[][][][][][][]
Clariſſa,
Die
Geſchichte
eines vornehmen Frauenzimmers
,


Dritter Theil.


GOETTJNGEN,:
Verlegts Abram Vandenhoeck, Univerſitaͤts-Buchh.
1749.

Mit Roͤm. Kayſerlichen, Koͤnigl. Großbrit. und Churf.
Braunſchw. wie auch Koͤnigl. Pohln. und Churf. Saͤchſ.
allergnaͤdigſten Privilegiis.

[][]

Vorrede
des Engliſchen Herausgebers.


Wenn man mir es nicht als eine
Thorheit auslegen will, daß ich
mich unterſtehe, den Geſchmack der Welt
in Abſicht auf die Schriften, die allein ver-
gnuͤgen ſollen, zu beurtheilen; und wenn es
nicht allzu dreiſte iſt, daß ich andern vorſchrei-
be, wie ihnen das gefallen ſoll, was ihnen
zum Zeitvertreib uͤbergeben wird: ſo bitte
ich mir Erlaubniß aus, einige wenige An-
merckungen zu machen, die dem Leſer einen
mittelmaͤßigen Begriff von dieſer Schrifft,
und von dem Zweck ihres Urhebers machen
koͤnnen.


Alles was Menſchlich iſt, gehet uns
am naͤchſten an: daher haben wir einen ſtar-
cken Trieb, uns um alle Zufaͤlle des menſch-
lichen Lebens zu bekuͤmmern, und ihren Fort-
gang und Ausgang mit einer angenehmen
)( 2Un-
[]Vorrede.
Ungeduld zu erwarten. Allein die menſch-
lichen Zufaͤlle entwickeln ſich zu langſahm,
als daß unſere muntere Neugierde dadurch
ſollte befriediget werden koͤnnen. Es haben
deswegen aufmerckſahme Leute Geſchichte ge-
ſchrieben, und die Erkenntniß des-
jenigen, was in vielen Jahren geſchehen iſt,
ſo kurtzen Buͤchern anvertrauet, daß die hi-
tzige Begierde der Menſchen dadurch kann
befriediget werden.


Allein es ging hier, wie es gemeiniglich
zu gehen pfleget, daß diejenigen, die uns ver-
gnuͤgen wollen, die Sache uͤbertreiben. Wahre
Geſchichte, wenn ſie noch ſo lebhaft vorge-
tragen wurden, ruͤhrten unſern Geſchmack
nicht mehr, der gleichſahm durch die Kunſt
allzu lecker geworden war: wir foderten et-
was, deſſen uͤber aus ſcharfer Geſchmack un-
ſern Hunger erweckte, den wir wie ſieche Leu-
te verlohren hatten. Dieſes war der Urſprung
der erſten barbariſchen Romainen, in denen
das ungewoͤhnliche, das wunderbahre und
das unglaubliche herrſchete.


Allein das, was unnatuͤrlich iſt, ſaͤttiget
uns ſehr bald ſo, daß ein Eckel darauf folget.
Der Leſer ward endlich gewahr, daß ſeine
Liebe
[]Vorrede.
Liebe zu unerwarteten Geſchichten ihn von
dem abgebracht hatte, was er ſuchte, nehm-
lich von dem Menſchen und von den Zufaͤllen
des menſchlichen Lebens, und daß er ſich in den
bezauberten Gaͤngen der Ungeheuer verirret
hatte. Diejenigen ſuchten den rechten Weg
am erſten wider, die ſich am weiteſten verirret
hatten. Die naͤchſte Art der Erdichtungen,
die den Nahmen der neuen Romainen
trugen, war von den Spaniern erfunden. Hier
fand man etwas menſchliches, allein in einer
allzu ſteifen und muͤrriſchen Geſtalt. Vorhin
ging alles durch Zauberey zu, und nunmehr
alles durch die ſo genannte Intrigue. Ein
Leben war da, aber doch nichts lebhaftes,
und den Sitten gemaͤſſes: Dieſe Erdichtun-
gen waren noch in ihrer Kindheit. Manche,
die nicht ſahen, wo der Fehler eigentlich
ſteckte, wurden dennoch misvergnuͤgt, daß
alles ſo trocken ausſahe, und die Entwicke-
lung ſo ſchwer und unangenehm war.


Die Frantzoſen ſuchten dieſen Fehler zu
verbeſſern, und erſannen ihre Helden Ge-
ſchichte:
darin ſie einige alte und wahre
Geſchichte mit Erdichtungen, die ſich blos
fuͤr unſere Zeit ſchicken, ſo verſtelleten, daß
man wohl ſahe, ſie verſtuͤnden nicht recht zu
)( 3luͤgen
[]Vorrede.
luͤgen, und koͤnnten doch auch nichts wahres
ſagen. Anſtatt des Lebens und der Sit-
ten
fand man in ihren Ausſchweifungen,
die viele Baͤnder fuͤlleten, nichts als Liebe
und Ehrbegierde. Allein wenn man die
Platoniſche Liebe zu weit treibt, ſo pflegt
ſie gemeiniglich ſich am meiſten zu erniedri-
gen, und ſich in den Abſchaum der Liebe
zu verwandeln. Die kleineren Liebes-Ge-
ſchichte, die auf jene dicken Baͤnde von Hel-
den-Geſchichten folgeten, vermieden die vo-
rigen Fehler der Spanier und Frantzoſen:
allein ſie ſtelleten ihre Geſchichte allzu na-
tuͤrlich vor, und verdarben das Hertz,
anſtatt daß jene den Geſchmack verdorben
hatten.


Unſer groſſes Volck, dem alle Wiſſenſchaf-
ten einen unendlichen Danck ſchuldig ſind,
traf endlich die rechte Mittelſtraſſe, und er-
fand das Geheimniß, eineerdichtete Geſchich-
te ſo zu erzaͤhlen, daß der gute Geſchmack
vergnuͤget, und der verdorbene Geſchmack
gebeſſert ward. Man ſuchte dem Leben
und den Sitten der Menſchen auf eine treue
aber dabey zuchtige Art nach zu folgen. Ei-
nige unſerer neueſten Schriftſteller haben ſich
hiedurch groſſen Ruhm erworben.


Dieſen
[]Vorrede.

Dieſen Weg betrat der Urheber der Cla-
riſſa
als er ſich die Ehre wuͤnſchte, die
Welt zu veranuͤgen. Er war ſo gluͤcklich,
daß ſeine erſte Arbeit andern gefiel, und die-
ſes machte ihm Muth, die Geſchichte der
Clariſſa zu liefern. Er ſucht nichts, als
das menſchliche Hertz zu ſchildern: er glaubte
deswegen, daß er die Art der Vorſtellung
erwaͤhlen duͤrfte, die am meiſten und ſtaͤrck-
ſten mahlet, obgleich die aneinander haͤn-
gende Erzaͤhlung wegfaͤllt, welche einigen
unentbehrlich ſcheinen moͤchte, weil ſie nichts
thun wollen, als ſich vergnuͤgen.


Er kleidet ſeine Geſchichte in Briefe ein,
und eignet die Briefe den Perſonen zu, de-
ren Geſchichte er erzaͤhlet. Hiedurch ward
er in den Stand geſetzet, auf eine ungezwun-
gene Weiſe den Eindruck vorzuſtellen, den ein
jeder Zufall in die Gemuͤther der Perſonen
macht, welche er am naͤchſten angehet. Er
glaubet, daß wir auf ſolcher Art die verſteck-
ten Tiefen des menſchlichen Hertzens beſſer,
als durch eine bloſſe Erzaͤhlung kennen lernen.


Dieſes iſt die Abſicht unſerer Arbeit, von
der ſich vielleicht manche Leſer einen unrich-
tigen Begriff machen. Wer unerhoͤhrte Zu-
faͤlle, ſaftige Liebes-Geſchichte, oder Unge-
)( 4heuer
[]Vorrede.
heuer ſuchet, kurtz wer etwas anderes ſuchet,
als die unverfaͤlſchte Natur, und das, was
fich wircklich in dem menſchlichen Leben zu
begeben pflegt, dem ſagen wir zum voraus,
daß er ſich betriegen wird. Wenn ihm aber
eine erdichtete Geſchichte, die voͤllig dem
gleich iſt, was taͤglich in der Welt geſchiehet,
in der die Tugend eine Zeitlang ſeufzet und
das Laſter frohlocket, zum Vergnuͤgen dienen
kann: wenn er entweder daraus etwas ler-
net, oder ein angenehmes und menſchliches
Mitleyden empfindet, ſo wird er die muͤßigen
Stunden nicht uͤbel angewandt haben, die
er ſich durch Leſung dieſer Schrift vertreibet.


Clariſſa
[[1]]

Clariſſa
der dritte Theil.



Der erſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch bin Jhnen den verbindlichſten Danck
ſchuldig, daß Sie ſich ſo weit herablaſ-
ſen, und ſich um ein Maͤdchen bekuͤm-
mern, das Jhnen ein ſo großes Aergerniß gege-
ben hat.


Jch bin hieruͤber faſt eben ſo ſehr gebeuget, als
uͤber mein Vergehen ſelbſt.


Melden Sie mir, was Jhre Frau Mutter ge-
ſagt hat: und dennoch fuͤrchte ich mich, es zu er-
fahren, ob ich Sie gleich darum bitte.


Jch wuͤnſche und fuͤrchte zu wiſſen, was die
Fraͤuleins geſagt haben, mit denen umzugehen ich
das Gluͤck hatte: ein Gluͤck, das nun vielleicht auf
ewig verſchertzt iſt.


Sie werden zwar nichts haͤrteres von mir ſagen
koͤnnen, als was ich ſelbſt von mir ſage. Eine
jede Zeile meiner Erzaͤhlung ſoll eine offenhertzige
Dritter Theil. AAnkla-
[2]
Anklage wider mich ſeyn, ſo oft ich mich fuͤr ſchul-
dig halte. Wenn es moͤglich iſt, daß durch eine um-
ſtaͤndliche Nachricht meine Schuld etwas gemaͤßi-
get werden kann, alh welches das hoͤchſte iſt, das
eine Perſon hoffen darf, die ſich nicht entſchuldigen
kann: ſo weiß ich gewiß, daß ich von Jhrer
Freundſchaft ein gemaͤßigtes Urtheil erwarten darf.
Auf die Liebe anderer darf ich nicht hoffen: ohne
Zweifel iſt jetzt jedermann der Mund wider mich
geoͤffnet, und alle, die Clariſſa Harlowe gekannt
haben, verdammen nun die entlauffene Tochter.



Nachdem ich meinen letzten Brief an Sie, den
ich bis auf die letzte Stunde fortgeſetzet hatte, nie-
dergeleget, ſo kam ich nach dem Sommer-Hauſe
zuruͤck, und nahm nur noch meinen Brief an Lo-
velacen
zwiſchen den loſen Ziegeln weg. Jch
uͤberlegte hier ſo ruhig, als es mir in meinen Um-
ſtaͤnden moͤglich war, was zwiſchen mir und meiner
Frau Baſe Hervey vorgegangen war, und verglich
einen Theil deſſen, was mir Dorthchen geſchrie-
ben hatte, damit. Jch ſing zuletzt an Hoffnung
zu ſchoͤpfen, daß ich mich vor dem bevorſtehenden
Mittewochen nicht ſo ſehr fuͤrchten duͤrfte, als ich
that. Dieſes waren die Gruͤnde, welche ich mir
vorhielt.


„Der Mittewochen kann der Tag nicht ſeyn,
„den ſie im Sinne haben, ob ſie gleich wuͤnſchen
„moͤgen, mich durch dieſen Tag in Furcht zu ſe-
„tzen. Die Ehe-Stiftung iſt noch nicht unter-
zeich-
[3]
„zeichnet, ja mir noch nicht einmahl zur Unter-
„ſchrifft vorgelegt. Es ſteht bey mir, ob ich ſie
„unterſchreiben will, oder nicht; ob mir gleich ſehr
„ſchwer fallen wird, es abzuſchlagen, wenn mein
„Vater ſelbſt dieſe Forderung an mich bringt. Mei-
„ne Eltern hatten vor, nach meines Onckels Gut
„zu verreiſen, wenn es noͤthig waͤre, Gewalt ge-
„gen mich zu gebrauchen, damit ich ihnen mit
„meinen Bitten nicht moͤchte beſchwerlich fallen
„koͤnnen. Allein dieſen Mittewochen gedencken
„ſie hier gegenwaͤrtig zu ſeyn. So fuͤrchterlich mir
„auch der Gedancke iſt, vor ſie und vor die gantze
„Verſammlung aller der Meinigen geſtellet zu
„werden, ſo iſt dieſes dennoch, wo ich mich nicht
„irre, eine Sache, die ich ſehr zu wuͤnſchen habe.
„Denn mein Bruder und meine Schweſter glau-
„ben, daß ich ſo vieles bey meinen Eltern vermag,
„daß ſie mich eben deswegen von ihrer Gegenwart
„auszuſchließen ſuchten, weil ſie ohne dieſes es fuͤr
„unmoͤglich hielten, ihre Abſichten gegen mich zu
„erreichen.„


„Was habe ich fuͤr Urſache, daran zu zwei-
„feln, daß ich nicht einen oder den andern unter
„meinen Anverwanten werde gewinnen koͤnnen?
„und daß ich nicht meines Bruders Argliſtigkeit
„vor ſeinen Augen deutlich abmahlen, und hie-
„durch ſein Vermoͤgen bey meinen uͤbrigen Anver-
„wanten ſchwaͤchen ſollte, wenn ich Gelegenheit
„haͤtte, ihm in Beyſeyn anderer unter die Augen
„zu treten.„


A 2Wenn
[4]

„Wenn auch das ſchlimmſte erfolget, ſo will
„ich dem Prediger ſo in das Gewiſſen reden, daß
„er ſich nicht unterſtehen ſoll, die Trauung vor-
„zunehmen: und Herr Solmes ſoll ſich auch
„nicht wagen eine gezwungene Hand anzunehmen,
„die alle Kraͤfte anwendet, ſich von ihm los zu
„reiſſen. Sind alle andere Mittel vergebens an-
„gewandt, und kann ich dadurch keinen Auffchub
„erlangen: ſo kann ich vorgeben, daß ich Gewiſ-
„ſens-Zweiffel habe, und daß ich mein Ja-Wort
„ſchon an einen andern gegeben habe. Denn
„Sie koͤnnen aus den Briefen, die Sie in Ver-
„wahrung haben, ſehen, daß ich Herrn Lovela-
„cen
die Hoffnung gegeben habe, daß ich keinen
„andern heyrathen will, ſo lange er noch am Le-
„ben und unverheyrathet iſt, und mich nicht vor-
„ſetzlich beleydiget. Jch ſuchte durch dieſes Ver-
„ſprechen ſeine Rachgier in Schrancken zu halten,
„welche durch die Auffuͤhrung meines Bruders
„und meiner Onckels allzuſehr gereitzet ward.


„Da ich meine Gewiſſens-Zweifel keinem an-
„dern als dem redlichen D. Lewin entdecken will, ſo
„iſt es ohnmoͤglich, daß meine Mutter und ihre
„Schweſter unbewegt und unerbittlich bleiben ſol-
„len, wenn auch die uͤbrigen ſteinern bleiben.


Nachdem ich dieſes alles meinem Gemuͤth, auf
einen Blick vorgeſtellet hatte, ſo freuete ich mich
uͤber den gefaßten Entſchluß, nicht mit Herrn
Lovelacen wegzugehen.


Jch
[5]

Jch habe Jhnen verſprochen, mich ſelbſt in
meiner Erzaͤhlung nicht zu ſchonen; und ich erzaͤh-
le eben dieſes als Umſtaͤnde, dadurch die Hand-
lung, zu welcher ich mich ungluͤcklicher Weiſe ha-
be verfuͤhren laſſen, viel ſchwaͤrtzer wird. Allein
das, was ich dazu ſetzen muß, macht mich noch
weit ſchuldiger: ich war nehmlich zweiffelhaft, ob
nicht dasjenige, was Dorthchen von Eliſabeth und
von meiner Schweſter meldete, ihr eben deswegen
erzaͤhlt waͤre, damit ich es wieder erfahren und
das aͤußerſte zu wagen veranlaſſet werden moͤchte?
ob man nicht ſuchte, mich zu dem Schritt zu zwin-
gen, den ich jetzt wircklich gethan habe, weil man ihn
vielleicht fuͤr das kraͤftigſte Mittel anſehen moͤchte,
mich auf ewig bey meinem Vater und ſeinen Bruͤ-
dern verhaßt zu machen.


Gott vergebe es mir, wenn ich von den Ab-
ſichten meiner leiblichen Geſchwiſter allzu hart ur-
theile. Wenn mein Urtheil richtig iſt, ſo haben ſie
mir mit der groͤßeſten Argliſtigkeit Schlingen ge-
legt, und ich habe mich fangen laſſen. Sie moͤ-
gen nun doppelt frohlocken, wenn ſie anders uͤber
das Ungluͤck einer Schweſter, die nie einen Vorſatz
oder Wunſch zu ihrem-Nachtheil gehabt hat, froh-
locken koͤnnen.


Dieſe Betrachtungen, die ich anſtellete, verur-
ſacheten, daß ich mich mehr vor der bevorſtehen-
den Unterredung, und weniger vor dem Mittewo-
chen fuͤrchtete. Jene hielt ich nicht allein fuͤr das
naͤheſte ſondern auch fuͤr das groͤſſeſte Uebel.
Wiewohl! vielleicht ſchien es mir nur des-
A 3wegen
[6]
wegen ein großes Uebel zu feyn, weil es nahe be-
vor ſtand. Denn ich unverſtaͤndiges Kind ſtelle-
te mir nicht einmahl traͤumend vor, was der Aus-
gang unſerer Unterredung ſeyn wuͤrde. Das
glaubte ich, daß ich einen Zanck mit ihm haben
wuͤrde, weil er meinen Brief nicht bekommen hatte.
Allein nach meiner damahligen Art zu dencken wuͤr-
de es ſehr wunderlich ſeyn, (wie ich Jhnen in mei-
nem letzten Briefe meldete) wenn ich in einer ſol-
chen Verſuchung unterliegen ſollte, nachdem ich mich
gegen das Gebot derer die ſo viel Ehrfurcht von
mir fodern koͤnnen, und deren Nahmen mir billig
heilig ſind, ſo ſtandhaft bewieſen hatte, da ich glaub-
te, daß ſie ihre Rechte misbrauchten; und nachdem
er mir durch ſeine Nachlaͤßigkeit in Abhohlung mei-
nes Briefes ſo viele Urſache gegeben hatte, mis-
vergnuͤgt gegen ihn zu thun.


Wie kurtz iſt oft der Augenblick, der unſer
Schickſaal entſcheidet! Haͤtte ich nur noch zwey
Stunden gehabt, die Sache zu uͤberlegen, und
mir dieſe neuen Einſichten (wenn ich ſie ſo nennen
ſoll) zu Nutze zu machen! Allein vielleicht haͤtte
ich mich dennoch bewegen laſſen, ihn zu ſprechen!
Wie thoͤricht habe ich darin gehandelt, daß ich
ihm einige Hoffnung machte, ihm muͤndlich die
Urſachen zu ſagen, wenn ich meinen Vorſatz aͤn-
dern muͤßte!


Ach mein Schatz, ein allzu gutes und ein allzu
gefaͤlliges Gemuͤth iſt eine ſehr gefaͤhrliche Sache,
und es pflegt ſich ſelbſt zu beleydigen, weil es ſich
ſcheuet andere zu beleydigen.


Als
[7]

Als geklingelt ward, daß die Bedienten zu Ti-
ſche gehen ſollten, ſo kam Eliſabeth und fragte
mich, ob ich noch etwas zu befehlen haͤtte? Sie
gab mir hiebey abermahls zu verſtehen, daß ſie zu
thun haben wuͤrde, und daß ſie glaubte, man er-
warte mich nicht eher wieder in dem Hauſe, als
bis ſie zu mir kaͤme, oder bis mich meine Mutter
Schweſter oder die Fraͤulein Hervey abrieffe.


Jch fragte Sie allerhand von der Cascade, die
etwas verfallen und erſt kuͤrtzlich wieder ausgebeſſert
war. Jch war ſo kuͤnſtlich mich ſelbſt zu fangen,
daß ich mich ſtellete, als waͤre ich ſehr begierig,
die Waſſer-Kunſt ſpringend zu ſehen, damit ſie
mich bey der Waſſer-Kunſt ſuchen moͤchte, wenn
ſie mich nicht faͤnde, indem dieſer Theil des Gar-
teus am weiteſten von dem Sommer-Hauſe ent-
fernet iſt.


Sie konnte kaum in das Haus getreten ſeyn,
als ich das erſte Zeichen hoͤrete. Wie ſchlug mir
das Hertz! Allein es war keine Zeit zu verlieren.
Jch ging nach der Garten-Thuͤr, und weil ich
mich ſicher ſahe, ſo riegelte ich die ſchon aufge-
ſchloſſene Garten-Thuͤr auf. Hier ſtand er, und
erwartete mich voller Ungeduld.


Jch empfand bey ſeinem Anblick das aͤußerſte
Schrecken, daß ich mich kaum halten konnte.
Mein Hertz war voller Verwirrung, und ich be-
bete ſo, daß ich nicht auf den Fuͤßen wuͤrde haben
ſte hen koͤnnen, wenn er mich nicht gehalten haͤtte.


Fuͤrchten Sie ſich nicht, liebſtes Kind. (ſagte er
zu mir) Laſſen ſie uns eilen! der Wagen ſtehet
A 4ſchon
[8]
ſchon da. Sie haben mich durch ihre liebens-
wuͤrdige Guͤtigkeit ſo verpflichtet, daß ich es Jh-
nen nie in der That verdancken kann, und daß
mir ſo gar die Worte fehlen Jhnen zu dancken.


Jch kam unterdeſſen, daß er mich mit ſich fort-
zog, wieder zu mir ſelbſt, und ſagte: o Herr Lo-
velace,
ich kann ohnmoͤglich mit ihnen gehen.
Jch kann es wahrhaftig nicht thun. Jch habe es
ihnen auch geſchrieben. Laſſen ſie nur meine Hand
los, ſo will ich ihnen den Brief zeigen. Er hat
ſeit geſtern Morgen bis vor einer halben Stunde
da gelegen. Jch habe ſie ja gebeten, bis auf die
letzte Stunde zuzuſehen, ob ich von neuen ſchrei-
ben wuͤrde, weil ich vielleicht gezwungen werden
koͤnnte, meinen Vorſatz zu aͤndern: und ſie wuͤr-
den meinen Brief gefunden haben, wenn ſie ge-
folget waͤren.


Er behielt faſt keinen Athem mehr, und ſagte:
ich bin belauret worden. Auf alle meine Tritte
und Schritte iſt gelauret worden. Auch iſt auf
meinen Bedienten, auf den ich mich verlaſſen
kann, ſeit Sonnabends, ſo genau Achtung gege-
ben, daß er ſich nicht unterſtanden hat, ſich ihrer
Garten-Mauer zu naͤhern. Auch hier werden wir
ſo gleich entdeckt werden. Eilen ſie von hier, mein
eintziges Vergnuͤgen. Dis iſt der Augenblick, in
dem ſie befreyet werden koͤnnen: wenn ſie den
verſaͤumen, ſo werden ſie ihn niemahls wieder
haben.


Was wollen Sie, Herr Lovelace? laſſen Sie
meine Hand los! Jch will eher ſterben, als mit
ih-
[9]
ihnen gehen! (ſagte ich, und ſuchte die Hand los-
zureiſſen).


Er brach mit einem verwilderten Blick und als
voller Verwunderung aus: o Gott! was hoͤre
ich! Aber es iſt keine Zeit, viel Worte zu machen.
Jch ſchwoͤre ihnen ſo hoch als ich kann: ſie muͤſ-
ſen fliehen. Sie werden hoffentlich an meinem
Worte und Ehre nicht zweifeln, und nicht wollen,
daß ich an ihrem Worte zweifeln ſoll. Unterdeſ-
ſen, daß er dieſes ſagte, entfernte er ſich immer
weiter von der Thuͤre, und zog mich mit ſich
fort.


Wenn ſie mich lieb haben, Herr Lovelace,
ſo dringen ſie nicht weiter in mich. Jch habe
meine Entſchließung ſchon mitgebracht. Laſſen ſie
mich nur ſo viel los, daß ich ihnen den Brief ge-
ben kann, den ich geſchrieben hatte: meine Urſa-
chen ſollen ſie hernach auch hoͤren, und dieſe wer-
den ſie uͤberzeugen, daß ich unrecht daran thun
wuͤrde, jetzt zu fliehen.


Nichts nichts kann mich uͤberzeugen, Fraͤulein.
So wahr Gott lebt, ich kann ſie nicht verlaſſen.
Sie jetzt verlaſſen, und ſie auf ewig verlohren ge-
ben iſt einerley.


Soll ich gezwungen werden? (ſagte ich mit
gleicher Heftigkeit und Ungeduld) laſſen ſie mir
die Hand los. Jch bin voͤllig entſchloſſen nicht mit
ihnen zu gehen; und ich will ſie uͤberzeugen, daß
es Unrecht ſeyn wuͤrde.


Alle meine Verwanten erwarten ſie, meine
liebe Fraͤulein. Alle ihre Verwanten haben ih-
A 5ren
[10]
ren Schluß ſchon gefaſſet, ſie zu zwingen. Der
Mittewochen iſt der Tag: der gefaͤhrliche Tag.
Vielleicht der ungluͤckliche Tag? wollen ſie ſo lan-
ge warten, daß ſie Frau Solmes werden? kann
dieſes doch noch zu guter letzte ihr Entſchluß
ſeyn?


Nein! nimmer nimmermehr will ich mich an
den Mann geben. Aber ich will auch jetzt nicht
mit ihnen gehen. Schleppen ſie mich doch nicht
ſo. Was unterſtehen ſie ſich? Jch wuͤrde ſie gar
nicht geſprochen haben, wenn es nicht geſchehen
waͤre, ihnen dieſes zu ſagen. Jch waͤre nicht her-
gekommen: allein ich furchte, daß ſie ſich verge-
hen moͤchten. Ein vor alle mahl, ich will nicht
mit ihnen gehen. Was wollen ſie? ‒ ‒ unter
dieſer gantzen Unterredung wandte ich alle Kraft
an, mich loszureiſſen.


Er ließ endlich meine Hand gehen, und ſprach
mit einer gelindern Stimme: iſt mein Engel be-
zaubert? nach ſo viel Kraͤnckungen, die ihnen ih-
re Anverwanten angethan haben; noch ſo heili-
gen Verſicherungen, nach einer ſo zaͤrtlichen Liebe,
die ich gegen ſie gezeiget habe, koͤnnen ſie es uͤber
das Hertz bringen, mich durch einen ſolchen Bruch
ihrer Worte zu toͤdten?


Alles das Reden hilft nichts, Herr Lovelace.
Wenn ich mehr Zeit habe, ſo ſollen ſie die Urſa-
chen erfahren. Jch kann nicht mitgehen. Jch
ſage es noch einmahl, dringen ſie nicht weiter in
mich. Jch kann mich ja nicht von allen Leuten
zwingen laſſen.


Jch
[11]

Jch ſehe wol, was die Meinung iſt, ſagte er
mit einer niedergeſchlagenen und empfindlichen
Gebeerde. Wie hart iſt mein Schickſaal! Sie
haben ſich endlich uͤberwinden laſſen. Jhr Bru-
der und ihre Schweſter ſind Sieger geblieben;
und ich muß alle meine Hoffnung einem ſolchen
Koth von Menſchen uͤberlaſſen. ‒ ‒


Jch ſage es ihnen nochmahls, ich werde nie die
ſeinige werden. Vielleicht nimmt die gantze Ge-
ſchichte auf den Mittewochen ein gantz anderes
Ende als ſie dencken. ‒ ‒


Und vielleicht nicht! ‒ ‒ Und denn Himmel ‒ ‒


Jch habe Grund zu glauben, daß dieſes nur
der letzte Verſuch iſt.


Auch ich habe Grund eben das zu glauben.
Denn wenn ſie nicht eilen, ſo ſind ſie Frau Sol-
mes.


Nicht alſo! (ſiel ich ihm in die Rede) Jn ei-
nem
Stuͤck bin ich gefaͤllig geweſen: die meinigen
werden doch auch ein wenig gefaͤlliger ſeyn. Wenn
alle Hoffnung fehl ſchlaͤgt, ſo will ich doch Zeit
gewinnen. Jch habe mehr als einen Ausweg:
ſeyn ſie deſſen verſichert.


Aber, meine liebe Fraͤulein, was hilft das, wenn
ſie Zeit gewinnen? Jch ſehe, daß ſie ſelbſt nichts
mehreres hoffen. Jch ſehe es: ſonſt wuͤrden ſie
den elenden Vorwand nicht gebrauchen. ‒ ‒ Lieb-
ſtes liebſtes Kind, darf ich ſie nicht bitten, ſich
nicht in eine Gefahr zu begeben, davon die Folgen
ewig ſeyn werden? Jch kann ſie uͤberzeugen, daß
es nicht eine bloße Gefahr ſeyn wird, ſondern daß
ſie
[12]
ſie auf den Mittewochen gewiß ihren Nahmen nicht
mehr haben, wenn ſie jetzt zuruͤcke gehen. Jetzt
haben ſie es in ihrer Gewalt: ſuchen ſie jetzt den
ungluͤcklichen den allzugewiſſen Folgen vorzu-
beugen.


Herr Lovelace! wenn ihr Hertz mich ſo werth
ſchaͤtzet als ihr Mund, ſo haͤngt ihre eigene Ehre
mit daran, daß ich keinen unuͤberlegten Schritt
thue, ſo lange ich noch einige Hoffnung habe: keinen
Schr[it]t, den die Klugheit verdammen muͤßte.


Jhre Klugheit, Fraͤulein? Wer hat die je in
Zweifel gezogen? Allein was hat ihre Klugheit
oder Gehorſam bey ſo wunderlichen und unerbitt-
lichen Koͤpfen bisher ausgerichtet?


Er wiederhohlte hierauf ſehr nachdruͤcklich, mit
wie vieler Haͤrte man mir begegnet ſey, und gab
alle dieſe Haͤrte der Bosheit und dem Eigenſinn mei-
nes Bruders ſchuld, der jedermann gegen ihn ver-
hetzte. Er beſtand darauf: es ſey kein anderer Weg
der Verſoͤhnung mit meinem Vater und mit ſeinen
Bruͤdern moͤglich, als daß ich der eingewurtzelten
Bosheit meines Bruders zu entgehen ſuchte.


Jhr Bruder, (fuhr er fort) ſetzt ſeine gantze
Hofnung darauf, daß ihn die Erfahrung bisher
gelehrt hat, wie geduldig ſie alle Beleidigungen
hinnehmen. Wenn ſie einmahl den ſchimpflichen
Gewaltthaͤtigkeiten entgangen ſind, ſo wird ihre
gantze Familie ſie ſelbſt ſuchen: Sie werden ihnen
ihr Gut einraͤumen, ſo bald ſie wiſſen, daß ſie bey
Leuten ſind, die ihr Recht vertheidigen koͤnnen und
wollen. Warum warten ſie noch einen Augenblick?
(Hie-
[13]
(Hiebey umfaſſete er mich, und zog mich gelinder
mit ſich fort.) Jetzt iſt die Zeit. Jch bitte ſie,
allerliebſter Schatz, entfliehen ſie mit mir. Se-
tzen ſie in ihren ungluͤcklichen und verfolgten An-
beter kein Mistrauen. Haben wir nicht mit ein-
ander in einer Sache gelitten? Wenn der Leute
Nachrede etwas an ihren Betragen zu tadeln findet,
ſo goͤnnen ſie mir, ſo bald ich anfange es zu ver-
dienen, die Ehre, ſie die Meinige zu nennen.
Solte ich alsdann nicht im Stande ſeyn, ihre Per-
ſon und ihren guten Nahmen zu vertheidigen?


Dringen ſie nicht weiter in mich, Herr Love-
lace,
ich bitte ſie um Gottes willen. Sie ſelbſt
haben mir jetzt einen Winck gegeben; und ich will
deutlicher reden, als es mir die Klugheit in andern
Umſtaͤnden erlauben wuͤrde. Jch bin voͤllig ver-
ſichert, und ich wolte ſie auch uͤberzeugen, wenn
ich nur Zeit haͤtte, daß der bevorſtehende Mitte-
wochen nicht der Tag iſt, vor dem wir beyde uns
fuͤrchten. Wenn dieſer Tag voruͤber iſt, und ich
finde, daß meine Freunde noch entſchloſſen ſind,
des Herrn Solmes Geſuch durchzutreiben: ſo
will ich einen Weg machen, daß ich ſie bey der Fraͤu-
lein Howe ſprechen kann, die gewiß ihre Feindin
nicht iſt. Wenn erſt die noͤthige Cerimonie vor-
her gegangen iſt, ſo will ichs fuͤr meine Schuldig-
digkeit anſehen, den Schritt zu thun, der vorhin
unrechtmaͤßig ſeyn wuͤrde: weil ich alsdenn einen
Gehorſam ſchuldig bin, der den Gehorſam
gegen die Eltern billig aufhebt.


Allerliebſte Fraͤulein ‒ ‒


Ja
[14]

Ja Herr Lovelace, wenn ſie nun noch ein
Wort einwenden ‒ ‒ Wenn ſie nun nicht zufrie-
den ſind, da ich mich ſo erklaͤret habe, als es ge-
wiß mein Vorſatz nicht war, mich zu erklaͤren: ſo
weiß ich nicht, was ich von ihrer Danckbarkeit und
von ihren Gemuͤth dencken ſoll.


Es laͤſt ſich bey der Sache nichts uͤberlegen,
Fraͤulein. Jch bin voller Danckbarkeit. Es feh-
len mir nur die Worte, die Freude auszudruͤcken,
die ich uͤber die entzuͤckend-angenehme Hoffnung,
die ſie mir machen, empfinden muͤßte, wenn ſie
nicht auf den Mittewochen gantz gewiß die Beute
eines andern Mannes werden ſollten, im Fall ſie
hier bleiben. Dencken ſie nur, allerliebſtes Kind,
uͤberlegen ſie ſelbſt, wie meine Angſt eben dadurch
vermehret werden muß, daß ſie mir erlauben zu
hoffen.


Verlaſſen ſie ſich auf mein Wort. Ehe will ich
ſterben, als mich an den Solmes ergeben. Jch
ſoll mich auf ihre Ehre verlaſſen, und ſie wollen
an meiner Ehre zweiffeln.


Wer zweiffelt denn an ihrer Ehre, Fraͤulein!
An ihrem Vermoͤgen zweiffele ich. Sie werden
keine ſolche Gelegenheit wieder haben. Unver-
gleichliches Kind, nehmen ſie es mir nicht uͤbel ‒ ‒
Hierauf zog er mich abermahl mit ſich fort.


Wohin wollen ſie mich ziehen? Laſſen ſie mich
den Augenblick los. Jch glaube, ſie ſuchen mich
ſo lange aufzuhalten, bis es unmoͤglich oder ge-
faͤhrlich fuͤr mich iſt, zuruͤck zu kehren. Jch bin
ſchlecht mit ihnen zufrieden. Sehr ſehr ſchlecht!
Laſ-
[15]
Laſſen ſie mich den Augenblick gehen, wenn ich nur
eine mittelmaͤßige gute Meinung von ihnen behal-
ten ſoll.


Auf dem Augenblick aber beruhet meine jetzige
und kuͤnftige Gluͤckſeligkeit, und die Sicherheit,
aller ihrer unverſoͤhnlichen Angehoͤrigen.


Die Sicherheit meiner Freunde, Herr Lovela-
ce,
will ich der Vorſicht Gottes und dem Schutz
der Geſetze uͤberlaſſen. Durch Drohungen ſollen ſie
mich zu keiner Ubereilung bringen, die mein Ge-
wiſſen fuͤr Suͤnde haͤlt. Soll ich alle Ruhe des
Gemuͤths auf Lebens lang verleugnen, um das zu
befoͤrdern, was ſie ihre Gluͤckſeligkeit nennen?


Sie zancken ſich uͤber Kleinigkeiten mit mir,
mein Leben, da der Augenblick iſt, der uns gluͤck-
lich ſeyn koͤnnte. Der Weg iſt ſicher. Jetzt iſt
er ſicher. Allein in einem Augenblick koͤnnen ſie
uͤberfallen werden. Was haben ſie noch fuͤr Zweif-
fel? Ewig ewig will ich verdammet ſeyn, wenn
ihr Wort nicht kuͤnftig mein Geſetz ſeyn ſoll. Alle
meine Anverwanten erwarten ſie. Jhr eigenes
Verſprechen ruft ſie von dieſem unſichern Orte weg,
der Mittewochen! allerliebſtes Kind, dencken
ſie an den Mittewochen! Worauf dringe ich?
Jſt es nicht das eintzige, das beſte Mittel, ſie mit
denen in ihrer Familie auszuſoͤhnen, denen ſie die
meiſte Liebe ſchuldig ſind?


Jn meiner Sache will ich mit meinen eigenen
Augen ſehen. Sie ſchelten auf die Meinigen, weil
die mich zwingen wollen: und ſie zwingen mich
ſelbſt. Jch will nichts hoͤren. ‒ ‒ Weil ſie ſo
hart
[16]
hart auf ihrem Sinne beſtehen, ſo werde ich noch
furchtſamer, und ungeneigter mit zu gehen. Laſſen
ſie mich alſo nur umkehren! Laſſen ſie mich umkeh-
ren, ehe es zu ſpaͤte iſt: damit wir beyde unſre
Sache nicht verſchlimmern moͤgen. Was ſoll der
Zwang bedeuten? ſoll ich etwan daraus lernen, wie
ſehr mein Wille ihr Geſetz ſeyn ſoll? Ziehen ſie
den Augenblick die Hand ab, oder ich ſchreye.


Jch gehorche ihnen liebes Kind! ſagte er, und
ließ meine Hand mit einem Geſicht fahren, wel-
ches eine zaͤrtliche Verzweiffelung ſo vollkommen
auszudruͤcken ſchien, daß ich ſeinetwegen in Sor-
gen gerieth, weil mir ſein heftiges Gemuͤth bekannt
war. Jch eilete aber doch noch weg, als er mit
einer ernſthaften Mine auf ſeinen Degen ſahe, und
(wie es ſchien) die Hand wieder zuruͤck zog, und
beyde Haͤnde in einander ſchlug, nicht anders als
wenn er ſich eben beſſer beſonnen haͤtte.


Noch einen Augenblick! Warten ſie nur noch
einen Augenblick, meine eintzige Freude. Der
Ruͤckweg iſt ſicher, wenn ſie zuruͤcke gehen wollen:
der Schluͤſſel lieget bey der Thuͤr. Aber, o Fraͤu-
lein, auf den Mittewochen ſind ſie Frau Solmes.
Fliehen ſie nicht ſo ſehr vor mir! hoͤren ſie nur noch
wenige Worte von mir.


Als ich bey der Garten-Thuͤr war, buͤckte ich
mich und war deſto beſſer mit ihm zufrieden, weil
ich ſahe, daß wircklich der Schluͤſſel da lag, da-
mit ich zuruͤck kommen koͤnnte wenn ich wolte.
Nur das machte mich unruhig, daß man mich
vielleicht vermiſſen wuͤrde, und deswegen ſagte
ich
[17]
ich ihm: ich koͤnnte ohnmoͤglich laͤnger warten.
Jch haͤtte ſchon allzulange gewartet; und ich
wollte ihm alle meine Urſachen ſchriftlich geben.
Und ſeyn ſie verſichert Herr Lovelace (ſagte ich,
da ich mich eben nach dem Schluͤſſel buͤckte) ich
will ehe ſterben, als den Mann nehmen. Sie wiſſen,
was ich verſprochen habe. Jch bin in Gefahr.


Aber doch noch ein Wort, Fraͤulein. Noch
ein Wort, (ſagte er, und nahete ſich mir mit
in einander geſchlagenen Armen, recht als wenn
er ſich fuͤrchtete, daß er ſie ſonſt misbrauchen moͤch-
te) bedencken ſie doch, daß ich auf ihr Wort mit
Gefahr meines eigenen Lebens gekommen bin, um
ſie von ihren Verfolgern und Buͤtteln zu erretten,
und um an jener Stelle ihr Vater (Gott verdam-
me mich ewig, wenn das nicht mein aufrichtiger
Zweck geweſen iſt) ihr Onckle, ihr Bruder, und
ſo bald ſie meine demuͤthige Hoffnung wahr ma-
chen wuͤrden, ihr Mann zu werden. Da ich aber
finde, daß ſie ſo fertig ſind, Huͤlfe gegen mich zu
ſchreyen, und dadurch ihre gantze Familie zur Ra-
che gegen mich aufzubringen: ſo habe ich mich ent-
ſchloſſen, aller Gefahr entgegen zu gehen. Jch
will ſie nicht weiter bitten, mit mir zu fluͤchten;
ſondern ich will ſie in den Garten begleiten, ja in
das Haus ſelbſt, wenn ich nicht mit Gewalt ab-
gehalten werde. Erſchrecken ſie nicht, Fraͤulein:
ich will ſie zu den Helfern begleiten, die ſie gegen
mich heraus ruffen wollten. Jch will ihnen allen
unter die Augen gehen, nicht um mich an ihnen
zu raͤchen, wenn ich nicht uͤber alle Maaße zur
Dritter Theil. BRache
[18]
Rache gereitzet werde. Sie ſollen ſehen, wie viel
ich um ihrentwillen erdulden kann. Wir wollen
beyde ſehen, ob eine vernuͤnftige Vorſtellung, und
eine ſolche Auffuͤhrung, wie man ſie irgend von
einem Cavallier fodern kann, ſie nicht zwingen
ſoll, mir ſo zu begegnen, wie man einem Caval-
lier begegnen muß.


Wenn er gedrohet haͤtte, ſich ſelbſt Leyd anzu-
thun, ſo hatte ich mir ſchon vorgenommen, ihn
damit hoͤhniſch aufzuziehen, daß er mich fuͤr ſo tumm
anſehe, und mit einer ſo gewoͤhnlichen Drohung
ſchrecken wollte. Allein dieſe Entſchließung, die
ſein gantzes Geſicht zu bekraͤftigen ſchien, machte
daß ich aus Schrecken kaum Athem hohlen
konnte.


Was iſt ihr Endzweck, Herr Lovelace? Jch
bitte ſie, gehen ſie von mir. Gehen ſie weg, ich
bitte ſie recht ſehr.


Jch bitte ſie, Fraͤulein, entſchuldigen ſie mich,
wenn ich dieſes mahl nicht Gehorſam leiſte. Lan-
ge, lange genug bin ich um dieſe einſamen Mau-
ren herumgeſchlichen. Mehr als zu lange habe
ich alle Beſchimpfungen von ihrem Bruder, und
von ihren uͤbrigen Anverwanten ertragen. Allein
oft wird die Bosheit giftiger, wenn man ihr nicht
unter die Augen tritt. Jch habe nichts mehr zu
verlieren; ich bin deſperat. Jch habe weiter
nichts zu hoffen, als dieſen Tag. Denn iſt nicht
uͤbermorgen der Mittewochen. Jch habe durch
Geduld die Bosheit dreiſte gemacht. Aber den-
noch will ich geduldig ſeyn. Sie ſollen ſehen wie
viel
[19]
viel ich ihrentwegen leyden kann. Sie ſollen
meinen eingeſteckten Degen in den Haͤnden haben:
(er wollte ihn mir hierauf geben, wie er in der
Scheide war) und die ihrigen ſollen ihren Degen
in mein Hertz ſtecken, wenn es Jhnen beliebet.
Nach dem Leben frage ich nichts, wenn ich ſie ver-
lieren ſoll. Seyn ſie nur ſo guͤtig, und gehen
ſie voran in den Garten: ich will ihnen zu meinem
Tode folgen. Jch bin gluͤcklich, wenn ich mein
Verhaͤngniß, wie hart es auch immer iſt, vor ih-
ren Augen uͤberſtehe. Gehen ſie voran, unver-
gleichliches Kind: ſie ſollen ſehen, was ich fuͤr ſie
leyden kann. Hierauf buͤckte er ſich nach dem
Schluͤſſel und wollte aufſchließen: allein auf mei-
ne ernſtliche Bitte unterließ er es, und ließ den
Schluͤſſel wieder fallen.


Jch ſagte: was iſt doch ihr Endzweck bey allen
dieſem? Wollen ſie ſich muthwillig in Gefahr be-
geben? Wollen ſie mich mit in Gefahr ſtuͤrtzen?
Soll das die Probe von ihrer Art zu dencken ſeyn?
Darf ſich jedermann meine Weichhertzigkeit zu
Nutze machen?


Jch konnte mich der Thraͤnen ohnmoͤglich ent-
halten. Er warf ſich vor mir auf die Knie, und
ſagte mit brennenden Augen und mit einem
ſolchen Eifer, den die Verſtellung ſchwerlich nach-
machen kann: wer kann eine ſo liebenswuͤr-
dige Gemuͤths-Bewegung ſehen, ohne geruͤhret
zu werden? O mein eintziger Wunſch und
Freude (fuhr er kniend fort, und druͤckte mei-
ne Hand mit beyden Haͤnden an ſeine Lippen) be-
B 2fehlen
[20]
fehlen ſie mir bey ihnen zu bleiben oder von ihnen
zu gehen, ſo werde ich blindlings gehorſam ſeyn.
Allein ich beziehe mich auf das, was ſie ſelbſt von
der Grauſamkeit der ihrigen gegen ſich wiſſen,
und von ihrem eingewurtzelten Groll gegen mich,
und von ihrer unuͤberwindlichen Zuneigung gegen
die Perſon, die ſie ihrem Vorgeben nach haſſen.
Und wahrlich, wenn ſie den Kerl nicht haſſeten
Fraͤulein, ſo wuͤrde ich ihr Wohlwollen ſchwerlich
fuͤr eine Ehre halten koͤnnen, wenn ſie mich auch
damit begluͤckten. Jch beziehe mich auf alle die
Umſtaͤnde, die ihnen ſelbſt am beſten bekannt ſind;
auf alles was ſie ausgeſtanden haben; und frage ſie,
ob ſie noch keine Urſache finden, ſich vor dem Mit-
tewochen zu fuͤrchten, an den ich mit Zittern ge-
dencke? Ob ſie dieſe jetzige Gelegenheit wuͤrden hof-
fen koͤnnen? Da der Wagen bereit iſt? Da alle mei-
ne Anverwanten mit Ungeduld auf den Erfolg der
Anſtalten warten, die ſie ſelbſt angeordnet haben?
Da ſie einen Anbeter auf ſeinen Knien vor ſich
haben, der gar keinen Willen haben will, und
der ſie auf den Knien bittet, daß ſie ſich in Frey-
heit ſetzen wollen? Das iſt alles, darum ich bitte.
Jch will um keine Gegen-Liebe bitten, ehe ich nicht
meine Pruͤfungs-Zeit ausgeſtanden habe, und Ge-
genliebe verdiene. Gegen mein Vermoͤgen und
Familie ſind keine Einwendungen zu machen.
O liebſtes Kind (mit einen abermahligen Hand-
Kuß) verſaͤumen ſie eine ſolche Gelegenheit nicht.
Niemahls, niemahls wird ſie wieder kommen.


Jch
[21]

Jch bat ihn aufzuſtehen, und er er ſtand auf.
Jch ſagte: wenn er mich nur nicht durch ſeine Un-
geduld uͤbertaͤubete, ſo hoffte ich ihn gewiß zu uͤber-
zeugen, daß wir beyde eine unnoͤthige Furcht vor
dem Mittewochen gehabt haͤtten. Jch wolte fort-
fahren, und ihm meine Gruͤnde erzaͤhlen: allein
er fiel mir in die Rede.


Wenn ich nur einigen Schatten der Wahr-
ſcheinlichkeit bey ihrer Hoffnung ſehen koͤnnte, ſo
wollte ich der Gehorſam und die Verleugnung
ſelbſt ſeyn. Aber der Trau-Schein iſt ſchon aus-
gefertiget: es iſt ſchon der Prediger beſtellet: der
Pedante der Brand ſoll ſie trauen. O allerlieb-
ſtes Kind, ſind das Anſtalten, die zu einem bloſ-
ſen Verſuch gemacht werden?


Sie wiſſen nicht, Herr Lovelace, wie viel
Muth ich habe, wenn auch das allerſchlimmeſte be-
vorſtuͤnde. Sie ſehen mich fuͤr allzu ſchwach an.
Sie kennen mich noch nicht, was ich vor Wider-
ſtand leiſten kann, wenn ich glaube, daß andere
niedertraͤchtig und unbillig mit mir umgehen. Sie
wiſſen auch nicht, was ich ſchon wuͤrcklich ausge-
ſtanden und uͤberſtanden habe, davon ich den Ur-
heber wohl weiß, der keine Ader von einem wah-
ren Bruder uͤbrig hat. ‒ ‒


Jch koͤnnte von ihrer erhabenen Seele alles er-
warten, die an einen unrechtmaͤßigen Zwang ohn-
moͤglich anders als mit Verachtung dencken kann:
allein ihr Muth kann ſincken. Was iſt nicht von
einem ſo heftigen und unerbittlichen Vater zu be-
fuͤrchten, wenn er eine gehorſame Tochter vor
B 3ſich
[22]
ſich hat? keine Ohnmachten werden ſie retten: viel-
leicht iſt es den ihrigen nicht ungelegen, wenn ihre
Grauſamkeit gegen ſie eine ſolche Wirckung hat.
Was werden alle Vorſtellungen helfen, wenn die
Trauung einmahl geſchehen iſt? Muß nicht alles,
alles das fuͤrchterliche darauf folgen, daran mein
Hertz nicht ohne Entſetzen dencken kann? Wenn
ſie ſich an niemand wenden koͤnnen, werden denn
nicht alle ihre Vorſtellungen viel zu ſchwach ſeyn,
die Folge einer Ceremonie abzuhalten, bey der die,
welche ſie dazu zwungen, und noch dazu ihre naͤch-
ſten Anverwanten, Zeugen ſind?


Jch ſagte: ich waͤre zum wenigſten verſichert,
daß ich einige Zeit gewinnen wolte. Fuͤr uns bey-
de koͤnnte nichts ſchlimmer ſeyn, als wenn ich hier
mit ihm entdeckt werden ſolte. Meine Furcht
waͤre deswegen ſo groß, daß ich ſie nicht laͤnger
ertragen koͤnnte: und ich wuͤrde eine ſehr uͤble
Meinung von ihm bekommen, wenn er mich noch
laͤnger aufzuhalten ſuchte. Wenn er ſich aber
mein Weggehen gefallen ließe, ſo wuͤrde ich danck-
bar dafuͤr ſeyn.


Als ich mich hierauf nach dem Schluͤſſel buͤckte,
ſo ſtutzte er auf einmahl, und that, als wenn er
gehoͤrt haͤtte, daß jemand in dem Garten mit der
Hand auf den Degen geſchlagen haͤtte. Jch entſetzte
mich hieruͤber ſo, daß ich den Augenblick nieder-
ſincken wollte. Allein er machte mir gleich einen
beſſern Muth, und ſagte: es waͤre nur ein Stoß
gegen die Thuͤr geweſen. Doch nein! das koͤnnte
auch nicht ſeyn, ſonſt muͤßte der Schall ſtaͤrcker
geweſen
[23]
geweſen ſeyn. Er haͤtte ſich alles aus Beſorgniß
fuͤr mich nur eingebildet.


Er nahm darauf ſelbſt den Schluͤſſel auf, und
uͤberreichte ihn mir. ‒ ‒ Wenn ſie denn gehen
wollen, Fraͤulein! ‒ ‒ allein ich kann ſie nicht
verlaſſen: ich muß mit ihnen in den Garten ge-
hen. Vergeben ſie es mir, wenn ich doch mit
hinein gehe.


Wollen Sie denn auf eine ſo unanſtaͤndige
Weiſe ſich meine Furcht zu Nutze machen? Wol-
len ſie ſelbſt meine Begierde, Ungluͤck zu verhuͤ-
ten, wider mich gebrauchen? Jch tummes ein-
faͤltiges Kind muß mich um jedermann bekuͤm-
mern, allein wie es mit mir gehet, darnach fragt
niemand!


Er hielt meine Hand zuruͤck, als ich mit Zit-
tern den Schluͤſſel einſtecken wollte: ‒ ‒ allerlieb-
ſtes Kind, laſſen ſie mich aufſchlieſſen, wenn ſie
ja weggehen wollen. Allein uͤberlegen ſie noch
einmahl, wenn Sie auch Zeit gewinnen, (denn
weiter gehet doch ihre Hofnung nicht) ob die Jh-
rigen ſie nicht enger einſperren werden. Jch weiß,
daß dieſes ſchon in Ueberlegung gezogen iſt.
Wuͤrden ſie alsdenn mit mir, oder mit der Fraͤu-
lein Howe Briefe wechſeln koͤnnen? Wer wird
ihnen alsdenn bey ihrer Flucht Huͤlfe leiſten koͤn-
nen, wenn ſie endlich ſo ſpaͤte an die Flucht gedaͤch-
ten? Sie wuͤrden blos aus ihrem Fenſter den
Garten ſeheen, ohne Erlaubniß zu haben, hin-
ein zu gehen: und wie werden ſie ſich alsdenn die
Gelegenheit wuͤnſchen, die ſie jetzt verſchertzen,
B 4wenn
[24]
wenn ihr Haß gegen Solmes fortdauret? doch
der kann von keiner Dauer ſeyn. Wenn ſie zu-
ruͤck gehen, ſo iſt ſchon ihr nachgebendes Gemuͤth,
das ſich endlich ermuͤden und uͤberwinden laͤſſet,
die Urſache davon. Sie werden es wol ein kind-
liches, ein gehorſames Gemuͤth nennen.


Jch kann ohnmoͤglich Geduld bey ihrem Zwan-
ge behalten, Herr Lovelace. Darf ich nie die
Freyheit haben, meinen Einſichten zu folgen: Es
mag auch daraus kommen, was will, ſo will ich
mich von ihnen nicht zwingen laſſen. Jch mach-
te hiermit meine Hand los, und wollte wieder auf-
ſchließen.


Er fiel von neuen auf ſeine beugſamen Knie,
und ſagte: koͤnnen ſie, Fraͤulein, koͤnnen ſie, (ich
frage ſie nochmahls auf den Knien) mit kaltem
Blut an die ungluͤcklichen Folgen gedencken. Jch
bin ſo gereitzt, man hat ein ſolches Hohngelaͤchter
uͤber mich gehabt, daß mir das Hertz im Leibe zit-
tert, ſo oft ich an die Folgen gedencke, wenn
ihr Bruder ſeine Abſicht erreichete. Koͤnnen ſie
dabey ohne Empfindung ſeyn? Jch bitte ſie lieb-
ſtes Leben, uͤberlegen ſie dieſes alles, und ver-
lieren ſie dieſe eintzige Gelegenheit nicht. Mein
Spion ‒ ‒


Seyn ſie doch nicht ſo leichtglaͤubig, wenn
ihnen ein Betruͤger etwas weiß macht. Jhr nie-
dertraͤchtiger Spion iſt doch nur ein Bedienter.
Vielleicht giebt er mehr zu wiſſen vor, als er in
der That weiß, um ein beſſeres Trinckgeld zu be-
kommen. Sie wiſſen nicht, was ich fuͤr Ausfluͤchte
habe.

Eben
[25]

Eben wollte ich aufſchließen, ſo ſprang er mit
einem fuͤrchterlichen Geſicht und Stimme von den
Knien auf, und wiſperte gantz laut: ſie ſind in-
wendig vor der Thuͤr, mein Hertz!
Er nahm
mir den Schluͤſſel, lief nach der Thuͤr zu, und
handthierte damit, als wenn er ihn in das Schluͤſ-
ſel Loch ſtecken wollte, damit niemand von innen
aufſchließen koͤnnte. Den Augenblick ließ ſich in-
wendig eine Stimme hoͤren, und es ſtieß jemand
gegen die Thuͤr, als wenn er ſie aufſprengen woll-
te und rief mit einigen harten Stoͤßen: ſeyd ihr
da? den Augenblick her! Geſchwind! da
ſind ſie bey einander! Piſtole! Flinte her!

darauf geſchahen noch einige Stoͤße. Er zog den
Degen, nahm ihn blos unter den Arm, ergriff
meine beyden zitternden Haͤnde, und zog mich ge-
ſchwind nach ſich mit den Worten: fliehen ſie,
Kind. Dieß iſt der letzte Augenblick, den ſie ha-
ben. Jhr Bruder! ihre Onckles! oder der Sol-
mes!
Sie werden die Thuͤr den Augenblick ſpren-
gen. Fliehen ſie, wenn ſie nicht haͤrter als vor-
hin gemißhandelt werden wollen. Wenn ſie nicht
zwey oder drey Mord-Thaten mit ihren Augen
anſehen wollen, ſo muͤſſen ſie fliehen.


Ach GOtt hilf! das war es alles, was Jhre
arme Thoͤrin voller Beſtuͤrtzung rief, ohne von ſich
ſelbſt etwas zu wiſſen.


Jch kehrte meine Augen voller Schrecken vor
und hinter mich, auf dieſe und auf jene Seite:
und erwartete einen unſinnigen Bruder, gewaffnete
Knechte, eine Schweſter die Zetter und Weh aus
B 5vol-
[26]
vollem Halſe rufen wuͤrde, und einen Vater, deſ-
ſen Geſicht fuͤrchterlicher ſeyn wuͤrde, als der blan-
cke Degen den ich ſahe und zu ſehen befuͤrchtete.
Jch lief vollkommen ſo geſchwind als er, ohne
zu wiſſen, daß ich lief: denn die Furcht benahm
mir alle Gedancken, und machte meinen Fuͤßen Fluͤ-
gel; eben die Furcht, die mir nicht ſo viel bewuſt-
ſeyn uͤbrig ließ, daß ich einen Weg wuͤrde haben
waͤhlen koͤnnen, wenn er mich nicht mit fortgezo-
gen haͤtte. Allein dieſe Furcht mehrete ſich noch,
als ich einen Kerl aus der Thuͤr heraus kommen
ſahe, der uns mit den Augen wahrete und ruͤck-
waͤrts und vorwaͤrts lief, und immer andere her-
bey rief, von denen ich glaubete, daß er ſie ſehen
muͤßte, ob ich ſie gleich vor der Garten-Mauer
nicht ſehen konnte, und ſie fuͤr meinen Vater, Bru-
der oder ihre Bedienten hielte.


Unter dieſem Schrecken verlohr ich in wenigen
Minuten die Garten-Thuͤr aus dem Geſichte: und
ob mich gleich Furcht und Laufen faſt außer Athem
gebracht hatte, ſo mußte ich doch noch geſchwin-
der laufen, nachdem er meine Hand unter ſeinen
Arm nahm, und den Degen in der andern Hand
hielt. Worte und Handlungen waren einander
ſehr ungleich. Jch rief: nein! nein! und keh-
rete mich immer um, zuruͤckzuſehen, ſo lange mir
die Mauer von dem Luſt- und Thier-Garten noch
im Geſichte war. Er brachte mich zu dem Wa-
gen ſeines Onckels, bey dem ich zwey von ſeinen
und zwey von des Lord M. Bedienten gewaf-
net und zu Pferde fand.


Hier
[27]

Hier muß ich in meiner Erzaͤhlung innen halten:
denn jetzt komme ich auf die ungluͤcklichen Augen-
blicke, bey denen mir meine Unbedachtſamkeit all
zu mercklich wird, und bey denen ich ſo viel
Schaam und Reue empfinde, die mir empfindli-
cher iſt, als wenn mir ein Dolch durch das Hertz
geſtochen wuͤrde. Jſt es nicht betruͤbt, nach voll-
brachter Thorheit erſt zu bedencken, daß ich haͤtte
vorher wiſſen koͤnnen, daß ich in ſeiner Gewalt
ſeyn, und nicht im Stande ſeyn wuͤrde, meiner
Vernunft zu folgen, fals ich nur mich, oder ihn,
oder unſere Umſtaͤnde einigermaßen gekannt haͤtte.


Haͤtte ich nicht zum voraus denken ſollen, daß
Lovelace alles anwenden wuͤrde, damit ich nicht
zuruͤck kehrete, da er fuͤrchten mußte, eine Per-
ſon zu verlieren die ihm ſo viele Muͤhe gekoſtet
hatte? Konnte ich glauben, daß er es mit gutem
Hertzen in meiner Macht laſſen wuͤrde, mich ſei-
ner auf ewig zu begeben, nachdem er wuſte, daß
ich dieſe Bedingung eingehen wuͤrde, wenn ich ſonſt
mich mit den Meinigen nicht ſetzen koͤnnte? warum
uͤberlegte ich nicht, daß der, der aus Liſt meinen
Brief nicht abgehohlt hatte (denn alle Stunden
konnte er doch gewiß nicht belauret ſeyn) damit er
nicht einen Wiederruff meines Verſprechens finden
moͤchte, mich durch eine Liſt wuͤrde ſo lange auf-
halten koͤnnen, bis ich in Gefahr ſtuͤnde entdeckt
zu werden, und eben hiedurch voͤllig in ſeine Ge-
walt geriethe, wenn ich die allerhaͤrteſte Begegnung
und das aͤußerſte Ungluͤck vermeiden wollte, das
ſonſt vor meinen Augen haͤtte vorgehen koͤnnen.


Wenn
[28]

Wenn es aber heraus kaͤme, daß die Perſon
vor der Thuͤr, eben ſein Spion geweſen iſt, der
mich nur hat in Furcht ſetzen, und zur Flucht
zwingen wollen; was meinen ſie, habe ich denn
nicht Urſache, ihn und mich gedoppelt zu haſſen?
Jch kann ihn nicht fuͤr ſo liſtig und niedertraͤchtig
anſehen. Allein wie gieng es zu, daß Einer und
nicht mehr als Einer aus dem Garten herauskom-
men konnte? daß der eine Mann ſich uns nicht
naͤherte, und uns nicht verfolgte, und doch auch
nicht zuruͤck lief, um Lermen im Hauſe zu machen?
Jch war zu erſchrocken, und zu weit entfernt, als
daß ich etwas gewiſſes ſagen koͤnnte, allein ſo viel
ich mich beſinne, hatte derſelbe Eine Kerl die Ge-
ſtalt des Betruͤgers, des Lehmans.


Ach warum! warum, meine Anverwanten! ‒
‒ ‒ doch ich darf denen die Schuld nicht geben,
nachdem es mir ſelbſt bey ſtiller Ueberlegung ver-
muthlich geworden war, daß der nahe bevorſte-
hende fuͤrchterliche Tag ſich gluͤcklicher fuͤr mich
endigen moͤchte, als dieſer Tag, an dem ich auf
einmahl von meinen ehemahls ſo guͤtigen Eltern
entfernt und entfuͤhrt ward, die vielleicht nichts
weiter im Sinne hatten, als den letzten Verſuch
zu thun, ob ich nicht nachgeben wuͤrde. Wenn
ich doch nur dieſen Verſuch ausgeſtanden haͤtte!
denn wenn ich hernach gethan haͤtte, was ich mich
jetzt habe bewegen oder durch eine thoͤrichte Furcht
zwingen laſſen zu thun, ſo wuͤrde mir mein eige-
nes Gewiſſen nicht ſo viel vorwerfen koͤnnen, und
ich wuͤrde ein ſehr großes Uebel weniger haben.


Sie
[29]

Sie wiſſen, daß ihre Clariſſa ſtets zu aufrich-
tig dazu geweſen iſt, ihre Fehler durch anderer
Fehler zu bedecken. GOtt vergebe es den Mei-
nigen, daß ſie mit mir ſo grauſam umgegangen
ſind! Allein ihre Fehler ſind ihre Fehler, und kei-
ne Feigenblaͤtter fuͤr meine Vergehungen: und ich
habe fruͤher angefangen zu ſuͤndigen, als ſie; denn
ich haͤtte den Brief-Wechſel mit ihm nicht fortſe-
tzen ſollen.


O des boshaften und liſtigen Menſchen! wie
unwillig muß ich bisweilen heimlich uͤber ihn wer-
den! daß er ein junges unerfahrnes Kind, das ſich
zu viel zutrauete, von einem Uebel zum andern
gefuͤhret hat. Denn dieſes letzte Uebel iſt doch
gewiß die Folge jenes fruͤhen Uebels, des verbo-
tenen Briefwechſels! des Briefwechſels der mir
zum wenigſten von meinem Vater fruͤh unterſagt
wurde.


Wie viel kluͤger haͤtte ich gehandelt, wenn ich
von dem Augenblick an, da ihm unſer Haus und
mir ſein Umgang verboten ward, mich ein vor al-
lemahl auf das Verbot meines Vaters berufen
und ihm gar nicht mehr geantworter haͤtte! Jch
meinte, es wuͤrde in meiner Macht ſtehen, fort-
zufahren und abzubrechen, wie ich ſelbſt wollte.
Jch bildete mir ein, es geziemete mir mehr als an-
dern, die Schiedsrichterin zwiſchen ſo unruhigen
Koͤpfen zu ſeyn. Dieſer Hochmuth iſt jetzt ge-
ſtraft: er hat ſich ſelbſt geſtraft, wie die meiſten
Suͤnden zu thun pflegen.


Jch
[30]

Jch ſehe nunmehr, da es zu ſpaͤte iſt, wie ich
mich gegen ſeine letzten ungeſtuͤmen Foderungen
haͤtte auffuͤhren ſollen. Da er wußte, daß ich nur
ein Mittel haͤtte ihm von meinen Umſtaͤnden
Nachricht zu geben, und daß mein Schickſaal eben
entſchieden werden ſollte; da ich noch uͤber dieſes
mir die Freyheit in meinem Briefe vorbehalten
hatte, mein Verſprechen zuruͤck zu nehmen: ſo
haͤtte ich mich gar nicht darum bekuͤmmern ſollen,
ob ihm mein Brief zu Haͤnden gekommen waͤre,
oder nicht. So bald er ſein Zeichen gegeben und
keine Antwort darauf bekommen haͤtte, ſo wuͤrde
er an den Ort der Garten-Mauer, da die Ziegeln
los ſind, gegangen ſeyn, und der Tag der uͤber
meinem Briefe ſtand, wuͤrde ihn uͤberzeuget ha-
ben, daß es ſeine eigene Schuld ſey, daß er ihn
nicht fruͤher bekommen haͤtte. Allein eben die all-
zuweiſen Abſichten die mich zuerſt in den Brief-
Wechſel gezogen haben, beherrſcheten mich noch.
Meine thoͤrichte und allzu geſchaͤftige Ueberlegung
kuͤnftiger moͤglicher Faͤlle machte mich beſorget,
daß mein Auſſenbleiben ihn zu einem uͤbereilten
Gang vermoͤgen moͤchte, auf dem er um meinet
willen durch neue Beſchimpfungen beleydiget und
zur Rache gezwungen werden moͤchte. Er giebt
auch jetzt vor, daß ich Urſache gehabt habe, dieſes
zu befuͤrchten; wie ich an ſeinem Orte berichten
werde. Allein damahls war es doch nur eine
Furcht eines ſehr ungewiſſen Uebels. Jndeſſen
um zu verhuͤten, daß er ſich nicht uͤbereilen moͤch-
te, habe ich die alleruͤbereilteſte Handlung vorge-
nommen.
[31]
nommen. Nichts verdrießt mich mehr, als daß
ich jetzt gewahr werde, daß er ſich eben ſo viel auf
meine Schwachheit verlaſſen hat, als ich mich auf
meine eigenen Kraͤfte verließ. Nicht er, ſondern
ich habe mich betrogen; und er hat einen Sieg
uͤber mich erlanget, der eben um dieſer Urſache
willen meiner Ehre am nachtheiligſten iſt. Wie
kann ich ihn mit Geduld vor Augen ſehen!


Nun ſchreiben Sie mir, liebſte Fraͤulein, ob
Sie mich nicht in Jhrem Hertzen verachten, wenn
Sie Jhrem Hertzen keine Gewalt anthun? Sie
muͤſſen mich gewiß verachten, denn ich komme mir
ſelbſt veraͤchtlich vor: und ehemahls waren wir
beyde beſtaͤndig von einerley Sinn und Meinung.
Mit Recht komme ich mir veraͤchtlich vor. Denn
haͤtte das liederlichſte Maͤdchen in England eine
That vornehmen koͤnnen, die ſchwaͤrtzer vor den
Augen der Welt ausſehen muß, als meine Flucht?
denn was ich gethan habe, das wird jedermann
erfahren, ohne zu wiſſen, was mir die Meinigen
fuͤr Anlaß dazu gegeben haben, und wie liſtig er
mich verleitet hat: (denn fuͤr liſtig und unergruͤnd-
lich muß ich ihn jetzt wahrhaftig anſehen) und eben
dadurch wird meine Schuld vergroͤſſert werden,
daß man ſich von mir eine beſſere Vorſtellung als
von vielen andern Frauenzimmern gemacht hat.


Sie rathen mir, die Trauung bey der erſten
Gelegenheit zu beſchleunigen. Allein eine neue
Frucht meiner Thorheit! Jch habe dieſes jetzt eben
ſo wenig in meiner Gewalt, als ich ſelbſt in mei-
ner Gewalt bin. Denn wie kann ich ſeinen arg-
liſti-
[32]
liſtigen Betrug ſogleich rechtfertigen und beloh-
nen? kann ich anders als ungehalten ſeyn, da er
mich gleichſam um mich ſelbſt betrogen hat?
(eben den Ausdruck zu gebrauchen, den ich gegen
ihn ſelbſt gebraucht habe) da er mich gezwungen
hat, gantz wider meinen Vorſatz, und wider die
Verſicherungen, die ich Jhnen gegeben hatte, zu
handeln? mich ſelbſt in ſolche Noth zu ſtuͤrtzen?
und, wenn ich an ſonſt niemand dencken will, mei-
ne Mutter ſo empfindlich zu betruͤben? Sie koͤn-
nen ohnmoͤglich glauben, noch es ſich vorſtellen,
wie ich mich uͤber dieſes alles graͤme, und wie ge-
ringe und veraͤchtlich ich mir jetzt vorkomme, da ich
vorhin andern zum Muſter vorgeſtellet zu werden
pflegte. Ach wenn ich doch wieder in meines Va-
ters Hauſe waͤre, und mich in den Garten ſtehlen
koͤnnte, um einen Brief fuͤr Sie hinzulegen, zwi-
ſchen Furcht und Hofnung, ob ich etwan ein
Schreiben von Jhnen finden moͤchte!



Jetzt bricht der Mittewochen an, vor dem ich
mich ſo ſehr fuͤrchtete, und den ich noch vor kur-
tzen, als die Zeit anſahe, die mein Schickſaal ent-
ſcheiden wuͤrde. Allein vor dem Montage haͤtte
ich mich fuͤrchten ſollen. Wenn ich gewartet haͤt-
te, und es waͤre das allerſchlimmeſte erfolget, das
ich befuͤrchten koͤnnte, ſo haͤtten die Meinigen alle
ungluͤcklichen Folgen davon auf ihrem Gewiſſen
gehabt: da ich jetzt keinen andern Troſt habe als
dieſen, der Jhnen ſchlecht genug vorkommen wird:
daß
[33]
daß ich die Meinigen in den Augen der Welt ge-
rechtfertiget, und mich ſelbſt ſchwartz gemacht
habe.


Sie werden ſich nicht daruͤber wundern, daß
meine Erzaͤhlung ſo wunderlich geſchmiert iſt. Jch
habe ſie mit mehrerley Feder und Dinte, die zu-
ſammen ſchlecht waren, ſchreiben, und mehrere
mahl ablaſſen und anfangen muͤſſen. Die Hand
bebet mir vor Kummer und Muͤdigkeit. Jch
will meinen dismahligen Brief nicht durch Erzaͤh-
lung deſſen verlaͤngern, wie er ſich gegen mich
betraͤget, und was zu St. Albans und nachher
zwiſchen uns vorgegangen iſt. Denn alles dieſes
wird in der Fortſetzung meiner Geſchichte vorkom-
men, die Sie ohne Zweifel erwarten werden.


Jch will jetzt nur ſo viel melden, daß er jetzt
ſehr hoͤflich und ehrerbietig, ja ſo gar ſehr folg-
ſahm gegen mich iſt, ob ich gleich uͤber ihn und
uͤber mich ſo misvergnuͤgt bin, daß er meine Guͤ-
tigkeit ſehr wenig wird ruͤhmen koͤnnen. Jch kann
bisweilen meinen Verfuͤhrer kaum vor den Augen
dulden.


Das Haus, in dem ich mich aufhalte, iſt ſehr
unbequem. Jch werde nicht lange hier bleiben;
und deswegen brauche ich Jhnen nicht zu melden,
wie Sie Briefe hieher ſchicken koͤnnen. Wo mein
kuͤnftiger Aufenthalt ſeyn wird weiß ich noch
nicht.


Er weiß, daß ich an Sie ſchreibe, und hat ſich
erboten, meinen Brief durch einen von ſeinen Be-
dienten beſtellen zu laſſen. Allein ich glaubte, daß
Dritter Theil. Cich
[34]
ich in meinen jetzigen Umſtaͤnden mit einem Briefe
von ſo wichtigem Jnhalt nicht zu ſorgfaͤltig um-
gehen koͤnnte. Wer weiß, was ein ſo argliſtiger
Menſch anfangen koͤnnte! ein ſo gottloſer Betruͤ-
ger! deſſen Betrug (wo anders ein Betrug bey
meiner Flucht vorgegangen iſt) ſo niedertraͤchtig iſt.
Jedoch ich hoffe es iſt kein Betrug, keine abgeredete
Charte geweſen. Wenn aber auch dieſes nicht iſt, ſo
iſt doch das allerbeſte, was ich von ihm und von
meinen kuͤnftigen Umſtaͤnden dencken muß, ſehr
ſchlecht. Wer wird mit mir Mitleyden haben, da
ich zu der Zahl derer gehoͤre, die ihre Thorheit zu
ſpaͤte bereuen!


Jch hoffe dem ohngeachtet, daß Sie noch Liebe
fuͤr mich behalten, und meiner in Jhrem Gebet
taͤglich gedencken werden. Wollen Sie mir aber
Jhr Hertz auch verſagen, ſo iſt mein Ungluͤck un-
ertraͤglich. Jch bin, allerbeſte Freundin,


Jhre ſtets ergebene
Cl. Harlowe.



Der zweyte Brief
von
Herrn Lovelace an Joſeph Lehman.



Ehrlicher Joſeph,

Endlich hat ſich eure ſchoͤne Fraͤulein entſchloſ-
ſen, ſich in Freyheit zu ſetzen, und der bis-
herigen
[35]
herigen Haͤrtigkeit der Jhrigen zu entgehen, die ſie
ſo lange geduldet hat. Sie wird auf den
Montag Nachmittag um vier Uhr zu mir vor die
Garten-Thuͤr hinaus kommen; wie ich euch ſchon
neulich geſagt habe. Sie hat ihr Verſprechen wie-
derhohlet: GOtt lob! ſie hat es wiederhohlt.


Auf dem Neben-Wege, der an den Fuß-Steig
nach dem Thier-Garten ſtoͤßt, wird eine Kutſche
mit ſechs Pferden bereit ſtehen, und nicht weit
davon einige Freunde und Bedienten von mir, ſie
im Fall der Noth mit Gewalt zu retten oder zu be-
ſchuͤtzen. Es iſt ihnen aber allen eingeſchaͤrft, ſich
zu huͤten, daß kein Ungluͤck vorgehen moͤge. Jhr
wißt, daß ich immer ſorgfaͤltig geweſen bin, Un-
gluͤck zu vermeyden.


Meine eintzige Furcht iſt, daß wenn die Zeit
herankommt, ſie aus allzu juͤngferlicher Behutſam-
keit wieder zweifelhaft werden und zuruͤck gehen
moͤchte: obgleich ihre Ehre meine Ehre, und mei-
ne Ehre ihre Ehre iſt, wie ihr wohl wiſſet. Wenn
meine Furcht eintrift, und ich ſie nicht bereden
kann mit zu gehen, ſo helfen mir alle eure vorigen
Dienſte nichts, und ich habe ſie auf ewig einge-
buͤßet. Denn wird ſie doch eine Beute des ver-
fluchten Solmes, der nach ſeinem ſchaͤndlichen
Geitz keinem Bedienten im gantzen Hauſe einige
Wohlthat erzeigen kann.


Jch habe an eurer Ehrlichkeit gar keinen Zwei-
fel, mein guter Joſeph; ich habe auch das Ver-
trauen zu euch, daß ihr von ſelbſt bereit und eifrig
ſeyd, einem ſo ſehr beleydigten Cavallier und einem
C 2unter-
[36]
unterdruͤckten Frauenzimmer zu dienen. Wenn
ich nicht eine ſo gute Meinung von euch haͤtte, ſo
wuͤrde ich euch gewiß nicht ſo viel anvertrauen:
daraus koͤnnt ihr wol ſehen, wie viel ich von euch
halte, und was ich von euch hoffe, ſonderlich bey
dieſer Gelegenheit, da ihr allen euren vorigen
Dienſten die Crone aufſetzen koͤnnet. Denn wenn
ſie wieder zweifelhaft wird, ſo iſt eine kleine unſchul-
dige Liſt noͤthig.


Mercket euch das ja genau, was ich euch ſchrei-
ben werde: faſſet es recht in das Gemuͤthe. Es
wird hoffentlich die letzte Muͤhe ſeyn, die ich euch
vor unſerer Hochzeit mache: und hernach wollen
wir beyde gewiß fuͤr euch ſorgen. Jhr wiſſet, was
ich euch verſprochen habe. Noch niemand hat mir
jemahls Schuld gegeben, daß ich mein Wort ge-
brochen haͤtte.


Hier iſt denn eure Vorſchrift:


Verkleidet euch, und ſucht in dem Garten zu
ſeyn, ohne daß eure Fraͤulein euer gewahr wird.
Wenn die Garten-Thuͤr aufgeriegelt iſt, ſo koͤnnt
iſt daran mercken, daß ſie mit mir drauſſen redet,
wenn ihr ſie gleich nicht hinausgehen ſehet. Die
Thuͤr wird zugeſchloſſen ſeyn: und damit ihr im
Fall der Noth von innen aufſchlieſſen koͤnnet, ſo
will ich meinen Schluͤſſel ausziehen, und ihn
drauſſen vor die Thuͤr hinlegen.


Wenn ihr uns reden hoͤrt, ſo bleibt an der
Thuͤr inwendig ſtehen: bis ich zweymahl ach!
ach!
rufe. Allein ihr muͤßt ſehr genau aufmer-
cken, denn ich darf nicht allzu laut rufen, ſonſt
moͤch-
[37]
moͤchte ſie es fuͤr ein abgeredetes Zeichen halten.
Vielleicht kann ich indem, daß ich mich bemuͤhe
meine angenehme Freude mit mir fort zu ziehen,
mit dem Ellbogen oder Fuͤſſen hart an die Thuͤr
ſtoßen, um euch ein deſto gewiſſeres Zeichen zu ge-
ben. Alsdenn muͤßt ihr ſtarck gegen die Thuͤr ren-
ren, als wenn ihr ſie aufſprengen wolltet, und an
dem Schloſſe arbeiten: denn ſtoßet noch einmahl
gegen die Thuͤr, aber ſo daß es mehr Lerm macht
als Gewalt angewandt wird, damit das Schloß
nicht ſpringen moͤge. Denn ſchreyet, als wenn
ihr einige aus dem Hauſe ſehet: hier ſind ſie.
Kommt geſchwind! den Augenblick. Geht
beſſer zu.
Sagt auch etwas von Degen, Flin-
ten, Piſtolen, und ruft ſo fuͤrchterlich als ihr nur
koͤnnt. Wenn ſie vorhin noch zweifelhaft gewe-
ſen iſt, ſo wird ſie ſich hiedurch gewiß bewegen
laſſen zu fliehen. Wenn ich aber doch nichts aus-
richten kann, ſo will ich mit ihr in den Garten ja
in das Haus ſelbſt gehen: es mag auch daraus
entſtehen, was will. Doch in dem Schrecken wird
ſie gewiß fliehen.


Wenn ihr glaubt, daß wir ſchon etwas weit weg
ſind, und wenn ich, um euch ein Zeichen zu geben,
lauter rede und in ſie dringe, geſchwind zu laufen:
ſo ſchließt ihr inwendig die Thuͤr auf. Allein das
muͤßt ihr ſorgfaͤltig thun, daß ihr nicht von ihr
erkannt werdet, wenn wir noch nicht weit genug
weg ſeyn ſollten. Aus Gutheit fuͤr euch wollte
ich nicht gern, daß ſie glaubte, ihr haͤttet einigen
Antheil an dem was vorgehet.


C 3Zie-
[38]

Ziehet einen Schluͤſſel wieder aus dem Schluͤſ-
ſel-Loche heraus und ſteckt ihn bey: an deſſen Stel-
le aber ſteckt meinen, der vor der Thuͤr liegen wird,
von innen in das Schloß, daß es ſcheinen moͤge,
als haͤtte ſie ſelbſt inwendig aufgemacht, und die
Thuͤr offen gelaſſen. Sie werden wohl glauben,
daß ich ihr den Schluͤſſel haͤtte machen laſſen, weil
er neu iſt.


Jch wollte gern, daß die Jhrigen glauben
moͤchten, ſie ſey von freyen Stuͤcken mit mir da-
von gegangen, damit es ihnen nicht in den Sinn
komme, uns zu verfolgen, oder zu verſuchen, ob
ſie ſie nicht uͤberreden koͤnnen, wieder zuruͤck zu
kommen. Jhr wißt, daß hieraus Ungluͤck entſte-
hen koͤnnte.


Eins muͤßt ihr wohl mercken: Jhr ſollt die
Thuͤr nur in dem Fall aufſchließen, wenn niemand
aus dem Hauſe uns zu fruͤh uͤber den Hals kommt
ehe wir gantz weg ſind. Denn wenn dieſes ge-
ſchehen ſollte, ſo werdet ihr aus dem folgenden ſehen,
daß ihr gar nicht aufſchließen muͤßt. Sie moͤgen
in ſolchem Fall die Thuͤr aufbrechen oder uͤber die
Mauer ſteigen, und meinen Schluͤſſel vor der
Thuͤr auf der Erde finden.


Wenn uns niemand zu fruͤh uͤberfaͤllt, und ihr
herauskommt, ſo folget uns in der Ferne nach,
lauft mit aufgehabenen Haͤnden und ſo ungebaͤrdig
ihr koͤnnt hin und wieder, als wenn ihr auf Huͤlfe
wartetet, damit ihr uns nicht ſo nahe kommt.
Ruft: Huͤlfe! Huͤlfe! Geſchwind! Unterdeſ-
ſen werden wir ſchon bey dem Wagen ſeyn.


Jn
[39]

Jn dem Hauſe ſaget: ihr haͤttet geſehen, daß
ich mit ihr in den Wagen geſtiegen ſey, und ein
Dutzend oder mehr bewaffnete Leute um mich ge-
habt haͤtte. Einige unter ihnen ſchienen große
Musketen gehabt zu haben. Sagt ihnen daß wir
einen gantz andern Weg genommen haͤtten, als ihr
uns werdet nehmen ſehen.


Jhr ſeht, ehrlicher Joſeph, daß ich eben ſo
ſorgfaͤltig bin als ihr, Ungluͤck zu verhuͤten:


Bleibt ja ſo weit von uns, daß ſie euch nicht
erkennet. Thut große Schritte, damit ſie euch
nicht am Gange kennet, und haltet den Kopf in
die Hoͤhe, ehrlicher guter Joſeph: ſo wird ſie
nicht darauf dencken, daß ihr es ſeyd. Gang und
Geberden ſind ſo verſchieden, und ſo kenntlich, als
immer das Geſichte ſeyn mag. Ziehet einen Pfal
irgend wo aus, und wenn er gleich leichte gehet, ſo
zerret doch lange daran: wenn ſie ſich umſiehet, ſo
wird das in der Ferne ſchrecklich laſſen, und ſie
wird dencken, daß euch blos das Ausziehen des
Pfals abgehalten haͤtte, uns geſchwinder nachzu-
folgen. Gehet mit dem Pfal auf der Schulter
zuruͤck in das Haus und prahlt, was ihr haͤttet
thun wollen, wenn ihr uns nur haͤttet einhohlen
koͤnnen. Lieber alles (ſagt) haͤttet ihr wagen wol-
len, als eure Fraͤulein von einem ſolchen -
(ſchimpft mich und flucht ſo viel als ihr wollt)
entfuͤhren laſſen. Das wird grauſam ausſehen,
und die Leute werden glauben, daß euch alles von
Hertzen gehe. Jhr ſeht, Joſeph, wie ich alles ſo
einrichte, daß ihr noch einen guten Nahmen da-
C 4durch
[40]
durch bekommet. Niemand, der mir dient, wird
Schaden von mir haben.


Wenn aber unſere Unterredung laͤnger waͤhren
ſollte, als ich wuͤnſche, und es kommen einige von
den Jhrigen in den Garten noch ehe ich euch das
Zeichen gegeben habe, ſo ſucht euch ſelbſt zu retten;
daran iſt mir ſehr viel gelegen. Macht deswegen
eben ſo viel Lerm: nur oͤfnet die Thuͤr nicht.
Wuͤnſcht vielmehr, ſo ſehr ihr koͤnnt, daß doch
nur ein Schluͤſſel da ſeyn moͤchte. Weil aber je-
mand zum Ungluͤck einen Schluͤſſel bey ſich haben
koͤnnte, ſo habt einige gantz kleine Steine wie ei-
ne Erbſe in Bereitſchaft, und ſtecket gleich zwey
oder drey davon in das Schluͤſſel-Loch, daß der
Schluͤſſel nicht ſchließen koͤnne. Jhr wiſſet, Jo-
ſeph,
man muß ſich auf alle Faͤlle gefaßt machen,
wenn ſo viel an der Sache gelegen iſt. So bald
ihr einen von meinen Feinden ſehet, ſo ſtellet euch
als wenn ihr die Thuͤr ſprengen wolltet; und ruft:
Gnaͤdiger Herr oder Fraͤulein, (wer es eben iſt)
o um Gottes willen kommen ſie bald! um
Gottes willen geſchwinder! Herr Lovelace
iſt da!
Ruft das recht laut. Es ſoll mich ge-
ſchwinder machen, als jene, denen ihr es zuruft.
Wenn aber niemand anders als Eliſabeth kommt,
ſo wuͤrde ich von eurer Geſchicklichkeit mit den Maͤd-
chens umzugehen weniger als von eurer Treue ge-
gen mich halten, fals ihr ſie nicht wegbringen und
April ſchicken koͤnntet.


Jhr
[41]

Jhr muͤßt ſagen, die Fraͤulein waͤre eben ſo
geſchwind gelaufen als ich. Das wird ihnen die
Luſt zum Nachſetzen benehmen. Herrn Solmes
wird dadurch alle Hoffnung vergehen; und die
Jhrigen werden ſich nach einer kleinen Bedenck-
Zeit mehr bemuͤhen, ſich mit ihr zu verſoͤhnen,
als ſie wieder zuruͤck zu bekommen. Auf die Wei-
ſe werdet ihr viel Gutes zu wege bringen helfen;
und das werden kuͤnftig beyde Familien erkennen.
Jhr werdet bey allen wohl angeſchrieben ſeyn:
und ein jeder rechtſchaffener Bedienter wird ſich
eine Ehre daraus machen, Joſeph Lehman
verglichen zu werden.


Wenn ſie einen Verdacht auf euch werfen, oder
die Sache erfahren ſollte, ſo habe ich ſchon auf ei-
nen Brief gedacht, den ihr abſchreiben koͤnnt.
Wenn ich ihr den zu rechter Zeit vorzeige, ſo ſoll
ſie euch ſchon vergeben.


Seyd nur noch dieſes eine mahl munter und
aufmerckſam. Dies iſt die Crone eurer uͤbrigen
Dienſte. Wegen der Belohnung verlaſſet euch
auf die Ehre und auf das Wort


Eures wahren Freundes
R. Lovelace.


P. S. Jhr braucht mit Eliſabeth nicht ſo
furchtſam zu ſeyn. Wenn ihr auch gleich einen
Schritt weiter gehet, ſo ſoll es euch doch kein
Schade ſeyn. Wenn ihr ſie nehmet, ſo iſt ſie
doch ein angenehmes Maͤdchen, ob ſie gleich etwas
C 5bei-
[42]
beißig iſt, wie ihr es nennet. Jch habe eine un-
vergleichliche Artzney fuͤr Weiber die nach dem Hu-
the greiffen. Fuͤrchtet euch nicht, Joſeph; ihr
ſollt gewiß Herr in eurem Hauſe bleiben. Hoͤre
Kerl! wenn ſie gar zu arg iſt, ſo will ich dir ler-
nen, wie du ſie innerhalb Jahr und Tag zu Tode
quaͤlen kannſt: und es ſoll alles ehrlich zugehen:
ſonſt muͤſte der Rath nicht von mir ſeyn.


Jch lege ein kleines Angeld deſſen bey, was ich
kuͤnftig reichlicher zu geben gedencke.



Der dritte Brief
An Juncker Robert Lovelace, ſeine
Knaden.



Huchgeherteſter Herr,

Daß mus ich geſtehen, ich bin ihrer Knaden
ſehr verbunden vor ihre große Generoſigkeit.
Aber aber, die letzte Urdre! Wie intrikat iſt die! das
Gutt erbarme, wie bin ich vom kleinen zum großen
verfieret worden. Wenn ich entdeckt wuͤrde, das
waͤre ja nichts als mein Urin. Aber eure Kna-
den verſprechen, vuͤr mich zu ſurgen, und mich
in ihre Dienſte zu nehmen, und mich zu protechi-
ren, wenn mir meine Herrſchaft auf die Sprunge
kaͤmme, und noch ſo gar mir mer Lohn zu anger-
diren,
[43]
diren, oder mich in ein Wirtz-Haus zu ſetzen, wel-
ches ich eben fuͤr mein kroͤſtes Kluͤcke halten wuͤr-
de. Und mit meiner lieben ſcharmanten Fraͤu-
lein wollen ihre Knaden gut umgehen: und wer
kann mit ihr uͤbel umgehen?


Jch wil ales tuhne was ich kan, weil ihre Kna-
den im Stande ſind ſie gar zu verlieren, wie ihre
Knaden ſagen, wenn ich neklichant bin: und ſo
ein Filtz Kerl im Stande iſt, ſie alsdenn zu krie-
chen. Aber wer weiß, meine Fraͤulein iſt wohl
ſo willig, daß alle Muͤhe nicht nuͤthig iſt. Hat
ſie was verſprochen, ſo wird ſie es halten: da
will ich eurer Knaden Mann fuͤr ſeyn.


Jch bin ihrer Knaden recht gut, daß ſie alle
verdeufelte Streiche doch ſo gut ſpielen, das kein Un-
kluk daraus entſtehen ſol. Bis ich mit ihrer Kna-
den bekannt wurd, ſo hielt ich ihre Knaden im-
mer vor einen Unkluks-Fogel, ihre Knaden wul-
len mir das zu gute halten. Aber ich habe mich
graͤulich betrogen. Jhre Knaden haben eine ſer
gut Indenſion gegen jedermann; und ſind recht ſo
wie ich. Denn mir niſcht dir niſcht, ob ich gleich
ein gemeiner Kerl bin, ſo bin ich doch Gutt Lub un
Danck ein recht ehrlicher Kerl. Jch habe ein ku-
des Hertz, und ich dencke immer an meiner Froͤlen
ihre Reden. Den wo ſie geht und ſteht, da pre-
digt ſie, und die Leute die muͤßen ſeelig werden.


Jch recumpandire mich alſo in ihrer Knaden
firnere Knade, inſunderheit das Wirz-Hus nit zu
vergeſſen, wenn ihre Kuaden ſo gut ſin wullen,
und ein Wirz-Huus zu vinden iſt. Denn ein
Dinſt
[44]
Ding iſt doch heut zu Dage nich mer erblich.
Jch hovve nicht, daß mich ihre Knaden vor ein
Schelm halten werden, wil ich ihren Knaden wi-
der mein Flicht dien, wie man es nehmen kuͤnte;
aber ein kut kebißen habe.


Aber ihre Knaden mußen mich nicht ſo oft ehr-
licher Joſeph,
und ehrlicher Joſeph nennen.
Jch weiſ wol das ich es bin; aber es kribbelt mich
doch ſo, wenn mir derbey infaͤllt, daß ich nicht ſo
handele, wie ich ſullte. Und ihre Knaden ſin ſo
ein ſpashafter Her, daß ich nicht recht weiß, ob
es Spaß oder Jrnſt is, wenn ſie mich ſo oft ehr-
lich nennen.


Jch bin ein einfeltiger Man, und habe ſelten
mit ſo einem grußen Herrn Briefe gewechſelt: aber
ſie ſind gut ſatt, das ſie fuͤnde gerade ſin laßen, wie
ich ſchon ſo uft geſagt habe, und nicht mehr ſagen
darf.


Mamſelle Lischen kahm mir ſonſt for, als wenn
ſie die Nahſe uͤber mich tragen wollte. Aber ſie
giebt ſich. Jch haͤtte ſie noch lieber, wenn ſie ge-
gen meine Froͤlen beſſer were. Aber ſie iſt ſu kluk,
vor ſo einen einfeltigen Mann. Aber wenn ſie mich
ergerte, es ſchickt ſich wol nicht, das der Mann
die Frau pruͤgelt, aber ſo koͤnnte mein Brauner
wol regieren, nich ſo ihre Knaden?


Aber das Rezebt, das ihre Knaden fuͤr ein boͤs
Weib haben? Denn wuͤrde ich noch mehr Luſt zu
heiraden haben, wenn ichs vorher wuͤſte. Und
inſonderheit, wen ich wuͤſte wie man eine in Jahr
und
[45]
und Dag, und das es rech ehrlich zuginge, und
unſers Herrn Kutts Verhaͤngniß waͤre ‒ ‒


Aber ich bin einem ſo grußen Herrn beſchwerich:
und das kan hernacher geſchehen, nachdem ſie ſich
anlaͤſt. Denn vielleicht moͤchte ich ſie gern laͤnger
behalten wullen, ſonderlich wenn ſie ſich ſo kut zu
einer Wirtz-Frau ſchickt, als mir ihre Knaden
einpilden.


Aber nochmahls recumpandire ich mich, und
bitte ihre Knaden, ſich nit uͤber meine Freyheit
zu artilleriren: der ich Gros-Geneigt verharre,


ihrer Knaden
ſu allen Duͤnſten bereuter
Joſef Lehman.



Der vierdte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.



Jch kann eben einige Augenblicke ſtehlen, mein
Verſprechen zu erfuͤllen, da ſich meine Ge-
liebte (wie ich hoffe) zur Ruhe begeben hat. Man
hoͤrt von keinem Nachſetzen. Jch habe auch auf
das kuͤnftige keine Sorge deshalb, ob ich mich
gleich gegen mein ſchoͤnes Kind beſorgt ſtellen muß,
daß wir verfolget werden moͤchten.


Nie-
[46]

Niemahls iſt meine Freude ſo vollſtaͤndig ge-
weſen als jetzt. Allein ich muß zuſehen, ob ich
meinen Schatz noch beſitze.



Ja wahrlich: Er iſt in der andern Stube, und
ich bin meines Beſitzes wegen auſſer Sorgen.


Entzuͤckend ſchoͤnes Gluͤck! Wird nicht mein

frohes Hertz

Durch meine Bruſt in ihren Buſen brechen?

Jch wußte, daß die gantze tumme Familie fuͤr
mich arbeitete. Jch ſagte dir, daß ich ſie insge-
ſammt gebrauchte die Standhaftigkeit meiner Schoͤ-
nen ohne ihr Wiſſen den Maulwuͤrfen gleich zu
untergraben. Blinder waren ſie als die Maul-
wuͤrfe ſeyn ſollen. Jch lenckte alle ihre Bewegun-
gen: allein weil dieſe mit ihrem niedertraͤchtigen
Hertzen ſo genau uͤberein kamen, ſo hielten ſie al-
les was ſie thaten fuͤr ihre eigenen Entſchließun-
gen und nicht fuͤr die Eingebungen einer feindli-
chen Gottheit.


Allein was ſage ich dir? meine Freude ſoll voll-
kommen ſeyn? Gewiß nicht. Mein Hochmuth
iſt all zu wenig vergnuͤget worden. Wie kann ich
ohne Misvergnuͤgen wahrnehmen, daß ich ſie nicht
ihrer Zuneigung zu mir, ſondern den Verfolgungen
der Jhrigen zu dancken habe? ja daß ſie mich
nicht einmahl, ſo viel ich weiß, andern vor-
ziehet?


Jch darff dem Gedancken nicht nachhaͤngen: er
koͤnnte meinem ſchoͤnen Kinde theuer zu ſtehen
kom-
[47]
kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß
ſie einmahl uͤber den Rubicon gegangen iſt: Daß
ſie jetzt nicht wieder zuruͤck kann: daß ihre unver-
ſoͤhnlichen Anverwanten glauben werden, ſie habe
nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß
ich ſie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz
ſehr angenehme Art auf die Probe ſetzen kann, wenn
ich Urſach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln.
Denn glaube mir, ſo zaͤrtlich ich ſie liebe, ſo woll-
te ich ihrer doch nicht ſchonen, wenn ich in ihrem
Gemuͤth nur einen Schatten des Zweiffels faͤnde,
ob ſie mich allen andern meines Geſchlechts vor-
zoͤge.


Dienſtages, um Tages Anbruch.


Auf den Fluͤgeln der Liebe fliege ich eben zu mei-
nem Entzuͤcken hin, zu dem ſchoͤnen Kinde, das
vielleicht eben aufſteht, um die traͤge Morgenroͤthe
zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert-
halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den
Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge-
than. Jch ſcheine nicht mehr ſo materiel zu ſeyn,
daß ich die abgehende Kraͤffte des Leibes durch den
Schlaaf zu erſetzen noͤthig habe.


Allein mein unvergleichliches Kind, warum ſehe
ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in
dem Wagen? in dem Wirthshauſe? bey dem Aus-
ſteigen? da du doch ſo heftig gedruͤcket biſt? da du
in ſo groſſer Gefahr ſtandeſt zu dem gezwungen zu
werden, was dein groͤſſeſter Abſcheu war? War-
um laͤſſeſt du dich deine Flucht, die eben in dem ent-
ſchei-
[48]
ſcheidenden Augenblick geſchahe, ſo heftig, ſo
aufrichtig gereuen? Nimm dich in Acht, meine
Schoͤne. Denn das Hertz, in dem dir die Liebe
einen Tempel geweyhet hat, brennet von Eifer-
ſucht.


Jch kann es ihr zwar nicht uͤbel nehmen, daß
ihr eine ſo ploͤtzliche Veraͤnderung empfindlich iſt,
und ihre Zuneigung zu mir abkuͤhlet. Wenn ſie
ſiehet, wie heilig ich alle ihre Befehle beobachte,
ſo wird ſie hoffentlich zwiſchen ihrem vorigen Ge-
faͤngniß und ihrer jetzigen Freyheit einen Unter-
ſcheid finden, und einige Triebe der Danckbarkeit
gegen mich empfinden.


Sie kommt, ſie kommt. Eben gehet die Son-
ne auf, ſie zu empfangen. Lebe wohl! ſey halb
ſo gluͤcklich als ich, (denn alle meine Zweiffeln ver-
ſchwinden jetzt, wie ein Nebel vor der Sonne) ſo
wirſt du naͤchſt mir der gluͤcklichſte Menſch in der
Welt ſeyn.



Der fuͤnfte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch will meine betruͤbte Erzaͤhlung fortſetzen.


Nachdem ich in der Uebereilung bis an den
Wagen gekommen war, ſo wuͤrde es ver-
geblich
[49]
geblich geweſen ſeyn, wenn ich mich gewegert haͤt-
te, mich hinein zu ſetzen. Allein er hub mich auch
hinein, als ich noch vor Schrecken außer mir war.
Der Wagen fuhr ſogleich in vollem Gallop weg,
und hielt nicht ſtille, bis daß wir eben bey Tages-
Anbruch zu S. Albans ausſtiegen.


Unter Weges meinte ich einigemahl, ich ſolte
in Ohnmacht fallen. Oft ſagte ich mit aufgeha-
benen Haͤnden und Augen zu mir: Gott behuͤte!
iſt es moͤglich, daß ich hier bin! die Augen gin-
gen mir uͤber; und ich konnte die Seufzer nicht
verhalten, die mir bey nahe eben ſo ſehr wider mei-
nen Willen entfuhren, als meine Flucht wider Wil-
len geſchahe.


Wie groß, wie augenſcheinlich war der Unter-
ſcheid zwiſchen mir, und meinem froͤlichen Ver-
fuͤhrer, der das Vergnuͤgen wegen ſeines argliſti-
gen Sieges uͤber mich nicht verbergen konnte. Jch
konnte zum wenigſten ſeine halb-unſinnige Freude
nicht anders auslegen. Dem ohngeachtet ging
ſein Mund von lauter Hoͤflichkeit und Ergebenheit
uͤber; und ſo lange wir flogen (denn fliegen muß
ich es nennen, und nicht gallopiren) war er in ſei-
nem Betragen gegen mich ſehr ſcheu und furcht-
ſahm.


Es kam mir vor, daß wir nicht den geraden
Weg fuhren, ſondern einen Umſchweiff nahmen,
damit man uns deſto weniger moͤchte nachſetzen koͤn-
nen. Es ſchienen mir auch die Bey-Reuter ver-
aͤndert zu werden. Drey oder vier Leute, die ich
nicht vor Bediente halten konnte, ritten dann
Dritter Theil. Dund
[50]
und wann auf dieſer und jener Seite der Kutſche.
Er verhielt ſich aber nicht anders gegen ſie, als
wenn es gemeine Bedienten waͤren, und ich war
ſo betruͤbt, und ohngeachtet aller ſeiner Schmeiche-
leyen ſo ungehalten, daß ich mich nicht uͤberwin-
den konnte, ihn zu fragen, wer ſie waͤren, eben ſo
wenig als ich ihn ſonſt etwas fragen konnte.


Ueberlegen Sie, wie mir zu Muthe geweſen
ſeyn muß, als ich aus dem Wagen ſtieg, ohne
eine Perſon meines Geſchlechts bey mir zu haben;
ohne einige andere Kleidung, als die ich
auf dem Leibe hatte, die ſich ſchlecht zu meiner bis-
herigen und noch bevorſtehenden Reiſe ſchickte: ohne
Kappe, ohne Reiſe-Hut, ohne alle andere noͤ-
thige Kleidung, ein Hals-Tuch ausgenommen.
Jch war ſo muͤde, daß ich haͤtte ſterben moͤgen; und
mein Gemuͤth war noch mehr ermuͤdet, als mein
Leib. Die Pferde ſchwitzten und rauchten dermaſ-
ſen, daß jedermann in dem Wirts-Hauſe glaubte,
ich muͤßte ein leichtfertiges Maͤdchen ſeyn, das ſei-
nen Anverwandten davon gegangen waͤre. Man
konnte ihnen dieſes an den Gebeerden und an ihren
heimlichen Reden anmercken: und daran, daß
mehr Leute aus dem Hauſe als zur Bedienung noͤ-
thig waren, ſich nach einander einen Weg machten,
uns zu ſehen.


Die Wirthin, die Lovelace zu mir herein
ſchickte, wieß mir ein beſonderes Zimmer an,
brachte mir Hirſchhorn und kaltes Waſſer, als ſie
ſahe, daß mir uͤbel werden wollte; und ließ mich
hierauf allein, als ich verlangte, eine halbe Stunde
fuͤr
[51]
fuͤr mich zu ſeyn. Denn ich konnte mich ohn-
moͤglich laͤnger halten, als ich alles uͤberlegte, was
vorgegangen war: und ſo bald ſie weggegangen
war, ſchloß ich die Thuͤr zu, und warf mich auf
einen alten Gros-Vaters-Stuhl nieder. Hier
ließ ich den Thraͤnen den Lauff, und weinete mir
das Hertz leichter.


Herr Lovelace ſchickte die Wirthin fruͤher als
ich es wuͤnſchte zu mir herauf; die mich in ſeinem
Nahmen bat, daß ich meinem Bruder erlauben
moͤchte zu mir herauf zu kommen, oder daß ich zu
ihm hinunter kommen moͤchte. Denn er hatte der
Wirthin geſagt: ich ſey ſeine Schweſter, und haͤt-
te mich dieſen Winter bey einem Verwandten auf-
gehalten. Weil ich nun eine Heyrath wider der
Meinigen Willen haͤtte vornehmen wollen, ſo hohle
er mich ungewarnter Sache und wider meinen
Willen ab, und bringe mich zu meinen Eltern zu-
ruͤck. Jch waͤre deswegen ungehalten auf ihn,
daß er mir nicht ſo viel Zeit gelaſſen haͤtte, mich
zur Reiſe zu kleiden.


So ſehr ich ſonſt die Wahrheit liebe, ſo fand
ich mich doch gezwungen, dieſer Erdichtung den
Schein der Wahrheit zu geben: einer Erdichtung,
die ſich zu meinen Umſtaͤnden deſto beſſer ſchickte,
weil ich eine Zeitlang weder reden noch die Augen
aufſchlagen konnte. Dieſen Kummer und Still-
ſchweigen konnte die Wirthin leicht fuͤr Trotz und
Eigenſinn halten.


Weil ein Bette in meiner Stube ſtand, ſo ent-
ſchloß ich mich lieber hinunter zu gehen, nachdem
D 2er
[52]
er zum zweiten mahl heraufgeſchickt hatte. Die
Wirthin begleitete mich in ſeine Stube. Er
kam mir ſehr hoͤflich entgegen, doch ſo, daß ein
hoͤflicher Bruder eben ſo hoͤflich haͤtte ſeyn koͤnnen,
und die Wahrſcheinlichkeit nicht verletzt ward. Er
nannte mich ſeine liebe Schweſter, fragte mich ob
ich mich zuſrieden gaͤbe, und bat mich um Ver-
gebung, mit dem Zuſatz, daß kein Bruder eine
Schweſter ſo lieben koͤnnte, als er mich liebete.


Ein loſer Schelm! Wie natuͤrlich konnte er die
Perſon ſpielen, die er ſpielen wollte, da ich mich
meiner Perſon ſo wenig gemaͤß auffuͤhren konnte?


Unbedaͤchtige Leute finden darin einen Troſt,
daß ſie nicht weit in das kuͤnftige ſehen, daß ſie
nichts befuͤrchten, und ſich wegen eines entfernten
Uebels nicht graͤmen. Kurtz, ihre Unbedaͤchtigkeit
iſt ihre Gluͤckſeeligkeit. Allein was fuͤr Troſt kann
ein Gemuͤth in meinen Umſtaͤnden haben, das ſich
gewoͤhnt hat in die folgende Zeit hinein zu ſehen,
und das moͤgliche ſo wohl als das wahrſchein-
liche
zu uͤberlegen?


Jch muß Jhnen einen Auszug aus unſerer Un-
terredung vor und nach dem Abendeſſen geben, die
ich mit einander in der Erzaͤhlung verbinden will.


So bald mir allein waren, bat er mich mit al-
len Merkmahlen einer ergebenen und wahren Zaͤrt-
lichkeit (wie ich ihm Zeugniß geben muß) beſſer
mit ihm und mit mir ſelbſt zu frieden zu ſeyn. Er wi-
derhohlte alle Geluͤbde, mit denen er mir ehemahls
ſeine unaufhoͤrliche Zuneigung geſchworen hatte:
er verſprach. mir kuͤnftig in allen Dingen ſchlech-
ter-
[53]
terdings zu folgen: und bat ſich Erlaubniß aus zu
fragen, ob ich befaͤhle, den naͤchſten Tag zu einer
von ſeinen beyden Baſen zu reiſen: ‒ ‒


(Jch ſchwieg ſtille. Jch wußte nicht was ich
ſagen oder thun ſollte.)


Ob ich eine eigene Wohnung in der Nachbar-
ſchaft dieſer Frauenzimmer beziehen wollte, wie
ich ehemahls vorgehabt haͤtte? ‒ ‒


(Jch ſchwieg noch ſtille.)


Ob ich auf eins der Guͤter des Lord M. reiſen
wollte? Nach Berck? oder auf das naͤchſte Gut?


Jch ſagte: eine Wohnung, welche es waͤre, da
er nur nicht mit zugegen waͤre, wollte ich be-
ziehen.


Er geſtand, daß er mir dieſes verſprochen haͤt-
te. Er wollte ſein Wort halten, ſo bald ich nur
außer Gefahr waͤre, daß mir die Meinigen nicht
nachſetzeten, und ſo bald ich mich zu beruhigen an-
finge. Wenn mir es uͤbrigens einerley waͤre, wo
ich mich aufhielte, ſo ſey London der ſicherſte
Ort, und da ich mich am beſten verborgen halten
koͤnnte. Alle ſeine Verwandten wuͤrden mich beſu-
chen, ſo bald ſie Erlaubniß dazu von mir bekaͤ-
men. Jnſonderheit wuͤrde ſeine Baſe Charlotte
mir zur Geſellſchaft nach London kommen, ſo bald
ſie ſich wieder in die Luft wagen duͤrfte; wenn ich
ſie zur Geſellſchaft annehmen wollte. Wenn ich
aber auch Luſt haͤtte, zu der Frau Lawrance zu
reiſen, ſo wuͤrde ich ihr ſehr angenehm ſeyn: von
der Frau Sadleir wollte er nichts ſagen, weil ſie
von finſterem Gemuͤthe und Umgange ſey.


D 3Jch
[54]

Jch antwortete: in der Gemuͤths-Faſſung, in
der ich mich jetzt befaͤnde, und die ſich ſo bald nicht
aͤndern wuͤrde, gedaͤchte ich zu keiner von ſeinen
Anverwandtinnen zu reiſen. Meine Ehre erfordere
es, daß er ſich von mir entferne. Fuͤr mein Ge-
muͤth und Umſtaͤnde wuͤrde ſich ein eigener und et-
was ſtiller Aufenthalt am beſten ſchicken; und
zwar deſto beſſer, je wohlfeiler und ſchlechter er ſey,
weil man mich daſelbſt nicht ſuchen, ſon-
dern vermuthen wuͤrde, daß mir die Perſon alle
Bequemlichkeit verſchaffen wuͤrde, die an meiner
Uebereilung ſchuld ſey. Mir ſchiene ein Aufenthalt
auf dem Lande fuͤr mich, und zu London fuͤr ihn
das zutraͤglichſte zu ſeyn. Es ſey nichts daran ge-
legen, wie bald man wiſſe, daß er zu London
ſey.


Wenn er ſeine Meinung ſagen duͤrfte (erwiederte
er) ſo ſey London der beſte Ort in der Welt, mich
verborgen zu halten, wenn ich nicht Luſt haͤtte, zu
ſeinen Verwandten zu reiſen. Jn kleinen Staͤdten,
oder in Doͤrfern, mache jeder Fremde ſo gleich
ein Aufſehen: welches bey einer ſolchen Perſon wie
ich (hier fielen einige Schmeicheleyen vor) unge-
mein groß ſeyn wuͤrde. Selbſt das wuͤrde Nachfra-
ge erwecken, wenn Briefe an Orte gebracht wuͤrden,
wo ſie vorhin nicht gewoͤhnlich geweſen waͤren.
Er haͤtte bisher fuͤr keine Wohnung fuͤr mich ge-
ſorgt, weil er geglaubt haͤtte, ich wuͤrde entweder
nach London gehen, da man alle Stunden beque-
me Miethen finden koͤnnte, oder zu einer ſeiner
Baſe, oder auf ſeines Onckels Gut in der Graf-
ſchaft
[55]
ſchaft Hertford, auf welchem eine ſolche Haus-
haͤlterin waͤre, als meine Frau Norton, nehm-
lich Frau Greme.


Jch ſagte: wenn man mir ja nachſetzte, ſo
wuͤrde es in der erſten Hitze geſchehen; und der
naͤchſte Verdacht wuͤrde auf die Haͤuſer ſeiner Ver-
wandten fallen. Jch wuͤßte warlich nicht, was
ich anfangen ſollte.


Er ſagte: es kaͤme alles blos auf mein Belieben
an, wozu ich mich auch entſchloͤſſe. Nur dafuͤr muͤſſe
er ſorgen, daß ich ſicher ſeyn moͤchte. Er haͤtte
einige Miethen in London, allein er ſagte nicht
davon, um ſie mir anzutragen. Denn er koͤnne
leicht dencken, daß ich dagegen noch mehr wuͤrde
einzuwenden haben, als gegen ſeines Onckels oder
Baſen Haͤuſer.


Allerdings! ſagte ich mit der ſtraͤflichen Mine,
die Sie mein Amts-Geſichte zu nennen pflegen.
Er fing deswegen an, ſich ſehr zu entſchuldigen:
er habe weder gewuͤnſcht noch gehofft, daß ich die-
ſen Vorſchlag annehmen moͤchte. Er ſey fuͤr
nichts, als fuͤr meine Ehre und Sicherheit beſorget;
und mein Wille ſollte in allem, in allen Kleinig-
keiten, ſein Geſetz ſeyn.


Jch war zu muͤrriſch, zu betruͤbt, und in der
That all zu ſehr gegen ihn erbittert, als daß ich
etwas von dem, was er ſagte, haͤtte wohl aufneh-
men koͤnnen.


D 4Jch
[56]

Jch ſagte nur: ich hielte mich vor ſehr ungluͤck-
lich. Jch wuͤßte gar nicht, wozu ich mich ent-
ſchließen ſollte. Mein guter Nahme muͤßte ohne
Zweiffel voͤllig verlohren ſeyn. Es fehle mir an
Kleidung, mich vor jemand ſehen zu laſſen.
Selbſt mein Mangel muͤßte allen die mich ſehen,
ein Zeugniß meines Unverſtandes ſeyn. Jeder-
mann wuͤrde glauben, daß ich uͤbervortheilt ſey,
oder ihm einen unerlaubten Vortheil uͤber mich ge-
geben haͤtte, und weder von meinen Entſchließun-
gen noch von meinen Handlungen Meiſter waͤre.
Jch koͤnnte nicht anders dencken, als daß er arg-
liſtig mit mir umgegangen ſey. Er ſchiene ſich
nach meiner Schwaͤche, Unerfahrenheit und Ju-
gend in Erdenckung eines Kunſtſtuͤcks gerichtet zu
haben. Jch koͤnnte es mir ſelbſt ohnmoͤglich ver-
geben, daß ich zu der Unterredung mit ihm ge-
kommen ſey. Mein Hertz blutete mir im Leibe,
wenn ich an den Kummer meiner Eltern gedaͤchte.
Jch wollte gern die gantze Welt und alles
was ich in der Welt hoffete, dafuͤr geben,
daß ich jetzt in meines Vaters Hauſe ſeyn moͤchte,
es moͤchten auch die Folgen noch ſo ſchlimm ge-
weſen ſeyn. Er moͤchte ſagen was er wollte, ſo
faͤnde ich doch in ſeiner Liebe etwas niedriges und
eigennuͤtziges, da er ſich haͤtte entſchließen koͤnnen,
ein junges Kind zu verleiten, daß es ſeine Pflicht
und Gewiſſen verletzte. Eine edle Liebe muͤſſe ſu-
chen zu der Ehre und Gemuͤths-Ruhe der Ge-
liebten alles moͤgliche beyzutragen.


Er
[57]

Er hoͤrte ſehr aufmerckſam zu, ohne mich in
der Rede zu ſtoͤhren: und er beantwortete alles
was ich geſagt hatte ſo ordentlich und von Stuͤck
zu Stuͤck, daß es eine Probe ſeines unvergleich-
lichen Gedaͤchtniſſes ſeyn konnte.


Meine gantze Rede (ſagte er) haͤtte bey ihm ei-
nen tiefen Eindruck gemacht, daß er nothwendig
ernſthaft ſeyn und ernſthaft antworten muͤßte. Es
kraͤnckte ihn in der Seele, daß er bisher noch ſo
wenig Zuneigung und Vertrauen bey mir haͤtte
erwecken koͤnnen, als er in der That faͤnde.


Was meine Ehre und guten Nahmen anbe-
langte, ſo wollte er ſich die Freyheit nehmen, ſehr
aufrichtig davon zu reden. Mein guter Nahme
koͤnnte durch meine Flucht ohnmoͤglich ſo viel ley-
den, als durch die vorhergegangene Einſperrung
und eben ſo abgeſchmackte als ungerechte Auffuͤh-
rung der Meinigen gegen mich. Jedermann re-
dete von ihnen, und tadelte ſie, inſonderheit mei-
nen Bruder und meine Schweſter: uͤber meine
Geduld aber verwunderten ſich alle Leute. Er
muͤſſe das wiederhohlen, was er mir mehr als ein-
mahl geſchrieben haͤtte: meine Freunde muͤßten
ſelbſt geglaubt haben, daß ich eine Gelegenheit er-
greiffen wuͤrde, mich in Freyheit zu ſetzen: ſonſt
wuͤrden ſie mich nicht eingeſperret haben. Mein
vortrefflicher Character wuͤrde ohnehin meine beſte
Vertheidigung bey allen denen ſeyn, die mich und
die meinen Bruder und Schweſter kenneten, in-
ſonderheit wenn ſie auch den Kerl kenneten, den man
mir haͤtte aufdringen wollen.


D 5Was
[58]

Was die Kleidung anlangte, ſo wuͤrde niemand
erwarten koͤnnen, daß ich bey ſolchen Umſtaͤnden
mehr Kleidung mitnehmen ſollte, als diejenige wel-
che ich an gehabt haͤtte. Seine Baſen wuͤrden ſich
eine Ehre daraus machen, zu meinem jetzigen Ge-
brauch mir Kleidung zu leyhen: und auf das
kuͤnftige duͤrfte ich nur befehlen, ſo ſollte mir das
beſte und koſtbarſte zu Dienſte ſtehen, was in oder
außer England zu finden ſey.


Wenn es mir (wie er leicht dencken koͤnnte) an
Gelde mangelte, ſo wuͤrde er recht ſtoltz uͤber die
Ehre ſeyn, wenn er mir damit dienen duͤrfte. Er
wuͤnſchte nichts mehr, als daß er hoffen koͤnnte,
daß wir dereinſt gemeinſchaftliche Guͤter haben
wuͤrden.


Hierauf ſetzte er mir ſehr zu, daß ich 100
Pfund in Banck-Zetteln von ihm annehmen moͤch-
te: und er ſteckte mir den Zettel ohnvermerckt in
die Hand, Sie werden, ohne daß ich es melde,
glauben, daß ich dieſes Geſchenck mit Heftigkeit
abgewieſen habe.


Er ſagte: er ſey voller Verwunderung und
Kummer, daß ich ihn einer Argliſtigkeit in ſeiner
Auffuͤhrung gegen mich beſchuldigen koͤnnte. Er
ſey auf meinen eigenen Befehl (was fuͤr ein
Menſch! daß er mir das vorwerfen darf) gekom-
men, und habe das noͤthige veranſtaltet, mich in
Freyheit zu ſetzen. Er haͤtte gar nicht vermuthet,
daß ich meinen Entſchluß aͤndern, und daß er viel
Muͤhe haben wuͤrde, mich zu dem zu uͤberreden,
was ſchon vorhin mein Vorſatz geweſen waͤre.
Viel-
[59]
Vielleicht hielte ich das fuͤr ein Kunſt-Stuͤck, daß
er haͤtte mit mir in den Garten, ja zu meinen ver-
ſammleten Anverwandten gehen wollen. Allein ich
thaͤte ihm hierin Unrecht. Bis auf dieſe Stunde
wuͤnſchte er, daß ich ihm erlaubt haben moͤchte,
mich zu begleiten, weil er meine große Unruhe
merckte. Es ſey immer ſeine Weiſe geweſen, der
gedroheten Gefahr zu trotzen: denn man haͤtte
nicht leicht Urſache ſich vor denen zu fuͤrchten, die
viel droheten, wenn ſie Gelegenheit haͤtten ihre
Drohungen in das Werck zu richten. Wenn er
aber auch gewiß gewuſt haͤtte, daß man ihn meu-
chelmoͤrderiſcher Weiſe erſtechen wuͤrde, oder daß
er von jedem in meiner Familie eine toͤdtliche
Wunde zu gewarten haͤtte, ſo haͤtte er mich doch
begleiten wollen: denn meine Ruͤckkehr wuͤrde ihn
auf das aͤußerſte getrieben haben, daß er nach
nichts weiter gefragt haͤtte.


Auf die Weiſe, mein Schatz, muß ich mich oh-
ne Entſchuldigung verdammen, daß ich mich zu ei-
ner Unterredung mit einem ſo unerſchrockenen und
verwegenen Menſchen verſtanden habe. Das iſt
das Ende. Jch kann nun nicht daran zweifeln,
daß er Mittel gehabt haben wuͤrde, mich zu ent-
fuͤhren, wenn ich die Unterredung um Mitternacht
angeſtellet haͤtte, wie ich ein Paar mahl im Sin-
ne hatte. Und dieſer Erfolg wuͤrde fuͤr mich noch
fuͤrchterlicher geweſen ſeyn.


Er beſchloß dieſe Materie mit den Worten:
wenn ich ihm erlaubt haͤtte, mit in das Haus zu
gehen, ſo ſey er verſichert, daß er bey allen eine ſo
gute
[60]
gute Meinung von ſich haͤtte erwecken wollen, daß
ihm von neuen mit aller Beyſtimmung erlaubt ſeyn
wuͤrde, unſer Haus zu beſuchen, und mir ſeine
Aufwartung zu machen.


Er fuhr fort: er muͤſſe ſo frey ſeyn, mir zu ge-
ſtehen, daß er in Begleitung einiger Freunde, auf
die er ſich verlaſſen koͤnnte, einen ſolchen Beſuch
abgelegt haben wuͤrde, wenn ich ihn nicht geſpro-
chen haͤtte. Eben dieſer Nachmittag ſey dazu
ausgeſetzt geweſen: denn er haͤtte den fuͤrchterlichen
Mittewochen nicht anbrechen laſſen koͤnnen, ohne
den letzten Verſuch zu thun, ob er die Meinigen
auf andere Gedancken bringen koͤnnte.


(Was konnte ich mit einem ſolchen Mann an-
fangen? Wie ſollte ich mich gegen ihn verhalten?)


Um meinet und um ſeinetwillen haͤtte er
gewuͤnſcht, daß eine ſo ſchwere und verzwei-
felte Kranckheit durch eine verzweifelte Artzeney ge-
hoben werden moͤchte. Jedermann wiſſe, daß ein
wichtiger Endzweck oft durch die Mittel erreichet
wuͤrde, die andere als Hinderniſſe in den Weg ge-
leget haͤtten.


Jch dachte bey mir ſelbſt: wie ein trauriger
Beweiß dieſer Wahrheit ſind meine jetzigen Um-
ſtaͤnde? Jch ſchwieg indeſſen ſtille, ſo lange er re-
dete, und verdammete mich nur in der Stille und
in meinem Hertzen. Bisweilen jagte mir ſeine
Dreiſtigkeit eine Furcht ein: und ein andermahl
fand ich mich allzu matt, und allzu betruͤbt, ihm
in die Rede zu fallen. Denn aller Muth verging
mir, wenn ich uͤberlegte, wie ſchlecht auch meine
be-
[61]
beſte Hoffnung bey einem ſolchen Menſchen waͤre.
Er bekam hiedurch Zeit fortzureden: und das
that er mit einer Gebeerde, die immer ernſthafter
ward.


Er hoffete, ich wuͤrde ihm das vergeben, was
er jetzt ſagen muͤßte. Es gehe ihm, bey ſeiner
Seele! nahe, ſehr nahe (ſagte er nochmahls, mit
veraͤnderter Farbe und Sprache) daß er nicht an-
ders koͤnnte als wahrnehmen, daß ich mich viel
lieber haͤtte in die Gefahr begeben wollen, des
Solmes Frau zu werden, als mich in Freyheit
ſetzen, und es mir moͤglich machen, einen Mann
zu belohnen, der um meinet willen, (wenn ich
ihm erlauben wollte dis zu ſagen) eben ſo viel ge-
litten haͤtte, als ich um ſeinet willen, und der auf
alle meine Befehle auf (ich bitte um Vergebung)
auf alle veraͤnderlichen Zuͤge meiner Feder gelaurt,
zu allen Stunden, und bey allem Wetter gelaurt
haͤtte, und zwar dieſes mit ſolcher Willigkeit und
Eifer, die das untruͤglichſte Zeichen der allerzaͤrt-
lichſten Ergebenheit waͤren.


(Hier fing ich an, mit mehrerer Empfindung
auf ſeine Rede zu mercken; er fuhr fort:)


Und warum habe ich dieſes alles gethan, Fraͤu-
lein? (Jch ſahe ihn ſtarre an) blos, um ſie zu be-
wegen, daß ſie ſich von einer ſo niedertraͤchtigen
Sclaverey und Unterdruͤckung befreyen moͤchten.


Herr Lovelace! ſagte ich mit einer merckli-
chen Empfindlichkeit.


Hoͤren ſie mich nur aus, meine liebe Fraͤulein.
Mein Hertz iſt allzuvoll: ich muß es vor Jhnen
aus-
[62]
ausleeren. Sie ſagen mir, (denn ihre Worte
klingen mir noch in den Ohren, und mein Hertz
fuͤhlt ſie noch) daß ſie gern die gantze Welt und al-
les, was ſie in der Welt zu hoffen haben, dafuͤr
geben wollten, wenn ſie noch in ihres finſtern und
harten Vaters Hauſe waͤren, ‒ ‒


Kein Wort gegen meinen Vater, Herr Love-
lace!
‒ das werde ich nicht leyden ‒


Es moͤchte auch erfolger ſeyn, was da
wollte,
haben ſie geſagt. Fraͤulein, ſie haben ei-
ne gantz unwahrſcheinliche Leichtglaͤubigkeit, daß
ſie dem Solmes nicht wuͤrden angetrauet ſeyn.
Jch muß von ihnen hoͤren, daß ich ſie verleitet
habe, ihre Pflicht und Gewiſſen zu verletzen.
Allein mercken ſie nicht, liebſtes Kind, wie ſie ſich
ſelbſt widerſprechen? Mercken ſie nicht, daß die
Hitze ſie uͤbernimt? Sie haben ihr Gefaͤngniß und
ihre Verfolger ſo unwillig und mit ſo genauer
Noth verlaſſen, daß ihr Gewiſſen ihnen deshalb
nicht den allergeringſten Vorwurf machen kann.


O Herr Lovelace, ſind ſie ein ſolcher Wort-
Klauber? Sind ſie bey ihrem Zorn noch von ſo
ſreyem Gemuͤthe, daß ſie Worte auffangen koͤn-
nen?


Jch habe in der That ſeit der Zeit einen Ver-
dacht, daß ſein Zorn keine Leidenſchaſt iſt, die ihn
uͤberfaͤllt; ſondern daß er Herr uͤber ſeinen Zorn
iſt, und ihm nur bisweilen den Zuͤgel ſchießen laͤßt,
um ſich bey mir in Furcht zu ſetzen. Er fuhr in-
deſſen fort:


Ver-
[63]

Vergeben ſie mir Fraͤulein! Jch habe nur noch
ein Wort zu reden. Sagen ſie nicht ſelbſt, daß
ich mein Leben gewaget habe, ſie aus ihrer Scla-
verey zu befreyen? Und unterſtehe ich mich den
Lohn dafuͤr anders als Bittweiſe zu verlangen?
Denn haben ſie mir nicht die Bedingung, die har-
te Bedingung vorgeſchrieben, die ich aber dennoch
heilig halten will: daß ich nur eine entfernte Hoff-
nung haben ſoll: und daß ſie die Freyheit haben
wollen, Ja oder Nein zu meiner Bitte ſagen zu
duͤrfen?


(Sehen Sie, mein Schatz, wie ſich meine Um-
ſtaͤnde in allen Stuͤcken verſchlimmert haben.
Stehet es nun noch bey mir, Jhtem Rath zu fol-
gen, wenn ich gleich einſehe, daß ich ihm folgen
ſollte?)


Haben ſie ſich nicht ſo gar erklaͤret, daß ſie mir
auf ewig abſagen wollen, wenn ihre Freunde die-
ſe grauſahme Abſagung als eine Bedingung ihrer
Ausſoͤhnung fodern?


Allein, Fraͤulein, ich will den Ruhm allein und
ungetheilt haben, daß ich ſie von einem harten
Zwang erloͤſet habe. Jch will mich dieſer That
ruͤhmen, wenn ich ſie auch verlieren ſollte, wie ver-
muthlich geſchehen wird, da ſie jetzt mit mir ſo
uͤbel zufrieden ſind, und gewiß geſchehen wird,
wenn ihre Freunde auf die Bedingungen dringen,
die ſie einzugehen willig ſind. Daß ſie uͤber ſich
ſelbſt zu befehlen haben, daß iſt mein Werck und
mein Ruhm: daß ſage ich nochmahls. Und ich
bitte ſie um ihr Hertz und Zuneigung, als eine
voͤl-
[64]
voͤllig freye Perſon, die ihr Hertz verſchencken
kann. Jch thuhe dieſe Bitte blos unter den Be-
dingungen, die ich ſchon eingegangen habe. Eben-
falls bitte ich auch demuͤthig (hiebey fiel der hoch-
muͤthige Menſch auf die Kniee) um Vergebung
daß ich ihnen ſo lange mit meinen Reden beſchwer-
lich gefallen bin, und daß ich ihnen manches ſo
deutlich geſagt habe, als es mein allzu aufrichti-
ges Hertz heraus ſagen mußte.


O Herr Lovelace, ich bitte ſie, ſtehen ſie auf.
Erlauben ſie der Perſon zu knieen, der die Wohl-
that widerfahren iſt. Allein fahren ſie nicht fort,
in eben dem Ton zu reden; darum will ich gebe-
ten haben. Sie haben meinetwegen ſehr viel Muͤ-
he gehabt: allein ich wollte ſie eines großen Theils
dieſer Muͤhe uͤberhoben haben, wenn ſie mir vor-
her geſagt haͤtten, daß ſie eine Belohnung ihrer
Muͤhe als eine Schuldigkeit erwarteten. Es ſey
weit von mir entfernet, ſo außerordentlich große
Verdienſte, die ſie um mich haben, herunter zu
ſetzen. Allein vergoͤnnen ſie mir zu ſagen, daß
man mich weder eingeſperret noch ſonſt ſo hart
gehalten haben wuͤrde, wann nicht der verbotene
Briefwechſel Anlaß dazu gegeben haͤtte, zu dem ſie
mich gezwungen haben, und den ich gewiß nicht
wuͤrde fortgeſetzt haben, (wie denn faſt jeder Brief
der letzte ſeyn ſollte) wenn ich nicht geglaubt haͤtte
daß ihnen von den Meinigen zu viel geſchehen ſey.
Meines Bruders niedertraͤchtiger Bosheit wuͤrde
es an einen Vorwand gefehlt haben, wenn dieſer
Briefwechſel nicht geweſen waͤre.


Jch
[65]

Jch glaube gantz und gar nicht, daß meine
Sachen ſo ſchlimm als ſie meinen, ausgeſehen haben
wuͤrden, wenn ich in meines Vaters Hauſe geblie-
ben waͤre. Mein Vater hatte mich doch heimlich
lieb; und ich durfte ihn nur ſehen, und Gelegenheit
haben mit ihm ſelbſt zu reden; ſo wuͤrde ich zum
wenigſten einen Aufſchub meines harten Urtheils
erhalten haben.


Sie ruͤhmen ſich ihrer Verdienſte, und ſie thun
wohl daran. Denn ich werde auf nichts als auf
Verdienſte ſehen. Jch wuͤrde mich ſelbſt verach-
ten, wenn ich um des Geſichts und aͤuſſerlichen
Anſehens willen ihnen zugethan oder Herrn Sol-
mes
abgeneigt waͤre. Und wenn ſie ſich blos um
des aͤuſſerlichen willen dem armen Solmes vor-
ziehen, ſo ſind ſie mir auch veraͤchtlich. Sie moͤ-
gen ſich ihrer eingebildeten Verdienſte um mich
ruͤhmen: allein ich halte das fuͤr meine Schande,
was ſie fuͤr ihre Ehre anſehen. Bekuͤmmern ſie
ſich um einen Anſpruch an meine Zuneigung, den
ich ſelbſt billigen kann: ſonſt werde ich ihnen nicht
verhalten koͤnnen, daß ſie in ihren eigenen Augen
groͤſſere Verdienſte haben, als in meinen.


Doch wir fangen an mit den erſten Suͤndern
einer den andern zu verklagen: zum wenigſten wer-
de ich ihnen in dieſem Stuͤck gleich, nachdem ich
aus meinen Paradies vertrieben bin. Sie ſollen
nicht laͤnger die Muͤhe haben, mir von ihrem Ley-
den
um meinet willen, von ihren Verdienſten,
von dem was ſie alle Stunden und bey allem
Wetter
gethan haben, zu erzaͤhlen. Wenn es
Dritter Theil. Emir
[66]
mir ohnmoͤglich iſt, alle dieſe Wohlthaten zu be-
lohnen, ſo will ich doch daran gedencken ſo lange
ich lebe, und ſtets bekennen, wie hoch ich ihnen
verpflichtet bin. Meine gantze Bitte an ſie iſt
vor jetzund, daß ſie mir erlauben wollen ſelbſt fuͤr
mich zu ſorgen, und mir einen verborgenen Auf-
enthalt auszumachen; und daß ſie die Kutſche
nach London, oder wohin ſie ſonſt belieben mit
nehmen. Wenn ich ihrer Huͤlfe und ihres Schu-
tzes kuͤnftig bedarf, ſo will ich mich melden, und
will ihnen alsdenn noch mehr verpflichtet ſeyn.


Sie ſind ſehr hitzig, meine allerliebſte Fraͤulein.
Aber ſie haben in der That keine Urſache dazu.
Wenn ich einige Abſichten haͤtte, die mit meiner
aufrichtigen Liebe nicht beſtehen koͤnnten, ſo haͤtte
ich in meinen Erklaͤrungen nicht ſo offenhertzig ge-
gen ſie herausgehen duͤrfen.


Er fing von neuen an, mir auf das heiligſte
Treue zu ſchwoͤren. Jch fiel ihm aber bald in die
Flanque, und ſagte: ich will ihnen gern glauben,
Herr Lovelace. Es waͤre gantz unertraͤglich,
wenn ich ſo argwoͤhniſch ſeyn wollte, zu glauben, daß
ſo heilige Verſicherungen noͤthig waͤren. (Hier
ſchien er ſich zu beſinnen, und behutſamer zu wer-
den.) Wenn ich das glaubte, ſo ſeyn ſie verſichert,
daß ich keine Stunde in einem oͤffentlichen
Wirths-Hauſe bey ihnen bleiben wollte, ob ſie
mich gleich, ſo viel ich weiß, durch allerhand
Kuͤnſte hieher gebracht haben. (Sie muͤſſen mich
entſchuldiget halten) Selbſt der Gedancke, daß
dergleichen ſeyn koͤnnte, iſt mir ſo empfindlich, daß
ich
[67]
ich keine Geduld weder gegen ſie noch gegen mich
behalte. Doch nicht mehr hievon. Sagen ſie
mir nur, ich bitte ſie demuͤthig (mein Unwille
machte, daß ich mich hoͤhniſch buͤckte) ob ſie ſo
guͤtig ſeyn wollen, mich allein zu laſſen, oder ob ich
aus einem Gefaͤngniß in ein anderes Gefaͤngniß
gefluͤchtet bin. ‒ ‒


Durch Kuͤnſte hieher gebracht? Fraͤulein.
Jch ſoll ihnen ſagen, ob ſie aus einem Gefaͤng-
niß in ein anderes Gefaͤngniß gefluͤchtet
ſind?
Und das ſagen ſie mit den artigen liebens-
wuͤrdigen Gebeerden, die mir durch das Hertz
gehen muͤſſen! das iſt ſonderbahr! unbegreiflich!
brauche ich darauf zu antworten? Sie ſind gantz
frey, und koͤnnen voͤllig befehlen, was geſchehen
ſoll. Es wuͤrde ungereimt ſeyn, wenn ſie nicht
frey waͤren. Jch will ſie den Augenblick allein
laſſen, wenn wir an einem ſichern Orte ſind.
Eine eintzige Bedingung will ich mir aber nur von
ihnen ausbitten; nehmlich dieſe: nachdem ſie frey
ſind, ſo erneuren ſie das Verſprechen, das ſie vor-
hin freywillig gethan haben: freywillig, ſage ich,
ſonſt wuͤrde ich mich nicht unterſtehen, dieſe Bit-
te zu thun. So wenig ich aus einem jeden Daum-
Breit der mir zugeſtanden wird eine Hand-Breit
machen will, ſo unertraͤglich iſt es mir, das zu
verlieren, was ich vorhin erlangt zu haben hoffen
durfte. Verſprechen ſie mir alſo: „ſie moͤgen ſich
„mit den Jhrigen vergleichen wie ſie wollen, daß
„ſie dennoch keinen andern als mich nehmen wol-
„len, ſo lange ich am Leben und unverheyrathet
E 2bin,
[68]
„bin, und ihnen nicht neue Urſache gebe, ſehr
„misvergnuͤgt mit mir zu ſeyn.„


Jch ſtehe keinen Augenblick an, Herr Lovela-
ce,
mein Verſprechen unter der Bedingung zu
wiederhohlen, die ſie ſelbſt dazu ſetzen. Wie ſoll
ich es ihnen bekraͤftigen?


Blos durch ihr Wort, Fraͤulein.


Wohlan! niemahls will ich einen andern neh-
men.


Er hatte die Dreiſtigkeit, weil ich in ſeinen
Haͤnden war, ſich eine ſo genannte Verſiegelung
dieſes Verſprechens zu nehmen. Es war geſche-
hen, ehe ich mich dafuͤr huͤtete. Es wuͤrde al-
bern gelaſſen haben, wenn ich haͤtte boͤſe thun wol-
len: indeſſen konnte mir ſein Betragen nicht ſon-
derlich gefallen. Jch ſahe dieſes fuͤr den erſten
Anfang mehrerer Freyheit an, weil ich mit einem
dreiſten Menſchen zu thun hatte, der immer wei-
ter zu gehen pflegte. Er konnte auch mein Mis-
vergnuͤgen wol mercken.


Er verſchmertzte das mit ſeiner eigenen Mine.
Genug! genug! Fraͤulein. Darf ich ſie nur bit-
ten, ſich der fuͤrchterlichen Traurigkeit zu entſchla-
gen, die ihr Gemuͤth verunruhiget, und die mei-
ner eiferſuͤchtigen Zaͤrtlichkeit unertraͤglich iſt? Jch
will mich auf das aͤuſſerſte beſtreben, ihre Zunei-
gung zu verdienen, und ſie zu dem gluͤcklichſten
Frauenzimmer in der Welt zu machen, wenn ſie
mich zu der gluͤcklichſten Manns-Perſon zu ma-
chen wuͤrdigen.


Jch
[69]

Jch riß mich von ihm los, damit ich dieſen
Brief an Sie ſchreiben koͤnnte; ich ſchlug ihm
aber ab, ihn durch ſeinen Bedienten beſtellen zu
laſſen. Die Wirthin verſchaffte mir einen Boten,
der ihre Antwort nach des Lord M. ſeinem Gute
in der Grafſchaft Hertford bringen, und an Frau
Greme, die dort Haushaͤlterin iſt, beſtellen ſoll.
Wir werden morgen ſehr fruͤh dieſen Weg neh-
men, weil wir uns fuͤrchten, daß mir die Meini-
gen nachſetzen moͤchten. Er will dort des Lord
M. Kutſche und ſechs Pferde laſſen, und dafuͤr ſeine
eigene Chaiſe mit zwey Pferden gebrauchen, die
weniger Aufſehen machen wird.


Jch habe mein weniges Geld uͤbergezaͤhlt, und
ich finde, daß ich nicht mehr als ſieben Guineas
und etwas an Silber bey mir habe. Mein uͤbri-
ges Geld belief ſich auf funfzig Guineas, alſo fuͤnf
Guineas hoͤher als ich meinete, da mich meine
Schweſter befragte, wie viel ich Geld haͤtte. Die-
ſes habe ich zuruͤck gelaſſen, weil ich mir gar nicht
einbildete, daß er mich uͤberreden koͤnnte, mit ihm
davon zu gehen.


Jch habe mich in der That in ſchrecklich viel
unangenehme Umſtaͤnde geſetzt. Jch fand mich
unter andern genoͤthiget, ihm zu ſagen, wie es zu-
ginge, daß ich Waͤſche bey Jhnen haͤtte: denn er
konnte wohl ſehen, daß ich keine andere Kleidung
mitgebracht haͤtte, als was ich am Leibe trug; und
er mußte es mercken, daß ich von Jhnen Waͤſche
hohlen ließ. Wenn ich ihm nun nicht alles erzaͤhlt
haͤtte, ſo wuͤrde er auf die Einbildung gerathen ſeyn,
E 3daß
[70]
daß ich ſchon lange den Vorſatz gehabt haͤtte, mit
ihm davon zu gehen, und daß dieſes eine Zuberei-
tung geweſen waͤre.


Er ſagte: er wuͤnſchte um meiner Gemuͤths-
Ruhe willen, daß ihre Frau Mutter mir eine Zu-
flucht verſtattet haben moͤchte: und redete hiervon
ſo offenhertzig als zaͤrtlich.


Es ſind eine Menge Kleinigkeiten, die doch zum
Wohlſtande gehoͤren, welche ein junges Frauen-
zimmer verleugnen muß, ſo bald es eine Manns-
Perſon beſtaͤndig um ſich haben und mit ihr in ei-
ner ſolchen Vertraulichkeit leben muß. Mich
duͤnckt, ich wollte jetzt zwantzig viel ſtaͤrckere Gruͤn-
de anfuͤhren, als die ſind, die ich vorhin erwaͤhnt
habe, die ein Frauenzimmer, das noch etwas auf
ſich haͤlt, abſchrecken ſollten, ſich nicht in die Ge-
fahr zu begeben, das zu wagen, was ich mit
Schrecken und Widerwillen gewagt habe, und um
deren willen es einen jungen Menſchen, der es
dazu verleiten will, fuͤr den allerniedertraͤchtigſten
und eigennuͤtzigſten Verfuͤhrer anſehen ſollte.



Den Dienſtag Morgens vor fuͤnf Uhr kam die
Magd zu mir herauf, und ſagte: mein Bruder
waͤre reiſefertig, und das fruͤhſtuͤck wartete nur
auf mich. Jch ging mit ſchweren Hertzen und
truͤben Augen hinunter: er empfing mich mit Hoͤf-
lichkeiten und Danckſagungen, daß ich ſo fruͤh an-
gekleidet und (wie er es auslegte) reiſefertig
waͤre.


Er
[71]

Er hatte die Vorſichtigkeit gehabt, auf die ich
nicht gedacht hatte, (denn was ſollte ich jetzt vor-
ſichtig ſeyn, nachdem ich es in der wichtigern Sache
nicht geweſen war) mir eine ſammtene Kappe, und
ein artiges Maͤntelchen mit Silber beſetzt ohne
mein Wiſſen einzukauffen. Der liſtige Menſch
ſagte in Gegenwart der Wirthin, einer Verwan-
tin von ihr, und der Maͤgde: er wollte ſich die
Belohnung vor ſeine Vorſorge nehmen, und ſeiner
ſchoͤnen muͤrriſchen Schweſter ein Maͤulchen ſteh-
len. Er nahm ſich auch in der That ſeinen Lohn,
und (wie er ſagte) mit demſelben eine Thraͤne. Er
verſicherte mir in aller Gegenwart (der garſtige
Menſch!) ich duͤrfte mich nicht vor meinen Eltern
fuͤrchten, die mich hertzlich liebeten. Wie war es
mir moͤglich, mein Schatz, einem ſolchen Mann
freundlich zu begegnen, dem kein wahres Wort
auf der Zunge ſchwebte?


Als der Wagen vorfuhr, fragte er mich: ob ich
etwas dagegen haͤtte, daß wir auf das Gut in der
Grafſchaft Hertford fuͤhren? der Lord M. halte
ſich jetzt in der Grafſchaft Berck auf.


Jch antwortete: vor jetzt wollte ich zu keinem
von ſeinen Verwanten reiſen; denn das wuͤrde of-
fenbar laſſen, als wenn ich in meine Verwanten
ein Mistrauen ſetzte. Wenn ich meiner eigenen
Wahl folgen duͤrfte, ſo ſehnete ich mich nach einem
Aufenthalt, da ich verborgen und fuͤr mich ſeyn
koͤnnte, und er ſollte mich ſo lange verlaſſen, bis
ich hoͤrte, wie es bey meinen Freunden ausſaͤhe.
Jch haͤtte zwar ohnehin wenige Hoffnung zu einer
E 4Aus-
[72]
Ausſoͤhnung mit ihnen: allein dieſe wenige Hoff-
nung muͤſſe gantz verſchwinden, wenn ſie erfuͤhren,
daß ich mich bey ihm oder bey ſeinen Anverwan-
ten aufhielte. Das eine wuͤrden ſie eben ſo uͤbel
deuten als das andere.


Er gelobete mir heilig: mein Wille ſollte ſein
Geſetz ſeyn. Er daͤchte aber noch; London ſey
fuͤr mich der ſicherſte Ort. Wenn ich dort in Si-
cherheit waͤre, ſo wollte er ſich von mir entfernen.
Allein er wollte nicht in mich dringen, da er ſaͤhe
daß ich keine Luſt zu dieſem Vorſchlage haͤtte.


Er that mir den Vorſchlag, und ich bewilligte
ihn: daß ich in einem Wirts-Hauſe nicht weit von
der Forſt (ſo nannte er ſeines Onckels Gut in die-
ſer Grafſchaft) bleiben ſollte. Hier erhielt ich
zwey Stunden von ihm, die ich allein ſeyn konn-
te. Jch ſagte ihm: ich wollte ſie anwenden an
Sie, und an meine Schweſter zu ſchreiben, um
den Meinigen von meinem Befinden Nachricht zu
geben, wenn ſie gleich nicht viel darnach fragten,
und um meine Kleidung, um einige Buͤcher und
die funfzig Guineas zu bitten, die ich zuruͤck ge-
laſſen haͤtte.


Er fragte mich: ob ich auch auf die Addreſſe
gedacht haͤtte, unter der ſie mir antworten
ſollten?


Nein! in Wahrheit nicht! Jch waͤre noch gar
zu ſehr ein Neuling in dergleichen ‒ ‒


Er auch! allein es ſey ihm nur zu gutem Gluͤck
beygefallen. (Ein gottloſer Luͤgner!) Jch will ih-
nen aber (fuhr er fort) wol einen Rath geben, wie
ſie
[73]
ſie es anfangen koͤnnen. Wenn ſie, gleich nicht
nach London reiſen wollen, ſo iſt es doch am be-
ſten, daß die Jhrigen glauben, ſie waͤren zu Lon-
don: alsdenn werden ſie alle Hoffnung aufgeben,
ſie auszufinden. Wenn ſie ſchreiben, ſo legen ſie
dieſe Addreſſe ein: in Osgods Hauſe, nicht
weit von Soho-Square.
Osgod iſt ein ehr-
licher Mann: die Briefe gehen ſicher: und ſie wer-
den jene dadurch April ſchicken.


April ſchicken! Wen? Meinen Vater? meine
Onckles? Allein nun iſt es nicht mehr zu aͤndern.
Sehen ſie: er hat alle ſeine Kunſtſtuͤckchen im
Griffe.


Jch hatte nichts einzuwenden, und ich habe ſie
ſo geſchrieben. Allein was vor Antwort ich bekom-
men werde, und ob ich uͤberall Antwort zu hoffen
habe, das ſind Fragen die mir vielen Kummer ma-
chen. Dieſes iſt mein Troſt: wenn ich eine Ant-
wort bekomme, ſo kann ſie, ſollte ſie auch mein
Bruder aufſetzen, dennoch nicht haͤrter ſeyn, als
die Begegnung, die ich mir zuletzt von ihm und
meiner Schweſter habe gefallen laſſen muͤſſen.


Herr Lovelace ging auf anderthalb Stunden
aus. So bald er nach Hauſe kam, ſchickte er vier-
mahl mit großer Ungeduld an mich, und bat ſich
meine Geſelſchaft aus. Jch ließ ihm allemahl
antworten: ich ſey beſchaͤftiget: und das letzte mahl
ſetzte ich dazu; ich wuͤrde zu thun haben, bis das
Eſſen fertig waͤre. Er trieb daher ſehr, daß alles
geſchwind zubereitet werden ſollte, wie ich einige
mahl hoͤrte. Der Koch und die Bedienten beka-
E 5men
[74]
men einige Fluͤche dabey zum beſten. Dieſes iſt
auch eine von ſeinen Tugenden. Bey Tiſche ſuch-
te ich ihn wegen ſeiner unbedachtſamen Reden
ſchamroth zu machen.


Jch hatte gehoͤrt, daß er unten uͤber ſeinen Die-
ner geflucht hatte, dem er doch ſelbſt das Lob giebt,
daß er ein guter Bedienter ſey. Jch ſagte daher
zu ihm: das iſt ein elendes Leben, wenn einer ein
Wirthshaus haͤlt.


Ey nein! die Leute haben es gut genug. War-
um bedauren ſie aber die Kerls, die ſich auf an-
derer Unkoſten etwas zu gute thun?


Wegen der Einquartirung.(†) Jch glaube, die
meiſten Soldaten ſind Boͤſewichter. Gott be-
huͤte, wie habe ich einen vor einer Viertheil-Stun-
de fluchen hoͤren. Aus der Antwort die ihm der
Bediente mit einer ſanften Stimme gab merckte
ich, daß er einen guten geduldigen Menſchen vor
ſich haben muͤßte. Das Sprichwort hat Grund,
wenn man ſagt: er ſchwoͤrt wie ein Landes-
Knecht.


Er biß ſich auf die Lippen: ſtand auf, kehrte
ſich um, trat vor den Spiegel, und ſchaͤmte ſich
recht dreiſte. Ja! (ſagte er) Fraͤulein, die Sol-
daten ſind ſchlimme Kerls. Die Officiers ſollten
ſie ſtraffen.


Das iſt wahr! Straffe verdienen ſie. Schwoͤ-
ren iſt ein Laſter, das gar nicht maͤnnlich laͤſt,
und

[75]
und Fluchen iſt eine eben ſo niedertraͤchtige und
armſeelige Gewohnheit. Der liederliche Menſch
verraͤth dadurch ſeine Ohnmacht und ſeine Bos-
heit. Wenn er ſo ſchaden koͤnnte als er flucher, ſo
wuͤrde er ein Teuffel ſeyn.


Eine artige Anmerckung, Fraͤulein! bey mei-
ner Seele. Dem erſten Soldaten, den ich flu-
chen hoͤre, will ich wieder ſagen, was er vor ein
armſeeliger Tropf ohne Hertz iſt.


Frau Greme kam, mir ihre Aufwartung zu
machen, wie es Herr Lovelace nennet. Sie
bat mich ſehr, daß ich mich auf ſeiner Gnaden
Gut begeben moͤchte. Sie erzaͤhlte mir, wie viel
Gutes ſie von dem Lord ſelbſt, und den beyden
Baſen, ja von allen in der Familie von mir ge-
hoͤret haͤtte; und wie ſehr ſie ſeit einigen Mona-
then die Ehre gewuͤnſcht haͤtten, von der ſie hoffe-
te, daß ich ſie ihnen nun goͤnnen wuͤrde.


Dieſes machte mich vergnuͤgt; weil ich aus dem
Munde einer ehrlichen Frau hoͤrte, daß mir Herr
Lovelace die Wahrheit geſagt hatte.


Jch fragte ſie, ob ſie nicht eine Wohnung fuͤr
mich wuͤßte. Sie ſchlug mir hierauf das Haus
ihrer Schwiegerin vor, welches zwey deutſche Mei-
len von dem Gute laͤge. Hier befinde ich mich
jetzt. Am allerbeſten gefiel mir daß Herr Lovelace,
(auf deſſen Winck ſie Acht gab) ſie von freyen
Stuͤcken erſuchte, ſich zu mir in die Kutſche zu
ſetzen, und mich hieher zu begleiten. Er ſelbſt rit-
te mit zwey ſeiner eigenen Bedienten, und einem
Bedienten des Lord M. neben der Kutſche her.


Jch
[76]

Jch habe Jhnen ſchon in meinem vorigen Brief
gemeldet, daß das Haus ſehr unbequem iſt. Herr
Lovelace war misvergnuͤgt daruͤber; und obgleich
Frau Greme ſelbſt zum voraus geſagt hatte, die
Zimmer ſchickten ſich nicht fuͤr uns, ſo warf er
ihr doch vor, ihre Beſchreibung davon ſey beſſer
geweſen, als er ſie in der That finde. Das
Haus ſey eine Viertheil-Meile von der Stadt ab-
gelegen: es ſey noch ſo viel Gefahr vorhanden, als
daß er ſich ſo weit von ihr entfernen koͤnnte. Die
Zimmer waͤren auch nicht ſo abgeſondert von ein-
ander, daß ich ihm erlauben koͤnnte, eines davon
zu bewohnen.


Daß mir dieſes wohl gefiel, brauche ich Jhnen
nicht zu berichten.


Unterweges habe ich mit Frau Greme viel von
ihm geredet. Sie beantwortete alles frey und oh-
ne Furcht, was ich ſie fragte. Sie hat eine Ernſt-
haftigkeit an ſich, die mir wohl gefaͤllt.


Jch brachte ſie ſo weit, daß ſie mir folgende
Beſchreibung von ihm machte, die mit der Nach-
richt des abgedanckten Haushalters ziemlich uͤberein
koͤmmt; und daraus ich ſehe, daß alle Bediente
gleiche Gedancken von ihm haben.


„Herr Lovelace ſey ein freygebiger Herr.
„Man koͤnnte faſt nicht ſagen, ob ihres Herrn
„Bediente mehr Furcht oder mehr Liebe gegen
„Herrn Lovelace haͤtten. Seine Gnaden hielten
„ungemein viel auf ihn, und bey ſeinen beyden Tan-
„ten ſtehe er ſehr wohl. Die beyden Fraͤuleins
Montague waͤren von ſo gutem Gemuͤth, daß
man
[77]
„man ſie ſich nicht beſſer wuͤnſchen koͤnnte. Sein
„Onckle und Tanten haͤtten ihm einige Partheyen
„vor meiner Zeit vorgeſchlagen: ſie haͤtten ihm
„auch nachher noch einige Vorſchlaͤge gethan, weil
„ſie die Hoffnung verlohren gegeben haͤtten, mich
„und meine Freunde zu gewinnen. Sie
„haͤtte aber wol gehoͤrt, daß er geſagt: er habe
„gar nicht Luſt zu heyrathen, wenn er mich nicht
„erhalten koͤnnte. Sein Onckle und ſeine Tan-
„ten haͤtten ſich die Beſchimpfungen ſehr angezo-
„gen, die ihm von den Meinigen wiederfahren
„waͤren. Sie bewunderten mich aber und ſchaͤtz-
„ten mich ſehr hoch: und deswegen wuͤnſchten ſie,
„daß er mich heyrathen moͤchte, wenn ich auch keinen
„Groſchen mit bekommen ſollte, weil ſie glaub-
„ten, daß ich viel bey ihm ausrichten wuͤrde. Es
„ſey wahr, Herr Lovelace ſey ein wilder Herr:
„allein das werde ſich mit der Zeit geben. Der
„Lord M. finde in ſeinem Umgange viel Vergnuͤ-
„gen, ſo oft er ſeiner habhaft werden koͤnnte:
„ſie zerfielen bisweilen mit einander, und alsdenn
„muͤßte ſein Onckle immer nachgeben. Es kaͤme
„ihr bey nahe vor, als wenn er ſich vor ihm fuͤrch-
„tete, denn er thaͤte alles, was Lovelace ha-
„ben wollte. Sie bedauerte ſehr oft, daß er ſei-
„ne Gaben nicht beſſer anwendete! allein ſie mein-
„te er habe gute Eigenſchaften, die den Grund
„einer dauerhaften Beſſerung enthielten: und er
„wuͤrde alles gut machen, wenn der gluͤckliche
„Tag kaͤme, den er wuͤnſchte. Alle ſeine An-
„verwanten waͤren hievon ſo uͤberzeuget, daß ſie
„nichts
[78]
„nichts ernſtlicher wuͤnſcheten, als ihn verheyra-
„thet zu ſehen.„


So mittelmaͤßig dieſes Lob iſt, ſo iſt es doch
beſſer als das, was mein Bruder von ihm ſaget.


Die Leute in dieſem Hauſe ſcheinen dem Anſehen
nach ehrliche und arbeitſame Leute zu ſeyn: die
Wirthin heißt, Frau Sorlings. Die Haushal-
tung ſiehet nicht duͤrftig aus: es ſcheint alles nach
der Art voll auf zu ſeyn. Sie iſt eine Wittwe, und
hat zwey erwachſene Soͤhne, die mit einander um
die Wette arbeiten. Beyde begegnen ihren zwey
Schweſtern, die ſtille wohlgezogene Maͤdchens
ſind, viel hoͤflicher, als mein Bruder ſeiner Schwe-
ſter zu begegnen pflegte. Mir gefaͤllt alles ſo wohl,
das ich laͤnger zu bleiben wuͤnſche, als ich zu An-
fang vorhatte.


Billig haͤtte ich ſchon meinen Danck abſtatten
ſollen, daß ich Jhren guͤtigen Brief vor meiner
Abreiſe von St. Albans erhalten habe. Es
iſt alles guͤtig, was von einer ſo werthen Freundin
kommt. Jch geſtehe es, daß Sie Urſache haden,
ſich zu wundern, nachdem ich mich ſo veſt entſchloſ-
ſen hatte, meines Vaters Haus nicht zu verlaſſen.
Sie werden ſehen, daß ich mich ſelbſt uͤber mich
gewundert habe.


Herrn Lovelaces viele und uͤbertriebene Wor-
te bringen mir keinen beſſern Begriff von ihm bey.
Er verſpricht gar zu viel; und lobet mich abweſend
und gegenwaͤrtig all zu ſehr. Die wahre Hoch-
achtung beſtehet nicht in Worten: die Worte ſind
nicht im Stande ſie auszudruͤcken. Eine ſtille
Ehr-
[79]
Ehrerbietung, ein furchtſames Auge, eine abge-
brochene und unvollkommene Rede, ſind beſſere
Zeugniſſe davon, als (nach Schakeſpears Aus-
druck.)


Des dreiſten Redners fluͤchtge Zunge.


Bisweilen iſt der Menſch nach ſeiner eigenen
Redens-Art gantz entzuͤckt und außer ſich:
allein eben dieſes dienet zu meiner Beſchaͤmung,
weil ich die Urſachen gar zu wohl weiß, denen ſei-
ne Entzuͤckung groͤßeſten-Theils zuzuſchreiben iſt.
Sein Sieg uͤber mich macht ihn ſo vergnuͤgt: ich
brauche nicht mehr zu ſagen, das eine Wort druͤckt
meinen Hochmuth und meine Thorheit vollſtaͤn-
dig aus.


Wir ſind durch Nachrichten von ſeinem Spion
verunruhiget worden, als verfolgete man uns.


Wie viel tragen doch die veraͤnderten Umſtaͤnde
in denen wir uns befinden zu unſerem Urtheil uͤber
das was recht oder unrecht ſeyn ſoll bey? Wie ſehr
muͤſſen wir uns huͤten, den ewigen Unterſcheid des
Nechts und Unrechts nicht aufzuheben, wenn die
Sache uns ſelbſt betrifft. Ehemahls ſahe ich es
fuͤr niedertraͤchtig an, daß er einen Bedienten mei-
nes Vaters beſtochen hatte. Allein nun billige ich
bey nahe dieſe Niedertraͤchtigkeit, indem ich mich
oͤfters bey ihm erkundige, ob er gar nicht erfah-
ren koͤnne, was die Meinigen zu meiner Flucht
ſagen. Sie muͤſſen es ohne Zweiffel fuͤr eine vor-
ſaͤtzliche, angeſtellete und wohl uͤberlegte Flucht hal-
ten. Dieſes iſt fuͤr mich ein Ungluͤck. Wie kann
ich
[80]
ich ihnen aber in meinen jetzigen Umſtaͤnden eine
beſſere Meinung beybringen?


Er ſagt: Sie naͤhmen meine Flucht ſehr uͤbel
auf; allein ſie ſchienen nicht ſo wohl betruͤbt als
erbittert und raſend zu ſeyn. Er koͤnnte kaum die
Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen
meines Bruders gegen ſich zu dulden. ‒ ‒ Alle
dieſe Geduld wird mir als ein neues Verdienſt um
mich auf die Rechnung geſchrieben.


Was fuͤr einen Troſt habe ich durch dieſe eintzi-
ge Uebereilung verlohren! zu ſpaͤte ſehe ich, was
es fuͤr eine verſchiedene Sache iſt, der beleydi-
gende
und der beleydigte Theil zu ſeyn. Wie
viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Gluͤck
erkauffen koͤnnte, daß ich noch jetzt ſagen koͤnnte,
ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß
andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine
Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor-
ſam ſchuldig bin, aus den Augen ſetzte!


Mir eckelt vor mir ſelbſt, daß ich den Verfuͤh-
rer einer Unterredung gewuͤrdiget habe. Wenn
ſich gleich alles gluͤcklich endiget, ſo habe ich doch
fuͤr mein Gewiſſen einen Schatz des Kummers ge-
ſammelt, der ſich nicht eher als mit meinem Tode
endigen wird.


Am meiſten bekuͤmmert mich dieſes; je oͤfter ich
den Menſchen ſehe, deſto zweifelhafter werde ich,
was ich aus ihm machen ſoll. Jch belaure alle
ſeine Geſichts-Zuͤge; allein ſie kommen mir je
laͤnger deſto unerforſchlicher vor. Man kann an
ſeiner Stirne leſen, daß er Abſichten haben muß:
er
[81]
er ſiehet nicht ernſthafter aus; er iſt noch eben ſo
munter; ich weiß ſelbſt nicht, wie er ausſiehet.
Dieſes eine weiß ich, er hat jetzt viel mehr Drei-
ſtigkeit als ſonſt in ſeinem Anſehen: eine Gabe, an
der es ihm vorhin nicht gefehlet.


Doch hier iſt der Schluͤſſel! Jch ſehe ihn jetzt mit
Furcht, weil ich mir bewuſt bin, daß ich ihm
durch meine Unvorſichtigkeit allzu viele Gewalt
uͤber mich gegeben habe. Er kann mit Recht ein
dreiſtes und vornehmes Geſicht annehmen, nach-
dem ich aufgehoͤrt habe, das zu ſeyn, was ich mir
ſonſt einbildete zu ſeyn, (eine Einbildung, die Leu-
ten wohl anſtehet, ſo lange ſie von andern geeh-
ret werden) und nachdem mir mein Gewiſſen ſaget,
daß ich von ihm uͤberwunden und ihm jetzund als
meinen Beſchuͤtzer verpflichtet bin.


Jch werde dieſen Brief, wie den vorigen, durch
einen armen Mann beſtellen laſſen, der mit ſei-
nem kleinen Kram taglich herum gehet. Er ſoll ihn
nach ihrem Befehl in dem Hauſe der Frau Knol-
lys
abgeben.


Wenn ſie etwas von meinen Eltern und von ih-
rem Befinden, oder von der Geſinnung meiner
Freunde gegen mich wiſſen; ſo ſeyn Sie ſo guͤtig,
mich durch ein paar Zeilen zu benachrichtigen, und
ſie dem Ueberbringer dieſes Briefes mit zu geben,
wenn ſie anders wiſſen koͤnnen, daß er auf Ant-
wort wartet.


Jch fuͤrchte mich, noch die Frage hinzuzuſetzen,
ob ſie nach Durchleſung meiner vorigen Erzaͤh-
Dritter Theil. Flung
[82]
lung etwas finden, das einiger Maaßen entſchul-
digen kann


Jhre ungluͤckliche
Clariſſa Harlowe.



Der ſechſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.



Du mahneſt mich wegen meines Verſprechens,
daß ich alles genau erzaͤhlen will, was zwi-
ſchen mir und meiner Goͤttin vorgehet. Jch habe
nie eine beſſere Materie unter der Feder gehabt: ich
habe auch Zeit genug, denn wenn es nach ihrem
Willen gehet, ſo ſoll mir der Zugang zu ihr nicht
leichter werden, als dem unterthaͤnigſten Sclaven
die Ehre einen morgenlaͤndiſchen Monarchen zu ſe-
hen. Es kann alſo die Saumſeeligkeit im Schrei-
ben durch nichts entſchuldiget werden; ſie wuͤrde
dem Mangel des guten Willens zuzuſchreiben ſeyn.
Weil aber dieſer Mangel in Betrachtung unſerer
Freundſchaft und deiner Dienſtfertigkeit, auf mei-
nen Winck nach dem weißen Hirſch zu mir zu kom-
men, gar nicht entſchuldiget werden koͤnnte; ſo will
ich ſuchen mein Wort zu halten.


Du weiſſeſt mit was fuͤr einem Entſchluß ich
von dir und deinen Bruͤdern Abſchied nahm, daß
wir
[83]
wir uns einander wiederſehen wollten, wenn ſie ihr
Wort nicht hielte, und daß wir gemeinſchaftlich
in Begleitung unſerer Bedienten, zu ihrem finſtern
Vater gehen, und uns von dem Tyrannen ein geneig-
tes Gehoͤr ausbitten wolten, uns wegen der Freyheit
zu beſchweren, mit welcher er und die ſeinigen von
uns geredet haben: daß wir endlich ſuchen wollten,
durch guͤtliche Mittel (wenn guͤtliche Mittel hin-
reichend waͤren) ihn und ſeine Familie zu bewegen,
daß ſie ihre Entſchlieſſungen aͤndern, daß ſie
der Schoͤnen menſchlicher und mir hoͤflicher be-
gegnen moͤchten.


Jch ſagte dir, was ich vor Urſachen haͤtte,
nicht nachzuſehen, ob ſie einen Brieff fuͤr mich hin-
gelegt haͤtte. Jch hatte Recht. Wenn ich geſucht
haͤtte, ſo wuͤrde ich gefunden haben, was ich be-
fuͤrchtete, und alsdenn wuͤrde ſie ihr Wort nicht ge-
halten haben, mich zu ſprechen. Konnte ſie glau-
ben, daß ich nicht ſuchen wuͤrde ſie bey ihrem Wor-
te zu halten, nachdem ſie es mehr als einmahl ge-
aͤndert hatte? daß ich ſie nicht halten wuͤrde, nach-
dem ſie ſich ſo weit mit mir eingelaſſen hatte?


So bald ich hoͤrte, daß ſie aufriegelte, hielt ich
mich ihrer ſchon verſichert. Mein Hertz fing mir
gleich vor Freude an bis an den Hals zu ſchwellen.
Allein als ich meine Goͤttin ſelbſt ſahe, die ſich
meinen Augen in ihrem voͤlligen Glantze zeigete,
als ich ſie in ihrer artigen obgleich nicht reiſefertigen
Kleidung vor mir ſtehen ſahe: da hatte ich Wolcken
und Mond unter mir, und ich konnte kaum glau-
ben, daß ich noch ein Sterblicher waͤre.


F 2Ur-
[84]

Urtheile du von ihrer Kleidung, ſo wie ſie mir
gleich in die Augen fiel, und wie ich ſie fand als ich
Zeit hatte, auf alles genauer zu mercken. Du weißt,
daß dein Freund ein Kunſtrichter in der Tracht
des Frauenszimmers iſt. Jch habe manche ge-
lehrt, wie ſie ſich ankleiden ſoll, und manche habe
ich auskleiden helfen. Allein bey dieſer Schoͤnen
iſt ein natuͤrlicher Schmuck, der alles uͤbertrifft was
ich mir unvergleichliches einbilden konnte. Sie
gibt ihrem Schmuck die Schoͤnheit, und borget ſie
nicht von ihm: das iſt ihr Vorzug.


Erwarte denn einen ſchwachen Entwurff eines
Gemaͤhldes ihrer wundernswuͤrdigen Perſon und
Kleidung.


Jhr Fleiſch, (Denn ich bin doch endlich der
Meinung, daß ſie Fleiſch und Blut hat) welches
aus Wachs pußirt zu ſeyn ſcheint, zeiget durch
ſeine Zaͤrtlichkeit und Dichtigkeit die Geſundheit ih-
res der Unſterblichkeit wuͤrdigen Leibes an. Du
haſt oft gehoͤrt, daß ich ihre Farbe geruͤhmt habe.
Niemahls habe ich eine ſo unvergleichlich ſchoͤne
und faſt ſcheinende Haut geſehen. Thorheit iſt es,
von dem Schnee der Wangen und von Lilien
zu reden. Auf ihre Waͤſche und Spitzen wuͤrde
ſich die Vergleichung ſchicken: allein wenn die Ver-
gleichung in Abſicht auf das Geſicht richtig ſeyn
ſollte, ſo wuͤrde das Frauenzimmer eine uͤbertuͤnchte
Wand ſeyn muͤſſen. Dieſes Kind iſt gantz leben-
dig, gantz gluͤend, gantz Fleiſch und Blut, und
doch ſo zart, daß eine jede ſchlaͤngelnde Ader durch
die
[85]
die Haut ſcheinet, ſo weit es die Gewohnheit er-
laubet dieſen liebenswuͤrdigen Leib zu ſehen.


Du haſt gehoͤrt, was ich ſonſt von ihren fliegen-
den Locken und hell-blonten Haaren geſagt habe,
die weder der Kunſt noch dem Puder etwas ſchul-
dig ſind. Sie ſind ſelbſt ein Zierrath; aller ande-
re Zierrath muß ſich vor ihnen ſchaͤmen, wenn ſie
um einen Hals ſpielen, deſſen Schoͤnheit ich nicht
beſchreiben kann.


Jhr Kopf-Schmuck war von Bruͤſſeliſchen Spi-
tzen, und ſchickte ſich unvergleichlich zu ihrer Mine
und Geſichts-Bildung: ein Himmel-blaues
Band erhob die Schnee-weiße Reinlichkeit derſel-
ben. Ob das Wetter gleich etwas unfreundlich
war, ſo hatte ſie doch weder Hut noch Kappe:
denn es auſſer dem, daß ſie ſich gern hart gewoͤh-
net, und hiedurch ſo wohl als durch ihre ungemei-
ne Maͤßigkeit den beſten Grund zu der Geſundheit
eines ſonſt zaͤrtlichen Leibes leget, ſo ſchien es, daß
ſie mir ſelbſt durch ihre Kleidung zeigen wollte, ſie
werde nicht mit mir gehen. Was meinſt du Bru-
der, daß ſo ein Engel ſo ein untreues Hertz haben
kann?


Jch habe dir ſchon gemeldet, in was fuͤr Ent-
zuͤckung ich geweſen bin, als die aufgeriegelte Thuͤr
mich meine Goͤttin ſehen ließ, die ich ſo lange er-
wartet hatte. Die Gemuͤths-Bewegungen, die
ich in ihrem Geſichte wahrnahm, waren angeneh-
mer und hatten mehr von dem an ſich, was dem
Frauenzimmer eigen iſt, als die erſten Augen-
blicke uͤberſtanden waren. Denn nun fing ſich das
F 3Feuer
[86]
Feuer an aus ihren Augen zu verlieren, daß man
durch ihre ſanfteren Blicke nicht mehr geblendet
ward. Sie zitterte, und konnte die Bewegung eines
Hertzens nicht ertragen, das ihr noch nie ſo unge-
horſam geweſen war. Sie wollte niederſincken,
als ich meine gluͤcklichen Arme um ſie ſchlug, ſie zu
halten. Was war das fuͤr ein unſchaͤtzbarer Au-
genblick! Wie nahe, wie empfindlich nahe waren
einander damahls die zwey ſchlagenden Freunde,
die unſere Bruſt bedecket!


An ihrer Kleidung merckte ich, daß ſie ſich gar
nicht zur Reiſe geſchickt haͤtte. Weil ich leicht
merckte, daß ſie den Vorſatz hatte mich noch ein-
mahl vergeblich kommen zu laſſen, ſo wollte ich ſie
mit mir fortziehen. Hier erhub ſich ein Streit, ſo
hart, als ich ihn nie mit einem Frauenzimmer ge-
habt habe. Dein freundſchaffts-volles Hertz wuͤr-
de ſich nur betruͤben, wenn ich dir weitlaͤuftig mel-
den ſollte, was dein Freund fuͤr ſaure Muͤhe hat
anwenden muͤſſen. Jch bat, ich flehete: auf
meinen Knieen bat und flehete ich, daß ſie ihr eige-
nes Verſprechen erfuͤllen moͤchte: allein alles war
vergeblich. Wenn ich nicht zum Voraus auf die-
ſen Fall gedacht haͤtte, weil ich wol wußte, mit wem
ich zu thun haͤtte, ſo wuͤrde ich gewiß meine Ab-
ſicht nicht erreichet haben: und eben ſo gewiß haͤt-
te ich ſie auch ohne dich und deine Bruͤder in ihres
Vaters Haus begleiten wollen; und wer weiß,
was die Folgen hievon geweſen ſeyn wuͤrden?


Der treue Kerl, den ich in der gantzen Sache
gebraucht habe, verſtand endlich, obwohl ein wenig
ſpaͤter
[87]
ſpaͤter als ich es wuͤnſchete, mein Zeichen. Du
weißt, was ich ihm aufgetragen hatte. Sie kom-
men, ſie kommen! fliehen ſie!
rieff ich, und
zog den Degen ſo fuͤrchterlich aus, als wenn ich
ihrer auf einmahl ein halb hundert niederſaͤbeln
wollte. Jch ergriff ihre bebenden Haͤnde, und
zog ſie ſo geſchwind mit mir fort, daß ich kaum
mit ihr gleich lauffen konnte, ob gleich meine Fuͤſſe
von der Liebe und ihre von der Furcht hurtig ge-
macht wurden. So ward ich ihr Ober-Herr, ihr
Gros-Fuͤrſt; oder wie du es nennen willſt.


Jch will dir alles umſtaͤndlich erzaͤhlen, wenn
ich dich ſpreche: und denn ſollſt du urtheilen, wie
verkehrt ihr Hertz ſeyn muß, und wie viele Hin-
derniſſe ich gefunden habe. Du wirſt mit mir uͤber
den Sieg froͤlich ſeyn, den ich uͤber eine ſo wach-
ſame und ſcharffſichtige Schoͤne erhalten habe.


Siehſt du aber nicht ſchon, (mich duͤnckt zum
wenigſten, ich ſehe es) daß die Schoͤne geſchwin-
der als der Wind von Liebe zu Liebe flieget? Hat
man nicht ein ſolches Spiel? Sieheſt du nicht, daß
ſie von Freunden, die ſie nicht zu verlaſſen ent-
ſchloſſen war, zu einem flieget, mit dem ſie nicht
wegzugehen den Vorſatz hatte? Es bleiben Frau-
ens-Leute doch Frauens-Leute. Ein angeneh-
mer, ein ſchoͤner Widerſpruch! Hah! Ha! Ha! Ha!
Jch muß die Feder hinlegen, um die Haͤnde in die
Seite zu ſetzen, daß ich nicht vor Lachen berſte.
Denn jetzt muß ich recht auslachen, da mich das
Lachen wie ein Fieber uͤberfaͤllt.


F 4Jch
[88]

Jch glaube! ich glaube ‒ ‒ Ha! Ha! Ha! Ha!
ich glaube, Kerl, meine Hunde halten mich fuͤr
unſinnig. Eben war einer von ihnen da, kuckte
herein, als wenn er ſehen wollte, was mir fehlte,
oder mit wem ich lachte. Der Teuffels-Kerl
kriegte das Lachen auch, als er wegging. Ha!
Ha! Ha! Ein unverſchaͤmter Hund! O Bruder,
wenn du wuͤßteſt, was ich mir jetzt einbilde, und
wenn du nur mit mir lachteſt; ſo wollte ich das
Lachen noch eine Stunde fortſetzen.


Allein unvergleichliche Schoͤne, murre nicht
uͤber die Kuͤnſte, durch welche (wie du argwohneſt)
deine unnuͤtze Wachſamkeit zu nichte gemacht iſt.
Huͤte dich, daß du mich nicht zu neuen Kuͤnſten
zwingeſt, die wuͤrdiger ſind gegen dich gebraucht
zu werden. Wenn dein Beherrſcher deinen Fall
einmahl beſchloſſen hat, ſo ſollſt du ſehr fallen.
Du ſollſt Urſache haben, wenn das geſchiehet, was
geſchehen moͤchte, (denn warum haſt du unſere
Verbindung ſo weit hinausgeſetzt, bis du erſt von
meiner Beſſerung uͤberzeuget ſeyn koͤnnteſt?) du
ſollſt Urſache haben, mehr uͤber dein Ungluͤck als
uͤber dich ſelbſt misvergnuͤgt zu ſeyn. Wenn es
auch auf das ſchlimmſte kommt, ſo will ich dir
ſolche Bedingungen machen, davon du Ehre haſt.
Jch will deiner Guarniſon verſtatten, daß ſie mit
allen Ehren-Zeichen die eine tapfre Gegenwehr
verdienet, ausziehe; die Klugheit ſoll als Ge-
neral voran, und die Wachſamkeit als Gouver-
neur hintennach zum Thore hinaus gehen. Alle
von
[89]
von deinem und meinem Geſchlecht, die von mei-
ner Krieges-Liſt und deinem Widerſtande hoͤren,
ſollen bekennen, daß die Vertheydigung und Ero-
berung der Veſtung gleiche Ehre bringet.


Hoͤre ich dich nicht ſagen, Bruder: du wirſt
dich doch nicht unterſtehen, mit einer ſolchen Goͤttin
ſo poͤbelhafft zu verfahren! Es iſt ohnmoͤglich,
Lovelace, daß du ſo heilige Verſicherungen, ſol-
che Eydſchwuͤre brechen ſollteſt.


Es iſt gewiß, daß ich dieſen Vorſatz nicht ge-
habt habe. Jch kann nicht, ich darf wegen mei-
nes eigenen Hertzens und wegen meiner Ehrfurcht
vor ihr nicht ſagen, daß ich ihn jetzt habe. Allein
du kenneſt meine Abneigung vor Feſſeln: und
habe ich ſie nicht in meiner Gewalt?


Aber, Lovelace, willſt du eine Gewalt mis-
brauchen, die ‒ ‒


Die was, alberner Kerl? die ich wider ihren
Willen bekommen habe. ‒ ‒


Die du aber nie bekommen haben wuͤrdeſt, wenn
ſie dich nicht allen andern vorgezogen haͤtte. ‒ ‒


Und die ich nie wuͤrde erlanget haben, wenn ich
ſie nicht allen ihres Geſchlechts vorgezogen haͤtte.
So fern iſt gleich gegen gleich. Willſt du von
Wort und Ehre reden, ſo frage ich, ob dieſes kei-
ne Pflichten ſind, die beyde Theile auf gleiche Art
erzeigen muͤſſen? Jſt dieſes, ſo folget daraus, daß
beyde Theile ein Zutrauen in einander ſetzen muͤſ-
ſen. Was kann ich aber von ihrem Zu-
trauen gegen mich ruͤhmen? du weißt die gantze
Geſchichte unſeres Krieges, (einen Krieg kann ich
F 5es
[90]
es mit Recht nennen, ob es gleich noch bey wei-
ten kein Krieg in dem Reiche der Liebe iſt) was
habe ich von ihr erhalten koͤnnen, als Zweifel,
Mistrauen, Verweiſe? und ſie hat von mir die
allertiefſte Erniedrigung zu erzwingen gewußt.
Jch habe mich ſo heilig ſtellen muͤſſen, daß ihr al-
le in Sorgen geweſen ſeyd, ob es nicht Ernſt mit
meiner Bekehrung werden wuͤrde. Haſt du nicht
ſelbſt meiner oft damit geſpottet, daß mich meine
vorige Munterkeit gar nicht kleidete, wenn ich von
meinen Wallfarthen zuruͤck kam, und ohne ſie zu
ſehen in der naͤchſten Viertheil-Meile um ihres
Vaters Garten-Mauer herumgeſchweift war.


Soll ſie vor ſo viel Suͤnden nicht buͤſſen? Jſt
es nicht eine niedertraͤchtige Bosheit, einen bra-
ven Kerl zu zwingen, daß er ein Kopfhaͤnger wer-
den muß.


Du weißſt, was ſie fuͤr ein loſes ſchelmiſches
Hertz hat, und wie wenig Bedencken ſie trug, mir
etwas zu verſprechen, und nachher ihr Wort zu-
ruͤck zu nehmen. Du haſt mit deinen Augen ge-
ſehen, wie mich ihre Falſchheit verdroſſen hat.
Habe ich nicht in der erſten Hitze das Geluͤbde ge-
than, mich an meiner Schoͤnen zu raͤchen? Wenn
ich denn noch meineydig werde, was iſt daran ge-
legen, ob ich den Eyd nach ihrem Wunſch oder
nach meiner Neigung breche? (wie Cromwel
ſagte: wenn es entweder mein Kopf, oder
des Koͤniges Kopf ſeyn ſoll
) die Wahl ſtehet
bey mir, kann ich einen Augenblick zweifelhaft
bleiben, was ich waͤhlen ſoll?


Aus
[91]

Aus ihrer Behutſamkeit und beſtaͤndigen Be-
truͤbniß muß ich ſchlieſſen, daß ſie mir nicht viel
gutes zutrauet. Mein Grund-Satz aber iſt:
niemanden in dem zu betriegen, was er von mir
erwartet.


Allein wie erhaben, wie edel iſt dieſes ſchoͤne
Kind! Wer kann ſich ohne Zittern entſchlieſſen,
ſie zu beleidigen? Wer kann anders als Mitlei-
den mit ihr haben. ‒ ‒


Wenn ich aber auf der andern Seite bedencke,
wie lange ſie ſich bedacht hat, mit mir zu fliehen,
ob ſie gleich durch Drohungen und mit Gewalt
mit einem ſolchen Kerl zuſammen geſchmiedet wer-
den ſollte, an den ich als an meinen Mit Buhler
nicht ohne Verachtung meiner ſelbſt gedencken
kann; und daß ſie jetzt ſo verdrießlich und bekuͤm-
mert daruͤber iſt, daß ſie etwas gewaget hat: ſo
weiß ich nicht, was fuͤr Mitleyden ich ihr ſchuldig
bin; inſonderheit da ihr Hochmuth es nicht ein-
mahl fuͤr ein Mitleiden erkennen wuͤrde.


Jch entſchlieſſe mich zu nichts. Jch will erwar-
ten, was ihr Wille endlich hervor bringen wird,
und wohin ſich mein Wille lencket. Jch will dem
Streite meiner Leidenſchaften unpartheyiſch zuſe-
hen. Je mehr ich aber mit dieſer Schoͤnen um-
gehe, deſto weniger iſt ſie in meiner und deſto
mehr iſt ſie in ihrer eigenen Gewalt.


Jſt ſie aber nicht eine kleine untreue Thoͤrin.
Sie verbietet mir an keine naͤhere Verbindung zu
gedencken, bis ich mich bekehrt haben, und bis ih-
re unverſoͤhnlichen ihre Natur aͤndern, und ver-
ſoͤhnlich werden.

Es
[92]

Es iſt wahr, ſie machte dieſe Bedingung, weil
ſie ſich fuͤrchtete, ſie moͤchte ſonſt um ſich ſelbſt be-
trogen werden: denn dieſe Redens-Art gebraucht
die theure Seele, wie du an ſeinem Orte verneh-
men wirſt.


Was fuͤr eine Erquickung iſt es fuͤr meinen
Hochmuth, daß ich eine ſo liſtige Schoͤne habe
fangen koͤnnen. Jch bin jetzt in meinem Sinn
eine halbe Elle groͤſſer als vor dieſem: auf alle an-
dern Leute ſehe ich jetzt aus der Hoͤhe herab. Ge-
ſtern Abend war ich noch mehr auſſer mir. Jch
nahm den Hut ab, um zu ſehen ob die Treſſe ver-
ſenget waͤre, denn ich bildete mir ein, ich haͤtte an
einen Stern geſtoßen: und ehe ich ihn wieder mit
luſtigem Hertzen auſſetzte, war ich faſt Sinnes,
den Mond Maulſchellen zu geben. Kurtz meine
gantze Seele iſt froͤlich. Jch lache mich in den
Schlaaf, und ich wache entweder mit Lachen oder
mit Singen auf: Und doch habe ich noch keine
nahe Hoffnung, denn ich habe mich noch nicht ge-
nug gebeſſert.


Jch ſagte dir ehemahls (wenn du dich deſſen
noch erinnerſt) wie bequem ich dieſe Bedingung
gegen mein allerliebſtes Kind gebrauchen koͤnnte,
wenn ich es nur aus dem Hauſe der Eltern heraus
locken koͤnnte, und Luſt hatte meine Schoͤne ſo wohl
wegen der Suͤnden ihrer Familie als wegen der
vielen Muͤhe und Unruhe zu ſtraffen, die ſie mir
ſelbſt gemacht hat. Wie wenig mag ſie dencken,
daß dieſe doppelte Schuld noch auf meiner Rech-
nung ſtehet; und daß wenn auch mein Hertz weich
und
[93]
und ihr gantz ergeben iſt, ich nur mein Tage-Buch
anſehen darf, um es gegen ſie unempfindlich zu
machen.


Dencke daran, unvergleichliches Kind. Mache
deine hochmuͤthigen Geberden etwas demuͤthiger.
Verlaß dich nicht auf deine Unſchuld und Aufrich-
tigkeit, wenn du gegen mich kalt biſt. Jch wer-
de dieſes nicht laͤnger dulden. Biſt du nicht in
meiner Gewalt? Wenn du mich aber heimlich
liebeſt, ſo bilde dir nicht ein, daß dir eine gezwun-
gene Verſtellung deiner Liebe bey einem ſo hoch-
muͤthigen Liebhaber als ich bin zu ſtatten kommen
wird. Sey darin kein Frauenzimmer. Beden-
cke uͤber dieſes, daß du alle Suͤnden deiner Fami-
lie auf dir haſt.


Aber, o Bruder, wenn ich meinen Engel ſehe,
wenn ich Erlaubniß bekomme, dieſe blendende
Schoͤnheit zu bewundern, ſo werden alle dieſe Ein-
faͤlle (fuͤrchte ich) verſchwinden.


Mein Ende mag endlich ſeyn, welches es will.
Der ſcharffe Verſtand meiner liebenswuͤrdigen
Feindin macht, daß ich die Feſtung nur durch
Untergraben angreifen darf. Als eine Frau kann
ich ſie doch noch immer bekommen: das wird in
meiner Gewalt bleiben.


Wenn man auf die Univerſitaͤt gehet, ſo koͤn-
nen die erſten Wiſſenſchaften die man treibt einem
zu allen hoͤhern Wiſſenſchaften nuͤtzlich ſeyn. Ob
man ein Juriſte, ein Geiſtlicher, ein Mediciner
werden ſoll, das muß nicht vorher ausgemacht,
ſondern erſt darnach, wie ſich der junge Menſch
an-
[94]
anlaͤßt, beſtimmet werden. Auf eben die Weiſe
wird einerley ſorgfaͤltige und kluge Auffuͤhrung mir
aus ihr entweder eine gute Frau oder eine Geliebte
die keine Frau iſt ziehen. Wenn ich mich beſſere,
ſo will ich heyrathen. Das eine erfordert Zeit,
das muß mein Kind geſtehen. Das andere er-
fordert auch Zeit: das ſage ich.


Wie ſchwerme ich? So gehet es, wenn man
nicht weiß wozu man ſich entſchlieſſen ſoll.


Jch will dir von allen meinen Neigungen
Nachricht geben: von allem, was ich vor und
wider die Heyrath habe. Weil ich jetzt zu weit von
der Spur gekommen bin, ſo will ich ſchlieſſen. Jch
ſchreibe vielleicht alle Tage etwas, und uͤberſende
es, wenn ich Gelegenheit habe.


Jn allem was ich ſchreibe, werde ich weder fuͤr
Zuſammenhang, noch Wort-Fuͤgung, oder ande-
re Geſetze die geringſte Achtung hegen, ſondern blos
fuͤr meinen Koͤniglichen Willen und Wohl-
gefallen.



Der ſiebente Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch habe Jhre Erzaͤhlung erhalten. Sie ſind
noch eben dieſelbe edle und erhabene Fraͤu-
lein
[95]
lein Harlowe, die Sie immer geweſen ſind: zur
Verſtellung, zu Kuͤnſten, und zu Verkleinerung
Jhrer Fehler viel zu groß. Jhre Familie iſt die
eintzige in der Welt, die eine ſolche Tochter ſo auf
das aͤuſſerſte treiben konnte.


Allein Sie muͤſſen die Jhrigen nicht all zu ſehr
entſchuldigen. Sie geben ſich ſelbſt, und der Un-
terredung mit ihm, ſo voͤllig alle Schuld deſſen,
was vorgegangen iſt, daß Jhre aͤrgſten Feinde
nichts mehreres ſagen koͤnnten, wenn ſie Jhre Er-
zaͤhlung ſehen ſollten.


Nachdem ich dieſe Jhre Nachrichten geleſen, ſo
wundere ich mich nicht mehr, daß ein ſo dreiſter
und argliſtiger Kopf ‒ ‒ ‒ Jch muß ab-
brechen.



Sie haben ſich laͤnger und beſſer gewehret.
‒ Abermahls kommt meine argwoͤhniſche Mutter.



Zuͤrnen Sie nicht allzuſehr mit ſich ſelbſt.
Haben Sie nicht jedesmahl es ſo gut gemacht, als
moͤglich war? Sie haben ſeine Briefe beantwor-
tet: allein es war bey nahe Jhre Schuldigkeit, der
Schutz Engel Jhrer Familie zu werden, nachdem
der eiſerne Ritter das Ungluͤck gehabt hatte zu
ſchwaͤrmen, und ſich in Gefahr zu ſtuͤrtzen. Denn
wer unter den Jhrigen hat Menſchen-Verſtand?
Jhre Frau Mutter nehme ich aus: allein die wird
unter der Zucht gehalten.


Ver-
[96]

Vergeben Sie es mir, mein Schatz. Jetzt iſt
eben Jhr hoͤltzerner Onckle Anton hier: ein lehr-
reicher, eingebildeter, weiſer Ehren-Mann. Geſtern
kam er in einer fuͤrchterlichen Kleidung an, und bließ,
und ſchnob und ſtampfete in unſerem Saal und
Gaſt-Stube auf und nieder, unterdeſſen daß
er gemeldet ward.


Meine Mutter kleidete ſich eben an. Die
Witwen ſind in ihren Sitten eben ſo ſteif als die
funfzigjaͤhrigen Junggeſellen. Um aller Welt
Wunder wollte ſie ſich nicht von ihm ſehen laſſen,
ehe ſie in ihrem Staat war. Was kann ſie vor
eine Abſicht dabey haben?


Er kam, damit er meine Mutter gegen Sie
einnehmen, und ihr ſagen moͤchte, wie heftig und
unerbittlich die Wut der Jhrigen wegen Jhrer
Flucht ſey. Der Ausgang zeigete es.


Der wunderbare Mann verlangte, ſie allein
zu ſprechen. Jch bin ſonſt nicht gewohnt, ſolche
Ausnahmen zu hoͤren, wenn ſich jemand bey mei-
ner Mutter melden laͤßt.


So bald meine Mutter ſteiff und geputzt genug
war, kam ſie zu ihm herunter. Die Thuͤr ward
abgeſchloſſen. Sie ſteckten ihre beyden lehrreichen
Haͤupter zuſammen: ich glaube, ſie hielten ſie recht
nahe an einander, denn ich horchete, und konnte
kein Wort verſtehen, ſo eifrig ſie auch in ihrer Un-
terredung zu ſeyn ſchienen.


Jch hatte es ein paar mahl im Sinne, daß ich
ſie noͤthigen wollte, die Thuͤr zu oͤfnen. Jch wuͤr-
de gewiß verlangt haben, zu ihnen hinein zu kom-
men,
[97]
men, wenn ich gehofft haͤtte, daß ich mich
wuͤrde maͤßigen koͤnnen. Allein ich fuͤrch-
te, daß ich in der Stube bey ſeinem Anblick
vergeſſen moͤchte, daß ich in meiner Mutter Hau-
ſe bin, und ich mich unterſtehen wuͤrde ihm
die Thuͤr zu weiſen. Wie konnte er mir ertraͤglich
ſeyn? da er blos in der Abſicht kam, auf meine
liebſte und unſchuldige Freundin zu laͤſtern? da
ſeine wunderlichen Einfaͤlle Gehoͤr fanden? da ſich
beyde zu rechtfertigen ſuchten, er deswegen, daß er
mit dazu geholfen hatte, ſie aus ihres Vaters
Hauſe zu treiben, und meine Mutter, daß ſie ihr
eine Zuflucht abgeſchlagen hatte, in der ſie ſich
nach dem Triebe ihres gehorſamen Hertzens mit
ihren Eltern ausſoͤhnen konnte? eine Ausſoͤhnung,
die meine Mutter billig haͤtte vermitteln ſollen,
wenn die Hochachtung aufrichtig geweſen waͤre, die
ſie beſtaͤndig vorgegeben hatte. Konnte ich bey
dieſen Umſtaͤnden Geduld behalten?


Der Erfolg (wie ſchon gemeldet) zeigete, was
ſeine Abſicht geweſen war. Kaum war der alte
roſtrige Koͤrper weggegangen, (entſchuldigen Sie
mich wegen meiner Freyheit im Schreiben) ſo zei-
geten ſich die Fruͤchte ſeines Beſuchs in einem fin-
ſtern, zuruͤckhaltenden und recht Harlowiſchen We-
ſen, das meine Mutter angenommen hatte.
Nachdem ich ein paar empfindliche Ausdruͤcke des-
wegen hatte fliegen laſſen, ſo erfolgete ein ernſtliches
Verbot, keine Briefe mit Jhnen zu wechſeln.


Hierauf folgeten einige Unterredungen, die eben
nicht von der angenehmſten Art waren, wie Sie
Dritter Theil. Gſelbſt
[98]
ſelbſt leicht dencken koͤnnen. Jch erkundigte mich:
ob ich auch keine Erlaubniß haͤtte, des Nachts von
Jhnen zu traͤumen? Denn alle meine Stunden,
die ich ſchlaffe, ſind Jhnen eben ſo wohl gewid-
met, als in denen ich wache.


Jch kann jetzt den Brief-Wechſel, den Sie
mit Jhrem loſen Schelm fortgeſetzt haben, beſſer
als vorhin entſchuldigen, ſonderlich, da Sie ſo edle
Urſachen zu deſſen Fortſetzung hatten. Denn die-
ſes Verbot hat gemacht, daß ich Sie noch zaͤrtli-
cher liebe, wenn es anders moͤglich iſt, daß meine
Liebe zu Jhnen zunehmen kann; und ich bin nur
begieriger geworden, Jhres Briefwechſels zu
genießen.


Allein ich habe noch beſſere Gruͤnde. Jch wuͤrde
mich fuͤr ſehr veraͤchtlich anſehen, wenn ich eine ſo
liebe, eine ſo vortrefliche Freundin in ihrer Noth
vergeſſen koͤnnte. Lieber will ich ſterben: und das
ſagte ich auch meiner Mutter. Jch habe ſie gebe-
ten, daß ſie mich in den Stunden, in denen ich
vor mich bin, nicht bewachen, noch von mir ver-
langen moͤchte, daß ich beſtaͤndig bey ihr ſchlaffen
ſoll, darauf ſie jetzt ſehr ſtarck dringet. Sonſt
(ſagte ich) moͤchte ſie lieber aus dem Harlowiſchen
Hauſe die Eliſabeth hohlen laſſen, und ſie uͤber
mich zur Aufſeherin beſtellen.


Herr Hickman, Jhr groſſer Verehrer, hat
ohne mein Wiſſen Jhre Parthey ſo ernſtlich bey
meiner Mutter genommen, daß er deswegen bey
mir ſehr wohl angeſchrieben iſt.


Jch
[99]

Jch kann jetzt nicht weitlaͤuftig auf alles ant-
worten, was ſie geſchrieben haben, wenn ich mich
nicht offenbahr mit meiner Mutter uͤberwerfen
will. Sie kann nichts als mich plagen, und ſagt
alle Stunden einerley, wenn ich es gleich funfzig
mahl beantwortet habe. Wie ungluͤcklich muß
mein Vater bey ihr geweſen ſeyn. Allein ich muß
nicht vergeſſen, an wen ich ſchreibe.


Wenn der geſchaͤfftige Ungluͤcks-Vogel der Lo-
velace
in der That, wie Sie ihn in Verdacht ha-
ben, ‒ ‒ da kommt meine Mutter abermahls.
Ey mit Erlaubniß, ein wenig Geduld! ſie koͤn-
nen doch weiter nichts thun, als mich in Verdacht
haben, daß ich an die Fraͤulein Harlowe ſchrei-
be; und mir einen Verweiß geben, daß ich ſie
warten laſſe. Und ſchelten werden ſie doch, ich
mag machen was ich will, nachdem ſie ſich ein-
mahl von dem alten Anton haben einnehmen
laſſen.


Behuͤte GOtt! wie ungeduldig iſt ſie. Jch muß
abbrechen.



Eine artige Unteredung haben wir gehabt.
Jetzt eben erhalte ich noch einen ſehr ſtrengen Be-
fehl, gleich herunter zu kommen. Was fuͤr einen
uͤbel zuſammenhaͤngenden Brief werden Sie be-
kommen, wenn ich ihn ja in Jhre Haͤnde
bringen kann. Doch ich weiß wo ich den Brief
hinſchicken will: Herr Hickman hat mir verſpro-
chen, ihn beſtellen zu laſſen. Es jammert mich
G 2ſei-
[100]
ſeiner, wenn er ſollte entdeckt werden. Meine
Mutter wird mit ihm eben ſo Harlowiſch umge-
hen, als mit ſeiner geduldigen Anna Howe.


Donnerstages den 13 April.


Jch bin jetzt ſo gluͤcklich, den Verfolg Jhrer
Erzaͤhlung zu erhalten, und mich vor meiner hun-
dert-aͤugichten Mutter einige Augenblicke verber-
gen zu koͤnnen.


Liebes Kind, ich kann mir allen Kummer, der
Sie druͤckt, lebendig vorſtellen. Eine Perſon von
ſolcher empfindlichen Tugend und Ehr-Liebe, bey
einem ſolchen Menſchen! Allein ich muß kurtz
ſeyn.


Der Menſch iſt bey allem ſeinem Hochmuth
und Hoͤflichkeit, bey aller ſeiner verſtellten Folg-
ſamkeit gegen Jhre Befehle, ein Narre. Allein
ſeine geſchwinden Einfaͤlle!


Bisweilen dencke ich, Sie ſollten zu der Lady
Eliſabeth
reiſen. Jch weiß nicht, was ich Jh-
nen rathen ſoll. Jch koͤnnte Jhnen wol einen
Rath geben, wenn es Jhnen nicht ſo ſehr am Her-
tzen laͤge, ſich mit Jhren Anverwanten wieder aus-
zuſoͤhnen. Allein ſie ſind doch alle unverſoͤhnlich;
Sie haben von ihnen nichts zu erwarten. Der
Zweck des Beſuchs, den Jhr Onckle bey meiner
Mutter abgelegt hat, kann Sie hievon uͤberzeu-
gen: und wenn Jhre Schweſter Jhnen antwor-
tet, ſo werden Sie noch mehr von der Wahrheit
uͤberzeuget werden.


Sie
[101]

Sie duͤrfen ſich nicht fuͤrchten, mich zu befra-
gen: ob ich bey Durchleſung Jhrer Erzaͤhlung
einige Umſtaͤnde finde, die Jhre Schuld verrin-
gern. Jch habe Jhnen ſchon vorhin meine Mei-
nung deshalb geſaget: und ich wiederhohle es noch
mahls: in Betrachtung deſſen, wie mit Jhnen
umgegangen iſt, und wie Sie faſt gezwungen ſind
zu fliehen, halte ich ſie voͤllig außer Schuld:
zum wenigſten ſo ſehr außer Schuld, als je ein
Kind hat ſeyn koͤnnen, das jemahls dieſen Schritt
gethan hat.


Allein Sie haben ihn nicht einmahl ſelbſt ge-
than. Sie wurden von der einen Seite fort ge-
ſtoßen und gezwungen, und vielleicht von der an-
dern Seite betrogen und hintergangen. Wenn
irgend ein Frauenzimmer ſich in Jhren Umſtaͤn-
den ſo lange gegen ſeine Verfolger und Verfuͤhrer
wehret, als Sie: ſo will ich ihm gern alle Fehler
vergeben.


Alle ihre Bekannten reden jetzt von nichts als
von Jhnen. Einige gebrauchen zwar Jhre Vor-
zuͤge vor andern Frauens-Perſonen als eine An-
klage gegen Sie: allein niemand kann Jhren Va-
ter und Jhre Onckles frey ſprechen.


Es ſcheint, daß die Urſachen, die Jhren Bru-
der und Jhre Schweſter zu einem ſo unnatuͤrlichen
Verfahren bewogen haben, uͤberall bekannt ſind.
Vermuthlich haben ſie durch ihre ſo oft wiederhohl-
ten Anfaͤlle nichts anders geſucht, als Sie zu der
Entſchließung zu treiben, die Sie endlich genom-
men haben: ohne zu befuͤrchten, daß Sie im
G 3Stan-
[102]
Stande ſeyn wuͤrden, eine ſolche Entſchließung
gluͤcklich auszufuͤhren. Sie wußten, daß wenn
Sie einmahl wieder das Hertz Jhrer Eltern ge-
winnen ſollten, eine verſoͤhnte Liebe zugleich eine
zaͤrtlichere Liebe ſeyn wuͤrde, daß Sie ihre Abſichten
an den Tag bringen und zernichten, und alle ihre
Kuͤnſte durch Jhren Verſtand und uͤbrigen lie-
benswuͤrdigen Eigenſchaften beſiegen wuͤrden. Jch
hoͤre, daß ſie ſich jetzt uͤber die Fruͤchte ihrer Bos-
heit freuen ſollen.


Jhr Vater will vor Grimm faſt von Sinnen
kommen. Er moͤchte aber billig den Grimm ge-
gen ſich ſelbſt richten. Alle die Jhrigen beſchul-
digen Sie, daß Sie liſtig und verſteckt gehandelt
haͤtten, und es iſt ihnen weiß gemacht worden,
daß Sie jetzt alle Stunden mit Jhrem Liebhaber
daruͤber frohlocketen, daß Jhnen Jhr Streich ge-
rathen ſey.


Sie geben insgeſammt vor: den Mittewochen
haͤtte nur noch der letzte Verſuch geſchehen ſollen.


Meine Mutter geſtehet, man wuͤrde ſich Jhr
Nachgeben zu Nutze gemacht haben, wenn Sie
nachgegeben haͤtten. Wenn Sie aber ſich nicht
bequemet haͤtten, ſo wuͤrden die Jhrigen den gan-
tzen Vorſchlag fahren laſſen, und blos begehret ha-
ben, daß Sie Lovelacen auf das heiligſte entſa-
gen ſollten. Es mag dieſes glauben, wer Luſt
dazu hat. Das geſtehen ſie, daß ein Geiſtlicher
hat ſollen gegenwaͤrtig, und Herr Solmes auch
bey der Hand ſeyn. Jhr Vater hat zuerſt verſu-
chen ſollen, was ſein Befehl bey Jhnen ausrichten
wuͤr-
[103]
wuͤrde, und ob Sie ſich bewegen ließen, die Ehe-
ſtiftung zu unterzeichnen. Jch mercke, daß alles
ohne Zweiffel eine nach der Romaine eingerichtete
Erfindung des ausſchweiffenden Kopfes Jhres
Bruders iſt. - Jſt es glaublich, daß er und Ara-
belle
den Weg zu Jhrer Ausſoͤhnung gebahnt
haben wuͤrden, ohne das zu erhalten, was ſie vor-
hin mit ſolcher Hefftigkeit getrieben hatten?


Man kann ſich beſſer vorſtellen, als mit Wor-
ten ausdruͤcken, wie ſie ſich bey der erſten Nachricht
von Jhrer Flucht gebeerdet haben.


Es ſcheint, daß Jhre Frau Baſe Hervey die
erſte geweſen iſt, die nach dem Sommer-Hauſe
ging, um Jhnen Nachricht zu geben, daß die
Durchſuchung Jhrer Sachen geendiget ſey.
Eliſabeth folgete ihr nach; und als Sie nicht zu
finden waren, ſo gingen ſie nach der Waſſer-Kunſt,
weil Sie ihnen durch das eine Wort Gelegenheit
gegeben hatten, Sie daſelbſt zu ſuchen.


Als ſie durch die Garten-Thuͤr zuruͤck gehen
wollten, ſo begegnete ihnen ein Bedienter (vermuth-
lich Joſeph Lehmann, ob ſie gleich ſeinen Nah-
men nicht nennen) der Herr Lovelacen verfolgt
hatte, und mit einem großen Pfahl in der Hand
gantz außer Athem zuruͤck lieff, um Lerm in dem
Hauſe zu machen. Wenn er es geweſen iſt, und
Jhr Verfuͤhrer hat ihn gebraucht, Sie und die
Jhrigen zu betriegen: was muß ich denn vor Ge-
dancken von Jhrer Geſellſchaft faſſen. Wenn
dieſes iſt, ſo entfliehen Sie entweder von Love-
lacen,
(es verſchlaͤgt nichts, wohin Sie fliehen)
G 4oder
[104]
oder laſſen Sie ſich bald mit ihm trauen, wenn
Sie nicht entfliehen koͤnnen.


Jhre Frau Baſe und die gantze Familie wur-
den durch dieſen Kerl in die groͤſſeſte Beſtuͤrtzung
geſetzt, und zwar offenbahrlich als es zu ſpaͤt war,
Sie zu verfolgen. Sie kamen zuſammen, und nach-
dem das allgemeine Aufgebot geſchehen war, lieſ-
fen ſie an den Ort der Unterredung, und einige
bis an die Spuren der Raͤder, wo der Wagen ge-
halten hatte. Nachdem ſie die Erzaͤhlung des Kerls
angehoͤrt hatten, ſo erfolgte an dem Ungluͤcks-Orte
ein allgemeines Weh-Klagen, einer warf dem an-
dern etwas vor, Grimm, Betruͤbniß, Kummer
ließen ſich von allen Orten nach der verſchiedenen
Gemuͤths-Beſchaffenheit der Jhrigen hoͤren. Alle
gingen ſo klug zuruͤck, als ſie gekommen waren.


Jhr Bruder befahl zuerſt, daß Pferde geſatt-
let werden ſollten: er, Solmes, Anton und ei-
nige gewaffnete Bedienten ſollten Jhnen nachſetzen.
Allein ihre Mutter und Frau Hervey widerrie-
then es, um nicht Ungluͤck mit Ungluͤck zu haͤuffen.
Sie ſtelleten vor: Lovelace wuͤrde ohne Zweiffel
auf Mittel gedacht haben, das mit Gewalt durch-
zuſetzen, was er angefangen haͤtte. Es kam dazu,
daß der Bediente vorgab, bewaffnete Leute geſe-
hen zu haben, und daß Sie eben ſo geſchwind als
Lovelace gelauffen waͤren, ſo daß ſie kaum die
Fuͤße auf die Erde geſetzt haͤtten.


Mei-
[105]

Meine Mutter iſt wegen des Argwohns auſſer
Hauſe geweſen, daß ich vielleicht durch die Fraͤu-
lein Knollys Briefe mit Jhnen wechſeln moͤchte.
Sie pflegt alles auf einmahl zu thun: ſie hat dem-
nach einen Beſuch abgeſtattet, und das Verſpre-
chen erhalten, daß ohne ihr Vorwiſſen kuͤnftig kei-
ne Briefe angenommen werden ſollen. Herr Hick-
man
hat aber einen Nahmens Filmer, der ein
Bauer iſt, ausgemacht, der an dem ſo genannten
Fincken-Steige wohnet. Dahin ſchicken Sie Jhre
Briefe unter der Auſſchrifft, Johann Soberton.
Herr Hickman wird ſie ſelbſt abhohlen, und mei-
ne Briefe eben daſelbſt beſtellen. Es iſt mein Vor-
theil nicht, daß ich ihn in einer Sache gebrauchen
muß, an der mir ſo viel gelegen iſt. Er hat ein gantz
anderes Geſicht daruͤber bekommen; und er wird
ſich bald anfangen vornehm gegen mich zu gebeer-
den. Er thaͤte aber beſſer, wenn er bedaͤchte, daß
dieſe Gunſt, die er ſo lange gewuͤnſcht und ge-
ſucht hat, ihn in kitzliche Umſtaͤnde bringen kann.
Wer die Gelegenheit hat, gefaͤllig zu ſeyn, der kann
auch leicht mißfaͤllig werden; und mancher ſollte
ſich wuͤnſchen, daß es nie in ſeiner Macht geſtan-
den haͤtte, es bey andern zu verderben.


Jch will, wenn es mir moͤglich iſt, einige Zeit
Geduld haben, und abwarten, ob ſich die unruhi-
ge Neugier meiner Mutter legen wird. Al-
lein lange werde ich dieſe Begegnung nicht er-
tragen.


G 5Es
[106]

Es kommt mir bisweilen vor, als wenn meine
Mutter mit Willen ſo wunderlich iſt, damit ich
des Lebens in ihrem Hauſe muͤde werden und mich
deſto eher veraͤndern moͤge. Wenn ich auf die
Spur komme, und finde, daß Hickman einen An-
theil an der Schelmerey hat, ſo will ich ihn nicht
wieder vor Augen dulden.


So voller Betrug und Argliſtigkeit Jhr Love-
lace
auch iſt, wuͤnſchte ich doch, daß Sie mit ihm
getrauet ſeyn moͤchten: ſo wuͤrden Sie allen die
Spitze bieten koͤnnen, und Sie wuͤrden ſich nicht
mehr verſtecken noch von einem unbequemen Ort
an den andern fluͤchten duͤrffen. Jch bitte Sie,
verſaͤumen Sie keine bequeme Gelegenheit, die ſich
hiezu zeiget.


Abermahls meine Mutter!



Wir machen einander ſonderbare Geſichter zu.
Sie thut nicht wohl, wenn ſie ſo Harlowiſch mit
mir umgehen will. Jch werde es nicht leyden.


Jch habe viel zu ſchreiben, und weiß doch nicht,
wo ich den Anfang machen ſoll. Mein Hertz iſt
ſo voll, daß es uͤberflieſſen will.


Jch bin in einen abgelegenen Winckel im Garten
gegangen, um ihr außer den Augen zu ſeyn. Gott
gebe den Muͤttern Verſtand! koͤnnen ſie dencken,
daß ſie durch Lauren, durch Argwohn, durch Schel-
ten eine Tochter abhalten werden, das zu ſchrei-
ben, was ſie ſchreiben will? Sie handelten kluͤger,
wenn ſie ſich auf ihre Toͤchter verließen: denn ein
edles
[107]
edles Gemuͤth wird keinen hintergehen, der ein
Zutrauen zu ihm faſſet.


Sie muͤſſen behutſam, ungemein behutſam
mit Jhrem Lovelace umgehen. Er hat jetzt nur
noch einen Weg vor ſich. Jch habe Mitleyden
mit Jhnen. Allein Sie muͤſſen ſich in das Loos,
das Jhnen wider Jhren Willen zugefallen iſt, ſo
gut ſchicken, als Sie koͤnnen. Jch erkenne es,
was ſie fuͤr Schwierigkeiten finden. Wenn er aber
nur Jhr Zutrauen nicht misbrauchet, ſo wuͤnſchete
ich, daß Sie ſich ſtellen moͤchten, als wenn Sie ei-
niges Zutrauen zu ihm haͤtten.


Wenn es Jhre veſte Entſchließung iſt, ihn nicht
ſo bald zu nehmen: ſo billige ich es, daß Sie ſich
an einen Ort begeben, da Sie nicht in ſeiner Ge-
walt ſind. Noch beſſer waͤre es, wenn er ſelbſt
nicht wuͤßte, wo Sie ſich aufhielten. Jch glaube
aber auch dieſes, daß Gewalt wuͤrde gebraucht
werden, Sie zuruͤck in ihres Vaters Haus zu brin-
gen, wenn ſich die Jhrigen nicht vor ihm fuͤrch-
ten muͤßten, und ohne Gefahr an Sie kommen
koͤnnten.


Mein Rath, den ich ohnmoͤglich aͤndern kann,
iſt dieſer. Wenden Sie ſich an Jhre beyden Vet-
tern, denen die Ausfuͤhrung des letzten Willens
Jhres Groß-Vaters aufgetragen iſt, und ſuchen
Sie zu dem Beſitz Jhres Gutes zu gelangen. Un-
terdeſſen liegen bey mir ſechzig Guineas zu Jhrem
Dienſt bereit. Jch bitte mir Jhren Befehl des-
halb aus. Jch will dafuͤr ſorgen, daß Sie mehr
bekommen ſollen, ehe dieſes Geld verzehrt ſeyn
wird.
[108]
wird. Jch glaube nicht, daß Sie einen Groſchen
an Gelde oder an Geldes-werth in Guͤte von den
Jhrigen erhalten werden.


Weil die Jhrigen glauben, daß Sie den Vor-
ſatz gehabt haben, zu fliehen, ſo wundern und
freuen ſie ſich, daß Sie Jhre Juwelen und Jhr
Geld zuruͤck gelaſſen, und ſo wenig fuͤr Jhre Klei-
dung geſorget haben. Sie koͤnnen aus dieſer
Freude ſchlieſſen, ob Sie Jhre Bitte erhalten
werden.


Es muß ſich in der That jedermann, der das
nicht weiß, was ich weiß, uͤber Jhre ſogenannte
Flucht wundern. Und was kann man von Jhrer
Flucht ſagen, das mit Jhrem Character einiger
maßen uͤbereinſtimmet? Soll man ſagen: Sie
haͤtten nicht fluͤchten wollen, ob Sie ſich gleich zu
der beſtimmten Zeit eingefunden haͤtten? Wer wird
das glauben? Oder: eine ſo ſtandhafte und un-
gemein vorſichtige Perſon habe ſich uͤberreden laſ-
ſen? Wie lautet das? Oder: Sie haͤtten ſich um
ſich ſelbſt von ihm betruͤgen laſſen? Wie nachthei-
lig wuͤrde Jhnen dieſes ſeyn, wenn es auch die
Leute glauben wollten? Und wenn Sie bey einem
Menſchen, der einen ſo ſchlechten Nahmen hat,
bleiben, ohne ſich mit ihm trauen zu laſſen: wie
wird die Welt laͤſtern?


Jch bin begierig den Brief zu ſehen, in wel-
chem Sie um Jhre Kleidung bitten. Sie koͤnnen
indeſſen verſichert ſeyn, daß Sie das nicht erhal-
ten werden, darum ſie bitten; ſondern vielmehr
alle Verachtung, die die engen Hertzen der Jhri-
gen
[109]
gen erdencken koͤnnen. Wie weit werden Sie mit
ſieben Guineas kommen? Jch will auch eine Ge-
legenheit machen, daß ich Jhnen etwas von mei-
ner Waͤſche und Kleidung ſchicken kann. Jch bit-
te Sie, ſchlagen Sie dieſes Jhrer Anna Howe
nicht eben ſo ab, als wenn es Jhnen von Love-
lacen
angeboten wuͤrde. Wenn Sie mir dieſe
Gefaͤlligkeit verweigern, ſo muß ich glauben, daß
Sie ſich lieber wollen zwingen laſſen, ihm fuͤr die-
ſes Geld verbunden zu werden, und nicht, daß
Sie mir die Liebe nicht haͤtten erzeigen wollen.
Und wenn ich dieſes finde, ſo weiß ich nicht, wie
ich es mit Jhrer uͤbrigen Vorſichtigkeit reimen
ſoll.


Geben Sie mir von allem recht genaue Nach-
richt, was zwiſchen Jhnen und ihm vorgehet.
Meine Sorgfalt fuͤr Sie, ſo unnoͤthig und uͤber-
fluͤßig ſie auch wegen Jhrer eigenen Klugheit iſt,
macht, daß ich dieſes wuͤnſche. Wenn irgent et-
was vorgehet, das Sie mir muͤndlich erzaͤhlen
wuͤrden, fals wir uns ſprechen ſollten, ſo tragen
Sie kein Bedencken, es auch auſzuſchreiben, ob
Sie gleich nach dem Mistrauen, das Sie in ſich
ſelbſt zu ſetzen pflegen, es nicht fuͤr werth halten,
aufgeſchrieben oder von mir geleſen zu werden. Wer
dem Spiel zuſiehet, der merckt oft mehr, als die
Spieler ſelbſt. Es ſind Kleinigkeiten, die oft große
Leute gluͤcklich oder ungluͤcklich machen: und ſo
pflegen auch im gemeinen Leben Kleinigkeiten oft
große Folgen zu haben.


Wenn
[110]

Wenn ich alle Umſtaͤnde erwege, ſo glaube ich
nicht, daß Sie ſich nach eigenem Belieben von ihm
loßmachen koͤnnen. Jch habe Jhnen dieſes zum
voraus geſagt. Jch ſchreibe es deswegen noch-
mahls: wenn ich an Jhrer Stelle waͤre, ſo wollte
ich mich zum wenigſten ſtellen, als wenn ich Ver-
trauen zu ihm haͤtte. Dieſes ſollen Sie thun, ſo
lange als er den Wohlſtand durch nichts verletzet.
Ein ſolches Verſehen, das ihn ſchlechterdings al-
les Vertrauens unwuͤrdig machen ſollte, muͤßte
nicht geringe ſeyn, und einer Perſon von ſo em-
pfindlicher Vorſichtigkeit ſehr deutlich in die Au-
gen fallen.


Aus dem, was Jhr Onckle Anton zu meiner
Mutter, und ſie zu mir mit der angehaͤngten Dro-
hung, daß Sie den Endzweck Jhrer Flucht nicht
erhalten ſollten, geſagt hat, ſehe ich, daß die Jh-
rigen erwarten, daß Sie Jhre Zuflucht zu der
Lady Eliſabeth nehmen, und daß ſich dieſe in
das Mittel ſchlagen werde. Sie haben den veſten
Vorſatz gefaſſet, keine Vorſchlaͤge zur Verſoͤhnung
anzuhoͤren, die von der Seite kommen. Sie ſoll-
ten lieber deutlicher heraus ſagen, daß ſie ſich gar
nicht verſoͤhnen wollen. Denn dafuͤr will ich wohl
ſtehen, daß Jhr Bruder und Schweſter ihnen ſo
viel in den Ohren liegen werden, daß ſich ihre
Hitze ohnmoͤglich wird abkuͤhlen koͤnnen: zum we-
nigſten werden ſie dieſes ſo lange hindern, bis Va-
ter und Onckles ſolche Einrichtungen gemacht ha-
ben, als ſie ſelbſt wuͤnſchen.


Weil
[111]

Weil Jhnen dieſer Brief von einer Veraͤnde-
rung des Orts, an den die kuͤnfftigen Schreiben
geſchickt werden koͤnnen, Nachricht giebt, ſo uͤber-
ſende ich ihn durch einen zuverlaͤßigen Freund von
Herrn Hickman. Er hat in Sorlings Nach-
barſchaft etwas zu thun, und er kennet die
Sorlings. Dieſen Abend gedenckt er zu
Herrn Hickman zuruͤck zu kommen, und kann ei-
nen Brief mitnehmen, wenn Sie einen fertig ha-
ben oder fertig machen koͤnnen. Es iſt jetzt Mond-
Schein, er wird deswegen auf Jhr Schreiben
ohne ſeine Beſchwerlichkeit warten koͤnnen. Jch
will die Briefe nicht gern (zum wenigſten nicht
vor das erſte) durch Herrn Hickmans Bedienten
ſchicken. Eine jede Stunde iſt oder kann fuͤr Sie
von Wichtigkeit ſeyn, und ſolche Umſtaͤnde her-
vor bringen, um welcher willen Sie Jhre Ent-
ſchließungen aͤndern muͤſſen.


Jch kann hier in dem Garten hoͤren, daß mei-
ne Mutter ſchrecklich rufft, und das gantze Haus
in Unruhe ſetzt. Sie wird ſich bald die Muͤhe ge-
ben ſich nach mir und meiner Beſchaͤfftigung zu er-
kundigen. Leben Sie wohl. Gott bewahre Sie,
und ſchencke Sie mit eben ſo unbeflecktem guten
Nahmen als Jhr Hertz rein iſt, wieder


Jhrer ergebenſten
Anna Howe.


De
[112]

Der achte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Es ſchmertzet mich ungemein, meine beſtaͤndig
werthe und beſtaͤndig guͤtige Freundin, daß
ich das Ungluͤck habe, die Urſache eines Misver-
ſtaͤndniſſes zwiſchen Jhrer Frau Mutter und Jh-
nen zu ſeyn. Wie viele Leute habe ich betruͤbet!


Jch wuͤrde die allerungluͤcklichſte Perſon ſeyn,
wenn ich mich nicht damit troͤſten koͤnnte, daß bey
meiner Uebereilung keine Bosheit geweſen iſt. Jch
bin dadurch genug geſtrafft, daß ich meinen guten
Nahmen eingebuͤßt habe, der mir lieber als das
Leben war, und daß ich auf eine quaͤlende Weiſe
zwiſchen Furcht und Hoffnung ſchwebe, die eine
um die andere ſtaͤrcker werden, und mein Hertz
abwechſelnd nagen.


Jch bin der Meinung, daß Sie Jhrer Frau
Mutter gehorchen, und ſich des Briefwechſels mit
einer ungluͤcklichen Perſon entſchlagen muͤſſen. Neh-
men Sie ſich in Acht, daß Sie nicht in meine Suͤn-
de fallen: der Anfang dazu war ein verbotener
Briefwechſel, von dem ich glaubte, daß ich ihn
nach eigenem Belieben wuͤrde abbrechen koͤnnen.
Das Schmieren iſt meine Natur: und ich war deſto
leichter zu verfuͤhren, weil ich ein Vergnuͤgen an
dem
[113]
dem Schreiben finde. Jch meinte uͤber dieſes lo-
benswuͤrdige Abſichten zu haben; und es war eine
Zeit, da alle meine Verwanten meinen Briefwech-
ſel billigten.


Jedoch, ſo bereit ich bisweilen bin, meinen an-
genehmſten Briefwechſel zur Beruhigung Jhrer
Frau Mutter zu verleugnen; ſo ſehe ich doch nicht,
was es ſchaden kann, wenn wir bisweilen an ein-
ander ſchreiben; ſonderlich da meine Briefe voll
Reue und Anklage meiner ſelbſt ſind. Sie haben
ſo viel Klugheit und Behutſamkeit, und dabey nicht
die geringſte Verſuchung, meinem Beyſpiel nach-
zufolgen.


Jch dancke Jhnen von Hertzen fuͤr Jhr guͤtiges
Anerbieten. Seyn Sie verſichert, daß ich durch eine
ſolche Wohlthat lieber Jhnen, als irgend einem
Menſchen unter der Sonnen, verpflichtet ſeyn woll-
te: inſonderheit lieber als dem Herrn Lovelace.
Wenn ich Jhre Guͤtigkeit verbitte, ſo meinen Sie
nicht, daß ich mich in die Umſtaͤnde ſetzen will, in
denen ich ſie von ihm annehmen muͤßte.


Ohngeachtet deſſen was Sie ſchreiben, will ich die
Hoffnung noch nicht fahren laſſen, mein weniges
Geld und Kleidung von Hauſe zu bekommen. Die
Meinigen, oder zum wenigſten einige unter Jhnen,
ſind zu verſtaͤndig, als daß ſie mich in ſo armſee-
lige Umſtaͤnde ſtuͤrtzen werden. Vielleicht werden
ſie ſich nicht uͤbereilen, mir dieſe Gefaͤlligkeit zu
erzeigen: allein ich werde auch den Mangel nicht
ſo gleich empfinden. Jch glaube, Sie ſelbſt wer-
den nicht der Meinung ſeyn, daß ich wider ſeinen
Dritter Theil. HWil-
[114]
Willen die Reiſe-Koſten und die Wohnung be-
zahlen ſoll, bis ich eine beſtaͤndigere Wohnung ha-
be: allein ich hoffe auch dieſe Art der Verpflich-
tung nicht lange mehr gegen ihn zu tragen.


Aus Jhrer Nachricht von dem Beſuch meines
Onckles kann ich freylich ſehr wenig Hoffnung zur
Verſoͤhnung mit den Meinigen ſchoͤpfen, da er ſich
Muͤhe gegeben hat, Jhre Frau Mutter gegen ei-
ne Perſon aufzubringen, die er ehemahls ſelbſt
liebete, und die jetzt faſt von allen Freunden ver-
laſſen iſt. Allein iſt es nicht meine Schuldigkeit,
einen Verſuch zu thun? Soll ich deswegen, weil
ſie empfindlich ſind, auch durch Halſtarrigkeit und
Empfindlichkeit den Bruch noch groͤßer machen?
Sie haben nach dem, was ſie wiſſen, Recht, empfind-
lich gegen mich zu ſeyn, weil ſie meine Flucht fuͤr
freywillig und uͤberlegt anſehen, und ſich haben
weiß machen laſſen, daß ich noch mit dem ihnen ſo
verhaßten Lovelace uͤber ſie frohlocken kann.
Jch werde mir weniger vorzuwerfen haben, wenn
ich alle moͤgliche Mittel der Verſoͤhnung anwende.
Dieſe Betrachtung haͤlt mich zuruͤck, Jhrem Rath
zu folgen, und mich mit ihm trauen zu laſſen: inſon-
derheit, da er ſich meine Bedingung, oder wie er es
nennet, meinen Befehl mit der groͤßeſten Hoͤflichkeit
und Unterwerffung gefallen laͤßt. Eben dieſe Urſachen
halten mich auch ab, mich zu ſeinen vornehmen Ver-
wantinnen zu begeben, deren Vermittelung die
Meinigen laut Jhres Briefes ſchon zum voraus
verwerfen. Jch ſetze alle meine Hoffnung auf die
Ankunft des Obriſten Morden. Denn ich dencke,
wenn
[115]
wenn ich nur in mittelmaͤßig-ertraͤglichen Umſtaͤn-
den ſeine Ankunft abwarten kann, ſo muß alsdenn
alles leichter und gluͤcklicher gehen, als vorhin zu
erwarten war.


Wie ſoll ich aber meinen Freunden Vorſchlaͤge
thun, wenn ich den Lovelace nicht bewegen kann,
mich auf einige Zeit zu verlaſſen? wenn er mich
aber verlaͤßt, und ſie ſollten mich mit Gewalt wie-
der in ihre Haͤnde bekommen, wuͤrden nicht die
allerhaͤrteſten Zwangs-Mittel gegen mich gebraucht,
und durch meine Flucht in den Augen der Welt ge-
rechtfertiget werden? Sie meinen aber, daß mei-
ne Freunde Gewalt gebrauchen wuͤrden, wenn die
Furcht vor ihm ſie nicht abhielte. So lange wir
aber unverheyrathet, und dennoch beyſammen ſind,
geben wir (wie Sie richtig bemercken) der Welt
Gelegenheit zu laͤſtern. Soll ich alſo um gleichſam
die Ueberbleibſel meines guten Nahmens zu retten,
auf die gnaͤdigen Lippen dieſes Menſchen Acht ha-
ben, wenn es ihnen belieben moͤchte, den Antrag
von neuen zu thun?


Jch will Jhr Verlangen erfuͤllen, und Jhnen
von allen dem, was zwiſchen uns vorgehet, Nach-
richt geben. Bisher habe ich nichts in ſeiner Auf-
fuͤhrung bemerckt, daruͤber ich in einem hohen
Grad misvergnuͤgt ſeyn koͤnnte. Allein ich glau-
be doch nicht, daß ſeine Ehrerbietung gegen mich
ungezwungen und eine Frucht ſeines Hertzens ſey;
ob ich gleich nicht eigentlich ſagen kann, woran
ich das Gegentheil mercke.


H 2Er
[116]

Er iſt ohne Zweifel ein hochmuͤthiger Menſch,
und wo er einen Finger breit hat, da nimmt er
ſich eine Hand breit. Er iſt nicht ſo artig, als er
in Betrachtung ſeiner Erziehung und anderer Vor-
theile ſeyn koͤnnte. Er ſcheint einer von denen zu
ſeyn, die allzuvielen Willen gehabt und deswegen
nie gelernet haben, ſich nach andern zu beque-
men.


Was das anlanget, daß ich einiges Vertrauen
in ihn ſetzen ſoll, ſo bin ich bereit in dieſem und
allen andern Stuͤcken Jhrem Rath zu folgen, wenn
er nur anfaͤngt es zu verdienen. Allein nachdem
er mich auf eine hinterliſtige Art wider meine Ein-
ſicht und Neigung aus meines Vaters Hauſe ge-
locket hat, ſo kann weder er noch ſonſt jemand er-
warten, daß ich ihm ſo gleich freundlich begegnen
ſoll, gleich als wenn ich die Wohlthat erkennete,
daß er mich entfuͤhret hat. Wenn ich dieſes thaͤte,
ſo muͤßte er glauben, daß ich mich entweder vor-
hin ſehr verſtellet haͤtte, oder daß ich mich jetzt ver-
ſtellete.


Jch moͤchte mir die Haare ausreißen, wenn ich
das uͤberlege, was Sie ſchreiben, daß ich mich
vermuthlich vor dem Mittewochen ohne Urſache ge-
fuͤrchtet habe, und finde, daß ich von dem Men-
ſchen durch ſeinen gottloſen Joſeph Lehman
(wie ich faſt nicht mehr zweifeln kann) dergeſtalt
betrogen bin. Es iſt eine recht uͤberlegte und kuͤnſt-
liche Bosheit. Waͤre es nicht ein Selbſt-Ver-
rath, wenn ich bey einem ſolchen Menſchen nicht
wachſam und argwoͤhniſch waͤre? Was fuͤr ein
be-
[117]
betruͤbtes Leben iſt das fuͤr ein Hertz, das ſo wenig
zum Argwohn geneigt iſt, als das meinige?


Jch bin dem Herrn Hickman ſehr verbunden,
daß er unſern Briefwechſel ſo willig und ſo guͤtig
befoͤrdert. Er ſcheint ſo wenig Hoffnung zu ha-
ben, daß ihm die Tochter dieſen Dienſt dancke,
daß ich ſehr bekuͤmmert bin, wenn er die Gunſt
der Mutter daruͤber verlieren ſollte.


Jch bin jetzt in den Umſtaͤnden, daß ich andern
muß verbunden ſeyn. Jch muß mich in das ſchi-
cken, was ich nicht aͤndern kann. Wo habe ich
Gelegenheit, die mir ſonſt ſo angenehme Gelegen-
heit, andern eine Gefaͤlligkeit zu erzeigen? Jch
will das ſagen: ich fuͤrchte, daß ich jetzt nicht mehr
ſo viel bey Jhnen gelten kann als ſonſt, nachdem
ich mich ſo ſehr uͤbereilet habe. Jch will dem
ohngeachtet aber mich nicht ſelbſt herunter ſetzen,
noch mich freywillig des Rechts begeben, das Sie
mir ſonſt zu geſtatten pflegten, Jhnen das zu ent-
decken, was ich an Jhnen auszuſetzen habe.


Sie muͤſſen mir erlauben, ſo hart auch Jhre
Frau Mutter gegen meine unvorſaͤtzliche Schuld
iſt, dennoch zu ſagen, daß ich Sie wegen Jhrer Hef-
tigkeit gegen Jhre Frau Mutter nicht entſchuldigen
kann. Jch will an eine andere Sache jetzt nicht ein-
mahl gedencken, die mir aber dennoch gewiß ſehr na-
he gehet, nehmlich wie Sie ſich von den Meinigen
faſt ohne einigen Unterſcheid ausdruͤcken.


Wenn Sie um Jhrer ſelbſt willen mit den em-
pfindlichen Reden Jhrer Mutter nicht Geduld ha-
ben wollen, ſo thun Sie es doch um meinet willen.
H 3Denn
[118]
Denn ſonſt wird ſie befuͤrchten, daß mein boͤſes
Vorbild ein Sauerteig ſey, der in dem Gemuͤth
ihrer lieben Tochter gaͤhren koͤnnte. Wuͤrde nicht
eine ſolche Furcht mich ihrer Wohlgewogenheit
auf ewig berauben.


Jch lege die Abſchrift meines Briefes an meine
Schweſter bey, die Sie zu ſehen verlanget haben.
Sie werden bemercken, daß ich zwar mein Gut
nicht eigentlich wiedergefodert habe, dennoch aber
einen Winck gebe, ob mir nicht erlaubt werden
moͤchte, mich dahin zu begeben. Mit wie großer
Freude wollte ich mein Wort erfuͤllen, wenn mein
abermahliges Anerbieten angenommen wuͤrde!
Jch glaube, Sie werden mit mir darin einig ſeyn,
daß ich in meinem Briefe nichts davon habe mel-
den muͤſſen, daß ich wider meinen Willen zu der
gewageten That gezwungen bin.


Jch bin, wertheſte Freundin
Jhre ſtets verpflichtete und
ergebenſte
Cl. Harlowe.



Der neunte Brief
An Fraͤulein Arabella Harlowe.


(Eine Beylage zu dem vorigen Briefe.)



Liebe Schweſter

Jch bekenne, daß ich etwas unternommen ha-
be, welches bey dem erſten Anblick ſehr
un-
[119]
unbeſonnen und ungehorſam zu ſeyn ſcheinet.
Jch wuͤrde es auch gewiß fuͤr eine Handlung ge-
halten haben, die ſich gar nicht entſchuldigen ließe,
wenn etwas gelinder mit mir verfahren waͤre, als
auf die letzte Zeit geſchehen iſt, und wenn ich we-
nigere Urſache gehabt haͤtte zu befuͤrchten, daß ich
einem mir unertraͤglichen Manne aufgeopfert wer-
den ſollte. Allein was einmahl geſchehen iſt, das
kann nicht mehr geaͤndert werden. Jch moͤchte
ſonſt wol wuͤnſchen, daß es nicht geſchehen waͤre,
und daß ich mich auf meine lieben Eltern mehr ver-
laſſen haͤtte, die ſich doch endlich wuͤrden haben er-
bitten laſſen. Jch habe keine andere Urſache, die-
ſes zu wuͤnſchen, als die Triebe eines kindlichen
Hertzens gegen meine Eltern. Jch bin auch be-
reit unter den Bedingungen, die ich ehemahls
vorgeſchlagen habe, zu ihnen zuruͤck zu kehren,
wenn ich nicht Erlaubniß erhalten kann, mich
nach meinem Gute zu begeben.


Wenn ich nur nicht weiter getrieben werde, ſo
werde ich in keine Art der Verpflichtung gegen
die Perſon treten, deren Huͤlfe ich mich ungern
bedienet habe: in keine Verpflichtung, die mit
meinen uͤbrigen Pflichten ſtreitet.


Zwinget mich nicht zu einer Zeit, auf welche
ſo vieles ankoͤmmt, zu ſagen, daß ich zwar ſeine
Schweſter, aber keine Freundin habe. Meine Eh-
re leydet jetzt; und dieſe iſt mir lieber als mein Le-
ben, was ihr auch aus meiner letzten Handlung
fuͤr Gedancken von mir ſchoͤpfet. Einige Gelin-
digkeit wird im Stande ſeyn, meine Ehre zu ret-
H 4ten,
[120]
ten, und die Welt glaubend zu machen, daß das
nur ein kurtzes Misverſtaͤndniß geweſen ſey, was
ſonſt leicht ein unausloͤſchlicher Fleck fuͤr eine un-
gluͤckliche Perſon ſeyn kann, der die Jhrigen ſeit
einiger Zeit ſehr unfreundlich begegnet ſind, wenn
ich die Sache mit dem gelindeſten Worte ausdruͤ-
cken ſoll.


Wenn Jhr demnach bey Ueberlegung aller Um-
ſtaͤnde der Meinung ſeyd, daß ich einen Fehler
begangen habe, ſo ſucht ihn nur nicht zu vergroͤſ-
ſern. Um Euer ſelbſt willen, um meines Bru-
ders willen, um der beyden Perſonen willen, die
mich in dieſes Ungluͤck geſtuͤrtzt haben, um der
gantzen Familie willen vergroͤßert ihn nicht, und
machet den Bruch nicht weiter. Suchet nicht den
guten Nahmen einer Schweſter auf ewig zu be-
flecken. Dieſes bittet


Eure ergebenſte
Cl. Harlowe.


P. S. Jch werde es fuͤr eine große Gefaͤlligkeit
anſehen, wenn mir meine Kleider nebſt den funf-
zig Guineas, die ich in dem Schreib-Jiſch zuruͤck
gelaſſen habe, ſogleich geſchickt werden. Den
Schluͤſſel uͤberſende ich hiebey. Jch wuͤnſche auch
meine geiſtlichen und gemiſchten Buͤcher zu haben,
und (wenn ſich meine Eltern dazu entſchließen
koͤnnten) meine Juwelen. Die Addreſſe iſt:
abzugeben in Osgoods Hauſe, nicht weit
von Soho-Squaͤre: mit Bitte den Brief zu
behalten, bis er abgefodert wird.


Der
[121]

Der zehende Brief
von
Herr Lovelacen an Herrn Joh. Belford.


Herr Lovelace ſetzt zuerſt die Nach-
richt fort, die er in dem ſechſten Briefe
angefangen hatte zu geben. Es ſind bey
nahe eben die Dinge, welche die Fraͤu-
lein berichtet hat: es ſollen deswegen zu
Vermeydung der Weitlaͤuftigkeit nur die
Stellen ſeines Briefes ausgezogen wer-
den, die beſondere Umſtaͤnde enthalten,
oder ſeine Abſichten zeigen, oder in de-
nen er ſeiner muntern Schreib-Art den
Zuͤgel laͤßt.


Das Abſteigen zu S. Albans beſchreibt
er alſo:


Den Leuten, die herbeykamen, konnte man es an
Geſicht und Augen anſehen, daß ſie ſich
wunderten, als ſie ein ungemein artiges Frauen-
zimmer aus dem Wagen ſteigen ſahen, deſſen An-
blick etwas vornehmes hatte, und das bey einer
Reiſe ſo ordentlich angekleidet war, bey der die
Pferde rauchten und die Bedienten ſchwitzten.
Jhre Neugierde, und meines Schatzes Unruhe
konnte mir nicht verborgen bleiben. Sie warf
bey dem Ausſteigen einen Blick auf ihre Kleidung,
die bey nahe gar keine Kleidung war: ſie ließ die
H 5Hand
[122]
Hand, die ich ihr bot, bey nahe mit einem Stoß
fahren, und eilete ſo geſchwind als ſie konnte in
das Haus. *** ‒ ‒


Ovidius verſtand die Lehre von den Verwan-
delungen nicht ſo gut, als dein Freund. Jch ver-
wandelte ſie bey der Wirthin ſogleich in eine
Schweſter, die ich unvermuthet von ihren Anver-
wanten, bey denen ſie den Winter uͤber geweſen
waͤre, abgehohlt haͤtte, damit ſie ſich nicht mit ei-
nem liederlichen Menſchen einlaſſen moͤchte, vor
dem ihr Vater, Mutter, aͤltere Schweſter, alle
ihre lieben Onckels, Baſen und Angehoͤrigen einen
Abſcheu gehabt haͤtten. (Jch bleibe ſtets ſo nahe
bey der Wahrheit, als ich kann.) Aus dieſer Er-
zaͤhlung ließ ſich die Verdrießlichkeit meines loſen
Kindes erklaͤren; ſeine Abgeneigtheit mit mir in
Geſellſchaft zu ſeyn, wenn ſie auch von laͤngerer
Dauer ſeyn ſollte; die Kleidung, die ſich zu der
Reiſe nicht ſchickte; kurtz alles Wahre kam mit die-
ſer Unwahrheit uͤberein. Zugleich gab dieſe Erzaͤh-
lung meiner Schoͤnen zu rechter Zeit einen Beweiß,
daß ich keine Abſichten haͤtte, die mit ihrer Ehre
nicht beſtehen koͤnnten.


Von dem Streit, der ſich zwiſchen ihr
und ihm erhoben hatte, und inſonderheit
von dem Vorwurf, den ſie ihm machet,
daß er ein junges Kind verleitet habe, wi-
der ſeine Pflicht und Gewiſſen zu han-
deln, ſchreibt er:


Alles dieſes, und noch viel empfindlichere Din-
ge brachte ſie vor. Jch hoͤrte ihr ſtille zu. Als aber
die
[123]
die Reihe an mich kam, ſo antwortete, ſo entſchul-
digte, ſo klagte ich, ſo gut ich konnte. Als ich durch
Unterwerfung nicht ausrichten konnte, was ich
wollte, ſo erhob ich meine Stimme, und erlaubte
dem Zorn, ſich in den Augen zu zeigen. Denn
ich hoffete, daß mir die ſchoͤne Furchtſamkeit, die
dieſem Geſchlecht eigen iſt, und die einige Frauen-
zimmer ſo gar mit Willen annehmen, zu ſtatten
kommen ſollte; weil ich dieſer Furchtſamkeit mei-
nen Sieg uͤber ſie groͤßeſtentheils zu dancken hatte.


Allein ſie wollte ſich nicht furchtſam machen
laſſen, ſondern fing an das rauhe auswendig zu
kehren, und meine Entſchuldigung anzugreiffen.
Ein Frauenzimmer mag aus noch ſo einem ho-
hen Ton reden, wenn eine Manns-Perſon eine
ſolche Materie der Unterredung hat, ſo muͤßte ſie
ihre Sache nicht verſtehen, wo ſie keinen Vor-
theil uͤber das Frauenzimmer erhalten ſollte; und
wenn ſie nicht durch Herausſtoßung anderer Re-
den, die eben ſo dreiſte ſind, aber eine beſſere Aus-
legung leyden, das Frauenzimmer abhielte, uͤber
die erſte Dreiſtigkeit empfindlich zu ſeyn.


Von dem Theil der Unterredung, in
welchem ſie ihn erinnert, wie ungern ſie
ſich habe bewegen laſſen, Briefe mit ihm
zu wechſeln, ſchreibt er alſo.


Wahr genug, du loſes Kind! Unzaͤhliche Schwi-
rigkeiten haſt du mir in den Weg geleget. Allein
es kann die Zeit kommen, da du wuͤnſchen wirſt,
mich durch dieſen Ruhm nie gekraͤnckt, und alle
deine artigen ſtoltzen Wahrheiten verſchwiegen zu
haben:
[124]
haben: daß du Solmeſen nicht um meinet wil-
len abgewieſen haſt ‒ ‒ daß meine Ehre deine
Schande ſey, wenn ich das fuͤr ein Verdienſt ſchaͤ-
tzen wollte, daß ich dich in Freyheit geſetzt habe:
‒ ‒ daß meine Verdienſte in meinen Augen groͤſſer
ſind als in deinen und in anderer Leute Augen.
(dencke, Bruder, wie laͤcherlich das Maͤdchen mich
vorſtellet) ‒ ‒ daß du wuͤnſcheſt wieder in deines
Vaters Hauſe zu ſeyn, es moͤchten auch Folgen dar-
aus entſtehen, die nur immer entſtehen koͤnn-
ten. Wenn ich dir jemahls, mein Kind, dieſe
zweydeutigen Reden, dieſe Wuͤnſche, dieſe Stiche
vergebe, ſo bin ich nicht der Lovelace, dafuͤr mich
die Leute anſehen, und dafuͤr du mich auch zu hal-
ten ſcheineſt, weil du mir ſo ſonderbar begegneſt.


Kurtz ihre gantze Gebeerde druckte, ſo lange der
Streit waͤhrete, auf eine recht erhabene Art ihr
Mißfallen aus, und man konnte es ihr anſehen,
daß ſie ſich Vorzuͤge vor mir zu haben einbildete.


Jch habe oft mit dir davon geredet, wie barm-
hertzig ein Mann ausſehen muß, wenn ſeine Frau
entweder in der That oder in ihren Gedancken
mehr Verſtand hat, als er. Jch habe tauſend Ur-
ſachen die Fraͤulein Clariſſa Harlowe nicht zu
nehmen; zum wenigſten ſo lange nicht, bis ſie mir
den Vorzug in der Liebe vor allen andern giebt,
den man billig von ſeiner Frau erwartet.


Jch fange an in meinen Entſchließungen zu
wancken. Jch bin ſonſt nicht geneigt geweſen,
Feſſeln zu tragen: wie leicht werden dieſe alten
Vorurtheile wiederkommen. Der Himmel mache
mein
[125]
mein Hertz gegen ſie ehrlich! da iſt einmahl ein
Seufzer, Bruder! wenn er nicht erhoͤrt wuͤrde, ſo
waͤre das unvergleichliche Maͤdchen zu bedauren.
Doch, da ich dem Himmel nicht ſo oft mit einem
Gebet beſchwerlich falle, ſo iſt Hoffnung, daß die-
ſer Seufzer erhoͤrt werden wird.


Jch ſehe aber bey ihr ſo angenehme, ſo reitzende
Hinderniſſe vor mir; ein ſolches Feld, auf dem
ich alle Liſt, die ich beſitze, anwenden kann; ſo viel
Gelegenheit etwas mißliches zu wagen. Was
fuͤr ein Ungluͤck, daß alle meine Neigungen und
Gaben gerade auf dieſe Seite gehen! da ich doch
weiß, was Ehre und Gerechtigkeit iſt, und da ich
in großer Verſuchung bin, aufrichtig zu wuͤnſchen,
daß ich ein ehrliches Hertz haben moͤchte. Jn
großer Verſuchung bin ich:
denn voͤllig kann
ich den Wunſch nicht thun, dazu bin ich zu ſchelmiſch.
Dencke, was fuͤr ein Sieg uͤber das gantze Ge-
ſchlecht, wenn ich ſie beſiegen koͤnnte! dencke an
mein Kloſter-Geluͤbde, wie ich es nennen mag.
Haben nicht die Frauenzimmer den Anfang ge-
macht, mich zu beleidigen? und ſchont dieſes Kind
meiner? Glaubſt du, Bruder, daß ich mein Ro-
ſenknoͤſpgen geſchont haben wuͤrde, wenn es mir
ſo getrotzt haͤtte? die Grosmutter bat mich, es zu
ſchonen: und wenn ein Maͤdchen einmahl in unſere
Gewalt uͤbergeben wird, oder ſich ſelbſt darein uͤ-
bergibt, ſo kann man nichts weiter zu erlangen
wuͤnſchen: hingegen Widerſtand und Wachſam-
keit habe ich immer fuͤr eine Verſuchung angeſehen,
es aͤrger zu machen.


Warum,
[126]

Warum, ach warum bemuͤhet ſich das aller-
liebſte Kind, ſich gegen mich eiskalt zu ſtellen?
Warum will es meinen Hochmuth durch ſeinen
Hochmuth reitzen? Haſt du nicht in meiner Erzaͤh-
lung angemerckt, wie veraͤchtlich es mir begegnet?
Wie viel habe ich um ihret Willen ja von ihr ſelbſt
verſchmertzet? Jſt es auszuſtehen, daß ſie mir ſa-
get, ich waͤre ihr veraͤchtlich, wenn ich mich dem
Abſcheu vom Menſchen dem Solmes vorziehe.


Alle Triebe meiner zaͤrtlichſten Zuneigung er-
ſticket ſie in der erſten Bluͤte. Wenn ich ihr Treue
ſchwoͤre, ſo macht ſie die verdammte Auslegung
daruͤber, ich muͤßte ſelbſt glauben, daß ſie Urſache
habe, an meiner Treue zu zweifeln. Eben das
hat ſie ſchon ehemahls gethan. Sie iſt in mei-
ner Gewalt nicht anders geworden, als ſie auſſer
meiner Gewalt geweſen iſt. Meine armſeeligen
Geluͤbde muͤſſen bey den Umſtaͤnden wieder zum
Halſe hinunter, ehe ſie die Lippen erreicht haben.
Was ſoll ein Liebhaber mit ſeiner Geliebten reden,
wenn er weder luͤgen noch ſchwoͤren darf.


Ein kleines Kunſt-Stuͤck habe ich gebraucht.
Als ſie gar zu ſehr in mich drang, daß ich mich
von ihr entfernen ſollte, ſo bat ich ſie mir eine Be-
dingung zu bewilligen, zu der ſie ohnmoͤglich Nein
ſagen konnte; und als ſie mir meine Bitte einge-
ſtand, ſo gab ich ſo viel Danckbarkeit vor, als
wenn es eine Sache von der groͤßeſten Wichtigkeit
waͤre.


Und was war es denn? ſagſt du. Sie ſollte
mir verſprechen, was ſie mir laͤngſtens verſpro-
chen
[127]
chen hatte, daß ſie nie einen andern heyrathen
wollte, ſo lange als ich am Leben und unverhey-
rathet waͤre, und ſie durch keine Tod-Suͤnde be-
leydigte. Dis war ſo viel als nichts verſprochen:
denn ſie konnte ſich fuͤr beleydiget halten, ſo bald
ſie wollte, und war in ihrer eigenen Sache Rich-
terin. Allein ſie konnte hieraus ſehen, wie billig
ich in meinen Wuͤnſchen ſey, und daß ich nicht
(wie ſie mir Schuld giebt) eines Daumens breit
in einer Hand Breit verwandelte.


Sie bewilligte das, was ich bat: und fragte:
von welcher Art die Verſicherung ſeyn ſollte, die
ſie mir daruͤber gaͤbe.


Muͤndlich! ſagte ich.


Sie that mir hierauf ein muͤndliches Verſpre-
chen. Jch bat mir die Freyheit aus es zu verſie-
geln, und that es auch ohne zu warten bis ſie ant-
worten konnte: weil ich nicht Luſt hatte ihr Nein
zu hoͤren.


Du magſt es mir glauben oder nicht: dieſes
war das erſte mahl, das ich mich unterſtand ihre
ſanften Lippen mit den meinigen zu beruͤhren. Jch
kann dir verſichern, Belford, der eintzige Druck,
den ich ihren Lippen ſo gelinde gab, als wenn ich
ſelbſt eine Jungfer waͤre, damit ſie ſich kuͤnftig
deſto weniger fuͤrchten moͤchte, hat mir mehr Ver-
gnuͤgen verurſachet, als jemahls die letzten Pro-
ben der Liebe bey irgend einem andern Frauenzim-
mer. So koſtbar kann die Ehrfurcht gegen eine
Perſon uns dasjenige Vergnuͤgen machen, das ſie
uns verbietet.


Jch
[128]

Jch fuͤrchte nur, daß ich allzu kuͤnſtlich zu
Wercke gegangen bin. Denn ſie redet jetzt allzu-
wenig fuͤr mich. Jch weiß nicht, was ich aus
dem lieben Kinde machen ſoll.


Jch ſpielte am Montag Abend die Perſon eines
Bruders in Gegenwart der Wirthin zu S. Albans,
und bat meine Schweſter um Verzeihung, daß ich
ſie ohne ihr Zeit zu laſſen ſo gleich mitgenommen
hatte. Jch redete von der Freude, die ihre El-
tern haben wuͤrden, wenn ſie ihre liebe Tochter
zuerſt wieder ſahen. Jch machte die Erdichtung
ſo umſtaͤndlich, daß ich aus einem Blicke, den ſie
mir gab, und der mir durch Marck und Bein
ging, mercken mußte, daß ich zu viel geredet hat-
te. Jch ſuchte mich zu entſchuldigen, ſo bald wir
allein waren: allein ich bin noch zweifelhaft, ob
ich die Sache beſſer oder ſchlimmer gemacht habe.
Jch habe ein gar zu offenes Hertz. Das Kleinod,
das ich in dem Beſitz habe, hat meine Bruſt nicht
nur aufgeſchloſſen, ſondern die Thuͤren dazu gleich-
ſam gantz offen gelaſſen.


Das iſt ein verworrenes und ſchleichendes Ge-
ſchlecht. Wenn ſie nur von dem Hertzen weg re-
dete, wie ich. Allein ich muß bey ihr lernen ver-
ſteckt zu ſeyn.


Sie muß nothwendig von Gelde entbloͤßet ſeyn,
und dennoch laͤßt ihr Hochmuth nicht zu, daß ſie
etwas von mir annehmen ſollte. Jch haͤtte ſie
gern nach London (London, das iſt der Ort, dahin
ich ſie zu bringen ſuchen muß) um einige der reich-
ſten Stoffen fuͤr ſie zu kauffen, die nur zu haben
ſind.
[129]
ſind. Allein auch hierauf habe ich nichts als ihr
Nein! Und dennoch lauffen alle Nachrichten, die
ich von meinem Spion erhalte, da hinaus, daß
ihre Verwanten unverſoͤhnlich ſind, und den Vor-
ſatz haben, ihr allen erſinnlichen Verdruß zu ma-
chen.


Es ſcheint, daß dieſe Unmenſchen ſeit ihrer
Flucht zu meiner Ehre den bitterſten Verdruß em-
pfunden haben, und voller Grimm ſind: in dem
naͤchſten Jahre wird ſich ihr Grimm auch nicht
abkuͤhlen. Jetzt iſt die Reihe an mir, ſie zu kraͤn-
cken.


Das ſchmertzt ſie in der Seele, daß ſie ihr die
Freyheit verſtattet haben, nach dem Huͤner-Hofe
und in den Garten zu gehen. Sie wiſſen, daß
ſie hier Gelegenheit gehabt hat, ihre Flucht (die
ſie fuͤr vorſaͤtzlich anſehen) zu veranſtalten: ob ſie
gleich nicht wiſſen, wie ſie es angefangen hat, ſich
dieſe Gelegenheit zu verſchaffen. Daß ſie ihr er-
laubt haben, das letzte mahl in dem Sommer-
Hauſe zu ſpeiſen, das geſchahe aus einer tuͤckiſchen
Abſicht, wie Lehmann von ſeiner Braut der
Eliſabeth gehoͤrt hat.


Sie bedauren, daß ſie einen ſo ſchoͤnen Vor-
wand ſie noch enger einzuſchraͤncken, nicht gebraucht
haben, den ihnen meine Drohung gab, ſie mit
Gewalt in Freyheit zu ſetzen, wenn ſie ſie nach des
alten Antons Gut bringen wuͤrden. Jch habe dir
dieſes im weißen Hirſch erzaͤhlet, und dem lieben
Kinde habe ich es auch ehemahls zu verſtehen gege-
ben, daß ein ſolcher Vorſchlag im Wercke geweſen iſt,
Dritter Theil. Jweil
[130]
weil ſie fuͤrchteten, ich wuͤrde ſie wenn ſie ſpa-
tzieren ginge, mit oder wider ihren Willen ent-
fuͤhren.


Allein hier hat mir mein ehrlicher Joſeph, durch
dem ich alles weiß, trefliche Dienſte geleiſtet. Er
hatte den Harlowes weiß machen muͤſſen, daß ich
eben ſo ſchwatzhaftig gegen meine Bedienten ſey
als ihr Jacob gegen Joſeph Lehmann iſt. Sie
glaubten, daß Joſeph durch meinen Wilhelm
hinter alle meine Geheimniſſe kaͤme, und alle mei-
ne Anſchlaͤge erfuͤhre: weil er nun auch verſprochen
hatte auf die Fraͤulein ſelbſt Acht zu geben, ſo war
die gantze hochweiſe Familie ſicher; und meine
Geliebte und ich, wir waren auch ſicher.


Jch habe einmahl im Sinne gehabt, und dir
auch von einem Vorſchlage meinen Winck gegeben,
daß ich ſie unverſehens aus dem Holtz-Stalle ent-
fuͤhren wollte, wenn es noͤthig waͤre, das aͤußer-
ſte zu wagen. Jch wuͤrde dieſes gewiß durch Huͤl-
fe der Bruͤderſchaft bewerckſtelliget haben, wenn
ich es gewagt haͤtte: es waͤre dieſe That wuͤrdig
geweſen von uns allen vollbracht zu werden. Al-
lein das Ding ſtand mir im Wege, das Joſeph
ſein Gewiſſen
nennet; denn er befuͤrchtete, daß
er in Verdacht kommen moͤchte, als waͤre die That
mit ſeinem Vorwiſſen geſchehen. Jch wuͤrde die-
ſen Gewiſſens-Zweiffel ſo wie andere haben uͤber-
winden koͤnnen: allein ich verließ mich bald darauf,
daß ſie mir verſprochen hatte, ſich mit mir um
Mitternacht oder ſpaͤte am Abend zu unterreden;
und alsdenn wuͤrde es mir nur einen Fall gekoſtet
haben,
[131]
haben, wenn ſie haͤtte zuruͤck gehen wollen; bald
aber darauf, daß ihre liſtige Familie fuͤr mich ar-
beitete, und ſie mir in die Arme trieb.


Jch wußte allzu gewiß, daß Jacob und Ara-
belle
nie von ihren abgeſchmackten Beleidigungen
gegen ſie abſtehen wuͤrden, bis ſie ſie entweder ſo
muͤde gemacht haͤtten, daß ſie Solmeſen naͤhme,
oder bis ſie ſich zu einer Handlung entſchloͤſſe, da-
durch ſie die Liebe ihrer beyden Onckles auf ewig ver-
ſchertzte.



Der eilfte Brief
Eine Fortſetzung des vorigen von Herrn
Lovelace.


Jch habe es mercken koͤnnen, was fuͤr einen
angenehmen Gefallen ich meinem lieben Kin-
de dadurch erzeiget habe, daß ich Frau Greme
mit brachte, ihr Geſellſchaft zu leiſten, und daß
ich bey Ausſuchung einer Miethe dem Rath die-
ſer braven Frau gefolget bin, als ſie ſich wegerte,
nach der Forſt zu ziehen.


Sie konnte ſehen, daß ich lauter gute Abſich-
ten haben muͤßte; da ich keine Miethe fuͤr ſie aus-
gemacht hatte, ſondern es in ihr Belieben ſtellete,
ob ſie in Halls Haus ziehen, oder auf der Forſt
bleiben, oder nach London oder zu einer von mei-
nen Baſen reiſen wollte.


J 2Sie
[132]

Sie konnte das Vergnuͤgen auch im Geſichte
nicht verbergen, das ſie empfand, als ich Frau
Greme bat, ſich zu ihr in die Kutſche zu ſetzen, und
ich ſelbſt bey dem Wagen her ritte.


Ein anderer wuͤrde ſich gefuͤrchtet haben, daß
einige Reden zum Nachtheil des Endzwecks, den
ich hatte, zwiſchen ihr und der Frau Greme vor-
fallen moͤchten. Jch war unbeſorgt, denn alle
meine Verwanten wiſſen, daß ich redliche Abſich-
ten gegen ſie habe. Jch bin immer uͤber die Heu-
cheley hinweg geweſen, und ich verlange nicht fuͤr
beſſer angeſehen zu werden, als ich in der That bin.
Was kann einer fuͤr Luſt haben ein Heuchler zu
werden, dem bisher ſeine Abſichten bey dem ſchoͤ-
nen Geſchlechte beſſer gelungen ſind, weil man ihn
fuͤr liederlich gehalten hat? Selbſt meine Ge-
liebte hat ſich gewagt, Briefe mit mir zu wechſeln,
ob ihr gleich die Jhrigen den aͤrgſten Begriff von
mir beygebracht haben. Wer wollte denn eine
neue und ſchlimmere Perſon zu ſpielen anfangen?


Frau Greme iſt eine fromme Frau, die ſich
durch nichts wuͤrde bewegen laſſen, die Wahrheit
zu verletzen. Ehemahls, als noch Hoffnung zu
meiner Beſſerung uͤbrig war, pflegte ſie fuͤr mich
zu beten. Jch glaube nicht, datz ſie dieſe gute
Gewohnheit noch hat: denn der alte gnaͤdige Herr
macht ſich kein Bedencken, bey Gelegenheit ſeinen
Kummer uͤber mich vor Mann, Weib, und Kind,
wie ſie ihm in den Weg kommen, auszuſchuͤtten.
Du weißt, daß er oft ſeiner Pflicht vergißt: ich kann
den Ausdruck ſehr eigentlich gebrauchen, denn wer
Pflichten
[133]
Pflichten von dem andern fodern will, der iſt ihm
hinwiederum Pflichten ſchuldig. Aber wieder auf
Frau Greme zu kommen: die arme Frau! ſo oft
mein Onckle das Podagra auf ſeinem Gute hat,
und der Prediger nicht zu finden iſt, ſo betet ſie ihm
vor, oder lieſet etwas aus der Bibel und andern
guten Buͤchern.


War es nicht wohl gethan, daß ich eine
ſo fromme Frau mit meiner Geliebten bekant zu
machen ſuchte, und daß ich ſie ſo frey mit einander
reden ließ, als ſie ſelbſt es wuͤnſcheten? Jch ſahe,
daß ſie in ihrem Geſpraͤch ſehr geſchaͤftig in der Kut-
ſche waren. Jch konnte es fuͤhlen, daß ſie von
mir redeten: denn beyde Backen fingen mir an
zu gluͤen.


Jch ſage es noch einmahl, ich hoffe, daß ich
ehrlich gegen das liebe Kind ſeyn werde. Allein da
wir ſchwachen Menſchen nicht immer Herren uͤber
uns ſelbſt ſind, ſo muß ich vorbeugen, daß mein
unvergleichlicher Schatz keinen Argwohn gegen
mich ſchoͤpfe, bis ich ihn zu einem unſerer Bekann-
ten in London oder ſonſt an einen ſichern Ort brin-
gen kann. Wenn ich mich vorher in Verdacht
bey ihr ſetzte, oder ihr nicht voͤllig ihren eigenen
Willen ließe; ſo koͤnnte ſie Fremde, und das gantze
Land zu Huͤlfe ruffen, oder auch ſich an die Jhri-
gen wenden, und ſich auf ſelbſt-gewaͤhlte Bedin-
gungen mit ihnen vergleichen. Sollte ich ſie aber
jetzt verlieren, ſo waͤre ich unwuͤrdig, das Haupt
und der Fuͤrſt einer ſolchen Bruͤderſchaft zu ſeyn.
Wie wuͤrde ich unter Maͤnnern das Haupt empor
J 3heben,
[134]
heben, oder mich vor einem Frauenzimmer wieder
ſehen laſſen koͤnnen? So wie die Sachen jetzt ſte-
hen, darf ſie nicht ſagen, daß ſie wider ihren Wil-
len geflohen iſt: und ich habe veranſtaltet, daß alle
ihre unverſoͤhnlichen Verwanten glauben, daß ſie
mit guten Bedacht davon gegangen iſt.


Sie hat von der Fraͤulein Howe eine Antwort
auf den Brief erhalten, den Sie von S. Albans
geſchrieben hat. Jch weiß den Jnhalt nicht: nur
dieſes: ſie weinete hefftig, und ich muß fuͤr den
Jnhalt des Briefes buͤßen.


Die Fraͤulein Howe iſt ein wackeres Maͤdchen:
allein ſie iſt gar zu empfindlich und muthig. Jch
fuͤrchte mich faſt vor ihr. Sie will ihrer Mutter
kaum gehorchen. Jch muß fortfahren, den alten
Anton durch meinen Joſeph aufzuhetzen, daß er
der Mutter in den Ohren liegt, und dadurch der
Tochter die Haͤnde bindet, damit mein Kind keinen
Freund auſſer mir haben moͤge.


Die Frau Howe kann keine Widerrede lei-
den; und die Fraͤulein iſt hierin ihr Ebenbild.
Wenn ein Frauenzimmer fuͤhlt, daß es alles an
ſich hat, was erfodert wird, eine Haus-Mutter zu
ſeyn; und es muß unter einer Mutter ſtehen: ſo
kann ein munterer Kopf ſeine Dinge ſchon machen.
Die Mutter iſt all zu voll von Erinnerungen; die
Tochter allzu empfindlich: und ihr Hickmann iſt
keines von beyden. Er verhaͤlt ſich blos leidend.


Allein ich habe ein Ziel, nach welchem ich mich
mehr ſehne.


Wie
[135]

Wie ungluͤcklich iſt es, daß dieſe beyden Frauen-
zimmer ſo nahe Nachbarinnen und ſo vertraute
Freundinnen geweſen ſind! Wie artig haͤtte ich
ſonſt mit ihnen beyden ſpielen wollen!


Allein einer kann nicht alle Frauenzimmer ha-
ben, die einer boͤſen Luſt werth ſind: Gott erbar-
me das, wenn es einen muntern und braven Kerl
betruͤbet.



Der zwoͤlfte Brief.
Lovelaces
Fortſetzung.


Zwey verliebte Leute, die beyde ſolche Liebha-
ber von dem Schreiben ſind, als wir, hat
die Sonne noch nicht geſehen! Zwey Leute, die
vor einander das, was ſie ſchreiben, ſo ſorgfaͤltig
verbergen muͤſſen, als wir!


Sie will ſonſt nichts zu thun haben. Jch woll-
te ihr wol andere Arbeit machen: allein ſie hat
nicht Luſt dazu: ich bin noch nicht bekehrt, noch
nicht heilig genug, ſie nach mir umzutauffen.
Geduld iſt eine große Tugend: ſpricht mein
Onckle. Jch trete leiſe und ſicher: das iſt ein
anderer Spruch des weiſen Mannes. Wenn ich
dieſe Tugend nicht [...] einem reichen Maaß beſaͤße,
ſo haͤtte ich ohnmoͤglich die Zeit erwarten koͤnnen,
die mir die Harlowes ſelbſt gegeben haben, ſie und
ihre Goͤttin Tochter zu beruͤcken.


J 4Meine
[136]

Meine Geliebte hat an ihre wunderliche Freun-
din geſchrieben. Jch glaube, daß alles ihr Un-
gluͤck, und alles was zwiſchen uns vorgefallen iſt,
in ihrem Briefe ſtehet. Wenn ſie ſo umſtaͤndlich
ſchreibet, als ich, ſo wird es ihr an artiger Ma-
terie nicht mangeln.


Jch wuͤrde nicht ſo grauſam ſeyn, daß ich den
alten Anton aufhetzte, die alte Mutter Howe
aufzuhetzen, wenn mir nicht vor den Folgen dieſes
Briefwechſels grauete. Dencke Bruder: zwey
Maͤdchens! das eine ſo lebhaft! das andere ſo vor-
ſichtig! beyde ſo verſchmitzt! Wer wollte nicht wuͤn-
ſchen, die betriegen zu koͤnnen, und ſie wie einen
Drath um ſeinen kleinen Finger zu winden.


Mein Kind hat an ſeine Schweſter geſchrieben,
und um Kleidung, und einiges Geld und Buͤcher
gebeten. Was hat es doch vor Buͤcher, dar-
aus es mehr lernen kann, als es ſchon weiß? Jch
wollte dem Maͤdchen noch etwas neues lernen! Bey
mir ſollte das loſe Ding in die Schule gehen!


Sie mag ſchreiben! Endlich wird ſich doch ihr
Hochmuth uͤberwinden muͤſſen, mir gute Worte
zu geben. Die Fraͤulein Howe wird ihr zwar
gern mit Geld an die Hand gehen: allein ich glau-
be nicht, daß ſie es ohne ihre Mutter thun kann.


Und die iſt geitziger als die Hoͤlle. Meines Ab-
geſandtens Abgeſandter, der alte ehrwuͤrdige An-
ton,
hat der Mutter ſchon einen Winck gegeben,
der ſie veranlaſſen wird, ein Auge auf das Geld
zu haben.


Hat
[137]

Hat die Fraͤulein Howe Geld fuͤr ſich, ſo
kann ich machen, daß ihre Mutter es von ihr bor-
get. Du wirſt mir doch keine Schelmerey verden-
cken, dadurch ich mir Gelegenheit verſchaffe, frey-
gebig zu ſeyn. Du kenneſt mich: ich wuͤrde mei-
ner Geliebten gern Gefaͤlligkeiten erzeigen, wenn es
auch die Helfte meiner Guͤter koſten ſollte. Mein
Onckle hat mehr, als ich begehre. Ein Maͤdchen,
nicht Geld, iſt mein Abgott. Nach dem Gelde
frage ich nichts, als nur in ſo fern es mir zu dem
Maͤdchen hilft, und macht, daß ich niemanden
verpflichtet ſeyn darf.


Damit man uns nicht ausſpuͤhren koͤnnte, mußte
ich dem jungen unerfahrnen Kinde um ihret und
um meinet willen, ein Addreſſe in ihre lieben Haͤnde
geben, darunter die Jhrigen ihre Kleider ſchicken
koͤnnten, wenn ſie etwan geſinnet ſeyn ſollten, die-
ſe kleine Billigkeit zu beweiſen.


Thun ſie das, ſo fuͤrchte ich, daß eine Verſoͤh-
nung moͤglich iſt. Alsdenn muß ich auf eine neue
Liſt ſinnen, dieſes zu hintertreiben, und Ungluͤck
zu verhuͤten.
Denn das ſuche ich immer zu ver-
huͤten, wie Joſeph Lehmann ſaget.


Du wirſt glauben, daß ich ein arger Kerl bin.
Sind nicht alle liederliche Leute arge Kerls? Biſt
du bey deiner kleinen Kraft nicht einer der aͤrgſten?
Wenn du alles thuſt, was in deinem Kopfe und
in deinem Hertzen iſt, ſo biſt du aͤrger als ich:
denn ich thue weniger, als in meinem Kopfe iſt.


Jch ſchlug vor, und ſie gab ihr gnaͤdiges Ja
dazu, daß ihre Kleider, und was ihre Anverwan-
J 5ten
[138]
ten ihr ſonſt ſchicken wuͤrden, an dich in deines
Vetters Osgoods Hauſe abgegeben werden ſollen.
Beſtelle auf meine Koſten einen eigenen Boten,
der mir den Brief, oder das Packet bringet. Jſt
es ſo groß, daß er es nicht tragen kann, ſo gib
mir Nachricht. Jch ſchwoͤre dir aber: ihre An-
verwanten werden dir die Muͤhe nicht machen.
Weil ich davon verſichert bin, ſo will ich ſie nach
ihrem eigenen Kopfe handeln laſſen. Wer wird
ſich gern unnoͤthige Verantwortung machen?


Eins faͤllt mir ein, das darf ich nicht vergeſſen.
Jhr muͤßt kuͤnftig alle mit unſern geheimen Buch-
ſtaben an mich ſchreiben: ich werde es auch thun.
Wer weiß, wem unſere Briefe in die Haͤnde fallen!
Man muͤßte ſich ſchaͤmen, wenn man ſein eigenes
Werck in die Luſt ſprengen ſollte.


Noch eines iſt, das mußt du nicht vergeſſen.
Jch habe meinen Nahmen geaͤndert, dem Parla-
ment habe ich kein gutes Wort gegeben. Robert
Huntingford
heiße ich jetzt. Das Wort, Jun-
cker,
kannſt du dazu ſetzen, wie gewoͤhnlich. Es
iſt ein guter Nahme, ob ihn gleich ein jeder ſchmaͤch-
tiger Berenhaͤuter jetzt misbraucht; ſo daß man faſt
keinen mehr Landsmann nennen will. (*) Schrei-
be dazu: im Poſt-Hauſe zu Hertford bis
auf Nachfrage abzugeben.


Als

[139]

Als ich dich nennete, erkundigte ſie ſich was
du fuͤr eine Art Kerls waͤreſt. Jch beſchrieb dich
beſſer, als du es verdieneſt, um mich in dir zu lo-
ben. Jch ſagte ihr aber zugleich, daß du ein
wunderlicher Kerl im aͤußerlichen waͤreſt; damit ſie
nicht einen allzu artigen Kerl erwarten, und ſich
hernach gar zu ſehr vor dir ſcheuen moͤge, wenn ſie
dich zu ſehen bekoͤmmt. Daß du ein halbes Unge-
heuer biſt, iſt fuͤr dich ein Vortheil. Wenn du
ein angenehmeres Anſehen haͤtteſt, ſo wuͤrden die
Leute in deinem Umgange nichts beſonderes, nichts
angenehmes finden. Jetzt ſehen ſie an dir einen Baͤ-
ren: wenn ſie dich aber ſprechen, ſo wollen ſie vor
Verwunderung auſſer ſich kommen, weil ſie etwas
gleiches mit einem Menſchen an dir gewahr wer-
den. Freue dich uͤber deine Maͤngel, die deine
groͤßeſten Vollkommenheiten ſind, und die dir
Vorzuͤge verſchaffen, welche du ſonſt nie erlangen
wuͤrdeſt.


Die Miethe, in der wir uns befinden, iſt nichts
weniger als bequem. Jch habe das inſonderheit
auszuſetzen gefunden, daß die Zimmer einen Durch-
gang haben: weil ich zum voraus ſahe, daß ihr
dieſer Umſtand mißfaͤllig ſeyn wuͤrde. Jch ſagte
ihr, wenn ich nur gewiß wuͤßte, daß man uns
nicht nachſetzen wuͤrde, ſo wollte ich mich von ihr
entfernen, weil ſie dieſes ernſtlich begehrete. Der
Teufel muß dem Maͤdchen im Hertzen ſtecken,
wenn ich ihr nicht allen Schatten des Argwohns
benehmen kann. Sie muß wider alle Vernunft
und
[140]
und Wahrſcheinlichkeit unglaͤubig ſeyn, wenn ſie
nicht an meine Ehrlichkeit glauben will.


Hier im Hauſe ſind ein paar artige Toͤchter von
der Wittwe Sorlings, unſerer Haus-Wirthin.


Bisher habe ich nur ihre Arbeit bewundert. Wie
begierig iſt doch dieſes gantze Geſchlecht auf Ruhm.
So vergnuͤgt war ich uͤber die Arbeit der juͤngſten,
daß ich ſie dafuͤr kuͤſſete: ſie machte mir einen
tiefen Knicks fuͤr meine Herablaſſung zu ihr, ward
dabey gantz roth, und ſchien den Kuß zu fuͤhlen.
Voller Unſchuld gab ſie mir noch mehr Gelegen-
heit: ſie machte ihr Halstuch zurechte, und ſahe
abwerts nach der Thuͤr zu, als wollte ſie es nicht
ſehen, wenn ich ſie noch einmahl kuͤſſen wollte.


Die aͤltere Schweſter kam dazu; und das arme
Maͤdchen ward abermahls gantz roth, und ſahe ſo
verwirret aus, daß ich ein Wort zur Entſchuldi-
gung und zu beyder Vergnuͤgen ſagen mußte. Jch
ſagte: Jungfer Eliſabeth, ihrer Schweſter Arbeit
gefaͤllt mir ſo wohl, daß ich ihr einen Kuß geben
mußte. Jch glaube, ſie haben viel dazu beyge-
tragen, daß ſie ſo wohl unterwieſen iſt. Erlauben
ſie mir auch ‒ ‒ ‒


Die guten Kinder! Jch mag ſie beyde gern
leyden. Sie machte mir auch einen Knicks. O!
wie gefaͤllt mir ein danckbares Gemuͤth! Wenn
doch meine Fraͤulein Harlowe nur halb ſo danckbar
waͤre!


Jch muß eins von dieſen beyden Maͤdchens zur
Aufwartung fuͤr meine Geliebte mitnehmen, wenn
ich wegziehe. Die Mutter ſcheint all zu wachſam
zu
[141]
zu ſeyn. Sie thaͤte aber am beſten, wenn ſie nicht
all zu wachſam waͤre. Denn wenn ſie mir die Sa-
che aus Argwohn ſchwer macht, ſo wuͤrde ich Luſt
bekommen, mich an eine oder an beyde Toͤchter zu
machen.


Erlaube mir, daß ich ein wenig aufſchneiden
darf! ‒ ‒ Doch was will ich ſagen: mein Hertz
ſcheint in der That gefeſſelt zu ſeyn. Jch kann an
kein anderes Frauenzimmer dencken, als an meine
Gloriana.



Der dreyzehente Brief.
Eine Fortſetzung des vorigen, von Herrn
Lovelacen.


Heute iſt der Mittewochen, der Tag, an wel-
chem ich meine eintzige Freude auf ewig ver-
lieren ſollte. Mit wie leichtem Hertzen kann ich
jetzt ſitzen, und meine Stroh-Maͤnner in Har-
lowe-Burg auslachen! Vielleicht iſt es der Leute
ihr Gluͤck, daß ſie ſo gut aus dem Hauſe entkom-
men iſt. Wer weiß, was es fuͤr Folgen gehabt
haͤtte, wenn ich ſie in das Haus hinein begleitet
haͤtte: oder wenn ich mit meinem Heer-Lager in
ihres Vaters Haus gegangen waͤre, falls ſie ſich
nicht um die beſtimmte Zeit eingeſtellet haͤtte.


Wenn ich aber auch ohne eure Begleitung mit
ihr in das Haus gegangen waͤre, ſo wuͤrde ich ſo ſehr
viel nicht zu befuͤrchten gehabt haben. Du weißſt,
daß furchtſame, ſtille Gemuͤther, die ihre Ehre
zu
[142]
zu ſchaͤtzen wiſſen, und ſich blos aus gewiſſen Ab-
ſichten in den Schrancken der Geſetze halten, mit
einer giftigen Spinne verglichen werden koͤnnen.
Dieſe kriechet ſo gleich bey, wenn der aͤußerſte Fa-
den ihres Gewebes von einem Finger beruͤhret wird
der ſie zerdruͤcken koͤnnte, und uͤberlaͤßt ihr gantzes
Gewebe dem Feinde. So bald aber eine unver-
ſtaͤndige Fliege, die weder Muth noch Vermoͤgen
hat ihr zu widerſtehen, durch ihr Zerren dem Raͤu-
ber ſeinen gefangenen Raub zu erkennen giebt, ſo
geht der Tyrann aus ſeiner Burg heraus, und be-
ſtricket das arme Thier mit ſeinem Gewebe. Wenn
es weder Fuß noch Fluͤgel ruͤhren kann, ſo haͤnget
er es im Triumph auf; und ſchreitet nach ſeiner
Behauſung zuruͤcke. Aus dieſer betrachtet er ſei-
nen Sieg, und verlaͤßt ſie bisweilen um ſeinen
Raub ruhig zu verzehren.


Eben faͤllt es mir ein! Kann nicht das Gleich-
niß eben ſo wohl von gefangenen Maͤdchen als von
furchtſamen Leuten ausgelegt werden? Schweig
Gewißen! Uns brave Kerls muß man nur denn
mit der Spinne vergleichen, ſo wird das Gleich-
niß richtig ſeyn.


Was in unſerm Hertzen iſt, das wird unſer
Kopf uͤberall finden. Man dencke an Spinnen,
an Fliegen, an was man will. Zuletzt wird doch
ein Maͤdchen daraus. Das Maͤdchen iſt der
Mittel-Punct, nachdem wir alle eine Richtung
haben.


Allein wieder auf das vorige zu kommen. Jch
finde, daß dieſe ſtillen Gemuͤther ſchlecht ankom-
men,
[143]
men, wenn ſie mit uns unſinnigen Kerls, die wir
uͤber die Geſetze ſind, und uns nicht unter der
Larve der Tugend verſtecken wollen, in einen offen-
baren Krieg gerathen.


Du weißeſt, daß ich mich nie geſcheut habe, mich
unter eine Menge von Feinden zu wagen. Je
mehr ihrer waren, deſto ſicherer bin ich geweſen.
Einer oder ein paar werden gewiß die Parthey des
eintzelnen irrenden Ritters nehmen: ſie dencken es
ſelbſt nicht, und nehmen ſie doch in der That. Sie
halten ihn ab, nichts zu unternehmen; und unter-
deſſen halten andere ſeinen vornehmſten Widerſa-
cher auch ab. Beyden waͤchſt unterdeſſen der Muth,
bis ſie ſich beyde uͤberreden laſſen ſich zu vertragen,
oder einer auf Bitte der uͤbrigen weggehet. Der,
welcher die Geſetze bricht, hat ordentlich eben die
Vortheile als der Beobachter der Geſetze: das waͤh-
ret wenigſtens eine Zeit lang, bis er ſeinen Lauf
vollendet hat. Bedencke noch uͤber dieſes, daß
die gantze Harlowiſche Familie weiß, daß ſie mich
angegriffen und beleidiget hat. Krochen ſie nicht
in ihrer eigenen Kirche zuſammen, wie die Bie-
nen, als ſie mich hinein kommen ſahen? Keiner
wollte der erſte ſeyn, der ſich wagete heraus zu ge-
hen, als der Gottes-Dienſt voruͤber war.


Jacob Harlowe war zwar damahls nicht mit
in der Kirche. Der wuͤrde ſich vielleicht gezwun-
gen haben, bravauszuſehen. Allein es giebt eine
Dreiſtigkeit des Geſichts, die allzu wild iſt, und
eben dadurch eine geheime Furcht verraͤth. Das
wuͤrde Jacob Harlowes Geſicht geweſen ſeyn,
wenn
[144]
wenn ich ihnen meine Aufwartung gemacht
haͤtte.


So oft ich mit dergleichen Leuten zu thun gehabt
habe, habe ich ein ruhiges und heiteres Geſicht an-
genommen, und es den Freunden meines Feindes
(ſo wie dieſes mahl der Harlowiſchen Familie in
Abſicht auf ihre Tochter) uͤberlaſſen, ſich fuͤr mich
zu bemuͤhen.


Jch laſſe jetzt alle lobenswuͤrdigen und mittel-
maͤßig-gute Handlungen, die ich jemahls in mei-
nem Leben verrichtet habe, zur Muſterung vor
meinem Gedaͤchtniß erſcheinen. Du wirſt mich
nicht an viel ſolche Thaten erinnern koͤnnen, die
ich vergeſſen haben moͤchte: denn ich bin nicht ſo
gottlos vorhin geweſen, als ſeit der Zeit da ich dich
gekannt habe.


Kannſt du dich nicht beſinnen, daß ich den Vor-
ſatz gehabt habe, etwas gutes zu thun? dencke
einmahl an meiner Stelle nach, und uͤberhebe
mich der Arbeit. Jch erinnere mich einiger ſol-
cher Entſchließungen, die in der Rechnung beſtehen
werden. Vielleicht aber kannſt du ihre Anzahl
noch mit mehr guten Wercken vermehren, die ich
vergeſſen habe.


Das unterſtehe ich mich zu ſagen, daß an dem
ſchlimmeſten Flecke, der meine Thaten verſtellen
kann, blos die Maͤdchens, die albernen Maͤdchens
Schuld ſind. Wenn die nicht waͤren, ſo koͤnnte
ich mit gutem Gewiſſen in die Kirche gehen: allein
wenn ich meinen Fuß in das Haus Gottes ſetze, ſo
finde ich Maͤdchens darin. Ueberall hat mir Sa-
tanas ſeine Schlinge geleget.

Es
[145]

Es faͤllt mir ein: wuͤrde es nicht rathſam ſeyn,
daß unſere Obrigkeit andere Kirchen fuͤr die
Manns-Perſonen und wiederum andere fuͤr das
Frauenzimmer verordnete? Sie wuͤrden zu Befoͤr-
derung der wahren Froͤmmigkeit beyder Geſchlech-
ter eben ſo nuͤtzlich ſeyn, als die abgeſonderten (†)
Koſt-Schulen zu ihrer Erziehung ſind. Jch
ziehe ſie in dieſem Stuͤcke den Gegittern in der
Synagoge noch vor.


Einige Kirchen ſind ſchon den heiligen Weibern
gewidmet. Wir haben S. Swithins, S. Ste-
phans,
S. Thomas, und des Ritters St. Ge-
orgens
Kirche: in dieſe koͤnnten die Manns-
Perſonen gehen. Die Kirche der H. Katharine,
der H. Anne, die zur lieben Frauen u. ſ. w.
wuͤrden den Frauens-Leuten verbleiben.


Wenn aber dieſes auch geſchaͤhe, und der Tod
darauf ſtuͤnde, daß man ſich in einer Kirche der
Schoͤnen betreten ließe, ſo wuͤrde ich dennoch als
ein zweyter Clodius handeln und mich verkleiden,
um meine Portiam und Calpurniam zu finden,
wenn gleich die eine des Cato Tochter, und die an-
dere eine Gemahlin des Caͤſars waͤre.


Wie

Dritter Theil. K
[146]

Wie ſchweiffe ich aus? du ſagteſt zwar ſonſt,
daß du Vergnuͤgen an meinen Ausſchweiffungen
faͤndeſt. Wenn das wahr iſt, ſo ſoll deine Luſt
geſaͤttiget werden: denn niemahls habe ich ein Ge-
maͤhlde zu entwerffen gehabt, das ich ſo anbetete,
und mit dem ich ſo lange Geduld haben muß, ehe ich
etwas wage; wenn ich es anders jemahls in mei-
nem Leben wage.


Jch muß wieder auf die guten Wercke kommen,
deren ich mich erinnern wollte. An mein Roſen-
Knoͤſpchen dencke du ja nicht! [das] habe ich laͤng-
ſtens in den Gedancken. Jch habe die Sache ſo
geſpielt, daß meine Goͤttin durch meinen Engel
Joſeph Lehmann etwas davon erfahren ſollte.
Allein ich habe mich darin betrogen, wenn ich
hoffete, daß ſie deswegen ein voͤlliges Vertrauen in
mich ſetzen wuͤrde.


Das iſt der Teuffel! So ungluͤcklich bin ich im-
mer. Wenn ich etwas gutes thue, ſo heiſt es:
ich haͤtte gethan, was ich zu thun ſchuldig war.
Thue ich was boͤſes, ſo wird es an das Licht gezogen,
und ſo boͤſe vorgeſtellet, als es nur moͤglich iſt. Jſt
das recht? Sollte man nicht gutes und boͤſes gegen
einander abwaͤgen? Sollte ſich nicht die Zunge auf
meine Seite lencken? Allein Bruder, ich muß dir
bekennen, ich bin halb boͤſe auf meine Froͤmmig-
keit, daß ich das bluͤhende Maͤdchen nicht genoſſen
habe. Denn in Wahrheit ich glaube, ein allerlieb-
ſtes Maͤdchen iſt vlel zu eine koſtbare Perle, als
daß ſie an dem Halſe eines armen Lumpenhundes
hangen ſollte.


Wenn
[147]

Wenn ich mich darin verſuͤndige, daß ich aus
allen ſchoͤnen Kindern Goͤttinnen mache und ſie an-
bete: ſo ſollte billig das gantze ſchoͤne Geſchlecht
mich deſto mehr lieben.


Doch das thun ſie. Jch ſage ihnen von Her-
tzen Danck. Nur ſelten geſchiehet es, daß mir ein
geitziges ſchelmiſches Maͤdchen zuwider iſt, das
unter dem Vorwand der Tugend mich allein be-
ſitzen und andern ſchoͤnen Kindern nicht goͤnnen
will.


Genung Thorheiten.
Lebe jetzund wohl.



Der vierzehente Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch habe ſtets Luſt zu dem Schreiben gehabt-
Meine ungluͤcklichen Umſtaͤnde geben mir
jetzt genug und Jhnen zu viel Anlaß dazu. Jch
habe abermahls einen harten Satz mit Herrn Lo-
velace
gehabt. Dieſes gab Gelegenheit, auf das
zu ſprechen zu kommen, was ich nach Jhrem Rath
nicht aus den Haͤnden laſſen ſollte, wenn ſich eine
gute Gelegenheit dazu zeigete. Jch wuͤnſche von
Jhnen deswegen entweder losgeſprochen oder ver-
K 2urthei-
[148]
urtheilet zu werden, daß ich dieſe Gelegenheit aus
den Haͤnden gelaſſen habe.


Unterdeſſen, daß ich meinen letzten Brief an
Sie ſchrieb, ſchickte der ungeſchliffene Menſch ei-
nige mahl zu mir, und bat ſich meine Geſellſchaft
aus. Er hatte nichts beſonders mit mir zu ſpre-
chen: ich ſollte ihm nur das Vergnuͤgen machen,
und ihn ſprechen hoͤren. Er ſcheint in ſeine Schwatz-
haftigkeit ſehr verliebt zu ſeyn. Er hat eine feine
Sammlung von artigen Schmeicheleyen: und
verlanget, daß ich ihm meine Ohren dazu leyhen
ſoll. Er brauchte ſich dieſe Muͤhe nicht zu geben.
Denn ſelten gebe ich ihm ſein gebuͤhrendes Lob,
und ſelten bezeige ich mein Vergnuͤgen uͤber ſeine
beredte Zunge nach ſeinem Wunſch.


Als ich den Brief geſchrieben und dem guten
Freunde des Herrn Hickmanns uͤbergeben hatte,
ſo wollte ich wieder hinauf gehen. Allein er bat mich,
unten zu bleiben, weil er etwas mit mir zu reden
haͤtte.


Es war (wie ich gleich zum voraus ſagte) nichts
neues oder nothwendiges, ſondern Klagen, die auf
eine beynahe unverſchaͤmte Art angebracht wurden.
Er ſagte mir: er koͤnnte nicht leben, wenn ich ihm
meine Geſellſchaft entziehen, und nicht etwas
mehr Geduld mit ihm haben wollte, als ich bis-
her gehabt haͤtte.


Jch ging hierauf nicht ohne Unwillen mit ihm
in den Saal. Jch war deſto verdrießlicher, weil
er ohne von einer Aenderung zu reden ſich in dieſem
Hauſe ruhig niedergelaſſen hatte.


Unſe-
[149]

Unſere verdrießliche Unterredung nahm ſogleich
ihren Anfang. Er machte mich verdrießlich, und
ich wiederholte einige ſehr verſtaͤndliche Wahrhei-
ten, die ich ihm ſchon vorhin geſagt hatte. Jn-
ſonderheit verſicherte ich ihm, daß mein Misver-
gnuͤgen gegen ihn und gegen meine eigene Ueberei-
lung alle Stunden zunaͤhme. Er ſchiene mir kein
Menſch zu ſeyn, der durch den Umgang mit andern
etwas lernete. Jch wuͤrde nicht vergnuͤgt ſeyn, bis
daß ich allein waͤre.


Vielleicht befremdete ihn meine Heftigkeit. Al-
lein er ſahe ſo armſeelig aus, und wußte ſo wenig
zu ſeiner Entſchuldigung vorzubringen, daß er
mit ſolchem Ungeſtuͤm verlangt hatte, mich zu ſpre-
chen, da er doch wußte, daß ein fremder Herr auf
meinen Brief wartete: daß ich ihn ſtehen ließ, und
ihm nur noch ſagte, ich wollte meine Zeit nach mei-
nem Willen eintheilen, und ihm weder von meiner
Zeit noch von meinem Thun und Laſſen Rechen-
ſchaft geben.


Er war ſehr unruhig, bis er mich endlich wieder
zu ſprechen bekam. Niemand konnte eine demuͤ-
thigere Gebeerde annehmen als er, da ich wieder zu
ihm herunter kam: welches ich fruͤher thun mußte,
als mir es lieb war.


Er ſagte mir: er haͤtte bey dieſer Gelegenheit
angefangen, ſich genauer und ſchaͤrfer zu unterſu-
chen, und ſich beſſer kennen zu lernen. Er faͤnde
große Urſache, ſeine Ungeduld und Unbedachtſam-
keit zu tadeln, die, ob ſie gleich aus keinem boͤſen
Hertzen entſtuͤnden, mir dennoch ohnmoͤglich an-
K 3genehm
[150]
genehm ſeyn koͤnnten. Er haͤtte ſich immer nach
einer maͤnnlichen Aufrichtigkeit und Offenhertzig-
keit beſtrebet: allein jetzt finge er erſt an zu mercken,
daß dieſe Eigenſchaften ſehr wohl mit einer gewiſ-
ſen Hoͤflichkeit und artigen Auffuͤhrung beſtehen
koͤnnten, die er bisher aus den Augen geſetzt haͤt-
te, und zwar aus Furcht in das damit verwante
Laſter zu verfallen; und weil er wuͤßte, daß er mit
einer Feindin aller Heucheley, die viel zu erhaben
waͤre einige Schmeicheleyen anzuhoͤren, zu thun
haͤtte. Jch ſollte aber von dieſer Zeit an eine ſolche
Veraͤnderung in ſeiner Auffuͤhrung wahrnehmen,
als man von einem Mann erwarten koͤnnte, der
die Ehre haͤtte mit der allerartigſten und wohl-
gezogenſten Perſon in der Welt umzugehen.
(Das war ſein Kunſt-Stuͤck eines artigen Aus-
druckes!)


Jch antwortete: er erwartete vielleicht, daß ich
ihm zu der neuen Entdeckung Gluͤck wuͤnſchen ſoll-
te, die ihn gelehrt haͤtte, daß Hoͤflichkeit und Auf-
richtigkeit ſehr wohl mit einander beſtehen koͤnnten.
Jch haͤtte groſſe Urſache, zu bedauren, daß er die-
ſe Wahrheit nicht fruͤher erkannt haͤtte, nachdem
ich durch mein ungluͤckliches Schickſaal in ſeine Ge-
ſellſchaft gerathen waͤre. Jch glaubte, daß dieſe
Wahrheit wenigen Perſonen von gutem Stande
und Erziehung unbekannt oder neu ſey.


Er ſagte: er wiſſe nicht, ob er ſich ſo uͤbel auf-
gefuͤhrt habe, daß er einen ſo ernſtlichen Verweiß
verdiene.


Viel-
[151]

Vielleicht iſt das nicht! (ſagte ich) Allein ſo
machen ſie noch eine Entdeckung, die zu meinem
eigenen Nachtheil gereichen wird. Da ſie ſo we-
nige Urſache haben mit ſich ſelbſt misvergnuͤgt zu
ſeyn, ſo lernen ſie daraus, an was fuͤr eine unedle
und niedertraͤchtige Seele ſie die demuͤthigen Worte
verſchwendet haben, die vielleicht ihrer Meinung
nach fuͤr ſie allzu demuͤthig waren: an eine Per-
ſon, die ihre hoͤfliche Unwarheiten nicht mit Hoͤf-
lichkeit belohnt, ſondern ſich ſo weit vergißt, daß
ſie ihren Worten Glauben zuſtellet.


Der Menſch, der ſo entfernt von allen Schmei-
cheleyen iſt, erwiederte: er haͤtte laͤngſtens die
Vorzuͤge, die ich in Abſicht auf den Verſtand vor
ihm haͤtte, und die Klugheit, die bey einer ſo jun-
gen Lady gantz auſſerordentlich ſey, mit ſehr groſ-
ſem Vergnuͤgen bewundert.


Lady pflegt er mich faſt in jeder Zeile, die er
ausſpricht, zu nennen. Vielleicht iſt dieſes eine
von ſeinen Hoffnungs-vollen Schmeicheleyen ge-
gen ſich ſelbſt. Jch wiederhohle ſonſt ſeine Reden
genau: allein Sie werden mich entſchuldigen, wenn
ich dieſes Wort auslaſſe. Jch weiß, daß der
Nahme mir nicht gebuͤhret. Jch bin jetzt all zu
ſehr gedemuͤthiget, als daß mich dieſes Wort, oder
andere Schmeicheleyen, damit er mich uͤberhaͤuffet,
hochmuͤthig machen koͤnnten.


Er fuhr fort: ich moͤchte noch ſo wenig von ihm
halten, ſo glaubte er, daß ich Recht darzu haͤtte:
kuͤnftig wolle er ſich durch meinen Vorgang zu
beſſern ſuchen.


K 4Jch
[152]

Jch antwortete: ich kennete mich beſſer, als daß
ich mich durch ſeine fließende Rede wuͤrde hochmuͤ-
thig machen laſſen. Weil er doch vorgaͤbe, ein
ſo ungemeiner Freund von der Aufrichtigkeit zu
ſeyn; ſo moͤchte er nichts als die allerſtrengſte
Wahrheit reden, wenn er von mir etwas und zwar
mir in das Geſicht ſagen wollte. Wenn er gleich
aus herabgelaſſener Gutigkeit glaubete, daß er
Urſache haͤtte, mir etwas ſchmeichelndes zu ſagen;
ſo wuͤrde er doch dabey deſto mehr Vergnuͤgen em-
pfinden, wenn er bedaͤchte, daß er ein ſo auſſeror-
dentlich kluges Frauenzimmer zu einer ſo groſſen
Thoͤrin haͤtte machen koͤnnen. Mein Verſtand
erhebe nur ſein Kunſt-Stuͤck.


Der Menſch verdient in der That nicht, daß
ich ihm hoͤflicher begegne. Hat er mich nicht zur
Thoͤrin, zur allerlaͤcherichſten Thoͤrin gemacht?
Jch fuͤrchte, daß dieſes ſeine eigenen Gedancken
ſind.


Er wunderte ſich ‒ ‒ er erſtaunete gantz, daß
ich alle ſeine Worte ſo wider ihn gebrauchte. Er
waͤre ungluͤcklich, daß mich nichts was er redete
oder thaͤte bewegen koͤnnte, eine gute Meinung
von ihm zu faſſen. Er baͤte mich, ich moͤchte ihm
nur zu erkennen geben, was er thun ſollte, um
ſich einiges Zutrauen bey mir zu erwerben.


Vor allen Dingen (ſagte ich) ſey mein Wunſch,
daß er mich verlaſſen moͤchte. Jch faͤnde nicht,
daß ſich meine Freunde die Muͤhe gaͤben, mich zu
beunruhigen. Wenn er nach London, nach der
Grafſchaft Berck, oder wohin er ſonſt beliebte,
reiſen
[153]
reiſen wuͤrde, ſo wuͤrde es mir viel angenehmer,
und auch meinem guten Nahmen vortheilhafter
ſeyn.


Das wollte er thun: Er haͤtte den Vorſatz (hieß
es) ſchon gefaſſet, das zu thun, wenn ich nur an
einem anſtaͤndigen Orte, in einem bequemen Hau-
ſe waͤre.


Jch ſagte ihm: dieſes Haus wuͤrde mir anſtaͤn-
dig und bequem ſeyn, ſo bald er es verlieſſe, und
mich weder beunruhigte, wenn ich zu thun haͤtte,
noch auch die Zimmer fuͤr mich unbequem machte.


Er glaubte nicht, daß dieſer Ort ſicher ſey. Weil
ich zu Anfang nicht Luſt gehabt haͤtte, lange hier zu
bleiben, ſo waͤre er nicht ſo ſorgfaͤltig geweſen, als er
ſonſt haͤtte ſeyn wollen, ſeinen Bedienten ſo wohl als
der Frau Greme einzuſchaͤrfen, daß ſie nichts
ausplaudern ſollten. Es waͤren einige Edel-Leute
in der Nachbarſchaft mit deren Bedienten die lie-
derlichen wilden Kerls herum zu ſauffen pflegten.
Er koͤnnte mich deswegen ohnmoͤglich hier verlaſſen,
ohne ein Auge auf meine Sicherheit zu haben. So
bald ich einen Ort in England nennen wollte, da
ich mich ohne Gefahr und unbemerckt aufhalten
koͤnnte, ſo wollte er bis an das aͤuſſerſte Ende des
Landes gehen, wenn dieſes zu meiner Gemuͤths-
Ruhe etwas beytragen koͤnnte.


Jch geſtand ihm gantz deutlich: ich wuͤrde es
mir nie vergeben, daß ich ihn zu der beſtimmten Zeit
geſprochen haͤtte; und ihm eben ſo wenig, daß er
mich verfuͤhret haͤtte, davon zu gehen. Meine
Reue naͤhme von Tage zu Tage zu. Meine Ehre
K 5und
[154]
und guter Nahme ſey einmahl verletzt: und ich
moͤchte thun was ich wollte, ſo wuͤrde ich dennoch
die Scharte nicht wieder auswetzen. Er muͤſſe ſich
nicht wundern, daß ich alle Stunden misvergnuͤg-
ter uͤber ihn und uͤber mich wuͤrde. Kurtz, ich woll-
te kuͤnftig fuͤr mich ſelbſt ſorgen; und ſo bald er
mich verlaſſen haͤtte, wuͤrde ich ſelbſt am beſten wiſ-
ſen, was ich thun und wohin ich mich wenden ſollte.


Er antwortete, er wuͤnſche ſich nichts mehr, als
daß er die Erlaubniß haben moͤchte, mir einen de-
muͤthigen Vorſchlag zu thun, und daß ich daruͤber
nicht ungehalten werden, noch es fuͤr einen Bruch
der Bedingungen anſehen moͤchte, die ich ihm vor-
geſchrieben haͤtte. Er ſey aber ſo veſt, ſo heilig
entſchloſſen, gegen alle meine Befehle die groͤſſeſte
Folgſamkeit zu beweiſen, auch ſeit dem ich ihm am
Montage ungern erlaubt haͤtte mir zu dienen, daß
er ſich nicht unterſtuͤnde das zu ſagen, was er auf
dem Hertzen haͤtte, es waͤre denn, daß ich ihm
zum voraus Vergebung verſpraͤche, wenn ich ſeinen
Vortrag nicht billigen koͤnnte.


Jch fragte ihn mit einiger Verwirrung: was
er anzubringen haͤtte.


Er machte eine lange Vorrede, und ſehr viel
Umſtaͤnde. Endlich brachte er auf eine furchtſa-
me und ſcheue Art, die ihn gar nicht kleiden wollte,
die Bitte an: daß wir uns bald moͤchten trauen
laſſen. Hiedurch wuͤrden alle Umſtaͤnde zu unſerm
Vortheil geaͤndert werden. Die naͤchſten drey oder
vier Monathe, die ich ſonſt in der Stille und in
der groͤſſeſten Furcht zubringen muͤßte, wuͤrde
ich
[155]
ich auf eine vergnuͤgtere Weiſe anwenden koͤnnen,
bey ſeinen Verwanten meinen Beſuch abzuſtatten,
und von ihnen Beſuch anzunehmen. Mit der
Fraͤulein Howe, mit wem ich beliebte, wuͤrde
ich einen angenehmen Umgang haben koͤnnen.
Eben hiedurch wuͤrde die Ausſoͤhnung mit meinen
Anverwanten, die mir ſo ſehr am Hertzen liege,
am beſten befoͤrdert werden.


Jch dachte eben an Jhren Rath, und er mach-
te einen ſtarcken Eindruck bey mir. Seine Gruͤnde,
und die Betrachtung meiner eigenen Umſtaͤnde,
haͤtten bey nahe ein Ja erzwingen koͤnnen. Al-
lein was ſollte ich ſagen? Jch haͤtte einen Vor-
mund noͤthig gehabt. Jch konnte mich nicht uͤber-
winden, ſo zu handeln, als wenn auf einmahl al-
les das, was man juͤngferliche Zaͤrtlichkeit nen-
net, vergeſſen ſeyn ſollte. Es that mir Leyd, daß
dieſe ſo bald am Ende ſeyn ſollte.


Er ſahe, daß ich ſeinen Antrag nicht uͤbel nahm,
Jch ward zwar feuer-roth, das weiß ich gewiß:
und ſahe ſo aus, als wenn ich nicht wuͤßte wozu ich
greiffen ſollte.


An Muthe fehlt es ihm nicht. Verlangt er, daß
ich ſein allererſtes gnaͤdiges Wort bey den Haren
ergreiffen ſoll? Jch ſchwieg ſtille! Pflegt nicht das
dreiſte Geſchlecht hieraus ein Ja zu machen? Jch
war nicht lange aus meines Vaters Hauſe weg.
Jch hatte ihm vor Empfang Jhrer Briefe in
meinen Briefen gemeldet, daß ich ihn nicht ver-
langte, ehe er nicht gleichſam eine Probe-Zeit
ausgeſtanden haͤtte. Wie konnte ich bey einem ſo
unver-
[156]
unvermutheten Antrage deutlichere Zeichen geben,
daß mein Ja-Wort erfolgen ſollte? inſonderheit,
nachdem er mich eben gezwungen hatte, ihm ſo
derbe Warheiten in das Geſicht zu ſagen? Wenn
mein Leben darauf geſtanden haͤtte, ſo haͤtte ich es
nicht thun koͤnnen.


Er ſahe mir ſehr zuverſichtiglich in das Geſichte,
nicht anders als wenn er mich, ungeachtet aller
angenommenen Schuͤchternheit, bis auf den inner-
ſten Grund des Hertzens ausforſchen wollte. Jch
konnte ihn aus wahrer Schuͤchternheit kaum von
der Seite anſehen. Mit vieler Unterthaͤnigkeit bat
er mich um Vergebung; es ſchien faſt, als wenn
ihm ſein Gewiſſen ſagte, daß er keine andere Ant-
wort verdiente, als eine ſtillſchweigende Verach-
tung. Die wahre Liebe (ſagte er) fuͤrchtete ſich im-
mer, daß ſie die Geliebte beleidigen moͤchte. (Er
mag ſich huͤten, daß ich ſeine Liebe nicht nach dieſer
Regel unterſuche!) So heilig wollte er (der al-
berne Menſch!) alle meine Befehle beobachten,
die ich ihm gegeben haͤtte, ehe ich ihm die Ehre
erzeigte ‒ ‒


Jch konnte ihn nicht laͤnger anhoͤren, ſondern
verließ ihn, (wiewohl in einer allzumercklichen
Verwirrung,) damit er ſich in der Stille an ſeinen
herrlichen Redens-Arten erquicken moͤchte.


Wenn es ihm ein wahrer Ernſt waͤre, daß ich
ihm bald meine Hand geben ſollte, ſo war dieſes
die gluͤcklichſte Zeit fuͤr ihn weiter in mich zu drin-
gen. Allein er hat dieſe Gelegenheit aus den Haͤn-
den
[157]
den gelaſſen: und jetzt iſt alle meine vorige geneigte
Geſinnung in Unwillen verwandelt worden. Es
iſt meine eintzige Sorge, wie ich mich von ſeiner
Geſellſchaft los machen ſoll.


Jch verharre indeſſen
Dero ergebenſte und treueſte Dienerin
Cl. Harlowe.



Der funfzehente Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.


Was kann man mit einem Frauenzimmer an-
fangen, das die Schmeicheley verachtet, und
kein Lob annimt, welches ihr nicht von ihrem eige-
nen Hertzen gegeben wird?


Warum will aber das liebe Kind ſein Ungluͤck
gleichſam erzwingen? Warum trotzt es der Ge-
walt, darunter es doch voͤllig ſtehet? Warum
kraͤnckt es mich noch durch den Wunſch, daß es ſei-
nes Vaters Haus niemahls verlaſſen haben moͤchte?
Warum ſchlaͤgt es mir ſeine Geſellſchaft ſo lange ab,
bis ich endlich die Geduld verliere, und mich ſo
weit vergehe, daß es uͤber mich zuͤrnen kann?
Warum zuͤrnt es uͤber meine Beleidigungen ſo
ſehr, und treibt ſeine Empfindlichkeit ſo weit, als
es die hochmuͤthigſte Schoͤne, die alle Gewalt in
Haͤnden hat, wuͤrde thun koͤnnen?


Was
[158]

Was meinſt du! Jſt es in ihren Umſtaͤnden
klug, mir beſtaͤndig die Ohren mit der unangeneh-
men Warheit zu reiben, daß ſie alle Stunden mis-
vergnuͤgter uͤber mich iſt? daß ich gar nicht der
Menſch bin, der in ihrem Umgange etwas lernt,
und ſich beſſert? (Wuͤrdeſt du das einer Gefange-
nen zu gute halten?) daß ſie nicht vergnuͤgt ſeyn kañ,
ſo lange ich bey ihr bin? daß ſie ſich nicht nach dem
Ausſpruch meiner fluͤchtigen Zunge beurtheilen
wuͤrde? daß ich mir in meinen Kuͤnſten ſehr wohl
gefallen muͤßte; durch die ich eine ſo auſſerordentli-
che Perſon zu einer ſo groſſen Thoͤrin gemacht haͤtte,
wenn ich glaubte, daß ſie das Lob wircklich ver-
diente, das ich ihr gaͤbe? daß ſie ſich nie verge-
ben koͤnnte,
daß ſie ſich zu der beſtimmten Zeit
eingefunden, und mir, daß ich ſie verfuͤhret haͤt-
te? (die ſelbigen Worte ſind dieſes, die ſie gebrauch-
te.) daß ihre Reue von Stunde zu Stunde zunimt?
daß ſie vor ſich ſelbſt ſorgen will, und unter keiner
Vormundſchaft ſtehen will, weil es ihre Freunde
der Muͤhe nicht werth hielten ihr nachzuſetzen? daß
ihr Sorlings Haus alsdenn anſtaͤndig und be-
quem ſeyn wuͤrde, wenn ich nicht mit darinnen waͤ-
re? daß ich nach der Grafſchaft Berck, nach
London oder wohin ich ſonſt wollte (vermuthlich
zum Teuffel) gehen moͤchte, und von ihr einen
willigen Abſchied bekommen ſollte?


Das unverſtaͤndige liebe Kind! dergleichen ſagt
meine Schoͤne zu einem ſo rachgierigen Gemuͤthe,
als das meinige in ihren Gedancken iſt: zu einem
Menſchen von der freyeſten Lebens-Art, der ſie
jetzt
[159]
jetzt in ſeiner Gewalt hat. Du weißſt, daß ich
ſchon vorhin zweifelhaftig war, und die Wage-
Schale bald auf dieſe bald auf jene Seite den Aus-
ſchlag gab. Jch wollte nur ſehen, was ihr Hertz
wircken und wie mich mein Hertz fuͤhren wuͤrde.
Du ſieheſt wohin ſich ihr Hertz lencket; kannſt du
zweifeln, ob ſich das meinige eben ſo entſchlieſſen
werde? hatte ſie nicht vorher eine genugſame Laſt
der Suͤnden? Warum zwinget ſie mich, daß ich
an das vergangene zuruͤck dencken muß.


Jch will die Sache bey mir uͤberlegen, und dir
meine Entſchlieſſung berichten.


Wenn du nur wuͤßteſt, wenn du nur mit Augen
geſehen haͤtteſt, wie ſie mit mir als mit dem aller-
niedrigſten Sclaven umgegangen iſt. Jch hatte
mir zu viel herausgenommen; wie ſie es nennete:
allein es zeigete dieſes blos meine Liebe zu ihr an,
und daß ich ohne ihre Geſellſchaft nicht leben koͤnn-
te. Sie raͤchete ſich an mir, und erniedrigte mich
recht. Jch mußte mich umſehen, ohne daß ich ein
Wort ſagen konnte. Wahrlich ſie hatte ſo vielen
Vortheil uͤber mich, und gab mir ſo empfindliche
Antworten, daß ich mich kaum mit einem Worte
verantworten konnte. Jch ſchaͤme mich es dir
zu ſagen, wie armſeelig ich ausſahe. Allein, wenn
ſie nur an einem andern Orte und in anderer Ge-
ſellſchaft geweſen waͤre, ſo haͤtte ich ihr etwas
ſagen koͤnnen, das ihren Stoltz gedemuͤthiget ha-
ben wuͤrde.


An einen ſolchen Ort muß ich ſie bringen; an ei-
nen Ort, da ſie mich nicht fliehen kann. Da
muß
[160]
muß ich ſehen, wohin ſich mein Hertz neiget, und
was durch die Liebe, die immer ihre Geſtalt ver-
aͤndert, ausgerichtet werden kann. Meine Liebe
wird bald hochmuͤthig, bald demuͤthig ſeyn, bald
warten, bald fodern, bald ſich in ihrem Willen be-
ruhigen muͤſſen, bis ich ſie ermuͤdet habe, mir laͤn-
ger zu widerſtehen. Deutlicher will ich jetzt nicht
ſeyn: ich werde aber kuͤnftig mehr ſchreiben, wenn
ich mehr thue, und mich in meinen Entſchlieſſun-
gen beſtaͤrcke oder ſie wieder fahren laſſe. Wenn ſie
den vorigen Verdruß erneuren will ‒ ‒ wenn ſie
das thun will ‒ ‒ Doch ſtille! Vor jetzt keine weite-
re Drohungen!



Der ſechzehente Brief.
Herrn Lovelaces Fortſetzung von dem vorigen
Briefe.


Sehe ich nicht deutlich, daß ich weiter nichts
noͤthig habe, als Geduld, wenn ich alles
in Haͤnden haben will? Wie? wenn alle Klagen
uͤber die Nachrede, die ſie ſich zugezogen hat; alle
taͤglich zunehmende Reue uͤber die Unterredung mit
mir; alle Unmoͤglichkeit, mir es zu vergeben, daß
ich ſie verfuͤhret habe; alle zornige Befehle, ſie zu
verlaſſen; keinen andern Endzweck haͤtten, als et-
ne baldige Trauung? Wie? wenn alles ihr
Misvergnuͤgen und ſpitzige Worte keinen andern
Grund haͤtten, als dieſen, daß ich von der Ma-
terie nicht mehr und deutlicher geredet habe?


Jch
[161]

Jch habe ſchon einmahl in der Ferne etwas ge-
redet, dadurch das unwiderrufliche Verſprechen,
das ich ihr ehemahls gegeben habe, verletzet ward:
allein nur dunckel, und ſo, daß ich gleich abbrach,
ſo bald ſie meine Meinung faſſete, damit ſie nicht
dencken moͤchte, daß ich mir meine Gewalt, in der
ſie ſich befand, zu Nutze machen wollte: nachdem
ſie mir vorhin ſo ſcharf unterſaget hatte; keine
Bitte von der Art anzubringen, bis meine Beſſe-
rung ihr in die Augen leuchtete, und bis es ſich zur
Verſoͤhnung mit den Jhrigen naͤher anlieſſe.


Allein da ſie in unſerm Streit ſo ſehr die Ober-
hand uͤber mich bekam, und mich ſo ſehr drang,
daß ich ſie verlaſſen ſollte; da ich keinen guten Vor-
wand hatte, ſie wider ihren Willen zuruͤck zu hal-
ten, und ſie bey dem mindeſten Argwohn ſich ſo
leicht in andern Schutz haͤtte begeben, oder nach
Harlowe-Burg und zu dem Solmes zuruͤck keh-
ren koͤnnen: ſo ſprach ich freyer von der Sache,
und hielt ihr Gruͤnde vor, um welcher willen ſie
ſich nach den Geſetzen der Kirche mit mir verbin-
den, und mich zu zu dem gluͤcklichſten Menſchen
machen moͤchte. Allein ich that dieſes mit un-
endlicher Furcht und Bloͤdigkeit, damit ich ſie
nicht erzuͤrnen moͤchte.
Und o wie deutlich
bezeugeten die ſich verfaͤrbenden Wangen, die nie-
dergeſchlagenen Augen, die ſtillen und ſich doch be-
wegenden Lippen, der aufſchwellende Buſen, die
insgeſammt doppelt ſchoͤn waren, daß meine zaͤrt-
liche Schoͤne den Antrag nicht fuͤr eine Tod-Suͤn-
de anſahe.


Dritter Theil. LUn-
[162]

Unvergleichliches Kind, dachte ich, iſt es ſo
bald dahin gekommen? (Allein, Belford, daß
kein Frauenzimmer von meinem Stoltz uͤber dieſen
Sieg Nachricht bekommt!) Bin ich ſchon Herr
uͤber Clariſſa Harlowe, und uͤber ihr Schickſaal?
Bin ich ſchon der bekehrte Mann, den du ver-
langeteſt, ehe du mir noch die geringſte Erlaubniß
gabeſt zu hoffen? Jſt es ſo richtig, was du ge-
ſtanden haſt, daß du, je laͤnger du mich ken-
neſt, deſto weniger Urſache findeſt mit mir zu
frieden zu ſeyn?
Kann Luſt und Verſtellung auch
in einer ſolchen himmliſchen Bruſt Platz finden?
Du verweiſeſt und verbanneſt mich von dir, du
dringeſt recht ernſtlich auf meine Entfernung, um
mich deſto naͤher mit dir zu verbinden, und um mir
die Wohlthat recht groß und dein Ja deſto ange-
nehmer zu machen? Es iſt gut! Deine Liſt berech-
tiget mich, auch Liſt zu gebrauchen, und reitzet
mich, meinen ſchelmiſchen Kopf an dir zu ver-
ſuchen.


Allein wiſſe, allerliebſtes Maͤdchen, wenn dei-
ne Wuͤnſche erfuͤllet werden ſollen, ſo mußt du
mir erſt Rechenſchaft geben, warum du ſo ungern
mit mir davon gegangen biſt, da doch deine Flucht
ſchlechterdings nothwendig war, fals du dich nicht
wolteſt mit dem elendeſten Kerl zuſammen ſchmie-
den laſſen: mit einem Kerl, vor dem du einen
Abſcheu haben mußteſt, wenn du nicht eben ſo
ungerecht gegen dich ſelbſt ſeyn wollteſt, als du ge-
gen mich geweſen biſt.


Jch
[163]

Jch bin es ſchon wohnt geworden, von ſol-
chen vorgezogen zu werden, die dir am Stande
gleich ſind, ob ſie dir gleich an eigenen Vorzuͤgen
nicht gleich gekommen ſind. Wo iſt aber ein
Erauenzimmer, das hierin von dir nicht uͤbertroffen
wird? Soll ich nun eine ſolche Schoͤne heyrathen,
von der ich nicht verſichert bin, ob ihr Hertz mir ei-
nen Vorzug vor allen andern Freyern giebet?


Nein, ſchoͤnes Kind! Jch bin deinen Befehlen
viel zu gehorſahm, als daß ich ſollte zugeben, daß
ſie ſelbſt von dir gebrochen wuͤrden. Jch will mir
deine Meinung nicht blos durch ein ſchuͤchternes
Stillſchweigen ſagen laſſen. Jch will nicht im
Zweifel bleiben, ob du dich aus Liebe oder aus
Noth ſo weit heruntergelaſſen haſt, auf meinen An-
trag nicht allzu viele Ungnade zu werfen.


Nach dieſen Regeln handelte ich; und legte ihr
Stilleſchweigen als eine Folge ihrer Verachtung
und ihres Misvergnuͤgens aus. Jch bat ſie um
Vergebung, daß ich einen Antrag gethan haͤtte,
von dem ich mit ziemlicher Wahrſcheinlichkeit zum
voraus ſehen konnte, daß er ihr unangenehm ſeyn
wuͤrde. Jch wuͤrde kuͤnftig allen ihren ehemaligen
Befehlen die genaueſte Folge leiſten, und ſie ſollte
in meiner gantzen Auffuͤhrung die Wahrheit des
Satzes ſpuͤren: daß die wahre Liebe ſehr furchtſahm
iſt, die Geliebte zu beleidigen.


Mich duͤnckt, du frageſt: was konnte die Fraͤu-
lein hierzu ſagen?


Sagen? ‒ ‒ Sie ſahe misvergnuͤgt, ver-
ſtoͤrt, verwirret aus, und als wenn ſie nicht recht
L 2wuͤßte,
[164]
wuͤßte, ob ſie mit ſich oder mit mir boͤſer ſeyn ſol-
te. Sie ſahe weg, wie es ſchien, eine Thraͤne zu
verbergen, die ihr in die Augen trat; und ich konn-
te kaum hoͤren, daß ihr ein Seufzer aufſtieg, den
ſie zu unterdrucken ſuchte. Sie ging hiemit weg,
und uͤberließ mir das Feld.


Sage mir nichts von Hoͤflichkeit! nichts von
Grosmuth! nichts von Mitleiden! Jſt ſie mir
nicht ſelbſt gewachſen? Noch mehr als gewachſen!
Hat ſie nicht den Vortheil uͤber mich, ſo oft wir
rechtmaͤßige Waffen gebrauchen? Hat ſie mich
nicht gezwungen, an ihrer Liebe zu zweiffeln? Hat
ſie ſich nicht recht bemuͤhet, mir die Erklaͤrung zu
thun, daß ſie dem Solmes nicht aus Zuneigung
zu mir abgeneigt geweſen iſt? und daß es ſie gereue,
daß ſie ſich vor ihm in Sicherheit geſetzt habe, d. i.
daß ſie mir Wort gehalten habe?


Was wuͤrde es dem Harlowiſchen Hochmuth
fuͤr eine Nahrung ſeyn, wenn ich ſie jetzt heyrathe-
te? Die Familie iſt meiner in Abſicht auf den
Rang ungleich: keiner in der gantzen Familie, nur
die Fraͤulein ausgenommen, iſt einer ſolchen Ver-
bindung werth! Meine eigene Guͤter ſind nicht
zu verachten. Jch behelffe mich mit meinen Ein-
kuͤnften, um denen nicht Danck ſagen zu duͤrfen, die
beſſer ſind als alle Harlowes, und bin keinem
Menſchen in der Welt verpflichtet. Jch habe
noch mehr zu erwarten. Meine Perſon, meine
Gemuͤths-Gaben, meine Geſchicklichkeit ſind zum
wenigſten nicht zu verachten. Dennoch haben ſie
mich hoͤhniſch abgewieſen. Jch bin gezwungen
wor-
[165]
worden, einen heimlichen verſtohlenen Brief-Wech-
ſel mit der Tochter zu unterhalten; und zwar dieſes
zu einer Zeit, da ſich zwey von den vornehmſten Fa-
milien im Koͤnigreiche guͤnſtig geaͤuſſert haben, ohne
daß ich mich einließ, ſo wohl aus Liebe zu ihr, als
auch weil ich entſchloſſen bin, gar nicht zu heyra-
then, wenn ich ſie nicht bekommen kann. Jch
bin gezwungen worden, ſie ihnen, ja ihr ſelbſten zu
ſtehlen. Und ich ſollte mich noch ſo weit bringen
laſſen, daß ich die Harlowes um Vergebung baͤte?
Jch ſollte darum bitten, daß ich fuͤr einen Sohn
des finſtern Unmenſchen angeſehen werden moͤchte,
der ſich nichts als ſeines Reichthums ruͤhmen kann?
fuͤr einen Bruder eines Kerls, der einen toͤdlichen
Haß gegen mich hat? und einer Schweſter, die
nicht werth war ſie zu verfuͤhren, und die ich ſonſt
haͤtte haben koͤnnen, wie ich wollte? (Nicht den
zehnten Theil der Muͤhe ſollte es mir gekoſtet ha-
ben, die ich bey ihrer Schweſter habe anwenden
muͤſſen, ohne etwas zu erhalten, ob ſie gleich die-
ſer Schweſter ſo grauſam und hoͤhniſch begegnet
hat.) Jch ſollte gute Worte darum geben, daß
ich ſolche Leute Onckles nennen duͤrfte, die keine
Ehre haben, als daß ſie Geld erworben haben, die
mir veraͤchtlich begegnen, und glauben wuͤrden, daß
ich mir blos einen Weg zu ihrem Gelde zu bahnen
ſuchte? Das waͤre dem Blute der Lovelaces ei-
ne Schande, wenn der letzte und (ich darf wohl
ſagen) nicht der ſchlechteſte von der Familie ſo um
eine Frau
betteln ſollte.


Jch will bald mehr ſchreiben.


L 3Der
[166]

Der ſiebenzehnte Brief.
Eine Fortſetzung des vorigen von Herrn
Lovelacen.


Allein iſt es nicht die Goͤttin Clariſſa, (Har-
lowe
will ich ſie nicht nennen. Mein Hertz
empoͤret ſich mit Verachtung dagegen, und ehret
nichts Harlowiſches, als ſie) der ich jetzund drohe?
Wie edel iſt ſie, wenn der wahre Adel in der Tu-
gend beſtehet? und wie wuͤrde man durch eine Ver-
bindung mit ihr geadelt werden, wenn nicht die
Familie, von der ſie entſprungen iſt, und die ſie
mir vorziehet, auch ihren wahren Adel entehrete?


Doch wie uͤbereile ich mich? Jſt nicht etwas an
dieſem goͤttlichen Kinde auszuſetzen, oder auszuſe-
tzen geweſen? Wenn auch dieſer Fehler fuͤr mich
guͤnſtig und gluͤcklich geweſen waͤre, ſo frage ich
dich, ob nicht die Erinnerungen dieſes Fehlers mich
kuͤnftig wuͤrde ungluͤcklich machen koͤnnen, wenn
ſie gantz mein Eigenthum iſt, und die Neuigkeit auf-
hoͤrt meine Liebe zaͤrtlicher zu machen? Wenn es
Leute von freyem Leben mit dem Frauenzimmer ge-
nau nehmen, ſo nehmen ſie es ſehr genau: denn
ſelten pflegt die Tugend der Schoͤnen, die ſie auf
die Probe ſetzen, bewaͤhrt zu ſeyn; und nach dem
Beyſpiel dieſer gefallenen beurtheilen ſie das gantze
ſchoͤne Geſchlecht. Gegen gute Gelegenheit und
gegen Dreiſtigkeit kann ſich kein Frauenzimmer
wehren, wenn der Liebhaber nur nicht ablaͤſſet, und
ſeine Verſuchungen nach deſſen herrſchender Leyden-
ſchaft
[167]
ſchaft einrichten kann. So lautet, wie du weißeſt,
der erſte Artickel unſeres Frauenzimmer-Glaubens.


Mich duͤnckt, ich hoͤre dich ſchon voller Verwun-
derung fragen: wie? zweiffelſt du auch noch an die-
ſem unvergleichlichen Frauenzimmer? Willſt du
die Tugend einer Clariſſa in Zweifel ziehen?


Nein! Jch unterſtehe mich nicht, daran zu zweif-
feln! Meine Ehrfurcht erlaubt mir nicht, einen ei-
gentlichen Zweifel zu haben. Allein ich will dich wie-
der fragen: iſt es nicht moͤglich, daß ihre Tugend eine
Frucht des Hochmuths iſt? Weſſen Tochter iſt ſie?
Jſt ſie nicht eine Tochter? Wenn ſie ohne Suͤn-
de iſt, wie kam ſie dazu, daß ſie ohne Suͤnde
empfangen und gebohren ward? Sie hat ſich bis-
her von dem Hochmuth regieren laſſen. Die
Hofnung, ein Muſter aller Frauenzimmer zu wer-
den, hat ſie bisher unuͤberwindlich gemacht. Jſt
aber nicht dieſer Hochmuth jetzund geſtuͤrtzt?
Wozu laſſen ſich Frauenzimmer und Manns-Per-
ſonen bringen, wenn ſie in betruͤbten Umſtaͤnden
ſind? Welches Gemuͤth kann dem Ungluͤck wi-
derſtehen? Der Hochmuth iſt das vornehmſte
Auſſenwerck der Tugend des Frauenzimmers.
Man erniedrige eine Schoͤne, ſo wird ſie mit
Nachdruck erniedriget werden.


Weiter! Wer ſagt es, daß die Fraͤulein Cla-
riſſa Harlowe
das Muſter der Tugend, ja die
Tugend ſelbſt ſey?


Du wirſt antworten: alle die ſie kennen, und
die von ihr gehoͤrt haben.


L 4Das
[168]

Das iſt ſo viel, als: die gemeine Sage! Soll
man die Tugend an der gemeinen Sage erkennen?
Jſt ihre Tugend jemahls auf die Probe geſtellet?
Wer hat ſich das bisher unterſtanden?


Jch habe dir gemeldet, daß ich alles uͤberlegen,
und gleichſam mit mir ſelbſt ſtreiten wollte. Jch
habe angefangen dieſes zu thun, ehe ich daran
gedachte.


Laß mich alles genau unterſuchen!


Jch weiß, wie uͤbel das lautet, was ich bisher
geſagt habe, und noch ferner ſagen werde. Allein
was thue ich anders, als daß ich die Tugend auf den
Probier-Stein bringe, um ſie deſto mehr zu ehren,
wenn es wahre Tugend iſt? Weg demnach mit al-
len Einwendungen, welche aus der Schwachheit
entſtehen koͤnnen, die man faͤlſchlich Danckbarkeit
nennet, und die oͤfters ein edles Hertz verfuͤhret!


Zur Probe! dieſes unvergleichliche Kind ſoll
die allerſchaͤrfſte Probe ausſtehen: damit das gan-
tze ſchoͤne Geſchlecht, ſo viel ihrer etwas aus mei-
nen Briefen leſen duͤrfen. (Denn ich weiß doch, daß
du die Hertzen deiner Bekannten bisweilen mit ei-
nigen Stellen aus meinen Briefen erquickeſt, die
niemanden zum Nachtheil gereichen, und keinen
Nahmen verrathen. Deſto mehr habe ich Luſt,
dir aufzuwarten.) Damit, ſage ich, alle ſchoͤne
Kinder ſehen moͤgen, wie ſie beſchaffen ſeyn ſollen,
und was man von ihnen erwartet; inſonderheit,
wie ſorgfaͤltig ſie ſeyn ſollen, wenn ſie mit einem
nachdenckenden (hochmuͤthigen, wirſt du dazu
ſetzen) Liebhaber zu thun haben, daß er nicht
ſchlech-
[169]
ſchlechtere Gedancken von ihnen faſſen moͤge, wenn
ſie ihm einige Gunſt erzeigen, die aus der Schwaͤ-
che ihres Hertzens hergeleitet werden koͤnnte. Denn
haͤnget nicht des Mannes Ehre von der Frau ab?
Beſchimpfen ihre Vergehungen nicht den Mann
mehr, als ſie ſelbſt.


Habe ich ohne Urſache eine Abneigung gehabt,
Feſſeln zu tragen?


Wohlann denn, auf die Probe! denn ich lege
mir jetzt im Ernſt die Frage vor, ob ich heyrathen
ſoll? und ob ſie meine Liebſte von dem erſten oder
von dem zweyten Range ſeyn ſoll?


Jch will billig verfahren. Jch will dem lieben
Kinde alle Gerechtigkeit wiederfahren laſſen, ja ich
will recht guͤtig, recht edel handeln. Jch will mei-
ne Clariſſa ſo wohl nach ihren eigenen Urtheilen
uͤber ſich, als nach unſern Grund-Saͤtzen pruͤfen.


Sie verweiſet es ſich, daß ſie mit mir Briefe
gewechſelt hat, da bekannt war, daß ich eine freye
Lebens-Art fuͤhrte. Es war in der That meine
erſte Abſicht, ſie in einen geheimen Briefwechſel zu
ziehen: und ich erhielt meinen Zweck durch Mittel,
die ihr ſelbſt unbekannt waren.


Was hatte ſie fuͤr Urſachen, die ſie bewogen, mit
mir Briefe zu wechſeln? Sind es keine Urſachen,
die ihrer uͤbertriebenen Tugend verdaͤchtig ſind;
warum verweiſet ſie ſich den Briefwechſel?


Jſt es moͤglich geweſen, daß ſie fehlete? und
daß ſie ſo lange fortfuhr zu fehlen?


Jch frage nicht, wer der Verſucher, oder wie
ſtarck und ſcheinbar die Verſuchung geweſen ſey.
L 5Auf
[170]
Auf die That, auf den Jrrthum ſelbſt kommt
es an.


Fuhr ſie nicht wider ihrer Eltern Verbot fort,
Briefe mit mir zu wechſeln?


Das geſtehet ſie ſelbſt.


Hat jemahls eine Tochter einen ſtaͤrckern Ein-
druck von dem Umfang der Pflichten des vierten
Gebotes gehabt, als ſie?


Niemahls!


Wie ſtarck muͤſſen denn die Triebe geweſen ſeyn,
die eine ſo gehorſame Tochter zum Ungehorſam
verleitet haben? Was mußte ich vor Gedancken
von ihnen hegen? Was fuͤr Hofnung mußte ich
darauf bauen, ſo lange ich alles von dieſer Seite
anſahe?


Allein hier kann eingewandt werden, daß ihre
vornehmſte Abſicht war, ein Ungluͤck zu verhuͤten,
das zwiſchen ihrem Bruder und Verwanten, und
dem Manne, dem jene ſo baͤuriſch begegneten,
vorgehen moͤchte.


Warum bekuͤmmerte ſie ſich aber um andere,
die ſich um ſie nicht bekuͤmmern? War nicht ihrer
Sorgfalt ohngeachtet die Schlaͤgerey vorgegangen?
Welche tugendhafte Perſon wird ihre Schein-
Pflicht, die ſie ſelbſt fuͤr Pflicht erkennet, um ir-
gend einer Urſache willen uͤbertreten? Vielweniger
haͤtte ſie ſich durch die Begierde, ein ungewiſſes
Uebel zu verhuͤten, ſollen verleiten laſſen.


Faͤllſt du mir nicht ſchon wieder in die Rede, und
ſprichſt: du Lovelace warſt vorhin der Verfuͤhrer?
und jetzt wirſt du der Anklaͤger?


Jch
[171]

Jch bin nicht ihr Anklaͤger. Jch uͤberlege die
Sache nur von beyden Seiten, und in meinem
Hertzen ſpreche ich mein himmliſches Kind los, und
verehre es. Allein ich will genau unterſuchen, ob
ich ſie nach Verdienſt oder aus der Schwachheit,
die man Liebe nennet, losſpreche.


Wir wollen einmahl ſetzen, daß ſie einen an-
dern Bewegungs-Grund gehabt, dieſes zu thun:
ſo iſt es die Liebe geweſen. Die gantze Welt
wuͤrde ſie deswegen entſchuldigen. Allein ich will
auch der gantzen Welt ſagen, daß ſie dieſes thut,
nicht weil es Recht iſt, ſondern weil ſie ſich gern
verleiten laͤßt.


So ſey denn die Liebe ihr Bewegungs-Grund!
Die Liebe zu wem?


Zu einem Lovelace!


Jſt aber nur Ein Lovelace in der Welt?
koͤnnen nicht mehrere Lovelacen ſeyn, die ſich in
ihre Geſtalt und in ihre unvergleichlichen Eigen-
ſchaften verlieben? Jhre Tugend zog mich zuerſt;
ihre Schoͤnheit und Verſtand machten meine Ket-
ten ſtaͤrcker: alle dieſe Eigenſchaften zuſammen ge-
nommen, machen, daß ich ſie jetzt fuͤr wuͤrdig an-
ſehe, mich im Ernſt um ſie zu bewerben.


Hat ſie aber ſo viel Aufrichtigkeit, hat ſie ein
ſo offenes Hertz, daß ſie ihre Liebe geſtehet?


Nein! das hat ſie nicht.


Wenn es denn im Grunde doch Liebe iſt, ſo frage
ich, iſt nicht noch ein Laſter unter dem Schatten
der Liebe verſteckt? Hat ſie etwas gezwungenes?
Oder iſt es Hochmuth?


Was
[172]

Was iſt endlich der Schluß? Jſt die goͤttliche
Clariſſa Harlowe im Stande, einen zu lieben, den
ſie nicht lieben ſollte? kann ſie etwas gezwungenes
und unnatuͤrliches an ſich haben? Jſt ihre Tugend
auf Hochmuth gegruͤndet? Wenn ein Ja hierauf
zur Antwort faͤllt; muß ſie denn nicht eine Frau-
ens-Perſon
ſeyn?


Kann ſie einen ſolchen Liebhaber im Zaum hal-
ten? Muß der vor ihr zittern, der ſonſt lauter
Sieges-Lieder uͤber die ſchoͤnen Kinder ſang? Kann
ſie ſich ſo verſtellen, daß er bisweilen zweifelhaftig
iſt, ob ſie ihn, ob ſie irgend eine Manns-Perſon
in der Welt liebet? und hat ſie dennoch nicht die
voͤllige Herrſchaft uͤber ſich in ſolchen Stuͤcken, auf
denen ihrer Meinung nach ihre Ehre beruhet?
(Jch verdamme ſie noch nicht: ich unterſuche die
Sache nur.) Laͤßt ſie ſich ſo weit treiben, daß ſie
verſpricht, ihres Vaters Haus zu verlaſſen und
mit ihm davon zu gehen, da ſie ihn doch kennet?
und zwar dieſes unter der Bedingung, daß er ſie
nicht heyrathen ſoll, bis eine ſehr zufaͤllige, eine
unwahrſcheinliche Veraͤnderung erfolget ſeyn wird?
Man gebe zu, daß ihre Umſtaͤnde ein jedes anderes
Frauenzimmer entſchuldigen koͤñten. Solte aber eine
Clariſſa durch Umſtaͤnde verfuͤhret werden koͤnnen,
wenn ſie ſelbſt ſich daruͤber anklaget, daß dieſe Um-
ſtaͤnde einen Einfluß in ihr Gemuͤth gehabt haben?


Was iſt dazu zu ſagen, daß das liebe Kind ſich
entſchließt, ſein Verſprechen zuruͤck zu nehmen;
und ſich dennoch zu der beſtimmten Stunde einſtel-
let mit ſeinem Liebhaber zu ſprechen? mit einem
drei-
[173]
dreiſten und verwegenen Mann, dem es einige
mahl vorhin nicht Wort gehalten hatte? Mußte
meine Schoͤne nicht dencken, daß dieſer Mann kaͤ-
me, die Fruͤchte ſeiner Arbeit einzuernten, und ſie
zu entfuͤhren? Wir ſehen, daß er ſie wuͤrcklich ent-
fuͤhret, und ſie in ſeine Gewalt bekommt? koͤn-
nen nicht mehr Lovelacen, nicht mehr dreiſte und
unermuͤdete Wagehaͤlſe in der Welt ſeyn; wenn ſie
gleich nicht eben denſelben Weg nehmen zu ihrem
Endzweck zu gelangen?


Hat eine Clariſſa fehlen koͤnnen? Verurtheilet
ſie ſich ſelbſt? Hat ſie einen ſo wichtigen Fehltritt
gethan? Kann ſie nicht kuͤnftig fehlen? Kann ſie
nicht in der groͤſſeſten Sache fehlen, auf die alle
ihre uͤbrigen Fehltritte zielen?


Sage du nicht, daß die Tugend nach dem Urtheil
des Himmels eben ſo wohl ein Schmuck des maͤnn-
lichen als des ſchoͤnen Geſchlechtes ſey. (Durch
Tugend verſtehe ich jetzt die Keuſchheit, und eine
Unuͤberwindlichkeit gegen alle Verſuchungen. Von
meiner Clariſſa iſt jetzt die Frage nicht.) Frage
mich nicht, ob die Manns-Perſon Recht hat ein
unſchuldiges, ein uͤber allen Verdacht reines Frauen-
zimmer zu fodern, wenn ſie ſelbſt unordentlich ge-
lebet hat? Nichts von dieſen Dingen. Denn die
Frau thut durch ihren Fehltritt dem Manne ein
viel groͤſſeres Unrecht, als der Mann ihr thun
kann: ein Unrecht, das nicht blos den Mann,
ſondern die gantze Familie betrifft. Sie raubet ſein
Eigenthum, und giebt es eines andern Mannes
Kindern, da ſeine eigenen Kinder entweder gantz
aus-
[174]
ausgeſchloſſen, oder doch ihr Erbtheil geſchmaͤh-
lert wird; indem er glaubt, daß es insgeſammt
ſeine eigene Kinder ſind. Jn den Augen Gottes
koͤnnen dieſe beyden Verſuͤndigungen gewiß nicht
gleich ſeyn. Jch habe auch an einem Orte in der
Bibel geleſen, daß das Weib um des Mannes
willen gemacht iſt, und nicht der Mann um
des Weibes willen.
Der Mangel der Tugend
iſt folglich bey dem Frauenzimmer weniger als bey
uns zu entſchuldigen.


Wie iſt mir? Wuͤrde nicht einer, der froͤmmer
iſt als du, ſagen: und du Lovelace forderſt eine
ſolche Vollkommenheit von dem Frauenzimmer?


Ja! will ich antworten. War nicht der groſſe
Caͤſar ein Verfuͤhrer der Frauens-Leute? Nenne-
ten ihn nicht ſeine Soldaten bey dem Triumph ei-
nen kahlkoͤpfigten Ehebrecher?
Warneten ſie
nicht oͤffentlich die Weiber und Toͤchter ſeiner Mit-
buͤrger? Und dennoch gab Caͤſar ſeiner Frau einen
Scheide-Brief, weil ſie mit dem Clodius in Ge-
ſellſchaft geweſen war, oder vielmehr weil Clodius
ſich in ihre Geſellſchaft eingeſchlichen hatte, und
entdeckt ward. Was war die Urſache, die er an-
gab: Caͤſars Frau muß in keinem uͤbeln Ver-
dacht ſtehen!


Caͤſar hatte keine hochmuͤthigere Seele als Lo-
velace.


Gehe damit hin, Bruder, und tadele Love-
lacen
nicht, laß ihn auch nicht von andern geta-
delt werden. Sage nicht, daß einer, der ſich ſeiner
Vorfahren ruͤhmen kann, zu viel verlanget, wenn
er
[175]
er eine recht himmliſch keuſche Frau verlanget, ob
ihm gleich der Himmel die Gabe der Keuſchheit
nicht verliehen hat.


Was meine Clariſſa anlanget, ſo kann ich
kaum glauben, daß jemahls ein ſolcher Engel un-
ter den Schoͤnen geweſen iſt. Allein hat ſie nicht
nach ihrem eigenen Urtheil geſuͤndiget? Hat ſie
nicht Dinge unternommen, die weder die Welt
noch ihre Familie jemahls von ihr erwartet haͤtten?
und die ihr die Jhrigen nicht vergeben wollen?


Verwundere dich nicht, daß ich keine Entſchul-
digung anhoͤren will, wenn die Rede von einem
Muſter der Tugend iſt. Alsdenn gelten alle Ver-
anlaſſungen nicht, dadurch ſie gezwungen, da-
durch ſie auf das aͤuſſerſte getrieben zu ſeyn ſcheinet.
Verſuchungen ſind eben der Probier-Stein der
Tugend. Ein Muſter der Tugend muß ſich durch
nichts ſo weit treiben laſſen, daß es aufhoͤre ein
Muſter zu ſeyn.


Kann mein bisheriges Gluͤck mich nicht reitzen,
mein Gluͤck noch weiter zu wagen? Es iſt nur ein
Verſuch, Bruder. Wer will fuͤr dieſe goͤttliche
Clariſſa beſorgt ſeyn, wenn ſie in Verſuchung ge-
fuͤhret wird? Du weißt, daß ich einige mahl einen
ſolchen Verſuch bey Frauenzimmern von gutem
Stande gewagt habe; und keine hat mir einen
Monath lang widerſtehen koͤnnen, keine hat meine
Erfindungen erſchoͤpft. Jch habe daraus einen
Schluß gemacht, und das gantze Geſchlecht verur-
theilet. Weil ich noch keine unuͤberwindliche Tu-
gend angetroffen habe, ſo habe ich ſchwoͤren wollen,
daß
[176]
daß alle Tugend aller Frauenzimmer uͤberwindlich
ſey. Es iſt dem gantzen Geſchlechte daran gele-
gen, daß dieſer Verſuch angeſtellet wird. Wer
kennet aber meine Clariſſa, und hat noch einiges
Bedencken, ihr die Ehre des gantzen Geſchlechtes
anzuvertrauen? Wenn ein Frauenzimmer iſt,
das eine Einwendung gegen ſie machen will, ſo
wage es ſich, und trete an ihre Stelle.


Jch verſichere dir, daß ich mir ungemein hohe
Gedancken von der Tugend mache; wie ich ſie
mir von allen den Vollkommenheiten mache, die
ich zu erlangen nicht im Stande geweſen bin.
Es wuͤrde nicht ein jeder Menſch, der frey gelebet
hat, ſo reden oder dencken: weil er ſich ſelbſt da-
durch verdammen wuͤrde. Allein die Freymuͤ-
thigkeit in dem Bekennen meines Unrechts iſt mir
angebohren, und eine unterſcheidende Eigenſchaft
von mir.


Der Satan, (dem du vielleicht Schuld geben
wirſt, daß er mich jetzt anreitzet. Du kannſt da-
von dencken, was du willſt) der Satan ſage ich
verſuchte unſern frommen Stamm-Vater auf die
gefaͤhrlichſte Weiſe. Die Ehre und die Beloh-
nung unſers erſten Vaters hing von ſeinem Ver-
halten bey dieſer Verſuchung ab. Wenn eine un-
ſchuldige Perſon noch einigem Verdachte unterwor-
fen iſt, ſo muß ſie wuͤnſchen, auf eine unpartheyi-
ſche Probe geſetzt zu werden.


Es iſt wahr, Rinaldo verbittet bey Arioſto
den Becher des Mantuaniſchen Ritters, durch
den
[177]
den der Hahnrey entdecket ward. (*) Er dachte
alſo: „warum ſoll ich mich bemuͤhen, etwas zu
„finden, das ich nicht gern finden wollte? Mei-
„ne Frau iſt eine Frau! Sie iſt ein ſchwaches
„Werckzeug! Jch kann doch ohnmoͤglich eine beſſere
„Meinung von ihr bekommen, als ich ſchon jetzt ha-
„be: und es wuͤrde mein eigener Schade ſeyn, wenn
„ich meine gute Meinung fahren laſſen muͤßte.„
Allein Rinaldo wuͤrde gewiß aus dem Becher ge-
truncken haben, wenn ſie ihm noch nicht angetrauet
geweſen waͤre, weil ihm die Entdeckung haͤtte nuͤtz-
lich ſeyn koͤnnen.


Jch wuͤrde den Becher nicht haben voruͤbergehen
laſſen, wenn ich gleich verheyrathet geweſen waͤre.
Denn vielleicht waͤre ich meiner guten Meinung
beſtaͤrcket worden; und zum wenigſten haͤtte ich er-
fahren, ob ich eine Schlange oder eine Taube in
meinem Buſen hegete.


Wieder auf die Sache zu kommen! Jſt das ei-
ne wahre Tugend, die keine Probe ausſtehen
kann? Was muß das fuͤr ein Frauenzimmer ſeyn,
das keine Probe ſeiner Jungferſchaft oder Keuſch-
heit ausſtehen will?


Der Satz ſtehet veſt: die Ehre meines Kindes
erfodert, daß es eine Probe ausſtehe.


Wer ſoll es aber auf die Probe ſetzen? Soll es
nicht eben der thun, von dem die Fraͤulein vor-
giebt,

Dritter Theil. M
[178]
giebt, daß er ſie ſchon zu geringeren Fehlern ver-
leitet habe? und zwar eben dieſe Perſon muß es
ſeyn, um ihrentwillen. Jn einem doppelten Ver-
ſtande um ihrentwillen. Sie hat bey ihr einen an-
genehmen Eindruck gemacht: Die Fraͤulein weiß
und bedauret dieſes, folglich iſt ſie gegen neue
Verſuchungen mehr geruͤſtet.


Man muß geſtehen, daß ſie ſich jetzt nicht in vor-
theilhaften Umſtaͤnden befindet: allein deſto groͤſſer
wird die Ehre des Sieges ſeyn.


So fuͤrchte dich denn nicht, artiges Kind, vor
neuen Verſuchungen; und haſſe mich nicht, weil
ich dein Verſucher bin. Welches Frauenzimmer
kann man tugendhaft nennen, ehe es verſucht iſt?
Eine eintzige Verſuchung iſt nicht hinlaͤnglich:
denn ein ſchoͤnes Hertz iſt bisweilen dieſe Stunde wie
Demant, und die folgende Stunde wie Wachs. Jch
habe es oft erfahren: und dir wird dieſe Wahr-
heit auch nicht neu ſeyn.


Mich duͤnckt du ſageſt: das wuͤrde eine artige
Sache fuͤr das Frauenzimmer ſeyn, wenn ſie alle
auf die Probe geſtellet werden ſollten!


Das ſey ferne, Bruder! Jch bin liederlich:
Allein ich bin kein Freund von liederlichen Leuten,
dich und deine Geſellſchaft ausgenommen.


Hoͤre demnach einen lehrreichen Satz, den ich
durch ſo viele Schluͤſſe herausbringe: „Die loſen
„Schoͤnen, die nicht nach meiner Redens-Art
„auf die Probe geſtellet werden wollen, moͤgen ver-
„nuͤnftig waͤhlen. Laß ſie gute, ehrliche, tugend-
„haſte Maͤnner waͤhlen, die keine Schelmhaͤndel
im
[179]
„im Kopfe haben, ſondern ſie nehmen wie ſie ſie
„finden, und von andern dencken, daß ſie eben ſo
„gut ſind als ſie ſelbſt.


Allein du frageſt: was ſoll aus der Fraͤulein
werden, wenn ſie einen Fehltritt thut?


Was? ‒ ‒ Wenn ſie einmahl uͤberwun-
den iſt, ſo muß ſie ſich oͤfter uͤberwinden
laſſen.
Ein Grundſatz in unſerer Sitten-Lehre!
Was fuͤr ein himmliſches Vergnuͤgen wuͤrde dieſes
einem Feinde des Eheſtandes ſeyn, was fuͤr ein
entzuͤckender Gedancke, wenn er eine Clariſſa Har-
lowe
bewegen koͤnnte ein Bette und doch nicht ei-
nen
Nahmen mit ihm zu haben.


Wie aber, wenn ſie widerſtehet? wenn ſie in
ihrer Verſuchung auf eine edle Weiſe ſieget?


Denn will ich ſie ohne Zweiffel heyrathen, und
ich will mich unendlich freuen, daß mir das Gluͤck
einen ſolchen Engel beſcheeret hat.


Wird ſie dich aber nicht haſſen? Wird kein
Korb vorfallen?


Nein Bruder, gewiß nicht. Jn unſern Um-
ſtaͤnden iſt das mein allergeringſter Kummer.
Mich haſſen? Warum ſollte ſie den haſſen, der
ſie vernuͤnftig liebet, nachdem er ihre Tugend hat
kennen lernen?


Kann ich nicht das Recht der Wieder-Vergel-
tung brauchen? Sie will meine Beſſerung auf
die Probe ſetzen: warum ich nicht ihre Tugend?
Sie hat mir einmahl die Erklaͤrung gethan, daß
ſie mich nicht heyrathen will, bis ſie Hoffnung hat,
daß ich mich beſſern werde.


M 2Jch
[180]

Jch habe dich immer bisher als ihren Verthey-
diger vorgeſtellet, weil ich wohl weiß, daß mein
Onckle dich erſucht hat, mich nach allem Vermoͤ-
gen, das er dir zuſchreibt, zum Heyrathen zu bere-
den. Um aber unſerem ernſthaften Streit ein Ende
zu machen, ſo frage ich dich: willſt du mir nicht ſelbſt
erlauben, daß ich ſie auf die Probe ſetze, ob ſie
ein Frauenzimmer ſey? daß ich verſuche, ob ſie
bey ſo gluͤenden Wangen, bey ſo artigen Gliedern,
bey einer ſolchen Bluͤthe von Schoͤnheit und Jah-
ren, dadurch ſie aller Augen an ſich ziehet, dennoch
in der Haupt-Sache unbeweglich iſt?


Jch will den Anfang hiezu machen, wie ſich
die Gelegenheit zeigen wird. Jch will auf alle
Schritte Acht geben; vielleicht wird einer ſeyn, bey
dem ſie gleiten koͤnnte: auf alle Augenblicke, denn
vielleicht wird einer gefaͤhrlich fuͤr ſie ſeyn. Jch
will dieſes deſto mehr thun, weil ſie meiner nicht
ſchonet, weil ſie ſich auf meine Ehrlichkeit nicht
verlaͤßt, ſondern alle Gelegenheit mich zu plagen
und mir Verweiſe zu geben wahrnimt. Wenn ſie
von der Art iſt, wie andere Frauenzimmer, und
ſie liebet mich, ſo will ich ſie gewiß einmahl fan-
gen. Die Liebe verraͤth ſich immer ſelbſt. Wenn
Liebe in ihrem Hertzen iſt, und Liebe ihr Hertz be-
lagert, ſo muͤßte entweder ſie (wie der Poet ſagt)
mehr ſeyn als ein Frauenzimmer, oder ich weniger
als ein Mann, wenn ich ihr Hertz nicht beſiegen
ſollte.


Alles iſt am Ende, Belford. Die Fraͤulein
iſt mein, und ſie ſoll noch in einem ſtaͤrckeren Ver-
ſtande
[181]
ſtande mein werden. Zum wenigſten iſt jetzt ihr
Ja vor dem Altar in meiner Gewalt. (Ehemahls
und in andern Umſtaͤnden moͤchte dieſes vielleicht
nicht geweſen ſeyn.) Kann ich ſie ohne derglei-
chen Umſtaͤnde haben, ſo wird mir niemand ver-
dencken, daß ich es verſucht habe. Schlaͤgt mein
Verſuch fehl, ſo iſt ihre Ehre deſto groͤſſer, und
ich werde ein deſto voͤlligeres Zutrauen in ſie ſetzen
koͤnnen. Alsdenn wird ſie verdienen, daß ich
ihr meine Freyheit aufopfere, und daß ihr gan-
tzes Geſchlecht ſie bey nahe als eine Goͤttin vereh-
ret, weil ſie gezeiget hat, daß ein Frauenzim-
mer gegen alle Verſuchungen, gegen alle Raͤncke
eines Mannes, den es nicht haſſete, unuͤber-
windlich ſeyn kann.


Nun wirſt du uͤberſehen koͤnnen, wohin meine
Umwege zielen. Allein Cabala!(*) Laß dir nicht
einmahl von meinem Geheimniß traͤumen.


Niemand zweifelt daran, daß ſie meine Frau
werden ſolle. Sie mag es ſeyn, wenn ich ihr
mein Wort gebe. Durch meine aufgeſchobene
Beſſerung will ich ſie nach dem Netz treiben, und
wenn ich ſie nach London bringen kann, ſo ſoll ein
Frauenzimmer in London der Lockvogel ſeyn. So
viel vor dieſes mahl.


M 3Der

[182]

Der achtzehente Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.


  • (Eine Antwort auf den achten und vierzehenten
    Brief.)

Seyn Sie deswegen nicht ſo ſehr bekuͤmmert,
daß bisweilen zwiſchen meiner Mutter und
mir ein Streit entſtehet. Wir haben uns den-
noch hertzlich lieb. Wenn meine Mutter mit mir
nicht keifen koͤnnte, ſo muͤßte ſie ſonſt mit jemand
keifen: und ich bin auch ein eigenſinniges Maͤdchen;
haͤtte ich dieſe Gelegenheit nicht, ſo muͤßte ich den
Eigenſinn auf eine andere Art auslaſſen.


Jch habe Jhnen ſonſt erzaͤhlet, daß dieſes
nichts ungewoͤhnliches zwiſchen uns ſey: Sie ſelbſt
koͤnnten es nicht wiſſen, wenn Sie es nicht von
mir gehoͤrt haͤtten. Denn ſo oft Sie bey uns ge-
weſen ſind, haben Sie den Frieden und die Einig-
keit zwiſchen uns beyden erhalten, und ich habe
mich in der That mehr vor Jhnen als vor meiner
Mutter gefuͤrchtet. Allein dieſe Furcht war mit
Liebe verknuͤpft. Jhre Verweiſe ſind beſtaͤndig ſanft,
und mehr ein Unterricht als ein Verweiß zu nennen:
es iſt ſo offenbar, daß ſie zur Beſſerung abzielen,
daß ein aufrichtiges Gemuͤth ſich durch ſie beſſern
laſſen muß. Allein erinnern Sie ſich, wie meine
Mutter zu reden pflegte. Hieß es nicht ſelbſt in
Jhrer Gegenwart: Du mußt das thun, meine
Toch-
[183]
Tochter: ich ſage dirs. Jch will es ſo ha-
ben! Muß ich nicht kluͤger ſeyn als du? Du
ſollſt Gehorſam leiſten.
Wie kann eine mun-
tere Tochter eine ſolche Sprache ertragen? Wie
kann ſie ſolche ſtraͤfliche Geſichter ſehen, ohne Luſt
zum Ungehorſam zu bekommen?


Geben Sie mir ja den Rath nicht, daß ich
meiner Mutter gehorchen, und den Briefwechſel
mit Jhnen abbrechen ſoll. Sie hat keine Urſache
ihn mir zu verbieten; und ſie wuͤrde ihn mir auch
nicht von ſelbſt verboten haben, wenn nicht Jhr
alter muͤßiger Onckel, der jetzt oͤfter als ſonſt
kommt, auf Anſtiften Jhrer boshaften Geſchwi-
ſter dieſes Verbot veranlaſſet haͤtte. Dieſe be-
dienen ſich nur des Mundes meiner Mutter als
eines Sprach-Rohrs, um Jhnen bey Jhrer Ent-
fernung empfindlich ſeyn zu koͤnnen. Jch ſage es
noch einmahl: Dieſes Verbot kommt nicht von
meiner Mutter. Geſetzt aber, daß es von ihr kaͤ-
me, ſo frage ich, kann damit, wenn ich an ein
Frauenzimmer ſchreibe, eben die Gefahr verknuͤpft
ſeyn, als wenn ich mit einer Manns-Perſon Brie-
fe wechſelte? Geben ſie nicht zu, mein Schatz,
daß die Traurigkeit und das viele Ungluͤck, wel-
ches ſie betroffen hat, Jhre Kraͤffte ſchwaͤchet, und
Jhnen die unſchuldigſten Dinge ſchwartz und ge-
faͤhrlich vorſtellet. Wenn das Schmieren, wie
Sie es nennen, Jhre Gabe iſt: ſo iſt es meine
Gabe gewiß auch. Jch will nicht aufhoͤren zu
ſchreiben, und zwar an Sie zu ſchreiben, andere
moͤgen auch dazu ſagen, was ſie wollen. Fuͤllen
M 4Sie
[184]
Sie Jhre Briefe nicht mit lauter Beſchuldigungen
gegen ſich ſelbſt an: Dieſe Beſchuldigungen ſind
ohne Grund. Jch wuͤnſchte, daß Jhre Anna
Howe,
die ſich in ihrer Mutter Hauſe befindet,
halb ſo viel Lob verdiente, als die Fraͤulein Cla-
riſſa Harlowe,
die aus ihrer Eltern Hauſe getrie-
ben iſt.


Jch will uͤber den Brief an Jhre Schweſter
keine Anmerckungen machen, bis ich ſehe, was er
ausrichtet. Sie ſchreiben mir, ſie hoffeten den-
noch, daß man Jhnen Jhre Kleidung und Geld
ſchicken werde, ob ich gleich das Gegentheil befuͤrch-
tet habe. Es thut mir leyd, daß ich Jhnen eine
unangenehme Zeitung melden muß. Jch habe
eben gehoͤrt, daß groſſer Rath uͤber Jhren Brief
gehalten iſt. Jhre Frau Mutter, die begehrte,
daß man Jhnen das Jhrige ſchicken moͤchte, ward
uͤberſtimmet. Jch bitte Sie deswegen inſtaͤndigſt,
nehmen Sie mein Anerbieten, das ich in dem vori-
gen Briefe gethan habe, an; und geben Sie mir
Nachricht, was fuͤr Kleidung Jhnen mangelt, da-
mit ich ihnen das rechte ſchicken koͤnne.


Dencken Sie nicht ſo ſehr an eine Ausſoͤhnung,
verſaͤumen Sie deswegen keine Gelegenheit, da-
durch Sie einen ſolchen Beſchuͤtzer erlangen koͤnnen
als Lovelace iſt, der als ein wahrer Ehemann
nicht zugeben wird, daß Jhnen jemand Unrecht
thue, ihn ſelbſt ausgenommen.


Wie war es moͤglich, daß Sie eine ſo gute Ge-
legenheit aus den Haͤnden lieſſen? Jch kann Sie
zwar nicht tadeln. Denn wie konnten Sie etwas
mehre-
[185]
mehreres thun, als ſtilleſchweigen, als der alber-
ne Menſch mit den Verſprechungen angeſtiegen
kam, die ſie in gantz andern Umſtaͤnden von ihm ge-
fodert hatten? Allein ich habe Jhnen ſonſt ſchon
geſagt: Jhr Anſehen befiehlt jedermann Ehrerbie-
tung; Die Leute fuͤrchten ſich vor Jhnen. Sie
haben ſeiner auch nicht geſchonet.


Jch wiederhole es noch einmahl: Sie haben ei-
ne ſehr mißliche Perſon zu ſpielen: und Jhr Ge-
muͤth iſt ſo artig, daß es ſich zu dieſer Perſon gar
nicht ſchickt. Je mehr der Liebhaber erhoͤhet wird,
deſto niedriger wird ſeine Geliebte. Er hat ohne-
hin von Natur einen hochmuͤthigen und halsſtar-
rigen Sinn. Jch fuͤrchte, Sie haben keinen an-
dern Weg vor ſich, als daß Sie ihn bey ſeinem
Hochmuth, oder wie er es nennet, bey ſeiner Ehre
zu faſſen ſuchen, und etwas weniger fremde gegen
ihn thun. Dergleichen Wuͤnſche, daß Sie ſich
nicht zu der geſetzten Stunde moͤchten eingefunden
haben, muͤſſen Sie ſich in ſeiner Gegenwart nicht
entfahren laſſen. Was hilft es Jhnen, Wuͤnſche
von geſchehenen Dingen auszuſprechen? ihm aber
ſind dieſe Wuͤnſche unertraͤglich. Sie haben gar
keinen Grund, zu hoffen, daß ihm dergleichen Re-
den nicht empfindlich ſeyn ſollten.


Mich verdrießet es indeſſen bis auf den Grund
meines hochmuͤthigen Hertzens, daß eine Manns-
Perſon ſich eines ſolchen Sieges uͤber ein ſo unver-
gleichliches Frauenzimmer ruͤhmen ſoll.


Jn den Muth und Hertzhaftigkeit, die Sie be-
weiſen, habe ich mich recht verliebt. Ein ſo nach-
M 5geben-
[186]
gebendes Hertz, wo es billig iſt nachzugeben, und
dennoch ſo viel Muth, wo Muth erfodert wird:
das iſt eben die Miſchung von Tugenden, die den
Nahmen der Grosmuth verdienet.


Allein in Jhren jetzigen Umſtaͤnden muͤſſen Sie
etwas verſteckter handeln. Die Demuth iſt ihm
nicht natuͤrlich, die er annimt, wenn Sie ihn Jh-
ren Unwillen mercken laſſen.


Mich duͤnckt ich ſehe den Menſchen vor mir,
wie er ſtammert, und durch die Verweiſe eines ihm
uͤberlegenen Frauenzimmers ſo in die Enge getrie-
ben wird, daß er wie ein Schaafs-Kopf ausſiehet.
Allein in der That wird er doch nie einen Schaafs-
Kopf haben. Huͤten Sie ſich, daß er nicht Rache
und Liebe mit einander verbindet.


Jn dem erſten von Jhren beyden Briefen, die
ich jetzt vor mir habe, ſind Sie allzu ernſthaft,
wenn ſie von Hickman, meiner Mutter und mir
ſchreiben. Allein was meine Mutter anbetrift, ſo
iſt ihre groſſe Ernſthaftigkeit, damit Sie mich erin-
nern, uͤberfluͤßig. Wenn wir zuweilen nicht all-
zuwohl mit einander ſtehen, ſo ſtehen wir doch zu
anderer Zeit nicht uͤbel. Jch bin noch immer im
Stande geweſen, meine Mutter auch alsdenn
zum Laͤcheln zu bewegen, wenn ſie ſich bey unſerm
neulichen Streit am meiſten in ihrem Unwillen ver-
ging: ob ſie ſich gleich bisweilen Muͤhe gab, das
Lachen zu verbeiſſen. Dieſes iſt kein ſchlimmes
Zeichen: ein Zeichen, daß ihr Unwille nicht tief
gewurtzelt ſey, und von keiner langen Dauer ſeyn
werde. Ein freundliches Wort oder Blick gegen
ihren
[187]
ihren lieben Hickman, verſetzt ihn in den Him-
mel, und macht, daß ſie ſich einigermaßen
faſſet.


Jndeſſen geht mir Jhr Ungluͤck ſehr zu Hertzen,
und meiner Leichtſinnigkeit ohngeachtet haben doch
beyde etwas von meiner Verdrießlichkeit zu empfin-
den, die ſo lange waͤhren wird, als Sie zwiſchen
Furcht und Hoffnung ſchweben. Es vermehrt
meine Verdrießlichkeit, daß ich nicht im Stande ge-
weſen bin, Jhnen die verlangte Zuflucht in unſerm
Hauſe zu verſchaffen, und dadurch den gefaͤhrlichen
Schritt unnoͤthig zu machen, den Sie endlich zu
unſerer beyder Betruͤbniß haben wagen muͤſſen.


Jch habe nichts weiter zu ſchreiben, als dieſe
Jhnen bekannte und uͤberfluͤßige Wahrheit, daß
ich bin, und ewig ſeyn werde


Jhre ergebenſte Freundin und Dienerin
Anna Howe.



Der neunzehente Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.


Sie benehmen mir alle Hofnung, meine Kleider
und das wenige Geld zu erhalten: allein ich
will dennoch meine Hofnung nicht fahren laſſen.
Die Sache iſt noch zu neu. Wenn der erſte Zorn
voruͤber iſt, ſo werden ſie die Sache beſſer uͤberle-
gen,
[188]
gen, ſonderlich da ich meine liebe und unvergleich-
liche Mutter in dieſer Bitte zur Vorſprecherin
habe. O dieſe liebe und guͤtige Mutter! wie blu-
tet mir das Hertz, wenn ich an ſie gedencke, und wie
wird es mir noch ferner bluten.


Sie verbieten mir, eine Ausſoͤhnung mit den
Meinigen zu hoffen. Jch hoffe auch nicht darauf,
allein ich wuͤnſche ſie von Hertzen. Was kann ich
aber in Abſicht auf den Lovelace thun? Sie ſehen
ſelbſt, daß eine naͤhere Verbindung mit ihm nicht
mehr in meiner Gewalt ſtehet, wenn ich ſie auch
waͤhlen, und den Verſuch zu einer Ausſoͤhnung,
den ich zu machen von Hertzen entſchloſſen bin,
hintan ſetzen wollte.


Sie ſagen, er ſey ſtoltz und trotzig. Sie haben
Recht. Jch moͤchte aber wiſſen, ob es ſeine Ab-
ſicht ſeyn kann, mich ſo zu demuͤthigen, daß ich
mich vor ſeinem niedertraͤchtigen Hochmuth buͤcken
ſoll?


Was verſtehen Sie aber darunter, wenn Sie
mir anrathen, etwas freyer gegen ihn zu ſeyn? Jch
weiß noch nicht, daß ich jemahls zuruͤckgehalten ha-
be. Seyn Sie verſichert, wenn ich etwas an Lo-
velacen
gewahr werde, das einer Abſicht mich zu
demuͤthigen aͤhnlich iſt; ſo ſoll er mich doch nicht ſo
weit bringen, daß ich eine niedertraͤchtige Auf-
fuͤhrung annehme, die ſich fuͤr eine Freundin von
Jhnen nicht ſchicken, und dadurch ich mein Ge-
ſchlecht beſchaͤmen, und mir ſelbſt ungleich werden
wuͤrde.


Jch
[189]

Jch will aber nicht hoffen, daß er ein ſo garſti-
ges Gemuͤth hat, ſich an einer von allem Schutz
entbloͤßten Perſon auf eine ſo niedrige Art zu raͤ-
chen. Daß ich ihm ſo viel Muͤhe vrrurſachet habe,
das mag er ſich ſelbſt dancken, und es fuͤr eine Fol-
ge der uͤbeln Nachrede anſehen, die meinem Bruder
einen Vorwand gab, ſeinen Groll zu beſchoͤnigen.
Habe ich ihn jemahls etwas verſprochen? Habe
ich einigen Wunſch gehabt, daß er in ſeiner Nei-
gung gegen mich beſtaͤndig ſeyn moͤchte? Wuͤrde
ich nicht meine Abſicht erreichet haben, ihn durch
meine Kaltſinnigkeit ſo zu ermuͤden, und den hoch-
muͤthigen Menſchen ſo zum Verdruß zu reitzen,
daß er ſich nach London wuͤrde begeben haben,
wenn mir nur die Hitze meines Bruders nicht das
Spiel verdorben haͤtte? Wuͤrden nicht alle ſeine
Anſpruͤche und Hoffnung ein Ende gehabt haben,
wenn er einmahl in London geweſen waͤre? denn
ich wuͤrde ihm nicht die geringſte Hoffnung gemacht
haben; wie ich denn auch dazumahl keine Briefe
mit ihm wechſelte. Jch wuͤrde auch keinen An-
fang gemacht haben Briefe von ihm anzunehmen,
oder an ihn zu ſchreiben, wenn nicht die ungluͤckli-
che Schlaͤgerey vorgegangen waͤre, die mich thoͤ-
richtes unverſtaͤndiges Kind nicht um meinet ſon-
dern um anderer willen zu dem verbotenen Brief-
wechſel brachte. Glauben Sie wohl, daß dieſer
Briefwechſel, der nur von kurtzer Dauer ſeyn ſoll-
te, und zu dem ich meiner Mutter Verguͤnſtigung
hatte, ein ſolches Ende genommen haben wuͤrde,
wenn ich nicht von beyden Seiten gezwungen waͤre,
ihn
[190]
ihn ſo lange fortzuſetzen, als die Veranlaſſung da-
zu nicht gehoben war? Was kann er ſich bey die-
ſen Umſtaͤnden fuͤr ein Recht zu haben einbilden,
mich fremde Suͤnden, die mir mehr als ihm ge-
ſchadet haben, entgelten zu laſſen, wenn ich auch
voͤllig in ſeiner Gewalt waͤre. Es iſt ohnmoͤglich,
daß er ein ſo niedertraͤchtiges, ein ſo abſcheuliches
Hertz haben ſollte.


Sie verlangen, daß ich mich uͤber den kleinen
Haus-Krieg zwiſchen Jhnen und Jhrer Frau Mut-
ter nicht aͤngſtigenſoll. Allein wie kann ich deswegen
unbekuͤmmert ſeyn, da ich die Urſache dieſes Streites
bin? Dadurch muß meine Bekuͤmmerniß nothwen-
dig wachſen, daß mein Ouckle und meine uͤbrigen
Anverwanten einen Antheil daran haben.


Vielleicht iſt mein Urtheil ſchaͤrfer, als es ſich
zu meinen jetzigen Umſtaͤnden ſchicket. Jndeſſen
kommt es mir vor, als wenn die Ausdruͤcke Jhrer
Frau Mutter, derer Sie in Jhrem Briefe geden-
cken, eine richtige und ſcharfe Anklage gegen Sie
ſelbſt ſeyn koͤnnten. Wenn ſie z. E. ſagt: du ſollſt
das thun, meine Tochter; ich ſage es dir:

ſo ſchließt man aus dieſem Ausdruck, daß Sie ſich
ihrem Willen widerſetzt haben muͤſſen: und eine
gleiche Bewandniß hat es auch mit den uͤbrigen
Ausdruͤcken.


Was das anlanget, daß Sie meinen, bey un-
ſerem Briefwechſel ſey nicht eben die Gefahr, als
bey meinem Briefwechſel mit Lovelacen: ſo belie-
ben Sie zu bedencken, daß ich zu Anfang eben ſo
wenig uͤble Folgen befuͤrchtete, als Sie jetzt be-
fuͤrch-
[191]
fuͤrchten koͤnnen. So lange wir aber zum Gehor-
ſam verpſlichtet ſind, ſo lange wird auch der Un-
gehorſam in den allerbeſten und ſicherſten Um-
ſtaͤnden dennoch ein Fehltritt ſeyn. Es kann gewiß
nicht loͤblich ſeyn, wenn wir mit Hintanſetzung des
Raths unſerer Eltern unſerm eigenen Kopfe folgen:
und wenn dieſe Suͤnde ſtraf-faͤllig iſt, ſo meine
ich, daß ich genug dafuͤr geſtraft bin. Deswe-
gen wollte ich gern, daß Sie ſich durch mein Bey-
ſpiel warnen ließen.


Was mache ich aber? Bin ich auch bey Ver-
ſtande? Jch gebe Jhnen einen Rath wider mich
ſelbſt! Jch thue es mit großem Widerwillen; und
doch habe ich nicht ſo viel Entſchlieſſung, daß ich
unterlaſſen koͤnnte dieſen Rath zu geben. Wenn
aber der Brief noch einige Zeit liegen bleibet, ſo
will ich alles beſſer uͤberlegen.


Sie geben mir in Abſicht auf Lovelacen einen
ſehr verſtaͤndigen Rath, dafuͤr ich Jhnen verbun-
den bin. Sie wollen, daß ich behutſamer gegen
ihn ſeyn ſoll: ich will es verſuchen Jhrem Rath
zu folgen. Allein eine Verſtellung findet nicht
ſtatt, bey

Jhrer ergebenſten Dienerin
Cl. Harlowe.



Der zwantzigſte Brief,
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.


Sie koͤnnen ſicherlich glauben, daß ich uͤber das
Geſchrey an der Garten-Thuͤr, dadurch
meine
[192]
meine Flucht befoͤrdert ward, nicht wenig Unruhe
empfunden habe: weil ich dencken muß, daß ich
mich in den Haͤnden eines Mannes befinde, der
mich durch eine ſo ſchaͤndliche Liſt um mich ſelbſt
hat betriegen koͤnnen: ein Ausdruck, der mir oͤf-
ters in Gedancken und Munde iſt. So oft er
mir unter die Augen gekommen iſt, machte mir
dieſe Vorſtellung ſeine Gegenwart unangenehm;
je mehr ich in ſeinen Augen eine Freude daruͤber,
daß er ſich meiner Schwaͤche zu bedienen gewußt
hatte, wahrzunehmen glaubte. Wiewohl es moͤg-
lich iſt, daß das, was ich ein Frohlocken nenne,
blos die ihm natuͤrliche froͤliche Lebhaftigkeit iſt.


Jch hatte mir laͤngſtens vorgenommen, uͤber
dieſe Sache mit ihm zu reden, ſo bald ich die noͤ-
thige Geduld dazu wuͤrde haben koͤnnen. Mein
Verdacht machte mich ohnehin aufſaͤtzig genug:
und uͤber dieſes glaubte ich, wenn er ſchuldig waͤre,
ſo wuͤrde er ſich mit einer unzulaͤnglichen Antwort zu
helfen ſuchen, und eben hiedurch meinen Wider-
willen gegen ſich vergroͤßern; und wenn ich ihn
gleich nicht ſo weit bringen koͤnnte, daß er ſeine
Schuld geſtaͤnde, ſo wuͤrde er mich dennoch durch
ſeine nichts-bedeutende Antwort ſo zweifelhaft
und mißtrauiſch machen, daß ich bey der erſten
Gelegenheit meinen Unwillen gegen ihn deſto deut-
licher zeigen wuͤrde.


Jch habe endlich die Gelegenheit gehabt, die
ich mir gewuͤnſcht hatte: und Sie ſollen den Aus-
gang meiner Unterſuchung umſtaͤndlich erfahren.


Er
[193]

Er bat ſich auf eine ſehr hoͤfliche Weiſe aus,
daß ich beſſere Gedancken von ihm faſſen moͤchte,
und that ſehr klaͤglich daruͤber, daß ich eine ſo
ſchlechte Meinung von ihm, und, wo nicht ein
Vorurtheil, doch wenigſtens eine Kaltſinnigkeit
gegen ihn haͤtte, welche alle Stunden zunaͤhme. Er
bat mich: ich moͤchte einmahl gegen ihn frey her-
ausgehen, damit er Gelegenheit haͤtte, entweder
ſeine Schuld zu bekennen, oder ſich zu rechtfertigen,
und ſich ein guͤnſtigeres Urtheil von mir zu erwer-
ben.


Jch antwortete ihm mit einer Heftigkeit: ſo
will ich ihnen denn mit einer Offenhertzigkeit, die
mir und nicht ihnen eigen iſt (das will ich nicht
hoffen!
fiel er mir in die Rede) ein Stuͤckchen er-
zaͤhlen, daraus ich mercke, daß ſie mit mir tuͤckiſch
umgehen.


Jch will genau acht geben, Fraͤulein. Reden ſie.


Jch kann ohnmoͤglich eine gute Meinung von
ihnen hegen, ſo lange ich nicht errathe, wer
mich durch den Lerm an der Garten-Thuͤr
in ein ſo groſſes Schrecken ſetzte, deſſen ſie
ſich meiſterlich zu bedienen wuſten. Sagen ſie mir
aufrichtig, wie dieſes zuſammenhaͤnget, und in
was fuͤr einem Verſtaͤndniß ſie mit Joſeph Leh-
mann
geſtanden haben. Nach ihrer Offenhertzig-
keit in Erzaͤhlung dieſes Theils meiner Geſchichte
werde ich ſie und alle ihre Verſprechungen beur-
theilen.


Jch will Jhnen, mein allerliebſtes Leben, alles
offenhertzig erzaͤhlen; und ich hoffe, daß ſie um
Dritter Theil. Nmeines
[194]
meines aufrichtigen Bekaͤnntniſſes willen alles uͤber-
ſehen werden, was ihnen ſonſt mißfaͤllig ſeyn
koͤnnte.


Jch kannte dieſen Joſeph Lehmann gar nicht,
und ich wuͤrde mich geſchaͤmt haben, mich eines ſo
niedertraͤchtigen Mittels zu bedienen, und einen
Bedienten zu beſtechen, damit ich die Heimlichkei-
ten des Hauſes erfahren moͤchte; wenn ich ihn
nicht daruͤber ertappet haͤtte, daß er einen meiner
Bedienten beſtechen wollte, um von allen meinen
Thun und Laſſen, von allen meinen vermeinten
krummen Wegen, von meinen Umſtaͤnden, kurtz
von allem was mich allein anging Nachrichten zu
bekommen. Was die Abſicht hiebey war, brau-
che ich nicht zu ſagen.


Mein Bedienter gab mir hiervon Nachricht, und
ich befahl ihm, daß er mir Gelegenheit verſchaffen
ſollte, ihn bey dem naͤchſten Zuſpruch zu behorchen,
ohne daß es jener wußte.


Mitten in der Unterredung, da Lehmann eben
Geld bot, um eine gewiſſe Zeitung zu erfahren,
und noch mehr Geld verſprach, wenn er erſt die ge-
wuͤnſchte Nachricht erfahren haben wuͤrde, uͤber-
fiel ich ſie, und rief, es ſollte mir jemand ein Meſ-
ſer bringen, dem Kerl die Ohren abzuſchneiden,
damit ich ſie an die Leute, die ihn zum Spion ge-
brauchten, uͤberſchicken koͤnnte. Jch hielt ein
Ohr veſte, und ließ ihn nicht eher loß, bis er mir
geſtand, wer ihn geſchickt haͤtte.


Er nannte ihren Bruder und ihren Onckle An-
ton.
So bald er dieſes bekannt hatte, vergab ich
ihm
[195]
ihm ſeine Schelmerey: und es war mir leicht ihn
durch Anbietung mehreres Geldes, und durch Vor-
ſtellung meiner aufrichtigen Liebe gegen ſie, zu bewe-
gen, daß er ſich von mir gebrauchen ließ; ſonder-
lich da er nicht noͤthig hatte es um meinet willen
mit ihrem Onckle und Bruder zu verderben, und
ich nichts zu wiſſen verlangte, als was ſie, Fraͤu-
lein, und mich anbetraf, um uns gegen den Groll
der Jhrigen in Sicherheit zu ſetzen, deſſen Unbil-
ligkeit er einſahe, und geſtand, daß ihn die uͤbri-
gen Bedienten auch fuͤr unbillig hielten.


Jch geſtehe ihnen, daß ich die Jhrigen [oͤ]fters
durch ihn nach meinem Willen gelenckt habe, ohne
daß ſie wußten, was die Folgen ihrer Handlungen
waren: der Kerl pflegte ſich immer einen einfaͤlti-
gen Mann zu nennen, und auf ſein Gewiſſen zu
beruffen, und war deſto ruhiger, weil ich ihm oͤf-
ters die Verſicherung gab, daß ich es aufrichtig
mit ihnen meinete; und er ſelbſt merckte, daß
durch ſeine Nachrichten manchem Ungluͤck vorge-
beuget ward.


Jch hatte deſto mehr Urſache, mit ſeinen Dien-
ſten zufrieden zu ſeyn, weil er ihnen ohne ihr Wiſ-
ſen die Freyheit zu wege brachte, und erhielt, nach
ihrem Willen in den Garten und nach dem Holtz-
ſtall zu gehen: eine Freyheit, die ihnen ſonſt ſchwer-
lich ſo lange wuͤrde gelaſſen ſeyn. Denn er ver-
ſprach, auf alle ihre Gaͤnge ein wachſames Auge
zu haben; und das that er deſto lieber, weil andere
dadurch gehindert wurden, ſich allzu viel um ſie zu
bekuͤmmern. Denn der Kerl hat ſie lieb.


N 2(Auf
[196]

(Auf die Weiſe bin ich dem argliſtigen Men-
ſchen noch einen Danck ſchuldig. Jch hoͤrete vol-
ler Verwunderung zu; und er fuhr in ſeiner Er-
zaͤhlung fort:)


Was den letzten Umſtand anbetrift, der ihnen
ſo uͤble Gedancken von mir beygebracht hat, ſo be-
kenne ich ihnen frey, daß ich zum voraus befuͤrch-
tete, ſie moͤchten ihr Wort zuruͤck nehmen, und
nicht mit mir davon gehen wollen. Weil ich nun
entſchloſſen war, alle moͤgliche Mittel und Ueberre-
dungen anzuwenden, und glaubte, daß mir dieſes
Zeit koſten wuͤrde, ſo hatte ich ihm aufgetragen,
andere abzuhalten, die uns verſtoͤren koͤnnten,
und ſich nicht all zu weit von der Garten-Thuͤr zu
entfernen. ‒ ‒


Hier fiel ich ihm in die Rede, und fragte: al-
lein wie konnten ſie befuͤrchten, daß ich mein Wort
zuruͤck nehmen moͤchte? Jch hatte zwar einen Brief
fuͤr ſie hingelegt, indem dieſes geſchahe, allein ſie
hatten den Brief nicht bekommen. Da ich mir
vorbehalten hatte, daß ich mein Wort zuruͤckneh-
men duͤrfte, ſo konnten ſie nicht wiſſen, ob ich
nicht bey meinen Freunden etwas ausrichten, und
aus hinlaͤnglichen Urſachen mich anders entſchlieſſen
koͤnnte.


Jch will (antwortete er) ſehr aufrichtig zu Wer-
cke gehen. Sie hatten mir die Hoffnung gemacht,
daß ſie mir muͤndlich die Urſachen ſagen wollten,
wenn ſie ſich anders entſchlieſſen muͤßten. Jch ging
an den gewoͤhnlichen Ort, und ich ſahe den Brief
liegen. Jch wußte, daß ihre Freunde unbeweg-
lich
[197]
lich waren. Jndeſſen zweifelte ich doch faſt nicht
daß ſie in dem Briefe ihren Entſchluß aͤnderten
oder aufſchoͤben, und daß ſie mich nicht ſprechen
wolten, ſondern an deſſen Stat geſchrieben haͤtten.
Jch ließ deswegen den Brief liegen, damit ich ſie
zum wenigſten noͤthigen moͤchte, mich ihrer Zuſage
gemaͤß ſelbſt zu ſprechen. Weil ich mich auf alle
moͤgliche Faͤlle geſchickt hatte, ſo war dieſes mein
Vorſatz, ſie nicht zuruͤckgehen zu laſſen, (vergeben
ſie mir, was ich jetzt ſage) ſie moͤchten wollen oder
nicht. Wenn ich ihren Brief weggenommen haͤt-
te, ſo haͤtte ich mich zum wenigſten fuͤr das erſte
mit dem Jnhalt deſſelben befriedigen muͤſſen. Al-
lein da ich den Brief nicht empfangen hatte, und
ſie verſichert waren, daß es mir nicht an Muth feh-
lete, bey ſo mißlichen Umſtaͤnden ihren Anverwan-
ten meine Aufwartung zu machen, ſo verließ ich
mich darauf, daß ſie mich nach ihrer Zuſage ſpre-
chen wuͤrden.


Boshafter Menſch, (ſagte ich) es thut mir
leyd, daß ich ihnen ſo viel Gelegenheit gegeben ha-
be, ſich meine Schwaͤche zu Nutze zu machen,
und ihre Mittel ſo genau nach ihrem Endzweck
abzuzirckeln. Allein wuͤrden ſie es denn in der
That gewaget haben, in unſer Haus zu kommen,
wenn ich ausgeblieben waͤre?


Ja! das haͤtte ich gewiß gewaget. Einige
meiner guten Freunde wuͤrden mich begleitet haben.
Wenn ihre Anverwanten ſich geweigert haͤtten, mich
vor ſich zu laſſen, ſo wuͤrde ich mit meinen Freun-
den zu Solmeſen gegangen ſeyn.


N 3Was
[198]

Was wollten ſie denn bey Solmeſen ma-
chen?


Jch haͤtte ihm nicht den geringſten Schaden
zufuͤgen wollen, wenn er ſich leidentlich verhalten
haͤtte.


Wie aber, wenn er ſich nicht leidentlich (wie ſie
es nennen) verhalten haͤtte? was wuͤrden ſie denn
angefangen haben?


Er ſagte: das moͤchte er mir nicht gern deut-
lich machen. Allein an ſeinem Leibe haͤtte ihm
kein Schade zugefuͤget werden ſollen.


Jch wiederhohlte meine Frage.


Er antwortete: wenn er es ja ſagen ſollte, ſo
haͤtte er den Baͤrenheuter auf ein paar Monathe
uͤber die Seite bringen wollen: es moͤchte auch dar-
aus erfolget ſeyn, was nur wollte.


Wer hat je von ſolcher Bosheit gehoͤrt, mein
Schatz? Jch konnte mich nicht halten, daß mir
nicht ein tiefer Seuſzer entfahren waͤre: bat ihn
aber dabey, er moͤchte in der Erzaͤhlung fortfahren,
die ich unterbrochen haͤtte. Er that dieſes, und
ſagte: ich befahl dem Lehmann, daß er ſich nicht
allzuweit von der Garten-Thuͤr entfernen ſollte.
Wenn er merckte, daß wir mit einander in einigen
Wortwechſel geriethen, und es kaͤme eine uns ge-
faͤhrliche Perſon in die Naͤhe, ehe ſie unentdeckt zu-
ruͤck kommen koͤnnten, ſo ſollte er laut ſchreyen, um
ſich zu retten, mich zu warnen, und zugleich ſie,
meine liebe Fraͤulein, (wie ich gern geſtehe) zu be-
wegen, daß ſie nach ihrer Zuſage mit mir fliehen
moͤchten. Wenn ſie alle Umſtaͤnde, und inſon-
derheit
[199]
derheit meine Gefahr, ſie auf ewig zu verlieren
in Erwegung ziehen, ſo hoffe ich, daß ſie mi [...]
wegen dieſer Liſt ſo wenig, als wegen meines Vor-
habens gegen den Solmes haſſen werden. Denn
was fuͤr ein elender Kerl mußte ich feyn, wenn uns
jemand entdeckt haͤtte, und ich haͤtte ſie der Tyran-
ney ihres Bruders und anderer, deren Barmher-
tzigkeit Grauſamkeit war, ehe ſie noch dieſen Vor-
wand hatten, uͤberlaſſen?


Wie boshaft! (ſagte ich) allein wenn ich ihre
Erzaͤhlung fuͤr lauter Wahrheit annehmen, und
glauben will, daß jemand in den Garten gekom-
men iſt, ſo moͤchte ich wiſſen, wie es zuging, daß
niemand aus der Thuͤr heraus kam, als der Jo-
ſeph Lehmann,) denn dieſen meine ich erkannt zu
haben) und daß er uns bloß in der Ferne nachſahe?


Es iſt mein Gluͤck, daß ‒ ‒ (ſagte er, und
grif in eine Taſche nach der andern) Jch will nicht
hoffen, daß ich den Brief weggeſchmiſſen habe.
Vielleicht ſteckt er in dem Rock, den ich geſtern
anhatte. Jch habe nie gedacht, daß an dem
Briefe etwas gelegen ſeyn koͤnnte: allein ich mag
gern alles erweiſen und belegen, wenn ich kann.
Unordentlich und unbedachtſam bin ich: aber ein
aufrichtigeres Hertz als ich kann niemand gegen
ſie haben.


Er rief darauf ſeinen Diener, und ließ den Rock
bringen, den er geſtern angehabt hatte. Jn deſſen
Taſche fand er einen uͤbelverwahrten Brief von Jo-
ſeph Lehmann, welchen er denſelben Montag Abends
geſchrieben hatte: des Jnhalts: „er baͤte um
N 4Ver-
[200]
„Verzeyhung, daß er zu fruͤh Lerm gemacht haͤtte.
„Er haͤtte immer in Sorgen geſtanden, entdeckt
„zu werden: daher haͤtte er ſich geirret, und da
„ſein kleiner Hund unter der Hecke durch gekro-
„chen waͤre, ſich aus dem bloßen Schall eingebil-
„det, Eliſabeth oder ſonſt jemand moͤchte kom-
„men. Als er ſeinen Jrrthum gemerckt haͤtte,
„ſo haͤtte er die Thuͤr aufgeſchloſſen, (mein liſtiger
„Verfuͤhrer geſtehet, daß er ihm den Schluͤſſel
„verſchaffet hat) und waͤre in der Eyle hinausge-
„laufen, um ihm Nachricht zu geben, daß er aus
„unzeitiger Furcht Lerm gemacht haͤtte. Als er
„aber zuruͤck gekommen waͤre, haͤtten die Meini-
„gen mich ſchon geſuchet.


Jch ſchuͤttelte den Kopf, und ſagte: liſtig, li-
ſtig, liſtig genug: wenn ich es nicht ſchlimmer aus-
druͤcken will. O Herr Lovelace, Gott bekehre
ſie und gebe ihnen ein beſſeres Hertz. Aus ihrer
eigenen Erzaͤhlung ſehe ich, daß ſie voll von An-
ſchlaͤgen ſind, und ſehr von Ferne auf ihre Abſich-
ten zielen.


Die Liebe (antwortete er) iſt reich an Erfindun-
gen. Nacht und Tag habe ich mir meine dumme
Stirn gerieben, (gewiß nicht dumm, dachte ich:
es wuͤrde fuͤr mich beſſer ſeyn, wenn etwas weni-
ger Witz dahinter ſteckte) um ein Mittel ausfindig
zu machen, dadurch ich ihre ungluͤckliche Aufopfe-
rung an den Solmes und deren ſchlimme Folgen
verhuͤten koͤnnte. Jch wußte, daß ich ſo wenig An-
theil an ihrem Hertzen haͤtte, und daß die Jhrigen
einen ſo unverdienten Haß auf mich warffen: ich
ſahe
[201]
ſahe die Gefahr, die aͤuſſerſte Gefahr vor Augen,
ſie auf ewig zu verlieren. Die letzten vierzehn Ta-
ge vor dem Montage habe ich keine Nacht eine
halbe Stunde an einander fchlafen koͤnnen. Jch
geſtehe es ihnen, ich wuͤrde mir es in Ewigkeit nicht
vergeben haben, wenn ich unterlaſſen haͤtte die noͤ-
thigen Anſtalten zu machen, damit ſie nicht ohne
mich zuruͤckkehren moͤchten.


Jch bedauerte auf das neue, daß ich zu der ge-
ſetzten Zeit erſchienen waͤre: und mit Recht bedau-
erte ich es, da es ſo nahe dabey war, daß ich ihn
nicht geſprochen haͤtte. Jn ſolchem Falle wuͤrde
alles ſein Nacht-wachen, alle ſeine in vierzehen Tage
ausgedachte Liſt vergeblich geweſen ſeyn, und ich
waͤre doch vielleicht von Solmeſen befreyet wor-
den.


Allein was fuͤr Ungluͤck wuͤrde erfolget ſeyn, wenn
er ſeinem Vorſatz zu Folge mit ſeinen Freunden nach
Harlowe-Burg gekommen, und daſelbſt be-
ſchimpft waͤre? Denn dieſes wuͤrde gewiß nicht un-
terblieben ſeyn.


Dencken Sie aber einmahl, was das fuͤr ein
verruchter Menſch iſt, der Solmeſen auf ein paar
Monathe mit ſich fortſchleppen wollte! Was fuͤr
ein Boͤſewicht hat mich an jenes Stelle fortge-
ſchleppet.


Jch fragte ihn: ob er denn glaubte, daß ſolche
Thaten, ſolche offenbare Verachtung aller Geſetze
haͤtten koͤnnen ungeſtraft bleiben?


Er antwortete mit der ihm eigenen freymuͤthigen
Munterkeit: er wuͤrde hiedurch die Anſchlaͤge ſeiner
N 5Feinde
[202]
Feinde vernichtet und mich gerettet haben. Er
haͤtte ſonſt gar nicht Luſt, das aͤuſſerſte zu wagen:
dem Solmes haͤtte auch weiter kein Haar gekruͤm-
met werden ſollen. Er wuͤrde haben muͤſſen ſein
Vater-Land meiden, zum wenigſten wuͤrde dieſes
auf eine Zeit noͤthig geweſen ſeyn. Wenn das ge-
ſchehen waͤre, ſo waͤre alle meine Hoffnung auf mich
zum Ende geweſen: allein er haͤtte wollen einen
Reiſe-Gefaͤhrten aus unſerer Familie mitnehmen,
von dem ich es am wenigſten vermuthete.


Was fuͤr ein Menſch. Es war gewiß mein Bru-
der, den er meinete.


Und das (erwiederte ich) iſt der Gebrauch, den
ſie von den erkauften Nachrichten aus unſerm Hau-
ſe zu machen gedachten?


Erkaufte Nachrichten? (ſagte er) Meine liebe
Fraͤulein, der Kerl iſt bis auf dieſen Tag eben ſo
wohl ihres Bruders Spion, als meiner. Aus
meiner aufrichtigen Erzaͤhlung koͤnnen ſie ſehen,
wer ihn zuerſt erkauft hat. Jch habe manche et-
was freye Handlung nach dem Recht der Wieder-
vergeltung unternommen, die ich mich geſcheuet
haben wuͤrde zuerſt zu unternehmen.


Jch habe hiebey nichts weiter zu ſagen, Herr
Lovelace, als dieſes. Da der zweyzuͤngige Be-
truͤger bisher die Urſache manches Ungluͤcks gewe-
ſen iſt, und noch iſt, weil er ſeine garſtigen Strei-
che noch jetzt fortſetzt, wie ſie ſelbſt geſtehen; ſo iſt
es meine Schuldigkeit, daß ich meinen Freunden
Nachricht gebe, was ſie fuͤr eine Schlange in dem
Buſen hegen.


Wie
[203]

Wie es ihnen beliebet, Fraͤulein! Sein Amt
von meiner und von ihres Bruders Seite laͤuft
jetzt zum Ende. Er hat keinen Schaden davon
gehabt. Er gedenckt auch nicht lange mehr in dem
Dienſt zu bleiben, ſondern will einen Kauf wegen
eines Wirths-Hauſes ſchließen, davon er zu leben
haben wird. Jch kann ihnen auch ſagen, daß er
ſich auf meinen Rath mit der Eliſabeth eingelaſ-
ſen hat. So bald er ſich geſetzt hat, werden ſich
die beyden Leute heyrathen. Eine Gaſt-Wirthin
iſt gemeiniglich gegen die Gaͤſte guͤtig: und ich ha-
be ſchon die Mittel ausgeſonnen, ſie ſo fuͤr ihre uͤble
Auffuͤhrung gegen ſie zu ſtrafen, daß es ſie ihr Le-
be-Tage gereuen ſoll, daß ſie ihnen nicht beſſer be-
gegnet iſt.


Was vor abſcheuliche Anſchlaͤge haben ſie im
Kopfe? Wer wird ſie denn fuͤr ihre Uebelthaten
ſtrafen, die groͤſſer ſind, als alles was Eliſabeth
boͤſes gethan hat? Jch vergebe der Eliſabeth al-
les von Hertzen. Sie war nicht in meinen Dien-
ſten: und vermuthlich iſt ſie in allem was ſie that,
derjenigen, die ihr zu befehlen hatte, gehorſamer
geweſen, als ich meinen Vorgeſetzten, denen ich
noch viel mehreren Gehorſam ſchuldig war.


Daran liegt nichts, antwortete er. (Jch glau-
be faſt, er ſucht mir eine Furcht vor ſich beyzubrin-
gen.) Der Ausſpruch iſt einmahl geſchehen. Eli-
ſabeth
muß buͤſſen: buͤſſen muß ſie, und noch da-
zu ſelbſt durch eigene Wahl ihre Strafe veranſtal-
ten. Jch habe mein Vergnuͤgen daran, wenn boͤ-
ſe Leute ſich ſelbſt ſtrafen. Ja, meine liebe Fraͤu-
lein,
[204]
lein, wenn ſie glauben, daß Joſeph auch eine
Strafe verdienet, (vergeben ſie was ich zu ſagen
habe) ſo iſt mein Vorſchlag auf ihn mit gerichtet.
Die Frau kann ſelten ungluͤcklich ſeyn, ohne daß
auch der Mann ungluͤcklich werde.


Jch konnte laͤnger nicht mit Geduld zuhoͤren.
Jch ſagte ihm dieſes, und ſetzte hinzu: ich ſehe,
in weſſen Haͤnden ich bin. Was meine Ohren hoͤ-
ren, das warnet mich vor der Schlange. Jch ging
weg, und ließ ihn in einer mercklichen Verwirrung
allein.



Der ein und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.


Die deutlichen Wahrheiten, die ich ihm bey un-
ſerer abermahligen Zuſammenkunft in das
Geſicht geſagt habe, und das Misvergnuͤgen uͤber
ſeine Auffuͤhrung, Reden und Anſchlaͤge, das ich
habe blicken laſſen, haben ihn genoͤthiget ein wenig
in ſich zu gehen. Er giebt vor, ſeine Drohungen
gegen meinen Bruder und Solmes waͤren ein
bloſſer Spaaß geweſen. Er haͤtte zu viel in ſeinem
Vater-Lande zu verlieren, als daß er Dinge un-
ternehmen ſollte, die ihn auf ewig aus ſeinem Va-
terlande treiben koͤnnten. Er waͤre damit zufrie-
den geweſen, daß Joſeph Lehmann aufgeſchnitten
und eine Menge Unwarheiten von ihm geſagt haͤtte,
um
[205]
um ſich einigen Leuten fuͤrchterlich zu machen, und
Ungluͤck zu vermeiden. Er ſey oft darin ungluͤck-
lich geweſen, daß er einige geſchwinde Einfaͤlle gleich
heraus geſagt haͤtte: es wuͤrde ihm vieles nachge-
redet, das er nie geſagt, und noch mehreres, das
er nie gethan haͤtte. Manches gebe man ihm als
eine That ſchuld, davon er nur (wie eben jetzt) ge-
redet, und in einer Viertheil-Stunde nichts mehr
davon gewußt haͤtte.


Es kann etwas hievon wahr ſeyn. Ein ſo
junger Menſch kann nicht vollkommen ſo gottlos
ſeyn, als man ihn abzumahlen pflegt. Allein was
muß man nicht von einem ſolchen Mann gewaͤrtig
ſeyn, der der Anfuͤhrer einer ſolchen Bande von drei-
ſten und bemittelten jungen Herren iſt, und derglei-
chen Dinge auszufuͤhren im Stande iſt, als ich ſchon
leyder erfahren habe?


Eine ſeiner Entſchuldigungen war, daß er ſich
nicht darum bekuͤmmere, was andere Leute von
ihm daͤchten. Gewiß eine ſchlechte Entſchuldigung!
Was fuͤr Zutrauen kann ein Frauenzimmer zu ei-
nem Manne haben, der nichts auf ſeine Ehre haͤlt?
Dieſe muntern Koͤpfe koͤnnen uns wol einmahl eine
vergnuͤgte Stunde machen: allein der, mit dem
man wuͤnſchen kann ſeine Lebens-Zeit zuzubrin-
gen, muß ein redliches und tugendhaftes Hertz ha-
ben. Welche Frauens Perſon, die es aͤndern kann,
wird es auf die bloße Hoͤflichkeit eines ſolchen Man-
nes, der allen Pflichten der Sitten-Lehre Trotz bie-
tet, ankommen laſſen, ober ſeine Pflicht gegen ſie er-
fuͤllen, und ihr nicht gar zu uͤbel begegnen wolle?


Was
[206]

Was iſt es fuͤr ein Ungluͤck, ſolche Gedancken von
einem Manne zu haben, und ſich dennoch in ſeiner
Gewalt zu befinden? Wollte GOtt ‒ ‒ ‒ doch die
Wuͤnſche ſind zu ſpaͤte und unnuͤtz. Wohin kann ich
mich jetzt wenden, wenn ich von ihm fliehen wollte?



Der zwey und zwantzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.



Von einer ſolchen Heerde thoͤrichter Leute, als die
Harlowes ſind, habe ich mein Lebelang
nicht gehoͤrt. Die Fraͤulein muß uͤberwunden
werden, wenn auch jedes Haar ihres Hauptes ein
Schutz-Engel waͤre; ſie muͤßten denn ſichtbar er-
ſcheinen, um ſie aus meinen Haͤnden zu entreiſſen
und unter die Sterne zu verſetzen.


Alles was ich befuͤrchtete, war, daß eine Toch-
ter, die wider ihren Willen zu fliehen gezwungen
war, ihren Eltern Bedingungen antragen und auf
dieſe Bedingungungen wieder angenommen werden
wuͤrde, daß man ihr nehmlich Solmeſen nicht auf-
dringen, und daß ſie mir entſagen wollte. Jch ſuchte
alſo alle moͤgliche Mittel anzuwenden, die zweyte
Bedingung zu hintertreiben. Allein es ſcheint, daß
die Harlowes ihrer Arbeit die Crone aufſetzen
wollen.


Was vor tumme Geſchoͤpfe giebt es nicht in der
Welt! Der junge Harlowe mag ein liſtiger Hund
ſeyn. Konnte er nicht dencken, daß ein Kerl, der
ſich
[207]
ſich von ihm beſtechen laͤßt, etwas niedertraͤchtiges
vorzunehmen, ſich von dem mehrbietenden aber-
mahls werde beſtechen laſſen, ihm einen eben ſo nie-
dertraͤchtigen Streich zu ſpielen: ſonderlich, wenn
er dabey Gelegenheit haͤtte, beyde zu Freunden zu be-
halten? Hoͤre Bruder, nicht die Haͤlfte von mei-
nen Streichen wird dein Kopf errathen koͤnnen.


Hier erzaͤhlt er die gantze zwiſchen der Fraͤulein und ihm
vorgefallene Unterredung wegen des Joſeph Lehmanns, eben
ſo als ſie in dem zwantzigſten Briefe befindlich iſt.


Was fuͤr eine Geſchicklichkeit hat dein Freund zu
recht ruhmwuͤrdigen Uebelthaten! Wie nahe bleibt
alles dieſes bey der Wahrheit! Die eintzige Abwei-
chung von der Wahrheit iſt, daß ich vorgab, Leh-
mann
habe aus Verſehen Lerm gemacht, da ich es
ihm doch zum voraus befohlen hatte. Wenn ſie
die gantze Wahrheit wuͤßte, ſo wuͤrde ſie es mir
nach ihrem Hochmuth nicht vergeben koͤnnen, daß
ich ſie ſo uͤberliſtiget habe.


Wenn ich ein Soldat geworden waͤre, ſo haͤtte
ich das Schieß-Pulver unnuͤtz gemacht. Denn ich
wuͤrde alle meine Feinde durch Liſt geſchlagen, und
ihre eigenen Kuͤnſte zu ihrem Verderben angewandt
haben.


Aber o GOtt, was ſind das vor Vaͤter und
Muͤtter! der Himmel gebe ihnen die edle Gabe des
Verſtandes! Wenn ihre Natur nicht beſſer waͤre,
als ihr Verſtand, und wenn die geſchaͤftige Goͤttin
die Bona Dea ihnen ihre Huͤlfe zur Fruchtbarkeit ſo
lange verſagete, bis ſie im Stande waͤren Kinder
zu erziehen: o wie wenige Leute wuͤrden denn Kin-
der haben?


Jacob
[208]

Jacob und Arabella moͤgen vielleicht ihre gu-
ten Urſachen haben. Allein was hat den Vater
bewogen, ſo zu handeln als er gehandelt hat? Was
die Mutter? die Baſe? die Onckles? Wer kann
mit ſolchen unverſtaͤndigen Halb-Menſchen Mitley-
den haben?


Meine Schoͤne wird bald hoͤren, wie weit ihre
thoͤrichte Rache gegen ſie gehet: alsdenn wird ſie
hoffentlich ein mehreres Zutrauen zu mir faſſen.
Denn will ich mercken laſſen, daß ich eiferſuͤchtig
bin, wenn mir ihre Liebe nicht den gewuͤnſchten Vor-
zug vor allen andern in der Welt giebt: denn ſoll
ſie mir bekennen, daß ſie Liebe und Danckbarkeit
gegen mich fuͤhlet: denn will ich ſie kuͤſſen, ſo oft
ich Luſt habe, und nicht mehr als ein hungriger Hund
ſtehen, der einen Biſſen vor ſich ſiehet, und ob ihm
gleich der Schaum von dem Munde flieſſet, ſich doch
nicht unterſtehen darf, darnach zu ſchnappen.


Von Natur bin ich ein bloͤder Hund. Jch bin
noch bloͤde, wenn ich dieſes Frauenzimmer vor mir
habe. Bloͤde bin ich, und ich kenne doch das an-
dere Geſchlecht von auſſen und von innen. Allein
meine Bloͤdigkeit hat mir eben dieſe Bekanntſchaft
erworben. Denn, Bruder, bey einer genauen Pruͤ-
fung meiner ſelbſt, dabey ich eine Vergleichung zwi-
ſchen mir und jenem Geſchlecht angeſtellet habe,
habe ich gefunden, daß eine bloͤde Manns-Perſon
etwas von einer weiblichen Seele hat, und daher
eben ſo geſchickt iſt, die Abſichten und Gedancken
der Schoͤnen zu errathen, als die Schoͤnen ſelbſt.


Die
[209]

Die wahren Junggeſellen, und ich, wir ſind
einander ziemlich gleich. Der gantze Unterſcheid
beſtehet darin: ich thue das, was ſie dencken.
Allein die, die man liederlich nennt, uͤbertreffen uns
im dencken und thun ohngefaͤhr eines Weber-
baums lang.


Jch muß meinen Satz erweiſen: hoͤre groß-guͤn-
ſtig zu. Wir luſtigen Bruͤder lieben Zucht und Ehr-
barkeit an dem Frauenzimmer: hingegen das ſo ge-
nannte tugendhafte Frauenzimmer, oder, mit ei-
gentlichen Worten zu reden, die liſtigſten, pflegen
eine unverſchaͤmte und dreiſte Manns-Perſon an-
dern vorzuziehen. Was kann die Urſache dieſer Zu-
neigung ſeyn, als eine Gleichheit zwiſchen denen,
die ſich einander lieben? Dieſes zwang jenen Dich-
ter, zu ſagen:


Wenn ſchoͤne Kinder auch die Augen nie-

derſchlagen,

So ſchlaͤgt ihr loſes Hertz doch nur von

Schelmerey.

Sie moͤgen ſich bemuͤhen, durch ihre Handlungen
das Gegentheil zu beweiſen.


Jch habe, ich weiß nicht wo, in einem Sitten-
Lehrer geleſen, alle Bosheit ſey geringe gegen
der Weiber Bosheit.
(*) Kenneſt du den Kloß
nicht, der das geſchrieben hat? War es etwa So-
crates?
der Hencker hohle! der hatte ja eine Frau!
Oder Salomon? Koͤnig Salomon? Du erin-
Dritter Theil. Onerſt
[210]
nerſt dich doch, daß du etwas von einem ſolchen Koͤ-
nige gehoͤrt haſt. Salomon! den Nahmen lernte
ich als ein Kind: (denn meine Mutter war entſetz-
lich fromm) ich mußte den Nahmen immer auf
die Frage antworten: wer iſt der weiſeſte
Mann geweſen?
Allein meine guͤtige Lehrerin be-
muͤhete mich nie mit der Frage: woher er den Theil
ſeiner Weisheit, den ihm der heilige Geiſt nicht ein-
gab, gelernt haͤtte?


O Bruder, wir ſind noch nicht allzu gottlos.
Halbe Pietiſten! Laß uns nur nicht ſchlimmer wer-
den, als wir ſind!


Hier folget eine Erzaͤhlung deſſen, was er von ſeinem Vorha-
ben, den jungen Harlowe, und Solmes abzuhohlen, und die
Eliſabeth Barnes zu ſtrafen, geredet hat.



Der drey und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jetzt eben habe ich eine nicht unangenehme
Stunde mit Herrn Lovelace gehabt: ich
will Jhnen alles genau melden, was zwiſchen uns
vorgefallen iſt.


Er ſagte mir: er habe jetzt eben Nachricht bekom-
men, daß meine Anverwanten nicht mehr geſonnen
waͤren, mir nachzuſetzen, oder ſich zu bemuͤhen, daß
ſie mich zuruͤck bekommen moͤchten. Er wartete
deshalb auf meinen Befehl, was er thun ſollte?


Jch antwortete: er moͤchte ſich ſogleich von mir
entfernen. So bald es kund wuͤrde, daß ich mit
ihm
[211]
ihm in keiner Verbindung ſtuͤnde, ſo wuͤrde jeder-
mann glauben, daß ich meines Vaters Haus in
keiner andern Abſicht verlaſſen haͤtte, als damit ich
meinem groben Bruder entgehen moͤchte. Es waͤ-
re dieſes ein gerechter Vorwand, der ſowohl zu mei-
ner als zu meines Vaters Entſchuldigung gereichen
wuͤrde.


Er antwortete gantz gelaſſen: wenn er nur gewiß
wuͤßte, daß die Meinigen bey ihrem guten Vorſatz
bleiben wollten, ſo haͤtte er nichts gegen dieſen Be-
fehl einzuwenden, weil es mein Befehl waͤre. Al-
lein er wuͤßte auch dieſes, daß ſie ihren Entſchluß
nur aus Furcht gefaſſet haͤtten. Denn da mein
Bruder mit lauter Rache ſchwanger ginge, ſo be-
fuͤrchteten ſie, daß eine jede andere Entſchlieſſung fuͤr
ihn ungluͤcklich ſeyn koͤnnte. Man muͤſſe daher be-
fuͤrchten, daß ſie ſich umſetzten, ſo bald es ohne Ge-
fahr geſchehen koͤnnte. Dieſe Gefahr ſey allzu groß,
als daß er ihr nicht vorbeugen ſollte. Es wuͤrde
mir ſelbſt einige Gedancken verurſachen, wenn
er anders geſinnet waͤre. Er haͤtte es aber doch
mir ſagen, und meine Befehle erwarten wollen,
ſo bald er erfahren haͤtte, daß die Meinigen dieſes
vorgaͤben.


Jch wuͤnſchte zu erfahren, ob er eine beſondere
Abſicht dabey haͤtte, und bat ihn, mir ſeinen Rath
zu geben.


Er antwortete: den koͤnnte er leicht geben, wenn
er ſich unterſtehen duͤrfte zu reden, und ich nicht
ungehalten werden wollte: wenn ich es nicht als
einen Bruch ſeines Verſprechens auslegen wollte.


O 2So
[212]

So ſagen ſie denn, was ſie auf dem Hertzen ha-
ben. Jch kann es ja billigen oder abſchlagen, wie
ich es noͤthig finde.


Jch muß erſt mehr Muth haben, das zu ſagen,
was ich auf dem Hertzen habe. (Dencken Sie ein-
mahl, Herr Lovelace muß mehr Muth haben!)
Jch will unterdeſſen den Vorſchlag thun, der ihnen
vielleicht angenehm ſeyn moͤchte. Wie? wenn ſie
nach der Lady Eliſabeth reiſeten, und einen Um-
weg durch Windſor naͤhmen.


Warum denn durch Windſor?


Es iſt ein angenehmer Ort! Es liegt nicht allzu
weit von Berck, von Oxford, von London! Es
liegt nahe bey den Guͤtern der Lady Eliſabeth.
Dieſe hat ihre Guͤter nahe bey Oxford, und der
Lord M. haͤlt ſich in der Grafſchaft Berck auf. So
bald ſie belieben, koͤnnen ſie nach London reiſen:
oder ich kann mich dahin begeben, wenn ſie zu
Windſor bleiben wollen. Wir ſind alsdenn auf
allen Fall doch nicht gar zu weit von einander, wenn
die Jhrigen von neuen Krieg im Sinne haben
ſollten.


Dieſer Vorſchlag gefiel mir: allein (ſagte ich)
mein eintziger Zweiffel ſey dieſer, daß ich mich gar
zu weit von der Fraͤulein Howe entfernen wuͤrde.
Jch wuͤnſchte ſo nahe bey Jhnen zu ſeyn, daß ein
Bote den Weg in 2. oder 3. Stunden endigen
koͤnnte.


Er antwortete, wenn ich einen beſſern Ort
wuͤßte, als Windſor, oder der naͤher bey der Fraͤu
lein Howe waͤre, ſo kaͤme es blos auf meinen Be
feh
[213]
fehl an. Er wollte ſich bemuͤhen, mir alle Be-
quemlichkeit zu verſchaffen. Jndeſſen moͤchte ich
waͤhlen, welchen Ort ich wollte, in der Naͤhe oder
in der Ferne: ſo haͤtte er Bedienten, und dieſe
ſollten nichts zu thun haben, als was ich ihnen be-
fehlen wuͤrde.


Hierauf folgete ein angenehmes Erbieten. So
bald ich einen gewiſſen Ort erwaͤhlet haͤtte, wollte
er ſich nach meiner Hannichen erkundigen und ſie
hohlen laſſen, wenn es mir nicht beliebig waͤre, eine
von den beyden Jungfern Sorlings zur Aufwar-
tung zu nehmen, von denen ich geſagt hatte, daß
ſie artige und dienſtfertige Maͤdchens waͤren. Er
ſey verſichert, daß ich ihnen ihre Dienſte ſo belohnen
wuͤrde, daß ſie keinen Schaden davon haͤtten.


Jch glaube, daß er an meinem Geſicht hat ſehen
koͤnnen, wie angenehm mir der Antrag wegen mei-
ner Hannichen war. Jch antwortete: ich haͤtte
ſchon darauf gedacht, ſie hohlen zu laſſen, ſo bald
ich in einer bequemen Miethe waͤre. Es wuͤrde
Schade ſeyn, eine von den beyden Sorlings zu
nehmen, und der uͤbrigen Familie zu rauben, weil
keine in dem Hauſe entbehret werden koͤnnte. Jch
merckte mit Vergnuͤgen, wie eine jede ihre eigene
und nuͤtzliche Arbeit haͤtte: und die Leute gefielen mir
ſo wohl daß ich Luſt haͤtte laͤnger hier zu bleiben,
wenn er mich nur verlaſſen wollte. Hiedurch wuͤrde
ich zugleich mehr Raum bekommen.


Er ſagte: es waͤre unnoͤthig, daß er mir noch-
mahls ſagte, was er gegen dieſen Aufenthalt einzu-
wenden haͤtte. Wenn ich aber nach Windſor,
O 3oder
[214]
oder an einen andern Ort reiſen wollte, und alsdenn
verlangte, daß er mich verlaſſen ſollte, ſo wuͤrde ich
nichts befehlen koͤnnen, was entweder um der Rede
der Leute willen, oder auch wegen meiner Furcht-
ſamkeit noͤthig waͤre, das er nicht mit Freuden er-
fuͤllen wollte. Weil er auch ſehe, daß ich mit
Schreiben beſchaͤftiget waͤre, ſo wollte er gleich ſein
Pferd ſatteln laſſen und ausreiten.


Haben ſie aber einige Bekantſchaft zu Wind-
ſor?
Wiſſen ſie einige bequeme Miethen?


Den nahe gelegenen Wald ausgenommen, in
dem ich bisweilen gejaget habe, iſt Windſor die
eintzige beruͤhmte und artige Stadt in England,
davon ich bey nahe gar nichts weiß. Jch habe
nicht einen eintzigen Bekannten daſelbſt.


Jch antwortete: ſein Vorſchlag wegen Wind-
ſor
gefiele mir ziemlich wohl: ich wollte dahin zie-
hen, wann ich nur eine Wohnung fuͤr mich, und
eine Stube oben im Hauſe fuͤr meine Hannichen
bekommen koͤnnte. Denn er koͤnnte ſich leicht vor-
ſtellen, daß ich mit wenigem haushalten muͤßte, und
ich wuͤrde ſehr ungern Wohlthaten von andern an-
nehmen. Je eher ich nach Windſor reiſen koͤnnte,
deſto lieber ſollte es mir ſeyn; weil dadurch aller Vor-
wand wegfiele, den er jetzt haͤtte, um mich zu ſeyn,
und er ſich nach London, nach der Grafſchaft
Berck, oder wohin er ſonſt Luſt haͤtte, wenden koͤnn-
te. Dieſes wuͤrde in den Augen der Welt der beſte
Beweiß ſeyn, daß ich in keiner Art der Verpflich-
tung ſtehe.


Er
[215]

Er erbot ſich abermahls auf eine ſehr hoͤfliche
Weiſe, mir mit Gelde zu dienen: allein ich verbat
es eben ſo hoͤflich.


Dieſe Unterredung ſollte lauter angenehmes fuͤr
mich haben. Er fragte mich, ob ich in dem Be-
zirck der Stadt Windſor oder auſſer der Stadt
wohnen wollte?


So nahe bey dem Schloſſe, als moͤglich: (ſagte
ich) damit ich mich des oͤffentlichen Gottes-Dien-
ſtes deſto beſſer bedienen kann; einer Wohlthat,
der ich ſo lange habe entbehren muͤſſen.


Er antwortete mir: es wuͤrde ihm am liebſten
ſeyn, wenn er mich bey einem von den Dom-Her-
ren einmiethen koͤnnte; weil er glaubte, daß ich ſelbſt
eine ſolche Wohnung aus mehreren Urſachen vor-
ziehen wuͤrde. Er wuͤrde vergnuͤgt und ruhig ſeyn,
weil er ſich durch mein Verſprechen genugſam ge-
ſichet halte, daß ich keinen andern als ihn nehmen
wuͤrde, ſo lange er die Bedingung hielte, die er mit
ſo vielem Vergnuͤgen eingegangen haͤtte. Es liege
ihm ſelbſt nur ob, ſich auf die eintzige moͤgliche
Weiſe um meine Werthachtung und um mein Hertz
zu bewerben. Er ſetzte mit einem ernſthaften Ge-
ſichte hinzu: meine liebe Fraͤulein, ich bin zwar noch
jung, allein ich habe eine lange Bahn des Unrechts
zuruͤckgeleget. Jch hoffe nicht, daß mich ihr tu-
gendhaftes Hertz um dieſes Geſtaͤndniſſes willen ver-
achten wird. Es iſt jetzt fuͤr mich die hoͤchſte Zeit,
an eine Beſſerung zu gedencken, nachdem ich ſchon
mit Salomon ſagen kann, daß mir nichts unter
der Sonnen neu iſt. Allein ich glaube, daß die
O 4Tugend
[216]
Tugend ein immer neues und unverwelckliches Ver-
gnuͤgen geben kann.


Jch gerieth uͤber ſeinen Reden in eine angenehme
Verwunderung. Jch ſahe ihn mit einem ſolchen
Blicke an, als wenn ich meinen Augen und Ohren
kaum trauete. Allein ſein gantzes Geſicht bekraͤftig-
te ſeine Rede.


Jch druͤckte das Vergnuͤgen, das ich empfand,
in ſolchen Worten aus, daß er ſagte: er fuͤhle eine
gantz neue Art von Freude in ſeinem Gemuͤth, weil
es ſchiene, daß ſein ungluͤcklicher Tag ſo bald anbre-
chen wollte, und weil ich etwas billigte, das er ge-
ſagt haͤtte. Das groͤſſeſte Gluͤck, daß er je bey ei-
nem Frauenzimmer genoſſen, habe ihn noch nie-
mahls ſo auſſer ſich geſetzt.


Gewiß, mein Schatz, es muß dem Manne ein
Ernſt ſeyn: ſonſt haͤtte er nicht ſo reden koͤnnen:
ja er haͤtte nicht einmahl ſolche Gedancken faſſen koͤn-
nen. Der folgende Theil unſerer Unterredung
zwang mich, ihm noch mehr Glauben beyzumeſſen.


Jn meinem wilden Leben (ſagte er) habe ich nie
die Ehrfurcht vor der Religion und vor frommen
Leuten verlohren. Jch ſuchte ſtets die Rede auf et-
was anderes zu lencken, wenn meine Freunde die
Sprache des Lord Schaftesbury (die ein Glaubens-
Artickel der Boͤſewichter iſt) annahmen, und uͤber
heilige Wahrheiten ſpotten wollten. Einige from-
me Geiſtlichen haben deswegen geſagt: ich ſey ein
Boͤſewicht, ohne gegen den Wohlſtand zu
ſuͤndigen:
oder, ich ſey nur in Wercken und
nicht in Worten em Boͤſewicht.
Jch bin
freylich
[217]
freylich ſo hochmuͤthig uͤber meine Schande gewe-
ſen, daß ich dieſem Urtheil nie widerſprochen ha-
be. Jch thue ihnen dieſes Bekaͤnntniß deſto lie-
ber, weil ich hoffe, daß ſie an meiner Beſſerung
kuͤnftig arbeiten, und hieraus ſehen werden, daß
die Arbeit ſo ſchwer nicht ſey, als ſie ſich vielleicht
vorgeſtellet haben. Wenn ich in die Stille gekom-
men bin, und mein Gewiſſen auf eine kurtze Zeit
aufgewacht iſt, habe ich ein geheimes Vergnuͤgen
daruͤber empfunden, daß ich dereinſt bey einem tu-
gendhaften Leben eine wahre Ruhe wuͤrde ſchmecken
koͤnnen. Denn, Fraͤulein, ohne ein ſolches koͤn-
nen
(wie ich es nennen mag) wuͤrde alle Bemuͤ-
hung ſich zu beſſern vergeblich ſeyn. Jhr Vorgang
wird alle meine guten Vorſaͤtze beveſtigen muͤſſen.


Die goͤttliche Gnade iſt es, Herr Lovelace,
die alles wircken und alles beveſtigen muß. Sie
glauben nicht, wie ich mich uͤber ſie freue, daß ich
einmahl in dieſer Sprache mit ihnen reden kann.


Jch dachte hiebey an ſeine artige Auffuͤhrung ge-
gen das ſchoͤne Bauer-Maͤdchen, und an ſeine
Guͤtigkeit gegen die beyden Paͤchter.


Allein, Fraͤulein, (fuhr er fort) bedencken ſie,
daß die Bekehrung nicht eines Tages Werck iſt.
Jch habe ungemein viel Lebhaftigkeit, dadurch
laſſe ich mich uͤbereilen. Jch will ein Bekaͤnntniß
ablegen, daraus ſie ſehen koͤnnen, was fuͤr einen
weiten Weg ich vor mir habe, ehe eine tugendhaf-
te Perſon nur mittelmaͤßig mit mir zufrieden feyn
kann. Von der Gnade, die ſie erwaͤhnen, habe
ich in einigen Buͤchern, die eine allzugroſſe Voll-
O 5kom-
[218]
kommenheit fodern, ſo viel geleſen, daß wol ein
froͤmmerer Mann als ich bin, daruͤber unſinnig wer-
den oder verzweifeln koͤnnte: Allein das Wort,
Gnade, iſt mir noch gantz unverſtaͤndlich, ich kann
mir keinen Begrif davon machen, wie die Gnade
wircken ſoll. Verdencken ſie es mir alſo nicht, wenn
ich mir ihr Vorbild als ein ſichtbares Huͤlfs-Mit-
tel meiner Beſſerung ausbitte. So lange bis ich
dergleichen geiſtlichere Ausdruͤcke beſſer verſtehen
kann, ſoll alles das, was ſie damit ſagen koͤnnen,
bey mir unter dem Nahmen ihres Vorganges
begriffen ſeyn.


Jch ſagte: ſein Ausdruck ſey mir zwar etwas
betruͤbt, und ich muͤßte mich billig wundern, bey
einem ſo muntern und beleſenen Kopfe ſo viel Dun-
ckelheit anzutreffen, die ich mit keinem andern Nah-
men nennen moͤchte, als Dunckelheit. Jndeſſen
gefiele mir ſeine Aufrichtigkeit wohl. Jch wuͤnſchte,
daß er bey ſeinen guten Gedancken bleiben moͤchte:
ſeine Anmerckung ſey ſehr richtig, daß man keine
dauerhafte Beſſerung hoffen koͤnnte, wenn das
Hertz nicht ein Vergnuͤgen an der Tugend faͤnde.
Allein dieſes Vergnuͤgen entſtehe nicht ſo gleich,
ſondern erſt alsdenn, wenn man mit der Tugend
bekannt geworden ſey.


Jch hielt ihm bey nahe eine Predigt, und ſagte
ihm wohl zwantzig ſolcher Lehren: ich nahm mich
aber in Acht, daß er nicht verdrießlich werden,
und uͤber meine lehrreiche Predigt eine krauſe Stirn
ziehen moͤchte. Allein ſelbſt ſein Geſichte zeigete mir,
daß er an dieſer Unterredung Vergnuͤgen faͤnde, die
er
[219]
er von ſelbſt wieder fortſetzte, als ich ein paarmahl
abbrach, zu verſuchen, ob er mir blos aus Gefaͤl-
ligkeit zuhoͤrete. Er erzaͤhlte mir noch eine doppelte
Probe, daß er im Stande ſey bisweilen ernſtlichere
Gedancken zu faſſen.


Er bekam nehmlich einmahl in einer Schlaͤgerey
eine gefaͤhrliche Wunde an dem lincken Arm, da-
von er mir noch die Narbe zeigete. Ohngeachtet er
ſehr viel Blut verlohren haͤtte, weil eine der groͤ-
ſten Adern getroffen ſey, ſo habe ihn dennoch ein
ſchweres Fieber befallen. Es ſey ſo weit gekom-
men, daß er ſeine Geneſung nicht mehr gewuͤnſcht,
und ſeine Freunde ſie nicht mehr gehoffet haͤtten.
Sein Hertz ſey einen Monath lang ſo geaͤndert wor-
den, daß er einen Abſcheu an ſeinem vorigen Leben
und inſonderheit an dem Zorn gehabt haͤtte, da-
durch er in dieſe uͤbeln Umſtaͤnde, und ſein Gegen-
theil, welcher der angreiffende Theil geweſen, in
noch viel ſchlimmere Umſtaͤnde gerathen ſey. Er
habe in der Zeit Gedancken gehabt, deren er ſich
jetzt noch mit Vergnuͤgen erinnere. Es ſey zwar
mit ſeiner leiblichen Beſſerung der gute Anfang ſei-
ner Gemuͤths-Beſſerung wieder verſchwunden: al-
lein er habe den guten Vorſatz mit ſolchem Wider-
willen fahren laſſen, daß er ſich nicht haͤtte enthalten
koͤnnen, dieſen Verluſt in einem ungereimten Gedich-
te zu bedauren, welches ohne Kunſt und Verſtellung
ſey. Er ſagte mir einige Verſe deſſelben vor, die
durch ſeine Ausſprache ſchoͤner wurden, als ſie an
ſich ſelbſt waren; ob ſie gleich nicht von den ſchlech-
teſten waren. Die Gedancken, die er in Verſe
ein-
[220]
eingekleidet hatte, waren ernſthafter, als ich ich ſie
von ihm erwartet haͤtte.


Er hat mir eine Abſchrift davon verſprochen:
wenn ich die erhalten habe, ſo werde ich, und ſo
werden Sie beſſer von der Guͤte des Gedichtes ur-
theilen koͤnnen. Der Jnhalt war dieſer: „Da
„ihm die Kranckheit eine richtigere Art zu dencken
„gegeben, und die Geſundheit ſie ihm genommen
„habe, ſo ſey er bereit, die Vollkommenheiten des
„Leibes zu verlieren, um die edleren Vollkommen-
„heiten des Gemuͤthes zu erlangen.


Er ſetzte hinzu: ob gleich aller gute Vorſatz bey
ſeiner Beſſerung verſchwunden ſey, ſo habe er doch
jetzt die Hoffnung, daß mein Beyſpiel einen tiefern
und dauerhaftern Eindruck bey ihm machen werde,
ſonderlich, da er eine ſo ſichtbare Belohnung ſeiner
Beſſerung vor den Augen haͤtte. Seine Hoffnung
wuͤchſe dadurch, daß er dieſen guten Vorſatz bey
voller Geſundheit gefaſſet haͤtte; zu einer Zeit, da
er weiter nichts zu wuͤnſchen haͤtte, als Beſtaͤndig-
keit, die das eintzige Mittel ſeyn wuͤrde, mein Hertz
zu gewinnen.


Jch will (antwortete ich) das eben anglimmen-
de Feuer nicht ausloͤſchen, ſondern vielmehr alle
Sorgfalt anwenden, daß es eine Flamme werden
moͤge. Jch werde mich bemuͤhen, ſie bey dieſen
Entſchlieſſungen zu erhalten. Jch will ihre gantze
Hochachtung gegen mich nach ihrem Eifer in der
Ausbeſſerung ihres Gemuͤthes abmeſſen. Behalten
[...] dieſe ſchoͤnen Zeilen des Rowe ſtets in ihrem
Gemuͤthe, da ſie ſelbſt bekennen, daß ſie ſo vieles
zu
[221]
zu bereuen haben, und da die Narbe auf ihrem
Arm ſie ihrer Sterblichkeit lebhaft erinnern kann.


Die Zeilen die ich ihm ſagte, waren aus dem
Ulyſſes dieſes Dichters genommen; und Sie wiſſen,
daß ich dieſe Ausdruͤcke ſehr oft bewundert habe:


Das Laſter, das Gewohnheit langer Jahre

Schon zur Natur gemacht, iſt alten Schaͤden

gleich.

Dem friſchen Vorſatz einer Stunde

Weicht ſein betagtes Uebel nicht:

Man fuͤhlt vorher die aufgerißne Wunde,

Man zucket, wenn die traͤge Beule bricht.

Man ſpuͤrt ein innres Weh, man muß das ſchel-

ten hoͤren

Vor dem das ſtaͤrckſte Hertz erbebt:

Gewiſſens-Angſt muß uns uns ſelbſt beherr-

ſchen lehren,

Sie toͤdtet unſre Luſt, bis daß ein neues Hertz

Jn unſerm buſen ſchlaͤgt, und eine Seele lebt

Die wahre Tugend liebt. Die Tugend iſt ein

Schertz

Des traͤumenden Gehirns, ſie iſt nur Heucheley,

Wenn ſie bey Schertz und Luſt entſtehet.

Er ſagte: er habe zwar dieſe Verſe oft geleſen, al-
lein er haͤtte ihre Schoͤnheit noch niemahls bemerckt.
Bey ſeiner Seele (ſagte der unbußfertige Menſch)
und ſo wahr er wuͤnſchte ſeelig zu werden, es
ſey ihm nun ein Ernſt mit ſeinem guten Vorſatz. Er
haͤtte ſchon vorhin geſagt, ehe ich dieſe Verſe de [...]
Kowe angefuͤhret haͤtte, daß ein eingewurtze [...]s
Laſter
[222]
Laſter in einer Stunde nicht ausgerottet werden
koͤnnte. Er hoffete, ich wuͤrde ihn nicht fuͤr einen
Heuchler halten, wenn er ſeinen guten Vorſatz nicht
erfuͤllete. Denn Undanckbarkeit und Heucheley waͤ-
ren die Laſter, vor denen er ſtets den allergroͤſſeſten
Abſcheu gehabt haͤte.


Jch wuͤnſche, (ſagte ich) daß dieſer Abſcheu ſtets
bey ihnen bleiben moͤge. Es ſind gewiß die ſchaͤnd-
lichſten Laſter.


Jch hoffe, meine liebſte Freundin, daß er mir
keine Urſachegeben wird, in den folgenden Briefen
die Hoffnung, die ich Jhnen jetzt von ihm gebe,
nieder zu ſchlagen. Mein Gluͤck wuͤrde doch noch
ſehr unvollſtaͤndig ſeyn, wenn ich gleich nichts an
ihm zu erdulden haͤtte, weil mein eigenes Gewiſſen
und der Zorn aller meiner Anverwanten mir Unru-
he genug machen wird. Jch werde immer dadurch
geſtraft ſeyn, daß mir mein eigenes Hertz wegen
des vergangenen Verweiſe giebt, und daß mein
guter Nahme ſo viel gelitten hat.


Seyn Sie inzwiſchen verſichert, daß alle Hoff-
nung der Beſſerung mich nicht verleiten wird gegen
ihn unvorſichtig zu ſeyn. Jch glaube zwar eben ſo
wenig als Sie, daß er ſich unterſtehen ſollte, eine
unanſtaͤndige Abſicht gegen mich zu hegen. Allein
er iſt ſehr veraͤnderlich: und ſeine Veraͤnderlichkeit
iſt nicht allein mercklich, ſondern er ſelbſt ſcheint auch
dieſes Laſter nicht zu verheelen. Deswegen will ich
ihn in einer gewiſſen Entfernung zu halten ſuchen,
und mir ihn nicht einmahl in meinen Gedancken
als eine Perſon, die mich angehet, vorſtellen: denn,
wenn
[223]
wenn ich auch nicht alle Manns-Perſonen anklagen
will, daß ſie eine verſtattete Freyheit misbrauchen,
ſo kann ich doch den Herrn Lovelace von dieſer
Beſchuldigung nicht frey ſprechen.


Jch will daher immer, ſo wie bisher geſchehen
iſt, uͤberlegen, was er fuͤr geheime Endzwecke bey
dem was er vorſchlaͤgt, oder redet, haben koͤnnte.
Jch will bey allem, was einigem Zweiſfel unterwor-
fen iſt, das beſte hoffen, und das ſchlimmſte fuͤrch-
ten. Denn in meinen Umſtaͤnden iſt es beſſer, allzu-
furchtſam zu ſeyn, als ſich durch Unbedachtſamkeit
in Gefahr zu ſtuͤrtzen.


Herr Lovelace iſt nach Windſor geritten, und
hat zwey Bedienten zu meiner Aufwartung zuruͤck
gelaſſen. Morgen gedenckt er wieder hier zu ſeyn.


Jch habe an die Frau Hervey geſchrieben, und
ſie gebeten fuͤr mich zu ſprechen, damit ich meine
Kleider, Buͤcher und Geld bekommen moͤchte. Jch
habe mich gegen ſie erklaͤret, daß ich bis auf dieſe
Stunde weiter nichts begehrte, als die billige Er-
laubniß, Nein zu ſagen, und unverheyrathet blei-
ben wollte: wenn mich die Meinigen wieder anneh-
men, und mir ſo begegnen wollten, wie ich es von
Eltern, Onckles und Geſchwiſtern erwarten ſollte.
Jch habe aber dabey zu verſtehen gegeben, daß es
vielleicht fuͤr mich und meine Geſchwiſter beſſer ſeyn
moͤchte, wenn wir uns nicht an einem Orte auf-
hielten, nachdem ſie mir ſo ſehr uͤbel begegnet waͤ-
ren. Jch hoffe, daß ſie dieſes von meinem Gute
auslegen wird. Dabey habe ich mich erboten, mei-
ne gantze Einrichtung nach meines Vaters Gutbe-
finden
[224]
finden zu machen, keine andere Bedienten anzu-
nehmen, als die ihm gefaͤllig waͤren, und mich in
allen Stuͤcken als eine gehorſahme Tochter zu be-
zeigen.


Aus dem Briefe an meine Schweſter wird mei-
ne Baſe wiſſen, wie ſiean mich ſchreiben kann,
wenn es ihr anders erlaubet wird, daß ſie mir
dieſe Guͤtigkeit erzeigen darf.


Jch bitte in dieſem Briefe eben ſo ernſtlich, als
in dem, welchen ich an meine Schweſter geſchrie-
ben habe, daß ſie ſuchen moͤge mir eine baldige Aus-
ſoͤhnung auszuwircken, damit ich nicht tiefer in das
Ungluͤck hinein geſtuͤrtzt werden moͤge. Jch ſtelle
ihr vor: daß eine zu rechter Zeit erwieſene Gelin-
digkeit die Welt bereden wuͤrde, daß alles was
ihnen und mir ſonſt nachtheilig ſcheinen koͤnnte, nur
ein kurtzes Misverſtaͤndniß geweſen ſey; und ſie
ſelbſt wiſſe, daß ich zu dem gezwungen ſey, was
ich gewaget habe.


Jch ſchlieſſe hiemit dieſen Brief, und verſichere,
daß ich bin


Jhre ewig ergebene
Cl. Harlowe.



Der vier und zwantzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.



Wie oft haſt du mir meinen Hochmuth vorge-
worfen! du bedenckeſt nicht, was fuͤr eine
artige
[225]
artige Wendung ich meinem Eigenlobe zu geben
weiß: du bewunderſt dieſe Geſchicklichkeit zwar, al-
lein du vergiſſeſt ſie, ich weiß nicht wie? mir in
Rechnung zu bringen. Dein Neid iſt die Urſache
dieſer Vergeßlichkeit, wenn dich die Natur zur Be-
wunderung zwinget. Du biſt ein viel ſo kurtzſich-
tiger Kerl, alß daß du deine eigene Seele und die
wahren Quellen deiner Leidenſchaften kennen ſollteſt.


Du redeſt ſchon wieder! Mich duͤnckt, du ant-
worteſt mir: deine Beſchuldigung gegen mich ſpricht
dich, Lovelace, nicht von der Anklage frey, daß
du hochmuͤthig ſeyſt.


Du ſagſt die Wahrheit. Jch glaube ſelbſt, daß
mir die Natur nicht wenig Einbildung gegeben hat.
Allein wenn es meines gleichen verarget wird, daß
wir uns etwas einbilden, ſo weiß ich nicht, bey wem
man dieſe Schwachheits-Suͤnde entſchuldigen will.
Und dennoch finde ich bey mehrerer Uberlegung, daß
meines gleichen am wenigſten Urſache habe, ſich et-
was einzubilden, und hochmuͤtig zu ſeyn: denn die
Welt wird ſie ſelbſt kennen und ehren, weil ihrer
ſo wenige in der Welt ſind. Wenn man einen
Narren uͤberzeugen kann, daß ein Menſch in der
Welt mehr Verſtand hat als er, ſo wird er von
ſelbſt glauben, daß dieſer Menſch ein Wunder des
Verſtandes ſeyn muͤſſe.


Was wird die allgemeine Lehre fuͤr alle Men-
ſchen ſeyn, die hieraus folget? nicht wahr, dieſe:
daß niemand hochmuͤthig ſeyn ſolle? Wie aber, wenn
es uns ohnmoͤglich iſt, nicht hochmuͤthig zu ſeyn?
Vielleicht bin ich in ſolchen Umſtaͤnden! Jch bilde
Dritter Theil. Pmir
[226]
mir auf nichts ſo viel ein, als auf meine gluͤcklichen
Einfaͤlle und Erfindungen: und, bey meiner See-
le, ich kann dieſes ohnmoͤglich verbergen. Dieſe
Einbildung kann bey einem ſo ſcharfſichtigen
Frauenzimmer ſehr leicht mein Ungluͤck ſeyn.


Es ſcheint, daß ſie ſich vor mir fuͤrchtet. Jch ha-
be mich ſonſt immer bemuͤhet, ihr und der Fraͤulein
Howe als ein leichtſinniger Menſch ohne Gedan-
cken und Vorſicht vorzukom̃en. Habe ich nicht thoͤ-
richt gehandelt, daß ich ihre Gewiſſens-Frage we-
gen des Lerms in dem Garten ſo weitlaͤuftig und
mit ſo vieler Aufrichtigkeit beantwortet habe? Al-
lein weil dieſes gluͤcklich ablief, ſo machte mich mein
Gluͤck verwegen. Du weißt es ſelbſt, Bruder, wie
einem das Hertz zum Kopf heraus will, wenn man
gluͤcklich iſt. Mein Hochmuth uͤbereilte meine
Bedachtſamkeit. So bald ich meine Drohungen
vorgebracht hatte, Solmeſen auf die Seite zu
bringen, mit ihrem dummen Bruder davon zu
gehen, und an beyden Bedienten Rache zu uͤben:
gerieth meine Geliebte in ein ſolches Schrecken,
daß ich darauf dencken mußte, wie ich die Schar-
te auswetzen konnte.


Zu rechter Zeit bekam ich von meinem Abgeſan-
ten in ihrem Hauſe eine gluͤckliche Nachricht; die ich
zum wenigſten gluͤcklich gebrauchen konnte. Jch
bat deswegen, daß ich moͤchte vor ſie gelaſſen wer-
den, ehe ſie einen Entſchluß gegen mich faſſen konn-
te, das iſt, unterdeſſen daß ſie meine entſchloſſene
Dreiſtigkeit bewunderte, und ſelbſt dadurch un-
ſchluͤßig ward.


Jch
[227]

Jch war gantz beſcheiden, gantz ergeben und
hoͤflich, gantz freundlich. Jch laſſe bisweilen eini-
gen guten Gedancken einen Platz in meinem Her-
tzen, und ich habe ſie nie gaͤntzlich ausgeſchloſſen:
alle dieſe gute Gedancken, die ich von meinen un-
ſchuldigen Jahren an bis auf das Alter eines reiffen
Suͤnders geheget habe, ſammlete ich, ohne daß ich
mich lange beſinnen durfte, um bey ihr ein heiteres
Geſicht zu verdienen. Vielleicht (dachte ich) kann
ich es aushalten, die guten Vorſaͤtze laͤnger in dem
Munde zu haben, und mir auf die Art den Weg
zu meiner Haupt-Abſicht bahnen. Nicht die Liebe,
ſondern die Furcht iſt von Natur mistrauiſch.
Jch will ſuchen die Furcht zu verbannen: ſo wird
nichts als Liebe uͤbrig bleiben. Die Leichtglaͤu-
bigkeit
iſt der Geheimte Rath des Gottes der Lie-
be, und laͤßt ſich nie von ihm trennen.


Von den aus Harlowe-Burg erhaltenen Nachrichten, und
den Vorſchlaͤgen wegen eines kuͤnftigen Aufenthalts, ſchreibt
er in der Haupt-Sache nichts, das nicht in dem Briefe der
Clariſſa ſchon angemerckt waͤre.


Von ſeinem Vorſchlage, nach Windſor zu ziehen, druͤ-
cket er ſich alſo aus.


Was meinſt du, Belford, kann dir die Abſicht,
die ich bey dieſem Vorſchlage hatte, in deinen Gruͤtz-
Kopf kommen? Nein gewiß nicht! und darum
ſollſt du ſie von mir erfahren.


Wenn ich mich auf ein paar Tage von ihr entfer-
nete, um ihr an einem andern Orte zu dienen, ſo
haͤtte es das Anſehen, als verlieſſe ich mich auf ihre
Gunſt. Du weiſſeſt wol, daß ich ſie nicht verlaſſen
durfte, ſo lange ich noch befuͤrchten mußte, daß die
Jhrigen ihr nachſetzen koͤnnten. Jetzt ward ich be-
P 2ſorgt,
[228]
ſorgt, daß ſie argwohnen moͤchte, ich ſuchte mich
des Nachſetzens der Jhrigen blos als eines Vor-
wandes zu bedienen, ihre Geſellſchaft laͤnger zu ge-
nieſſen. Was konnte mich aber nun noch hindern,
ihr dieſe Probe meines Gehorſams zu geben, nach-
dem die Jhrigen dieſen Vorſatz fahren laſſen, und
ſogar ſich erklaͤret hatten, ſie nicht wieder anzuneh-
men, wenn ſie auch von freyen Stuͤcken wieder zu
ihnen kaͤme. Eine Entſchlieſſung, die ſie von mir,
und nicht von der Fraͤulein Howe oder von andern
erfuhr und erfahren ſollte.) Dieſer Gehorſam
ward mir leichter, weil ich unter dem Nahmen der
noͤthigen Bedienung) dencke ja an keine Waͤchter!)
meinen Wilhelm und meines Onckles Johann
bey ihr laſſen koͤnnte. Jener iſt ein braver Kerl:
er kann alles, nur nicht ſchreiben und leſen; und ich
kann ihm einen umſtaͤndlichern Befehl anvertrauen:
den Johann kann er, wenn es noͤthig iſt, an mich
ſchicken.


Jch war auch begierig, Nachricht einzuziehen,
weswegen ich von meinen Baſen und von den Fraͤu-
leins Montague noch kein Gluͤckwuͤnſchungs-
Schreiben erhalten haͤtte, da ich ihnen doch meine
Helden-That und die Errettung meiner Geliebten
berichtet hatte. Es konnten Umſtaͤnde vorfallen,
die kuͤnftig die Vorzeigung dieſer Briefe noͤthig
machten: daher war mir nicht einerley, was in
den Briefen geſchrieben wurde.


Bey Windſor hatte ich keine beſondere Abſicht,
deswegen ich dieſen Ort andern haͤtte vorziehen ſol-
len. Allein, da ſie ſo guͤtig war, meinen Rath zu
begehren,
[229]
begehren, ſo mußte ich doch einen Ort nennen.
London durfte ich nicht nennen: zum wenigſten
nicht ohne viele Behutſamkeit, und ſo daß es mehr
ſchien ihre eigene Wahl zu ſeyn. Denn du mußt
wiſſen, wie verkehrt dieſes Geſchlecht iſt: wenn
es uns um Rath fraget, ſo will es nur unſere Mei-
nung ausforſchen, um ſich ihr zu widerſetzen; da
es doch vielleicht eben das wuͤrde gewollt haben,
wenn wir es nicht gewollt haͤtten.


Jch durfte nur vorgeben, daß ich nach Wind-
ſor
gereiſet waͤre, ſo konnte ich bey meiner Zuruͤck-
kunft ſchon etwas finden ihr eine Abneigung vor die-
ſem Orte zu machen. Weil ich die Stadt ſelbſt in
Vorſchlag gebracht hatte, ſo ließ dieſes ehrlicher,
und ſie mußte daraus ſchlieſſen, daß ich keine Ab-
ſichten haͤtte. Jch habe noch nie eine ſo muntere,
lebendige und kluge Vorſichtigkeit bey einem Frau-
enzimmer angetroffen, als bey dieſem. ‒ ‒ ‒ Wie
betruͤbt es einen ehrlichen Mann, wenn er fuͤr ei-
nen Schelm gehalten wird?


Auf meiner Hin-Reiſe oder Ruͤck-Reiſe kann ich
bey der Frau Greme anſprechen. Sie und meine
Geliebte hatten ein ſehr eifriges Geſpraͤch. Wenn
ich nur wuͤßte, wovon ſie geredet haͤtten. Will die ei-
ne ihre Umſtaͤnde durch Huͤlfe der andern verbeſſern,
und zwar dieſes bey ihrer erſten Bekantſchaft: ſo
kañ ich ihnen beyden ohne meinen Schaden dienen.
Denn dieſes ſind die kluͤgſten Wohlthaten, auf wel-
che nie eine Reue folget, wenn gleich der empfan-
gende Theil undanckbar bleibt. Frau Greme
wechſelt auch mit ihrer Schweſter, in deren Hauſe
P 3wir
[230]
wir wohnen, Briefe. Dieſes kann mir zum Vor-
theil oder zum Schaden gereichen; jenen will ich
bey meiner Reiſe zu gebrauchen, und dieſen zu ver-
meyden ſuchen.


Bey allen meinen Unternehmungen dencke ich
immer an den Ruͤckweg. Niemand haͤlt mich fuͤr
ſtoltz, der mich kennet: ich kann mit den Bedienten
ſo vertraut als mit meines gleichen reden, wenn ich
ſie zu meinen Abſichten gebrauchen, und ihnen ihre
Gefaͤlligkeit verguͤten will. Die Bedienten gleichen
den gemeinen Soldaten: ſie thun oft ohne Bosheit
allen moͤglichen Schaden. Die guten Kerls haben
keine weitere Abſicht dabey, als daß ſie Schaden
thun moͤgen.


Vor niemand fuͤrchte ich mich mehr, als vor der
Fraͤulein Howe. Sie hat einen leichtfertigen Kopf,
und es fehlt ihr an nichts, als an Gelegenheit zur
Schelmerey. Erſchieſſen, erhaͤngen oder erſaͤuffen
will ich mich, wenn mich das Maͤdchen bey aller
meiner Einbildung und Ruhm von meiner no-
ſtrum-
Kraͤmerey (du biſt eine Art von Pedanten,
ein Kerl, der die Oberflaͤche der Gelehrſamkeit ge-
ſchickt abzuſchaͤumen weiß. Darum aͤrgere ich dich
mit ungewoͤhnlichen Worten, bey denen du ein ver-
dammtes Kunſtrichter-Geſichte machen wirſt.
Noch einmahl ließ es) von meiner noſtrum-Kraͤ-
merey
betrieget.


Der arme Hickmann! Jch bedaure ihn. Was
will er mit der Amazonin anfangen. So wahr
GOtt im Himmel lebet, Hickmann iſt ein Narre.
Eben faͤllt es mir bey: keine Ehe kann gluͤcklich ſeyn,
wenn
[231]
wenn nicht der eine Theil ein Narre iſt. Jch habe
ehemahls dieſen Satz gegen die Fraͤulein Howe
vertheidiget. ‒ ‒ ‒ Nur muß der Narre wiſſen, daß
er ein Narre iſt, ſonſt wird er aus Halsſtarrigkeit
die Weisheit in ihrer Hoffnung betriegen.


Mein Abgeſandter, Joſeph, ſetzet mich in Si-
cherheit.



Der fuͤnf und zwantzigſte Brief.
Eine Fortſetzung des vorigen von Herrn Lovelace.


Jſt es nicht ein wunderlich Ding, daß ich von
dieſer hochmuͤthigen Schoͤnen keine Erlaub-
niß erhalten kann, ihr eine Gefaͤlligkeit zu erzeigen,
und ſie mir dadurch verbunden zu machen? Zwey
Urſachen habe ich, zu wuͤnſchen: daß ſie ſich gefal-
len laſſen moͤchte, Geld und Kleidung von mir
anzunehmen. Erſtlich finde ich ein wahres Ver-
gnuͤgen darin, wenn ich dieſem ſtoltzen Maͤdchen
aufwarten, und etwas an ihrem Leibe mein eigen
nennen duͤrfte. Zum andern wollte ich gern ihre
ſtraͤſliche Ehrbarkeit mindern, und ſie ein wenig de-
muͤthigen. Denn nichts kann einen hochmuͤthigen
Geiſt tieffer erniedrigen, als die Erinnerung ge-
machter Schulden. Aus dieſer Urſache habe ich
mich immer gehuͤtet, keine Schulden zu machen.
Ehemahls bin ich wohl dazu gezwungen worden:
und denn verfluchte ich das Viertheil-Jahr, daß es
ſo langſahm zum Ende lief. Denn niemahls ließ
ich mir die Pacht zum voraus bezahlen: nie aß ich
P 4(mei-
[232]
(meines Onckles Spruͤch-Wort zu borgen) das
Kalb in der Kuh auf:
denn das hieſſe, von des
Paͤchters Gnaden Herr uͤber ſeine Guͤter ſeyn. Kei-
ne niedertraͤchtigere Lehnbarkeit kann erdacht wer-
den. Soll mir der Paͤchter etwan das Jagen verbie-
ten duͤrfen, damit ich keinen Zaun auf meinen Guͤ-
tern verderbe? Soll er darauf ſinnen, wie er ohne
Noth von Bau und Beſſerung ſchwatzen koͤnne?
Soll der Erdſchwamm die Arme in einander ſchla-
gen, und mit dem Toͤlpel auf ſeinem Gruͤtz-Behaͤlt-
niß mit mir reden? den Fuß feſt hinpflantzen, als
wenn es ſein Grund und Boden waͤre? ich ſeine un-
geſtuͤm-dummen Reden hoͤren, und ſeine Schelm-
Blicke vertragen? Soll er thun, als wollte er mir
zu verſtehen geben, er habe mir eine Wohlthat er-
zeiget, und koͤnne ſie mir kuͤnftig wieder erzeigen,
wenn ich hoͤflich waͤre? Wer vor mir voruͤber ge-
het, und ſiehet mich nicht an wie ich will, dem darf
ich meiner Meinung nach den Hals brechen: und
ich ſoll das von dem Koth-Gewaͤchſe leyden? Eben
ſo wenig konnte ich das thun, als bey einem groben
Onckle und bey Tanten, die ſich um meine Geheim-
niſſe bekuͤmmern, borgen; die ſich berechtiget gehal-
ten haͤtten, das Leben und den Wandel ihres Vet-
ters und Schuldners die Muſterung paßiren zu
laſſen.


Meine unvergleichliche Schoͤne iſt eben ſo ehrbe-
gierig als ich. Allein ſie unterſcheidet die Perſo-
nen nicht, und das liebe unſchuldige Kind merckt
nicht, daß nichts edlers, nichts angenehmers iſt, als
wenn Verliebte Gefaͤlligkeit fuͤr Gefaͤlligkeit erzei-
gen.
[233]
gen. Dir dummen Teuffel muß ich das durch ein
Beyſpiel aus der Haushaltung begreiflich machen,
das ich hier auf dem Hofe geſehen habe. Ein ſtoltzer
Haus-Hahn lockte ſeine zweybeinigte Zuneigung,
da er ein Gerſten-Korn gefunden hatte. Sechs-
mahl nahm er es auf, ſechsmahl ließ er es fallen:
und lockete. Etliche gefederte Frauenzimmer eifer-
ten darum, welche zuerſt das Korn erhaſchen wuͤr-
de. (O Bruder, der Hahn iſt ein großer Herr.
Ein beneydens-werther Chapeau-Baſiſt unter den
Feder-Stutzern!) Er reichte den Schnabel der
vorderſten Geliebten, und ſo bald ſie die ſchmutzige
Perle bekommen hatte, empoͤrte ſich ſein Kamm,
und halb lockend halb frolockend ging er um ſie her-
um, und ließ die Fluͤgel aus liebreicher Demuth
bis auf die Erde haͤngen. Das den uͤbrigen vor-
gezogene gefiederte Kind war halb ſcheu und halb
willig. Jch weiß nicht, wie es ſich anſtellete.
Es war etwas furchtſames in den Augen: halb
ſtreckte es die Fluͤgel aus, es zog den Hals ein.
Kurtz, Bruder, ich konnte mercken, das Huhn
merckte, daß das Gerſten-Korn nicht alles ſey,
wozu der Hahn gelocket habe.


Von dem, was wegen Hannichen, oder einer der Toͤch-
ter im Hauſe vorgefallen war, ſchreibt er:


Faͤllt dir das ein, Belford, in welcher Abſicht ich
ihr die Hannichen, oder eine von den Jungfern in
dieſem Hauſe zur Aufwartung vorſchlug! Jch will
dir einen Monath Zeit laſſen, es zu errathen.


Du geſteheſt es, daß du es nie errathen wirſt.


Du thuſt wohl daran. Jch will es dir ſagen.


P 5Jch
[234]

Jch vermuthete zum voraus, daß ſie das liebe
Hannichen wuͤrde um ſich haben wollen, ſo bald
ſie nur in Ordnung waͤre. Jch erkundigte mich des-
halb nach ihrem Aufenthalt, in der Abſicht, es da-
hin zu bringen, daß ihr Herr oder Frau oder ſonſt
jemand ſie nicht eher als einen Monath nach der
Aufkuͤndigung moͤchte ziehen laſſen; damit ſie nicht
in meiner Clariſſe Dienſte treten koͤnnte. Der Him-
mel iſt mir guͤnſtig. Zum Gluͤck iſt die kleine Hexe
kranck. Sie hat ein heftiges Fluß-Fieber, wel-
ches ſie gezwungen hat aus dem Dienſte zu gehen,
und ſich zu legen. Das arme Hannichen! Jch
habe Mitleyden mit den armen Madchen. Das ſind
harte Umſtaͤnde vor treue Bedienten. Jch will ihr
eine Kleinigkeit ſchencken: daß wird meiner Schoͤ-
nen in dem Hertzen wohl thun.


Jch ließ mich nicht mercken, daß ich etwas hier-
von wuͤßte: und war recht eifrig, mich nach der
kleinen Hure zu erkundigen. Meine Clariſſe wuſte
daß ich dieſes Kammer-Kaͤtzgen wegen ſeiner Treue
ſtets hoch geſchaͤtzt habe: jetzt aber ſchaͤtze ich es noch
hoͤher, als jemahls. Das Ungluͤck, wenn es gleich
die niedrigſten betrift, zwingt uns dennoch mitley-
dig und wohlgeſinnet zu ſeyn, wenn wir kein ſcla-
viſches Hertz haben.


Die beyden Jungfern Sorlings brachte ich
blos des Fragens wegen in Vorſchlag. Geſetzt, ſie
haͤtte eine gewaͤhlt, und die Mutter haͤtte es erlaubt
(beydes war zweifelhaft) ſo wuͤrde es doch nicht
laͤnger gewaͤhret haben, als bis ich eine andere aus-
geſucht haͤtte. Haͤtten ſie nachher keine Luſt gehabt,
ſich
[235]
ſich von einander zu ſcheiden, ſo kann ich entweder
meiner Geliebte Gelegenheit zum Verdacht geben,
oder den Land-Maͤdchen London ſo angenehm
machen, daß es ſich mit meinem Wilhelm einlaͤßt.
Jch kann es noch beſſer machen, und ſie an meines
Onckles Capellan bringen, der ſich ein Vergnuͤgen
daraus machen wuͤrde, mit dem vermuthlichen Er-
ben ſeines Patrons wohl zu ſtehen.


GOtt ſeegne dein ehrliches Hertz, Lovelace!
(wirſt du dencken) du verſorgeſt jederman.


Hier folget einige Nachricht von den frommen Unterredun-
gen, die zwiſchen ihm und der Clariſſe vorgefallen ſind. Bey
Erzaͤhlung deſſen, was von den Maͤngeln einer allzu ſchleu-
nigen Beſſerung geredet war, ſchreibt er:


Jſt das nicht aufrichtig zu Wercke gegangen?
Der Satz, den ich vorbrachte, gruͤndet ſich auf die
Erfahrung und auf die Natur der Sache. Es war
eine kleine Liſt dabey: ich ſuchte zu verhuͤten, daß
mich das artige Kind nicht bey der erſten Ausſchweif-
fung fuͤr einen groben Heuchler erklaͤren moͤchte:
Denn ich habe ihr nicht verhalten, daß mich die
Beſſerung und der gute Vorſatz nur mit Hitze und
Froſt uͤberfaͤllt; ob ich gleich hoffete, daß er durch
ihr Vorbild in eine geſetzte Gemuͤths-Faſſung ver-
aͤndert werden koͤnnte. Das benimt mir den Muth
am meiſten, daß meine Lehrerin gar zu fromm iſt.
Jch weiß nicht, wie ich ihr unter die Augen treten
ſoll. Wenn ich ſie mir etwas gleicher machen, wenn
ich ſie bewegen koͤnnte, etwas vorzunehmen, dadurch
eine Reue moͤglich wird; ſo wuͤrden wir auf dem
Wege der Tugend einen Schritt gehen, und ein-
ander beſſer als bisher verſtehen koͤnnen. Denn
wuͤr-
[236]
wuͤrden wir uns einander troͤſten, und die Anklage
des Gewiſſens wuͤrde nicht einen Theil allein treffen.


Jn dem was hier ausgelaſſen iſt, bekennet er, daß ihm die
Ermahnungen der Clariſſe, auf eine angenehme und ſcharfe Art
zu Hertzen gegangen ſind: zweiffelt aber an ſeiner Beſtaͤndigkeit.


Mein Kind weiß die ernſthafteſten Lehren ſehr
angenehm vorzutragen: ihre Stimme erhebet ſich,
und wird recht reitzend, wenn ihr die Materie ge-
faͤllt, davon ſie redet. Jch wollte ihr wol einen hal-
ben Tag zuhoͤren. Wenn ſie aber faͤllt, ſo wird ſie
viel von ihrem Eifer, und von der Zuverſicht, die
eine Fruchtdes guten Gewiſſens iſt, und dadurch
ſich die Unſchuld ſo ſehr uͤber die Schuldigen erhe-
bet, verlieren.


Jch moͤchte wiſſen, Belford, warum die Leute
dein und meines gleichen Heuchler nennen. Jch
haſſe den Nahmen, und es ſollte mich ſehr verdrieſ-
ſen, wenn er mir gegeben wuͤrde. Jch habe ſo
oft gute ja die beſten Vorſaͤtze, als ſie jemand ha-
ben kann: allein ſie verfliegen ſo bald wieder; oder
(um es auf eine mir anſtaͤndigere Art auszudruͤcken)
ich bin ſorgloſer als andere, meine Suͤnden-Faͤlle zu
verbergen.



Der ſechs und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



So wenig ich Zeit habe, und ſo genau die Auf-
ſicht meiner Mutter auf mich iſt, kann ich
doch
[237]
doch nicht unterlaſſen, in einigen Zeilen meine Ge-
dancken von dem neuen Lichte, das in Jhrem Lo-
velace
aufgegangen iſt, zu entdecken, und den
Brief durch eine beſondere Gelegenheit an Sie zu
uͤberſenden.


Jch weiß ſelbſt nicht, was ich von ihm dencken
ſoll. Seine Sprache iſt gut: allein wenn Sie ihn
nach dem Ausſpruch des Rowe pruͤfen, ſo iſt er ein
Heuchler, ob er gleich ſaget, daß er keine Suͤnde
mehr haſſet, als Heucheley und Undanckbarkeit.


Wuͤrde er im Stande geweſen ſeyn, ſo viele Frau-
enzimmer, als man von ihm ſaget, zu beſiegen,
wenn er ein Neuling in dieſen Suͤnden waͤre?


Sein offenhertziges Bekaͤnntniß iſt das eintzige,
ſo mich zweifelhaft macht. Allein er iſt ſchlau ge-
nug, und weiß vielleicht, daß die Anklage der Wi-
derſacher durch ein freywilliges Bekaͤnntniß ihren
Stachel verliert.


Das iſt ohnſtreitig, daß er Verſtand hat: und
deswegen kann man eine beſſere Hoffnung von ihm
faſſen, als wenn er zum Aufrennen der Thuͤren er-
ſchaffen waͤre. Auch dieſes iſt wahr, daß die Beſ-
ſerung einen Anfang haben muͤſſe. Alles dieſes
will ich ihm gern zugeben.


Allein dieſes iſt der Probier-Stein aller ſeiner
Bekaͤntniſſe und Anklagen wider ſich ſelbſt: geſtehet
er Jhnen etwas boͤſes von ſich, das Sie nicht ſchon
vorhin gewußt haben oder leicht von andern erfah-
ren koͤnnen? Thut er dieſes nicht, ſo frage ich, ob
er etwas zu ſeinem Nachtheil geſtehet? Von ſeinen
Schlaͤgereyen, von ihm als einem Verfuͤhrer man-
cher
[238]
cher unſchuldigen Maͤdchens haben Sie vorhin ge-
hoͤrt; und die gantze Welt redet davon. Er ge-
ſtehet alſo nichts, als was ihm zu leugnen unmoͤg-
lich iſt. Sein Geſtaͤndniß ſoll ihm blos zur Aus-
flucht und Entſchuldigung dienen. Es ſoll heiſſen:
alles das, was Lovelacens Feinde ihm Schuld
geben, iſt nichts mehr, als was er ſelbſt bekennet.


Das iſt ſchlimm genug. Was aber nun zu thun?
Jch glaube, Sie muͤſſen ſich in Jhre Umſtaͤnde
ſchicken, und ſie gebrauchen, ſo gut als es moͤglich
iſt. Jch will mit Jhnen hoffen, daß er keine boͤſe
Abſicht hat: denn ſein Vorſchlag wegen Windſor,
und was er davon geſagt hat, daß er Sie bey einem
Dom-Herrn einmiethen wolle, gefaͤllt mir wohl.
Seine Bereitwilligkeit, ſich von Jhnen zu entfer-
nen, und ſich ſelbſt nach einer bequemen Miethe
umzuſehen, hat ebenfalls einen guten Schein. Jch
wuͤßte keinen beſſern Orth zu geben, Sie kommen
nun in eines Dom-Herren Haus, oder nicht, als
daß der Dom-Herr uͤber Sie beyderſeits bald einen
Seegen aus dem Kirchen-Buche ſpreche.


Jch billige Jhre Wachſamkeit, Jhre Vorſich-
tigkeit, kurtz alles was Sie gethan haben; die Un-
terredung mit ihm iſt das eintzige, welches ich aus-
nehme. Wenn ich aber dieſe Ausnahme mache, ſo
urtheile ich blos aus dem Erfolg: denn wer wuͤrde
ſich zum voraus einen ſolchen Ausgang dieſer Un-
terredung vorgeſtellet haben? Allein er iſt ein Teu-
fel, wenn man ihn blos nach dem beurtheilen will,
was er ſelbſt von ſich ſaget. Wenn er den verfluch-
ten Solmes und Jhren noch mehr verfluchten
Bru-
[239]
Bruder weggeſchleppet haͤtte, und ſelbſt zur Strafe
auf Lebens-lang nach Weſt-Jndien gefuͤhret waͤre:
ſo wollte ich mein hertzliches Ja zu dieſem dreyfa-
chen Verluſte unſeres Vaterlandes geben.


Hilf Himmel! wie gebraucht, wie misbraucht
er den Joſeph Lehmann? Sein offenhertziges
Bekaͤntniß macht mich abermahls in meinem Ur-
theil zweyfelhaft. Wenn es Jhnen aber moͤglich iſt,
Jhrem Bruder zu vergeben, daß er den Lehmann
gemißbrauchet hat, ſo weiß ich nicht, warum Sie
mit Lovelacen zuͤrnen wollen? Jndeſſen habe ich
wol hundertmahl gewuͤnſchet, daß Sie ſeiner los
ſeyn moͤchten, ehe Sie ſchuldig waͤren ihn zu betrau-
ren; es ſey nun, daß er an einem hitzigen Fieber
ſterbe, oder ſich erhaͤnge, ſich erſaͤuffe, oder ſonſt
auf eine gute Art den Hals breche.


Jch wiederhohle nochmahls meinen ehemahli-
gen Antrag. Jſt es mir erlaubt, das bewußte durch
unſern alten Boten-Gaͤnger zu ſchicken? Jch mag
es Stillen Hickmanns Bedienten nicht in die Haͤn-
de geben, wenn ich es nicht in einen Banco-Zettel
verwandeln kann; und dieſes kann ich nicht, ohne
Verdacht zu erwecken. Denn meine Mutter iſt jetzt
ſehr geſchaͤftig, und bekuͤmmert ſich um alles. Nichts
iſt mir verdrießlicher als ein argwoͤhniſches Hertz.


Sie gehet faſt beſtaͤndig bey mir aus und ein:
und ich bin gezwungen meinen Brief zu ſchließen.
Herr Hickmann hat mich erſucht, ſeine gehorſam-
ſte Empfehlung an Sie zu vermelden, und Jhnen
ſeine Dienſte anzubieten. Jch antwortete ihm: ich
wollte ihm dieſes zu Gefallen thun; weil ein ver-
unruhig-
[240]
unruhigtes Gemuͤth eine jede Hoͤflichkeit wohl auf-
zunehmen pflegte. Jndeſſen muͤſſe er mir dieſes
nicht als eine Gefaͤlligkeit anrechnen: denn ich wuͤr-
de die Manns- oder Frauens-Perſon fuͤr blind hal-
ten, die eine ſo vortrefliche Fraͤulein nicht um ihrer
eigenen Vorzuͤge willen bewunderte, und ihr nicht
blos in der Abſicht gern dienete, um die Ehre gehabt
zu haben ihr dienen zu koͤnnen.


Er antwortete mit aller ihm moͤglichen Artigkeit:
es ſey dieſes ſeine Haupt-Abſicht. Er kuͤſſete
hierauf ſeine eigene Hand, und neigete ſich bis zu
meinen Fuͤſſen. Er hoffete dennoch, daß ſeine Ehr-
erbietung gegen die Fraͤulein Harlowe dadurch
nichts von ihrem Werth verlieren wuͤrde, weil die-
ſes unvergleichliche Frauenzimmer eine Freundin
von mir ſey.


Jch bitte Sie, mich fuͤr diejenige anzunehmen,
die ich immer ſeyn werde, nehmlich fuͤr Jhre
treueſte und ergebenſte

Anna Howe.



Der ſieben und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch halte Jhren Boten etwas auf, damit er
Jhnen meine Antwort uͤberbringen koͤnne;
denn mein alter Brieftraͤger befindet ſich nicht wohl.
Sie
[241]
Sie machen mir wenigen Muth zu dem Menſchen,
in deſſen Haͤnden ich mich befinde: und vielleicht
ſind blos meine ungluͤcklichen Umſtaͤnde Urſache dar-
an, daß ich geneigt bin, das beſte von ihm zu den-
cken. Was muß er fuͤr Abſichten haben, wenn
ſeine guten Vorſaͤtze ein bloßer Vorwand ſind? Jſt
es moͤglich, daß ein Menſch ein ſo abſcheuliches Hertz
haben ſollte? kann er den allmaͤchtigen GOtt be-
triegen? kann er ſich dieſes nur vornehmen? Habe
ich nicht einige Urſache ſelbſt wegen meiner Umſtaͤn-
de eine beſſere Hoffnung von ihm zu faſſen? Jch
bin ja dermaßen in ſeiner Gewalt, daß er nicht noͤ-
thig haͤtte, gegen mich ein ſo graͤulicher Heuchler zu
ſeyn, er muͤßte denn eben das allerabſcheulichſte
Bubenſtuͤck, daß ich ihm nicht zutraue, vorhaben.
Er muß es zum wenigſten um die Zeit, wenn er
mir gute Hoffnung macht, im Ernſt meinen. Die-
ſes iſt wol ohnſtreitig, und Sie ſelbſt ſcheinen es zu
glauben, ſonſt wuͤrden Sie mir nicht wuͤnſchen un-
ter ein ſo hartes Joch zu gerathen.


Dem ohngeachtet waͤre es mir ungemein viel lie-
ber, wenn ich von ihm und von den Seinigen gantz
frey ſeyn koͤnnte, ob ich gleich von ſeinen Anver-
wanten eine ſehr hohe Meinung habe: ich wuͤnſchte
mir dieſe Unabhaͤngigkeit zum wenigſten ſo lange,
bis ich ſehe, wozu ſich meine Anverwanten entſchlieſ-
ſen. Wenn dieſe Hoffnung voͤllig ohnmoͤglich wird,
ſo ſcheint mir das beſte zu ſeyn, daß ich meine Zu-
flucht zu der Lady Eliſabeth nehme: alsdenn wuͤr-
de alles unanſtaͤndige wegfallen, und ich wuͤrde viel-
leicht manchen Verdruß weniger haben; nur wuͤr-
Dritter Theil. Qde
[242]
de ich nicht vermeyden koͤnnen, die ſeinige zu wer-
den, und ich wuͤrde meiner eigenen Familie zu tro-
tzen ſcheinen. Soll ich mich nicht an die Meinigen
wenden, und den Ausgang abwarten, ehe ich dieſes
aͤußerſte verſuche? Und dennoch kann ich nicht ein-
mahl den Meinigen Vorſchlaͤge thun, ehe ich aus
ſeinen Haͤnden bin.


Frau Sorlings zeigete mir heute fruͤh einen
Brief, den ſie geſtern Abend von ihrer Schweſter
der Frau Greme erhalten hatte. Das erſte in
dieſem Briefe iſt eine Entſchuldigung gegen mich.
Sie hoffet, ich wuͤrde ihr eine unverlangte Dienſt-
fertigkeit zu gute halten, wenn ihre Schweſter
ſich unterſtuͤnde, mir ihren Brief zu zeigen. Sie
wuͤnſche um der vornehmen Familie willen, ja ſie
unterſtehe ſich auch zu ſagen, um meinet willen, daß
ich mich bewegen ließe, ſeine Gnaden (ſo nennet
ſie Lovelacen) gluͤcklich zu machen. Sie ſey zu
dieſem Briefe und Wunſch durch das bewogen wor-
den, was er die Gnade gehabt habe, gegen ſie fal-
len zu laſſen, da er auf ſeiner Reiſe nach Windſor
bey ihr angeſprochen und ſie ſich die Freyheit genom-
men habe, ihn zu fragen, ob es ihr erlaubt ſey,
ihm zu gratuliren? Er habe nie ein Frauenzimmer
ſo lieben koͤnnen, als mich: kein Frauenzimmer ſey
ſo wuͤrdig geweſen geliebt zu werden: ſo oft er mit
mir umzugehen das Gluͤck haͤtte, wachſe auch ſeine
Bewunderung und Ehrfurcht gegen mich. Seine
Liebe gegen mich ſey ſo rein, daß er ſich vorhin nie
etwas ſo reines habe vorſtellen koͤnnen, und nie ge-
dacht haͤtte, daß etwas auf Erden einen ſo himmli-
ſchen
[243]
ſchen Trieb in ihm erwecken wuͤrde. Er ſehe mich
faſt nicht als Leib ſondern blos als Geiſt, als einen
Engel an, der Menſch geworden ſey, um ihn ſeelig
zu machen: (und was dergleichen Ausdruͤcke mehr
waren) Er fuͤrchte nur, daß mein Ja-Wort all-
zuweit entfernt ſey. Ehe ich ihn noch einiges Ver-
trauens gewuͤrdiget haͤtte, haͤtte ich einige Bedin-
gungen ausgemacht, die er eben ſo heilig halten
muͤßte, als wenn ſie ein Theil der Ehe-Pacten waͤren.


Was ſoll ich hiezu ſagen oder dencken? Wie ſoll
ich es nehmen? Frau Greme iſt eine gute Frau:
und ihre Schweſter, die Frau Sorlings, iſt auch
untadelhaft. Der Brief kommt mit dem Jnhalt
der mir ſo angenehmen Unterredung uͤberein. Allein
warum laͤſſet der Menſch die Gelegenheiten vorbey,
mir ſeine Geſinnung ſelbſt zu erkennen zu geben?
Warum klagt er gegen die Frau Greme uͤber die
Bedingungen, die ich ihm vorgeſchrieben habe? Er
iſt ſonſt nicht bloͤde. Sie behaupten zwar, daß ich
den Leuten eine Furcht einjage. Wie mein Hertz?
eine Furcht? wie fange ich das an?


Zuweilen entſtehet in mir eine recht leichtfertige
Rachbegierde, wenn ich dieſen loſen, dieſen ſchelmi-
ſchen Geiſt ertappe, und doch nicht recht ertappe.


Wie ſehr iſt mein Hochmuth geſtraft? Jch
wollte ein Vorbild anderer Frauenzimmer von mei-
nem Alter werden! Jetzt bin ich zufrieden, wenn
ich ihnen nur zur Warnung gereichen kann. Denn
ich werde mich doch nie unterſtehen duͤrfen, anderen
meines Geſchlechtes unter die Augen zu gehen, mein
Schickſal mag ſeyn, welches es will.


Q 2Es
[244]

Es iſt einer der betruͤbteſten Umſtaͤnde, in den
man ſich durch Unbedaͤchtlichkeit ſetzet, daß man al-
len die uns lieben, Kummer, und allen die uns und
unſere Familie haſſen, Freude verurſachet.


Wie nuͤtzlich koͤnnte dieſe Betrachtung ſeyn, wenn
man zu rechter Zeit, da eben der Ausſchlag unſeren
Entſchlieſſungen zu geben iſt, darauf gefuͤhret
wuͤrde!


Sie erkennen den Werth der Tugend bey einer
Manns-Perſon nicht genug. So edel auch ſonſt
Jhr Gemuͤth iſt, ſo ſind Sie doch von dem Fehler
nicht voͤllig rein, daß Sie das geringe ſchaͤtzen, was
Sie haben. Es wuͤrde Jhnen gewiß nicht in den
Sinn kommen, wenn Herr Lovelace Jhr Anbeter
waͤre, ihm auf eben die Art zu begegnen, wie ſich
der ihm weit vorzuziehende Herr Hickmann es ge-
fallen laſſen muß. Sie kennen doch die Perſon,
die von meiner Mutter an mich ſchrieb:
wer viel ertragen koͤnne, dem werde auch gemeinig-
lich viel zu tragen aufgelegt. Jch glaube Herr
Hickmann wuͤrde begierig ſeyn, den Nahmen die-
ſes Frauenzimmers zu wiſſen; in der gewiſſen Hoff-
nung, daß es ſeinen eigenen Satz zur Uebung brin-
gen werde: und er wuͤrde wuͤnſchen, daß dieſes
Frauenzimmer mit der Fraͤulein Howe bekannt
ſeyn moͤchte.


Ein artiges und edles Hertz iſt gewiß keine ver-
aͤchtliche Eigenſchaft einer Manns-Perſon. War-
um bekaͤme ſonſt der vornehmſte Stand den Nah-
men des Adels? einen Nahmen, den oft Fuͤrſten
nicht verdienen: weil uns nicht ſo wohl Geburt und
Guͤter
[245]
Guͤter als vielmehr die Eigenſchaften unſeres Ge-
muͤths und unſerer Tugend dieſes Nahmens wuͤr-
dig machen muͤſſen, und das Weſen des Adels ſind.
Soll der Satz, den Sie auch einmahl in Jhre Fe-
der flieſſen laſſen, allgemein ſeyn, und ſoll man auch
bey der Fraͤulein Howe keine Ausnahme machen:
daß es dem wildern und ungeſtuͤmern Theil der
Manns-Perſonen am beſten bey uns zu gelingen
pflegt.


Vergeben Sie mir dieſe Anmerckungen, und ent-
ziehen Sie mir derenthalben Jhre Liebe nicht. Denn
obgleich mein Gluͤck und aͤuſſere Umſtaͤnde ſich ge-
aͤndert haben, ſo iſt doch mein Hertz noch einerley,
und dieſes fuͤhret mir die Hand, wenn ich Jhnen
ſchreibe, daß es aufhoͤren muͤßte zu ſchlagen, wenn
es Jhnen nicht eben ſo ergeben waͤre, als


Jhre
Clariſſa Harlowe.



Der acht und zwantzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Herr Lovelace hat einige Gelegenheiten zu
Windſor beſehen, allein nicht eine eintzige
anſtaͤndige gefunden, die mit meiner Beſchreibung
uͤberein gekommen waͤre.


Q 3Er
[246]

Er ſagt: er ſey ſehr ſorgfaͤltig geweſen, meinem
Befehl buchſtaͤblich nachzukommen. Dieſes kommt
mir artig gehandelt vor: und es gefiel mir deſto
beſſer, weil er ſelbſt dieſe Stadt in Vorſchlag ge-
bracht hat, und mir dennoch nachher wiederrieth,
mich dahin zu begeben; denn er ſagte: nachdem er
dort geweſen waͤre, ſaͤhe er, daß er gantz die un-
rechte Stadt vorgeſchlagen haͤtte. Jch ſehnete mich
nach der Stille und Einſamkeit: Windſor aber
werde wegen ſeiner Annehmlichkeit ſehr viel beſuchet
und bewundert.


Jch antwortete ihm: wenn ich der Frau Sor-
lings
nicht zur Laſt gereichete, ſo wollte ich noch laͤn-
ger bey ihr bleiben, allein unter der Bedingung,
daß er mich verließe, und nach London, oder nach
ſeines Onckles Guͤtern, oder wohin es ihm ſonſt
beliebte, reiſete.


Er ſagte: er heffe zwar, daß ich vor meinem
Bruder voͤllig ſicher waͤre, und darum wolle er mir,
zum wenigſten auf einige Tage hierin gehorchen,
wenn es mir zum Vergnuͤgen gereichete. Er that
mir von neuen den Vorſchlag, daß er ſich nach Han-
nichen
erkundigen wollte. Jch ſagte: ich haͤtte
ſelbſt vor, dieſes durch Jhre Vermittelung zu thun.
Darf ich Sie demnach bitten, daß Sie an das gute
Maͤdchen ſchicken? Jhr Robert wird wohl wiſſen,
wo es ſich aufhaͤlt. Wenn ſie einen Monath Lohn
fahren laͤßt, ſo wird ihr vielleicht erlaubet, ſogleich
aus dem Dienſte zu gehen: und dieſen Monath
will ich ihr gut thun.


Er
[247]

Er bemerckte hierauf meine Ernſthaftigkeit, und
meine rothen Augen. Jch hatte eben Jhren Brief
beantwortet, und ich wuͤrde ihm einen ſehr ſchlechten
Willkommen gegeben haben, ohngeachtet wir bey
ſeiner Abreiſe einen beſſeren Abſchied nahmen, wenn
er nicht bey ſeiner Wiederkunft ſehr hoͤflich geweſen
waͤre, und mir eine ſolche Nachricht von ſeinen Be-
muͤhungen gegeben haͤtte, an der ich nichts auszu-
ſetzen fand, und auf mein erſtes Wort erboͤtig ge-
weſen waͤre, mich zu verlaſſen. Denn Jhr Brief
hatte einen ſolchen Eindruck bey mir gemacht, daß
ich meinen Verfuͤhrer, der an allem meinem Ungluͤck
Schuld iſt, nicht ohne Widerwillen erblickte, ſobald
er von der Reiſe zuruͤcke kam.


Er gab mir zu erkennen, daß er ein Schreiben
von der Lady Eliſabeth und ein anderes von der
einen Fraͤulein Montague erhalten haͤtte. Wenn
ſie meiner in dieſen Schreiben gedencken, ſo wun-
dere ich mich ſehr, daß ich nichts von dem Jnhalt
erfahre. Jch fuͤrchte, daß ſeine Anverwanten mit
andern der Meinung ſind, daß ich einen uͤbereilten
Schritt gewaget habe. Es wuͤrde mir zu ſchlechter
Ehre gereichen, wenn ſie erfahren ſollten, daß eine
unnoͤthige Furcht mich aller Ueberlegung beraubet
hat: vielleicht aber halten ſie mich nicht wuͤrdig in
eine Verbindung mit ihn zu treten, wenn ſie mei-
ne Flucht voͤllig fuͤr meine eigene, Wahl anſehen.
Wie koͤnnen uns nicht unſere Gedancken bey einem
jeden zweiſelhaften Falle beunruhigen, ſo bald wir
uns bewußt ſind, daß wir nicht recht gehandelt
haben.


Q 4Sonn-
[248]

Sonntags fruͤh.


Wie ſehr wird meine Unruhe und Misvergnuͤ-
gen dadurch vermehret, daß Herr Lovelace
ein Feind aller meiner Verwanten iſt! Er giebt ih-
nen Schuld, daß ſie unverſoͤhnlich ſind: ich befuͤrch-
te aber, daß dieſes Laſter eben ſo tief in ſeinem Her-
tzen eingewurtzelt iſt.


Jch konnte nicht unterlaſſen, mein aufrichtiges
Verlangen nach einer Verſoͤhnung mit ihnen ſehr
nachdruͤcklich zu bezeugen, und von neuen auf ſeine
baldige Entfernung von mir zu dringen, damit ich
mir den Weg zu der Ausſoͤhnung, die ich ſo ſehn-
lich wuͤnſchte, bahnen koͤnnte. Er fing hierauf an,
aus einem gantz anderen Ton zu reden: er beklagte
ſich, daß er gewiß das Verſoͤhn Opfer werden wuͤr-
de; und hielt ſich in ſehr freyen Ausdruͤcken uͤber
meinen Bruder, ja ſo gar uͤber meinen Vater auf.


So wenige Gefaͤlligkeit hat er gegen mich! Al-
lein es iſt ſtets (wie ich ihm ſagte) ſeine hoͤfliche
Art geweſen, meiner gantzen Familie veraͤchtlich zu
begegnen. Wie gottlos war es von mir gehandelt,
daß ich mit ihm Briefe wechſelte, da ich dieſes
wußte.


Jch ſetzte hinzu: allein erlauben Sie mir, ihnen
frey zu ſagen: ihre Heftigkeit und Verachtung gegen
mich mag ſie verfuͤhren noch ſo viel Boͤſes von mei-
nem Bruder zu ſagen; ſo werde ich doch nicht zu-
geben, daß von meinem Vater uͤbel geredet wird.
Es iſt genug, daß ich ſein vaͤterliches Hertz durch
meinen Ungehorſam betruͤbet habe, und daß ſeine
ehemahls ſo geliebte Tochter ihm durch allerhand
Kuͤnſte
[249]
Kuͤnſte geraubt iſt! das aber iſt gantz unertraͤglich,
wenn eben der, welcher an allen dieſen die Schuld
hat, ſich noch uͤber ihn aufhalten will.


Er brachte mancherley zu ſeiner Entſchuldigung
vor: allein (wie ich ihm ſagte) keine ſolche Ent-
ſchuldigung, die eine Tochter berechtigen konnte das
anzuhoͤren, oder eine Manns-Perſon, die ſich um
die Tochter bewuͤrbe, das zu reden, was ich von
ihm anhoͤren mußte.


Als er ſahe, das ich im Ernſt ungehalten war,
bat er um Verzeyhung: wiewohl ſeine Bitte nicht
von der demuͤthigſten Art war. Um aber die un-
angenehme Unterredung abzubrechen kam er auf die
beyden Briefe der Lady Eliſabeth Lawrance
und der Fraͤulein Montague, und las mir einige
Stellen daraus vor. Allein warum zeigete er ſie
mir nicht geſtern Abend? War er beſorgt, daß ſie
mir allzu vieles Vergnuͤgen verurſachen wuͤrden?


Die Lady Eliſabeth drucket ſich gegen mich auf
die verbindlichſte Art aus. Sie wuͤnſchet ihm eine
ſolche Aenderung an, die mir Muth geben koͤnne,
ihn gluͤcklich zu machen. Sie laͤßt ihre Empfeh-
lung an mich machen, und wuͤnſchete ein ſo aus-
nehmendes und ruhmvolles Frauenzimmer (dieſes
ſind ihre eigene Worte) bald als ihre Baſe zu ſehen.
Sie will es ſich fuͤr eine Ehre ſchaͤtzen, wenn ſie
Gelegenheit hat, mir einige Gefaͤlligkeit zu erzeigen.
Sie hoffet, ich wuͤrde den gluͤcklichen Tag unſerer
naͤhern Verbindung nicht allzulange aufſchieben:
denn dieſes werde ſie und der Lord M. nebſt der
Lady Sarah fuͤr das ſicherſte Merckmahl der Beſ-
Q 5ſerung
[250]
ſerung ihres Vetters anſehen. Sie habe ſtets mit
vielen Kummer gehoͤrt, was ich um ſeinetwillen ha-
be ausſtehen muͤßen. Er wuͤrde der undanckbar-
ſte Menſch von der Welt ſeyn, wenn er mir dieſes
nicht erſetze; und ſie halte es fuͤr eine Schuldigkeit
ihrer gantzen Familie, mir in allen Stuͤcken ſo zu
begegnen, daß mir die verlohrne Freundſchaft mei-
ner eigenen Familie erſetzt werde. Sie traͤgt ihm
auf, mir zu verſichern, daß ſie an ihrem Theil nichts
wolle mangeln laſſen, dieſes zu thun.


Sie erinnert: daß die harte Auffuͤhrung der
Meinigen gegen mich unbegreiflicher geweſen ſeyn
wuͤrde, da er ſo viele eigene und von dem Gluͤck
ihm geliehene Vorzuͤge beſitze, wenn er nicht ſelbſt
durch ſeine Auffuͤhrung einige Urſache darzu gege-
ben haͤtte. Allein ſie hoffe, er werde die Harlowi-
ſche
Familie uͤberzeugen, daß ſie ihn fuͤr ſchlimmer
angeſehen haͤtten, als er in der That waͤre; indem
es nun in ſeiner Macht ſtehe, einen beſſeren Ruhm
auf Lebenslang zu erhalten. Sie betete zu Gott,
daß er ihm Gnade geben moͤge, dieſes zu thun, ſo
wohl zu ſeiner eigenen, als zu des gantzen Hauſes
Ehre. (So lautete der vornehme Seuffzer) Sie
verlanget von unſerer Hochzeit die erſte Nachricht
zu haben, damit ſie ihre Wuͤnſche bey einer ſo an-
genehmen Gelegenheit ſo fruͤh als es moͤglich ſey zu
uͤberſchreiben die Freude habe.


Jndeſſen finde ich in dem gantzen Briefe gar kei-
ne Einladung fuͤr mich, zu ihr zu kommen, ehe wir
getrauet ſind: die ich doch nach ſeinen Reden haͤtte
erwarten ſollen.


Er
[251]

Er zeigte mir auch einen Theil von dem was
die Fraͤulein Montague mit einer mehr munteren
Feder geſchrieben hatte. Sie wuͤnſchten ihm Gluͤck
zu dem Vertrauen, das ein ſo unvergleichliches Frau-
enzimmer in ihn geſetzt habe. (Dieſes ſind ihre ei-
genen Worte. Wie gefaͤllt Jhnen der Ausdruck:
Vertrauen? Niemand wuͤrde es anders glauben,
wenn ich ihm gleich die reine Wahrheit ſagen duͤrfte.
Sie ſehen, daß meine Flucht mit ihm der Fraͤulein
Montague, und vermuthlich ſeiner gantzen Fami-
lie, etwas ſonderbares und etwas unerwartetes zu
ſeyn ſcheinet.) Sie wuͤnſchet, daß er bald Hochzeit
halten, und ihre neue Baſe nach M. ‒ ‒ Hall brin-
gen moͤge. Eben dieſes wuͤnſche der Lord M. ihre
Schweſter, und alle Freunde der Familie. So bald
dieſer gluͤckliche Tag voruͤber iſt, verſpricht ſie mich
nach M. ‒ ‒ Hall abzuhohlen, wenn der Lord
M. das Podagra noch eben ſo heftig haben ſollte.
Wenn es ſich aber mit ihm beſſert, ſo haͤlt ſie ſich
verſichert, daß er mich ſelbſt abhohlen, und uns eins
von ſeinen Guͤtern uͤberlaſſen werde, bis wir uns
voͤllig eingerichtet haͤtten.


Allein die Fraͤulein ſagt nichts zu ihrer Entſchul-
digung, daß ſie nicht unterweges oder zu St. Alban
mir Geſellſchaft geleiſtet hat, dazu er mir doch Hoff-
nung gemacht hatte. Doch meldet ſie, daß ſie un-
paß geweſen iſt. Auch bekraͤftiget ihr Brief ſeine
Erzaͤhlung in dem Stuͤck, daß der Lord M. das
Podagra heftig gehabt habe.


Der
[252]

Der neun und zwantzigſte Brief.
Eine Fortſetzung des vorigen.


Dieſe Briefe machten mich, wie Sie leicht den-
cken koͤnnen, aufgeraͤumter gegen ihn. Er
ſahe die Veraͤnderung an meinem Geſicht, und gab
mir ſeine Freude daruͤber zu erkennen. Allein das
wundert mich, daß ich den Jnhalt dieſer Briefe
nicht ſchon geſtern Abend erfahren habe.


Er verlangte hierauf von mir, gleich zu der Lady
Eliſabeth zu reiſen.


Jch ſagte: wie kann ich aber das thun, wenn ich
auch nicht die geringſte Hoffnung zur Ausſoͤhnung
mit den Meinigen haͤtte, dazu ich doch einige Mit-
tel anwenden und es verſuchen muß, ob ſie ihren
Zweck erreichen? Wie kann ich es thun, da ich
keine naͤhere Erlaubniß ihrer Gnaden vor mir habe?


Er ſagte: er wiſſe gewiß, die Einladung ſey nur
deshalb ausgelaſſen, weil ſie befuͤrchtet haͤtte, ich
moͤchte eine abſchlaͤgige Antwort geben: ſonſt wuͤr-
de ſie mich mit dem groͤſſeſten Vergnuͤgen von der
Welt gebeten haben, ihr dieſe Ehre zu erzeigen.


Selbſt dieſer Zweiffel der Lady Eliſabeth (ant-
wortete ich) ſey ſchon hinlaͤnglich mich abzuſchre-
cken. Sie wiſſe ſo wohl, was ſich ſchicke und nicht
ſchicke: da ſie nun befuͤrchtet habe, daß ich eine ab-
ſchlaͤgige Antwort geben wuͤrde, ſo muͤßte ſie es mir
als einen Fehler auslegen, wenn ich die Einladung
angenommen haͤtte. Allein dieſer Fehler wuͤrde noch
groͤſſer ſeyn, wenn ich ohne eine Einladung kaͤme.
Endlich (ſagte ich) habe ich es Jhnen zu dancken,
mein Herr, daß ich nicht einmahl mit anſtaͤndiger
Kleidung verſehen bin.

Er
[253]

Er antwortete: ich koͤnnte in einem jeden koͤnig-
lichen Vorgemach ohnbeſchaͤmt erſcheinen: und ich
wuͤrde gewiß die liebenswuͤrdigſte (vielleicht die ſon-
derbarſte) Perſon darin ſeyn. Er verwunderte ſich
uͤber meine ungekuͤnſtelte und dennoch zierliche Klei-
dung. Er wiſſe nicht wie ich es anfinge; allein mei-
ne Kleidung ſehe jedesmahl ſo neu aus, als wenn
ich ſie alle Tage veraͤnderte. Es wuͤrden aber uͤber
dieſes die Fraͤuleins von Montague mir mit allen
Arten von Kleidung, die ich brauchte, aufzuwarten
ſuchen. Er wolle deshalb an Fraͤulein Lottgen
ſchreiben, wenn ich es ihm erlaubete.


Meinen ſie, (ſagte ich) daß ich die Dohle des
Aeſopus bin? Soll ich fremde in den Kleidern, die
ich von ihnen ſelbſt geborgt habe, beſuchen? Sie
muͤſſen mich entweder fuͤr ſehr niedertraͤchtig, oder
fuͤr ſehr zuverſichtlich anſehen.


Er fragte: ob es mir denn gefaͤllig waͤre, auf
einige Tage nach London zu reiſen, um mich mit
Kleidung zu verſorgen?


Nicht auf ſeine Koſten: antwortete ich. Jch
haͤtte noch nicht die Gemuͤths-Faſſung, daß ich in
ſeiner Liverey gehen koͤnnte.


Gewiß, mein Schatz, er wuͤrde allen meinen
Unwillen uͤber ſeine Kuͤnſte fuͤr Verſtellung gehal-
ten haben, wenn ich nicht bey Gelegenheit meinen
Verdruß uͤber die Unbequemlichkeiten, die ich ihm
zu dancken habe, haͤtte mercken laſſen. Wenn Leute
im Zanck zuſammen kommen, ſo iſt nachher der
fortdaurende Zanck nicht wohl zu vermeiden.


Er wuͤnſchte, daß er nur meine wahre Meinung
wuͤßte.
[254]
wuͤßte. Die ſollte ſein Geſetz ſeyn, ſie moͤchte auch
ausfallen, wie ſie wollte.


Meine Meinung iſt, daß ſie mich den Augenblick
verlaſſen ſollen. Wie oft ſoll ich ihnen das ſagen?


Er wollte mir gehorchen, wenn ich nur an einem
andern Orte waͤre. Er wuͤrde es allen andern
Vorſchlaͤgen vorziehen, (einen eintzigen ausgenom-
men, den er nicht nennen duͤrfte,) wenn ich auf
mein Recht dringen wollte. Alsdenn wuͤrde ich
Freyheit haben, ſeinen Beſuch anzunehmen oder
abzuſchlagen: ich wuͤrde bloß den Briefwechſel mit
ihm fortſetzen: und die gantze Welt wuͤrde erkennen,
daß der eintzige Endzweck meiner bisherigen Hand-
lungen geweſen ſey, mich in Freyheit zu ſetzen.


Wie oft ſoll ich ihnen ſagen, (antwortete ich)
daß ich mit meinen Vater nicht vor Gericht gehen
will? Meinen ſie daß mein Ungluͤck mir eine andere
Erklaͤrung des vierten Gebots beybringet, in ſo fern
mir es noch moͤglich, meine Pflicht gegen meine El-
tern zu erfuͤllen? Wie kann ich ohne Proceß zum
Beſitz meines Gutes gelangen? oder ohne Huͤlffe
der in dem Teſtament benanten Perſohnen, die vor
die Erfuͤllung zu ſorgen haben? der eine von dieſen
iſt auſſer Landes, und der andere iſt mir zuwider.
Alles dieſes wuͤrde Zeit erfodern, wenn ich auch ih-
ren Rath folgen wollte. Jch verlange weiter nichts,
als daß Sie ſich alſobald entfernen, und mich in voͤl-
liger Freyheit laſſen.


Der unartige Menſch fing an bey ſeiner Seele
zu ſchwoͤren, daß es jetzt nicht ſicher ſey, ſich von
mir zu entfernen. Er haͤtte mir die Urſachen ſchon
geſagt,
[255]
geſagt. Er hoffete, ich wuͤrde auf einen Ort den-
cken, nach dem ich mich begeben koͤnnte, und der
nach meinem Sinne waͤre. Er muͤſſe ſich indeſſen
die Freyheit nehmen zu ſagen, daß er nicht glaube
durch ſeine Auffuͤhrung es verdient zu haben, daß
ich ſo ernſtlich auf ſeine Entfernung draͤnge, ſon-
derlich, da ich mich faſt ewig einſchloͤſſe, ob er gleich
nie unerbauet und ohne einen neuen Vorſatz ſich zu
beſſern von mir ginge.


Jch ſchließe mich ewig ein? (ſagte ich.) Jch
hoffe doch, ſie werden es mir nicht unguͤtig deu-
ten, daß ich mich nicht will uͤberfallen laſſen, wenn
ich vor mich bin. Sie werden mich doch nicht vor
ſo ſchwach anſehen, (ohngeachtet ich mich in einer
wichtigen Sache ſo jung aufgefuͤhrt habe) daß ſie
glauben, ich ſey begierig ihre artigen Reden zu
hoͤren, wenn keine neue Umſtaͤnde den oͤftern Be-
ſuch noͤthig machen. Wollen ſie etwan ſo mit mir
umgehen, als hielte ich fuͤr unentbehrlich, daß mir
ihre Ehrlichkeit alle Stunden durch neue Eidſchwuͤ-
re verſichert werde?


Er ſchien nicht recht zu wiſſen, was er ſagen
ſollte.


Jch fuhr fort, ſie wiſſen die Urſache wohl, wes-
wegen ich ſo ernſtlich auf ihre Entfernung dringe:
damit nehmlich die Welt glauben moͤge, daß ich
ihnen nicht verpflichtet ſey; und es mir leichter wer-
de, mich mit meinen Freunden auszuſoͤhnen. Damit
ihnen dieſe Verſoͤhnung nicht ſo fuͤrchterlich vorkom-
men moͤge, ſo verſpreche ich ihnen, nachdem ich
das Gluͤck genieße, bey ihren vornehmen Anver-
wanten
[256]
wanten ſo wohl angeſchrieben zu ſeyn, daß ich
ihnen ſchriftlich von allem was ich in der
Sache vornehme und von allen Antraͤgen Nach-
richt geben will, ſo bald ſie ſich von mir ent-
fernen. Die Meinigen wiſſen, daß ich Recht habe
mit meinem großvaͤterlichen Vermaͤchtniß auf eine
ſolche Weiſe zu ſchalten und zu walten, die ihnen an-
genehm oder unangenehm ſeyn kann, ob ich es gleich
der Familie nicht gantz entziehen kann. Wenn ſich
die erſte Hitze geleget hat, ſo werden ſie zum wenig-
ſten in dieſer Abſicht ſich nicht gar zu unvernuͤnftig
gegen mich betragen; ſo bald ſie wiſſen, daß ich in
keiner Verbindung mit ihnen ſtehe.


Er fing an meine richtigen Schluͤſſe zu bewun-
dern. Mein Verſprechen war alles was er nur hof-
fen oder wuͤnſchen konnte. Es war mehr, als er ſich
wuͤrde unterſtanden haben zu bitten. Was fuͤr eine
Gluͤckſeeligkeit, wenn man ſich auf das Wort eines
edelmuͤthigen Frauenzimmers verlaſſen darf?
Wenn er gleich zu Anfang ein Frauenzimmer von
ſolchem Gemuͤthe angetroffen haͤtte, ſo wuͤrde er nie
von der Bahn der ſtrengeſten Tugend abgewichen
ſeyn. Jedoch auch das Ungluͤck moͤchte zu ſeinem
Beſten verhaͤnget ſeyn: denn er wuͤrde ſonſt nie zu
dem Gluͤck gelanget ſeyn, auf welches er jetzt hoffen
duͤrfte, weil ihm ſeine Anverwanten ſtets angelegen
haͤtten, ſich zu verheyrathen, ehe er mich noch ge-
kannt haͤtte. Da er nicht voͤllig ſo ſchlimm ſeye, als
ihn einige Leute machten, ſo habe er vielleicht mehr
Ruhm von ſeiner Beſſerung, als wenn er nie
ſchlimm geweſen waͤre.


Jch
[257]

Jch ſagte: ich ſetzte zum voraus, daß er mei-
nen richtigen Schluͤſſen beypflichtete, und entſchlos-
ſen waͤre, mich allein zu laſſen. Hierauf fragte ich:
was er bey ernſthafter Ueberlegung in meinen jetzi-
gen Umſtaͤnden fuͤr einen Rath geben wollte? Er
koͤnnte leicht mercken, daß ich unentſchloſſen waͤre.
Jch ſey gantz fremde in London, und haͤtte jetzt
weder Freunde noch Rathgeber. Was ihn anlan-
ge, ſo fehle es ihm (falls ich die Wahrheit ſagen
duͤrfte) noch ſehr, nicht an der Erkentniß, doch zum
wenigſten an der Ausuͤbung deſſen, was man zu der
Lebensart rechnete, die ich an einem Cavallier ſuchte.


Er glaubt, ſo viel ich mercke, von ſich, daß er
ſehr viel Lebens-Art habe; und es iſt ihm unertraͤg-
lich, wenn ihm dieſer Vorzug abgeſprochen wird.
Er warf den Mund in die Hoͤhe: ‒ ‒ ‒ es thut mir
leyd, Fraͤulein. Ein Cavallier, ein wohlgezogener
Menſch iſt mit ihrer Verguͤnſtigung (er verfaͤrbete
ſich einmahl uͤber das andere) bey ihnen mehr als
bey anderen Frauenzimmern, ein ſolches Wunder-
Thier, das man auf Erden kaum antreffen wird.


Das iſt ein Ungluͤck fuͤr ſie, Herr Lovelace, und
auch fuͤr mich, ſo lange ich in meinen jetzigen Um-
ſtaͤnden bin. Ein jedes Frauenzimmer, das ſo viel
von ihnen wuͤßte, als ich nunmehr weiß, wuͤrde
ſagen, daß ihre Hoͤflichkeit ſehr unbeſtaͤndig iſt. (Jch
nahm mir vor, ſeinem Hochmuth wehe zu thun,
wie er es verdienet.) Sie iſt ihnen ungewoͤhnlich.
Jhre Lebens-Art uͤberfaͤllt ſie nur mit Hitze und
Froſt. Man muß ſie erſt daran erinnern, daß ſie
hoͤflich ſeyn ſollen.


Dritter Theil. RO
[258]

O GOtt! o GOtt! ich ungluͤckſeeliger! (Dieſes
war ſein leichter Stoß-Seufzer uͤber meinen Ver-
weiß.)


Jch fuhr fort: gewiß, Herr Lovelace, ſie ſind
nicht der vollkommen-artige Cavallier, der ſie ſeyn
koͤnnten, wenn ſie ihre Natur und die viele Gele-
genheit, die ſie gehabt haben, recht angewandt haͤt-
ten. Jn allen loͤblichen Eigenſchaften ſind ſie noch
ein Neuling. (Jch erinnerte mich, daß er oft von
Neulingen und Fuͤchſen zu reden pflegt.)



Der dreißigſte Brief.
Eine Fortſetzung des vorigen von der Fraͤulein
Clariſſa Harlowe.


Jch wollte ihm noch mehr unangenehme Wahr-
heiten beichten, weil es ſchien, daß ihm die
bisherigen nicht ſehr zu Hertzen gingen. Allein er
unterbrach mich: meine allerliebſte Fraͤulein, ſcho-
nen ſie meiner. Es thut mir leyd, daß ich ſo lange
in der Welt gelebet habe, ohne zu lernen, wie ich le-
ben ſoll. Sie wuͤrden aber eine viel angenehme-
re und noͤthigere Unterredung nicht ſobald abgebro-
chen haben, wenn ſie nicht eine grauſame Art von
Vergnuͤgen darin faͤnden, daß ſie einen Mann kraͤn-
cken koͤnnen, der ſchon vorhin ſo viel Mistrauen in
ſich ſelbſt ſetzte, daß er ſich nie unterſtand, ihnen die
Haͤlfte deſſen deutlich zu ſagen, was er auf dem
Hertzen hat. Seyn ſie doch ſo guͤtig, und ſetzen ſie
die vorige Unterredung fort. Auf ein anderes mahl
will
[259]
will ich mit Freuden alle Verweiſe von einer Perſon
annehmen, die in der gantzen Welt die geſchickteſte
iſt, mich durch Verweiſe zu beſſern.


Sie reden bisweilen von Beſſerung, Herr Lo-
velace,
und bekennen dadurch, daß ſie Fehler ha-
ben. Allein ich ſehe doch, daß es ihnen unertraͤg-
lich iſt, wenn man ihnen etwas verweiſet; ſo ſehr
ſie auch Gelegenheit dazu geben. Es ſey ferne von
mir, daß ich ein Vergnuͤgen in dem Tadeln finden
ſollte: vielmehr wuͤrde ich um ihrent und um mei-
nent willen bey jetzigen Umſtaͤnden froh ſeyn, wenn
ich blos Urſache haͤtte ſie zu ruͤhmen. Allein ſolche
Verſehen, uͤber die auch ein nicht allzu empfindli-
ches Gemuͤth empfindlich werden muß, koͤnnen von
einer Perſon nicht mit Stillſchweigen uͤbergangen
werden, die nicht ſelbſt das Anſehen haben will, als
ſpreche ſie ſich bisweilen von ihren Pflichten los.


Jch bewundere ihre ſehr genauen Begriffe von
dem was geziemend und unanſtaͤndig iſt. Ob ſie
gleich zu meinem Nachtheil gereichen, ſo wollte ich
doch gewiß nicht, daß ſie andere Begriffe haͤtten.
So bald ich es recht uͤberlege, ſo freue ich mich uͤber
ſie. Sie ſind ihrem Gemuͤthe nach ein rechter En-
gel, und uͤber alle von ihrem und unſerem Geſchlech-
te erhaben. Dieſes iſt ihre Natur, Fraͤulein: daher
verwundern ſie ſich, wenn ‒‒‒ Allein ſie haben auf
Erden ihres gleichen nicht.


(Jn was fuͤr Geſellſchaft hat der Schmeichler
meines gleichen geſucht?


Allein wieder auf die vorige Sache zu kommen:
ſo waren ſie ſo guͤtig, mich zu fragen, was ich ihnen
R 2rathen
[260]
rathen wollte. Jch wollte ſie gerne vergnuͤgt und
in einem ihnen ſelbſt anſtaͤndigen Hauſe ſehen, da
ſie ihre treue Hannichen bey ſich haben koͤnnte. Jch
wuͤnſchte, daß ſie einige Hoffnung zu der ſo ſehr ge-
wuͤnſchten Verſoͤhnung haben moͤchten. Jch will
ihnen einige Vorſchlaͤge thun: vielleicht iſt einer
darunter ſo gluͤcklich, ihnen nicht zu misfallen.


Jch will mit der Frau oder Fraͤulein Howe
ſprechen, oder mit wem ſie mir befehlen, und aus-
zuwuͤrcken ſuchen, daß ſie ſich bey ihnen aufhalten
koͤnnen.


Oder wollen ſie lieber nach Florentz zu dem Obri-
ſten Morden reiſen? Jch will ihnen alle Be-
quemlichkeit verſchaffen, die zu dieſer Reiſe noͤthig
iſt: es ſey nun daß ſie zu Waſſer nach Livorno zu
gehen, oder zu Lande durch Franckreich zu reiſen
Luſt haben. Vielleicht kann ich eine von meinen
Baſen bereden, daß ſie ihnen Geſellſchaft leiſtet.
Beyde Fraͤuleins von Montague wuͤrden eine ſol-
che Gelegenheit, Franckreich und Jtalien zu ſehen,
mit Freuden annehmen. Jch will ſie blos zu ih-
rer Sicherheit begleiten: ich will mich verkleiden,
wenn ſie es befehlen, ich will Livrey tragen, und
mich fuͤr ihren Bedienten ausgeben, damit meine
Geſellſchaft ihrer Ehre auf keine Weiſe nachtheilig
ſeyn koͤnne.


Jch antwortete ihm: ich wollte alles dieſes uͤber-
legen. Jch hoffete jetzt auf Briefe, wo nicht von
meiner Schweſter, dennoch von meiner Baſe Her-
vey,
indem ich an beyde geſchrieben haͤtte. Wenn
ich dieſe erhielte, ſo wuͤrden ſie einen groſſen Einfluß
in
[261]
in meine Entſchlieſſungen haben koͤnnen. Jndeſſen
wollte ich jetzt allein ſeyn, und das uͤberlegen, was
er von dem Obriſten Morden geſagt haͤtte. Wenn
dieſer Vorſchlag mir thunlich vorkaͤme, und wuͤrdig
ſchiene Jhren Rath daruͤber einzuhohlen, ſo ſollte
er vor Verflieſſung einer Stunde Nachricht davon
haben.


Er verließ mich ſehr ehrerbietig, und kam nach
einer Stunde wieder. Jch meldete ihm: es waͤre
nicht noͤthig, daß ich Sie bemuͤhete, und Sie um
Jhre Meinung fragte. Mein Vetter werde in kur-
tzem von Florentz zuruͤck erwartet. Jch koͤnnte auch
nicht zugeben, daß er in irgend einiger Verkleidung
in meiner Geſellſchaft waͤre. Es ſey gar nicht wahr-
ſcheinlich, daß eine von ſeinen Baſen mit mir reiſen
wuͤrde: und wenn ſie mir auch dieſe Guͤtigkeit er-
zeigeten, ſo wuͤrde es doch die Welt nicht anders
anſehen, als wenn er ſelbſt mitreiſete.


Dieſes gab Gelegenheit zu einer andern Unterre-
dung, deren Jnhalt ich bis auf den naͤchſten Brief
verſpare.



Der ein und dreißigſte Brief
Eine Fortſetzung des vorigen von der Fraͤulein
Cl. Harlowe.


Herr Lovelace ſagte mir: weil er zum voraus
befuͤrchtet haͤtte, daß ich Schwierigkeiten bey
einer Reiſe nach Florentz finden wuͤrde, ſo haͤtte
er zum voraus auf einen anderen mir angenehmen
R 3Vor-
[262]
Vorſchlag gedacht, durch den er mich uͤberzeugen
koͤnnte, daß er meine Beruhigung ſeinem allergroͤſ-
ſeſten Vergnuͤgen vorzoͤge.


Er erbot ſich hierauf, ſich perſoͤhnlich zu bemuͤ-
hen, daß ich meine Hannichen zur Auffwartung be-
kommen moͤchte. Weil ich keine von den beyden
Jungfern Sorlings in meine Dienſte nehmen
wolte, ſo koͤnnte er nicht eher ruhig ſeyn, bis ich ein
anderes Cammer-Maͤdchen haͤtte, auf deſſen Treue
ich mich vollkommen verlaſſen koͤnnte.


Jch antwortete: Sie wuͤrden die Guͤtigkeit ha-
ben, Hannichen wieder zu miethen, wenn es moͤg-
lich waͤre.


Er ſchlug vor: wenn es nicht moͤglich waͤre, ſo
wollte er Jhnen ſeine Aufwartung machen, und
Sie um Jhr eigenes Cammer-Maͤdchen anſpre-
chen, bis ich ſonſt nach Wunſch verſorget waͤre.


Jch antwortete: Jhre Frau Mutter ſey mit
meiner Flucht, die ſie fuͤr vorſaͤtzlich hielte, ſo uͤbel
zufrieden, daß Sie es nicht wagen duͤrften, ſich mei-
ner oͤffentlich anzunehmen.


Er erſtaunete gantz hieruͤber, weil Jhre Frau
Mutter ſonſt immer ſo viel auf mich gehalten haͤtte,
und Sie ſo viel bey ihr vermoͤchten, wie Sie denn
auch werth waͤren, viel bey ihr zu vermoͤgen.
Er wuͤnſcht, daß nur nicht eben die Perſon mit im
Spiel waͤre, die ſich ſo viele Muͤhe gebe, meinen
Vater und ſeine Bruͤder aufzuhetzen.


Jch ſagte: ich fuͤrchtete allerdings, daß mein
Bruder Schuld daran haben moͤchte. Mein Onckle
Anton wuͤrde ſich aus eignem Triebe nicht ſo viele
Muͤhe
[263]
Muͤhe gegeben haben, die Frau Howe gegen mich
einzunehmen, als ich hoͤrte, daß er gethan haͤtte.


Er fragte mich: da ich nicht zu der Lady Eliſa-
beth
reiſen wollte, ob ich dennoch einen Beſuch
von der Fraͤulein Montague annehmen, oder es
genehm halten wollte, wenn ſie mir ihr Cammer-
Maͤdchen uͤberließe?


Jch ſagte: dieſer Vorſchlag waͤre mir angenehm.
Jch wollte nur erſt erwarten, ob mir meine Freunde
meine Kleidung ſchicken wuͤrden, damit ich nicht gar
zu liederlich ausſehen moͤchte.


Wenn es mir beliebig waͤre ſo wollte er noch-
mahls nach Windſor reiſen, und ſich erkundigen,
ob ich bey einem der Dom-Herren, oder in einem an-
dern feinen Hauſe eine anſtaͤndige Miethe bekom-
men koͤnnte.


Jch fragte: ob ſeine Einwendungen, die er gegen
Windſor gemacht haͤtte, nicht eben ſo ſtarck waͤren,
als vorhin? Ob nicht noch eben ſo viele Fremde da-
hin zu kommen pflegten?


Jch erinnerte mich, daß ſie in einem Jhrer vo-
rigen Briefe London als den bequemſten Ort, ſich
verborgen zu halten, vorgeſchlagen haben. Jch
antwortete deswegen: weil er ſo viel Einwendun-
gen dagegen machte, mich hier allein zu laſſen, daß
ich zum voraus ſaͤhe, es wuͤrde nie etwas daraus
werden; und mir verſpraͤche, mich zu verlaſſen, ſo-
bald ich an irgend einem andern Orte waͤre; und
ſich ſeine Gegenwart gar nicht fuͤr mich ſchickte: ſo
haͤtte ich Luſt, nach London zu reißen, wenn ich je-
mand in der Stadt kennete.


R 4Weil
[264]

Weil er mir London einige mahl vorgeſchlagen
hatte, ſo erwartete ich, daß er dieſen Vorſchlag
alſobald ergreiffen wuͤrde. Er ſtellete ſich aber
gantz kaltſinnig: ob gleich ſein Auge zu verrathen
ſchien, daß mein Vorſchlag ihm gefiele. Wir ge-
ben einander beyde ſehr genau auf die Augen Acht;
und ſcheinet faſt, daß wir uns vor einander fuͤrchten.


Er that mir hierauf den angenehmen Vorſchlag,
die Frau Norton zu erſuchen, daß ſie mir Ge-
ſellſchafft leiſten moͤchte. Er ſetzte dazu, nun ſaͤhe
er doch endlich an meinen Augen, daß er etwas ge-
troffen haͤtte, das mir und ihm angenehm ſey. War-
um ich doch vorhin nicht von freyen Stuͤcken dar-
auf gefallen waͤre? Er ergriff meine Hand! ſoll ich
ſchreiben? ſoll ich jemand hinſchicken? ſoll ich ſelbſt
hinreiſen und die Frau hohlen?


Nachdem ich mich ein wenig bedacht hatte, ant-
wortete ich ihm: der Vorſchlag ſey mir zwar an-
genehm. Allein ich befuͤrchtete, die gute Frau
moͤchte dadurch in verdrießliche Umſtaͤnde gerathen.
Denn es wuͤrde ſich fuͤr eine Witwe der man ſo viele
Ueberlegung zutrauet, nicht ſchicken, ſich mit
einer entlauffenen Tochter gleichſam gegen ihre
Eltern zu vereinigen. Ueber dieſes wuͤrde ſie hie-
durch gaͤntzlich mit meiner Mutter zerfallen, ohne
daß ich in dem Stande waͤre, ihr den Schaden, den
ſie dabey litte, gut zu thun.


Seine Antwort war artig und edelmuͤthig genug:
o mein Hertzens-Kind, das letzte muß keine Hin-
derniß ſeyn. Jch will alles fuͤr die Frau thun, was
ſie wuͤnſchen koͤnnen. Erlauben ſie mir, daß ich ſie
hohle.

Jch
[265]

Jch erwiederte, vielleicht mit einer Kaltſinnig-
keit, die ſich zu ſeinem artigen Anerbieten nicht ſchick-
te: ich hoffete gantz gewiß auf eine baldige Nach-
richt von meinen Freunden. Waͤhrender Zeit wollte
ich niemanden die Feindſchaft der Meinigen zuzie-
hen; und am allerwenigſten der Frau Norton,
von der ich hoffete, daß ſie mir durch ihre Vermit-
telung zu ſtatten kommen koͤnnte, wenn ſie ſich nicht
allzufruͤh offenbar zu meiner Parthey ſchluͤge. Die
gute Frau hat auch ein ſo vornehmes Gemuͤth, ohn-
geachtet ihrer wenigen Mittel, daß ſie ungern
jemanden auf eine bedenckliche Art verbunden ſeyn
wuͤrde.


Auf eine bedenckliche Art? ſagte er. Haben
nicht tugendhafte Perſonen ein Recht, jedermanns
Wohlthaten anzunehmen? Die Frau Norton hat
ſolche Eigenſchaften an ſich, daß ich mich verpflich-
tet halten wuͤrde, ihr zu dienen, ſo bald ſie mir die-
ſe Erlaubniß giebet; wenn ſie auch meine Verpflich-
tung nicht dadurch vermehrete, daß ſie mir es moͤg-
lich macht, ihnen ein Vergnuͤgen zu verſchaffen.


Wie iſt es moͤglich, daß ein Menſch, der im
Stande iſt ſo richtig zu dencken, dennoch durch uͤbele
Gewohnheiten ſo verdorben wird, daß er die Gaben,
die ihm die Natur verliehen hat, durch Laſter ver-
ſtellet! Jch dachte bey mir ſelbſt: ſollte bey einem
ſolchen Menſchen die Hoffnung, die er mir neulich
machte, ungegruͤndet ſeyn, daß er durch ein Vorbild,
das ich ihm um ſein ſelbſt und um meinet willen zu
geben ſchuldig bin, ſollte koͤnnen zu ſeinem und zu
meinem Beſten geaͤndert werden!


R 5Jch
[266]

Jch ſagte: mit ihrer Erlaubniß, Herr Lovela-
ce,
ich finde ſehr viel widerſprechendes in ihrem
Gemuͤthe. Sie muͤſſen ſich recht Muͤhe gegeben
haben, einige gute Gedancken zu unterdruͤcken, ſo
bald ſie zu keimen angefangen haben: oder ſie muͤſ-
ſen auſſerordentlich leichtſinnig ſeyn. Jndeſſen bin
ich nicht im Stande, wegen der Frau Norton
eine andere Entſchlieſſung zu faſſen, bis ich Nach-
richt von Hauſe bekomme.


Jch kann weiter nichts ſagen, Fraͤulein, (ant-
wortete er) als: ich war begierig, etwas auszufin-
den, das ihnen angenehm ſeyn koͤnnte. Da ich aber
ſo gluͤcklich nicht bin, ſo bitte ich ſie recht ſehr, ſagen
ſie mir ſelbſt, was ſie wuͤnſchen? Jch will alles in
der Welt eingehen, dieſes eintzige ausgenommen,
daß ich ſie in dieſem Hauſe nicht allein laſſen kann,
da ich meine Wohnung allzu weit abnehmen muͤßte,
und nicht im Stande waͤre, gleich bey der Hand zu
ſeyn, wenn es die Umſtaͤnde erfordern ſollten, ſon-
derlich nachdem aus Mangel der noͤthigen Vorſich-
tigkeit von meiner Seite die Schmarutzers, meine
Diener, es uͤberall bekannt gemacht haben, daß wir
hier ſind. Dieſes Geſchmeiß kann ohnmoͤglich un-
terlaſſen zu prahlen, wenn es bey einem Cavallier
von guter Familie in Dienſten iſt. Sie ruͤhmen
ſich der Ahnen und Herkunft ihres Herren, nicht an-
ders, als wenn ſie mit ihm verwandt waͤren. Nichts
was ſie von ſeinen Umſtaͤnden wiſſen, bleibt in ihren
Gelagen verſchwiegen, wenn es auch den Herrn
um den Hals bringen koͤnnte.


Wie
[267]

Wie ſorgfaͤltig, (dachte ich bey mir ſelbſt) ſoll-
ten die Herren ſeyn, ihren Bedienten Gelegenheit
zu geben, daß ſie etwas loͤbliches von ihnen ſagen
koͤnnten! Zu ihm ſagte ich: ich bin gantz und gar
unſchluͤßig, was ich thun ſoll. Wollten ſie mir
wohl im Ernſt rathen, nach London zu gehen?


Jch gab hiebey genau auf ſeine Augen Achtung,
allein dieſesmahl wurden ſie ſeine Verraͤther nicht.


Zu Anfang (ſagte er) brachte ich London in
Vorſchlag, weil ich befuͤrchtete, daß die Jhrigen
uns nachſetzen moͤchten. Da ſich aber die erſte Hitze
abgekuͤhlt zu haben ſcheint, ſo iſt mir jetzt weniger
daran gelegen, welchen Ort ſie waͤhlen. Machen
ſie es wie es ihnen beliebet. Wenn ſie vergnuͤgt
ſind, ſo bin ich gluͤcklich.


Weil er ſo gelaſſen antwortete, ſo bekam ich wirck-
lich einige Luſt, nach London zu gehen. Um ihn
auszuforſchen fragte ich: ob er mir eine Wohnung
in London vorſchlagen koͤnnte.


Nein! keine die ſich fuͤr mich ſchickte, oder die
mir angenehm ſeyn wuͤrde. Sein guter Freund,
der Belford haͤtte zwar eine artige Wohnung ohn-
weit Soho-Squaͤre bey einer Verwantin, die ei-
ne Witwe ſey, und einen ſehr guten Nahmen ha-
be. Weil ſich Herr Belford gemeiniglich auf
dem Lande aufhielt, ſo koͤnnte er ihm die Zimmer
ſo lange abborgen, bis ich beſſer verſorget waͤre.


Jch war gleich entſchloſſen, da er das Wort aus-
geſprochen hatte, Nein! zu dieſem und zu allen
uͤbrigen Vorſchlaͤgen zu ſagen, die er ſelbſt auf die
Bahn bringen wuͤrde. Jndeſſen dachte ich: ich
will
[268]
will ihn auslocken, ob er mir dieſe Zimmer in ſeinem
Gemuͤth beſtimmet hat. Wenn ich jetzt die Unter-
redung abbreche, und er faͤnget ſie morgen fruͤh mit
einiger Hitze wieder an: ſo fuͤrchte ich, daß er ſich
verſtellet hat, als er bey dem Vorſchlage wegen
London gleichguͤltig zu ſeyn ſchien, und daß ich
eine vorher beſtimmte Wohnung zu beziehen genoͤ-
thiget werden ſoll. Alsdenn will ich gar nicht nach
London reiſen.


Es kommt mir zwar ſelbſt etwas grauſam vor,
ihn nach ſo vielen artigen und edelmuͤthigen Erklaͤ-
rungen in meinem Gemuͤth der ſchwaͤrtzeſten und
niedertraͤchtigſten Argliſt zu beſchuldigen. Allein in
was fuͤr einem Ruff ſtehet er? wie viel iſt an den
Grund-Saͤtzen zu tadeln, nach denen er handelt?
Er iſt ſo leichtſinnig, ſo veraͤnderlich, ſo ſtoltz, daß
er ſich ſelbſt in zwey verſchiedenen Stunden nicht
aͤhnlich iſt. Jch habe jetzt keine Schutz-Engel um
mich, keinen Vater, keine Mutter: und muß mich
blos auf GOtt und auf meine Vorſichtigkeit ver-
laſſen. Auf Wunder-Wercke darf ich nicht hoffen.


Jch ſtand mit den Worten auf, um wegzugehen:
zu etwas muß ich mich entſchlieſſen, Herr Lovela-
ce.
Jch will inzwiſchen den Entſchluß bis morgen
fruͤh ausſetzen.


Er haͤtte mich gern laͤnger aufgehalten. Jch
verſprach ihm aber, ihn morgen ſo fruͤh zu ſprechen
als er es ſelbſt beliebte. Er moͤchte auf eine beque-
me Miethe in oder bey London dencken. Hierauf
verließ ich ihn, gleichwie jetzt mein Schreib-Zeug,
in der Hoffnung, daß die wenigen uͤbrigen Stunden
der
[269]
der Nacht mir zu der Ruhe dienen werden, die ich
ſeit langer Zeit nicht genoſſen habe.


Cl. Harlowe.



Der zwey und dreißigſte Brief
Eine Fortſetzung des vorigen von Fraͤulein Cl.
Harlowe.



Ob ich gleich ſpaͤte zu Bette ging, ſo iſt mir doch
wenig Schlaf in die Augen gekommen: ſo
viel ich dem Schlaaf gute Worte gebe, ſo iſt er doch
unverſohnlich und will mein Freund nicht wer-
den: Jch hoffe, meine eben ſo unverſoͤhnlichen An-
verwanten zu Harlowe-Burg genieſſen dieſes an-
genehme Geſchenck der Nacht. Es wuͤrde eine
Vergroͤſſerung meiner Suͤnde ſeyn, wenn ich auch
ihren Schlaaf durch das Andencken derſelben ſtoͤre-
te. Wegen meines Bruders und meiner Schweſter
kann ich wol auſſer Sorgen ſeyn.


Herr Lovelace, der eben ſo fruͤh aufzuſtehen
pflegt, als ich, kam des Morgens um ſechs Uhr
zu mir in den Garten. Nachdem er mir einen gu-
ten Morgen gewuͤnſcht hatte, bat er mich unſere
geſtrige Unterredung fortzuſetzen. Wir haͤtten zu-
letzt von Wohnungen in London geredet.


Mich duͤnckt, ſie thaten deswegen einen Vor-
ſchlag, Herr Lovelace.


Ja Fraͤulein: allein es war ein Haus, das ih-
nen ſchwerlich gefallen konnte, ob ſie gleich ein ſehr
will-
[270]
willkommener Gaſt darin geweſen ſeyn wuͤrden.
(Hiebey laurete er mir auf die Augen.)


Jch ſagte: das ſind meine Gedancken auch. Es
iſt zwar unangenehm, auf das ungewiſſe nach Lon-
don zu reiſen. Aber wie ungereimt wuͤrde es ſeyn,
daß eine Perſon, die fuͤr voͤllig frey von ihm angeſe-
hen ſeyn will, einem ihrer Bekannten eine ſolche
Verbindlichkeit haben ſolte? noch dazu eben demje-
nigen Herrn deſſen Nahmen die Meinigen auf die
Aufſchrifft meiner Briefe ſetzen muͤſſen, wenn ſie
mich einer Antwort wuͤrdigen? Sie haͤtten den Vor-
ſchlag nicht einmahl thun ſollen.


Er ſagte: er haͤtte ihn gar nicht in der Abſicht
gethan, daß ich ihn billigen ſolte, ſondern nur um
mir zu zeigen, wie verlegen er wegen eines beſſern
Vorſchlages ſey.


Handelt ihre Familie (ſagte er) mit keinem
Kauffmann, der eine bequeme Gelegenheit hat?
Jch wollte es einen ſolchen ſchon bezahlen, daß er
ihren Aufenthalt geheim haͤlt. Die Kauff-Leute ſind
zwar rechte Nadeln-Kraͤmer: wer ihnen vor einen
Groſchen Waare abnimt, der gilt mehr bey ihnen,
als wer ihnen einen Thaler ſchencket, weil ſie es ein-
mahl ſo gewohnt ſind. Allein ſie werden auch den
Thaler nicht ausſchlagen.


Jch antwortete: an niemanden wuͤrde eher ge-
ſchrieben werden, als an die Kauff-Leute, mit de-
nen mein Vater handelte, wenn man meinen Auf-
enthalt auskundſchafften woͤllte. Dieſer Vorſchlag
ſey eben ſo ungereimt, als der erſte.


Wir
[271]

Wir hatten mehr ſolche Unterredungen. Das
Ende war; er ſchrieb an einen, Nahmens Dole-
mann,
welches ein verheyratheter Mann ſey,
der einen guten Nahmen und feine Mittel
habe, (denn an Belford zu ſchreiben verbat ich)
und erſuchte ihn, ſolche Zimmer, als ich verlangt
haͤtte, fuͤr mich auszumachen; nehmlich, eine Stube
fuͤr mich, eine fuͤr mein Cammermaͤdchen, und ei-
nen Saal oder Speiſe-Stube, deren ich mich be-
dienen duͤrfte. Den Brief zeigete er mir, ſiegelte
ihn in meiner Gegenwart zu und ſchickte ihn durch
einen ſeiner Bedienten nach London, welcher noch
andere Geſchaͤffte in London hat, und die Ant-
wort zuruͤck bringen ſoll.


Jch erwarte den Ausgang der Sache, und
halte mich bereit, nach London zu reiſen, wenn
Sie mir es nicht misrathen. Jch habe nichts wei-
ter zu ſchreiben, als daß ich bin


Jhr ſtets-ergebenſte
Cl. Harlowe.



Der drey und dreißigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.



Er berichtet in einigen Briefen dasjeni-
ge, was ſchon aus den Briefen der
Fraͤulein bekannt iſt.


Er
[272]
  • Er meldet ſeinem Freunde, daß er die Brie-
    fe ſeiner Verwantinnen bey Frau Greme
    vorgefunden habe, als er auf ſeiner Reiſe
    nach M‒‒‒hall bey ihr angeſprochen haͤtte.
    Sie ſey ſonſt eben im Begriff geweſen, ihm
    dieſe Briefe durch einen eigenen Boten
    zuzuſchicken.
  • Er ſchreibet: Frau Greme habe ihm erzaͤhlt,
    was ſie in der Kutſche mit der Fraͤulein ge-
    redet habe: er habe ſeine Hochachtung
    und aufrichtige Liebe gegen die Fraͤulein
    in ſolchen Worten gegen Frau Greme ge-
    aͤußert, daß ſie ſich entſchloſſen habe, den
    aus dem vorigen bekannten Brief an ihre
    Schweſter die Frau Sorlings zu ſchrei-
    ben.
  • Von dem unfreundlichen Geſichte, daß er
    bey ſeiner Ruͤckkunft bekommen hat, laͤßt
    er ſich alſo heraus.

Da wir einen ſo vergnuͤgten Abſchied genommen
hatten, ſo wunderte ich mich, daß ich ſie bey meiner
Zuruͤckkunft ſo ſehr ernſthaft und ihre Augen von
Thraͤnen roth fand. Als ich aber erfuhr, daß ſie ei-
nen Brief von der Fraͤulein Howe erhalten hatte,
ſo konnte ich leicht rathen, daß der kleine Teuffel ſie
verfuͤhrt hatte, muͤrriſch gegen mich zu ſeyn.


Jch habe ein unendlich-groſſes Verlangen, den
Jnhalt ihres Briefwechſels zu erfahren. Allein
ich darf jetzt noch nicht ſo viel wagen. Wenn ich mich
an dergleichen Heiligthuͤmer machte, ſo wuͤrde ich
ihre Gnade auf ewig verſchertzen. Es verdrießt mich
aber
[273]
aber doch in der Seele, daß ſie faſt alle Stunden
das ſchreibt, was ſie auf den Hertzen hat; daß ich
mit ihr unter einem Dache bin, und mich doch nicht
unterſtehen darf, einen Blick in die Briefe zu thun,
die vielleicht alle meine Liſt fruchtloß machen.


Sollte es wol eine große Suͤnde ſeyn, den alten
Kerl von der Welt zu helfen, der ihre Briefe traͤgt,
und ihm ſein Geheimniß abzunehmen. Wenn ich
ihn mit Gelde beſtechen wollte, ſo koͤnnte ich gantz
bey ihr ausgethan werden, wo er mein Anbieten ver-
riethe. Er ſcheint der Armuth ſo gewohnt zu ſeyn,
daß er gantz vergnuͤgt dabey iſt, wenn er nur von der
Hand in den Mund hat. Er ſcheint nicht einmahl
ein Verlangen zu haben, kuͤnftig beſſer leben zu koͤn-
nen, als er es gewohnt iſt. Einen ſolchen Kerl
kann man nicht beſtechen? oder man muß ſich ſtel-
len, als machte man ihn zu ſeinem vertrauten Freun-
de. Die Beſtechung muß ſich in Ehrlichkeit bey
ihm verkleiden, wenn ſie nicht abgewieſen werden
will. Was hat man ſonſt fuͤr Hoffnung, den zu
beſtechen, der nichts hoffet und nichts wuͤnſchet.


Der Kerl hat nur ein halbes Leben, das fuͤr ihn
eine Laſt und keine Gluͤckſeeligkeit iſt. Koͤnnte man
mich zu einem gantzen Moͤrder machen, wenn ich
es ihm naͤhme? Er mag leben! Wenn ich ein Koͤ-
nig, ein Staats-Miniſter, ein Anton Perez(†)
waͤre:
Dritter Theil. S
[274]
waͤre: ſo waͤre es eine andere Sache. Jch uͤber-
lege es jetzt: ich kann gewiß kein Boͤſewicht ſeyn.
Ein Boͤſewicht bedenckt ſich uͤber keine Bosheit.
Du weißt wohl, daß meine meiſte Gottloſigkeit
nur in Einfaͤllen beſtehet, dadurch ich meinen Ver-
ſtand zeigen, und erweiſen will, daß ich Ungluͤck an-
richten koͤnnte, wenn ich wollte.


  • Er fuͤhrt hierauf die Ausdruͤcke der Fraͤulein
    an, die ihm unertraͤglich ſind.
  • Wegen ſeiner Antworten und Vorſchlaͤge,
    die er auch erzaͤhlt, iſt er mit ſich ſelbſt ſehr
    wohl zufrieden.
  • Bey dem Vorſchlage, das Cammer-Maͤdchen
    der Fraͤulein Howe zu nehmen, wenn Han-
    nichen nicht zu haben waͤre, ſchreibt er:

Hier ſieheſt du, Belford, daß mein Kind gar
nicht darauf dencket, daß die Fraͤulein Howe blos
eine Marionette iſt, die ich auf eine verborgene Art
regiere. Was iſt es fuͤr eine angenehme Rache,
wenn man zwey ſolche Maͤdchens uͤberliſtigen kann,
die ſich einbilden, daß ſie alles wiſſen: und wenn
man ſich des Hochmuths und wunderlichen Ge-
muͤthes der Alten ſo zu bedienen weiß, daß ſie unſere
Abſichten erfuͤllen, wenn ſie uns den groͤſſeſten Ver-
druß anzuthun meinen. Das unvergleichliche liebe
Kind antwortete mir, als ich wuͤnſchte, daß ihr
Bruder nicht mit der Fraͤulein Howe im Spiel ſeyn
moͤchte: ja! das befuͤrchtete ſie ſelbſt, ſonſt
wuͤrde ihr Onckle nicht taͤglich gegen ſie re-
den.
So unſchuldig!


Jndeſſen
[275]

Jndeſſen ſollſt du mich doch nicht fuͤr die Urſache
der Bosheit der Jhrigen halten. Sie kommt aus
ihrem eigenen Hertzen, und ich gebrauche mich nur
des Schatzes, der in ihnen ſelbſt verborgen liegt.
Waͤren ſie ſich ſelbſt gelaſſen, ſo wuͤrden ſie zu Feuer
und Schwerdt greiffen; das iſt, ſie wuͤrden
Meuchel-Moͤrder oder die Obrigkeit gebrauchen.
Jch lencke nur ihren Blitz, wohin er ſchlagen ſoll,
ohne einzuſchlagen. Die Urſache iſt in ihrem Her-
tzen; ich regiere die Wirckungen. Jch verhuͤte
groͤſſeren Schaden durch geringeren.


  • Daruͤber, daß die Fraͤulein ſelbſt London ge-
    nennet hat, bricht er in dieſe Worte aus:

Jch ſuchte nichts, als daß ſie ſelbſt London
nennete: darum erwaͤhnte ich Windſor aber-
mahls. Wenn man haben will, daß ein Frauenzim-
mer etwas thun ſoll, ſo muß man das Gegentheil da-
von in Vorſchlag bringen. Alle Frauens-Leute ſind
hierin Frauens-Leute, ſo wahr ich ſeelig werden will.
Sie zwingen uns, ſchalckhaft mit ihnen umzugehen:
ſo bald ſie ſich uͤberliſtiget finden, erheben ſie ein
Mord-Geſchrey uͤber einen ehrlichen Kerl, der ſie
mit ihren eigenen Waffen geſchlagen hat.


Jch konnte mich vor Freuden kaum halten; das
Hertz ſchwoll mir auf bis an den Hals. Jch befahl
der uͤbermaͤßigen Freude, ſich zu verbergen, und
eben that mir ein ſehr gelegener Huſten die Gefaͤllig-
keit, bey mir anzuſprechen. Jch wandte mich
wider ſo gleichguͤltig als jemahls zu ihr, wie ein
Maͤdchen bey der erſten lange erwarteten Frage zu
thun pflegt, das ſich gern noch ein paar mahl wollte
S 2fragen
[276]
fragen laſſen. Jch ließ ſie ausreden, und anſtatt
von London zu ſprechen, brachte ich in Vorſchlag,
die Frau Norton ihr zur Geſellſchaft zu verſchaffen.


Weil ich zum voraus wußte, daß ſie mir durch-
aus nicht verpflichtet ſeyn wollte, ſo konnte ich, wenn
ſie mein Erbieten angenommen haͤtte, verſprechen,
ſo viel fuͤr dieſe Frau und ihren Sohn zu thun, daß
ſie alles wuͤrde verbeten haben. Dieſes wuͤrde ich
nicht ſo wohl aus Sparſamkeit gethan haben, als
weil mir ſonſt die Gegenwart der Norton nicht
gelegen geweſen waͤre. Es waͤre eben ſo ſchlimm
geweſen, als wenn ſie ihre Mutter, oder ihre Han-
nichen
bey ſich gehabt haͤtte. Mit Hannichen
haͤtte ich zwar ſchon fertig werden wollen, wenn ſie
haͤtte kommen koͤnnen: denn wozu unterhalte ich
Muͤßiggaͤnger auf dem Lande, als daß ſie ſich nach
meinem Willen in Maͤdchens verlieben, und ſie hey-
rathen ſollen.


Wie ungluͤcklich iſt ein wohl-erzogenes Frauen-
zimmer, wenn es unſer einem in die Haͤnde faͤllt.
Die juͤngferlich-zuͤchtige und bloͤde Sittſamkeit iſt
ihr gar zu heilig; ſie darf deren Geſetze nicht uͤber-
treten. Die kleinen unverſchaͤmten Loſen haben es
beſſer, welche von Kirche und Prediger reden koͤn-
nen, ehe uns dieſe Nahmen in den Mund gekom-
men ſind, und die ſich in unſerer Gegenwart aus-
ziehen und zu Bette gehen koͤnnen. Keine andere
als ſolche ſolten es ſich in den Sinn kommen laſſen,
mit einem Manne davon zu gehen. * * *


Jch bin nun auf dem rechten Wege: Eine jede
Stunde wird mir ein neues Haͤckchen an den. Her-
tzen
[277]
tzen dieſer hochmuͤthigen Schoͤne verſchaffen. Jch
bin in der Unhoͤflichkeit ſchon ſo weit gegangen, daß
ſie ſiehet, ich bin keine alte Hure, und ſich vor mir
fuͤrchtet. So oft ich jetzt hoͤflich bin, ſo macht es
einen Eindruck bey ihr. Das naͤchſte iſt, daß ich
ſie zwingen muß, mir ihre geheime Kranckheit, und
eine vorzuͤgliche Liebe vor allen andern Manns-Per-
ſonen zu geſtehen: wenn das geſchehen iſt, ſo wird
meine gluͤckliche Stunde nicht lange ausbleiben koͤn-
nen. Wenn die Schoͤne ihre Liebe geſtanden hat,
ſo darf ich mir ſchon mehrere Freyheiten herausneh-
men. Eine Freyheit wird immer die andere ge-
baͤhren. Wenn ſie mich unerkentlich und un-
danckbar
nennet, ſo will ich ſie grauſam nennen.
Das iſt ein Beywort, welches die Schoͤnen lieben.
Jch habe mich oft uͤber Grauſamkeit beklaget, wenn
mir alles erlaubet ward, weil ich wußte, daß dieſes
Wort dem Hochmuth des andern Geſchlechts ein
Balſam war.


  • Er erwaͤhnet ferner, daß er Belfords Woh-
    nung in Vorſchlag gebracht habe; allein
    blos, um zu zeigen, daß er ſelbſt verlegen
    ſey, und keine Wohnung in London fuͤr
    die Fraͤulein wiſſe. Es heißt hierauf:

Jch wollte ſie mit einem Vorſchlage beunruhi-
gen, der mit meiner Abſicht nicht die geringſte Ver-
wandſchaft haͤtte. Sie war ſehr misvergnuͤgt uͤber
meinem Einfall, der weiter keine Abſicht hatte. Die
Frau Osgood iſt viel zu fromm; und ſie wuͤrde
es mehr mit der Fraͤulein als mit mir gehalten
haben.


S 3Jch
[278]

Jch hatte noch den Endzweck, ihr einen hohen
Begriff von ihrer Klugheit und Vorſichtigkeit bey-
zubringen. Wenn ich eine Grube grabe, ſo wuͤn-
ſche ich, daß mein Raub gantz ſicher und ohne
Furcht in die Grube gehen moͤge. Alsdenn kann
man auf ſein ſchoͤnes Kind einen loſen Blick thun:
in aller Welt, mein Hertzgen, wie biſt du ſo gefan-
gen worden?


Montag den 17. April.


Jetzt eben habe ich von dem ehrlichen Joſeph
Lehmann
neue Nachricht erhalten. Du
kenneſt MademoiſelleBetterton und Notting-
ham. Jacob Harlowe
ſucht jetzt dieſe Fami-
lien wider mich zur Rache zu reitzen. Vor einiger
Zeit gaben ſich die Harlowes ſehr viel Muͤhe, dieſe
Geſchichte umſtaͤndlich zu erfahren. Sie ſind jetzt
entſchloſſen (die tummen Teuffels) Lerm zu blaſen,
wenn ſie es anders koͤnnen. Mein Kopf iſt jetzt
ſehr beſchaͤftiget, den tummen Juncker zu meinem
Vortheil zum Schelm, zum Rechts-Verdreher,
zum Angeber zu machen, weil ich glaube, daß die
Fraͤulein mir in London ſagen wird: drey Schrit-
te vom Leibe, oder gar weg! Du ſollſt zu ſeiner Zeit
Joſephs Brief, und meine Antwort zu ſehen be-
kommen. (*) Wenn ich eine Schelmerey fruͤh ge-
nug weiß, ſo habe ich ſie ſchon zu nichte gemacht, und
den Schelm ſelbſt betrogen.


Joſeph iſt voll von hypocondriſchen gewiſſen-
haften Thorheiten. Seine gantze Hypocondrie kann
vor
[279]
vor Geld curirt werden. O Belford, was fuͤr
ein Schelm iſt das Hertz des Menſchen, er mag
reich oder arm ſeyn.



Der vier und dreißigſte Brief.
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.

Eine Antwort auf den 27ſten und 32ſten Brief.



Jhre Familie iſt gantz unverſoͤhnlich. Der alte
Anton hat bey einem abermahligen Beſuch
nicht allein meine Mutter in ihrem Widerwillen
gegen unſern Briefwechſel beſtaͤrcket, ſondern ſie
auch beynahe voͤllig zu einer Harlowin gemacht.


Doch ich muß dieſe verdrießliche Sache uͤber-
gehen.


Sie verlangen, daß ich dem Herrn Hickmann
artiger begegnen ſoll. ‒ ‒ Vielleicht mache ich es
bey ihm eben ſo, als ich bey dem Singen oder Spie-
len zu thun pflege. Wenn ich eine Nothe zu hoch
angefangen habe, ſo verdrießt es mich, daß ich
wider von vorn anfangen ſoll, ich uͤberſchreye lieber
meine Stimme. Jnzwiſchen iſt doch dieſes gewiß,
daß der Mann hiedurch nur hoͤflicher wird; und
Sie haben ehemahls die Anmerckungen gemacht,
daß die Gemuͤther, die kriechend werden, wenn
man hart mit ihnen umgehet, ſich erheben und un-
ertraͤglich werden, ſo bald man beſſer mit ihnen um-
S 4gehet.
[280]
gehet. Darum magſt du, ehrlicher ernſthafter
Hickmann, noch eine Zeitlang es dir gefallen laſſen,
daß ich dir vornehm begegne. Du haſt mir einen
Altar aufgerichtet: und nun wirſt du dich hoffent-
lich nicht wegern, vor deinem Altar zu beten.


Sie fragen mich, ob ich eben ſo mit Herrn Love-
lace
umgehen wuͤrde, wenn er an Hickmanns Stel
le waͤre? Jch muß geſtehen, ich wuͤrde mit ihm
vermuthlich gantz anders umgehen. Jch habe die
gantze hochwichtige Lehre von der Liebe und Freyerey
uͤberdacht, und ich will Jhnen meine Erfindungen
offenhertzig mittheilen. Jch glaube, daß eine gantz
außerordentlich-demuͤthige Erniedrigung der
Manns-Perſon erfodert werde, uns dahin zu brin-
gen, daß wir ihrer erſten Bitte Gehoͤr geben, und
unſern Hals unter ein ſo niedertraͤchtiges Joch beu-
gen. Allein ich glaube auch beynahe, daß die Mañs-
Perſon einige Dreiſtigkeit beſitzen muß, wenn ſie
das einmahl erlangte Anrecht an unſerm Hertzen
beybehalten will: ſie muß uns nicht mercken laſſen,
daß wir ſie als unſer Naͤrrichen gebrauchen duͤrfen.
Eine gar zu ſanfte Liebe, bey der es keine Stoͤße
giebt, ein Affect, ohne Affect, iſt wie ein langſahmer
und ſumpfiger Bach, auf dem man einen Stroh-
Halm faſt nicht fortflieſſen ſiehet. Wenn die Manns-
Perſon machen kann, daß wir uns bisweilen vor
ihr fuͤrchten, und ſie wol gar auf einige Tage haſſen,
ſo pflegt eben hiedurch die Liebe hitziger zu werden.


Wenn dieſe Regeln richtig ſind, ſo iſt Lovelace
auf dem rechten Wege. Zu Anfang war er ſo de-
muͤthig und ergeben, als man es nicht wuͤnſchen
ſondern
[281]
ſondern ſich nur einbilden kann. Daß er nachher
ungeſtuͤmer geworden iſt, und ſich kein Bedencken
gemacht hat, Sie zu beleydigen, und wieder ſehr
demuͤthig um Vergebung zu bitten, iſt bey ihm (da
man ihm weder Muth noch Verſtand abſprechen
kann) ein Mittel, die Neigung des Frauenzim-
mers vor dem Schlaaf zu bewahren, und es nach
und nach ſo zu ermuͤden, daß es ſich ihm nicht fer-
ner wiederſetzt, ſondern ſo gelaſſen wird, als ein
Haus-Tyrann ſeine Frau wuͤnſchen moͤchte.


Die verſchiedene Auffuͤhrung unſerer zwey Rit-
ter gegen ihre Dulcineen, iſt bey nahe ein mathema-
tiſcher Erweiß meines Satzes. Jch bin ſchon ge-
wohnt, Hickmanns winſelnde Demuth vor mir zu
ſehen, daß ich nichts von ihm erwarte, als daß er
ſich ſchmiegen und biegen ſoll. Sein wehmuͤthiger
Unverſtand macht bey mir ſo wenigen Eindruck,
daß ich mich oft durch die Muſik des Schlaafs er-
wehren muß, in den er mich ſinget oder weinet.
Lovelace hingegen weiß das Spiel zu unterhalten:
wenn man mit ihm umgehet, ſo iſt es nicht anders,
als wenn man ein Feuer-Werck ſiehet.


Jhr haͤufiger Zanck und Verſoͤhnung ſind der
richtigſte Erweiß meiner Anmerckung. Wenn
Hickmann Lovelace waͤre, (blos Lovelaces La-
ſter ausgenommen) ſo haͤtte ich ihn laͤngſtens ge-
nommen. Allein er haͤtte den Anfang auf eine an-
dere Art machen muͤſſen. Er wird niemahls das
wieder erlangen, was er verlohren hat, ſondern bis
an das Ende ſeiner Freyerey, ja bis an das Ende
ſeines Lebens muß er die ſchuͤchterne Perſon in dem
Luſt-Spiele ſeyn.

S 5Der
[282]

Der arme Hickmann! werden Sie ſagen.
Man giebt mir Schuld, daß ich ihr Echo ſeyn ſoll:
Darum ſage ich auch: der arme Hickmann!


Sie wundern ſich, daß Lovelace den Abend
nichts von den empfangenen Briefen gegen Sie hat
kund werden laſſen. Es gefaͤllt mir gar nicht an
ihm, daß er einen ſo wichtigen Umſtand einen Au-
genblick verſchwiegen hat. Da er den folgenden
Tag ihnen die Nachricht gab, nachdem er Sie ver-
drießlich gemacht hatte, ſo ſcheint es faſt, als haͤtte
er vorher vermuthet, daß Sie verdrießlich werden
wuͤrden, und haͤtte dieſe Nachricht darauf geſparet.
Unter allem, was bisher vorgegangen iſt, gefaͤllt
mir dieſes am wenigſten: und ſo geringe es andern
vorkommen moͤchte, ſo rechtfertiget es doch meiner
Meinung nach alle ihre Vorſichtigkeit und ſelbſt
Jhr Mistrauen gegen ihn. Jndeſſen ſind der Brief
der Frau Greme an ihre Schweſter, ſein aber-
mahliger Antrag, Hannichen oder eine der Sor-
lingiſchen
Toͤchter Jhnen zur Aufwartung und die
Frau Norton zum Umgang zu verſchaffen, an-
genehme Gegen-Gruͤnde, die mich abhalten, mehr
von jenem verdrießlichen Umſtande von dem Hertzen
wegzuſchreiben. Jſt es nicht ein alberner Streich
von ihm, daß er Jhnen des Abends ſagte, er habe
Briefe, ohne des Jnhalts zu gedencken! Jch weiß
nicht, was ich aus ihm machen ſoll!


Was ſeine Baſen ſchreiben, gefaͤllt mir vollkom-
men. Jch habe nochmahls jemand aufgetragen,
ihre Gedancken auszuforſchen, und ich finde, daß ſich
die gantze Familie jetzund mehr als jemahls nach
einer Verbindung mit Jhnen ſehnet.

Jch
[283]

Jch weiß gegen ihre Reiſe nach London nicht
das geringſte einzuwenden. Sie werden dort gleich-
ſam in dem Mittel-Punct von England ſeyn, und
Gelegenheit haben, von jedermann zu hoͤren und an
jedermann zu ſchreiben. Dort werden Sie ſeine
Treue auf die Probe ſtellen koͤnnen, ob er z. E. ſein
Wort haͤlt, und Sie allein laͤßt.


Allein weiter erhalten Sie doch nichts dadurch:
Sie muͤſſen ihn doch endlich heyrathen. Sie moͤ-
gen verſuchen (oder Sie haben vielmehr verſucht)
was bey Jhren Freunden auszurichten ſey: nun
bitte ich Sie, den erſten Augenblick, da Jhre Freun-
de Jhre Antraͤge verwerfen, unterwerfen Sie ſich
dem Joche, und machen Sie es ſo gut als Sie
koͤnnen. Jch halte ihn fuͤr einen Barbaren, wenn
er Sie zwinget, ſelbſt davon zu reden: allein ich
glaube, Sie werden etwas nachgeben muͤſſen, denn
es iſt ihm unertraͤglich verachtet zu werden.


Dieſes waren bey einem ehemahligen Beſuch ſei-
ne Reden, die ihre Abſicht auf mich haben mochten:
„wenn ein Frauenzimmer gewillet iſt, eine Manns-
„Perſon jemahls durch ein Ja zu erfreuen; ſo
„ſollte es billig um ſein ſelbſt willen der Welt zei-
„gen, daß es ſeinen Anbeter allen andern vorziehet.„


Soll ich ihnen noch einen andern Spruch ſeines
tugendhaften Mundes melden, der in der Sprache
dieſer freyen jungen Herren und mit ausgeſtreckter
Hand vorgebracht ward? „Der Teuffel ſollte ihn
„hohlen, wenn er die groͤſſeſte Printzeßin von der
„Welt heyrathen wollte, und nur noch einen Ge-
„dancken uͤbrig haͤtte, daß ſie ſich einen Augenblick
„be-
[284]
„bedacht haͤtte, ob ſie ihn einem Kayſer vorziehen
„wollte.„


Jedermann erwartet, daß Sie ihn heyrathen
werden, und glaubt, daß Sie in dieſer Abſicht Jh-
res Vaters Haus verlaſſen haben. Je laͤnger die
Trauung aufgeſchoben wird, deſto mehr hat die
Welt zu tadeln und zu laͤſtern, und es wird gewiß
die Schuld nicht an den Jhrigen liegen, wenn Jhr
guter Nahme unverletzt bleibt. Jhr Onckle Anton
fuͤhret die haͤßlichſten Reden, die ſich auf die Ge-
muͤths-Beſchaffenheit ſeines Bruders in den Laſtern
gruͤnden. Allein bisher hat die Meinung, welche
die Welt von Jhnen hat, alle dieſe Geſpraͤche uͤber-
wunden: jedermann verachtet und haſſet den, wel-
cher ſie fuͤhret.


Jch bin oft in Schreibung dieſes Briefes geſtoͤ-
ret worden: Sie werden es daran ſehen, daß das
erſte Blat zerdruͤckt iſt, das ich in den Buſen ſte-
cken mußte, weil mich meine Mutter uͤberfiel. Wir
haben wieder einen ziemlich artigen Streit gehabt;
es verlohnt ſich aber nicht der Muͤhe, Sie durch Er-
zaͤhlung deſſen, was vorgegangen iſt, zu verunruhi-
gen. Allein wahrhaftig ‒ ‒ Jch frage nichts dar-
nach, wenn auch ‒ ‒ ‒


Jhre Hannichen koͤnnen Sie nicht zur Auf-
wartung bekommen. Das arme Maͤdchen hat we-
gen eines Fluß-Fiebers ſchon vor 14 Tagen aus dem
Dienſte gehen muͤſſen, und kann noch nicht aus der
Stube kommen. Sie hat geweint, als ihr meine
Kitty den Antrag gethan hat, und geſagt: ſie hielte
ſich
[285]
ſich fuͤr doppelt ungluͤcklich, weil ſie ihrer lieben
Fraͤulein nicht aufwarten koͤnnte.


Wenn meine Mutter mir es nicht ohnmoͤglich
machte, Jhnen nach meinem Willen zu dienen, ſo
ſollte es mir ſehr leyd thun, daß Herr Lovelace
fruͤher als ich meine Kitty in Vorſchlag gebracht
haͤtte, Jhnen aufzuwarten. Jmmer unter frem-
den zu ſeyn, und ſich bey jeder Reiſe von einem
fremden begleiten zu laſſen, iſt in der That etwas
unangenehmes: dennoch aber wird Jhre Vorſich-
tigkeit und Guͤtigkeit Jhnen uͤberall Leute zu ver-
ſchaffen, auf deren Treue Sie ſich verlaſſen koͤnnen.


Jch muß Sie handeln laſſen, wie es Jhre Ein-
ſichten mit ſich bringen: ſollte es Jhnen aber an
Kleidern oder Gelde oder irgend an etwas fehlen,
das ich zu erſetzen im Stande bin, und Sie nehmen
meine Dienſte nicht an, ſo kann ich es Jhnen nie
vergeben. Meine Mutter braucht nichts davon
zu wiſſen.


Jhr naͤchſter Brief wird vermuthlich zu Lon-
don
geſchrieben ſeyn. Schicken Sie kuͤnftig Jhre an
mich gerichteten Briefe nach Herrn Hickmanns
Hauſe, daß ſie da bis auf Nachfrage liegen bleiben.
Er iſt Jhnen voͤllig ergeben. Machen Sie nicht
ſo viel aus den eigenſinnigen Vorurtheilen meiner
Mutter: ich bin ja kein kleines Kind mehr.


Der Himmel behuͤte Sie, und mache Sie ſo
gluͤcklich, als Sie es verdienen; dieſes wuͤnſchet


Jhre ergebenſte
Anna Howe.


Der
[286]

Der fuͤnf und dreißigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch freue mich, daß Sie mit meiner Reiſe nach
London zufrieden ſind.


Ueber das Misvergnuͤgen, welches zwiſchen Jh-
nen und ihrer Frau Mutter obwaltet, bin ich ſehr
bekuͤmmert. Jch hoffe, daß Sie beyde nicht voͤl-
lig ſo ungluͤcklich ſind, als ich es mir vorſtelle.
Allein laſſen Sie mich doch etwas mehr von dem
Streit mit Jhrer Mutter erfahren: ich kenne Jhre
Ausdruͤcke, und Sie nennen es, einen ziemlich
artigen Streit.
Jhre Frau Mutter mag noch
ſo hart gegen mich geweſen ſeyn, ſo wird es mir
dennoch zur Erleichterung gereichen, wenn ich alle
Umſtaͤnde weiß. Wer gefehlet hat, der muß ſeine
Fehler bereuen, und nicht uͤber das Misfallen, das
andere daruͤber bezeugen, ungehalten ſeyn.


Wenn ich jemanden in England Geld ſchuldig
ſeyn will, ſo will ich es Jhnen ſchuldig ſeyn. Sie
ſchreiben, Jhre Frau Mutter braucht nichts da-
von zu wiſſen. Sie muß es aber wiſſen. Wie,
wenn Jhre Frau Mutter Sie fraget, ob Sie mir
Geld geliehen haben? Wollen Sie ſie betriegen oder
ihr eine Unwahrheit ſagen? Jch wuͤnſchte, daß ſich
Jhre Frau Mutter in dem Stuͤck beruhigen koͤnnte.
Vergeben Sie mir, ich weiß ‒‒‒‒ Ehemahls hatte
ſie eine beſſere Meinung von mir. O meine Ueber-
eilung!
[287]
eilung! Der angebohrne Hochmuth pflegt uns nicht
gantz zu verlaſſen, wenn er auch noch ſo ſehr ge-
kraͤnckt wird: allein ich kann jetzt alles verſchmer-
tzen und uͤber mich ergehen laſſen.


Es iſt fuͤr mich ein Ungluͤck, daß ich meine Han-
nichen
nicht haben kann: ihre Unpaͤßlichkeit gehet
mir nicht weniger zu Hertzen, als mein Verluſt da-
bey. Weil Sie doch wollen, daß ich Jhnen ver-
pflichtet ſeyn ſoll, und es mir zum Hochmuth aus-
legen wuͤrden, wenn ich alle Jhre Guͤtigkeit aus-
ſchluͤge, ſo haben Sie die Gewogenheit, ihr in mei-
nem Nahmen zwey Guineas zu ſchicken.


Wenn ich nichts anders vor mir habe, als ihn
zu nehmen, ſo iſt es mir doch einiger Troſt, daß
ſeine Anverwanten mich verlauffenes Maͤdchen
nicht verachten, wie man es von Perſonen von ih-
rem Stande befuͤrchten moͤchte.


Kann mein grauſamer Onckle argwohnen,
daß ‒ ‒ Mein Hertz erlaubt meiner Feder nicht,
mehr zu ſchreiben, weil mich ſein Verdacht allzu
ſehr verdrieſſet. Wenn die Meinigen dergleichen
von mir glauben, ſo hoͤre ich auf, mich uͤber ihre
Unverſoͤhnlichkeit zu wundern. Das iſt alles das
Anſtiften meines unmenſchlichen Bruders. GOtt
vergebe es ihm, das wuͤnſchet ſeine Schweſter,
und


Jhre ergebenſte Freundin
Cl. Harlowe.


Der
[288]

Der ſechs und dreißigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Herr Lovelaces Bedienter iſt ſchon wieder zu-
ruͤck gekommen, und hat eine ſehr umſtaͤndli-
che Antwort von Herrn Dolemann mitgebracht.
Er hat ſich ſehr viel Muͤhe gegeben, ſich nach allem
genau zu erkundigen. Herr Lovelace brachte mir
den Brief, ſo bald er ihn geleſen hatte; und weil
er weiß, daß ich alles mit Jhnen uͤberlege, ſo bat
ich ihn um Erlaubniß, den Brief an Sie zu uͤber-
ſenden. Jch bitte ihn mir aber zuruͤck aus. Sie wer-
den daraus ſehen, daß ſeine Freunde in London
glauben, wir waͤren bereits ein Paar geworden.


An Herrn Robert Lovelace.


Hochwohlgebohrner Herr!

Jch freue mich ungemein, daß wir die Ehre ha-
ben ſollen, Euer Hochwohlgebohrnen nach ei-
ner ſo langen Entfernung wieder in London zu ſehen.
Sie werden uns noch mehr willkommen ſeyn, wenn
die Nachricht richtig iſt, daß Sie das artige Frau-
enzimmer als eine Gemahlin mitbringen; welches
Sie oft ſo ſehr gelobet haben. Meine Frau und
meine Schweſter gratuliren Jhnen, wenn dieſes
ſich ſo verhaͤlt: iſt aber die Trauung noch nicht voll-
zogen,
[289]
zogen, ſo koͤnnen ſie doch nicht unterlaſſen, Euer
Hochwohlgeb. zu einer ſo nahen Hoffnung Gluͤck zu
wuͤnſchen. Jch habe mich acht Tage lang in Lon-
don aufgehalten, um mich von der Gicht curiren zu
laſſen, und es ſcheint, daß ſich ein Anfang der Beſ-
ſerung zeiget. Jndeſſen habe ich mich von Einzie-
hung der verlangten Nachricht nicht abhalten laſſen.


Jn Bedford-Street bey Covent-Garden
koͤnnen Eure Hochwohlgeb. das erſte Stock-Werck
in eines Kauffmanns, der mit Seyden-Waare han-
delt, Behauſung bekommen. Es iſt wohl meu-
blirt; und fuͤr Jhre Bedienten ſind auch Zimmer
zu bekommen. Um den Preis werden die Leute ei-
nig werden, wenn ſie wiſſen, wie viele Zimmer er-
fodert werden.


Meine Frau hat eine Miethe in Norfolck-Street,
und andere in Cecil-Street beſehen. Die Ausſicht
iſt artig, weil ſie auf die Thems und die ange-
nehme Landſchaft jenſeits der Thems gehet. Allein
es iſt gar zu nahe an der Stadt. (*)


Der Mann, dem das Haus in Norfolck-Street
gehoͤrt, wollte nicht weniger als die Haͤlfte des Hau-
ſes zuſammen vermiethen: alles dieſes wuͤrde nach
der von Euer Hochwohlg. gemachten Beſchreibung
zu viel ſeyn. Jch kann auch kaum glauben, daß
Sie zur Miethe werden wohnen wollen, wenn Sie
es
Dritter Theil. T
[290]
es erſt rathſam finden, Jhre angenehme Veraͤnde-
rung oͤffentlich bekannt zu machen.


Die Wohnung in Cecil-Street iſt ſauber und
bequem. Eine Witwe, die einen guten Nahmen
hat, iſt die Eigenthuͤmerin: ſie gedenckt ſie aber nicht
auf kuͤrtzere Zeit als auf ein gantzes Jahr zu ver-
miethen.


Jn Dower-Street ſind auch bey einer Witwe
artige Zimmer zu bekommen. Sie hat einen Of-
ficier von der Guarde gehabt, der ſeine Stelle, zu
der er ſonſt ſchon ein gutes Recht hatte, theuer hat
kauffen muͤſſen, und bald darauf verſtorben iſt. Hie-
durch iſt ſie in die Umſtaͤnde gerathen, daß ſie Zim-
mer vermiethen muß. Vielleicht iſt Jhnen dieſes
ungelegen. Allein ſie ſagt, ſie ſey ſehr ſorgfaͤl-
tig, keine andere Mieths. Leute einzunehmen, als
die von gutem Stande ſind, und in keiner uͤbeln
Nachrede ſtehen. Sie hat zwey feine Haͤuſer zu
vermiethen, die blos durch einen Durchgang mit
einander verbunden ſind. Das Hinter Gebaͤude
iſt das artigſte, und ſehr wohl meublirt: wenn Sie
aber die Ausſicht auf die Straffe haben wollen; ſo
koͤnnen Sie ſich eines Saals in dem Vorder-
Hauſe bedienen. Zu dem Hinter-Hauſe gehoͤrt
ein kleiner Garten, den ſie ſehr artig angeleget, und
mit Blumen-Toͤpfen, Bildern und andern Zierra-
then geſchmuͤcket hat.


Weil mir dieſe Miethe die anſtaͤndigſte zu ſeyn
ſchien, ſo habe ich mich genauer nach allen Umſtaͤn-
den erkundiget. Die Zimmer, die in dem Hinter-
Hauſe vermiethet werden koͤnnen, ſind: ein Speiſe-
Zim-
[291]
Zimmer, zwey artige Saͤle, ein Vorgemach, und
drey Wohn Zimmer. Bey dem einen iſt ein fei-
nes Cloſet, aus dem man in den Garten ſiehet.
Alles iſt ſehr artig meublirt.


Die letzten Mieths-Leute waren ein angeſehener
Geiſtlicher nebſt ſeiner Frau und Tochter. Sie
ſind vor kurtzem ausgezogen, da der Geiſtliche eine
anſehnliche Befoͤrderung in Jrrland erhielt. Die
Wirthin ſagt: er habe zuerſt nur auf ein Viertheil-
Jahr gemiethet, allein es haͤtte ihm ſo wohl bey ihr
gefallen, daß er zwey Jahr geblieben ſey, und ſie
mit Betruͤbniß verlaſſen haͤtte, ob es gleich zu ſei-
nem Vortheil gereichete. Sie ruͤhmete, alle ihre
Mieths-Leute waͤren viermahl ſo lange bey ihr ge-
blieben, als ſie ſich eingemiethet haͤtten.


Jch habe den ſeeligen Obriſten gekannt: man
hat ihn ſtets fuͤr einen braven Mann gehalten.
Seine Witwe habe ich nie vorhin geſehen. Sie
hat etwas allzu maͤnnliches an ſich, wenn man ſie
das erſtemahl ſiehet: als ich aber auf ihre Auffuͤh-
rung gegen zwey artige Verwantinnen ihres ſeeligen
Mannes merckte, die ſie aus Liebe zu ihm zwie-
fach die Jhrigen nannte,
und hoͤrte wie dieſe von
ihr vergnuͤgt waren; ſo glaubte ich, daß ihr gutes
und vergnuͤgtes Hertz ſie ſo fett machte, weil ich
ſelten geſehen habe, daß boͤſe und zaͤnckiſche Leute
bey Fleiſche ſind. Sie hat ſonſt einen guten Nah-
men, und hilft ſich wohl in der Welt fort.


Wenn eine von dieſen Miethen der Gemahlin
Eurer Hochwohlgeb. nicht voͤllig anſtaͤndig iſt, ſo
T 2koͤnnen
[292]
koͤnnen Sie dieſelbe nur auf kurtze Zeit miethen, und
ſich nach andern umſehen.


Dieſe Witwe iſt zufrieden, daß Sie ſie auf ei-
nen Monath miethen, und nur die Zimmer nehmen
die Sie ſelbſt belieben. Ueber den Preis hoffet
ſie mit Jhnen einig zu werden, wenn ſie erſt weiß,
welche Zimmer verlanget werden, was ihre eigene
Bedienten, und was Eurer Hochwohlgeb. Bedien-
ten thun ſollen. Denn ſie ſagte, man habe gemei-
niglich mit den Bedienten mehr Verdruß als mit
der Herrſchaft.


Das Frauenzimmer kann hier in dem Hauſe ſich
ſpeiſen laſſen oder nicht; wie es ihr gefaͤllig iſt.


Weil wir glauben, daß Sie verheyrathet ſind,
und nur um einer Zwiſtigkeit willen mit der Fami-
lie es geheim halten, ſo habe ich mich unterſtanden,
es der Frau, doch als etwas ungewiſſes zu verſtehen
zu geben. Jch fragte ſie, ob ſie in ſolchem Falle
Sie und Jhre Bedienten, nebſt Jhrer Gemahlin
und deren Bedienten beherbergen koͤnnte? Sie
ſagte: Ja! und ſie wuͤnſchtte daß Sie verheyra-
thet ſeyn moͤchten. Denn ſie pflegte ſich ſonſt ei-
niges Bedencken zu machen, lediges Frauenzimmer
einzunehmen, welches zwar hier wegfiele, weil ich
ihr ſo vieles zum Ruhm dieſer Perſon erzaͤhlete.


Sollte keine von dieſen Miethen anſtaͤndig ſeyn,
ſo verſpreche ich bey nahe gewiß, daß ſich auf Ha-
nover-Squaͤre, Soho-Squaͤre, Golden-Squaͤre,
oder nahe bey Grosvenor-Squaͤre, artige Woh-
nungen finden ſollen. Meine Frau, meine Schwe-
ſter und ich ſelbſt ſind erboͤtig, dieſes Frauenzimmer
nebſt
[293]
nebſt Jhnen, wenn Sie bereits durch ſie gluͤcklich
gemacht ſind, zu Urbridge ſo gut wir koͤnnen zu
bewirthen, bis ſich eine Gelegenheit findet.


Jch muß noch melden, daß die Zimmer bey dem
Kauffmann, bey der Witwe, und die in Cecil-
Street den naͤchſten Tag nachdem ſie gemiethet ſind
bezogen werden koͤnnen.


Jch verbleibe
Eurer Hochwohlgebohrnen
gehorſamſter Diener
und ergebenſter Freund.
Thomas Dolemann.

(*)
London theilt ſich, wie bekannt in mehrere Staͤdte,
hier wird das eigentliche London gemeint, welches
volckreicher iſt als Weſt-Muͤnſter, und meiſtentheils
von Kauff-Leuten bewohnt wird.

Sie werden leicht errathen, welche Miethe ich
waͤhlete. Um ihn aber in einer ſo wichtigen Sache,
dabey ich nicht allzuſorgfaͤltig ſeyn kann, auszu-
forſchen; ſtellete ich mich, als wenn ich am meiſten
Neigung zu der Miethe in Norfolck-Street haͤtte,
und als wenn mir eben das gefiele, was Dole-
mann
fuͤr einen Einwurf anſahe, nehmlich, daß
dieſes Haus nahe bey einer ſo wohl eingerichteten
Stadt, als London ſeyn ſoll, laͤge. Mir wuͤrde
in der That ein Haus mitten in London nicht unan-
genehm geweſen ſeyn; weil ich allzuviel von den un-
erlaubten Freyheiten gehoͤrt habe, die man ſich bis-
weilen in Weſtmuͤnſter herauszunehmen pflegt.
Bald bekam ich dem Anſchein nach Luſt zu Cecil-
Street, bald zu des Kauffmanns Hauſe. Allein er
ließ ſich nicht mercken, daß er eine Wohnung der
andern vorzog. Als ich ihn um ſeine Meinung von
dem Hauſe der Witwe fragte, ſo ſagte er: er glaubte,
das Haus ſey am beſten nach meinem Geſchmack
T 3und
[294]
und zu meiner Bequemlichkeit eingerichtet. Weil
er aber hoffete, daß ich nicht lange in gemietheten
Haͤuſern wohnen wuͤrde, ſo wuͤßte er kaum, welches
Haus er dem andern vorziehen ſollte.


Jch waͤhlete hierauf das Haus der Witwe: und
er hat an Herrn Dolemann geſchrieben, und von
mir eine Danckſagung an ihn, ſeine Frau und
Schweſter, wegen ihres guͤtigen Anerbietens be-
ſtellet.


Jch bekomme das Speiſe-Zimmer, das Wohn-
Zimmer mit dem Cloſet (deſſen ich mich wohl be-
dienen will, wenn ich lange in dieſer Miethe bleibe)
nebſt einem Zimmer fuͤr ein Cammer-Maͤdchen.
Auf den Sonnabend fruͤh gedencken wir abzureiſen.
Da Hannichen kranck iſt, ſo bin ich wegen eines
Cammer-Maͤdchen bekuͤmmert: er meint aber ich
koͤnnte eine von denen Verwantinnen der Witwe
nehmen, bis ſich eine andere zeigete, die voͤllig nach
meinem Sinn ſey. Sie wiſſen, daß ich nicht viel
Aufwartung gebrauche.



Jetzt eben hat mir Herr Lovelace von freyen
Stuͤcken fuͤnf Guineas fuͤr Hannichen gegeben, die
ich beylege. Jch bitte, ſie an Hannichen zu be-
ſtellen, nebſt Meldung deſſen der ſie ſchickt. Die-
ſes Zeichen ſeiner Hochachtung fuͤr mich hat mir
ſehr wohl gefallen. Seit dem er mir vorgeſchlagen
hat, daß ich das Maͤdchen in meine Dienſte nehmen
moͤchte, habe ich eine beſſere Meinung von ihm ge-
faſſet.


Jch
[295]

Jch habe eine neue Probe ſeiner Werthachtung
gegen mich. Er kam zu mir und ſagte: er habe wei-
ter nachgedacht, und koͤnnte es ohnmoͤglich zugeben,
daß ich ohne einige Aufwartung nach London rei-
ſete. Es ſchickte ſich ſelbſt um der Witwe und ih-
rer beyden Baſen willen nicht, da ſich dieſe nach
Herrn Dolemans Erzaͤhlung ſo artig und anſtaͤn-
dig halten. Jch verlangte, daß er ſich gleich nach
meiner Ankunft entfernen ſollte; und ſo wuͤrde ich
ja gantz unter Fremden ſeyn. Er haͤtte darauf ge-
dacht, ob ich nicht Frau Sorlings bewegen koͤnnte,
daß ſie mir eine von ihren Maͤdchen oder Toͤchtern
mit gaͤbe, bis ich auf andere Art verſorgt waͤre.
Wenn es eine von den beyden Toͤchtern waͤre, ſo
zweifele er nicht, daß die Jungfer mit Freuden die
Gelegenheit ergreiffen wuͤrde, das merckwuͤrdig-
ſte in der Stadt zu ſehen; und daß ſie eine anſtaͤn-
dige Begleitung fuͤr mich bey oͤffentlichen Gelegen-
heiten ſeyn werde.


Jch antwortete ihm, was ich ſchon ehemals geſagt
hatte: ſowohl die Maͤgde als die beyden Jungfern
ſchienen in der Haushaltung allzu nuͤtzlich und bey
nahe unentbehrlich zu ſeyn. Es wuͤrde mir leyd
ſeyn, wenn eine Pachtung, dabey ſo viel zu thun ſey,
ihrer um meinetwillen entbehren ſollte. Jch wuͤr-
de auch die erſte Zeit wenig darauf dencken koͤnnen,
mir ein Vergnuͤgen zu machen, und wuͤrde einer
Aufwartung auſſer Hauſe weniger benoͤthiget ſeyn.


Ehe wieder neue Wolcken aufſteigen, und mir die
heiteren Stunden die ich jetzt habe, und ſeit meiner
Entfernung von Harloweburg noch nie ſo heiter ge-
T 4noſſen
[296]
noſſen habe, verdunckeln, will ich ſo gleich die Gele-
genheit ergreiffen, mich zu unterzeichnen, als


Jhre nicht gantz Hoffnungs-loſe und ſtets
ergebene Dienerin und Freundin
Clariſſa Harlowe.



Der ſieben und dreyßigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.



  • Er giebt zuerſt Nachricht von ſeinem
    Briefe an Herrn Dolemann, den er mit
    Genehmhaltung der Fraͤulein geſchrieben
    habe, und legt eine Abſchrifft von der Ant-
    wort bey. Hierauf faͤhrt er alſo fort.

Die Witwe kenneſt du! ihre Baſen kenneſt du!
das Haus kenneſt du auch. Haͤtte ein geſchickterer
Brief geſchrieben werden koͤnnen, als Dolemanns
Brief iſt? Alle Einwuͤrffe ſind zum voraus beant-
wortet! Es iſt vor alle Faͤlle geſorget? Es iſt
keine Luͤgen darin, die ſich nicht als Wahrheit erwei-
ſen laͤßt.


Wer konnte das Lachen unterlaſſen, als mein
Kind es eben ſo machte, wie ein Dechant mit ſeinem
Capitel, die eine heilige Comoͤdie zu ſpielen Befehl
haben und waͤhlen ſollen, was ſchon gewaͤhlt iſt;
die Gott um ſeine Regierung und Geiſt anflehen.
Sie uͤberlegte alle Vorſchlaͤge, um mir weiß zu
machen, daß ſie Neigung zu einem der andern haͤt-
te. Jhr kleines ſchelmiſches Auge warf ſie auf
mich,
[297]
mich, um zu entdecken was in meinem Gemuͤthe
vorging. Meine Freude war tiefer verſtecket, als
daß ihr Auge ſie haͤtte entdecken koͤnnen, wenn es
auch ein Sonnen-Strahl geweſen waͤre.


Das ſchoͤne Kind ſetzt nicht das geringſte Zu-
trauen auf mich. Wenn ich meine Abſichten aͤndern
ſolte, ſo wirſt du mich doch nie durch Vorhaltung
ihres Vertrauens, das ſie auf mich und auf meine
Ehre ſetzt, dazu bewegen. Soll ein ſolcher geuͤbter
Kunſtverſtaͤndiger in der Kunſt verſchmitzt zu lie-
ben von einem unerfahrnen Kinde uͤbervortheilet
werden?


Wie ward mir? als ich ſahe, daß mein Kind
ſich die ausgekuͤnſtelten Briefe ſo gefallen ließ, daß
es mich um Dolemanns Brief bat, um ihn an
die Fraͤulein Howe zu ſenden, damit die ihn ſich
gleichfalls gefallen laſſen moͤchte.


Sind das nicht einfaͤltige Schelm-Kinder, die
ſich ſo viel auf ihr eignes Urtheil verlaſſen, und den-
noch mit offenen Augen Fehltritte thun! Nichts als
die Erfahrung kann ihnen die Weisheit der alten
Muͤtter beybringen, und ſie in den Stand ſetzen,
unſere Liſt zu nichte zu machen. Alsdenn koͤnnen
ſie als Caßandren ſitzen, und andern predigen,
was jene ihm eben ſo wenig glauben werden, als
ſie es jetzt von ihren Muͤttern annehmen, wann ih-
nen ein artiger und dreiſter Kerl, (wie du einen ken-
neſt) in den Weg kommt.


Aber, Belford, iſt dir das nicht auf das Hertz
gefallen, daß der ſchlaue Kerl der Dolemann die
Straſſe, in der die Wittwe wohnet, Doverſtreet
T 5nennet?
[298]
nennet? Was meineſt du, was iſt der Endzweck
hievon? Jn Ewigkeit wirſt du den nicht errathen;
ich will dir die Muͤhe nicht einmahl machen. Wie,
wenn eine allzudienſtfertige Freundin ſich nach Do-
ver-Street
erkundigte, um mehr Nachricht von
der Witwe einzuziehen, (Die Fraͤulein Howe iſt
ſo liſtig als der Teufel, und nicht weniger geſchaͤf-
tig als dieſer boͤſe Geiſt, und es findet ſich weder
ein ſolcher Nahme noch ein ſolches Haus in der
Straſſe; wird nicht der beſte Spuͤr-Hund die Spur
verlieren?


Allein du fragſt mich: wie willſt du es anfan-
gen, Lovelace, daß die Fraͤulein dich nicht haſſet,
und noch mehreren Verdacht auf dich wirfft, wenn
ſie erfaͤhrt, daß ſie in einer andern Straſſe iſt.


Dafuͤr ſey unbeſorgt. Jch will ihr das ſchon
verbergen: oder wir werden uns um die Zeit beſſer
verſtehen: oder, wenn wir uns nicht beſſer verſte-
hen, ſo ſoll ſie ſoviel von mir wiſſen, daß ſie ſolche
Kleinigkeiten von Suͤnden nicht mehr auſmutzet.


Allein wie willſt du die Fraͤulein hindern, daß
ſie der Howe nicht den rechten Nahmen ſchreibt?


Wie? muß ſie nicht den Nahmen erſt ſelbſt wiſ-
ſen, ehe ſie ihn ſchreiben kann? Biſt du nicht ein
Schlaraffe?


Wie willſt du es aber machen, daß ſie den Nah-
men der Straſſe nicht erfaͤhrt; und daß ihre Freun-
din die Briefe nicht in das Haus ſchicket, welches
eben ſo ſchlimm ſeyn wuͤrde, als wenn ſie den Nah-
men ſelbſt wuͤſte?


Laß mich ſelbſt dafuͤr ſorgen.


Du
[299]

Du machſt mir noch den Einwurff: Dolemann
ſey nicht geſchickt einen ſolchen Brief zu ſchreiben.
‒ ‒ Kannſt du denn nicht dencken, daß ich ihm die
Muͤhe erſpart, und da ich London ſo gut kenne ei-
nen Brief vorgeſchrieben habe, den er abſchreiben
mußte?


Was ſagſt du nun von mir, Belford?


Was meineſt du, wenn ich dir das Amt, dich
nach Zimmern zu erkundigen, zu Anfang zuge-
dacht habe? und die Fraͤulein hat dich verworfen?
ohne eintzige Urſache verworfen, als weil ich dich
werth ſchaͤtze? Was ſagſt du nun von der Fraͤulein?


Nie muß es einem an Gelegenheit, an Raͤncken
mangeln. Was fuͤr ein Ober-Schelm iſt dein
Freund! komm Belford, ſiehe mir zu, ich will auf-
ſchwellen. Jch bin ſchon ſo groß als ein Elephan-
te.
Habe ich nicht Urſache, dem Monde einen
Stoß mit meinen Ruͤſſel zu geben? Gott erbarme
ſich ſeiner armſeeligen Geſchoͤpfe. Wundre dich
nicht, wenn ich dich von Hertzen verachte; denn
wer ſich ſelbſt recht erhoͤhen will, der muß andere
nothwendig verachten.


Davon, daß Dolemann einen Winck in dem
Hauſe der Witwe gegeben hat, als waͤren wir
verheyrathet, will ich guten Gebrauch machen.
Jch will dir aber nicht alles auf einmahl erzaͤhlen;
und ich habe dieſes Stuͤck noch nicht genug durchge-
dacht. Wenn man ſich nach den Bewegungen ei-
nes wachſamen Feindes richten muß, ſo kann man
nicht zum voraus ſagen, was man thun wird.


Die
[300]

Die Witwe Sinclair! ‒ ‒ Sagteſt du nicht
ſo, Lovelace!


Ja Bruder: Sinclair! Behalte den Nah-
men. Sinclair: ſo ſoll ſie heiſſen. Sie hat
keinen andern Nahmen. Weil ihre Bildung maͤnn-
lich und ſtarck iſt, ſo will ich ſie fuͤr eine aus dem
Hochlande ausgeben. Jhr Mann, der ſeelige O-
briſte (behalte das auch) war ein Schotte: ein
ehrlicher Mann und ein tapferer Soldat.


Jch vergeſſe die Kleinigkeiten niemahls. Wenn
man bey Unwahrheiten, an denen der andere Zwei-
fel bekommen koͤnnte, zum voraus die Kleinigkeiten
wohl durchgedacht hat, und bey einerley Rede blei-
bet; ſo hilft das mehr als tauſend Schwuͤre oder
Geluͤbde, dadurch der Unachtſame ſeine Fehler erſe-
tzen will, und die nichts helfen, wenn einmahl der
Verdacht erreget iſt.


Wenn du die Haͤlfte von dem wuͤßteſt, was mei-
ne Vorſicht beſchloſſen hat, ſo wuͤrdeſt du dich
wundern. Hoͤre nur eins. Jch habe ſchon ein Ver-
zeichniß von Buͤchern nach London geſchickt, welche
meiſtentheils alt gekauft werden ſollen. Du weißt,
daß alles Frauenzimmer in dem Hauſe beleſen iſt.
Doch ich will nichts vorher ſagen. Es laͤßt auch,
als wollte ich meinem alten Freunde, dem Zufall,
der mir ſo oft beygeſtanden hat, keine Arbeit uͤber-
laſſen: er hat dieſes nicht um mich verdient, um
mich am wenigſten, der ich alle Zufaͤlle zu gebrau-
chen weiß.


Der
[301]

Der acht und dreißigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch muß Jhnen etwas berichten, daran Jhnen
ſehr viel gelegen iſt.


Nachdem Jhr Bruder mit Gewißheit erfahren
hat, daß Sie noch nicht getrauet ſind; ſo hat er
ſich vorgenommen, Sie auszukundſchaften, Jhnen
aufzulauren, und Sie mit Gewalt zu entfuͤhren.
Ein guter Freund von ihm, der ein Schiff-Capi-
tain iſt, ſoll Sie an Bord nehmen und mit Jhnen
davon ſeegeln, um Sie zu Leith oder zu Hull an
das Land zu ſetzen, damit Sie auf eines der Haͤu-
ſer Jhres Bruders gebracht werden koͤnnen.


Die Jhrigen ſind ſehr gottlos. Jhre bekannte
Tugend hindert ſie nicht, den allerſchlimmſten Ver-
dacht von Jhnen zu faſſen. Wenn ſie aber von
dem Ungrunde dieſes Verdachtes uͤberzeuget ſeyn
koͤnnen, ſo wollen ſie Sie verbergen, bis ſie Sie als
Frau Solmes der Welt zeigen koͤnnen. Um aber
Herrn Lovelacen beyde Haͤnde voll zu thun zu ge-
ben, ſoll ihm wegen eines Verbrechens, davon ſie et-
was wiſſen wollen, ein Proceß an den Hals gewor-
fen werden, der ihn zum wenigſten aus dem Lande
treibet, wenn er ihm nicht das Leben koſtet.


Dieſe Neuigkeit iſt noch gantz warm. Jhre
Schweſter erzaͤhlte ſie mit groſſem Frohlocken uͤber
Lovelacen der Fraͤulein Lloyd, die jetzt ſehr wohl
bey
[302]
bey ihr angeſchrieben iſt, ob ſie gleich eine eben ſo
groſſe Anbeterin von Jhnen bleibt, als ſie ſonſt gewe-
ſen iſt. Die Fraͤulein Lloyd erzaͤhlte es mir, aus
Beyſorge, daß Ungluͤck daraus entſtehen koͤnnte, und
bat mich, Jhnen insgeheim Nachricht davon zu ge-
ben. Sonſten wuͤrde weder ſie noch ich uns die Au-
gen ausweinen, wenn Lovelace mit guter Manier
an den Galgen kaͤme: falls nehmlich Sie nichts da-
gegen einzuwenden haben. Wir koͤnnen aber nicht
anſehen, daß ein ſo unvergleichliches Gemuͤth gleich-
ſam der Ball ſolcher Haͤnde werden ſoll; oder daß
Sie gar aufgefangen und der Barmhertzigkeit der
unbarmhertzigſten Leute Preis gegeben werden
ſollen.


Wenn Sie ſo viel uͤber Herr Lovelacen zu ſa-
gen haben, daß er in Schrancken bleibt, ſo wuͤnſchte
ich, daß Sie ihm, ohne die Fraͤulein Lloyd zu nen-
nen, einige Nachricht geben moͤchten. Vielleicht
erfaͤhrt er es auch durch ſeinen gottloſen Spion. Jch
uͤberlaſſe aber alles Jhrem eigenen Gutbefinden.
Jch befuͤrchte nur, daß dieſer tollkuͤhne Anſchlag Jh-
res Bruders Sie noch mehr in Lovelaces Gewalt
liefert. Da meine Nachricht Sie aber uͤberzeuget,
daß keine Hoffnung zur Verſoͤhnung uͤbrig iſt, ſo
wuͤnſchte ich, Sie verheyrathet zu ſehen, es mag je-
nes Verbrechen ſeyn was es will, Mord und Noth-
zucht ausgenommen.


Jhre Hannichen iſt ſehr danckbar fuͤr Jhre Guͤ-
tigkeit geweſen, und hat Jhnen tauſendfachen See-
gen gewuͤnſcht. Sie hat nun auch Herrn Lovela-
ces
Geſchenck bekommen.


Jch
[303]

Jch bin recht vergnuͤgt uͤber Herrn Hickmann.
Er hat der Perſon, die Herrn Lovelaces fuͤnf Gui-
neas uͤberbrachte, noch zwey Guineas mitgegeben,
die als von einem Unbekannten beſtellet ſind. Auch
ſoll weder ich noch Sie davon wiſſen. Die Art
das Geſchenck zu geben gefaͤllt mir beſſer als das
Geſchenck ſelbſt. Er erzeiget mehr dergleichen Wohl-
thaten, und iſt dabey ſo verſchwiegen als die Nacht:
niemand erfaͤhrt etwas davon, bis die Danckbar-
keit derer ihn verraͤth, welche die Wohlthat genoſ-
ſen haben. Er theilt bisweilen meine Almoſen aus,
und ich glaube, daß er ſie insgeheim vermehret.


Allein die Zeit iſt noch nicht gekommen, da ſein
Gutes gelobet werden ſoll: und er ſcheint auch nicht
noͤthig zu haben, daß er durch Lobes-Erhebungen
aufgemuntert werde, Gutes zu thun.


Sein Hertz iſt in der That gut: und es waͤre
unbarmhertzig gehandelt, wenn man von einem ein-
tzigen alle gute Eigenſchaften fodern wollte. Allein
er handelt nicht klug fuͤr ſich, daß er ſich meinetwe-
gen Muͤhe giebt, da er ſiehet, wie veraͤchtlich mir alle
Manns-Perſonen ſind, daher ich eine jede Manns-
Perſon von mittelmaͤßigen Eigenſchaften nur zu
meinem Zeit-Vertreib gebrauchen werde, nicht zu
gedencken, daß er ſelbſt ſich zu der laͤcherlichen Per-
ſon macht, weil er ſeine Sache ſo wunderlich anfaͤngt.
Unſere Zuneigung und Abneigung pflegt ſelten ver-
nuͤnftig zu ſeyn, und auf unſere wahre Gluͤckſeelig-
keit abzuzielen. Die leichtfertigen Augen haben
ein all zu genaues Buͤndniß mit dem Hertzen, und
dieſes Buͤndniß ſcheint bey nahe gegen die Vernunft
gemacht
[304]
gemacht zu ſeyn. Wie ungleich wuͤrde eine Ver-
bindung zwiſchen Leib und Geiſt ſeyn? Alles was
ſinnlich iſt macht, eben wie die Leute zu Harlowe-
Burg, eine Verſchwoͤrung wider den edlern Theil,
der dem uͤbrigen zur Ehre gereichen und ihn beſeelen
wuͤrde, wenn ihm ſeine rechtmaͤßigen Vorzuͤge nicht
ſtreitig gemacht wuͤrden.


Erlauben Sie mir, daß ich Jhnen vor Jhrer
Abreiſe nach London 48. Guineas uͤberſenden darf.
Jch habe dieſe Zahl aus Gefaͤlligkeit gegen Sie ge-
waͤhlet: ich rechne alsdenn die 2. Guineas fuͤr
Hannichen an, ſo ſind Sie mir gerade funfzig ſchul-
dig. Jch hoffe, daß dieſe Bitte nicht fruchtlos
bey Jhnen ſeyn wird. Sie wiſſen, daß ich das
Geld nicht brauche: daß ich mehr als noch einmahl
ſo viel vorraͤthig habe, und alſo um die Haͤlfte mehr
als meine Mutter weiß. Was werden Sie mit
ſo wenigem Gelde in einer ſolchen Stadt als London
iſt anfangen koͤnnen? Sie bedencken nicht, daß
Sie geheime Boten und Nachrichten gebrauchen
koͤnnen. Wenn Sie mir dieſe Gefaͤlligkeit nicht
erzeigen, ſo glaube ich nicht, daß Sie ſo demuͤthig
geworden ſind, als Sie ſich in Jhrem Briefe be-
ſchreiben, und zum wenigſten in dieſem Stuͤcke ſeyn
ſollten.


Was meine und meiner Mutter Umſtaͤnde an-
langet, ſo wiſſen Sie ſchon, daß meine Mutter we-
der in ihrem Streit noch Freundſchaft Maaße zu
halten weiß. Sie denckt nie daran, daß ich ihre
Tochter bin. Doch nein! Jch bin meines Vaters
Tochter.


Die
[305]

Die Heftigkeit meines Vaters iſt ihr ſo empfind-
lich geweſen, daß ſie noch jetzt daran gedenckt, nach-
dem ſie alle ehemahlige Liebe und Zaͤrtlichkeit laͤng-
ſtens vergeſſen zu haben ſcheinet. Sollten nicht
manche Toͤchter glauben, daß ihren Muͤttern das
Gebot des Gehorſams ſehr unertraͤglich geweſen
ſey, wenn ſie aller Gelegenheit wahrnehmen, ihre
Herrſchaft uͤber ihre Kinder zu zeigen, und nachdem
ſie lange Witwen ſind, es bedauren, daß ſie ihre
Maͤnner nicht eben ſo beherrſchet haben?


Wenn es ſich fuͤr mich nicht allzu wohl ſchicket,
dergleichen Ausdruͤcke von meiner Mutter zu ge-
brauchen, ſo wird doch meine Suͤnde durch meine
zaͤrtliche Liebe und beſtaͤndige Ehrfurcht gegen mei-
nen Vater verringert werden. Er war fuͤr mich ein
guͤtiger Vater: und vielleicht waͤre er auch ein
freundlicher und leutſeeliger Ehemann geweſen,
wenn meine Mutter nicht mehr von ſeinem Geiſte
gehabt haͤtte, als zu einer vergnuͤgten Verbindung
zwiſchen ihnen noͤthig war.


Es war ein Ungluͤck, daß, ſobald der eine Theil
verdrießlich war, der andere auch ſogleich verdrieß-
lich ward. Sonſt hatte keiner von beyden ein ſchlim-
meres Hertz als der andere. Jndeſſen, ob ich gleich
nur ein kleines Maͤdchen war, als mein Vater
ſtarb, ſo kam es mir doch niemahls vor, daß das
Joch meiner Mutter ſo beſchwerlich geweſen ſey, als
ſie mir es bisweilen vorzuſtellen pflegt, wenn ſie mir
vorwirft, daß ich nicht ihre, ſondern meines Va-
ters Tochter ſey. Jch habe oft bey mir ſelbſt
gedacht: wenn Eltern von ihren Kindern eine un-
Dritter Theil. Ugetheilte
[306]
theilte Liebe fodern, ſo ſollten ſie mit der aͤuſerſten
Sorgfalt dergleichen fortdaurenden Zwieſpalt zu
vermeiden ſuchen, der ihre Kinder zwinget, ihre Ehr-
furcht und Liebe zu theilen, und einen von beyden
auszuwaͤhlen, dem ſie dieſe natuͤrlichen und uner-
laͤßlichen Pflichten erzeigen wollen.


Allein die Urſache alles Ungluͤcks iſt dieſe: meine
Mutter iſt eine unvergleichliche Haushaͤlterin, und
recht dazu gebohren etwas auszurichten: eine mun-
tere und aufmerckſame Frau aber wird ſich nicht
gern ſo viel einreden laſſen, als eine Schlaf-Muͤtze.
Dieſe iſt ſich bewuſt, daß ihr vieles zu gute gehal-
ten werden muß: allein jene weiß gar zu viel von
ihrer Geſchicklichkeit und guten Eigenſchaften, als
daß ſie von jemand auſſer ſich eine gute Meinung
haben ſollte. Eine jede hat ihren Wurm: und den
gewiß. Weil ſie ſieht, daß ſie in der Haushaltung
brauchbar iſt, ſo will ſie noch mehr als brauchbar
ſeyn.


Jch verſichere Jhnen, wenn ich eine Manns-
Perſon waͤre, und ruhig zu leben wuͤnſchte, ſo wollte
ich keine von den klugen Haushaͤlterinnen nehmen,
wenn ſie auch guͤldene Eyer legen koͤnnte. Wenn
ich von meiner Geliebten hoͤrete, daß ſie nach dem
Urtheil der Leute Verſtand haͤtte, und auf alles
merckte, ſo wollte ich mich zufoͤrderſt erkundigen, ob
ſie Verſtand nach Art der Frauenzimmer oder der
Manns-Leute habe. Wenn ich ein ſchlaf-truncke-
ner traͤger Schweimeler waͤre, der vielleicht ſeines
Verwalters Bauer werden koͤnnte: ſo wollte ich mir
eine Parthey ausſuchen, vor der ſich mein Verwal-
ter fuͤrchten muͤßte.

Jch
[307]

Jch will jetzt an meine Mutter nicht gebencken,
weil ſie meine Mutter iſt. Allein wie viel Vorzuͤge
vor anderen Frauenzimmer bildet ſich die Lady Hart-
ley
ein, weil ſie ſich auf Geſchaͤfte verſtehet, die das
Frauenzimmer gar nicht angehen! Auf ſolche Ge-
ſchaͤfte, ſage ich, die einem Frauenzimmer nie Ehre
bringen koͤnnen! denn ob es gleich keine Schande
iſt, wenn wir etwas davon verſtehen, ſo iſt es doch
keine Ehre fuͤr uns, wenn wir uns darein mengen.


Mich duͤnckt uͤberhaupt, daß ein allzu maͤnnli-
ches Frauenzimmer ein Widerſpruch iſt, der wenig
Liebe verdienet. Waͤre ich eine Manns-Perſon,
ſo wollte ich mir lieber eine einfaͤltige Taube aus-
ſuchen, die zu Neſte gehet und bruͤtet, als eine
allzu geſchaͤftige Frau (vielleicht gebe ich mir
ſelbſt den Korb) die meinen Bedienten ſtets alle
Haͤnde voll zu thun gaͤbe, und mit dem Beſen
in der Hand mir ſelbſt bey nahe zu drohen ſchie-
ne, daß ſie mich als einen unnoͤthigen Hausrath
aus dem Hauſe kehren wolle.


Wenn die Frau im Hauſe die Eigenſchaften an
ſich haͤtte, die ich an einem gewiſſen unvergleichlichen
Frauenzimmer ſo ſehr bewundern muß; wenn ſie
ſich ihre Graͤntzen zu ſetzen weiß, und bey Nadel,
Feder, Rechnungen und Haushaltungs-Sachen
bleibt; wenn ſie ſich ein Vergnuͤgen daraus macht,
zu ſehen, wie die Armen von dem Ueberfluß geſaͤt-
tiget werden, der ſonſt umkommen wuͤrde; wenn
ſie ſich mit allen nuͤtzlichen Sorgen der Haushaltung
zu thun macht: ſo wuͤrde ſie Liebe und Ehrerbietung
verdienen, ſie wuͤrde das vornehmſte Trieb-Rad der
U 2Familie
[308]
Familie ſeyn, (dencken Sie ja nicht hiebey an Jhre
Anna Howe. Sie moͤgen noch ſo guͤtig gegen
dieſe geſinnet ſeyn, ſo iſt ſie doch die Perſon gar
nicht, die ich hier beſchreibe) jedermann wuͤrde ſie
lieben, ſo wie jedermann Sie liebete, ehe Jhr un-
gerathener Bruder, der ſich auf ſeinen unverdienten
Reichthum viel einbildete, das oberſte in Jhrem
Hauſe zu unterſt kehrete.


Sie wollen genauere Nachricht von meinem
Streit mit meiner Mutter haben, weil Sie wiſſen,
daß Jhre Sache die Gelegenheit dazu geweſen iſt.
Jch kann demnach nicht unterlaſſen, Jhnen einige
Nachricht zu geben. Wie kann ich aber dieſes thun?
Die Backen werden mir von Scham und Verdruß
roth, wenn ich daran gedencke. Meine Mutter
hat mich ſo zu reden geſchlagen. Es iſt die reine
Wahrheit. Sie unterſtand ſich, mich auf die Hand
zu ſchlagen, um ein Blat des Briefes zu bekommen,
den ich an Sie ſchrieb, welches ich zerriß, und in
ihrer Gegenwart verbrannte.


Jch weiß, daß dieſe Nachricht Jhnen Unruhe
machen wird. Machen Sie ſich alſo nur nicht die
Muͤhe, mir Jhre Unruhe zu melden.


Herr Hickmann kam gleich nachher in unſer
Haus: ich wollte ihn aber nicht ſprechen, ſondern
ſagte meiner Mutter: ich ſey entweder ſo weit er-
wachſen, daß ich mich mit Schlaͤgen nicht vertragen
koͤnnte; oder ich ſey ein Kind, welches noch keine
Anbeter haben muͤßte. Was kann man weiter thun,
als muͤrriſch ſeyn, wenn man keinen Finger aufhe-
ben darf, ohne eine Tod-Suͤnde zu begehen?


Sie
[309]

Sie nahm die Harlowiſche Sprache an, und
ſagte, ich ſollte und muͤßte ihr gehorchen. Sie
wollte ſelbſt Herrn Hickmann das Haus verbie-
ten, wenn er der Brieftraͤger bey einem verbotenen
Brief-Wechſel waͤre.


Der arme Menſch hat uͤble Zeit bey uns. Je-
doch er weiß wie er mit meiner Mutter, und er weiß
nicht wie er mit mir ſtehet: daher kann er, ohne
ſich lange zu bedencken, waͤhlen, mit wem er es hal-
ten muß, wenn er auch nicht aus eigenem Triebe
begie [...]ig waͤre Jhnen zu dienen, das ich ihm doch
nach [...]hmen muß. Dieſes giebt ihm in meinen
Auge[n] einen Werth, den er ſonſt ohngeachtet aller
ſeiner guten Eigenſchaften nie erhalten wuͤrde.
Dem wenn ich gleich ſonſt noch ſo viele Fehler habe,
ſo weiß ich doch, ohne mich zu erheben, daß ich die
guten Eigenſchaften, die ich vorhin an ihm lobete,
auch beſitze: deſto eher koͤnnte er ihrer entbehren,
wenn wir ein Paar werden ſollen. Wenn jemand
eine gitige und freygebige Frau hat, und nur ſelbſt
kein Knicker iſt, und ſie nicht abhaͤlt gutes zu thun;
ſo ge[ſ]chiehet ſchon genug. Hat ein freygebiger
Mann eine gute Haushaͤlterin, ſo iſt es fuͤr beyde am
beſten. Denn wenn beyde Theile geben und ſchen-
cken, und ſich doch einander nicht ſo wohl verſtehen,
daß der eine um die Wohlthaten des andern Theils
weiß, ſo werden ſie ſo viel verſchencken, daß die Ge-
rechtigkeit darunter leiden wird. Sind das nicht
Saͤtze aus der ſtrengſten Haushaltungs-Weisheit?
Sie ſind aber in der That die Mittel-Straſſe, zwi-
ſchen der uͤbertriebenen Weisheit meiner Mutter
U 3und
[310]
und Jhrer uneingeſchraͤnckten Menſchen-Liebe.
Doch ich ſoll den Lehr-Stuhl verlaſſen, und von dem
etwas melden, was in unſerm Hauſe vorgefallen iſt.


Jch ſchloß mich den gantzen Tag ein: und was
ich von Speiſe koſtete, das mußte auf meine Stube
gebracht werden. Des Abends ließ meine Mutter
mir durch Kitty ſagen, ich ſollte zum Abend-eſſen
hinunter kommen, oder ſie wuͤrde es fuͤr einen unge-
horſam anſehen. Jch ging hinunter, und ſuchte
alle meine Ehre darin, daß ich muͤrriſch war. Jch
redete ſchon viel, wenn mir Ja und Nein en [...]fiel.


Sie ſagte: mit einer ſolchen Auffuͤhrung wuͤrde
ich wenig bey ihr ausrichten.


Jch: und ſie wenig bey mir mit Schlaͤger.


Sie ſagte: meine dreiſte Widerſetzung haͤte ſie
ſo verdroſſen, daß ſie mich auf die Hand geſchagen
haͤtte. Es thaͤte ihr leid, daß ich ſie dazu ge-
zwungen haͤtte. Sie drang von neuen darauf, ich
ſollte entweder gar nicht an Sie ſchreiben, oder ich
ſollte ihr alle Briefe zeigen.


Keins von beyden! (antwortete ich.) Eſwuͤr-
de wider meine Ehre und Neigung ſeyn, auf An-
ſtiften niedertraͤchtiger Leute meiner beſten Freundin
in ihrem Ungluͤck die Freundſchaft aufzukuͤndigen.


Was eine Mutter von Gehorſam, Pflicht,
Kindern, Muͤttern, predigen kann, das kam alles
zum Vorſchein.


Jch antwortete: wenn ich Sie ungluͤcklich nen-
nen ſollen, ſo ſey die eintzige Urſache Jhres Ungluͤcks,
daß man die kindliche Pflicht allzu weit ausgedaͤh-
net haͤtte. Wenn ich ſo fern erwachſen waͤre, daß
ſie
[311]
ſie auf meine Verheyrathung dencken koͤnnte, ſo
muͤßte ſie mir auch ſo viel Verſtand zutrauen, daß
ich meine Freundſchaften waͤhlen koͤnnte. Das
muͤſſe inſonderheit in Abſicht auf ein ſolches Frau-
enzimmer gelten, deſſen Freundſchaft ſie ſelbſt fuͤr
die nuͤtzlichſte und anſtaͤndigſte unter allen gehalten
haͤtte, ehe dieſes Frauenzimmer ohne Verſchulden
ungluͤcklich geworden waͤre.


Je groͤſſer der vorige Ruhm ſey, (ſagte ſie) deſto
aͤrgerlicher ſey die Vergehung. Je kluͤger Sie waͤ-
ren, deſto ſchaͤdlicher ſey Jhr Exempel.


Jch ſagte: es gebe noch andere Pflichten auſſer
der Pflicht der Kinder gegen die Eltern; und ich
glaubte nicht, daß ich ſchuldig waͤre, eine ungluͤck-
liche Freundin zu verlaſſen, weil es die Uhrheber
ihres Ungluͤcks verlangeten. Es waͤre ſehr hart,
wenn dieſes ein Stuͤck meiner kindlichen Pflicht
ſeyn ſollte, da doch beyderley Arten von Pflichten
wohl mit einander beſtehen koͤnnten. Unbillige Be-
fehle und Verbote waͤren eine Art der Tyranney:
ich muͤßte ihr dieſes frey ſagen, wenn ſie mich gleich
noch einmahl deswegen ſchlagen wollte. Jch haͤtte
nie gedacht, daß man mir in dieſen Jahren verbie-
ten wuͤrde einigen Willen und freye Wahl zu ha-
ben, mit was vor Frauenzimmer ich umgehen ſollte:
denn von den verdammten Manns-Leuten ſey jetzt
im geringſten die Rede nicht.


Das wichtigſte, was ſie vorbringen konnte, gruͤn-
dete ſich darauf, daß ich ihr nicht alle unſere Brieffe
zeigen wollte. Sie machte viel Weſens hieruͤber,
und ſagte: Sie befaͤnden ſich in der Gewalt des
U 4groͤſ-
[312]
groͤſſeſten Schelms, der in der Welt ſeyn koͤnnte,
und der ſich uͤber Herrn Hickmann nicht wenig
aufgehalten haͤtte: aus meinem Brief-Wechſel
koͤnnten alſo Folgen entſtehen, die weder Sie noch
ich vorher ſehen koͤnnten.


Sie ſehen, daß ich um Herr Hickmanns wil-
len mehr eingeſchraͤnckt werde. Jch haͤtte nichts
dawider meiner Mutter alle unſere Briefe zu zei-
gen: wenn ich nicht zum voraus wuͤßte, daß wir bey-
derſeits uns alsdenn nicht unterſtehen duͤrften, ſo
frey von dem Hertzen wegzuſchreiben. Sie iſt uͤber
dieſes Jhren Widerſachern ſo ſehr zugethan, daß
ich nichts als Folgerungen, weit geholte Schluͤſſe,
Cantzelmaͤßige Auslegungen und Anmerckungen
wuͤrde anhoͤren, und mich daruͤber zancken muͤſſen.


Es ſollte mir endlich ſehr leid thun, wenn ich ihr
erzaͤhlen muͤßte, wie ſehr Herr Lovelace ein Frau-
enzimmer uͤberliſtiget hat, das ſo viele Vorzuͤge vor
ihm beſitzet.


Jch kenne Jhr edles und grosmuͤthiges Hertz,
welches zur Eigen-Liebe allzu erhaben iſt: es ahndet
mir ſchon was Sie ſchreiben wollen. Allein ich
bitte Sie, rathen Sie mir nicht an, meinen Brief-
Wechſel mit Jhnen aufzugeben.


So bald unſer Streit geendiget war, bot mir
Herr Hickmann von neuen ſeine Dienſte an, und
aus meinem letzten Briefe werden Sie erſehen ha-
ben, daß ich ſie angenommen habe. So viel Ehrer-
bietung er gegen meine Mutter hat, ſo glaubt er den-
noch, daß ſie zu hart gegen uns beyde ſey. Er bil-
ligte nicht allein mit einer Mine, die mir ein wenig
zu
[313]
zu lehrreich zu ſeyn ſchiene, unſern Brief-Wechſel,
ſondern bewunderte auch meine Beſtaͤndigkeit in
der Freundſchaft. Weil er ſie ungemein hoch ſchaͤ-
tzet, und von Herrn Lovelace eine ſehr ſchlechte
Meinung hat, ſo glaubt er, daß mein Rath und
Nachrichten Jhnen bisweilen nuͤtzlich ſeyn koͤnnen:
deswegen, ſagt er, ſollte es ihm ſehr leid thun, wenn
Sie meiner Zuſchriften entbehren muͤſten.


Die Haupt-Sache von dem, was Herr Hick-
mann
ſagte, gefiel mir wohl; und das war gewiß
ſein Gluͤck: denn ſonſt wuͤrde mir das ſehr misfaͤllig
geweſen ſeyn, was er ſich unterſtand von billigen
zu ſagen. Jch habe ihm noch nie erlaubt, dieſe
Sprache gegen mich zu gebrauchen. Sie ſehen,
mein Schatz, wie die Manns-Leute ſind: giebt man
ihnen die Erlaubniß uns einige angenehme Dienſte
zu thun, ſo unterſtehen ſie ſich gleich, unſere Hand-
lungen zu billigen, gerade als wenn ſie ein
Recht haͤtten, ſie auch bisweilen zu misbilligen.


Jch habe meiner Mutter geſagt, daß Sie eine
Verſoͤhnung mit den Jhrigen hertzlich wuͤnſchten,
und von Herrn Lovelace vollkommen frey waͤren.


Sie antwortete: bedencke wohl, meine Tochter,
was der Endzweck dieſes Vorgebens ſeyn kann. ‒ ‒
Wegen einer Ausſoͤhnung meint ſie ſo viel Nach-
richt zu haben, daß ſie ohnmoͤglich ſeyn wuͤrde,
wenn Sie nicht ohne einige Bedingungen zu ma-
chen nach Jhres Vaters Haus zuruͤck kehren. Sie
haͤlt dieſes vor billig, und meint, daß man hieraus
am ſicherſten ſchlieſſen koͤnne, daß Sie in keiner Ver-
bindung mit Herrn Lovelace ſtehe. Sie ſtehen
U 5hieraus
[314]
hieraus, was nach meiner Mutter Meinung ihre
Pflicht iſt.


Jch erwarte, daß ihr naͤchſter Brief zu London
geſchrieben ſeyn, und in Herrn Hickmanns Hauſe
abgegeben werde. Mein Wunſch iſt dabey, daß
der Himmel Sie bewahren wolle.


Jch kann nicht begreiffen, wie Sie es in Abſicht
auf die Kleidung machen, weil Sie gar nicht um-
wechſeln koͤnnen. Es iſt zu verwundern, warum
die Jhrigen Jhnen hierin Ungelegenheit machen.
Sie zwingen Sie gleichſam wider Jhren Wil-
len in Lovelacens Arme.


Jch uͤberſchicke dieſen Brief durch unſern Ro-
bert,
damit er deſto eher in Jhre Haͤnde kommen
moͤge. Bey dem Beſchluß wiederhole ich noch-
mahls mein ehemahls verſchmaͤhetes Anerbieten.
Hoͤren Sie nie auf mich zu halten fuͤr


Jhre ergebenſte und getreue
Anna Howe.



Der neun und dreißigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch wuͤrde nicht werth ſeyn, Jhre Freundin zu
heiſſen, wenn mich mein eigenes ſchweres Un-
gluͤck ſo uͤbertaͤubete, daß ich meiner liebenswuͤrdigen
Freundin nicht meldete, wie ſehr ich ihre Auffuͤh-
rung
[315]
rung misbillige, da ihr edles Hertz ſie zu einer ſol-
chen Vergehung verleitet hat, die ſie vielleicht des-
wegen nicht fuͤr eine Vergehung erkennet, weil es
eine ſo edle Vergehung iſt. Niemand hat mehr
Grund als ich, dieſe Uebereilung zu bereuen, weil
ich die ungluͤckliche Urſache davon bin.


Sie ſchreiben: Sie wuͤßten zum voraus, daß
mich dieſe Nachricht beunruhigen wuͤrde. Sie
wollen mich deswegen der Muͤhe uͤberheben, Jh-
nen Nachricht von meiner Unruhe zu geben.


Sonſt waren Sie nicht gewohnt, mit dergleichen
Verbote zum voraus zu geben, ſondern ſagten viel-
mehr: Sie liebeten mich deſtomehr, weil ich Jhnen
Jhre Hitze zuweilen verwieſe, von der Sie ſelbſt ein-
ſahen, daß Sie Urſache haͤtten ſich davor als vor
einem gefaͤhrlichen Feinde zu huͤten. Wenn ich
aber gleich auf eine ſo ungluͤckliche Weiſe gefallen
bin, ſo glaube ich dennoch, daß meine Urtheile, (wenn
ſie anders jemahls geſund geweſen ſind) noch eben ſo
geſund ſind als ehemahls, weil ſie gegen mich nicht
gelinder ſind als gegen andere. Da meine Suͤnde
gleichſam anſteckend iſt, und auch Sie zu einem
verbotenen Brief-Wechſel verleitet, und da alle uͤble
Folgen Jhres Ungehorſams meine Suͤnde nur
ſchwerer machen wuͤrden: ſo bin ich ja ſchuldig, Jh-
nen mein Misfallen zu erkennen zu geben.


Ein ſolches Gemuͤth, als das Jhrige iſt, das
ſich einer ſo unveraͤnderlichen Freundſchaft ruͤhmen
kann, einer Freundſchaft, die durch Zufaͤlle und
Ungluͤck nicht ab, ſondern zunimmt, kann die wohl-
gemeinten Erinnerungen der allerbeſten Freundin
ohnmoͤg-
[316]
ohnmoͤglich uͤbel nehmen. Jch will mich desfals
wegen der Freyheit, die ich mir nehme, nicht ent-
ſchuldigen; ja ich brauche mich auch nicht zu ent-
ſchuldigen. Denn meine Erinnerung iſt ſo von
allem Schein des Eigennutzes entfernet, daß Sie
mich vielmehr des einzigen Troſtes beraubet, den
ich bisher genoſſen habe.


Jhr muͤrriſches Betragen gegen Jhre Mutter,
das Sie ſelbſt nicht leugnen; daß Sie ihr einen
Brief aus der Hand geriſſen haben, welchen zu ſehen
Sie ihrer Meinung nach berechtiget war; daß Sie
ihn vor ihren Augen verbrannt haben; daß Sie ſich
wegern, einen Herrn zu ſprechen, der aus Geneigt-
heit gegen ihre ungluͤckliche Freundin Jhnen ſo ge-
horſam geweſen iſt, blos damit Sie Jhrer Frau
Mutter Verdruß machen moͤchten: alles dieſes ſind
Dinge, (und es iſt doch nur die Haͤlfte von dem,
was an Jhrer Auffuͤhrung zu tadeln ſeyn koͤnnte)
die ſchwerlich an einer Perſon zu entfchuldigen ſind,
welche von ihrer Pflicht ſo vollſtaͤndig unterrichtet
iſt.


Jhre Frau Mutter hatte ehemahls eine beſſere
Meinung von mir: eben deswegen iſt Jhrem Ur-
theil mehr zu trauen, da ſie glaubet, daß ich mich
ihrer guten Meinung unwuͤrdig gemacht habe.
Denn eine Zuneigung iſt ſonſt eben ſo ſchwer zu uͤ-
berwinden und ein eben ſo ſtarckes Vorurtheil, als
eine Abneigung. Wie ſchwartz muß ihr demnach
meine Handlung vorkommen, da ſie ihr gantzes
Hertz von mir abwendet, ob ſie gleich nicht ſelbſt
durch meine Uebereilung beleidiget iſt?


Sie
[317]

Sie ſagen: es waͤren auſſer der Pflicht gegen die
Eltern noch andere Pflichten. Allein dieſes iſt doch
die vornehmſte Pflicht, die ſo zu reden aͤlter iſt,
als wir ſelbſt und als unſere Geburt. Welche
Pflicht wird dieſer nicht weichen muͤſſen, wenn ein
Widerſpruch der Pflichten entſtehet?


Sie glauben, daß beyde Pflichten wohl mit ein-
ander beſtehen koͤnnen. Allein ihre Frau Mutter
glaubt das nicht. Was wird hieraus fuͤr ein Schluß
folgen.


Wie wichtige Urſachen hat Jhre Frau Mutter,
uͤber Sie zu wachen, da ſie ſiehet, wie ſehr mein gu-
ter Nahme durch eine unbeſonnene Handlung leidet,
die ſie und andere nie von mir erwartet haͤtten. Ein
Uebel pflegt das andere nach ſich zu ziehen: und
weder ſie, noch ſonſt jemand kann wiſſen, wo das
Ungluͤck aufhoͤren wird.


Muß man nicht entweder den Willen oder die
Beurtheilungs-Krafft einer Perſon verdaͤchtig hal-
ten, die offenbahre Fehler rechtfertigen oder entſchul-
digen will? und ſo muß Jhre Frau Mutter Sie
nothwendig anſehen. Muß ſie nicht befuͤrchten,
daß ein jeder, der Luſt zu tadeln hat, ſagen wird:
wer den Fehler entſchuldiget, der wuͤrde ihn in glei-
chen Umſtaͤnden und bey eben den Reitzungen
auch begangen haben? Jch bediene mich einiger
Ausdruͤcke, die ſelbſt in Jhren ehemahligen Brief-
fen befindlich ſind.


Kann ein ſtaͤrckerer Erweiß von der Wahrheit,
daß die Eltern hohe Urſache haben uͤber ihre Kin-
der ſehr ſorgfaͤltig zu wachen, wenn gleich jedermann
die
[318]
die beſte Meinung von der Klugheit der Toͤchter
hat, gefuͤhret werden, als der iſt, der aus meinem
eignen Beyſpiel fließet?


Sind nicht die Jahre von dem ſechszehenten zu
dem ein und zwantzigſten die gefaͤhrlichen Jahre,
die einer ſolchen Aufſicht am meiſten benoͤthiget
ſind? Jn dieſen Jahren pflegen wir die Augen der
Manns-Perſonen am meiſten an uns zu ziehen:
und wir ſind ihren Bitten und oft ihren Verſu-
chungen in der Zeit am meiſten unterworfen. Jſt
nicht dieſes die Zeit, in welcher uns unſre Auffuͤh-
rung Ehre oder Schande erwirbet, die uns unſer
gantzes Leben hindurch nachzufolgen pfleget.


Sind wir nicht in der Zeit unſerer ſelbſt wegen
in der groͤſſeſten Gefahr, weil unſere Augen einige
unſerer Anbeter den andern vorzuziehen pflegen?


Wenn nun unſere Gefahr von innen und von
auſſen gedoppelt iſt, ſollen nicht billig unſere Eltern
ihre Sorgfalt verdoppeln? Soll uns dieſe nothwen-
dige Verdoppelung ihrer Sorgfalt deswegen ver-
drießlich ſeyn, weil wir erwachſen ſind?


Sagen Sie mir doch, wie groß, wie alt muß
eine Tochter ſeyn, die mit Recht glauben kann, daß
ſie dem Gehorſahm gegen ihre Eltern entwachſen
ſey? und vor die ihre Eltern eben ſo wenig Sorge
tragen ſollen, als die Thiere vor ihre erwachſene
Junge tragen?


Es kommt Jhnen hart vor, daß Jhre Frau
Mutter mit Jhnen umgehet, als mit einem Kinde?
Muß es aber der Mutter nicht eben ſo unangenehm
ſeyn,
[319]
ſeyn, daß ſie ihrer Meinung nach genoͤthiget iſt, mit
einer erwachſenen Tochter ſo umzugehen?


Was meinen Sie? wenn Sie die Mutter ge-
weſen waͤren, und Jhre Tochter haͤtte ſich Jhnen auf
eben die Art widerſetzt, wuͤrden Sie ſich nicht auch
haben uͤbernehmen laſſen, Jhre Tochter auf die
Haͤnde zu ſchlagen, damit ſie Jhnen das ſo geheim
gehaltene Blat geben moͤchte?


Es iſt wahr, was Jhnen Jhre Frau Mutter
ſagte: daß Sie ſie zu dieſer Uebereilung gezwun-
gen
haben: und es iſt eine Herablaſſung von ihr,
die Sie nicht bemerckt haben, daß ſie dazu ſetzte:
es thaͤte ihr leid.


So lange wir unverheyrathet ſind, (denn nach-
her kommen wir freylich unter einen andern Schutz,
der aber dennoch die kindliche Pflicht nicht aufhebet)
ſind die Fluͤgel unſerer Eltern unſer unentbehrli-
cher und beſter Schutz vor den Raub-Voͤgeln, die
uns nachſtellen, und uns fuͤr ihre gewiſſe Beute an-
ſehen, ſo bald wir uns von dieſen natuͤrlichen und
wachſamen Beſchuͤtzern entfernen.


So hart es Jhnen ſcheinet, daß Jhnen Jhre
Frau Mutter einen Brief-Wechſel verbietet, den ſie
ſonſt ſo ſehr billigte, ſo muͤſſen Sie ſich dennoch
dieſes harte Verbot gefallen laſſen, wenn Jhre Frau
Mutter glaubt, daß ein Brief-Wechſel mit mir Jh-
rem guten Nahmen nachtheilig ſeyn koͤnnte, nach-
dem mich alle die Meinigen veꝛlohren gegeben haben.
Muß ſie nicht in ihrer Meinung beſtaͤrcket werden,
wenn ſie ſolche Fruͤchte Jhres Brief-Wechſels wahr-
nimmt, daß Sie ſich eine Ehre daraus machen,
muͤrriſch
[320]
muͤrriſch zu ſeyn, und ſich ihren Befehlen wider-
ſetzen?


Jch weiß, mein Schatz, es ſollte dieſes ein luſti-
ger Ausdruck ſeyn, dadurch unſer Umgang und
Brief-Wechſel gemeiniglich gewuͤrtzt und ſchmack-
haft gemacht zu werden pfleget. Allein dieſe Sache
iſt zu ernſthaft.


Erlauben Sie mir, zu meiner verdrießlichen
Straf-Predigt noch hinzuzuſetzen, daß mir Jhre
Erzaͤhlungen gar nicht gefallen, wenn Sie darauf
kommen, wie Jhre Eltern bisweilen (bisweilen,
ſage ich, ob es gleich zu oft mag geſchehen ſeyn,)
mit einander geſtanden haben.


Niemand hat weniger Recht, als Sie, Jhrer
Mutter das zu verdencken, was an ihrer Auffuͤh-
rung gegen den ſeel. Herrn Howe zu tadeln gewe-
ſen ſeyn moͤchte: von deſſen Andencken ich nur die-
ſes ſagen will, daß es von Jhnen nie ohne Ehr-
furcht fuͤr ihn darf erneuert werden. Allein pruͤfen
Sie ſich wohl, ob das Misvergnuͤgen gegen Jhre
Mutter nicht vieles dazu beytrug, daß bey Schrei-
bung Jhres letzten Briefes Jhr Hertz ſo viel Ehr-
furcht gegen Jhren ſeel. Vater fuͤhlete?


Niemand iſt vollkommen: vielleicht iſt es auch
an Jhrer Mutter nicht zu loben, daß ſie ſich man-
ches unangenehmen noch nach ſeinem Tode erinnert.
Sie ſollten doch billig nicht vergeſſen, wer die Ge-
legenheit zu dieſer Erinnerung gab. Sie koͤnnen
und duͤrfen ſich nicht zur Richterin aufwerfen, um
auszumachen, was zwiſchen Jhren beyden Eltern
ehe-
[321]
ehemahls vorgegangen ſeyn moͤchte, dadurch nur
bey dem lebenden Theil die unangenehmen Erinne-
rungen erneuert und empfindlicher gemacht werden.



Der viertzigſte Brief
Eine Fortſetzung des vorigen von der Fraͤulein
Clariſſa Harlowe.


Jch muß nicht mehr von jener Sache ſchreiben.
Eine angenehmere Materie wuͤrde es ſeyn,
wenn ich uͤber eine Jhrer lebhaften Neben-Anmer-
ckungen wiederum eine Anmerckung machen duͤrfte:
wenn ſie nehmlich bey dem Hickmanniſchen Aus-
druck, billigen, ſo vornehm thun.


Wie gehet es doch zu, daß ein Frauenzimmer,
welches wegen ſeiner Edelmuͤthigkeit uͤberall bekannt
iſt, ſich ſelbſt bisweilen nicht gleichet, und nicht ge-
gen jedermann eben ſo edelmuͤthig iſt? Daß es bey
einer ſolchen Gelegenheit nicht edelmuͤthig iſt, bey
der Artigkeit, Klugheit, und Danckbarkeit ihm neue
Bewegungs-Gruͤnde zu dieſer Tugend geben? Herr
Hickmann hat, wie Sie ſelbſt geſtehen ein artiges
und liebenswuͤrdiges Hertz. Wenn ich dieſes nicht
laͤngſtens gewußt haͤtte, ſo wuͤrde ich niemahls gleich-
ſam ſeine Freywerberin bey der Fraͤulein Howe
geweſen ſeyn. Wie oft habe ich ihn bedauret,
wenn ich das Gluͤck hatte, Sie zu beſuchen, und ſahe,
daß er, nachdem er eine Zeitlang die gantze Geſell-
ſchaft in Jhrer Abweſenheit auf eine angenehme Art
Dritter Theil. Xunter-
[322]
unterhalten hatte, ſogleich ſtumm ward, ſo bald Sie
in die Stube traten!


Jch habe Jhnen dieſes ſchon ſonſt geſaget, und
Jhnen dabey zu verſtehen gegeben, daß die veraͤcht-
liche und etwas hochmuͤthige Unfreundlichkeit, die
Sie gegen ihn, und zwar gegen ihn allein bewieſen,
eine gantz andere Auslegung litte, als Sie daruͤber
gemacht haben wollten: eine Auslegung, die vor
ihn und wider Sie geweſen ſeyn wuͤrde.


Herr Hickmann iſt ein wohlgeſitteter und be-
ſcheidener junger Herr. Wo ich dieſe Tugend an-
treffe, und es hat der Perſon nicht an Gelegenheit
gefehlet, ihr Gemuͤth zu beſſern und zu bereichern;
da vermuthe ich immer einen Schatz in dem Ge-
muͤthe der dem Beſitzer Ehre bringen wuͤrde, wenn
ihm Muth gemacht wuͤrde, den Schatz auch andern
bekannt zu machen. Hingegen ein Mann, der ſich
ſelbſt gefaͤllt, und ſich doch gewiß nicht gefallen
koͤnnte, wenn er nicht von andern Leuten ſehr mit-
telmaͤßige Gedancken hegete, wird in jeder Geſell-
ſchaft bey allen Unterredungen ſeinen Lehr-Stuhl
aufſchlagen. Finden andere ſeine Schwaͤche aus,
ſo wird er im Vertrauen auf ſich ſelbſt mehr ſagen als
er weiß, um ſeine Unwiſſenheit nicht zu bekennen.


Sollte nicht ein beſcheidenes Frauenzimmer
auch eine beſcheidene Manns-Perſon hoch ſchaͤtzen,
und ſich keine andere als eine ſolche Geſellſchaft auf
ewig wuͤnſchen? Einen ſolchen Mann, in deſſen
Gegenwart und gegen welchen ſie den Mund oͤffnen
darf, und verſichert ſeyn kann, daß er kein veraͤcht-
liches Vorurtheil gegen das hat, was ſie ſaget, ſon-
dern
[323]
dern fuͤr ihre Ausdruͤcke und Urtheile eine liebreiche
und hoͤfliche Werthachtung heget? Muß das Frau-
enzimmer ſich nicht billig bemuͤhen, einer ſolchen
Manns-Perſon Muth zu machen und gleichſam
die Lippen aufzuſchließen?


Was fuͤr ein Loos habe ich hingegen bekommen?
Wir alle haben die Schwachheit, daß wir andere
lehren wollen: ſo viel iſt aber doch gewiß, daß ich
jetzt weit geſchickter bin hievon zu reden oder zu
ſchreiben, als ich ehemahls war. Allein ich will
meine Umſtaͤnde und mich ſelbſt gantz aus einem
Briefe verbannen, der meinem erſten Vorſatz nach
blos von Jhnen handeln ſollte.


Meine liebſte, meine allerliebſte Freundin, wie
fertig ſind Sie, zu beſtimmen, was andere thun ſol-
len, und was ſelbſt Jhre Frau Mutter gethan
haben ſollte! Mich duͤnckt, ich erinnere mich,
daß Sie ehemahls behaupteten, daß zu jeder Art
der Geſchicklichkeit ein eigener Kopf erfodert wuͤrde,
und z. E. einer ſehr geſchickt ſeyn koͤnnte, die Fehler
der Schreib-Art anderer zu entdecken, ohne
daß er ſelbſt in der Schreib-Art es anderen zuvor
thaͤte. Wollen Sie mir erlauben, die wahre Ur-
ſache hievon aufzuſuchen, daß wir ſo leicht die Feh-
ler anderer entdecken? Die menſchliche Natur iſt
ſich der Maͤngel denen ſie unterworfen iſt (d. i. de-
nen wir ſelbſt unterworfen ſind) bewuſt, und will
deswegen ein Straf-Amt uͤben: ſie wendet aber
die Augen bey dem Strafen nicht einwaͤrts, ſon-
dern auswaͤrts. Sie hat mehr Luſt ſich um den
X 2Nachbar
[324]
Nachbar zu bekuͤmmern, als ſich ſelbſt zu pruͤfen
und zu beſſern.


Noch eins erlauben Sie mir hinzu zu thun, ob
ich es gleich ungern ſchreibe. Sie ſagen ſehr viel
richtiges von den allzu klugen Frauens, und ich
gebe Jhnen gern zu, daß ein Mann an einer ſolchen
Frau leicht ſo viel zu dulden haben mag, als er Nu-
tzen und Vortheil von ihr hat: allein vielleicht waͤre
die Lady Hartley etwas beſſer davon gekommen,
wenn Sie Jhre Feder nicht eben in Galle getunckt
haͤtten, weil Sie an Jhre Frau Mutter gedachten.



Der ein und viertzigſte Brief.
Eine abermahlige Fortſetzung des vorigen von der
Fraͤulein Cl. Harlowe.


Nun noch ein Paar Worte, mein Schatz, von
dem Verbot, nicht an mich zu ſchreiben. Jch
habe mich nicht unterſtanden vorhin anders als
gleichſam im Vorbeygehen dieſes Verbotes zu er-
waͤhnen, weil ich ſahe, daß meine Lehre meine ei-
genen Handlungen und die Briefe die ich ſchrieb
verdammen wuͤrde.


Sie verbieten mir, Jhnen dieſen Briefwechſel
zu widerrathen. Herr Hickmann, ſagen Sie,
billiget ihn, und iſt ſo guͤtig ſelbſt auf einige Weiſe
der Brieftraͤger zu werden. Allein dieſes thut mir
noch kein Genuͤgen.


Jch bin gantz ungeſchickt, Gewiſſens-Fragen zu
beantworten. Das Vergnuͤgen, das ich empfinde,
wenn
[325]
wenn ich an Sie ſchreibe, nachdem Sie die eintzige
in der Welt ſind, der ich mein Hertz entdecken darf,
macht mich ſehr partheyiſch und meine Ausſpruͤ-
che ſehr verdaͤchtig. Wenn es nicht eine bloſſe Aus-
flucht und Kunſt-Stuͤck waͤre, ſo ſich fuͤr ein offenes
und aufrichtiges Hertz nicht ſchickt, ſo wuͤnſchte ich,
daß mir erlaubt ſeyn moͤchte, noch ferner an Sie zu
ſchreiben, und daß nicht Sie ſelbſt, ſondern Herr
Hickmann bisweilen Jhre Gedancken an mich uͤ-
berſchriebe, wenn ich wegen eines Jrrthums zu erin-
nern bin, wenn ich mich auf dem rechten Wege be-
finde, und Sie noͤthig finden mich auf demſelben zu
befeſtigen, oder wenn ich in zweifelhaften Faͤllen Jh-
re Entſcheidung verlange. Dieſes wuͤrde mich in
den Stand ſetzen, meinen Weg mit mehrerer Drei-
ſtigkeit und guten Hoffnung zu gehen. Denn wie
ſehr mich auch andere tadeln, und was mir in der
Welt begegnet, ſo werde ich mich doch nicht gaͤntz-
lich ungluͤcklich ſchaͤtzen, wenn Sie meine Hand-
lungen billigen.


Jch weiß in der That nicht, wie ich das Schrei-
ben unterlaſſen ſoll. Jch habe jetzt keine andere
Beſchaͤftigung oder Zeit-Vertreib. Jch muß fort-
fahren zu ſchreiben, wenn ich auch die Briefe an
niemand zu ſchicken wuͤßte. Jch habe Jhnen oft
erzaͤhlet, was ich fuͤr Vortheil davon habe, daß ich
alles wichtige was mir begegnet, ja alles was ich
dencke oder thue, das mir kuͤnftig nuͤtzlich ſeyn koͤnn-
te, aufzeichne. Man verbeſſert nicht allein durch
dieſe Uebung die Schreib-Art, und erweitert gleich-
ſam ſein Gemuͤth: ſondern es wird auch ein jeder
X 3finden,
[326]
finden, daß mancher gute Gedancken unter dem
Dencken verflieget, und daß mancher lobenswuͤrdi-
ge Vorſatz vergeſſen wird, wenn ein anderer Vorſatz
von geringerem Werthe ihn aus unſern Gedaͤcht-
niß treibet. Wenn ich aber aufzeichne, was ich ge-
than habe oder mir zu thun vornehme, ſo habe ich
den Entſchluß oder die Handlung immer vor mir,
und muß entweder dabey beharren, oder meine Mei-
nung aͤndern, und ehemahlige Fehler verbeſſern:
ich habe alsdenn gleichſam einen Bund mit mir ge-
macht, weil ich meine Vorſaͤtze niedergeſchrieben
habe, und je laͤnger ich lebe weiter vor mich gehen
und nicht zuruͤckgehen will.


Jch wollte daher gern an Sie ſchreiben, wenn
ich duͤrfte, weil mir das mehr Anreitzung zum
Schreiben giebt, wenn ich nicht ohne Zweck ſchreibe,
und einer Freundin einen Gefallen erzeige, nicht
aber allein meiner Schreib-Sucht nachhaͤnge.


Wie aber? wenn Jhre Frau Mutter erlauben
wollte, daß ich an Sie ſchriebe, und Sie ihr alle
meine Briefe zeigeten? wenn ſie nur die Guͤtigkeit
haben wollte, eine eintzige Bedingung einzugehen?
Was meinen Sie, wuͤrde ſie ſich nicht bewegen laſ-
ſen, zu verſprechen, daß der Jnhalt meiner Briefe
bey ihr bleiben ſollte?


Wenn ich einige Hoffnung zur Ausſoͤhnung mit
meinen Freunden haͤtte, ſo wollte ich meinen Hoch-
muth nicht ſo haͤtſcheln und verziehen, daß ich es
vor irgend jemand geheim hielte, wie thoͤricht ich ge-
weſen bin, und wie ſehr ich mich habe hinter das
Licht fuͤhren laſſen. Jch wollte in ſolchem Falle,
ſobald
[327]
ſobald ich von Herrn Lovelacen waͤre, Jhrer Frau
Mutter und den Meinigen von meiner gantzen Ge-
ſchichte Nachricht geben: denn ich ſehe dieſe Nach-
richt zu Beruhigung meiner Freunde und zu Ret-
tung meiner Ehre fuͤr unentbehrlich an.


Jm Fall ich aber gar keine ſolche Hoffnung habe,
ſo wird es zu nichts nuͤtzen, wenn ich bekannt ma-
che, daß ich wider meinen Willen meines Vaters
Haus verlaſſen habe, und von Herrn Lovelacen
betrogen bin. Jhre Frau Mutter hat ſich mercken
laſſen: die Meinigen verlangten, daß ich ohne ei-
nige Bedingung zuruͤck kommen, und mir alles ge-
fallen laſſen ſollte, und ſie wollten eben hieraus von
der Wahrheit meines Vorgebens urtheilen. Wenn
ich den geringſten Einwurf hiegegen machte, ſo wuͤr-
de mein Bruder die mitgetheilten Nachrichten mit
Frohlocken ausbreiten. Herr Lovelace, der es
ohnehin nicht verſchmertzen kann, daß mich die
mit ihm gehabte Unterredung gereuet, weil er meint,
ich haͤtte ſonſt nothwendig den Solmes nehmen
muͤſſen, koͤnnte mir gar alsdenn anfangen uͤbel zu
begegnen. Jch wuͤrde aller Zuflucht beraubet ſeyn,
das Gelaͤchter verſchlagener Koͤpfe werden, und
meinem Geſchlechte mehr noch als vorhin zur
Schande gereichen. Denn die Liebe, wenn ſie ſich
in eine Ehe endiget, pflegt gemeiniglich mehr Ent-
ſchuldiger zu finden, als ſie ſollte, wenn gleich die
Vergehungen vorſaͤtzlich geweſen ſind.


Wenn Jhre Frau Mutter die anvertraueten
Nachrichten bey ſich behalten will, ſo bitte ich Sie,
zeigen Sie ihr alle meine jetzigen und kuͤnftigen
X 4Briefe.
[328]
Briefe. Wenn ihr meine Auffuͤhrung nicht gar
zu ſchwartz vorkommt, ſo bin ich vielleicht ſo gluͤck-
lich, nicht allein Jhren Rath, ſondern auch den
Rath Jhrer Frau Mutter zu genießen. Werde
ich aber kuͤnftig mir durch vorſaͤtzliche Verſehungen
ihren Unwillen zuziehen, ſo will ich mir zum voraus
dieſe Strafe ſetzen, daß ich Jhres beyderſeitigen
Raths auf ewig entbehren will.


Sie meinen es wuͤrde mir den Muth im ſchreiben
nehmen, wenn ich wuͤſte, daß Jhre Mutter mei-
ne Brieffe zu ſehen bekaͤme. Der Muth iſt mir oh-
nehin ſchon genug genommen. Jch bitte Sie aber,
haben Sie nicht ſolche Gedancken von Jhrer Mut-
ter, als wenn Sie partheyiſche und unrichtige An-
merckungen uͤber meine Brieffe machen wuͤrde.
Koͤnnen wir zweifeln, daß ſie nicht wuͤrde guͤtig ge-
gen mich geweſen ſeyn, wenn ſie nicht von andern
eingenommen waͤre? Eben das muß ich ſelbſt von
meinem Onckle Anton dencken. Ja meine Liebe
erſtrecket ſich noch weiter und kann noch von andern
alles hoffen: ich glaube bisweilen, daß wenn mein
Bruder und meine Schweſter voͤllig gewiß wuͤſten,
daß ich gaͤntzlich bey meinen Onckles ausgethan waͤ-
re und ihrem Vortheil nie im Wege ſtehen wuͤrde,
ſie mir nicht hinderlich ſeyn wuͤrden, von meinen
Eltern Vergebung zu erlangen, ob ſie gleich keine
voͤllige Ausſoͤhnung wuͤnſchen moͤchten. Jnſonder-
heit glaube ich dieſes von ihnen in dem Falle, wenn
ich ihnen einiges aufopfern wollte: und das wollte
ich von Hertzen gerne thun, ſo bald ich voͤllig frey von
Herrn Lovelace bin. Sie wiſſen, daß ich mich
nie
[329]
nie uͤber irdiſche Guͤter und uͤber meines Groß-Va-
ters Vermaͤchtniß anders gefreuet habe, als in ſo
fern ſie mir mehr Vermoͤgen gaben, einige mir an-
genehme Handlungen vorzunehmen. Wenn ich
dieſes Vermoͤgen verliehre, ſo muß ich mich darein
ſchicken, und bisweilen unterlaſſen das zu thun,
wozu mich meine Neigung treibet.


Dencken Sie nicht, daß das ein heimlicher Spott
ſeyn ſollen, was ich von meinen Geſchwiſtern ge-
ſchrieben habe. Es iſt wahr, es iſt ſchlimm genug,
wenn ich auch die beſte Auslegung daruͤber mache:
und eine jede unpartheyiſche Perſon wuͤrde glauben,
daß ſie jetzt vielweniger Urſache haͤtten als jemals
mich bey allen meinen Freunden anzuſchwaͤrtzen,
wenn ſie auf die Ehre unſerer Familie ſehen wollten.


Doch wieder auf das vorige zu kommen, verſu-
chen Sie es, ob Jhre Mutter die Fortſetzung un-
ſers Brief-Wechſels geſtatten will, wenn ſie un-
ter der oben gemeldeten Bedingung alle unſere
Briefe zu ſehen bekommt. Sagt ſie aber dennoch
nein, ſo wuͤrde ich meine Liebe zu Jhnen fuͤr nichts
als Eigenliebe halten koͤnnen, wenn ich verlangete,
daß Sie um meinetwillen Jhre Pflicht aus den Au-
gen ſetzen ſollten.


Noch ein Wort zur Entſchuldigung der Frey-
heiten, die ich mir in meinem verdrießlichen Straf-
Brieffe genommen habe! Jch hoffe zuverſichtiglich
auf Jhre Vergebung. Denn wenige Freundſchaf-
ten ſind auf einen ſolchen Grund gebaut als die un-
ſrige; nemlich „daß wir uns freymuͤthig unſere Feh-
„ler verweiſen und den Verweiß danckbarlich anneh-
X 5men
[330]
„men ſollen, damit jeder Theil Gelegenheit habe
„alles Mißverſtaͤndniß zu heben und ſeine Fehler
„in Worten und Wercken zu verbeſſern und abzu-
„bitten, und des andern Urtheil uͤber alle Vorfal-
„lenheiten zu beſtaͤttigen oder zu verbeſſern„. Wir
bedachten bey Aufrichtung unſerer genauen Freund-
ſchaft, daß es beſſer iſt und uns mehr Ehre brin-
get, wenn wir von einer aufrichtigen Freundin ge-
ſtrafet werden, als wenn wir unſere Fehler beybe-
halten, und uns dadurch den Tadel unſerer Neider
und uͤbelgeſinneter Leute zuziehen.


Doch es iſt eben ſo unnoͤthig Sie an dieſem
Bunde zu erinnern als meine Bitte zu wiederhoh-
len, daß Sie ſtets auf eine freundſchaftliche Weiſe
ahnten wollen die Thorheiten


Jhrer ewig ergebenen
Cl. Harlowe.


Auf einem beſondern Zettel ſtand folgendes.


Jch habe verſprochen, an mich und an meine
Umſtaͤnde in dem vorhergehenden Briefe gar nicht
zu gedencken, wenn ich es vermeiden koͤnnte. Jch
werde Jhnen in einem eigenen Briefe berichten, wie
wir mit einander ſtehen. Allein Sie muͤßten er-
lauben, daß dieſer Brief, auf welchen mir Jhre
Antwort und Jhr Rath noͤthig iſt, nebſt Jhrem
Antworts-Schreiben, die letzten ſind, die zwiſchen
uns gewechſelt werden, wenn das Verbot Jhrer
Mutter nicht aufgehoben wird.


Jch befuͤrchte ſehr, daß ich durch meine ungluͤck-
lichen Umſtaͤnde zu allerhand Ausfluͤchten und Ver-
dre-
[331]
drehungen verleitet werde, welche mit der nackten
Wahrheit, der ich mich ehemahls zu ruͤhmen pfleg-
te, nicht beſtehen koͤnnen. Allein erlauben Sie mir
um Jhrentwillen, und damit ich die Beſorgnis Jh-
rer Frau Mutter verringern moͤge, zu ſagen: daß
wenn ich jemahls eine ſolche Tuͤcke bey mir mercken
ſollte, ich nicht darin fortfahren, ſondern die verlohr-
ne Aufrichtigkeit wieder zu erlangen ſuchen will, da-
mit die Gewohnheit meine Fehler nicht zur Natur
machen moͤge.


Auf Anſuchen der Frau Sorlings habe ich mei-
ne Abreiſe nach London bis auf den Montag ver-
ſchoben. Jch werde Jhnen die Umſtaͤnde in mei-
nem kuͤnftigen Briefe melden, den ich ſchon an-
gefangen habe: weil ich aber jetzt eben eine uner-
wartete Gelegenheit finde, ſo ſchicke ich blos dieſen
Brief, welcher ſchon fertig iſt.



Der zwey und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Meine Mutter will ſich Jhre Bedingung nicht
gefallen laſſen. Jch brachte es ihr vor als
wenn es mein eigener Vorſchlag waͤre, allein die
Harlowes haben ſie gaͤntzlich eingenommen. Sie
ſagte: das waͤre eine Liſt von mir, dadurch ich ſie
bewegen wollte, mit Jhnen Parthey gegen Jhre
Eltern
[332]
Eltern zu machen. Sie iſt wegen ihres eigenen
Vortheils ſehr behutſam ſich in ein ſolches Ver-
buͤndniß einzulaſſen.


Jch bitte Sie nochmahls, ſeyn Sie meinetwe-
gen und meiner Mutter wegen nicht ſo ſehr beſorgt.
Wir werden ſchon mit einander auskommen.
Wenn wir gleich einmahl zerfallen, ſo vertragen wir
uns doch wieder mit einander. Dieſes iſt immer
unſere Gewohnheit geweſen, ehe wir noch Jhrent-
wegen haben ſtreiten koͤnnen.


Jch dancke Jhnen indeſſen fuͤr eine jede Zeile
Jhres Straf-Briefes, den ich von neuen uͤberleſen
werde, ſo oft mein Blut in Wallung kommt. Jch
leugne nicht, daß ich bey der erſten Durchleſung
etwas unruhig war: allein je oͤfter ich ihn uͤberleſe,
deſtomehr finde ich Urſache, Sie noch mehr zu lie-
ben und zu ehren, wenn es anders moͤglich iſt, daß
meine Liebe und Hochachtung gegen Sie noch zu-
nehmen kann.


Jch glaube, daß ich einen Vortheil vor Jhnen
zum voraus habe, deſſen ich mich in dieſen und in
meinen folgenden Briefen bedienen will. Jch wer-
de an Sie eben ſo frey ſchreiben als Sie an mich,
und werde dennoch niemahls darauf dencken, daß
eine Entſchuldigung noͤthig ſey. Es iſt dieſes ein
Vortheil, welchen ich der Jhnen natuͤrlichen Guͤtig-
keit zu dancken habe: und zugleich iſt es der erſte
Entwurf einer kleinen Satyre auf die Heftigkeit
meines Gemuͤths. Sie glauben, daß dieſe Guͤtig-
keit nie ein Fehler bey einem Frauenzimmer ſey:
und ich halte eben nicht eine jede Heftigkeit, zu der
wir
[333]
wir gereitzet werden fuͤr einen Fehler. Allein was
machen wir? wir beyde loben das an uns, was
wir nicht aͤndern koͤnnen, und vielleicht nicht aͤndern
wollen. Wuͤrde es nicht uns beyden verdrießlich
ſeyn unſere Gewohnheit und unſern alten Weg zu
verlaſſen? Wir haͤtſcheln beyderſeits die uns ange-
bohrne Neigungen. Heiſt das nicht recht aus der
Noth eine Tugend machen?


Sollte aber Jhr Bild und mein Bild nach der
groͤſſeſten Aehnlichkeit geſchildert werden, ſo werden
Sie mir zugeben, daß ein jeder, der die Menſchen
kennet, mein Bild fuͤr das natuͤrlichſte halten wuͤr-
de. Bey einem ſchoͤnen Gemaͤhlde iſt der Schatten
eben ſo unentbehrlich als das Licht. Jhr Bildniß
wuͤrde einen ſolchen Schein und Glantz haben, der
uns nur blenden und abſchrecken wuͤrde Jhnen nach-
zuahmen. Jch wuͤnſche, daß Jhre Guͤtigkeit nie-
mahls niedertraͤchtige Leute reitzen moͤge Sie zu
beleydigen. Mein dreiſteres und heftigeres Gemuͤ-
the ſchrecket manchen hievon ab: und deswegen
habe ich nicht eben Luſt mit Jhnen zu tauſchen, ob
ich gleich weiß, daß mein Gemuͤth nicht ſo liebens-
wuͤrdig iſt als das Jhrige.


Jch wuͤrde ohne Entſchuldigung ſeyn, wenn ich
mich unterſtuͤnde einer Mutter zu widerſprechen, die
etwas gleiches mit Jhnen haͤtte. Die Wahrheit
bleibt Wahrheit: und es waͤre unbillig, wenn ein
kleiner Geiſt eben das Lob erhalten ſollte, das einem
groſſen Geiſt gebuͤhret. Wenn alle Leute ſo nach
der Wahrheit redeten als ich, das iſt, wenn ſie Lob
und Tadel nur nach Verdienſten austheileten, ſo
wuͤrde
[334]
wuͤrde die Welt wo nicht tugendhaft werden, den-
noch ſich ſchaͤmen und beſſern. Ehe zwey Geſchlech-
ter untergegangen waͤren, wuͤrde die Schaam zur
Tugend werden. Machen Sie die Anwendung
hievon; ich unterſtehe mich nicht es zu thun; denn
ich fuͤrchte mich eben ſo ſehr vor Jhnen als ich Sie
liebe.


Jch will Jhnen an einem andern Exempel zei-
gen, daß man nur recht edeln und erhabenen Ge-
muͤthern einen blinden Gehorſam leiſten duͤrfe.
Sie wiſſen was ich oben geſagt habe, daß Wahr-
heit Wahrheit bleibe.


Man hat bisweilen Ungelegenheit davon, wenn
man ſich mit den beſcheidenen und allzu bedaͤchtigen
Leuten einlaͤßt. Sie ſagen, Herr Hickmann ſey
ein beſcheidener Menſch. Er gab mir Jhren
Brief mit einem krummen Ruͤcken, und mit einer
in ſich ſelbſt vergnuͤgten Gebeerde in die Hand.
(Wir wollen das hernach ein wenig uͤberlegen, was
Sie von dem guten Manne ſchreiben.) Er war
noch nicht gantz von ſeiner vornehmen Gebeerde be-
freyet, als meine Mutter herein trat, und ſahe, daß
ich einen Brief las.


Manche Leute ſuchen immer Gelegenheit zu
zuͤrnen, wenn ſie mercken, daß man ſich vor ihrem
Zorn fuͤrchtet. Was nun, Herr Hickmann? was
nun Aennichen? (ſagte ſie, als ich den Brief bey-
ſteckte.) Du haſt den Augenblick wieder einen Brief
bekommen.


Jhr beſcheidener Hickmann ſchrie etlichemal,
und hielt in der Mitte des Wortes inne: Gnaͤ ‒ ‒
gnaͤ
[335]
gnaͤ ‒ ‒ gnaͤdige Frau! Er ſahe etliche mahl aus,
als wuͤſte er nicht, ob er ſtehen oder davon lauffen,
und mich meine Sachen allein ausmachen laſſen
ſollte.


Es wuͤrde einfaͤltig und armſeelig geweſen ſeyn,
wenn ich eine Luͤge haͤtte erdencken wollen. Meine
Mutter ging weg, und ich ging zu der andern Thuͤr
hinaus, den Brief zu leſen, da Herr Hickmann Zeit
hatte, unterdeſſen ſeine weiſſen Zaͤhne an ſeinen Naͤ-
geln zu uͤben. So bald ich den Brief geleſen hat-
te, ſuchte ich meine Mutter auf, und ſagte ihr den
recht grosmuͤthigen Jnhalt deſſelben, und daß Sie
mich ermahneten, ihrem Verbot Gehorſam zu lei-
ſten. Jch brachte die von Jhnen gemeldete Be-
dingung als aus eigenem Triebe in Vorſchlag: al-
lein meine Bitte ward abgewieſen.


Sie antwortete: ſie waͤre zwiſchen zwey Maͤd-
chens gerathen, die mehr Witz als Verſtand haͤtten.
Anſtatt Jhrer edlen Bitte Gehoͤr zu geben, und ſich
durch Jhre grosmuͤthigen Erklaͤrungen bewegen zu
laſſen, beſtaͤrckte ſie ſich eben dadurch in ihrer Mei-
nung, und erneuerte ihr Verbot, mit dem Zuſatz:
ich ſollte weiter kein Wort an Sie ſchreiben, als
daß ſie den Briefwechſel von neuen verboten haͤtte.
Dieſes Verbot ſollte ſo lange dauren, bis Sie mit
den Jhrigen ausgeſoͤhnt waͤren. Sie gab mir zu
verſtehen: ſie haͤtte dieſes Jhren Anverwanten ver-
ſprochen, und hoffete, daß ich gehorſam ſeyn wuͤrde.


Jch dachte eben an Jhren Verweiß, und war
bey meinem Misvergnuͤgen ſanftmuͤthig. Jch muß
Jhnen aber dieſes melden: ſo lange ich verſichert
bin,
[336]
bin, daß die Abſicht unſeres Briefwechſels gut iſt,
und es nicht begreiflich iſt, wie er uͤble Folgen ha-
ben ſollte: ſo lange ich weiß, daß blos die feind-
ſeeligen Leute, die an allem Jhrem Ungluͤck Schuld
ſind, dieſes Verbot veranlaſſet haben: ſo lange ich
weiß, daß es nicht an Jhnen liegt, daß Sie ſich
nicht mit Jhren Anverwanten verſoͤhnen, und daß
Sie zu ſolchen Bedingungen bereit ſind, die kein
vernuͤnftiger Menſch fuͤr unbillig halten kann: ſo
lange muͤſſen Sie mir erlauben, daß ich ohngeach-
tet meiner Hochachtung gegen Sie, gegen Jhr Ur-
theil und Vorſchriften, die ſich faſt auf alle andere
Faͤlle und nur nicht auf dieſen Fall ſchicken, Sie
von neuen erſuche, an mich zu ſchreiben, und mir
alle Kleinigkeiten ſo umſtaͤndlich zu berichten, als
wenn Sie nichts von dieſem Verbot wuͤßten.


Es iſt nicht mein Eigenſinn, der mich treibet,
dieſes zu bitten. Jch kann es nicht ausreden, wie
mein Hertz Jhrentwegen in Sorgen iſt. Sie muͤſ-
ſen mir meine Art zu dencken zu Gute halten: ich
glaube, daß ich rechtmaͤßiger handele, wenn ich
meinen Briefwechſel fortſetze, durch den ich Jhnen
nuͤtzlich ſeyn kann, als meine Mutter, wenn ſie ihn
mir unterſaget.


Um Jhnen aber in allen moͤglichen Dingen ge-
faͤllig zu ſeyn, ſo will ich ſo ſelten antworten, als es
mit den Regeln der Freundſchaft, und mit meiner
Verpflichtung Jhnen nuͤtzlich zu ſeyn, beſtehen kann.


Jch komme nun auf Jhren beſcheidenen Men-
ſchen auf den Hickmann. Weil Sie die Beſchei-
denheit an dem andern Geſchlecht ſo hoch ſchaͤtzen,
ſo
[337]
ſo will ich nicht aufhoͤren fremde gegen ihn zu thun,
damit dieſe Tugend bey ihm zunehmen moͤge. Was
aber den Vorſchlag anlanget, daß ich Jhnen mei-
ne Meinung durch ihn ſchreiben laſſen ſoll, ſo weiß
ich faſt nicht, was ſie fuͤr eine Abſicht dabey ha-
ben. Wollen Sie mir etwan den Menſchen un-
entbehrlich machen? Unſer Briefwechſel ſoll den-
noch nicht abgebrochen werden, Sie moͤgen ſo
furchtſam und gewiſſenhaft ſeyn, als Sie wollen.
Der Briefwechſel ſoll nicht darunter leiden, wenn
ich gleich dieſen Vorſchlag nicht annehmen kann.


Fuͤr ihn wird es Ehre genug ſeyn, wenn ſein
Nahme oft in unſern Vriefen genannt wird. Er
hat alsdenn ſchon die Ehre, daß wir ein Vertrauen
in ihn ſetzen, die ihm Muth geben wird, den Kopf
in die Hoͤhe zu halten, und ſeine artige Hand mit
dem ſchoͤnen Ringe zu zeigen: und mich ſeiner
Dienſtfertigkeit zu verſichern, und ſeines Hoch-
muths daruͤber, daß er mir gefaͤllig ſeyn kann, und
ſeiner Emſigkeit, und ſeiner Treue, und ſeiner Tuͤ-
cken, die er anwendet, unſer Geheimniß zu verber-
gen, und daß er meine Mutter ſtets eine zweydeuti-
ge Antwort geben wird, und noch funfzig mahl und.
Er bekommt hiedurch manche neue Gelegenheit, der
gnaͤdigen Frau Howe ihre wunderſchoͤne Tochter
zu beſuchen.


Allein das iſt zu viel, daß ich mich mit ihm allein
in mein Cloſet verſchlieſſen ſollte, ſo oft ich es noͤ-
thig finde an Sie zu ſchreiben, und ihm den Brief
gleichſam vorſagen, und meiner Mutter dabey
weiß machen ſollte, wir hielten lange verliebte Un-
Dritter Theil. Yterre-
[338]
terredungen; daß ich ihm alle meine Gedancken
und mein gantzes Hertz entdecken ſollte. Wenn
ich auch den beſten Mann haͤtte, der in dem gantzen
Reiche zu finden iſt: ſo wuͤrde ich ihm doch die Ehre
nicht erzeigen, daß ich ihm meinen Briefwechſel vor-
legte.


Es iſt gewiß Ehre genug fuͤr ihn, daß er das
Amt eines Brieftraͤgers hat, und ſeinen Nahmen
in Jhren Aufſchriften lieſet. So beſcheiden er Jh-
nen vorkoͤmmt, ſo viel wird er ſich doch darauf ein-
bilden.


Sie werfen mir immer vor, daß ich ihm nicht
edelmuͤthig begegne, und meine Gewalt uͤber ihn
misbrauche. Jch muß geſtehen, daß ich nicht weiß,
wie es mir moͤglich iſt mich hierin zu beſſern. Er-
lauben Sie mir, daß ich mich biswellen bruͤſten
und mir Furcht bey andern zu Wege bringen darf.
Sie wiſſen, daß dieſes meine Zeit iſt: ſo bald wir
vor dem Altar geſtanden haben, wuͤrde eine ſolche
Auffuͤhrung weder ihm noch mir zur Ehre gereichen.
Er empfindet ein Vergnuͤgen daruͤber, wenn ich
mit ihm zufrieden bin, davon er nichts wiſſen wuͤr-
de, wenn er nicht zuweilen uͤber meine ſauren Ge-
ſichter in Noͤthen waͤre.


Wenn ich ihm nicht mannichsmahl Urſache zur
Furcht gaͤbe, ſo wuͤrde die erſte Folge ſeyn, daß er
ſich mir wuͤrde fuͤrchterlich machen wollen. Alle
lebendige Geſchoͤpfe haben eine Art der Feindſchaft
gegen einander. Der Wolf, der dem Loͤwen ent-
lauffen iſt, wird das naͤchſte Lamm freſſen, das ihm
in den Weg kommt. Jch erinnere mich, daß ich
einmahl
[339]
einmahl uͤber einen jungen Fecht-Hahn, der ſeinen
demuͤthigen Naͤchſten, einen andern Hahn, beſtaͤn-
dig hackete, ſo zornig ward, daß ich ihm aus Menſch-
lichkeit den Hals umdrehen lies. Was war die
Folge davon? Der andere Hahn ward eben ſo
ſchlimm, als er kein Creutz mehr hatte, und hackete
die Haͤhne wieder, die ſchwaͤcher waren als er.
Jch ſahe, daß ich den erſten haͤtte koͤnnen leben
laſſen, und daß die Feindſeeligkeit in der Natur der
Thiere gegruͤndet iſt.


Verzeihen Sie mir meine loſen Einfaͤlle. Jch
wollte gerne verurſachen, daß Sie mitten in Jhrer
Ernſthaftigkeit lachen muͤſten. Jch wuͤnſchte, daß
ich bey Jhnen waͤre. O wenn Sie doch mein An-
erbieten Sie zu begleiten angenommen haͤtten.
Doch ich ſehe, es iſt Jhnen nichts angenehm, was
ich anbiete. Nehmen Sie ſich in Acht! ich werde
recht boͤſe auf Sie werden, und alsdenn pflege ich
niemanden zu ſchonen. Denn ſo ſehr ich Sie liebe,
kann ich doch nicht unterlaſſen bisweilen zu ſeyn


Jhre eigenſinnige
Anna Howe.



Der drey und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Herr Lovelace hat mir dieſen Morgen ſehr
fruͤh von meines Bruders Vorhaben Nach-
Y 2richt
[340]
richt gegeben, die er von ſeinem Spion erhalten hat
te. Es gefaͤllt mir an ihm, daß er nicht viel dar
aus machet, ſondern veraͤchtlich davon redet. Haͤt
te ich nicht durch Sie Nachricht davon gehabt, ſo
wuͤrde ich geglaubt haben, daß es eine Erdichtung
von ihm ſey, dadurch er meine Abreiſe nach Lon-
don
zu beſchleunigen ſuche, weil er ſelbſt laͤngſtens
gewuͤnſcht hat zu London zu ſeyn.


Er las mir einige Stellen aus Lehmans Briefe
vor, die mit der Erzaͤhlung der Fraͤulein Lloyd
uͤbereinſtimmeten und nur den Umſtand hinzuſetzten:
daß einer Nahmens Singleton, ein Schottiſcher
Schiffs-Capitain der Mann ſey, der ſich zu dieſer
Gewaltthaͤtigkeit gebrauchen laſſen will. Jch ken-
ne ihn von Perſon: Denn er iſt zweymahl als ein
Freund meines Bruders zu Harloweburg zu Ga-
ſte geweſen. Er hat etwas dreiſtes und unerſchro-
ckenes im Geſichte, und ich halte ihn fuͤr den Er-
finder dieſes Vorſchlages. Mein Bruder mag
vielleicht gegen jedermann von meiner Uebereilung
reden, wie er denn meiner nie geſchonet hat, ehe
ich ihm noch Gelegenheit gab mich herunter zu ſetzen.


Dieſer Singleton wohnt zu Leith: es wird
alſo wohl die Abſicht ſeyn, mich nach dem Hauſe
meines Bruders zu bringen, welches nicht weit
von dieſem Hafen liegt.


Wenn ich dieſe Umſtaͤnde zuſammen nehme, ſo
bin ich in groſſen Sorgen, daß man verſuchen wird
dieſen Vorſchlag auszufuͤhren, ſo veraͤchtlich auch
Herr Lovelace davon redet, weil er nicht gewohnt
iſt ſich zu fuͤrchten, und daß Ungluͤck daraus entſte-
hen koͤnnte.

Als
[341]

Als ich ſahe, daß Herr Lovelace ſo gleichguͤl-
tig hierbey war, fragte ich ihn, was er mir riethe.


Darf ich Sie fragen Fraͤulein (ſagte er) was
ihre Gedancken ſind? Jch gebe die Frage zuruͤck,
weil ſie ſo ſehr darauf dringen, daß ich ſie gleich
nach ihrer Ankunft in London verlaſſen ſoll.
Jch weiß nicht was ich ihnen rathen ſoll ohne ſie
boͤſe zu machen.


Meine Gedancken ſind, daß ich mich vor allen
Leuten, die Fraͤulein Howe ausgenommen, ver-
borgen halten muß: und daß ſie mich den Augen-
blick verlaſſen ſollten. Denn jederman wird glau-
ben, daß ich nicht weit von ihnen bin und es iſt
leichter ſie aufzuſpuͤren als mich.


Sie werden doch nicht wuͤnſchen auf eine ſo ge-
waltſame Weiſe in ihres Bruders Haͤnde zu fallen?
Jch will den Leuten nicht mit Willen in den Weg
kommen, allein wenn ſie glaubten, daß ich ihnen
auswiche, ſo wuͤrden ſie mehr Fleiß anwenden ih-
nen nachzuſpuͤren, und mehr Muth haben etwas
zu wagen. Wie ſollte es mir moͤglich ſeyn, eine
ſolche Nachrede zu erdulden, die einem jeden braven
Kerl das Hertz brechen muß?


Um Gottes willen! wie viel ungluͤckliche Folgen
hat die Thorheit, dazu ich verleitet bin!


Meine liebe Fraͤulein, ich muß ſie um eins bit-
ten. Enthalten ſie ſich ſo harter Ausdruͤcke, da ſie
aus dieſem Anſchlage ſehen, wie wenig die Jhrigen
nach gegeben haben wuͤrden, wenn ich ſie gleich nicht,
wie ſie es nennen, verleitet haͤtte. Habe ich mich
jemahls gegen die Landes-Geſetze aufgelehnet, wie
Y 3ihr
[342]
ihr Bruder thut, wenn er dieſen Vorſchlag ausfuͤh-
ret? Sie werden doch glauben, daß es Wage-Haͤlſe
gebe, die eben ſo dreiſte ſind als ich. Allein dieſer
Vorſchlag ihres Bruders iſt ſo unbeſonnen, daß
man ſich gar nicht davor fuͤrchten darf. Jch ken-
ne ihren Bruder wohl. Schon auf Univerſitaͤten
ſchwaͤrmete ihm immer der irrende Ritter im Kopfe
herum. Allein es fehlete ihm an Verſtande: er
dachte die Sachen nur halb durch, und bildete ſich
etwas gantzes darauf ein. Er war weder im Stan-
de ſich nuͤtzlich noch andern ſchaͤdlich zu ſeyn, wenn
ihm die andern nicht durch ihren Unverſtand die
Waffen ſelbſt in die Haͤnde gaben.


Sie nehmen es ſehr auf die leichte Schulter.
Allein die hitzigen Koͤpfe haben ſehr viele Gleich-
heit mit einander. Zum wenigſten ſind ſie einan-
der in der Rachbegierde gleich. Sie haben nicht
Urſache ſich fuͤr unſchuldiger auszugeben, da ſie mei-
ner gantzen Familie in ihrem eigenen Hauſe haben
trotzen wollen, wenn ich nicht durch meine Thorheit
ſie vor dieſe Unbeſonnenheit und die Meinigen vor
dem Verdruß bewahret haͤtte.


Allerliebſte Fraͤulein, ſie reden noch immer von
Uebereilungen, von Thorheit. Es iſt ihnen ohn-
moͤglich, etwas gutes von jemand zu gedencken, der
nicht zu ihrer Familie gehoͤrt: und keiner in ihrer
Familie iſt werth, daß ſie ihn lieben. Sie muͤſſen
mir dieſes vergeben. Wenn ich ſie nicht ſo zaͤrtlich
liebete, als noch nie eine Manns-Perſon hat lieben
koͤnnen, ſo wuͤrde ich unempfindlicher dabey ſeyn,
daß ſie mir andere vorziehen, die es nicht ver-
dienen.
[343]
dienen. Allein darf ich ſie fragen, was ich ihnen
zu leyde gethan habe? Habe ich ihnen Anlaß gege-
ben, ſo hart mit mir umzugehen, und ſo weniges
Vertrauen in mich zu ſetzen? Was aber haben ſie
von den Jhrigen leyden muͤſſen? Es iſt wahr, die
Rede der Leute ſtreitet wider mich: allein wiſſen ſie
ſelbſt etwas, das mir zum Nachtheil gereichen
kann?


Jch ward gantz beſtuͤrtzt: allein ich wollte mir
nicht ſelbſt abfallen.


Jſt dis (ſagte ich) die Zeit, in der ſie mit ei-
ner verlaſſenen und ungluͤcklichen Perſon aus einem
ſolchen Ton reden wollen? Sie legen mir eine wun-
derliche Frage vor. Wenn ich ſelbſt etwas wider
ſie wuͤßte, ſo ‒ ‒


Hiemit wollte ich weggehen. Er ergriff mich
aber bey der Hand, und bat mich: daß ich ihn nicht
in Unwillen verlaſſen moͤchte. Er ſtellete mir vor,
ich ſey zu grauſam gegen ihn, und zu partheyiſch
fuͤr die Leute, von denen er ſo vieles erduldet haͤtte,
und die uns eben jetzt Gelegenheit gaͤben, uns uͤber
ihre Gewaltthaͤtigkeiten zu berathſchlagen.


Jch war gezwungen ihm noch weiter zuzuhoͤren.


Er ſagte: ſie haben die Guͤtigkeit gehabt, mich
um Rath zu fragen. Es iſt gar nicht ſchwer, ei-
nen Rath zu geben. Jch hoffe, daß ich bey dieſer
Gelegenheit reden darf, ohne daß ſie es mir unguͤ-
tig nehmen, wenn ich gleich ihr ehemahliges Verbot
uͤbertrete. Sie ſehen ſelbſt, daß alle Hoffnung zur
Verſoͤhnung mit den Jhrigen verſchwindet. Meine
liebe Fraͤulein, koͤnnen ſie ſich uͤberwinden mir ihre
Y 4liebe
[344]
liebe Hand zu geben? mir, dem Boͤſewicht, dem
ſie noch nie mit Wiſſen und Willen eine Gefaͤllig-
keit erzeiget haben?


Wie ſonderbar war dieſe Bitte angebracht!
Jch erwartete damahls weder eine ſolche Bitte, noch
eine ſo ſonderbare Einkleidung dieſer Bitte. Jch
ſchaͤme mich, wenn ich daran gedencke, in was fuͤr
Verwirrung ich geſetzt ward. Jhr Rath fiel mir
eben bey. Er ſahe meine Verwirrung mit einem
recht zuverſichtlichen Vergnuͤgen an, (er muß gar
nicht wiſſen, wie Ehrfurcht mit Liebe beſtehen kann)
und gaffete mich an, als wenn er mich durchſehen
wollte.


Aus meiner folgenden Erzaͤhlung werden Sie
ſehen, daß er ſich nachher noch deutlicher herausließ.
Allein es war alles, als wenn es von ihm erzwun-
gen waͤre.


Jch war auf mich ſelbſt von Hertzen unwillig,
daß ein Menſch, der ſo voͤllig uͤber ſich Herr zu ſeyn
ſchien, da alle meine Leydenſchaften ausbrachen,
mich in ſolche Verwirrung bringen konnte. Jch
brach endlich in Thraͤnen aus, und wollte ihn mit
Unwillen verlaſſen: er umfaſſete mich aber auf eine
zaͤrtliche und ehrerbietige Weiſe, und machte uͤber
ſeine vorigen Reden eine ſehr abgeſchmackte Bruͤhe.


Er ſagte: es ſey ſeine Meinung nicht, ſich die
Nachricht von meines Bruders Vorhaben ſo zu Nu-
tze zu machen, daß er eine Bitte ohne meine Erlaub-
niß nochmahls vorbringen wollte, die ich ihm bisher
immer abgeſchlagen haͤtte, und die er deswegen ‒ ‒


Hier
[345]

Hier folgeten lauter abgebrochene Entſchuldi-
gungen fuͤr ſeine dunckele und abgebrochene Bitte.


Jch will ihm die Verwegenheit nicht zutrauen,
daß er mich hat zwingen wollen, etwas zu ſagen,
das ſich fuͤr mich nicht geziemete zu ſagen. Er
ermuͤdete mich aber ſo, daß ich mich vor Verdruß
nicht laͤnger halten konnte, ſondern von neuen in
Thraͤnen ausbrach, und weiter nichts ſagte als:
ich ſey ſehr ungluͤcklich. Hier merckte ich zuerſt,
daß ich wie eine Thoͤrin gantz geduldig ſtand, und
es litte, daß er mich umfaſſete: ich riß mich des-
wegen los. Er hielt mich aber bey der Hand zuruͤck,
und bat mich knieend, ich moͤchte nur einen Augen-
blick warten. Er erſuchte mich hierauf in den aller-
deutlichſten Worten um das, was die Haupt-Sa-
che iſt, und ſtellete mir vor, daß die Gewaͤhrung
ſeiner Bitte das ſicherſte Mittel ſey, alle Abſichten
meines Bruders zu vereiteln.


Was konnte ich ihm aber hierauf antworten?
Seine Bitte ſchien mehr eine erzwungene Wir-
ckung des Mitleydens als der Liebe zu ſeyn. Was
ſollte ich ſagen! ich ſchwieg ſtille, und ſahe beſtuͤrtzt
aus. Jch glaube, daß ich recht einfaͤltig ausgeſe-
hen haben muß. Er wartete, ob ich nichts ant-
worten wollte. Jch ſchaͤmte mich endlich uͤber mei-
ne Verwirrung, und weil ich ſie zu entſchuldigen
ſuchte, bat ich ihn, er moͤchte alles vermeyden,
was meine Unruhe vermehren koͤnnte. Die Un-
verſoͤhnlichkeit der Meinigen, und die Folgen, die
der Anſchlag meines Bruders haben koͤnnte, ſetzten
mich in allzu groſſe Verwirrung.


Y 5Er
[346]

Er verſprach mir: mein Wille ſollte in allen
Stuͤcken ſein Geſetz ſeyn. Er fragte mich aufs neue,
ob ich ihm ſeine demuͤtige Bitte vergeben koͤnte?
Was konnte ich weiter thun, als daß ich meine
Verwirrung zu verbergen ſuchte?


Jch antwortete: mein Vetter, Morden, wuͤr-
de nun bald ankommen. Jch hoffete, daß ſich die-
ſer Herr meiner deſto eifriger annehmen wuͤrde,
wenn er ſaͤhe, daß ich mich Herrn Lovela-
ces
nur als eines Mittels bediente, dem eckelhaf-
ten Solmes zu entgehen. Jch wuͤnſchte alſo, daß
alles in den jetzigen Umſtaͤnden bleiben moͤchte, bis
ich naͤhere Nachricht von meinem Vetter erhielte.


So ſehr er mich geplaget und verdrießlich ge-
macht hatte, ſo war dieſes dennoch keine abſchlaͤ-
gige Antwort. Allein an ſtatt zu bitten, fing er
an, hitzig zu werden; welches kein anderer Freyer
in ſeinen Umſtaͤnden ſich erlauben wuͤrde: und hie-
durch zwang er mich, bey meinem halben Nein
zu beharren.


Es waren dieſes Worte, welche er mit einer Hef-
tigkeit ſagte, die ein jedes Frauenzimmer empfin-
lich und ſproͤde machen muſten, wenn es nicht nie-
dertraͤchtig genung war, ſich vor ihm zu fuͤrchten:


Um Gottes willen, Fraͤulein, bleiben ſie noch
bey ihrem Vorſatz? Soll ich durchaus ſehen, daß
ich nicht die geringſte Hoffnung habe, ſo lange ſich
nur noch einige entfernte Hoffnung zur Ausſoͤh-
nung mit ihren bitterſten Feinden zeiget, wenn ſie
mir abſagen?


Jch
[347]

Jch antwortete nicht ohne Heftigkeit, und den-
noch ſo, daß ich mich wieder haͤtte beſaͤnftigen laſ-
ſen koͤnnen: ſie ſehen, wie tief mir meines Bruders
Gewaltthaͤtigkeiten zu Hertzen gehn. Allein ſie
werden ſich betriegen, wenn ſie in der Abſicht auch
boͤſe thun wollen, daß ich aus Furcht mir etwas
gefallen laſſen ſoll, davon ſie ſich das Gegentheil
ehemahls haben gefallen laſſen.


Er bat mich, ich moͤchte nur erlauben, daß ſeine
kuͤnftigen Wercke fuͤr ihn redeten: und wenn ich
ſaͤhe, daß er meiner Gunſt nicht mehr gantz unwuͤr-
dig ſey, ſo moͤchte ich ihn doch nicht die eintzige un-
gluͤckliche Perſon in der Welt ſeyn laſſen, fuͤr die ich
gar keine Achtung haͤtte.


Sie verſchieben das auf die kuͤnftige Zeit, Herr
Lovelace: und das will ich auch thun. Es ſcheint,
daß ſie ſelbſt glauben, daß bisher nicht viel ruͤhmli-
ches von ihnen zu ſagen ſey. Sie haben Recht. ‒ ‒
Jch wollte abermahls von ihm gehen.


Er bat mich, ich moͤchte nur noch ein Wort
hoͤren. Er wollte gern alles Ungluͤck und alle Ge-
legenheit zum Ungluͤck verhuͤten, mein Bruder
moͤchte anfangen was er wollte, wenn er ſich nur
meiner Perſon nicht zu bemaͤchtigen ſuchte. Wenn
aber dieſes geſchehen ſollte, ſo frage er mich, ob er
ſtille ſtehen und anſehen ſollte, daß man mich zuruͤck
ſchleppete, oder auf Singletons Schiff braͤchte?
Ob er ſich meiner nicht annehmen duͤrfte, wenn es
auf das aͤuſſerſte kaͤme?


Sie ſich meiner annehmen? Das waͤre ein
groſſes Ungluͤck fuͤr mich, wenn es ſo weit kommen
ſollte,
[348]
ſollte, daß dieſes noͤthig waͤre. Meinen ſie, daß ich
in London mich nicht ſicher und verborgen genug
aufhalten kann? Nach der Beſchreibung, die ihr
Bekannter von dem Hauſe der Witwe gemacht hat,
ſollte ich dencken, daß ich dort ſicher waͤre.


Er antwortete: weil es ein Hinter-Haus iſt,
und nicht auf die Straſſe, ſondern in den Garten
gehet, ſo ſcheinet es ſicher zu ſeyn. Wenn wir aber
in London ſind, und das Haus gefaͤllt ihnen nicht,
ſo wollen wir leicht ein anderes finden. Wenn ich
ihnen aber rathen duͤrfte, ſo ſchreiben ſie an ihren
Onckle Harlowe, und erwarten ſie hier ſeine Ant-
wort. Melden ſie ihm ohne Furcht, wohin er den
Brief ſchicken ſoll: denn wenn man ſich vor furcht-
ſamen Leuten fuͤrchtet, ſo werden ſie dreiſte. Fo-
dern ſie in ihrem Briefe das als ein Recht, was
ihnen abgeſchlagen werden wird, wenn ſie es in ei-
ne Bitte verwandeln. Geben ſie vor, ſie haͤtten ſich
in den Schutz meiner Baſen begeben: die Jhrigen
ſind ſo mit ihnen umgegangen, daß ſie ihnen dieſes
nicht verdencken koͤnnen. Schreiben ſie, ſie behiel-
ten dem ohngeachtet ihre voͤllige Freyheit, denn
meine Verwantinnen erzeigten ihnen keine Gefaͤl-
ligkeit, als die ein jedes Frauenzimmer in ihren Um-
ſtaͤnden von ihnen wuͤrde erwarten koͤnnen. Ge-
faͤllt ihnen aber dieſer Vorſchlag nicht, ſo werde ich
mich ſehr gluͤcklich ſchaͤtzen, wenn ſie mir erlauben
wollen, dieſe Foderung in meinem eigenen Nah-
men anzubringe. Aber (hier kam wider ſein ver-
wuͤnſchtes aber) das iſt eine Sache, davon ich
nicht reden darf. Jndeſſen koͤnnte die Heftigkeit
der
[349]
der Jhrigen ein Bewegungs-Grund fuͤr ſie ſeyn,
dieſen mir ſo erwuͤnſchten Entſchluß zu faſſen.


Jch war voll von Verdruß, und ſagte: er ſelbſt
haͤtte verſprochen, mich allein zu laſſen, ſobald ich
in London waͤre. Jch hoffete, daß er ſeine Zu-
ſage erfuͤllen wuͤrde. Sobald ich freye Haͤnde haͤt-
te, wollte ich uͤberlegen, was ich zu thun und zu
ſchreiben haͤtte. Keins von beyden koͤnnte ich thun,
ſo lange er um mich waͤre.


Er ſagte: er wollte aufrichtig reden. Meines
Bruders Vorhaben habe den Sachen eine gantz
andere Geſtalt gegeben. Ehe er mich allein lieſſe,
muͤßte er wiſſen, wie ich mit der Witwe in London
zufrieden ſey, und wie mir die uͤbrige Haus-Geſell-
ſchaft gefiele. Es moͤchten vielleicht Leute ſeyn,
bey denen meines Bruders Geld einen Zugang faͤn-
de. Wenn er ſaͤhe, daß es ehrliche Leute waͤren,
ſo koͤnnte er mich wohl auf ein Paar Tage verlaſſen,
aber nicht laͤnger.


Wollen ſie denn (ſagte ich) in eben dem Hauſe
wohnen?


Nein! das iſt meine Meinung nicht. Jch weiß,
wie gewiſſenhaft ſie in dieſem Stuͤcke ſind, und zu
was fuͤr einem Vorwand ihnen meine Entfernung
dienen ſoll. Das Haus, darinn ich wohne, wird
zwar eben geweiſſet: allein ich kann ſo lange in
Belfords Haus bey Soho oder in das zu Edg-
ware
ziehen, und alle Morgen wieder kommen, bis
ihr Bruder ſeinen Anſchlag verlohren giebt. Wei-
ter wage ich mich nicht von ihnen.


Der
[350]

Der Entſchluß war: wir wollen auf den Mon-
tag nach London reiſen. Jch hoffe, daß es zu
einer gluͤcklichen Stunde geſchehen wird.


Jch kann Jhnen nicht zu oft melden, wie auf-
richtig ich bin


Jhre ergebenſte
Cl. Harlowe.



Der vier und viertzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.



Weil nicht vermuthlich iſt, daß die Fraͤu-
lein ihre Verwirrung bey Lovelaces Antra-
ge nach der Wahrheit hat ſchildern koͤn-
nen: ſo folgen hier einige Auszuͤge aus ſei-
nem eigenen Schreiben.


Was wirſt du aber ſagen, wenn ich mir nach
Art der Fliegen die um das Licht herum
ſchwaͤrmen, bey nahe die Fluͤgel der Freyheit ver-
brannt haͤtte. Nie iſt einer in groͤßerer Gefahr ge-
weſen, ſich ſelbſt in ſeinem eignen Netze zu fangen:
bey nahe waͤren alle meine Abſichten vereitelt wor-
den, und alle meine Kuͤnſte unverſucht geblieben, die
Fraͤulein waͤre nie nach London gekommen, und
ich haͤtte nie erfahren, ob ſie ein Frauenzimmer oder
ein Engel iſt.


Jch
[351]

Jch bat ſie um ihr Ja-Wort. Es iſt wahr,
ich that es ſo unverhofft, daß ſie ſich nicht beſin-
nen konnte. Jch war in meiner Bitte mehr hitzig
als zaͤrtlich, da ich ihr die vorige Kaltſinnigkeit vor-
ruͤckte, und ſie an ihren ehemahligen Befehlen er-
innerte. Denn nicht die Liebe zu mir, ſondern
das Schelm-Stuͤck ihres Bruders machte ſie ei-
nigermaßen geneigt, dieſe Befehle wieder aufzu-
heben.


Niemahls habe ich eine ſo liebenswuͤrdige Ver-
wirrung geſehen. Der Mahler wuͤrde Ehre einle-
gen, der ſie ausdruͤcken koͤnnte, und die Ungeduld,
die jeden Geſichts-Zug auf die angenehmſte Weiſe
veraͤnderte, zu ſchildern wuͤßte. Bald ſeuftzte bald
huſtete ſie: ihr Geſicht ſahe ſo einfaͤltig und ſo re-
dend aus. Endlich ward meine ſchoͤne Plagerin da-
durch, daß ich einer Antwort mit Stilleſchweigen
erwartete, ſo unruhig gemacht, daß ſie in Thraͤ-
nen ausbrach, und von mir eylen wollte, wenn ich
ſie nicht umfaſſet und mir beyden Armen, (die nie
in meinem Leben gluͤcklicher geweſen ſind als da-
mahls) gehalten haͤtte. Jch ſagte: liebſte, allerlieb-
ſte Fraͤulein legen ſie doch ja dieſe Bitte, die Jhren
ehemahligen Befehl uͤbertrit, nicht ſo aus, als
wenn ich mir die Noth zu nutze machen wollte, dar-
ein ihres Bruders Vorhaben und die Haͤrte ihrer
Anverwanten ſie ſetzet. Wenn ich ſie beleydiget ha-
be, da ich nur einen ſo demuͤthigen und zaͤrtlichen
Winck gegeben habe: ſo will ich mich kuͤnftig mit
der groͤßeſten Sorgfalt ‒ ‒ ‒ ‒ Hier hielt ich ein.


Sie
[352]

Sie fing an, Sprache zu bekommen: ich bin
‒ ‒ ‒ ich bin ſehr ungluͤcklich. Die Thraͤnen lieffen
ihr an den rothen Backen nieder: und ihr liebens-
wuͤrdiges Geſicht ſanck endlich auf meine Schulter,
da ich ſie noch mit Entzuͤckung in den Armen hielt.
Sie war ſo außer ſich, daß ſie mir dieſe Ehre ge-
ſtattete, ohne es zu wiſſen.


Allein warum ſind ſie ſo ungluͤcklich? (ſagte ich.)
Alle Danckbarkeit, die je in dem Hertzen des gluͤck-
lichſten Menſchen ‒ ‒ ‒ Hier hielt ich ein. Jch konnte
gegen mich ſo ungerecht nicht ſeyn, weiter zu reden.
Denn was fuͤr Danckbarkeit bin ich ihr vor ein Ver-
gnuͤgen ſchuldig, davon ſie ſelbſt nicht wußte.


Sie kam bald wieder zu ſich ſelbſt, und war
eben ſo ſproͤde, als ſie ſonſt zu ſeyn pflegt. Sie ſuchte
ſich mit Gewalt von mir los zureiſſen: was nun
neues? Herr Lovelace!
ſagte ſie mit funckelnden
Augen und mit einem gluͤenden Geſichte.


Jch ließ ſie los, allein ihre unſchuldige Ver-
wirrung bezauberte mich ſo, daß ich ihre Hand er-
griff da ſie mich verlaſſen wollte, und ihr zu Fuͤſſen
fiel. Mein Engel (ſagte ich, ohne mich halten zu
koͤnnen, und bey nahe ohne zu wiſſen, was ich re-
dete. Waͤre ein Prediger da geweſen, ſo waͤren
wir ſchon laͤngſt getrauet.) nehmen ſie doch das
zaͤrtliche Geluͤbde ihres treuen Lovelaces an. Ma-
chen ſie ihn auf ewig zu dem Jhrigen, und werden
ſie die Seinige. Dis iſt das beſte Mittel zu allen
ihren Endzwecken. Wer wird ſich unterſtehen, mir
meine Frau zu entfuͤhren? Der bisherige Aufſchub
der Trauung iſt die eintzige Urſache der thoͤrichten
Hoff-
[353]
Hoffnung und der wunderlichen Anſchlaͤge ihrer An-
verwanten. Werden ſie die Meinige. Sehen ſie,
ich kniee vor ihnen, und bitte ſie darum. Alsdenn
wird jedermann auf unſerer Seite ſeyn; und alle
Leute werden das billigen, was ſie jetzund erwarten.


Ließ ich mich vom Teuffel reiten? Jch hatte mir
eben ſo wenig etwas von dergleichen entzuͤckenden
Unverſtande zu plaudern vorgenommen, als ich ge-
ſinnet war, in der Lufft herum zu fliegen. Das un-
vergleichliche Kind hat mein gantzes Hertz in Haͤn-
den: nicht die Fraͤulein ſondern ich werde in dieſer
Verſuchung unterliegen muͤſſen.


Haſt du je gehoͤrt, daß eine Manns-Perſon das
Frauenzimmer ſo feyerlich um die Ehe angeſpro-
chen hat, ohne einen Vorſatz zu haben, ja ſogar wi-
der einen wohl uͤberlegten Vorſatz, und zum Hohn
aller ihrer hochmuͤthigen Anſchlaͤge? Dieſes ange-
nehme Kind kann ihre Diener zwingen, alle Mis-
geburten ihres Hertzens, die zu ihrem Schaden ge-
reichen, zu haſſen. Jch wollte mich faſt entſchlieſſen,
ſie in keine neue Verſuchungen zu fuͤhren, (und was
fuͤr Verſuchungen hat ſie bisher gehabt?) wenn ſie
nicht ſelbſt durch ihre ſorgfaͤltige Wachſamkeit
gleichſam ein Spiel angefangen haͤtte, auszuma-
chen, wer dem andern an Verſtande uͤberlegen ſey.
Du weißt, wie edel ich mit meinem Roſen-Knoͤſpgen
umgegangen bin, weil es mir nicht trotzete. Wenn
ich meine allzu groſſe Zuneigung zu dieſem himmli-
ſchen Kinde maͤßigen will, ſo gedencke ich oft daran,
daß das ſchoͤnſte Frauenzimmer, wenn es auch eine
Koͤnigin waͤre, vor dem geringſten ſchoͤnen Bauer-
Dritter Theil. ZMaͤd-
[354]
Maͤdchen keinen andern Vorzug hat, als daß es
beſſer gekleidet iſt. So unpartheyiſch hat der Him-
mel ſein allerſchoͤnſtes Geſchenck, die Maͤdchens,
dem Koͤnige und dem Bauren ausgetheilet.


Was denckſt du aber? wie lief es mit meiner
unvorſaͤtzlichen Bitte ab? Hielt ſie mich nicht bey
meinem Worte, da ich ſo deutlich und noch dazu
knieend redete?


Bilde dir das ja nicht ein! die kleine liebe Thoͤ-
rin ließ mich ſo gluͤcklich entwiſchen, als ich es nur
wuͤnſchen konnte.


Jhre angenehme Verwirrung wollte ſie nicht ein-
mahl meinem Antrage und der Liebe zu mir zuſchrei-
ben, ſondern dem Vorhaben ihres Bruders, der
Furcht vor ungluͤcklichen Folgen, und dem Kum-
mer uͤber die Unverſoͤhnlichkeit ihrer Anverwanten.
Dieſe Auslegung iſt wahrlich Hochverrath gegen
meinen herrſchenden Stoltz. Will ſie eine Verbin-
dung mit mir nur zur Ausflucht in der aͤußerſten
Noth gebrauchen? Will ſie mir beynahe mit deutli-
chen Worten ſagen, ſie ſey blos daruͤber bekuͤmmert,
weil ſie keine Hoffnung ſiehet, daß ihre Freunde ihr
Erbieten annehmen werden, dem auf ewig abzuſa-
gen, der ſein Leben vor ſie gewagt hat, und es noch
alle Stunden zu wagen bereit iſt?


Jch bat ſie noch einmahl, daß ſie mich gluͤcklich
machen moͤchte. Allein ich ſollte Gedult haben, bis
Morden ankaͤme. Der iſt jetzt ihre eintzige Hoff-
nung.


Jch war verdrießlich: aber alles umſonſt.


Sie
[355]

Sie hat abermahls an Frau Hervey geſchrie-
ben, oder ſie will es noch thun: und hoffet auf eine
Antwort.


Jch glaube zwar, der Widerſtand wuͤrde nicht
ſo ſtarck geblieben ſeyn, wenn ich Muth gehabt haͤt-
te. Allein ich bin allzu gehorſam: ich ſcheue mich
allzu ſehr, ſie zu beleydigen. Jſt es nicht ein wun-
derlich Ding. Die Manns-Perſon iſt ſo bloͤde:
das Frauenzimmer will ſich ſo ſehr noͤthigen laſſen.
Kann ein ſolches Paar jemahls verbunden werden,
wenn keine gute Mittels-Perſon dazwiſchen trit?


Jch muß mit meinem Schickſaal zufrieden ſeyn!
Selten pflegt eine ſo zaͤrtliche Liebe mit ſo vieler Ge-
laſſenheit verbunden zu ſeyn. Doch ich lerne alle
Tage mehr: die wahre Liebe unterſteht ſich blos zu
wuͤnſchen! und hat keinen andern Willen, als den
Willen der Geliebten.


Wie war es moͤglich, daß das unvergleichliche
Kind abermahls London nannte, und ſich nach
London ſehnete? Wenn ich Singletons Vor-
haben veranſtaltet haͤtte, ſo haͤtte es fuͤr mich nicht
gluͤcklicher gerathen koͤnnen, ſie nach London zu
treiben, nachdem ſie ihre Reiſe aufgeſchoben hatte,
ohne daß ich die Urſache des Aufſchubes errathen
kann.


Jch lege den Brief von Joſeph Lehmann
bey, deſſen ich am Montage Erwaͤhnung that: wie
auch meine Antwort. Meine Einbildung, der ich
nicht widerſtehen kann, macht, daß ich dir alles
ausplaudere. Sonſt waͤre es vielleicht beſſer fuͤr
mich, daß ich dir weiß machte, das Gluͤck habe ſich
Z 2blos
[356]
blos gegen die Fraͤulein verſchworen, ohne daß ich
durch meine Erfindungen zu ihrem Falle etwas bey-
tragen duͤrfte.



Der fuͤnf und viertzigſte Brief
von
Joſeph Lehmann an Herrn Lovelace.


Zu Anfang giebt er Herrn Lovelacen Nach-
richt, daß die Harlowes ihn durch eine An-
klage uͤber Noth-Schande wegen der Jungfer Bit-
terton
zu verunruhigen ſuchen, welche Jungfer er
durch Liſt in ſeine Gewalt bekommen haͤtte, und die
nachher im Kindbette geſtorben ſey. Das Kind
lebete noch, ohne daß Jhre Gnaden ſich deſſen im
geringſten annaͤhmen. Seine Herrſchaft nennet es:
einen infomen Streich: aber GOtt ſollte ihn be-
wahren, es ohne Jhrer Gnaden Erlaubniß nicht ſo
zu nennen. Jhre Gnaden ſollten, wie man ſagte,
damahls aus dem Lande geflohen ſeyn, um der An-
klage der Bittertoniſchen Familie aus dem Wege zu
gehen. Die Harlowes wollten jetzt ihr Haupt
nicht ſanfte legen, bis die Verwanten der Jungfer
Bitterton eine Klage erhuͤben.


Joſeph meldet weiter: es ſey dieſes eine von
den Gottloſigkeiten geweſen, die Juncker Solmes
der Fraͤulein haͤtte erzaͤhlen wollen, wenn ſie ihn
angehoͤrt haͤtte.


Er bittet ſich Nachricht aus, ob Jhrer Gnaden
Leben wegen der Sache in Gefahr kommen koͤnnte?
„Er hoffet, es werde zum wenigſten nicht ſo ſchlimm
gehen,
[357]
„gehen, daß ihre Gnaden wie unſer einer an den
„Galgen kaͤmen, ſondern ſie wuͤrden doch nur ge-
„koͤpfet werden: und daß er noch an ſeinen treuen
Joſeph Lehmann dencken wuͤrde, ehe der
„Scharf-Richter ſeinen Kopf bekaͤme, weil er hoͤrte,
„daß ſeine Guͤter nachher dem Koͤnige oder dem
„Gerichte anheim fielen.„


Er meldet ihm weiter, daß der Capitain Sing-
leton
ſein Juncker und ſeine Fraͤulein die Koͤpfe
jetzt fleißig zuſammen ſteckten. Der junge Herr
haͤtte in ſeiner Gegenwart an den Capitain geſagt:
alles ſein Blut kochte von Rache gegen ſeine Gna-
den, den Hundsfott ſalva veni. Er haͤtte darauf
ihn, den Joſeph, wegen ſeiner Treue und anſchlaͤ-
giſchen Kopfes ſehr gelobet: ob er gleich wie ein
abgeſtochen Kalb dabey ausgeſehen haͤtte. Er bie-
tet hierauf ſeine Dienſte an, fernerem Ungluͤck vor-
zubeugen, und das Wirths-Haus zum blauen Eber
als eine Gnade von ſeiner Gnaden zu verdienen,
weil er ſo viel gutes vom blauen Eber gehoͤrt habe.


„Aber der blaue Eber iſt es doch noch nicht alle,
„(faͤhrt Joſeph fort) denn mit ihrer Gnaden
„Verguͤnſtigung, die kleine artige Sau (Gott
„vergebe mir meine ſchwere Suͤnde, daß ich bey
„einer heiligen Sache ſpotte) tobeſt mir immer im
„Kopfe hernm. Jch habe ſie viel lieber, als es
„Jhre Gnaden gut finden, denn ſie faͤngt an freund-
„lich und geſchmeidig zu werden, und wenn ich von
„dem blauen Eber und ſo von was zu reden anfange,
„ſo horcht ſie als wenn ſie unter lauter Bienen waͤ-
„re. Jhre Gnaden nehmen mir nicht ungnaͤdig,
Z 3„daß
[358]
„daß ich ein bisgen Spaß mache. Wir gemeinen
„Leute haben eben ſo wohl unſere Luſt, mit
„Jhrer Gnaden Erlaubniß, als rechtliche Leute
„haben, und wenn wir geſcholtenes kriegen, ſo ha-
„ben wir immer wieder andere mit denen wir auch
„ſchelten koͤnnen: und wenn wir die nicht haben,
„ſo koͤnnen wir eine Frau nehmen, und der den Bu-
„ckel voll ſchelten. So ſind wir doch endlich auch
„Herren.„


Hierauf klagt er, daß ihn ſein Gewiſſen beun-
ruhige als koͤnnte er ſich verſuͤndiget haben. Denn
ſo boshaft auch ſein junger Herr und ſeine Fraͤulein
waͤren, ſo wuͤrde doch der alte gnaͤdige Herr und die
gnaͤdige Frau nicht haben koͤnnen ſo hartleibig ſeyn,
wenn er ihnen nicht auf ihrer Gnaden Befehl ſo viel
Luͤgen erzaͤhlt haͤtte.


Das iſt eben das Ungluͤck, daß ſie ſich nicht mit
meiner lieben jungen Fraͤulein beſprechen und die
Sache auseinander ſetzen koͤnnen, weil ich auf Jh-
re Gnaden Befehl habe ſagen muͤſſen, daß ich alle
dieſe Sachen von ihren Wilhelm vor Geld erfah-
ren habe, und daß das niemand wieder erfahren
duͤrfte, damit Jhre Gnaden nicht ihm und mir das
Licht ausblaſen, und die die uns beſtochen haben
vor der gantzen Welt zu ſchanden machen moͤchten.
Ach Jhre Gnaden! O Jhre Gnaden ich fuͤrchte,
daß ich ein Spitzbube geweſen bin. Gott erbar-
me es, ich dachte es nicht.


Aber wenn meine liebe Fraͤulein zu Falle kom-
men ſollte, und mit Jhrer Gnaden Erlaubniß aus
dem blauen Eber nichts werden ſollte. Aber Gott
behuͤte
[359]
behuͤte mich vor allen ſchlimmen Ungluͤck und vor
einem ſchlimmen Ende: das iſt meine Bitte. Denn
ob gleich Jhre Gnaden mir den irrdiſchen Dreck
reichlich genug geben, ſo ſagt doch die Schrifft,
wenn es ihre Gnaden nicht ungnaͤdig nehmen wol-
len, was huͤlffs den Menſchen, wenn er die
gantze Welt gewoͤnne und nehme doch
Schaden an ſeiner Seele.
Aber ich hoffe, daß
ich noch einmahl Buſſe thun will, wenn ich jetzt aus
Unwiſſenheit ſuͤndige, weil ich noch jung bin. Jhre
Gnaden ſind ein vornehmer Herr und haben mehr
Verſtand als ich, und ich bin ein armer nichtswuͤr-
diger Kerl: ſo koͤnnen es Jhre Gnaden alles ver-
antworten. Jndeſſen bin ich doch Jhrer Gnaden


treueſter Diener zu allen Dienſten
den 15. und 16. Aprill.Joſeph Lehmann.



Der ſechs und viertzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Joſeph Lehmann



Er meldet ihm, was mit der Jungfer Better-
ton
vorgegangen ſey, waͤre nur ein Jugend-
Streich geweſen. Es ſey nichts dabey vorgefallen,
das man Nothzucht nennen koͤnnte. Er waͤre auch
nicht um der Urſache willen auſſer Landes ge-
gangen. Die Jungfer haͤtte ihn liebt gehabt und er
die Jungfer. Sie waͤre nur eines Kauffmanns
Tochter geweſen, der aber Luſt gehabt haͤtte ſich adeln
Z 4zu
[360]
zu laſſen, weil er ſehr reich geweſen waͤre. Er haͤtte
nie vorgegeben, daß er ſie heyrathen wolte. Jhre
Freunde haͤtten in der That eine Klage deswegen
anfangen wollen, allein ſie haͤtte nicht gewollt: dar-
uͤber waͤren ſie ihr ſo ſchlimm begegnet, daß es groſ-
ſen Theils ihren Todt verurſachet haͤtte. Der klei-
ne Junge waͤre ein artig Kind, deſſen ſich kein Va-
ter ſchaͤmen duͤrfte. Seiner Mutter Schweſter haͤtte
das Kind bey ſich, und er haͤtte es ein paar mahl ge-
ſehen ohne daß ſie etwas davon wuͤſte. Wenn ſich
einige Gelegenheit gezeigt haͤtte, ſo wuͤrde er ſich
des Kindes angenommen haben: allein die gantze
Familie haͤtte den Jungen lieb, ob ſie gleich ſo gott-
los waͤren und auf den Vater ſchimpften.


Er ſagt dieſes waͤren ſeine Regeln im Liebhaben:
vor gemeinen Huren huͤte er ſich, er verheyrathete
ſeine Liebſte an Jemand ehe er ſich eine neue anſchaf-
fe: wenn ein Maͤdchen von ihm ſchwanger wuͤrde,
und ihre Freunde waͤren hart, ſo lieſſe er es keine
Noth leyden, und beſorgete inſonderheit, daß es
ihr im Kind-Bette an nichts mangelte. Vor das
Kind ſorge er ſo wie es dem Stande der Mutter
gemaͤß waͤre; und wenn die Mutter im Kind-
Bette ſtuͤrbe, ſo traurete er ordentlich um ſie. Er
fragt Joſeph auf ſein Gewiſſen, ob er ei-
nen nennen koͤnnte, der rechtſchaffener mit den
Maͤdgens umginge; es ſey daher kein Wunder, daß
ihn alle Maͤdgens lieb haͤtten.


Sein Hals und ſein Kopf ſey gantz ſicher „Was
„meint ihr Joſeph? vor anderthalb Jahren iſt
„die Jungfer im Kindbette geſtorben, bey ihren
„Leb-
[361]
„Lebzeiten iſt keine Klage erhoben worden, weil ſie es
„ſelbſt nicht zugeben wollte: ſind das nicht artige
„Umſtaͤnde, wenn man auf Nothzucht klagen will?
„Jch ſage es nochmahls, ich hatte ſie hertzlich lieb:
„Jhre unmenſchlichen Freunde nahmen ſie mir
„weg, als unſere Freude kaum angegangen war.
„Doch genug von meiner lieben Jungfer Better-
„ton.
Die liebe Jungfer! der Todt macht ſie mir
„nur noch lieber. Gott gebe ihr eine ſanfte Ruhe
„in der Erde! Hier ging ein tiefer Seufzer nach
„meiner guten Jungfer Betterton hin.


„Er ermahnt ihn er ſollte nur frey ſchertzen ‒ ‒
„Das Schertzen ſchickt ſich vor einen armen Mann
„beſſer als wenn er Grillen im Kopf hat. Alles was
„wir ſagen, alles was wir thun, alles was wir
„wuͤnſchen iſt ein Schertz. Wer es nicht ſo nimmt
„iſt ein Narre, und quaͤlt ſich ſelbſt nur. Der ver-
„dient ſelbſt keine froͤliche Stunde, wer armen Leu-
„ten ihre Freude misgoͤnnet.


Er lobt ihn wegen ſeiner Liebe zu ſeiner Fraͤu-
lein: beruft ſich darauf, daß er keine andere als
ehrliche Abſichten habe; ruͤhmet ſich, daß er ſein
Wort immer halte, und fragt den Joſeph, ob
dieſes nicht wahr ſey.„ Jhr wißt ſelbſt, Joſeph,
„daß ich immer mehr gethan, als verſprochen habe.
„Dieſes iſt meine Art gegen jederman: das thue ich,
„damit niemand mich vor einen Knicker halten moͤ-
„ge. Ein ehrlicher Mann haͤlt ſein Wort: ein Ca-
„valier aber thut noch mehr als er verſpricht. Das
„iſt meine Regul.


Z 5Er
[362]

Er ſagt, die Fraͤulein allein ſey Schuld daran,
daß ſie noch nicht getrauet waͤren. Er bedauret
daß ſie ſo fremde gegen ihn ſey, daran die Fraͤu-
lein Howe alle Schuld habe, die ihr immer neue
Anſchlaͤge in den Kopf ſetze. Das ſey eben die
Urſache, die ihn gezwungen habe, die Leute zu Har-
loweburg durch ihn gegen die Fraͤulein Howe auf-
zuwiegeln.


Er macht ſich hierauf das zu Nutze, was Joſeph
von den geheimen Berathſchlagungen des Single-
tons
und des jungen Jacob Harlowe gemeldet
hatte. „Weil Singleton, (heißt es) der ſich nach
„eurem Juncker richtet, von ihm ſo ein gutes Zeug-
„niß von euch gehoͤret hat: ſo ſtellet euch noch im-
„mer, als wenn ihr wider mich waͤret, und vor
„meinen Streichen einen Abſcheu haͤttet. Schlagt
„den Singleton vor, ob er nicht den Jacob
„Harlowe,
der ſo ſehr nach Rache duͤrſtet, bewe-
„gen koͤnne, mit dabey zu ſeyn, wenn er ſeine Schwe-
„ſter nach Leith oder an einen andern Ort fuͤhrete.„


„Jhr koͤnnt ihnen ſagen, wenn ſie den Vorſchlag
„bewerckſtelligen koͤnnten, ſo wuͤrde ich vor Unmuth
„von Sinnen kommen, und die Fraͤulein wuͤrde ſich
„alles gefallen laſſen was ſie wollten. Auch koͤnnt
„ihr ſagen, daß ihr von meinem Diener gehoͤrt
„haͤttet, wie ſproͤde die Fraͤulein mir begegnete,
„weil ſie hoffete von ihrem Vater Vergebung zu
„erhalten, wenn ſie ſo grauſam waͤre mir auf ewig
„abzuſagen. Das eintzige, was ihr von meinem
„Bedienten nicht haͤttet erfahren koͤnnen, ſey der
„Ort, wo wir uns aufhielten. Allein ihr glaubtet,
„daß ein paar Guineas ihm die Zunge noch weiter
„loͤſen
[363]
„loͤſen wuͤrden, und daß man ſo gar erfahren koͤnn-
„te, wenn ich nicht zu Hauſe waͤre, damit der gan-
„tze Vorſchlag mit mehrerer Sicherheit bewerckſtel-
„liget werden koͤnnte. Jhr koͤnnt ihnen auch er-
„zaͤhlen, (allein auf die Art, als haͤttet ihr es von
„meinem Diener gehoͤrt) daß wir in einer unbe-
„quemen Miethe waͤren, und naͤchſtens an einen
„bequemern Ort ziehen wuͤrden, (alles dieſes iſt
„die Wahrheit) und daß ich daher mich oft von
„ihr entfernen muͤſſe.


„Wenn euer Vorſchlag Gehoͤr findet, ſo ſeyd
„noch einmahl ſo verliebt in Eliſabeth, und ſucht
„euch dadurch ein Zutrauen bey ihr zu erwerben,
„daß ihr von dieſem Geheimniß mit ihr redet,
Eliſabeth wird es der Fraͤulein Arabellen er-
„zaͤhlen. Arabelle wird vor Rachgier gegen mich
„und vor Freude auſſer ſich kommen, und ihrem
„Onckle Anton Nachricht davon geben, wenn es
„ihr Bruder nicht thut. Er wird es der Frau
Howe als ein Geheimniß in das Ohr ſagen:
„Dieſe muß alle ihre Geheimniſſe ihrer Tochter
„wieder erzaͤhlen, ob ſie ſich gleich immer mit ihr
„zancket: die Fraͤulein Howe wird es gantz
„gewiß meiner lieben Fraͤulein ſchreiben. Sollte
„es aber nicht auf dieſe Weiſe wieder herum kom-
„men, ſo koͤnnt ihr es mir als ein Geheimniß ſchrei-
„ben um Ungluͤck zu verhuͤten, als welches eure und
„meine Abſicht iſt. Denn kann ich den Brief
„meiner Geliebten zeigen, und mir dadurch mehr
„Zutrauen bey ihr erwerben. Wenn ſie mich da-
„mit beehrt, ſo will ich glauben, daß ſie mich lieb
„hat, daran ich jetzt noch zweifele. Sie wird
„nicht
[364]
„nicht ſo viel Anſtand mehr nehmen eine ſichere
„Wohnung auszuſuchen: und ich werde immer
„einen guten Vorwand haben, zu ihrer Sicherheit
„um ſie zu bleiben. Sie wird auch dadurch uͤber-
„zeuget werden, daß ſie keine Hoffnung zur Aus-
„ſoͤhnung uͤbrig hat. Jhr koͤnnt euren Juncker
„und den Capitain Singleton immer auf eine fal-
„ſche Spur bringen, damit alles Ungluͤck vermie-
„den werde. Jch will euch ſchon ſchreiben was ihr
„ſagen ſollt.


„Bedenckt einmahl, Joſeph, was fuͤr gluͤckli-
„che Folgen daraus entſtehen werden. Jch wer-
„de mein Kind bekommen, und das in allen Ehren.
„Wir werden alle kuͤnftig einmahl gute Freun-
„de werden. Die beyden Guineas, womit ihr
„meinen Diener beſtechen ſollt, koͤnnt ihr in die
„Taſche ſtecken, ſo wie ihr manchen Schelmen-Tha-
„ler von der knickeriſchen Familie durch meine
„Huͤlfe beygeſteckt habt. Man wird euch wegen
„eures Verſtandes und wegen eurer Treue immer
„werther ſchaͤtzen. Den blauen Eber ſollt ihr auch
„bekommen. Seyd auch unbeſorgt wo das Geld
„zur erſten Anlage herkommen werde.


„Eure Jungfer Lisgen ſollt ihr auch haben. Es
„ſcheint, daß ihr beyde etwas Geld geſammlet ha-
„bet. Die gantze Harlowiſche Familie der ihr
„ſo treu gedient habt, (denn welcher Dienſt kan
„treuer ſeyn, als das Ungluͤck zu verhuͤten, das der
„Herr anſtiftet?) wird euch beyden doch etwas zur
„Haußhaltung mitgeben. Jch will auch das mei-
„nige noch dazu beytragen. Was werdet ihr vor
„ein
[365]
„ein gluͤcklicher Kerl werden. Kratzet, Joſeph,
„kratzet! Jhr kommt auf euren eigenen Miſthau-
„fen. Jhr kriegt Bedienten, mit denen ihr ſchel-
„ten koͤnnt, wie ihr Luſt habt: eine Frau, mit der
„ihr euch zancken und kuͤſſen koͤnnt, gerade wie es
„euch gefaͤllt: Herr Wirth! Frau Wirthin!
„werdet ihr alle Augenblicke hoͤren: bisher habt
„ihr bezahlt, wenn ihr euch luſtig machen wolltet;
„kuͤnftig werden andere euch bezahlen. Aber ihr
„ſeyd nicht allein der gluͤckliche Menſch: ihr macht
„auch andere gluͤcklich, weil ihr den Frieden zwi-
„ſchen zwey vornehmen Familien wieder herſtellet,
„ohne eine Chriſten-Seele zu beleydigen. Mein
„ehrlicher Joſeph, wie neidiſch werden andere auf
„euch werden! Wer wollte niedergeſchlagen ſeyn,
„wenn man eine ſolche Hoffnung vor ſich ſiehet.


„Dieſe einzige Arbeit ſoll euren uͤbrigen Dienſten
„die Krone aufſetzen. Wenn ihr machen koͤnnt,
„daß eure Leute bey den Vorfatz bleiben, ſie moͤgen
„ihn ausfuͤhren oder nicht, ſo werdet ihr ungemein
„nuͤtzlich ſeyn„


Eurem guten Freunde
Robert Lovelace.



Der ſieben und viertzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Frau
Hervey.


(Dieſer Brief war in den vorigen an Fraͤulein Ho-
we
eingeſchloſſen)


Hoch-
[366]
Hochgeehrteſte Frau Baſe.


Weil ich nicht ſo gluͤcklich geweſen bin eine Ant-
wort auf den Brief zu erhalten, den ich an
dem vierzehenten dieſes Monaths zu ſchreiben mir
die Freyheit nahm: ſo will ich hoffen, daß mein
Brief nicht richtig uͤberkommen ſey. Denn die-
ſes wuͤrde mir bey weiten ſo empfindlich nicht
ſeyn, als wenn ich dencken muͤßte, daß meine Frau
Baſe mich einer Antwort unwuͤrdig ſchaͤtzten.


Jn dieſer Hoffnung lege ich eine Abſchrift mei-
nes vorigen Briefes bey, weil es mir nicht moͤg-
lich iſt meine Gemuͤths-Faſſung beſſer, als damahls
geſchehen iſt, auszudruͤcken. Jch bitte Sie gehor-
ſamſt, den Jnhalt deſſelben ſo viel als Jhnen moͤg-
lich iſt zu unterſtuͤtzen.


Jetzund iſt es noch in meiner Gewalt das zu hal-
ten, was ich in dem Briefe verſpreche: es wuͤrde
mich ſehr bekuͤmmern, wenn man mich in ſolche
Umſtaͤnde ſtuͤrtzte, die meine Ausſoͤhnung ohnmoͤg-
lich machten.


Wenn es mir erlaubet waͤre an Sie zu ſchreiben
und ich Hoffnung haͤtte, daß Sie mir antworten
wuͤrden: ſo ſollte es mir nicht ſchwer ſeyn, Sie
zu uͤberzeugen, daß ich nicht vorſaͤtzlich geſuͤndiget
habe, ob gleich ein ſtrenger und liebloſer Richter
mir den Mangel der Ueberlegung wuͤrde zuſchreiben
koͤnnen. Sie zum wenigſten wuͤrden Mitleid mit
mir haben, wenn Sie alles wuͤſten, was ich ſagen
koͤnnte, und wie ſehr es mir zu Hertzen gehe, daß
ich die Werthachtung aller meiner Freunde ver-
ſchertzet habe.

Jch
[367]

Jch ſchmeichle mir, daß es noch moͤglich ſey das
Hertz der Meinigen wieder zu gewinnen. Was aber
auch vor ein unbedungener Rathſchluß zu Harlo-
weburg
gefaſſet ſeyn mag, ſo bitte ich Sie ver-
ſagen Sie mir eine eintzige Gefaͤlligkeit nicht. Mel-
den Sie mir, ob einige Hoffnung zur Verſoͤhnung
uͤbrig iſt, ohne daß ich die unertraͤglichen Bedin-
gungen eingehe, die vor meiner Abreiſe von mir ge-
fodert wurden: oder ob ich ohne Gnade unter die
Verworfenen gehoͤren ſoll?


Zum wenigſten verſchaffen Sie mir meine Klei-
dung nebſt dem wenigen Gelde, und den andern
Dingen, um die ich in dem Briefe an meine Schwe-
ſter gebeten habe: damit ich nicht Mangel an den
allernoͤthigſten Bequemlichkeiten leiden moͤge, oder
mich gezwungen ſehen moͤge, einer Perſon ver-
pflichtet zu ſeyn, der ich jetzund noch am wenigſten
verpflichtet ſeyn wollte. Erlauben Sie mir dieſe
Anmerckung zu machen: Wenn ich vorſaͤtzlich ge-
fluͤchtet waͤre, ſo wuͤrde ich zum wenigſten mein
Geld und meine Juwelen mitgenommen haben, und
ich wuͤrde dem Verdruß entgangen ſeyn, den ich
bisher habe uͤbernehmen muͤſſen, und der mir noch
kuͤnftig bevorſtehet, wenn mir meine Sachen nicht
geſchickt werden.


Wenn Jhnen vergoͤnnet iſt, mehrere Nachrich-
ten wegen deſſen einzuziehen, was ich zu verſtehen
gegeben habe, ſo will ich Jhnen mein gantzes Hertz
eroͤffnen und Jhnen alles genau ſchreiben.


Finden die Meinigen ein Vergnuͤgen daran, daß
ſie mich kraͤncken; ſo kann ich Jhnen die Nachricht
geben
[368]
geben daß ich aufs aͤuſſerſte gekraͤnckt bin. Blos
meine Gedancken kraͤncken mich; von der Perſon,
der man alles boͤſe zutrauet, habe ich noch kein un-
anſtaͤndiges Betragen erfahren.


Der Ueberbringer hat in Jhrer Gegend zu thun,
und kann Jhre Antwort auf den Sonnabend mit-
bringen, wenn Sie mir dieſe Guͤtigkeit erzeigen
wollen. Jch wußte vorher nicht, daß ich dieſe Gele-
genheit haben wuͤrde. Jch verbleibe


Hochgeehrteſte Frau Baſe
Dero gehorſamſte Dienerin und Tochter


Cl. Harlowe.

P. S.


Wenn Sie mir die Guͤtigkeit erzeigen wollen an
mich zu ſchreiben, ſo laſſen ſie den Brief in Os-
goods
Hauſe bey Sohos-Squaͤre abgeben: als-
denn ſoll niemand etwas davon erfahren, wenn Sie
es geheim gehalten wiſſen wollen.



Der acht und viertzigſte Brief.
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Wenn es mir das Leben koſten ſollte, ſo weiſ
ich nicht zu ſagen, warum ſich der Menſch
ſo wunderbar anſtellet. Das ſcheint gewiß zu ſeyn,
daß er an ihrer Liebe gegen ſich zweifelt: darin iſt
er beſcheiden, ſo wie ein anderer bekannter Freund,
und
[369]
und leget ein ſtillſchweigendes Bekenntniß ab, daß
er Jhre Liebe nicht verdienet. Jhre Sehnſucht nach
den Aegyptiſchen Fleiſch-Toͤpfen, (die Sie in Jhrem
Briefe an die Frau Hervey noch deutlicher zu er-
kennen geben) und die ſo oft bezeugte Reue uͤber
die letzte Unterredung vor dem Garten, und uͤber ih-
re gezwungene Flucht, ſind ihm unertraͤglich.


Jch habe ſeine gantze Auffuͤhrung uͤberdacht, und
ſie mit ſeiner Gemuͤths-Art verglichen: und ich fin-
de, daß er ſich immer gleich, und viel niedertraͤchti-
ger, viel rachgieriger iſt, als wir es uns jemahls
eingebildet haben. Als ein eintziges Kind, welches
noch dazu ein Sohn und eintziger Erbe der Familie
war, iſt er beynahe von der Wiege an verdorben,
und in allem Eigenſinn aufgezogen worden; und
hat ſich angewoͤhnt ſeinen Vorgeſetzten zu befehlen.
Jn den reiferen Jahren iſt er ein laſterhafter
Menſch geworden, der ſich nicht einmahl an den
Wohlſtand und an das Urtheil der Welt gekehret
hat. Er hat gegen unſer gantzes Geſchlecht eine
Verachtung, weil ſich einige Frauenzimmer ihm
allzu wohlfeil verkauft haben.


Ob er gleich ſeine Abſicht auf eine Clariſſa ge-
richtet hatte, ſo iſt doch ſeine Auffuͤhrung gegen ih-
re Familie ſeit der Zeit, da ihm Jhr alberner Bru-
der ſein Leben ſchuldig geworden iſt, nichts anders,
als Trotz gegen Trotz. Durch Schrecken und durch
Liſt hat er Sie in ſeine Gewalt bekommen. Was
fuͤr Hoͤflichkeit koͤnnen Sie von einem ſolchen Men-
ſchen erwarten.


Dritter Theil. A aAllein
[370]

Allein was iſt bey den Umſtaͤnden zu thun? Sie
muͤſſen ihn verachten. Sie muͤſſen ihn haſſen,
(wenn Sie koͤnnen) Sie muͤſſen von ihm lauffen.
Aber wohin? Sonderlich nachdem Jhr Bruder
durch alle ſeine einfaͤltige Liſt Sie in noch ſchlimmere
Umſtaͤnde ſetzet?


Wenn es Jhnen aber ohnmoͤglich iſt, ihn zu ver-
achten und zu haſſen, wenn Sie nicht mit ihm bre-
chen wollen: ſo muͤſſen Sie weniger auf einige Klei-
nigkeiten des willkuͤhrlichen Wohlſtandes ſehen.
Bringet aber auch dieſe Ueberſehung den bevorſte-
henden Tag nicht naͤher, ſo muͤſſen Sie ſich in den
Schutz ſeiner Verwantinnen begeben. Dieſe ſchaͤ-
tzen Sie ſo hoch, daß ſie nicht zulaſſen werden, daß
er Sie betriege, wenn er auch Luſt dazu haͤtte. Sie
ſollten ihn zum wenigſten an ſeinem Verſprechen
erinnern, daß die eine Fraͤulein Montague Sie
zu London beſuchen, und Jhnen Geſellſchaft lei-
ſten werde, bis alles zu einem gluͤcklichen Ende ge-
kommen ſey.


Sie werden ſagen: dieſes ſey eben ſo viel, als
ein deutliches Ja-Wort. Wohlan! es ſey alſo!
Sie koͤnnen doch ſich keinen andern Endzweck vor-
ſetzen, als die Seinige zu werden. Ueberzeuget
Sie nicht das Vorhaben Jhres Bruders hiervon?
Laſſen Sie alle die unwahrſcheinlichen Gedancken
von einer Ausſoͤhnung fahren, die ſie bisher unent-
ſchloſſen gemacht haben. Sie geſtehen mir, daß er
ſich deutlich gegen Sie herausgelaſſen habe; ob Sie
mir gleich die Worte ſelbſt nicht gemeldet haben,
deren er ſich bedienete. Er fuͤhrete Jhnen auch
Gruͤnde
[371]
Gruͤnde an, und ſein Wunſch ſchien zu ſeyn, daß
dieſe Gruͤnde etwas bey Jhnen gelten moͤchten.
Wie ſelten thun das die Leute von ſeiner Art, von
denen es heißt:


Ein jeder liebet ſich in ſeinem lieben Kinde,

So wie das liebe Kind ſich in dem Spie-

gel liebt.

Sie pflegen gemeiniglich keinen andern Grund an-
zufuͤhren, warum wir ſie lieben ſollen, als, weil
ſie die Gnade haben uns zu lieben.


Wenn ich an Jhrer Stelle und eben ſo von
den Kleinigkeiten des Wohlſtandes eingenommen
waͤre; ſo moͤchte ich mich vielleicht eben ſo ver-
halten, als Sie. Jch wuͤrde erwarten, daß die
Manns-Perſon mit hoͤflichen aber ernſtlichen Bit-
ten in mich druͤnge, daß ſie hiemit fortfuͤhre, und
daß alle ihre Worte und Handlungen auf dieſen
eintzigen Zweck gerichtet waͤren. Wenn ich aber
bemerckte, daß mein Liebhaber an meiner Liebe zwei-
felte und dieſer Zweifel die Urſache ſeiner Kuͤnſte
und des Aufſchubes waͤre: ſo wollte ich ihm entwe-
der die Zweifel benehmen, oder ihm auf ewig gute
Nacht ſagen.


Wenn Sie dieſes letzte erwaͤhleten, ſo wollte ich
in der That zeigen, daß ich Jhre Anna Howe
bin; ich wollte entweder ſuchen, Jhnen eine gehei-
me Zuflucht zu verſchaffen, oder ich wollte Gluͤck
und Ungluͤck mit Jhnen theilen.


Jch aͤrgere mich uͤber den Menſchen, daß er den
Aufſchub ſeiner Bitte bis auf die Ankunft des Obri-
ſten Morden ſo leicht Platz finden ließ. Jch fuͤrchte
A a 2aber
[372]
aber auch, daß Sie allzu viel Bedencklichkeit ge-
macht haben. Ward er nicht uͤber dieſen Aufſchub
empfindlich?


Jch wuͤnſchte mir eine Nachricht von Jhrer Un-
terredung, die er ſelbſt aufgeſetzt haͤtte; ich glaube,
es wuͤrden Anklagen wider Jhre uͤbertriebenen Be-
dencklichkeiten darin enthalten ſeyn. Wenn Sie
ihn bey ſeinen Worten, die Jhrem eigenen Geſtaͤnd-
niß nach deutlich waren, gehalten haͤtten: ſo wuͤrde
er eben ſo ſehr in Jhrer Gewalt ſeyn: als Sie ſich
jetzt in ſeiner Gewalt befinden. Jch brauche Jh-
nen nicht erſt zu melden, daß eine Perſon in Jhren
Umſtaͤnden, und die ſo hintergangen iſt, ſich man-
ches unangenehme muß gefallen laſſen.


Wenn er mit mir, mit einem muthigen Maͤd-
chen, zu thun haͤtte, ſo wollte ich in einer Viertheil-
Stunde, (denn die ſollte mir zu Cerimonien und
Complimenten genug ſeyn) wiſſen, was ſein End-
zweck ſey? ob er gutes oder boͤſes im Sinne habe?
Wenn ſeine Abſichten boͤſe ſind, ſo ſollte es mir am
liebſten ſeyn, bald Nachricht davon zu haben. Hat
er aber ehrliche Abſichten, ſo wuͤrde ich dencken, daß
er von niemand anders als von ſeiner eigenen kuͤnfti-
gen Frau ein unanſtaͤndiges Bekenntniß der Liebe
erpreſſen wollte.


Sie ſollten meiner Meinung nach alle empfind-
lichen Ausdruͤcke und Anklagen gegen ihn und gegen
ſeine Auffuͤhrung vermeiden, die zu nichts nuͤtzen,
als ihn empfindlich zu machen. Sie haben doppel-
te Urſache hiezu, weil er ſich niemahls gegen Sie
unanſtaͤndig aufgefuͤhret hat.


Jch
[373]

Jch kenne das Vergnuͤgen, das ein tugendhaftes
Gemuͤth bey Bezeugung ſeines Misfallens an dem
Laſter empfindet. Wenn aber dieſes nicht zu rech-
ter Zeit geſchiehet, und der Beſtrafte nicht dadurch
gebeſſert wird, ſo wird es ihn entweder verhaͤrten
oder zum Heuchler machen. Auf eine oder auf die an-
dere Weiſe wird er dadurch verſchlimmert werden.


Es gefaͤllt mir wohl, daß er aus Jhres Bru-
ders hochweiſen Anſchlage nicht viel macht. Der
arme Tropf, der Jaͤckel Harlowe, will ſelbſt ſein
Senf-Korn von Gehirn zur Schelmerey anwenden,
und ſchimpft doch auf Lovelacen, daß der ſein
Mit-Schelm iſt. Ein kluger Schelm verdient
einmahl und ohne viele Umſtaͤnde gehangen zu
werden: allein ein halb-kluger Betruͤger muß erſt
geraͤdert und denn auf das Rad geflochten werden.
Lovelace hat Jhren Bruder in wenigen Worten
nach der Wahrheit geſchildert.


Seyn Sie immerhin ungehalten auf mich, ich
muß dennoch ſagen was ich dencke. Nachdem der
armſeelige Menſch, den einige fuͤr Jhren Bruder
ausgeben, ſo gluͤcklich geweſen iſt, Sie aus Jhres
Vaters Hauſe zu treiben, und weiter nichts zu be-
fuͤrchten hat, als daß Sie ein eigenes Haus bekom-
men moͤchten: ſo trauet er ſich alles in der Welt
zu, und will ſich mit Lovelacen auf deſſen eigene
Waffen einlaſſen.


Erinnern Sie ſich nicht, wie er mit ſeiner Weis-
heit prahlete? und was fuͤr Reden Jhnen Jhre
Frau Baſe und die abgeſchmackte Eliſabeth
Barnes
von ihm erzaͤhlete.


A a 3Zu
[374]

Zu Jhrem Briefe an die Frau Hervey habe ich
nicht die geringſte Hoffnung. Jch wuͤnſche nur,
daß Lovelace nie den Jnhalt davon erfahren moͤ-
ge: denn aus einem jeden Jhrer Briefe ſehe ich,
wie misvergnuͤgt er daruͤber iſt, daß Sie ſo we-
nig Vertrauen in ihn ſetzen, Wenn ich an ſeiner
Stelle waͤre, und mehr Vertrauen verdienete, ſo
wuͤrde ich auch nicht ohne Empfindung ſeyn.


Wenn Sie Luſt haben, ſich in den Schutz ſeiner
Verwantinnen zu begeben, ſo machen Sie weni-
ger Umſtaͤnde wegen der Kleidung. Seine gantze
Familie weiß, wie Sie mit Jhren Anverwanten
ſtehen, und ſie halten deswegen nicht weniger von
Jhnen. Warum ſoll ich aber mit meinem Anbie-
ten mir immer bey Jhnen einen Korb hohlen?


Jch weiß zum voraus, daß Sie Jhr Gut ſelbſt
nie fodern werden. Allein geben Sie ihm ein Recht,
es zu fodern, ſo iſt es noch beſſer.


Leben ſie vergnuͤgt, mein Schatz! der Himmel
leite Sie ſelbſt auf allen Jhren Wegen. Dieſes
wuͤnſcht


Jhre ewig ergebene und treue
Anna Howe.



Der neun und viertzigſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Lovelace.



Du haſt lange das große Wort gehabt, Love-
lace,
und ich habe dir zugehoͤret: denn ich
hielte
[375]
hielte es fuͤr unnoͤthig, uͤber deine Abſichten und
Tuͤcken Anmerckungen zu machen, weil ich glaub-
te, daß die unvergleichlichen Vorzuͤge und Annehm-
lichkeiten dieſes Frauenzimmers ihr Schutz ſeyn
wuͤrden; Du mochteſt auch von deinen boshaften
Abſichten prahlen, ſo viel du wollteſt. Allein nun ich
ſehe, daß es dir gelungen iſt, ſie zur Reiſe nach
London zu bewegen, und ſie in ein Haus zu brin-
gen, deſſen uͤbrige Geſellſchaft alle gute Vorſaͤtze
bey dir erſticken wird; ſo kann ich nicht unterlaſſen,
an dich zu ſchreiben, und mich deutlich als ihren
Vorſprecher und Vertheidiger aufzufuͤhren.


Meine Bewegungs-Gruͤnde ſind gar nicht von
der Tugend hergenommen: ſonſt wuͤrde ich ſchlechte
Hoffnung haben, etwas bey dir auszurichten. Ein
Menſch, wie du biſt, wuͤrde ſich auch nicht ab-
ſchrecken laſſen, wenn ich ihn erinnerte, was fuͤr
Feindſchafft und Rache er ſich dadurch auf den Hals
laden wuͤrde, wenn er einem ſo vortreflichen Frauen-
zimmer von ſo guter Familie uͤbel begegnete.


Danckbarkeit und Ehre ſind auch die Bewe-
gungs-Gruͤnde nicht, die ein Frauenzimmer aus un-
ſern Klauen retten werden, weil wir alle Schoͤnen,
die wir in unſere Gewalt bekommen koͤnnen, fuͤr
einen eben ſo rechtmaͤßigen Raub anſehen, als der
Habicht die Taube. Denn unſere Ehre, und
Ehre
uͤberhaupt, ſind Ausdruͤcke von einer ſehr
verſchiedenen Bedeutung.


Nichts als die wahre Freundſchaft gegen dich
beweget mich zu Schreibung dieſes Briefes. Um
dein ſelbſt willen,
und um deiner Familie
A a 4willen
[376]
willen bitte ich dich, mit dieſem unvergleichlichen
Kinde nicht gottlos umzugehen, das um ſeiner
ſelbſt willen
verdienet, daß du ihm ehrlich be-
gegneſt.


Als ich das letzte mahl zu M. ‒ ‒ ‒ Hall war, er-
ſuchte mich dein Onckle ſehr ernſtlich, daß ich dich
bereden moͤchte zu heyrathen. Er brachte ſolche
Gruͤnde vor, die mich noͤthigten ſeiner Meinung bey-
zuſtimmen, ſonderlich da ich wußte, daß du gegen
dieſes Frauenzimmer damahls ſolche Abſichten hat-
teſt, die ſich zu ihren vortreflichen Eigenſchaften
ſchickten. Jch verſicherte dieſes ſeiner Gnaden:
Denn dein Onckle war deinetwegen nicht gantz auſſer
Sorgen. Allein nachdem ſich deine Abſichten ge-
aͤndert haben, ſo kann ich mich ohnmoͤglich ent-
halten, dir die Sache recht ernſtlich vorzuſtellen.


Von dir und von andern habe ich ſo viel unver-
gleichliches von den Eigenſchaften deiner Fraͤulein
gehoͤret, und alle deine Briefe ſind ſo voll davon,
daß ich dich frage: wo willſt du ein anderes Frauen-
zimmer finden, das mit ihr einigermaſſen zu ver-
gleichen iſt? Warum willſt du ihre Tugend auf
die Probe ſetzen, da du nicht den geringſten Grund
haſt, ſie in Zweifel zu ziehen?


Wenn ich in deinen Umſtaͤnden waͤre, wenn ich
heyrathen wollte, und dieſe Schoͤne, allen andern,
die ich kenne, vorzoͤge; ſo wuͤrde ich mich fuͤrchten,
eine neue Probe anzuſtellen, damit ich nicht das Un-
gluͤck haben moͤchte, daß mir mein Verſuch geluͤn-
ge. Wir kennen ja das Frauenzimmer und deſſen
Schwaͤche wohl. Es wuͤrde mir deſto mehr vor
einem
[377]
einem ſo ungluͤcklichen Gluͤcke grauen, wenn ich
uͤberzeuget waͤre, daß, wo anders ein tugendhaftes
Frauenzimmer in der Welt zu finden iſt, dieſer
Ruhm meinem Kinde allein gebuͤhrte.


Jch muß dir ſagen, Lovelace, daß alle Umſtaͤn-
de gegen die Fraͤulein ſind, wenn du ſie in Verſu-
chung fuͤhren willſt. Bedencke wie tief deine Schlin-
gen gelegt ſind: Bedencke die viele Gelegenheit, die
du haſt, wider ihren Willen mit ihr umzugehen, und
daß alle ihre thoͤrichten Anverwanten, ohne es zu
dencken, es mit deinem ſchelmiſchen Kopfe halten:
Bedencke, wie ſehr ſie von allem Schutze entbloͤſſet
iſt, und daß du ſie in ein Haus bringeſt, in welchem
ſie blos unter deinen Kuplerinnen ſeyn wird, welches
artige und wohl erzogene Maͤdchens ſind: die ſie ſo
leicht nicht entdecken kann, wenn ſie ſich nicht groͤb-
lich verrathen, weil ſie der Sitten der Stadt allzu
wenig kundig und noch zu jung und unerfahren iſt.
Bedencke alle dieſe Umſtaͤnde. Jch frage dich,
was fuͤr Ehre wuͤrdeſt du davon haben, wenn
du ſie auch uͤberwindeſt? Du, der du zu Ausfuͤh-
rung liſtiger Anſchlaͤge gebohren biſt, der du voll
von Erfindung und muthig biſt, der du kein Ge-
wiſſen haſt, der du Geduld genug beſitzeſt auf eine
gute Gelegenheit zu lauren; der du dich nicht durch
deine Leidenſchaften uͤbernehmen laͤſſeſt, dadurch oft
der beſte Vorſchlag in der Bluͤthe verdorben wird,
und die Schnecke die eben ihre Hoͤrner herausſteckte,
wieder einkriecht. Du biſt ein Menſch, der dem
Frauenzimmer weder Treue noch Eyd haͤlt: das
Frauenzimmer mit dem [...][zu] thun haſt, haͤlt ſein
Wort
[378]
Wort als einen Eyd, und weiß nichts von Liſt oder
Vorſtellung: es hat deswegen auch von andern eine
gute Meinung. Es wuͤrde ein Wunder ſeyn, wenn
die Fraͤulein gegen einen ſolchen Verſucher, gegen
ſolche Verſuchungen und Schlingen beſtehen koͤnn-
te. Endlich da wir Manns-Perſonen ſo ſchwach ſind,
wenn uns niemand mit Gewalt verſuchet, ſo weiß
ich nicht warum wir von dem Frauenzimmer fo-
dern duͤrfen, die doch von eben ſolchen Eltern als
wir gezeuget ſind und von gleichem Stoff mit uns
ſind, nur daß die Erziehung einigen Unterſchied
macht. Jch kann auch nicht ſehen, was es vor eine
groſſe Ehre ſey, wenn man ſie verfuͤhren kann.


Allein du frageſt: ob nicht noch andere Lovela-
cen
ſeyn koͤnnen, die ſich durch ihre Schoͤnheit rei-
tzen laſſen ſich auch an ſie zu wagen?


Nein! ein ſolcher Kerl wie du, iſt nicht mehr in
der Welt, wenn ich Geſtalt, Verſtand, Gluͤcks-
Guͤter und deine Argliſtigkeit zuſammen nehme.
Wenn du glaubteſt, daß noch ein ſolcher Menſch
ſeyn koͤnne, ſo wuͤrdeſt du vor Hochmuth dir ſelbſt
feind werden.


Allein ich komme auf deine Haupt-Leidenſchaft,
auf die Rachgier: denn du biſt nicht ſo verliebt als
rachgierig, wie ich dir oft geſagt habe, ob du gleich
daruͤber boͤſe geworden biſt. Wie koͤnnen Leute von
unſrer Art wahrhaftig lieben?


Was fuͤr ein ſchlechter Vorwand zur Rachgier
ſind alle die Schwuͤrigkeiten, die es dir gekoſtet hat
ſie in deine Gewalt zu bekommen, wenn ich auch
zugebe, daß ſie Gefahr gelaufen haͤtte Solmeſens
Frau zu werden.

Jhr
[379]

Jhr Befehl dich zu beſſern, ehe du ſie um die
Ehe anſprichſt, den du jetzt ſo empfindlich gegen ſie
misbrauchſt: und ihre Neigung zu dem ledigen
Stande? Wenn dieſes etwas mehr iſt, als ein lee-
rer Vorwand, ſo haſt du auch vielleicht Urſache ge-
gen deine Feinde danckbar zu ſeyn, weil ſie dir die
Fraͤulein in die Haͤnde geliefert haben. Wider-
ſprichſt du nicht jedem Vorwande und handelſt du
nicht ſehr undanckbar, wenn du vorgiebeſt, du woll-
teſt ſie deswegen noch mehr auf die Probe ſetzen,
weil ſie ſich aus Zuneigung zu dir uͤbereilet habe?


Um deinen armſeeligen Vorwand noch mehr in
ſeiner Bloͤſſe vorzuſtellen, lege ich dir die Frage vor:
wenn ſie freywillig mit dir davon gegangen waͤre,
wuͤrdeſt du ſie denn lieber haben? Zu einer Mai-
treſſe
moͤchte ſie ſich alsdenn beſſer ſchicken: allein
ſie wuͤrde nur halb ſo ſehr als jetzt verdienen deine
Frau zu werden.


Sie liebet dich gantz gewiß, das iſt auſſer Zwei-
fel: ſo gottlos du auch biſt, und ob du gleich ein
Hertz wie ein Panterthier haſt. Allein was fuͤr ei-
ne Herrſchaft muß ſie uͤber ihre Neigungen haben,
wenn deiner ſcharfſichtigen Eigen-Liebe bisweilen
ein Zweifel an ihrer Zuneigung zu dir aufſteiget?
Nimm noch dazu, daß ſie von ihren eigenen Anver-
wanten verfolget wird, und daß der Glantz deiner
Familie, welche ſehnlich wuͤnſchet ihr ihren Nahmen
zu geben, ſie locken und geſchwaͤtziger machen koͤnnte.


Vielleicht denckſt du, daß ich mein Verſprechen
nicht halte, und anfange mehr um der Fraͤulein
willen als um deinetwillen dir die Feſſeln anzura-
then.
[380]
then. Du irreſt dich: alles was ich geſchrieben
habe, betrifft deinen Vortheil mehr als den ihrigen.
Denn ſie kann dich gluͤcklich machen. Allein daß
du ſie gluͤcklich machen ſollteſt, das iſt beynahe ohn-
moͤglich, wenn ihr Gemuͤth eben ſo artig bleibt als
es jetzt iſt. Jch brauche dir dieſes nicht zu bewei-
ſen: du biſt ſo freymuͤthig, daß du meinen Satz
wol ſelbſt unterſchreiben wuͤrdeſt. Jch rathe dir
nicht deswegen zum Eheſtande, weil ich ſelbſt groſſe
Luſt dazu habe; ich dencke wahrhaftig noch nicht
darauf mich in eheliche Feſſeln ſchmieden zu laſſen.
Allein da du der letzte von deinem Nahmen biſt,
da deine Familie alt und anſehnlich iſt, da du ſelbſt
dich kuͤnftig zu verheyrathen gedenckeſt: ſo uͤberlege
doch nur, ob du jemahls wieder eine ſolche Parthey
finden wirſt, als du jetzt haſt? ein Frauenzimmer
von einem ſo guten Geſchlecht, deſſen du dich nicht
ſchaͤmen darfſt (ob dir gleich dein Hochadlicher
Hochmuth den Kopf oft ſo herumdrehet, daß du von
allen Familien veraͤchtlich redeſt, denen du feind biſt)
ein Frauenzimmer von unvergleichlicher Schoͤn-
heit, das Tugend, Klugheit und eine Seele hat?
(Seele will ich jetzt fuͤr Verſtand nehmen.)


Biſt du nicht ein kleiner Geiſt, daß du dein Ver-
gnuͤgen dem Gluͤck aller deiner Nachkommen vorzie-
heſt? Du ſollteſt dir eine Ehre machen, Kinder auf
eine Ewigkeit zu zeugen und dein Geſchlecht und
Nahmen unſterblich zu machen, allein du willſt
nicht anfangen bis daß die Raſe-Jahre voͤllig vorbey
ſind, das iſt, bis Kranckheiten und Alter dich un-
tuͤchtig machen. Willſt du dir den Fluch aller dei-
ner
[381]
ner rechtmaͤßigen Nachkommen auf dein Grab la-
den, weil du ſie als kraͤnckliche Kruͤppel zu ihrem
Ungluͤck in die Welt geſetzet haſt? weil du ihnen
ein Leben gegeben haſt, das ſie nicht ihrem Ver-
walter (deſſen Bauer du nicht ſeyn willſt) ſondern
dem Cliſtir-Spruͤtzer zu dancken haben? Sollen
deine Nachkommen, wenn ſie anders im Stande
ſind Kinder zu zeugen, ſolche Kinder in die Welt
bringen, die ſich wider von Geſchlecht zu Geſchlecht
den Fluch ihrer Nachkommen dadurch zuziehen,
weil jene ihnen ihr Daſeyn zu dancken haben?


So gottlos wir in den Augen der vernuͤnftigen
Welt ſind, ſo haben wir doch den Theil unſerer
Seele, der Gewiſſen heißt, nicht gantz verlohren.
Die Religion verdammet uns zwar, allein wir ha-
ben uns doch noch nicht unterſtanden, eine neue
Religion, die unſern Sitten gemaͤß iſt, zu erdencken.
Wir verachten die, welche die Religion umſtuͤrtzen
wollen; und wir wiſſen zu viel von der Religion,
als daß wir ſie ſollten in Zweifel ziehen koͤnnen.
Wir glauben insgeſamt kuͤnftige Strafen und Be-
lohnungen: und wir hoffen nur, weil wir jung und
geſund ſind, daß wir noch Zeit genug zu der Buſſe
haben. Das heißt ſo viel, als: wir wollen unſere
Sinnen vergnuͤgen, ſo lange dieſe eines Vergnuͤgens
faͤhig ſind, und wir wollen uns beſſern, wenn wir
nicht mehr ſuͤndigen koͤnnen. (Wirf mir nicht vor,
daß ich allzu ernſthaft dencke. Du haſt auch biswei-
len ernſthafte Gedancken, ob ſie dich gleich nicht oft
uͤberfallen.)


Soll
[382]

Soll dieſes bewunderns-wuͤrdige Frauenzimmer
deswegen ungluͤcklich ſeyn, weil es deine Beſſerung
wuͤnſchet und befoͤrdert, und weil es Proben davon
fodert, ehe es ſich an dich verſchencken will?


Jch wuͤnſche dir, daß du alles wohl uͤberlegeſt,
ehe du auf dem Wege, den du erfunden haſt, einen
Schritt weiter geheſt. Bis auf dieſe Stunde iſt
noch nichts verſehen: wenn die Fraͤulein einen Arg-
wohn gegen dich hat, ſo kann ſie ihn doch auf keinen
Beweiß gruͤnden. Sey ehrlich gegen ſie, und
zwar in dem Verſtande, in dem ſie das Wort nimt.
Keiner von der Bruͤderſchaft wird dich daruͤber aus-
lachen: und wenn ſie auch daruͤber lachten, daß du
in einen Stand tritſt, uͤber den du und wir ſo oft
geſpottet haben, ſo haſt du doch den Vortheil, daß
es dir ohnmoͤglich iſt, dich zu ſchaͤmen.


Jch wollte meinen Brief nicht zuſiegeln, bis daß
es Poſt-Tag waͤre. Es findet ſich aber ein Schrei-
ben in Osgoods Hauſe an die Fraͤulein. Es iſt
mir vor zwey Stunden zugeſchickt und hat ein Har-
lowiſches
Siegel. Weil es vielleicht von Wich-
tigkeit ſeyn kann, ſo uͤberſende es nebſt den meinigen
durch meinen Bedienten, der Courier-Baß reiten
ſoll. *) Jch hoffe du wirſt bald in London ſeyn,
allein ohne die Fraͤulein. Lebe wohl.


Sey ehrlich und ſey gluͤcklich.



J. Belford.


Der
[383]

Der funfzigſte Brief
von
Frau Hervey an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.


Eine Antwort auf den ſieben und viertzigſten Brief.


Allerliebſte Fraͤulein Baſe!

Es wuͤrde hart ſeyn, wenn ich einer Perſon, die
ich ſtets geliebet habe, und die eine Antwort
verlanget, nicht einige Zeilen antworten wollte. Jch
habe Jhren vorigen Brief richtig erhalten; allein
es war mir nicht erlaubt ihn zu beantworten; und
jetzt thue ich es wider mein Verſprechen.


Wir erhalten taͤglich wunderliche Nachrichten
von Jhnen. Es ſoll keine Stunde vorbey gehen,
in der ſich Herr Lovelace nicht uͤber die Jhrigen
aufhaͤlt, und uͤber ſeinen Sieg frohlocket. Muͤſ-
ſen nicht dieſe Nachrichten Jhre Sachen verſchlim-
mern? Sie wiſſen, daß bey Lovelacen nichts aus-
zurichten iſt: er hat ſeine Leidenſchaften lieber als
Sie, ob Sie gleich ſo viele Vollkommenheiten be-
ſitzen. Jch habe Sie genung gewarnet: kein jun-
ges Frauenzimmer iſt fleißiger gewarnet worden.
Wer haͤtte dergleichen von der Fraͤulein Clariſſa
Harlowe
dencken ſollen.


Sie haͤtten ſich vor Jhren verſammleten Anver-
wanten nicht ſo ſehr fuͤrchten duͤrfen. Wenn Jhre
Abneigung unuͤberwindlich geweſen waͤre, ſo wuͤrde
man Jhnen nachgegeben haben. Sobald ich ſelbſt
die-
[384]
dieſes Geheimniß wußte, lies ich mich, obgleich auf
eine verſteckte Weiſe, etwas davon gegen Sie mer-
cken. Allein wer haͤtte auf das dencken ſollen, was
erfolget iſt? O Fraͤulein was ſoll ich zu einer ſo kuͤnſt-
lich veranſtalteten Flucht und zu allen Jhren liſti-
gen Vorbereitungen ſagen?


Sie wollen uns ein mehreres Licht in der Sache
geben. Allein was kann fuͤr ein Licht darin ge-
geben werden? Sind Sie nicht aus ihres Vaters
Hauſe geflohen? und dieſes noch dazu mit Lovela-
cen?
Jſt es moͤglich dieſes durch Anfuͤhrung eini-
ger Umſtaͤnde zu entſchuldigen?


Sie ſagen, Sie haͤtten nicht den Vorſatz gehabt
davon zu gehen. Allein warum kamen Sie denn
zu ihm? Warum ſtand ein Wagen mit ſechs
Pferden und etlichen Beyreutern da? O mein
Kind, eine Liſt gebiehrt die andere Liſt. Wer wird
Jhnen glauben? Und wenn man Jhnen glaubte,
wie viel Gewalt muͤßte er denn uͤber ihr Gemuͤth
gehabt haben? Er, Lovelace, ein Boͤſewicht
uͤber alle Boͤſewichter? Was mußte der bey einer
Clariſſa Harlowe gegolten haben? War Jhre
Liebe zu ihm ſo ſtarck, daß ſie Jhre Vernunft be-
taͤuben konnte? daß ſie Jhren Vorſatz aͤnderte?
Wuͤrde es Jhnen Ehre bringen, wenn man das
glaubte? Wie ſoll man aber geſchehene Dinge wie-
der gut machen? Wenn Sie doch nur den ſo fuͤrch-
terlichen Tag abgewartet haͤtten.


Jch will Jhnen melden, was an dieſem Tage,
den Sie ſich ſo fuͤrchterlich vorſtellen, vorgefallen
ſeyn wuͤrde.


Man
[385]

Man glaubte in der That nicht, daß Sie ſich
dem Befehl Jhres Vaters widerſetzen wuͤrden. Er
war entſchloſſen ſich auf das aͤuſſerſte gegen Sie he-
runter zu laſſen, wenn Sie Jhn nur nicht wieder
von neuen zum Unwillen reitzten. Noch wenige
Stunden vorher, ehe er die Zeitung bekam, die bey-
nahe ſein Todt geweſen waͤre, ſagte er: ich habe
meine Claͤrchen Harlowe lieb. Jch habe Sie
ſo lieb als mein Hertz. Jch will Jhr zu Fuͤſſen fal-
len und vor ihr nieder knien, wenn ich Sie durch
kein anderes Mittel erweichen kann.


Sie ſehen alſo daß ſich alles wuͤrde umgekeh-
ret haben, und daß Jhre Eltern Jhnen wuͤr-
den zu Fuͤſſen gefallen ſeyn. Wenn Sie aber den-
noch nein geſagt, und ſich gewegert haͤtten die ſchon
aufgeſetzte Eheſtiftung zu unterſchreiben: ſo wuͤrden
Jhre Eltern, ob gleich nicht ohne Betruͤbniß nach-
gegeben haben.


Allein man hoffete von Jhrem artigen und nach-
gebenden Gemuͤth, daß die bloſſe Abneigung gegen
den einen Freyer Sie nicht zum Ungehorſam wuͤrde
verleitet haben, wenn Sie nicht zugleich eine ſtaͤr-
kere Zuneigung zu dem andern haͤtten als man da-
mahls glauben konnte.


Haͤtten Sie ſich aber dennoch gewegert, ſo wuͤr-
de der Mittewochen nicht der ſchwereſte Tag vor
Sie geweſen ſeyn. Es wuͤrde weiter nichts geſche-
hen ſeyn als dieſes: ſie ſollten allen Jhren Freun-
den vorgeſtellet, und dabey geſagt werden: Sie waͤ-
ren das bisher vollkommen artige, gehorſame,
gefaͤllige Kind, das ſich jetzt ruͤhmen koͤnnte uͤber den
Willen ſeiner guͤtigen Eltern und Onckles und uͤber
Dritter Theil. B bdie
[386]
die Abſichten und Vortheile der Familie einen aus-
nehmenden Sieg erhalten zu haben: das ſeine Mei-
nung der Meinung aller andern vorgezogen haͤtte,
und zwar blos um des aͤuſſern Anſehns willen, da
ſonſt das Gemuͤth der beyden Freyer und ihre Auf-
fuͤhrung nicht mit einander zu vergleichen ſey.


Wenn man Jhnen ſo weit nachgegeben und viel-
leicht Jhre Eltern Jhnen vorher ihren Seegen er-
theilet haͤtten, ſo wuͤrde Jhre Mutter auf die nach-
druͤcklichſte Art alle billige Ahndungen Jhres Un-
gehorſams verbeten haben. Man wuͤrde hierauf
von Jhrem edlen Hertzen das als eine Gefaͤlligkeit
begehret haben, was Sie aus Gehorſam nicht thun
wollten. Es wuͤrde Jhnen eine halbe Stunde Be-
denckzeit gegeben ſeyn und man wuͤrde die Perſon
die Jhnen am wenigſten misfaͤllig geweſen waͤre
ausgeſucht haben, Jhnen in Begleitung Jhres Va-
ters von neuen die Eheſtiftung zur Unterſchrift zu
uͤberreichen. Vielleicht haͤtte Frau Norton dieſe
Muͤhe uͤbernehmen muͤſſen. Wenn die Antwort
abermahls abſchlaͤglich geweſen waͤre, ſo wuͤrden Sie
von neuen in den Saal gefuͤhrt ſeyn, damit Sie in
Gegenwart aller Jhrer Verwanten Jhre Erklaͤ-
rung thun moͤchten. Man wuͤrde freilich einige Zu-
ſagen von Jhnen verlanget haben, dazu Sie ehe-
mahls ſich geneigt erklaͤrt hatten. Sie wuͤrden end-
lich mit mir oder mit Jhrem Onckle Anton gerei-
ſet ſeyn, (denn dieſes war noch nicht ausgemacht,
weil man gewiß hoffete, Sie wuͤrden gehorſam
ſeyn) um bey uns zu bleiben, bis der Obriſte Mor-
den
eintraͤffe, oder bis es Jhrem Vater ertraͤglich
waͤre,
[387]
waͤre, Sie wieder in ſeinem Hauſe zu ſehen, und
man gewiß erfahren haͤtte, daß Lovelace ſeine
Hoffnung verlohren gebe.


Da dieſes der Endzweck war, und Jhr Vater
ſich eine ſo gewiſſe Hoffnung gemacht hatte, daß
ſeine gehorſame Clariſſe nachgeben wuͤrde, wenn
er ſo glimpflich mit ihr verfuͤhre: ſo iſt es nicht zu
verwundern, daß er gantz auſſer ſich kam, und bey-
nahe alle Gedancken verlohr, als er die erſte Nach-
richt von Jhrer Flucht erhielt, von einer Flucht,
die Sie ſo ſorgfaͤltig veranſtaltet hatten, und die zu
verbergen Sie in der Laube geſpeiſet und mir ſo man-
chen blauen Dunſt vorgemacht hatten. Unartiges,
unartiges Kind!


Weder ich noch mein Mann wollten es zu An-
fang glauben: ſondern wir erwarteten, oder wir
fuͤrchteten, daß Sie ſich durch ein viel ſchreckhafte-
res Mittel zu retten geſucht haͤtten. Sie verſtehen
mich wohl: es iſt nur Ein ſchreckhafteres Mittel
moͤglich. Jch verlangte, man ſollte ſich nicht bey
der Hinter-Thuͤr des Gartens ſondern bey der Caſ-
cade nach Jhnen umſehen. Jhre Mutter wußte
nicht, welches von beyden ſie befuͤrchten ſollte, und
fiel in dieſer zwiefachen Furcht in Ohnmacht. Jhr
Vater, (der arme Vater!) wußte beynahe eine gan-
tze Stunde nicht, was er that oder redete. Jhr
Nahme iſt ihm bis auf dieſe Stunde unertraͤglich,
und dennoch kann er an niemand als an Sie geden-
cken. Jhre Tugenden machen Jhre Suͤnde ſchwe-
rer: und beynahe alle Stunden kommen Nachrich-
B b 2ten,
[388]
ten, die Jhre Sache verſchlimmern. Wie iſt bey
ſolchen Umſtaͤnden eine Verſoͤhnung moͤglich?


Es thut mir leyd, daß ich es Jhnen melden muß:
allein ich fuͤrchte, daß nicht eine eintzige Jhrer Bit-
ten Jhnen gewaͤhrt werden wird.


Warum verlangen Sie, daß andere Jhnen
Jhren Verdruß erleichtern ſollen? Sie ſind ſelbſt
Schuld daran, wenn Sie gekraͤnckt werden, weil
Sie mit einer Manns-Perſon davon gegangen ſind.
Jſt es nicht ein ſonderbarer Hochmuth, daß Sie
ſich uͤber ſo verſchuldete Kraͤnckungen beſchweren?


Jch unterſtehe mich nicht den Mund zu Jhrer
Vertheidigung auf zu thun. Jhr Brief muß ſich
ſelbſt verantworten: und in dieſer Abcht habe ich
ihn nach Harlowe-Burg geſchickt. Machen Sie
ſich demnach nur zum voraus auf die haͤrteſte Ant-
wort gefaßt. Jch wuͤnſche Jhnen Standhaftigkeit,
ihr ſelbſt-gewaͤhltes Ungluͤck zu ertragen. Wie
ungluͤcklich haben Sie uns alle gemacht! Koͤnnen
Sie hoffen gluͤcklich dabey zu ſeyn? Jhr Vater
wuͤnſcht, daß Sie nie gebohren waͤren! Jhre arme
Mutter ‒ ‒ Doch warum ſoll ich Sie kraͤncken?
die Sache ſtehet doch nun nicht zu aͤndern. Sie
muͤſſen ſich aber gantz geaͤndert haben, wenn Jhr
nachdenckendes Gemuͤth Sie jetzt nicht bey Ueberle-
gung der kuͤnſtigen Folgen martert.


Sie muͤſſen ſich jetzt in Jhre Umſtaͤnde ſchicken,
ſo gut Sie koͤnnen. Es ſcheint aber, daß Sie noch
unverheyrathet ſind!


Sie ſchreiben; es ſey noch in Jhrer Macht, alle
Bedingungen einzugehen, die man von Jhnen fo-
dern
[389]
dern koͤnnte. Vielleicht betriegen Sie ſich. Sie
hoffen, daß es nicht ohnmoͤglich ſey, Jhren guten
Nahmen, und die Wohlgewogenheit der Jhrigen
wieder zu erlangen. Beydes zuſammen werden
Sie nie wieder erhalten; und ſchwerlich eins von
beyden. Alle die Perſonen, die Sie beleidiget
haben, d. i. alle Jhre Anverwanten die Sie ehe-
mahls liebeten, muͤſſen erſt unter einen Hut gebracht
werden, ehe ſie wieder angenommen werden koͤn-
nen. Jſt es moͤglich, daß dieſes jemahls geſchehe,
nachdem Jhre Vergehung einem jeden in die Au-
gen leuchtet?


Es wuͤrde Jhnen leyd thun, ſchreiben Sie, wenn
Sie zu ſolchen Veraͤnderungen gezwungen wuͤrden,
die die Ausſoͤhnung unmoͤglicher machten. Jſt es
nun erſt Zeit fuͤr Sie, dergleichen zu befuͤrchten?
Jetzt iſt es ohnmoͤglich, an eine Verſoͤhnung zu ge-
dencken, wenn ſie auch kuͤnſtig moͤglich werden koͤnn-
te. Man muß erſt ſehen, was aus Jhrer vorigen
Uebereilung fuͤr Fruͤchte entſtehen. Es iſt nicht
ohnmoͤglich, daß noch Blut daruͤber vergoſſen wird.
Wird der Menſch in deſſen Gewalt Sie ſich befin-
den, Sie ohne ſich zur Wehre zu ſetzen fahren laſ-
ſen? Wenn er dieſes nicht will, ſo mag ich an die
Folgen nicht gedencken. Will er es aber thun, ſo
ſcheue ich mich an das vorhergehende, und an die
Urſachen die ihn dazu bewegen, zu gedencken. Jch
will den Gedancken verbannen, weil mir Jhr tu-
gendhaftes Hertz bekannt iſt. Allein ich frage Sie,
ſind Sie nicht von allem Schutz entbloͤſſet? Sind
Sie nicht unverheyrathet? Haben Sie nicht ſelbſt,
B b 3gera-
[390]
gerade wider den Jnhalt Jhres taͤglichen Gebets,
ſich in Verſuchung geſtuͤrtzt? Sind Sie nicht bey
dem aͤrgſten und liſtigſten Schelm, der in der Welt
ſeyn kann?


Sie erklaͤren ſich ſo guͤnſtig von Lovelacen,
daß Sie bisher an ſeiner Auffuͤhrung nichts tadel-
haftes wollen gefunden haben. Jch will nicht unter-
ſuchen, wie ſich dieſe Erklaͤrung zu Jhrer vorgege-
benen Reue ſchicke. Allein Caͤſar faͤllt mir dabey
ein, den der Wahrſager vor dem funfzehnten Maͤrtz
gewarnet hatte. Als er nach dem Rath-Hauſe
ging, und den Wahrſager unter einer Menge Volcks
ſtehen ſahe, rieff er ihm zu: der funfzehnte Maͤrtz
iſt da. ‒ ‒ ‒ Aber noch nicht voruͤber!
ant-
wortete jener. Machen Sie hievon die Anwendung.
Jch wuͤnſche, daß Sie immer ſeine Auffuͤhrung
moͤgen ruͤhmen koͤnnen, und daß er ſich gegen Sie
beſſer auffuͤhre, als gegen alle andere, die er je in
ſeiner Gewalt gehabt hat. Amen!


Jch bitte Sie, antworten Sie mir nicht. Jch
hoffe, daß Jhr Bote niemanden etwas davon ſa-
gen wird, daß ich geſchrieben habe: am wenigſten
werden Sie meinen Brief Herrn Lovelacen zei-
gen, denn ich habe mich deſto weniger im Schrei-
ben in Acht genommen, weil ich mich auf Jhre
Vorſichtigkeit verließ.


Jch werde aber nie aufhoͤren, fuͤr Sie zu beten.


Dorthchen weiß nicht, daß ich ſchreibe. Nie-
mand weiß es, ſelbſt mein Mann nicht. Dorthchen
hat einigemahl ſchreiben wollen. Weil ſie aber
Jhr Vergehen einigemahl ſehr hitzig und partheyiſch
gerecht-
[391]
gerechtfertiget hat, ſo daß wir alle daruͤber ſtutzig
wurden, (koͤnnen Eltern ohne Sorgen wegen ihrer
Tochter ſeyn, wenn ſich eine Clariſſe vergehet?)
ſo iſt ihr aller Briefwechſel mit Jhnen bey Verluſt
unſerer Liebe verboten worden. Es iſt dieſes auf
Befehl meines Mannes, und auf Verlangen Jh-
rer Familie geſchehen.


Jndeſſen betet das arme Maͤdchen alle Stunden
fuͤr Sie. Dieſer Vorbitte kann ich Sie ohne
meiner Tochter Wiſſen verſichern, und der Vor-
bitte


Freytags den
21ten April.
Jhrer bekuͤmmerten Baſe
D. Hervey.



Der ein und funfzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.


(Der vorhergehende war mit beygelegt.)



Beyliegenden Brief habe ich eben von der Frau
Hervey erhalten. Laſſen Sie aber niemand
etwas davon erfahren, daß ſie an eine ungluͤckliche
und unverſtaͤndige Baſe geſchrieben hat.


Jch ſehe, daß ich meiner Freunde wegen nach Lon-
don
oder in die weite Welt gehen kann. Niemand
bekuͤmmert ſich darum, was aus mir wird. Jch woll-
te meine Reiſe aufſchieben, bis ich von Hauſe Nach-
richt bekaͤme: und wenn ich einige Hoffnung zu einer
B b 4Aus-
[392]
Ausſoͤhnung gehabt haͤtte, ſo wollte ich dem Men-
ſchen zeigen, daß ich nicht gantz in ſeiner Gewalt
waͤre, und daß er ſich zum wenigſten nach mir rich-
ten muͤßte, wenn er mich haben wollte. Allein nun
ſehe ich, daß ich die ſeinige werden muß, ich mag
wollen oder nicht, und daß ich vielleicht noch em-
pfindlicher gekraͤnckt werden ſoll, als es bisher ge-
ſchehen iſt. Durch ein ſo unerbittliches Verhaͤng-
niß muß ich einem Manne zu Theil werden, mit
dem ich im hoͤchſten Grad misvergnuͤgt bin.


Mein Brief iſt jetzt zu Harlowe-Burg. Das
Hertz ſchlaͤget mir, wenn ich daran gedencke, wie
er aufgenommen ſeyn wird. Dieſes eintzige iſt
mein Troſt, daß meine Frau Baſe ſich durch deſſen
Ueberſendung voͤllig aus dem Verdacht bringen
wird, als wechſelte ſie mit der uͤngluͤcklichen und ver-
worfenen Tochter Briefe. Es iſt kein geringer Theil
meines Ungluͤcks, daß um meinet willen zwiſchen
meinen Freunden Verdacht und Kaltſinnigkeit ent-
ſtehet. Meine arme Baſe, die Dorthchen, em-
pfindet dieſes eben ſo wohl als ihre Mutter. Sie
ſelbſt empfinden die unangenehmen Folgen meiner
Thorheit, da Sie um meinet willen mehr Wort-
wechſel mit Jhrer Frau Mutter gehabt haben, als
vielleicht in Jhrem gantzen Leben. Und dennoch ſoll
ich an den verſchwendet werden, der die Urſache alles
dieſes Ungluͤcks iſt. Jch ſtellete mir zwar zum vor-
aus viele ungluͤckliche Folgen meiner Suͤnde vor:
allein nie ſo viele, als ſie wircklich gehabt hat.


Jch muß nun erfahren, daß mein Vater eine
Stunde vor meiner Flucht ſeine Liebe gegen mich
auf
[393]
auf eine ſo zaͤrtliche Art bezeuget hat: daß er ſich
ſo weit zu mir herablaſſen wollen: daß er ‒ ‒ ‒ Wie
zaͤrtlich iſt das, was folget! und wie empfindlich
kraͤncket mich dieſe Zaͤrtlichkeit! Meine Baſe
brauchte kein Geheimniß daraus zu machen, daß ſie
einen ſolchen Brief an mich geſchrieben hat. Der
Vater will ſeiner Tochter zu Fuſſe fallen, und auf
den Knieen bitten! Der Anblick wuͤrde mir uner-
traͤglich geweſen ſeyn: ich weiß gewiß nicht, was ich
in dem Falle gethan haben moͤchte. Der Tod wuͤrde
mir angenehmer geweſen ſeyn, als eine ſolche Vor-
bitte meines Vaters fuͤr den Freyer, der mir der
eckelhafteſte in der Welt war. Allein ich haͤtte
verdienet, in mein altes Nichts verwandelt zu wer-
den, wenn ich meinen Vater auf den Knieen haͤtte
eine vergebliche Bitte thun laſſen.


Wenn ich nichts haͤtte zu verleugnen gehabt, als
die Zuneigung gegen einen andern, und das aͤuſſere
Anſehen, ſo wuͤrde es keines Knieens bedurft haben,
ſondern der Gehorſam ſollte meine Neigung leicht
beſieget haben. Allein ein ſo natuͤrlicher und unuͤ-
berwindlicher Abſcheu: das Hohngelaͤchter meines
grauſamen und unertraͤglichen Bruders und mei-
ner neidiſchen Schweſter: die ſo heilig verſproche-
nen Pflichten des Eheſtandes, und die allerinnigſte
Vertraulichkeit; (nehmen Sie mir nicht uͤbel, daß
ich an eine Folge der Verheyrathung dencken mußte,
die ſich das reineſte Gemuͤth vorſtellen muß) meine
Vorſtellung von der Unverbruͤchlichkeit aller Ver-
ſprechungen, ſonderlich derer in die wir gewilliget
haben: waren allzu ſtarcke Hinderniſſe. Wuͤrde
B b 5es
[394]
es recht geweſen ſeyn, wenn ich ſeine eckelhafte Hand
angenommen haͤtte? wenn ich in eine ſo unnatuͤrli-
che Verbindung gewilliget haͤtte? in eine Verbin-
dung, die ſich nicht eher als mit dem Leben endigen
ſollte? Wenn ich weniger Ueberlegung angewandt
haͤtte, als andere in meinem Alter, ſo moͤchte ich
vielleicht gehorſamer geweſen ſeyn. Eine empfind-
liche Zaͤrtlichkeit des Gemuͤths, Nachdencken und
Ueberlegung, ſind in dem Grade, in dem ich ſie ha-
be, kein Gluͤck, und ſie haben mir wenig Vergnuͤ-
gen erwecket. Jch wuͤnſchte, daß ich bey einigen
Umſtaͤnden nicht gewußt haͤtte, was Empfindlichkeit
iſt, ohne daß meine Ungewißheit dabey haͤtte koͤnnen
angeklaget werden. Wenn ich ein zaͤrtliches Ge-
muͤth habe, ſo iſt gewiß ein zaͤrtliches Gemuͤth kein
Mittel zur Gluͤckſeeligkeit.


Was haben die Meinigen fuͤr Kuͤnſte bey mir
gebrauchen wollen! Es ſind gewiß meines Bruders
Anſchlaͤge geweſen. Jch glaube, er hat mich der
gantzen Verſammlung als die ungehorſame Toch-
ter vorſtellen ſollen, die ihren Willen dem Willen
aller ihrer Freunde vorzoͤge. Es wuͤrde zwar eine
harte und unangenehme Verſuchung geweſen ſeyn:
ich wuͤnſchte aber, daß ich ſie erwartet haͤtte, es
moͤchte auch der Ausgang noch ſo ſchlimm geweſen
ſeyn.


Meine Frau Baſe ſchreibt: es koͤnnte noch
Blut vergoſſen werden:
Scheint das nicht auf
Singleton zu gehen? GOtt wende ſolche Fruͤchte
meines Vergehens ab.


Sie
[395]

Sie verbannet gewiſſe Gedancken, die mir noch
unertraͤglicher ſind. Grauſame Gedancken! Sie
muß von meiner Tugend, die ſie mir aus Hoͤflich-
keit zuſchreibet, eine ſehr geringe Meinung haben,
wenn ſie glaubt, daß ich nicht durch Gottes Gna-
de uͤber Verſuchungen von der Art hinweg bin.
Jch habe zwar auſſer Lovelacen noch keine Manns-
Perſon geſehen, deren Geſtalt mir gefallen haͤtte:
allein ſeine uͤble Auffuͤhrung machte, daß ich ſelbſt
die Gleichguͤltigkeit gegen ihn, deren ich mich ruͤhm-
te, vor keine beſondere Tugend anſehen konnte.
Nun ich ihn aber naͤher kenne, habe ich weniger
Zuneigung zu ihm, als jemahls. Er hat mir war-
lich nie weniger gefallen, als jetzund. Wenn ich
ihn nicht ſchon jetzund haſſe, ſo glaube ich doch,
es ſollte mir leichter werden, ihn zu haſſen,
als irgend einen Menſchen in der Welt, von dem
ich jemahls eine mittelmaͤßig-gute Meinung ge-
habt habe. Denn ich habe mich durch ihn in
meiner Hoffnung am meiſten betrogen gefunden, ob-
gleich meine Hoffnung ſelbſt ihm nie ſo guͤnſtig ge-
weſen iſt, daß ich ſeine Geſellſchaft dem ledigen
Stande vorgezogen haben wuͤrde, wenn mir freye
Wahl gelaſſen waͤre. Wenn noch jetzt eine ewige
Loſſagung von ihm ein Schritt zu meiner Ausſoͤh-
nung ſeyn kann, und die Meinigen mir dieſes zu
verſtehen geben, ſo ſollen ſie ſehen, daß ich nicht
die Seinige werden will; denn ich bin ſo hochmuͤthig
daß ich glaube, ich habe eine edlere Seele als er.


Sie werden ſagen, ich wuͤſte vor Verdruß nicht
was ich ſchreibe. Da mir meine Baſe verboten hat
ferner
[396]
ferner an ſie zu ſchreiben, und mir alle Hoffnung
zur Verſoͤhnung zu benehmen ſucht; ſo kann ich nicht
unterlaſſen, Sie durch meine unruhigen Grillen
zu beunruhigen. Mit was vor einem Boͤſewicht
habe ich mich um die geſetzte Zeit unterredet? und
mir dadurch ohnmoͤglich gemacht, vor der Ver-
ſammlung meiner Anverwanten zu erſcheinen? Es
wuͤrde nun alles ſchon voruͤber ſeyn, wenn ſich aber
meine jetzige Noth endigen werde, das mag GOtt
wiſſen. Vielleicht waͤre ich beyder Freyer los, und
befaͤnde mich bey der Frau Hervey oder bey mei-
nem Onckle Anton, und erwartete den Obriſten
Morden mit Schmertzen, der den Frieden der Fa-
milie voͤllig wider herſtellen koͤnnte.


Jch hatte in der That den Vorſatz alles abzuwar-
ten, was die Meinigen beſchließen moͤchten. Waͤre
dieſes geſchehen, ſo weiß ich freylich nicht, was ich
jetzt fuͤr einen Nahmen unter dieſen Brief ſchreiben
muͤßte. Denn wie haͤtte ich koͤnnen meinen Vater
vor mir auf den Knieen liegen ſehen, wenn er ſich
nicht haͤtte vom Zorn uͤbernehmen laſſen?


Meine Baſe ſchreibt: er wuͤrde nachgegeben ha-
ben, wenn ich unbeweglich geweſen waͤre. Viel-
leicht haͤtte er ſich durch meine demuͤthigen Bitten
erweichen laſſen, ehe er ſich noch auf eine ſo wi-
derſinniſche Art vor mir gedemuͤthiget haͤtte. Die
Gelaſſenheit, mit der er ſich vorgenommen hatte
mir zu begegnen, und der Vorſatz, dennoch endlich
nachzugeben, waren guͤnſtige Umſtaͤnde fuͤr mich,
die ich nuͤtzlich haͤtte gebrauchen koͤnnen: ſie dienen
jetzt zur Entſchuldigung der Meinigen, und zu ei-
ner
[397]
ner Anklage wider mich. Warum gab mir aber
Frau Hervey dieſes auf eine ſo ſehr dunckle Art
zu verſtehen? Jch erinnere mich nun wohl, wor-
auf ſie zielet. Vielleicht haͤtte ſie ſich deutlicher er-
klaͤret, wenn ich meinen Vorſatz gemaͤß von der
Unterredung zuruͤck gekommen waͤre. Oder liſtige
Lovelace! Jch muß es aber nochmahls ſagen: ich
habe die meiſte Schuld an meinem Ungluͤck, weil
ich ihm mein unrechtmaͤßiges Verſprechen gehal-
ten habe.


Die unnuͤtzen Beſchuldigungen anderer ſollen
weit von mir verbannet ſeyn. Deſto weiter ſollen
ſie verbannet ſeyn, weil ſie unnuͤtz ſind. Das ein-
tzige womit ich mich troͤſten und entſchuldigen kann,
iſt meine Abſicht, die gewiß nicht fehlerhaft geweſen
iſt. Weil es jetzt zu ſpaͤt iſt, das zu uͤberlegen,
was ich ehemahls haͤtte thun ſollen, ſo will ich
allen Muth ſammlen, und mit ſo unerſchrockenen
Hertzen als es mir moͤglich iſt, erdulden, daß die
erzuͤrnte Vorſicht ihre Pfeile, denen ich nicht entge-
hen kann, auf mich ſchieſſet. Es mag uͤber mich
auf das ſchlimmeſte verhaͤnget werden, ſo will ich
ſuchen, mich dabey unbefleckt zu bewahren, und [...]
zu meiner Beſſerung anzuwenden.


Helfen Sie mir dieſen Seegen nicht allein aus
Liebe gegen mich ſondern auch um Jhrer eigenen
Ehre willen erbitten. Denn ſonſt koͤnnte leicht das
Verſehen Jhrer Freundin in den Augen der tadel-
ſuͤchtigen Welt unſere gantze Freundſchaft ſchwartz
machen: unſere Freundſchaft, ſage ich, die nicht
leiblich
[398]
leiblich noch leichtſinnig, ſondern eine uͤberlegte Ver-
einigung unſerer Gemuͤther iſt, und unſere Beſſe-
rung und die Beobachtung aller wichtigeren und ge-
ringeren Pflichten zum Zweck hat.


Clariſſa Harlowe.



Der zwey und funfzigſte Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Omeine beſte und eintzige Freundin, nun hat
mein Hertz den toͤdtlichen Stoß bekommen,
von dem es ſich nie wieder erhohlen wird. Hoͤren
Sie auf, Briefe mit einer Perſon zu wechſeln, wel-
che die Rache aufgezeichnet zu haben ſcheinet. Denn
wie kann es anders ſeyn, als daß ich ein Opfer der
Rache werde, wenn anders der vaͤterliche Fluch ſo
viel Kraft hat, als ich ihm immer zuzuſchreiben
pflegte, und an ſo manchen traurigen Exempeln,
die mir erzaͤhlet ſind, wahrgenommen habe. Ueber
alles mein anderes Ungluͤck habe ich noch die Folgen
eines vaͤterlichen Fluches zu erwarten. Wie ſoll
ich es machen, daß ich unter dieſen Gedancken nicht
erliege? ſonderlich da meine bisherigen und jetzigen
Umſtaͤnde mich allzu ſehr berechtigen, alle Folgen
dieſes Fluches zu erwarten.


Jch habe endlich einen Brief von meiner unver-
ſoͤhnlichen Schweſter erhalten. Jch wuͤnſchte, daß
ich
[399]
ich durch meinen zweyten Brief an die Frau Her-
vey
keine Gelegenheit zu deſſen Abſendung gegeben
haͤtte. Es ſcheint, der Brief hat ſchon laͤnger fuͤr
mich dagelegen; und der Blitz ſchlief gleichſam,
bis ich ihn aufweckete. Jch lege den Brief ſelbſt
bey, denn es iſt mir ohnmoͤglich ihn abzuſchreiben.
Es iſt mir nicht moͤglich an ſeinen Jnhalt zu geden-
cken; denn (o was fuͤr ein fuͤrchterlicher Gedancke)
der Fluch erſtrecket ſich noch weiter als auf dieſes
Leben.


Jch ringe mit der Verzweifelung. Jch kann
weiter nichts ſagen, als: fliehen, meyden. Entſagen
Sie Jhrer verbanneten Freundin; und wechſeln
Sie keine Zeile mehr, mit


Jhrer
Cl. Harlowe.



Der drey und funfzigſte Brief
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.

Jn Osgoods Hauſe bey Soho-Squaͤre abzugeben.



Man erwartete, daß Jhr zum zweyten mahl an
mich oder an meine Baſe die Frau Her-
vey
ſchreiben wuͤrdet: und darauf hat der einlie-
gende Brief auf Befehl meiner Eltern gewartet.
Jhr moͤget kuͤnftig ſchreiben ſo oft, und an wen Jhr
wollet, ſo werdet Jhr nie wieder eine Zeile bekom-
men, was auch irgend der Jnhalt Eurer Briefe
ſeyn koͤnnte.


Es
[400]

Es kam zuerſt in Vorſchlag, Euch durch Huͤlfe
der Obrigkeit zuruͤck zu bringen, und an einen ſol-
chen Ort zu ſchicken, da der Schimpf, den Jhr
Euch und uns gemacht habt, am erſten in Vergeſ-
ſenheit gerathen koͤnnte. Allein ich glaube, man
hat dieſen Vorſchlag fahren laſſen: Jhr koͤnnt dem-
nach gantz ſicher im Lande herumſtreichen wie Jhr
wollt; niemand wird ſich Eurentwegen einige Muͤhe
machen. Meine Mutter hat Erlaubniß bekommen,
Euch alle Eure Kleider zu ſchicken, nicht aber das
uͤbrige darum Jhr bittet. Jhr werdet aus dem ein-
geſchloſſenen Briefe ſehen, daß dieſe Guͤtigkeit
Euch zuerſt nicht zugedacht war: ſie wird Euch auch
jetzund nicht um Eurentwillen, ſondern um meiner
Mutter willen erzeiget, weil es Jhr unertraͤglich iſt
etwas von euren Sachen vor Augen zu ſehen. Leſet
den eingeſchloſſenen Brief, und zittert.


Arabella Harlowe.


An die ungehorſamſte und undanckbarſte
Tochter.


Ehemahlige Schweſter,

Denn was ihr jetzt vor einen Nahmen tragen
wollt oder tragen duͤrft, das weiß ich nicht.


Jhr habt uns alle in die aͤuſſerſte Verwirrung
geſetzt. Als Euer Vater die erſte Nachricht von
eurer boshafften und ſchaͤdlichen Flucht vernahm,
fiel er bey dem erſten Zorn auf ſeine Knie nieder
und verfluchte euch auf eine fuͤrchterliche Weiſe. Er-
zittert
[401]
zittert bey Leſung dieſes Fluchs, er wuͤnſchte, daß Jhr
in dieſer und in jener Welt durch einen Boͤſewicht
moͤchtet geſtrafet werden, auf dem Jhr euer gottlo-
ſes Vertrauen geſetzt habt.


Jhr werdet Eure Kleider nicht bekommen. Es
ſcheint, daß Jhr ſie deswegen nicht mitgenommen
habt, weil Jhr euch verſichert hieltet, daß man ſie
euch auf den erſten Winck nachſchicken moͤchte. Oder
vielleicht konntet Jhr auf nichts anders dencken, als
wie Jhr Euren Boſewicht ſprechen, und euch ſelbſt
gluͤcklich aus Eures Vaters Hauſe bringen woltet.
Denn es ſcheint, daß Jhr alles vergeſſen habt, was
kein Mittel zu Eurer Flucht war. Doch darin habt
Jhr recht geurtheilet, daß man Euch wuͤrde auf die
Spur gekommen ſeyn, wenn ihr Eure Kleidung
haͤttet in Sicherheit bringen wollen. Eine liſtige
Betriegerin, die keinen Schritt gethan hat, bey dem
man die Spur mercken konnte! Liſtig genug ſeyd
Jhr geweſen, allein bloß Euer Ungluͤck zu befoͤrdern,
und die gantze Familie zu beſchimpfen.


Jſt das Eures Kerls Wille, daß Jhr um Eu-
re Sachen ſchreiben muͤßt? Jch habe es wahrhaf-
tig gerathen.


Wer hat je ein liederlicheres Maͤdchen geſehen?
Und das iſt die ehemahls ſo heilige und bis in den
Himmel erhobene Clariſſa? Clariſſa, wie weiter?
Harlowe? Ohne Zweifel! So heißt Jhr noch, und
ſo werdet Jhr zu unſer aller Schande ewig heiſſen.


Alle eure Gemaͤhlde ſind jetzt herunter genom-
men; Euer Gemaͤhlde in Lebens-Groͤſſe iſt aus Eu-
ren ehemahligen Viſiten-Zimmer weggenommen.
Dritter Theil. C cAlle
[402]
Alle dieſe Gemaͤhlde ſind in Euer Cloſet geſteckt:
dieſes ſoll zugenagelt werden, als wenn es gar nicht
zu dem Hauſe gehoͤrte, da moͤgen dieſe ſchoͤnen
Kunſtſtuͤcke verrotten. Denn wer kan dieſe Koſt-
barkeiten vor Augen ſehen, ohne ſich uͤber Euch zu
aͤrgern? Ehemahls pflegten ſie allen Fremden ge-
zeiget zu werden, damit ſie die unverwesliche Ar-
beit Eurer Haͤnde, und Eure herrliche (*) Geſtalt
(die jetzt im Dreck lieget) bewundern moͤchten.
So verliebt waren die Eltern in ihre Tochter, die
jetzt von ihnen weggelauffen iſt, und dazu ſo viele
und doch ſo wenige Anſtalten gemacht hat.


Mein Bruder hat ein heiliges Geluͤbde gethan,
daß er ſich an Eurem Kerl raͤchen will: und das
nicht Eurentwegen, ſondern um der Familie willen.
Nicht Eurentwegen ſage ich: denn wenn er Euch
jemahls ſehen ſollte, ſo will er Euch nicht anders
als einer gemeinen Hure begegnen, und er glaubt,
daß Jhr noch endlich in dieſen Stand treten werdet.


Mein Onckle Harlowe ſaget ſich auf ewig von
Euch los.


Desgleichen mein Onckle Anton.


Desgleichen meine Baſe Hervey.


Jch entſage Euch auch, Jhr niedertraͤchtiges ver-
worfenes Thier, Jhr Schandfleck einer guten Fa-
milie, und Jhr Eigenthum des ſchaͤndlichſten Boͤſe-
wichts. Wenn Jhr dieſes noch nicht ſeyd, ſo wer-
det Jhr es doch bald werden.


Weil
[403]

Weil Jhr aus euren Buͤchern nicht gelernt habt,
wie Jhr Eure Familie, Euer Geſchlecht und Eure
Erziehung ehren ſollt, ſo werden ſie Euch nicht ge-
ſchicket werden: eben ſo wenig werdet Jhr Euer Geld
und die Juwelen empfangen, die Euch ohne Euer
Verdienſt zugewandt worden. Denn man wuͤn-
ſchet, daß Jhr dereinſt auf den Straßen zu London
moͤget betteln gehen. Wenn Euch dieſes hart vor-
kommt, ſo ſchlaget auf Eure Bruſt, und fraget Euch
ſelbſt, warum Jhr es verdienet habt?


Alle die Herren, denen Jhr aus Stoltz eine ab-
ſchlaͤgige Antwort gegeben habt, (den eintzigen
Herrn Solmes ausgenommen, der doch am mei-
ſten Urſache haͤtte ſich zu freuen, daß Jhr durch Eure
Entlauffung ihn vor den groͤßten Ungluͤck bewahret
habt) frolocken uͤber Eure Schande, und koͤnnen
nun die Urſache errathen, warum Jhr ſie nicht habt
haben wollen. Eure Frau Norton ſchaͤmet ſich
Eurer und beweinet mit Eurer Mutter alle vergeb-
liche Muͤhe, die ſie beyde an Euch und an Eure Er-
ziehung gewendet haben. Kurtz jederman ſchaͤmet
ſich Eurer: niemand aber thut es mehr als


Arabella Harlowe.



Der vier und funfzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



C c 2Faſſen
[404]

Faſſen Sie einen Muth; laſſen Sie ſich nicht
niederſchlagen; verzweifeln Sie nicht, meine
liebe und unvergleichliche Freundin. Gott
iſt gerecht und gnaͤdig, und er wird ſich nicht brau-
chen laſſen, alle uͤbereilte und unmenſchliche Fluͤche-
zu erfuͤllen: ſonſt wuͤrde die Bosheit, der Neid und
alle ſchwartzen Leidenſchaften eines laſterhaften Her-
tzens das Haupt empor heben, und der beſſere Theil
ſeiner Geſchoͤpfe, der ſich vor der Bosheit wuͤrde
buͤcken muͤſſen, wuͤrde in dieſer und in jener Welt
ungluͤcklich ſeyn.


Der Fluch zeiget mir welches Geiſtes Kinder die
Jhrigen ſind, und wie ein groſſes Uebergewichte die
Niedertraͤchtigkeit ſelbſt uͤber die vaͤterliche Liebe
bey ihnen hat. Blos die Wuth, daruͤber, daß ih-
re Abſichten zu nichte gemacht ſind, und zwar Ab-
ſichten die keiner Erfuͤllung werth waren, ſchaͤumet
ſolche Fluͤche aus: Sie brauchen ſich vor nichts an-
ders zu fuͤrchten, als daß der Grimm Jhrer Anver-
wandten ihre eigene Folter werden wird. Gott
kann ohnmoͤglich einen ſolchen verwegenen Fluch
genehm halten, der ſich unterſtehen will ihm ſo gar
in der andern Welt, uͤber die er allein zu befehlen
hat, Geſetze vorzuſchreiben.


Pfuy der Leute! Ein jeder wird auf ſie ausſpeyen,
der davon hoͤret, wie ſehr der boͤſe Schatz ihres Her-
tzens uͤberflieſſet: ſonderlich wenn er weiß, daß ſie
ſelbſt an dem Ungluͤck allein ſchuld ſind, uͤber das ſie
ſich dergeſtalt entruͤſten. Meine Mutter ſelbſten
iſt mit dem gottloſen Briefe nicht zufrieden und hat
mit Jhnen Mitleyden. Sie verlangt von freyen
Stuͤ-
[405]
Stuͤcken, daß ich noch dieſes mahl an Sie ſchreiben
und Sie troͤſten moͤchte: denn ſie ſagt, es jammre
ſie, daß ein ſo edles Hertz als das Jhrige iſt, wel-
ches von ſelbſt ſchon ſo viele Reue uͤber ſeine Ver-
gehungen empfindet, alles Troſtes beraubet werden
ſolle.


Wie ſchreibt Jhre Frau Baſe! Jſt es moͤglich,
daß ſo deutliche Sachen ſollten von einer doppelten
Seite koͤnnen angeſehen werden, und daß beyde
Theile recht oder unrecht haben koͤnnen! doch die
gute Frau iſt gezwungen unrecht zu handeln: und
alle die Jhrigen haben unrecht gehandelt, ſie moͤgen
ſie entſchuldigen, ſo viel ſie wollen. Sie koͤnnen
ſich nicht anders rechtfertigen, als wenn die Eigen-
liebe Gericht haͤlt, und ſie zum voraus entſchloſſen
ſind ſich nicht zu unterſuchen, ſondern ſich frey zu
ſprechen. Hat Jhre liebloſe Frau Baſe, ſo lange
Sie in Jhres Vaters Hauſe waren, Jhnen einige
Hoffnung gemacht, daß man es nicht auf das aͤuſ-
ſerſte werde kommen laſſen? Des zweydeutigen
Winckes deſſen ſie Erwaͤhnung thut, erinnere ich
mich eben ſo wohl als Sie. Allein warum ſollte
Jhnen etwas erfreuliches durch einen Winck zu
verſtehen gegeben werden? Die Frau Hervey
gab vor, daß ſie Sie lieb haͤtte: wie leicht haͤtte ſie
koͤnnen Jhnen durch ein Wort oder durch eine Zeile
im Vertrauen davon Nachricht geben, daß die Jhri-
gen ihre Entſchließung geaͤndert haͤtten, da ſie jetzund
zu Jhren Verdruß ihre Feder ſo ausſchweiffen laͤßt?


Allein kehren Sie ſich nicht an das, was man
jetzt vorgiebt, nachdem es zu ſpaͤte iſt. Man ſieht
C c 3weiter
[406]
weiter nichts daraus, als daß die Jhrigen ſich ſelbſt
ihrer Niedertraͤchtigkeit ſchaͤmen. Das Geheimniß
der Frau Hervey ſoll bey mir bleiben, und ich
wollte ſelbſt nicht gerne, daß meine Mutter es zu
ſehen bekommen moͤchte.


Sie ſehen nun ſelbſt, daß nichts vor Sie uͤbrig
iſt, als alle Bedencklichkeiten zu uͤberwinden, und
bey der erſten guten Gelegenheit zu heyrathen. Ent-
ſchlieſſen Sie ſich hiezu mein Schatz. Jch will
Jhnen einen neuen Bewegungs-Grund dazu geben,
der mich ſelbſt betrifft. Jch habe mich entſchloſſen,
und ich habe ſogar ein Geluͤbde gethan: (werden
Sie ja nicht ungehalten daruͤber meine allerliebſte
Freundin) mich nie zu veraͤndern, ſo lange Jhr
Gluͤck und Ungluͤck noch zweifelhaftig iſt. Selbſt
um meines kuͤnftigen Mannes willen habe ich dieſes
Geluͤbde gethan: denn, wuͤrde ich nicht ungluͤcklich
ſeyn, wenn Sie ungluͤcklich ſeyn? und wie koͤnnte
ein Mann mit mir zufrieden ſeyn, wenn er faͤnde,
daß alle ſeine Freundlichkeit und Liebkoſungen nicht
im Stande waͤren, mir den Verdruß zu benehmen,
den er mir doch nicht verurſachet hat?


Wenn ich an Jhrer Stelle geweſen waͤre, ſo
wuͤrde ich Herrn Lovelacen den garſtigen Brief
meiner Schweſter gezeiget haben. Jch lege
ihn wieder bey: unter meinem Dache ſoll ein ſolches
Ungeheuer keinen Platz finden. Wenn Sie ihm
den Brief zu leſen geben, ſo wird dadurch eine Ge-
legenheit zu der Unterredung gemacht, die jetzt am
noͤthigſten iſt. Er mag ſehen, was Sie um ſeinet-
willen leyden: Jhre Vorzuͤge werden es ihm ohn-
moͤg-
[407]
moͤglich machen ſich niedertraͤchtig gegen Sie auf-
zufuͤhren. Wenn der Mann gegen Sie ein Schelm
iſt, ſo will ich mich vor unſinnig halten. Jch hal-
te davor, daß ein ſo unvergleichliches Frauenzim-
mer ſchon dadurch genung geſtraft iſt, wenn es ihn
zum Manne bekommt.


Seyn Sie nicht allzu ſicher und glauben Sie
nicht allzu gewiß, daß die Abſichten Jhres Bruders
voruͤber ſind. Die Worte darauf Sie ſich gruͤn-
den, ſind ein Theil des Briefes der abſcheulichen
Arabella, und ſcheinen den Zweck zu haben Sie
ſicher zu machen. Sie ſagt weiter nichts, als:
ſie glaube, daß man dieſen Vorſatz habe fahren
laſſen. Aus den Reden der Fraͤulein Lloyd kann
ich gar nicht mercken, daß das Ungewitter voruͤber
ſey. Es iſt demnach das ſicherſte, wenn Sie zu
London ſind, ſich ſehr in der Stille zu halten, und
alle Briefe an einen dritten Ort ſchicken zu laſſen.
Man muß immer das ſchlimmſte befuͤrchten. Jch
wollte nicht gerne, daß Sie ſolchen heftigen und
boshaftigen Leuten wider Jhren Willen in die Haͤn-
de gerathen ſollten.


Jch will damit vergnuͤgt ſeyn, wenn ich meine
Briefe an Sie an einen dritten Ort ſchicken darf.
Alsdenn kann ich meiner Mutter und jederman mit
guten Gewiſſen bezeugen, daß ich nicht weiß, wo-
Sie ſich aufhalten. Sie werden deſto weniger Ur-
ſache haben, Ungluͤck zu befuͤrchten, wenn die Jhri-
gen den Vorſatz haͤtten, Sie Herrn Lovelacen mit
Gewalt wieder zu nehmen. Schicken Sie Jhre
Briefe, und ſelbſt Jhre Antwort auf dieſen meinen
C c 4Brief
[408]
Brief an Herrn Hickmann. Jch habe guten
Grund zu dieſer Bitte: nicht zu gedencken, daß
meine Mutter noch immer ſehr hart iſt, ob ſie mir
gleich erlaubet hat dieſen Brief zu ſchreiben.


Jch wuͤnſchte, daß Sie an die Jhnen ſo em-
pfindliche Sache nicht immer gedaͤchten. Jch kann
mir leicht vorſtellen, wie nahe es Jhnen gehen muß;
allein laſſen Sie ſich nicht durch die Betrachtung
ſolcher harten Worte niederſchlagen. Muntern Sie
ſich auf! Vergeſſen Sie es, wenn Sie koͤnnen, und
dencken Sie an andre Dinge, an das was Jhnen
Jhre Augen in das Gemuͤth bringen. Geben Sie
mir Nachricht, ob die Sache vor oder hinter ſich
gehet, und was er zu dem recht teufliſchen Fluche
ſaget. Denn dieſen Theil der gehaͤßigen Nachricht
koͤnnen Sie ihm wohl mittheilen. Jch hoffe, daß
dieſes Gelegenheit zu der Haupt-Unterredung zwi-
ſchen Jhnen beyden geben wird, ohne daß Sie ei-
ner Mittels-Perſon vonnoͤthen haben.


Wenn alles am ſchlimmſten ausſiehet, ſo pflegt
es ſich zur Beſſerung anzulaſſen. Oefters kommt
unſer Gluͤck, wenn wir dem Ungluͤck entgegen ſehen:
der Fluch Jhres Vaters kann die Quelle des
Seegens werden, wo Sie ihn recht gebrauchen.
Allein wenn Sie alle Hoffnung verlohren geben, ſo
wird auch in der That keine Hoffnung uͤbrig ſeyn.
Kraͤncken Sie ſich nicht bis zur Verzweifelung, und
erfuͤllen Sie nicht die Abſicht einiger Leute, die Sie
nur kraͤncken wollen.


Was fuͤr eine armſeelige Rache, Jhnen Jhre
Buͤcher, Geſchmeide und Geld abzuſchlagen! Da
Sie
[409]
Sie Jhre Kleider bekommen, ſo wird es Jhnen
jetzt an nichts ſo ſehr als an Gelde mangeln koͤnnen.
Jch uͤberſende Jhnen deswegen Norris Miſcella-
nies
durch den Boten, und ich habe funfzig Gui-
neas
zwiſchen die Blaͤtter in Papier eingewickelt ge-
legt. Wenn Sie mich lieb haben, ſo ſchicken Sie mir
ſie nicht zuruͤcke. Es ſtehet Jhnen noch mehr zu Dien-
ſten. Wenn Sie in London Urſache haben, uͤber
ihn oder uͤber das Haus misvergnuͤgt zu ſeyn, ſo
geben Sie beyden ohne Bedencken den Abſchied.


Jch rathe Jhnen, den erſten Tag den beſten
an den Obriſten Morden zu ſchreiben. Wenn er
vorhat, nach England zu reiſen, ſo wird Jhr Brief
ſeine Reiſe beſchleunigen, und ſo lange koͤnnen Sie
ſich halten. Doch Lovelace muß bezaubert ſeyn,
wenn er ſich nicht durch Jhr Ja gluͤcklich zu ma-
chen ſuchet, ehe er noch noͤthig hat, den Obriſten
um ſeine Genehmhaltung anzuſprechen.


Faſſen Sie einen Muth. Jhre gluͤcklichere Stun-
de eilet mit ſtarcken Schritten: das ſehen Sie ſelbſt
aus der Heftigkeit der Jhrigen. Stellen Sie ſich
in meine, und mich in Jhre Stelle, (und das koͤn-
nen Sie deſto fuͤglicher thun, weil ich Jhren Kum-
mer vollkommen empfinde) und richten Sie ſich
mit dem Troſt auf, den Sie mir in ſolchem Fall
geben wuͤrden. Bisher ſind doch nur bloße Wor-
te, obgleich abſcheuliche und fuͤrchterliche Worte,
die Strafen der Jhrigen geweſen: und die Guͤte
Gottes wird auch nichts als Worte daraus werden
laſſen. Koͤnnen Sie glauben, daß der Hoͤchſte
unter die gottloſen Wuͤnſche ſeiner boshaften Ge-
C c 5ſchoͤpfe
[410]
ſchoͤpfe ſein Siegel druͤcken werde? Gebrauchen Sie
ſich nur Jhrer gewoͤhnlichen Klugheit, ſo wird das
Ende gut ſeyn.


Jch habe ſonſt gleiche Gedancken mit Jhnen von
einem vaͤterlichen Fluche: allein ich muß den Fluch
ſolcher Eltern ausnehmen, die ſelbſt mehr Schuld.
an den Vergehungen, die ſie verfluchen, haben,
als das Kind. Sollen ſolche entſetzliche Fluͤche von
einiger Kraft ſeyn, ſo muͤſſen ſich bey den Eltern lau-
tere Abſichten befinden, der Ungehorſam des Kindes
muß ohne Entſchuldigung, und deſſen getroffene
Wahl ebenfalls gantz und gar nicht zu rechtferti-
gen ſeyn.


Von dieſer Seite ſollten Sie und jederman die
Fluͤche der Eltern anſehen. Es wird Jhnen die
Wahrheit dieſer Saͤtze immer klaͤrer in die Augen
leuchten, wenn Sie ſich nur jetzt der verzweiflenden
Gedancken entſchlagen, und Sie werden ſehen, daß
Jhnen keinen falſchen Troſt zugeſprochen hat,
Jhre ewig ergebene und getreue


Anna Howe.


Jch ſchicke dieſen Brief eilig durch Robert weg. Jch
werde mich erkundigen, ob das Vorgeben der Frau
Hervey richtig iſt, daß man gelinder mit Jhnen haͤtte
verfahren wollen, wenn Sie nicht gefluͤchtet waͤren.



Der fuͤnf und funfzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch bin durch Jhren Brief von neuen aufge-
lebet. Was fuͤr eine angenehme Probe von
der
[411]
der Wahrheit des Spruchs, daß ein treuer
Freund eine Artzney des Lebens ſey!


Jhr Bote traf mich eben an, als ich wegreifen
wollte, und die Kutſche ſchon vor der Thuͤr ſtand.
Jch habe ſchon von der Ehrlichen Frau Abſchied
genommen, ſie hat die Guͤtigkeit ſchon gehabt, mir
ihre aͤlteſte Tochter zur Geſellſchaft mit zu geben,
denn Herr Lovelace reitet bey dem Wagen her.
Jn zwey oder drey Tagen ſoll dieſe Jungfer mit eben
der Gelegenheit wieder zuruͤck auf des Lord M. Guͤ-
ter in der Grafſchaft Hertford gebracht werden.


Jch bekam den fuͤrchterlichen Brief am Sonn-
tage, als Herr Lovelace nicht zu Hauſe war. Als
er nach Hauſe kam, ſahe er meinen ungemeinen
groſſen Kummer, und hoͤrte, daß ich vorhin noch
ſchlimmer geweſen ſey. Denn zweymahl war ich
in Ohnmacht gefallen. Jch glaube, daß nicht
allein mein Hertz, ſondern auch mein Haupt dabey
gelitten hat.


Er gab ſich viele Muͤhe, den Brief ſelbſt zu
ſehen zu bekommen: ich wollte es aber wegen der
darinn enthaltenen Drohungen nicht zu geben. Jn-
deſſen verurſachte die Wuͤrckung des Briefes an
mir, daß er in Verwuͤnſchungen und Drohungen
ausbrach. Jch war ſo kranck, daß er mir ſelbſt
rieth, nicht den Montag abzureiſen, ſondern meine
Reiſe einen Tag aufzuſchieben.


Er iſt jetzt gegen mich ſehr ehrerbietig und zaͤrt-
lich: Der Brief hat alle die Folgen gehabt, welche
Sie erwartet haben. Er hat mich auf eine ſo
deutliche Art um die Ehe angeſprochen, daß mich
man-
[412]
manche freye und argwoͤhniſche Ausdruͤcke gereuen,
welcher ich mich in meinen vorigen Briefen von ihm
bedienet habe. Jch bitte Sie, alles das bey ſich
zu behalten, was in meinen Briefen ihm nicht zur
Ehre gereichet.


Jch muß Jhnen geſtehen, daß ſein freundliches
Betragen, und mein niedergeſchlagenes Gemuͤth,
nebſt Jhren ehemahligen Rath mich ſo weit ge-
bracht hat, daß ich ſeine Erklaͤrungen denſelbigen
Sonntags Abend ohne Widerrede angenommen ha-
be. Jch bin jetzt mehr in ſeiner Gewalt, als jemahls.


Er dringet alle Stunden in mich, und verlan-
get neue Zeichen der Werthachtung und des Zutrau-
ens gegen ſich. Er ſaget: an jener habe er ge-
zweifelt, und an dieſer beynahe verzweifelt.


Jch habe mir einige bejahende Ausdruͤcke entfah-
ren laſſen: wenn er ſich nicht wohl gegen mich auf-
fuͤhret, ſo muß ich dem heftigen Briefe meiner
Schweſter viele Schuld beymeſſen, denn ich ſelbſt
habe keine Entſchlieſſung, und wuͤrde mich zu nichts
entſchloſſen haben. Alle meine Bluts-Freunde ver-
laſſen mich; Sie ſind meine einzige Freundin, und
Sie koͤnnen doch weiter nichts thun, als Mitleyden
mit mir haben, weil Jhnen die Haͤnde gebunden
ſind: ich war daher gezwungen, in meiner Noth den
Schutz anzunehmen, den ich finden konnte.


Das troͤſtet mich, daß Jhr wiederhohlter Rath
die Zeichen des Zutrauens rechtfertiget, die ich Herrn
Lovelacen gegeben habe. Jhre Briefe machen,
daß ich mich mit Freuden in den Wagen ſetze nach
London zu fahren: Denn vorher lag mir ein Stein
auf
[413]
auf dem Hertzen, und ob mir gleich London der
ſicherſte Platz ſchien, ſo weiß ich doch nicht was vor
eine Ahndung mich niederſchlug, ſo oft ich der Reiſe
naͤher kam. Jch hoffe nicht, daß unterweges ein
Ungluͤck vorfallen, und dieſe harten Koͤpfe gegen
einander rennen werden.


Alles wartet unten ſchon auf mich. ‒ ‒ ‒ Vergeben
Sie es mir meine guͤtige, meine beſte Freundin, daß
ich Jhren Norris zuruͤck ſchicke. Bey den jetzigen
Hoffnungs-vollen Umſtaͤnden bin ich deſſen nicht be-
noͤthiget, was mir Jhre Guͤtigkeit zugedacht hat.
Jch hoͤre auch noch nicht auf zu hoffen, daß mein
Geld bey meinen Kleidern und Juwelen liegen wer-
de, ob es mir gleich in den Brief abgeſchlagen wird.
Wenn ich mich betriege und Geld noͤthig habe, ſo
darf ich es nur einer ſo bereitwilligen Freundin zu
wiſſen thun: wiewohl ich lieber wuͤnſchte, daß Sie
bey entſtehender Nachfrage mit guten Gewiſſen ſa-
gen koͤnnten; ich haͤtte nie dergleichen etwas begeh-
ret, noch Sie es gethan. Denn ich habe noch im-
mer einige Hoffnung das Hertz Jhrer Frau Mutter
wieder zu gewinnen: und dieſes iſt naͤchſt der Aus-
ſoͤhnung mit meinen Eltern mein ſehnlichſter
Wunſch.


Jch muß noch eins melden, obgleich ich in ſolcher
Eile bin. Herr Lovelace wollte mich nach des
Lord M. Gute bringen, oder den Prediger von dem
Gute holen laſſen. Er drang geſtern recht eifrig
darauf, daß ich dieſes moͤchte geſchehen laſſen; und
es ſchien, daß es ihm lieber waͤre, wenn wir hier,
als in London getrauet wuͤrden: denn ich hatte
ihm
[414]
ihm geantwortet, wir haͤtten in London mehr Zeit,
eine ſo wichtige Sache zu uͤberlegen. Nachdem ich
durch Jhren angenehmen Brief aufgerichtet und
getroͤſtet bin, ſo moͤchte ich faſt wuͤnſchen, daß es mir
moͤglich geweſen ware, ſeinen ernſtlichen Bitten Ge-
hoͤr zu geben. Allein der fuͤrchterliche Brief hatte
mich gantz aus meiner Hoffnung gebracht: zudem
kann ich nicht alles vorbey laſſen, was der aͤußere
Anſtand erfodert. Nicht die geringſten Zuberei-
tungen ſind gemacht: kein Ehe-Contract, kein Trau-
Schein iſt da. Meine Betruͤbniß iſt ſo groß: ich
hoffe, ja ich wuͤnſche mir nicht einmahl einige Freu-
de. Wie konnte ich bey ſolchen Umſtaͤnden eine ſo
wichtige Veraͤnderung vornehmen! Wie konnte ich
ohne alle Vorbereitung auf einmahl bereit ſeyn!


Wenn meine Gleichguͤltigkeit gegen alles irrdi-
ſche Vergnuͤgen, und gegen das Leben ſelbſt eine ed-
lere Quelle, als meinen Stoltz und mein Un-
gluͤck hat: ſo wollte ich mich ruͤhmen, daß ich mehr
Neigung zu den Grabe, als zu irgend einen Men-
ſchen auf der Welt empfinde. Jch weiß ſonſt gar
nichts das mich vergnuͤget, als Jhre Freundſchaft.
Jch bitte Sie, mir dieſe beſtaͤndig zu goͤnnen. Wenn
ich kuͤnftig ſo dreiſte werde, noch groͤſſere Wuͤnſche
zu thun, ſo muͤſſen Sie auf dieſen Wunſch gebauet
ſeyn.


Jch ſoll mich in den Wagen ſetzen, und von neu-
en entfaͤllt mir aller Muth. Vergeben Sie mir
meine betruͤbten und ſchwartzen Grillen, die mir
nicht einmahl erlauben auf beſſere Zeiten zu hoffen.
Dieſe zweymahl vier und zwantzig Stunden ſind
die
[415]
die erſten in meinem Leben, in denen ich erfahre, wie
einem Menſchen ohne Hoffnung zu Muthe iſt. Jch
muß Jhnen nicht allzu lange beſchwerlich fallen.
Leben Sie wohl meine guͤtigſte und treueſte Freun-
din und beten Sie fuͤr


Jhre
Cl. Harlowe.



Der ſechs und funfzigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Es thut mir leyd, daß Sie mir den Norris
wieder zuruͤck geſchicket haben. Jch muß
Jhnen Jhren Willen laſſen, wie Sie mir
meinen. Es ſcheint, daß keine von uns beyden
von der andern das erwarten darf, das vollkommen
recht iſt: obgleich wenige Maͤdchens von ſo jungen
Jahren ſo vollkommen wiſſen was recht iſt als wir.
Wir ſage ich, denn ich kann mich nicht von Jhnen
trennen: obgleich ich zweymahl in wenigen Zeilen
meinen Hochmuth verrathe.


Jch freue mich von Hertzen, daß Jhre Umſtaͤn-
de ein beſſeres Anſehen gewinnen, und, wie ich hof-
fete, aus dem Boͤſen Gutes entſtanden iſt. Was
muͤſte Herr Lovelace vor ein Menſch geweſen ſeyn,
und was fuͤr Abſichten muͤſte er gehabt haben, wenn
ein ſo grauſamer Brief und ein ſolches unnatuͤr-
liches
[416]
liches Bezeigen, das er Jhnen zugezogen hatte, nicht
dieſe Wuͤrckung bey ihm gehabt haͤtte.


Sie muͤſſen am beſten wiſſen, was ſie fuͤr Urſachen
zum Aufſchub gehabt haben. Jch wuͤnſchete aber,
daß Sie ſeine ſo aufrichtige Bitte moͤchten haben
Platz finden laſſen. Warum wollten Sie ihn nicht
erlauben nach den Prediger des Lord M. zu ſchicken?
Wenn weiter nichts im Wege waͤre, als einige
Kleinigkeiten des Wohlſtandes, und der Mangel
der noͤthigen Zuſchickung, des Trau-Scheins,
und was dergleichen mehr ſeyn kann: ſo bin ich Jh-
re unterthaͤnigſte Dienerin. Da haben Sie Com-
plimente fuͤr Complimente. Jch bitte Sie von
Hertzen, ſchlagen Sie nie wieder eine Sache, die Sie
vorhin gewuͤnſcht hatten, auf eine ſo muͤrriſche Wei-
ſe aus, und ruffen Sie nie wieder vergeblich den
Todt, da Sie ſelbſt ſonſten angemercket haben,
daß man nicht ſterben koͤnne, wenn man wolle.


Wie verkehrt iſt das menſchliche Hertz! Was
wir in der Ferne wuͤnſchen, das verachten wir, wenn
es uns nahe kommt.


Sie muͤſſen ſich nicht mehr als einen Zweck vor-
ſetzen: Dieſer iſt ihre Verheyrathung. Auf dieſen
muͤſſen alle Jhre Handlungen zielen: uͤberlaſſen
Sie das uͤbrige alles der goͤttlichen Vorſicht, und
folgen Sie wie die leitet. Sie bekommen einen ar-
tigen, einen wohlgezognen Mann: ich wollte auch
ſagen, einen verſtaͤndigen Mann, wenn er ſich
nicht auf ſeine Eigenſchaften zu viel einbildete,
wenn er nicht wild, und wenn er kein Schelm waͤ-
re. Da ſich aber die Augen ſo mancher Frauen-
zimmer
[417]
zimmer durch die Geſtalt und durch die Munter-
keit ſeines Verſtandes blenden laſſen, und ihn da-
durch eiteler und eingebildeter machen: ſo muͤſſen
Sie ſich zu frieden geben, bis graue Haare und Ver-
ſtand zugleich wachſen. Sie koͤnnen nicht bey ei-
nem Manne alle gute Eigenſchaft verlangen.


Jch glaube nicht, daß Herr Hickmann krumme
Wege gehet, ſondern er hincket nur auf die unan-
genehmſte Weiſe, wenn er ebene Wege vor ſich hat.
Weder Augen noch Ohr werden durch ihn ver-
gnuͤgt, aber auch nicht beleidiget. Jhr Lovelace
wird, wie ich ſchon neulich geſagt habe, ſein Frauen-
zimmer ſtets wachſam und in Aufmerkſamkeit er-
halten: Sie werden nie einſchlaffen, wenn Sie mit
ihn zu thun haben, ob er ſie gleich mehr durch Furcht
als durch Freude wachend erhalten wird. Hick-
mann
hingegen wird nichts ſagen, das einem auf
eine angenehme Weiſe den Schlaff aus den Augen
treibt, und nichts thun, das einem die Naͤchte un-
ruhig macht.


Jch glaube, das ich nun errathen kann, wel-
chen von dieſen beyden Leuten ein ſo kluges Frauen-
zimmer als Sie ſind wuͤrde gewaͤhlt haben: und
Sie werden auch errathen koͤnnen, auf wen meine
Wahl gefallen ſeyn wuͤrde. Allein wir moͤgen ſo
hochmuͤthig ſeyn als wir wollen: ſo darf doch das
hochmuͤthigſte Frauenzimmer nichts weiter thun, als
nein ſagen: und wie manche muͤſſen einen Freyer
annehmen, der ihnen nur halb anſtaͤndig iſt, damit
ſich nicht ein noch ſchlechterer um ſie melden moͤge.


Dritter Theil. D dWenn
[418]

Wenn unſere beyden Ritter gleich fuͤr gleich ge-
ſucht haͤtten, ſo glaube ich wohl, daß Herr Lo-
velace
mich zuletzt moͤchte muͤde gemacht haben; al-
lein ein halbes Jahr lang wollte ich ihm Verdruß
fuͤr Verdruß verurſachet haben. Sie hingegen
wuͤrden mit meinen langſamen-geſchwinden Freyer
ſo artig, ſo ſanfte, ſo ordentlich fortgegangen ſeyn,
als die vier Jahrs-Zeiten. Keine andere Veraͤn-
derung wuͤrde bey jenem und bey Jhnen zu ſehen
geweſen ſeyn, als die zum Vergnuͤgen anderer ge-
reichet. Jch war im Begriff noch mehr von der vo-
rigen Art zu ſchreiben: allein meine Mutter uͤber-
fiel mich mit einem krauſen Geſicht und ſagte: ſie
haͤtte mir weiter nichts als einen Brief zu ſchreiben
erlaubt. Sie hat Jhren verwuͤnſchten Onckle ge-
ſprochen, und es iſt groſſer Geheimder Rath gewe-
ſen. Sie hat mich ſehr geplaget. Jch muß dieſen
Brief weglegen, bis ich von neuen Nachricht von Jh-
nen bekomme, denn ich weiß nicht wo ich ihn hinſchi-
cken ſoll. Beſtellen Sie ihre Brieffe an einen drit-
ten Ort, wie ich Sie ſchon neulich gebeten habe.


Jch habe meiner Mutter auf ihr Befragen geant-
wortet: ich haͤtte zwar an Sie geſchrieben, allein
nur zum Zeitvertreib: denn ich koͤnnte heilig ver-
ſichern, daß ich nicht wuͤßte wo Sie waͤren.


Jch hoffe, daß Jhr naͤchſter Brief mir die Nach-
richt von Jhrer Verheyrathung bringen wird, wenn
auch gleich der darauf folgende Brief mir klagen
ſollte, daß Lovelace das undanckbarſte Ungeheuer
auf Erden ſey. Denn dafuͤr muͤßte ich ihn halten,
wenn Sie nicht die aller vergnuͤgteſte Ehe mit ihm
haben.

Meine
[419]

Meine Mutter plaget mich. Doch ich leſe mei-
nen Brief uͤber, ich habe das ſchon einmahl ge-
ſchrieben: allein ſie hat mich gantz aus meiner Faſ-
ſung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in
der That den Herrn Hickmann in die Catechiſ-
mus-Lehre kriegen wollen: er ſollte antworten, ob
er um unſern Briefwechſel etwas wuͤßte. Die Fra-
gen waren ſehr ſcharf. Jch glaube, daß ich ein
erbaͤrmliches Mitleiden mit dem erbaͤrmlichen Men-
ſchen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß
ſich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn
fuͤr einen Narren zu halten.


Es ſchien, daß die gute Frau ſich ſelbſt vergaß. Sie
redete ſehr laut: vielleicht dachte ſie, daß mein Vater
wieder aufgelebet waͤre. Herrn Hickmanns Sanft-
muth haͤtte ſie wohl von dem Gegentheil uͤberzeugen
koͤnnen: denn mein Vater wuͤrde eben ſo laut gere-
det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie
die Leute ein paar Ellen von einander ſtunden, und
einander ſo zuboͤlckten und ſchrien, als wenn ſie ſich
eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret
haͤtten, und ſich wieder zurecht helfen wollten.


Mein Verweiß iſt mir ſchon zum voraus gewiß.
Allein ich habe Jhnen ſchon geſchrieben, daß mich
meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein
wenig boͤſe waͤre, ſo wuͤrde niemand glauben, daß
ich meiner Eltern Tochter bin. Sie muͤſſen mich
nicht gar zu hart ausſchelten, denn ſo viel habe ich
von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent-
ſchuldige. Jch habe geſuͤndiget! Das iſt genug.
Wenn Sie es nicht vor genug halten, ſo ſind Sie
D d 2nicht
[420]
nicht ſo edelmuͤthig als Sie ſonſt zu ſeyn pflegten.
Leben Sie wohl! Jch muß und will Sie ewig lie-
ben. Lieben Sie ewig


Jhre
Anna Howe.



Der ſieben und funfzigſte Brief
von eben derſelbigen, welcher in dem vorigen einge-
ſchloſſen.



Jch habe mich, meinem Verſprechen gemaͤß, er-
kundiget, ob die Jhrigen in der That vor
Jhrer Flucht ſich zu einer andern Auffuͤhrung gegen
Sie entſchloſſen haben. Jch nehme alle Nachrich-
ten zuſammen, die meine Mutter von Jhrem Onckle
Anton bekommen hat, die mir die Fraͤulein Lloyd
aus Jhrer Schweſter Munde erzaͤhlet, und die ich
noch auf eine dritte Art (welche ich nicht melden
will) erfahren habe. Die Sache ſcheint ſich alſo
zu verhalten.


Nicht eher als zwey oder drey Tage vor Jhrer
Flucht hat man angefangen ſich zu bedencken. Jhr
Bruder und Jhre Schweſter glaubten zwar nicht,
daß Sie ſich wuͤrden bewegen laſſen: allein ſie
wollten dennoch nicht auf hoͤren Sie zu verfolgen,
bis daß ſie Sie gezwungen haͤtten, einen Schritt zu
thun, welchen ſie ihren halb klugen Eltern und On-
ckles als eine Todt-Suͤnde vorſtellen koͤnnten.


End-
[421]

Endlich ward Jhre Frau Mutter muͤde, oder ſie
ſchaͤmte ſich der Sache ſtillſchweigend zu zuſehen:
ſie ſagte deswegen zu Jhrer Fraͤulein Schweſter: ſie
wollte ein fuͤr allemahl wieder Frieden im Hauſe ha-
ben, und ſie wuͤrde ſich bemuͤhen, Jhren Onckle
Harlowe zu bewegen, daß er ihr beyſtuͤnde. Zu
dieſer Erklaͤrung machten Jhr Bruder und Jhre
Schweſter große Augen, und entſchloſſen ſich, an-
ders zu verfahren. Solmeſens Bedingungen wa-
ren indeſſen noch immer allzu vortheilhaft, als daß
man ſie ausſchlagen konnte: ſie wollten aber weiter
kein Mittel anwenden, (ſo gaben ſie vor) als die-
ſes, daß Jhr Vater ſie auf eine herabgelaſſene Wei-
ſe baͤte. Dieſes ſollte der letzte Verſuch ſeyn. Wenn
ich die Wahrheit ſchreiben ſoll, ſo glaube ich
nicht daß eine ſolche Tochter, wie Sie ſind,
wuͤrde haben widerſtehen koͤnnen, wenn ein Vater,
der nie in ſeinem Leben gekniet haben mag, als
nur vor unſern Herrn GOtt, ſich ſo weit uͤberwun-
den haͤtte, als Jhre Frau Baſe vorgiebt.


Allein was wuͤrde alles dieſes gefruchtet haben?
Vielleicht wuͤrden Sie ſich doch mit Lovelacen
unterredet haben, um ihn zu beſaͤnftigen und Un-
gluͤck zu verhuͤten: wenn man Jhnen anders ſo viel
Zeit gelaſſen, und mit dem Prediger nicht gleich
bey der Hand geweſen waͤre. Haͤtten Sie ihn aber
nicht geſprochen, ſo ſehen Sie, in was fuͤr Beglei-
tung er Jhrem Hauſe hat zuſprechen wollen. Was
wuͤrden davon die Folgen geweſen ſeyn?


Vielleicht haben Sie alſo das Beſte gewaͤhlet:
obgleich dieſes Beſte ſehr unertraͤglich iſt.


D d 3Jch
[422]

Jch hoffe, daß Jhr nachdenckendes Gemuͤth ſich
dieſen Winck zu Nutze machen wird. Wer wollte
ſich ſcheuen, ein groſſes Uebel zu erdulden, wenn er
es fuͤr eine Wohlthat der muͤtterlichen Haͤnde der
Vorſicht anzuſehen hat, die dadurch ein groͤſſeres
Uebel verhuͤtet? ſonderlich wenn uns unſer Hertz
von allen tadelhaften Neigungen losſpricht?


Erlauben Sie mir, noch eine Anmerckung zu
machen. Sie ſehen aus meiner Nachricht, was
Jhre liebenswuͤrdige Mutter vorhin haͤtte ausrich-
ten koͤnnen, wenn ſie ſich gegen ein ſo liebenswuͤrdi-
ges und unterdruͤcktes Kind als Mutter aufgefuͤhret
haͤtte. Jch bin ewig


Jhre
Anna Howe.



Jn der Antwort auf den erſten von dieſen
beyden Briefen beklaget ſich die Fraͤulein
Harlowe daruͤber, daß ihr Rath bey ihrer
Freundin ſo wenig Eingang finde, und
daß dieſe ihrer Mutter ſo ſchlecht begeg-
ne. Obgleich die Briefe ſpaͤter geſchrieben
ſind, ſo wollen wir doch hier folgenden
Auszug daraus mittheilen.


Jch will das nicht wiederhohlen, was ich fuͤr
Herrn Hickmann geſchrieben habe: ſondern Jhnen
nur noch einmahl meine oͤfters gemachte Anmer-
ckung in das Gemuͤth bringen, daß Sie Jhre er-
ſte Liebe uͤberlebet haben.
Wenn daher Jhr
zweyter Liebhaber ein Engel waͤre, ſo wuͤrde er Jh-
nen doch kaum mittelmaͤßig zu ſeyn ſcheinen.


Die
[423]

Die Urſachen, um welcher willen ich die Trauung
aufſchob, ſind nicht bloſſe Kleinigkeiten des Wohl-
ſtandes. Jch befand mich in der That ſehr uͤbel;
ich konnte mein Haupt vor Kummer und Kranckheit
nicht aufgerichtet halten, weil mich der Brief mei-
ner Schweſter toͤdtlich verwundet hatte. Was ſa-
gen Sie ſelbſt: ſollte ich ſeinen erſten Antrag, ſo
wie man von der Gelegenheit ſaget, ſo gleich bey
den Haaren ergreiffen, und ihm den Begriff von
mir beybringen, als fuͤrchtete ich, ich werde ſeine
Bitte nicht zum zweyten mahl anbringen?


Auf den zweyten Brief ſchreibt ſie folgendes:


Es ſcheint, Sie glauben, daß mein Verſehen
eine Wohlthat der goͤttlichen Vorſehung ſey. Dieſe
Auslegung verraͤth ſich ſogleich, daß ſie die Spra-
che einer aufrichtigen und alles genau uͤberlegenden
Freundin iſt. Jch wuͤnſchte indeſſen, daß jeder-
mann meinen Vater oder zum wenigſten meine
Mutter entſchuldigen moͤchte: denn dieſe iſt von al-
len bewundert worden, ehe unſer betruͤbter Haus-
Krieg ſeinen Anfang nahm: Verhuͤten Sie, daß
niemand ſagen, und am meiſten, daß niemand Jhnen
nachſagen koͤnne, daß meine Mutter ihr ungluͤckli-
ches Kind haͤtte retten koͤnnen, wenn ſie ſich fruͤher
als Frau im Hauſe bewieſen haͤtte. Sie ſehen
ſelbſt, daß ſie alles ihr Vermoͤgen zu meinen Be-
ſten hat anwenden wollen, ſo bald ihre Zeit gekom-
men war, und ſie ſahe, daß meines Bruders Ver-
folgungen ſich nicht auf eine andere Weiſe endigen
wuͤrden. Allein die allzu kluge Tochter kam ihr
zuvor, und machte durch die verwuͤnſchte Unterre-
D d 4dung
[424]
dung alle ihre guͤtigen Abſichten zu nichte. O mein
Kind, ich bin jetzt durch eine Erfahrung, die mir
theuer zu ſtehen kommt, uͤberzeuget, daß Kinder
ſich nicht unterſtehen muͤſſen, auch bey der reineſten
Abſicht, ſich ſelbſt in wichtigen Dingen zu rathen,
ſo lange ſie noch Eltern oder andere Vorgeſetzte ha-
ben, die ſie um Rath fragen koͤnnen.


Es faͤngt jetzt eine neue Hoffnung einer Ausſoͤh-
nung mit meinen Eltern bey mir an zu tagen, weil
Sie mir berichten, daß ſich meine Mutter meiner
haͤtte annehmen wollen, wenn ich nicht geflohen waͤ-
re. Dieſe Hoffnung wird dadurch ſtaͤrcker, weil
nach meiner Mutter Einſicht mein Onckle Har-
lowe
im Stande geweſen ſeyn wuͤrde, etwas auszu-
richten, wenn er ſich meiner haͤtte annehmen wollen.
Vielleicht iſt es mir zu rathen, daß ich mich bey
Gelegenheit an dieſen lieben Onckle wende.



Der acht und funfzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.



Das Schickſal bereitet deinem Freunde ein ſon-
derbares Netz. Jch kann nicht anders ſe-
hen, als daß ich nothwendig muß beſtricket werden.


Jch habe mich bemuͤhet, ihre Tugend auf das
kuͤnſtlichſte zu untergraben, ich habe ihr die verbor-
genſten Fallen gelegt, ich bin uͤber meine Erfindun-
gen hochmuͤthig geweſen, durch die ich dieſes unver-
gleich-
[425]
gleichliche Kind voͤllig in meine Gewalt zu bekom-
men hoffte: alle Umſtaͤnde waren mir guͤnſtig, ihr
Bruder und ihr Onckle waren nur meine Tageloͤh-
ner, die an meinen Minen graben mußten; ihr
Vater ſtuͤrmete ſo wie ich den Sturm lenckte; die
Frau Howe war meine Marionette, ihre Tochter
arbeitete fuͤr mich, und bildete ſich dabey ein, daß
ſie meine ſtaͤrckſte Widerſacherin waͤre: das liebe
Kind hatte bereits ſelbſt ſeinen widerſpenſtigen Hals
in meine Schlingen geſteckt, und wußte noch nicht,
daß es gefangen waͤre, weil ich die Schlaͤuffe noch
nicht zugezogen hatte. Kannſt du glauben, daß
ich ihr Freund und mein Feind werde, da eben mei-
ne Arbeit zur Vollendung eilet? daß ich alle meine
Anſchlaͤge, in die ich verliebt war, auf einmahl fah-
ren laſſe? daß ich die Fraͤulein auf das ernſtlichſte
bitte, mich vor unſerer Reiſe nach London zu hey-
rathen, und zwar das mit dem Endzweck, mir die
Fortſetzung meiner vorigen Anſchlaͤge voͤllig ohn-
moͤglich zu machen.


Du wirſt dencken, daß mein ſchwartzer Engel
ſeinen Spaß mit mir haben will: daß der Teufel
mich verheyrathet ſehen will, um ſeines Raubes
mehr verſichert zu ſeyn. Vielleicht denckt er, daß
mich GOtt um einfacher Suͤnden willen ihn nicht
ſchencken werde, weil ich ihrer ſchon ſo gewohnt bin,
daß ich ſie nicht laſſen kann: er will mich aber her-
nach zu zwiefachen Suͤnden reitzen, wenn ich erſt das
Geluͤbde der heiligen Ehe gethan habe.


Du wirſt dich noch mehr verwundern, wenn ich
dir melde, daß eine Verſchwoͤrung zwiſchen den
D d 5ſchwar-
[426]
ſchwartzen und weiſſen Engel im Wercke zu ſeyn
ſcheinet. Denn in eben der Stunde bewog ihr
weiſſer Engel meine Schoͤne das zu geſtehen, was
ſie noch niemahls hat geſtehen wollen, nemlich: daß
ſie eine vorzuͤgliche Neigung zu mir habe. Sie be-
kennet, daß ſie den Endzweck hat die Meinige zu
werden: die Meinige, ehe ich noch aufgehoͤret habe
der alte Lovelace zu ſeyn. Sie erlaubt mir von
Liebe, von Trauung, von Ehe zu reden: allein
(ein neues Wunder!) ſie will die Trauung aufge-
ſchoben wiſſen, ſie will durchaus nach London
reiſen, und in das Haus der Witwe ziehen.


Du fragſt: wie geht das Ding zu? Es ſcheint,
daß dir Wunder begegnen, ob du gleich nicht wuͤn-
ſcheſt, die Wunder einer Romaine zu erfahren. Wie
iſt alles das moͤglich geworden?


Jch will es dir ſagen. Jch war in Gefahr mei-
nen Engel auf ewig zu verliehren. Mein Engels-
Kind bekam das Heim-Weh nach ſeinem erhabenen
Vaterlande: es war ſchon uͤber die Erde hinweg,
und die Soͤhne der Erde halfen dazu, es nach dem
Himmel zu befoͤrdern. Es mußten auſſerordentli-
che Mittel angewandt werden, wenn ich es dieſſeits
des Mondes behalten wollte. Was konnte von
groͤſſerer Wirckung ſeyn, als die Stimme der Liebe?
Was kann eines Maͤdchens Hertz, das noch von
Zweifeln ſchlaͤget, und mit Ungeduld auf die noch un-
gewiſſe Frage gewartet hat, ſtaͤrcker binden, als
wenn eine nicht verhaßte Manns-Perſon das liebe
Kind um ewige Liebe anſpricht?


Die
[427]

Die Sache hieng ſo zuſammen. Sie wollte mir
nicht den geringſten Danck ſchuldig ſeyn, und hielt
mich auf eine hochmuͤthige Art als einen gantz Frem-
den, weil ſie hoffte, daß ſie ſich durch die baldige
Ankunft des Obriſten Morden in voͤllige Freyheit
wuͤrde geſetzt ſehen: ſie waren mit ihrem Anbeter
uͤbel zufrieden, weil er liebete nicht wie ſie wollte,
ſondern wie er ſelbſt wollte, und weil er Herr uͤber
ſeine Liebe blieb: ſie ſchrieb deswegen abermahls
an die Jhrigen, und verlangte Antwort auf ihren
vorigen Brief, wie auch Kleidung, Juwelen und
etwas Geld, die ſie zuruͤckgelaſſen hatte: alles die-
ſes ſollte ihrem Hochmuth die Kraͤnckung erſparen,
daß ſie meiner noͤthig haͤtte, und ſollte es ihr erleich-
tern, voͤllig ungebunden zu bleiben. Es folgete aber
eine erſchreckliche Antwort, die dadurch noch er-
ſchrecklicher ward, daß ſie ihr Nachricht von dem
Fluch des Vaters gegen ſeine Tochter gab, die nichts
als Seegen verdiente. Ein rechter Fluch, der die
Seele des Fluchens treffen muß, war es: und der
billig an der hochmuͤthigen und neidiſchen Arabel-
la,
die ihn uͤberſchrieben hat, zwiefach erfuͤllet wer-
den muß.


Jch war nicht zu Hauſe, als dieſer Brief ankam:
man hatte einen Boten uͤber den andern abgeſchickt
mich aufzuſuchen. Als ich nach Hauſe kam, erhohlte
ſie ſich eben von einer Ohnmacht, um von neuen in
Ohnmachten zu ſincken: und jedermann wartete das
Ende ab. Wundere dich nicht daruͤber: ihr allzu
kindliches Hertz wircket bey ihr einen blinden Glau-
ben an die Fluͤche eines Vaters; und der Fluch
dieſes
[428]
dieſes ſchwartzen Tyrannen erſtreckte ſich (ihren ei-
genen Ausdruck zu gebrauchen) nicht weiter als auf
beyde Welten. Dieſes klagte ſie ſobald ſie wieder
reden konnte. Wenn ſich doch der Fluch den Au-
genblick, da er ausgeſprochen werden ſollte, zum Bey-
ſpiel der Rache fuͤr alle ſolche unnatuͤrliche Vaͤter in
einen toͤdtlichen Stickfluß verwandelt haͤtte!


Was muͤſte ich fuͤr ein Ungeheuer geweſen ſeyn,
wenn ich nicht alle Liebkoſungen, alle Geluͤbde, alle
heilige Antraͤge und Verſprechungen angewandt
haͤtte, ſie wieder aufzumuntern?


Jch habe ſie noch einmahl in dieſe Welt zuruͤck
gebracht. Sie iſt mir mehr ſchuldig als ihrem Va-
ter, denn ich habe ihr das Leben wiedergegeben, das
ihr der unmenſchliche Vater beynahe genommen
hatte. Sollte ich nicht eine Tochter lieben, die ihr
zweites Leben meinen Wohlthaten zu dancken hat?
Es war mein gantzer Ernſt, daß ich mich mit ihr
auf ewig verbinden wollte, und meine Bitte, daß
es bald geſchehen moͤchte, gieng mir von Hertzen.
Allein die tieffe Traurigkeit, und ein gewiſſes Juͤng-
ferlich bloͤdes Weſen, das ſie in den letzten Zuͤgen
nicht verlieren wird, verurſachte, daß ſie meine
Bitte zwar nicht abſchlug, aber doch auſſchub. Sie
ſagte mir dabey: ſie muͤſſe ſich jetzt allein auf mich
verlaſſen, weil ſie alles andern Schutzes be-
raubet ſey.
Du ſieheſt abermahls, daß ich ihren
grauſamen Freunden mehr zu dancken habe als ihr.


Sie hat der Fraͤulein Howe von dem unmenſch-
lichen Verfahren ihrer Wilden, nicht aber von ihrer
Unpaͤßlichkeit Nachricht gegeben.


Sie
[429]

Sie iſt noch ungemein ſchwach; allein aus Furcht
vor ihren dummen Bruder ſehnet ſie ſich ſehr nach
London. Sie wuͤrde ſchon dort ſeyn, wenn nicht
dieſer Umſtand dazwiſchen gekommen waͤre, und ich
ſie nicht zu dem Gegentheil uͤberredet haͤtte. Haͤt-
teſt du das jemahls glauben ſollen? Wenn es nicht
ſchlimmer mit ihr wird, ſo muͤſſen wir auf den Mit-
tewochen fruͤh ausreiſen.


Nun muß ich noch ein paar Worte auf deine
letzte erbauliche Sonnabends-Predigt antworten.


Du fuͤrchteſt dich, daß die Fraͤulein jetzo in der
That in Gefahr ſey, und du meinſt, es waͤre ein
Wunderwerck, wenn ſie ihrem Verſucher widerſte-
hen koͤnnte. Du ſageſt, wir kennten das Frauen-
zimmer ſo gut, daß, wenn du an meiner Stelle waͤ-
reſt, du dich fuͤrchten wuͤrdeſt, ein allzu gluͤcklicher
Verſucher zu ſeyn. An einem andern Orte meldeſt
du mir: du wollteſt mich nicht zum Heyrathen uͤber-
reden, weil du ein Freund des Eheſtandes waͤreſt.


Was fuͤr ein Vertheidiger des Eheſtandes biſt
du? Du biſt immer ungluͤcklich, wenn du Schluͤſſe
machen willſt. Saget der uͤbrige Jnhalt deines
Briefes ſo viel Wahrheiten, die den Eheſtand an-
rathen koͤnnen, als ſie in dieſen wenigen Zeilen mis-
rathen?


Du giebſt dir viel Muͤhe mich zu uͤberzeugen,
daß die Umſtaͤnde der Fraͤulein die Umſtaͤnde fuͤr ſie
ſehr gefaͤhrlich machen. Du wirſt mir zugeſtehen,
daß nicht ich, ſondern ihre unverſoͤhnlichen Freunde
an dieſen Umſtaͤnden ſchuld ſind. Allein ich frage dich:
kann die wahre Tugend anders als in Ungluͤck ge-
pruͤfet
[430]
pruͤfet werden? Wuͤnſcheſt du nicht ſelbſten, daß
ich eine gepruͤfte und uͤberlegte Liebe gegen dieſes un-
vergleichliche Frauenzimmer haben moͤge? Jſt es
nicht meine Abſicht ſie zu heyrathen, und ſie ewig
zu lieben, wenn ſie in der Probe beſtehet?


Allein warum wiederhohle ich das, was ich ſchon
oft geſagt habe? Lies meinen langen Brief vom
dreyzehnten dieſes Monaths von neuen uͤber, ſo wirſt
du finden, daß alle deine Schein-Gruͤnde beant-
wortet oder entkraͤftet ſind.


Jch bin nicht boͤſe auf dich; ich freue mich uͤber je-
den Widerſpruch. Denn ſo wie das Gold durch das
Feuer, und Tugend durch Verſuchung bewaͤhret
wird: ſo wird wahrer Verſtand und Widerſpruch
bewaͤhret. Lange vorher, ehe du dir es vornahmſt
meine Schoͤne zu vertheidigen, habe ich dir das
Amt gegeben mir Einwuͤrfe gegen mein Verfah-
ren zu machen. Jch hatte keinen andern Zweck
dabey, als dich zu uͤberzeugen, daß du ein ſtroher-
ner Kerl waͤreſt. Wie manche fuͤrchterliche Fech-
ter laͤſt Homer aufſtehen, und was fuͤr entſetzli-
che Nahmen giebt er ihnen, in der Abſicht, daß ei-
ner ſeiner Helden ſie todt ſchlagen ſoll.


Mercke dir eine Regel: wenn du deinen Lehrmei-
ſter ſtrafen willſt, ſo bedencke ſelbſt vorher wohl,
ob du recht haſt.


Jch komme wieder auf den Haupt-Jnhalt mei-
nes Briefes. Jch mag mich entſchlieſſen, wozu
ich will, ſo hat der heftige Brief der Jhrigen mir
zum wenigſten einen Monath Zeit erſpart. Jch
kann jetzt ohne ſie zu beleidigen von Liebe und Ehe-
ſtand mit ihr reden: ihr ehmahliges Verbot ſchreckt
mich nicht mehr.

Auf
[431]

Auf eine ſo vertrauliche Weiſe hat ſich unſere Rei-
ſe nach London angefangen. Die aͤlteſte Jung-
fer Sorlings leiſtet ihr in der Kutſche Geſellſchaft,
und ich reite zu Jhrer Sicherheit neben dem Wagen
her: denn ſie iſt voller Furcht vor den Singleton,
und ich habe Jhr verſprechen muͤſſen, alle moͤgliche
Geduld zu haben, wenn unterweges etwas vorfallen
ſollte. Jch bin aber deswegen gantz auſſer Sor-
gen: denn jetzt eben erhalte ich einen Brief von
dem Joſeph, daraus ich ſehe, daß Jacob Har-
lowe
ſeinen dummen Anſchlag hat fahren laſſen.
Alle ſeine Anverwanten haben ihn darum gebeten,
weil ſie uͤble Folgen beſorgten. Allein in meinem
Gehirn iſt der Vorſchlag noch nicht gantz ver-
ſchwunden, ob ich mich gleich nicht voͤllig ent-
ſchloſſen habe, was fuͤr einen Gebrauch ich davon
machen will.


Mein Kind ſagt mir, daß ſie ihre Kleider bekom-
men werde: ſie hoffet auch auf ihre Juwelen und
das zuruͤckgelaſſene Geld. Allein Joſeph meldet,
daß ſie nichts als die Kleider bekommen werde. Jch
will ihr das nicht erzaͤhlen: ich ſage vielmehr: es
ſey kein Zweifel, daß man ihr alles ſchicken werde,
darum ſie gebeten habe. Jemehr ſie ſich in ihrer
Hoffnung betrogen ſiehet, deſto mehr wird ſie ihre
Hoffnung auf mich ſetzen muͤſſen.


Jch hoffe, daß ich werde ehrlich gegen ſie ſeyn
koͤnnen. Dich mag der Teufel davor hohlen, daß
du mir zur Unzeit meldeſt: ſie koͤnnte vielleicht von
mir uͤberwunden werden.


Mich
[432]

Mich deucht du frageſt mich: warum ihres Bru-
ders Anſchlag noch in meinem Gehirn ſchwaͤrmet,
wenn ich gegen ſie ehrlich ſeyn will? Antwort:
wenn man demuͤthig iſt, und ſich nichts uͤber ſeine
Kraͤfte zutrauet, ſo ſucht man immer eine Ausflucht
fuͤr ſich zu behalten. Bedencke noch dieſes: wenn
wir einmahl etwas wollen, wir finden aber eine Hin-
derniß, und die Hinderniß verſchwindet: ſo haͤlt
es ſehr ſchwer, daß wir nicht unſern ehemahligen
Vorſatz von neuen faſſen ſollten.



Der neun und funfzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.



Unſer Haus hat alle Haͤnde voll zu thun, weil
wir uns zur Reiſe nach London anſchicken.
Jch weiß nicht warum mein Hertz ſo ſchlaͤgt? Es
ſteigt mir faſt bis in die Luft Roͤhre, daß ich faſt er-
ſticke, ſo oft ich an die Fruͤchte dieſer Reiſe gedencke.
Jch habe den veſten Vorſatz ehrlich zu ſeyn: deſto
mehr wundere ich mich daruͤber, daß ſich mein Herz
wider meinen Willen freuet. Mein Hertz iſt ein
Schelm: das iſt es von meiner Kindheit an gewe-
ſen, und es wird nie aufhoͤren ein Schelm zu ſeyn.
Es freuet ſich, ſo oft eine Schelmerey ihren Fort-
gang gewinnet. Jch bin ſo wenig Herr daruͤber!
Mein Kopf iſt recht darnach gemacht, daß er den
dreyeckigten Schelm Anſchlaͤge geben kann! Jch
will
[433]
will einen Satz mit dieſem alten boshaften Freunde
wagen: kann ich ihn denn nicht bekehren, ſo will
ich in meinem Leben nicht wieder daran gedencken.


Mein liebes Kind iſt noch ſehr betruͤbt und
kranck. Sie iſt eine gar zu zarte Bluͤte. Die heftige
Winde der Leidenſchaften kann ſie noch nicht vertra-
gen. Bisher iſt ſie noch immer unter den Fluͤgeln
ihrer nicht allein liebreichen, ſondern auch bewun-
dernden Eltern geweſen. Der Schoos ihrer Mut-
ter war noch bisher der Boden, aus dem man ſie
nicht verpflantzen durfte. Dieſes waren die Ge-
dancken, die mir mit Mittleiden und mit neuer Liebe
aufſtiegen, als mein liebes Kind ſein unvergleichli-
ches Geſichte auf den Buſen der Frau Sorlings
legte. Es hatte ſich kaum von einer Ohnmacht er-
hohlt: und kaum hatte es den Brief ſeiner verfluch-
ten Schweſter geleſen. Wie liebenswuͤrdig war
meine Schoͤne als ſie weinete! Jch trat in die Stu-
be; ſie hob ihr Geſicht in die Hoͤhe, und ſchien ohne
Worte meinen Schutz zu verlangen. Kann ich an
einem ſolchen Engel zum Schelme werden? Jch
hoffe es nicht. Allein warum bringſt du Schelm
mir in die Gedancken, daß ſie uͤberwindlich ſey?
Und warum hat ſie ſo ſpaͤt, und nur bey der aͤuſſerſten
Noth ſich entſchloſſen, daß ſie ſich auf meine Ehre
verlaſſen wollte.


Sie iſt noch immer ſo niedergeſchlagen, daß ich
mich fuͤrchte, eine tieffſinnige Frau zu bekommen,
wenn ich ſie heyrathe. Jch wuͤrde in dem Falle
doppelt ungluͤcklich ſeyn. Jch habe zwar nicht den
Vorſatz, nach den erſten vierzehen Tagen mich lan-
Dritter Theil. E ege
[434]
ge zu Hauſe aufzuhalten. Wenn man aber nach
Art der arbeitſamen Biene ſchwaͤrmet, und ſich
von einer Blume auf die andere ſetzt, und es fal-
len einem in jedem Monath einmahl die angeneh-
men Gedancken ein, daß man wo zu Hauſe ſey,
und eine Frau habe: ſo iſt es unertraͤglich, wenn
man zu Hauſe eine Niobe findet, die wie ein ver-
wundeter Weinſtock ſich beynahe an Thraͤnen zu
Tode blutet, und ſich widerſpaͤnſtig um uns her-
umſchlinget.


Wenn doch der Himmel meinem Kinde Geſund-
heit und ein froͤliches Hertz gaͤbe, damit ich ſehen
koͤnnte, ob es im Stande iſt, noch auſſer Vater
und Mutter jemand zu lieben. Jhre Eltern wer-
den immer im Stande ſeyn, den Schwieger-Sohn
zu kraͤncken: ich haſſe ſie beyde von Hertzen, und
ich kann nicht ohne Entſetzen an dieſen Umſtand ge-
dencken. Jn einigen Stuͤcken iſt meine Schoͤne
mehr als ein Frauenzimmer, und ein wahrhafter
Engel, in andern iſt ſie wie ein kleines Kind, vol-
ler Heimweh, und als wenn ſie noch den Pitz ha-
ben wollte. Wie ungluͤcklich muͤßte ein Mann
mit einer ſolchen Frau leben, wenn die Eltern nicht
die hohe Gnade haben, ſich mit ihm zu verſoͤhnen,
und ihm ihr ſchwieger-aͤlterliches Hertz Zeit Lebens
zu goͤnnen.


Fuͤr ſie und fuͤr mich iſt es viel beſſer, wenn wir
uns einander nicht heyrathen. Was fuͤr ein ver-
gnuͤgtes Leben wuͤrde das ſeyn, wenn man ein ſol-
ches Frauenzimmer haͤtte. O daß ich ſie doch dazu
uͤberreden koͤnnte! Alle ihre Furcht und Beſorgniß,
alle
[435]
alle unruhigen Tage und ſchlafloſen Naͤchte, wuͤr-
den nur aus der Vermuthung entſtehen, daß ſie
mich beleidiget haͤtte. So oft ich abweſend waͤre,
wuͤrde ſie eine ewige Abweſenheit beſorgen: wie an-
genehm wuͤrde ihr ein jeder entzuͤckender Willkom-
men, und wie angenehm wuͤrde mir ihre Belohnung
dafuͤr ſeyn? Solche Veraͤnderungen und Leiden-
ſchaften machen die Liebe empfindlich: ſonſt ſchlaͤft
ſie ein. Das gluͤckliche Paar braucht bey den lan-
gen Abenden nicht an zwey entfernten Caminen zu
ſchlummern, und einander mit dem traͤgen Kopfe
zu zunicken: ſondern einer iſt dem andern neu, und
man hat etwas, davon man ſich unterreden kann.


Du weißt, wie ich mich in meinem Gedichte an
meine Stella hieruͤber ausgedruͤcket habe. Jch
will dieſe Zeilen ſo liegen laſſen, daß ſie ihr in die
Haͤnde kommen, ſo bald wir in dem Hauſe der Wit-
wen ſind: es waͤre denn, daß wir uns entſchloͤſſen,
vorher die Kirche zu beſuchen. Sie wird daraus
ſehen, was ich vor Gedancken von dem Eheſtande
habe. Wenn ſie nicht in dem hoͤchſten Grad auf
mein Gedichte zuͤrnet, ſo habe ich den Grund geleget,
auf den ich weiter bauen kann.


Manches Maͤdchen iſt uͤberwunden, an welches
niemand ſich gewaget haͤtte, wenn es zu rechter Zeit
empfindlich geworden waͤre, da zuerſt etwas vor-
gebracht ward, das Augen oder Ohren beleidigte.
Durch ein boͤſes Buch, durch einen luſtigen Vers,
durch ein Bild habe ich manches Maͤdchen verſucht;
wenn es nicht boͤſe, ſondern nur roth ward, wenn
es gar laͤchelte, ſo habe ich es mit dem alten Mul-
E e 2ciber
[436]
ciber gleich in meine Rolle geſchrieben. Was fuͤr
heilſame Warnungen koͤnnte ich den ſchelmiſchen
Maͤdchens geben, wenn ich wollte! Vielleicht be-
weget mich in meinem traurigen Alter der Neid zu
dem guten Wercke, ihnen einen Wegweiſer aufzu-
richten, dazu ich mich aus Liebe zu der Tugend nicht
entſchlieſſe.


Dienſtags Nachmittags.


Wenn unſere Geſellſchaft in London iſt, ſo
ſollt ihr mich bald nach meiner Ankunft zu ſehen be-
kommen. Mein Kind befindet ſich etwas beſſer.
Die Augen ſind munterer, und die angenehme Stim-
me, die ich vor kurtzer Zeit kaum vernehmen konnte,
reitzet mich von neuem. Allein ſie hat noch keine
Liebe, keine Sinnen: die Bedeutungs-vollen, und
doch ſo genannten unſchuldigen Freyheiten, dadurch
ſich andere erweichen laſſen, darf man gegen ſie
nicht gebrauchen. Es verdienet dieſes noch mehr
Verwunderung, weil ſie ihre Zuneigung zu mir
nicht leugnet, und ſehr bekuͤmmert iſt: denn der
Kummer pflegt ſonſt das ſchoͤne Geſchlecht zu erwei-
chen. Eine bekuͤmmerte liebenswuͤrdige Perſon
ſiehet ſich nach Troſt um, und will ſich gern ſchmei-
cheln laſſen. Freude und Kummer ſind Hausge-
noſſen. Sie laſſen ſich zwar nicht in einem Fenſter
ſehen, allein ſie ſind doch nie weit von einander.



Der ſechszigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Joh. Belford.



Endlich
[437]

Endlich hat mein gluͤcklicher Stern uns in den
erwuͤnſchten Hafen gebracht, und wir ſind an
das Land geſtiegen. Mit Recht ſinget Rowe:


Die Klugheit ſiegt, weil ſie es wagt

Die Schwuͤrigkeiten zu beſiegen:

Des Thoren matte Faulheit klagt,

Daß Steine in dem Wege liegen;

Es liegt der Stein auch wuͤrcklich da,

Den er zu Anfang traͤumend ſah.

Allein mitten in meiner Freude empfinde ich etwas,
das ich zwar nicht nennen kann, dadurch mir die
Freude bitter wird. Wenn es nicht das Gewiſſen
ſelbſt iſt, ſo muß es doch dem Dinge ſehr aͤhnlich
ſeyn, welches ich vor mehreren Jahren Gewiſſen
nannte.


Du ſprichſt: dein guter Vorſatz, Lovelace,
wird doch nicht ſchon wieder verſchwunden ſeyn!
du wirſt doch nicht an deiner Fraͤulein zum Schelm
werden.


Jch weiß ſelbſt nicht, was ich antworten ſoll.
Warum nahm das liebe Kind meine Bitte nicht an,
die aus einem ſo aufrichtigen Hertzen an Sie gebracht
ward? Nachdem ſie hier iſt, gewinnen die Sachen
ein anderes Anſehen. Unſere Mutter und ihre Toͤch-
ter ſind ſchon um mich herum geweſen. Es heißt:
das iſt ein unvergleichliches Frauenzimmer. Was
fuͤr Farbe! wie ſchoͤne Augen! wie erhaben und
vornehm in jedem Anblicke! O Herr Lovelace,
wie gluͤcklich ſind ſie? Allein uns haben ſie das
Frauenzimmer zu dancken. ‒ ‒ Sie erinnern mich
E e 3wieder
[438]
wieder an der Rache, die ich der Harlowiſchen Fa-
milie ſchuldig bin. Sally brach bey ihrem Anblick
in die Worte des Drydens aus:


Zum Hohn der Lilie, die durch das friſche

Gruͤn

Jhr reitzend Antlitz zeigt: dem Fruͤhling

vorzuziehn,

Wenn er zuerſt erwacht, und die geſchloß-

ne Bluͤte

Mit friſchen Saͤfften fuͤllt.

Eine halbe Stunde nach unſerer Ankunft lies ich
mich in deinem Hauſe anſagen, damit ich deinen
Gluͤckwunſch empfangen moͤchte. Allein du ſcheinſt
zu Edgware geweſen zu ſeyn.


Meine Geliebte befindet ſich jetzund beſſer, und
vergnuͤget ſich an ihren gewoͤhnlichen Zeitvertreib,
nehmlich der Feder. Jch muß dieſen Zeitvertreib
auch erwaͤhlen, bis ſie mir erlaubet, daß ich vor ſie
kommen darf. Jch habe allen im Hauſe ſchon be-
fohlen, wie ſie ſich auffuͤhren ſollen.


Jetzt eben kommt die Witwe, und bringet die
Dorcas mit. Dorcas Wykes ſoll bey meiner
Schoͤnen Cammer-Kaͤtzgen werden: ich werde ſie
beyde auf ihr Verlangen zu meinem Kinde fuͤhren.


Jch habe ſo viele Gelegenheit in Haͤnden, mein
Kind zu fangen, daß ich nicht weiß, welche ich
waͤhlen ſoll.



Sie hat das ehrliche Maͤdchen in Dienſte genom-
men. Es iſt von guten Leuten, allein es iſt in der
Erziehung verſaͤumt, und im hoͤchſten Grad un-
wiſſend.
[435[439]]
wiſſend. Es kann weder ſchreiben noch geſchriebe-
nes leſen. Weil das Maͤdchen eine Anverwandte
der Frau Sinclair iſt, und ſie ſelbſt kam, um ſie
anzubieten; ſo konnte meine Schoͤne nicht wohl
nein ſagen, ſonderlich, da es nicht laͤnger dienen
ſoll, als bis Hannichen kommen kann. Wie vie-
le Vortheile hat ein dreiſtes Gemuͤth, wenn es mit
einem gefaͤlligen Gemuͤthe zu thun hat! ‒ ‒ Jch
kann vielleicht durch dieſe Gelegenheit einige Nach-
richt von dem Briefwechſel der Fraͤulein und deſſen
Jnhalt bekommen: denn ſie braucht nicht im
Schreiben ſo vorſichtig zu ſeyn, ja ſie kann auch
Briefe auf dem Tiſche liegen laſſen, weil Dorcas
kein geſchriebenes leſen kann.


Dorcas iſt ein angenehmes und reinliches Maͤd-
chen, ſo wohl in Abſicht auf die Geſtalt als Klei-
dung. Jch hoffe, daß ſie ihr erlauben wird eine
Woche lang bey ihr zu ſchlaffen, bis ſie des Hauſes
mehr gewohnt wird. Jch merckte zwar, daß ſie ihr
bey dem erſten Anblick nicht recht gefiel, ob ſie gleich
meiner Meinung nach ſehr demuͤthig und beſcheiden
war. Sie ging beynahe zu weit: ſie trat zuruͤck,
und unterſtand ſich kaum, die Fraͤulein anzuſehen.
Die Lehre, von den Zuneigungen und Abneigungen
der Gemuͤther, iſt eine ſonderbare Lehre: es ſteckt
noch vieles unerkannt darin. Allein Dorcas ſoll
ſo gefaͤllig und hoͤflich ſeyn, als es moͤglich iſt, und
ich hoffe, daß ſie das Hertz der Fraͤulein gewinnen
wird. Jch weiß gewiß, daß ſie ſich von der Fraͤulein
nicht gewinnen oder beſtechen laͤßt: das iſt ein Gluͤck
fuͤr mich. Denn wenn Fraͤulein und Cammer-
E e 4Maͤd-
[440]
Maͤdchen eines Sinnes ſind, ſo wird ihnen ein
Schock Teuffels nichts anhaben.


Mein liebes Kind that auch ungemein fremde
und bloͤde, als die Witwe bey dem Ausſteigen
es bewillkommen wollte. Jch haͤtte gedacht, daß
Dolemans Brief die Fraͤulein ſchon zum voraus
darauf bereitet haͤtte, eine Frau mit einem Kerls-
Geſichte zu ſehen.


Weil ich eben an den Brief gedencke, ſo frage
ich dich: willſt du mir nicht Gluͤck wuͤnſchen?


Gluͤck? Wozu?


Gluͤck zu meiner Verheyrathung. Geſagt und
gethan iſt bey mir einerley, wenn ich es will. Wir
ſind ein Paar Eheleute: allein wir gehen noch nicht
mit einander zu Bette. Jch habe mich durch ein
heiliges Geluͤbde zu dieſer Enthaltſamkeit verpflich-
ten muͤſſen, bis ſie mit den Jhrigen ausgeſoͤhnet iſt.
So iſt das Frauenzimmer unſeres Hauſes berichtet.
Sie haben dieſe Nachrichten fruͤher als meine Ge-
liebte. Und das iſt wunderbar genug! wirſt du
ſagen.


Allein wie ſoll ich die Nachricht meinem Kinde
beybringen, ohne es voͤllig zu erzuͤrnen? Doch iſt
ſie nicht hier? in der Sinclairs Hauſe? Wenn
ſie mich nur hoͤren will, ſo ſoll ſie mit meinen Gruͤn-
den zufrieden ſeyn.


Sie wird ohne Zweifel darauf beſtehen, daß ich
ſie verlaſſen und am allerwenigſten mit ihr unter
einem Dache bleiben ſoll. Die Umſtaͤnde haben
ſich ſeit der Zeit, da ich dieſes verſprach, geaͤndert.
Jch habe alle ledige Zimmer gemiethet, und meine
Abſicht muß mir gluͤcken.

Jch
[441]

Jch hoffe, daß ſie bald die oͤffentlichen Luſtbar-
keiten genieſſen ſoll. Sie iſt gantz fremde in der
Stadt, und weiß weniger von den hieſigen Luſtbar-
keiten, als irgend ein Frauenzimmer von ihrem
Stande und Geſchmack. Sie hat zwar ſchon von
Natur mehr guten Geſchmack und Lebens-Art, als
andere durch Muͤhe erlangen koͤnnen. Jch habe
noch keine geſehen, die ſo viel Geſchicklichkeit beſaß,
aus einer ihr bekannten Sache ſich von hundert un-
bekannten aͤhnlichen Dingen eine Vorſtellung zu
machen. Sie wandte ihre Zeit auf eine ſo auserle-
ſene Weiſe in ihrer Eltern Hauſe an, ehe ſie daraus
vertrieben ward, daß ſie weder Zeit noch Luſt haben
konnte, die Luſtbarkeiten von London kennen zu
lernen.


Dieſes ihr neue Vergnuͤgen wird ſie einnehmen.
Meine Schoͤne muͤßte gantz des Teufels ſeyn, wenn
ſie hiedurch nicht noch bequemer gegen mich wird,
nachdem ſie mir einmahl erlaubet hat, von Liebe zu
reden, inſonderheit wenn ich mit ihr unter einem
Dache wohne. Jch will zufrieden ſeyn, wenn auch
ihre Gefaͤlligkeit gegen mich zu Anfange nur wie ein
fruͤhes Bluͤmchen iſt, das bey kaltem Wetter her-
vorgeſproſſen iſt, und von jedem friſchen Winde ge-
toͤdtet werden kann.


Jn einem meiner vorigen Briefe meldete ich dir,
daß ich ſchon dafuͤr geſorget habe, daß meine Fraͤu-
lein auch in ihrem Cloſet einen Zeit-Vertreib findet.
Sally und Marichen leſen jetzt ſtarck. Jhre
Buͤcher hatten ſonſt ihren Platz in dem Cloſet mei-
nes lieben Kindes, in welchem ſich auch einige er-
E e 5bau-
[442]
bauliche Buͤcher finden, die nicht ohne Urſache alt
gekauft ſind.


Jch habe mich gemeiniglich in meinem Urtheil
uͤber das Frauenzimmer ſehr nach den Buͤchern ge-
richtet, die ſie laſen: und dieſes iſt mir in und auſſer
England oft ſehr nuͤtzlich geweſen. Vielleicht iſt
dieſes loſe Kind in dieſem Stuͤcke eben ſo aufmerck-
ſam als Lovelace.


So viel vor dieſesmahl. Du ſieheſt, daß ich
viel zu thun habe: ich will aber dennoch bald wieder
ſchreiben.


Es lag in dieſem Briefe noch ein Schrei-
ben von Herrn
Lovelacen, darin er meldet,
daß die junge
Sorlings mit ihnen ausgerei-
ſet ſey, und ſie zu Barnet verlaſſen habe.
Allein weil dieſe Umſtaͤnde in dem Briefe
der Fraͤulein erzaͤhlet ſind, ſo wollen wir
den Brief hier auslaſſen.



Der ein und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Endlich bin ich zu London in meiner neuen
Wohnung. Die Zimmer ſind wohl meu-
blirt,
und die Lage iſt ſo angenehm, als man ſie
in der Stadt wuͤnſchen kann. Allein ſie muͤſſen
mich nicht fragen, wie mir meine Wirthin gefaͤllt,
ob
[443]
ob ſie gleich ſehr hoͤflich und dienſtfertig zu ſeyn ſchei-
net. Jhre Verwantinnen kamen eben zu mir, mich
zu bewillkommen: es ſcheinen artige Maͤdchens zu
ſeyn. Jch will aber mehr von ihnen und von der
Frauen ſchreiben, wenn ich mehr ſehen werde.


Die Jungfer Sorlings hat einen Onckel zu
Barnet. Dieſen fand ſie ſo kranck, daß ich ſie
nicht hindern mochte, ihm zur Wartung zu Barnet
zu bleiben, weil ſie ſeinetwegen ſehr unruhig war,
und von ihm etwas zu gewarten hat. Jch haͤtte
zwar gewuͤnſcht, daß ſie, weil doch ihr Onckle ſie
nicht erwartet hatte, mich vorher nach London be-
gleiten, und meine neue Einrichtung ſehen moͤchte.
Herr Lovelace drang noch ernſtlicher hierauf, und
erbot ſich, ſie in ein Paar Tagen zuruͤck zu ſchicken,
weil doch bey ihres Onckles Kranckheit keine ſo gar
nahe Gefahr waͤre. Als ich aber alles ihrem Gut-
befinden uͤberließ, nachdem ich ihr meine Meinung
geſagt hatte, ſo gab ſie mir nicht die Antwort, dazu
ich mir Hoffnung gemacht hatte. Herr Lovelace
beſchenckte ſie aber dennoch bey ihrem Abſchiede
reichlich.


Sein Edles Betragen macht, daß ich oͤfters
wuͤnſche, daß er ſich beſtaͤndig gleich ſeyn moͤchte.


So bald ich angekommen war, nahm ich von
meiner Stube Beſitz. Wenn ich lange hier bleibe,
ſo will ich mir das Cloſet wohl zu Nutze machen.


Einer von den Leuten, die er bey ſich hatte, ge-
het morgen nach der Forſt zuruͤck. Jch bat mir
aus, daß ich mich von ihm entfernen duͤrfte, weil
ich an Sie ſchreiben wollte.


Soll
[444]

Soll ich Sie nicht ſchelten, daß Sie ein ſo uͤber-
eiltes Geluͤbde gethan haben, Herrn Hickmann
nicht gluͤcklich zu machen, ſo lange mein Gluͤck noch
zweifelhaft iſt? Jch hoffe, Sie werden ſich ſelbſt
des Geluͤbdes erlaſſen koͤnnen. Denn was wuͤrde
mir die Erfuͤllung ihres Geluͤbdes helfen, wenn
ich in Ungluͤck geriethe? Der Eheſtand iſt der rech-
te Stand der Freundſchaft: wenn die Ehe gluͤck-
lich iſt, ſo vermindert ſie unſern Kummer, weil wir
ihn theilen koͤnnen, und verdoppelt unſer Vergnuͤ-
gen, weil der andere Theil eben ſo vieles Vergnuͤgen
uͤber unſere angenehmen Umſtaͤnde empfindet, als
wir. Wenn Sie mich aufrichtig lieben, ſo ſollten
Sie vielmehr ſuchen, mir noch einen aufrichtigen
und zuverlaͤßigen Freund zu verſchaffen, da ich mich
noch nicht mit Gewißheit ruͤhmen kann, daß ich zwey
Freunde in der Welt habe. Wenn der letzte Ge-
burts-Tag Jhrer Frau Mutter, nach deren Abſicht,
auch Herrn Hickmans Freuden-Tag geweſen waͤ-
re, ſo wuͤrde ich eine Zuflucht gehabt haben, und
manchem Verdruß entgangen ſeyn.



Herr Lovelace ſtoͤrete mich in Fortſetzung mei-
nes Briefes. Er meldete die Witwe bey mir, und
dieſe brachte mir eine Baſe, und bat, daß die mir
aufwarten duͤrfte, bis daß Hannichen kommen koͤnn-
te, oder bis ich auf andere Art verſorget waͤre. Die
Witwe gab ihr ein gutes Zeugniß, allein ſie ſagte,
ſie haͤtte einen Haupt-Mangel: ſie koͤnnte weder
ſchrei-
[445]
ſchreiben noch geſchriebenes leſen, weil ſie in der
Jugend verſaͤumt waͤre. Allein an Demuth, Treue,
und Dienſtfertigkeit wuͤrde ich ihres gleichen nicht
finden. Sie ruͤhmte ſie auch, daß ſie ſchoͤne Arbeit
machen koͤnnte. Jhren einzigen Fehler kann ich
ihr leicht vergeben. Sie iſt angenehm und wohl-
gezogen, ja bey nahe fuͤr eine Bediente allzu
wohlgezogen. Was mir mißfaͤllt, iſt ihr ſchlaues
ſchelmiſches Auge: ich habe noch niemahls ſo li-
ſtige Augen geſehen. Es ſcheint auch etwas drei-
ſtes in ihren Augen zu ſeyn. Allein Frau Sin-
clairs
ſelbſt (denn ſo heiſt die Witwe) hat win-
ckende Augen. Jhre Ehrerbietung ſcheint mir
kuͤnſtlicher zu ſeyn, als ich ſie in einer Stadt von ſo
freyer Lebens-Art als London iſt, erwartet haͤtte.
Die Dorcas (denn ſo heiſt das Maͤdchen) ſoll
nicht lange bey mir bleiben.


Jch nahm ſie an, denn wie konnte ich es anders
machen! Wenn ich gleich einige Einwendungen haͤt-
te machen wollen, welches ich doch in meinen jetzigen
Umſtaͤnden nicht thun wollte, ſo war ihre Baſe und
das Maͤdchen gegenwaͤrtig, und Herr Lovelace
gab ſich ſelbſt die Muͤhe, ſie aus Gefaͤlligkeit gegen
mich auf meine Stube zu fuͤhren. Als ſie weggin-
gen, und ich merckte, daß er Luſt haͤtte bey mir zu
bleiben, ſagte ich: ich baͤte mir zum voraus aus,
daß ich auf dieſem Zimmer immer einſam moͤchte
ſeyn koͤnnen. Wenn ich ihn ſpraͤche, ſo muͤßte es
in dem Speiſe-Zimmer geſchehen: ich wuͤnſchte,
daß ich hier nicht leicht moͤchte geſtoͤret werden. Er
ſuchte
[446]
ſuchte auf eine ſehr ehrerbietige Weiſe die Thuͤr,
und bat mich, daß ich ihm meine Geſellſchaft in dem
Speiſe-Zimmer goͤnnen moͤchte. Jch antwortete:
wenn er jetzt eben in ſeine neue Wohnung ziehen,
und mich verlaſſen wollte, ſo wollte ich mit ihm hin-
unter gehen; wenn es aber noch Aufſchub litte, ſo
wuͤnſchte ich meinen Brief an Sie vorher zu endigen.


Jch ſehe, daß er gar keine Luſt hat mich zu ver-
laſſen, falls er deſſen Umgang haben kann. Mei-
nes Bruders Anſchlaͤge koͤnnen ihm einen Vorwand
geben, mich zu bitten, daß ich ihn ſeines Verſpre-
chens erlaſſen ſoll. Allein wenn ich es jetzt thue,
ſo iſt die Folge davon, daß er immer um mich blei-
ben wird.


Dadurch, daß ich ſein freundliches Bezeigen
wohl aufgenommen habe, als ich mich in der groͤſſe-
ſten Traurigkeit befand, glaubt er ein Recht zu ha-
ben, alle die Freyheiten gegen mich zu gebrauchen,
die einem Liebhaber, den wir zu lieben und zu hoffen
erlauben, vergoͤnnet ſind. Jch lerne bey ihm die
Wahrheit: daß ein Frauenzimmer nicht zuruͤck ge-
hehen kann, wenn es nur einen Schritt mit dieſem
Geſchlechte gewaget hat. Eine jede Erlaubniß ziehet
eine neue Erlaubniß nach ſich. Seit Sonntages hat
er nicht aufgehoͤret, ſich daruͤber zu beſchweren, daß
ich ſo fremde gegen ihn bin: er unterſtehet ſich mir
daraus einen Vorwurf zu machen, daß er an
meiner Werthachtung gegen ſich zweiffeln muͤſſe,
und dieſen Zweifel gruͤndet er darauf, daß ich be-
reit bin, ihm zu entſagen, wenn dieſes eine Bedin-
gung der Verſoͤhnung mit den Meinigen ſeyn ſollte.
Und
[447]
Und dennoch finde ich nicht mehr die gehorſame
Zaͤrtlichkeit bey ihm, die mich ihm ſo geneigt ma-
chet, daß er ſich jetzt berechtiget halten kann, neue
Foderungen an mich zu bringen.


Als wir noch in der Thuͤr mit einander redeten,
ſo kam mein neues Cammer-Maͤdchen, und rief uns
hinunter, den Thee zu trincken. Jch antwortete:
er moͤchte hinunter gehen, wenn es ihm beliebig
waͤre; allein ich wollte fortfahren zu ſchreiben. Jch
verlangte heute weder Thee noch Abend-Eſſen: ich
baͤte ihn deswegen, daß er mich entſchuldigen und
ſagen moͤchte, ich wuͤrde ſo viel als moͤglich allein
zu ſeyn ſuchen. Er koͤnnte indeſſen verſprechen,
daß ich mich morgen fruͤh bey der Witwe zum
Fruͤh-Stuͤck einfinden moͤchte.


Er meinte: es lieſſe bey fremden Leuten gar zu
ſonderbar, wenn ich mich wegerte bey dem Abend-
Eſſen zu ſeyn.


Jch antwortete: ſie wiſſen ſelbſt, und ſie koͤnnen
mit Wahrheit ſagen, daß ich des Abends ſelten zu
eſſen pflege. Jch bin ſehr niedergeſchlagen. Sie
muͤſſen nie eine Bitte bey mir anbringen, wenn ich
mich ſchon deutlicher daruͤber erklaͤret habe, was
meine Meynung iſt. Jch bitte ſie, geben ſie den
Leuten von allen meinen Umſtaͤnden Nachricht.
Wenn ſie zu leben wiſſen, ſo wird dieſes eine ge-
nugſame Entſchuldigung fuͤr mich ſeyn. Jch
bin nicht nach London gekommen, mir Bekannt-
ſchaften zu erwerben.


Jch habe die Buͤcher durch geſehen, die ich in
meinem Cloſet fand, Sie gefallen mir: und ich
bekom-
[448]
bekomme von den Leuten im Hauſe eine beſſere Mei-
nung. Es ſind: Stanhopes Evangelien: Scharps,
Tillotſons
und Souths Predigten: Nelſons Feſt-
und Faſt-Tage: des Biſchofs von Man und des
Doctor Gaudens Buͤcher vom Abendmahl. Dieſe
finden ſich unter den geiſtlichen Buͤchern. Die ver-
miſchten Buͤcher ſind auch nicht uͤbel ausgeſucht;
als, der Telemaque, Franzoͤſiſch: Steele’, Rowe’
und Shakeſpears’ Luſt-Spiele: die artige Comoͤ-
die des Cibbers, nehmlich der ſorgloſe Ehemann
und andere Schrifften von eben der Hand: Dry-
dens
vermiſchte Wercke. Der Schwaͤtzer, der
Zuſchauer, wie auch die Wercke von Pope, Swift
und Addiſon.


Auf dem erſten Blat des Nelſons und Gau-
dens
ſtehet der Nahme der Frau Sinclairs: in
den meiſten uͤbrigen aber Sara Martin, oder
Maria Harton. So heiſſen ihr beyden Baſen.



Jch bin uͤber Herr Lovelacen ſehr verdrießlich,
und zwar mit Recht. Wenn Sie das werden ge-
leſen haben, was ich Jhnen von meiner Unterre-
dung mit ihm melden will, ſo werden Sie gewiß
fuͤr mich einen guͤnſtigen Ausſpruch thun.


Er ließ mir keine Ruhe, bis ich zu ihm herun-
ter in das Speiſe-Zimmer kam. Das erſte, ſo
er mir ſagte, war: er ſey auſſer Hauſe geweſen,
und habe ſich nach unſerer Wirthin genauer erkun-
diget. Es ſey dieſes um ſo viel noͤthiger geweſen,
weil er glaubte, ich wuͤrde erwarten, daß er oͤfters
abweſend waͤre.


Jch
[449]

Jch ſagte: das erwartete ich allerdings. Er
wuͤrde doch nicht in eben dem Hauſe wohnen wollen!
Er moͤchte mir indeſſen die Nachrichten mittheilen,
die er eingezogen haͤtte.


Er ſagte: uͤberhaupt habe er Urſache gantz ver-
gnuͤgt uͤber das zu ſeyn, was er gehoͤrt haͤtte. Weil
aber die Fraͤulein Howe glaubte, daß mein Bru-
der noch gefaͤhrliche Abſichten haͤtte, und die Witwe
von der Haus-Miethe lebte, und noch mehr Zimmer
in dem Hinter-Hauſe ledig ſtehen haͤtte, die eine
uns gefaͤhrliche Perſon miethen koͤnnte: ſo waͤre fuͤr
ihm das ſicherſte, das gantze Haus zu miethen, falls
ich nicht Luſt haͤtte auszuziehen. Es wuͤrde nicht
viele Unkoſten machen, weil ich doch nicht lange hier
bleiben wuͤrde.


Dieſes alles war gut. Jch ſahe indeſſen wohl,
daß er die Wittwe in der Abſicht nur ſehr mittel-
maͤßig lobete, damit er einen Vorwand haben moͤch-
te, bey mir zu bleiben. Jch fragte ihn alſo, was hier-
in ſeine Meinung waͤre? Er geſtand ohne Scheu:
wenn ich in dieſem Hauſe bleiben wollte, ſo koͤnnte
er ſich bey ſo bewandteu Umſtaͤnden keinen halben
Tag lang von mir entfernen. Er haͤtte der Witwe
ſchon zum voraus zu verſtehen gegeben, daß wir nicht
lange hier bleiben wuͤrden, weil wir uns nach einem
bequemen Hauſe, das unſerm Stande gemaͤß waͤre,
umzuſehen gedaͤchten. Er haͤtte dieſes aus Vorſich-
tigkeit gethan, damit ich weniger Verdruß von Ver-
aͤnderung der Miethe haben moͤchte.


Uns nach einem andern Hauſe umſehen? Wir!
uns! unſer!
Wie ſoll ich das verſtehen?


Dritter Theil. F fEr
[450]

Er fiel mir in die Rede. Wenn mein Kind
nur Geduld haben koͤnnte, mich auszuhoͤren! Jch
fuͤrchte faſt, daß ich aus Uebereilung zu weit gegan-
gen bin, weil ich mir ihren Befehl nicht vorher aus-
gebeten habe. Weil meine Freunde zu London,
(ſie wiſſen das ſchon aus Herrn Dolemans Briefe)
meine Freunde haben geglaubt, ich ſey verheyrathet‒‒


Mein Herr, ſie werden ſich doch nicht unterſtan-
den haben ‒ ‒ ‒


Hoͤren ſie mich doch nur aus. Sie ſind uͤber mei-
ne letzten Liebes-Erklaͤrungen nicht ungehalten ge-
worden. Sie haben mir einige Hoffnung gegeben,
daß ich ihr Ja und ihre Hand erhalten ſollte. Sie
haben aber dennoch meine allerzaͤrtlichſte Bitte in
der Frau Sorlings Hauſe abgewieſen, und mich
wegen eines allzu langen Verzuges in Sorgen ge-
ſetzt. Jch will nicht ſo eigennuͤtzig ſeyn, daß ich
ſie gleichſam mit Gewalt uͤbereilen will, nachdem
ſie angefangen haben mir die Ehre zu erzeigen, und
einiges Vertrauen in mich zu ſetzen: indeſſen hat
doch ihr Bruder noch ſeine Abſichten. Jch fuͤrchte,
daß Singleton ſich jetzt in London auf haͤlt: ſein
Schiff lieget zu Rotherhith. Jhr Bruder iſt
jetzt nicht zu Hauſe, ob er gleich (ſo viel ich weiß)
nicht in Singletons Geſellſchaft iſt. So bald man
weiß, ja ſo bald man glaubt, daß ſie die meinige
ſind, werden alle Anſchlaͤge ihres Bruders am Ende
ſeyn. Die Witwe mag eine rechtſchaffene und ehr-
liche Frau ſeyn: allein ihre guten Eigenſchaften ver-
mehren nur unſere Gefahr, wenn wir von ihrem
Bruder entdeckt werden ſollten. Denn ſie moͤchte
ſich
[451]
ſich vielleicht ein Gewiſſen daraus machen, ſich ei-
nes Kindes gegen ſeine Eltern anzunehmen. Wenn
ſie aber glaubt, daß wir verheyrathet ſind, ſo wird
ſie auf unſerer Seite ſeyn, und alles was man lo-
benswuͤrdiges von ihr erfaͤhrt, kann uns alsdenn
mit Recht zur Beruhigung dienen. ‒ ‒ Jch habe
noch die Sorgfalt gehabt, ihr eine Urſache zu ſagen,
die uns verboͤte, gemeinſchaftliche Zimmer zu be-
wohnen.


Jch ward im hoͤchſten Grad ungehalten und ver-
drieslich, und wollte im Unwillen von ihm gehen.
Allein er wollte mich nicht gehen laſſen. Was konn-
te ich thun? Wohin ſollte ich mich am ſpaͤten Abend
wenden?


Jch ſagte: ich erſtaune gantz uͤber ſie. Wenn
ſie ehrlich handeln, wozu brauchen ſie denn alle die-
ſe krummen Zuͤge? Sie haben an allem, was nur
krumm iſt, ihre Luſt. Weil ich doch von ihnen
nicht los kann, (denn er hielt mich immer bey der
Hand) ſo erzaͤhlen ſie mir alles, was ſie geſagt ha-
ben. Gewiß, Herr Lovelace, ich kann mich gar
nicht in ſie finden.


Mein liebes Kind, brauchte ich ihnen das zu er-
zaͤhlen, wenn ich nicht aufrichtig handeln wollte?
Jch haͤtte ohne ihr Wiſſen in dieſem Hauſe bleiben
koͤnnen, wenn ich nicht in allen Stuͤcken mich nach ih-
rem Urtheil richten wollte. So viel habe ich der Wit-
we in Gegenwart der beyden Baſen und ihres neuen
Cammer-Maͤdchens geſagt: wir haͤtten uns zu Hert-
ford
in der Stille mit einander trauen laſſen. Allein
ich haͤtte vorher heilig verſprochen, und wollte es auch
F f 2heilig
[452]
heilig halten, keine gemeinſchaftliche Zimmer, ja
nicht einmahl eben das Haus mit ihnen zu bewoh-
nen, bis eine gewiſſe Ausſohnung, an der uns beyden
ſehr viel gelegen ſey, veranſtaltet werden koͤnnte. Um
ſie noch mehr von der Reinigkeit meiner Abſichten
zu uͤberzeugen, und daß ich weiter nichts ſuche, als
Ungluͤck zu verhuͤten, ſo kann ich ihnen melden, daß
ich geſagt habe; eben dieſes heilige Verſprechen ver-
binde mich in anderer Gegenwart ſo mit ihnen um-
zugehen, als wenn wir nicht verheyrathet, ſondern
nur verſprochen waͤren. Jch haͤtte mich ſo gar aller
derer unſchuldigen Freyheiten begeben, die ſich auch
das bloͤdeſte Paar nicht zu verbieten pflegte.


Er verſprach mir hierauf nochmahls heilig, daß
er in ſeiner vorigen ehrerbietigen und fremden Auf-
fuͤhrung gegen mich nichts aͤndern wollte.


Jch ſagte: ich koͤnnte die Unwahrheit, die er un-
ten erzaͤhlet haͤtte, auf keine Weiſe billigen, und
ich koͤnnte es ihm nicht vergeben, daß er mich zwin-
gen wollte, mich fuͤr diejenige halten zu laſſen, die
ich nicht waͤre. Alle ſeine Gaͤnge waͤren krumm,
wenn auch gleich der gerade Weg gantz leicht iſt.
Weil er den Leuten im Hauſe Unwahrheiten von mir
geſagt haͤtte, ſo baͤte ich ihn ernſtlich, daß er ſein
Wort zuruͤck nehmen, und ihnen die reine Wahrheit
ſagen moͤchte.


Er antwortete: er haͤtte alles mit ſo vielen Um-
ſtaͤnden erzaͤhlt, daß er lieber das Leben verlieren,
als ſich widerſprechen wollte. Es ſey um der vor-
hin angefuͤhrten Urſachen willen am beſten, wenn
man uns fuͤr Eheleute hielte. Warum (fuhr er
fort)
[453]
fort) ſind ſie ſo ungehalten auf mich, da ich es ſo
gut gemeint habe? Kan ich um anderer Urſachen
willen, als ihrentwegen, ihrem Bruder und
dem Singleton aus dem Wege gehen? Wenn
ich freye Haͤnde haͤtte, ſo wollte ich ſie aufſuchen:
dieſes iſt ſtets meine Gewohnheit geweſen, wenn
mir jemand gedrohet hat. Es iſt wahr, ich ſollte
ſie billig vorher um Erlaubniß gebeten haben. Al-
lein da ich nun ſo ungluͤcklich geweſen bin, wider
ihren Willen eine nuͤtzliche Unwahrheit zu erzaͤhlen,
ſo bitte ich ſie, verwandeln ſie meine Erzehlung in
eine Wahrheit, und ſetzen ſie einen nicht entfernten
Tag dazu veſte! O wenn es doch der morgende Tag
ſeyn moͤchte! Jſt das aber ohnmoͤglich (was
ſollte dieſer Zuſatz, ehe ich noch nein ſagte? Doch
es ſchien faſt, als wenn er ſich vor mir fuͤrchtete)
ſo bitte ich ſie zum wenigſten, daß ſie mich morgen
bey dem Fruͤhſtuͤck nicht zum Luͤgner machen wollen,
wenn ſie an meiner gantzen Auffuͤhrung nichts zu
tadeln finden. Den erſten Augenblick, da ich dieſe
Erzaͤhlung misbrauche, ſtrafen ſie mich oͤffentlich
der Luͤgen. Jch muß ihnen noch einmahl zu Ge-
muͤthe fuͤhren, daß ich dieſe Unwahrheit nicht um
meiner Sicherheit willen erzaͤhlt habe, ſondern um
Ungluͤck zu verhuͤten, um ihnen keine Unruhe zu
machen, und Leute, fuͤr die ich keine Hochachtung
haben kann, von den gefaͤhrlichſten Unternehmun-
gen abzuhalten.


Was konnte ich ſagen oder thun? Jch glaube
gewiß, daß, wenn er mich noch einmahl auf eine
anſtaͤndige Art gebeten haͤtte, ich mich wuͤrde ent-
F f 3ſchloſſen
[454]
ſchloſſen haben, ohngeachtet meines billigen Mis-
vergnuͤgens, an einem heiligeren Orte als der Spei-
ſe-Saal iſt, mit ihm zu erſcheinen. Das aber iſt
mein veſter Entſchluß: er ſoll mit meiner Bewilli-
gung dieſe Nacht nicht in dem Hauſe bleiben. Jch
habe nun ſtaͤrckere Gruͤnde, als vorhin, bey dieſem
Entſchluß zu beharren.



Was fuͤr Eitelkeit iſt es, wenn wir von Entſchlieſ-
ſen reden? Sobald wir uns mit dem andern Ge-
ſchlecht eingelaſſen haben, koͤnnen wir uns nicht
mehr auf eine dauerhafte Art zu etwas entſchlieſſen.
Er gieng zu den Leuten in dem Hauſe hinunter, und
blieb unten bis es Zeit zum Abend-Eſſen war. Er
bat ſich hierauf aus, daß er auf einen Augenblick
vor mich kommen duͤrfte, (wie er es nannte)
und bat mich um Erlaubniß, nur dieſe eintzige Nacht
in dem Hauſe zu bleiben: er wolle morgen gleich
nach dem Caffee das Haus verlaſſen, und entweder
zu dem Lord M. oder nach Eogware reiſen-Wenn
ich aber dieſes nicht billigte, ſo wolle er nicht einmahl
das Abend-Eſſen abwarten, ſondern auſſer Hauſe
ſchlafen, und mich morgen fruͤh um acht Uhr wieder
ſprechen. Allein eine abſchlaͤgige Antwort von mir
wuͤrde unten in dem Hauſe wegen deſſen, was er
erzaͤhlt haͤtte, einer ſonderbaren Auslegung unter-
worffen ſeyn: ſonderlich da er um der angefuͤhrten
Urſache willen als Zimmer auf einen Monath ge-
miethet haͤtte. Jch koͤnnte aber dem ohngeachtet
in ein paar Tagen ausziehen, wenn mir morgen die
Witwe und ihre Baſen nicht gefielen.


Ohn-
[455]

Ohngeachtet alles deſſen, was ich vorhin einen
Entſchluß nannte, kam es mir doch als ein Eigen-
ſinn vor, wenn ich unter dieſen Umſtaͤnden ihn nicht
die eine Nacht in dem Hauſe haͤtte dulden wollen:
ja ich konnte nicht einmahl hoffen, daß er mir ge-
horchen wuͤrde, ſondern ich konnte ihm ſchon an
der Stirne leſen, daß er ſeine Sache ausfechten
wollte. Da ich keine Hoffnung zur Ausſoͤhnung
mit den Meinigen vor mir ſehe, und ſeine Lieaes-
Erklaͤrungen die letzte Zeit weniger als vorhin ab-
gewieſen habe; ſo hatte ich nicht Luſt, mich ohne
Noth mit ihm zu zancken, ſonderlich, da er ſich
Erlaubni[ß] ausbat, nur eine Nacht in dem Hauſe
zu bleiben, welches er leicht ohne mein Vorwiſſen
haͤtte thun koͤnnen. Sie ſelbſt glauben, daß der
hochmuͤthige Menſch ein Mistrauen in ſeine Ver-
dienſte, oder in meine Werthachtung gegen ſich ſetze,
und etwas von mir erpreſſen wolle, daß er guͤnſtig
fuͤr ſich auslegen koͤnne. Jch gab deswegen in
dieſem Stuͤcke nach: allein ich war ſo misvergnuͤgt
uͤber das andere dreiſte Vorgeben, daß ich ohn-
moͤglich mit der gefaͤlligen Art ihm ſeine Bitte be-
willigen konnte, mit der ich ſie haͤtte bewilligen,
oder ſchlechterdings abſchlagen ſollen. Jch ſagte:
wenn ſie etwas thun wollen, ſo heißt es gleich, ſie
muͤßten es thun. So leicht ſie etwas verſprechen,
ſo leicht wiederrufen ſie es auch wieder. Sie
ſagen jetzt, daß ſie morgen fruͤh auf das Land
re iſen wollen. Sie miſſen, wie uͤbel ich mich be-
funden habe: Jch habe mich noch nicht ſo viel wie-
der erholt, daß ich mich uͤber einen jeden Schritt, den
F f 4ſie
[456]
ſie ſich unterſtehen zu thun, mit ihnen zancken kann.
Jch bin ſehr ſchlecht uͤber die Unwahrheit erbauet,
die ſie unten erzehlet haben: und ich kann ohnmoͤg-
lich verſprechen, morgen die verlangte Comoͤdie zu
ſpielen, und mich vor diejenige auszugeben, die ich
nicht bin.


Er gieng ſehr demuͤthig weg, und bat ſich weiter
nichts aus, als daß ich ihm morgen fruͤh ſo begegnen
moͤchte, daß die Leute im Hauſe keinen Argwohn
ſchoͤpfen koͤnnten, als haͤtte er mich beleidiget.


Jch gieng in mein Zimmer zuruͤck: Dorcas kam
bald nachher herauf, und erkundigte ſich, ob ich et-
was zu befehlen haͤtte. Jch ſagte ihr: ich brauchte
ſehr wenige Aufwartung, weil ich mich ſelbſt aus
und an zu kleiden pflegte.


Sie ſchien hieruͤber beſtuͤrtzt zu werden, nicht
anders als wenn ich ſie abgefuͤhret haͤtte; und ſagte,
ſie wuͤrde ſich auf das aͤußerſte bemuͤhen, dienſtfertig
zu ſeyn. Jch antwortete ihr; es wuͤrde ihr nicht
viel Muͤhe koſten mir Vergnuͤgen zu erwecken. Jch
wuͤrde ihr ſelbſt ſagen, worin ich Aufwartung
brauchte: allein dieſen Abend koͤnnte ich ihrer ent-
behren.


Sie iſt nicht allein artig, ſondern ſie hat auch
viel von dem, was man Welt nennet, und weiß
ſich ſehr wohl auszudruͤcken. Sie muß eine recht
vornehme Erziehung gehabt haben: und deſto mehr
iſt es zu verwundern, wie Eltern haben koͤnnen den
beſten Theil der Erziehung verſaͤumen, der zur
Ausbeſſerung des Gemuͤthes ſo viel beytraͤget, und
der ihr uͤbriges wohlgezogenes Weſen erſt recht an-
genehm machen wuͤrde.

So
[457]

So bald ſie weggegangen war, beſahe ich die
Thuͤren, die Fenſter, das Tafel-Werck, und
die beyden Cloſets an der Stube, (deren das eine
keine Fenſter hat:) und da ich fand daß alles wohl
verwahrt iſt, wende ich mich wieder zu meinem
Schreib-Zeuge.



Frau Sinclair gehet eben von mir weg. Dor-
cas
hatte ihr geſagt, daß ich dieſen Abend ihr Ur-
laub gegeben haͤtte. Sie kam deswegen noch, um
ſich zu erkundigen, wie mir die Zimmer gefielen, und
mir eine gute Nacht zu wuͤnſchen. Sie beklagte,
daß ſie meine Geſellſchaft bey dem Abendeſſen nicht
gehabt haͤtten: Herr Lovelace (ſagte ſie) habe
ihr zu verſtehen gegeben, daß ich die Stille liebete,
und ſie verſicherte, daß ich in meiner Einſamkeit
nicht ſollte geſtoͤret werden. Sie lobete ihn ſehr,
und als ſie auf ſeine Geſtalt zu ſprechen kam, gab
ſie mir auch einen Antheil an ſeinem Lobe: bedaure-
te aber, daß ſie uns ſo bald verlieren ſollte, als ſie
von Herrn Lovelacen verſtanden haͤtte.


Jch antwortete ihr hoͤflich, und ſie nahm ſo ehr-
erbietig Abſchied, daß es bey dem groſſen Unter-
ſchied unſerer Jahre mir faſt zu viel gethan ſchien,
ſonderlich da ſie die Witwe eines angeſehenen Man-
nes iſt, und ſich in Kleidung ſo wohl auffuͤhret, und
ein ſo ſchoͤnes und gut meublirtes Haus hat, daß
ihre Umſtaͤnde nicht duͤrftig ſeyn koͤnnen, und ſie der
Mangel nicht zwinget, ſich ſo ſehr herunter zu laſſen.


Wenn ſie ohngeachtet des Verbots Jhrer Mut-
ter fortfahren wollen, zu ſchreiben, ſo nennen Sie
F f 5mich
[458]
mich in der Aufſchrift Laͤtitia Braumont, und
ſchreiben Sie auf den Brief, daß er in Wilſons
Hauſe in Pall Mall
abzugeben ſey, und abge-
fodert werden wuͤrde. Es iſt dieſes Herrn Love-
laces
eigener Vorſchlag, ob er gleich nicht wußte,
daß Sie verlangeten durch eine dritte Hand mit mir
Briefe zu wechſeln. Seine Abſicht iſt hiebey, zu
verhuͤten, daß mein Bruder meinen Aufenthalt
nicht ausforſchen moͤge, und ich freue mich daruͤber,
daß ich aus dieſer und aus andern Proben ſehe,
daß er endlich glaubt genug Ungluͤck in der Welt
angeſtiftet zu haben.


Wiſſen Sie nicht, wie ſich die arme Hannichen
befindet?


Herr Lovelace iſt ſo voll von Anſchlaͤgen, daß
ich Sie erſuchen muß, genau nach dem Siegel auf
meinen Briefen zu ſehen: ich werde ihre Briefe mit
eben der Sorgfalt unterſuchen. Wenn er in dem
Stuͤcke niedertraͤchtig iſt, ſo werde ich alles Boͤſe
von ihm erwarten, und ihm als meinem alleraͤrg-
ſten Feinde entfliehen.



Der zwey und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.


(Die beyden vorigen Briefe N. 56. 57. waren
in dieſem eingeſchloſſen)



Jch
[459]

Jch habe eben Jhren Brief erhalten. Herr
Hick mann hat mir einen guten Vorſchlag
gethan, wie ich mit Huͤlffe der Poſt alle Ta-
ge mit Jhnen Briefe wechſeln kann. Ein alter Hoͤ-
cker, Nahmens Simon Collins, ein ehrlicher Kerl,
dem ich auch dieſe Briefe mitgebe, nachdem ich weiß,
wo ſie abgegeben werden ſollen, gehet Montags,
Mittewochens und Freytags ordentlich nach Lon-
don, und kann mir Jhre Briefe immer mitbringen,
wenn ſie ſie in Wilſons Hauſe abgeben.


Jch wuͤnſche Jhnen zu Jhrer Ankunft in Lon-
don
von Hertzen Gluͤck, und freue mich daruͤber,
daß Sie einen neuen Muth gefaſſet haben. Jch muß
mich kurtz faſſen. Jch will nicht hoffen, daß Sie Ur-
ſache haben werden, es ſich gereuen zu laſſen, daß Sie
mir den Norris wieder geſchickt haben: ſobald Sie
aber befehlen, werde ich Jhnen aufwarten.


Es thut mir leid, daß Sie Jhre Hannichen
nicht um ſich haben koͤnnen: ſie iſt noch ſehr unpaß,
aber dennoch auſſer Gefahr.


Jch bin begierig, die Nachricht zu haben, die
Sie mir von dem Frauenzimmer Jhres Hauſes ge-
ben werden. Wenn es nicht die rechten Leute fuͤr
Sie ſind, ſo werden Sie es bey dem Fruͤhſtuͤck
bald mercken.


Was ich davon ſagen ſoll, daß er den Leuten weiß
gemacht hat, ſie waͤren mit einander getrauet, weiß
ich ſelbſt nicht. Seine Gruͤnde laſſen ſich hoͤren.
Allein er hat beſtaͤndig zu wunderlichen und uner-
warteten Anſchlaͤgen eine Neigung.


Die
[460]

Die Haus-Geſellſchaft mag Jhnen anſtaͤndig
ſeyn, oder nicht, ſo bitte ich Sie nur, machen Sie
ſich durch ihre edle Aufrichtigkeit keine Feinde, ſon-
dern bedencken Sie, daß wir noch in der Welt ſind.


Jch freue mich, daß Sie Lovelacen durch
ſeine Bitte haben feſſeln wollen, wenn er ſie wie-
derhohlt haͤtte. Jch wundere mich, daß er es
nicht gethan hat. Wiederhohlt er ſie aber nicht
bald, und auf eine ſolche Weiſe, daß Sie ja ſagen
koͤnnen; ſo bleiben Sie nicht laͤnger bey ihm.


Nun er einmahl einen Fuß in dem Hauſe hat,
ſo ſeyn Sie gewiß verſichert, daß er mit gutem Wil-
len weder Tag noch Nacht das Haus verlaſſen wird.


Seine Erzaͤhlung von Jhrer Verheyrathung
wuͤrde ihn mir gaͤntzlich verhaßt gemacht haben,
wenn nicht die Umſtaͤnde ihn entſchuldigten, und
er ſich dadurch einige Gelegenheit machte, dreiſter
mit Jhnen umzugehen. Wenn er das erſtemahl
dreiſte wird ‒ ‒ ‒ Doch es iſt nicht noͤthig, daß ich
Sie warne. Jch glaube nicht, daß er eine gehei-
me Abſicht dabey hat; ſonſt wuͤrde er Jhnen nicht
Nachricht von ſeiner Luͤge gegeben, und ſie dadurch
wachſamer gemacht haben.


Jch werde ſehr genau auf das Siegel eines jeden
Briefes Acht geben. Wenn er in dem Stuͤck nie-
dertraͤchtig iſt, ſo iſt ihr Argwohn gerecht, daß er in
allen Stuͤcken niedertraͤchtig ſeyn wird. Es iſt aber
ohnmoͤglich, daß er ſich gegen ein Frauenzimmer
von Jhren Vorzuͤgen, Stande und Tugend nieder-
traͤchtig beweiſen ſollte. Er iſt nicht dumm: es
iſt ſein eigener Vortheil, wenn er Jhnen wohl be-
gegnet;
[461]
gegnet; alles was er von ſeinen und von Jhren
Verwanten zu gewarten hat, wird etwas dazu bey-
tragen, ihn ehrlich zu machen. Allein ich wuͤnſchte,
daß Sie erſt getrauet waͤren. Dieſes iſt der herr-
ſchende Wunſch


Jhrer
Anna Howe.



Der drey und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch werde von Stunden zu Stunden uͤber Herrn
Lovelace unwilliger, weil er ſo dreiſte iſt,
daß ich ſeine Unwahrheit durch mein Stillſchweigen
bekraͤſtigen ſoll. Jch werde noch misvergnuͤgter
uͤber ihn werden, wenn er nicht den Zweck dabey
gehabt hat, mich durch die Beſchwerlichkeiten, in
welche ich durch dieſe Unwahrheit geſetzt werde, zu
noͤthigen, daß ich ihm bald mein voͤlliges Ja-Wort
gebe. Er hat mir eben einen guten Morgen durch
Dorcas wuͤnſchen laſſen, und ſich Erlaubniß aus-
gebeten, mir in dem Speiſe-Zimmer aufwarten zu
duͤrfen. Vielleicht will er erſt aus meiner Antwort
hierauf rathen, wie ich mit ihm zufrieden bin: ich
habe aber geantwortet, weil ich ihm bey dem Caffee
ſprechen wuͤrde, ſo waͤre es unnoͤthig, daß ich vor-
her in das Speiſe-Zimmer zu ihm hinunter kaͤme.


Um
[462]

Um 10. Uhr.


Jch habe geſucht, eine vergnuͤgtere Geberde an-
zunehmen, ehe ich hinunter gienge. Die Witwe
und ihre beyden Baſen haben mich mit allen erſinn-
lichen Zeichen der Ehrerbietigkeit empfangen. Es
ſind ein paar angenehme Frauenzimmer, ſie ſehen
wohl aus: ſie nahmen etwas zuruͤck haltendes an
ſich, Herr Lovelace hingegen that ſo frey, als wenn
er ſchon lange mit ihnen bekannt geweſen waͤre. Jch
muß ſagen, daß ihn dieſe Auffuͤhrung ſehr wohl
kleidete: es iſt dieſes gemeiniglich der Vortheil, den
ſich junge Herren auf Reiſen erwerben.


Nachdem wir das Fruͤhſtuͤck eingenommen hat-
ten, erzaͤhlete uns die Witwe vieles davon, daß der
ſeelige Obriſte ein guter Soldat geweſen waͤre: ſie
wiſchte ſich ein paar mahl die Augen. Jch will ſie
fuͤr ſo ehrlich halten, daß ich glaube, es ſind Thraͤ-
nen da geweſen, weil ſie es uns gern uͤberreden woll-
te: allein ich habe nichts naſſes geſehen. Sie wuͤnſch-
te mir, daß ich nie aus der Erfahrung lernen moͤch-
te, wie ſchmertzlich es ſey einen ſolchen Mann zu
verlieren, als der ſeelige Obriſte geweſen waͤre, den
ſie uͤber alles geliebet haͤtte. Sie zog das Tuch
von neuem aus der Taſche, und wiſchte ſich die Augen.


Es muß freylich ſehr betruͤbt ſeyn, einen ſolchen
Mann zu verlieren, der den Nahmen eines liebſten
in der That verdienet, und ſich ohne deſſen Schuld
nach ſeinem Tode in ſolchen Umſtaͤnden zu ſehen, die
niedertraͤchtigen und undanckbaren Leuten Gelegen-
heit geben uns Verdruß zu machen. Nach ihrer
Erzaͤhlung hat ſie dieſes Ungluͤck erfahren: ich ward
daruͤber
[463]
daruͤber ſehr beweget, und fieng an eine beſſere Mei-
nung von ihr zu faſſen. Sie wiſſen, daß ich ein
freyes und offenes Hertz habe, und daß mein Geſicht
ordentlich mit dieſem Hertzen uͤbereinſtimmet: zum
wenigſten haben es mir einige Schmeichler ſagen
wollen: Wenn mir meine Geſellſchaft gefaͤllt, ſo
pflege ich ſehr bald mein Hertz mit ihr zu vereinigen,
und ſie eben ſo frey und offenhertzig gegen mich zu
machen, als ich bin: das Mistrauen pflegt ſehr
bald zu verſchwinden. Allein ich weiß nicht, wie
es zugehet, daß ich zu den beyden jungen Frauen-
zimmern kein Hertz faſſen kann.


Die Umſtaͤnde, und die gantze Unterredung, die
bey dem Fruͤh-Stuͤck vorfiel, widerlegen meinen Arg-
wohn: ſonſt ſollte ich faſt dencken, daß Herr Love-
lace
nicht erſt geſtern mit ihnen bekannt geworden
waͤre. Denn er gab ihnen bisweilen einen verſtoh-
lenen Blick, den ſie verſtohlen beantworteten: und
als ich meine Augen auf ſie hinwarf, ſo ſchlugen ſie
die Augen nieder, als wenn ſie ſich vor mir fuͤrchteten.


Die Witwe redete mit niemand, als mit mir
und Herrn Lovelace: und ich ließ es auch geſche-
hen, ob es ſich gleich nicht allzuwohl ſchickte Ein-
mahl ſagte ſie: ſie wunderte ſich, daß irgend einiges
Verſprechen oder Abſichten, ſie moͤchten ſo wichtig
ſeyn als ſie wollten, ein ſo allerliebſtes Paar von
einander trennen koͤnnten. Jch weiß es ihr ſchlech-
ten Danck, daß ſie ſich ſo viel um uns bekuͤmmerte.
Dieſes mahl mußte ich die Augen niederſchlagen, ob
ich gleich ein gutes Gewiſſen hatte. Vielleicht thue
ich auch ihren Baſen Unrecht, wenn ich aus ihren
Augen
[464]
Augen Schluͤſſe mache. Ohne an mich zu gedencken,
ſo weiß ich gewiß, daß manche tugendhafte Perſo-
nen, die bey einer Beſchuldigung roth geworden
ſind, ſich einen unverdienten Verdacht zugezogen
haben, wenn andere die Roͤthe, die das boͤſe Gewiſ-
ſen wuͤrcket, von der edlen Roͤthe nicht haben unter-
ſcheiden koͤnnen, die aus Edelmuͤthigkeit entſteht,
wenn man ſich ſchaͤmet, daß uns andere dergleichen
Vergehungen nur als moͤglich andichten.


Der groſſe Roͤmer, der vor der Erfindung des
vierten Theils der Welt ſich durch ſeine Siege die
Ehre erwarb, daß er nach einem Drittheil der Welt
genennet iſt, ward eines niedertraͤchtigen Laſters be-
ſchuldiget. Allein er gieng lieber freywillig in das
Elend, und waͤhlete ſich alſo ſelbſt die groͤſſeſte
Strafe, die ihm haͤtte widerfahren koͤnnen, wenn
er ſchuldig geweſen waͤre, als daß man haͤtte ſagen
ſollen: Scipio ſey wegen eines ſo ſchaͤndlichen Ver-
brechens vor Gericht gefodert. Glauben Sie nicht,
daß das Geſicht des Scipio mit Schaam iſt erfuͤl-
let geweſen, als er das erſtemahl von dieſer Be-
ſchuldigung gehoͤrt hat?


Herr Lovelace ſahe zu dem, was die Witwe
ſagte, recht ſchelmiſch und laurend aus, als wenn er
ſehen wollte, wie ich es nehmen wuͤrde, und ſagte:
ſein Gehorſam gegen den Befehl ſeines allerliebſten
Kindes habe noch mehr Gewalt uͤber ihn, als der
Eyd ſelbſten, durch welchen er ſich mir habe ver-
pflichten muͤſſen.


Um ihn und die Witwe einiger maßen abzufuͤhren,
antwortete ich: es thaͤte mir leid, daß ein Eydſchwur
ſo
[465]
ſo geringe gehalten, und irgend einem andern Be-
wegungs-Grunde in der Welt nachgeſetzet werde.


Die Jungfer Martin billigte meine Anmer-
ckung, und ſetzte dazu: es ſey nichts in der Welt,
dadurch man einen gebrochenen Eyd entſchuldigen
koͤnne, wenn man auch zu dem Eyde durch unrichti-
ge Gruͤnde bewogen ſey.


Jch erkundigte mich nach der naͤchſten Kirche,
weil ich ſchon lange Zeit dem Gottesdienſte nicht bey-
gewohnet. Sie nannten mir S. James, S.
Annen,
und noch eine Kirche bey Bloomsbury-
Squaͤre.
Die beyden Jungfern ſagten, ſie pfleg-
ten gemeiniglich nach S James zu gehen, weil ſie
dort gute Geſellſchaft und einen unvergleichlichen
Prediger haͤtten. Herr Lovelace kam auch an das
Wort: er gehet am meiſten in die Capelle zu S. Ja-
mes,
wenn er ſich in London aufhaͤlt. Der arme
Menſch! ich dachte gar nicht daran, daß er den
Gottesdienſt beſuchte. Jch fragte ihn: ob die Ge-
genwart des irdiſchen Koͤniges, deſſen Gebiet ſich
beynahe nur uͤber einen Punct erſtreckte, wenn man
es mit dem Gebiete Gottes vergliche, die Zuhoͤrer
nicht oͤfters in der Andacht ſtoͤrte, die ſie dem Schoͤ-
pfer von mehr als tauſend Welten ſchuldig waͤren?


Er ſagte: Es koͤnnte vielleicht manchen ſo gehen,
die bloß mit dem Zweck in die Kirche kaͤmen, daß ſie
die koͤnigliche Familie ſehen moͤchten. Allein er
habe in der Capelle eben ſo viel andaͤchtige und buß-
fertige Geſichter geſehen, als irgends in einer an-
dern Kirche: Es waͤre dieſes nicht zu verwundern:
denn
Dritter Theil. G g
[466]
denn die Hof-Leute haͤtten noch einmahl ſo viel zu be-
reuen, als andere Leute.


Er ſprach dieſes mit einer ſo in die Augen fallen-
den Leichtſinnigkeit, daß ich erwiederte: niemand
zweifele daran, daß er ſeine Geſellſchaft ſehr wohl
auszuſuchen wuͤßte.


Jhr gehorſamer Diener! (ſagte er, beugete ſich
gegen mich, und wandte ſich darauf zu der uͤbrigen
Geſellſchaft) ſie werden kuͤnftig noch oft gewahr wer-
den, wenn wir laͤnger beyſammen bleiben, daß mei-
ne Liebſte meiner nicht ſchonet, wenn ſie eine ſolche
Gelegenheit hat. Allein ich bewundere ihre Ver-
weiſe eben ſo ſehr, als ich mich freue, wenn
ich das Gluͤck habe, ihr in einigen Stuͤcken zu gefal-
len.


Die Jungfer Horton ſagte: ein jedes Ding habe
ſeine Zeit. Eine unſchuldige Freude ſchicke ſich ih-
rer Meinung nach ſehr wohl fuͤr die jungen
Jahre.


Das iſt wahr! (ſagte Jungfer Martin.) Scha-
keſpeare
ſinget mit Recht:


Die Jugend iſt die Zeit des Lebens,

Die Bluͤte unſrer Froͤhlichkeit.

(Sie ſprach dieſes mit einer Comoͤdianten-Stim-
me aus.) Jch vor mein Theil bewundere an ihrem
Gemahl die Lebhaftigkeit, die ſich zu ſeinen Jahren
ſo wohl ſchicket.


Herr Lovelace danckete ihr fuͤr dieſes Lob durch
eine tiefe Verneigung. Er mag ſich gern loben
laſſen: es ſcheint, daß er lieber ſein Lob hoͤret, als
es verdienet. Er hat, wie Sie wiſſen, ein freyes
We-
[467]
Weſen, und eine ziemlich gute Stimme. Sein
Hertz ward durch dieſes Lob ſo belebet, daß er dieſe
Zeilen aus dem Congreve ſang:


Es ſchwellt der Fruhling unſrer jungen Jahre

Das Hertz mit Luſt, die in dem Winter ſtirbt.

Die Freude flieht die Nachbarſchaft der Baare,

Die nur verliebt um rothe Wangen wirbt.

Er ſetzte hinzu: er ſinge dieſes aus Gefaͤlligkeit
gegen die beyden Jungfern. Seine Hoͤflichkeit war
auch nicht vergeblich verſchwendet: denn ſie baten
ihn, die Verſe ihnen noch einmahl vorzuſingen, und
ſeinem Gehorſam gegen ihren Befehl habe ich es zu
dancken, daß ich ſie behalten habe.


Wir redeten hierauf von Speiſen, und die Wit-
we erbot ſich ſehr hoͤflich, ſich in Abſicht auf die Kuͤ-
che voͤllig nach mir zu richten. Jch ſagte ihr, ich
wuͤrde ſehr leicht zufrieden ſeyn: es gereichte mir zum
Vergnuͤgen, wenn ich die meiſte Zeit allein ſpeiſen
koͤnnte, und mir von jedem Gerichte ein Teller ge-
ſchickt wuͤrde. Doch, wozu dienen dieſe Kleinig-
keiten, damit ich Jhnen die Zeit verderbe.


Jch kam den Leuten ſehr ſonderlich vor; und ſie
haben Recht, wenn ſie mich fuͤr ſeltſam halten.
Weil ſie mir aber nicht ſo wohl gefielen, daß ich aus
Gefaͤlligkeit gegen ſie meinen Sinn aͤndern wollte;
ſo fragte ich deſto weniger darnach, was ſie von mir
dencken moͤchten, ſonderlich da ich uͤber Herrn Lo-
velacen
ſehr mißvergnuͤgt war. Sie warneten mich
vor tiefſinnigen Gedancken. Jch antwortete aber:
ich waͤre billig zu beklagen, wenn mir meine eigene
Geſellſchaft unertraͤglich waͤre.


G g 2Herr
[468]

Herr Lovelace ſagte: er muͤßte ihnen meine gan-
tze Geſchichte erzaͤhlen, alsdenn wuͤrden ſie ſich beſ-
ſer in mein Betragen finden koͤnnen. Allein wenn
ich glauben ſoll, daß ſie mich lieb haben, (ſagte der
dreiſte Menſch) ſo haͤngen ſie den traurigen Gedan-
cken, ſo wenig als moͤglich iſt, nach. Jch weiß,
daß bloß ihr liebenswuͤrdiges Hertz, und die heilige
Beobachtung ihrer Pflicht gegen Leute, die es nicht
verdienen, die Urſache ihrer Unruhe iſt. Werden
ſie nicht ungehalten auf mich, mein Hertz, daß ich
dieſes ſage. (Vielleicht ſahe er, daß ich anfing die
Geduld zu verlieren) Er ergriff hierauf meine Hand
und kuͤſſete ſie. Jch verlies ihn und ſeine Geſell-
ſchaft, und ſuchte mein Cloſet und Schreib-Zeug
wider.


Jch ſchreibe noch, und eben werde ich ſchon ge-
ſtoͤrt: er laͤßt mir ſagen, er ſey im Begriff zu ver-
reiſen, und wollte ſich vorher mir empfehlen. Jch
muß alſo abbrechen, um in das Speiſe-Zimmer zu
ihm hinunter zu gehen.



Es gereichte zu meinem Vergnuͤgen, daß ich ihn
in ſeinem Reit-Kleide ſahe. Er war ſehr begierig
zu wiſſen, wie mir das Frauenzimmer gefiele. Jch
ſagte ihm, ich haͤtte zwar nichts wichtiges an ihnen
auszuſetzen, allein da ich in meinen gegenwaͤrtigen
Umſtaͤnden keine neue Bekanntſchaft brauchte, ſo haͤt-
te ich auch eben nicht Luſt mich mit ihnen in vertraute
Freundſchaft einzulaſſen. Jnſonderheit muͤßte er
mir dazu behuͤlflich ſeyn, daß ich bey dem Thee und
Abend-Eſſen allein ſeyn koͤnnte.


Er
[469]

Er ſagte: wenn ich es ſo haben wollte, ſo waͤre
nichts dagegen einzuwenden. Die Leute im Hauſe
waͤren nicht von ſolchem Stande, daß man eine
Entſchuldigung gegen ſie in einer Sache noͤthig haͤt-
te, die mein Vergnuͤgen betraͤfe. Wenn ſie mir
bey mehrerer Bekanntſchaft nicht beſſer gefielen, ſo
moͤchte ich mich entſchlieſſen auf ein anderes Haus zu
dencken.


Er lies ſich mercken, es thaͤte ihm ſehr leyd, daß
er mich verlaſſen muͤßte: allein er muͤßte meinem Be-
fehl gehorchen. Und dennoch wuͤrde er ſich nicht
haben entſchlieſſen koͤnnen, von mir zu reiſen, ehe
mein Bruder ſeine Anſchlaͤge haͤtte fahren laſſen,
wenn ich nicht ſeine Ausſage, daß wir verheyrathet
waͤren, bekraͤftiget haͤtte. Hiedurch ſey die gantze
Familie dergeſtalt auf unſere Seite gebracht, daß
er mich ſicher verlaſſen koͤnnte. Er hoffete, ich wuͤr-
de bey ſeiner Wiederkunft den Tag beſtimmen, der
ihn gluͤcklich machen ſollte, nachdem ich aus meines
Bruders Anſchlaͤgen ſaͤhe, daß an keine Ausſoͤh-
nung zu gedencken ſey.


Jch ſagte, ich wuͤrde vielleicht an meinen Onckle
Harlowe ſchreiben, weil dieſer mich ſonſt ſehr zaͤrt-
lich geliebet haͤtte. Jch wuͤrde mich eher faſſen koͤn-
nen, wenn ich dieſes Mittel der Verſoͤhnung nicht.
verſaͤumte. Jch wollte ſolche Bedingungen in Ab-
ſicht auf mein Gut in Vorſchlag bringen, dadurch
die Meinigen gewiß aufmerckſam werden wuͤrden.
Jch hoffete, er wuͤrde ſo lange abweſend ſeyn, daß
ich Zeit genug haͤtte zu ſchreiben und Antwort zu be-
kommen.


G g 3Das,
[470]

Das, ſagte er, koͤnnte er nicht verſprechen. Er
wuͤrde ſuchen von Singleton und von meinem
Bruder Nachricht einzuziehen: und wenn er keinen
Grund faͤnde meinetwegen in Sorgen zu ſeyn, ſo
wollte er alſobald nach der Grafſchaft Berck reiſen,
und ſich bemuͤhen, ſeine Fraͤulein Baſe die Char-
lotte
mitzubringen. Er hoffe, daß dieſes ſein
Gluͤck naͤher bringen wuͤrde, als es jetzt zu ſeyn ſchie-
ne. Jch antwortete: ich wuͤrde die Geſellſchaft die-
ſer Fraͤulein fuͤr ein ſehr groſſes Gluͤck und Ehre halten


Es war mir dieſes Anerbiethen deſto lieber, weil
es von freyen Stuͤcken geſchahe.


Er bat mich ſehr einen Banck-Zettul anzunehmen:
ich verbat es aber. Hierauf bot er mir ſeinen Die-
ner den Wilhelm in ſeiner Abweſenheit zur Auf-
wartung an: ich koͤnnte dieſen auch an ihn ſchicken,
wenn ſich etwas neues zutruͤge. Hierein willigte ich.


Er nahm einen ſehr ehrerbiethigen Abſchied, und
kuͤſſete mir bloß die Hand. Die Banck-Note ließ er
unvermerckt auf dem Tiſche liegen. Sie koͤnnen
aber verſichert ſeyn, daß er ſie wider bekommen
wird.


Jch bin jetzt beſſer mit ihm zufrieden, als vorhin.
Wenn wir Zweifel gegen eine Perſon gehabt haben,
und die Zweifel werden gehoben, ſo wird ein billiges
Hertz gleichſam zur Genugthuung vor dem vorigen
Argwohn uͤber alles, was ſich gut auslegen laͤßt,
die allerbeſte Deutung machen. Jch mercke in-
ſonderheit dieſes mit Vergnuͤgen an, daß, ſo frey
er auch von ſeinen Baſen redet, er doch immer mit
Zaͤrtlichkeit von ihnen ſpricht. Wenn eine Manns-
Perſon
[471]
Perſon gegen ihre Verwandten von unſerem Ge-
ſchlechte zaͤrtlich iſt, ſo hat eine Frau auch eine hoͤfli-
che und zaͤrtliche Begegnung zu gewarten, wenn ſie
ſich derſelben wuͤrdig machet. So weit iſt es mit
mir gekommen, daß ich mit dieſem Menſchen zufrie-
den bin, ſo bald ich mercke, daß er von Natur kein
Unmenſch iſt.


Jch wuͤnſche, daß Sie nie Gelegenheit haben
moͤgen, andere als erfreuliche Betrachtungen anzu-
ſtellen, und ich verbleibe


Jhre ewig ergebene
Clariſſa Harlowe.



Herr Lovelace frolocket in dem Briefe, welcher
der Zeitrechnung nach hieher gehoͤrt, ſehr
daruͤber, daß er ſchon zwey Abſichten erreicht habe:
die Fraͤulein fuͤr ſeine Frau auszugeben, und zum
wenigſten eine Nachtlang mit ihr unter einem Dache
zu ſchlafen. Er hoffet nun bald einen Sieg, wo
nicht mit ihrem guten Willen, dennoch durch Liſt zu
erhalten. Er giebt vor, daß er etwas von dem Ge-
wiſſen fuͤhle, und giebt ſich Schuld, daß er jetzt dem
erſten Verſucher der Menſchen aͤhnlich ſey. Allein
weil es ihm bisher gelungen iſt, ſo muß er verſuchen,
ob es ihm nicht noch ferner gluͤcken werde.


Er erzaͤhlet den gantzen Streit zwiſchen ſich und
der Fraͤulein umſtaͤndlich, und eben ſo, wie ſie ihn
erzaͤhlet hatte.


G g 4Das
[472]

Das einzige, was an ihm gelobet werden muß,
iſt, daß er die vortreflichen Eigenſchaften der Fraͤu-
lein in Abſicht auf ihre Geſtalt und Gemuͤth erken-
net, ob ſie gleich eine Anklage wider ihn ſelbſt ſind.
Dieſes iſt der Anfang ſeines Briefes:


„Nun muß ich dir erzaͤhlen, was wir bey dem
„Fruͤhſtuͤck geredet haben. Meine Goͤttin war
„gantz heiter und verſoͤhnt, als ſie zu uns herunter
„kam: ihr Anblick gebot einem jeden der ſie ſahe,
„Ehrfurcht und Stillſchweigen, alle plaudernden
„Lippen muſten auf eine demuͤthige und unterthaͤ-
„nige Art verſtummen. Sie war durch ihr reines
„Gewiſſen, und dadurch, daß ſie ihren eigenen
„Werth erkannte, uns allen uͤberlegen, und erſchien
„wie eine Koͤnigin in dem Gedraͤnge ihrer Untertha-
„nen. Und dennoch war kein Hochmuth an ihr
„wahr zunehmen; ſie ſchien recht dazu gebohren,
„daß ſie groß und unvergleichlich ſeyn ſollte: alles
„was angenehm ſeyn kann, war ihr ſchon zur Ge-
„wohnheit geworden.„


Er meldet darauf, daß Sally Martin und
Marie Horton daruͤber eiferſuͤchtig geworden ſind,
daß er ihr ſo viele Ehrerbiethung erzeiget habe. Er
giebt vor, es waͤren dieſe Maͤdchens vornehmer er-
zogen, als es ihr Stand und Umſtaͤnde mit ſich
braͤchten, und haͤtten allen oͤffentlichen Luſtbarkeiten
ſehr fruͤhzeitig einen Geſchmack abgewonnen: dieſes
ſey die Gelegenheit geweſen, daß ſie ihm haͤtten
muͤſſen zu Theil werden. Sie haͤtten eine Zeitlang
den Gewinſt des Hauſes mit der Frau Sinclairin
getheilet; und der Vorzug, den die Liebe einer Manns-
Perſon
[473]
Perſon vor der andern gebe, ſey in ihrem Hertzen
noch nicht durch das unordentliche Leben ausgeloͤſchet.


„Wie ſchwer iſt ein Frauenzimmer dahin zu
„bringen, daß es eine andere Schoͤne ſich ſelbſten
„vorziehet? ſonderlich alsdenn, wenn die Liebe mit
„in dem Spiel iſt? der kleine hitzige eigenliebiſche
„Teufel, die Sally, hat die Verwegenheit,
„ſich mit einem Engel zu vergleichen. Sie ſagte:
„ich bitte ſie, Herr Lovelace, vergehen ſie ſich
„nicht in meiner Gegenwart durch eine uͤbertriebene
„Herablaſſung gegen dieſe eigenſinnige muͤrriſche
„Schoͤne. Jch kann es ohnmoͤglich anſehen.
„Hierrauf erinnerte ſie mich, wie ſie mir ihre Erſt-
„linge geopfert haͤtte. Was fuͤr ein Weſen ma-
„chen doch die Jungfern aus einem bloſſen Nichts?
„denn was iſt es, wodurch ſie uns vergnuͤgen koͤn-
„nen, als daß ſie uns nach dem Ausdruck unſers
„gelehrten Biſchoffs, in ſeinen Jtaliaͤniſchen Brie-
„fen, Gelegenheit zu einer zaͤrtlichen und angeneh-
„men Schelmerey geben.


„Wir ſuchen dieſe Maͤdchens nicht zu verfuͤh-
„ren! Ein verfuͤhrtes Frauenzimmer iſt ein aͤrge-
„rer Teufel, als ein liederlicher Kerl: es hat gar
„kein Gewiſſen, deſſen Schlaͤge ich noch fuͤhlen
„muß. Wenn gleich alle Kraͤfte der Finſterniß ih-
„nen beyſtehen, ſo ſollen ſie mich doch nie dahin
„bringen, daß ich dieſem Engel uͤbel begegne; das
„eintzige ausgenommen, daß ich durch angeſtelle-
„te Verſuche erfahren muß, ob es ein Maͤdchen
„oder ein Engel iſt.„


G g 5„Dieſe
[474]

„Dieſe Maͤdchens ſpotten jetzt meine Furchtſam-
„keit. Sie meinen, ich haͤtte die Veſtung laͤngſt
„erobern koͤnnen, wenn ich es gewagt haͤtte. Jch
„haͤtte ſollen mit ihr als mit Fleiſch und Blut um-
„gehen, ſo wuͤrde ſie Fleiſch und Blut gegen mich
„geweſen ſeyn. Sie haͤtten geglaubt, ich wuͤſte
„ſo gut als irgend eine Manns-Perſon in der Welt,
„daß ein Frauenzimmer ſich als eine Goͤttin auffuͤh-
„rete, ſo bald unſere Einfalt es vergoͤtterte: und
„wenn man ihr Gewalt gaͤbe, ſo wuͤrde ſie ſich der
„Gewalt gegen den gewiß mißbrauchen, der ſie
„ihr gegeben haͤtte. Jch muß ſo gar des D ‒ ‒ ‒ rs
„Frau alle Tage auf dem Brodt eſſen, die ihrem
„hoͤflichen Manne eine gebietheriſche Printzeßin
„war, und vor ihrem groben Kutſcher heimlich
„ſeufzete. Wie fluchte ich auf dieſe Laͤſterungen!
„Jch ſagte, ich wuͤrde endlich ihr Haus haſſen,
„und nicht eher vergnuͤgt ſeyn, bis wir ausgezogen
„waͤren. Es reuet mich bey meiner Seelen, daß
„ich die Fraͤulein hieher gebracht habe. Ohne die
„Hertzen dieſer Nymphen zu kennen, hat ſie ſich
„dennoch ſchon entſchloſſen, ſo wenigen Umgang
„mit ihnen zu haben, als moͤglich ſeyn wird. Es
„iſt mir dieſes lieb: Denn ein eiferſuͤchtiges Maͤd-
„chen kann ſich vor dem andern ſelten verbergen.
Sally iſt ihrer ſelbſt gar nicht maͤchtig.„


Der
[475]

Der vier und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Herr Lovelace iſt ſchon von ſeiner Reiſe zuruͤck
gekommen, und enſchuldiget ſich mit der
Furcht vor dem Anſchlage meines Bruders. Jch
mußte dieſes nothwendig fuͤr einen Bruch ſeines
Verſprechens halten, nachdem er von den Leuten in
dem Hauſe nichts zu befuͤrchten hatte, und gewiß
wußte, daß ich mich nicht aus dem Hauſe wagen
wuͤrde. Es iſt mir unertraͤglich, wenn man nie-
dertraͤchtig mit mir umgehet, und ich verlangte mit
mercklichem Unwillen, daß er ſogleich nach der Graf-
ſchaft Berck reiſen, und ſeine Fraͤulein Baſe ver-
ſprochener maſſen abhohlen und mir zur Geſellſchaft
mitbringen moͤchte.


Allein, (ſagte er) mein einziges Leben, warum
wollen ſie mich aus ihrer Geſellſchaft verbannen?
Jch kann ſie ohnmoͤglich auf ſo lange Zeit verlaſſen,
als ſie es zu erwarten ſcheinen. Jch bin nicht weiter
als bis nach Edgware gereiſet, und nur zwey
Stunden dort geblieben, weil ich fuͤrchtete, es koͤnn-
te ein Ungluͤck vorgehen. Wer kann uͤber ſeine Furcht
herrſchen, wenn alles, was uns theuer ſeyn kann,
auf dem Spiele ſtehet? Sie koͤnnen das Schrei-
ben an ihre Freunde am beſten verſparen, bis ſie
mich durch den allerſchoͤnſten Segen gluͤcklich gemacht
haben: alsdenn werde ich ein Recht haben, ihrem
Bit-
[476]
Bitten Nachdruck zu geben. Wenn die Jhrigen
wiſſen, daß wir vermaͤhlt ſind, ſo haben alle An-
ſchlaͤge ihrers Bruders ihre Endſchaft erreicht: Va-
ter, Mutter, Onckels und alle Angehoͤrige werden
ſich alsdenn mit ihnen verſoͤhnen muͤſſen. Jch fra-
ge ſie nochmahls; warum verweiſen ſie mich von
ſich? Warum ſtehen ſie noch einen Augenblick an,
mich durch ihr Ja gluͤcklich zu machen? Warum
wollen ſie dem Menſchen, der ſie in verdrießliche Um-
ſtaͤnde gebracht hat, nicht erlauben, ſie auf eine an-
ſtaͤndige Weiſe aus dieſen verdrießlichen Umſtaͤnden
wider zu retten?


Er ſchwieg ſtille. Jch haͤtte gern etwas geant-
wortet, das kein Nein auf ſeine ernſtliche Bitte ge-
weſen waͤre: nur die Stimme verlies mich, ich konn-
te nicht reden.


Er redete fort: mein Engel, ich muß ihnen ſa-
gen, was ich mit ihrer Genehmhaltung thun will.
Jch will ſo gleich ausgehen, um mich in den Squaͤ-
res
*) oder auf den beſten Straſſen, die nach den
Squaͤres fuͤhren, umzuſehen: und ich will ihnen
von allen Haͤuſern, die ſich zu ihren Umſtaͤnden ſchi-
cken, und zu vermiethen ſind, Nachricht geben.
Welches Haus ſie waͤhlen, das will ich miethen, es
meubliren, Kutſche und Pferde zulegen, und alles
nach ihrem Stande einrichten. Sie allein ſollen
zu
[477]
zu befehlen haben. Beſtimmen ſie ſelbſt einen nicht
allzu entfernten Tag zu meinem Gluͤcke, es ſey vor
oder nach Beziehung des neuen Hauſes: alsdenn
wird alles beſſer gehen. Jn ihrem eigenen Hauſe
ſollen ſie, ſo bald es meubliret iſt, die Gluͤckwuͤn-
ſchungen aller meiner Anverwandten annehmen.
Die Fraͤulein Charlotte ſoll ihnen darin aufwarten,
und ihnen bis dahin Geſellſchaft zu leiſten ſuchen:
ſollte aber die Meublirung allzu viel Zeit erfodern,
ſo waͤhlen ſie ſich auf einen Monath in dieſem Som-
mer ſelbſt eine Geſellſchaft, zu der ſie reiſen koͤnnen;
unterdeſſen ſoll alles im Hauſe in Ordnung kommen,
und ſie werden bey ihrer Zuruͤckkunft eine Abwechſe-
lung von Vergnuͤgungen vor ſich finden. O mein
Engel nehmen ſie mich an, und machen ſie mich auf
ewig zu dem Jhrigen, anſtatt deſſen, daß ſie mich
bisher von ſich verwieſen haben.


Alle dieſe Bitten, wie Sie ſelbſt ſehen, giengen
auf keinen beſtimmten Tag. Es war mir dieſes
nicht ungelegen, und ich konnte mich deſto eher faſ-
ſen: indeſſen gab ich ihm keine Gelegenheit mir vor-
zuruͤcken, als haͤtte ich ihm verboten, ſich nach ei-
nem andern Hauſe umzuſehen. Er iſt in dieſer Ab-
ſicht ausgegangen: allein ich mercke ſchon, daß er
dieſe Nacht wider nach Hauſe kommen will. Wenn
es dieſe Nacht geſchiehet, ſo wird es alle Naͤchte ge-
ſchehen. Die Thuͤren und Fenſter in meiner Stube
ſind wohl verwahrt; er hat mir bisher noch keine Ur-
ſachen gegeben, mich fuͤr ihm zu fuͤrchten; meines
Bruders Anſchlaͤge dienen ihm zu einem ſehr ſchein-
baren Vorwand; ich genieſſe viel Hoͤflichkeit von
den
[478]
den Leuten unten im Hauſe, und inſonderheit von
der Jungfer Horton, welche mich zu lieben ſchei-
net, und von beſſerem Gemuͤth und Sitten iſt, als
die Jungfer Martin. Bey dieſen Umſtaͤnden,
und da ich jetzt nicht uͤbel mit ihm ſtehe, wuͤrde es ein
ſonderbares Anſehen haben, und mir von allen im
Hauſe verdacht werden, wenn ich mich mit einem
zancken und allzu hart auf ſein Verſprechen dringen
wollte, der mir ſo viele und wichtige Einwendungen
machen kann. Jch will mich deswegen lieber nicht
mercken laſſen, daß ich es weiß, daß er ſich hier
aufhaͤlt, wenn er ſelbſt nur ſo hoͤflich iſt, mich mit
dieſer Nachricht zu verſchonen.


Beurtheilen Sie alle meine Handlungen in Jh-
rem letzten Briefe. Seinen Banck-Zettel habe ich
ihm bey dem erſten Wiederſehen zuruͤck gegeben.


Freytag Abends.


Herr Lovelace hat einige Haͤuſer beſehen, allein
keines hat ihm gefallen. Er hat aber von einem
andern Hauſe gehoͤret, welches beſſer und bequemer
ſeyn ſoll, und er wird es morgen fruͤh beſehen.


Sonnabends fruͤh.


Er hat das Haus nunmehr in Augenſchein ge-
nommen, davon er mir geſtern Abends ſagte. Es
gehoͤrt einer jungen und vornehmen Witwe, Nah-
mens Fretchville, die deswegen untroͤſtbar iſt,
weil ſie ihren Gemahl ſo fruͤhzeitig verlohren hat. Es
iſt ſehr wohl meubliret, denn keine Meublen darin
ſind aͤlter, als ein halbes Jahr. Er meint, wenn
mir die Meublen nicht gefielen, ſo koͤnnte er ſie auf
einige
[479]
einige Zeit miethen, ſonſt aber wollte er ſie kaufen
und das Haus miethen. Die Witwe nimmt kei-
nen Zuſpruch an, und die beſten Zimmer in dem er-
ſten Stockwerck koͤnnen nicht eher beſehen werden,
als bis ſie abweſend, oder auf das Land gegangen iſt.
Sie will dieſes in vierzehn Tagen, oder hoͤchſtens in
drey Wochen thun, und ihre Zeit in der Stille und
Einſamkeit zubringen. Was Herr Lovelace von
dem Hauſe beſehen konnte, nemlich ein groſſer Saal
und zwey Staats-Zimmer waren unverbeſſerlich:
und das ganze uͤbrige Haus ſoll eben ſo ſeyn. Die
uͤbrigen Bequemlichkeiten der Haushaltung ſollen
auch ſehr gut ſeyn, deßgleichen hat das Haus Gelaß
fuͤr Wagen und Pferde.


Er ſagt, er erwartete die Zeit mit Ungeduld, da
ich das Haus ſelbſten ſehen koͤnnte: er will ſich auch
vorher nach keinem andern Hauſe umſehen, wenn
ſich nicht ohngeſucht, eine mir anſtaͤndige Wohnung
zeiget. Die Miethe wird zwar hoch kommen, al-
lein das will er nicht achten.


Er hat eben von der Lady Eliſabeth Lawrance
einen Brief erhalten, deſſen Haupt-Jnhalt eine
Sache betrifft, die hier vor Gerichte auszumachen
iſt. Allein in der Nachſchrift gedenckt ſie meiner un-
gemein guͤtig, und ſchreibt: alle die Seinigen waͤ-
ren ungeduldig, daß der Tag noch nicht gekommen
waͤre, der ſeine Beſſerung hoffentlich dauerhaft ma-
chen koͤnnte. Er ſelbſt ſetzte hinzu: er ſchmeichele
ſich, daß ich ihm bald erlauben wuͤrde, ihren und
ſeinen Wunſch zu erfuͤllen. Allein ob er gleich eine
ſo ſchoͤne Gelegenheit hatte, ſo drang er doch nicht
weiter
[480]
weiter in mich, einen Tag zu beſtimmen: es kommt
mir dieſes deſto ſonderlicher vor, weil er vor unſerer
Ankunft in London ſo ungeduldig-hitzig war, mich
bald an ſeiner Seite zu ſehen.


Er bat mich ſehr, ihn und vieren von ſeinen gu-
ten Freunden auf den Montag Abend bey einem
Gaſt-Gebot meine Geſellſchaft nicht abzuſchlagen.
Die Jungfer Martin und Jungfer Horton wer-
den nicht dabey erſcheinen koͤnnen, weil ſie auf eine
Geburths-Tages Mahlzeit gebeten ſind, dazu die
beyden Toͤchter des Obriſten Solcombe und zwey
Baſen des Ritters Anton Holmes gegenwaͤrtig
ſeyn werden. Allein wir ſollen die Geſellſchaft der
Frau Sinclair haben, und ſie hat uns auch auf
ein unverheyrathetes Frauenzimmer von groſſen
Mitteln und guten Eigenſchaften Hoffnung gemacht;
ſie heiſt Bartington, der ſelige Obriſte ſcheint ihr
Vormund geweſen zu ſeyn, und deswegen nennet ſie
noch die Frau Sinclair Mama. Jch bat um
Vergebung nicht dabey zu erſcheinen: weil er mich
einmahl in die Nothwendigkeit geſetzt haͤtte, mich
fuͤr ſeine Frau halten zu laſſen, ſo wuͤnſchte ich vor ſo
wenigen Leuten, als moͤglich waͤre, unter dieſer
Masque zu erſcheinen.


Er ſagte: er wollte mich zu nichts zwingen: al-
lein es waͤren ſeine beſten Freunde, und Leute von
vornehmen Stande und groſſem Vermoͤgen, die
ſehr begierig waͤren mich zu ſehen. Es ſey wahr,
daß ſie uns vor Eheleute hielten, wie ich aus Herr
Dolemans Briefe ſchon erſehen haͤtte: allein ſie
glaubten von ihm, daß er mir das habe verſprechen
muͤſ-
[481]
muͤſſen, was er auch unten im Hauſe vorgegeben
haͤtte. Jch ſollte verſichert ſeyn, daß er mir in ih-
rer Gegenwart nicht allein hoͤflich, ſondern auch
recht ehrerbiethig begegnen wuͤrde.


Wenn er ſich einmahl vorgenommen hat etwas
durchzutreiben, ſo kann man ihm ohnmoͤglich wi-
derſtehen. Wenn ich es vermeiden kann, ſo wollte
ich mich nicht gerne zur Schau ausſtellen, und zwar
am wenigſten vor ſolchen Leuten, von deren Tugend
ich eine ſehr ſchlechte Meinung habe. Jch ver-
bleibe


Dero ergebenſte
Cl. Harlowe.



Herr Lovelace meldet in einem hierauffol-
genden Briefe dem Belford den Haupt-Jn-
halt des vorigen Briefes der Fraͤulein; und
bittet ihn auf den Montag Abend zu Ga-
ſte. Erſchreibt:


Mowbray, Belton, und Tourville wuͤn-
ſchen meinen Engel zu ſehen und werden bey mir ſpei-
ſen. Sie hat abgeſchlagen mit dabey zu ſeyn, al-
lein ſie wird muͤſſen. Du ſollſt die Ehre und den
Stoltz der Harlowiſchen Familie, das iſt, mei-
ner Feinde ſehen, und du ſollſt mit mir uͤber ſie dein
Sieges-Lied anſtimmen. Wenn ich euch dieſe Ehre
verſchaffen kann, ſo werdet ihr euch kaum des Lachens
enthalten koͤnnen, wenn ihr unſere alte Mutter in
eine Pietiſtin verwandelt ſehet. Mir ſelbſt wird es
oft ſchwer mich zu halten. Kein Schwur,
Dritter Theil. H hkein
[482]
kein Fluch, kein freyes Wort entfaͤhret ihr: ſie thut
gantz kleine Schritte: ihr Pferde-Maul muß wieder
juͤngferlich werden. Jhre Stimme, die ſonſt don-
nert, wenn ſie wettern will, iſt jetzt gantz ſanfte und
ſeufzend. Bey jedem Worte verneiget ſie ſich etli-
chemahl ſehr tief, und kaum laͤſt ſie ſich uͤberreden,
ſich in Gegenwart meiner Goͤttin niederzuſetzen.


Jch bin jetzt eben im Begriff, euren Verhaltungs-
Befehl zu ſchreiben, den ihr auf den Montag Abend
beobachten muͤßt. Du biſt ein braver Kerl, und du
willſt kluͤger ſeyn als die andern: gib auf ſie Acht,
daß ſie mir keine Streiche machen.


Sonnabends ſpaͤt in der Nacht.


Jch bin voller Verwirrung. Herr Gott (rief
Dorcas) was meynen ſie? Sie will morgen in die
Kirche gehn! Jch ſpielte eben mit dem Frauenzim-
mer Quadrille: ich legte aber gleich die Karten nie-
der. Jn die Kirche? ſagte ich: Jn die Kir-
che?
ſagten die Maͤdchens alle und ſahen einander
an. Wer haͤtte von einem ſolchen Einfall nur traͤu-
men koͤnnen? Ohne es mir anzuzeigen! Ohne
ſich zu erkundigen! Da ſie ihre Kleider noch nicht
hat! Ohne Erlaubniß zu fodern! Vergißt ſie,
daß ſie meine Frau geworden iſt? Bedenckt ſie
nicht, daß ich mitgehen muß, wenn ſie in die Kirche
will gehn? Will ſie mich nicht bitten, daß ich ihr
Geſellſchaft leiſte? Sie weiß ja nicht anders, als
daß ihr Bruder und Singleton auf ſie lauren! An
Kleidern, an Geſtalt kann man ſie gleich erkennen:
denn ein ſolches Frauenzimmer iſt in gantz Engel-
land nicht mehr anzutreffen. Will ſie denn in jede
Kirche
[483]
Kirche gehen, in die ſie der Teufel fuͤhren kann?
Das waren meine Worte, ſo bald ich wider reden
konnte.


Jch will die verdrießlichen Gedancken bis auf
morgen aufſchieben. Jetzt bekommt ihr euren Ver-
haltungs-Befehl auf den Montag Abend.


Verhaltungs-Befehl,
Fuͤr Joh. Belford, Richard Mowbray, Tho-
mas Belton,
und Jacob Tourville, unter An-
fuͤhrung des Generals Robert Lovelace, nach
dem ſie ſich zu richten haben, wenn ſie Erlaub-
niß bekommen. ſeine Goͤttin anzubeten.


Hier folget ein laͤcherlicher Berhaltungs-Befehl, da-
rin er ſehr hart befiehlt, alle liederlichen Geſchwaͤtze,
ja ſo gar alle zweydeutigen Reden zu vermeiden.


Jhr wißt, daß ich es nie habe leyden koͤnnen,
wenn einer unter euch unanſtaͤndige Reden gefuͤhret
hat. Es iſt Zeit genug hiezu, wenn wir alt wer-
den, und weiter nichts mehr koͤnnen, als von un-
reinen Dingen reden. Kann man denn nicht einem
Frauenzimmer an das Hertz kommen ohne die Ohren
zu verletzen?


Jch brauche euch nicht erſt zu befehlen, daß ihr
gegen mich ſehr demuͤthig ſeyn muͤßt. Euer Eid der
Treue verbindet euch hiezu. Wer kann mich anſe-
hen, ohne vor Demuth niederzuſincken.


Er giebt ihnen hierauf Nachricht von den erdichteten
Umſtaͤnden der Jungfer Partington, und wie ſie ſich
gegen dieſe zu verhalten haben.


So unſchuldige Blicke! und ein ſo tiefer Ver-
ſtand! Vergeſſet ja nicht, daß meine Geliebte keinen
H h 2an-
[484]
andern Nahmen hat, als den meinigen: und daß
unſere Mutter, Sinclair heißt. Jhr ſeliger
Mann war Obriſt-Lieutenant.


Hier folgen noch einige laͤcherliche Vorſchriften: und
darauf heißt es:


Dieſes liebe Kind hat ſeines gleichen nicht, wenn
es auf das Wiſſen ankommt: allein in der Uebung
muß es von ſeiner erſten Kindheit an noch unerfahren
ſeyn. Bis auf die Zeit, da die Fraͤulein mit mir
bekannt ward, hat ſie gewiß geglaubt, daß das
lauter Erdichtungen waͤren, was ſie in Buͤchern
laß, und daß es keine ſolche Leute in der Welt gaͤbe,
als ſie auf den Montag an euch ſehen wird. Jch
werde mit Vergnuͤgen bemercken, was fuͤr Augen
ſie uͤber ihre Geſellſchaft machen wird, wenn ſie fin-
det, daß ich der artigſte unter dem gantzen Haufen
bin.


Das ſey genug von Verhaltungs-Befehlen fuͤr
euch auf den bevorſtehenden Montag.


Du biſt ſchon wider neugierig. Du willſt wiſ-
ſen, was hiebey mein Endzweck ſey, und warum
ich mich in Gefahr ſetze, es mit meinem lieben Kin-
de zu verderben, und es von neuen voller Argwohn
zu machen, nachdem wir einige ruhige Tage genoſ-
ſen haben? Jch will dich nicht ohne Antwort laſſen,
ſonſt zerbrichſt du dir doch den Kopf nur vergeblich.


Die beyden Baſen haben Zuſpruch; alſo wird
das Haus voll werden. Die Jungfer Partington,
ein angenehmes, ſtilles, wohlgezogenes Maͤdchen,
wird ſich ungemein in meine Schoͤne verlieben, und
wird ihre Freundſchaft begehren. Sie wird ſich
aus-
[485]
ausbitten, die einzige Nacht bey ihr zu ſchlafen.
Vielleicht bin ich in der Montags-Nacht ſo ungluͤck-
lich, eine Todt-Suͤnde wider mein Kind zu bege-
hen. Die ſcheueſten Voͤgel koͤnnen doch im Schlaf
gefangen werden. Wollte ſie hernach von mir flie-
hen wollen, ſo kann ich ſie halten. Fliehet ſie wirck-
lich, und kommt ſie davon, ſo kann ich ſie durch
Huͤlfe der Geſetze wider bekommen, wenn ich Zeu-
gen uͤber Zeugen aufſtelle, die bekraͤftigen, daß ſie
nach ihrem eigenen obgleich ſtillſchweigenden Be-
kenntniß meine Frau iſt. Jch mag in meinem Ver-
ſuch gluͤcklich oder ungluͤcklich ſeyn, ſo iſt ſie gewiß
mein Eigenthum, wenn ſie mir vergiebet, wenn ſie
ſich nur ſo weit herablaͤßt, mir durch Worte meine
Gottloſigkeit zu verweiſen, ja wenn ſie mich nur vor
Augen ſiehet. Was die Jungfern juͤngferliches ha-
ben, das iſt alles in meinem Kinde beyſammen;
meine Fraͤulein iſt mit Leib und Seele die unverletz-
teſte Jungferſchaſt. Jch kann nicht vergnuͤgt ſeyn,
bis ich ſehe, wie ſich ein ſolches Kind in einem oder
dem andern Falle verhalten wird. Jn meinen Um-
ſtaͤnden muß ich mich zum voraus auf alle Faͤlle ge-
faßt machen.


Jch weiß es, mit was vor einem Aal ich zu thun
habe, und ich muß alle Sorgfalt anwenden, daß
er mir nicht entwiſche. Wie ein taumelnder Narre
wuͤrde ich ausſehen, und ein groſſes betruͤbtes Glotz-
Auge hinter ihr her machen, wenn ſie ſich aus mei-
nen Haͤnden ſchluͤnge, und in ihre ſtinckende Fami-
lie von neuen unterſuͤncke, aus der ich ſie mit ſo vieler
Muͤhe gefangen habe.


H h 3Jch
[486]

Jch muß meine Zeugen jetzt vor mir die Muſte-
rung paßiren laſſen. Wer ſind ſie? Laß ſehen! ‒‒‒
Wie viele werden, wenn nur der Montag vorbey
iſt, ſchwoͤren koͤnnen, daß ſie nach meinem Nahmen
genennet iſt: daß ſie geantwortet hat, wenn ſie als
Frau Lovelace angeredet ward: daß ſie bloß mit
dem Zweck von ihren Freunden gefluͤchtet iſt, damit
ſie meinen Nahmen tragen moͤchte? Jhre eigenen
Anverwandten werden dieſes nicht leugnen wollen. ‒‒
Meine Bediente treten auf: ſie halten die Finger
ſchon in die Hoͤhe: ihr Cammer-Maͤdchen Dorcas,
Frau Sinclair, deren ihre beyde Baſen, und die
Jungfer Partington.


Wenn dieſe Zeugen verdaͤchtig ſind, ſo kommt
das beſte Kunſt-Stuͤck. Vier angeſehene Caval-
liers, von guten Mitteln und von alter Familie,
treten auf. Sie ſind an einem gewiſſen Abend in
einer Geſellſchaft geweſen, zu der ſie Robert Lo-
velace
von Sandoun-Hall in Lancaſter gebeten
hatte. Es war ſonſt noch gegenwaͤrtig Magdale-
na
vewittwete Sinclairin, und Jungfrau Pri-
ſcilla Partington.
Der beſagte Robert Lo-
velace
redete bey unzaͤhligen Gelegenheiten obenbe-
nannte Fraͤulein als ſeine eheliche Liebſte an; und
die uͤbrige Geſellſchaft nannte ſie nie anders als Frau
Lovelace: ſie empfing von einem jedweden die Gluͤck-
wuͤnſche zu ihrer Verehelichung, ohne daruͤber eini-
ges Mißvergnuͤgen zu bezeigen, als nur dieſes, daß
ſie nach Art aller Braͤute etwas ſchamhaft that.


Kerl,
[487]

Kerl, du wirſt mir nicht wollen Lehren geben, die
du vielleicht von einem alten Schulmeiſter erſchnap-
pet haſt: du wirſt deinem Oberhaupte nicht ungehor-
ſam werden. Kanſt du Narre dencken, daß ich
das liebe Maͤdchen umſonſt hieher gebracht haben
will.


Dieſes iſt der Entwurf meiner Anſchlaͤge. Steht,
Kerls! Tantara ‒ ‒ ra ‒ ‒ ra! Schwenckt die Fah-
nen. Fechtet vor euren Koͤnig.



Der fuͤnf und ſechszigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belfors.



Bin in der Kirche geweſen, Bruder! meine
Sachen herrlich gemacht! fromm, abſcheulich
fromm geweſen! Nun iſt mein Kind mit mir zu frie-
den, denn ich gab genau auf die Predigt Achtung,
und betete fleißig mit. Jch lies die Augen nicht her-
umſchweiffen: ich konnte ſie auch nicht herumſchweif-
fen laſſen, weil das liebenswuͤrdigſte Bild in der Kir-
che mir gegen uͤber ſaß.


Das liebe Kind! Wie andaͤchtig! Wie liebens-
wuͤrdig war es in ſeiner Andacht! Es hat mir be-
kennen muͤſſen, daß es fuͤr mich gebetet hat. Ein
Gebet, das aus einem ſo reinen Hertzen kommt,
kann ohnmoͤglich unerhoͤret bleiben.


Es hat warhaftig der oͤffentliche Gottes-Dienſt
ſeine unleugbaren Schoͤnheiten und Vortreflichkeiten.
H h 4Der
[488]
Der Sabbath iſt eine unvergleichliche Einſetzung,
dadurch ein Hertz das tugenhaft iſt tugendhaft erhal-
ten wird. Wie billig iſt es, einen Tag unter ſieben
Tagen zu dieſem Zweck auszuſetzen! Jch will kuͤnf-
tig mehrere Tage in die Kirche gehen: ich glaube,
daß dieſes viel zu meiner Beſſerung beytragen wird.
Man empfindet eine angenehme Ehrfurcht, wenn
man eine Menge Leute, die anſtaͤndig gekleidet ſind,
vereiniget ſiehet, einem groſſen Weſen zugleich ihre
Ehrfurcht zu bezeigen: es ſchickt ſich dieſe Uebung
fuͤr ſolche, die eine Seele haben. Allein ich empfin-
de bey dem Gottes-Dienſt noch einen neuen Stachel,
auſſer den Stacheln, die mein Hertz ſonſt ſchon ge-
fuͤhlet hat, ſo bald ich mich der Abſichten erinnere,
die ich gegen mein unvergleichliches Kind habe. Jch
wuͤrde ſie fahren laſſen muͤſſen, wenn ich immer in
die Kirche gehen wollte.


Es fiel mir ein neuer Gedancke ſelbſt in der Kirche
ein, wie ich mein Kind beſiegen koͤnnte: allein er ſoll
vergeſſen werden, und ſterben, weil er mich an ei-
nem ſo heiligen Orte uͤberfiel. Die liebenswuͤrdige
Schoͤne! Wie manches Maͤdchen hat ſie dadurch
vor meiner Verfuͤhrung bewahrt, daß ſie mein gan-
zes Hertz allein eingenommen hat, und mich hindert,
an andere zu gedencken!


Jch muß dir der Ordnung wegen zuerſt melden,
was bey meinem heutigen Morgen-Beſuch vorge-
fallen iſt; und nachher dir erzaͤhlen, wie artig ich in
der Kirche geweſen bin.


Jch ward nicht eher vorgelaſſen, als nach achtUhr.
Sie war ſchon gantz fertig zum ausgehen.
Jch
[489]
Jch ſtellete mich, als wuͤßte ich ihre Abſicht nicht,
und hatte der Dorcas hart befohlen, nicht zu geſte-
hen, daß ſie mir etwas davon geſagt haͤtte.


Wollen ſie ausgehen, Fraͤulein? fragte ich ganz
kaltſinnig.


Ja! ich gedencke in die Kirche zu gehen.


Jch hoffe, daß ſie mir die Ehre goͤnnen werden,
ſie zu begleiten.


Nein! Jch will mich in die naͤchſte Kirche tragen
laſſen.


Dieſes machte mich beſtuͤrtzt. Sie will ſich in
die naͤchſte Kirche aus Sinclairs Hauſe tragen laſ-
ſen; und die Frau heißt nicht Sinclair! ſie will ſich
im Angeſicht aller Leute wider nach dem Hauſe zuruͤck
tragen laſſen, bey denen es in uͤblem Verdachte ſte-
het! Wie konnte ich das zugeben? Und dennoch
mußte ich mich ſtellen, als wenn ich gantz gleichguͤl-
tig waͤre. Jch ſagte nur: ich wuͤrde es fuͤr eine groſ-
ſe Guͤtigkeit erkennen, wenn ſie mir erlaubte, mit
ihr nach St. Pauls-Kirche zu fahren, weil es noch
fruͤh genug dazu ſey.


Sie machte mir den Einwurf, daß ich allzu mun-
ter gekleidet waͤre. Sie koͤnnte ja auch allein nach
S. Pauls fahren.


Jch erinnerte ſie an Singleton und an ihrem
Bruder, und verſprach, mich anders zu kleiden. ‒‒
Jch bitte mir gehorſamſt aus, daß ich mitfahren darf.
Jch bin ſehr lange nicht in der Kirche geweſen. Wir
wollen nicht in einen Stand gehen; ich will mich
in der Kirche trennen. Allein ich hoffe, daß
wir bald noch einmahl zur Kirche gehen werden,
H h 5damit
[490]
damit ich den angenehmſten Segen, der gedacht
werden kann, empfangen moͤge.


Sie machte noch einige Einwuͤrfe, allein zuletzt
erlaubte ſie es mir.


Jch ſetzte mich ihr gerade gegen uͤber, damit mir
die Zeit nicht lang waͤhren moͤchte: denn wir waren
beynahe die erſten in der Kirche. Durch meine Auf-
fuͤhrung erwarb ich mir ihr guͤnſtiges Urtheil.


Der Jnhalt der Predigt war ſehr ausgeſucht.
Der Text war eine Erzaͤhlung oder ein Gleichniß des
Propheten, von dem Schoos-Lamm eines armen
Mannes, welches er ſehr liebete, das ihm von ei-
nem reichen Manne genommen ward. Der Pro-
phet erlog das, um den David zum Nachdencken
zu bringen, als er mit des Uria Weibe der Bathſe-
ba,
die Ehe gebrochen und den Mann hatte ermor-
den laſſen. (Bruder die Maͤdchens ſind doch vom
Anfang der Welt an allem Ungluͤck ſchuld geweſen).
Als nun David im Zorne ſchwor: (Koͤnig David
konnte auch ſchwoͤren. Doch was weißt du, wer
Koͤnig David war: es iſt ein Mann in der Bibel!)
daß der reiche Mann ein Mann des Todes waͤre:
ſo ergriff Nathan (ſo hieß der Prophet) ein ehrlicher
Kerl, und kein dummer Kopf, die Gelegenheit,
und rief aus: du biſt der Mann! Dieſes waren
die Textes-Worte. Bey meiner Seele! ich dach-
te der Prediger haͤtte mich allein angeſehen: ich
warf meine Augen ſo gleich auf mein Schoos-
Lamm hin. Jch muß dir aber auch das ſagen:
mein Roſen-Knoͤſpchen fiel mir ein. Damahls
bin ich doch froͤmmer geweſen als David war.


Als
[491]

Als wir nach Hauſe kamen, ſo redeten wir viel
von der Predigt: mein Kind mußte es mercken,
daß ich Achtung gegeben hatte: denn ich wiederhohlte
das nachdruͤcklichſte und beſte aus der Predigt, und
merckte die Stellen an, wo der Prediger ſeinem Tex-
te kein Genuͤge geleiſtet hatte. Denn Bruder, es
iſt die artigſte und beweglichſte Geſchichte, die ich
mein Tage geleſen habe. Jch war bey allem dieſen
ſo ernſthaft, daß mein Kind immer vergnuͤgter uͤber
mich ward, und ich zweifele nun nicht mehr daran,
daß ſie uns morgen Abend ihre Gefellſchaft goͤnnen
wird.


Sonntag Abends.


Wir haben zu Mittage bey der Frau Sinclair
gegeſſen. Es iſt alles ungemein wohlgethan. Die
beyden Maͤdchens haben ihre Perſon wohl geſpielet,
und die Frau Sinclair auch. Mein Kind iſt noch
nie ſo vergnuͤgt geweſen. Sie ſagt: ſie haͤtte ſich
vorhin wunderliche Gedancken von den Leuten im
Hauſe gemacht: Frau Sinclair haͤtte zuerſt etwas
unangenehmes in ihrem Weſen: allein ihre Baſen
waͤren artiger, und ſie moͤchte ſich wohl wuͤnſchen mit
ihnen mehr bekannt zu ſeyn. Wir ſollten in der
That uns ſehr in acht nehmen unſeren Naͤchſten zu
beurtheilen. Einige Leute beſſerten ſich durch un-
ſern Umgang. Die Witwe waͤre gut genug.
(Weiter ging ihr gantzes Lob nicht.) Jungfer Mar-
tin
und Jungfer Horton haͤtten guten Verſtand,
und ſchienen artige Buͤcher geleſen zu haben. Was
Jungfer Martin von ihrer Heyrath und von ihrem
unterthaͤnigen Diener geſagt haͤtte, waͤre ſehr ver-
nuͤnftig-
[492]
nuͤnftig. Bey dieſen Einſichten wuͤrde ſie gewiß ei-
ne gute Frau ſeyn. (Der unterthaͤnige Diener von
unſrer Sara iſt ein vornehmer Kaufmann, der mit
Tuͤchern handelt, und die Hochzeit wird bald vor
ſich gehen.)


Jch habe ihr von dir und von den drey andern
Herren eine Beſchreibung gemacht, damit ſie begie-
rig werden moͤchte, euch morgen zu ſehen. Euer gu-
tes und boͤſes habe ich ihr erzaͤhlt, um mich zu erhe-
ben, und zu verhuͤten, daß ſie ſich nicht allzu ſehr ver-
wundern mag, wenn ſie euch zu ſehen bekommt,
wie auch um ſie zum voraus zu lehren, was fuͤr Ge-
ſellſchaft ſie erwarten muß, wenn ſie mir gefaͤllig
ſeyn will.


Sie wird ihre Anmerckungen uͤber einen jeden un-
ter euch machen, und daraus werde ich ſehen koͤnnen,
was mir erlaubt oder nicht erlaubt iſt, wenn ich ſie
gewinnen will: was ihr gefaͤllt und was ihr mißfaͤl-
lig iſt. Unterdeſſen, daß ſie eure ſeichten Koͤpfe er-
gruͤndet, werde ich ihr Hertz ergruͤnden, und wiſ-
ſen, worauf ich hoffen ſoll.


Jn drey Wochen miethen wir ein anderes Haus:
ich muͤßte ſehr ungluͤcklich ſeyn, wenn unſer Krieg
nicht ſchon in drey Wochen entſchieden waͤre. Viel-
leicht ſiege ich in drey Tagen. Habe ich es nicht ſo
weit gebracht, daß ſie in dem Hauſe fuͤr meine Frau
gehalten wird? Und daß ich Tag und Nacht im
Hauſe bleiben darf? Welches Frauenzimmer iſt mir
nicht zu Theil geworden, wenn es mit mir unter ei-
nem Dache gewohnt hat? Bedencke in was fuͤr ei-
nem Hauſe ich bin: unter was fuͤr Leuten:
unter
[493]
unter Leuten nach meinem Hertzen. Jhre Bedien-
ten Wilhelm und Dorcas ſind beyde meine Be-
diente. Was ſage ich von drey Tagen? Pfuy,
pfuy! in drey Stunden muß ich geſiegt haben.



Abermahls ein Auſſenwerck gewonnen, allein
ſehr wider Willen meines Kindes. Die Jungfer
Partington ſtattete ihr ihren Beſuch ab, und ver-
ſprach unter der Bedingung mit bey meinem
Schmauſe zu ſeyn, wenn meine Liebſte in der Ge-
ſellſchaft waͤre. Wie war es moͤglich, einem ſo ar-
tigen Frauenzimmer etwas abzuſchlagen, darum
auch ich ſo ernſtlich bate.


Jch bin begierig, euer Urtheil uͤber meine Beute
zu hoͤren. Wenn ihr gluͤende Wangen ſehen wollt,
wo das Hertz gefroren, und noch niemahls aufge-
thauet iſt: Zaͤhne von Elfenbein, und Lippen von
Corallen, von denen die vernuͤnftigſten Reden flieſ-
ſen: ein Auge, das alles durchforſchet; eine ein-
nehmende Stimme; einen vornehmen Blick, der
mit einer unbeſchreiblichen Anmuth gemaͤßiget iſt:
eine Artigkeit im Umgange, die vielleicht ihres glei-
chen nie gehabt hat, und die zum wenigſten nie uͤber-
troffen werden kann: wenn ihr dieſes alles, und noch
zehnmahl mehr ſehen wollt, ſo ſehet meine Gloria-
na.


Bewundert ſchuͤchtern ein Gebaͤude

Von Gott gemacht, von Gott bewohnt.

Der Tempel ihrer groſſen Seele

Jſt dieſer reinen Gottheit werth.

Oder
[494]
Oder ſoll ich mit Rowe ſanfter ſingen?

Der keuſchen Bluͤte Bild, die uns der Fruͤhling

bringt,

Die, da der Morgen tagt, und unter Thau ge-

bohren,

Noch keinen reinen Hauch, der zaͤrtlich in ſie

dringt

Dem Gaͤrtner mitgetheilt, noch durch den Tag

verlohren.

So rein, ſo lebhaft iſt mein unverletztes Kind:

Gleich der Natur, als ſie aus ihres Schoͤpfers

Haͤnden

Die erſte Schoͤnheit nahm.

Lebt wohl, ihr vier Burſchen. Auf den Mon-

tag Abends um ſechs Uhr erwarte ich euch.

Die Fraͤulein ruͤhmt in ihrem naͤchſten
Briefe vom Montag fruͤh ſein Betragen in
der Kirche, und die Anmerckungen, die er
uͤber die Predigt gemacht hatte. Sie iſt beſ-
ſer als vorhin mit den Leuten in dem Hauſe
zu frieden und es ſcheint ihr ein gutes Zei-
chen zu ſeyn, daß ſie von Leuten von Stan-
de beſucht werden


Sie macht einen neuen Abſatz einige Stun-
den nach Schreibung des erſteren, und iſt
mißvergnuͤgt, daß er die Jungfer
Parting-
ton zu ihr gebracht hat; und daß er ſie genoͤ-
thiget hat, ihm zu verſprechen, auf ſeinen
Schmauß zu kommen: weil ſie zum voraus
ſaͤhe, daß es ein verdorbener Abend ſeyn
wuͤrde.


Der
[495]

Der ſechs und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch bin eben der beſchwehrlichen Geſellſchaft ent-
kommen, in der ich wider meinen Willen hat-
te ſeyn muͤſſen. Es wuͤrde mir ſehr verdrießlich ſeyn,
alles umſtaͤndlich zu erzaͤhlen, was dieſen Abend vor-
gefallen iſt: Sie werden ſich alſo dieſes mahl mit dem
Entwurf einer Abſchilderung der gegenwaͤrtig gewe-
ſenen Perſonen begnuͤgen laſſen, dazu ich noch ein
Paar Geſchichte fuͤgen will, die mir Herr Love-
lace
geſtern erzaͤhlet hat.


Die vier Herren hieſſen, Belton, Mowbray,
Tourville,
und Belford: auſſer dieſen war Frau
Sinclair, die Jungfer Partington (die ſo ſchoͤ-
ne Mittel hat, wie ich ſchon neulich gemeldet habe)
Herr Lovelace und ich zugegen.


Von der Jungfer Partington habe ich Jhnen
das vorige mahl nur die gute Seite entworffen, und
das nachgeſagt, was ich hier in dem Hauſe von ihr
gehoͤrt hatte. Jch muß aber jetzt ein Paar eigene
Anmerckungen uͤber ſie und ihre Auffuͤhrung machen.


Vielleicht wuͤrde ich mir einen vortheilhafteren
Begriff von ihr gemacht haben, wenn ich ſie in beſ-
ſerer Geſellſchaft geſprochen haͤtte. So ſehr Herr
Lovelace ihr unſchuldiges Geſicht ruͤhmet, ſo wenig
werde ich mich kuͤnftig in dieſem Stuͤcke auf ſeine Ur-
theile verlaſſen. Denn als die anweſenden Herren
ſich
[496]
ſich Reden entfallen lieſſen, die zwar zu verſteckt wa-
ren, als daß man ſie ihnen haͤtte verweiſen koͤnnen,
allein dennoch eine geheime Bedeutung hatten, wel-
che ſie in einer wohlgezogenen Geſellſchaft unanſtaͤn-
dig machte: ſo fieng dieſes Kind an, zu mercken,
und vermehrte durch Laͤcheln die Dreiſtigkeit der Leu-
te, etwas in den Tag hinein zu ſchwatzen, das ent-
weder ein nichts-bedeutender Unſinn war, oder eine
boͤſe Bedeutung haben mußte.


Jch habe freylich manches Frauenzimmer geſe-
hen, von welchem ich eine beſſere Meinung hatte
als von der Frau Sinclair, das den jungen Her-
ren ſolche Freyheiten im Reden erlaubte, ja ſich wol
ſelbſt dieſe Freyheiten nahm, die meiner Meinung
nach mit dem, was die Schoͤnheit eines juͤngferli-
chen Hertzens ausmacht, nicht beſtehen koͤnnen.
Denn was ſind die Worte anders als das Kleid der
Gedancken? Sollte ſich nicht das Gemuͤth durch die-
ſe Kleidung ſehr verrathen?


Jch komme auf die Cavalliers; Denn ſo muß
ich ſie wegen ihrer Geburth nennen, ob ich ſie gleich
ſonſt ſchwerlich dafuͤr wuͤrde gehalten haben.


Herr Belton iſt auf der Univerſitaͤt geweſen,
und er ſollte ein Geiſtlicher werden. Weil ihm aber
dieſe Lebens-Art nicht anſtaͤndig war, und er von
ſeinem Onckle ein ſchoͤnes Gut erbete, ſo gieng
er nach London, und fieng an als ein Cavallier
zu leben. Er ſoll guten Verſtand haben. Er
macht Staat in der Kleidung, jedoch vermeidet er
die Eitelkeit der bunten Phantaſten: er trinckt ſtarck:
er iſt ein Spieler, und dieſer ungluͤckliche
Zeit-
[497]
Zeitvertreib hat ihn verdorbrn. Er iſt ohngefaͤhr
dreyßig Jahre alt. Sein Geſicht iſt feuer-roth, und
dabey etwas zu ſtarck, und voller Finnen. Seine
unordentliche Lebens-Art wird die Dauer ſeines ſinn-
lichen Traumes von Vergnuͤgen ſehr abkuͤrtzen: denn
er hat einen kurtzen und ſchwindſuͤchtigen Huſten.
Allein durch allerhand Spaß uͤber dieſen gefaͤhrli-
chen Vorboten, der ihn ernſthafter machen
ſollte, pflegt er ſich und ſeine Freunde aufzu-
muntern.


Herr Mowbray iſt viel auf Reiſen geweſen,
und redet eben ſo viele Sprachen als Herr Lovelace,
allein nicht ſo fluͤchtig. Er iſt von ſehr guter Fami-
lie, und ſcheint drey bis vier und dreyßig Jahr alt
zu ſeyn. Er iſt groß von Perſon, und hat eine an-
ſtaͤndige Leibes-Bildung: er hat ſtarcke Knochen:
ein dreiſtes und wagendes Geſichte: eine groſſe Nar-
be uͤber den Vor-Kopf, und ein ſolches Merckmahl
als wenn die Hirn-Schale verletzt waͤre, nebſt noch
einer Narbe uͤber den rechten Backen. Er pflegt
ſich ebenfalls koſtbar zu kleiden: ſeine Bedienten
muͤſſen unaufhoͤrlich um ihn ſtehen; er ruft ſie alle
Augenblicke, ob er ihnen gleich nichts als Kleinig-
keiten zu befehlen hat. Jn der kurtzen Zeit, da ich
ihn habe kennen lernen, habe ich dieſes mehrmahls
bemercket. Sie gaben ihm beſtaͤndig auf ſeine feu-
rigen Augen Achtung, und wandten ſchon mit Furcht
und Zittern den Ruͤcken, ſeine Befehle auszurichten,
wenn er kaum halb ausgeredet hatte. Gegen ſeines
gleichen ſcheint er eine ertraͤgliche Auffuͤhrung zu ha-
ben: er kann von den oͤffentlichen Luſtbarkeiten,
Dritter Theil. J iſon-
[498]
ſonderlich von denen, die auſſerhalb Engeland ge-
woͤhnlich ſind, vernuͤnftig reden: allein es haͤngt ihm
etwas von der Romaine an, und er behauptet bis-
weilen im groͤſſeſten Ernſt gantz unwahrſcheinliche
Dinge und Erzaͤhlungen. Er ſcheint alles gern zu
glauben, die Saͤtze der Religion ausgenommen, die
er billig glauben ſollte: denn mit der Religion treibt
er ſein Geſpoͤtte, und giebt ſich fuͤr einen Feind der
Geiſtlichen unter allen Religionen aus. Er haͤlt
viel auf ſeine Ehre, und dieſes Wort iſt beynahe un-
aufhoͤrlich in ſeinem Munde: allein die Tugend
ſcheint bey ihm in keiner groſſen Achtung zu ſte-
hen.


Herr Tourville ſagte bey Gelegenheit, daß er
eben das ein und dreyßigſte Jahr zuruͤck geleget habe.
Er iſt gleichfalls von einer alten Familie: er will in
ſeiner Auffuͤhrung ſchoͤn thun, und iſt gezwungener
als ſeine uͤbrigen Freunde. Er pflegt ſich ſehr koſt-
bar zu kleiden, und macht ſich eine Ehre daraus,
die Moden zu verſtehen: allein ſeine Kleidung macht
ihn nicht ſo wohl angenehm, als zu einem buntſche-
ckigten Geck, uͤber den man ſich freuen wuͤrde, wenn
er ein Cacadute geworden waͤre. Aus der groſſen
Sorgfalt, die er auf das Aeuſſerliche wendet, und
aus der Aufmerckſamkeit, die ſeine Augen von ſeiner
Geſellſchaftfuͤr dieſen erborgten Zierrath fodern, ſiehet
man leicht, daß er wenige Sorgfalt auf ſein Jnwen-
diges richten kann. Nach Herrn Lovelaces Er-
zaͤhlung tantzt er gut, verſtehet die Muſick vollkom-
men, und kann inſonderheit ſehr ſchoͤn ſingen. Die-
ſes ſoll einer ſeiner groͤſſeſten Vorzuͤge ſeyn. Er
ward
[499]
ward erſucht, uns etwas vorzuſingen, und er ſuchte
ſeine Geſellſchaft durch frantzoͤſiſche und italiaͤniſche
Stuͤcke zu vergnuͤgen. Jch muß ihm das Lob bey-
legen, daß er keine Stuͤcke abſang, die den Wohl-
ſtand verletzten. Die gantze Geſellſchaft war wohl
mit ihm zufrieden, allein niemand bewunderte ihn
mehr, als Frau Sinclair, die Jungfer Parting-
ton,
und er ſelbſt. Mir kam er allzu unnatuͤrlich
und verliebt in ſich ſelbſt vor.


Herr Tourville wird im Umgange mit Frauen-
zimmern dadurch unertraͤglich, daß er alle Augen-
blicke mit den Spoͤttereyen uͤber den Verſtand unſe-
res Geſchlechts um ſich wirft, die in dem Woͤrter-
Buche der jetzigen Moden Complimente heiſſen.
Sie werden zwar zu unſerer Zeit beynahe fuͤr einen
Erweis der ſechszehn Ahnen und der vornehmen Er-
ziehung angeſehen, ob ſie gleich das abgeſchmackte-
ſte Zeug von der Welt ſind, und die Falſchheit des
hoͤflichen Laͤſterers ſo gleich verrathen. Wenn er
glaubet, daß ſein vergoͤttertes Frauenzimmer Ge-
ſchmack an ſeinen Reden finden kann, ſo muß er ſie
gewiß fuͤr eine ſolche Gottheit halten, als die alten
Roͤmiſchen Comoͤdianten auffuͤhreten, wenn der
gantze Schauſaal einmal lachen ſollte.


Er weiß ſich viel damit, wenn er ſeine Reden
durch frantzoͤſiſche oder italiaͤniſche Worte ausputzen
kann: wenn er auf engliſch gefraget wird, ſo erfolgt
ſehr oft eine frantzoͤſiſche Antwort; denn dieſe Spra-
che klinget in ſeinen Ohren viel beſſer, als das unan-
genehme Ziſchen unſerer Mutter-Sprache, die
das Ungluͤck hat, von den Bauren geredet zu werden.
J i 2Al-
[500]
Allein er hat doch die Guͤtigkeit, die Worte oder
Weisheits-Spruͤche, die er vorhin in einer fremden
Sprache vorgetragen hatte, in die verhaßte Spra-
che ſeines Vaterlandes zu uͤberſetzen. Vielleicht
fuͤrchtet er ſich vor dem Verdacht, als verſtuͤnde er
nicht, was er ſagte.


Er mag ſehr gern Hiſtoͤrchen erzaͤhlen: und um
die. Aufmerckſamkeit ſeiner Zuhoͤrer zu erwecken,
nennet er ſie gemeiniglich zum voraus, luſtig, ſpaß-
haft, ſchoͤn
oder unvergleichlich: allem er be-
muͤhet ſich ſelten, ſie ſo luſtig vorzutragen, als es
ſeine Vorrede zu verſprechen ſchien. Selten bringt
er ſeine Erzaͤhlung zum Ende: denn wenn auch an-
dere die Geduld haben, ihm zuzuhoͤren, ſo unter-
bricht er ſeine eigene Rede durch ſo viele zufaͤllige Ge-
dancken, daß er endlich ſelbſt die erſte Mord-Ge-
ſchichte fahren laͤßt, und vergnuͤgt iſt, daß er etwas
hat reden duͤrfen. Wenn er aber bisweilen weiter
fortfahren will, ſo bittet er, daß ihm andere zu rech-
te helfen und ihn erinnern moͤgen, was er ſagen woll-
te: der Teufel ſoll ihn hohlen, wenn er ſich be-
ſinnen kann. Doch genug, und mehr als genug
von dem Herrn Tourville.


Auf den Herrn Belford ſcheint Herr Lovelace
am allermeiſten zu halten: es ſcheint, daß er Hertz
im Leibe hat, und daß er auch dieſes gezeiget hat.
Denn ſeine erſte Bekanntſchaft mit Lovelacen ward
bey Gelegenheit einer Schlaͤgerey (ſo vermuthlich
uͤber ein Maͤdchen herkam) geſtiftet. Sie ſchlugen
ſich bey Kenſingtons Gravelpits,(*) und
wur-
[501]
wurden darauf durch Vermittelung drey auslaͤndi-
ſcher Herren die beſten Freunde.


Er iſt nach Herrn Lovelacen der juͤngſte, und
etwan 28. Jahr alt. Dieſe beyden juͤngſten ſcheinen
zugleich die aͤrgſten zu ſeyn, die die uͤbrigen lencken
koͤnnen, wie ſie wollen. Er macht eben ſo wohl als
die uͤbrigen Staat in Kleidern: allein weder ſeine
Perſon noch Kleidung hat diejenige Artigkeit, dar-
auf Herr Lovelace ſich allzu viel einbildet. Man
ſieht es ihm aber dennoch an, daß er von vornehmen
Herkommen iſt. Er hat die alten Schriftſteller,
und die beſten engliſchen Dichter und andere Buͤcher,
die den Verſtand auf heitern geleſen: er machte da-
her die Unterredung oͤfters angenehmer, als ſie mir
vorhin geweſen war. Weil ich einmal fuͤr Frau
Lovelace angeſehen ward, ſo mußte ich meine Rol-
le ſo gut ſpielen, als ich konnte: deswegen fing ich an zu
reden, wenn er etwas artiges und wohlausgeſuchtes
anbrachte. Die gantze Geſellſchaft pflegte mir dieſe
ungern erzeigte Gefaͤlligkeit mit vielen Lobſpruͤchen zu
belohnen.


Herr Belford ſcheint kein boͤſes Hertz zu haben,
und dienſtfertig zu ſeyn: ſo hoͤflich er iſt, ſo treibt er
doch die Hoͤflichkeit nicht ſo weit, als Herr Tour-
ville.
Er weiß ſeine Gedancken auf eine angeneh-
me und wohlanſtaͤndige Art auszudruͤcken. Er und
Herr Belton ſchienen an dem Diſputiren ein Ver-
gnuͤgen
(*)
J i 3
[502]
gnuͤgen zu finden. Einer griff immer den andern
an: und ſie ſtritten nach den Regeln der gelehrten
Fechter-Kunſt. So oft einer von beyden etwas vor-
brachte, das den andern zu treffen ſchien, ſahe er
uns Frauenzimmer an, um ſich zu verſichern, ob
wir ſeine Gelehrſamkeit und Verſtand bewunderten.
Herr Belford war ſeinem Widerſacher ſehr merck-
lich uͤberlegen: er iſt von einem aufgeweckteren Ver-
ſtande, und er ſcheint dieſes zu wiſſen, denn er ver-
theidigte gemeiniglich unrichtige Saͤtze, um ſeinen
Vorzug vor dem andern deſto mehr zu zeigen. Mir
fielen hiebey Miltons Worte ein.


Von Honig floß ſein Mund: das Unrecht ſchien

uns Recht,

Der Jrrthum lockte uns, wenn er die Lippen

regte.

Die Wahrheit ſtand beſchaͤmt, wenn er ſie wi-

derlegte.

Sein niedertraͤchtigs Hertz, und ſein verworrnes

Haupt

Voll Witz verſteht die Kunſt das leichte zu ver-

wirren,

Wo Einfalt ſicher geht, wo niemand irrt zu irren.

Zum Laſter groß und kuͤhn, durch das, was un-

erlaubt,

Und was unglaublich iſt gereitzt, wird er beredt.

Zu edlen Thaten matt, zu groſſen Schluͤſſen traͤge,

Vergnuͤgt er doch das Ohr.

Wir ſind gewohnt, uns in unſerer Wahl zu gefal-

len, ſo lange wir nicht gantz ohne Hoffnung ſind,

wenn uns gleich einige Umſtaͤnde nicht gefallen, in

die
[503]
die wir uns geſetzt haben.

So ging es mir dieſes
mal: ich bemerckte mit Vergnuͤgen, wie ſehr Herr
Lovelace ſeine Freunde in allen Stuͤcken uͤbertraf,
ſelbſt in denen, auf die ſie ſich am meiſten einbilde-
ten. An Lebhaftigkeit des Verſtandes war ihm nie-
mand in der Geſellſchaft gleich. So bald er die
Lippen regete, verſtummeten die uͤbrigen. Wenn
er reden wollte, ſo konnte der hochmuͤthige Mow-
bray
den Tourville bitten, ihn nicht durch ſein
Plaudern zu ſtoͤren, oder den eingebildeten Belton
anſtoſſen, daß er zuhoͤren ſollte. Wenn er ausge-
redet hatte, ſo erhielt er von allen anweſenden Her-
ren ein ungekuͤnſteltes Lob, das entweder die Be-
wunderung oder der Neid ihnen erpreſſete. Er hat
ſo viele Vorzuͤge der Geſtalt und der Lebens-Art, daß
man das, was bey andern keine Entſchuldigung lei-
det, bey ihm billigen und fuͤr anſtaͤndig halten wuͤr-
de, wenn man nicht genau uͤber ſich wachete, um
den weſentlichen Unterſchied des Guten und des Boͤ-
ſen nicht zu vergeſſen.


„Wenn man ihn unter zwantzig Leuten ſiehet„
ſagte Belford, (welcher mich zu meinem nicht ge-
ringen Verdruß ſo gleich anredete, als Herr Love-
lace
hinunter gerufen ward, um mir Gluͤck zu wuͤn-
ſchen, und mir zugleich ſagte; ich moͤchte das harte
Geluͤbde nicht allzu ſpaͤt erlaſſen, das ich von einem
uͤberall beliebten und bewunderten Liebſten er-
zwungen haͤtte) „wenn man ihn unter
„zwantzig Leuten ſiehet, die alle von gutem
„Stande ſind: ſo iſt es doch, als wenn er al-
J i 4„lein
[504]
„lein zugegen waͤre. Auf niemanden giebt die
„Geſellſchaft Achtung, als auf Herr Lovelacen.


Er hat in der That in ſeiner gantzen Auffuͤhrung
etwas natuͤrlich-vornehmes: und das ungeſtuͤme
Weſen, das er bisweilen annimt, iſt eben deſto we-
niger zu entſchuldigen, weil er nicht noͤthig hat, ſich
dadurch Furcht zu erwerben. Sein einnehmendes
Laͤcheln, ſeine angenehme Stimme und Perſon,
ſeine artige Auffuͤhrung, ſo oft er es ſich vornimt
gefaͤllig zu ſeyn, zeigen genugſam, daß ihm die La-
ſter, die Haͤrte, das ungeſtuͤme und brauſende
Weſen nicht angebohren ſind, ſondern daß ihn bloß
die uͤble Geſellſchaft verfuͤhret hat. Er hat, wie
es mir vorkommt, ein offenes und ehrliches Geſicht.
Sind Sie nicht meiner Meinung? Auf die ſes in die
Augen fallende Gute gruͤndet ſich meine Hoffnung,
daß er ſich vielleicht aͤndern und beſſern moͤchte.


Allein dieſes iſt ein Raͤthſel fuͤr mich, wie es moͤg-
lich iſt, daß einer, der den Nahmen eines Cavalliers
mit ſo groſſem Recht traͤget, der die Welt und Buͤ-
cher ſo wohl kennet, der die gelehrten und lebenden
Sprachen verſtehet, ein Vergnuͤgen an ſolcher Ge-
ſellſchaft finden, und ſich an ſo froſtigen Reden be-
luſtigen kann, die ſich zu ſeinem Verſtande und Ge-
lehrſamkeit gar nicht ſchicken. Mir faͤllt nur eine
einzige Urſache bey, welche ihn hiezu bewegen kann,
und die eine niedertraͤchtige Seele verrathen wuͤrde:
nehmlich ſein Hochmuth, nach welchem es ihm
zum Vergnuͤgen gereicht, wenn er der Anfuͤhrer und
der kluͤgſte unter ſeinen Freunden iſt. Wie
wider-
[505]
widerſinniſch iſt es, ſo geitzig auf den Ruhm zu ſeyn;
und ſich dennoch mit den Lob-Spruͤchen derer zu be-
helfen, die nicht im Stande ſind zu loben!


Ein ſchmeichleriſches Lob, das ihm Belford
gab, trieb mich aus der unangenehmen Geſellſchaft.
Die Frau Sinclair hatte ihm vorhin ſchon ſehr groſ-
ſe Vorzuͤge beygelegt, und die Jungfer Parting-
ton
bekraͤftigte ihr Lob. Hierauf ſagte Herr Bel-
ford:
„ſie ſind ein gluͤcklicher Mann, Herr Lovela-
„ce.
Sie haben ſo viel Hertz und Verſtand, daß keines
„von beyden Geſchlechtern ihnen widerſtehen kann.„


Herr Belford ſahe mich hiebey mit einem ſchel-
miſchen Laͤcheln an: darauf ſahe er ſeinen erquickten
Freund an. Die Augen der gantzen Geſellſchaft
gaben ihr ſtilles Ja zu ſeiner Rede, und waren auf
Jhre Clariſſa zu ihrer groͤſſeſten Beſchaͤmung ge-
richtet. Mein Hertz machte mir ſelbſt Vorwuͤrfe,
und vielleicht ſtellete es mir die Geſichter der Anwe-
ſenden anders vor als ſie waren: denn es iſt wahr,
ich konnte die Augen nicht aufſchlagen.


Wenn doch ein jedes Frauenzimmer, das ſich in
eine Manns-Perſon verliebet, (ein Verdacht, wel-
chen jedermann auf mich haben muß; denn woher
waͤre es ſonſt gekommen, daß ich mich willig von
Herrn Lovelace habe entfuͤhren laſſen, wie die Leu-
te glauben?) bedencken moͤchte, wie hochmuͤthig es
die Manns-Perſon mache, und wie ſehr es ſich ſelbſt
erniedriget: was fuͤr Mitleiden, was fuͤr ſtille Ver-
achtung, was fuͤr Geſichter, was fuͤr unguͤtige Ur-
theile es ſich von beyden Geſchlechtern dadurch zuzie-
het? Gewiß ein ſolches Frauenzimmer wuͤrde ſich
J i 5ſelbſt
[506]
ſelbſt veraͤchtlich vorkommen. Der Tod wuͤrde
ihr ein geringeres Uebel zu ſeyn ſcheinen, als eine
ſolche Erniedrigung.


Dieſes wenige, das ich uͤberhaupt gemeldet habe,
wird genug ſeyn, mich zu entſchuldigen, wenn ich
nicht umſtaͤndlicher in meiner Erzaͤhlung bin. Die
gantze Unterredung bey dem Gaſt-Gebot beſtand in
nichts anders, als in ſchmeichelnden Anklagen, und
in ſo genannten witzigen Verantwortungen.



Der ſieben und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Ein wunderlicher Zufall ſetzt mich in die aͤuſſerſte
Verwirrung. Jetzt eben geht die Frau Sin-
clair,
wie ich glaube, im Unwillen weg, weil ich ihr
eine Bitte abgeſchlagen habe. Sie ſtellete mir vor:
daß ihr Haus jetzt gantz voll waͤre, weil ſie die Frem-
den ihrer beyden Baſen, nebſt ihren und der Jungfer
Partington Bedienten beherbergen muͤßte: ſie bat
daher, daß ich der Jungfer Partington erlauben
moͤchte, bey mir zu ſchlafen.


Es konnte vielleicht alles gantz richtig ſeyn, und
es lies ſehr unfreundlich, eine ſolche Bitte abzuſchla-
gen. Allein es fiel mir auf einmal bey, daß ich
niemand in dem gantzen Hauſe kennete: daß ich
nicht einmal eine Bedientin haͤtte, die ich mein
eigen
[507]
eigen nennen, und auf deren Treue ich mich verlaſ-
ſen koͤnnte: daß vier fremde Herren von ſehr freyer
Lebens-Art in dem Hauſe waͤren, die Herrn Love-
lacen
in allem Boͤſen behuͤlflich ſind: daß er ſelbſt
alles waget: daß dieſen Herren (wie ich aus ihrem
Jauchzen abnehmen mußte) der Wein noch ſehr wohl
ſchmeckte: daß die Jungfer Partington kein ſo
bloͤdes Frauenzimmer iſt, als man ſie mir vorgeſtel-
let hatte: daß man ſich ſo viele Muͤhe gegeben hatte,
ſie mir anzupreiſen: und daß die Frau Sinclair ih-
re Bitte mit einem ſo langen und entſchuldigenden
Vorwand vorbrachte, daß ſelbſt dieſer Umſtand mir
einen Verdacht erwecken mußte. Jch dachte bey
mir ſelbſt: eine abſchlaͤgige Antwort laͤßt zwar etwas
wunderbar; allein die Leute haben ſchon ohnehin die
Meynung von mir, daß ich ſonderbar bin: wenn
ich aber in dieſe Bitte willige, ſo kann es ſchlimmere
Folgen haben. Wenn dieſes gleich nicht wahrſchein-
lich iſt, ſo iſt es doch moͤglich. Bey ſo bewandten
Umſtaͤnden, hielte ich es der Klugheit gemaͤß zu ſeyn,
mich lieber tadeln zu laſſen, als mich der Gefahr aus-
zuſetzen.


Jch antwortete ihr: ich waͤre eben im Begriff ei-
nen ſehr langen Brief zu ſchreiben; und ich gedaͤch-
te ſo lange zu ſchreiben, bis ich ſchlaͤfrig wuͤrde: wir
wuͤrden uns demnach einander nur zur Hinderung
gereichen.


Sie ſagte: es thaͤte ihr gar zu leid, daß ein ſo
artiges und reiches Frauenzimmer, als die Jungfer
Partington waͤre, bey der Dorcas in einem en-
gen Bette ſchlafen ſollte. Sie fuͤrchte ſich, daß
ich
[508]
ich ihre Bitte uͤbel nehmen moͤchte: ſie ſey noch nie in
ſolcher Noth geweſen. Die Jungfer Partington
wuͤrde ſich ſo lange bey ihr aufhalten, bis ich meinen
Brief geſchrieben haͤtte.


Dieſes machte mir beſorgliche Gedancken, daß ſie
ſo ſehr auf ihrer Bitte beſtand: und da es leichter
war, etwas abzuſchlagen, das ich ſchon einmahl ab-
geſchlagen hatte; ſo erbot ich mich der Jungfer Par-
tington
mein Bette gantz zu uͤberlaſſen, und mich
in meinem Speiſe-Zimmer zu verſchlieſſen, und die
gantze Nacht hindurch zu ſchreiben.


Sie ſagte: das arme Ding fuͤrchtete ſich alleine
zu ſchlafen: auch wuͤrde mir Jungfer Partington
nicht ſo viele Ungelegenheit machen wollen.


Sie ging weg, kam aber gleich wieder, und ent-
ſchuldigte ſich deswegen: das arme Kind zerfloͤſſe
gantz in Thraͤnen. Die Jungfer Partington
haͤtte noch nie ein Frauenzimmer geſehen, darein ſie
ſich ſo ſehr verliebt haͤtte, als in mich, und das ſie ſich
ſo zum Muſter vorſtellete. Das gute Kind waͤre be-
ſorget, daß ich etwas an ihrer Auffuͤhrung moͤchte
auszuſetzen gefunden haben. Ob ſie ſie ſollte zu mir
bringen?


Jch ſagte: ich ſey ſehr beſchaͤfftiget. An dem
Briefe, den ich zu ſchreiben haͤtte, ſey viel gelegen.
Jch hoffete die Jungfer Partington morgen fruͤh
zu ſprechen, und mich bey ihr zu entſchuldigen. Frau
Sinclair wußte nicht, was ſie thun ſollte, ſie ging
nach der Thuͤr zu, und wandte ſich dennoch wieder
um. Jch nahm deswegen das Licht, leuchtete ihr
und bat ſie, daß ſie ſich auf der Treppe in acht neh-
men moͤchte.

Sie
[509]

Sie ſagte noch auf der Treppe zu mir: ſie bemuͤ-
hen ſich zu viel gnaͤdige Frau. Gott kennet mein
Hertz, ich habe es nicht uͤbel gemeint. Allein da ſie
mir meine Freyheit ungnaͤdig nehmen, ſo bitte ich
ſie nur Herrn Lovelacen nichts davon zu ſagen:
denn er koͤnnte mir es zur Grobheit auslegen.


Jſt dieſes nicht entweder durch meine Schuld, oder
nach anderer Abſicht, ein wunderlicher Zufall? Jch
mag nicht gerne unhoͤflich ſeyn: ich muß mich aber
ſelbſt einer Unhoͤflichkeit beſchuldigen, wenn dieſe
Bitte keine uͤble Abſicht gehabt hat. Jch habe mich
uͤber dieſes verrathen, daß ich eine ſolche Auffuͤh-
rung von Herrn Lovelacen beſorge, die billig nie-
manden auch nur in die Gedancken kommen ſollte.
Jſt mein Verdacht gegruͤndet: ſo habe ich alles zu
befuͤrchten, und ich muß Herrn Lovelacen und die-
ſes Haus als die Peſt fliehen. Habe ich keinen
Grund zu dieſem Verdacht gehabt, ſo wird mir den-
noch ein laͤngerer Aufenthalt in dieſem Hauſe keine
Ehre bringen, wenn ich nicht eine andere wahrſchein-
liche Urſache erſinnen kann, die mich bewogen hat,
eine abſchlaͤgige Antwort zu geben. Jch zuͤrne jetzt
mit ihm, mit mir, mit der gantzen Welt, Sie al-
lein ausgenommen. Die Geſellſchaft, die er um
ſich hat, iſt mir gantz unertraͤglich. Was hat ihn
bewogen mich unter ſolche Leute zu bringen. Ein
vor allemahl, ich kann ihn nicht leiden. Jch ver-
bleibe


Dero ergebenſte
Cl. Harlowe.


Der
[510]

Der acht und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch muß Jhnen mit der aͤuſſerſten Bekuͤmmer-
niß melden, daß ich kuͤnftig weder an Sie
ſchreiben, noch Briefe von Jhnen annehmen kann.
Denn ich erhalte jetzt eben einen Brief von Jhrer
Frau Mutter, den ſie unter Einſchluß an Herrn
Lovelacen nach M. ‒‒‒ Hall auf die Poſt gegeben
hat: in dieſem verweiſet ſie mir mit groſſem Unwil-
len den bisherigen Briefwechſel, und verbietet mir,
ohne ihre Erlaubniß kuͤnftig an Sie zu ſchreiben, es
waͤre denn, daß ich Mutter und Tochter zugleich un-
gluͤcklich machen wollte.


Es iſt alſo dieſes der letzte Brief, den Sie von
mir erhalten, bis daß meine gluͤcklicheren Zeiten an-
gehen. Weil ſich bisher manches zu meinem Vor-
theil geaͤndert hat, ſo hoffe ich, daß wir bald wieder
Erlaubniß haben werden, nicht nur Briefe zu wech-
ſeln, ſondern auch einander zu beſuchen: denn die
Verbindung mit einer ſo vornehmen Familie, als die
Lovelaciſche iſt, wird niemand fuͤr ſchimpflich an-
ſehen koͤnnen.


Jhre Mutter ſchreibt: ich ſollte Jhnen in dem
Falle von ihrem Verbot Nachricht geben, wenn
ich Luſt haͤtte, Sie aufzuwiegeln: ſonſt aber
moͤchte ich ſelbſt, ohne ihrer dabey zu gedencken,
einen Vorwand ausfindig machen, unter dem ich
ei-
[511]
einen Briefwechſel abbraͤche, den ſie (wie ich noth-
wendig wiſſen muͤßte) ihrer Tochter laͤngſtens ver-
boten haͤtte. Allein ich kann keinen ſolchen Vor-
wand erdichten: ich kann weiter nichts thun, als
Sie bitten, daß ſie ſich nicht aufwiegeln laſſen, und
daß Sie weder durch Worte noch durch Jhre Auffuͤh-
rung Jhrer Frau Mutter mercken laſſen, daß ich
Jhnen die wahre Urſache unſers aufgehobenen Brief-
wechſels gemeldet habe. Denn nachdem ich vorhin
ſelbſt ſo manche Einwuͤrfe gegen die Rechtmaͤßigkeit
unſers Briefwechſels gemacht, und ihn dem ohnge-
achtet fortgeſetzt habe: ſo iſt es mir nicht moͤglich, ei-
ne wahrſcheinliche Urſache vorzuwenden, die mich
auf einmal dazu braͤchte, nicht mehr zu ſchreiben-
Jch will mich deßwegen lieber auf Jhre Behutſam-
keit verlaſſen, als etwas erdichten, das Sie doch
nicht glauben, ſondern dabey Jhr ſcharfes Auge
mich bald entdecken, und fuͤr eine niedertraͤchtige
Luͤgnerin halten wuͤrde, die Jhnen nicht die noͤthige
Klugheit und Behutſamkeit zugetrauet haͤtte.


Jch wiederhohle das nochmals, was ich oben
ſchrieb: meine Umſtaͤnde beſſern ſich. Das Haus
wird hoffentlich bald gemiethet werden. Die Leute in
dem Hauſe erweiſen mir Hoͤflichkeit und Ehrerbie-
thung, ob ich gleich neulich ſo eigenſinnig geweſen bin,
der Jungfer Partington mein Bette abzuſchla-
gen. Die Jungfer Martin, die mit einem rei-
chen Kaufmann im Strand Braut iſt, zeigte mir
Proben von reichen Stoffen, und bat mich, ihr
meine Gedancken davon zu ſagen. Die Witwe
hat nicht mehr ein ſo fuͤrchterliches Anſehen fuͤr mich,
als
[512]
als zu Anfang. Herr Lovelace, dem ich mein
Mißfallen an der geſtrigen Geſellſchaft nicht ver-
ſchwieg, hat mir verſprochen, daß weder dieſe vier
Herren noch ſonſt jemand ohne Erlaubniß zu mir
kommen ſoll.


Jch melde Jhnen dieſe Umſtaͤnde, um ihr guͤtiges
und freundſchaftliches Hertz zu beruhigen, und Sie
zu bewegen, daß ſie dem Befehl Jhrer Mutter auf
eine willige und froͤliche Art gehorchen moͤgen; und
zwar dieſes um meinetwillen, damit ich nicht fuͤr ei-
ne Aufwieglerin angeſehen werde, da ich gantz
andere Abſichten habe, und ſtets verbleibe,


Meiner allerliebſten Freundin
ewig ergebene Dienerin
Cl. Harlowe.



Der neun und ſechszigſte Brief
von
Fraͤulein Howe an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Jch erſtaune uͤber das, was meine Mutter ge-
than hat, bloß um ihre Herrſchaft zu behaup-
ten, und ſolchen Leuten, die das unempfindlichſte
Hertz in der Welt haben, eine Gefaͤlligkeit zu er-
weiſen. Koͤnnen Sie glauben, daß ich aufhoͤren
werde mit Jhnen Briefe zu wechſeln, ſo lange ich
noch im Stande bin Jhnen durch nuͤtzliche Nachricht,
und durch einen nicht gantz verwerflichen Rath zu
dienen,
[513]
dienen? Selbſt alsdenn wuͤrde ich dieſer Unterlaſ-
ſungs-Suͤnde mich nicht fchuldig machen, wenn es
einen Briefwechſel mit einer Freundin betraͤfe, die
mir nicht ſo lieb und theuer waͤre als Sie.


Herr Hickman meint, daß er ſchwere Gewiſſens-
Fragen entſcheiden koͤnne: er hat mir ſein theologi-
ſches Bedencken nicht vorenthalten, und glaubt,
daß ich bey ſolchen Umſtaͤnden den Briefwechſel nicht
aufgeben ſolle. Es iſt fuͤr ihn ein Gluͤck, daß er
gleiche Einſichten mit mir hat: denn weil mich meine
Mutter unwillig gemacht hat, ſo ſuche ich jetzt einen,
mit dem ich mich zancken koͤnne.


Jch will mich, um Sie zu beruhigen, ſo weit be-
quemen: ich will einige Tage lang nicht an Sie
ſchreiben, wenn keine auſſerordentliche Zufaͤlle mich
dazu noͤthigen, bis das Verbot meiner Mutter alt
wird. Allein ich kann Sie des Briefwechſels ohn-
moͤglich erlaſſen, Sie muͤſſen dem ohngeachtet an
mich ſchreiben. Mein Hertz, mein Gewiſſen und
meine Ehre leiden es nicht, daß ſich mein Gehorſam
ſo weit erſtrecke.


Wie will ich es aber anfangen? ‒‒ Es ſoll alles
gut werden. Meine Mutter darf nur noch Einen
ſolchen Schritt wagen, ſo will ich in der Stille nach
London fluͤchten, und Sie nicht verlaſſen, bis Sie
entweder getrauet oder gantz frey von Herrn Lovela-
cen
ſind. Jn dieſem letzten Falle will ich Sie der
Welt zum Trotz mit nach unſerem Hauſe bringen:
oder, wenn Sie das nicht wollen, ſo will ich bey
Jhnen bleiben, und Sie als Jhr Schatten beglei-
ten.


Dritter Theil. K kEr-
[514]

Erſchrecken Sie nicht uͤber dieſe Entſchlieſſung,
ob ich gleich unaufhoͤrlich bewachet und belauret wer-
de, ob ich gleich gezwungen bin, meiner Mutter
des Tages beſtaͤndig etwas vorzuleſen, oder in ihrer
Gegenwart zu arbeiten, ſo daß ich weder uͤber Mund
noch Haͤnde ſelbſt zu befehlen habe: ob ich gleich wi-
der meinen Willen des Nachts bey ihr ſchlafen muß:
ſo iſt doch eine Furcht und eine Hoffnung, die mich
von der Ausfuͤhrung deſſen, was ich geſchrieben ha-
be, abhaͤlt. Die Furcht iſt, daß einige, die Jh-
re Flucht fuͤr ein Verſehen halten, meine Flucht auf
Jhre Rechnung ſchreiben, und Jhr vermeyntes Ver-
ſehen hiedurch verdoppeln werden. Meine Hoff-
nung hingegen iſt dieſe: daß ſich dennoch alles gluͤck-
lich endigen wird: und daß ſich einige Leute uͤber ihre
bisherige Auffuͤhrung ſchaͤmen werden. Jch
waͤge oft die Urſachen auf beyden Seiten ab:
allein wenn Sie den Briefwechſel aufgeben,
und zwar um eine Zeit, da er Jhnen am un-
entbehrlichſten iſt; ſo wird dieſes der Wage ei-
nen Ausſchlag geben. Schreiben Sie daher,
oder erwarten Sie bald die Folgen Jhres
Stilleſchweigens.


Ein Paar Worte, zu Beantwortung Jhrer vo-
rigen Briefe! Jch weiß nicht, ob Jhr Bruder ſei-
nen weiſen Anſchlag hat fahren laſſen, oder nicht.
Jn Jhrem Hauſe iſt jetzt alles ſo ſtille, als wenn die
gantze Familie ausgeſtorben waͤre. Jhr Bruder
war drey Tage lang verreiſet: er war darauf einen
Tag zu Hauſe: jetzt iſt er ſchon wider ver-
reiſet.
[515]
reiſet. Jch kann aber nicht erfahren, ob er in Sing-
letons
Geſellſchaft iſt.


Aus der Nachricht, die Sie mir von Lovelacens
Freunden geben, ſehe ich, daß es lauter hoͤlliſche
Geiſter ſind, und daß er unter ihnen die Stelle des
Beelzebubs vertrit. Jn welcher Abſicht war er ſo
begierig, Sie in dieſe Geſellſchaft zu bringen, und
Jhnen Gelegenheit zu geben, daß Sie ihn aus ſei-
nen Freunden genauer moͤchten kennen lernen? Der
Menſch hat in der That keinen Verſtand: er hat zum
wenigſten einen Sparren zu viel. Vermuthlich ha-
ben ſie in Jhrer Gegenwart ſich noch dazu ſo gut ſtel-
len muͤſſen, als ihnen moͤglich war. Trefliche Kerls!
Allein wer weiß, wie viele unſeres Geſchlechts nach
dem veraͤchtlichſten unter dieſen vier Kerls geſeufzet
haben.


Sie bemercken ſelbſt, daß Sie durch die abſchlaͤ-
gige Antwort, die Sie der Jungfer Partington
gaben, ſich verdrießlichen Urtheilen anderer bloß ge-
ſtellet haben. Es iſt Schade, daß Sie ihr nicht er-
laubt haben, bey Jhnen zu ſchlafen: denn bey Jh-
rer Wachſamkeit haͤtte kein Ungluͤck fuͤr Sie daraus
entſtehen koͤnnen. Haͤtte er Gewalt gebrauchen
wollen, ſo wuͤrde er die Nacht nicht erwartet haben.
Sie haͤtten koͤnnen laͤnger aufbleiben, als die Jung-
fer Partington, oder gar nicht zu Bette gehen.
Frau Sinclair war in Jhrer Bitte zu eifrig, und
Sie waren zu argwoͤhniſch.


Wenn ein neuer Umſtand dazwiſchen kommt,
durch den Jhre Hochzeit aufgeſchoben wird, ſo rathe
ich Jhnen nicht laͤnger in dem Hauſe zu bleiben.
K k 2Wenn
[516]
Wenn aber die Hochzeit bald iſt, ſo kann nicht viel
daran gelegen ſeyn, in welchem Hauſe Sie ſind, bis
Sie von Jhrem Gute Beſitz nehmen. Wenn die-
ſes Verbuͤndniß einmal gemacht iſt, und noch da-
zu mit einem ſo behertzten Manne, ſo werden die Jh-
rigen Jhnen das nicht lange vorenthalten, was ſie
doch durch Huͤlfe der Geſetze nicht behaupten koͤnnen.
Sollte auch ein Proceß entſtehen, ſo koͤnnen und
duͤrfen Sie es nicht hindern: denn er hat als Jhr
Gemahl ein Recht zu Jhrem Gute, und der Wunſch
wuͤrde ungerecht ſeyn, der ihn dieſes Rechts berau-
ben wollte.


Ein einziges vergeſſen Sie nicht: nehmlich dieſes,
daß Sie eine buͤndige Eheſtiftung aufſetzen laſſen.
Man wird es Jhnen zum Verſtande und ihm zur
Billigkeit und Artigkeit auslegen, wenn ſelbſt bey
jetzigen Umſtaͤnden hierin nichts verſaͤumet wird.
So viel uͤble Eigenſchaften er an ſich hat, ſo haͤlt ihn
doch niemand fuͤr geitzig. Jch wundere mich, daß
er bisher nichts hievon geſagt hat.


Sein Vorſchlag wegen des Hauſes der jungen
Witwe gefaͤllt mir nicht uͤbel. Wenn Sie aber nicht
eher als in drey Wochen dieſes neue Haus beziehen
koͤnnen, ſo rathe ich keinesweges, die Trauung bis
dahin aufzuſchieben. Laſſen Sie ihn Kutſche und
Pferde ſo lange miethen. Jch wundere mich uͤber
ſeine wunderliche Gelaſſenheit.


Jch bitte Sie nochmals: hoͤren Sie nicht auf an
mich zu ſchreiben, und zwar ſo umſtaͤndlich, als es
moͤglich iſt: oder erwarten Sie die Folgen. Jch
uͤber
[517]
uͤberſende dieſen Brief durch einen eigenen Boten.
Jch bin, und werde ewig ſeyn


Jhre ergebenſte
Anna Howe.



Der ſiebenzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.



Jch ſchlage mir jetzt alle meine vorigen Verpflich-
tungen, alle meine Wuͤnſche, alle meine Furcht
aus dem Sinne, und ergreiffe von neuen die Feder,
um Sie zu bitten, daß Sie ihre Liebe gegen mich nie
durch eine ſolche Uebereilung beweiſen wollen, die
ich Jhnen ohnmoͤglich wuͤrde Danck wiſſen koͤnnen,
ſondern die ich Zeit Lebens wuͤrde bereuen muͤſſen.
Wenn ich den Briefwechſel fortſetzen muß; ſo muß
ich. Jch weiß, wie wenig Sie im Stande ſind, ſich
einreden zu laſſen, ſo bald Sie glauben, daß die
Pflichten der Freundſchaft, die Sie Jhr edles Hertz
lehret, verletzet werden koͤnnten.


Mein allerliebſter Schatz, wollen Sie ſich den
Fluch einer Mutter zuziehen, weil ich unter einem
vaͤterlichen Fluche liege? Wuͤrde nicht die Welt
meine Suͤnde fuͤr anſteckend halten, wenn mir die
Fraͤulein Howe darin nachfolgete? Die Unrecht-
maͤßigkeit einiger Vergehungen leuchtet ſo offenbar
in die Augen, daß man es nicht einmal wagen
K k 3kann,
[518]
kann, ſie zu vertheidigen, und daß es unnoͤthig iſt,
ihre Unrechtmaͤßigkeit zu zeigen. Von dieſer Art
wuͤrde Jhre Flucht aus Jhrer Mutter Hauſe ſeyn:
es wuͤrde uͤberfluͤßig ſeyn, wenn ich Gruͤnde anfuͤh-
ren wollte. Es muͤſſe doch nie jemand erfahren, daß
Sie auch in der allerbeſten Abſicht den Vorſatz gefaſ-
ſet haben, meinem boͤſen Exempel zu folgen! ſon-
derlich, da Sie ſich nicht durch eben die Umſtaͤnde
wuͤrden entſchuldigen koͤnnen, die meinen Fehler er-
traͤglicher machen, und nie ſagen koͤnnten, daß ein
anderer Sie uͤbereilet habe, ehe Sie Zeit gehabt haͤt-
ten, ſich zu bedencken.


Die genaue Aufſicht Jhrer Frau Mutter iſt von
der Art, daß Sie ſich nie daruͤber beklaget haben
wuͤrden, wenn Sie es nicht aus Liebe zu mir thaͤten.
Wuͤrden Sie es ehemals fuͤr eine Laſt gehalten ha-
ben, bey Jhrer Mutter zu ſchlafen? Wie angenehm
iſt es mir geweſen, wenn meine Mutter mich mit in
ihr Bette nahm? wenn ſie mir erlaubte, in ihrer
Gegenwart zu arbeiten? Jch erinnere mich noch,
daß ſie ſonſt in Jhrer Mutter Stube zu naͤhen pfleg-
ten, und daß Sie ihr, eben ſo wie ich zu Hauſe zu
thun pflegte, die langen Abende durch Vorleſung an-
genehmer Buͤcher zu Jhrem eigenen Vergnuͤgen
verkuͤrtzeten. Betruͤben Sie mich nicht dadurch,
daß Sie mich zwingen, die Urſache Jhrer ſo merck-
lichen Veraͤnderung zu errathen.


Lernen Sie doch um Gottes Willen uͤber ihre
Leidenſchaften zu herrſchen! Wenn die Trieb-Raͤ-
der noch ſo rein ſind, ſo wird dennoch Vergehung,
Ver-
[519]
Vergehung bleiben. Die Leidenſchaften, uͤber die
wir Frauenzimmer nicht wachſam genug ſind, ent-
ſtehen vielleicht aus Einer Quelle, mit den laſter-
haften Leidenſchaften, die wir ſo oft an ungeſtuͤmen
und unbaͤndigen Manns-Perſonen getadelt haben,
und die bey jenen bloß durch die Gewohnheit und
durch die freye Erziehung ſo ſtarck werden. Laſſen
ſie uns dieſes wohl erwaͤgen, und kuͤnftig behutſamer
und argwoͤhniſcher gegen uns ſelbſt ſeyn.


Wenn ich noch ferner ſchreibe, (als dazu Sie
mich zwingen) ſo bitte ich, daß Sie zum wenigſten
nicht antworten. Wenn Sie dieſen Brief nicht ſelbſt
beantworten, ſo ſoll es mir ein Zeichen ſeyn, daß Sie
ſich der gedroheten Uebereilung nicht ſchuldig machen
wollen, und daß Sie Jhrer Mutter Willen in ſo
fern beobachten werden, als der Briefwechſel von
Jhnen ſelbſt gefuͤhret wird. Wo es noͤthig iſt, koͤn-
nen Sie mir Jhren Rath, und die erfoderlichen
Nachrichten durch den Herrn Hickman mittheilen.


Meine zitternde Hand wird Jhnen zu verſtehen
geben, wie ſehr uͤber Jhre Entſchlieſſung zittert


Jhre ew ig ergebene,
oder wenn Sie nach London kommen
Jhre ewig fremde
Clariſſa Harlowe.


Jch erhalte jetzt eben meine Kleider. Allein Jhr
Brief hat mich in ſolche Unruhe geſetzt, daß ich nicht
das Hertz habe, die Coffers zu eroͤffnen. Ein Be-
dienter des Hrn. Lovelaces uͤberbringet dieſen Brief
K k 4an
[520]
an Herrn Hickman, weil ich keine Zeit verſaͤumen
wollte. Benehmen Sie mir meine jetzige Sorge
und Bekuͤmmerniß durch die Feder dieſes braven
Cavalliers.



Der ein und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Hickman an Fraͤulein Clariſſa
Harlowe.



Gnaͤdige Fraͤulein,

Die Fraͤulein Howe hat mir die Ehre gethan,
mir zu befehlen, daß ich Jhnen berichten ſoll:
„ſie ſey ſehr bekuͤmmert, daß Sie durch ihren letz-
„ten Brief in ſo groſſe Unruhe geſetzet waͤren. Wenn
„Sie fortfahren wollten, an ſie zu ſchreiben, und
„Jhre Briefe an mich einzuſchlieſſen, ſo wuͤrde ſie
„an das nie dencken, was Jhnen zur Beunruhigung
„gereichte.„ Allein ſie hat mir auch aufgetragen, zu
verſichern: „daß ſie ſich an kein Geſchwaͤtz oder Ur-
„theil der Welt kehren werde, wenn ſie einiger-
„maſſen glauben duͤrfte, daß ſie im Stande ſey, zu
„Jhrer Bewahrung oder Rettung etwas beyzutra-
„gen.„ Dieſes ſind ihre eigene Worte. Die
„Gelegenheit dazu iſt mir gaͤntzlich unbekannt.


Jch empfinde hiebey einen ſtarcken Trieb, mei-
nen Kummer oder Unwillen uͤber Jhre verdrießli-
chen Umſtaͤnde zu bezeigen. Da ich aber hievon
keine genaue Nachricht habe, und nur uͤberhaupt
aus
[521]
aus dem Geſichte der Fraͤulein Howe ſchlieſſe, daß
es Jhnen nicht nach Wunſch gehet; und da mir die
Fraͤulein verbietet, mich genauer zu erkundigen: ſo
bleibt mir nichts uͤbrig, als daß ich Jhnen meine
Dienſte hiemit auf die ergebenſte und gehorſamſte
Weiſe anbiete, und von Hertzen wuͤnſche, daß alle
Unruhe bald in Vergnuͤgen verwandelt werden moͤ-
ge. Jch verbleibe,


Unvergleichliche Fraͤulein,
Dero
gehorſamſter und gantz ergebener
Diener
Ch. Hickman.



Der zwey und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Lovelace an Herrn Johann Belford.



Die Fabel ſagt uns, daß Mercurius aus Neu-
gier den Himmel verlaſſen, und ſich zu einem
Bildhauer begeben hat, um zu erfahren, in was
fuͤr Anſehen er bey den Sterblichen ſtuͤnde. Er er-
kundigte ſich, was Juppiter, Juno, und die uͤbri-
gen Dii Majores koſteten; und endlich, wie theuer
der Mercurius waͤre, den er vor ſich ſtehen ſahe.
Der Kuͤnſtler antwortete: mein Herr, kauffen ſie
mir einen von den andern Goͤttern ab; dieſen ſollen
ſie in den Kauf bekommen. Wie ſchaafmaͤßig-
K k 5dumm
[522]
dumm mußte der Gott der Diebe ausſehen, als ihm
ſein Hochmuth ſo ſchlecht belohnet ward.


So gehet es dir. Tauſend Pfund wollteſt du
geben, wenn du die Werthachtung dieſes eintzigen
Frauenzimmers erhalten koͤnnteſt; du warſt ſchon
zufrieden, wenn die Fraͤulein nur eine mittelmaͤßig-
gute Meynung von dir faſſete, und dich ihres Um-
ganges nicht gantz unwuͤrdig ſchaͤtzte. Jch mußte
dir geſtern Abend oder vielmehr heute fruͤh bey dem
Abſchiede verſprechen, dir in einigen Zeilen Nachricht
zu geben, was ſie von dir und deines gleichen ge-
daͤchte.


Deine tauſend Pfund kannſt du ſicher behalten.
Sie verachtet euch alle von Hertzen: dich eben ſo ſehr
als die uͤbrigen.


Es thut mir leid, daß ſie ein ſo hartes Urtheil
uͤber dich faͤllet. Um einer gedoppelten Urſache wil-
len thut es mir leid: einmal, weil ich fuͤrchte, daß
das boͤſe Gewiſſen, und das wenige Zutrauen zu
deinen eigenen geringen Vorzuͤgen die Veranlaſſung
deiner Neugier war; ſo wie der Gott der Diebe aus
Hochmuth und unertraͤglichem Stolz neugierig ward,
und deswegen billig beſchaͤmt nach dem Himmel zu-
ruͤck geſchickt ward, damit er nicht prahlen moͤchte.
Zum andern bin ich beſorgt, daß ſie mich auch ver-
achten wird, wenn du ihr veraͤchtlich biſt: weil wir
von gleicher Art ſind.


Sie verbot mir, etwas weiter von meiner Beſſe-
rung zu ſagen, ſo lange ich ſolche Geſellſchaft um mich
haͤtte, und an euren matten und froſtigen Thorhei-
ten einiges Vergnuͤgen finden koͤnnte.


Es
[523]

Es iſt wahr; weder ich noch ihr bildeten uns ein,
daß ihr das Gluͤck haben wuͤrdet, ihr zu gefallen.
Allein ich dachte doch, daß ſie ſo wohlgezogen ſeyn
wuͤrde, meine Freunde nicht auf eine ſo empfindli-
che Art gegen mich herunter zu ſetzen. Jch weiß
nicht, was ich ſagen ſoll, Belford. Das Frau-
enzimmer bildet ſich ein Recht ein, uns allerley un-
angenehme und beſchwerliche Wahrheiten in das
Geſicht zu ſagen. Wir aber muͤſſen ungezogen,
grob, unbelebt, und wer weiß was noch mehr feyn,
wenn wir nicht einen gantzen Sack verfluchter Luͤgen
vor ihnen ausſchuͤtten, und aus demuͤthigſter Erge-
benheit das ſchwartze weiß machen. Sie lehren uns
die Heucheley: und ſo bald wir heucheln koͤnnen,
nennen ſie uns, Betrieger.


Jch ſuchte euch insgeſammt zu entſchuldigen, ſo
gut ich konnte: allein was kann man anders gegen
ein Frauenzimmer, das ſolche Gedancken von der
Tugend hat, zu unſerer Entſchuldigung vorbringen,
als ein Geſchwaͤtz? Jch will dir etwas von dem, ſo
ich geſagt habe, ſchreiben.


Das fromme Kind aͤrgerte ſich an einer jeden
kleinen Abweichung: indeſſen habe ich in euren Wor-
ten und in eurer Auffuͤhrung den gantzen Abend nichts
anſtoͤßiges bemercken koͤnnen. Einige von der Ge-
ſellſchaft konnten nur von ein oder zweyerley Materien
reden, und waren gleich an Gedancken erſchoͤpft:
ſie hingegen konnte von allen Dingen reden. War
es Wunder, das jene von dem, was ſie am beſten
verſtunden, von ſinnlichen Dingen redeten? Wenn
ſie uns die Ehre erzeiget haͤtte, mehr zu reden, ſo
wuͤr-
[524]
wuͤrde ſie weniger durch unſere Reden geaͤrgert wor-
den ſeyn: denn ſie ſahe ja ſelbſt, daß wir bereit wa-
ren, ſie zu bewundern, ſo bald ſie nur die Lippen
oͤffnete. Jnſonderheit ſagteſt du noch, nachdem ſie
weggegangen war, es waͤre geweſen, als wenn die
Tugend ſelbſt redete, ſo oft ſie einige Worte haͤtte
fallen laſſen. Jch erzaͤhlte ihr: daß ihr insgeſamt
euch vor ihr gefuͤrchtet haͤttet, nachdem ſie einige An-
merckungen uͤber eure witzigen Einfaͤlle zu machen
beliebt haͤtte, und daß ihr beſorgt waͤret, in ihren
Augen alsdenn am meiſten tadelhaft zu ſcheinen,
wenn ihr euch am meiſten bemuͤhetet, untadelhaft
zu ſeyn.


Hierauf ſagte ſie gantz deutlich: weder ich, noch
meine Freunde, noch das Haus, noch die Leute in
dem Hauſe gefielen ihr.


Das Haus gefiele mir ſelbſt nicht, (antwortete
ich) obgleich die Leute ſehr hoͤflich waͤren, und ſie ſelbſt
geſtanden haͤtte, daß ſie ihr jetzt beſſer vorkaͤmen, als
zu Anfang. Wir ſaͤhen uns ja aber nach einem an-
dern Hauſe um.


Die Jungfer Partington gefiele ihr ebenfalls
nicht; ſie moͤchte ſo viel Geld haben, als ſie wollte,
ſo haͤtte ſie nicht Luſt, genaue Freundſchaft mit ihr zu
halten. Es waͤre keine ausnehmende Hoͤflichkeit,
daß ihr geſtern Abend dergleichen zugemuthet waͤre,
da doch Frau Sinclair mit den Fremden in dem
Vorder-Haufe laͤnger als mit ihr bekannt geweſen
waͤre, und freyer mit ihnen haͤtte umgehen koͤnnen.


Jch wollte gantz und gar von der Sache nichts
wiſſen;
[525]
wiſſen; und fragte ſie: was ſie meinte? Als ſie
mir erzaͤhlete, daß Frau Sinclair ſie gebeten haͤt-
te, die Jungfer Partington bey ſich ſchlafen zu
laſſen; ſo nannte ich es, eine ſehr dreiſte Bitte.


Sie ſuchte die abſchlaͤgige Antwort, die ſie gegeben
hatte, als eine Kleinigkeit vorzuſtellen, die ſie gar
nicht uͤberlegt haͤtte. Jch konnte es ihr dieſesmal
an dem Geſichte anſehen, daß ſie ſich verſtellete: ſie
war beſorgt ich moͤchte ſie entweder fuͤr eigenſinnig
oder fuͤr argwoͤhniſch anſehen.


Jch ſagte: ich wuͤrde der Frau Sinclair ihre
unanſtaͤndige Dreiſtigkeit vorhalten.


Nein! (antwortete ſie) das ſey nicht noͤthig. Jch
moͤchte es hingehen laſſen. Es koͤnnte den Leuten
ſeltſamer vorkommen, daß ſie es abgeſchlagen haͤt-
te, als daß Frau Sinclair darum gebeten, oder
Jungfer Partington erwartet haͤtte, daß ſie ihr
dieſes Zeichen der Freundſchaft geben wuͤrde. Al-
lein da die Wirthin eine weitlaͤuftige Bekanntſchaft
haͤtte, ſo wuͤßte ſie nicht, wie oft ſie mit dergleichen
Bitte beunruhiget werden koͤnnte, wenn ſie die erſte
haͤtte Statt finden laſſen. Die Jungfer Parting-
ton
waͤre auch fuͤr ſie zu leichtſinnig, und ſie haͤtte
nicht Luſt naͤher mit ihr bekannt zu werden. Da aber
Jungfer Partington ſo groſſe Mittel habe, ſo daͤch-
te ſie, ſie waͤre eine anſtaͤndige Parthey fuͤr mich, und
da ſie ſich ſo gut zu meiner Gemuͤths-Art ſchicke, ſo
wundere ſie ſich ‒ ‒


Jch ward auf einmal ernſthaft, fiel ihr in die
Rede, und ſagte: die Jungfer Partington gefiele
mir eben ſo wenig, als ſie ihr gefallen koͤnnte. Es
ſey
[526]
ſey ein albernes Maͤdchen, auf das ihre Vormuͤnder
genaue Achtung zu geben Urſache haͤtten. Allein an
der geſtrigen Auffuͤhrung des Maͤdchens (denn am
Verſtande ſey ſie weiter nichts als ein Maͤdchen)
wuͤſte ich nichts auszuſetzen. Sie haͤtte ſich ſo aufge-
fuͤhrt, wie man es von einem frey erzogenen und
guthertzigen Kinde erwarten koͤnnte, das ſich darauf
verlieſſe, daß es in einer ehrlichen Geſellſchaft ſey.


Sie erwiederte; es ſey alles gut, was ich geſagt
haͤtte. Wenn aber die Jungfer mit der geſtrigen Ge-
ſellſchaft ſo wohl zufrieden geweſen ſey, ſo moͤchte ich
ſelbſt urtheilen, ob ſie ſo unſchuldig ſeyn koͤnnte, als
man ſie abgemahlet haͤtte. Sie vor ihr Theil kenne-
te zwar London nicht: allein ſie muͤſſe mir aufrich-
tig ſagen, daß ſie in ihrem Leben noch keine ſolche
Geſellſchaft geſehen haͤtte, und ſich auch nicht wuͤn-
ſchete, ſie jemals wieder zu ſehen.


Hoͤreſt du es, Belford! du kommſt noch ſchlim-
mer weg, als Mercurius!


Dieſes verdroß mich. Jch ſagte: manches Frau-
enzimmer, das der Jungfer Partington weit vor-
zuziehen ſey, werde ſchlecht beſtehen, wenn es mit
ſo groſſer Strenge beurtheilet werden ſollte.


O nein! Wenn ich aber bey dieſem Frauenzim-
mer nichts bemercket haͤtte, das mit der Tugend ſtrit-
te, ſo haͤtte ſie mit mir eben ſo viel Mitleiden als mit
der Jungfer Partington, weil ich nicht zu wiſſen
ſchiene, was zu einer tugendhaften Auffuͤhrung ge-
hoͤrte. Es ſey zu wuͤnſchen, daß Gemuͤther, die
einander ſo gleich waͤren, nie von einander getrennet
werden moͤchten.


Solche
[527]

Solche Stiche verdiene ich mir durch meine allge-
meine Liebe, die alles zum beſten kehret.


Jch bedanckte mich von Hertzen fuͤr ihre allzu guͤ-
tige Vorſorge. Allein ſie moͤchte mir nicht uͤbel neh-
men, wenn ich ſagte, daß fromme Leute in ihrem
Urtheil gemeiniglich ſo lieblos waͤren, daß (der Teu-
fel hohle mich!) ich mich faſt fuͤrchtete, fromm zu wer-
den, wenn es nothwendig mit der Froͤmmigkeit ver-
knuͤpfet waͤre, daß man alle Leute beurtheilen und
verdammen muͤßte.


Sie wuͤnſchte mir Gluͤck dazu, daß meine Liebe ſo
allgemein ſey: allein ſie ſetzte hinzu: ſie hoffete, ſie
wuͤrde dennoch nicht fuͤr lieblos gehalten werden,
wenn ſie gleich die niedertraͤchtige Geſellſchaft nicht
loben koͤnnte, in die ich ſie geſtern Abend gefuͤhret haͤtte.


Sie nahm dich nicht aus, Belford, deine tau-
ſend Pfund behaͤltſt du.


Jch ſagte: ich koͤnnte nicht mercken, daß ihr je-
mand in der Welt gefiele. (Sie redete deutlich,
und ich mußte auch deutlich reden. Warum ſchimpf-
te ſie meine Freunde? Seyd mir und meinen
Hunden gut!
wuͤrde der Lord M. ſagen.) Sie
moͤchte mir indeſſen nur zu erkennen geben, was ihr
gefiele, und was ihr nicht gefiele: ich wollte, mich
ſo viel als moͤglich ſey, nach ihrem Geſchmack rich-
ten.


Sie antwortete auf eine verdrießliche Weiſe: ſo
moͤchte ich mir denn ſelbſten misfallen.


Verflucht ernſthaft! fuͤrchtet das Kind nicht,
daß ein Tag oder Nacht kommen wird, da es da-
vor buͤſſen ſoll? Wenn es einmal gebuͤſſet
hat,
[528]
hat, ſo wird es oͤfters buͤſſen muͤſſen: das iſt mein
Troſt.


Jch ſagte hierauf: ſie haben mir ſo viel gute Hoff-
nung gegeben, ehe ich mich bemuͤhet hatte, ſie zu uͤber-
reden, meinen Freunden ihre Geſellſchaft zu goͤnnen,
daß ich wuͤnſchen moͤchte, der Teufel haͤtte meine
Freunde und die Jungfer Partington zuſammen.
Jndeſſen duͤnckt mich, daß tugendhafte Perſonen
ihren Endzweck, der auf die Beſſerung anderer gien-
ge, ſehr unvollkommen erreichen wuͤrden, wenn ſie
alle boͤſe Geſellſchaft vermieden.


Sie wollte mich mit ein Paar Blicken ihrer zorni-
gen Augen toͤdten, und ging mit einer veraͤchtlichen
Geberde von mir weg auf ihre Stube. Jch ſage dir
es noch einmal Bruder: deine tauſend Pfund darſſt
du nicht ausgeben. Sie wirft mir vor, daß ich un-
hoͤflich bin: allein hat ſie ſich in dieſer Unterredung
als eine hoͤfliche Fraͤulein bewieſen?


Was meinſt du: bin ich nicht ſchuldig, den Schimpf
der Jungfer Partington an meinem Kinde zu raͤ-
chen? War es nicht grauſam, daß ſie eine ſo artige
und ungemein reiche Jungfer noͤthigte, mit der Kam-
mer-Katze in ein enges Bette zu kriechen? Die
Jungfer Partington hatte ſo gar mit Thraͤnen zu
der Frau Sinclair geſaget, wenn die Frau Love-
lace
ſie zu Barnet mit ihrem Beſuch beehren woll-
te, ſo ſollten ihr die beſten Zimmer und Betten in
ihres Vormunds Hauſe zu Dienſte ſtehn. Meinſt
du nicht, daß ich rathen kann, was fuͤr eine unan-
ſtaͤndige Beyſorge mein Kind ſo unhoͤflich gemacht
hat? Es befuͤrchtete: der vorgegebene Ehemann
moͤchte
[529]
moͤchte ſelbſt von ſeinem Bette Beſitz nehmen wollen,
und Jungfer Partington wuͤrde das, was in ih-
rem Vermoͤgen iſt, mit dazu beytragen, ihm zu dem
ſeinigen zu verhelfen.


Alſo denckſt du an mich, mein Kind, und trotzeſt
mir? Du verlaͤſſeſt dich mehr auf deine Wachſam-
keit, als auf meine Ehre? Dir geſchehe, was du
gefuͤrchtet haſt.


Schreibe mir nun dein und deiner Bruͤder Urtheil
von meiner Gloriana.


Jetzt eben hoͤre ich, daß die Hannichen in der
Beſſerung ſeyn ſoll, und daß ſie hoffet, bald wieder
in ihrer Fraͤulein Dienſte gehen zu koͤnnen. Es
ſcheint, daß das Maͤdchen keinen Doctor gebraucht
hat. Aus Liebe und Gefaͤlligkeit gegen die Fraͤulein
will ich ihm einen Doctor ſchicken, vielleicht macht
der es ungeſund. Die Kranckheit iſt zu keinem Fieber
geworden: allein das muͤßte ein ſchlechter Kerl ſeyn,
der ihr nicht das Fieber an den Hals curirte. Doch
vielleicht iſt ihre Hoffnung zu fruͤhzeitig: wir haben
ſchlechtes Wetter, dabey einer leicht ein Fluß-Fie-
ber bekommen kann.



Der drey und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Lovelacen an Herrn Johann Belford.



Kaum hatte ich meinen vorigen Brief zugeſiegelt,
ſo bekam ich ein Schreiben an meine Liebſte,
Dritter Theil. L ldas
[530]
das an mich eingeſchloſſen, und zu M.‒‒Hall abge-
geben war. Was meynſt du, von wem war es?
Von der Frau Howe!


Was war aber der Jnhalt?


Wie kann ich das wiſſen, wenn das liebe Kind
ihn mir nicht zeiget? Daß es ein ſehr grauſamer
Brief geweſen ſeyn muß, konnte ich aus den Wir-
ckungen wohl ſchlieſſen. Die Thraͤnen lieffen ihr an
den Wangen nieder, als ſie den Brief las, und ſie
verfaͤrbete ſich etlichemal. Jhre Verfolgung ſcheint
noch kein Ende zu haben. Das liebenswuͤrdige und
bekuͤmmerte Kind ſagte weiter nichts als dieſes: wie
hart iſt mein Schickſal! Nun muß ich mich des ein-
tzigen Troſtes in meinem Leben begeben.


Das ſoll vermuthlich der Briefwechſel mit der
Fraͤulein Howe ſeyn.


Hat mein Kind Recht ſich ſo ſehr daruͤber zu be-
truͤben? Dieſer Briefwechſel iſt der Tochter ſchon
laͤngſt auf das ernſtlichſte verboten worden; und
dennoch haben ihn die beyden heiligen Kinder, die
nicht einmal die Erb-Suͤnde fuͤhlen, fortgeſetzt.
Konnten ſie glauben, daß ſich die Mutter ihrer Rech-
te begeben wuͤrde? Da ihr Verbot bey der unartigen
Tochter nichts fruchtete, ſo mußten ſie erwarten, daß
die Mutter verſuchte, was ſie bey der Freundin ih-
rer Tochter ausrichten koͤnnte. Jch glaube, daß ſie
ihren Endzweck erhaͤlt, denn meine liebe Fraͤulein
wird ſich nun ein Gewiſſen daraus machen, mit ih-
rer Freundin Briefe zu wechſeln.


Jch haſſe die Grauſamkeit, und zwar am meiſten
an den Frauens-Leuten; ich wuͤrde deswegen auf die
Frau
[531]
Frau Howe ſehr ungehalten ſeyn, wenn mein Kind
nicht noch grauſamer gegen die Jungfer Parting-
ton
geweſen waͤre. Denn da die Fraͤulein fuͤr ſich
ſo beſorgt war, ſo haͤtte ſie ja bedencken ſollen, daß
die Dorcas auch eine gefaͤhrliche Geſellſchaft zu die-
ſem unſchuldigen und unvorſichtigen Kinde in das
Bette bringen koͤnnte. Das Verbot der Frau
Howe iſt mir gar nicht unangenehm, es mag nun
von den Harlowes oder von ihr ſelbſt herkommen:
denn ich glaube gewiß, daß ſie nicht ſo ſorgfaͤltig oder
ſo argwoͤhniſch wuͤrde geweſen ſeyn, wenn die Fraͤu-
lein Howe ſie nicht mit Verdacht erfuͤllet haͤtte. Wer
kann auch alle moͤgliche Folgen dieſes verbotenen
Briefwechſels zum voraus wiſſen, da einige Perſo-
nen in unſerem Spiel ſo ſehr verſteckt ſind? Es iſt
mir deswegen dieſes Verbot gantz lieb: meine Schoͤ-
ne wird nun ihre Sachen mit niemanden uͤberlegen
koͤnnen: niemand wird ſie durch argwoͤhniſche Ver-
muthungen beuntuhigen, und ich werde nicht noͤthig
haben, ihre Briefe zu erbrechen, und dadurch eine
neue Suͤnde und wohl gar ihren Zorn auf mich zu la-
den. Jch bin ſonſt laͤngſtens mit dieſem Vorſchlage
ſchwanger gegangen.


Wie arbeitet die Vorſicht fuͤr mich! Allein warum
wehrt ſich mein Kind ſo lange? Warum zwinget es
mich zu ſolchen Mitteln, die meine Unruhe vermeh-
ren und nach einiger Urtheil meine Suͤnde haͤuffen?
Doch ich moͤchte vielmehr fragen: warum will es ge-
gen Geſtirn und Schickſal ſtreiten?


L l 2Der
[532]

Der vier und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Robert Lovelace.



Wir erwarten den Brief nicht, in welchem du
uns das Urtheil der Fraͤulein uͤber uns be-
richten ſollſt: ſondern ich ergreife ſo gleich die Feder,
um dir unſer gemeinſchaftliches Urtheil von ihr zu
melden: daß kein Frauenzimmer in der Welt von
ihren Jahren mit ihr am Verſtande koͤnne verglichen
werden. Was die Geſtalt betrifft, ſo iſt ſie eben in
dem bluͤhenden Alter, und eine bewundernswuͤrdi-
ge, eine recht vollkommene Schoͤnheit: allein dieſes
iſt nur ihr geringeres Lob, welches ihr zu geben ſich
derjenige beynahe ſchaͤmet, der die Ehre gehabt hat,
ſie zu ſprechen: und auch wir ſind ſo geſinnet, ob ſie
gleich wider ihren Willen unter uns gebracht war.


Erlaube mir, mein lieber Lovelace, daß ich das
Mittel bin, dieſes unvergleichliche Kind von einer
Gefahr zu retten, der es alle Stunden unterworfen
iſt, und die ihr das betruͤglichſte und liſtigſte Hertz,
das ich je gekannt habe, zubereitet. Jch habe mich
ehemals auf deine eigene Familie, und inſonderheit
auf den Wunſch des Lord M. beruffen, ehe ich die
Fraͤulein noch ſelbſt geſehen hatte: allein nun bitte
ich dich auch um ihrentwillen, um deiner Ehre wil-
len, um der Gerechtigkeit, Edelmuͤthigkeit, Danck-
barkeit und Menſchlichkeit willen; denn alle dieſe
Tugenden ſind in der That Vorbitterinnen deiner
Geliebten. Du kannſt dir nicht vorſtellen, was
fuͤr
[533]
fuͤr Angſt ich wuͤrde empfunden haben, ohne die
Quelle derſelben errathen zu koͤnnen, wenn ich nicht
heute fruͤh vor meiner Abreiſe von London erfahren
haͤtte, daß dir dein Anſchlag wider ſie durch die
Partington mißlungen ſey, ſo gut auch die Par-
tington
ihre Rolle zu ſpielen wußte.


Jch habe noch nicht aufgehoͤrt, mit den Bruͤdern
von dieſer Schoͤnen zu reden, ſeit dem ich ſie geſehen
habe. Sie hat ſo etwas vornehmes und dennoch
reitzendes, daß wenn ich Luſt haͤtte alle Tugenden
abmahlen zu laſſen, ich zu einer jeden die Fraͤulein
nach allen den verſchiedenen Geſichtsſtellungen neh-
men wollte, die ſie bey verſchiedener Gelegenheit und
Umſtaͤnden von neuen ſchoͤn machten. Sie iſt zur
Ehre des Jahrhunderts, in dem ſie lebt, gebohren,
und wenn ſie zu der hoͤchſten Wuͤrde in der Welt ſtie-
ge, ſo wuͤrde doch Rang und Wuͤrde durch ſie geeh-
ret werden. Was fuͤr ein durchdringendes und den-
noch guͤtiges Auge! Jn jedem Blicke von ihr konnte
man ihre Furcht vor dir und ihre Liebe gegen dich le-
ſen. Es iſt wahr, ihr ſchoͤnes Geſichte war mit ei-
nigem Gewoͤlcke uͤberzogen, daraus man abnehmen
konnte, daß ſie bekuͤmmerter war, als ſie es ſich mer-
cken ließ: allein was fuͤr ein angenehmes Laͤcheln
ſtrahlete unter dieſem Gewoͤlcke hervor!


Was ich jetzt ſchreiben werde, wird dir allzu
hoch und entzuͤckt zu ſeyn ſcheinen. Allein auf meine
Ehre, ich bin ſo von Ehrfurcht gegen dieſe
Schoͤne eingenommen, daß ich nicht allein den
Mann verabſcheuen wuͤrde, der ihr uͤbel begegnen
koͤnnte, ſondern daß es mir ſo gar leid thut, wenn
L l 3ein
[534]
ein ſolcher Engel ſich verheyrathen ſollte. Jn mei-
nen Augen iſt ſie nichts als Geiſt: wenn ſie nun auch
an einen Mann kaͤme, der lauter Geiſt waͤre, ſo
wuͤrde es dennoch Schade ſeyn, daß ihre unver-
gleichlichen Eigenſchaften in Gefahr geſetzt wuͤrden,
und ſie ſich ſo tief erniedrigen muͤßte, ſich um haͤus-
liche Geſchaͤffte zu bekuͤmmern. Wenn ich ſie die
Meinige nennen koͤnnte, ſo wuͤrde ich faſt nicht wuͤn-
ſchen, daß ſie in ihrem Leben eine Mutter wuͤrde,
wenn ich nicht zum voraus mit einer ſolchen Wahr-
ſcheinlichkeit, die der Gewißheit am naͤchſten kommt,
wuͤßte, daß ihre Seele fortgepflantzet werden koͤnnte.
Denn warum ſollte man nicht die Vergnuͤgungen
und Verrichtungen des Leibes denen uͤberlaſſen, die
nichts als Leib ſind. Jch weiß, daß du ſelbſt faſt
eben ſo hohe Gedancken von dieſem Kinde haſt, als
ich: Belton, Mowbray und Tourville ſind
gleicher Meynung mit mir, und koͤnnen nichts an-
ders thun, als deinen Schatz bewundern. Sie
ſchwoͤren, daß es ein unerſetzlicher und hoͤchſt betruͤb-
ter Verluſt ſeyn wuͤrde, wenn einem ſolchen Kinde
ſeine Tugend geraubet werden koͤnnte: und daß ſich
uͤber ihre Verfuͤhrung niemand wuͤrde freuen koͤnnen,
als die Teufels.


Wie vortrefflich muß die Perſon ſeyn, die von
uns ein ſolches Bekenntniß erzwingen kann, da un-
ſere Lebens-Art ſo frey iſt als die deinige, da wir deine
Freunde, da wir partheyiſch fuͤr dich ſind, da wir
unſere Rache mit deiner Rache gegen die Harlowi-
ſche Familie verbunden, und dir unſere Dienſte zu
Beſtrafung dieſer Unmenſchen angeboten haben?
Allein
[535]
Allein es kommt uns unvernuͤnftig vor, wenn du
ein unſchuldiges Kind, welches dich lieb hat, und
ſich ſo gar in deinen Schutz begeben, und ſo vieles
um deinetwillen gelitten hat, die Suͤnden ſeiner An-
verwandten entgelten laͤſſeſt.


Jch muß dir ein Paar ernſthafte Fragen vorlegen.
Glaubſt du, ſo unvergleichlich dieſes Kind auch
iſt, daß der Endzweck, den du dir vorgeſetzet haſt,
wenn du ihn erreichen ſollteſt, dir ſo viel Vergnuͤgen
bringen werde, als er dir Sorgen, Unluſt, falſche
Schwuͤre, Betruͤgereyen und Niedertraͤchtigkeiten
koſten wird? Jn allen wahren Schoͤnheiten hat ſie
ihres gleichen unter dem Frauenzimmer nicht: allein
in den Stuͤcken, die dich reitzen ſie zu verſuchen und
zu verfuͤhren, wuͤrde ein ſinnliches Frauenzimmer,
eine Partington, eine Horton, eine Martin
die ſinnliche Manns-Perſon viel gluͤcklicher machen,
als es in dem Vermoͤgen einer Clariſſe ſtehet.


Denn iſt die Freude ſchoͤn,
Wenn ſie uns ſucht, wenn ſie in ihres
Buhlers Buſen
Sich laͤchelnd wirft.


Willſt du dieſes Kind auf die gantze Lebens-Zeit un-
gluͤcklich machen, ohne ſelbſt dadurch gluͤcklich zu
werden?


Noch iſt es nicht zu ſpaͤt! mehr Zeit aber kann dir
kaum eine Gottheit verſprechen, wenn du nicht allein
die Liebe und Werthachtung der Fraͤulein, ſondern
auch das reitzende in ihrer Geſtalt nicht verlieren
willſt. Denn das halte ich freylich fuͤr ohnmoͤg-
lich, daß ſie aus dem verfluchten Hauſe entfliehen
L l 4kann.
[536]
kann. Die verfluchte Heuchlerin, die Sinclair!
(wie du ſie nenneſt.) Wie war es moͤglich, daß ſie
ſich ſo heilig ſtellen konnte, ſo lange die Fraͤulein bey
uns war! Sey ehrlich, und heyrathe das Kind.
Sey noch dazu danckbar, wenn es ſich ſo weit herab
laͤßt, dich zu heyrathen. Wenn du das nicht thuſt,
ſo biſt du der aͤrgſte und undanckbarſte Menſch, und
du wirſt in dieſer und in jener Welt dafuͤr geſtraft wer-
den. Geſtraft muͤßteſt und ſollteſt du werden, wenn
auch eine ſolche Manns-Perſon dein Richter waͤre, die
noch nie ein Mitleiden gegen die Schoͤnen empfun-
den hat, nehmlich


dein partheyiſcher Freund
J. Belford.


Die Bruͤder hatten mir aufgetragen, daß ich dir
dieſes ſchreiben ſollte. Weil ſie unſere Schriſt nicht
leſen koͤnnen, ſo habe ich ihnen den Brief vorgeleſen,
und ſie billigen ihn. Sie haben ihn von freyen Stuͤ-
cken unterſchrieben. Jch habe nicht ſaͤumen wollen,
ihn abzuſchicken, damit nicht eine abſcheuliche That
ſeine Abſendung zu ſpaͤt mache.


Thomas Belton.


Richard Mowbray.


Jacob Tourville.


Jetzt eben bekomme ich deine beyden Briefe. Jch
aͤndre meine Meynung nicht, und nehme meine Vor-
bitte nicht zuruͤck, ob ich gleich der Fraͤulein nicht
gefalle.


Der
[537]

Der fuͤnf und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Lovelacen an Herrn Joh. Belford.



Nachdem ich mir die Muͤhe genommen hatte, dir
von allen meinen Abſichten und Entſchlieſſun-
gen gegen dieſe Crone aller Geſchoͤpfe ausfuͤhrliche
Nachricht zu geben; ſo haͤtte ich nicht erwartet, daß
du, als ihr Vorſprecher, dergleichen Grillen ſchreiben
wuͤrdeſt, ehe ich noch einen Verſuch an ſie gethan
habe: da du doch ſelbſt in einem deiner vorigen Brie-
fe der Meynung biſt, daß ſie in ihren jetzigen Um-
ſtaͤnden uͤberwindlich ſey.


Die meiſten von deinen tiefen Betrachtungen, z.
E. daß das Vergnuͤgen ſehr verſchieden ſey, welches
wir freyen Liebhaber von einem ſinnlichen und von ei-
nem recht vernuͤnftigen Frauenzimmer zu erwarten
haben, koͤnnen beſſer nachher als zum voraus ange-
ſtellet werden.


Jch geſtehe das, was unſer Dichter ſaget:
daß die Freude ſchoͤn iſt, wenn ſie uns ſucht,
und ſich laͤchelnd in unſern Buſen wirft.
Al-
lein kann man wohl erwarten, daß ein ſo wohl, ja ſo
vornehm erzogenes Frauenzimmer ſich vor dem
Sturm ergeben wird? Habe ich dieſe Schoͤne bisher
auch nur aufgefodert? Jch ſtelle mir allerdings zum
voraus viele Schwierigkeiten vor: deswegen werde
ich ſie unverhofft uͤberfallen. Hiebey koͤnnte einige
Grauſamkeit noͤthig ſeyn. Allein man kann ſich einan-
der in dem heftigſten Streit verſtehen; man kann Wi-
L l 5der-
[538]
derſtand leiſten und dennoch weichen: wenn der er-
ſte Streit voruͤber iſt, ſo wird ſich zeigen, ob die
zweyte und dritte Gegenwehr nicht gelinder iſt, und
ob ſich die Gegenwehr nicht endlich in Willigkeit ver-
wandelt. Jch will dir das mit einem Gleichniß von
einem gefangenen Vogel erlaͤutern: denn als Kinder
fangen wir Voͤgel, und wenn wir erwachſen ſind,
die Maͤdchens: mit beyden gehen wir aus Muth-
willen grauſam um.


Haſt du nie bemerckt, wie ein gefangenes Voͤgel-
chen ſich nach und nach in ſein Ungluͤck ſchicken lernt?
Zuerſt will es weder eſſen noch trincken, es ſtoͤßt ſich
und fliegt gegen das Bauer, bis dieſes mit ſeinen ar-
tigen Federn bedeckt iſt. Bald ſteckt es den Kopf
heraus, allein die Schultern wollen nicht nach: mit
Muͤhe zieht es den Kopf zuruͤcke, und ſchnappt nach
der Luft: es ſetzet ſich, es richtet ſich in die Hoͤhe,
und betrachtet zuerſt mit tiefſinnigen Augen ſein
durchſichtiges Gefaͤngniß; es thut einen neuen Ver-
ſuch; es hohlt von neuen Athem, zerſtoͤßt ſich Kopf
und Fluͤgel, beißt in den Drath, und hacket ſeinen
vergnuͤgten Ober Herrn in die Finger. Wenn es
gantz ermuͤdet iſt, vergeblich ſeine Freyheit zu ſuchen,
und keine Luft mehr ſchoͤpfen kann, ſo legt es ſich auf
den Boden des Bauers nieder, und betrauret ſein
hartes Schickſal und ſeine verlohrne Freyheit.
Wenn einige Tage verſtrichen ſind, ſo nimt ſeine
Liebe zur Freyheit ab, weil es ſiehet, daß es ſie doch
nicht wieder erhalten wird; es gewoͤhnt ſich zu ſeiner
neuen Wohnung, huͤpft von einem Stock auf den
andern, und bekommt ſein voriges froͤhliches
Weſen
[539]
Weſen wieder, welches es taͤglich zu ſeiner und ſeines
Beſitzers Beluſtigung durch ſein Singen zu erkennen
giebt.


Jch kann nicht leugnen, daß ich einmal einen Vo-
gel geſehen habe, der ſich zu Tode hungerte, und
vor Kummer uͤber ſeine Gefangenſchaft ſtarb. Al-
lein ich habe nie ein Maͤdchen angetroffen, das ſo
thoͤricht geweſen waͤre. Drohungen genug habe ich
gehoͤrt, welche die liebenswuͤrdigen Kinder gegen
ihr Leben ausſtieſſen. Man ruͤhmt das ſchoͤne Ge-
ſchlecht nicht allzuſchmeichleriſch, wenn man ihnen
mehr Verſtand zuſchreibt, als die Voͤgel beſitzen:
und dennoch muͤſſen wir alle geſtehen, daß es ſchwerer
iſt, Voͤgel als Maͤdchens zu fangen.


Wenn ich keinen weitern Verſuch anſtelle, Bel-
ford,
wie ſoll ich denn erfahren, ob dieſes angeneh-
me Voͤgelchen ſich nicht endlich bewegen lieſſe, mich
durch ſein artiges Lied zu beluſtigen, und kuͤnftig mit
ſeinen Umſtaͤnden eben ſo zufrieden zu ſeyn, als die
Voͤgel, ſo ſcheu ſie auch ſind, endlich ihr Gefaͤng-
niß lieb gewinnen?


Jch kann leicht errathen, was die Haupt-Urſache
iſt, die dich zu ſo ungeſtuͤmen Vorbitten verleitet.
Du wechſelſt Briefe mit dem Lord M. der voller Un-
geduld iſt, und ſchon lange gewuͤnſchet hat, mich in
Feſſeln zu ſehen. Du willſt dich gern um den gnaͤ-
digen podagriſchen Herrn verdient machen, weil du
eine Abſicht auf eine ſeiner Baſen haſt. Allein weiſt
du nicht, daß dir mein Ja-Wort fehlen wird?


Ein ſolches Maͤdchen, als die Charlotte iſt,
wird ſich ſehr an dir erquicken, wenn ich ihr erzaͤhle,
wie
[540]
wie hoch du ihr gantzes Geſchlecht fchaͤtzeſt, daß du
mich fragen darſſt, ob der Sieg uͤber das unver-
gleichlichſte Frauenzimmer in der Welt aller meiner
Sorgen, Unluſt, falſchen Schwuͤre und Betruͤge-
reyen werth ſey? Wem wird ein edel-geſinnetes
Frauenzimmer ſeine Suͤnde zu vergeben geneigter
ſeyn? dem, der es ſo herunterſetzt? oder dem, der
den Sieg uͤber ſie allen Vergnuͤgungen des Lebens
vorziehet? Jch erinnere mich eines ſehr tugendhaften
Frauenzimmers (zum wenigſten nach der eigenen
Einbildung) welches einem Manne ewige Feindſchaft
ſchwur, der vorgegeben hatte, die Schoͤne ſey zu
alt, als daß er Luſt haͤtte, ſie in Verſuchung zu fuͤh-
ren.


Allein noch ein Paar Worte von dem, was du von
der Belohnung meiner ſauren Muͤhe ſchreibeſt.


Setzt man nicht auf der Fuchs-Jagd Hals und
Bein in Gefahr, um ein Wildpret zu fangen, das
weder Menſchen noch Hunde freſſen wollen, wenn
es gefangen iſt?


Schaͤtzen nicht alle Jaͤger die Luſt der Jagd hoͤher,
als das Wildpret das ſie fangen?


Sollſt du mich denn tadeln, und das gantze ſchoͤ-
ne Geſchlecht beſchimpfen, weil ich ſo viel Geduld
habe, das alleredelſte Spiel zu Ende zu ſpielen, und
weil ich kein bloſſer Wild-Dieb in der Liebe bin? Denn
zum Wild-Diebe, und nicht zu einem der aus edler Luſt
die Jagd liebet, willſt du mich gern machen.


Lerne
[541]

Lerne kuͤnftig von mir, das Geſchlecht hoͤher zu
ſchaͤtzen, dem wir unſer angenehmſtes Vergnuͤgen
zu dancken haben.


Jch werde ſo gleich mehr ſchreiben.



Der ſechs und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Lovelacen, eine Fortſetzung des vorigen.


Du haſt recht, wenn du mir das betruͤglichſte
und liſtigſte Hertz
zuſchreibeſt. Dieſes ge-
reicht mir zur Ehre! Jch dancke dir fuͤr deinen Lob-
ſpruch. Du kannſt ſehr richtig urtheilen. Jch bruͤ-
ſte mich wie der Geiſtliche des Boileau, und ma-
che aus Hochmuth einen großmaͤchtigen Unterkinn.
Bin ich nicht ſchuldig, das Lob zu verdienen, das
du mir ertheileſt? Du wirſt doch nicht verlangen,
daß ich fuͤr unbegangne Suͤnden Buſſe thun ſoll?


Alle Tugenden und Annehmlichkeiten ſind die
Bedienten meiner Schoͤnen. „Sie iſt (wie du
„ſchreibeſt) zur Ehre des Jahrhunderts, in
„dem ſie lebt, gebohren:„ (du haſt bis hieher
Recht) „und wenn ſie zu der hoͤchſten Wuͤrde in der
„Welt ſtiege, ſo wuͤrde doch Rang und Wuͤrde
„durch ſie geehret werden.„ Allein was wuͤrde
dieſes fuͤr ein Lob meines Kindes ſeyn, wenn Rang
und Wuͤrde ohne eigene Verdienſte waͤre? Wuͤrde!
Hoͤchſte Wuͤrde!
kickel kackel! Du kenneſt
mich, und biſt doch noch von Hermelin, von Flit-
ter-Gold, von gefaͤrbten Baͤndern eingenommen!
Jch
[542]
Jch allein habe ſie gewonnen, und ich allein bin ihrer
wuͤrdig. Schreibe kuͤnftig vernuͤnftiger, und ſage:
der gluͤcklichſte Mann in der Welt und groͤſſeſte Held
und Beſieger ihres Geſchlechts wuͤrde durch ſie geeh-
ret werden.


Du bildeſt dir ein, daß ſie mich liebet. Allein ich
bin hievon noch nicht uͤberzeuget. Jhre Bereitwil-
ligkeit, mir auf ewig zu entſagen, und das wenige
Vertrauen, das ſie in mich ſetzt, berechtigen mich,
zu fragen: ob ſie von dem Danckbarkeit fodern kann,
der ſie wider ihren Willen uͤberwunden, und nach ei-
ner muthigen Gegenwehr zur Kriegesgefangenen ge-
macht hat?


Du gedenckeſt ihrer Augen und ihrer Blicke: al-
lein du kenneſt ihr Hertz nicht, wenn du dir einbildeſt
einen eintzigen liebreichen Blick bemerckt zu haben.
Jch habe auch auf ihre Augen gemercket, und
nichts darinn wahrgenommen, als hoͤfliche Ver-
achtung und Unwillen gegen mich, und gegen die
Geſellſchaft, in welche ich ſie gebracht hatte. Jhr
fruͤhzeitiger Abſchied, davon kein Bitten ſie abhal-
ten konnte, muß dich uͤberzeugen, daß ihr Hertz kei-
ne guͤtigen Triebe gegen mich fuͤhlete. Jhr Auge
hat die Kunſt noch nie gelernt, ihrem Hertzen zu
widerſprechen.


Jn deinen Augen iſt ſie nichts, als Geiſt: in
meinen gleichfalls! Allein wie kommſt du dazu, daß
du daran zweifelſt, ob ſie ihres gleichen der
Welt mittheilen koͤnne, wenn ihr Geiſt zu mir, der
ich auch Geiſt zu ſeyn hoffe, eine Zuneigung fuͤhlet,
und wir uns miteinander verbinden?


Jch
[543]

Jch zweifele nicht daran, daß ſich die Hoͤlle dar-
uͤber freuen wuͤrde, wenn ein ſolches Frauenzimmer
verfuͤhret werden koͤnnte. Allein habe ich es denn
nicht in meiner Macht, ſie dennoch nachher zu hey-
rathen? Wenn ich ſo billig gegen ſie bin, ſo werde
ich ſie dadurch zu ewiger Danckbarkeit verpflichten:
ich werde ihr Wohlthaͤter, und ſie wird nicht meine
Wohlthaͤterin ſeyn. Du mußt auch wiſſen, Bel-
ford,
daß dieſes Kind nicht ſo voͤllig verfuͤhret und
verdorben werden kann, als du und deine Rotte an-
dere verfuͤhrt habet, die jetzt in der Stadt herum-
lauffen, und zum Verderben anderer gereichen. ‒ ‒
Genieſſe dieſe Antwort mit deinen Bruͤdern.


Jhr werdet mir antworten, daß ihr euch nie an
ein Frauenzimmer gewaget habt, das meiner un-
vergleichlichen Clariſſa Harlowe an Vorzuͤgen des
Gemuͤthes und Standes gleich iſt.


Jch muß dich fragen, ob nicht nach unſern Grund-
Saͤtzen die Ehre des Ueberwinders deſto groͤſſer iſt,
je mehr Vorzuͤge die Ueberwundene beſaß. Und
was den Rang anlanget, ſo wird die Empfindung
von Ehre und Schande und der Familien-Hochmuth
den verlohrnen Rang wider herſtellen: hat aber ja
unſer Vergnuͤgen unerwuͤnſchte Folgen, ſo wird das
vornehme Kind doch nur an ſeinem Hochmuth ge-
kraͤnckt, und muß mit einer geringern Parthey vor-
lieb nehmen, als es ſonſt wuͤrde gewaͤhlt haben.
Vielleicht wird es gar durch ſein Ungluͤck brauchbarer
und gluͤcklicher: denn die Schande gewoͤhnt ihm
das Herumlauffen ab und macht es haͤuslicher;
es
[544]
es wird danckbar gegen die Manns-Perſon, die
ihm aus der Schande geholfen hat; der Mann muß
hinwiederum ſeiner vornehmen Liebſten gefaͤllig ſeyn,
und der ehemalige Fall derſelben wird ihn auf das
kuͤnftige vor Hoͤrnern bewahren, wenn die Frau
Verſtand und Nachdencken hat. Allein ein armes
Maͤdchen, (ſo wie mein Roſen-Knoͤſpchen war) hat
keine ſolche Erziehung gehabt, daß es ſich nach ſei-
nem Fall wieder beſinnen koͤnnte. Es wird aus allen
Haͤuſern geſtoſſen, die, wie man es nennet, auf
ihre Ehre etwas halten: vielleicht verfolgen es die-
jenigen am heftigſten, die ihre Sachen geheimer trei-
ben konnten: und weil es keine Zuflucht hat, ſo muß
es ſich auf den Kirch-Hoͤfen, in den Bad-Stuben
und auf den Straſſen behelfen. Armuth, Hunger
und Kranckheit verfolgen es, und es muß vor der
Zeit ſein ungluͤckliches Leben beſchlieſſen.


Werdet ihr mir leugnen, daß es maͤnnlicher iſt,
ſich an einen Loͤwen, als ſich an ein Schaf zu wagen?
Du weißt, daß ich mich immer deswegen fuͤr einen
Adler ausgegeben habe, weil ich einen edleren Raub
ſuche, und mir die Muͤhe nicht gebe, Zaunkoͤnigen,
Bachſteltzen und Miſtfincken nachzuſtellen.


Das, was mich am meiſten ſchmertzet, iſt dieſes:
der Sieg, den ich jetzt zu erhalten ſuche, iſt ſo un-
vergleichlich, daß alle kuͤnftigen Siege, darauf ich
mir Hoffnung machen kann, fuͤr nichts dagegen zu
rechnen ſind. Wenn ich einige Zeit nachher mich
dieſes Sieges erinnere, ſo werde ich eben ſo verdrieß-
lich daruͤber ſeyn, als Don Juan de Auſtria uͤber ſei-
nen lepantiſchen Sieg war, als er fand, daß alle
Hel-
[545]
Helden-Thaten ſeiner ſpaͤten Jahre ſich vor ſeinem
erſten Lorbeer-Zweig ſchaͤmen mußten.


Jch weiß wohl, daß alle meine Einwendungen
leicht zu beantworten, und mit Recht zu tadeln ſind.
Allein keiner von unſerer Bruͤderſchaft hat dieſes
Recht: denn lange vorher ehe ich euer Anfuͤhrer ge-
worden bin, habt ihr die Grund-Saͤtze durch eure
Auffuͤhrung gebilliget, die ihr jetzt aus Verdruß und
Neid an mir tadelt. Gegen euch habe ich mich
verantwortet und gerechtfertiget, und weiter verlan-
ge ich jetzt nichts zu thun. So erkenne denn, daß
ich nach unſern gemeinſchaftlichen Grund-Saͤtzen
Recht habe, und du Unrecht: oder ſeyd zum wenig-
ſten ſtille. Doch nein! ich befehle dir uͤberzeuget zu
ſeyn, und mir deine neue Ueberzeugungen in dem
naͤchſten Briefe zu melden.



Der ſieben und ſiebenzigſte Brief
von
Herrn Belford an Herrn Lovelacen.



Jch weiß, daß du ruchlos biſt, daß es nichts
hilft, wenn man dir auch die wichtigſten Gruͤn-
de von der Welt vorſtellet: man richtet dadurch nicht
mehr aus, als der unſinnige Menſch, den wir ein-
mal ſahen, welcher den Sturmwind mit ſeinem Hu-
te aufhalten wollte. Jndeſſen hoffe ich dennoch,
daß die vortreflichen Eigenſchaften der Fraͤulein dich
endlich beſiegen werden. Wenn du aber dennoch
Dritter Theil. M mbey
[546]
bey deinem Vorſatze bleibeſt, das unſchuldige Lamm,
das du aus einer verhaßten Heerde ausgeſondert haſt,
es entgelten zu laſſen, daß der Schaͤffer-Hund dich
angebellet hat; wenn dich nicht Schoͤnheit, nicht
Beleſenheit, nicht Verſtand, nicht Unſchuld erwei-
chen kann, ſondern die unvergleichliche Fraͤulein bey
allen ihren Vorzuͤgen durch den verfuͤhret werden
ſoll, den ſie ſelbſt zum Beſchuͤtzer gewaͤhlet hatte: ſo
wollte ich deine Verantwortung nicht auf mich neh-
men, wenn ich auch tauſend Welten gewinnen koͤnn-
te.


Bey meiner Ehre, Lovelace, ich kann mir die-
ſe Sache nicht aus dem Sinne ſchlagen, ob ich gleich
nicht ſo gluͤcklich geweſen bin, die Werthachtung der
Fraͤulein zu verdienen: und ich werde noch niederge-
ſchlagener uͤber dich, wenn ich an den unmenſchlichen
Fluch ihres Vaters, und an die abſcheuliche Haͤrte
ihrer Familie gedencke. Jch bin aber dennoch
begierig, wenn du fortfaͤhreſt ſie zu verſuchen, die
Mittel und Kuͤnſte zu wiſſen, dadurch du nach und
nach deinen haſſens-wuͤrdigen Sieg erhalten wirſt.
Jch beſchwoͤre dich aber, Lovelace, wenn du an-
ders ein Mann ſeyn willſt, daß du den verkleide-
ten Teufels, unter denen die Fraͤulein ſich jetzt befin-
det, kein Hohngelaͤchter uͤber ſie macheſt, und ſie
ſelbſt nicht durch ſolche Kuͤnſte beſiegeſt, die ſich fuͤr
eine Manns-Perſon nicht ſchicken. Wenn ſie durch
ordentliche und regelmaͤßige Verfuͤhrungen uͤber-
wunden wird, wenn du durch Liebe und menſchliche
Kuͤnſte ihre Vernunft uͤbertaͤuben kannſt; ſo will
ich weniger Mitleiden mit ihr haben, und daraus
den
[547]
den allgemeinen Schluß machen, daß kein Frauen-
zimmer in der Welt einem dreiſten Liebhaber wider-
ſtehen kann.


Jch bekomme eben einen Boten von meinem Onck-
le, dem der kalte Brand ſchon bis an die Kniee getre-
ten iſt, und der nicht lange mehr leben kann, wie die
Wund-Aertzte ſagen. Er verlanget deswegen, daß
ich (nach ſeinem fuͤrchterlichen Ausdruck) ſo gleich
kommen, und ihm die Augen zudruͤcken ſoll. Es
wird daher ſein oder mein Bedienter alle Tage nach
London reiten muͤſſen; und er ſoll ſich immer bey
dir erkundigen, ob du Briefe zu beſtellen, oder ſonſt
etwas zu befehlen haſt. Wenn du jetzt ſo oft an mich
ſchreibeſt, als du kannſt, ſo thuſt du ein Liebes-
Werck: denn ob mir gleich vieles durch meines On-
ckels Tod zufaͤllt, ſo mag ich doch ſehr ungern den
Tod und den Doctor ſo nahe bey mir ſehen. Jch
ſollte billig umgekehrt geſagt haben: den Doctor
und den Tod, denn dieſes iſt die natuͤrliche Ordnung:
der eine iſt gemeiniglich ein Vorbote des andern.


Wenn Sie mir dieſe Gefaͤlligkeit nicht erzeigen,
ſo werde ich befuͤrchten, daß Sie meine Freyheit un-
guͤtig gedeutet haben. Allein derjenige, der ſich
nicht ſchaͤmt zu ſuͤndigen, hat kein Recht daruͤber un-
gehalten zu ſeyn, wenn ihm wegen ſeiner Verſuͤndi-
gungen zugeredet wird.


J. Belford.



Der acht und ſiebenzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe.


M m 2Jch
[548]

Jch bin Jhnen und dem Herrn Hickman ver-
bunden, daß Sie die Guͤtigkeit gehabt haben,
mir die verlangte Antwort zu meiner Beruhigung
ſo bald zu ertheilen. Jch ſchreibe Jhnen den ferne-
ren Verlauff meiner Geſchichte, und gehorche mei-
ner lieben drohenden Gebieterin.


Hier folgen die Unterredungen, die ſie am
Dienſtage fruͤh mit Herrn
Lovelacen gehabt
hat, faſt eben ſo wie ſie Herr
Lovelace in dem
72ſten Briefe erzaͤhlet.


Er beſchuldiget mich immer, daß ich allzu mißtrau-
iſch und behutſam ſey, und nie mit ihm zufrieden zu
ſeyn ſchiene. Er glaube, ich haͤtte gegen Herrn
Solmes nicht abgeneigter thun koͤnnen: gantz wi-
der alle ſeine Hoffnung faͤnde er, daß er in ſo langer
Zeit eine Perſon, auf die er ſich eine ſo nahe Hoffnung
gemacht haͤtte, noch nicht dahin bringen koͤnnte,
ihn andern ſeines Geſchlechts durch das geringſte
Merckmahl der Liebe vorzuziehen.


Eine wunderliche und partheyiſche Anfoderung!
Kann er denn die Urſache nicht errathen, die mich
zwinget, ihm ſo fremde zu begegnen? Sein Hoch-
muth verdunckelt ſeinen Verſtand. Ein recht nie-
driger Hochmuth iſt es, der allen wahren und edlen
Hochmuth in ihm vertilget hat: er ſollte ſich zu groß
achten, ſich mit ſolchen Eitelkeiten zu verunehren.
Haben Sie nicht geſehen, wie der Menſch damals,
als ich das Gluͤck hatte, mich in Jhrem Hauſe zu
befinden, ſich immer umſahe, ſo oft er uͤber den
Hof nach ſeinem Wagen ging, um die Augen zu
zaͤhlen, die ihm nachſehen wuͤrden? Jedoch wir
haben
[549]
haben ungeſtalte Stutzer geſehen, die von ihrer Per-
ſon eben ſo eingenommen waren, als er, und die
dadurch, daß ſie ſchoͤn thun wollten, ihre Fehler
nur noch mehr verriethen. Derjenige der fuͤr beſſer
angeſehen ſeyn will, als er in der That iſt, veran-
laſſet gemeiniglich unſere tadelſuͤchtige Neugier ihn
ſehr genau zu unterſuchen, und ziehet ſich Verach-
tung zu: denn der Hochmuth iſt ein untruͤgliches Zei-
chen eines Mangels oder Schwaͤche, und verraͤth,
daß in dem Kopfe oder in dem Hertzen etwas unge-
ſtaltes anzutreffen ſey. Wer ſich ſelbſt erhoͤhet, der
will ſeinen Naͤchſten erniedrigen, und reitzt dadurch
jenen, ihm ſelbſt die Vorzuͤge ſtreitig zu machen,
die ihm niemand leugnen wuͤrde, wenn er beſcheiden
waͤre.


Sie werden mich fuͤr ſehr ernſthaft anſehen, und
das bin ich auch. Seit dem vorigen Montage hat
Herr Lovelace vieles von meiner guten Meinung
verlohren; und ich ſehe keinen Grund zu einiger Hoff-
nung, die mir angenehm waͤre. Denn bey einer ſo
groſſen Ungleichheit der Gemuͤther iſt auch die beſte
Hoffnung betruͤbt.


Jch werde Jhnen in meinem vorigen Briefe ſchon
gemeldet haben, daß meine Kleider angekommen
ſind: ich weiß aber nicht gewiß, ob ich es gethan ha-
be, weil ich allzuſehr uͤber Jhren Brief erſchrack.
Jch bekam ſie an dem Donnerſtage, allein weder
meine wenigen Guineas noch die Buͤcher waren
dabey, ausgenommen den Drexeliusvon der
Ewigkeit,
das gute alte Buch, das thaͤtige
Chriſtenthum,
und das Ende des Spira. Ohne
M m 3Zweifel
[550]
Zweifel ein witziger Einfall meines Bruders! Er goͤn-
net mir Tod und Verzweifelung, jenen wuͤnſche ich mir
ſelbſt, und der Verzweifelung bin ich oͤfters ſehr nahe.


Sie werden ſich uͤber meine finſtere Ernſthaftig-
keit nicht verwundern, wenn Sie hoͤren, daß ich in
meinen mißlichen Umſtaͤnden noch eine neue Kraͤn-
ckung habe. Es iſt mir bey den Buͤchern ein Brief
von dem Obriſten Morden uͤberſandt worden, der
mich Herrn Lovelacen ſehr abgeneigt macht, und
mich ſelbſt mir ſehr ſchwartz vorſtellet. Jch lege ihn
bey: leſen Sie ihn, wenn es Jhnen beliebet.



Der neun und ſiebenzigſte Brief
An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.



Jch bin ſehr bekuͤmmert, daß ich von einem Miß-
verſtaͤndniß hoͤre, welches eine mir ſo liebe
Familie von Jhnen, die Sie mir das Liebſte in der
gantzen Familie ſind, trennet.


Jhr Herr Bruder hat mir Nachricht von ver-
ſchiedenen Heyraths-Vorſchlaͤgen, und der Jhrerſeits
erfolgten abſchlaͤgigen Antwort gegeben. Jch wun-
dere mich uͤber keines von beyden. Bey meiner Ab-
reiſe von Engeland waren Sie ſchon ſo reitzend, und
Jhre fruͤheſte Jugend verſprach ſchon ſo vieles auf
das kuͤnftige: und wie ich hoͤre, ſollen Sie dennoch
alle Hoffnung, die man ſich von Jhnen in Abſicht
auf die Geſtalt und das Gemuͤth machte, noch weit
uͤbertroffen haben. Jch kann mir daher leicht
vor-
[551]
vorſtellen, wie viele Bewunderer Sie haben werden,
und wie wenige unter dieſen wuͤrdig ſeyn koͤnnen, ſich
einige Hoffnung auf Sie zu machen.


Es ſcheint, daß Jhre guͤtige Eltern aus unge-
meiner Liebe gegen eine ſo liebenswuͤrdige Tochter Jh-
nen erlaubt haben, einige Partheyen auszuſchlagen:
ſie haben aber endlich einen Freyer Jhnen mit meh-
rerem Nachdruck anzupreiſen fuͤr gut befunden, weil
ſich ein anderer fand, gegen deſſen Geſuch ſie wichti-
ge Einwendungen haben moͤgen. Es koͤmmt mir
ſo vor, daß Jhre Eltern zu Anfang aus Jhrem Be-
tragen keine ausnehmende Abneigung haben ſchlieſ-
ſen koͤnnen; und daß ſie deswegen weiter gegangen
ſind. Vielleicht haben ſie auch zu ſehr fuͤr ein ſo bloͤ-
des Gemuͤth geeilet. Als aber alles von ihrer Sei-
ten richtig war, und man ausnehmend-vortheilhafte
Bedingungen fuͤr Sie erhalten hatte, aus denen
man die Liebe dieſes Herrn zu Jhnen deutlich ſehen
konnte: ſo treten Sie auf einmal mit einer ſolchen
Heftigkeit zuruͤck, die ſich fuͤr Jhr artiges und gefaͤl-
liges Gemuͤth, fuͤr das Gemuͤth, das ſonſt alle Jh-
re Handlung mit ſo vieler Anmuth belebte, kaum zu
ſchicken ſcheint.


Jch weiß von dieſen beyden Herren nur wenig:
doch weiß ich mehr von Herrn Lovelacen als von
dem Herrn Solmes. Jch wuͤnſchete, daß ich
mehr zu ſeinem Lobe ſagen koͤnnte, als ich mit Wahr-
heit ſagen kann. Jhr Bruder geſtehet, daß zwi-
ſchen den beyden Herren ſonſt gar keine Vergleichung
anzuſtellen ſey, ein eintziges Stuͤck ausgenommen:
allein dieſes eine uͤberwieget alle uͤbrigen Stuͤcke,
M m 4die
[552]
die in Betrachtung koͤnnen gezogen werden. Jch
kann mir ohnmoͤglich vorſtellen, daß die Fraͤulein
Clariſſa Harlowe nicht auf Tugend an einem Lieb-
haber ſehen, oder die Tugend nur als eine Neben-
Eigenſchaft anſehen werden.


Was fuͤr Vorſtellungen ſoll ich Jhnen bey dieſer
Gelegenheit thun? Die Erfuͤllung Jhrer eigenen
Pflichten, Jhr Beſtes, Jhre zeitliche und ewige
Wohlfahrt kann davon abhaͤngen, ob Jhr Gemahl
tugendhaft iſt oder nicht. Es ſteht nicht immer in
dem Vermoͤgen einer Frau, die Geſetze der Tugend
und der Religion zu erfuͤllen, wenn ſie einen gottlo-
ſen Mann hat: obgleich der Mann ſeine Pflichten
erfuͤllen kann, wenn gleich ſeine Frau ſie nicht erfuͤl-
let. Jch hoͤre, daß die Religion noch eben die Kraft
bey Jhnen hat, die Sie in Jhrer Kindheit hatte:
ich wundere mich auch nicht daruͤber; ich wuͤrde mich
vielmehr gewundert haben, wenn Sie im Guten ab-
genommen haͤtten. Allein koͤnnen Sie ſich Hoffnung
machen, beſtaͤndig zu bleiben, wenn Jhr Gemahl
Jhnen zur Hinderung gereichet.


Vergoͤnnen Sie mir, daß ich Jhnen eine Frage
vorlegen darf: wenn Sie und Jhre Eltern verſchie-
dener Meynung ſind, weſſen Pflicht iſtes nachzuge-
ben? Jch geſtehe Jhnen willig ein, daß ich keine
beſſere Parthey fuͤr Sie wuͤßte, als den Herrn Lo-
velace,
wenn es ihm nicht an jener eintzigen Eigen-
ſchaft mangelte. Jch wuͤrde nicht Urſache haben
ſeine Handlungen zu beurtheilen, wenn er ſich nicht
um meine allerliebſte Fraͤulein Baſe bewuͤrbe. Allein
bey dieſen Umſtaͤnden muß ich Jhnen melden, meine
liebe
[553]
liebe Clariſſa, daß er, Herr Lovelace, Jhrer
ohnmoͤglich werth ſeyn kann. Sie werden ſagen, er
koͤnnte ſich vielleicht beſſern: vielleicht aber beſſert er
ſich auch nicht. Gewohnheits-Suͤnden ſind nicht
ſo leicht abgelegt: und Leute, die ſich durch einen
ſchoͤnen Verſtand, und durch eine klare Erkenntniß
deſſen, was Recht und Unrecht iſt, nicht von einem
unordentlichen Leben abhalten laſſen, koͤnnen nicht
anders als durch ein Wunderwerck, oder durch das
Unvermoͤgen zu ſuͤndigen, aufhoͤten laſterhaft zu
ſeyn. Jch kenne mein eigenes Geſchlechte ſehr wohl,
und ich will mich unterſtehen ein richtiges Urtheil da-
von zu faͤllen, ob es wahrſcheinlich ſey oder nicht,
daß ein junger Herr, ehe ihn Kranckheit oder Ungluͤck
demuͤthiget, ſich beſſern ſollte, wenn ihm alles gluͤck-
lich gehet, wenn er voller Muth und Eigenwillen iſt,
und ſich noch dazu eine Geſellſchaft ausgewaͤhlet hat,
die ihm gleich iſt, und die ihn noch weiter verfuͤhret,
ja ſo gar in der Ausuͤbung alles Unrechts unterſtuͤ-
tzet.


Was den andern Herrn anlanget, ſo will ich gar
nicht aus Jhrer jetzigen Abneigung ſchlieſſen, daß
Sie kuͤnftig keine Neigung zu ihm faſſen werden:
vielleicht gefaͤllt er Jhnen kuͤnftig deſto beſſer, je we-
niger er Jhnen jetzt gefaͤllt. Er kann zum wenigſten
nicht mehr bey Jhnen herunter geſetzet werden:
allein es iſt moͤglich, daß Jhre Meynung von ihm
ſich beſſert. Wo wir uns allzu viel gutes vorſtellen,
da pflegen wir uns in unſerer Hoffnung gemeiniglich
allzu ſehr betrogen zu ſehen. Wie iſt es anders moͤg-
lich? Die aufgebrachte Einbildungs-Kraft ſtel-
M m 5let
[554]
let uns ſolche Vollkommenheiten an der bewunder-
ten Perſon vor, die wir dieſſeits der Wolcken vergeb-
lich ſuchen werden: hingegen entdecket das Frauen-
zimmer nicht den geringſten Mangel an der Perſon,
darauf es ſeine uneingeſchraͤnckte Hoffnung ſetzet, bis
daß es zu ſpaͤte iſt, den Folgen dieſer guͤtigen Leicht-
glaͤubigkeit vorzubeugen.


Geſetzt, daß ein ſolches Frauenzimmer wie Sie
ſind, einen Gemahl waͤhlete, den es an wahren Voll-
kommenheiten uͤbertrifft, wer wuͤrde bey einer ſolchen
Wahl gluͤcklicher ſeyn, als die Fraͤulein Clariſſa
Harlowe?
Was fuͤr ein Vergnuͤgen finden Sie
darin, wenn Sie gutes thun koͤnnen? Wie gluͤck-
lich theilen Sie den Tag zu Jhrer eigenen Beſſerung
und zum Beſten aller derer, die um Sie ſind, ein!
Jhr Geſchmack an denen ſchoͤnen Wiſſenſchaften iſt
ſo rein, Sie wiſſen Jhre Zeit auf eine ſo ausgeſuch-
te Art anzuwenden; Sie verſtehen ſich auf alle Thei-
le der Haushaltung, die Jhnen nicht unanſtaͤndig
ſind, ſo vollkommen: daß Jhre Freunde billig wuͤn-
ſchen muͤſſen, daß Sie ſo wenig, als moͤglich iſt, von
dieſen Beſchaͤfftigungen durch die Liebe, die ſich auf
die aͤuſſere Geſtalt des Geliebten gruͤndet, abgehal-
ten werden moͤgen.


Jch wuͤnſche, daß Sie die Folgen wohl uͤberlegen
moͤgen, die aus der vorzuͤglichen Neigung eines ſo
erhabenen Frauenzimmers gegen einen Menſchen,
deſſen Lebens-Art unordentlich iſt, entſtehen koͤnnen.
Soll ein ſo reines Hertz ſich mit einem ſo auſſerordent-
lich unreinen Hertzen vereinigen? Ein ſolcher
Mann, als dieſer iſt, wird Jhnen taͤglich neuen
Kum-
[555]
Kummer machen: Sie werden bald um ſeinetwil-
len, bald Jhrer ſelbſt wegen in Sorgen ſeyn. Er
hat Gott und Menſchen getrotzt, und nicht aus Ue-
bereilung, ſondern recht mit Vorbedacht goͤttliche
und menſchliche Geſetze bey aller Gelegenheit uͤbertre-
ten. Wenn Sie ihm gefaͤllig ſeyn, und ſeine Zu-
neigung nicht verlieren wollen, ſo werden Sie ver-
muthlich allen Jhren loͤblichen Vorſaͤtzen entſagen
muͤſſen. Sie muͤſſen mit ihm gleiche Neigungen und
Abneigungen zu haben ſuchen; und Jhre tugendhaf-
te Geſellſchaft mit ſeinen laſterhaften Freunden ver-
wechſeln: ja vielleicht macht ſein aͤrgerliches Leben,
daß Sie ſich von Jhren ehemaligen Bekannten ver-
laſſen ſehen. Koͤnnen Sie hoffen, daß Sie in dem
taͤglichen Umgange mit einem ſolchen Manne Jhre
jetzige Gemuͤths-Faſſung lange behalten werden?
Koͤnnen Sie aber das nicht hoffen, ſo frage ich Sie,
welchen guten Vorſatz, welches tugendhaſte Ver-
gnuͤgen Sie ſo geringe achten, daß Sie es um ſeinet-
willen fahren laſſen wollen? Welches unerlaubte
Vergnuͤgen Sie mit ihm theilen wollen? Wie wer-
den Sie ſich gewoͤhnen koͤnnen, in dem Guten zuruͤck
zu gehen, darin Sie jetzt andern ein ſo loͤbliches
Exempel geben? Wie koͤnnen Sie zum voraus wiſ-
ſen, wie weit Sie von Jhrer jetzigen Bahn abwei-
chen werden, wenn Sie einmal anfangen, davon
abzuweichen? Wo werden Sie gleichſam Halte ma-
chen koͤnnen?


Jhr Bruder geſtehet ſelbſt, daß Herr Solmes
nicht voͤllig ſo gut ausſiehet, als Herr Lovelace.
Allein wird das Frauenzimmer, an welches zu ſchrei-
ben
[556]
ben ich jetzt die Ehre habe, auf die Geſtalt ſehen?
Er geſtehet auch, daß er an Auffuͤhrung dem Herrn
Lovelace nicht gleich komme: allein was iſt Auf-
fuͤhrung ohne Tugend? Jſt es nicht fuͤr eine artige
Fraͤulein beſſer, einen Mann zu nehmen, deſſen
Auffuͤhrung ſie bilden kann, wie es ihr beliebet, als
einen ſolchen, der zwar eine anſtaͤndige Auffuͤhrung
gelernt, allein ſeine Tugend zum Lehr-Gelde gege-
ben hat? Meine liebſte Fraͤulein Baſe, wenn Sie
hier in Florentz, oder zu Rom oder Paris (als
da ich mich auch einige Zeit aufgehalten habe) ſeyn
ſollten, und Sie ſollten die jungen Herren, deren
rauhe Sitten, die ſie aus England mitbringen,
auf der Reiſe (wie man es nennet) wohlanſtaͤndiger
werden, bey der erſten Ankunft aus Engeland und
bey der Ruͤckreiſe ſehen: ſo wuͤrden ſie eben die Per-
ſonen bey ihrem erſten Auftrit viel beſſer finden, als
bey dem zweyten. Sie koͤnnen des Unterſcheids ge-
wahr werden, wenn dieſe Herrn wieder nach Enge-
land kommen, und keine andere Vorzuͤge vor ihren
Landesleuten mitbringen, als fremde Trachten und
Sitten, fremde Laſter, und fremde Kranckheiten,
darauf ſie ſich ſo viel einbilden, daß ſie ihr gantzes
Vaterland verachten, ob ſie gleich ſelbſt viel veraͤcht-
licher ſind als der ſchlechteſte unter denen, die ſie ver-
achten. Wer dieſe guten Eigenſchaften beſitzt und
unverſchaͤmt-dreiſte iſt, der heißt, ein junger Herr
der ſich auf Reiſen verſucht hat.


Jch erkenne, daß ich bey Herrn Lovelacen in
einigen Stuͤcken eine Ausnahme machen muß: denn
er hat in der That ſchoͤnen Verſtand, und hat viel ge-
lernt.
[557]
lernt. Er war ſo wohl hier als zu Rom beliebt:
ſein Anſehen, und ſein in einigen Stuͤcken edles und
großmuͤthiges Hertz trugen viel dazu bey. Allein
ich brauche Jhnen nicht zu ſagen, daß ein laſterhaf-
ter Menſch, der Verſtand hat, viel ſchaͤdlicher iſt,
als ein einfaͤltiger Boͤſewicht. Jch muß aber noch
dieſes hinzu ſetzen; daß es Herrn Lovelaces eigene
Schuld iſt, wenn die Gelehrten in Jtalien ihn
nicht noch hoͤher geſchaͤtzt haben. Kurtz, er ver-
goͤnnete ſich einige Freyheiten, dadurch ſein Leben
und ſeine Freyheit in Gefahr gerieth, und die beſten
und angeſehenſten Leute ſich gezwungen ſahen, ihre
Freundſchaft mit ihm abzubrechen. Eben dieſes
war auch die Urſache, daß er Rom und Florentz
fruͤher verlaſſen mußte, als er ſich anfangs vorge-
nommen hatte.


Mehr will ich von dem Herrn Lovelace nicht ſa-
gen, und ich wuͤnſchte, daß ich mit Grunde der
Wahrheit eine beſſere Beſchreibung haͤtte von ihm
machen koͤnnen. Allein ich muß noch ein Paar
Worte uͤberhaupt von ſolchen wilden und liederlichen
Manns-Perſonen ſchreiben: Sie werden mir es
erlauben, weil ich dieſe Art von Leuten aus Erfah-
rung ſo genau kenne, und wohl weiß, wie gefaͤhr-
lich ſie ihrem Geſchlechte ſind. Ein liederlicher Menſch,
der ſich einmal zu der ſo genanten freyen Lebens-Art
entſchloſſen hat, und allerley Kuͤnſte zu Erreichung
ſeines Endzweckes gebrauchet, iſt gemeiniglich fuͤhl-
los und ohne Gewiſſen. Ungerecht muß er noth-
wendig ſeyn. Die vortrefliche Vorſchrift,, daß
man andern thun ſoll, was wir von andern begeh-
ren,
[558]
ren, iſt die erſte, die er uͤbertrit, und zwar dieſes
taͤglich: je oͤfterer er von dieſer Regul abweichet, je
mehr zaͤhlt er vermeynte Siege. Er hat eine Ver-
achtung gegen Jhr gantzes Geſchlecht, er haͤlt kein
Frauenzimmer fuͤr ehrlich, weil er liederlich iſt; und
ein jedes Frauenzimmer, welches ihn liebet, beſtaͤrckt
ihn in dieſem Unglauben. Er denckt immer auf neue
Anſchlaͤge, noch mehrere zu ſeinem Vergnuͤgen in
das Ungluͤck zu ſtuͤrtzen. Wenn ein Frauenzimmer
einen ſolchen Menſchen liebet, ſo moͤchte ich wiſſen,
wie es mit ruhigem Gemuͤth das Hertz ſeines Gelieb-
ten mit der halben Stadt, und zwar mit dem Aus-
kehrig der Stadt theilen kann? Dergleichen Leute
ſind bloß ſinnlich! Wie werden Sie, da Sie eine
ſo vernuͤnftige Seele haben, mit einem bloß ſinnli-
chen Menſchen auskommen koͤnnen? mit einem
Menſchen, der mit ſeinen Eydſchwuͤren an ſtatt des
Balles ſpielet, und der durch die ungeziemendeſten
Beleidigungen Sie vielleicht zu demuͤthigen ſuchen
wird. Wenn man ein ſolches freyes Leben anfangen
will, ſo muß man zum voraus alles Gewiſſen und
alle Menſchlichkeit bey ſich ertoͤdtet haben: und wenn
man daſſelbe fortſetzet, ſo muß man alles fortſetzen,
was niedertraͤchtig und unmenſchlich iſt. Bitten,
Thraͤnen, Demuͤthigungen ſind bloß eine Nahrung
fuͤr den Hochmuth eines ſolchen Mannes: er ſtellet
wol mit ſeinen liederlichen Freunden, oder wol gar
mit dem liederlichſten Frauens-Volck Wetten daruͤ-
ber an, wie demuͤthig Sie ſind, und wie viel Sie
leiden koͤnnen; und bringet ſie mit ſich nach Hauſe,
daß ſie Zeugen davon ſeyn ſollen: Jch ſchreibe nichts
als was ich erlebet habe.

Jch
[559]

Jch will nicht daran gedencken, daß das Vermoͤ-
gen verſchwendet, die Guͤter verpfaͤndet, und die
Nachkommen ihres rechtmaͤßigen Eigenthums be-
raubet ſind. Jch verſchweige andere Umſtaͤnde, die
ſich in einem Briefe an eine ſo artige Fraͤulein nicht
ſchicken.


Alles dieſes Ungluͤck koͤnnen Sie vermeiden, al-
lerliebſte Fraͤulein Baſe; Sie koͤnnen die Gelegen-
heit behalten, Gutes zu thun, ja Sie koͤnnen noch
mehrere Gelegenheit dazu bekommen, weil Sie Jh-
re eigenen Einkuͤnfte haben ſollen: Sie koͤnnen Jh-
re angenehmen Beſchaͤfftigungen ungehindert fortſe-
tzen, und in allen Tugenden wachſen: und alle dieſe
Vortheile koͤnnen Sie dadurch erkauffen, wenn Sie
das Vergnuͤgen der Augen dafuͤr aufopfern. Wer
wollte ſich nicht eines ſo vergaͤnglichen Vergnuͤgens
begeben, wenn man dafuͤr ſo viele wahre Vortheile
erlangen kann, da man doch nie alle gute Eigen-
ſchaften an Einem Freyer beyſammen antreffen
wird?


Ueberlegen Sie alle dieſe Gruͤnde, die ich noch
weiter ausfuͤhren koͤnnte, wenn es noͤthig waͤre.
Allein ich ſchreibe an ein ſo verſtaͤndiges Frauen-
zimmer, daß dieſes uͤberfluͤßig ſeyn wuͤrde. Ueber-
legen Sie ſelbſt alles: und wenn es der Wille Jhrer
Eltern nicht iſt, daß Sie unverheyrathet bleiben
ſollen, ſo erzeigen Sie ihnen dieſe Gefaͤlligkeit oder
dieſen Gehorſam. Laſſen Sie ſich nicht nachſagen,
daß ſinnliche Vorſtellungen, ſo wie bey andern Jh-
res Geſchlechts, alſo auch bey Jhnen mehr gelten,
als
[560]
als Pflicht und Vernunft. Je unangenehmer Jh-
nen der Mann iſt, deſto mehr Lob verdient Jhre
Verleugnung. Bedencken Sie, daß es ein ordent-
licher und ſtiller Mann iſt, der noch Ehre hat, die
er verlieren koͤnnte, und der, um ſeinen guten Nah-
men nicht einzubuͤſſen, Jhnen wohl begegnen
wird.


Sie haben jetzt eine Gelegenheit, die ſtaͤrckſte
Probe des Gehorſams und der kindlichen Liebe zu ge-
ben. Ergreiffen Sie dieſe Gelegenheit: ſie iſt wuͤr-
dig, von Jhnen ergriffen zu werden, und jedermann
erwartet dieſes von Jhnen: wiewohl es mir leyd thut,
daß Sie wider Jhre Neigung eine ſolche Probe able-
gen ſollen. Allein wie ſchoͤn wird es klingen, wenn
man ſagen darf, daß Jhre Eltern Jhnen verpflichtet
ſind? Ein recht ſtoltzes Lob! das Sie aber nicht er-
halten koͤnnten, wenn nichts wider Jhre Neigung
von Jhnen begehret wuͤrde. Bedencken Sie:
ſolche Eltern ſollen Jhnen verpflichtet werden,
denen Sie unendlich verpflichtet ſind; denen
an dieſer Sache ſo vieles gelegen iſt, und
die nicht nachgeben wollen, nachdem ſie ſo oft in glei-
chen Anfoderungen nachgegeben haben; Eltern, die
nun einmal erwarten, daß Sie aus Gehorſam und
aus Zutrauen auf ihre Einſichten und Erfahrung
ihnen wider nachgeben ſollen!


Jch hoffe Sie bald zu ſehen, und Jhren ſo lie-
benswuͤrdigen Gehorſam gegenwaͤrtig an Jhnen
zu ruͤhmen. Es iſt eine der vornehmſten Abſichten
meiner Reiſe, daß ich mich von den Verbindun-
gen
[561]
gen frey machen will, die ich nach dem letzten Wil-
len Jhres ſeel. Gros-Vaters uͤbernehmen mußte:
und ich hoffe dieſes zu Jhrem und anderer Vergnuͤ-
gen zu thun. Wenn ich bey meiner Ankunfft finde,
daß die mir ſo werthe Familie wider einig iſt, ſo
wird mir dieſes ein unausſprechliches Vergnuͤgen
ſeyn; und vielleicht richte ich meine Umſtaͤnde ſo
ein, daß ich Zeit Lebens bey Jhnen bleiben kann.


Jch habe Jhnen weitlaͤuftig geſchrieben, und
ich thue nichts hinzu, als, daß ich mit der groͤſſeſten
Hochachtung bin,


Meiner allerliebſten Fraͤulein Baſe
gehorſahmſter Diener
Wilhelm Morden.


Jch ſetze zum voraus, daß Sie meines Vetters
Brief werden durchgeleſen haben. Der Wunſch
iſt nun zu ſpaͤt, daß ich dieſen Brief fruͤher erhal-
ten haben moͤchte. Vielleicht wuͤrde ich alsdenn dem
Herrn Lovelace mein ungereimtes und ungluͤckli-
ches Verſprechen dennoch gehalten haben, daß ich
mich mit ihm unterreden wollte, weil ich gar nicht
daran gedachte, mit ihm davon zu gehen. Allein ich
wuͤrde ihm nicht zum voraus die Hoffnung gemacht
haben, der ich es dancken muß, daß er alle Anſtal-
ten zu meiner Flucht gemacht hatte, und bey der er
ſo liſtig war, mich zu hindern, daß ich mein Wort
nicht zuruͤcknehmen konnte.


Jedoch ich weiß nicht, was ich in Abſicht auf die
Unterredung gethan haben wuͤrde, wenn ich auch
den Brief erhalten haͤtte, da ich ſo heftig verfolget
ward, und nicht wußte, daß meine Eltern doch
Dritter Theil. N nheimlich
[562]
heimlich ſo guͤtig gegen mich geſinnet waren, als ich
jetzt zu meiner groͤſſeren Kraͤnckung aus dem Briefe
meiner Frau Baſen erſehe, deren Nachrichten Sie
bekraͤftigen. Allein dieſe Wirckung wuͤrde der Brief
gehabt haben, daß ich mich mit aller Macht beſtre-
bet haben wuͤrde, zu demjenigen zu reiſen, der dieſen
vernuͤnftigen Brief geſchrieben hat, und daß ich aus
meinem Vetter und Vormunde, meinen Freund,
meinen Beſchuͤtzer und meinen Vater gemacht haben
wuͤrde. Gegen einen ſolchen Schutz wuͤrde bey
meinen Umſtaͤnden nichts einzuwenden geweſen ſeyn.
Allein ich ſollte und mußte ungluͤcklich werden! Wie
blutet mir mein Hertz daruͤber, daß meines Vetters
Beſchreibung Lovelacen ſo gleich iſt!


Ein ſolcher Menſch, an den ich ſonſt mit Ab-
ſcheu gedachte, ſoll mein Theil ſeyn! Allein ich ver-
lies mich zu viel auf meine eigenen Kraͤfte. Jch
folgete meinem Triebe, ohne einige Gefahr zu be-
fuͤrchten, und hub meine Augen zu wenig zu dem
allerweiſeſten Weſen in die Hoͤhe: auf dieſes allein
haͤtte ich meine Zuverſicht ſetzen, und mir ſelbſt nicht
trauen ſollen; inſonderheit, nachdem ich ſahe, daß
mir ein ſolcher Menſch unauf hoͤrlich nachginge.


Unerfahrenheit und Einbildung, nebſt den nieder-
traͤchtigen Abſichten meiner Geſchwiſter, ſind mein
Ungluͤck geweſen. Es iſt dieſes ein harter Aus-
druck; allein ich widerhole ihn wohlbedaͤchtlich:
denn bey dem Beſten, das ich zu gewarten haben
kann, habe ich dennoch meinen guten Nahmen ein-
gebuͤſſet; ich bekomme einen liederlichen Menſchen zu
mei-
[563]
meinem Theil; und was dieſes fuͤr ein Theil iſt,
das kann ich aus meines Vetters Briefe ſehen.


Jch bitte Sie, behalten Sie den Brief, bis ich
ihn wider abfodere. Jch habe ihn nicht eher als
heute fruͤh geſehen; denn ich habe einige Tage nicht
das Hertz gehabt, die Koffers auszupacken. Jch
wollte nicht gern daß Lovelace ihn ſehen ſollte,
damit nicht der heftigſte Kopf, und der braveſte und
erfahrenſte Soldat (dafuͤr man meinen Vetter haͤlt)
an einander gerathen, und noch mehreres Ungluͤck
anrichten.


Der Brief war erbrochen, und wider in ein weiſ-
ſes Blat ohne Aufſchrift eingeſiegelt. So ſehr die
Meinigen mich verachten und verabſcheuen, ſo wun-
dere ich mich dennoch, daß ſie nicht eine Zeile dabey
geſchrieben haben. Sie haͤtten mir die Abſicht zum
wenigſten melden koͤnnen, warum ſie den Brief uͤber-
ſchickten: die eben ſo edel wird geweſen ſeyn, als
bey der Ueberſendung des Spira. Er war mit
ſchwartzem Siegellack verſiegelt. Jch will nicht hof-
fen, daß eine Veraͤnderung in der Familie vorgegan-
gen iſt, die dieſes erfodert: ſonſt wuͤrden ſie es mir
gemeldet, und mir (vielleicht mit Recht) die Schuld
beygemeſſen haben.


Jch hatte angefangen an meinen Vetter zu ſchrei-
ben: weil ich aber nichts gewiſſes ſchreiben konnte,
und von Tage zu Tage hoffete, daß ſich meine Um-
ſtaͤnde auf klaͤren wuͤrden, ſo habe ich den Brief auf
die Seite geleget. Sie befahlen mir vor einiger Zeit,
an ihn zu ſchreiben, und damahls fing ich den Brief
an: denn Jhnen, als meiner eintzigen Freundin,
N n 2muß
[564]
muß ich billig folgen, ſonderlich da Sie mir zu fol-
gen pflegen, ſo oft ich mich unterſtehe, Jhnen einen
Rath zu geben, den ich andern beſſer als mir ſelbſt
geben kann. Jch muß dieſes zu meiner Entſchul-
digung bekennen. Denn ich finde, daß ich mich
in das Ungluͤck geſtuͤrtzet habe, und ich kann mich
doch nicht einer eintzigen tadelhaften Neigung dabey
beſchuldigen. Jſt Jhnen das nicht gantz unbegreiflich?
Die Sache hengt ſo zuſammen: ich habe zu Anfang
einen Fehltritt gethan, und dadurch bin ich auf ſol-
che Jrrwege gerathen, aus denen ich mich nicht
wider zu rechte finden kann. Denn ob ich gleich
zu Anfang nur Einen falſchen Tritt that, ſo hat mich
doch dieſer eine falſche Tritt hundert Meilen von dem
rechten Wege abgeleitet: und ich armes verirretes
Kind habe nicht einen eintzigen Freund, nicht einen
Wandersmann gefunden, der mich wider zu recht
gewieſen haͤtte.


Jch hochmuͤthiges Maͤdchen verlies mich darauf,
daß ich den rechten Weg wuͤßte, und war unbeſorget,
ſo viel ich auch von Jrrlichtern gehoͤret hatte, daß
ich durch ein Jrrlicht wuͤrde verfuͤhret werden. Die-
ſes Jrrlicht ſchwebet noch immer um mich, da ich
mich unter Suͤmpfen und Moraͤſten befinde, und
bringet mich wider zuruͤcke, wenn ich einige Schritte
vor mich gegangen bin. Doch es iſt ein gemein-
ſchaftliches Ziel, auf welches alle unſere richtigen
Wege und Jrrwege zuſammen lauffen. Wie ſanft
will ich mein Haupt legen, wenn ich dieſes Ziel
werde erreichet haben, das allen meinen Jammer be-
ſchlieſſet.


Doch
[565]

Doch wie irre ich wider herum? Jch ver-
irre mich von meinem Vorhaben: denn ich wollte
Jhnen nur melden, daß ich angefangen haͤtte an
meinen Vetter Morden zu ſchreiben, und daß es
mir nun ohnmoͤglich geworden iſt, den Brief zu en-
digen. Sie werden die Urſachen ſelbſt einſehen. Wie
ſoll ich ihm ſchreiben, daß alle ſeine Lobſpruͤche an
mir verſchwendet ſind? Daß alle ſeine Warnungen
vergeblich ſind? Und daß es mein groͤſſeſtes Gluͤck
iſt, wenn ich den liederlichen Menſchen bekomme,
den er ſo lebhaft beſchreibet, und mich vor ihm war-
net? Da mein Schickſaal jetzund von den Lippen
dieſes Mannes abhaͤnget, ſo helfen Sie mir beten:
daß zum wenigſten der Theil des Fluches meines
Vaters nicht moͤge erfuͤllet werden, (es mag mir
ſonſt gehen, wie es will) in welchem er wuͤnſchet, daß
ich durch eben den Menſchen geſtraafet werden ſolle,
auf den ich mein Vertrauen geſetzet habe. Um Herr
Lovelaces willen, und um der Ehre der menſch-
lichen Natur willen, muͤſſe dieſes nicht geſchehen!
Soll ich aber ja durch ihn geſtraafet werden, und
iſt dieſes noͤthig den Anhang des vierten Gebots zu
erfuͤllen, ſo muͤſſe bey Herr Lovelacen keine muth-
willige und uͤberlegte Bosheit die Urſache deſſen
ſeyn, wodurch er mich ungluͤcklich macht! wenn
gleich ſeine Handlung ſchwartz iſt, ſo muͤſſe ſich doch
ſeine Abſicht entſchuldigen laſſen! ſonſt wuͤrde mei-
ne Suͤnde in den Augen der Welt verdoppelt wer-
den, die ſich gemeiniglich in ihrem Urtheil nach dem
Ausgange der Dinge richtet. Mich duͤnckt, ich wollte
mich freuen, wenn die Haͤrte meines Vaters und
N n 3meiner
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meiner Onckles, die ich ſo ſehr betruͤbet habe, in
allen Stuͤcken in den Augen der Welt gerechtferti-
get werden moͤchte, dieſen unertraͤglichen Fluch aus-
genommen: und ich wuͤnſche nur daß mein Vater
dieſen Fluch, zum wenigſten, in ſo fern er auf die
kuͤnftige Welt gehet, widerrufen moͤchte, ehe er
andern bekannt wird.


Jch muß die Feder niederlegen, um dieſen Gedan-
cken weiter nachzuhaͤngen. Ehe ich meines Vetters
Brief einſiegele, will ich ihn noch einmahl uͤberleſen,
alsdenn werde ich ihn auswendig koͤnnen.


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Notes
(†)
Jn England pflegen die Soldaten blos in die
Wirths-Haͤnſer eingelegt zu werden.
(*)
Jm Engliſchen ſtehet: Capitain Dieſes Wort ge-
brauchen die Englaͤnder gegen einen jeden den ſie nicht
anders nennen koͤnnen. Das Wort Esquire wird faſt
in allen Aufſchriften der Briefe gebraucht, wo wir kaum
Monſieur ſetzen.
(†)
Boarding - Schools ſind bey den Englaͤndern Schu-
len in den junge Leute nicht allein unterrichtet werden,
ſondern auch in Haus und Koſt ſind. Dergleichen
Schulen werden von Privat-Perſonen haͤufig errichtet,
und zwar nicht allein fuͤr Knaben, ſondern auch fuͤr
Jungfern: Doch (wie der Leſer vermuthen wird, ohne
daß ich eine gelehrte Anmerckung mache) fuͤr jedes Ge-
ſchlecht beſonders.
(*)
Ein jeder Hahnrey, der aus dieſem Becher
tranck, mußte ſich begieſſen. Siehe des Arloſto
drey und viertzigſtes Buch in dem Orlando
Furioſo.
(*)
Dieſes Wort war bey Lovelacen und ſeiner
Geſellſchaft ein Zeichen der groͤſſeſten Heim-
lichkeit.
(*)
Der muntere Herr irret ſich. Socrates und Sa-
lomon duͤrfen von den Schoͤnen nicht angeklaget wer-
den. Siehe vielmehr Jeſus SyrachXXV. 25.
(†)
Anton Perez war der erſte Staats-Miniſter
Philip des zweyten, Koͤniges von Spanien, auf
deſſen Befehl er den Don Iuan de Eſcouedo er-
morden laͤßt, ſich aber dadurch ſelbſt ins Un-
gluͤck ſtuͤrtzete.
(*)
Siehe den 45ſten und 46ſten Brief dieſes
Bandes.
*)
Dieſes war der drey und funfzigſte Brief von ih-
rer Schweſter Arabella.
(*)
Dieſes Bild in Lebens-Groͤſſe iſt von Herr
Highmore gemahlt und bey ihm zu ſehen.
*)
Squaͤres ſind groſſe Plaͤtze, in das Gevierte, an
denen die beſten Haͤuſer liegen. Jn der Mitte der
Squaͤres ſind bisweilen Waſſer-Kuͤnſte oder Gaͤr-
ten zum Vergnuͤgen des Auges angelegt.
(*)
Weil dieſes ein Nomen proprium iſt, ſo hat man es
(*)
nicht uͤberſetzen wollen. Gravel-Pits ſind Gruben,
aus denen man die Kieſel-Steine nimt, damit in
England die Wege gebeſſert werden.

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TextGrid Repository (2025). Richardson, Samuel. Clarissa. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmq1.0