Geräthen der
Fall iſt, auf der ſondern auch auf den Sei¬
tentheilen und den Frieſen der Säulen.


Mein Begleiter ſtand neben mir, als ich dieſem
Geräthe meine Aufmerkſamkeit widmete, und zeigte
mir Manches, und erklärte mir auf meine Bitte
Dinge, die ich nicht verſtand.


[129]

Auch eine andere Beobachtung machte ich, da ich
mich in dieſem Zimmer befand, die meine Geiſtes¬
thätigkeit in Anſpruch nahm. Es kam mir nehmlich
vor, daß der Anzug meines Begleiters nicht mehr ſo
ſeltſam ſei, als er mir geſtern und als er mir heute
erſchienen war, da ich ihn auf dem Fütterungsplaze
geſehen hatte. Bei dieſen Geräthen erſchien er mir
eher als zuſtimmend und hieher gehörig, und ich be¬
gann die Vermuthung zu hegen, daß ich vielleicht
noch dieſen Anzug billigen werde, und daß der alte
Mann in dieſer Hinſicht verſtändiger ſein dürfte
als ich.


Außer dem Schreibſchreine erregten noch zwei
Tiſche meine Aufmerkſamkeit, die an Größe gleich
waren, und auch ſonſt gleiche Geſtalt hatten, ſich aber
nur darin unterſchieden, daß jeder auf ſeiner Platte
eine andere Geſtaltung trug. Sie hatten nehmlich
jeder ein Schild auf der Platte, wie es Ritter und
adeliche Geſchlechter führten, nur waren die Schilde
nicht gleich. Aber auf beiden Tiſchen waren ſie um¬
geben und verſchlungen mit Laubwerk Blumen- und
Pflanzenwelt, und nie habe ich die feinen Fäden der
Halme der Pflanzenbärte und der Getreideähren zar¬
ter geſehen als hier, und doch waren ſie von Holz in
Stifter, Nachſommer. I. 9[130] Holz eingelegt. Die übrige Geräthſchaft waren hoch¬
lehnige Seſſel mit Schnizwerk Flechtwerk und ein¬
gelegter Arbeit, zwei geſchnizte Sizbänke, die man im
Mittelalter Geſiedel geheißen hatte, geſchnizte Fahnen
mit Bildern und endlich zwei Schirme von geſpann¬
tem und gepreßtem Leder, auf welchem Blumen
Früchte Thiere Knaben und Engel aus gemaltem
Silber angebracht waren, das wie farbiges Gold
ausſah. Der Fußboden des Zimmers war gleich den
Geräthen aus Flächen alter eingelegter Arbeit zuſam¬
mengeſtellt. Wir hatten wahrſcheinlich wegen der
Schönheit dieſes Bodens bei dem Eintritte in dieſe
Stube die Filzſchuhe an unſern Füßen behalten.


Obwohl der alte Mann geſagt hatte, daß dieſes
Zimmer ſein Arbeitszimmer ſei, ſo waren doch keine
unmittelbaren Spuren von Arbeit ſichtbar. Alles
ſchien in den Laden verſchloſſen oder auf ſeinen Plaz
geſtellt zu ſein.


Auch hier war mein Begleiter, als ich meine
Freude über dieſes Zimmer ausſprach, nicht ſehr
wortreich, genau ſo, wie in dem Marmorſaale; aber
gleichwohl glaubte ich das Vergnügen ihm von ſei¬
nem Angeſichte herableſen zu können.


Das nächſte Zimmer war wieder ein alterthüm¬
[131] liches. Es ging gleichfalls auf den Garten. Sein
Fußboden war wie in dem vorigen eingelegte Arbeit,
aber auf ihm ſtanden drei Kleiderſchreine und das
Zimmer war ein Kleiderzimmer. Die Schreine waren
groß alterthümlich eingelegt und jeder hatte zwei Flü¬
gelthüren. Sie erſchienen mir zwar minder ſchön als
das Schreibgerüſte im vorigen Zimmer, aber doch
auch von großer Schönheit, beſonders der mittlere
größte, der eine vergoldete Bekrönung trug, und auf
ſeinen Hohlthüren ein ſehr ſchönes Schild- Laub-
und Bänderwerk zeigte. Außer den Schreinen waren
nur noch Stühle da und ein Geſtelle, welches dazu
beſtimmt ſchien, gelegentlich Kleider darauf zu hän¬
gen. Die inneren Seiten der Zimmerthüren waren
ebenfalls zu den Geräthen ſtimmend, und beſtanden
aus Simswerk und eingelegter Arbeit.


Als wir dieſes Zimmer verließen, legten wir die
Filzſchuhe ab.


Das nächſte Zimmer gleichfalls auf den Garten
gehend war das Schlafgemach. Es enthielt Geräthe
neuer Art aber doch nicht ganz in der Geſtaltung, wie
ich ſie in der Stadt zu ſehen gewohnt war. Man
ſchien hier vor Allem aus Zweckmäßigkeit geſehen zu
haben. Das Bett ſtand mitten im Zimmer, und war
9 *[132] mit dichten Vorhängen umgeben. Es war ſehr nieder,
und hatte mir ein Tiſchchen neben ſich, auf dem
Bücher lagen, ein Leuchter und eine Glocke ſtanden,
und ſich Geräthe befanden, Licht zu machen. Sonſt
waren die Geräthe eines Schlafzimmers da, beſon¬
ders ſolche, die zum Aus- und Ankleiden und zum
Waſchen behilflich waren. Die Innenſeiten der Thü¬
ren waren hier wieder zu den Geräthen ſtimmend.


An das Schlafgemach ſtieß ein Zimmer mit wiſ¬
ſenſchaftlichen Vorrichtungen namentlich zu Natur¬
wiſſenſchaften. Ich ſah Werkzeuge der Naturlehre
aus der neueſten Zeit, deren Verfertiger ich entweder
perſönlich aus der Stadt kannte, oder deren Namen,
wenn die Geräthe aus andern Ländern ſtammten, mir
dennoch bekannt waren. Es befanden ſich Werkzeuge
zu den vorzüglichſten Theilen der Naturlehre hier.
Auch waren Sammlungen von Naturkörpern vorhan¬
den vorzüglich aus dem Mineralreiche. Zwiſchen den
Geräthen und an den Wänden war Raum, mit den
vorhandenen Vorrichtungen Verſuche anſtellen zu
können. Das Zimmer war gleichfalls noch immer
ein Gartenzimmer.


Endlich gelangten wir in das Eckzimmer des
Hauſes, deſſen Fenſter theils auf den Hauptkörper
[133] des Gartens gingen theils nach Nordweſten ſahen.
Ich konnte aber die Beſtimmung dieſes Zimmers nicht
errathen, ſo ſeltſam kam es mir vor. An den Wän¬
den ſtanden Schreine aus geglättetem Eichenholze mit
ſehr vielen kleinen Fächern. An dieſen Fächern waren
Aufſchriften, wie man ſie in Spezereiverkaufsbuden
oder Apotheken findet. Einige dieſer Aufſchriften ver¬
ſtand ich, ſie waren Namen von Sämereien oder
Pflanzennamen. Die meiſten aber verſtand ich nicht.
Sonſt war weder ein Stuhl noch ein anderes Ge¬
räthe in dem Zimmer. Vor den Fenſtern waren wag¬
rechte Brettchen befeſtigt, wie man ſie hat, um Blu¬
mentöpfe darauf zu ſtellen; aber ich ſah keine Blumen¬
töpfe auf ihnen, und bei näherer Betrachtung zeigte
ſich auch, daß ſie zu ſchwach ſeien, um Blumentöpfe
tragen zu können. Auch wären gewiß ſolche auf ihnen
geſtanden, wenn ſie dazu beſtimmt geweſen wären,
da ich in allen Zimmern mit Ausnahme des Mar¬
morſaales an jedem nur einiger Maßen geeigneten
Plaze Blumen aufgeſtellt geſehen hatte.


Ich fragte meinen Begleiter nicht um den Zweck
des Zimmers, und er äußerte ſich auch nicht dar¬
über.


Wir gelangten nun wieder in die Gemächer, die
[134] an der Mittagſeite des Hauſes lagen, und über den
Sandplaz auf die Felder hinaus ſahen.


Das erſte nach dem Eckzimmer war ein Bücher¬
zimmer. Es war groß und geräumig, und ſtand voll
von Büchern. Die Schreine derſelben waren nicht ſo
hoch, wie man ſie gewöhnlich in Bücherzimmern ſieht,
ſondern nur ſo, daß man noch mit Leichtigkeit um die
höchſten Bücher langen konnte. Sie waren auch ſo
flach, daß nur eine Reihe Bücher ſtehen konnte, keine
die andere deckte, und alle vorhandenen Bücher ihre
Rücken zeigten. Von Geräthen befand ſich in dem
Zimmer gar nichts als in der Mitte desſelben ein
langer Tiſch, um Bücher darauf legen zu können.
In ſeiner Lade waren die Verzeichniſſe der Samm¬
lung. Wir gingen bei dieſer allgemeinen Beſchauung
des Hauſes nicht näher auf den Inhalt der vorhande¬
nen Bücher ein.


Neben dem Bücherzimmer war ein Leſegemach.
Es war klein und hatte nur ein Fenſter, das zum Un¬
terſchiede aller anderen Fenſter des Hauſes mit grün¬
ſeidenen Vorhängen verſehen war, während die an¬
deren grauſeidne Rollzüge beſaßen. An den Wänden
ſtanden mehrere Arten von Sizen Tiſchen und Pul¬
ten, ſo daß für die größte Bequemlichkeit der Leſer ge¬
[135] ſorgt war. In der Mitte ſtand wie im Bücherzimmer
ein großer Tiſch oder Schrein — denn er hatte meh¬
rere Laden — der dazu diente, daß man Tafeln Map¬
pen Landkarten und dergleichen auf ihm ausbreiten
konnte. In den Laden lagen Kupferſtiche. Was mir
in dieſem Zimmer auffiel, war, daß man nirgends
Bücher oder etwas, das an den Zweck des Leſens er¬
innerte, herumliegen ſah.


Nach dem Leſegemache kam wieder ein größeres
Zimmer, deſſen Wände mit Bildern bedeckt waren.
Die Bilder hatten lauter Goldrahmen, waren aus¬
ſchließlich Öhlgemälde, und reichten nicht höher, als
daß man ſie noch mit Bequemlichkeit betrachten konnte.
Sonſt hingen ſie aber ſo dicht, daß man zwiſchen ih¬
nen kein Stückchen Wand zu erblicken vermochte. Von
Geräthen waren nur mehrere Stühle und eine Staf¬
felei da, um Bilder nach Gelegenheit aufſtellen, und
beſſer betrachten zu können. Dieſe Einrichtung erin¬
nerte mich an das Bilderzimmer meines Vaters.


Das Bilderzimmer führte durch die dritte Thür
des Marmorſaales wieder in denſelben zurück, und ſo
hatten wir die Runde in dieſen Gemächern voll¬
endet.


„Das iſt nun meine Wohnung,“ ſagte mein Be¬
[136] gleiter, „ſie iſt nicht groß und von außerordentlicher
Bedeutung, aber ſie iſt ſehr angenehm. In dem ande¬
ren Flügel des Hauſes ſind die Gaſtzimmer, welche
beinahe alle dem gleichen, in welchem ihr heute Nacht
geſchlafen habt. Auch iſt Guſtavs Wohnung dort, die
wir aber nicht beſuchen können, weil wir ihn ſonſt in
ſeinem Lernen ſtören würden. Durch den Saal und
über die Treppe können wir nun wieder in das Freie
gelangen.“


Als wir den Saal durchſchritten hatten, als wir
über die Treppe hinabgegangen, und zu dem Aus¬
gange des Hauſes gekommen waren, legten wir die
Filzſchuhe ab, und mein Begleiter ſagte: „Ihr werdet
euch wundern, daß in meinem Hauſe Theile ſind, in
welchen man ſich die Unbequemlichkeit auflegen muß,
ſolche Schuhe anzuziehen; aber es kann mit Fug nicht
anders ſein, denn die Fußböden ſind zu empfindlich,
als daß man mit gewöhnlichen Schuhen auf ihnen
gehen könnte, und die Abtheilungen, welche ſolche
Fußböden haben, ſind ja auch eigentlich nicht zum
Bewohnen ſondern nur zum Beſehen beſtimmt, und
endlich gewinnt ſogar das Beſehen an Werth, wenn
man es mit Beſchwerlichkeiten erkaufen muß. Ich
habe in dieſen Zimmern gewöhnlich weiche Schuhe
[137] mit Wollſohlen an. In mein Arbeitszimmer kann ich
auch ohne allen Umweg gelangen, da ich in dasſelbe
nicht durch den Saal gehen muß, wie wir jetzt gethan
haben, ſondern da von dem Erdgeſchoſſe ein Gang in
das Zimmer hinaufführt, den ihr nicht geſehen haben
werdet, weil ſeine beiden Enden mit guten Tapetten¬
thüren geſchloſſen ſind. Der Pfarrer von Rohrberg
leidet an der Gicht, und verträgt heiße Füſſe nicht,
daher belege ich für ihn, wenn er anweſend iſt, die
Treppe oder die Zimmer mit einem Streifen von
Wollſtoff, wie ihr es geſtern geſehen habt.“


Ich antwortete, daß die Vorrichtung ſehr zweck¬
mäßig ſei, und daß ſie überall angewendet werden
muß, wo kunſtreiche oder ſonſt werthvolle Fußböden
zu ſchonen ſind.


Da wir nun im Garten waren, ſagte ich, indem
ich mich umwendete, und das Haus betrachtete:
„Eure Wohnung iſt nicht, wie ihr ſagt, von geringer
Bedeutung. Sie wird, ſo viel ich aus der kurzen Be¬
ſichtigung entnehmen konnte, wenige ihres Gleichen
haben. Auch hatte ich nicht gedacht, daß das Haus,
wenn ich es ſo von der Straße aus ſah, eine ſo große
Räumlichkeit in ſich hätte.“


„So muß ich euch nun auch noch etwas anderes
[138] zeigen,“ erwiederte er, „folgt mir ein wenig durch
jenes Gebüſch.“


Er ging nach dieſen Worten voran, ich folgte ihm.
Er ſchlug einen Weg gegen dichtes Gebüſch ein. Als
wir dort angekommen waren, ging er auf einem ſchma¬
len Pfade durch deſſen Verſchlingung fort. Endlich
kamen ſogar hohe Bäume, unter denen der Weg da¬
hin lief. Nach einer Weile that ſich ein anmuthiger
Raſenplaz vor uns auf, der wieder ein langes aus
einem Erdgeſchoſſe beſtehendes Gebäude trug. Es
hatte viele Fenſter, die gegen uns herſahen. Ich hatte
es früher weder von der Straße aus erblickt, noch von
den Stellen des Gartens, auf denen ich geweſen war.
Vermuthlich waren die Bäume daran Schuld, die es
umſtanden. Da wir uns näherten, ging ein feiner
Rauch aus ſeinem Schornſteine empor, obwohl, da
es Sommer war, keine Einheizzeit, und da es noch
ſo früh am Vormittage war, keine Kochzeit die Ur¬
ſache davon ſein konnte. Als wir näher kamen, hörte
ich in dem Hauſe ein Schnarren und Schleifen, als
ob in ihm geſägt und gehobelt würde. Da wir einge¬
treten waren, ſah ich in der That eine Schreinerwerk¬
ſtätte vor mir, in welcher thätig gearbeitet wurde.
An den Fenſtern, durch welche reichliches Licht her¬
[139] einfiel, ſtanden die Schreinertiſche, und an den übri¬
gen Wänden, welche fenſterlos waren, lehnten Theile
der in Arbeit begriffenen Gegenſtände. Hier fand ich
wieder eine Ähnlichkeit mit meinem Vater. So wie
er ſich einen jungen Mann abgerichtet hatte, der ihm
ſeine alterthümlichen Geräthe nach ſeiner Angabe
wieder herſtellte, ſo ſah ich hier gleich eine ganze
Werkſtätte dieſer Art; denn ich erkannte aus den Thei¬
len, die herumſtanden, daß hier vorzüglich an der
Wiederherſtellung alterthümlicher Geräthſchaften ge¬
arbeitet werde. Ob auch Neues in dem Hauſe verfer¬
tigt werde, konnte ich bei dem erſten Anblicke nicht er¬
kennen.


Von den Arbeitern hatte jeder einen Raum an
den Fenſtern für ſich, der von dem Raume ſeines
Nachbars durch gezogene Schranken abgeſondert war.
Er hatte ſeine Geräthe und ſeine eben nothwendigen
Arbeitsſtücke in dieſem Raume bei ſich, das Andere,
was er gerade nicht brauchte, hatte er an der Hinter¬
wand des Hauſes hinter ſich, ſo daß eine überſichtliche
Ordnung und Einheit beſtand. Es waren vier Arbei¬
ter. In einem großen Schreine, der einen Theil der
einen Seitenwand einnahm, befanden ſich vorräthige
Werkzeuge, welche für den Fall dienten, daß irgend
[140] eines unverſehens untauglich würde, und zu ſeiner
Herſtellung zu viele Zeit in Anſpruch nähme. In ei¬
nem andern Schreine an der entgegengeſezten Sei¬
tenwand waren Fläſchchen und Büchschen, in denen
ſich die Flüſſigkeiten und andere Gegenſtände befan¬
den, die zur Erzeugung von Firniſſen Polituren oder
dazu dienten, dem Holze eine beſtimmte Farbe oder
das Anſehen von Alter zu geben. Abgeſondert von
der Werkſtube war ein Herd, auf welchem das zu
Schreinerarbeiten unentbehrliche Feuer brannte. Seine
Stätte war feuerfeſt, um die Werkſtube und ihren In¬
halt nicht zu gefährden.


„Hier werden Dinge,“ ſagte mein Begleiter,
„welche lange vor uns ja oft mehrere Jahrhunderte
vor unſerer Zeit verfertigt worden, und in Verfall ge¬
rathen ſind, wieder hergeſtellt, wenigſtens ſo weit es
die Zeit und die Umſtände nur immer erlauben. Es
wohnt in den alten Geräthen beinahe wie in den alten
Bildern ein Reiz des Vergangenen und Abgeblühten,
der bei dem Menſchen, wenn er in die höheren Jahre
kömmt, immer ſtärker wird. Darum ſucht er das zu
erhalten, was der Vergangenheit angehört, wie er
ja auch eine Vergangenheit hat, die nicht mehr recht
zu der friſchen Gegenwart der rings um ihn Aufwach¬
[141] ſenden paßt. Darum haben wir hier eine Anſtalt für
Geräthe des Alterthums gegründet, die wir dem Un¬
tergange entreißen zuſammenſtellen reinigen glätten
und wieder in die Wohnlichkeit einzuführen ſuchen.“


Es wurde, da ich mich in dem Schreinerhauſe be¬
fand, eben an der Platte eines Tiſches gearbeitet, die,
wie mein Begleiter ſagte, aus dem ſechzehnten Jahr¬
hunderte ſtammte. Sie war in Hölzern von verſchie¬
dener aber natürlicher Farbe eingelegt. Blos wo grü¬
nes Laub vorkam, war es von grüngebeiztem Holze.
Von außen war eine Verbrämung von in einander ge¬
ſchlungenen und ſchneckenartig gewundenen Rollen
Laubzweigen und Obſt. Die innere Fläche, welche
von der Verbrämung durch ein Bänderwerk von ro¬
them Roſenholze abgeſchnitten war, trug auf einem
Grunde von braunlich weißem Ahorne eine Samm¬
lung von Muſikgeräthen. Sie waren freilich nicht in
dem Verhältniſſe ihrer Größen eingelegt. Die Geige
war viel kleiner als die Mandoline, die Trommel und
der Dudelſack waren gleich groß, und unter beiden zog
ſich die Flöte wie ein Weberbaum dahin. Aber im
Einzelnen erſchienen mir die Sachen als ſehr ſchön,
und die Mandoline war ſo rein und lieblich, wie ich
ſolche Dinge nicht ſchöner auf den alten Gemälden
[142] meines Vaters geſehen hatte. Einer der Arbeiter ſchnitt
Stücke aus Ahorn Bux Sandelholz Ebenholz tür¬
kiſch Haſel und Roſenholz zurecht, damit ſie in ihrer
kleineren Geſtalt gehörig austrocknen konnten. Ein
anderer löſte ſchadhafte Theile aus der Platte, und
ebnete die Grundſtellen, um die neuen Beſtandtheile
zweckmäßig einſezen zu können. Der dritte ſchnitt und
hobelte die Füſſe aus einem Ahornbalken, und der
vierte war beſchäftigt, nach einer in Farben ausge¬
führten Abbildung der Tiſchplatte, die er vor ſich
hatte, und aus einer Menge von Hölzern, die neben
ihm lagen, diejenigen zu beſtimmen, die den auf der
Zeichnung befindlichen Farben am meiſten entſprächen.
Mein Begleiter ſagte mir, daß das Gerüſte und die
Füſſe des Tiſches verloren gegangen ſeien, und neu
gemacht werden müßten.


Ich fragte, wie man das einrichte, daß das Neue
zu dem Vorhandenen paſſe.


Er antwortete: „Wir haben eine Zeichnung ge¬
macht, die ungefähr darſtellte, wie die Füſſe und das
Gerüſte ausgeſehen haben mögen.“


Auf meine neue Frage, wie man denn das wiſſen
könne, antwortete er: „Dieſe Dinge haben ſo gut wie
bedeutendere Gegenſtände ihre Geſchichte, und aus
[143] dieſer Geſchichte kann man das Ausſehen und den
Bau derſelben zuſammen ſezen. Im Verlaufe der
Jahre haben ſich die Geſtaltungen der Geräthe immer
neu abgelöſet, und wenn man auf dieſe Abfolge ſein
Augenmerk richtet, ſo kann man aus einem vorhan¬
denen Ganzen auf verloren gegangene Theile ſchlie¬
ßen, und aus aufgefundenen Theilen auf das Ganze
gelangen. Wir haben mehrere Zeichnungen entwor¬
fen, in deren jede immer die Tiſchplatte einbezogen
war, und haben uns auf dieſe Weiſe immer mehr der
muthmaßlichen Beſchaffenheit der Sache genähert.
Endlich ſind wir bei einer Zeichnung geblieben, die
uns nicht zu widerſprechend ſchien.“


Auf meine Frage, ob er denn immer Arbeit für
ſeine Anſtalt habe, antwortete er: „Sie iſt nicht gleich
ſo entſtanden, wie ihr ſie hier ſehet. Anfangs zeigte
ſich die Luſt an alten und vorelterlichen Dingen, und
wie die Luſt wuchs, ſammelten ſich nach und nach
ſchon die Gegenſtände an, die ihrer Wiederherſtellung
entgegen ſahen. Zuerſt wurde die Ausbeſſerung bald
auf dieſem bald auf jenem Wege verſucht, und einge¬
leitet. Viele Irrwege ſind betreten worden. Indeſſen
wuchs die Zahl der geſammelten Gegenſtände immer
mehr, und deutete ſchon auf die künftige Anſtalt hin.
[144] Als man in Erfahrung brachte, daß ich alterthüm¬
liche Gegenſtände kaufe, brachte man mir ſolche, oder
zeigte mir die Orte an, wo ſie zu finden wären. Auch
vereinigten ſich mit uns hie und da Männer, welche
auf die Dinge des Alterthums ihr Augenmerk richte¬
ten, uns darüber ſchrieben, und wohl auch Zeichnun¬
gen einſandten. So erweiterte ſich unſer Kreis immer
mehr. Ungehörige Ausbeſſerungen aus früheren Zei¬
ten gaben ebenfalls Stoff zu erneuerter Arbeit, und
da wir Anfangs auch an verſchiedenen Orten arbeiten
ließen, und häufig genöthigt waren, die Orte zu
wechſeln, ehe wir uns hier niederließen, ſo verſchleppte
ſich manche Zeit, und die Arbeitsgegenſtände mehr¬
ten ſich. Endlich geriethen wir auch auf den Gedan¬
ken, neue Gegenſtände zu verfertigen. Wir geriethen
auf ihn durch die alten Dinge, die wir immer in den
Händen hatten. Dieſe neuen Gegenſtände wurden
aber nicht in der Geſtalt gemacht, wie ſie jezt ge¬
bräuchlich ſind, ſondern wie wir ſie für ſchön hielten.
Wir lernten an dem Alten; aber wir ahmten es nicht
nach, wie es noch zuweilen in der Baukunſt geſchieht,
in der man in einem Stile, zum Beiſpiele in dem
ſogenannten gothiſchen, ganze Bauwerke nachbildet.
Wir ſuchten ſelbſtſtändige Gegenſtände für die jezige
[145] Zeit zu verfertigen mit Spuren des Lernens an ver¬
gangnen Zeiten. Haben ja ſelbſt unſere Vorfahrer
aus ihren Vorfahrern geſchöpft, dieſe wieder aus den
ihrigen, und ſo fort, bis man auf unbedeutende und
kindiſche Anfänge ſtößt. Überall aber ſind die eigent¬
lichen Lehrmeiſter die Werke der Natur geweſen.


„Sind ſolche neugemachte Gegenſtände in eurem
Hauſe vorhanden?“ fragte ich.


„Nichts von Bedeutung,“ antwortete er, „einige
ſind an verſchiedenen Punkten der Gegend zerſtreut,
einige ſind in einem anderen Orte als in dieſem Hauſe
geſammelt. Wenn ihr Luſt zu ſolchen Dingen habt,
oder ſie in Zukunft faſſen ſolltet, und euer Weg euch
wieder einmal hieher führt, ſo wird es nicht ſchwer
ſein, euch an den Ort zu geleiten, wo ihr mehrere un¬
ſerer beſten Gegenſtände ſehen könnt.“


„Es ſind der Wege ſehr verſchiedene,“ erwiederte
ich, „die die Menſchen gehen, und wer weiß es, ob der
Weg, der mich wegen eines Gewitters zu euch herauf
geführt hat, nicht ein ſehr guter Weg geweſen iſt,
und ob ich ihn nicht noch einmal gehe.“


„Ihr habt da ein ſehr wahres Wort geſprochen,“
antwortete er, „die Wege der Menſchen ſind ſehr ver¬
Stifter, Nachſommer. I. 10[146] ſchiedene. Ihr werdet dieſes Wort erſt recht einſehen,
wenn ihr älter ſeid.“


„Und habt ihr dieſes Haus eigens zu dem Zwecke
der Schreinerei erbaut?“ fragte ich weiter.


„Ja,“ antwortete er, „wir haben es eigens zu die¬
ſem Zwecke erbaut. Es iſt aber viel ſpäter entſtanden
als das Wohnhaus. Da wir einmal ſo weit waren,
die Sachen zu Hauſe machen zu laſſen, ſo war der
Schritt ein ganz leichter, uns eine eigene Werkſtätte
hiefür einzurichten. Der Bau dieſes Hauſes war aber
bei weitem nicht das Schwerſte, viel ſchwerer war es
die Menſchen zu finden. Ich hatte mehrere Schreiner,
und mußte ſie entlaſſen. Ich lernte nach und nach ſel¬
ber, und da trat mir der Starrſinn der Eigenwille und
das Herkommen entgegen. Ich nahm endlich ſolche
Leute, die nicht Schreiner waren, und ſich erſt hier
unterrichten ſollten. Aber auch dieſe hatten wie die
Frühern eine Sünde, welche in arbeitenden Ständen
und auch wohl in andern ſehr häufig iſt, die Sünde
der Erfolggenügſamkeit oder der Fahrläſſigkeit, die
ſtets ſagt: „„es iſt ſo auch recht,““ und die jede weitere
Vorſicht für unnöthig erachtet. Es iſt dieſe Sünde
in den unbedeutendſten und wichtigſten Dingen des
Lebens vorhanden, und ſie iſt mir in meinen früheren
[147] Jahren oft vorgekommen. Ich glaube, daß ſie die
größten Übel geſtiftet hat. Manche Leben ſind durch
ſie verloren gegangen, ſehr viele andere, wenn ſie auch
nicht verloren waren, ſind durch ſie unglücklich oder
unfruchtbar geworden, Werke, die ſonſt entſtanden
wären, hat ſie vereitelt, und die Kunſt und was mit
derſelben zuſammenhängt, wäre mit ihr gar nicht
möglich. Nur ganz gute Menſchen in einem Fache
haben ſie gar nicht, und aus denen werden die Künſt¬
ler Dichter Gelehrten Staatsmänner und die großen
Feldherren. Aber ich komme von meiner Sache ab. In
unſerer Schreinerei machte ſie blos, daß wir zu nichts
Weſentlichem gelangten. Endlich fand ich einen Mann,
der nicht gleich aus der Arbeit ging, wenn ich ihn be¬
kämpfte; aber innerlich mochte er recht oft erzürnt ge¬
weſen ſein, und über Eigenſinn geklagt haben. Nach
Bemühungen von beiden Seiten gelang es. Die
Werke gewannen Einfluß, in denen das Genaue und
Zweckmäßige angeſtrebt war, und ſie wurden zur
Richtſchnur genommen. Die Einſicht in die Schön¬
heit der Geſtalten wuchs, und das Leichte und Feine
wurde dem Schweren und Groben vorgezogen. Er
las Gehilfen aus, und erzog ſie in ſeinem Sinne.
Die Begabten fügten ſich bald. Es wurde die Chemie
10 *[148] und andere Naturwiſſenſchaften hergenommen, und im
Leſen ſchöner Bücher wurde das Innere des Gemüthes
zu bilden verſucht.“


Er ging nach dieſen Worten gegen den Mann,
der mit dem Ausſuchen der Hölzer nach dem vor ihm
liegenden Plane der Tiſchplatte beſchäftigt war, und
ſagte: „Wollt ihr nicht die Güte haben, uns einige
Zeichnungen zu zeigen, Euſtach?“


Der junge Mann, an den dieſe Worte gerichtet
waren, erhob ſich von ſeiner Arbeit, und zeigte uns
ein ruhiges gefälliges Weſen. Er legte die grüne
Tuchſchürze ab, welche er vorgebunden hatte, und
ging aus ſeiner Arbeitsſtelle zu uns herüber. Es be¬
fand ſich neben dieſer Stelle in der Wand eine Glas¬
thür, hinter welcher grüne Seide in Falten geſpannt
war. Dieſe Thür öffnete er, und führte uns in ein
freundliches Zimmer. Das Zimmer hatte einen künſt¬
lich eingelegten Fußboden, und enthielt mehrere breite
glatte Tiſche. Aus der Lade eines dieſer Tiſche nahm
der Mann eine große Mappe mit Zeichnungen, öff¬
nete ſie, und that ſie auf der Tiſchplatte auseinander.
Ich ſah, daß dieſe Zeichnungen für mich zum Anſehen
heraus genommen worden waren, und legte daher die
Blätter langſam um. Es waren lauter Zeichnungen
[149] von Bauwerken und zwar theils im Ganzen theils
von Beſtandtheilen derſelben. Sie waren ſowohl, wie
man ſich ausdrückt, im Perſpective ausgeführt als
auch in Aufriſſen in Längen- und Querſchnitten. Da
ich mich ſelber geraume Zeit mit Zeichnen beſchäftiget
hatte, wenn auch mit Zeichnen anderer Gegenſtände,
ſo war ich bei dieſen Blättern ſchon mehr an meiner
Stelle als bei den alten Geräthen. Ich hatte immer
bei dem Zeichnen von Pflanzen und Steinen nach
großer Genauigkeit geſtrebt, und hatte mich bemüht,
durch den Schwarzſtift die Weſenheit derſelben ſo
auszudrücken, daß man ſie nach Art und Gattung er¬
kennen ſollte. Freilich waren die vor mir liegenden
Zeichnungen die von Bauwerken. Ich hatte Bauwerke
nie gezeichnet, ich hatte ſie eigentlich nie recht betrach¬
tet. Aber andererſeits waren die Linien, die hier vor¬
kamen, die von großen Körpern von geſchichteten
Stoffen und von ausgedehnten Flächen, wie ſie bei
mir auch an den Felſen und Bergen erſchienen; oder
ſie waren die leichten Wendungen von Zierrathen, wie
ſie bei mir die Pflanzen bothen. Endlich waren ja alle
Bauwerke aus Naturdingen entſtanden, welche die
Vorbilder gaben, etwa aus Felſenkuppen oder Felſen¬
zacken oder ſelbſt aus Tannen Fichten oder anderen
[150] Bäumen. Ich betrachtete daher die Zeichnungen recht
genau, und ſah ſie um ihre Treue und Sachgemä߬
heit an. Als ich ſie ſchon alle durchgeblättert hatte,
legte ich ſie wieder um, und ſchaute noch einmal jedes
einzelne Blatt an.


Die Zeichnungen waren ſämmtlich mit dem
Schwarzſtifte ausgeführt. Es war Licht und Schatten
angegeben, und die Linienführung war verſtärkt oder
gemäßigt, um nicht blos die Körperlichkeit der Dinge
ſondern auch das ſogenannte Luftperſpective darzu¬
ſtellen. In einigen Blättern waren Waſſerfarben an¬
gewendet, entweder, um blos einzelne Stellen zu
bezeichnen, die eine beſonders ſtarke oder eigenthüm¬
liche Farbe hatten, wie etwa, wo das Grün der
Pflanzen ſich auffallend von dem Gemäuer, aus dem
es ſproßte, abhob, oder wo der Stoff durch Einfluß
von Sonne oder Waſſer eine ungewöhnliche Farbe
erhalten hatte, wie zum Beiſpiele an gewiſſen Stei¬
nen, die durch Waſſer bräunlich ja beinahe roth
werden; oder es waren Farben angewendet, um dem
Ganzen einen Ton der Wirklichkeit und Zuſammen¬
ſtimmung zu geben; oder endlich es waren einzelne
ſehr kleine Stellen mit Farben gleichſam mit Farb¬
druckern, wie man ſich ausdrückt, bezeichnet, um
[151] Flächen oder Körper oder ganze Abtheilungen im
Raume zurück zu drängen. Immer aber waren die
Farben ſo untergeordnet gehalten, daß die Zeichnun¬
gen nicht in Gemälde übergingen, ſondern Zeichnun¬
gen blieben, die durch die Farbe nur noch mehr ge¬
hoben wurden. Ich kannte dieſe Verfahrungsweiſe
ſehr gut, und hatte ſie ſelber oft angewendet.


Was den Werth der Zeichnungen anbelangt, ſo
erſchien mir derſelbe ein ziemlich bedeutender. Die
Hand, von der ſie verfertigt worden waren, hielt ich
für eine geübte, was ich daraus ſchloß, daß in den
vielen Zeichnungen kein Fortſchritt zu bemerken war,
ſondern daß dieſer ſchon in der Zeit vor den Zeich¬
nungen lag, und hier angewendet wurde. Die Linien
waren rein und ſicher gezogen, das ſogenannte Linear¬
perſpective war, ſo weit meine Augen urtheilen konnten,
— denn eine mathematiſche Prüfung konnte ich nicht
anlegen — richtig, der Stoff des Schwarzſtiftes war
gut beherrſcht, und mit ſeinen geringen Mitteln war
Haushaltung getroffen, darum ſtanden die Körper
klar da, und löſten ſich von der Umgebung. Wo die
Farbe eine Art Wirklichkeit angenommen hatte, war
ſie mit Gegenſtändlichkeit und Maß hingeſezt, was,
wie ich aus Erfahrung wußte, ſo ſchwer zu finden iſt,
[152] daß die Dinge als Dinge nicht als Färbungen gel¬
ten. Dies iſt beſonders bei Gegenſtänden der Fall,
die minder entſchiedene Farben haben, wie Steine
Gemäuer und dergleichen, während Dinge von deut¬
lichen Farben leichter zu behandeln ſind, wie Blumen
Schmetterlinge ſelbſt manche Vögel.


Eine beſondere Thatſache aber fiel mir bei Be¬
trachtung dieſer Zeichnungen auf. Bei den Bauver¬
zierungen, welche von Gegenſtänden der Natur ge¬
nommen waren, von Pflanzen oder ſelbſt von Thie¬
ren, kamen bedeutende Fehler vor, ja es kamen ſogar
Unmöglichkeiten vor, die kaum ein Anfänger macht,
ſobald er nur die Pflanze gut betrachtet. Bei den ganz
gleichen Verzierungen an andern Bauwerken in an¬
dern Zeichnungen waren dieſe Fehler nicht da, ſon¬
dern die Verzierungen waren in Hinſicht ihrer Urbil¬
der in der Natur mit Richtigkeit angegeben. Ich hatte,
da ich einmal zeichnete, öfter die Bilder meines Va¬
ters betrachtet, und in ihnen, ſelbſt in ſolchen, die er
für ſehr gut hielt, ähnliche Fehler gefunden. Da die
Bilder meines Vaters aus alter Zeit waren, dieſe
Zeichnungen aber auch alte Bauwerke darſtellten, ſo
ſchloß ich, daß ſie vielleicht Abriſſe von wirklichen
Bauten ſeien, und daß die Fehler in den Zierrathen
[153] der Zeichnungen Fehler in den wirklichen Zierrathen
der Bauarten ſeien, und daß die Zierrathen, deren
Zeichnungen fehlerlos waren, auch an den Bauwer¬
ken keinen Fehler gehabt haben. Es gewannen durch
dieſen Umſtand die Zeichnungen in meinen Augen
noch mehr, da er gerade ihre große Treue bewies.


Auch ein eigenthümlicher Gedanke kam mir bei der
Betrachtung dieſer Zeichnungen in das Haupt. Ich
hatte nie ſo viele Zeichnungen von Bauwerken bei¬
ſammen geſehen, ſo wie ich Bauwerke ſelber nicht
zum Gegenſtande meiner Aufmerkſamkeit gemacht
hatte. Da ich nun alle dieſe Laubwerke dieſe Ran¬
ken dieſe Zacken dieſe Schwingungen dieſe Schnecken
in großer Abfolge ſah, erſchienen ſie mir gewiſſermaſ¬
ſen wie Naturdinge etwa wie eine Pflanzenwelt mit
ihren zugehörigen Thieren. Ich dachte, man könnte
ſie eben ſo zu einem Gegenſtande der Betrachtung
und der Forſchung machen wie die wirklichen Pflan¬
zen und andere Hervorbringungen der Erde, wenn ſie
hier auch mir eine ſteinerne Welt ſind. Ich hatte das
nie recht beachtet, wenn ich auch hin und wieder
an einer Kirche oder an einem anderen Gebäude
einen ſteinernen Stengel oder eine Roſe oder eine
Diſtelſpize oder einen Säulenſchaft oder die Vergitte¬
[154] rung einer Thür anſah. Ich nahm mir vor, dieſe
Gegenſtände nun genauer zu beobachten.


„Dieſe Zeichnungen ſind lauter Abbildungen von
wirklichen Bauwerken, die in unſerem Lande vorhan¬
den ſind,“ ſagte mein Begleiter. „Wir haben ſie nach
und nach zuſammen gebracht. Kein einziges Bauwerk
unſeres Landes, welches entweder im Ganzen ſchön iſt,
oder an dem Theile ſchön ſind, fehlt. Es iſt nehmlich auch
hier im Lande wie überall vorgekommen, daß man zu
den Theilen alter Kirchen oder anderer Werke, die
nicht fertig geworden ſind, neue Zubaue in ganz an¬
derer Art gemacht hat, ſo daß Bauwerke entſtanden,
die in verſchiedenen Stilen ausgeführt, und theils
ſchön und theils häßlich ſind. Die Landkirchen, die
aus verſchiedenen Stellen in unſerer Zeit entſtanden
ſind, haben wir nicht aufgenommen.“


„Wer hat denn dieſe Zeichnungen verfertigt?“
fragte ich.


„Der Zeichner ſteht vor euch,“ antwortete mein
Begleiter, indem er auf den jungen Mann wies.


Ich ſah den Mann an, und es zeigte ſich ein leich¬
tes Erröthen in ſeinem Angeſichte.


„Der Meiſter hat nach und nach die Theile des
Landes beſucht,“ fuhr mein Gaſtfreund fort, „und hat
[155] die Baugegenſtände gezeichnet, die ihm gefielen. Dieſe
Zeichnungen hat er in ſeinem Buche nach Hauſe ge¬
bracht, und ſie dann auf einzelnen Blättern im Rei¬
nen ausgeführt. Außer den Zeichnungen von Bau¬
werken haben wir auch die von inneren Ausſtattun¬
gen derſelben. Seid ſo gefällig und zeigt auch dieſe
Mappe, Euſtach.“


Der junge Mann legte die Mappe, die wir eben
betrachtet hatten, zuſammen, und that ſie in ihre Lade.
Dann nahm er aus einer anderen Lade eine andere
Mappe, und legte ſie mir mit den Worten vor: „Hier
ſind die kirchlichen Gegenſtände.“


Ich ſah die Zeichnungen in der Mappe, die er mir
geöffnet hatte, an, wie ich früher die der Bauwerke
angeſehen hatte. Es waren Zeichnungen von Altären
Chorſtühlen Kanzeln Sakramentshäuschen Taufſtei¬
nen Chorbrüſtungen Seſſeln einzelnen Geſtalten ge¬
malten Fenſtern und anderen Gegenſtänden, die in
Kirchen vorkommen. Sie waren wie die Zeichnungen
der Baugegenſtände entweder ganz in Schwarzſtift
ausgeführt oder theils in Schwarzſtift theils in Far¬
ben. Hatte ich mich ſchon früher in dieſe Gegenſtände
vertieft, ſo geſchah es jezt noch mehr. Sie waren noch
mannigfaltiger, und für die Augen anlockender als die
[156] Bauwerke. Ich betrachtete jedes Blatt einzeln, und
manches nahm ich noch einmal vor, nachdem ich es
ſchon hingelegt hatte. Als ich mit dieſer Mappe fertig
war, legte mir der Meiſter eine neue vor, und ſagte:
„Hier ſind die weltlichen Gegenſtände.“


Die Mappe enthielt Zeichnungen von ſehr ver¬
ſchiedenen Geräthen, die in Wohnungen Burgen
Klöſtern und dergleichen vorkommen, ſie enthielt
Abbildungen von Vertäflungen, von ganzen Zimmer¬
decken, Fenſter- und Thüreinfaſſungen ja von einge¬
legten Fußböden. Bei den weltlichen Geräthen war
viel mehr mit Farben gearbeitet als bei den kirchlichen
und bei den Bauten; denn die Wohngeräthe haben
ſehr oft die Farbe als einen weſentlichen Gegenſtand
ihrer Erſcheinung, beſonders wenn ſie in verſchieden¬
farbigen Hölzern eingelegt ſind. Ich fand in dieſer
Sammlung von Zeichnungen Abbildungen von Ge¬
genſtänden, die ich in der Wohnung meines Gaſt¬
freundes geſehen hatte. So war der Schreibſchrein
und der große Kleiderſchrein vorhanden. Auch der
Tiſch, an dem noch in der Schreinerſtube gearbeitet
wurde, ſtand hier ſchon fertig vor uns auf dem Pa¬
piere. Ich bemerkte hiebei, daß nur die Platte klar und
kräftig ausgeführt war, das Gerüſte und die Füſſe
[157] minder, gleichſam ſchattenhaft behandelt wurden. Ich
erkannte, daß man ſo das Neue, was zu Geräthen
hinzukommen mußte, bezeichnen wollte. Mir gefiel
dieſe Art ſehr gut.


„Die Kirchengeräthe unſers Landes dürften in die¬
ſer Sammlung ziemlich vollſtändig ſein,“ ſagte mein
Gaſtfreund, „wenigſtens wird nichts Weſentliches feh¬
len. Bei den weltlichen kann man das weniger ſagen,
da man nicht wiſſen kann, was noch hie und da in
dem Lande zerſtreut iſt.“


Als ich dieſe Mappe auch angeſehen hatte, ſagte
mein Begleiter: „Dieſe Zeichnungen ſind Nachbildun¬
gen von lauter wirklichen aus älterer Zeit auf uns
gekommenen Gegenſtänden, wir haben aber auch
Zeichnungen ſelbſtſtändig entworfen, die Geräthe
oder andere kleinere Gegenſtände darſtellen. Zeigt
uns auch dieſe, Meiſter.“


Der junge Mann legte die Mappe auf den Tiſch.


Sie war viel umfaſſender als jede der früheren,
und enthielt nicht blos die vollſtändige Darſtellung
der ganzen Gegenſtände, ſondern auch ihre Quer- und
Längenſchnitte und ihre Grundriſſe. Es waren Abbil¬
dungen von verſchiedenen Geräthen dann von Ver¬
kleidungen Fußböden Zimmerdecken Niſchen und end¬
[158] lich ſogar von Baugegenſtänden Treppenhäuſern und
Seitenkapellen. Man war mit großer Zweifelſucht und
Gewiſſenhaftigkeit zu Werke gegangen; manche Zeich¬
nung war vier- ja fünfmal vorhanden, und jedes
Mal verändert und verbeſſert. Die lezten waren ſtets
mit Farben angegeben, und dies beſonders deutlich,
wenn die Gegenſtände in Holz oder Marmor auszu¬
führen waren. Ich fragte, ob einige dieſer Dinge aus¬
geführt worden ſind.


„Freilich,“ antwortete mein Begleiter, „wozu wä¬
ren denn ſo viele Zeichnungen angefertigt worden?
Alle Gegenſtände, die ihr öfter gezeichnet ſahet, und
deren lezte Zeichnung in Farben angegeben iſt, ſind
in Wirklichkeit ausgearbeitet worden. Dieſe Zeichnun¬
gen ſind die Pläne und Vorlagen zu den neuen Ge¬
räthen, auf deren Verfertigung, wie ich früher ſagte,
wir gerathen ſind. Wenn ihr einmal in den Ort, von
dem ich euch geſagt habe, daß er mehrere enthält,
kommen ſolltet, ſo würdet ihr dort nicht nur viele von
denen, die hier gezeichnet ſind, ſehen, ſondern auch
ſolche, die zuſammen gehören, und ein Ganzes bil¬
den.“


„Wenn man dieſe Zeichnungen betrachtet,“ ſagte
ich, „und wenn man die anderen betrachtet, welche ich
[159] früher geſehen habe, ſo kömmt man auf den Gedan¬
ken, daß die Bauwerke einer Zeit und die Geräthe,
welche in dieſen Bauwerken ſein ſollten, eine Einheit
bilden, die nicht zerriſſen werden kann.“


„Allerdings bilden ſie eine,“ erwiederte er, „die Ge¬
räthe ſind ja die Verwandten der Baukunſt etwa ihre
Enkel oder Urenkel, und ſind aus ihr hervorgegangen.
Dieſes iſt ſo wahr, daß ja auch unſere heutigen Ge¬
räthe zu unſerer heutigen Baukunſt gehören. Unſere
Zimmer ſind faſt wie hohle Würfel oder wie Kiſten,
und in ſolchen ſtehen die geradlinigen und geradflä¬
chigen Geräthe gut. Es iſt daher nicht ohne Begrün¬
dung, wenn die viel ſchöneren alterthümlichen Ge¬
räthe in unſeren Wohnungen manchen Leuten einen
unheimlichen Eindruck machen, ſie widerſprechen der
Wohnung; aber hierin haben die Leute Unrecht, wenn
ſie die Geräthe nicht ſchön finden, die Wohnung iſt
es, und dieſe ſollte geändert werden. Darum ſtehen
in Schlöſſern und alterthümlichen Bauten derlei Ge¬
räthe noch am ſchönſten, weil ſie da eine ihnen ähn¬
liche Umgebung finden. Wir haben aus dieſem Ver¬
hältniſſe Nuzen gezogen, und aus unſeren Zeichnun¬
gen der Bauwerke viel für die Zuſammenſtellung un¬
[160] ſerer Geräthe gelernt, die wir eben nach ihnen einge¬
richtet haben.“


„Wenn man ſo viele dieſer Dinge in ſo vielen
Abbildungen vor ſich ſieht, wie wir jezt gethan haben,“
ſagte ich, „ſo kann man nicht umhin, einen großen
Eindruck zu empfinden, den ſie machen.“


„Es haben ſehr tiefſinnige Menſchen vor uns ge¬
lebt,“ erwiederte er, „man hat es nicht immer erkannt,
und fängt erſt jezt an, es wieder ein wenig einzu¬
ſehen. Ich weiß nicht, ob ich es Rührung oder Schwer¬
muth nennen ſoll, was ich empfinde, wenn ich daran
denke, daß unſere Voreltern ihre größten und umfaſ¬
ſendſten Werke nicht vollendet haben. Sie mußten auf
eine ſolche Ewigkeit des Schönheitsgefühles gerechnet
haben, daß ſie überzeugt waren, die Nachwelt werde
an dem weiter bauen, was ſie angefangen haben.
Ihre unfertigen Kirchen ſtehen wie Fremdlinge in un¬
ſerer Zeit. Wir haben ſie nicht mehr empfunden, oder
haben ſie durch häßliche Aftergebilde verunſtaltet. Ich
möchte jung ſein, wenn eine Zeit kömmt, in welcher
in unſerem Vaterlande das Gefühl für dieſe Anfänge
ſo groß wird, daß es die Mittel zuſammenbringt,
dieſe Anfänge weiter zu führen. Die Mittel ſind vor¬
handen, nur werden ſie auf etwas anderes angewendet,
[161] ſo wie man dieſe Bauwerke nicht aus Mangel der
Mittel unvollendet ließ, ſondern aus anderen Grün¬
den.“


Ich ſagte nach dieſen Worten, daß ich in dem be¬
rührten Punkte weniger unterrichtet ſei; aber in einem
anderen Punkte könnte ich vielleicht etwas ſagen,
nehmlich in Hinſicht der Zeichnungen. „Ich habe durch
längere Zeit her Pflanzen Steine Thiere und andere
Dinge gezeichnet, habe mich ſehr geübt, und dürfte
daher etwa ein Urtheil wagen können. Dieſe Zeich¬
nungen erſcheinen mir in Reinheit der Linien in Rich¬
tigkeit des Perſpectives in kluger Hinſtellung jedes
Körpertheiles und in paſſender Anwendung der Far¬
ben als ganz vortrefflich, und ich fühle mich gedrun¬
gen, dieſes zu ſagen.“


Der Meiſter ſagte zu dieſem Lobe nichts, ſondern
er ſenkte den Blick zu Boden, meinen Gaſtfreund aber
ſchien mein Urtheil zu freuen.


Er bedeutete den Meiſter, die Mappe zuſammen
zu binden, und in die Lade zu legen, was auch ge¬
ſchah.


Wir gingen von dieſem Zimmer in die weiteren
Räume des Schreinerhauſes. Als wir über die
Schwelle ſchritten, dachte ich, daß ich von alterthüm¬
Stifter, Nachſommer. I. 11[162] lichen Gegenſtänden troz der Sammlungen meines
Vaters, von denen ich doch lebenslänglich umgeben
geweſen war, eigentlich bisher nicht viel verſtanden
habe, und erſt lernen müſſe.


Von dem Zimmer der Zeichnungen gingen wir in
das Wohnzimmer des Meiſters, welches neben den
gewöhnlichen Geräthſtücken ebenfalls Zeichnungstiſche
und Staffeleien enthielt. Es war eben ſo freundlich
eingerichtet wie das Zimmer der Zeichnungen.


Auch die Zimmer der Gehilfen beſuchten wir, und
betraten dann die Nebenräume. Es waren dies
Räume, die zu verſchiedenen Gegenſtänden, die eine
ſolche Anſtalt fordert, nothwendig ſind. Der vorzüg¬
lichſte war das Trockenhaus, welches hinter der
Schreinerei angebracht war, aus der man in die un¬
tere und obere Abtheilung desſelben gelangen konnte.
Es hatte den Zweck, daß in ihm alle Gattungen von
Holz, die man hier verarbeitete, jenen Zuſtand der
Trockenheit erreichen konnten, der in Geräthen noth¬
wendig iſt, daß nicht ſpäter wieder Beſchädigungen
eintreten. In dem unteren Raume wurden die größe¬
ren Holzkörper aufbewahrt in dem oberen die kleine¬
ren und feineren. Ich konnte ſehen, wie ſehr es Ernſt
mit der Anlegung dieſes Werkhauſes war; denn ich
[163] fand in dem Trockenhauſe nicht nur einen ſehr großen
Vorrath von Holz ſondern auch faſt alle Gattungen der
inländiſchen und ausländiſchen Hölzer. Ich hatte hier¬
in von der Zeit meiner naturwiſſenſchaftlichen Beſtre¬
bungen her einige Kenntniß. Außerdem war das Holz
beinahe durchgängig ſchon in die vorläufigen Geſtal¬
ten geſchnitten, in die es verarbeitet werden ſollte, da¬
mit es auf dieſe Weiſe zu hinreichender Beruhigung
austrocknen konnte. Mein Begleiter zeigte mir die ver¬
ſchiedenen Behältniſſe, und erklärte mir im Allgemei¬
nen ihren Inhalt.


In dem unteren Raume ſah ich Lärchenholz zu
ſehr großen ſeltſamen Geſtalten verbunden gleichſam
zu ſchlanken Gerüſten Rahmen und dergleichen, und
fragte, da ich mir die Sache nicht erklären konnte, um
ihre Bedeutung.


„In unſerem Lande,“ antwortete mein Begleiter,
„ſind mehrere geſchnizte Altäre. Sie ſind alle aus
Lindenholz verfertigt, und einige von bedeutender
Schönheit. Sie ſtammen aus ſehr früher Zeit, etwa
zwiſchen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahrhun¬
derte, und ſind Flügelaltäre, welche mit geöffneten
Flügeln die Geſtalt einer Monſtranze haben. Sie ſind
zum Theile ſchon ſehr beſchädigt, und drohen, in kür¬
11 *[164] zerer oder längerer Zeit zu Grunde zu gehen. Da ha¬
ben wir nun einen auf meine Koſten wiederhergeſtellt,
und arbeiten jezt an einem zweiten. Die Holzgerüſte,
um die ihr fragtet, ſind Grundlagen, auf denen Ver¬
zierungen befeſtigt werden müſſen. Die Verzierungen
ſind noch ziemlich erhalten, ihre Grundlagen aber ſind
ſehr morſch geworden, weßhalb wir neue anfertigen
müſſen, wozu ihr hier die Entwürfe ſehet.“


„Hat man euch denn erlaubt, in einer Kirche einen
Altar umzugeſtalten?“ fragte ich.


„Man hat es uns erſt nach vielen Schwierigkeiten
erlaubt,“ antwortete er, „wir haben aber die Schwie¬
rigkeiten beſiegt. Beſonders kam uns das Mißtrauen
in unſere Kenntniſſe und Fähigkeiten entgegen, und
hierin hatte man Recht. Wohin käme man denn,
wenn man an vorhandenen Werken vorſchnell Verän¬
derungen anbringen ließe. Es könnten ja da Dinge
von der größten Wichtigkeit verunſtaltet oder zerſtört
werden. Wir mußten angeben, was wir verändern
oder hinzufügen wollten, und wie die Sache nach der
Umarbeitung ausſehen würde. Erſt da wir dargelegt
hatten, daß wir an den beſtehenden Zuſammenſtellun¬
gen nichts ändern würden, daß keine Verzierung an
einen andern Plaz komme, daß kein Standbild an
[165] ſeinem Angeſichte ſeinen Händen oder den Faltungen
ſeines Gewandes umgeſtaltet werde, ſondern daß wir
nur das Vorhandene in ſeiner jezigen Geſtalt erhal¬
ten wollen, damit es nicht weiter zerfallen könne, daß
wir den Stoff, wo er gelitten hat, mit Stoff erfüllen
wollen, damit die Ganzheit desſelben vorhanden ſei,
daß wir an Zuthaten nur die kleinſten Dinge anbrin¬
gen würden, deren Geſtalt vollkommen durch die
gleichartigen Stücke bekannt wäre, und in gleichmä¬
ßiger Vollkommenheit wie die alten verfertigt werden
könnte, ferner als wir eine Zeichnung in Farben an¬
gefertigt hatten, die darſtellte, wie der gereinigte und
wieder hergeſtellte Altar ausſehen würde, und endlich
als wir Schnizereien von geringem Umfange einzelne
Standbilder und dergleichen in unſerem Sinne wie¬
der hergeſtellt und zur Anſchauung gebracht hatten:
ließ man uns gewähren. Von Hinderniſſen, die nicht
von der Obrigkeit ausgingen von Verdächtigungen
und ähnlichen Vorkommniſſen rede ich nicht, ſie ſind
auch wenig zu meiner Kenntniß gekommen.“


„Da habt ihr ein langwieriges und, wie ich
glaube, wichtiges Werk unternommen,“ ſagte ich.


„Die Arbeit hat mehrere Jahre gedauert,“ erwie¬
derte er, „und was die Wichtigkeit anbelangt, ſo hat
[166] ſich wohl niemand mehr den Zweifeln hingegeben, ob
wir die nöthige Sachkenntniß beſäßen, als wir ſelber.
Darum haben wir auch gar keine Veränderung in der
Weſenheit der Sache vorgenommen. Selbſt dort, wo
es deutlich erwieſen war, daß Theile des Altars in
der Zeit in eine andere Gruppe geſtellt worden waren,
als ſie urſprünglich geweſen ſein konnten, ließen wir
das Vorgefundene beſtehen. Wir befreiten nur die
Gebilde von Schmuz und Übertünchung, befeſtigten
das Zerblätterte und Lediggewordene, ergänzten das
Mangelnde, wo, wie ich geſagt habe, deſſen Geſtalt
vollkommen bekannt war, füllten alles, was durch
Holzwürmer zerſtört war, mit Holz aus, beugten durch
ein erprobtes Mittel den künftigen Zerſtörungen die¬
ſer Thiere vor, und überzogen endlich den ganzen Al¬
tar, da er fertig war, mit einem ſehr matten Firniſſe.
Es wird einmal eine Zeit kommen, in welcher vom
Staate aus vollkommen ſachverſtändige Männer in
ein Amt werden vereinigt werden, das die Wiederher¬
ſtellung alter Kunſtwerke einleiten, ihre Aufſtellung
in dem urſprünglichen Sinne bewirken, und ihre Ver¬
unſtaltung für kommende Zeiten verhindern wird; denn
ſo gut man uns gewähren ließ, die ja auch eine Ver¬
unſtaltung hätten hervorbringen können, ſo gut wird
[167] man in Zukunft auch andere gewähren laſſen, die
minder zweifelſüchtig ſind, oder im Eifer für das
Schöne nach ihrer Art verfahren, und das Weſen des
Überkommenen zerſtören.“


„Und glaubt ihr, daß ein Geſez, welches verbie¬
thet, an dem Weſen eines vorgefundenen Kunſtwerkes
etwas zu ändern, dem Verfalle und der Zerſtö¬
rung desſelben für alle Zeiten vorbeugen würde?“
fragte ich.


„Das glaube ich nicht,“ erwiederte er; „denn es
können Zeiten ſo geringen Kunſtſinnes kommen, daß
ſie das Geſez ſelber aufheben; aber auf eine längere
Dauer und auf eine beſſere Weiſe wäre doch durch
ein ſolches Geſez geſorgt, als wenn gar keines wäre.
Den beſten Schuz für Kunſtwerke der Vorzeit würde
freilich eine fortſchreitende und nicht mehr erlahmende
Kunſtempfindung gewähren. Aber alle Mittel auch in
ihrer größten Vollkommenheit angewendet würden den
endlichen Untergang eines Kunſtwerkes nicht aufhalten
können; dies liegt in der immerwährenden Thätigkeit
und in dem Umwandlungstriebe der Menſchen und in
der Vergänglichkeit des Stoffes. Alles, was iſt, wie
groß und gut es ſei, beſteht eine Zeit, erfüllt einen
Zweck, und geht vorüber. Und ſo wird auch einmal
[168] über alle Kunſtwerke, die jezt noch ſind, ein ewiger
Schleier der Vergeſſenheit liegen, wie er jezt über de¬
nen liegt, die vor ihnen waren.“


„Ihr arbeitet an der Herſtellung eines zweiten
Altares,“ ſagte ich, „da ihr einen ſchon vollendet
habt: würdet ihr auch noch andere herſtellen, da ihr
ſagt, daß es mehrere in dem Lande gibt?“


„Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich es
thun,“ erwiederte er, „ich würde ſogar, wenn ich reich
genug wäre, angefangene mittelalterliche Bauwerke
vollenden laſſen. Da ſteht in Grünau hart an der
Grenze unſeres Landes an der Stadtpfarrkirche ein
Thurm, welcher der ſchönſte unſeres Landes iſt, und
der höchſte wäre, wenn er vollendet wäre; aber er iſt
nur ungefähr bis zu zwei Drittheilen ſeiner Höhe fer¬
tig geworden. Dieſer altdeutſche Thurm wäre das
Erſte, welches ich vollenden ließe. Wenn ihr wieder
kommt, ſo führe ich euch in eine Kirche, in welcher
auf Landeskoſten ein geſchnizter Flügelaltar wieder
hergeſtellt worden iſt, der zu den bedeutendſten Kunſt¬
werken gehört, welche in dieſer Art vorhanden ſind.“


Wir traten bei dieſen Worten den Rückweg aus
dem Trockenhauſe in die Arbeitſtube an. Mein Be¬
gleiter ſagte auf dieſem Wege: „Da Euſtach jezt vor¬
[169] zugsweiſe damit beſchäftigt iſt, die im Laufe befindli¬
chen Werke auszufertigen, ſo hat er ſeinen Bruder,
der herangewachſen iſt, unterrichtet, und dieſer ver¬
ſieht jezt hauptſächlich das Geſchäft des Zeichnens.
Er iſt eben daran, die Verzierungen, die in unſerem
Lande an Bauwerken Holzarbeiten oder ſonſtwo vor¬
kommen, und die wir in unſeren Blättern von größe¬
ren Werken noch nicht haben, zu zeichnen. Wir erwar¬
ten ihn in kurzer Zeit auf einige Tage zurück. An die¬
ſen Dingen könnte auch die Gegenwart lernen, falls
ſie lernen will. Nicht blos aus dem Großen, wenn
wir das Große betrachteten, was unſere Voreltern ge¬
macht haben, und was die kunſtſinnigſten vorchriſtli¬
chen Völker gemacht haben, könnten wir lernen, wie¬
der in edlen Gebäuden wohnen, oder von edlen Ge¬
räthen umringt ſein, wenigſtens wie die Griechen in
ſchönen Tempeln bethen; ſondern wir könnten uns
auch im Kleinen vervollkommnen, die Überzüge unſe¬
rer Zimmer könnten ſchöner ſein, die gewöhnlichen
Geräthe Krüge Schalen Lampen Leuchter Äxte würden
ſchöner werden, ſelbſt die Zeichnungen auf den Stof¬
fen zu Kleidern und endlich auch der Schmuck der
Frauen in ſchönen Steinen; er würde die leichten Bil¬
dungen der Vergangenheit annehmen, ſtatt daß jezt
[170] oft eine Barbarei von Steinen in einer Barbarei von
Gold liegt. Ihr werdet mir recht geben, wenn ihr an
die vielen Zeichnungen von Kreuzen Roſen Sternen
denkt, die ihr in unſern Blättern mittelalterlicher
Bauwerke geſehen habt.“


Ich bewunderte den Mann, der, da er ſo redete,
in einem ſonderbaren ja abgeſchmackten Kleide neben
mir ging.


„Wenigſtens Achtung vor Leuten, die vor uns ge¬
lebt haben, könnte man aus ſolchen Beſtrebungen
lernen,“ fuhr er fort, „ſtatt daß wir jezt gewohnt ſind,
immer von unſeren Fortſchritten gegenüber der Un¬
wiſſenheit unſerer Voreltern reden zu hören. Das
große Preiſen von Dingen erinnert zu oft an Armuth
von Erfahrungen.“


Wir waren bei dieſen Worten wieder in die Werk¬
ſtube gekommen, und verabſchiedeten uns von dem
Meiſter. Ich reichte ihm die Hand, die er annahm,
und ſchüttelte die ſeinige herzlich. Da wir aus dem
Hauſe getreten waren und ich umſchaute, ſah ich durch
das Fenſter, wie er eben ſeine grüne Schürze herab
nahm, und wieder umband. Auch hörten wir das
Hobeln und Sägen wieder, das bei unſerem Beſuche
des Werkhauſes ein wenig verſtummt war.


[171]

Wir betraten den Gebüſchpfad, und kamen wieder
in die Nähe des Wohnhauſes.


„Ihr habt nun meine ganze Behauſung geſehen,“
ſagte mein Gaſtfreund.


„Ich habe ja Küche und Keller und Geſindeſtuben
nicht geſehen,“ erwiederte ich.


„Ihr ſollt ſie ſehen, wenn ihr wollt,“ ſagte er.


Ich nahm mein mehr im Scherze geſprochenes
Wort nicht zurück, und wir gingen wieder in das
Haus.


Ich ſah hier eine große gewölbte Küche eine große
Speiſekammer drei Stuben für Dienſtleute eine für
eine Art Hausaufſeher dann die Waſchſtube den Back¬
ofen den Keller und die Obſtkammer. Wie ich vermu¬
thet hatte, war dies alles reinlich und zweckmäßig ein¬
gerichtet. Ich ſah Mägde beſchäftigt, und wir trafen
auch den Hausaufſeher in ſeinem Tagewerke begriffen.
Das flache feine Körbchen, aus welchem mein Be¬
herberger die Vögel gefüttert hatte, lehnte in einer
eigenen Mauerniſche neben der Thür, welche ſein be¬
ſtimmter Plaz zu ſein ſchien.


Wir gingen von dieſen Räumen in das Gewächs¬
haus. Es enthielt ſehr viele Pflanzen, meiſtens ſolche,
welche zur Zeit gebräuchlich waren. Auf den Geſtel¬
[172] len ſtanden Camellien mit gut gepflegten grünen Blät¬
tern, Rhododendern, darunter, wie mir die Aufſchrift
ſagte, gelbe, die ich nie geſehen hatte, Azaleen in ſehr
manigfaltigen Arten, und beſonders viele neuhollän¬
diſche Gewächſe. Von Roſen war die Theeroſe in
hervorragender Anzahl da, und ihre Blumen blühten
eben. An das Gewächshaus ſtieß ein kleines Glas¬
haus mit Ananas. Auf dem Sandwege vor beiden
Häuſern ſtanden Citronen- und Orangenbäume in
Kübeln. Der alte Gärtner hatte noch weißere Haare
als ſein Herr. Er war ebenfalls ungewöhnlich geklei¬
det, nur konnte ich bei ihm das Ungewöhnliche nicht
finden. Das fiel mir auf, daß er viel reines Weiß an
ſich hatte, welches im Vereine mit ſeiner weißen
Schürze mich eher an einen Koch als an einen Gärt¬
ner erinnerte.


Daß die ſchmale Seite des Gewächshauſes von
Außen mit Roſen bekleidet ſei, wie die Südſeite des
Wohnhauſes, fiel mir wieder auf, aber es berührte
mich nicht unangenehm.


Die alte Gattin des Gärtners, die wir in der
Wohnung desſelben fanden, war eben ſo weißgekleidet
wie ihr Mann. An die Gärtnerswohnung ſtießen die
Kammern der Gehilfen.


[173]

„Jezt habt ihr alles geſehen,“ ſagte mein Gaſt¬
freund, da wir aus dieſen Kammern traten, „außer
den Gaſtzimmern, die ich euch zeigen werde, wenn ihr
es verlangt, und der Wohnung meines Ziehſohnes,
die wir aber jezt nicht betreten können, weil wir ihn
in ſeinem Lernen ſtören würden.“


„Wir wollen das auf eine ſpätere Stunde laſſen,
in der ich euch daran erinnern werde,“ ſagte ich, „jezt
habe ich aber ein anderes Anliegen an eure Güte,
das mir näher am Herzen iſt.“


„Und dieſes nähere Anliegen?“ fragte er.


„Daß ihr mir endlich ſagt,“ antwortete ich, „wie
ihr zu einer ſo entſchiedenen Gewißheit in Hinſicht
des Wetters gekommen ſeid.“


„Der Wunſch iſt ein ſehr gerechter,“ entgegnete er,
„und um ſo gerechter, als eure Meinung über das
Gewitter der Grund geweſen iſt, weßhalb ihr zu un¬
ſerem Hauſe herauf gegangen ſeid, und als unſer
Streit über das Gewitter der Grund geweſen iſt, daß
ihr länger da geblieben ſeid. Gehen wir aber gegen
das Bienenhaus, und ſezen wir uns auf eine Bank
unter eine Linde. Ich werde euch aus dem Wege und
auf der Bank meine Sache erzählen.“


Wir ſchlugen einen breiten Sandpfad ein, der
[174] Anfangs von größeren Obſtbäumen und ſpäter von
hohen ſchattenden Linden begrenzt war. Zwiſchen den
Stämmen ſtanden Ruhebänke, auf dem Sande liefen
pickende Vögel, und in den Zweigen wurde heute wie¬
der das Singen vollbracht, welches ich geſtern ſchon
wahrgenommen hatte.


„Ihr habt die Sammlung von Werkzeugen der
Naturlehre in meiner Wohnung geſehen,“ fing mein
Begleiter an, als wir auf dem Sandwege dahin gin¬
gen, „ſie erklären ſchon einen Theil unſerer Sache.“


„Ich habe ſie geſehen,“ antwortete ich, „beſonders
habe ich das Barometer Thermometer ſo wie einen
Luftblau- und Feuchtigkeitsmeſſer bemerkt; aber dieſe
Dinge habe ich auch, und ſie haben eher, da ich ſie
vor meiner Wanderung beobachtete, auf einen Nieder¬
ſchlag als auf ſein Gegentheil gedeutet.“


„Das Barometer iſt gefallen,“ erwiederte er, „und
wies auf geringeren Luftdruck hin, mit welchem ſehr
oft der Eintritt von Regen verbunden iſt.“
„Wohl,“ ſagte ich.


„Der Zeiger des Feuchtigkeitsmeſſers,“ fuhr er
fort, „rückte mehr gegen den Punkt der größten Feuch¬
tigkeit.“


„Ja ſo iſt es geweſen,“ antwortete ich.


[175]

„Aber der Electricitätsmeſſer,“ ſagte er, „verkün¬
digte wenig Luftelectricität, daß alſo eine Entladung
derſelben, womit in unſeren Gegenden gerne Regen
verbunden iſt, nicht erwartet werden konnte.“


„Ich habe wohl auch die nehmliche Beobachtung
gemacht,“ entgegnete ich, „aber die electriſche Span¬
nung ſteht nicht ſo ſehr im Zuſammenhange mit Wet¬
terveränderungen, und iſt meiſtens nur ihre Folge.
Zudem hat ſich geſtern gegen Abend Electricität ge¬
nug entwickelt, und alle Anzeichen, von denen ihr re¬
det, verkündeten einen Niederſchlag.“


„Ja, ſie verkündeten ihn, und er iſt erfolgt,“ ſagte
mein Begleiter; „denn es bildeten ſich aus den un¬
ſichtbaren Waſſerdünſten ſichtbare Wolken, die ja
wohl ſehr fein zertheiltes Waſſer ſind. Da iſt der Nie¬
derſchlag. Auf die geringe electriſche Spannung legte
ich kein Gewicht; ich wußte, daß wenn einmal Wol¬
ken entſtünden, ſich auch hinlängliche Electricität ein¬
ſtellen würde. Die Anzeichen, von denen wir geredet
haben, beziehen ſich aber nur auf den kleinen Raum,
in dem man ſich eben befindet, man muß auch einen
weiteren betrachten, die Bläue der Luft und die Ge¬
ſtaltung der Wolken.“


„Die Luft hatte ſchon geſtern Vormittags die tiefe
[176] und finſtere Bläue,“ erwiederte ich, „welche dem Re¬
gen vorangeht, und die Wolkenbildung begann be¬
reits am Mittage, und ſchritt ſehr raſch vorwärts.“


„Bis hieher habt ihr Recht,“ ſagte mein Beglei¬
ter, „und die Natur hat euch auch Recht gegeben, in¬
dem ſie eine ungewöhnliche Menge von Wolken er¬
zeugte. Aber es gibt auch noch andere Merkmale, als
die wir bisher beſprochen haben, welche euch entgan¬
gen ſind. Ihr werdet wiſſen, daß Anzeichen beſtehen,
welche nur einer gewiſſen Gegend eigen ſind, und von
den Eingebornen verſtanden werden, denen ſie von Ge¬
ſchlecht zu Geſchlecht überliefert worden ſind. Oft ver¬
mag die Wiſſenſchaft recht wohl den Grund der lan¬
gen Erfahrung anzugeben. Ihr wißt, daß in Gegen¬
den ein kleines Wölklein an einer beſtimmten Stelle
des Himmels, der ſonſt rein iſt, erſcheinend und dort
ſchweben bleibend ein ſicherer Gewitteranzeiger für
dieſe Gegend iſt, daß ein trüberer Ton an einer ge¬
wiſſen Stelle des Himmels ein Windſtoß aus einer
gewiſſen Gegend her Vorboten eines Landregens ſind,
und daß der Regen immer kömmt. Solche Anzeichen
hat auch dieſe Gegend, und es ſind geſtern keine ein¬
getreten, die auf Regen wieſen.“


„Merkmale, die nur dieſer Gegend angehören,“
[177] erwiederte ich, „konnte ich nicht beobachten; aber ich
glaube, daß dieſe Merkmale allein euch doch nicht be¬
ſtimmen konnten, einen ſo entſcheidenden Ausſpruch
zu thun, wie ihr gethan habt.“


„Sie beſtimmten mich auch nicht,“ antwortete er,
„ich hatte auch noch andere Gründe.“


„Nun.“


„Alle die Vorzeichen, von denen wir bisher gere¬
det haben, ſind ſehr grobe,“ ſagte er, „und werden
meiſtens von uns nur mittelſt räumlicher Verände¬
rungen erkannt, die, wenn ſie nicht eine gewiſſe Größe
erreichen, von uns gar nicht mehr beobachtet werden
können. Der Schauplaz, auf welchem ſich die Witte¬
rungsverhältniſſe geſtalten, iſt ſehr groß; dort, wohin
wir nicht ſehen, und woher die Wirkungen auf unſere
wiſſenſchaftlichen Werkzeuge nicht reichen können, mö¬
gen vielleicht Urſachen und Gegenanzeigen ſein, die,
wenn ſie uns bekannt wären, unſere Vorherſage in
ihr Gegentheil umſtimmen würden. Die Anzeichen
können daher auch täuſchen. Es ſind aber noch viel
feinere Vorrichtungen vorhanden, deren Beſchaffen¬
heit uns ein Geheimniß iſt, die von Urſachen, die wir
ſonſt gar nicht mehr meſſen können, noch betroffen
werden, und deren Wirkung eine ganz gewiſſe iſt.“
Stifter, Nachſommer. I. 12[178] „Und dieſe Werkzeuge?“


„Sind die Nerven.“


„Alſo empfindet ihr durch eure Nerven, wenn Re¬
gen kommen wird?“


„Durch meine Nerven empfinde ich das nicht,“
antwortete er. „Der Menſch ſtört leider durch zu ſtarke
Einwirkungen, die er auf die Nerven macht, das feine
Leben derſelben, und ſie ſprechen zu ihm nicht mehr
ſo deutlich, als ſie ſonſt wohl könnten. Auch hat ihm
die Natur etwas viel Höheres zum Erſaze gegeben, den
Verſtand und die Vernunft, wodurch er ſich zu helfen
und ſich ſeine Stellung zu geben vermag. Ich meine
die Nerven der Thiere.“


„Es wird wohl wahr ſein, was ihr ſagt,“ ant¬
wortete ich. „Die Thiere hängen mit der tiefer ſtehen¬
den Natur noch viel unmittelbarer zuſammen als wir.
Es wird nur darauf ankommen, daß dieſe Beziehun¬
gen ergründet werden, und dafür ein Ausdruck gefun¬
den wird, beſonders, was das kommende Wetter be¬
trifft.“


„Ich habe dieſen Zuſammenhang nicht ergründet,“
entgegnete er, „noch weniger den Ausdruck dafür ge¬
funden ; beides dürfte in dieſer Allgemeinheit wohl
ſehr ſchwer ſein; aber ich habe zufällig einige Beob¬
[179] achtungen gemacht, habe ſie dann abſichtlich wieder¬
holt, und daraus Erfahrungen geſammelt, und Er¬
gebniſſe zuſammen geſtellt, die eine Vorausſage mit
faſt völliger Gewißheit möglich machen. Viele Thiere
ſind von Regen und Sonnenſchein ſo abhängig, ja
bei einigen handelt es ſich geradezu um das Leben
ſelber, je nachdem Sonne oder Regen iſt, daß ihnen
Gott nothwendig hat Werkzeuge geben müſſen, dieſe
Dinge vorhinein empfinden zu können. Dieſe Empfin¬
dung als Empfindung kann aber der Menſch nicht er¬
kennen, er kann ſie nicht betrachten, weil ſie ſich den
Sinnen entzieht; allein die Thiere machen in Folge
dieſer Vorempfindung Anſtalten für ihre Zukunft, und
dieſe Anſtalten kann der Menſch betrachten, und dar¬
aus Schlüſſe ziehen. Es gibt einige, die ihre Nah¬
rung finden, wenn es feucht iſt, andere verlieren ſie in
dieſem Falle. Manche müſſen ihren Leib vor Regen
bergen, manche ihre Brut in Sicherheit bringen.
Viele müſſen ihre für den Augenblick aufgeſchlagene
Wohnung verlaſſen, oder eine andere Arbeit ſuchen.
Da nun die Vorempfindung gewiß ſein muß, wenn
die daraus folgende Handlung zur Sicherung führen
ſoll, da die Nerven ſchon berührt werden, wenn noch
alle menſchlichen wiſſenſchaftlichen Werkzeuge ſchwei¬
12 *[180] gen, ſo kann eine Vorausſage über das Wetter, die
auf eine genaue Betrachtung der Handlungen der
Thiere gegründet iſt, mehr Anhalt gewähren, als
die aus allen wiſſenſchaftlichen Werkzeugen zuſammen
genommen.“


„Ihr eröffnet da eine neue Richtung.“


„Die Menſchen haben darin ſchon vieles erfahren.
Die beſten Wetterkenner ſind die Inſekten und über¬
haupt die kleinen Thiere. Sie ſind aber viel ſchwerer
zu beobachten, da ſie, wenn man dies thun will, nicht
leicht zu finden ſind, und da man ihre Handlungen
auch nicht immer leicht verſteht. Aber von kleineren
Thieren hängen oft größere ab, deren Speiſe jene ſind,
und die Handlungen kleinerer Thiere haben Handlun¬
gen größerer zur Folge, welche der Menſch leichter
überblickt. Freilich ſteht da ein Schluß in der Mitte,
der die Gefahr zu irren größer macht, als ſie bei der
unmittelbaren Betrachtung und der gleichſam reden¬
den Thatſache iſt. Warum, damit ich ein Beiſpiel an¬
führe, ſteigt der Laubfroſch tiefer, wenn Regen folgen
ſoll, warum fliegt die Schwalbe niedriger und ſpringt
der Fiſch aus dem Waſſer? Die Gefahr zu irren wird
wohl bei oftmaliger Wiederholung der Beobachtung
und bei ſorglicher Vergleichung geringer; aber das
[181] Sicherſte bleiben immer die Heerden der kleinen Thiere.
Das habt ihr gewiß ſchon gehört, daß die Spinnen
Wetterverkündiger ſind, und daß die Ameiſen den Re¬
gen vorher ſagen. Man muß das Leben dieſer kleinen
Dinge betrachten, ihre häuslichen Einrichtungen an¬
ſchauen, oft zu ihnen kommen, ſehen, wie ſie ihre Zeit
hinbringen, erforſchen, welche Grenzen ihre Gebiethe
haben, welche die Bedingungen ihres Glückes ſind,
und wie ſie denſelben nachkommen. Darum wiſſen
Jäger Holzhauer und Menſchen, welche einſam ſind,
und zur Betrachtung dieſes abgeſonderten Lebens auf¬
gefordert werden, das Meiſte von dieſen Dingen, und
wie aus dem Benehmen von Thieren das Wetter vor¬
herzuſagen iſt. Es gehört aber wie zu allem auch
Liebe dazu.“


„Hier iſt der Siz,“ unterbrach er ſich, „von wel¬
chem ich früher geſprochen habe. Hier iſt die ſchönſte
Linde meines Gartens, ich habe einen beſſern Ruhe¬
plaz unter ihr anbringen laſſen, und gehe ſelten vor¬
über, ohne mich eine Weile nieder zu ſezen, um mich
an dem Summen in ihren Äſten zu ergözen. Wollen
wir uns ſezen?“


Ich willigte ein, wir ſezten uns, das Summen
war wirklich über unſern Häuptern zu hören, und ich
[182] fragte: „Habt ihr nun dieſe Beobachtungen an den
Thieren, wie ihr ſagtet, gemacht?“


„Auf Beobachtungen bin ich eigentlich nicht aus¬
gegangen,“ antwortete er; „aber da ich lange in die¬
ſem Hauſe und in dieſem Garten gelebt habe, hat ſich
Manches zuſammengefunden; aus dem Zuſammenge¬
fundenen haben ſich Schlüſſe gebaut, und ich bin durch
dieſe Schlüſſe umgekehrt wieder zu Betrachtungen ver¬
anlaßt worden. Viele Menſchen, welche gewohnt ſind,
ſich und ihre Beſtrebungen als den Mittelpunkt der
Welt zu betrachten, halten dieſe Dinge für klein; aber
bei Gott iſt es nicht ſo; das iſt nicht groß, an dem
wir vielmal unſern Maßſtab umlegen können, und
das iſt nicht klein, wofür wir keinen Maßſtab mehr
haben. Das ſehen wir daraus, weil er alles mit
gleicher Sorgfalt behandelt. Oft habe ich gedacht,
daß die Erforſchung des Menſchen und ſeines Trei¬
bens ja ſogar ſeiner Geſchichte nur ein anderer Zweig
der Naturwiſſenſchaft ſei, wenn er auch für uns Men¬
ſchen wichtiger iſt, als er für Thiere wäre. Ich habe
zu einer Zeit Gelegenheit gehabt, in dieſem Zweige
manches zu erfahren und mir einiges zu merken. Doch
ich will zu meinem Gegenſtande zurückkehren. Von
dem, was die kleinen Thiere thun, wenn Regen oder
[183] Sonnenſchein kommen ſoll, oder wie ich überhaupt
aus ihren Handlungen Schlüſſe ziehe, kann ich jezt
nicht reden, weil es zu umſtändlich ſein würde, ob¬
wohl es merkwürdig iſt; aber das kann ich ſagen, daß
nach meinen bisherigen Erfahrungen geſtern keines
der Thierchen in meinem Garten ein Zeichen von Re¬
gen gegeben hat, wir mögen von den Bienen anfan¬
gen, welche in dieſen Zweigen ſummen, und bis zu
den Ameiſen gelangen, die ihre Puppen an der Planke
meines Gartens in die Sonne legen, oder zu dem
Springkäfer, der ſich ſeine Speiſe trocknet. Weil mich
nun dieſe Thiere, wenn ich zu ihnen kam, nie ge¬
täuſcht haben, ſo folgerte ich, daß die Waſſerbildung,
welche unſere gröberen wiſſenſchaftlichen Werkzeuge
vorausſagten, nicht über die Entſtehung von Wolken
hinausgehen würde, da es ſonſt die Thiere gewußt
hätten. Was aber mit den Wolken geſchehen würde,
erkannte ich nicht genau, ich ſchloß nur, daß durch die
Abkühlung, die ihr Schatten erzeugen müßte, und
durch die Luftſtrömungen, denen ſie ſelber ihr Daſein
verdankten, ein Wind entſtehen könnte, der in der
Nacht den Himmel wieder rein fegen würde.“


„Und ſo geſchah es auch,“ ſagte ich.


„Ich konnte es um ſo ſicherer vorausſehen,“ er¬
[184] wiederte er, „weil es an unſerem Himmel und in un¬
ſerem Garten oft ſchon ſo geweſen iſt wie geſtern, und
ſtets ſo geworden iſt, wie heute in der Nacht.“


„Das iſt ein weites Feld, von dem ihr da redet,“
ſagte ich, „und da ſteht der menſchlichen Erkenntniß
ein nicht unwichtiger Gegenſtand gegenüber. Er be¬
weiſt wieder, daß jedes Wiſſen Ausläufe hat, die man
oft nicht ahnt, und wie man die kleinſten Dinge nicht
vernachläſſigen ſoll, wenn man auch noch nicht weiß,
wie ſie mit den größeren zuſammenhängen. So kamen
wohl auch die größten Männer zu den Werken, die
wir bewundern, und ſo kann mit Hereinbeziehung
deſſen, von dem ihr redet, die Witterungskunde einer
großen Erweiterung fähig ſein.“


„Dieſen Glauben hege ich auch,“ erwiederte er. „Euch
Jüngeren wird es in den Naturwiſſenſchaften über¬
haupt leichter, als es den Älteren geworden iſt. Man
ſchlägt jezt mehr die Wege des Beobachtens und der
Verſuche ein, ſtatt daß man früher mehr den Vermu¬
thungen Lehrmeinungen ja Einbildungen hingegeben
war. Dieſe Wege wurden lange nicht klar, obgleich
ſie Einzelne wohl zu allen Zeiten gegangen ſind. Je
mehr Boden man auf die neue Weiſe gewinnt, deſto
mehr Stoff hat man als Hilfe zu fernern Erringun¬
[185] gen. Man wendet ſich jezt auch mit Ernſt der Pflege
der einzelnen Zweige zu, ſtatt wie früher immer auf
das Allgemeine zu gehen; und es wird daher auch eine
Zeit kommen, in der man dem Gegenſtände eine Auf¬
merkſamkeit ſchenken wird, von dem wir jezt geſprochen
haben. Wenn die Fruchtbarkeit, wie ſie durch Jahr¬
zehende in der Naturwiſſenſchaft geweſen iſt, durch
Jahrhunderte anhält, ſo können wir gar nicht ahnen,
wie weit es kommen wird. Nur das eine wiſſen wir
jezt, daß das noch unbebaute Feld unendlich größer
iſt als das bebaute.“


„Ich habe geſtern einige Arbeiter bemerkt,“ ſagte
ich, „welche, obwohl der Himmel voll Wolken war,
doch Waſſer pumpten, ihre Gießkannen füllten, und
die Gewächſe begoſſen. Haben dieſe vielleicht auch
gewußt, daß kein Regen kommen werde, oder haben
ſie blos eure Befehle vollzogen, wie die Mäher, die
an dem Meierhofe Gras abmähten.“


„Das Leztere iſt der Fall,“ erwiederte er. „Dieſe
Arbeiter glauben jedes Mal, daß ich mich irre, wenn
der äußere Anſchein gegen mich iſt, wie oft ſie auch
durch den Erfolg belehrt worden ſein mögen. Und ſo
werden ſie gewiß auch geſtern geglaubt haben, daß
Regen komme. Sie begoſſen die Gewächſe, weil ich
[186] es angeordnet habe, und weil es bei uns eingeführt
iſt, daß der, welcher wiederholt den Anordnungen
nicht nachkömmt, des Dienſtes entlaſſen wird. Es ſind
aber endlich auch noch andere Dinge außer den Thie¬
ren, welche das Wetter vorherſagen, nehmlich die
Pflanzen.“


„Von den Pflanzen wußte ich es ſchon, und zwar
beſſer, als von den Thieren,“ erwiederte ich.


„In meinem Garten und in meinem Gewächs¬
hauſe ſind Pflanzen,“ ſagte er, „welche einen auffal¬
lenden Zuſammenhang mit dem Luftkreiſe zeigen, be¬
ſonders gegen das Nahen der Sonne, wenn ſie lange
in Wolken geweſen war. Aus dem Geruche der Blu¬
men kann man dem kommenden Regen entgegen
ſehen, ja ſogar aus dem Graſe riecht man ihn bei¬
nahe. Mir kommen dieſe Dinge ſo zufällig in den
Garten und in das Haus; ihr aber werdet ſie weit
beſſer und weit gründlicher kennen lernen, wenn ihr
die Wege der neuen Wiſſenſchaftlichkeit wandelt, und
die Hilfsmittel benüzt, die es jezt gibt, beſonders die
Rechnung. Wenn ihr namentlich eine einzelne Rich¬
tung einſchlagt, ſo werdet ihr in derſelben ungewöhn¬
lich große Fortſchritte machen.“


„Woher ſchließt ihr denn das?“ fragte ich.


[187]

„Aus eurem Ausſehen,“ erwiederte er, „und ſchon
aus der ſehr beſtimmten Ausſage, die ihr geſtern in
Hinſicht des Wetters gemacht habt.“


„Dieſe Ausſage war aber falſch,“ antwortete ich,
„und aus ihr hättet ihr gerade das Gegentheil ſchlie¬
ßen können.“


„Nein, das nicht,“ ſagte er, „eure Äußerung zeigte,
weil ſie ſo beſtimmt war, daß ihr den Gegenſtand ge¬
nau beobachtet habt, und weil ſie ſo warm war, daß
ihr ihn mit Liebe und mit Eifer umfaßt; daß eure
Meinung deßohngeachtet irrig war, kam nur daher,
weil ihr einen Umſtand, der auf ſie Einfluß hatte, nicht
kanntet, und ihn auch nicht leicht kennen konntet; ſonſt
würdet ihr anders geurtheilt haben.“


„Ja ihr redet wahr, ich würde anders geurtheilt
haben,“ antwortete ich, „und ich werde nicht wieder
ſo voreilig urtheilen.“


„Ihr habt geſtern geſagt, daß ihr euch mit Natur¬
dingen beſchäftiget,“ fuhr er fort, „darf ich wohl fra¬
gen, ob ihr eine beſtimmte Richtung gewählt habt,
und welche.“


Ich war durch die Frage ein wenig in Verwirrung
gebracht, und antwortete: „Ich bin doch im Grunde
nur ein gewöhnlicher Fußreiſender. Ich beſize gerade
[188] ſo viel Vermögen, um unabhängig leben zu können,
und gehe in der Welt herum, um ſie anzuſehen. Ich
habe wohl vor Kurzem alle Wiſſenſchaften angefan¬
gen; aber davon bin ich zurückgekommen, und habe
mir nur hauptſächlich die einzelne Wiſſenſchaft der
Erdbildung zur Aufgabe gemacht. Um die Werke,
welche ich hierin leſe, zu ergänzen, ſuche ich auf
den Reiſen, die ich in verſchiedene Landestheile
mache, zu beobachten, ſchreibe meine Erfahrungen
auf, und verfertige Zeichnungen. Da die Werke vor¬
züglich von Gebirgen handeln, ſo ſuche ich auch vor¬
züglich die Gebirge auf. Sie enthalten ſonſt auch vie¬
les, das mir lieb iſt.“


„Dieſe Wiſſenſchaft iſt eine ſehr weite,“ entgeg¬
nete mein Gaſtfreund, „wenn ſie in der Bedeutung der
Erdgeſchichte genommen wird. Sie ſchließt manche
Wiſſenſchaften ein, und ſezt manche voraus. Die
Berge ſind wohl jezt, wo dieſe Wiſſenſchaft noch jung
iſt, und wo man ihre erſten und greifbarſten Züge
ſammelt, von der größten Bedeutung; aber es wird
auch die Ebene an die Reihe kommen, und ihre ein¬
fache und ſchwerer zu entziffernde Frage wird gewiß
nicht von geringerer Wichtigkeit ſein.“


„Sie wird gewiß wichtig ſein,“ antwortete ich.
[189] Ich habe die Ebene und ihre Sprache, die ſie damals
zu mir ſprach, ſchon geliebt, ehe ich meine jezige Auf¬
gabe betrieb, und ehe ich die Gebirge kannte.“


„Ich glaube,“ entgegnete mein Begleiter, „daß in
der gegenwärtigen Zeit der Standpunkt der Wiſſen¬
ſchaft, von welcher wir ſprechen, der des Sammelns
iſt. Entfernte Zeiten werden aus dem Stoffe etwas
bauen, das wir noch nicht kennen. Das Sammeln
geht der Wiſſenſchaft immer voraus; das iſt nicht
merkwürdig; denn das Sammeln muß ja vor der
Wiſſenſchaft ſein; aber das iſt merkwürdig, daß der
Drang des Sammelns in die Geiſter kömmt, wenn
eine Wiſſenſchaft erſcheinen ſoll, wenn ſie auch noch
nicht wiſſen, was dieſe Wiſſenſchaft enthalten wird.
Es geht gleichſam der Reiz der Ahnung in die Her¬
zen, wozu etwas da ſein könne, und wozu es Gott be¬
ſtellt haben möge. Aber ſelbſt ohne dieſen Reiz hat
das Sammeln etwas ſehr Einnehmendes. Ich habe
meine Marmore alle ſelber in den Gebirgen geſam¬
melt, und habe ihren Bruch aus den Felſen ihr Abſä¬
gen ihr Schleifen und ihre Einfügungen geleitet. Die
Arbeit hat mir manche Freude gebracht, und ich
glaube, daß mir nur darum dieſe Steine ſo lieb ſind,
weil ich ſie ſelber geſucht habe.“
[190] „Habt ihr alle Arten unſers Gebirges?“ fragte ich.


„Ich habe nicht alle,“ antwortete er, „ich hätte ſie
vielleicht nach und nach erhalten können, wenn ich
meine Beſuche ſtettig hätte fortſezen können. Aber ſeit
ich alt werde, wird es mir immer ſchwieriger. Wenn
ich jezt zu ſeltnen Zeiten einmal an den Rand des
Simmeiſes hinaufkomme, empfinde ich, daß es nicht
mehr iſt, wie in der Jugend, wo man keine Grenze
kennt als das Ende des Tages oder die bare Unmög¬
lichkeit. Weil ich nun nicht mehr ſo große Strecken
durchreiſen kann, um etwa Marmor, der mir noch
fehlt, in Blöcken aufzuſuchen, ſo wird die Ausbeute
immer geringer; ſie wird auch aus dem Grunde ge¬
ringer, weil ich bereits ſo viel habe, und die Stellen
alſo ſeltener ſind, wo ich ein noch Fehlendes finde. Da
ich allen Marmor ſelber geſammelt habe, ſo kann ich
wohl auch kein Stück an meinem Hauſe anbringen,
das mir von fremder Hand käme.“


„Ihr habt alſo wahrſcheinlich das Haus ſelber ge¬
baut, oder es ſehr umgeſtaltet?“ fragte ich.


„Ich habe es ſelber gebaut,“ antwortete er. „Das
Wohnhaus, welches zu den umliegenden Gründen
gehört, war früher der Meierhof, an dem ihr geſtern,
da wir auf dem Bänkchen der Felderraſt ſaßen, Leute
[191] Gras mähen geſehen habt. Ich habe ihn von dem
früheren Beſizer ſammt allen Ländereien, die dazu ge¬
hören, gekauft, habe das Haus auf dem Hügel ge¬
baut, und habe den Meierhof zum Wirthſchaftsge¬
bäude beſtimmt.“


„Aber den Garten könnt ihr doch unmöglich neu
angelegt haben?“


„Das iſt eine eigene Entſtehungsgeſchichte,“ er¬
wiederte er. „Ich muß ſagen: ich habe ihn neu ange¬
legt, und ich muß ſagen: ich habe ihn nicht neu
angelegt. Ich habe mir mein Wohnhaus für den Reſt
meiner Tage auf einen Plaz gebaut, der mir entſpre¬
chend ſchien. Der Meierhof ſtand in dem Thale, wie
meiſtens die Gebäude dieſer Art, damit ſie das fette
Gras, das man häufig in den Wirthſchaften braucht,
um das Gehöfte herum haben; ich wollte aber mit
meiner Wohnung auf die Anhöhe. Da ſie nun fertig
war, ſollte der Garten, der an dem Meierhofe ſtand,
und nur mit vereinzelten Bäumen oder mit Gruppen
von ihnen zu mir langte, heraufgezogen werden. Die
Linde, unter welcher wir jezt ſizen, ſo wie ihre Kame¬
raden, die um ſie herum ſtehen, oder einen Garten¬
weg bilden, ſtehen da, wo ſie geſtanden ſind. Der
große alte Kirſchbaum auf der Anhöhe ſtand mitten
[192] im Getreide. Ich zog die Anhöhe zu meinem Garten,
legte einen Weg zu dem Kirſchbaume hinauf an, und
baute um ihn ein Bänklein herum. Und ſo ging es
mit vielen andern Bäumen. Manche, und darunter
ſehr bedeutende, daß man es nicht glauben ſollte, ha¬
ben wir überſezt. Wir haben ſie im Winter mit einem
großen Erdballen ausgegraben, ſie mit Anwendung
von Seilen umgelegt, hieher geführt, und mit Hilfe
von Hebeln und Balken in die vorgerichteten gut zu¬
bereiteten Gruben geſenkt. Waren die Zweige und
Äſte gehörig gekürzt, ſo ſchlugen ſie im Frühlinge
deſto kräftiger an, gleichſam als wären die Bäume zu
neuem Leben erwacht. Die Geſträuche und das Zwerg¬
obſt iſt alles neu geſezt worden. In kürzerer Zeit, als
man glauben ſollte, hatten wir die Freude, zu ſehen,
daß der Garten ſo zuſammengewachſen erſchien, als
wäre er nie an einem andern Plaze geweſen.
In der Nähe des Meierhofes habe ich manchen
Reſt von Bäumen fällen laſſen, wenn er dem Getrei¬
debau hinderlich war; denn ich legte dort Felder an,
wo ich die Bäume genommen hatte, um an Boden
auf jener Seite zu gewinnen, was ich auf dieſer durch
Anlegung des Gartens verloren hatte.“


„Ihr habt da einen reizenden Siz,“ bemerkte ich.


[193]

„Nicht der Siz allein, das ganze Land iſt reizend,
erwiederte er, „und es iſt gut da wohnen, wenn man
von den Menſchen kömmt, wo ſie ein wenig zu dicht
an einander ſind, und wenn man für die Kräfte ſei¬
nes Weſens Thätigkeit mitbringt. Zuweilen muß man
auch einen Blick in ſich ſelbſt thun. Doch ſoll man
nicht ſtettig mit ſich allein auch in dem ſchönſten Lande
ſein; man muß zu Zeiten wieder zu ſeiner Geſellſchaft
zurückkehren, wäre es auch nur, um ſich an mancher
glänzenden Menſchentrümmer, die aus unſrer Jugend
noch übrig iſt, zu erquicken, oder an manchem feſten
Thurm von einem Menſchen empor zu ſchauen, der
ſich gerettet hat. Nach ſolchen Zeiten geht das Land¬
leben wieder wie lindes Öhl in das geöffnete Ge¬
müth. Man muß aber weit von der Stadt weg und
von ihr unberührt ſein. In der Stadt kommen die Ver¬
änderungen, welche die Künſte und die Gewerbe be¬
wirkt haben, zur Erſcheinung: auf dem Lande die,
welche naheliegendes Bedürfniß oder Einwirken der
Naturgegenſtände auf einander hervorgebracht haben.
Beide vertragen ſich nicht, und hat man das Erſte
hinter ſich, ſo erſcheint das Zweite faſt wie ein Blei¬
bendes, und dann ruht vor dem Sinne ein ſchönes
Beſtehendes, und zeigt ſich dem Nachdenken ein ſchö¬
Stifter, Nachſommer. I. 13[194] nes Vergangenes, das ſich in menſchlichen Wandlun¬
gen und in Wandlungen von Naturdingen in eine
Unendlichkeit zurückzieht.“


Ich antwortete nichts auf dieſe Rede, und wir
ſchwiegen eine Weile.


Endlich ſagte er wieder: „Ihr bleibt noch heute
nachmittag und in der Nacht bei uns?“


„Nach dem, wie ich hier aufgenommen worden
bin,“ antwortete ich, „iſt es ein angenehmes Gefühl,
noch den Tag und die Nacht hier zubringen zu dürfen.“


„So iſt es gut,“ erwiederte er, „ihr müßt aber
auch erlauben, daß ich euch einen Theil des Vormit¬
tags allein laſſe, weil die Stunde naht, in der ich zu
Guſtav gehen, und ihm in ſeinem Lernen beiſtehen
muß.“


„Thut euch nur keinen Zwang an,“ entgeg¬
nete ich.


„So werde ich euch verlaſſen,“ antwortete er,
„geht indeſſen ein wenig in dem Garten herum, oder
ſeht das Feld an, oder beſucht das Haus.“


„Ich wünſche für den Augenblick noch eine Weile
unter dieſem Baume ſizen bleiben zu dürfen,“ erwie¬
derte ich.


„Thut, wie es euch gefällt,“ antwortete er, „nur
[195] erinnert euch, daß ich geſtern geſagt habe, daß in die¬
ſem Hauſe um zwölf Uhr zu Mittag gegeſſen wird.“


„Ich erinnere mich,“ ſagte ich, „und werde keine
Unordnung machen.“


Eine kleine Weile nach dieſen Worten ſtand er
auf, ſtrich ſich mit ſeiner Hand die Thierchen und ſon¬
ſtigen Körperchen, die von dem Baume auf ihn her¬
abgefallen waren, aus den Haaren, empfahl ſich, und
ging in der Richtung gegen das Haus zu.


13 *
[[196]]

5.
Der Abſchied.

Ich ſaß noch eine geraume Zeit unter dem Baume,
und legte mir zurecht, was ich geſehen und vernom¬
men. Die Bienen ſummten in dem Baume, und die
Vögel ſangen in dem Garten. Das Haus, in wel¬
ches der alte Mann gegangen war, blickte mit einzel¬
nen Theilen, ſei es von der weißen Wand, ſei es von
dem Ziegeldache durch das Grün der Bäume her¬
über, und zu meiner Rechten ging jenſeits der
Gebüſche in der Gegend, in welcher ich das
Schreinerhaus vermuthete, ein dünner Rauch in
die Luft empor. Das Singen der Vögel und das
Summen der Bienen war mir beinahe eine Stille,
da ich durch meine Gebirgswanderungen an ſolche
andauernde Laute gewohnt war. Die Stille wurde
unterbrochen durch einzelne Laute, welche von den
Arbeitern im Garten herrührten, entweder daß man
[197] das Quiken einer Pumpe hörte, mit der man Waſſer
pumpte, und mittelſt Rinnen in eine Tonne leitete,
um es Abends zum Begießen zu verwenden, oder daß
eine menſchliche Rede ferner oder näher erſcholl, die
einen Befehl oder eine Auskunft enthielt. Die ver¬
ſchiedenen Flecke des Himmels, welche durch das
Grün der Bäume hereinſahen, waren ganz blau, und
zeigten, wie ſehr mein Gaſtfreund mit ſeiner Voraus¬
ſage des ſchönen Wetters Recht gehabt hatte.


Ich riß mich endlich aus meinen Gedanken, und
ging in dem Garten empor.


Ich ging zu dem großen Kirſchbaume. Ich ſuchte
das Freie, weil ich in dem Garten wegen der be¬
ſchränkten Ausſicht doch nicht einen genauen Überblick
in Hinſicht der Witterungsverhältniſſe machen konnte.
Hier oben ſtand der Himmel als eine große ausge¬
dehnte Glocke über mir, und in der ganzen Glocke war
kein einziges Wölklein. Das Hochgebirge, welches
wir geſtern nicht hatten ſehen können, ſtand heute in
ſeiner ganzen Klarheit an der Länge des ſüdlichen
Himmels dahin. Vor ihm waren die Vorlande mit
manchen weißen Punkten von Kirchen und Dörfern,
näher zu mir zeigte ſich mancher Thurm von einer
Ortſchaft, die ich kannte, und unter meinen Füſſen
[198] ruhte der Garten und das Haus, in welchem ich
geſtern ſo freundlich aufgenommen worden war. Die
Getreide, welche nicht weit von mir hinter der Planke
des Gartens ſtanden, und die geſtern ganz ruhig ge¬
weſen waren, befanden ſich heute in einem zwar
ſchwachen aber fröhlichen Wogen. Ich mußte denken,
daß das Wetter nicht nur jezt ſo ſchön ſei, ſondern
daß es noch lange ſo ſchön bleiben werde.


Von dem großen Kirſchbaume ging ich wieder in
den Garten zurück, und betrachtete verſchiedene Ge¬
genſtände.


Ich ging auch noch einmal in das Gewächshaus.
Ich konnte nun manches genauer anſehen, als es mir
früher möglich geweſen war, da ich mit meinem Be¬
gleiter das Haus gleichſam nur durchſchritten hatte.
Der weiße Gärtner geſellte ſich zu mir, erläuterte mir
manches, gab mir über verſchiedenes Auskunft, und
beantwortete bereitwillig alle meine Fragen, wie weit
ſeine Kenntniſſe und ſeine Überſicht es zuließen. Als
ich das Gebäude verlaſſen wollte, ſagte er mir, er
wolle mir noch etwas zeigen, was der Herr mir zu
zeigen vergeſſen habe. Er führte mich auf einen Plaz,
der mit Sand bedeckt war, der von allen Seiten der
Sonne zugänglich, und doch durch Bäume und Ge¬
[199] büſche, die in einer gewiſſen Entfernung umga¬
ben, vor heftigen Winden geſchüzt war. Mitten auf
dem Plaze ſtand ein kleines gläſernes Haus, welches
zum Theile in der Erde ſteckte. Dieſer Umſtand und
dann der, daß es von Bäumen umringt war, mach¬
ten, daß ich es früher nicht wahrgenommen hatte.
Als wir näher kamen, ſah ich, daß es ganz von Glas
ſei, und nur ſo viel Gerippe habe, als ſich zur Feſtig¬
keit der Tafeln nothwendig zeige. Es war auch mit
einem ſtarken eiſernen Gitter wahrſcheinlich des Ha¬
gels wegen umſpannt. Als wir die einigen Stufen
von der Fläche des Gartens in das Innere hinabge¬
ſtiegen waren, ſah ich, daß ſich Pflanzen in dem
Hauſe befanden, und zwar nur eine einzige Gattung,
nehmlich lauter Cactus. Mehr als hundert Arten
ſtanden in Tauſenden von kleinen Töpfen da. Die
niederen und runden ſtanden frei, die langen, welche
Luftwurzeln treiben, hatten Wände von Baumrinden
neben ſich, die mit Erde eingerieben waren, damit die
Pflanzen die Luftwurzeln in ſie ſchlagen konnten. Alle
Glastafeln über unſeren Häuptern waren geöffnet,
daß die freie Luft den ganzen Raum durchdringen
konnte, und doch die Wirkung der Sonnenſtrahlen
nicht beirrt war. Die Töpfe ſtanden in Reihen auf
[200] hölzernen Geſtellen, die Geſtelle aber waren wieder
unterbrochen, ſo daß man in allen Richtungen herum
gehen, und alles betrachten konnte. Der Gärtner führte
mich herum, und zeigte mir die Abtheilungen und
Unterabtheilungen, in welchen die Gewächſe beiſam¬
menſtanden.


Ich ſagte, daß ich mich freue, daß mein Gaſt¬
freund auf die Familie dieſer Pflanzen eine ſolche
Sorgfalt wende, da ſie gewiß beſonders und merk¬
würdig wären.


„Wenn man ſie länger betrachtet und länger mit
ihnen umgeht, werden ſie immer merkwürdiger,“ ant¬
wortete mein Nachbar. „Die Stellung ihrer Bildun¬
gen iſt ſo mannigfaltig, die Stacheln können zu einer
wahren Zierde und zu einer Bewaffnung dienen, und
die Blüthen ſind verwunderlich wie Märchen. In ei¬
nem Monate würdet ihr ſehr ſchöne ſehen, jezt ſind ſie
noch zu wenig entwickelt.“


Ich ſagte ihm, daß ich ſchon Blüthen geſehen
habe, nicht blos ſolche, die, wie ſchön ſie ſeien, doch
überall wachſen, ſondern auch andere, die ſelten ſind,
und ſolche, die mit der Schönheit den lieblichen Duft
vereinen. Ich ſagte ihm, daß ich in früheren Zeiten
Pflanzenkunde getrieben habe, zwar nicht in Bezug
[201] auf Gartenpflege ſondern zu meiner Belehrung und
Erheiterung, und daß die Cactus nicht das Lezte ge¬
weſen wären, dem ich eine Aufmerkſamkeit geſchenkt
habe.


„Wenn der Herr alte Sachen ſammelt,“ ſagte er,
„ſo wäre es wohl auch recht, wenn er dies auch mit
alten Pflanzen thäte. Im Inghofe iſt in dem Ge¬
wächshauſe ein Cereus, der ſtärker als ein Mannes¬
arm ſamt ſeiner Bekleidung iſt. Er geht an der Wand
empor, biegt ſich um, und wächſt an der Decke des
Hauſes hin, an welcher er mit Bändern befeſtigt iſt.
Der untere Theil iſt ſchon Holz geworden, daß man
Namen eingeſchnitten hat. Ich glaube, es iſt ein Ce¬
reus peruvianus. Sie ſchäzen ihn nicht ſo hoch, und
der Herr ſollte den Cereus kaufen, wenn man auch
wegen ſeiner Länge drei Wägen aneinander binden
müßte, um ihn herüber bringen zu können. Er iſt ge¬
wiß ſchon zweihundert Jahre alt.“


Ich antwortete auf dieſe Rede nicht, um ihm ſeine
Zeitrechnung in Hinſicht der Cactuspflege in Europa
nicht zu ſtören.


Ich dankte ihm, da ich endlich alles geſehen hatte,
für ſeine Mühe, und verließ das kleine Haus. Er
[202] verabſchiedete ſich ſehr freundlich und mit vielen Ver¬
beugungen.


Ich ging nun zu dem Eingangsgitter, durch wel¬
ches mein Gaſtfreund mich geſtern hereingelaſſen hatte,
weil ich auch außerhalb des Gartens ein wenig her¬
umſehen wollte. Ein Arbeiter, welcher in der Nähe
beſchäftigt war, öffnete mir die Thür, weil ich die
Einrichtung des Schloſſes nicht kannte, und ich trat
in das Freie. Ich ging auf der Seite des Hügels,
auf welcher ich geſtern heraufgekommen war, in meh¬
reren Richtungen herum. Wenn ich auch die Gegend
des Landes, in der ich mich befand, im Allgemeinen
ſehr wohl kannte, ſo hatte ich mich doch nie ſo lange
in ihr aufgehalten, um in das Einzelne eindringen zu
können. Ich ſah jezt, daß es ein ſehr fruchtbarer ſchö¬
ner Theil ſei, der mich aufgenommen hatte, daß ſich
anmuthige Stellen zwiſchen die Krümmungen der
Hügel hineinziehen, und daß ein dichtes Bewohnt¬
ſein der Gegend etwas ſehr Heiteres ertheile. Der
Tag wurde nach und nach immer wärmer, ohne heiß
zu ſein, und es war jene Stille, die zur Zeit der Ro¬
ſenblüthe weit mehr als zu einer anderen auf den Fel¬
dern iſt. In dieſer Zeit ſind alle Feldgewächſe grün,
ſie ſind im Wachſen begriffen, und wenn nicht viele
[203] Wieſen in der Gegend ſind, auf welchen zu jener Zeit
die Heuernte vorkömmt, ſo haben die Leute keine Arbeit
auf den Feldern, und laſſen ſie allein unter der befruch¬
tenden Sonne. Die Stille war wie in dem Hochge¬
birge; aber ſie war nicht ſo einſam, weil man über¬
all von der Geſelligkeit der Nährpflanzen umge¬
ben war.


Der Klang einer fernen Dorfglocke und meine
Uhr, die ich herauszog, erinnerte mich daran, daß es
Mittag ſei.


Ich ging dem Hauſe zu, das Gitter wurde mir
auf einen Zug an der Glockenſtange geöffnet, und ich
ging in das Speiſezimmer. Dort fand ich meinen
Gaſtfreund und Guſtav, und wir ſezten uns zu Tiſche.
Wir drei waren allein bei dem Mahle.


Während des Eſſens ſagte mein Gaſtfreund: „Ihr
werdet euch wundern, daß wir ſo allein unſere Speiſen
verzehren. Es iſt in der That ſehr zu bedauern, daß
die alte Sitte abgekommen iſt, daß der Herr des
Hauſes zugleich mit den Seinigen und ſeinem Ge¬
ſinde beim Mahle ſizt. Die Dienſtleute gehören auf
dieſe Weiſe zu der Familie, ſie dienen oft lebenslang
in demſelben Hauſe, der Herr lebt mit ihnen ein an¬
genehmes gemeinſchaftliches Leben, und weil alles,
[204] was im Staate und in der Menſchlichkeit gut iſt, von
der Familie kömmt, ſo werden ſie nicht blos gute
Dienſtleute, die den Dienſt lieben, ſondern leicht
auch gute Menſchen, die in einfacher Frömmigkeit
an dem Hauſe wie an einer unverrückbaren Kirche
hängen, und denen der Herr ein zuverläſſiger Freund
iſt. Seit ſie aber von ihm getrennt ſind, für die Ar¬
beit bezahlt werden, und abgeſondert ihre Nahrung
erhalten, gehören ſie nicht zu ihm nicht zu ſeinem
Kinde, haben andere Zwecke, widerſtreben ihm, ver¬
laſſen ihn leicht, und fallen, da ſie familienlos und
ohne Bildung ſind, leicht dem Laſter anheim. Die
Kluft zwiſchen den ſogenannten Gebildeten und Un¬
gebildeten wird immer größer; wenn noch erſt auch
der Landmann ſeine Speiſen in ſeinem abgeſonderten
Stübchen verzehrt, wird dort eine unnatürliche Unter¬
ſcheidung, wo eine natürliche nicht vorhanden gewe¬
ſen wäre.“


„Ich habe,“ fuhr er nach einer Weile fort, „dieſe
Sitte in unſerem hieſigen Hauſe einführen wollen;
allein die Leute waren auf eine andere Weiſe heran¬
gewachſen, waren in ſich ſelber hineingewachſen,
konnten ſich an ein Fremdes nicht anſchließen, und
hätten nur die Freiheit ihres Weſens verloren. Es
[205] iſt kein Zweifel, daß ſie ſich nach und nach in das
Verhältniß würden eingelebt haben, beſonders die
Jüngeren, bei denen die Erziehung noch wirkt; allein
ich bin ſo alt, daß das Unternehmen weit über den
Reſt meiner Jahre hinausgeht. Ich befreite daher
meine Dienſtleute von dem Zwange, und jüngere
Nachfolger mögen den Verſuch wieder erneuern, wenn
ſie meine Meinung theilen.“


Mir fiel bei dieſer Rede mein Elternhaus ein,
in welchem es wohlthuend iſt, daß wenigſtens die
Handlungsdiener meines Vaters mit uns an dem
Mittagstiſche eſſen.


Die Zeit nach dem Mittagseſſen ward dazu be¬
ſtimmt, den Meierhof zu beſuchen, und Guſtav durfte
uns begleiten.


Wir gingen nicht den Weg, der an dem großen
Kirſchbaume vorüber und auf der Höhe der Felder
dahin führt. Dieſer Weg, ſagte mein Gaſtfreund,
ſei mir ſchon bekannt; ſondern wir gingen in der
Nähe der Bienenhütte durch ein Pförtchen in das
Freie, und gingen auf einem Pfade über den ſanf¬
ten Abhang hinab, der noch mit hohen Obſtbäumen,
die die beſſeren Arten des Landes trugen, und von
dem Meierhofgarten übrig geblieben waren, bedeckt
[206] war. Die Wieſen, über die wir wandelten, waren ſo
gut, wie ich ſie ſelten angetroffen habe.


Da wir zu dem Gebäude gekommen waren, ſah
ich, daß es ein weitläufiges Viereck war wie die grö¬
ßeren Landhöfe der Gegend, daß man aber hie und
da daran gebeſſert, und daß man es durch Zubauten
erweitert hatte. Der Hofraum war an den Gebäuden
herum mit breiten Steinen gepflaſtert, der übrige
Theil desſelben war mit grobem Quarzſande bedeckt,
der öfter umgearbeitet wurde. Die Gebäude, welche
dieſen Raum umgaben, enthielten die Ställe Scheunen
Wagengewölbe und Wohnungen. Das Vorraths¬
haus ſtand weiter entfernt in dem Garten. Wir be¬
ſahen die Thiere, welche eben zu Hauſe waren, von
den Pferden und Rindern angefangen bis zu den
Schweinen und dem Federvieh hinunter. Für die
Rinder war hinter dem Hauſe ein ſchöner Plaz ein¬
gefangen, auf welchem ſie in freie Luft gelaſſen wer¬
den konnten. Es ſtrömte friſches Waſſer in einer tie¬
fen Steinrinne durch den Plaz, von welchem ſie trin¬
ken konnten. Ich hatte dieſe Einrichtung nie geſehen,
und ſie gefiel mir ſehr. Ein ähnlicher Plaz war für
das Federvieh eingefangen, und nicht weit da¬
von war ein Anger, auf welchem ſich die Fülle[n]
[207] tummeln konnten. Wir beſuchten auch die Wohnun¬
gen der Leute. Hier fielen mir die großen ſchönen
Steinrahmen auf, die an den Fenſtern geſezt wa¬
ren, auch konnte man leicht die bedeutende Vergrö¬
ßerung der Fenſter ſehen. In der Wagenhalle waren
nicht blos die Wägen und anderen Fahrzeuge ſondern
auch die übrigen Landwirthſchaftsgeräthe in Vorrathe
vorhanden. Die Düngerſtätte, welche auch hier wie
in den meiſten Wirthſchaftshäuſern unſeres Landes
in dem Hofe geweſen war, iſt auf einen Plaz hinter
dem Hauſe verwieſen worden, den ringsum hohe
Gebüſche umfingen.


„Es iſt hier noch vieles im Entſtehen und Wer¬
den begriffen,“ ſagte mein Gaſtfreund, „aber es geht
langſam vorwärts. Man muß die Vorurtheile der
Leute ſchonen, die unter anderen Umgebungen heran¬
gewachſen und ſie gewohnt ſind, damit ſie nicht durch
das Neue beirrt werden, und ihre Liebe zur Arbeit
verlieren. Wir müſſen uns beruhigen, daß ſchon ſo
vieles geſchehen iſt, und auf das Weitere hoffen.“


Die Leute, welche dieſes Haus bewohnten, waren
damit beſchäftigt, das Heu, welches geſtern gemäht
worden war, einzubringen, oder, wo es noth that,
vollkommen zu trocknen. Mein Gaſtfreund redete mit
[208] manchem, und fragte um Verſchiedenes, das ſich auf
die täglichen Geſchäfte bezog.


Als wir von der entgegengeſehen Seite des Hau¬
ſes fortgingen, ſahen wir auch den Garten, in wel¬
chem die Gemüſe und andere Dinge für den Gebrauch
des Hofes gezogen wurden.


Auf dem Rückwege ſchlugen wir eine andere Rich¬
tung ein, als auf der wir gekommen waren. Hatten
wir auf unſerem Herwege den großen Kirſchbaum
nördlich gelaſſen, ſo ließen wir ihn jezt ſüdlich, ſo
daß es ſchien, daß wir den ganzen Garten des Hau¬
ſes umgehen würden. Wir ſtiegen gegen jene Wieſe
hinan, von der mir mein Gaſtfreund geſtern geſagt
hatte, daß ſie die nördliche Grenze ſeines Beſizthums
ſei, und daß er ſie nicht nach ſeinem Willen habe ver¬
beſſern können. Der Weg führte ſachte aufwärts, und
in der Tiefe der Wieſe kam uns in vielen Windungen
ein Bächlein, das mit Schilf und Geſtrippe eingefaßt
war, entgegen. Als wir eine Strecke gegangen waren,
ſagte mein Begleiter: „Das iſt die Wieſe, die ich euch
geſtern von dem Hügel herab gezeigt habe, und von
der ich geſagt habe, daß bis dahin unſer Eigenthum
gehe, und daß ich ſie nicht habe einrichten können, wie
ich gewollt hätte. Ihr ſeht, daß die Stellen an dem
[209] Bache verſumpft ſind, und ſaures Gras tragen. Dem
wäre leicht abzuhelfen, und das mildeſte Gras zu er¬
zielen, wenn man dem Bache einen geraden Lauf
gäbe, daß er ſchneller abflöſſe, die Wände hie und
da mit Steinen ausmauerte und die Niederungen
mit trockener Erde anfüllte. Ich kann euch jezt den
Grund zeigen, weßhalb dieſes nicht geſchieht. Ihr
ſeht an beiden Seiten des Baches Erlenſchößlinge
wachſen. Wenn ihr näher herzutretet, ſo werdet ihr
ſehen, daß dieſe Schößlinge aus dicken Blöcken gleich¬
ſam aus Knollen und Höckern von Holz hervorwach¬
ſen, welches Holz theils über der Erde iſt, theils in
dem feuchten Boden derſelben ſteckt.“


Wir waren bei dieſen Worten zu dem Bache hin¬
zugegangen, und ich ſah, daß es ſo war.


„Dieſe ungeſtalteten Anhäufungen von Holz,“ fuhr
er fort, „aus denen die dünnen Ruthen oder krüppelhafte
Äſte hervorragen, bilden ſich hier in ſumpfigem Boden,
ſie entſtehen aber auch im Sande oder in Steinen, und
ſind ein Aftererzeugniß des ſonſt recht ſchön emporwach¬
ſenden Erlenbaumes. In dem vieltheiligen Streben des
Holzes, eine Menge Ruthen oder zwieträchtige Äſte an¬
zuſezen und ſich ſelber dabei zu vergrößern entſteht ein
ſolches Verwinden und Drehen der Faſern und Rinden,
Stifter, Nachſommer. I. 14[210] daß, wenn man einen ſolchen Block auseinanderſägt,
und die Sägefläche glättet, ſich die ſchönſte Geſtaltung
von Farbe und Zeichnung in Ringen Flammen und
allerlei Schlangenzügen darſtellt, ſo daß dieſe Gat¬
tung Erlenholz ſehr geſucht für Schreinerarbeiten
und ſehr koſtbar iſt. Als ich das Anweſen hier ge¬
kauft, die Wieſe beſehen, und die Erlenblöcke entdeckt
hatte, ließ ich einen ausgraben, auseinanderſägen,
und unterſuchte ihn dann. Da fand ich, der ich da¬
mals im Erkennen des Holzes ſchon mehrere Übung
hatte, daß dieſe Blöcke zu den ſchönſten gehören, die
beſtehen, und daß die feurige Farbe und der weiche
ſeidenartige Glanz des Holzes, auf welche Dinge man
beſonders das Augenmerk richtet, kaum ihres Gleichen
haben dürften. Ich ließ mehrere Blöcke ausgraben,
und Blätter aus ihnen ſchneiden. Ihr werdet die
Verwendung derſelben in unſerer Nachbarſchaft
ſehen, wenn ihr uns wieder beſuchen wollt, und
uns Zeit gebt, euch dorthin zu führen, wo ſie ſind.
Die übrigen Blöcke ließ ich in dem Boden als einen
Schaz, der da bleiben, und ſich vermehren ſollte. Nur
wenn einer derſelben nicht mehr zu treiben, ſondern
vielmehr abzuſterben beginnt, wird er herausgenom¬
men, und wird zu Blättern geſchnitten, welche ich
[211] dann zu künftigen Arbeiten aufbewahre, oder ver¬
kaufe. An ſeiner Stelle bildet ſich dann leicht ein an¬
derer. Zu dem Entſchluſſe, dieſen Anwuchs zu pfle¬
gen, kam ich, nachdem ich einerſeits vorher nach und
nach die Gegend um unſer Haus immer näher kennen
gelernt, alle Thalmulden und Bachrinnen erforſcht
und nirgends auch nur annähernd ſo brauchbares
Erlenholz gefunden hatte, und nachdem anderſeits
auch das, was mir aus mein Verlangen aus mehrern
Orten eingeſendet worden war, ſich dem unſeren als
nicht gleichkommend gezeigt hatte. Ich ließ oberhalb
des Erlenwuchſes einen Waſſerbau aufführen, um
die Pflanzung vor Überſchwemmung und Überkieſung
zu ſichern, und das zu ſehr anſchwellende Waſſer in
ein anderes Rinnſal zu leiten. Meine Nachbarn ſahen
das Zweckdienliche der Sache ein, und zwei derſelben
legten ſogar in öden Gründen, die nicht zu entwäſſern
waren, ſolche Erlenpflanzungen an. Mit welchem Er¬
folge dies geſchah, läßt ſich noch nicht ermitteln, da
die Pflanzen noch zu jung ſind.“


Wir betrachteten die Reihen dieſer Gewächſe, und
gingen dann weiter.


Wir gingen die Wieſe entlang, ſtreiften an einem
Gehölze hin, überſchritten den Waſſerbau, von dem
14 *[212] mein Gaſtfreund geſprochen hatte, und begannen nicht
nur den Garten ſondern den ganzen Getreidehügel,
auf dem das Haus ſteht, zu umgehen.


Da die Sonne immer wärmer wenn auch nicht
gar heiß ſchien wunderte ich mich, daß keiner von
meinen zwei Begleitern eine Bedeckung auf dem
Haupte trug. Sie waren ohne einer ſolchen von dem
Hauſe fortgegangen. Der alte Mann breitete dem
Glanze vor Sonne die Fülle ſeiner weißen Haare
unter, und der Zögling trug auf ſeinem Scheitel die
dichten glänzenden braunen Locken. Ich wußte nicht,
kamen mir die beiden ohne Kopfbedeckung ſonderbar
vor, oder ich neben ihnen mit meinem Reiſehute auf
dem Haupte. Der Jüngling hatte wenigſtens den
Vortheil, daß ihm die Sonne die Wangen noch mehr
röthete, und noch ſchöner färbte, als ſie ſonſt waren.


Ich betrachtete ihn überhaupt gerne. Sein leichter
Gang war ein heiterer Frühlingstag gegen den zwar
auch noch kräftigen aber beſtimmten und abgemeſſe¬
nen Schritt ſeines Begleiters, ſeine ſchlanke Geſtalt
war der fröhliche Anfang, die ſeines Erziehers das
Hinneigen zum Ende. Was ſein Benehmen anbe¬
langt, ſo war er zurückgezogen und beſcheiden, und
miſchte ſich nicht in die Geſpräche, außer wenn er ge¬
[213] fragt wurde. Ich wendete mich häufig an ihn, und
fragte ihn um verſchiedene Dinge, beſonders um
ſolche, die die Gegend umher betrafen, und deren
Kenntniß ich bei ihm vorausſezen mußte. Er antwor¬
tete ſicher, und mit einer gewiſſen Ehrerbiethung ge¬
gen mich, obwohl ich ihm an Jahren nicht ſo ferne
ſtand als ſein Erzieher. Er ging meiſtens, auch wenn
der Weg breit genug geweſen wäre, hinter uns.


Als wir den Hügel vollends umgangen hatten,
und an mehreren ländlichen Wohnungen vorbeigekom¬
men waren, ſtiegen wir auf der nehmlichen Seite und
auf dem nehmlichen Wege gegen das Haus empor, auf
welchem ich geſtern gegen dasſelbe hinangekommen
war. Da wir es erreicht hatten, traten uns die Roſen
entgegen, wie ſie mir geſtern entgegengetreten waren.
Ich nahm von dieſem Anblicke Gelegenheit, meinen
Gaſtfreund der Roſen wegen zu fragen, da ich über¬
haupt geſonnen war, dieſer Blumen willen einmal
eine Frage zu thun. Ich bath ihn, ob wir denn zu
beſſerer Betrachtung nicht näher auf den großen
Sandplaz treten wollten. Wir thaten es, und ſtan¬
den vor der ganzen Wand von Blumen, die den un¬
teren Theil des weißen Hauſes deckte.


Ich ſagte, er müſſe ein beſonderer Freund dieſer
[214] Blumen ſein, da er ſo viele Arten hege, und da die
Pflanzen hier in einer Vollkommenheit zu ſehen ſeien
wie ſonſt nirgends.


„Ich liebe dieſe Blume allerdings ſehr,“ antwor¬
tete er, „halte ſie auch für die ſchönſte, und weiß wirk¬
lich nicht mehr, welche von dieſen beiden Empfindun¬
gen aus der andern hervorgegangen iſt.“


„Ich wäre auch geneigt,“ ſagte ich, „die Roſe für
die ſchönſte Blume zu halten. Die Camellia ſteht ihr
nahe, dieſelbe iſt zart klar und rein, oft iſt ſie voll von
Pracht; aber ſie hat immer für uns etwas Fremdes,
ſie ſteht immer mit einem gewiſſen vornehmen An¬
ſtande da: das Weiche, ich möchte den Ausdruck ge¬
brauchen, das Süße der Roſe hat ſie nicht. Wir wol¬
len von dem Geruche gar nicht einmal reden; denn
der gehört nicht hieher.“


„Nein,“ ſagte er, „der gehört nicht hieher, wenn
wir von der Schönheit ſprechen; aber gehen wir über
die Schönheit hinaus, und ſprechen wir von dem
Geruche, ſo dürfte keiner ſein, der dem Roſengeruche
an Lieblichkeit gleichkömmt.“


„Darüber könnte nach einzelner Vorliebe geſtrit¬
ten werden,“ antwortete ich, „aber gewiß wird die
Roſe weit mehr Freunde als Gegner haben. Sie wird
[215] ſowohl jezt geehrt, als ſie in der Vergangenheit ge¬
ehrt wurde. Ihr Bild iſt zu Vergleichen das ge¬
bräuchlichſte, mit ihrer Farbe wird die Jugend und
Schönheit geſchmückt, man umringt Wohnungen mit
ihr, ihr Geruch wird für ein Kleinod gehalten, und
als etwas Köſtliches verſendet, und es hat Völker
gegeben, die die Roſenpflege beſonders ſchüzten, wie
ja die waffenkundigen Römer ſich mit Roſen kränzten.
Beſonders liebenswerth iſt ſie, wenn ſie ſo zur An¬
ſchauung gebracht wird wie hier, wenn ſie durch eigen¬
thümliche Mannigfaltigkeit und Zuſammenſtellung er¬
höht, und ihr gleichſam geſchmeichelt wird. Erſtens
iſt hier eine wahre Gewalt von Roſen, dann ſind ſie
an der großen weißen Fläche des Hauſes vertheilt,
von der ſie ſich abheben; vor ihnen iſt die weiße Fläche
des Sandes, und dieſe wird wieder durch das grüne
Raſenband und die Hecke wie durch ein grünes Samt¬
band und eine grüne Verzierung von dem Getreide¬
felde getrennt.“


„Ich habe aus dieſen Umſtand nicht eigens ge¬
dacht,“ ſagte er, „als ich ſie pflanzte, obwohl ich dar¬
auf ſah, daß ſie ſich auch ſo ſchön als möglich dar¬
ſtellten.“


„Aber ich begreife nicht, wie ſie hier ſo gut ge¬
[216] deihen können,“ entgegnete ich. „Sie haben hier ei¬
gentlich die ungünſtigſten Bedingungen. Da iſt das
hölzerne Gitter, an das ſie mit Zwang gebunden ſind,
die weiße Wand, an der ſich die brennenden Sonnen¬
ſtrahlen fangen, das Überdach, welches dem Regen
Thaue und dem Einwirken des Himmelsgewölbes
hinderlich iſt, und endlich hält das Haus ja ſelber
den freien Luftzug ab.“


„Wir haben dieſes Gedeihen nur nach und nach
hervorrufen können,“ antwortete er, „und es ſind viele
Fehlgriffe gethan worden. Wir lernten aber, und
griffen die Sache dann der Ordnung nach an. Es
wurde die Erde, welche die Roſen vorzüglich lieben,
theils von anderen Orten verſchrieben, theils nach
Angabe von Büchern, die ich hiezu anſchaffte, im
Garten bereitet. Ich bin wohl nicht ganz unerfahren
hieher gekommen, ich hatte auch vorher ſchon Roſen
gezogen, und habe hier meine Erfahrungen angewen¬
det. Als die Erde bereit war, wurde ein tiefer breiter
Graben vor dem Hauſe gemacht, und mit der Erde
gefüllt. Hierauf wurde das hölzerne Gitter, welches
reichlich mit Öhlfarbe beſtrichen war, daß es von
Waſſer nicht in Fäulniß geſezt werden konnte, aufge¬
richtet, und eines Frühlings wurden die Roſenpflan¬
[217] zen, die ich entweder ſelbſt gezogen oder von Blumen¬
züchtern eingeſendet erhalten hatte, in die lockere Erde
geſezt. Da ſie wuchſen, wurden ſie angebunden, im
Laufe der Jahre verſezt, verwechſelt, beſchnitten und
dergleichen, bis ſich die Wand allgemach erfüllte. In
dem Garten ſind die Vorrathsbeete angelegt worden,
gleichſam die Schule, in welcher die gezogen werden,
die einmal hieher kommen ſollen. Wir haben gegen
die Sonne eine Rolle Leinwand unter dem Dache an¬
bringen laſſen, die durch einige leichte Züge mit
Schnüren in ein Dach über die Roſen verwandelt
werden kann, das nur gedämpfte Strahlen durchläßt.
So werden die Pflanzen vor der zu heißen Sommer¬
ſonne und die Blumen vor derjenigen Sonne ge¬
ſchüzt, die ihnen ſchaden könnte. Die heutige iſt ih¬
nen nicht zu heiß, ihr ſeht, daß ſie ſie fröhlich aus¬
halten. Was ihr von Thau und Regen ſagt, ſo ſteht
das Gitter nicht ſo nahe an dem Hauſe, daß die Ein¬
flüſſe des freien Himmels ganz abgehalten werden.
Thau ſammelt ſich auf den Roſen und ſelbſt Regen
träufelt auf ſie herunter. Damit wir aber doch nach¬
helfen, und zu jener Zeit Waſſer geben können, wo
es der Himmel verſagt, haben wir eine hohle Walze
unter der Dachrinne, die mit äußerſt feinen Löchern
[218] verſehen iſt, und aus Tonnen, die unter dem Dache
ſtehen, mit Waſſer gefüllt werden kann. Durch einen
leichten Druck werden die Löcher geöffnet, und das
Waſſer fällt wie Thau auf die Roſen nieder. Es iſt
wirklich ein angenehmer Anblick, zu ſehen, wie in
Zeiten hoher Noth das Waſſer von Blättern und
Zweigen rieſelt, und dieſelben ſich daran erfriſchen.
Und damit es endlich nicht an Luft gebricht, wie ihr
fürchtet, gibt es ein leichtes Mittel. Zuerſt iſt auf die¬
ſem Hügel ein ſchwacher Luftzug ohnehin immer vor¬
handen, und ſtreicht an der Wand des Hauſes. Soll¬
ten aber die Blumen an ganz ſtillen Tagen doch einer
Luft bedürfen, ſo werden alle Fenſter des Erdgeſchoſ¬
ſes geöffnet, und zwar ſowohl an dieſer Wand als
auch an der entgegengeſezten. Da nun die entgegen¬
geſezte Seite die nördliche iſt, und dort die Luft durch
den Schatten abgekühlt wird, ſo ſtrömt ſie bei jenen
Fenſtern herein und bei denen der Roſen heraus. Ihr
könnt da an den windſtillſten Tagen ein ſanftes Fä¬
cheln der Blätter ſehen.“


„Das ſind bedeutende Anſtalten,“ erwiederte ich,
„und beweiſen eure Liebe zu dieſen Blumen; aber aus
ihnen allein erklärt ſich doch noch nicht die beſondere
Vollkommenheit dieſer Gewächſe, die ich nirgends
[219] geſehen habe, ſo daß keine unvollkommene Blume
kein dürrer Zweig kein unregelmäßiges Blatt vor¬
kömmt.“


„Zum Theile erklärt ſich die Thatſache doch wohl
aus dieſen Anſtalten,“ ſagte er. „Luft Sonne und Re¬
gen ſind durch die ſüdliche Lage des Standortes und
die Vorrichtungen ſo weit verbeſſert, als ſie hier ver¬
beſſert werden können. Noch mehr iſt an der Erde ge¬
than worden. Da wir nicht wiſſen, welches denn der
lezte Grund des Gedeihens lebendiger Weſen über¬
haupt iſt, ſo ſchloß ich, daß den Roſen am meiſten
gut thun müſſe, was von Roſen kömmt. Wir ließen
daher ſeit jeher alle Roſenabfälle ſammeln, beſonders
die Blätter und ſelbſt die Zweige der wilden Roſen,
welche ſich in der ganzen Gegend befinden. Dieſe Ab¬
fälle werden zu Hügeln in einem abgelegenen Theile
unſeres Gartens zuſammengethan, den Einflüſſen
von Luft und Regen ausgeſezt, und ſo bereitet ſich die
Roſenerde. Wenn in einem Hügel ſich keine Spur
mehr von Pflanzenthum zeigt, und nichts als milde
Erde vor die Augen tritt, ſo wird dieſe den Roſen ge¬
geben. Die Pflanzen, welche neu geſezt werden, er¬
halten in ihrem Graben gleich ſo viel Erde, daß ſie
auf mehrere Jahre verſorgt ſind. Ältere Roſen,
[220] welche von ihrem Standboden längere Zeit gezehrt
haben, werden mit einer Erneuerung betheilt. Ent¬
weder wird die Erde oberhalb ihrer Wurzeln wegge¬
than, und ihnen neue gegeben, oder ſie werden ganz
ausgehoben, und ihr Standpunkt durchaus mit fri¬
ſcher Erde erfüllt. Es iſt auffällig ſichtbar, wie ſich
Blatt und Blume an dieſer Gabe erfreuen. Aber troz
der Erde und der Luft und der Sonne und der Feuch¬
tigkeit würdet ihr die Roſen hier nicht ſo ſchön ſehen,
als ihr ſie ſeht, wenn nicht noch andre Sorgfalt an¬
gewendet würde; denn immer entſtehen manche Übel
aus Urſachen, die wir nicht ergründen können, oder
die, wenn ſie auch ergründet ſind, wir nicht zu verei¬
teln vermögen. Endlich trift ja die Gewächſe wie alles
Lebende der natürliche Tod. Kranke Pflanzen werden
nun bei uns ſogleich ausgehoben, in den Garten,
gleichſam in das Roſenhospital gethan, und durch
andere aus der Schule erſezt. Abgeſtorbene Bäum¬
chen kommen hier nicht leicht vor, weil ſie ſchon in
der Zeit des Abſterbens weggethan werden. Tödtet
aber eine Urſache eines ſchnell, ſo wird es ohne Ver¬
zug entfernt. Eben ſo werden Theile, die erkranken
oder zu Grunde gehen, von dem Gitter getrennt. Die
beſte Zeit iſt der Frühling, wo die Zweige blos liegen.
[221] Da werden Winkelleitern, die uns den Zugang zu
allen Theilen geſtatten, angelegt, und es wird das
ganze Gitter unterſucht. Man reinigt die Rinde,
pflegt ſie, verbindet ihre Wunden, knüpft die Zweige
an, und ſchneidet das Untaugliche weg. Aber auch
im Sommer entfernen wir gleich jedes fehlerhafte
Blatt und jede unvollſtändige Blume. Es haben nach
und nach alle im Hauſe eine Neigung zu den Roſen
bekommen, ſehen gerne nach, und zeigen es ſogleich
an, wenn ſich etwas Unrechtes bemerken läßt. Auch
in der Umgegend hat man Wohlgefallen an dieſen
Blumen gefunden, man ſezt ſie in Gärten und pflegt
ſie, ich ſchenke den Leuten die Pflanzen aus meinen
Vermehrungsbeeten, und unterrichte ſie in der Behand¬
lung. Zwei Wegeſtunden von hier iſt ein Bauer, der
wie ich eine ganze Wand ſeines Hauſes mit Roſen
bepflanzt hat.“


„Je mehr es mir wichtig erſcheint, wie ihr mit
euren Roſen umgeht,“ antwortete ich, „und für je
wichtiger ihr ſie ſelbſt betrachtet, deſto mehr muß ich
doch die Frage thun, warum ihr denn gerade vorzugs¬
weiſe an dieſer Wand eures Hauſes die Roſen zieht,
wo ihr Standort doch nicht ſo erſprießlich iſt, und
wo man ſolche Anſtalten machen muß, um ihr völli¬
[222] ges Gedeihen zu ſichern. Es iſt zwar ſehr ſchön, wie
ſie ſich hier ausbreiten und darſtellen; aber ſollte man
ſie denn im Garten nicht auch in Stellungen und
Gruppen bringen können, die eben ſo ſchön oder ſchö¬
ner wären als dieſe hier, und noch den Vortheil hät¬
ten, daß ihre Pflege viel leichter wäre.“


„Ich habe die Roſen an die Wand des Hauſes
geſezt,“ erwiederte er, „weil ſich eine Jugenderinne¬
rung an dieſe Blume knüpft, und mir die Art, ſie ſo
zu ziehen, lieb macht. Ich glaube, daß mir einzig da¬
rum die Roſe ſo ſchön erſcheint, und daß ich darum
die große Mühe für dieſe Art ihrer Pflege verwende.“


„Ihr habt nichts von Ungeziefer geſagt,“ entgeg¬
nete ich. „Nun weiß ich aber aus Erfahrung, daß
kaum eine Pflanzengattung etwa die Pappel ausge¬
nommen ſo gerne von Ungeziefer heimgeſucht wird als
die Roſe, die in verſchiedenen Arten und Geſchlech¬
tern von demſelben bewohnt und entſtellt wird. Hier
ſehe ich von dieſer Plage gar nichts, als wäre ſie
nicht vorhanden, oder als würde die Roſe von ihr
durch irgend ein künſtliches Mittel befreit. Ihr werdet
doch nicht ſo wie jedes kranke Blatt, auch jeden Blatt¬
wickler jede Spinne jede Blattlaus abnehmen laſſen?
Aber dieſes bringt mich ſogar noch auf einen weiteren
[223] Umſtand, über den ich mir eine Frage an euch zu thun
vorgenommen habe, welche ich gewiß noch vor meiner
Abreiſe bei einer ſchicklichen Gelegenheit gethan hätte,
welche ich mir aber jezt erlaube, da ihr mit ſolcher
Güte und Bereitwilligkeit mir die Einſicht in die Dinge
dieſes Landſizes geſtattet habt. Bei meiner Wande¬
rung durch das flache Land hatte ich mehrfach Gele¬
genheit zu bemerken, daß Obſtbäume häufig kahle
Äſte haben, oder daß überhaupt das Laub zerſtört
oder verunſtaltet war, was von Raupenfraß her¬
rührte. Mir fiel die Sache nicht weiter auf, da ich
ſie von Jugend an zu ſehen gewohnt war, und da ſie
ſich nicht in einem ungewöhnlichen Grade zeigte; aber
das fiel mir auf, daß ſo wie an dieſen Roſen auch in
eurem ganzen Garten nichts von dem Übel zu ſehen
iſt, kein dürres Reis kein kahles Zweiglein kein Sten¬
gel eines abgefreſſenen Blattes ja nicht einmal ein
verleztes Blatt des Kohles, dem doch ſonſt der Wei߬
ling ſo gerne Schaden thut. Im Angeſichte dieſes
Wohlbefindens kamen mir die Zerſtörungen wieder
zu Sinne, die ich in dem Lande geſehen hatte, und ich
beſchloß, in dieſer Hinſicht eine Frage an euch zu
thun, ob ihr denn da eigenthümliche Vorkehrungen
[224] habt; denn das Ableſen der Raupen und Inſekten hat
ſich ja überall als unzulänglich gezeigt.“


„Wir würden allerdings durch Ableſen des Unge¬
ziefers weder unſere Roſen noch die Bäume und Ge¬
ſträuche im Garten vor Verunglimpfung frei halten
können,“ antwortete er. „Wir haben nun in der That
andere Einrichtungen dagegen. Ich muß euch ſagen
daß es mich freut, daß ihr in meinem Garten die Ab¬
weſenheit des Raupenfraßes bemerkt habt, und ich
werde euch recht gerne darüber Aufklärung geben, und
beſonders darum, daß es ſich auch ausbreiten könne.
Die Beantwortung eurer Frage kann aber am beſten
in dem Garten geſchehen, weil ich euch zur Bekräfti¬
gung gleich manche Vorrichtungen zeigen und die Be¬
weiſe darthun kann. Wenn es euch genehm iſt, ſo
gehen wir in den Garten, in welchem auch eine kleine
Ruhe auf irgend einem Bänkchen nach dem Gange
von dem Meierhofe herauf nicht unangenehm ſein
wird.“


„Einen Augenblick laßt mich noch dieſe Roſen be¬
trachten,“ ſagte ich.


„Thut nach eurem Gefallen,“ antwortete er.


Ich trat zuerſt näher an das Gitter, um Einzel¬
nes zu betrachten. Ich ſah nun wirklich die reinliche
[225] Erde, in welcher die Stämmchen ſtanden, und die
nicht von einem einzigen Gräschen bewachſen war.
Ich ſah das gutbeſtrichene Holzgitter, an welchem die
Bäumchen angebunden, und an welchem ihre Zweige
ausgebreitet waren, daß ſich keine leere Stelle an der
Wand des Hauſes zeigte. An jedem Stämmchen hing
der Name der Blume auf Papier geſchrieben und in
einer gläſernen Hülſe hernieder. Dieſe gläſernen Hül¬
ſen waren gegen den Regen geſchüzt, indem ſie oben
geſchloſſen, unten umgeſtülpt, und mit einer kleinen
Abflußrinne verſehen waren. Nach dieſer Betrachtung
in der Nähe trat ich wieder zurück, und beſah noch
einmal die ganze Wand der Blumen durch mehrere
Augenblicke. Nachdem ich dieſes gethan hatte, ſagte
ich, daß wir jezt in den Garten gehen könnten.


Wir näherten uns dem Thorgitter, der alte Mann
that einen Druck wie geſtern, da er mich eingelaſſen
hatte, das Thor öffnete ſich, und wir gingen in den
Garten. Dort näherten wir uns einer Bank, die in
angenehmem nachmittägigem Schatten ſtand. Als wir
uns auf ihr niedergeſezt hatten, ſagte mein Gaſt¬
freund: „Unſere Mittel, die Bäume Geſträuche und
kleineren Pflanzen vor Kahlheit zu bewahren, ſind ſo
einfach, und in der Natur gegründet, daß es eine
Stifter, Nachſommer. I. 15[226] Schande wäre ſie aufzuzählen, wenn es andererſeits
nicht auch wahr wäre, daß ſie nicht überall angewen¬
det werden, beſonders das lezte. Was nun das Kahl¬
werden von Bäumen und Äſten anlangt, ſo entſteht
es nicht immer durch Raupen, ſondern oft auch auf
andern Wegen nach und nach. Gegen ein endliches
Sterben und alſo Entlaubtwerden des ganzen Bau¬
mes gibt es ſo wenig ein Mittel als gegen den Tod
des Menſchen; aber ſo weit darf man es bei einem
Baume im Garten nicht kommen laſſen, daß er todt
in demſelben daſteht; ſondern wenn man ihm durch
Zurückſchneiden ſeiner Äſte öfter Verjüngungskräfte
gegeben hat, wenn aber nach und nach dieſes Mittel
anfängt, ſeine Wirkung nicht mehr zu bewähren, ſo
thut man dem Baume und dem Garten eine Wohl¬
that, wenn man beide trennt. Ein ſolcher Baum ſteht
alſo in einem nur einiger Maßen gut beſorgten Gar¬
ten oder auf anderem Grunde gar nicht. Damit aber
auch nicht Theile eines Baumes kahl daſtehen, haben
wir mehrere Mittel. Sie beſtehen aber darin, dem
Baume zu geben, was ihm noththut, und ihm zu neh¬
men, was ihm ſchadet. Darum gilt als Oberſtes, daß
man nie einen Baum an eine Stelle ſeze, auf der er
nicht leben kann. Auf Stellen, die Bäumen über¬
[227] haupt das Leben verſagen, ſezt wohl kein vernünftiger
Menſch einen. Aber es gibt auch Stellen, die nur
darum nicht taugen, weil ſie nicht bearbeitet ſind, oder
weil ihnen etwas mangelt, was einem beſtimmten
Gewächſe nothwendig iſt. Um nun die Stelle gut zu
bearbeiten, haben wir, ehe wir einen Baum ſezten,
eine ſo tiefe Grube gegraben, und mit gelockerter
Erde gefüllt, daß der Baum bedeutend alt werden
konnte, ehe er genöthigt war, ſeine Wurzeln in un¬
bearbeiteten Boden zu treiben. Selbſt alte Stämme,
die ich hier gefunden hatte, und deren Zuſtand mir
nicht gefiel, habe ich durch Herausnehmen Lockern
ihres Standortes und Wiedereinſezen zu vortreffli¬
chem Gedeihen gebracht. Aber ehe wir die Grube
gegraben haben, ehe wir den Baum in dieſelbe geſezt
haben, haben wir auch durch Erfahrung oder Bücher
herauszubringen geſucht, was ihm auch nebſt der
Erde noch noth thue, und welchen Plaz er haben
müſſe. Für welchen Baum ein geeigneter Plaz im
Garten nicht iſt, der ſoll auch im Garten gar nicht
ſein. Welche Bäume viele Luft brauchen, ſezten wir
in die Luft, die das Licht lieben, in das Licht, die den
Schatten, in den Schatten. In den Schuz der größe¬
ren oder windwiderſtandsfähigeren ſezten wir diejeni¬
15 *[228] gen, welche des Schuzes bedurften. Die Froſt und
Reif ſcheuen, ſtehen an Wänden oder warmen Orten.
Und auf dieſe Weiſe gedeihen nun alle durch ihre Le¬
benskraft und natürliche Nahrung. Im Frühlinge
wird jeder Stamm und ſeine ſtärkeren Äſte durch eine
Bürſte und gutes Seifenwaſſer gewaſchen und gerei¬
nigt. Durch die Bürſte werden die fremden Stoffe,
die dem Baume ſchaden könnten, entfernt, und das
Waſchen iſt ein nüzliches Bad für die Rinde, die wie
die Haut der Thiere von dem höchſten Belange für
das Leben iſt, und endlich werden die Stämme da¬
durch auch ſchön. Unſere Bäume haben kein Moos,
die Rinde iſt klar und bei den Kirſchbäumen faſt ſo
fein wie graue Seide.“


Ich hatte wohl geſehen, daß alle Bäume eine ſehr
geſunde Rinde haben; aber ich hatte dieſes mit ihren
ſchönen Blättern und mit ihrem guten Gedeihen über¬
haupt als eine nothwendige Folge in Zuſammenhang
gebracht.


„Wenn nun troz aller Vorſichten doch einzelne
Theile der Bäume durch Winde Kälte oder der¬
gleichen kahl werden,“ fuhr mein Gaſtfreund fort,
„ſo werden dieſelben bei dem Beſchneiden der Bäume
im Frühlinge entfernt. Der Schnitt wird mit gutem
[229] Kitte verſtrichen, daß keine Näſſe in das Holz drin¬
gen, und in dem noch geſunden Theile eine Krank¬
heit erzeugen kann. Und ſo würde in einem Garten
nie eine Kahlheit zu erblicken ſein, wenn nicht äußere
Feinde kämen, die eine ſolche zu bewirken trachteten.
Derlei Feinde ſind Hagel Wolkenbrüche und ähnliche
Naturerſcheinungen, gegen die es keine Mittel gibt.
Sie ſchaden aber auch nicht ſo ſehr. In unſeren Ge¬
genden ſind ſie ſelten, und ihre Wirkungen können
auch leicht durch ſchnelles Beſeitigen des Zerſtörten
durch Nachwuchs und Nachpflanzungen unbemerkbar
gemacht werden. Aber gefährlichere Gegner ſind die
Inſekten, dieſe können die Güte eines Gartens zerſtö¬
ren, können ſeine Schönheit entſtellen, und ihm in
manchen Jahren einen wahrhaft traurigen Anblick
geben. Dies iſt der Umſtand, von dem ich ſagte, daß
ich ſeiner zulezt Erwähnung thun werde. Ihr ſeht,
daß unſer Garten von der Inſektenplage, die ihr, wie
ihr ſagt, auf eurer Wanderung an anderen Bäumen
bemerkt habt, in dieſem Jahre frei iſt.“


„Ich habe Äpfelbäume an warmen und ſtillen
Orten faſt ganz entlaubt geſehen,“ antwortete ich.
„Es ſind mir mehrere Fälle dieſer Art vorgekommen.
Aber daß einzelne Äſte entlaubt waren, daß das Laub
[230] von ganzen Bäumen entſtellt war, habe ich oft ge¬
ſehen. Allein ich habe es für kein großes Übel gehal¬
ten, und habe auf kein ſchlechtes Jahr geſchloſſen, weil
ich wußte, daß dieſe Zerſtörungen immer vorkommen,
und daß ihr Schaden, wenn ſie nicht im Übermaße
auftreten, nicht erheblich iſt. Ich betrachtete die Er¬
ſcheinung als ein Ding, das ſo ſein muß.“


„Daran möchtet ihr Unrecht gethan haben,“ ſagte
mein Gaſtfreund, „einen Schaden bringt dieſe Erſchei¬
nung immer, und wenn man ihn nach ganzen Länder¬
ſtrichen berechnete, ſo könnte er ein ſehr beträchtlicher
ſein, zu dem noch der andere kömmt, daß man den ent¬
laubten Baum anſchauen muß. Auch iſt das Ding keine
Erſcheinung, die ſo ſein muß. Es gibt ein Mittel
dagegen, und zwar ein Mittel, das außer ſeiner
Wirkſamkeit auch noch ſehr ſchön iſt, und alſo zum
Nuzen einen Genuß beſchert, durch den uns die Na¬
tur gleichſam zu ſeiner Anwendung leiten will. Aber
dennoch, wie ich früher ſagte, wird dieſes Mittel
unter allen am wenigſten gebraucht, ja man beei¬
fert ſich ſogar an vielen Orten es zu zerſtören. Ihr
ſolltet das Mittel ſchon wahrgenommen haben.“


Ich ſah ihn fragend an.


[231]

„Habt ihr nicht etwas in unſerem Garten gehört,
das euch beſonders auffallend war?“ fragte er.


„Den Vogelgeſang,“ ſagte ich plözlich.


„Ihr habt richtig bemerkt,“ erwiederte er. „Die
Vögel ſind in dieſem Garten unſer Mittel gegen Rau¬
pen und ſchädliches Ungeziefer. Dieſe ſind es, welche
die Bäume Geſträuche die kleinen Pflanzen und na¬
türlich auch die Roſen weit beſſer reinigen, als es
Menſchenhände oder was immer für Mittel zu be¬
werkſtelligen im Stande wären. Seit dieſe angeneh¬
men Arbeiter uns Hilfe leiſten, hat ſich in unſerm
Garten ſo wie im heurigen Jahre auch ſonſt nie mehr
ein Raupenfraß eingefunden, der nur im Geringſten
bemerkbar geweſen wäre.“


„Aber Vögel ſind ja an allen Orten,“ entgegnete
ich. „Sollten ſie in eurem Garten mehr ſein, um ihn
mehr ſchüzen zu können?“


„Sie ſind auch mehr in unſerem Garten,“ erwie¬
derte er, „weit mehr als an jeder Stelle dieſes Landes
und vielleicht auch anderer Länder.“


„Und wie iſt denn dieſe Mehrheit hieher gebracht
worden?“ fragte ich.


„Es iſt ſo, wie ich früher von den Bäumen geſagt
habe, man muß ihnen die Bedingungen ihres Ge¬
[232] deihens geben, wenn man ſie an einem Orte haben
will; nur daß man die Thiere nicht erſt an den Ort
ſezen muß wie die Bäume, ſie kommen ſelber, beſon¬
ders die Vögel, denen das Überſiedeln ſo leicht iſt.“


„Und welche ſind denn die Bedingungen ihres
Gedeihens?“ fragte ich.


„Hauptſächlich Schuz und Nahrung,“ erwie¬
derte er.


„Wie kann man denn einen Vogel ſchüzen?“
fragte ich.


„Ihn kann man nicht ſchüzen,“ ſagte mein Gaſt¬
freund, „er ſchüzt ſich ſelber; aber die Gelegenheit
zum Schuze kann man ihm geben. Die Singvögel,
welche ſich nicht mit Waffen vertheidigen können,
ſuchen gegen Feinde und Wetter Höhlungen in Bäu¬
men Felſen Mauern oder dergleichen auf, die ſo enge
ſind, daß ihnen ihr meiſtens größerer Feind in dieſel¬
ben nicht folgen kann, und ſo tief, daß er auch nicht
mit einem Schnabel oder einer Taze bis auf den
Grund zu langen vermag — einige, wie die Spechte,
machen ſich ſelber die Höhlungen in die Bäume —
oder ſie gehen in ſolche Dickichte, daß Raubvögel
Wieſel und ähnliche Verfolger nicht durchzudringen
[233] vermögen. Hiebei iſt es ihnen noch mehr um den
Schuz ihrer Jungen, die ſie in ſolchen Orten haben,
als um ihren eigenen zu thun. Erſt, wenn ſo geſicherte
Stellen nicht zu finden ſind, und die Zeit drängt, be¬
gnügt ſich der Singvogel zum Wohnen und Brüten
mit ſchlechteren Pläzen. Hat eine Gegend häufige
ſolche Zufluchtsorte, ſo darf man ſicher ſchließen, daß
ſie auch, wenn die andern Bedingungen nicht fehlen,
viele Vögel hat. Denkt nur an ein altes löcheriges
Thurmdach, wie iſt es von Dohlen und Mauerſchwal¬
ben umſchwärmt. Will man Vögel in eine Gegend
ziehen, ſo muß man ſolche Zufluchtsorte ſchaffen, und
zwar ſo gut als möglich. Wir können, wie ihr ſeht,
nicht Felſen und Baumſtämme aushöhlen, aber aus
Holz gemachte Höhlungen können wir überall auf
die Bäume aufhängen. Und dies thun wir auch. Wir
machen dieſe Höhlungen tief genug, richten das
Schlupfloch von der Wetterſeite weg meiſtens gegen
Mittag, und machen es gerade ſo weit, daß der Vo¬
gel, für den es beſtimmt iſt, ein und aus kann. Ihr
müßt ja derlei in den Bäumen unſeres Gartens ge¬
ſehen haben?“


„Ich habe ſie geſehen,“ erwiederte ich, „habe dun¬
kel vermuthet, wozu ſie dienen könnten, habe aber die
[234] Vorſtellung in Folge anderer Eindrücke wieder aus
dem Haupte verloren.“


„Wenn wir etwa noch einmal ein wenig in dem
Garten herumgehn,“ ſagte mein Gaſtfreund, „ſo wer¬
den wir mehrere ſolche Vogelbehälter ſehen. Den
Heckenniſtern bauen wir ein ſo dichtes Geflechte von
Dornzweigen und Dornäſten in unſere Büſche, daß
man meinen ſollte, es könne kaum eine Hummel ein-
und ausſchlüpfen; aber der Vogel findet doch einen
Eingang, und baut ſich ſein Neſt. Solcher Neſter könnt
ihr mehrere ſehen, wenn ihr wollt. Sie haben das
Angenehme, daß man dieſe Federfamilien in ihrem
Haushalte ſieht, was bei den Höhlenniſtern nicht an¬
geht. Auf dieſe Weiſe ſchüzen wir die kleineren Vögel,
die wir in unſerem Garten brauchen. Die großen,
welche ſich mit Schnabel Krallen und Flügeln verthei¬
digen können, ſind bei uns eher Feinde als Freunde,
und werden nicht geduldet.“


„Außer dem Schuze,“ fuhr er nach einer Weile
fort, „brauchen die Vögel auch Nahrung. Sie meiden
die nahrungsarmen Orte, und unterſcheiden ſich hier¬
durch von den Menſchen, welche zuweilen große
Strecken weit gerade dahin wandern, wo ſie ihren
Unterhalt nicht finden. Die Vögel, die für unſeren
[235] Garten paſſen, ernähren ſich meiſtens von Gewür¬
men und Inſekten; aber wenn an einem Plaze, der
zum Niſten geeignet iſt, die Zahl der Vögel ſo groß
wird, daß ſie ihre Nahrung nicht mehr finden, ſo
wandert ein Theil aus, und ſucht den Unterhalt des
Lebens anderswo. Will man daher an einem Orte
eine ſo große Zahl von Vögeln zurückhalten, daß man
vollkommen ſicher iſt, daß ſie auch in den ungeziefer¬
reichſten Jahren hinlänglich ſind, um Schaden zu ver¬
hüthen, ſo muß man ihnen außer ihrer von der Natur
gegebenen Nahrung auch künſtliche mit den eigenen
Händen ſpenden. Thut man das, ſo kann man ſo
viele Vögel an einem Plaze erziehen, als man will.
Es kömmt nur darauf an, daß man, um ſeinen Zweck
nicht aus den Augen zu verlieren, nur ſo viel Almo¬
ſen gibt, als nothwendig iſt, einen Nahrungsman¬
gel zu verhindern. Es iſt wohl in dieſer Hinſicht im
Allgemeinen nicht zu befürchten, daß in der künſtli¬
chen Nahrung ein Uebermaß eintrete, da den Thieren
ohnehin die Inſekten am liebſten ſind. Nur wenn dieſe
Nahrung gar zu reizend für ſie gemacht würde, könnte
ein ſolches Uebermaß erfolgen, was leicht an der Ver¬
mehrung des Ungeziefers erkannt werden würde. Ei¬
nige Erfahrung läßt einen ſchon den rechten Weg ein¬
[236] halten. Im Winter, in welchem einige Arten dablei¬
ben, und in Zeiten, wo ihre natürliche Koſt ganz
mangelt, muß man ſie vollſtändig ernähren, um ſie
an den Plaz zu feßeln. Durch unſere Anſtalten ſind
Vögel, die im Frühlinge nach Pläzen ſuchten, wo ſie
ſich anbauen könnten, in unſerem Garten geblieben,
ſie ſind, da ſie die Bequemlichkeit ſahen, und Nahrung
wußten, im nächſten Jahre wieder gekommen oder,
wenn ſie Wintervögel waren, gar nicht fortgegangen.
Weil aber auch die Jungen ein Heimathsgefühl ha¬
ben, und gerne an Stellen bleiben, wo ſie zuerſt die
Welt erblickten, ſo erkoren ſich auch dieſe den Garten
zu ihrem künftigen Aufenthaltsorte. Zu den vorhan¬
denen kamen von Zeit zu Zeit auch neue Einwande¬
rer, und ſo vermehrt ſich die Zahl der Vögel in dem
Garten und ſogar in der nächſten Umgebung von
Jahr zu Jahr. Selbſt ſolche Vögel, die ſonſt nicht
gewöhnlich in Gärten ſind, ſondern mehr in Wäldern
und abgelegenen Gebüſchen, ſind gelegentlich gekom¬
men, und da es ihnen gefiel, da geblieben, wenn ih¬
nen auch manche Dinge, die ſonſt der Wald und die
Einſamkeit gewährt, hier abgehen mochten. Zur Nah¬
rung rechnen wir auch Licht Luft und Wärme. Dieſe
Dinge geben wir nach Bedarf dadurch, daß wir die
[237] Baupläze zu den Neſtern an den verſchiedenſten Stel¬
len des Gartens anbringen, damit ſich die Paare die
wärmeren oder kühleren, luftigeren oder ſonnigeren
ausſuchen können. Für welche keine taugliche Stelle
möglich iſt, die ſind nicht hier. Es ſind das nur ſolche
Vögel, für welche die hieſigen Landſtriche überhaupt
nicht paſſen, und dieſe Vögel ſind dann auch für un¬
ſere Landſtriche nicht nöthig. Zu den geeigneten Zeiten
beſuchen uns auch Wanderer und Durchzügler, die
auf der Jahresreiſe begriffen ſind. Sie hätten eigent¬
lich keinen Anſpruch auf eine Gabe, allein da ſie
ſich unter die Einwohner miſchen, ſo eſſen ſie auch
an ihrer Schüſſel, und gehen dann weiter.“


„Auf welche Weiſe gebt ihr denn den Thieren die
nöthige Nahrung?“ fragte ich.


„Dazu haben wir verſchiedene Einrichtungen,“
ſagte er. „Manche von den Vögeln haben bei ihrem
Speiſen feſten Boden unter den Füſſen, wie die
Spechte, die an den Bäumen hacken, und ſolche, die
ihre Nahrung auf der platten Erde ſuchen: andere be¬
ſonders die Waldvögel lieben das Schwanken der
Zweige, wenn ſie eſſen, da ſie ihr Mahl in eben die¬
ſen Zweigen ſuchen. Für die erſten ſtreut man das
Futter auf was immer für Pläze, ſie wiſſen dieſelben
[238] ſchon zu finden. Den anderen gibt man Gitter, die an
Schnüren hängen, und in denen in kleine Tröge ge¬
füllt oder auf Stifte geſteckt die Speiſe iſt. Sie flie¬
gen herzu und wiegen ſich eſſend in dem Gitter. Die
Vögel werden auch nach und nach zutraulich, nehmen
es endlich nicht mehr ſo genau mit dem Tiſche, und
es tummeln ſich Feſtfüßler und Schaukler auf der
Fütterungstenne, die neben dem Gewächshauſe iſt,
wo ihr mich heute Morgens geſehen habt.“


„Ich habe das von heute Morgens mehr für zu¬
fällig als abſichtlich gehalten,“ ſagte ich.


„Ich thue es gerne, wenn ich anweſend bin,“ er¬
wiederte er, „obwohl es auch andere thun können.
Für die ganz ſchüchternen, wie meiſtens die neuen
Ankömmlinge und die ganz und gar eingefleiſchten
Waldvögel ſind, haben wir abgelegene Pläze, an die
wir ihnen die Nahrung thun. Für die vertraulicheren
und umgänglicheren bin ich ſogar auf eine ſehr be¬
queme und annehmliche Verfahrungsweiſe gekom¬
men. Ich habe in dem Hauſe ein Zimmer, vor deſſen
Fenſtern Brettchen befeſtigt ſind, auf welche ich das
Futter gebe. Die Federgäſte kommen ſchon herzu und
ſpeiſen vor meinen Augen. Ich habe dann auch das
Zimmer gleich zur Speiſekammer eingerichtet, und
[239] bewahre dort in Käſten, deren kleine Fächer mit Auf¬
ſchriften verſehen ſind, dasjenige Futter, das entwe¬
der in Sämereien beſteht, oder dem ſchnellen Verder¬
ben nicht ausgeſezt iſt.“


„Das iſt das Eckzimmer,“ ſagte ich, „das ich nicht
begrif, und deſſen Brettchen ich für Blumenbrettchen
anſah, und doch für ſolche nicht zweckmäßig fand.“


„Warum habt ihr denn nicht gefragt?“ erwie¬
derte er.


„Ich nahm es mir vor, und habe wieder darauf
vergeſſen,“ antwortete ich.


„Da die meiſten Sänger von lebendigen Thier¬
chen leben,“ ſezte er ſeine Erzählung fort, „ſo iſt es
nicht ganz leicht, die Nahrung für alle zu bereiten.
Da aber doch ein großer Theil nebſt dem Ungeziefer
auch Sämereien nicht verſchmäht, ſo ſind in der Spei¬
ſekammer alle Sämereien, welche auf unſeren Fluren
und in unſeren Wäldern reifen, und werden, wenn
ſie ausgehen oder veralten, durch friſche erſezt. Für
ſolche, welche die Körner nicht lieben, wird der Ab¬
gang durch Theile unſeres Mahles zartes Fleiſch Obſt
Eierſtückchen Gemüſe und dergleichen erſezt, was
unter die Körner gemiſcht wird. Die Kohlmeiſe er¬
hält ſehr gerne, wenn ſie thätig iſt, und beſonders,
[240] wenn ſie um ihre Jungen ſich gut annimmt, ein Stück¬
chen Speck zur Belohnung, den ſie außerordentlich
liebt. Auch Zucker wird zuweilen geſtreut. Für den
Trank iſt im Garten reichlich geſorgt. In jede Waſ¬
ſertonne geht ſchief ein befeſtigter Holzſteg, an wel¬
chem ſie zu dem Waſſer hinabklettern können. In den
Gebüſchen ſind Steinnäpfe, in die Waſſer gegoſſen
wird, und in dem Dickichte an der Abendſeite des
Gartens iſt ein kleines Quellchen, das wir mit ſtei¬
nernen Rändern eingefaßt haben.“


„Da habt ihr ja Arbeit und Sorge in Fülle mit
dieſen Gartenbewohnern,“ ſagte ich.


„Es übt ſich leicht ein,“ antwortete er, „und der
Lohn dafür iſt ſehr groß. Es iſt kaum glaublich zu
welchen Erfahrungen man gelangt, wenn man durch
mehrere Jahre dieſe gefiederten Thiere hegt, und ge¬
legentlich die Augen auf ihre Geſchäftigkeit richtet.
Alle Mittel, welche die Menſchen erſonnen haben,
um die Gewächſe vor Ungeziefer zu bewahren, ſo
trefflich ſie auch ſein mögen, ſo fleißig ſie auch ange¬
wendet werden, reichen nicht aus, wie es ja in der
Lage der Sache gegründet iſt. Wie viele Hände von
Menſchen müßten thätig ſein, um die unzählbaren
Stellen, an denen ſich Ungeziefer erzeugt, zu entdecken
[241] und die Mittel auf ſie anzuwenden. Ja die ganz ge¬
reinigten Stellen geben auf die Dauer keine Sicherheit
und müſſen ſtets von neuem unterſucht werden. In
den verſchiedenſten Zeiten und unbeachtet entwickeln
ſich die Inſekten auf Stengeln Blättern Blüthen unter
der Rinde, und breiten ſich unverſehens und ſchnell aus.
Wie könnte man da die Keime entdecken, und vor ih¬
rer Entwicklung vernichten? Oft ſind die ſchädlichen
Thierchen ſo klein, daß wir ſie mit unſeren Augen
kaum zu entdecken vermögen, oft ſind ſie an Orten, die
uns ſchwer zugänglich ſind, zum Beiſpiele in den
äußerſten Spizen der feinſten Zweige der Bäume. Oft
iſt der Schaden in größter Schnelligkeit entſtanden,
wenn man auch glaubt, daß man ſeine Augen an allen
Stellen des Gartens gehabt, daß man keine unbeachtet
gelaſſen, und daß man ſeine Leute zur genaueſten Un¬
terſuchung angeeifert hat. Zu dieſer Arbeit iſt von
Gott das Vogelgeſchlecht beſtimmt worden und ins¬
beſondere das der kleinen und ſingenden, und zu die¬
ſer Arbeit reicht auch nur das Vogelgeſchlecht voll¬
kommen aus. Alle Eigenſchaften der Inſekten, von
denen ich geſprochen habe, ihre Menge ihre Kleinheit
ihre Verborgenheit und endlich ihre ſchnelle und plöz¬
liche Entwicklung ſchüzen ſie gegen die Vögel nicht.
Stifter, Nachſommer. I. 16[242] Sprechen wir von der Menge. Alle Singvögel, wenn
ſie auch ſpäter Sämereien freſſen, nähren doch ihre
Jungen von Raupen Inſekten Würmern, und da dieſe
Jungen ſo ſchnell wachſen, und ſo zu ſagen unauf¬
hörlich eſſen, ſo bringt ein einziges Paar in einem
einzigen Tage eine erkleckliche Menge von ſolchen
Thierchen in das Neſt, was erſt hundert Paare in
zehn vierzehn zwanzig Tagen. So lange brauchen un¬
gefähr die Jungen zum Flüggewerden. Und alle Stel¬
len, wie zahlreich ſie auch ſein können, werden von
den geſchäftigen Eltern durchſucht. Sprechen wir
von der Kleinheit der Thierchen. Sie oder ihre Lar¬
ven und Eier mögen noch ſo klein ſein, von den
ſcharfen ſpähenden Augen eines Vogels werden ſie
entdeckt. Ja manche Vögel, wie das Goldhähnchen
der Zaunkönig, dürfen ihren Jungen nur die kleinſten
Nahrungsſtückchen bringen, weil dieſelben, wenn ſie
dem Ei entſchlüpft ſind, ſelber kaum ſo groß wie eine
Fliege oder eine kleine Spinne ſind. Gehen wir end¬
lich auf die Abgelegenheit und Unerreichbarkeit der
Aufenthaltsorte der Inſekten über, ſo ſind ſie dadurch
nicht vor dem Schnabel der Vögel geſchüzt, wenn ſie
für ihre Jungen oder ſich Nahrung brauchen. Was
wäre einem Vogel leicht unzugänglich? In die höchſten
[243] Zweige ſchwingt er ſich empor, an der Rinde hält er
ſich, und bohrt in ſie, durch die dichteſten Hecken dringt
er, auf der Erde läuft er, und ſelbſt unter Blöcke und
Steingerölle dringt er. Ja einmal ſah ich einen Bunt¬
ſpecht im Winter, da die Äſte zu Stein gefroren ſchie¬
nen, auf einen ſolchen mit Gewalt loshämmern, und
ſich aus deſſen Innern die Nahrung holen. Die Spechte
zeigen auf dieſe Weiſe — ich ſage es hier nebenbei —
auch die Äſte an, die morſch und vom Gewürme er¬
griffen ſind, und daher weggeſchafft werden müſſen.
Was zulezt den unvorhergeſehenen und plözlichen
Raupenfraß anlangt, den der Menſch zu ſpät entdeckt,
ſo kann er ſich nicht einſtellen, da die Vögel überall
nachſehen, und bei Zeiten abhelfen.“


„Wie ſehr dieſe Thiere für das Ungeziefer geſchaf¬
fen ſind,“ ſagte er nach einer Weile, „zeigt ſich aus
der Beobachtung, daß ſie die Arbeit unter ſich theilen.
Die Blaumeiſe und die Tannenmeiſe entdeckt die Brut
der Ringelraupe und anderer Raupengattungen an
den äußerſten Spizen der Zweige, wo ſie unter der
Rinde verborgen iſt, indem ſie ſich an die Zweige
hängend dieſelben abſucht, die Kohlmeiſe durchſucht
fleißig das Innere der Baumkrone, die Spechtmeiſe
klettert Stamm auf Stamm ab, und holt die verſteckten
16 *[244] Eier hervor, der Finke, der gerne in den Nadelbäumen
niſtet, weßhalb auch ſolche Bäume in dem Garten
ſind, geht gleichwohl gerne von ihnen herab, und
läuft den Gängen der Käfer und dergleichen nach,
und ihn unterſtüzen oder übertreffen vielmehr die Am¬
merlinge die Grasmücken die Rothkehlchen, die auf
der Erde unter Kohlpflanzen und in Hecken ihre Nah¬
rung ſuchen und finden. Sie beirren ſich wechſelſeitig
nicht, und laſſen in ihrer unglaublichen Thätigkeit
nicht nach, ja ſie ſcheinen ſich eher darin einander
anzueifern. Ich habe nicht eigens Beobachtungen an¬
geſtellt ; aber wenn man mehrere Jahre unter den
Thieren lebt, ſo gibt ſich die Betrachtung von ſelber.“


„Auch einen eigenthümlichen Gedanken,“ fuhr er
fort, „hat das Walten dieſer Thiere in mir erweckt,
oder vielmehr beſtärkt; denn ich hatte ihn ſchon längſt.
Allen Thatſachen, die wichtig ſind, hat Gott außer
unſerem Bewußtſein ihres Werthes auch noch einen
Reiz für uns beigeſellt, der ſie annehmlich in unſer
Weſen gehen läßt. Dieſen Thierchen nun, die ſo nüz¬
lich ſind, hat er, ich möchte ſagen, die goldene Stimme
mitgegeben, gegen die der verhärtetſte Menſch nicht
verhärtet genug iſt. Ich habe in unſerem Garten
mehr Vergnügen gehabt als manchmal in Sälen, in
[245] denen die kunſtreichſte Muſik aufgeführt wurde, die
ſelten zu hören iſt. Zwar ſingt ein Vogel in einem
Käfiche auch; denn der Vogel iſt leichtſinnig, er er¬
ſchrickt zwar heftig, er fürchtet ſich; aber bald iſt der
Schrecken und die Furcht vergeſſen, er hüpft auf einen
Halt für ſeine Füſſe, und trällert dort das Lied, das
er gelernt hat, und das er immer wiederholt. Wenn
er jung und ſogar auch alt gefangen wird, vergißt er
ſich und ſein Leid, wird ein Hin- und Widerhüpfer in
kleinem Raume, da er ſonſt einen großen brauchte,
und ſingt ſeine Weiſe; aber dieſer Geſang iſt ein Ge¬
ſang der Gewohnheit, nicht der Luſt. Wir haben an
unſerm Garten einen ungeheueren Käfich ohne Draht
Stangen und Vogelthürchen, in welchem der Vogel
vor außerordentlicher Freude, der er ſich ſo leicht hin¬
gibt, ſingt, in welchem wir das Zuſammentönen vieler
Stimmen hören können, das in einem Zimmer bei¬
ſammen nur ein Geſchrei wäre, und in welchem wir
endlich die häusliche Wirthſchaft der Vögel und ihre
Geberden ſehen können, die ſo verſchieden ſind und
oft dem tiefſten Ernſte ein Lächeln abgewinnen kön¬
nen. Man hat uns in dieſem Hegen von Vögeln in
einem Garten nicht nachgeahmt. Die Leute ſind nicht
verhärtet gegen die Schönheit des Vogels und gegen
[246] ſeinen Geſang, ja dieſe beiden Eigenſchaften ſind das
Unglück des Vogels. Sie wollen dieſelben genießen,
ſie wollen ſie recht nahe genießen, und da ſie keinen
Käfich mit unſichtbaren Drähten und Stangen ma¬
chen können, wie wir, in dem ſie das eigentliche We¬
ſen des Vogels wahrnehmen könnten, ſo machen ſie
einen mit ſichtbaren, in welchem der Vogel eingeſperrt
iſt, und ſeinem zu frühen Tode entgegen ſingt. Sie
ſind auf dieſe Weiſe nicht unfühlſam für die Stimme
des Vogels, aber ſie ſind unfühlſam für ſein Leiden.
Dazu kommt noch, daß es der Schwäche und Eitelkeit
des Menſchen beſonders der Kinder angenehm iſt,
eines Vogels, der durch ſeine Schwingen und ſeine
Schnelligkeit gleichſam aus dem Bereiche menſchlicher
Kraft gezogen iſt, Herr zu werden und ihn durch Wiz
und Geſchicklichkeit in ſeine Gewalt zu bringen. Darum
iſt ſeit alten Zeiten der Vogelfang ein Vergnügen ge¬
weſen, beſonders für junge Leute; aber wir müſſen
ſagen, daß es ein ſehr rohes Vergnügen iſt, das man
eigentlich verachten ſollte. Freilich iſt es noch ſchlech¬
ter, und muß ohne Weiteres verabſcheut werden, wenn
man Singvögel nicht des Geſanges wegen fängt,
ſondern ſie fängt, und tödtet, um ſie zu eſſen. Die un¬
ſchuldigſten und mitunter ſchönſten Thiere, die durch
[247] ihren einſchmeichelnden Geſang und ihr liebliches Be¬
nehmen ohnehin unſer Vergnügen ſind, die uns nichts
anders thun als lauter Wohlthaten, werden wie Ver¬
brecher verfolgt, werden meiſtens, wenn ſie ihrem
Triebe der Geſelligkeit folgen, erſchoſſen, oder, wenn
ſie ihren nagenden Hunger ſtillen wollen, erhängt.
Und dies geſchieht nicht, um ein unabweisliches Be¬
dürfniß zu erfüllen, ſondern einer Luſt und Laune
willen. Es wäre unglaublich, wenn man nicht wüßte,
daß es aus Mangel an Nachdenken oder aus Gewohn¬
heit ſo geſchieht. Aber das zeigt eben, wie weit wir
noch von wahrer Geſittung entfernt ſind. Darum
haben weiſe Menſchen bei wilden Völkern und bei ſol¬
chen, die ihre Gierde nicht zu zähmen wußten, oder
einen höhern Gebrauch von ihren Kräften noch nicht
machen konnten, den Aberglauben aufgeregt, um einen
Vogel ſeiner Schönheit oder Nüzlichkeit willen zu ret¬
ten. So iſt die Schwalbe ein heiliger Vogel gewor¬
den, der dem Hauſe Segen bringt, das er beſucht,
und den zu tödten Sünde iſt. Und ſelten dürfte es
ein Vogel mehr verdienen als die Schwalbe, die ſo wun¬
derſchön iſt, und ſo unberechenbaren Nuzen bringt.
So iſt der Storch unter göttlichen Schuz geſtellt, und
den Staaren hängen wir hölzerne Häuſer in unſere
[248] Bäume. Ich hoffe, daß, wenn unſeren Nachbarn die
Augen über den Erfolg und den Nuzen des Hegens
von Singvögeln aufgehen, ſie vielleicht auch dazu
ſchreiten werden, uns nachzuahmen; denn für Erfolg
und Nuzen ſind ſie am empfänglichſten. Ich glaube
aber auch, daß unſere Obrigkeiten das Ding nicht ge¬
ring achten ſollten, daß ein ſtrenges Geſez gegen das
Fangen und Tödten der Singvögel zu geben wäre,
und daß das Geſez auch mit Umſicht und Strenge
aufrecht erhalten werden ſollte. Dann würde dem
menſchlichen Geſchlechte ein heiligendes Vergnügen
aufbewahrt bleiben, wir würden durch die Länder wie
durch ſchöne Gärten gehen, und die wirklichen Gär¬
ten würden erquickend da ſtehen, in keinem Jahre lei¬
den, und in beſonders unglücklichen nicht den Anblick
der gänzlichen Kahlheit und der traurigen Verödung
zeigen. Wollt ihr nicht auch ein wenig unſere ge¬
fiederten Freunde anſehen?“


„Sehr gerne,“ ſagte ich.


Wir ſtanden von dem Size auf, und gingen mehr
in die Tiefe des Gartens zurück.


Das vielſtimmige Vogelgezwitſcher durch den Gar¬
ten und das helle Singen in unſerer Nähe, welches
mir geſtern nachmittag, da ich es in das Zimmer
[249] hinein gehört hatte, ſeltſam geweſen war, erſchien mir
nun ſehr lieblich ja ehrwürdig, und wenn ich einen
Vogel durch einen Baum huſchen ſah oder über einen
Sandweg laufen, ſo erfüllte es mich mit einer Gat¬
tung Freude. Mein Begleiter führte mich zu einer
Hecke, wies mit dem Finger hinein und ſagte:
„Seht.“


Ich antwortete, daß ich nichts ſähe.


„Schaut nur genauer,“ ſagte er, indem er mit dem
Finger neuerdings die Richtung wies.


Ich ſah nun unter einem äußerſt dichten Dornen¬
geflechte, welches in die Hecke gemacht worden war,
ein Neſt. In dem Neſte ſaß ein Rothkehlchen, we¬
nigſtens dem Rücken nach zu urtheilen. Es flog nicht
auf, ſondern wendete nur ein wenig den Kopf gegen
uns, und ſah mit den ſchwarzen glänzenden Augen
unerſchrocken und vertraulich zu uns herauf.


„Dieſes Rothkehlchen ſizt auf ſeinen Eiern,“ ſagte
mein Begleiter, „es iſt eine Spätehe, wie ſie öfter
vorkommen. Ich beſuche es ſchon mehrere Tage, und
lege ihm die Larve des Mehlkäfers in die Nähe. Das
weiß der Schelm, darum frägt er mich ſchon darnach,
und fürchtet den Fremden nicht, der bei mir iſt.“


In der That, das Thierchen blieb ruhig in ſeinem
[250] Neſte, und ließ ſich durch unſer Reden und durch un¬
ſere Augen nicht beirren.


„Man muß eigentlich ehrlich gegen ſie ſein,“ ſagte
mein Gaſtfreund; „aber ich habe keine Larve in der
Hand, darum bitte ich dich, Guſtav, gehe in das
Haus, und hole mir eine.“


Der Jüngling wendete ſich ſchnell um, und eilte
in das Haus.


Indeſſen führte mich mein Begleiter eine Strecke
vorwärts, und zeigte mir neuerdings in einer Hecke
unter Dornen ein Neſt, in welchem eine Ammer ſaß.


„Dieſe ſizt auf ihren Jungen, die noch kaum die
erſten Härchen haben, und erwärmt ſie,“ ſagte mein
Begleiter. „Sie kann nicht viel von ihnen weg, darum
bringt den meiſten Theil der Nahrung der Vater her¬
bei. Nach einigen Tagen aber werden ſie ſchon ſo
ſtark, daß ſie der Mutter überall hervor ſehen, wenn
ſie ſich auch zeitweilig auf ſie ſezt.“


Auch die Ammer flog bei unſerer Annäherung nicht
auf, ſondern ſah uns ruhig an.


So zeigte mir mein Begleiter noch ein paar
Neſter, in denen Junge waren, die, wenn ſie ſich al¬
lein befanden, auf das Geräuſch unſerer Annäherung
die gelben Schnäbel aufſperrten, und Nahrung er¬
[251] warteten. In zwei anderen waren Mütter, die bei un¬
ſerem Herannahen nicht aufflogen. Da wir im Vor¬
beigehen noch eins trafen, bei welchem die Eltern äzten,
ließen ſich dieſe nicht von ihrem Geſchäfte abhalten, flo¬
gen herzu, und nährten in unſerer Gegenwart die Kinder.


„Ich habe euch jezt Neſter gezeigt, die noch bevöl¬
kert ſind,“ ſagte mein Gaſtfreund, „die meiſten ſind
ſchon leer, die Jugend flattert bereits in dem Garten
herum, und übt ſich zur Herbſtreiſe. Die Neſter ſind
zahlreicher, als man vermuthet, wir beſuchen nur die,
die uns bei der Hand ſind.“


Indeſſen war Guſtav mit der verlangten Larve
gekommen, und gab ſie dem alten Manne in die Hand.
Dieſer ging zu der Hecke, in welcher das Neſt des
Rothkehlchens war, und legte die Larve auf den Weg
daneben. Kaum hatte er ſich entfernt, und war
zu uns getreten, die wir in der Nähe ſtanden, ſo
ſchlüpfte das Rothkehlchen unter den unterſten Äſten
der Hecke heraus, rannte zu der Larve, nahm ſie, und
lief wieder in die Hecke zurück.


Ich weiß nicht, welche tiefe Rührung mich bei die¬
ſem Vorfalle überkam. Mein Gaſtfreund erſchien mir
wie ein weiſer Mann, der ſich zu einem niedreren Ge¬
ſchöpfe herabläßt.


[252]

Auch der Jüngling Guſtav war ſehr heiter, und
zeigte Freude, wenn er in die Büſche blickte, in denen
eine Wohnung war. Es war mir dies ein Beweis,
daß das Zerſtören der Vogelneſter durch Wegnahme
der Eier oder der Jungen und das Fangen der Vögel
überhaupt den Kindern nicht angeboren iſt, ſondern,
daß dieſer Zerſtörungstrieb, wenn er da iſt, von Eltern
oder Erziehern hervorgerufen und in dieſe Bahn ge¬
leitet wurde, und daß er durch eine beſſere Erziehung
ſein Gegentheil wird.


Wir ſchritten weiter. In einer kleinen Fichte, die
am Rande des Gartens ſtand, zeigten ſie mir noch
eine Finkenwohnung, die an dem Stamme in das
Geflechte theils hervorgewachſener theils künſtlich
eingefugter Äſte und Zweige gebaut war. An ande¬
ren Bäumen ſahen wir auch in die aufgehängten
Behälter Vögel aus- und einſchlüpfen. Mein Be¬
gleiter ſagte, daß, wenn ich nur länger hier wäre,
mir ſelbſt die Sitten der Vögel verſtändlicher werden
würden.


Ich erwiederte, daß ich ſchon mehreres aus mei¬
nen Reiſen im Gebirge und aus meinen früheren Be¬
ſchäftigungen in den Naturwiſſenſchaften kenne.


„Das iſt doch immer weniger,“ ſagte mein Gaſt¬
[253] freund, „als was man durch das lebendige Beiſam¬
menleben inne wird.“


Es wurden einige Behälter, die mit aus Ruthen
geflochtenen Seilen an Bäumen befeſtigt waren, und
von denen man wußte, daß ſie nicht mehr bewohnt
ſeien, herabgenommen, und auseinander gelegt, da¬
mit ich ihre Einrichtung ſähe. Es war nur eine ein¬
fache Höhlung, die aus zwei halbhohlen Stücken be¬
ſtand, die man mittelſt Ringen, die enger zu ſchrauben
waren, aneinanderpreſſen konnte.


„Kein Singvogel,“ ſagte mein Begleiter, „geht in
ein fertiges Neſt, es mag nun daſſelbe in einer frü¬
heren Zeit von ihm ſelber oder einem anderen Vogel
gebaut worden ſein, ſondern er verfertigt ſich ſein
Neſt in jedem Frühlinge neu. Deßhalb haben wir
die Behälter aus zwei Theilen machen laſſen, daß wir
ſie leicht auseinander nehmen, und die veralteten Ne¬
ſter heraus thun können. Auch zum Reinigen der Be¬
hälter iſt dieſe Einrichtung ſehr tauglich; denn wenn
ſie unbewohnt ſind, nimmt allerlei Ungeziefer ſeine
Zuflucht zu dieſen Höhlungen, und der Vogel ſcheut
Unrath und verdorbene Luft, und würde eine unreine
Höhlung nicht beſuchen. Im lezten Theile des Win¬
ters, wenn der Frühling ſchon in Ausſicht ſteht, wer¬
[254] den alle dieſe Behälter herabgenommen, auf das Sorg¬
fältigſte geſcheuert und in Stand geſezt. Im Winter
ſind ſie darum auf den Bäumen, weil doch mancher
Vogel, der nicht abreiſt, Schuz in ihnen ſucht. Die
alten Neſter werden zerfaſert und gegen den Frühling
ihre Beſtandtheile mit neuen vermehrt in dem Garten
ausgeſtreut, damit die Familien Stoff für ihre Häuſer
finden.“


Ich ſah im Vorübergehen auch die Kletterſtäbchen
in den Waſſertonnen, und im Gebüſche fanden wir
das kleine rieſelnde Wäſſerlein.


Als wir uns auf dem Rückwege zum Hauſe be¬
fanden, ſagte mein Begleiter: „Ich habe noch eine
Art Gäſte, die ich füttere, nicht daß ſie mir nüzen,
ſondern daß ſie mir nicht ſchaden. Gleich in der erſten
Zeit meines Hierſeins, da ich eine ſogenannte Baum¬
ſchule anlegte, nehmlich ein Gärtchen, in welchem die
zur Veredlung tauglichen Stämmchen gezogen wur¬
den, habe ich die Bemerkung gemacht, daß mir im
Winter die Rinde an Stämmchen abgefreſſen wurde,
und gerade die beſte und zarteſte Rinde an den beſten
Stämmchen. Die Übelthäter wieſen ſich theils durch
ihre Spuren im Schnee, theils, weil ſie auch auf fri¬
ſcher That ertappt wurden, als Haſen aus. Das
[255] Verjagen half nicht, weil ſie wieder kamen, und doch
nicht Tag und Nacht jemand in der Baumſchule Wache
ſtehen konnte. Da dachte ich: die armen Diebe freſ¬
ſen die Rinde nur, weil ſie nichts Beſſeres haben,
hätten ſie es, ſo ließen ſie die Rinde ſtehen. Ich ſam¬
melte nun alle Abfälle von Kohl und ähnlichen Pflan¬
zen, die im Garten und auf den Feldern übrig blieben,
bewahrte ſie im Keller auf, und legte ſie bei Froſt und
hohem Schnee theilweiſe auf die Felder außerhalb des
Gartens. Meine Abſicht wurde belohnt: die Haſen
fraßen von den Dingen, und ließen unſere Baum¬
ſchule in Ruhe. Endlich wurde die Zahl der Gäſte
immer mehr, da ſie die wohleingerichtete Tafel ent¬
deckten ; aber weil ſie mit dem Schlechteſten ſelbſt mit
den dicken Strünken des Kohles zufrieden waren, und
ich mir ſolche von unſeren Feldern und von Nachbarn
leicht erwerben konnte, ſo fragte ich nichts darnach,
und fütterte. Ich ſah ihnen oft aus dem Dachfenſter
mit dem Fernrohre zu. Es iſt poſſirlich, wenn ſie von
der Ferne herzulaufen, dem bequem daliegenden Fraße
mißtrauen, Männchen machen, hüpfen, dann aber ſich
doch nicht helfen können, herzuſtürzen, und von dem
Zeuge haſtig freſſen, das ſie im Sommer nicht an¬
ſchauen würden. Manche Leute legten Schlingen, da
[256] ſie wußten, daß hier Haſen zuſammenkamen. Aber
da wir ſehr ſorgfältig nachſpürten, und die Schlingen
wegnehmen ließen, da ich auch verboth, über unſere
Felder zu gehen, und die Betroffenen zur Verantwor¬
tung zog, verlor ſich die Sache wieder. Auch den
Vögeln legten Buben in unſerer Nähe Schlingen;
aber das half ſehr wenig, da die Vögel in unſerem
Garten ſehr gute Koſt hatten, und nach der fremden
Lockſpeiſe nicht ausgingen. Die Beute an Vögeln
war daher nie groß, und mit einiger Aufſicht und
Wachſamkeit, die wir in den erſten Jahren einleiteten,
geſchah es, daß dieſer Unfug auch bald wieder auf¬
hörte.“


Der alte Mann lud mich ein, in das Haus zu
gehen, und die Fütterungskammer anzuſehen.


Auf dem Wege dahin ſagte er: „Unter die Feinde
der Sänger gehören auch die Kazen Hunde Iltiſſe Wie¬
ſel Raubvögel. Gegen lezte ſchüzen die Dornen und
die Neſtbehälter, und Hunde und Kazen werden in un¬
ſerm Hauſe ſo erzogen, daß ſie nicht in den Garten
gehen, oder ſie werden ganz von dem Hauſe entfernt.“


Wir waren indeſſen in das Haus gekommen, und
gingen in das Eckzimmer, in welchem ich die vielen
Fächer geſehen hatte. Mein Begleiter zeigte mir die
[257] Vorräthe, indem er die Fächer herauszog, und mir die
Sämereien wies. Die Speiſen, welche eben nicht in
Sämereien beſtehen, wie Eier Brod Speck, werden
beim Bedarfe aus der Speiſekammer des Hauſes ge¬
nommen.


„Meine Nachbaren äußerten ſchon,“ ſagte mein
Begleiter, „daß außer der Mühe, die das Erhalten
der Singvögel macht, auch die Koſten zu ihrer Ernäh¬
rung in keinem Verhältniſſe zu ihrem Nuzen ſtehen.
Aber das iſt unrichtig. Die Mühe iſt ein Vergnügen,
das wird der, welcher einmal anfängt, bald inne wer¬
den, ſo wie der Blumenfreund keine Mühe ſondern
nur Pflege kennt, welche zudem bei den Blumen viel
mehr Thätigkeit in Anſpruch nimmt als das Ziehen
der Geſangvögel im Freien; die Koſten aber ſind in
der That nicht ganz unbedeutend; allein wenn ich die
edlen Früchte eines einzigen Pflaumenbaumes, welchen
mir die Raupen der Vögel wegen nicht abgefreſſen
haben, verkaufe, ſo deckt der Kaufſchilling die Nah¬
rungskoſten der Sänger ganz und gar. Freilich iſt der
Nuzen deſto größer, je edler das Obſt iſt, welches
in dem Garten gezogen wird, und dazu, daß ſie edles
Obſt in dieſer Gegend ziehen, ſind ſie ſchwer zu be¬
wegen, weil ſie meinen, es gehe nicht. Wir müſſen
Stifter, Nachſommer. I. 17[258] ihnen aber zeigen, daß es geht, indem wir ihnen die
Früchte weiſen und zu koſten geben, und wir müſſen
ihnen zeigen, daß es nüzt, indem wir ihnen Briefe
unſerer Handelsfreunde weiſen, die uns das Obſt
abgekauft haben. Von den Stämmchen, die in unſe¬
rer Obſtſchule wachſen, geben wir ihnen ab, und un¬
terrichten ſie, wie und auf welchen Plaz ſie geſezt wer¬
den ſollen.“


„Wenn wieder einmal ein Jahr kommen ſollte wie
das, welches wir vor fünf Jahren hatten,“ fuhr er
fort, „es war ein ſchlimmes Jahr, heiß mit wenig
Regen und ungeheurem Raupenfraß. Die Bäume in
Rohrberg in Regau in Landegg und Pludern ſtanden
wie Fegebeſen in die Höhe, und die grauen Fahnen
der Raupenneſter hingen von den entwürdigten Äſten
herab. Unſer Garten war unverlezt und dunkelgrün,
ſogar jedes Blatt hatte ſeine natürliche Ränderung
und Ausſpizung. Wenn noch einmal ein ſolches Jahr
käme, was Gott verhüte, ſo würden ſie wieder ein
Stückchen Erfahrung machen, das ſie das erſte Mal
nicht gemacht haben.“


Ich ſah unterdeſſen die Sämereien und die An¬
ſtalten an, fragte manches, und ließ mir manches er¬
klären. Wir verließen hierauf das Zimmer, und da
[259] wir auf dem Gange waren, und gegen Guſtavs Zim¬
mer gingen, ſagte er: „daß auch unnüze Glieder her¬
beikommen, Müſſiggänger Störefriede, das begreift
ſich. Ein großer Händelmacher iſt der Sperling. Er
geht in fremde Wohnungen, balgt ſich mit Freund und
Feind, iſt zudringlich zu unſern Sämereien und Kir¬
ſchen. Wenn die Geſellſchaft nicht groß iſt, laſſe ich
ſie gelten, und ſtreue ihnen ſogar Getreide. Sollten
ſie hier aber doch zu viel werden, ſo hilft die Wind¬
büchſe, und ſie werden in den Meierhof hinabge¬
ſcheucht. Als einen böſen Feind zeigte ſich der Roth¬
ſchwanz. Er flog zu dem Bienenhauſe, und ſchnappte
die Thierchen weg. Da half nichts als ihn ohne
Gnade mit der Windbüchſe zu tödten. Wir ließen bei¬
nahe in Ordnung Wache halten, und die Verfolgung
fortſezen, bis dieſes Geſchlecht ausblieb. Sie waren
ſo klug, zu wiſſen, wo Gefahr iſt, und gingen in die
Scheunen in die Holzhütte des Meierhofes und die
Ziegelhütte, wo die großen Weſpenneſter unter dem
Dache ſind. Wir laſſen auch darum im Meierhofe und
anderen entfernteren Orten die grauen Kugeln ſolcher
Neſter, die ſich unter den Latten und Sparren der
Dächer oder Dachvorſprünge anſiedeln, nicht zerſtö¬
ren, damit ſie dieſe Vögel hinziehen.“
17 *[260] Während dieſes Geſpräches waren wir in dem
Gange der Gaſtzimmer zu der Thür gekommen,
die in Guſtavs Wohnung führte. Mein Gaſtfreund
fragte, ob ich dieſe Wohnung nicht jezt beſehen wollte,
und wir traten ein.


Die Wohnung beſtand aus zwei Zimmern, einem
Arbeitszimmer und einem Schlafzimmer. Beide wa¬
ren, wie es bei ſolchen Zimmern ſelten der Fall iſt,
ſehr in Ordnung. Sonſt war ihr Geräthe ſehr ein¬
fach. Bücherkäſten Schreib- und Zeichnungsgeräthe
ein Tiſch Schreine für die Kleider Stühle und das
Bett. Der Jüngling ſtand faſt erröthend da, da ein
Fremder in ſeiner Wohnung war. Wir entfernten uns
bald, und der Bewohner machte uns die leichte feine
Verbeugung, die ich geſtern ſchon an ihm bemerkt
hatte, weil er uns nicht mehr begleiten ſondern in den
Zimmern zurückbleiben wollte, in welchen er noch Ar¬
beit zu verrichten hatte.


„Ihr könnet nun auch die Gaſtzimmer beſuchen,“
ſagte mein Begleiter, „dann habt ihr alle Räume un¬
ſeres Hauſes geſehen.“


Ich willigte ein. Er nahm ein kleines ſilbernes
Glöcklein aus ſeiner Taſche, und läutete.


Es erſchien in Kurzem eine Magd, von welcher er
[261] die Schlüſſel der Zimmer verlangte. Sie holte dieſel¬
ben, und brachte ſie an einem Ringe, von welchem
einzelne los zu löſen waren. Jeder trug die Zahl ſei¬
nes Zimmers auf ſich eingegraben. Nachdem mein
Beherberger die Magd verabſchiedet hatte, ſchloß er
mir die einzelnen Zimmer auf. Sie waren einander
vollkommen gleich. Sie waren gleich groß, jedes hatte
zwei Fenſter, und jedes hatte ähnliche Geräthe wie
das meine.


„Ihr ſeht,“ ſagte er, „daß wir in unſerem Hauſe
nicht ſo ungeſellig ſind, und bei deſſen Anlegung ſchon
auf Gäſte gerechnet haben. Es können im äußerſten
Nothfalle noch mehr untergebracht werden, als die
Zimmer anzeigen, wenn wir zwei in ein Gemach thun,
und noch andere Zimmer namentlich die im Erdge¬
ſchoſſe in Anſpruch nehmen. Es iſt aber in der Zeit,
ſeit welcher dieſes Haus beſteht, der Nothfall noch
nicht eingetreten.“


Als wir an die öſtliche Seite des Hauſes gekom¬
men waren, an die Seite, die ſeiner Wohnung gerade
entgegenſezt lag, öffnete er eine Thür, und wir traten
nicht in ein Zimmer wie bisher ſondern in drei, welche
ſehr ſchön eingerichtet waren, und zu lieblichem Woh¬
nen einluden. Das erſte war ein Zimmer für einen
[262] Diener oder eigentlich eine Dienerin; denn es ſah
ganz aus wie das Zimmer, in welchem die Mädchen
meiner Mutter wohnten. Es ſtanden große Kleider¬
käſten da, mit grünem Ziz verhängte Betten, und es
lagen Dinge herum, wie in dem Mädchenzimmer
meiner Mutter. Die zwei anderen Gemächer zeigten
zwar nicht ſolche Dinge, im Gegentheile ſie waren in
der muſterhafteſten Ordnung; aber ſie wieſen doch
eine ſolche Geſtalt, daß man ſchließen mußte, daß ſie
zu Wohnungen für Frauen beſtimmt ſind. Die Ge¬
räthe des erſten waren von Mahagoniholz die des
zweiten von Cedern. Überall ſtanden weichgepolſterte
Size und ſchöne Tiſche herum. Auf dem Fußboden la¬
gen weiche Teppiche, die Pfeiler hatten hohe Spiegel,
außerdem ſtand in jedem Zimmer noch ein beweglicher
Ankleideſpiegel, an den Fenſtern waren Arbeitstiſch¬
chen, und in der Ecke jedes Zimmers ſtand von wei¬
ßen Vorhängen dicht und undurchdringlich umgeben
ein Bett. Jedes Gemach hatte ein Blumentiſchchen,
und an den Wänden hingen einige Gemälde.


Als ich dieſe Zimmer eine Weile betrachtet hatte,
öffnete mein Begleiter im dritten Zimmer mittelſt
eines Drückers eine Tapetenthür, die ſich den Blicken
nicht gezeigt hatte, und führte mich noch in ein vier¬
[263] tes kleines Zimmer mit einem einzigen Fenſter. Das
Zimmerchen war ſehr ſchön. Es war ganz in ſanft
roſenfarbener Seide ausgeſchlagen, welche Zeichnungen
in derſelben nur etwas dunkleren Farbe hatte. An die¬
ſer ſchwach roſenrothen Seide lief eine Polſterbank
von lichtgrauer Seide hin, die mit mattgrünen Bän¬
dern gerändert war. Seſſel von gleicher Art ſtanden
herum. Die Seide grau in Grau gezeichnet hob ſich
licht und lieblich von dem Roth der Wände ab, es
machte faſt einen Eindruck, wie wenn weiße Roſen
neben rothen ſind. Die grünen Streifen erinnerten
an das grüne Laubblatt der Roſen. In einer der hin¬
teren Ecken des Zimmers war ein Kamin von eben¬
falls grauer nur dunklerer Farbe mit grünen Streifen
in den Simſen und ſehr ſchmalen Goldleiſten. Vor
der Polſterbank und den Seſſeln ſtand ein Tiſch, deſ¬
ſen Platte grauer Marmor von derſelben Farbe wie
der Kamin war. Die Füſſe des Tiſches und der Seſ¬
ſel ſo wie die Faſſungen an der Polſterbank und den
anderen Dingen waren von dem ſchönen veilchen¬
blauen Amarantholze; aber ſo leicht gearbeitet, daß
dieſes Holz nirgends herrſchte. An dem mit grauen
Seidenvorhängen geſäumten Fenſter, welches zwiſchen
grünen Baumwölbungen auf die Landſchaft und das
[264] Gebirge hinausſah, ſtand ein Tiſchchen von demſel¬
ben Holze und ein reichgepolſterter Seſſel und Schem¬
mel, wie wenn hier der Plaz für eine Frau zum Ruhen
wäre. An den Wänden hingen nur vier kleine an
Größe und Rahmen vollkommen gleiche Öhlgemälde.
Der Fußboden war mit einem feinen grünen Teppiche
überſpannt, deſſen einfache Farbe ſich nur ein wenig
von dem Grün der Bänder abhob. Es war gleichſam
der Raſenteppich, über dem die Farben der Roſen
ſchwebten. Die Schürzange und die anderen Geräthe
an dem Kamine hatten vergoldete Griffe, auf dem
Tiſche ſtand ein goldenes Glöcklein.


Kein Merkmal in dem Gemache zeigte an, daß
es bewohnt ſei. Kein Geräthe war verrückt, an dem
Teppiche zeigte ſich keine Falte, und an den Fenſter¬
vorhängen keine Verknitterung.


Als ich eine Zeit dieſe Dinge mit Staunen be¬
trachtet hatte, öffnete mein Begleiter wieder die Tape¬
tenthür, die man auch im Innern dieſes Zimmers
nicht ſehen konnte, und führte mich hinaus. Er hatte
in dem Roſenzimmerchen nicht ein Wort geſprochen,
und ich auch nicht. Als wir durch die anderen Zimmer
gegangen waren, und er ſie hinter uns zugeſchloſſen
hatte, ſagte er mir ebenfalls über den Zweck dieſer
[265] Wohnung nichts, und ich konnte natürlich nicht darum
fragen.


Als wir auf den Gang hinausgekommen waren,
ſagte er: „Nun habt ihr mein ganzes Haus geſehen;
wenn ihr wieder einmal in der Zukunft vorüberkommt,
oder euch gar in der Ferne desſelben erinnert, ſo könnt
ihr euch gleich vorſtellen, wie es im Inneren aus¬
ſieht.“


Bei dieſen Worten neſtelte er den Ring mit den
Schlüſſeln in irgend eine Taſche ſeines ſeltſamen
Obergewandes.


„Es iſt ein Bild,“ erwiederte ich auf ſeine Rede,
„das ſich mir tief eingeprägt hat, und das ich nicht ſo
bald vergeſſen werde.“


„Ich habe mir das beinahe gedacht,“ antwor¬
tete er.


Da wir in die Nähe meines Zimmers gekommen
waren, verabſchiedete er ſich, indem er ſagte, daß er
nun einen großen Theil meiner Zeit in Anſpruch ge¬
nommen habe, und daß er, um mich nicht noch mehr
einzuengen, mir nichts weiter davon entziehen wolle.


Ich dankte ihm für ſeine Gefälligkeit und Freund¬
lichkeit, mit welcher er mir einen Theil des Tages ge¬
widmet, und mir ſeine Häuslichkeit gezeigt habe, und
[266] wir trennten uns. Ich nahm den Schlüſſel aus mei¬
ner Taſche und öffnete mein Zimmer, um einzutreten;
ihn aber hörte ich die Treppe hinabgehen.


Ich blieb nun bis gegen Abend in meinem Gaſt¬
gemache theils, weil ich ermüdet war, und wirklich
einige Ruhe nöthig hatte, theils, weil ich meinem
Gaſtfreunde nicht weiter läſtig ſein wollte.


Am Abende ging ich wieder ein wenig auf die Fel¬
der außerhalb des Gartens hinaus, und kam erſt zur
Speiſeſtunde zurück. Ich hatte bei dieſer Gelegenheit
gelernt, mir ſelber das Gitter zu öffnen und zu
ſchließen.


Es war kein Gaſt da, und beim Abendeſſen wie
beim Mittageſſen waren nur mein Gaſtfreund Guſtav
und ich. Die Geſpräche waren über verſchiedene gleich¬
gültige Dinge, wir trennten uns bald, ich verfügte
mich auf mein Zimmer, las noch, ſchrieb, entkleidete
mich endlich, löſchte das Licht, und begab mich zur
Ruhe.


Der nächſte Morgen war wieder herrlich und hei¬
ter. Ich öffnete die Fenſter, ließ Duft und Luft her¬
einſtrömen, kleidete mich an, erfriſchte mich mit reich¬
lichem Waſſer zum Waſchen, und ehe die Sonne nur
einen einzigen Thautropfen hatte aufſaugen können,
[267] ſtand ich ſchon mit meinem Ränzlein auf dem Rücken
und mit meinem Hute und dem Schwarzdornſtocke in
der Hand im Speiſezimmer. Der alte Mann und
Guſtav warteten meiner bereits.


Nachdem das Frühmahl verzehrt worden war,
wobei ich troz der Forderung mein Ränzlein nicht ab¬
gelegt hatte, dankte ich noch einmal für die große
Freundlichkeit und Offenheit, mit welcher ich hier auf¬
genommen worden war, verabſchiedete mich, und be¬
gab mich auf meinen Weg.


Der alte Mann und Guſtav begleiteten mich bis
zum Gitterthore des Gartens. Der Alte öffnete, um
mich hinauszulaſſen, ſo wie er vorgeſtern geöffnet
hatte, um mir den Eingang zu geſtatten. Beide gin¬
gen mit mir durch das geöffnete Thor hinaus. Als
wir auf dem Sandplaze vor dem Hauſe angeweht von
dem Dufte der Roſen ſtanden, ſagte mein Beherber¬
ger: „Nun lebt wohl, und geht glücklich eures We¬
ges. Wir kehren durch unſer Gitter wieder in unſe¬
ren Landaufenthalt und zu unſeren Beſchäftigungen
zurück. Wenn ihr in einer anderen Zeit wieder in die
Nähe kommt, und es euch gefällt, uns zu beſuchen,
ſo werdet ihr mit Freundlichkeit aufgenommen werden.
Wenn ihr aber gar, ohne daß euch euer Weg hier vor¬
[268] überführt, freiwillig zu uns kommt, um uns zu beſu¬
chen, ſo wird es uns beſonders freuen. Es iſt keine Re¬
densart, wenn ich ſage, daß es uns freuen würde, ich
gebrauche dieſe Redensarten nicht, ſondern es iſt wirk¬
lich ſo. Wenn ihr das einmal wollt, ſo lebt in dieſem
Hauſe, ſo lange es euch zuſagt, und lebt ſo unge¬
bunden, als ihr wollt, ſo wie auch wir ſo ungebun¬
den leben werden, als wir wollen. Wenn ihr uns
die Zeit vorher etwa durch einen Bothen wiſſen machen
könntet, wäre es gut, weil wir, wenn auch nicht oft,
doch manchmal abweſend ſind.“


„Ich glaube, daß ihr mich freundlich aufnehmen
werdet, wenn ich wieder komme,“ antwortete ich, „weil
ihr es ſagt, und euer Weſen mir ſo erſcheint, daß ihr
nicht eine unwahre Höflichkeit ausſprechen würdet.
Ich begreife zwar den Grund nicht, weßhalb ihr mich
einladet, aber da ihr es thut, nehme ich es mit vieler
Freude an, und ſage euch, daß ich im nächſten Som¬
mer, wenn mich auch mein gewöhnlicher Weg nicht
hieher führt, freiwillig in dieſe Gegend und in die¬
ſes Haus kommen werde, um eine kleine Zeit da zu
bleiben.“


„Thut es, und ihr werdet ſehen, daß ihr nicht un¬
[269] willkommen ſeid,“ ſagte er, „wenn ihr auch die Zeit
ausdehnt.“


„Ich werde vielleicht das Leztere thun,“ antwor¬
tete ich, „und ſo lebet wohl.“


„Lebt wohl.“


Bei dieſen Worten reichte er mir die Hand, und
drückte ſie.


Ich reichte meine Hand, da er ſie losgelaſſen
hatte, auch an den Knaben Guſtav, welcher ſie an¬
nahm, aber nichts ſprach, ſondern mich blos mit
ſeinen Augen freundlich anſah.


Hierauf ſchieden wir, indem ſie durch das Gitter
zurückgingen, ich aber den Hut auf dem Haupte den
Weg hinabwandelte, den ich vor zwei Tagen herauf¬
gegangen war.


Ich fragte mich nun, bei wem ich denn dieſen Tag
und die zwei Nächte zugebracht habe. Er hat um mei¬
nen Namen nicht gefragt, und hat mir den ſeinigen
nicht genannt. Ich konnte mir auf meine Frage keine
Antwort geben.


Und ſo ging ich denn nun weiter. Die grünen
Ähren gaben jezt in der Morgenſonne feurige
Strahlen, während ſie bei meinem Heraufgehen im
[270] Schatten des herandrohenden Gewitters geſtanden
waren.


Ich ſah mich noch einmal um, da ich zwiſchen den
Feldern hinabging, und ſah das weiße Haus im
Sonnenſcheine ſtehen, wie ich es ſchon öfter hatte
ſtehen geſehen, ich konnte noch den Roſenſchimmer
unterſcheiden, und glaubte, noch das Singen der
zahlreichen Vögel im Garten vernehmen zu können.


Hierauf wendete ich mich wieder um, und ging
abwärts, bis ich zu der Hecke und der Einfriedigung
der Felder kam, bei der ich vorgeſtern von der Straße
abgebogen hatte. Ich konnte mich nicht enthalten,
noch einmal umzuſehen. Das Haus ſtand jezt nur
mehr weiß da, wie ich es öfter bei meinen Wanderun¬
gen geſehen hatte.


Ich ging nun auf der Landſtraße in meiner Rich¬
tung vorwärts.


Den erſten Mann, welcher mir begegnete, fragte
ich, wem das weiße Haus auf dem Hügel gehöre,
und wie es hieße.


„Es iſt der Aspermeier, dem es gehört,“ antwortete
der Mann, „ihr ſeid ja geſtern ſelber in dem Asperhofe
geweſen und ſeid mit dem Aspermeier herumgegangen.“


„Aber der Beſizer jenes Hauſes iſt doch unmöglich
[271] ein Meier?" fragte ich; denn mir war wohlbekannt,
daß man in der Gegend jeden größeren Bauern einen
Meier nannte.


„Er iſt Anfangs nicht der Aspermeier geweſen,"
antwortete der Mann, „aber er hat von dem alten As¬
permeier den Asperhof gekauft, und das Haus hat er
gebaut, welches in dem Garten ſteht, und zu dem
Asperhof gehört, und jezt iſt er der Aspermeier; denn
der alte iſt längſt geſtorben."


„Hat er denn nicht auch einen andern Namen?"
fragte ich.


„Nein, wir heißen ihn den Aspermeier," antwor¬
tete er.


Ich ſah, daß der Mann nichts Weiteres von mei¬
nem Gaſtfreunde wiſſe, und ſich nicht um denſelben
gekümmert habe, ich gab daher bei ihm jedes weitere
Forſchen auf.


Es begegneten mir noch mehrere Menſchen, von
denen ich dieſelbe Antwort erhielt. Alle kehrten das
Verhältniß um, und ſagten, das Haus im Garten
gehöre zu dem Asperhofe. Ich beſchloß daher, vor¬
läufig jedes Forſchen zu unterlaſſen, bis ich zu einem
Menſchen gekommen ſein würde, von dem ich berech¬
tigt war, eine beſſere Auskunft zu erwarten.


[272]

Da mir aber der Name Aspermeier und Asperhof
nicht gefiel, nannte ich das Haus, in welchem ein ſol¬
cher Roſendienſt getrieben wurde, in meinem Haupte
vorläufig das Roſenhaus.


Es begegnete mir aber niemand, den ich noch ein¬
mal hätte fragen können.


Ich ließ, da ich ſo meines Weges weiter wan¬
delte, die Dinge des lezten Tages in mir vorüber¬
gehen. Mich freute es, daß ich in dem Hauſe eine ſo
große Reinlichkeit und Ordnung getroffen hatte, wie
ich ſie bisher nur in dem Hauſe meiner Eltern geſehen
hatte. Ich wiederholte, was der alte Mann mir ge¬
zeigt, und geſagt hatte, und es fiel mir ein, wie ich
mich viel beſſer hätte benehmen können, wie ich auf
manche Reden beſſere Antworten geben, und über¬
haupt viel beſſere Dinge hätte ſagen können.


In dieſen Betrachtungen wurde ich unterbrochen.
Als ich ungefähr eine Stunde auf dem Wege gewan¬
dert war, kam ich an die Ecke des Buchenwaldes, von
dem wir vorgeſtern Abends geſprochen hatten, der zu
den Beſizungen meines Gaſtfreundes gehört, und in
welchem ich einmal eine Gabelbuche gezeichnet hatte.
Der Weg geht an dem Walde etwas ſteiler hinan,
und biegt um die Ecke deſſelben herum. Da ich bis
[273] zu der Biegung gelangt war, kam mir ein Wagen
entgegen, welcher mit eingelegtem Radſchuhe langſam
die Straße herabfuhr. Er mochte darum langſamer
als gewöhnlich fahren, weil ſich diejenigen, welche in
ihm ſaßen, Vorſicht zum Geſeze gemacht haben konn¬
ten. Es ſaßen nehmlich in dem offenen und des ſchö¬
nen Wetters willen ganz zurückgelegten Wagen zwei
Frauengeſtalten, eine ältere und eine jüngere. Beide
hatten Schleier, welche von den Hüten über die
Schultern niedergingen. Die ältere hatte den Schleier
über das Angeſicht gezogen, welches aber doch, da der
Schleier weiß war, ein wenig geſehen werden konnte.
Die jüngere hatte den Schleier zu beiden Seiten des
Angeſichts zurückgethan, und zeigte dieſes Angeſicht
der Luft. Ich ſah ſie beide an, und zog endlich zu
einer höflichen Begrüßung meinen Hut. Sie dankten
freundlich, und der Wagen fuhr vorüber. Ich dachte
mir, da der Wagen immer tiefer über den Berg hin¬
abging, ob denn nicht eigentlich das menſchliche An¬
geſicht der ſchönſte Gegenſtand zum Zeichnen wäre.


Ich ſah dem Wagen noch nach, bis er durch
die Biegung des Weges unſichtbar geworden war.
Dann ging ich an dem Waldrande vorwärts und auf¬
wärts.


Stifter, Nachſommer. I. 18[274]

Nach drei Stunden kam ich auf einen Hügel,
von welchem ich in die Gegend zurückſehen konnte, aus
der ich gekommen war. Ich ſah mit meinem Fern¬
rohre, das ich aus dem Ränzlein genommen hatte,
deutlich den weißen Punkt des Hauſes, in welchem
ich die lezten zwei Nächte zugebracht hatte, und hinter
dem Hauſe ſah ich die duftigen Berge. Wie war
nun der Punkt ſo klein in der großen Welt.


Ich kam bald in den Ort, in welchem ich, da ich
bisher nirgends angehalten hatte, mein Mittagsmahl
einzunehmen geſonnen war, obwohl die Sonne bis
zum Scheitel noch einen kleinen Bogen zurückzulegen
hatte.


Ich fragte in dem Orte wieder um den Beſizer des
weißen Hauſes, und beſchrieb dasſelbe und ſeine Lage,
ſo gut ich konnte. Man nannte mir einen Mann, der
einmal in hohen Staatsämtern geſtanden war; man
nannte mir aber zwei Namen, den Freiherrn von Ri¬
ſach und einen Herrn Morgan. Ich war nun wieder
ungewiß wie vorher.


Am andern Tage Morgens kam ich in den Ge¬
birgszug, welcher das Ziel meiner Wanderung war,
und in welchen ich von dem anderen Gebirgszuge
durch einen Theil des flachen Landes überzuſiedeln
[275] beſchloſſen hatte. Am Mittage kam ich in dem Gaſt¬
hofe an, den ich mir zur Wohnung ausgewählt hatte.
Mein Koffer war bereits da, und man ſagte mir, daß
man mich früher erwartet habe. Ich erzählte die Ur¬
ſache meiner verſpäteten Ankunft, richtete mich in dem
Zimmer, das ich mir beſtellt hatte, ein, und begab
mich an die Geſchäfte, welche in dieſem Gebirgstheile
zu betreiben ich mir vorgeſezt hatte.


18 *
[[276]]

6.
Der Beſuch.

Ich blieb ziemlich lange in meinem neuen Aufent¬
haltsorte. Es entwickelte ſich aus den Arbeiten ein
Weiteres und Neues, und hielt mich feſt. Ich drang
ſpäter noch tiefer in das Gebirgsthal ein, und begann
Dinge, die ich mir für dieſen Sommer gar nicht ein¬
mal vorgenommen hatte.


Im ſpäten Herbſte kehrte ich zu den Meinigen zu¬
rück. Es erging mir auf dieſer Reiſe, wie es mir auf
jeder Heimreiſe ergangen war. Als ich das Gebirge
verließ, waren die Bergahornblätter und die der Bir¬
ken und Eſchen nicht nur ſchon längſt abgefallen, ſon¬
dern ſie hatten auch bereits ihre ſchöne gelbe Farbe
verloren, und waren ſchmuzig ſchwarz geworden, was
nicht mehr auf die Kinder der Zweige erinnerte, die
ſie im Sommer geweſen waren, ſondern auf die be¬
[277] fruchtende Erde, die ſie im Winter für den neuen
Nachwuchs werden ſollten, die Bewohner der Berg¬
thäler und der Halden, die wohl gelegentlich in jeder
Jahreszeit Feuer machen, unterhielten es ſchon den
ganzen Tag in ihrem Ofen, um ſich zu wärmen, und
an heiteren Morgen glänzte der Reif auf den Berg¬
wieſen, und hatte bereits das Grün der Farenkräuter
in ein dürres Roſtbraun verwandelt: da ich aber in
die Ebene gelangt war, und die Berge mir am Rande
derſelben nur mehr wie ein blauer Saum erſchienen,
und da ich endlich gar auf dem breiten Strome zu un¬
ſerer Hauptſtadt hinabfuhr, umfächelten mich ſo weiche
und warme Lüfte, daß ich meinte, ich hätte die Berge
zu früh verlaſſen. Es war aber nur der Unterſchied
der Himmelsbeſchaffenheit in dem Gebirge und in den
entfernten Niederungen. Als ich das Schif verlaſſen
hatte, und an den Thoren meiner Heimathſtadt an¬
gekommen war, trugen die Akazien noch ihr Laub,
warmer Sonnenſchein legte ſich auf die Umfaſſungs¬
mauern und auf die Häuſer, und ſchöngekleidete
Menſchen luſtwandelten in den Stunden des Nach¬
mittages. Die liebliche röthliche und dunkelblaue
Farbe der Weintrauben, die man an dem Thore und
auf dem Plaze innerhalb deſſelben feil both, brachte
[278] mir manchen freundlichen und fröhlichen Herbſttag
meiner Kindheit in Erinnerung.


Ich ging die gerade Gaſſe entlang, ich beugte in
ein paar Nebenſtraßen, und ſtand endlich vor dem
wohlbekannten Vorſtadthauſe mit dem Garten.


Da ich die Treppe hinangegangen war, da ich die
Mutter und die Schweſter gefunden hatte, war die
erſte Frage nach Geſundheit und Wohlbefinden aller
Angehörigen. Es war alles im beſten Stande, die
Mutter hatte auch meine Zimmer ordnen laſſen, alles
war abgeſtaubt, gereinigt, und an ſeinem Plaze, als
hätte man mich gerade an dieſem Tage erwartet.


Nach einem kurzen Geſpräche mit der Mutter und
der Schweſter kleidete ich mich, ohne meinen Koffer
zu erwarten, von meinen zurückgelaſſenen Kleidern
auf ſtädtiſche Weiſe an, um in die Stadt zu gehen,
und den Vater zu begrüßen, der noch auf ſeiner Han¬
delsſtube war. Das Gewimmel der Leute in den
Gaſſen, das Herumgehen gepuzter Menſchen in den
Baumgängen des grünen Plazes zwiſchen der Stadt
und den Vorſtädten, das Fahren der Wägen und ihr
Rollen auf den mit Steinwürfeln gepflaſterten Straßen,
und endlich, als ich in die Stadt kam, die ſchönen
Waarenauslagen und das Anſehnliche der Gebäude
[279] befremdeten und beengten mich beinahe als ein Ge¬
genſaz zu meinem Landaufenthalte; aber ich fand mich
nach und nach wieder hinein, und es ſtellte ſich als
das Langgewohnte und Allbekannte wieder dar. Ich
ging nicht zu meinen Freunden, an deren Wohnung
ich vorüberkam, ich ging nicht in die Buchhandlung,
in der ich manche Stunde des Abends zuzubringen
gewohnt war, und die an meinem Wege lag, ſondern
ich eilte zu meinem Vater. Ich fand ihn an dem
Schreibtiſche, und grüßte ihn ehrerbiethig, und
wurde auch von ihm auf das Herzlichſte empfangen.
Nach kurzer Unterredung über Wohlbefinden und an¬
dere allgemeine Dinge ſagte er, daß ich nach Hauſe
gehen möchte, er habe noch Einiges zu thun, werde
aber bald nachkommen, um mit der Mutter, der
Schweſter und mir den Abend zuzubringen.


Ich ging wieder gerades Weges nach Hauſe. Dort
machte ich einen Gang durch den Garten, ſprach einige
liebkoſende Worte zu dem Hofhunde, der mich mit
Heulen und Freudenſprüngen begrüßte, und brachte
dann noch eine Weile bei der Mutter und der Schwe¬
ſter zu. Hierauf ging ich in alle Zimmer unſerer
Wohnung, beſonders in die mit den alten Geräthen
[280] den Büchern und Bildern. Sie kamen mir beinahe
unſcheinbar vor.


Nach einiger Zeit kam auch der Vater. Es war
heute in dem Stübchen, in welchem die alten Waffen
hingen, und um welches der Epheu rankte, zum
Abendeſſen aufgedeckt worden. Man hatte ſogar bis
gegen Abend die Fenſter offen laſſen können. Da wäh¬
rend meines Ganges in die Stadt mein Koffer und
meine Kiſten von dem Schiffe gekommen waren, konnte
ich die Geſchenke, welche ich von der Reiſe mitgebracht
hatte, in das Stübchen ſchaffen laſſen: für die Mut¬
ter einige ſeltſame Töpfe und Geſchirre, für den Va¬
ter ein Amonshorn von beſonderer Größe und Schön¬
heit andere Marmorſtücke und eine Uhr aus dem ſie¬
benzehnten Jahrhunderte, und für die Schweſter das
gewöhnliche Edelweis getrockneten Enzian ein ſeidenes
Bauertüchlein und ſilberne Bruſtkettlein, wie man ſie
in einigen Theilen des Gebirges trägt. Auch was
man mir als Geſchenke vorbereitet hatte, kam in das
Stüblein: von der Mutter und Schweſter verfertigte
Arbeiten, darunter eine Reiſetaſche von beſonderer
Schönheit, dann ſämmtliche Arten guter Bleifedern
nach den Abſtufungen der Härte in einem Fache ge¬
ordnet, beſonders treffliche Federkiele, glattes Papier,
[281] und von dem Vater ein Gebirgsatlas, deſſen ich ſchon
einige Male Erwähnung gethan, und den er für mich
gekauft hatte. Nachdem alles mit Freuden gegeben
und empfangen worden war, ſezte man ſich zu dem
Tiſche, an dem wir heute Abend nur allein waren,
wie es nach und nach bei jeder meiner Zurückkünfte
nach einer längeren Abweſenheit der Gebrauch gewor¬
den war. Es wurden die Speiſen aufgetragen, von
denen die Mutter vermuthete, daß ſie mir die lieb¬
ſten ſein könnten. Die Vertraulichkeit und die Liebe
ohne Falſch, wie man ſie in jeder wohlgeordneten
Familie findet, that mir nach der längeren Vereinſa¬
mung außerordentlich wohl.


Als die erſten Beſprechungen über alles, was zu¬
nächſt die Angehörigen betraf, und was man in der
jüngſten Zeit erlebt hatte, vorüber waren, als man
mir den ganzen Gang des Hausweſens während
meiner Abweſenheit auseinandergeſezt hatte, mußte
ich auch von meiner Reiſe erzählen. Ich erklärte ihren
Zweck, und ſagte, wo ich geweſen ſei, und was ich
gethan habe, ihn zu erreichen. Ich erwähnte auch des
alten Mannes, und erzählte, wie ich zu ihm gekom¬
men ſei, wie gut ich von ihm aufgenommen worden
ſei, und was ich dort geſehen habe. Ich ſprach die
[282] Vermuthung aus, daß er ſeiner Sprache nach zu ur¬
theilen aus unſerer Stadt ſein könnte. Mein Vater
ging ſeine Erinnerungen durch, konnte aber auf kei¬
nen Mann kommen, der dem von mir beſchriebenen
ähnlich wäre. Die Stadt iſt groß, meinte er, es könn¬
ten da viele Leute gelebt haben, ohne daß er ſie hätte
kennen lernen können. Die Schweſter meinte, vielleicht
hätte ich ihn auch der Umgebung zu Folge, in welcher
ich ihn gefunden habe, ſchon in einem anderen und
beſonderen Lichte geſehen, und in ſolchem dargeſtellt,
woraus er ſchwerer zu erkennen ſei. Ich entgegnete,
daß ich gar nichts geſagt habe, als was ich geſehen
hätte, und was ſo deutlich ſei, daß ich es, wenn ich
mit Farben beſſer umzugehen wüßte, ſogar malen
könnte. Man meinte, die Zeit werde die Sache wohl
aufklären, da er mich auf einen zweiten Beſuch einge¬
laden habe, und ich gewiß nicht anſtehen werde, den¬
ſelben abzuſtatten. Daß ich ihn nicht geradezu um
ſeinen Namen gefragt habe, billigten alle meine An¬
gehörigen, da er weit mehr gethan, nehmlich mich
aufgenommen und beherbergt habe, ohne um meinen
Namen oder um meine Herkunft zu forſchen.


Der Vater erkundigte ſich im Laufe des Geſpräches
genauer nach manchen Gegenſtänden in dem Hauſe
[283] des alten Mannes, deren ich Erwähnung gethan
hatte, beſonders fragte er nach den Marmoren nach
den alten Geräthen nach den Schnizarbeiten nach
den Bildſäulen nach den Gemälden und den Büchern.
Die Marmore konnte ich ihm faſt ganz genau beſchrei¬
ben, die alten Geräthe beinahe auch. Der Vater ge¬
rieth über die Beſchreibung in Bewunderung und
ſagte, es würde für ihn eine große Freude ſein, ein¬
mal ſolche Dinge mit eigenen Augen ſehen zu können.
Über Schnizarbeiten konnte ich ſchon weniger ſagen,
über die Bücher auch nicht viel, und das Wenigſte,
beinahe gar nichts, über Bildſäulen und Gemälde.
Der Vater drang auch nicht darauf, und verweilte
nicht lange bei dieſen lezteren Gegenſtänden — die
Mutter meinte, es wäre recht ſchön, wenn er ſich ein¬
mal aufmachte, eine Reiſe in das Oberland unter¬
nähme, und die Sachen bei dem alten Manne ſelber
anſähe. Er ſize jezt immer wieder zu viel in ſeiner
Schreibſtube, er gehe in lezter Zeit auch alle Nach¬
mittage dahin, und bleibe oft bis in die Nacht dort.
Eine Reiſe würde ſein Leben recht erfriſchen, und der
alte Mann, der den Sohn ſo freundlich aufgenom¬
men habe, würde ihn gewiß herzlich empfangen, und
ihm als einem Kenner ſeine Sammlungen noch viel
[284] lieber zeigen als einem andern. Wer weiß, ob er nicht
gar auf dieſer Reiſe das eine oder andere Stück für
ſeine Alterthumszimmer erwerben könnte. Wenn er
immer warte, bis die dringendſten Geſchäfte vor¬
über wären, und bis er ſich mehr auf die jüngeren
Leute in ſeiner Arbeitsſtube verlaſſen könne, ſo werde
er gar nie reiſen; denn die Geſchäfte ſeien immer
dringend, und ſein Mißtrauen in die Kräfte der jün¬
geren Leute wachſe immer mehr, je älter er werde,
und je mehr er ſelber alle Sachen allein verrichten
wolle.


Der Vater antwortete, er werde nicht nur ſchon
einmal reiſen, ſondern ſogar eines Tages ſich in den
Ruheſtand ſezen, und keine Handelsgeſchäfte weiter
vornehmen.


Die Mutter erwiederte, daß dies ſehr gut ſein,
und daß ihr dieſer Tag wie ein zweiter Brauttag er¬
ſcheinen werde.


Ich mußte dem Vater nun auch die einzelnen
Holzgattungen angeben, aus denen die verſchiedenen
Geräthe in dem Roſenhauſe eingelegt ſeien, aus de¬
nen die Fußböden beſtänden, und endlich aus wel¬
chen geſchnizt würde. Ich that es ſo ziemlich gut,
denn ich hatte bei der Betrachtung dieſer Dinge an
[285] meinen Vater gedacht, und hatte mir mehr gemerkt,
als ſonſt der Fall geweſen ſein würde. Ich mußte ihm
auch beſchreiben, in welcher Ordnung dieſe Hölzer
zuſammengeſtellt ſeien, welche Geſtalten ſie bildeten,
und ob in der Zuſammenſtellung der Linien und Far¬
ben ein ſchöner Reiz liege. Ebenſo mußte ich ihm
auch noch mehr von den Marmorarten erzählen, die
in dem Gange und in dem Saale wären, und mußte
darſtellen, wie ſie verbunden wären, welche Gattun¬
gen an einander gränzten, und wie ſie ſich dadurch
abhöben. Ich nahm häufig ein Stück Papier und die
Bleifeder zur Hand, um zu verſinnlichen, was ich ge¬
ſehen hätte. Er that auch weitere Fragen, und durch
ihre zweckmäßige Aufeinanderfolge konnte ich mehr
beantworten, als ich mir gemerkt zu haben glaubte.


Als es ſchon ſpät geworden war, mahnte die
Mutter zur Ruhe, wir trennten uns von dem Waf¬
fenhäuschen, und begaben uns zu Bette.


Am anderen Tage begann ich meine Wohnung
für den Winter einzurichten. Ich packte nach und nach
die Sachen, welche ich von meiner Reiſe mitgebracht
hatte, aus, ſtellte ſie nach gewohnter Art und Weiſe
auf, und ſuchte ſie in die vorhandenen einzureihen.
Dieſe Beſchäftigung nahm mehrere Tage in Anſpruch.


[286]

Am erſten Sonntage nach meiner Ankunft war
ein Bewillkommungsmahl. Alle Leute von dem
Handelsgeſchäfte meines Vaters waren beſonders
eingeladen worden, und es wurden beſſere Speiſen
und beſſerer Wein auf den Tiſch geſezt. Auch die zwei
alten Leute, die in dem dunkeln Stadthauſe unſere
Wohnungsnachbaren geweſen waren, ſind zu dieſem
Mahle geladen worden, weil ſie mich ſehr lieb hatten,
und weil die Frau geſagt hatte, daß aus mir einmal
große Dinge werden würden. Dieſe Mahle waren
ſchon ſeit ein paar Jahren Sitte, und die alten Leute
waren jedesmal Gäſte dabei.


Als ich mit dem Hauptſächlichſten in der Anord¬
nung meiner Zimmer fertig war, beſuchte ich auch
meine Freunde in der Stadt, und brachte wieder
manche Abenddämmerung in der Buchhandlung zu,
welche mir ein lieber Aufenthalt geworden war.
Wenn ich durch die Gaſſen der Stadt ging, war es
mir, als hätte ich das, was ich von dem alten Manne
wußte, in einem Märchenbuche geleſen; wenn ich
aber wieder nach Hauſe kam, und in die Zimmer
mit den alterthümlichen Gegenſtänden und mit den
Bildern ging, ſo war er wieder wirklich, und paßte
hieher als Vergleichsgegenſtand.


[287]

Die Spuren, welche mit einer Ankunft nach einer
längeren Reiſe in einer Wohnung immer unzertrenn¬
lich verbunden ſind, namentlich, wenn man von die¬
ſer Reiſe viele Gegenſtände mitgebracht hat, welche
geordnet werden müſſen, waren endlich aus meinem
Zimmer gewichen, meine Bücher ſtanden und lagen
zum Gebrauche bereit, und meine Werkzeuge und
Zeichnungsgeräthſchaften waren in der Ordnung,
wie ich ſie für den Winter bedurfte. Dieſer Winter
war aber auch ſchon ziemlich nahe. Die lezten ſchö¬
nen Spätherbſttage, die unſerer Stadt ſo gerne zu
Theil werden, waren vorüber, und die neblige naſſe
und kalte Zeit hatte ſich eingeſtellt.


In unſerem Hauſe war während meiner Abwe¬
ſenheit eine Veränderung eingetreten. Meine Schwe¬
ſter Klotilde, welche bisher immer ein Kind geweſen
war, war in dieſem Sommer plözlich ein erwachſenes
Mädchen geworden. Ich ſelber hatte mich bei meiner
Rückkehr ſehr darüber verwundert, und ſie kam mir
beinahe ein wenig fremd vor.


Dieſe Veränderung brachte für den kommenden
Winter auch eine Veränderung in unſer Haus. Unſer
Leben war für die Hauptſtadt eines großen Reiches
bisher ein ſehr einfaches und beinah ländliches ge¬
[288] weſen. Der Kreis der Familien, mit denen wir ver¬
kehrten, hatte keine große Ausdehnung gehabt, und
auch da hatten ſich die Zuſammenkünfte mehr auf ge¬
legentliche Beſuche oder auf Spiele der Kinder im
Garten beſchränkt. Jezt wurde es anders. Zu Klotil¬
den kamen Freundinen, mit deren Eltern wir in Ver¬
bindung geweſen waren, dieſe hatten wieder Ver¬
wandte und Bekannte, mit denen wir nach und nach
in Beziehungen geriethen. Es kamen Leute zu uns, es
wurde Muſik gemacht, vorgeleſen, wir kamen auch zu
anderen Leuten, wo man ſich ebenfalls mit Muſik und
ähnlichen Dingen unterhielt. Dieſe Verhältniſſe üb¬
ten aber auf unſer Haus keinen ſo weſentlichen Ein¬
fluß aus, daß ſie daſſelbe umgeſtaltet hätten. Ich
lernte außer den Freunden, die ich ſchon hatte, und
an deren Art und Weiſe ich gewöhnt war, noch neue
kennen. Sie hatten meiſtens ganz andere Beſtrebun¬
gen als ich, und ſchienen mir in den meiſten Dingen
überlegen zu ſein. Sie hielten mich auch für beſon¬
ders, und zwar zuerſt darum, weil die Art der Er¬
ziehung in unſerem Hauſe eine andere geweſen war
als in anderen Häuſern, und dann, weil ich mich mit
anderen Dingen beſchäftigte, als auf die ſie ihre
Wünſche und Begierden richteten. Ich vermuthete,
[289] daß ſie mich wegen meiner Sonderlichkeit geringer
achteten als ſich unter einander ſelbſt.


Sie erwieſen meiner Schweſter große Aufmerk¬
ſamkeiten, und ſuchten ihr zu gefallen. Die jungen
Leute, welche in unſer Haus kommen durften, waren
nur lauter ſolche, deren Eltern zu uns eingeladen wa¬
ren, die wir auch beſuchten, und an deren Sitten ſich
kein Bedenken erhob. Meine Schweſter wußte nicht, daß
ihr die Männer gefallen wollten, und ſie achtete nicht
darauf. Ich aber kam in jenen Tagen, wenn mir ein¬
fiel, daß meine Schweſter einmal einen Gatten haben
werde, immer auf den nehmlichen Gedanken, daß dies
kein anderer Mann ſein könne, als der ſo wäre wie
der Vater.


Auch mich zogen dieſe jungen Männer und andere,
die nicht eben der Schweſter willen in das Haus ka¬
men, öfter in ihre Geſpräche, ſie erzählten mir von
ihren Anſichten Beſtrebungen Unterhaltungen, und
manche vertrauten mir Dinge, welche ſie in ihrem ge¬
heimen Inneren dachten. So ſagte mir einmal einer
Namens Preborn, welcher der Sohn eines alten
Mannes war, der ein hohes Amt am Hofe bekleidete,
und öfter in unſer Haus kam, die junge Tarona ſei
die größte Schönheit der Stadt, ſie habe einen
Stifter, Nachſommer. I. 19[290] Wuchs, wie ihn niemand von der halben Million der
Einwohner der Stadt habe, wie ihn nie irgend je¬
mand gehabt habe, und wie ihn keine Künſtler alter
und neuer Zeit darſtellen könnten. Augen habe ſie,
welche Kieſel in Wachs verwandeln und Diamanten
ſchmelzen könnten. Er liebe ſie mit ſolcher Heftigkeit,
daß er manche Nacht ohne Schlaf auf ſeinem Lager
liege, oder in ſeiner Stube herum wandle. Sie lebe
nicht hier, komme aber öfter in die Stadt, er werde ſie
mir zeigen, und ich müſſe ihm als Freund in ſeiner
Lage beiſtehen.


Ich dachte, daß vieles in dieſen Worten nicht
Ernſt ſein könne. Wenn er das Mädchen ſo ſehr liebe,
ſo hätte er es mir oder einem andern gar nicht ſagen
ſollen, auch wenn wir Freunde geweſen wären.
Freunde waren wir aber nicht, wenn man das Wort
in der eigentlichen Bedeutung nimmt, wir waren es
nur, wie man es in der Stadt mit einer Redeweiſe
von Leuten nennt, die einander ſehr bekannt ſind, und
mit einander öfter umgehen. Und endlich konnte er
ja keinen Beiſtand von mir erwarten, der ich in der
Art mit Menſchen umzugehen nicht ſehr bewandert
war, und in dieſer Hinſicht weit unter ihm ſelber
ſtand.


[291]

Ich beſuchte zuweilen auch den einen oder den an¬
deren dieſer jungen Leute außer der Zeit, in der wir in
Begleitung unſerer Eltern zuſammenkamen, und da war
ebenfalls öfter von Mädchen die Rede. Sie ſagten, wie
ſie dieſe oder jene lieben, ſich vergeblich nach ihr ſeh¬
nen, oder von ihr Zeichen der Gegenneigung erhalten
hätten. Ich dachte, das ſollten ſie nicht ſagen; und
wenn ſie eine muthwillige Bemerkung über die Ge¬
ſtalt oder das Benehmen eines Mädchens ausdrück¬
ten, ſo erröthete ich, und es war mir, als wäre meine
Schweſter beleidigt worden.


Ich ging nun öfter in die Stadt, und betrach¬
tete aufmerkſamer den alten Bau unſeres Erzdomes.
Seit ich die Zeichnungen von Bauwerken in dem Ro¬
ſenhauſe ſo genau und in ſolcher Menge angeſehen
hatte, waren mir die Bauwerke nicht mehr ſo fremd
wie früher. Ich ſah ſie gerne an, ob ſie irgend etwas
Ähnliches mit den Gegenſtänden hätten, die ich in
den Zeichnungen geſehen hatte. Auf meiner Reiſe von
dem Roſenhauſe in das Gebirgsthal, in welchem ich
mich ſpäter aufgehalten hatte, und von dieſem Ge¬
birgsthale bis zu dem Schiffe, das mich zur Heimreiſe
aufnehmen ſollte, war mir nichts beſonders Betrach¬
tenswerthes vorgekommen. Nur einige Wegſäulen ſehr
19 *[292] alter Art erinnerten an die reinen und anſpruchloſen
Geſtalten, wie ich ſie bei dem Meiſter auf dem reinen
Papier mit reinen Linien geſehen hatte. Aber in der
Niſche der einen Wegſäule war ſtatt des Standbil¬
des, das einſt darinnen geweſen war, und auf wel¬
ches der Sockel noch hinwies, ein neues Gemälde mit
bunten Farben gethan worden, in der anderen fehlte
jede Geſtalt. Auf meiner Stromesfahrt kam ich wohl
an Kirchen und Burgen vorüber, die der Beachtung
werth ſein mochten, aber mein Zweck führte mich in
dem Schiffe weiter. An dem Erzdome ſah ich beinahe
alle Geſtalten von Verzierungen Simſen Bögen Säu¬
len und größeren Theilwerken, wie ich ſie auf dem
Papier im Roſenhauſe geſehen hatte. Es ergözte
mich, in meiner Erinnerung dieſe Geſtalten mit den
geſehenen zu vergleichen, und ſie gegenſeitig abzu¬
ſchäzen.


Auch in Beziehung der Edelſteine fiel mir das ein,
was der alte Mann in dem Roſenhauſe über die Faſ¬
ſung derſelben geſagt hatte. Es gab Gelegenheit ge¬
nug, gefaßte Edelſteine zu ſehen. In unzähligen
Schaufenſtern der Stadt liegen Schmuckwerke zur An¬
ſicht und zur Verlockung zum Kaufe aus. Ich betrach¬
tete ſie überall, wo ſie mir auf meinem Wege aufſtie¬
[293] ßen, und ich mußte denken, daß der alte Mann Recht
habe. Wenn ich mir die Zeichnungen von Kreuzen
Roſen Sternen Niſchen und dergleichen Dingen an
mittelalterlichen Baugegenſtänden, wie ich ſie im Ro¬
ſenhauſe geſehen hatte, vergegenwärtigte, ſo waren
ſie viel leichter zarter, und ich möchte den Ausdruck
gebrauchen, inniger als dieſe Sachen hier, und waren
doch nur Theile von Bauwerken, während dieſe
Schmuck ſein ſollten. Mir kam wirklich vor, daß
ſie, wie er geſagt hatte, unbeholfen in Gold und un¬
beholfen in den Edelſteinen ſeien. Nur bei einigen
Verkaufsorten, die als die vorzüglichſten galten, fand
ich eine Ausnahme. Ich ſah, daß dort die Faſſungen
ſehr einfach waren, ja daß man, wenn die Edelſteine
einmal eine größere Geſtalt und einen höheren Werth
annahmen, ſchier gar keine Faſſung mehr machte,
ſondern nur ſo viel von Gold oder kleinen Diaman¬
ten anwendete, als unumgänglich nöthig ſchien, die
Dinge nehmen und an dem menſchlichen Körper be¬
feſtigen zu können. Mir ſchien dieſes ſchon beſſer,
weil hier die Edelſteine allein den Werth und die
Schönheit darſtellen ſollten. Ich dachte aber in mei¬
nem Herzen, daß die Edelſteine, wie ſchön ſie auch
ſeien, doch nur Stoffe wären, und daß es viel vor¬
[294] züglicher ſein müßte, wenn man ſie, ohne daß ihre
Schönheit einen Eintrag erhielte, doch auch mit einer
Geſtalt umgäbe, welche außer der Lieblichkeit des
Stoffes auch den Geiſt des Menſchen ſehen ließe, der
hier thätig war, und an dem man Freude haben
könnte. Ich nahm mir vor, wenn ich wieder zu mei¬
nem alten Gaſtfreunde käme, mit ihm über die Sache
zu reden. Ich ſah, daß ich in dem Roſenhauſe etwas
Erſprießliches gelernt hatte.


Ich wurde bei jener Gelegenheit zufällig mit dem
Sohne eines Schmuckhändlers bekannt, welcher als
der vorzüglichſte in der Stadt galt. Er zeigte mir öf¬
ter die werthvolleren Gegenſtände, die ſie in dem Ver¬
kaufsgewölbe hatten, die aber nie in einem Schaufen¬
ſter lagen, er erklärte mir dieſelben, und machte mich
auf die Merkmale aufmerkſam, an denen man die
Schönheit der Edelſteine erkennen könne. Ich getraute
mir nie, meine Anſichten über die Faſſung derſelben
darzulegen. Er verſprach mir, mich näher in die
Kenntniß der Edelſteine einzuführen, und ich nahm es
recht gerne an.


Weil ich durch meine Gebirgswanderungen an
viele Bewegung gewöhnt war, ſo ging ich alle Tage
entweder durch Theile der Stadt herum, oder ich
[295] machte einen Weg in den Umgebungen derſelben.
Das Zuträgliche der ſtarken Gebirgsluft erſezte mir
hier die Herbſtluft, die immer rauher wurde, und ich
ging ihr ſehr gerne entgegen, wenn ſie mit Nebeln
gefüllt oder hart von den Bergen her wehte, die ge¬
gen Weſten die Umgebungen unſerer Stadt ſäumten.


Ich fing auch in jener Zeit an, das Theater zu¬
weilen zu beſuchen. Der Vater hatte, ſo lange wir
Kinder waren, nie erlaubt, daß wir ein Schauſpiel
zu ſehen bekämen. Er ſagte, es würde dadurch die
Einbildungskraft der Kinder überreizt und überſtürzt,
ſie behingen ſich mit allerlei willkührlichen Gefüh¬
len, und geriethen dann in Begierden oder gar Lei¬
denſchaften. Da wir mehr herangewachſen waren,
was bei mir ſchon ſeit längerer Zeit bei der Schweſter
aber kaum ſeit einem Jahre der Fall war, durften wir
zu ſeltenen Zeiten das Hoftheater beſuchen. Der Va¬
ter wählte zu dieſen Beſuchen jene Stücke aus, von
denen er glaubte, daß ſie uns angemeſſen wären, und
unſer Weſen förderten. In die Oper oder gar in das
Ballet durften wir nie gehen, eben ſo wenig durften
wir ein Vorſtadttheater beſuchen. Wir ſahen auch die
Aufführung eines Schauſpiels nie anders als in Ge¬
ſellſchaft unſerer Eltern. Seit ich ſelbſtſtändig geſtellt
[296] war, hatte ich auch die Freiheit, nach eigener Wahl
die Schauſpielhäuſer zu beſuchen. Da ich mich aber
mit wiſſenſchaftlichen Arbeiten beſchäftigte, hatte ich
nach dieſer Richtung hin keinen mächtigen Zug. Aus
Gewohnheit ging ich manchmal in eines von den
nehmlichen Stücken, die ich ſchon mit den Eltern ge¬
ſehen hatte. In dieſem Herbſte wurde es anders. Ich
wählte zuweilen ſelber ein Stück aus, deſſen Auffüh¬
rung im Hoftheater ich ſehen wollte.


Es lebte damals an der Hofbühne ein Künſtler,
von dem der Ruf ſagte, daß er in der Darſtellung des
Königs Lear von Shakeſpeare das Höchſte leiſte, was
ein Menſch in dieſem Kunſtzweige zu leiſten im
Stande ſei. Die Hofbühne ſtand auch in dem Rufe
der Muſteranſtalt für ganz Deutſchland. Es wurde
daher behauptet, daß es in deutſcher Sprache auf
keiner deutſchen Bühne etwas gäbe, was jener Dar¬
ſtellung gleich käme, und ein großer Kenner von
Schauſpieldarſtellungen ſagte in ſeinem Buche über
dieſe Dinge von dem Darſteller des Königs Lear auf
unſerer Hofbühne, daß es unmöglich wäre, daß er
dieſe Handlung ſo darſtellen könnte, wie er ſie dar¬
ſtellte, wenn nicht ein Strahl jenes wunderbaren
Lichtes in ihm lebte, wodurch dieſes Meiſterwerk er¬
[297] ſchaffen, und mit unübertrefflicher Weisheit ausge¬
ſtattet worden iſt.


Ich beſchloß daher, da ich dieſe Umſtände erfah¬
ren hatte, der nächſten Vorſtellung des Königs Lear
auf unſerer Hofbühne beizuwohnen.


Eines Tages war in den Zeitungen, die täglich
zu dem Frühmahle des Vaters kamen, für die Hof¬
bühne die Aufführung des König Lear angekündigt,
und als Darſteller des Lear der Mann genannt, von
dem ich geſprochen habe, und der jezt ſchon dem Grei¬
ſenalter entgegen geht. Die Jahreszeit war bereits in
den Winter hinein vorgerückt. Ich richtete meine Ge¬
ſchäfte ſo ein, daß ich in der Abendzeit den Weg zu
dem Hoftheater einſchlagen konnte. Da ich gerne das
Treiben der Stadt anſehen wollte, wie ich auf mei¬
nen Reiſen die Dinge im Gebirge unterſuchte, ging
ich früher fort, um langſam den Weg zwiſchen der
Vorſtadt und der Stadt zurück zu legen. Ich hatte
einen einfachen Anzug angelegt, wie ich ihn gerne auf
Spaziergängen hatte, und eine Kappe genommen, die
ich bei meinen Reiſen trug. Es fiel ein feiner Regen
nieder, obwohl es in der unteren Luft ziemlich kalt
war. Der Regen war mir nicht unangenehm, ſondern
eher willkommen, wenn er mir auch auf meinen An¬
[298] zug fiel, an dem nicht viel zu verderben war. Ich
ſchritt ſeinem Rieſeln mit Gemeſſenheit entgegen. Der
Weg zwiſchen den Bäumen auf dem freien Raume vor
der Stadt war durch das Eis, welches ſich bildete,
gleichſam mit Glas überzogen, und die Leute, welche
vor und neben mir gingen, glitten häufig aus. Ich
war an ſchwierige Wege gewöhnt, und ging auf der
Mitte der Eisbahn ohne Beſchwerde fort. Die Zweige
der Bäume glänzten in der Nachbarſchaft der brennen¬
den Laternen, ſonſt war es überall finſtere Nacht, und
der ganze Raum und die Mauern der Stadt waren
in ihrer Dunkelheit verborgen. Als ich von dem Geh¬
wege in die Fahrſtraße einbog, raſſelten viele Wägen
an mir vorüber, und die Pferde zerſtampften und die
Räder zerſchnitten die ſich bildende Eisdecke. Die mei¬
ſten von ihnen, wenn auch nicht alle, fuhren in das
Theater. Mir kam es beinahe ſonderbar vor, daß ſie
und ich ſelber in dieſem unfreundlichen Wetter einem
Raume zuſtrebten, in welchem eine erlogene Geſchichte
vorgeſpiegelt wird. So kam ich in die erleuchtete Über¬
wölbung, in der die Wägen hielten, ich wendete mich
von ihr in den Eingang, kaufte meine Karte, ſteckte
meine Kappe in die Taſche meines Überrockes, gab
[299] dieſen in das Kleiderzimmer, und trat in den hellen
ebenerdigen Raum des Darſtellungsſaales.


Ich hatte von meinem Vater die Gewohnheit an¬
genommen, nie von oben herab oder von großer Ent¬
fernung die Darſtellung eines Schauſpieles zu ſehen,
weil man die Menſchen, welche die Handlung dar¬
ſtellen, in ihrer gewöhnlichen Stellung nicht auf die
obere Fläche ihres Kopfes oder ihrer Schultern ſehen
ſoll, und weil man ihre Mienen und Geberden ſoll
betrachten können. Ich blieb daher ungefähr am Ende
des erſten Drittheiles der Länge des Raumes ſtehen,
und wartete, bis ſich der Saal füllen würde, und die
Glocke zum Beginne des Stückes tönte.


Sowohl die gewöhnlichen Size als auch die Lo¬
gen füllten ſich ſehr ſtark mit gepuzten Leuten, wie es
Sitte war, und wahrſcheinlich von dem Rufe des
Stückes und des Schauſpielers angezogen, ſtrömte
heute eine weit größere und gemiſchtere Menge, wie
man bei dem erſten Blicke erkennen konnte, in dieſe
Räume. Männer, die neben mir ſtanden, ſprachen
dieſes aus, und in der That war in der Verſamm¬
lung manche Geſtalt zu ſehen, die von den entfernte¬
ſten Theilen der Vorſtädte gekommen ſein mußte. Die
meiſten, da endlich gleichſam Haupt an Haupt war,
[300] blickten neugierig nach dem Vorhange der Bühne. Es
war damals nicht meine Gewohnheit, und iſt es jezt
auch noch nicht, in überfüllten Räumen die Menge
der Menſchen die Kleider den Puz die Lichter die
Angeſichter und dergleichen zu betrachten. Ich ſtand
alſo ruhig, bis die Muſik begann und endete, bis
ſich der Vorhang hob, und das Stück den Anfang
nahm.


Der König trat ein, und war, wie er ſpäter von
ſich ſagte, jeder Zoll ein König. Aber er war auch
ein übereilender und bedaurungswürdiger Thor. Re¬
gan Goneril und Cordelia redeten, wie ſie nach ih¬
rem Gemüthe reden mußten, auch Kent redete ſo, wie
er nicht anders konnte. Der König empfing die Re¬
den, wie er nach ſeinem heftigen leichtſinnigen und
doch liebenswürdigen Gemüthe ebenfalls mußte. Er
verbannte die einfache Cordelia, die ihre Antwort
nicht ſchmücken konnte, der er deſto heftiger zürnte, da
ſie früher ſein Liebling geweſen war, und gab ſein
Reich den beiden anderen Töchtern, Regan und Gone¬
ril, die ihm auf ſeine Frage, wer ihn am meiſten liebe,
mit übertriebenen Ausdrücken ſchmeichelten, und ihm
dadurch, wenn er der Betrachtung fähig geweſen
wäre, ſchon die Unächtheit ihrer Liebe darthaten, was
[301] auch die edle Cordelia mit ſolchem Abſcheu erfüllte,
daß ſie auf die Frage, wie ſie den Vater liebe, weni¬
ger zu antworten wußte, als ſie vielleicht zu einer
anderen Zeit, wo das Herz ſich freiwillig öffnete, ge¬
ſagt hätte. Gegen Kent, der Cordelia vertheidigen
wollte, wüthete er, und verbannte ihn ebenfalls, und
ſo ſieht man bei dieſer heftigen und kindiſchen Ge¬
müthsart des Königs üblen Dingen entgegen.


Ich kannte dieſes Schauſpiel nicht, und war bald
von dem Gange der Handlung eingenommen.


Der König wohnt nun mit ſeinen hundert Rit¬
tern im erſten Monate bei der einen Tochter, um im
zweiten dann bei der anderen zu ſein, und ſo abwech¬
ſelnd fortzufahren, wie es bedungen war. Die Folgen
dieſer ſchwachen Maßregel zeigten ſich auch im Lande.
In dem hohen Hauſe Gloſters empört ſich ein unehe¬
licher Sohn gegen den Vater und den rechtmäßigen
Bruder, und ruft unnatürliche Dinge in die Welt,
da auch in des Königs Hauſe unnatürliche und un¬
zweckmäßige Dinge geſchahen. In dem Hofhalte der
Tochter und in der in dieſen Hofhalt eingepflanzten
zweiten Hofhaltung des Königs und ſeiner hundert
Ritter entſtehen Anſtände und Widrigkeiten, und die
Entgegnungen der Tochter gegen das Thun des Kö¬
[302] nigs und ſeines Gefolges ſind ſehr begreiflich aber
faſt unheimlich. Beinahe herzzerreißend iſt nun die
treuherzige faſt blöde Zuverſicht des Königs, womit
er die eine Tochter, die mit ſchnöden Worten ſeinen
Handlungen entgegen getreten war, verläßt, um zu
der anderen ſanfteren zu gehen, die ihn mit noch här¬
terem Urtheile abweist. Sein Diener iſt hier in den
Stock geſchlagen, er ſelber findet keine Aufnahme,
weil man nicht vorbereitet iſt, weil man die andere
Schweſter erwartet, die man aufnehmen muß, man
räth dem König, zu der verlaſſenen Tochter zurückzu¬
kehren, und ſich ihren Maßregeln zu fügen. Bei dem
Könige war vorher blindes Vertrauen in die Töchter,
Übereilung im Urtheile gegen Cordelia Leichtſinn in
Vergebung der Würden: jezt entſteht Reue Scham
Wuth und Raſerei. Er will nicht zu der Tochter zu¬
rückkehren, eher geht er in den Sturm und in das
Ungewitter auf die Haide hinaus, die gegen ihn wü¬
then dürfen, denen er ja nichts geſchenkt hat. Er tritt
in die Wüſte bei Nacht Sturm und Ungewitter, der
Greis gibt die weißen Haare den Winden preis, da
er auf der Haide vorſchreitet, von niemanden begleitet
als von dem Narren, er wirft den Mantel in die Luft,
und da er ſich in Ausdrücken erſchöpft hat, weiß er
[303] nichts mehr als die Worte: Lear! Lear! Lear! aber
in dieſem einzigen Worte liegt ſeine ganze vergangene
Geſchichte und liegen ſeine ganzen gegenwärtigen Ge¬
fühle. Er wirft ſich ſpäter dem Narren an die Bruſt,
und ruft mit Angſt: Narr, Narr! ich werde raſend —
ich möchte nicht raſend werden — nur nicht toll! Da
er die drei lezten Worte milder ſagte, gleichſam bit¬
tend, ſo floſſen mir die Thränen über die Wangen
herab, ich vergaß die Menſchen herum, und glaubte
die Handlung als eben geſchehend. Ich ſtand, und
ſah unverwandt auf die Bühne. Der König wird
nun wirklich toll, er kränzt ſich in den Tagen nach
jener Sturmnacht mit Blumen, ſchwärmt auf den
Hügeln und Haiden, und hält mit Bettlern einen
hohen Gerichtshof. Es iſt indeſſen ſchon Botſchaft
an ſeine Tochter Cordelia gethan worden, daß Regan
und Goneril den Vater ſchnöd behandeln. Dieſe war
mit Heeresmacht gekommen, um ihn zu retten. Man
hatte ihn auf der Haide gefunden, und er liegt nun
im Zelte Cordelias, und ſchläft. Während der lezten
Zeit iſt er in ſich zuſammengeſunken, er iſt, während
wir ihn ſo vor uns ſahen, immer älter, ja gleichſam
kleiner geworden. Er hatte lange geſchlafen, der Arzt
glaubt, daß der Zuſtand der Geiſteszerrüttung nur in
[304] der übermannenden Heftigkeit der Gefühle gelegen
war, und daß ſich ſein Geiſt durch die lange Ruhe
und den erquickenden Schlaf wieder ſtimmen werde.
Der König erwacht endlich, blickt die Frau an, hat
nicht den Muth, die vor ihm ſtehende Cordelia als
ſolche zu erkennen, und ſagt im Mißtrauen auf ſeinen
Geiſt mit Verſchämtheit, er halte dieſe fremde Frau
für ſein Kind Cordelia. Da man ihn ſanft von der
Wahrheit ſeiner Vorſtellung überzeugt, gleitet er ohne
Worte von dem Bette herab, und bittet knieend und
händefaltend ſein eigenes Kind ſtumm um Verge¬
bung. Mein Herz war in dem Augenblicke gleichſam
zermalmt, ich wußte mich vor Schmerz kaum mehr zu
faſſen. Das hatte ich nicht geahnt, von einem Schau¬
ſpiele war ſchon längſt keine Rede mehr, das war die
wirklichſte Wirklichkeit vor mir. Der günſtige Aus¬
gang, welchen man den Aufführungen dieſes Stückes
in jener Zeit gab, um die fürchterlichen Gefühle, die
dieſe Begebenheit erregt, zu mildern, that auf mich
keine Wirkung mehr, mein Herz ſagte, daß das nicht
möglich ſei, und ich wußte beinahe nicht mehr, was
vor mir und um mich vorging. Als ich mich ein we¬
nig erholt hatte, that ich faſt ſcheu einen Blick auf
meine Umgebung, gleichſam, um mich zu überzeugen,
[305] ob man mich beobachtet habe. Ich ſah, daß alle An¬
geſichter auf die Bühne blickten, und daß ſie in ſtarker
Erregung gleichſam auf den Schauplaz hingeheftet
ſeien. Nur in einer ebenerdigen Loge ſehr nahe bei mir
ſaß ein Mädchen, welches nicht auf die Darſtellung
merkte, ſie war ſchneebleich, und die Ihrigen waren
um ſie beſchäftigt. Sie kam mir unbeſchreiblich ſchön
vor. Das Angeſicht war von Thränen übergoſſen,
und ich richtete meinen Blick unverwandt auf ſie. Da
die bei ihr Anweſenden ſich um und vor ſie ſtellten,
gleichſam um ſie vor der Betrachtung zu decken,
empfand ich mein Unrecht, und wendete die Au¬
gen weg.


Das Stück war indeſſen aus geworden, und um
mich entſtand die Unruhe, die immer mit dem Fort¬
gehen aus einem Schauſpielhauſe verbunden iſt. Ich
nahm mein Taſchentuch heraus, wiſchte mir die Stirne
und die Augen ab, und richtete mich zum Fortgehen.
Ich ging in das Kleiderzimmer, holte mir meinen
Überrock, und zog ihn an. Als ich in den Vorſaal
kam, war dort ein ſehr ſtarkes Gedränge, und da er
mehrere Ausgänge hatte, wogten die Menſchen viel¬
fach hin und her. Ich gab mich einem größeren Zuge
hin, der langſam bei dem Hauptausgange ausmün¬
Stifter, Nachſommer. I. 20[306] dete. Plözlich war es mir, als ob ſich meinen Blicken,
die auf den Ausgang gerichtet waren, ganz nahe et¬
was zur Betrachtung aufdrängte. Ich zog ſie zurück,
und in der That hatte ich zwei große ſchöne Augen
den meinigen gegenüber, und das Angeſicht des Mäd¬
chens aus der ebenerdigen Loge war ganz nahe an
dem meinigen. Ich blickte ſie feſt an, und es war mir,
als ob ſie mich freundlich anſähe, und mir lieblich
zulächelte. Aber in dem Augenblicke war ſie vorüber.
Sie war mit einem Menſchenſtrome aus dem Logen¬
gange gekommen, dieſer Strom hatte unſeren Zug ge¬
kreuzt, und ſtrebte bei einem Seitengange hinaus.
Ich ſah ſie nur noch von rückwärts, und ſah, daß ſie
in einen ſchwarzſeidenen Mantel gehüllt war. Ich war
endlich auch bei dem Hauptausgange hinausgekom¬
men. Dort zog ich erſt meine Kappe aus der Taſche
des Überrockes, ſezte ſie auf, und blieb noch einen
Augenblick ſtehen, und ſah den abfahrenden Wägen
nach, die ihre rothen Laternenlichter in die trübe
Nacht hinaustrugen. Es regnete noch viel dichter als
bei meinem Hereingehen. Ich ſchlug den Weg nach
Hauſe ein. Ich gelangte aus den fahrenden Wägen,
ich gelangte aus dem größeren Strome der Menſchen,
und bog in den vereinſamteren Weg ein, der im Freien
[307] durch die Reihen der Bäume der Vorſtadt zuführte.
Ich ſchritt neben den düſteren Laternen vorbei, kam
wieder in die Gaſſen der Vorſtadt, durchging ſie, und
war endlich in dem Hauſe meiner Eltern.


Es war beinahe Mitternacht geworden. Die
Mutter, welche es ſich bei ſolchen Gelegenheiten nicht
nehmen läßt, beſonders auf die Geſundheit der Ihri¬
gen bedacht zu ſein, war noch angekleidet, und war¬
tete meiner im Speiſezimmer. Die Magd, welche mir
die Wohnung geöffnet hatte, ſagte mir dieſes, und
wies mich dahin. Die Mutter hatte noch ein Abend¬
eſſen für mich in Bereitſchaft, und wollte, daß ich es
einnehme. Ich ſagte ihr aber, daß ich noch zu ſehr
mit dem Schauſpiele beſchäftigt ſei, und nichts eſſen
könne. Sie wurde beſorgt, und ſprach von Arznei.
Ich erwiederte ihr, daß ich ſehr wohl ſei, und daß
mir gar nichts als Ruhe noth thue.


„Nun, wenn dir Ruhe noth thut, ſo ruhe,“ ſagte
ſie, „ich will dich nicht zwingen, ich habe es gut ge¬
meint.“


„Gut gemeint wie immer, theure Mutter,“ ant¬
wortete ich, „darum danke ich auch.“


Ich ergrif ihre Hand, und küßte ſie. Wir wünſch¬
20 *[308] ten uns gegenſeitig eine gute Nacht, nahmen Lichter,
und begaben uns auf unſere Zimmer.


Ich entkleidete mich, legte mich auf mein Bett,
löſchte die Lichter aus, und ließ mein heftiges Herz
nach und nach in Ruhe kommen. Es war ſchon bei¬
nahe gegen Morgen, als ich einſchlief.


Das erſte, was ich am andern Tage that, war,
daß ich den Vater um die Werke Shakeſpeare's aus
ſeiner Bücherſammlung bath, und ſie, da ich ſie hatte,
in meinem Zimmer zur Leſung für dieſen Winter zu¬
recht legte. Ich übte mich wieder im Engliſchen, da¬
mit ich ſie nicht in einer Überſezung leſen müſſe.


Als ich im vergangenen Sommer von meinem
alten Gaſtfreunde Abſchied genommen hatte, und an
dem Saume ſeines Waldes auf der Landſtraße dahin
ging, waren mir zwei in einem Wagen fahrende
Frauen begegnet. Damals hatte ich gedacht, daß das
menſchliche Angeſicht der beſte Gegenſtand für das
Zeichnen ſein dürfte. Dieſer Gedanke fiel mir wieder
ein, und ich ſuchte mir Kenntniſſe über das menſch¬
liche Antliz zu verſchaffen. Ich ging in die kaiſerliche
Bilderſammlung, und betrachtete dort alle ſchönen
Mädchenköpfe, welche ich abgemalt fand. Ich ging
öfter hin, und betrachtete die Köpfe. Aber auch von
[309] lebenden Mädchen, mit denen ich zuſammentraf, ſah
ich die Angeſichter an, ja ich ging an trockenen Win¬
tertagen auf öffentliche Spaziergänge, und ſah die
Angeſichter der Mädchen an, die ich traf. Aber unter
allen Köpfen ſowohl den gemalten als auch den wirk¬
lichen war kein einziger, der ein Angeſicht gehabt
hätte, welches ſich an Schönheit nur entfernt mit dem
hätte vergleichen können, welches ich an dem Mäd¬
chen in der Loge geſehen hatte. Dieſes Eine wußte
ich, obwohl ich mir das Angeſicht eigentlich gar nicht
mehr vorſtellen konnte, und obwohl ich es, wenn ich
es wieder geſehen hätte, nicht erkannt hätte. Ich hatte
es in einer Ausnahmsſtellung geſehen, und im ruhi¬
gen Leben mußte es gewiß ganz anders ſein.


Mein Vater hatte ein Bild, auf welchem ein le¬
ſendes Kind gemalt war. Es hatte eine ſo ein¬
fache Miene, nichts war in derſelben als die Aufmerk¬
ſamkeit des Leſens, man ſah auch nur die eine Seite
des Angeſichtes, und doch war alles ſo hold. Ich ver¬
ſuchte das Angeſicht zu zeichnen; allein ich vermochte
durchaus nicht die einfachen Züge, von denen noch
dazu das Auge nicht zu ſehen war, ſondern durch das
Lid beſchattet wurde, auch nur entfernt mit Linien
wieder zu geben. Ich durfte mir das Bild herabneh¬
[310] men, ich durfte ihm eine Stellung geben, wie ich
wollte, um die Nachahmung zu verſuchen; ſie gelang
nicht, wenn ich auch alle meine Fertigkeit, die ich im
Zeichnen anderer Gegenſtände bereits hatte, darauf
anwendete. Der Vater ſagte mir endlich, daß die
Wirkung dieſes Bildes vorzüglich in der Zartheit der
Farbe liege, und daß es daher nicht möglich ſei, die¬
ſelbe in ſchwarzen Linien nachzuahmen. Er machte
mich überhaupt, da er meine Beſtrebungen ſah, mehr
mit den Eigenſchaften der Farben bekannt, und ich
ſuchte mich auch in dieſen Dingen zu unterrichten und
zu üben.


Sonderbar war es, daß ich nie auf den Gedanken
kam, meine Schweſter zu betrachten, ob ihre Züge
zum Nachzeichnen geeignet wären, oder den Wunſch
hegte, ihr Angeſicht zu zeichnen, obgleich es in mei¬
nen Augen nach dem des Mädchens in der Loge das
ſchönſte auf der Welt war. Ich hatte nie den Muth
dazu. Oft kam mir auch jezt noch der Gedanke, ſo
ſchön und rein wie Klotilde könne doch nichts mehr
auf der Erde ſein; aber da fielen mir die Züge des
weinenden Mädchens ein, das die Ihrigen zu beruhi¬
gen geſtrebt hatten, und von dem ich mir einbildete,
daß es mich im Vorſaale des Theaters freundlich an¬
[311] geblickt habe, und ich mußte ſie vorziehen. Ich konnte
ſie mir zwar nicht vorſtellen; aber es ſchwebte mir ein
unbeſtimmtes dunkles Bild von Schönheit vor der
Seele. Die Freundinnen meiner Schweſter oder an¬
dere Mädchen, mit denen ich gelegentlich zuſammen
kam, hatten manche liebe angenehme Eigenſchaften
in ihrem Angeſichte, ich betrachtete ſie, und dachte
mir, wie dieſes oder jenes zu zeichnen wäre; aber ich
mochte ſie ebenfalls nie erſuchen, und ſo kam ich
nicht dazu, ein lebendes vor mir befindliches Ange¬
ſicht zu zeichnen. Ich wiederholte alſo die Züge in
der Erinnerung oder zeichnete nach Gemälden. Man
machte mich endlich auch darauf aufmerkſam, daß ich
immer Mädchenköpfe entwerfe. Ich war beſchämt,
und begann ſpäter Männer Greiſe Frauen ja auch
andere Theile des Körpers zu zeichnen, ſo weit ich ſie
in Vorlagen oder Gipsabgüſſen bekommen konnte.


Troz dieſer Beſtrebungen, welchen nach dem
Grundſaze unſers Hauſes kein Hinderniß in den Weg
gelegt wurde, vernachläßigte ich meine Hauptbeſchäf¬
tigung doch nicht. Es that mir ſehr wohl, zu Hauſe
unter meinen Sammlungen herum zu gehen, ich
dachte oft an die Worte des alten Mannes in dem
Roſenhauſe, und im Gegenſaze zu den Feſten, zu de¬
[312] nen ich geladen war, oder ſelbſt zu Spaziergängen
und Geſchäftsbeſuchen war mir meine Wohnung wie
eine holde bedeutungsvolle Einſamkeit, die mir noch
lieber wurde, weil ihre Fenſter auf Gärten und wenig
geräuſchvolle Gegenden hinausgingen.


Die Heiterkeiten wurden in der Stadt immer grö¬
ßer, je näher der Winter ſeinem Ende zuging, und
ich hatte in dieſer Hinſicht und oft auch in anderer
mehr Urſache und Pflicht zu dieſer oder jener Familie
einen Gang zu thun.


Bei einer ſolchen Gelegenheit ereignete ſich mit
mir ein Vorfall, der mich nach dem Beiwohnen bei
der Aufführung des Lear in jenem Winter am meiſten
beſchäftigte.


Wir waren ſeit Jahren mit einer Familie ſehr
befreundet, welche in der Hofburg wohnte. Es war
die Wittwe und Tochter eines berühmten Mannes,
der einmal in großem Anſehen geſtanden war. Da
der Vater ein bedeutendes Hofamt bekleidet hatte,
wurde die Tochter nach ſeinem Tode auch ein Hof¬
fräulein, weßhalb ſie mit der Mutter in der Burg
wohnte. Von den Söhnen war einer in der Armee,
der andere bei einer Geſandtſchaft. Wenn das Fräu¬
lein nicht eben im Dienſte war, wurde zuweilen
[313] Abends ein kleiner Kreis zur Mutter geladen, in wel¬
chem etwas vorgeleſen, geſprochen, oder Muſik ge¬
macht wurde. Da die Mutter etwas älter wurde,
ſpielte man ſogar zuweilen Karten. Wir waren öfter
an ſolchen Abenden bei dieſer Familie. In jenem
Winter hatte ich ein Buch, welches mir von der
Mutter des Hoffräuleins war geliehen worden, län¬
ger behalten, als es eigentlich die Höflichkeit erlaubte.
Deßhalb ging ich eines Mittags hin, um das Buch
perſönlich zu überbringen, und mich zu entſchuldigen.
Als ich von dem äußeren Burgplaze durch das hohe
Gewölbe des Gehweges in den inneren gekommen
war, fuhren eben aus dem Hofe zu meiner Rechten
mehrere Wägen heraus, die meinen Weg kreuzten,
und mich zwangen, eine Weile ſtehen zu bleiben. Es
ſtanden noch mehrere Menſchen neben mir, und ich
fragte, was dieſe Wägen bedeuteten.


„Es ſind Glückwünſche, welche dem Kaiſer nach
ſeiner Wiedergeneſung von großen Herren abgeſtattet
worden ſind, und welche er eben angenommen hatte,“
ſagte ein Mann neben mir.


Der lezte der Wägen war mit zwei Rappen be¬
ſpannt, und in ihm ſaß ein einzelner Mann. Er hatte
den Hut neben ſich liegen, und trug die weißen Haare
[314] frei in der winterlichen Luft. Der Überrock war ein
wenig offen, und unter ihm waren Ordensſterne
ſichtbar. Als der Wagen bei mir vorüberfuhr, ſah
ich deutlich, daß mein alter Gaſtfreund, der mich in
dem Roſenhauſe ſo wohlwollend aufgenommen hatte,
in demſelben ſize. Er fuhr ſchnell vorbei, wie es bei
Wägen dieſer Art Sitte iſt, und ſchlug die Richtung
nach der Stadt ein. Er fuhr bei dem Thore aus der
Burg, an welchem die zwei Rieſen als Simsträger
angebracht ſind. Ich wollte jemand von meinen Nach¬
baren fragen, wer der Mann ſei; aber da von den
Wägen, welche die Fußgänger aufgehalten hatten, der
ſeinige der lezte geweſen, und der Weg ſodann frei
war, ſo waren alle Nachbaren bereits ihrer Wege ge¬
gangen, und diejenigen, welche jezt neben mir waren,
hatten die Wägen nicht in der Nähe geſehen.


Ich ging daher über den Hof, und ſtieg über die
ſogenannte Reichskanzleitreppe empor.


Ich traf die alte Frau allein, übergab ihr das
Buch, und ſagte meine Entſchuldigungen.


Im Verlaufe des Geſpräches erwähnte ich des
Mannes, den ich in dem Wagen geſehen hatte, und
fragte, ob ſie nicht wiſſe, wer er ſei. Sie wußte von
gar nichts.


[315]

„Ich habe nicht bei den Fenſtern hinabgeſchaut,“
ſagte ſie, „es geht vieles auf dem großen Hofe vor,
ich achte nicht darauf. Ich habe gar nicht gewußt, daß
bei dem Kaiſer eine Vorfahrt geweſen iſt, er war vor¬
geſtern noch nicht ganz geſund. Da mein Mann noch
lebte, haben wir immer die Ausſicht auf den großen
Plaz der Hofburg gehabt, und wie bedeutende Dinge
da auch vorgehen, ſo wiederholen ſich doch immer die
nehmlichen, wenn man viele Jahre zuſchaut; und
endlich ſchaut man gar nicht mehr zu, und hat herin¬
nen ein Buch oder ſein Strickzeug, wenn draußen in
das Gewehr gerufen wird, oder Reiter zu hören ſind,
oder Wagen rollen.“


„Wer iſt denn von denen, die in der Aufwartung
bei dem Kaiſer wegfuhren, in dem lezten Wagen ge¬
ſeſſen, Henriette?“ fragte ſie ihre eben eintretende
Tochter, das Hoffräulein.


„Das iſt der alte Riſach geweſen,“ antwortete
dieſe, „er iſt eigens hereingekommen, um ſich Seiner
Majeſtät vorzuſtellen, und ſeine Freude über deſſen
Wiedergeneſung auszudrücken.“


Ich hatte in meiner Jugend öfter den Namen Ri¬
ſach nennen gehört, allein ich hatte damals ſo wenig
darauf geachtet, was ein Mann, deſſen Namen ich
[316] hörte, thue, daß ich jezt gar nicht wußte, wer dieſer
Riſach ſei. Ich fragte daher mit jener Rückſicht, die
man bei ſolchen Fragen immer beobachtet, und erfuhr,
daß der Freiherr von Riſach zwar nicht die höchſten
Staatswürden bekleidet habe, daß er aber in der wich¬
tigen und ſchmerzlichen Zeit des nunmehr auch altern¬
den Kaiſers in den belangreichſten Dingen thätig ge¬
weſen ſei, daß er mit den Männern, welche die Ange¬
legenheiten Europa's leiteten, an der Schlichtung
dieſer Angelegenheiten gearbeitet habe, daß er von
fremden Herrſchern geſchäzt worden ſei, daß man ge¬
meint habe, er werde einmal an die Spize gelangen,
daß er aber dann ausgetreten ſei. Er lebe meiſtens
auf dem Lande, komme aber öfter herein, und beſuche
dieſen oder jenen ſeiner Freunde. Der Kaiſer achte
ihn ſehr, und es dürfte noch jezt vorkommen, daß hie
und da nach ſeinem Rathe gefragt werde. Er ſoll reich
geheirathet, aber ſeine Frau wieder verloren haben.
Überhaupt wiſſe man dieſe Verhältniſſe nicht genau.


Alles dieſes hatte mir das Hoffräulein geſagt.


„Siehſt du, meine liebe Henriette,“ ſprach die alte
Frau, „wie ſich die Dinge in der Welt verändern. Du
weißt es noch nicht, weil du noch jung biſt, und weil
du nichts erfahren haſt. Das Niedrige wird hoch, das
[317] Hohe wird niedrig, Eines wird ſo, das Andere wird
anders, und ein Drittes bleibt beſtehen. Dieſer Riſach
iſt ſehr oft in unſer Haus gekommen. Da uns der
Vater noch zuweilen in dem alten Doktorwagen, den
er hatte, und der dunkelgrün und ſchwarz angeſtrichen
war, ſpazieren fahren ließ, iſt er nicht einmal ſondern
oft auf dem Kutſchbocke geſeſſen, oder er iſt gar, wenn
wir im Freien fuhren, und uns die Leute nicht ſehen
konnten, hinten aufgeſtanden wie ein Leibdiener, denn
der Wagen des Vaters hat ein Dienerbret gehabt.
Wir waren kaum anders als Kinder, er war ein jun¬
ger Student, der wenig Bekanntſchaft hatte, deſſen
Herkunft man nicht wußte, und um den man auch
nicht fragte. Wenn wir in dem Garten auf dem Land¬
hauſe waren, ſprang er mit den Brüdern auf den höl¬
zernen Eſel, oder ſie jagten die Hunde in das Waſſer,
oder ſezten unſere Schaukel in Bewegung. Er brachte
deinen Vater zu meinen Brüdern als Kameraden in
das Haus. Man wußte damals kaum, wer ſchöner
geweſen ſei, Riſach oder dein Vater. Aber nach einer
Zeit wurde Riſach weniger geſehen, ich weiß nicht
warum, es vergingen manche Jahre, und ich trat mit
deinem Vater in den heiligen Stand der Ehe. Die
Brüder waren als Staatsdiener zerſtreut, die Eltern
[318] waren endlich todt, von Riſach wurde oft geſprochen,
aber wir kamen wenig zuſammen. Der Vater begann
ſeine Thätigkeit hauptſächlich erſt dann, als Riſach
ſchon ausgetreten war. Da ſize ich jezt nun wieder,
aber in einem anderen Theile der Burg, dein Vater
hat die Erde verlaſſen müſſen, du biſt nicht einmal
mehr ein Kind, dienſt deiner hohen gütigen Herrin,
und da von Riſach die Rede war, meinte ich, es ſeien
kaum einige Jahre vergangen, ſeit er die Schaukel in
unſerem Garten bewegt hat.“


Ich fragte, ob nicht Riſach eine Beſizung im
Oberlande habe.


Man ſagte mir, daß er dort eine habe.


Ich wollte nicht weiter fragen, um nicht die ganze
Darlegung meiner Einkehr in dieſem Sommer machen
zu müſſen.


Als ich aber nach Hauſe gekommen war, erzählte
ich die heutige Begegnung meinen Angehörigen bei
dem Mittagseſſen. Der Vater kannte den Freiherrn
von Riſach ſehr gut. Er war in früherer Zeit mehrere
Male mit ihm zuſammengekommen, hatte ihn aber
jezt ſchon lange nicht geſehen. Als Anhaltspunkte, daß
mein Beherberger in dem Roſenhauſe der Freiherr von
Riſach geweſen ſei, dienten, daß ich ihn, wenn mich
[319] nicht in der Schnelligkeit des Fahrens eine Ähnlich¬
keit getäuſcht hat, ſelber geſehen habe, daß er im
Oberlande eine Beſizung hat, daß er wohlhabend ſei,
was mein Beherberger ſein müſſe, und daß er hohe
Geiſtesgaben beſize, die mein Beherberger auch zu
haben ſcheine. Man beſchloß, in dieſer Sache nicht
weiter zu forſchen, da mein Beherberger mir ſeinen
Namen nicht freiwillig genannt habe, und die Dinge
ſo zu belaſſen, wie ſie ſeien.


Außer dieſen zwei Begebenheiten, die wenigſtens
für mich von Bedeutung waren, ereignete ſich nichts
in jenem Winter, was meine Aufmerkſamkeit beſon¬
ders in Anſpruch genommen hätte. Ich war viel be¬
ſchäftigt, mußte oft Stunden der Nacht zu Hilfe neh¬
men, und ſo ging mir der Winter weit ſchneller vor¬
über, als es in früheren Jahren der Fall geweſen
war. Im Allgemeinen aber befriedigten mich beſon¬
ders die Hilfsmittel, die eine große Stadt zur Aus¬
bildung gibt, und die man ſonſt nicht leicht findet.


Als die Täge ſchon länger wurden, als die eigent¬
liche Stadtluſt ſchon aufgehört hatte, und die ſtil¬
len Wochen der Faſtenzeit liefen, fragte ich eines Ta¬
ges Preborn, weßhalb er mir denn die Gräfin Tarona
nicht gezeigt habe, die er ſo liebe, die ſo ſchön ſein
[320] ſoll, und zu deren Gewinnung er meinen Beiſtand
angerufen habe.


„Erſtens iſt ſie keine Gräfin,“ antwortete er mir,
„ich weiß nicht genau ihren Stand, ihr Vater iſt todt,
und ſie lebt in der Geſellſchaft einer reichen Mutter;
aber das weiß ich, daß ſie nicht von Adel iſt, was
mir ſehr zuſagt, da ich es auch nicht bin — und zwei¬
tens iſt ſie und ihre Mutter in dieſem Winter nicht
in die Stadt gekommen. Das iſt die Urſache, daß ich
ſie dir nicht zeigen konnte, und daß du Gelegenheit
fandeſt, einen Spott gegen mich zu richten. Du mußt
ſie aber vorerſt ſehen. Alle, denen heuer Schönheiten
geſagt worden ſind, alle, die man gerühmt hat, alle,
die geblendet haben, ſind nichts, ja ſie ſind noch we¬
niger als nichts gegen ſie.“


Ich antwortete ihm, daß ich nicht ſpotten, ſondern
die Sache einfach habe ſagen wollen.


Wie ſich der Frühling immer mehr näherte, rüſtete
ich mich zu meiner Reiſe. Ich wollte heuer früher
reiſen, weil ich mir vorgenommen hatte, ehe ich in die
Berge ginge, einen Beſuch in dem Roſenhauſe zu ma¬
chen. Mit jedem Jahre wurden meine Zurüſtungen
weitläufiger, weil ich in jedem Jahre mehr Erfahrun¬
gen hatte, und meine Entwürfe weiter hinaus gingen.
[321] Heuer hatte ich auch beſchloſſen, umfaſſendere Zeich¬
nungswerkzeuge und ſogar Farben mitzunehmen. Wie
es mit jeder Gewohnheit iſt, war es auch bei mir.
Wenn ich mich in jedem Herbſte nach der Häuslichkeit
zurück ſehnte, war es mir in jedem Frühlinge wie
einem Zugvogel, der in jene Gegenden zurückkehren
muß, die er in dem Herbſte verlaſſen hatte.


Als ſich im März in der Stadt ſchon recht liebliche
Täge einſtellten, welche die Menſchen in das Freie
und auf die Wälle lockten, war ich mit meinen Vor¬
bereitungen fertig, und nachdem ich von den Meini¬
gen den gewöhnlichen herzlichen Abſchied genommen
hatte, reiſete ich eines Morgens ab.


Mir war damals ſowie jezt noch jedes Fortfahren
von den Angehörigen in der Nacht ſowie das Antre¬
ten irgend einer Reiſe in der Nacht ſehr zuwider. Die
Poſt ging aber damals in das Oberland erſt Abends
ab, darum fuhr ich lieber in einem Miethwagen. Die
Landhäuſer außer der Stadt, welche reichen Bewoh¬
nern derſelben gehörten, waren noch im Winterſchlafe.
Sie waren theilweiſe in ihren Umhüllungen mit
Stroh oder mit Brettern befangen, was einen großen
Gegenſaz zu dem heiteren Himmel und zu den Lerchen
machte, welche ſchon überall ſangen. Ich fuhr nur
Stifter, Nachſommer, I. 21[322] durch die Ebene. Da ich in den Bereich der Hügel
gelangte, verließ ich den Wagen, und ſezte meinen
Weg nach meiner gewöhnlichen Art in kurzen Fu߬
reiſen fort.


Ich betrachtete wieder überall die Bauwerke, wo
ſie mir als betrachtenswerth aufſtießen. Ich habe ein¬
mal irgendwo geleſen, daß der Menſch leichter und
klarer zur Kenntniß und zur Liebe der Gegenſtände
gelangt, wenn er Zeichnungen und Gemälde von
ihnen ſieht, als wenn er ſie ſelber betrachtet, weil ihm
die Beſchränktheit der Zeichnung alles kleiner und
vereinzelter zuſammen faßt, was er in der Wirklichkeit
groß und mit Genoſſen vereint erblickt. Bei mir
ſchien ſich dieſer Ausſpruch zu beſtätigen. Seit ich die
Bauzeichnungen in dem Roſenhauſe geſehen hatte,
faßte ich Bauwerke leichter auf, beurtheilte ſie leich¬
ter, und ich begrif nicht, warum ich früher auf ſie
nicht ſo aufmerkſam geweſen war.


Im Oberlande war es noch viel rauher, als ich
es in der Stadt verlaſſen hatte. Als ich eines Mor¬
gens an der Ecke des Buchenwaldes meines Gaſt¬
freundes ankam, in welchem der Alizbach in die Agger
fällt, war noch manches Wäſſerchen mit einer Eis¬
rinde bedeckt. Da ich das Roſenhaus erblickte, machte
[323] es einen ganz anderen Eindruck als damals, da ich
es als weiße Stelle in dem geſättigten und dunkeln
Grün der Felder und Bäume unter einem ſchwülen
und heißen Himmel geſehen hatte. Die Felder hat¬
ten noch mit Ausnahme der grünen Streifen der
Winterſaat die braunen Schollen der nackten Erde,
die Bäume hatten noch kein Knöspchen, und das
Weiß des Hauſes ſah zu mir herüber, als ſähe ich es
auf einem ſchwach veilchenblauen Grunde.


Ich ging auf der Straße in der Nähe von Rohr¬
berg vorüber, und kam endlich zu der Stelle, wo der
Feldweg von ihr über den Hügel zu dem Roſenhauſe
hinaufführt. Ich ging zwiſchen den Zäunen und nack¬
ten Hecken dahin, ich ging auf der Höhe zwiſchen den
Feldern, und ſtand dann vor dem Gitter des Hauſes.
Wie anders war es jezt. Die Bäume ragten mit dem
ſchwarzen oder braunlichen Gezweige nackt in die dun¬
kelblaue Luft. Das einzige Grün waren die Garten¬
gitter. Über die Roſenbäumchen an dem Hauſe war
eine ſchöngearbeitete Decke von Stroh herabgelaſſen.
Ich zog den Glockengriff, ein Mann erſchien, der mich
kannte und einließ, und ich wurde zu dem Herrn ge¬
führt, der ſich eben in dem Garten befand.


Ich traf ihn in einer Kleidung wie im Sommer,
21 *[324] nur daß ſie von wärmerem Stoffe gemacht war. Die
weißen Haare hatte er wieder wie gewöhnlich un¬
bedeckt.


Er ſchien mir wieder ſo ſehr ein Ganzes mit ſei¬
ner Umgebung, wie er es mir im vorigen Sommer
geſchienen hatte.


Man war damit beſchäftigt, die Stämme der
Obſtbäume mit Waſſer und Seife zu reinigen. Auch
ſah ich, wie hie und da Arbeiter auf Leitern neben
den Bäumen waren, um die abgeſtorbenen und über¬
flüſſigen Äſte abzuſchneiden. Als ich im vorigen
Sommer fort gegangen war, hatte mein Gaſtfreund
geſagt, daß ich meine Wiederkunft vorher durch eine
Botſchaft anzeigen möge, damit ich ihn zu Hauſe
treffe. Er hatte aber wahrſcheinlich nicht bedacht, daß
dieſes Schwierigkeiten habe, indem ich in der Regel
ſelber nicht wiſſen kann, wie ſich durch Witterungs¬
verhältniſſe oder andere Umſtände meine Vorhaben
zu ändern gezwungen ſein dürften. Ich habe ihm
alſo eine Botſchaft nicht geſchickt, und ihn auf meine
Gefahr hin überraſcht. Er aber nahm mich ſo freund¬
lich auf, da er mich auf ſich zuſchreiten ſah, wie er
mich bei dem vorigjährigen Aufenthalte in ſeinem
Hauſe freundlich behandelt hat.


[325]

Ich ſagte, er möge es ſich ſelber zuſchreiben, daß
ich ihn ſchon ſo früh im Jahre in ſeinem Hauſe über¬
falle; er habe mich ſo wohlwollend eingeladen, und
ich habe mir es nicht verſagen können, hieher zu kom¬
men, ehe die Thäler und die Fußwege in dem Gebirge
ſo frei wären, daß ich meine Beſchäftigungen in ihnen
anfangen könnte.


„Wir haben eine ganze Reihe von Gaſtzimmern,
wie ihr wißt,“ ſagte er, „wir ſehen Gäſte ſehr gerne,
und ihr ſeid gewiß kein unlieber unter ihnen, wie ich
euch ſchon im vergangenen Sommer geſagt habe.“


Er wollte mich in das Haus geleiten, ich ſagte
aber, daß ich heute erſt drei Stunden gegangen ſei,
daß meine Kräfte ſich noch in ſehr gutem Zuſtande
befänden, und daß er erlauben möge, daß ich hier bei
ihm in dem Garten bleibe. Ich bitte ihn nur um das
Einzige, daß er mein Ränzlein und meinen Stock in
mein Zimmer tragen laſſe.


Er nahm das ſilberne Glöcklein, das er bei ſich
trug, aus der Taſche und läutete. Der Klang war
ſelbſt im Freien ſehr durchdringend, und es erſchien
auf ihn eine Magd aus dem Hauſe, welcher er auf¬
trug, mein Ränzlein, das ich mittlerweile abgenom¬
men hatte, und meinen Stock, den ich ihr darreichte,
[326] in mein Zimmer zu tragen. Er gab ihr noch ferner
einige Weiſungen, was in dem Zimmer zu geſchehen
habe.


Ich fragte nach Guſtav, ich fragte nach dem Zeich¬
ner in dem Schreinerhauſe, und ich fragte ſogar nach
dem weißen alten Gärtner und ſeiner Frau. Guſtav
ſei geſund, erhielt ich zur Antwort, er vervollkommne
ſich an Geiſt und Körper. Er ſei eben in ſeiner Ar¬
beitsſtube beſchäftigt, er werde ſich gewiß ſehr freuen,
mich zu ſehen. Der Zeichner lebe fort wie früher und
ſei ſehr eifrig, und was die Gärtnerleute anbelange,
ſo verändern ſich dieſe ſchon ſeit mehreren Jahren gar
nicht mehr und ſeien heuer, wie ich ſie im vorigen
Sommer geſehen habe. Ich fragte endlich auch noch
nach dem Geſinde den Gartenarbeitern und den
Meierhofleuten. Sie ſeien alle ganz wohl, wurde ge¬
antwortet, es ſei ſeit meinem vorjährigen Beſuche kein
Krankheitsfall vorgekommen, und es habe auch kei¬
nes der Leute eine gründliche Urſache zur Unzufrie¬
denheit gegeben.


Nach mehreren gleichgültigen Geſprächen nament¬
lich über die Beſchaffenheit der Wege, auf denen ich
hieher gekommen war, und über das Vorrücken der
Winterſaaten auf den Feldern wendete er ſich wieder
[327] mehr der Arbeit, die vor ihm geſchah, zu, und auch
ich richtete meine Aufmerkſamkeit auf dieſelbe. Ich
hatte mir einmal, da er mir erzählte, daß er die Baum¬
ſtämme waſchen laſſe, die Sache ſehr umſtändlich ge¬
dacht. Ich ſah aber jezt, daß ſie mittelſt Doppellei¬
tern und Brettern ſehr einfach vor ſich gehe. Mit den
langſtieligen Bürſten konnte man in die höchſten
Zweige emporfahren, und da die Leute von der Zweck¬
mäßigkeit der Maßregel feſt überzeugt waren und em¬
ſig arbeiteten, ſo ſchritt das Werk mit einer von mir
nicht geahnten Schnelligkeit vor. In der That, wenn
man einen gewaſchenen und gebürſteten Stamm an¬
ſah, wie er rein und glatt in der Luft ſtand, während
ſein Nachbar noch rauh und ſchmuzig war, ſo meinte
man, daß dem einen ſehr wohl ſein müſſe, und daß
der andere verdroſſen ausſehe. Mir fiel die ſtolze
Äußerung ein, die mein Gaſtfreund im vergangenen
Sommer zu mir gethan hatte, daß ich nur den Stamm
jenes Kirſchbaumes anſehen ſolle, ob ſeine Rinde
nicht ausſähe wie feine graue Seide. Sie war wirk¬
lich wie Seide, und mußte es gerade immer mehr
werden, da ſie in jedem Jahre aufs Neue gepflegt
wurde.


Als wir nach einer Weile weiter in den Garten
[328] zurückgingen, ſah ich auch noch andere Arbeiten. Die
Hecken wurden gebunden und geordnet, das Dornen¬
reiſig zu den Neſtern der Vögel unter ihnen hergerich¬
tet, die Wege von den Schäden des Winters ausge¬
beſſert, unter den Zwergbäumen, die ſchon beſchnitten
waren, die Erde gelockert, und bei den ſchwächeren,
welche Stäbe hatten, nachgeſehen, ob dieſe feſthielten
und nicht etwa in der Erde abgefault wären. Es wur¬
den losgegangene Bänder wieder geknüpft, im Ge¬
müſegarten umgegraben, Fenſter an Winterbeeten
gelüftet oder zugedeckt, die Pumpen ausgebeſſert,
mancher Nagel eingeſchlagen, und endlich hie und da
ein Behältniß für die Vögel gereinigt und befeſtigt.


Ich verabſchiedete mich von meinem Gaſtfreunde,
da er ſehr mit der Leitung der Arbeiten beſchäftigt
war, und ging allein in dem Garten herum, in Thei¬
len, in die ich wollte. Die Vögel waren ſchon zahl¬
reich da, ſie ſchlüpften durch die laubloſen Zweige der
Bäume, und es begann ſchon hie und da ein Laut
oder ein Zwitſchern. Beſonders lieblich und hell
ſchallte der Geſang der aufſteigenden Lerchen von den
den Garten umgebenden Feldern herein. Die Vor¬
richtungen zur Ernährung und Tränkung der Vögel
waren wegen der Blattloſigkeit der Bäume und Ge¬
[329] ſträuche mehr ſichtbar, auch ſchaute ich mehr nach
ihnen aus als bei meiner erſten Ankunft, da ich jezt
bereits von ihnen wußte. Ich ſah mehrere zum Auf¬
ſtecken von Kernen dienende Gitter, von denen mir
mein Gaſtfreund erzählt hatte.


Ich betrachtete auch die Zweige. Die Knospen
der Blätter und der Blüthen waren ſchon ſehr ge¬
ſchwollen, und harrten der Zeit, in welcher ſie auf¬
brechen würden.


Ich ſtieg bis zu dem großen Kirſchbaume empor,
und ſah über den Garten über das Haus und auf die
Berge. Eine ganz heitere dunkelblaue Luft war über
alles ausgegoſſen. Dieſer ſchöne Tag, deren es in
der frühen Jahreszeit noch ziemlich wenige gibt, war
es auch, der meinen Gaſtfreund bewog, ſo viele Ar¬
beiten in dem Garten zu veranlaſſen. Unter der hei¬
teren Luft lag die Erde noch in bedeutender Öde.
Ich wollte auch zu der Felderraſt hinüber gehen; al¬
lein der Weg, der am Morgen gefroren geweſen ſein
mochte, war jezt weich und tief durchfeuchtet, daß das
Gehen auf ihm ſehr unangenehm und verunreinigend
geweſen wäre. Ich ſah die dunkeln Winterſaaten und
die nackten Schollen der neben ihnen liegenden Felder
eine Weile an, und ging dann wieder hinab.


[330]

Ich ging zu den Gärtnerleuten. Mir kam es nicht
vor, wie mein Gaſtfreund geſagt hatte, daß ſie ſich
nicht verändert hätten. Der Mann ſchien mir noch
weißer geworden zu ſein. Seine Haare unterſchieden
ſich nicht mehr von der Leinwand. Die Frau aber
war unverändert. Sie mußte von einer ſehr reinlich¬
keitliebenden Familie ſtammen, weil ſie das Häuschen
ſo nett hielt, und den alten Mann ſo fleckenlos und
knapp heraus kleidete. Er machte mir ganz genau
wieder den nehmlichen Eindruck wie im vergangenen
Jahre, als ob er einer ganz anderen Beſchäftigung
angehörte.


Da ich von dem Gewächshauſe gegen die Füt¬
terungstenne ging, begegnete mir Guſtav. Er lief
mit einem Rufe auf mich zu, und grüßte mich.


Der Knabe hatte ſich in kurzer Zeit ſehr geändert.
Er ſtand ſehr ſchön neben mir da, und gegen die
rauhe Art der Natur, die noch kein Laub kein Gras
keinen Stengel keine Blume getrieben hatte, ſondern
der Jahreszeit gemäß nur die braunen Schollen die
braunen Stämme und die nackten Zweige zeigte, war
er noch ſchöner, wie ich oft beim Zeichnen bemerkt
hatte, daß zum Beiſpiele Augen der Thiere in ſtrup¬
pigen Köpfen noch glänzender erſchienen, und daß
[331] feine Kinderangeſichtchen, wenn ſie von Pelzwerk um¬
geben ſind, noch feiner ausſehen. Ein ſanftes Roth
war auf ſeinen Wangen braune Haarfülle um die
Stirne, und die großen ſchwarzen Augen waren wie
bei einem Mädchen. Es war, obwohl er ſehr heiter
war, faſt etwas Trauerndes in ihnen.


Wir gingen dem Plaze zu, auf welchem ſein Zieh¬
vater beſchäftigt war. Ich erzählte ihm auf dem Wege
von meinen Angehörigen; von meiner Mutter von
meinem Vater und von meiner lieblichen Schweſter.
Auch erzählte ich ihm von der Stadt, wie man dort
lebe, was ſie für Vergnügungen biethe, was ſie für
Unannehmlichkeiten habe, und wie ich in ihr meine
Zeit hinbringe. Er ſagte mir, daß er jezt ſchon in die
Naturlehre eingerückt ſei, daß ihm der Vater Verſuche
zeige, und daß ihn die Sache ſehr freue.


Wir blieben eine Weile bei dem Ziehvater. Gu¬
ſtav zeigte mir allerlei, und machte mich bald auf dieſe
bald auf jene Veränderung aufmerkſam, welche ſich
ſeit meiner früheren Anweſenheit ergeben habe.


Der Mittag vereinigte uns in dem Hauſe.


Da ich ſo, da die Speiſen erſchienen, meinem
alten Gaſtfreunde gegenüber ſaß, fiel mir plözlich
auf, was der Mann für ſchöne Zähne habe. Sehr
[332] dicht weiß klein und mit einem feinen Schmelze über¬
zogen ſaßen ſie in dem Munde, und kein einziger
fehlte. Seine Wangen hatten durch den vielen Auf¬
enthalt in der freien Luft ein gutes und geſundes
Roth, nur ſeine Haare ſchienen mir wie bei dem
Gärtner noch weißer geworden zu ſein.


Nach dem Eſſen begab ich mich ein wenig in mein
Zimmer. Es war ſehr freundlich hergerichtet worden,
und in dem Ofen brannte ein erwärmendes Feuer.


Nachmittags gingen wir in das Schreinerhaus
Euſtach begrüßte mich aus ſeiner Stelle tretend ſehr
heiter, und ich erwiederte ſeinen Gruß auf das Herz¬
lichſte. Auch die andern Arbeiter gaben zu erkennen,
daß ſie mich noch kannten. Ich beſah zuerſt die Dinge
nur flüchtig und im Allgemeinen. Der ſchöne Tiſch
war ſehr weit vorgerückt; aber er war noch lange nicht
fertig. Es waren wieder ein paar neue Erwerbungen
gemacht worden. Man zeigte ſie mir, und machte
mich darauf aufmerkſam, was aus ihnen werden
könne. Auch Plane zu ſelbſtſtändigen Arbeiten waren
wieder gemacht worden, und man legte mir in Kur¬
zem die Grundanſichten auseinander. Ich bat Euſtach,
daß er erlaube, daß ich ihn während meiner An¬
[333] weſenheit ein paar Male beſuche. Er geſtand es ſehr
gerne zu.


Nach dieſem Beſuche machten wir troz der ſehr
ſchlechten Wege einen weiten Spaziergang. Da ich
davon ſprach, daß ich ſchon die Vögel in dem Garten
bemerkt habe, ſagte mein Gaſtfreund: „Wenn ihr
länger bei uns wäret, ſo würdet ihr jezt eine ganze
Lebensgeſchichte dieſer Thiere erfahren. Die Zurück¬
gebliebenen fangen ſchon an, ſich zu erheitern, die
fortgezogen ſind, treffen bereits allmählich ein, und
werden mit Geſchrei empfangen. Sie drängen ſich
ſehr an die Tafel, und ſputen ſich, bis die in der
Fremde erfahrnen Nahrungsſorgen verwunden ſind;
denn dort werden ſie ſchwerlich einen Brodvater fin¬
den, der ihnen gibt. Von da an werden ſie immer
inniger, und ſingen täglich ſchöner. Dann wird ein
Gekoſe in den Zweigen, und ſie jagen ſich. Hieran
ſchließt ſich die Häuslichkeit. Sie ſorgen für die Zu¬
kunft, und ſchleppen ſich mit närriſchen Lappen zu dem
Neſterbau. Ich laſſe ihnen dann allerlei Fäden zupfen,
ſie nehmen ſie aber nicht immer, ſondern ich ſehe
manchmal einen, wie er an einem kothigen Halme
zerrt. Nun kömmt die Zeit der Arbeit wie bei uns in
den Männerjahren. Da werden die leichtſinnigen
[334] Vögel ernſthaft, ſie ſind raſtlos beſchäftigt, ihre Nach¬
kommen zu füttern, ſie zu erziehen und zu unterrichten,
daß ſie zu etwas Tüchtigem tauglich werden, nament¬
lich zu der großen bevorſtehenden Reiſe. Gegen den
Herbſt kömmt wieder eine freiere Zeit. Da haben ſie
gleichſam einen Nachſommer, und ſpielen eine Weile,
ehe ſie fort gehen.“


Als wir von dem Spaziergange zurückgekehrt wa¬
ren, und es Abend wurde, verſammelten wir uns an
dem Kamine des Speiſezimmers, in welchem ein
luſtiges Feuer brannte. Auch Euſtach wurde herüber
geholt, und der weiße Gärtner mußte kommen und
ſagen, welche Fortſchritte die Pflanzen in den Win¬
terbeeten und in den Gewächshäuſern gemacht hat¬
ten. Die Haushälterin Katharina ſezte hie und da
ein warmes Getränke auf ein Tiſchchen.


Am andern Tage Morgens ging ich zu meinem
Gaſtfreunde in das Fütterungszimmer, um zuzuſehen.
Er ſuchte ſich alle Gattungen Nahrung aus den Fä¬
chern zurecht, öffnete dann die Fenſter, und that das
Futter auf die Brettchen. Er blieb an dem Fenſter
ſtehen, und ich bei ihm. Trozdem kamen die Vögel in
Bögen oder geraden Linien herbei geflogen. Ihn
fürchteten ſie nicht, weil ſie ihn als den Nährvater
[335] kannten, und mich nicht, weil ich bei ihm ſtand. Sie
drängten ſich, pickten, zwitſcherten, und balgten ſich
ſogar mitunter.


„Ich gebe im ſpäteren Frühlinge und Sommer
den Weibchen ſehr gerne noch eine leckere Draufgabe,“
ſagte er, „weil manches Mal eine bedrängte Mutter
unter ihnen ſein kann. Die ſo haſtig und zugleich
ſo erſchreckt freſſen, ſind Fremde. Sie würden um kei¬
nen Preis zu einem Menſchen herzu gehen, wenn ſie
nicht der bitterſte Hunger nöthigte. Ich habe in har¬
ten Wintern ſchon die ſeltenſten Vögel auf dieſen
Brettern geſehen.“


Als alles vorüber war und ſich keine Gäſte mehr
einfanden, ſchloß er die Fenſter.


Ich ſtieg von da auf den Dachboden des Hauſes
empor, weil er geſagt hatte, daß jezt auch den Haſen
außerhalb des Gartens Futter geſtreut würde, und
daß man ſie von da ſehen könnte. Sie haben noch
nichts als die karge Winterſaat und Nadelreiſer, we߬
halb man noch nachhelfen müſſe. Da die Magd die
Blätter ausgeſtreut und ſich entfernt hatte, kamen
ſchon Haſen herzu. Ich ſchraubte ein Fernrohr an
einen Balken, und es war lächerlich anzuſehen,
worauf mich Guſtav aufmerkſam machte, wenn ein
[336] rieſiger Haſe in dem Fernrohre ſaß, mit ſchreckhaften
Augen auf das verdächtige Mahl ſah, und ſchnell die
Lippen bewegte, als fräße er ſchon. Da ich auch dies
geſehen hatte, ſtieg ich wieder herunter, und ging mit
Guſtav in das Zimmer, in welchem die Geräthe zur
Naturlehre ſtanden.


Es ſollte nun erſt das Frühmahl eingenommen
werden. Dasſelbe wurde zur Winterszeit immer in
dem Zimmer der naturwiſſenſchaftlichen Geräthſchaf¬
ten genommen, weil man, da man einen Theil des
Vormittages in ſeinen Zimmern zubrachte, nicht eigens
dazu in das Speiſezimmer hinabſteigen wollte, und
weil in derſelben Zeit in den andern Wohngemächern
des alten Mannes im Arbeitszimmer und Schlaf¬
zimmer eben aufgeräumt und gelüftet wurde.


Mein Gaſtfreund erwartete mich und Guſtav
ſchon; denn er war nicht mit uns auf den Dachboden
hinauf geſtiegen. Das Gemach war ſanft erwärmt,
und in der Nähe des Ofens ſtand ein Tiſch, der ge¬
deckt und mit allen Geräthen verſehen war, ein ange¬
nehmes Frühmahl zu bereiten. Er ſtand auf einem
freien Raume, um den herum ſich die Werkzeuge der
Wiſſenſchaft befanden.


Da wir nach dem Frühmahle nun ſo ſaßen, da
[337] eine anmuthige Wärme das Zimmer erfüllte, da von
dem Wiederſcheine der ganz ſchief die Fenſter treffen¬
den Morgenſonne das Meſſing das Glas und das
Holz der verſchiedenartigen Werkzeuge erglänzte, ſagte
ich zu meinem alten Gaſtfreunde: „Es iſt ſeltſam, da
ich von eurer Beſizung in die Stadt und ihre Beſtre¬
bungen kam, lag mir euer Weſen hier wie ein Mär¬
chen in der Erinnerung, und nun, da ich hier bin und
das Ruhige vor mir ſehe, iſt mir dieſes Weſen wieder
wirklich und das Stadtleben ein Märchen. Großes iſt
mir klein, Kleines iſt mir groß.“


„Es gehört wohl beides und alles zu dem Gan¬
zen, daß ſich das Leben erfülle und beglücke,“ antwor¬
tete er. „Weil die Menſchen nur ein Einziges wollen
und preiſen, weil ſie, um ſich zu ſättigen, ſich in das
Einſeitige ſtürzen, machen ſie ſich unglücklich. Wenn
wir nur in uns ſelber in Ordnung wären, dann wür¬
den wir viel mehr Freude an den Dingen dieſer Erde
haben. Aber wenn ein Übermaß von Wünſchen und
Begehrungen in uns iſt, ſo hören wir nur dieſe im¬
mer an, und vermögen nicht die Unſchuld der Dinge
außer uns zu faſſen. Leider heißen wir ſie wichtig,
wenn ſie Gegenſtände unſerer Leidenſchaften ſind, und
Stifter, Nachſommer. I. 22[338] unwichtig, wenn ſie zu dieſen in keinen Beziehungen
ſtehen, während es doch oft umgekehrt ſein kann.“


Ich verſtand dieſes Wort damals noch nicht ſo
ganz genau, ich war noch zu jung, und hörte ſelber
oft nur mein eigenes Innere reden, nicht die Dinge
um mich.


Gegen Mittag kam derjenige meiner Koffer, den
ich in das Roſenhaus beſtellt hatte. Ich packte ihn
aus, und zeigte Guſtav, der mich beſuchte, manche
Bücher Zeichnungen und andere Dinge, die er ent¬
hielt, und richtete mich in meinem Zimmer häuslich
ein.


So gingen nun mehrere Tage dahin.


In dieſem Hauſe war jeder unabhängig, und
konnte ſeinem Ziele zuſtreben. Nur durch die gemein¬
ſame Hausordnung war man gewiſſermaßen zu einem
Bande verbunden. Selbſt Guſtav erſchien völlig frei.
Das Geſez, welches ſeine Arbeiten regelte, war nur
einmal gegeben, es war ſehr einfach, der Jüngling
hatte es zu dem ſeinigen gemacht, er hatte es dazu
machen müſſen, weil er verſtändig war, und ſo lebte
er darnach.


Guſtav bath mich ſehr, ich möchte einmal ſeinem
Unterrichte in der Naturlehre beiwohnen. Ich ſagte
[339] es meinem Gaſtfreunde, und [dieſer] hatte nichts da¬
wider. So war ich dann nicht einmal ſondern meh¬
rere Male bei dieſem Unterrichte zugegen. Mein alter
Gaſtfreund ſaß in einem Lehnſeſſel und erzählte. Er
beſchrieb eine Erſcheinung, er machte die Erſcheinung
recht deutlich, zeigte ſie, wenn es möglich war, mit
den Vorrichtungen ſeiner Sammlung, oder wo dies
nicht möglich war, ſuchte er ſie durch Zeichnung oder
Verſinnbildlichung darzuſtellen. Dann erzählte er,
auf welchem Wege die Menſchen zur Kenntniß dieſer
Erſcheinung gekommen waren. Wenn er dieſes voll¬
endet hatte, that er das Gleiche mit einer zweiten ver¬
wandten Erſcheinung. Und wenn er nun einen Kreis
von zuſammengehörigen Erſcheinungen, der ihm hin¬
länglich ſchien, ausgeführt hatte, dann hob er das¬
jenige, was allen Erſcheinungen gleichartig iſt, her¬
vor, und ſtellte die Grunderſcheinung oder das Geſez
dar. Bei dieſem Unterrichte wurde nicht ein gewiſſes
Buch zu Grunde gelegt, ſondern Guſtav ſchrieb ſpäter
das, was ihm erzählt worden war, aus dem Gedächt¬
niſſe auf, der alte Mann beſſerte es dann in ſeiner
Gegenwart aus, und ſo erhielt der Knabe nicht nur ein
Handbuch der Naturwiſſenſchaft, ſondern lernte den
Stoff ſelber ſchon durch das Aufſchreiben und Ausbeſ¬
22 *[340] ſern. Was ſich Guſtav angeeignet hatte, wurde zu Zei¬
ten gleichſam in freundlichen Geſprächen durchgenom¬
men. Die Sprache des Unterrichtes war ſtets ſo ein¬
fach und klar, daß ich meinte, ein Kind müſſe dieſe
Dinge verſtehen können. Mir fiel es jezt erſt recht
auf, wie ungehörig manche Lehrer in der Stadt in
dieſer Wiſſenſchaft verfahren, welche ſie gewiſſerma¬
ßen in eine wiſſenſchaftliche Neckſprache kleiden, die
ein Schüler nicht verſteht, und mit welcher ſie die Ma¬
thematik ſo in Eins verflechten, daß beide beides nicht
ſind, und ein Ganzes auch nicht darſtellen. Ich ſah,
daß Guſtav auch die Rechnung auf die Naturlehre
anwandte, aber wo er es that, erkannte ich, daß er
es ſtets mit Sachkenntniß und Klarheit that, und daß
er immer die Rechnung nicht als Hauptſache ſondern
hier als Dienerin der Natur betrachtete. Ich urtheilte
aus meinen eigenen früheren Arbeiten, daß er auch in
dieſem Fache einen gründlichen Unterricht erhalten
haben mußte. Ich fragte ihn einmal darnach, und
erfuhr, daß auch hierin ſein Ziehvater ſein Lehrer ge¬
weſen ſei.


Ich beſuchte ſpäter auch den Unterricht in der Län¬
derkunde. Hier fiel mir auf, daß gezeichnete Karten
gebraucht wurden, welche alle den nehmlichen Ma߬
[341] ſtab hatten, ſo daß Rußland in einer außerordentlich
großen, die Schweiz in einer ſehr kleinen Karte dar¬
geſtellt war. Mir leuchtete der Zweck dieſer Maßregel
ein, damit nehmlich bei der lebhaften jugendlichen
Einbildungskraft ein Bild der Größenverhältniſſe
dauernd eingeprägt werde. Ich erinnerte mich bei die¬
ſer Gelegenheit einer Wette, die wir Kinder um eine
Kleinigkeit über die Frage abgeſchloſſen hatten, ob
Philadelphia nicht beinahe ſo ſüdlich wie Rom liege,
was die meiſten mit Lachen verneinten. Eine herbei¬
gebrachte Karte zeigte, daß es ſüdlicher als Neapel
liege. Allgemein ſagten damals auch die großen Leute,
die zugegen waren, daß bei Kindern dieſer Irrthum
durch die Raumverhältniſſe, in denen unſere gewöhn¬
lichen Karten gezeichnet ſeien, veranlaßt werden
mußte. Die Karten, welche Guſtav gebrauchte, wa¬
ren von dem Zeichner im Schreinerhauſe nach Karten
unſerer ſogenannten Atlaſſe verfertiget worden.


Ich fragte meinen Gaſtfreund, ob Guſtav auch
Geſchichte lerne, worauf er erwiederte: „Man nimmt
ſehr häufig mit jungen Schülern gleich zur Erdbe¬
ſchreibung auch Geſchichte vor; ich glaube aber, daß
man hierin Unrecht thut. Wenn man in der Erdbe¬
ſchreibung nicht blos die geſchichtliche Eintheilung
[342] der Erde und Länder vor Augen hat, was ich auch
für einen Fehler halte, ſondern wenn man auf die
bleibenden Geſtaltungen der Erde ſieht, auf denen
ſich eben durch ihren Einfluß verſchiedenartige Völker
gebildet haben, ſo iſt die Erde ein Naturgegenſtand,
und Erdbeſchreibung zum großen Theile ein Beſtand¬
theil der Naturwiſſenſchaft. Die Naturwiſſenſchaften
ſind uns aber viel greifbarer als die Wiſſenſchaften
der Menſchen, wenn ich ja Natur und Menſchen ge¬
genüber ſtellen ſoll, weil man die Gegenſtände der
Natur außer ſich hinſtellen und betrachten kann, die
Gegenſtände der Menſchheit aber uns durch uns ſel¬
ber verhüllt ſind. Man ſollte meinen, daß das Ge¬
gentheil ſtatthaben ſolle, daß man ſich ſelber beſſer
als Fremdes kennen ſolle, viele glauben es auch; aber
es iſt nicht ſo. Thatſachen der Menſchheit ja That¬
ſachen unſeres eigenen Innern werden uns, wie ich
ſchon einmal geſagt habe, durch Leidenſchaft und
Eigenſucht verborgen gehalten oder mindeſtens ge¬
trübt. Glaubt nicht der größte Theil, daß der Menſch
die Krone der Schöpfung, daß er beſſer als alles,
ſelbſt das Unerforſchte ſei? Und meinen die, welche
aus ihrem Ich nicht heraus zu ſchreiten vermögen,
nicht, daß das All nur der Schauplaz dieſes Ichs ſei,
[343] ſelbſt die unzähligen Welten des ewigen Raumes
dazu gerechnet? Und dennoch dürfte es ganz anders
ſein. Ich glaube daher, daß Guſtav erſt nach Erler¬
nung der Naturwiſſenſchaften zu den Wiſſenſchaften
des Menſchen übergehen ſoll, und daß er da unge¬
fähr die Reihe beobachten ſoll: Körperlehre Seelen¬
lehre Denklehre Sittenlehre Rechtslehre Geſchichte.
Hierauf mag er etwas von den Büchern der ſoge¬
nannten Weltweisheit leſen, dann aber muß er in
das Leben ſelber hinaus kommen.“


Zum Unterrichte für Guſtav waren gewiſſe Stun¬
den feſtgeſezt, welche der alte Mann nie verſäumte,
andere Stunden waren für die Selbſtarbeit beſtimmt,
welche Guſtav wieder gewiſſenhaft hielt. Die übrige
Zeit war zu freier Beſchäftigung überlaſſen.


In ſolchen Zeiten waren wir manches Mal in
dem Leſezimmer. Mein Gaſtfreund kam auch öfter und
gelegentlich auch Euſtach oder der eine und der an¬
dere Arbeiter. Für Guſtav waren nach der Wahl ſei¬
nes Lehrers die Bücher, die er leſen durfte, beſtimmt.
Er benuzte ſie fleißig, ich ſah aber nie, daß er nach
einem anderen langte. Euſtach und die anderen Leute
hatten freie Auswahl und natürlich ich auch. Da ich
das erſte Mal in dieſem Hauſe war, hatte ich es ge¬
[344] tadelt, daß das Bücherzimmer von dem Leſezimmer
abgeſondert ſei, es erſchien mir dieſes als ein Umweg
und eine Weitſchweifigkeit. Da ich aber jezt länger
bei meinem Gaſtfreunde war, erkannte ich meine
Meinung als einen Irrthum. Dadurch, daß in dem
Bücherzimmer nichts geſchah, als daß dort nur die
Bücher waren, wurde es gewiſſermaßen eingeweiht,
die Bücher bekamen eine Wichtigkeit und Würde,
das Zimmer iſt ihr Tempel, und in einem Tempel
wird nicht gearbeitet. Dieſe Einrichtung iſt auch eine
Huldigung für den Geiſt, der ſo manigfaltig in die¬
ſen gedruckten und beſchriebenen Papieren und Per¬
gamentblättern enthalten iſt. In dem Leſezimmer
aber wird dann der wirkliche und der freundliche Ge¬
brauch dieſes Geiſtes vermittelt, und ſeine Erhaben¬
heit wird in unſer unmittelbares und irdiſches Be¬
dürfniß gezogen. Das Zimmer iſt auch recht lieblich
zum Leſen. Da ſcheint die freundliche Sonne herein,
da ſind die grünen Vorhänge, da ſind die einladenden
Size und Vorrichtungen zum Leſen und Schreiben.
Selbſt daß man jedes Buch nach dem zeitlichen Ge¬
brauche wieder in das Bücherzimmer an ſeinen Plaz
tragen muß, erſchien mir jezt gut; es vermittelt den
Geiſt der Ordnung und Reinheit, und iſt gerade bei
[345] Büchern wie der Körper der Wiſſenſchaft, das Syſtem.
Wenn ich mich jezt an Bücherzimmer erinnerte, die
ich ſchon ſah, in welchen Leitern Tiſche Seſſel Bänke
waren, auf denen allen etwas lag, ſeien es Bücher
Papiere Schreibzeuge oder gar Geräthe zum Abfegen;
ſo erſchienen mir ſolche Bücherſäle wie Kirchen, in
denen man mit Trödel wirthſchaftet.


Ich ging auch öfter zu Euſtach in das Schreiner¬
haus. An einem der erſten ſehr heiteren Tage nahm
ich alle Zeichnungen mit ſeiner Erlaubniß heraus,
und ſah ſie noch einmal mit großer Muße und Ge¬
nauigkeit an. Ich konnte es faſt kaum glauben, wie
ſehr mich meine Zeichnungsübungen während des
vergangenen Winters gefördert hatten. Ich verſtand
jezt vieles, was ich da vorfand, beſſer als im Som¬
mer, und es gefielen mir die meiſten Dinge auch
mehr. Ich theilte ihm manches von meinen Zeichnun¬
gen mit, namentlich von Zeichnungen von Pflanzen,
deren ich dieſes Mal eine größere Anzahl in meinem
Koffer mitgebracht hatte. Bei meiner erſten Anwe¬
ſenheit hatte ich in dem Ränzchen nur einige Schriften
ein Fernrohr und andere Sachen getragen, die in
ein ſo kleines Behältniß gehen, Zeichnungen aber
nicht. Er hatte eine Freude an dieſen Dingen; aber
[346] ſonderbar war es anzuſehen, wie er die Pflanzenzeich¬
nungen nicht als Pflanzenfreund und Kenner an¬
blickte, ſondern als Baumeiſter, der ihre Geſtalt ver¬
wenden kann. Er verſuchte ſpäter ſelber auch Zeich¬
nungen nach lebenden Pflanzen; aber hier trat der
Unterſchied von einem Pflanzenfreunde noch mehr
hervor: die Bilder wurden ihm allgemach durch un¬
merkliche Zuſäze aus Gewächſen ſchöne Verzierungen.
Er ſuchte ſich auch in der Regel ſolche Vorbilder aus,
die zu ſeinem Berufe in näherer Beziehung ſtanden,
oder in eine ſolche gebracht werden konnten. In Be¬
zug auf die anderen Dinge, die in dem Schreiner¬
hauſe gearbeitet wurden, zeigte er mir alles, und er¬
klärte mir manches, wenn ich nach Erklärung ver¬
langte. Auch hierin glaubte ich ſeit dem vorigen
Sommer Fortſchritte gemacht zu haben, namentlich,
da ich die Gegenſtände, die mein Vater beſaß, wohl
genau betrachtet und mir eingeprägt hatte, um ihre
Bilder hieher übertragen und mit dem, was ſich hier
befand, vergleichen zu können. Die Geſtalten gingen
jezt leichter in mein Weſen ein, mir gefiel vieles mehr
als im vorigen Sommer, und ich wurde auf manches
aufmerkſam, was ich damals nicht beachtet hatte.
Wir ſaßen zuweilen in dem freundlichen Zimmer
[347] Guſtachs, wenn die Vormittagsſonne durch die ge¬
ſchloſſenen Vorhänge ſanft herein blickte, und redeten
von allerlei Dingen.


An Nachmittagen, beſonders wenn trübes Wet¬
ter war, und die Geſchäfte im Freien nicht eine große
Ausdehnung hatten, verſammelte man ſich in dem
Arbeitszimmer meines Gaſtfreundes. Dieſes Zimmer
war an Nachmittagen, wo es ſehr zuſammengeräumt,
und wo mehr Muße war, der Vereinigungspunkt der
kleinen Geſellſchaft, wenn ſie ſich überhaupt verei¬
nigte. Mein alter Gaſtfreund hatte ſich dieſes Ge¬
mach ſehr wohnlich, wenn auch für Einſamkeit geeig¬
net, herrichten laſſen, wie er überhaupt, wenn er
nicht eigens Menſchen um ſich verſammelte, die Ein¬
ſamkeit liebte. Er hatte neben ſeinem Seſſel einen
Glockenzug, der durch den Fußboden in die Geſinde¬
zimmer hinab ging, um ſchnell einen Diener rufen zu
können. In dem Schlafzimmer war etwas Ähnliches.
Dort befanden ſich außer dem gewöhnlichen Glocken¬
zuge an den Seitenbrettern des Bettes zwei Platten,
die durch das leiſeſte Auflegen einer Hand eine laut
und lange tönende Glocke in Bewegung ſetzten, da¬
mit man, wenn dem alten Manne etwas zuſtieße,
ſchnell zu Hilfe eilen könnte. Zwei Diener hatten im¬
[348] mer die Schlüſſel zu ſeinen Gemächern, um auch in
der Nacht von Außen aufſperren zu können. Dieſe
Vorrichtungen waren eine Erfindung Euſtachs, weil
der alte Mann jede Einſchränkung durch Dienerſchaft
ja die Nähe derſelben nicht wollte, um nicht geſtört
zu werden. Er ließ auch nicht zu, daß Guſtav in einem
Zimmer neben ihm ſchlafe, um ſich nicht an ihn zu
gewöhnen, und ihn dann zu vermiſſen, da der Jüng¬
ling doch einmal fort müſſe. Wenn man in dem Ar¬
beitszimmer meines Gaſtfreundes verſammelt war,
beſprach man gewöhnlich Angelegenheiten des Beſiz¬
thums, Veränderungen, die nothwendig ſind, Arbei¬
ten, die man vornehmen müſſe, und Gegenſtände der
Kunſt. Hieher wurden die Pläne und Entwürfe von
Dingen gebracht, die man entweder in Holz ausfüh¬
ren wollte, oder die Anlagen in dem Garten oder
Umänderungen an Gebäuden betrafen. Es war gut,
dieſe Entwürfe gerade in dieſes Zimmer zu bringen,
weil ſie da eine ſehr ſchöne und ausgezeichnete Um¬
gebung antrafen, und ſich daher jeder Fehler und jede
Unzulänglichkeit, wenn derlei in dem Entwurfe wa¬
ren, ſogleich aufzeigte, und verbeſſert werden konnte.
An dem Tage, wo mehrere Menſchen in das Arbeits¬
zimmer des alten Mannes kamen, war immer ein
[349] Teppich über den auserleſenen Fußboden desſelben
gebreitet, damit er keine Beſchädigung erleide.


Wenn trockene Wege waren, gingen wir öfter in
den Meierhof. Dort wurden die Arbeiten, welche der
erſte Frühling bringt, rüſtig betrieben. Das Ganze
war ſeit meiner vorjährigen Anweſenheit in Ordnung
und Fülle ſehr vorgeſchritten. Man mußte bis ſpät
in den Herbſt hinein und ſelbſt im Winter, ſoweit es
thunlich war, fleißig gearbeitet haben. Im Innern
des Hofes war nicht mehr blos die ſchöne Pflaſterung
an den Gebäuden herum und der reinliche Sand über
den ganzen Hofraum, ſondern es war in der Mitte
desſelben ein kleiner Springquell, der mit drei Strah¬
len in ein Becken fiel, und eine Blumenanlage um
ſich hatte. Auf das alles ſahen die hellen Fenſter des
Hofes ringsum heraus. So ſah dieſer Theil des Ge¬
bäudes, obwohl zwei Seiten des Hofes Ställe und
Scheunen waren, wie ein Edelſiz aus. Ich fragte
meinen Gaſtfreund, ob er neues Mauerwerk habe
aufführen laſſen, da ich den Meierhof viel vollkom¬
mener ſehe als im vergangenen Jahre, und da er
auch ſchöner ſei, als ſie hier im Lande gebaut würden.


„Ich habe keine Mauern aufführen laſſen,“ ant¬
wortete er, „nur die lezten äußeren Verſchönerungen
[350] habe ich angebracht, und die Fenſter habe ich vergrö¬
ßert, der Grund war ſchon da. Die Meierhöfe und
die größeren Bauerhöfe unſerer Gegend ſind nicht ſo
häßlich gebaut, als ihr meint. Nur ſind ſie ſtets bis
auf ein gewiſſes Maß fertig, weiter nicht; die lezte
Vollendung gleichſam die Feile fehlt, weil ſie in dem
Herzen der Bewohner fehlt. Ich habe blos dieſes
Lezte gegeben. Wenn man mehrere Beiſpiele auf¬
ſtellte, ſo würden ſich im Lande die Anſichten über das
nothwendige Auſſehen und die Wohnbarkeit der
Häuſer ändern. Dieſes Haus ſoll ſo ein Beiſpiel
ſein.“


Die Wege um den Hof und deſſen Wieſen und
Felder waren auch nicht mehr ſo, wie ſie größtentheils
in dem vorigen Sommer geweſen waren. Sie waren
feſt, mit weißem Quarze belegt, und ſcharf und wohl
abgegrenzt.


An ſchönen Mittagen, die bereits auch immer
wärmer wurden, ſaß ich gerne auf dem Bänkchen,
das um den großen Kirſchbaum lief, und ſah auf die
unbelaubten Bäume auf die friſch geegten Felder auf
die grünen Tafeln der Winterſaat die ſchon ſproſſen¬
den Wieſen und durch den Duft, der in dem erſten
Frühlinge gerne aus Gründen quillt, auf die Hoch¬
[351] gebirge, die mit dem Glanze des noch in ungeheurer
Menge auf ihnen liegenden Schnees ſpielten. Gu¬
ſtav ſchloß ſich an mich viel an, wahrſcheinlich weil
ich unter allen Bewohnern des Hauſes ihm an Alter
am nächſten war. Er ſaß deßhalb gerne bei mir auf
dem Bänkchen. Wir gingen manches Mal auf die
Felderraſt hinüber, und er zeigte mir einen Strauch,
auf dem bald Blüthen hervor kommen würden, oder
eine ſonnige Stelle, auf der das erſte Grün erſchien,
oder Steine, um die ſchon verfrühte Thierchen ſpielten.


Eines Tages entdeckte ich in den Schreinen der
Naturſammlung eine Zuſammenſtellung aller inlän¬
diſchen Hölzer. Sie waren in lauter Würfeln aufge¬
ſtellt, von denen zwei Flächen quer gegen die Faſern,
die übrigen vier nach den Faſern geſchnitten waren.
Von dieſen vier Flächen war eine rauh die zweite glatt
die dritte polirt und die vierte hatte die Rinde. Im
Innern der Würfel, welche hohl waren und geöffnet
werden konnten, befanden ſich die getrockneten Blü¬
then die Fruchttheile die Blätter und andere merk¬
würdige Zugehöre der Pflanze, zum Beiſpiel gar die
Mooſe, die auf gewiſſen Orten gewöhnlich wachſen.
Euſtach ſagte mir, der alte Herr — ſo nannten alle
Bewohner des Hauſes meinen Gaſtfreund, nur Gu¬
[352] ſtav nannte ihn Ziehvater — habe dieſe Sammlung
angelegt, und die Anordnung ſo ausgedacht. Sie ſoll
nach dem Willen des alten Herrn noch einmal ge¬
macht, und der Gewerbſchule zum Geſchenke gegeben
werden.


Seine ſeltſame Kleidung und ſeine Gewohnheit
immer barhäuptig zu gehen, welch beides mir An¬
fangs ſehr aufgefallen war, beirrte mich endlich gar
nicht mehr, ja es ſtimmte eigentlich zu der Umgebung
ſowohl ſeiner Zimmer als der um ihn herum woh¬
nenden Bevölkerung, von der er ſich nicht als etwas
Vornehmes abhob, der er vielmehr gleich war, und
von der er ſich doch wieder als etwas Selbſtſtändiges
unterſchied. Mir fiel im Gegentheile ein, daß man¬
ches nicht geſchmackvoll ſei, was wir ſo heißen, am
wenigſten der Stadtrock und der Stadthut der Männer.


In die Zimmer, welche nach Frauenart eingerich¬
tet waren, wurde ich einmal auf meine Bitte geführt.
Sie gefielen mir wieder ſehr, beſonders das lezte
kleine, welchem ich jezt den Namen „die Roſe“ gab.
Man konnte in ihm ſizen ſinnen und durch das lieb¬
liche Fenſter auf die Landſchaft blicken. Daß ich nicht
um den Gebrauch dieſer Zimmer fragte, begreift ſich.


Ich erzählte meinem Gaſtfreunde oft von meinem
[353] Vater von der Mutter und von der Schweſter. Ich
erzählte ihm von allen unſern häuslichen Verhältniſ¬
ſen, und beſchrieb ihm mehrfach, ſo genau ich es
konnte, die Dinge, die mein Vater in ſeinen Zimmern
hatte, und auf welche er einen Werth legte. Meinen
Namen nannte ich hiebei nicht, und er fragte auch
nicht darnach.


Ebenſo wußte ich, obwohl ich nun länger in ſei¬
nem Hauſe geweſen war, noch immer ſeinen Namen
nicht. Zufällig iſt er nicht genannt worden, und da
er ihn nicht ſelber ſagte, ſo wollte ich aus Grundſaz
niemanden darum fragen. Von Guſtav oder Euſtach
wäre er am leichteſten zu erfahren geweſen; aber dieſe
zwei mochte ich am wenigſten fragen, am allerwenig¬
ſten Guſtav, wenn er unzählige Male unbefangen
den Namen Ziehvater ausſprach. Der Mann war
ſehr gut ſehr lieb und ſehr freundlich gegen mich, er
nannte ſeinen Namen nicht, ich konnte auch nicht mit
Gewißheit vorausſezen, daß er meine, ich kenne den¬
ſelben; daher beſchloß ich, gar nicht, ſelbſt nicht in
der größten Entfernung von dieſem Orte, um den
Namen des Beſizers des Roſenhauſes zu fragen.


Nach und nach änderte ſich die Zeit immer mehr
und immer gewaltiger. Die Tage waren viel länger
Stifter, Nachſommer. I. 23[354] geworden, die Sonne ſchien ſchon ſehr warm, die
Friſten, in denen der Himmel ſich klar und wolkenlos
zeigte, wurden bereits länger als die, in denen er
umwölkt oder neblich war, die Erde ſproßte, die
Bäume knoſpten, an den Roſenbäumchen vor dem
Hauſe wurde ſehr fleißig gearbeitet, alles war heiter,
und der Frühling war in ſeiner ganzen Fülle einge¬
treten. Dieſe Zeit war ſchon lange als diejenige be¬
ſtimmt geweſen, in welcher ich abreiſen würde. Ich
ſagte dieſes noch einmal meinem Gaſtfreunde, und
da ich Anſtalten getroffen hatte, meinen Koffer fort
zu ſenden, wurde der Tag der Abreiſe feſtgeſezt.


Wir hatten früher noch die Verabredung getrof¬
fen, daß ich meine Arbeiten ſo einrichten wolle, daß
ich zur Zeit der Roſenblüthe wiederkommen und wie¬
der längere Zeit in dem Hauſe verbleiben könne. Da
ich ſah, daß ich gerne aufgenommen werde, und daß
ich in Hinſicht der äußeren Mittel keine Laſt in dem
Hauſe ſei, und da mein Gemüth ſich auch dieſem
Orte zugeneigt fühlte, ſo war mir dieſe Verabredung
ganz nach meinem Sinne. Nur, meinte mein Gaſt¬
freund, müßte ich dann in den Gebirgsthälern ſchon
zur Herreiſe aufbrechen, wenn dort kaum die Roſen
völlige Knoſpen hätten, weil ſie hier der beſſern Erde
[355] und der beſſern Pflege willen früher blühen als an
allen Theilen des Landes. Ich ſagte es zu, und ſo
war alles in Ordnung.


Am Tage vor meiner Abreiſe kam Euſtachs Bru¬
der zurück. Er mochte zwanzig und einige Jahre alt
ſein, war ſchön gewachſen, hatte braune Wangen und
dunkle Locken und ein klein wenig aufgeworfene Lip¬
pen. Mir war, als wäre ich dem Manne ſchon einige
Male auf meinen Reiſen begegnet. Er brachte in ſei¬
nem Buche viele und darunter ſchöne Zeichnungen
mit, welche mit Antheil betrachtet wurden. Sie ſoll¬
ten nun auf größerem Papiere und in künſtleriſcher
Richtung ausgeführt werden.


Als ich am Abende vor der Abreiſe noch im Meier¬
hofe geweſen war, als ich am Morgen derſelben zu
Euſtach und den Gärtnersleuten gegangen war, als
ich den Hausbewohnern Lebewohl geſagt und von
meinem Gaſtfreunde und von Guſtav vor dem Hauſe
Abſchied genommen hatte: ging ich den Hügel hinun¬
ter, und ich hörte ſchon von dem Garten und von den
Hecken und aus den Saaten den kräftigen Frühlings¬
geſang der Vögel.


23 *
[[356]]

7.
Die Begegnung.

Auf der Reiſe nach dem Orte meiner Beſtimmung
zeichnete ich ein ſchönes Standbild, welches ich in der
Niſche einer Mauertrümmer fand. Ich hatte dazu
mein Zeichnungsbuch aus dem Ränzlein genommen,
in welchem ich es jezt immer trug. Dies war die ein¬
zige Unterbrechung und der einzige Aufenthalt auf
dieſer Reiſe geweſen.


Als ich an meinem Beſtimmungsorte angelangt
war, war das erſte, was ich that, daß ich meine Zeit
beſſer zu Rathe hielt als früher. Ich mußte mir be¬
kennen, daß die Art, wie in dem Roſenhauſe das Ta¬
gewerk betrieben wurde, auf mich von großem Ein¬
fluſſe ſein ſolle. Da dort der Werth der Zeit ſehr hoch
angeſchlagen, und dieſes Gut ſehr ſorgfältig ange¬
wendet wurde, ſo fing ich, wenn ich mir auch bisher
einen großen Vorwurf nicht hatte machen können,
dennoch an, mit viel mehr Ordnung als bisher nach
[357] einem einzigen Ziele während einer beſtimmten Zeit
hinzuarbeiten, während ich früher durch augenblick¬
liche Eindrücke beſtimmt mit den Zielen öfter wech¬
ſelte, und, obwohl ich eifrig ſtrebte, doch eine dem
Streben entſprechende Wirkung nicht jederzeit er¬
reichte. Ich machte mir nun zur Aufgabe, eine be¬
ſtimmte Strecke zu durchforſchen, und im Verlaufe
überhaupt nichts liegen zu laſſen, was von Weſen¬
heit wäre, aber auch nichts auf eine gelegenere Zu¬
kunft zu verſchieben, ſo daß, ſollte ich bis zur Roſen¬
zeit mit der vorgeſezten Strecke nicht fertig werden,
wenigſtens der Theil, den ich vollendete, wirklich
fertig wäre, und ich auf genau umſchriebene Ergeb¬
niſſe zu deuten im Stande wäre. Das ſah ich nach
dem Beginne der Arbeiten ſehr bald, daß ich mir den
Raum zu groß ausgeſteckt hatte; aber auch das ſah
ich ſehr bald, daß der kleinere Raum, den ich über¬
winden würde, mir mehr an Erfolg ſicherte, als wenn
ich wie in meiner Vergangenheit durch geraume Zeit
den Blick ſo ziemlich auf alles geſpannt hätte. Hiezu
kam auch eine gewiſſe Zufriedenheit, die ich fühlte,
wenn ich ſah, daß ſich Glied an Glied zu einer Ord¬
nung an einander reihte, während früher mehr ein
anſprechender Stoff durcheinander lag, als daß eine
[358] aus dem Stoffe hervorgehende Geſtaltung ſich ent¬
wickelt hätte.


Meine Kiſten füllten ſich, und ſtellten ſich an ein¬
ander. Meine Führer und meine Träger gewannen
auch einen Halt in der neuen Ordnung, und es wuchs
ihnen ein Zutrauen zu mir. Ich bekam eine Neigung
zu ihnen, die ſie erwiederten, ſo daß ſich ein fröhliches
Zuſammenleben immer mehr geſtaltete, und die Ar¬
beit heiter und darum auch zweckmäßig wurde. Oft,
wenn wir Abends in der Wirthsſtube um den großen
viereckigen Ahorntiſch, oder da die Tage endlich hei¬
ßer wurden, ſtatt an den todten Brettern des Tiſches
draußen unter den lebenden und rauſchenden Ahornen
ſaßen, um welche ein fichtener Tiſch zuſammen gezim¬
mert war, und auf welche das vielfenſtrige Gaſthaus
heraus ſah, rechneten ſie ſich vor, was heute, was
ſeit vierzehn Tagen geſchehen ſei, wie viel wir, wie
ſie ſich ausdrückten, abgethan haben, und wie viel
Gebirge zuſammen geſtellt worden ſei. Sie fingen
auch bald an, die Sache nach ihrer Art zu begreifen,
über Vorkommniſſe in den Gebirgszügen zu reden und
zu ſtreiten und mir zuzumuthen, daß, wenn ich mir
merken könnte, woher alle die geſammelten Stücke
ſeien, und wenn ich die Höhe und die Mächtigkeit
[359] der Gebirge zu meſſen im Stande wäre, ich das Ge¬
birge im Kleinen auf einer Wieſe oder auf einem
Felde aufſtellen könnte. Ich ſagte ihnen, daß das ein
Theil meines Zweckes ſei, und wenn gleich das Ge¬
birge nicht auf einer Wieſe oder auf einem Felde zu¬
ſammengeſtellt werde, ſo werde es doch auf dem Pa¬
piere gezeichnet, und werde mit ſolchen Farben bemalt,
daß jeder, der ſich auf dieſe Dinge verſtände, das
Gebirge mit allem, woraus es beſtehe, vor Augen
habe. Deßhalb merke ich mir nicht nur, woher die
Stücke ſeien, und unter welchen Verhältniſſen ſie in
den Bergen beſtehen, ſondern ſchreibe es auch auf,
damit es nicht vergeſſen werde, und beklebe auch die
Stücke mit Zetteln, auf denen alles Nothwendige
ſtehe. Dieſe Stücke in ihrer Ordnung aufgeſtellt ſeien
dann der Beweis deſſen, was auf dem Papiere oder
der Karte, wie man das Ding nenne, aufgemalt ſei.
Sie meinten, daß dieſes ſehr klug gethan ſei, um,
wenn einer einen Stein oder ſonſt etwas zu einem
Baue oder dergleichen bedürfe, gleich aus der Karte
heraus leſen zu können, wo er zu finden ſei. Ich ſagte
ihnen, daß ein anderer Zweck auch darin beſtehe, aus
dem, was man in den Gebirgen finde, ſchließen zu
können, wie ſie entſtanden ſeien.


[360]

Die Gebirge ſeien gar nicht entſtanden, meinte
einer, ſondern ſeien ſeit Erſchaffung der Welt ſchon
dageweſen.


„Sie wachſen auch,“ ſagte ein anderer, „jeder
Stein wächſt, jeder Berg wächſt wie die anderen
Geſchöpfe. Nur,“ ſezte er hinzu, weil er gerne ein
wenig ſchalkhaft war, „wachſen ſie nicht ſo ſchnell wie
die Schwämme.“


So ſtritten ſie länger und öfter über dieſen Ge¬
genſtand, und ſo beſprachen wir uns über unſere Ar¬
beiten. Sie lernten durch den bloßen Umgang mit
den Dingen des Gebirges und durch das öftere An¬
ſchauen derſelben nach und nach ein Weiteres und
Richtigeres, und lächelten oft über eine irrige Anſicht
und Meinung, die ſie früher gehabt hatten.


Mein Tagebuch der Aufzeichnungen zur Feſthal¬
tung der Ordnung dehnte ſich aus, die Blätter mehr¬
ten ſich, und gaben Ausſicht zu einer umfaſſenden und
regelmäßigen Zuſammenſtellung des Stoffes, wenn
die Wintertage oder ſonſt Tage der Muße gekommen
ſein würden.


An Sonntagen oder zu anderen Zeiten, wo die
Arbeit minder drängte, gab es noch Gelegenheit zu
[361] manchen angenehmen Freuden und zu ſtärkender Er¬
holung.


Eines Tages fanden wir ein Stück Marmor, von
dem ich dachte, daß ihn mein Gaſtfreund in ſeinem
Roſenhauſe noch gar nicht habe. Er war von dem
reinſten Weiß Roſenroth und Strohgelb in kleiner
und lieblicher Miſchung. Seine Art iſt eine der ſelten¬
ſten, und hier war ſie in einem ſo großen Stücke vor¬
handen, wie ich ſie noch nie geſehen hatte. Ich be¬
ſchloß, dieſen Marmor meinem Gaſtfreunde zum
Geſchenke zu machen. Ich verſuchte, mir ein Eigen¬
thumsrecht darüber zu erwerben, und als mir dieſes
gelungen war, ging ich daran, das Stück, ſoweit
ſeine Feſtigkeit ununterbrochen war, heraus nehmen,
und in eine Geſtalt ſchneiden zu laſſen, deren es fähig
war. Es zeigte ſich, daß eine ſchöne Tiſchplatte aus
dieſem Stoffe zu verfertigen wäre. Von den loſen
Schuttſtücken nahm ich mehrere der beſſeren mit, um
allerlei Dinge der Erinnerung daraus machen zu
laſſen. Eines ließ ich zu einer Tafel ſchleifen und
dieſelbe glätten, daß mein Gaſtfreund die Zeichnung
und die Farbe des Marmors auf das Beſte ſehen
könne.


So war eine Strecke abgethan, als in den Thä¬
[362] lern ſich die kleinen Knospen der Roſen zu zeigen an¬
fingen, und ſelbſt an dem Hagedorn, der in Feldge¬
hegen oder an Gebirgsſteinen wuchs, die Bällchen
zu der ſchönen aber einfachen Blume ſich entwickelten,
die die Ahnfrau unſerer Roſen iſt. Ich beſchloß da¬
her, meine Reiſe in das Roſenhaus anzutreten. Ich
habe mich kaum mit größerem Vergnügen nach einem
langen Sommer zur Heimreiſe vorbereitet, als ich
mich jezt nach einer wohlgeordneten Arbeit zu dem
Beſuche im Roſenhauſe anſchickte, um dort eine Weile
einen angenehmen Landaufenthalt zu genießen.


Eines Nachmittages ſtieg ich zu dem Hauſe em¬
por, und fand die Roſen zwar nicht blühend aber ſo
überfüllt mit Knospen, daß in nicht mehr fernen Ta¬
gen eine reiche Blüthe zu erwarten war.


„Wie hat ſich alles verändert,“ ſagte ich zu dem
Beſizer, nachdem ich ihn begrüßt hatte, „da ich im
Frühlinge von hier fortging, war noch alles öde, und
nun blättert blüht und duftet alles hier beinahe in
ſolcher Fülle wie im vorigen Jahre zu der Zeit, da
ich zum erſten Male in dieſes Haus heraufkam.“


„Ja,“ erwiederte er, „wir ſind wie der reiche
Mann, der ſeine Schäze nicht zählen kann. Im Früh¬
linge kennt man jedes Gräschen perſönlich, das ſich
[363] unter den erſten aus dem Boden hervor wagt, und
beachtet ſorgſam ſein Gedeihen, bis ihrer ſo viele
ſind, daß man nicht mehr nach ihnen ſieht, daß man
nicht mehr daran denkt, wie mühevoll ſie hervor ge¬
kommen ſind, ja daß man Heu aus ihnen macht, und
gar nicht darauf achtet, daß ſie in dieſem Jahre erſt
geworden ſind, ſondern thut, als ſtänden ſie von jeher
auf dem Plaze.“


Man hatte mir eine eigene Wohnung machen
laſſen, und führte mich in dieſelbe ein. Es waren zwei
Zimmer am Anfange des Ganges der Gaſtzimmer,
welche man durch eine neugebrochene Thür zu einer
einzigen Wohnung gemacht hatte. Das eine war be¬
deutend groß, und hatte urſprünglich die Beſtimmung
gehabt, mehrere Perſonen zugleich zu beherbergen.
Es war jezt ausgeleert, an ſeinen Wänden ſtanden
Tiſche und Geſtelle herum, ſo wie in ſeiner Mitte ein
langer Tiſch angebracht war, damit ich meine Sa¬
chen, die ich etwa von dem Gebirge brächte, ausbrei¬
ten könnte. Das zweite Zimmer war kleiner, und war
zu meinem Schlaf- und Wohngemache hergerichtet.
Der alte Mann reichte mir die Schlüſſel zu dieſer
Wohnung. Auch zeigte man mir in der leichten ge¬
mauerten Hütte, die nicht weit hinter der Schreinerei
[364] an der weſtlichen Grenze des Gartens lag, und in
früheren Zeiten zu den Steinarbeiten benuzt worden
war, einen Raum, den man ausgeleert hatte, und in
welchen ich Gegenſtände, die ich geſammelt hätte,
bis auf weitere Verfügung niederlegen könnte. Sollte
ich mehr brauchen, ſo könne noch mehr geräumt wer¬
den, da jezt die Arbeiten mit den Steinen faſt been¬
digt ſeien, und ſelten etwas geſägt geſchliffen oder
geglättet werde. Ich war über dieſe Aufmerkſamkeiten
ſo gerührt, daß ich faſt keinen Dank dafür zu ſagen
vermochte. Ich begrif nicht, was ich mir denn für
Verdienſte um den Mann oder ſeine Umgebung er¬
worben habe, daß man ſolche Anſtalten mache. Das
Eine gereichte zu meiner Beruhigung, daß ich aus
dieſen Vorrichtungen ſah, daß ich in dem Hauſe nicht
unwillkommen ſei; denn ſonſt wäre man nicht auf den
Gedanken derſelben gerathen. Dieſes Bewußtſein ver¬
ſprach meinen Bewegungen in den hieſigen Verhält¬
niſſen viel mehr Freiheit zu geben. Ich ſtattete endlich
doch meinen Dank ab, und man nahm ihn mit Ver¬
gnügen auf.


Da ich in meiner Wohnung meine Wanderſachen
abgelegt hatte, und die erſten allgemeinen Geſpräche
vorüber waren, wollte ich einen überſichtlichen Gang
[365] durch den Garten machen. Ich ging bei der Seitenthür
des Hauſes hinaus, und da ich auf den kleinen Raum
kam, der hier eingefaßt iſt, kam der große Hofhund
auf mich zu, und wedelte. Als ich ſah, daß der alte
Hilan mich erkenne und begrüße, war ich ſo kindiſch,
mich darüber zu freuen, weil es mir war, als ſei ich
kein Fremder, ſondern gehöre gewiſſermaßen zur Fa¬
milie.


Am nächſten Tage nach meiner Ankunft erſchien
der Wagen mit meinem Gepäcke und mit der Mar¬
morplatte. Ich ließ abladen, und übergab die Platte
meinem Gaſtfreunde mit dem Bedeuten, daß ich ihm
in derſelben eine Erinnerung aus dem Gebirge bringe.
Zugleich händigte ich ihm das kleinere geſchliffene
Stück zur genaueren Einſicht in die Natur des Mar¬
mors ein. Er beſah das Stück und dann auch die
Platte ſehr ſorgfältig. Hierauf ſagte er: „Dieſer
Marmor iſt außerordentlich ſchön, ich habe ihn noch
gar nicht in meiner Sammlung, auch ſcheint die
Platte dicht und ohne Unterbrechung zu ſein, ſo daß
ein reiner Schlif auf ihr möglich ſein wird, ich bin
ſehr erfreut, in dem Beſize dieſes Stückes zu ſein, und
danke euch ſehr dafür. Allein in meinem Hauſe kann
er als Beſtandtheil desſelben nicht verwendet werden,
[366] weil dort nur ſolche Stücke angebracht ſind, welche
ich ſelber geſammelt habe, und weil ich an dieſer Art
der Sammlung und an der Verbuchung darüber eine
ſolche Freude habe, daß ich auch in der Zukunft nicht
von dieſem Grundſaze abgehe. Es wird aber ganz
gewiß aus dieſem Marmor etwas gemacht werden,
das ſeiner nicht unwerth iſt, ich hege die Hoffnung,
daß es auch euch gefallen wird, und ich wünſche daß
die Gelegenheit ſeiner Verwendung euch und mir zur
Freude gereiche.“


Ich hatte ohnehin ungefähr ſo etwas erwartet,
und war beruhigt.


Der Marmor wurde in die Steinhütte gebracht,
um dort zu liegen, bis man über ihn verfügen würde.
Meine übrigen Dinge aber ließ ich in meine Woh¬
nung bringen.


Ich ging im Sommer immer ſehr leicht gekleidet
entweder in ungebleichtem oder geſtreiftem Linnen.
Den Kopf bedeckte meiſtens ein leichter Strohhut.
Um nun hier nicht aufzufallen und um weniger von
der einfachen Kleidung der Hausbewohner abzuſtechen,
nahm ich ein paar ſolcher Anzüge ſammt einem Stroh¬
hute aus dem Koffer, kleidete mich in einen, und legte
[367] dafür meinen Reiſeanzug für eine künftige Wan¬
derung zurück.


Mein Gaſtfreund hatte auf ſeiner Beſizung eine
etwas eigenthümliche Tracht theils eingeführt, theils
nahmen ſie die Leute ſelber an. Die Dienerinnen des
Hauſes waren in die Landeſtracht gekleidet, nur dort,
wo dieſe, wie namentlich in unſerem Gebirge, unge¬
fällig war, oder in das Häßliche ging, wurde ſie
durch den Einfluß des Hausbeſizers gemildert, und
mit kleinen Zuthaten verſehen, die mir ſchön erſchie¬
nen. Dieſe Zuthaten fanden im Anfange Widerſtand,
aber da ſie von dem alten Herrn geſchenkt wurden,
und man ihn nicht kränken wollte, wurden ſie ange¬
nommen, und ſpäter von den Umwohnerinnen nicht
nur beneidet ſondern auch nachgeahmt. Die Männer,
welche in dem Hauſe dienten oder in dem Meierhofe
arbeiteten oder in dem Garten beſchäftigt waren, tru¬
gen gefärbtes Linnen, nur war daſſelbe nicht ſo dun¬
kel, als es bei uns im Gebirge gebräuchlich iſt. Eine
Jacke oder eine andere Art Überrock hatten ſie im
Sommer nicht, ſondern ſie gingen in lediglichen
Hemdärmeln, und um den Hals hatten ſie ein loſes
Tuch geſchlungen. Auf den, Haupte trugen einige
wie der Hausherr nichts, andere hatten den gewöhn¬
[368] lichen Strohhut. Euſtach ſchien in ſeiner Kleidung
niemanden nachzuahmen, ſondern ſie ſelbſt zu wählen.
Er ging auch in geſtreiftem Linnen, meiſtens roſtbraun
mit grau oder weiß; aber die Streifen waren faſt
handbreit, oder es hatte der ganze Stoff nur zwei
Farben, die Hälfte des Längenblattes braun die Hälfte
weiß. Oft hatte er einen Strohhut oft gar nichts auf
dem Haupte. Seine Arbeiter hatten ähnliche Anzüge,
auf denen ſelten ein Schmuzfleck zu ſehen war; denn
bei der Arbeit hatten ſie große grüne Schürzen um.
Unter allen dieſen Leuten hoben ſich der Gärtner und
die Gärtnerin heraus, welche blos ſchneeweiß gingen.


Ich zeigte meinem Gaſtfreunde und Euſtach die
Zeichnung, welche ich von dem Standbilde in der
Mauerniſche gemacht hatte. Sie freuten ſich, daß ich
auf derlei Dinge aufmerkſam ſei, und ſagten, daß ſie
dasſelbe Bild auch unter ihren Zeichnungen hätten,
nur daß es jezt mit mehreren anderen Blättern außer
Hauſe ſei.


Ich betrachtete nun alles, was mir in dem Gar¬
ten und auf dem Felde im vorigen Jahre in derſelben
Jahreszeit merkwürdig geweſen war. Die Blätter der
Bäume die Blätter des Kohles und die von anderen
Gewächſen waren vom Raupenfraße frei, und nicht
[369] nur die im Garten, ſondern auch die in der nächſten
und in der in ziemliche Ferne reichenden Umgebung.
Ich hatte bei meiner Herreiſe eigens auf dieſen Um¬
ſtand mein Augenmerk gerichtet. Dennoch entbehrte
der Garten nicht des ſchönen Schmuckes der Faltern;
denn einerſeits konnten die Vögel doch nicht alle und
jede Raupen verzehren, und andererſeits wehte der
Wind dieſe ſchönen lebendigen Blumen in unſern
Garten, oder ſie kamen auf ihren Wanderungen, die
ſie manchmal in große Entfernungen antreten, ſelber
hieher. Der Geſang der Vögel war mir wieder wie
im vorigen Jahre eigenthümlich, und er war mir wie¬
der ganz beſonders ſchmelzend. Dadurch, daß ſie in
verſchiedenen Fernen ſind, die Laute alſo mit unglei¬
cher Stärke an das Ohr ſchlagen, dadurch, daß ſie
ſich gelegenheitlich unterbrechen, da ſie inzwiſchen al¬
lerlei zu thun haben, eine Speiſe zu haſchen, auf
ein Junges zu merken, wird ein reizender Schmelz
veranlaßt wie in einem Walde, während die beſten
Singvögel in vielen Käfichen nahe bei einander nur
ein Geſchrei machen, und dadurch, daß ſie in dem
Garten ſich doch wieder näher ſind als im Walde,
wird der Schmelz kräftiger, während er im Walde
zuweilen dünn und einſam iſt. Ich ſah die Neſter,
Stifter, Nachſommer. I. 24[370] beſuchte ſie, und lernte die Gebräuche dieſer Thiere
kennen.


In meinen Zimmern richtete ich mich ein, ich that
die Bücher und Papiere, die ich mitgebracht hatte,
heraus, um zu leſen, einzuzeichnen, und zu ordnen.
Ich legte auch auf den großen Tiſch und auf die Ge¬
ſtelle an den Wänden kleinere Gegenſtände, die ich
mitgebracht hatte beſonders Verſteinerungen oder an¬
dere deutlichere Überreſte, um ſie zu benuzen. Guſtav
kam häufig zu mir herüber, er nahm Antheil an die¬
ſen Dingen, ich erklärte ihm manches, und mein
Gaſtfreund ſah es nicht ungern, wenn ich mit ihm
entweder ein Buch in der Hand unter den ſchattigen
Linden des Gartens oder ohne Buch auf großen
Spaziergängen — denn der alte Mann liebte die Be¬
wegung noch ſehr — von meiner Wiſſenſchaft ſprach.
Er erzählte mir dagegen von der ſeinigen, und ich
hörte ihm freundlich zu, wenn er auch Dinge brachte,
die mir ſchon beſſer bekannt waren. Zeiten, in denen
ich ohne Beſchäftigung und allein war, brachte ich
auf Gängen in den Feldern, oder auf einem Beſuche
in dem Schreinerhauſe oder in dem Gewächshauſe
oder bei den Cactus zu.


Die wogenden Felder, die ich im vorigen Jahre
[371] um dieſes Anweſen getroffen hatte, waren auch heuer
wogende, und wurden mit jedem Tage ſchöner dichter
und ſegensreicher, der Garten hüllte ſich in die Menge
ſeiner Blätter und der nach und nach ſchwellenden
Früchte, der Geſang der Vögel wurde mir immer
noch lieblicher, und ſchien die Zweige immer mehr zu
erfüllen, die ſcheuen Thiere lernten mich kennen, nah¬
men von mir Futter, und fürchteten mich nicht mehr.
Ich lernte nach und nach alle Dienſtleute kennen und
nennen, ſie waren freundlich mit mir, und ich glaube,
ſie wurden mir gut, weil ſie den Herrn mich mit
Wohlwollen behandeln ſahen. Die Roſen gediehen
ſehr, tauſende harrten des Augenblicks, in dem ſie
aufbrechen würden. Ich half oft an den Beſchäftigun¬
gen, die dieſen Blumen gewidmet wurden, und war
dabei, wenn die Roſenarbeiten beſichtiget wurden,
und ausgemittelt ward, ob alles an ihnen in gutem
Stande ſei. Ebenſo ging ich gerne zum Beſehen an¬
derer Dinge mit, wenn auf Wieſen oder im Walde
gearbeitet wurde, in welch lezterem man jezt daran
war, das im Winter geſchlagene Holz zu verkleinern,
oder zum Baue oder zu Schreinerarbeiten herzurich¬
ten. Ich trug oft meinen Strohhut, wenn der alte
Mann und Guſtav neben mir barhäuptig gingen, in
24 *[372] der Hand, und ich mußte bekennen, daß die Luft viel
angenehmer durch die Haare ſtrich, als wenn ſie durch
einen Hut auf dem Haupte zurück gehalten wurde,
und daß die Hize durch die Locken ſo gut wie durch
einen Hut von dem bloßen Haupte abgehalten wurde.


Eines Tages, da ich in meinem Zimmer ſaß,
hörte ich einen Wagen zu dem Hauſe herzufahren.
Ich weiß nicht, weßhalb ich hinabging, den Wagen
ankommen zu ſehen. Da ich an das Gitter gelangte,
ſtand er ſchon außerhalb desſelben. Er war von zwei
braunen Pferden herbeigezogen worden, der Kutſcher
ſaß noch auf dem Bocke, und mußte eben angehalten
haben. Vor der Wagenthür mit dem Rücken gegen
mich gekehrt ſtand mein Gaſtfreund, neben ihm Gu¬
ſtav, und neben dieſem Katharina und zwei Mägde.
Der Wagen war noch gar nicht geöffnet, er war ein
geſchloſſener Gläſerwagen, und hatte an der innern
Seite ſeiner Fenſter grüne zugezogene Seidenvor¬
hänge. Einen Augenblick nach meiner Ankunft öffnete
mein Gaſtfreund die Wagenthür. Er geleitete an ſei¬
ner Hand eine Frauengeſtalt aus dem Wagen. Sie
hatte einen Schleier auf dem Hute, hatte aber den
Schleier zurückgeſchlagen, und zeigte uns ihr Ange¬
ſicht. Sie war eine alte Frau. Augenblicklich, da ich
[373] ſie ſah, fiel mir das Bild ein, welches mein Gaſt¬
freund einmal über manche alternde Frauen von ver¬
blühenden Roſen hergenommen hatte. „Sie gleichen
dieſen verwelkenden Roſen. Wenn ſie ſchon Falten
in ihrem Angeſichte haben, ſo iſt doch noch zwiſchen
den Falten eine ſehr ſchöne liebe Farbe,“ hatte er ge¬
ſagt, und ſo war es bei dieſer Frau. Über die vielen
feinen Fältchen war ein ſo ſanftes und zartes Roth,
daß man ſie lieben mußte, und daß ſie eine Roſe die¬
ſes Hauſes war, die im Verblühen noch ſchöner ſind
als andere Roſen in ihrer vollen Blüthe. Sie hatte
unter der Stirne zwei ſehr große ſchwarze Augen,
unter dem Hute ſahen zwei ſehr ſchmale Silberſtrei¬
fen des Haares hervor, und der Mund war ſehr lieb
und ſchön. Sie ſtieg von dem Wagentritte herab,
und ſagte die Worte: „Gott grüße dich, Guſtav!“


Hiebei neigte ſich der alte Mann gegen ſie, ſie
neigte ihr Angeſicht gegen ihn, und die beiderſeitigen
Lippen küßten ſich zum Willkommensgruße.


Nach dieſer Frau kam eine zweite Frauengeſtalt
aus dem Wagen. Sie hatte auch einen Schleier um
den Hut, und hatte ihn auch zurückgeſchlagen. Unter
dem Hute ſahen braune Locken hervor, das Antliz
war glatt und fein, ſie war noch ein Mädchen. Unter
[374] der Stirne waren gleichfalls große ſchwarze Augen,
der Mund war hold und unſäglich gütig, ſie ſchien
mir unermeßlich ſchön. Mehr konnte ich nicht denken;
denn mir fiel plözlich ein, daß es gegen die Sitte ſei,
daß ich hinter dem Gitter ſtehe, und die Ausſteigen¬
den anſchaue, während die, die ſie empfangen, mir
den Rücken zuwenden, und von meiner Anweſenheit
nichts wiſſen. Ich ging um die Ecke des Hauſes zu¬
rück, und begab mich wieder in mein Wohnzimmer.


Dort hörte ich nach einiger Zeit an Tritten und
Geſprächen, daß die ganze Geſellſchaft an meinem
Zimmer vorbei den ganzen Gang entlang wahrſchein¬
lich in die ſchönen Gemächer an der öſtlichen Seite
des Hauſes gehe.


Was weiter an dem Wagen geſchehen ſei, ob
noch eine oder zwei Perſonen aus demſelben geſtiegen
ſeien, konnte ich nicht wiſſen; denn auch nicht einmal
beim Fenſter wollte ich nun hinabſehen. Daß aber
Gegenſtände von demſelben abgepackt, und in das
Haus gebracht wurden, konnte ich an dem Reden
und Rufen der Leute erkennen. Auch den Wagen
hörte ich endlich fortfahren, wahrſcheinlich wurde er in
den Meierhof gebracht.


Ich blieb immer in der Tiefe des Zimmers ſizen.
[375] Ich ging weder zu dem Fenſter, noch ging ich in den
Garten, noch verließ ich überhaupt das Zimmer, ob¬
wohl eine ziemlich lange Zeit ruhig und ſtill verfloß.
Ich wollte leſen oder ſchreiben, und that es dann doch
wieder nicht.


Endlich, da vielleicht ein paar Stunden vergan¬
gen waren, kam Katharina, und ſagte, der alte Herr
laſſe mich recht ſchön bitten, daß ich in das Speiſe¬
zimmer kommen möge, man erwarte mich dort.


Ich ging hinab.


Als ich eingetreten war, ſah ich, daß mein Gaſt¬
freund in einem Lehnſeſſel an dem Tiſche ſaß, neben
ihm ſaß Guſtav. An der entgegengeſezten Seite ſaß
die Frau. Ihr Seſſel war aber ein wenig von dem
Tiſche abgewendet, und der Thür, durch welche ich
eintrat, zugekehrt. Hinter ihr und um eine Seſſel¬
hälfte ſeitwärts ſaß das Mädchen.


Sie waren nun ganz anders gekleidet, als da ich
ſie aus dem Wagen ſteigen geſehen hatte. Statt des
ſtädtiſchen Hutes, den ſie da getragen hatten, deckte
jezt ein Strohhut mit nicht gar breiten Flügeln, ſo
daß ſie eben genug Schatten gaben, das Haupt, die
übrigen Kleider beſtanden aus einem einfachen lichten
mattfärbigen Stoffe, und waren ohne alle beſonderen
[376] Verzierungen verfertigt, ſo wie der Schnitt nichts
Auffälliges hatte, weder eine zur Schau getragene
Ländlichkeit noch ein zu ſtrenge feſtgehaltenes ſtädti¬
ſches Weſen.


Es ſtanden mehrere Diener herum, ſo wie Ka¬
tharina, die mich geholt hatte, auch wieder hinter mir
in das Zimmer gegangen war, und ſich zu den da¬
ſtehenden Mägden geſellt hatte. Selbſt der Gärtner
Simon war zugegen.


Als ich in die Nähe des Tiſches gekommen war,
ſtand mein Gaſtfreund auf, umging den Tiſch, führte
mich vor die Frau, und ſagte: „Erlaube, daß ich dir
den jungen Mann vorſtelle, von dem ich dir erzählt
habe.“


Hierauf wendete er ſich gegen mich, und ſagte:
„Dieſe Frau iſt Guſtavs Mutter, Mathildis.“


Die Frau ſagte in dem erſten Augenblicke nichts,
ſondern richtete ein Weilchen die dunkeln Augen auf
mich.


Dann wies er mit der Hand auf das Mädchen,
und ſagte: „Dieſe iſt Guſtavs Schweſter Natalie.“


Ich wußte nicht, waren die Wangen des Mäd¬
chens überhaupt ſo roth, oder war es erröthet. Ich
war ſehr befangen, und konnte kein Wort hervor
[377] bringen. Es war mir äußerſt auffallend, daß er
jezt, wo er den Namen beinahe mit Nothwendigkeit
brauchte, weder um den meinigen gefragt, noch den
der Frauen genannt hatte. Ehe ich recht mit mir zu
Rathe gehen konnte, ob zu der Verbeugung, welche
ich gemacht hatte, etwas geſagt werden ſolle oder
nicht, fuhr er in ſeiner Rede fort, und ſagte: „Er iſt
ein freundlicher Hausgenoſſe von uns geworden, und
ſchenkt uns einige Zeit in unſerer ländlichen Einſam¬
keit. Er ſtrebt die Berge und das Land zu erforſchen,
und zur Kenntniß des Beſtehenden und zur Herſtel¬
lung der Geſchichte des Gewordenen etwas beizutra¬
gen. Wenn auch die Thaten und die Förderung der
Welt mehr das Geſchäft des Mannes und des Greiſes
ſind, ſo ziert ein ernſtes Wollen auch den Jüngling,
ſelbſt wo es nicht ſo klar und ſo beſtimmt iſt wie hier.“


„Mein Freund hat mir von euch erzählt,“ ſagte
die Frau zu mir, indem ſie mich wieder mit den dun¬
keln glänzenden Augen anſah, „er hat mir geſagt, daß
ihr im vergangenen Jahre bei ihm waret, daß ihr ihn
im Frühlinge beſucht habt, und daß ihr verſprochen
habt, zur Zeit der Roſenblüthe wieder eine Weile in
dieſem Hauſe zuzubringen. Mein Sohn hat auch
ſehr oft von euch geſprochen.“
[378] „Er ſcheint nicht ganz ungerne hier zu ſein,“ ſagte
mein Gaſtfreund; „denn ſein Angeſicht wenigſtens hat
noch nicht bei dem früheren ſo wie bei dem jezigen
Beſuche die Heiterkeit verloren.“


Ich hatte mich während dieſer Reden geſammelt,
und ſagte: „Wenn ich auch aus der großen Stadt
komme, ſo bin ich doch wenig mit fremden Menſchen
in Verkehr getreten, und weiß daher nicht, wie mit
ihnen umzugehen iſt. In dieſem Hauſe bin ich, da
ich irrthümlich ein Gewitter fürchtete, und um einen
Unterſtand herauf ging, ſehr freundlich aufgenommen
worden, ich bin wohlwollend eingeladen worden wie¬
der zu kommen, und habe es gethan. Es iſt mir hier
in Kurzem ſo lieb geworden wie bei meinen theuren
Eltern, bei welchen auch eine Regelmäßigkeit und
Ordnung herrſcht wie hier. Wenn ich nicht ungelegen
bin, und die Umgebung mir nicht abgeneigt iſt, ſo
ſage ich gerne, wenn ich auch nicht weiß, ob man es
ſagen darf, daß ich immer mit Freuden kommen werde,
wenn man mich einladet.“


„Ihr ſeid eingeladen,“ erwiederte mein Gaſtfreund,
„und ihr müßt aus unſern Handlungen erkennen, daß
ihr uns ſehr willkommen ſeid. Nun werden auch Gu¬
ſtavs Mutter und Schweſter eine Weile in dieſem
[379] Hauſe zubringen, und wir werden erwarten, wie ſich
unſer Leben entwickeln wird. Wollt ihr euch nicht ein
wenig zu mir ſezen, und abwarten, bis der Willkom¬
mensgruß von allen, die da ſtehen, vorüber iſt?“


Er ging wieder um den Tiſch herum zurück, und
ich folgte ihm. Guſtav machte mir Plaz neben ſeinem
Ziehvater, und ſah mich mit der Freude an, welche
ein Sohn empfindet, der in der Fremde den Beſuch
der Mutter empfängt.


Natalie hatte kein Wort geſprochen.


Ich konnte jezt, da ich ein wenig gegen die Frauen
hin zu blicken vermochte, recht deutlich ſehen, daß hier
Guſtavs Mutter und Schweſter zugegen ſeien; denn
beide hatten dieſelben großen ſchwarzen Augen wie
Guſtav, beide dieſelben Züge des Angeſichtes, und
Natalie hatte auch die braunen Locken Guſtavs, wäh¬
rend die der Mutter die Silberfarbe des Alters tru¬
gen. Sie gingen nun recht ſchön geordnet in einem viel
breiteren Bande an beiden Seiten der Stirne herab,
als ſie es unter dem Reiſeſtrohhute gethan hatten.


Vor Mathilde war, während wir unſere Size
eingenommen hatten, die Haushälterin Katharina
getreten.


Die Frau ſagte: „Sei mir vielmal gegrüßt, Ka¬
[380] tharina, ich danke dir, du haſt deinen Herrn und
meinen Sohn in deiner beſonderen Obhut, und übſt
viele Sorgfalt an ihnen aus. Ich danke dir ſehr. Ich
habe dir etwas gebracht, nur als eine kleine Erin¬
nerung, ich werde es dir ſchon geben.“


Als Katharina zurück getreten war, als ſich die
anderen insgeſammt näherten, ſich verbeugten und
mehrere Mädchen der Frau die Hand küßten, ſagte
ſie: „Seid mir alle von Herzen gegrüßt, ihr ſorgt
alle für den Herrn und ſeinen Ziehſohn. Sei gegrüßt
Simon, ſei gegrüßt Klara, ich danke euch allen, und
habe allen etwas gebracht, damit ihr ſeht, daß ich kei¬
nes in meiner Zuneigung vergeſſen habe; denn ſonſt
iſt es freilich nur eine Kleinigkeit.“


Die Leute wiederholten ihre Verbeugung, manche
auch den Handkuß, und entfernten ſich. Sie hatten
ſich auch vor Natalie geneigt, welche den Gruß recht
freundlich erwiederte.


Als alle fort waren, ſagte die Frau zu Guſtav:
„Ich habe auch dir etwas gebracht, das dir Freude
machen ſoll, ich ſage noch nicht was; allein ich habe
es nur vorläufig gebracht, und wir müſſen erſt den
Ziehvater fragen, ob du es ſchon ganz oder nur theil¬
weiſe oder noch gar nicht gebrauchen darfſt.“


[381]

„Ich danke dir, Mutter,“ erwiederte der Sohn,
„du biſt recht gut, liebe Mutter, ich weiß jezt ſchon,
was es iſt, und wie der Ziehvater ausſpricht, werde
ich genau thun.“


„So wird es gut ſein,“ antwortete ſie.


Nach dieſer Rede waren alle aufgeſtanden.


„Du biſt heuer zu ſehr guter Zeit gekommen,
Mathilde,“ ſagte mein Gaſtfreund, „keine einzige der
Roſen iſt noch aufgebrochen; aber alle ſind bereit
dazu.“


Wir hatten uns während dieſer Rede der Thür
genähert, und mein Gaſtfreund hatte mich gebethen,
bei der Geſellſchaft zu bleiben.


Wir gingen bei dem grünen Gitter hinaus, und
gingen auf den Sandplaz vor dem Hauſe. Die Leute
mußten von dieſem Vorgange ſchon unterrichtet ſein;
denn ihrer zwei brachten einen geräumigen Lehnſeſſel,
und ſtellten ihn in einer gewiſſen Entfernung mit ſei¬
ner Vorderſeite gegen die Roſen.


Die Frau ſezte ſich in den Seſſel, legte die Hände
in den Schoß, und betrachtete die Roſen.


Wir ſtanden um ſie. Natalie ſtand zu ihrer Lin¬
ken, neben dieſer Guſtav, mein Gaſtfreund ſtand
hinter dem Stuhle, und ich ſtellte mich, um nicht zu
[382] nahe an Natalie zu ſein, an die rechte Seite und et¬
was weiter zurück.


Nachdem die Frau eine ziemliche Zeit geſeſſen
war, ſtand ſie ſchweigend auf, und wir verließen den
Plaz.


Wir gingen nun in das Schreinerhaus. Euſtach
war nicht bei der allgemeinen Bewillkommnung im
Speiſezimmer geweſen. Er mußte wohl als Künſtler
betrachtet werden, dem man einen Beſuch zudenke.
Ich erkannte aus dem ganzen Benehmen, daß das
Verhältniß in der That ſo ſei, und als das richtigſte
empfunden werde. Euſtach mußte das gewußt haben;
denn er ſtand mit ſeinen Leuten ohne die grünen
Schürzen vor der Thür, um die Angekommenen zu
begrüßen. Die Frau dankte freundlich für den Gruß
aller, redete Euſtach herzlich an, fragte ihn um ſein
und ſeiner Leute Wohlbefinden, um ihre Arbeiten und
Beſtrebungen, und ſprach von vergangenen Leiſtun¬
gen, was ich, da mir dieſe fremd waren, nicht ganz
verſtand. Hierauf gingen wir in die Werkſtätte, wo
die Frau jede der einzelnen Arbeiterſtellen beſah. In
dem Zimmer Euſtachs ſprach ſie die Bitte aus, daß
er ihr bei ihrem längeren Aufenthalte manches Ein¬
zelne zeigen, und näher erklären möge.


[383]

Von dem Schreinerhauſe gingen wir in die Gärt¬
nerwohnung, wo die Frau ein Weilchen mit den alten
Gärtnerleuten ſprach.


Hierauf begaben wir uns in das Gewächshaus,
zu den Ananas, zu den Cacteen und in den Garten.


Die Frau ſchien alle Stellen genau zu kennen;
ſie blickte mit Neugierde auf die Pläze, auf denen ſie
gewiſſe Blumen zu finden hoffte, ſie ſuchte bekannte
Vorrichtungen auf, und blickte ſogar in Büſche, in
denen etwa noch das Neſt eines Vogels zu erwarten
war. Wo ſich etwas ſeit früher verändert hatte, be¬
merkte ſie es, und fragte um die Urſache. So waren
wir durch den ganzen Garten bis zu dem großen
Kirſchbaume und zu der Felderraſt gekommen. Dort
ſprach ſie noch etwas mit meinem Gaſtfreunde über
die Ernte und über die Verhältniſſe der Nachbarn.


Natalie ſprach äußerſt wenig.


Als wir in das Haus zurück gekommen waren,
begaben wir uns, da das Mittagsmahl nahe war,
auf unſere Zimmer. Mein Gaſtfreund ſagte mir noch
vorher, ich möge mich zum Mittageſſen nicht umklei¬
den; es ſei dieſes in ſeinem Hauſe ſelbſt bei Beſu¬
chen von Fremden nicht Sitte, und ich würde nur
auffallen.


[384]

Ich dankte ihm für die Erinnerung.


Als ich, da die Hausglocke zwölf Uhr geſchlagen
hatte, in das Speiſezimmer hinunter gegangen war,
fand ich in der That die Geſellſchaft nicht umgeklei¬
det. Mein Gaſtfreund war in den Kleidern, wie er
ſie alle Tage hatte, und die Frauen trugen die nehm¬
lichen Gewänder, in denen ſie den Spaziergang ge¬
macht hatten. Guſtav und ich waren wie gewöhnlich.


Am oberen Ende des Tiſches ſtand ein etwas grö¬
ßerer Stuhl, und vor ihm auf dem Tiſche ein Stoß
von Tellern. Mein Gaſtfreund führte, da ein ſtum¬
mes Gebeth verrichtet worden war, die Frau zu die¬
ſem Stuhle, den ſie ſofort einnahm. Links von ihr
ſaß mein Gaſtfreund, rechts ich, neben meinem Gaſt¬
freunde Natalie, und neben ihr Guſtav. Mir fiel es
auf, daß er die Frau als erſten Gaſt zu dem Plaze
mit den Tellern geführt hatte, den in meiner Eltern
Hauſe meine Mutter einnahm, und von dem aus ſie
vorlegte. Es mußte aber hier ſo eingeführt ſein;
denn wirklich begann die Frau ſofort die Teller der
Reihe nach mit Suppe zu füllen, die ein junges Auf¬
wartemädchen an die Pläze trug.


Mich erfüllte das mit großer Behaglichkeit. Es
war mir, als wenn das immer bisher gefehlt hätte.
[385] Es war nun etwas wie eine Familie in dieſes Haus
gekommen, welcher Umſtand mir die Wohnung mei¬
ner Eltern immer ſo lieb und angenehm gemacht hatte.


Das Eſſen war ſo einfach, wie es in allen Tagen
geweſen war, die ich in dem Roſenhauſe zugebracht
hatte.


Die Geſpräche waren klar und ernſt, und mein
Gaſtfreund führte ſie mit einer offenen Heiterkeit und
Ruhe.


Nach dem Eſſen kam ein großer Korb, welchen
Arabella, das Dienſtmädchen Mathildens, welches
mit den Frauen gekommen war, welches ich aber nicht
mehr hatte ausſteigen geſehen, herein gebracht hatte.
Außer dem Korbe wurde auch ein Pack in grauem
Papiere und mit ſchönen Schnüren zugeſchnürt ge¬
bracht, und auf zwei Seſſel gelegt, die an der Wand
ſtanden. In dem Korbe befanden ſich die Geſchenke,
welche Mathilde den Leuten mitgebracht hatte, und
welche jezt ausgepackt waren. Ich ſah, daß dieſe Ge¬
ſchenkaustheilung gebräuchlich war, und öfter vor¬
kommen mußte. Das Geſinde kam herein, und jede
der Perſonen erhielt etwas Geeignetes, ſei es ein
ſchwarzes ſeidnes Tuch für ein Mädchen oder eine
Schürze oder ein Stoff auf ein Kleid, oder ſei es für
Stifter, Nachſommer. I. 25[386] einen Mann eine Reihe Silberknöpfe auf eine Weſte
oder eine glänzende Schnalle auf das Hutband oder
eine zierliche Geldtaſche. Der Gärtner empfing etwas,
das in ſehr feine Metallblätter gewickelt war. Ich
vermuthete, daß es eine beſondere Art von Schnupf¬
tabak ſein müſſe.


Als ſchon alles ausgetheilt war, als ſich ſchon
alle auf das Beſte bedankt und aus dem Zimmer ent¬
fernt hatten, wies Mathilde auf den Pack, der noch
immer auf den Seſſeln lag, und ſagte: „Guſtav,
komme her zu mir.“


Der Jüngling ſtand auf, und ging um den Tiſch
herum zu ihr. Sie nahm ihn freundlich bei der Hand,
und ſagte: „Was noch da liegt, gehört dir. Du haſt
mich ſchon lange darum gebethen, und ich habe es
dir lange verſagen müſſen, weil es noch nicht für dich
war. Es ſind Göthes Werke. Sie ſind dein Eigen¬
thum. Vieles iſt für das reifere Alter, ja für das
reifſte. Du kannſt die Wahl nicht treffen, nach wel¬
cher du dieſe Bücher zur Hand nehmen, oder auf ſpä¬
tere Tage aufſparen ſollſt. Dein Ziehvater wird zu
den vielen Wohlthaten, die er dir erwies, auch noch
die fügen, daß er für dich wählt, und du wirſt ihm
[387] in dieſen Dingen eben ſo folgen, wie du ihm bisher
gefolgt haſt.“


„Gewiß, liebe Mutter, werde ich es thun, gewiß,“
ſagte Guſtav.


„Die Bücher ſind nicht neue und ſchön eingebun¬
dene, wie du vielleicht erwarteſt,“ fuhr ſie fort. „Es
ſind dieſelben Bücher Göthes, in welchen ich in ſo
mancher Nachtſtunde und in ſo mancher Tagesſtunde
mit Freude und mit Schmerzen geleſen habe, und
die mir oft Troſt und Ruhe zuzuführen geeignet wa¬
ren. Es ſind meine Bücher Göthes, die ich dir gebe.
Ich dachte, ſie könnten dir lieber ſein, wenn du außer
dem Inhalte die Hand deiner Mutter daran fändeſt,
als etwa nur die des Buchbinders und Druckers.“


„O lieber, viel lieber, theure Mutter, ſind ſie
mir,“ antwortete Guſtav, „ich kenne ja die Bücher,
die mit dem feinen braunen Leder gebunden ſind, die
feine Goldverzierung auf dem Rücken haben, und in
der Goldverzierung die niedlichen Buchſtaben tragen,
die Bücher, in denen ich dich ſo oft habe leſen ge¬
ſehen, weßhalb es auch kam, daß ich dich ſchon wie¬
derholt um ſolche Bücher gebethen habe.“


„Ich dachte es, daß ſie dir lieber ſind,“ ſagte die
Frau, „und darum habe ich ſie dir gegeben. Da ich
25 *[388] aber auch wohl noch gerne für den Überreſt meines Le¬
bens ein Wort von dieſem merkwürdigen Manne ver¬
nehmen möchte, werde ich mir die Bücher neu kaufen,
für mich haben die neuen die Bedeutung wie die al¬
ten. Du aber nimm die deinigen in Empfang und
bringe ſie an den Ort, der dir dafür eingeräumt iſt.“


Guſtav küßte ihr die Hand, und legte ſeinen Arm
wie in unbeholfener Zärtlichkeit auf die Schulter ihres
Gewandes. Er ſprach aber kein Wort, ſondern ging
zu den Büchern, und begann, ihre Schnur zu löſen.


Als ihm dies gelungen war, als er die Bücher
aus den Umſchlagpapieren gelöst, und in mehreren
geblättert hatte, kam er plözlich mit einem in der
Hand zu uns, und ſagte: „Aber ſiehſt du Mutter, da
ſind manche Zeilen mit einem feinen Bleiſtifte unter¬
ſtrichen, und mit demſelben feingeſpizten Stifte ſind
Worte an den Rand geſchrieben, die von deiner Hand
ſind. Dieſe Dinge ſind dein Eigenthum, ſie ſind in
den neugekauften Büchern nicht enthalten, und ich
darf dir dein Eigenthum nicht entziehen.“


„Ich gebe es dir aber,“ antwortete ſie, „ich gebe
es dir am liebſten, der du jezt ſchon von mir entfernt
biſt, und in Zukunft wahrſcheinlich noch viel weiter
von mir entfernt leben wirſt. Wenn du in den Bü¬
[389] chern lieſeſt, ſo lieſeſt du das Herz des Dichters und
das Herz deiner Mutter, welches, wenn es auch
an Werthe tief unter dem des Dichters ſteht, für
dich den unvergleichlichen Vorzug hat, daß es dein
Mutterherz iſt. Wenn ich an Stellen leſen werde, die
ich unterſtrichen habe, werde ich denken, hier erinnert
er ſich an ſeine Mutter, und wenn meine Augen über
Blätter gehen werden, auf welche ich Randbemer¬
kungen niedergeſchrieben habe, wird mir dein Auge
vorſchweben, welches hier von dem Gedruckten zu
dem Geſchriebenen ſehen, und die Schriftzüge von
Einer vor ſich haben wird, die deine beſte Freundin
auf der Erde iſt. So werden die Bücher immer ein
Band zwiſchen uns ſein, wo wir uns auch befinden.
Deine Schweſter Natalie iſt bei mir, ſie hört öfter
als du meine Worte, und ich höre auch oft ihre liebe
Stimme, und ſehe ihr freundliches Angeſicht.“


„Nein, nein Mutter,“ ſagte Guſtav, „ich kann die
Bücher nicht nehmen, ich beraube dich und Natalie.“


„Natalie wird ſchon etwas anderes bekommen,“
antwortete die Mutter. „Daß du mich nicht beraubſt,
habe ich dir ſchon erklärt, und es war ſeit längerer
Zeit mein wohldurchdachter Wille, daß ich dir dieſe
Bücher geben werde.“
[390] Guſtav machte keine Einwendungen mehr. Er
nahm ihre Rechte in ſeine beiden Hände, drückte ſie,
küßte ſie, und ging dann wieder zu den Büchern.


Als er alle ausgepackt hatte, holte er einen Die¬
ner, und ließ ſie durch ihn in ſeine Wohnung tragen.


Nach dem Eſſen war es im Plane, daß wir uns
zerſtreuen ſollten, und jeder ſich nach ſeinem Sinne
beſchäftige.


Ich hatte es während des Vorganges mit den
Büchern nicht vermocht, auf das Angeſicht Nataliens
zu ſchauen, was etwa in ihr vorgehen möge, und
was ſich in den Zügen ſpiegle. Ich mußte mir nur
denken, ſie werde von dem höchſten Beifalle über
die Handlung ihrer Mutter durchdrungen ſein. Als
wir uns aber von dem Tiſche erhoben, als wir das
ſtumme Gebeth geſprochen, und uns wechſelweiſe
verneigt hatten, wobei ich meine Augen immer nur
auf meinen alten Gaſtfreund und auf die Frau ge¬
richtet hatte, und als wir uns jezt anſchickten, das
Zimmer zu verlaſſen, und Natalie den Arm Guſtavs
nahm, und beide Geſchwiſter ſich umkehrten, um der
Thür zuzugehen, wagte ich es, den Blick zu dem
Spiegel zu erheben, in dem ich ſie ſehen mußte. Ich
[391] ſah aber faſt nichts mehr als die vier ganz gleichen
ſchwarzen Augen ſich in dem Spiegel umwenden.


Wir traten alle in das Freie.


Mein Gaſtfreund und die Frau begaben ſich in
eine Wirthſchaftſtube.


Natalie und Guſtav gingen in den Garten, er
zeigte ihr Verſchiedenes, das ihm etwa an dem Her¬
zen lag, oder worüber er ſich freute, und ſie nahm
gewiß den Antheil, den die Schweſter an den Beſtre¬
bungen des Bruders hat, den ſie liebt, auch wenn ſie
die Beſtrebungen nicht ganz verſtehen ſollte, und ſie,
wenn es auf ſie allein ankäme, nicht zu den ihrigen
machen würde. So thut es ja auch Klotilde mit mir
in meiner Eltern Hauſe.


Ich ſtand an dem Eingange des Hauſes, und ſah
den beiden Geſchwiſtern nach, ſo lange ich ſie ſehen
konnte. Einmal erblickte ich ſie, wie ſie vorſichtig in
ein Gebüſch ſchauten. Ich dachte mir, er werde ihr
ein Vogelneſt gezeigt haben, und ſie ſehe mit Theil¬
nahme auf die winzige befiederte Familie. Ein an¬
deres Mal ſtanden ſie bei Blumen, und ſchauten ſie
an. Endlich ſah ich nichts mehr. Das lichte Ge¬
wand der Schweſter war unter den Bäumen und
Geſträuchen verſchwunden, manche ſchimmernde Stel¬
[392] len wurden zuweilen noch ſichtbar, und dann nichts
mehr. Ich ging hierauf in meine Zimmer.


Mir war, als müſſe ich dieſes Mädchen ſchon
irgendwo geſehen haben; aber da ich mich bisher viel
mehr mit lebloſen Gegenſtänden oder mit Pflanzen be¬
ſchäftigt hatte als mit Menſchen, ſo hatte ich keine
Geſchicklichkeit, Menſchen zu beurtheilen, ich konnte
mir die Geſichtszüge derſelben nicht zurecht legen, ſie
mir nicht einprägen, und ſie nicht vergleichen; daher
konnte ich auch nicht ergründen, wo ich Natalie ſchon
einmal geſehen haben könnte.


Ich blieb den ganzen Nachmittag in meiner Woh¬
nung.


Als die Hize des Tages, welcher ganz heiter war,
ſich ein wenig gemildert hatte, wurde ich aufgefor¬
dert, einen Spaziergang mit zu machen. An demſel¬
ben nahmen mein Gaſtfreund Mathilde Natalie Gu¬
ſtav und ich Theil. Wir gingen durch eine Strecke
des Gartens. Mein Gaſtfreund Mathilde und ich
bildeten eine Gruppe, da ſie mich in ihr Geſpräch
gezogen hatten, und wir gingen, wo es die Breite
des Sandweges zuließ, nebeneinander. Die andere
Gruppe bildeten Natalie und Guſtav, und ſie gingen
eine ziemliche Anzahl Schritte vor uns. Unſer Ge¬
[393] ſpräch betraf den Garten und ſeine verſchiedenen Be¬
ſtandtheile, die ſich zu einem angenehmen Aufenthalte
wohlthuend ablöſten, es betraf das Haus und manche
Verzierungen darin, es erweiterte ſich auf die Fluren,
auf denen wieder der Segen ſtand, der den Menſchen
abermals um ein Jahr weiter helfen ſollte, und es
ging auf das Land über, auf manche gute Verhält¬
niſſe desſelben und auf anderes, was der Verbeſſerung
bedürfte. Ich ſah den zwei hohen Geſtalten nach, die
vor uns gingen. Guſtav iſt mir heute plözlich als völ¬
lig erwachſen erſchienen. Ich ſah ihn neben der Schwe¬
ſter gehen, und ſah, daß er größer ſei als ſie. Dieſer
Gedanke drängte ſich mir mehrere Male auf. War er
aber auch größer, ſo war ihre Geſtalt feiner und ihre
Haltung anmuthiger. Guſtav hatte wie ſein Ziehva¬
ter nichts auf dem Haupte als die Fülle ſeiner dichten
braunen Locken, und als Natalie den ſanft ſchattenden
Strohhut, den ſie wie ihre Mutter auf hatte, abge¬
nommen, und an den Arm gehängt hatte, ſo zeigten
ihre Locken genau die Farbe wie die Guſtavs, und
wenn die Geſchwiſter, die ſich ſehr zu lieben ſchienen,
ſehr nahe an einander gingen, ſo war es von ferne,
als ſähe man eine einzige braune glänzende Haar¬
fülle, und als theilen ſich nur unten die Geſtalten.


[394]

Wir gingen bei der Pforte hinaus, die gegen den
Meierhof führt, gingen aber nicht in den Meierhof,
ſondern machten einen großen Bogen durch die Fel¬
der, und kamen dann ſchief über den ſüdlichen Ab¬
hang des Hügels wieder zu dem Hauſe hinauf.


Da die Täge ſehr lang waren, ſo leuchtete noch
die Abendröthe, wenn wir von unſerem Abendeſſen,
das pünktlich immer zur gleichen Zeit ſein mußte,
aufſtanden. Wir gingen daher heute auch noch nach
dem Abendeſſen in den Garten. Wir gingen zu dem
großen Kirſchbaume empor. Dort ſezten wir uns auf
das Bänklein. Mein Gaſtfreund und Mathilde ſaßen
in der Mitte, ſo daß ihre Angeſichter gegen den Gar¬
ten hinab gerichtet waren. Links von meinem Gaſt¬
freunde ſaß ich, rechts von der Mutter ſaß Natalie
und Guſtav. Die Lüfte dunkelten immer mehr, ein
blaſſer Schein war über die Wipfel des Gartens, der
jezt ſchwieg, und über das Dach des Hauſes gebrei¬
tet. Das Geſpräch war heiter und ruhig, und die
Kinder wendeten oft ihr Angeſicht herüber, um an
dem Geſpräche Antheil zu nehmen, und gelegentlich
ſelber ein Wort zu reden.


Da ſich der eine und der andere Stern an dem
Himmel entzündete, und in den Tiefen der Garten¬
[395] geſträuche ſchon die völlige Dunkelheit herrſchte, gin¬
gen wir in das Haus und in unſere Zimmer.


Ich war ſehr traurig. Ich legte meinen Strohhut
auf den Tiſch, legte meinen Rock ab, und ſah bei
einem der offenen Fenſter hinaus. Es war heute nicht
wie damals, da ich zum erſten Male in dieſem Hauſe
über dem Roſengitter aus dem offenen Fenſter in die
Nacht hinausgeſchaut hatte. Es ſtanden nicht die
Wolken am Himmel, die ihn nach Richtungen durch¬
zogen, und ihm Geſtaltung gaben, ſondern es brannte
bereits über dem ganzen Gewölbe der einfache und
ruhige Sternenhimmel. Es ging kein Duft der Roſen
zu meiner Nachtherberge herauf, da ſie noch in den
Knoſpen waren, ſondern es zog die einſame Luft
kaum fühlbar durch die Fenſter herein, ich war nicht
von dem Verlangen belebt wie damals, das Weſen
und die Art meines Gaſtfreundes zu erforſchen, dies
lag entweder aufgelöſt vor mir, oder war nicht zu lö¬
ſen. Das Einzige war, daß wieder Getreide außer¬
halb des Sandplazes vor den Roſen ruhig und unbe¬
wegt ſtand; aber es war eine andere Gattung, und
es war nicht zu erwarten, daß es in der Nacht im
Winde ſich bewegen, und am Morgen, wenn ich die
[396] geklärten Augen über die Gegend wendete, vor mir
wogen würde.


Als die Nacht ſchon ſehr weit vorgerückt war,
ging ich von dem Fenſter, und obwohl ich jeden
Abend gewohnt war, ehe ich mich zur Ruhe begab,
zu meinem Schöpfer zu bethen, ſo kniete ich doch jezt
vor dem einfachen Tiſchlein hin, und that ein heißes
inbrünſtiges Gebeth zu Gott, dem ich alles und jedes
beſonders mein Sein und mein Schickſal und das
Schickſal der Meinigen anheim ſtellte.


Dann entkleidete ich mich, ſchloß die Schlöſſer
meiner Zimmer ab, und begab mich zur Ruhe.


Als ich ſchon zum Entſchlummern war, kam mir
der Gedanke, ich wolle nach Mathilden und ihren
Verhältniſſen eben ſo wenig eine Frage thun, als ich
ſie nach meinem Gaſtfreunde gethan habe.


Ich erwachte ſehr zeitig; aber nach der Natur je¬
ner Jahreszeit war es ſchon ganz licht, ein blauer
wolkenloſer Himmel wölbte ſich über die Hügel, das
Getreide unter meinen Füßen wogte wirklich nicht,
ſondern es ſtand unbewegt mit ſtarkem Thaue wie
mit feurigen Funken angethan in der aufgehenden
Sonne da.


[397]

Ich kleidete mich an, richtete meine Gedanken zu
Gott, und ſezte mich zu meiner Arbeit.


Nach geraumer Zeit hörte ich durch meine Fen¬
ſter, welche ich bei weiter fortſchreitendem Morgen
geöffnet hatte, daß auch am äußerſten Ende des Hau¬
ſes gegen Oſten Fenſter erklangen, welche geöffnet
wurden. In jener Gegend wohnten die Frauen in den
ſchönen nach weiblicher Art eingerichteten Gemächern.
Ich ging zu meinem Fenſter, ſchaute hinaus, und ſah
wirklich, daß alle Fenſterflügel an jenem Theile des
Hauſes offen ſtanden. Nach einer Zeit, da es bereits
zur Stunde des Frühmales ging, hörte ich weibliche
Schritte an meiner Thür vorüber der Marmortreppe
zugehen, welche mit einem weichen Teppiche belegt
war. Ich hatte auch, obwohl ſie gedämpft war,
wahrſcheinlich, um mich nicht zu ſtören, Guſtavs
Stimme erkannt.


Ich ging nach einer kleinen Weile auch über die
Marmortreppe an dem Marmorbilde der Muſe vor¬
über in das Speiſezimmer hinunter.


Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und
ſo verfloſſen nach und nach mehrere.


Die Ordnung des Hauſes war durch die Ankunft
der Frauen faſt gar nicht geſtört worden, nur daß ſolche
[398] Vorrichtungen vorgenommen werden mußten, welche
die Aufmerkſamkeit für die Frauen verlangte. Die
Unterrichts- und Lernſtunden Guſtavs wurden ein¬
gehalten wie früher, und ebenſo ging die Beſchäf¬
tigung meines Gaſtfreundes ihren Gang. Mathilde
betheiligte ſich nach Frauenart an dem Hausweſen.
Sie ſah auf das, was ihren Sohn betraf, und auf
alles, was das häusliche Wohl des alten Mannes
anging. Sie wurde gar nicht ſelten in der Küche ge¬
ſehen, wie ſie mitten unter den Mägden ſtand, und
an den Arbeiten Theil nahm, die da vorfielen. Sie
begab ſich auch gerne in die Speiſekammer in den
Keller oder an andere Orte, die wichtig waren. Sie
ſorgte für die Dinge, welche den Dienſtleuten gehör¬
ten, in ſo ferne ſie ſich auf ihre Nahrung bezogen
oder auf ihre Wohnung oder auf ihre Kleider und
Schlafſtellen. Sie legte das Linnen die Kleider und
anderes Eigenthum des alten Herrn und ihres Soh¬
nes zurecht, und bewirkte, daß, wo Verbeſſerungen
nothwendig waren, dieſelben eintreten könnten. Unter
dieſen Dingen ging ſie manches Mal des Tages auf
den Sandplaz vor dem Hauſe, und betrachtete gleich¬
ſam wehmüthig die Roſen, die an der Wand des
Hauſes empor wuchſen. Natalie brachte viele Zeit mit
[399] Guſtav zu. Die Geſchwiſter mußten ſich außerordent¬
lich lieben. Er zeigte ihr alle ſeine Bücher, nament¬
lich, die neu zu den alten hinzu gekommen waren, er
erklärte ihr, was er jezt lerne, und ſuchte ſie in das¬
ſelbe einzuweihen, wenn ſie es auch ſchon wußte, und
früher die nehmlichen Wege gegangen war. Wenn
es die Umſtände mit ſich brachten, ſchweiften ſie in
dem Garten herum, und freuten ſich all des Lebens,
was in demſelben war, und freuten ſich des gegen¬
ſeitigen Lebens, das ſich an einander ſchmiegte, und
deſſen ſie ſich kaum als eines geſonderten bewußt wur¬
den. Die Zeit, welche alle frei hatten, brachten wir
häufig gemeinſchaftlich mit einander zu. Wir gingen
in den Garten, oder ſaſſen unter einem ſchattigen
Baume, oder machten einen Spaziergang, oder wa¬
ren in dem Meierhofe. Ich vermochte nicht, in die
Geſpräche ſo einzugehen, wie ich es mit meinem Gaſt¬
freunde allein that, und wenn auch Mathilde recht
freundlich mit mir ſprach, ſo wurde ich faſt immer
noch ſtummer.


Die Roſen fingen an, ſich ſtets mehr zu ent¬
wickeln, ſehr viele waren bereits aufgeblüht und
ſtündlich öffneten andere den ſanften Kelch. Wir gin¬
gen ſehr oft hinaus, und betrachteten die Zierde, und
[400] es mußte manchmal eine Leiter herbei, um irgend et¬
was Störendes oder Unvollkommenes zu entfernen.


Die Mittage waren lieb und angenehm. Auch
das, daß Mathilde und Natalie ſo fein und paſſend
wenn auch einfach angezogen waren, wie ich es von
meiner Mutter und Schweſter gewohnt war, gab dem
Mahle einen gewiſſen Glanz, den ich früher vermißt
hatte. Die Vorhänge waren gegen die unmittelbare
Sonne jederzeit zu, und es war eine gebrochene und
ſanfte Helle in dem Zimmer.


Die Abende nach dem Abendeſſen brachten wir
immer im Freien zu, da noch lauter ſchöne Täge ge¬
weſen waren. Meiſtens ſaßen wir bei dem großen
Kirſchbaume oben, welches bei weitem der ſchönſte
Plaz zu einem Abendſize war, obgleich er auch zu
jeder andern Zeit, wenn die Hize nicht zu groß
war, mit der größten Annehmlichkeit erfüllte. Mein
Gaſtfreund führte die Geſpräche klar und warm,
und Mathilde konnte ihm entſprechend antworten.
Sie wurden mit einer Milde und Einſicht geführt, daß
ſie immer an ſich zogen, daß ich gerne meine Aufmerk¬
ſamkeit hin richtete, und, wenn ſie auch Gewöhnliches
betrafen, etwas Neues und Eindringendes zu hören
glaubte. Der alte Mann führte dann die Frau im
[401] Sternenſcheine oder bei dem ſchwachen Lichte der
ſchmalen Mondesſichel, die jezt immer deutlicher in
dem Abendrothe ſchwamm, über den Hügel in das
Haus hinab, und die ſchlanken Geſtalten der Kinder
gingen an den dunkeln Büſchen dahin.


Das alles war ſo einfach klar und natürlich, daß
es mir immer war, die zwei Leute ſeien Eheleute und
Beſizer dieſes Anweſens, Guſtav und Natalie ſeien
ihre Kinder, und ich ſei ein Freund, der ſie hier in
dieſem abgeſchiedenen Winkel der Welt beſucht habe,
wo ſie den ſtilleren Reſt ihres Daſeins in Unſchein¬
barkeit und Ruhe hinbringen wollten.


Eines Tages wurde eine feierliche Mahlzeit in
dem Speiſezimmer gehalten. Es war Euſtach dann
der Hausaufſeher der alte Gärtner mit ſeiner Frau
der Verwalter des Meierhofes und die Haushälterin
Katharina geladen worden. Statt Katharinen mußte
ein anderes die Herrſchaft in der Küche führen.
Es mußte, wie ich aus allem entnahm, jedes Mal
bei der Anweſenheit Mathildens die Sitte ſein, ein
ſolches Gaſtmahl abzuhalten; die Leute fanden ſich
auf eine natürliche Art in die Sache, und die Ge¬
ſpräche gingen mit einer Gemäßheit vor ſich, welche
auf Übung deutete. Mathilde konnte ſie veranlaſſen,
Stifter, Nachſommer. I. 26[402] etwas zu ſagen, was paßte, und was daher dem
Sprechenden ein Selbſtgefühl gab, das ihm den
Aufenthalt in der Umgebung angenehm machte. Eu¬
ſtach allein erhielt die Auszeichnung, daß man das
bei ihm nicht für nöthig erachtete, er ſprach daher
auch weniger und nur in allgemeinen Ausdrücken über
allgemeine Dinge. Er empfand, daß er der höheren
Geſellſchaft zugezählt werde, wie ich es auch, da ich
ihn näher kennen gelernt hatte, ganz natürlich fand,
während die anderen nicht merkten, daß man ſie em¬
por hebe. Der Gärtner und ſeine Frau waren in
ihrem weißen reinlichen Anzuge ein ſehr liebes greiſes
Paar, welches auch die anderen mit einer gewiſſen
Auszeichnung behandelten. An Speiſen war eine et¬
was reichlichere Auswahl als gewöhnlich, die Män¬
ner bekamen einen guten Gebirgswein zum Getränke,
für die Frauen wurde ein ſüßer neben die Backwerke
geſtellt.


Da die Roſen immer mehr der Entfaltung entgegen
gingen, wurden einmal Seſſel und Stühle in einem
Halbkreiſe auf dem Sandplaze vor dem Hauſe auf¬
geſtellt, ſo daß die Öffnung des Kreiſes gegen das
Haus ſah, und ein langer Tiſch wurde in die Mitte
geſtellt. Wir ſezten uns auf die Seſſel, der Gärt¬
[403] ner Simon war gerufen worden, Euſtach kam, und
von den Leuten und Gartenarbeitern konnte kommen,
wer da wollte. Sie machten auch Gebrauch davon.
Die Roſen wurden einer ſehr genauen Beurtheilung
unterzogen. Man fragte ſich, welche die ſchönſten
ſeien, oder welche dem Einen oder dem Anderen mehr
gefielen. Die Ausſprüche erfolgten verſchieden, und
jedes ſuchte ſeine Meinung zu begründen. Es lagen
Druckwerke und Abbildungen auf dem Tiſche, zu de¬
nen man dann ſeine Zuflucht nahm, ohne eben jedes
Mal ihrem Ausſpruche beizupflichten. Man that die
Frage, ob man nicht Bäumchen verſezen ſolle, um
eine ſchönere Miſchung der Farben zu erzielen. Der
allgemeine Ausſpruch ging dahin, daß man es nicht
thun ſolle, es thäte den Bäumchen wehe, und wenn
ſie groß wären, könnten ſie ſogar eingehen; eine zu
ängſtliche Zuſammenſtellung der Farben verrathe die
Abſicht und ſtöre die Wirkung; eine reizende Zufäl¬
ligkeit ſei doch das Angenehmſte. Es wurde alſo be¬
ſchloſſen, die Bäume ſtehen zu laſſen, wie ſie ſtanden.
Man ſprach ſich nun über die Eigenſchaften der ver¬
ſchiedenen Bäumchen aus, man beurtheilte ihre Treff¬
lichkeit an ſich, ohne auf die Blumen Rückſicht zu
nehmen, und oft wurde der Gärtner um Auskunft
26 *[404] angerufen. Über die Geſundheit der Pflanzen und
ihre Pflege konnte kein Tadel ausgeſprochen werden,
ſie waren heuer ſo vortrefflich, wie ſie alle Jahre vor¬
trefflich geweſen waren. Auf den Tiſch wurden nun
Erfriſchungen geſtellt, und alle jene Vorrichtungen
ausgebreitet, die zu einem Vesperbrote nothwendig
ſind. Aus den Reden Mathildens ſah ich, daß ſie
mit allen hier befindlichen Roſenpflanzen ſehr ver¬
traut ſei, und daß ſie ſelbſt kleine Veränderungen be¬
merkte, welche ſeit einem Jahre vorgegangen ſind.
Sie mußte wohl Lieblinge unter den Blumen haben,
aber man erkannte, daß ſie allen ihre Neigung in
einem hohen Maße zugewendet habe. Ich ſchloß
aus dieſem Vorgange wieder, welche Wichtigkeit dieſe
Blumen für dieſes Haus haben.


Gegen Abend desſelben Tages kam ein Beſuch
in das Roſenhaus. Es war ein Mann, welcher in
der Nähe eine bedeutende Beſizung hatte, die er ſel¬
ber bewirthſchaftete, obwohl er ſich im Winter eine
geraume Zeit in der Stadt aufhielt. Er war von
ſeiner Gattin und zwei Töchtern begleitet. Sie wa¬
ren auf der Rückfahrt von einem Beſuche begriffen,
den ſie in einem entfernteren Theile der Gegend ge¬
macht hatten, und waren, wie ſie ſagten, zu dem Hauſe
[405] herauf gefahren, um zu ſehen, ob die Roſen ſchon
blühten, und um die gewöhnliche Pracht zu bewun¬
dern. Sie hatten im Sinne, am Abende wieder fort
zu fahren, allein da die Zeit ſchon ſo weit vorgerückt
war, drang mein Gaſtfreund in ſie, die Nacht in ſei¬
nem Hauſe zuzubringen, in welches Begehren ſie auch
einwilligten. Die Pferde und der Wagen wurden in
den Meierhof gebracht, den Reiſenden wurden Zim¬
mer angewieſen.


Sie gingen aus denſelben aber wieder ſehr bald
hervor, man begab ſich auf den Sandplaz vor dem
Hauſe, und die Roſenſchau wurde aufs Neue vorge¬
nommen. Es waren zum Theile noch die Stühle vor¬
handen, die man heute herausgetragen hatte, obwohl
der Tiſch ſchon weggeräumt war. Die Mutter ſezte
ſich auf einen derſelben, und nöthigte Mathilden, ne¬
ben ihr Plaz zu nehmen. Die Mädchen gingen neben
den Roſen hin, und man redete viel von den Blumen
und bewunderte ſie.


Vor dem Abendeſſen wurde noch ein Gang durch
den Garten und einen Theil der Felder gemacht, dann
begab ſich alles auf ſeine Zimmer.


Da die Stunde zu dem Abendmahle geſchlagen
hatte, verſammelte man ſich wieder in dem Speiſe¬
[406] ſaale. Der Fremde und ſeine Begleiterinnen hatten
ſich umgekleidet, der Mann erſchien ſogar im ſchwar¬
zen Fracke, die Frauen hatten einen Anzug, wie man
ihn in der Stadt bei nicht feſtlichen aber freund¬
ſchaftlichen Beſuchen hat. Wir waren in unſeren ge¬
wöhnlichen Kleidern. Aber gerade durch den Anzug
der Fremden, an dem ſachgemäß nichts zu tadeln
war, was ich recht gut beurtheilen konnte, weil ich
ſolche Gewänder an meiner Mutter und Schweſter
oft ſah, und auch oft Urtheile darüber hörte, wurden
unſere Kleider nicht in den Schatten geſtellt, ſondern
ſie thaten eher denen der Fremden wenigſtens in mei¬
nen Augen Abbruch. Der gepuzte Anzug erſchien mir
auffallend und unnatürlich, während der andere ein¬
fach und zweckmäßig war. Es gewann den Anſchein,
als ob Mathilde Natalie mein alter Gaſtfreund und
ſelbſt Guſtav bedeutende Menſchen wären, indeß jene
einige aus der großen Menge darſtellten, wie ſie ſich
überall befinden.


Ich betrachtete während der Zeit des Eſſens und
nachher, da wir uns noch eine Weile in dem Speiſe¬
zimmer aufhielten, ſogar auch die Schönheit der
Mädchen. Die ältere von den beiden Töchtern der
Fremden — wenigſtens mir erſchien ſie als die ältere
[407] — hieß Julie. Sie hatte braune Haare wie Natalie.
Dieſelben waren reich und waren ſchön um die Stirne
geordnet. Die Augen waren braun groß und blickten
mild. Die Wangen waren fein und ebenmäßig, und
der Mund war äußerſt ſanft und wohlwollend. Ihre
Geſtalt hatte ſich neben den Roſen und auf dem Spa¬
ziergange als ſchlank und edel, und ihre Bewegungen
hatten ſich als natürliche und würdevolle gezeigt. Es
lag ein großer hinziehender Reiz in ihrem Weſen.
Die jüngere, welche Appolonia hieß, hatte gleichfalls
braune aber lichtere Haare als die Schweſter. Sie
waren eben ſo reich und wo möglich noch ſchöner ge¬
ordnet. Die Stirne trat klar und deutlich von ihnen
ab, und unter derſelben blickten zwei blaue Augen
nicht ſo groß wie die braunen der Schweſter aber noch
einfacher gütevoller und treuer hervor. Dieſe Augen
ſchienen von dem Vater zu kommen, der ſie auch blau
hatte, während die der Mutter braun waren. Die
Wangen und der Mund erſchienen noch feiner als bei
der Schweſter und die Geſtalt faſt unmerkbar kleiner.
War ihr Benehmen minder anmuthig als das der
Schweſter, ſo war es treuherziger und lieblicher.
Meine Freunde in der Stadt würden geſagt haben,
es ſeien zwei hinreißende Weſen, und ſie waren es
[408] auch. Natalie — ich weiß nicht, war ihre Schönheit
unendlich größer, oder war es ein anderes Weſen in
ihr, welches wirkte — ich hatte aber dieſes Weſen
noch in einem geringen Maße zu ergründen ver¬
mocht, da ſie ſehr wenig zu mir geſprochen hatte, ich
hatte ihren Gang und ihre Bewegungen nicht beur¬
theilen können, da ich mir nicht den Muth nahm, ſie
zu beobachten, wie man eine Zeichnung beobachtet —
aber ſie war neben dieſen zwei Mädchen weit höher,
wahr klar und ſchön, daß jeder Vergleich aufhörte.
Wenn es wahr iſt, daß Mädchen bezaubernd wirken
können, ſo konnten die zwei Schweſtern bezaubern;
aber um Natalie war etwas wie ein tiefes Glück ver¬
breitet.


Mathilde und mein Gaſtfreund ſchienen dieſe Fa¬
milie ſehr zu lieben und zu achten, das zeigte das Be¬
nehmen gegen ſie.


Die Mutter der zwei Mädchen ſchien ungefähr
vierzig Jahre alt zu ſein. Sie hatte noch alle Friſche
und Geſundheit einer ſchönen Frau, deren Geſtalt
nur etwas zu voll war, als daß ſie zu einem Gegen¬
ſtande der Zeichnung hätte dienen können, wie man
wenigſtens in Zeichnungen gerne ſchöne Frauen vor¬
ſtellt. Ihr Geſpräch und ihr Benehmen zeigte, daß
[409] ſie in der Welt zu dem ſogenannten vorzüglicheren
Umgang gehöre. Der Vater ſchien ein kenntnißvoller
Mann zu ſein, der mit dem Benehmen der feineren
Stände der Stadt die Einfachheit der Erfahrung und
die Güte eines Landwirthes verband, auf den die
Natur einen ſanften Einfluß übte. Ich hörte ſeiner
Rede gerne zu. Mathilde erſchien bedeutend älter als
die Mutter der zwei Mädchen, ſie ſchien einſtens wie
Natalie geweſen zu ſein, war aber jezt ein Bild der
Ruhe und, ich möchte ſagen, der Vergebung. Ich
weiß nicht, warum mir in den Tagen dieſer Ausdruck
ſchon mehrere Male einfiel. Sie ſprach von den Ge¬
genſtänden, welche von den Beſuchenden vorgebracht
wurden, brachte aber nie ihre eigenen Gegenſtände
zum Geſpräche. Sie ſprach mit Einfachheit, ohne
von den Gegenſtänden beherrſcht zu werden, und
ohne die Gegenſtände ausſchließlich beherrſchen zu
wollen. Mein Gaſtfreund ging in die Anſichten ſei¬
nes Gutsnachbars ein, und redete in der ihm eigen¬
thümlichen klaren Weiſe, wobei er aber auch die Höf¬
lichkeit beging, den Gaſt die Gegenſtände des Ge¬
ſpräches wählen zu laſſen.


So ſaßen dieſe zwei Abtheilungen von Menſchen
[410] an demſelben Tiſche, und bewegten ſich in demſelben
Zimmer, wirklich zwei Abtheilungen von Menſchen.


Daraus, daß ſie gerade zur Roſenblüthe herauf
gefahren waren, erkannte ich, daß die Nachbarn mei¬
nes Gaſtfreundes nicht blos um ſeine Vorliebe für
dieſe Blumen wußten, ſondern daß ſie etwa auch An¬
theil daran nahmen.


Es wurde nach dem Eſſen nicht mehr ein Spa¬
ziergang gemacht, wie in dieſen Tagen, ſondern man
blieb in Geſprächen bei einander, und ging ſpäter,
als es ſonſt in dieſem Hauſe gebräuchlich war, zur
Ruhe.


Am anderen Morgen wurde das Frühmahl in
dem Garten eingenommen, und nachdem man ſich
noch eine Weile in dem Gewächshauſe aufgehalten
hatte, fuhren die Gäſte mit der wiederholt vorge¬
brachten Bitte fort, ſie doch auch recht bald auf ihrem
Gute zu beſuchen, was zugeſagt wurde.


Nach dieſer Unterbrechung gingen die Tage auf
dem Roſenhauſe dahin, wie ſie ſeit der Ankunft der
Frauen dahin gegangen waren. Die Zeit, welche
jedes frei hatte, brachten wir wieder öfter gemein¬
ſchaftlich zu. Ich wurde nicht ſelten in dieſen Zeiten
ausdrücklich zur Geſellſchaft geladen. Natalie hatte
[411] auch ihre Lernſtunden, welche ſie gewiſſenhaft hielt.
Guſtav ſagte mir, daß ſie jezt Spaniſch lerne, und
ſpaniſche Bücher mit hieher gebracht habe. Ich hatte
doch den Raum, welchen man mir in dem ſogenann¬
ten Steinhauſe eingeräumt hatte, benüzt, und hatte
mehrere meiner Gegenſtände dort hingebracht. Gu¬
ſtav las bereits in den Büchern von Göthe. Sein
Ziehvater hatte ihm Hermann und Dorothea ausge¬
wählt, und ihm geſagt, er ſolle das Werk ſo genau
und ſorgfältig leſen, daß er jeden Vers völlig ver¬
ſtehe, und wo ihm etwas dunkel ſei, dort ſolle er fra¬
gen. Mir war es rührend, daß die Bücher alle in
Guſtavs Zimmer aufgeſtellt waren, und daß man
das Zutrauen hatte, daß er kein anderes leſen werde,
als welches ihm von dem Ziehvater bezeichnet worden
ſei. Ich kam oft zu ihm, und wenn ich nach der
Kenntniß, die ich bereits von ſeinem Weſen gewon¬
nen hatte, nicht gewußt hätte, daß er ſein Verſprechen
halten werde, ſo hätte ich mich durch meine Beſuche
von dieſer Thatſache überzeugt. Mathilde und Na-
talie ſtanden oft dabei, wenn mein Gaſtfreund für
ſeine gefiederten Gäſte auf der Fütterungstenne Kör¬
ner ſtreute, und nicht ſelten, wenn ich des Morgens
von einem Gange durch den Garten zurückkam, ſah
[412] ich, daß bei der Fütterung in dem Eckzimmer, an deſ¬
ſen Fenſtern die Fütterungsbrettchen angebracht wa¬
ren, eine ſchöne Hand thätig ſei, die ich für Nata¬
liens erkannte. Wir beſuchten manchmal die Neſter,
in welchen noch gebrütet wurde oder ſich Junge be¬
fanden. Die meiſten aber waren ſchon leer, und die
Nachkommenſchaft wohnte bereits in den Zweigen der
Bäume. Oft befanden wir uns in dem Schreiner¬
hauſe, ſprachen mit den Leuten, betrachteten die
Fortſchritte der Arbeit, und redeten darüber. Wir be¬
ſuchten ſogar auch Nachbaren, und ſahen uns in ihrer
Wirthſchaftlichkeit um. Wenn wir in dem Hauſe wa¬
ren, befanden wir uns in dem Arbeitszimmer mei¬
nes Gaſtfreundes, es wurde etwas geleſen, oder es
wurde ein geiſtanſprechender Verſuch in dem Zimmer
der Naturlehre gemacht, oder wir waren in dem Bil¬
derzimmer oder in dem Marmorſaale. Mein Gaſt¬
freund mußte oft ſeine Kunſt ausüben, und das Wet¬
ter vorausſagen. Immer, wenn er eine beſtimmte
Ausſage machte, traf ſie ein. Oft verweigerte er aber
dieſe Ausſage, weil, wie er erklärte, die Anzeigen
nicht deutlich und verſtändlich genug für ihn ſeien.


Zuweilen waren wir auch in den Zimmern der
Frauen. Wir kamen dahin, wenn wir dazu geladen
[413] waren. Das kleine lezte Zimmerchen mit der Tapeten¬
thür gehörte insbeſondere Mathilden. Ich hatte es
Roſenzimmer genannt, und es wurde ſcherzweiſe der
Name beibehalten. Mir war es ein anmuthiger Ein¬
druck, daß ich ſah, wie liebend und wie hold dieſes
Zimmer für die alte Frau eingerichtet worden war.
Es herrſchte eine zuſammenſtimmende Ruhe in dieſem
Zimmer mit den ſanften Farben blaßroth weißgrau
grün mattveilchenblau und Gold. In all das ſah die
Landſchaft mit den lieblichen Geſtalten der Hochge¬
birge herein. Mathilde ſaß gerne auf dem eigenthüm¬
lichen Seſſel am Fenſter, und ſah mit ihrem ſchönen
Angeſichte hinaus, deſſen Art mein Gaſtfreund einmal
mit einer welkenden Roſe verglichen hatte.


In den Zimmern las zuweilen Natalie etwas vor,
wenn mein Gaſtfreund es verlangte. Sonſt wurde
geſprochen. Ich ſah auf ihrem Tiſche Papiere in ſchö¬
ner Ordnung und neben ihnen Bücher liegen. Ich
konnte es nie über mich bringen, auch nur auf die
Aufſchrift dieſer Bücher zu ſehen, viel weniger gar
eines zu nehmen und hinein zu ſchauen. Es thaten
dies auch andere nie. An dem Fenſter ſtand ein ver¬
hüllter Rahmen, an dem ſie vielleicht etwas arbeitete;
aber ſie zeigte nichts davon. Guſtav, wahrſcheinlich
[414] aus Neigung zu mir, um mich mit den ſchönen Din¬
gen zu erfreuen, die ſeine Schweſter verfertigte, ging
ſie wiederholt darum an. Sie lehnte es aber jedes
Mal auf eine einfache Art ab. Ich hatte einmal in
einer Nacht, da meine Fenſter offen waren, Zithertöne
vernommen. Ich kannte dieſes Muſikgeräth des Ge¬
birges ſehr gut, ich hatte es bei meinen Wanderungen
ſehr oft und von den verſchiedenſten Händen ſpie¬
len gehört, und hatte mein Ohr für ſeine Klänge und
Unterſchiede zu bilden geſucht. Ich ging an das Fen¬
ſter und hörte zu. Es waren zwei Zithern, die im
öſtlichen Flügel des Hauſes abwechſelnd gegen einan¬
der und mit einander ſpielten. Wer Übung im Hö¬
ren dieſer Klänge hat, merkt es gleich, ob auf derſel¬
ben Zither oder auf verſchiedenen und von denſelben
Händen oder verſchiedenen geſpielt wird. In den Ge¬
mächern der Frauen ſah ich ſpäter die zwei Zithern
liegen. Es wurde aber in unſerer Gegenwart nie
darauf geſpielt. Mein Gaſtfreund verlangte es nicht,
ich ohnehin nicht, und in dieſer Angelegenheit beob¬
achtete auch Guſtav eine feſte Enthaltung.


Indeſſen war nach und nach die Zeit herange¬
rückt, in welcher die Roſen in der allerſchönſten
Blüthe ſtanden. Das Wetter war ſehr günſtig gewe¬
[415] ſen. Einige leichte Regen, welche mein Gaſtfreund
vorausgeſagt hatte, waren dem Gedeihen bei weitem
förderlicher geweſen, als es fortdauernd ſchönes Wet¬
ter hätte thun können. Sie kühlten die Luft von zu
großer Hize zu angenehmer Milde herab, und wu¬
ſchen Blatt Blume und Stengel viel reiner von dem
Staube, der ſelbſt in weit von der Straße entfernten
und mitten in Feldern gelegenen Orten doch nach
lange andauerndem ſchönem Wetter ſich auf Dächern
Mauern Zäunen Blättern und Halmen ſammelt, als
es die Sprühregen, die mein Gaſtfreund ein paar
Male durch ſeine Vorrichtung unter dem Dache auf
die Roſen hatte ergehen laſſen, zu thun im Stande
geweſen waren. Unter dem klarſten, ſchönſten und
tiefſten Blau des Himmels ſtanden nun eines Tages
Tauſende von den Blumen offen, es ſchien, daß keine
einzige Knospe im Rückſtande geblieben und nicht
aufgegangen iſt. In ihrer Farbe von dem reinſten
Weiß in gelbliches Weiß in Gelb in blaſſes Roth in
feuriges Roſenroth in Purpur in Veilchenroth in
Schwarzroth zogen ſie an der Fläche dahin, daß man
bei lebendiger Anſchauung verſucht wurde, jenen al¬
ten Völkern Recht zu geben, die die Roſen faſt gött¬
lich verehrten, und bei ihren Freuden und Feſten ſich
[416] mit dieſen Blumen bekränzten. Man war täglich theils
einzeln theils zuſammen zu dem Roſengitter gekom¬
men, um die Fortſchritte zu betrachten, man hatte ge¬
legentlich auch andere Roſentheile und Roſenanlagen
in dem Garten beſucht; allein an dieſem Tage er¬
klärte man einmüthig, jezt ſei die Blüthe am ſchön¬
ſten, ſchöner vermöge ſie nicht mehr zu werden, und
von jezt an müſſe ſie abzunehmen beginnen. Dies hatte
man zwar auch ſchon einige Tage früher geſagt; jezt
aber glaubte man ſich nicht mehr zu irren, jezt glaubte
man auf dem Gipfel angelangt zu ſein. So weit ich
mich auf das vergangene Jahr zu erinnern vermochte,
in welchem ich auch dieſe Blumen in ihrer Blüthe
angetroffen hatte, waren ſie jezt ſchöner als damals.


Es kamen wiederholt Beſuche an, die Roſen zu
ſehen. Die Liebe zu dieſen Blumen, welche in dem
Roſenhauſe herrſchte, und die zweckmäßige Pflege,
welche ſie da erhielten, war in der Nachbarſchaft be¬
kannt geworden, und da kamen manche, welche ſich
wirklich an dem ungewöhnlichen Ergebniſſe dieſer
Zucht ergözen wollten, und andere, die dem Beſizer
etwas Angenehmes erzeigen wollten, und wieder an¬
dere, die nichts beſſeres zu thun wußten, als nachzu¬
ahmen, was ihre Umgebung that. Alle dieſe Arten
[417] waren nicht ſchwer von einander zu unterſcheiden. Die
Behandlung derſelben war von Seite meines Gaſt¬
freundes ſo fein, daß ich es nicht von ihm vermuthet
hatte, und daß ich dieſe Eigenſchaft an ihm erſt jezt,
wo ich ihn unter Menſchen beobachten konnte, ent¬
deckte.


Auch Bauern kamen zu verſchiedenen Zeiten, und
bathen, daß ſie die Roſen anſchauen dürfen. Nicht
nur die Roſen wurden ihnen gezeigt, ſondern auch
alles andere im Hauſe und Garten, was ſie zu ſehen
wünſchten, beſonders aber der Meierhof, in ſo ferne
ſie ihn nicht kannten, oder ihnen die lezten Verän¬
derungen in demſelben neu waren.


Eines Tages kam auch der Pfarrer von Rohr¬
berg, den ich bei meinem vorjährigen Beſuche in dem
Roſenhauſe getroffen hatte. Er zeichnete ſich einige
Roſen in ein Buch, das er mitgebracht hatte, und
wendete ſogar Waſſerfarben an, um die Farben der
Blumen ſo getreu als nur immer möglich iſt, nach¬
zuahmen. Die Zeichnung aber ſollte keine Kunſtab¬
bildung von Blumen ſein, ſondern er wollte ſich nur
ſolche Blumen anmerken und von ihnen den Eindruck
aufbewahren, deren Art er in ſeinen Garten zu
verpflanzen wünſchte. Es beſtand nehmlich ſchon ſeit
Stifter, Nachſommer. I. 27[418] lange her zwiſchen meinem Gaſtfreunde und dem
Pfarrer das Verhältniß, daß mein Gaſtfreund dem
Pfarrer Pflanzen gab, womit dieſer ſeinen Garten
zieren wollte, den er theils neu um das Pfarrhaus
angelegt, theils erweitert hatte.


Unter allen aber ſchien Mathilde die Roſen am
meiſten zu lieben. Sie mußte überhaupt die Blumen
ſehr lieben; denn auf den Blumentiſchen in ihren
Zimmern ſtanden ſtets die ſchönſten und friſcheſten des
Gartens, auch wurde gerne auf dem Tiſche, an wel¬
chem wir ſpeiſten, eine Gruppe von Gartentöpfen mit
ihren Blumen zuſammengeſtellt. Abgebrochen oder
abgeſchnitten und in Gläſer mit Waſſer geſtellt durf¬
ten in dieſem Hauſe keine Blumen werden, außer ſie
waren welk, ſo daß man ſie entfernen mußte. Den
Roſen aber wendete ſie ihr meiſtes Augenmerk zu.
Nicht nur ging ſie zu denen, welche im Garten in
Sträuchen Bäumchen und Gruppen ſtanden, und be¬
kümmerte ſich um ihre Hegung und Pflege, ſondern
ſie beſuchte auch ganz allein, wie ich ſchon früher be¬
merkt hatte, die, welche an der Wand des Hauſes
blühten. Oft ſtand ſie lange davor, und betrachtete
ſie. Zuweilen holte ſie ſich einen Schemel, ſtieg auf
ihn, und ordnete in den Zweigen. Sie nahm entwe¬
[419] der ein welkes Laubblatt ab, das den Blicken der an¬
dern entgangen war, oder bog eine Blume heraus,
die am vollkommenen Aufblühen gehindert war, oder
las ein Käferchen ab, oder lüftete die Zweige, wo ſie
ſich zu dicht und zu buſchig gedrängt hatten. Zuwei¬
len blieb ſie auf dem Schemel ſtehen, ließ die Hand
ſinken, und betrachtete wie im Sinnen die vor ihr
ausgebreiteten Gewächſe.


Wirklich war der Tag, den man als den ſchönſten
der Roſenblüthe bezeichnet hatte, auch der ſchönſte ge¬
weſen. Von ihm an begann ſie abzunehmen, und die
Blumen fingen an zu welken, ſo daß man öfter die
Leiter und die Scheere zur Hand nehmen mußte, um
Verunzierungen zu beſeitigen.


Auch zwei fremde Reiſende waren in das Roſen¬
haus gekommen, welche ſich eine Nacht und einen
Theil des darauf folgenden Vormittages in demſelben
aufgehalten hatten. Sie hatten den Garten die Fel¬
der und den Meierhof beſehen. In ſeine Zimmer und
in die Schreinerei hatte ſie mein Gaſtfreund nicht ge¬
führt, woraus ich die mir angenehme Bemerkung zog,
daß er mir bei meiner erſten Ankunft in ſeinem Hauſe
eine Bevorzugung gab, die nicht jedem zu Theil wurde,
27 *[420] daß ich alſo eine Art Zuneigung bei ihm gefunden
haben mußte.


Gegen das Ende der Roſenblüthe kam Euſtachs
Bruder Roland in das Haus. Da er ſich mehrere
Tage in demſelben aufhielt, fand ich Gelegenheit, ihn
genauer zu beobachten. Er hatte noch nicht die Bil¬
dung ſeines Bruders auch nicht deſſen Biegſamkeit;
aber er ſchien mehr Kraft zu beſizen, die ſeinen Be¬
ſchäftigungen einen wirkſamen Erfolg verſprach. Was
mir auffiel, war, daß er mehrere Male ſeine dunkeln
Augen länger auf Natalien heftete, als mir ſchicklich
erſcheinen wollte. Er hatte eine Reihe von Zeichnun¬
gen gebracht, und wollte noch einen entfernteren Theil
des Landes beſuchen, ehe er wiederkehrte, um den
Stoff vollkommen zu ordnen.


Ehe Mathilde und Natalie das Roſenhaus ver¬
ließen, mußte noch der verſprochene Beſuch auf dem
Gute des Nachbars, welches Ingheim hieß, und von
dem Volke nicht ſelten der Inghof genannt wurde,
gemacht werden. Es wurde hingeſchickt, und ein Tag
genannt, an dem man kommen wollte, welcher auch
angenommen wurde. Am Morgen dieſes Tages wur¬
den die braunen Pferde, mit denen Mathilde gekom¬
men war, und die ſie die Zeit über in dem Meierhofe
[421] gelaſſen hatte, vor den Wagen geſpannt, der die
Frauen gebracht hatte, und Mathilde und Natalie
ſezten ſich hinein. Mein Gaſtfreund Guſtav und ich,
der ich eigens in die Bitte des Gegenbeſuchs einge¬
ſchloſſen worden war, ſtiegen in einen anderen Wa¬
gen, der mit zwei ſehr ſchönen Grauſchimmeln mei¬
nes Gaſtfreundes beſpannt war. Eine raſche Fahrt
von einer Stunde brachte uns an den Ort unſerer
Beſtimmung. Ingheim iſt ein Schloß, oder eigent¬
lich ſind zwei Schlöſſer da, welche noch von mehreren
anderen Gebäuden umgeben ſind. Das alte Schloß
war einmal befeſtigt. Die grauen aus großen vier¬
eckigen Steinen erbauten runden Thürme ſtehen noch,
ebenſo die graue aus gleichen Steinen erbaute Mauer
zwiſchen den Thürmen. Beide Theile beginnen aber
oben zu verfallen. Hinter den Thürmen und Mauern
ſteht das alte unbewohnte ebenfalls graue Haus,
ſcheinbar unverſehrt; aber von den mit Brettern ver¬
ſchlagenen Fenſtern ſchaut die Unbewohntheit und
Ungaſtlichkeit herab. Vor dieſen Werken des Alter¬
thums ſteht das neue weiße Haus, welches mit ſei¬
nen grünen Fenſterläden und dem rothen Ziegeldache
ſehr einladend ausſieht. Wenn man von der Ferne
kömmt, meint man, es ſei unmittelbar an das alte
[422] Schloß angebaut, welches hinter ihm emporragt.
Wenn man aber in dem Hauſe ſelber iſt, und hinter
dasſelbe geht, ſo ſieht man, daß das alte Gemäuer
noch ziemlich weit zurück iſt, daß es auf einem Felſen
ſteht, und daß es durch einen breiten mit einem Obſt¬
baumwald bedeckten Graben von dem neuen Hauſe
getrennt iſt. Auch kann man in der Ferne wegen der
ungewöhnlichen Größe des alten Schloſſes die Ge¬
räumigkeit des neuen Hauſes nicht ermeſſen. Sobald
man ſich aber in demſelben befindet, ſo erkennt man,
daß es eine bedeutende Räumlichkeit habe, und nicht
bloß für das Unterkommen der Familie geſorgt iſt,
ſondern auch eine ziemliche Zahl von Gäſten noch
keine Ungelegenheit bereitet. Ich hatte wohl den Na¬
men des Schloſſes öfter gehört, dasſelbe aber nie ge¬
ſehen. Es liegt ſo abſeits von den gewöhnlichen We¬
gen, und iſt durch einen großen Hügel ſo gedeckt, daß
es von Reiſenden, welche durch dieſe Gegend ge¬
wöhnlich den Gebirgen zugehen, nicht geſehen wer¬
den kann. Als wir uns näherten, entwickelten ſich die
mehreren Bauwerke. Zuerſt kamen wir zu den Wirth¬
ſchaftsgebäuden oder der ſogenannten Meierei. Die¬
ſelben ſtanden, wie es bei vielen Beſizungen in un¬
ſerem Lande der Brauch iſt, ziemlich weit entfernt von
[423] dem Wohnhauſe, und bildeten eine eigene Abtheilung.
Von da führte der Weg durch eine Allee uralter gro¬
ßer Linden eine Strecke gegen das neue Haus. Die
Allee iſt ein Bruchſtück von derjenigen, die einmal
gegen die Zugbrücke des alten Schloſſes hinauf ge¬
führt hatte; ſie brach daher ab, und wir fuhren die
übrige Strecke durch ſchönen grünen Raſen, der mit
einzelnen Blumenhügeln geſchmückt war, dem Hauſe
zu. Daſſelbe war von weißlich grauer Farbe, und
hatte ſäulenartige Streifen und Frieſe. Alle Fen¬
ſter, ſoweit die geöffneten Läden eine Einſicht zu¬
ließen, zeigten von Innen ſchwere Vorhänge. Als der
Wagen der Frauen unter dem Überdache der Vor¬
fahrt hielt, ſtand ſchon der Herr von Ingheim ſammt
ſeiner Gattin und ſeinen Töchtern am Ende der Treppe
zur Bewillkommung. Sie waren alle mit Geſchmack
gekleidet, ſo wie die Dienerſchaft, die hinter ihnen
ſtand, in Feſtkleidern war. Der Herr half den Frauen
aus dem Wagen, und da wir mittlerweile auch aus¬
geſtiegen und herzugekommen waren, wurden wir von
der ganzen Familie begrüßt und die Treppe hinauf
geleitet. Man führte uns in ein großes Empfang¬
zimmer, und wies uns Pläze an. Mathilde und Na¬
talie hatten zwar feſtlichere Kleider an, als ſie im
[424] Roſenhauſe trugen, aber dieſelben, ſo edel der Stoff
war, zeigten doch keine übermäßige Verzierung oder
gar Überladung. Mein Gaſtfreund Guſtav und ich
waren gekleidet, wie man es zu ländlichen Beſuchen
zu ſein pflegt. So ließen wir uns in die prachtvollen
Polſter, die hier überall ausgelegt waren, nieder. Auf
einem Tiſche, über den ein ſchöner Teppich gebreitet
war, ſtanden Erfriſchungen verſchiedener Art. Andere
Tiſche, die noch in dem Zimmer ſtanden, waren un¬
bedeckt. Die Geräthe waren von Mahagoniholz und
ſchienen aus der erſten Werkſtätte der Stadt zu ſtam¬
men. Eben ſo waren die Spiegel die Kronleuch¬
ter und andere Dinge des Zimmers. Eine Ecke an
einem Fenſter nahm ein ſehr ſchönes Clavier ein. Die
erſten Geſpräche betrafen die gewöhnlichen Dinge
über Wohlbefinden über Wetter über Gedeihen der
Feld- und Gartengewächſe. Die Männer nannten
ſich wechſelweiſe Nachbar, die Frauen benannten ſich
gar nicht.


Als man etwas Weniges von den daſtehenden
Speiſen genommen hatte, erhob man ſich, und wir
gingen durch die Zimmer. Es war eine Reihe, deren
Fenſter größtentheils gegen Mittag auf die Landſchaft
hinaus gingen. Alle waren ſehr ſchön nach neuer Art
[425] eingerichtet, beſonders reich waren die Paliſanderge¬
räthe im Empfangszimmer der Frau, in welchem ſo
wie in dem Arbeitszimmer der Mädchen wieder Cla¬
viere ſtanden. Der Herr des Hauſes führte beſonders
mich in den Räumen herum, dem ſie noch fremd wa¬
ren. Die übrige Geſellſchaft folgte uns gelegentlich
in das eine oder andere Gemach.


Aus den Zimmern ging man in den Garten.
Derſelbe war wie viele wohlgehaltene und ſchöne
Gärten in der Nähe der Stadt. Schöne Sandgänge,
grüne ausgeſchnittene Raſenpläze mit Blumenſtücken,
Gruppen von Zier- und Waldgebüſchen, ein Ge¬
wächshaus mit Camellien Rhododendren Azaleen Eri¬
ken Calceolarien und vielen neuholländiſchen Pflan¬
zen, endlich Ruhebänke und Tiſche an geeigneten
ſchattigen Stellen. Der Obſtgarten als Nüzlichkeits¬
ſtück war nicht bei dem Wohnhauſe ſondern hinter
dem Meierhofe.


Von dem Garten gingen wir, wie es bei länd¬
lichen Beſuchen zu geſchehen pflegt, in die Meierei.
Wir gingen durch die Reihen der glatten Rinder, die
meiſtens weiß, geſtirnt waren, wir beſahen die Schafe
die Pferde das Geflügel die Milchkammer die Käſebe¬
reitung die Brauerei und ähnliche Dinge. Hinter den
[426] Scheuern trafen wir den Gemüſegarten und den ſehr
weitläufigen Obſtgarten an. Von dieſen gingen wir
in die wohlbeſtellten Felder und in die Wieſen. Der
Wald, welcher zu der Beſizung gehört, wurde mir in
der Ferne gezeigt.


Nachdem wir unſern ziemlich bedeutenden Spa¬
ziergang beendigt hatten, wurden wir in eine eben¬
erdige große Speiſehalle geführt, in welcher der Mit¬
tagtiſch gedeckt war. Ein einfaches aber ausgeſuchtes
Mahl wurde aufgetragen, wobei die Dienerſchaft
hinter unſeren Stühlen ſtehend bediente. Hatte ſich
die Familie Ingheim ſchon bei dem Beſuche auf dem
Roſenhauſe als unter die gebildeten gehörig gezeigt,
ſo war dies bei unſerem Empfange in ihrem eigenen
Hauſe wieder der Fall. Sowohl bei Vater und Mut¬
ter als auch bei den Mädchen war Einfachheit Ruhe
und Beſcheidenheit. Die Geſpräche bewegten ſich um
mehrere Gegenſtände, ſie riſſen ſich nicht einſeitig nach
einer gewiſſen Richtung hin, ſondern ſchmiegten ſich
mit Maß der Geſellſchaft an. Einen Theil der Zeit
nach dem Mittageſſen brachten wir in den Zimmern
des erſten Stockwerkes zu. Es wurde Muſik gemacht,
und zwar Clavier und Geſang. Zuerſt ſpielte die
Mutter etwas, dann beide Mädchen allein, dann zu¬
[427] ſammen. Jedes der Mädchen ſang auch ein Lied.
Natalie ſaß in den ſeidenen Polſtern und hörte auf¬
merkſam zu. Als man ſie aber aufforderte, auch zu
ſpielen, verweigerte ſie es.


Gegen Abend fuhren wir wieder in das Roſen¬
haus zurück.


Als Guſtav aus unſerem Wagen geſprungen war,
als mein Gaſtfreund und ich denſelben verlaſſen hat¬
ten, und ich die edle ſchlanke Geſtalt Nataliens gegen
die Marmortreppe hinzu gehen ſah, blieb ich ein Weil¬
chen ſtehen, und begab mich dann auch in meine Zim¬
mer, wo ich bis zum Abendeſſen blieb.


Dieſes war wie gewöhnlich, man machte aber
nach demſelben an dieſem Tage keinen Spaziergang
mehr.


Ich ging in mein Schlafzimmer, öffnete die Fen¬
ſter, die man troz des warmen Tages, weil ich ab¬
weſend geweſen war, geſchloſſen gehalten hatte, und
lehnte mich hinaus. Die Sterne begannen ſachte zu
glänzen, die Luft war mild und ruhig, und die Ro¬
ſendüfte zogen zu mir herauf. Ich gerieth in tiefes
Sinnen. Es war mir wie im Traume, die Stille
der Nacht und die Düfte der Roſen mahnten an Ver¬
gangenes; aber es war doch heute ganz anders.


[428]

Nach dieſem Beſuche auf dem Inghofe folgten
mehrere Regentage, und als dieſe beendigt waren,
und wieder dem Sonnenſcheine Plaz machten, war
auch die Zeit heran genaht, in welcher Mathilde und
Natalie das Roſenhaus verlaſſen ſollten. Es war
ſchon mehreres gepackt worden, und darunter ſah ich
auch die beiden Zithern, die man in ſammtene Fächer
that, welche ihrerſeits wieder in lederne Behältniſſe
geſteckt wurden.


Endlich war der Tag der Abreiſe feſtgeſezt worden.


Am Abende vorher war ſchon das Hauptſäch¬
lichſte, was mitgenommen werden ſollte, in den
Wagen geſchafft, und die Frauen hatten am Nach¬
mittage an mehreren Stellen Abſchied genommen:
bei den Gärtnerleuten in der Schreinerei und im
Meierhofe.


Am andern Morgen erſchienen ſie bei dem Früh¬
mahle in Reiſekleidern, während noch Arabella das
Dienſtmädchen Mathildens diejenigen Sachen, die
bis zu dem lezten Augenblicke im Gebrauch geweſen
waren, in den Wagen packte.


Nach dem Frühmahle, als die Frauen ſchon die
Reiſehüte aufhatten, ſagte Mathilde zu meinem Gaſt¬
[429] freunde: „Ich danke dir, Guſtav, lebe wohl, und
komme bald in den Sternenhof.“


„Lebe wohl, Mathilde,“ ſagte mein Gaſtfreund.


Die zwei alten Leute küßten ſich wieder auf die
Lippen, wie ſie es bei der Ankunft Mathildens gethan
hatten.


„Lebe wohl, Natalie,“ ſagte er dann zu dem
Mädchen.


Dasſelbe erwiederte nur leiſe die Worte: „Dank
für alle Güte.“


Mathilde ſagte zu dem Knaben: „Sei folgſam,
und nimm dir deinen Ziehvater zum Vorbilde.“


Der Knabe küßte ihr die Hand.


Dann zu mir gewendet ſprach ſie: „Habet Dank
für die freundlichen Stunden, die ihr uns in dieſem
Hauſe gewidmet habt. Der Beſizer wird euch für
euren Beſuch wohl ſchon danken. Bleibt meinem
Knaben gut, wie ihr es bisher geweſen ſeid, und laßt
euch ſeine Anhänglichkeit nicht leid thun. Wenn es
eure ſchöne Wiſſenſchaft zuläßt, ſo ſeid unter denen,
die von dieſem Hauſe aus den Sternenhof beſuchen
werden. Eure Ankunft wird dort ſehr willkommen
ſein.“


„Den Dank muß wohl ich zurückgeben für alle die
[430] Güte, welche mir von euch und von dem Beſizer die¬
ſes Hauſes zu Theil geworden iſt,“ erwiederte ich.
„Wenn Guſtav einige Zuneigung zu mir hat, ſo iſt
wohl die Güte ſeines Herzens die Urſache, und
wenn ihr mich von dem Sternenhofe nicht zurück wei¬
ſet, ſo werde ich gewiß unter den Beſuchenden ſein.“


Ich empfand, daß ich mich auch von Natalien
verabſchieden ſollte; ich vermochte aber nicht, etwas
zu ſagen, und verbeugte mich nur ſtumm. Sie er¬
wiederte dieſe Verbeugung ebenfalls ſtumm.


Hierauf verließ man das Haus, und ging auf
den Sandplaz hinaus. Die braunen Pferde ſtanden
mit dem Wagen ſchon vor dem Gitter. Die Haus¬
dienerſchaft war herbei gekommen, Euſtach mit ſeinen
Arbeitern ſtand da, der Gärtner mit ſeinen Leuten
und ſeiner Frau und der Meier mit dem Großknechte
aus dem Meierhofe waren ebenfalls gekommen.


„Ich danke euch recht ſchön, lieben Leute,“ ſagte
Mathilde, „ich danke euch für eure Freundſchaft und
Güte, ſeid für euren Herrn treu und gut. Du, Ka¬
tharina, ſehe auf ihn und Guſtav, daß keinem ein
Ungemach zuſtößt.“


„Ich weiß, ich weiß,“ fuhr ſie fort, als ſie ſah,
daß Katharina reden wollte, „du thuſt alles, was in
[431] deinen Kräften iſt, und noch mehr, als in deinen
Kräften iſt; aber es liegt ſchon ſo in dem Menſchen,
daß er um Erfüllung ſeiner Herzenswünſche bittet,
wenn er auch weiß, daß ſie ohnehin erfüllt werden,
ja daß ſie ſchon erfüllt worden ſind.“


„Kommt recht gut nach Hauſe,“ ſagte Katharina,
indem ſie Mathilden die Hand küßte, und ſich mit
dem Zipfel ihrer Schürze die Augen trocknete.


Alle drängten ſich herzu, und nahmen Abſchied.
Mathilde hatte für ein jedes liebe Worte. Auch von
Natalien beurlaubte man ſich, die gleichfalls freund¬
lich dankte.


„Euſtach, vergeßt den Sternenhof nicht ganz,“
ſagte Mathilde zu dieſem gewendet, „beſucht uns mit
den anderen. Ich will nicht ſagen, daß euch auch die
Dinge dort nothwendig haben könnten, ihr ſollt un¬
ſertwegen kommen.“


„Ich werde kommen, hochverehrte Frau,“ erwie¬
derte Euſtach.


Nun ſprach ſie noch einige Worte zu dem Gärtner
und ſeiner Frau, und zu dem Meier, worauf die Leute
ein wenig zurück traten.


„Sei gut, mein Kind,“ ſagte ſie zu Guſtav, indem
ſie ihm ein Kreuz mit Daumen und Zeigefinger auf
[432] die Stirne machte, und ihn auf dieſelbe küßte. Der
Knabe hielt ihre Hand feſt umſchlungen, und küßte
ſie. Ich ſah in ſeinen großen ſchwarzen Augen, die
in Thränen ſchwammen, daß er ſich gerne an ihren
Hals würfe; aber die Scham, die einen Beſtandtheil
ſeines Weſens machte, mochte ihn zurück halten.


„Bleibe lieb, Natalie,“ ſagte mein Gaſtfreund.


Das Mädchen hätte bald die dargereichte Hand
geküßt, wenn er es zugelaſſen hätte.


„Theurer Guſtav, habe noch einmal Dank,“ ſagte
Mathilde zu meinem Gaſtfreunde. Sie hatte noch
mehr ſagen wollen; aber es brachen Thränen aus
ihren Augen. Sie nahm ein weißes feines Tuch und
drückte es feſt gegen dieſe Augen, aus denen ſie heftig
weinte.


Mein Gaſtfreund ſtand da, und hielt die Augen
ruhig; aber es fielen Thränen aus denſelben herab.


„Reiſe recht glücklich, Mathilde,“ ſagte er endlich,
„und wenn bei deinem Aufenthalte bei uns etwas ge¬
fehlt hat, ſo rechne es nicht unſerer Schuld an.“


Sie that das Tuch von den Augen, die noch
fortweinten, deutete auf Guſtav, und ſagte: „Meine
größte Schuld ſteht da, eine Schuld, welche ich wohl
nie werde tilgen können.“
[433] „Sie iſt nicht auf Tilgung entſtanden,“ erwiederte
mein Gaſtfreund. „Rede nicht davon, Mathilde, wenn
etwas Gutes geſchieht, ſo geſchieht es recht gerne.“


Sie hielten ſich noch einen Augenblick bei den
Händen, während ein leichtes Morgenlüftchen einige
Blätter der abgeblühten Roſen zu ihren Füßen wehte.


Dann führte er ſie zu dem Wagen, ſie ſtieg ein,
und Natalie folgte ihr.


Es war nach den mehreren Regentagen ein ſehr
klarer nicht zu warmer Tag gefolgt. Der Wagen war
offen und zurück gelegt. Mathilde ließ den Schleier
von dem nehmlichen Hute, den ſie bei ihrer Herfahrt
gehabt hatte, über ihr Angeſicht herabfallen; Natalie
aber legte den ihrigen zurück, und gab ihre Augen den
Morgenlüften. Nachdem auch noch Arabella in den
Wagen geſtiegen war, zogen die Pferde an, die Rä¬
der furchten den Sand und der Wagen ging auf dem
Wege hinab der Hauptſtraße zu.


Wir begaben uns wieder in das Haus zurück.


Jeder ging in ſein Zimmer und zu ſeinen Ge¬
ſchäften.


Nachdem ich eine Weile in meiner Wohnung ge¬
weſen war, ſuchte ich den Garten auf. Ich ging
zu mehreren Blumen, die in einer für Blumen ſchon
Stifter, Nachſommer. I. 28[434] ſo weit vorgerückten Jahreszeit noch blühten, ich ging
zu den Gemüſen zu dem Zwergobſte und endlich zu
dem großen Kirſchbaume hinauf. Von demſelben ging
ich in das Gewächshaus. Ich traf dort den Gärtner,
welcher an ſeinen Pflanzen arbeitete. Als er mich
eintreten ſah, kam er mir entgegen, und ſagte: „Es
iſt gut, daß ich allein mit euch ſprechen kann, habt
ihr ihn geſehen?“


„Wen?“ fragte ich.


„Nun ihr waret ja auf dem Inghofe,“ antwortete
er, „da werdet ihr wohl den Cereus peruvianus an¬
geſchaut haben.“


„Nein, den habe ich nicht angeſchaut,“ erwiederte
ich, indem ich mich wohl des Geſpräches erinnerte,
in welchem er mir erzählt hatte, daß ſich eine ſo große
Pflanze dieſer Art in dem Inghofe befinde, „ich habe
auf ihn vergeſſen.“


„Nun, wenn ihr ihn vergeſſen habt, ſo wird ihn
wohl der Herr angeſchaut haben,“ ſagte er.


„Ich glaube, daß uns niemand auf dieſe Pflanze
aufmerkſam gemacht hat, als wir in dem Gewächs¬
hauſe waren,“ erwiederte ich; „denn wenn jemand an¬
derer ſich eigens zu dieſer Pflanze geſtellt hätte, ſo hätte
ich es gewiß bemerkt, und hätte ſie auch angeſehen.“
[435] „Das iſt ſehr ſonderbar und ſehr merkwürdig,“
ſagte er; „nun wenn ihr vergeſſen habt, den Cereus
peruvianus anzuſehen, ſo müßt ihr einmal mit mir
hinübergehen; wir brauchen nicht zwei Stunden, und
es iſt ein angenehmer Weg. So etwas ſeht ihr nicht
leicht anders wo. Sie bringen ihn nie zur Blüthe.
Wenn ich ihn hier hätte, ſo würde er bald ſo weiß
wie meine Haare blühen, natürlich viel weißer. Die
unſeren ſind noch viel zu klein zum Blühen.“


Ich ſagte ihm zu, daß ich einmal mit ihm in den
Inghof hinübergehen werde, ja ſogar, wenn es nicht
eine Unſchicklichkeit ſei, und nicht zu große Hinder¬
niſſe im Wege ſtehen, daß ich auch verſuchen werde,
dahin zu wirken, daß dieſe Pflanze zu ihm herüber¬
komme.


Er war ſehr erfreut darüber, und ſagte, die Hin¬
derniſſe ſeien gar nicht groß, ſie achten den Cereus
nicht, ſonſt hätten ſie ja die Geſellſchaft zu ihm hin¬
geführt, und der Herr wolle ſich vielleicht keine Ver¬
bindlichkeit gegen den Nachbar auflegen. Wenn ich
aber eine Fürſprache mache, ſo würde der Cereus ge¬
wiß herüber kommen.


Wie doch der Menſch überall ſeine eigenen Ange¬
legenheiten mit ſich herum führt, dachte ich, und wie
28 *[436] er ſie in die ganze übrige Welt hineinträgt. Dieſer
Mann beſchäftigt ſich mit ſeinen Pflanzen, und meint,
alle Leute müßten ihnen ihre Aufmerkſamkeit ſchenken,
während ich doch ganz andere Gedanken in dem
Haupte habe, während mein Gaſtfreund ſeine eigenen
Beſtrebungen hat, und Guſtav ſeiner Ausbildung ob¬
liegt. Das eine Gute hatte aber die Anſprache des
Gärtners für mich, daß ſie mich von meinen weh¬
müthigen und ſchmerzlichen Gefühlen ein wenig ab¬
zog, und mir die Überzeugung brachte, wie wenig
Berechtigung ſie haben, und wie wenig ſie ſich für
das Einzige und Wichtigſte in der Welt halten dürfen.
Ich blieb noch länger in dem Gewächshauſe, und
ließ mir Mehreres von dem Gärtner zeigen und er¬
klären. Dann ging ich wieder in meine Wohnung,
und ſezte mich zu meiner Arbeit.


Wir kamen bei dem Mittageſſen zuſammen, wir
machten am Nachmittage einen Spaziergang, und die
Geſpräche waren wie gewöhnlich.


Die Zeit auf dem Roſenhauſe floß nach dem Be¬
ſuche der Frauen wieder ſo hin, wie ſie vor demſelben
hingefloſſen war.


Ich hatte die Muße, welche ich mir von meinen
Arbeiten im Gebirge zu einem Aufenthalte bei meinem
[437] Gaſtfreunde abgedungen hatte, beinahe ſchon er¬
ſchöpft. Das, was ich mir in dem Roſenhauſe als
Ergänzungsarbeit zu thun auferlegt hatte, rückte auch
ſeiner Vollendung entgegen. Ich ließ mir aber de߬
ohngeachtet einen Aufſchub gefallen, weil man verab¬
redet hatte, einen Beſuch auf dem Sternenhofe zu
machen, was, wie ich einſah, Mathildens Wohnſiz
war, und weil ich bei dieſem Beſuche zugegen ſein
wollte. Auch war es im Plane, daß wir eine Kirche
beſuchen wollten, die in dem Hochlande lag, und in
welcher ſich ein ſehr ſchöner Altar aus dem Mittelal¬
ter befand. Ich nahm mir vor, das, was mir an Zeit
entginge, durch ein länger in den Herbſt hinein fort¬
geſeztes Verweilen im Gebirge wieder einzubringen.


Mein Gaſtfreund hatte in dem Meierhofe wieder
Bauarbeiten beginnen laſſen, und beſchäftigte dort
mehrere Leute. Er ging alle Tage hin, um bei den
Arbeiten nachzuſehen. Wir begleiteten ihn ſehr oft.
Es war eben die lezte Einfuhr des Heues aus den
höheren in dem Alizwalde gelegenen Wieſen, deren
Ertrag ſpäter als in der Ebene gemäht wurde, im
Gange. Wir erfreuten uns an dieſer duftenden wür¬
zigen Nahrung der Thiere, welche aus den Waldwie¬
ſen viel beſſer war als aus den fetten Wieſen der
[438] Thäler; denn auf den Bergwieſen wachſen ſehr man¬
nigfaltige Kräuter, die aus den ſehr verſchiedenarti¬
gen Geſteingrundlagen die Stoffe ihres Gedeihens
ziehen, während die gleichartigere Gartenerde der tie¬
fen Gründe wenigere wenngleich waſſerreichere Arten
hervor bringt. Mein Gaſtfreund widmete dieſem
Zweige eine ſehr große Aufmerkſamkeit, weil er die
erſte Bedingung des Gedeihens der Hausthiere dieſer
geſelligen Mitarbeiter der Menſchen iſt. Alles, was
die Würze den Wohlgeruch und, wie er ſich ausdrückte,
die Nahrungslieblichkeit beeinträchtigen konnte, mußte
ſtrenge hintan gehalten werden, und wo durch Ver¬
ſehen oder Ungunſt der Zeitverhältniſſe doch derglei¬
chen eintrat, mußte das minder Taugliche ganz beſei¬
tigt oder zu andern Wirthſchaftszwecken verwendet
werden. Darum konnte man aber auch keine ſchöne¬
ren glatteren glänzenderen und fröhlicheren Thiere
ſehen als auf dem Asperhofe. Der Wirthſchaftsvor¬
theil lag außerdem noch als Zugabe bei; denn da das
Schlechtere gar nicht verwendet werden durfte, wurde
bei der Behandlung und Einbringung die größte
Sorgfalt von den Leuten beobachtet, abgeſehen da¬
von, daß mein Gaſtfreund bei ſeiner Kenntniß der
Witterungsverhältniſſe weniger Schaden durch Regen
[439] oder dergleichen erlitt als die meiſten Landwirthe, die
ſich um dieſe Kenntniß gar nicht bekümmerten. Und
der Nachtheil der Nichtanwendung des Schlechteren
wurde weit durch den Vortheil des beſſeren Gedeihens
der Thiere aufgewogen. In dem Asperhofe konnte
man immer mit einer geringeren Anzahl Thiere grö¬
ßere Arbeiten ausführen, als in anderen Gehöften.
Hiezu kam noch eine gewiſſe Fröhlichkeit und Heiter¬
keit der untergeordneten Leute, die bei jeder ſachgemä¬
ßen Führung eines Geſchäftes, bei dem ſie betheiligt
ſind, und bei einer wenn auch ſtrengen doch ſtets
freundlichen Behandlung nicht ausbleibt. Ich hörte
bei meiner jezigen Anweſenheit öfter von benachbar¬
ten Leuten die Äußerung, das hätte man dem alten
Aſperhofe nicht angeſehen, daß das noch heraus kom¬
men könnte.


Es wurde, da wieder mehrere Gewitter niederge¬
gangen waren, die Luft ſich gereinigt hatte, und einige
ſchöne Tage erwartet werden konnten, die Reiſe zu
der Kirche mit dem ſehenswürdigen Altare feſtgeſezt.


Im Norden unſeres herrlichen Stromes, welcher
das Land in einen nördlichen und ſüdlichen Theil
theilt, erhebt ſich ein Hochland, welches viele Meilen
die nördlichen Ufer des Stromes begleitet. In ſeinem
[440] Süden iſt eine acht bis zehn Meilen breite verhältni߬
mäßig ebene Gegend von großer Fruchtbarkeit, die
endlich von dem Zuge der Alpen begrenzt iſt. Ich
war bisher nur vorzugsweiſe in die Alpen gegangen,
die nördlichen Hochlande hatte ich blos ein einziges
Mal betreten, und nur eine kleine Ecke derſelben durch¬
wandert. Jezt ſollte ich mit meinem Gaſtfreunde eine
Fahrt in das Innere derſelben machen; denn die
Kirche, welche das Ziel unſerer Reiſe war, ſteht weit
näher an der nördlichen als an der ſüdlichen Grenze
des Hochlandes. Wir fuhren in der Begleitung Eu¬
ſtachs von dem Stromesufer die ſtaffelartigen Erhe¬
bungen empor, und fuhren dann in dem hohen viel¬
gehügelten Lande dahin. Wir fuhren oft mit unſerm
Geſpann langſam bis auf die höchſte Spize eines
Berges empor, dann auf der Höhe fort, oder wir
ſenkten uns wieder in ein Thal, umfuhren oft in
Windungen abwärts die Dachung des Berges, legten
eine enge Schlucht zurück, ſtiegen wieder empor, ver¬
änderten recht oft unſere Richtung, und ſahen die
Hügel die Gehöfte und andere Bildungen von ver¬
ſchiedenen Seiten. Wir erblickten oft von einer Spize
das ganze flache gegen Mittag gelegene Land mit ſei¬
ner erhabenen Hochgebirgskette, und waren dann
[441] Wieder in einem Thalkeſſel, in welchem wir keine Ge¬
genſtände neben unſerem Wagen hatten als eine
dunkle weitäſtige Fichte und eine Mühle. Oft, wenn
wir uns einem Gegenſtande gleichſam auf einer Ebene
nähern zu können ſchienen, war plözlich eine tiefe
Schlucht in die Ebene geſchnitten, und wir mußten
dieſelbe in Schlangenwindungen umfahren.


Ich hatte bei meinem erſten Beſuche dieſes Hoch¬
landes die Bemerkung gemacht, daß es mir da ſtil¬
ler und ſchweigſamer vorkomme, als wenn ich durch
andere ebenfalls ſtille und ſchweigende Landſchaften
zog. Ich dachte nicht weiter darüber nach. Jezt kam
mir dieſelbe Empfindung wieder. In dieſem Lande
liegen die wenigen größeren Ortſchaften ſehr weit von
einander entfernt, die Gehöfte der Bauern ſtehen ein¬
zeln auf Hügeln oder in einer tiefen Schlucht oder
an einem nicht geahnten Abhange. Herum ſind Wie¬
ſen Felder Wäldchen und Geſtein. Die Bäche gehen
ſtill in den Schluchten, und wo ſie rauſchen, hört
man ihr Rauſchen nicht, weil die Wege ſehr oft auf
den Höhen dahin führen. Einen großen Fluß hat
das Land nicht, und wenn man die ausgedehnte ſüd¬
liche Ebene und das Hochgebirge ſieht, ſo iſt es nur
ein ſehr großer aber ſtiller Geſichtseindruck. In den
[442] Alpen geht der Straßenzug meiſtens nur in den Thal¬
rinnen an den Flüſſen oder Wildbächen dahin, er
kann ſich wenig verzweigen, der Verkehr iſt auf ihn
zuſammengedrängt, und es regt ſich auf ihm, und es
wehet und rauſcht an ihm.


In dieſem Lande ſind noch viele werthvolle Alter¬
thümer zerſtreut und aufbewahrt, es haben einmal
reiche Geſchlechter in ihm gewohnt, und die Krieges-
und Völkerſtürme ſind nicht durch das Land gegangen.


Wir kamen in den kleinen Ort Kerberg. Er liegt
in einem ſehr abgeſchiedenen Winkel und iſt von kei¬
nerlei Bedeutung. Nicht einmal eine Straße von nur
etwas lebhaftem Verkehre führt durch, ſondern nur
einer jener Landwege, wie ſie zum Austauſche der Er¬
zeugniſſe der Bevölkerung dienen, und von dem guten
Sand- und Steinſtoffe des Landes ſehr gut gebaut
ſind. Nur die Lage iſt ſchön, da hier die Bildungen
etwas größer ſind, und mit dämmerigem Walde theil¬
weiſe bekleidet anmuthig zuſammentreten. Und doch
ſteht in dieſem Orte die Kirche, zu welcher wir auf
der Reiſe waren. Hinter dem Orte ungefähr nach
Mitternacht liegt ein weitläufiges Schloß auf einem
Berge, welches große Garten- und Waldanlagen um
ſich hat. Auf dieſem Schloſſe hat einmal ein reiches
[443] und mächtiges Geſchlecht gewohnt. Einer von ihnen
hatte in dem kleinen Orte die Kirche bauen und aus¬
zieren laſſen. Er hat die Kirche im altdeutſchen Stile
gebaut, Spizbogen ſchließen ſie, ſchlanke Säulen
aus Stein theilen ſie in drei Schiffe, und hohe
Fenſter mit Steinroſen in ihren Bögen und mit den
kleinen vieleckigen Täfelchen geben ihr Licht. Der
Hochaltar iſt aus Lindenholz geſchnizt, ſteht wie eine
Monſtranze auf dem Prieſterplaze, und iſt von fünf
Fenſtern umgeben. Viele Zeiten ſind vorübergegan¬
gen. Der Gründer iſt geſtorben, man zeigt ſein Bild
aus rothem Marmor in Halbarbeit auf einer Platte
in der Kirche. Andere Menſchen ſind gekommen, man
machte Zuthaten in der Kirche, man bemalte und be¬
ſtrich die ſteinernen Säulen und die aus gehauenen
Steinen gebauten Wände, man erſezte die zwei Sei¬
tenaltäre, von deren Geſtalt man jezt nichts mehr
weiß, durch neue, und es geht die Sage, daß ſchöne
Glasgemälde die Monſtranze umſtanden haben, daß
ſie fortgekommen ſeien, und daß gemeine viereckige
Tafeln in die fünf Fenſter geſezt wurden. Sie ver¬
unzieren in der That noch jezt die Kirche. Die neuen
Beſizer des Schloſſes waren nicht mehr ſo reich und
mächtig, andere Zeiten hatten andere Gedanken be¬
[444] kommen, und ſo war der geſchnizte Hochaltar von
Vögeln Fliegen und Ungeziefer beſchmuzt worden, die
Sonne, die ungehindert durch die viereckigen Tafeln
hereinſchien, hatte ihn ausgedörrt, Theile fielen
herab, und wurden willkührlich wieder hinauf gethan
und durcheinander geſtellt und in Arme Angeſichter
und Gewänder bohrte ſich der Wurm.


Darum haben die Behörden des Landes den Al¬
tar wieder hergeſtellt, und zu dieſem gingen wir.


Euſtach geleitete uns in die Kirche, es war ein
ſonniger Vormittag, kein Menſch war zugegen, und
wir traten vor das Schnizwerk. Euſtach konnte vieles
aus den Regeln der alten Kunſt und aus der Ge¬
ſchichte derſelben erklären. Er ſprach über das Mit¬
telfeld, in welchem drei ganze überlebensgroße Ge¬
ſtalten auf reich verzierten Geſtellen unter reichen
Überdächern ſtanden. Es waren die Geſtalten des
heiligen Petrus des heiligen Wolfgang — beide in
Biſchofsgewändern — und des heiligen Chriſtopho¬
rus, wie er das Jeſuskindlein auf der Schulter trägt,
und wie dasſelbe nach der Legende dem rieſenhaft
ſtarken Manne ſchwer wie ein Weltball wird, und ſeine
Kräfte erſchöpft, welche Erſchöpfung in der Geſtalt
ausgedrückt iſt. Sehr viele kleine Geſtalten waren
[445] noch nach der Sitte unſerer Vorältern in dem Raume
zerſtreut. An dem Mittelfelde waren in gezierten
Rahmen zwei Flügel, auf welchen Bilder in halberha¬
bener Arbeit ſich befanden: die Verkündigung des
Engels, die Geburt des Heilandes, die Opferung der
drei Könige, und der Tod Marias. Oberhalb des
Mittelſtückes war ein Giebel mit der emporſtrebenden
durchbrochenen Arbeit, die man, wie Euſtach meint,
fälſchlich die gothiſche nennt, da ſie vielmehr mittel¬
alterlich deutſch ſei. In dieſe durchbrochene Arbeit
waren mehrere Geſtalten eingeſtreut. Zu beiden Sei¬
ten hinter den Flügeln ſtanden die Geſtalten des hei¬
ligen Florian und des heiligen Georg in mittelalter¬
licher Ritterrüſtung empor. Der heilige Florian hatte
das Sinnbild des brennenden Hauſes und der heilige
Georg das des Drachen zu ſeinen Füßen. Euſtach be¬
hauptete, daß ſich nur aus der Anſicht eines Sinn¬
bildes die Kleinheit ſolcher Beigaben zu alterthümli¬
chen Geſtalten erkläre, da unſere kunſtſinnigen Alt¬
vordern gewiß nicht den großen Fehler der Unver¬
hältnißmäßigkeit der Körper der Gegenſtände gemacht
haben würden. Mein Gaſtfreund ſagte, ohne die
Meinung Euſtachs verwerfen zu wollen, daß man
die Sache auch etwa ſo auslegen könne, daß man
[446] durch die über alles Maß hinausgehende Größe der
Geſtalten, gegen welche ein Haus oder ein Drache klein
ſei, ihre Übernatürlichkeit habe ausdrücken wollen.


Mein Gaſtfreund ſagte, es müßten einmal nicht
nur viel kunſtſinnigere Zeiten geweſen ſein als heute,
ſondern es müßte die Kunſt auch ein allgemeineres
Verſtändniß bis in das unterſte Volk hinab gefunden
haben; denn wie wären ſonſt Kunſtwerke in ſo abge¬
legene Orte wie Kerberg gekommen, oder wie befän¬
den ſich ſolche in noch kleineren Kirchen und Kapellen
des Hochlandes, die oft einſam auf einem Hügel
ſtehen, oder mit ihren Mauern aus einem Waldberge
hervor ragen, oder wie wären kleine Kirchlein Feld¬
kapellen Wegſäulen Denkſteine alter Zeit mit ſolcher
Kunſt gearbeitet: ſo wie heut zu Tage der Kunſtver¬
fall bis in die höheren Stände hinauf rage, weil
man nicht nur in die Kirchen Gräber und heiligen
Orte abſcheuliche Geſtalten, die eher die Andacht zer¬
ſtören als befördern, von dem Volke ſtellen läßt,
ſondern auch bis zu ſich hinauf in das herrſchaftliche
Schloß ſo oft die leeren und geiſtesarmen Arbeiten
einer ohnmächtigen Zeit zieht. Meines Gaſtfreun¬
des und Euſtachs bemächtigte ſich bei dieſen Be¬
[447] trachtungen eine Traurigkeit, welche ich nicht ganz
begrif.


Wir betrachteten nach dem Altare auch noch die
Kirche, betrachteten das Steinbild des Mannes, der
ſie hatte erbauen laſſen, und betrachteten noch andere
alte Grabdenkmale und Inſchriften. Es zeigte ſich hier,
daß die fünf Fenſter des Prieſterplazes nicht wie die
Fenſter des Kirchenſchiffes in ihren Spizbogen Stein¬
roſen hatten, was als neuer Beweis galt, daß das
Glas aus dieſen Fenſtern einmal heraus genommen
worden war, und daß man zu beſſerer Gewinnung
der Gemälde in den Spizbogen oder gar zu bequeme¬
rer Einſezung der viereckigen Tafeln die ſteinernen
Faſſungen weggeräumt habe.


Ich ging mit manchem Gedanken bereichert neben
meinen zwei Begleitern aus der Kirche.


Auf der Rückfahrt ſchlugen wir einen anderen
Weg ein, damit ich auch noch andere Theile des Lan¬
des zu ſehen bekäme. Wir beſuchten noch ein paar
Kirchen und kleinere Bauwerke, und Euſtach verſprach
mir, daß er mir, wenn wir nach Hauſe gekommen
wären, die Zeichnungen von den Dingen zeigen
würde, welche wir geſehen hatten. Die Männer ſpra¬
chen auf der Rückreiſe auch von der muthmaßlichen
[448] Zeit, in welcher die Kirche, die das Ziel unſerer Reiſe
geweſen war, entſtanden ſein könnte. Sie ſchloſſen
auf dieſe Zeit aus der Art und Weiſe des Baues und
aus manchen Verzierungen. Sie bedauerten nur, daß
man Näheres darüber aus Urkunden nicht erfahren
könne, da das Schriftgewölbe des alten Schloſſes un¬
zugänglich gehalten werde.


Wir fuhren am Mittage des nächſten Tages wie¬
der die ſtaffelartigen Erhebungen hinab, und gelang¬
ten in ſpäter Nacht in das Roſenhaus.


Ich mahnte in ein paar Tagen darauf den Gärt¬
ner an unſern verabredeten Gang nach Ingheim. Er
freute ſich über meine Achtſamkeit, wie er es nannte,
und an einem freundlichen Nachmittage gingen wir
in das Schloß hinüber. Wir ſagten die Urſache unſe¬
res Beſuches, und wurden mit Zuvorkommenheit auf¬
genommen. Wir gingen ſogleich in das Gewächs¬
haus, und es war in Wirklichkeit eine ſehr ſchöne und
zu anſehnlicher Größe ausgebildete Pflanze, zu der
mich der Gärtner Simon geführt hatte. Ich kannte
nicht genau, wie weit ſich dieſe Pflanzen überhaupt
entwickeln, und welche Größe ſie zu erreichen vermö¬
gen; aber eine größere habe ich nirgends geſehen.
Daß man ſie in Ingheim nicht viel achte, erkannte ich
[449] ebenfalls; denn der Winkel des Gewächshauſes, in
welchem ſie in freiem Boden ſtand, war der vernach¬
läſſigteſte, es lagen Blumenſtäbe Baſtbänder welke
Blätter und dergleichen dort, und man hatte ihn mit
Geſtellen, auf welchen andere Pflanzen ſtanden, ver¬
ſtellt, daß ſein Anblick den Augen entzogen werde.
Man konnte den grünen Arm dieſer Pflanze wohl an
der Decke des Hauſes hingehen ſehen, ich hatte aber
dort hinauf bei meiner erſten Anweſenheit nicht ge¬
ſchaut. Mein Begleiter erkannte jezt, daß es ein Ce¬
reus peruvianus ſei, und erklärte mir ſeine Merkmale.
Sonſt aber konnten wir keine Cactus in Ingheim
entdecken. Nach mancher Aufmerkſamkeit, die uns in
dem Schloſſe noch zu Theil wurde, begaben wir uns
gegen Abend wieder auf den Rückweg, und ich tröſtete
meinen alten Begleiter mit den Worten, daß ich
glaube, daß es nicht ſchwer ſein werde, dieſe Pflanze
in das Roſenhaus zu bringen. Dort würde ſie die
Sammlung ergänzen und zieren, während ſie in Ing¬
heim allein iſt. Auch wird man wohl einem Wunſche
meines Gaſtfreundes willfährig ſein, und ich werde
die Sache ſchon zu fördern trachten.


Nach kurzer Zeit traten wir unſern Weg zum Be¬
ſuche in dem Sternenhofe an. Dieſes Mal fuhr außer
Stifter, Nachſommer. I. 29[450] Euſtach auch Guſtav mit. Die Grauſchimmel wurden
vor einen größeren Wagen geſpannt, als wir in den
Hochlanden gehabt hatten, und wir fuhren mit ihnen
über den Hügel hinab. Es war ſehr früh am Mor¬
gen noch lange vor Sonnenaufgang. Wir fuhren auf
der Hauptſtraße gegen Rohrberg zu, und fuhren end¬
lich auf der Anhöhe an dem Alizwalde empor. Da
die Pferde langſam den Weg hinan gingen, ſagte
mein Gaſtfreund: „Es iſt möglich, daß ihr im vori¬
gen Jahre an dieſer Stelle Mathilden und Natalien
geſehen habt. Sie erzählten mir, als ſie zum Beſuche
der Roſenblüthe zu mir kamen, und ich ihnen von
euch von eurer Anweſenheit bei mir und von eurer
an dem Morgen ihrer Ankunft erfolgten Abreiſe ſagte,
daß ſie einem Fußreiſenden auf der Alizhöhe begegnet
ſeien, der dem ungefähr gleich geſehen habe, den ich
ihnen beſchrieben.“


Plözlich war es mir ganz klar, daß wirklich Ma¬
thilde und Natalie die zwei Frauen geweſen waren,
welchen ich an jenem Morgen an dieſer Stelle begeg¬
net bin. Mir waren jezt deutlich dieſelben Reiſehüte
vor Augen, die ſie auch dieſes Mal aufgehabt hatten,
ich ſah die Züge Nataliens wieder, und auch der
Wagen und die braunen Pferde kamen mir in die
[451] Erinnerung. Darum alſo war mir Natalie immer als
ſchon einmal geſehen vorgeſchwebt. Ich hatte ja ſo¬
gar damals gedacht, daß das menſchliche Angeſicht
etwa der edelſte Gegenſtand für die Zeichnungskunſt
ſein dürfte, und hatte ſie als unbeholfner Menſch, der
im Zurechtlegen aller Eindrücke geſchickter iſt als in dem
der menſchlichen, doch wieder aus meiner Vorſtellungs¬
kraft verloren. Ich ſagte zu meinem Gaſtfreunde, daß
er durch ſeine Bemerkung meinem Gedächtniſſe zu
Hilfe gekommen ſei, daß ich jezt alles klar wiſſe, und
daß mir auf dieſer Anhöhe Mathilde und Natalie be¬
gegnet ſeien, und daß ich ihnen, da der Wagen lang¬
ſam den Berg hinab fuhr, nachgeſehen habe.


„Ich habe mir es gleich ſo gedacht,“ erwiederte er.


Aber auch etwas anderes fiel mir ein, und machte,
daß mein Angeſicht erröthete. Alſo hatte mein Gaſt¬
freund von mir mit den Frauen geſprochen, und mich
ſogar beſchrieben. Er hatte alſo einen Antheil an mir
genommen. Das freute mich von dieſem Manne ſehr.


Als wir auf der Höhe des Berges angekommen
waren, ließ mein Gaſtfreund an einer Stelle, wo das
Seitengebüſch des Weges eine Durchſicht erlaubte,
halten, ſtand im Wagen auf, und bath mich, das
Gleiche zu thun. Er ſagte, daß man an dieſer Stelle
29 *[452] das Stück des Alizwaldes, das zu dem Asperhofe ge¬
höre, überſehen könne. Er wies mir mit dem Zeige¬
finger an den Farbunterſchieden des Waldes, die
durch die Miſchung der Buchen und Tannen durch
Licht und Schatten und durch andere Merkmale her¬
vorgebracht wurden, die Grenzen dieſes Beſizthumes
nach. Als ich dies genugſam verſtanden, und ihm auch
mit dem Finger ungefähr die Stellen des Waldes ge¬
zeigt hatte, an denen ich ſchon geweſen war, ſezten
wir uns wieder nieder, und fuhren weiter.


Es war bei dieſer Gelegenheit das erſte Mal ge¬
weſen, daß ich aus ſeinem Munde den Namen Asper¬
hof gehört habe, mit dem er ſein Beſizthum bezeich¬
nete.


Nach kurzer Fahrt trennten wir uns von der nach
Oſten gehenden Hauptſtraße, und ſchlugen einen ge¬
wöhnlichen Verbindungsweg nach Süden ein. Wir
fuhren alſo dem Hochgebirge näher. Am Mittage
blieben wir eine ziemlich lange Zeit zur Erquickung
und zum Ausruhen der Pferde, auf deren Pflege mein
Gaſtfreund ſehr ſah, in einem einzeln ſtehenden Gaſt¬
hofe, und es war ſchon am Abende in tiefer Däm¬
merung, als mir mein Gaſtfreund die Umriſſe des
Sternenhofes zeigte. Ich war ſchon zweimal in der
[453] Gegend geweſen, erinnerte mich ſogar im Allgemeinen
auf das Gebäude, und wußte genau, daß am Fuße
des Hügels, auf welchem es ſtand, ſehr ſchöne Ahorne
wuchſen. Ich hatte aber nie Urſache gehabt, mich
weiter um dieſe Gegenſtände zu kümmern.


Wir kamen bei Sternenſcheine zu den mir bekann¬
ten Ahornen, fuhren einen Hügel empor, legten einen
Thorweg zurück, und hielten in einem Hofe. In dem¬
ſelben ſtanden vier große Bäume, an deren eigen¬
thümlichen gegen den dunkeln Nachthimmel gehalte¬
nen Bildungen ich erkannte, daß es Ahorne ſeien.
In ihrer Mitte plätſcherte ein Brunnen. Auf das
Rollen des Wagens unter dem hallenden Thorwege
kamen Diener mit Lichtern herbei, uns aus dem Wa¬
gen zu helfen. Gleich darauf erſchien auch Mathilde
und Natalie in dem Hofe, um uns zu begrüßen. Sie
geleiteten uns die Treppe hinan in einen Vorſaal, in
welchem die Begrüßungen im Allgemeinen wiederholt
wurden, und von wo aus man uns unſere Zimmer
anwies.


Das meinige war ein großes freundliches Ge¬
mach, in welchem bereits auf dem Tiſche zwei Kerzen
brannten. Ich legte, da der Diener die Thür hinter
ſich geſchloſſen hatte, meinen Hut auf den Tiſch, und
[454] das Nächſte, was ich that, war, daß ich mehrere
Male ſchnell in dem Zimmer auf und nieder ging,
um die durch das Fahren erſteiften Glieder wieder
ein wenig einzurichten. Als dieſes ziemlich gelungen
war, trat ich an eines der offenen Fenſter, um herum
zu ſchauen. Es war aber nicht viel zu ſehen. Die
Nacht war ſchon zu weit vorgerückt, und die Lichter
im Zimmer machten die Luft draußen noch finſterer.
Ich ſah nur ſo viel, daß meine Fenſter ins Freie gin¬
gen. Nach und nach begränzten ſich vor meinen Augen
die dunkeln Geſtalten der am Fuße des Hügels ſtehen¬
den Ahorne, dann kamen Flecken von dunkler und
fahler Farbe, wahrſcheinlich Abwechslung von Feld
und Wald, weiter war nichts zu unterſcheiden als der
glänzende Himmel darüber, der von unzähligen Ster¬
nen aber nicht von dem geringſten Stückchen Mond
beleuchtet war.


Nach einer Zeit kam Guſtav, und holte mich zu
dem Abendeſſen ab. Er hatte eine große Freude, daß
ich in dem Sternenhofe ſei. Ich ordnete aus meinem
Reiſeſacke, der heraufgeſchafft worden war, ein wenig
meine Kleider, und folgte dann Guſtav in das Spei¬
ſezimmer. Dasſelbe war faſt wie das in dem Roſen¬
hauſe. Mathilde ſaß wie dort in einem Ehrenſtuhle
[455] oben an, ihr zur Rechten mein Gaſtfreund und Na¬
talie ihr zur Linken ich Euſtach und Guſtav. Auch
hier beſorgte eine Haushälterin und eine Magd den
Tiſch. Der Hergang bei dem Speiſen war der nehm¬
liche wie an jenen Abenden bei meinem Gaſtfreunde,
an denen wir alle beiſammen geweſen waren.


Um von der Reiſe ausruhen zu können, trennte
man ſich bald, und ſuchte ſeine Zimmer.


Ich entſchlief unter Unruhe, ſank aber nach und
nach in feſteren Schlummer, und erwachte, da die
Sonne ſchon aufgegangen war.


Jezt war es Zeit herum zu ſchauen.


Ich kleidete mich ſo ſchnell und ſo ſorgfältig an,
als ich konnte, ging an ein Fenſter, öffnete es, und
ſah hinaus. Ein ganz gleicher ſehr ſchön grüner Ra¬
ſen, der durch keine Blumengebüſche oder dergleichen
unterbrochen war, ſondern nur den weißen Sandweg
enthielt, breitete ſich über die gedehnte Dachung des
Hügels, auf der das Gebäude ſtand, hinab. Auf dem
Sandwege aber gingen Natalie und Guſtav herauf.
Ich ſah in die ſchönen jugendlichen Angeſichter, ſie
aber konnten mich nicht ſehen, weil ſie ihre Augen
nicht erhoben. Sie ſchienen in traulichem Geſpräche
begriffen zu ſein, und bei ihrer Annäherung — an
[456] dem Gange an der Haltung an den großen dunklen
Augen an den Zügen der Angeſichter — ſah ich wie¬
der recht deutlich, daß ſie Geſchwiſter ſeien. Ich ſah
auf ſie, ſo lange ich ſie erblicken konnte, bis ſie end¬
lich der dunkle Thorweg aufgenommen hatte.


Jezt war die Gegend ſehr leer.


Ich blickte kaum auf ſie.


Allgemach entwickelten ſich aber wieder freund¬
lich Felder Wäldchen und Wieſen im Gemiſch, ich
erblickte Meierhöfe rings herumgeſtreut, hie und da
erglänzte ein weißer Kirchthurm in der Ferne, und
die Straße zog einen lichten Streifen durch das Grün.
Den Schluß machte das Hochgebirge ſo klar, daß
man an dem untern Theile ſeiner Wand die Thalwin¬
dungen an dem obern die Geſtaltung der Kanten und
Flächen und die Schneetafeln wahrnehmen konnte.


Sehr groß und ſchön waren die Ahorne, die un¬
ten am Hügel ſtanden, deßhalb mochten ſie ſchon
früher bei meinen Reiſen durch dieſe Gegend meine
Aufmerkſamkeit erregt haben. Von ihnen zogen ſich
Erlenreihen fort, die den Lauf der Bäche anzeigten.


Das Haus mußte weitläufig ſein; denn die Wand,
in der ſich meine Fenſter befanden, und die ich hin¬
ausgebeugt überſehen konnte, war ſehr groß. Sie
[457] war glatt mit vorſpringenden ſteinernen Fenſterſimſen,
und hatte eine grauweißliche Farbe, mit der ſie offen¬
bar erſt in neuerer Zeit übertüncht worden war.


Hinter dem Hauſe mußte vielleicht ein Garten
oder ein Wäldchen ſein, weil ich Vogelgeſang herüber
hörte. Auch war es mir zuweilen, als vernähme ich
das Rauſchen des Hofbrunnens.


Der Tag war heiter.


Ich harrte nun der Dinge, die kommen ſollten.


Ein Diener rief mich zu dem Frühmahle. Es war
zu derſelben Zeit wie im Roſenhauſe. Als ich in das
Speiſezimmer getreten war, ſagte mir Mathilde, daß
es ſehr lieb von mir ſei, daß ich ihre Freunde und
ihren Sohn in den Sternenhof begleitet habe, ſie
werde ſich bemühen, daß es mir in demſelben gefalle,
wozu ihr ihr Freund, der mir den Asperhof anziehend
mache, beiſtehen müſſe.


Ich antwortete, daß ich mich auf die Reiſe in den
Sternenhof ſehr gefreut habe, und daß ich mich freue
in demſelben zu ſein. Von einer Bedeutung ſei es
nicht, daß mir eine Rückſicht zu Theil werde, ich bitte
nur, daß man, wenn ich etwas fehle, es nachſehe.


Nach mir trat Euſtach ein. Mathilde begrüßte
auch ihn noch einmal.


[458]

Guſtav, der ſchon zugegen war, geſellte ſich zu
mir.


Die Frauen waren häuslich und ſchön aber min¬
der einfach als in dem Roſenhauſe gekleidet. Mei¬
nen Gaſtfreund ſah ich zum erſten Male in ganz an¬
deren Kleidern als auf ſeiner Beſizung und auf dem
Beſuche zu Ingheim. Er war ſchwarz mit einem
Fracke, der einen etwas weiteren und bequemeren
Schnitt hatte als gewöhnlich, und ſogar einen leichten
Biberhut trug er in der Hand.


Nach dem Frühmahle ſagte Mathilde, ſie wolle
mir ihre Wohnung zeigen. Die andern gingen mit.
Wir traten aus dem Speiſezimmer in einen Vorſaal.
Am Ende desſelben wurden zwei Flügelthüren aufge¬
than, und ich ſah in eine Reihe von Zimmern, welche
nach der ganzen Länge des Hauſes hinlaufen mußte.
Als wir eingetreten waren, ſah ich, daß in den Zim¬
mern alles mit der größten Reinheit Schönheit und
Zuſammenſtimmung geordnet war. Die Thüren ſtan¬
den offen, ſo daß man durch alle Zimmer ſehen
konnte. Die Geräthe waren paſſend, die Wände wa¬
ren mit zahlreichen Gemälden geziert, es ſtanden
Glaskäſten mit Büchern, es waren muſikaliſche Ge¬
räthe da, und auf Geſtellen, die an den rechten Orten
[459] angebracht waren, befanden ſich Blumen. Durch die
Fenſter ſah die nähere Landſchaft und die ferneren
Gebirge herein.


Es zeigte ſich, daß dieſe Zimmer ein ſchöner Spa¬
ziergang ſeien, der unter dem Dache und zwiſchen den
Wänden hinführte. Man konnte ſie entlang ſchreiten,
von angenehmen Gegenſtänden umgeben ſein, und
die Kälte oder das Ungeſtüm des Wetters oder Win¬
ters nicht empfinden, während man doch Feld und
Wald und Berg erblickte. Selbſt im Sommer konnte
es Vergnügen gewähren, hier bei offenen Fenſtern
gleichſam halb im Freien und halb in der Kunſt zu
wandeln. Da ich meinen Blick mehr auf das Einzelne
richtete, fielen mir die Geräthe beſonders auf. Sie
waren neu und nach ſehr ſchönen Gedanken gebildet.
Sie ſchickten ſich ſo in ihre Pläze, daß ſie gewiſſerma¬
ßen nicht von Außen gekommen, ſondern zugleich
mit dieſen Räumen entſtanden zu ſein ſchienen. Es
waren an ihnen ſehr viele Holzarten vermiſcht, das
erkannte ich ſehr bald, es waren Holzarten, die man
ſonſt nicht gerne zu Geräthen nimmt, aber ſie ſchienen
mir ſo zu ſtimmen, wie in der Natur die ſehr ver¬
ſchiedenen Geſchöpfe ſtimmen.


Ich machte in dieſer Hinſicht eine Bemerkung ge¬
[460] gen meinen Gaſtfreund, und er antwortete: „Ihr
habt einmal gefragt, ob Gegenſtände, die wir in un¬
ſerem Schreinerhauſe neu gemacht haben, in meinem
Hauſe vorhanden ſeien, worauf ich geantwortet habe,
daß nichts von Bedeutung in demſelben ſei, daß ſich
aber einige geſammelt in einem anderen Orte befin¬
den, in den ich euch, wenn ihr Luſt zu ſolchen Dingen
hättet, geleiten würde. Dieſe Zimmer hier ſind der
andere Ort, und ihr ſeht die neuen Geräthe, die in
unſerem Schreinerhauſe verfertigt worden ſind.“


„Es iſt aber zu bewundern, wie ſehr ſie in
ihren Abwechslungen und Geſtalten hieher paſſen,“
ſagte ich.


„Als wir einmal den Plan gefaßt hatten, die Zim¬
mer Mathildens nach und nach mit neuen Geräthen
zu beſtellen,“ erwiederte er, „ſo wurde die ganze Reihe
dieſer Zimmer im Grund- und Aufriſſe aufgenom¬
men, die Farben beſtimmt, welche die Wände der ein¬
zelnen Zimmer haben ſollten, und dieſe Farben gleich
in die Zeichnungen getragen. Hierauf wurde zur
Beſtimmung der Größe der Geſtalt und der Farbe
mithin der Hölzer der einzelnen Geräthe geſchritten.
Die Farbezeichnungen derſelben wurden verfertigt,
und mit den Zeichnungen der Zimmer verglichen.
[461] Die Geſtalten der Geräthe ſind nach der Art entwor¬
fen worden, die wir vom Alterthume lernten, wie
ich euch einmal ſagte, aber ſo daß wir nicht das
Alterthum geradezu nachahmten, ſondern ſelbſtſtän¬
dige Gegenſtände für die jetzige Zeit verfertigten mit
Spuren des Lernens an vergangenen Zeiten. Wir
ſind nach und nach zu dieſer Anſicht gekommen, da
wir ſahen, daß die neuen Geräthe nicht ſchön ſind,
und daß die alten in neue Räume zu wohnlicher Zu¬
ſammenſtimmung nicht paßten. Wir haben uns ſelber
gewundert, als die Sachen nach vielerlei Verſuchen
Zeichnungen und Entwürfen fertig waren, wie ſchön
ſie ſeien. In der Kunſt, wenn man bei ſo kleinen
Dingen von Kunſt reden kann, iſt eben ſo wenig ein
Sprung möglich als in der Natur. Wer plözlich et¬
was ſo Neues erfinden wollte, daß weder den Theilen
noch der Geſtaltung nach ein Ähnliches da geweſen
iſt, der würde ſo thöricht ſein wie der, der fordern
würde, daß aus den vorhandenen Thieren und Pflan¬
zen ſich plözlich neue nicht dageweſene entwickeln.
Nur daß in der Schöpfung die Allmählichkeit immer
rein und weiſe iſt; in der Kunſt aber, die der Freiheit
des Menſchen anheim gegeben iſt, oft Zerriſſenheit oft
Stillſtand oft Rückſchritt erſcheint. Was die Hölzer
[462] anbelangt, ſo ſind da faſt alle und die ſchönſten Blät¬
ter verwendet worden, die wir aus den Knollen der
Erlen geſchnitten haben, die in unſerer Sumpfwieſe
gewachſen ſind. Ihr könnt ſie dann betrachten. Wir
haben uns aber auch bemüht, Hölzer aus unſerer
ganzen Gegend zu ſammeln, die uns ſchön ſchienen,
und haben nach und nach mehr zuſammengebracht,
als wir anfänglich glaubten. Da iſt der ſchneeige
glatte Bergahorn der Ringelahorn die Blätter der
Knollen von dunkeln Ahorn — alles aus den Aliz¬
gründen —dann die Birke von den Wänden und Klip¬
pen der Aliz der Wachholder von der dürren ſchiefen
Haidefläche die Eſche die Ebereſche die Eibe die Ulme
ſelbſt Knorren von der Tanne der Haſelſtrauch der
Kreuzdorn die Schlehe und viele andere Geſträuche,
die an Feſtigkeit und Zartheit wetteifern, dann aus
unſeren Gärten der Wallnußbaum die Pflaume der
Pfirſich der Birnbaum die Roſe. Euſtach hat die
Blätter der Hölzer alle gemalt und zur Vergleichung
zuſammengeſtellt, er kann euch die Zeichnung einmal
im Asperhofe zeigen, und die vielen Arten noch ange¬
ben, die ich hier nicht genannt habe. In der Holz¬
ſammlung müſſen ſie ja auch vorhanden ſein.“


Ich betrachtete die Sachen genauer. Die Erlen¬
[463] blätter, von denen mir mein Gaſtfreund im vorigen
Jahre geſagt hatte, daß ſie an einem anderen Orte
verwendet worden ſeien, waren in der That außeror¬
dentlich, ſo feurig und faſt erhaben auch ungemein
groß, alles andere Holz, wie zart wie ſchön in der
Zuſammenſtellung, daß man gar nicht ahnen ſollte,
daß dies in unſeren Wäldern iſt. Und die Geſtalten
der Geräthe, wie leicht wie fein wie anſchmiegend,
ſie waren ganz anders als die jezt verfertigt werden,
und waren doch neu und für unſere Zeit paſſend. Ich
erkannte, welch ein Werth in den Zeichnungen liege,
die Euſtach habe. Ich dachte an meinen Vater, der
ſolche Dinge ſo liebt. Ach wenn er nur hier wäre,
daß er ſie ſehen könnte. Mir war, als gingen mir
neue Kenntniſſe auf. Ich wagte einen Blick auf Na¬
talie, ich wendete ihn aber ſchnell wieder weg; ſie
ſtand ſo in Gedanken, daß ich glaube, daß ſie errö¬
thete, als ich ſie anblickte.


Mathilde ſagte zu Euſtach: „Es iſt im Verlaufe
der Zeit, ohne daß eine abſichtliche Störung vorge¬
kommen wäre, manches hier anders geworden und
nicht mehr ſo ſchön als Anfangs. Wir werden es ein¬
mal, wenn ihr Zeit habt, und herüber kommen wollt,
[464] anſehen, ihr könnt die Fehler erkennen, und Mittel
zur Abhilfe an die Hand geben.


Wir gingen nun weiter. Durch eine geöffnete
Thür gelangten wir in Zimmer, welche in einer an¬
deren Richtung des Hauſes lagen. Die durchwander¬
ten hatten nach Süd geſehen, dieſe ſahen nach Weſt.
Es war ein großer Saal und zwei Seitengemächer.
Waren die früheren Zimmer lieb und wohnlich gewe¬
ſen, ſo waren dieſe wahrhaft prachtvoll. Der Saal
war mit Marmor gepflaſtert, die Zimmer hatten alter¬
thümliche Wandbekleidung alterthümliche Fenſtervor¬
hänge und alterthümliche Geräthe, der Fußboden des
Saales enthielt die ſchönſten ſeltenſten und zahlreich¬
ſten Gattungen unſers Marmors, nach einer Zeich¬
nung eingelegt, und ſo geglättet, daß er alle Dinge
ſpiegelte. Es war der ernſteſte und feurigſte Teppich.
Wir mußten hier auch Filzſchuhe anlegen. Auf dieſem
Spiegelboden ſtanden die ſchönſten und wohlerhalten¬
ſten alten Schreine und andere Einrichtungsſtücke.
Es waren hier die größten verſammelt. In den zwei
anſtoßenden Gemächern ſtanden auf feurig farbigen
Holzteppichen die kleineren zarteren und feineren.
Waren gleich die alterthümlichen Geräthe nicht ſchö¬
ner als die bei meinem Gaſtfreunde — ich glaube,
[465] ſchönere wird es kaum geben — ſo zeigte ſich hier
eine Zuſammenſtimmung, als müßten die, welche
dieſe Dinge urſprünglich hatten herrichten laſſen, in
ihren einſtigen Trachten bei den Thüren hereingehen.
Es ergrif einen ein Gefühl eines Bedeutungsvollen.


„Die Marmore,“ ſagte mein Gaſtfreund, „ſind
aller Orten erworben, geſchliffen, geglättet, und nach
einer alterthümlichen Zeichnung vieler Kirchenfenſter
eingeſezt worden.“


„Aber daß ihr die Geräthe ſo zuſammen gefunden
habt, daß ſie wie ein Einziges ſtimmen, iſt zu ver¬
wundern,“ ſagte ich.


„Alſo empfindet ihr, daß ſie ſtimmen?“ erwiederte
er. „Seht, das iſt mir lieb, daß ihr das ſagt. Ihr
ſeid ein Beobachter, der nicht von der Sucht nach
Altem befangen iſt, wie uns unſere Gegner vorwer¬
fen. Ihr empfangt alſo das Gefühl von den Gegen¬
ſtänden, und tragt es nicht in dieſelben hinein, wie
auch unſere Gegner von uns ſagen. Die Sache aber
iſt nur ſo: als man die Nichtigkeit und Leere der lezt¬
vergangenen Zeiten erkannte, und wieder auf das
Alte zurück wies, und es nicht mehr als Plunder und
Trödel anſah, ſondern Schönes darin ſuchte: da ge¬
ſchahen freilich thörichte Dinge. Man ſammelte wie¬
Stifter, Nachſommer. I. 30[466] der Altes und nur Altes. Statt der neuen Mode mit
neuen Gegenſtänden kam die neueſte mit alten Ge¬
genſtänden. Man raffte Schreine Bethſchemel Tiſche
und dergleichen zuſammen, weil ſie alt waren, nicht
weil ſie ſchön waren, und ſtellte ſie auf. Da ſtanden
nun Dinge beiſammen, die in ihren Zeiten weit von
einander ablagen, es konnte nicht fehlen, daß ein Wi¬
derwärtiges herauskam, und daß die Feinde des Al¬
ten, wenn ſie Gefühl hatten, ſich abwenden mußten.
Nichts aber kann ſo wenig paſſen als alte Dinge von
ſehr verſchiedenen Zeiten. Die Voreltern legten ſo
ſehr einen eigenthümlichen Geiſt in ihre Dinge — es
war der Geiſt ihres Gemüthes und ihres allgemeinen
Gefühlslebens — daß ſie dieſem Geiſte ſogar den
Zweck opferten. Man bringt Linnen Kleider und der¬
gleichen in neue Geräthe zweckmäßiger unter als in
alte. Man kann daher alte Geräthe von ziemlich glei¬
cher Zeit aber verſchiedenem Zwecke ohne große Stö¬
rung des Geiſtes der Traulichkeit und Innigkeit, der
in ihnen wohnt, zuſammenſtellen, während von un¬
ſeren Geräthen, die keinen Geiſt aber einen Zweck
haben, ſogleich ein Widerſinniges ausgeht, wenn
man Dinge verſchiedenen Gebrauches in dasſelbe
Zimmer thut, wie etwa den Schreibtiſch den Waſch¬
[467] tiſch den Bücherſchrein und das Bett. Die größte
Wirkung erzielt man freilich, wenn man alte Geräthe
aus derſelben und guten Zeit, die alſo denſelben Geiſt
haben, und auch Geräthe des nehmlichen Zweckes in
ein Zimmer bringt. Da ſpricht nun in der Wirklichkeit
etwas ganz anderes als bei unſeren neuen Dingen.“


„Und das ſcheint mir hier der Fall zu ſein,“
ſagte ich.


„Es iſt nicht alles alt,“ erwiederte er. „Viele
Dinge ſind ſo unwiederbringlich verloren gegangen,
daß es faſt unmöglich iſt, eine ganze Wohnung mit
Gegenſtänden aus derſelben Zeit einzurichten, daß
kein nothwendiges Stück fehlt. Wir haben daher lie¬
ber ſolche Stücke im alten Sinne neu gemacht als
alte Stücke von einer ganz anderen Zeit zugemiſcht.
Damit aber niemand irre geführt werde, iſt an jedem
ſolchen altneuen Stücke ein Silberplättchen eingefügt,
auf welchem die Thatſache in Buchſtaben eingegra¬
ben iſt.“


Er zeigte mir nun jene Gegenſtände, welche in
dem Schreinerhauſe als Ergänzung hinzugemacht
worden ſind.


Trozdem war bei mir der Eindruck immer der¬
ſelbe, und ich hatte beſtändig und beſtändig den Ge¬
30 *[468] danken an meinen Vater in dem Haupte. Man führte
mich auch zu den alten ſchweren mit Gold und Sil¬
ber durchwirkten Fenſtervorhängen, und zeigte mir
dieſelben als ächt, ſo auch die ledernen mit Farben
und Metallverzierungen verſehenen Belege der Zim¬
merwände. Nur hat man da in dem Leder nachhelfen,
und ihm Nahrung geben müſſen.


Als ich dieſe ernſten und feierlichen Gemächer ge¬
nugſam betrachtet hatte, öffnete Mathilde das ſchwere
Schloß der Ausgangsthür, und wir kamen in meh¬
rere unbedeutende Räume, die nach Norden ſahen,
worunter auch der allgemeine Eintrittsſaal und das
Speiſezimmer waren. Von da gelangten wir in den
Flügel, deſſen Fenſter die Morgenſonne hatten. Hier
waren die Wohnzimmer Mathildens und Nataliens.
Jede hatte ein größeres und ein kleineres Gemach.
Sie waren einfach mit neuen Geräthen eingerichtet,
und drückten durch Dinge unmittelbaren Gebrauches
die Bewohntheit aus, ohne daß ich die vielen Spie¬
lereien ſah, mit denen gerne zwar nicht bei meinen
Eltern aber an anderen Orten unſerer Stadt die
Zimmer der Frauen angefüllt ſind. In jeder der zwei
Wohnungen ſah ich eine der Zithern, die in dem Ro¬
ſenhauſe geweſen waren. Bei Natalien herrſchten be¬
[469] ſonders Blumen vor. Es ſtanden Geſtelle herum,
auf welche ſie von dem Garten herauf gebracht wor¬
den waren, um hier zu verblühen. Auch ſtanden grö¬
ßere Pflanzen, namentlich ſolche, welche ſchöne Blät¬
ter oder einen ſchönen Bau hatten, in einem Halb¬
kreiſe und in Gruppen auf dem Fußboden.


In einem Vorſaale, der den Eintritt zu dieſen
Wohnungen bildete, befand ſich ein Clavier.


Die Zimmer im zweiten Stockwerke des Hauſes
waren geblieben, wie ſie früher geweſen waren. Sie
ſahen ſo aus, wie ſie gerne in weitläufigen alten
Schlöſſern auszuſehen pflegen. Sie waren mit Ge¬
räthen vieler Zeiten, die meiſtens ohne Geſchmack
waren, mit Spielereien vergangener Geſchlechter, mit
einigen Waffen, und mit Bildern namentlich Bild¬
niſſen, die nach der Laune des Tages gemacht waren,
angefüllt. Namentlich waren an den Wänden der
Gänge Abbildungen aufgehängt von großen Fiſchen,
die man einmal gefangen, nebſt beigefügter Beſchrei¬
bung, von Hirſchen, die man geſchoſſen, von Feder¬
wild von Wildſchweinen und dergleichen. Auch Lieb¬
lingshunde fehlten nicht. In dieſem Stockwerke waren
nach Süden die Gaſtzimmer, und der Flügel derſelben
[470] war geordnet worden. Hier befand ſich auch mein
Zimmer nebſt dem Guſtavs.


Nach der Beſichtigung der Zimmer gingen wir in
das Freie. Die breite Haupttreppe aus rothem Mar¬
mor führte in den Hof hinab. Derſelbe zeigte, wie
groß das Gebäude ſei. Er war von vier ganz gleichen
langen Flügeln umſchloſſen. In ſeiner Mitte war ein
Becken von grauem Marmor, in welches ſich aus
einer Verſchlingung von Waſſergöttinnen vier Strah¬
len ergoſſen. Um das Becken ſtanden vier Ahorne,
welche gewiß nicht kleiner waren als die, welche den
Schloßhügel ſäumten. Auf dem Sandplaze unter den
Ahornen waren Ruhebänke ebenfalls aus grauem
Marmor. Von dieſem Sandplaze liefen Sandwege
wie Strahlen auseinander. Der übrige Raum war
gleichförmiger Raſen, nur daß an den Mauern des
Hauſes eine Pflaſterung von glatten Steinen herum
führte.


Von dem Hofe gingen wir bei dem großen Thore
hinaus. Ich wendete mich, da wir draußen waren,
unwillkührlich um, um das Gebäude zu betrachten.
Über dem Thore war ein ziemlich umfangreiches ſtei¬
nernes Schild mit ſieben Sternen. Sonſt ſah ich
nichts, als was ich bei meinem Morgenausblicke aus
[471] dem Fenſter ſchon geſehen hatte. Wir gingen auf
einem Sandwege des grünen Raſens, wir umgingen
das Haus, und gelangten hinter demſelben in den
Garten. Hier ſah ich, was ich mir ſchon früher ge¬
dacht hatte, daß das Gebäude, welches man wohl ein
Schloß nennen mußte, nur aus den vier großen Flü¬
geln beſtehe, welche ein vollkommenes Viereck bilde¬
ten. Die Wirthſchaftsgebäude ſtanden ziemlich weit
entfernt in dem Thale.


Der Garten begann mit Blumen Obſt und Ge¬
müſe, zeigte aber, daß er in der Entfernung mit et¬
was endigen müſſe, das wie ein Laubwald ausſah.
Alles war rein und ſchön gehalten. Der Garten war
auch hier mit gefiederten Bewohnern bevölkert, und
man hatte ähnliche Vorrichtungen wie im Asperhofe.
Die Bäume ſtanden daher auch vortrefflich und ge¬
ſund. Roſen zeigten ſich ebenfalls viele nur nicht in
ſo beſonderen Gruppirungen wie bei meinem Gaſt¬
freunde. Die Gewächshäuſer des Gartens waren
ausgedehnt und weit größer und ſorgfältiger gepflegt
als auf dem Asperhofe. Der Gärtner ein junger und,
wie es ſchien, unterrichteter Mann empfing uns mit
Höflichkeit und Ehrfurcht am Eingänge derſelben.
Er zeigte mir mit mehr Genauigkeit ſeine Schäze, als
[472] ich mit der Rückſicht auf meine Begleiter, denen nichts
neu war, für vereinbarlich hielt. Es waren viele
Pflanzen aus fremden Welttheilen da ſowohl im war¬
men als im kalten Hauſe. Beſonders erfreut war er
über ſeine reiche Sammlung von Ananas, die einen
eigenen Plaz in einem Gewächshauſe einnahmen.


Nicht weit hinter dem Gewächshauſe ſtand eine
Gruppe von Linden, welche beinahe ſo ſchön und ſo
groß waren wie die in dem Garten des Asperhofes.
Auch war der Sand unter ihrem Schattendache ſo
rein gefegt, und um die Ähnlichkeit zu vollenden, lie¬
fen auf demſelben Finken Ammern Schwarzkehlchen
und andere Vögel ſo traulich hin wie auf dem Sande
des Roſenhauſes. Daß Bänke unter den Linden ſtan¬
den, iſt natürlich. Die Linde iſt der Baum der Wohn¬
lichkeit. Wo wäre eine Linde in deutſchen Landen —
und gewiß iſt es in andern auch ſo — unter der nicht
eine Bank ſtände, oder auf der nicht ein Bild hinge,
oder neben welcher ſich nicht eine Kapelle befände.
Die Schönheit ihres Baues das Überdach ihres
Schattens und das geſellige Summen des Lebens in
ihren Zweigen ladet dazu ein. Wir gingen in den
Schatten der Linden.


„Das iſt eigentlich der ſchönſte Plaz in dem Ster¬
[473] nenhofe,“ ſagte Mathilde, „und jeder, der den Gar¬
ten beſucht, muß hier ein wenig ruhen, daher ſollt
ihr auch ſo thun.“


Mit dieſen Worten wies ſie auf die Bänke, die
faſt in einem Bogen unter den Stämmen der Linden
ſtanden, und hinter denen ſich eine Wand grünen
Gebüſches aufbaute. Wir ſezten uns nieder. Das
Summen, wie es jedes Mal in dieſen Bäumen iſt,
war gleichmäßig über unſerm Haupte, das ſtumme
Laufen der Vögel über den reinen Sand war vor un¬
ſern Augen, und ihr gelegentlicher Aufflug in die
Bäume tönte leicht in unſere Ohren.


Nach einiger Zeit bemerkte ich, daß auch mit Un¬
terbrechungen ein leiſes Rauſchen hörbar ſei, gleich¬
ſam als würde es jezt von einem leichten Lüftchen her¬
getragen, jezt nicht. Ich äußerte mich darüber.


„Ihr habt recht gehört,“ ſagte Mathilde, „wir wer¬
den die Sache gleich ſehen.“


Wir erhoben uns, und gingen auf einem ſchma¬
len Sandpfade durch die Gebüſche, die ſich in gerin¬
ger Entfernung hinter den Linden befanden. Als wir
etwa vierzig oder fünfzig Schritte gegangen waren,
öffnete ſich das Dickicht, und ein freier Plaz empfing
uns, der rückwärts mit dichtem Grün geſchloſſen war.
[474] Das Grün beſtand aus Epheu, welcher eine Mauer
von großen Steinen bekleidete, die an ihren beiden
Enden rieſenhafte Eichen hatte. In der Mitte der
Mauer war eine große Öffnung, oben mit einem Bo¬
gen begrenzt, gleichſam wie eine große Niſche oder
wie eine Tempelwölbung. Im Innern dieſer Wöl¬
bung, die gleichfalls mit Eppich überzogen war, ruhte
eine Geſtalt von ſchneeweißem Marmor — ich habe
nie ein ſo ſchimmerndes und faſt durchſichtiges Weiß
des Marmors geſehen, das noch beſonders merkwür¬
dig wurde durch das umgebende Grün. Die Geſtalt
war die eines Mädchens, aber weit über die gewöhn¬
liche Lebensgröße, was aber in der Epheuwand und
neben den großen Eichen nicht auffiel. Sie ſtüzte das
Haupt mit der einen Hand, den anderen Arm hatte
ſie um ein Gefäß geſchlungen, aus welchem Waſſer
in ein vor ihr befindliches Becken rann. Aus dem
Becken fiel das Waſſer in eine in den Sand gemauerte
Vertiefung, von welcher es als kleines Bächlein in
das Gebüſch lief.


Wir ſtanden eine Weile, betrachteten die Geſtalt,
und redeten über ſie. Euſtach und ich koſteten auch
mittelſt einer alabaſternen Schale, die in einer Ver¬
[475] tiefung des Epheus ſtand, von dem friſchen Waſſer,
welches ſich aus dem Gefäße ergoß.


Hierauf gingen wir hinter der Eppichwand über
eine Steintreppe empor, und erſtiegen einen kleinen
Hügel, auf welchem ſich wieder Size befanden, die
von verſchiedenen Gebüſchen beſchattet waren. Gegen
das Haus zu aber gewährten ſie die Ausſicht. Wir
mußten uns hier wieder ein wenig ſezen. Zwiſchen
den Eichen gleichſam wie in einem grünen knorrigen
Rahmen erſchien das Haus. Mit ſeinem hohen ſtei¬
len Dache von alterthümlichen Ziegeln und mit ſeinen
breiten und hochgeführten Rauchfängen glich es einer
Burg, zwar nicht einer Burg aus den Ritterzeiten,
aber doch aus den Jahren, in denen man noch den
Harniſch trug, aber ſchon die weichen Locken der Pe¬
rücke auf ihn herabfallen ließ. Die Schwere einer
ſolchen Erſcheinung ſprach ſich auch in dem ganzen
Bauwerke aus. Zu beiden Seiten des Schloſſes ſah
man die Landſchaft und hinten das liebliche Blau der
Gebirge. Die dunkeln Geſtalten der Linden, unter
denen wir geſeſſen waren, befanden ſich weiter links,
und ſtörten die Ausſicht nicht.


„Man hat ſehr mit Unrecht in neuerer Zeit die
Mauern dieſes Schloſſes mit der weißgrauen Tünche
[476] überzogen,“ ſagte mein Gaſtfreund, „wahrſcheinlich
um es freundlicher zu machen, welche Abſicht man
ſehr gerne zu Ende des vorigen Jahrhunderts an den
Tag legte. Wenn man die großen Steine, aus denen
die Hauptmauern errichtet ſind, nicht beſtrichen hätte,
ſo würde das natürliche Grau derſelben mit dem Roſt¬
braun des Daches und dem Grün der Bäume einen
ſehr zuſammenſtimmenden Eindruck gemacht haben.
Jezt aber ſteht das Schloß da wie eine alte Frau, die
weiß gekleidet iſt. Ich würde den Verſuch machen,
wenn das Schloß mein Eigenthum wäre, ob man
nicht mit Waſſer und Bürſten und zulezt auf trocke¬
nem Wege mit einem feinen Meißel die Tünche beſei¬
tigen könnte. Alle Jahre eine mäßige Summe darauf
verwendet, würde jährlich die Ausſicht, des widrigen
Anblickes erledigt zu werden, angenehm vermehren.“


„Wir können ja den Verſuch nahe an der Erde
machen, und aus der Arbeit einen ungefähren Koſten¬
anſchlag verfertigen,“ ſagte Mathilde; „denn ich ge¬
ſtehe gerne zu, daß mich auch der Anblick dieſer Farbe
nicht erfreut, beſonders, da die Außenſeite der Mauern
ganz von Steinen iſt, die mit feinen Fugen an einan¬
der ſtoßen, und man alſo bei Erbauung des Hauſes
auf keine andere Farbe als die der Steine gerechnet
[477] hat. Jezt iſt das Schloß von Innen viel natürlicher,
und, wenn auch nicht an eine Kunſtzeit erinnernd,
doch in ſeiner Art zuſammen ſtimmender als von
Außen.“


„Das Grau der Mauer mit den grauen Stein¬
ſimſen der Fenſter, die nicht ungeſchickt gegliedert ſind,
mit der Höhe und Breite der Fenſter, deren Verhält¬
niß zu den feſten Zwiſchenräumen ein richtiges iſt,
würde, glaube ich, dem Hauſe ein ſchöneres Anſehen
geben, als man jezt ahnt,“ ſagte Euſtach.


Mir fielen bei dieſer Äußerung die Worte ein,
welche mein Gaſtfreund einmal zu mir geſagt hatte,
daß alte Geräthe in neuen Häuſern nicht gut ſtehen.
Ich erinnerte mich, daß in dem Saale und in den alt
eingerichteten Gemächern dieſes Schloſſes die hohen
Fenſter die breiten Räume zwiſchen ihnen und die
eigenthümlich geſtalteten Zimmerdecken den Geräthen
ſehr zum Vortheile gereichten, was in Zimmern der
neuen Art gewiß nicht der Fall geweſen wäre.


Als wir ſo ſprachen, kamen Natalie und Guſtav,
die bei der Nymphe des Brunnens zurückgeblieben
waren, die Steintreppe zu uns empor. Die Angeſich¬
ter waren ſanft geröthet, die dunkeln Augen blickten
heiter in das Freie, und die beiden jugendlichen Ge¬
[478] ſtalten ſtellten ſich mit einer anmuthigen Bewegung
hinter uns.


Von dieſem Hügel der Eichenausſicht gingen wir
weiter in den Garten zurück, und gelangten endlich in
das Gemiſch von Ahornen Buchen Eichen Tannen
und anderen Bäumen, welches wie ein Wäldchen den
Garten ſchloß. Wir gingen in den Schatten ein,
und die Freudenäußerungen und das Geſchmetter der
Vögel war kaum irgendwo größer als hier. Wir be¬
ſuchten Stellen, wo man der Natur nachgeholfen
hatte, um dieſe Abtheilung noch angenehmer zu ma¬
chen, und Guſtav zeigte mir Bänke Tiſchchen und an¬
dere Pläze, wo er mit Natalien geſeſſen war, wo ſie
gelernt wo ſie als Kinder geſpielt hatten. Wir gin¬
gen an den wunderbar von Licht und Schatten ge¬
ſprenkelten Stämmen dahin, wir gingen über die dun¬
keln und die leuchtenden Stellen der Sandwege, wir
gingen an reichen grünenden Büſchen an Ruhebänken
und ſogar an einer Quelle vorbei, und kamen durch
Wendungen, die ich nicht bemerkt hatte, an einer
Stelle wieder in den freien Garten zurück, die an der
entgegengeſezten Seite von der lag, bei welcher wir
das Wäldchen betreten hatten.


Wir ließen jezt die zwei großen Eichen links,
[479] eben ſo die Linden, und gingen auf einem anderen
Wege in das Schloß zurück.


Das Mittageſſen wurde an dem äußerſt ſchö¬
nen Grün des Hügels unmittelbar vor dem Hauſe
unter einem Dache von Linnen eingenommen.


Am Nachmittage beſprachen ſich Mathilde und
Euſtach vorläufig über das, was in Hinſicht der Be¬
ſchädigungen geſchehen könnte, welche die neuen Ge¬
räthe in den Südzimmern ſowie die Fußböden und
zum Theile auch die alten Geräthe in den Weſtzim¬
mern in der Zeit erlitten hatten. Gegen Abend wur¬
den der Meierhof und die Wirthſchaftsgebäude be¬
ſucht.


So wie Mathilde in dem Roſenhauſe um den
weiblichen Antheil des Hausweſens ſich bekümmert,
alles, was dahin einſchlug, beſehen, und Anleitungen
zu Verbeſſerungen gegeben hatte: ſo that es mein
Gaſtfreund in dem Sternenhofe mit allem was auf
die äußere Verwaltung des Beſizes Bezug hatte, wo¬
rin er mehr Erfahrung zu haben ſchien als Mathilde.
Er ging in alle Räume, beſah die Thiere und ihre
Verpflegung, und beſah die Anſtalten zur Bewahrung
oder Umgeſtaltung der Wirthſchaftserzeugniſſe. War
mir dieſes Verhältniß ſchon in dem Roſenhauſe er¬
[480] ſichtlich geweſen, ſo war es hier noch mehr der Fall.
In den Handlungen meines Gaſtfreundes und in dem
kleinen Theile, den ich von ſeinen Geſprächen mit
Mathilde über häusliche Dinge hörte, zeigte er ſich
als ein Mann, der mit der Bewirthſchaftung eines
großen Beſizes vertraut iſt, und die Pflichten, die
ihm in dieſer Hinſicht zufallen, mit Eifer mit Umſicht
und mit einem Blicke über das Ganze erfüllt, ohne
eben deßhalb die Grenzen zu berühren, innerhalb wel¬
cher die Geſchäfte einer Frau liegen. Das geſchah ſo
natürlich, als müßte es ſo ſein, und als wäre es nicht
anders möglich.


Von dem Meierhofe gingen wir in die Wieſen
und auf die Felder, welche zu der Beſizung gehörten.
Wir gingen endlich über die Grenzen des Beſizthu¬
mes hinaus, gingen über den Boden anderer Men¬
ſchen, die wir zum Theile arbeitend auf den Feldern
trafen, und mit denen wir redeten. Wir gelangten
endlich auf eine Anhöhe, die eine große Umſicht ge¬
währte. Wir blieben hier ſtehen. Das erſte, auf das
wir blickten, war das Schloß mit ſeinem grünen Hü¬
gel und im Schoße ſeiner umgürtenden Ahorne und
des begrenzenden Gartenwaldes. Dann gingen wir
auf andere Punkte über. Man zeigte und nannte mir
[481] die einzelnen Häuſer, die zerſtreut in der Landſchaft
lagen, und durch die Linien von Obſtbäumen, die
hier überall durch das Land gingen, wie durch grüne
Ketten zuſammenhingen. Dann kam man auf die ent¬
fernteren Ortſchaften, deren Thürme hier zu erblicken
waren. In dieſem Stoffe konnte ich ſchon mehr mit¬
reden, da mir die meiſten Orte bekannt waren. Als
wir aber mit unſern Augen in die Gebirge gelangten,
war ich faſt der Bewandertſte. Ich gerieth nach und
nach in das Reden, da man mich um verſchiedene
Punkte fragte, und ſah, daß ich Antwort zu geben
wußte. Ich nannte die Berge, deren Spizen erkenn¬
bar hervortraten, ich nannte auch Theile von ihnen,
ich bezeichnete die Thäler, deren Windungen zu ver¬
folgen waren, zeigte die Schneefelder, bemerkte die
Einſattlungen, durch welche Berge oder ganze Gebirgs¬
züge zuſammenhingen oder getrennt waren, und ſuchte
die Richtungen zu verdeutlichen, in denen bekannte
Gebirgsortſchaften lagen oder bekannte Menſchen¬
ſtämme wohnten. Natalie ſtand neben mir, hörte
ſehr aufmerkſam zu, und fragte ſogar um Einiges.


Als die Sonne untergegangen war, und die ſanfte
Glut von den Gipfeln der Hochgebirge ſich verlor,
gingen wir in das Schloß zurück.


Stifter, Nachſommer. I. 31[482]

Das Abendeſſen wurde in dem Speiſezimmer ein¬
genommen.


So brachten wir mehrere Tage in freundlichem
Umgange und in heiteren mitunter belehrenden Ge¬
ſprächen hin.


Endlich rüſteten wir uns zur Abreiſe. Am frühe¬
ſten Morgen war der Wagen beſpannt. Mathilde
und Natalie waren aufgeſtanden, um uns Lebewohl
zu ſagen. Mein Gaſtfreund nahm Abſchied von Ma¬
thilde und Natalie, Euſtach und Guſtav verabſchie¬
deten ſich, und ich glaubte auch einige Worte des
Dankes für die gütige Aufnahme an Mathilde richten
zu müſſen. Sie gab eine freundliche Antwort, und
lud mich ein, bald wieder zu kommen. Selbſt zu Na¬
talie ſagte ich ein Wort des Abſchiedes, das ſie leiſe
erwiederte.


Wie ſie ſo vor mir ſtand, begrif ich wieder, wie
ich bei ihrem erſten Anblicke auf den Gedanken ge¬
kommen war, daß der Menſch doch der höchſte Ge¬
genſtand für die Zeichnungskunſt ſei, ſo ſüß gehen
ihre reinen Augen und ſo lieb und hold gehen ihre
Züge in die Seele des Betrachters.


Wir ſtiegen in den Wagen, fuhren den grünen
Raſenhügel hinab, wendeten unſern Weg gegen
[483] Norden und kamen ſpät in der Nacht im Roſen¬
hauſe an.


Mein Bleiben war nun in dieſem Hauſe nicht
mehr lange; denn ich hatte keine Zeit mehr zu verlie¬
ren. Ich packte meine Sachen ein, bezeichnete die Ki¬
ſten und Koffer, welchen Weg ſie zu nehmen hät¬
ten, beſuchte alle, von denen ich glaubte, Abſchied
nehmen zu müſſen, dankte meinem Gaſtfreunde für
alle Güte und Freundlichkeit, leiſtete das Verſprechen,
wieder zu kommen, und wanderte eines Tages über
den Roſenhügel hinunter. Da es zu einer Zeit ge¬
ſchah, in welcher Guſtav frei war, begleitete er und
Euſtach mich eine Stunde Weges.


Ende des erſten Bandes.

[]

Appendix A

Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

[][][][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Der Nachsommer. Der Nachsommer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmq6.0