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Zwiſchen
Himmel und Erde.

Erzählung

Frankfurt a./M.:
Verlag von Meidinger Sohn und Comp.
1856.

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Seinem Freunde
Berthold Auerbach


der Verfaſſer.

[][[1]]

Das Gärtchen liegt zwiſchen dem Wohnhauſe und
dem Schieferſchuppen; wer von dem einen zum andern
geht, muß daran vorbei. Vom Wohnhaus zum Schup¬
pen gehend hat man's zur linken Seite; zur rechten
ſieht matt dann ein Stück Hofraum mit Holzremiſe
und Stallung, vom Nachbarhauſe durch einen Latten¬
zaun getrennt. Das Wohnhaus öffnet jeden Morgen
zweimal ſechs grünangeſtrichene Fenſterladen nach einer
der lebhafteſten Straßen der Stadt, der Schuppen ein
großes graues Thor nach einer Nebengaſſe; die Roſen
an den baumartig hochgezogenen Büſchen des Gärt¬
chens können in das Gäßchen hinausſchauen, das den
Vermittler macht zwiſchen den beiden größern Schwe¬
ſtern. Jenſeits des Gäßchens ſteht ein hohes Haus,
das vornehm abgeſchloſſen, das enge keines Blickes
würdigt. Es hat nur für das Treiben der Hauptſtraße
offene Augen und ſieht man die geſchloſſenen nach dem
Gäßchen zu genauer an, ſo findet man bald die Urſache
ihres ewigen Schlafes; ſie ſind nur Scheinwerk, nur
auf die äußere Wand gemalt.


Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 1[2]

Das Wohnhaus, das zu dem Gärtchen gehört,
ſieht nicht nach allen Seiten ſo geſchmückt aus, als
nach der Hauptſtraße hin. Hier ſticht eine blaß roſen¬
farbene Tünche nicht zu grell von den grünen Fenſter¬
laden und dem blauen Schieferdache ab; nach dem
Gäßchen zu, die Wetterſeite des Hauſes erſcheint von
Kopf zu Fuß mit Schiefer geharniſcht; mit der andern Gie¬
belwand ſchließt es ſich an die Häuſerreihe, deren Beginn
oder Ende es bildet, unmittelbar an; nach hinten aber
gibt es einen Beleg zu dem Sprichwort, daß Alles
ſeine ſchwache Seite habe. Hier iſt dem Hauſe eine
Emporlaube angebaut, einer halben Dornenkrone nicht
unähnlich. Von roh behauenen Holzſtämmen geſtüzt,
zieht ſie ſich längs des obern Stockes hin und erwei¬
tert ſich nach links in ein kleines Zimmer. Dahin führt
kein unmittelbarer Durchgang aus dem obern Stock
des Hauſes. Wer von da nach der „Gangkammer“
will, muß aus der hintern Hausthüre heraus und an
der Wand hin wohl ſechs Schritt an der Hundehütte
vorbei bis zu der hölzernen, hühnerſteigartigen Treppe,
dann, iſt er dieſe hinaufgeſtiegen, die ganze Länge der
Emporlaube nach links wandeln. Der letzte Theil der
Reiſe wird freilich aufgeheitert durch den Blick in das
Gärtchen hinab. Wenigſtens im Sommer. Und vor¬
ausgeſetzt, die der Länge des Ganges nach doppelt
aufgezogene Leine iſt nicht durchaus mit Wäſche behängt.
Denn im Winter ſchließen ſich die Laden, die man im
[3] Frühjahre wieder abnimmt, mit der Barriere zu einer
undurchdringlichen Bretterwand zuſammen, deren licht¬
einlaſſende Lucken über dem Bereiche, den eine gewöhn¬
liche Menſchenlänge beherrſcht, angebracht erſcheinen.


Iſt die Zier der Baulichkeiten nicht überall die
gleiche und ſtechen Emporlaube, Stall und Schuppen
bedeutend gegen das Wohnhaus ab, ſo vermißt man
doch nirgends, was noch mehr ziert als Schönheit der
Geſtalt und glänzender Putz. Die äußerſte Sauberkeit
lächelt dem Beſchauer aus dem verſteckteſten Winkel
entgegen. Im Gärtchen iſt ſie faſt zu ängſtlich, um
lächeln zu können. Das Gärtchen ſcheint nicht mit
Hacke und Beſen gereinigt, ſondern gebürſtet. Dazu
haben die kleinen Beetchen, die ſo ſcharf von dem gel¬
ben Kies der Wege abſtechen, das Anſeh'n, als wären
ſie nicht mit der Schnur, als wären ſie mit Lineal und
Zirkel auf den Boden hingezeichnet, die Buchsbaumein¬
faſſung, als würde ſie von Tag zu Tag von dem
accurateſten Barbier der Stadt mit Kamm und Scheer¬
meſſer bedient. Und doch iſt der blaue Rock, den man
täglich zweimal in das Gärtchen treten ſeh'n kann,
wenn man auf der Emporlaube ſteht, und zwar einen
Tag wie den andern zu derſelben Minute, noch ſau¬
berer gehalten als das Gärtchen. Der weiße Schurz
darüber glänzt, verläßt der alte Herr nach mannigfa¬
cher Arbeit das Gärtchen wieder — und das geſchieht
täglich ſo pünktlich um dieſelbe Zeit wie ſein Kommen
1*[4] — in ſo untadelhafter Weiße, daß eigentlich nicht ein¬
zuſehen iſt, wozu der alte Herr ihn umgenommen hat.
Geht er zwiſchen den hochſtämmigen Roſen hin, die ſich
die Haltung des alten Herrn zum Muſter genommen
zu haben ſcheinen, ſo iſt ein Schritt wie der andre,
keiner greift weiter aus oder fällt aus der Gleichmäßig¬
keit des Taktes. Betrachtet man ihn genauer, wenn
er ſo inmitten ſeiner Schöpfung ſteht, ſo ſieht man,
daß er äußerlich nur das nachgethan, wozu die Natur
in ihm ſelber das Muſter geſchaffen. Die Regelmäßig¬
keit der einzelnen Theile ſeiner hohen Geſtalt ſcheint
ſo ängſtlich abgezirkelt worden zu ſein, wie die der
Beete des Gärtchens. Als ſie ihn bildete, mußte ihr
Antlitz denſelben Ausdruck von Gewiſſenhaftigkeit ge¬
tragen haben, den das Geſicht des alten Herrn zeigt
und der in ſeiner Stärke als Eigenſinn erſcheinen mußte,
war ihm nicht ein Zug von liebender Milde beigemiſcht,
ja faſt von Schwärmerei. Und noch jetzt ſcheint ſie
mit derſelben Sorgfalt über ihm zu wachen, mit der
ſein Auge ſein kleines Gärtchen überſieht. Sein hinten
kurz geſchnittenes und über der Stirn zu einer ſoge¬
nannten Schraube zierlich gedrehtes Haar iſt von der¬
ſelben untadelhaften Weiße, die Halstuch, Weſte, Kra¬
gen und der Schurz vor dem zugeknöpften Rocke zeigen.
Hier in ſeinem Gärtchen vollendet er das geſchloſſene
Bild desſelben; außerhalb ſeines Hauſes muß ſein An¬
ſehen und Weſen etwas Fremdartiges haben. Pflaſter¬
[5] treter hören unwillkührlich auf zu plaudern, die Kinder
auf der Straße zu ſpielen, kommt der alte Herr Net¬
tenmair
daher geſtiegen, das ſilberknöpfige Rohr in
der rechten Hand. Sein Hut hat noch die ſpitze Höhe,
ſein blauer Ueberrock zeigt noch den ſchmalen Kragen
und die bauſchigen Schultern einer lang vorübergegan¬
genen Mode. Das ſind Haken genug, ſchlechte Witze
daran zu hängen, dennoch geſchieht dies nicht. Es iſt,
als ginge ein unſichtbares Etwas mit der ſtattlichen
Geſtalt, das leichtfertige Gedanken nicht aufkommen
ließe.


Wenn die älteren Einwohner der Stadt, begegnet
ihnen der Herr Nettenmair, eine Pauſe in ihrem
Geſpräche machen, um ihn reſpektvoll zu grüßen, ſo iſt
es jenes magiſche Etwas nicht allein, was dieſe Wir¬
kung thut. Sie wiſſen, was ſie in dem alten Herrn
achten; iſt er vorüber, folgen ihm die Augen der noch
immer Schweigenden, bis er um eine Straßenecke ver¬
ſchwindet; dann hebt ſich wohl eine Hand bis zur
Höhe von ihres Beſitzers ſeitwärts geneigtem Antlitz
und ein aufgereckter Zeigefinger erzählt beredter, als es
der Mund vermöchte, von einem langen Leben mit allen
Bürgertugenden geſchmückt und nicht durch einen ein¬
zigen Fehl geſchändet. Eine Anerkennung, die noch
an Gewicht gewinnt, weiß man, wie viel ſchärfer einem
nach Außen abgeſchloſſenen Daſein nachgerechnet wird.
Und ein ſolches führt Herr Nettenmair. Man ſieht
[6] ihn nie an einem öffentlichen Orte, es müßte denn
ſein, daß etwas Gemeinnütziges zu berathen oder in
Gang zu bringen wäre. Die Erholung, die er ſich
gönnt, ſucht er in ſeinem Gärtchen. Sonſt ſitzt er
hinter ſeinen Geſchäftsbüchern oder beaufſichtigt im
Schuppen das Ab- und Aufladen des Schiefers, den
er aus eigener Grube gewinnt und weit in's Land
und über deſſen Grenzen hinaus vertreibt. Eine ver¬
wittwete Schwägerin beſorgt ſein Hausweſen und ihre
Söhne das Schieferdeckergeſchäft, das mit dem Handel
verbunden iſt und an Umfang dieſem wenig nachgibt.
Es iſt der Geiſt des Oheims, der Geiſt der Ordnung,
der Gewiſſenhaftigkeit bis zum Eigenſinn, der auf den
Neffen ruht und ihnen das Zutrauen erwirbt und er¬
hält, das ſie von weit umher beruft, wo die Deckung
eines neuen Gebäudes oder eine umfaſſendere Repa¬
ratur an einem alten der Hülfe des Schieferdeckers
bedarf.


Es iſt ein eigenes Zuſammenleben in dem Hauſe
mit den grünen Fenſterladen. Die Schwägerin, eine
noch immer ſchöne Frau, wenig jünger als der Haus¬
herr, behandelt dieſen mit einer Art ſtiller Verehrung,
ja Andacht. Ebenſo die Söhne. Der alte Herr da¬
gegen beweiſt der Schwägerin eine achtungsvolle Rück¬
ſicht, eine Art Ritterlichkeit, die in ihrer ernſten Zurück¬
haltung etwas Rührendes hat, den Neffen die Zunei¬
gung eines Vaters. Doch ſteht auch hier etwas
[7] zwiſchen beiden Theilen, das dem ganzen Verkehr etwas
rückſichtsvoll Förmliches beimiſcht. Das liegt wohl
zum Theile in der ſchweigſamen Geſchloſſenheit des
alten Herrn, die ſich den übrigen Familiengliedern mit¬
getheilt hat, wie denn alle ſeine Eigenthümlichkeiten
bis auf die unbedeutendſten Einzelnheiten, ſo in körper¬
licher Haltung und Bewegung, wie in Urtheil und
Liebhaberei auf ſie übergegangen erſcheinen. Wird in
dem Familienkreiſe weniger geſprochen, ſo ſcheint ein
Ausſprechen von Wünſchen und Meinungen des Einen
überflüſſig, wo der Andere mit ſo ſicherm Inſtinkt zu
errathen weiß. Und wie ſoll das ſchwer ſein, wo alle
eigentlich ein und dasſelbe Leben leben? Es iſt ein
eigenes Zuſammenleben in dem Hauſe mit den grünen
Fenſterladen. Die Nachbarn wundern ſich, daß der
Herr Nettenmair die Schwägerin nicht geheirathet.
Es iſt nun dreißig Jahre her, daß ihr Mann, Herr
Nettenmair's älterer Bruder, bei einer Reparatur
am Kirchendache zu Sankt Georg verunglückte. Damals
glaubte man allgemein, er werde des Bruders Wittwe
heirathen. Sein damals noch lebender Vater wünſchte
das ſogar und der Sohn ſelbſt ſchien nicht abgeneigt.
Man weiß nicht, was ihn abhielt. Aber es geſchah
nicht, wennſchon Herr Nettenmair ſich des Familien¬
weſens ſeines Bruders und der Kinder desſelben väter¬
lich annahm, auch ſich ſonſt nicht verheirathete, ſoviel

[8] gute Parthien ſich ihm auch anboten. Damals ſchon
begann das eigene Zuſammenleben.


Es iſt natürlich, daß die guten Leute ſich wundern;
ſie wiſſen nicht, was damals in vier Seelen vorging;
und wüßten ſie's, ſie wunderten ſich vielleicht nur noch
mehr. Nicht immer wohnte die Sonntagsruhe hier, die
[j]etzt ſelbſt über die angeſtrengteſte Geſchäftigkeit der Be¬
wohner des Hauſes mit dem Gärtchen ihre Schwingen
breitet. Es ging eine Zeit darüber hin, wo bittrer
Schmerz über geſtohlenes Glück, wilde Wünſche ſeine
Bewohner entzweiten, wo ſelbſt drohender Mord ſeinen
Schatten vor ſich her warf in das Haus; wo Ver¬
zweiflung über ſelbſtgeſchaffenes Elend händeringend in
ſtiller Nacht an der Hinterthür die Treppe herauf und
über die Emporlaube und wieder hinunter den Gang
zwiſchen Gärtchen und Stallraum bis zum Schuppen
und ruhelos wieder vor und wieder hinterſchlich. Damals
ſchon war das Gärtchen der Lieblingsaufenthalt einer
hohen Geſtalt, aber den Eigenſinn des greiſen Geſichts
dämpfte nicht Milde; wenn ſie über die Straße ſchritt,
hielten auch die Knaben im luſtigen Spiele an; aber
die Geſtalt ſah nicht ſo freundlich auf ſie nieder. Vielleicht,
weil ihr Augenlicht faſt erloſchen war. Wohl war auch
der ältere Herr Nettenmair ein geachteter Mann und
er verdiente die Achtung ſeiner Mitbürger, nicht weniger
als ſein milderes Ebenbild nach ihm. Er war ein Mann
von ſtrenger Ehre. Er war es nur zu ſehr!


[9]

Alles, was dazumal die Herzen in dem Hauſe bis
zum Zerſpringen ſchwellen machte, was in den ver¬
düſterten Seelen umging und zum Theile heraustrat in
der Selbſtvergeſſenheit der Angſt oder zur That wurde,
zur Verzweiflungsthat: alles das mag durch das Ge¬
dächtniß des Mannes geh'n, mit dem wir uns bis jetzt
beſchäftigt. Es iſt Sonntag und die Glocken von Sankt
Georg, die den Beginn des vormittägigen Gottesdienſtes
verkündigen, rufen auch in das Gärtchen herein, wo
Herr Nettenmair nach hergebrachter Weiſe zu dieſer
Stunde auf einer Bank in ſeiner Laube ſitzt. Seine
Augen ruhen auf dem ſchiefergedeckten Thurmdach von
Sankt Georg, das über die Planken des Nachbargartens
ſich erhebt und auch nach ihm zu ſchauen ſcheint. Heut
ſind's ein und dreißig Jahre, ſeit er nach längerer Ab¬
weſenheit auf der Wanderſchaft in die Vaterſtadt heim¬
kehrte. Eben ſo riefen die Glocken, als er durch eine
[Schneiſe] hindurch an der Straße den alten Thurm zum
erſtenmale wiederſah. Damals knüpfte ſich ſeine nächſte
Zukunft an das alte Schieferdach; jetzt lieſt er ſeine
Vergangenheit davon ab. Denn — aber ich vergeſſe,
der Leſer weiß nicht, wovon ich ſpreche. Es iſt ja
eben das, was ich ihm erzählen will.


So blättern wir denn die einunddreißig Jahre zurück
und finden einen jungen Mann ſtatt des alten, den
[10] wir verlaſſen. Er iſt hochgewachſen wie dieſer, aber
nicht ſo ſtark. Er trägt die braunen Haare wie der
Alte, am Hinterkopfe kurz geſchoren, über der weißen
hohen Stirn in eine ſogenannte Schraube künſtlich ge¬
dreht. Auf ſeinem Geſicht erſcheint noch nicht die Strenge
des Alten, und dem gutmüthigen Ausdrucke iſt die
Narbe getragenen Seelenſchmerzes noch nicht eingeprägt.
Keineswegs aber hat er die leichtſinnige Unbekümmert¬
heit, die ſonſt ſeinem Alter eigen, und auch nicht das
bequeme, nachläſſige Weſen, das dem fahrenden Hand¬
werksburſchen ſo leicht zur Gewohnheit wird. Noch
führt ihn die hohe Straße durch dichten Wald, aber
die Klänge der Sankt Georgenglocken aus der tief unten
liegenden Stadt ſteigen herauf an der waldigen Höhe
und dringen durch Baum und Buſch unhemmbar wie
eine Mutter, die dem kommenden Liebling entgegenfliegt.
Heimath! Was liegt in dieſen zwei kleinen Sylben!
Was alles ſteht auf im Menſchenherzen, wenn die
Stimme der Heimath, der Glockenton, dem aus der
Fremde Kehrenden Willkommen ruft, der Ton, der das
Kind in die Kirche, den Knaben zur Konfirmation und
zum erſten Genuſſe des heiligen Males rief, der jede
Viertelſtunde zu ihm ſprach! Im Gedanken Heimath
umarmen ſich all unſre guten Engel.


Unſerm jungen Wanderer drangen Thränen aus den
ernſten und doch ſo freundlichen Augen. Schämt' er ſich
nicht vor ſich ſelbſt, er hätte laut geweint. Er kam ſich vor,
[11] als hätt' er ſeinen Aufenthalt in der Fremde nur ge¬
träumt und könne ſich, nun er erwacht, auf den Traum
kaum mehr beſinnen. Als hätt' er nur geträumt, er
ſei ein Mann geworden in der Fremde. Als ſei's ihm
immer ſchon im Traum gekommen, er träume nur in
der Fremde, um, wenn er daheim erwacht ſei, davon
erzählen zu können. Es könnte auffallen, daß er bei
alledem in dieſem Augenblicke der Aufregung ſeines
ganzen Innern den Spinnenfaden nicht überſah, den
die grüßende Luft von der Heimath her gegen ſeinen
Rockkragen wehte, daß er die Thränen vorſichtig ab¬
trocknete, damit ſie nicht auf das Halstuch fallen möchten
und mit der eigenſinnigſten Ausdauer erſt die letzten,
kleinſten Reſte des Silberfadens entfernte, eh' er ſich
mit ganzer Seele ſeinem Heimathsgefühle überließ. Aber
auch ſein Hängen an der Heimath war ja zum Theile
nur ein Ausfluß jenes eigenſinnigen Sauberkeitsbedürf¬
niſſes, das alles Fremde, das ihm anfliegen wollte,
als Verunreinigung anſah; und wiederum entſprang
jenes Bedürfniß aus der Gemüthswärme, mit der er
Alles umfaßte, was in näherem Bezuge zu ſeiner Per¬
ſönlichkeit ſtand. Das Kleid auf ſeinem Leibe war ihm
ein Stück Heimath, von dem er alles Fremde abhalten
mußte.


Jetzt machte die Straße eine Wendung; der Berg¬
rücken, der vorhin die Ausſicht verengt hatte, blieb zur
Seite liegen, und über jungem Wuchs ſtieg eine Thurm¬
[12] ſpitze auf. Es war die Spitze des Sankt Georgen¬
thurms. Der junge Wanderer hielt den Schritt an.
So natürlich es war, daß das höchſte Gebäude der
Stadt ihm zuerſt und vor den übrigen ſichtbar werden
mußte, ſeine Sinnigkeit vergaß das über der innigen
Bedeutung, die ſie in den Umſtand legte. Das Schiefer¬
dach der Kirche und des Thurms bedurfte einer Repa¬
ratur. Dieſe war ſeinem Vater übertragen worden und
ſie war der Grund, wenigſtens der Vorwand, warum
der Vater ihn früher aus der Fremde zurückrief, als er
bei des Sohnes Abreiſe gewillt geweſen. Vielleicht
morgen ſchon begann er ſeinen Theil Arbeit. Dort,
ſenkrecht über dem weiten Bogen, durch den er die
Glocken ſich bewegen ſah, war die Ausſteigthüre an¬
gebracht. Dort ſollten die beiden Balken ſich heraus¬
ſchieben, um die Leiter zu tragen, auf der er empor¬
klimmte bis zur Helmſtange, das Tau ſeines Fahrzeugs
daran anzuknüpfen für die luftige Fahrt um das Dach.
Und wie es ſeine Natur war, ſich an die Gegenſtände,
mit denen er in Arbeitsberührung kommen ſollte, mit
feſten Herzensfäden anzuſpinnen, ſah er in dem Auf¬
tauchen der Thurmſpitze einen Gruß und griff unwill¬
kührlich in die Luft nach dem Grüßenden hin, als gält'
es, eine freundlich dargebotene Hand zu drücken. Dann
beſchleunigte der Gedanke an die Arbeit ſeinen Schritt,
bis ein Aushau im Walde und die Ankunft auf der
[13] höchſten Kante des Berges ihm die ganze Heimaths¬
ſtadt vor ſeinen Füßen liegend zeigte.


Wieder blieb er ſteh'n. Dort ſtand das Vaterhaus,
dahinter der Schieferſchuppen; in derſelben Vorſtadt,
nicht zu weit davon, das Haus, wo ſie — gewohnt
hatte damals, als er in die Fremde ging. Jetzt wohnte
ſie in ſeinem Vaterhaus, war ſeines Vaters Tochter,
ſeines Bruders Weib und er ſollte von heut' an in
demſelben Hauſe leben und ſie täglich ſehen als ſeine
Schwägerin. Sein Herz ſchlug ſtärker bei dem Gedanken
an ſie. Aber keine von den Hoffnungen, die ſich ihm
ſonſt an ihr Andenken geknüpft, ließ es ſchwellen. Seine
Neigung war die eines Bruders zur Schweſter geworden
und was ihn jetzt bewegte, ſah mehr einer Sorge gleich.
Er wußte, ſie dachte mit Widerwillen an ihn. Sie
war die Einzige im ganzen Vaterhauſe, die ungern
ſein Kommen ſah. Wie war das Alles geworden?
War nicht eine Zeit geweſen, wo ſie ihm gut zu ſein
ſchien? Wo ſie ihm ſo gern zu begegnen ſchien, als
ſpäter befliſſen, ihm auszuweichen? Da unten vor der
Stadt in Gärten liegt das Schützenhaus. Wie ſind
die Bäume um das Haus größer geworden, ſeit er von
dieſer Höhe herab auch ihm den letzten Gruß zugewinkt
hatte! Dort unter jener Akazie hatte er kurz vorher
geſtanden — es war an einem ſchönen Frühlingsabend
geweſen, ihm war er der ſchönſte erſchienen, den er
erlebt — am Pfingſtſchießen. Drinn tanzte das übrige
[14] junge Volk; er ging ſelig um das Haus herum, indem
er ſie tanzend wußte. Er fühlte ſich jetzt noch im Um¬
gang mit Mädchen und Frauen befangen, und wußte
nicht mit ihnen zu reden; das war er damals noch
mehr als jetzt. Wie gern' hätt' er ihr geſagt —
wenn er allein war, wieviel hatt' er ihr zu ſagen und
wie gut wußt er's zu ſagen, und führte es ein Zufall,
daß er ſie allein traf — und wunderbar wie geſchäftig
der Zufall ſich zeigte, ein ſolch Zuſammentreffen zu ver¬
mitteln — da trieb ihm der Gedanke, jetzt ſei der Augen¬
blick da, alles Blut nach dem Herzen, die Worte von
der Zunge in den Verſteck der tiefſten Seele zurück.
So war es geweſen, wie ſie, die Wangen vom Tanze
glühend, allein herausgetreten war aus dem Hauſe.
Es ſchien ihr nur um Kühlung zu thun; dieſe wehte
ſie ſich mit dem weißen Tuche zu; aber ihre Wangen
wurden nur röther. Er fühlte, ſie hatte ihn geſeh'n,
ſie erwartete, er ſollte näher treten und daß ſie wußte,
er verſtand ſie, das war es, was ihr die Wangen
rother färbte. Das war es, was, da er zögerte, ſie
wieder hinein trieb in den Saal. Vielleicht auch, daß
ſie einen Dritten nahen hörte. Sein Bruder kam aus
einer andern Thüre des Saals. Er hatte die beiden
noch ſchweigend einander gegenüber ſtehen, vielleicht
auch des Mädchens Rötherwerden geſeh'n. Du ſuchſt
die Beate? fragte unſer Held, um ſeine Verlegenheit
zu verbergen. Nein, entgegnete der Bruder. Sie iſt
[15] nicht zum Tanze und das iſt gut. Es kann doch nichts
werden; ich muß mir eine Andere anſchaffen und bis
ich eine finde, iſt böhmiſch Bier mein Schatz.


Es war etwas Wildes in des Bruders Rede. Unſer
Held ſah ihn verwundert und zugleich bekümmert an.
Warum kann nichts werden? fragte er. Und wie biſt
du nur?


Ja, du meinſt, ich ſoll ſein wie du, fromm und
geduldig, wenn nur kein Federchen etwa an deinem
Rocke ſitzt. Ich bin ein andrer Kerl und muß mich
austoben, wird mir ein Strich durch meine Rechnung
gemacht. Warum nichts werden kann? Weil der Alte
im blauen Rock es nicht will.


Der Vater rief dich geſtern in das Gärtchen —


Ja und zog ſeine weißen Augenbrauen, die wie mit
dem Lineal gemacht ſind, anderthalb Zoll in die Höh'.
Ich hatte mir's wohl gedacht. „Du gehſt mit der Beate
vom Einnehmer. Das hat aufgehört von heut' an.“


Iſt's möglich? Und warum?


Ja, haſt du je gehört, daß der im blauen Rock ein
Warum vorgebracht hätte? Und haſt du ihn je gefragt:
warum denn aber, Vater? Ich möchte ſein Geſicht
ſeh'n, fragte ihn einer von uns: Warum? Er hat's
nicht geſagt, aber ich weiß es, warum das aufgehört
haben ſoll mit mir und der Beate. Ich hab's die
ganze Woche her erwartet; wenn er die Hand aufhob,
meint' ich, er deutet nach dem Gärtchen, und war be¬
[16] reit, wie ein armer Sünder hinter ihm her zu gehen.
Das iſt ja der Ort, wo er ſeine Cabinetsbefehle aus¬
theilt. Mit dem Einnehmer ſoll's nicht gut ſteh'n. Es
geht eine Rede, er braucht' mehr, als ſeine Beſoldung
hergeben will. Und — nun du biſt ja auch ein Feder¬
chenſucher wie der im blauen Rock. Aber was kann
das Mädchen dazu? Was ich? Nun aufgehört muß
die Geſchichte haben, aber das Mädel dauert mich und
ich muß ſeh'n, wie ich ſie vergeſſe. Ich muß trinken
oder mir eine Andere anſchaffen.


Unſer Held war des Bruders Art gewohnt; er
wußte, daß ſeine Reden nicht ſo wild gemeint waren,
als ſie klangen, und der Bruder bewies ja ſeine Liebe
und Achtung vor dem Vater durch die That ſeines
Gehorſams; dennoch wär' es unſerm Helden lieb ge¬
weſen, der Bruder hätte ſie auch im Reden gezeigt,
wie im Thun. Der Bruder hatte mit ſeiner Neckerei
nicht ganz unrecht gehabt. Apollonius war es, als
läge etwas Unſauberes auf der Seele des Bruders und
er ſtrich unwillkührlich mehrmal mit der Hand über den
Rockkragen desſelben hin, als wär' es äußerlich von
ihm abzuwiſchen. Vom Tanze hatte ſich Staub darauf
gelagert; wie dieſer entfernt war, kam ihm die Empfin¬
dung, als ſei wirklich entfernt, was ihn geſtört.


Das Geſpräch tauſchte ſeinen Stoff. Sie kamen
auf das Mädchen zu ſprechen, das vorhin ſich Kühlung
zugeweht; Apollonius wußte gewiß nicht, daß er die
[17] Anregung dazu gegeben hatte. Wie das Mädchen das
Ziel war, nach dem alle Wege ſeines Denkens führten,
ſo hielt er dieſes, war er bei ihr angekommen, unent¬
rinnbar feſt. Er vergaß den Bruder ſo, daß er zuletzt
eigentlich mit ſich ſelbſt ſprach. Der Bruder ſchien all
das Schöne und Gute an ihr, das der Held in unbe¬
wußter Beredtſamkeit pries, erſt wahrzunehmen. Er
ſtimmte immer lebhafter bei, bis er in ein wildes Lachen
ausbrach, das den Helden aus ſeiner Selbſtvergeſſenheit
weckte und ſeine Wangen ſo roth färbte, als die des
Mädchens vorhin geweſen waren.


Und da ſchleichſt du um den Saal, wo ſie mit
Andern tanzt und, zeigt ſie ſich, ſo haſt du nicht das
Herz, mit ihr anzubinden. Wart', ich will dein Ge¬
ſandter ſein. Von nun ſoll ſie keinen Reihen tanzen
als mit mir, damit kein Anderer dir die Queere kommt.
Ich weiß mit den Mädels umzugeh'n. Laß' mich machen
für dich.


Sie ſtanden etwa zehn Schritt von der großen Saal¬
thüre entfernt, Apollonius derſelben mit dem vollen
Angeſichte, der Bruder mit dem halben zugewandt.
Unſer Held erſchrack vor dem Gedanken, daß das Mäd¬
chen heute noch Alles erfahren ſollte, was er für ſie
fühlte. Dazu kam die Scham über ſein eigenes befan¬
genes ungeſchicktes Weſen ihr gegenüber und wie ſie
davon würde denken müſſen, daß er eines Mittlers be¬
dürfe. Er hatte ſchon die Hand erhoben, dem Bruder
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 2[18] Einhalt zu thun, als die Erſcheinung des Mädchens
ſelbſt ihm alles Andere verdunkelte. Leiſe und allein
wie vorhin kam ſie aus der Thüre geſchritten. Unter
dem Tuche, mit dem ſie ſich Kühlung zuwehte, ſchien
ſie verſtohlen um ſich zu ſeh'n. Er ſah wieder ihre
Wangen röther werden. Hatte ſie ihn geſeh'n? Aber
ſie wandte ihr Geſicht nach der entgegengeſetzten Seite.
Sie ſchien etwas zu ſuchen im Graſe vor ihr. Er ſah,
wie ſie eine kleine Blume pflückte, dieſe auf eine Bank
legte und, nachdem ſie eine Weile wie zweifelnd geſtan¬
den, ob ſie die Blume wieder aufnehmen ſollte, wie
mit ſchnellem Entſchluß ſich wieder nach der Thür
wandte. Eine halb unwillkührliche Armbewegung ſchien
zu ſagen: mag er ſie nehmen; ſie iſt für ihn gepflückt.
Wieder wogte es roth herauf bis an das dunkelbraune
Haar und die Haſt, mit der ſie in der Thüre verſchwand,
ſchien einer Reue vorbeugen zu ſollen, die die Sorge
erzeugen konnte, wie ihr Thun verſtanden werden würde.


Der Bruder, der von allem dem nichts zu gewahren
ſchien, hatte noch in ſeiner lebendigen, heftigen Weiſe
fortgeſprochen; ſeine Worte waren verloren; unſer Held
hätte zwei Leben haben müſſen, ſie zu hören, denn das
eine, das er beſaß, war in ſeinen Augen. Jetzt ſah
er den Bruder nach dem Saale ſtürmen. Zu ſpät kam
ihm der Gedanke, ihn zurückzuhalten. Er eilte ihm
vergeblich nach bis zur Thüre. Dort nahm ihn die
Blume, die das Mädchen für einen Finder hingelegt,
[19] für einen glücklichen, fand ſie der, dem ſie zugedacht
war, wiederum gefangen. Und unter den leiſen, mecha¬
niſch fortgeſetzten Zurufen ſeines Mundes an den
Bruder, der ſie nicht mehr hörte, er ſolle ſchweigen,
fragt' er ſich innerlich: biſt du's auch, für den ſie die
Blume hierhergelegt? Hat ſie die Blume für Jemand
hierhergelegt? Und ſein Herz antwortete glücklich auf
Beides ein Ja, während ihn das Vorhaben des Bru¬
ders noch bedrängte.


War es ein Liebeszeichen von ihr und für ihn, ſo
war es das letzte.


Zweimal ſah er verſtohlen in den Saal, wenn die
Thür ſich öffnete; er ſah ſie mit ſeinem Bruder tan¬
zen, dann im Ausruhen vom Tanze den Bruder in
ſeiner haſtigen Weiſe auf ſie hineinreden. Jetzt ſpricht
er von mir, dachte er über das ganze Geſicht erglühend.
Er ſtürzte in den Schatten der nahen Büſche, als ſie
den Saal verließ. Der Bruder führte ſie heim. Er
folgte den Beiden in ſo großer Entfernung, als er
nöthig hielt, von ihr nicht geſehen zu werden. Als
der Bruder von der Begleitung zurückkam, trat er von
der Thüre weg. Er war wie nackt vor Scham. Der
Bruder hatte ihn doch bemerkt. Er ſagte: Noch will
ſie nichts von dir wiſſen; ich weiß nicht, iſt es Zie¬
rerei oder ihr Ernſt. Ich treffe ſie ſchon wieder. Auf
einen Schlag fällt kein Baum. Aber das muß ich dir
zugeſteh'n, Geſchmack haſt du. Ich weiß nicht, wo ich
2 *[20] meine Augen gehabt habe ſeither. Die iſt noch ganz
anders als die Beate. Und das will viel ſagen!


Von da an hatte der Bruder unermüdlich mit
Walther's Chriſtianen getanzt und für den Bruder
geſprochen und jedesmal, nachdem er ſie heimgeführt,
dem Helden Rechenſchaft abgelegt von ſeinen Bemühun¬
gen für ihn. Lange noch war er ungewiß, ob ſie ſich
nur ziere, oder ob ſie unſerm Helden wirklich abge¬
neigt ſei. Er erzählte gewiſſenhaft, was er zu des
Helden Gunſten zu ihr geſagt, was ſie auf ſeine Fra¬
gen und Verſicherungen geantwortet. Er hatte noch
Hoffnung, als unſer Held ſie ſchon aufgegeben hatte.
Und dieſer hätt' es aus ihrem Benehmen gegen ihn erken¬
nen müſſen, hätt' er auch ihre Antworten an den Bru¬
der nicht erfahren, ſeine Neigung habe keine Erwiderung
zu erwarten. Sie wich ihm aus, wo ſie ihn ſah, ſo
angelegentlich, als ſie ihn früher geſucht zu haben
ſchien. Und war er's denn geweſen, den ſie damals
ſuchte, wenn ſie überhaupt Jemand geſucht hatte?


Der Bruder forderte ihn hundertmal auf, ſie abzu¬
paſſen und ſelbſt ſeine Sache bei ihr zu führen. Er
bot ſeine ganze Erfindungskraft auf, dem Helden Ge¬
legenheit zu verſchaffen, ſie allein zu ſprechen. Unſer
Held wies die Aufforderungen ab, wie die Anerbieten.
Es war doch unnütz. Alles, was er erreichen konnte,
war, ſie nur noch mehr zu erzürnen.


[21]

Ich kann's nicht mehr mit anſeh'n, wie du abmagerſt
und immer bleicher wirſt, ſagte der Bruder eines Abends
zu unſerm Helden, nachdem er ihm gemeldet, wie er
heut' wieder erfolglos für ihn geſprochen. Du mußt
fort eine Zeit lang von hier, das wird nach zwei Seiten
gute Folgen für dich haben. Wenn ich ihr ſage, du
biſt um ihretwillen in die Welt gegangen, wird ſie ſich
vielleicht bekehren. Glaub' mir, ich kenne, was lange
Haare trägt und weiß damit umzugeh'n. Du ſchreibſt
ihr einen beweglichen Brief zum Abſchied, den bekommt
ſie durch mich und ich will ihr ſchon das Herz weich
machen. Und iſt's nicht zu erreichen, ſo wird dir's gut
thun, wenn du ein oder mehre Jahre von hier weg
biſt, wo dich Alles an ſie erinnert. Und zuletzt wird
die Fremde einen andern Kerl aus dir machen, der mit
der Art, die Schürzen trägt, beſſer umzuſpringen weiß.
Du mußt tanzen lernen, das iſt ſchon der halbe Weg
dazu. Und der Alte im blauen Rock iſt ohnehin vom
Vetter in Köln angegangen worden, einen von uns zu
ihm zu ſchicken; ich las neulich in einem Brief, der
ihm aus der Taſche gefallen war. Sag' ihm nur, du
hätt'ſt aus ſeinen Reden ſo was gemerkt und wenn er's
haben wollte, ſo woll'ſt du geh'n. Oder laß' mich das
machen. Du biſt zu ehrlich.


Und er macht' es wirklich. Es iſt die Frage, ob
ſich unſer Held freiwillig hätte entſchließen können, die
Heimath zu verlaſſen, er, der nicht begriff, wie Jemand
[22] wo anders leben könne, als in ſeiner Vaterſtadt, dem
es immer wie ein Mährchen vorgekommen war, daß
es noch andere Städte gäbe und Menſchen drin wohnten,
der ſich das Leben und Thun und Treiben dieſer Menſchen
nicht als ein wirkliches, wie die Bewohner ſeiner Hei¬
math es führten, ſondern als eine Art Schattenſpiel
vorgeſtellt hatte, das nur für den Betrachter exiſtirte,
nicht für die Schatten ſelbſt. Der Bruder, der den
alten Herrn zu behandeln wußte, brachte, wie zufällig,
das Geſpräch auf den Vetter in Köln, wußte die An¬
deutungen, die Herr Nettenmair in ſeiner diploma¬
tiſchen Weiſe gab, als vorbereitende Winke aufzufaſſen,
faßte andere, die unſern Helden betrafen, damit zuſam¬
men. Nach öfterem Geſpräche ſchien er's für den aus¬
geſprochenen Willen des alten Herrn zu nehmen, daß
Apollonius nach Köln zu dem Vetter müſſe. Da¬
durch war dem alten Herrn der Gedanke gegeben, über
dem er nun, da er für den ſeinen galt, nach ſeiner
Weiſe brütete. Es war wenig Arbeit vorhanden und
auch für die nächſte Zeit keine Ausſicht auf eine be¬
deutende Vermehrung derſelben. Zwei Hände waren
zu entbehren und blieben die im Geſchäft, ſo waren
die Kräfte deſſelben zu einem halben Müſſiggang ver¬
dammt. Der alte Herr konnte nichts weniger leiden,
als was er leiern nannte. Es fehlte nur an einem
Widerſtande von Seiten unſers Helden. Dieſer wußte
nichts von des Bruders Plane. Der Bruder hatte ihn
[23] weißlich nicht darin eingeweiht, weil er ihn zu gut
kannte, um Vorſchub von ihm zu erwarten bei einem
Thun, das er als unehrlich und unehrerbietig zugleich
gegen den Vater verworfen haben würde.


Du willſt den Apollonius nach Köln ſchicken, ſagte
der Bruder eines Nachmittags zu dem alten Herrn. Wird
er aber gehen wollen? Ich glaube nicht. Du wirſt mich
auf die Wanderſchaft ſchicken müſſen. Der Apollonius
wird nicht geh'n. Wenigſtens heut' und morgen noch
nicht.


Das war genug. Noch denſelben Abend winkte der
alte Herr unſerm Helden ſich in's Gärtchen nach. Vor
dem alten Birnbaum blieb er ſteh'n und ſagte, indem
er ein kleines Reis, das aus dem Stamme gewachſen
war, entfernte: Morgen gehſt du zum Vetter nach
Köln. Mit ſchneller Wendung drehte er ſich nach dem
Angeredeten um und ſah verwundert, daß Apollonius
gehorſam mit dem Kopfe nickte. Es ſchien ihm faſt
unlieb, daß er keinen Trotz zu brechen haben ſollte.
Meinte er, der arme Junge denke trotzige Gedanken,
wenn er ſie auch nicht ausſpreche und wollte er auch
den Trotz der Gedanken brechen? Heut' noch ſchnürſt
du deinen Ranzen, hörſt du? fuhr er ihn an. Apol¬
lonius ſagte: Ja, Vater. Morgen mit Sonnenaufgang
machſt du dich auf die Reiſe. Nachdem er ſo eine
trotzige Antwort faſt erzwingen zu wollen geſchienen,
mochte er ſeinen Zorn bereu'n. Er machte eine Bewe¬
[24] gung. Apollonius ging gehorſam. Der alte Herr
folgte ihm und kam einigemal auf das Zimmer der
Brüder, um mit milderem Grimme den Einpackenden
an mancherlei zu erinnern, was er nicht vergeſſen ſolle.


Und vom Georgenthurme tönte eben der letzte von
vier Glockenſchlägen, als ſich die Thüre des Hauſes
mit den grünen Fenſterladen aufthat und unſer junger
Wanderer heraustrat, von dem Bruder begleitet. An
derſelben Stelle, von der er jetzt auf die unter ihm
liegende Stadt herabſah, hatte der Bruder Abſchied
von ihm genommen und er ihm lange, lange nachge¬
ſeh'n. Vielleicht gewinn' ich dir ſie doch, hatte der
Bruder geſagt, und dann ſchreib' ich dir's ſogleich.
Und iſt's mit der nichts, ſo iſt ſie nicht die Einzige
auf der Welt. Du biſt ein Kerl, ich kann dir's wohl
ſagen, ſo hübſch wie einer und legſt du nur dein blö¬
des Weſen ab, ſo kann dir's bei Keiner fehlen. Es
iſt einmal ſo, die Mädel können nicht um uns werben
und ich möchte die nicht einmal, die ſich mir von ſelbſt
an den Hals würfe. Und was ſoll ein raſches Mädel
mit einem Träumer anfangen? Der Vetter in Köln
ſoll ein paar ſchöne Töchter haben. Und nun leb'
wohl. Deinen Brief beſorg' ich noch heut'.


Damit war der Bruder von ihm geſchieden.


Ja, ſagte Apollonius bei ſich, als er ihm nach¬
ſah. Er hat recht. Nicht wegen der Töchter vom
Vetter oder ſonſt einer andern, und wär' ſie noch ſo
[25] hübſch. Wär' ich anders geweſen, jetzt müßt' ich viel¬
leicht nicht in die Fremde. War ich's, dem ſie die
Blume hingelegt hat am Pfingſtſchießen, hat ſie mir
begegnen wollen damals und früher, wer weiß, wie
ſchwer's ihr geworden iſt. Und wie ſie das Alles um¬
ſonſt gethan, hat ſie ſich nicht vor ſich ſelber ſchämen
müſſen? O, ſie hat recht, wenn ſie nichts mehr von
mir wiſſen will. Ich muß anders werden.


Und dieſer Entſchluß war keine taube Blüthe gewe¬
ſen. Das Haus ſeines Vetters in Köln zeigte ſich
keiner Art von Träumerei förderlich. Er fand ein ganz
anderes Zuſammenleben als das daheim. Der alte
Vetter war ſo lebensluſtig als das jüngſte Glied der
Familie. Da war keine Vereinſamung möglich. Ein
aufgeweckter Sinn für das Lächerliche ließ keine Art
von Abſonderlichkeit aufkommen. Jeder mußte auf ſei¬
ner Hut ſein; keiner konnte ſich gehen laſſen. Apol¬
lonius hätte ein anderer werden müſſen und wenn er
nicht wollte. Auch im Geſchäft ging's anders her als
daheim. Der alte Herr im blauen Rock gab ſeine Be¬
fehle, wie der Gott der Hebräer aus Wolken und mit
der Stimme des Donners. Er hätte ſeinem Anſehen
etwas zu vergeben geglaubt durch das Ausſprechen ſei¬
ner Gründe. Er gab kein Warum und ſeine Söhne
wagten nicht, nach Warum zu fragen. Und ſelbſt das
Verkehrte mußte durchgeführt werden, war der Befehl
einmal ausgeſprochen. Ueber Dinge, die das Geſchäft
[26] nicht betrafen, redete er mit den Söhnen gar nicht.
Dagegen war es des Vetters Weiſe, eh' er ſelbſt ſeine
Anſicht über einen Punkt des Geſchäftes ausſprach,
ſeine Gehülfen um ihre Meinung zu fragen. Es war
dann nicht genug an der Meinung, er wollte auch die
Gründe wiſſen. Dann machte er Einwürfe; war ihre
Meinung die richtige, mußten ſie dieſelbe ſiegreich durch¬
kämpfen; irrten ſie, nöthigte er ſie, durch eigenes Den¬
ken auf das Rechte zu kommen. So erzog er ſich
Helfer, die nicht um jede Kleinigkeit, ihn fragen mu߬
ten, denen er Manches überlaſſen konnte. Und ſo hielt
er es auch mit andern Dingen. Es waren wenig
Verhältniſſe des bürgerlichen Lebens, die er nicht nach
ſeiner Weiſe mit ſeiner Familie — und Apollonius
gehörte dazu — durchſprach. Indem er zunächſt nur
darauf auszugehen ſchien, das Urtheil der jungen Leute
zu bilden, gab er ihnen einen Reichthum von Lebens¬
regeln und Grundſätzen, die um ſo mehr Frucht ver¬
ſprachen, da die jungen Leute ſie ſelbſt hatten finden
müſſen. Woran der Vetter bei ſeinem Verwandten
nicht taſtete, das war deſſen Gewiſſenhaftigkeit, Eigen¬
ſinn in der Arbeit und Sauberkeit des Leibes und der
Seele. Doch ließ er es nicht an Winken und Beiſpie¬
len fehlen, wie auch dieſe Tugenden an Uebermaß er¬
kranken könnten.


Apollonius erkannte ſehr deutlich, daß ſein Glück
ihn zu dem Vetter geführt. Er verlor das träumeriſche
[27] Weſen immer mehr; bald konnte der Vetter die ſchwie¬
rigſte Arbeitsaufgabe in des Jünglings Hände legen
und dieſer vollendete jede ohne die Hülfe fremden Ra¬
thes zu ſolcher Zufriedenheit des Vetters, daß dieſer
ſich geſtehen mußte, er ſelbſt würde die Sache nicht
umſichtiger begonnen, nicht energiſcher betrieben, nicht
ſchneller und glücklicher beendet haben. Bald konnte
der Jüngling ſich ein Urtheil bilden über die Art, wie
ſie daheim die Geſchäfte geführt hatten. Mußte er ſich
ſagen, daß ſie nicht die zweckmäßigſte geweſen, ja daß
Manches, was der alte Herr angeordnet hatte, verkehrt
genannt werden mußte, dann warf er ſich wohl ſeinen
unkindlichen Sinn bitter vor, ſtrengte ſich an, das Thun
des Vaters bei ſich zu rechtfertigen und zwang ſich,
war ihm das unmöglich geweſen, zu dem Gedanken,
der alte Herr habe ſeine guten Gründe gehabt und er
ſelbſt ſei nur zu beſchränkt, um ſie zu errathen.


Es kamen Briefe vom Bruder. Im erſten ſchrieb
dieſer, er ſei nun ſo weit über das Mädchen klar, daß
ihre Härte gegen unſern Helden von einer andern Nei¬
gung des Mädchens herrühre, deren Gegenſtand zu
nennen ſie nicht zu bewegen ſei. Aus dem nächſten,
der kaum von dem Mädchen ſprach, las Apollonius
ein Mitleid mit ihm heraus, deſſen Grund er nicht zu
finden wußte. Der dritte gab dieſen Grund nur zu
deutlich an. Der Bruder ſelbſt war der Gegenſtand
der verſchwiegenen Neigung des Mädchens geweſen.
[28] Sie hatte ihm mancherlei Zeichen davon gegeben, nach¬
dem er nach des Vaters Willen ſeiner erſten Geliebten
entſagt. Er hatte nichts davon geahnt und als er nun
als Werber für den Bruder aufgetreten, Scham und
Ueberzeugung, er ſelbſt liebe ſie nicht, ihren Mund ver¬
ſchloſſen.


Nun begriff unſer Held unter Schmerzen, daß er
ſich geirrt, als er gemeint, jene ſtummen Zeichen gälten
ihm. Er wunderte ſich, daß er ſeinen Irrthum
nicht damals ſchon eingeſeh'n. War nicht ſein Bruder
ihr ſo nah, als er, da ſie die Blume hinlegte, die der
Unrechte fand? Und wenn ſie ihm ſo abſichtlich unab¬
ſichtlich allein begegnete — ja, wenn er ſich die Augen¬
blicke, die Eigenthümer ſeiner Träume, vergegenwärtigte
— ſie hatte ſeinen Bruder geſucht, darum war ſie er¬
ſchrocken, ihm zu begegnen, drum floh ſie jedesmal,
wenn ſie ihn erkannte, wenn ſie den fand, den ſie nicht
ſuchte. Mit ihm ſprach ſie nicht; mit dem Bruder
konnte ſie Viertelſtunden lang ſcherzen.


Dieſe Gedanken bezeichneten Stunden, Tage, Wochen
tiefinnerſten Schmerzes; aber das Vertrauen des Vetters,
das durch Bewährung vergolten werden mußte, die
heilende Wirkung emſigen und bedachten Schaffens, die
Männlichkeit, zu der ſein Weſen durch Beides ſchon
gereift war, bewährten ſich in dem Kampfe und gingen
noch gekräftigter daraus hervor.


[29]

Ein ſpäterer Brief, den er vom Bruder erhielt, mel¬
dete ihm, der alte Walther, der des Mädchens Neigung
entdeckt und der alte Herr im blauen Rocke waren
übereingekommen, der Bruder ſolle das Mädchen hei¬
rathen. Des alten Herrn Soll war ein Muß, das
wußte unſer Held ſo gut als der Bruder. Des Mäd¬
chens Neigung hatte den Bruder gerührt; ſie war ſchön
und brav; ſollte er ſich dem Willen des Vaters ent¬
gegenſetzen um des Helden willen, um einer Liebe willen,
die ohne Hoffnung war? Der Zuſtimmung des Helden
im Voraus gewiß, hatte er ſich in die Schickung des
Himmels ergeben. Die ganze erſte Hälfte des folgenden
Briefes, in welchem er ſeine Heirath meldete, klang die
fromme Stimmung nach. Nach vielen herzlichen Troſtes¬
worten kam die Entſchuldigung oder vielmehr Recht¬
fertigung, warum der Bruder zwiſchen dieſem und dem
vorigen Briefe zwei Jahr lang nicht geſchrieben. Darauf
eine Beſchreibung ſeines häuslichen Glückes; ein Mäd¬
chen und einen Knaben hatte ihm ſein junges Weib
geboren, das noch mit der ganzen Glut ihrer Mädchen¬
liebe an ihm hing. Der Vater war unterdeß' von einem
Augenübel befallen und immer unfähiger geworden, das
Geſchäft nach ſeiner ſouveränen Weiſe allein zu leiten.
Das hatte ihn noch immer wunderlicher gemacht. Wenn
er eine Zeitlang die Zügel ganz den Händen des Sohnes
überlaſſen müſſen, dann hatte ihn das alte Bedürfniß
zu herrſchen, durch die Langeweile der gezwungenen
[30] Muße noch geſchärft, ſich wieder aufraffen laſſen. Nun
kannte er die Sache, um die ſich's eben handelte, und
an die er ſich bisher nichts gekehrt, nur unzureichend;
und wenn er ſie kannte, ſo war ihm darum zu thun,
ſeinen Willen als den herrſchenden durchzuſetzen. Und
ſchon deßhalb verwarf er den Plan, nach dem der Sohn
bisher gehandelt. Was bereits geſcheh'n, Arbeit und
Auslage war verloren. Dabei mußte er doch wieder
den Sohn zu Hülfe nehmen und die beſte Darſtellung
des Verhaltes erſetzte dem alten Herrn den Mangel der
eigenen Anſchauung nicht. Zuletzt mußte er einſeh'n,
daß die Sache auf ſeinem Wege nicht ging. Es war
Geld, Zeit und Arbeitskraft vergeudet und, was ihn
noch tiefer traf, er hatte ſich blosgegeben. Nach eini¬
gen dergeſtalt mißlungenen Verſuchen, die Zügel als
blinder Fuhrmann wieder an ſich zu reißen, hatte er
ſich ganz von den Geſchäften zurückgezogen. Blos als
berathender Helfer ſich einem Andern unterzuordnen
und gar dem eigenen Sohne, der bis vor Kurzem noch
nur der ungefragte und willenloſe Vollzieher ſeiner Be¬
fehle geweſen, das war dem alten Herrn unmöglich.
Im Gärtchen fand er Beſchäftigung; er konnte ſich
welche machen, wenn ihm nicht genügte, was die Pflege
des Gärtchens bis jetzt ſeinen Beſorgern von ſelbſt ent¬
gegengebracht. Er konnte das Alte entfernen, Neues
erſinnen und wieder Neuerem Platz machen laſſen, und
er that es. Unumſchränkt herrſchend in dem kleinen
[31] grünen Reiche, in dem von Nun kein Warum mehr laut
werden durfte und neben dem Geſetze der Natur nur
noch ein einziges waltete, ſein Wille, vergaß oder ſchien
er zu vergeſſen, daß er früher einen mächtigern Zepter
geführt.


Mehr aber als von dem Geſchäfte und dem wun¬
derlichen alten Herrn ſchrieb der Bruder in ſeinen fol¬
genden Briefen von den Feſtlichkeiten der Schützenge¬
ſellſchaft der Vaterſtadt und einem Bürgervereine, der
zuſammengetreten war, ſein Ergötzen von dem der
niedriger ſtehenden Schichten der Bevölkerung abzuſon¬
dern. Aus all' den Beſchreibungen von Vogel- und
Scheibenſchießen, Conzerten und Bällen, als deren
Mittelpunkt er und ſeine junge Frau daſtanden, lachte
die höchſte Befriedigung der Eitelkeit des Briefſtellers.
Nur in einer Nachſchrift war in dem letzten Briefe des
ernſteren Umſtandes leicht Erwähnung gethan, die
Stadt wolle eine Reparatur des Thurm- und Kirchen¬
daches zu Sankt Georg vornehmen laſſen und habe
ihn mit der Ausführung derſelben betraut. Der im
blauen Rocke dringe in ihn, unſern Helden aufzufor¬
dern, in die Vaterſtadt und das Geſchäft zurückzukeh¬
ren. Der Bruder war der Meinung, unſer Held
werde die ihm liebgewordenen Verhältniſſe in Köln
nicht um einer ſo geringfügigen Urſache willen verlaſ¬
ſen mögen. Die Reparatur werde mit den vorhandenen
Arbeitskräften in kurzer Zeit zu vollenden ſein. Der
[32] ſchadhaften Stellen an Thurm- und Kirchendach ſeien
nur wenige. Ueberdieß ſeh' er auch ab von dem Wi¬
derwillen ſeiner Frau gegen unſern Helden, den er ſeit¬
her ſo vergebens bekämpft, würde es dieſem eine un¬
nütze Quälerei ſein, all' das ſich wieder aufzufriſchen,
was er froh ſein müſſe, vergeſſen zu haben. Er werde
leicht einen Vorwand finden, dem Gehorſam gegen
einen Befehl, den nur Wunderlichkeit eingegeben, aus¬
zuweichen. Den Schluß des Briefes machte eine
neckende Anſpielung auf ein Verhältniß unſeres Helden
mit der jüngſten Tochter des Vetters, von dem die
Vaterſtadt voll ſei. Der Bruder ließ ſich ihr als ſeiner
künftigen Schwägerin empfehlen.


Wenn auch ein ſolches Verhältniß nicht beſtand
Apollonius konnte ſich ſagen, es lag nur an ihm, es
in's Leben zu rufen. Der Vetter hatte ſchon manchen
Wink fallen laſſen, der dahin zielte; und das Mädchen,
von dem die Rede war, hätte ſich nicht geſträubt. Un¬
ſer Apollonius war ein Burſche geworden, den ſo
leicht Keine ausgeſchlagen hätte, deren Herz und Hand
noch zu ihrer Verfügung ſtand. Die Gewohnheit, nach
ſeinem eigenen Ermeſſen zu handeln und über die Thä¬
tigkeit einer Anzahl tüchtiger Arbeiter ſelbſtſtändig zu
verfügen, hatte ſeinem Aeußern Haltung und ſeinem
Benehmen Sicherheit gegeben. Und was von ſeiner
frühern Schüchternheit gegen Frauen und ſeiner Nei¬
gung, ſich träumend in ſich ſelbſt zu verſenken, noch
[33] übrig geblieben war, erhöhte noch die ſichere Männlich¬
keit, deren Ausdruck es milderte.


Ja, er wußte, daß er des Vetters Schwiegerſohn
werden konnte, wenn er wollte. Das Mädchen war
hübſch, brav und ihm zugethan wie eine Schweſter.
Aber nur als eine Schweſter ſah er ſie an; es war
ihm nie der Wunſch gekommen, ſie möchte ihm mehr
ſein. Die Neigung zu Chriſtianen meinte er beſiegt
zu haben; er wußte nicht, daß doch nur ſie es war,
die zwiſchen ihm und des Vetters Tochter ſtand und
zwiſchen ihm und jeder andern geſtanden hätte. Als
er erfuhr, Chriſtiane liebte ſeinen Bruder, hatte er die
kleine Blechkapſel mit der Blume von der Bruſt genom¬
men, wo er ſie ſeit jenem Abende trug, da er ſie irrend
als für ihn hingelegt aufgehoben. Als Chriſtiane ſei¬
nes Bruders Weib geworden war, packte er die Kapſel
mit der Blume ein und ſchickte ſie dem Bruder. Weg¬
werfen konnte er nicht, was ihm einmal theuer gewe¬
ſen, aber beſitzen durfte er die Blume nicht mehr.
Beſitzen durfte ſie nur der, für den ſie beſtimmt gewe¬
ſen, dem die Hand gehörte, die ſie gegeben hatte.


Der Vater rief ihn zurück; er mußte gehorchen.
Aber es war mehr als der bloße Gehorſam in ihm
lebendig. Er ging nicht allein; er ging gern. Des
Vaters Wort war ihm mehr eine Erlaubniß, als ein
Befehl. Wenn die Frühlingsſonne in ein Gemach
dringt, das den Winter über unbewohnt und verſchloſ¬
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 3[34] ſen ſtand, dann ſieht man, es war ſchlafendes Leben,
was wie vertrocknete Leichen auf der Diele lag. Nun
regt ſich's und dehnt ſich's und wird zur ſummenden
Wolke und brauſt jubelnd hinein in den goldenen Strahl.
Nicht der Vater allein, jedes Haus der Vaterſtadt,
jeder Hügel, jeder Garten darum, jeder Baum darin
rief ihn. Der Bruder, die Schweſter — dieſen Namen
gab er Chriſtianen — riefen ihn. Er fühlte ſich ſicher,
daß es nur die Schweſter war, die ihn zu ihr zog.
Doch ſie rief ihn ja nicht. Sie trug einen Widerwillen
gegen ihn, hatte ihm der Bruder geſchrieben; einen
Widerwillen, ſo ſtark, daß ſechs Jahre lang der Bruder
vergeblich gegen ihn gekämpft. Es war ihm, als müſſe
er ſchon deßwegen heim, damit er ihr zeigte, er ver¬
diene ihren Widerwillen nicht, er ſei werth, ihr Bruder
zu ſein. Das ſchrieb er dem Bruder in dem Briefe,
der ſeinen Gehorſam meldete und den Tag angab, an
dem der Bruder ihn erwarten ſollte. Er konnte ihn
verſichern, daß die Erinnerungen an ehemals ihn nicht
quälen würden, daß die Sorge [des] Bruders unbegrün¬
det ſei.


So war es gekommen, daß der Gedanke an ſie
keine von den alten Hoffnungen erweckte. Als er von
der Höhe herabſah, fragte er ſich: wird mir's gelingen,
ihr Bruder zu werden, die mir jetzt eine Schweſter iſt?


Noch eine Weile ſtand er und ſah hinab. Aber
ſeine Haltung hatte ſich verändert und ſein Blick war
[35] ein anderer geworden. In Gedanken hatte er die letz¬
ten vier Jahre noch einmal durchlebt und war noch
einmal aus einem blöden, träumeriſchen Knaben zum
Manne geworden. Als ſein Blick wieder auf den
Thurm und die Kirche zu Sankt Georg fiel, hob ſich
die Hand nicht wie vorhin unwillkürlich, wie um eine
unſichtbar ihm hingereichte zu drücken. Er ſchalt ſich
über ſein kindiſches Gaffen. Er mußte ſobald als mög¬
lich die Dinge in der Nähe ſeh'n, um ſich ein Urtheil
zu bilden, was zu thun ſei. Die Liebe zur Heimath
war noch ſo ſtark in ihm als je, aber es war nicht
mehr die des Knaben, dem die Heimath eine Mutter
iſt, die ihn hätſchelnd in die Arme nimmt; es war die
Liebe des Mannes. Die Heimath war ihm ein Weib,
ein Kind, für das zu ſchaffen es ihn trieb.


Wer in das Haus hineinſeh'n konnte mit den grü¬
nen Fenſterladen, etwa eine Stunde vor Mittag, der
merkte wohl, daß die Gedanken ſeiner Bewohner nicht
im gewöhnlichen alltäglichen Geleiſe gingen. Man
konnte es ſehen an der Art, wie die Leute aufſtanden
und wie ſie ſich ſetzten, wie ſie die Thüren öffneten
und ſchloſſen, wie ſie Dinge anfaßten und wieder weg¬
ſtellten, mit denen ſie weiter nichts thaten, als ſie neh¬
men und wieder hinſtellen, und offenbar auch weiter
3 *[36] nichts thun wollten. Wer ſich beſinnt, in welcher Ge¬
müthslage er am öfteſten die Uhr aus der Taſche zog,
und noch eh' er ſie wieder in die Taſche verſenkt, ſchon
vergeſſen hatte, welche Zeit es ſei, und ſie wieder her¬
vorholte, und da er nicht wußte, warum er das gethan,
ſie an das Ohr hielt, und ohne gehört zu haben, ob ſie
noch ging oder nicht, den Uhrſchlüſſel ſuchte und ſie
aufzog, vielleicht zum dritten Male in Zeit von einer
Stunde: der wird, falls er ſich noch beſinnen kann auf
das, was er ſchon damals nicht wußte, als er es that,
errathen können, was die Leute zu all' der zweckloſen
Thätigkeit verleitet. Auch der junge Herr, der eben
zum ſechſten Male ſeit einer Stunde ſeine Uhr aufzieh'n
will, iſt ſo wenig mit dem Bewußtſein bei dieſem Ge¬
ſchäft, daß er es in der nächſten Viertelſtunde zum ſie¬
benten Male verſuchen wird. Dann ſetzt er ſeine wohl¬
genährte, kurze Geſtalt auf den Stuhl am Fenſter und
es iſt ungewiß, ob er hinaus auf die Straße ſieht,
oder ob er bei den Gedanken iſt, die in derſelben zweck¬
loſen Unruhe, die ſein Aeußeres zeigt, wie Wolken¬
ſchatten an ſeinem Bewußtſein vorbeiflattern. Er ſitzt
in ſchwarzer Sonntagskleidung einer jungen Frau gegen¬
über. Er hätte Zeit genug, zu ſeh'n, wie ſchön ſie iſt,
wie anmuthig ihr das zerſtreute Weſen anſteht, — und
es kleidet ſie weit beſſer, als ihn. Zuweilen ſcheint
er's auch zu ſeh'n, aber dann iſt's, als wär's ihm
keine Freude. Dann werden die Gedankenſchatten auf
[37] ſeinem Geſichte tiefer und flattern nicht mehr ſo ſchnell
darüber hin. Er betrachtet die ſchönen Züge der jun¬
gen Frau genauer, ja es iſt, als ob er ſie belauere,
als ob er ſorgenvoll ſich frage, ob ſie den Ausdruck
von Widerwillen, der über ihnen hängt, behalten werde,
bis — und klingt dann zufällig ein ſtärkerer Tritt von
der Straße herein an ſein Ohr, dann ſchrickt er auf,
aber er vermeidet ihre ſchönen offenen Augen, die ſie
nach ihm hin aufſchlagen kann vom Klange des Tritts
geweckt.


Im Gärtchen kann der alte Valentin einem eben
ſo alten Herrn im blauen Rock nichts recht machen.
Er iſt zu aufgeregt und horcht und ſieht zu viel durch
den Zaun nach der Straße, darüber thut er bald zu
wenig, bald zu viel. Und der alte Herr ſchilt manch¬
mal, ſcheint es auch nur, um ſeine eigene Bewegung
zu verbergen. Die Hände zittern merklich, mit denen
er unterſucht, ob die Buchsbaumeinfaſſung der kleinen
Beete auch ſo eigenſinnig gleichmäßig geſchoren iſt, wie
er ſie geſchoren haben würde, beſäß' er noch das ſcharfe
Aug' von ehedem. Der alte Valentin müßte eine
Thräne von den hohlen Backen wiſchen, wie es ſo oft
geſchieht, über die Hülfloſigkeit des alten Herrn und
tauſend Vergleiche zwiſchen ſonſt und jetzt, die ihm
der Anblick derſelben herbeiruft; aber ſeine Augen
und ſeine Gedanken ſind auf der Straße vor dem
Zaun.


[38]

Hinten am Ende des Ganges, neben der Thür des
Schuppens, ſitzt auf einem Haufen Schieferplatten ein
ungemüthlicher Geſell in Hemdärmeln. Der Ausdruck
ſeines Geſichtes wechſelt ohne ſichtbaren äußeren Anlaß
zwiſchen widerwärtiger Zuthulichkeit und tückiſchem Trotz.
Er kramt, ſcheint es, unter ſeinen Geſichtern, wie ein
Mädchen in ihrem Schmuck. Er hält beide bereit,
um das rechte gleich bei der Hand zu haben. Er weiß
noch nicht, welches er brauchen wird.


Vorn durch den Spalt der wenig geöffneten Haus¬
thüre lauſcht das Dienſtmädchen. Aber keine ihrer Be¬
kannten geht vorbei. Bald wird ſie auf einen Vorwand
ſinnen, die erſte beſte vorüberwandelnde Geſtalt anzu¬
halten, nur um wie gelegentlich anzubringen, das Haus
erwarte heut' ſeinen jüngern Sohn aus der Fremde
zurück. Einſtweilen ſagt ſie es dem alten Hunde, der,
bemüht, die verſchiedenen Gruppen durch ſein Ab- und
Zugehen in Verbindung zu erhalten, eben bei ihr an¬
gekommen iſt. Und ſogleich wendet er ſich nach dem
Hofe zurück, wie um weiter zu ſagen, was er vernom¬
men. Der alte Hund iſt von der Unruhe der Menſchen
angeſteckt. Iſt doch jetzt die Stunde, die er an andern
Tagen vor ſeiner Hütte ſchlafend verbringt.


Die alte Gewohnheit ſcheint ihn zu mahnen, als
er an ſeiner Hütte vorbei laufen will. Er legt ſich
daneben. Aber er ſchließt die Augen nicht. Er ſcheint
in tiefe Gedanken verſunken. Denkt er ſich die weite
[39] Erde mit ihren Bergen und Thälern und Flüſſen, mit
ihren Städten und Dörfern? Und von Ort zu Orte
Straßen und auf jeder Straße Wanderer, fortziehende
und heimkehrende? Wer ein ſcharfes Auge hätte, die
Herzensfäden alle zu ſeh'n, die ſich ſpinnen die Straßen
entlang über Hügel und Thal, dunkle und helle, je
nachdem Hoffnung oder Entſagung an der Spule ſaß,
ein traumhaftes Gewebe! Manche reißen, helle dun¬
keln, dunkle werden hell; manche bleiben ausgeſpannt,
ſo lang die Herzen leben, aus denen ſie geſponnen
ſind; manche zieh'n mit unentrinnbarer Gewalt zurück.
Dann eilt des Wanderers Seele vor ihm her und pocht
ſchon an des Vaterhauſes Thür und liegt an warmen
Herzen, an Wangen von Freudenthränen feucht, in
Armen, die ihn drücken und umfangen und ihn nicht
laſſen wollen, während ſein Fuß noch weit davon auf
fremdem Boden ſchreitet. Und ſteht er auf der Flur
des Vaterhauſes, wie anders dann, wie anders oft iſt
ſein Empfang, als er geträumt! Wie anders ſind die
Menſchen geworden! In einer Minute ſagt er zwei¬
mal: ſie ſind's, und zweimal: ſie ſind's nicht. Dann
ſucht er die altbekannten lieben Stellen, die Häuſer,
den Fluß, die Berge, die das Heimathsthal umgürten;
die müſſen doch die alten geblieben ſein. Aber auch
ſie ſind anders geworden. Oft ſind's die Dinge, die
Menſchen, oft nur das Auge, das ſie wiederſieht. Die
Zeit malt anders, als die Erinnerung. Die Erinnerun[g]
[40] glättet die alten Falten, die Zeit malt neue dazu.
Und die, mit denen er in der Erinnerung immer zu¬
ſammen war, in der Wirklichkeit muß er ſich erſt wie¬
der an ſie gewöhnen.


Ob Apollonius das dachte, als er immer etwas
vergebens erwartete und nicht wußte, daß es der Bru¬
der war, der ihm entgegenkommen ſollte? Ob der
Bruder fühlte, Appollonius müſſe nach ihm ausſeh'n,
als er ſo ſchnell von ſeinem Stuhle aufſtand? Er
hatte ſchon die Thürklinke in der Hand. Er ließ ſie
fahren. Fiel ihm ein, er könne ihn verfehlen, und blieb,
weil er Frau und Bruder die Peinlichkeit des Augen¬
blickes erſparen wollte, in dem ſie einander allein gegen¬
über ſtehen müßten? Sie mit dem Widerwillen und
er mit dem Bewußtſein jenes Widerwillens. Jetzt ſtieg
die alte Geſtalt des Geſchiedenen vor dem Bruder auf
und es war, als befreite ſie dieſen von ſchweren Sor¬
gen. Es war die Wendung, mit der er ſich ſonſt von
dem Gegenwärtigen abwandte und dabei ausſah, als
ſagte er zu ſich: der Träumer! Und eine raſche Be¬
wegung machte, wie um recht zu fühlen, welch' ein
Anderer er ſei, wie beſſer er ſich auf das Leben ver¬
ſtehe und auf die Art, „die lange Haare hat und
Schürzen trägt“. Er muſterte mit einem beruhigten
Blick ſeine gedrungene Geſtalt, ſein volles rothes Ge¬
ſicht, das tiefer in den Schultern ſtack, als er meinte,
wenigſtens nicht tiefer, als er für ſchön hielt, in dem
[41] Spiegel, ſteckte die Hände in die Beinkleidertaſchen
und klapperte mit dem Gelde darin. Er beſann ſich,
ſchon dem Geſellen am Schuppen geſagt zu haben:
Es bleibt beim Alten in der Arbeit. Du nimmſt von
Niemand Befehle, als von mir. Ich bin Herr hier.
Und der hatte ſo eigen zweideutig gelacht, als ſagte
er ein lautes Ja zu dem Redenden und zu ſich: ich laß'
dich ſo reden, weil ich es bin. Fritz Nettenmair dachte:
lange wird er nicht bleiben; dafür will ich ſchon thun. Und
über der Bewegung, die wiederum ſagte: ich bin ein
Kerl, der das Leben verſteht, fiel ihm der Ball ein,
an dem er das heute Abend noch viel genugthuender
empfinden wird, weil er's in allen Augen leſen kann,
was er iſt und kein Anderer ſo außer ihm.


Seine junge Frau ſcheint Aehnliches zu denken.
Auch ſie ſieht in den Spiegel; ihre Blicke begegnen ſich
darin. Die Ehe ſoll die Gatten ſich ähnlich machen.
Hier traf die Bemerkung. Das Zuſammenleben hatte
hier zwei Geſichter ſich ähnlich gemacht, die unter
andern Umſtänden ſich vielleicht eben ſo unähnlich ſehen
würden. Und es hatte eigentlich nicht beide einander
ähnlich gemacht, ſondern nur eins davon dem andern.
Die übereinſtimmenden Züge, das konnte ein ſcharfes
Auge ſeh'n, waren nur ihm eigen; er hatte nur gege¬
ben, aber nicht empfangen. Und doch wär' es umge¬
kehrt beſſer geweſen für Beide, wenn er's auch nicht
eingeſteh'n würde und ſie es nicht fühlte, wenigſtens
[42] in dieſem Augenblicke nicht. Vielleicht auch morgen
und übermorgen noch nicht. Wie viel Zeit mag
nöthig ſein, wie viel Schmerzen wird ſie zu Hülfe
nehmen müſſen, von einem urſprünglich ſo ſchönen
Menſchenbilde abzuwaſchen, womit die Gewohnheit von
Jahren es beſchmutzt!


Die Thür flog auf, das hochgeröthete Antlitz des
Dienſtmädchens erſchien in ihr. Er kommt! Wer in
der Straße zufällig am Fenſter ſteht, ſchaut mit Wohl¬
gefallen auf die friſche, ſchlanke, männliche Geſtalt
herab, die daher kommt, den Torniſter auf dem Rücken,
den Stock unter'm Arm. Denn er hat keine Hand
frei. An der rechten führt er ein Mädchen, zwei klei¬
nere Knaben halten ſich zugleich an ſeiner linken feſt,
Ein Umſtand, der das Fortkommen nicht erleichtert.
Die Nachbaren, die wußten, wer erwartet wurde, fül¬
len Fenſter und Thüren. Er hat nun nicht allein den
unermüdlich auf ihn einredenden Kindern, er hat auch
Andern zu antworten. Den Alten muß er auf Grüße
und Scherzreden erwiedern, Schulkameraden zuwinken,
vor erröthenden Mädchengeſichtern ſich verneigen. Den
Hut kann er nicht abzieh'n; die Kinder geben ſeine
Hände nicht frei. Aber die Grüßenden verlangen es
auch nicht; ſie ſeh'n, wie unmöglich es ihm iſt. Und
wo er vorübergegangen, da ſagt ein Winken hinter
ihm her, er iſt noch der alte, hübſche, beſcheidene Junge,
und ein gehobener Finger ſetzt hinzu: aber er iſt kein
[43] Junge mehr; er iſt ein Mann geworden und was für
einer! Iſt das Fenſter geſchloſſen, wird Alles zu ſei¬
nem Lobe laut, nur die Mädchen nicht, die reif genug
waren, ſein Neigen mit unwillkührlichem Erröthen zu
erwiedern. Die ſind ſtiller als ſonſt, und die Sonne,
die heut ſo viel heller ſcheint, als an andern Tagen,
bringt die ſeltſamſten Wirkungen auf ſie hervor. Zu¬
nächſt einen eigenen Drang der Füße, in der Richtung
nach den Fenſtern ſich zu bewegen; dann ein ebenſo
wunderbar plötzliches Wiedererwachen längſt entſchlafe¬
ner Freundſchaften, deren Gegenſtände in der Nähe des
Nettenmair'ſchen Hauſes wohnen und die man beſuchen
muß; endlich merkwürdig oft wiederkehrenden Andrang
des Blutes nach dem Kopfe, den man für ein Errö¬
then angeſehen hätte, war nur irgend ein Grund dazu
vorhanden.


Ob die Veränderung, die mit unſerm Wanderer in
der Fremde vorgegangen, ſeinen Bruder ebenſo erfreuen
wird, als die Nachbaren?


Er iſt an der Thür des Vaterhauſes angekommen.
Vergeblich hat er an den Fenſtern nach einem bekann¬
ten Antlitz geſucht. Jetzt kommt ein unterſetzter Herr
im ſchwarzen Frack herausgeſtürzt. So haſtig kommt
er geſtürzt, ſo wild umſchlingt er jenen, ſo feſt
drückt er ihn an ſeine weiße Weſte, ſo nah' drängt er
Wange gegen Wange, ſo lang' läßt er ſie da ruh'n,
daß man die Wahl hat, zu glauben, er liebt den Bru¬
[44] der außerordentlich, oder — er will ſich nicht gern in
die Augen ſeh'n laſſen von ihm. Aber er muß ihn
doch endlich einmal aus den Armen thun; er
nimmt ihn unter den rechten und zieht ihn in die
Thüre.


Schön, daß du kommſt! herrlich, daß du kommſt!
Es war eigentlich nicht nöthig — ein Einfall von dem
im blauen Rock, und der hat nichts mehr zu befehlen
im Geſchäft. Aber es iſt wirklich ſchön von dir; es
thut mir nur leid, daß du deiner Braut unnütz die
Augen roth machſt. Deiner Braut! das ſprach er ſo
deutlich und mit ſo erhöhter Stimme, daß man es in
der Wohnſtube vernehmen und verſtehen konnte.


Der Ankömmling ſuchte mit feuchten Augen in
des Bruders Angeſicht, wie um Zug für Zug durch¬
zugeh'n, ob auch Alles noch darin ſei, was ihm ſo lieb
und theuer geweſen. Der Bruder that nichts dazu,
das Geſchäft ihm zu erleichtern. Was auch ihn hin¬
dern mochte; er ſah von dem Andern nur, was ſich
zwiſchen Kinn und Fußſpitzen deſſelben befand. Er
hatte vielleicht gedacht, ſich mit der alten Wendung auf
den Ferſen an die Spitze des Zuges zu ſtellen. Aber
nach dem Wenigen, das er geſeh'n, paßte „der Träu¬
mer“ nicht mehr und die Wendung unterblieb.


Der Vater hat es haben wollen, ſagte der Ankömm¬
ling unbefangen. Und was du da von einer Braut
ſagſt —


[45]

Der Bruder unterbrach ihn; er lachte laut in ſeiner
alten Weiſe, ſo daß man, ſprach Appollonius auch
weiter, ihn nicht mehr verſtanden hätte. Schon gut!
Schon gut! Noch einmal, es iſt prächtig, daß du uns
beſuchſt und vierzehn Tage wenigſtens wirſt du feſt
gehalten, magſt du wollen oder nicht. Kehr' dich nicht
an die, ſetzte er leiſer hinzu und zeigte mit der Rechten
durch die Thüre, die er eben mit der Linken öffnete.


Die junge Frau ſtand mit dem Rücken gegen die
Thür an einem Schrank, in welchem ſie kramte. Ver¬
legen und nicht eben freundlich wandte ſie ſich, und
nur nach dem Manne. Noch ſah der Schwager nichts
als einen Theil ihrer rechten Wange und eine bren¬
nende Röthe darauf. Was man ſonſt an ihrem Be¬
nehmen auszuſetzen fände, es zeigte ſich darin eine
unverkennbare Ehrlichkeit, ein Unvermögen, ſich anders
zu geben, als ſie war. Sie ſtand da, als mache ſie
ſich gefaßt, eine Beleidigung hören zu müſſen. Der
Ankömmling ging auf ſie zu und ergriff ihre Hand,
die ſie ihm erſt ſchien entziehen zu wollen und dann
regunglos in der ſeinen liegen ließ. Er freute ſich,
ſeine werthe Schwägerin zu begrüßen. Er bat ihr ab,
daß er durch ſein Kommen ſie erzürne, und hoffte, durch
redliches Bemüh'n den unverkennbaren Widerwillen zu
beſiegen, den ſie gegen ihn trage. In ſo ſchonende
und artige Wendung er Bitte und Hoffnung kleidete,
er ſprach beide blos in Gedanken aus. Daß Alles ſo
[46] war, wie er es ſich gedacht, und doch wieder ſo ganz
anders, nahm ihm Unbefangenheit und Muth.


Der Bruder machte der peinlichen Pauſe, denn ſeine
Frau antwortete mit keinem Laute, ein willkommenes
Ende. Er zeigte auf die Kinder. Sie drängten ſich
noch immer, unbeirrt von Allem, was die Erwachſenen
bedrängte und ſie nicht bemerkten und verſtanden, um
den neuen Onkel; und dieſer war froh über den Anlaß,
ſich zu ihnen herabzubeugen und tauſenderlei Fragen
beantworten zu müſſen.


Die Brut iſt aufdringlich, ſagte der Bruder. Er
zeigte auf die Kinder, aber er ſah verſtohlen nach der
Frau. Bei alledem wundert's mich, wie ihr bekannt
geworden ſeid. Und ſo ſchnell ſo vertraut, fügte er
hinzu. Er mochte in Gedanken ſeine letzte Bemerkung
weiter ſpinnen: es ſcheint, du verſtehſt ſchnell vertraut
zu werden und zu machen. Ein Schatten wie von
Beſorgniß legte ſich über ſein rothes Geſicht. Aber den
Kindern galt die Beſorgniß nicht; er hätte ſonſt dabei
nach den Kindern geſehn und nicht nach ſeiner Frau.


Der Ankömmling ſprach immer eifriger mit den
Kindern. Er hatte die Frage überhört, oder er wollte
vor der zürnenden Frau ſich nicht merken laſſen, weſſen
Bild er ſo lebendig in ſich trage. Die Aehnlichkeit mit
der Mutter hatte ihn die Kleinen, die ihm zufällig begeg¬
net, als ſeines Bruders Kinder erkennen laſſen. Die
Frage aber, wie ſie ſo ſchnell mit ihm vertraut werden
[47] konnten, hätte man an den alten Valentin thun müſſen.
War er's doch geweſen, der ihnen immer von dem
Onkel erzählt, der bald zu ihnen komme. Vielleicht
nur, um von dem mit Jemand ſprechen zu können,
von dem er ſo gern ſprach. Der Bruder und die
Schwägerin wichen ſolchen Geſprächen aus und der
alte Herr machte ſich nicht ſo gemein mit dem alten
Geſellen, über Dinge mit ihm zu ſprechen, die ihm
den Vorwand bieten konnten, in irgend eine Art Ver¬
traulichkeit gegen ihn zu verfallen. Der alte Valentin
hätte auch ſagen können, die Kinder waren nicht zu¬
fällig dem Onkel begegnet. Sie waren gegangen, um
ihn zu finden. Der alte Valentin hatte daran
gedacht, wie tauſend Heimkehrenden die harrende Liebe
entgegeneilt; es hatte ihm weh gethan, daß nur ſeinem
Liebling kein Gruß entgegenkäme, ehe er pochte an des
Vaters Thür.


Apollonius verſtummte plötzlich. Er erſchrack, daß
die Verlegenheit ihn des Vaters vergeſſen gemacht. Der
Bruder verſtand ſeine Bewegung und ſagte erleichtert:
er iſt im Gärtchen. Apollonius ſprang auf und eilte
hinaus.


Da unter ſeinen Beeten kauerte die Geſtalt des
alten Herrn. Er folgte der Scheere des alten Valen¬
tin, der auf den Knieen vor ihm herrutſchte, noch im¬
mer mit den prüfenden Händen. Er fand manche Un¬
gleichheit, die der Geſelle ſofort entfernen mußte. Ein
[48] Wunder war es nicht. Der alte Valentin dachte jede
Minute zweimal: jetzt kommt er! und wenn er ſo dachte,
fuhr die Scheere queer in den Buchsbaum hinein. Und
der alte Herr würde noch anders gebrummt haben,
machte nicht derſelbe Gedanke die Hand unſicher, die
nun ſein Auge war.


Apollonius ſtand vor dem Vater und konnte vor
Schmerz nicht ſprechen. Er hatte lang gewußt, der
Vater war blind, er hatte ſich ihn oft in ſchmerzlichen
Gedanken vorgemalt. Da war er geweſen wie ſonſt,
nur mit einem Schirm vor den Augen. Er hatte ſich
ihn ſitzend oder auf den alten Valentin ſich lehnend
gedacht, aber nie, wie er ihn jetzt ſah, die hohe Ge¬
ſtalt hülflos wie ein Kind, die kauernde Stellung,
die zitternd und ungewiß vor ſich hingreifenden Hände.
Nun wußte er erſt, was blind ſein heißt. Valentin
ſezte die Scheere ab und lachte oder weinte auf den
Knieen; man konnte nicht ſagen, was er that. Der
alte Herr neigte erſt wie horchend den Kopf auf die
Seite, dann nahm er ſich zuſammen. Apollonius ſah,
der Vater empfand ſeine Blindheit als etwas, deß er
ſich ſchämen müſſe. Er ſah, wie der alte Herr ſich
anſtrengte, jede Bewegung zu vermeiden, die daran er¬
innern könnte, er ſei blind. Er wußte nun erſt, was
bei dem alten Mann, den er ſo liebte, blind ſein hieß!
Der alte Herr ahnte, daß der Ankömmling in ſeiner
Nähe war. Aber wo? auf welcher Seite? Apollonius
[49] fühlte, der Vater empfand dieſe Ungewißheit mit Be¬
ſchämung, und zwang die verſagende Bruſt zu dem Rufe:
Vater! lieber Vater! Er ſtürzte neben dem alten Herrn
in die Kniee und wollte beide Arme um ihn ſchlagen.
Der alte Herr machte eine Bewegung, die um Scho¬
nung zu bitten ſchien, obgleich ſie nur den Jüngling
von ihm abhalten ſollte. Der ſchlug die zurückgewie¬
ſenen Arme um die eigene Bruſt, den Schmerz da feſt
zu halten, der, über die Lippen geſtiegen, dem Vater
verrathen hätte, wie tief er deſſen Elend empfand. Die
gleiche Schonung ließ den alten Valentin die unwill¬
kührliche Bewegung, dem alten Herrn ſich aufrichten
zu helfen, zu einem Griff nach der Scheere machen,
die zwiſchen ihm und dieſem lag. Auch er wollte den
Ankömmling verbergen, was nicht zu verbergen war.
So treu und tief hatte er ſich in ſeinen alten Herrn
hineingelebt.


Der alte Herr hatte ſich erhoben und reichte dem
Sohne die Hand, etwa als wär' dieſer ſo viel Tage
fortgeweſen, als er Jahre fortgeweſen war. Du wirſt
müde ſein und hungrig. Ich leide etwas an den Augen,
aber es hat nichts zu ſagen. Wegen des Geſchäftes
rede mit dem Fritz. Ich hab's aufgegeben. Ich will
Ruhe haben. Aber das iſt's eigentlich nicht; junge
Leute müſſen auch einmal ſelbſtändig werden. Das
gibt mehr Luſt zum Geſchäft.


Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 4[50]

Er trat dem Sohn um einen Schritt näher. Es
war wie ein Kampf in ihm. Er wollte etwas ſagen,
das Niemand hören ſollte, als der Sohn. Aber er
ſchwieg. Ein Gedankenſchatten von Mißtrauen und
Furcht, ſich etwas zu vergeben, flog über ſein ſteiner¬
nes Geſicht. Er winkte dem Sohn, zu geh'n. Aber
er ſelbſt blieb regungslos ſteh'n, bis ſein ſcharfes Ohr
die Thür der Wohnſtube öffnen und ſchließen gehört.
Dann ging er nach der Laube, immer voll Anſtrengung
und ſcheinbarer Sorgloſigkeit. Drinn ſtand er lang,
mit dem Geſichte der grünen Hinterwand zugekehrt,
und ſchien die Ranken von Teufelszwirn, die dieſe
bildeten, angelegentlich zu muſtern. Allerlei Gedanken
zogen über ſeine Stirn. Es waren ſorgenvolle, ſeltener
von Hoffnung angeſchimmert, als von Argwohn über¬
dunkelt; und alle galten dem Geſchäft und der Ehre des
Hauſes, um das er vor Allen, ſelbſt vor den Gliedern
dieſes Hauſes, ſich nicht im entfernteſten zu kümmern
ſich den Anſchein gab.


Warum er unterdrückt, was er dem Ankömmling
ſagen wollte? War es vom Geſchäft oder von der Ehre
des Hauſes? Und wußte oder ahnte er, der anſtatt
ſeiner nun um Beides zu ſorgen hatte, ſtand an die
Thür des Gärtchens gelehnt und konnte hören, was
er ſprach, und wenn er heimlich mit ihm ſprach, wenig¬
ſtens ſehen, daß er dies that? War es der Grund,
warum er Apollonius hatte zurückrufen laſſen aus der
[51] Fremde? Und ſchien ihm noch jetzt jedes Ausſprechen
eines Warum mit ſeinem Anſehn unverträglich?


Es war ein wunderlich Beiſammenſein drinn in der
Wohnſtube am Mittagstiſch. Der alte Herr aß, wie
immer, allein auf ſeinem Stübchen. Auch die Kinder
waren entfernt worden und kamen erſt nach dem Eſſen
wieder herein. Die junge Frau hielt ſich mehr in der
Küche oder ſonſt wo auf; und ſaß ſie einmal wenige
Minuten lang am Tiſch, ſo war ſie ſtumm wie bei der
Begrüßung, und die grollende Wolke wich nicht von
ihrer Stirn. Der Bruder war des Vaters Zuſtand
gewohnt, der Apollonius noch mit erſter Schärfe in
das Herz ſchnitt; er erzählte nur von den Wunderlich¬
keiten deſſelben; der im blauen Rock wiſſe ſelbſt nicht,
was er wolle, und mache ſich und Allen im Hauſe ohne
Noth das Leben ſauer. Begann Apollonius von dem
Geſchäft, von der bevorſtehenden Reparatur des Kirch¬
dachs von Sankt Georg, dann ſprach der Bruder von
Vergnügungen, mit denen er ſich freue, dem Bruder
ſeinen Aufenthalt bei ihm angenehmer zu machen, und
gedachte dieſes Aufenthalts ſtets als eines vorüber¬
gehenden Beſuches. Sagte der ihm, er ſei nicht ge¬
kommen, ſich zu vergnügen, ſondern zu arbeiten, dann
lachte er wie über einen unvergleichlichen Witz, daß
Apollonius helfen wolle, nichts zu thun, und zeigte, er
verſtehe Spaß, und wär' er noch ſo trocken vorgetragen.
Dann, war ſeine Frau hinausgegangen, forſchte er
4*[52] nach dem Verhältniß Apollonius zu der Tochter des
Vetters und lachte dann wieder über den Bruder Spa߬
vogel, in dem man den alten Träumer gar nicht wieder¬
erkenne.


Nach Tiſch kamen die Kinder wieder herein und mit
ihnen mehr Leben und Gemüthlichkeit. Während Apol¬
lonius vor den alten Verhältniſſen noch als vor neuen
und fremden ſtand, hatte das neue zu den Kleinen ſchon
die ganze Vertraulichkeit eines alten gewonnen. Den
ganzen Nachmittag beſchäftigte den Bruder und, wie
es ſchien, auch die Schwägerin nur der Ball. Der
Bruder vergaß immer mehr, was ihm unbehaglich ſein
mochte, über dem Eindruck, den er als Hauptperſon bei
dem Feſte auf den Ankömmling machen würde, und
benutzte die Zeit bis zum Beginne desſelben, ihm durch
Erzählungen und hingeworfene Winke von Ehre und
Aufmerkſamkeit, die ihm bei ſolchen Gelegenheiten von
den angeſehenſten Bürgern erwieſen werde, einen Vor¬
geſchmack zu geben. Er wurde zuſehends heiterer und
ſchritt immer ſtolzer in der Stube hin und her. Das
Knarren ſeiner wohlgewichſten Stiefeln ſagte einſtwei¬
len, eh's die Ballgäſte thaten: Ei, da iſt er ja! da iſt
er ja! und wenn er dazwiſchen mit beiden Händen in
den Hoſentaſchen mit Geld klapperte, klang's aus allen
Saalecken: Nun wird's famos! Nun wird's famos!
Und dahin zwiſchen den Bewillkommnenden — aber
ſchon ging er nicht mehr, er ſchwebte, er ſchwamm auf
[53] der Muſik — jeder Tanz war eine Jubelouvertüre auf
den Namen Nettenmair — er fühlte keinen Boden,
keine Füße, keine Beine mehr unter ſich, kaum noch die
junge Frau Nettenmair, die neben ihm ſchwamm, an
ſeiner rechten Floßfeder hangend, die Schönſte unter
den Schönen, wie er der Jovialſte unter den Jovialen,
der Daumen an der Hand des Balles war. Und zwei
Stunden darauf klang es wirklich von allen Seiten:
da iſt er! rief's wirklich aus allen Ecken: nun wird's
famos! Wo ſie vorbeikamen, wurden Stühle ange¬
boten. Keine Hand wurde ſo oft und anhaltend ge¬
ſchüttelt, als des jovialen Fritz Nettenmair's, keinem
Geſellſchaftsmitgliede ſo viel ungeheucheltes Lob in die
Ohren gegoſſen, als ihm. Aber wie liebenswürdig
war er auch! Wie herablaſſend nahm er all' die ver¬
dienten Huldigungen auf. Wie witzig zeigt' er ſich;
wie gefällig lachte er. Und nicht allein über ſeine eige¬
nen Späſſe — denn das war keine Kunſt; ſie waren
ſo geiſtreich, daß er lachen mußte, wenn er nicht wollte
— auch über andere, ſo wenig die es, gegen die ſeinen
gehalten, verdienten. Es gab freilich auch Leute, die
ſich wenig an ihn kehrten, aber er bemerkte ſie nicht,
und die es deutlicher zeigten, waren Philiſter, Alltags¬
kerle, unbedeutende Menſchen, wie er dem Bruder mit
verächtlichem Bedauern in's Ohr ſagte. Es war ganz
eigen; man konnte an dem Grad ihrer Verehrung von
Fritz Nettenmair ihre größere oder geringere Bedeutung
[54] als Menſchen und Bürger ganz genau ermeſſen. Da
ſtand er, den rothen Kopf in den Schultern, die das
ungeheuchelte Gefühl ſeiner Wichtigkeit — und ſeine
eigene ſtille Meinung von ſich war noch ungeheuchel¬
ter, als die laut ausgeſprochene der bedeutendſten Leute
im Saal über ihn — noch mehr als gewöhnlich in die
Höhe gezogen, die Arme bald in graziöſer Eckigkeit an
den Leib gedrückt, bald ausgeſtreckt, um mit dem Stocke
irgend einem der bedeutendſten Leute eine klatſchende
Liebkoſung zu verſetzen, die jederzeit mit einem dankba¬
ren Lächeln erwiedert wurde.


Als der Tanz begann, zog Fritz Nettenmair den
Bruder in eine Nebenſtube. Du mußt tanzen, ſagte
er. Von meiner Frau würdeſt du einen Korb holen
und das wär' mir unangenehm. Ich will dir eine
zuführen, die firm iſt und dich im Takt erhalten kann.
Nur herzhaft, Junge, wenn's auch nicht gleich geh'n
will. Fritz Nettenmair hatte in der Aufregung der
Eitelkeit ſechs Jahre vergeſſen. Der Bruder war ihm
noch der alte Träumer, den er zuweilen zu ſeinem
Vergnügen zu tanzen zwang. Als er ihm, auf deſſen
Weigerung er nicht geachtet, das Mädchen zuführte,
ergab ſich dieſer, um nicht unhöflich zu erſcheinen.


Herr Fritz Nettenmair war der gutmüthigſte Menſch
von der Welt, ſo lang er ſich den alleinigen Gegen¬
ſtand der allgemeinen Bewunderung wußte. In ſolcher
Stimmung konnte er für diejenigen, die ſein Glanz
[55] in den Schatten ſtellte, Thaten der Aufopferung thun.
So auch jetzt. Wie er unter den bedeutenden Leuten
ſaß, die er mit Champagner traktirte, und in den Augen
ſeiner Frau die Befriedigung las, mit der ſie ihn mit
Ehren überhäuft ſah, kam die Empfindung über ihn,
als habe er dem Bruder ein großes Unrecht verziehn
und er ſei ein außerordentlich edler Menſch, der all'
die Ehrenbezeugungen verdiene und in wunderbarer
Anſpruchsloſigkeit ſich dennoch herablaſſe, ſich durch ſie
rühren zu laſſen. Eben tanzte Apollonius vorüber. Er
ſah, der war der alte Träumer nicht mehr, aber er
vergab ihm auch das. Alle Augen waren auf den
ſchönen Tänzer und ſeinen gewandten Anſtand gerich¬
tet. Er zog ſeine Frau auf und in der Gewißheit,
wie ſehr er den Bruder überglänzen müſſe, hatte er
noch die Wolluſt, dem Bruder, wer weiß wie viel Un¬
recht, das ihm dieſer nie zugefügt, zu verzeihn.


Aber der Undankbare! Er ließ ſich nicht überglänzen.
Fritz Nettenmair tanzte jovial und wie einer, der die
Welt kennt und mit der Art umzugehn weiß, die lange
Haare hat und Schürzen trägt; der Bruder war ein
ſteifes Bild dagegen. Der nickte den Takt nicht mit
dem Kopfe, der warf nicht, trat der linke Fuß im
Niedertakte auf, den Oberleib auf die rechte Seite und
umgekehrt; der fuhr nicht mit kühner Genialität hin
und wieder queer über den Tanzſaal und ſtach andere
Paare aus; der tanzte durchaus weder jovial, noch
[56] wie einer, der die Welt kennt und mit der Art umzu¬
gehn weiß, die lange Haare und Schürzen trägt; und
dennoch blieben alle Blicke auf ihm haften; und Fritz
Nettenmair übertraf vergeblich ſich ſelbſt.


Es war der ledernſte Ball, den Fritz Nettenmair
mitgemacht; er konnte nicht lederner ſein, war Fritz
Nettenmair daheim geblieben. Fritz Nettenmair ver¬
ſicherte es mit hohen Schwüren, und die bedeutenden
Leute, die ſeinen Champagner tranken, ſtimmten, wie
[immer], unbedingt in ſeine Meinung ein.


Einige bedeutende Frauen ſprachen gegen Frau
Nettenmair ihre gerechte freundſchaftliche Entrüſtung
über den Schwager aus. Daß dieſer nicht die Schwä¬
gerin zuerſt zum Tanze aufgezogen, bewies eine un¬
verzeihliche Mißachtung derſelben. Die Frau Netten¬
mair, die das allgemeine Unrecht an ihrem jovialen
Gatten ſo tief fühlte, als wär' es ihr ſelber angethan,
ſagte, der Schwager habe wohl gewußt, daß er ſich
nur einen Korb bei ihr geholt hätte. Aber dieſer wurde
nur immer mehr bewundert und geehrt und der Ball
demzufolge nur immer noch lederner. So ledern, daß
Fritz Nettenmair mit ſeiner Frau zu einer Stunde auf¬
brach, wo er ſonſt erſt recht jovial zu werden anfing.
Dennoch ſammelte er feurige Kohlen auf des undank¬
baren Bruders Haupt. Er bat in deſſen Namen das
Mädchen, dem Bruder zu erlauben, daß er ſie heimbe¬
gleiten dürfe. Dann ging er aus dem Nebenſtübchen
[57] wieder in den Saal zu ſeiner Frau und verließ mit
dieſer unter der ungeheucheltſten Verzweiflung der be¬
deutenden Leute, die noch Durſt nach Champagner
hatten, das Haus.


Apollonius fand, als er des aufgenöthigten Ritter¬
dienſtes gegen ſeine Dame ſich entledigt, die Thür des
Vaterhauſes offen und alle ſeine Bewohner ſchon im
Schlafe. Wenigſtens zeigte ſich nirgends ein Licht und
Alles war ſtill. Der Bruder hatte ihm das Kämmer¬
chen links an der Emporlaube zur Wohnung angewie¬
ſen. Zu Apollonius Glück hatten die ſechs Jahre das
Haus nicht verändert, wie ſeine Bewohner. Er ging
leiſe durch die Hinterthür, an dem freundlich knurren¬
den Moldau vorbei, dem er voll Dankbarkeit für das
Zeichen ſeiner Beſtändigkeit den rauhen Hals ſtreichelte,
ſtieg die Treppe herauf, ſchritt die Emporlaube entlang
und fand ein Bett in ſeinem Stübchen. Aber er ſaß
noch lang, eh' er ſich entkleidete, auf dem Stuhl am
Fenſter und verglich, was er gefunden, mit dem, was
er verlaſſen.


Die Gedanken und Bilder des Vergleichs ſpielten
noch in ſeine Träume hinein. Der Vater ſtand wieder
vor ihm und kündigte ihm an, er müſſe noch morgen
nach Köln und inmitten der Rede brach die rüſtige
Geſtalt zuſammen und tappte hülflos mit zitternden
Händen an der Erde herum und ſchämte ſich ihrer
Blindheit. Der Bruder ſaß dabei und trank Cham¬
[58] pagner. Die Schwägerin kam aus dem Hauſe, das
liebliche, offene Geſicht voll Zutraulichkeit und Aufrich¬
tigkeit von ſonſt; die Blume, die ſie vor Apollonius
hinlegen wollte, fiel aus ihrer Hand, als ſie den Bru¬
der erblickte und der ihm neue, fremde Zug von Leer¬
heit, gedankenloſer, eitler Vergnügungsſucht, von grol¬
lender Bitterkeit gegen Appollonius legte ſich über ſie
wie ein ſchmutziges Spinnengewebe. Er wollte arbei¬
tend ſich vergeſſen, aber der Bruder rüttelte an dem
Fahrſtuhl, daß er faſt hinunterſtürzte aus der Schwin¬
delhöhe auf's Pflaſter und ſagte: ein Beſuch für vier¬
zehn Tage dürfe nicht arbeiten. Er wolle ja ohnehin
wieder heim. Und ſonderbar war's, daß ihm jetzt Köln
als ſeine Heimath erſchien und ſeine Vaterſtadt ſo
fremd, daß er ſich die bitterſten Vorwürfe machte in
ſeiner Gewiſſenhaftigkeit. Dann fand er ſich wieder
auf dem Fahrſtuhl hoch am Thurmdach. Da war Alles
anders, als es ſein ſollte, die Schiefer in verkehrter
Richtung gedeckt, und nun ſtack er in die Ausfahrthür
eingeklemmt, ringsum in ſtaubige Spinnengewebe ein¬
gewickelt; er hatte ſeine Feſttagskleider an; ſie waren
voll Schmutz; er wiſchte und bürſtete, daß er ſchwitzte,
und ſie wurden nicht rein. Und ſo oft er von der
vergeblichen Bemühung aufwachte, wiederholt' er ſich
laut den Entſchluß, den er vor dem Niederlegen gefaßt.
Am nächſten Morgen mußte er wiſſen, was er hier
ſollte, mußte ſein Verhältniß zum Vaterhauſe ein klares
[59] ſein. War keine Arbeit für ihn, ſo ſah ihn der Mor¬
gen noch auf ſeinem Rückwege nach Köln. —


Mit der Sonne war er auf. Aber er mußte lange
warten, bis es dem Bruder gefiel, ſich von ſeinem La¬
ger zu erheben. Er benutzte die Zeit zu einem Gange
nach Sankt Georg; er wollte ſich ſelbſt überzeugen,
was dort zu thun ſei. Als er wieder zurück kam, traf
er auf ſeinen Bruder und einen Herrn mit ihm, die
eben im Begriffe waren, die Wohnſtube zu verlaſſen.
Den Herrn kannte Apollonius noch von früher her
als den Deputirten des Stadtraths für das Baufach.
Sie begrüßten ſich. Sie hatten ſchon geſtern auf dem
Balle ſich geſprochen, wo der Herr ſich eben nicht als
ein bedeutender Menſch und Bürger ausgewieſen, viel¬
mehr zu den Philiſtern, Alltagskerlen und Unbedeuten¬
den gehalten hatte. Es ſchien ihm nicht unlieb, Apol¬
lonius eben jetzt zu begegnen. Nach einigen herge¬
brachten Wechſelreden kam er auf den Zweck ſeines
Hierſeins. Es ſollte dieſen Morgen noch eine letzte
Berathung von Sachverſtändigen ſtattfinden über das,
was an Kirchen- und Thurmdach zu thun ſei, damit
das Reſultat derſelben noch bei der am Nachmittag
ſtattfindenden Rathsſitzung vorgetragen und Beſchluß
gefaßt werden könne. Fritz Nettenmair und der Raths¬
bauherr waren eben auf dem Wege nach Sankt Georg,
wo ſie die übrigen Sachverſtändigen bereits verſammelt
wußten.


[60]

Der Bruder wollte ſeinen Beſuch, wie er ſagte,
nicht mit der Theilnahme an fremden Geſchäften be¬
ſchweren: ebenſowenig mochte er ihn — aber das ſagte
er nicht — allein daheim laſſen. Er beſtellte Apollo¬
nius nach dem Waldhauſe, von wo er ihn zu einem Spa¬
ziergange abholen würde. Apollonius verſicherte ganz
unbefangen, daß er lieber der Verhandlung beiwohnen
möchte, und als der Rathsbauherr ihn ſogar als einen
Sachverſtändigen mehr zum Mitgeh'n aufforderte, war
kein Vorwand zu finden, es zu verhindern. Vielleicht
hatte Fritz Nettenmair eine Ahnung davon, bald werde
er dem Ankömmling noch weit mehr zu verzeihen haben.


Sie fanden die übrige Verſammlung, zwei fremde
Schieferdeckermeiſter und die ſtädtiſchen Rathsbauleute,
den Raths-Zimmermann, Maurer und Klempner an
der Thurmthüre ihrer harrend. Man hatte bereits
einige fliegende Rüſtungen zum Behufe der Unterſu¬
chung an dem Dache angebracht; auf dem Kirchenbo¬
den, der größten davon zunächſt, ging die Berathung
vor ſich. Apollonius ſtand beſcheiden einige Schritte
entfernt, um zu hören und, wenn er gefragt würde,
auch zu reden. Er hatte das Dach vorhin genau
unterſucht und ſich eine Meinung von der Sache ge¬
bildet.


Die beiden fremden Schieferdecker ſprachen ſich für
die Nothwendigkeit einer umfaſſenderen Reparatur aus.
Fritz Nettenmair dagegen war überzeugt, mit einigen
[61] kleinen Flickereien, die er angab, ſei wiederum für
Jahre geholfen. Ihm ſtimmten die Rathsmeiſter, Zim¬
mermann, Maurer und Blechſchmied eifrig bei; lauter
joviale und bedeutende Männer vom geſtrigen Balle,
die gewiſſenhaft ſchloſſen, weſſen Champagner man
trinke, deſſen Meinung müſſe man ſein. Die fremden
Schieferdecker wußten recht gut, der Rath fürchtete die
Koſten einer umfaſſenderen Reparatur und verſchob die
höchſt nothwendige ſchon lange von Jahr zu Jahr.
Da ſie obendrein ſelbſt keine Ausſicht hatten, ſich die
Reparatur übertragen zu ſeh'n, ſo gaben ſie ſich nicht
unnütze Mühe, Herrn Fritz Nettenmair Arbeit und
Gewinn aufdringen zu helfen, woran ihm ſelber nichts
gelegen ſchien. Sie fanden daher im Laufe der Debatte
immer mehr, daß, je nachdem man die Sache anſehe,
auch Herr Fritz Nettenmair recht habe. Vielleicht be¬
griff der Rathsbauherr, ein braver Mann, ihre, wie
der bedeutenden Leute Beweggründe. Er hatte mit
unbefriedigtem Geſicht eine Weile geſchwiegen, als ihm
Apollonius einfiel. In deſſen Zügen ſah er ein Etwas
ausgedrückt, das ſeiner eigenen Meinung zu entſprechen
ſchien. Und was ſagen Sie? wandte er ſich zu ihm.


Apollonius trat beſcheiden einen Schritt näher.
Ich wünſchte, Sie ſähen ſich die Sache ſo genau als
möglich an, ſagte der Rathsherr. Apollonius entgeg¬
nete, er habe das bereits gethan. Ich brauche Sie
nicht darauf aufmerkſam zu machen, fuhr der Raths¬
[62] herr fort, wie wichtig die Sache iſt. Apollonius
verbeugte ſich. Der Bauherr hielt zurück, was er noch
ſagen wollte. Aus des jungen Mannes Angeſicht
ſprach bei aller Weichheit und Milde ſo ſtrenge Ge¬
wiſſenhaftigkeit und eigenſinnige Redlichkeit, daß der
Rathsherr ſich der Ermahnung faſt ſchämte, die er an
ihn hatte richten wollen. Apollonius begann nun mit
den Ergebniſſen ſeiner vorhinigen Unterſuchung. Er
ſtellte den Zuſtand der Stellen dar, die er hatte prüfen
können und was ſich daraus auf die übrigen ſchließen
ließ. Seit achtzig Jahren hatte, das war aus den
Kirchenrechnungen bekannt, das Kirchendach keine um¬
faſſendere Reparatur erfahren. Wenn auch die Schie¬
ferdecke bei gutem Material noch weit länger den Ele¬
menten trotzt, iſt das doch nicht mit den Nägeln der
Fall, mit denen die Schieferplatten auf Belattung und
Verſchalung aufgenagelt ſind. Und wo er geprüft,
hatte er die Nägel zum Theile völlig zerſtört, zum
Theil der völligen Zerſtörung nah gefunden. Das
Kirchendach war ein ſehr ſteiles Pultdach; da die Nä¬
gel ihre Schuldigkeit nicht mehr thaten, hatten ſich viele
Platten verſchoben und der Näſſe das Eindringen ge¬
ſtattet; dort zeigte ſich, ſelbſt wo ſie von Eichenholz
war, die Belattung und Verſchalung gänzlich morſch;
und ſolcher Stellen waren überall.


Es zeigte ſich unumgänglich nothwendig, die ganze
Bedachung umzudecken und die Belattung und Verſcha¬
[63] lung der morſchen Stellen durch neue zu erſetzen. Ein
Winter noch mußte den Zuſtand um weit mehr ver¬
ſchlimmern, als durch Verzögerung der Reparatur an
Zinſen erſpart wurde; denn dieſe konnte man ohne
größten Schaden doch nur höchſtens bis auf das nächſte
Jahr hinausſchieben. Er führte die Verſammelten an Stel¬
len, die zum Belege dienen konnten. Er zog nicht ſelbſt
den Schluß, ſondern wußte mit der Kunſt, die er vom
Vetter gelernt, die Gegner zu zwingen, das für ihn zu
thun. Das Vertrauen und die Achtung des Raths¬
bauherrn vor unſerm Apollonius wuchs zuſehends. Er
wandte ſich im weiteren Geſpräche faſt nur an ihn und
ſchüttelte ihm herzlich die Hand, als er die Verſammlung
verließ. Er hoffte, Apollonius werde bei dem Werke,
wenn es wie er nun nicht mehr zweifelte, die Geneh¬
migung des Raths erhielt, ſich thätig betheiligen, und
trug ihm auf, ein Gutachten abzufaſſen, auf welche
Weiſe es am zweckmäßigſten anzugreifen ſei. Apollo¬
nius dankte beſcheiden für das Vertrauen, dem er wür¬
dig zu entſprechen ſuchen wolle. Ueber ſeine Mitthätig¬
keit bei der Arbeit ſelbſt, entgegnete er, habe ſein Vater
als Meiſter zu entſcheiden. Ich gehe gleich mit Ihnen,
ſagte der Rathsbauherr, und ſpreche mit ihm.


Hatte gleich der Bruder das Geſchäft bis jetzt ge¬
leitet und wurde er auch von den bedeutenden Leuten
als Meiſter anerkannt und behandelt, er war es noch
nicht. Der Alte hatte ihn ſo wenig Meiſter werden
[64] laſſen, als ihm das Geſchäft förmlich übergeben; er
wollte ſich, wo er es nöthig fände, ein ſouveraines Ein¬
ſchreiten frei halten.


Der alte Herr hörte die Kommenden ſchon von
Weitem und taſtete ſich nach der Bank in ſeiner Laube.
Da ſaß er, als ſie eintraten. Nach geſchehener Be¬
grüßung fragte der Bauherr nach Herrn Nettenmair's
Befinden. Ich danke Ihnen, entgegnete der alte Herr;
ich leide etwas an den Augen, aber es hat nichts zu
ſagen. Er lächelte dazu und der Bauherr wechſelte
mit Apollonius einen Blick, der dem Manne Apol¬
lonius ganze Seele gewann. Dann erzählte er dem
alten Herrn die ganze Berathung und machte, daß
Apollonius in ſeiner Beſcheidenheit erröthete, und
lange nicht ſeine gewöhnliche Farbe wiederfand. Der alte
Herr rückte ſeinen Schirm tiefer in's Geſicht, um Nie¬
mand die Gedanken ſehen zu laſſen, die da wunderlich
mit einander kämpften. Wer unter den Schirm ſehen
konnte, hätte gemeint, zuerſt, der alte Herr freut ſich;
der Schatten von Argwohn, mit dem er geſtern Apol¬
lonius empfing, ſchwindet. So braucht er doch nicht
zu fürchten, der wird mit dem Bruder gemeine Sache
gegen ihn machen! Ja, es erſchien ein Etwas auf
dem Antlitz, das ſich zu ſchadenfreuen ſchien über die
Demüthigung des älteren. Vielleicht wär' er nach ſei¬
ner Weiſe eingeſchritten mit einem lakoniſchen: du ver¬
ſiehſt meine Stelle von nun, Apollonius, hörſt du?
[65] hätte nicht der Bauherr deſſen Lob geprieſen und wäre
das nicht ſo verdient geweſen. Ja, ſagte er in ſeiner
diplomatiſchen Art, ſeine Gedanken dadurch zu verber¬
gen, daß er ſie nur halb ausſprach; ja, die Jugend!
er iſt jung. — Und doch ſchon ſo tüchtig! ergänzte
der Bauherr. Der alte Herr neigte ſeinen Kopf. Wer
ein Intereſſe darin fand, wie der Bauherr, konnte
glauben, er nickte dazu. Aber er meinte: die Jugend
gilt heut zu Tag in der Welt! Ja, er fühlte Stolz,
daß ſein Sohn ſo tüchtig, Scham, daß er ſelber blind,
Freude, daß Fritz nun nicht mehr konnte, wie er wollte,
daß die Ehre des Hauſes einen Wächter mehr gewon¬
nen, Furcht, die Tüchtigkeit, der er ſich freute, mache
ihn ſelbſt überflüſſig. Und er konnte nichts dagegen
thun; er konnte nichts mehr, er war nichts mehr. Und
als hätte Apollonius das ausgeſprochen, erhob er ſich
ſtraff, wie um zu zeigen, jener triumphire zu früh.
Der Bauherr bat, der alte Herr möge den Sohn für
die Dauer der Reparatur hier behalten und dabei thä¬
tig ſein laſſen. Der alte Herr ſchwieg eine Weile, als
warte er darauf, Apollonius ſolle ſich des Dableibens
weigern. Dann ſchien er anzunehmen, Apollonius
weigere ſich, denn er befahl in ſeiner grimmigen Kürze:
Du bleibſt; hörſt du?


Apollonius begab ſich auf ſein Stübchen, ſeine
Sachen auszupacken. Er war noch darüber, als die
Nachricht kam, der Stadrath habe die Reparatur ge¬
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 5[66] nehmigt. So war es beſtimmt: er blieb. Er durfte
für die geliebte Heimath ſchaffen und anwenden, was
er in der Fremde gelernt. Wer den ganzen Apollonius
Nettenmair mit einem Blicke überſchauen wollte, mußte
jetzt in ſein Stübchen hereinſeh'n. Das Hauptziel
aller ſeiner Wünſche war erreicht. Er war voll Freude.
Aber er ſprang nicht auf, rannte nicht in der Stube
umher, er ließ nichts fallen, er verlegte nichts, er
ſuchte nicht im Koffer oder auf dem Stuhle, was er
in den Händen hielt. Die Freude verwirrte ihn nicht,
ſie machte ihn klarer, ja, ſie machte ihn eigenſinniger.
Er überſah darum kein Federchen, nicht ein Stäubchen
auf den Kleidern, die er auspackte; er ſtrich nicht ein¬
mal weniger, als er gewohnt war, darüber hin; nur
an der Art, wie er das that, ſah man, was in ihm
vorging. Es war zugleich ein Liebkoſen der Dinge.
Die Freude über ein neugewonnenes Gut verdunkelte
ihm keinen Augenblick lang, was er ſchon beſaß. Alles
war ihm noch einmal geſchenkt, und das Verhältniß
zu jedem ſeiner Beſitzſtücke zeigte das Gepräge einer
liebenden und doch rückſichtsvollen Achtung. Wenn er
an das Lob des Bauherrn dachte, war ſeine Freude
darüber im einſamen Stübchen mit demſelben beſcheiden
abweiſenden Erröthen gepaart, womit er es in Ge¬
genwart von Andern aufgenommen. Für ihn gab es
kein Allein und kein vor den Leuten.


[67]

Als er ſich eingerichtet ſah, ging er ſogleich an das
verlangte Gutachten. Die Reparatur war auf ſeinen
Rath beſchloſſen worden. Er empfand, er war nicht
allein als ſeines Vaters Geſelle, als bloßer Arbeiter
dabei betheiligt; er fühlte, er hatte noch eine beſondere
moraliſche Verpflichtung gegen ſeine Vaterſtadt einge¬
gangen; er mußte thun, was in ſeinen Kräften ſtand,
ihr zu genügen. Er wußte nicht, daß kein Bewußt¬
ſein einer ſolchen dazu nöthig war; er hätte ohnedies
gethan, was er vermocht; er kannte ſich zu wenig, um
das zu wiſſen.


In dieſer erhöhten Stimmung erſchien ihm leicht,
was ſein Dableiben von Seiten des Bruders und der
Schwägerin unbehaglich zu machen drohte, zu beſeiti¬
gen. Der Bruder wünſchte ſein Geh'n ja nur um
des Widerwillens der Schwägerin willen, und der war
durch Ausdauer redlichen Mühens zu beſiegen. Sei¬
nen Bruder hatte er nie beleidigt; er wollte ſich ihm
im Geſchäfte willig unterordnen. Er dachte nicht, daß
man beleidigen kann, ohne zu wiſſen und zu wollen,
ja, daß die Pflicht gebieten könne, zu beleidigen. Er
dachte nicht, daß ſein Bruder ihn beleidigt haben könnte.
Er wußte nicht, man könne auch den haſſen, den man
beleidigt, nicht bloß den Beleidiger.


Unten am Schuppen ſtand der ungemüthliche Ge¬
ſelle grinſend vor Fritz Nettenmair. Er ſagte: mit dem
erſten Blick hab' ich einen weg. Ja, der Herr Apol¬
5 *[68] lonius! Aber's hat nichts zu ſagen. Wird nicht lang
dauern das! Fritz Nettenmair kaute an den Nägeln
und überſah die Geberde, die ihn reizen ſollte, zu fra¬
gen, wie der Geſell das meine mit dem nicht lang
Dauern. Er ging nach der Wohnſtube und fuhr im
Gehen leiſe gegen einen Jemand auf, der nicht da
war: Rechtſchaffenheit? Geſchäftskenntniß, wie der
Alltagsrathsbaukerl ſagt? Ich weiß, warum du dich
aufdringſt und einniſteſt, du Federchenſucher! du Staub¬
wiſcher! Thu' unſchuldig, wie du willſt, ich — er
machte die Geberde, die hieß: „ich bin einer, der das
Leben kennt und die Art, die lange Haare und Schür¬
zen trägt!“ Damit wandte er ſich nach der Thür,
aber die Wendung war nicht jovial wie ſonſt. — Wie
Mancher meint die Welt zu kennen und kennt nur ſich!


Der Geiſt des Hauſes mit den grünen Fenſterladen
wußte mehr, als Apollonius Nettenmair, wußte mehr,
als Alle. Er ſchaute Nachts durch das Fenſter, wo
Apollonius bei der Lampe noch immer an ſeinem Gut¬
achten ſchrieb. Auf das Papier vor dem jungen Manne
fiel ſein bleicher Schatten und der Schreibende athmete
ſchwer auf, er wußte nicht, warum. Dann ſchritt er
mit ängſtlicher Geberde den Gang zum Schuppen hin,
und der alte Hund an ſeiner Kette heulte im Schlafe
und wußte nicht warum. Die junge Frau ſah ſeine
Hand über des Gatten Stirne fahren; ſie erſchrack, er
erſchrack mit und wußte nicht warum. Dem alten
[69] Herrn träumte, man trüge einen Todten mit Schande
in das Haus und das alte Haus knackte in allen ſei¬
nen Balken und wußte nicht warum. Und der Geiſt
wandelte noch lang, als Alles ſchon zu Bette war,
durch ſeine Zimmer, herauf und herab, her und hin,
auf der Emporlaube, im Gärtchen, im Schuppen und
im Gang und rang die bleichen Hände; er wußte,
warum.


Zwiſchen Himmel und Erde iſt des Schieferdeckers
Reich. Tief unten das lärmende Gewühl der Wande¬
rer der Erde, hoch oben die Wanderer des Himmels,
die ſtillen Wolken in ihrem großen Gang. Monden,
Jahre, Jahrzehnte lang hat es keine Bewohner, als
der krächzenden Dohlen unruhig flatternd Volk. Aber
eines Tages öffnet ſich in der Mitte der Thurmdach¬
höhe die enge Ausfahrthür; unſichtbare Hände ſchieben
zwei Rüſtſtangen heraus. Dem Zuſchauer von unten
gemahnt's, ſie wollen eine Brücke von Strohhalmen in
den Himmel bau'n. Die Dohlen haben ſich auf Thurm¬
knopf und Wetterfahne geflüchtet und ſeh'n herab und
ſträuben ihr Gefieder vor Angſt. Die Rüſtſtangen
ſtehen wenige Fuß heraus und die unſichtbaren Hände
laſſen vom Schieben ab. Dafür beginnt ein Hämmern
im Herzen des Dachſtuhls. Die ſchlafenden Eulen
ſchrecken aus und taumeln aus ihren Lucken zackig in
[70] das offene Aug' des Tages hinein. Die Dohlen
hören's mit Entſetzen; das Menſchenkind unten auf
der feſten Erde vernimmt es nicht, die Wolken oben
am Himmel ziehen gleichmüthig darüber hin. Lang
währt das Pochen, dann verſtummt's. Und den Rüſt¬
ſtangen nach und quer auf ihnen liegend ſchieben ſich
zwei, drei kurze Bretter. Hinter ihnen erſcheint ein
Menſchenhaupt und ein Paar rüſtige Arme. Eine
Hand hält den Nagel, die andere trifft ihn mit ge¬
ſchwungenem Hammer, bis die Bretter feſt aufgenagelt
ſind und die fliegende Rüſtung fertig. So nennt ſie
ihr Baumeiſter, dem ſie eine Brücke zum Himmel wer¬
den kann, ohne daß er es begehrt. Auf die Rüſtung
baut ſich nun die Leiter und, iſt das Thurmdach ſehr
hoch, Leiter auf Leiter. Nichts hält ſie zuſammen, als
der eiſerne Längehacken, nichts hält ſie feſt, als auf der
Rüſtung vier Männerhände und oben die Helmſtange,
an der ſie lehnt. Iſt ſie einmal über der Ausfahrthür
und an der Helmſtange mit ſtarken Tauen angebunden,
dann ſieht der kühne Schieferdecker keine Gefahr mehr
in ihrem Beſteigen, ſo weh dem ſchwindelnden Men¬
ſchenkinde tief unten auf der ſichern Erde wird, wenn
es heraufſchaut und meint, die Leiter ſei aus leichten
Spänen zuſammengeleimt wie ein Weihnachtsſpielwerk
für Kinder. Aber eh' er die Leiter angebunden hat
— und um das zu thun, muß er erſt einmal hinauf¬
geſtiegen ſein, — mag er ſeine arme Seele Gott befeh¬
[71] len. Dann iſt er erſt recht zwiſchen Himmel und Erde.
Er weiß, die leichteſte Verſchiebung der Leiter — und
ein einziger falſcher Tritt kann ſie verſchieben — ſtürzt
ihn rettungslos hinab in den ſichern Tod. Haltet den
Schlag der Glocken unter ihm zurück, er kann ihn
erſchrecken! Die Zuſchauer unten tief auf der Erde
falten athemlos unwillkührlich die Hände, die Dohlen,
die er von ihrem letzten Zufluchtsorte verſcheucht, kräch¬
zen wildflatternd um ſein Haupt; nur die Wolken am
Himmel gehen unberührt ihren Pfad über ihn hin.
Nur die Wolken? Nein. Der kühne Mann auf der
Leiter geht ſo unberührt, wie ſie. Er iſt kein eitler
Wagling, der frevelnd von ſich reden machen will; er
geht ſeinen gefährlichen Pfad in ſeinem Berufe. Er
weiß, die Leiter iſt feſt; er ſelbſt hat das fliegende Ge¬
rüſt gebaut, er weiß, es iſt feſt; er weiß, ſein Herz
iſt ſtark und ſein Tritt iſt ſicher. Er ſieht nicht hinab,
wo die Erde mit grünen Armen lockt, er ſieht nicht
hinauf, wo vom Zug der Wolken am Himmel der
tödtliche Schwindel herabtaumeln kann auf ſein feſtes
Aug'. Die Mitte der Sproſſen iſt die Bahn ſeines
Blicks und oben ſteht er. Es gibt keinen Himmel und
keine Erde für ihn, als die Helmſtange und die Leiter,
die er mit ſeinem Tau zuſammenknüpft. Und der
Knoten iſt geſchlungen; die Zuſchauer athmen auf und
rühmen auf allen Straßen den kühnen Mann und ſein
Thun hoch oben zwiſchen Himmel und Erde. Schie¬
[72] ferdecker ſpielen die Kinder der Stadt eine ganze Woche
lang.


Aber der kühne Mann beginnt nun erſt ſein Werk.
Er holt ein anderes Tau herauf und legt es als dreh¬
baren Ring unter dem Thurmknopf um die Stange.
Daran befeſtigt er den Flaſchenzug mit drei Kloben,
an den Flaſchenzug die Ringe ſeines Fahrzeugs. Ein
Sitzbrett mit zwei Ausſchnitten für die herabhängenden
Beine, hinten eine niedrige, gekrümmte Lehne, hüben
und drüben Schiefer-, Nagel- und Werkzeugkaſten;
zwiſchen den Ausſchnitten vorn das Haueiſen, ein klei¬
ner Ambos, auf dem er mit dem Deckhammer die Schie¬
fer zurichtet, wie er ſie eben braucht; dies Geräth,
von vier ſtarken Tauen gehalten, die ſich oberhalb in
zwei Ringe für den Hacken des Flaſchenzugs vereini¬
gen, das iſt der Hängeſtuhl, wie er es nennt, das
leichte Schiff, mit dem er hoch in der Luft das Thurm¬
dach umſegelt. Mittelſt des Flaſchenzugs zieht er ſich
mit leichter Mühe hinauf und läßt ſich herab, ſo hoch
und tief er mag; der Ring oben dreht ſich mit Flaſchen¬
zug und Hängeſtuhl, nach welcher Seite er will, um
den Thurm. Ein leichter Fußſtoß gegen die Dachfläche
ſetzt das Ganze in Schwung, den er einhalten kann,
wo es ihm gefällt. Und bald bleibt kein Menſchenkind
mehr unten ſteh'n und ſieht herauf; der Schieferdecker
und ſein Fahrzeug ſind nichts Neues mehr. Die Kinder
greifen wieder zu ihren alten Spielen. Die Dohlen
[73] gewöhnen ſich an ihn; ſie ſehen ihn für einen Vogel
an, wie ſie ſind, nur größer, aber friedlich, wie ſie;
und die Wolken hoch am Himmel haben ſich nie um
ihn gekümmert. Die Damen neideten ihm die Aus¬
ſicht. Wer konnte ſo frei über die grüne Ebene hin¬
ſeh'n und wie Berge hinter Bergen hervorwachſen, erſt
grün, dann immer blauer, bis wo der Himmel, noch
blauer, ſich auf die letzten ſtützt! Aber er kümmert ſich
ſo wenig um die Berge, wie die Wolken ſich um ihn.
Tag für Tag handthiert er mit Flickeiſen und Klaue,
Tag für Tag hämmert er Schiefer zurecht und Nägel
ein, bis er fertig iſt mit Hämmern und Nageln. Und
eines Tages ſind Mann, Fahrzeug, Leiter und Rüſtung
verſchwunden. Das Entfernen der Leiter iſt ſo gefähr¬
lich, als ihre Befeſtigung, aber es faltet Niemand
unten die Hände, kein Mund rühmt des Mannes
That zwiſchen Himmel und Erde. Die Krähen wun¬
dern ſich eine ganze Woche lang, dann iſt's, als hät¬
ten ſie vor Jahren von einem ſeltſamen Vogel geträumt.
Tief unten lärmt noch das Gewühl der Wanderer der
Erde, hoch oben geh'n noch die Wanderer des Him¬
mels, die ſtillen Wolken, ihren großen Gang, aber
Niemand mehr umfliegt das ſteile Dach, als der Doh¬
len krächzender Schwarm.


Apollonius hatte zum Behufe ſeines Gutachtens
noch manche Unterſuchungen angeſtellt. Das Thurm¬
dach war mit Metall gedeckt; dieſe Decke lag ſchon
[74] nah an zweihundert Jahre. Als er ſie auf ſeinem
Fahrzeuge umfuhr, fand er die Metallplatten der völ¬
ligen Auflöſung nah. Das hatte man gefürchtet. Blei¬
deckung auf hohen Gebäuden kommt ungleich theurer,
als Deckung mit Schiefer, wenn man dieſen in der
Nähe hat. Den Schieferbedarf nimmt der Decker in
ſeinem Fahrzeuge mit hinauf, das kann er mit den
ungleich ſchwereren Bleiplatten nicht. Die ganze De¬
ckung mit Schiefer beſorgt der Arbeiter von ſeinem
Fahrzeuge aus; Bleideckung macht feſte Gerüſte nöthig.
Apollonius that den Vorſchlag, auch das Thurmdach
mit Schiefer einzudecken. Der Blechſchmied, ein Be¬
deutender, wandte zwar ein, die Alten hätten die Sache
ſo gut verſtanden, als die Leute in Köln, — das ſollte
ein Stich auf Apollonius ſein. Und der Bruder war
damit einverſtanden: hätten die Alten gemeint, Schiefer
thu' es ſo gut als Blei, ſie hätten gleich Schiefer
genommen. Damals waren eben noch keine Schiefer¬
gruben in nächſter Nähe vorhanden; der Schiefer hätte
weit her geholt und daher die Schieferdeckung theurer
kommen müſſen, als die mit Blei. Das Kirchendach
war damals mit Ziegeln und erſt ſpäter, da die Schie¬
fergruben in der Nähe ſchon im Gang, mit Schiefer
gedeckt worden. Das wußten der Blechſchmied und
Fritz Nettenmair nicht oder wollten es nicht wiſſen.
Den Letztern drückte das wachſende Anſeh'n des Bru¬
[75] ders. Aber Apollonius wußte es und konnte damit
den Einwurf entkräften.


Sein Vorſchlag war angenommen worden. Man
wollte die ganze Leitung der Reparatur in Apollonius'
Hände legen. Um ſeinen Bruder nicht zu kränken,
bat er, davon abzuſeh'n. So wenig wollte er den
Bruder kränken, daß er nicht einmal ausſprach, warum
er ſo bitte. Er war von Köln her gewohnt, ſelbſtſtän¬
dig zu handeln; wie er ſeinen Bruder wiedergefunden
hatte, ſah er manche Hemmung durch ihn voraus. Er
lud ſich eine ſchwere Laſt auf, er wußte es, als er dem
Bauherrn verſprach, die Sache ſolle unter dem zwei¬
köpfigen Regiment nicht leiden. Der wackere Bauherr,
der Apollonius errieth und ihn darum nur mehr
achtete, ſchaffte ihm die Genehmigung des Raths und
nahm ſich im Stillen vor, wo es nöthig ſein ſollte,
ſeinen Liebling und deſſen Anordnungen gegen den
Bruder zu vertreten.


Es war eine ſchwere Aufgabe, die Apollonius ſich
geſezt; ſie war noch viel ſchwerer, als er wußte. Sein
Hierſein hatte den Bruder von Anfang nicht gefreut;
Apollonius ſchob das auf den Einfluß der Schwägerin;
er war ihm ſeitdem noch fremder geworden — kein
Wunder! Apollonius hatte ja bereits des Bruders
Eitelkeit und Ehrſucht kennen gelernt; dieſer fühlte ſich
durch das, was ſeither geſchehen, gegen Apollonius
zurückgeſetzt. Den Widerwillen der Schwägerin meinte
[76] Apollonius durch Zeit und redliches Müh'n, die ge¬
kränkte Ehrſucht des Bruders durch äußere Unterord¬
nung zu verſöhnen. War kein weiteres Hinderniß
vorhanden, durfte er hoffen, die Aufgabe, ſo ſchwer
ſie ſchien, zu löſen. Aber was zwiſchen ihm und dem
Bruder ſtand, war ein Anderes, ein ganz Anderes, als
er meinte. Und daß er es nicht kannte, machte es nur
gefährlicher. Es war ein Argwohn, aus dem Bewußt¬
ſein einer Schuld geboren, Was er that, die vermein¬
ten Hinderniſſe aus dem Weg zu räumen, mußte das
wirkliche nur wachſen machen. Wär er nicht zurück¬
gekommen! hätt' er dem Vater nicht gehorcht! wär' er
draußen geblieben in der Fremde!


An der Thurmſpitze hängt das Fahrzeug; nun
wird es auch auf dem Kirchdach lebendig. Rüſtige
Hände hämmern den Seilhacken in die Verſchalung
und ſchleifen mit ſtarkem Tau den Dachſtuhl daran.
Er beſteht in zwei Dreiecken, aus feſten Bohlen zuſam¬
mengezimmert. Der Neigungswinkel des Daches hat
das Verhältniß ſeiner Seiten beſtimmt. Denn unten
liegt er ſtrohumwunden in ganzer Breite auf der Dach¬
fläche auf, während er oben die queer übergelegten
Bretter wagrecht emporhält. Darauf ſteht oder kniet
der hämmernde Schieferdecker; neben ihm handrecht
hängt der Kaſten für Nägel und Schieferplatten, mit
ſeiner Hackenſpitze in die Verſchalung eingetrieben.


[77]

Apollonius überließ dem Bruder die Ueberweiſung
der Arbeit. Fritz Nettenmair that erſt wunderlich,
indem er zu verſtehen gab, er meine, Apollonius ſei
gekommen, hier den Herrn zu ſpielen und nicht den
Diener. Es lag in der argwöhniſchen Richtung, die
ſein Denken einmal angenommen, Allem, was der
Bruder thun mochte, eine Abſicht, eine planmäßige Be¬
rechnung unterzulegen. Er vermuthete deshalb, Apol¬
lonius wünſche die Arbeit auf dem Kirchdach zu über¬
nehmen. Wer hier ſchaffte, konnte zu jeder Zeit ſehen,
ob das Fahrzeug am Thurmdach beſetzt war oder ledig
an der fliegenden Rüſtung hing. Er that arglos, er
nehme an, Apollonius ſei lieber bei der Umdeckung des
Thurmdaches beſchäftigt, die er ja ſelber vorgeſchlagen.
Apollonius weigerte ſich nicht. Fritz meinte, obgleich
es ihm unangenehm ſei, was er aber nicht merken laſſe;
und hatte die Empfindung eines Menſchen, dem es
gelungen, einen Widerſacher zu überliſten. Eine Em¬
pfindung, die ſich erneute, ſo oft er von ſeiner Arbeit
auf dem Dachſtuhle hinaufſah nach dem Fahrzeug und
der fliegenden Rüſtung am Thurm, mit der Gewißheit,
der Bruder könne das Fahrzeug nicht verlaſſen und
hineingeh'n, ohne daß er es ſehe und ihm zuvorkommen
könne. Dann war ihm Apollonius der Träumer und
er ſelbſt einer, der die Welt kannte. Im andern Augen¬
blick vielleicht ſah er wieder den Argliſtigen im Bruder
und fand es wohlthuend, ſich dagegen als den Argloſen
[78] zu bemitleiden, dem jener Schlingen lege, um nur den
Bruder haſſen zu dürfen, der ihn haſſe. Ihm fehlte
das Klarheitsbedürfniß Apollonius', das dieſem den
Widerſpruch gezeigt und den erkannten zu tilgen ge¬
zwungen hätte. Vielleicht hatte er ein Gefühl von dem
Widerſpruch und er unterdrückte es abſichtlich. So
ſetzte ſein Schuldbewußtſein den Haß als wirklich vor¬
aus, den es verdient zu haben ſich vorwerfen mußte.


Bald merkte Apollonius, hier war nicht die Ord¬
nung, das raſche und genau berechnete Ineinander¬
greifen, an das er in Köln ſich gewöhnt, ja nur, wie
es der Vater früher hier gehandhabt. Der Decker
mußte viertelſtundenlang und länger auf die Schieferplat¬
ten warten; die Handlanger leierten und hatten in der
Unordnung und Trägheit der Behauer und Sortirer eine
gute Entſchuldigung. Der Bruder lachte halb mitlei¬
dig über Apollonius Klage. Eine ſolche Ordnung,
wie der ſie verlangte, exiſtirte nirgends und war auch
nicht möglich. Bei ſich verſpottete er wieder den Träu¬
mer, der ſo unpraktiſch war. Und wäre die Ordnung
möglich geweſen, die Arbeit war im Tagelohn verdun¬
gen. Die verlorene Zeit wurde bezahlt, wie die ange¬
wandte. Und als Apollonius ſelbſt dazu that, den
Schlendrian abzuſtellen, da war er dem Bruder wie¬
derum der Wohldiener des Bauherrn und des Rathes,
er ſelber ſich der ſchlichte Mann, der ſolche Kunſtgriffe
verſchmäht. Da wollte ihn jener nur vollends aus
[79] dem Sattel heben und hatte noch Schlimmeres im
Sinn, was ihm aber nicht gelingen ſollte mit all' ſeiner
Argliſt; da war Apollonius eigens darum heimgekom¬
men. Und doch meinte er, der Träumer werde ſich
die Hörner ablaufen, wenn er in's Werk ſetzen wollte,
was ihm ſelbſt, der die Welt kannte, nicht gelang.
Ihm, der ſchärfer auf dem Zeuge war, als ſelbſt der
im blauen Rock zu ſeiner Zeit geweſen. Er meinte
den alten Herrn noch zu übertreffen, wenn er noch
ſchriller auf dem Finger pfiff, noch grimmiger huſtete
und noch entſchiedener ausſpuckte. Was an dem alten
Herrn das wirklich Reſpektgebietende war, die Folge¬
richtigkeit, die auch, wo ſie in Eigenſinn ausartet, Achtung
wirkt, die ruhige, in ſich gefaßte Würde einer tüchtigen
Perſönlichkeit, das überſah er. Wie er es ſelbſt nicht
beſaß, fehlte ihm auch der Sinn, es an Andern wahr¬
zunehmen. Stand ſeine Geſtalt überhaupt im Wider¬
ſpruch mit der Haltung des alten Herrn, die er ihr
aufkünſtelte, ſo widerſprach ihr ſeine Unruhe und innere
Haltloſigkeit jeden Augenblick. Die diplomatiſche Art
zu reden ſchien er dem alten Herrn nur abgeborgt zu
haben, um ſeine eigene Oberflächlichkeit und Gehaltlo¬
ſigkeit zu verſpotten. Aus dem ſteifen Weſen des
blauen Rockes fiel er dann zu Zeiten plötzlich in ſeine
eigene herablaſſende Jovialität und in eine Region der¬
ſelben, wo der Spaß den Abſtand von Vorgeſetzten und
Untergebenen mit ſchmutzigen Fingern auslöſchte, als
[80] wär' er nie geweſen. Rückte er ſich dann eben ſo
plötzlich in der Autorität gewaltſam wieder zurecht, ſo
brachte das die verlorene Achtung nicht wieder, es
beleidigte nur. Zu alledem kam noch, daß er ſich von
manchen ſeiner Arbeiter überſeh'n und in ſchwierigen
Fällen ſie machen laſſen mußte, was ſie wollten. Apol¬
lonius dagegen hatte von Natur und aus der Schule
beim Vetter, was dem Bruder fehlte; er beſaß die
Würde der Perſönlichkeit, die Folgerichtigkeit bis zum
Eigenſinn. Seine innere Sicherheit galt; ſie mußte
ſich nicht geltend machen — er war des ſichtbaren
Mühens um Achtung überhoben, welches ſo ſelten ſei¬
nen Zweck erreicht, ja gemeiniglich ihn verfehlt. Und
ſo gelang ihm, was er wollte. Bald war die muſter¬
hafteſte Ordnung beim Bau und Alle ſchienen ſich
wohl dabei zu befinden; nur Fritz Nettenmair nicht.
Das raſche Ineinandergreifen, das wie im Geleiſe
einer unſichtbaren Nothwendigkeit ging, machte das
Weſen im blauen Rocke, in welchem er ſich ſo groß
fühlte, überflüſſig. Noch ein Grund zum Unbehagen
daran war, daß die neue Ordnung von dem Bruder
ausging. Von demſelben, dem er ſchon ſo viel zu
verzeihen hatte und dem er immer weniger verzeihen
mochte. Er wußte nicht oder wollte nicht wiſſen,
welchen Zauber eine geſchloſſene Perſönlichkeit aus¬
übt, obgleich er ſelbſt widerwillig ſie anerkennen mußte,
und noch weniger, daß dieſe ihm fehlte und der Bru¬
[81] der ſie beſaß. Er war bei ſich einig, der Bruder hatte
Mittel angewandt, die zu brauchen er ſelbſt mit Ge¬
nugthuung ſich zu edel fühlte. Dadurch hatte jener
die Leute ihm abſpänſtig gemacht. Apollonius wußte
nichts von dem, was im Bruder vorging; der war
gegen ihn, wie man gegen Argliſtige ſein muß, auf
der Hut; denn ſolche Feinde kann man nur mit ihren
eigenen Waffen beſiegen. Die brüderliche Freundlich¬
keit und Achtung, mit der ihn Apollonius behandelte,
war eine Maske, unter der dieſer ſeine ſchlimmen Pläne
ſicherer zu bergen meinte; er vergalt ihm, und machte
ihn leichter unſchädlich, wenn er unter derſelben Maske
ſeine Wachſamkeit barg. Die gutmüthige Willigkeit
Apollonius, ſich ihm äußerlich unterzuordnen, erſchien
dem Bruder wie eine Verhöhnung, an der die Arbeiter,
von dem Argliſtigen gewonnen, wiſſend theilnahmen.
In ſeiner Empfindlichkeit griff er ſelbſt nach den Mit¬
teln, die er bei dieſem vorausſetzte. Offen ihm entge¬
genzutreten, verhinderte ihn der Umſtand, daß Apollo¬
nius ihm ſelbſt imponirte, wenn er auch dieſen Grund
nicht hätte gelten laſſen. Er legte den blauen Don¬
nerrock beiſeite und ſtieg bis auf die unterſte Sproſſe
ſeiner Jovialität herab. Er begann durch Winke,
dann allmälig durch Worte, ſein Mitleid mit den Ar¬
beitern zu zeigen, die unter der Tyrannei eines wohl¬
dieneriſchen Eindringlings ſeufzten, wie er ihnen bewies;
da er nicht den Muth hatte, ſie zu offener Widerſetz¬
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 6[82] lichkeit zu reizen, ſuchte er ſie zu einzelnen kleinen Aus¬
griffen zu verleiten. Er begann, ſie täglich zu traktiren.
Sie aßen und tranken, blieben aber wie zuvor im Ge¬
leiſe, das Apollonius vorgezeichnet. Der gemeine
Mann hat den ſcharfen Blick des Kindes für die
Stärken und Schwächen ſeiner Vorgeſetzten. Durch
dies Bemühn, das ſie durchſchauten, verlor er noch
den letzten Reſt ſeiner Achtung; ſie lernten daraus,
wenn ſie's noch nicht wußten, mit wem ſie es verder¬
ben durften, mit wem nicht. Und wären ſie ungewiß
geweſen, ſo hätte ſie das ungleiche Benehmen des
Bauherrn gegen die beiden Brüder beſtimmen können.
Und da ſie nicht ſo fein waren, und auch nicht die
Gründe dazu hatten, wie Fritz Nettenmair, gab ſich
ihre Meinung unverhohlen kund. Sie nahmen ſich
Dinge gegen ihn heraus, die ihm zeigten, daß der Erfolg
ſeiner Herablaſſung ein ganz anderer war, als den er
beabſichtigte. Nun zog er zürnend die Wolke des
blauen Rockes wieder um ſich zuſammen, pfiff ſchrillen¬
der als je, ſo daß es drüben in der großen Glocke
wiedertönte; ging auf doppelten Stelzen, zog die
Schultern noch einmal ſo hoch am ſchwarzhaarigen
Kopfe herauf; der Grimm und die Entſchiedenheit ſei¬
nes früheren Huſtens und Ausſpuckens war ein Kin¬
derſpiel gegen ſein jetziges. Aber die Arbeiter wußten
bald, dergleichen geſchah nur in Apollonius Abweſen¬
heit, und deſſen zufälliges Kommen brachte, wie der
[83] aufgehende Vollmond, die ſchwerſten Gewitter aus der
Faſſung. Fritz Nettenmair mußte an der Wiederher¬
ſtellung ſeiner verlorenen Bedeutung auf dem Schau¬
platz der Reparatur verzweifeln. Natürlich ſchrieb er
auch das Ergebniß ſeiner falſchen Maßregeln auf
Apollonius' immer wachſende Rechnung. Das Gefühl,
überflüſſig zu ſein, packte ihn wie den alten Herrn,
brachte aber nicht ganz dieſelben Wirkungen hervor.
Was dem alten Herrn das Gärtchen, das wurde nun
dem ältern Sohne der Schieferſchuppen. Wenigſtens
ſo lange er Apollonius auf ſeinem Fahrzeug oder auf
dem Kirchendache ſah. Aber er brachte den blauen
Rock nun auch mit in die Wohnſtube. Seine Kinder
— das war leicht, da er ſelbſt ſich nicht um ſie
bekümmerte, — hatte der Bruder ja auch — und
natürlich mit ſchlechten Mitteln — gewonnen. Dieſe
ſchlechten Mittel waren eben die, die er ſelbſt nie an¬
wendete: unabſichtliche Güte und weiſe Strenge der
Liebe. Aber auch in ſeiner Frau ſah er immer mehr
etwas, wie einen natürlichen Bundesgenoſſen des Bru¬
ders gegen ihn. Lange vorher, eh' er noch den ge¬
ringſten wirklichen Anlaß dazu hatte. Das war der
Schatten, den ſeine Schuld in die Zukunft ſeiner
Phantaſie warf. Ihr altes Geſetz wird ihn zwingen,
durch die Verkehrtheit ſeiner Abwehrmittel den Schatten
ſelber zur wirklichen, lebendigen Geſtalt zu machen und
vergeltend in ſein Leben hereinzuſtellen.


6 *[84]

Ahnungsvolle Furcht ſchien ihm, in lichten Zwi¬
ſchenblicken vorüberflatternd, von dieſem Kommen zu
ſagen, das veränderte Benehmen gegen ſeine Frau
müſſe es beſchleunigen. Dann war er plötzlich dop¬
pelt freundlich und jovial gegen ſie, aber auch dieſe
Jovialität trug ein Etwas von der Natur des ſchwü¬
len Bodens an ſich, aus dem ſie erwuchs. Man preiſt
ein Heilmittel gegen ſolche Krankheit; es heißt Zer¬
ſtreuung, Vergeſſen ſeiner ſelbſt. Als ob man da ſich
vergeſſen müſſe, wo es doppelt Vorſehn gilt, der
Steuermann beim Erblicken des drohenden Riffs. Fritz
Nettenmair nahm es. Von nun fehlte er bei keinem
Balle, bei keinem öffentlichen Vergnügen; er empfand
ſich für immer der Gefahr entflohn, war er nur eine
Stunde lang fern von dem Orte, wo er ſie drohen
ſah. Er war mehr außer, als in ſeinem Haus. Und
nicht er allein. Seiner Frau hielt er das Heilmittel
noch nöthiger, als ihm. Das rächende Schuldbewußt¬
ſein nahm, was nur als möglich in der Zukunft war,
als ſchon wirklich in die Gegenwart voraus. Und
ſeine Frau ſtand noch ſo ſehr auf ſeiner Seite, daß ſie
dem Bruder nun zürnte, deſſen Einfluß ſie in dem ver¬
änderten Benehmen des Gatten erkannte, — nur nicht
in dem Sinne, in dem er es wirklich war. Sie hatte
ja nur Beleidigendes von dem Bruder erwartet. Dieſe
Erwartung hatte ſchon dem Kommenden nur die eine
Wange zugewandt und dieſe ſo mit Roth gefärbt,
[85] als wäre ſie ſchon erfüllt. Wußte ſie denn nicht, er
war nur gekommen, um ſie zu beleidigen?


Apollonius, auf den dies alles wie eine ſchwere
Wolke drückte, wie eine unverſtandene Ahnung, begriff
nur das eine: der Bruder und die Schwägerin wichen
ihm aus. Er vermied die Orte, die ſie aufſuchten.
Er hätte ſie ſchon vermieden aus dem innerſten Bedürf¬
niß ſeiner Natur, das auf Zuſammenfaſſen, nicht auf
Zerſtreuen ging. Die Einſamkeit wurde ihm ein beſſer
Heilmittel, als den Beiden die Zerſtreuung. Er ſah,
wie anders die Schwägerin war, als ſie ihm vordem
geſchienen. Er mußte ſich Glück wünſchen, daß ſeine
ſüßeſten Hoffnungen ſich nicht erfüllt. Die Arbeit gab
ihm genug Empfinden ſeiner ſelbſt; was ſie frei ließ,
füllten die Kinder aus. In dem natürlichen Bedürf¬
niß ihres Alters, ſich an einem fertigen Menſchenbilde
aufzuranken, das, Liebe gebend und nehmend, ihr Mu¬
ſter wird, und ihr Maaß der Perſonen und Dinge,
drängten ſie ſich um den Onkel, der ihrer ſo freundlich
pflegte, als fremd die Aeltern ſie vernachläſſigten. Er
wußte nicht, daß er damit die Schuld wachſen machte
in ſeiner Rechnung beim Bruder.


Und der alte Herr im blauen Rock? Hatte er von
den Wolken, die ſich rings aufballten um ſein Haus,
in ſeiner Blindheit keine Ahnung? Oder war ſie's,
was ihn zuweilen anfaßte, wenn er, Apollonius begeg¬
[86] nend, gleichgültige Worte mit ihm wechſelte. Dann
kämpften zwei Mächte auf ſeiner Stirn, die der Sohn
vor dem Augenſchirm nicht ſah. Er will etwas fragen,
aber er fragt nicht. Der alte Herr hat ſich ſo tief in
die Wolke eingeſponnen, daß kein Weg mehr von ihm
herausführt in die Welt um ihn und keiner mehr
hinein. Er gibt ſich das Anſehn, als wiſſe er um
Alles. Thut er anders, ſo zeigt er der Welt ſeine
Hülfloſigkeit und fordert die Welt ſelber auf, ſie zu
mißbrauchen. Wenn er fragt, wird man ihm die Wahr¬
heit ſagen? Nein! Er hält die Welt ſo verſtockt
gegen ihn, als er gegen ſie iſt. Er fragt nicht. Er
lauſcht, wo er weiß, man ſieht ihn nicht lauſchen, fie¬
beriſch geſpannt auf jeden Laut. Aus jedem hört er
etwas heraus, was nicht drin iſt; ſeine geſpannte
Phantaſie baut Felſen daraus, die ihm die Bruſt zer¬
drücken, aber er fragt nicht. Er träumt von nichts,
als von Dingen, die Schande bringen über ihn und
ſein Haus; er leert die ganze Rüſtkammer der Ent¬
ehrung und fühlt jede Schmach durch, die die Welt
kennt. Was keine Schande iſt, ſteigert ſich ſeinem
krankhaft geſchärften Ehrgefühl dazu, das keine Ruhe
wohlthätig abſtumpft, aber er trägt lieber, was die
tiefſte Schande iſt, als daß er fragt. Er thut das Un¬
geheure in Gedanken, die drohende abzuwenden, aber
er fragt nicht. Wie manches Thun zeigt ungeboren
[87] ſchon der Mutter Seele ſein Bild vorher! Wird eine
Zeit kommen, wo des alten Herrn Gedanke Wirk¬
lichkeit wird?


Die Natur der Schuld iſt, daß ſie nicht allein ihren
Urheber in neue Schuld verſtrickt. Sie hat eine Zau¬
bergewalt, alle, die um ihn ſtehn, in ihren gährenden
Kreis zu ziehn und zu reifen in ihm, was ſchlimm iſt,
zu neuer Schuld. Wohl dem, der ſich dieſer Zauber¬
kraft im unbefleckten Innern erwehrt. Wird er den
Schuldigen ſelbſt nicht retten, ſo kann er den Uebrigen
ein Engel ſein. Dieſe vier Menſchen, in all' ihrer
Verſchiedenheit in einen Lebensknoten geknüpft, den
eine Schuld verſehrt! Welch' Schickſal werden ſie
vereint ſich ſpinnen, die Leute in dem Haus mit den
grünen Laden?


Nun waren ſchon Wochen vergangen ſeit Apollo¬
nius Zurückkunft, und noch hatte er die Furcht der
Schwägerin nicht wahr gemacht. In den erſten Tagen
las Fritz Nettenmair ein krampfhaftes Zuſammennehmen,
ein verzweifeltes Gefaßtmachen in ihrem Weſen; nun
machte dies einem Etwas Platz, das wie Verwunderung
erſchien. Er ſah, und nur er, wie ſie immer muthiger
den Bruder zu beobachten begann, wo der nicht ahnte,
ihr Blick ſei auf ihn gerichtet. Sie ſchien ſein Weſen,
[88] ſein Thun mit ihrer Erwartung zu vergleichen. Fritz
Nettenmair fühlte in ihrer Seele, wie wenig beide ſich
glichen. Er mühte ſich, den Widerwillen der jungen
Frau zu ſeiner alten Stärke aufzuſtacheln. Er that es,
während er fühlte, wie vergeblich es war, wie ein ein¬
ziger Blick auf das milde, rechtſchaffene Antlitz des
Bruders niederreißen mußte, was er mühſam in Zeit
von Tagen aufgebaut. Er fühlte, wie fein er zu
Werke gehen mußte, und wie plump er doch zu Werke
ging; wie dieſelbe Macht, die ſein Gefühl für das
Maaß ſchärfte, ihn im Handeln darüber hinausriß.
Er wußte, was er begonnen, mußte ſeinen Gang voll¬
enden zu ſeinem Verderben. Er ſuchte Vergeſſen, und
riß ſeine Frau immer tiefer in den Wirbel der Zer¬
ſtreuung mit hinein.


Arzneimittel ſollen, in übergroßer Gabe angewandt,
das Gegentheil wirken. So geſchah's mit dem Mittel
Fritz Nettenmair's; wenigſtens bei der jungen Frau.
Aus dem Alltag der häuslichen Arbeit hatte ſie ſich
ſonſt nach dem Feſte des Vergnügens geſehnt; nun
dies der Alltag geworden, zog die Sehnſucht nach dem
ſtillen Leben daheim. Ueberſättigt von den Ehrenbezeu¬
gungen der bedeutenden Leute, bemerkte ſie nun erſt, es
gab auch andere: Leute, die ihren Gatten nach anderm
Maaßſtab maßen. Sie begann zu vergleichen, und die
Bedeutenden verloren immer mehr gegen die Alltags¬
menſchen. Sie dachte an den ledernen Ball den Abend
[89] von Apollonius Ankunft. Damals war ſie Apollonius
ausgewichen; ſie hatte Beleidigung von ihm erwartet.
Jetzt ſuchte ſie mit den Augen durch den Saal; Nie¬
mand ſah's, als Fritz Nettenmair, der es am wenigſten
zu ſehen ſchien. Denn er lachte und trank wilder und
jovialer, als je. Sie hatte nur das Gefühl der Lange¬
weile, das nach Abwechſelung ausſieht; ſie wußte nicht,
daß ſie Jemand ſuchte. Fritz Nettenmair wußte es, und
wollte vor Lachen erſticken. Er wußte mehr, als ſie;
er wußte, wen ſie ſuchte. Gegen alle andere Welt
jovial, that er gegen ſie den blauen Rock an. Er wird
ſie bald dahin bringen, den ſonſt Gefürchteten mit ihm
zu vergleichen.


Sie ſaß im Garten, während der alte Herr ſeine
ſchweren Mittagsträume träumte. Fritz Nettenmair lag
in der Stube auf dem Sopha und trug die Nachwehen
einer durchſchwärmten Nacht. Vorher hatte er nach
dem Thurmdach geſehn. Sie fühlte ſich ſo eigen wohl
daheim. Und ſollte ſie nicht? Spielten nicht ihre Kinder
um ſie? Sie dachte nicht daran, wie oft ſie ſich von
den Kindern fortgeſehnt in den Wirbel, der ſie nicht
mehr lockte. Sie nähte. Die Knaben ſpielten zu ihren
Füßen, ſo ſtill, als wär' der alte Herr zugegen. Doch
nicht ſo; war der alte Herr im Gärtchen, ſie hätten
ſich gar nicht hinein getraut. Das Mädchen hatte die
Mutter umſchlungen, die ſelber, in der Unberührtheit
ihres Weſens, noch ein Mädchen ſchien. Wenig mehr
[90] von der Aehnlichkeit mit ihrem Gatten lag in ihren
Zügen. Sie war nur eine äußerliche geweſen. Und
nur Aeußerliches ſchien die heitern Linien berührt zu
haben; kein tiefinneres Erlebniß hatte ſeine Marke
ihnen aufgeprägt. Das kleine Mädchen hatte dem
erwachſenen, ſeiner Mutter, von Puppen, Blumen,
Kindern, und in ſeiner Weiſe Manches zweimal, Man¬
ches nur halb erzählt. Jetzt erhob ſie mit altkluger
Ernſthaftigkeit das Köpfchen, ſah die Mutter bedenklich
an und ſagte: „Was das nur iſt?“


„„Was?““ fragte die Mutter.


„Wenn du da geweſen biſt und fortgehſt, ſieht er dir
ſo traurig nach.“


„„Wer?““ fragte die Mutter.


„Nun, der Onkel Apollonius. Wer ſonſt? Haſt
du ihn geſcholten? oder geſchlagen, wie mich, wenn
ich Zucker nehme und nicht frage? Du haſt ihm doch
gewiß etwas gethan; ſonſt wär' er nicht ſo betrübt.“


Das Mädchen plauderte weiter und vergaß den
Onkel bald über einen Schmetterling. Die Mutter
nicht. Die Mutter hörte nicht mehr, was das Mäd¬
chen plauderte. Was war das doch für ein eigenes
Gefühl, wohl und weh zugleich! Sie hatte die Nadel
fallen laſſen, und merkte es nicht. War ſie erſchrocken?
Es war ihr, als wär ſie erſchrocken, etwa ſo, wie man
erſchrickt, hat man mit einem Menſchen geredet, und
wird plötzlich inne, es iſt ein anderer, als mit dem
[91] man zu reden meinte. Sie hatte gemeint, Apollonius
wolle ſie beleidigen, und nun ſagt das Kind: du haſt
ihn beleidigt. Sie blickte auf und ſah Apollonius vom
Schuppen her nach dem Hauſe kommen. In demſelben
Augenblick ſtand ein anderer Mann zwiſchen ihr und
dem Vorübergehenden, als wär er aus der Erde
gewachſen. Es war Fritz Nettenmair. Sie hatte ihn
nicht nahen gehört.


Er kam in ſeltſamer Haſt von einer gleichgülti¬
gen Frage auf den „ledernen“ Ball. Er erzählte,
was die Leute darüber meinten, wie Jedermann ſich
beleidigt fühle von der Beſchimpfung, daß Apollo¬
nius ſie damals nicht aufgezogen, nicht einmal zum
erſten Tanze. Eigen war's, wie ſie jetzt daran erin¬
nert wurde, empfand ſie es ſtärker, als je. Aber
nicht zürnend, nur wie mit wehmüthigem Schmerze.
Sie ſagte das nicht. Es war nicht nöthig. Fritz
Nettenmair war wie ein Menſch im magnetiſchen
Schlaf. Er brauchte ſie nicht anzuſehn; mit geſchloſ¬
ſenen Augen, von einem Baumblatt, einer Zaunlatte,
von einer weißen Wand las er ab, was ſein Weib
fühlte. Wir werden ihn bald los werden, denk' ich,
fuhr er fort, als hätt' er nicht an der Stallwand
geleſen. Es iſt kein Platz für zwei Haushälte hier.
Und die Anne iſt weiten Raum gewöhnt.


So hieß das Mädchen, mit der Apollonius am
„Ledernen“ tanzen, die er heimbegleiten mußte. Sie
[92] war ſeither öfter hier geweſen, unter Vorwänden, die
ihre hochrothe Wange Lügen ſtrafte. Auch ihr Vater,
ein angeſehener Bürger, hatte ſich um Apollonius Be¬
kanntſchaft gemüht, und Fritz Nettenmair hatte die
Sache gefördert, wie er konnte.


„Die Anne?“ rief die junge Frau wie erſchreckend.


„„Gut, daß ſie nicht lügen kann,““ dachte Fritz Netten¬
mair erleichtert. Aber es fiel ihm ein, ihr Unvermögen,
ſich zu verſtellen, kam ja auch dem argen Plan des
Bruders zu gut. Er hatte die Eiferſucht als letztes
Mittel angewandt. Das war wieder eine Thorheit,
und er bereute ſie ſchon. Sie kann ſich nicht verſtellen;
und wär er noch ganz der alte Träumer, ihre Aufre¬
gung muß ihm verrathen, was in ihr vorgeht; ihre
Aufregung muß ihr ſelber verrathen, was in ihr vor¬
geht. Noch weiß ſie es ſelbſt ja nicht. Und dann —
er ſtand wieder an dem Punkte, zu dem jeder Ausgang
ihn führt; er ſah ſie ſich verſtehen; „und dann“, zwängte
er zwiſchen den Zähnen hervor, daß jede Silbe daran
ſich blutig riß, „und dann — wird ſie's ſchon lernen!“


Der Bruder erwartete ihn in der Wohnſtube. „Er
muß doch einen Vorwand machen, warum er da vor¬
beikam, wo er ſie allein dachte, da er weiß, ich hab'
ihn geſehn.“ So dacht' er und folgte dem Bruder.


Apollonius wartete wirklich in der Wohnſtube auf
ihn. Der Bruder gab ſich durch ſeine Wendung auf
den Ferſen recht, als er ihn ſah. Apollonius ſuchte
[93] den Bruder auf, ihn vor dem ungemüthlichen Geſellen
zu warnen. Er hatte manches Bedenkliche über ihn
gehört, und wußte, der Bruder vertraute ihm unbedingt.
„Und da befiehlſt du, ich ſoll ihn fortſchicken?“ fragte
Fritz, und konnte nicht verhindern, daß ſein Groll ein¬
mal durchſchimmerte durch ſeine Verſtellung. Apollo¬
nius mußte aus dem Ton, mit dem er ſprach, ſeine
wahre Meinung herausleſen. Sie hieß: „du möchteſt
auch in den Schuppen dich eindrängen, und mich von
da vertreiben. Verſuch's, wenn du's magſt!“ Apollo¬
nius ſah dem Bruder mit unverhehltem Schmerz in's
Auge. Er fuhr mit der Hand über des Bruders Rock¬
klappe, als wollt' er wegwiſchen, was ſein Verhältniß
zu dem Bruder trübte, und ſagte: „„Hab' ich dir was zu
leid gethan?““ „Mir?“ lachte der Bruder. Das Lachen
ſollte klingen, wie: „ich wüßte nicht, was?“ aber es
klang: „Thuſt du was anders, willſt du was anders
thun, als wovon du weißt, daß es mir leid iſt?“ „„Ich
wollte ſchon lang dir etwas ſagen,““ fuhr Apollonius
fort, „„ich will's morgen; du biſt heute nicht gelaunt.
Das mit dem Geſellen mußteſt du erfahren, und es war
nicht ſo gemeint, wie du's aufnahmſt.““ „Freilich! Frei¬
lich!“ lachte Fritz. „Ich bin überzeugt. Es war nicht
ſo gemeint.“ Apollonius ging, und Fritz ergänzte ſeine
Rede: „Es war nicht ſo gemeint, wie du, Federchen¬
ſucher mich glauben machen willſt. Und anders ge¬
meint, wie ich's aufnahm? Du meinſt, ich hab' —
[94] Der Geſelle iſt ein ſchlechter Kerl; aber du hätteſt mich
nicht gewarnt, hätt'ſt du keinen Vorwand gebraucht.“
Er machte ſeine überlegene Wendung auf den Ferſen;
in ſeinen verwüſteten Zuſtand hinein hatte ihn die
glückliche Anwendung von des alten Herrn diplo¬
matiſcher Kunſt, durch halb Sagen zu verſchweigen,
gefreut.


Die Freude war ſchnell vorübergehend; die alte
Sorge ſchraubte ihn wieder auf ihre Marterbank.
Und noch eine jüngere hatte ſich ihr zugeſellt. Er
hatte das Geſchäft vernachläſſigt; der Geſelle, in ſeiner
Abweſenheit Herr im Schuppen, hatte Gelegenheit
genug gehabt, ihn zu beſtehlen, und ſie gewiß benutzt.
Bei der Reparatur war er ſchon lang nicht mehr thä¬
tig; Apollonius mußte einen Geſellen mehr annehmen,
und für den Bruder einſtellen. Er verdiente ſchon
lange nichts mehr, und verſäumte doch dabei kein
öffentlich Vergnügen. Die Achtung der bedeutenden
Leute zeigte eine wachſende Neigung zum Sinken, und
war nur durch wachſende Maſſen von Champagner
aufrecht zu erhalten. Er hatte ſich in Schulden geſteckt,
und vergrößerte ſie noch täglich. Und doch mußte ein¬
mal der Augenblick kommen, wo der mühſam erhaltene
Schein von Wohlhabenheit verging. Er wußte, daß
er nur ſo lang der Geachtete war, der Jovialſte der
Jovialen galt. Er war klug genug, den Unwerth einer
ſolchen Achtung, eines ſolchen Bemühens um ihn zu
[95] erkennen, aber nicht ſtark genug, es entbehren zu kön¬
nen. Es war kein kleiner Zuwachs zu der alten Mar¬
ter, und jene wie dieſe kam ihm von dem Bruder, und
nur von ihm!


Wohlig's Anne war öfter dageweſen ſeit Apollonius
Ankunft, und die junge Frau hatte in dem Glauben,
der in naiven Gemüthern die natürliche Folge der eige¬
nen Wahrhaftigkeit iſt, an ihren geſuchteſten Vorwänden
nicht gemäkelt. Heute war das anders. Sie war plötz¬
lich ſo ſcharfſichtig geworden, daß der erkannte Vorwand
ihr in der Größe eines unverzeihlichen Verbrechens
erſchien. Das Mädchen war ihr zuwider, das ſo falſch
ſein konnte, und ſie ſelbſt zu ehrlich, das zu verbergen.
Anne ſuchte den Grund dieſes Benehmens in dem Wi¬
derwillen der jungen Frau gegen den Schwager. Es
war ja bekannt, die junge Frau gönnte dem armen
Menſchen die Liebe des Bruders nicht. Sie hatte ſelbſt
geäußert, ſie würde ihm einen Korb geben, wenn er
es wagen würde, ſie zum Tanze aufzufordern. Und
dem guten Apollonius war es anzuſehn, ſie ließ ihn
des Aufenthalts in ſeinem Vaterhauſe nicht froh wer¬
den. Die Gereiztheit machte auch die Anne ehrlich; ſie
ſprach von ihren Gedanken aus, was ausgeſprochen
werden konnte, ohne den zarten Punkt ihrer Neigung
blos zu geben. Chriſtiane mußte den Vorwurf nun
auch aus fremdem Munde vernehmen, den ſchon das
eigene Kind ihr gemacht. Das Mädchen ging. Apol¬
[96] lonius kam, vom Bruder zurück, wieder vorüber. Er
konnte das Mädchen noch gehen ſehn. Aber Nichts
zeigte ſich in ſeinem Geſichte, was ihrer nur halb ver¬
ſtandenen Furcht Recht gegeben hätte. Und ſo ſah
auch Fritz Nettenmair, der dem Bruder aus dem Ver¬
ſteck der Hinterthür nachblickte, auf ihrem Antlitz nicht
ſoviel, als er gefürchtet, zu ſehen.


Das Kind ſagt: du haſt ihm was gethan; die Anne
ſagt: du haſſeſt ihn, du läßt ihn nicht froh werden.
Und ſein traurig Nachblicken — bald ertappt ſie ihn
ſelbſt unbemerkt dabei — ſagt daſſelbe. Wie ein Blitz
und mit freudigem Lichte zuckte es dazwiſchen, er ſah
der Anne nicht traurig nach; und auch nicht freudig,
nein! gleichgültig, wie jedem Andern ſonſt. Ihr wird
geſagt: du haſſeſt ihn; du haſt ihn beleidigt und du
willſt ihn kränken, und ſie hat geglaubt, er haſſe ſie,
er will ſie kränken. Und hat er ſie nicht gekränkt?
Sie blickt in die lang vergangene Zeit zurück, wo er ſie
beleidigte. Sie hat ihm ſchon lang nicht mehr darum
gezürnt, ſie hat nur neue Beleidigung gefürchtet. Kann
ſie jetzt noch darum zürnen, wo er ein ſo Anderer iſt;
wo ſie ſelbſt weiß, er beleidigt ſie nicht; wo die Leute
ſagen, und ſein trauriger Blick: ſie beleidige ihn? Und
wie ſie zurückſinnt, eifrig, ſo eifrig, daß die Muſik
wieder um ſie klingt, und ſie wieder unter den Ge¬
ſpielinnen ſitzt, im weißen Kleid mit den Roſaſchleifen,
im Schießhaus auf der Bank den Fenſtern entlang,
[97] und wieder aufſteht, von dem dunkeln Drang getrieben,
und durch die Tanzenden hindurch träumend nach der
Thüre geht — da draußen; iſt das nicht dasſelbe Ge¬
ſicht, das ihr jetzt nachſieht, wenn ſie geht, ſo ehrlich,
ſo mild in ſeiner Wehmuth? iſt's nicht dasſelbe eigene
Mitleid, das jetzt auf Tritt und Schritt mit ihr geht,
und ſie nicht läßt, wie damals? Dann wich ſie ihm
aus, und ſah ihn nicht mehr an, denn er war falſch.
Falſch! Iſt er's wieder? Iſt er's noch?


Eine Nachtigall ſchlug im alten Birnbaum über
ihr, ſo wunderbar und wie gewaltthätig innig und
tief. Vom Georgenthurm blieſen vier Poſaunen den
Abendchoral. Ueber ihnen, und wie von ihren ſchwel¬
lenden Tönen getragen fuhr Apollonius auf ſeinem
leichten Schiff. Das Abendroth vergoldete die Fäden,
in denen es hing. Wohin ſie ſah, glänzten die treuen,
trauernden Augen, die ihm gehörten, mit denen er ihr
nachſah, wenn ſie ging. Das kleine Mädchen ſah mit
ihnen auf zu ihr, und erzählte vom Onkel, wie lieb und
gut er ſei. Oder erzählte ſie von damals? Es war
keine Zeit mehr, Sonſt und Jetzt war eins. Die letzte
Aehnlichkeit mit Fritz Nettenmair war aus ihrem Antlitz
verſchwunden. Ihre Seele ſchauerte hoch oben zwiſchen
Himmel und Erde. Was ſie anſah, war ein Räthſel
mit ſüßer Deutung, aber ſie kannte ſie nicht. Sie
ſelbſt war ſich ein Räthſel. Ihrem Gatten war ſie's nicht.


Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 7[98]

Fritz Nettenmair dachte den ganzen Tag, was das
ſein möge, was Apollonius ihm morgen ſagen wolle;
„morgen; weil ich heut nicht gelaunt bin? Gelaunt?
Ich habe den Federchenſucher in meine Karten ſehen
laſſen. Hätt' ich's nicht, wär' er plump herausgegangen;
nun hab' ich ihn gewarnt und vorſichtig gemacht. Ich
bin zu ehrlich mit ſolch einem falſchen Spieler; ich
muß verlieren. Gut; ich will morgen „gelaunt“ ſein,
ich will thun, als wär ich blind und taub; als ſäh'
ich nicht, was er will, und wär's noch deutlicher. Eine
Spinnenwebe auf meine Rockklappen, damit er was
zu bürſten hat. Ich kann's nicht leiden, wenn mir ſo
einer in's Geſicht ſieht, ſolch ein Heuchler!“


Und ſo vorbereitet und entſchloſſen, den Liſter zu
überliſten, gält's auch die ſchwerſte Probe von Selbſt¬
beherrſchung, fand Apollonius den Bruder am folgenden
Tage ſeiner harrend. Auch Apollonius hatte ſeinen
Entſchluß gefaßt. Er wollte ſich von keiner Laune
ſeines Bruders mehr irren laſſen; es kam ja eben
darauf an, all dieſen Launen ihre Quelle abzuſchneiden.
Fritz bot ihm den unbefangenſten, jovialſten guten
Morgen, der ihm zu Gebote ſtand. „Wenn du mich
ruhig und brüderlich anhören willſt,“ ſagte Apollonius,
„ſo hoff' ich, dieſer Morgen ſoll der beſte ſein für dich
und mich und uns Alle.“ „„Und uns Alle, wiederholte
Fritz, und legte von ſeiner Erklärung der drei Worte
nichts in ſeinen Ton. Ich weiß, daß du immer an
[99] uns Alle denkſt; drum rede nur jovial vom Herzen
weg, ich mach's auch ſo.““ Apollonius ließ die beab¬
ſichtigte Einleitung weg. Er hatte klug und vorſichtig
ſein gelernt, aber klug und vorſichtig gegen einen Bruder
ſein, hätte ihm Falſchheit geſchienen. Selbſt, hätte er
die Falſchheit des Bruders gekannt, er wäre nicht auf
deſſen Gedanken von den gleichen Waffen gekommen.
Er hätte ſich ſeine Erfahrung als Täuſchung ausgeredet.


„Ich glaube, Fritz,“ begann er herzlich, „wir hätten
anders gegeneinander ſein ſollen, als wir ſeither ge¬
weſen ſind.“ Er nahm aus Gutmüthigkeit die halbe
Schuld auf ſich. Der Bruder ſchob ihm in Gedanken
die ganze zu, und wollte jovial das Gegentheil ver¬
ſichern, als Apollonius fortfuhr. „Es war nicht zwiſchen
uns, wie ſonſt, und wie es ſein ſollte. Die Urſache
davon iſt, ſoviel ich weiß, nur der Widerwille deiner
Frau gegen mich. Oder weißt du noch eine andere?“
„„Ich weiß keine,““ ſagte der Bruder mit bedauerndem
Achſelzucken; aber er dachte an Apollonius Heimkunft
gegen ſeinen Rath, an den Ball, an die Berathung
auf dem Kirchenboden, an ſeine Verdrängung von der
Reparatur, an den ganzen Plan des Bruders, an das
was davon ausgeführt, an das was noch auszuführen
war. Er dachte daran, daß Apollonius eben an dem
Letzteren arbeite, und wie viel darauf ankomme, ſeine
nächſte Abſicht zu errathen und zu vereiteln. Apollonius
ſprach indeß fort und hatte keine Ahnung von dem,
7*[100] was in dem Bruder vorging. „Ich weiß nicht, woher
der Widerwille deiner Frau gegen mich kommt. Ich
weiß nur, daß er von Nichts kommen kann, was ich
mit Abſicht gethan hätte, mir ihn zu verdienen. Kannſt
du mir den Grund ſagen? Ich will ſie nicht anklagen;
es iſt möglich, daß ich etwas an mir habe, das ihr
mißfällt. Und dann iſt's gewiß nichts, was zu loben
oder nur zu ſchonen wäre. Und ich will dann eben
ſo gewiß der Letzte ſein, es zu ſchonen, weiß ich nur,
was es iſt. Weißt du's, ſo bitte, ſag' es mir. Etwas
Schlimmes darfſt auch du nicht an mir ſchonen, und
thäte dir's auch noch ſo weh. Weißt du's und ſagſt
mir's nicht, ſo iſt's nur darum. Aber du kränkſt mich
nicht damit, gewiß nicht, Fritz.“ — Fritz Nettenmair
that, was Apollonius eben gethan; er maß den Bruder
in ſeinen Gedanken nach ſich. Das Ergebniß mußte
zu Apollonius Nachtheil ausfallen. Apollonius nahm
ſein gedankenvolles Schweigen für eine Antwort. „Weißt
du's nicht, fuhr er fort, ſo laſſ' uns zuſammen zu ihr
gehn, und ſie fragen. Ich muß wiſſen, was ich thun
ſoll. Das Leben ſeither darf nicht ſo fortgehn. Was
würde der Vater ſagen, wenn er's wüßte! Mir iſt's
Tag und Nacht ein Vorwurf, daß er es nicht weiß.
Es iſt für uns Alle beſſer, Fritz. Komm', laß' es uns
nicht verſchieben.“


Fritz Nettenmair hörte nur die Zumuthung des
Bruders. Er ſollte ihn zu ihr führen! Er ſollte ihn jetzt
[101] zu ihr führen! Wußte Apollonius ſchon von ihrem Zu¬
ſtand, und wollte ihn benutzen? Es bedürfte der Frage
nicht; wenn ſie ſich jetzt nur ſahn, mußten ſie ſich verſtehn.
Dann war es da, was zu verhindern er ſeit Wochen ſich
keine Stunde lang Ruhe gegönnt. Dann war es da, wo¬
von er wußte, es mußte kommen, und doch Verzweiflungs-
Anſtrengungen machte, ihm das Kommen zu wehren.
Sie durften ſich jetzt nicht einander gegenüberſtehn;
ſie durften ſich jetzt nicht ſehn, bis er eine neue
Scheidemauer zwiſchen ſie gebaut. Woraus? Darauf
zu ſinnen war jetzt nicht Muße. Einen Vorwand
mußte er haben, den Gang zu ihr zu verhindern;
Zeit, den Vorwand zu finden. Und nur um die Zeit
zu gewinnen, lachte er: „Freilich! jovial fragen. Wer
fragt, wird berichtet. Aber wie fällt dir das eben jetzt
ein? Eben jetzt?“ Ein Gedanke, der ihn überwältigend
traf wie ein Blitz, wurde ohne ſeine Wahl zu dieſer
Frage.


Apollonius war ſchon an der Thür. Er wandte
ſich zurück zum Bruder und antwortete mit einer Freude,
die dieſem eine teufliſche ſchien, weil er ihm nicht in
des ehrliche Geſicht ſah. Dafür würde Apollonius in
des Bruders Antlitz ein Etwas von Teufelsangſt
ertappt haben, hätte dieſer es ihm zugewandt. Und
vielleicht dennoch nicht. Er würde den Bruder vielleicht
für krank gehalten haben, ſo ohne die mindeſte Ahnung
von dem, was den Bruder dabei ängſten könne, als er
[102] war. Ja, was ihn freute, mußte ja auch den Bruder
freun. „Früher,“ entgegnete Apollonius, „mußt' ich
fürchten, ſie noch mehr zu erzürnen. Und das würde
dir noch weniger lieb geweſen ſein, als mir.“ Der
Bruder lachte und bejahte in ſeiner jovialen Weiſe
mit Kopf und Schultern, um nur etwas zu thun.
Und ſein: „Und jetzt?“ ſchien nun vom Lachen halb
erſtickt, nicht von etwas anderm. „Deine Frau iſt
anders ſeit einiger Zeit,“ fuhr Apollonius vertraulich
fort. — „„Sie iſt““ — antwortete Fritz Nettenmairs
Zuſammenzucken wider ſeinen Willen, und wollte ſagen,
wofür er ſie hielt. Es war ein arges Wort. Aber
würd' er ſelbſt, der ſie dazu gemacht, es ihm ſagen?
Nein, es iſt noch nicht da, was er fürchtet. Und wenn
es kommen muß; er kann's noch verzögern. Er hält
mit Gewalt ſeiner Erregung den Mund zu. Er fragte
gern: „und woher weißt du, daß ſie — anders iſt?“
wüßt' er nicht, ſeine Stimme wird zittern und ihn
verrathen. Er muß ja wiſſen, wer es dem Bruder
verrathen hat. Hat er ſie ſchon geſprochen? Hat er's
ihr von fern aus den Augen geleſen? Oder iſt ein
Drittes im Spiel? ein Feind, den er ſchon haßt, eh'
er weiß, ob er vorhanden iſt. Apollonius ſcheint ein
Etwas von des Bruders unglückſeliger Leſegabe ange¬
flogen. Der Bruder fragt nicht; ſein Geſicht iſt abge¬
wandt; er kramt tief im Schranke, und ſucht wie ein
Verzweifelnder, und kann nicht finden; und doch ant¬
[103] wortet ihm Apollonius. „Dein Aennchen hat mir's
geſagt,“ entgegnet er und lacht, indem er an das Kind
denkt. „Onkel, ſagte das närriſche Kind, die Mutter
iſt nicht mehr ſo bös auf dich; geh' nur zu ihr und
ſprich: ich will's nicht mehr thun; dann iſt ſie gut
und gibt dir Zucker. So hat ſie mich auf den Gedan¬
ken gebracht. Es iſt wunderbar, wie's manchmal iſt,
als redete ein Engel aus den Kindern. Dein Aenn¬
chen kann uns allen ein Engel geweſen ſein.“ Fritz
Nettenmair lachte ſo ungeheuer über das Kind, daß
ſich Apollonius Lachen wieder an dem ſeinen anzündete.
Aber er wußte, es war ein Teufel, der aus dem Kinde
geredet; ihm war das Kind ein Teufel geweſen und
konnt' es noch mehr werden. Und doch mußte er noch
über das Kind lachen, über das joviale Kind mit
ſeinem „verfluchten“ Einfall. So ſehr mußte er lachen,
daß es gar nicht auffiel, wie zerſtückt und krampfhaft
klang, was er entgegnete. „Morgen meinetwegen, oder
heut' Nachmittag noch; jetzt hab ich unmöglich Zeit.
Jetzt begleit' ich dich nach Sankt Georg. Ich hab'
einen nöthigen Gang. Morgen! Ueber das „ver¬
wünſchte“ Kind!“ Apollonius hatte keine Ahnung, wie
ernſt das lachende „verwünſcht“ gemeint war. Er
ſagte, ſelbſt noch über das Kind lachend: „Gut. So
fragen wir morgen. Und dann wird Alles anders
werden. Ich freue mich wie das Kind, und du dich
gewiß auch, Fritz. Es ſoll ein ganz ander Leben
[104] werden, als ſeither.“ Der gute Apollonius freute ſich
ſo herzlich über des Bruders Freude! Noch wie er
ſchon wieder auf ſeinem Fahrzeuge um das Kirchdach
flog. Eben ſo raſtlos umſchwankte ſeines Bruders
Furcht, das dunkle Etwas, das über ihm ſchwankte,
und ihn zu begraben drohte; noch emſiger hämmerte
ſein Herz an den brechenden Planen, den Sturz zu
hindern; aber ſein Gedankenſchiff hing nicht zwiſchen
Himmel und Erde, von des Himmels Licht bewahrt;
es taumelte tiefer, und immer tiefer, zwiſchen Erd' und
Hölle, und die Hölle zeichnete ihn immer dunkler mit
ihrer Glut.


Aennchen hatte die Mutter wieder umſchlungen,
die in der Laube ſaß. Sie ſah wieder mit Apollonius
Augen zu ihr auf, und erzählte ihr von ihm. Und
kam ſie nach Kinderweiſe von ihm ab, ſo leitete die
Mutter mit unbewußter Kunſt ſie wieder zu ihm zurück.
Dann rauſchte es einen Augenblick in den Blättern
der Laube hinter ihr. Sie dachte, es ſei der Wind,
oder hörte es gar nicht; vielleicht, weil es nicht von
Apollonius ſprach. Hätte ſie hingeſehn, ſie wäre ent¬
ſetzt aufgeſprungen von der Bank. Was die Blätter
rauſchen machte, war das ſtürmiſche Erzittern einer ge¬
ballten Fauſt. Darüber ſtand ein rothes Geſicht, ver¬
[105] zerrt von der Anſtrengung, die die gehobene Fauſt
zurückhielt. Sonſt hätte ſie das lächelnde Geſicht des
Kindes getroffen, das, ſo jung, ſchon eine Kupplerin
war. Das lächelnde, vatermörderiſche Geſicht! Das
Kind hat ein blaues Kleidchen an; blau iſt die Lieb¬
lingsfarbe Apollonius'. Sein Kind trägt ſeines Todt¬
feindes Livree. Und die Mutter — o, Fritz Netten¬
mair kann ſich noch auf die Zeit beſinnen, wo ſie
täglich ſo gekleidet ging wie heut'. Und fürchtet ſie
das nicht? Glaubt ſie, was damals vorgegangen,
gibt ihr ein Recht, ihn nicht zu fürchten? Ein Recht,
in Schande zu leben, weil es ſeine Schande iſt? Das
Alles reißt an der gehobenen Fauſt. Und jetzt ſagt
die Mutter vor ſich hin, und hat das Mädchen vergeſſen:
„Der arme Apollonius!“ —Was hält die Fauſt zurück?
— „Ich muß Fritz ſagen, wie er mich dauert. Er iſt
ſo gut. Nicht, Aennchen?“ Aennchen ſingt und hört
die Frage nicht. Sie bedarf auch keiner Antwort.
„Fritz iſt zornig auf ihn, weil er mich einmal gekränkt
hat. Ich hab's lang vergeſſen. Er iſt anders, und
Fritz thut ihm unrecht, wenn er meint, er iſt noch
immer ſo. Und vielleicht iſt er nie ſo geweſen, und
die Menſchen haben Fritz belogen. Wir wollen gut
ſein gegen ihn, damit er froh wird. Ich kann's nicht
mehr ertragen, wie er traurig iſt. Ich will's ihm ſagen,
dem Fritz.“ So ſchließt die junge Frau ihr Selbſtgeſpräch;
ihr ganzes ſüß vertrauliche Mädchenweſen iſt wieder
[106] aufgewacht, und Fritz Nettenmair begreift, das Thun,
zu dem der Zorn ihn hinreißen will, muß erſchaffen,
was noch nicht iſt, muß beſchleunigen, was kommen
wird. Er iſt arm geworden, entſetzlich arm. Die Zu¬
kunft iſt nicht mehr ſein; er darf nicht auf Tage
hinausrechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu
Augenblick; er muß feſthalten, was zwiſchen dem
gegenwärtigen iſt und dem nächſtkommenden. Und
dazwiſchen iſt nichts, als Qual und Kampf.


Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er Alles that,
wie er ſelbſt war, oberflächlich — und jovial. Das
Gewiſſen hat ſeine Seele ausgetieft. Die Furcht vor
dem Verluſt hat ihn ein ander Lieben gelehrt. Das
Lieben lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätt'
er ſie früher ſo geliebt, wie jetzt, ihre tiefſte Seele hätte
ſich ihm vielleicht geöffnet, ſie hätte auch ihn geliebt.
Sie haben Jahre zuſammengelebt, ſind nebeneinander
gegangen, ihre Seelen wußten nichts von einander.
Dem Leibe nach Gattin und Mutter iſt ihre Seele
ein Mädchen geblieben. Er hat die tiefern Bedürfniſſe
ihres Herzens nicht geweckt, er kannte ſie nicht;
er hätte ſie nicht befriedigen können. Er erkennt ſie
erſt, wie ſie ſich einem Fremden zuwenden. Er fühlt
erſt, was er beſaß, ohne es zu haben, nun es einem
Andern gehört. Mit welcher Empfindung ſieht er die
Knospe ihres Angeſichts ſich entfalten, die er ſchon für
die Blume hielt! Welch niegeahnter Himmel öffnet
[107] ſich da, wo er ſonſt Genüge hatte, ſein eigen Spiegel¬
bild zu finden. Und wie viel er ſah; all den Reichthum
an hingebendem Vertraun, an Opferfähigkeit, an ver¬
ehrendem Aufſtaunen und dienendem Ergeben zu faſſen,
der in der Morgenröthe dieſes reinen Angeſichtes auf¬
ging, war ſein Auge, auch krankhaft weit geöffnet,
noch zu eng. Sein Schmerz übermannte einen Augen¬
blick ſeinen Haß. Er mußte ſich fortſchleichen, um das
Geſtändniß ſeiner Schuld vor dem Antlitz zu flüchten,
deſſen Blick er jetzt wie ein Verbrecher fürchtete, ſo
ſanft es war.


Gegen Abend wurde die junge Frau plötzlich von
zwei Männerſtimmen aus ihren Träumen geweckt. Sie
ſaß unfern der verſchloſſenen Schuppenthür im Graſe.
Fritz war eben mit dem Bruder von der Hintergaſſe
in den Schuppen getreten. Sie hörte, er zog den
Bruder mit Wohlig's Anne auf. Anne ſei die beſte
Parthie in der ganzen Stadt und der Bruder ein
Spitzbube, der die Welt kenne und die Art, die lange
Haare und Schürzen trägt. Die Anne nähe ſchon an
ihrer Ausſteuer, und ihre Baſen trügen die Heirath
mit Apollonius von Haus zu Hauſe. Die junge Frau
hörte ihn fragen, wann die Hochzeit ſei? Sie hatte
ſich entfernen wollen; ſie vergaß es; ſie vergaß das
Athmen. Und drauf hätte ſie faſt laut aufgejubelt:
Apollonius ſagte, er heirathe gar nicht, die Anne nicht,
noch ſonſt eine. Der Bruder lachte. „Drum haſt du
[108] den Abend deiner Heimkehr nur mit der Anne getanzt und
ſie heimgeleitet?“ „„Mit deiner Frau hätt' ich getanzt,““
entgegnete Apollonius. „„Du warnteſt mich, deine Frau
würde mir einen Korb geben, weil ſie ſo unwillig
auf mich war. Ich wollte nun gar nicht tanzen. Du
brachteſt mir die Anne und wie du gingſt, fragteſt du
ſie, ob ich ſie heimbegleiten dürfte. Da konnt' ich
nicht anders. Ich habe nicht daran gedacht, die Anne —““
„Zu heirathen?“ lachte der Bruder. „Nun ſie iſt auch
zum — Spaſſe hübſch genug und der Mühe werth,
ſie vernarrt in dich zu machen.“ „„Fritz!““ rief Apollonius
unwillig. „„Aber es iſt nicht dein Ernſt,““ beſänftigte er
ſich ſelbſt. „„Ich weiß, du kennſt mich beſſer; aber auch
im Scherz ſoll man einem braven Mädchen nicht zu
nah treten.““ „Pah,“ ſagte der Bruder, „wenn ſie es ſelbſt
thut. Was kommt ſie uns in's Haus und wirft ſich
dir an den Kopf?“ „„Das hat ſie nicht,““ entgegnete
Apollonius warm. „„Sie iſt brav und hat ſich nichts
Unrechtes dabei gedacht.““ „Ja, ſonſt hätteſt du ſie zurecht¬
gewieſen,“ lachte Fritz, und es lag Hohn in ſeiner
Stimme. „„Wußt' ich,““ ſagte Apollonius, „„was ſie
dachte? Du haſt ſie mit mir aufgezogen und mich mit ihr.
Ich habe nichts gethan, was ſolche Gedanken in ihr
erwecken konnte. Ich hätt's für eine Sünde gehalten.““


Die Männer gingen ihren Weg wieder zurück.
Chriſtianen fiel's nicht ein, ſie hätten auch auf den
Gang kommen können, wo ſie ſtand. Was von Offen¬
[109] heit und Wahrheit in ihr lag, war gegen ihren
Gatten empört. Nicht die Leute hatten ihn belogen;
er war ſelber falſch. Er hatte ſie belogen und Apollonius
belogen und ſie hatte irrend Apollonius gekränkt.
Apollonius, der ſo brav war, daß er nicht über
die Anne ſpotten hören konnte, hatte auch ihrer nie
geſpottet. Alles war Lüge geweſen von Anfang an.
Ihr Gatte verfolgte Apollonius, weil er falſch war, und
Apollonius brav. Ihr innerſtes Herz wandte ſich von
dem Verfolger ab, und dem Verfolgten zu. Aus dem
Aufruhr all ihrer Gefühle ſtieg ein neues heiliges
ſiegend auf, und ſie gab ſich ihm in der vollen Unbe¬
fangenheit der Unſchuld hin. Sie kannte es nicht.
Daß ſie es nie kennen lernte! Sobald ſie es kennen
lernt, wird es Sünde. — Und ſchon rauſchen die
Schritte durch's Gras, auf denen die unſelige Erkennt¬
niß naht.


Fritz Nettenmair mußte ſeine neue Scheidemauer
aufbau'n, eh' er den Bruder zu ſeinem Weibe führte.
Deßhalb kam er. Sein Gang war ungleich; er wählte
noch und konnte ſich nicht entſcheiden. Er wurde noch
ungewiſſer, als er vor ihr ſtand. Er las, was ſie
fühlte, von ihrem Antlitz. Es war zu ehrlich, um
etwas zu verſchweigen. Es kannte zu wenig, wovon es
ſprach, um zu denken, es müßte dies verbergen. Er
fühlte, mit den alten Verleumdungen werde er nichts
mehr bei ihr vermögen. Er konnte ſie über ihre
[110] Gefühle aufklären, ſie dann bei ihrer Ehre, bei ihrem
weiblichen Stolze faſſen. Er konnte ſie zwingen —
wozu? Zur Verſtellung? Zum Leugnen? Zur Ver¬
heimlichung, wenn ſie einmal wußte, was ſie wollte?
Würde ſie nicht zu ſich ſagen: den Betrüger betrügen,
das Geſtohlene heimlich wieder nehmen, iſt kein Betrug,
kein Diebſtahl. Das war's! Das Bewußtſein ſeiner
Schuld verfälſchte ihm die Dinge, die Menſchen. Er
kannte das ſtarke Ehrgefühl ſeiner Frau, wie die bis
zum Eigenſinn feſte Rechtlichkeit des Bruders und er
hätte Beiden in allem getraut; nur in dem Einen
traute er ihnen nicht, wo er das Gefühl hatte, er hab'
es verdient, von ihnen betrogen zu ſein. So zog er
doch den Weg vor, den er bis jetzt gegangen. Er
machte einen kleinen Umweg über des „Federchenſuchers
Narrheiten.“ Er wußte, kleine Lächerlichkeiten ſind ge¬
ſchickter, eine werdende Neigung zu vernüchtern, als
große Fehler. Er agirte Apollonius, wie er den Weg,
den er mit einem Lichte gemacht, noch einmal zurück¬
ging, aus Sorge, er könnte einen Funken verloren
haben. Wie es ihn bei Nacht nicht ruhen ließ, wenn
ihm einfiel, er hatte bei einer Arbeit ſeinen gewöhn¬
lichen Eigenſinn vergeſſen, oder ein Arbeiter hatte das
ſtrenge Wort nicht verdient, das er, vom Drang der
Geſchäfte erhitzt, gegeben. Wie er aus dem Bette
aufgeſprungen, um ein Lineal, das er im ſchiefen
Winkel mit der Tiſchkante liegen laſſen, in den rechten
[111] zu rücken. Dabei ſtrich und blies Fritz Nettenmair
ſich eingebildete Federchen von den Aermeln. Er ſah
wohl, ſeine Mühe hatte den verkehrten Erfolg. Gereizt
dadurch griff er zu ſtärkeren Mitteln. Er bedauerte
die arme Anne, die Apollonius durch Scheinheiligkeit in
ſich vernarrt gemacht; und erzählte, auf wie gemeine
Weiſe er ſie öffentlich verſpotte. Auf den Wangen
der jungen Frau war ein dunkles Roth aufgeſtiegen.
Offene, naive Naturen haben einen tiefen Haß gegen
alle Falſchheit, vielleicht weil ſie inſtinktmäßig fühlen,
wie waffenlos ſie vor dieſem Feinde ſtehn. Sie zitterte
vor Erregung, als ſie aufſtand und ſagte: „Du könnteſt
das thun, du; er nicht.“ Fritz Nettenmair ſchrack zu¬
ſammen. In dem Anblick der Geſtalt, die voll Ver¬
achtung vor ihm ſtand, war etwas, das ihn entwaffnete.
Es war die Gewalt der Wahrheit, die Hoheit der
Unſchuld dem Sünder gegenüber. Er raffte ſich mit
Anſtrengung zuſammen. „„Hat er dir das geſagt?
Seid ihr ſchon ſo weit?““ preßte er hervor. Sie wollte
nach dem Hauſe gehn; er hielt ſie auf. Sie wollte
ſich losreißen. „Alles haſt du gelogen,“ ſagte ſie, „ihn
haſt du belogen, mich haſt du belogen. Ich habe
gehört, was du vorhin im Schuppen mit ihm ſprachſt.“
Fritz Nettenmair athmete auf. So wußte ſie nicht
Alles. „„Mußt ich's nicht?““ ſagte er, indem ſein Auge
ſich der Reinheit des Ihren gegenüber kaum aufrecht
hielt. „„Mußt' ich nicht, um deine Schande zu verhindern?
[112] Soll der Federchenſucher dich verachten?““ Noch drückte
ihr Blick den ſeinen nieder. „„Weißt du, was du biſt?
Frag' ihn doch, was eine Frau iſt, die Ehre und
Pflicht vergißt? An wen denkſt du mit Gedanken, wie
du nur an deinen Mann denken ſollteſt? Wenn du
wie eine verliebte Dirne umherſchleichſt, wo du meinſt,
ihn zu ſehn. Und meinſt, die Menſchen ſind blind.
Frag' ihn doch, wie er ſo eine nennt? O die
Leute haben ſchöne Namen für ſo eine.““ Er ſah,
wie ſie erſchrack. Ihr Arm bebte in ſeiner Hand. Er
ſah, ſie begann ihn zu verſtehn, ſie begann ſich ſelbſt
zu verſtehn. Er hatte ihren Trotz gefürchtet, und ſah,
ſie brach zuſammen, das Zornesroth erblich auf ihrer
Wange und Schamröthe ſchlug wild über die bleiche
hin. Er ſah, wie ihr Auge den Boden ſuchte, als
fühlte es die Blicke aller Menſchen auf ſich gerichtet,
als hätt' der Schuppen, der Zaun, die Bäume Augen
und alle bohrten ſich in ihr's. Er ſah, wie ſie in der
Jähheit der Erkenntniß ſich ſelbſt ſo eine nannte, für
die die Leute die ſchönen Namen haben. Der Schmerz
ſtrömte ſeinen Regen über die ſchamblutende brennende
Wange und die Thränen waren wie Oel; das Feuer
wuchs, als eine Stimme vom Schuppen klang und
ſein Tritt. Sie wollte ſich gewaltſam losreißen und
ſah mit halb wildem, halb flehendem Blicke auf, der
ſterbend vor den tauſend Augen wieder zu Boden ſank.
Er ſah, ſein Auge, das Auge des, der durch den
[113] Schuppen kam, war ihr das ſchrecklichſte. Er hatte
ſeinen ganzen Muth wieder. „Sag's ihm,“ preßte er
leiſe hervor, „was du von ihm willſt. Wenn er iſt,
wie du meinſt, muß er dich verachten.“ Fritz Netten¬
mair hielt die Kämpfende mit der Kraft des Siegers
feſt, bis er Apollonius, der fragend aus dem Schuppen
ſah, gewinkt, herbeizukommen. Er ließ ſie und ſie
floh nach dem Hauſe. Apollonius blieb erſchrocken
auf dem halben Wege ſtehn. „Da ſiehſt du, wie ſie
iſt,“ ſagte Fritz zu ihm. „Ich hab' ihr geſagt, du woll¬
teſt ſie fragen. Willſt du, ſo gehn wir ihr nach und
ſie muß uns beichten. Ich will ſehn, ob meine Frau
meinen Bruder beleidigen darf, der ſo brav iſt.“
Apollonius mußte ihn zurückhalten. Fritz gab ſich
nicht gleich zufrieden. Endlich ſagte er: „Du ſiehſt
aber nun, es liegt nicht an mir. O, es thut mir leid!“
Es war ein unwillkürlicher Schmerz in den letzten
Worten, den Apollonius auf die mißlungene Ausſöh¬
nung bezog. Fritz Nettenmair wiederholte ſie leiſer,
und diesmal klangen ſie wie ein Hohn auf Apollonius,
wie ein höhniſches Bedauern über eine verfehlte Liſt.


Chriſtiane war nach der Wohnſtube geſtürzt und
hatte die Thür hinter ſich verriegelt. An Fritz dachte
ſie nicht. Aber Apollonius konnte hereintreten. Sie
wälzte den fieberiſchen Gedanken, hinaus in die Welt
zu fliehn; aber wohin ſie ſich dachte, im ſteilſten Gebirg,
im tiefſten Walde begegnete er ihr und ſah, was ſie
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 8[114] wollte, und er mußte ſie verachten. Und was wollte ſie
denn? Wollte ſie etwas von ihm? Wenn ſie in Ge¬
danken vor ihm floh und angſtvoll eine Zuflucht ſuchte;
war er es nicht wieder, zu dem ſie floh? Wenn ſie
in Gedanken eine Bruſt umſchlang, daran ſich auszu¬
weinen, war es nicht ſeine? Der Augenblick, der ſie
lehrte, ſie wollte etwas Böſes, hatte ſie ja erſt gelehrt,
was ſie wollte. Aennchen war im Zimmer; ſie hatte
das Kind nicht bemerkt. Alles Leben der Mutter war
bei ihrem innern Kampfe; Aennchen ſah der Mutter
nicht an, was in ihr vorging. Sie zog die Mutter
auf einen Stuhl und umſchlang ſie nach ihrer Weiſe
und ſah zu ihrem Antlitz auf. Die Mutter traf ihr
Blick, als käm' er aus Apollonius' Augen. Aennchen
ſagte: „Weißt du Mutter? der Onkel Lonius“ — die
Mutter ſprang auf und ſtieß das Kind von ſich, als
wär' er's ſelbſt. Sag' mir nichts mehr von — ſag'
mir nichts mehr von ihm! ſagte ſie mit ſo zorniger
Angſt, daß das Mädchen weinend verſtummte. Aenn¬
chen ſah nicht die Angſt, nur den Zorn in der Mutter
Auffahren. Es war Zorn über ſich ſelbſt. Das Mäd¬
chen log, als ſie dem Onkel von der Mutter Zorn
über ihn erzählte. Es bedurfte der Erzählung nicht.
Hatt' er nicht ſelbſt die rothe Wange geſehn, mit der
ſie ſeiner und des Bruders Frage auswich; dasſelbe
Roth der zornigen Abneigung, mit dem ſie den Heim¬
kehrenden empfangen?


[115]

Ach, es war ein wunderlich ſchwüles Leben von
da in dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen, Tage,
Wochen lang! Die junge Frau kam faſt nicht zum
Vorſchein, und mußte ſie, ſo lag die brennende Röthe
auf ihren Wangen. Apollonius ſaß vom erſten Mor¬
genſchein auf ſeinem Fahrzeug und hämmerte, bis die
Nacht einbrach. Dann ſchlich er ſich leiſe von der
Hintergaſſe durch Schuppen und Gang auf ſein Stüb¬
chen. Er wollte ihr nicht begegnen, die ihn floh.
Fritz Nettenmair war wenig mehr daheim. Er ſaß
von früh an bis in die Nacht in einer Trinkſtube, von
wo man nach der Ausſteigethür und dem Fahrzeug
am Thurmdache ſehen konnte. Er war jovialer als
je, traktirte alle Welt, um ſich in ihrer lügenhaften
Verehrung zu zerſtreun. Und doch, ob er lachte, ob
er würfelte, ob er trank, ſein Auge flog unabläſſig
mit den Dohlen um das ſteile Thurmdach. Und wie
durch einen Zauber fügte es ſich, nie ſchlich Apollonius
durch den Schuppen, ohne daß fünf Minuten früher
Fritz Nettenmair in die Hausthür getreten war. Im
Schuppen und in der Schiefergrube ſchaltete der Geſell
an ſeiner Statt. Er brachte Fritz Nettenmair den
Rapport vom Geſchäfte; im Anfang ſchrieb der joviale
Herr davon in dicke Bücher, dann nicht mehr. Die
Zerſtreuung wurde ihm immer unentbehrlicher; er hatte
keine Zeit mehr zum Schreiben. Bis er tief in der
Nacht wieder heimkam, wandelte der Geſell in dem
8*[116] Gange vom Wohnzimmer bis zum Schuppen hin und
her. Es waren in der Nähe Diebſtähle vorgekommen;
der Geſell ſtand Wache: Fritz Nettenmair war daheim
ein ängſtlicher Mann geworden. Die übrigen Leute
wunderten ſich über das Vertraun Fritz Nettenmair's
zu dem Geſellen. Apollonius warnte ihn wiederholt.
Freilich! Er hatte Gründe, die Wache nicht zu wün¬
ſchen, am allerwenigſten von dem Geſellen, der ihm
nicht gewogen war. Und das eben war Fritz Netten¬
mair's Grund, dem Geſellen zu vertraun, und auf
die Warnungen nicht zu hören. Als Fritz Nettenmair
zu dem Bruder geſagt: es thut mir leid, war er des
Geſellen gewahr geworden. In ſeinem Grinſen hatte
er geleſen, der Geſell durchſchaute ihn. Er wußte,
was Fritz Nettenmair fürchtete. Da biß er die Zähne
aufeinander; eine halbe Stunde ſpäter übertrug er ihm
die Wache und die Stellvertretung in Schuppen und
Grube. Es koſtete wenig Worte. Der Geſelle ver¬
ſtand, was Fritz ihm ſagte, daß er ſollte; er verſtand
auch, was Fritz nicht ſagte und er dennoch ſollte.
Fritz Nettenmair traute ſeiner Redlichkeit im Geſchäfte
ſo wenig als Apollonius. Er wußte, der Geſelle
würde dort mißbrauchen, daß er etwas wußte, was
außer ihm und Fritz Nettenmair Niemand wußte und
Niemand wiſſen durfte. Die Unredlichkeit des Geſellen
dort haftete ihm für ſeine Redlichkeit, wo er ſie
nöthiger brauchte. Es war die Sorgloſigkeit fieber¬
[117] hafter Angſt um alles Andere, was ſich nicht auf
ihren Gegenſtand bezieht. Der alte Herr im blauen
Rock hatte ſchlimmere Träume, als je; er horchte ge¬
ſpannter, als je, auf jeden flüchtigen Laut, hörte mehr
heraus, und baute immer größere Laſten über ſeine
Bruſt. Aber er fragte nicht.


Es war eines Abends ſpät. Fritz Nettenmair
hatte vom Fenſter der Weinſtube Apollonius ſein Fahr¬
zeug verlaſſen, und an das fliegende Gerüſt binden
ſehn, und war nach ſeiner Gewohnheit aus dem Wirths¬
hauſe geeilt, um noch vor ihm heimzukommen. Er
traf ſeine Frau in der Wohnſtube bei einer häuslichen
Arbeit. Der Geſelle trat herein und machte ſeine
gewöhnliche Meldung. Dann ſagte er ſeinem Herrn
etwas in's Ohr und ging.


Fritz Nettenmair ſetzte ſich zur Frau an den Tiſch.
Hier ſaß er gewöhnlich, bis ein ſchlürfender Tritt
des Geſellen im Vorhaus ihm ſagte, Apollonius ſei
zu Bett gegangen. Dann ſuchte er ſein Weinhaus
wieder auf; er wußte, das Haus war vor Dieben
ſicher, der Geſell war bei der Wache. Das Gefühl,
wie er ſein Weib in ſeiner Hand hatte, und ſie ſich leidend
darein ergab, hatte bisher dem Weine geholfen, einen
ſchwachen Wiederſchein der jovialen Herablaſſung über
[118] ihn zu werfen, die ehedem ſonnenhaft von jedem
Knopfe Fritz Nettenmair's geglänzt. Heute war der
Wiederſchein ſehr ſchwach. Vielleicht, weil ihr Auge
nicht den Boden geſucht, als es ſein Blick berührte.
Er that einige gleichgültige Fragen und ſagte dann:
„Du biſt heute luſtig geweſen.“ Sie ſollte fühlen, er
wiſſe Alles, was im Haus geſchehe, ſei er auch ſelbſt
nicht drinn. „Du haſt geſungen.“ Sie ſah ihn ruhig
an und ſagte: „„Ja. Und morgen ſing' ich wieder;
ich weiß nicht, warum ich nicht ſoll.““ Er ſtand geräuſch¬
voll vom Stuhle auf und ging mit lauten Tritten hin
und her. Er wollte ſie einſchüchtern. Sie erhob ſich
ruhig und ſtand da, als erwarte ſie einen Angriff,
den ſie nicht fürchtete. Er trat ihr nah, lachte heiſcher
und machte eine Handbewegung, vor der ſie erſchreckend
zurückweichen ſollte. Sie that es nicht. Aber das
Roth des beleidigten Gefühls trat auf ihre Wangen.
Sie war ſcharfſinnig geworden, argwöhniſch dem Gatten
gegenüber. Sie wußte, daß er ſie und Apollonius
bewachen ließ. „Und hat er dir weiter nichts geſagt?“
fragte ſie. „„Wer?““ fuhr Fritz Nettenmair auf. Er zog
die Schultern empor und meinte, er ſäh' aus wie der
im blauen Rock. Die junge Frau antwortete nicht. Sie
zeigte nach der Kammerthür, in der das kleine Aennchen
ſtand. „Der Spion! Der Zwiſchenträger!“ preßte der
Mann hervor. Das Kind kam ängſtlich mit zögernden
Schritten. Es war im Hemdchen. Fritz Nettenmair
[119] ſah nicht das Flehen in des Kindes Blick, er ſollte
der Mutter gut ſein, die Mutter ſei auch gut. Er
ſah nicht, wie das häusliche Zerwürfniß auf dem
Kinde laſtete und es bleich gemacht; wie es den Zu¬
ſtand mit durchlitt, ohne ihn zu verſtehn. Er ſah
nur, wie geſpannt es horchte, um dem erzählen zu
können, der es zum Horchen abgerichtet. Es wollte
ſeine Knie umſchlingen, ſein Blick, ſeine gehobene Fauſt
drängte es zurück. Die Mutter nahm das Kind in
ſtillem Schmerz auf die Arme, und trug es in die
Kammer und in ſein Bett zurück. Sie fürchtete, was
der Mann ihm thun konnte. Was er ihr thun konnte,
das fürchtete ſie nicht. Sie ſagte es dem Manne, als
ſie wieder hereinkam und die Thüre verſchloſſen, wie
um das Kind vor ihm zu retten. „Ich bin eins ge¬
worden mit mir,“ ſagte ſie und in ihren Augen ſtand
das mit ſo glänzender Schrift, daß der Mann wieder
hin und herſchritt, um nicht hineinſehn zu müſſen.
„Ich bin eins geworden mit mir. Die Gedanken ſind
gekommen, daran bin ich nicht ſchuld und ich hab' ſie
nicht kommen heißen. Ich hab' nicht gewußt, ſie
waren bös. Dann hab' ich mit den Gedanken ge¬
kämpft, und ich will nicht müd' werden, ſo lang' ich
lebe. Ich bin mit meiner Seele an dem Bett meiner
ſeligen Mutter geweſen, wo ſie geſtorben iſt, und hab'
ſie liegen ſehn, und hab' die drei Finger auf ihr Herz
gelegt. Ich hab' ihr verſprochen, ich will nichts Un¬
[120] ehrliches thun und leiden, und hab' ſie mit Thränen
gebeten, ſie ſoll mir helfen, nichts Unehrliches thun
und leiden. Ich hab' ſo lang verſprochen und ſo lang
gebeten, bis alle Angſt fortgeweſen iſt, und ich hab'
gewußt, ich bin ein ehrlich Weib und ich will ein ehr¬
lich Weib bleiben. Und Niemand darf mich verachten.
Was du mir thun willſt, davor fürcht' ich mich nicht
und wehr' mich nicht. Du thuſt's auf dein Gewiſſen.
Aber dem Kinde ſollſt du nichts thun. Du weißt
nicht, wie ſtark ich bin, und was ich thun kann. Ich
leid' es nicht; das ſag' ich dir!


Sein Blick flog ſcheu an der ſchlanken Geſtalt
vorüber, er berührte nicht das bleiche ſchöne Antlitz;
er wußte, ein Engel ſtand darauf und drohte ihm.
O er wußte, er fühlte, wie ſtark ſie war; er empfand,
wie mächtig der Entſchluß eines ehrlichen Herzens
ſchirmt. Aber nur gegen ihn! er empfand es an ſeiner
Schwäche. Er fühlte, ihr mußte glauben, wer glauben
durfte. Dies Recht hatte er im unehrlichen Spiele
verſpielt. Er hätte ihr glauben müſſen, wußt' er nicht,
es mußte kommen, was kommen mußte. Sie nicht,
Niemand konnte es verhindern. Einen Rettungsweg
zeigte ihm ſein Engel, eh' er ihn verließ. Wenn er
redlich, unabläſſig ſich mühte, gut zu machen, was er
an ihr verſchuldet. Wenn er ihr die Liebe thätig
zeigte, die die Angſt vor dem Verluſte ihn gelehrt.
Hatt' er nicht Helfer? Mußten die Kinder nicht ſeine
[121] Helfer ſein? Und ihr Pflichtgefühl, das ſo ſtark war?
Die todte Mutter, an deren Bett ſie in Gedanken ge¬
treten, auf deren Herz ſie ihre Schwurfinger gelegt? Aber
eben das, worauf er hofft, ihre Reinheit, ſcheucht ihn
zurück, wie er ſich ihr nahen will. Und er iſt dem
Geſpenſte ſeiner Schuld verfallen, dem Gedanken der
Vergeltung, der ihn unwiderſtehbar treibt, das zu
ſchaffen, was er verhindern will. Zu tief hat ihn die
lange, ſtete Gewohnheit, ihn zu denken, eingegraben.
Hoffnung und Vertrau'n ſind dem Gedanken fremd;
der Haß iſt ihm verwandter. Ihn ruft er zu Hülfe.
— Draußen ſchlürft der Fuß des Geſellen auf dem
Sande des Vorhauſes. Das Haus iſt ſicher vor
Dieben. Er kann wieder gehn.


Fritz Nettenmair iſt heute im Weinhaus ſo jovial,
als er ſein kann. Seine Schmeichler haben Durſt
und laſſen ſich ſeine Herablaſſung gefallen. Er trinkt,
ſchlägt ſeinen Gäſten die Hüte über die Ohren in's
Geſicht, und übt mit Stock und Hand noch manche
andere zarte Liebkoſungen, und belacht ſie als geiſtreiche
Scherze mit bewunderndem Lachen. Er thut Alles,
ſich zu vergeſſen; es gelingt ihm nicht. Könnt' er
mit ſeiner jungen Frau tauſchen, die unterdeß einſam
daheim ſitzt! Wonach er ſich ſehnt: ſich zu vergeſſen,
dagegen muß ſie ſich wehren. Was er muß, was er
mit aller Mühe nicht abwenden kann, danach ringt ſie
und es will ihr nicht gelingen — ſich auf ſich ſelbſt
[122] zu beſinnen. — Was hilft's daß ſie's dem Kinde verbot?
all' ihre Gedanken reden ihr von Apollonius. Sie
meinte, ſie wich ihm aus, und ſie ſieht, er flieht ſie.
Sie ſollte ſich freun, und es thut ihr weh. Ihre
Wangen brennen wieder. Eigen iſt's, daß ſie ſelbſt
ihren Zuſtand ſtrenger oder milder anſieht, je nachdem
ſie in Gedanken Apollonius ſtrenger oder milder darüber
urtheilend glaubt. So iſt er ihr das unwillkührliche
Maas der Dinge geworden. Weiß er, wie ſie iſt, und
verachtet ſie? Er iſt ſo mild und nachſichtig; er hat
die Anne nicht verſpottet, nicht verachtet; er hat ihr
das Wort geredet gegen fremde Verachtung und Spott.
Hat ſie ſchon, eh' er kam, Gedanken gehabt, die ſie
nicht haben ſollte, und er hat ſie errathen? Iſt ſie
ſich doch, als wär' ſie mit Allem, was ſie weiß und
wünſcht, nur ein Gedanke in ihm, den er weiß, wie
ſeine andern. Und ſie hat ihn gedauert; und darum
ſah er ihr mit traurigem Blicke nach, wenn ſie ging?
Ja! Gewiß! Und nun floh er ſie aus Schonung;
ſein Anblick ſollte nicht Gedanken in ihr wecken, die
beſſer geſchlafen hätten, bis ſie ſelber ſchlief im Sarg.
Er vielleicht ſelbſt hatte es ihrem Manne geſagt oder
geſchrieben; und dieſer hatte das Mittel gewählt, ſie
durch Widerwillen zu heilen.


War's Zufall, daß ſie in dieſem Augenblicke nach ihres
Mannes Schreibpult blickte? Sie ſah, er hatte den
Schlüſſel abzuziehn vergeſſen. Sie erinnerte ſich, er
[123] war nie ſo nachläſſig geweſen. Sonſt hatte ſie keine
Acht darauf gehabt; jetzt erſt fiel ihr auf, er war,
wußte er ſie zugegen, nicht auf Augenblicke aus dem
Zimmer gegangen, ohne zu ſchließen und den Schlüſſel
abzuziehn. Im oberſten Fache rechts lagen Apollonius'
Briefe; ihr Blick war ſonſt der Stelle ausgewichen.
Jetzt öffnete ſie das Pult und zog das Fach heraus.
Ihre Hände zitterten, ihre ganze Geſtalt bebte. Nicht
aus Furcht, ihr Mann könnte ſie dabei überraſchen.
Sie mußte wiſſen, wie es ſtand zwiſchen ihr, Apollo¬
nius und ihrem Mann; ſie hätte dieſen gefragt; ſie
hätte ſich nicht ſelbſt geholfen, konnte ſie ihrem Manne
trau'n. Sie bebte vor Erwartung, was ſie finden
wird. Ob ſie etwas davon ahnt, was ſie finden
wird?


Es waren viel Briefe in dem Fach; und alle lagen
offen und entfaltet darin. Und alle ſchienen nur Ab¬
drücke eines einzigen zu ſein, ſo ſehr glichen ſie ſich.
Nur daß die Züge in den erſten weicher erſchienen.
Wie abgezirkelt ſtand die Anrede in jedem genau auf
derſelben Stelle; genau um eben ſoviel Zoll und Linien
darunter der Beginn des Briefs. Der Abſtand der
ſchnurgeraden Zeilen von einander und vom Rande
des Bogens war in allen der gleiche; nichts war aus¬
geſtrichen; keine kleinſte Unregelmäßigkeit verrieth die
Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung der¬
ſelben; ein Buchſtabe genau wie der andere.


[124]

Sie berührte die Briefe alle, einen um den andern,
eh' ſie las. Mit jedem ſchlug neue glühende Röthe
über ihre Wangen, als berührte ſie Apollonius ſelbſt,
und ſie zog die Hand unwillkührlich zurück. Jetzt fiel
mit einem Briefe eine kleine metallene Kapſel in den
Kaſten zurück; die Kapſel fuhr auf, und heraus fiel
eine kleine dürre Blume. Ein kleines blaues Glöckchen.
Solch ein's, wie ſie einſt auf die Bank gelegt, damit
er es finden ſollte. Sie erſchrack. Jene hatte Apollo¬
nius ja noch denſelben Abend mit Spott und Hohn
unter ſeinen Kameraden ausgeboten, und gefragt, was
ſie gäben, und dann unter dem Lachen Aller dem Bru¬
der feierlich zugeſchlagen. Dieſer brachte ſie. ihr und
erzählte ihr's während des Tanzens, und Apollonius
ſah zum Saalfenſter herein, höhnend, wie der Bruder
ſagte. Jene hatte ſie zerpflückt; das junge Volk war
über die Trümmer hingetanzt. Die Blume in der
Kapſel war eine andere. Es mußte in dem Briefe
ſtehn, von wem ſie war, oder wem Apollonius ſie
ſchickte.


Und doch war's dieſelbe Blume. Sie las es.
Wie ward ihr, als ſie las, es war dieſelbe! Thräne
um Thräne ſtürzte auf das Papier und aus ihnen
quoll ein roſiger Duft und verhüllte die engen Wände
des Stübchens. In dem Duft regte ſich ein Weh'n,
wie von leiſem Morgenwind im Lenz, wenn er die
leichten Nebel flatternd ballt, und durch die Riſſe blauer
[125] Himmel lacht und goldene Höh'n. Und immer weiter
wird der Blick, und wie der Schleier wogend tief und
tiefer ſinkt, ſteigen rauſchende Wälder auf, grüne Wie¬
ſen mit ihrem Blumenſchmelz, trauliche Gärten mit
laubigen Schatten, Häuſer mit glücklichen Menſchen.
O es war eine Welt von Glück, von Lachen und Wei¬
nen vor Glück, die aus den Thränen ſtieg, jede färbte
ſie regenbogenglänzender, jede rief: ſie war dein, und
die letzte jammerte: und ſie iſt dir geſtohlen! Die
Blume war von ihr; er trug ſie auf ſeiner Bruſt in
Sehnſucht, Hoffen und Fürchten, bis die des Bruders
war, deren er dabei gedachte. Dann warf er ſie, die
Botin des Glückes, dem geſchiedenen nach. Er war
ſo brav, daß er für Sünde hielt, die arme Blume dem
vorzuenthalten, der ihm die Geberin geſtohlen. Und
an ſolchem Manne hätte ſie hängen dürfen, mit allen
Pulſen ſich in ihn drängen, ihn mit tauſend Armen der
Sehnſucht umſchlingen zum Nimmerwiederfahrenlaſſen!
Sie hätte es gekonnt, gedurft, geſollt! es wär' nicht
Sünde geweſen, wenn ſie es that; es wäre Sünde
geweſen, that ſie es nicht. Und nun wär's Sünde,
weil der ſie und ihn betrogen, der ſie nun quälte um
das, was er zur Sünde gemacht? Der ſie zur Sünde
zwang; denn er zwang ſie, ihn zu haſſen; und auch
das war Sünde, und durch ſeine Schuld. Der ſie
zwang — er zwang ſie zu mehr, zu Gedanken, die
mit Gott im Himmel hadern wollten, zu Gedanken,
[126] die aus der Liebe und dem Haſſe, die Gott verbot, ein
Recht machen wollten, zu ſchrecklich klugen, verfüh¬
reriſch flüſternden, wilden, heißen, verbrecheriſchen Ge¬
danken. Und wies ſie dieſe ſchaudernd von ſich, dann
ſah ſie unabſichtliche Sünde unabwendbar droh'n. Mit
entſetzlich ſüßem Bangen wußte ſie den Mann ſo nah,
der ihr fremd ſein ſollte, der ihr nicht fremd war, vor
dem ſie in der Angſt ihrer Schwäche keine Rettung
ſah. Sie floh vor ihm, vor ſich ſelbſt, in die Kammer,
wo ihre Kinder ſchliefen, wo ihre Mutter geſtorben war.
Dorthin, wo ihr ſo heilig wurde, hörte ſie das leiſe
Regen der unſchuldig ſchlummernden Leben, zu deren
Hüterin ſie Gott geſezt; die ruhigen Hauche hinflüſtern
durch die ſtille, dunkle Nacht. Jeder Hauch ein ſorg¬
los ſüß aufgelöſtes Sichbefehlen an die unbekannte
Macht, die das All in ihren Mutterarmen trägt. Sie
ging von Bett zu Bett, und lag knieend regungslos
davor, und legte die Stirn an die ſcharfen Brettkanten.
Vom Sankt Georgenthurme her klangen die Glocken,
wie ſie der Schritt der Zeit berührte; und er hielt nicht
an im Wandern. Es ſchlug Viertel, Halb, Dreiviertel,
Ganz, und wieder Viertel, und wieder Halb. Das
leiſe Weh'n der ſchlummernden Kinderſeelen zitterte um
ſie. Sie lag, die heißen Hände gefalten, lange, lang.
Da ſtieg's empor aus dem leiſen Weben, ſilbern wie
ein Oſtermorgenglockenklang. Was fürchteſt du dich
vor ihm? Und ſie ſah all' ihre Engel um ſich knieen,
[127] und er war einer von ihren Engeln. Der ſchönſte
und der ſtärkſte und der mildeſte. Und ſie durfte zu
ihm aufſehn, wie man zu ſeinen Engeln aufſieht. Sie
ſtand auf und ging in die Stube zurück. Die Briefe
breitete ſie auf dem Tiſche aus, dann ging ſie zur
Ruhe. Ihr Beſitzer ſollte wiſſen, wenn er heimkehrte
und die Briefe fand, ſie hatte ſie geleſen. Nicht, um
ihn zu erſchrecken, nicht als eine Anklage, wie ſie auch
von ihm denken mochte. Er las davon ab, was das
Bewußtſein ſeiner Schuld darauf ſchrieb; er las aus
ſeiner Beleidigung ihr Rachedroh'n und ihre Pläne, es
in's Werk zu ſetzen. Er kannte ihre Wahrhaftigkeit; wär'
er ſo rein geweſen, als ſie, er hätte gewußt, ſie hatte nur dem
Triebe ihrer ehrlichen Natur genügt. Sie ſchied ſchwer
von den Briefen: aber ſie gehörten nicht ihr. Nur
die Kapſel mit der dürren Blume nahm ſie weg und
wollte ihm am Morgen ſagen, daß ſie es gethan.


Fritz Nettenmair ſaß noch ganz allein im Wein¬
haus. Das Haupt hing ihm müde auf die Bruſt
herab. Er rechtfertigte vor ſich ſeinen Haß und ſein
Thun. Der Bruder und ſie waren falſch; der Bruder
und ſie waren Schuld, nicht er, daß er hier vergeu¬
dete, was ſeinen Kindern gehörte. Wer ihm ihr Herz
geſtohlen, konnte für ſie ſorgen. Eben war es ihm
gelungen, ſich zu überzeugen, als daheim die Kammer¬
thüre ging. Die Frau war wieder vom Bette auf¬
geſtanden und legte auch die Kapſel mit der Blume
[128] wieder zu den Briefen. Apollonius hatte ſie nicht
behalten, ſie durfte es auch nicht. Der Gatte dachte
noch nicht an's Heimgeh'n, als ſie die Decke wieder
über ihre reinen Glieder breitete. Ueber dem Gedan¬
ken, ſo fort ſollte Apollonius ihr Leitſtern ſein, und wenn
ſie handelte, wie er, blieb' ſie rein und bewahrt, ſchlief
ſie ein und lächelte im Schlummer wie ein ſorglos Kind.


Das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden
wurde immer ſchwüler. Die gegenſeitige Entfremdung
der Gatten nahm mit jedem Tage zu. Fritz Netten¬
mair behandelte die Frau immer rückſichtsloſer, wie
ſeine Ueberzeugung wuchs, durch Schonung ſei nichts
mehr zu gewinnen. Dieſe Ueberzeugung floß aus der
immer kältern Ruhe der Verachtung, die ſie ihm ent¬
gegenſetzte; er dachte nicht, daß er ſelbſt ſie zu dieſer
Verachtung zwang. Es war eine unglückliche, immer
ſteigende Wechſelwirkung. So wenig Apollonius mit
dem Bruder und der Schwägerin zuſammentraf, ihr
Zerwürfniß mußte er bemerken. Es machte ihn un¬
glücklich, daß er die Schuld davon trug. In welcher
Weiſe er ſie trug, das ahnte er nicht. Während die
Schwägerin mit liebender Verehrung an ihm hing und
ſich und ihrem ganzen Hausweſen ſeine Phyſiognomie
aufprägte, grübelte er über den Grund ihres unbeſieg¬
[129] baren Widerwillens. Der Bruder that nichts, dieſen
Irrthum zu berichtigen; er beſtätigte ihn vielmehr.
Zuweilen, indem er ihn überlegen bei ſich verlachte,
wenn Weinlaune und geſchmeichelte Eitelkeit ihre Wir¬
kung thaten. Der Stunden der Erſchlaffung, der Un¬
zufriedenheit mit ſich ſelbſt waren freilich mehr. Dann
zwang er ſich, Verſtellung darin zu ſehn, um an dem
Mitleid mit ſich ſelber den Haß gegen die Andern, in
dem ihm wohl war, zu ſchärfen. Apollonius wußte
wenig von der Lebensweiſe des Bruders. Fritz Net¬
tenmair verbarg ſie ihm aus dem unwillkürlichen Zwang,
den Apollonius' tüchtiges Weſen ihm abnöthigte, den
er aber Niemand, am wenigſten ſich ſelbſt eingeſtanden
haben würde. Und die Arbeiter wußten, daß ſie Apol¬
lonius mit Nichts kommen durften, was nach Zuträ¬
gerei ausſah, am wenigſten, wenn es ſeinen Bruder
betraf, den er gern von Allen geachtet geſehen hätte,
mehr als ſich ſelbſt. Aber er hatte bemerkt, Fritz ſah
ihn als einen Eindringling in ſeine Rechte an, der
ihm Geſchäft und Thätigkeit verleidete. Apollonius
fühlte ſich von dem Tage ſeiner Rückkehr nicht wohl
daheim; er war ſeinen Liebſten hier eine Laſt; er dachte
oft an Köln, wo er ſich willkommen wußte. Bis jetzt
hielt ihn die moraliſche Verpflichtung, die er in Rück¬
ſicht der Reparatur auf ſich genommen. Dieſe ging
mit raſchen Schritten ihrer Vollendung entgegen. So
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 9[130] durfte der Gedanke ſeine Verwirklichung fordern, und
er theilte ihn dem Bruder mit.


Es wurde Apollonius anfangs ſchwer, den Bruder
zu überzeugen, es ſei ihm Ernſt mit der Rückkehr nach
Köln. Fritz hielt es erſt für einen liſtigen Vorwand,
ihn ſicher zu machen. Der Menſch gibt ebenſo ſchwer
eine Furcht auf, als eine Hoffnung. Und er hätte
ſich eingeſtehen müſſen, er habe den zwei Menſchen
Unrecht gethan, die des Unrechtes an ihm anzuklagen
ihm eine Gewohnheit geworden war, in der er eine
Art Behagen fand. Er hätte dem Bruder ein zweites
Unrecht verzeihen müſſen, das dieſer von ihm gelitten.
Er fand ſich erſt darein, als es ihm gelungen war,
im Bruder wieder den alten Träumer zu ſehn, und in
deſſen Vorhaben eine Albernheit; als er ein unwill¬
kührliches Eingeſtändniß darin ſah, der Bruder begreife
in ihm den überlegenen Gegner und gehe aus Ver¬
zweiflung am Gelingen ſeines ſchlimmen Planes. In
dem Augenblick erwachte die ganze alte joviale Herab¬
laſſung wie aus einem Winterſchlaf. Seine Stiefeln
knarrten wieder: da iſt er ja! und: nun wird's famos!
läuteten ſeine Petſchafte den alten Triumph. Die
Stiefeln übertönten, was ihm ſein Verſtand von den
nothwendigen Folgen ſeiner Verſchwendung, von ſeinem
Rückgange in der allgemeinen Achtung vorhielt. Es
war ihm, als ſei Alles wieder ſo gut als je, war nur
der Bruder fort. Er glaubte ſogar vorgreifend an
[131] ſeine außerordentliche Großmuth, dem Bruder zu ver¬
zeihn, daß er da geweſen. Er richtete ſich vor dem
Bruder ſchon in der ganzen alten Größe wieder auf,
in der er als alleiniger Chef des Geſchäfts dem An¬
kömmling gegenüber geſtanden, und winkte ihm mit
ſeinem herablaſſendſten Lachen zu, er wolle es ſchon
durchſetzen bei dem im blauen Rock. Der ſelber müſſe
Apollonius fortſchicken.


Die junge Frau fühlte anders. Fritz Nettenmair
war zu klug, ihr vorläufig davon zu ſagen. Aber der
alte Valentin war nicht ſo klug und wußte nicht,
warum er ſo klug ſein ſollte. Der alte Valentin war
ein närriſcher Geſelle. Dem alten Herrn ſagte er
nichts. Es war wunderlich, wie gewiſſenhaft er ſeine
Pflicht an das Haus vertheilte, der ehrlichſte Achſel¬
träger, den es je gegeben. Er verrieth den jungen
Leuten nie etwas, was er dem alten Herrn abgemerkt;
aus Treue gegen den blauen Rock verbarg er es den
Jungen ſo angeſtrengt, als der alte Herr ſelbſt. Aber
er war auch den Jungen ſo treu ergeben, daß der
alte Herr von ihnen Nichts durch ihn erfuhr, als was
ſie ſelber wollten, und hätte der alte Herr gethan,
was er nie that, ihn danach gefragt.


Der jungen Frau war's, als ſollte ihr Engel von
ihr ſcheiden. Sie empfand, daß ſie in ſeiner Nähe
ſicherer vor ihm war, als von ihm entfernt. Denn
all der Zauber, der ihren Wünſchen wehrte, ſündhaft
9 *[132] zu werden, floß ja aus ſeinen ehrlichen Augen auf
ſie nieder. Von der Stirn, die ſo rein war, daß ein
ſündhafter Blick verzweifelte, ſie befleckend in ſein Be¬
gehren mit zu reißen, und ſelbſt gereinigt und reinigend
in die Seele zurückkam, die ihn geſchickt.


Aber Apollonius ſollte nicht gehn. Und das durch
des Bruders Schuld, den allein in der ganzen Stadt
ſein Gehen freute. Aber er wird ſie nicht anerkennen;
auch dieſe wird er von ſich ab und auf den Bruder
ſchieben. Apollonius hatte auch dem Bauherrn von
ſeinem Entſchluſſe geſagt. Es befremdete ihn, daß der
brave Mann, der ſonſt Alles, was Apollonius thun
würde, ſchon im Voraus gebilligt, als könnte Apollonius
nichts thun, was er nicht billigen müßte, die Mitthei¬
lung mit fremder, wie verwundert einſylbiger Kälte
aufnahm. Er drang in ihn, ihm den Grund dieſer
Veränderung zu ſagen. Die braven Männer verſtän¬
digten ſich leicht. Der Bauherr ſagte ihm, nachdem
er ſich gewundert, Apollonius damit unbekannt zu finden,
was er von des Bruders Lebensweiſe wußte, und war
der Meinung, das Geſchäft und das Haus ſeines
Vaters könne ohne Apollonius Hülfe nicht beſtehn.
Er verſprach, ſich weiter nach der Sache zu erkundigen
und war bald im Stande, Apollonius nähere Auf¬
klärungen zu geben. Hier und da in der Stadt war
der Bruder nicht unbedeutende Summen ſchuldig, das
Schiefergeſchäft war, beſonders in der letzten Zeit, ſo
[133] ſaumſelig und ungewiſſenhaft betrieben worden, daß
manche vieljährige Kunden bereits abgeſprungen waren
und andere Begriff ſtanden, es zu thun. Apollonius
erſchrack. Er dachte an den Vater, an die Schwägerin
und an ihre Kinder. Er dachte auch an ſich, aber
eben das eigene ſtarke Ehrgefühl ſtellte ihm zuerſt vor,
was der alte, ſtolze, rechtliche blinde Mann leiden
müßte bei der Schande eines möglichen Concurſes.
Er fand ſein Brod; aber des Bruders Weib und
Kinder? Und ſie waren des Darbens nicht gewohnt.
Er hatte gehört, das Erbe der Frau von ihren Aeltern
war ein anſehnliches geweſen. Er ſchöpfte Hoffnung,
es könne noch zu helfen ſein. Und er wollte helfen.
Kein Opfer von Zeit und Kraft und Vermögen ſollte
ihm zu ſchwer werden. Konnte er den Verfall nicht
aufhalten, darben ſollten die Seinigen nicht. Der
wackere Bauherr freute ſich über ſeines Lieblings
Denkart, auf die er gerechnet, die vermiſſen zu müſſen
ihn befremdet hatte. Er bot Apollonius ſeine Hülfe
an. Er habe weder Frau noch Kinder, und Gott ihn
etwas erwerben laſſen, um einem Freunde damit zu
helfen. Noch nahm Apollonius kein Anerbieten an. Er
wollte erſt ſehn, wie's ſtand, und ſich Gewißheit ver¬
ſchaffen, ob er ein ehrlicher Mann bleiben konnte, nahm
er den freundlichen Erbieter beim Wort.


Es kamen ſchwere Tage für Apollonius. Der
alte Herr durfte noch nichts wiſſen und, war ſeine
[134] Ehre aufrecht zu erhalten, auch nicht erfahren, daß ſie
gewankt. Apollonius bedurfte dem Bruder gegenüber ſeine
ganze Feſtigkeit und ſeine ganze Milde. Er mußte
ihm täglich imponiren und mußte ihm ſtündlich ver¬
zeihn. Es war ſchon nicht leicht, den Stand ſeines
Vermögens, ſeine Gläubiger und den Betrag der Schulden
von ihm zu erfahren. Vergebens machte Apollonius
ſeine gute Meinung geltend, der Bruder glaubte ihm
nicht; und hätt' er ihm glauben müſſen, er hätte ihn
darum nicht weniger gehaßt. Er haßte ſich ſelbſt in
Apollonius, und haßte ihn darum um ſo mehr, je haſſens¬
werther ſein eigenes Thun ihm erſchien. Als Apollonius
die Gläubiger und die Beträge wußte, unterſuchte er
den Stand des Geſchäftes und fand ihn verwirrter,
als er gefürchtet. Die Bücher waren in Unordnung;
in der letzten Zeit war gar nichts mehr eingetragen
worden. Es fanden ſich Briefe von Kunden, die ſich
über ſchlechte Waare und Saumſeligkeit beklagten,
andere mit Rechnungen von dem Grubenbeſitzer, der
neue Beſtellungen nicht mehr creditiren wollte, da die
alten noch nicht bezahlt. Das Vermögen der Frau
war zum größten Theile verthan; Apollonius mußte
den Bruder zwingen, die Reſte davon herauszugeben.
Er mußte mit den Gerichten drohn. Was litt Apol¬
lonius mit ſeinem ängſtlichen Ordnungsbedürfniß mitten
in ſolcher Verwirrung, was, mit ſeinem ſtarken Gefühl
für ſeine Angehörigen, dem Bruder gegenüber! Und
[135] doch ſah dieſer in jeder Aeußerung, jedem Thun des
Leidenden nur ſchlecht verhehlten Triumph. Nach un¬
endlichen Müh'n gelang Apollonius eine Ueberſicht
des Zuſtandes. Es ergab ſich, wenn die Gläubiger
Geduld zeigten und man die Kunden wieder zu gewin¬
nen vermochte, ſo war mit ſtrenger Sparſamkeit, mit
Fleiß und Gewiſſenhaftigkeit die Ehre des Hauſes zu
retten, und ermüdete man nicht, konnten die Kinder des
Bruders einſt ein wenigſtens ſchuldenfreies Geſchäft
als Erbe übernehmen. Apollonius ſchrieb ſogleich an
die Kunden, dann ging er zu den Gläubigern des
Bruders. Die erſten wollten es noch einmal mit dem
Hauſe verſuchen; man ſah, ſie gingen ſicher; ihre
neuen Beſtellungen waren wenig mehr als Proben.
Bei den Gläubigern hatte er die Freude, zu ſehn,
welches Vertrau'n er bereits in ſeiner Vaterſtadt ge¬
wonnen. Wenn er die Bürgſchaft übernahm, blieben
die ſchuldigen Summen als Capitale gegen billige
Zinſen bis zur allmäligen Tilgung durch jährliche
Abzahlungen ſtehn. Manche wollten ihm noch baares
Geld dazu anvertraun. Er machte keinen Verſuch,
die Wahrheit dieſer Verſicherungen auf die Probe der
That zu ſtellen, und gewann dadurch das Vertraun
der Verſichernden nur noch mehr. Nun ſtellte er dem
Bruder anſpruchslos und mit Milde dar, was er ge¬
than und noch thun wolle. Vorwürfe konnten nichts
helfen, und Ermahnungen hielt er für unnütz, wo die
[136] Nothwendigkeit ſo vernehmlich ſprach. Der Bruder
konnte, wenn Apollonius die Leitung des Ganzen, des
Geſchäftes und des Hausweſens, alle Einnahmen und
Ausgaben von nun allein und vollkommen ſelbſtändig
übernahm, keine willkührliche Beeinträchtigung darin
ſehn. In der Sache, in der er ſeine Ehre zum Pfande
geſetzt, mußte Apollonius frei ſchalten können. Und
das ungeſtörte Zuſammenwirken all der Thätigkeiten,
durch die allein der beabſichtigte Erfolg zu erreichen
war, verlangte die Leitung einer einzigen Hand.


Vor allen Dingen mußte das Verkaufsgeſchäft
wieder in Aufnahme gebracht werden. Der Gruben¬
herr hatte immer ſchlechtere Waaren geliefert und der
Bruder ſie für gute annehmen müſſen, um nur über¬
haupt Waare zu erhalten; die Anerbieten der übrigen
Gläubiger, die Schuld als Capital ſtehen zu laſſen,
nahm er an, um mit dem, was von den Vermögens¬
reſten der Frau zunächſt flüſſig gemacht werden konnte,
dem Grubenherrn die alte Schuld abzutragen und eine
bedeutende neue Beſtellung ſogleich baar zu bezahlen.
So erhielt man wieder und zu billigerem Preiſe gute
Waare, und konnte auch ſeine Abnehmer bewähren.
Der Grubenherr, der bei dieſer Gelegenheit Apollonius
und ſeine Kenntniß des Materials und ſeiner Behand¬
lung kennen lernte, machte, da er alt und arbeitsmüde
war, ihm den Antrag, die Grube zu pachten. Bei
den Bedingungen, die er ſtellte, konnte Apollonius auf
[137] großen Nutzen rechnen, aber noch, wo er in ſchwerer
Lage auf ſich allein ſtand, durfte er ſeine Kräfte nicht
zwiſchen mehre Unternehmungen theilen.


Apollonius entwarf ſeinen Plan für das erſte
Jahr und ſetzte ein Gewiſſes feſt, das der Bruder zur
Führung ſeines Hausſtandes allwöchentlich von ihm
in Empfang zu nehmen hatte. Er dankte von den
Leuten ab, wer nur irgend zu entbehren war. Den
ehrlichen Valentin machte er zum Aufſeher für die
Zeit, wo er ſelbſt in Geſchäften auswärts ſein mußte.
Es lag gegründeter Verdacht vor, daß der ungemüth¬
liche Geſelle mancher Veruntreuung ſich ſchuldig ge¬
macht. Fritz Nettenmair, der an dem Wächter ſeiner
Ehre, wie an ihrem letzten Bollwerke feſthielt, that
Alles, ihn zu rechtfertigen und dadurch im Hauſe zu
erhalten. Der Geſelle hatte zu Allem, was man ihm
vorwarf, ausdrücklichen Befehl von ihm gehabt. Apol¬
lonius hätte den Geſellen gern gerichtlich belangt;
er mußte ſich genügen laſſen, ihn abzulohnen und das
Haus ihm zu verbieten. Apollonius war unerbittlich,
ſo mild er ſeine Gründe dem Bruder vortrug. Jeder
Unbefangene mußte ſagen, er durfte nicht anders, der
Geſelle mußte fort. Auch Fritz Nettenmair dachte, als
er allein war, aber mit wildem Lachen: „Freilich muß
er fort!“ In dem Lachen klang eine Art Genugthuung,
daß er recht gehabt, eine Schadenfreude, mit der er ſich
ſelbſt verhöhnte. „Der Federchenſucher wär' ein Narr,
[138] wenn er ihn nicht ſchickte. Ein Narr, wie ich einer
war, daß ich glaubte, er würde ihn doch behalten.
O ich bin zu ehrlich, zu dummehrlich gegen ſo einen.
Was geh'n ihn meine Schulden an? In ſeiner
Gewalt wollt' er mich haben; darum zwang er mich,
Schulden zu machen, damit er den Geſellen fortſchicken
konnte, der ihm hinderlich war. Herr im Hauſe wollt'
er ſein, darum verdrängte er mich aus einer Stellung
nach der andern, um mit ihr zuſammen zu kommen
ohne mich. Damit er mich einſchüchtern könnte, daß
ich's leiden müßte, was er will. Und wenn er recht
hat, warum läßt er ſich ſoviel von mir gefallen? Ein
ehrlicher Kerl, wie ich, wär' anders gegen mich. Es iſt
ſein bös Gewiſſen. Er wär' nicht ſo, wär' er nicht
falſch. Eine Zwickmühle iſt's. Was das Einſchüchtern
nicht hilft, das ſoll das Einſchmeicheln helfen. Er iſt
mir nicht klug genug. Ich bin einer, der die Welt
beſſer kennt, als der Träumer!“


So beſtärkte ihn, was Apollonius ihm zeigen
mochte, Strenge und Milde, nur in dem Gedanken,
der ihn, je länger er ihn hegte und mit ſeinem Herz¬
blut fütterte, um ſo weniger losließ und um ſo durſtiger
wurde, ſein Herzblut zu trinken. Er ſah kein äußeres
Hinderniß mehr, das des Bruders verbrecheriſche Ab¬
ſicht verhindern konnte. Von nun an wechſelte ſein
Seelenzuſtand zwiſchen verzweifelter Ergebung in das,
was nicht mehr zu verhindern, ja! wohl ſchon geſchehen
[139] war, und zwiſchen fieberiſcher Anſtrengung, es dennoch
zu verhindern. Danach geſtaltete ſich ſein Benehmen
gegen Apollonius als unverhehlter Trotz oder als
kriechend lauernde Verſtellung. Beherrſchte ihn die
erſte Meinung, dann ſuchte er Vergeſſen Tag und
Nacht. Zu ſeinem Unglück hatte der Geſell im nahen
Schieferbruche Arbeit gefunden und war ganze Nächte
lang' ſein Gefährte. Die bedeutenden Leute wandten
ſich von ihm und rächten ſich mit unverhohlener Ver¬
achtung für das Bedürfniß, das er ihnen geweckt und
nicht mehr befriedigen konnte, und vergalten ihm nun
die joviale Herablaſſung, die ſie von ihm ertrugen, ſo
lange er ſie mit Champagner bezahlte. Er wich ihnen
aus und folgte dem Geſellen an die Oerter, wo dieſer
heimiſch war. Hier griff er die joviale Herablaſſung
um eine Oktave tiefer. Nun ertönten die Branntwein¬
kneipen von ſeinen Späſſen und dieſe nahmen immer
mehr von der Natur der Umgebung an. Hatten ſie
doch in beſſern Zeiten eine wie vordeutende Verwandt¬
ſchaft mit dieſen gezeigt. Es kam die Zeit, wo er ſich
nicht mehr ſchämte, der Kamerad der Gemeinheit zu
ſein. Während Apollonius den Tag über für die An¬
gehörigen des Bruders hämmerte auf ſeinem gefähr¬
lichen Schiff, und die Nächte über Büchern und Briefen
ſitzt und den wohlverdienten Biſſen ſich abdarbt, um
gut zu machen mit liebendem Eifer, was der Bruder
verdorben, erzählt dieſer in den Schenken, wie ſchlecht
[140] Apollonius an ihm gehandelt, weil er brav ſei und
der Bruder ſchlecht. Er erzählt es ſo oft, daß er ſelbſt
es glaubt. Und bedauert die Gläubiger, die ſich von
dem Scheinheiligen bürgen ließen, der ſie alle betrügen
wird, und erzählt erſonnene Geſchichten, die ſein Be¬
dauern glaubhaft machen ſollen. Läg' es an ihm,
Apollonius hämmerte vergebens, und wachte ver¬
gebens bei ſeinen Büchern und Briefen. Aber es
glaubt ihm Niemand. Er untergräbt nur, was
er ſelbſt noch von Achtung beſitzt. Apollonius
Vorſtellungen ſetzt er Hohn entgegen. Dennoch hofft
Apollonius, er wird ſeine Treue noch erkennen und
ſich beſſern. Seine Hoffnung zeugt beſſer von ſeinem
eigenen Herzen als von ſeiner Einſicht in das Gemüth
des Bruders. Kommt dieſem der Gedanke ſeiner Ver¬
dorbenheit, dann hat er einen Grund mehr, den
Federchenſucher zu haſſen, und die arme Frau muß es
entgelten, kehrt er zu einer Zeit heim, wo ſich Apollonius
ſchon wieder zum Ausgeh'n rüſtet.


Dächer, die mit Metall oder Ziegeln eingedeckt ſind,
machen in der Regel erſt nach einer Reihe von Jahren
eine Reparatur nöthig; bei Schieferdächern iſt es
anders. Durch die Rüſtungen und das Beſteigen der
Dachfläche während des Eindeckens entſteh'n unver¬
[141] meidlich allerlei Beſchädigungen der Schieferplatten,
die ſich nicht immer ſogleich zeigen. Die erſten drei
Jahre nach beendeter Ein- oder Umdeckung verlangen
oft bedeutendere Nachbeſſerungen als die fünfzig nächſt¬
folgenden. Zu dieſer alten Erfahrung gab auch das
Kirchendach von Sankt Georg ſeinen Beleg. Die
Schieferdecke des Thurmes dagegen, die Apollonius
allein beſorgt, legte genügendes Zeugniß ab von ihres
Schöpfers eigenſinniger Gewiſſenhaftigkeit. Die Dohlen,
die ſie bewohnten, hätten noch lange Zeit Ruhe gehabt
vor ſeinem Fahrzeug, hätte nicht ein alter Klempner¬
meiſter ſeinen kirchlichen Sinn durch Stiftung einer
blechernen Zierrath an Tag legen wollen. Es war
ein Blumenkranz, den Apollonius dem Thurmdach
umlegen ſollte, um deſſentwillen er diesmal ſeine Leiter
an der Helmſtange anknüpfte. Vor etwas mehr als
einem halben Jahre hatte er ſie abgenommen.


Unterdeß war ſein angeſtrengtes Beſtreben nicht
ohne Erfolg geblieben. Die alten Kunden hatte er
feſtgehalten und neue dazu gewonnen. Die Gläubiger
hatten ihre Zinſen und eine kleine Abſchlagszahlung
für das erſte Jahr, das Vertraun und die Achtung
vor Apollonius wuchs mit jedem Tage; mit ihnen
ſeine Hoffnung und ſeine Kraft, die er mit verdoppel¬
ter Anſtrengung bezahlte.


Daß man dasſelbe von ſeinem Bruder ſagen könnte!
von dem Verſtändniß der beiden Gatten! Es war
[142] ein Glück für Apollonius, daß er mit ſeiner ganzen
Seele bei ſeinem Vorhaben ſein mußte, daß er keine
Zeit übrig behielt, dem Bruder Schritt vor Schritt
mit Augen und Herz zu folgen, zu ſehn, wie der
immer tiefer ſank, den zu retten er ſich mühte. Wenn
er ſich freute über ſein Gelingen, ſo war es aus
Treue gegen den Bruder und deſſen Angehörigen; der
Bruder ſah etwas anderes in ſeiner Freude und dachte
auf nichts, als ſie zu ſtören. Es kam weit mit Fritz
Nettenmair. Im Anfang hatte er den größten Theil
des wöchentlich für ſeinen Hausſtand Ausgeſetzten der
Frau übergeben. Dann behielt er immer mehr zurück
und zuletzt trug er das Ganze dahin, wohin ihm das
Bedürfniß, durch Traktiren ſich Schmeichler zu erkaufen,
treuer gefolgt war, als die Achtung der Stadt. Die
Erfahrung an den „bedeutenden“ Leuten hatte ihn
nicht bekehrt. Die Frau hatte ſich kümmerlicher und
kümmerlicher behelfen müſſen. Der alte Valentin ſah
ihre Noth, und von nun an ging das Haushaltgeld
nicht mehr durch ihres Mannes, ſondern durch Valentins
Hände. Und zuletzt wurde Valentin ihr Schatzmeiſter
und gab ihr nie mehr, als ſie augenblicklich bedurfte,
weil das Geld in ihren Händen nicht mehr vor dem
Manne ſicher war. Sie mußte das, wie Alles, von
ihm entgelten. Er war ſchon gewohnt, an der ganzen
Welt, die ihn verfolgte, an ſich ſelbſt, an dem Gelingen
Apollonius, in ihr ſich zu rächen. Valentin hätte ihn
[143] ſchon lang darum bei Apollonius verklagt, wenn nicht
die Frau ſelber ihn daran gehindert hätte. Es war
ihr eine Genugthuung, um den Mann zu leiden, der
ja mehr um ſie und ihre Kinder litt. Wußte ſie
Apollonius im Sturm auf der Reiſe, dann weilte ſie
Stunden lang im unbedeckten Hofe. Das Wetter,
das ihn traf, ſollte auch ſie treffen. Sie wollte eine
gleich ſchwere Laſt tragen, wenn ſie die ſeine nicht
erleichtern konnte. Soweit trieb ſie ihre Opferluſt.
Sonſt benutzte ſie die Zeit, die ihr Wirthſchaft und
Kinder übrig ließen, zu allerlei Arbeiten, die Valentin
als ihr Agent vertrieb. Das Geld dafür verwandte
ſie zum Theil — ſie konnte lieber hungern, wenn auch
nicht ihre Kinder hungern ſehn — die Wohnſtube mit
Allerlei zu ſchmücken, wovon ſie wußte, daß Apollonius
es liebte. Und doch wußte ſie, Apollonius kam nie
dahin, er ſah es nie. Aber ſie hätte es nicht gethan,
wußte ſie, er würde es ſehn.


Ihr Gatte ſah es, ſo oft er in die Stube trat.
Ihm entging nichts, was ſeinem Zorne und ſeinem
Haſſe einen Vorwand entgegen bringen konnte. Er
ſah die Haare ſeiner Knaben in Schrauben gedreht,
wie ſie Apollonius trug; er ſah die Aehnlichkeit mit
Apollonius in den Zügen der Frau und der Kinder
entſtehen und wachſen; er hatte ein Aug' für Alles,
was ſeines Weibes Verehrung für den Bruder, was
ihr bewußtes, ſelbſt was ihr unbewußtes ſich Hinein¬
[144] bilden in des Verhaßten eigenſte Eigenheit ausplauderte;
er verfolgte deſſen Einfluß bis zu dem rechtwinkligen
Stande der Wirbel an der Fenſterſäule. Dann begann
er auf Apollonius zu ſchimpfen. Und in Ausdrücken,
als müßte nun auch er zeigen, wieviel man von fremder
Art annehmen könne. Waren die Kinder zugegen,
dann war es der Frau erſte Sorge, ſie zu entfernen.
Sie ſollten ſeine Rohheit nicht kennen und den Vater
verachten lernen. Nicht um ſeinet-, um der Kinder
willen. Er verrieth nicht, wie gern er „die Spione“
los war. Ihm war es nicht um die Kinder, nur um
ſich ſelbſt. So einſam hatte ihn die Verderbniß ſchon
gemacht. Ohne ihr es zu geſtehn, fürchtete er die
Anklage der Kinder bei Apollonius. Er dachte nicht,
daß die Frau ſelbſt ihn verklagen könnte, von der er
doch annahm, ſie treffe ſich mit Apollonius. Leidenſchaft
und wüſtes Leben hatten ſein geringes Klarheitsbe¬
dürfniß aufgezehrt. Seine Vorausſetzungen mochten
ſich widerſprechen, widerſprachen ſie nur nicht der
Stimmung des Augenblicks, der Eigenwilligkeit ſeiner
Leidenſchaft. Alles, was er im Zimmer ſah, war ihm
ein neuer Beweis ſeiner Schande. Wie ſollte er
glauben, es habe einen andern Zweck, als von Apol¬
lonius bemerkt zu werden! Wenn ſie ihm dann ſagt,
ſie mög' er ſchimpfen, nur Apollonius nicht, dann zeigt
ihm das ſcharfe Aug' der Eiferſucht, wie ſie einen
Genuß darin findet, um Apollonius zu leiden. Er
[145] wirft's ihr vor, und ſie leugnet's nicht. Sie ſagt ihm:
weil er um mich leidet und um meine Kinder. Er
gibt ſein mühſam Erſpartes her, um zu [erſetzen], wenn
der Mann ihren Kindern das wöchentlich Ausgeſetzte
raubt. „Und das ſagt er dir? Das hat er dir geſagt!“
lacht der Mann mit wilder Freude, ſie auf dem Ge¬
ſtändniß zu ertappen, daß ſie ſich mit ihm trifft. „„Er
nicht,““ zürnt die Frau, daß der Verachtete Apollonius
mit ſeinem Maße mißt. Er, der Gatte, verkleinert,
was Andere für ihn thaten, und rückt, was er für
Andere thut, dieſen unaufhörlich und übertreibend vor.
Apollonius dagegen vergrößert das Empfangene; von
dem, was er erweiſt, redet er nicht, oder er ſelbſt ver¬
kleinert's, um dem Andern Bitte, Annahme und Ver¬
pflichtungsbewußtſein zu erleichtern. Apollonius ſelbſt
ſollte es ſagen! Der alte Valentin hat's geſagt. Der
hat ja die Uhr ſelbſt als ſeine verkauft, die Apollonius
von Cöln mitbrachte. Apollonius hat ihm verboten,
es ihr zu ſagen. — „Und auch zu ſagen, daß er's
ihm verboten hat?“ lacht der Gatte. Und es iſt ein
Etwas von Verachtung in ſeinem Lachen. Solche
Dinge kann man dem Träumer zutraun; aber jetzt
will er's ihm nicht zutraun. „Freilich,“ lacht er noch
wilder. „Ein noch Dümmerer als der Träumer weiß,
umſonſt thut's Keine. Die Schlechteſte hält ſich eines
Preiſes werth. Eine mit ſolchen Haaren und mit
ſolchen Augen, ſolchem Leib!“ Er greift ihr in die Haare
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 10[146] und ſieht ihr in die Augen mit einem Blick, vor dem
die Reinheit erröthen muß, den nur die Verworfenheit
lachend erträgt. Er nimmt das Erröthen für ein Ge¬
ſtändniß und lacht noch wilder. „Du willſt ſagen, ich
bin noch ſchlechter als er. Hahaha! Du haſt recht.
Ich hab' ſolch eine geheirathet. Das hätt er nicht.
Dazu iſt er doch nicht ſchlecht genug!“


Jeder Tag, jede Nacht brachte ſolche Auftritte.
Wußte Fritz Nettenmair den Bruder auswärts oder
auf ſeiner Kammer und den alten Herrn im Gärtchen,
dann ließ er ſeinen Zorn an Tiſchen und Stühlen aus.
An der Frau ſelber ſich zu vergreifen, wagte er noch
nicht. Erſt muß ihn die Wuth einmal über den Zau¬
berkreis hinwegreißen, den ihre Unſchuld, die Hohheit
ſtillen Duldens um ſie zieht. Iſt es einmal geſcheh'n,
dann hat der Zauber ſeine Macht verloren und er wird
zuletzt aus bloßer Gewohnheit thun, wovor er jetzt noch
zurückſchreckt. Die Menſchen wiſſen nicht, was ſie
thun, wenn ſie ſagen: „ich thu's ja nur dies einemal.“
Sie wiſſen nicht, welch' wohlthätigen Zauber ſie zerſtö¬
ren. Daß Einmal nie Einmal bleibt.


Der alte Valentin mußte doch nicht Wort gehalten
haben oder es führte Apollonius ein Zufall an der
Thür vorbei, als der Bruder ihn fern glaubte. Er
hörte das Poltern, den wilden Zornesausbruch des
Bruders, er hörte den reinen Klang von der Stimme
der Frau dazwiſchen, noch in der Aufregung rein
[147] und wohlklingend. Er hörte Beide, ohne zu ver¬
ſtehn, was ſie ſprachen. Er erſchrak. So weit gekom¬
men hatt' er ſich das Zerwürfniß nicht vorgeſtellt. Und
er war ſchuld an dem Zerwürfniß. Er mußte thun,
was er konnte, den Zuſtand zu beſſern.


Der Bruder blieb erſt wie verſteint in ſeiner dro¬
henden Stellung, als er den Eintretenden erblickte. Er
hatte das Gefühl eines Menſchen, der plötzlich bei ei¬
nem Unrechte überraſcht wird. Hätte ihn Apollonius
angelaſſen, wie er verdiente, er wäre vor ihm gekro¬
chen. Aber Apollonius wollte ja verſöhnen und ſprach
das ruhig und herzlich aus. Er hätte es freilich wiſ¬
ſen können, er hatte es oft genug erfahren, ſeine Milde
gab dem Bruder nur Muth zu höhnendem Trotz. Er
erfuhr es jetzt wieder. Fritz verhöhnte ihn wild la¬
chend, daß er einen Vorwand mache, wo er Herr ſei.
Ob er ſich deßhalb zum Herrn des Hauſes gemacht?
Er wußte, er an Apollonius Stelle wäre anders auf¬
getreten. Er hätt' es die fühlen laſſen, die er in ſeiner
Gewalt wußte. Er war ein ehrlicher Kerl und brauchte
nicht ſchön zu thun. Dazu fiel ihm ein, wie oft er
vergeblich die Thür umſchlichen, um Apollonius in der
Stube zu überraſchen. Jetzt war er ja da in der
Stube. Er war hereingetreten, weil er ihn nicht zu
finden meinte. Apollonius war's, der erſchrecken mußte,
Apollonius war der Ertappte, nicht er. Die Verſöh¬
nung war nur der erſte, beſte Vorwand, nach dem
10*[148] Apollonius griff. Darum war er ſo kleinlaut. Da¬
rum erſchrack die Frau, die ihn glauben machen wollte,
Apollonius komme nie in das Zimmer. Darum ſah
ſie ſo flehend zu ihm auf. Der verachtende Blick, mit
dem ſie ihn noch eben gemeſſen, war mit der Larve
der erheuchelten Unſchuld plötzlich von ihrem ſchuldbe¬
wußten Angeſicht geriſſen. Nun wußt' er gewiß, es
war Nichts mehr zu verhindern, nur noch zu vergel¬
ten. Er konnte nun dem Bruder zeigen, er kannte ihn,
und hatte ihn immer gekannt.


Er wies auf die Frau. „Sie bettelt, ich ſoll gehn.
Wozu? Ich ſeh zum Fenſter hinaus. Das iſt eben
ſo gut. Ich ſeh nicht, was ihr treibt.“


Apollonius verſtand ihn nicht. Die Frau wußte
es, ohne ihn anzuſehn. Sie wollte hinaus. In ſei¬
ner Gegenwart erniedrigt zu werden bis zum Koth
unter den Füßen, das trug ſie nicht. Der Gatte hielt
ſie feſt mit wildem Griff. Er packte ſie wie ein Raub¬
vogel. Sie hätte laut ſchreien müſſen, zehrte der See¬
lenſchmerz den körperlichen nicht auf. „Kehr' dich nicht
daran, daß ſie fort will,“ ſchluchzte Fritz Nettenmair vor
krampfhaftem Lachen und faßte den Bruder ſo mit den
Augen, wie er die Frau mit ſeiner Hand gepackt hielt.
„Brauchſt nicht ängſtlich zu ſein. Ich kehr' nur den
Rücken, ſo iſt ſie wieder da. So redet doch miteinan¬
der. Du, ſag' ihm, daß du ihn nicht leiden kannſt; ich
glaub's ja; was glaubt ein Mann ſo einer nicht?
[149] Und du, gib ihr Lehren, von Köln, wo du Alles, gelernt
haſt, wie man ſeinen Bruder von Haus und Geſchäft
vertreibt, um — nun, um — hahaha! ſag' ihr doch: ein
Weib ſoll willig ſein. Was? O ſolch ein willig Weib
iſt — ſag' ihr doch, was ſo eine iſt. Sie weiß es noch
nicht, die — Unſchuld! hahaha!“


Apollonius begriff nichts von dem, was er hörte
und ſah. Aber der Mißbrauch der männlichen Stärke
an einem ohnmächtigen Weibe empörte ihn. Unwillkür¬
lich riß dies Gefühl ihn hin. Er verdoppelte ſeine
ohnehin dem Bruder weit überlegene Kraft, als er den
packenden Arm faßte: ſo daß dieſer die Beute los ließ
und herabfiel wie gelähmt. Die Frau wollte hinaus,
aber ſie brach kraftlos zuſammen. Apollonius fing ſie
auf und lehnte ſie in's Sopha. Dann ſtand er wie
ein zürnender Engel vor dem Bruder. „Ich habe dich
durch Milde gewinnen wollen, aber du biſt ſie nicht
werth. Ich habe Viel von dir ertragen und will's noch,“
ſagte Apollonius; „du biſt mein Bruder. Du giebſt
mir Schuld, ich habe dich in's Unglück geſtürzt; Gott
iſt mein Zeuge, ich hab' Alles gethan, was ich wußte,
dich zu halten. Für wen hab' ich gethan, was du
mir vorwirfſt, als für dich und um deine Ehre und
deine Frau und deine Kinder zu retten ? Wer hat mich dazu
gezwungen, gegen dich ſtreng zu ſein? Für wen ſchaff'
ich? für wen wach' ich? Wenn du wüßteſt, wie mich
ſchmerzt, daß du mich zwingſt, dir aufzurücken, was ich
[150] für dich thue! Weiß es Gott, du zwingſt mich dazu;
ich hab's noch nicht gethan, weder vor Andern, noch
vor mir ſelbſt. Du weißt es ſelbſt, daß du nur einen
Vorwand ſuchſt, um unbrüderlich gegen mich zu ſein.
Ich weiß es und will dich ertragen forthin wie bis jetzt.
Aber daß du aus der Abneigung deiner Frau gegen
mich einen Vorwand machſt, auch ſie zu quälen und
ſie zu behandeln, wie kein braver Mann ein braves
Weib behandelt, das duld' ich nicht.


Fritz Nettenmair lachte entſetzlich auf. Der Bru¬
der hatte ihn auf alle Weiſe in Schande gebracht und
wollte noch den Tugendhaften gegen ihn ſpielen, den
unſchuldig Beleidigten, den ritterlichen Beſchützer der
unſchuldig Beleidigten. „Ein braves Weib! Ein ſo
braves Weib! O freilich! Iſt ſie's nicht? Du ſagſt's
und du biſt ein braver Mann. Haha! Wer muß es
beſſer wiſſen, ob ein Weib brav iſt, als ſolch ein bra¬
ver Mann? Du haſt mich nicht um Alles gebracht?
Du mußt mich noch um meinen Verſtand bringen, da¬
mit ich dein Märchen glaube. Sie iſt dir abgeneigt?
ſie kann dich nicht leiden? Ja du weißt's noch nicht,
wie ſehr. Ich darf nur fort ſein, ſo wird ſie dir's
ſagen. Dann wird dir's ſchlecht gehn! Sie wird dich
erdrücken, damit du ihr's glaubſt. Wenn ich dabei bin,
ſagt ſie's nicht. So was ſagt eine nicht, wenn der
Mann dabei iſt, wenn ſie brav iſt, wie die. Wa¬
rum ſagſt du nicht, du kannſt ſie auch nicht leiden? O
[151] ich hab' ſchon keinen Verſtand mehr! Ich glaub' ſchon
Alles, was ihr mir ſagt!“


Fritz Nettenmair war in der Vergeßlichkeit der Lei¬
denſchaft überzeugt, die Beiden hatten das Märchen
von der Abneigung erfunden.


Apollonius ſtand erſchrocken. Er mußte ſich ſagen,
was er nicht glauben wollte. Der Bruder las in ſei¬
nem Geſichte Schrecken über ein aufdämmerndes Licht,
Unwille und Schmerz über Verkennung. Und es war
Alles ſo wahr, was er ſah, daß ſelbſt er es glauben
mußte. Er verſtummte vor den Gedanken, die wie
Blitze ihm durch das Hirn ſchlugen. So war's doch
noch zu verhindern geweſen! noch aufzuhalten, was
kommen mußte! Und wieder war er ſelbſt — Aber
Apollonius — das ſah er trotz ſeiner Verwirrung —
zweifelte noch und konnte nicht glauben. So war ſein
Wahnſinn wohl noch gut zu machen, ſo war's viel¬
leicht noch zu verhindern, war noch aufzuhalten, was
kommen mußte, und wenn auch nur für heut und mor¬
gen noch. Aber wie? wenn er einen wilden Scherz
daraus machte? Dergleichen Scherze fielen an ihm
nicht auf, und Apollonius war ihm ja ſchon wieder der
Träumer geworden, der Alles glaubte, was man ihm
ſagte. Und er ſelber wieder einer, der das Leben kennt,
der mit Träumern umzugehen weiß. Er mußte es we¬
nigſtens verſuchen. Aber ſchnell, eh' Apollonius die
Fremdheit des Gedankens überwunden, mit dem er
[152] kämpfte. Er brach in ein Gelächter aus, eine ſchau¬
rige Karrikatur des jovialen Lachens, womit er ſich ehe¬
dem ſeine eigenen Einfälle zu belohnen pflegte. Es
war verwünſcht, daß Apollonius ſich glauben machen
ließ, Fritz Nettenmair ſei eiferſüchtig! Der joviale Fritz
Nettenmair! Und noch dazu auf ihn. Es war noch
nichts Verwünſchteres auf der Welt paſſirt als das!
Er las in der Frau Geſicht, wie die Wendung ſie er¬
leichterte. Er wagte es, ſich auf ſie zu berufen, wie
verwünſcht das ſei. Ihre Bejahung machte ihn noch
kühner. Er lachte nun über die Frau, die ſo verwünſcht
ſei, ihm zornig vorzuhalten, daß er ſie von der Gnade
des Gehaßten abhängig gemacht, und lachte, daß daher
die kleinen Ehezwiſte kamen. Er lachte über Apollo¬
nius, daß er einen kleinen Zank ſo ernſt nahm. Wo
waren die Eheleute, bei denen dergleichen nicht vorkam?
Man ſah eben, daß Apollonius noch ein Junggeſelle
war!


Apollonius hörte die Stimme des Bauherrn in der
Hausflur, der nach ihm fragte, und ging raſch hinaus,
damit der Bauherr nicht hereinkomme und Zeuge des
Auftritts werde. Der Bruder hörte ſie zuſammen weg¬
gehen. Er war noch keineswegs beruhigt. Das ehr¬
liche Geſicht Apollonius' kämpfte, als er hinausging
noch immer mit dem Gedanken. Fritz Nettenmair war
voll Wuth über ſich ſelbſt und mußte ſie an der Frau
auslaſſen. Er fühlte in dem Augenblick, daß er Alles
[153] thue, was ein Weib ſchlecht machen kann. Ihr Blick
verrieth ihm, wie ſie ſich ſelbſt verachtete wegen des
Ja, das ſie ſich hatte abzwingen laſſen müſſen; wie ſie
ſich ſagte, daß nun nichts mehr an ihr zu verderben
ſei. Er mußte es fürchten, wenn ſie das ſich ſelbſt
ſagte. Er durfte ſie ſoweit nicht kommen laſſen. Er
wußte das, und gleichwohl höhnte er, ſie könne ja auch
lügen, ſo geſchickt, als irgend eine. Er war nie ſein
Herr geweſen; jetzt war er's weniger als je.


In Fritz Nettenmair kämpfte heut' eine Leidenſchaft
die andere nieder. Es zog ihn die wüſte Gewohnheit,
im Trunk ſich zu vergeſſen, an hundert Ketten aus dem
Hauſe; die Furcht der Eiferſucht hielt ihn mit tauſend
Krallen darin feſt. Hatte der Bruder noch nicht daran
gedacht, was er haben konnte, wenn er nur wollte; er
ſelbſt hatte ihn nun auf den Gedanken gebracht. Und
war der Bruder ſo brav, als er ſich ſtellte, ſeine alte
Liebe, die Liebe und Schönheit der Frau — Fritz Netten¬
mair hatte es nie ſo lebhaft gefühlt, wie ſchön die Frau
war — ſeine eigene Abhängigkeit von Apollonius, der
Haß der Frau gegen ihn, die Gelegenheit des Zuſammen¬
wohnens, und, was all dieſen Dingen erſt die Gewalt gab
über ſeine Furcht, das Bewußtſein ſeiner Schuld! Und
war Apollonius ſo brav, als er ſich ſtellt, ſolchen Mäch¬
[154] ten gegenüber kann er ihm nicht trauen. Den ganzen
Tag rechnete er an ſeiner Angſt herum und ließ ſeine
Frau nicht aus ſeinen Augen. Erſt wie es ruhig wird
um ihn, die Frau die Kinder zu Bett gebracht und ſelbſt
zur Ruhe gegangen iſt, und er kein Licht mehr ſieht in
Apollonius Fenſtern, da laſſen ihn die Krallen, und die
Ketten ziehn deſto ſtärker. Er verſchließt die Hinterthür,
die Apollonius von den Räumen des Hauſes trennt,
er ſchiebt auch noch den Riegel vor, er ſchließt ſogar
die Treppenthür der Emporlaube und zuletzt die Thür,
durch die er geht. Er hat Urſache zu eilen, ohne daß
er es weiß. Der Geſelle darf nicht lang mehr warten.
Fritz Nettenmair weiß es noch nicht: Apollonius hat
es beim Grubenherrn dahin gebracht, daß der Geſelle
aus der Arbeit entlaſſen iſt; und bei der Polizei, daß
er morgen ſich nicht mehr in der Gegend betreten laſſen
darf. Der Geſelle iſt fertig zur Abreiſe; von dem Wirths¬
hauſe hinweg geht er in die weite Welt; er will nur noch
Abſchied nehmen von ſeinem ehemaligen Herrn und
ihm noch etwas ſagen.


Es gibt nicht viel mehr auf der Welt, woran Fritz
Nettenmair hängt. Der Weg, den er geht, führt immer
weiter ab von dem, was ihm das Liebſte war; es iſt
unwiderbringlich für ihn verloren. Der Bewunderte
und Geſchmeichelte wird er nie wieder. An ſeiner Frau
hängt er nur noch durch die glühende Kette der Eifer¬
ſucht gefeſſelt. An dem Vater hat er nie gehangen;
[155] den Bruder haßt er. Er haßt und weiß ſich gehaßt
oder glaubt ſich gehaßt in ſeinem Wahn. Das kleine
Aennchen würde ſich an ihn drängen mit aller Kraft
eines liebebedürftigen Kinderherzens, aber er ſcheucht
das Kind mit Haß von ſich; ſie iſt ihm „der Spion.“
Nur an Einem Menſchen noch hängt ſein Herz, an dem,
der es am wenigſten um ihn verdient. Er kennt ihn
und weiß, der Menſch hat ihn betrogen, hat geholfen,
ihn zu Grunde zu richten, und dennoch hängt er an ihm.
Der Menſch haßt Apollonius, er iſt der Einzige außer
ihm, der Apollonius haßt, und deßhalb hängt Apollonius
Bruder an ihm!


Fritz Nettenmair begleitete den Geſellen eine Strecke
Wegs. Der Geſelle will ſchneller ausſchreiten und
dankt darum für weitere Begleitung. Wenn Andere
ſcheiden, iſt ihr letztes Geſpräch von dem, was ſie ge¬
meinſam lieben; das letzte Geſpräch Fritz Nettenmair's
und des Geſellen iſt von ihrem Haß. Der Geſelle
weiß, Apollonius hätte ihn gern in's Zuchthaus ge¬
bracht, wenn er gekonnt. Wie ſie nun einander ſcheidend
gegenüber ſtehn, mißt der Geſelle den Andern mit ſeinem
Blick. Es war ein böſer, lauernder Blick, ein grimmig
verſtohlener Blick, welcher Fritz Nettenmair fragte, ohne
daß der es hören ſollte, ob er auch reif ſei zu irgend
etwas, was er nicht ausſprach. Dann ſagte er mit
einer heiſern Stimme, die einem andern aufgefallen
wäre, aber Fritz Nettenmair war die Stimme gewohnt:
[156] „Und was ich ſagen wollte: ihr werdet bald Trauer
haben. Ich hab' ihn neulich geſehn.“ Er brauchte keinen
Namen zu nennen, Fritz Nettenmair wußte, wen er
meinte. „Es gibt Leute, die mehr ſehn, als Andere,“
fuhr der Geſelle fort. Es gibt Leute, die einem Schiefer¬
decker anſehn, wenn er noch in dem Jahr herunter muß,
daß ſie ihn getragen bringen und ſehn ihn daliegen,
nur er ſelber nicht mehr. Ein alter Schieferdeckergeſell
hat mir das Geheimniß geſagt, wie man zu dem „Frohn¬
weißblick“ kommt. Ich hab' ihn. Und nun leb' wohl.
Und ergib dich drein, wenn ſie ihn getragen bringen.“


Der Geſelle war von ihm geſchieden. Seine Schritte
verklangen ſchon in der Ferne. Fritz Nettenmair ſtand
noch und ſah in die weißgrauen Nebel hinein, in denen
der Geſelle verſchwunden war. Sie hingen wagrecht
über den Wieſen an der Straße wie ein ausgebreitet
Tuch. Sie ſtiegen empor und verdichteten ſich zu ſelt¬
ſamen Geſtalten, ſie kräuſelten ſich, floſſen auseinander
und ſanken wieder nieder, ſie bäumten wieder auf. Sie
hingen ſich in das Gezweig der Weiden am Weg, und
wie ſie dieſe bald verhüllten, bald frei ließen, ſchien es
ungewiß, gerann der Nebel zu Bäumen, oder zerfloſſen
die Bäume zu Nebel. Es war ein traumhaftes Treiben,
ein unermüdlich Weben ohne Ziel und Zweck. Es war
ein Bild deſſen, was in Fritz Nettenmair's Seele vor¬
ging, ein ſo ähnlich Bild, daß er nicht wußte, ſah er
aus ſich heraus oder in ſich hinein. Da war ein nebel¬
[157] haftes Herabbiegen und Händezuſammenſchlagen um
eine bleiche Geſtalt am Boden, dann ein langſam
wallender Leichenzug; und bald war es der Feind, bald
war es der Bruder, der dort lag, den ſie trugen. Bald
zuckt' es in greller Schadenfreude auf, bald ſank es in
Mitleid zuſammen, bald miſchten ſich beide und das
eine wollte das andere verſtecken. Der dort lag, den
ſie trugen, ihm verzieh er Alles. Er weinte um ihn;
denn durch die Pauſen des Grabgeſangs klang leiſe
ein luſtiger Rutſcher, den die Zukunft aufſtrich: „Da
kommt er ja! Nun wird's famos.“ Und neben dem
Todten lag unſichtbar eine zweite Leiche, ſeine Furcht
vor dem, was kommen mußte, lag der arme Bruder
nicht todt. Und im Sarg trieb verſtohlen Fritz Netten¬
mair's altes joviales Glück neue Keime. Fritz Nettenmair
fühlt ſich einen Engel. Er wünſcht, der Bruder müßte nicht
ſterben, weil — er weiß, daß der Bruder ſterben muß.


Er geht noch immer im Nebel, als das Pflaſter der
Stadt ſchon wieder unter ſeinen Tritten hallt. Sein
Weg führt ihn am rothen Adler vorüber. Die Saal¬
fenſter ſind erleuchtet. Muſik klingt herab. Fritz Net¬
tenmair bleibt ſtehn und ſieht hinauf und bewegt un¬
willkührlich die Hand in der Taſche, wie ſonſt, als er
noch Geld darin hatte, damit zu klappern. Er hat
den Geſellen, den letzten Freund, von dem er mit
Schmerz geſchieden, ſchon vergeſſen. „Der Geſell iſt ein
ſchlechter Kerl; gut, daß er fort iſt.“ Er hat die Ver¬
[158] gangenheit vergeſſen, er vergißt die Gegenwart, denn
die Zukunft iſt wieder ſein. Sie wohnt da oben und
lacht mit hellen Augen zu ihm herab. Er hat ſich ſo
ſehr daran gewöhnt, Alles, was ihn drückt, mit ſeinem
Bruder zuſammenzudenken, daß er's mit ihm in Ein
Grab ſteigen ſieht. An die Zerrüttung ſeines Wohlſtan¬
des mag er ſich nicht erinnern. Er denkt nicht gern
an unangenehme Dinge, eh' er ſie fühlt. Iſt's nicht
genug, daß er weiß, er wird den Bruder verlieren?
Und wenn ſich die Dinge ſelber ihm aufdrängen, dann
hilft ihm ſein Leichtſinn. Wie er ſchnell darüber hindenkt,
findet er für Alles Rath, und was ihm heut nicht ein¬
fällt, das wird ihm morgen einfallen; morgen iſt auch
ein Tag. Und er iſt einer, der — Die Wendung, mit
der er in ſeinen Weg einſchwenkt, gelingt ihm ſo
jovial, als je.


Es wird ihm doch wieder eigen zu Muth, denkt er
ſich, daß man zu der Thür, die er eben aufſchließt, einen
Sarg heraus tragen wird. Unwillkürlich macht er Platz,
wie um Sarg und Zug vor ſich vorbeizulaſſen. „In's
Unabänderliche,“ ſagt er leiſe, wie ſich überhörend, was er
einem Tröſtenden zu antworten habe, wenn es ſo weit
ſei, „in's Unabänderliche muß ſich der Menſch ergeben.“
Und wie er die Achſel zu den Worten zuckt, da wird er
einen leiſen, ſchlanken Lichtſchein gewahr. Ein Stück
davon läuft über ſeinen Aermel, ein anderes liegt wie
abgebrochen und herabgefallen neben ihm auf dem
[159] Pflaſter. Er ſpäht auf; der Schein kommt daher, wo
der untere Abſchnitt des Ladens nicht feſt an das
Fenſterſims ſchließt. Drinn in der Wohnſtube iſt Licht.
„So ſpät?“ Der Athem ſtockt dem Lauſchenden, der Alp
ſitzt wieder auf ſeiner Bruſt. Der Bruder lebt ja noch;
und was kommen mußte, wenn er leben bliebe, kann
noch kommen, ehe er ſtirbt, oder — es iſt ſchon da! Wie
ihm die Hände fliegen, doch iſt die Thür leiſe wieder
verſchloſſen und im Augenblick. Eben ſo leiſe, eben ſo
ſchnell iſt er an der Hinterthür. Sie iſt nicht offen,
aber nur einmal herumgeſchloſſen; und Fritz Nettenmair
weiß es, er kann ſchwören, er hat den Schlüſſel zwei¬
mal im Schloß herumgedreht, als er ging. Er ſchleicht
und tappt ſich zur Stubenthür; er hat die Klinke ge¬
funden und drückt ſie leiſe; die Thür geht auf; ein
trüber Lichtſchein fällt auf die Flur. Er kommt von
einem verdeckten Lichte auf dem Tiſch. Neben dieſem
ſteht im Schatten ein kleines Bett; es iſt Aennchen's
Bett, und ihre Mutter ſitzt daran. Chriſtiane merkt nicht,
daß die Thür ſich öffnet. Sie hat den Kopf weit
vornübergebeugt über das Bett; ſie ſingt leiſe und weiß
nicht, was ſie ſingt; ſie horcht voll Angſt, aber nicht
auf ihren Geſang; ihre Augen würden weinen, machten
Thränen den Blick nicht trüb. Aber nun kommt die
Röthe auf des Kindes Wange wieder, nun kann der
eigene fremde Zug um des Kindes Augen und Mund
verſchwinden; und ſie ſäh's nicht und ängſtigte ſich noch
[160] vergeblich. Ihr iſt's, als müßte jene wiederkehren und
dieſer gehn, wenn ſie ſich nur recht angeſtrengt mühte,
dieſes Kehren und Gehn zu bemerken. Und dabei kann
ſie doch noch daran denken, wie plötzlich das gekommen
iſt, was ſie ſo ſehr beängſtigt. Wie das Aennchen auf
einmal im Bette neben ihrem wie mit fremder Stimme
aufgeſchrien, dann nicht mehr hat ſprechen können; wie ſie
aufgeſprungen und ſich angekleidet; wie ſie in der Angſt
den Valentin, und dieſer, ohne ihr Wiſſen, den Apollonius
geweckt. Daß der alte Geſell alle Schlüſſel im Hauſe
probirt, bis ſich ergab, der Schuppenſchlüſſel ſchließe die
Hinterthür; das wußte ſie nicht. Deſto lebendiger ſtand's
vor ihr, wie Apollonius hereingetreten, wie ihr bei
ſeinem unerwarteten Kommen geweſen, wie ſie voll
Schreck und Scham und doch voll wunderbarer Be¬
ruhigung ſich gefühlt. Apollonius hatte ſogleich den
Arzt, und ſodann Arzneien geholt. Er hatte an dem
Bettchen geſtanden und ſich über das Aennchen gebeugt,
wie jetzt ſie that. Er hatte ſie voll Schmerz angeſehn
und geſagt, Aennchen's Krankheit komme von dem ehe¬
lichen Zerwürfniß, und es werde nicht geſund, höre dieß
nicht auf. Er hatte von den Wundern erzählt, die
einer Mutter möglich würden, und wie ſich der Menſch
bezwingen könne und müſſe. Dann hatte er dem Va¬
lentin noch Manches des Aennchen's wegen anbefohlen;
und war gegangen aus Sorge, der Bruder könnte ſonſt
in ſeinem Irrwahn glauben, er wolle ihn auch von dem
[161] Krankenbett ſeiner Kinder vertreiben. Der Jammer, die
Angſt wollte ſie in Apollonius' Arme jagen; es war
ihr, als wär Alles gut, läge ſie an ſeiner Bruſt; als
dürfte ſie ihn nicht wieder von ſich laſſen. Aber wie
er ſo zu Häupten des Kindes ſtand und ſprach, da
kam er ihr ſo herrlich vor, wie ein Heiliger, vor
dem ſie nur auf den Knieen liegen dürfe. Der Bett¬
ſchirm hüllte die große, ſchlanke Geſtalt in ſeinen
Schatten, nur ſeine Stirn und ſeine hohe Scheitel
waren ſichtbar und erſchienen, von dem Lichte auf dem
Tiſche angeſtrahlt, wie in einer Glorie. Dachte ſie von
ihm weg zu ihrem Gatten, ſo krampfte eiſiger Froſt ihr
Herz zuſammen, und Widerwillen bäumte ſich darin wie
in Rieſe gegen den bloßen Gedanken auf. Aber Apollo¬
nius hatte geſagt, Aennchen werde nicht wieder geſund,
wenn das Zerwürfniß nicht ende. Er hatte geſagt, der
Menſch könne und müſſe ſich bezwingen; ſie wollte ſich be¬
zwingen, weil er's geſagt. Einer Mutter wären Wunder
möglich für ihr Kind; dachte ſie an Apollonius Geſicht, wie
er ſo ſprach, mußte ihr das größte Wunder möglich werden.


Fritz Nettenmair trat herein. Er dachte an Nichts,
als daß Apollonius dageweſen ſein müſſe, war er auch
jetzt nicht mehr da. Es flirrte ihm vor den Augen
vor Wuth. Er wäre auf die Frau losgeſtürzt, ſah er
nicht den alten Valentin an der Kammerthüre ſitzen.
Er wollte warten, bis dieſer einmal das Zimmer ver¬
ließe, und ſchlich ſich nach dem Stuhle am Fenſter,
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 11[162] wo er ſonſt immer geſeſſen, und als wie ein Anderer,
denn jetzt! Die Frau hörte ſeinen leiſen Tritt; ſein
Antlitz konnte ſie nicht ſehn. Ihr ſchien, er wußte um
Aennchen's Zuſtand und ging deshalb ſo leiſe. Sie
ſah Aennchen mit einem Blicke an, der ſagte, was ſie
jetzt thun wollte, that ſie nur um ihr krankes Kind;
ein Blick nach der Thür, aus der er gegangen war,
ſetzte hinzu: und weil er's geſagt. „Da iſt der Vater,
Aennchen,“ ſagte ſie dann; ſie redete eigentlich mit dem
Gatten, der am Fenſter ſaß; aber ſie konnte ihm ihr
Geſicht nicht zuwenden, ihre Rede nicht unmittelbar an
ihn richten. „Du haſt immer nach ihm gefragt. Du
haſt gemeint, wenn er kommt, wird er ſein, wie er ſonſt
war, eh' du krank geworden biſt. Deine Mutter will's
auch — um deinetwillen.“ Ihre Stimme klang ſo tief
aus der Bruſt herauf, daß der Mann ſeinen Groll
mit Gewalt feſthalten mußte. Er dachte: „ſie thut ſo
ſüß, um dich zu hintergehn. Sie haben's verabredet,
als er da war.“ Und der Groll ſchwoll nur noch
grimmiger an den weichen Klängen, mit denen ſie fort¬
fuhr: „Und du gehſt noch nicht in den Himmel. Nicht,
Aennchen? Du biſt ja ſo ein gut' lieb' Kind und
bleibſt noch bei Vater und Mutter. Wenn nur — du
haſt kein Herz vor dem Vater, du dumm' lieb' Aenn¬
chen, weil er laut ſpricht. Er meint's nicht bös des¬
halb.“ Sie hielt inne; ſie erwartete die Antwort von
dem Vater, nicht von dem Kinde. Sie erwartete, er
[163] werde an das Bett treten und zu dem Kinde ſprechen,
wie ſie, und durch das Kind mit ihr. Wie ſie von
ihm denken mochte, das Kind war doch ſein Kind, und
es war krank. Der Mann ſchwieg und blieb ruhig
auf ſeinem Stuhle ſitzen. Ein halb Vaterunſer lang
hörte man nichts, als das Ticken der Uhr. Und das
wurde immer ſchneller, wie das Klopfen eines Men¬
ſchenherzens, das Schlimmes kommen ahnt. Die
Flamme des Lichtes zuckte wie vor Furcht. Valentin
ſtand auf von ſeinem Stuhle, um das Licht zu putzen.
Die Bruſt des Kindes röchelte; es wollte ſprechen, es
konnte nicht. Es wollte mit den Händchen nach dem
Vater langen; es konnte nicht. Es konnte nichts, als
die Arme ſeiner Seele nach dem Vater ausſtrecken.
Aber des Vaters Seele ſah die flehenden nicht. In
ihren Händen hielt ſie krampfhaft ihren Groll und
hatte keine Hand frei für das Kind. Er hört das
Röcheln, aber er weiß, das Kind iſt abgerichtet von
ſeinen Feinden. Es hat kein kindlich Herz gegen ihn;
und wär's wirklich krank, ſo wär es abſichtlich krank
geworden, um ihn betrügen zu helfen. Und ſtürb's,
ſo würde ſein Sterben noch ein Kupplerdienſt ſein, den
es ſeinen Feinden thut. Wär' ſein Auge nicht ſelber
ſo krank, daß es ihm außen nur immer das Eine zeigt,
über dem ſeine Seele innen unabläſſig brütet, er müßte
es am Geſichte der Mutter ſehn, an dem Ton ihrer
Stimme hören, ſie verſtellt ſich nicht, das Kind iſt
11*[164] wirklich krank und ſehr krank. Aber ihre Weichheit,
ihre Angſt iſt ihm nur die Angſt ihres Gewiſſens, die
Angſt vor ſeiner Strafe, die ſie verdient fühlt und doch
entwaffnen will. Valentin tritt von dem Lichte weg
und geht hinaus, um ſich draußen auszuweinen. Der
Mann ſteht auf und nähert ſich leiſe der Frau, ohne
daß ſie ihn bemerkt. Er will ſie überraſchen und das
gelingt ihm. Sie erſchrickt, wie ſie plötzlich über dem
Bette jäh vor ſich ein entſtelltes Menſchenantlitz ſieht.
Sie erſchrickt, und er preßt durch die Zähne: „Du
erſchrickſt? Weißt du warum?“ Sie hat ihm ſelber
ſagen wollen, daß Apollonius in der Stube geweſen
iſt, aber noch hat ſie es nicht gekonnt. Vor dem
Bette des kranken Kindes durfte ſie's nicht; weil ſie
weiß, er wird auffahren. Den Anblick ſeiner Rohheit
hat ſie dem Kinde erſpart, als es noch geſund war,
wenn ſie es vermochte; jetzt konnte der Schreck dem
kranken Kinde den Tod bringen. Sie antwortet ihm
nicht, aber ſie ſieht ihn flehend an und zeigt mit einem
Augenwinke auf das Kind. „Er war da! War er
nicht da?“ fragte er; nicht um zu erfahren, wonach er
fragt, ſondern um zu zeigen, daß er's nicht erſt zu er¬
fahren braucht. Und ſeine Fauſt hebt ſich geballt.
Aennchen kämpft, ſich aufzurichten. Er ſieht es nicht.
Die Frau ſieht es; ihre Angſt wächſt. Sie ſchlägt
die Hände zuſammen. Sie ſieht ihn mit einem Blicke
an, in dem Alles ſteht, was ein Weib verſprechen, was
[165] ein Weib drohen kann. Er ſieht nur ihr Erſchrecken, daß er's
weiß, was geſchah, und die Fauſt fällt nieder auf ihre
Stirn. Ein Schrei klingt. Das Kind rollt ſich in
Krämpfen zuſammen. Die Mutter, über es hingeſtürzt,
weint laut. Valentin kommt hereingeeilt. Fritz Net¬
tenmair geht in die Kammer. Er weiß nicht, was in
ihm Herr iſt, befriedigte Rache, oder Schreck über das,
was er gethan. Er ſinkt auf's Bett, als hätte der
Schlag, den er geführt, ihn ſelbſt betäubt. Er hört
nur halb, wie Valentin nach dem Arzt läuft; ebenſo
hört er dieſen kommen und gehn. Ebenſo lauſcht er,
ob er nicht Apollonius' Flüſtern und ſeinen leiſen
Schritt vernehmen kann. Sich zu zeigen, wagt er
nicht; Scham hält ihn davon zurück. Er rechtfertigt
ſein Thun und nennt Aennchen's Krankheit eine Pim¬
pelei: „Heute wollen Kinder ſterben und morgen ſind
ſie lebendiger als je!“ Aus dem fieberiſchen Horchen
und ſich Beruhigen wird ein fieberiſches Träumen. Er
ſieht Apollonius, wie der ſeine Leiter an der Helmſtange
feſtbinden will, und ſagt ſich bei jedem Schritt des
Steigenden wie tröſtend: „Jetzt wird er fallen! jetzt!“
aber Apollonius fällt nicht. Jeden Augenblick erwar¬
tet er, die Taue ſollen reißen, in welchen Apollonius
mit ſeinem Fahrzeuge hängt; ſie reißen nicht. In dieſe
Träume hinein hört er die Thür der Stube gehn; der
Traum macht einen Fall daraus, den Fall eines ſchwe¬
ren Körpers aus ungeheurer Höhe. Da wird ihm
[166] leicht, als wär' nun Alles gut. Im Halbſchlummer
hört er in der Stube leiſes Gehn, leiſes Reden, leiſes
Weinen und dazwiſchen iſt es wieder ſtill. Das leiſe
Schluchzen, das zum lauten wird und ſich wiederum
bewältigt, als ſei ein Schlafender in der Nähe, den es
nicht wecken will, und wieder ausbricht, daß es den
Schläfer nicht wecken kann, und wieder leiſe wird,
weil es wie über ſich ſelbſt erſchrickt, daß es laut iſt,
wo alle Menſchen leiſe ſind; wer kennt es nicht? wer
erräth es nicht, wenn er es nicht kennt? Fritz Netten¬
mair weiß es im Halbſchlaf: in der Stube liegt ein
Todter. Sie haben ihn gebracht. „In's Unabänder¬
liche muß der Menſch ſich ergeben.“ Zum erſtenmal
ſeit vielen Monden ſchläft er wieder ruhig. Und wa¬
rum ſollt' er nicht? Aus dem leiſen Weinen wird ein
luſtiger Rutſcher. „Da iſt er ja! Nun wird's famos!“
klingt's aus der Ferne vom rothen Adler herein in
ſeinen Schlaf. Das Leiſegehn und Leiſereden aber
war wirklich und dauerte fort. Und eine Leiche war
in der Stube, eine ſchöne Kinderleiche. Während Fritz
Nettenmair von Leitern und Fahrzeugen träumte,
hatte des kleinen Aennchen's Seele ſich zu einem
beſſern Vater gerettet. Der Leib lag ſtarr in dem
kleinen Bettchen. Der Zwiſt der Aeltern hatte das Kind
krank gemacht; Schmerz über die wilde That des Vaters
an der Mutter hatte ihm das kleine Herz gebrochen.


[167]

Fritz Nettenmair ſchlief noch den Schlaf eines Be¬
wahrten, als der neue Tag anbrach. Apollonius da¬
gegen war ſchon lange munter. Vielleicht hatte er gar
nicht geſchlafen. Der Kampf, den ſein Bruder noch in
ſeinem Angeſicht geleſen, als er ihn mit dem Bauherrn
das Haus verlaſſen ſah, und den die Mühen des Ta¬
ges kaum zurückgedrängt, ſcheuchte Nachts den Schlum¬
mer von ſeinem Bett. Der Bruder hatte recht geſehn,
ſeine ſcherzhafte Wendung des Geſprächs hatte ihren
Zweck nicht erreicht. Und wenn Apollonius das Buch
ſeiner Erinnerungen zurückblätterte, mußte er ſich in
ſeiner Meinung, der Bruder ſei eiferſüchtig auf ihn,
beſtärkt fühlen. Gar Manches, das er nicht begriffen,
als er es geſchehen ſah, erhielt Licht von dieſer An¬
nahme und half ſie wiederum beſtätigen. Die Abnei¬
gung der Frau ſchien ein bloßer Vorwand des Bru¬
ders, ihn von ihr fern zu halten. Der Bruder mußte
gemeint haben, er könne ſie mit andern als den Au¬
gen eines Bruders und Schwagers anſehn. Und das
ſchien begreiflich, da der Bruder wußte, ſie war ihm
mehr geweſen, bis ſie ſeine Schwägerin wurde. Er hätte
das dem Bruder gern in Gedanken zum Vorwurf ge¬
macht, mußte er ſich nicht geſtehn, ſein Mitleid, das
des Bruders rohe Behandlung der Frau hervorgerufen,
hatte ſeinen Empfindungen für ſie eine Wärme gegeben,
die ihn ſelbſt beunruhigte. Er fürchtete nicht, daß ihn
dieſe hinreißen könnte, des Bruders Furcht wahr zu ma¬
[168] chen, aber ſeine ſtrenge Gewiſſenhaftigkeit machte ſich
dieſe Wärme ſchon zum Verbrechen. „Aber,“ fiel ihm
dann ein, „hat die Frau nicht wirklich ihm Abneigung
gezeigt? und fühlte ſie Abneigung gegen ihn, wie
konnte der Bruder dann fürchten? Der Bruder hatte
im Tone des Vorwurfs ſie ein Märchen genannt, alſo
glaubte er nicht daran und meinte, die Frau heuchle
ſie nur und empfinde ſie nicht.“ Der Vetter hatte oft
von der Natur der Eiferſucht geſprochen, wie ſie aus
ſich ſelbſt entſtehe und ſich nähre und ihr Argwohn
über die Grenzen des Wirklichen, ja des Möglichen
hinausgreife, und zu Thaten verführe, wie ſie ſonſt nur
der Wahnſinn vollbringt. Einen ſolchen Fall ſah
Apollonius vor ſich und bedauerte den Bruder und
fühlte ſchmerzlich Mitleid mit der Frau. Aus ſolchen
Gedanken und Empfindungen ſchreckte ihn Valentin,
der ihn hinunterrief. Er kam unruhiger wieder her¬
auf, als er hinunter gegangen war. Es war nicht
allein Aennchen's Zuſtand, die er wie ein Vater liebte,
was auf ſeiner Seele lag. Auch das Mitleid mit
Aennchen's Mutter war gewachſen, und eine Furcht war
neu hinzugekommen, die er ſich gern ausgeredet hätte,
wäre ein ſolch Verfahren mit ſeinem Klarheitsbedürfniß
und ſeiner Gewiſſenhaftigkeit vereinbar geweſen. Als
der erſte Schimmer des neuen Tages durch ſein Fen¬
ſter fiel, ſtand er auf von dem Stuhle, auf dem er ſeit
ſeiner Zurückkunft geſeſſen. Es war etwas Feierliches
[169] in der Weiſe, wie er ſich aufrichtete. Er ſchien ſich zu
ſagen: „Iſt's, wie ich fürchte, muß ich für uns Beide
einſteh'n; dafür bin ich ein Mann. Ich habe gelobt,
ich will meines Vaters Haus und ſeine Ehre aufrecht
erhalten und ich will's in jedem Sinne erfüllen, was
ich gelobt!“ —


Fritz Nettenmair erwachte endlich. Er wußte nichts
mehr von den Traumbildern der Nacht. Nur die be¬
friedigte Stimmung, das Werk der lezten, war ihm
geblieben. Er beſann ſich vergebens, was ſie, die ihm
ſo lange fremd geweſen, hervorgerufen haben könnte.
Was ihm von den Erlebniſſen der Nacht einfiel, war
nicht geeignet, ſie zu erklären. Er wußte nur noch,
daß ſeine Frau ein „Pimpeln“ des „Spions“ zu einer
Krankheit vergrößert hatte, um einen Vorwand zu
erhalten, mit ihm zuſammen zu ſein. Mit ihm! Nicht
blos im Geſpräch mit dem Geſellen, auch mit ſich und
ſeiner Frau nannte er Apollonius Namen nicht;
vielleicht, weil ſein Haß gegen den Mann auf den
Namen übergegangen war, vielleicht, weil er Tag und
Nacht nur an zwei Menſchen dachte und dieſe nicht
mit einander zu verwechſeln waren. Er hatte nichts
mehr auf der Welt, als ſeinen Haß; und der kannte
nur zwei Menſchen, „ihn und ſie.“ Er dachte ſchon,
wie er der Pimpelei ein Ende machen wollte. Mit
dieſem Gedanken trat er aus der Thür und ſtand —
vor einer Leiche. Ein Schauder faßte ihn an. Da
[170] ſtand das todte Kind vor ihm wie ein Warnungs¬
zeichen: nicht weiter auf dem Wege, den du einge¬
ſchlagen haſt! Da lag das Kind, das ſein Kind war,
todt. Sonſt ſcheuchte er's von ſich; jetzt blieb es und
fürchtete ſich nicht mehr. Und fragte ihn, ob er's noch
haſſen kann, ob er's noch mit dem Namen nennen
kann, mit dem er's im Haſſe genannt. Geſtern ſah
er's nicht, wie er über ſeine Angſt hin den Schlag
führte; der Vater des Kindes nach der Mutter des
Kindes und über den ſterbenden Leib des Kindes hin.
Geſtern ſah er's nicht, wie er darüber gebeugt ſtand;
jetzt ſieht er's, wohin er die entſetzten Augen wendet,
um dem Anblick zu entfliehn. Da ſteht das Kind vor
ihm, ein Ankläger und ein Zeuge. Es zeugt für die
Mutter. Sie wußte es ſterbend, und am Sterbebett
ihres Kindes thut die Verworfenſte nicht, was er ihr
zugetraut. Es klagt ihn an. Er hat eine Mutter
am Sterbebette ihres Kindes geſchlagen. Das kann
kein Mann, und wär' das Weib ſchuldig. Und ſie
war's nicht; das zeugt das Kind. Jetzt weiß er, was
das bleiche, ſtumme Antlitz der Mutter rief: „Du tödteſt
das Kind; ſchlag nicht!“ Und er hat doch geſchlagen.
Er hat das Kind getödtet. Das trifft ihn wie ein
Wetterſtrahl, daß er zuſammen ſinkt vor dem Bette des
Kindes, über das hin er die Mutter geſchlagen; vor
dem Bette, in dem ſein Kind ſtarb, weil er ſeines
Kindes Mutter ſchlug.


[171]

Dort lag er lang. Der Blitz, der ihn dahingeſtreckt,
hatte zurückgeleuchtet mit grauſamer Klarheit; und er
hatte die Beiden unſchuldig geſehn, die er verfolgt.
Und keine Schuld, als die ſeine. Er allein hat das
Elend aufgethürmt, das erdrückend auf ihm liegt, Laſt
auf Laſt, Schuld auf Schuld. Des Kindes Tod iſt
der Gipfel. Und vielleicht iſt er's noch nicht! Der
Elende ſieht, er muß zurück. Er haſcht nach jedem
Strohhalm von Gedanken, der ihn retten könnte. Da
hört er die weichen Klänge wieder, denen er geſtern
ſein Herz verſchloſſen: „Du haſt gemeint, wenn er
kommt, wird er wieder ſein wie er ſonſt war, eh du
krank geworden biſt. Deine Mutter will's auch.“ —
Die Klänge waren eine weiche Hand, die die Seele
der Frau nach ſeiner Seele ausſtreckte und zur Ver¬
ſöhnung bot. Sein Schmerz, ſeine Angſt faßten haſtig
nach der ausgeſtreckten. Er ſah das Kind im Hemd¬
chen an der Kammerthür ſtehn, wo es ſo oft geſtanden,
wenn ſeine Heftigkeit es aus dem Schlummer geweckt;
die Händchen gefalten, die Augen ſo ſchmerzlich flehend:
er ſolle doch gut ſein mit der Mutter; und ſo ängſtlich
zugleich: er ſoll doch nicht zürnen, daß es fleht. Nun,
da's zu ſpät war, ſah er, das Kind wollte ſein Engel
ſein. Aber es war ja noch nicht zu ſpät! Er hörte
den leiſen Schritt ſeiner Frau auf der Flur der Stuben¬
thüre nahn. Er hörte ſie die Thüre öffnen. Stand
Aennchen jetzt in der Kammerthür, es mußte lächeln.
[172] Er wollte gut ſein; er wollte wieder ſein, wie er war,
eh' Aennchen krank geworden iſt. Er ſtreckte der Ein¬
tretenden die Hand entgegen. Sie ſah ihn und ſchrack
zuſammen. Sie war ſo bleich wie das todte Aennchen,
ſelbſt ihre ſonſt ſo blühenden Lippen waren bleich.
Der Hals, die ſchönen Arme, die weichen Hände waren
bleich; das ſonſt ſo glänzende Auge war matt. All
ihr Leben hatte ſich in ihr tiefſtes Herz zurückgezogen
und weinte da um ihr geſtorben Kind. Als ſie ihn
ſah, ſtieß ein Zittern durch ihren ganzen Körper. Mit
zwei Schritten ſtand ſie zwiſchen der Leiche und ihm.
Als wollte ſie das Kind noch jetzt vor ihm ſchützen.
Und doch nicht ſo. Weder Furcht noch Angſt bebte
um den kleinen Mund. Er war feſt geſchloſſen. Ein
ander Gefühl war's, was die ſchöngewölbten Augen¬
brauen drängend herabfaltete und aus den ſonſt ſo
ſanften Augen flammte. Er ſah, es war nicht mehr
das Weib, das die ſchmelzenden Friedensworte ge¬
ſprochen; die war mit ihrem Kinde geſtorben in dieſer
ſchrecklichen Nacht. Das Weib, das vor ihm ſtand,
war nicht mehr die Mutter, die zu ihm hinhoffte,
deren Kind er retten konnte; es war die Mutter, der
er das Kind getödtet. Eine Mutter, die den Mörder
fortwies aus der heiligen Nähe des Kindes. Ein
bleichſchreckender Engel, der den befleckenden Berührer
fortzürnt von ſeinem Heiligthum. Er ſprach — o hätt'
er geſtern geſprochen! Geſtern hatte ſie ſich nach dem
[173] Worte geſehnt; heute hörte ſie es nicht. „Gib mir deine
Hand, Chriſtiane,“ ſagte er. Sie zog ihre Hand krampf¬
haft zurück, als hätte er ſie ſchon berührt. „Ich habe
mich geirrt,“ fuhr er fort; ich will's euch ja glauben,
ich ſeh' es ein; ich will's nicht wieder! Ihr ſeid beſſer
als ich.“ „„Das Kind iſt todt,““ ſagte ſie und ſelbſt ihre
Stimme klang bleich. „Laß' mich in dieſer ſchrecklichen
Angſt nicht ohne Troſt. Kann ich anders werden, ſo
kann ich's nur jetzt, und wenn du mir die Hand gibſt,
und richteſt mich auf,“ ſagte der Mann. Sie ſah auf
das Kind, nicht auf ihn. „„Das Kind iſt todt,““ wieder¬
holte ſie. Hieß das, es war ihr gleichgültig, was mit
ihm werden ſollte, da ſeine Beſſerung das Kind nicht
mehr rettete? Oder hatte ſie ihn vergeſſen und ſprach
mit ſich ſelbſt? Der Mann richtete ſich halb auf; er
faßte ihre Hand mit angſtvoller Gewalt und hielt ſie
feſt. „Chriſtiane,“ ſchluchzte er wild, „da lieg ich wie ein
Wurm. Tritt mich nicht! Tretet mich nicht! Um
Gotteswillen, erbarme dich! Ich könnt's nicht ver¬
geſſen, hätt ich vergebens gelegen wie ein Wurm.
Denk daran! Um Gotteswillen denk daran! Du
haſt mich jetzt in deiner Hand. Du kannſt aus mir
machen, was du willſt. Ich mach' dich verantwortlich.
Du biſt Schuld an Allem, was noch werden kann.“ —
Endlich war es ihr gelungen, ihre Hand ihm zu ent¬
reißen; ſie hielt ſie weit von ſich, als ekelte ihr davor,
weil er die Hand berührt. „„Das Kind iſt todt,““ ſagte
[174] ſie. Er verſtand, ſie ſagte: Zwiſchen mir und dem
Mörder meines Kindes kann keine Gemeinſchaft mehr
ſein, auf Erden nicht und nicht im Himmel!


Er ſtand auf. Ein Wort der Verzeihung hätte
ihn vielleicht gerettet! Vielleicht! Wer weiß es! Die
Klarheit, die ihn jetzt zur Reue trieb, war die Klarheit
eines Blitzes. Was jetzt in ihm wirkte, nahm ſeine
Gewalt von der Jähheit der Ueberraſchung. Wenn
das Kind in der Erde ruht, deſſen plötzlicher Anblick
ihn zurückgebäumt, wird ſein Warnungsbild bleicher
und bleicher werden; jede Stunde wird dem Gedanken
an dieſen Augenblick von der Macht ſeiner Schrecken
rauben. Zu tief hat er die Geleiſe des alten Wahn¬
gedankens eingedrückt, um ihn für immer verlöſchen,
zu weit iſt er gegangen auf, dem gefährlichen Weg,
um noch umkehren zu können. Die Klarheit des
Blitzes müßte ſchwinden und der alte Wahn hüllte
die Dinge wieder in ſeine verſtellenden Nebel. Fritz
Nettenmair heulte auf oder lachte auf; die Frau fragte
ſich nicht, was er that. Tiefer Abſcheu gegen ihn
panzerte ihr Ohr, ihre Augen, ihre Gedanken. Er
taumelte in die Kammer zurück. Sie ſah es nicht,
aber ſie fühlte es, daß ſeine Gegenwart nicht mehr
den Raum entweihte, darin das Heiligenbild ihres
Mutterſchmerzes ſtand. Leiſe weinend ſank ſie über
ihr todtes Kind.


[175]

Die Reparatur des Kirchendachs hatte begonnen.
Apollonius wollte dieſe erſt beenden, eh er die Krönung
des Thurms mit der geſtifteten Blechzier unternahm.
Daneben mußte er das Begräbniß des kleinen Aenn¬
chens beſorgen; der Bruder kümmerte ſich nicht darum.
Er mußte ſich auch dieſer Hausvaterpflicht unterziehn.
Er fühlte ſich ſchmerzlich wohl darin. Koſteten ihm
doch die ſchwereren kein Opfer! Er hatte ja nicht
andere, ſüßere Wünſche zu bekämpfen und zu beſiegen
gehabt, als er die Pflicht gegen des Bruders Ange¬
hörige auf ſich genommen. Er war ja eben nur dem
eigenſten Triebe ſeiner Natur gefolgt. Und es lag in
dieſer Natur, daß er ganz ſein mußte, was er einmal
war. Seit er die Hoffnungen ſeiner Jugendliebe und
damit dieſe ſelbſt aufgegeben hatte, war ihm ohnehin
der Gedanke eines eigenen Hausſtandes fremd gewor¬
den. Er kannte keinen andern Lebenszweck, als die
Erfüllung jener Pflicht. Aber ſie ſtand nicht als
dürres, despotiſches Geſetz außer ihm vor den Augen
ſeiner Vernunft, ſie durchdrang ſein ganzes Weſen mit
der befruchtenden Wärme eines unmittelbaren Gefühls.
So war es ſeit Monaten geweſen. Wenn er auf
ſeinem Fahrzeug das Thurmdach umflog, wenn er
hämmernd auf dem Dachſtuhl knieete, waren die Ge¬
ſtalten der Kinder ſeines Bruders, ſeine Kinder, um ihn.
Schneller, als ſein Schiff, flog ſeine Phantaſie der Zeit
voraus. Wie ſein Schiff um das Thurmdach, drehte
[176] ſich ſein ganzes Denken um die Stunde, wo die Söhne
erwachſen waren und er das ſchuldenfreie Geſchäft
ihnen übergab, wo Aennchen ausſah wie ihre Mutter
und er ihre jungfräuliche Hand in die Hand eines
braven Mannes legte. Aennchens roſiges Geſicht ſtand
vor ihm, ſo oft er aufſah von ſeinen Schieferplatten.
Als es ihn ſo ſchalkhaft anlachte, war es ſein Liebling;
wie das Geſichtchen immer trüber und bleicher wurde,
war ſie's nur immer mehr; er ſah ſie oft doppelt
durch das Waſſer in ſeinen Augen. Jetzt — o manch¬
mal war's ihm, als arbeite er nun umſonſt! Und es
war noch etwas hinzugekommen, was ihn immer mehr
beängſtigte. Aus dem Mitleid mit der gequälten Frau,
die um ihn gequält wurde, blühte die Blume ſeiner
Jugendliebe wieder auf und entfaltete ſich von Tag
zu Tage mehr. Und was des Bruders Hohn und
Undankbarkeit gegen ihn nicht vermocht, das gelang
ſeinem Benehmen gegen die Frau. Apollonius fühlte
ſein Herz erkalten gegen den Bruder. Es trieb ihn,
die Frau zu ſchützen; aber er wußte, ſeine Einmiſchung
gab ſie nur härteren Mißhandlungen preis. Er konnte
nicht mehr für ſie thun, als daß er ſich ſo entfernt
hielt von ihr, als möglich. Und nicht allein wegen
des Bruders; auch um ihrer ſelbſt willen, wenn er
richtig geſehn hatte. Hatte er richtig geſehn? Er ſagt
ſich hundertmal Nein. Er ſagt ſich's mit Schmerzen;
deſto öfter und dringender ſagte er ſich's, und fühlte,
[177] er dürfe ſie nicht ſehn, auch um ſeinetwillen. Es
peinigte ihn, wenn gleichgültige Dinge verworren und
unſymmetriſch lagen und er ſie nicht ordnen konnte;
hier ſah er Mißverhältniſſe und Widerſprüche in das
innerſte Leben des, was ihm das Heiligſte war, ge¬
drungen, in das Herz ſeiner Familie, in ſein eigenes,
und er mußte ſie wachſen ſehn und die Hände waren
ihm gebunden!


Es wurde immer dunkler, immer ſchwüler, das Le¬
ben in dem Haus mit den grünen Laden, ſeit das
kleine Aennchen daraus fortgetragen war. Es wurde
immer dunkler und ſchwüler in Fritz Nettenmair's Bruſt
und Hirn. Er hatte umkehren wollen auf dem Wege,
in deſſen Mitte ihn des todten Aennchen's Bild und
die Klarheit, die es über die zurückgelegte Strecke goß,
geſchreckt. Er wäre umgekehrt, nahm die Frau die ge¬
botene Hand an. Er meinte es wenigſtens. Aber ſie
hatte ihn zurückgewieſen, ſie hatte ihm ein Antlitz ge¬
zeigt voll Abſcheu und Verachtung; er hatte geſehn,
ſie nannte ihn in ihrem Herzen den Mörder des Kin¬
des. Ihr Auge hatte ihm mit Rache gedroht, und da
war es wieder dageweſen, das alte Geſpenſt, die ſchuld¬
geborene Furcht. Hat ſie's noch nicht gethan, was er
fürchtet, nun wird ſie's thun, um ihn für den Schlag
zu ſtrafen, an dem Aennchen ſtarb. Je mehr er daran
herum greift mit ſeinen Gedanken, deſto klarer fühlt
er, wie gelegen ſeinen Feinden, — und ſie ſind ſeine
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 12[178] Feinde; ſie haben ihm ein Unrecht zu vergelten — wie
gelegen ſeinen Feinden dieſer Schlag kam. Dann ſieht
er, daß die Frau ihn warnen konnte. Sie ſagte nicht:
„Schlag' nicht, das Kind iſt krank; es iſt ſein Tod,
wenn du ſchlägſt.“ Nein! Ein Wort von ihr konnte
den Schlag verhüten; ſie ſprach es nicht. O es iſt
klar, ſonnenklar: ſie reizte ihn abſichtlich durch ihr
Schweigen zu der wilden That. Aber wie? ihres Kin¬
des Tod hätte ſie gewollt? Den kann kein Weib wol¬
len. Ja, ſie dachte ſelbſt nicht, daß es ſterben würde;
ſie wollte nur den Vorwand zum Haſſe, zum Betruge
aus Haß, daß er ſie am Bette des kranken Kindes ge¬
ſchlagen. Sie dachte nicht, daß es ſterben würde; und
wie es doch ſtarb, wälzte ſie die Schuld von ſich auf
ihn. Und er war wieder der dumme Ehrliche geweſen;
auch in dieſe Schlinge war er gegangen in ſeiner Arg¬
loſigkeit. Und hatte vor ihr gelegen, wie ein Wurm
vor ihr, die vor ihm hätte liegen ſollen. Und ſie hatte
ihn noch zurückgeſtoßen, mit Verachtung zurückgeſtoßen!
So oft er an den Augenblick dachte, machte er ſie ver¬
antwortlich für Alles, was noch kommen konnte. Was
noch aus ihm werden konnte, dazu hatte ſie ihn ge¬
macht. Er hatte die Hand geboten; er war ohne
Schuld. Dann brütete er, was aus ihm noch werden
könne, und das Schlimmſte war ihm nicht ſchlimm ge¬
nug, die Schuld zu vergrößern, die er auf ſie wälzte.
Sie ſollte mit reuigem Entſetzen ſehen, was ſie gethan,
[179] als ſie ihn zurückſtieß. Je näher er drohen ſah, was
kommen mußte, deſto wilder wurde ſeine Liebe oder auch
ſein Haß; denn beide waren in dem Gefühl beiſam¬
men, das ſie immer glühender ihm einflößte. Deſto
gelehriger lernten ſeine Augen jeden kleinſten Reiz ihrer
Geſtalt, deſto ſchmerzender ſtach dieſe Schönheit durch
ſeine Augen in ſein Herz. Dieſe verruchte Schönheit,
die die Urſache all' ſeines Elendes war. Dieſe fluch¬
volle Schönheit, um derentwillen der eigene Bruder
ihn aus Schuppen und Haus verdrängt und der Ver¬
achtung der Welt und des Weibes ſelbſt preisgegeben.
Er fing an, über Gedanken zu brüten, wie er dieſe
Schönheit vernichten konnte, damit ſie dem Buhlen ein
Eckel wurde, und dieſer, um ſeinen Zweck betrogen, ihn
umſonſt elend gemacht hatte. Und dachte er ſich das
ausgeführt, dann lachte er in ſo wilder Schadenfreude
auf, daß ſeine ſtarknervigen Trinkkameraden erſchracken,
und die Leute, die ihm begegneten, unwillkürlich inne
hielten in ihrem Gang. Und doch war der Gedanke
nur ein Vorläufer eines noch ſchlimmeren. Dazwiſchen
fiel ihm dann der Frohnweißblick ein. Dann wurde
ſein Traum nach der wilden That zur Wirklichkeit.
Dann ſtand er ſtundenlang bald da, bald dort, wo man
Apollonius auf dem Kirchendache arbeiten ſah, und
blickte hinauf und wartete und zählte. Jetzt müſſen die
Breter unter dem Hämmernden brechen, jetzt muß das
Tau reißen, daran der Dachſtuhl hängt. Jetzt müſſen
12*[180] die Leute aufſchrein vor Schrecken, die eben noch ſo
gleichgültig aus den Fenſtern ſehn oder über die Straße
gehn. Dann zählte er immer fieberhaftiger, der kalte
Schweiß rann ihm über die Stirn; und die Breter
brachen nicht, das Tau riß nicht, die Leute ſchrien nicht
auf vor Schrecken. Und immer wilder lachte er vor
ſich hin, wenn er nach langem Warten müde und ver¬
zweifelt weiter ging: Wär's nur mein Unglück, könnt
er mich nur noch elender damit machen, als er mich
ſchon gemacht hat, er wäre längſt ſchon todt. Nur,
weil mich ſein Leben elend macht, lebt er noch. Er
will nicht eher ſterben, bis er mich ganz elend ge¬
macht hat!


Die Furcht ließ ihn nicht los, ſie preßte ihn immer
erſtickender. Trug er ſie ſpät in der Nacht heim, dann
machte der ruhige Schlaf ſeiner Frau ihn wüthend.
Die ſchlief ruhig, die ihn nicht ſchlafen ließ! Er ſetzte
ſich an ihr Bett und rüttelte ſie auf und erzählte ihr
leiſe in's Ohr, was er an ihrem Liebſten thun will.
Es waren grauſige Dinge. Wenn die Glieder ihr
flogen vor Angſt und Entſetzen, dann lachte er zufrie¬
den auf, daß er doch Etwas hatte, ſie aus der ſtum¬
men Verachtung zu ſcheuchen, womit ſie ſich gegen ihn
gewappnet, und vergaß daran minutenlang ſeine Qual.
Dann lachte er faſt jovial; er hat ihr Angſt machen
wollen. Es iſt nur einer von Fritz Nettenmair's neu¬
modiſchen Späßen. So weit haben ſie ihn doch noch
[181] nicht gebracht, im Ernſt an ſolche Dinge zu denken.
Aber wenn ſie Apollonius davon ſagt, dann muß er's,
und ſie trägt die Schuld. Er bewacht ihr jeden Tritt,
ſie kann nichts thun, was er nicht erfährt. Und läßt
ſie's ihn durch einen Dritten wiſſen, ſo wird er's
ihm anſehn. O Fritz Nettenmair iſt einer, der — !
Den ganzen Tag über, die halben Nächte geht dann
die Frau wie im Fieber umher. An der leidenſchaft¬
lichen Angſt wächſt ihre Liebe zu Apollonius zur Lei¬
denſchaft. Und ſie kann's nicht hindern, denn die
Leidenſchaft mehrt wiederum die Angſt. Und vor dem
Gedanken der Angſt hat kein anderer Platz in ihrer
Seele. Hin zu ihm will ſie ſtürzen, ihn mit preſſen¬
den Armen umfangen, ihn beſchwören — dann wieder
will ſie in die Gerichte — aber es iſt ja nur ein wil¬
der Scherz, und ſie wird ihn erſt zum Ernſte machen,
ſagt ſie Jemand davon. Sie geht nicht mehr aus der
Stube, tritt nicht mehr an's Fenſter vor Furcht; ſie
will jeden Schritt meiden, jede Bewegung, Alles was
nur als ein Umſehen nach Apollonius erſcheinen könnte.
Sie hat nicht mehr den Muth, mit Jemand zu reden,
weil ihr Mann es erfahren kann, und meinen, ſie trägt
ihm eine Botſchaft an Apollonius auf. Und der Mann
ſieht ihre wachſende Leidenſchaft, ſieht, wie wiederum
ſein Mittel, was kommen muß, aufzuhalten, es nur
beſchleunigen wird, und wartet und zählt immer unge¬
[182] duldiger, daß die Breter nicht brechen und das Tau
nicht reißt.


Es war eine trübe, ſchwüle Nacht. Die Nacht
vor dem Tage, an welchem Apollonius die Bekrän¬
zung des Thurmdachs beginnen wollte. Fritz Netten¬
mair ſchlich durch die Hinterthür auf den Gang nach
dem Schuppen, um nach Apollonius Fenſter heraufzu¬
ſehn. Wenn er das Licht darin erloſchen ſah, dann
pflegte er die Hinterthür zu verſchließen und ſeinen
wüſten Neigungen nachzugehen. Seit jener Nacht,
wo Valentin die Hinterthür mit dem Schuppenſchlüſ¬
ſel geöffnet, hängte Fritz Nettenmair an den Riegel noch
ein Vorlegeſchloß. Apollonius war noch nicht zu
Bett gegangen. Fritz Nettenmair wußte, Apollonius
löſchte in ſeiner eigenſinnigen Vorſicht nie das Licht,
wenn er ſchon in's Bette geſtiegen war. Es ſtand dem
Bette fern auf ſeinem Schreibtiſch; dort ſetzte er es in
ein Becken und löſchte es, eh er nach dem Bette ging.
Fritz Nettenmair ballte die Fauſt nach dem Fenſter hin¬
auf. Apollonius zögerte ihm auch hier zu lang. Er
war müde und ging nach dem Schuppen. Der Schlüſ¬
ſel zur Hinterthür ſchloß auch den Schuppen. Es war
dunkel darin. Wenn der Schieferdecker ſeine Platten
zurichtet, ſitzt er rittlings auf einer Bank, in deren Mitte
das Haueiſen, ſein kleiner Ambos eingeſchlagen iſt. An
eine ſolche ſtieß Fritz Nettenmair mit dem Bein und
[183] nahm den Stoß als eine Aufforderung ſich zu ſetzen.
Er konnte durch eine Lucke nach Apollonius Fenſter
ſehn; er wollte das Auslöſchen des Lichtes hier erwar¬
ten. Der Schieferdecker verrichtet oft Zimmermanns¬
arbeit, er führt daher auch ein kleines Zimmerbeil un¬
ter ſeinem Werkzeuge. Ein ſolches hatte auf der Bank
gelegen; es war herabgefallen, als er ſich geſetzt. Er
hob es auf und behielt es abſichtslos in ſeinen Hän¬
den. Denn ſeine Gedanken waren mit ihm in der
Kammer; er ſaß am Bette der Frau und ängſtigte ſie
mit Drohungen. Der Aerger über das Zögern Apol¬
lonius machte ſich darin Luft, das ihn hinderte, ſich im
Trunk Betäubung zu ſuchen. Er hat ſeine Hand auf
das Bette der Frau geſtützt und fühlt an den Bewe¬
gungen der Decke das Zittern ihrer Glieder. Er fühlt
ſich in ihre Angſt hinein, er fühlt, wie er ſelbſt Apol¬
lonius zu ihrem einzigen Gedanken macht. Er fühlt,
wie ſie morgen ihm entgegenſtürzen muß, wenn er von
der Arbeit heimkommt. Und wären ſie nicht ſeine Teu¬
fel, wären ſie Engel, es müßte morgen kommen, was
er verhüten will. Wenn ſie ihn mit der Glut der
Angſt umfaßt, das ſchöne, fluchvoll ſchöne Weib, er
müßte nicht Blut in ſeinen Adern haben — und hätt'
er nie den Gedanken gehabt, mit dem er doch einſchläft
und aufwacht Tag für Tag, er müßte jetzt den Ge¬
danken denken. Es muß kommen, wovor [die] bloße
Furcht Fritz Nettenmair zu dem elendeſten der Menſchen
[184] gemacht, der ſich ſelbſt anſpeien könnte; geſchieht nicht
morgen noch, was der Frohnweißblick geweiſſagt. Und
nun ſteht er wieder an der Straßenecke und ſieht wie¬
der hinauf und harrt und zählt verzweifelter als je,
und badet ſich in Angſtſchweiß, und die Breter brechen
nicht, und das Tau reißt nicht. O er wird den Frohn¬
weißblick zum Märchen machen, er wird leben bleiben,
das Jahr, zehn Jahr, hundert Jahr, aus Haß gegen
ihn. Und er zählt immer noch Eins, Zwei; er ſagt:
nun muß — da hört er das Geräuſch eines zerreißen¬
den Tau's und fährt auf aus ſeinem wachen Fie¬
bertraum. Die wilde, angſtvolle Freude iſt vergeblich.
Er ſteht nicht an der Ecke und ſieht nach dem Kirchen¬
dache hinauf. Er ſitzt im Schuppen. Es iſt Nacht.
Aber das Geräuſch hat er gehört. Das war keine
Vorſpiegelung der Phantaſie. Und von dort her kam's.
Seine Haare ſtehn empor. Dort liegen die Häng¬
ſtühle und die Flaſchenzüge mit ihren Tauen. Er hat
hundertmal erzählen hören; jeder Schieferdecker weiß,
was es ſagen will, das vorſpuckende Geräuſch. Aber
dreimal muß es klingen, als wenn ein Tau zerriſſe; und
er hat's erſt einmal gehört. Er lauſcht, er preßt die
Fauſt auf das Herz. Vor ſeinen Schlägen, vor dem
Brauſen des Blutes die Adern hinauf und herab, wird
er's nicht hören, wenn's noch einmal klingt und noch
einmal. Er lauſcht und lauſcht und das Geräuſch
wiederholt ſich nicht. Da fährt ein Gedanke wie ein
[185] dunkelglüh'nder Blitz durch den Krampf, in den all'
ſeine Gefühle zuſammengeballt ſind; der Gedanke, dem
Schickſal nachzuhelfen. Er hat das Zimmerbeil immer
noch in ſeinen Händen; er iſt abſichtslos mit der Hand¬
fläche an der Schneide hingefahren; jetzt kommt ihm
zum Bewußtſein, das Beil iſt ſcharf, die Ecke ſpitzig.
Eine ganze Reihe von Gedanken ſteht fertig da; es iſt,
als ſtänden ſie ſchon lang, und der Blitz hat ſie nur
ſichtbar gemacht. Morgen knüpft Apollonius ſeine
Leiter an die Helmſtange, dann das Tau mit Flaſchen¬
zügen und Fahrzeug. Fritz Nettenmair greift um ſich
und hat das Tau in der Hand. Das Schickſal will
ſeine Hülfe; drum legt es ſelber ihm Tau und Beil
in die Hand. Wer weiß, daß er hier war? Drei, vier
Stiche mit dem Beil im Kreiſe um das Tau, kaum zu
ſehn, werden zu einem einzigen großen Riß, wenn das
Gewicht eines ſtarken Mannes am Tau zieht, und die
wuchtende Bewegung des Fahrzeugs um den Thurm
das Gewicht des Mannes vergrößert. Wer ſieht den
Stichen an, daß ſie abſichtlich gemacht ſind? Ein Tau,
das getragen, halb an der Erde fortſchleift, kann an
allerlei Scharfes ſtoßen. Und das Schickſal hat den
Schieferdecker, der zwiſchen Himmel und Erde hängt,
in ſeiner Hand. Das Schickſal hält ihn oder läßt ihn
fallen, nicht das Seil oder ein Schnitt darin. Will
es ihn halten, ſchadet kein Schnitt; ſoll er fallen, reißt
[186] ein unverſehrtes Seil. Und das Schickſal hat ihn
ſchon gezeichnet. Ein Tag früher, einer ſpäter, was
iſt das, wenn er doch fallen muß? Ein Tag ſpäter
und es packt einen Verbrecher. Meint's das Schickſal
nicht gut, nimmt's ihn vorher aus der Welt? — All'
dieſe Gedanken ſchlug mit einem Schlage jener eine
aus Fritz Nettenmair's Seele; im Nu war er ent¬
glommen; im Nu ſchlägt der Höllenfunke zur Flamme
auf. Er hat das Tau in der linken Hand; er hebt
das Beil — und läßt es ſchaudernd fallen. An
dem Beile glänzt Blut; durch die ganze Länge des
Schuppens ragt ein blutiger Streif. Fritz Nettenmair
flieht aus dem Schuppen. Er flöhe gern aus ſich
ſelbſt heraus. Kaum hat er den Muth, nach Apollo¬
nius' Fenſter aufzuſehn. Ein heller Lichtſtrahl kommt
von da. Fritz Nettenmair weicht vor ihm hinter einen
Buſch. Jetzt bewegt der Strahl ſich zurück. Apollo¬
nius war aufgeſtanden an ſeinem Tiſche, und hatte das
Licht hoch in die Höhe gehalten. Er hatte das Licht
geputzt. Es konnte eine glühende Schnuppe aus der
Scheere neben den Leuchter unter die Papiere gefallen
ſein. Es war nicht geſchehn, und er ſtellte das Licht
wieder an ſeine Stelle. Fritz Nettenmair kannte ſei¬
nes Bruders ängſtliche Gewiſſenhaftigkeit; er hatte
ihn das Licht mehr als hundertmal ſo heben ſehn; er
begriff, es war kein Blut, was ihn erſchreckt. Der
[187] Widerſchein der Flamme war durch Fenſter und Lucke
gefallen und hatte roth von dem Stahl des Beiles
und durch die Nacht des Schuppens geglänzt. Den¬
noch ſtand Fritz Nettenmair bebend hinter ſeinem Buſche.
Der geſpenſtige Schauder verließ ihn, aber nicht ſo
ſchnell das Grauen über das, was er gewollt, und daß
es war, als hätte ihm der Bruder noch zu ſeinem
Werke leuchten wollen. Bald verloſch Apollonius Licht.
Fritz Nettenmair konnte zurückkehren und ſein Werk
vollenden. Es ſtörte ihn Niemand mehr. Er that es
nicht. Aber er rückte ſich wieder in ſeinem Haſſe zu¬
recht. Er ſagte ſich: „ſo weit ſollen ſie ihn nicht brin¬
gen.“ Die Schuld des Gedankens wälzt er auf die,
auf die er Alles wälzt; daß er den Gedanken nicht
ausgeführt, rechnet er ſich zu. Er weiß, jeder Andere
an ſeiner Statt hätte ſchlimm gethan. Dann verſchließt
er Hinterthür und Vorlegſchloß, zuletzt die Hausthür;
und geht. Er will trinken, bis er nichts mehr von ſich
weiß. Heut hat er mehr zu vergeſſen, als je. Er
geht. Ob er nicht wieder kommen wird? heute nicht;
aber morgen, übermorgen, überübermorgen? Wenn der
Gedanke ſeine Fremdheit für ihn verloren hat. Ge¬
wohnheit macht ſelbſt mit dem Teufel vertraut. Dazu
ſollen ſie ihn nicht bringen! Ob die Stunde nicht kom¬
men wird, wo er bereut, daß er ſich nicht ſo weit brin¬
gen laſſen, [und] ſich doch noch ſo weit bringen läßt?
Dazu, wozu jeder Andere an ſeiner Stelle ſich hätte brin¬
[188] gen laſſen? Es wurde immer dunkler, es wurde im¬
mer ſchwüler, das Leben in dem Hauſe mit den grünen
Laden. Wer jetzt hineinſieht, glaubt mir's nicht, wie
dunkel, wie ſchwül es einmal war.


Von dieſer Nacht an ängſtigte Fritz Nettenmair die
Frau nicht mehr durch Drohungen auf Apollonius.
Er begann ſogar, ſie mit einer gewiſſen Freundlichkeit
zu behandeln. Dazwiſchen verlor er ſich ſtundenweiſe
in ein ſtummes Vorſichhinſinnen, aus dem er, ſah er
ſich beobachtet, aufſchrack. Er war dann noch freund¬
licher als ſonſt, und brachte Scherze aus ſeiner beſten
Zeit. Er verſuchte ſich ſogar wieder an der Arbeit.
Aber die Frau wurde nur noch ängſtlicher. Sie ver¬
mied noch mehr als ſeither, was dem Manne Anlaß
zum Glauben geben konnte, ſie wolle ſich Apollonius
nähern. Sie wußte nicht, warum. Und wenn ſie ihre
Furcht Thorheit nannte, ſie mußte fürchten. Apollonius
ſah mit Freuden die Aenderung des Bruders und
ſuchte ihn auf alle Weiſe darin zu fördern. Er wußte
nicht, wie der Bruder ſeine Freude auslegte!


Unterdeß hatte Apollonius die Umkränzung des
Thurmdachs von Sankt Georg mit der geſtifteten Zier
begonnen. Er hatte die Rüſtſtangen wiederum herausge¬
ſchoben und innen am Gebälke des Dachſtuhls feſtge¬
nagelt; die Bretter darauf befeſtigt, auf die fliegende
[189] Rüſtung die Leiter geſtellt, und dieſe an der Helmſtange
feſtgebunden; er hatte wiederum den hänfenen Ring
um die Helmſtange gelegt, daran den Flaſchenzug, und
an dieſem ſeinen Hängeſtuhl befeſtigt. Die geſtiftete
Blechzier beſtand aus einzelnen halbmannslangen Stücken,
mit denen ſich handlich umgehen ließ. Das Ganze
ſollte, nach des Stifters Angabe, der ſelbſt die Koſten
der Befeſtigung trug, zwei Guirlanden vorſtellen, die ſich
in gleichlaufenden Kreiſen mit herabhangenden Bogen
um das Thurmdach ſchlangen. Je fünf jener Stücken,
bei der oberen drei, bildeten einen dieſer Bogen. Sie
mußten an ihren Enden durch eingeſchlagene Niete
verbunden, und jedes einzelne noch durch ſtarke Nägel
auf die Verſchalung befeſtigt werden. Da die Ränder
der Schieferplatten überall ſich decken, war es nöthig,
an den Stellen, wo die Vernagelung ſtattfinden ſollte,
die Schiefer mit Bleiblechen umzutauſchen. Dasſelbe
geſchieht, wo die ſogenannten Dachhacken in die Ver¬
ſchalung eingetrieben werden, an welche bei Reparaturen
der Schieferdecker ſeine Leiter hängt. Die Fläche, mit
welcher der Dachhacken, nachdem ſeine gekrümmte
Spitze eingetrieben iſt, durch noch zwei ſtarke Nägel
auf die Verſchalung aufgenagelt wird, darf man nicht
mit Schieferplatten überdecken. Bei Beſteigung der
an dem hervorſtehenden Hacken aufgehängten Leiter,
kommt ſeine Fläche in Vibration, die die Schieferplatten
aufwuchten und beſchädigen würde. Sie wird deßhalb
[190] mit einer Bleiplatte überdeckt. Und die Zierrath kam,
wenn der Wind ſich darin fing, in eine ähnliche Be¬
wegung. Dann war noch Eins zu bedenken. Die
Dachhacken liefen, je neun und einen halben Fuß von
einander entfernt, in gleichlaufenden Kreiſen um das
Thurmdach; zwiſchen je zwei Kreiſen befand ſich ein
Raum von fünf Fuß. Es galt, die Zierrath ſo anzu¬
bringen, daß ſie keinen dieſer Dachhacken überdeckte.
Apollonius war fleißig bei der Arbeit. Der Blechſchmied¬
meiſter, der ſeine Zier ſo bald als möglich prangen ſehn
wollte, hatte ſich weniger über ihn zu beklagen, als Apol¬
lonius mit dem Meiſter zufrieden ſein konnte. Im Anfang
trieb dieſer, bald mußte Apollonius den Meiſter treiben.


Es fehlte noch der Theil der obern Guirlande, der
als Bogen über der Ausſteigethür hängen ſollte.
Apollonius konnte nicht feiern, bis er das Material
dazu erhielt. Von einem nahen Dorfe hatte man ihn
wegen einer kleinen Reparatur beſchickt; er ließ ſein
Fahrzeug bis auf ſeine Zurückkunft an dem Thurmdach
von Sankt Georg hängen, und ging nach Brambach.


Es war den Tag darauf, daß der alte Valentin
an die Wohnſtubenthür pochte. Er war ſchon einige¬
mal an der Thür geweſen und wieder fortgegangen.
Sein ganzes Weſen drückte Unruhe aus. Es machte
ihn etwas, woran er immer denken mußte, ſo zerſtreut,
daß, als er vergebens auf ein „Herein“ gewartet, er
meinte, er müſſe es in Gedanken überhört haben, und das
[191] Ohr an das Schlüſſelloch legte, als ſetz' er voraus, es
müſſe noch jetzt zu hören ſein, wenn man ſich nur
recht mühe. Die Unruhe weckte ihn aus der Zer¬
ſtreuung. Er pochte zum zweiten und zum dritten mal,
und als der Ruf immer noch ausblieb, faßte er ſich
Muth, öffnete und trat in die Stube. Die junge Frau
war ihm ſchon ſeit einiger Zeit immer ausgewichen.
Sie that es auch diesmal; aber heute mußte er ſie
ſprechen. Sie ſaß, abſichtlich von den Fenſtern ent¬
fernt, an der Kammerthüre. Der Alte ſah nicht, daß
ſie eben ſo unruhig war, als er, und ſein Hierſein ſie
noch mehr ängſtete. Er entſchuldigte ſein Eindringen.
Als ſie eine Bewegung machte, ſich zu entfernen, ver¬
ſicherte er, ſein Bleiben ſolle kurz ſein; er wäre nicht
mit Gewalt hereingedrungen, wenn nicht etwas ihn
triebe, was vielleicht ſehr wichtig ſei. Er wünſche das
nicht, aber es ſei doch möglich. Die Frau horchte
und ſah immer ängſtlicher bald nach den Fenſtern,
bald nach der Thür. Müſſe er ihr etwas ſagen, ſoll
er's, ſo ſchnell er könne. Valentin ſchien zugleich auf
die ängſtlichen Blicke der Frau zu antworten, als er
begann: „Herr Fritz ſind auf dem Kirchendach von
Sankt Georg. Ich hab' ihn eben noch vom Hofe aus
geſehn.“ „„Und hat er hierher geſehn? Hat er euch
in's Haus gehn ſehn?““ fragte die Frau in einem
Athem. „Bewahre,“ ſagte der Alte; „er arbeitet heute
wie ein Feind. Denkt an kein Eſſen und Trinken.
[192] Wenn ein Menſch ſo arbeitet“ — Der Alte brach ab
und dachte ſeinen Satz fertig: „ſo hat er was vor.“
Die Frau ſchwieg auch. Sie kämpfte mit dem Ge¬
danken, dem treuen Alten ihre ganze Angſt anzuvertraun.
Der Alte merkte nichts davon. „Der Nachbar da,
Sie wiſſen's wohl,“ fuhr er fort, „kann zu Zeiten
keine Nacht ſchlafen. Da hat er die Nacht, eh Herr
Apollonius nach Brambach gegangen iſt, zu ſeinem
Küchenfenſter heraus, Einen in unſern Schuppen
ſchleichen ſehn, den Gang vom Hauſe hinter.“ Der
Alte ſagte nicht, wen der Nachbar geſehn; wahrſchein¬
lich ſollte die junge Frau ihn danach fragen. Sie that
es nicht; ſie hatte ſeine Geſchichte nicht gehört. Er
fuhr fort: „Den Abend vorher, eh der Herr Apollonius
nach Brambach gegangen iſt, hat er das Zeug aus¬
ſuchen wollen, das er hat mitnehmen wollen; er hat
alles unterſucht; das thut er immer; aber er hat ſich
nicht entſchließen können. Und das iſt ſo merkwürdig,
wie daß der Herr Fritz auf einmal ſo fleißig geworden
iſt. Apollonius Name weckte die junge Frau; ſie
horchte, als der Alte fortfuhr: „Daran hab' ich erſt
vorhin im Schuppen gedacht. Wie mir der Nachbar
da erzählt hat, daß Einer in den Schuppen geſchlichen
iſt, hab' ich gedacht: was muß der dort gewollt haben,
der dort hineingeſchlichen iſt und bei Nacht. Und wie
ich aufgeſehn hab' und hab' den Herrn Fritz ſo arbeiten
ſehn, da iſt eine Unruh' über mich gekommen und hat
[193] mich in den Schuppen hineingetrieben wie mit dem
Stock hinter mir her. Da hab' ich mir alles Mögliche
vorgeſtellt, was Einer drinn hat machen können, der
hineingeſchlichen iſt. Erſt hab' ich das Zimmerbeil an
der Thür liegen ſehn, das dahin gehört, wo das andere
Werkzeug iſt. Da hab' ich gedacht: Hat er was mit
dem Beile gemacht? Und hab' mir wieder vorgeſtellt,
was einer mit dem Beil drinn machen kann, der bei
Nacht hineingeſchlichen iſt. Mir iſt der Gedanke ge¬
kommen, es könnt' was an den Leitern ſein. Aber ich
hab' nichts gefunden daran. An dem Hängſtuhl, der
noch dort lag, war auch nichts. Da fing ich an, die
Kloben zu betrachten, und endlich das Seilwerk. Da
war an einem was, als wär's hier und da an was
Hartes angetroffen, und das hätt' das Seil verſchunden.
Da denk' ich: Das geſchieht oft und will's ſchon
wieder hinlegen. Aber ich denk' auch wieder: Sonſt
iſt nichts; und wenn einer hereinſchleicht, hat er was
gewollt; und wenn er das Beil gehabt hat, hat er auch
was damit gemacht. Da ſeh' ich genauer zu und — Gott
behüt' einen Chriſtenmenſchen! Da war hier mit dem
Beil hereingeſtochen, und dort, und noch einmal, und
noch einmal. Ich werf's über den Balken und häng'
mich daran, da klaffen die Stiche auf; ich glaub', wenn
ein Fahrzeug daran wuchtet, das Seil iſt im Stand,
zu zerreißen.“ Der Alte war ganz bleich geworden
über ſeiner Erzählung. Die Frau hatte immer angſt¬
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 13[194] voller an ſeinem Mund gehangen; ſie war in den
Stuhl zurückgefallen und konnte kaum ſprechen. „„Er
hat gedroht,““ ächzte ſie. Der Alte verſtand nicht,
was ſie ſagte. „Den Abend vorher war's noch nicht,“
fuhr er fort. „Herr Apollonius, der hat ein Aug für
einen Mückenſtich. Er hätt's gefunden, wie er Alles
unterſucht hat. Nun denk' ich, der die Beilſtiche gemacht
hat, hat die Unterſuchung mit angeſehn und hat gemeint,
Herr Apollonius wird das Zeug nicht noch einmal
unterſuchen, wenn er's morgen braucht. Und da iſt
er bei Nacht hineingeſchlichen.“ „„Valentin,““ ſchrie
die Frau auf und faßte ihn bei den Schultern, halb
wie um ihn zu zwingen, er ſoll ihr die Wahrheit
ſagen, halb, um ſich an ihm aufrecht zu erhalten.
„„Er hat's doch nicht mitgenommen? Valentin, ſo
ſag's doch nur!““ Das nicht,“ ſagte Valentin. „Aber
den andern Hängſtuhl, der darin lag, und das Seilzeug
dazu, und noch mehr.“ „„Und waren auch dort Stiche
drinn?““ fragte die Frau in noch immer ſteigender
Angſt. Der Alte ſagte: „Ich weiß nicht. Aber der
ſie gemacht hat, hat nicht gewußt, welches Herr Apol¬
lonius mitnehmen wird.“ „„Wenn er ſicher gegangen
iſt, ſo hat er alle beide — und ich bin ſchuld,““
ſtöhnte die Frau. „„Er hat lang gedroht, er will
ihm was thun. Er that, als wär's einer von ſeinen
Späſſen. Wenn ich's Jemand ſagte, wollt' er's im
Ernſte thun.““ „Wer ſo ſcherzt,“ ſagte Valentin,
[195] „der macht auch, ſolchen Ernſt.“ Die Frau zitterte ſo
heftig an allen Gliedern, daß der Alte ſeine Angſt
um Apollonius über der Angſt um ſie vergaß. Er
mußte ſie halten, daß ſie nicht umfiel. Aber ſie ſtieß
ihn von ſich und flehte und drohte zugleich: „„Rett'
ihn, Valentin, rett' ihn. Hilf, Valentin! Ach Gott,
ſonſt hab ich's gethan.““ Und betete zu Gott um
Rettung und jammerte immer dazwiſchen auf: er ſei
todt und ſie ſei die Schuld. Sie rief Apollonius ſelbſt
mit den zärtlichſten Namen, er ſolle nicht ſterben.
Valentin ſuchte in der Angſt nach einer Beruhigung
für ſie und fand ein Etwas davon für ſich ſelbſt mit.
Wenn es auch nicht beruhigen konnte, ſo gab es doch
Hoffnung, daß Apollonius ſchon auf dem Rückweg
ſein müſſe. Daß er gewiß das Tauwerk noch einmal
unterſucht habe. Daß man, wär' er verunglückt, es
nunmehr wiſſen müßte. Er mußte ihr das zehnmal
vorſagen, eh' ſie nur verſtand, was er meinte. Und
nun erwartete ſie den Boten, der die gräßliche Nach¬
richt bringen konnte, und ſchrack auf bei jedem Laut. Ihr
eigenes Schluchzen hielt ſie für die Stimme des Boten.
Valentin lief endlich, da ihre Angſt und Rathloſigkeit
ihn ſelber mit ergriff, zu dem alten Herrn, ihn herein¬
zuholen zu der Frau. Er wußte nicht, was beginnen;
und vielleicht war noch zu retten, wenn man etwas
that; vielleicht wußte der alte Herr, was zu thun
war, um zu retten.


13 *[196]

Der alte Herr ſaß in ſeiner kleinen Stube. Wie
er ſich immer tiefer in die Wolken einſpann, die ihn
von der Welt außer ihm trennten, wurde ihm zuletzt
auch das Gärtchen fremd. Beſonders hatte ihn
die ewige Frage: Wie geht's Herr Nettenmair? dort
vertrieben. Er fühlte, man konnte ihm ſein „Ich leide
etwas an den Augen, aber es hat nichts zu ſagen“
nicht mehr glauben, und ſeitdem hörte er in jener Frage
eine Verhöhnung. Apollonius war, ſo ſehr er mit ihm
litt, das Zurückziehen des alten Herrn und ſeine zu¬
nehmende Menſchenſcheu nicht unwillkommen. Je tiefer
der Bruder fiel, deſto ſchwerer war es geworden, dem
alten Herrn den Zuſtand des Hauſes zu verbergen
und etwaige Zuträger abzuhalten, von denen er in ſei¬
nem Gärtchen nicht abzuſchließen war; es ſchien zuletzt
unmöglich. Apollonius wußte freilich nicht, daß der alte
Herr in ſeinem Stübchen an Qualen litt, die, wenn auch
auf bloßer Einbildung beruhend, denen gleich kamen, vor
denen er ihn ſchützen wollte. Hier ſaß der alte Herr den
langen Tag zuſammen geſunken hinter dem Tiſche auf
ſeinem Lederſtuhl, und brütete nach ſeiner alten Weiſe über
allen Möglichkeiten von Unehre, die ſein Haus treffen
konnten oder ſchritt mit haſtigen Schritten hin und her,
und das Roth ſeiner eingefallenen Wangen und die
heftig kämpfende Bewegung ſeiner Arme zeigte, wie
er in Gedanken das Aeußerſte that, die drohenden ab¬
zuwenden. Nur der Bauherr, der mit Apollonius im
[197] Verſtändniſſe war, wurde zu ihm gelaſſen. Der alte
Herr, der dem Gaſt, wie jedem Andern, ſein Inneres
verbarg, errieth bei dieſem dieſelbe Verſtellung, und be¬
ſtärkte ſich daran in der Meinung, daß er durch Fragen
nichts erfahren und nur ſeine Hülfloſigkeit offenbar
machen könne. Je heißer es in ihm kochte, deſto eiſiger
erſchien ſein Aeußeres. Es war ein Zuſtand, der in
völligen Wahnſinn übergehen mußte, ſchlug nicht die
Außenwelt eine Brücke zu ihm und riß ihn mit Gewalt
aus ſeiner Vereinzelung heraus.


Dieſe Gewalt geſchah ihm heute. Er ſaß eben
wieder brütend auf ſeinem Stuhle, als den Valentin
ſeine Angſt zu ihm hineintrieb. Den Geſellen zwang
die alte Gewohnheit, ohne daß er es wußte, die Thüre
leis zu öffnen und eben ſo hereinzutreten; aber der
alte Herr empfand mit ſeinem krankhaft verſchärften
Gefühle ſogleich das Ungewöhnliche. Seine Erwartung
nahm natürlich denſelben Gang, den all ſein Denken
verfolgte. Es war eine dem Hauſe drohende Schmach,
was die ſonſt immer gleiche Weiſe Valentins veränderte;
es mußte eine entſetzliche ſein, da ſie den alten Geſellen
aus der Faſſung brachte und ſeine Verſtellung durch¬
brach. Der alte Herr zitterte, als er aufſtand von ſei¬
nem Stuhl. Er kämpfte mit ſich, ob er fragen ſollte.
Es war nicht nöthig. Der alte Geſell beichtete unge¬
fragt. Er erzählte mit fliegender Bruſt ſeine Befürch¬
tungen und was ſie rechtfertigte. Der alte Herr er¬
[198] ſchrack, ſo gut ihn ſeine Einbildungen auf die Wirklich¬
keit vorbereitet hatten. Aber der alte Geſell ſah nichts
davon im Aeußeren ſeines Herrn. Der hörte ihn an
wie immer, wie wenn er das Gleichgültigſte zu ſagen
hatte. Als er ausgeſprochen, hätte das ſchärfſte Auge
kein Zittern mehr an der alten hohen Geſtalt wahr¬
genommen. Der alte Herr hatte den feſten Boden der
Wirklichkeit wieder unter ſeinen Füßen; er war wieder
der Alte im blauen Rock. Er ſtand ſo ſtraff vor dem
alten Geſellen wie ſonſt, ſo ſtraff und ruhig, daß
Valentin's Seele ſich an ihm aufrichtete. „Einbildungen!“
ſagte er dann mit ſeinem alten grimmigen Weſen. „Iſt
kein Geſelle da?“ Valentin rief einen herbei, der eben
Schiefer abholen wollte. Der alte Herr ſchickte ihn nach
Brambach, Apollonius auf der Stelle heimzuholen. Der
Geſelle ging. „Geht er Ihm nicht ſchnell genug, Er
altes Weib, ſo heiß' Er ihn eilen, damit er bald er¬
fährt, daß Er ſich um Nichts geängſtigt hat. Aber kein
Wort von Seinem Summs da! Und ſchließ' Er die
Frau ein, damit ſie nichts Albernes anfängt.“
Valentin gehorchte. Das zuverſichtliche Weſen des
alten Herrn und daß nun wirklich etwas gethan war,
hatte kräftiger auf ihn gewirkt, als hundert triftige
Gründe vermocht hätten. Er theilte ſeine Ermuthigung
der Frau mit. Er war zu eilig, um ihr zu ſagen,
worauf ſie ſich gründete. Hätte er die Zeit dazu ge¬
habt, wahrſcheinlich hätte er die Frau weniger beruhigt
[199] verlaſſen müſſen. Und er ſelbſt ahnte nichts weniger,
als daß der alte Herr innerlich überzeugt war von der
Schuld ſeines älteren und von der Gefahr, wenn nicht
vom Tode ſeines jüngeren Sohnes, während er ihm
ſeine Befürchtungen als leere Grillen ausreden wollte,
und den Boten nur geſchickt zu haben ſchien, um ihn
und die Frau zu beruhigen.


„Nun wird der alte Narr doch,“ ſagte Herr Netten¬
mair, nachdem Valentin zu ihm zurückgekehrt war, „dem
Nachbar das ganze Märchen, das er ſich zuſammen¬
ſpintiſirt hat, erzählt haben, und die Frau ſechs Baſen
damit in die Stadt herumgeſchickt haben!“ Valentin
merkte nichts von der fieberhaften Spannung, mit der der
alte Herr die Antwort erwartete auf ſeine in einen Aus¬
ruf verkleidete Frage. „Werd' ich doch nicht!“ ſagte er
eifrig. Des alten Herrn Vermuthung kränkte ihn.
„Ich hab' ja da ſelbſt noch nichts Arges gemeint, und
die Frau Nettenmair hat keinen Menſchen geſprochen
ſeitdem.“


Der alte Herr ſchöpfte neue Hoffnung. Während
Valentin's Abweſenheit hatte er ſich einen Augenblick
dem ganzen Schmerz hingegeben, den ein Vater in
ſeinem Falle nur empfinden konnte. Aber er hatte ſich
geſagt: man dürfe nicht in unthätigem Jammer dem
Verlorenen nachwerfen, was noch zu erhalten ſei. Waren
auch die Söhne verloren, ſo war doch die Ehre des
Hauſes, ſeine, der Frau und der Kinder Ehre vielleicht
[200] noch zu retten. Nun kam dem alten Herrn die an
ſeinen Einbildungen gewonnene Uebung, ſich alle Mög¬
lichkeiten vorzuſtellen, bei dem wirklichen Falle zu ſtatten.
Wenn die krankhaft gewachſene Empfindlichkeit ſeines
Ehrgefühls ihn ſpornte, vor dem Aeußerſten nicht zurück¬
zuſchrecken, ſo gingen ſeine Gedanken nun bei dem wirk¬
lichen Falle nur denſelben fieberiſchen Gang, den zu
nehmen ſie ſich an den weſenloſen Ausgeburten ſeiner
Furcht gewöhnt. Verheimlichung alles deſſen, was zu
einem Verdachtsgrunde auf den älteren Sohn werden
konnte, ſtellte ſich ihm als die nächſte Nothwendigkeit
dar. Hatten Valentin und die Frau noch Niemanden
mitgetheilt, was ſie wußten, ſo konnte anderes Der¬
gleichen bereits bekannt ſein. Solch ein verbrecheri¬
ſcher Gedanke entſpringt nicht aus dem Ohngefähr.
Er iſt die Blüthe eines Giftbaumes mit Stamm und
Zweigen. Valentin mußte ihm erzählen, was ſeit
Apollonius' Zurückkunft im Hauſe geſchehen war. Wußte
Valentin von Fritz Nettenmair's Eiferſucht nichts, oder
wollte er dem alten Herrn, deſſen argwöhniſche Ge¬
müthsart er kannte, nichts davon ſagen; ſeine Erzählung
wurde die Geſchichte eines leichtſinnigen, ehr- und ver¬
gnügungsſüchtigen Verſchwenders, der, trotz aller, Be¬
mühungen ſeines beſſeren Bruders, ihn zu halten, bis
zum gemeinen Wüſtling und Trunkenbold herabſank; zu¬
gleich die Geſchichte eines treuen Bruders, der dem Ver¬
ſchwender nothgedrungen die Sorge um Ehre und Beſtand
[201] von Geſchäft und Haus aus den Händen nimmt, um
dieſe Ehre zu retten, und von dem Gefallenen dafür bis
in den Tod verfolgt wird.


Der alte Herr ſaß regungslos. Nur die Röthe,
die immer brennender auf die magern Wangen trat,
gab Kunde von dem, was er mit der Ehre ſeines Hauſes
litt. Sonſt ſchien er Alles ſchon zu wiſſen. Es war
das ſeine alte Weiſe; er wandte ſie hier vielleicht auch
deßwegen an, weil er meinte, der Geſell würde dann
um ſo weniger wagen, etwas zu verſchweigen oder
wider beſſeres Wiſſen zu verändern. Die innere Auf¬
regung hinderte ihn, zu bemerken, in welchen Widerſpruch
dieſer Anſchein mit ſeinem Gefühl für Ehre trat.
Valentin ſuchte nicht den Schatten zu vertiefen, der auf
Fritz Nettenmair's Handeln fiel; aber wie er den alten
Herrn kannte, ſchien es ihm nöthig, das brave Thun
Apollonius' in das hellſte Licht zu ſtellen. Er kannte
den alten Herrn doch nur halb. Er verrechnete ſich in
der Wirkung, die er damit beabſichtigte, wenn er die
kindliche Schonung pries, mit der Apollonius die Kunde
von der Gefahr dem Ohr des alten Herrn fern
gehalten. Er verdarb damit, was ſeine ſchlichte Erzäh¬
lung gethan, des Sohnes Verdienſt um das Theuerſte,
was der alte Herr wußte, darzuſtellen. Der alte Herr
ſah nur immer mehr die Furcht wahr gemacht, die ihm
Apollonius' Tüchtigkeit erregt hatte. Apollonius hatte
ihm die Gefahr unkindlich verſchwiegen, um die Rettung
[202] ſich allein beimeſſen zu können. Oder er hielt ſeinen
Vater für den hülfloſen Blinden, der nichts mehr war
und nichts mehr vermochte, als höchſtens ihn zu hindern.
Und das vergab ihm der alte Herr noch weniger —
trotz ſeines Schmerzes um den Todten, der der Sohn
ihm bereits war. Er wurde immer überzeugter, er ſelbſt
hätte es nicht ſoweit kommen laſſen, wenn er darum
gewußt und die Sache in ſeine Hand genommen, und
Apollonius dürfe Niemand ſeines Mordes anklagen,
als den eigenen Vorwitz. Dieſe Gedanken mußten
natürlich vor dem zunächſt Nothwendigen zurücktreten.
Was er bis jetzt von der Vorgeſchichte des bruder¬
mörderiſchen Gedankens wußte, konnte den entſtandenen
Verdacht verſtärken, aber ihn nicht entſtehen machen,
wenn nicht ein Anderes, das ihm noch unbekannt war,
dazu trat. Er mußte von dem ſchuldigen Sohne ſelbſt
erfahren, ob es ſolch ein Anderes gab. Sein Entſchluß
war für alle Fälle gefaßt. Er verlangte Hut und Stock.
Ein andermal wäre Valentin über dieſen Befehl er¬
ſtaunt, vielleicht ſogar erſchrocken. Iſt man durch ein
Außerordentliches aufgeregt, wie es der Geſell eben
war, kommt nur das unerwartet, was ſonſt das
Gewöhnliche hieß, was an den alten ruhigen Zuſtand
erinnert. Indeß Valentin das Befohlene herbeibrachte
und der alte Herr ſich zum Ausgehen bereitete, zeigte
dieſer ihm noch einmal, wie grundlos und thöricht ſeine
Befürchtungen ſeien. „Wer weiß,“ ſagte der alte Herr
[203] grimmig, „was der Nachbar geſehen hat. Wie will
er bei Nacht einen erkennen, der ſo weit entfernt von
ihm iſt? Und Er dazu mit ſeinen Beilſtichen! Nun dürfte
dem Jungen in Brambach das Seil geriſſen ſein oder
er müßte ſonſt zufällig verunglückt ſein, ſo wird Er ſich
ſteif und feſt einbilden, es ſind ſeine eingebildeten Beil¬
ſtiche ſchuld geweſen, und der hat ſie gemacht, den der
Nachbar, der ſo einfältig iſt, als Er, will haben in
den Schuppen ſchleichen geſehn. Und ſagt Er ein
Wort davon, oder iſt Er ſo klug, daß Er in Räthſeln
zu verſtehen gibt, was Er ſich einbildet in ſeinem
alten Narrenſchädel, ſo iſt den andern Tag die ganze
Stadt voll davon. Nicht weil's wahrſcheinlich wäre,
was Er da ausgeheckt hat, und kein vernünftiger Menſch
glauben kann, ſondern weil die Leute froh ſind, einem
Andern das Schlimmſte nachzureden. Gott wird ja
vor ſein, daß der Junge nicht zu Unglück kommt, aber
es kann geſchehn, und es iſt vielleicht ſchon geſchehn. Wie
leicht kommt einer hinter dem Ofen dazu, geſchweige
ein Schieferdecker, der zwiſchen Himmel und Erde ſchwebt
wie ein Vogel, aber keine Flügel hat wie ein Vogel.
Darum mit iſt die edle Schieferdeckerkunſt eine ſo edle Kunſt,
weil der Schieferdecker das ſichtlichſte Bild iſt, wie die
Fürſehung den Menſchen in ihren Händen hält, wenn er
in ſeinem ehrlichen Berufe handthiert. Und läßt ſie ihn
fallen, ſo weiß ſie, warum; und der Menſch ſoll nicht
Geſpinnſte d'rum hängen, die über einen Andern Un¬
[204] glück oder gar Schande bringen können. Ich bin ge¬
wiß, die Sache wird ſich ausweiſen, wie ſie iſt, und
nicht, wie Er ſie ſich da zuſammengeängſtelt hat. Denn“ —


Soweit war der alte Herr in ſeiner Rede gekommen,
da hörte man draußen eine Laſt niederſetzen. Der alte
Herr ſtand einen Augenblick ſtumm und wie verſteinert da.
Der Valentin hatte durch das Fenſter den Blechſchmiede¬
geſellen kommen ſehn, der eben ablud. „Der Jörg
vom Blechſchmied,“ ſagte Valentin, „der die blechernen
Guirlanden vollends bringt.“ „„Und da iſt Er er¬
ſchrocken mit ſeinen Einbildungen und hat gemeint,
ſie bringen, wer weiß wen. Wo iſt der Fritz?““ „Auf
dem Kirchendach,“ entgegnete Valentin. „„Gut,““ ſagte
Herr Nettenmair. „„Sag' Er dem Blechſchmidt, er ſoll her¬
ein kommen, wenn er fertig iſt.““ Der Geſelle that's.
Bis Jener hereinkam, fuhr Herr Nettenmair noch mit
gedämpftern Tönen in ſeiner Strafpredigt fort. Er
ſprach davon, wie Menſchen ſich Einbildungen zuſam¬
mendichteten und ſich ängſteten darüber, wie über wirk¬
liche Dinge; wie die Gedanken dem Menſchen über
den Kopf wüchſen und ihm keine gute Stunde ließen,
wenn er nicht gleich im Anfang ſich ihrer erwehre.
Es war, als wollte der alte Herr ſich über ſich ſelbſt
luſtig machen. Er dachte nicht daran, daß er den Va¬
lentin über ſeinen eigenen Fehler abkanzelte. Dagegen
fühlte ſich Valentin beſchämt, als treffe ihn die Strafe
verdientermaßen; und er hörte dem alten Herrn mit
[205] Andacht und Zerknirſchung zu, bis der Blechſchmiedge¬
ſelle hereinkam. Herr Nettenmair faßte den Stock, den
ihm Valentin in die Hände gab, ſetzte den Hut tief
in die Stirne, um der Welt ſoviel, als möglich, von dem
unfreiwilligen Geſtändniß der todten Augen zu entziehn,
und ſchüttelte ſich majeſtätiſch in dem blauen Rock zurecht.
Valentin wollte ihn führen, aber er ſagte: „die Frau
braucht Ihn; und Er wird wiſſen, was Er in meinem
Hauſe zu thun hat.“ Valentin verſtand den Sinn der
diplomatiſchen Rede. Der alte Herr machte ihn ver¬
antwortlich für das Benehmen der Frau. Herr Net¬
tenmair aber wandte ſich nun dahin, wo des Blech¬
ſchmiedegeſellen Reſpekt in ein leiſes Räuſpern aus¬
brach, und fragte ihn, ob er Zeit habe, ihn bis auf
das Thurmdach von Sankt Georg zu begleiten, wo
ſein älterer Sohn arbeite. Der Blechſchmied bejahte.
Valentin wagte noch den Vorſchlag, Herrn Fritz lieber
rufen zu laſſen. Der alte Herr ſagte grimmig: „ich
muß ihn oben ſprechen. Es iſt wegen der Reparatur.“
Darauf wandte er ſich wieder zu dem Blechſchmiedege¬
ſellen. „Ich werde Seinen Arm nehmen“, ſagte er
mit herablaſſendem Grimm. „Ich leide etwas an den
Augen, aber es hat Nichts zu ſagen.“ Valentin ſah
den Gehenden eine Weile kopfſchüttelnd nach. Als der
alte Herr aus ſeinen Augen war, fiel die Zuverſicht,
die er der reſoluten Gegenwart des alten Herrn ver¬
dankt, wiederum zuſammen. Er ſchlug die Hände in
[206] einander vor Angſt; da ihm einfiel, er ſtehe in der
Hausthür und ſei verantwortlich für jedes Gerede, das
der Ausdruck ſeiner „Einbildungen“ veranlaſſen konnte,
that er, als hab' er die Hände in einander gelegt, um
ſie behaglich zu reiben.


Der Blechſchmiedegeſelle hatte gehört, Herr Netten¬
mair ſei ſchon ſeit Jahren blind; der ſelbſt hatte ihm
geſagt, ſein Augenleiden ſei unbedeutend; er merkte
bald, die Leute möchten doch recht haben. Nun nickte
ein raſch Vorübergehender, und auf ſein „Wie geht's?“
lächelte der alte Herr wiederum: „Ich leide etwas an
den Augen, aber es hat nichts zu ſagen.“ Ueber jeden
Andern an Herrn Nettenmair's Stelle würde der Ge¬
ſell gelacht haben. Aber die mächtige Perſönlichkeit
des alten Mannes ſetzte ihn ſo in Reſpekt, daß er den
Widerſpruch ſeiner ſinnlichen Wahrnehmung mit deſſen
Worten auf ſich beruhen ließ, und zugleich ſeinen Sin¬
nen glaubte: Herr Nettenmair ſei blind, und Herrn
Nettenmair ſelbſt: es habe nichts zu ſagen. Das Er¬
ſcheinen des alten Herrn auf der Straße war ein
Wunder, und ſicherlich würde es Aufſehen gemacht
haben und der alte Herr durch hundert Hän¬
deſchüttler und Frager aufgehalten worden ſein, hätte
nicht ein anderes Etwas die Aufmerkſamkeit von ihm
abgelenkt. Da lief ein halblaut und ſchnell Ausge¬
ſprochenes durch die Straßen. Zwei, Drei blieben
ſtehn, das Näherkommen eines Dritten, Vierten
[207] abwartend, der ſich merken ließ, er wiſſe das, was ſie
zehn andere ähnliche Gruppen bilden ſahn. Dort ver¬
kündete es Einer im ſchnellen Vorübereilen. Und im¬
mer begann es mit einem: „Wißt Ihr ſchon?“, das
oft von einem: „Aber was iſt denn geſchehn?“ heraus¬
gefordert war. Herr Nettenmair brauchte nicht zu
fragen; er wußte, ohne daß es ihm Einer zu ſagen
brauchte, was geſchehen war. Aber er durfte ſich nicht
merken laſſen, daß er's wußte, daß man eigentlich ihn
hätte fragen müſſen; nicht allein, wollte man wiſſen,
was geſchehen war; auch das Wie und Wodurch und
das Warum. Der Blechſchmiedegeſelle meinte, Herr
Nettenmair wollte an ihm niederſinken, aber der alte
Herr hatte ſich nur an den Fuß geſtoßen, „es hatte
nichts zu ſagen.“ Der Geſell fragte einen Vorüber¬
eilenden. „Ein Schieferdecker iſt verunglückt in Bram¬
bach. „„Wie denn?““ fragte der Geſell. „Ein Seil
iſt zerriſſen. Weiter weiß man noch nichts.“ Herr
Nettenmair fühlte, wie der Geſell erſchrack, und daß
er über dem Gedanken erſchrack, der Sohn des Man¬
nes war verunglückt, den er führte. Er ſagte: „Es
wird in Tambach geweſen ſein. Die Leute haben falſch
gehört. Es hat nichts zu ſagen.“ Der Geſell wußte
nicht, was er von der Gleichgültigkeit des Herrn Net¬
tenmair denken ſollte. Der ſagte zu ſich, indem das
brennende Roth auf ſeine Wangen trat: „Ja, es muß
ſein. Es muß nun ſein.“ Er dachte daran, es gab
[208] Etwas, womit man allen Gerichten, allen Unterſu¬
chungen aus dem Wege gehen kann. Das Etwas,
das er meinte, mußte ein hartes Etwas ſein; denn er
biß die Zähne zuſammen, als er mit dem Kopf nickte
und zu ſich ſagte: „Es muß ſein. Nun muß es
ſein.“ Der Geſell ging, den alten Herrn führend,
wie im Traume neben ihm die Thurmtreppe von St.
Georg hinan. Die Leute hatten recht; Herr Netten¬
mair war doch ein eigener Mann!


Der alte Herr hatte geſagt, er müſſe den Sohn
auf dem Kirchendach ſprechen — wegen der Reparatur.
Er hatte ohne Abſicht in ſeiner diplomatiſchen Art ge¬
redet. Es mußte auf dem Kirchendache ſein und es
galt eine Reparatur, aber nicht die des Kirchendachs.


Zwiſchen Himmel und Erde iſt des Schieferdeckers
Reich. Zwiſchen Himmel und Erde, hoch oben auf
dem Kirchendach von Sankt Georg, ſchaffte Fritz Net¬
tenmair, als der alte Herr ſich die Treppe zu ihm hin¬
aufführen ließ. Hier herauf war Fritz Nettenmair vor
den Augen der Menſchen geflohen, die er alle auf ſich
gerichtet meinte, vor ſeinen Gedanken in einen wüthen¬
den Fleiß. Er hatte die ganze Hölle in ſeiner Bruſt
mit herauf gebracht; und wie angeſtrengt er ſchaffte,
der Schweiß, der ihm auf der Stirne ſtand, war nicht
[209] der warme redlichen Mühens, es war der kalte Schweiß
der Gewiſſensangſt. Er hämmerte Schiefer zurecht
und nagelte ſie feſt, ſo angſtvoll haſtig, als nagelte
er den Weltenbau feſt, der ſonſt einſtürzen müßte in
der nächſten Viertelſtunde. Aber ſeine Seele war nicht
bei dem Hämmern, ſie war wo unaufhörlich Stricke
rißen und verunglückende Schieferdecker polternd hin¬
abſtürzten in den gewiſſen Tod. Zuweilen hielt er
plötzlich inne; es war ihm, als müßt' er hinunterrufen:
„Nach Brambach! Er ſoll nicht die Leiter beſteigen!
er ſoll ſich nicht auf ſein Fahrzeug ſetzen.“ Aber dann
blieben die vielen Hunderte, die wie Ameiſen da unten
durch einander liefen, in Schreck verſteinert ſtehn, und ſoviel
Paar Augen, überfüllt mit Grauen und Abſcheu, ſtarr¬
ten herauf, und der Häſcher kam und ſtieß ihn vor ſich
her die Treppe hinunter; und vielleicht war es doch zu
ſpät! Dann einmal faltete er die Hände über den
Deckhammer und gelobte: ſtürbe Apollonius nicht,
er will ein braver Mann werden. Er denkt nicht, daß ihn
das reuen wird, ſobald er Apollonius gerettet weiß. —
Da kommt Jemand die Treppe herauf — iſt's der
Häſcher ſchon? Nein. Es weiß Niemand, was er ge¬
than. Er verzerrt ſein Geſicht in Trotz und fragt:
„Wer will mir was anhaben?“ Jetzt hört er Stimmen,
und die Klänge der einen davon treffen wie Hammer¬
ſchläge auf ſein gequältes Herz. Das iſt die einzige
Stimme, die er hier zu hören nicht erwartet. Wird der
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 14[210] fragen, dem ſie gehört: „Wo iſt dein Bruder Abel hin?“
Nein. Er will dem Sohne ſagen, daß Jener verun¬
glückt iſt; er meint, es iſt ein Unglückstag und er ſoll
heut nicht mehr arbeiten. Und fragt er doch, die Ant¬
wort iſt faſt ſo alt, als das Menſchengeſchlecht: „Soll
ich meines Bruders Hüter ſein?“ Dabei kommt's ihm
wie eine Erleichterung, daß ihm einfällt, der Vater iſt
blind. Denn er weiß, ſeine ſehenden Augen könnte er
jetzt nicht ertragen. Er hämmert und nagelt immer
haſtiger. Er würde dem Vater ausweichen, wenn er
könnte, aber der Dachſtuhl iſt ſchmal und der Alte
ſpricht ſchon an dem Ausſteigeloch im Dache. Er will
ihn nicht eher bemerken, als bis er muß. „Nun iſt's
ſchon gut,“ hört er den Alten ſagen. „Mach' Er ſeinem
Meiſter mein Compliment; und da iſt etwas für Ihn.
Trink' er eine Geſundheit dafür.“ Fritz Nettenmair
hört, der alte Herr ſetzt ſich auf die bloßgelegte Latte
im Ausſteigeloch, und weiß, der alte Herr füllt die
ganze Oeffnung mit ſeiner Geſtalt. Er hört den Dank
des Geſellen und ſeine Tritte, wie ſie immer ferner
klingen. „Schönes Wetter“, ſagt Herr Nettenmair. Der
Sohn erräth, der Alte will wiſſen, ob noch Jemand
in der Nähe iſt. Es antwortet Niemand; Fritz Net¬
tenmair ſtirbt der Ton in der Bruſt; er hämmert immer
lauter und haſtiger. Er wünſcht, die Stunde, der Tag,
das Leben wär' zu Ende. „Fritz,“ ruft der Alte. Er
ruft noch einmal, und er ruft noch einmal. Fritz Netten¬
[211] mair muß endlich antworten. Er denkt an den Ruf:
„Kain, wo biſt du?“ „Hier, Vater,“ entgegnet er und
hämmert fort. „„Der Schiefer iſt feſt,““ ſagt der Alte
gleichgültig; „„ich hör's am Klange; er blättert nicht.““
„Ja,“ entgegnet Fritz mit klappernden Zähnen, „er nimmt
kein Waſſer.“ „„Er iſt beſſer geworden, als früher,““ fährt
der Alte fort; „„ſie ſind tiefer in den Bruch hineinge¬
kommen. Es ſcheint, du biſt allein.““ Ein „Ja“ erſtirbt
im Munde des Sohnes. „„Je tiefer er lagert, deſto
feſter iſt das Geſtein. Iſt keine Rüſtung weiter in
der Nähe?““ „Keine.“ „„Gut. Komm hierher. Hier vor
mich.““ — „Was ſoll ich?“ „„Hierher kommen. Was ge¬
ſagt ſein muß, muß leiſe geſagt ſein.““ Fritz Netten¬
mair trat in allen Gelenken ſchlotternd vor den Va¬
ter. Er wußte, der war blind, und doch ſuchte er ſei¬
nem Blicke auszuweichen. Der Alte rang nach Faſ¬
ſung. Aber davon ſprach kein Zug in dem verwitter¬
ten Geſicht; nur die Dauer ſeines Schweigens und
ſein Athem, der das ſchwere, ächzende Wandeln des
Perpendikels an der nahen Thurmuhr wie ein müdes
Echo nachzuklingen ſchien. Fritz Nettenmair ahnte aus
den Vorbereitungen, was kommen müſſe. Er rang
nach Trotz. Wenn er's in ſeinem Argwohn erräth,
wer will mir's beweiſen? Und könnt er's beweiſen, er
giebt mich nicht an; davor bin ich ſicher. Warum
auch ſonſt will er leiſe reden? mag er ſagen, was er
will, ich weiß nichts, ich bin nichts geweſen, ich hab'
14*[212] nichts gethan. Sein Geſicht rang ſich aus dem Zit¬
tern aller Muskeln bis zum wildeſten Ausdrucke des
Trotzes hindurch. Der alte Herr ſchwieg noch immer.
Gedämpft klang das Treiben der Straßen in die
Höhe herauf; unten lag ſchon violetter Schatten, um
das Fahrzeug Apollonius bebte der letzte Sonnenſtrahl.
Etwas ferner rauſchte ein Zug vom Felde heimkehren¬
der Tauben vorbei. Es war ein Abend voll Gottes¬
friedens. Tief unten weit hingedehnt die grüne Erde;
oben hoch der Himmel, wie ein Kelch aus blauem
Kryſtall darüber gedeckt. Kleine roſige Wölkchen wie
Flocken hineingeſtreut. Der Lärm von unten erloſch im¬
mer mehr. Die Luft trug einzelne Töne einer fernen
Glocke mit ſich und ſchlug ſie leiſe ſpielend wie wie¬
derkehrende Wellen gegen das Dach. Dort über der
nächſten grünen Höhe, wo ſie herkommen, liegt Bram¬
bach. Es muß das Abendgeläute von Brambach
ſein. Hoch am Himmel und tief auf der Erde, überall
Gottesfrieden und ſüß aufgelöſtes Hinſehnen nach Ruh.
Nur zwiſchen Himmel und Erde die beiden Menſchen
auf dem Kirchdach zu Sankt Georg fühlen nicht ſeine
Flügel. Nur über ſie vermag er nichts. In dem ei¬
nen brennt der Wahnſinn überreizten Ehrgefühls, in
dem andern alle Flammen, alle Qualen der Hölle.


„Wo iſt dein Bruder?“ drang es endlich zwiſchen
den Zähnen des einen hervor. „„Ich weiß nicht. Wie
ſoll ich's wiſſen?““ bäumt ſich im andern der Trotz. „Du
[213] weißt nicht?“ Der alte Herr flüſterte nur, aber jedes
ſeiner Worte ſchlug wie Donner in die Seele des
Sohnes. „Ich will dir's ſagen. Drüben in Bram¬
bach liegt er todt. Das Seil iſt über ihm zerrißen
und du haſt's mit Beilſtichen zerſchnitten. Der Nach¬
bar hat dich in den Schuppen ſchleichen ſehn. Du
haſt vor deiner Frau gedroht, du willſt es thun. Die
ganze Stadt weiß es; eben tragen ſie's in die Gerichte.
Der erſte, der nun die Treppe herauf kommt, iſt der
Häſcher, der dich vor den Richter führt.“ — Fritz Net¬
tenmair brach zuſammen; die Rüſtung knackte unter
ihm. Der Alte horchte auf. Fiel der Elende am
Rande des Gerüſt's zuſammen, ſo ſtürzte er hinab in
die Tiefe. Und Alles war vorüber! Alles, was ſein
mußte, war gethan! Eine Lerche ſtieg aus einem na¬
hen Garten in die Höh' und ſtreute ihr luſtiges Tirili
über Bäume und Häuſer hin. Glücklichere Menſchen
hörten den Geſang aus der Ferne; Arbeiter ließen den
Spaten ruhn, Kinder Peitſche und Kreiſel, und ſuchten
mit himmelaufgewandten Augen den ſchwebenden klin¬
genden Punkt, und horchten mit verhaltenem Athem
hinauf. Der alte Herr Nettenmair hörte die nahe
Lerche nicht; er hielt auch den Athem an, aber er
horchte hinunter, nicht hinauf. Und es war nichts,
das wie Lerchenſang klingt, was er erhorchen wollte.
Es war ein Poltern auf dem Dach unter ihm, ein
gebrochener Angſtruf. Er horchte erſt voll Hoffnung,
[214] dann voll Angſt. Nichts klingt herauf. Vor ihm
auf den Bretern des Gerüſtes röchelt ein ſchwerer
Athem. Er hört, der Zufall, der ihm mitleidig helfend
vorgreifen konnte, hat es nicht gethan. Er muß es
thun, denn gethan muß es ſein. Sonſt zeigen die
Menſchen mit den Fingern auf die Kinder: Die ſind's,
deren Vater ſeinen Bruder erſchlug und auf dem Hoch¬
gericht oder im Zuchthauſe ſtarb. Und wo es längſt
vergeſſen iſt, da dürfen ſie ſich nur zeigen, da wird
es wieder wach; da deuten die Menſchen wieder mit
den Fingern und wenden mit Schaudern von ihnen
ſich ab. Das Vertrau'n, das er von den Aeltern erbt,
iſt das Kapital, womit der Menſch anfängt. Es muß
ihm erwieſen werden, eh er's hat verdienen können, da¬
mit er lernt, Vertrauen zu verdienen. Wer wird ih¬
nen Vertrauen erweiſen, die mit ihres Vaters Schande
gezeichnet gehn? Wie ſollen ſie Vertrauen verdienen
lernen? Mitten unter den Menſchen von den Menſchen
ausgeſtoßen, müſſen ſie nicht werden, wie ihr Vater
war? Und ſein eigenes langes Leben voll Anſtrengung,
Ehre zu erwerben und zu bewahren, wird rückwärts
angeſteckt von des Sohnes Schmach. Die Kinder
hält man für fähig zu thun, wie der Vater that, und
es kann kein ehrlicher Vater geweſen ſein, der ſolchen
Sohn hatte! — Die Röthe glühte immer brennender
auf der eingefallenen Wange; die zuſammengeſunkene
Bruſt richtete ſich keuchend empor. Er machte unwill¬
[215] kürlich eine vordeutende Bewegung mit dem Arm.
Fritz Nettenmair ahnte ihren Sinn. Er wollte ſich
aufraffen und wäre wieder umgeſunken, ſtützte er ſich
nicht mit beiden Händen. So lag er auf Händen
und Knieen vor dem Alten, als er den Angſtruf aus¬
ſtieß: „Was willſt du, Vater? Womit gehſt du um?“
„„Ich will ſehn,““ erwiederte der Alte mit pfeifendem Flü¬
ſtern, „„ob ich's thun muß oder ob du's thun wirſt, was
gethan ſein muß. Und gethan muß es ſein. Noch
weiß Niemand etwas, was zur Unterſuchung führen
kann vor den Gerichten, als ich, deine Frau und der
Valentin. Für mich kann ich ſtehn, aber nicht für
die, daß ſie's nicht verrathen, was ſie wiſſen. Wenn
du jetzt herabfällſt von der Rüſtung, ſo daß die Leute
meinen können, du biſt ohne Willen verunglückt, dann
iſt die größte Schande verhütet. Der Schieferdecker,
der verunglückt, ſteht vor der Welt als ein ehrlicher
Todter, ſo ehrlich, als der Soldat, der auf dem
Schlachtfeld geſtorben iſt. Du biſt ſolchen Tod nicht
werth, Bankerutirer. Dich ſollte der Henker auf einer
Kuhhaut hinausſchleifen auf den Richtplatz, Schand¬
bube, der du den Bruder umgebracht haſt und haſt
vergiften wollen das zukünftige Leben der unſchuldi¬
gen Kinder und mein vergangenes, das voll Ehre ge¬
weſen iſt. Du haſt Schande genug gebracht über dein
Haus, du ſollſt nicht noch mehr Schande darüber brin¬
gen. Von mir ſollen ſie nicht ſagen, daß mein Sohn,
[216] und von meinen Enkeln nicht, daß ihr Vater auf dem
Blutgerüſt oder im Zuchthauſe geſtorben iſt. Du
beteſt jetzt ein Vaterunſer, wenn du noch beten
kannſt. Dann wend'ſt du dich, als wollteſt du wieder
zu deiner Arbeit gehn, und trittſt mit dem rechten Fuß
über die Rüſtung. Sag' ich, der Schreck über ſeines
Bruders Unglück hat ihn ſchwindeln gemacht: mir
glauben's die Gerichte und die Stadt. Das iſt's,
was ein Leben einbringt, das anders geweſen iſt, als
dein's. Thuſt du's nicht gutwillig, ſo ſtürz' ich mit dir
hinab und du haſt auch mich auf deinem Gewiſſen.
Die Leute wiſſen, ich leide an den Augen; ich bin
geſtrauchelt und hab' mich an dir anhalten wollen und
hab' dich mitgeriſſen. Meines Lebens iſt nach dem,
was ich heut erfahren hab', keine Dauer mehr und kein
Werth; ich bin am Ende, aber die Kinder fangen erſt
an. Und auf den Kindern ſoll keine Schande haften,
ſo wahr ich Nettenmair heiße. Nun beſinn' dich, wie
es werden ſoll. Ich zähle fünfzehn Paar Schläge an
dem Perpendikel dort.““


Fritz Nettenmair hatte mit wachſendem Entſetzen
die Rede des Vaters angehört. Daß ſeine That noch
nicht öffentlich bekannt war, gab ihm Hoffnung. Die
Angſt vor dem gedrohten Tode weckte einen Theil
ſeiner Kräfte wieder. Er flüchtete ſich wieder in ſeinen
Trotz. Haſtig ſagte er, nachdem der Alte ausgeredet
hatte: „Ich weiß nicht, was du willſt. Ich bin un¬
[217] ſchuldig. Ich weiß nicht, was du da von Beilſtichen
ſagſt.“ Er erwartete, der Vater würde auf ſeine Ein¬
wendungen eingehn, wenn auch erſt ungläubig. Aber
der Alte begann ruhig zu zählen: „„Eins. — Zwei.““ —
„Vater,“ fiel er ihm mit ſteigender Angſt in das Zäh¬
len, und der Trotz ſeines Tones brach im Flehen:
„Hör mich doch nur. Die Gerichte hören einen und
du hörſt mich nicht. Ich will mich ja hinunterſtürzen,
weil du mich todt haben willſt, ich will ſterben, wenn
gleich unſchuldig. Aber höre mich nur erſt!“ Der
alte Herr entgegnete nicht; er zählte fort. Der Elende
ſah, ſein Urtheil war geſprochen. Der Vater glaubte
nicht, was er auch ſagen mochte; und er wußte, was
der eigenſinnige alte Mann ſich einmal vorgenommen,
das führte er unerbittlich aus. Er wollte ſich darein
ergeben, dann kam ihm der Gedanke, noch einmal zu
flehn; dann fiel ihm ein: er konnte den Alten zurück¬
werfen und über ihn hin entfliehn, dann: er wollte
ſich anhalten, wenn der Alte ſich an ihn hing, um
nicht mitzuſtürzen. Das konnte ihm kein Menſch ver¬
denken. Dazwiſchen ſah er ſchaudernd, was ihn erwar¬
tete, wenn er floh und die Gerichte faßten ihn doch.
Es war beſſer, er ſtarb jetzt. Aber noch Schrecklicheres
erwartete ihn über dem Tode drüben. Er ſann zurück
und lebte ſein ganzes Leben im Augenblicke noch ein¬
mal durch, um zu finden, der ewige Richter konnte
ihm verzeihn. Seine Gedanken verwirrten ſich; er
[218] war bald dort, bald da, und hatte vergeſſen, warum.
Er ſah die Nebel ſich ballen, in denen der Geſell ver¬
ſchwunden war, zugleich ſah er zu den hellen Fenſtern
des rothen Adlers auf, es klang: „Da kommt er ja!
Nun wird's famos!“ Er ſtand an den Straßenecken
und zählte und die Breter wollten unter Apollonius
nicht brechen, die Stricke über ihm nicht reißen; er
ſtand wieder vor der Frau und ſagte über des ſterben¬
den Aennchen's Bett gebeugt: „weißt du, warum du
erſchrickſt?“ und holte aus zu dem unſeligen Schlage;
ſelbſt daß er vor dem Vater dalag und hin- und her¬
ſann in gräßlich angſtvoller Haſt, kam ihm vorüber¬
fliehend wie in einem Fiebertraum. Dann war's ihm,
als käm' er zu ſich und unendliche Zeit ſei vergangen
zwiſchen dem Augenblick, wo der Vater die Perpen¬
dikelſchläge zu zählen begonnen, und jetzt. Es müſſe
ja Alles gut ſein. Er müſſe ſich nur beſinnen, ob er
über den Vater hinweggeflohn, oder ob er ſich ange¬
halten, als ihn der Vater mit ſich hinunterreißen wollte.
Aber da lag er noch, dort ſaß der Vater noch. Er
hörte ihn „Neun“ zählen und dann ſchweigen. Die Be¬
ſinnung verließ ihn völlig.


Der alte Herr aber ſchwieg wirklich. Er zählte
nicht mehr. Sein ſcharfes Ohr hörte einen eilenden
Schritt auf der Treppe. Er griff nach dem Sohne
und hielt ihn, wie um ſeiner gewiß zu ſein, daß er
ihm nicht entgehe. Er fühlte an der Kälte und Wider¬
[219] ſtandsloſigkeit des Gliedes, das er gefaßt, es ſei un¬
nöthig, den Sohn zu halten; er müſſe ohnmächtig
ſein. Eine neue Sorge erwuchs ihm daraus. War
der Sohn ohnmächtig, ſo mußte er, wenn möglich,
das fremden Blicken entziehn. Auch dieſe Ohnmacht
konnte den Verdacht entſtehn, oder wachſen machen.
Er erhob ſich und wandte ſich von der Dachlucke nach
dem Kommenden. Er war unſchlüſſig, ſollte er die
Lucke mit ſeinem Körper decken, oder dem Kommenden
entgegen gehn. Der Geſelle, den er vorhin nach
Brambach geſchickt, denn dieſer war's, der ſo eilig
kam, huſtete auf der Treppe. Den konnte er abhalten
von der Rüſtung; ja, er konnte ihm vielleicht den An¬
blick des darauf Liegenden entziehn, wenn er ihm ent¬
gegen ging und ihn noch auf der Treppe abfertigte.
So vielleicht gewiſſer, als wenn er vor der Lucke
ſtehen blieb, da es wahrſcheinlich war, er verdecke die¬
ſelbe doch nicht völlig. Jetzt fühlte der alte Herr erſt,
wie, was er heute erfahren müſſen, ſeine Kräfte ge¬
lähmt. Aber der Geſell merkte nichts davon; als er
den alten Herrn, an den Treppenbalken gelehnt, ihm
den Weg verſperren ſah.


„Soll ich ihn herholen, Herr Nettenmair?“ fragte
der Geſell, indem er auf der Treppe ſtehen blieb.
„„Wen?““ fragte Herr Nettenmair dagegen. Er hatte
Mühe, ſeine künſtliche Ruhe zu bewahren. War der
Geſell in Brambach geweſen, konnte er nicht ſo ruhig
[220] ſprechen, er mochte ſprechen von wem er wollte. „Nun,
er wird nunmehr daheim ſein,“ entgegnete der Geſell.
Der alte Herr wiederholte ſeine Frage nicht; er mußte
ſich an dem Balken feſthalten, an dem er lehnte.
„Er war ſchon auf dem Wege,“ fuhr der Geſelle fort;
„ich bin mit ihm bis an's Thor gegangen. Da hat
er mich zum Blechſchmied geſchickt, ich ſollte fragen,
ob das Blechzeug endlich fertig wär. Der Jörg ſagte,
er hätt's ſchon hingeſchafft, und käm' eben vom Thurm¬
dach von Sankt Georg, da hätt' er den alten Herrn
Nettenmair hinaufgeführt. Da hab' ich gemeint, er
wird noch oben ſein; und weil's ſo eilig war, wollt'
ich ihn fragen, ob ich vielleicht den Herrn Apollonius
heraufſchicken ſoll.“


Jetzt erſt gelang's Herrn Nettenmair, den Balken,
an dem er ſich hatte feſthalten müſſen, herauf und herunter
zu betaſten, als hab' er ihn nur umfaßt, um ihn zu
unterſuchen. Da er fühlte, ſeine Hände zitterten, gab
er die Unterſuchung auf. Er ſagte ſo grimmig, als
er im Augenblick vermochte: „„Ich komme ſelber hin¬
unter. Wart' Er auf dem Abſatz, bis ich ihn rufe.““
Der Geſell gehorchte. Herr Nettenmair ſchöpfte tief
Athem, als er ſich nicht mehr beobachtet wußte. Aus
dem Athmen ward ein Schluchzen. Jetzt, da der
Seelenkrampf, in dem er ſich ſeit Valentin's Mittheilung
befunden, ſich zu löſen begann, trat erſt der Vater¬
ſchmerz hervor, den die leidenſchaftliche Anſtrengung
[221] für die Ehre des Hauſes bisher nicht zu Worte hatte kom¬
men laſſen. Er fand nun erſt Zeit, das Unglück
des rechtſchaffenen Sohnes zu beweinen, als ſich zeigte,
es hatte ihn nicht getroffen. Aber es fiel ihm ein,
der brave Sohn ſchwebte noch immer in der gleichen
Gefahr, ſo lang der ſchlimme ſich in ſeiner Nähe be¬
fand. Auch dieſen Fall hatte er in ſeinem Plane vor¬
geſehn und ſich geſagt, was er dann thun müſſe. Die
bisherige Kraft, die nur eine angemaßte war, hätte
ihn mit dem Krampfe verlaſſen, galt es nicht noch
immer die Rettung des braven Sohns und die Ehre
ſeines Hauſes. Er taſtete ſich nach der Dachlucke hin.
Fritz Nettenmair war unterdeß aus ſeiner Betäubung
wieder erwacht und es war ihm gelungen, aufzuſtehn.
Der alte Herr hieß ihn von der Rüſtung hereintreten
und ſagte: „Morgen vor Sonnenaufgang biſt du nicht
mehr hier. Sieh, ob du in Amerika wiederum ein
anderer Menſch werden kannſt. Hier biſt du in Schande
und bringſt Schande. Nach mir gehſt du heim; Geld
ſollſt du haben; und machſt dich fertig. Du haſt ſeit
Jahren nichts für Weib und Kind gethan; ich ſorge
für ſie. Vor Tagesanbruch biſt du auf dem Weg.
Hörſt du?“ Fritz Nettenmair wankte. Eben noch hatte
er dem unausweichlichen Tode in die Augen geſehn;
nun ſollte er leben! Leben, wo Niemand wußte, was
er gethan, wo ihn nicht jedes zufällige Geräuſch mit
dem Wahnbild des Häſchers ſchrecken durfte. In
[222] dieſem Augenblicke fühlte er ſelbſt das als ein Glück,
daß er fern ſein ſollte von dem Weibe, um das er
Alles gethan, was er gethan, und in deren Anblick er
Tag für Tag Alles mitſehn ſollte, was er gethan;
die ſeine That wußte, von der jeder Blick eine Drohung
war, ihn der Vergeltung zu überliefern. Es graute
ihm vor dem Hauſe, in dem Alles ſtündlich ihn er¬
innern mußte an das, was er unter dem fremden
Himmel ganz zu vergeſſen hoffte, und ſich vormachte,
durch ein neues Leben abbüßen zu wollen. Am liebſten
wär' er ſogleich unmittelbar von der Stelle, wo er jetzt
ſtand, dem Rettungshafen zugeeilt. „Apollonius iſt
nicht geſtürzt,“ fuhr der Alte fort und Fritz Netten¬
mairs ganzer neuer Himmel verſank. Das alte Ge¬
ſpenſt hatte ihn wieder in ſeinen Fäuſten. Nun liebte
er wieder das Weib, das zu fliehen er eben noch ſich
gefreut. Mit dem Gegenſtande ſeines Haſſes lebte
der Haß und die Liebe wieder auf, und beide waren
Höllenflammen. Er meinte, Alles habe er gekonnt;
Sterben war ein Scherz, lag nur auch der Neben¬
buhler todt. Gewiſſensangſt, das drohende Jenſeits,
Alles war erträglich, nur Eins nicht: ſie in ſeinen
Armen zu wiſſen. Der Alte hatte des Sohnes Ja er¬
wartet. „Du gehſt,“ ſagte er, als dieſer ſchwieg.
„Du gehſt. Du biſt morgen vor Tag noch auf dem
Weg nach Amerika, oder ich bin auf dem Weg in die
Gerichte. Soll Schande ſein, ſo iſt's beſſer bloße
[223] Schande, als Schande und Mord. Denk', ich hab's
geſchworen, und nun thu', was du willſt.“ Der alte
Herr rief den Geſellen herauf und ließ ſich heimführen.


Unterdeß war das Gerücht, das dem alten Herrn
auf ſeinem Wege nach Sankt Georg begegnet war,
auch in die Straße gekommen, wo das Haus mit den
grünen Laden ſteht. Vor den Fenſtern erzählte es ein
Vorübergehender einem andern. Die Frau hörte nichts
als: „Wißt ihr's ſchon? In Brambach iſt ein Schiefer¬
decker verunglückt.“ Dann ſank ſie vom Stuhle, von
dem ſie aufſpringen wollte, auf die Dielen. Wiederum
mußte der alte Valentin ſeinen Schmerz um Apollonius
über der Angſt und Sorge um die Frau vergeſſen.
Er eilte hinzu. Den Fall ganz verhindern konnte er
nicht, nur den Kopf der Frau vor der ſcharfen Kante
des Stuhlbeins bewahren, woran dieſer ſonſt anſchla¬
gend ſich verletzt hätte. Da ſaß er neben der liegenden
Frau auf den Füßen und hielt in den zitternden Hän¬
den Nacken und Kopf der Frau. Von ſeinem Griffe
war ihr das volle dunkelbraune Haar über der Stirne
aufgegangen und verdeckte das bleiche Geſicht. Ihre
vorderen Haare hatten einen Drang, ſich in natür¬
lichen Locken zu kräuſeln, den ſie durch das ſcharfe
Anziehen der Scheitel nur vorübergehend überwinden
[224] konnte. Es war, als hätten ſie die Ohnmacht ihrer
Beſitzerin benutzt, ihm nachzugeben. Der alte Valentin
machte ſich die Hände frei, indem er ihre Laſt vorſichtig
leiſe auf den Boden gleiten ließ, und verſuchte die
Haare aus dem Geſicht zu ſtreichen. Er mußte ſehn,
ob ſie noch lebe. Das verurſachte ihm lange Zeit ver¬
gebliche Mühe; die Angſt machte ſeine alten Hände
noch ungeſchickter; dazu kam die eigene Scheu, die
einen alten Junggeſellen unerbittlich in ſo enger weib¬
licher Nähe befängt; und der Eigenſinn der Haare,
die immer wieder im krauſen Gelock über dem Geſichte
zuſammenſchlugen. Der Hals- und der Schläfenpuls
wehrten ſich dagegen, er ſah, wie ſie die Haare mit
ihren Schlägen bewegten und faßte wieder Hoffnung.
Auf dem Tiſch ſtand eine Flaſche mit Waſſer; er goß
ſich davon in die hole Hand und ſpritzte ihr es auf
Haare und Geſicht. Das wirkte. Sie machte eine
Bewegung; er half ihr den Oberleib aufrichten und
ſtützte ihn. Sie ſtrich ſich nun ſelbſt die widerſtreben¬
den Haare aus dem Geſicht und ſah ſich um. Ihr
Blick hatte etwas ſo Fremdes, daß der Valentin von
Neuem erſchrack. Dann nickte ſie mit dem Kopfe und
ſagte mit leiſer Stimme: „Ja.“ Valentin verſtand,
ſie ſagte ſich, ſie habe die ſchreckliche Nachricht gehört
und nicht geträumt. An dem Ton ihrer Stimme hörte
er, ſie ſagte ſich wohl, was geſchehn, aber ſie begriff
es nicht. Es war, als ginge es nicht ſie an, was ſie
[225] ſich ſagte, und als beſänne ſie ſich, wen wohl es be¬
treffen möge. Sie ahnte wohl, es war Schreck und
Schmerz, wenn ſie dahinter kam, aber ſie wußte in
dem Augenblicke nicht, was Schreck iſt und Schmerz;
ein traumhaftes Vorausgefühl von Händezuſammen¬
ſchlagen, Erbleichen, Umſinken, Aufſpringen, hände¬
ringendem Umhergehn, Müdigkeit, die auf jeden Stuhl,
an dem ſie vorbeiwankt, niederſinken möchte, und doch
weiter getrieben wird, von fortwährendem wilden Zu¬
rückbäumen und wieder matt nach vorn auf die Bruſt
Sinken des Kopfes; ein traumhaftes Vorausgefühl
von alle dem wandelte in der Stube vor ihr wie ihr eigenes
undeutliches fernes Spiegelbild hinter einem bergenden
Florſchleier. Näher und unterſcheidbarer war ein
dumpfer Druck über der Herzgrube, der zum ſtechenden
Schmerze wuchs, und das angſtvolle Wiſſen, er müſſe
ſie erſticken, könne ſie das Weinen nicht finden, das
Alles heilen müſſe. So ſaß ſie lange regungslos und
hörte nichts von alle dem, was der alte Valentin in
ſeiner Angſt ihr vorſprach. Es war nichts daran ver¬
loren; der Alte glaubte ſelbſt nicht an ſeine Troſt¬
gründe, wenn er ihr beweiſen wollte, Apollonius könne
nicht verunglückt ſein; er ſei zu vorſichtig dazu und zu
brav. Und vollends die Geſchichte aus ſeiner Jugend,
wo ſich Leute, die nun lange todt ſind, von einem ähn¬
lichen Gerüchte vergeblich hatten ſchrecken laſſen! Er
wußte es und erzählte doch immer fort und beſchrieb
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 15[226] die Perſonen, als müßte es die Frau unfehlbar beruhi¬
gen, wenn ſie den alten Amtmann Kern und ſeine
Haushälterin vor den Augen ihres Geiſtes ſähe, wie
ſie damals leibten und lebten. Er hätte ſein Leben
hingegeben, um ihr zu helfen; er wußte in ſeiner
Rathloſigkeit nicht, wie? ſo ſuchte er ſich ſelbſt über
die Angſt des Augenblicks durch immer eifrigeres Er¬
zählen hinauszuhelfen. Dabei belauſchte er jede kleinſte
Bewegung in den Zügen des bleichen ſchönen Geſichtes;
und je ſchöner und jugendlicher es ihm vorkam, deſto
ſchwerer ſchien ihm, was ſie litt, und deſto eifriger
wurde ſein Erzählen. Als eine ſiebenzehnjährige Braut
hatte er ſie in das Haus mit den grünen Laden ein¬
ziehn ſehn, acht Jahre hatte er in ihrer Nähe gelebt.
Die bis in ihr vier und zwanzigſtes ein innerlich un¬
berührtes, heiter mit den Dingen ſpielendes Kind ge¬
weſen, was hatte ſie in den letzten zwei Jahren erduldet!
Und wie ſchön war ſie immer geblieben in ihrem
Dulden, wie ſchön hatte ſie geduldet! Nun lag ſie
zerbrochen als halb aufgeſchloſſene Blume vor ſeinen
alten Augen da, die ſo oft um ſie geweint, mehr über
die Milde und unbewußte, unzerſtörbare Hoheit, womit
ſie ihr Unglück trug, als über ihr Unglück ſelbſt. Es
gibt rührende Geſtalten, die die Angſt, die ſelbſt der
Zorn nicht entſtellt; die in all ihrem Thun, ſelbſt in
ihrem Lächeln, ſelbſt in ihrer lauten Freude uns be¬
wegen, deren Anblick uns rührt, ohne daß wir an einen
[227] Schmerz, an ein Leiden bei ihrem Anſchaun denken
müſſen. Es iſt auch keine ſchmerzliche Rührung, die
wir da empfinden; und der Schmerz ſelbſt hat auf
ſolchem Geſicht eine wunderbare Kraft, uns zugleich
zu tröſten und rührend zu erheben, indem er uns zum
tiefſten Mitleid mit ſeinem Träger dahinreißt. Als eine
ſolche Geſtalt hatte Chriſtiane, ſo lang er ſie kannte,
vor des alten Valentin Augen geſtanden, als eine ſolche
lag ſie jetzt vor ihm da.


Endlich hatte ſie das Weinen gefunden. Der alte
Valentin lebte wieder auf; er ſah, ſie war gerettet.
Er las es in ihrem Geſichte, das, ſo ehrlich wie ſie
ſelbſt, nichts verſchweigen konnte. Er ſaß und hörte mit
ſo freudiger Aufmerkſamkeit auf ihr Weinen, als wär's
ein ſchönes Lied, das ſie ihm vorſänge. In den Augen¬
blicken, wo der Menſch der ſtärkeren Natur ſich ohne
Abzug hingeben muß, erkennt man am ſicherſten ſeine
wahre Art. Was von Thierheit im Menſchen unter
der hergebrachten Schminke ſogenannter Bildung oder
vorſätzlicher Verſtellung verborgen lag, tritt dann un¬
verholen hervor in den Bewegungen des Körpers und
in dem Ton der Stimme. Der alte Valentin hörte
die reine Melodie in Chriſtianens Stimme im hinge¬
goſſenen Weinen, welche ſie nach dem Schlag über Aenn¬
chen's Bett im Doppelſchrei von Schmerz und Entrüſtung
nicht verloren hatte. Sie hatte ſich ausgeweint und
erhob ſich; der alte Valentin hätte ihr nicht zu helfen
15 *[228] gebraucht. Sie machte ſich zum Ausgehn fertig. Ihr
Weſen hatte etwas feierlich Entſchiedenes angenommen.
Valentin ſah's mit Erſtaunen und Sorge. Ihm fiel
ſeine Verantwortlichkeit ein. Er fragte ängſtlich, ſie
wolle doch nicht fort? Sie nickte mit dem Kopfe.
„Aber ich darf ſie nicht fortlaſſen,“ ſagte er. „Der
alte Herr hat mir's mit Ketten auf die Seele gebun¬
den.“ „„Ich muß,““ ſagte ſie. „„Ich muß in die
Gerichte. Ich muß ſagen, daß ich ſchuld bin. Ich
muß meine Strafe leiden. Der Großvater wird ſich
meiner Kinder annehmen. Ich möchte den Herrn ſagen,
ſie ſollen ihn zu dem Aennchen legen; er hat's ſo lieb
gehabt. Ich möchte auch dabeiliegen, aber das werden
ſie nicht thun. Nein, davon will ich nichts ſagen.““
Valentin wußte nicht, was er erwiedern ſollte. Er
durfte ſie nicht fortlaſſen und ſah an ihrer Entſchieden¬
heit, er würde ſie nicht aufhalten können. „Wenn nur
der alte Herr erſt da wäre!“ dachte er. Er ſagte:
„Thäten ſie dem alten Valentin nichts auf der Welt
zu lieb?“ Sie ſah ihn aus ihrem Schmerze freundlich
an und entgegnete: „„Wie ihr fragen könnt! Ihr
habt ihn immer lieb gehabt und das vergeß' ich euch
nicht, ſo lang ich noch lebe. Er iſt geſtorben und ich
muß auch ſterben. Kann ich euch noch etwas thun,
eh' ich gehen muß, ſo dürft ihr's nur ſagen. Wenn
ich's auch thun kann und wenn ihr nicht verlangt,
daß ich nicht gehen ſoll.““ „Nein,“ ſagte der Alte.
[229] „Das nicht. Aber wenn Sie nur ſo lang bleiben
wollten, bis der alte Herr zurückkommt, daß ich meiner
Verantwortlichkeit ledig bin.“ Dem Alten war's nicht
allein um ſich zu thun. Er hoffte zugleich, der alte
Herr würde in ſeiner Geiſtesgegenwart ein Mittel
finden, wodurch ſie von ihrem Vorhaben abzubringen
ſei. Die Frau nickte ihm zu. „„So lang will ich
warten,““ entgegnete ſie. Den Alten trieb Sorge und
Hoffnung hinaus, zu ſehn, ob Herr Nettenmair noch
immer nicht komme. Chriſtiane holte ihr Geſangbuch
vom Pulte und ſetzte ſich damit an den Tiſch.


Der Valentin blieb länger aus, als er ſelbſt gedacht
hatte. Als er wieder hereinkam, war er nicht mehr
der, der vorhin hinausgegangen. Er war verwirrt
und verlegen, aber ganz anders verwirrt als vorhin.
Er ſtand immer im Begriff, etwas zu thun oder zu
ſagen, worüber er erſchrack, und etwas anderes that
oder ſagte und wiederum ungewiß ſchien, ob er nicht
auch darüber erſchrecken ſollte. Immer, und wenn er
gar nichts geſagt hatte, meinte er, er habe zuviel ge¬
ſagt. Manchmal war's, als ob er lachte; dann ſah er
wieder deſto trauriger aus. Und das paßte nicht zu
dem, was er ſprach; denn er redete vom Wetter. Da¬
zwiſchen machte er ſich viel an der Thür zu ſchaffen,
die er immer wieder einmal öffnete; zuletzt blieb er im
Hausflur ſtehn, wo er den Gang nach dem Schuppen
hin überſehen konnte; und es waren die wunderlichſten
[230] Vorwände, durch die er all dieſe Thätigkeiten recht¬
fertigte. Die junge Frau bemerkte erſt die Veränderung
nicht, dann beobachtete ſie ihn verwundert und immer
ahnungsvoller. Zuletzt hatte er ſie angeſteckt mit ſeinem
Weſen. Wenn er unwillkührlich lachte, glühte ſie in
Hoffnung auf, wenn er dann ſein trauriges Geſicht
machte, drückte ſie die Hände zuſammen und wurde
wieder bleich. Sie folgte ſeinen Augen, ihm ſelbſt
nach der Thür und erſchrack, ſo oft er ſie öffnete.
Dabei ſprachen ſie immer vom Wetter; wären ſie ruhig
geweſen, ſie hätten über ihre eigenen Reden lachen
müſſen; aber man ſah, er fürchtete ſich, etwas zu ſagen,
ſie fürchtete ſich, nach dem Etwas zu fragen. Zuletzt
preßte ſie beide Hände bald gegen das Herz, das das
Mieder durchſchlagen wollte, bald gegen die brennenden,
hämmernden Schläfe. Der Alte meinte ſie endlich vor¬
bereitet genug, das Wetter fahren zu laſſen. „Ja,“
ſagte er, „es iſt ein Tag, wo die Todten aufſtehen
möchten, und wer weiß — aber thun Sie mir noch
das zulieb und erſchrecken Sie nicht.“ Sie erſchrack
dennoch. Sie ſagte zu ſich: „Aber es iſt ja nicht
möglich!“ Und ſie erſchrack doch eben, weil es mehr
als möglich, weil es gewiß war. „Da ſehn Sie ein¬
mal dahinter,“ ſchluchzte der Alte, der nur lachen
wollte. Sie ſah den Gang hin; ſie hatt' es gethan,
eh' der Alte ſie dazu aufforderte. Der alte Valentin
eilte aus der Vorderthür, dem alten Herrn die Freuden¬
[231] poſt zu bringen; ſelig und ſtolz auf ſein klug durchge¬
führtes Werk. Die junge Frau hielt ſich feſt an dem
Thürpfoſten, als ſie den Schritt hörte durch den Schuppen.
Aber auch der Thürpfoſten ſtand nicht mehr feſt. Sie
ſelbſt nicht mehr auf dem feſten Boden; ſie ſchwindelte
zwiſchen Himmel und Erde. Und als ſie ihn kommen
ſah, war nichts mehr auf der Welt für ſie, als der
Mann, um den ſie wochenlang mehr als Todesangſt
geduldet. Alles ging um ſie im Wirbel, erſt die Wände,
der Boden, die Decke, dann Bäume, Himmel und
grüne Erde; ihr war, als ginge die Welt unter und
ſie würde erdrückt im Wirbel, hielte ſie ſich nicht
feſt an ihm. Sie fühlte, wie ſie hinſank, dann
nichts mehr.


Apollonius war herzugeeilt und hatte ſie aufgefan¬
gen. Da ſtand er, und hielt das ſchöne Weib in ſei¬
nen Armen, das Weib, das er liebte, das ihn liebte.
Und ſie war bleich und ſchien todt. Er trug ſie nicht
in die Stube, er ließ ſie nicht herabgleiten auf die
Erde, er that nichts, ſie zu beleben. Er ſtand ver¬
wirrt; er wußte nicht wie ihm geſchehen war, er
mußte ſich beſinnen. Der alte Valentin hatte ihn noch
nicht geſprochen; er hatte nur durch den Geſellen, der
vom Blechſchmidt nach Sankt Georg eilte, erfahren,
Apollonius folge ihm, und werde bald hier ſein. Apol¬
lonius war vom Nagelſchmied am Thore aufgehalten
worden. Dann hatte er geeilt, dem Befehle des Va¬
[232] ters nachzukommen. Daß ihn der Vater rufen ließ,
hatte ihn befremdet; er konnte ſich nicht denken,
warum. Von dem Sturze eines Schieferdeckers in Tam¬
bach hatte er gehört, aber er wußte nicht, daß das
Gerücht die Ortsnamen verwechſelt hatte, und daß Je¬
mand glauben könnte, ihn habe das Unglück getroffen.
So gänzlich unvorbereitet auf das, was ihm der
nächſte Augenblick bringen ſollte, war er durch den
Schuppen gekommen. Er wollte ſogleich zu dem Va¬
ter aus deſſen Stübchen, da hatte er die junge Frau
den Gang herſtürzen und mit dem Umſinken kämpfen
ſehn und war ihr entgegengeeilt. Und nun hielt er
ſie in den Armen. Die Geſtalt, die er, ſchmerzlich
mühſam und doch vergebens, ſeit Wochen von ſich ab¬
zuwehren gerungen, deren bloßes Gedankenabbild all'
ſein Weſen in eine Bewegung brachte, die er ſich als
Sünde vorwarf, lag in ſchwellender, athmender, laſten¬
der, wonneängſtigender Wirklichkeit an ihn hingegoſſen.
Ihr Kopf lehnte rückwärts geſunken über ſeinen linken
Arm; er mußte ihr in das Antlitz ſehn, das ſchöner,
gefährlich ſchöner war, als ſeine Träume es malen
konnten. Und jetzt überflog ein Roſenſchein das weiße
Antlitz bis in die weichen braunen Haare, die in den
wilden, ſelbſtgeſchlungenen Locken über die Schläfe
hinabrollten, die tiefen blauen Augen öffneten ſich, und
er konnte ihrer Gewalt nicht entfliehn. Und nun ſah
ſie ihn an und erkannte ihn. Sie wußte nicht, wie
[233] ſie hierher und in ſeine Arme gekommen, ſie wußte
nicht, daß ſie in ſeinen Armen lag; ſie wußte nichts,
als daß er lebte. Wie konnte ſie noch einen Gedanken
denken neben dem! Sie weinte und lachte zugleich, ſie
umſchlang ihn mit beiden Armen, um ſeiner gewiß zu
ſein. Und doch fragte ſie noch in angſtvoll drängen¬
der Haſt: „Und biſt du's denn auch? Biſt du's auch
gewiß? Und lebſt noch? Und biſt nicht geſtürzt? Und ich
habe dich nicht getödtet? Und du biſt's? Und ich bin's?
Aber er — er kann kommen!“ Sie ſah ſich wild um. „Er
will dich tödten. Er wird nicht eher ruhn.“ Sie umfaßte
ihn, als wollte ſie ihn mit ihrem Leibe decken gegen einen
Feind; dann vergaß ſie die Angſt über der Gewi߬
heit, daß er noch lebte, und lachte wieder und weinte
zugleich und fragte ihn wieder, ob er auch noch lebe,
ob er's auch ſei. Aber ſie mußte ihn ja warnen. Sie
mußte ihm Alles ſagen, was Jener ihm gethan, und
was er ihm noch zu thun gedroht. Sie mußte es
ſchnell; jeden Augenblick konnte Jener kommen. War¬
nung, ſüß unbewußtes Liebesgeſchwätz, Weinen, La¬
chen; Seligkeit, Angſt, Schmerz um das verlorene
Glück; Anklage wie des Kindes beim Vater; das Be¬
dürfniß der Liebe, mit Allem, was ſie iſt, was ſie
freut, was ſie bekümmert, ein Gedanken ſeines Gei¬
ſtes, ein Gefühl ſeiner Seele zu ſein, das er denkt und
fühlt wie ſeine andern; bräutliche Verwirrung und Ver¬
geſſen der ganzen Welt über den einen Augenblick, der ihr
[234] eigentliches Daſein iſt, — denn Alles, was war und
werden kann, iſt blos Schatten; was ſie erzählt, hat
ſie geträumt; und erlebt, fühlt und weiß es erſt jetzt;
was geweſen iſt und kommen wird, iſt geweſen und
kommt nur, damit dieſer Augenblick ſein kann; vor
und nach dieſem Augenblick iſt die Zeit zu Ende; — al¬
les das durchdrang ſich, alles das zitterte zugleich
in jedem einzelnen Klang der fliegenden, ſich preſſen¬
den Rede. „Er hat mich und dich belogen. Er hat
mir geſagt, du verhöhnteſt mich und hättſt meine
Blume vor den Geſellen ausgeboten. Ach du weißt's
ja noch, beim Pfingſtſchießen die Blume, das kleine
Glöckchen, das ich liegen ließ. Und du haſt's ihm
geſchickt. Ich hab's geſehn. Ich wußte nicht, warum.
Du haſt mich gedauert. Daß du ſo ſtill warſt und
trüb und ſo allein, das hat mir weh gethan. Da hat
er mir beim Tanz geſagt, du hätteſt deinen Spott
über mich. Da gingſt du in die Fremde und er hat
mir geſagt, wie du in deinen Briefen über mich ſpot¬
teſt; das that mir weh. Du glaubſt nicht, wie weh
mir das that, wenn ich ſchon nicht gewußt hab', wa¬
rum. Der Vater wollte, ich ſollte ihn frein. Und wie
du kamſt, hab ich mich vor dir gefürchtet; du haſt mich
immer noch gedauert und ich hab' dich immer noch
geliebt und wußt' es nur nicht. Er ſelbſt hat mir's
erſt geſagt. Da bin ich dir ausgewichen. Ich wollte
nicht ſchlecht werden und will's auch nicht. Gewiß
[235] nicht. Dann hat er mich gezwungen, zu lügen. Dann
hat er mir gedroht, was er dir thun wollte. Er wollte
machen, daß du ſtürzen müßteſt. Es wär' nur Scherz,
aber, ſagt' ich's dir, dann wollt' er's im Ernſte thun.
Seitdem hab' ich keine Nacht geſchlafen; die ganzen
Nächte hab' ich aufgeſeſſen im Bett und bin voll To¬
desangſt geweſen. Ich hab' dich in Gefahr geſehn
und durft' es dir nicht ſagen und durfte dich nicht ret¬
ten. Und er hat die Seile zerſchnitten mit der Axt in
der Nacht, eh' du nach Brambach gingſt. Der Va¬
lentin hat mir's geſagt, der Nachbar hat ihn in den
Schuppen ſchleichen ſehn. Ich hab' dich todt gemeint
und wollte auch ſterben. Denn ich wär' Schuld gewe¬
ſen an deinem Tod und ſtürbe tauſendmal um dich.
Und nun lebſt du noch und ich kann's nicht begreifen.
Und es iſt Alles noch wie es war; die Bäume da,
der Schuppen, der Himmel, und du biſt doch nicht
todt. Und ich wollte auch ſterben, weil du todt warſt.
Und nun lebſt du noch, und ich weiß nicht, iſt's wahr
oder träume ich's nur. Iſt's denn wahr? Sag' du
mir's doch: iſt's wahr? Dir glaub' ich Alles, was du
ſagſt. Und ſagſt du, ich ſoll ſterben, ſo will ich's,
wenn du's nur weißt. Aber er kann kommen. Viel¬
leicht hat er gelauſcht, daß ich dir's ſagte, was er will.
Schick' den Valentin in die Gerichte, daß ſie ihn fort¬
führen und er dir nichts mehr thun kann!“

[236]

So ſchwärmte, lachte und weinte das fiebernde
Weib in ſeinen Armen fort. Alles vergeſſen, wie ein
Kind an einem Abgrund ſpielend, den es nicht ſieht,
ruft ſie unbewußt eine Gefahr herbei, tödtlicher als
die, über deren Vorbeigehen ſie jubelt, drohender als
die, wogegen ſie den Mann mit ihrem Leibe decken
will. Sie ahnt nicht, was ihr leidenſchaftlich Thun,
die Süßigkeit ihrer unbekümmerten Hingebung, was
ihre Liebkoſungen, was ihr warmes, ſchwellendes Um¬
fangen in dem Manne aufregen muß, der ſie liebt;
daß ſie Alles thut, was den Mann, deſſen Rechtlich¬
keit und Edelmuth ſie ſich ſo unbekümmert anheim
giebt, Rechtlichkeit und Edelmuth im Tumulte des Blu¬
tes vergeſſen machen kann. Sie hat keine Ahnung,
welchen Kampf ſie in ihm entzündet, und wie ſie ihm
den Sieg erſchwert, wenn nicht unmöglich macht. Und
er weiß nun, das Weib in ſeinen Armen war ſein;
der Bruder hat ihn um ſie und ſie um ihn betrogen.
Jetzt weiß er's, wo das Weib in ſeinen Armen ihm
die Größe des Glückes zeigt, um das der Bruder ihn
betrogen hat. Er hat ſie geraubt und noch mißhan¬
delt; und für Alles, was er um ihn gelitten, gethan,
verfolgt er ihn noch und ſteht ihm nach dem Leben.
Gehört das Weib dem, der ſie ihm geſtohlen, der ſie
mißhandelt, den ſie haßt? Oder ihm, dem ſie ſchänd¬
lich geſtohlen worden iſt, der ſie liebt, den ſie liebt?
[237] Das Alles waren nicht deutliche Gedanken; hundert
einzelne Empfindungen, die, in den Strom Eines tiefen
und wilden Gefühls hingeriſſen, durch ſeine Adern ſtürz¬
ten und die Muskeln ſeiner Arme ſpannten, etwas,
das ſein iſt, an ſein Herz zu preſſen. Aber eine dunkle
Angſt drängt dem Strom entgegen und hält die Mus¬
keln wie im Starrkrampfe feſt. Das Gefühl, er will
etwas thun, und iſt ſich nicht klar, was es iſt, wohin
es führen kann; eine ferne Erinnerung, daß er ein
Wort gegeben hat, das er brechen wird, läßt er ſich
fortreißen. Die dunkle Vorſtellung, als ſtehe er wie
an ſeinem Tiſche, und, bewegt er ſich, eh' er ſich um¬
geſehn, könn' er etwas wie ein Tintenfaß auf etwas
wie Wäſche oder ein werthvolles Papier werfen; all'
dem lag die angſtvolle Vorahnung zu Grunde, er
könne mit Einer Bewegung Etwas verderben, was
nicht wieder gut zu machen ſei. Er rang ſchon lange
unter den berauſchenden Tönen nach Etwas, eh' er
wußte, daß er rang, und daß dies Etwas die Klarheit
war, das Grundbedürfniß ſeiner Natur. Und nun kam
ſie ihm und ſagte: „das Wort, das du gegeben haſt,
iſt, die Ehre des Hauſes aufrecht zu erhalten, und was
du thun willſt, muß ſie zernichten.“ Er war der
Mann und mußte für ſich und ſie einſtehn. Sie
brandmarkte den Verrath, den er mit einem Drucke, mit
einem Blicke, an dem rührenden unbedingten Vertraun
üben würde, das aus des Weibes Hingebung ſprach,
[238] mit aller Schmach, die ſie fand. Sie zeigte ihm die
Reinheit des Geſichtes, das an ſeinem Herzen lag und
ſchwärmend zu ihm aufſah, und wie er mehr an ihr
und an ſich ſelbſt verderben würde, als um was er ihren
und ſeinen Feind anklagte. Noch ſtand die heilige Scheu
ſchützend zwiſchen ihm und ihr, die ein einziger Druck,
ein einziger Blick, für immer verſcheuchen konnte. Und
doch ſah er angſtvoll nach einem Helfer ſich um. Wenn
nur Valentin käme! Dann mußt' er ſie aus ſeinen
Armen laſſen. Valentin kam nicht. Aber die Scham
über ſeine Schwäche, die die Hülfe außen ſuchte,
wurde zum Helfer. Er legte die Kraftloſe ſanft auf
den Raſen. Als er die weichen Glieder aus den Hän¬
den ließ, verlor er ſie erſt. Er mußte ſich abwenden
und konnte einem lauten Schluchzen nicht wehren. Da
ſah der jüngſte Knabe neugierig in den Hof. Er eilte
hin, hob das Kind in ſeine Arme, drückte es an ſein
Herz und ſtellte es zwiſchen ſich und ſie. Es war
eigen; mit dem Drucke, mit dem er das Kind an ſein
Herz gedrückt, entband ſich der wilde Drang und nun
erſt löſ'ten ſich die geſpannten Muskeln. Er hatte ſie
in dem Kinde an ſein Herz gedrückt, wie allein er ſie
an ſein Herz drücken durfte. Die Frau ſah ihn den
Knaben zwiſchen ſich und ihn ſtellen und verſtand ihn.
Glühende Röthe ſtieg ihr bis unter die wilden braunen
Locken. Sie wußte nun erſt, daß ſie in ſeinen Armen
gelegen, daß ſie ihn umfaßt hatte und mit ihm geſpro¬
[239] chen, wie es nur erlaubte Liebe darf. Sie ſah nun
erſt die Gefahr, an deren Abgrund ſie ihn und ſich
geſtellt. Sie richtete ſich auf den Knieen auf, als
wollte ſie ihn flehn, ſie nicht zu verachten. Zugleich
fiel ihr wieder ein, der Mann konnte ſie belauſcht ha¬
ben und die Drohung noch vollziehn. Dann hatte ſie
ihn durch die Freude über ſeine Rettung erſt verdor¬
ben. Er ſah das Alles und litt es mit ihr. Er hatte
ſich abgekämpft, ihr nicht zu zeigen, was in ihm vor¬
ging; aber der Kampf ſelbſt in ſeinem Innern war
nicht ausgekämpft. Er neigte ſich zu ihr und ſagte:
„Du biſt meine brave Schweſter. Du biſt braver als
ich. Und über uns und deinem Manne iſt Gott.
Aber nun geh hinein, Schweſter, liebe brave Schwe¬
ſter.“ Sie wagte nicht aufzuſehn, aber durch die geſenk¬
ten Lieder ſah ſie ſeine Milde, das tiefe, unausſchöpf¬
bare Wohlwollen, die unvernichtbare Menſchenachtung
auf ſeiner leuchtenden Stirne und um den ſanften
Mund. Und wie er ihr bewußter und unbewußter
Maßſtab war, wußte ſie nun, ſie war nicht ſchlecht.
Und ſie konnt' es auch nicht werden; er trug ſie be¬
wahrt wie die Mutter das Kind auf ſeinen ſtarken,
vorſehenden Armen. Er wuchs ihr, wie ſie ihn durch
die geſenkten Lieder ſah, mit dem Haupte bis an den
Himmel. Sie wußte, daß ihm der Mann nicht ſcha¬
den konnte. Apollonius gab ihr den Knaben in den
Arm und bot die Hand, ſie aufzurichten. Sie bebte
[240] unter der Berührung und wie ſie noch auf den Knieen
lag, ſtieg ihr Gedanke zu ihm auf wie ein Gebet. Er
führte ſie an die Thüre. Vom Schuppen her kam
Herr Nettenmair mit dem Geſellen. Fritz Nettenmair,
der ihnen nachſchlich, ſah noch, wie er ſie führte.


Nichts von alledem, was er heute gewollt und was
er heute gelitten, ſtand in Herrn Nettenmairs ver¬
knöchertem Antlitz zu leſen, als er heimkam. Die junge
Frau und Valentin mußten eine Predigt über grund¬
loſe Einbildungen anhören; denn die Geſchichte hatte
ſich ausgewieſen, wie ſie war, nicht wie ſie der Valen¬
tin zuſammengeängſtelt hatte. Der Reiſe Fritz Netten¬
mairs gedachte er als eines lang von demſelben geheg¬
ten, aber von ihm erſt heute genehmigten Vorhabens.
Apollonius erhielt den Befehl, ſogleich mit den Geſchäfts-
Büchern auf des alten Herrn Stube zu kommen. Der
alte Herr gab vor, er wollte den Stand des Geſchäftes
genau kennen lernen. Sein wahrer Zweck dabei war,
Apollonius ſo lange bei ſich in Sicherheit zu behalten,
bis ſein Bruder abgereiſet ſei. Apollonius konnte,
ohne wegen der nächſten laufenden Ausgaben in Ver¬
legenheit zu kommen, das Geld zu des Bruders Reiſe
bis Hamburg beſchaffen. Dort wußte er einen frühern
Kölner Freund, der ſich in ſehr guten Verhältniſſen
[241] befand, und der, um manche geleiſtete Dienſte zu ver¬
gelten, ihm öfter und noch neulich eine Geldhülfe an¬
geboten hatte. Auf des Vaters Stübchen ſchrieb er
an ihn. Der Freund ſollte dem Bruder einen Platz
auf einem Paſſagierſchiffe beſorgen, ſeine Aufenthalts-
Koſten beſtreiten und ihm, aber nicht eher als unmittel¬
bar vor der Abfahrt eine gewiſſe Summe Geldes
übermachen, alles auf Apollonius Rechnung. Valentin
mußte noch den Abend auf die Poſt, um den Brief
aufzugeben und Fritz Nettenmair einſchreiben zu laſſen.
Der Wagen ging eine Stunde vor Sonnenaufgang
ab; noch eine Stunde früher ſollte Valentin auf dem
Zeuge ſein und ſich bei dem alten Herren melden.


So war das Leben in dem Hauſe mit den grünen
Laden immer ſchwüler geworden. Dieſe Nacht mit
ihrer ſtillen Unruhe glich der angſtvollen Stille, darin
die Kräfte eines Meerſturms ſeinen Ausbruch vorbe¬
reiten. Es war ein eigenes Treiben. Wer in dieſer
Nacht in das Haus hätte hereinſehn können, aber nicht
in die Seelen der Menſchen darin, der wäre aus einer
Befremdung in die andere gefallen. Sonſt, wenn ein
Glied einer Familie zu einer Reiſe ſich rüſtet, von der
es vielleicht nie wieder heimkehren wird, drängen ſich die
Uebrigen um ihn. Je weniger der Augenblicke werden,
die er noch mit ihnen zubringen kann, je tiefer werden
ſie ausgenoſſen. Jahre des gewöhnlichen Miteinander¬
lebens drängen ſich in ihnen zuſammen. Jeder Blick,
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 16[242] jedes Wort, jeder Händedruck wird als ein ewiges
Andenken gegeben [und] genommen. Stundenweit her
kommen die Freunde des Scheidenden, ihn noch ein¬
mal zu ſehn. Nach Fritz Nettenmair ſahn die Leute
im Hauſe nicht. Sie ſchauderten, ihm zu begegnen,
als wär' er ein ſchreckendes Geſpenſt. Und wie ein
ſolches ſchlich er darin umher und wich den Menſchen
aus, wie ſie ihm. Und die Menſchen, denen er aus¬
weicht, die ihm ausweichen, ſind nicht fremde; ſein
Vater iſt's, ſein Bruder, ſein Weib und ſeine Kinder.
Ein Reiſender, der nicht geſehen wird, der ſich nicht
ſehen läßt, der kein Lebewohl gibt und kein Lebewohl
nimmt, und der doch freiwillig reiſt, und deſſen Reiſe
die andern wiſſen und genehmigen!


Apollonius mußte dem alten Herrn die Geſchäfts-
Bücher vorleſen, ein wunderlich zweckloſes Werk!
Denn weder er noch der alte Herr war im Geiſte bei
den Zahlen. Und der alte Herr that noch dazu, als
wiſſe er Alles ſchon. Daß Apollonius die Gefahr
des Hauſes ihm verſchwiegen, erwähnte er natürlich
nicht; von den Gedanken, die ſich bei ihm daran
knüpften, ließ er keinen ſehn. Aus ſeinen diplomatiſchen
Reden, zu denen er ſich bisweilen zuſammenraffte, um
dem Schattenſpiel vor dem Sohne einen Schein der
Wirklichkeit zu geben, konnte man vielleicht errathen,
wenn man genauer aufmerkte, als es Apollonius mög¬
lich war, der alte Herr habe Alles gehen laſſen, um
[243] zu zeigen, wohin es kommen müſſe, zieh' er die Hand
vom Ruder ab, und daß er geſinnt ſei, von nun an
ſelbſt wieder das Schiff zu leiten. Dazwiſchen fragte
er den Sohn einmal wie beiläufig, ob er etwas Ge¬
naueres von dem Verunglückten in Tambach wiſſe.
Apollonius konnte ihm ſagen, er kenne den Mann;
es ſei derſelbe ungemüthliche Geſell, der vordem bei
ihnen geweſen. „So?“ ſagte der alte Herr gleich¬
gültig. „Und weiß man, was die Urſache war?“
Apollonius hatte gehört, das Seil, das über dem
Verunglückten geriſſen, ſei ein faſt neues, aber es müſſe
an der Stelle des Riſſes rundum mit einem ſcharfen
ſpitzen Werkzeug durchſchnitten geweſen ſein. Der alte
Herr erſchrack. Er ahnte einen Zuſammenhang, auf
den auch Andere kommen konnten. Valentin, wußte
er, hatte vorhin beredet, der Arbeiter, der den Karrn
mit dem Handwerkszeuge nach Brambach gefahren,
müſſe auf dem Rückweg ein Anſchleifeſeil verloren
haben. Apollonius hatte den Valentin damit beruhigt,
er habe das Seil in Brambach verliehn. Der alte
Herr war nun überzeugt, auch Apollonius müſſe einen
Zuſammenhang ahnen, wenn nicht mehr, als nur ahnen;
und habe durch die Antwort an Valentin ihn den
Augen des alten Geſellen entziehen wollen. Er ſah,
daß Apollonius in ſeinem, des alten Herren Geiſte
verfuhr. Von dieſer Seite war alſo nichts zu fürchten.
Aber es konnten Umſtände im Spiele ſein, die trotz
16 *[244] Apollonius' Vorſicht eine Entdeckung herbeizuführen
drohten. Er ließ ſeine Zurückhaltung, ſo ſchwer dies
ihm fiel, diesmal beiſeite, und Apollonius mußte, ge¬
fragt, ſagen, was er wußte. Es war Folgendes.
Den erſten Tag hatte Apollonius in Brambach nur
die Leiter gebraucht. Der Geſelle war in dem Wirths¬
haus geweſen, als er ankam. Denſelben Abend noch
hatte er ihn über den Hof ſchleichen ſehn. Am andern
Morgen fehlte das Seil. Er hatte ſogleich Verdacht
auf den Geſellen, aber nach ſeiner gewiſſenhaften Weiſe
zögerte er, ihn auszuſprechen. Auf dem Heimwege,
vor dem Thor der Stadt, erfuhr er das Unglück, das
ihn getroffen. Zugleich, daß der Geſell bei keinem
Meiſter geſtanden, ſondern auf eigene Hand die kleine
Reparatur an dem Schieferdache in Tambach unter¬
nommen. Ein Stück des von ihm hinterlaſſenen Hand¬
werkszeugs, ein Zimmerbeil, war ſchon von dem recht¬
mäßigen Beſitzer als ihm entwendet beanſprucht worden.
Bald darauf machte die Warnung Chriſtianens ihn
gewiß, das Seil, durch deſſen Zerreißen der Geſell
verunglückt, war das ſeine. Wie die Sache nun ſtand,
durfte er ſich natürlich nicht zu dem Eigenthumsrechte
daran bekennen; er mußte ſeiner Ehrlichkeit ſogar den
Zwang anthun, durch Erdichtungen fremder Vermuthung
der Wahrheit zuvorzukommen. Der alte Herr gebot
dem Sohne, weiter zu leſen. Apollonius that es, aber
im Geiſte waren Beide wiederum bei andern Dingen.
[245] Apollonius wollte ſich zwingen. Es war ſeiner ſon¬
ſtigen Art ſo geradezu entgegen, nicht mit ganzer Seele
bei der Sache zu ſein, die er trieb. Es gelang ihm
nicht. So griff fremde Zerrüttung auch in dieſe gleich¬
gewichtige, wohlgeordnete Seele herüber. — Endlich
kam Valentin, erhielt das Reiſegeld für Fritz Netten¬
mair und die Anweiſung an den Hamburger Freund
und die Weiſung, des Reiſenden Gepäck nach dem
Poſthofe zu tragen, und etwaigen Auftrages harrend
in ſeiner Nähe zu bleiben, bis er abgefahren ſei.
Eine Stunde ſpäter kam er zurück und hatte den Be¬
fehl vollzogen. Er erzählte, Fritz Nettenmair freue
ſich auf das neue Leben in Amerika. Sie ſollten ſich
wundern über ihn, wenn ſie ihn wiederſähn. Er
konnte kaum die Zeit erwarten. Der alte Herr richtete
ſich innerlich hoch auf; er meinte grimmig, Apollonius
könne vor Schlaf in den Augen nicht mehr leſen, und
ſchickte ihn in's Bett. Das begonnene Werk fortzu¬
ſetzen, müſſe ſich ein andermal Zeit finden.


Und Fritz Nettenmair? Wie war ihm zu Muth
in dieſer Nacht? Als er, ruhelos wie ein gequälter
Geiſt, bald händeringend, bald fäuſteballend den Gang
vom Hauſe nach dem Schuppen und wieder von dem
Schuppen nach dem Hauſe ſchlich? Bald ſchrack er
[246] vor einem fallenden Blatt zuſammen, bald wünſchte
er, das Haus ſtürzte über ihn und begrübe ihn. So
oft er den Weg durch den Gang zurücklegte, ſo oft
bäumte ſich ſeine Seele im wildeſten Trotz empor, ſo
oft ſank ſie in die hingegebenſte Hülfloſigkeit zurück.
Er war entſchloſſen, zu gehn — und ſie dem Geha߬
ten zu überlaſſen? Daß ſie ihn höhnten? Sie hatten
ihn ja ſo weit gebracht, um ihn los zu werden; dann
war ihr einziger Wunſch erfüllt. Nein! er wollte
bleiben! er mußte bleiben! — und dann faßten ihn
wieder die Gerichte — denn der im blauen Rocke
hielt ſein Wort — und ſchloſſen ihn mit Ketten feſt,
und — dann war's daſſelbe. Sie hatten wieder ihren
Zweck erreicht. — Dann bewegte Fritz Nettenmair
heftig die Arme vor ſich hin, als rüttelte er ſchon an
den Gittern des Kerkerfenſters und athmete ſo mühſam,
als erſtickte ihn ſchon der Dunſt der feuchten Wände.
Dann überfiel ihn in plötzlicher Abſpannung das ganze
Bewußtſein ſeines grenzenloſen Elendes, der Jammer
gänzlicher Verlaſſenheit. Goldene Bilder ſtiegen auf;
die verlorene Seligkeit marterte ihn mehr, als die ge¬
wonnene Verdammniß. Da hüpfte er als ſchuldloſes
Kind den Gang hin, dem entlang er jetzt die Ueber¬
laſt ſeines Elends ſchleppte; da waren Menſchen, die
ihn liebten. Wie klang der Mutter Stimme, die ihn
rief, ſo ſüß! Und jetzt liebte ihn Niemand mehr. Die
fremden Menſchen verachteten ihn; die ihn lieben ſoll¬
[247] ten, ſchauderten vor ihm. O nur ein einzig Herz,
dem ſein Scheiden weh thäte, und er ginge und würde
ein anderer Menſch! Jetzt ſieht er jeden freundlichen
Blick, den er nicht beachtet in der Verblendung ſeiner
Leidenſchaft. Das Lächeln um die angſtzuckenden
Lippen des kleinen Aennchens ſteigt vor ihm auf; jetzt
erkennt er die unermüdliche Liebe, die er zurückſtieß,
die immer wiederkam, ſo oft er ſie zurückſtieß, bis er
ihr Gefäß zerbrach; jetzt, wo ſie ihn retten könnte,
wär' ſie nicht todt durch ſeine Schuld; jetzt ergreift ihn
das Mitleid mit dem Kinde mit ſo ſchmerzlicher Ge¬
walt, daß er ſein eigen Elend darüber vergäſſe, wär's
nicht ein Theil davon. Das Aennchen iſt todt, aber
er hat noch Kinder; ſie müſſen ihn lieben, ſie ſind ja
ſein. Sein Herz ſchreit nach einem Liebeswort. Seine
Arme öffnen ſich krampfhaft, etwas, was ſein iſt, an
ſein Herz zu preſſen, damit er weiß, er iſt nicht ver¬
loren; und verloren iſt keiner, der noch einen Menſchen
hat auf der Welt. Mit erneuten Kräften eilt er den
Gang, die Hausflur hindurch, durch Stuben- und
Kammerthür. Ein Nachtlicht, vom Schirm bedeckt, gibt
dem Vater Schein genug, ſeine Kinder zu ſehn. An
dem nächſten kleinen Bette ſinkt er in die Kniee. Ein
längſt verlernter Laut flüſtert durch ſeine Lippen, und
wie ihn dieſe Lippen nie flüſtern gekonnt. „Fritz!“
Er will die Kinder nur einmal an ſein Herz drücken,
[248] ihre Liebe ſehn und — gehn. Gehn und ein anderer
Menſch werden, ein beſſerer, ein glücklicherer! Der
Kleine erwacht; er meint, die Mutter hat ihn gerufen.
Lächelnd öffnet er die großen Augen und — erſchrickt.
Vor dem Mann an ſeinem Bette fürchtet er ſich. Es
iſt ein fremder Mann. Ein ſchlimmerer Mann, als
ein fremder Mann. O nur ein zu bekannter Mann!
Und doch fremder als fremd. Es iſt der Mann, der
das Kind ſo oft zornig angeblickt, der Mann, vor dem
die Mutter ſchützend es in die Kammer ſchloß, weil es
nicht ſehen ſollte, was der Mann ihr that. Und dann
ſtand es zitternd und horchte an der Thür, dann ballten
ſich die kleinen Händchen im ohnmächtigen Zorn. Er hat
ja das Kind ihn haſſen gelehrt, nicht ihn lieben. „Fritz,“
ſagte der Vater voll Angſt: „Ich gehe fort; ich
komme nicht wieder. Aber ich ſchicke dir ſchöne Aepfel
und Bilderbücher und denke jeden Augenblick tauſend¬
mal an dich.“ „„Ich will nichts von dir,““ ſagte der
Knabe furchtſam trotzig. „„Onkel Lonius gibt mir
Aepfel; ich mag deine nicht.““ „Haſt auch du mich
nicht lieb?“ ſagt der Vater mit brechender Stimme
am zweiten Bettchen. Der kleine Georg flieht zum
Bruder in deſſen Bett. Dort halten ſich die Kinder
in Angſt umſchlungen. Dennoch iſt er trotzig, und ſo¬
viel Widerwillen, als ein Kindesauge faſſen kann,
blickt aus dem ſeinen. „„Die Mutter hab' ich lieb, den
[249] Onkel Lonius hab' ich lieb,““ ſagt das Kind; „„dich
mag ich nicht. Laß' uns gehn, ich ſag's dem Onkel
Lonius!““


Fritz Nettenmair lacht im wilden Hohn und ſchluchzt
zugleich im hülfloſen Schmerz. Die Kinder ſind ja
nicht mehr ſein. Er iſt ja ihr Vater nicht mehr. Er
iſt's. Er! Seine Kinder ſind's. Er iſt ihr Vater.
Er, der ihm Alles genommen hat, hat ihm auch die
Kinder genommen. Das, was man dem Elendeſten
läßt. Wenn Er gehn müßte, Er! die Kinder hingen
ſich an ihn. Eher riſſen die Händchen, als daß ſie
ihn ließen. Und das Weib hier, dies ſchöne Weib
mit dem Engelsantlitz, auf das ſelbſt die Lampe liebend
all ihre Strahlen ſammelt und mehr Glanz von ihr
gewinnt, als ſie von der Lampe; dieſes Weib, Sein
Weib, Seins! auch Sein, wie Alles, was einmal
mein war! Sie iſt in ihren Kleidern zu Bett gegan¬
gen; ſie kann die Stunde nicht erwarten, wo ich gehe;
und ging Er, dieſe Roſen würden bleich, ſie flöße ſter¬
bend in ihn hinüber, um nicht getrennt von ihm zu
ſein. Wie ſie auffahren würde, ſagte ihr einer in den
Traum hinein, den ſie von ihm träumt, denn ſie lächelt,
er geht! Er, ihr — Nein! ich will nicht gehn! Nein!
ich kann nicht gehn! Lieber tauſendmal ſterben! Und
er hat ja dem Tode ſchon in's Angeſicht geſehn, vor
Stunden erſt, als er vor dem Vater auf der Rüſtung
hingeſtreckt lag. Es war ein Kinderſpiel, das Sterben,
[250] gegen ſolch ein Leben. Es war — denn auch er war
todt. Es wär' es noch, wär' auch Er noch todt. Und
er wär' an ihr gerächt, an ihr hier mit dem teufliſchen
Engelslächeln; und er wär' an dem Vater gerächt,
der ihn von Beaten riß, von ſeinem guten Engel.
Und an den Knaben, die ihn zurückgeſtoßen, an dem
todten Aennchen, das ihn verderben half und noch
Tag und Nacht ihn quält. Er wäre — aber er war's
ja nicht. Er mußte gehn; er wurde noch elender, als
er ſchon war; und die er haßte, die ihn verdorben,
wurden glücklich durch ſein Gehn. Er machte ſie alle
wieder zu Teufeln, um von ihrem Glanze nicht ver¬
nichtet zu werden. Er haßte in ihnen wieder, was er
an ihnen gethan; er haßte in ihnen ſelbſt die Gewalt,
die er ſich anthun mußte, Teufel in ihnen zu ſehn.
Und brach ihr Glanz dennoch durch die Schwärze, in
die er ſie angſtvoll ſich verſteckte, ſtanden ſie als Engel
über ihm, nun haßte er ſie noch mit dem Neide der
Teufel. Er hatte die Grenze überſchritten, über welche
keine Rückkehr mehr iſt. Wie er die Frau in ihrer
Schönheit dortliegen ſah, trat ihn noch einmal der
Gedanke an, dieſe Schönheit zu vernichten. Aber die
einmal geweckte Erinnerung an den Augenblick, wo er
todtgefaßt vor dem Vater lag und an das, was der
Vater mit ihm wollte, erwies ſich mächtiger und ver¬
trieb ihn. Das Bild des Augenblickes blieb ihm und
tauſchte nur die Perſonen. Er malte es immer farbi¬
[251] ger aus. Und nun war es eine wilde Freude, was
ihn den Gang zwiſchen Haus und Schuppen hin und
hertrieb. Seine Arme bewegten ſich ſo heftig als vor¬
hin, aber es waren nicht Gitterſtäbe, mit denen er
rang. Unterdeß war der Mond aufgegangen. Das
Haus mit den grünen Laden lag ſo friedlich in ſeinem
Schimmer da. Kein Vorübergehender hätte ihm die
Unruh' angeſehn, die es hinter ſeinen Wänden barg;
keiner den Gedanken geahnt, den drinn die Hölle fertig
braute in einem verlorenen Gefäß.


Apollonius hatte ein Sopha in ſeinem Zimmer.
Er war müde vom Wachen und von dem Kampfe, den
die gefährliche Nähe des geliebten Weibes und das
Wiſſen um des Bruders Betrug und empörenden Un¬
dank in ihm entzündet. Neben dieſem war erſt noch
ein anderer Kampf aufgeglommen. Der Vater ſchien
nicht an die böſe Abſicht des Bruders zu glauben.
Vor dem Gedanken, den Arm der Obrigkeit zu ſeinem
Schutze aufzurufen, ſchauderte er zurück. Die Schmach
für die Familie, wenn des Bruders That bekannt
wurde, mußte den Vater tödten. Und vielleicht war
auch des Bruders Seele noch zu retten, wenn es ge¬
lang, ihn zu überzeugen, daß er geirrt. Aber wie?
Wenn er — ihn verſicherte, ihm ſchwur, daß er in der
[252] Frau nur die Schweſter ſehe? Vor einem halben Jahre
noch hätte er das beſchwören können; heute war es
Meineid: heute durfte er es nicht mehr. Er konnte,
wenn der Bruder den entſetzlichen Plan auf ſein Leben
nicht aufgab, die Ausführung deſſelben erſchweren, aber
nicht unmöglich machen. In dem Zuſtande, in wel¬
chem Apollonius ſich jetzt befand, konnte ihm der Tod
eher erwünſcht ſein, als ſchrecklich; dann hatte aller
Kampf, alle Gewiſſenspein, alle Sorge ein Ende;
aber was ſollte aus dem Vater, was aus ihr und
den Kindern werden? Und hatte er ſich nicht das
Wort gegeben, ſie vor Schande und Noth zu bewah¬
ren? Dieſen neuen Kampf beendete die Mittheilung
des Vaters, Fritz wolle nach Amerika. Aber ſie
machte den alten Kampf nur ſchwerer, indem ſie dem
Feinde neue Kräfte gab. Er wußte freilich, daß er
entſchloſſen war, die Wünſche, die er verdammen mußte,
nicht zur That werden zu laſſen. Aber die Wünſche
ſelbſt! Wenn kein äußeres Hinderniß mehr ihrer Er¬
füllung im Wege ſtand, mußte ihre Gewalt da nicht
wachſen? Die Gewiſſensvorwürfe mit ihnen? Und die
Entfernung von dem Orte, wo ſie in der täglichen
Nähe einen unerſchöpflichen Erneuerungsquell hatten,
machte wiederum die Erfüllung des Wortes, das er
ſich gegeben, der Pflicht, die ihm ohne das gegebene
Wort oblag, unmöglich. Er war heftig aufgeregt und
bedurfte Ruhe. Dieſen Vormittag noch mußte er die
[253] Umkränzung des Thurmdaches mit der Blechzier vol¬
lenden, und Fahrzeug, Flaſchenzug, Ring und Leiter
wieder herabnehmen. Sein Tritt mußte feſt, ſein Auge
klar ſein. Für die einzige Stunde, bis der Arbeitstag
begann, wollte er ſich nicht erſt ausziehn und zu
Bett legen. Er hatte ſich bis jetzt des Sophas noch
nicht bedient, darauf zu liegen. Er vermied Alles,
was zur Verweichlichung führen konnte; ein gleich
ſtarker Beweggrund war ſein Bedürfniß geweſen, Dinge
um ſich zu haben, die er liebend hüten, an denen er
bürſten und poliren konnte. Auch in dem Zuſtand von
Verſtörung und Ermüdung, worin er vom Vater kam,
vergaß er dieſe Schonung nicht. Er fuhr unwillkühr¬
lich mit leiſe liebkoſender Hand über den Bezug des
Sophas und ſetzte ſich dann auf den hölzernen Stuhl,
worauf er beim Schreiben ſaß. Hier kam ihm der
Schlaf früher, als er es erwartet. Aber es war kein
Schlaf, wie er ihn bedurfte; es war ein ununterbro¬
chener aufregender Traum. Chriſtiane lag in ſeinen
Armen wie geſtern, er kämpfte wieder, aber diesmal
ſiegte er nicht; er preßte ſie an ſich. Da ſtand der
Bruder neben ihnen, und ſie ſtanden nicht mehr auf
dem Gange zwiſchen Schuppen und Haus, ſondern
oben am Thurmdach auf der fliegenden Rüſtung.
Der Bruder wollte ihm die Beſinnungsloſe aus den
Armen reißen, um ſie zu mißhandeln; er warf im
ſchmerzlichen Zorne dem Bruder Alles vor, was er an
[254] ihm und ihr gethan und im Kampfe um das Weib
ſtieß er ihn von der Rüſtung. Er erwachte. Er wollte
munter bleiben, um den Traum nicht noch einmal
durchträumen zu müſſen. Als er die Augen öffnete,
war es Tag, und Zeit, an die Arbeit zu gehen. Er
war aufgeregter erwacht, als er vom Vater gekommen.
Er ſtand auf. Er hoffte, vor der friſchen Morgenluft,
vor der ernüchternden Wirkung des Waſſers, das er
ſich nach ſeiner Gewohnheit über Kopf und Arme goß,
würden die Bilder des Traumes, welche die Lebhaf¬
tigkeit der alten Wünſche, und damit der Gewiſſens¬
vorwürfe über ſie, noch immer ſteigerten, von ihm in
ſein Stübchen zurückfliehn. Aber es geſchah nicht; ſie
gingen mit ihm und ließen ihn nicht los. Selbſt über
der Arbeit nicht. Immer wehte der Hauch des war¬
men Mundes an ſeiner Wange; immer fühlte er ſich
in ihrem ſchwellenden Umfangen, immer quollen ihm
die leidenſchaftlichen Vorwürfe gegen den Bruder,
der bei ihm ſtand, aus dem Herzen herauf. Er kannte
ſich nicht mehr. Zu den Vorwürfen, die er ſich des¬
halb machen mußte, kam noch die Unzufriedenheit, daß
er ſich nicht mit ſeiner ganzen Aufmerkſamkeit bei der
Arbeit wußte. Sonſt hatte er wie ſeine eigene heitere Tüch¬
tigkeit in ſeine Arbeit mit hineingearbeitet, und dieſe
mußte gut und dauerhaft ausfallen. Heute kam's
ihm vor, als hämmerte er ſeine unrechten Gedanken
hinein, als hämmerte er einen böſen Zauber zurecht,
[255] und die Arbeit könne nicht taugen, nicht haltbar wer¬
den. Der Schieferdecker muß beſonnen arbeiten. Der
Mann, der heut eine Reparatur unternimmt, muß ſich
auf die Berufstreue deſſen, der Jahrzehnte, vielleicht
ein Jahrhundert vor ihm hierſtand, verlaſſen. Die
Ungewiſſenhaftigkeit, die heute einen Dachhacken lieder¬
lich befeſtigt, kann den Braven, der nach fünfzig Jah¬
ren ſeine Leiter an den Hacken hängt und ſie beſteigt,
in den Tod ſtürzen. Es war nicht einzuſehn, daß
eine Nachläſſigkeit, ein Verſehn in der Arbeit, wie er
ſie heute vollendete, eine ſo ſchwere Folge nach ſich
ziehen ſollte, aber ſeine natürliche ängſtliche Genauig¬
keit war noch von ſeinen übrigen Kräften in ihre
krankhafte Spannung mit hineingezogen. Die Ah¬
nung, er hämmere in ſeiner Zerſtreuung ein künftiges
Unheil fertig, drohte als dunkle Wolke hinter dem
Kampfe ſeines Gewiſſens mit den Bildern ſeines ſünd¬
haften Traums.


Er war fertig. Blendend glänzte die neue Blech¬
zier in der Sonne um die dunkle Fläche des Schie¬
ferdachs. Auch der Ring, der Flaſchenzug, das Fahr¬
zeug und die Leiter waren entfernt. Die Arbeiter, die
die Leiter während des Losknüpfens und Herabſteigens
gehalten, waren wieder gegangen. Apollonius hatte
die fliegende Rüſtung und die Stangen, worauf ſie
geruht, vom Dachgebälke abgelöſt und ſtand allein
auf dem ſchmalen Brette, das den Weg vom Balken¬
[256] kreuze nach der Ausfahrthür hin bildete. Er ſtand
ſinnend. Es war ihm, als hätte er irgendwo Nägel
einzuſchlagen vergeſſen. Er ſah in die Schiefer- und
Nagelkaſten ſeines Fahrzeugs, das neben ihm über
einem Balken hing. Ein heimlicher, haſtiger Schritt
kam unter ihm die Thurmtreppe heran. Er achtete
nicht darauf; denn eben ſah er im Schieferkaſten eine
Bleiplatte zurückgeblieben liegen. Er hatte nur ſoviel
Bleibleche mit ſich heraufgenommen, als er brauchte;
eine war alſo von ihm vergeſſen worden; in der Zer¬
ſtreuung hatte er eine Befeſtigungsſtelle übergangen.
Aus der Ausfahrthür ſah er an der Thurmdachfläche
hinab und hinauf. War der Fehler auf dieſer Thurm¬
ſeite geſchehn, ſo ließ er ſich vielleicht ohne Fahrzeug
beſſern. Er brauchte vielleicht nur die Leiter, um zu
der Stelle zu kommen. Und ſo war es auch. Etwa
ſechs Fuß hoch über ihm, nahe dem Dachhaken, hatte
er die Schieferplatte herausgenommen, aber vergeſſen,
ſie durch die Bleiplatte zu erſetzen und die Blechguir¬
lande mit Nägeln darauf zu befeſtigen. Unterdeß wa¬
ren die heimlichen Schritte immer näher gekommen;
jetzt hatte der eilende Fuß, dem ſie gehörten, das Ende
der Steintreppen erreicht und ſtieg die Leitertreppe nach
dem Dachgebälke herauf. Die Uhr unter ihm hob
aus. Es war auf zwei. Apollonius hatte noch nicht
Mittag gemacht; aber, war er in ſeiner Arbeit einem
Fehler auf die Spur gekommen, dann ließ es ihm
[257] nicht Ruh, bis er ihn entfernt. Er war zurückgegan¬
gen, um die Leiter herbeizuholen. Dieſe lag neben
dem Fahrzeug auf dem Balken. Da, indem er ſich
danach herabbeugt, fühlt er ſich ergriffen und mit
wilder Gewalt nach der Ausfahrthür zugeſchoben.
Unwillkürlich faßte er mit der Rechten die untere Kante
eines Balkens ſeitwärts über ihm; mit der Linken
ſucht er vergebens nach einem Halt. Durch dieſe Be¬
wegung wendet er ſich dem Angreifer zu. Entſetzt
ſieht er in ein verzerrtes Geſicht. Es iſt das wild¬
bleiche Geſicht ſeines Bruders. Er hat keine Zeit, ſich
zu fragen, wie das jetzt hierher kommt. „Was willſt
du?“ ruft er. Was er auch erfahren, er kann ſich
ſelbſt nicht glauben. Ein wahnwitziges Lachen ant¬
wortet ihm: „Du ſollſt ſie allein haben, oder mit hin¬
unter!“ „„Fort!““ ruft der Bedrohte. Im zornigen
Schmerze ſind all die Vorwürfe gegen den Bruder in
ſein Geſicht heraufgeſtiegen. Mit ſeiner ganzen Kraft
ſtößt er mit der freien Hand den Drängenden zurück.
„Zeigſt du endlich dein wahres Geſicht?“ höhnt dieſer
noch wüthender. „Von jeder Stelle haſt du mich ver¬
drängt, wo ich ſtand; nun iſt die Reih an mir. Auf
deinem Gewiſſen ſollſt du mich haben, du Federchen¬
ſucher! Wirf mich hinunter, oder du ſollſt mit!“
Apollonius ſieht keine Rettung. Die Hand erlahmt,
mit der er ſich nur mühſam anhält an der ſcharfen
Kante des ſtarken Balkens. Er muß den Bruder an
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 17[258] den Armen faſſen mit ſeiner ganzen Kraft, ihn herum¬
drehen und hinunterſtürzen, oder der Bruder reißt ihn
mit hinunter. Doch ruft er: „Ich nicht!“ „„Gut!““
ſtöhnt Jener. „„Auch das willſt du auf mich wälzen!
Auch dazu willſt du mich bringen! Nun iſt's mit dei¬
ner Scheinheiligkeit am End'.““ Apollonius würde
einen andern Halt ſuchen, wüßt' er nicht, der Bruder
benutzt den Augenblick, wo er den alten läßt. Und
ſchon ſtürzt der mit wildem Anlauf heran. Apollonius'
Hand rutſcht von der Balkenkante ab. Er iſt verloren,
findet er keinen neuen Halt. Er kann vielleicht im
Sprunge den Balken mit beiden Händen umfaſſen,
aber dann ſtürzt den Bruder, den kein Widerſtand
mehr aufhält, die Gewalt des eigenen Anlaufes durch
die Thür. Da ſieht er im Geiſte den alten, braven,
ſtolzen Vater, ſie und die Kinder; ihm kommt das
Wort, das er ſich gab; er iſt der einzige Halt der
Seinen; er muß leben. Ein Schwung, und er hat
den Balken im Arme; in demſelben Augenblicke ſtürzt
der Bruder vorbei. Die Gewichte tief unter ihnen
raſſeln, und es ſchlägt zwei Uhr.


Die Dohlen, die der Kampf aus ihrer Ruhe ge¬
ſtört, ſchießen wild hernieder bis zur Ausſteigethür,
und ſchweben in krächzender Wolke dort. Tief unter
ihnen hört man den Fall eines ſchweren Körpers auf
dem Straßenpflaſter. Ein Aufſchrei ſchallt zugleich
von allen Seiten. Ein Zuſammeneilen, ein Hände¬
[259] ineinanderſchlagen geſchieht. Bleiche lebende Geſichter
ſehn auf ein bleicheres todtes herab, das blutig auf
dem Straßenpflaſter liegt. Dann verbreitet ſich die
bleiche Haſt, das Aufſchrein, das Zuſammeneilen, das
Händeineinanderſchlagen vom Kirchhof wie ein Wirbel¬
wind durch die Straßen bis in die entfernteſten Win¬
kel der Stadt. Aber oben hoch die Wolken am Him¬
mel achten es nicht und gehn unberührt darüber hin
weiter ihren großen Gang. Sie ſehen des ſelbſtge¬
ſchaffenen Elends ſo viel unter ſich, daß das einzelne
ſie nicht bewegen kann.


Es hat Alles auf der Welt ſeinen Nutzen. Wenn
nicht für den, der es treibt oder an ſich hat, ſo doch
für Andere. So wurde nun, was Schande über das
Nettenmair'ſche Haus gebracht, zum Verhüter größerer
Schande. Die Trunkſucht Fritz Nettenmair's war in
der ganzen Stadt bekannt; Alle hatten ihn ſchon be¬
rauſcht geſehn; kein Wunder, daß Jeder, der den Tod
Fritz Nettenmair's erfuhr, ihn jenem Laſter auf die Rech¬
nung ſtellte. Dieſe Mühe hatten eigentlich nur die
erſten; die andern erfuhren ſchon die fertige Geſchichte.
Es war gut, daß Niemand außer dem Nettenmair'ſchen
Hauſe davon wußte, daß er nach Amerika gewollt,
und daß er ſelbſt, um bei ſeiner Rückkehr weniger auf¬
17 *[260] zufallen, ſich in ſeinen Arbeitskleidern, nur den Mantel
übergeworfen, in den Poſtwagen geſetzt hatte. Der
Mantel war unterwegs liegen geblieben, und die ein
Recht auf ſeine Auslieferung hatten, meldeten ſich
natürlich nicht dazu. In den bloßen Arbeitskleidern
war er zurückgekehrt. Wer von ſeiner Abreiſe wußte,
ſetzte voraus, er ſei zuerſt in ſeinem Hauſe geweſen
und habe ſich da umgekleidet; wer auf dem Rückweg
ihm begegnet war, hatte gemeint, er komme vom
Schieferbruch oder irgend ſonſt von einer Arbeit oder
Arbeitsrückſprache. Es fiel Niemand ein, rückwärts
auf dergleichen kaum beachtete Umſtände Gewicht zu
legen, da es nicht galt, die Geſchichte erſt zuſammen¬
zuſetzen, da man ſie ſchon fertig erhielt. Dazu hatte
er vor der That an ſeinem gewöhnlichen Zerſtreuungs¬
orte ſtark getrunken und mit ſeiner Wagehalſigkeit ge¬
prahlt. Darin hatte er von je, ſeiner Natur nach, die
höchſte Eigenſchaft eines vollkommenen Schieferdeckers
geſehn und in der Zeit ſeiner Thätigkeit genug Beweiſe
gegeben, die der Oeffentlichkeit nicht unbekannt geblieben
waren, daß er jene Eigenſchaft beſaß. Dann hatte er
geäußert, jetzt wolle er ſein Meiſterſtück machen, und
war ſtark berauſcht von der Schenke nach Sankt Georg
gegangen. Alles Umſtände, die herumkamen und die
einmal gefaßte Meinung nur beſtätigten. Ein glück¬
licher Zufall hatte alle Arbeiter von Sankt Georg
entfernt; von dem Kampfe vor dem Sturz wußten
[261] außer Apollonius nur die Dohlen, die dort wohnten.
Der Bauherr hatte ſogleich, nachdem er die Geſchichte
erfahren, ſeinen Liebling aufgeſucht und brachte dieſe
auf den Thurmboden, wo er den Erſchöpften ſitzend
fand, ſchon völlig fertig mit. So fiel es Niemand
ein, dieſen zu fragen. Man erzählte ihm, anſtatt ihn
erzählen zu laſſen. Es hatte ihn bei ſeinem Schmerz
in der Seele des Vaters gefreut, daß Niemand
den wahren Sachverhalt ahnte; die Schande des
Bruders und damit des ganzen Hauſes konnte Niemand
helfen und den Vater tödten. Er ſchwieg daher über
das, worum man ihn nicht fragte. Der alte Herr
errieth, der verlorene Sohn hatte den Tod abſichtlich
geſucht. Er fand, es war ſo gut. Alles, was er
vernahm, bewies ihm, der Unglückliche wollte die Ehre
ſeines Hauſes ſchonen. Dennoch ängſtete ihn die
Möglichkeit, es möchten noch Umſtände bekannt wer¬
den, die den allgemeinen Irrthum berichtigen könnten.
Natürlich aber ließ er ſich weder ſeine Meinung, noch
ſeine Furcht abſehn. Er zeigte ſie ſelbſt Apollonius
nicht, der, im Glauben, der alte Herr theile die Ueber¬
zeugung der ganzen Stadt, ihm nun auch verſchwieg,
wovon er fürchten mußte, es würde den Vater un¬
nöthig erſchrecken und beängſtigen. So blieb die erſte
Meinung unwiderlegt, die Gerichte fanden keinen An¬
laß, unterſuchend einzuſchreiten, und die Gefahr, die
der Ehre der Familie gedroht, ging glücklich vorüber.


[262]

Eines Abends ſah man denn die ſchwarze Bahre
vor dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen ſtehn,
das darüber wegſah, um ſein roſiges Ausſehn zu recht¬
fertigen. Etwas entfernter ſtanden Frauen und Kinder
in Gruppen zuſammen, bald leiſe flüſternd, bald voll
Aufmerkſamkeit, die zeitweilig bis zur Ungeduld ſtieg.
Dasſelbe Treiben, dieſelben Empfindungen, mit der die
gebildetere Schicht der Bevölkerung des Augenblickes
harrt, wo der Vorhang vor den rührenden Gebilden
des Dichters aufrauſchen ſoll. Dasſelbe Bedürfniß hat
die blauen Schürzen hierhergezogen, das dort die ſchön¬
ſten Gewänder der Stadt verſammelt. Zuweilen kommt
ein ſchwarzer Mantel unter dreieckigem Hute in düſterer
Gravität die Straße daher und tritt hinter der Bahre
hinweg in's Haus. Und endlich geht die Thüre doppelt
auf. Der Sarg ſteht auf der Bahre, das Leichentuch
bedeckt beides; leiſe und in gleichmäßiger Bewegung
hebt ſich die ſchwarze wallende Maſſe; nun iſt ſie an
ihrer Stelle, denn die Träger rücken den Hut zurecht.
Und nun bewegt ſich's ſchwankend, flatternd. Obenauf
blitzt der Deckhammer, den Valentin polirt hat, und
ſagt, was man jetzt der Erde zu übergeben geht, hat
ehrlich zwiſchen Erde und Himmel handthiert. Die
alten Weiber ſchwemmen mit ſüßen Thränen hinweg,
was von Schmutz auf ſeinem Andenken liegt. Inner¬
lich geben ſie ſich das Wort, Niemand, den ſie daran
hindern können, ſoll ein Schieferdecker werden. Es iſt
[263] ein gefährlich Handwerk, das Schieferdeckerhandwerk
zwiſchen Himmel und Erde; das predigt der Mann,
der unter dem ſchwarzen Flattern zwiſchen den Bretern
liegt, ſo ſtumm er iſt, mit erſchütternder Beredſamkeit.
Dann muſtern ſie den alten Herrn, den zwei Leid¬
tragende führen. Er ſieht aus wie der Geiſt des ehr¬
lichen Begräbniſſes ſelbſt. Doch über dem ſchlanken,
hohen Apollonius neben dem würdigen Bauherrn, ver¬
geſſen ſie die ganze Milde, die ſie vorhin geübt; ſie graben
den Todten wiederum aus den naſſen Todtenblumen
heraus, womit ſie ſeine menſchliche Blöße bedeckt.
Seinetwegen wär' der Hammer über ihm voll dunkeln
Roſts der Schande. Apollonius iſt's, dem er dankt,
daß das Werkzeug ſo ehrenblank über ſeinem letzten
Bette liegt. Und ob er's um ihn verdient hat? Das
will keine ſagen. Könnte ſie der Todte hören
vor den Bretern und dem ſchwarzen Geflatter darum,
er hätte dem Bruder noch mehr zu verzeihn. Oder
auch nicht zu verzeihn; er hatte ihm nichts verziehen,
nicht was er an Apollonius, nicht was dieſer an ihm
gethan. Und könnt' er vollends dem Bruder in das
Herz ſehn, aus dem ſein Tod allen Groll verwiſcht,
das ſich Vorwürfe macht, weil es einen Böſewicht ſah,
wo es den unglücklichen Wahnſinnigen hätte bedauern
müſſen, er ſteifte ſich noch tiefer in den Neid der Teu¬
fel. Dann kommt die junge Frau an die Reihe, und
völlig in der Weiſe ihres Geſchlechtes ſchlagen die
[264] Klageweiber in Eheſtifterinnen um. Und wahrlich! ſie
haben nicht unrecht; ein ſchöneres Paar, eines das
beſſer zuſammenpaßte, das ſeiner ſo werth wäre, wie
dieſes, fänden auch tiefere Beobachter im Bereich der
ganzen Stadt nicht aus. Der Zug ging am rothen
Adler vorbei. Es war ſchon wieder ein Ball da oben,
bei dem Fritz Nettenmair fehlte; gewiß ein lederner
Ball! Da iſt er ja! da iſt er ja! klang dem Zuge
entgegen und begleitete ihn unermüdlich die ganze Straße
entlang. Aber famos konnte es nicht werden trotzdem.
Es war derſelbe Weg, den Fritz Nettenmair zurückging,
nachdem er den Geſellen begleitet hatte. Damals ſah
er im Geiſte den Bruder unter dem Deckhammer und
dem wallenden ſchwarzen Behänge und er ging leid¬
tragend hinter ihm drein. Nun war's umgekehrt
Wirklichkeit geworden, aber Apollonius fühlte wirklich,
was der Bruder nur zur Schau trug. Und fort ging's
immer die Straßen hin, die Fritz Nettenmair damals
hergekommen war. Und draußen vor dem Thore zer¬
floſſen wiederum die Weiden in Nebel oder Nebel ge¬
rann zu Weiden. Hüben und drüben trugen Nebel¬
männer Nebelleichen neben der wirklichen her. An dem
Kreuzweg, wo Fritz Nettenmair damals den Geſellen
im Nebel verſchwinden ſah, verſchwand er heute ſelbſt
darin. Ob es ihn freuen würde, ſagte ihm einer, er
wird den Freund wiederſehn? Er wird ihn wieder be¬
gleiten — wohin? Eben tragen ſie in Tambach ihn
[265] hinaus. Sie haben viel zu ſprechen mit einander.
Fritz Nettenmair kann dem Geſellen ſagen, wie ſorgſam
er den Gedankenkeim, den jener ihm gegeben, bis zum
Zerſchneiden des Seiles ausgebrütet hat, und der Ge¬
ſell dem ehemaligen Herrn, daß er unter dem Seil¬
ſchnitt verunglückte, den dieſer gemacht. Der Geiſtliche,
der Fritz Nettenmair die Grabrede hält — denn Fritz
Nettenmair wird mit allen Ehren begraben, die ſeinem
Stande ziemen und für Geld zu haben ſind — weiß
nicht, welch fruchtbares Thema ihm entgeht.


Das letzte Wort der Grabrede war verklungen, die
letzte Scholle auf Fritz Nettenmair's Sarg gefallen,
die Leidtragenden waren heimgekehrt; es war Nacht
geworden und wieder Tag, und wieder Nacht geworden
und wieder und wieder Tag und Nacht; andere Dinge
hatten Fritz Nettenmair's Unglücksfall aus dem Munde
der Stadt verdrängt und noch andere dieſe. Auf ſein
Grab war ein Stein geſetzt und darauf ſein ehrlicher
Tod nochmals vom Bildhauer beſcheinigt und der verge߬
lichen Nachwelt mit Meißelſtreichen eingeſchärft worden.
Man ſollte meinen, die düſtere Wolke über dem Haus
mit den grünen Fenſterladen müßte ſich in dem Wetter¬
ſchlag entladen haben, der den ältern Sohn vom
Thurmdache von Sankt Georg auf das Straßenpflaſter
niedergeſchmettert, und das Leben darin nun ſo heiter
ſich geſtalten, als ſein äußerer Anblick verſpricht. Ja,
man konnte es meinen, wenn man die junge Wittib
[266] oder ihre Kinder ſah! Die drei ſchnellkräftigen Weſen
hoben die niedergedrückten Köpfchen wieder, ſobald die
Laſt entfernt, war, die ſie niedergedrückt. Die junge
Wittib ſah nicht aus, als wäre ſie ſchon Frau, noch
weniger, als wäre ſie ſchon eine unglückliche Frau ge¬
weſen; ſie erſchien von Tag zu Tag mehr ein bräut¬
lich Mädchen oder eine mädchenhafte Braut. Und ſollte
ſie nicht? Wußte ſie nicht, daß er ſie liebte? liebte ſie
ihn nicht? Mußte ſie nicht das Necken Dritter darauf
bringen, fiel es ihr auch ſelbſt nicht ein, daß ihre Liebe
nun eine erlaubte war? Wie oft mußte ſie ſich fragen laſſen,
ob ſie ſchon an ihrer Ausſtattung nähe? die Kinder fragen
hören, ob ihnen ein neuer Papa auch recht ſei? Konnte ſie
anders darauf antworten, als mit ſtummem Erröthen und
indem ſie raſch von etwas Anderem zu ſprechen begann?
Und ſo machen es bräutliche Mädchen und mädchenhafte
Bräute; daß weiß Jeder. Und die Heirath war ſo
natürlich, ja nach den hergebrachten Begriffen ſo noth¬
wendig, daß die Ernſteren und die über das Necken
hinaus waren, dieß unausgeſprochen vorausſetzten und
es eben deßhalb nicht ausſprachen, weil es ſich ihnen von
ſelbſt verſtand. Auch der alte Herr ließ es in ſeiner
diplomatiſchen Art zu reden an dergleichen Andeutungen
nicht fehlen. Chriſtiane ſah den Mann, von dem die
Leute meinten, er könne, ja er müſſe ſie heirathen, noch
immer hoch über ſich; es war ihr in dieſer Beziehung,
wie in allen, Bedürfniß, Pflicht und Wolluſt, ſich in
[267] ſeinen Willen zu ergeben, den ſie den reinſten und den
heiligſten wußte. Wenn ſie trotz dieſer Ergebung Wünſche
und Hoffnungen nährte, wer wird es nicht natürlich
finden? wer möchte es ihr verdenken?


Der alte Herr war überzeugt, hätte er das Regi¬
ment behalten, es wäre Alles anders gekommen. Hatte
er doch, was Apollonius verdorben, noch zu dem beſten
Ende geführt, das möglich war. Die Noth hatte ihm
das Heft noch einmal in die Hand gedrückt und er
wollte es nicht wieder fahren laſſen. Die durch den
glücklichen Erfolg erhöhte Meinung von ſich hatte ihn
vergeſſen laſſen, daß er ſchon zweimal zu der Einſicht ge¬
zwungen worden war, eine Leitung im blauen Rocke
ſei nur dann möglich, wenn man nicht mit fremden
Augen ſehen müſſe. Er ſollte es zum drittenmal er¬
fahren. Es war kein Wunder, daß er Apollonius'
ſeitherigem Handeln falſche Beweggründe unterlegte.
Schon als er ſich der Tüchtigkeit des Sohnes gefreut
hatte, war ihm zugleich die Furcht gekommen, die Va¬
lentin's Geſtändniß der Verſchweigung ihm zur Wahr¬
heit machte. Er ſah hinter der vorgegebenen Schonung
des Sohnes um ſo natürlicher Eigenmächtigkeit und
die Luſt, ein verdecktes Spiel zu ſpielen, als er ihn
dabei nur an dem eigenen Maßſtabe maß. Es war
das Nächſtliegende, daß er in dem Sohne die eigenen
Neigungen vorausſetzte. Schon damals hatte er mit
einer Art Eiferſucht empfunden, daß er ſelbſt der
[268] tüchtigen Jugend des Sohnes gegenüber in ſeiner Blind¬
heit nichts mehr war und nichts mehr konnte. Der Arg¬
wohn, den ſeine Hülfloſigkeit ihn gelehrt, mußte ihm ſagen,
daß Apollonius trotz ſeines mühſamen Verbergens dahin¬
ter gekommen war, und ſo ſah er auch die Verachtung mit
unter den Beweggründen von des Sohnes Handeln.


Seit, in der Nacht vor ſeines älteren Sohnes ge¬
waltſamem Tode, Herr Nettenmair wiederum als Leiter
an die Spitze des Geſchäftes getreten war, berichtete
ihm Apollonius täglich über den Fortgang der laufen¬
den Arbeiten und holte ſeine Befehle ab. Iſt eine
Arbeit einmal in ihr Geleis gebracht, dann führt ſie
ſich ſelbſt und es bedarf von Seite des Leitenden nur
Beaufſichtigung und gelegentliches Antreiben. Soll
aber eine neue unternommen werden, dann gilt es die
Geleiſe erſt zu ſuchen, in denen ſie laufen kann, und
aus dieſen wieder das kürzeſte, das am ſicherſten und
gewinnvollſten zum Ziele führende auszuwählen. Der
Arbeitgeber erſchwert oft die Aufgabe, indem er ſelbſt
mit hineinſprechen will, oder beſondere Nebenwünſche
hat, die der Meiſter zugleich miterfüllen ſoll. Ort,
Zeit und Material machen ihre Selbſtändigkeit und
Eigenartigkeit geltend. Nicht jede Arbeit kann man
jedem Arbeiter anvertraun; über der neuen darf der
Meiſter nicht die bereits laufenden vergeſſen. Wahl,
richtige Anſtellung und Vertheilung der Kräfte haben
ihre Schwierigkeit. Entfernung, Wetter ſprechen dann
[269] auch ihr Wort dazu. All das will überwunden ſein,
und ſo überwunden, daß neben dem Wunſche und dem
Vortheil des Baugebers auch Handwerksehre und
Vortheil des Meiſters nicht in's Gedränge geräth.
Dazu braucht's offene, klare Augen von raſchem
Ueberblick, der ſich Nichts entgehen läßt. Daß Apol¬
lonius dieſe beſaß, erkannte der alte Herr ſchon in
deſſen erſter Meldung. Dieſe betraf eine beſonders
ſchwierige Aufgabe. Apollonius ſtellte ſie ihm mit
ſolcher Klarheit dar, daß der alte Herr die Dinge mit
leiblichen Augen zu ſehen glaubte. Es war ein Fall,
in welchem den alten Herrn ſeine Erfahrung im Stiche
ließ. Apollonius machte er keine Schwierigkeit. Er
zeigte drei, vier verſchiedene Wege, ihm gerecht zu
werden, und ſetzte den alten Herrn in eine Verwirrung,
welche dieſer kaum zu verbergen wußte. Ueber die
knöcherne Stirn unter dem deckenden Augenſchirm zog
eine wunderliche wilde Jagd der widerſprechendſten
Empfindungen, Freude und Stolz auf den Sohn, dann
Schmerz, wie er ſelbſt nun doch nichts mehr war, doch
nichts mehr konnte. Dann Scham und Zorn, daß
der Sohn das wußte, und über ihn triumphire; Luſt,
ihn zu bändigen, und ihm zu zeigen, daß er noch Herr
und Meiſter ſei. Aber wenn er ſich durchſetzen wollte:
würde der Sohn gehorchen? Er konnte nichts Beſſeres
erſinnen, als der Sohn ihm vorgelegt hatte; befahl er
etwas Anderes, ſo beſtärkte er den Sohn in ſeiner
[270] Nichtachtung; und der gab ſich das Anſehn, des Vaters
Befehl zu vollziehn, und that doch, was er ſelber
wollte. Und er konnte das nicht hindern, ihn nicht
zwingen. Er mußte ja glauben, was der Sohn und
was die Leute ihm ſagten. Hatte er nicht anderthalb
Jahre lang glauben müſſen, was der Sohn ihm ſagte,
und die Leute hatten dem Sohne geholfen? Und ſtellte
er einen Fremden dem Sohne zum Beobachter; war
er der Treue des Fremden gewiß? Und wenn er das
ſein konnte; ſtellte er nicht ſelbſt dann erſt ſeine Hülf¬
loſigkeit in's Licht, daß die ganze Stadt erfuhr, er war
ein blinder Mann, der nichts mehr war und nichts
mehr konnte, und mit dem man ſpielte, wie man wollte?
Es blieb ihm kein Mittel, auch nur den Schein des
Regiments beizubehalten, als ſeine diplomatiſche Kunſt.
Mit grimmvoller Stimme gab er nun Befehle, die
eigentlich unnöthig waren, weil ſie Dinge betrafen,
die ſich von ſelbſt verſtanden und ohne Befehl gethan
worden wären. Bei neuen Arbeiten, die erſt in Gang
gebracht werden mußten, mißbilligte er mit Zorn die
Vorſchläge Apollonius; und der Befehl, den er endlich
gab, lief doch in der Hauptſache auf die Annahme
des Vorſchlags hinaus, der Apollonius als der zweck¬
mäßigſte erſchienen war. Hintennach ſtellte er ſich bei
ſich ſelber nach Möglichkeit wieder her; er fand etwas
aus, das er für klüger hielt, als den Vorſchlag Apol¬
lonius'; war er überzeugt, daß, wenn er nur ſein Ge¬
[271] ſicht noch hätte, Alles doch noch ganz anders gehen
würde, dann konnte er ſich der Freude und dem Stolz
über die Tüchtigkeit des Sohnes ungehindert hingeben,
bis er wiederum in die zornige Nothwendigkeit verſetzt
wurde, ſeine diplomatiſche Kunſt anzuwenden. Apol¬
lonius ahnte ſo wenig von dem Zwang, den er, ohne
zu wollen, dem alten Herrn auflegte, als von deſſen
Stolz auf ihn. Ihn freute es, daß er dem Vater von
den Geſchäften nichts mehr verheimlichen mußte und
daß ſein Gehorſam der Erfüllung ſeines Wortes nicht
im Wege ſtand. Auch von dieſer Seite her wurde
der Himmel über dem Hauſe mit den grünen Laden
immer blauer. Aber der Geiſt des Hauſes ſchlich noch
immer händeringend darin umher. So oft es Zwei
ſchlug in der Nacht, ſtand er auf der Emporlaube an
der Thür von Apollonius' Stübchen und hob die
bleichen Arme wie flehend gegen den Himmel empor.


Apollonius hielt ſich, war er daheim, noch immer
zurückgezogen auf ſeinem Stübchen. Der alte Valentin
brachte ihm das Eſſen wie ſonſt dahin. Es konnte
das nicht Wunder nehmen. Das Geſchäft hatte ſich
unter ſeiner fleißigen Hand vergrößert. Es wollte
gegen früher mehr als doppelt ſoviel geſchrieben ſein.
Der Poſtbote brachte ganze Stöße von Briefen in das
[272] Haus. Dazu hatte Apollonius in der letzten Zeit das
vortheilhafte Anerbieten des Beſitzers angenommen
und die Schiefergrube gepachtet. Er verſtand von
Köln her den Betrieb des Schieferbaus und hatte ſich
einen frühern Bekannten von daher verſchrieben, den
er des Faches kundig und im Leben zuverläſſig wußte.
Seine Wahl erwies ſich gerathen; der Mann war
thätig; aber Apollonius erhielt trotzdem durch die Pach¬
tung einen bedeutenden Zuwachs von Arbeit. Der
alte Bauherr ſah ihn zuweilen bedenklich an und meinte,
Apollonius habe doch ſeinen Kräften zuviel vertraut.
Der jungen Wittib fiel es nicht auf, daß Apollonius
nur wenig in die Wohnſtube kam. Die Kinder, die er
öfter zu ſich rufen und kleine Dienſte verrichten ließ,
wobei ſie lernen konnten, unterhielten den Verkehr.
Und ſie konnten bezeugen, daß Apollonius keine Zeit
übrig hatte. Sie ſelber war deſto öfter auf ſeiner
Stube; doch nur, wenn er nicht daheim war. Sie
ſchmückte Thüren und Wände mit Allem, was ſie hatte,
und wovon ſie wußte, daß er es liebte, und hielt ſich
ganze Stunden lang arbeitend da auf. Aber auch ſie be¬
merkte die Bläſſe ſeines Angeſichts, die jedesmal gewach¬
ſen ſchien, ſeit ſie ihn nicht geſehn. Wie ſie nun ganz
ſein Spiegel geworden war, ſpiegelte ſie auch dieſe
Bläſſe zurück. Sie hätte ihn gern erheitert, aber ſie
ſuchte ſeine Nähe nicht. Ihr ſchien, als ob ihre Nähe
das Entgegengeſetzte von dem auf ihn wirke, was ſie
[273] zu wirken wünſchte. Er war immer freundlich und
voll ritterlicher Achtung gegen ſie. Das beruhigte ſie
wenigſtens über die Furcht, die ihr bei ſeinem Sich¬
zurückziehn vor ihr am nächſten lag. Wie ſie alle
Tugenden, die ſie kannte, in ihn hineingeſtellt wie in
einen Heiligenſchrein, hatte ſie, die ihr die erſte von
allen war, die Wahrhaftigkeit nicht vergeſſen. Und ſo
wußte ſie, er zwang ſich nicht, ihr Achtung zu zeigen,
wenn er ſie nicht empfand. Er ſcherzte ſelbſt zuweilen,
beſonders, ſah er ihren Blick ängſtlich auf ſeinem
immer bleichern Geſichte haften; aber ſie merkte, daß
trotzdem ihre Geſellſchaft ihn nicht heiterer, nicht ge¬
ſunder machte. Sie hätte ihn gern gefragt, was ihm
fehle. Wenn er vor ihr ſtand, wagte ſie es nicht.
Wenn ſie allein war, dann fragte ſie ihn. Ganze
Nächte ſann ſie auf Worte, ihm das Geſtändniß abzu¬
locken, und ſprach mit ihm. Gewiß! hätte er ſie weinen
gehört, gehört, wie immer ſüßer und inniger ſie ſchmeichelte
und bat, die ſüßen Namen gehört, die ſie gab, er hätte
ſagen müſſen, was ihm fehlte. Ihr ganzes Leben war
dann auf dem Wege zwiſchen Herz und Mund; trat
es ihr einmal in's Ohr, hörte ſie, was ſie ſprach, dann
erröthete ſie und flüchtete ihr Erröthen vor ſich ſelbſt
und der lauſchenden Nacht tief unter ihre Decke.


Dem alten braven Bauherrn vertraute ſie ihre
Sorge an. „Iſt's ein Wunder,“ ſagte der eifrig;
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 18[274] „wenn einer anderthalb Jahre lang den Tag ſich über
Gebühr anſtrengt und die Nacht bei Büchern und
Briefen aufſitzt? Dazu die immer ſteigende Sorge durch
den — Gott verzeih's ihm, er iſt todt, und von den
Todten ſoll man nichts Böſes reden — durch den
Bruder; am Ende noch der Schreck, der mich drei
Tage krank gemacht hat, über den — und wenn ſeine
Wittwe dabei iſt — ich hab' ihn nie beſonders leiden
können, und zuletzt am wenigſten. So iſt die Jugend.
Ich hab' ihn hundertmal gewarnt, den braven Jungen.
Und nun noch den vermaledeiten Schieferbruch! Ei
was Gewiſſenhaftigkeit! Das iſt keine, die nicht an
die Geſundheit denkt!“ Der alte Bauherr hielt der
jungen Wittib eine ganze lange Strafpredigt, die einem
galt, der ſie nicht hörte. Dann kamen ſie überein,
Apollonius müſſe einen Doktor annehmen, woll' er oder
nicht; und der Bauherr ging auf der Stelle zu dem
beſten Arzte der Stadt. Der Arzt verſprach, ſein Mög¬
lichſtes zu thun. Er beſuchte auch Apollonius, und
dieſer ließ ſich des Arztes Bemühungen gefallen, weil
die es wünſchten, die er liebte. Der Arzt fühlte den
Puls, kam wieder und wieder, verſchrieb und verſchrieb;
Apollonius wurde nur noch bleicher und trüber. End¬
lich erklärte der tüchtige Mann, hier ſei ein Uebel,
gegen welches alle Kunſt zu kurz falle. So tief
hinein, als wo dieſe Krankheit ſitze, wirke keins von
ſeinen Mitteln.


[275]

Apollonius hatte deßhalb den Arzt ſich verbeten.
Er hatte das wohl gewußt: für ſeine Krankheit gab
es keinen Arzt. Wo der Bauherr die Urſach davon
ſuchte, lag ſie nur zum Theile. Die Ueberanſtren¬
gung hatte blos den Boden für die Schmarozerpflanze
beſtellt, die an Apollonius innerm Lebensmark zehrte.
In Gemüthsbewegungen lag ihr Keim, aber nicht in
denen, die der Bauherr wußte. Nicht in dem Schrecken
über des Bruders Unglück, ſondern in dem Zuſtande,
worin der Schreck ihn traf. Die erſten Zeichen der
Krankheit ſchienen körperlicher Natur. In dem Augen¬
blick, wo der Bruder neben ihm vorbei in den Tod
ſtürzte, hatten die Glocken unter ihnen Zwei geſchla¬
gen. Von da an erſchreckte ihn jeder Glockenton.
Was ihm ſchwerere Beſorgniß erregte, war ein Anfall
von Schwindel. Aller Schrecken jenes Tages hatte
ihm die Unruhe nicht verdunkeln können, die ihn nicht
losließ, wenn er eine Ungenauigkeit an einer Arbeit
gefunden, bis ſie beſeitigt war. Jeder Glockenſchlag,
der ihn erſchreckte, ſchien ihm eine Mahnung dazu.
Schon den andern Morgen öffnete er, die Dachleiter in
der Hand, die Ausfahrthür. Es war ihm ſchon auf¬
gefallen, wie unſicher ſein Schritt auf der Leitertreppe
geworden war; jetzt, als er durch die Oeffnung die
fernen Berge, die er ſonſt kaum bemerkte, ſich wun¬
derlich zunicken ſah, und der feſte Thurm unter ihm
ſich zu ſchaukeln begann, erſchrack er. Das war der
18 *[176[276]] Schwindel, des Schieferdeckers ärgſter, tückiſcher Feind,
wenn er ihn plötzlich zwiſchen Himmel und Erde auf
der ſchwanken Leiter faßt! Vergeblich ſtrebte er, ihn zu
überwinden; ſein Vorhaben mußte heut aufgegeben
ſein. So ſchwer war Apollonius noch kein Weg ge¬
worden, als der die Thurmtreppe von Sankt Georg
herab. Was ſollte werden! Wie ſollte er ſein Wort
erfüllen, wenn ihn der Schwindel nicht verließ! Noch
denſelben Tag hatte er auf dem Nicolaithurme etwas
nachzuſehn. Hier mußte er mehr wagen als dort; die
Glocken ſchlugen, als er am gefährlichſten ſtand, vom
Schwindel fühlte er keine Spur. Freudig eilte er nach
Sankt Georg zurück; aber hier zitterte wieder die Treppen¬
leiter unter ſeinen Füßen, und wie er hinausſah, nickten
die Berge wieder und ſchaukelte wieder der Thurm.
Er war ſchon auf den unterſten Stufen der Treppe,
als oben ein Stundenſchlag begann. Die Töne dröhn¬
ten ihm durch Mark und Bein, er mußte ſich am Ge¬
länder feſthalten, bis das letzte Summen verklungen
war. Er machte noch Verſuch über Verſuch; er beſtieg
alle Dächer und Thürme mit ſeiner alten Sicherheit;
nur zu Sankt Georg wohnte der Schwindel. Dort
hatte er ſeine böſen Gedanken in die Arbeit hineinge¬
hämmert; er hatte damals ſchon gefühlt, er hämmere
einen Zauber zurecht, ein kommend Unheil fertig. Tag
und Nacht verfolgte ihn das Bild der Stelle, wo er
die Bleiplatte einzuſetzen und den Zierrath feſt zu na¬
[277] geln vergeſſen. Die Lücke war wie ein böſer Fleck,
ein Fleck, wo eine Unthat begonnen oder vollbracht iſt,
und kein Gras wächſt, und kein Schatten wird; wie
eine offene Wunde, die nicht heilt, bis ſie gerächt iſt;
wie ein leeres Grab, das ſich nicht ſchließt, eh' es ſei¬
nen Bewohner aufgenommen hat. War nur die Lücke
geſchloſſen, dann hatte der Zauber keine Macht mehr.
Er konnte das einem Geſellen auftragen, aber der Ge¬
danke, einen Andern ſeine verwahrloſete Arbeit nach¬
beſſern zu laſſen, trieb das Roth der Scham auf ſeine
bleichen Wangen. Und die Bleiplatte, von einem An¬
dern aufgenagelt, mußte wieder abfallen; die Lücke rief
nach ihm, und nur er konnte ſie ſchließen. Oder den
Geſellen faßte das Verderben, das er dort eingehäm¬
mert, der Schwindel, der dort wohnte, und ſtürzte ihn
herab. Seit das Weib des Bruders in ſeinen Armen
gelegen, führte er ein Doppelleben. Er ſchaffte den
Tag lang außen, Nachts ſaß er in ſeinem Stübchen bei
ſeinen Büchern auf; das ſpann ſich alles mechaniſch ab;
er war trotz ſeines Kämpfens nur mit halber Seele
dabei; die andere Hälfte hatte ihr Leben für ſich. Im¬
mer ſchwebte ſie mit den Dohlen um die Lücke an
dem Thurmdach und brütete, welches kommende Unheil
es ſei, das er fertig gehämmert jenen Morgen. Sie
träumte den ſündhaften Traum wieder durch. Sie
kämpfte den ſchrecklichen Kampf mit dem Bruder wieder
durch. War es des Bruders Sturz, was er gehämmert hat?
[278] Dann fällt ihm ein, ob's nicht möglich geweſen, den
Wahnſinnigen zu retten. Dann ſuchte er ängſtlich
nach den Möglichkeiten, wie der Bruder zu retten ge¬
weſen, und ſchreckte doch zurück, dachte er, er könnte
eine finden. So hatte ihn des Bruders Schuld aus
ſeinen Fugen gezerrt. Aber auch in ſeinem Brüten
zeigte ſich noch der Gegenſatz zu ſeines Bruders Natur.
In jenem überwucherte die Selbſtſucht, die ſchlimme
Anlage; in Apollonius überſpannte ſich, was Gutes
in ihm war, ſeine Gewiſſenhaftigkeit, Anhänglichkeit
und ſein Sauberkeitsbedürfniß. Er wälzte nicht ſeine
Schuld ab von ſich auf den Bruder; er hob mit lie¬
bender Hand die Schuld des Bruders herüber auf ſich.
Denn immer klarer wird es ihm, daß er den Bruder
noch zuletzt vor dem Sturze retten konnte. Er hätte
die Wege, die es gab, damals finden müſſen, war ſein
Herz und Kopf nicht voll von den wilden verbotenen
Wünſchen; hätte er dem Wahnſinnigen nicht gezürnt,
den er bedauern ſollen. Ja, er hatte dem Bruder das
Unheil fertig gehämmert mit ſeinen böſen Gedanken.
Ohne die Gedanken war er früher mit ſeiner Arbeit
fertig und der Bruder fand ihn nicht mehr auf dem
Thurme; der Bruder kam zu ſpät und gewann Zeit,
ſeinen Entſchluß zu bereu'n. Und war er noch oben,
ſo war er der Stärkere, der Beſonnenere, und mußte
Mittel finden, das Unheil zu verhindern. Auch im
äußeren Benehmen zeigte ſich dieſer Gegenſatz mit dem
[279] Bruder. Wie dieſer immer ſelbſtſüchtiger, wilder und
rückſichtsloſer geworden war, machte Appollonius das
Seelenleiden immer milder und ſtiller. Er verlor über
dem eigenen Zuſtande nicht das Mitgefühl mit frem¬
dem Leiden. Er bedauerte nicht ſich. Dachte er an
die Menſchen, die ihm liebend nahe ſtanden, ſo war
ſein Schmerz mehr ein Mitleid mit ihrem Mitleid.
Selbſt ſein Sopha vergaß er nicht zu ſtreicheln; er
that es, wie man einen Diener tröſtet, der das Un¬
glück ſeines Herrn als ſein eigenes fühlt. Natürlich,
daß auch ihn die Leute mit der Heirath neckten, die
ihnen nothwendig ſchien. Er mußte ſich ſagen, daß
er dachte wie ſie, und daß ſeine Wünſche keine uner¬
laubten mehr waren. Aber daß ſie es einmal gewe¬
ſen, warf ſeinen Schatten herüber auf das vorwurfs¬
freie Jetzt. Seine Liebe, ihr Beſitz, ſchien ihm wie be¬
ſchmutzt. Was Verſtand und Liebe ſagen mochten, er
fühlte in der Heirath eine Schuld. Daher kam's, daß
Chriſtianens Nähe ihn nicht heiterer machte. Es gab
Augenblicke, wo ſeine Verdüſterung ihm ſelbſt wie eine
Krankheit vorkam, und er hoffte, ſie werde vorübergehn.
Aber auch da trat er Chriſtianen nicht näher, ſo ſehr
ſein Herz ihn zog. Er blieb gegen ſie wie damals,
wo er den Knaben zwiſchen ſie und ſich geſtellt hatte.
Die kleinſte Annäherung ſah er nach ſeiner Weiſe für
eine Bindung an, und dachte er ſich die Heirath ent¬
ſchieden, ſo laſtete wiederum das Gefühl von Schuld
[280] auf ihm. Er rückte den Gedanken daran in eine un¬
beſtimmte Zukunft hinaus, dann fühlte er ſeinen Zu¬
ſtand erträglich. Er, der ſonſt ein unklares Verhält¬
niß nicht ertragen konnte! Darin aber war er ſich
noch völlig gleich, daß er in ſeiner Vorſtellung eine mög¬
liche Schuld nur immer als die ſeine empfand. Sie
blieb ihm unter allen Umſtänden heilig und rein.


Dem alten Herrn war in ſeinem äußern Ehrbegriff
ein Zuſammenleben wie Apollonius' und Chriſtianen's
ohne kirchliche Weihe ein ſchweres Aergerniß. Apol¬
lonius konnte ohne Schande nur unter dem Namen
ihres Gatten der jungen, ſchönen Wittib und ihrer
Kinder Schützer und Erhalter ſein. Nach ſeiner Weiſe
ſprach er ein Machtwort. Er beſtimmte die Zeit. Das
unumgängliche Trauerhalbjahr war um; und in acht
Tagen ſollte die Verlobung, drei Wochen ſpäter die
Hochzeit ſein.


Das Leben in dem Hauſe mit den grünen Laden
begann wieder ſchwül und ſchwüler zu werden; die
neuen Wolken, die unſichtbar darum heraufgezo¬
gen, drohten einen herbern Schlag, als in dem die
alten ſich entladen. Die junge Wittib durfte nun eine
Braut ſcheinen. Sie that, wonach man ſie neckend ge¬
fragt hatte; ſie vervollſtändigte ihre Einrichtung. Halbe
Nächte ſaß ſie ſchneidend und nähend über weißes
Linnen und buntes Bettzeug gebückt. Es fielen Thrä¬
nen darauf, aber die Freude behielt immer weniger
[281] Antheil an dieſen Thränen. Sie ſah des geliebten
Mannes Zuſtand ſtündlich ſich verſchlimmern und konnte
darüber nicht im Irrthum ſein, daß die Heirath die
Schuld davon trug. Je blaſſer und hinfälliger er wurde,
deſto milder und achtungsvoller wurde ſein Benehmen
gegen ſie. Ja, es war etwas darin, was wie ſchmerz¬
liches Mitleid und unausgeſprochene Abbitte eines Un¬
rechts oder einer Beleidigung ausſah, deren er ſich
gegen ſie ſchuldig wiſſe. Sie wußte nicht, was ſie da¬
von denken ſollte; nur, daß ſie nichts denken durfte,
was des Bildes, das ſie von ihm in ihrer Seele trug,
unwürdig geweſen wäre. In ſeiner Gegenwart war
ſie ſtill wie er. Sie ſah ſein ſtummes ſchmerzliches
Brüten; aber erſt, wenn ſie allein war, und ihre Kin¬
der neben ihr ſchliefen, hatte ſie den Muth, ihn zu
bitten. Stundenlang bat ſie dann wie ein Kind, er
ſoll ihr doch ſagen, was ihm fehlt. Sie will es mit
ihm tragen; ſie muß ja; iſt ſie nicht ſein?


Und Apollonius ſelbſt? Bis jetzt hatte er den
Druck dunkeln Schuldgefühls, der ſich an den Gedanken
der Heirath knüpfte, zu ſchwächen vermocht, wenn er
unentſchieden den Entſchluß in unbeſtimmte Ferne hin¬
auswies. Dabei hatte ihm die Hoffnung geholfen,
jenes Gefühl ſei eine krankhafte Anwandelung, die
vorübergehen werde. Nun der alte Herr ſein Macht¬
wort geſprochen, war ihm jenes Mittel genommen. Das
Ziel war beſtimmt; mit jedem Tage, mit jeder Stunde
[282] trat es ihm näher. Er mußte ſich entſcheiden. Er
konnte nicht. Die Entzweiung ſeines Innern klaffte
immer weiter auf. Wollte er dem Glücke entſagen,
dann wich das Geſpenſt der Schuld, aber das Glück
ſtreckte immer verlockendere Arme nach ihm aus. Es
nahm ſeine Ehre zum Bündner. Der Vater entfernte
ihn dann; wie ſollte er ſein Wort halten? Wo war
ein Vorwurf, wenn er das Glück in ſeine Arme nahm?
Der Vater wollte es; ſie liebt ihn und hat ihn immer
geliebt, nur ihn; alle Menſchen billigen es, ja ſie for¬
dern es von ihm. Dann ſah er ſie, eh' ſie ihm geraubt
wurde, wie ſie das Glöckchen hinlegte für ihn, roſig
unter der braunen, krauſen Locke, die ſich immer frei
macht; dann bleich unter der Locke von den Mißhand¬
lungen des Bruders, der ſie ihm geraubt, bleich um
ihn; dann zitternd vor des Bruders Drohungen, zit¬
ternd um ihn; dann lachend, weinend, voll Angſt und
voll Glück in ſeinen Armen. Und ſo ſoll er ſie halten dür¬
fen, vorwurfslos, die ihm gehört! Aber durch ihr ſchwel¬
lendes Umfangen, durch alle Bilder ſtillen ſanften
Glücks hindurch fröſtelt ihn der alte Schauder wieder
an. So war's ſchon in ſeinem Traume, als er mit
dem Bruder kämpfte um ſie, und ihn hinabſtieß von
der fliegenden Rüſtung in den Tod. Er ſagt ſich, das
war nur im Traum; was man im Traume that, hat
man nicht gethan. Aber wachend hallten die wilden
Gefühle des Traumes nach. Die böſen Gedanken
[283] machten ihn unfähig, den Bruder zu retten. Der
Sturz des Bruders machte deſſen Weib frei. Er
wußte das, als er den Bruder ſtürzen ließ. Deßhalb
ja hatte er ihn im Traume geſtürzt. Nun war es ja,
wie in dem ſchlimmen Traum, der Bruder war todt
und er hatte ſein Weib. Nimmt er des Bruders
Weib, die frei wurde durch den Sturz, ſo hat er ihn
hinabgeſtürzt. Hat er den Lohn der That, ſo hat er
auch die That. Nimmt er ſie, wird das Gefühl ihn
nicht laſſen; er wird unglücklich ſein, und ſie mit unglück¬
lich machen. Um ihret- und ſeinetwillen muß er ſie
laſſen. Und will er das, dann erkennt er, wie halt¬
los dieſe Schlüſſe ſind vor den klaren Augen des Geiſtes,
und will er wiederum das Glück ergreifen, ſo ſchwebt das
dunkle Schuldgefühl von Neuem wie ein eiſiger Reif
über ſeiner Blume, und der Geiſt vermag nichts gegen
ſeine vernichtende Gewalt. Daneben mahnten immer
lauter die Glockenſchläge von Sankt Georg. Immer
fieberiſcher wurde die Unruhe, daß der Fehler noch
nicht gebeſſert war. Aeußere Anläſſe ſchärften noch den
Drang. Es hatte anhaltend geregnet, die Lücke
ſchluckte, die Verſchalung ſog das Waſſer gierig ein;
das Holz mußte verfaulen. Trat die Winterkälte
ſtärker ein, fror die Näſſe im Holz, ſo warf ſich die
Verſchalung und verletzte die Schiefer. Die Stadt,
die ſeiner Pflichtreue vertraute, litt Schaden durch
ihn. Jede Nacht weckte ihn der Stundenſchlag Zwei.
[284] In der Glut des Fiebers vermiſchten ſich die Schat¬
ten. Die Vorwürfe des innern und äußern Sauber¬
keitsbedürfniſſes floßen in einander. Immer unwider¬
ſtehlicher forderte die offene Wunde das Gericht; das
gähnende Grab den, der es ſchloß. Und er war es,
den der Stundenſchlag zum Gerichte rief: er, der das
Grab ſchließen mußte, eh' das gehämmerte Unheil auf
ein unſchuldig Haupt fiel. Sich ſelbſt hatte er das kom¬
mende Unheil fertig gehämmert. Er mußte hinauf, den
Fehler zu beſſern. Und wenn er oben war, dann
ſchlug es Zwei, dann packte ihn der Schwindel und
riß ihn hinab, dem Bruder nach.


Der alte wackere Bauherr drang in den Leidenden;
er hatte ſich das Recht erworben, ſein Vertraun zu
fordern. Apollonius lächelte trüb; er ſchlug ihm ſein
Verlangen nicht ab, aber er ſchob die Erfüllung von
Tag zu Tag weiter hinaus. Von Tag zu Tag, von
Stunde zu Stunde ſah die ſchöne junge Braut ihn
bleicher werden und blich ihm nach. Nur der alte
Herr in ſeiner Blindheit ſah die Wolke nicht, die mit
dem Schlimmſten droht. Es war wieder ſchwül ge¬
worden und wurde noch immer ſchwüler, das Leben in
dem Hauſe mit den grünen Laden. Kein Menſch
ſieht's dem roſigen Hauſe an, wie ſchwül es einmal
darin war.


[285]

Es war in der Nacht vor dem angeſetzten Verlo¬
bungstag. Plötzlich war Schnee, dann große Kälte
eingetreten. Einige Nächte ſchon hatte man das ſo¬
genannte Sankt Elmsfeuer von den Thurmſpitzen nach
den blitzenden Sternen am Himmel züngeln ſehn.
Trotz der trockenen Kälte empfanden die Bewohner der
Gegend eine eigene Schwere in den Gliedern. Es
regte ſich keine Luft. Die Menſchen ſahen ſich an,
als fragte einer den andern, ob auch er die ſeltſame
Beängſtigung fühle. Wunderliche Prophezeiungen von
Krieg, Krankheit und Theuerung gingen von Mund
zu Munde. Die Verſtändigern lächelten darüber,
konnten ſich aber ſelbſt des Dranges nicht erwehren,
ihre innerliche Beklemmung in entſprechende Bilder
von etwas äußerlich drohend Bevorſtehendem zu klei¬
den. Den ganzen Tag hatten ſich dunkle Wolken
übereinander gebaut von entſchiedenerer Zeichnung und
Farbe, als ſie der Winterhimmel ſonſt zu zeigen
pflegt. Ihre Schwärze hätte unerträglich grell von
dem Schnee abſtechen müſſen, der Berge und Thal be¬
deckte und wie ein Zuckerſchaum in den blätterloſen
Zweigen hing, dämpfte nicht ihr Wiederſchein den
weißen Glanz. Hier und da dehnte ſich der feſte Um¬
riß der dunklen Wolkenburg in ſchlappen Buſen herab.
Dieſe trugen das Anſehn gewöhnlicher Schneewolken,
und ihr trübes Röthlichgrau vermittelte die Blei¬
ſchwärze der höhern Schicht mit dem ſchmutzigen Weiß
[286] der Erde und ſeinen ſchwärzlichen Scheinen. Die
ganze Maſſe ſtand regungslos über der Stadt. Die
Schwärze wuchs. Schon zwei Stunden nach Mittag
war es Nacht in den Straßen. Die Bewohner der
Untergeſchoſſe ſchloſſen die Laden; in den Fenſtern
der höhern Stockwerke blitzte Licht um Licht auf. Auf
den Plätzen der Stadt, die ein größeres Stück Him¬
mel zu überſehn erlaubten, ſtanden Gruppen von Men¬
ſchen zuſammen und ſahen bald nach allen Seiten
aufwärts, bald ſich in die langen, bedenklichen Geſich¬
ter. Sie erzählten ſich von den Raben, die in großen
Zügen bis in die Vorſtädte hereingekommen waren,
zeigten auf das tiefe, unruhige, ſtoßende Geflatter der
Dohlen um Sankt Georg und Sankt Nikolaus, ſpra¬
chen von Erdbeben, Bergſtürzen, wohl auch vom jüng¬
ſten Tage. Die Muthigeren meinten, es ſei nur ein
ſtarkes Gewitter. Aber auch das erſchien bedenklich ge¬
nug. Der Fluß und der ſogenannte Feuerdeich, deſ¬
ſen Waſſer auf unterirdiſchen Wegen augenblicklich je¬
dem Theile der Stadt zugeleitet werden konnte, waren
beide gefroren. Manche hofften, die Gefahr werde
vorübergehn. Aber ſo oft ſie hinaufſahen, die dunkle
Maſſe rückte nicht von der Stelle. Zwei Stunden
nach Mittage hatte ſie ſchon ſo geſtanden; gegen Mit¬
ternacht ſtand ſie noch unverändert ſo. Nur ſchwerer,
ſchien es, war ſie geworden und hatte ſich tiefer her¬
abgeſenkt. Wie ſollte ſie auch rücken? da nicht ein
[287] leiſer Lufthauch auf den Flügeln war; und ſolche Maſſe
zu zerſtreu'n und fortzuſchieben, hätte es einer Winds¬
braut bedurft.


Es ſchlug Zwölf vom Sankt Georgenthurm. Der
letzte Schlag ſchien nicht verhallen zu können. Aber
das tiefe, dröhnende Summen, das ſo lang anhielt,
war nicht mehr der verhallende Glockenton. Denn
nun begann es zu wachſen; wie auf tauſend Flügeln
kam es gerauſcht und geſchwollen und ſtieß zornig
gegen die Häuſer, die es aufhalten wollten, und fuhr
pfeifend und ſchrillend durch jede Oeffnung, die es
traf; polterte im Hauſe umher, bis es eine andere
Oeffnung zum Wiederherausfahren fand; riß Laden los
und warf ſie grimmig zu: quetſchte ſich ſtöhnend
zwiſchen nahſtehenden Mauern hindurch; pfiff wüthend
um die Straßenecken; zerlief in tauſend Bäche; ſuchte
ſich und ſchlug klatſchend wieder zuſammen in Einen
reißenden Strom; fuhr vor grimmiger Luſt herab und
hinauf; rüttelte an allem Feſten; trillte mit wildſpielen¬
dem Finger die verroſteten Wetterhähne und Fahnen,
und lachte ſchrillend in ihr Geächze; blies den Schnee
von einem Dach auf's andere, fegte ihn von der
Straße, jagte ihn an ſteilen Mauern hinauf, daß er
vor Angſt in alle Fenſterritzen kroch, und wirbelte
ganze tanzende Rieſentannen aus Schnee geformt auf
ſeinen Händen vor ſich her.


[288]

Da man ein Gewitter vorausſah, war Alles in
in den Kleidern geblieben. Die Raths- und Bezirks-
Gewitternachtwachen, ſowie die Spritzenmannſchaften
waren ſchon ſeit Stunden beiſammen. Herr Netten¬
mair hatte den Sohn nach der Hauptwachtſtube im
Rathhauſe geſandt, um da ſeine, des Rathsſchieferdecker¬
meiſters Stelle zu vertreten. Die zwei Geſellen ſaßen
bei den Thurmwächtern, der eine zu Sankt Georg,
der andere zu Sankt Nikolaus. Die übrigen Raths¬
werkleute unterhielten ſich in der Wachtſtube, ſo gut ſie
konnten. Der Rathsbauherr ſah bekümmert auf den
brütenden Apollonius. Der fühlte des Freundes Aug
auf ſich gerichtet und erhob ſich, ſeinen Zuſtand zu
verbergen. In dem Augenblick brauſte der Sturmwind
von Neuem in den Lüften daher. Auf dem Rathhaus¬
thurme ſchlug es Eins. Der Glockenton wimmerte in
den Fäuſten des Sturms, der ihn mit ſich fortriß in
ſeine wilde Jagd. Apollonius trat an ein Fenſter,
wie um zu ſehn, was es draußen gebe. Da leckte
eine rieſige ſchwefelblaue Zunge herein, bäumte ſich
zitternd zweimal an Ofen, Wand und Menſchen auf
und verſchlang ſich ſpurlos in ſich ſelber. Der Sturm
brauſte fort; aber wie er aus dem letzten Glockenton
von Sankt Georg geboren ſchien, ſo erhob ſich jetzt
aus ſeinem Brauſen etwas, das an Gewalt ſich ſo
rieſig über ihn emporreckte, wie ſein Brauſen über den
[289] Glockenton. Eine unſichtbare Welt ſchien in den Lüften
zu zertrümmern. Der Sturm brauſte und pfiff wie
mit der Wuth des Tigers, daß er nicht vernichten
konnte, was er packte; das tiefe majeſtätiſche Rollen,
das ihn überdröhnte, war das Gebrüll des Löwen,
der den Fuß auf dem Feinde hat, der triumphirende
Ausdruck der in der That geſättigten Kraft.


„Das hat eingeſchlagen,“ ſagte einer. Apollonius
dachte: wenn es in den Thurm ſchlüge von Sankt
Georg, dort in die Lücke und ich müßte hinauf und
es ſchlüge Zwei und —. Er konnte nicht ausdenken.
Ein Hülfegeſchrei, ein Feuerruf erſcholl durch Sturm
und Donner. „Es hat eingeſchlagen,“ ſchrie es draußen
auf der Straße. „Es hat in den Thurm von Sankt
Georg geſchlagen. Fort nach Sankt Georg! Jo!
Hülfe! Feuerjo! Auf Sankt Georg! Jo! Feuerjo
auf dem Thurm von Sankt Georg!“ Hörner blieſen,
Trommeln wirbelten darein. Und immer der Sturm
und Donner auf Donner. Dann rief es: „Wo iſt
der Nettenmair? Kann einer helfen, iſt's der Netten¬
mair! Jo! Feuerjo! Auf Sankt Georg! Der Netten¬
mair! Wo iſt der Nettenmair? Jo! Feuerjo! Auf
dem Thurm zu Sankt Georg!“


Der Bauherr ſah Apollonius erbleichen, ſeine Ge¬
ſtalt noch tiefer in ſich zuſammenſinken, als ſeither.
„Wo iſt der Nettenmair?“ rief es wieder draußen.
Da ſchlug eine dunkle Röthe über ſeine bleichen Wan¬
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 19[290] gen, und ſeine ſchlanke Geſtalt richtete ſich hoch auf.
Er knöpfte ſich raſch ein, zog den Riemen ſeiner Mütze
feſt unter dem Kinn. „Bleib' ich,“ ſagte er zu dem
Bauherrn, indem er ſich zum Gehen wandte, „ſo denkt
an meinen Vater, an meines Bruders Weib und ſeine
Kinder.“ Der Bauherr war betroffen. Das „Bleib'
ich“ des jungen Mannes klang wie: „Ich werde
bleiben.“ Eine Ahnung kam dem Freunde, hier ſei
Etwas, was mit dem Seelenleiden Apollonius zuſam¬
menhänge. Aber der Ausdruck ſeines Geſichtes hatte
nichts mehr von dem Leiden; er war weder ängſtlich,
noch wild. Durch ſeine Sorge und Schrecken hindurch
fühlte der wackere Mann etwas wie freudige Hoffnung.
Es war der alte Apollonius wieder, der vor ihm
ſtand. Das war ganz die ruhige, beſcheidene Ent¬
ſchloſſenheit wieder, die ihn beim erſten Anblick dem
jungen Manne gewonnen hatte. „Wenn er ſo bliebe!“
dachte der Bauherr. Er hatte nicht Zeit, etwas zu
erwiedern. Er drückte ihm die Hand. Apollonius
empfand Alles, was der Händedruck ſagen wollte.
Wie ein Mitleid zog es über ſein Geſicht hin mit dem
wackern Alten, wie Mißbilligung, daß er dem braven
Alten Schmerz gemacht, und ihm noch mehr Schmerz
machen wollen. Er ſagte mit ſeinem alten Lächeln:
„Auf ſolche Fälle bin ich immer bereit. Aber es gilt
Eile. Auf frohes Wiederſehn!“ Der ſchnellere Apol¬
lonius war dem Bauherrn bald aus den Augen. Auf
[291] dem ganzen Wege nach Sankt Georg, unter dem Ge¬
ſchrei, den Hörnern und Trommeln, Sturm und Donner,
ſagte der Bauherr immer vor ſich hin: „Entweder ſeh'
ich den braven Jungen nie wieder, oder er iſt geſund,
wenn ich ihn wiederſeh'.“ Er legte ſich nicht Rechen¬
ſchaft ab, wie er zu dieſer Ueberzeugung kam. Hätt'
er's auch ſonſt gekonnt, es war nicht Zeit dazu.
Seine Pflicht als Rathsbauherr verlangte den ganzen
Mann.


Der Ruf: „Nettenmair! Wo iſt der Nettenmair?“
tönte dem Gerufenen auf ſeinem Wege nach Sankt
Georg entgegen und klang hinter ihm her. Das Ver¬
traun ſeiner Mitbürger auf ihn weckte das Gefühl
ſeines Werthes wieder in ihm auf. Als er, aus der
Fremde zurückkehrend, die Heimathsſtadt vor ſich liegen
ſah, hatte er ſich ihr und ihrem Dienſte gelobt. Nun
durfte er ſich zeigen, wie ernſt gemeint ſein Gelübde
war. Er überſann in Gedanken die möglichen Geſtal¬
ten der Gefahr, und wie er ihnen begegnen könnte.
Eine Spritze ſtand bereit im Dachgebälk, Tücher lagen
dabei, um damit, in Waſſer getaucht, die gefährdeten
Stellen zu ſchützen. Der Geſelle war angewieſen,
heißes Waſſer bereit zu halten. Das Gebälke hatte er
überall durch Leitern verbunden. Zum erſtenmale ſeit
ſeiner Heimkunft von Brambach war er wieder mit
ganzer Seele bei Einem Werke. Vor der wirklichen
Noth und ihren Anforderungen traten die Gebilde
19 *[292] ſeines Brütens wie erbleichende Schatten zurück. Die
ganze alte Wirkensfreudigkeit und Spannkraft war
wieder heraufgerufen, das Gefühl der Erleichterung
erhöhte ſie noch. Mit Gedanken kann man Gedanken
widerlegen, gegen Gefühle ſind ſie eine ſchwache Waffe.
Vergebens ſah ſein Geiſt den rettenden Weg; er war
in der allgemeinen Erſchlaffung mit erkrankt. Jetzt
war ein ſtärkeres geſundes Gefühl gegen die ſtarken
kranken Gefühle aufgeglüht und hatte ſie in ſeiner
Flamme verzehrt. Er wußte, ohne beſonders daran zu
denken, er hatte den rettenden Entſchluß gefunden, und
dieſer war die Quelle ſeines erneuten Daſeins. Er
wußte, er wird nicht ſchwindeln, und blieb er doch, ſo
fiel er ſeiner Pflicht zum Opfer und keiner Schuld, und
Gott und die Dankbarkeit der Stadt traten ſtatt ſeiner
in das Gelübde für die Seinen ein.


Der Platz um Sankt Georg war mit Menſchen
angefüllt, die alle voll Angſt nach dem Thurmdache
hinauf ſahen. Der ungeheure alte Bau ſtand wie ein
Fels in dem Kampf, den Blitzeshelle mit der alten
Nacht unermüdlich um ihn kämpfte. Jetzt umſchlangen
ihn tauſend haſtige glühende Arme mit ſolcher Macht,
daß er ſelber aufzuglühen ſchien unter ihrer Glut; wie
eine Brandung lief's an ihm hinauf und ſtürzte ge¬
brochen zurück, dann ſchlug die dunkle Flut der Nacht
wieder über ihm zuſammen. Eben ſo oft tauchte die
Menge aneinander gedrängter bleicher Geſichter auf
[293] um ſeinen Fuß, und ſank wieder ununterſcheidbar in's
Dunkel zurück. Der Sturm riß die Stehenden an
Hüten und Mänteln und ſchlug mit eigenen und frem¬
den Haaren und Kleiderzüpfeln nach ihnen, als wollte
er ſie's büßen laſſen, daß er vergeblich an den ſteiner¬
nen Rippen ſich wund ſtieß, und warf ſie mit feinem
Schneegerieſel, das in dem Schein der Blitze wie
glühender Funkenregen an ihnen herniederſtäubte. Und
wie die Menſchen bald erſchienen, bald verſchwanden,
ſo wurde ihr verwirrtes Durcheinanderreden immer
wieder vom Sturm und vom Donner überbrauſt und
überrollt. Da rief einer, ſich ſelbſt tröſtend: „es iſt
ein kalter Schlag geweſen. Man ſieht ja nichts.“
Ein Anderer meinte, die Flamme von dem Schlag
könne noch ausbrechen. Ein Dritter wurde zornig; er
nahm den Einwand wie einen Wunſch, der Schlag
möge nicht ein kalter geweſen ſein, und die Flamme
noch ausbrechen. Er hatte ſich ſchon getröſtet, und
rächte ſich für die Unruhe, die der Einwand wieder
neu in ihm erregte. Viele ſahen, vor Angſt und Kälte
zitternd, mit den geblendeten Augen ſtumpf in die Höhe,
und wußten nicht mehr, warum. Hundert Stimmen
ſetzten dagegen auseinander, welch Unglück die Stadt
betreffen könne, ja betreffen müſſe, wenn der Schlag
kein kalter war. Einer ſprach von der Natur der
Schiefer, wie ſie im Brande ſchmelzen und als bren¬
[294] nende Schlacken ſtraßenweit durch die Luft fliegend
ſchon oft einen beginnenden Brand im Augenblick über
eine ganze Stadt verbreitet hatten. Andere klagten,
wie der Sturm einen möglichen Brand begünſtige, und
daß kein Waſſer zum Löſchen vorhanden ſei. Noch
Andere: und wär' welches vorhanden, ſo würde es
vor der Kälte in den Spritzen und Schläuchen gefrie¬
ren. Die Meiſten ſtellten in angſtvoller Beredſamkeit
den Gang dar, den der Brand nehmen würde. Stürzte
das brennende Dachgebälk, ſo trieb es der Sturm da¬
hin, wo eine dichte Häuſermaſſe faſt an den Thurm
ſtieß. Hier war die feuergefährlichſte Stelle der gan¬
zen Stadt. Zahlloſe hölzerne Emporlauben in engen
Höfen, breterne Dachgiebel, ſchindelngedeckte Schuppen,
Alles ſo zuſammengepreßt, daß nirgends eine Spritze
hineinzubringen, nirgends eine Löſchmannſchaft mit
Erfolg anzuſtellen war. Stürzte das brennende Dach¬
gebälke, wie es nicht anders möglich war, nach dieſer
Seite, ſo war das ganze Stadtviertel, das vor dem
Winde lag, bei dem Sturm und Waſſermangel un¬
rettbar verloren. Dieſe Auseinanderſetzungen brachten
Aengſtlichere ſo aus der Faſſung, daß jeder neue Blitz
ihnen die ausbrechende Flamme ſchien. Daß Jeder
nur eine Seite der Thurmdachfläche überſehen konnte,
begünſtigte die Fortpflanzung des Irrthums. Es war
wunderlich, aber man hörte nun von allen Seiten zu¬
[295] gleich das Geſchrei: „Wo? Wo?“ Sturm und Donner
verhinderten die Verſtändigung. Jeder wollte ſelbſt
ſehen; ſo entſtand ein wildes Gedränge.


„Wo hat es hingeſchlagen?“ fragte Apollonius,
der eben daher kam. „„In die Seite nach Bram¬
bach zu,““ antworteten viele Stimmen. Apollonius
machte ſich Bahn durch die Menge. Mit großen
Schritten eilte er die Thurmtreppe hinauf. Er war
den langſamern Begleitern um eine gute Strecke vor¬
aus. Oben fragte er vergebens. Die Thürmersleute
meinten, es müſſe ein kalter Schlag geweſen ſein, und
waren doch im Begriff, ihre beſten Sachen zuſammen¬
zuraffen, um vom Thurme zu fliehn. Nur der Geſell,
den er am Ofen beſchäftigt fand, beſaß noch Faſſung.
Apollonius eilte mit Laternen nach dem Dachgebälk,
um ſie da aufzuhängen. Die Leitertreppe zitterte nicht
mehr unter ſeinen Füßen; er war zu eilig, das zu be¬
merken. Innen am Dachgebälke wurde Apollonius
keine Spur von einem beginnenden Brande gewahr.
Weder der Schwefelgeruch, der einen Einſchlag bezeich¬
net, noch gewöhnlicher Rauch war zu bemerken. Apol¬
lonius hörte ſeine Begleiter auf der Treppe. Er rief
ihnen zu, er ſei hier. In dem Augenblick zuckte es
blau zu allen Thurmlucken herein und unmittelbar
darauf rüttelte ein praſſelnder Donner an dem Thurm.
Apollonius ſtand erſt wie betäubt. Hätte er nicht
unwillkührlich nach einem Balken gegriffen, er wäre um¬
[296] gefallen von der Erſchütterung. Ein dicker Schwefel¬
qualm ſtickte ihn. Er ſprang nach der nächſten Dach¬
lucke, um friſche Luft zu ſchöpfen. Die Werkleute,
dem Schlage ferner, waren nicht betäubt worden, aber
vor Schrecken auf den oberſten Treppenſtufen ſtehn ge¬
blieben. „Herauf!“ rief ihnen Apollonius zu. „Schnell
das Waſſer! die Spritze! In dieſe Seite muß es ge¬
ſchlagen haben, von da kam Luftdruck und Schwefel¬
geruch. Schnell mit Waſſer und Spritze an die Aus¬
fahrthür.“ Der Zimmermeiſter rief, ſchon auf der
Leitertreppe, huſtend: „„aber der Dampf!““ „Nur
ſchnell!“ entgegnete Apollonius. „Die Ausfahrthür
wird mehr Luft geben, als uns lieb iſt.“ Der Maurer
und der Schornſteinfeger folgten dem Zimmermann,
der die Schläuche trug, ſo ſchnell als möglich war,
mit der Spritze die Leitertreppe hinauf. Die Andern
brachten Eimer kalten, der Geſell einen Topf heißen
Waſſers, um durch Zugießen das Gefrieren zu ver¬
hindern. In ſolchen Augenblicken hat, wer Ruhe zeigt,
das Vertrauen, und dem gefaßten Thätigen unterord¬
nen ſich die Andern ohne Frage. Der Breterweg nach
der Ausfahrthüre war ſchmal: durch die verſtändige
Anordnung Apollonius' fand dennoch Alles im Augen¬
blicke ſeinen Platz. Zunächſt Apollonius nach der
Thüre ſtand der Zimmermann, dann die Spritze, dann
der Maurer. Die Spritze war ſo gewendet, daß die
beiden Männer die Druckſtangen vor ſich hatten.
[297] Zwei ſtarke Männer konnten das Druckwerk bedienen.
Hinter dem Maurer ſtand der Schieferdeckergeſelle, um
über deſſen Schulter, ſo oft es nöthig, von dem heißen
Waſſer zuzugießen. Andere betrieben des Geſellen
vorheriges Geſchäft; ſie ſchmolzen Schnee und Eis,
und behielten das gewonnene Waſſer in der geheizten
Thürmerſtube, damit es nicht wieder zu Eiſe fror.
Andere waren bereit, als Zuträger zwiſchen Dachſtuhl
und Thürmerſtube zu dienen, und bildeten eine Art
Spalier. Während Apollonius mit fliegenden Worten
und Winken den Plan dieſer Geſchäftsordnung dem
Zimmermann und Maurer mittheilte, die ihn dann in
Ausführung brachten, hatte er die Dachleiter ſchon in
der Rechten und griff mit der Linken nach dem Riegel
der Ausfahrthür. Die Leute hatten die beſte Hoffnung;
aber als durch die geöffnete Thür der Sturm herein¬
pfiff, dem Zimmermann die Mütze vom Kopfe riß und
Maſſen feinen Schneeſtaubs gegen das Gebälke warf
und heulend und rüttelnd den Dachſtuhl auf- und ab¬
polterte und Blitz auf Blitz blendend durch die dunkle
Oeffnung brach, da war der Muthigſte im Begriff,
die Hand von dem vergeblichen Werke abzuziehn.
Apollonius mußte ſich mit dem Rücken gegen die Thüre
kehren, um athmen zu können. Dann, beide Hand¬
flächen gegen die Verſchalung oberhalb der Thüre ge¬
ſtemmt, bog er den Kopf zurück, um an der äußern
Dachfläche hinaufzuſeh'n. „Noch iſt zu retten,“ rief er
[298] angeſtrengt, damit die Leute vor dem Sturm und dem
ununterbrochenen Rollen des Donners ihn verſteh'n
konnten. Er ergriff das Rohr des kürzeſten Schlauches,
deſſen unteres Ende der Zimmermann einſchraubend
an der Spritze befeſtigte, und wand ſich den obern
Theil um den Leib. „Wenn ich zweimal hintereinander
den Schlauch anziehe, drückt los. Meiſter, wir retten
die Kirche, vielleicht die Stadt!“ Die rechte Hand
gegen die Verſchalung geſtemmt, bog er ſich aus der
Ausfahrthür; in der linken hielt er die leichte Dach¬
leiter frei hinaus, um ſie an dem nächſten Dachhacken
über der Thüre anzuhängen. Den Werkleuten ſchien
das unmöglich. Der Sturm mußte die Leiter in die
Lüfte reißen und — nur zu möglich war's, er riß den
Mann mit. Es kam Apollonius zu ſtatten, daß der
Wind die Leiter gegen die Dachfläche drückte. An
Licht fehlte es nicht, den Hacken zu finden; aber der
Schneeſtaub, der dazwiſchen wirbelte und, vom Dache
herabrollend, in ſeine Augen ſchlug, war hinderlich.
Aber er fühlte, die Leiter hing feſt. Zeit war nicht zu
verlieren; er ſchwang ſich hinaus. Er mußte ſich mehr
der Kraft und Sicherheit ſeiner Hände und Arme
vertrau'n, als dem ſichern Tritt ſeiner Füße, als er
hinaufklomm; denn der Sturm ſchaukelte die Leiter
ſammt dem Mann wie eine Glocke hin und her. Oben,
ſeitwärts über der erſten Sproſſe der Leiter, hüpften
bläuliche Flammen mit gelben Spitzen unter der Lücke
[299] und leckten unter den Rändern der Schiefer hervor.
Zwei Fuß tief unter der Lücke hatte der Blitz hinein¬
geſchlagen. Vor einer Stunde noch war er vor dem
Gedanken der bloßen Möglichkeit erſchrocken, hierher
könnte der Blitz ſchlagen und er müſſe herauf. Eine
Reihe dunkler, tödtlicher Fiebergebilde hatten ſich daran
geſchloſſen. Jetzt war Alles geſcheh'n, wie er ſich's
vorhin nur gedacht, aber die Lücke war ihm wie jede
andere Stelle des Thurmdachs, ſchwindellos ſtand er
auf der Leiter und nur Ein friſches wackeres Gefühl
erfüllte ihn; der Drang, von Kirche und Stadt die
drohende Gefahr zu wenden. Ja, etwas, was ihm
die dunkle Furcht durch Sorge erhöht hatte, erwies
ſich nun ſogar als heilvoll und glücklich. Er erkannte,
das Waſſer, welches die Lücke wochenlang geſchluckt,
das nun im Holze gefroren, war es allein, was die
Flamme nicht ſo ſchnell überhand nehmen ließ, als
ohne dies Hinderniß geſchehen ſein würde. Der Raum,
den der Brand bis jetzt einnahm, war ein kleiner. Der
Froſt in der Verſchalung warf die hartnäckig immer
wiederkehrenden hüpfenden Flämmchen lange zurück,
eh' ſie bleibend einwurzeln und von dem Wurzelpunkte
aus weiter freſſen konnten. Hatten ſie ſich einmal zu
einer großen Flamme vereinigt und dieſe den durch
Froſt gefeiten Raum unter der Lücke überſchritten, dann
mußte der Brand bald rieſig über die Thurmſpitze
hinauswachſen, und die Kirche und vielleicht die Stadt
[300] erlag der vereinten Gewalt von Feuer und Sturm.
Er ſah, noch war zu retten. Und er brauchte die
Kraft, die ihm dieſer Gedanke gab. Die Leiter ſchau¬
kelte nicht mehr blos herüber und hinüber, ſie wuchtete
zugleich auf und ab. Was war das? Und wenn der
Dachhacken locker war, — aber er wußte, das konnte
nicht ſein — dieſe Bewegung war unmöglich. Aber
die Leiter hing ja gar nicht an dem Hacken; er hatte
ſie an ein hervorſpringendes Eichenblatt der [Blechver¬
zierung]
angehängt. Nah an einem der Befeſtigungs¬
punkte; aber das andere Ende des Guirlandenſtücks,
an dem die Leiter hing, war das, welches er zu be¬
feſtigen vergeſſen hatte. Sein und der Leiter Gewicht
wuchtete an dem Stücke und zog es immer mehr
herab und bog die Seite nach vorn, an die er die
Leiter gehängt. Noch einen Zoll tiefer, und das Blatt
lag wagrecht und die Leiter glitt von dem Blatte
herab und mit ihm hinunter in die ungeheure Tiefe.
Jetzt mußte ſich ſein neugewonnener Lebensmuth be¬
währen und er that's. Sechs Zoll weit neben dem
Blatte war der Hacken. Noch drei leichte Schritte die
ſchwankende Leiter hinauf und er faßte mit der linken
Hand den Hacken, hielt ſich feſt daran und hob die
Leiter mit der rechten von dem Blatte herüber an den
Hacken. Sie hing. Die linke ließ den Hacken und
faßte neben der rechten die Leiterſproſſe; die Füße
folgten; er ſtand wieder auf der Leiter. Und jetzt
[301] begannen ſchon die Schiefer unter der Lücke zu glüh'n;
nicht lang, und ſie rollten ſich ſchmelzend, und die bren¬
nenden Schlacken trugen das Verderben fliegend
weiter. Apollonius zog die Klaue aus dem Gürtel;
wenig Stöße mit dem Werkzeug, und die Schiefer
fielen abgeſtreift in die Tiefe. Nun überſah er deutlich
den geringen Umfang der brennenden Fläche; ſeine
Zuverſicht wuchs. Zwei Züge an dem Schlauch, und
die Spritze begann zu wirken. Er hielt das Rohr erſt
gegen die Lücke, um die Verſchalung oberhalb des
Brandes noch geſchickter zum Widerſtande zu machen.
Die Spritze bewies ſich kräftig; wo ihr Strahl unter
den Rand der Schiefer ſich einzwängte, ſplitterten dieſe
krachend von den Nägeln. Die Flammen des Brandes
kniſterten und hüpften zornig unter dem herabfließenden
Waſſer; erſt dem unmittelbar gegen ſie gerichteten
Strahl gelang es, und auch dieſem mehr durch ſeine
erſtickende Gewalt, als durch die Natur ſeines Stoffes,
die hartnäckigen zu bezwingen. Die Brandfläche lag
ſchwarz vor ihm, dem Strahl der Spritze antwortete
kein Ziſchen mehr. Da raſſelte das Getriebe der Uhr
tief unter ihm. Es ſchlug Zwei. Zwei Schläge!
Zwei! Und er ſtand und er ſtürzte nicht! Wie anders
war es nun in der Wirklichkeit gekommen, als die
fieberiſchen Ahnungen gedroht! Wenn er oben war,
da ſchlug es Zwei, da packte ihn der Schwindel und
riß ihn hinab, eine dunkle Schuld zu büßen. Das
[302] hatten ihm ſeine ſchweren wachen Träume gezeigt.
Und er ſtand doch wirklich oben, und die Leiter ſchwankte
im Sturme, Schneeſtaub umwirbelte ihn, Blitze um¬
zuckten ihn; mit jedem flammte die Schneedecke der
Dächer, der Berge, des Thals, die ganze Gegend in
Einer ungeheuern Flamme auf, und nun ſchlug's Zwei
unter ihm, die Glockentöne heulten, vom Sturm ge¬
zerrt hinaus in den Aufruhr, und er ſtand, er ſtand
ſchwindellos, er ſtürzte nicht. Er wußte, keine Schuld
lag auf ihm; er hatte ſeine Pflicht gethan, wo Tau¬
ſende ſie nicht gethan hätten; er hatte die Stadt, an
der er mit ganzer Seele hing, er allein, von der furcht¬
barſten Gefahr befreit. Aber aller Stolz dieſes Ge¬
dankens war in dieſer Seele nur ein Dankgebet. Er
dachte nicht an die Menſchen, die ihn preiſen würden,
nur an die Menſchen, die nun wieder aufathmen
durften, an das Elend, das verhütet, an das Glück,
welches erhalten war. Und er fühlte ſelbſt nach Mon¬
den wieder, was frei aufathmen heißt. Dieſe Nacht
hatte die Luſt ja auch ihm wieder gebracht. Mit
Freudigkeit erinnerte er ſich jetzt wieder an das Wort,
das er ſich gegeben. Menſchen wie Apollonius iſt's
der höchſte Segen einer braven That, daß ſie ſich ge¬
ſtärkt fühlen zu neuem braven Thun.


Die Menge unten ſchrie noch immer Wo? Wo?
und drängte ſich durcheinander, als der zweite Einſchlag
geſchah. Alles ſtand einen Augenblick von Schrecken
[303] gelähmt. „Gott ſei Dank! es war wieder kalt!“ rief
eine Stimme. „„Nein! Nein! dasmal brennt's! Er¬
barme ſich Gott!““ entgegneten Andere. Scharfe
Augen ſah'n, wenn zuweilen zwiſchen den Blitzen Dun¬
kel eintrat, die kleinen Flammen wie Lichterchen über
die Schiefer hüpfen. Sie ſuchten ſich und lohten,
wenn ſie ſich fanden, zuckend in eine größere Flamme
zuſammen auf; dann flohen ſie ſich tanzend und ſchlugen
wieder zuſammen. Der Sturm bog und dehnte ſie hin
und her; zuweilen ſchienen ſie zu verlöſchen, dann
züngelten ſie noch höher auf als vorhin. Sie wuchſen,
das ſah man; aber raſch war ihr Wachsthum nicht.
Viel ſchneller und gewaltiger ſchwoll das neue Feuerjo
durch die ganze Stadt. In angſtvoller Spannung
bohrten ſich alle Blicke auf der kleinen Stelle feſt.
„Jetzt Hülfe, und es iſt noch zu verlöſchen!“ Und
wieder klang angſtvoll der Ruf: „Nettenmair! Wo iſt
der Nettenmair?“ durch Sturm und Donner. Eine
Stimme rief: „Er iſt auf dem Thurm.“ Alle Ge¬
müther fühlten das wie eine Beruhigung. Und die
meiſten kannten ihn nicht, ſelbſt die meiſten unter den
Rufern. Und die ihn nicht kannten, ſchrieen am
lauteſten. In Augenblicken allgemeiner Hülfloſigkeit
klammert ſich die Menge an einen Namen, an ein
bloſes Wort. Ein Theil ſchiebt damit die Anforderun¬
gen des Gewiſſens zu eig'nem Müh'n, zu eig'nem
Wagniß von ſich; und dieſe ſind's, die dem Helfer,
[304] hat er nicht geholfen, dann unbarmherzig nachrechnen,
was er gethan, und was er nicht gethan. Die Andern
ſind froh, täuſchen ſie ſich nur über den nächſten
Augenblick hinweg. „Was ſoll er?“ rief Einer.
„„Helfen! Retten!““ Andere. „Und wenn er Flügel
hätte, in dem Sturm wagt's Keiner.“ „„Der Netten¬
mair gewiß!““ Im tiefſten Herzen wußten auch die
Vertrauendſten, er wird's nicht wagen. Der Gedanke,
daß die Flamme noch gelöſcht werden konnte, wenn
ſie nur zugänglich war, machte die allgemeine Empfin¬
dung peinlicher, da er die ſtumpfe Ergebung hinderte,
wozu die unausweichliche Noth mit milder Härte
zwingt. Als die Ausfahrthür ſich öffnete und die
herausgehaltene Leiter ſichtbar wurde, als es ſchien, es
wagt' es dennoch einer, wirkte das ſo erſchreckend, als
der Einſchlag ſelbſt. Und die Leiter hing und ſchaukelte
hoch oben mit dem Manne, der daran hinaufklomm,
von Schnee umwirbelt, von Blitzen umzuckt; die Leiter
hinauf, die wie aus einem Span geſchnitten ſchien,
und wie eine Glocke mit ihm ſchaukelte, in der ent¬
ſetzlichen Höhe. Jeder Athem ſtockte. Aus Hunderten
der verſchiedenſten Geſichter ſtarrte derſelbe Ausdruck
nach dem Manne hinauf. Keiner glaubte an das
Wagniß, und ſie ſahen den Wagenden doch. Es war
wie Etwas, das ein Traum wäre und doch Wirklich¬
keit zugleich. Keiner glaubte es, und doch ſtand jeder
Einzelne ſelbſt auf der Leiter, und unter ihm ſchaukelte
[305] der leichte Span in Sturm und Blitz und Donner
hoch zwiſchen Himmel und Erde. Und ſie ſtanden
doch auch wieder unten auf der feſten Erde und ſahen
nur hinauf; und doch! wenn der Mann ſtürzte, dann
waren ſie's, die ſtürzten. Die Menſchen unten auf der
feſten Erde hielten ſich krampfhaft an ihren eigenen
Händen, an ihren Stöcken, ihren Kleidern an, um
nicht herabzuſtürzen von der entſetzlichen Höhe. So
ſtanden ſie ſicher und hingen doch zugleich über dem
Abgrunde des Todes, jahrelang, ein Leben lang, denn
die Vergangenheit war nicht geweſen; und doch war's
nur ein Augenblick, ſeit ſie oben hingen. Sie ver¬
gaßen die Gefahr der Stadt, ihre eigene über der Ge¬
fahr des Menſchen da oben, die ja doch ihre eigene
war. Sie ſahen, der Brand war getilgt, die Gefahr
der Stadt vorüber; ſie wußten es wie in einem
Traume, wo man weiß, man träumt; es war ein
bloſer Gedanke ohne lebendigen Inhalt. Erſt, als der
Mann die Leiter herabgeklommen, in der Ausfahrthür
verſchwunden war, und die Leiter ſich nachgezogen hatte,
erſt, als ſie nicht mehr oben hingen, als ſie ſich nicht
mehr an den eigenen Händen, Stöcken und Kleidern
feſthalten mußten; da erſt kämpfte die Bewunderung
mit der Angſt, da erſt erſtickte der Jubel: „zu, braver
Junge!“ in dem Angſtruf „er iſt verloren!“ Eine
alterszitternde Stimme begann zu ſingen: „Nun danket
Alle Gott.“ Als der alte Mann an die Zeile kam:
Ludwig, Zwiſchen Himmel und Erde. 20[306] „der uns behütet hat,“ da erſt ſtand Alles vor ihrer
Seele, was ſie verlieren konnten und, was ihnen ge¬
rettet war. Die fremdeſten Menſchen fielen ſich in die
Arme, einer umſchlang in dem Andern die Lieben, die
er verlieren konnte, die ihm gerettet waren. Alle
ſtimmten ein in den Geſang; und die Töne des Dankes
ſchwollen durch die ganze Stadt, über Straßen und
Plätze, wo Menſchen ſtanden, die gefürchtet hatten, und
drangen in die Häuſer hinein bis in das innerſte Ge¬
mach, und ſtiegen bis in die höchſte Bodenkammer
hinauf. Der Kranke in ſeinem einſamen Bett, das
Alter in dem Stuhl, wohin es die Schwäche gebannt
hielt, ſang von ferne mit; Kinder ſangen mit, die das
Lied nicht verſtanden und die Gefahr, die abgewendet
war. Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche,
und Sturm und Donner die rieſige Orgel darin. Und
wieder erhob ſich der Ruf: „Der Nettenmair! Wo iſt
der Nettenmair? Wo iſt der Helfer? Wo iſt der
Retter? Wo iſt der kühne Junge? Wo iſt der brave
Mann?“ Sturm und Gewitter waren vergeſſen.
Alles ſtürzte durcheinander, den Gerufenen ſuchend;
der Thurm von Sankt Georg wurde geſtürmt. Den
Suchenden kam der Zimmermann entgegen und ſagte,
Nettenmair habe ſich einen Augenblick im Thürmer¬
ſtübchen zur Ruhe gelegt. Nun drangen ſie in den
Zimmermann, er ſei doch nicht beſchädigt? Seine
Geſundheit habe doch nicht gelitten? Der Zimmer¬
[307] meiſter konnte nichts ſagen, als daß Nettenmair mehr
gethan habe, als ein Menſch im gewöhnlichen Lauf
der Dinge zu thun im Stande ſei. Bei ſolchen Ge¬
legenheiten, wie die Rettung heute, ſei der Menſch ein
anderer; hintennach erſtaun' er ſelber über die Kräfte,
die er gehabt. Aber es bezahle ſich Alles. Ihn —
den Zimmermeiſter — ſolle es nicht wundern, ſchliefe
Nettenmair nach der gehabten Anſtrengung drei Tage
und drei Nächte „in Einem Ritt“ hintereinander fort.
Die Leute ſchienen bereit, ſo lang auf den Treppen zu
warten, um den Braven nur gleich nach ſeinem Er¬
wachen zu ſeh'n. Unterdeß hatte ein angeſehener Mann
auf dem nahen Marktplatze eine Geldſammlung begon¬
nen. Geld lohne freilich ſolch ein Thun nicht, als der
Brave heut bewieſen; aber man könne ihm wenigſtens
zeigen, man wiſſe, was man ihm zu danken habe. In
der Stimmung des Augenblicks, die in jedem Einzel¬
nen wiederklang, liefen ſogar anerkannte Geizhälſe
haſtig heim, ihren Beitrag zu holen, unbekümmert
darum, daß ſie es eine Stunde ſpäter reuen würde.
Wenige von den Wohlhabenderen ſchloſſen ſich aus;
die Aermeren ſteuerten alle bei. Der Sammler erſtaunte
ſelbſt über den reichen Erfolg ſeiner Bemühungen.


Wohl eine halbe Stunde hatte Apollonius gelegen.
Eh' er ſich gelegt, hatte er noch geſorgt, daß die
Laternen vorſichtig ausgelöſcht wurden. Er hatte die
Ausfahrthüre geſchloſſen und die Spritze leeren, die
20 *[308] Schläuche in die Thürmerſtube bringen laſſen, damit
der Froſt keinen Schaden daran bringen konnte. Er
vermochte kaum mehr zu ſteh'n; der Bauherr, der
unterdeß heraufgekommen war, hatte ihn dennoch halb
mit Gewalt in die Thürmerſtube hinunterbringen müſ¬
ſen. Dann hatte der Freund die Thüre von innen
verriegelt, Apollonius genöthigt, die gefrorenen Kleider
auszuziehn, und dann wie eine Mutter an ſeines Lieb¬
lings Bett geſeſſen. Apollonius konnte nicht ſchlafen;
der alte Mann litt aber nicht, daß er ſprach. Er hatte
Rum und Zucker mitgebracht; an heißem Waſſer fehlte
es nicht; Apollonius aber, der nie hitziges Getränk zu
ſich nahm, wies den Grogk dankend zurück. Der Ge¬
ſelle hatte unterdeß friſche Kleider geholt. Apollonius
verſicherte, er finde ſich wieder vollkommen kräftig, aber
er zögerte, aus dem Bette aufzuſtehn. Der Alte gab
ihm lachend die Kleider. Apollonius hatte ſich vorhin
unter der Decke ausgezogen und ſo zog er ſich wieder
an. Der Bauherr kehrte ſich ab von ihm und lachte
durch das Fenſter Sturm und Blitzen zu; er wußte
nicht, ob über Apollonius Schamhaftigkeit, oder über¬
haupt aus Freude an ſeinem Liebling. Er hatte oft
bereut, daß er Junggeſelle geblieben war; jetzt freute
es ihn faſt. Er hatte ja doch einen Sohn, und einen
ſo braven, als ein Vater wünſchen kann.


Auf dem Wege begann eine große Noth für Apol¬
lonius. Er wurde von Arm in Arm geriſſen; ſelbſt
[309] angeſehene Frauen umfaßten und küßten ihn. Seine
Hände wurden ſo gedrückt und geſchüttelt, daß er ſie
drei Tage lang nicht mehr fühlte. Er verlor ſeine
natürlich edle Haltung nicht; die verlegene Beſcheiden¬
heit dem begeiſterten Danke, das Erröthen dem bewun¬
dernden Lobe gegenüber, ſtand ihm ſo ſchön an, als
ſein muthig entſchloſſenes Weſen in der Gefahr. Wer
ihn nicht ſchon kannte, verwunderte ſich; man hatte
ihn ſich anders gedacht, braun, keckäugig, verwegen,
überſprudelnd von Kraftgefühl, wohl ſogar wild. Aber
man geſtand ſich, ſein Anſehn widerſprach dennoch
nicht ſeiner That. Das mädchenhafte Erröthen einer
ſo hohen männlichen Geſtalt hatte ſeinen eigenen Reiz,
und die verlegene Beſcheidenheit des ehrlichen Geſichts,
die nicht zu wiſſen ſchien, was er gethan, gewann;
die milde Beſonnenheit und einfache Ruhe ſtellte die
That nur in ein ſchöneres Licht; man ſah, Eitelkeit
und Ehrbegierde hatten keinen Theil daran gehabt.


Wir überſpringen im Geiſte drei Jahrzehnte, und
kehren zu dem Manne zurück, mit dem wir uns im
Anfange unſerer Erzählung beſchäftigten. Wir ließen
ihn in der Laube ſeines Gärtchens. Die Glockentöne
von Sankt Georg riefen die Bewohner der Stadt zum
[310] Vormittagsgottesdienſte; ſie klangen auch in das Gärt¬
chen hinter dem Hauſe mit den grünen Fenſterladen
herein. Dort ſitzt er jeden Sonntag um dieſe Zeit.
Rufen die Glocken zum Nachmittagsgottesdienſt, dann
ſieht man ihn, das ſilberbeknopfte Rohr in der
Hand, nach der Kirche ſteigen. Kein Menſch begeg¬
net ihm dann, der den alten Herrn nicht ehrerbietig
grüßte. Nun ſind es faſt dreißig Jahre her, aber
es gibt noch Leute, die die Nacht miterlebt haben,
die denkwürdige Nacht, von der wir eben erzählten.
Wer es noch nicht weiß, dem können ſie ſagen, was
der Mann mit dem ſilberbeknopften Stocke für die
Stadt gethan in jener Nacht. Und was er den Mor¬
gen nachher geſtiftet, davon kann man Steine zeugen
hören. Vor der Stadt am Brambacher Wege, nicht
weit vom Schützenhaus, erhebt ſich aus freundlichem
Gärtchen ein ſtattlicher Bau. Es iſt das neue Bürger¬
hoſpital. Jeder Fremde, der das Haus beſucht, erfährt,
daß der erſte Gedanke dazu von Herrn Nettenmair
kam. Er muß die ganze Geſchichte jener Nacht hören,
die wackere That des Herrn Nettenmair, der dazumal
noch jung war; dann, wie man Geld für ihn geſam¬
melt, und er die bedeutende Summe an den Rath ge¬
geben als Stammfonds zu dem Kapital, das der Bau
erforderte; wie ſein Beiſpiel Frucht getragen, und reiche
Bürger mehr oder weniger dazu geſchenkt und ver¬
macht, bis endlich nach Jahren ein Zuſchuß aus der
[311] Stadtkaſſe den Beginn und die Vollendung des Baues
ermöglicht hatte.


War Herr Nettenmair aus der Kirche zurück, dann
verbrachte er den Reſt des Sonntags auf ſeinem Stüb¬
chen — denn da wohnt er noch immer — oder er
machte einen Gang nach der nahen Schiefergrube, die
jetzt ihm gehört, oder vielmehr ſeinen Neffen. Die
Erfüllung des Wortes, das er ſich gegeben, war der
Gedanke ſeines Lebens geblieben. Was er ſchaffte,
ſchaffte er für die Angehörigen ſeines Bruders; er ſah
ſich nur als ihren Verwalter an. Begegnete ihm auf
ſeinem Wege ein zierliches kleines Mädchen, ſo dachte
er an das todte Aennchen. Sein Gedächtniß war ſo
gewiſſenhaft, als er ſelbſt. Dann rief er das Kind zu
ſich, ſtreichelte ihm das Köpfchen, und es mußte wun¬
derlich zugegangen ſein, fand ſich in den Taſchen des
blauen Rockes nicht irgend etwas ſorglich in reines
Papier Gewickeltes, das er herausnehmen konnte, ſich
von dem kleinen Munde einen Dank zu verdienen.
Aber das Kind konnte ſich erſt freuen, wenn er vor¬
übergegangen war. Bei aller Freundlichkeit hatte die
große Geſtalt etwas ſo Ernſtes und Feierliches, daß
das Kind vor Reſpekt nicht zur Freude kommen konnte.
Die Woche über ſaß Herr Nettenmair über ſeinen Bü¬
chern und Briefen, oder beaufſichtigte im Schuppen
das Ab- und Aufladen, das Behauen und Sortiren
der Schiefer. Punkt zwölf aß er Mittags, punkt
[312] ſechs zu Abend auf ſeinem Stübchen; dazu brauchte
er eine Viertelſtunde, dann ſtrich er mit leiſer Hand
über das alte Sopha und bewegte ſich drei andere
Viertelſtunden, war es Sommerszeit, im Gärtchen.
Mit dem erſten Viertelſchlage von ein und ſieben Uhr
klinkte er die Staketenthüre wieder hinter ſich zu. Am
Sonntag iſt's anders; da ſitzt er eine ganze Stunde
lang in der Laube und ſieht nach dem Thurmdache von
Sankt Georg hinauf. Uns bleibt wenig nachzuholen,
und der Leſer kennt Alles, was dann durch Herrn Net¬
tenmair's Seele geht, was er ablieſt vom Thurmdache
von Sankt Georg. Auch wem das bejahrte, aber
immer noch ſchöne Frauengeſicht gehört, das zuweilen
durch das Staket und das Bohnengelände daran, zu
dem Sitzenden herüberlauſcht, das weiß der Leſer nun.
Die jetzt weiße Locke über der Stirn, die ſich noch immer
gern freimacht, war noch dunkelbraun und voll, und
hing auf eine faltenloſe Stirn herab, die Wangen
darunter ſchwellte noch Jugendkraft, die Lippen blühten
noch und die blauen Augen glänzten, als ſie dem
Manne entgegeneilte, der eben die Stadt gerettet. Er
küßte ſie leiſe auf die Stirn und nannte ſie mit dem
Namen „Schweſter“. Sie verſtand, was er meinte.
Schon damals ſah ſie mit der Ergebung, ja Andacht
zu dem Manne hinauf, mit der ſie jetzt ſein Sinnen
belauſcht, aber noch ein ander Gefühl trat auf ihr
durchſichtiges Antlitz.


[313]

Der alte Herr gerieth in Zorn, als Apollonius
ihm ſeinen Entſchluß, nicht zu heirathen, mittheilte. Er
ließ dem Sohne die Wahl, die Ehre der Familie zu
bedenken, oder nach Köln zurückzugehn. Apollonius'
Herzen wurde es ſchwerer, als ſeinem Verſtande, den
Vater zu überzeugen, daß nur er die Familienehre
aufrecht zu halten vermöge, daß er bleiben müſſe. Er
wußte, nur ſeinem Entſchluſſe treu, blieb er der Mann,
ſein Wort zu halten. Das konnte er dem Vater nicht
ſagen. Erfuhr dieſer das wahre Verhältniß der beiden
jungen Leute, ſo drang er nur noch ſtärker auf die
Heirath. Dann hätte er ihm auch ſagen müſſen, wie
der Bruder den Tod gefunden. Er hätte ihn nur
tiefer beunruhigen müſſen. Daß der Vater im Herzen
überzeugt war, der Bruder hatte durch Selbſtmord ge¬
endigt, wußte er nicht. Die beiden ſo nah verwandten
Menſchen verſtanden ſich nicht. Apollonius ſetzte die inner¬
liche Natur ſeines eigenen Ehrgefühles bei dem Vater
voraus, und der Alte ſah in der Weigerung des
Sohnes und deſſen Beweis, er nur könne der ſchwie¬
rigen Lage des Hauſes gerecht werden, den alten Trotz
auf ſeine Unentbehrlichkeit, der es nun nicht einmal
mehr der Mühe werth hielt, zu verbergen: der Vater
war in ſeinen Augen nichts mehr, als ein hülfloſer
alter blinder Mann. Und was dieſe Mißverſtändniſſe
verurſachte und begünſtigte, das Zurückhalten, war
eben der Familienzug, den ſie beide gemein hatten.
[314] Denſelben Morgen hatte eine Deputation des Raths
Apollonius den Dank der Stadt gebracht; hatten die
angeſehenſten Leute der Stadt gewetteifert, ihm ihre
Achtung und Aufmerkſamkeit zu beweiſen. Urſache
genug, eine ehrgeizige Seele zur Ueberhebung zu reizen,
Grund genug für den alten Herrn, dem Apollonius als
eine ſolche Seele galt, an deſſen Ueberhebung zu glauben.
Der alte Herr mußte die Unentbehrlichkeit des Trotzen¬
den anerkennen und durfte weder ein Recht noch eine
Macht gegen ihn behaupten. Die Gemüthsbewegung
und geiſtige Ueberanſtrengung an dem Tag vor dem
Tode ſeines älteren Sohnes hatten ſeine letzte Kraft
untergraben; nun brach ſie vollends zuſammen. Von
Tag zu Tag wurde er wunderlicher und empfindlicher.
Er verlangte von Apollonius keine Unterwerfung
mehr; er fand eine ſelbſtquäleriſche Luſt, in ſeiner
diplomatiſchen Weiſe dem Sohne deſſen Unkindlichkeit
vorzuwerfen, indem er beſtändig ſein grimmiges Be¬
dauern ausſprach, daß der tüchtige Sohn von einem
alten herrſchſüchtigen Vater, der nichts mehr ſei und
nichts mehr könne, ſich ſoviel gefallen laſſen müſſe.
Vergeblich war alles Bemüh'n des Sohnes, der Alte
glaubte nicht an die Aufrichtigkeit deſſelben. Dabei
konnte er ſich in ſeiner Wunderlichkeit gleichwohl der
Tüchtigkeit des Sohnes und der wachſenden Ehre und
des ſteigenden Wohlſtandes ſeines Hauſes freu'n;
wenn er ſich dies auch nicht merken ließ. Er erlebte
[315] noch den Ankauf der Schiefergrube, die Apollonius
ſeither im Pachte gehabt. Der Sohn ertrug die Wun¬
derlichkeiten des Vaters mit der liebend unermüdlichen
Geduld, womit er den Bruder ertragen hatte. Er
lebte ja nur dem Gedanken, das Wort, das er ſich ge¬
geben, ſo reich zu erfüllen, als er konnte; und in dieſem
war ja auch der Vater mit eingeſchloſſen. Das Ge¬
deihen ſeines Werkes gab ihm Kraft, alle kleinen Krän¬
kungen mit Heiterkeit zu ertragen.


Den Tag nach der Gewitterwinternacht hatte er
dem alten Bauherrn ſeine ganze innere Geſchichte mit¬
getheilt. Der alte Bauherr, der bis zu ſeinem Tod
mit ganzer Seele an ihm hing, blieb ſein einziger
Umgang, wie er der einzige war, dem ſich Apollonius,
ohne ſeiner Natur ungetreu werden zu müſſen, enger
anſchließen konnte.


Einige Tage nach der Nacht mußte ſich Apollonius
zu Bette legen. Ein heftiges Fieber hatte ihn ergrif¬
fen. Der Arzt erklärte die Krankheit erſt für eine ſehr
bedenkliche, aber in ihr kämpfte nur der Körper den
Kampf gegen das allgemeine Leiden ſieghaft aus, das
geiſtig in dem Entſchluſſe jener Nacht ſeinen rettenden
Abſchluß gefunden. Die Theilnahme der Stadt an
dem kranken Apollonius gab ſich auf mannigfache
Weiſe rührend kund. Der alte Bauherr und Valentin
waren ſeine Pfleger. Der erſte wich Tag und Nacht nicht
von ſeinem Lager. Diejenige, welche Natur durch Liebe und
[316] Dankespflicht zur ſorglichſten Pflegerin des Kranken
beſtimmt hatte, rief Apollonius nicht an ſein Bett, und
ſie wagte nicht, ungerufen zu kommen. Die ganze
Dauer der Krankheit hindurch hatte ſie ihr Lager auf
der engen Emporlaube aufgeſchlagen, um dem Kranken
ſo nah zu ſein, als möglich. Wenn der Kranke ſchlief,
winkte ihr der alte Bauherr, hereinzutreten. Dann
ſtand ſie mit gefalteten Händen, jeden Athemzug des
Schlafenden mit Sorge und Hoffnung begleitend, an
dem Bettſchirm. Unwillkürlich nahm ihr leiſer Athem
den Schritt des ſeinen an. Sie ſtand ſtundenlang
und ſah durch einen Riß im Bettſchirm nach dem
Kranken hin. Er wußte nichts von ihrer Anweſenheit,
und doch konnte der Bauherr bemerken, wie leichter
ſein Schlaf, wie lächelnder ſein Geſicht dann war.
Keine Flaſche, aus der der Kranke einnehmen ſollte,
die er nicht, ohne es zu wiſſen, aus ihrer Hand be¬
kam. Kein Pflaſter, kein Ueberſchlag, den nicht ſie
bereitet; kein Tuch berührte den Kranken, das ſie nicht
an ihrer Bruſt, an ihrem küſſenden Munde erwärmt.
Wenn er dann mit dem Bauherrn von ihr ſprach, ſah
ſie, er war mehr um ſie beſorgt, als um ſich; wenn er
freundlich tröſtende Grüße an ſie auftrug, zitterte ſie
hinter dem Bettſchirm vor Freude. Wenig Stunden
ruhte ſie, und wehte der kalte Winternachtwind durch
die locker ſchließenden Laden die kalten Flocken in ihr
warmes Geſicht, berührte ihr eigener Hauch, auf der
[317] Decke gefroren, ihr eiſig Hals, Kinn und Buſen, dann
war ſie glücklich, etwas um ihn zu leiden, der Alles
um ſie litt. In dieſen Nächten bezwang die heilige
Liebe die irdiſche in ihr; aus dem Schmerz der ge¬
täuſchten ſüßen Wünſche, die ihn beſitzen wollten, ſtieg
ſein Bild wieder in die unnahbare Glorie hinauf, in
der ſie ihn ſonſt geſehn.


Apollonius genas raſch. Und nun begann das
eigene Zuſammenleben der beiden Menſchen. Sie ſahen
ſich wenig. Er blieb auf ſeinem Stübchen wohnen,
Valentin brachte ihm das Eſſen, wie ſonſt, dahin. Die
Kinder waren oft bei ihm. Begegneten ſich die Bei¬
den, begrüßte er ſie mit freundlicher Zurückhaltung;
damit entgegnete ſie den Gruß. Hatten ſie etwas zu
beſprechen, ſo machte es ſich jederzeit wie zufällig, daß
die Kinder und der alte Valentin, oder das Hausmäd¬
chen zugegen war. Kein Tag verging deshalb ohne
ſtumme Zeichen achtender Aufmerkſamkeit. Kam er am
Sonntag vom Gärtchen heim, ſo hatte er einen Strauß
Blumen für ſie, den Valentin an ſie abgeben mußte.
Er konnte gute Partien machen; es meldeten ſich ſtatt¬
liche Bewerber um ſie. Er wies die Anträge, ſie die
Freier zurück. So vergingen Tage, Wochen, Monde,
Jahre, Jahrzehnte. Der alte Herr ſtarb und wurde
hinausgetragen, der brave Bauherr folgte ihm, dem
Bauherrn der alte Valentin. Dafür wuchſen die Kin¬
der zu Jünglingen auf. Die wilde Locke über der
[318] Stirn der Wittwe, die Schraube über Apollonius'
Stirne bleichten; die Kinder waren Männer geworden,
ſtark und mild wie ihr Erzieher und Lehrherr; Locke
und Schraube waren weiß; das Leben der beiden
Menſchen blieb dasſelbe.


Nun weiß der Leſer die ganze Vergangenheit, die
der alte Herr, wenn die Glocken Sonntags zum Vor¬
mittagsgottesdienſte rufen, in ſeiner Laube ſitzend vom
Thurmdach von Sankt Georg ablieſt. Heute ſieht er
mehr vorwärts in die Zukunft, als in die Vergangen¬
heit zurück. Denn der ältere Neffe wird bald Anna
Wohligs Tochter zum Altare von Sankt Georg, und
dann heimführen; aber nicht in das Haus mit den
grünen Fenſterladen, ſondern in das große Haus da¬
neben. Das roſige iſt für das gewachſene Geſchäft
zu klein geworden, auch hat der neue Haushalt nicht
Platz darin; Herr Nettenmair hat das große Haus
über dem Gäßchen drüben gekauft. Der jüngere Neffe
geht nach Köln. Der alte Vetter dort, dem Apollonius
ſoviel dankt, iſt lange todt, auch der Sohn des Vetters
iſt geſtorben. Dieſer hat das große Geſchäft ſeinem
einzigen Kinde hinterlaſſen, der Braut des jüngſten
Sohnes von Fritz Nettenmair. Beide Paare werden
zuſammen in Sankt Georg getraut. Dann wohnen
die beiden Alten allein in dem Hauſe mit den grünen
Fenſterladen. Der alte Herr hat ſchon lang das Ge¬
ſchäft übergeben wollen; die Jungen haben es bis jetzt
[319] abzulehnen gewußt. Der ältere Neffe beſteht darauf,
der alte Herr ſoll an der Spitze bleiben. Der alte
Herr will nicht. Er hat einen Theil der Verlaſſenſchaft
des alten Bauherrn, den er beerbt, für den Reſt ſeines
Lebens zurückbehalten; alles Andere — und es iſt nicht
wenig; Herr Nettenmair gilt für einen reichen Mann
— übergibt er den Neffen; das Zurückbehaltene fällt
nach ſeinem Tode an das neue Bürgerhospital. Er
hat ſein Wort wahr gemacht; der Deckhammer über
ſeinem Sarge wird ehrenblank ſein wie über wenigen.


Die junge Braut wehrt ſich, Alles anzunehmen,
was die künftige Schwiegermutter ihr geben will.
Wenn dieſe Alles gibt, Eins wird ſie behalten. Das
Eine iſt eine Blechkapſel mit einer dürren Blume. Sie
liegt bei Bibel und Geſangbuch und iſt ihrer Beſitzerin
ſo heilig, als dieſe.


Die Glocken rufen noch immer. Die Roſen an
den hochſtämmigen Bäumchen duften, ein Grasmück¬
chen ſitzt auf dem Buſche unter dem alten Birnbaum
und ſingt; ein heimliches Regen zieht durch das ganze
Gärtchen, und ſelbſt der ſtarkſtielige Buchsbaum um
die gezirkelten Beete bewegt ſeine dunkeln Blätter.
Der alte Herr ſieht ſinnend nach dem Thurmdach von
Sankt Georg; das ſchöne Matronengeſicht lauſcht
durch das Bohnengelände nach ihm hin. Die Glocken
rufen es, das Grasmückchen ſingt es, die Roſen duften
es, das leiſe Regen durch das Gärtchen flüſtert es,
[320] die ſchönen greiſen Geſichter ſagen es, auf dem Thurm¬
dach von Sankt Georg kannſt du es leſen: Von
Glück und Unglück reden die Menſchen, das der Him¬
mel ihnen bringe. Was die Menſchen Glück und Un¬
glück nennen, iſt nur der rohe Stoff dazu. Am Men¬
ſchen liegt's, wozu er ihn formt. Nicht der Himmel
bringt das Glück; der Menſch bereitet ſich ſein Glück
und ſpannt ſeinen Himmel ſelber in der eigenen Bruſt.
Der Menſch ſoll nicht ſorgen, daß er in den Himmel,
ſondern daß der Himmel in ihn komme. Wer ihn
nicht in ſich ſelber trägt, der ſucht ihn vergebens
im ganzen All. Laß' dich vom Verſtande leiten,
aber verletze nicht die heilige Schranke des Gefühls.
Kehre dich nicht tadelnd von der Welt, wie ſie iſt;
ſuche ihr gerecht zu werden, dann wirſt du dir
gerecht. Und in dieſem Sinne ſei dein Wandel:
Zwiſchen Himmel und Erde!

Appendix A

Druck von C. W. Leske in Darmſtadt.


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Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 2. Zwischen Himmel und Erde. Zwischen Himmel und Erde. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmpq.0