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Sozialpädagogik.

Theorie der Willenserziehung
auf der Grundlage der Gemeinschaft.


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Stuttgart:
Fr. Frommanns Verlag (E. Hauff)
1899.

[][[I]]
Sozialpädagogik.

Theorie der Willenserziehung
auf der Grundlage der Gemeinschaft.


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Stuttgart:
Fr. Frommanns Verlag (E. Hauff)
1899.

[[II]]

Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.


[[III]]

Rudolf Stammler
dem Freunde und Mitforscher
treulich gewidmet.


[[IV]][[V]]

Vorwort.


Die vorliegende Schrift versucht auf eine der am meisten
zentralen Fragen unsrer Zeit begründete Antwort zu geben,
indem sie die Wechselbeziehungen zwischen Erziehung
und Gemeinschaft
sich zum Problem macht. Sie betrachtet
die Erziehung, deren Kern sie in der Erziehung des Willens
sieht, als bedingt durch das Leben der Gemeinschaft und
wiederum bedingend für dessen Gestaltung. Dadurch fällt eine
vielfach neue Beleuchtung gleichzeitig auf die Thatsachen der
Erziehung im weitesten Sinne und auf die Thatsachen des
sozialen Lebens, das unter diesem Gesichtspunkt als ein
grosser Organismus zur Menschenbildung sich darstellt.


Indem also zwei sonst getrennte Wissenschaften, Gesell-
schaftslehre
und Erziehungslehre, nicht bloss äusserlich
aneinander zu bringen, sondern als in der tiefsten Wurzel eins
und untrennbar zusammengehörig zu erweisen waren, wurde
es notwendig, bis zu den philosophischen Gründen beider
zurückzugehen. Ein deduktiver Aufbau musste gewagt werden.
Nach dem gegenwärtigen Stande der Philosophie muss ich
darauf gefasst sein, dass er manchem in der That nur gewagt
erscheinen, dass die zwingende Kraft meiner Beweisführung
nicht allen gleichermaassen überzeugend sein wird; ja dass
manche, denen es mehr auf fruchtbare Resultate ankommt,
die ganze Mühe dieser Deduktion mir gern erlassen, und dafür
ein noch konkreteres Eingehen in unmittelbar praktische
Fragen lieber gesehen hätten. Diesen kann ich nur antworten,
dass ich für meine Aufgabe genau das zu leisten hatte,
was ich als Philosoph zu leisten gerüstet war. Uebrigens
wird man nicht verkennen, dass Mühe genug daran gewendet
[VI] worden ist, die philosophischen Gründe meiner Aufstellungen
durchsichtig, ja gemeinverständlich darzulegen; und dass
Anknüpfungspunkte für die Behandlung unmittelbar praktischer
Fragen besonders im dritten Buche reichlich geboten sind.


Manche Ergänzung in dieser Hinsicht liefern die folgenden
Schriften und Abhandlungen, die ich, da im Buche auf sie
öfter zu verweisen war, zu bequemerer Uebersicht zu-
sammenstelle:


Religion innerhalb der Grenzen der Humanität. Ein Kapitel
zur Grundlegung der Sozialpädagogik
. (Freiburg, Mohr, 1894.
Dazu eine Auseinandersetzung mit Chr. Schrempf in dessen
Zeitschrift „Die Wahrheit“, III 124.)


Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage.
Eine Rede
. (Deutsche Worte XIV 226, und sep.: Heilbronn,
Salzer, 1894.)


Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik. (Arch. f.
soz. Gesetzg. u. Stat. VIII 140, und sep.: Berlin, Heymann,
1895.)


Ueber volkstümliche Universitätskurse. (Acad. Rev. II 637.
Vgl. auch: Zur Frage der Volkshochschulkurse, Comenius-
Blätter V 1.)


Dörpfelds Fundamentstück. Eine Kritik. (Deutsche Schule
II 9.)


Die im Archiv für systematische Philosophie (Bd. I—III,
in fünf Stücken) erschienene Abhandlung Grundlinien einer
Theorie der Willensbildung
ist in das vorliegende Buch ganz
hineingearbeitet, hat aber dabei eine grösstenteils sehr be-
trächtliche Umarbeitung erfahren.


Eine historisch-kritische Ergänzung der gegenwärtigen
Schrift bildet endlich die gleichzeitig erschienene: Herbart,
Pestalozzi und die heutigen Aufgaben der Erziehungslehre. Acht
Vorträge
. (Stuttgart, Frommanns Verlag, 1899.)


Marburg, 1. Oktober 1898.


Der Verfasser.


[[VII]]

Inhalt.


  • Seite
  • Erstes Buch. Grundlegung.
    § 1. Erziehung, Bildung, Wille, Idee 3
  • § 2. Idee nicht Naturbegriff 6
  • § 3. Idee nicht Begriff der Psychologie 10
  • § 4. Erkenntniskritik nicht Psychologie 15
  • § 5. Das Gebiet des Intellekts: theoretische Erkenntnis oder Erfahrung 25
  • § 6. Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee 34
  • § 7. Stufen der Aktivität. Erste Stufe: Trieb 47
  • § 8. Zweite Stufe der Aktivität: Wille im engern Sinn 57
  • § 9. Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille 63
  • § 10. Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik 68
  • Zweites Buch. Hauptbegriffe der Ethik und Sozialphilosophie.
    § 11. Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung 83
  • § 12. System der individuellen Tugenden. 1. Die Tugend der Ver-
    nunft: Wahrheit 91
  • § 13. 2. Die Tugend des Willens: Tapferkeit oder sittliche Thatkraft 101
  • § 14. 3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass 109
  • § 15. 4. Die individuelle Grundlage der sozialen Tugend: Gerechtigkeit 119
  • § 16. Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen Lebens 131
  • § 17. Grundklassen sozialer Thätigkeiten 145
  • § 18. Grundgesetz der sozialen Entwicklung 160
  • § 19. Die Tugenden der Gemeinschaft 178
  • Drittes Buch. Organisation und Methode der Willenserziehung.
    § 20. Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 1. Das Haus 193
  • § 21. „ „ „ „ 2. Die Schule 203
  • § 22. „ „ „ „ 3. Freie Selbst-
    erziehung im Gemeinleben der Erwachsenen 213
  • Seite
  • § 23. Form der willenbildenden Thätigkeit. Uebung und Lehre 224
  • § 24. Autorität und ihre Hülfsmittel 229
  • § 25. Sittliche Lehre 237
  • § 26. Materie der praktischen Uebung und Lehre. Erste Stufe:
    Hauserziehung 245
  • § 27. Zweite Stufe: Schulerziehung 254
  • § 28. Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung 259
  • § 29. Anteil der Intellektbildung an der Willenserziehung. Grund-
    lagen und erste Stufe 269
  • § 30. Fortsetzung. Zweite Stufe: „Erziehender Unterricht“, ins-
    besondere Geschichte als „Gesinnungsunterricht“ 282
  • § 31. Uebergang zur dritten Stufe: Philosophische Bestandteile des
    Unterrichts, insbesondere Ethik als Lehrfach 301
  • § 32. Anteil der ästhetischen Bildung an der Willenserziehung 311
  • § 33. Religion und Humanität 324
  • § 34. Anteil der Religion an der Willenserziehung 342
[[1]]

Erstes Buch.
Grundlegung.


Natorp, Sozialpädagogik. 1
[[2]][[3]]

§ 1.
Erziehung, Bildung, Wille, Idee.


Es ist nur eine Seite der Erziehung, für welche die theo-
retischen Grundlagen hier nachgewiesen werden sollen. Doch
ist es die, von der schliesslich das Ganze der Erziehung abhängt.
Also müssen die nachzuweisenden Grundlagen auch für das
Ganze zulangen.


Das Wort Erziehung wird am eigentlichsten von der
Bildung des Willens gebraucht. Es hat zwar einen hinlänglich
weiten Sinn, um zu gestatten, dass man auch von intellektueller,
ästhetischer, religiöser Erziehung spricht. Aber auch dabei
denkt man vorzugsweise an die Abhängigkeit der intellektuellen,
der ästhetischen, der religiösen Bildung von der Bildung des
Willens oder an ihre Rückwirkung auf diese. Andernfalls
spricht man von Unterricht oder gebraucht das allgemeine
Wort Bildung, Ausbildung.


Dieses scheint in der That am geeignetsten, um das Ganze
der pädagogischen Aufgabe zugleich dem Umfang nach er-
schöpfend und dem Inhalt nach bezeichnend auszudrücken. Man
spricht von wissenschaftlicher, technischer, künstlerischer so
gut wie von sittlicher Bildung; der Ausdruck ist anwendbar
auf jede Sonderrichtung der pädagogischen Thätigkeit, er ist
es erst recht auf ihr Ganzes, auf die Einheit der humanen und
beruflichen Erziehung. Und, mag dabei mehr gedacht sein an
die plastische Thätigkeit des Künstlers, das absichtliche Formen,
[4] Gestalten des gegebenen Stoffs zur vorschwebenden Idee, oder
an die plastische Kraft der Natur in ihren organischen Hervor-
bringungen, das spontane Sichgestalten, so wie so ist das Wort
bezeichnend wie kein anderes; es weist hin auf das innere
Gesetz, nach dem ein Gebild, sei es als Werk der Kunst ge-
staltet wird oder als Werk der Natur sich selbst gestaltet.


Doch behält daneben das Wort Erziehung seinen eigen-
tümlichen und hinreichend allgemeinen Sinn. Es ist bezeichnend
gerade nach der Seite, die das Wort Bildung unentschieden
lässt. Es weist darauf hin, dass die menschliche Bildung,
wie sehr auch Sache natürlicher Entwicklung, doch zugleich
einer auf Förderung oder wenigstens Schutz dieser Entwicklung
planvoll gerichteten Bemühung bedarf. Es liegt darin die Ana-
logie des Aufziehens, des absichtlichen Züchtens, der „Kultur“
von Pflanzen und Tieren, im Unterschied vom bloss natürlichen,
spontanen Aufwachsen. Das Wort besagt: durch geeignete
Behandlung oder Pflege zum gedeihlichen Wachstum bringen.
Darin liegen diese zwei Voraussetzungen: erstens, es giebt ein
Wachstum, eine stetig wie nach innerem Plan fortschreitende
Entwicklung mitgebrachter Anlagen zu einer gewissen Höhe,
die unter bestimmten, normalen Bedingungen sicher erreicht
wird; zweitens aber, es ist möglich und notwendig, dies Wachs-
tum zu unterstützen, mindestens Störungen desselben hintanzu-
halten durch eigens darauf gerichtete planmässige Vorsorge,
ohne welche die gleiche Höhe der Ausbildung nicht, oder nicht
ebenso rasch, oder nur mit sonstigen Nachteilen erreicht wird.
Es wird damit nicht geleugnet, dass Bildung innere Entfaltung
gegebener Keime ist; auch das Wachstum der Pflanze, des Tiers
macht ja nicht die Kultur; aber es wird bestimmter heraus-
gehoben, dass die mitwirkende Thätigkeit des andern gleich-
wohl unerlässlich ist, ohne die auch des Menschen eigenste
Anlage sich nicht gehörig entfalten, sondern verkümmern würde.
Auch wenn von Selbsterziehung gesprochen wird, denkt man
eigentlich zwei Personen in einer vereint, die, welche erzogen
wird, und die andere, welche erzieht. Auch so betont das
Wort, dass nicht nur der Wille es ist, welcher gebildet werden
soll, sondern auch die bildende Thätigkeit Sache des Willens,
[5] obgleich in diesem Fall nicht eines fremden, sondern des eignen
Willens des Zuerziehenden ist. Uebrigens ist Selbsterziehung
erst Resultat der Erziehung durch andre.


Also, dass menschliche Bildung Willenssache ist, das
ist das Besondere und Wichtige, was das Wort Erziehung in
Erinnerung hält. Und vielleicht ist eben dies der Grund,
weshalb es vorzugsweise von der Bildung des Willens gebraucht
wird. Denn unmittelbar Sache des Willens ist nur die Er-
ziehung des Willens selbst; während auf alle andern Seiten
der Bildung der erziehende Wille nur dadurch Einfluss erlangt,
dass er den Willen des Zöglings zu gewinnen und auf das
gewollte Ziel hinzulenken weiss.


Auf jede Weise aber enthält schon dieser erste Grundbegriff
der Pädagogik, der der Erziehung selbst oder der Bildung, ein
Problem von eigentlich philosophischer Natur: das Problem des
Sollens oder des Zwecks oder, wie wir am liebsten sagen,
der Idee. Bilden, sagten wir, heisst Formen, wie aus dem
Chaos gestalten; es heisst, ein Ding zu seiner eigentümlichen
Vollkommenheit bringen; vollkommen aber heisst, was ist wie
es sein soll. Dasselbe besagt nur deutlicher das Wort Idee:
es besagt die Gestalt einer Sache, die wir in Gedanken haben
als die seinsollende, zu der der gegebene Stoff, sei es gestaltet
werden oder sich selbst gestalten soll. Das ist die innere und
wesentliche Beziehung der Begriffe Bildung und Idee. Und
nicht weniger klar liegt die gleiche Grundvoraussetzung eines
anzustrebenden Zieles der Entwicklung in jenem Moment des
absichtlichen, planvollen Einwirkens, welches deutlicher in dem
Wort Erziehung zum Ausdruck kommt; wie denn diese Vor-
aussetzung ganz allgemein im Begriff des Willens enthalten
ist; denn Wille heisst zuletzt nichts andres als Zielsetzung,
Vorsatz einer Idee, d. i. eines Gesollten.


Wie aber ist dies Sollen zu begründen? Woher schöpfen
wir die Erkenntnis, nicht, wie ein Ding thatsächlich ist,
sondern wie es sein soll? Warum soll es sein, wie es doch
aus bestimmten thatsächlichen Gründen nicht ist, auch vielleicht
nie gewesen ist und nie sein wird? Der gewöhnliche Weg
der Erkenntnis, die Erfahrung, scheint darauf keine Antwort
[6] zu geben; sie langt nur zu für das was ist. Sie erstreckt
sich auf Natur in ihrem ganzen Umfang und auf nichts mehr;
Natur aber weiss nichts von Zwecken, von Ideen; in ihr soll
nichts sondern ist nur. Allein der Mensch setzt sich Zwecke,
z. B. als Erzieher; er stellt eine Idee dessen auf, was sein
soll, obgleich es nicht ist, ja, was sein sollte, auch wenn es
nie gewesen ist noch je sein wird. Also, was hat es überhaupt
auf sich mit dieser Zwecksetzung, diesem Sollen, dieser Idee?
Ohne klare und begründete Antwort auf diese Frage giebt es
keinen Zugang zu einer Theorie der Erziehung, die des Namens
wert ist; besonders nicht zur Theorie der Willenserziehung,
denn dasselbe ist auch der letzte Sinn der Frage: was ist
Wille? Die Theorie des Willens und die der Erziehung liegt
auf einer Bahn, der der Forschung nach der Idee. In diese
haben wir nun einzutreten.


§ 2.
Idee nicht Naturbegriff.


Sehr oft hat die Erziehungslehre der bestechenden Analogie
der geistigen mit der materiellen Entwicklung nachgegeben.
Und doch zeigt sie sich schon in schlicht empirischer Erwägung
unstichhaltig, sofern sie etwas mehr bedeuten will als ein
bequemes Gleichnis. Bei der materiellen Entwicklung nämlich
ist das zu erreichende Ziel, das gesunde, normale Wachstum
des Organismus, durchaus nicht zweifelhaft; alle Schwierigkeit
beginnt erst bei der Frage nach den Wegen, nach den zu-
sammenwirkenden Bedingungen des als normal angenommenen
Wachstums. Dagegen ist in der Erziehung nichts so sehr dem
Streit unterworfen wie das anzustrebende Ziel. Das liegt nicht
bloss an der vielfältigeren Verflechtung der die geistige Ent-
wicklung bedingenden Faktoren, sondern es weist zurück auf
einen gründlichen Unterschied der Rolle und Bedeutung der
Idee, der Zielsetzung überhaupt auf dem einen und anderen Felde.


Es ist allerdings sehr geläufig und kaum vermeidlich, auch
das Werden der Naturformen, das Wachstum der Organismen,
überhaupt alles, wovon eine Entwicklung ausgesagt wird, unter
[7] dem Begriff eines Zieles, das erreicht, einer Bestimmung, die
erfüllt werden solle, d. i. unter einer Idee zu denken; und so
scheint die angenommene Analogie ja immer noch zuzutreffen.


Allein bei der materiellen Entwicklung besagt das Ziel
einen wahren, angebbaren Endpunkt, eine nicht zu über-
schreitende Grenze, ein nicht zu übertreffendes Maximum.
Solche und solche bestimmte Leistungen ist die gegebene
materielle Organisation überhaupt zu entwickeln fähig. Darüber
hinauszukommen bleibt ihr auch unter den günstigsten Um-
ständen versagt; während es wohl ein Zurückbleiben hinter
dem Ziel, eben unter der Ungunst der äusseren Bedingungen
der Entwicklung, giebt.


Dass das Maximum sich etwa nicht absolut bestimmen
lässt, macht keinen grundsätzlichen Unterschied. Unter Vor-
aussetzung unwandelbarer Artbegriffe würde es sich bestimmen
lassen. Nun strebt die Biologie zwar die Artbegriffe zu ver-
flüssigen, die starren Formen möglichst in Prozess und Be-
wegung aufzulösen. Allein ein Maximum der Entwicklungs-
fähigkeit muss für die gegebene individuelle Organisation doch
immer angenommen werden; das liegt schon in der Voraus-
setzung einer bestimmten, gegebenen Organisation. „Es ist
dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“
Wird aber ein Maximum vorausgesetzt, so lässt sich die Zweck-
betrachtung ganz ausscheiden und in die rein ursachliche
umsetzen.


Für die Biologie stellt sich die Frage eigentlich immer
so: Wenn die und die Höhe von Leistungen erreicht werden
soll — dass sie es soll, steht gar nicht in Frage —, welche
Bedingungen müssen erfüllt sein? Diese Frage ist aber völlig
einerlei mit der andern: Welches sind die Ursachen solcher
vorausgedachten Wirkungen? Das Vorausdenken der Wir-
kungen ändert nichts an dem kausalen Charakter des Ver-
hältnisses. Gewöhnlich sind ja die Wirkungen zuerst bekannt
und wird von diesen auf die Ursachen analytisch zurück-
gegangen; erst dann lassen sich auch progressiv oder synthetisch
aus den voraus bekannten Ursachen die Wirkungen berechnen.
Uebersähe man nur das ganze Geflecht der Bedingungen, so
[8] wäre von andern als ursachlichen Beziehungen zu reden über-
haupt kein Anlass.


So erscheint hier der Unterschied ursachlicher und zweck-
licher, kausaler und teleologischer Betrachtung nur „subjektiv“,
nur ein Unterschied des Standorts des Beurteilers. Soll aber
eins von beiden den „objektiven“ Thatbestand ausdrücken, so
kann es nur das Ursachverhältnis sein; kein Wunder, da ein
Thatbestand eben nur ist, niemals, als solcher, bloss sein soll.


Also das Sollen scheint in der teleologischen Betrachtung
materieller Entwicklung überhaupt ohne Not eingeführt zu
werden; jedenfalls nachdem es einmal eingeführt worden, ist
alles Weitere nur Erwägung des Verhältnisses von Bedingung
und Bedingtem; also, da es sich um zeitliche Bedingtheit handelt,
des ursachlichen Verhältnisses. Nur diese Erwägung ist natur-
wissenschaftlich, nicht die teleologische.


Zum Beispiel, das einzelne Organ dient — so sagt man —
oder ist bestimmt zu einer gewissen Verrichtung; das heisst
im Grunde nur, diese ist durch jenes bedingt. Diese Ver-
richtung dient etwa weiter der Erhaltung des individuellen
Organismus; diese der Erhaltung der Gattung; und diese etwa
der Erhaltung von Leben überhaupt; wenn ein Leben über-
haupt unter solchen und solchen Bedingungen bestehen sollte,
so musste eine diesen Bedingungen angepasste Organisation
sich bilden. Allein weshalb musste überhaupt Leben sein?
So lange man im Kreise naturwissenschaftlicher Erwägung
bleibt, giebt es auf eine solche Frage keine Antwort mehr.
Irgend ein letztes Soll wird also grundlos eingeführt; wenigstens
langen die Methoden der Naturwissenschaft nicht zu es zu
begründen. Das Hypothese zu nennen wäre Missbrauch des
Namens. Naturwissenschaftliche Hypothesen müssen den Be-
dingungen naturwissenschaftlicher Bewahrheitung genügen;
naturwissenschaftlicher Beweis aber langt zu für Thatsachen
und ursachliche Zusammenhänge von Thatsachen, nicht für
ein Sollen, das etwas mehr als ein andrer Ausdruck des Ur-
sachverhältnisses wäre. Ein ursprüngliches Sollen liegt ganz
ausser dem Wege der Naturwissenschaft. Das Sollen, von dem
sie etwa spricht, ist kein ursprüngliches, sondern es ist, eigent-
[9] lich ausgedrückt, blosse Kausalität. Der Vogel hat Flügel,
weil er fliegen soll; nein, er hat Flügel und kann daher fliegen.
Das Individuum erhält sich, weil die Gattung sich erhalten
soll; nein, vielmehr damit, dass die Einzelwesen sich in den
Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erhalten, erhält sich die Gat-
tung in der ihrigen. Und schliesslich, indem die Gattungen
unter sich ändernden Lebensbedingungen variationsfähig sind,
erhält sich das Leben im ganzen, nämlich auf diesem Planeten,
oder unter sonstwie begrenzten natürlichen Bedingungen. Dass
aber Leben überhaupt, unter allen Bedingungen sich erhalten
müsse, d. h. solle, ist keine Erkenntnis der Naturwissenschaft
mehr, und keine naturwissenschaftlich mögliche Hypothese.


Wenn dies aber so ist, wie kommt überhaupt die Zweck-
betrachtung in die Natur? Sie ist hineingetragen, wird man
antworten. Allein woher hineingetragen? Aus uns; sie ist
unsere subjektive Zuthat. Es sei; aber damit eröffnet sich
eine ganz neue Aussicht. Die Zweckbetrachtung ist subjektiv,
sie stammt aus uns; sind also wir nicht Naturwesen? Wie
fände sonst bei uns die Zweckbetrachtung Anwendung, da
doch bei keinem Naturwesen? Man muss wohl schliessen: da
die Zweckbetrachtung ganz ausser der Bahn bloss naturwissen-
schaftlicher Erwägung liegt, so kann sie auch aus uns nicht in
die Natur hineingetragen sein, ausgenommen, wir selbst unter-
liegen noch irgend andrer als naturwissenschaftlicher Erwägung.


Aller Zweck sei der Natur bloss angedichtet; es sei bloss
subjektiver Zusatz zur kausalen Auffassung, die allein objektiven
Grund hat. Es sei also, wie Spinoza will: Natur hat keine
Zwecke, nur wir schreiben sie ihr zu, weil wir uns Zwecke
setzen und geneigt sind, Natur nach menschlicher Analogie
vorzustellen. Allein, wären wir selbst nichts andres als Natur
(wie derselbe Spinoza behauptet), dächten wir uns nicht zum
wenigsten anders, als wir Natur denken, so hätte die Idee des
Zwecks genau so wenig Sinn für uns wie für die Natur. Dann
aber, woher käme uns überhaupt dieser Begriff? Vielleicht
wird man nun antworten: er ist überhaupt rechtlos, in Be-
ziehung auf uns sowohl als auf die Natur. Allein nach seiner
Berechtigung ist hier noch gar nicht die Frage, sondern nach
[10] der Herkunft des Begriffs. Wir haben ihn: also, woher haben
wir ihn?


Es ist aber schon etwas damit gewonnen, dass klar wird:
Sinn und Grund des Zweckbegriffs ist nicht, jedenfalls nicht
ursprünglich zu suchen in der Art, wie wir die Natur, sondern
wie wir uns selbst, in wie immer berechtigter Unterscheidung
von der Natur, denken. Das heisst, die Entscheidung muss
darin liegen, dass der Mensch ein Selbstbewusstsein
hat. Selbstbewusste Entwicklung allein vermag sich zu denken
unter der Idee eines Zieles, das sie erreichen solle; wo dagegen
ein Selbstbewusstsein nicht in Frage kommt, also in der Be-
trachtung der materiellen Natur, bloss als materieller, da ist
der Zweckbegriff nur hineingetragen; er lässt sich ausscheiden,
und die rein kausale Betrachtung bleibt zurück.


Alle Zweckbetrachtung in der Natur geht, wie wir sahen,
zurück auf die letzte Voraussetzung eines Strebens der Selbst-
erhaltung. Aber hat Natur überhaupt ein Selbst? Die
Selbstheit, die wir ihr zuschreiben, legen nur wir hinein; und
wir können es nur, weil wir das Bewusstsein eines Selbst
haben. Also brauchten wir gar nicht erst zur Natur zu gehen,
wir konnten bei uns selber bleiben, um den Ursprung der Idee
zu finden.


Damit tritt unsere Untersuchung auf ein ganz neues Feld
über: das der Analyse des Bewusstseins. Doch bedarf
es bei einem so vieldeutigen Begriff genauer Unterscheidungen,
wenn wir uns nicht alsbald von neuem verwickeln wollen.


§ 3.
Idee nicht Begriff der Psychologie.


Im Bewusstsein ist die Idee zu suchen. Am Bewusstsein
aber — wir verstehen darunter zunächst zeitlich bestimm-
tes
Bewusstsein — unterscheidet sich zweierlei: das, was
irgendwem bewusst ist, wir nennen es die Erscheinung,
und das Bewusst-sein selbst.


Das erstere lässt sich in allen Fällen so ins Auge fassen,
dass vom Bewusst-sein dabei ganz abstrahiert wird. Das Er-
[11] scheinende, wiewohl wirklich nur im Bewusstsein gegeben
(denn Erscheinen heisst: Irgendwem bewusst sein), löst sich
doch in der Betrachtung von ihm gleichsam ab. Indem es für
jemand Erscheinung (ihm bewusst) ist, steht es allein ihm vor
Augen; er hat nicht nötig, sein Augenmerk ausserdem darauf
zu richten, dass es ihm bewusst sei. Das Bewusst-sein der
Erscheinung oder die auf sie sich richtende Betrachtung ist
nicht noch ein fernerer, notwendig von ihm zu betrachten-
der Gegenstand. Das würde ja auch ins Unendliche gehen,
denn ebenso müsste die Betrachtung der Betrachtung wieder
Gegenstand einer neuen Betrachtung sein, und so fort ohne Ende.
Sondern, indem die Erscheinung Gegenstand meiner Betrachtung
ist, habe ich es nur mit ihr, nicht mit mir zu thun.


So glauben wir es zu verstehen, dass die Gesamtheit des
Erscheinenden sich in der Vorstellung zu einer Welt zusammen-
schliesst, von der wir reden können, als sei sie an sich ohne
uns, die Betrachtenden da, als sei es ein blosser, gleichgültiger
Nebenumstand, dass auch wir da sind, sie zu betrachten; ob-
gleich wir thatsächlich von ihrem Dasein freilich nur dadurch
wissen, dass auch wir als die Betrachtenden da sind.


Die „idealistischen“ Folgerungen, die sich hier nahelegen,
sollen uns auf unserem Wege nicht aufhalten. Es genügt,
dass Erscheinungen gegeben sind als nächster, vorerst einziger
Gegenstand der Erkenntnis. Unter Erkenntnis aber ver-
standen wir bisher und verstehen auch jetzt: die Ordnung
der Erscheinungen unter Gesetzen, und zwar ihre zeitliche
Ordnung, gemäss dem Grundgesetz der Kausalität. Dadurch
begrenzt sich das Gebiet der Naturerkenntnis. In ihr ist,
wie wir uns überzeugten, die Idee nicht zu suchen.


Nun meint man aber, es müsse doch auch das andre, das
Bewusst-sein der Erscheinungen, den Gegenstand einer eigen-
tümlichen Erkenntnis bilden. Es ist doch eben auch vorhan-
den, wiewohl mit nichts verwandt oder vergleichbar, was uns,
als von uns selbst Verschiedenes, erscheint; sollte es nicht
auch irgendeiner eigentümlichen Erkenntnis zugänglich sein?
Wie verhält es sich damit?


Wir antworten darauf: An dem nackten Bewusst-sein oder
[12] Gegebensein für ein Ich ist durchaus nichts Eigentümliches zu
erkennen; es ist für alles Gegebene unterschiedslos dasselbe,
und überhaupt ohne besonderen Inhalt. Wohl aber zeigt sich
ein Unterschied in der Art, wie die Erscheinungen sich auf-
reihen und gleichsam zusammenstellen: einerseits als unmittel-
bar im jeweiligen individuellen Bewusstsein einander folgend
oder auch auf einmal vorhanden, in bunter, ungleichmässiger,
scheinbar gesetzloser, chaotischer Zusammenwürfelung; ander-
seits so, wie sie in jener gesetzlichen Ordnung, welche die
„Natur“ als Objekt unsrer Erkenntnis ausmacht, sich dar-
stellen, oder vielmehr durch die Arbeit der Erkenntnis erst
dargestellt werden. Diese Ordnung der als „Natur“ erkannten
Objekte ist zwar immer noch uns Bewusstes; aber es scheint
doch, sagen wir, auf verschiedenen Stufen oder Höhen der Be-
wusstheit dem Stoff nach dasselbe sich verschieden: zerstreuter,
einheitlicher, in loserem, in festerem Zusammenhang, zu ordnen;
und wenn in dieser Stufenfolge von Ordnungen das letzte
Glied nach der einen, der Objektseite die sogenannte äussere,
von uns losgelöst gedachte Wirklichkeit oder Natur ist, so
steht dem als Aeusserstes nach der andern, der Subjektseite,
unabgelöst von uns und unsrer Bewusstheit, ein letztes,
unmittelbar Erscheinendes als gleichsam eine zweite, „innere“
Welt gegenüber, die man die psychische nennt. Und diese
muss sich auch irgendwie zur Erkenntnis bringen lassen, da
wir sonst überhaupt nicht von ihr wissen würden.


Zwar die gemeinhin geltende Ansicht über das Verhält-
nis des „Physischen“ und „Psychischen“ ist eine weit andre.
Nach ihr würde es sich um zwei ursprünglich getrennte Er-
scheinungsreihen handeln, von denen die zweite, psychisch
genannte, nach im ganzen gleicher Methode wie die erste, die
physische, zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen, d. h.
hinsichtlich der Gesetzmässigkeit des Auftretens der bezüg-
lichen Erscheinungen in der Zeit zu untersuchen, und ent-
weder in einer eigenen, rein aus dem Material des Psychischen
konstruierten Kausalordnung, oder in einer und derselben mit
den äusseren oder Naturerscheinungen, oder in einem ganz
eigenartigen Verhältnis zu diesen, man nennt es Parallelismus,
[13] darzustellen wäre. Eine solche doppelte Reihe der Erschei-
nungen giebt es, wie mir scheint, nicht.*) Denn nichts, was
irgend ein Inhalt des Bewusstseins oder Erscheinung für uns
ist, ist etwa nicht, hinsichtlich der Gesetzlichkeit seines
zeitlichen Auftretens, in die Ordnung der Natur einzubeziehen;
andrerseits nichts noch so gegenständlich Gedachtes entbehrt
der andern Beziehung auf das Bewusstsein, dem es gegeben
ist, und auf das unmittelbar diesem Gegebene, aus dem es ge-
staltet worden. Bloss eine ist die Ordnung des ursprünglich
Erscheinenden, bloss einzig vorhanden die Gesetzesordnung dieses
selben Erscheinenden, welche „Natur“ heisst. Nur erhält das-
selbe, was in einer Hinsicht Erscheinung des Gegenstands,
nämlich der Natur genannt wird, noch eine eigentümliche Benen-
nung in jener andern Beziehung, die es auf das Bewusstsein
hat, dem es Erscheinung ist; es fügt sich auf Grund dieser
Beziehung in ein andres Begriffssystem ein, etwa als Empfin-
dung, Vorstellung, Gedanke. Und diese neue Benennung ist
auch nicht ohne eigenen Inhalt; sie weist hin auf eine eigene,
gleichsam Innenansicht desselben Materials, dessen Aussen-
ansicht die Natur ist. Und somit bleibt, auch wenn man
eine besondere psychische Erscheinungsreihe und eine be-
sondere psychische Kausalität nicht anerkennen kann, immer-
hin eine eigene Art der Erkenntnis eines und desselben Er-
scheinenden übrig, welche, als die einzige eigentümliche Er-
kenntnis des Psychischen, Psychologie heissen kann.


So wie so aber hat man es in Naturwissenschaft wie
Psychologie lediglich mit Erscheinungen in der Zeit zu
thun. Diese unterliegen als solche der Ordnung der Ursachen,
aber nicht der Zwecke. Ein Ursprung des Zweckbegriffes
lässt sich soweit noch gar nicht absehen. Er ergiebt sich
nicht aus der naturwissenschaftlichen, er ergiebt sich ebenso
wenig aus jener psychologischen Erkenntnis, die nur die Innen-
ansicht derselben Erscheinungen darstellt, deren Aussenansicht
Naturwissenschaft heisst; er ergäbe sich auch nicht nach der
[14] sonst üblichen Auffassung der Psychologie, die nur, statt einer,
zwei Naturen kennt.


Aber vielleicht giebt es noch einen von diesen allen ver-
schiedenen Weg der Forschung. Nämlich wir haben zum
mindesten noch Naturwissenschaft selbst nach dem Grunde
und Rechte
jener ihr eigentümlichen Ordnungsweise der Er-
scheinungen, welche die Natur als Objekt unsrer Erkenntnis
erst hervorbringt, und nach dem Grunde und Rechte der fun-
damentalen Begriffe, Grundsätze und Methoden, mittels deren
sie diese Ordnung gewinnt, zu befragen; zu denen als einer
der obersten der Begriff der Ursache, der Grundsatz der Kau-
salität aller Naturerscheinungen, und die Methoden gehören,
nach welchen diese Kausalität erforscht wird. Diese Frage
kann nicht wiederum eine Frage der Naturwissenschaft sein;
es lässt sich darauf nicht antworten durch die wiederum ur-
sachliche Erkenntnis, welche Not etwa oder welcher sonstige
Anreiz den Menschen treibt nach Ursachen zu forschen. Da-
bei würde ja eben das, wonach gefragt ist, die Verursachung
überhaupt, fortwährend vorausgesetzt. Es ist ebensowenig
eine Frage der Psychologie, denn diese würde entweder nur
Ursachen einer andern Art für das Ursachdenken angeben
können, oder gar sich darauf beschränken müssen, es als unser
inneres Erlebnis lediglich aufzuweisen, worin überhaupt nichts
von Begründung enthalten wäre. Sondern es wird notwendig,
von der ganzen, sei es in bloss thatsachlicher Nachweisung
oder ursachlicher Erklärung der Erscheinungen sich bewegen-
den Erkenntnis — welche letztere stets naturwissenschaftlich
ist, und es ihrem allgemeinen Charakter nach auch dann bleibt,
wenn man sie Psychologie zu nennen vorzieht — gleichsam
eine Stufe emporzusteigen und sie selbst, alle Erkenntnis von
dieser Art, aus einem neuen Gesichtspunkte zu betrachten,
den wir den der Methode oder der Kritik nennen. Es ist
ein Bewusstsein, welches nicht unmittelbar, sei es auf die
Gegenstände der Natur oder auf die Erscheinungen des Be-
wusstseins geht; auch nicht auf jenes nackte Bewusst-sein,
welches, für alle Erscheinungen unterschiedslos dasselbe und
ohne eigenen Inhalt, eigentlich nur die Thatsache des Erschei-
[15] nens in abstracto aussagt, daher überhaupt keinen Stoff zu
irgend welcher besonderen wissenschaftlichen Frage oder Nach-
forschung bietet; sondern ein Bewusstsein, ausschliesslich ge-
richtet auf die Einheit der Erkenntnis und ihre Be-
dingungen
. Es ist, in der vorerst einzigen Beziehung auf
naturwissenschaftliche und psychologische Erkenntnis, das
logische Bewusstsein. In dessen reinen Gesetzen gründet
sich erst die Gesetzlichkeit der Zeitordnung der Erscheinungen,
d. i. die Kausalität; also können nicht umgekehrt die logischen
von kausalen Gesetzen irgend welcher Art abhängen.


Ist aber auf solchem Wege die Begründung sogar für den
Ursachbegriff erst zu suchen, so kann man hoffen, im Verfolg
desselben Weges etwa auch zum Ursprung des Zweckbegriffes
zu gelangen. Denn so viel ist nach allem schon klar, dass
dieser auf demselben allgemeinen Boden wie jener, gleichsam
an seinen Grenzen gesucht werden muss.


Doch scheint vorerst dieser neue Weg der Forschung
selbst noch der Sicherung bedürftig. Denn die hier voraus-
gesetzte gänzliche Unabhängigkeit der kritischen Untersuchung
nicht nur von der naturwissenschaftlichen, sondern auch von
der psychologischen wird fortwährend bestritten. Die Erledi-
gung dieser anscheinend bloss methodologischen Vorfrage wird
uns unmittelbar an die Schwelle der Lösung unsres eigent-
lichen Problems führen.


§ 4.
Erkenntniskritik nicht Psychologie.


Gegen die Unterscheidung der Erkenntniskritik von der
Psychologie, gegen die Ansicht überhaupt, dass die letzten
Gesetze der Erkenntnis nicht Zeitgesetze, weder äusserer noch
innerer Erscheinungen seien, pflegt eingewandt zu werden:
Gesetze besagen überhaupt nichts andres als allgemeine That-
sachen. Auch der Unterschied zwischen logischem, d. i. er-
kenntnismässigem, und unlogischem, erkenntniswidrigem Denken
kann nur ein thatsächlicher sein, der von thatsächlichen Be-
dingungen abhängt. Gesetze von Thatsachen aber sind ursach-
[16] liche Gesetze; also können auch die logischen Grundgesetze
der Erkenntnis nur kausale Gesetze sein.


Welcher Art sollen denn diese die Logik erst begründenden
kausalen Gesetze sein? Hier antwortet die eine Partei: es
sind Naturgesetze wie alle sonstigen, und zwar biologische Ge-
setze (Avenarius und seine Schule); eine andre: es sind eigen-
tümlich psychologische Gesetze (so besonders Lipps).


Jene beweisen etwa, es sei im allgemeinen lebenfördern-
der, ökonomischer, Uebereinstimmung in seinem Denken und
besonders mit den Thatsachen zu suchen als nicht. Sie zeigen,
welche relativen Vorteile das dem entsprechende, d. i. logische
Denken wenigstens unter gewissen allgemeinen, normalen
Umständen bietet. Da nun lebende Wesen im allgemeinen,
nämlich soweit sie können, das ihrer Erhaltung unter nor-
malen Bedingungen Förderliche suchen, so wird also eine ge-
wisse allgemeine Anpassung des unter hinlänglich günstigen
Bedingungen sich entwickelnden menschlichen Denkens an die
logischen Normen stattfinden. Unter andern Bedingungen
findet sich diese Anpassung thatsächlich nicht oder nur un-
vollkommen; man denkt eben unlogisch.


Wir wollen die ganze, ziemlich grosse Unbestimmtheit der
Behauptung wie der Beweisführung nicht weiter bemängeln;
wir fragen nur: ist das, was man so zu begründen glaubt,
überhaupt der Sinn der logischen Gesetze? Stossen wir uns
auch daran nicht, dass man unterlässt, die fraglichen Gesetze
von einem einleuchtenden Anfang in überzeugender Deduktion
zu entwickeln, dass man sie vielmehr einfach als gegeben an-
zunehmen scheint, was wir nicht zugeben könnten; so besagen
doch die Gesetze der Logik gar nicht, wie man im allgemeinen,
unter normalen Umständen denkt, sehr oft aber auch nicht,
sondern sie erklären ganz ohne einschränkende Bedingung ein
solches und solches, bestimmten Forderungen genügendes
Denken für richtig, das entgegengesetzte für falsch; d. h. sie
erklären, was so und so gedacht ist, das allein ist, was
anders, das ist nicht, und zwischen diesem Sic et Non gilt
kein Kompromiss, kein „unter Umständen“ und „normaler-
weise“, sondern einzig das Verhältnis reiner Ausschliessung.
[17] Die Natur biologischer Gesetze lässt es auch nicht zu, dass
diesem Mangel je abgeholfen werden, dass Gesetze von der
Art der logischen jemals ihre Begründung auf biologischem
Wege finden sollten.


Nicht annehmbarer ist für uns die zweite Ansicht. Ihr
scheinbarer Vorzug ist, dass sie eine gewisse Selbständigkeit
des Psychischen doch anerkennt; die logischen Gesetze sollen
doch wenigstens eigentümliche Gesetze des Bewusstseins sein,
von denen umgekehrt alles Denken ausserbewusster Dinge ab-
hänge. Allein giebt es überhaupt eigentümliche kausale Ge-
setze psychischen Geschehens? Wir haben die Frage oben
verneint. Wir würden uns, wenn einmal nach ursachlichen
Gesetzen des, gleichviel ob wahren oder falschen Denkens ge-
fragt wird, eher noch auf die Seite des Biologen schlagen.
Kausalität ist es überhaupt, welche den Begriff der Physis
schafft, welche den Gegenstand der Naturwissenschaft erst
konstituiert; wer das annimmt, wird nicht einräumen können,
dass es andere als physische Ursachen gebe.


Aber die Frage der logischen Begründung ist eben wurzel-
haft verschieden von der der Verursachung des Denkens. Es
ist im Grunde eine ganz einfache Begriffsverwechslung, die
hier begegnet. Naturgesetze, sagt man, „begründen“ That-
sachen welcher Art immer, also auch die Thatsachen des
logischen wie unlogischen Denkens; darunter versteht man:
sie geben die zeitlichen Bedingungen unseres So-denkens
an. Allein der Inhalt der Naturgesetze setzt den der
logischen Gesetze vielmehr voraus, er wird durch sie in einem
ganz andern, eben dem logisch genannten Verhältnis, das mit
der Zeit nichts zu thun hat, bedingt oder „begründet“.


Dieselbe Zweideutigkeit kann sich hinter dem Wort That-
sache verbergen. Gesetze, sagt man, sind nur Allgemeinaus-
drücke für Thatsachen. Gewiss, jedes Gesetz sagt aus, was
allgemein stattfindet; sofern man also jedes Stattfinden ohne
Unterschied Thatsache nennt, ist jedes Gesetz eine allgemeine
Aussage über Thatsachen. Es ist in diesem Sinne Thatsache,
dass 2 × 2 = 4, und Thatsache, dass Widersprechendes
nicht gleichermassen wahr ist u. s. f. Aber zu dem Schluss:
Natorp, Sozialpädagogik. 2
[18] also sind alle Gesetze Ursachgesetze, gelangt man nicht durch
diesen allgemeinsten Sinn der Thatsache, sondern durch das
stillschweigend mitgedachte spezifische Merkmal zeitlicher
Bestimmtheit
. Ursachgesetze sind Zeitgesetze des Ge-
schehens
, und nur sofern man unter Thatsache, im auch
zulässigen engeren Sinn des Worts, Geschehen versteht, deckt
sich „Gesetz von Thatsachen“ und „ursachliches Gesetz“.
Aber dass 2 × 2 = 4, ist kein Geschehen in der Zeit, weder
ein einzelnes noch ein allgemeines, sondern ein Stattfinden,
das an gar keine Zeitbedingung gebunden ist oder sie irgend-
wie einschliesst. Dasselbe gilt von den logischen Gesetzen;
sie sind nicht Zeitgesetze, folglich nicht ursachliche Gesetze,
weder physische noch psychische, oder in solchen begründet,
sondern von einer fundamentaleren Ordnung; denn das ursach-
liche Gesetz ist vielmehr dem logischen, ebenso wie dem mathe-
matischen, unterworfen, nicht das logische, das mathematische
dem ursachlichen.


Hiergegen wird man vielleicht noch einwenden: Sätze wie
2 × 2 = 4, oder das A = A der Logiker, enthalten zwar un-
mittelbar keine Aussage über Thatsachen im zeitlichen Sinn, aber,
wenn sie sich nicht schliesslich doch auf solche zurückbezögen,
wären sie ohne alle Anwendung auf Wirkliches, mithin ohne
wahren Erkenntniswert. Denn nur Thatsachen sind
wirklich
. Der Satz 2 × 2 = 4 besagt, vollständig aus-
gedacht: allemal wann etwas in zeitlicher Wirklichkeit
2 × 2 ist, eben dann ist es auch 4. Der Satz gilt unter-
schiedslos in aller Zeit, darum braucht keine Zeitbestimmung
in seinen allgemeinen Ausdruck aufgenommen zu werden; sie
ist aber darum doch hinzuzudenken, nämlich in jedem Fall
der Anwendung. Ohne Anwendung aber ist ein Gesetz über-
haupt nur eine Formel auf dem Papier.


Darauf ist schlicht zu antworten: dass nach der logischen
Abhängigkeit
hier allein die Frage ist. Alle Möglichkeit
von Zeitbestimmung aber hängt logisch ab von den Gesetzen
der Zahl und Grösse; also können nicht umgekehrt die Ge-
setze der Zahl und Grösse von Zeitbestimmung, im gleichen
logischen Verhältnis, abhängen; das wäre widersinnig. Und
[19] noch widersinniger — wenn es möglich wäre, dass etwas
falscher als falsch ist — würde es sein, die logischen Grund-
gesetze von Zeitbestimmung abhängig zu denken, auch nur
von Zeitbestimmung überhaupt. Denn die Möglichkeit der
Zeitbestimmung wie jeder andern Bestimmung hängt vielmehr
ab von der Möglichkeit, überhaupt etwas zu bestimmen, d. h.
A = A, oder richtiger, überhaupt einen Inhalt A als iden-
tischen zu setzen, was bekanntlich das erste logische Grund-
gesetz ist.


Wird man nun noch entgegnen: diese Setzung, als ein
Gedanke, setze doch wenigstens eine zeitliche Thatsache,
nämlich die des jedesmaligen Denkens voraus? Also besage
z. B. der Satz des Widerspruchs, dass widersprechende Ge-
danken sich im thatsächlichen Denken, unter gewissen nor-
malen Bedingungen, allemal wirklich ausschliessen, d. i. gegen-
seitig totmachen; oder das logische Verhältnis von Grund und
Folge, dass ein Gedanke den andern im thatsächlichen Denken,
wiederum unter gewissen näher zu bestimmenden Umständen,
allemal wirklich nach sich ziehe?


Das hiesse unsere ganze Beweisführung nicht verstanden
haben. Dennoch sei darauf noch so viel geantwortet: es hat
bisher noch keiner die Bedingungen anders als tautologisch
anzugeben vermocht, unter denen im wirklichen Denk-
verlauf
Widersprüche ausgeschlossen sind, oder gar die
Folgen des je Gedachten unfehlbar erkannt werden. Gewiss,
unter genau gleichen Bedingungen wird allzeit genau das
Gleiche, nämlich entweder logisches oder unlogisches Denken
erfolgen. Allein dawider gälte unser erster Einwand: der
Inhalt eines logischen Satzes ist nicht, dass unter solchen und
solchen Bedingungen Gedanken sich so, unter andern anders
verbinden, sondern dass, ohne jede einschränkende Bedingung,
gewisse Gedankenverbindungen wahr, davon abweichende
falsch sind. Diese Unbedingtheit der logischen Gesetze würde
fraglich werden, wenn die überaus bedingte zeitliche Gesetz-
lichkeit des Vorstellungslaufs für die logischen Gesetze ein-
stehen sollte.


Aber gerade bei diesen Ausdrücken, „wahr“ und „falsch“,
[20] glaubt man vielleicht uns von einer andern Seite zu fassen.
Nämlich man meint, das besage: seinsollend und nicht-
seinsollend
; d. h. die logischen Gesetze würden zu norma-
tiven, also teleologischen Gesetzen gemacht. Und indem man
allgemein nur diese Ansicht als möglichen Gegensatz der
kausalen voraussetzt, glaubt man die letztere zu stützen durch
jedes Argument, welches einen Fehler der teleologischen Auf-
fassung aufdeckt, oder nachweist, dass diese im Grunde doch
kausal sei.


Allein man muss nicht, indem man der Scylla der
kausalen Auffassung zu entrinnen sucht, in die Charybdis der
teleologischen geraten. Logische Gesetze sagen, nach unserer
Behauptung, ebenso wenig, wie man thatsächlich unter solchen
und solchen Umständen denkt, als, wie man denken soll;
sondern sie sagen: wenn man so und so denkt — ob man
es thut, oder thun sollte, davon ist gar nicht die Frage — so
denkt man Wahres, d. h. was ist, andernfalls Falsches, d. h.
was nicht ist. Und worin gründet die Gewissheit dieses
Seins und Nichtseins? Nicht im thatsächlichen So-denken oder
dessen thatsächlichen Bedingungen, noch in der Folgsamkeit
gegen ein normatives Gesetz, wie man denken soll; sondern
rein am Inhalt des Gedachten muss dies Sein und Nicht-
sein eingesehen werden können, überhaupt ohne Rücksicht
auf das Denkgeschehen oder den Denkvollzug, sei es den
wirklichen oder den geforderten.


Man nennt doch etwas Einsehen. Um aber einen Ge-
danken einzusehen, hat man überhaupt nicht ausserhalb seines
Inhalts, weder nach den Ursachen des bezüglichen Denk-
geschehens oder Denkvollzugs, noch nach einem dabei leitenden
bewussten oder unbewussten Zweck, noch etwa nach einem
begleitenden Gefühl von Gewissheit oder nach irgend sonst
etwas in der Welt auszuspähen, sondern einzig die Sache,
um die es sich handelt, d. i. den Inhalt des Gedachten
ins Auge zu fassen, um unmittelbar gleichsam zu sehen, es
ist so oder ist nicht so. A ist nicht = non-A, d. h. es ist nicht,
es findet unter keinen Umständen statt, dass in einem In-
halt
eines Gedankens Widersprechendes geeint wäre; Wider-
[21] spruch hebt, nicht das Denkgeschehen, aber die Einheit
des Denkinhalts
und damit jeden Sinn einer Aussage
„Es ist“ auf. Oder, wenn A = B und B = C, so ist A = C; ich kann
sehr wohl die Vordersätze denken, ohne dass sich die Folge-
rung in meinem Denken thatsächlich daran knüpft; es ist auch
nicht der Fall, dass ich sie unter allen Umständen daran
knüpfen sollte; ich habe die Folgerung im augenblicklichen
Zusammenhang meines Denkens vielleicht nicht nötig, oder
ich kann die Gleichheit von A und C auch direkt einsehen,
ohne des Umweges über B zu bedürfen; allein, wenn das Eine,
so ist auch das Andre, und dies sehe ich ein, indem ich nichts
als die zu vergleichenden Termini und deren dadurch zugleich
gegebene Relationen vor Augen habe, ohne irgend an den sei
es thatsächlichen oder seinsollenden Verlauf oder Vollzug
eines entsprechenden Denkens dabei denken zu müssen.


Um das zu leugnen, müsste man schliesslich in Abrede
stellen, dass man sich überhaupt einen Denkinhalt zu Be-
wusstsein bringen könne, ohne zugleich über das Denkge-
schehen
etwas voraussetzen zu müssen. Das wäre jedoch
eine sehr wunderliche Ansicht, denn das Denkgeschehen wäre
dann ja wiederum ein Denkinhalt, und von diesem würde, der
These zufolge, dasselbe gelten wie vom ersten, d. h. es müsste
wiederum dessen Denken hinzugedacht werden und so ins Un-
endliche. Kann ich aber überhaupt einen Inhalt denken, ohne
das Denken dieses Inhalts auch mitdenken zu müssen, so ist
nicht einzusehen, weshalb ich es nicht von Anfang an könnte.
Jene Ansicht macht den Mathematiker, den Physiker, den
Forscher jedes Fachs, ja jeden, der überhaupt irgend etwas
denkt, zum unbewussten Psychologen. Aber das ist doch eine
extravagante Annahme, dass man niemals beim Denken einfach
die Sache, um die es sich jedesmal handelt, sollte vor Augen
haben können, ohne zugleich das Denken dieser Sache, und
folgerecht das Denken dieses Denkens und so in infinitum
hinzuzudenken. Selbst wenn das wäre, so ist doch hoffentlich
die Sache auch im Gedanken; kann ich nun zeigen, dass sie
allein genügt, die logischen Verhältnisse daran
einzusehen
, so gehen mich, sofern es sich eben um die
[22] Einsicht dieser Verhältnisse handelt, alle jene neben der Sache
hergehenden Gedanken, die nun existieren mögen oder nicht,
überhaupt gar nichts an.


Am Inhalt aber sind das, was die logischen Gesetze ins
Auge fassen, die allgemeinen Relationen eines jeden
Inhalts. Logisches Denken ist Denken unter der Bedingung
der Einstimmigkeit oder des durchgängigen Zusammenhanges
des Gedachten, d. i. dasjenige Denken, in welchem das einzelne
Gedachte zugleich mit seinen Relationen zu allem andern,
wozu es eben in Relation steht, gedacht wird. Die möglichen
Relationen des Gedachten systematisch zu entwickeln, ist die
ganze, dem Begriff nach einfache, in der Ausführung sehr zu-
sammengesetzte Aufgabe der Logik, allgemein der Erkenntnis-
kritik. Darin sind die Fundamente des mathematischen wie
des kausalen Denkens zugleich enthalten. Dagegen das, was
man zum Ersten, Allbegründenden hat machen wollen: die
Wirklichkeit der Thatsache, ist vielmehr erst das Letzte,
worauf, insofern es sich um theoretische Erkenntnis handelt,
dies alles schliesslich abzielt; es ist das Bedingteste, Ab-
hängigste von allem, also die allerschlechteste Grundlage,
die man nur wählen konnte zur Ableitung der logischen oder
irgendwelcher andern allgemeinen Gesetzlichkeit der
Erkenntnis
.


Was ist aber mit diesem allen für unsere Absicht ge-
wonnen? Ich denke, ein Grosses; nämlich dass wir einmal
für immer befreit sind von der alles verengenden Auffassung,
dass man nichts, als was durch die Zeit bedingt ist,
zu denken vermöchte
. Vielmehr zeigt sich alles Denken,
das der Bedingung der Zeit unterliegt, abhängig von dem,
welches den Bestand von Relationen unter Inhalten frei von
Zeitbedingungen ins Auge fasst, von welcher Art das logische
und das mathematische Denken ist. Also das an keine Zeit-
bedingung sich bindende Denken ist das ursprüngliche, das
Zeitdenken ist das abgeleitete. Der eigene Blickpunkt des
denkenden Bewusstseins — und nur denkendes Bewusstsein ist
Bewusstsein im Vollsinn des Worts — ist die Einheit, jene
Einheit, in der das zeitlich Mannigfaltige eben dann sich ver-
[23] einigt, wenn der Gedanke sich nicht länger in die Mannig-
faltigkeit des Zeitlichen zerstreut, sondern sich in sich selbst,
damit zugleich aber das an sich zerstreute Mannigfaltige seines
Inhalts in sich, und so erst in einem wahren Inhalt, sammelt
und zusammenfasst.


Das wird vielleicht am unmittelbarsten klar am Zeit-
bewusstsein selbst. Succession des Bewusstseins erklärt nicht
Bewusstsein der Succession. Könnte ich nicht in einem Momente 2
das Bewusstsein eines vorausgegangenen Moments 1 und eines
nachfolgenden 3 haben, so wäre gar kein Bewusstsein eines
Nicht-Jetzt möglich; dann aber auch kein Bewusstsein des
Jetzt, denn dieses wird überhaupt nur gedacht als die ewig
fliessende Grenze der beiden Nicht-Jetzt, des Früher und Später.
Also das Bewusstsein zerstreut oder zerteilt sich nicht in die
Momente der Zeit — auch vom Bewusstsein der Zeit selbst
gilt dies —, sondern vielmehr die Momente der Zeit, die doch
in der Existenz sich ausschliessen sollen, vereinen sich zu der
einen, zusammenhängenden Zeit nur im übergreifenden Blick,
in der übergreifenden weil ursprünglichen Einheit des
Bewusstseins.


Hiermit ist nun ein Begriff des Bewusstseins erreicht, der
von dem zuvor erwogenen, psychologischen Begriff grund-
verschieden ist. Unter diesem wurde immer noch das Bewusst-
sein selbst aus den zeitlich verschiedenen Momenten des Be-
wusstseins wie aus Atomen sich zusammensetzend gedacht,
also als selbst in der Zeit an sich zerstreut, allenfalls erst
hinterher auf unbegreifliche Art sich sammelnd: weil wir dem
Empirismus den verkehrten Ausgang vom zeitlichen Geschehen
einstweilen zugestanden. Von diesem Ausgang war freilich
zum Bewusstsein nur so zu gelangen, dass man sich besann,
das zeitlich Vorgestellte setze, als vorgestellt, ein, daher eben-
falls zeitlich gedachtes, Vorstellen voraus. So setzt man der
Zeitfolge im Inhalt des Gedachten eine Zeitfolge von Bewusst-
seinsmomenten gegenüber, und erhält damit jene wahrheits-
und zweckwidrige Verdoppelung des Geschehens, als einerseits
physischen, andrerseits psychischen, und damit die doppelte
Form der Wissenschaft, als Naturwissenschaft und Psychologie.
[24] Statt dessen kennen wir nur dies Zweierlei: Zeitbewusstsein
und überzeitliches Bewusstsein. Bewusstsein ist Einheit des
Mannigfaltigen, Identität des zugleich Zu-unterscheidenden.
Aber die Einheit, die Identität drückt ursprünglicher das Be-
wusstsein selbst, die Mannigfaltigkeit d. i. Mehrheit und Ver-
schiedenheit sein Gegenüber, seinen allgemeinen Gegenstand,
die Erscheinung aus. Der wahre Ausgang der Erkenntnis ist
aber von jenem und nicht von diesem; nur hatten wir auf
diesen wahren Ausgang uns erst zu besinnen, und diese Be-
sinnung, die noch nicht Erkenntnis war, sondern erst den
Zugang zu ihr suchte, ging naturgemäss aus vom Verfolg des
Mannigfaltigen, von der Erfahrung. Das sagt zuletzt das Kant’-
sche Wort: dass Erfahrung der Anfang, aber nicht der Ursprung
der Erkenntnis sei.


Nichts weiter als die Besinnung auf diesen Ursprung ist
aber erforderlich, um zur Idee zu gelangen. Sie besagt schliess-
lich nichts andres als die bloss gedachte letzte Einheit,
den letzten, eigensten Blickpunkt der Erkenntnis. So
wird verständlich, inwiefern die Idee überzeitlich, über Natur
und selbst Mathematik hinaus, nämlich fundamentaler ist als
dies alles. Die Bedeutung des Zieles, des Gesollten, also nicht
Wirklichen, erhält sie erst im Rückblick auf die Wirklichkeit
der Erfahrung; ursprünglich ist sie nicht das Ziel, sondern der
Ausgangspunkt, nicht das Ende, sondern der wahrste Anfang,
nämlich Ursprung: das Prinzip. Also war die teleologische
Auffassung der letzten Gesetze der Erkenntnis doch nicht ganz
auf falscher Fährte. Sie irrt zwar darin, dass sie den Zweck,
das Sollen, zur Voraussetzung auch des logischen Seins macht.
Das letzte Sein, das der Idee, begründet vielmehr erst das
Sollen, nämlich in der praktischen Erkenntnis. Aber der In-
halt der Idee ist allerdings eins mit dem des Sollens, nämlich
Einheit, Einheit unbedingt. Daher begreift sich, weshalb
die letzten Erkenntnisgesetze so gern den Ausdruck des Sollens
auch da annehmen, wo es sich nicht um praktische Er-
kenntnis handelt.


Um von dem nun erreichten Punkte zum Ziele dieser
ganzen Betrachtung zu gelangen, ist es nur noch erforderlich.
[25] diesen in sich einfachen Sinn der Idee in einerseits theoretischer,
andrerseits praktischer Richtung zu entwickeln und damit die
Grenzen der beiden Welten des Bewusstseins, der Welten der
theoretischen und praktischen Erkenntnis, der Welten
des Intellekts und des Willens, festzusetzen.


§ 5.
Das Gebiet des Intellekts: theoretische Erkenntnis oder
Erfahrung.


Das Gebiet der theoretischen Erkenntnis, in psychologischem
Ausdruck: des Verstandes, ist bereits im allgemeinen um-
schrieben worden; es deckt sich mit dem Gebiete der Natur-
erkenntnis, das sich begrenzt durch die Zeitgesetze des Ge-
schehens.


Bezeichnen wir dies Gebiet auch als das der Erfahrung,
so bedarf die Einführung dieses Terminus besonderer Recht-
fertigung. Es kann nämlich nicht das gewöhnlich Gemeinte
hier verstanden sein, dass das Geschehen in der Natur, oder
doch irgendwelche letzte Elemente dieses Geschehens, durch
Erfahrung, d. i. Wahrnehmung und zuletzt Empfindung ge-
geben
seien, und dass auf diesem Gegebenen, als der letzten
Thatsächlichkeit, alle Erkenntnis der Natur beruhe; dass
die Gesetze der Natur die Wahrheit, die ihnen mit Recht zu-
geschrieben wird, allein diesem Gegebenen verdankten, d. h.
nur so weit wahr seien, als sie, was so im einzelnen als That-
sache gegeben sei, im allgemeinen Ausdruck wiedergeben.
Dieser ganze Begriff einer Erfahrung, welche die Erkenntnis
gebe, lässt sich nach dem Ergebnis unsrer letzten Erwägungen
nicht mehr festhalten. Die Thatsache der Erfahrung, weit ent-
fernt, das Erstgegebene der Erkenntnis zu sein, erwies sich
vielmehr als das letzte, das sie erreichen kann, ja eigentlich
nie schlechthin erreicht.


Vielmehr stellen sich alle besonderen Bestimmungen, in
denen man dies Gegebene zu fassen versucht, bei näherer Be-
trachtung als Denkbestimmungen heraus, die als solche
nichts Gegebenes, sondern eigene Gestaltungen des Denkens
[26] sind. Was soll denn durch die Thatsache der Erfahrung ge-
geben sein? Doch eben das, was als empirische Erkenntnis
ausgesprochen wird, der Inhalt irgend eines Satzes der Wissen-
schaft, oder auch der gemeinen Erkenntnis, z. B.: „Dies hier
ist rot.“ Dass nun, erstlich, die formale Verknüpfungsweise
gedanklicher Elemente, welche den Satz ausmacht, das, was den
Sinn von Subjekt, Prädikat, Kopula begründet, nichts in den
Wahrnehmungen Gegebenes ist, gesteht am Ende jeder zu;
aber nur um desto entschiedener darauf zu bestehen, dass das
Material dieser Verknüpfungen, die letzten Elemente wenigstens,
die wir, um sie unserm Denken gleichsam mundgerecht zu
machen, in solcher Art verknüpfen, durch Wahrnehmung ge-
geben sein müssten. Allein die angebbaren Elemente von Be-
griffsverbindungen sind notwendig Begriffselemente; Begriffe
aber, wie „dies“ und „rot“, sind nicht gegeben, sondern durch-
weg, bis zu ihren letzten Bestandteilen, eigene Erzeugnisse
des Denkens. So die Zahl, so die Grösse, durch die auch
Zeit- und Raumbestimmungen erst möglich sind; nicht minder
die Qualität; vollends Relationsbestimmungen wie Ding, Eigen-
schaft, Ursache, Wirkung; Modalitätsbestimmungen wie Mög-
lichkeit, Thatsächlichkeit, gesetzliche Notwendigkeit; mit einem
Wort die kategorialen Grundbestimmungen, unter die
alles erkenntnisgemäss Ausgesagte sich fügen muss, sind, so
als begriffliche Bestimmungen, nicht durch Wahrnehmung
gegeben; hingegen ist umgekehrt alles, was als durch Wahr-
nehmung gegeben nur gedacht werden mag, allein unter diesen
und den daraus abzuleitenden Bestimmungen mit Sinn aussag-
bar. Anders lässt sich auf verständliche Weise gar nicht an-
geben, was, sei es durch Wahrnehmung oder wodurch sonst,
gegeben sei.


Hieraus folgt nun schon so viel: dass Wahrnehmung allen-
falls nur Antwort giebt auf die Fragen, welche die Erkenntnis
zuvor gestellt und in den ihr eigenen Begriffen gleichsam vor-
aus formuliert hat. Sie scheint erst dem, was die für sich
sprachlose Wahrnehmung uns zu sagen hätte, aber nicht sagen
kann, den artikulierten Ausdruck, nämlich den Begriff, zu
leihen. Was vor der Erkenntnis, vor dem Begriff durch Wahr-
[27] nehmung gegeben sei, davon lässt sich überhaupt nur reden,
indem man von der bereits gewonnenen Erkenntnis zurück-
schliesst auf den Punkt, da sie erst gewonnen werden sollte,
mithin nur in den Begriffen der gewonnenen Erkenntnis, nicht
in seinem reinen, vor allem Begriff vorhergehend gedachten
Gegebensein.


Allein, man muss noch einen Schritt weiter gehen und
behaupten: dies Vorausgegebensein eben dessen, was doch
allen Inhalt der Begriffe ausmachen soll, vor aller begrifflichen
Form ist überhaupt nicht zu verstehen. Der Begriff des Ge-
gebenen ist im Grunde nur der Ausdruck der Forderung,
dass die Verknüpfung der Denkbestimmungen
, und
damit das Gedachte, vollständig determiniert sei. Man
wird vielleicht einwenden, eben das Gegebensein, jetzt und
hier, sei das, was unser Denken determiniere. Allein, das ist
bestenfalls Tautologie, denn das Jetzt und das Hier, das So-
undsoviel, Soundsogross, Soundsobeschaffen und welche Be-
stimmungen immer man nennen mag, das alles besagt nur die
Determination der allgemeinen Bestimmungen: Zeit, Ort, Zahl,
Grösse, Qualität u. s. f.; man sagt also eigentlich nur, das
Determinierende sei die Determination. Das Jetzt und das
Hier ist überhaupt nichts, das als etwas für sich gegeben sein
könnte; es kann nichts determinieren, denn es wird selbst
erst determiniert durch die Determination des Zeit- bezw.
Rauminhalts; es existiert für uns nur kraft eben der Ordnung
dieses Inhalts, durch die ein jedes an seine gehörige Stelle
gesetzt, d. i. in bestimmter Weise vom andern gesondert und
zugleich mit ihm verbunden wird. Und ebenso ist das gesuchte
Objekt = X hinsichtlich jeder der andern Grundbestimmungen
nur determiniert durch den Zusammenhang ihrer aller gemäss
den allgemeinen Relationsgesetzen, die man gewöhnlich ab-
kürzend zusammenfasst in dem einzigen Gesetze der Kausalität.
Die Gesetzlichkeit der Verknüpfung bestimmt
also erst die Thatsache
, nicht wird sie durch die voraus
gegebene Thatsache bestimmt. Das erweist sich in der ganzen
oft so verwickelten Feststellung der Thatsachen in den Wissen-
schaften. Wie hätte die Naturwissenschaft je dahin kommen
[28] können, in der reinen Wiedergabe der Thatsachen sogar ihre
ganze Aufgabe zu sehen, wenn nicht schon Wissenschaft dazu
gehörte, haltbare Thatsachen zu gewinnen? Und dasselbe er-
weist sich in der ursprünglichen Bildung unserer alltäglichsten
Wahrnehmungen, d. i. primitiven Urteile über Thatsachen.
Auch diese kommen, wie durch die grossen sinnesphysiologischen
Forschungen des letzten Jahrhunderts mehr und mehr auch im
besonderen bekannt geworden ist, nicht zu stande ohne ein dem
naturwissenschaftlichen Experimentieren analoges Verfahren,
welches durchweg schon unter der Leitung des Grundprinzips
gesetzmässiger Uebereinstimmung, unter der Leitung des Ursach-
gesetzes steht. Nachdem sie so zu stande gekommen und durch
lange Uebung befestigt sind, erscheinen die Thatsachen der
Wahrnehmung freilich wie fertig gegeben. Wir brauchen jetzt
nur die Augen aufzuschlagen, so steht sogleich eine Welt von
Thatsachen wie aus dem Nichts gezaubert vor uns. Und doch
ging unser Wahrnehmen aus von einem Stande, da wir nicht
einen Punkt fixieren, nicht eine Linie verfolgen konnten; wo
war da diese ganze Welt von Thatsachen? Hat die Antwort
Sinn: diese Thatsachen alle seien damals schon unsrer Wahr-
nehmung gegeben gewesen, nur noch nicht zu Begriff gebracht?
Wenn man nicht unter Wahrnehmung etwa Nervenprozesse
versteht, wenn darin irgend etwas von Bewusstsein, von Er-
kenntnis gedacht wird, so ist das eine gedankenlose Rede.


Aber etwas, wird man sagen, musste doch gegeben sein,
wenn es zur Erkenntnis irgendwelcher Thatsache je kommen
sollte. — Das sagt verständlicherweise nur: die Erkenntnis
(Erfahrung) musste von irgend einem Punkte beginnen, um
von da aus schrittweis weiter zu kommen. Die bereits ge-
wonnene Erkenntnis ist für die erst zu gewinnende, als Vor-
aussetzung zu dieser, gegeben; ein vor aller Erkenntnis der
Erkenntnis Gegebenes hat dagegen keinen verständlichen Sinn.


Mit allem Recht verlangt man die Bewahrheitung jedes
allgemeinen Satzes der Erkenntnis an den Thatsachen; was
wird denn aus dieser Bewahrheitung, wenn die Thatsachen
nichts unabhängig von der Erkenntnis Gegebenes sind?
— Wir antworten: es wird daraus die Bewährung der ver-
[29] suchten Erkenntnis (Hypothese) in ihrer Durchführung; z. B.
der Erkenntnis der Zahl in der Zählung, die das Gesetz der
Zahl zu Grunde legt, mithin alle Zahlbestimmung, die bei der
Zählung herauskommen kann, dem Prinzip nach voraus enthält;
der Erkenntnis des Maasses in der Messung, von der das Ent-
sprechende gilt; der Qualität in der Vergleichung, die den
Gattungsbegriff zu Grunde legt; der zeitlichen Relationen in
dem induktiven Aufbau der Gesetzlichkeit der Zeitordnung
des Geschehens, der die Gesetzlichkeit überhaupt und auch
eine gewisse Grundgestalt dieser Gesetzlichkeit schon voraus-
setzt; und so durchweg. Wahrnehmung besagt nur den Einzel-
schritt auf dem Wege dieser stetig fortschreitenden Verknüpfung
von Denkbestimmungen zur Determination eines denkgemässen
Geschehens. Die allgemeine Bedingung aber, die hiefür leitend
ist, ist die der ausschliesslichen Einheit der gedank-
lichen Verknüpfung, d. i. der Einzigkeit der Existenz,
in welche jeder gemachte Ansatz sich fügen soll. Nichts
andres unterscheidet eine Wahrnehmung, die als solche die
Existenz des Wahrgenommenen einschliesst, von einer leeren
Einbildung oder einem flüchtigen Einfall. Diese Einzigkeit
ist aber selbst eine Folge des Grundgesetzes der Einheit, welches
das Gesetz des Denkens selbst ist.


Aber die Dinge sind doch hoffentlich in einziger Weise
bestimmt? — Antwort: das war nicht unsere Frage, noch
wüssten wir mit dieser Frage irgend etwas anzufangen, da
jeder Boden fehlt, um über Dinge, abgesehen von unserer Er-
kenntnis, etwas auszumachen. Wir erklären nur: für die
Erkenntnis
ist nichts bestimmt, was nicht sie selbst be-
stimmt hat; und allein von der bereits erreichten Erkenntnis
aus lässt sich mit verständlichem Sinn davon reden, dass und
wie die Dinge selbst bestimmt seien; welche Rede aber dann
auch nur gilt in den Grenzen unserer Erkenntnis und von
ihrem Gegenstande.


Die merkwürdige Folge, die sich aus diesem allen ergiebt,
ist, dass die Determiniertheit der Thatsache, die man für das
erdenklich ursprünglichste Datum hielt, vielmehr zur unendlichen,
nie abschliessend lösbaren Aufgabe wird. Nie lässt sich
[30] schlechthin sagen, dass wir die Thatsache erkannt haben; denn
keine einzige der Bestimmungen, nach denen wir sie erkannt
zu haben meinen, kann absolut gelten, weder die der Zahl
noch der Grösse, der Zeit, des Orts, der Qualität u. s. f.
Wieviel auch an ihr bestimmt, nämlich hypothetisch bestimmt
ist, immer bleibt noch irgendwelche Unbestimmtheit zurück;
die Thatsache bleibt immer das X der Erkenntnis. Und dies
X hat man zur bekannten Grösse, dies Letzte zum Ersten
gemacht. Warum? Weil freilich die gesetzliche Notwendigkeit
dieser Determination der Thatsache a priori erkannt werden
kann. Man nimmt im Begriff des Gegebenen der Wahrnehmung
eben das voraus, was als letztes Ergebnis der Erkenntnis heraus-
kommen soll. Die Wissenschaft fühlt dies, indem sie alle ihre,
noch so sehr auf Thatsachen gestützten allgemeinen Sätze,
und erst recht alle bloss thatsächlichen Aufstellungen lediglich
als Hypothesen giebt. Hat man selbst den euklidischen Raum,
den wir so sicher thatsächlich wahrzunehmen glauben, der eine
so unleugbare Voraussetzung unserer vermeintlich thatsäch-
lichsten Wahrnehmungen ist, für Hypothese erklären können,
wie viel mehr alles, was nicht bloss unter dieser, sondern
unter zahlreichen weiteren, meist ungeprüften, kaum überhaupt
bewussten Voraussetzungen als Thatsache, durch Wahrnehmung
gegeben, geglaubt wird. Der sichere Glaube der gemeinen
Erkenntnis, die auf Thatsachen bei jedem Schritt zu fussen
und sie mit Händen zu packen meint, ist wahrlich nicht ein
Beweis grösserer, sondern unvergleichlich geringerer objektiver
Sicherheit dieser Erkenntnis. Man ist so bald am Ziel, weil
man sich das Ziel so gar nahe gesteckt hat; weil man zufrieden
ist mit Thatsachen, die es schon morgen, ja im nächsten Augen-
blick nicht mehr sind; während Wissenschaft den Ehrgeiz hat,
solche Thatsachen zu erreichen, die es noch morgen und über-
morgen, womöglich aber in alle Ewigkeit sein sollen. Dies
letztere zwar bleibt ihr unerreichbar. Aber es ist auch etwas,
eben dies zu erkennen, sich klar zu machen, dass es ein un-
endlicher Prozess der Erkenntnis ist, auf den die Frage nach
der Thatsache führt. Thatsachenbestimmungen sind in jedem
Fall nur Näherungswerte; absolute Thatsachen gäbe es nur
[31] für eine absolute Erkenntnis. Der Empirismus ist also im
Grunde naiver Absolutismus, sofern er glaubt, in der empirischen
Thatsache, ganz gegen den Begriff des Empirischen, Absolutes
zu ergreifen. Wahrnehmung nimmt für wahr, was es im ab-
soluten Sinne nicht ist noch sein könnte. Sie hat aber volles
Recht, das, was sie in bedingter Erkenntnis erreicht, für wahr
zu nehmen, insofern dies heisst, es hypothetisch als wahr zu
setzen, um nämlich einen Ansatz zu haben, von dem aus
der Prozess der Erkenntnis weitergehen kann zu neuen und
neuen Ansätzen, und so ohne Ende. In diesem Sinne sind
wir berechtigt, gerade unsere Ansicht empiristisch zu nennen.
In Wahrheit ist dies der Empirismus der Wissenschaft; sie
verfährt danach, wenn auch meist ohne sich darüber klar zu sein.


Dieser ganze geschilderte Prozess der theoretischen Er-
kenntnis ist regiert von wenigen einfachen Grundgesetzen,
welche darzulegen und systematisch zu entwickeln die eigen-
tümliche Aufgabe der Logik ist. Die besonderen Wissen-
schaften sind nach dieser Ansicht nicht bloss ebenso viele
Anwendungen dieser Gesetze als ihres gemeinsamen Organon
(Werkzeugs) je auf ein eigentümliches Gebiet gegebener Gegen-
stände; sondern die Herrschaft der Logik erstreckt sich bis
auf die Grundbegriffe und Grunderkenntnisse, welche das Objekt
einer jeden Wissenschaft für unser Denken erst konstituieren.
Das erweist sich am klarsten in den reinen Erkenntnissen der
exakt genannten, der mathematischen Wissenschaften. Auch
die Einheit der Wissenschaft ist hiernach begründet in der
Einheit ihres logischen Fundaments, aus der allein begreiflich
wird, weshalb z. B. nicht die Objekte der Mathematik eine
Welt für sich bilden, die der Naturwissenschaft eine zweite
u. s. f., sondern etwa der Gegenstand der Naturwissenschaft
von seinem Ursprung an in mathematischer Gestalt sich wissen-
schaftlich aufbauen muss. Und so ist schliesslich alle Wissen-
schaft logische Leistung, und erstreckt andrerseits die Logik
sich auf die ganze Arbeit der Wissenschaft.


Diese Einsicht ist aber von grösster Wichtigkeit für die
theoretische Grundlegung der Pädagogik; sowohl für die Er-
kenntnis der Gesetze der Verstandesbildung selbst, als für das,
[32] was uns hier zunächst angeht, für eine klare Vorstellung des
Verhältnisses der Verstandesbildung zur Willensbildung.


Dass die ganze Welt des Verstandes in strenger Einheit
aus wenigen Grundelementen, welche die Elemente des Ver-
stehens selbst sind, sich aufbauen müsse, diese Einsicht ist es,
welche Pestalozzis Idee der Elementarbildung eine
tiefe, über seine sicheren ersten Ahnungen unermesslich hinaus-
reichende Bedeutung verleiht. Es ist ganz im Sinne der
„kritischen“ Philosophie, wenn Pestalozzi erklärt: „Jede Linie,
jedes Maass, jedes Wort ist ein Resultat des Verstandes
.... auch ist aller Unterricht in seinem Wesen nichts andres
als dieses“, nämlich „progressive Verdeutlichung unserer
Begriffe
“; „seine Grundsätze müssen deshalb von der un-
wandelbaren Urform der menschlichen Geistesent-
wicklung
abstrahiert werden“. *) Es ist die sichere Ahnung,
dass rein erkennbar nur die reinen Elemente der Gesetzlichkeit
sind, auf der der Prozess der Erkenntnis überhaupt beruht.
Aus diesem ABC, nicht bloss die „Anschauung“, sondern alle
sichere Erkenntnis aufzubauen, muss in der That das Ziel
[allen] Verstandesunterrichts sein. Thatsachenerkenntnis dagegen
ist bloss empirisch, das heisst, sie ist nur jeweiliger verbesser-
licher Ansatz, gültig je für eine gegebene Stufe der Erkenntnis,
die in einer unbegrenzbaren Folge solcher Stufen besteht.


Das Verhältnis der Verstandesbildung zur Willensbildung
aber wird klar bestimmbar auf Grund der, beiden gemeinsamen,
letzten Beziehung auf die Idee.


Welches ist zunächst das Verhältnis der theoretischen oder
Erfahrungserkenntnis zur Idee? Aus dem Dargelegten geht
hervor, dass diese Erkenntnis eines Abschlusses im Un-
bedingten
ihrer Natur nach unfähig ist. Die Idee des Un-
bedingten gilt zwar auch für den theoretischen Verstand; aber
sie hat für ihn zunächst bloss die negative Bedeutung, ihn
zu begrenzen durch die Einsicht des stets bedingten Charakters
seiner Erkenntnisse. Auch bedarf die Erfahrung bloss ihrer
selbst wegen keines positiven Abschlusses. Ist ihr logisches
[33] Fundament gesichert, sind die Grundbegriffe, Grundsätze und
Methoden, auf die sie sich stützt, klar definiert und zulänglich
deduziert, so ist sie es zufrieden, zu wahreren und wahreren
Ansichten des Gegenstands, ohne Abschluss in einer absolut
wahren, aber auch ohne hemmende Schranke, fortzuschreiten;
dieser Fortschritt eben, das ist die Erfahrung.


Indessen wir haben die Idee des Unbedingten, und sie ist
im letzten Grunde ursprünglicher als alle Erfahrung. Er-
fahrung ist selbst nur eine Weise des Bewusstseins; sie bleibt
daher immer jenem letzten und höchsten Ausblick des Be-
wusstseins, aufs Unbedingte, untergeordnet. Diese Erwägung
führt auf eine ganz andere Art der Erkenntnis als Er-
fahrung, in der das Unbedingte nicht den bloss negativen Sinn
der nie zu erreichenden äussersten Grenze des Erkennens hat,
sondern vielmehr zum Centrum genommen wird, von welchem
aus die Data der Erfahrung (denn andre haben wir nicht) wie
in einem neuen Lichte erblickt werden und eine neue Bedeu-
tung, eben durch diese positive Beziehung auf die Idee
des Unbedingten, erhalten. Und dies nun, behaupten wir, sei
der Ursprung des Sollens im praktischen Sinne.


Durch das Grundgesetz des Bewusstseins ist Einheit
alles Mannigfaltigen
oder Gesetzlichkeit bedingungs-
los gefordert
. In dieser Forderung aber ist sie auch schon
bedingungslos gesetzt; nicht als seiend im empirischen
Sinn, d. i. wirklich oder thatsächlich; oder etwa als möglich
im Sinne einer empirischen Hypothese; aber als seinsollend.
Das ist jedoch auch Setzung eines Gegenstandes, nämlich
Gegenstandes der Forderung. Somit ist die Setzung des
Unbedingten als Gegenstands unabweislich begründet im Ur-
gesetze des Bewusstseins, ja sie ist der reinste Ausdruck dieses
Urgesetzes, an Realität, d. i. Kraft der Geltung in der Erkennt-
nis und für sie, jeder bloss empirischen Setzung sogar über-
legen. Sie nimmt nicht teil an den Schranken, in die die
Gegenständlichkeit der Erfahrung immer eingeschränkt bleibt.
Zugleich aber findet diese neue Betrachtungsart, aus dem
Zentrum des Unbedingten, vollkommen sichere Anwendung
auf alles Empirische; nicht bloss die negative, der Einsicht,
Natorp, Sozialpädagogik. 3
[34] dass Erfahrung der Forderung des Unbedingten nie genügen
kann, sondern auch die ganz positive, dass die Richtung
des Fortschritts im Bedingten der Erfahrung durch
den Ausblick aufs Unbedingte bestimmt ist
.


Der Prozess der Erfahrung selbst lässt sich als Fort-
schritt zum Wahreren überhaupt nur denken im Hinblick auf
das Ziel im unbedingt Wahren. Ein Fortschritt besagt doch
nicht bloss eine Folge von Schritten, sondern eine dabei ein-
gehaltene Richtung. Die Erkenntnis dieser Richtung des
empirischen Fortschritts, vollends die Erkenntnis, dass der da-
durch bestimmte Fortschritt ins Unendliche geht, ist aber nicht
mehr empirische Erkenntnis. Sie entspringt vielmehr erst in
der Betrachtung alles Empirischen aus dem nicht mehr em-
pirischen Gesichtspunkte der Idee. Sie nimmt, insofern sie
das Empirische zum Stoff hat, an der Bedingtheit der Erfah-
rung zwar teil; an sich aber, hinsichtlich der ihr eigenen
Form, nämlich der Richtung aufs Unbedingte als Ziel, ist sie
von strenger Gewissheit, allem Schwanken der Erfahrung ent-
zogen.


Diese und keine andre Erkenntnisart aber, behaupten wir,
ist die praktische, mithin die, in deren Gebiet der Wille in
seiner objektiven Gestalt zu suchen ist. Das ist jetzt zu zeigen.


§ 6.
Das Gebiet des Willens: praktische Erkenntnis oder Idee.


Nicht aus dem Zusammenhange der Naturbegriffe lässt
ein Sollen im praktischen Sinn sich verständlich machen. Natur
ist Ordnung des Geschehens unter Zeitgesetzen des Geschehens.
Da giebt es nur Thatsachen und Zusammenhänge von That-
sachen, durch logische Unterordnung einzelner Folgen von
Ereignissen unter allgemeine und allgemeinere, d. i. unter Ge-
setze. Auch die so erreichte Einheit der Erkenntnis ruht
zwar auf keinem andern letzten Grunde als dem der ursprüng-
lichen Einheit des Bewusstseins. Aber die Einheit empirischer
Erkenntnisse, vollends der gesamten Erfahrungserkenntnis, ist
jederzeit unvollendet und unvollendbar. Man denkt zwar
[35] Natur als vollkommene Einheit; aber dieser Gedanke geht
über die reine Thatsächlichkeit, und über die allein berechtigte
Methode der Thatsachenforschung, die Erfahrung, ganz hin-
aus. Es ist immer noch Natur, was man so denkt; aber es
ist nicht mehr Naturerkenntnis, sondern bloss der ideale Ent-
wurf einer Natur, wie sie in Vollständigkeit erkannt sein
würde — wäre nur diese Vollständigkeit der Erkenntnis metho-
disch erreichbar.


Es kann also nicht glücken, Gesetze des Wollens in Natur-
gesetzen zu gründen, Naturgesetzen der Lust und Unlust etwa,
oder des Begehrens. Denn was man auch immer als Beweg-
kraft des Willens ansetzen mag, den Lusttrieb, den Trieb
überhaupt, oder was man sonst aufstelle, in jedem Falle denkt
man diese Bewegkraft analog einem mechanischen Moment,
gegeben im Anfangspunkt einer psychischen Veränderung und
diese ursachlich bestimmend; bewirkend, dass aus einer ge-
gebenen inneren Lage eine andere wird. Man denkt den Ver-
lauf des Geschehens vom gegebenen Anfang bis zu einem ge-
dachten Endpunkt, wie in aller Verursachung, determiniert
durch die Gesamtheit der Momente, die im Anfangspunkte
dieses Geschehens gegeben waren. Der Gedanke des Zwecks
ist hiervon seinem ganzen Inhalt nach verschieden. In ihm
wird vielmehr der Endpunkt einer Veränderungsreihe gedacht
als durch uns voraus in Freiheit bestimmt, und sodann rück-
wärts bestimmend für die Reihe der Veränderungen, für den
Weg, der vom gegebenen Anfangspunkt zu diesem gedachten
Endpunkt zu beschreiben sei. Voraussetzung dazu ist aber,
dass der gegebene Anfangspunkt, wenn auch etwa an sich,
doch nicht für unser Denken die zureichenden Bestim-
mungsgründe für den folgenden Verlauf enthalte. Das Problem
des Sollens ist demnach präzis so zu stellen: Wodurch ist der
Endpunkt bestimmt, was determiniert meinen Gedanken, das
und das solle sein, gerade sofern er mir nicht determiniert ist
durch meine Kenntnis oder Präsumtion eines ursachlichen Zu-
sammenhanges, gemäss welchem der zweite Moment vom ersten
aus voraus erkennbar wäre? Was determiniert meinen Gedan-
ken, das heisst aber wiederum nicht: welche psychischen
[36] Momente, welche im gegebenen Anfangspunkt in mir wirken-
den Antriebe stehen als Ursachen dafür ein, dass ich den
Endpunkt so und nicht anders mir denke? Diese zum Denk-
geschehen und damit nochmals zur Kausalität abbiegende
Deutung verschiebt von neuem den Sinn der Frage; man rückt
dabei wieder das Eigentümliche des Zwecks oder Sollens nur
aus den Augen, statt es zu erklären. Sondern: welche Art
von Gesetzlichkeit, die im Inhalt des Gedachten gründet,
welche Methode des Denkens, von der sich im Denken
selbst Rechenschaft geben
lässt, bestimmt den Gedanken,
das und das solle sein? Mein Gedanke findet sich nicht be-
stimmt durch eine sichere Kenntnis oder wahrscheinliche Hypo-
these über einen ursachlichen Zusammenhang, gemäss welchem
der Moment B durch den Moment A voraus (im kausalen Sinne)
determiniert wäre, sondern es bleibt ihm ein gewisser Spiel-
raum, er schwankt in gewissen Grenzen; was also, welcher ein-
zusehende Grund
, welches gerechtfertigte Verfahren des
Denkens
lässt ihn nicht in dieser Schwebe, sondern fixiert
ihn, d. h. giebt ihm Einheit, so dass er nicht mehr so oder
so aussagt, sondern nur so.


Unsere Ableitung giebt hierauf die Antwort: Einzig
das formale Gesetz der notwendigen Uebereinstimmung unsrer
Gedanken unter sich, je in dem Kreise den wir übersehen
oder der unsrer Erwägung vorliegt, bestimmt diesen Gedanken.
Der letztbestimmende Grund einer jeden Zwecksetzung, das
Endziel, im Hinblick worauf jeder besondere Zweck sich be-
stimmt, ist nichts andres als die jeder einzelnen Willensent-
scheidung vorgehende weil logisch übergeordnete Einheit,
in der alle Zwecksetzung sich vereinige. Das ist das „End-
ziel“, d. h. der letzte Endpunkt, den alle zweckliche Erwägung
schliesslich im Auge hat; gemäss diesem letzten Ausblick,
dieser letzten „Absicht“ erst bestimmt sich dann auch jedes
nähere, empirisch erreichbar gedachte Ziel; während diese letzte
Absicht selbst immer unerreicht und unerreichbar bleibt, um
so sicherer aber den unverrückbaren Richtpunkt für alle
und jede zweckliche Erwägung, das oberste Prinzip für sie
abgiebt.


[37]

So wird die Zwecksetzung als eigene, selbständig be-
gründete Methode des Denkens in rein objektiver Er-
wägung klar und in ihrem unverkürzbaren Recht begreiflich.
Die Reflexion hat dabei nicht nötig, auf das Subjektive der
Triebe und Motive irgend abzuschweifen. Einheit, Ueberein-
stimmung im Inhalt des Gedachten ist Sinn aller Gesetzlich-
keit. Darunter ordnen sich: Gesetze von Grössenrelationen
(mathematische Gesetze), Gesetze von Zeitrelationen des Ge-
schehens (ursachliche oder Naturgesetze), endlich Zweckgesetze.
Diese haben ihren einzigen positiven Grund eigentlich in dem
Urgesetze der Gesetzlichkeit selbst und überhaupt; die Gesetz-
lichkeit der Erfahrung hat für sie zunächst bloss die negative
Bedeutung: dass das Gesetz der Idee in seiner Reinheit erst
da unmittelbar bestimmend eingreift, wo kausale Gesetzlich-
keit uns keine Entscheidung an die Hand giebt. In der That
vermag die empirische Kausalität unser Denken niemals un-
bedingt zu determinieren, weil sie selbst nicht unbedingt ist;
also lässt sie die Frage nach der letzten übergeordneten Ein-
heit, den Ausblick auf das Endziel, jederzeit frei.


Allein es fehlt doch auch nicht an einer positiveren Be-
ziehung zwischen Erfahrung und Idee. Zunächst die Frage,
welcher die Zwecksetzung antwortet, ist allerdings durch den
Zusammenhang der Erfahrung gestellt. Auch die Antwort
kann daher nicht ausser aller Rücksicht auf diesen Zusammen-
hang erfolgen. Was soll, ist nicht, aber soll doch sein, soll
wirklich werden; die Gesetzlichkeit aber, nach der allein etwas
wirklich wird, ist die ursachliche, oder die Gesetzlichkeit der
Natur. Also muss das konkret Gesollte, auch bloss als ge-
sollt, mit den ursachlichen Gesetzen des Geschehens doch über-
haupt in Zusammenhang bleiben. Und dieser Zusammenhang
ist möglich, weil die Erfahrungsgesetzlichkeit selbst zuletzt
dem Urgesetze der Bewusstseinseinheit untersteht.


Hieraus versteht sich, dass die Zwecksetzung, wie sehr
auch ihrem letzten formalen Grunde nach von Erfahrung
unabhängig, doch dem Stoff nach ganz auf Erfahrung an-
gewiesen bleibt.


Wird erreicht sein, was ich jetzt bezwecke, so wird es
[38] damit Natur geworden sein; es musste also auch schon vor-
her auf den Naturzusammenhang, als in diesem Zusammen-
hange möglich, sich beziehen. Was aus dem Gesetzeszusammen-
hang der Natur herausfiele, fiele damit überhaupt aus dem
Sein heraus.


Die Verwirklichung des Gewollten ist Sache der Technik,
nach ihrem allgemeinsten Begriff: Herrschaft über die Natur
durch Erkenntnis ihrer Gesetzlichkeit. Was könnte wohl ein
menschliches Wollen zur Materie haben, das nicht diesem
Bereiche angehörte? Kausalität beherrscht daher alles
menschliche Thun, insofern es sich um die Verwirklichung
des Gewollten handelt. Aus dem Gebiete der Technik ent-
stammt selbst der gemeine Begriff des Sollens, des Rechten
und Verkehrten, Guten und Schlechten; und doch waltet in
dem allen nur schlichte Kausalität. Sie beherrscht unumschränkt
die Wahl der Mittel zu jedem gewählten Zweck; das Ver-
hältnis des Mittels zum Zweck ist überhaupt kein andres, als
das der Ursache zur Wirkung (vgl. § 2). Die mancherlei Ge-
biete der Technik ordnen sich daher genau nach der Einteilung
der Wissensgebiete. Von der physikalisch-chemischen Technik
(Technik im engeren Sinn) unterscheidet sich die biologische:
Kultur von Pflanzen und Tieren; innerhalb dieser die anthro-
pologische: physische Kultur des Menschen, welche nicht bloss
Hygiene, Gymnastik, Medizin, sondern schliesslich das ganze
Leben und Treiben des Menschen nach seiner physischen Seite
umspannt; z. B. gehört dahin jede Frage der geeigneten Rege-
lung menschlicher Arbeit aus dem Gesichtspunkt der Erhaltung
der physischen Arbeitskräfte; und so die ganze physische Seite
der Erziehung. Aber es giebt auch eine psychologische Technik:
die Kunst der Seelenbehandlung, an der die Psychiatrie, die
individuelle psychische Erziehung, aber auch alle Art Regie-
rung in welchem Kreise immer, und so schliesslich jede Thätig-
keit teilhat, welche irgend einen Grad und eine Art bewusster
und berechneter, psychologischer d. h. das Subjektive des
Bewusstseins mitberührender Einwirkung auf den Andern ein-
schliesst. Nur die vergrösserte Gestalt dieser psychologischen
endlich ist die soziologische Technik, auf der alles Aeussere
[39] der Gemeinschaftsordnung, sowie der nicht geringe Teil der
Erziehung (als Thätigkeit angesehen) beruht, der vom Leben
in der Gemeinschaft und der Art ihrer Organisation abhängt.
Wie weit das reicht und wie dadurch die Willensbildung, so
hoch sie auch ihre Ideale sich stecken mag, doch mit der
Naturgrundlage des Menschendaseins immer in festester Verbin-
dung bleibt, beginnt man vielleicht in unsrer Zeit erst ganz zu
begreifen, und es darf ihr noch nicht voll zu ermessendes Ver-
dienst nach dieser Seite, auch um die Erziehung, keineswegs
verkannt, es darf selbst der Schein nicht künstlich umgangen
werden, als ob so alle, auch die höchste menschliche Bildung
in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Natur träte. Aus unsern
Grundbegriffen folgt in der That eine durchgängige gesetz-
mässige Entsprechung; es folgt aber zugleich, dass diese nicht
Abhängigkeit bedeutet, sofern man darunter logische Unter-
ordnung versteht. Untergeordnet dem Range und der be-
dingenden Gesetzlichkeit nach bleibt vielmehr die theoretische
der praktischen Erkenntnis, die Erfahrung der Idee, nicht
umgekehrt. Aber beide hängen in zentraler Einheit so zu-
sammen, dass alle Verwirklichung eines Gewollten nur mit
den Mitteln und gemäss den Gesetzen des Verstandes möglich
ist; und dies erstreckt sich auf alles, was irgend der Wille
sich als praktische Aufgabe d. i. zu verwirklichenden Zweck
setzen mag.


Der Verstand giebt aber nur Antwort auf die Frage nach
den Mitteln der Verwirklichung, nachdem der Zweck fest-
steht
. Die radikalere Frage ist erst die nach dem Warum
des Zwecks. Es mag nun der nächste Zweck wieder nur
gewollt sein als Mittel zu einem ferneren, so richtet sich die
Frage auf diesen, und wenn er wieder nur Mittel zu einem
andern Zweck ist, auf den dritten u. s. f., und nicht eher kommt
die Frage zum Stillstand, als man zu einem Zwecke gelangt,
der nicht mehr Mittel zu einem andern, sondern Endzweck ist.
Das ist dann erst die ernste Frage nach dem, was sein soll.
Denn das Mittel soll nur sein, sofern und weil der Zweck
sein soll und der Zweck des Zwecks u. s. f., bis zu dem Zweck,
der nicht mehr Mittel zu einem andern Zweck, sondern an
[40] sich Zweck ist, d. i. sein soll. Ist dieser scheinbar das Letzte,
Fernste, nämlich auf dem vor uns liegenden Wege der Er-
fahrung, ja in Wahrheit, da Erfahrung kein Letztes kennt,
ganz über sie hinaus, so ist er dagegen das allem voraus Ge-
wollte. Denn das Mittel wird nur gewollt im Hinblick auf
den Zweck, den nächsten und ferneren u. s. f. bis zum letzten.
Deshalb hatte Plato recht, die Idee einerseits das Ende oder
Ziel (τέλος), andrerseits aber und im letzten Verstande den An-
fang, das Prinzip (ἀϱχή) zu nennen, jenes, wo er von der Er-
fahrung aus bis zu ihr zurück fragt (so im „Gastmahl“), dieses,
wo es sich darum handelt, den Ausgangspunkt deduktiver
Begründung zu nennen (im „Phädo“). Sie ist ihm die Grund-
lage (ὑπόϑεσις), die nichts Andres wiederum zur Grundlage
hat (ἀνυπόϑετον). Genau zu dieser Auffassung von der Idee
hat unsre Ableitung geführt. Und das ist nun unsre These:
dass nichts Andres als die formale Einheit der Idee, nämlich
des unbedingt Gesetzlichen, der Endzweck ist, den alles Wollen
als letztbestimmenden Grund, als Prinzip voraussetzt.


Man hat geglaubt dem Zwange der Folgerung auf die
Idee durch die Annahme auszuweichen, dass es irgend einen
letzten, alle andern überragenden und begründenden Zweck
gebe, der naturnotwendig gewollt werde, sei es nun
Lebenserhaltung, oder Lust, Befriedigung. Natur
zwinge uns, unsere Selbsterhaltung, oder auch die Erhaltung
unseres Geschlechts zu wollen, oder die grösste erreichbare
eigene oder allgemeine Befriedigung, „das grösste Glück der
grössten Zahl“ u. s. w.


Allein der empirische Beweis, dass wir unter allen Um-
ständen mit unserem Wollen und Thun eines dieser Ziele er-
strebten, ist nicht geführt und kann nicht geführt werden.
Vor allem: Niemand will thatsächlich Existenz überhaupt,
oder Lust überhaupt, sondern allemal eine bestimmte Existenz,
eine bestimmte Lust. Bei sehr vielen Willensakten aber ist
uns überhaupt keine Beziehung bewusst sei es auf Lebens-
erhaltung oder auf eine zu erreichende besondere Befriedigung
oder zu überwindende bezw. zu vermeidende Unbefriedigung.
Zwar das unterliegt keinem Zweifel, dass jedes ungestillte Be-
[41] gehren einen Grad von Unbefriedigung, jede Stillung eines Be-
gehrens etwas von Befriedigung bei sich führt; aber dadurch
wird doch nicht diese Befriedigung oder die Beseitigung jener
Unbefriedigung zum ganzen Inhalt des Bestrebens. Vielmehr
eben, weil die Begleitung mit Lust und Unlust so unterschieds-
los allem, auch dem entgegengesetztesten Bestreben gemein
ist, ist sie offenbar untauglich, das unterscheidende Ziel des
Bestrebens, das Richtunggebende dabei zu definieren.
Man zielt also ganz am Problem vorbei, wenn man seine Folge-
rung auf dies ganz allgemeine Zusammengehen von Unlust
und Begehren, Lust und Stillung des Begehrens stützt. Viel-
mehr müsste man zeigen, dass das, woran man seine Lust
findet und nicht, immer wiederum Lust bezw. Unlust sei, dass
es also gar keine Lust zu oder an einer Sache gebe, sondern
allein zu oder an der eignen oder fremden Lust oder Meidung
von Unlust; dass z. B. der Forscher sich nicht nur, was nie-
mand leugnet, freut, wenn es ihm gelungen ist sein Problem
zu lösen, sondern mit allem heissen Bemühen auch gar nichts
andres als diese flüchtige Freude, und nicht etwa die Lösung
des Problems, die sichere Klarheit der Sache, die Einstimmig-
keit und also Wahrheit der Erkenntnis gewollt habe; was
schwerlich richtig und am schwersten auf irgend eine mögliche
Art zu beweisen ist. Ich wenigstens könnte mich nicht be-
stimmen zu glauben, dass etwas so äusserst Bedingtes, das
von den unberechenbarsten Umständen — vom Barometerstand,
von der Verdauung, von den tausend kleinen Störungen des all-
täglichen Lebens — fort und fort bedroht ist, so unentrinn-
bar den ganzen Inhalt meines Bestrebens ausmachen müsste.
Besonders nachdem ich einmal erkannt habe, dass Lust und
Unlust nur die höchst wetterwendischen Begleiter meines Be-
strebens und zwar unterschiedslos jedes, übrigens nur zum
kleinsten Teil dies, überwiegend von Dingen bestimmt sind,
die mit meinem Wollen und Nichtwollen auch gar nichts zu
schaffen haben; dass sie allgemein nur die hinlänglich unsiche-
ren — immerhin beachtenswerten — Zeiger der augenblick-
lichen Tendenz der Erhaltung oder Störung meines physischen
Organismus, oder vielmehr des augenblicklichen Ausschlags
[42] einer unübersehbaren Zahl unmerklicher solcher Tendenzen
sind: sollte ich, bei dieser Erkenntnis, gleichwohl nichts Festeres
und Klareres mir zum Ziel meines Bestrebens setzen können
oder vielmehr müssen als immer wieder diese ungewissen
Lüste und Meidungen von Unlust? Diese Behauptung schiene
mir nicht besser begründet als die andre: weil ich nötig habe
zu essen und zu trinken um zu leben, so müsse Essen und
Trinken allen Inhalt meines Lebens, meines Denkens, Fühlens
und Strebens ausmachen, und alles andre nur eine, man weiss
nicht wozu dienliche, Verkleidung dieses allein wahren Lebens-
inhalts sein.


Von der Theorie, die alles auf das natürliche Streben der
Selbsterhaltung stützen will, gilt dasselbe. Dasein ist Voraus-
setzung jeder Zweckverfolgung, aber doch darum nicht Zweck
an sich, nicht der einzige letztbestimmende Zweck. Der Trieb
zur Lust ist sehr oft dem der Daseinserhaltung entgegen und
umgekehrt; Beweis genug, dass keiner von beiden der allein
oder zuletzt bestimmende ist. Man kommt bei dieser Annahme
überdies in Gefahr, der Natur eine allgemeine, bedingungslose
Tendenz zur Erhaltung der lebenden Wesen anzudichten, die
eine nüchterne Prüfung durchaus nicht zu erkennen vermag.
Natur erhält ihre Geschöpfe eine Zeitlang, und weiht sie
dann mit demselben Gleichmut dem Untergang. Wirklich
strebt kein lebendes Wesen unter allen Umständen fortzuleben.
Warum auch? Blosses Dasein ist kein Zweck, bei dem sich
stehen bleiben liesse. Dass man nach dem Zweck des Daseins
so lange schon fragt und überhaupt fragen kann, ist ein hin-
reichender Beweis, dass wenigstens der Gedanke im blossen
Dasein sein Ziel nicht findet. Es ist noch nicht einmal eine
sittliche Erwägung, dass es thöricht ist propter vitam vitae
perdere causas
, um des Lebens willen das daran zu geben, was
allein ein Grund zu leben ist. Es kann sehr verschieden sein,
worin man einen zureichenden Grund zu leben findet.


Und so bleibt es dabei, dass mindestens von dem Augen-
blick an, wo die Zwecksetzung sich zur Freiheit des Denkens
erhebt, wo es eine eigene Wahl der Zwecke giebt (und es
giebt solche Wahl), der letzte Zweck allein in der Idee, d. h.
[43] in derjenigen formalen Einheit gesucht werden kann, in der
alle besonderen Zwecke sich vereinigen. Dem letzten Sinn
des Sollens (wie er oben erklärt worden) genügt auch keine
bloss empirische Zusammenstimmung der Zwecke, denn
über diese lässt sich immer hinausfragen: wozu? — das
heisst eben, zu welchem letzten Ende dient, auf welche letzte
Einheit oder Uebereinstimmung zielt diese empirisch begrenzte,
also bedingte, abschlusslose Uebereinstimmung, die es immer
offen lässt, dass der erweiterten und wieder erweiterten Er-
fahrung von neuem eine, bloss jetzt nicht bemerkte Nicht-
übereinstimmung sich entdeckt. Einzig die Uebereinstimmung
selbst und als solche kann, nicht um eines Andern willen,
sondern an sich, bedingungslos gewollt werden. Nur über sie
kann nicht ferner hinausgefragt werden, worauf sie ziele, denn
diese Frage hat gar keinen andern angebbaren Sinn als den
der Forschung nach der letzten Einheit der Zwecke.


Dieses letzten Abschlusses aber kann der Wille auch gar
nicht entraten. Ohne ihn bleibt nicht, wie im theoretischen
Erkennen, bloss eine letzte Neugier ungestillt, sondern es
würde an dem allerersten Anfang des Wollens fehlen, da eben
alles Bedingte bei zureichender Besinnung nur bedingt gewollt
werden kann, d. h. gewollt um eines Andern willen, das zu-
vor gewollt sein muss. Der Abschluss ist aber auch eben
darum möglich und jederzeit möglich, weil er ein bloss ge-
danklicher ist und zu sein braucht. Im Gedanken erreiche
ich das Ziel durch die blosse Zurückbesinnung auf das Ur-
gesetz der Einheit, der Uebereinstimmung der Zwecke unter
sich, welches ja nur der letzte, uneingeschränkteste Ausdruck
ist für das Grundgesetz des Bewusstseins überhaupt. Einheit
also ist das Endziel des Willens. Habe ich im Gesichtspunkt
meines Denkens, in der blossen Idee Einheit unter meinen
Zwecken gestiftet, so habe ich den gesuchten Endpunkt er-
reicht, so vermag mein Gedanke hierbei stehen zu bleiben und
zu sagen: so wäre es endlich gut, d. h. in Richtigkeit. Es
giebt nicht nur keine Nötigung, sondern auch gar keine Mög-
lichkeit über diese formale, ebendamit aber und insoweit un-
bedingte Einheit auch nur fragend hinauszugehen.


[44]

Durch diese Bestimmung, als formale, nicht materiale
Einheit, ist die Idee scharf unterschieden von dem eudämoni-
stischen Traum eines irgend einmal zu erreichenden Endzu-
stands allseitiger Befriedigung und Stillung jedes Verlangens,
wie ihn die religiösen Eschatologien und sozialistischen Utopien
geträumt haben. Solche zeigen sich bei näherer Prüfung
fast immer beherrscht vom zufälligen engen Erfahrungskreise
und den je vorwaltenden, mitunter recht beschränkten empi-
rischen Wünschen der Erdichter solcher Traumbilder. Die
Einheit der Idee bedeutet dagegen die Einheit eines Grund-
satzes, einer Methode. Die praktische Aufgabe allerdings, auf
die sie uns hinweist, wird immer empirisch sein; sie schreibt
vor, auf das absehbar höchste empirische Ziel unser Be-
streben zu richten; immer mit dem Vorbehalt, wenn ein er-
höhter Ausblick wiederum grössere Zwecke über den erst an-
genommenen erkennen lässt, zu diesen grösseren Zwecken uns
zu erheben. Insofern kennt auch der Wille, gerade unter
der Leitung der Idee, kein Letztes, nämlich keine letzte
empirische Aufgabe. Aber die Wahl der empirischen
Aufgaben bekommt so allein Einheit und Richtung, und nichts
als diese Einheit der Richtung ist das Letzte, was den Willen
bestimmt.


Es droht also auch wiederum nicht die Gefahr, dass wir
durch die Erhebung zur Idee die Erfahrung etwa ganz über-
fliegen und in jenen „luftleeren Raum“, von dem Kant ein-
mal spricht, uns versteigen würden, in dem allerdings, wie
jedes gegründete Erkennen, so auch jedes redliche Bestreben
für den Menschen aufhört; da sein Wille wie sein Verstand
nur in der Lebensluft der Erfahrung zu atmen und sich fort-
zubewegen geschaffen ist. Man hat oft befürchtet, wer das Un-
bedingte sich zum alleinigen Ziel setze, der werde in der
That gar nichts erzielen, weil eben nichts, was man Kon-
kretes wollen kann, ein Unbedingtes ist. Darauf antwortet die
notwendige Zurückbeziehung der Idee auf die Erfahrung.
Wille ist nicht bloss Erkenntnis des Ziels, sondern Streben
zum Ziel. Ich will vom Zeitlichen aus das Ewige, richtiger:
vom Ewigen aus das Zeitliche. Das ewige Gesetz der Idee
[45] vermag aber jedes empirische Ziel sich unterzuordnen; denn Er-
fahrung erwächst zuletzt auf demselben Grunde; es ist das-
selbe Grundgesetz der Bewusstseinseinheit, welches die Objekt-
setzung der Erfahrung und die Zielsetzung des Willens regiert.
Also werden die materialen Bestimmungsgründe, welche nur
Erfahrung bieten kann, sich dem obersten formalen Grundsatz,
der Idee, jederzeit willig unterordnen.


Es kann nun auch nicht mehr irre machen, dass der Drang
über das Gegebene, Gegenwärtige hinaus zunächst dunkel,
seines Zieles völlig unbewusst ist, und, wenn er zuerst zum
Bewusstsein erwacht, nur auf Empirisches zu gehen scheint,
nur des empirischen Zieles zunächst sich bewusst wird. Auch
so erstrebt er doch immer ein Letztes: Einklang, Ueberein-
stimmung. Er folgt dem Gesetze der Bewusstseinseinheit,
lange bevor er dies Gesetz kennt und seine Tragweite er-
misst. Ist die Besinnung aber einmal so weit erwacht, dass
man anfängt nach dem Warum zu fragen und nach dem
Warum des Warum, so kann auch nicht lange verborgen
bleiben, dass sich bei keinem Empirischen als Letztem stehen
bleiben lässt. Die Richtung des Bewusstseins bestimme sich
zunächst nach einem endlich fernen Punkte, so besteht doch
dieselbe Richtung fort ins Unendliche, und sie kann auch so
erkannt werden; ja in Wahrheit ist es nicht der endliche
sondern der „unendlich ferne“ Punkt, der die Richtung ur-
sprünglich bestimmt. Das je Gewollte wird ja alsbald nicht
mehr gewollt, wenn erkannt ist, dass es in die geforderte
Einheit der Absicht sich nicht fügt; diese war also das von
Anfang an vorschwebende Ziel, ja sie war das eigent-
lich und ursprünglich Beabsichtigte, wenn auch der nächste
Drang auf etwas Andres ging, das diese Absicht vereitelt
hätte. Alle Tendenz ist Tendenz zur Einheit; ohne das lässt
sich überhaupt nichts von Tendenz verstehen, denn Tendenz
heisst Richtung, und eine Richtung geht immer auf Eines,
und schliesslich ein Unendliches. Nur irrend kann ich ein
Empirisches mir zum (vermeintlich) unbedingten Ziel setzen,
so wie ich auch in der Theorie Empirisches für absolut zu
nehmen zunächst geneigt bin. Dann ist es nur meine ver-
[46] diente Strafe, dass ich, im Besitz des Erstrebten, es als trüg-
liches, im Grunde gar nicht von mir gewolltes Ziel erkenne.
Also entweder, ich nehme fort und fort bloss Empirisches für
Unbedingtes, um zu schmerzlicher Enttäuschung immer wieder
durch Erfahrung Lügen gestraft zu werden; oder ich mache
mir ein für allemal voraus klar, dass man nur Unbedingtes
unbedingt wollen, dann aber auch nicht erwarten soll, es in
Erfahrung je anzutreffen. Wird dadurch es selbst oder der
auf es sich richtende Wille zur Chimäre? Keineswegs: das
Unbedingte bestimmt als Richtpunkt unsern Weg, ohne dass
dieser darum bis zu ihm hin führen müsste. Das Ziel liegt
über aller Erfahrung, aber es ist dennoch, ja eben damit fest
und gewiss, denn es ist bestimmt durch das Gesetz der Ein-
heit, das ich als Urgesetz meines Bewusstseins erkenne, und
auch in der Erfahrung immer befolge und bewährt finde.


Hieraus erklärt sich, was man mit der Freiheit des
Willens
Richtiges im Sinn hat. Es ist zunächst die Frei-
heit des Bewusstseins
, die Erhebung des geistigen Blicks,
des Gesichtspunktes des praktischen Urteils über den ver-
meinten Zwang des Naturgesetzes, das doch nie unbedingt zu
zwingen vermag; denn es selbst ist nicht unbedingt; es lässt
thatsächlich das Urteil des Willens frei. Das Gesetz der
Idee dagegen ist eben dann für ihn richtend, im Doppelsinn
des Richtunggebenden und des richterlich Entscheidenden.
Diese Freiheit erstreckt sich aber bis auf die Handlung, inso-
fern zu deren Begriff gehört, dass sie mit und aus dem prak-
tischen Bewusstsein geschieht.


Nicht der kleinste Gewinn unsrer Untersuchung ist, dass
nach ihrem Ergebnis zwischen Verstand und Willen keine
Kluft mehr besteht, während doch die begriffliche Grenze
zwischen beiden fest und unverrückt bleibt. Sie sind für uns
nicht mehr zwei an sich selbständige, erst hinterher zusammen-
wirkende Vermögen oder seelische Kräfte, sondern als ver-
schiedene, doch notwendig zusammengehörende Richtungen
eines und desselben Bewusstseins nur in der Abstraktion zu
scheiden. Der Mensch versteht nur, indem er will, er will
nur, indem er versteht. Auch bedarf es gar keiner psycholo-
[47] gischen Erwägung, um das zur Klarheit zu bringen. Das Ge-
setz der Idee bietet auch für diese Feststellung die voll-
kommen sichere und genügende objektive Grundlage; sein Er-
weis aber ist Sache der Erkenntniskritik, nicht der Psycho-
logie. Im Beweisgang der kritischen Philosophie schliesst sich
in ununterbrochenem Zusammenhang an die Logik die Ethik,
und auf diese allein hat die Pädagogik des Willens sich
zu stützen nötig, so wie die Pädagogik des Verstandes keiner
andern wesentlichen Grundlage als der Logik, die der künstle-
rischen Phantasie keiner andern als der Aesthetik bedarf.
Zwar fällt dies alles dann auch unter psychologische Er-
wägung, aber diese ist, hier wie überhaupt, sekundär; sie be-
gründet nichts, setzt vielmehr den objektiven Erweis der
logischen, der ethischen, der ästhetischen Gesetze zu ihrer
eignen Begründung schon voraus.


§ 7.
Stufen der Aktivität. Erste Stufe: Trieb.


Die nachgewiesenen Grundlagen zur Zielbestimmung des
Willens, also auch der Willenserziehung, sind dem Prinzip
nach die nämlichen, auf die Kant die Ethik gegründet hat.
Weshalb ist man dabei nicht stehen geblieben? Der Grund
liegt nur zum Teil in theoretischen Bedenken hauptsächlich
psychologischer Art, auf die Einiges schon geantwortet ist und
zu deren Beschwichtigung Weiteres in diesem und den folgenden
beiden Paragraphen beigetragen werden soll. Den Ausschlag
gab eigentlich die noch immer herrschende Meinung, dass man
auf dieser Grundlage überhaupt zu keiner konkreten Bestim-
mung der sittlichen Aufgabe gelange. Die Ethik der reinen
Idee, meint man, müsse notwendig im Formalen stecken bleiben;
schon lange sei unerwiesen, wie sich aus ihr bestimmte, brauch-
bare Anweisungen für das Verhalten im wirklichen Leben,
für die unmittelbaren Forderungen der Erfahrung, in deren
Felde allein der menschliche Wille seine direkten Aufgaben
hat, jemals sollten ableiten lassen.


Wir sind auf dem Wege zu zeigen, dass dies Bedenken
[48] ungegründet ist; dass gerade in der angezeigten Richtung sich
zu sehr bestimmten Entscheidungen über die Fragen des prak-
tischen Lebens und der Erziehung zu ihm gelangen lässt. Und
zwar liegt dieser Erweis in der geraden Fortsetzung des bis-
her verfolgten Weges einer rein objektiven Untersuchung.
Denn was im Konkreten Objekt des Willens sein muss, wie,
nicht gleichsam im luftleeren Raum der blossen Idee, sondern
unter empirischen Voraussetzungen wenn auch allgemeinster
Art, sich eine Willenswelt gestaltet, das ist die entscheidende
Frage; erst in zweiter Linie steht die andre: was der Wille
selbst, für den es Objekt ist, seiner subjektiven Beschaffenheit
nach, als Moment des psychischen Erlebens ist. Doch soll
auch diese psychologische Frage insoweit berücksichtigt werden,
dass die von dieser Seite regelmässig erhobenen Einwände dem
Prinzip nach ihre Erledigung finden.


Als die gesetzliche Form, die für den Aufbau der Willens-
welt massgebend ist, kennen wir bereits die notwendige Rich-
tung auf das unbedingt Gesetzliche; den Stoff soll Erfahrung
bieten. Wie sie ihn bietet und wie er sich jener Form fügt,
ist der nächste Gegenstand unsrer Untersuchung.


Wäre nicht schon im Aufbau der Erfahrung selbst ein
Moment enthalten, das sie zum Stoff einer Willenswelt taug-
lich macht und gleichsam voraus bestimmt, so wäre schwer zu
begreifen, wie das Willensgesetz je zu den Daten der Erfah-
rung in die verlangte Beziehung treten sollte. Wir glaubten
aber zwischen theoretischem und praktischem Bewusstsein einen
bis zur letzten Wurzel zurückreichenden, nicht erst hinterher
sich gleichsam künstlich herstellenden Zusammenhang zu er-
kennen. Wir lernten Erfahrung als Prozess verstehen. Sie
zeigt sich auf keiner Stufe fertig, immer im Werden begriffen.
Daher muss ein Verhältnis dessen, was schon in den sicheren
Besitz des Bewusstseins, d. h. in Erfahrung, gebracht ist, und
dessen, was erst in sie einbezogen zu werden im Begriff steht,
noch aber ausser ihr, mithin ausser jedem bestimmten gegen-
ständlichen Bewusstsein schwebt, auf jeder Stufe der Erfah-
rung stattfinden. So wunderbar es ist, es giebt, und zwar in
jedem Momente des Erfahrens, eine Art Bewusstsein des noch
[49] nicht, bezw. auch des nicht mehr im empirischen Sinne Be-
wussten. Es lässt sich fasslich mit Richtung, Strebung,
Tendenz
oder einem analogen Ausdruck bezeichnen. Am
bekanntesten in der deutlichen Gestalt des gewöhnlichen
„Triebes“ nach sinnlichem Geniessen oder auch motorischer
Bethätigung, ist es in Wahrheit von ganz allgemeiner Be-
deutung im bewussten Leben. Es durchdringt auch das ganze
Getriebe der Vorstellungen, das ja in mannigfach wechselnden,
sich von Moment zu Moment gleichsam verschiebenden Ver-
bindungen durchaus besteht, also ein Verhältnis gegebener und
erst anzueignender, bezw. auch abzustossender, sich aus dem
jeweiligen Zusammenhang des Bewusstseins lösender Momente
allzeit in sich schliesst. Wir erkennen in diesem alle Prozesse
der Vorstellung begleitenden Momente der Tendenz die Ur-
sache, weshalb auch das blosse Vorstellen uns als Thätigkeit,
nicht lediglich als etwas, das uns angeschieht, bewusst wird.
Es verrät sich in der Wahrnehmung, als Richtung des Inter-
esses, gleichsam Fixierung des geistigen Blicks auf das beob-
achtete, die Aufmerksamkeit fesselnde Objekt; im Wiederauf-
spüren des Entschwundenen in der Erinnerung; im tastenden
Vorgriff der gespannten Erwartung; in dem oft fühlbar an-
gestrengten Suchen in der Phantasie; vollends in allem höheren
Bewusstsein: die Konzentration des Gedankens auf ein be-
stimmtes inhaltliches Moment, bei gleichzeitiger, auf Voll-
ständigkeit gerichteter Ueberschau der möglichen Fälle; die
Möglichkeit, sogar ein Unendliches, z. B. eine ins Unendliche
fortzusetzende Reihe in Raum, Zeit, Zahl zu denken, was eine
aus dem direkten Bewusstsein ins Nichtgegebene hinüber-
greifende Tendenz unmittelbar einschliesst; somit alles, was
überhaupt begriffliches Denken vom sinnlichen Vorstellen unter-
scheidet; desgleichen alles Urteilen und Erkennen: die Frage,
die Aufgabe, der Zweifel, das Erklärungs- oder Begründungs-
bedürfnis, das freie Entwerfen von Hypothesen, der gedank-
liche Versuch, und wieder das Prüfen und Untersuchen, Folgern,
Beweisen; das überzeugte Annehmen, die Behauptung, als
willentliche Setzung und Aneignung, Anerkennung des als
wahr Begriffenen; das Verwerfen, Verneinen, als ausdrückliches
Natorp, Sozialpädagogik. 4
[50] Abweisen des Irrigen; die bei dem allen leitende Richtung
auf Einheit und Uebereinstimmung der Vorstellungen, auf
Gesetzeserkenntnis, und wiederum auf die möglichst bestimmte
Erfassung, „Feststellung“ des Einzelnen, Konkreten — nichts
von alledem geschieht ohne das, was wir Tendenz nannten.
Zwar das Ziel der theoretischen Erkenntnis ist die möglichst
tendenzfreie Darstellung dessen was „ist“; aber grade die Aus-
schliessung jedes Einflusses anderweitiger Tendenzen, zu
Gunsten der einen, auf reine Herausarbeitung der Objektivität,
fordert strenge geistige Zusammennehmung, die deutlichst den
Charakter einer energischen Anspannung der Aktivität des
Bewusstseins trägt.


Aus unsrer Ableitung (§ 6) ergiebt sich, dass diesem so
weitreichenden Momente der Tendenz nichts andres als jene
dem praktischen Bewusstsein ursprünglich eigene Rich-
tung auf einen letzten, im Unendlichen liegenden Ziel- oder
Vereinigungspunkt alles Mannigfaltigen der Erfahrung schliess-
lich zu Grunde liegt, und darin zum erst dämmernden, dann
klareren und klareren Bewusstsein sich erhebt. Nur daraus
versteht sich das Eigentümliche des praktischen Bewusstseins
überhaupt: Richtung auf etwas als Seinsollendes.


Der Empirismus freilich muss eine solche Erklärung grund-
sätzlich ablehnen; er gerät dadurch aber in die Verlegenheit,
Tendenz als irgendwie ursprüngliches Bewusstseinsmoment
eigentlich leugnen zu müssen *), nämlich das sogenannte Be-
gehren oder Streben bezw. Widerstreben rein aufzulösen in
ein Vorausvorstellen des Erstrebten oder Abgelehnten, und
ein mit diesem Vorstellen sich verknüpfendes Lust- oder Un-
lustgefühl. Dazu kommt dann zwar in der Willenshandlung
selbst noch die Auslösung eines Bewegungsimpulses, die aber
nun ganz im Gebiete des Physischen zu verbleiben scheint,
oder sich im Bewusstsein wenigstens nicht anders reflektieren
soll als wiederum in Vorstellung und Gefühl (Lust—Unlust).


[51]

Diese Ansicht, die zuerst überaus paradox erscheinen muss,
da sie das jedem wohlbekannte Bewusstsein eines Strebens,
als etwas Eigenes, überhaupt wegleugnet, hat dennoch, als
Theorie, etwas Ueberredendes; und zwar, weil sie etwas that-
sächlich Richtiges einschliesst. Es ist nämlich wirklich der
Fall, dass Lust und Unlust einerseits, positives und negatives
Streben andrerseits nicht bloss begrifflich eine genaue Analogie
aufweisen und in dem gemeinsamen Moment eines annehmenden
und ablehnenden, gleichsam bejahenden und verneinenden Ver-
haltens zusammentreffen, sondern auch faktisch in der Weise
sich entsprechen, dass sie sich, bloss auf verschiedener Stufe,
eigentlich auf dieselben Objekte beziehen: dasselbe, was als
Gegenwärtiges Gegenstand der Lust bezw. Unlust, wird, wenn
nicht gegenwärtig, aber im Bereiche der Möglichkeit und
gleichsam in Sicht befindlich, zum Gegenstand positiven oder
negativen Strebens, und umgekehrt. Allein es bleibt immer
dieser unüberbrückbare Unterschied: dass Lust und Unlust
sich schlechterdings auf Gegenwärtiges — auf Nichtgegen-
wärtiges nur, indem es in der Vorstellung gegenwärtig ist, und
als so gegenwärtig — bezieht, Begehren und Widerstreben
dagegen ebenso wesentlich auf Nichtgegenwärtiges und als
Nichtgegenwärtiges (nicht als in der Vorstellung Vergegen-
wärtigtes), das aber zum Gegenwärtigen werden (bezw. nicht
werden) soll. Nun glaubt man vielleicht diese Seite der Sache
durch das zweite Moment, die Vorstellung, gedeckt. Aber
dabei wird übersehen, dass die praktische Vorstellung, von
etwas als seinsollend oder nichtseinsollend, wurzelhaft ver-
schieden ist von der bloss theoretischen Vorstellung, als wirk-
lich oder vielleicht einmal wirklich werdend, oder überhaupt,
wie wenn es wirklich wäre. Dies Sollen und Nichtsollen
in der praktischen Vorstellung lässt sich nicht durch die blosse
Vergegenwärtigung dessen, was möglicherweise eintreten
wird, in der Vorstellung, auch nicht unter Mitvergegenwärti-
gung der Lust oder Unlust, die es, wenn wirklich geworden,
mit sich führen würde, erklären. Sondern es liegt in dem
Sollen eine ganz eigene Positivität, gleichwertig, vielmehr
überlegen der des wirklichen Seins (da es doch sich an dessen
[52] Stelle zu behaupten, gleichsam zu bejahen wagt); während
zugleich ausdrücklich vorausgesetzt wird, dass dies Seinsollende
nicht jetzt wirklich ist, ja sogar möglicherweise nie wirklich
werden wird. Streben ist mit lust- oder unlustvoller Er-
wartung
so wenig einerlei, dass vielmehr die Energie des
Strebens zur Sicherheit der Erwartung im umgekehrten Ver-
hältnis steht und, während die letztere sich bis zur Gewissheit
der vollendeten Wirklichkeit steigert, die erstere bis zum
Nullpunkt herabsinkt.


Also ist wohl dies eigenartige Bewusstseinsmoment: Setzung
eines Objekts als seinsollend, für dermaassen ursprünglich anzu-
erkennen, dass vielmehr umgekehrt die Frage aufgeworfen werden
muss, ob nicht jenes Eigentümliche der Lust und Unlust, das sie zur
Erklärung des Strebens und Widerstrebens tauglich erscheinen
liess, nämlich das darin liegende Moment des Bejahens und
Verneinens, Annehmens und Ablehnens, auf ein zu Grunde
liegendes Streben in jedem Fall zurückweist. Es ist gerade
psychologisch sehr einleuchtend, dass Bewegung des Gemüts
das Zugrundeliegende, ja die allgemeine Bedingung psychischen
Lebens ist (völlige Gleichgültigkeit wäre Tod), und dass
in der Lust und Unlust sich dies Moment der Bewegung nur
deshalb mehr verbirgt, weil darin unmittelbar nicht die Be-
wegung als solche, sondern der jeweilige momentane Ausschlag,
gleichsam die momentane Bilanz der Strebungen, nämlich das
momentane Uebergewicht der Hemmung oder der Be-
hauptung wider sie
ins Bewusstsein fällt. In Lust und
Unlust also wird der blosse Hoch- und Tiefstand des Gemüts,
die blosse Augenblickslage verspürt; während im Streben die
Erhebung und Senkung als solche, und zwar als der eignen
Tendenz des Bewusstseins (auf Einheit, auf Ueberein-
stimmung
) entsprechend oder widerstreitend bewusst wird;
welches beides übrigens zuletzt derart eins ist, dass im Gefühl
der Hemmung oder des nicht gehemmten bezw. die Hemmung
überwindenden Sichbehauptens eben jene eigne Tendenz, in
verschiedenen Graden der Bestimmtheit, gefühlt wird. Danach
läge also ein Moment der Richtung, mithin der Bewegung
doch schon dem Gefühl selbst zu Grunde; woraus der Gegensatz
[53] des positiven und negativen Moments darin (Lust und Unlust)
vielleicht in der einzig möglichen Weise begreiflich wird.


Mag man nun diese (etwa mit Brentano sich berührende)
psychologische Vorstellungsweise annehmen oder nicht, ganz
unabhängig davon bleibt unsere Feststellung, dass eine Be-
ziehung des dem Bewusstsein Gegenwärtigen auf ein Nicht-
gegenwärtiges (d. i. Tendenz) immer stattfindet und wohl
immer auch in irgend welchem Grade zum Bewusstsein kommt.
Und das ist nun unsere Behauptung, dass diese Beziehung ihre
Grundlage schliesslich nur haben könne in jenem Ursprüng-
lichen des Bewusstseins, dem allein auch Nichtgegen-
wärtiges gegenwärtig sein kann
, sei es nun, in bloss
theoretischer Vorstellung, vergegenwärtigt, oder, in prak-
tischer, mit der eignen Positivität des Sollens gesetzt. Nur
wenn man dies unter Vorstellung mitverstände, und andrerseits
in Lust und Unlust das Moment der Tendenz eingeschlossen
sein liesse, wäre gegen die These allerdings wenig einzuwen-
den, dass das Streben oder Begehren sich auflöse in Vor-
stellung und Gefühl. Aber die Absicht dieser Erklärung ging
vielmehr dahin, jenes ursprüngliche, über die blosse Gegen-
wart der Vorstellung wie des Gefühls zum Nichtgegenwärtigen
hinübergreifende Moment des praktischen Bewusstseins, in
dem die ganze, unvergleichliche Eigentümlichkeit des Strebens
liegt, überhaupt wegzuerklären; weil man, als Empirist, aus
dem je im Bewusstsein Gegenwärtigen, Gegebenen, alles er-
klären zu müssen meinte.


Man ersieht leicht, wie nach unserer psychologischen Auf-
fassung das Streben und Widerstreben und mit ihm das Lust-
und Unlustgefühl immer in der innerlichsten Beziehung zum
Vorstellen, nämlich zum geschehenden Vollzug der Ver-
bindung und beziehentlich Trennung der Vorstellungselemente
verbleibt. Herbart, der sowohl das Gefühl als das Begehren in
blosse Verhältnisse unter Strebungen seiner einfachen Vor-
stellungen auflöst, hatte etwas davon im Sinne, obwohl das
Verhältnis zu einwurffreiem Ausdruck bei ihm nicht gekom-
men ist und bei seinem grundlosen Operieren mit Vorstellungen
als Kräften und eigentlich selbständigen Wesen auch nicht
[54] kommen konnte. Sein Bestreben, das beziehungslose Ausser-
einander der seelischen Vermögen zu überwinden, verdient
dennoch Anerkennung und Nachfolge; und auch die allgemeine
Richtung, in der er die psychologische Vermittlung zwischen
theoretischem und praktischem Bewusstsein suchte, ist unver-
werflich. Verfehlt ist erstens, dass dem Vorstellen ein Streben
zwar zu Grunde gelegt wird, welches aber als solches in
keiner Weise zum Bewusstsein kommen soll, sondern vom
Psychologen lediglich erschlossen, ja metaphysisch konstruiert
wird, daher, sobald man diese Konstruktion nicht mitmachen
kann, erschlichen scheinen muss. Und sodann wird von ihm
wohl verkannt, dass eine bestimmte, letzten Grundes ein-
stimmige Richtung
dem Vorstellen, gerade sofern es
Streben sein soll, innewohnen oder doch möglich sein muss.
Es ist die ganze unhaltbare Atomisierung der Vorstellungen,
welche Herbart diese in der Psychologie vielseitig aufklärende
Einsicht verschlossen hat. Dass aber jene Grundrichtung keine
andre als die der Einheit, der Uebereinstimmung selbst, im
theoretischen wie praktischen Sinne, sein kann und thatsäch-
lich ist, darf wohl als das Reinergebnis der ganzen bis hier-
her geführten Untersuchung fortan zu Grund gelegt werden.


Aus der nachgewiesenen engen Einheit des theoretischen
und praktischen Bewusstseins glauben wir nun auch zu ver-
stehen, weshalb der Wille geradezu als Erzeuger der Er-
fahrung
aufgefasst werden kann; so bei Fichte, und anders
bei Schopenhauer oder Wundt. Wir können darin nur eine
falsche Objektivierung jenes thatsächlich im Aufbau der Er-
fahrung und zwar durchweg wirkenden Momentes der Tendenz
erkennen. Ein durchgängiger Zusammenhang zwischen Er-
fahrung und Willensthätigkeit oder dem, was den Keim zu
dieser in sich trägt, besteht unzweifelhaft; er ist aber zu
suchen in einer letzten wurzelhaften Einheit des theoretischen
und praktischen Bewusstseins, d. h. er ist zentral, nicht
peripherisch zu begründen. Indem wir uns selbst als Mit-
arbeiter an der Gestaltung der Erfahrungswelt, mithin das
Werk ihres Aufbaues als Ergebnis in uns mächtiger Tendenzen
empfinden, erfüllt sich uns zugleich der Inhalt der Erfahrung,
[55] wie mit flutendem Leben, mit dem, wie auch immer schwachen
und dunklen, aber stets in irgendeinem Grade vorhandenen
und wirksamen Bewusstsein jener zurück- und vorauswirkenden,
nach- und vorgefühlten Tendenzen in uns. Das jeweilig in
Erfahrung Gebrachte erscheint dann fast bloss als vorüber-
gehender Niederschlag, als an sich indifferentes weil ja immer
wieder sich selbst aufhebendes Erzeugnis des ewigen Prozesses
der Erfahrung, an dem auch das lebendige Interesse der Er-
kenntnisthätigkeit fast ausschliesslich haftet.


Und so dürfen wir auf der Voraussetzung fortan als einer
feststehenden fussen: dass Tendenz allenthalben stattfindet, auch
und besonders im gesamten Aufbau der Erfahrung. Von einem
stofflichen Faktor ist dabei eigentlich nicht zu reden; was ist
denn an einer blossen Tendenz oder Richtung, die stets ein
Verhältnis des Wirklichen zum Nichtwirklichen einschliesst,
überhaupt noch Stoff zu nennen? Als immer wieder verbrauch-
ter und sich neu erzeugender Stoff erscheinen jetzt vielmehr
die nur vermeintlich festen, thatsächlich überaus flüchtigen
Gebilde der Erfahrung, über die die Tendenz immer wieder
siegreich hinausdringt. Jedenfalls setzt, wie überhaupt alles
Empirische im Bewusstsein das Ursprüngliche, so das Empi-
rische der Tendenz jene ursprüngliche Richtung des Bewusst-
seins auf unbedingte Einheit und Uebereinstimmung voraus.
Nur ist sie nicht auch notwendig uns direkt bewusst.


Nach dem Grade aber, in dem sie bewusst wird, unter-
scheidet sich deutlich eine Folge von Stufen der Aktivität,
deren unterste, dem Empirischen also nächststehende, wir
Trieb nennen.


Sieht man das unterscheidende Merkmal des Sinnlichen
in der wesentlichen Beziehung auf das Jetzt und Hier, auf
den als bestimmt gesetzten Zeit- und Raumpunkt, so trifft
dies Merkmal auf die Tendenz in ihrer Urform zu; nämlich
nicht, sofern sie ins Unendliche hinausweist, sondern sofern sie
vorerst im nächstgegebenen, gegenwärtigen oder vom gegen-
wärtigen Erlebnis aus unmittelbar zu erreichenden, also in
unmittelbarer Erfahrung liegenden Objekt ihr Ziel findet, d. h.
uns nur bewusst ist als auf dies Nächste gerichtet.


[56]

Das also ist die erste Stufe der Aktivität, dem Range
nach die unterste, zugleich aber der notwendige Anfangspunkt
einer ins Unendliche emporsteigenden Entwicklungslinie: dass
das unmittelbar vor Sinnen schwebende Objekt unser Streben
ganz ein- oder gefangen nimmt, ausfüllt, sodass es nicht darüber
hinaussieht, sondern dadurch ganz festgehalten, „gefesselt“,
mithin unfrei ist. Dieser Zustand ist noch nicht Wille
zu nennen, wenn doch Voraussetzung des Wollens Freiheit
der Wahl
ist. Auch der Name Begehren ist ungeeignet,
schon weil darunter herkömmlich der Wille, als das „obere
Begehrungsvermögen“, mitbegriffen wird. Dagegen steht das
Wort Trieb zur Verfügung, welches sich deshalb besonders
eignet, weil dadurch die Willenlosigkeit, die diese Stufe der
Aktivität kennzeichnet, das passive Getriebenwerden und nur
dadurch selber Treiben, in steter Erinnerung gehalten wird.
Setzen wir der grösseren Deutlichkeit halber zu „Trieb“ das
Beiwort „sinnlich“, so wollen wir damit nicht ein Sonder-
gebiet des Trieblebens, etwa das dem Menschen mit dem Tier
gemeine, auf niedere Sinnenlust gerichtete, abgrenzen, sondern
nur jene unmittelbare Richtung auf das gegebene, also sinn-
liche Objekt, es sei übrigens was es sei, noch besonders aus-
drücken.


Der Charakter und die weitreichende Bedeutung des Triebs
wird besonders klar am Begriff der Arbeit. Keine mensch-
liche Arbeit, auch nicht die edelste geistige, lässt sich ver-
richten, ohne dass man sich für die Zeit der Arbeit dem Gegen-
stande ganz „hingiebt“, d. h. ohne kraftvoll darauf gerichteten,
für diese Zeit im Objekt aufgehenden Trieb. Auch der Trieb
des Künstlers, seinen Gegenstand anschauend zu gestalten, ist
in der vollen Bedeutung des Wortes sinnlicher Trieb; und wie
nah verwandt ist dem selbst der Trieb des Forschers, seinen
Gegenstand erkennend darzustellen. Vergegenwärtigt man
sich vollends das psychische Verhalten des Jägers, des Er-
werbsmanns, jedes Arbeiters überhaupt, der, wie wir sagen,
mit ganzer Seele „bei der Sache“ ist, was ist das anders als
energisches und zwar ganz und gar sinnliches Triebleben? Der
Trieb ist daher ob seiner Sinnlichkeit nicht zu schelten; er
[57] ist vielmehr, wie es oft gesagt worden ist, an sich weder löb-
lich noch verwerflich, weder sittlich noch widersittlich. Er
kann unsittlich werden, bildet aber ebenso gut den Unter-
grund auch des höchsten sittlichen Thuns. Die Frische der
sinnlichen Energie nimmt mit gesunder Entwicklung der ge-
samten Aktivität keineswegs ab, sondern muss sich stets auf
ihrer verhältnismässigen, normalen Höhe halten. Sittliche
Stärke und sinnliche Kraft des Empfindens und Handelns stehen
keineswegs in umgekehrtem, sondern in geradem Verhältnis:
der sittlich Schlaffe geht, so ausschliesslich er mit seinem sinn-
lichsten Triebleben beschäftigt sein mag, dennoch gerade der
gesundesten Energie der Sinnlichkeit verlustig. Wie die Pflanze
sich in kraftvollem Wuchs über dem Erdboden nur dann er-
hebt, wenn sie zugleich ihre Wurzeln mächtig in ihn hinein
ausbreitet, so geht natürliches und sittliches Wachstum nor-
malerweise Hand in Hand. Darum kann es auch niemals
sittliche Aufgabe sein, das Triebleben zu entwurzeln, sondern
nur, es zu reinigen oder zu heiligen, dabei aber, ja eben da-
durch — soweit nicht notgedrungen, um anderer, höherer
Zwecke willen, darauf zu verzichten ist — es in seiner ge-
sunden Kraft zu erhalten.


Hier besonders stellt sich die ethische Wichtigkeit der
physischen Erziehung heraus. Doch darf nie übersehen
werden, dass auch dabei auf die Herrschaft des Bewusstseins
zuletzt alles ankommt, und das Physische als blosses Mittel
dem sittlichen Zweck immer untergeordnet bleiben muss. Wie
es sich ihm unterordnet, wird bei der Erörterung der zweiten
und dritten Stufe der Aktivität vollends klar werden.


§ 8.
Zweite Stufe der Aktivität: Wille im engern Sinn.


Deutlich hebt sich nun schon der Wille in eigentlicher
Bedeutung vom blossen Trieb dadurch ab, dass nicht mehr
Eines allein unser Streben widerstandslos gefesselt hält, dass
wir also nicht mehr unter dem unentrinnbaren Zwange einer
einzigen Tendenz stehen oder zu stehen vermeinen, sondern uns
[58] vergleichend, abwägend darüber stellen, mit Freiheit entscheiden,
annehmen oder verwerfen, mithin urteilen; dem Triebe uns
nicht mehr blind unterwerfen, sondern uns bewusst sind ihm
entgegenhandeln, ja ihn umlenken zu können; nicht mehr uns
von ihm die Richtung weisen zu lassen, sondern sie ihm zu
diktieren.


So wird klar, wie zwar der Trieb Voraussetzung des
Willens, Wille aber darum nicht lediglich Trieb ist. Soll
ich wählen, so fragt es sich nach der Norm, wonach ich mich
richte, nach der „Maxime“ meines praktischen Urteils, nach
Wahrheit und Falschheit; dann tritt die praktische Besinnung
in ihr Recht, ist die Aufgabe gestellt für praktische Erkennt-
nis
; und eine unendliche Entwicklung steht offen.


Daher erschien nicht wenigen und nicht den schlechtesten
Philosophen geradezu als Kriterium des Wollens die leitende
Einsicht
. Völlig richtig, sofern nur nicht ausser acht ge-
lassen wird, dass es praktische Einsicht sein muss; dass es
nicht auf blossen Scharf- und Weitblick des Verstandes, son-
dern auf eine der Einsicht unmittelbar inwohnende Energie
ankommt, mit der sie, auch mächtig gegenwirkenden Tenden-
zen zum Trotz, die Aktivität in die Richtung zu lenken ver-
mag, für die das praktische Urteil entschied. Schon dieses
ist ja vom theoretischen scharf unterschieden. Ein Sollen er-
giebt sich niemals als einfache logische Folge aus dem er-
kannten Sein; das Sollen schliesst bereits die Tendenz in sich
und könnte ohne schon zu Grunde liegende Tendenz gar nicht
mit innerer Wahrheit ausgesagt, höchstens nachgesprochen
werden ohne wirkliche Ueberzeugung.


Aus welchem Quell nun diese aktive Energie ihre
Nahrung zieht, welche mit der praktischen Erkenntnis zu-
gleich die Thatkraft des Wollens erzeugt, das muss dem,
der von empirischen Voraussetzungen ausgeht, wohl als die
eigentlich entscheidende Frage der Willensbildung erscheinen.
Die gewöhnliche, seit Hume so beliebte Antwort aber: dass
nur die Macht anderer Triebe die Gewalt eines bestimmten,
augenblicklich herrschenden Triebes brechen könne, da doch
blosse, uninteressierte Vernunft keine solche Energie aufzu-
[59] bringen imstande sei, befriedigt nicht; sie ist sogar geeigneter die
wahre Schwierigkeit aus den Augen zu rücken als sie zu lösen. Man
ist bei dem Wort Trieb allzu geneigt an die sinnliche Stufe allein
zu denken, die ganze weitreichende, ja allumfassende Bedeu-
tung, die der Tendenz im höheren Bewusstseinsleben zukommt,
zu übersehen oder doch zu unterschätzen, nämlich darin allen-
falls verblasste, entkräftete Nachwirkungen, Erinnerungsbilder
ehemals sinnlicher Triebe zu sehen, die gegen die frische Ener-
gie gegenwärtig lebendiger Triebe natürlich wenig vermöchten.
Versteht man dagegen unter Trieb jedwede Tendenz, also auch
die der praktischen Einsicht selbst als praktischer schon zu
Grunde liegende, so sagt der Satz zwar Richtiges, aber in so
dunkler und unbestimmter Weise, dass man über ein Gefühl
von Unsicherheit nicht hinauskommt.


Von unseren Voraussetzungen aus ist die Antwort nicht
schwer; sie ist eigentlich schon gegeben. Das Rätsel der eige-
nen Bedeutung des Wollens löst sich uns darin auf, dass der
Wille die praktische Objektsetzung besagt. Die Vor-
stellung des Gegenstandes als eines seinsollenden, so verschie-
den auch von der des seienden Gegenstandes, hat doch nicht
minder als diese die Bedeutung einer für sich gültigen,
dem empirischen Subjekt mit unbeugsamem An-
spruch gegenübertretenden Setzung
. Diesen Sinn
des Willens, als des entschiedenen Vorsatzes einer Sache,
ignoriert ganz, wer im Willen bloss die Resultante einer ge-
gebenen Summe gleichzeitig, jedoch blind wirkender Triebe
sieht. Kein Zweifel, dass zur Entschlossenheit des Vorsatzes
eine Energie bereits erfordert wird, die nur aus einer voraus
vorhandenen, auch wohl schon irgendwie wirksamen Tendenz
abgeleitet werden kann. Aber das entschiedene Uebergewicht
dieser nunmehr zum Willensinhalt erhobenen Tendenz über
jede andere, bloss in Form des willenlosen Triebs vorhandene
bleibt auf jene Art ganz unerklärt. Geht man, nach dem
Vorurteil des Sensualismus, immer vom Trieb in seiner sinn-
lichen oder gar bloss physischen Form aus, in der Meinung,
dass sich daraus alles verstehen lassen müsse, so ist die Er-
klärung schlechterdings unmöglich. Es würde richtiger sein,
[60] wenn man auf dieser Voraussetzung einmal zu verharren ent-
schlossen ist, die selbständige Bedeutung des Willens ganz
zu leugnen. Statt dessen glaubten wir den sinnlichen Trieb
als blossen Spezialfall einer ganz allgemeinen Bewusstseins-
form zu erkennen. Tendenz ist an allem Bewusstseinsleben
innigst beteiligt; sie partizipiert mit besonders starkem Ein-
satz an dem Einheitsstreben der Erkenntnis, welches die Wurzel
aller Objektsetzung, auch der praktischen ist. Hält man das
fest, so kann man nichts Unbegreifliches mehr in der These
finden, dass der Wille damit allein, dass er das Gewollte als
Objekt setzt, die ihn vom willenlosen Trieb unterscheidende
Festigkeit d. i. beharrende Einheit der Bewusstseins-
richtung
, und damit die ihm eigene, der des willenlosen
Triebs unbedingt überlegene Energie erreicht. Wille ist so-
mit konzentrierter Trieb, konzentriert durch die einigende
Kraft des Bewusstseins, dieselbe, die die Objektsetzung
des Willens begründet. So ist die theoretische Objektvorstel-
lung immer noch Vorstellung, aber konzentrierte Vorstellung,
die sich eben dadurch von der schweifenden, subjektiven scharf
abhebt und den unbedingten Vorrang vor ihr behauptet.


So ist es also nicht bloss ein gewagtes Paradoxon des
platonischen Sokrates: dass praktische Einsicht (φρόνησις), wo
sie im Menschen wirklich vorhanden, notwendig das Herrschende
ist und keineswegs (wie man also damals schon verfocht) von
Lust, Unlust, Zorn, Begier, Abneigung, kurz den „sinnlichen“
Trieben wie ein Sklave hin und her gezerrt wird. Sie be-
hauptet die Herrschaft (so erklärt es Plato), indem sie die
Macht des Scheins bewältigt, der uns in die Irre treibt und
zu fortwährendem Selbstwiderspruch nötigt, und der Seele
Ruhe schafft im Verharren bei dem Wahren; d. i. durch
Konzentration im Bewusstsein. Darin liegt nichts Unmögliches
oder auch nur Schwieriges, nichts was aus dem sonst bekann-
ten Zusammenhang der psychischen Vorgänge herausfiele.


Und so stimmt es vor allem mit den Thatsachen überein.
Es ist doch nichts so Unbekanntes oder Unerhörtes, dass dem
Menschen, der überhaupt einen Willen hat, die Sache, worin
immer er sie sehen mag, mehr gilt als die Person, auch die
[61] eigene; dass er der Sache, die er zu der seinigen gemacht hat,
sich selbst und seine gegenwärtige oder absehbare Befriedigung
ohne Bedenken zum Opfer bringt; nicht indem er seine Per-
sönlichkeit wegwirft, zu nichte macht, sondern vielmehr sie
mit ganzer Kraft für die Sache einsetzt.


Man braucht dabei gar nicht an heroische Thaten zu
denken, wie sie von ausserordentlichen Menschen in ausser-
ordentlicher Lage vollbracht werden. Sehr hervorstechende
Beispiele bietet schon der gemeine Soldat, Lokomotivführer,
Feuerwehrmann u. s. w. Er wägt im kritischen Augenblick
nicht erst ab, was er einsetzt und was er etwa gewinnen kann,
wenn er seine Pflicht thut oder wenn nicht. Er riskiert im
einzelnen Fall vielleicht nicht einmal Ehrverlust oder Gewissens-
bisse, wenn er vorzieht nur sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Dennoch wird man die grosse Ueberzahl ohne Wanken den
Weg der Pflicht gehen sehen; und man glaubt dabei mit allem
Recht, gar nichts mehr als seine „Schuldigkeit“ zu thun. Es
gehört dazu in der That keine Heldennatur, sondern nur das
Geringe, dass man ein ehrlicher Kerl, d. h. ein Mensch von
leidlich gradwüchsigem Charakter ist. Derselbe Mensch unter-
liegt vielleicht einer viel weniger ernsten Versuchung, z. B.
zu Unwahrheit um vermeinten, geringfügigen Vorteils willen.
Es ist, wie mir scheint, ein starker thatsächlicher Irrtum vieler
Moralisten, dass dem Menschen das Leben und was es gemein-
hin bietet, sonderlich hoch im Preise stände. Auch die andre
Meinung irrt augenscheinlich, dass, wenn etwas, allein die
Angst vor Ehrverlust oder Gewissenspein über den Lebenstrieb
den Sieg behielte. Es genügt dazu vielmehr das Einzige: der
feste Glaube an eine Sache, und sei es die thörichtste, ja
schlechteste von der Welt. Der gemeine Ehrtrieb ist selbst
nur ein Beispiel davon; auch was man gewöhnlich nennt: sich
ein Gewissen aus etwas machen, ist nicht viel Anderes als die
oft sehr unbestimmte, schwach begründete Vorstellung von
etwas, das man unbedingt thun oder lassen und dagegen auch
den lebendigen eigenen Trieb (der vielleicht ganz im Recht
ist) bezwingen müsse. Die dabei leitende Einsicht mag einen
sehr beschränkten Horizont haben, die Konsequenz nur der
[62] Eigensinn eines ersten Irrtums sein, der unfehlbar die ganze,
von da ab richtig geführte Rechnung verfälscht; es ist darum
noch immer Wille, der auch in diesem Fall seine Macht über
den willenlosen Trieb beweist. Mit Sittlichkeit hat das noch
wenig zu thun; der blosse Wille ist sittlich so indifferent
wie der blosse Trieb, an sich des Bösen so gut fähig wie des
Guten. Es hätten daher ebenso gut Beispiele eines auf ganz
unsittliche Ziele gerichteten, wenn nur unerschütterlich ent-
schlossenen Wollens angeführt werden können. Auch der Ver-
brecher setzt seine ganze verwegene Thatkraft oft weit weniger
an die Befriedigung einer Lust oder den Gewinn eines bestimm-
ten persönlichen Vorteils als an die Verwirklichung einer
schlimmen Einbildung; es ist sehr oft nur perverse Anwendung
einer Kraft, die, auf richtigere Ziele gelenkt, Grosses zuwege
gebracht hätte. Was sind denn die „Grossen“ der Geschichte
oft anders als höchst besonnene und willensstarke Verbrecher!


Hieraus ist denn schon klar, dass die Erhebung von der
Stufe des blinden Triebs zu der des zielsichern Wollens keines-
wegs notwendig auch die Erhebung zur Höhe des vernünf-
tigen
d. i. des sittlichen Wollens bedeutet. Der Wille im
eigentlichen Sinne gehorcht zwar, nach Kants richtiger An-
nahme, jederzeit einer „Maxime“, aber die Maxime taugt nicht
immer zu einer „allgemeinen Gesetzgebung“. Sie behält zu-
nächst ganz den Charakter des Empirischen; der Wille bleibt
auf ein bestimmtes empirisches Objekt, einen Gegenstand des
Triebs, vorerst ausschliesslich gerichtet. Darum fehlt ihm
zwar nicht das Moment der Form. Es tritt deutlich zu Tage
in der bewusst festgehaltenen Einheit der Bewusstseinsrichtung,
ohne die die bewusste Setzung eines Objekts als eines sein-
sollenden nicht möglich wäre. Sogar die unbedingte Setzung
schlummert darin, wenngleich irrtümlich ein Empirisches als
unbedingtes Ziel aufgestellt wird. So beweist der empirische
Forscher, wenn er auch darin irrt, dass er ein bloss empirisches
Gesetz für ein unbedingtes nimmt, doch selbst in diesem Irrtum,
dass es das Unbedingte ist, das seine Forschung schliesslich
sucht und meint. Aber in der bewussten Erhebung zum
Standpunkte des Unbedingten, nämlich unbedingt Gesetzlichen,
[63] tritt erst die Eigentümlichkeit der praktischen Objektsetzung
unvermischt zu Tage. Sie muss also, als letzte und höchste
Stufe der Aktivität, von der des blossen Willens unter-
schieden werden. Wir zeichnen sie aus durch die nähere
Bestimmung des Willens zum reinen oder Vernunftwillen.


§ 9.
Dritte Stufe der Aktivität: Vernunftwille.


Schon der Name, den wir der dritten Stufe der Aktivität
geben, will andeuten, dass diese die zweite, den Willen, eben-
so in sich schliesst, wie der Wille den Trieb. Das Verhältnis
der drei Stufen ist dieses: Trieb bezeichnet nur das Vorhanden-
sein einer Tendenz überhaupt, d. h. Richtung der Aktivität
auf irgend ein Ziel, ohne Bewusstsein einer streng festzuhalten-
den, jede Ausweichung verbietenden Einheit der Richtung; auf
der Stufe des Willens tritt dies Bewusstsein hinzu, es fehlt
aber noch die Einsicht, dass, wie wir früher sagten, jede Rich-
tung ins Unendliche weist, es fehlt die Messung des einzelnen,
empirischen Wollens an dem nicht mehr empirischen Ziel des
unbedingt Seinsollenden; die dritte Stufe fügt noch dies hinzu;
die Beziehung aufs empirische Objekt bleibt zwar, aber das
Bewusstsein des Wollenden haftet nicht mehr an diesem, son-
dern erhebt sich darüber zum schlechthin übergeordneten Stand-
punkt des unbedingt Gesetzlichen. Das empirische Objekt wird
mit ausdrücklichem Bewusstsein nur bedingt gewollt, d. h. um
eines ferneren und ferneren Zweckes willen, der, solange er
noch im Bereiche der Erfahrung liegt, wieder nur bedingt gewollt,
zuletzt aber aufs Unbedingte, als das wahre, obgleich unend-
lich ferne Ziel bezogen wird. Praktische Vernunft ist also
an sich nicht empirisch, wohl aber findet sie Anwendung aufs
empirische Wollen, und hat abgesehen von dieser Anwendung
keine Bedeutung, ausser als Abstraktion zum Behufe der
blossen Theorie. Es ist der Gewinn unsrer vorausgeschickten
Betrachtungen, dass diese Anwendung, in der man so grosse
Schwierigkeiten gesucht hat, jetzt kaum mehr einer besonde-
ren Erklärung bedarf.


[64]

Für den Vernunftwillen ist also in der That, so wie Kant
wollte, das reine Formgesetz des Willens maassgebend. Da
dieses über alles Empirische hinausgeht, so kann sich der Ver-
nunftwille freilich niemals empirisch beweisen, auch nicht durch
eben die That, in der er sich auszuprägen sucht und schein-
bar empirische Gestalt annimmt. Wir beurteilen allerdings
die Gesinnung nach der Handlung, wissen aber sehr wohl, dass
diese nur ein unsicherer Zeuge derselben ist. Nur der Blick
des Selbstbewusstseins ist unendlich, d. h. durch keine end-
liche Schranke schlechthin eingeschränkt. Vor dem Forum
des eigenen Bewusstseins aber erweist sich das Vernunftgesetz
mächtig, ja unbedingt herrschend in dem unerbittlichen Ge-
richt
über unser empirisches Thun. Ob es je die Kraft hat
unser thatsächliches Wollen ganz in die Richtung zu zwingen,
die es ihm vorschreibt, mag nicht bloss Andern, sondern am
allermeisten uns selbst zweifelhaft bleiben; empirisch beweisen
lässt es sich, wie gesagt, niemals; so bleibt ihm dennoch die
praktische Wirkung, dass nach seinem Ausspruch das, was
wir thaten, unbedingt hat sein sollen oder nicht sein sollen,
dass es recht war oder verkehrt, gut oder schlimm, dass ich
selbst vor mir selber, mein empirisches Subjekt vor der „bessern
Person“ in mir, wie Kant sagte, bestehen kann oder nicht.
Ich denke aber, dass das eine mächtige praktische Wir-
kung ist.


Woher kommt nun dem Vernunftwillen diese Obmacht,
die ihm erlaubt, auch unser bestes empirisches Thun für un-
zureichend zu erklären; von unsrem empirischen Wollen
zu verlangen, dass es bei keinem empirischen Ziel jemals
verharre?


Unsern Voraussetzungen entsprechend werden wir ant-
worten müssen: diese Gewalt kommt der Vernunft einzig und
allein aus der Einheit, in der sie gleichsam das ganze prak-
tische Vermögen in seinem letzten Grunde, im Selbstbewusst-
sein, zusammenfasst. Wie Wille konzentrierter Trieb, so
ist Vernunftwille höchste Konzentration des praktischen
Vermögens überhaupt; und diese Konzentration ist die Wurzel
seiner Kraft.


[65]

Doch ist damit die Frage noch keineswegs aufgelöst, son-
dern erst in bestimmterer Form gestellt. Vergeblich fordert
man vom Schwächling, dass er „sich konzentriere“ oder, wie
unsere Sprache es gut bezeichnet, „sich zusammennehme“.
Genau das ist ja seine Schwäche, dass er das nicht kann.
Vielmehr, wie diese Forderung offenbar die höchste, so werden
auch die grössten Voraussetzungen dazu gehören; diese haben
wir jetzt zu untersuchen. Es fragt sich also: gegeben Trieb
und Wille, auf welchem Wege gestaltet sich daraus Vernunft-
wille?


Zum sicheren Ausgangspunkt dient uns die bereits ge-
wonnene Einsicht, dass die Gestaltung der Willenswelt unter
Leitung des Vernunftgesetzes in genauer Verknüpfung stehen
muss mit der Gestaltung der empirischen Objektwelt unter
Leitung des Erfahrungsgesetzes. Auf der untersten Stufe
der Entwicklung ist beides kaum von einander zu scheiden;
weiterhin tritt eine gewisse Differenzierung zwar ein, aber die
Wechselbeziehung dauert fort, und diese Beziehung ist, bis zu
den höchsten Stufen hinauf, mehr als blosse Analogie.


Die drei Stufen: Trieb, Wille, Vernunftwille, entsprechen
auf praktischem Gebiet genau drei Stufen der empirischen
Vorstellung: erstens Vorstellung schlechtweg, die zwar ihren
Gegenstand hat, aber noch nicht das Bewusstsein gegenständ-
licher Geltung einschliesst; zweitens bewusst objektivierte Vor-
stellung, doch ohne radikale Begründung in den Grundgesetzen
des Erkennens; drittens prinzipiell und methodisch begründete,
also wissenschaftliche Objektvorstellung, empirische Objekt-
erkenntnis. Die fortschreitende Konzentration des Bewusst-
seins, die zugleich Erweiterung des Horizonts bedeutet, regiert
dort wie hier den Fortschritt. Wie sich Vorstellung durch
Vorstellung entwickelt, die Vorstellungen auf dem sich stetig
erweiternden Blickfeld des Bewusstseins einander begegnen, in
Widerstreit geraten, Ausgleich suchen müssen, und sich so zu
immer tieferer, umfassenderer Einheit durchbilden, so begeg-
nen sich auf dem Felde des praktischen Bewusstseins Tendenz
und Tendenz; mit steigender Höhe des Bewusstseins vertragen
sich weniger und weniger die in der Richtung nicht überein-
Natorp, Sozialpädagogik. 5
[66] stimmenden, also auch nicht sich gegenseitig fördernden Ten-
denzen, die anfangs, indem jede nur mehr für sich zur Geltung
kam, streitlos neben einander hergehen konnten. Treffen sie
aber erst auf einander, so muss ein Ausgleich gesucht werden;
und jeder gefundene Ausgleich ist ein neuer Sieg der Bewusst-
seinseinheit, festigt die Tendenz zur Einheit überhaupt, erhöht die
Energie dieser Tendenz für jeden folgenden Zusammenstoss.
Und so entspricht sich auch das letzte Ergebnis der Entwick-
lung dort und hier: so wie im Fortgang der Erfahrung jede
Antwort neue Fragen hervortreibt, jede gefundene Lösung neue
Aufgaben stellt, bis die Erwartung letztgültiger Erklärungen
grundsätzlich preisgegeben, der Fortschritt der theoretischen
Erkenntnis als notwendigerweise unendlich, in dieser Unend-
lichkeit aber streng gesetzmässig erkannt wird, so ist das
Endergebnis der praktischen „Erfahrung“ die Einsicht in die
Unendlichkeit der Aufgabe der praktischen Erkenntnis, die
völlige Zerstörung des anfänglichen naiven Glaubens an ein
empirisch erreichbares letztes Ziel, zugleich mit dem sicheren
Bewusstsein eines möglichen Fortschritts von fester Richtung,
nach einem ewigen Ziele hin.


Nun aber wissen wir schon, dass diese durchgängige Ana-
logie eine wurzelhafte Einheit des theoretischen und prakti-
schen Bewusstseins zur Voraussetzung hat. Das tritt in voller
Klarheit hervor, wenn erst die Grundtendenz zur Einheit in
der Entwicklung des gesamten aktiven Vermögens so weit
herrschend geworden ist, dass auf den Ausbau einer Welt
der Zwecke
mit Bewusstsein hingearbeitet wird. Der Na-
turboden
der Entwicklung menschlichen Wollens kann dann
keinen Augenblick mehr verkannt werden. Dadurch wird der
Wille nicht etwa auf eine tiefere Stufe herabgesetzt, mate-
rialisiert
, vielmehr umgekehrt das ganze Gebiet der Er-
fahrung, die Natur, zugleich in das Blickfeld des praktischen
Bewusstseins, der Idee gerückt, d. i. idealisiert.


Das ist die grosse Bedeutung der Technik, deren Be-
griff, wie nach Sokrates*) nicht wieder hätte vergessen
[67] werden sollen, in eine konkrete Ethik unerlässlich hineingehört.
Ist die Technik einerseits, als Anwendung von Naturkräften
auf naturgegebenen Stoff, zweifellos rein theoretisch, nämlich
naturwissenschaftlich zu begründen, so stellt sie nicht minder
wesentlich andrerseits die Naturkraft in den Dienst menschlicher
Zwecke. Kein menschlicher Zweck aber kann ausser Beziehung
bleiben zu dem höchsten menschlichen Zweck: dem Menschen
selbst, oder der Menschen bildung; und diese ist, dem regie-
renden Prinzip nach, Willensbildung. Zielt nun schliesslich
alle Theorie auf Technik, so ist klar, wie alles theoretische
Bewusstsein ausnahmslos zugleich eine Beziehung aufs praktische
gewinnen und sich ihm schliesslich unterordnen muss. Um-
gekehrt bleibt das praktische Bewusstsein aufs theoretische
seinem ganzen Stoff nach angewiesen; seine Entwicklung, die
successive Durchdringung des Stoffs mit der Form des prak-
tischen Bewusstseins ist durchaus gebunden an die Entwick-
lung des theoretischen Bewusstseins, da ja dieses allein ihr den
Stoff bietet. Die Grenze zwischen beiden wird aber dabei
nicht verwischt; blosse theoretische Erkenntnis ist noch nicht
Wille, giebt auch nicht den Willensinhalt; aber der Er-
kennende ist zugleich der Wollende; er vermöchte nicht Er-
kenntnis zu entwickeln als indem er Willen entwickelt und
umgekehrt. Es ist hier eine unauflösliche, innerlich oder,
wie früher gesagt, zentral begründete Einheit anzuerkennen,
wo mit Unrecht eine starre Dualität angenommen wird.


So zeigen sich also die äussersten Enden, Stoff und Form
des Willens, derart ursprünglich auf einander bezogen, dass sich,
je klarer das Formgesetz des Willens zum Bewusstsein kommt,
um so sicherer und vollständiger aller Stoff der Erfahrung ihm
unterordnen muss.


Allein damit ist unsere Frage doch erst zu einem Teil
aufgelöst. Es erfordert jetzt noch eine besondere Betrachtung,
wie denn eben dieser tiefste Quell der Willensbildung sich
erschliesst; wie das Selbstbewusstsein im Menschen, und
zwar als praktisches, nicht bloss theoretisches, erwacht und
zu sicherer Herrschaft gelangt.


Es mag im ersten Augenblick paradox erscheinen, bestätigt
[68] sich aber bei näherer Untersuchung je mehr und mehr: dass
sich ein Selbstbewusstsein im Menschen nur entwickelt im
Wechselverhältnis von Bewusstsein und Bewusstsein;
folglich nur in und mit der Entwicklung der Beziehungen, die
aus dem empirischen Bewusstsein des einzelnen Subjekts hinaus,
zur Gemeinschaft hinüberreichen.


Damit scheint ein ganz neuer Faktor in die Rechnung
eingeführt, ja ein neuer Grundbegriff aufgestellt zu werden.
Es wird sich fragen, wie dieser mit den bisher nachgewiesenen
Voraussetzungen zur Theorie der Willenserziehung innerlich
zusammenhängt; woraus zugleich sich ergeben muss, ob sein
Einfluss sich etwa bloss auf diese höchste Stufe des Willens
erstreckt, oder schon von der untersten Stufe des Trieblebens
an wirksam ist.


Jedenfalls besteht zwischen den Begriffen Gemeinschaft
und Erziehung ein nicht bloss äusseres Verhältnis. Scheint
es doch, dass Erziehung, soweit sie nicht bloss Selbsterziehung
ist, in dem Elemente der Gemeinschaft ganz und gar lebt;
dass sie auf der Gemeinschaft, mindestens der des einzelnen
Erziehers und Zöglings, schon ihrem Begriff nach beruht. Und
nicht minder sicher ist das Ziel der Erziehung, jedenfalls eins
ihrer wichtigsten Ziele, die Tauglichkeit nicht nur zum Leben
in der Gemeinschaft, sondern zur eigenen Teilnahme am Auf-
bau einer menschlichen Gemeinschaft. Die Untersuchung dieser
wichtigen Beziehungen möge denn unsere Grundlegung zum
Abschluss bringen.


§ 10.
Erziehung und Gemeinschaft. Sozialpädagogik.


Der Mensch wird zum Menschen allein durch mensch-
liche Gemeinschaft. Um sich davon auf kürzestem Wege zu
überzeugen, vergegenwärtige man sich, was wohl aus ihm
würde, wenn er ausser allem Einfluss menschlicher Gemein-
schaft aufwüchse. Es ist gewiss, dass er dann zum Tier
herabsinken, dass wenigstens die eigentümlich menschliche An-
lage sich nur äusserst dürftig, nicht über die Stufe einer aus-
gebildeteren Sinnlichkeit hinaus in ihm entwickeln würde.


[69]

Aber der Mensch wächst nun nicht vereinzelt auf, auch
nicht bloss der eine neben dem andern unter ungefähr gleichen
Bedingungen, sondern jeder zugleich unter vielseitigem Einfluss
andrer und in beständiger Rückwirkung auf solchen Einfluss.
Der einzelne Mensch ist eigentlich nur eine Abstraktion, gleich
dem Atom des Physikers. Der Mensch, hinsichtlich alles
dessen, was ihn zum Menschen macht, ist nicht erst als
einzelner da, um dann auch mit andern in Gemeinschaft
zu treten, sondern er ist ohne diese Gemeinschaft gar nicht
Mensch.


So wie die Sozialwissenschaft das vergass, wenn sie die
Gesellschaft aus einer bloss äusseren Verbindung zuvor isoliert
gedachter Einzelner zu erklären unternahm; wie die Ethik es
übersah, so oft sie aus dem Egoismus, als, wenn nicht über-
haupt einzigem, doch einzig ursprünglichem und selbstver-
ständlichem Trieb im Menschen, dessen sittliches Leben und
Denken durch irgend eine Entwicklung hervorgehen liess; so
muss auch die Erziehungslehre in wichtigen Hinsichten ihre
Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht als Grundsatz erkennt und
an die Spitze stellt, dass Erziehung ohne Gemeinschaft über-
haupt nicht bestände. Selbst ohne das Bedürfnis einer tieferen
Ableitung dieses zwingenden Verhältnisses beider Begriffe
hätte die Frage als eine der ersten in der Pädagogik aufge-
worfen werden müssen: wie unter dieser nun einmal grund-
wesentlichen Voraussetzung des Lebens in menschlicher Ge-
meinschaft die Bildung des Menschen, insbesondere des
menschlichen Willens, sich gestalten müsse. Hier aber ist
es um eine reine Ableitung der fundamentalen Begriffe der
Willenserziehung zu thun. Daher müssen wir nach der
letzten Begründung dieses thatsächlich unzweifelhaft bestehen-
den Verhältnisses zwischen Erziehung und Gemeinschaft fragen.


Nicht als wäre nach tief verborgenen metaphysischen
Gründen dafür zu forschen, dass überhaupt eine Vielheit be-
wusster Existenzen, und unter diesen ein Verkehr stattfindet;
eine Frage, die vom kritischen Wege unsrer Untersuchung weit
abliegt und überhaupt zur Zeit keine Aussicht irgend einer
wissenschaftlichen Beantwortung bietet. Nicht nach Existenz-
[70] gründen der Gemeinschaft, sondern danach forschen wir, was
sie dem Bewusstsein inhaltlich bedeute.


Dem Individualbewusstsein als solchem ist Einzigkeit,
Sonderung von jedem andern wesentlich; es kann niemals in
ein andres gleichsam hinüberreichen oder auf irgend eine Weise
mit ihm eins werden. Aber, wer darauf ausschliesslich den
Blick geheftet hielte, würde nicht nur zum ethischen Egois-
mus, sondern notwendig zum theoretischen Solipsismus kommen.
Nun aber handelt es sich um das Bewusstsein seinem Inhalt
und der ihn erzeugenden Gesetzlichkeit nach. Diese
ist von Haus aus für alle eine und dieselbe. Folglich giebt
es keinen reinen, d. i. gesetzmässig erzeugten Inhalt des Be-
wusstseins, der des Einzelnen ausschliessendes Eigentum wäre:
Also: aller echte Bildungsinhalt ist an sich Gemeingut. Es
ist ein gründlicher Irrtum, man möchte es eine Art Sinnes-
täuschung nennen, wenn man irgend einen geistigen Besitz
sich als ausschliessliches Eigentum zurechnet. Der ego-
zentrische Standpunkt der Kosmologie, welcher die unendlichen
Welten um den Beschauer sich drehen lässt, der seinen zu-
fälligen Standort zur absoluten Grundlage seines Urteils macht,
ist nicht naiver oder irrtümlicher als jener egozentrische Stand-
punkt der Bildung, der heute von so manchem als tiefe und
wohl gar neue Philosophie angestaunt wird. So sicher der
äussere Kosmos in seinem Aufbau und dem Wechsel seiner
Erscheinungen einem Gesetze folgt, das nach keinem zufälligen
Standpunkt des Beobachters fragt, so sicher unterliegt der Auf-
bau und die aufsteigende Entwicklung der inneren Welten
der Erkenntnis, der Sittlichkeit und selbst der Kunstgestaltung
Gesetzen, die unterschiedslos dieselben für alle sind. Und
wenn es je ein eigener Ausschnitt aus diesen Welten ist, der
dem Einzelnen sichtbar wird, so besteht die Eigenheit seiner
individuellen Ansicht, analog der Eigenheit des Bildes, das
ein jeder seinem Standort gemäss vom Universum erhält, nur
in einer Einschränkung des unermesslichen Inhalts der mensch-
lichen Bildung, der, an sich derselbe, für alle zur Aneignung
gleichsam bereit steht, und auf den alle solche „zufälligen
Ansichten“ sich wesentlich und unerlässlich zurückbeziehen.
[71] Ueber diese Beziehung hinwegsehen heisst sich bornieren; sie
erkennen und zur Höhe dieser Gemeinschaft des geistigen In-
halts sich bewusst erheben heisst sein Selbst erweitern und ihm
den höchsten für Menschen erreichbaren Wert zuteilen. Es
ist traurig, diese einfachen Wahrheiten nicht bloss aussprechen
und von neuem betonen, sondern noch verteidigen zu sollen
gegen den Wahn eines Paradoxenjägers, den man, in hartem
Widerspruch mit seiner eigensten Absonderlichkeit, jetzt zum
Philosophen „umzuwerten“ bemüht scheint.


Erhebung zur Gemeinschaft ist Erweiterung des
Selbst
. Die Spontaneität, die echte Individualität der Bil-
dung streitet damit überhaupt nicht. Sie ist die Errungen-
schaft von Sokrates-Plato und Kant, eben den Männern, über
die die Zeitphrase des Individualismus sich am hochmütigsten
hinwegsetzt. Die Gesetzlichkeiten der Gestaltung alles In-
halts unsres Bewusstseins und also unsrer Bildung sind Ge-
setzlichkeiten des Bewusstseins selbst: das ist der Individualis-
mus echter Bedeutung. Aber dieser schliesst die Gemein-
schaft nicht aus, sondern führt zwingend zu ihr hin. Dagegen
heisst es die wahre Individualität verkürzen und nicht sie
befreien, wenn man ihr diese Beziehung zur Gemeinschaft
nimmt. Es ist, wie wenn ich die Freude, aus meinem
Fenster ins Weite hinauszublicken, vertauschen sollte gegen
den Stolz der Einbildung, das alles, was ich draussen zu sehen
vermeinte, seien in Wahrheit Gemälde an den Wänden meines
Zimmers.


Der letzte Grund dieser Bedeutung der Gemeinschaft aber
ergiebt sich auf gradem Wege aus unsern ersten Voraus-
setzungen. Kontinuität ist das Urgesetz des Bewusstseins;
dasselbe bewährt sich auch im Wechselverhältnis Mehrerer.
Bewusstsein und Bewusstsein schliessen sich nicht aus, sondern
schliessen sich vielmehr zusammen kraft der dem Bewusstsein
als solchem eigenen Tendenz zur Einheit, nämlich zur Ein-
heit der Idee.


Wie es überhaupt die Funktion des Bewusstseins ist,
Einheit zu stiften; wie irgendwelcher empirische Stoff, sobald
er wahrhaft vom Bewusstsein aufgenommen und durchdrungen
[72] wird, mit allem dem Bewusstsein gegenwärtigen oder erreich-
baren Inhalt Zusammenhang, Verknüpfung in einer Einheit
suchen muss; wie allemal die niederen, weniger umfassenden
Einheiten, deren jede gleichsam ihren eignen Mittelpunkt hat,
unter höheren und höheren Vereinigungspunkten sich wieder-
um zusammenfassen, und so eine allgemeine Tendenz entsteht
auf eine letzte, allbefassende Einheit; so muss dies nämliche
Gesetz sich bewähren gleichsam im Zusammentreffen zweier
individuell verschiedenen geistigen Welten, d. i. in jeglichem
geistigen Verkehr. Denn diese unterschiedlichen Welten bauen
sich aus gleichem Stoff und nach denselben Formgesetzen,
vermöge derselben Grundkraft der Vereinigung, der „Synthesis
des Mannigfaltigen“ auf. Es mag nun die eine ausgebildeter,
weiter ausgedehnt und wiederum konzentrischer geeint sein
als die andre, oder in bestimmten Richtungen ausgebildeter,
in andern weniger u. s. f.; weil aber doch die Grundkraft der
Gestaltung in allen dieselbe, in der unbegrenzten Anwendung
auf andre und andre Gebiete immer gleichartig und in der
Wurzel zusammenhängend ist, so bleibt keine dieser ver-
schiedenen Welten gegen die andre verschlossen, sondern ver-
mögen sie wie in eine einzige zusammenzugehen; so können
ihre Zentren oder Vereinigungspunkte, die untergeordneten
und die übergeordneten bis zu den höchsten hinauf, gleichsam
zur Deckung gebracht werden; so kann, was im Einen nur
begonnen oder nur überhaupt angelegt war, dadurch, dass er
es im Andern vollendet erblickt, auch in ihm sich vollenden;
so kann, mit einem Wort, wirkliche Bildung, d. i. spontan
gestaltende Bewusstseinsthätigkeit und nicht bloss toter Stoff
sich mitteilen; wie nur selbständiges Leben wiederum Leben
erzeugt.


Und also folgt aus der Gemeinsamkeit des Bildungs-
inhalts
zugleich die Möglichkeit einer Gemeinschaft der allen
Inhalt gestaltenden, mithin aller bildenden Thätigkeit.
Nur deshalb ist zuletzt der sich gestaltende Inhalt derselbe,
weil die gestaltende Thätigkeit, weil die Gesetzmässigkeit der
Gestaltung für alle dieselbe ist. Und also muss sich die Ge-
meinschaft gerade auf das Formale dieser gestaltenden Thätig-
[73] keit erstrecken. Ja, gerade die selbstthätige Gestaltung
des Inhalts in Denken und Gesinnung, die uns im Andern ent-
gegentritt, ergreift unmittelbar das eigene Bewusstsein und
setzt die eigene Selbstthätigkeit in Bewegung. Wer je vom
Andern gelernt hat, wem je etwas klar wurde, indem er sehen
lernte mit demselben Blick, mit dem zuvor der Andre sah und
zu dem er ihn gleichsam hinaufzuheben wusste, dem muss dieser
Sinn der bildenden Gemeinschaft klar sein, und er muss
erkennen, wie alle Lehre, alle Erziehung, alle Bildung des In-
tellekts wie des Willens gänzlich hierauf beruht. Hier ist
nicht die Rede von einem Einpflanzen von aussen und andrer-
seits passiver Entgegennahme. Die intensivste Förderung durch
den Andern bedeutet vielmehr zugleich intensivste Selbstthätig-
keit und umgekehrt. Der Empfangende sogar wird durch die
Lebendigkeit seiner Empfängnis auch wieder zum Anregenden;
das Geheimnis, dass wir durch Lehren lernen, durch Erziehen
auch selber erzogen werden. Vielmehr wenn es nicht diese
Gemeinschaft von Bewusstsein und Bewusstsein gäbe, so bliebe
allein übrig, dass der Eine dem Andern den toten Stoff zu-
schöbe und es ihm überliesse, ob und wie er ihn verarbeitete.
Dann freilich würde das Lehren und Lernen notwendig zu
dem verächtlichen mechanischen Treiben, zu dem nur beider-
seitige Geistesträgheit es leider oft werden lässt.


Doch ist es noch nicht genug gesagt, dass das Lernen
geschieht in einem Wechselverhältnis peripherischer Aufnahme
und zentral vertiefender Verarbeitung eines dargereichten Stoffs.
Denn zuletzt giebt es keinen dargereichten Stoff; in Form
und Gesetz muss alles sich auflösen, was eigentlich ein Inhalt
des Bewusstseins sein soll. Es ist hier nur ein Unterschied
des Grades, von dem noch unfreien Verhalten zum Gegen-
stande, in welchem dessen Abhängigkeit vom Formgesetz des
Bewusstseins bloss nicht erkannt wird, bis zur Freiheit dieser
Erkenntnis und damit vollen geistigen Beherrschung des In-
halts. Der Bann der sinnlichen Thatsache, der sinnlichen Lust
und Unlust, des sinnlichen Begehrens besteht nur so lange,
als man an ihn glaubt; er weicht der Freiheit des Bewusst-
seins, das sich über ihn erhebt, indem es auf die Abhängigkeit
[74] des vermeintlich Gegebenen der Sinnlichkeit vom Gesetz des
Geistes sich besinnt.


Und auf diesen ganzen Stufengang der Befreiung des Be-
wusstseins erstreckt sich nun jener Einfluss der Gemeinschaft.
Er erstreckt sich selbst bis auf die sinnliche Wahrnehmung.
Selbst eine menschliche Wahrnehmung würde sich im Men-
schen nicht entwickeln abseits menschlicher Gemeinschaft.
Denn diese Wahrnehmung schliesst eine ganz bestimmte Weise
der Auffassung ein, die nicht von der Natur schlechthin dar-
geboten, sondern vom Menschen nach seinen eigentümlichen
Bedürfnissen und Fähigkeiten zustande gebracht und im Men-
schengeschlecht nicht sowohl physisch vererbt, als vielmehr
psychisch überliefert wird. Es wäre undenkbar, dass das Chaos
der Eindrücke sich in eine geordnete Objektwelt umschüfe, wie
es doch in jedem normalen Kinde in den ersten Lebensjahren
vollbracht wird, wenn ein jedes von Anbeginn ausschliesslich
auf seine individuellen Wahrnehmungen, Erinnerungen und er-
gänzenden Vorstellungen angewiesen wäre; wenn nicht ein
Commercium bestände, durch das der Erkenntniserwerb Andrer,
zunächst der Umgebung des Kindes, durch deren Vermittlung
aber der ganzen Vergangenheit des Menschengeschlechts ihm
zugänglich würde. Die Vorstellung der umgebenden sinnlichen
Welt ist Gemeinbesitz im inhaltvollsten Sinn; sie ist gemein-
schaftlich, nicht bloss sofern jeder für sich sie im allgemeinen
auf gleiche Art vollzieht, sondern sofern kein Einzelner sie
vollziehen könnte ohne die Mitarbeit der Andern; ja auch nicht
die ganze jetzt lebende Menschheit ohne die Errungenschaft
der gesamten bisher dagewesenen. Für die Pädagogik ist
diese Thatsache von einer so fundamentalen Bedeutung wie
wenig andere; denn es gäbe gar keinen Anfang erziehender
Thätigkeit ohne sie.


Besonders greifbar aber stellt sich dieser Sachverhalt dar
in der menschlichen Sprache und ihrer unermesslichen
Bedeutung für die menschliche Erkenntnis, für die Gestaltung
eines menschlichen Bewusstseins überhaupt. Bedenkt man,
wie unmittelbar und unauslöschlich uns die Dinge unserer
Erkenntnis und alles, was wir daran zu erkennen glauben,
[75] die Farbe der menschlichen Sprache, der menschlichen Wort-
begriffe trägt, wie wir selbst in der Absonderung von unsrer
Umgebung im stillen einsamen Denken der Worte der Sprache
uns fort und fort bedienen, also wenigstens die Fiktion der
Mitteilung festhalten, so leuchtet wohl ein, wie unpsycholo-
gisch, vollends unpädagogisch es ist, auch nur von der theo-
retischen Bildung des Einzelnen zu reden ohne Berücksichti-
gung dieser wesentlichen Bedingung, des Lebens in der Ge-
meinschaft.


Ist aber das menschliche Bewusstsein schon in seiner
sinnlichsten Gestalt durch die Gemeinschaft bedingt, so gilt-
das Gleiche nur in erhöhtem Maasse vom menschlichen Selbst-
bewusstsein
. Es giebt kein Selbstbewusstsein und kann
keines geben ohne Entgegensetzung und zugleich positive Be-
ziehung zu anderem Bewusstsein; keine Selbstverständigung
ohne die Grundlage der Verständigung mit Andern; kein sich
selber Gegenübertreten, kein Selbsturteil ohne die vielfältige
Erfahrung, wie Bewusstsein und Bewusstsein sich gegenüber-
treten, wie der Eine den Andern beurteilt; nicht Frage noch
Antwort, nicht Rätsel noch Auflösung, als Auftritte im Selbst-
bewusstsein des Einzelnen, wenn nicht das alles zuerst vor-
gekommen wäre im Wechselverhältnis der Individuen in der
Gemeinschaft. Wie könnte ich mir selbst zum Du werden,
wenn nicht erst ein Du mir gegenüberstände, in dem ich ein
anderes Ich erkenne?


Das alles aber findet nicht nur ebenso, wie im theoretischen,
auch im praktischen Gebiet Anwendung; vielmehr keine dieser
Beziehungen ist jemals bloss theoretisch, sondern unmittelbar
und unvermeidlich auch praktisch. Jede Gemeinschaft von
Bewusstsein und Bewusstsein wirkt notwendig auch auf den
Willen; jede menschliche Gemeinschaft ist notwendig in irgend-
welchem Grade Willensgemeinschaft.


Gewiss ist das Wollen, und gar das reine Wollen, an sich
schlechthin individuell; kein Andrer kann für mich Willen
haben, für mich gut sein. Auch wirkt Gemeinschaft nicht in-
sofern willenbildend, am wenigsten im sittlichen Sinne, als der
Eine nur passiv unter dem Einfluss des Andern steht. Aber
[76] das ist es in der That nicht, was wir Gemeinschaft nennen.
Wir verstehen darunter vielmehr, was ja auch das Wort an-
deutet: dass man einen geistigen Besitz gemein hat und zu
gleichen Rechten geniesst; nicht also der Eine mit seinem
geistigen Inhalt in blosser Abhängigkeit vom Andern verharrt.
Diese Abhängigkeit, wie sie wenigstens dem Kinde im Ver-
hältnis zum Erwachsenen natürlich ist (auch da übrigens nicht
in dem Grade stattfindet, wie Pädagogen gerne möchten), mag
immerhin den Ausgangspunkt bilden; aber von Willensgemein-
schaft, von Willensbildung durch Gemeinschaft kann eigentlich
erst dann und genau so weit geredet werden, als der Eine dem
Andern als Gleicher gegenübersteht und in freier Ueberein-
stimmung mit ihm dasselbe wollen lernt; denn Wille im Voll-
sinn des Worts bedeutet Selbstbewusstsein.


Wie sich aber dies in der Gemeinschaft gestaltet, kann
gerade die Analogie der Entwicklung theoretischer Erkennt-
nis in der Gemeinschaft, nämlich des Lehrenden und Lernen-
den
, uns klar machen. Diese besteht ja nach dem Gesagten
nicht etwa darin, dass ich mit den Augen des Andern sehe,
d. h. mir die Augen verbinde und mich der seinen statt der
meinen bediene; das wäre etwa autoritatives Annehmen von
Meinungen. Sondern ich muss die eigenen Augen gebrauchen,
aber ihren Blick üben und lenken lernen, so wie der Andre
ihn üben und lenken musste, um mich mit meinem eigenen
Blick in seinen Blickpunkt versetzen zu können und so zu
sehen, was er sieht, ich aber zuvor nicht sah. Das hatte
Sokrates im Sinn, als er behauptete, es gebe gar kein Lehren
und Lernen, sofern darunter verstanden wird ein Hinüberleiten,
gleichsam Einschütten der Erkenntnis, die der Eine hat, in die
Seele des Andern wie in ein leeres Gefäss; das Einsehen könne
jeder nur selber leisten, Erkenntnis sei nur aus dem Selbst-
bewusstsein zu schöpfen, und alles, was der Andre dazu bei-
trage, sei die Veranlassung zum Suchen durch Frage und
Weckung von Zweifeln; gleichsam die Hinweisung auf die
Gegend, wo das Gesuchte zu finden sein muss. Dass aber auf
diese Art die Gemeinschaft unterrichtend wirkt, ja ein wahrer
Unterricht nur so möglich ist, hatte Sokrates, und ihm folgend
[77] Plato, tief erkannt, der sich die Entwicklung der Erkenntnis
schon gar nicht mehr anders als im wechselseitigen Austausch,
im Unterreden zu denken vermochte.


Was aber so vom theoretischen Lernen gilt und als An-
fang einer gesunden „Didaktik“ nie vergessen werden sollte,
dasselbe findet nicht bloss auch Anwendung auf die Willens-
bildung, als sei das eben nur eine Art solchen Lernens, son-
dern dies theoretische Lernen geschieht wiederum gar nicht ohne
Willensentwicklung. Es geschieht, so wurde gesagt, indem
man den eigenen Blick üben und lenken lernt: das ist aber
schon Willensthat. Das theoretische Lernen kann auch in
dem Sinne nur selbsteigene Leistung sein, dass es vom Wollen
abhängt
; dass man das Lernen selber nur lernt, indem man
wollen lernt. Also ist gewiss jeder wahre, nämlich freie Ein-
sicht und nicht bloss autoritative Annahme wirkende Unterricht
zugleich eine Erziehung, nicht als ob die blosse Verstandes-
belehrung von selbst den Willen bewegte, sondern vielmehr
umgekehrt, indem die Verstandesbelehrung ohne Willensent-
wicklung gar nicht erreicht würde.


Und zwar ist die primäre Wirkung der Gemeinschaft
die auf den Willen. Man lernt wollen, indem man die Er-
fahrung macht vom Wollen des Andern. Der energische Wille
des Andern, sagt man, reisst uns fort, etwa dem starken Strom
gleich, der den trägeren Zufluss in sich aufnimmt und so sein
Gewässer in die gleiche mächtige Bewegung zwingt. Aber ein
solches Bild verdunkelt noch zu sehr, dass gerade die Energie
des Selberwollens erhöht, der eigene Wille nicht gezwungen
oder in Abhängigkeit gebracht, sondern erst recht auf sich
selbst gestellt wird durch die Erfahrung, wie der Wille des
Andern selbständig und in dieser Selbständigkeit energisch ist.
Analog also wie ich im Falle des theoretischen Lernens das,
was der Andre sah und ich zuerst nicht sah, sehen lerne,
indem ich mich in seinen Blickpunkt mit Willen selber ver-
setze, so besinne ich mich erst auf den letzten Grund des
Wollens im Urgesetze des Selbstbewusstseins, indem ich am
Andern die Erfahrung mache, wie auf diesen letzten Grund
sein Wollen immer zurückweist und aus ihm hervorgeht.


[78]

Gerade das Selbstbewusstsein also, und mithin das selbst-
bewusste Wollen, entwickelt sich allein in und mit der Gemein-
schaft von Bewusstsein und Bewusstsein, die primärerweise
Willensgemeinschaft ist. Gerade in der tiefsten Einigkeit mit
dem Andern unterscheide ich mich von ihm und finde mich
selbst. In jedem ist ein Unendliches; dessen werde ich in
mir selbst erst inne, indem ich die Unendlichkeit im Andern
ahne. Je tiefer wir uns gegenseitig kennen (was immer schon
eine tiefe Einigkeit voraussetzt), um so sicherer empfinden wir
die Grenze, wo wir uns unterscheiden. Das gilt allgemein,
und es gilt besonders vom praktischen Bewusstein, dem ja
die Beziehung in die Unendlichkeit wesentlich ist.


Also muss vor allem die Theorie der Willenserziehung
von der Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft von
Anfang an ausgehen und die Konsequenzen dieser Voraus-
setzung auf Schritt und Tritt beachten. Auch darf es sich
hierbei nicht bloss handeln um das Verhältnis des Einzelnen
zum andern Einzelnen, sondern es fragt sich ferner nach
seinem Verhältnis zur konstituierten menschlichen Gemeinschaft
in ihren mancherlei Formen von der Familie bis zur Ge-
meinde und dem Staat und schliesslich zur Menschheit. Die
bildende Gemeinschaft der Einzelnen ist nur der einfachste
Fall, nur gleichsam die Zelle oder ein engster Verband von
Zellen in dem ganzen Organismus des menschlichen Gemein-
schaftslebens, in dem zuletzt kein Einzelner und keine Gruppe
Einzelner ihr Dasein und ihre Funktionsweise ganz für sich
hat, sondern allein in Gemässheit ihrer Beziehung zum grössern
Ganzen, zuletzt zur Menschheit. Der Einzelne und so auch
die einzelne Gruppe lebt und wirkt in Kraft dieser Beziehung,
auch ohne darum zu wissen; aber das entwickelte Bewusst-
sein dieser Beziehung führt erst zu einem solchen Wirken
auch des Einzelglieds und der Einzelgruppe, das der Gesund-
heit seiner Richtung und damit des erspriesslichen Erfolges
gewiss sein darf.


Das ist die Auffassung von der Aufgabe der Erziehungslehre,
die wir in dem Titel Sozialpädagogik in Erinnerung halten
möchten. Wir verstehen darunter also nicht einen abtrennbaren
[79] Teil der Erziehungslehre etwa neben der individuellen, sondern
die konkrete Fassung der Aufgabe der Pädagogik überhaupt und
besonders der Pädagogik des Willens. Die bloss individuale
Betrachtung der Erziehung ist eine Abstraktion, die ihren be-
grenzten Wert hat, aber schliesslich überwunden werden muss.


Der Begriff der Sozialpädagogik besagt also die grund-
sätzliche Anerkennung, dass ebenso die Erziehung des Indi-
viduums in jeder wesentlichen Richtung sozial bedingt sei,
wie andrerseits eine menschliche Gestaltung sozialen Lebens
fundamental bedingt ist durch eine ihm gemässe Erziehung
der Individuen, die an ihm teilnehmen sollen. Danach muss
dann auch die letzte, umfassendste Aufgabe der Bildung für
den Einzelnen und für alle Einzelnen sich bestimmen. Die
sozialen Bedingungen der Bildung also und die Bildungs-
bedingungen des sozialen Lebens, das ist das Thema dieser
Wissenschaft. *) Und dies betrachten wir nicht als zwei von
einander trennbare Aufgaben, sondern als eine einzige. Denn
die Gemeinschaft besteht nur im Verein der Individuen, und
dieser Verein wiederum nur im Bewusstsein der Einzelglieder.
Das letzte Gesetz ist daher für beide, Individuum und Gemein-
schaft, notwendig eins und dasselbe.


Diese Einsicht ist aber zugleich von entscheidender Be-
deutung für ein wissenschaftliches Verständnis des
sozialen Lebens selbst
. Die Gemeinschaft ist kein starrer,
invariabler Faktor, so wenig wie das Individuum. Sie unter-
liegt gleich diesem der Entwicklung, und diese Entwicklung
muss schliesslich denselben allgemeinen Gesetzen
folgen wie die Entwicklung des Individuums. Die Kenntnis
wenigstens ihrer obersten Gesetze ist zugleich die Voraussetzung
auch jeder ernsthaften Erwägung des Einflusses, den die Ge-
meinschaft auf die Bildung des Einzelnen übt und üben soll.
Also darf eine wahre Sozialpädagogik der Frage nach den
Grundgesetzen des Gemeinschaftslebens nicht aus-
weichen. Auch muss diese Frage aus unsern Prinzipien beant-
wortbar sein, eben weil die allgemeinen Bildungsgesetze der
[80] Gemeinschaft, nach der grossen Einsicht Platos, notwendig
zuletzt identisch sind mit den Bildungsgesetzen des Individuums.
Es ist also das, jetzt schon in einigen Hauptlinien vor uns
stehende und bald näher auszuführende Bild der gesetzmässigen
Entwicklung des Einzelnen zu vergrössern zu den Dimensionen
der Gemeinschaft. An der Spitze steht das Grundgesetz der
Konzentration des Bewusstseins, zugleich mit Erweite-
rung seines Horizonts
. Das war ja die Grundlage dieser
ganzen Betrachtung: dass dasselbe Grundgesetz sich bewähren
müsse in den Berührungen der individuell verschiedenen Be-
wusstseinswelten wie in jeder für sich. So wie in der innern
Welt des „Verstandes“ durch Widerstreit und Ausgleich eine
immer tiefere und zugleich umfassendere Einheit des Verständ-
nisses sich bildet; wie auf dem Gebiete des „Willens“ das
gleiche Spiel sich wiederholt; so, und zwar in eben diesen
beiden Hinsichten, primärerweise aber in Hinsicht des Willens,
muss sich eine Konzentration von Bewusstsein zu Bewusstsein
durch Streit und Vergleich in stetem unbegrenztem Fortschritt
vollziehen von bloss äusserer Gesellung zu innerer Gemein-
schaft, von „Heteronomie“ zu „Autonomie“. Und durch die-
selben wesentlichen Stufen, welche die Entwicklung des Ein-
zelnen durchläuft: durch Arbeit und Willensregelung
zum Vernunftgesetz
, muss auch die Gemeinschaft fort-
schreiten. Die Grundformen des Soziallebens, die Grundarten
der sozialen Thätigkeit, schliesslich auch die besonderen sozialen
Organisationsformen, die direkt der Bildung der Einzelnen
dienen, müssen auf der gleichen Basis sich ableiten lassen.


Damit ist unsre Aufgabe klar vorgezeichnet, Ziel und
Weg der Untersuchung bestimmt. Wir zerlegen sie in zwei
Hauptteile; der erste ist eigentlich ethisch und zwar individual-
und sozial-ethisch; als Voraussetzung zur sozialen Ethik wird
er zugleich die Fundamente der Sozialphilosophie überhaupt
nachzuweisen haben; der andere, unsrer Absicht gemäss aus-
führlicher zu behandelnde Teil ist im engeren Sinne pädagogisch.


[[81]]

Zweites Buch.
Hauptbegriffe der Ethik und
Sozialphilosophie.


Natorp, Sozialpädagogik. 6
[[82]][[83]]

§ 11.
Das Sittliche in individualer und sozialer Bedeutung.


Nachdem der tiefliegende Zusammenhang der sittlichen
Vernunft des Menschen mit dem Leben in der Gemeinschaft
sich enthüllt hat, bedarf es erst der Rechtfertigung, weshalb
wir den Aufbau der sittlichen Welt gleichwohl mit der Auf-
stellung eines Systems individueller Tugenden beginnen.


Das Bewusstsein des Willensgesetzes kann sich, dem Dar-
gelegten zufolge, allein in der Gemeinschaft bilden und zieht
aus ihr fort und fort seine Nahrung. Auch seiner Geltung
und seinem Inhalt nach bedeutet es ein Gesetz nicht für den
Einzelnen allein, oder für eine Vielzahl von Einzelnen bloss
aus gleichem Grunde, sondern an und für sich für die Ge-
meinschaft. Eine sittliche Welt, eine eigene Objektwelt des
Willens existiert überhaupt nur für eine Gemeinschaft der
Willen, ebenso wie die Welt des Verstandes nur für den ge-
meinen Verstand. Das Gute, schlechthin und ohne Einschrän-
kung, kann gar nicht gedacht werden als Aufgabe für den
isolierten Einzelnen. Es ist in seinem überindividuellen, un-
endlichen Charakter zu gross selbst für eine noch so weit
verstandene empirische Gemeinschaft. Sofern aber für die
Individuen, besteht die sittliche Aufgabe nur für alle insgesamt;
für jeden Einzelnen nur gemäss dem Anteil, der an der ge-
meinschaftlichen Aufgabe gerade ihm, nach der Besonderheit
seiner Lage und Befähigung, zufällt. Was in concreto das
[84] Sittliche für den Einzelnen, hängt davon ab, was es für alle,
was für die Person überhaupt, davon, was es an sich, sachlich,
objektiv ist. Das „Ich soll“ hat, wenn nach dem Inhalt des
Sollens die Frage ist, zur Grundlage das „Es soll“, das Gute
der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt.


Darum bleibt doch das Wollen des Guten selbst individuell *).
Es kann keiner für mich wollen, für mich Vernunft haben,
praktische so wenig wie theoretische. Dass ich oder mein
Thun gut sei, liegt rein an mir, an der Beschaffenheit meines
Wollens, und ist ganz davon unabhängig, ob auch der Andre es
dafür erkennt. Sittlichkeit besteht nicht durch einen Vertrag
auf Gegenseitigkeit; habe ich bei mir selbst etwas für gut er-
kannt, so bleibt es für mich geltend, und ob alle Welt es
anders befände. Der sittliche Wille unterwirft sich nur dem
Gesetz, das er sich selbst giebt. Allein jetzt ist nach dem
Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber die Frage.
Die Gesetzesform selbst aber verleiht diesem Inhalt objektiven
und also überindividuellen Charakter. Der Glaube an eine
Sache ist (nach § 8) das Merkmal sogar des (eigentlichen)
Willens überhaupt, nicht erst des sittlichen Willens. Mag
aber einer den Gegenstand seines besonderen Wollens für seine
ausschliessliche Sache halten, so ist doch der Wille so lange
noch nicht rein sittlich, d. h. erfüllt er nicht rein sein eigenes
Gesetz, als man noch die eigene Sache gegensätzlich gegen
die des Andern stellt; er ist es erst dann, wenn ich erkenne:
meine Sache ist keine andre, soll keine andre sein, als die
auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist.


Also bleibt es dabei, dass das Sittliche an und für sich,
seinem Inhalt nach, Gemeinschaftssache und in keiner Weise
Privatsache ist. Es ist nicht bloss an sich für alle eins und
[85] dasselbe, sondern es muss auf der Höhe sittlicher Klarheit auch
als gemeinschaftlich bewusst und im Hinblick auf die Gemein-
schaft gewollt sein. Sittliches Bewusstsein ist als solches not-
wendig Gemeinschaftsbewusstsein.


Nun aber fragt es sich weiter nach der Besonderung
der sittlichen Aufgabe, und da ist allerdings zu scheiden
zwischen dieser Aufgabe, sofern sie dem Einzelnen, und, sofern
sie der Gemeinschaft gestellt ist; und wiederum, sofern sie
den Einzelnen oder die Gemeinschaft direkt zum Ziele hat.
Insofern ist das Sittliche ein anderes in individualer, ein
anderes in sozialer Bedeutung. Zwar der letzte konstituierende
Begriff des Sittlichen muss ja einer und derselbe sein, wie für
die verschiedenen Individuen, so auch für Individuum und
Gemeinschaft, da doch die Gemeinschaft nur im Bewusstsein der
Einzelnen besteht. Allein das hindert nicht eine Spezifikation
dieser in sich identischen Aufgabe, je nachdem sie bloss in
Hinsicht des Individuums oder in Hinsicht der Wechselbezieh-
ungen der Individuen in der Gemeinschaft erwogen wird.


Die konkretere Gestalt der sittlichen Aufgabe aber ist
die gemeinschaftliche. Denn, wenngleich Gemeinschaft ein
Abstraktum und nur die Individuen konkret sind, so ist da-
gegen das isoliert gedachte Individuum wiederum eine Ab-
straktion. In Wahrheit giebt es kein isoliertes, menschliches
Individuum, denn der Mensch ist Mensch nur in menschlicher
Gemeinschaft und durch Teilnahme an ihr. Und das gilt
doppelt vom wollenden und handelnden; im blossen Erkennen
mag man eher noch sich vereinzeln, im ästhetischen Geniessen
und Schaffen für sich bleiben und allein sich genügen wollen;
dagegen das Handeln des Einzelnen und, sofern es aufs Handeln
zielt, schon sein Wollen greift unvermeidlich in die Sphäre
der Gemeinschaft ein, muss also, falls es mit Bewusstsein ge-
schieht, auch seiner Wirkung in diese Sphäre hinein mit-
bewusst sein. Also ist der Einzelne, zugleich in seiner Ge-
meinschaftsbeziehung gedacht, konkreter als der bloss für sich
gedachte Einzelne.


Aber eben weil dem so ist, kann die Ableitung der kon-
kret sittlichen Aufgabe nur vom Individuum ausgehen; denn
[86] der Gang der Deduktion ist vom Abstrakteren zum Konkreteren.
Die Grundverhältnisse des Sittlichen, an sich dieselben für
Individuum und Gemeinschaft, werden sich doch am Indivi-
duum leichter erkennen lassen. Sie ergeben sich, wie wir
erwarten müssen, durch die Spezifikation der in sich einen
sittlichen Aufgabe gemäss ihrer Beziehung auf die drei Grund-
faktoren der Aktivität, Trieb, Wille und Vernunft; von diesen
aber ist unmittelbar klar, was sie beim Individuum, nicht
ebenso, was sie in der Gemeinschaft besagen. Zugleich wird
eben damit erst der Grund gelegt für die Ableitung des Sitt-
lichen auch in seiner sozialen Gestalt. Denn dasselbe, was
der Wille auf seinen drei wesentlichen Stufen für den Einzelnen
bedeutet, muss er auch für die Gemeinschaft bedeuten; man
hat nur die Wechselbeziehungen der Einzelnen in der Gemein-
schaft hinsichtlich eben dieser drei Stufen der Aktivität zu-
gleich in Betracht zu ziehen. Das ist im wesentlichen der
Weg, den Plato eingeschlagen hat. Schon er gelangte so
zu einer genau parallelen Bestimmung des konkret Sittlichen
für Individuum und Gemeinschaft, die, wie verbesserlich auch
im einzelnen, doch dem Prinzip und methodischen Grund-
gedanken nach vorbildlich bleibt.


Auf seiten des Individuums ergiebt sich auf diesem Wege
ein System von Grundtugenden. Unter Tugend überhaupt
verstehen wir die Sittlichkeit des Individuums, unter Tugenden
deren einzelne Seiten oder Richtungen, unter Grund- oder
Kardinaltugenden die ursprünglich zu unterscheidenden Seiten,
die aus irgend einer obersten Einteilung des Begriffs der in-
dividuellen Tugend sich ergeben müssen. Zum obersten Ein-
teilungsgrund aber dienen uns die wesentlichen Stufen der
Aktivität überhaupt; denn Tugend ist nichts Andres als die
rechte, ihrem eigenen Gesetz gemässe Beschaffenheit mensch-
licher Thätigkeit. Es ist wiederum Plato, der erkannt hat,
dass die ihm schon überlieferten Hauptnamen von Tugenden
wie Vernünftigkeit, Tapferkeit, Maass einen solchen Einteilungs-
grund stillschweigend voraussetzen, nur freilich ohne Bewusst-
sein und daher ohne sichere Abgrenzung der Begriffe. Da-
durch war seiner Untersuchung in Hinsicht der individuellen
[87] Tugenden der Weg vorgezeichnet; wir halten diesen Weg
inne, nicht aus Vorliebe oder um der Vorteile einer grossen
Ueberlieferung willen, sondern weil wir eine sachliche Not-
wendigkeit dabei erkennen.


Das Grösste aber, was Plato gelang, war die Uebertragung
dieser selben Einteilung [auf] die soziale Tugend. Den Be-
griff einer Tugend der Gemeinschaft hat wohl er zuerst (allen-
falls nach dem Vorgang des Sokrates) aufzustellen gewagt.
Er war ihm nahe gelegt durch den weiten Sinn des griechi-
schen und besonders sokratischen Wortes ἀϱετή (Tugend), das
jede Art Tüchtigkeit oder Rechtbeschaffenheit (Güte) besagen
kann. Und so wagte er die Tugenden der Gemeinschaft nach
gleichem Prinzip wie die des Individuums, daher diesen genau
parallel, abzuleiten. Noch Weiteres fiel ihm dabei wie von
selbst in den Schoss; vor allem der Nachweis der Grundfunk-
tionen des sozialen Lebens, die ja den Grundfunktionen des
Individuallebens, weil den Grundstufen der Aktivität über-
haupt entsprechen mussten. Im einzelnen zwar ist hier recht
viel am platonischen Entwurf zu berichtigen. Die Funktionen
sind an sich nicht einwandfrei aufgestellt; auch sind sie zu
sehr auseinandergerissen und, ganz gegen die ursprüngliche
Absicht, weit mehr gegensätzlich als einhellig und zu einander
komplementär gedacht. *) Aber in der Verbesserung dieser
Fehler bewährt sich nur desto überzeugender der methodische
Kerngedanke.


Und so dürfen wir auf demselben schlichten und sicheren
Wege zu den wahren Grundfaktoren des sozialen Lebens zu
gelangen hoffen. Ja, das gleiche Prinzip wird uns über Plato
noch einige wesentliche Schritte hinaus führen. Eines nament-
lich, woran Plato in seiner Zeit noch kaum denken konnte,
was dagegen dem heutigen Forscher sich besonders nahe legen
muss: die Entwicklung des sozialen Lebens muss sich wohl
einem letzten Gesetze fügen, das auf der gleichen allgemeinen
Grundlage deduktiv zu gewinnen ist. Unserem Zeitalter ist
der Gedanke der Entwicklung so in Fleisch und Blut über-
[88] gegangen, dass man an eine fundamentale Untersuchung über
irgend ein Problem der Sozialwissenschaft die Frage immer
zuerst richten wird, wieweit ihre Erkenntnis dadurch ge-
fördert sei. Die Förderung aber, die hier vor allem notthut,
sehen wir in der Erkenntnis, dass eine Entwicklung irgend-
welcher Art sich nicht anders zu klarem Begriff bringen und
methodisch beherrschen lässt, als auf Grund der Idee. Ein
Gesetz der Entwicklung lässt sich nur entwerfen aus dem
Standpunkte der Idee, indem man sie, nach Kants Terminus,
als „regulatives Prinzip“ in die Erfahrung einführt. Diesen
von Kant gewiesenen, aber nur in einzelnen Andeutungen von
ihm selbst betretenen Weg gedenken wir zu verfolgen; die
Deduktionen des grundlegenden Teils enthalten die Rechtferti-
gung dafür.


Nach allem, was über die psychologische Seite unsrer
Aufgabe schon bemerkt worden ist, bedarf es nur kurzer Er-
innerung, dass diese ganze Ableitung nicht als psychologisch
verstanden und beurteilt sein möchte. Es ist ein rein objek-
tiver, vor aller Psychologie feststehender Unterschied, ob das
menschliche Bestreben, als blosser Trieb, an den Augenblick
und das vor Augen Liegende gefesselt bleibt, oder ob es sich
mit dem Entschluss „Ich will“ über den Zwang des Augen-
blicks erhebt und, selbst wenn es der Gegenstand des augen-
blicklichen Triebes wäre, den es bejaht, doch eben wagt, ur-
teilend über den Trieb hinauszugehen und ihm das Seinsollende
zum Objekt zu setzen; oder ob endlich diese Freiheit des Ur-
teilens sich, unter dem Namen der praktischen Vernunft, bis
zum Standpunkte der Idee in ihrer Unbedingtheit erhebt. Es
sind die wesentlichen Stufen der Durchdringung der Er-
fahrung mit der Idee
im Bewusstsein, die damit bezeichnet
sind; etwas das sich auf bloss psychologischem Wege über-
haupt nicht verständlich machen liesse. Diesen Stufen also
müssen die Grundtugenden, und so alles Weitere, wovon eben
die Rede war, entsprechen.


Will man dies Verhältnis aber psychologisch ausdrücken,
so muss man sich dessen vor allem bewusst bleiben, dass
die Scheidung jener drei Faktoren auf blosser Abstraktion
[89] beruht; dass in der konkreten Vorstellung des seelischen Lebens
die Voraussetzung ursprünglich getrennter Thätigkeiten oder
Funktionen gar nicht statthaft ist. Schon Platos tiefgründige
Untersuchungen über das Verhältnis der vielen Tugenden zu
der einen, in sich unteilbaren Tugend führen über die psycho-
logische Vorstellung von drei gleich selbständigen Personen
gegen einander agierenden „Seelenteilen“ eigentlich weit hinaus,
zu der einer untrennbaren Einheit bloss begrifflich auseinander-
zuhaltender Seiten oder Richtungen der menschlichen Aktivität,
deren normales, zuletzt nach dem Grundgesetz der Idee, dem
Gesetz der Gesetzlichkeit selbst zu bestimmendes Verhältnis
die seelische Tüchtigkeit oder Tugend ausmacht. Heute vollends
ist es wohl nachgerade allgemein anerkannt, dass es in der
Psychologie auf die Einsicht in die ursprüngliche Verbindung
oder vielmehr unteilbare Einheit (Individuität) der nur ab-
straktiv zu unterscheidenden Faktoren des Psychischen an-
kommt; dass im seelischen Leben die Komplexion ursprüng-
lich, die Zerlegung in Einzelakte zum Verständnis der Kom-
plexion zwar unerlässlich ist, aber ein höheres Recht als das
einer vorläufigen Abstraktion niemals beanspruchen darf. Die
Grundlage dieser notwendigen Abstraktionen bieten die mannig-
fachen Objektivierungen des seelischen Inhalts. Denn alle
Objektivierung beruht auf Abstraktionen; handelt es sich
hingegen darum, den seelischen Inhalt möglichst in seiner
subjektiven Unmittelbarkeit — und das eben heisst psycho-
logisch — zu erfassen, so muss die Scheidung in Gedanken
wieder aufgehoben, die Verbindung allseitig wiederhergestellt
werden.


Hiernach hat man auch nicht mehr zu besorgen, dass,
wenn von einem Willen und einer Vernunft der Gemeinschaft
die Rede ist, diese zu einem mystischen Wesen ausser den
Individuen gemacht werde. Es ist allein die Frage: was er-
giebt sich daraus, wenn Trieb, Wille und Vernunft der Ein-
zelnen in der Gemeinschaft in Berührung treten und ihre
Wirkung gleichsam summieren. Daraus folgt eine gewisse
Norm, gemäss welcher sich diese drei Faktoren in der Ge-
meinschaft, ebenso wie im Einzelnen, in Gleichgewicht setzen
[90] müssen, wenn nicht die Gemeinschaft zerfallen, sondern das
einheitliche Zusammenwirken der Einzelnen sich erhalten und
fördern soll.


Uebrigens ist auch schon bei Plato die Ableitung im
letzten Grunde nicht psychologisch, sondern objektiv. Seinen
psychologischen Einteilungen liegen ethische Unterscheidungen
bereits stillschweigend zu Grunde. Der fundamentale Gegen-
satz des Sinnlichen und Vernünftigen entstammt dem Kern-
gedanken der Ideenlehre; er hat seine klare, objektive Be-
gründung in dem inhaltlichen Verhältnis zwischen Erfahrung
und Idee. Zwischen diesen beiden äussersten Enden schien
ihm dann noch eine Vermittlung nötig. Diese ist mit dem
platonischen ϑυμός allerdings nur psychologisch, aber eben
auch nicht zutreffend bezeichnet. Uns dagegen ergab sich als
Mittelstufe der Wille (im engeren Sinn), als Ausdruck des
Bewusstseins der praktischen Regel, der Maxime. Durch diesen
rein objektiven Begriff erklärt sich die Tugend der Tapferkeit
als entschlossene Unterordnung der Einzelhandlung unter die
einmal gewählte Maxime (dass man will, was man will), des-
gleichen die entsprechende Funktion im Sozialleben, nämlich
die regierende im weitesten Verstand, ungleich besser als durch
den platonischen ϑυμός, der an sich ganz dem Gebiete des
Triebs angehört, wenn auch gleichsam die dem Willen zu-
gekehrte aktive Seite des Triebs darstellt. Plato selbst hat
anderwärts die Tapferkeit, wie die Tugend überhaupt, von
allem Triebartigen, fast allzuschroff, geschieden. Die Un-
zulänglichkeit seines psychologischen Schemas verrät ferner
seine vierte Tugend, die der Gerechtigkeit. Sie stellt bei ihm
eigentlich nur die Vereinigung der drei andern dar; dann hätte
sie aber nicht diesen koordiniert werden dürfen. In der That
kommt dieser Tugend eine eigenartige Stellung zu. Sie ist
aus der Reihe der individuellen Tugenden nicht zu streichen,
aber sie bezeichnet nur die der Gemeinschaft zugewandte Seite
der individuellen Tugend, den Sozialcharakter des Sittlichen,
sofern er eine Grundlage in der Individualität doch haben
muss. Sie liegt somit gleichsam auf dem Punkte des Ueber-
gangs von der individualen zur eigentlich sozialen Tugend,
[91] der Tugend der Gemeinschaft als solcher. Diese hat Plato sonst
bei dem Namen Gerechtigkeit hauptsächlich im Sinn, und es ist
vielleicht dieser Doppelsinn der Gerechtigkeit als Tugend des
Individuums sowohl als der Gemeinschaft gewesen, der ihn
auf den Parallelismus der individualen und sozialen Tugend
überhaupt führte. So bleibt auch hier die allgemeine Rich-
tung seines Gedankens anzuerkennen, nur die Ausführung der
Verbesserung bedürftig.


Nachdem so unsre Einteilung der Tugenden vorläufig
gerechtfertigt ist, dürfen wir zur Spezialbehandlung zunächst
der individuellen Tugenden übergehen.


§ 12.
System der individuellen Tugenden.


1. Die Tugend der Vernunft: Wahrheit.


Da im vernünftigen Wollen überhaupt die Sittlichkeit
besteht, so ist die erste der individuellen Tugenden die Tugend
der Vernunft; die erste nicht bloss dem Range nach, sondern
als Voraussetzung aller übrigen. Sie bezeichnet die Sitt-
lichkeit der Person in so zentraler, folglich fundamentaler
Weise wie keine andre, nämlich nach ihrem letzten Grunde
im Bewusstsein. Sittlichkeit ist zu allererst Bewusstseins-
sache, darum ist die Tugend des Bewusstseins die erste aller
Tugenden.


Wir nennen sie Wahrheit, schon um an die Einheit
der praktischen mit der theoretischen Vernunft zu erinnern.
Wahrheit ist das oberste Gesetz des Bewusstseins überhaupt,
der Sinn und Wille der Wahrheit das oberste Gesetz des
praktischen Bewusstseins.


Die Alten haben es nicht gescheut, geradezu ἐπιστήμη,
Erkenntnis, oder σοφία. im gleichen Sinne des Wissens,
der praktischen Einsicht, als Tugendnamen zu gebrauchen;
auch wechselt damit nicht selten der Ausdruck Wahrheit
(ἀλήϑεια), der besonders bei Plato unter den zentralen Be-
[92] griffen seiner Ethik oft sehr bedeutsam hervortritt.*) Es ist
aber auch in unserer Sprache ganz zulässig zu sagen, ein
Mensch sei wahr, d. h. er habe den Sinn und Willen der
Wahrheit. Der gebräuchlichste Ausdruck bei den Alten ist
jedoch φϱόνησις, eigentlich das Beisinnensein, die Besinnung oder
Besinnlichkeit, d. i. Sinn und Wille, sich vor jeder Willens-
entscheidung auf das Rechte zu besinnen. Der Satz des
Sokrates**), dass für den Menschen alles Andere von der „Seele“,
d. h. vom Bewusstsein abhänge, alles Seelische aber von Be-
sinnung oder praktischer Einsicht (φϱόνησις), wofern es zum
Guten ausschlagen solle, ist zum Kernsatz der griechischen
Ethik geworden und drückt recht eigentlich das aus, was man
ihr verdankt. Das war es, was an Sokrates so imponierte:
die sichere Herrschaft des Bewusstseins, die nach nichts fragt
als nach der Wahrheit des Thuns, nach der Einstimmigkeit
des Wollens mit sich selbst und seinem eigenen inneren Gesetz.
Was Plato dieser sokratischen Grundbestimmung der Sittlich-
keit als „Erkenntnis“ hinzugefügt hat, ist die vollendet
deutliche Entwicklung des Begriffs des praktischen Gesetzes
zur „Idee“ des Unbedingten, nämlich des unbedingt Ge-
setzlichen***). Auch dies übrigens war bereits in Sokrates an-
gelegt, da er die Tugend zwar dem Wissen gleichsetzte, aber
zugleich behauptete, dies Wissen stehe nicht dem Menschen
zu, dessen Weisheit vielmehr darauf beschränkt sei, zu wissen,
dass er nicht weiss.


Der Ausdruck Wahrheit hat den Vorzug, dass er dies
alles einschliessen kann, und dabei gerade das Inhaltliche,
dessen man sich besinnen soll, das Gesetz der Wahrheit, an
[93] die Spitze stellt. Dagegen sagt z. B. das sonst vortreffliche
Wort „Gesinnung“ (ebenso wie „Besinnung“) gar nichts darüber,
welche praktische Sinnesrichtung denn, mit Ausschluss jeder
andern, die rechte sei. Auch nimmt dies Wort allzu leicht
den schwächlichen Sinn eines blossen Gutmeinens an, das mit
viel Irrtum und Bequemlichkeit des Irrens verträglich wäre;
wogegen die Forderung: Sei wahr! eine unerbittliche Grenz-
scheide zwischen der sittlich rechten und verkehrten Gesinnung
setzt. Zugleich liegt der Hinweis auf das Thun vernehmlich
genug darin, wenn doch vom ganzen Menschen gefordert
wird, dass er sich gleichsam zum Ausdruck der Wahrheit mache.


Dem kommt vielleicht etwas näher das Wort Gewissen,
das gerade die Unnachgiebigkeit der sittlichen Forderung, die
Notwendigkeit der unablässigen Selbstprüfung: bin ich auch
auf dem rechten Wege? scharf genug zum Ausdruck bringt.
Und da das Wort zugleich eben das Moment des Wissens,
des Bewusstseins um das, was man thut und was man soll,
der conscientia sui betont, so könnte es den persönlichen
Sinn unserer Tugend fast noch besser zu bezeichnen scheinen,
als das Wort Wahrheit, das vielleicht zu ausschliesslich objektiv
scheint, und in der That erst durch die Verbindung mit einer
Person als Subjekt die Bedeutung einer individuellen Tugend
indirekt erhält. Indessen in seinem gewöhnlichen Gebrauch
ist das Wort Gewissen der an sich darin liegenden Beziehung
auf das reine praktische Selbstbewusstsein fast verlustig ge-
gangen. Es hat von seiner überwiegend religiösen Anwendung
unleugbar einen Beischmack von Heteronomie erhalten, während
bei dieser, wenn überhaupt bei irgend einer Tugend, die Auto-
nomie des Sittlichen aufs strengste gewahrt bleiben muss.
„Gewissen“ besagt nach vorherrschender Auffassung unstreitig
etwas wie Autorität, wiewohl innere, nicht äussere. Diese
kann auf knechtischer Furcht, sie kann auf Liebe (des Kindes
gegen die Eltern, oder in religiöser Wendung, des Menschen
gegen den göttlichen Vater) beruhen, in jedem Fall hat sie
ihre Wurzel im Gefühl; Gefühl aber ist nicht die höchste
Form des Bewusstseins, nicht reine Bewusstheit. In päda-
gogischer Hinsicht ist nun zwar das Gewissen der Liebe sicher
[94] von unersetzlichem Wert und auch die niedere Stufe der
Furcht nicht überhaupt abzulehnen. Die Furcht soll über-
wunden werden, aber sie darf auch für den sittlich Reifsten,
so lange er fehlbarer Mensch ist, nie ganz überwunden sein.
Gerade die höchste Erhebung des sittlichen Gedankens zur
Idee unendlicher Vollkommenheit kann das Moment der Furcht
wegen unserer endlichen Schwachheit, kann das Gefühl der
Demut niemals abstreifen; und es ist an sich ein Vorzug,
dass das Wort „Gewissen“ dieses Moment deutlich mitbe-
zeichnet. Aber doch ist eine solche blosse Gefühlshaltung
an sich nicht Tugend. Sie ist mehr ihr Kennzeichen als ihr
Grund; dieser kann nur in der reinen Bewusstseinstugend, im
aufrichtigen Wollen der Wahrheit gefunden werden. Es würde
mindestens noch ein unterscheidender Zusatz nötig sein, wenn
man mit Gewissen oder Gewissenhaftigkeit die oberste der
Tugenden bezeichnen wollte, und dann wäre ein Ausdruck
wie Wahrheit (Gewissen der Wahrheit, im Unterschied vom
Gewissen der Furcht oder der Liebe) doch nicht zu umgehen.
Das Wort Wahrheit ist aber gehaltreich genug, um das Beste,
was in „Gewissen“ ausgedrückt ist, mitzubezeichnen; und so
möchte ihm in jeder Beziehung der Vorzug gebühren.


Um nun den Gehalt dieser Tugend mehr im besonderen
zu entwickeln, nehmen wir unsern Ausgang von dem soeben
Berührten: dass der kritische Sinn des Bewusstseins
unserer Grenze
von der Tugend der sittlichen Wahrheit
allerdings untrennbar ist. Gegenüber der unendlichen Forde-
rung des Sittengesetzes kann das Selbstbewusstsein unseres
Wollens und Thuns nicht anders als demütigend sein. Und
das um so mehr, je mehr es das Individuum ganz mit sich
allein zu thun hat. Indessen verrät sich schon hier die Schranke
einer einseitig individualistischen Auffassung des Sittlichen.
Die sittliche Aufgabe in ihrer Unendlichkeit kann nicht mit
Sinn als Aufgabe für das isolierte Individuum gedacht werden.
So ratsam es ist, mit der sittlichen Besserung bei sich anzu-
fangen, so unfruchtbar, so hinderlich sogar für den eigenen
sittlichen Fortschritt ist die unablässige peinliche Beschäftigung
mit sich und seinen individuellen Fehlern, die eine starke Er-
[95] hebung der Seele, ein kraftvolles Aufraffen zur That schliess-
lich kaum aufkommen lässt.


Desto stärker ist der echte, positive Sinn der Indi-
vidualität
des Sittlichen gerade hier zu betonen: dass es
gilt in selbsteigener Einsicht das Rechte für recht, das Ver-
kehrte für verkehrt zu erkennen, unbeirrt nicht bloss durch
die eigene individuelle Gefühlsneigung oder Denkgewöhnung,
sondern durch irgendwelche empirische Zufälligkeit überhaupt,
die unser praktisches Urteil in einer bestimmten Richtung
festzuhalten, ihm den freien Aufblick zur Idee zu verlegen
droht; von Sitte und äusserem Gesetz, von bloss überlieferten
Normen jeder Art, auch von dem Drucke der persönlichen
Autorität überlegener Individuen. Es demütigt zwar, aber ist
zugleich auch wieder erhebend, zu wissen, dass nur wir selbst
uns dazu verhelfen können, das Gute zu erkennen und zu
wollen, und kein Andrer etwas mehr dazu thun kann, als dass
er die in uns schlummernde Kraft selbsteigenen Erkennens und
Wollens aufruft und in Thätigkeit setzt. Denn die Gemein-
schaft erzieht, aber sie erzieht nur dadurch, dass sie das
Individuum zur Freiheit des Selbstbewusstseins erweckt.


Daraus folgt: dass die innere Wahrhaftigkeit, die Wahr-
heit „gegen sich selbst“, die Aufrichtigkeit des „Herzens“ der
äusseren Aufrichtigkeit vorgeht. Das ist wohl die unbedingteste,
unanfechtbarste Tugend, wie ihr Gegenteil, Lüge gegen sich
selbst, die unverzeihlichste Schlechtigkeit. Zugleich ist innere
Aufrichtigkeit die einzig verlässliche Grundlage der äusseren
Wahrhaftigkeit. Wer nicht zu allererst gegen sich selbst
lauter und aufrichtig ist, der ist es schwerlich gegen Andre.
Zwar lernt es sich leichter im alltäglichen Verkehr, gegen
Andre eine gewisse Aufrichtigkeit zu beobachten, weil gröbere
Unwahrhaftigkeit gegen die Umgebung sich weit schneller
und empfindlicher rächt als selbst die ärgste innere Unwahr-
heit, die sich wie eine schleichende Krankheit lange verstecken
und scheinbar folgenlos bleiben kann. Aber auch die äussere
Wahrhaftigkeit wird, auf ernste Proben gestellt, unrettbar
scheitern, wenn sie nicht auf dem sicheren Grunde innerer
Lauterkeit ruht.


[96]

Hieraus wird besonders klar, dass der Grund der Tugend
der Wahrhaftigkeit unmöglich erst in den äusseren, gesell-
schaftlichen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch gesucht
werden kann; als sei sie von da erst ins Innere übertragen
und gleichsam reflektiert; als schäme man sich nur deshalb,
sich selber zu belügen, weil man unter dem psychologischen
Zwange stände, bei allem, auch dem Innerlichsten, das man
erlebt, den äusseren Beurteiler hinzuzudenken, vor dem man
sich, wenn er wüsste, was in uns vorgeht, verkriechen müsste.
Solche innere Aufrichtigkeit wäre selbst eine so offenbare Lüge,
dass schon eine starke theoretische Verirrtheit dazu gehört,
auf die gesellschaftliche Begründung sogar dieser individuellsten
Tugend zu verfallen. Die Gesellschaft hat so gut wie kein
Interesse an der inneren Wahrhaftigkeit, sie hat selbst nur
ein begrenztes an der äusseren. Sie kann mit viel Lug und
Trug bestehen, sie stirbt nicht sogleich daran. Eine fest-
gegründete äussere Redlichkeit würde zwar dazu mithelfen,
die Menschen auch zu innerer Aufrichtigkeit zu erziehen,
während, wo es mit jener schon schwach bestellt ist, wo gar
die ganze äussere Lebensordnung, wo Gesetze und Rechte auf
Lüge beruhen, die innere Wahrheit, die weit mehr fordert,
vollends schwer gedeiht. Aber darum liegt doch der schliessliche
Grund dieser Tugend im Selbstbewusstsein des Individuums,
nicht an sich in äusseren, gesellschaftlichen Beziehungen. Daher
ist innere Wahrhaftigkeit unbedingte, ausnahmslose Pflicht,
während es, auch wenn man von der kasuistischen Frage der
Erlaubtheit der Lüge ganz absieht, jedenfalls mancherlei Rück-
sichten giebt, welche die Pflicht, die erkannte Wahrheit auch
gegen Andere zu äussern, mannigfach einschränken. Gewiss
ist Wahrheit das Heiligste, aber vielleicht begründet es eben
ihre Heiligkeit, dass nicht jeder Mund rein genug ist sie
auszusprechen, noch jedes Ohr sie zu vernehmen, auch nicht
jeder Ort und jede Stunde sich gleich gut für sie schicken
will. Eine unbedingte und allgemeine Verpflichtung, sein Herz
auf der Zunge zu tragen, besteht sicherlich nicht.


Was nun den Herrschaftsbereich dieser Tugend betrifft,
so muss er wohl von gleicher Ausdehung sein mit dem der
[97] praktischen Vernunft. Diese aber soll doch das Ganze des
menschlichen Verhaltens regieren. Und so giebt es in der
That kein menschliches Thun, keine dem Einfluss des Willens
unterliegende menschliche Regung überhaupt, auf die nicht
die Forderung der Wahrheit Bezug hätte. Sie besagt im
Grunde nichts andres als dass alles Menschliche am sittlichen
Maasse, und in jeder praktischen Rücksicht ausschliessend so,
zu bemessen ist, dass die Beleuchtung dieser „Sonne im über-
himmlischen Reich“, der „Idee“ der Wahrheit, sich Licht
und Schatten verteilend auf das All der praktischen Welt
verbreiten muss.


Beweist sich die Tugend der Wahrheit zuerst in der
kritischen Reflexion und Willenseinwirkung auf das eigene innere
Leben, in der sittlichen Selbstbesinnung und Selbstbestimmung,
so beweist sie sich nicht weniger in jeder aufs Objekt ge-
richteten Handlung, es sei blosse Erkenntnis oder ausübende
That. Im Selbstbewusstsein wurzelt sie immer; aber aufs
Selbst bezieht sich eben alles wollende Bewusstsein notwendig
zurück. Auch Erkenntnis ist Willensthat, untersteht also dem
obersten Gesetz des Willens, dem Gesetz der Wahrheit. Und
es ist ja auch kein Zweifel, dass im unbeirrten Wahrheits-
streben des Forschers, des seiner Denkkraft mächtigen Menschen
überhaupt, in der Energie der Ueberwindung des Sinnentrugs,
des Vorurteils, des versteckten Einflusses grober und feiner
Interessen auf das Urteil, deren es in aller erkennenden Thätig-
keit bedarf, sich hohe Sittlichkeit bethätigen kann. Aber auch
in der nach aussen gerichteten That, in jeder, wie man recht
sagt, „redlichen“ Arbeit kann sich der Sinn der Wahrheit
bekunden, als der Sinn, das Werk oder die Sache, an der
oder für die man arbeitet, ihrem Gesetz gemäss zu gestalten,
auch trotz jedes sich vordrängenden Anspruchs der eigenen
Person oder falscher, nicht aus der Sache fliessender persön-
licher Rücksicht überhaupt. Ich möchte es die Tugend der
Sachlichkeit
nennen, die offenbar einer der kräftigsten Aeste
am Stamm unserer ersten Grundtugend, der Wahrheit ist. Sie
kommt zur Anwendung in jedem menschlichen Werk, mag
es sich um Kleines handeln oder um Grosses, um Arbeit an
Natorp, Sozialpädagogik. 7
[98] Dingen oder an Menschen, um technische oder Handelsunter-
nehmungen, um Kriegspläne, Gesetzentwürfe, Rechtssprüche
oder um Werke der Dichtung oder Kunst, denn auch das ist
nicht bloss Sache des Genies, sondern auch der redlichen
Arbeit; die wahrhaft grossen Genies sind immer auch redliche
Arbeiter gewesen.


In dem allen ist Wahrheit Pflicht, auch ganz abge-
sehen von jeder Rücksicht auf den Nebenmenschen. Wir
wären in Verlegenheit, wenn wir nach der gebräuchlichen Ein-
teilung der Pflichten in solche gegen uns selbst und gegen
den Nebenmenschen uns entscheiden sollten, in welche von
beiden Klassen diese so weitreichende Pflicht der Sachlichkeit
zu stellen sei. Jede sittliche Pflicht ohne Ausnahme ist Pflicht,
nicht gegen, aber vor uns selbst, sofern das eigene sittliche
Bewusstsein sie uns auferlegt; fragt man aber, worauf sie in
der Ausübung sich erstrecke, so müsste man am Ende von
Pflicht gegen die Sache reden, was denn doch etwas wunder-
lich wäre. Diese ganze Einteilung fusst auf der unzulänglichen
Vorstellung der sittlichen Verpflichtung als einer Verpflichtung
auf Gegenseitigkeit. Ich bin, rein sittlich angesehen, über-
haupt keiner Person verpflichtet, sondern allein dem sitt-
lichen Gesetz. Erstrecken kann sich aber die Pflicht, der
Materie nach, ebenso gut auf Sachen wie auf Personen, sofern
irgend sie im Dienst sittlicher Aufgaben stehen.


Allerdings aber gilt nun eben dies in besonderer
Weise von jeder willensfähigen Person, da jede auf eine solche
sich erstreckende Handlung die Person zugleich als Sub-
jekt
und nicht bloss als Objekt des sittlichen Willens berührt.
Und so gilt gewiss auch die Verpflichtung zur Wahrheit in
besonderem Sinne gegenüber der andern Person und gegen-
über der Gemeinschaft. Hier verdoppelt sich gleichsam die
Verantwortlichkeit, die das Gebot der Wahrheit auferlegt;
denn jede Verletzung beleidigt zweimal den heiligen Geist der
Wahrheit, in der Person des Handelnden und dessen, auf den
sich die Handlung erstreckt. Der Grund dieser Tugend wird
dadurch zwar nicht berührt; die Unsittlichkeit der Lüge, das
Verdienst der Wahrhaftigkeit wird nicht grösser dadurch, dass
[99] beides sich in den Folgen auf den Andern miterstreckt, nicht
geringer dadurch, dass sie sich in den Tiefen des eignen Be-
wusstseins verbirgt; doch kommt das neue Unrecht hinzu:
die Schädigung der sittlichen Gemeinschaft, die mit Unwahr-
heit durchaus nicht bestehen kann. Genauer kommt dabei
zweierlei in Frage, erstens die Aufrichtigkeit, die direkt die
Beziehung zum Andern betrifft: Aufrichtigkeit in Freundschaft
und Liebe gegen die Nächststehenden, Menschlichkeit gegen
jedermann, in allen öffentlichen und gemeinmenschlichen Be-
ziehungen; zweitens die Aufrichtigkeit jedweder Thätigkeit,
sofern sie innerhalb solcher Wechselbeziehungen stattfindet und
den Andern irgendwie in Mitleidenschaft zieht. Im ersteren
Fall wird ganz direkt das Interesse der Gemeinschaft be-
troffen, er gehört daher eigentlicher zu unserer vierten Tugend;
im andern steht obenan die Forderung der Wahrheit selbst
und kommt die Pflicht der Gemeinschaft nur ausserdem auch
ins Spiel.


Um von den manchen hierher gehörenden Fragen wenig-
stens eine auch im besonderen zu behandeln: wie weit reicht
wohl die Verpflichtung an öffentlichen Zuständen öffentlich
Kritik zu üben? Es ist wahr, dass Feigheit tausend Gründe
findet, die Grenzen dieser Verpflichtung möglichst eng zu
ziehen; aber es giebt allerdings Grenzen. Wer schweren
Tadel gegen Zustände, die den Schutz der öffentlichen Mächte
und Autoritäten geniessen, unter eigener Gefahr wagt, hat im
allgemeinen das günstige Vorurteil für sich, rein der Wahr-
heit zu dienen, wenigstens ernster, wohlgeprüfter Ueber-
zeugung Ausdruck zu geben. Aber leider hat Eitelkeit des
Besserwissens, die kleinliche Freude eine Rolle zu spielen, ja
die Lust am Streit daran oft so viel und mehr Anteil als der
lautere Wahrheitssinn und die ernste Sorge ums gemeine
Beste. Schwerwiegende Urteile über öffentliche, d. h. in den
Folgen weittragende Verhältnisse soll man gewiss nicht ohne
die sorglichste Prüfung, zumal öffentlich, aussprechen. Ist
man aber seiner Sache gewiss, glaubt man auch die Folgen,
die es haben kann, als im ganzen heilsame zu erkennen,
handelt es sich zudem um Fragen von einschneidender Be-
[100] deutung für das Gemeinwesen, so hat man nicht bloss das
Recht, sondern die dringendste Pflicht, seine Ueberzeugung
mit allem Nachdruck auszusprechen auf jede eigene oder selbst
fremde bloss persönliche Gefahr. Sogar eine Gefahr fürs
Vaterland selbst dürfte in solchem Fall nicht in Erwägung
kommen. Soll uns das Vaterland „über alles in der Welt“
gelten, so heisst das sicher nicht: auch über die Wahrheit;
als ob ein Vaterland ohne Wahrheit bestehen könnte. Dem
Vaterland gerade schulden wir über alles und vor allem
Wahrheit; wir haben, als sittliche Menschen, kein Vaterland,
wenn es die Wahrheit nicht verträgt. Und wenn die Wahr-
heit bitter ist, so ist es wahrscheinlich umso nötiger, dass sie
gesagt wird. Im allgemeinen ist es notwendig, dass, was
wahr ist, nicht ungesagt bleibe; nur folgt daraus nicht, dass
es gleichgültig wäre, wer es sagt, und wie, und unter welchen
Umständen.


Viel weitergehenden Einschränkungen unterliegt im per-
sönlichen Verkehr die Verpflichtung, die Wahrheit nicht bloss
zu denken, sondern auch zu sagen. Als allgemeines Gesetz
lässt sich aufstellen: dass überall da, wo eine feste innere Ge-
meinschaft besteht und erhalten bleiben soll, gegenseitige
Wahrhaftigkeit nicht nur, sondern offene Aussprache Pflicht
ist. Wer den Andern mit Unwahrheit behandelt, gesteht da-
durch, dass er keine Gemeinschaft mit ihm haben will; aber
auch, seine Herzensmeinung über Dinge, die den Andern
gleichermaassen angehen, zurückzuhalten, bedeutet zum wenig-
sten Ausschluss aus der innersten Gemeinschaft. Doch man
ist nicht verpflichtet mit jedem die innerste Gemeinschaft
zu suchen; Pflicht der Menschlichkeit ist nur, sie nicht von
Grund aus unmöglich zu machen; das geschieht durch Lüge,
aber im allgemeinen nicht durch Zurückhaltung.


Ueberblickt man so das weite Gebiet dieser Tugend, so
kann es fast scheinen, als ob in ihr schon das Ganze der per-
sönlichen Sittlichkeit enthalten wäre. In gewissem Sinne ist
es auch so und muss so sein nach dem, was über das allge-
meine Verhältnis der sämtlichen Grundtugenden festgestellt
wurde: jede von ihnen muss sich auf das Ganze des mensch-
[101] lichen Willensbereichs erstrecken, da sie sich nicht sowohl
durch das Gebiet des Handelns, das sie regieren, als durch den
Anteil unterscheiden sollen, der jedem der Grundbestandteile
des Wollens an der Sittlichkeit überhaupt zufällt. Der be-
herrschende Faktor aber ist die Vernunft; daher versteht sich,
dass man die Tugend der Vernunft und nicht etwa die der
Tapferkeit oder des Maasses als einzige, alle andern einschlies-
sende Tugend hat aufstellen können, wie von Sokrates und
mehreren seiner Schüler bekannt ist. Dass indessen die blosse
Einsicht doch nicht das Ganze der Sittlichkeit ausmacht,
wird klar, sobald man sich an die andern beiden Bestandteile
menschlicher Aktivität, Trieb und Willen (im engern Sinn)
erinnert. Es wird sich also fragen: welche Seiten der indivi-
duellen Tugend sind es, die in analoger Weise auf diese Mo-
mente der menschlichen Aktivität sich beziehen, wie die
Tugend der Wahrheit auf die praktische Vernunft. Und da
ergiebt sich unschwer als die eigentümliche Tugend des Willens
die, welcher die Alten den Namen der Tapferkeit gaben;
als Tugend des Trieblebens aber die antike Sophrosyne, die
Tugend des Maasses.


§ 13.
2. Die Tugend des Willens: Tapferkeit oder sittliche
Thatkraft.


Der Begriff dieser zweiten Tugend ist, der Ableitung zu-
folge, eigentlich der der Selbstzucht, der strengen Unterord-
nung des Triebs unter die Regel des Willens, und dadurch be-
dingten Energie und Festigkeit der sittlichen Entschliessung;
also der Thatkraft der Sittlichkeit. Sie bildet das ge-
naue Gegenstück der ersten Tugend; bezieht diese sich un-
mittelbar auf den letzten Quell der persönlichen Tugend im
Bewusstsein, die sittliche Einsicht, so betrifft jene die Aus-
prägung der sittlichen Einsicht zur sittlichen That; oder den
sittlichen Willen, sofern er nicht im blossen Bewusstsein ver-
bleibt, sondern sich wirksam beweist, die verfügbaren Kräfte
zusammengenommen in den Dienst der sittlichen Aufgaben zu
stellen.


[102]

Das ist aber offenbar der eigentliche Sinn der antiken
Tugend der ἀνδϱεία oder virtus, wörtlich Mannhaftigkeit.
Das muss man freilich prägnant verstehen, schiene es doch
sonst das Geschlecht zu beleidigen, das sich oft genug als das
sittlich stärkere erweist. „Sei wie ein Mann sein soll“, das
will sagen: „Habe einen Willen!“ Die gewöhnliche deutsche
Wiedergabe durch Tapferkeit erinnert vielleicht etwas zu
einseitig an die Behauptung im Streit, die doch nicht bedingungs-
los sittlich ist. An sich aber ist das darin liegende Moment
der Gegensätzlichkeit, des Kampfes wohl von Bedeutung, nur
dass es sich auch handelt um die Besiegung der inneren
Schwierigkeiten der Sache, vor allem der Schwierigkeiten, die
sich in der eigenen Seele, von seiten des Trieblebens zunächst,
gegen die kraftvolle Verwirklichung des erkannten Guten er-
heben. Man spricht doch von tapferer Arbeit, tapferem Forschen,
von Tapferkeit im Ertragen von Leid und Widerwärtigkeit,
Tapferkeit der Selbstüberwindung.


Aber das alles unterschiede noch nicht die sittliche That-
kraft von der Thatkraft überhaupt. Wie die Einsicht, kann
nämlich auch die Thatkraft an sich sowohl dem Schlechten
wie dem Guten dienen; beide sind an sich indifferent, ohne
Tendenz in guter oder schlechter Richtung. Aber das gilt
nur von der Einsicht, die bloss zum gegebenen Zweck die
tauglichen Mittel findet. Handelt es sich dagegen um die
Zwecksetzung selbst, so kommt man, wenn der gesetzte Zweck
nicht immer wieder nur Mittel zu einem ferneren Zweck sein
soll (und so ins Unendliche), notwendig auf den unbedingten
Endzweck des Sittlichen. So verhält es sich auch mit der
Thatkraft des Willens: sofern sie bloss für einen beliebigen
schon vorausgesetzten Zweck die bereit liegenden Kräfte des
Willens ins Spiel setzt, kann sie ebensowohl böse wie gut
sein; als die eigentümliche Kraft hingegen, die auf ein un-
verrückbares Ziel den ganzen Willen konzentriert und so
seine ganze Energie zur Einheit zusammennimmt, tendiert sie
notwendig zum Sittlichen.


Dadurch vollendet sich also erst der Begriff der sittlichen
Tapferkeit: als des unbedingten Einsatzes aller Kräfte für
[103] das unbedingt Gute, als welches allein eines solchen Einsatzes
wert ist. Das hatte Sokrates im Sinn, wenn er meinte, dass
die sittliche Einsicht an und für sich auch stark genug sei
jeden Widerstand von seiten des Trieblebens zu brechen. Sie
hat diese Kraft freilich nicht als blosse Einsicht, sondern sofern
die das Bewusstsein ganz einnehmende Erkenntnis des einen
Endziels zugleich dem Willen Einheit und damit konzen-
trierteste Kraft giebt. Die so zusammengenommene Energie
des Wollens vereint seine Kräfte zu einer Wirkung, die be-
greiflich jeder Gegenwirkung vereinzelter Triebe überlegen ist.
Wir verlangen daher vom Menschen, der der Gewalt seiner
Triebe schlaff und ohne Gegenwehr hingegeben ist, dass er
„sich zusammennehme“; genau dies ist das Eigentümliche der
sittlichen Thatkraft. Dies Sich-zusammennehmen aber vollbringt
schliesslich allein die konzentrierende Kraft der Einheit der
Zielsetzung
in der Idee des unbedingt Gesetzlichen, d. i.
des Guten.


In ganzer Schärfe hat wiederum Plato dies Unterschei-
dungsmerkmal der echten Tapferkeit erkannt. Was man ge-
meinhin so nenne, der Einsatz der Person für ein beliebiges,
bedingtes, empirisches Gut, wenn nicht gar für etwas in Wahr-
heit Schlechtes, sei eigentlich Tapferkeit aus Furcht: man
setze seine Person ein für irgend ein Nichtiges, das man zu
verlieren fürchte, während in Wahrheit, nach sittlichem Urteil,
sein Verlust gar nicht zu fürchten sei, wie Reichtum, Macht,
äussere Ehre. Tapferkeit im echten, sittlichen Sinne sei nur
der unbedingte Einsatz der Person für das unbedingt Gute,
das, wie er sagt, die einzige Münze ist, gegen die man alles
eintauschen sollte.


Nicht ohne Grund also sieht man die Probe der Tapfer-
keit darin, jeder Gefahr, jedem Schmerz, namentlich aber dem
Tode fest ins Auge zu sehen. Zwar kann auch die Festig-
keit gegen Todesfurcht unsittliche Gründe haben; der elendeste
Verbrecher dürfte in dieser vermeinten Tugend es mit dem
sittlichen Heros aufnehmen. Je kleiner ein Mensch ist, desto
kleiner ist auch der Heldenmut, sein Nichts wegzuwerfen, oft
sozusagen für ein Butterbrot. Ein Edler wird vielleicht weniger
[104] rasch damit bei der Hand sein, sein Leben zu wagen; ist er
darum weniger tapfer? Dennoch ist die jedem so natürliche
Meinung, die in der Todesbereitschaft die Probe der Tapfer-
keit sieht, nicht ganz im Unrecht; nur bleibt dabei die wesent-
liche Bedingung unausgesprochen: dass es ein Edler ist, der
sich opfert, und für eine edle Sache. Das schliesst ferner ein,
dass das Selbstopfer mit Besinnung, in voller Klarheit des
Bewusstseins gebracht wird. Dies alles vorausgesetzt, ist ge-
wiss die Fähigkeit, sein ganzes empirisches Dasein daranzu-
geben allein für sittlichen Gewinn, die Probe höchster Sittlichkeit,
allein begreiflich aus dem sicheren Bewusstsein, dass alles
Empirische von bloss bedingtem, das Gute der Idee allein von
unbedingtem Werte ist.


Diese Möglichkeit der Selbstopferung aus rein sittlichem
Motiv, die Möglichkeit, sich eine solche Selbstopferung auch
nur zu denken, verdient in der Ethik besondere Beachtung
als einer der stärksten Gegengründe gegen jede bloss empirische
Begründung der Moral. Man versucht sie zu stützen auf eine
Berechnung der Gewinn- und Verlust-Chancen: verliere ich
mehr, wenn ich mein ganzes übriges Leben darangebe, oder
wenn ich mein Leben erkaufe z. B. mit Schande oder sonstiger
schwerer äusserer oder innerer Strafe oder Schädigung, oder
auch nur mit dem Verzicht auf Güter, die mir höher gelten
als was das Leben mir sonst bieten kann? Soll man solche
Berechnung gelten lassen? Es widerstrebt schon dem un-
befangenen Gefühl, selbst aus der Tapferkeit eine Berechnung
zu machen. Bedeutet sie den unbedingten Einsatz der em-
pirischen Person für das unbedingte Gute, so ist nichts zu
berechnen, da gegen den unbedingten Wert des Guten kein
endlicher, empirischer Wert überhaupt in Frage kommen kann.
Die Konsequenz jener Berechnung dagegen wäre, dass auch
der sittliche Schaden sein empirisches Maass und die Tugend
ihren Preis hätte, um den sie verkäuflich wäre, was man doch
wohl nicht hat sagen wollen. Nach solcher Berechnung möchte
wohl oft der Verbrecher, der an seine verruchte That den
Kopf wagt, so viel und mehr Recht haben als der sittliche
Held, der der Folgen seiner Aufopferung niemals völlig sicher
[105] sein kann, und auch wirklich nicht danach fragt, was die
Folgen thatsächlich sein werden, sondern allenfalls, was, so
viel an ihm liegt
, sie sein würden.


Ebenso wenig verfängt hier die Berufung auf den gesell-
schaftlichen Instinkt als die Wurzel der Sittlichkeit. Die in-
stinktive Rücksicht auf die gesellschaftliche Ehre und Schande,
der in dunklen aber mächtigen Gefühlen uns beherrschende
Einfluss des sozialen Lebens überhaupt ist gewiss sehr oft
das wirklich treibende Motiv bei Thaten, die man als solche
der höchsten Tapferkeit preist. Und doch macht das an sich
die That nicht zur sittlichen. Der gesellschaftliche Instinkt
kann an sich zum Verkehrten leiten so gut wie zum Rechten;
sich ihm urteilslos überlassen ist keineswegs sittlich, allen-
falls eine unverächtliche Stufe der Erziehung zum Sittlichen.
Als solche wollen wir auch den Ehrtrieb gerne gelten lassen.
Es giebt ohne Zweifel einen sittlichen Ehrtrieb. Unfraglich
sieht gerade der sittliche Mensch es für ehrlos an, im ge-
gebenen Falle sein Leben nicht zu wagen. Aber warum hält
er es dafür? Weil Andere es dafür halten? Welche Anderen?
Wahrscheinlich denkt die kleinste Zahl darüber so streng, wie
man im sittlichen Interesse denken soll. Gerade die Ehrvor-
stellungen der Menschen sind so himmelweit verschieden, dass
es vor allem dafür eines Kriteriums bedarf. Welche Ehre ist
denn nun für das sittliche Urteil maassgebend? Natürlich nur
die sittliche. Aber dann stützt man Ehre auf Sittlichkeit,
nicht Sittlichkeit auf Ehre; wie es auch allein zulässig ist.


Es verhält sich mit diesen abgeleiteteren Begriffen nicht
anders als mit den allgemeinen der Lust, der Glückseligkeit,
oder des Nutzens. Immer wird sich fragen: welche Lust,
welche Glückseligkeit, welcher Nutzen entscheidet? Bestimmt
die an irgend einem anderweitigen, aussersittlichen Maasse ge-
messene Lust, Glückseligkeit oder Nützlichkeit, was sittlich,
oder bestimmt vielmehr das eigene Gesetz der Sittlichkeit, was
wahre Lust, Glückseligkeit, Nützlichkeit ist? Unter dem
Gesetz der Lust und Unlust steht jede Handlung, jede
Willensrichtung; der Edle findet am Edlen seine Lust, der
Unedle am Unedlen. Aber eben darum bedarf es eines andern
[106] Maasses für unser Wollen und Handeln als der Lust. Sobald
aber nur ein Unterschied der Wahrheit einer Lust, eines
Nutzens von dem andern anerkannt wird, ist damit schon ein
selbständiger Grund des Sittlichen zugegeben. Desgleichen
lässt sich ein Vorrang des Nützlichen vor dem bloss Ange-
nehmen ohne ein von der Lust verschiedenes Prinzip nicht be-
gründen. Er ist darin begründet, dass der Mensch kein
Augenblicksgeschöpf ist; aber eben diese Erwägung führt, in
ihrer vollen Tragweite verstanden, über jede bloss empirische
Begründung hinaus. Die sittliche Tugend der Tapferkeit, so-
fern sie die Fähigkeit einschliesst, seine ganze empirische Exi-
stenz für ein bloss ideelles Gut zu opfern, macht das nur be-
sonders deutlich. Es ist nur einer der manchen Punkte, wo
die empiristische Moralbegründung entweder sittlich oder
logisch unverständlich wird: sittlich, wenn sie die Konse-
quenzen des einmal gewählten Prinzips zieht, logisch, wenn sie
sie zu ziehen unterlässt.


So wichtig übrigens für Theorie und Praxis der Sittlich-
keit die negative Seite unserer Tugend, die Fähigkeit der
Selbstopferung ist, an sich muss wohl diese Tugend, wenn
irgend eine, nicht bloss negativ und passiv, sondern positiv
und aktiv verstanden werden. Der Einsatz aller Kräfte für
das erkannte Gute zieht als Folge nach sich, dass man, wenn
nötig, auch das Leben dafür einsetzt; an sich aber fordert es
wohl grössere Tapferkeit für das Gute zu leben als dafür zu
sterben. Das Letztere ist meist Sache einer einzigen, raschen
Entschliessung, die dem sittlich klaren Menschen in klarer
Lage nicht sonderlich schwer fallen kann. Weit schwerer ist
es dagegen, die Festigkeit des sittlichen Wollens in seiner
positiven Bethätigung unter zahllosen lähmenden Einflüssen
von aussen und von innen stündlich neu zu bewähren. Plato
bemerkt irgendwo (Lach. 191), Tapferkeit habe sich zu be-
weisen nicht nur gegen Schmerz und Furcht, sondern auch
gegen Lust und Begier, und nicht nur im Standhalten, sondern
auch im Fliehen. Er hätte hinzufügen dürfen, dass es nicht
allein eine Tapferkeit gegen, sondern auch für etwas giebt, für
das Gute und alles was zum Guten dient. Uebrigens kommt
[107] die aktive Natur dieser Tugend in anderer Weise bei ihm zur
Geltung, in ihrer Beziehung auf die aktive Energie des Trieb-
lebens, auf den ϑυμός. Er beschreibt darin nicht unrichtig
die Wirkung der sittlichen Erhebung auf das Triebleben selbst,
und zwar als aktiven Zustand, als edle Aufwallung für das
Gute. Untriftig wäre es freilich, dieser Tugend geradezu
ihren Sitz in einer so ganz dem Triebleben zugehörigen Ge-
mütskraft anzuweisen; Plato selbst führt sie sonst, mit sokra-
tischer Schroffheit, auf die Einsicht zurück. Wir vermeiden
beide Abwege, indem wir sie dem Willen zuweisen, der
zwischen Trieb und Einsicht in der Mitte steht, durch dessen
Vermittlung sich der Einfluss der sittlichen Erkenntnis bis auf
das Triebleben erstreckt. Denn dieses bietet überhaupt den
Stoff, den der Wille, von der Vernunft geleitet, sittlich zu
gestalten hat. Wollen heisst wesentlich: seinem sonst blinden
Streben ein Objekt setzen, seine Triebkräfte auf eine Sache
richten und dadurch einer festen, unausweichlichen Regel
unterwerfen. Das ist nicht mehr ϑυμός, es steht ungleich
näher der sokratischen φϱόνησις, die doch immer praktische Ver-
nunft sein soll; aber es ist auch nicht an sich schon das sitt-
lich Vernünftige, denn die Sache könnte schlecht, oder doch
sittlich geringwertig sein. Doch bleibt diese strenge Unter-
ordnung unter die Sache an sich ein wesentliches Moment der
Tugend; und sie wird zur Tugend eben dann, wenn die Sache,
für die ich mich einsetze, nicht bloss eine gute Sache, son-
dern schlechthin das Gute ist. So wird die eigenartige
Stellung der Tapferkeit im System der sittlichen Tugenden
klar, während sie bei Plato bald nach der φϱόνησις, bald (so
auch in der angeführten Stelle) nach der σωφϱοσύνη hinüber-
schwankt. Richtig bleibt dennoch das Motiv, dass diese
Tugend eine höchst positive und konkrete Beziehung auf die
Aktivität auch in der unmittelbaren Form des Triebes hat;
dass sie den Trieb selbst unmittelbar in den Dienst des sitt-
lichen Willens stellt.


Diese Erwägung begründet zugleich, was übrigens nur
kurzer Ausführung bedarf: dass auch diese Tugend sich, gleich
der der Wahrheit, auf das Ganze der menschlichen Thätigkeit
[108] erstrecken muss. Denn alles eigentliche Thun des Menschen
ist eben Willenssache. Wo kein Wille, da reden wir nicht
eigentlich von Thun. Dagegen gehört nicht ebenso notwendig
zum Begriff einer That die Darstellung des Willens in einem
äusseren Stoff. Zur blossen Erforschung der Wahrheit, selbst
wenn sie im reinen Erkennen ihr Ziel fände, gehört ein tapferer
nicht minder als streng aufrichtiger Sinn; vollends zur Er-
haltung sittlicher Gesinnung im Menschen, zur inneren, sitt-
lichen Wahrhaftigkeit gehört gewiss ein hoher sittlicher Mut;
nicht minder zur äussern Wahrhaftigkeit, zur Wahrhaftigkeit
des Worts. Dann aber auch zu jeder unmittelbar an den Stoff
gewendeten Arbeit ist nicht bloss die Tugend der Sachlich-
keit, sondern auch entschlossene, rein für die Sache sich ein-
setzende Thatkraft vonnöten. Man spricht also mit gutem
Recht von tapfrer Arbeit. Treu ausharrender, unverdrossener
Fleiss ist gewiss keiner Tugend verwandter als der Tapferkeit;
ja was man zumeist darunter versteht, ist am Ende nur ein
Ausfluss des erstern. Endlich erstreckt sich auch diese Tugend
ganz besonders auf die Gemeinschaftsbeziehungen unter den
Menschen. Untreue gegen Pflichten des Gemeinschaftslebens
aus persönlicher Schwäche, Mattheit in sittlich begründeten
Gemeinschaftsbeziehungen, in Liebe und Freundschaft, Untreue
gegen das Vaterland hat gewiss am meisten ihren Grund in
Mattherzigkeit überhaupt, bis zur deutlichen Feigheit, also im
Gegenteil unsrer Tugend. Sie ist schecht, nicht allein oder
hauptsächlich wegen der sich auf den Andern miterstreckenden
Folgen, sondern an und für sich als Schädigung des eigenen
sittlichen Charakters wie des der Gemeinschaft.


Besonders klar ergiebt sich aus allem Gesagten die ge-
naue Wechselbeziehung zwischen den beiden ersten Tugenden.
Wahr zu sein in der umfassenden Bedeutung des Worts, die
wir kennen lernten, fordert ebenso gewiss Tapferkeit, wie
umgekehrt tapfer im sittlichen Sinne keiner ist, es sei
denn in unbeugsamer Treue gegen Wahrheit. Dieses schon
einigemal gebrauchte Wort Treue drückt überhaupt un-
übertrefflich die Einheit der beiden Grundtugenden aus; es
besagt: Wahrhaftigkeit, die sich in standhaftem Ausharren
[109] bewährt, Standhaftigkeit, die aus dem Sinn der Wahrheit
fliesst.


Die Analogie führt aber darauf hin, neben den Tugenden
der Vernunft und des Willens noch eine solche anzu-
nehmen, die sich unmittelbar auf den dritten Faktor der Akti-
vität, das Triebleben bezieht. Auch das klassische System
der Kardinaltugenden, dessen tiefe Anlage sich bis dahin be-
währte, weist eine solche auf: die Tugend des Maasses,
σωφϱοσύνη.


§ 14.
3. Die Tugend des Trieblebens: Reinheit oder Maass.


Es ist ein empfindlicher Mangel unsrer ethischen Kunst-
sprache, dass ihr ein Wort fehlt, das dem griechischen σωφϱοσύνη
recht entspräche. Die seit Schleiermacher gebräuchliche Ueber-
setzung „Besonnenheit“ trifft nur eine, bei Plato vorzüglich
wichtige Seite dieser Tugend, aber unterscheidet sie kaum von
der φϱόνησις, die wir mit „Besinnung“ wiedergaben. Im griechi-
schen ist das Unterscheidende im ersten Bestandteil des Worts,
welcher „heil, gesund“ heisst, wenigstens angedeutet; bestimmter
giebt es sich kund in dem synonymen Wort κόσμιον. Das be-
sagt nicht nur das äusserlich Anständige; der Grundbegriff ist
vielmehr der der innern Wohlordnung, der geregelten, harmo-
nischen Verfassung der Seele; den Gegensatz bildet die Maass-
und Gesetzlosigkeit der Triebe, ὕβϱις. Auf denselben Begriff
führt die oft gebrauchte, im Wort σωφϱοσύνη anklingende Ver-
gleichung mit der leiblichen Gesundheit. Den Punkt der Ver-
gleichung bildet das normale Verhältnis der Funktionen, in
dem sie sich gegenseitig nicht stören, sondern unterstützen
oder wenigstens streitlos mit einander bestehen. Das setzt
voraus, dass jede für sich das rechte Maass innehält. Und
so wird diese Tugend auch geradezu als die des Maasses, des
μέτϱιον bezeichnet. Das führt dann wieder hinüber zu der
Vergleichung mit dem ästhetisch Schönen, „Symmetrischen“,
besonders aber mit dem Musikalischen, der Harmonie in eigent-
licher Bedeutung oder Symphonie, oder auch der Eurhythmie.
[110] Vornehmlich im Sinne dieser Tugend gilt den Griechen das
Sittliche als das Schöne (καλόν) der Seele. Bei den Lateinern,
denen die Schönheit weniger im Gemüte liegt, verblasst das
zum honestum; als ob die äussere Rücksicht auf den ehr-
lichen Namen, auf das decorum beim Sittlichen die Haupt-
sache sei. Auch unser Wort „sittlich“, das am öftesten von
dieser Tugend im besondern gebraucht wird, erinnert zunächst
an die äussere Sitte, die aber dann sich vertieft zum innerlich
Gesetzlichen, Wohlgeordneten.


Stets aber wird diese Tugend von den Griechen auf das
Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz,
Ordnung und Maass, ohne innere Zusammenstimmung bliebe.
Dass das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, dass
„Besonnenheit“ oder das ordnende Walten der Vernunft über
das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber
auch die Energie des sittlichen Willens, die „Tapferkeit“ der
Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungen-
schaft der Philosophie, vorzugsweise der sokratisch-platonischen.
Damit ist in der That das notwendige Zusammenwirken der
drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig erkannt;
die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt vorwaltend.


Demnach lässt sich diese Tugend zutreffend als die des
Maasses oder der sittlichen Ordnung des Trieb-
lebens
bezeichnen. Mit einem Wort kann man sie als
Reinheit benennen; wobei man nicht so sehr an das Nega-
tive: die Freiheit von Sündenschmutz, von Befleckung der
Seele, als an das Positive: die ungetrübte Klarheit der inneren
Gesetzesordnung denke. So spricht man in ästhetischer An-
wendung von reiner Harmonie, reinen Farben, Reinheit der
künstlerischen Form, der Sprache, aber auch von Reinheit des
wissenschaftlichen Verfahrens, endlich und besonders von Rein-
heit gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen.
Das Gemeinsame in dem allen ist die gesetzmässig überein-
stimmende und durch solchen Einklang befriedigende innere
Verfassung, und zwar nicht als bloss gedacht oder angestrebt,
sondern unmittelbar im Stoff dargestellt; das ist genau der
Begriff, den wir brauchen.


[111]

Somit stellt diese Tugend, auf der Grundlage der beiden
andern, die Vollendung der persönlichen Sittlichkeit dar. Sie
ist die konkreteste der drei Tugenden; es ist darin das Ideal
gedacht, dass die Triebe selbst dem Befehle der Vernunft so
völlig gehorchen, vielmehr von Anfang an einerlei Richtung
mit ihr nehmen, dass eine gefahrdrohende Anwandlung von
Schlechtigkeit nicht mehr möglich ist. Der religiöse Name
der Heiligung liegt nahe und lässt sich in einzelnen An-
wendungen kaum umgehen; nur möchten wir die religiösen
Assoziationen fernhalten, um den rein ethischen Charakter der
Untersuchung in keiner Weise zu verwischen.


Auch diese Tugend hat eine negative und eine positive
Seite, und bei ihr wie bei der Tapferkeit drängt sich die ne-
gative oder kritische Bedeutung — Abwehr der ὕβϱις — zunächst
auf; aber auch bei ihr ist vor der einseitig negativen Auf-
fassung zu warnen. Die ἐγκϱάτεια der Griechen, die Selbst-
beherrschung, die Eigenschaft sich in der Gewalt zu haben,
d. h. seiner Triebe Herr, nicht ihr Sklave zu sein, sie
mässigen oder zügeln zu können, gilt wohl den Meisten als
der eigentliche und ganze Sinn dieser Tugend. Das steigert
man dann leicht zu der Forderung der Enthaltung, der Ent-
äusserung, der Ertötung oder doch möglichsten Abschwächung
der Triebe. Es ist die Tugend der Kyniker und ihrer christ-
lichen Nachfolger, der Asketen aller Art: die Begehrungen
möglichst klein zu halten; bei den erstern mit der ausgesprochen
hedonistischen Begründung, damit man sie desto sicherer be-
friedigen könne; so dass als das eigentliche Ideal völlige Be-
dürfnislosigkeit erscheint. Aber gesunde Befriedigung des
Triebs ist an sich so sittlich, so rein, so heilig wie die Ent-
haltung von ungesunder Befriedigung. Die Gesundheit des
Trieblebens ist so wenig davon abhängig, dass man die Triebe
selbst möglichst knapp hält, also das Triebleben überhaupt
möglichst ertöte, dass vielmehr eben die Gesundheit des Trieb-
lebens die Bedingung seiner kraftvollsten und lebensfähigsten
Entfaltung ist. Die Asketik ist ein unfehlbarer Arzt —
nur dass sie mit der Krankheit zugleich dem Patienten den
Garaus macht. Gewiss ist „Selbstbeherrschung“, d. i. Beherr-
[112] schung der Triebe unerlässlich. Aber es ist die Weise schlechter
Herrscher, die Unterthanen möglichst schwach zu wollen, da-
mit sie sich desto leichter regieren lassen. Man übersieht,
dass die Herrschaft über kleine und schwache Triebe auch
kleine und schwache Herrschaft ist. Die Gewalt über den
Trieb ist erst die negative Vorbedingung, nicht das Ganze
und Positive dieser Tugend; das Positive ist vielmehr: Ge-
brauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen und
sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestimmung.


Man hat sich das Verständnis dieser Tugend am meisten
dadurch erschwert, dass man fast ausschliesslich an die gröbsten,
auf das bloss physische Dasein bezüglichen Triebe gedacht hat,
an den Ernährungs- und Fortpflanzungstrieb, und etwa noch
an die abgeleiteteren, aber zuletzt auch lediglich auf Selbst-
behauptung im Kampf ums Dasein gerichteten Triebe der
„Habsucht, Ehrsucht, Herrschsucht“. Nun liegt allen diesen
doch auch etwas Gesundes zu Grunde. Weshalb läge auf
Verschwendung und Schädigung des physischen Lebens und
der Mittel und Bedingnisse der Lebenserhaltung ein schwerer
sittlicher Tadel, wenn nicht das Leben selbst und was seiner
Erhaltung dient, an sich etwas Fördernswertes wäre?
Weshalb ist uns das Verhältnis von Mutter und Kind
rein und ehrwürdig, weshalb konnte der Vatername sogar
heilig genug erachtet werden, um der Gottheit beigelegt zu
werden, wenn Vater- und Mutterschaft an sich unrein wäre?
Und so ist doch auch nicht aller Besitz, alle äussere Ehre,
alle Macht und Herrschaft über Dinge und auch über mensch-
liche Arbeitskräfte an sich verwerflich. Verfügbare Energie
des Triebs ist zu aller und jeder menschlichen Thätigkeit, sie
ist vor allem auch zur Arbeit an der eigenen geistigen und
sittlichen Entwicklung erforderlich; wie sollte es also nicht
auch sittlich gefordert sein, sie zu erhalten und zu stärken?


Am ärgsten ist wohl die Verwirrung über einen Begriff,
der ganz besonders hierher gehört, nämlich den der Keusch-
heit
. Man denkt dabei entweder bloss an das gesellschaftlich
Anständige oder wozu einer sich ungescheut bekennen darf;
wo denn wohl der bekannte Unterschied zwischen keuschen
[113] Ohren und keuschen Herzen zu Recht bestände. Oder wenn
man denn diese Tugend bis ins Herz wurzeln lässt, so verfällt
man dann leicht ins Asketische (wie in unserer Zeit wieder
zwei so ehrliche Naturen wie Kierkegaard und Tolstoj), und
gerät dahin, selbst jeden Gedanken an die natürliche Bestim-
mung der Geschlechter, jeden Wunsch ihrer Erfüllung für un-
keusch zu erklären. Da käme aber diese angebliche Tugend
in schwierige Kollision mit der allerursprünglichsten, unver-
letzlichsten Tugend der Wahrheit. Es könnte dann am Ende
wahrhafter und also sittlicher scheinen, sie ganz und gar als
thörichte Menschensatzung über Bord zu werfen und das Natur-
gebot der Begierde zum unumschränkten Gesetz des Handelns
und Denkens zu erheben. Oder endlich, man versteht unter
der Keuschheit des Herzens sogenannte Unschuld, d. h. Un-
wissenheit über das Natürliche, wenigstens Ahnungslosigkeit
über die furchtbare Gewalt des Naturtriebs, mit eigener Be-
gehrungslosigkeit, also das Verharren im Kindesstande, auf
den man selbst wie auf ein verlorenes Paradies zurückblickt,
den man aber dem heranwachsenden, ja dem erwachsenen —
Weibe zumutet. Denn dem Manne kann man sie nicht wohl
zumuten; er soll doch den Wirklichkeiten des Menschen-
daseins ins Auge sehen lernen. Das heisst aber das Weib mit
einer sehr zweifelhaften Tugend schmücken, um ihm zwei so
zweifellose, unerlässliche Tugenden wie Wahrheit und Tapfer-
keit des sittlichen Willens zu nehmen. Es ist eine unbedingt
höhere Auffassung der weiblichen wie der männlichen Tugend,
welche diese Unterscheidung und damit diesen ganzen Begriff
der Keuschheit als „Unschuld“ verwirft. Wahre Unschuld ist
nur die, die das Schuldlose auch schuldlos nimmt, um so
sicherer, je fremder ihr die wahre Schuld der Unkeuschheit ist.


Was ist denn nun der echte Begriff dieser so schwierigen
Tugend? Er ist so einfach wie alle Tugend, und dem sittlich
Gesunden fast selbstverständlich. Sie besagt erstens, als Vor-
bedingung: sichere Herrschaft über den Naturtrieb; sodann
aber: Gebrauch des Triebes nach seiner wirklichen, natürlichen
wie sittlichen Bestimmung, nicht ausserhalb dieser Bestim-
mung. Die natürliche Bestimmung ist die Fortpflanzung.
Natorp, Sozialpädagogik. 8
[114] Schon dadurch ist für den Gebrauch des Triebes eine uner-
bittliche Grenze gezogen, die Grenze, die die Unkeuschheit
besonders nicht anerkennen mag; sie zieht vielmehr haupt-
sächlich daraus ihre Nahrung, dass sie den Trieb gebrauchen,
aber seinen Zweck, die Fortpflanzung, umgehen will, weil seine
Anerkennung dem Gebrauch des Triebes offenbar Schranken
auferlegt. Es ist hier, wie bei der Trunksucht, der Habsucht
u. s. f. auffällig (was man Kant nicht hat glauben wollen),
dass alle Unsittlichkeit auf einen Selbstwiderspruch des
Willens hinauskommt. Dann aber und vornehmlich kommt
im Geschlechtsverhältnis die seelische Beziehung in Frage, und
da erst recht zeigt sich der hohe, ganz positive Sinn der
Herzensreinheit in der Tugend der Keuschheit. Es ist die
Reinheit, der das Reine rein ist, indem es bezogen wird auf
das Heiligtum der Seele; der das physische Leben, und so
auch seine Weitergabe, geheiligt ist durch seine Beziehung auf
das seelische Leben, dem es dient; für die daher die Höhe
des physischen Lebens — die Höhe, da es sich verewigt, in-
dem es sich verschenkt — zugleich zu einer Höhe des seelischen
Lebens zu werden vermag. Und das um so mehr, als zugleich
das Verhältnis von Seele zu Seele in solcher Gesinnung sich
zur ganzen Wahrheit reinigt: der Eine traut dem Andern eine
Seele zu, erkennt in ihm wie in sich selber die sittliche und
nicht bloss die sinnliche Person, und diese als unverletzliches
Heiligtum an, um auf dies Heiligste, wie sein ganzes Sein
und Leben, so auch alles, was er gegen uns ist und thut, uns
giebt oder von uns empfängt, zuletzt zurückzubeziehen. Das
ist freilich sinnlos, wenn man das Ziel des Naturtriebs im
Genuss des Augenblicks sieht; aber es erhält klaren Sinn,
wenn man sich besinnt, dass es dem Menschen verliehen ist,
„dem Augenblick Dauer zu verleihen“, ja in eine Ewigkeit
hinauszublicken. Diese stellt sich ihm menschlich und irdisch
dar in der Folge der Geschlechter, wodurch der Einzelne sein
beschränktes Dasein an das Leben der ganzen Menschheit
kettet. Die Ueberlieferung des Menschentums von Geschlecht
zu Geschlecht ist demnach das wahre, sittliche Ziel der Fort-
pflanzung. So hat selbst Plato, der sonst einigermaassen zur
[115] Asketik neigt, die leibliche Fortpflanzung darstellen können
als die Art wie das Sterbliche an Unsterblichkeit, an Ewigkeit
teilhat. Dieser Sinn der Keuschheit ist völlig derselbe für
Mann und Weib; der Mann und das Weib, das nicht in diesem
hohen Sinne keusch ist, ist gemein, oder bestenfalls ein ge-
sundes unwissendes Tier. Wiederum aber ist solche Keuschheit
weit verschieden von blöder Scham: sie hält es für reiner,
die Scham in Liebe untergehen zu lassen als sie festhalten
zu wollen. Keusche Liebe hat sich nie ihrer selbst zu schämen,
sondern allein der Unkeuschheit. Dem Weibe wird also nicht
mehr Unwissenheit um das Natürliche und kindisches Grauen
davor als Tugend angerechnet; und der Mann nicht von
seinem redlichen Anteil an dieser edlen Tugend entbunden, ja
wohl der schwerere Teil der Verpflichtung und Verantwort-
lichkeit dabei ihm auferlegt. Endlich kommt so erst die positive
Seite der Reinheit zu voller Anerkennung. Es ist begreiflich,
dass gegenüber dem gewaltigsten aller natürlichen Triebe der
negative Sinn der σωφροσύνη sich vorzugsweise aufdrängte, im
letzten Grunde aber erschöpft sie sich auch hier nicht im
Unterlassen oder passiven Geschehenlassen, sondern entfaltet
ihre ganze Tiefe erst in der Position, in der Energie des
Thuns. Sie verneint nicht das Triebleben, sondern bringt es
vielmehr erst zu seiner gesunden und damit kraftvollen Ent-
faltung. Die Fortpflanzung der Menschheit in leiblicher und
seelischer Gesundheit ist der keuschen, nicht der unkeuschen
Liebe anvertraut. Auch diese Tugend ist eine der mächtigsten
Beweisungen der Lebensenergie der Menschheit.*)


Und so will allgemein unsere dritte Tugend das Triebleben
nicht ausrotten oder entkräften oder bloss bändigen wie ein
wildes Tier, sondern es möglichst unversehrt in den Dienst
unserer sittlichen Bestimmung stellen, die, nach ihrer wesent-
lichen, inneren Beziehung zur Natur, nicht auf einen vergeb-
lichen Krieg mit dieser, sondern nur auf ihre gesunde und
reine d. i. ihrem innern Gesetz gemässe Entfaltung im Menschen
zielen kann.


[116]

So tritt denn durch diese Tugend die menschliche Sitt-
lichkeit in die unmittelbarste überhaupt zulässige Beziehung
zur Natur. Sie vertritt, in konkreterem Sinne als eine der
vorigen Tugenden, die Erhebung alles Natürlichen, soweit
irgend es dessen fähig ist, zu sittlicher Bedeutung. Alles
menschliche Thun und Streben hat aber eine der Sinnlichkeit
zugekehrte Seite, es beruht nicht auf Vernunft und Willen
allein, sondern hat noch einen Naturgrund, den wir allgemein
mit „Trieb“ bezeichnet haben; auf diesen, und zwar in allen
seinen Gestaltungen, bezieht sich unsere dritte Tugend. Auf
den Begriff des Triebs führten wir den der Arbeit zurück;
und so gehört alle eigentlich so benannte, unmittelbar auf den
Stoff gerichtete, auf Sinnes- und Muskelkraft beruhende Arbeit
unter die Herrschaft dieser Tugend. Der grosse Satz, der
mit steigender Kultur zu immer höherer Bedeutung gelangt,
von der Heiligkeit der Arbeit, ordnet sich ganz ihr unter
und ist einer ihrer deutlichsten und positivsten Ausdrücke;
an ihr besonders zeigt sich, dass diese wie jede andere ur-
sprüngliche Tugend nicht allein oder zuerst in dem besteht,
was man lässt, sondern in dem, was man thut und wie man
es thut. Luther, demselben, der nach der Zeit des Mönch-
tums wieder die Reinheit der Ehe betont hat, danken wir es,
dass er die Heiligkeit der Arbeit und damit des „weltlichen“
Berufs zu Ehren gebracht und so das Verständnis dieser hohen
Tugend unserer Nation besonders tief eingeprägt hat. Die
mächtige sozial-ethische Bedeutung, die darin liegt und
die mit der Verschärfung der sozialen „Frage“ sich nur er-
höhen kann, leuchtet ein; fast die ganze Ethisierung der sozialen
Frage hängt daran; sie bezieht sich, ethisch angesehen,
durchaus auf die Versittlichung des sozialen Trieblebens
in Arbeit und Genuss.


Ueberhaupt drängt sich in fast allen Bethätigungen dieser
Tugend ihre zugleich soziale Bedeutung besonders stark auf.
Begreiflich, denn je näher wir den realen Bedingungen des
menschlichen Daseins kommen, je konkreter wir seine Tugend
zu erfassen suchen, um so weniger lässt sich von den sozialen
Beziehungen überhaupt absehen, um so dringlicher zeigt es
[117] sich, auch und vor allem diese durch und durch sittlich zu
gestalten. Das darf nun wiederum nicht verleiten, den Grund
und Wert dieser Tugend etwa ausschliesslich in ihrer sozialen
Bedeutung zu suchen. Sie ist an sich selbst gefordert, auch mit
gänzlicher Abstraktion davon, welchen Dienst sie dem Andern
oder selbst dem Ganzen leiste. Aber freilich besteht das
Gebot der Reinheit, wie jedes sittliche Gebot, aus gleichem
Grunde wie für den Einzelnen auch für alle und erhält durch
die gleichzeitige Beziehung auf die Gemeinschaft noch ver-
tieften Sinn; ja es könnte überhaupt nicht davon die Rede
sein, den Adel der Menschheit in der eigenen Person zu er-
halten, wenn es keine Menschheit, keine menschliche Gemein-
schaft gäbe. Auch ist diese höchste sittliche Beziehung für
diese Tugend so unerlässlich wie für jede andre. Sie lässt
sich, auf der Höhe ihrer Bedeutung, nicht lediglich auf den
Naturtrieb zur Glückseligkeit (auch wenn er als zugleich
sozialer Trieb verstanden wird), mit Umgehung eines Vernunft-
grundes stützen.


Und so bestätigt sich auch wieder der unauflösliche Zu-
sammenhang sämtlicher Grundtugenden, demzufolge keine ohne
die andern bestehen kann, jede, je nachdem man es ansieht,
jede der andern zur Voraussetzung hat. Die sittliche Ordnung
des Trieblebens, wie sie sich uns darstellte, ist offenbar nicht
zu erreichen ohne eine grosse Klarheit der sittlichen Einsicht
und ohne voll entwickelte Kraft und Festigkeit des sittlichen
Willens. Umgekehrt ist Regellosigkeit und Ungesundheit des
Trieblebens das Haupthindernis, zu fester sittlicher Energie
und unbeirrter sittlicher Einsicht und Wahrhaftigkeit jemals
zu gelangen. Die Erziehung beginnt naturgemäss von unten
auf, bei der Disziplinierung des Trieblebens; höhere Forderun-
gen an die sittliche Energie und Erkenntnis lassen sich über-
haupt erst stellen, nachdem der Hauptwiderstand gebrochen
ist, der sich von dorther gegen beide erhebt. An der Ver-
sittlichung des Trieblebens erstarkt die Kraft des sittlichen
Wollens und der sittlichen Einsicht, die dann wieder zur feste-
sten Stütze für jene wird. So helfen sich alle Tugenden und
fördert jede die andere, indem sie zugleich aus jeder selbst
[118] neue Kraft zieht. Aber nicht minder helfen sich in verhäng-
nisvollem Bunde alle Untugenden: Lüge und sittliche Schwäche
der Unordnung des Trieblebens und umgekehrt. Der wilde,
regellose Trieb ist der gefährlichste Sophist und erbärmlichste
Schwächling; um so sophistischer und erbärmlicher, je mehr
er sich in das Gewand der rechten Wahrheit und rechten
Forschheit zu kleiden liebt.


In dieser Tugend vollendet sich, wie es scheint, die Sitt-
lichkeit des Individuums zur konkretesten Gestalt, deren sie
fähig ist. Allein die bloss individuelle Sittlichkeit ist über-
haupt nur Abstraktion. Der Einzelne lebt nun einmal nicht
vereinzelt, sondern jederzeit in Gemeinschaftsbeziehungen; es
ist also eine blosse Fiktion, vom Individuum wie von einem
Ding für sich zu reden. Andrerseits wurzeln die Gemeinschafts-
beziehungen doch in den Individuen selbst; sie existieren über-
haupt nur im Bewusstsein der Einzelnen. Soll es also eine
Tugend der Gemeinschaft geben, so muss sie, da doch Tugend
Sittlichkeit heisst und Sittlichkeit in Individuen allein Leben
und Ursprung hat, auch in ihnen, also in Gestalt einer indi-
viduellen
Tugend sich ausprägen. Es ist nun schon bei
der Behandlung der drei im engeren Sinne individualen Tu-
genden fortwährend auch die Beziehung auf die Gemeinschaft
berücksichtigt worden. Doch ist es zum wenigsten noch eine
eigene und wichtige Seite an aller individuellen Tugend, dass
sie das Bewusstsein der Beziehung auf die sittliche Gemein-
schaft wesentlich einschliesst. Auch genügt es nicht, bei jeder
jener drei Tugenden neben der individuellen die soziale Seite
hervorzuheben, sondern man hat Grund, die soziale Tugend
des Individuums
auch als ein eigentümliches Ganze
ins Auge zu fassen.


Deswegen stellen wir als vierte individuelle Tugend eben
die soziale Tugend, sofern sie Tugend des Individuums ist,
auf. Wir bezeichnen sie, wiederum im Anschluss an die Alten
und besonders an Plato, mit dem Namen der Gerechtigkeit.


In der Anordnung unsrer vier Tugenden aber wird man
die zwingende Notwendigkeit nicht verkennen, mit der die
Betrachtung von den abstrakteren zu immer konkrete-
[119] ren
Gestaltungen des Sittlichen, wie bisher, so auch jetzt
wieder, fortschreitet.


§ 15.
4. Die individuelle Grundlage der sozialen Tugend:
Gerechtigkeit.


Unter Gerechtigkeit als individueller Tugend verstehen wir,
dem Gesagten zufolge, die auf die Gemeinschaft bezügliche
Seite an aller Tugend des Individuums. Daher muss jede der
andern individuellen Tugenden, sofern die Gemeinschaftbezie-
hung in Frage kommt, etwas von dem Charakter der Gerech-
tigkeit annehmen. So zeigt es sich in der That: sofern die
Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss im Interesse
der Gemeinschaft gefordert ist, wird sie zu einer der haupt-
sächlichsten Forderungen der Gerechtigkeit; ebenso Tapferkeit,
sofern sie der Gemeinschaft dient, sofern sie besagt, dass jeder
an seinem Posten, in seiner um der Gemeinschaft willen nötigen
Bethätigung aushalten und seine Sache nicht im Stiche lassen
soll, ist eine Pflicht der Gerechtigkeit; endlich Wahrhaftigkeit
im Verhalten zum Andern, Ehrlichkeit, Redlichkeit, wechsel-
seitige Treue hat man von jeher zur Gerechtigkeit gerechnet;
ihre Verletzung ist nicht nur persönliches, sondern soziales
Unrecht.


Und zwar ist das Wesen dieser Tugend darin schon voll-
ständig enthalten, dass alles, was an sich sittlich gefordert ist,
gleichsam noch einmal, in der That in neuem, erweitertem
Sinne gefordert wird im Interesse der Gemeinschaft. Eine
eigene Materie hat diese Tugend also nicht aufzuweisen. Alle
Erklärungen, die man von ihr zu geben versucht hat, sind
denn auch rein formal; so die alte Formel, nach der sie „Jedem
das Seine“, was ihm zukommt oder gebührt, zu teil werden
lässt, sein Recht und seine Pflicht. Was dies Gebührende sei,
lässt sich gar nicht anders als in Hinsicht der drei Grund-
elemente der Aktivität, mithin gemäss den drei ersten Tugen-
den bestimmen. Die Erhebung der Gemeinschaftsbeziehung
der sittlichen Forderung ins ausdrückliche Bewusstsein unsres
[120] Thuns ist das einzige Neue, was hinzukommt; darin ist die
Eigentümlichkeit dieser Tugend erschöpft.


Soll man sie darum etwa überhaupt nicht zur Tugend
des Individuums rechnen? — Wir schieden individuale und
soziale Tugend nach dem Subjekt, von dem sie ausgesagt wird,
und nach dem Ziele, worauf sie sich richtet. Individual also
ist sie, wenn sie das Individuum, sozial, wenn sie die Gemein-
schaft zum Subjekt hat; und die sittliche Ordnung des Indi-
viduallebens ist im ersteren Fall, die des sozialen Lebens im
letzteren ihr Ziel. Beides ist nun zwar untrennbar; aber die
Beziehung ist darum doch eine zweifache. Zur sittlichen Ord-
nung des Individuallebens gehört aber auch die Ordnung der
Beziehungen des Individuums zur Gemeinschaft, soweit sie
von den Eigenschaften und Willenshandlungen des Individuums
abhängt. Dass das einen Unterschied macht, tritt darin klar
zu Tage, dass ein gerechtes Verhalten vom Individuum auch
dann gefordert wird, wenn die Gemeinschaft, der es zugehört,
einer gerechten Regelung entbehrt und vielleicht dem Einzelnen
auch gar kein Mittel übrig gelassen ist, auf eine gerechtere
Gemeinschaftsordnung direkt hinzuwirken.


Auch lässt sich nicht behaupten, dass die Tugend der
Gerechtigkeit ihr Ziel schlechthin nur im Gemeinschaftsleben
hätte, dass man gerecht sein sollte bloss um der Gemeinschaft,
nicht auch um seiner selbst willen. Zwar für den, der durch
irgend ein Verhängnis von aller menschlichen Gemeinschaft für
immer abgeschnitten wäre, würde diese Tugend ihre unmittel-
bare Anwendbarkeit verlieren. Allein schon in jedem Gedanken
an die übrige Menschheit würde sie ihre Bedeutung auch für
ihn behalten; es wäre für ihn selbst nicht gleichgültig, ob er
sie auch da wegwürfe oder nicht. Aber auch wer in mensch-
licher Gemeinschaft lebt, muss Gerechtigkeit üben nicht nur
im sittlichen Interesse der Gesamtheit, sondern ebenso sehr
im höchsten eigenen sittlichen Interesse. Es hat also guten
Grund, wenn Plato die Gerechtigkeit als ebensowohl indivi-
duale wie soziale Tugend behandelt; nur tritt in seiner Ab-
leitung der Gerechtigkeit als individualer Tugend die unerläss-
liche Beziehung auf die Gemeinschaft allzu sehr zurück. Die
[121] Gerechtigkeit als individuelle Tugend wird ihm, wenigstens
im „Staat“, zum blossen Ausdruck des normalen Verhältnisses
der seelischen Grundkräfte, also nur zu einem andern Namen
für die Tugend überhaupt und als Ganzes, die ja eben in
diesem normalen Verhältnis besteht. Zugleich weiss er sie von
der Sophrosyne, die auch die innere Harmonie der Gemüts-
kräfte bedeuten soll, nicht überzeugend zu scheiden. Diesen
Verwicklungen entgeht man, indem man sich besinnt, dass die
Gemeinschaftsbeziehungen in den Individuen doch wurzeln,
also auch die Tugend der Gemeinschaft auf der individuellen
Tugend und zwar auf einer bestimmten, eben der Gemeinschaft
zugewandten Seite der individuellen Tugend beruhen muss.
So hat man es eigentlich sonst immer aufgefasst; auch Plato
selbst an andern Stellen.


Der Grund dieser Tugend ist kein anderer, als der die
Allgemeingültigkeit des Sittlichen überhaupt, d. h. seine Gül-
tigkeit nicht bloss für alle Subjekte, sondern auch in Rück-
sicht aller, begründet. Es ist der Satz der reinen Ethik, den
Kant so formuliert hat: dass in der Person eines jeden „die
Menschheit“ d. i. die sittliche, die vernünftige Person, und diese
unbedingt, zu achten sei; denn es gebe nichts, das ohne Ein-
schränkung gut genannt werden könne, als allein den guten
Willen, folglich nichts, das würdig wäre, den letzten Zweck
des Sittlichen auszumachen als die Erhaltung des sittlichen
Willens in jedem, der dessen überhaupt fähig ist, d. h. in
jedem sittlicher Vernunft fähigen Subjekt, jeder „Person“.


Das Moment der Gleichheit, das im Begriffe der Ge-
rechtigkeit unfraglich liegt, ist nur hieraus klar zu verstehen.
Denn von Natur sind die Menschen nicht gleich und werden
es nicht sein, auch wenn man sich die weitgehendsten Forde-
rungen an Gleichheit der äusseren Lebensbedingungen und vor-
züglich der äusseren Bedingungen geistiger Entwicklung er-
füllt denkt. Der thatsächlichen Beschaffenheit der Menschen
gegenüber ist die Gleichheit eine Fiktion, allenfalls ein Wunsch.
Als sittliche Forderung aber hat sie den klaren Sinn: dass
jeder, auch wer thatsächlich auf der niedrigsten Stufe der
Menschheit steht, des Sittlichen doch fähig ist oder befähigt
[122] werden kann, mindestens hätte befähigt werden können. Auch
noch dem unheilbar Schlechten gegenüber (wenn es einen solchen
giebt) bedeutet die Gerechtigkeit, die wir ihm schulden: dass
er für seine Schlechtigkeit nicht durchaus als Einzelner ver-
antwortlich zu machen ist; dass auch jeder, der sich besser
glaubt, sich seiner Mitschuld an aller in der Gemeinschaft, der
er zugehört, vorhandenen Schlechtigkeit bewusst wird. Auch
der entartete Mensch darf im Sinne sittlicher Gerechtigkeit
nicht der Bestie gleichgeachtet werden, auch der reinste sich
nicht vor sittlichem Schaden sicher wähnen. Insofern gilt die
Forderung der Gleichheit in unnachgiebiger Strenge. In jedem
ohne Unterschied ist sittlich nichts zu achten als allein der
sittliche Wille, dieser aber auch in seinem verborgensten Keim,
auch als blosse, durch Nichtgebrauch vielleicht verkümmerte,
aber an sich doch als vorhanden anzunehmende Anlage; und
zwar unbedingt, ohne Vergleichung mit irgend einem bloss
empirischen Wert.


Das ist nun aber sehr gewöhnlich und begreiflich, dass
die Beurteilung eben auf die Vergleichung empirischer Werte
abirrt. Daraus entspringt dann ein ganz anderer, von Gleich-
heit sich weit entfernender Sinn der Gerechtigkeit, nämlich
dass jedem zu teil werden solle, was er wert ist, dem
Besseren Besseres, dem Schlechteren Schlechteres; das Gute,
nein der Gute müsse belohnt, der Schlechte bestraft werden.
Das hält man vielleicht für die von Plato empfohlene „geo-
metrische“ d. i. proportionale Gleichheit. Es giebt aber
eine seltsame Proportion, wenn gut und schlecht dabei so ganz
Verschiedenes bedeuten: das eine Mal das Maass des Gutseins,
der persönlichen Tugend, das andere Mal das Maass des Guten, das
man geniesst
, nämlich des Anteils an äusseren Gütern und
Vorteilen, an Besitz, Macht, Ansehen, öffentlicher Auszeichnung
und allem was von dieser Ordnung ist. Aber das hat wenig-
stens Plato nicht gemeint, dass Tugend käuflich sein sollte um
solche Münze, dass äussere Ehre und klingender Lohn für
Tugend der Sinn der Gerechtigkeit sei; er hat das genaue
Gegenteil davon mit schneidender Schärfe betont: dass das
Gerechte gerecht ist auch verborgen vor Göttern und Menschen,
[123] und es bliebe, auch wenn man das Schlimmste darum leiden
müsste. Sein Satz von der porportionalen Gleichheit meinte
etwas ganz Anderes. Plato war allerdings der Ansicht, dass
der Tüchtige den Befehl haben, der Untüchtige gehorchen
müsse; aber nicht, weil jener grössere Ansprüche an „Gutes“
erheben dürfe, sondern aus dem ungefähr entgegengesetzten
Grunde: weil grössere Leistungen von ihm zu verlangen seien.
Nicht als der persönlich Tüchtigere soll er grössere persön-
liche Vorteile geniessen; das würde in kurzem seine Tüchtig-
keit zerstören; sondern damit das Werk gedeihe, soll der
Sachverständige befehlen. Der Vorteil, der dabei zu
suchen, ist nicht seiner, sondern derer, denen er befiehlt.
Er hat den Befehl, sofern er die Sache versteht; aber die
Sache ist gemeinsam. Eine Sache, welche es auch sei, aus-
schliesslich sein eigen nennen, ist ihm der Inbegriff des
sozialen Unrechts, ein auf diesen Begriff des Eigentums
gebauter Staat das Gegenteil des sittlich geforderten. Viel-
mehr sind beide, der Befehlende und der Gehorchende, Eigen-
tum der Gemeinschaft, ihr Befehlen und ihr Gehorchen Dienst
der Gemeinschaft. Das ist der Aristokratismus Platos, der
am Ende auch Demokratismus heissen könnte, sofern darunter
die Verneinung jedes Befehlsrechts einer Klasse als solcher und
nicht lediglich des Tüchtigeren verstanden wird. Dieser
Aristokratismus ist mit der sittlichen Gleichheit wohl im
Einklang; denn diese besagt die für alle an sich gleiche Ver-
pflichtung, seine Kräfte in den Dienst des Guten und, sofern
das Gute Gemeinschaftssache ist, in den Dienst der Gemein-
schaft zu stellen; welche an sich gleiche Pflicht sich empirisch
modifiziert nach dem Maasse der Fähigkeit der Einzelnen. Da
übrigens die menschlichen Fähigkeiten bildsam sind, so be-
steht auch wiederum die Verpflichtung, allen an sich gleiche
Möglichkeit zur Ausbildung ihrer Fähigkeiten zu schaffen.
Dabei aber stellt sich nun, merkwürdig genug, eine Art um-
gekehrter Proportion heraus: wie der Kranke mehr leibliche
Pflege für sich fordern darf als der Gesunde, so hat der
weniger Begabte Anspruch auf desto grössere Sorgfalt für seine
Bildung. Die Formel, dass dem Bessern Besseres gebühre,
[124] dem Schlechtern Schlechteres, versagt hier völlig; diese Pro-
portion wäre hier schreiendste Ungerechtigkeit, sie würde
sagen: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem
wird auch noch genommen, was er hat. So kann die Gleich-
heit, die der Begriff der Gerechtigkeit vorschreibt, sich empi-
risch äusserst verschieden ausnehmen; Beweis genug, dass
dieser Begriff nicht aus der Erfahrung geschöpft ist. Wir
folgern ihn ganz schlicht aus dem Gemeinschaftscharakter des
Sittlichen. Die Idee der sittlichen Gleichheit ist mit dem ent-
schiedenen Willen sittlicher Gemeinschaft [unzertrennlich] ver-
bunden. Sie kann nicht auftauchen, wo nicht eine gewisse
Gemeinschaft schon besteht. Mit deren blossem Bestande ist
aber auch ihre sittliche Gestaltung gefordert; und das schliesst
in sich, die sittliche Gleichheit, die zuerst nur in der Idee
existierte, so viel als möglich zur That und Wahrheit zu
machen; denn die höchste, d. h. eben die sittliche Gemein-
schaft kann nur auf dem Grunde der Gleichheit bestehen.
Das Individuum wird dabei aber nicht geopfert. Mit der
höchsten Tugend des Individuums, die eins ist mit der Ent-
faltung seiner höchsten Kraft und Tüchtigkeit, folglich (auch
nach Plato) mit seiner wahren Glückseligkeit, ist in der That
nur diese Haltung gegen die Gemeinschaft, welche Gerechtig-
keit heisst, vereinbar. Nur die Schlechtigkeit des Individuums
wird geopfert, alles Gute an ihr kommt bei dem (im ange-
gebenen Sinn) gerechten Verhältnis des Einzelnen zur Gemein-
schaft vielmehr erst zur freien Entfaltung. Auch bedarf es,
um das festhalten zu dürfen, nicht der gewagten Annahme
einer prästabilierten Harmonie zwischen Individual- und Ge-
meinschaftsleben, sondern es ergiebt sich mit Notwendigkeit
so aus der Einsicht, die wir vornehmlich Plato verdanken:
dass die Gestaltung des Individuallebens, gerade in sittlicher
Hinsicht, von der des Gemeinschaftslebens ganz so streng ab-
hängt wie umgekehrt; dass nur das eine mit dem andern,
keines für sich allein einer rein sittlichen Gestaltung fähig ist.


Gerechtigkeit wird daher vom Einzelnen gefordert schon
im Interesse der sittlichen Gestaltung seines individuellen
Lebens
, nämlich hinsichtlich seiner (thatsächlich von ihm un-
[125] abtrennbaren) Beziehung zur Gemeinschaft. Der Einzelne
erreicht die Höhe seiner menschlich-sittlichen Bestimmung
nicht ohne die menschlich-sittliche Gestaltung seiner Beziehungen
zur Gemeinschaft.


Es folgt ebenfalls aus unserer Ableitung, dass diese Be-
ziehungen alle Seiten der menschlichen Aktivität: Trieb,
Wille und Vernunft, zugleich umspannen müssen. Dadurch
bestimmt sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu den drei
ersten Grundtugenden.


Aus der praktischen Vernunft, die die unbedingte All-
gemeinverbindlichkeit des sittlichen Gesetzes besagt, ist unsere
Tugend direkt abgeleitet, der Vernunftwille regiert also auch
sie. Insofern rückt sie der Tugend der „Wahrheit“ sehr
nahe; sie ist die Wahrheit des Gemeinschaftslebens. In Aus-
drücken wie Ehrlichkeit, Redlichkeit, Treue (gegen den Andern)
kommt dies Moment deutlich zur Geltung. Ungerechtigkeit
ist immer etwas wie Lüge, Untreue, Verrat; umgekehrt, Lüge
hebt die sittliche Gleichheit und folglich die Gemeinschaft
auf; der gleiche Boden, auf dem man sich gegenüberstehen
soll, kann nur der der Wahrheit sein.


Deshalb ist die erste Lebensbedingung der Gerechtigkeit
die sittliche Einsicht. Neigung zu Gewaltthat oder Ueber-
listung, zum Vordrängen blinder selbstischer Interessen auch
in jeder verfeinerten Gestalt ist immer ein Zeichen sittlicher
Verworrenheit. Wo irgend ein blinder Instinkt die klaren
Forderungen der Gerechtigkeit vergewaltigen oder in Ver-
gessenheit bringen kann, geschieht jeder Ungerechtigkeit und
damit der Zerstörung der Gemeinschaft Vorschub, auch in
Dingen, die mit diesem besonderen Instinkt nicht zusammen-
hängen; denn jeder beliebige andere (persönliche oder Klassen-)
Instinkt fordert dann mit gleichem „Recht“ — mit dem
Rechte seiner Macht — in dem Grade als er (im Einzelnen
oder einer Klasse) stark ist, sich durchzusetzen. Gerechtig-
keit, Gleichheit werden zu leeren Namen, wo nicht mehr An-
erkennung findet, dass in keinem Falle blinde Sympathieen
und Antipathieen, oder allgemein die Stärke nun einmal vor-
handener Strebungen und Gegenstrebungen das gegenseitige
[126] Verhalten ausserhalb sittlicher Rücksicht bestimmen dürfen.
In der Leidenschaft des Rassen- und Nationalhasses, nicht
minder des Klassenhasses ist gerade dies das Gefährliche,
die wie systematische Untergrabung jedes Gerechtigkeits-
sinnes und damit jeder Möglichkeit sittlicher Gemeinschaft.


So genau hängt die Tugend der Gerechtigkeit mit der
Klarheit der sittlichen Einsicht, also mit der Tugend der
Wahrheit zusammen. Dass sie nicht minder die Energie des
sittlichen Willens d. i. Tapferkeit fordert, folgt schon aus dem
eben Gesagten, nämlich dass sich die Idee des sittlich Rechten
nur in fortwährendem Kampf mit der Gewalt natürlicher
Strebungen und Gegenstrebungen, Sympathieen und Anti-
pathieen zu behaupten vermag. Sympathie und Antipathie ist
nicht Sache des Willens; ich fühle sie oder fühle sie nicht
und kann nichts dafür oder dawider. Aber Gerechtigkeit un-
verletzt zu behaupten auch gegen die unwillkürlichen Sym-
pathieen und Antipathieen ist in den Willen des Menschen ge-
stellt. Aus der Unwillkürlichkeit und angeblichen Unwider-
stehlichkeit triebartiger Strebungen und Gegenstrebungen einen
Rechtsgrund und gar einen sittlichen Grund des Verhaltens
gegen den Andern machen zu wollen, bedeutet nicht bloss die
Preisgebung der ersten Grundlage des sittlichen Urteilens, es
bedeutet nicht minder die Gefangengebung des Willens an die
Obmacht des blinden Triebs, den Verlust der sittlichen Frei-
heit, des hohen Vorrechtes sich selber Gesetz sein zu dürfen.
Das gilt in Bezug auf den Einzelnen, es gilt in verstärktem
Maasse gegenüber gesellschaftlich mächtigen Sympathieen und
Antipathieen, gegen die die Sache der Gerechtigkeit zu be-
haupten eine um so gestähltere Energie des sittlichen Wollens
erfordert, je mehr das gesellschaftlich Mächtige die Tendenz
hat, sich geradezu an die Stelle des Sittlichen zu setzen und
für die wahre, konkrete Sittlichkeit auszugeben.


Und wieder aus dem gleichen Zusammenhang der Begriffe
versteht sich das Verhältnis der Gerechtigkeit zu unserer
dritten Tugend. Sympathie und Antipathie gehört unverkenn-
bar zum Gebiete des Trieblebens; also, nach den Anschauungen
aller bis zur Höhe sittlicher Reflexion entwickelten Völker,
[127] zum Gebiete dessen, was der Herrschaft sittlicher Vernunft
und sittlichen Willens unterworfen werden muss, nicht sie be-
stimmen darf. Sympathie und Antipathie ist, so unüberwind-
lich vielleicht im Moment, doch an sich wandelbar, also lenk-
bar. Man kann vielleicht nicht umhin sie augenblicklich zu
haben oder nicht zu haben, aber wohl haben Einsicht und
Wille Einfluss darauf sie zu behalten oder davon frei zu
werden, sie zu stärken oder zu mässigen, sie zum Guten zu
lenken und nicht zum Bösen. Jeder Naturtrieb hat zuletzt
irgend etwas Gutes oder wenigstens Unschuldiges zum Ziel:
ein guter Mensch in seinem dunklen Drange ist sich des rechten
Weges wohl bewusst; allein so lange nur der dunkle Drang
zu Worte kommt, kann man nicht wissen, ob er eines guten
Menschen ist oder nicht, ob er also instinktiv auf den rechten
Weg leiten wird oder auf den verkehrten. Er bedarf also
jedenfalls der Regelung, der Ordnung, der Reinigung. Ge-
rechtigkeit zielt auf Reinheit unseres Verhältnisses der Sym-
pathie und Antipathie zum Andern. Leidenschaftlicher, über-
haupt blinder Hass, nicht minder blinde Liebe verfällt unrett-
bar in Ungerechtigkeit; und dasselbe gilt von jedem nicht oder
verkehrt geregelten Zustand des Trieblebens.


Hierher gehört auch die ethisch interessante Frage nach
dem Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Liebe. Spricht
man von blinder Liebe, so setzt man voraus, dass es auch
eine sehende giebt; diese kann wohl nicht allzu weit abliegen
von der Gerechtigkeit. So nennt Leibniz die Gerechtigkeit
die Liebe des Weisen. Das kann sagen, dass für den Weisen
die Gerechtigkeit die Stelle der Liebe (die eigentlich unweise
sei) vertreten müsse; aber es schliesst doch wohl ein, dass die
höchste Gerechtigkeit auch Liebe, und die höchste Liebe Ge-
rechtigkeit sei. Soll Liebe der höchste Ausdruck gegenseitiger
Sittlichkeit sein, so muss sie offenbar besagen den unerschütter-
lichen Willen zur Gemeinschaft. Dann ist die höchste
Liebe die, welche die Gemeinschaft im höchsten, d. i. im sitt-
lichen Sinne will; die sittliche Tugend der Gemeinschaft aber
ist die Gerechtigkeit.


Aber damit erhielten wir eben nur einen neuen Namen
[128] für dieselbe Sache. Das Wort Liebe schliesst aber noch etwas
Eigentümliches ein, nämlich einen starken Beisatz von Gefühl,
der der Gerechtigkeit an sich fremd ist. Gerechtigkeit wird
auch blind vorgestellt, aber in ganz anderm Sinne als die
Liebe; die Blindheit besagt hier die strenge Unparteilichkeit,
die persönliche Unbeteiligtheit des Urteilenden bei dem Gegen-
stande des Urteils. Allein muss man denn fühllos sein, um
nicht parteiisch zu werden? Sollte nicht Liebe, eben dadurch,
dass sie sich auf das Höchste im Menschen, auf die sittliche
Person richtet, geläutert werden können, ohne an Kraft und
Innigkeit des Gefühls darum zu verlieren? Und würde sie
eben dann nicht aufhören, mit der Gerechtigkeit zu streiten,
während sie zugleich ein neues, dieser an sich fremdes, doch
unverwerfliches Moment hinzuthut?


Es ist besonders die christliche Ethik, die den Begriff der
Liebe an die Spitze gestellt hat. Und vielleicht ist es nur
scheinbar so, dass sie dadurch mit der Gerechtigkeit in Streit
geriete. Die Forderung z. B., nicht bloss den Feind, sondern
den Sünder zu lieben, kann verständlich nur besagen, dass
man auch in ihm die sittliche Person anerkennen, dass man
um des noch so verkümmerten Keimes des Guten willen, der
in ihm schlummert, ihn nie ganz verloren geben, ja selbst
wenn er verloren wäre, doch bedenken soll, dass es ein Mensch
ist, der verloren ist, d. h. ein Wesen, das an sich des Guten fähig
war und unter andern Bedingungen hätte gerettet werden können,
also auch sollen. Das ist aber ebenso wohl Forderung der Ge-
rechtigkeit. Desgleichen kann die vergebende Liebe nicht be-
sagen, dass man aufhören sollte, das Schlechte zu verwerfen
(dann wäre nichts zu vergeben), sondern nur den Schlechten;
nämlich nicht, sofern er schlecht, sondern sofern er an sich
des Guten fähig ist. In solchem Sinne ist aber die Vergebung
ebenso sehr eine Forderung der Gerechtigkeit wie der Liebe.


Allerdings kann nun die erbarmende, die vergebende Liebe
sehr leicht einen Beischmack entweder von sittlicher Schwäche
oder von selbstgerechter Herablassung annehmen. Der Begriff
„Liebe“ bedarf also erst sehr der Klärung, ehe er verwendet
werden kann, das rein sittliche Verhalten zum Andern un-
[129] missverständlich zu bezeichnen; während der Name Gerechtig-
keit nicht in gleichem Maasse dem Missverstand ausgesetzt ist.
Sonst aber behält das Wort „Liebe“ den Wert, in Erinnerung
zu halten, dass Menschlichkeit gegen jedermann, um denn
der Gerechtigkeit diesen freundlicheren Namen zu geben, nicht
bloss Sache kühler Besinnung und eines unbeugsamen Willens-
entschlusses, sondern auch eines lebenswarmen, persönlichen
Gefühls sein kann und sittlicherweise sein darf. Nur lässt
sich diese Gefühlswärme nicht positiv anbefehlen. Es hat
etwas Widersprechendes, ja zur Lüge und Heuchelei Verleitendes,
persönliche Wärme zum Gegenstand einer Vorschrift zu machen;
sondern nur die natürlich vorhandene, aus der Ge-
meinschaft von selbst fliessende
Wärme und Innigkeit
des Gefühls soll zu dieser sittlichen Gestalt gereinigt werden.
In wem sie dagegen unglücklicherweise nicht natürlich er-
wachsen, oder vollends ohne eigene Schuld durch Mangel an
wahrer Gemeinschaft gewaltsam ertötet wäre, von dem kann sie
offenbar nicht sittlich gefordert sein; während ein menschliches
Verhalten, gegründet auf reine Achtung der sittlichen Natur
im Menschen (und zwar in jedem Menschen) immer gefordert
bleibt. Insofern wäre es gewiss unzulässig, die Liebe etwa
ganz die Stelle der Gerechtigkeit einnehmen zu lassen. Wenn
die heute nicht seltene Abneigung gegen die Forderung „all-
gemeiner Menschenliebe“ nur das besagen wollte, dass Liebe
nicht anbefohlen werden dürfe, weil sie ein Moment von Ge-
fühlswärme gegen den Andern einschliesst, das man sich nicht
willkürlich geben kann, so würde die Abneigung berechtigt
sein. Sonst freilich ist es sehr verkehrt, die im sittlichen
Sinne geforderte allgemeine Menschenliebe nach Art der ge-
meinen „Sympathie“ zu verstehen, von der man nicht erst
aus Hume zu lernen braucht, dass sie wie die physikalische
Anziehung mit der Entfernung abnimmt, oder wie ein chemischer
Stoff mit der Ausbreitung sich verdünnt. Das rührt nicht
von weitem an den Sinn, in dem allgemeine Menschenliebe
verständlicherweise gefordert werden kann und von Verständigen
je gefordert worden ist; auch wird von dieser Forderung der
Menschlichkeit gegen jedermann nicht das Geringste abgelassen,
Natorp, Sozialpädagogik. 9
[130] auch wenn man vorzieht, sie im Namen der Gerechtigkeit,
statt in dem der Liebe, zu stellen.


In wesentlich anderem Sinne lässt Plato in einer seiner
tiefsten Betrachtungen das rein Sittliche sich zur Liebe steigern.
Das ist nicht die christliche Agape, die — obgleich die
besten Christen diesen Schein nicht anerkennen wollen — den-
noch leicht allzu passiv, bloss duldend und aufopfernd, ja
asketisch erscheint; sondern es ist der altgriechische, schöpferische
Eros, der vielmehr ganz und gar aktiv, lebensvoll und mit
Notwendigkeit Leben zeugend gedacht ist. In jener schon ein-
mal zitierten grossartigen Vergleichung mit dem Fortpflanzungs-
trieb, der das leibliche Leben nicht für sich behalten mag,
sondern weitergeben muss, um das eigene Leben zum Leben
der Menschheit zu erweitern und so zu verewigen, wird
der geistige Eros dargestellt als nur mächtigerer und edlerer
Trieb, das geistige Leben weiterzugeben, es von bloss indi-
vidualer zu gemeinschaftlicher, zuletzt menschheitlicher Be-
deutung zu erhöhen und so fortpflanzend zu verewigen. Dieser
Trieb erstreckt sich nach Platos Darstellung zwar keineswegs
unterschiedslos auf alle, er sucht im Gegenteil die edelsten
Naturen auf; aber er kann, in seiner höchsten Energie gedacht,
nicht nur nicht auf den Einzelnen, sondern auch nicht auf
Wenige beschränkt bleiben, da er doch zur Höhe der Mensch-
heit hinanstrebt. Sein Ziel ist eben „das“ Gute selbst und
an sich, nicht die einzelne, noch so edle Person; die bloss
persönliche Liebe soll zuletzt ganz aufgehen in die stärkste,
ewigste Liebe, die nur das an sich Schöne, das Schöne der
sittlichen Idee in uns zu entzünden fähig und würdig ist.
Dieser platonische Eros ist eigentlich nichts andres als der
Trieb der Gemeinschaft, in allen Gestalten, bis zur höchsten,
der rein sittlichen Gemeinschaft. Er bedeutet Streben des
Einswerdens mit dem Andern, zuletzt auf dem Grunde des
Guten, das in der That den stärksten, den allein unerschütter-
lichen Grund der inneren Einigkeit giebt. Genau dies fanden
wir als den höchsten Begriff der Gerechtigkeit; aber in un-
nachahmlicher Weise drückt der platonische Eros das aus,
was hier besonders zu zeigen war: dass das Sittliche, als Quell
[131] der Gemeinschaft, das ganze menschliche Leben bis zu seiner
sinnlichsten Wurzel herab durchdringen, dass es sich bis auf
das Triebleben, und nicht auf Willen und Vernunft allein er-
strecken kann und soll.


Und so werden wir zusammenfassend sagen: dass diese
vierte Tugend die drei andern in sich begreift, nur ihnen die
neue Beziehung auf die Gemeinschaft giebt. Sie bedeutet zu-
gleich Wahrheit, Kraft und Reinheit der Sittlichkeit im
Verhalten zur Gemeinschaft
.


Zugleich ergiebt sich, dass auch auf diese Tugend An-
wendung findet, was von den drei andern in ihrem wechsel-
seitigen Verhältnis gezeigt wurde: dass jede mit jeder andern
nicht bloss harmoniert, sondern derart eins ist, dass keine sich
ohne die andre vollenden kann, während doch der begriffliche
Unterschied fest bleibt. Das ist der platonische Satz von der
Einheit der Tugenden, der eben dies besagt, dass sie alle
in der letzten Wurzel eins und derart unter einander verbunden
sind, dass jede der andern hilft und selber ohne sie nicht sein
kann, doch aber jede von der andern dem Begriff nach ver-
schieden bleibt. Aus dem Verhältnis der drei Stufen der
Aktivität einerseits und dem unauflöslichen Zusammenhang
von Individuum und Gemeinschaft andrerseits folgt dies Ver-
hältnis der Tugenden mit zwingender Notwendigkeit; wie denn
auch Plato wesentlich dies im Sinne zu haben scheint.


In der Reihenfolge unsrer vier Tugenden aber liess sich
ein stetiger Fortgang von mehr abstrakten zu immer kon-
kreteren Gestaltungen des Sittlichen beobachten. Es gilt nun
den letzten Schritt in dieser Richtung zu thun, indem wir
von der bloss individualen zur „Tugend“ oder sittlichen
Ordnung des Soziallebens fortschreiten.


§ 16.
Parallelismus der Funktionen des individualen und sozialen
Lebens.


Der Begriff der individuellen Tugend, wie er bis dahin
entwickelt worden ist, erschöpft nicht den Gehalt der sittlichen
Verfassung auch nur des Individuallebens. Er reicht nicht
[132] hin zur Bestimmung der konkreten sittlichen Aufgabe selbst
des Einzelnen; sondern diese ergiebt sich vollständig erst unter
Mitberücksichtigung des Verhältnisses der Individuen in der
Gemeinschaft. Auch die individuelle Tugend entfaltet sich
erst recht in der Arbeit an den sittlichen Aufgaben, die der
Gemeinschaft zuerst, und nur durch sie den Einzelnen ge-
stellt sind.


Aber die sittliche Verfassung des Gemeinschaftslebens
selbst muss der des Individuallebens genau entsprechen. Hat
doch die Gemeinschaft kein Leben anders als im Leben der
Einzelnen, so wie es umgekehrt ein menschliches Leben des
Einzelnen nicht anders giebt als in menschlicher Gemeinschaft
und durch Teilnahme an ihr. Weder die Grundformen der
Aktivität noch deren Tugenden können daher andre sein für
die Gemeinschaft als für den Einzelnen. Nur, während bisher
der Einzelne für sich und im Verhältnis zum andern ebenso
isoliert gedachten Einzelnen, wiewohl immer unter stillschwei-
gender Voraussetzung der Teilnahme an der Gemeinschaft er-
wogen wurde, ist jetzt das menschliche Leben, das zwar
immer Leben der Einzelnen bleibt, ins Auge zu fassen als
Leben der Gemeinschaft, nicht isolierter Einzelner. Und da
es auf die Gemeinschaft jetzt gerade ankommt, so darf die
Erwägung auch bei irgend welchen zufälligen und begrenzten
Beziehungen unter Einzelnen nicht stehen bleiben, sondern
muss ihren Horizont erweitern durch Beachtung der im Grund-
gesetz des Bewusstseinslebens eingeschlossenen Tendenz zur
Gemeinschaft überhaupt, die keine andre Grenze ihrer Erwei-
terung anerkennt als das Ganze der Menschheit.


Die Gemeinschaftsbeziehung muss sich nun gleichmässig
auf alle drei Grundfaktoren der menschlichen Aktivität er-
strecken. Das folgt schon aus dem Verhältnis, das unter diesen
überhaupt obwaltet. Die Gemeinschaft würde sich auf die
Thätigkeit der Vernunft nicht beziehen können, wenn sie sich
nicht zuvor auf den Willen erstreckte, und nicht auf diesen,
wenn sie nicht bis zum Triebleben herabreichte. Denn die
praktische Vernunft ist nur die allgemeine Gesetzgebung des
Willens, und dieser nur die bewusste Regelung der Arbeits-
[133] triebe. So aber giebt es notwendig ein Triebleben der Ge-
meinschaft, einen Willen der Gemeinschaft und eine Vernunft
der Gemeinschaft; nicht als ob die Gemeinschaft ein selbstän-
diges Wesen wäre, was keinen klar ausdenkbaren Sinn hat,
sondern indem man erwägt, welche Gestalt das Triebleben der
Einzelnen in der Gemeinschaft, unter der Bedingung des Lebens
in ihr, gesetzmässigerweise annehmen, und wie der Wille, wie
die Vernunft unter der gleichen Bedingung sich gestalten
muss. Daraus müssen die wesentlichen Elemente sich ergeben,
aus denen ein soziales Leben sich zusammensetzt, ebenso
wie aus Trieb, Willen und Vernunft das Leben des Indivi-
duums in praktischer Hinsicht überhaupt besteht und durch
das gesetzliche Verhältnis dieser drei Faktoren seinem Be-
griff nach bestimmt ist.


Als Trieb nun bezeichneten wir die sinnliche Urform der Ten-
denz, sofern sie unmittelbar auf die Sache, auf Verwirklichung
eines Erstrebten, also auf Hervorbringung eines Werks gerichtet
ist. Als den grundlegenden Faktor des Triebs betrachten wir also
den Thätigkeits- oder noch bestimmter den Arbeitstrieb,
nicht den Genusstrieb. Ein gewisses Maass von Befriedigung
ist zwar zur Erhaltung der Energie der Arbeitstriebe selbst
unerlässlich, wie es denn mit deren gesunder Bethätigung über-
haupt von selbst sich einstellt. An sich aber hat der Trieb
im Genuss nicht sein Leben, er erstirbt vielmehr in ihm.
Leben heisst thätig sein, und Thätigkeit verlangt, ihrer eigenen
Gesundheit wegen, ein Werk, an dem sie sich darstelle; das
giebt ihr die Einheit der Richtung, deren sie zu ihrer Gesund-
heit auch dann bedarf, wenn sie nicht als bewusst gewollter
Zweck vor Augen steht, sondern nur an sich ihr immanent
ist. Das Bewusstsein der Einheit des Zwecks, mit der Folge
der ebenso bewussten Unterordnung der Mittel unter den
Zweck, ist es dagegen, was den eigentlichen Willen ausmacht;
also die Regelung der Arbeit; eine Thätigkeit, die sich
unmittelbar nicht auf das Werk und dessen Hervorbringung,
sondern auf die es hervorbringende Arbeit und die Triebkräfte
dieser Arbeit richtet. Ebenso hat drittens die Vernunftthätig-
keit zu ihrem unmittelbaren Objekt die Willensregelung als
[134] solche, der sie, als ständig begleitende Kritik, durchgängige
Einheit zu geben bemüht ist, und bezieht sich erst mittelbar
durch diese auf die am Werke selbst zu leistende Arbeit, und
dadurch schliesslich auf das Werk selbst.


Ganz so muss es sich aber im sozialen Leben verhalten;
es wird demnach zu reden sein von einem sozialen Triebleben,
als gerichtet auf ein soziales Werk, eine soziale Arbeit;
zweitens von der sozialen Regelung dieses Trieblebens durch
einen sozialen Willen, endlich von einer, auf diese Regelung
sich beziehenden, für sie wegweisenden, ihre letzte, gesetz-
mässige Einheit anstrebenden sozialen Thätigkeit der kritischen
Vernunft. Aus diesen drei wesentlichen Stücken wird ein
soziales Leben im vollentfalteten Sinne des Worts sich auf-
bauen. Es ist, diesem Begriff zufolge: Arbeitsgemeinschaft,
unter gemeinschaftlicher Willensregelung, hinsichtlich dieser
unterstehend gemeinschaftlicher vernünftiger Kritik.


Im sozialen wie individualen Leben hat nun der allemal
höhere Faktor zum niederen das Verhältnis der Form zur
Materie. Die Materie der Willensregelung also sind die
Arbeitstriebe, der sozialen Regelung die sozialen Arbeitstriebe;
Materie der vernünftigen Kritik die Willensregelungen der
Arbeitstriebe, der sozialen Kritik die sozialen Willensregelungen.


Damit ist nun die Frage schon dem Prinzip nach beant-
wortet, die vor kurzem von befreundeter und gleichgesinnter
Seite, durch Rudolf Stammler*) in Präzision gestellt worden
ist: die Frage nach der letzten Materie des sozialen
Lebens
. Es ist kein ernster Streitpunkt zwischen uns, ob
man den Terminus „Wirtschaft“, der nun einmal seine feste
Verwendung seit lange besitzt, nicht dieser seiner bisherigen
Verwendung gemäss in einer weniger weiten Bedeutung, als
der der Materie des sozialen Lebens überhaupt, gebrauchen
sollte (s. § 17). Mit grösstem Rechte jedenfalls fordert Stammler
zur sozialen Regelung als einheitlicher Form des sozialen Lebens
eine in gleicher Einheitlichkeit zu definierende Materie; gegen
[135] welche unabweisliche logische Rücksicht auch die der Eignung
des gewählten Terminus allenfalls zurückstehen durfte. Seiner
Definition nach aber soll unter Wirtschaft verstanden werden:
menschliches Zusammenwirken zur Befriedigung menschlicher
Bedürfnisse. Das berührt sich nahe mit dem oben aufgestellten
Begriff der Triebform des sozialen Lebens; immerhin bleiben
Unterschiede, die eine Rechtfertigung der Abweichung not-
wendig machen. Unsere Erklärung betont erstens, statt
der Bedürfnisbefriedigung, die Hervorbringung eines Werks,
als unmittelbares Objekt wie des Triebes überhaupt, so auch
des Triebes, sofern er sozialer Regelung untersteht. Gewiss
ist jedes hervorzubringende Werk auch bestimmt ein (wirk-
liches oder vermeintes) Bedürfnis zu befriedigen. Aber weder
könnten wir diese Befriedigung als den wesentlichen Zweck
der Thätigkeit anerkennen; noch käme dieser subjektive Zweck
in sozialer Hinsicht eigentlich in Frage. Dagegen gehört der
Begriff der Arbeit, d. i. Bethätigung in Richtung auf irgend
eine Hervorbringung, Verwirklichung einer Idee oder Gestaltung
eines Stoffs nach einer solchen, hier wesentlich zur Sache.
Man kann also den ganzen Zusatz „zur Befriedigung mensch-
licher Bedürfnisse“ aus der gegebenen Definition ohne Verlust
— und wie ich glaube, mit wahrem Gewinn, weil dadurch eine
vom Wege abführende Nebenvorstellung erweckt wird — weg-
lassen; so bleibt das „Zusammenwirken“. Versteht man hierbei
das „Wirken“ prägnant, so kann das, was soeben betont wurde:
die Beziehung der Thätigkeit auf ein zu vollbringendes Werk,
d. i. der Begriff der Arbeit, darin ganz wohl gefunden werden.
Das „Zusammen“ weist dann genügend auf die Gemeinschaft-
lichkeit der zu vollbringenden Arbeit, die in der That die
Materie des menschlichen Thuns überhaupt erst zur Materie
sozialen Thuns, und damit des sozialen Lebens macht.


Was nun zweitens dies betrifft, so möchte ich nur ver-
schärfend oder ausdrücklicher hervorhebend hinzusetzen, dass
nicht die (etwa auch ohnedies) zusammenwirkende, sondern
die zusammenwirken sollende Thätigkeit die reine Materie
sei. Denn das thatsächliche Zusammenwirken schlösse eine
gemeinsam befolgte Regel, d. h. eben das, was doch die Form
[136] der sozialen Thätigkeit erst hinzubringen soll, offenbar schon in
sich. So richtig es aber auch ist, dass die Materie in concreto
ohne die Form nicht sein kann, so muss doch die Sonderung der
Begriffe in abstracto in völliger Reinheit durchgeführt werden,
widrigenfalls die ganze Unterscheidung bedeutungslos würde.


Also Eignung zu gemeinschaftlicher Vollführung ist die
materiale Bedingung des Sozialcharakters menschlicher Thätig-
keit. Dies führt nun auf die weitere, in unserem gegen-
wärtigen Zusammenhang unerlässliche, überhaupt aber in der
Sozialphilosophie nicht zu umgehende Frage: von welchen Vor-
aussetzungen es allgemein abhängt, ob eine Arbeit gemein-
schaftlich zu vollbringen, mithin zu sozialer Regelung überhaupt
tauglich sei oder nicht.


Hier gehen wir nun von unserer fundamentalen Ansetzung
(§ 6) aus: dass der Wille des Menschen überhaupt zur letzten
Materie die Natur, das Objekt der Erfahrung hat. Dies
notwendige Verhältnis der praktischen zur theoretischen Ver-
nunft zu präzisem Ausdruck zu bringen, diente uns der Begriff
der Technik. Hat man nach einer technischen Begründung
der sozialen Thätigkeit, ihrer Materie nach, immer gefragt
und sie grundsätzlich vorausgesetzt, so war diese Voraussetzung
so im allgemeinen keineswegs unrichtig, wenn auch die Art
der Beziehung zwischen Natur und sozialem Leben nicht klar
genug gedacht wurde. Am wenigsten könnte hier der Einwand*)
entscheiden, dass die Gesetze der Technik unterschiedslos für
individuale und soziale Thätigkeit bestimmend seien, während
es auf das unterscheidende Merkmal der letztern gerade an-
komme. Vielmehr war eine wesentlich gleichartige Bedingt-
heit des sozialen und individualen Lebens in dieser wie jeder
andern fundamentalen Hinsicht voraus zu erwarten. Sie zeigt
sich in der That ebenso in Hinsicht der beiden andern Faktoren:
auch der Begriff der Willensregelung gilt an sich unterschiedslos
für individuale und soziale Thätigkeit; und vollends ist ein
und dasselbe Grundgesetz der Vernunft maassgebend für diese
wie für jene; was gleichwohl nicht hindert, eine soziale von
[137] einer individualen Form der Vernunft und des Willens, und
so auch des Trieblebens, zu unterscheiden. Ist aber mensch-
liche Arbeit überhaupt, der Materie nach, technisch bedingt,
so ist sie es sogar ganz besonders eben in Hinsicht ihres
sozialen Charakters: menschliche Thätigkeit wird dann und nur
dann soziale Gestalt annehmen, wenn sie, technisch erwogen,
zu gemeinschaftlicher Gestaltung tauglich ist und zu ihr auf-
fordert. Gemeinschaft der Arbeit besagt, technisch beurteilt,
dass die Arbeitskräfte der Einzelnen sich in solcher Art am
gemeinschaftlichen Werk verbinden, dass das Werk überhaupt
vollbracht und besser vollbracht wird als ohne diese Verbindung;
besser, d. h. mit technischem Vorteil. Dieser technische Vor-
teil ist also der entscheidende Grund der Vergemeinschaf-
tung der Arbeit, in letzter materialer Hinsicht; jeder
fernere Grund, den man für sie geltend machen kann, ist nicht
mehr rein material, sondern berührt bereits irgendwie auch
die Form der Thätigkeit, das Eigentümliche des Wollens, wo
nicht gar der Vernunft.


Aber die Technik, wird eingewandt, gehorcht allein den
Gesetzen der Naturkausalität; es handelt sich aber um
menschliche Thätigkeit, die, als solche von blossem Natur-
wirken grundverschieden, ausschliesslich der Gesetzlichkeit der
Zwecke untersteht.


Hierauf ist zu antworten: in materialer Hinsicht unter-
liegt thatsächlich das menschliche Arbeiten der Naturkausalität.
In der That nicht anders als sich an einer Maschine eine Reihe
einzelner Naturwirkungen zu einer beabsichtigten Gesamt-
leistung verbinden, treten die menschlichen Arbeitskräfte, selbst
bis zu den höchsten hinauf, zu vereinter Wirkung zusammen:
des technischen Vorteils halber. Dies betrifft eben den Menschen,
insofern er bestimmbar ist; bloss als solcher ist er eben
Natur und nichts andres, d. h. untersteht er den Gesetzen der Kau-
salität und keinen andern. Dagegen, als sich zur Thätigkeit selber
bestimmend, gehorcht er der eignen Gesetzlichkeit der Zwecke;
aber auch die Technik selbst zielt ja darauf, das in sich ledig-
lich kausale Zusammenwirken toter Naturkräfte gleichwohl
in den Dienst menschlicher Zwecke zu zwingen. Nun war
[138] jetzt die Frage eben nach der letzten materialen Bedingtheit
menschlicher Thätigkeit, sozialer oder individualer; also ist
bis zu diesem Punkte notwendig zurückzugehen; alles was
darüber hinausführt, ist schon nicht mehr rein material.


Uebrigens ist, unterhalb der im allgemeinsten Sinne tech-
nischen Bedingtheit der menschlichen Thätigkeit eine wichtige
Unterscheidung zu treffen. Soziale Technik, wie jede psycho-
logische (s. § 6), fasst den Menschen allerdings nicht bloss
als bestimmbar, sondern immerhin auch als sich selbst zur
Thätigkeit bestimmend ins Auge; sie strebt ihren eignen Zweck
auch durch menschliche Selbstbestimmung, auf diese rech-
nend
, zu erreichen. Das fällt immer noch unter den Begriff
der Technik, denn auch dabei wird der Mensch, sogar seine
Selbstbestimmung, lediglich als Mittel erwogen. Aber es
grenzt sich innerhalb seines weiten Umfangs scharf ab gegen
alle solche Technik, die ein eigenes Wollen nicht in Rechnung
zu ziehen hat.


Hiernach möchte die Frage nach der Materie des sozialen
Lebens genauer so zu beantworten sein. Materiale Bedingung
sozialer Thätigkeit überhaupt ist: die Möglichkeit, das Thun
von Menschen, als bestimmbaren obgleich willensfähigen Wesen,
auf Grund kausaler Erkenntnis zu beherrschen, und so, als
Mittel zu voraus feststehendem und zwar gemeinschaftlichem
Zweck, mit technischem Vorteil zu vereinen. Ueberall und
nur, wo diese Bedingung erfüllt ist, ist die Voraussetzung zu
sozialer Regelung, also zu sozialem Leben (welches ausser
jenem materialen noch diesen formalen Faktor einschliesst)
gegeben. Diese technische Bedingtheit sozialer Thätigkeit schliesst
aber zwei ungleichartige Bestandteile ein. Von diesen bezieht
sich der eine ausschliesslich auf das hervorzubringende Werk,
der andere betrifft dagegen direkt die gemeinschaftliche und zwar
zum Teil auch willentliche Richtung der menschlichen
Arbeitstriebe auf dies Werk. In ersterer Hinsicht werden
auch die menschlichen Arbeitskräfte bloss als physisch er-
wogen; es fragt sich einfach, ob und welches bestimmte Zu-
sammenwirken der als verfügbar vorausgesetzten Kräfte, unter
denen auch menschliche Arbeitskräfte sind, zur fraglichen Ar-
[139] beit erforderlich oder mit technischem Vorteil für sie in An-
spruch zu nehmen ist. Diese Erwägung ist rein naturtech-
nisch
und kann also aus sozialer Erwägung ausgeschlossen
werden; obwohl es mindestens notwendig ist, auf sie als
anderweitig gegebene und zu begründende Voraus-
setzung
, auf der die Sozialwissenschaft in concreto zu fussen
gar nicht umhin kann, hinzuweisen. Dagegen betrifft die
andere, im weiteren Sinne auch technische Erwägung ganz
unmittelbar die Zusammenbringung der menschlichen Arbeits-
kräfte und zwar als menschlicher, d. h. nicht bloss mecha-
nisch, sondern auch mit Willen, und vielleicht nie ganz ohne
Willen, in einheitlicher Richtung sich verbindender. Dieser
Faktor geht daher die Sozialphilosophie ganz unmittelbar an,
während der erste gleichsam nur auf ihrer Grenze liegt. Es
würde der sozialen Regelung gleichsam an jedem Angriffs-
punkte fehlen, wenn es nicht diese Grundlage zur sozialen
Vereinigung der Arbeitskräfte gäbe. Es ist eine grundwesent-
liche Bedingung sozialen Lebens überhaupt, dass vorhandene
menschliche Arbeitstriebe eine, gleichviel ob als ursprünglich
angenommene oder erst erworbene Richtung auf gemeinschaft-
liche Thätigkeit schon an sich haben. Durch sie findet die
bewusste Regelung immer schon den Boden zubereitet, so dass
sie die Gemeinschaft der Arbeit nicht erst ursprünglich hervor-
zubringen, sondern bloss in festere Bahnen zu leiten und gegen
Störungen zu sichern hat. Es wäre schlimm bestellt um die
menschliche Gemeinschaft, wenn Gesetze und Zwangsmittel,
oder aber blosse Vernunft, das, was ihr positives Ziel ist,
eben die Gemeinschaft der Arbeit, überhaupt erst schaffen
müssten. Sie setzen vielmehr eigentlich immer voraus, sie sei
schon da und bedürfe nur der planmässigeren Gestaltung und
des Schutzes. Aber nicht diese empirische Erwägung, die
immerhin auf den zu Grunde liegenden Verhalt hinlenken kann,
ist für unsere Ansetzung entscheidend; sondern die andere,
dass die soziale Regelung selbst alle Wirkung, die sie auf die
Arbeitsgemeinschaft übt, nur kraft des besagten materialen
Faktors zu üben vermag. Sie selbst fasst das Thun der
Einzelnen und die Vergemeinschaftung dieses Thuns als Mittel
[140] zum gemeinschaftlichen Zweck ins Auge, und das kann sie
nur, indem sie den Menschen als bestimmbar und zwar in
der Richtung der Vergemeinschaftung bestimmbar ansieht, un-
beschadet seiner Selbstbestimmung; denn er kann auch sogar
bestimmt werden sich selber zu bestimmen.


Deswegen war diese Bestimmbarkeit als grundwesent-
licher materialer Faktor des sozialen Lebens allerdings zu be-
tonen. Der Einfluss der Gemeinschaft auf den Einzelnen, ge-
rade durch das Mittel der sozialen Regelung, ist heteronom.
Der Begriff der sozialen Regelung als äusserer Regelung,
wie Stammler ihn in dankenswerter Schärfe bestimmt hat,
setzt diese Heteronomie, also die kausale Bestimmbarkeit des
Menschen, mithin den Menschen als Natur, voraus. Und
wenn die kausale Beherrschung der toten Natur Technik ist,
so ist die kausale Beherrschung der lebendigen Triebkräfte
des Menschen, insofern sie eben diese als Natur voraussetzt,
nicht minder Technik zu nennen. Und dieser Zusammenhang
des menschlichen Lebens, auch und gerade des sozialen Lebens,
mit der Natur ist von einer ganz prinzipiellen Bedeutung.
Denn dem menschlichen Willen ist das Ziel gesteckt, Natur
selbst, soweit möglich, in den Dienst der Idee zu zwingen.
Aber nur durch Gehorchen wird man der Natur Herr, wie
Bacon sagt; gerade um sie zu „besiegen“ und in den Gehor-
sam des Willens zu zwingen, hat der Mensch seine eigenen
Kräfte als Naturkräfte und gemäss der erkannten Gesetzlich-
keit der Natur ins Spiel zu setzen. Deshalb, und nicht bloss
um der Strenge des logischen Aufbaus willen, die uns aller-
dings auch ein wesentliches Anliegen ist, schien es nötig, zu
betonen und so eingehend zu begründen, dass die materiale
Bedingtheit des sozialen Lebens mit unentrinnbarem Zwange
auf Naturgesetzlichkeit zurückführt; woraus wichtige Folgen
in Betreff der Gesetzmässigkeit der sozialen Entwicklung ab-
zuleiten sein werden (§ 18).


Ganz unmittelbar ergiebt sich die Entsprechung zwischen
individualer und sozialer Thätigkeit hinsichtlich ihres zweiten
Faktors, der Willensform. Als gemeinsamer Begriff ist
bereits der der Regelung bezeichnet worden, welche offen-
[141] bar eins ist mit der praktischen Objektsetzung, der
bewussten Stellung einer praktischen Aufgabe. Das letzt-
bestimmende Merkmal ist das der Einheit und zwar be-
wussten Einheit der Thätigkeitsrichtung
, durch
Festsetzung des Zwecks, dem alles, was zur fraglichen Thätig-
keit gehört und nicht der Zweck selbst ist, sich als Mittel
unterordnen muss. Wie nun eine menschliche Handlung über-
haupt, ihrem formalen Charakter nach, durch Regelung erst
konstituiert wird, so eine soziale Handlung, also soziales Leben
als ein System sozialer Handlungen, durch soziale Regelung.


Soziales Leben nämlich bedeutet — nach der entschei-
denden Feststellung Stammlers — ein menschliches Zusammen-
leben, das heisst nicht bloss, in Zeit und Raum zugleich vor-
handenes Dasein von Menschen, sondern geregeltes Zusammen-
wirken. Und zwar durch „äussere“ Regelung wird soziales
Leben gegründet, d. i. durch solche Regel, die ausserhalb des
ihr Unterstellten steht und ihm gegenüber selbständig ist;
die absieht von der Triebfeder, sie zu befolgen, die dem Ein-
zelnen für sich eigen sein mag.*) Dies besagt aber eben die
praktische Objektsetzung: wie der Einzelne sich mit sich selber
gleichsam verständigen und schlüssig werden muss, was er
will, d. i. worauf seine Triebkräfte fortan in einheitlicher
Weise sich wenden sollen; und wie er eben damit, dass er
sich darüber schlüssig wird und darüber bei sich selbst gleich-
sam eine Festsetzung trifft, ein Objekt seines Wollens erst-
mals aufstellt, es fortan für ihn eine Sache giebt, der er sich
widmet, die mit eigenem, unabhängigem Anspruch seinem
blossen, jeweiligen Belieben, den in sich regellosen oder doch
der Regel unbewussten Trieben fortan gegenübersteht, ganz
so besagt der „Wille“ der Gemeinschaft, dass sie sich ein ein-
heitliches Objekt und damit eine Regel setzt, die das, ohne-
dies in sozialer Hinsicht regellose oder doch keiner verbind-
lichen Regel bewusste Thun der Einzelnen, und zwar aller,
die als der Gemeinschaft zugehörig betrachtet werden, in eine
bestimmte, ausschliessliche Richtung weist. Wie im Einzel-
[142] leben der Wille im Unterschied vom Trieb eine neue „Einheit
der Bestimmungsgründe
“ besagt, und dadurch zuerst
der Gegenstand einer neuen, nämlich der praktischen Er-
kenntnis
konstituiert wird (vgl. § 8), so begründet sich im
sozialen Leben auf die erklärte Art „die Möglichkeit einer
neuen Einheit unter den Bestimmungsgründen menschlichen
Verhaltens gegen einander, und dadurch eines besonderen und
eigenen Gegenstandes unserer Erkenntnis“*), nämlich des
Gegenstands der sozialen Erkenntnis. Fortan bleibt es nicht
„dem blossen Augenblickstriebe überlassen“, wie man sich
gegen einander verhalte, sondern man will „über die nicht
übersehbaren Einfälle des natürlichen tierischen Trieblebens
des Einzelnen hinaus eine Garantie einsetzen und bestimmen,
wie es von nun ab gehalten werden soll“.**) Zwar ist ein
bloss triebartiges Zusammenwirken (wie in den sogenannten
Tierstaaten) auch denkbar, und nichts würde grundsätzlich
verbieten, in solchem etwa die genetische Vorstufe mensch-
lichen Soziallebens zu sehen. Aber ein menschliches Zu-
sammenleben wird erst konstituiert durch einen erklärten
Willen der Gemeinschaft, im eben umschriebenen Sinn.


Inwiefern ist man denn berechtigt von einem Willen der
Gemeinschaft hier zu reden, da es doch der „Wille aller“
(einzeln genommen) kaum jemals ist, der darin zum Ausspruch
kommt? Darauf ist zu antworten: es genügt, dass er für die
Gemeinschaft, d. i. mit allgemeiner und gleicher Ver-
bindlichkeit
für jedes ihr angehörende Glied zu gelten be-
ansprucht, oder vielmehr, seinem formulierten Inhalt nach, gilt.
Zum Begriff eines Willens der Gemeinschaft ist ausreichend,
dass eine bestimmte Verhaltungsweise maassgeblich festgesetzt
sei; erforderlich ist keineswegs, dass auf keiner Seite ein
Widerspruch der blossen Triebrichtung oder auch vereinzelten
Wollens dagegen obwalte. Der formale Charakter des Wollens
liegt präzis nur darin, dass man weiss, was man will, d. h.
dass, was zu thun oder zu lassen sei, in einziger Weise
bestimmt
sei. Die Festsetzung kann material sehr verfehlt
sein und auch von Einzelnen als verfehlt erkannt werden, so
[143] hat sie doch, lediglich vermöge dieses formalen Charakters,
eine Verhaltungsweise mit Ausschluss jeder andern als maass-
geblich
aufzustellen, einen Vorzug, der ihr unter normalen
Umständen auch die thatsächliche Geltung so lange sichert,
bis sie durch eine bessere, nämlich zugleich material zu-
länglichere, aber von dem gleichen formalen Charakter, ersetzt
ist. Stammler hat sich um die Klärung der Fundamentbegriffe
des sozialen Lebens ein sehr wesentliches Verdienst erworben
durch die zweifellose Festsetzung dieser Bedeutung der sozialen,
insbesondere rechtlichen Regelung.


Aus dem allgemeinen Verhältnis des Willens zum Trieb
scheint zwar zu folgen, dass, wenigstens auf die Dauer, auch
die Triebrichtung der Einzelnen mit dem Gesetz muss über-
einstimmen oder sich wenigstens nach und nach überwiegend
mit ihm in Einklang setzen können, oder andernfalls die
Festsetzung material wird geändert werden müssen. Aber da-
durch wird das eben Gesagte keineswegs berührt; denn die
Bedingung dieser Aenderung bleibt eben immer, dass die neue
Festsetzung den gleichen Formalcharakter wie die abgeschaffte
trage. Nur dann nämlich wird sie maassgeblich, und somit
Ausdruck eines Willens der Gemeinschaft sein.


Da aber die soziale Regelung solchergestalt wandelbar
ist, und auch das Triebleben ohne weiteres keine Richtschnur
für ihre Wandlung hergiebt, so bedarf sie des höheren
Richtmaasses der praktischen Vernunft, und zwar als
sozialer Vernunft. Der jeweilige soziale Willensbeschluss,
ebenso wie der jeweilige Willensbeschluss des Individuums,
ist empirisch bedingt und also verbesserlich. Er bleibt in
Geltung, so lange er der formalen Bedingung, das Thun ein-
heitlich, also mit objektivem Charakter zu bestimmen, genügt.
Allein, wenn es sich nun darum handelt, ob so oder anders
zu beschliessen sei, so fragt es sich nach dem Maassstabe,
wonach die Richtigkeit des Beschlusses zu beurteilen sei.
Dieser kann nur wiederum in einer neuen Einheit der Be-
stimmungsgründe gefunden werden, aber nicht in irgendwelcher
bloss empirischen Einheit, die ja immer wieder demselben
Zweifel hinsichtlich ihrer Richtigkeit unterläge, sondern allein
[144] in derjenigen letzten, freilich erst recht bloss formalen Ein-
heit, in die alles Wollen und dadurch auch die ganze zu
regelnde Materie der menschlichen Triebe in strenger Gesetz-
lichkeit sich fügen soll. Die reine Form der Gesetzlichkeit
also, als ausschliessender, in letzter Instanz maassgeblicher Be-
stimmungsgrund, ist es, die das Gebot der praktischen Ver-
nunft von der blossen empirischen Regel einzelnen beschränkten
Wollens unterscheidet. Ihr Gesetz gilt unterschiedslos für
soziale wie individuale Willensregelung. Denn es erstreckt
sich, seinem Begriff zufolge, auf das menschliche Leben in
seiner Totalität, also muss es auch das Gemeinschaftsleben
nach seinem ganzen Umfang umspannen. Zwar das sittliche
Wollen selbst bleibt immer individual, weil autonom; es ruht
in seiner verpflichtenden Kraft nicht, wie die äussere, hetero-
nome Regel des Rechts, auf gegenseitiger Bindung, auf der
Bedingung eines entsprechenden Verhaltens des Andern*); aber
es erstreckt sich darum nicht minder, seinem Inhalt nach,
auf das soziale Leben und stellt auch seine letztbeherrschende
Gesetzgebung dar.


Nun geht das Vernunftgesetz aber, seinem Inhalt nach,
ganz über Erfahrung hinaus; inwiefern vermag es gleichwohl
sich in gegebener Gemeinschaft thatsächlich Ausdruck zu ver-
schaffen? Nur insofern im Leben der Gemeinschaft und infolge
der Gemeinschaft sich eine Tendenz bildet und mit steigender
Bewusstheit des sozialen Lebens steigert, das soziale Leben
bewusst in der Richtung jener formalen Einheit zu gestalten;
das Vernünftigere, das in der Richtung des absolut Vernünf-
tigen Liegende nach Möglichkeit auch zum positiven Gesetz
zu erheben. Also, wie die sittliche Vernunft im Einzelnen
lebendig ist als immer wachendes praktisches Selbstbe-
wusstsein
und zwar kritisches Selbstbewusstsein, als
sittliches „Gewissen“, so hat die Vernunft im sozialen Leben
den gleichen Sinn der selbstprüfenden, ja auf sittliche Ge-
staltung eines sozialen Selbst bewusst gerichteten Kritik.
Man will, auf dem Standpunkt der Vernunft, gemeinschaftlich,
[145] nicht mehr bloss, dass das und das Werk gedeihe, oder auch
dass die Gemeinschaft überhaupt, nach ihrem formalen Cha-
rakter, sich erhalte, sondern dass die Gemeinschaft und im
besondern die Gesetzgebung des sozialen Willens sich so ge-
stalte, wie sie nach dem Ausspruch des Vernunftgebots sich
gestalten muss. Grundbedingung dafür ist die Durchdringung
des Gemeinschaftslebens, in Wirtschaft und Recht, vorzüglich
aber in der sozialen Organisation der Erziehung, mit dem
Geiste der Sittlichkeit, d. i. reinen Gesetzlichkeit; eine sowohl
mögliche als unerlässlich notwendige Aufgabe eines Gemein-
schaftslebens, das den Namen eines menschlichen ganz und
dauernd verdienen soll.


Indem wir diesen Standpunkt der „sozialen Teleo-
logie
*) nachdrücklich einnehmen, vertreten wir zugleich den
Monismus des sozialen Lebens**), d. i. die Auffassung,
dass die nachgewiesenen drei Grundfaktoren des sozialen, gleich
denen des individualen Lebens (§ 11), denen sie genau ent-
sprechen, nicht äusserlich neben einander stehen, sondern als
bloss begrifflich auseinanderzuhaltende Seiten oder Richtungen
desselben in seiner normalen Gestaltung untrennbar verbunden
sein müssen; d. i. die Tendenz zur Vernunfteinheit muss der
sozialen Regelung und diese der Gemeinschaft der Arbeit un-
mittelbar innewohnen, so wie in der sittlichen Vollendung des
Individuums die Herrschaft der Vernunft sich durch das Mittel
des Willens bis auf das Triebleben erstrecken und es ganz und
gar durchdringen würde.


Damit ist der Grundbegriff der Tugend der Gemein-
schaft
dem Fundament nach schon gewonnen. Um sie jedoch
in noch konkreterer Gestalt zeichnen zu können, haben wir
zuvor das soziale Leben selbst noch einige Stufen weiter ins
Konkrete zu verfolgen.


§ 17.
Grundklassen sozialer Thätigkeiten.


Das soziale Leben, wie es sich aus den nachgewiesenen
drei Grundbestandteilen gemäss deren notwendigem innerem
Natorp, Sozialpädagogik. 10
[146] Verhältnis aufbaut, ist in sich eine vollkommen geschlossene
Einheit. Die drei Momente: Arbeit, Willensregelung und ver-
nünftige Kritik, sind gar nicht ausser einander, sondern nur
als ebenso viele Momente einer und derselben sozialen Thätig-
keit zu denken. Die soziale Vernunft hat gar keine andre
Existenz als in der thatsächlichen Gestaltung und Umgestaltung
der sozialen Willensregelung; diese wiederum ist nur die
Regelung der sozialen Arbeit, und existiert gar nicht ausser-
halb dieser. Denn dass sie etwa in abgesonderter Formulierung
als geschriebenes Gesetz da ist, wird man nicht eine abge-
sonderte Existenz nennen wollen. Ein geschriebenes Gesetz
ist nichts mehr als ein beschriebenes oder bedrucktes Papier,
wofern nicht das, was darin geschrieben steht, auch mit der
That befolgt wird; befolgt aber wird es in der Konkretion des
Arbeitslebens der Gemeinschaft, in Handel und Wandel der
Menschen. Die thatsächliche soziale Regelung, das Anordnen
und Verbieten, Aufsichtführen, Strafen und Wiederzurecht-
bringen ist ein unablöslicher Bestandteil der sozialen Arbeit
selbst; es verhält sich zur so beaufsichtigten und kontrollierten,
unmittelbar auf ihren Gegenstand gerichteten Arbeit allgemein
nicht anders wie etwa das Kommando des Offiziers zur aus-
führenden Thätigkeit des Soldaten, oder der anordnende oder
berichtigende Befehl des Meisters in irgend einem Handwerk
zur Ausführung des Befehles durch den unmittelbaren Ar-
beiter. Dies Ganze: Anordnung und Befolgung des Angeord-
neten, Befehl und Ausführung des Befohlenen ist zuletzt ein
gemeinschaftliches Werk, an dem die einzelnen Funktionen
sich zwar nach dem Gesetz der Arbeitsteilung von einander
sondern mögen, aber dabei immer genau auf einander hinge-
wiesen bleiben.


Eine gewisse Sonderung der Funktionen ist nun aber,
unbeschadet dieser wesentlichen und unaufheblichen Einheit
des sozialen Thuns, an sich möglich und schon in technischer
Rücksicht erforderlich, damit nach dem divide et impera die
grösste Gesamtwirkung durch zweckmässigstes Ineinander-
greifen richtig berechneter Einzelwirkungen erzielt wird. Und
es liegt der Gedanke nicht fern, dass zur obersten Einteilung
[147] der so entstehenden gesonderten Thätigkeiten dasselbe drei-
gliedrige Schema, das uns bisher geleitet hat, geeignet sein
möchte, d. h. dass in den verschiedenen doch zu einander ge-
hörigen sozialen Thätigkeiten, die das soziale Leben im ganzen
ausmachen, die ursprünglichen drei Grundbeding-
ungen
der sozialen Thätigkeit überhaupt eigene Provinzen
in der Art abgrenzen, dass eine jede in einem beson-
deren Kreise von Thätigkeiten die Herrschaft
führt
.


Die Analogie dieses Gedankens mit dem, welchem Plato
folgte, als er aus den drei „Seelenteilen“ seiner Psychologie
die drei Stände des Staats ableitete, drängt sich unmittelbar
auf; umso nötiger ist es, auf den Unterschied unsrer Auf-
stellung von der seinigen ausdrücklich hinzuweisen. Es han-
delt sich für uns nicht, wie für Plato, um getrennte Stände
oder vielmehr Kasten, sondern vorerst nur um Grundklassen
von Funktionen, wobei noch ganz offen bleibt, ob diesen
auch ebenso viele Klassen von Funktionären entsprechen
müssen. An sich sind es nicht notwendig verschiedene Per-
sonen, welche die verschiedenen (etwa auch örtlich und zeit-
lich getrennten) Arbeiten verrichten. Das Gesetz der Arbeits-
teilung, von unanfechtbarer Allgemeingültigkeit in dem objek-
tiven Sinne der Zerlegung der Arbeit selbst in ihre notwendi-
gen Bestandteile, unterliegt dagegen sehr bestimmten Grenzen
in der subjektiven Bedeutung der Zuweisung der verschiedenen
Arbeitsteile an ebenso viele verschiedene Klassen von Arbeitern.
Zumal wenn es sich um die wesentlichen Bestandteile sozialer
Thätigkeit überhaupt handelt, erscheint es von Anfang an ein-
leuchtender, dass an diesen normalerweise alle irgendwie teil-
haben müssen; so wie im körperlichen Organismus zwar eigen-
tümliche Organe für eigentümliche Verrichtungen vorhanden
sind, aber doch sie alle teilhaben am Stoffwechsel, und alle
auch in einigem Maasse an motorischen und sensorischen
Leistungen.


Die sozialen Funktionen greifen eben in ganz andrer, or-
ganischerer Weise in einander, als es bei Plato erscheint. Es
ist, nach unsrer dargelegten Grundauffassung, eine völlig un-
[148] ausdenkbare Vorstellung der Teilung der Arbeit selbst — ge-
setzt auch dass dieselben Personen an mehreren Arbeitsarten
beteiligt sein sollten, was Plato ebenfalls ausschliesst — dass
je in einer besonderen sozialen Thätigkeit oder Klasse von
Thätigkeiten eine der Grundbedingungen der sozialen Thätig-
keit überhaupt mit Ausschluss der übrigen sich dar-
stellen sollte. Plato dachte die menschliche Psyche gewalt-
sam zusammengeschweisst aus drei, nicht Grundkräften,
sondern sozusagen selbständigen Wesen, die nur teilweise mit,
fast mehr gegen einander wirkten. Daraus folgten dann drei
Berufsklassen, Stände oder eigentlich Kasten, deren niederste
nur durch die absolute geistige und militärische Obergewalt
der beiden andern niedergehalten wurde. Die Stelle dieser
psychologischen „Teile“ der Seele, die sich nur sehr künstlich
auf den sozialen Organismus übertragen liessen, vertreten bei
uns die rein objektiv definierten Begriffe des sozialen Trieb-
einsatzes, der sozialen Willensregel und des sozialen Vernunft-
gesetzes. An diesen ist die notwendige Wechselbeziehung so-
fort klar; denn was ist die Willensregel, wenn nicht Regel
für Arbeit, was das Vernunftgesetz, wenn nicht Gesetz der
Willensregelung, und durch diese wiederum der Arbeit?


Inwiefern werden nun gleichwohl diesen so untrennbaren
Bestandteilen der sozialen Thätigkeit irgendwie gesonderte
Funktionen entsprechen? Nur so, dass jede Funktion alle
drei Grundteile zwar einschliesst, aber je eine von ihnen zum
bestimmenden Zweck hat, während die andern als blosse
Mittel diesem einzigen Zwecke untergeordnet bleiben. So lassen
sich im körperlichen Organismus sehr wohl nutritive, motorische,
sensorische Organe unterscheiden, auch wenn etwa jedes von
ihnen an mehreren dieser Funktionen, vielleicht an allen dreien,
teilhat; wofern nur eine sichere Unterordnung nach dem
Verhältnis von Mittel und Zweck
möglich ist.


Dass nun in dieser Weise jedem der drei Grundfaktoren
sozialer Thätigkeit eine eigentümliche soziale Funktion oder
Klasse von Funktionen wirklich entsprechen muss, wird be-
sonders klar durch die ferner hier eingreifende Erwägung,
dass das soziale Leben in eben diesen seinen drei Grundteilen
[149] sich fort und fort wiedererzeugen muss. Die Gemein-
schaft der Arbeit, durch gemeinschaftlichen Willen geregelt
nach gemeinschaftlicher Vernunft ist ja nicht ein Geschenk
der Natur noch ein ein für allemal fertiges Ergebnis
menschlicher That, sondern verlangt immer erst wieder ge-
staltet
, in Bewusstsein und That der Menschheit wieder-
und wiedergeboren, als ihr ewiges Werk in unablässigem
Ringen neu und neu hervorgebracht zu werden. Dadurch
rechtfertigt sich erst ganz der Ausdruck „soziales Leben“.
In der That nicht anders als die beständige und notwendige
Arbeit des lebenden Organismus die Reproduktion des Orga-
nismus selbst in seinen wesentlichen Funktionen ist, so ist
das beständige und notwendige Werk der Gemeinschaft die
Reproduktion der Gemeinschaft selbst in ihren bezüglichen
Grundfunktionen. Und besonders in Hinsicht dieser beständi-
gen Reproduktion müssen denn wohl irgendwie die Thätig-
keiten sich scheiden, die gerichtet sind auf die beständige Re-
produktion der sozialen Triebthätigkeit, des sozialen Willens,
der sozialen Vernunft. Zwar müssen die bezüglichen Thätig-
keiten darum nicht weniger ineinandergreifen; aber sie bleiben
durch die Richtung, die sie je auf ihren eigentümlichen Zweck
innehalten, dem Begriff und beherrschenden Prinzip nach
immer von einander geschieden.


Und so würden wir, auch wenn nicht die Jahrtausende
der Menschengeschichte uns Zeugnis gäben, rein aus unserm
Prinzip ebenso viele selbständige, in sich geschlossene
Grundklassen sozialer Thätigkeiten
aufzustellen haben,
in denen sich je einer der Grundbestandteile sozialer Thätigkeit
überhaupt in bestimmender Weise ausprägt. Wir bezeichnen
sie als die Klassen der wirtschaftlichen, der regierenden
und der bildenden Thätigkeiten.


Die wirtschaftliche Thätigkeit muss, unsrer Aufstellung
zufolge, der eigentümlichen Funktion des Trieblebens, der ge-
meinschaftlichen Arbeit, nämlich unmittelbaren Arbeit, in dem
Sinne entsprechen, dass sie zugleich und besonders die be-
ständige Reproduktion dieser Arbeit vertritt.


Das objektive Korrelat des Triebes ist überhaupt die
[150]Arbeit, d. i. der Einsatz von Triebkraft zu irgend welcher
Hervorbringung oder Verwirklichung eines menschlichen Zwecks.
Soll aber, für welchen Zweck immer, Kraft eingesetzt werden
können, soll Energie des Triebs dem Gebote des Willens
und der Vernunft zur Verfügung stehen, so muss sie in un-
ermüdeter, wohlgeregelter, eigens auf diesen Zweck gerichteter
Thätigkeit fort und fort neu beschafft werden. Die wirtschaft-
liche Thätigkeit dient also der Erhaltung der Energie
des Trieblebens
und damit der Frische und Leistungsfähig-
keit menschlicher Arbeit, zur Verfügung für jeglichen Zweck,
den immer Wille und Vernunft ihr bestimmen mögen.


An logischer Schärfe mangelt dem so begründeten Begriff
der Wirtschaft nichts. Man sieht ihn nirgends überfliessen in
den der auf die formale Regelung als solche gerichteten, oder
vollends in den der bildenden Thätigkeit. Wohl fallen diese
beiden, abgesehen von ihrem je eigentümlichen Zweck, auch
unter wirtschaftliche Erwägung, sofern sie, als Thätigkeiten
überhaupt, als Arten von Arbeit, einen Einsatz von Trieb-
kräften erfordern; aber ihr eigentümlicher Zweck ist nicht die
Erhaltung der Triebkräfte, die sie vielmehr bloss als Mittel
zu anderweitigem Zweck verwenden; also sind es nicht
wirtschaftliche Thätigkeiten. Umgekehrt bedarf die wirt-
schaftliche Thätigkeit sowohl der Regierung als gebildeter
Einsicht und gebildeten Wollens. Aber ihr eigentümlicher
Zweck ist nicht Regierung und nicht Bildung, sondern sie ge-
braucht diese beiden nur als Mittel zu ihrem besonderen Zweck,
der Erhaltung der Triebkräfte. Die Grenze der Begriffe bleibt
also immer unverwischt.


Es ist allerdings keine hinlänglich genaue, aber doch auch
keine wesentlich unrichtige Bestimmung des Begriffs „Wirt-
schaft“, nach der sie besteht in der Beobachtung des Gleich-
gewichts zwischen Ausgabe und Einnahme
, d. h. zuletzt,
zwischen Verbrauch und Zufuhr von Kräften. Die Not-
wendigkeit dieser Bilanz geht schliesslich auf das biologische
Grundgesetz zurück, wonach Leben überhaupt in einem mit
gewisser Regelmässigkeit sich vollziehenden Umsatz d. i. Ver-
brauch und entsprechenden Ersatz von Kräften beruht. Doch
[151] ist das Gesetz der Wirtschaft nicht etwa identisch mit diesem
biologischen Gesetz oder eine reine Ableitung aus ihm; es ist
überhaupt kein blosses Naturgesetz, sondern ein Gesetz der
Technik, welche den sonst bloss natürlich sich vollziehenden
Umsatz der Kräfte zum Werk menschlicher, d. i. zweck-
bewusster Arbeit umwandelt. Aller Verbrauch und Ersatz
von Kräften, auch und besonders der eigenen Kräfte des Menschen,
soll zweckgemäss d. h. so eingerichtet werden, dass mit dem
geringsten Aufwand an Kraft das grösste Maass vorrätiger
Kraft wiedererzeugt wird. Kräfte zu jedweder menschlicher
Thätigkeit bereitzustellen, ist der eigentümliche Zweck der
Wirtschaft; also darf keine Kraft verschwendet, d. h. ohne
entsprechenden Ersatz aufgebraucht werden. Das ist es denn
auch, was man unter wirtschaftlichem Verhalten vorzugsweise
versteht. Zu welchen Zwecken die so immerfort sich er-
neuernde Triebenergie weiterhin zu verwenden sei, ist dagegen
durch den Begriff der Wirtschaft nicht bestimmt. Nur ein
Zweck ihrer Verwendung folgt aus ihm, nämlich es muss jeden-
falls die wirtschaftliche Thätigkeit selbst reproduziert werden,
d. h. es muss immer wenigstens so viel an verfügbarer Energie
herauskommen, als erforderlich ist, um die Wirtschaft selbst,
d. h. die planmässige Erneuerung jeder verbrauchten Energie,
in Gang zu halten, und nicht nur überhaupt in Gang, sondern
in gutem, geregeltem, sich selbst erhaltendem Stande zu halten
und womöglich zu steigern. Da es aber, ausser der Erhaltung
des Betriebes des menschlichen Lebens selbst, doch noch sehr
viele andre und darunter nicht minder wesentliche Zwecke giebt
— Zwecke, deren ordentliche Verfolgung einerseits wirtschaft-
licher Kräfte bedarf, und die andrerseits der Wirtschaft selbst nicht
gleichgültig sein können, weil keiner der wesentlichen mensch-
lichen Zwecke ohne Beziehung zu den andern bleiben kann —,
so folgt, dass über den zur Erhaltung des Betriebs erforder-
lichen Bestand verfügbarer Kräfte stets noch ein Ueberschuss
produziert werden muss, damit jederzeit ohne Schaden für die
Erhaltung der Gesamtkraft ein gewisses Quantum Energie
andern als wirtschaftlichen Zwecken zugeführt werden kann.
Auf dieser Grundlage dürften wohl die allgemeinsten That-
[152] sachen des wirtschaftlichen Lebens sich verständlich machen
lassen.


Man hat auch wohl als Zweck der Wirtschaft bezeichnet
die Erhaltung der Existenz oder die Ernährung. Das
kann leicht in zu engem oder aber in zu weitem Sinne ver-
standen werden. Wäre die Ernährung streng nur in physischer
Bedeutung gemeint, so wäre der Begriff der Wirtschaft damit
viel zu eng bestimmt; denn der Zweck der Wirtschaft geht
unermesslich weit hinaus über die Produktion dessen, was zum
Leben im physischen Sinne notwendig ist, ja auch über das,
was, sei’s auch zum Genuss und Ueberfluss, konsumiert wird.
Würde hingegen unter der „menschlichen“ Existenz die Be-
friedigung jedwedes menschlichen Bedürfnisses mitverstanden,
und sollte also diese, so schlechthin, als Zweck der Wirtschaft
gelten, so ist die Bestimmung viel zu weit. Denn auch die
regierende, auch die bildende, überhaupt jede menschliche
Thätigkeit befriedigt irgend welche menschlichen Bedürfnisse,
aber es wäre darum doch unzulässig, jede menschliche Thätig-
keit wirtschaftlich zu nennen; sie fällt vielmehr nur, neben
und ausser ihrem je eigentümlichen Zweck, auch unter wirt-
schaftliche Erwägung, nämlich insofern sie einen geregelten
Ersatz der je verbrauchten Triebkräfte erfordert. Dies freilich
gilt beinahe von jeder menschlichen Thätigkeit, aber eben nur
in dieser einzigen Hinsicht. Nicht also, dass man lebt, oder
dass man irgend welche menschlichen Zwecke verfolgt, sondern
dass man, um zu leben und in Verfolgung irgend welcher
Zwecke, arbeiten, d. i. Triebkraft einsetzen, mithin auch
für deren Ersatz Vorsorge treffen muss, das allein ist es, was
den Begriff Wirtschaft begründet.


Andrerseits gehört zur wirtschaftlichen Thätigkeit, ihrer
technischen Begründung zufolge, ohne Zweifel Willensregelung,
und unterliegt sie damit auch dem Urteil sittlicher Vernunft;
zumal es sich nicht bloss um Verwendung toter Naturkraft,
sondern der eigenen Kräfte des Menschen handelt. Insbesondere,
sofern die wirtschaftliche Arbeit soziale Arbeit ist, bedarf sie
der sozialen Regelung. So erhält der Begriff der Wirtschaft,
der an sich zwar dasselbe in Hinsicht der individualen wie
[153] der sozialen Thätigkeit bedeutet und bedeuten muss, doch noch
eine nähere Bestimmung, sofern er eine Seite des sozialen
Lebens bezeichnen soll: soziale Wirtschaft allerdings setzt
soziale Regelung voraus*). Indessen ist der Begriff der
Regelung bezw. sozialen Regelung von weiterem Umfang als
der der zu regelnden bezw. sozial zu regelnden Wirtschaft.
Denn wenn auch jede menschliche Thätigkeit unter wirtschaft-
liche, jede soziale Thätigkeit unter sozialwirtschaftliche Er-
wägung fällt, so berührt diese doch nur eine einzige Seite an
dieser, den Verbrauch und Ersatz der aufzuwendenden Kraft.
Nun geht in der Beschaffung von Kräften der Zweck mensch-
licher Thätigkeit doch nicht auf; die Regelung der Thätigkeit
aber, und so auch die soziale Regelung, erstreckt sich auf den
ganzen Zweck der zu regelnden Thätigkeit, nicht auf diese
Seite allein. Sozialer Regelung bedarf auch diejenige soziale
Thätigkeit, die zur Durchführung und beständigen Aufrecht-
erhaltung wie auch Abänderung der sozialen Regelung
selbst
erforderlich ist: die Rechtspflege, die Gesetzgebung.
Das fällt nicht unter den Begriff Wirtschaft. Sozialer Rege-
lung bedarf ebenfalls eine jede gemeinschaftliche Pflege der
Bildung in Wissenschaft, Sittlichkeit, Kunst, Religion. Das
alles lässt sich füglich nicht unter den Begriff Wirtschaft zwin-
gen, sofern nämlich nicht von dabei vorkommenden Ausgaben
und Einnahmen, Unterhalt der beamteten Personen, Sorge für
Baulichkeiten und sonstigen äusseren Bedarf, oder auch der
äusseren Oekonomie der dazu nötigen Arbeit, Bestimmung der
Arbeitszeit nach Rücksichten der Kraftsparung u. dergl., sondern
von dem eigentümlichen Zweck dieser Thätigkeiten
[154] (was an der Kunst Kunst, an der Religion Religion ist u. s. f.)
die Rede ist. Das fällt weder ausserhalb sozialer Regelung,
noch ist es durch den Begriff Wirtschaft irgend zu decken.
Der Beruf des Juristen und Staatsmannes, des Gelehrten und
Erziehers, des Künstlers, des Geistlichen ist kein wirtschaft-
licher, er untersteht aber ohne Zweifel, nicht bloss sofern er
auch eine wirtschaftliche Seite hat, sondern nach seinem eigen-
tümlichen Zweck, sozialer Regelung. Also ist Wirtschaft zwar
eine, und eine vorzüglich wichtige Materie sozialer Regelung,
aber nicht die Materie derselben, mithin nicht gleichzusetzen
mit der Materie des sozialen Lebens.


Die gleiche relative Selbständigkeit zeigt zweitens die
Klasse der regierenden Thätigkeiten. So wie an jeder
menschlichen, insbesondere sozialen Thätigkeit der erforderliche
Krafteinsatz und die um deswillen nötige Sorge für verfügbare
Kraft unter eine eigene Erwägung fällt, so ist an jeder Thätig-
keit ferner die Regelung, insbesondere die soziale Regelung
als Gegenstand einer eigenen vorsorgenden Thätigkeit
ins Auge zu fassen, wobei sowohl die einzusetzenden Kräfte
wie der sonstige, besondere Zweck der Thätigkeit als gegeben
genommen wird, also für diese eigentümliche Erwägung nicht
in Frage steht. Dies findet schon auf das isolierte Leben des
Einzelnen Anwendung. Auch für ihn ist ein Eigenes gegenüber
der direkt auf den jeweiligen Zweck gerichteten Arbeit die
Entwerfung und genaue Innehaltung eines festen Arbeits-
planes
. Aber eine unvergleichlich grössere Bedeutung und
zugleich einen ganz bestimmten neuen Sinn gewinnt diese
Aufgabe, sofern es sich um soziale Thätigkeit, d. h. nicht
bloss um den Willen des Einzelnen und dessen Gewalt über
den Trieb, sondern um Willensbeziehungen unter
Mehreren
, bald unabsehbar Vielen handelt. Doch ist die
Aufgabe darum in letzter Betrachtung ganz dieselbe: Unter-
werfung der einzelnen, ohne das bloss triebartigen Thätigkeit
unter den voraus aufgestellten Gesamtplan auf bestimmten
Zweck gerichteten Thuns.


Wieder kann in der Abgrenzung dieses zweiten Gebietes
sozialer Berufe die Erwägung nicht irre machen, dass Regelung
[155] doch bei aller menschlichen Thätigkeit, soziale Regelung bei
aller sozialen Thätigkeit vorkommt. Gewiss ist auch in einer
Fabrik oder einem komplizierten Bildungsorganismus sogar viel
Regierung nötig. Umgekehrt lebt Regierung allein von Wirt-
schaft und Bildung, denn sie braucht Kräfte und braucht
Verstand, welches beides das „Amt“ nicht giebt, sondern von
jenen borgen muss. Darum ist aber wirtschaftliche oder
bildende Thätigkeit als solche nicht regierende, noch umgekehrt.
Auch giebt es regierende Thätigkeit, die unmittelbar weder
auf wirtschaftliche noch auf Bildungszwecke gerichtet ist,
sondern ganz in sich abgeschlossen erscheint. Es giebt Recht,
welches keine andere Thätigkeit normiert, als wiederum recht-
liche, Regierung, die nichts anders anordnet als wiederum
Regierung, ebenso wie wir sahen, dass es wirtschaftliche Thätig-
keit giebt, die die produzierten Kräfte zu keinen andern als
wiederum wirtschaftlichen Zwecken verwendet. Welche grössere
Selbständigkeit kann man denn verlangen? Sogar Materie
rechtlicher Regelung
vermag die rechtliche Regelung
selbst
zu werden, die doch die Form des sozialen Lebens
vertreten soll und mit Fug vertritt. Aber die soziale Form-
gebung
ist Gegenstand einer eigenen, bloss hierauf bezüglichen
Technik, eigener Wissenschaft und so auch einer eigens charak-
terisierten Thätigkeit, eines eigenen Berufs, vielmehr eines
weiten Komplexes zusammengehörender Berufe. Auch hier ist,
bei der denkbar engsten Wechselbeziehung zu den beiden andern
Klassen sozialer Thätigkeiten, von einem Verfliessen der be-
grifflichen Grenzen nichts zu bemerken. Vielmehr tritt im
einigermaassen entwickelten sozialen Leben die Absonderung
der regierenden Funktionen auch thatsächlich meist sehr deut-
lich, nicht selten in einer sachlich kaum gerechtfertigten Schroff-
heit zu Tage. Das begreift sich besonders daraus, dass ebenso,
wie die wirtschaftliche Thätigkeit neben ihren sonstigen sehr
mannigfaltigen Zwecken immer die eine wesentliche Auf-
gabe hat, sich selbst in beständiger Reproduktion zu erhalten,
so auch die regierende Thätigkeit bei der Erfüllung ihrer
eigentlichen und letzten Absichten, die niemals in ihr selbst,
sondern im Gebiete der wirtschaftlichen und der bildenden
[156] Thätigkeiten liegen, immer auch noch die Aufgabe hat, für ihre
eigene Erhaltung zu sorgen. Daher stellt das Recht nicht
bloss Normen für wirtschaftliche und bildende Thätigkeit auf,
sondern auch Normen darüber, wie Recht gemacht und durch-
geführt und, wenn verletzt, wiederhergestellt wird; wie der
ganze, der Erhaltung und auch Fortbildung des Rechtszustands
dienende Betrieb in Gang zu erhalten, die abgehenden Kräfte
zu ersetzen sind u. s. f. Kurz, das Recht, und so alle Regie-
rung, muss in weitem Umfang für sich selber, d. h. für seine
beständige Reproduktion sorgen; und dieser Zwang der Selbst-
sorge erklärt die oft auffallende Einseitigkeit, in der die regie-
renden Thätigkeiten, bis zur Vergewaltigung andrer, vielleicht
wesentlicherer Zwecke, nur ihre eigene Bedeutung und Autorität
um jeden Preis behaupten zu wollen scheinen; während sie
doch unmöglich Zweck ihrer selbst, sondern nur ein zu sonstigen
menschlichen Zwecken dienendes Mittel sein können. Es soll
damit die Einseitigkeit der Ansprüche, welche die regierenden
Funktionen im sozialen Leben erheben, keineswegs gutgeheissen
werden; aber sie ist hier von Interesse als ein auffallender Beweis
der relativen Selbständigkeit dieser Funktionen. Es würde sogar
voreilig sein, aus dieser etwa zu schliessen, dass die regierenden
Funktionen notwendig einer abgesonderten regierenden
Klasse
zufielen. Es würde an unsren Aufstellungen nichts
geändert, auch wenn man sich eine so vollendete Selbstregierung
dächte, dass es einer eigenen regierenden Klasse überhaupt
nicht mehr bedürfte. Das wäre etwa der verständliche Sinn
des „Anarchismus“: nicht dass es keine Regierung, sondern
keinen regierenden Stand, d. h. bloss Selbstregierung gäbe.
Die Funktionen der Regierung selbst könnten dabei immer
noch ganz die gleiche Selbständigkeit bewahren, wie da, wo
sie ausschliesslich oder doch der Hauptsache nach in der Hand
einer eigenen Klasse sind.


Ebenso wenig aber lässt sich verkennen, dass auch der
dritte Grundfaktor menschlicher Thätigkeit, die Vernunft,
eine eigene, von beiden andern begrifflich scharf zu sondernde
Klasse von Thätigkeiten und zwar auch sozialen Thätigkeiten
begründet. Wir nennen sie bildende Thätigkeiten, indem wir
[157] unter Bilden allgemein verstehen: von der Heteronomie zur
Autonomie führen, gleichviel ob sich selbst oder andre. Die
Erfahrung der Macht des Willens, unsre Arbeitskräfte auf be-
stimmte Zwecke zu lenken und damit unserem Thun Regel
und Einheit zu verschaffen, führt endlich zu der Einsicht, dass
auch die Zwecke uns nicht schlechthin zudiktiert sind, sondern
von uns selber gesetzt werden können. In jedem geregelten
Thun ordnet sich ein Zweck dem andern unter; so enthüllt
sich endlich, dass überhaupt kein empirischer Zweck sich je
anmaassen darf, souverän zu sein, vielmehr alle der Kritik einer
praktischen Beurteilung unterliegen, die keinen engeren Maass-
stab anlegen darf als den der absoluten Einheit der Zwecke.
Es entsteht also die neue Aufgabe einer Ordnung der Zwecke
selbst
, nicht bloss der verfügbaren Mittel zu gegebenen
Zwecken. Es ist nichts andres als die volle Herrschaft des
Bewusstseins
, was die praktische Erwägung zu dieser
höchsten Stufe erhebt. Sie immer neu zu erringen ist all-
gemein Aufgabe der bildenden Thätigkeit; sie der Gemeinschaft
zu gewinnen und in ihr zur letztentscheidenden Instanz zu
erheben, Aufgabe der sozialen Bildungsthätigkeit: der sozialen
Pädagogik
. Diese hat gewiss sowohl die wirtschaftliche als
die regierende Thätigkeit zur Voraussetzung und wirkt andrer-
seits auf beide und also auf das soziale Leben in allen Be-
ziehungen zurück. Allein sie geht in ihrem eigentümlichen
Zweck doch über beide hinaus; er ist ihr nicht vorgezeichnet
durch die Bedürfnisse der Wirtschaft oder der Regierung, so
berechtigte Ansprüche diese auch haben, von ihr gleichfalls
gemäss ihrer Eigenart berücksichtigt zu werden. Ja ihr Zweck
ist denen der Wirtschaft und des Rechts schlechthin über-
geordnet. Denn weder in der blossen Beschaffung verfügbarer
Kräfte noch in der sozialen Organisation bloss als solcher
kann der schliessliche Zweck des sozialen Lebens gefunden
werden; allzu deutlich tragen beide den Charakter blosser
Mittel. Man lebt nicht um zu leben, man regiert nicht und
lässt sich regieren, bloss um zu regieren oder regiert zu sein;
der schliessliche Zweck kann nur im Bewusstsein liegen,
denn es giebt keinen Zweck ausserhalb des Bewusstseins.
[158] Also nur ein Leben, in dem das Bewusstsein, in dem die Ver-
nunft herrscht und nicht bloss dient, kann als Endzweck
gedacht werden. Folglich müssen die wirtschaftliche wie die
regierende Thätigkeit sich als blosse Mittel dem höheren Zweck
der Menschenbildung unterordnen. Bildung durch Arbeit und
zur Arbeit, durch soziale Organisation und zur Teilnahme an
ihr, ebenso wie durch und zu eigener bildender Thätigkeit,
an sich selbst wie an Andern, diese drei müssen sich in harmo-
nische Einheit fügen; es sind für den eigentümlichen Gesichts-
punkt der bildenden Thätigkeit nur die notwendig zusammen-
gehörenden Glieder eines Organismus, des Organismus der
Menschenbildung
. Im Ideal würden die wirtschaftliche Arbeit
wie die soziale Organisation unmittelbar Faktoren der Bildung
werden; d. h. sie müssten durchweg so geordnet sein, dass
sie, nicht etwa bloss neben, sondern in der Erfüllung ihrer
besonderen Aufgabe, dem einen letzten Zwecke der
Menschenbildung
gehorchen und an seiner Verwirklichung
mitarbeiten müssten. Bis zu dieser Höhe hatte sich die Idee
der menschlichen Bildung auf der Grundlage der Vernunft
(unter dem Namen der „Philosophie“) bereits in Plato erhoben,
und von seiner daraus entsprungenen sozialpädagogischen Idee
des Staats lässt sich, was die Grundidee betrifft, nichts ab-
dingen. Nur begründet gerade die richtige Konsequenz dieser
Idee eine andere, positivere Würdigung der wirtschaftlichen
wie der politischen Thätigkeit, als Plato sie beiden gönnt.
Ihm ist die wirtschaftliche Arbeit wie die soziale Organisation
nur leidige Notsache, oberhalb deren erst das wahrhafte mensch-
liche Leben beginnt. Nun erkennen auch wir an, dass beide
zuletzt dem einzigen Zwecke der Höherbildung der Menschheit
sich unterordnen müssen, aber eben diesem höchsten Zwecke
dienstbar gemacht, gewinnen beide einen unangreifbaren Wert.
Das ist es, was infolge der zu schroffen Auffassung des Rang-
unterschieds der verschiedenen Grundthätigkeiten und der über-
triebenen Schätzung der Arbeitsteilung (die ganz der schroffen
Auseinanderreissung der seelischen Grundfunktionen im Indi-
viduum entspricht) von Plato verkannt worden ist. Das ist
das wirklich Utopische seines Entwurfs, der an sich durchaus
[159] nicht als blosse Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint
war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch
nahm.*) Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen-
bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch-
lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge
ist, dass sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be-
sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein-
schaft herabreicht, wie sie doch müsste, wenn die so stark
betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn
der gross gedachte Erziehungsplan des platonischen Staats
auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie
es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem ganzen
Staat zu gute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade
darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten
triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann aber
nur geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze
tritt, ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem
Boden der wirtschaftlichen und der politischen Thätigkeit, die
dadurch selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben
werden. Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder
des Regiments willen da, sondern Arbeit und Regiment um
des Menschen willen; allein er ist darum nicht weniger auf
Arbeit angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und
ihrer sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur
beide auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäss zu gestalten;
so erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen
edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die
höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn
Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen?


Nur der Andeutung bedarf, dass, wie die wirtschaftliche
und regierende, so auch die bildende Thätigkeit im sozialen
Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise
von Thätigkeiten und zwar sozial geordneten Thätigkeiten
sich abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren
Zwecken auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort
[160] einzustehen und also geregelte Fürsorge dafür zu treffen hat.
Daraus folgt die Notwendigkeit eines eigenen und zwar sozialen
Lehrberufs; obwohl nicht ebenso zwingend die eines abgeson-
derten Lehrstandes.


Auf der hiermit gegebenen Grundlage würde es nun wohl
möglich sein, das, worauf wir eigentlich ausgehen: die Güte
oder Tüchtigkeit des sozialen Lebens, im antiken Sinne
seine Tugend zu definieren. Sie wird offenbar bestehen müssen
in dem normalen Verhältnis der nachgewiesenen drei Grund-
funktionen, wie es soeben noch als unabweisliche Forderung
sich ergab. Nur ist hierbei noch ein Faktor zu berücksichtigen,
den wir bisher nicht ausdrücklich in Rechnung gezogen haben:
Das Gemeinschaftsleben ist auf keiner gegebenen Stufe ab-
geschlossen, es ist beständig im Werden begriffen. So wird
die sittliche Ordnung des Gemeinschaftslebens zur ewigen Auf-
gabe
, ihre Tugend zur Idee, d. h. zum blossen Richtpunkt
einer unendlichen Entwicklung
. Ist es nun vielleicht
möglich, auch das Grundgesetz dieser Entwicklung aus
unseren Prinzipien abzuleiten? Wenn, so würde damit die
letzte Konkretion der sittlichen Aufgabe für die Gemein-
schaft und durch sie auch für den Einzelnen erreicht sein.
Das ist nun zu untersuchen.


§. 18.
Grundgesetz der sozialen Entwicklung.


Der Gang unserer sozialphilosophischen Untersuchung ist
dieser. Wir fragten zuerst, welches sind die Elemente, aus
denen soziales Leben überhaupt besteht; wir untersuchten so-
dann, wie in eben diesen Elementen es sich fort und fort erneuert,
woraus die wesentlichen Funktionen und Organe des sozialen
Körpers sich ergaben; das dritte, was übrig bleibt, ist die Fest-
stellung der Grundrichtung der Entwicklung des Ge-
meinschaftslebens. Damit erst wird der Begriff eines sozialen
Lebens vollinhaltlich bestimmt, und die zureichende Grund-
lage gewonnen für die Beantwortung der letzten Frage, auf die
dies alles abzielt: worin die Güte des sozialen Lebens besteht.


[161]

Eine gewisse Tendenz, sich ins Gleichgewicht zu
setzen
, muss den ursprünglichen drei Faktoren des sozialen
Lebens nach ihrem nachgewiesenen inneren Verhältnis zu ein-
ander überhaupt innewohnen und also auf jeder gegebenen
Stufe des Gemeinschaftslebens sich in gewissem Maasse wirk-
sam erweisen. Allein dies thatsächlich immer vorhandene,
sozusagen mechanische Gleichgewicht ist nur ein labiles, da
die Faktoren selbst und so auch ihr wechelseitiges Verhältnis
stetiger Veränderlichkeit unterliegt. Jetzt aber ist die Frage
nach dem Gesetz, wonach das seinsollende Verhältnis der drei
Faktoren in unwandelbarer Einheit, für jeden gegebenen
Zeitpunkt gültig, also als ein stabiles sich bestimme. Die
Richtung von dem gegebenen Stande des Gemeinschaftslebens
auf dies sein ideales Ziel hin wird dann seine fernere, nämlich
sittlich geforderte Entwicklung, und damit die soziale Pflicht
eines jeden ihrer Glieder für den gegebenen Zeitpunkt vor-
zeichnen.


Das ist freilich nicht der gewöhnliche Weg, zu einem
sozialen Entwicklungsgesetz zu gelangen. Man sucht einem
solchen vielmehr dadurch auf die Spur zu kommen, dass man
der thatsächlichen Tendenz der bisherigen sozialen Entwick-
lung empirisch nachgeht und sie auf einen einheitlichen Aus-
druck zu bringen sucht, der etwa auch mehr oder minder
sichere Schlüsse auf die kommende Entwicklung gestatte. In
solchem Sinne pflegt man von Gesetzen der sozialen Ent-
wicklung im Sinne von Naturgesetzen zu sprechen, in-
dem der Werdegang des sozialen „Organismus“ nach der nahe-
liegenden Analogie des pflanzlichen oder tierischen Wachstums
vorgestellt wird. Allein diese Analogie ist trüglich. Das
Wachstum der Organismen ist in festem Kreislauf begrenzt;
es hat ein angebbares Maximum, über das die Möglichkeit der
Entwicklung für die gegebene Art nicht hinausreicht; wenig-
stens würde sich nur unter Voraussetzung eines solchen Maxi-
mums der Gang der organischen Entwicklung auf naturgesetz-
lichen, d. i. empirisch-kausalen Ausdruck bringen lassen (§ 2).
Nun aber handelt es sich um die Entwicklung des Bewusst-
seins
. Diese lässt sich in keine empirischen Schranken ein-
Natorp, Sozialpädagogik. 11
[162] schliessen, sie führt vielmehr nach jeder Richtung ins Unend-
liche. Ihre Grenze liegt allein in dem letzten Gesetze des Be-
wusstseins selbst, welches an Erfahrungsbedingungen nicht ge-
bunden, dagegen für alle Möglichkeit der Erfahrung seinerseits
bestimmend ist: im Gesetze der Idee.


Man muss, um sich hier nicht zu verwirren, streng aus-
einanderhalten, einmal die empirische Verursachung des Be-
wusstseins als zeitlichen Geschehens; diese steht unter Natur-
gesetzen von freilich fast hoffnungsloser Komplikation; sodann
aber die notwendige Beziehung, die alles je und dann auf-
tretende empirische Bewusstsein, in seinem Inhalt erwogen,
auf eine, diesen in Einheitlichkeit bestimmende letzte Ge-
setzlichkeit hat, welche allein die des Bewusstseins selbst sein
kann. Auf ersterem Wege mag es einer fernen Zukunft viel-
leicht beschieden sein einige Schritte vorwärts zu thun; zur
Zeit wäre es verwegen Naturgesetze auch nur der individuellen,
geschweige der sozialen Entwicklung selbst nur hypothetisch
aufstellen zu wollen, weil es bisher auch an den notwendigsten
Vorbedingungen dazu fehlt. Hingegen ist es methodisch zu-
lässig, zu forschen, ob die successiven Stadien des empirischen
Bewusstseins, ihrem historisch bekannten Inhalt nach an dem
Grundgesetze des Bewusstseins gemessen, einen Fortschritt in
einheitlicher Richtung, eine stufenmässige Erhebung zu dem
Ziele einer gesetzmässigen Einheit der praktischen Erkenntnis,
etwa auch eine entscheidende Rückwirkung der wachsenden
Klarheit über das, was ihrem Gesetze gemäss sein sollte, auf
die thatsächliche Gestaltung des sozialen Lebens erkennen
lassen. Daraus würde sich freilich kein Naturgesetz ergeben,
aus dem sich die kommende Entwicklung gleich dem Laufe
der Gestirne oder der Entfaltung pflanzlicher oder tierischer
Organisation mit wissenschaftlicher Gewissheit oder selbst nur
objektiv begründeter Wahrscheinlichkeit voraussagen liesse.
Es lässt sich immer nur behaupten: Wenn die bisher beob-
achtete, im ganzen fortschreitende Entwicklung sich auch
ferner bewährt, so müssen dies und dies die zunächst zu er-
reichenden Stufen sein. Entspricht dem dann der thatsäch-
liche Lauf der Dinge, so waren gewiss auch bestimmende Ur-
[163] sachen vorhanden, die eine fortschreitende Entwicklung bis zu
diesem Punkte notwendig machten. Aber ein allgemeines
Naturgesetz, nach welchem eine im gleichen Sinne fort-
schreitende Entwicklung nun auch ferner und gar in alle Zu-
kunft notwendig wäre, zu behaupten, dazu reicht die Basis,
auf die wir unsern Schluss gestellt haben, offenbar nicht aus.
Dem Willen hingegen ist gerade durch ein derartiges Gesetz
seine Bahn bestimmt. Sein Gesetz ist eben das jenes über
die gegebene Erfahrung, ja über die Möglichkeit des Erfahrungs-
beweises überhaupt hinausgehenden Bewusstseins; seine eigen-
tümliche Methode ist es, an den Grenzen der Erfahrung, ob-
wohl im beständigen Rückblick auf sie, das eigene Gesetz der
Idee aufzurichten.


Allein auf die Zurückbeziehung der Idee auf die Er-
fahrung
kommt nun hier nicht weniger als alles an. Und
diese erschöpft sich nicht darin, dass an die einzelnen empi-
rischen Daten der Maasstab der Idee angelegt wird. Auch
daraus würde noch gar kein Gesetz folgen, nach dem der Gang
der Entwicklung sich (im erklärten Sinne) allgemeingültig be-
stimmen liesse. Sondern es muss noch eine Verbindung
nachgewiesen werden zwischen dem Gesetze der Idee und
den allgemeinen Gesetzen der Erfahrung. Eine innere
Beziehung zwischen beiden haben wir von Anfang an voraus-
gesetzt. Das ist in der That die einzige Voraussetzung, unter
der eine konkrete Erfassung der sittlichen Aufgabe in gesetz-
mässiger Form möglich ist. In welcher Art aber die ver-
langte Verbindung insbesondere für das soziale Leben besteht,
ergiebt sich aus den Darlegungen der beiden letzten Para-
graphen. Die vernunftmässige Gestaltung des sozialen Lebens
kann nur geschehen durch das Mittel der sozialen Regelung,
die die Willensform des sozialen Lebens darstellt; diese aber
hat ihre letzte materiale Grundlage in der Technik; der Fort-
schritt der Technik endlich ruht unmittelbar auf dem Fort-
schritt der Naturerkenntnis. Damit ist der Zusammen-
hang im Prinzip gegeben, und zwar, wie wir erwarten mussten,
durch eine notwendige, innerlich begründete Beziehung der
Grundgesetzlichkeit des praktischen auf die des theoretischen
[164] Bewusstseins; nicht indem dies erstere sich in dies letztere auf-
löst, wie es nach der „materialistischen“ Ansicht nicht bloss
der Marxisten, sondern der Evolutionisten jeder Färbung er-
scheint, sondern unter voller Wahrung der inneren Verschieden-
heit beider Gesetzlichkeiten, die gleichwohl darin eins und
verbunden sind, dass sie beide Gesetzlichkeiten des Bewusst-
seins, ja zuletzt nur verschiedene Ausdrücke eines und des-
selben Grundgesetzes der „Einheit des Mannigfaltigen“ sind.


Es ist sehr bemerkenswert, dass die neuere Forschung
über die Gesetzlichkeit der sozialen Entwicklung genau auf
diesen Punkt hindrängt. Wie nämlich auch das endgültige
Urteil über die „materialistische Geschichtsauffassung“ fallen
mag, darin ist sie sicher nicht auf falscher Fährte, dass sie
die Gesetzlichkeit der sozialen, d. i. zunächst der wirtschaft-
lich-rechtlichen Entwicklung an den gesetzmässigen Fortschritt
der Technik, also zuletzt der Naturwissenschaft knüpft; dass
sie die Veränderungen des sozialen Lebens allgemein aus den
Bewegungen der Materie des sozialen Lebens*)
zu begreifen sucht. Das ist es genau, worauf unsere Prämissen
führen; nur gestatten sie uns nicht hierbei nun stehen zu
bleiben, sondern nötigen vielmehr, diesen einen Faktor der
Entwicklung in genauen, innerlich vermittelten Connex zu
setzen mit dem andern, den die materialistische Geschichts-
auffassung abzulehnen mindestens scheinen kann: mit der Idee,
und zwar der sittlichen Idee. Die materialistische Geschichts-
auffassung ist im Irrtum genau so weit, als sie materialistisch
sein will und zu sein glaubt; eine andre Frage ist, ob sie es,
dem letzten treibenden Motiv nach, nicht vielleicht weniger ist
als ihr selber bewusst ist.


Was wir an ihr unumwunden anerkennen, ist dies: In
den weiter und weiter gehenden Möglichkeiten technischer Be-
herrschung der toten Naturkraft ergeben sich zugleich nicht
bloss neue Möglichkeiten, sondern die entscheidendsten An-
triebe zu sozialen Gestaltungen, die auf mehr vereinte Arbeit
[165] zielen. Beides wirkt in voller Uebereinstimmung mit immer
unentrinnbarerem Zwang in der Richtung fortschreitender so-
zialer Konzentration
zunächst der wirtschaftlichen Thätig-
keit. Dadurch aber erhöht sich nicht nur der technische Er-
folg jeder gemeinschaftlich und im Sinne erhöhter Gemein-
schaftlichkeit geregelten Arbeit, und befestigt sich damit um
so mehr die Tendenz zur Gemeinschaft, sondern es muss sich
zugleich das Bewusstsein der Beteiligten über den blinden
Drang der täglichen Notdurft und augenblicklichen Behaup-
tung im Kriege aller gegen alle um die soziale Existenz mehr
und mehr erheben; es muss immer klarer werden, dass von
der Herrschaft des Bewusstseins für den Menschen
schliesslich nicht weniger als alles abhängt, und es muss so das
Verlangen entstehen und allgemein werden nach durchgängig
vernunftgemässer Regelung
der sozialen Thätigkeit auf
Grund sicherer wissenschaftlicher Erkenntnis der technischen
(naturtechnischen wie sozialtechnischen) Bedingungen eines
menschlichen Daseins auf Erden; dazu aber werden die drei
Grundformen sozialer Thätigkeit, die wirtschaftliche, regierende
und bildende, in der Art zusammenwirken müssen, dass der
letztbestimmende Faktor der des Bewusstseins, mithin die bil-
dende Thätigkeit ist.*)


Dies letztere hat sich die „materialistische Geschichtsauf-
fassung“ bisher anzuerkennen gesträubt. Vergeblich, wie mir
scheint, denn die Konsequenz der Sache treibt mit unwider-
stehlichem Zwange dahin, und in vereinzelter richtigerer Ein-
sicht wird es auch oft genug, stillschweigend oder ausdrück-
lich, anerkannt. Das ausschliessliche Bauen auf die materialen
Faktoren zeigt sich in der Durchführung sofort unhaltbar.
Möchte immerhin der Anstoss zur sozialen Entwicklung stets
von veränderten technischen Bedingungen gemeinschaftlicher
Arbeit ausgehen, so beruht doch erstens der Fortschritt der
[166] Technik selbst auf dem Fortschritt der Naturerkenntnis, also
doch einem Fortschritt des Bewusstseins. Sodann aber,
dass die neue Erkenntnis thatsächlich in den Dienst mensch-
licher, und zwar in Gemeinschaft verfolgter Zwecke gestellt
wird, setzt voraus, dass auch die sozialen Ordnungen sich den
neuen Bedingungen anpassen. Dazu aber gehört erstlich wieder-
um ein Fortschritt technischer, nämlich sozialtechnischer Ein-
sicht
, dann aber und hauptsächlich die Umwandlung des
Willens derer, von denen die Gestaltung der sozialen Ord-
nung abhängt. Diese aber beruht nicht allein auf der tech-
nischen Erwägung des für einen gegebenen Zweck tauglichsten
Mittels, sondern gerade, wo es sich um tiefgreifende Aende-
rungen handelt, wird es sich vor allem fragen, ob der Zweck
selbst wünschenswert sei, eine Frage, die sich allein entscheidet
aus dem Gesichtspunkte der bestmöglichen Ordnung der
Zwecke selbst
. Das aber fällt schon gar nicht mehr unter
technische, sondern unmittelbar unter sittliche Erwägung.
Es wäre die wunderlichste Selbsttäuschung, wenn der Sozialis-
mus, der sich selbst den wissenschaftlichen nennt, glauben würde,
in der Erwägung der zu erwartenden und zu befördernden
sozialen Entwicklung vom sittlichen Gesichtspunkt überhaupt
absehen zu können. Man wird sich auf die Dauer der ganz
prinzipiellen Ueberlegung nicht entziehen können: dass erstens
jeder einzelne hier in Betracht kommende Fortschritt,
heisse er material oder geistig, doch eben Fortschritt des Be-
wusstseins ist; und zweitens, was dieser bloss erkenntniskriti-
schen Besinnung erst volles Gewicht in der Entscheidung der
hier gestellten Frage giebt: dass, was überhaupt von irgend
einer Seite her das Bewusstsein berührt, kraft des Grund-
gesetzes der Einheit, der Kontinuität des Bewusstseins,
in innerem, methodisch zu begründendem, mithin
gesetzmässigem Zusammenhang
gedacht und dargestellt
werden kann und muss; dass von den untersten materialen
Bedingungen bis zum höchsten Gesetze der Bewusstseinsform,
dem Gesetze der Idee, ein durchgehender, ununterbrochener
Zusammenhang besteht. Dies folgt deduktiv aus den Prinzi-
pien des Idealismus, während es aus denen des Materialismus
[167] auf induktivem Wege freilich niemals herauskommen könnte.
Unter dieser Betrachtung schlichtet sich aber der ganze öde
Streit um das Vorrecht des „materialen“ oder „geistigen“
Faktors. Es giebt kein Materiales ausser den materialen Be-
dingungen des Bewusstseins, auf die andrerseits auch die
höchste, geistigste Form des Bewusstseins, nämlich die Idee,
sich zurückbeziehen muss, wenn sie nicht zum leeren Wort,
zur inhaltlosen Phrase herabsinken soll. Dieser Einsicht hat
die „materialistische Geschichtsauffassung“ sogar erheblich vor-
gearbeitet; denn sie setzt doch einen durchgehenden gesetz-
lichen Zusammenhang von der untersten Grundlage bis zur
obersten Spitze des sozialen Lebens voraus; nur mit dem Irr-
tum, dass diese Gesetzlichkeit, die ganz und gar, bis in die
letzten materialen Verzweigungen hinein, Gesetzlichkeit des
Bewusstseins ist, vielmehr aus den Gesetzen der Materie sich
soll ableiten lassen. Der wesentliche Fehler des sozialwissen-
schaftlichen wie des naturwissenschaftlichen „Materialismus“
ist der Fehler oder vielmehr der gänzliche Mangel der Er-
kenntniskritik
; ein Mangel, der dem entgegengesetzten, spiri-
tualistischen Standpunkt übrigens nicht weniger zur Last fällt.
Wird dies Eine berichtigt, so ist dagegen die Behauptung eines
bis zu den letzten materialen Bedingungen zurück-
reichenden Gesetzeszusammenhanges
gerade im Sinne
derjenigen Philosophie, die in dem Einheitsgesetze des Be-
wusstseins die letztentscheidende Instanz alles theoretischen
wie praktischen Urteilens sieht; wogegen ein Spiritualismus,
der sich gegen die Würdigung des materialen Faktors hart-
näckig sträubt, in hoffnungsloser Unklarheit befangen und den
wahren Problemen gegenüber hilflos bleibt.


Lässt sich nun etwa eine einfache Formel finden für diesen
durchgehenden Gesetzeszusammenhang der sozialen, ja der
menschlichen Entwicklung, der Entwicklung des Menschentums
überhaupt? Ich glaube, dass es möglich ist, wenigstens ein
Prinzip aufzustellen, welches darum nicht weniger ein richtiges
Prinzip ist, weil es für sich allein, ohne fernere Prämissen, noch
keine genügende Antwort auf die konkreten Fragen des gegenwär-
tigen Stadiums der wirtschaftlich-rechtlichen Entwicklung giebt.


[168]

Die Aufstellung des Prinzips stützt sich auf die einzige
Voraussetzung: dass die Gesetzlichkeit der Entwicklung im
letzten Grunde eine und dieselbe sein muss für alles, was
irgend eine Gestaltung des Bewusstseins ist; weil sie eben ihre
Wurzel haben muss im Grundgesetze des Bewusstseins selbst.


Wäre nun für ein einzelnes Gebiet des Bewusstseins, wo-
möglich für das, welches für alle andern die Grundlage bietet,
das fundamentale Entwicklungsgesetz gefunden, so würde die
Uebertragung auf die übrigen Gebiete sich leicht vollziehen
lassen, und man dürfte voraus erwarten, dass sie zu richtigen
Ergebnissen führt.


Nun pflegt allgemein zugestanden, ja für selbstverständ-
lich gehalten zu werden, dass es jedenfalls im Naturerken-
nen
einen Fortschritt von festbestimmter Richtung
gebe. Und doch ist das an sich nicht selbstverständlicher als
der Fortschritt auf irgend einem andern Gebiet des Geistes.
Das hätte längst auf die Frage führen müssen, ob nicht ein
analoges, ja dasselbe letzte Gesetz in allen andern Gebieten
geistigen Lebens walte. Aber man hielt die Gesetzlichkeit
der Natur für etwas, das ausser uns da sei, in dessen Er-
kenntnis wir also nur von aussen eindrängen. Allein, wenn
nicht diese Gesetzlichkeit, dem letzten regierenden Prinzip
nach, vielmehr Gesetzlichkeit des Bewusstseins wäre, so wäre
es widersinnig, den allein möglichen Fortgang ihrer Erkennt-
nis vor der Erfahrung voraus auf einen allgemeinen Ausdruck
bringen zu wollen, wie man es, nur ohne gehörige Besinnung,
gleichwohl immer thut.


Dagegen bot der erkenntniskritische Weg, den Kant der
Philosophie eröffnet hat, von Anfang an die Möglichkeit, ja
musste direkt auffordern, ein Prinzip der verlangten Art auf
deduktivem Wege aufzustellen. Kant selbst hat es aufgestellt,
indem sich ihm als letztes Resultat seiner neuen Grundlegung
der „Erfahrung“ gewisse „regulative Prinzipien“ ergaben,
nach denen die Naturerkenntnis sich ihrem unendlich fernen
Ziele „asymptotisch“, d. h. ohne es je zu erreichen, doch an-
nähern müsse. Seine drei regulativen Prinzipien sind die der
Homogeneïtät, der Spezifikation, und der Kontinuität oder
[169] Affinität; wofür wir die geläufigeren Ausdrücke setzen: der
Generalisation, der Individualisation und des steti-
gen Uebergangs
. Dies besagt: Naturerkenntnis strebt
erstens zur höchsten erreichbaren Allgemeinheit und damit ge-
schlossensten Einheit der Prinzipien, auf denen alle Natur-
erkenntnis im letzten Grunde ruhen müsse. Sie strebt
zweitens, gleichwohl die Einzelerscheinungen, und zwar je
mehr und mehr in ihrer unverkürzten Individualität zu er-
fassen; d. h. sie will die verlangte Einheit des Prinzips nicht
etwa erschleichen durch irgendwelche Vergewaltigung oder be-
queme Vernachlässigung der vollen Konkretion der Erfahrung;
der gesunde Sinn des Empirismus, den der Idealismus, wie
wir sehen, vollinhaltlich in sich aufzunehmen vermag. Diese
beiden Forderungen, die leicht einander entgegengesetzt scheinen
können, sind aber vereinbar, wenn drittens die scheinbar
grenzenlose, daher unbestimmbare Mannigfaltigkeit der Er-
scheinungen einen stetigen Uebergang erkennen, oder
vielmehr sich a priori in solchem darstellen lässt, so dass
nirgends Lücken bleiben, sondern sich voraussehen lässt, dass
auch der erst vermisste Zusammenhang von einem Erschei-
nungsgebiet zum andern sich genauerer Forschung endlich
entdecken muss, zum mindesten in zulässiger Hypothese,
einhellig mit aller bekannten Gesetzlichkeit der Natur sich wird
konstruieren lassen. Es müsste lehreich sein, diese Prinzipien
an der Geschichte der Wissenschaften in strenger Durchfüh-
rung zu bewähren; dass sie sich aber bewähren, wird jeder,
der mit einem beliebigen Forschungsgebiet historisch vertraut
ist, ohne weiteres bejahen. Diese Prinzipien haben eine
innere Notwendigkeit, die sich dem Prüfenden sofort fühlbar
macht und mehr und mehr bestätigt. Ihre (hier nur anzu-
deutende) zwingende Ableitung aber — aus der Natur des Be-
wusstseins überhaupt als Einheit des Mannigfaltigen und
zwar durch Kontinuität, d. i. aus der Urfunktion des Den-
kens
, wie sie sich ebenso in den Kategorien, vorzüglich deut-
lich in denen der Qualität ausspricht — giebt der Ueberzeu-
gung Gewicht, dass in der That dieselbe Gesetzlichkeit sich
durchgehend auf allen Gebieten des Bewusstseins bewähren
[170] muss, also nicht in der engeren Naturwissenschaft allein, son-
dern in aller theoretischen Wissenschaft, folglich
auch in aller Technik, Naturtechnik wie sozialer Technik,
und so endlich im Gebiet der konkreten, individualen wie
sozialen Sittlichkeit, mithin in der Entwicklung des Menschen-
tums überhaupt. Dies soll nun, und sei es in noch so flüch-
tigem Umriss, für die hier in Betracht kommenden Haupt-
gebiete näher durchgeführt werden.


In engster Verbindung mit der Entwicklung der Natur-
forschung steht die Entwicklung der Technik, zunächst im
engern Sinne der Naturtechnik. Man kann nicht verwundert
sein hier dieselben Grundzüge der Entwicklung wiederzufinden.
Worin bestehen die grossen, die umwälzenden Fortschritte der
Technik? Erstlich darin, dass eine Fülle technischer Auf-
gaben, die vordem einzeln bearbeitet wurden, eine einheitliche,
generelle Lösung finden. In primitiven Stadien der Technik
wird an tausend Stellen je auf besondere Art, weil unter be-
sonderen Schwierigkeiten oder begünstigenden Umständen, die
Lösung derselben technischen Aufgabe in Angriff genommen,
vielleicht in irgend welchem Grade auch erreicht; wogegen
auf entwickelterer Stufe an einer einzigen Stelle das Problem
zugleich für alle gelöst, und das Prinzip seiner Lösung alsbald
auf eine Menge gleichartiger Probleme ausgedehnt wird. Die
konkreten Beispiele liegen nicht fern. Man denke an das
Verhältnis der Maschine zur Handarbeit. Was tausend Hände,
jede von der andern individuell verschieden, unter tausendfach
verschiedenen Bedingungen mühsam und ungleich vollbrachten,
leistet eine einzige Maschine, und bald tausend gleiche, und
tausende ähnlicher Aufgaben vereinfachen sich auf dieselbe
Weise, durch Anwendung wesentlich desselben technischen
Vorteils, dessen Bedeutung sich an einem einzelnen Punkte
einmal herausgestellt hat. Von der maschinellen Technik vor-
zugsweise bedingt ist ihre natürliche Ergänzung, der Fernver-
kehr, dessen im erklärten Sinne generalisierende Rolle sofort
auffällt. Er bringt technische Errungenschaften fernster Zonen
in rascheste Verbindung und führt sie, der Entfernung trotzend,
wie auf einem Platz zusammen, statt dass sie sich sonst an
[171] vielen getrennten Plätzen isolieren, daher ohne Einfluss auf
einander bleiben mussten, oder doch erst in langer Zeit ein
allmählicher Austausch sich anbahnte. Dass diese generali-
sierende Tendenz, einmal eingeleitet, unaufhaltsam vorwärts
drängt, diese Einsicht ist es zumeist, die wegen ihres greif-
baren Einflusses auf Wirtschaft und Recht gegenwärtig mehr
und mehr in die sozialwissenschaftliche Forschung eindringt
und für sie wegweisend wird. Aber mit ihr geht eine schein-
bar entgegengesetzte, nämlich individualisierende Tendenz Hand
in Hand. Nämlich gerade die immer generellere Bewältigung
der technischen Aufgaben ermöglicht zugleich die genaueste
Anpassung an das jeweilige individuellste Bedürfnis, also eine
Spezifikation der technischen Leistungen; die Lücken des bis
dahin Geleisteten schliessen sich mehr und mehr, es entsteht
eine Tendenz sie gleichsam kontinuierlich auszufüllen. Die
Aufgaben vervielfältigen sich, in dem Maasse wie die Lösungen
sich vereinfachen. So gestattet und fordert der durch Ma-
schinentechnik und Verkehrserleichterung naturgemäss sich
steigernde und seiner unermesslichen, in die Augen springen-
den Vorteile wegen sich immer mehr ausdehnende Gross-
betrieb — selbst ein sehr umfassendes Beispiel der Generali-
sation der Technik — zugleich eine umso weitergehende Tei-
lung der Arbeiten und dadurch planmässigere Erschöpfung
weit mehrerer, womöglich aller einem bestimmten Gebiet an-
gehörenden und verwandten Probleme (also Spezifikation), bis
zur kontinuierlichen Ausfüllung jeder Lücke. Jeder neue Fund
eröffnet eben wieder neue technische Möglichkeiten, und er-
laubt damit Aufgaben zu stellen, an die man zuvor nicht ge-
dacht hatte, weil man nicht daran denken konnte. Auch diese
Entwicklung ist zwingend, und wird es mehr und mehr, je
weiter sie vorrückt.


Unschwer ergiebt sich nun schon, dass auch die sozialen
Ordnungen
, zunächst also die Ordnung der Wirtschaft
sich nach demselben streng notwendigen Entwicklungsgang in
gesetzmässiger Weise gestalten muss. Der Fortschritt der
Technik hat sich als mächtigen Schöpfer sozialer Ein-
heiten
, auch der „nationalen“ Einheiten modernen Sinnes,
[172] und schliesslich internationaler Beziehungen, unwidersprechlich
bewiesen, und es lässt sich mit zweifelloser Bestimmtheit vor-
hersagen, dass er sich ferner und mit wachsendem Zwange so
beweisen wird. Der vergrösserte Maasstab der Beschaffung
der Lebensbedingungen erzwingt einen entsprechend grösseren
Maasstab der sozialen Ordnungen. Diese haben ja keine andre
letzte Materie als die soziale Arbeit; wird diese nun infolge
der Entwicklung der Technik auf einen neuen, immer breiteren
Boden gestellt, so können die sozialen Ordnungen nicht dauernd
auf den alten Grundlagen stehen bleiben; der neue Gehalt
muss die alten Formen endlich sprengen, um sich angemessenere
zu schaffen. Auch hier ist zwingender Zusammenhang, und
er zeigt sich umso zwingender, nicht je weniger, sondern je
mehr man den Anteil von Bewusstsein und Willen dabei in
Rechnung zieht; wie sollten sie ein Gesetz, das seinen letzten
Ursprung im Bewusstsein hat, nicht auch als ihr eigenes Ge-
setz erkennen und nur desto nachdrücklicher zur Geltung
bringen?


Somit drängt dieselbe Entwicklung, die zur immer ein-
heitlicheren Erfassung der naturwissenschaftlichen und tech-
nischen Probleme trieb, auch zur immer einheitlicheren Lösung
der Probleme sozialer Organisation. Organisation, das ist
eigentlich nur der kurz zusammenfassende Ausdruck jener
Dreieinheit der Grundgesetze der Entwicklung in sozialtech-
nicher Hinsicht: fortschreitende Vereinheitlichung, doch ohne
Unterdrückung, vielmehr erst zur vollen Befreiung der Indi-
vidualitäten, durch Herstellung eines möglichst stetigen Ueber-
gangs von Glied zu Glied, in allmählicher Ausmerzung der
schroffen sozialen Diskontinuitäten, die eine so sichtliche Quelle
gefährlichster Erschütterungen des Gemeinschaftslebens sind.
Wie die Natur sich der unaufhaltsam vordringenden Forschung
in mehr und mehr „organischer“ Einheit enthüllt, wie die
Technik sich zusehends organisiert, so drängen erst recht die
sozialen Ordnungen, die mehr und mehr den Charakter willent-
licher Regelung annehmen, eben deshalb zu immer organi-
scheren Formen. Im Ideal des „Sozialismus“ wird nur meist
zu einseitig der Faktor der Generalisation (Zentralisation) der
[173] sozialen Funktionen allein betont; das wird dann von der
einen Seite leicht über Gebühr gepriesen, und von der andern
gescholten als Ertötung aller Individualität. In Wahrheit
würde (wie auch oft genug schon gesagt worden ist) gerade
die einheitlichere Lösung der nächsten, dringlichsten Aufgaben
sozialer Organisation eine desto weitergehende Individualisierung
auf der andern Seite möglich machen, ja zu ihrer eigenen
Durchsetzung und Aufrechthaltung erfordern; an der dagegen
bei der bis jetzt überwiegenden Desorganisation der Wirt-
schaft wahrlich kein Ueberfluss, sondern empfindlichster Mangel
ist. Die durch bessere Organisation erleichterte Befriedigung
der nächsten rohesten Bedürfnisse würde gerade Raum schaffen
für eine individuell freiere Bethätigung in allem, was über
die unmittelbare Notdurft hinausgeht. Gerade der unbegrenzte
ökonomische Individualismus müsste auf die Länge den Men-
schen uniformieren, den Arbeiter nicht bloss, sondern auch
den Unternehmer zum Sklaven seiner Arbeit machen; wäh-
rend eine organischere soziale Ordnung eine bis jetzt unmög-
liche Entfaltung der Individualität erst möglich machen würde.*)
Hier haben wir Generalisation und Individualisation; und die
Vermittlung, die man vermisste, liegt auch hier in der Kon-
tinuität: je reicher die Individualitäten sich entwickeln, umso
mehr wird die eine neben der andern Raum haben, umso voll-
ständiger die Lücken und Klüfte sich schliessen, die jetzt die
verschiedenen sozialen Klassen und Unterklassen und wieder
Unterklassen der Unterklassen innerlich oft mehr auseinander-
halten als wenn turmhohe Mauern zwischen ihnen errichtet
wären. Diese Diskontinuität ist das auffallendste Krankheits-
symptom des gegenwärtigen, schwierigen Uebergangsstadiums.
Aber auch Platos Entwurf verfehlte es durch auffällige Ver-
nachlässigung der sozialen Kontinuität. Ihm sind die sozialen
Funktionen ganz unsozial wie mit dem Beil auseinanderge-
schlagen, ohne Uebergänge, ohne wirklichen, inneren Zusam-
menhalt, starr und unbiegsam; daher die kastenartige Sonde-
[174] rung seiner drei Stände, die mit der verlangten Einheit des
Staats so schlecht harmoniert; und daher die fernere, noch
verwunderlichere Folge, dass er überhaupt keine aufsteigende
Entwicklung anerkennen kann, jede Veränderung vielmehr nur
Verschlechterung ist und also, da es sich auch unmöglich
zeigt, die Veränderlichkeit ganz auszuschliessen, folgerecht
eine lediglich absteigende Entwicklung vorausgesagt werden
muss. Das Prinzip der Kontinuität verbietet aber vor allem
diese starre Verteilung der Grundfunktionen an gänzlich ge-
trennte Klassen. Es ist bei Plato, als ob nicht derselbe
Mensch mit einem Organ diese, mit einem andern eine andre
Funktion verrichten, sondern der eine ganz und nur Hirn, der
andre nur Arm, ein dritter gar bloss Magen sein sollte.
So schliesst Plato die Klasse der produktiven Arbeiter gänz-
lich von jeder politischen Funktion (wenn man nicht etwa das
blosse Gehorchen für eine solche ausgeben will), und gar auch
von jeder geregelten geistigen Ausbildung aus, während um-
gekehrt die regierende Klasse, lediglich der sozialen Arbeits-
teilung halber, von jeder wirtschaftlichen Sorge entbunden
sein soll. Statt dessen wäre die Folge des Kontinuitätsprinzips,
dass von jeder sozialen Funktion zu jeder ein stetiger Ueber-
gang und zwar grundsätzlich für jedes Glied der Gemeinschaft
möglich wäre. Die sozialen Unterschiede würden dabei keines-
wegs überhaupt nivelliert, wie es durch das Prinzip des Sozia-
lismus in der That auch nicht gefordert wird. Man will doch
Gemeinschaft; Gemeinschaft aber bedeutet weder Aufhebung
der Individualität in einer starren, undifferenzierten Einheit,
noch umgekehrt ein blosses Nebeneinanderstehen Einzelner
unter einer nur äusserlich verbindenden Ordnung, sondern eine
innerlich in Willen und Bewusstsein jedes Einzelnen gegrün-
dete, also die Autonomie des Indidividuums keineswegs auf-
hebende Einheit. Die heutige „Freiheit“ des Individuums ver-
zichtet dagegen auf diese innere Einheit und wird dadurch
zur Desorganisation. In dieser entfaltet sich aber die echte
geistige Individualität eben nicht, sondern das Leben mecha-
nisiert sich und mechanisiert damit die Menschen; die gemein-
schaftslose, bloss formal-rechtliche Freiheit gerade hat den
[175] Menschen zur Maschine gemacht; echte Gemeinschaft würde
im Gegenteil die Individualität entbinden. Indessen kann
man versuchen diesen augenblicklichen Zustand daraus zu
verstehen, dass unter der zu schnellen Erweiterung des tech-
nischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtskreises die bis-
herigen Organisationen von ihrer bindenden Kraft schon viel
eingebüsst haben, während nicht ebenso schnell neue Organi-
sationen (die jedoch überall im Werden begriffen sind) sich
klar herausbilden und in den Gemütern der Menschen fest-
wurzeln konnten.


Endlich waltet dasselbe Gesetz höchst erkennbar in der
sittlichen Entwicklung. Hier ist völlig klar, wie das sitt-
liche Gesetz alles menschliche Bestreben mit schlechthin all-
gemeingültiger Norm umspannt, gerade durch die allgemeine
Ordnung der Zwecke aber wiederum jedem sittlich möglichen
Zwecke das Recht seiner Besonderheit gesichert, ja in weiter und
weiter gehender Besonderung eine allseitige Entfaltung
des Menschenwesens
im lückenlosen Zusammenhang
seiner verschiedenen Grundrichtungen ermöglicht wird. Ja
ganz allgemein darf dies als das Grundgesetz der mensch-
lichen Bildung
ausgesprochen werden, die ja in der sitt-
lichen Ordnung der Zwecke ihr letztes Fundament hat: das
menschliche Wesen in dem ganzen Reichtum seines Gehalts
doch zugleich in Einheit und stetigem Zusammenhang darzu-
stellen und im gegebenen Subjekt nach dessen Vermögen der
Vollendung zu nähern. Mit wahrem philosophischem Tiefblick
hat unter den grossen Pädagogen Pestalozzi genau hierauf
seine Theorie gegründet. Seine obersten Grundsätze sind —
wie wenn er sie aus Kant abgeleitet hätte (was doch erweis-
lich nicht der Fall ist) —: die unteilbare Einheit und wesent-
liche Identität der menschlichen Grundkräfte; andrerseits deren
notwendig harmonische Entfaltung nach allen wesent-
lichen Richtungen, so dass keine einzelne Seite vergewaltigt
oder ungerecht bevorzugt wird; endlich der stetige, lücken-
lose Fortschritt
von den elementarsten Anfängen bis zu
den höchsten Höhen des Menschentums. Und dem entspricht
in genauer Konsequenz, dass an solcher wahrhaft menschlichen
[176] Bildung jeder ohne Unterschied des Standes und
Geschlechts
, lediglich nach dem Maasse seiner Befähigung,
in gleichheitlicher und stetig übergehender Weise teilhaben
soll, im Gegensatz zu der Diskontinuität, in der bis dahin
und noch heute, nach dem berühmten Gleichnis Pestalozzis,
die Stockwerke der Bildung, nach den sozialen Klassen ge-
schieden, gleichsam ohne verbindende Treppen dastehen.


Fasst man alles Gesagte zusammen, so ergiebt sich die
Idee eines allgemeingültigen funktionalen Zusammen-
hanges unter den notwendigen Grundfaktoren des
sozialen Lebens
, begründet in einem Verhältnis von
Methoden, die zuletzt darauf zielen, zwischen dem eigenen
Gesetze der Idee und der allgemeinen Gesetzlichkeit der
Natur, die von Haus aus in zentral begründetem, wurzel-
haftem Zusammenhang stehen, auch im Bewusstsein der Menschen
durchgreifende Verbindung zu stiften; was geschieht durch
systematische Unterordnung der Naturtechnik unter die Zwecke
der sozialen Technik, mithin der wirtschaftlichen unter die
regierende Thätigkeit, und beider unter die Leitung der prak-
tischen Vernunft, also die bildende Thätigkeit; alles dieses
aber in steter bewusster Rücksichtnahme auf den gesetzmässigen
Fortschritt in der eben durch die Oberhoheit der Vernunft
diktierten Richtung der Vereinheitlichung, zugleich Indi-
vidualisierung
und kontinuierlichen Verbindung, in
Hinsicht der zu einander in Verhältnis zu setzenden Funk-
tionen
sowohl als der an der Gemeinschaft beteiligten Sub-
jekte
.


Das Grundgesetz des Bewusstseins ist es, das diese so
merkwürdig durchgehende Analogie, in der die gleichen
Prinzipien in gleicher Stellung zu einander auf allen Gebieten
des sozialen Lebens wiederkehren, erklärt, und durch welches
alle diese Gebiete wiederum unter sich, ohne Aufhebung ihrer
Besonderung, in kontinuierlicher Verbindung stehen und so zur
generellsten Einheit, im Begriff einer Entwicklung des Men-
schentums
, sich zusammenfassen. Im Bewusstsein ist alles
Menschliche begriffen, mithin auch seinem letzten Gesetze mit
Notwendigkeit unterworfen. So wird ebenfalls klar, weshalb
[177] für die Gemeinschaft wie für das Individuum jenes Grund-
gesetz die Bedeutung eines Entwicklungsgesetzes annehmen
muss; es lässt sich, auch für die Gemeinschaft, geradezu als
pädagogisches Gesetz aussprechen, als das Gesetz jener
Selbsterziehung, in der das Kind „Mensch“ zur Reife eines
Vernunftwesens allmählich emporsteigen soll.


Bei diesem pädagogischen und zwar sozialpädagogischen
Ideal aber wird unsre Betrachtung nun auch Halt machen
müssen. Darüber hinaus bliebe nur eins noch möglich: die
Entdeckungsfahrt nach einem höchst moralischen „Utopien“.
Allein wir stimmen dem „wissenschaftlichen Sozialismus“ auch
darin bei, dass der Erdichtung sozialer Schlaraffenländer, über
die dichterische Fassung hinaus, ein eigener, methodischer
Wert nicht innewohnt. Die berauschende Vorstellung eines
Endzustands der Menschheit, in dem alle Probleme glatt gelöst,
also auch gar keine zu lösende Aufgabe mehr einem mensch-
lichen Streben übrig gelassen wäre, steht auf einer Stufe mit
den metaphysischen Träumen einer kindlichen Stufe der Wissen-
schaft, die sich mit endgültigen Lösungen aller Rätselfragen
des theoretischen Verstandes schmeicheln konnten. Eine zur
Reife kritischer Besinnung gediehene Forschung weiss, dass der
Arbeit der Menschheit Vollendung nie beschieden ist; sie begnügt
sich, mit Lessing, an der tieferen, unerschöpflicheren Freude des
ewigen Fortschritts. Der Weise nach menschlichem Zu-
schnitt ist, wie bereits Sokrates einsah, nicht der Wissende,
sondern wer, sein notwendiges Nichtwissen wissend, um besseres
und besseres Wissen methodisch bemüht ist. Nicht anders
steht es mit dem praktischen Ideal, sei es für den Einzelnen
oder für die Gemeinschaft. Eine um möglichste Näherung zur
systematischen Einheit ihrer Zwecke methodisch
bemühte menschliche Gemeinschaft: ein darüber hinausgehendes
Ideal mag sich ausdenken, wer nach etwas Anderem als den
Bedingungen eines menschlich-irdischen Soziallebens fragt.


Dass darin aber auch die den individuellen Tugenden
entsprechenden Grundeigenschaften eines sittlich geordneten
Gemeinlebens eingeschlossen sind, dafür lässt sich der Beweis,
wie ich denke, überzeugender führen, als ihn Plato für seinen
Natorp, Sozialpädagogik. 12
[178] „Staat“ zu liefern imstande war. Als letzte Probe auf das
erhaltene Ergebnis sei denn noch dies ausgeführt.


§ 19.
Die Tugenden der Gemeinschaft.


Das System der individuellen Tugenden ergab sich aus
dem normalen Verhältnis der Grundfaktoren menschlicher
Aktivität überhaupt. Nachdem nachgewiesen ist, was diese
selben Grundfaktoren im sozialen Leben bedeuten, ergiebt sich
nunmehr leicht die Uebertragung jenes ganzen Systems auf
die Tugend der Gemeinschaft.


Erstlich die Tugend der Wahrhaftigkeit, d. i. der Herr-
schaft des Bewusstseins
ist in der gedachten Ordnung des
Gemeinschaftslebens dargestellt, so wie sie es in einem mensch-
lichen Dasein auf Erden nur sein kann. Das war ja der Leit-
faden dieser ganzen Deduktion: dass das soziale Leben in allen
seinen Funktionen dem Gesetze des Bewusstseins unterstellt
werden und sich mehr und mehr nach ihm gestalten müsse.
In Hinsicht der untersten Funktion hat man es richtig dahin
ausgedrückt: dass der Mensch die Produktion beherrschen
müsse, nicht die Produktion den Menschen. Ganz das Gleiche
trifft auf die Rechtsordnung zu. Und aus eben diesem Gesichts-
punkt haben wir die beherrschende Stellung der bildenden
Thätigkeiten im sozialen Leben bereits oben gefordert. Die
Philosophen müssten Könige sein oder die Könige philosophieren,
meinte Plato. Wir geben ihm recht, bis auf das Eine, dass
an Stelle der Philosophen (zu denen ich ein so gutes Zutrauen
leider nicht zu fassen vermöchte) die Philosophie zu setzen ist,
die Philosophie ganz im platonischen Sinne des unbedingten
Bestrebens auf vernunftgemässe Gestaltung aller menschlichen
Dinge. Eben diese kann nicht Sache einer abgesonderten
Klasse Philosophierender sein, sie fordert Durchdringung des
ganzen sozialen Organismus mit dem Sinn und den Kräften
der Wahrheitserkenntnis in praktischer wie theoretischer Be-
deutung. Wahrheit ist nun einmal erste Bedingung mensch-
licher Gemeinschaft, die mit Unwahrheit dauernd nicht be-
[179] stehen kann. Vollends den Mächten der toten Natur lässt sich
nur mit dem aufrichtigen Willen zur Wahrheit beikommen;
sie entlarvt und straft jede Unwahrheit noch pünktlicher als
das soziale Leben, das sich auf Zeiten wenigstens und in
engem Bereich mit ihr nur allzu gut einzurichten versteht.
Eine Durchdringung des ganzen Gemeinschaftslebens mit dem
Sinn der Wahrheit hat aber zur Voraussetzung die gleich-
heitliche Teilnahme aller
an jener menschlichen Bildung,
die erst im klaren und sicheren Bewusstsein des sittlichen
Gesetzes der Gemeinschaft selbst ihren Gipfel wie ihre inner-
lichste Begründung erreicht. Ohne thätliche Anerkennung des
gleichen Bildungsanspruchs aller bleibt die Erhebung
sittlicher Forderungen im sozialen Leben selber eine innere
Unwahrheit. Verlangt man vom Menschen in jeder sozialen
Stellung, dass er dem Sittengesetz als höchster Norm sein
ganzes Verhalten bedingungslos unterordne, nun so schaffe man
auch, dass er zur selbstgewissen Einsicht, zum unverlierbaren
thatkräftigen Bewusstsein des sittlichen Gesetzes auf dem ein-
zigen dahin führenden Wege, dem Wege freier und harmonischer,
wahrhaft menschlicher Bildung in einer nach Möglichkeit sitt-
lich geordneten Gemeinschaft und durch unmittelbare Teilnahme
an ihr geführt wird. Der Glaube, dass der Wille des Guten
ohne diese Bedingungen als Gnade des Himmels auf ihn herab-
kommen könne, oder dass er aus irgend einem Katechismus
zu „lernen“ sei wie das „kleine Einmaleins bis zehn“, ist durch
die Thatsachen nachgerade gründlich genug widerlegt. Die
Organisationen zur menschlichen Bildung, die zum gedachten
Ziele zu führen geeignet wären, werden in den nächsten Para-
graphen erwogen werden. Das Allgemeine aber darf hier
schon vorausgesetzt werden, dass im letzten Grunde die Ge-
meinschaft allein erzieht
, dass Menschenbildung in jedem
Betracht ebenso sehr Gemeinschaftssache wie andrerseits letzte
Basis der Gemeinschaft ist; woraus die soziale Bedeutung unsrer
ersten Tugend klar genug folgt.


Jedes Bestreben aber, irgendwelche konkreten Forderungen
der sittlichen Vernunft in der Gemeinschaft und für sie zu
thatsächlicher Anerkennung zu bringen, führt auf den Weg
[180] der sozialen Organisation, als der Willensform des Ge-
meinschaftslebens. Auf diese wird also die zweite, der indi-
viduellen Tapferkeit entsprechende Tugend der Gemeinschaft
sich beziehen. Es ist das Einstehen für Gesetzlichkeit;
für Gesetzlichkeit, man möchte fast sagen, um jeden Preis,
nur nicht um den Preis der sittlichen Wahrheit.


Das Gesetz, die soziale Regelung überhaupt, ist der einzig
fassbare Ausdruck des Willens der Gemeinschaft. Sie
bleibt es selbst dann, wenn sie thatsächlich keineswegs den
Willen aller oder auch nur der Mehrheit zutreffend zum Aus-
druck bringt. Wäre das selbst der Fall, so wäre sie doch
nicht deshalb sittlicher Achtung würdig, weil es die Vielen
sind, die in ihr ihren Willen kundgeben. Der Wille der Vielen
kann irren, so gut wie der jedes Einzelnen; sind es doch nur
viele Einzelne. Sittliche Achtung verdient die soziale Ordnung
an sich, ihrem Inhalt nach, nur, soweit sie die Oberhoheit der
sittlichen Vernunft wenigstens im Grundsatz anerkennt und
einen ernstlichen Versuch darstellt ihr Gebot in der gegebenen
Gemeinschaft zur Herrschaft zu bringen. Kann also die so-
ziale Regelung überhaupt mit dem Anspruch auf unverbrüch-
liche Beobachtung, welches auch ihr Inhalt sei, be-
rechtigter Weise auftreten? Giebt es ein ursprüngliches
sittliches Recht des Rechts
? Wir beantworten die
Frage*) dahin: Eine soziale Regelung überhaupt und zwar
in verbindlicher Form, d. i. ein Recht, ist unumgäng-
liche Voraussetzung einer verlässlichen Gemeinschaftsordnung,
wir dürfen dafür auch sagen: eines „Willens“ der Ge-
meinschaft überhaupt
, also auch einer solchen Ordnung,
eines solchen sozialen Willens, der den Forderungen sittlicher
Vernunft auch nur in irgendeinem Maasse soll angenähert
werden können. Die Bedeutung einer formalen Bedingung
verlässlicher sozialer Ordnung überhaupt sichert dem Recht
eine Verbindlichkeit, die, in abstracto auch vom sittlichen Ge-
setz nicht abhängend, angesichts der Forderung der sittlichen
Gestaltung des sozialen Lebens ihr volles Gewicht behält, ja
[181] zu der ihr eigenen noch eine sittliche Sanktion erhält. Zu-
letzt übrigens vereinigen sich beide Erwägungen. Denn wozu
braucht der Mensch einen Willen, wenn nicht, um des sitt-
lichen
Willens fähig zu sein? Anders ausgedrückt: die
Form, die überhaupt eine Gesetzmässigkeit sozialen
Lebens garantiert, ist auch die einzige, die seine Gestaltung
nach sittlichem Gesetz möglich macht. Somit muss aller-
dings die rechtliche Ordnung bloss als solche, welches
auch ihr Inhalt sei, zugleich im sittlichen Interesse respektiert
werden, jedoch mit dem Beding, dass auf ihre Aenderung im
Sinne der sittlichen Forderung, überall wo sie mit dieser nicht
im Einklang steht, hingearbeitet wird mit den Mitteln, welche
die Rechtsordnung selbst gestattet. Mehr und mehr wird aber
auch, von der Stufe an, wo ein sittliches Bewusstsein über-
haupt in der Gemeinschaft geweckt ist, das sittliche Ziel der
Gemeinschaftsordnung wenigstens im Grundsatz anerkannt
werden. So wie auch das schlechte Individuum innerhalb einer
Gemeinschaft, die ein Sittliches überhaupt anerkennt, nicht um-
hin kann Achtung gegen das sittliche Gebot wenigstens zu
heucheln, so kann auch eine schlechte Gemeinschaftsordnung
gar nicht umhin, wenigstens die Fiktion aufrechtzuhalten, dass
sie sittlich begründet sei. Diese, wenn noch so erzwungene
Anerkennung des Sittlichen aber giebt dem solcher Ordnung
Unterworfenen das Recht, an seinem Teil darauf hinzuarbeiten,
dass die soziale Ordnung sich diesem ihrem angeblichen sitt-
lichen Charakter auch thatsächlich nähere. Und dies Recht
steigert sich zur dringlichsten Pflicht, in dem Maasse wie die
soziale Ordnung die höheren Gerechtsame der Vernunft damit
thatsächlich anerkennt, dass sie, ihrer Fehlbarkeit sich be-
wusst, für ihre mögliche Abänderung auf gesetzlichem
Wege
selber Fürsorge trifft. Wo immer ein solcher gesetz-
licher Weg existiert, da darf, allein um deswillen, eine
solche Ordnung, mag sie material noch so verkehrt sein,
nicht schlechthin verworfen werden; ja da giebt es keinen
Weg mehr, sich ihr sittlicher Weise zu entziehen. Viel-
mehr besteht für den einer solchen Ordnung Unterworfenen
eine zweifache Pflicht: die negative, die bestehende Ordnung,
[182] sofern und solange sie legal besteht und nicht auf legalem
Wege geändert ist, an seinem Teile zu stützen, sie sowohl
selber einzuhalten als für ihre Befolgung durch Andre einzu-
stehen, soweit dies möglich und erforderlich ist; und die posi-
tive, auf ihre bessere Gestaltung mit allen gesetzlich zu-
lässigen Mitteln hinzuarbeiten. Das Erste, weil sonst auch
die schon erreichte, wenn noch so geringe Näherung zu einer
sittlichen Ordnung und damit die Voraussetzung jedes Fort-
schritts zum Bessern in Frage gestellt würde; das Zweite, weil
an der Besserung des sozialen Zustandes zu arbeiten um so
mehr Pflicht ist, je mehr die Möglichkeit gegeben ist, diese
Besserung ohne Erschütterung des gesetzlichen Zustands über-
haupt, ohne „Umsturz“ zu erreichen. Wo diese Haltung in
einem Gemeinwesen vorherrschend wäre, wo insbesondere seine
Regierung von diesem Geiste durchdrungen wäre, da bewiese es
damit die Tugend sittlicher Tapferkeit, als der echten sitt-
lichen Selbstbehauptung
, nämlich Behauptung und Stär-
kung seines sittlichen Standes.


Eine anders begründete soziale Tapferkeit, eine andre
Treue gegen die Gemeinschaft, der man angehört, eine andre
Vaterlandsliebe als diese kann sittlich nicht gefordert
werden. Das Einstehen für die gegebene empirische Gemein-
schaft, gegen jede andre, bloss weil es gerade die unsre ist,
weil wir in sie und nicht in eine benachbarte, mit der sie
etwa im erklärten oder unerklärten Kriege lebt, hineingeboren
oder durch irgend ein zwingendes Geschick verpflanzt sind,
ist überhaupt nicht, am wenigsten als sittliche Pflicht zu ver-
stehen. Aber unter Voraussetzung jenes sittlichen Grun-
des unterliege ich allerdings der Verpflichtung, für die soziale
Ordnung an eben der Stelle, an die ich durch Geburt oder
andre zwingende Umstände einmal gestellt bin, einzutreten;
ich darf diese Stelle nicht aus blosser Willkür mit einer
andern vertauschen, oder den Verpflichtungen, die sie aufer-
legt, mich entziehen. Selbst Krieg zu führen — an sich eine
schlechte Sache — kann in gegebener Lage unausweichliche
Pflicht sein; so wie aus der Unsittlichkeit von Gewaltthat
überhaupt nicht richtig gefolgert würde, dass man nicht den,
[183] der nur der Gewalt weicht, mit Gewalt zwingen dürfte, seiner-
seits von Gewaltthat abzustehen. Dagegen darf niemals die
blosse Selbstbehauptung der gegebenen Gemeinschaft, ausser-
halb sittlicher Rücksicht, als etwas Gutes oder auch nur sitt-
lich Indifferentes ausgegeben werden. Sie ist zu verwerfen,
einfach nach dem „kategorischen Imperativ“: weil dann jede
thatsächlich bestehende Gemeinschaft gleiches Recht hätte sich
gegen die andre zu behaupten, es also gleichermaassen sittlich
begründet sein würde, dass das Gemeinwesen A das Gemein-
wesen B schädige und verderbe wie umgekehrt. So hat ein
ernstes religiöses Gewissen sich allzeit dagegen empört, dass
derselbe angeblich einige Gott heute den Dank der Nation A
entgegennehmen solle für ihren Sieg über B, und morgen den
der Nation B für ihren Sieg über A. Das heisst thatsächlich
Polytheismus treiben und den Monotheismus zur heuchlerischen
Phrase machen. So geht die Einheit des Sittlichen verloren,
wenn Selbstbehauptung einer Nation gegen die andre ausser-
halb sittlicher Rücksicht zugelassen und gar als sittliche Pflicht
proklamiert wird.


Ebenso sicher giebt es eine Grenze der sittlichen Ver-
pflichtung gegen das positive Gesetz. Keine bloss äussere Satzung
kann jemals eine unbedingte Verpflichtung auferlegen. Eine
empirische Gemeinschaft kann gebieten, entweder so zu han-
deln oder die Strafe auf sich zu nehmen, die sie für den Gegenfall
festsetzt; aber niemals schlechthin, so zu handeln. Dem Ge-
setz seiner Stadt zu gehorchen, entfloh Sokrates nicht aus dem
Kerker, sondern nahm den Giftbecher, nachdem er ihn zu
nehmen verurteilt war; verurteilt aber war er, weil er nicht,
nach dem Gebote seiner Obrigkeit, auf seine philosophischen
Unterredungen verzichten wollte, die eine sehr ernste, sittliche
Kritik der gesetzlichen Zustände seiner Stadt einschlossen.
Er fasste also die Pflicht gegen seine Vaterstadt, die er aufs
nachdrücklichste betont, nicht dahin auf, dass er jedem Ge-
bote des Staats schlechthin Folge leisten, geschweige es für gut
erklären, oder auch nur von der sittlichen Kritik, in der er
seinen Beruf sah, ausnehmen müsse; wohl aber, dass er im
Konfliktsfall die festgesetzte Strafe auf sich nahm. Er würde
[184] auf Befragen wohl erklärt haben, gerade diese sittliche Kri-
tik, das Beste, das er habe und das Einzige, dem Vaterlande
schuldig zu sein. In der That schliesst die volle sittliche Ver-
pflichtung des Bürgers gegen den Staat in sich seine eigene
Mitarbeit an der Besserung der öffentlichen Zustände auf den
Wegen und mit den Kräften, die ihm zu Gebote stehen. Und
diese Verpflichtung darf dauernd und grundsätzlich nicht auf
eine abgesonderte Klasse Regierender beschränkt ge-
dacht werden. Gemeinschaft, Willensgemeinschaft kann
nicht gedacht werden zwischen zwei Klassen, von denen die
eine allein den Willen, die andre die Willenlosigkeit der Ge-
meinschaft darstellen würde. Willenloses Gehorchen und Dienen
ist nicht Tugend von Menschen sondern von Sachen, und gar
eine ganze Volksklasse — wohl gar die überwältigende Mehr-
heit — zu einer Klasse willenlos Gehorchender herabsetzen
wollen, heisst sie des sittlichen Charakters überhaupt ent-
kleiden und damit auf die Sittlichkeit der Gemeinschaft als
solcher Verzicht thun. Die unabweisbare Folgerung ist, dass
auch die regierenden Funktionen vom Standpunkt
der Gleichheit und Gemeinschaft geordnet
sein
müssten. Eine Abstufung (vollends eine Teilung) der Funk-
tionen überhaupt wird dadurch keineswegs ausgeschlossen; ge-
fordert wird nur, dass zu jeder sozialen Funktion an sich jedem
unter gleichheitlichen Bedingungen der Zutritt möglich sei,
und allein die Tüchtigkeit, nicht irgend ein sonstiger, ausser-
sachlicher Maassstab über den Anteil daran entscheide.


Uebrigens ist die Entwicklung auch in dieser Hinsicht
bereits auf den Punkt gekommen, dass die Anerkennung wenig-
stens des allgemeinen Grundsatzes kaum mehr auf ernsten
Widerstand zu rechnen hat. Besonders mit der thatsächlichen
und strengen Durchführung des Prinzips der allgemeinen
Wehrpflicht
ist eine sehr aktive Beteiligung an einer der
wesentlichsten sozialen Funktionen thatsächlich allen unter
ziemlich gleichen Bedingungen zugestanden. Diese einzige
Maassregel zieht aber eine weitergehende Durchführung der
sozialen Gleichheit unentrinnbar nach sich; eine, wenn auch
noch so eingeschränkte Beteiligung an Funktionen der Ge-
[185] setzgebung
und der Rechtsprechung hat sich noch stets
in ihrem Gefolge auf so entscheidende Weise durchgesetzt,
dass daran hinfort wohl nicht mehr zu rütteln sein wird. In
sich schon widerspricht es, von irgend einem Gliede der Ge-
meinschaft zu verlangen, dass es im gegebenen Fall für sie
sterbe, ohne dass man ihm gestattet, für sie auch zu leben.
Es ist nur viel leichter das Erstere zu erzwingen als zum
Letztern dem Menschen auch nur die Fähigkeit mitzuteilen.
Das Wirken für die Gemeinschaft will allerdings auch gelernt
sein, und es ist Sache einer ungleich tiefer gehenden Erziehung,
als etwa der Kasernenhof sie in bestimmter technischer Rück-
sicht bieten kann und wirklich bietet. Es ist richtig, dass
Bildung, sogar recht viel Bildung dazu gehört, in einem so
komplizierten öffentlichen Leben, wie das heutige aller ent-
wickelten Nationen ist, das Stimmrecht mit Verstand auszu-
üben. Aber daraus kann allein gefolgert werden, dass man
alles daran setzen sollte, eine gründliche Bildung selbst bis
zur Stufe der Wissenschaft möglichst allgemein zu machen.
Die Gebildeten und Erzogenen sollten auch die Regierenden
sein; ich folgere: also muss allen eine solche Bildung und Er-
ziehung gegeben werden, wie sie sie brauchen, um an der Re-
gierung den Anteil nehmen zu dürfen, den das Gesetz des
sozialen Lebens für alle fordert. Alles Andre sind blosse Be-
schwichtigungsmittel, die als solche unverwerflich sein mögen,
aber das Uebel nicht heilen, auch nicht verhindern können,
dass es unter der Oberfläche fortwuchert, um im gegebenen
Augenblick mit verdoppelter Stärke, vielleicht verhängnisvoll,
wieder hervorzubrechen. Somit führt unsere zweite Tugend
auf dieselbe Forderung wie die erste: gründliche Bildung
für alle
. Es muss ja auch wohl so sein, dass die Grund-
tugenden des sozialen Lebens sich alle gegenseitig fordern,
keine ohne die andere bestehen kann; so wie es an den indi-
vidualen Tugenden früher dargethan worden ist.


Die dritte Forderung ist die einer durchgängigen harmo-
nischen Ordnung des Trieblebens der Gemeinschaft,
worunter zu verstehen ist: eine solche Verteilung von Arbeit
und Genuss des Arbeitsertrags, die eine verhältnis-
[186] mässige Entwicklung aller gesunden, d. h. unter sich harmo-
nierenden Triebe für alle ermöglicht und mehr und mehr zur
Wahrheit macht. Es ist dabei, wie allgemein bei den Be-
griffen „Trieb“ und „Arbeit“, nicht allein an Befriedigung des
physischen Lebens- und Genusstriebs zu denken. Um die
„wirtschaftliche“ Funktion handelt es sich allerdings; aber
diese erstreckt sich, wie wir sahen, auf alle menschliche Thätig-
keit, sofern sie auf der materialen Bedingung verfügbarer Trieb-
kräfte beruht. Die wesentliche Bedingung einer verhältnis-
mässigen Entfaltung aller harmonierenden Triebe in allen ist
aber, dass die Thätigkeiten aller in jeder Richtung sich fördernd
(oder wenigstens nicht hemmend) ineinandergreifen
,
also die durchgängige Organisation der Arbeit auf
dem Boden der Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit.
Wie das Prinzip des technischen Fortschritts, gleichsehr im
Sinne der Naturtechnik wie der sozialen Technik, genau hier-
auf führt, ist bereits oben dargelegt worden; auch, dass gerade
jene durchgängige Organisation eine natürliche Gliederung
in kontinuierlichen Uebergängen, und damit jede gegründete
Rücksichtnahme auf Fähigkeit und Neigung der Einzelnen mög-
lich machen, also die Entwicklung der Individualität
nicht nur nicht unterdrücken, sondern erst recht ermöglichen
würde. Nur jene Diskontinuität in der Gliederung muss
und wird verschwinden, deren Extrem (in der hier fraglichen
Rücksicht) schon Plato dahin ausgedrückt hat, dass die Ar-
beitenden der Mittel zur Arbeit beraubt, die Inhaber der Ar-
beitsmittel dagegen in Person von der Pflicht der Arbeit ent-
bunden sind. Eine gesonderte Klasse wirtschaftlich
Arbeitender
gestattet das sittliche Grundgesetz des so-
zialen Lebens so wenig, wie es eine Klasse Regierender
oder eine Klasse im Alleinbesitz der Bildung erlaubt. Es ist
aber vielleicht keine Bedingung von so grundlegender Be-
deutung für wahres Gemeinschaftsleben, als die der Ar-
beitsgemeinschaft. Auch scheint man sich langsam der Ein-
sicht zu nähern, dass eine Volksgemeinschaft auf anderem
als diesem Grunde in Wahrheit nicht möglich; dass, wenn sich
gegenwärtig noch, wie in Platos Zeit, „zwei Völker“ inner-
[187] halb jeder der am Kulturfortschritt meistbeteiligten Nationen
in Todfeindschaft gegenüberstehen, der letzte Grund nirgendwo
anders als in jener uralten sozialen Diskontinuität, in dem
Zerfall der Nationen in Arbeitende und Besitzende zu
suchen ist. In dem immer dringenderen Verlangen, dass es da-
mit anders werde, erkennen wir das Erwachen des Bewusst-
seins einer möglichen und notwendigen, zur Zeit aber nicht
vorhandenen Volksgemeinschaft. Allgemein aber sehen wir in
dem entscheidenden Hervortreten der wirtschaftlichen Fragen
nicht die Wirkung eines zu fürchtenden oder zu bekämpfenden
„Materialismus“, sondern vielmehr das günstigste Vorzeichen
des Sieges der Vernunft. Denn, wo sie nicht mit ihrem
Lichte auch bis in das Innerste des Trieblebens hineinleuchtet,
wo nicht das ganze menschliche Leben auch bis zu seinen
letzten materialen Bedingungen zurück unter ihre sichere Herr-
schaft tritt, da kann von einem Siege der Vernunft nicht im
Ernst geredet werden, im sozialen so wenig wie im individu-
alen Leben, wo bisher niemand ein ungeregeltes Triebleben
mit sittlicher Vernunft vereinbar geglaubt hat.


Bei der Gerechtigkeit endlich, als der vierten Kar-
dinaltugend des Soziallebens, ist es kaum mehr nötig zu ver-
weilen. Denn sie ist bei der Behandlung der drei andern Tugen-
den schon fortwährend mitberücksichtigt worden. Als indivi-
duale Tugend bedeutete sie das Verhalten gemäss den Gesetzen
der drei andern Tugenden in Hinsicht der Gemeinschaft;
als soziale Tugend besagt sie umgekehrt die gleichheitliche
Geltung der übrigen Tugenden, eben als Tugenden des Ge-
meinschaftslebens, für alle einzelnen Glieder der Gemein-
schaft. Während also die Gerechtigkeit als individuale Tugend
besagt, dass ein jeder die Tugenden der Wahrheit, der Tapfer-
keit und des Maasses nicht bloss als Einzelner und um seinet-
willen, sondern auch gegen den Andern, insbesondere als Glied
der Gemeinschaft gegen andre Glieder derselben Gemeinschaft
und in gleichheitlicher Rücksicht gegen sie beweisen solle; so
besagt die Gerechtigkeit als Tugend der Gemeinschaft, sie
müsse so geordnet sein, dass ihre entsprechenden Tugenden
sich auf alle ihre Glieder in gleichheitlicher Weise erstrecken.
[188] Somit fasst diese Tugend in ihrer sozialen wie in ihrer indi-
vidualen Bedeutung die drei andern in sich zusammen, giebt
ihnen aber die besondere Beziehung, dort auf die Gemein-
schaft, nämlich sofern sie aus Individuen besteht, hier umge-
kehrt auf die Individuen, sofern sie der Gemeinschaft angehören.
Sie besagt somit, in sozialer Hinsicht: dass an allen drei
Grundfunktionen der Gemeinschaft, nicht bloss jeder für sich,
sondern auch allen im Verhältnis zu einander, jedes Glied
der Gemeinschaft grundsätzlich gleiches Recht hat, dass jedem
sein rechtmässiges Teil, suum cuique, zukommen soll an Bil-
dung, an Regierung und an Arbeit zugleich und nach ihrem
innerlich begründeten, gesetzmässigen Verhältnis zu einander;
was ja nur das Facit aus allem Gesagten ist.


Und so braucht auch das Letzte nur eben angemerkt zu
werden: dass die dargelegte Gesetzmässigkeit des sozialen
Lebens sich auf menschliche Gemeinschaft überhaupt,
ohne Einschränkung auf irgendwelche besonderen Bedingungen
bezieht*). Unser System bietet einen Rahmen, ausreichend für
jede denkbare Erweiterung der Gemeinschaft, bis äussersten-
falls zum Ganzen des Menschengeschlechts. Das letzte Prinzip
unserer Betrachtung aber weist auch in dieser Beziehung
unwidersprechlich auf möglichst umfassende Einheit,
wiewohl auf eine solche, die die „Spezifikation“, unter der
Bedingung der „Kontinuität“, nicht ausschliesst.


Hiermit beschliessen wir den ethischen Teil unsrer Unter-
suchung; was übrig bleibt, gehört der eigentlichen Pädagogik
an. Das Ziel ist gezeigt; auch, dass eine Entwicklung nach
diesem Ziele hin innerlich begründet und thatsächlich ange-
bahnt ist, dürfte dargethan sein. Allein damit ist diese Ent-
wicklung noch nicht notwendig im Sinne eines Naturgesetzes.
Es ist allein gezeigt, in welcher Richtung die Menschheit fort-
schreitet, wenn sie fortschreitet. Dass sie thatsächlich fort-
schreiten müsse, folgt aus unsern Prinzipien nicht und würde
sich auch empirisch keineswegs begründen lassen. Am wenig-
[189] sten kann davon die Rede sein, dass die Erkenntnis der Not-
wendigkeit einer bestimmten Entwicklung es nun überflüssig
machte, nach ihr mit allen Kräften zu ringen. Die innerlich
notwendige d. i. geforderte Entwicklung wird vielmehr dann
allein eintreten, wenn alle Kräfte dafür eingesetzt werden.
Dann aber genügt es nicht, das Ziel zu wissen und damit die
allgemeine Richtung des einzuschlagenden Weges, sondern es
fragt sich, was haben wir unmittelbar zu thun, um uns gleich-
sam aus der Stelle zu bringen; wie haben wir zu marschieren,
um die nächsten Hindernisse zu besiegen, die sich uns auf
diesem Wege, so klar auch seine Grundrichtung bestimmt ist,
doch immer wieder entgegentürmen. Soweit die Antwort dar-
auf im Bereiche der Erziehungslehre liegt, soll sie im dritten
Teil gegeben werden.


[[190]][[191]]

Drittes Buch.
Organisation und Methode
der Willenserziehung.


[[192]][[193]]

§ 20.
Soziale Organisationen zur Willenserziehung: 1. Das Haus.


Das wesentliche Mittel zur Willenserziehung ist die Or-
ganisation der Gemeinschaft
. Darin ist alles zusammen-
gefasst: die Organisation der Arbeit, die rechtliche Organisation,
die Organisation der Bildung. Jeder Fortschritt in einer dieser
Richtungen ist zugleich bedingt durch und bedingend für den
Fortschritt in allen. Der zuletzt entscheidende Fortschritt
aber ist der des Bewusstseins. Auch der wirtschaftliche Fort-
schritt ist zuletzt Fortschritt in der Beherrschung der Natur-
kräfte, einschliessend die Naturkräfte des Menschen, durch
Menschenwillen und Menschenverstand; und dasselbe gilt vom
Fortschritt der gesellschaftlichen Organisation, einer zweiten
Technik, die noch unmittelbarer und greifbarer der Herrschaft
menschlicher Einsicht und Willensthat unterstellt ist. Dass
diese sich in der rechten Weise entwickeln, ist daher sozu-
sagen die einzige grosse Sorge der Menschheit. Und zwar
liegt der Schwerpunkt der Menschenbildung in der Erziehung
des Willens, von der die des Intellekts, ja auch der Phantasie
und des Gefühls, untrennbar und wesentlich abhängig ist.


Nun kennen wir die natürliche Stufenfolge der
Willensentwicklung
: durch Trieb und Entschliessung
zum Einheitsbewusstsein praktischer Vernunft. Es ist eine
klare Notwendigkeit, dass die Folge dieser drei Stufen auch
im Erziehungsgange des Willens zu Tage tritt. Zwar muss
Natorp, Sozialpädagogik. 13
[194] wohl Antrieb und Möglichkeit zu bewusster Regelung des
Handelns, selbst zur einheitlichen Regelung gemäss der Idee
der Vernunft, schon auf der Stufe des Triebs vorausgesetzt
werden; wie für das Individuum im Kindesalter, so für die
Völker und die Menschheit in deren Kindheitsstadium. Sonst
würde das Kind auch dem Einfluss von Willen und Vernunft
des Erziehers nicht zugänglich sein, vollends ein Volk kind-
licher Menschen sich niemals durch eigene Kraft zu den höheren
Stufen emporzuarbeiten vermocht haben. Aber doch giebt es
eine Stufe, wo wenigstens ein Bewusstsein der Willensregel
noch nicht oder kaum vorhanden ist; und dann ist es nochmals
eine schwere Errungenschaft, dass auch die bewusste Richtung
auf durchgängige Einheit der Regelung sich bilde, die wir
Vernunft nennen. Mögen also auch jene drei Bestandteile der
menschlichen Aktivität so innig zusammengehören, dass die
Erziehung des Willens auf jeder Stufe alle drei zu berück-
sichtigen haben wird, so wird sie es doch auf einer ersten
Stufe vornehmlich mit der einer gesunden Willensentwicklung
zuträglichsten Gestaltung des Trieblebens, und nur hülfsweise
mit den Anfängen eigentlicher Willensleistung und den ersten
schwachen Regungen sittlicher Vernunft, auf einer zweiten
vorzugsweise mit dem Formalen der Willensregelung zu thun
haben, und erst auf der dritten zur Ausbildung des sittlichen
Bewusstseins in seiner ganzen Tiefe und Weite sich erheben
können.


Wie aber demnach die Art der willenbildenden Thätigkeit
sich dreifach gliedert, so muss auch die Organisation dieser
Thätigkeit für dieselben drei Stufen entsprechend verschieden
sein. Und diese Stufenfolge der Organisationen zur Erziehung
der Einzelnen muss in gewisser Beziehung stehen zu dem Unter-
schied in der Art und Organisation der entsprechenden sozialen
Thätigkeiten: der wirtschaftlichen, der regierenden und der
bildenden; nämlich diese drei werden, je in ihrer Eigenart und
gemäss ihrem wechselseitigen Verhältnis, daher auch in ent-
sprechender Folge, zur Erziehung des Willens im Individuum
derart mithelfen müssen, dass die Entfaltung der Arbeitstriebe
im Individuum von Anfang an Zusammenhang sucht und findet
[195] mit dem Arbeitsleben der Gemeinschaft, die Ausbildung der
regelnden Kraft des Willens im Einzelnen mit der Bethätigung
der gleichen Kraft in der Gemeinschaft, also mit den bestehenden
sozialen Organisationen; während die Reife der eigenen Ver-
nunft des Einzelnen zusammenfallen wird mit seiner thätigen
Anteilnahme an der vernunftgemässen Gestaltung des Gemein-
schaftslebens durch gemeinsame Bildungspflege. Je reiner die
Organisation der Gemeinschaft ihrem eigenen Gesetze und da-
mit ihrem wahren und letzten Zweck der Menschenbildung
entspricht, um so klarer wird sich diese Beziehung im Gange
der Willenserziehung erkennen lassen; so zwar, dass jedes
Glied der Gemeinschaft auf geregelte Weise diese drei Stufen
durchläuft.


Hiermit ist ein Prinzip für die soziale Organisation der
Willenserziehung gewonnen. Wir untersuchen weiter, wo etwa
in der Erfahrung sich eine Grundlage zu solcher Organisation
erkennen lässt. Wir gehen aus von dem Altbekannten: dass
zur Erziehung des Menschen, insbesondere des menschlichen
Willens in entwickelter Gemeinschaft naturgemäss drei Faktoren
zusammenwirken: das Haus, die Schule und ein Drittes,
das man nicht recht zu nennen weiss; offenbar viel zu un-
bestimmt bezeichnet man es als das Leben, nämlich das Leben
ausser dem Hause und der Schule. Es scheint doch nicht,
dass das Leben in diesem weiten Sinne unter allen Umständen
die Menschen erzieht und gar recht erzieht. Es muss zum
wenigsten etwas Bestimmteres an dem so allgemeinen „Leben“
sein, das eine erziehende Wirkung gleich dem Hause und der
Schule übt; vermutlich etwas diesen beiden Aehnliches.
Nun wissen wir schon, dass es wesentlich die organisierte
Gemeinschaft
ist, welche erzieht. Das trifft zu auf das
Haus und die Schule: beide erziehen als Formen organisierter
Gemeinschaft. Nur unter der gleichen Bedingung wird also
auch das Leben ausserhalb beider erziehend wirken. In ur-
sprünglichen, patriarchalischen Formen des Gemeinschaftslebens
lässt sich das auch unmittelbar erkennen; es verbirgt sich
etwas mehr in entwickelteren, aber noch zu keinem Abschluss
der Entwicklung gelangten Gesellschaftsstadien, so dem heutigen.
[196] Da fehlt es offenbar an festgegründeten Organisationen des
Gemeinschaftslebens der Erwachsenen; die alten sind in Auf-
lösung begriffen, neue haben noch nicht feste Gestalt ge-
wonnen. Aber zum wenigsten liegen die beiden andern Faktoren,
Haus und Schule, deutlich vor. An ihnen muss daher zunächst
unser Prinzip sich erproben.


Da stossen wir, was zuerst das Haus betrifft, auf ernste
Fragen. Das Haus oder die „Familie“, wenn wir so die Ge-
meinschaft selbst benennen, welche das Haus zu ihrer materiellen
Unterlage, gleichsam ihrem körperlichen Organ hat, unterliegt
starken Wandlungen; sie ist eben jetzt in einer Umbildung
begriffen, die es erschwert, ihren Begriff fest und sicher zu
erfassen. Es fehlt nicht an solchen, die behaupten, dass die
Familie zu den organisatorischen Schöpfungen einer fernen
Vergangenheit gehöre, die heute in heller Auflösung gerade
bei den Völkern und Volksschichten begriffen seien, denen
mehr und mehr eine führende Rolle in der Kulturentwicklung
zugefallen sei oder in absehbarer Zeit zufallen müsse. Man
betrachtet den Verfall der Familie, ohne ihn eigentlich gut
zu heissen, als unabwendliches Verhängnis, als unausbleibliche
Folge der wirtschaftlichen Umwälzung vom Kleinbetrieb zum
Grossbetrieb, von der Handarbeit zur Maschinenarbeit, vom
Nahverkehr zum Fernverkehr, und sieht ihm gleichsam mit
verschränkten Armen zu. Oder aber man träumt von der
Wiederherstellung eines grossenteils schon entschwundenen und
weiter im Rückgang begriffenen, weil eben mit vorwaltendem
landwirtschaftlichen und industriellen Kleinbetrieb zusammen-
hängenden Zustands, oder doch möglichster Behütung dessen,
was davon noch übrig ist, vor weiterem Verfall. Es ist letzten
Grundes ein Zustand gleich dem des Mittelalters, den man
zurückführen möchte; ein Zustand, für den neben und im Zu-
sammenhang mit dem vorherrschenden Kleinbetrieb die Son-
derung der wirtschaftlichen Klasse von der regierenden sowie
einer dritten, der die Pflege der geistigen Interessen ausschliess-
lich anvertraut ist, einem (etwa auch weltlich zu denkenden)
Klerus charakteristisch ist.


Die Annahme einer solchen Rückwärtsbewegung wider-
[197] streitet allem, was wir über die Gesetzmässigkeit der sozialen
Entwicklung zu wissen behaupten dürfen. Allein die erstere
Ansicht scheint vollends trostlos. Unsere Grundsätze führen
zu keinem von beiden Extremen. Zwar erkannten wir fort-
schreitende Konzentration als Grundzug der wirtschaftlichen
Entwicklung an; aber nur in Verbindung mit gleichzeitig zu-
nehmender Individualisierung. Daraus folgt, dass das
Haus, als „Zelle“ des wirtschaftlichen Organismus, zwar unter
dem zeitweiligen Vorwalten der generalisierenden über die
individualisierende Tendenz verkümmern, aber dauernd nicht
untergehen kann, es sei denn mit dem Untergang des ganzen
Organismus. Es ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt
der Wirtschaft, wenn die Arbeit ihres Individualcharakters
ganz verlustig geht, d. h. wenn der Arbeiter durch die Art
des Arbeitsbetriebs zur Maschine, ja zum Maschinenteil herab-
gedrückt wird. Vollends unvereinbar ist solche Mechanisierung
der Arbeit mit dem, durch die Gesetze der sozialen Entwick-
lung doch gleichfalls geforderten, Anteil des wirtschaftlichen
Arbeiters an der regierenden wie an der bildenden Thätigkeit.
Die Wiederherstellung individualisierter Arbeit, vollends die
geistige und rechtliche Emanzipation des Maschinensklaven,
fordert eine mehr und mehr individualisierte Erziehung auch
und zu allererst zur Arbeit selbst, und darum ein individuali-
siertes, nicht kasernenmässig roh und mechanisch zentralisiertes
Leben des Arbeiters; welches doch wohl nur ein Hausleben,
ein Familienleben, wenn auch vielleicht anderen Stiles als
bisher wird sein können. Es ist einer der Punkte, wo der
landläufige Sozialismus in auffälligster und schädlichster Weise
sich selber missverstanden und, statt von seinen grossen und
sicheren Prinzipien, von der so leicht irreführenden Lehre
augenblicklicher Erfahrung sich hat bestimmen lassen.


Wir verkennen darum nicht die ernsten Schwierigkeiten
der heutigen Lage. Schon Pestalozzi, der auch in dieser Frage
von grossen und richtigen Ahnungen geleitet wurde, sah sie
herannahen; vollends Fichte liess sich dadurch, wie schon vor
ihm einige Theoretiker der Revolution, zu der schroffen Forde-
rung ausschliesslich gemeinschaftlicher Erziehung in staatlich
[198] organisierten Erziehungshäusern von möglichst frühem Alter
an verleiten. Vielleicht ist bei dem gegenwärtigen Zustand
etwas Andres als ein Surrogat der an sich geforderten Organi-
sation der Erziehung für das frühe Kindesalter nicht möglich.
Ein solches Surrogat dürfte gefunden sein in dem Fröbelschen
Kindergarten. Fröbel war einer der wenigen unter Pesta-
lozzis Nachfolgern, der von seinen Ideen etwas nach der eigent-
lich wichtigsten, der sozialen Seite begriffen hatte, und die
seitherige Entwicklung des Zustands der arbeitenden Klassen
ist es, die, zwar mehr ausserhalb Deutschlands als bei uns,
seiner Idee eine nicht zu unterschätzende thatsächliche Be-
deutung gegeben hat. In Frankreich und Nordamerika sind
die Grundzüge einer nationalen Gestaltung des Kindergarten-
wesens bereits klar zu erkennen. Bei uns besteht ein bisher
wenig erfolgreiches Bestreben, für die Erziehung der Kleinen
besonders in den ärmeren Volksklassen die Thätigkeit der
Frauen, nicht der Mütter allein, allgemein und in organisierter
Weise heranzuziehen. Sollte das als endgültige Lösung ge-
meint sein, so müsste man sagen, dass dabei zwei wichtige
Dinge übersehen sind. Erstens würde dem Manne noch mehr
als schon jetzt die Erziehung aus der Hand genommen, die
Abschüttelung der Erziehungspflicht, zu der bereits so vieles
verlockt, allzusehr erleichtert werden, zum gleich grossen
Schaden seiner selbst und des Kindes, das, wie hoch man auch
die mütterliche Erziehung anschlagen mag, doch der männ-
lichen Leitung nie sollte entbehren müssen. Zweitens wird
vorausgesetzt, dass dauernd und allgemein dem Manne allein
die Erwerbspflicht obliege. Das ist schon jetzt nicht der Fall,
und eine rückläufige Entwicklung ist auch in dieser Hinsicht
weder anzunehmen noch selbst zu wünschen.


Die Grundidee des Kindergartens ist vielmehr in genaue
Verbindung zu setzen mit dem Postulate der Wiederherstel-
lung eines häuslichen Lebens des Arbeiters selbst, in
einer solchen Form, die mit der bisher erreichten und weiter
fortschreitenden Konzentration der Wirtschaft vereinbar ist.
Wenn irgendwo, so kann hier die den heute gedrückten Klassen
zu leistende Hülfe nur Hülfe zur Selbsthülfe sein. Der klare Weg
[199] zu dem gedachten Ziel ist: dass unter dem Einfluss erhöhter
Arbeitsgemeinschaft Familienverbände sich bilden, zu deren
vornehmsten Aufgaben die gemeinschaftliche Sorge um die Er-
ziehung der Kinder gehört. So wäre eine Garantie geboten,
die einzig mögliche, wie mir scheint, dass die vor allem um
der Erziehung willen zu verlangende grössere Freiheit vom
Arbeitszwang (durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit
bei gleichzeitiger Sicherung eines angemessenen Arbeitsein-
kommens) auch wirklich der Erziehung zugute kommt; was
weder bei der starr individualistisch gedachten Familie noch
vollends bei gänzlicher Abwälzung der Erziehungspflicht auf
Andre der Fall wäre. So entstände etwas dem Fröbelschen
Kindergarten Aehnliches; aber es wäre eine ungleich organischere
Form der Hauserziehung, eine bloss erweiterte, von individua-
listischer Absperrung befreite Familienerziehung. Der Kinder-
garten, wie er heute möglich ist, bleibt dahinter notwendig
zurück, aber er liesse sich schrittweis dahin überführen, durch
Verbindung mit sämtlichen, irgendwie planmässig zu ver-
einigenden Anstalten zur Hebung der Lebenshaltung der Arbeiter
möglichst auf dem Wege der Selbsthülfe, und successiv stärkere
Heranziehung der Arbeiter und Arbeiterfrauen selbst, je nach
ihrer relativen Befreiung vom Arbeitszwange, zur Erziehungs-
arbeit in den an die Familienverbände der Arbeiter anzu-
gliedernden Kindergärten.


Einen andern Weg sehe ich nicht, bin aber jedem dank-
bar, der ihn zeigt. Man würde einer Verständigung vielleicht
geneigter sein, wenn man sich erst den Ernst der Frage ein-
mal ganz klar machte; wenn man sich bewusst wäre, was für
die Erziehung des Menschen gerade die ersten Lebensjahre
bedeuten. Die theoretische Pädagogik sieht darüber noch immer
in unbegreiflicher Leichtfertigkeit hinweg. Sie redet meist so,
als ob das Eigentliche der Erziehung erst mit dem schul-
pflichtigen Alter begänne, als ob das, was vorhergeht, nichts
mehr als eine geringfügige, spielende Vorarbeit für das Werk
wäre, das ernsthaft erst die Schule in ihre geschickte Hand
nehme. Und doch hat es schon Pestalozzi so ganz anders
gewusst. Es ist nicht zu viel gesagt, dass ebenso, wie das
[200] Wachstum des pflanzlichen und tierischen Organismus, auch das
geistige Wachstum des Menschen im frühesten Alter am mächtig-
sten und gestaltreichsten und die schaffende Kraft am grössten ist.
Das Kind und zwar sozusagen jedes Kind vollbringt in den
ersten Lebensjahren oft unter den schwierigsten Bedingungen
geistige Leistungen, denen sich nichts von dem, was der durch-
schnittlich Begabte später zustande bringt, auch nur entfernt
vergleichen lässt. Das Erste ist der Aufbau dieser ganzen
Welt unsrer Wahrnehmungen, die dem Erwachsenen bei jedem
Augenaufschlag fertig dasteht wie vom Himmel gefallen, die
aber das Kind förmlich aus dem Nichts erst schaffen muss.
Denn am Anfangspunkte seiner Entwicklung vermag es that-
sächlich nicht auch nur einen Punkt zu fixieren, eine Linie
zu verfolgen, geschweige dass diese unbegreifliche Fülle von
Gestaltungen, die wir einfach als gegeben hinnehmen, für es
schon da wäre. Eine weitere wundervolle Schöpfung ist die
der Sprache; eine zweite Welt gleichsam, welche jene erste
abbildet, nämlich sie in dem eigenen Material des Sprachlauts
gleichsam kopiert. Auch hier geht das Kind vom völligen
Nichts aus. Es muss nicht bloss die Lautkomplexe selbst
erst auffassen und selber bilden lernen, was zur Bildung der
Wahrnehmungen einerseits, der willkürlichen Bewegungen
andrerseits gehört und einen bedeutenden Teil der Willens-
bildung schon einschliesst; sondern das Grösste ist erst das
Verständnis dessen, was das Wort sagen will. Da ist oft die
gemeinte Sache für das Kind noch gar nicht da, sondern es
hat die Vorstellung selbst erst zu fassen, indem es das Wort
verstehen lernt. Aber selbst dass überhaupt das Wort etwas
sagen, d. h. zu verstehen geben will, muss das Kind erst er-
raten. Versucht man einmal sich psychologisch klar zu machen,
was das alles voraussetzt, so muss man erkennen, dass es,
alles in allem, eine ganz erstaunliche Leistung ist, gar nicht
vergleichbar etwa mit unserm Erlernen einer fremden Sprache,
geschähe es auch ohne Hülfe eines Buches oder Lehrers, allein
durch den Umgang mit solchen, die sie sprechen. Aehnlich ist
es aber mit allem geistigen Erwerb des Kindes bewandt. Es
erringt ja in derselben Zeit noch so grosse Dinge wie den be-
[201] wussten und willentlichen Gebrauch seiner Glieder, mensch-
lichen Gang und Handgeschicklichkeit, menschliches Gehaben
und Sichgeberden, überdies das Verständnis und die eigene,
selbstbewusste Teilnahme an all den gemütlichen Beziehungen,
in die es mit seiner kleinen Seele so bald schon warm und
kraftvoll, in der That mit einer Wahrheit, Energie und Rein-
heit, wie ein Erwachsener sie selten aufbringt, hineinwächst
und selbstthätig eingreift. Es bedarf keiner näheren Ausfüh-
rung, dass jede einzelne dieser Leistungen den Willen ebenso-
wohl wie den Intellekt unausgesetzt in Anspruch nimmt und
also entwickeln hilft. Auch genügt der blosse Hinweis, dass
diese Entwicklung, wie sehr immer Sache der „Natur“, auf die
Gemeinschaft mit den Erwachsenen und den zugleich Heran-
wachsenden (Geschwistern, Kameraden) gänzlich angewiesen
und durch die Art und Tiefe dieser Gemeinschaft, durch Ge-
sinnung und Verhaltungsweise der Umgebung gegen das Kind
durchaus bedingt ist, mithin unter pädagogische Erwägung
selbst dann fiele, wenn man so seltsam wäre, davon alles aus-
schliessen zu wollen, was Sache der „Natur“, d. i. selbstthätiger,
nicht von Andern (absichtlich und unabsichtlich) beeinflusster
Entwicklung ist.


Vorzüglich aber gehört hierher eine Erwägung, die sich
in entscheidender Weise dem Tiefblick Pestalozzis erschlossen
hat. Von der Bedeutung der kindlichen Entwicklung ganz
durchdrungen, unternahm er es, man muss wohl sagen, zum
ersten Mal, ihren Grundgesetzen ernstlich nachzugehen. Da
er mit seiner Analyse zunächst bei der Intellektbildung ein-
setzte, geriet er auf seine bekannten drei „Elementarpunkte“:
die Zahl, die Form, d. i. die vom Punkt durch Linie und
Fläche bis zum Raumgebild sich aufbauende körperliche Ge-
stalt der sinnlichen Objekte, und die Sprache. Er fand weiter,
dass dies alles sich hauptsächlich an die kombinierte Uebung
der Sinne und der Hand anknüpft. Hier griff nun die sozio-
logische Erwägung ein, dass alle Güter des gesellten Menschen
auf Arbeit, zuletzt auf der schlichtesten Arbeit, auf dem Hände-
werk beruhen und notwendig beruhen müssen. So wurde ihm
die Arbeitsbildung, die Bildung durch Arbeit zur Arbeit,
[202] zum eigentlichen Fundament der menschlichen Bildung über-
haupt. Nicht bloss sah er aus ihr beinahe das Ganze der
Verstandesbildung hervorgehen, sondern in dem Zwange zur
Wahrhaftigkeit, in der Erziehung des reinen Sachensinns,
welche die Arbeit bedeutet, kurz in den Ansprüchen, die sie
an den Willen stellt, zumal aber in der Gemeinschaft der
Arbeit
, die im Hausleben sich so rein wie nirgends sonst dar-
stellt, erkannte er zugleich die allerwesentlichsten Grundlagen
zur Erziehung des Willens. Hierin ist eigentlich seine ganze
Theorie der Willensbildung enthalten; auch seine tief wahren
Beobachtungen über die religiöse Erziehung, die er wesentlich
als sittliche versteht, führen zuletzt darauf zurück. Wir stehen
jetzt auf der Höhe, den Gehalt dieser Gedanken zu würdigen.
Fröbel hat dann gleichfalls und in mehr systematischer Aus-
führung die Handübung in Verbindung mit der Muskelübung über-
haupt und andrerseits der Uebung der Sinne in den Mittelpunkt
der frühsten kindlichen Erziehung gestellt. Die industrielle Not-
arbeit, an die Pestalozzi praktisch anzuknüpfen durch die zu-
fälligen äusseren Bedingungen, an die sein erstes pädagogisches
Wirken sich gebunden fand, veranlasst worden war, deren er-
ziehende Kraft aber eine ungemein dürftige und einseitige ist,
ersetzt Fröbel durch eine frei spielende, aber eben im Spiel plan-
volle, möglichst alle im Kinde schlummernden Kräfte aufrufende
und somit übende Thätigkeit, bei der besonders der sittliche und
ästhetische Faktor ganz anders in Wirksamkeit treten kann,
ohne dass die Vorbereitung zur später zu leistenden nützlichen
Arbeit Schaden zu leiden braucht.


Denkt man sich die kindliche Erziehung so gestaltet, wie
sie allen diesen ineinandergreifenden Erwägungen zufolge
sich gestalten würde, so lässt sich wohl sagen, dass die Be-
fassung damit schon wegen des unerschöpflichen Studiums,
zu dem sie Stoff bietet, und der grenzenlosen Anregung zu
eigener Erfindung keine zu niedrige oder geistlose Sache auch
für den gereiften Mann, dass sie zugleich für den sonst schwer
Arbeitenden die köstlichste Erholung sein würde. Auch giebt
es keine Freundschaft, keine Kameradschaft von gleicher Süs-
sigkeit und Echtheit, wie ein unverdorbenes Kind sie zu bieten
[203] imstande und gerade dem reifen Manne am hingebendsten zu
bieten bereit ist. Wir sind nur in der Regel bei weitem nicht
reif genug dazu. Ich möchte den Satz wagen, dass die Reife
der Bildung des Erwachsenen sich misst an dem Verständnis
der Kindheit und dem Respekt vor ihr, der in ihm lebt.


Unsere Grundvoraussetzungen haben sich bis dahin be-
währt. Was ihnen in der thatsächlichen Lage bisher nicht
entspricht, erklärt sich aus dem Charakter der gegenwärtigen
Zeit als einer überaus schwierigen Uebergangsperiode, deren
wandelbare, von heut auf morgen ungewisse Zustände für eine
Theorie, die nicht bloss heute richtig sein möchte, keine brauch-
bare Unterlage bieten. Selbst diese wirre Lage aber bestätigt
unsre Voraussetzungen in dem Sinne, dass sie verständlich
wird als ein bestimmtes Stadium des Uebergangs von dem,
was war, zu dem, was kommen muss.


§ 21.
Soziale Organisationen zur Willenserziehung:
2. Die Schule.


Im Unterschied von der unfertigen Gestalt der häuslichen
Erziehung lässt sich von der Schulerziehung sagen, dass sie
in den Grundzügen fertig dasteht. Sie bietet daher die sicherste
Grundlage einer empirischen Erprobung unserer Theorie.
Und nirgends bewährt sie sich so rein und deutlich wie eben
hier.


Wodurch ist unter allen Veranstaltungen zur Erziehung
die Schule so auffallend bevorzugt? Sichtlich dadurch, dass
sie in ausgeprägtester Weise Organisation und zwar aus-
schliesslich dem Erziehungswerk dienende Organisation ist.
So entspricht es der Natur der Erziehungsstufe, deren Zentrum
in der Willensregelung als solcher liegt. Willentliche
Regelung des Thuns ist der Grundcharakter aller Organisation;
deswegen muss auf dieser Stufe die Organisation so merklich
hervortreten, und zwar in einer Form, die ausdrücklich als
solche auf den zu Erziehenden wirken will, die überhaupt
keinen anderen Zweck hat als den, zu erziehen. Daraus ver-
[204] steht sich die ganze Eigentümlichkeit der Erziehung, welche
die Schule leistet. Die Fügung des ganzen äusseren und selbst
inneren Verhaltens in eine feste Gesetzesordnung, die den in
die Schule Eintretenden gleich von der Schwelle an umfängt,
genau so lange, als er ihr zugehört, festhält und während
dieser Zeit fast unausgesetzt überwacht, findet in der That
sonst nirgends ihresgleichen. Man mag den Waffendienst an-
führen, der eine selbst noch straffere, bis ins Einzelste ausge-
arbeitete Regelung aufweist, wo sozusagen kein Muskel zucken
darf ausser auf Kommando. Aber teils fällt das ganz unter
den Begriff Schule; es wird doch da jedes Einzelne gelehrt und
gelernt, eingeschult, „exerziert“; teils ist es im Vergleich zu
der hier gemeinten eine höchst einseitige Art der Schulung.
Dem leicht übertriebenen Drill in der einzigen Richtung der
körperlichen und zwar nur in bestimmten Beziehungen ver-
standenen körperlichen Ausbildung steht gegenüber eine fast
gänzliche Abwesenheit positiver Disziplin nach andern z. B.
moralischen Seiten; wogegen die eigentliche Schule die köst-
liche Aufgabe hat, alle Seiten der menschlichen Ausbildung
systematisch zu umspannen und in normale Beziehungen zu
setzen.


Aus unserm Prinzip versteht sich die Notwendigkeit einer
solchen Organisation, und zwar für eine bestimmte mittlere
Stufe zwischen Kindheit und gereiftem Menschentum. Offen-
bar reicht die allgemeine Erwägung dazu nicht aus, dass über-
haupt ein geregeltes Thun des Erfolges sicherer ist. Dem stände
gegenüber, dass Freiheit gerade in der Erziehung wahrlich
auch ihr Recht hat; ein Bedenken, das mehrere grosse Theo-
retiker sogar dahin geführt hat, den Schulbetrieb der Bildung,
eben jene gepriesene äussere Regelung der Bildungsthätigkeit,
überhaupt zu verwerfen oder doch auf ein kleinstes Maass
zurückführen zu wollen. Die Rechtfertigung für die Schule
liegt vielmehr eben darin, dass die Einlebung in einen der-
artigen Organismus an sich pädagogisch wertvoll, ja not-
wendig ist. Sie hat, auch ganz abgesehen von den besonderen
Zwecken des Unterrichts, die möglicherweise auch anders er-
reicht werden könnten, den erziehenden Wert, den Geist der
[205] Regel und der Ordnung überhaupt dem werdenden Menschen
einzuprägen und gleichsam zur andern Natur werden zu lassen.


Darin liegt aber zugleich die Beziehung der Schule zur
sozialen Organisation, die wir unsern Prinzipien gemäss
erwarten müssen. Eine überraschende Analogie thut sich auf
zwischen der Schule und den sozialen Ordnungen, vorzüglich
dem Recht. Der diktatorische Ausspruch von Geboten oder
„Vorschriften“, denen nachzuhandeln jedem in die fragliche
Organisation (die Rechtsordnung) Eintretenden zur Pflicht ge-
macht wird, die schon Protagoras klug den „Vorschriften“
des Schreiblehrers verglich; die Strafbestimmung für den Zu-
widerhandelnden, die Belohnung durch öffentliche Auszeich-
nung, durch Aufrücken zu einem höheren Platz z. B. und gar
durch lächerliche äussere Abzeichen, was zwar in den Schulen
glücklich abgekommen ist; überhaupt dieser ganze bis auf
Wort und Geberde, vorschriftsmässiges Material u. s. w. sich
erstreckende Formalismus des öffentlichen Lebens bietet
zu den Gesetzen und Gebräuchen der Schule eine schlagende
Analogie, die sich den ältesten Sozialforschern aufdrängen
musste und deren Grund nur in irgend einem koinzidierenden
Momente gesucht werden kann. Man vergleiche etwa in der-
selben Hinsicht mit dem Recht die Wirtschaft. Sie fordert
im Gegenteil möglichste Bewegungsfreiheit; denn sie muss sich
der jeweiligen Lage bis ins Individuellste anschmiegen können.
Dennoch kann sie der Form des Rechtes nicht entbehren, denn
jede soziale Thätigkeit bedarf ihrer, doch ohne darin aufzu-
gehen. So muss sich zu dem Materialen der Bildungsthätig-
keit, der Entfaltung der Thätigkeitstriebe, das formale Ele-
ment der äusseren Willensregelung in der Erziehung verhalten,
und zwar muss die Form, wie dort, als etwas Eigenes, in sich
Gegründetes zum Bewusstsein kommen. Das leistet die Schule,
und sie hat darin ihre ganz eigentümliche, in sich abge-
schlossene Aufgabe.


Auch erstreckt sich dies formale Element thatsächlich
auf alle Seiten oder Richtungen menschlicher Bildung. So
gehorcht zwar schon die ungeschulte Sprache des Kindes der
Sprachregel; sie ist ihm praktisch so wohl bewusst, dass es
[206] sie sogar weit strenger beobachtet als die Sprache der Er-
wachsenen, die weit mehr Ausnahmen kennt. Aber diese
Regelmässigkeit ist grösstenteils nur mechanische Wirkung
des Gesetzes der Sparsamkeit oder richtiger des Trägheits-
gesetzes. Etwas ganz Anderes ist es, die Regel als solche
auffassen, sie in eigenem abgesondertem Bewusstsein haben
und sein Sprechen ihrer Herrschaft systematisch unterstellen,
wie es die Schule lehrt. So walten schon im Aufbau der
menschlichen Wahrnehmungen die schlichtesten Gesetze der
Mathematik, Mechanik, Optik u. s. w. Der Blick, die Füh-
rung der Hand, fast jede Bewegung der Glieder folgt dem
Gesetze des kürzesten Weges. Auch kann man nicht sagen,
dass diese Gesetzmässigkeit dem Kinde gänzlich unbewusst
bliebe. Das zweijährige Kind z. B., das seinen Baukasten
einräumt (was das intelligenteste Tier ihm schwerlich nach-
thut) oder seine kleinen Bauten aufführt, beweist mit der
That die praktische Kenntnis einfachster geometrischer, mecha-
nischer, optischer Verhältnisse. Aber etwas ganz Anderes ist
es, das Gesetz als solches abzusondern und in einem eigens
darauf gerichteten Bewusstsein festzuhalten. Das ist der eigent-
liche Unterschied zwischen Schulerziehung und Hauserziehung.
Der Ort und die sonstigen äusseren Umstände, die Person des
Lehrenden, das alles macht ihn nicht aus. Ein sonst durchaus
schulmässiger Unterricht kann daheim von den Eltern, ein
ganz hausmässiger in eigenem Lokal von angestellten Personen,
getrennt von der Familie, unter öffentlicher Leitung und Auf-
sicht erteilt werden. Auch der Umfang des zu Leistenden
entscheidet nicht. Wir erkannten es schon als eine Art op-
tischer Täuschung, dass der geistige Fortschritt in den ersten
Lebensjahren geringer sei als in der Schulzeit. Der Unter-
schied ist vielmehr qualitativ; er liegt in dem ausdrücklichen
Bewusstwerden der Form der menschlichen Bildung und darum
in der absichtsvollen Leitung der Bildungsthätigkeit. Regel
und Ordnung soll gewiss auch in der häuslichen Erziehung
walten, aber sie soll nicht zu ausdrücklichem Bewusstsein
kommen. Das Kind soll in ihr als in seinem Elemente leben,
aber sie so wenig spüren, wie die Lebensluft, die es allent-
[207] halben umgiebt. Etwas völlig Neues ist dem gegenüber die
bewusste und willentliche Fügung in eine nicht selbstverständ-
liche noch auf den Einzelnen zugeschnittene Ordnung, wie die
Schule sie fordert. Und diese beschränkt sich nicht etwa auf
die äussere Haltung und Zucht, sie erstreckt sich ebenso auf
Gedanken und Gedankenausdruck des Schülers.


So ergiebt sich ein durchaus einheitlicher Begriff dessen,
was die Schule in intellektueller wie moralischer Hinsicht zu
vollbringen hat. Es ergiebt sich zugleich, dass in der Schul-
erziehung, gegenüber der noch ungeschiedenen Einheit von
Intellekt- und Willensbildung auf der ersten Stufe, eine be-
stimmte Scheidung beider nötig wird. Es soll bei ihr nicht
bleiben, aber sie ist für diese Stufe unerlässlich, gerade damit
die eigentümlichen Gesetze einerseits des Verstehens, andrer-
seits des Wollens sich zu Begriff und Erkenntnis abklären
können.


Und zwar fällt das Hauptgewicht sachgemäss auf die
Seite der Intellektbildung; d. h. die zentrale Aufgabe der
Schule ist der Unterricht. Auch was sie zur Erziehung
beiträgt, vermag sie nur dadurch, dass sie den Unterricht in
die Mitte stellt und die Erziehung, scheinbar wenigstens und
äusserlich, ihm unterordnet. Die Erhebung vom Trieb zum
Willen beruht ja auf der Konzentration des Bewusst-
seins
(§ 8). Diese giebt erst der anfangs bloss vorhandenen
blinden Tendenz die sichere Richtung auf ihr Objekt, die den
Willen vom willenlosen Trieb unterscheidet. Das ist an sich
logische, noch nicht ethische Leistung. Dass darin gleich-
wohl auch ein Faktor der Willensbildung unmittelbar liegt,
begreift sich: das logische Gesetz zwar ist an sich nicht Ge-
setz des Willens, aber das Denken nach dem Gesetz, das
Denken des Gesetzes selbst, dies Thun steht unter der Bot-
mässigkeit des Willens. Der Unterricht lehrt nicht bloss
richtig denken, er lehrt richtig denken wollen; er lehrt es,
indem er in der Kraft des logischen Bewusstseins selbst, der
Gedankenkonzentration, die Kraft zu wollen, nicht bloss
blinden Antrieben zu folgen, entwickelt. So mag man von
„erziehendem Unterricht“ reden. Oefter freilich hat das allzu
[208] bequeme Schlagwort gedient zu verschleiern, dass das Zentrum
der Schulerziehung notwendig im Unterricht des Verstandes
liegt. Dieser schliesst ein wesentliches Stück der Willens-
bildung zwar ein, aber enthält nicht das Ganze und Eigen-
tümlichste der letzteren. Das verbleibt dem „Leben“; dem
Leben vor, neben und nach der Schule; auch dem Leben in
der Schule, denn auch sie ist ja ein Leben, d. i. eine Form
organisierter Gemeinschaft, aber nur eine neben andern; ein
Staat im kleinen, wie man richtig gesagt hat; damit zugleich
das vorzüglichste Mittel der Einlebung in die weiteren sozialen
Ordnungen, die den aus der Schule Austretenden dann mit
ernsterem Zwang umschliessen.


Indem wir so den Beitrag der Schule zur Willensbildung
genau umgrenzen, verkürzen wir ihn wahrlich nicht. Er reicht
ganz so weit wie der Anteil des Intellekts an der Willens-
entwicklung und wie die Bedeutung der sozialen Ordnungen
für sie. Daraus folgt aber, dass die Schule ihre erziehende
Wirkung ganz nur als Nationalschule zu entfalten ver-
mag. Ihre Grundidee ist, dass an dem Segen der Schulung
nicht bloss alle teilhaben, sondern in gewissem Sinne alle
gleichen Teil haben sollen. Dieser gewisse Sinn bedarf
aber erst sorgfältiger Feststellung. Alle menschliche Bildung
ist in der Wurzel eine, die zu entwickelnden Grundfähigkeiten
sind in allen nicht geistig Verstümmelten vorhanden und in
allen dieselben. Aber das begründet noch nicht die Forderung
gleicher Schulung, denn es gilt nur von den generellen Grund-
fähigkeiten; im besonderen sind die Anlagen vielmehr äusserst
verschieden. Der Sinn der gleichen Bildung aller kann also
keinesfalls der sein, dass die Bildung aller bei ihrem Ab-
schluss nach Umfang und Inhalt dieselbe sein müsste. Son-
dern es ist die Meinung, erstens, es habe an sich jeder An-
spruch auf gleiche Sorgfalt für seine Bildung, der schwächer
Begabte sogar mehr als der von der Natur Bevorzugte; weil
die grösstmögliche Entfaltung aller vorhandenen geistigen
Keime in aller Interesse liegt. Dabei kann und muss wohl
das Maass und die Richtung der Ausbildung für die Einzelnen
verschieden sein. Nichts wäre den Grundgesetzen der Bildung
[209] mehr entgegen als eine künstliche Beschränkung auf der einen
und eine ebenso künstliche Hinauftreibung auf der andern
Seite, in quantitativer oder qualitativer Richtung. Die Forde-
rung der Gleichheit besagt aber noch ein Zweites, nämlich
dass durch die Art der Schulung das Bewusstsein der Gemein-
schaft der Bildung, der Einheit des letzten Bildungsziels für
alle auf jede Weise geweckt und lebendig erhalten werden
muss; dass ein jeder lernen soll seinen Anteil an Bildung, ob
gross oder klein, als Bestandteil des geistigen Gemeineigen-
tums, nicht als sein Sonderrecht anzusehen; als ein anver-
trautes Gut, das er nur im Sinne des Ganzen zu verwalten,
möglichst für alle nutzbar zu machen, zu erhalten und zu
mehren verpflichtet ist.


Das also muss der Sinn und Geist sein, in dem die
Schule im ganzen organisiert und im besondern und einzelnen
geführt wird. So kann sie erst ganz die erziehende Wirkung
üben, die an sich in ihrer Macht steht. Und wenn etwas an
der Sache der Menschheit noch nicht verzweifeln lässt, so ist
es die Beobachtung, dass die Idee der Nationalschule doch
feste Wurzeln schon gefasst, dass sie mit wunderbarem
logischem Zwang von den fortschreitenden Nationen eine nach
der andern ergriffen und sich in grossen organisatorischen
Schöpfungen durchgesetzt hat. Sie muss wohl sich durch-
setzen, sogar der Selbsterhaltungstrieb der Völker erzwingt
es; denn zu augenfällig ist, wie eine geschulte Nation um ein
Unermessliches jeder ungeschulten überlegen ist, möchte sie
auch sonst intelligent genug, an Sinnesschärfe und Gewandt-
heit vielleicht hervorragend, auch sozial friedsam und ruhig,
gemeinsinnig und tapfer sein, wie es ja manchen wilden Völker-
schaften nachgesagt wird. Auch ein solches Volk kann wohl
in seinem engen Kreise ein zufriedenes Dasein führen, aber es
wird weder fortschreiten noch, was fast dasselbe ist, sich ver-
änderten Lebensbedingungen leicht anpassen können. Es ver-
bleibt im Stande der Kindheit, einer glücklichen, so lange es
nicht gestört wird, einer ganz hilflosen, wo die männlich ge-
reifte Kraft des geschulten Geistes ihm feindlich entgegentritt.
Natorp, Sozialpädagogik. 14
[210] Selbst die Klassen einer einzigen Nation müssen sich in ähn-
lichem Verhältnis gegenüberstehen, so lange und in dem
Maasse wie die Schulbildung oder auch nur gewisse höhere
Grade derselben das Privileg einer Klasse sind. Nur wird
sich innerhalb eines Volkes die Kluft nicht leicht bis dahin
erweitern, dass sie nicht bei entschiedenem Willen wieder ge-
schlossen werden könnte. Die Idee der Nationalschule ist un-
trennbar von der demokratischen Entwicklung der modernen
Völker; durch sie ist ein Volk im modernen Sinne überhaupt
erst möglich; und es lässt sich mit Bestimmtheit vorhersagen:
die Völker werden fortan die führenden sein auf Erden, welche
diese Idee am reinsten verwirklichen.


Welche Organisation des Schulwesens nun würde
dieser Idee etwa entsprechen? — Zuerst, es dürften nicht von
Anfang an nach Rang, Lehrplan und Berechtigungen ver-
schiedene Schulen neben einander bestehen, sondern eine einzige
Schulgattung müsste zunächst alle Kinder aufnehmen, und es
müsste an der vollen Gemeinsamkeit der Schulerziehung so
lange festgehalten werden, als irgend die notwendige Rücksicht
auf die besonderen Forderungen der Berufsbildung es gestattet.
Denn die Sonderung ist allein durch die verschiedenen Er-
fordernisse der einzelnen Berufe bedingt; die Berufsbildung
aber ist nach Pestalozzi’s Grundsatz unbedingt unterzuordnen
der humanen Bildung d. i. der möglichst gleichmässigen,
harmonischen Entfaltung der menschlichen Grundkräfte. Die
Berufspflicht selbst erwächst erst aus dem sittlichen Verhält-
nis des Einzelnen zur Gemeinschaft. Sie kann im eigenen
Bewusstsein des Menschen nur lebendig sein, wo das Bewusst-
sein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bis zu unerschütter-
licher Festigkeit erstarkt ist. Das ist aber allgemein nur zu
erreichen, wenn jedem bis zum geringsten herab ein voll-
gewichtiger Anteil an menschlicher Grundbildung, es koste
was es wolle, gewährt wird; wenn aller Unterschied der
Stände und Klassen hinsichtlich des Anspruchs auf allgemeine
Menschenbildung verschwindet. Das haben Pestalozzi, Fichte,
Schleiermacher gefordert, das der Frh. vom Stein und alle
Führer der damaligen Neugründung der Schule Preussens zur
[211] Wahrheit zu machen gestrebt: dem verderblichen „inneren
Kriege“ der Stände und Klassen gedachten sie vorzubauen
durch die einheitliche Grundlegung eines „nationalen“,
d. h. die ganze Nation umfassenden Bildungswesens. Das
ist leider sehr in Vergessenheit geraten; heute ist es nicht
selten ausgesprochener Grundsatz, und weit häufiger wird still-
schweigend danach gehandelt, dass die „höhere“ Schule das
Vorrecht der „höheren“ d. i. zahlungsfähigeren Klassen sei;
dass in Rücksicht gerade auf die sozialen Unterschiede mög-
lichst von Anfang an getrennte Schulen existieren müssen.
Das ist ebenso naiv wie der Anspruch, weil man hat, desto
mehr zu erhalten, desto grössere Vorteile sogar aus den ge-
meinen
Gütern der Nation ziehen zu dürfen. Die „Volks-
schule“, die ihrer Bestimmung nach die Nationalschule hatte
sein sollen, ist dadurch herabgedrückt zur Schule der untern
Volksschichten, zur Proletarierschule, nicht selten geradezu
zur Armenschule. Eine Aenderung darin ist nicht zu er-
warten, so lange das Interesse eben derer, durch die sie zu
bewirken wäre, sich der Volksschule nicht nur nicht zu-
wendet, sondern gar ein entgegengesetztes Interesse an der
geistigen Kurzhaltung der Massen sich unverhüllt ausspricht.
Die Folge ist, dass das Kind sogar durch die Schule selbst
darauf hingewiesen wird, sich als Angehörigen der bevor-
rechteten weil besitzenden, oder aber der benachteiligten weil
nichtbesitzenden Klasse zu fühlen, m. a. W., dass die Schule
selbst jenen zerstörenden „inneren Krieg“, den sie hatte aus-
rotten sollen, nur schüren und von Geschlecht zu Geschlecht
in wachsender Progression fortpflanzen hilft.


Soll das vermieden werden, so muss die Volksschule zu
dem thatsächlich werden, was sie dem Prinzip nach doch hat sein
sollen, zur allgemeinen obligatorischen Schule für alle. Und
zwar dürfte und sollte sich der pflichtmässige Besuch der all-
gemeinen Volksschule auf einen vollen, in sich abgeschlossenen
Kursus von (sage) sechs Jahren erstrecken. Man träte dann
normal mit zwölf Jahren in eine oder die andere höhere Schule
über; nicht beliebig in die eine oder andre, sondern streng
nach den Leistungen in der Primärschule. Für alle höheren
[212] Schulgattungen ohne Unterschied würde das unberechenbare
Vorteile einschliessen.


Eine Mehrheit von Schulgattungen für die zweite Stufe
dagegen, etwa für eine zweite Schulperiode vom 12. bis 18. Jahr,
ist um der Berufsteilung willen unerlässlich. Namentlich wird
eine Scheidung auf lange hin notwendig bleiben zwischen der
Vorbereitung zu solchen Berufen, die einer tiefgehenden spezial-
wissenschaftlichen Ausbildung bedürfen, und denen, die ihrer
entraten können, dagegen gewisse, möglichst früh zu erwerbende
Fertigkeiten beanspruchen; im allgemeinen also zwischen der
Vorbildung zu studierten Berufen einerseits, gewerblichen
andrerseits. Für jene ist die heutige „höhere“ Schule, oder
sind vielmehr die verschiedenen Gattungen solcher im all-
gemeinen wohl geeignet; normal als Vorstufen zur Universität
einerseits, den technischen Hochschulen andrerseits. Die Schule
höchster Gattung hätte nur die nach theoretischer Seite Be-
fähigtsten aufzunehmen, dann aber auch entsprechend hohe An-
forderungen zu stellen. Es ist mir nicht zweifelhaft, dass diese
höchste Gattung an dem Ideal des „neuhumanistischen“ Gym-
nasiums festzuhalten hätte; ich meine an der Verbindung einer
breiten Grundlage zu tiefdringendem Kulturstudium nicht ohne
die klassischen Sprachen, besonders das Griechische, und eines
nicht minder ernsten mathematischen und mathematisch-physi-
kalischen Studiums. Hingegen ist das gegenwärtige numerische
Uebergewicht des humanistischen Gymnasiums durchaus un-
gesund, es drückt das Niveau des Gymnasiums selbst tiefer
und tiefer, während es zugleich sämtliche Parallelanstalten in
ihrer sachgemässen Entwicklung empfindlich hemmt. Es sollten
also die Anforderungen des humanistischen Gymnasiums auf
ihrer vollen Höhe erhalten, ja gesteigert, aber dann auch der
Zugang zu dieser Anstalt Unfähigen aufs strengste versperrt
werden. Wie das anders als auf Grundlage der allgemeinen
Volksschule ausführbar ist, vermag ich nicht einzusehen. Beim
zwölfjährigen, sechs Jahre gemeinsam mit den andern geschulten
Kinde liesse sich ein Urteil über die Befähigung mit ausreichender
Sicherheit abgeben, während jetzt über das sechsjährige Kind
eine nur schwer rückgängig zu machende Entscheidung betreffs
[213] der ganzen Schullaufbahn voraus getroffen wird, bei der der
ausschlaggebende Faktor lediglich das Geld oder die ehrgeizige
Absicht der Eltern zu sein pflegt. Für die gewerblichen Berufe
gehörte dagegen eine eigentliche Gewerbe- oder Realschule,
die mit einem Grundstock allgemeinbildender, für alle gemein-
samer und obligatorischer Fächer eine möglichst reiche Fülle
von Fachkursen verbände, zwischen denen die Wahl freistände,
oder vielmehr durch den Beruf, für den man sich entscheidet,
bestimmt wäre. Und zwar nehme ich für diese ebenfalls einen
sechsjährigen Kursus an. Sie würde dann über die Leistungen
der heutigen Volksschule, auch wenn man die Fortbildungs-
schule (etwa nach süddeutscher Art) hinzunimmt, um ein nam-
haftes hinausgehen. Dass die Fortbildungsschule, auch bei der
besten bisher erreichten Organisation, nichts mehr als ein
Notbehelf ist, ist ja fast allgemein anerkannt. Sie wird irgend
einmal abgelöst werden müssen durch die Vollschule für
alle bis zum
18. Jahr. Diese müsste dann nur eine sehr
freie Organisation in der beschriebenen Art erhalten, so dass
die Anfänge der beruflichen Ausbildung („Lehrjahre“) sich
teils in Gestalt von Fachkursen unmittelbar anschlössen, teils,
sofern das nicht angeht, daneben Platz behielten. Als Ueber-
gang dazu ist vorerst anzustreben, dass der Fortbildungsunter-
richt inhaltlich erweitert und vertieft, und in solche Stunden
(die Frühstunden des Tages) verlegt wird, wo die Kräfte noch
frisch und die Empfänglichkeit lebendig ist.


An diesen wenigen allgemeinen Sätzen in Betreff der
Schule dürfen wir es nach der Absicht dieser „Grundlinien“
genug sein lassen. Denn noch bleibt die dritte Art der Or-
ganisation zur Willensbildung zu behandeln übrig, von der
bisher nicht einmal der Name feststeht.


§ 22.
Soziale Organisationen zur Willenserziehung:
3. Freie Selbsterziehung im Gemeinleben der Erwachsenen.


Die Willensbildung verblieb auf der ersten Stufe ganz im
Gebiete des Sinnlich-Praktischen; sie erhob sich auf der zweiten
[214] zum Verständig-Praktischen; erst die dritte führt auf die Höhe
der praktischen Vernunft oder der freien Sittlichkeit. Das
wesentliche Mittel dazu ist Vertiefung des Selbstbewusstseins.
Diese aber ist einerseits durch Gemeinschaft bedingt, andrer-
seits führt sie zur Gemeinschaft (§§ 9, 10). Denn dasselbe
Gesetz des Menschentums, das für den Einzelnen den Grund
der Einheit seines Selbstbewusstseins ausmacht, begründet zu-
gleich die Einheit des Bewusstseins unter Vielen, ja unter
allen des Selbstbewusstseins Fähigen, d. h. der Idee nach unter
allen Menschen. So wurzelt im praktischen Selbstbewusstsein
das sittliche Bewusstsein, als identisch mit dem Gemeinschafts-
bewusstsein auf der Stufe der Vernunft.


Nun ist zwar die sittliche Gemeinschaft eine rein innere.
Sie geht nicht auf in der Gemeinsamkeit der Arbeit und der
um ihretwillen notwendigen äusseren Organisation; sie hat ihr
Leben und die Wurzel ihrer Kraft ganz in der inneren Ge-
sinnung der sich Verbindenden. Es fragt sich, wie eine solche
Gemeinschaft dennoch einer Organisation fähig, ja mit ihr auch
nur verträglich ist.


Man könnte sich denken, dass die äussere Ordnung selbst
— die der Wirtschaft, wenn wir sie der Materie, oder des
Rechts, wenn wir sie der Form nach bezeichnen — sich mit
sittlichem Geiste so durchdränge, dass sie gleichsam als ein
getreuer Abdruck der sittlichen Ordnung erschiene. Allein
wir wissen, dass das unbedingte, unendliche Ziel des Sittlichen
in den bedingten und endlichen Ordnungen der Wirtschaft und
des Rechts nie adäquat dargestellt sein kann. Andrerseits ist
die sittliche Ordnung eines eigenen und zwar sinnlichen Aus-
drucks zwar fähig, aber nur eines symbolischen. Es lässt sich
eine äussere Darstellung der seinsollenden sittlichen Ordnung
und damit Gemeinschaft denken, die nicht wie Wirtschaft und
Recht aus dem Zwange der Lebensnot erwächst und ihre
Spuren allenthalben sichtbar trägt, sondern in Freiheit, rein
aus dem Ausdrucksbedürfnis, gleichsam der poetischen Kraft
der sittlichen Vernunft hervorbricht. Eine allgemeine Festfeier
etwa, die ganz ihren Sinn erfüllte, die aus wahrer Einheit
der Gesinnung flösse, würde davon einen Begriff geben. Sie
[215] würde sich, auch bei allem Verzicht auf religiöse Bedeutung,
wohl unwillkürlich dem Vorbild einer religiösen Feier an-
schliessen, oder einzelne Züge wenigstens, die auf religiösem
Grunde ursprünglich erwachsen sind, gleichsam rudimentär be-
wahren. Nur, während das religiöse Symbol als heilig, d. i.
für alle und in alle Zeit verbindlich gelten will, würde jene
freie Symbolik sich ihrer Willkürlichkeit und Wandelbarkeit
bewusst bleiben; unverletzlich gälte ihr allein der Sinn, den
sie darstellen will, nicht die Darstellung.


Indem wir auf die Existenz und gute Begründung einer
solchen Symbolik der sittlichen Gemeinschaft ausdrücklich hin-
weisen, sind wir uns doch darüber klar, dass sie zum gegen-
wärtigen Zweck nichts oder nur Nebensächliches beiträgt.
Nicht nach dem äusseren Ausdruck einer vorhandenen inneren
Gemeinschaft ist jetzt die Frage, sondern nach einer Organi-
sation, die geeignet ist sie allererst herbeizuführen. Wirtschaft
und Recht und die ihnen entsprechenden Bildungsorganisationen
bereiten für sie den Boden, aber reichen noch nicht bis zu
ihr hin. Jenes ästhetische Mittel aber mag zwar im Zusammen-
hang mit anderen, tiefer eingreifenden Erziehungsmitteln eine
gewisse pädagogische Kraft entfalten, aber keinesfalls kann es
das erste und entscheidende Mittel der sittlichen Erziehung
der dem Haus und der Schule Entwachsenen sein. Es kann
Einheit der Gesinnung nicht ursprünglich bewirken, sondern
setzt sie schon voraus.


Nun handelt es sich hier um nichts Andres als die Voll-
endung menschlicher Bildung
. Es handelt sich darum,
dass als Zweck des Menschendaseins, und zwar jedes, auch
des geringsten, nicht Wirtschaft und Recht, nicht das Leben
der Arbeit allein und das öffentliche Leben, sondern die Höhe
des Menschentums selbst thatsächlich und nicht bloss theoretisch
zur Anerkennung gebracht werden muss. Diese Vollendung
des Menschentums ist aber nicht zu denken als eine angebbare
Summe oder ein geschlossener Inbegriff von wissenschaftlichen
Einsichten und technischen Fähigkeiten, Willensbestimmtheiten
und Handlungsweisen, ästhetischen Auffassungen und Leistungen,
und was man sonst noch aufzählen mag; sondern sie schliesst
[216] das Bewusstsein des unbegrenzt möglichen Fortschritts
in jeder einzelnen Richtung humaner Bildung wie in ihrer
zentralen Vereinigung ein. Der Gipfel der Menschenbildung
ist m. a. W. nicht ein definiter höchster Grad des Gebildet-
seins, sondern freieste Bildungsfähigkeit, unbeschränktestes
Vermögen der Selbstbildung; womit zugleich erst die volle
Befähigung, an der Bildung Andrer mitzuarbeiten, errungen wird.


Also wir sollen immer Lernende bleiben. Und so finden
wir uns zunächst auf bekanntem Boden: auf dem Boden der
Lehre, des Unterrichts. Nur wird, nachdem durch Haus
und Schule ein fester Grund bereits gelegt ist, das Weitere
Sache freier Bildungsthätigkeit sein. Diese braucht aber
einer Organisation nicht zu entbehren. Von der Möglichkeit
einer Organisation freier, nicht autoritativer Bildungsthätigkeit
giebt das beweisende Exempel die Hochschule. Sie ist auch
seit Plato schon als ein notwendiges, vielmehr als das eigentlich
zentrale Organ der sozialpädagogischen Organisation erkannt.


Aber sie ist nur in einseitiger Form bisher verwirklicht.
Eine Hochschule, die des Namens wert ist, existiert bisher
nur für eine enge, hoch bevorzugte Klasse sich wissenschaftlich
Bildender. Es ist eine noch junge, aber siegreich vordringende
Erkenntnis, dass etwas Entsprechendes für alle, die der gleichen
bevorzugten äusseren Lage und besonderen Vorbildung nicht
teilhaft sind, erst recht notwendig ist: die Idee der „Volks-
hochschule
“; in weitestgehender Fassung, der Hochschule
für alle. Man spricht auch von „Erweiterung“ des Hoch-
schulunterrichts (Extension of University Teaching), indem an-
genommen wird, dass die Bewegung auf das genannte Ziel
hin von den vorhandenen Hochschulen ausgehen müsse; wie
es mit vielverheissendem Erfolg in England und Nordamerika
geschehen ist. Man denkt sich, dass die alte Universitas litte-
rarum
zur wahren universitas, zu einem Mittelpunkt freier
Bildungsarbeit für die Gesamtheit zu werden bestimmt sei.
Auch wird nicht verkannt, in wie enger Beziehung diese recht
eigentlich „sozialpädagogische“ Bewegung zur konzentrativen
Entwicklung der Wirtschaft und zur demokratischen Entwick-
lung des öffentlichen Lebens steht. Die Zusammengehörigkeit
[217] und genaue Wechselbeziehung dieser drei Faktoren ergiebt
sich klar aus unseren Grundsätzen, nämlich aus der notwendig
parallelen Anwendung derselben drei regulativen Prinzipien
(§ 18) auf die drei Grundrichtungen des sozialen Lebens und
der sozialen Thätigkeit. Auf dieser Grundlage forderten wir
bereits eine allgemeine, gleichheitliche Organisation des Haus-
lebens in bildender Absicht, und einen nicht minder allgemeinen,
„nationalen“ Ausbau des Schulwesens. Die Analogie führt
zwingend auf eine im gleichen Sinne „nationale“ Gestaltung
freier Bildungsorganisationen für die Erwachsenen, wie die
„Universitätsausdehnung“ in England und den Vereinigten
Staaten sie deutlich anstrebt. Ein scharfsichtiger Soziologe*)
sieht den Kern der merkwürdigen Bewegung in der Entstehung
eines neuen „weltlichen Klerus“. Damit ist eben die Bedeutung
der Sache treffend bezeichnet, auf die unsere allgemeinen Er-
wägungen hinführen. Was anders hat der alte Klerus denn
darstellen wollen als eine schlechthin universale Organisation
der Fürsorge für das geistige Bedürfen aller, so wie man dies
Bedürfen und diese Fürsorge auf der damaligen Stufe sozialer
Entwicklung verstand und vielleicht nur verstehen konnte?
Das unterscheidende Kennzeichen eines „weltlichen“ Klerus
aber läge, nicht eigentlich und ursprünglich in der Ablehnung
des Uebersinnlichen, sondern in der Ueberwindung des Au-
toritätscharakters
der geistigen Fürsorge. Dieser folgt
keineswegs aus der Voraussetzung des Uebersinnlichen an und
für sich, sondern aus dem Anspruch einer bevorrechteten Klasse
„Geistlicher“, im Besitz der allein wahren Erkenntnis des
Uebersinnlichen und der nächsten, unmittelbarsten Beziehung
zu ihm zu sein, was ja freilich, sofern man damit Glauben
findet, die unüberwindlichste Autorität schaffen muss. Genau
das ist es nun aber, was die moderne Entwicklung schlechter-
dings ablehnt; was sie ablehnen muss, sogar vom religiösen
Standpunkt selbst; denn gerade das Göttliche für den Menschen
[218] gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine
selbst bei der Gottheit privilegierte Klasse, sondern allein an
„den“ Menschen oder an die Menschheit. So lange allerdings
die Religion selbst nicht mit Entschiedenheit diesen Standpunkt
einnimmt, ist die freie Bildungsarbeit an den Erwachsenen
schon gezwungen, sich völlig abseits der Religion auf den
Boden der blossen Sittlichkeit zu stellen, d. h. die Religion
zwar nicht abzulehnen, aber rein dem Gewissen des Einzelnen
zu überlassen.


Und zwar nicht, um nun etwa irgend eine andre Auto-
rität an deren Stelle zu setzen. Sie wird vielmehr demo-
kratisch
sein oder sie wird nicht sein. Sie wird sich in den
wirtschaftlichen und politischen Kampf der gesellschaftlichen
Klassen nicht mischen, aber das Befreiungsstreben der bisher
am Leitbande der Autorität und des augenblicklichen rohen
Interesses geführten Massen auch darin rein anerkennen.
Welches auch die heutigen, vorübergehenden Formen jenes
Kampfes sein mögen und welches seine Aussichten für eine
nähere oder fernere Zukunft, unzweifelhaft bedeutet er für die
unteren Klassen eine mächtige Aufraffung zu dem Mute eigener
Besinnung und selbstthätigen Ringens um ein edleres, mensch-
licheres Dasein. Keiner, der selbst in seiner Seele frei ist,
kann darin je eine Gefahr erblicken. Wäre es aber eine, nun
so gäbe es doch offenbar kein andres Mittel dawider, als dass
man der geistigen Macht die stärkere geistige Macht, über die
man zu verfügen meint, entgegenwirft. Man fasse immerhin
die brennend notwendige geistige Erziehung der Völker als
Kampf wider ihre gefährlichen Tendenzen auf; wird nur der
Kampf mit Waffen des Geistes ausgefochten, so muss er zum
guten Ende führen, gleichviel wer den Sieg behält. Trägt
doch im geistigen Streit der Besiegte nicht kleineren Gewinn
davon als der Sieger. So muss man denken — wenn man
die Wahrheit will und nicht die Macht um jeden Preis, auch
um den Preis der Wahrheit.


Vielleicht werden Gutmeinende immer noch einwenden,
dass wir in den alten Fehler fallen, von der Aufklärung des
Verstandes allein alles zu erwarten; was doch durch viel-
[219] fältige Erfahrung als hoffnungslos erwiesen sei. Auch der
„Universitätsausdehnung“ ist das oftmals zum Vorwurf ge-
macht worden, dass sie nichts als „einseitige Verstandesbildung“
anzubieten habe.


Dem gegenüber wäre zuerst an den schon geführten Nach-
weis zu erinnern, dass und weshalb die Schule und ihr wesent-
liches Mittel, der Unterricht, sich unmittelbar nur an den Ver-
stand wenden kann. Soweit die freie Bildung an dem Cha-
rakter des Unterrichts teilnimmt, gilt das also auch von ihr.
Aber, wenn überhaupt im Unterricht selbst ein Stück Er-
ziehung liegt, so ist zumal jene Befreiung des Gedankens, auf
die wir zielen, wahrlich auch eine sittliche Leistung. Sie be-
deutet die Erziehung zur ersten aller Tugenden, der Tugend
der Wahrheit
.


Sodann aber ist es in der That nicht unsre Meinung, dass
im blossen Unterricht die Erziehung der Erwachsenen sich
erschöpfe. Was darüber hinaus notwendig und möglich und
zwar in organisierter Art möglich ist, zeigt das Beispiel der
nordischen „Volkshochschule“, die ihre Zöglinge für einige
Wintermonate nicht zu blossem Studium, sondern zu einem
vielseitig erziehenden, geordneten Zusammenleben in länd-
licher Stille vereint. Ganz das Gleiche ist nun zwar für die
grossen und beständig wachsenden städtischen Arbeitermassen,
um die es sich heute und bei uns an erster Stelle handelt,
nicht unmittelbar zu erreichen; auch darf man nicht darauf
warten, dass die Bedingungen dafür etwa künftig einmal gün-
stiger liegen. Aber etwas ganz Analoges ist denkbar, nämlich
eine enge, geregelte Verbindung der freien Bildungsarbeit
unter den Massen mit aller sonstigen Sorge für ihr leibliches
und sittliches Wohl, und zwar unter möglichst starker Heran-
ziehung zu eigener Mitthätigkeit. Auch diesen Weg hat man
hier und da (z. B. in Ostlondon), wenn auch erst unsicheren
Schritts, betreten. Man erkennt, dass gleichzeitig gesorgt
werden muss für gesunde Wohnung, Ernährung, Krankenpflege,
Spiel und edle Unterhaltung, geistige Fortbildung und Kunst-
pflege unter den arbeitenden Klassen. Indem man sie so,
nicht etwa zu gängeln, sondern gerade zur Selbständigkeit zu
[220] erziehen bestrebt ist, wird man von selbst dahin geführt
werden, auch ihre wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen
unbefangener zu beurteilen. Man wird ja durch die Praxis
selbst fort und fort darauf gestossen, wie dies alles unlöslich
zusammenhängt. Und damit wird denn auch das gegenseitige
Misstrauen, das bis jetzt für alles proletarische Bildungs-
bestreben ein so schweres Hemmnis bildet, mehr und mehr
überwunden werden. In solcher Verbindung aber wirkt dann
der Unterricht nicht als blosse äussere Mitteilung von allerlei
„Kenntnissen und Fertigkeiten“, sondern er wird (wie ich
schon anderwärts gesagt habe) dem Arbeiter einen Lebens-
inhalt geben, eine Philosophie der Arbeit, oder, wenn man
will, eine Religion.


Also auch hier ist nichts von Grund aus Neues erst auf
die Bahn zu bringen, sondern ein überall keimhaft schon vor-
handenes Bestreben nur anzuerkennen und zu kräftiger Ent-
wicklung zu bringen. Auch darf es nicht irre machen, dass
das von heut auf morgen Erreichbare allerdings nur ein ärm-
licher Notbehelf sein kann. Es verhält sich damit nicht
anders als mit dem „Kindergarten“ im Vergleich mit der an
sich zu fordernden Gestaltung des Hauslebens und der Haus-
erziehung: man darf das einstweilen Erreichbare um so weniger
verachten, je sicherer eine allmähliche Ueberführung zu dem
an sich zu erstrebenden Zustand sich als möglich erkennen lässt.


Das ferne Ziel aber, das uns vor Augen steht, ist: Ver-
gemeinschaftung und damit Versittlichung des ganzen Lebens
eines Volks. Das wirtschaftliche und politische Leben ist
darin miteinbegriffen, doch so, dass es sich als bloss dienendes
Mittel dem edleren Zweck einer reinen Entfaltung des Men-
schentums unterordnet. Die gemeinschaftliche Bildungsarbeit
würde dann zum natürlichen Ausfluss, zur selbstverständlichen
Folge der Gemeinschaft des ganzen Lebens werden; es würde
nicht, wie jetzt, eine trennende Kluft erst künstlich zu über-
brücken sein, weil man sich von Anfang an auf gemeinsamem
Boden fände.


Das Ziel ist also, mit andern Worten, das von Plato
längst gezeigte: dass die Erziehung sich in den Dienst der
[221] Gemeinschaft stellt, das Leben der Gemeinschaft in seinen
mancherlei Richtungen ganz der Erziehung dienstbar wird;
dass alles zugleich, die wirtschaftlich-rechtliche Verfassung, eine
sehr systematische Pflege der Wissenschaft, eine an wohler-
kannte, zugleich sittlich zuträgliche Gesetze gebundene, nicht
minder das ganze Leben der Gemeinschaft durchdringende,
selbst zum Leben gewordene Kunst, und als Folge aus dem
allen eine einstimmige Ordnung auch des häuslichen Lebens
bis selbst zum Verkehr der Geschlechter und der Aufzucht
der Kinder, zu einem und demselben Ende: der reinen Ge-
meinschaft im Erkennen und Wollen des einen, ewigen Guten
zusammenwirkt; so dass auch, wer nicht bis zur höchsten
Stufe (der „Philosophie“, wie Plato sagt) durchdringt, doch
durch den ganzen Zug des Lebens in solcher Gemeinschaft
gleichsam mitfortgetragen und durch Sitte und richtigen In-
stinkt zu einer Lebensführung geleitet wird, wie sie den höch-
sten Zwecken der Gesamtheit entspricht oder doch nicht wider-
spricht.


Was am Ideale Platos der Korrektur bedarf, ist schon
gesagt: er hat die Bedeutung des wirtschaftlichen sowohl als
des politischen Faktors des sozialen Lebens, namentlich an-
fangs, nicht in vollem Umfang erkennen können. Zwar be-
richtigt sich der Fehler zum Teil schon bei ihm selbst wieder;
und Morus hat die nötige Korrektur mit sicherer Hand voll-
zogen. Aber doch bleibt es nötig, auf diesen Fehler ausdrück-
lich hinzuweisen, da das mittelalterliche Christentum, das unter
uns ja immer noch über eine ungeheure Macht gebietet, ihn
wiederholt und noch verschärft hat.


Ueberhaupt wird eine Auseinandersetzung mit der Reli-
gion
*) an dieser Stelle um so dringlicher, je sichtlicher sich
unser Ideal mit ihren uralten Forderungen berührt. Die neue
Bedeutung, die die Religion in den sozialen Kämpfen unsrer
Tage unleugbar gewonnen hat, beruht vielleicht gar nicht auf
einer wirklichen religiösen Erneuerung, von der man doch
[222] sonst so wenig spürt, sondern auf der wachsenden Erkennt-
nis eben der sozialen Bedeutung dieses zeitweilig allzu
sehr vernachlässigten Faktors. Diese Bedeutung glauben wir
aus dem Zusammenhang unsrer Grundanschauungen vom
sozialen Leben klar zu verstehen. Jene vollendete Gemein-
schaft
, die wir als Ziel aufstellen, ist ein so unendliches
Ideal wie die ewige Wahrheit. Und weil sie nun hienieden
stets unerreicht bleibt, so hat sie die suchende Phantasie der
Völker wie einzelner tief angelegter Menschen stets wieder,
sei es in ein überweltliches Jenseits geflüchtet, oder in einen
unmessbar fernen idealen Endzustand des Menschengeschlechts
hier auf Erden hinausgeschoben. Die Wissenschaft bescheidet
sich, dass sie vom Jenseits nichts zu sagen hat, und auch ein
Ziel unsres Erdenwallens, im Sinne eines mit Sicherheit ein-
treffenden herrlichen Endes der menschheitlichen Entwicklung
nicht zu errechnen vermag. Aber die Richtung des vom ge-
gebenen Punkte an einzuschlagenden Weges getraut sie sich
wohl anzugeben. Auch das Ziel ist sie imstande zu bestimmen,
obwohl nur in einer allgemeinen Formel, nur als „Idee“, d. i.
als bloss gedanklichen Richtpunkt zur Orientierung auf der
unendlichen Bahn endlicher Erfahrung. Sie begreift, dass dies
Ziel auf keiner gegebenen Stufe menschlicher Entwicklung
schlechthin erreicht auch nur gedacht werden darf. Und so
besteht die Aufgabe der Erziehung immer fort, wie für den
einzelnen Menschen, so für die Menschheit im Ganzen. Auch
mit allen jenen ineinandergreifenden Mitteln sozialer Erziehung,
die wir der Reihe nach erwogen haben, kann nichts Andres
erreicht werden als ein ungehemmtes Fortschreiten; nie
ein Stillstand beim erreichten Ziel. Das ist aber dem Sinne
der Religion ganz entgegen; sie lechzt nach etwas, wobei man
sich, wenigstens im Gedanken, beruhigen könne; was nicht
immer wieder unser sehnsüchtiges Verlangen täuscht. Sie
möchte dem tausendfältig in die Irre getriebenen Menschen-
geist ein seliges Genügen verschaffen, einmal für ewig;
nicht ihn rastlos immer wieder aufs neue hinaustreiben zu
fernerem und fernerem Suchen nach etwas, das, so scheint es,
doch ewig unfindbar bleibt.


[223]

Von diesem sehr bestimmten Unterschied abgesehen, der
den alten Gegensatz von „Wissen“ und „Glauben“, wie wir
meinen, aufzuhellen imstande ist, muss man doch anerkennen,
dass in der Geschichte des Menschengeschlechts die reli-
giösen Gemeinschaften allein
dem, was wir fordern,
einigermaassen nahe gekommen sind; näher zwar in dem, was sie
sein wollten, als in dem, was sie thatsächlich waren. Religion
hat doch das hohe Ideal einer wahrhaften, auf den innersten
Grund der Gesinnung zu bauenden Gemeinschaft, einer wah-
ren geistigen Einheit sogar des ganzen Menschengeschlechts, einer
teleologischen Einheit auch der Menschheitsgeschichte von An-
beginn an, in kühnem Glauben aufgestellt. Sie hat fest darauf ge-
traut, dass jenes überirdische Reich einer durch nichts mehr
zu trübenden seelischen Gemeinschaft kommen müsse, und dass
jeder ohne irgendwelche Ausnahme zum Bürger dieses Reiches
berufen sei. Sie hat das in grossen Zügen sogar zu verwirk-
lichen unternommen; aber freilich in jener unhaltbaren Los-
lösung des höchsten geistigen Seins des Menschen von den
sinnlichen Triebkräften seines Daseins hienieden, folglich vom
wirtschaftlichen, vom staatlichen Leben, von freier Natur-
erforschung und selbständig, human begründeter Sittlichkeit.
Sie hat deshalb am modernen, freier entfalteten Kulturleben
scheitern müssen, oder doch sich nur durch offenbares Preis-
geben ihres eigentlichen Kerngedankens damit äusserlich ab-
zufinden vermocht. Jeder Versuch, den neuen Most in diese
alten Schläuche zu füllen, führt, so fürchte ich, vom klaren
Wege ab.


Somit ist es allerdings nicht mehr als allein die letzte
Idee
, in der wir mit ihr noch zusammenhängen; das sei, um
auch nicht den Schatten des Verdachts einer unlauteren „Ac-
commodation“ aufkommen zu lassen*), ausdrücklich gesagt.
[224] Vielmehr mitten aus diesem „weltlichen“ Leben, aus Wirt-
schaft und Staat, kurz aus dem befreiten Menschheits-
gefühl
soll, unter dem wachsenden Einfluss menschlicher Wissen-
schaft und menschlicher Arbeit, das vertiefte Bewusstsein und
die energische Bethätigung der Gemeinschaft erstehen; soll ein
Gemeinleben sich gestalten, das in wirtschaftlich-rechtlicher
Gemeinsamkeit nicht aufgeht, sondern auf ihrer Grundlage das
ganze geistige Dasein des Menschen umspannt. Aber vielleicht
wird eben damit das Leben der Gemeinschaft von selbst einen
religiösen oder dem religiösen nächstverwandten Zug annehmen.
Es braucht der Glut und Tiefe des Gefühls, nämlich des
Menschheitsgefühls, des Unendlichkeitsgefühls, keines-
wegs zu entbehren; es mag darin selbst einen neuen Mittel-
punkt finden, in dem es geborgen ruht — sofern dem Menschen
ein Ruhen gestattet ist. Denn der Mensch lebt nicht von
der Vernunft allein; das unmittelbarere Leben des Gefühls fordert
auch sein Recht und wird es sich immer zu schaffen wissen.
Nur muss der Vernunft die Leitung und gleichsam die oberste
gesetzgebende Gewalt im Menschenleben unbedingt verbleiben.
Dafür wäre aber unter den gedachten Voraussetzungen die
Gewähr gegeben.


Es ist keine Botschaft vom Himmel, die wir zu verkünden
kommen; weder die alte noch etwa eine neue. Sondern es ist,
was aus der Entwicklung der Menschheit hier auf Erden als
Idee längst geboren, was von vielen der besten unsres Ge-
schlechts als Ziel bereits genannt und herbeigesehnt worden
ist. Und so bedarf es auch keiner Wunder und Zeichen aus
einer andern Welt, um das Ziel in dieser Welt verwirklicht
darzustellen. Sondern es bedarf nur des einzigen mutigen
Entschlusses der Menschheit, rein ihrer Menschenvernunft zu
folgen: Sapere aude!


§ 23.
Form der willenbildenden Thätigkeit. Uebung und Lehre.


Wir haben die Organisationsformen dargelegt, in
welche alle Arbeit an der Erziehung des Willens sich einfügen
muss. Es bleibt übrig, das Besondere der Erziehungs-
[225]arbeit, wie sie innerhalb jener Organisationen und unter ihrer
fortwährenden Einwirkung, aber unmittelbar durch Einzelne
an Einzelnen vollbracht wird, zu erforschen und unter allgemeine
Gesetze zu bringen. Und zwar fordert zuerst die Form der
willenbildenden Thätigkeit eine eigene Untersuchung. Es fragt
sich, in welcher allgemeinen Art vollzieht sich die Erziehung
des Willens, was ist das Allgemeine des Thuns hierbei, von
seiten des Erziehers und von seiten des Zöglings?


Auf diese Frage hat man seit alter Zeit geantwortet mit
der Aufstellung der drei Grundfaktoren der Erziehung: erstlich
der Natur oder Anlage des Zöglings; diese nimmt man als
gegeben an; zweitens der Uebung, und drittens der Lehre.
Dass von den letzteren beiden die Uebung, das unmittelbare
Thun, vorangehen muss und durch die nachfolgende Lehre nur
zum Bewusstsein ihrer selbst und damit zu grösserer Sicher-
heit und geregelterem Fortschritt gebracht wird, ist längst
erkannt und mit allem bis hierher Bewiesenen in klarem Ein-
klang. Soll das Thun, ja das Wollen gelernt werden, so
muss der Wille und die That erst einmal wagen sich einzu-
setzen, dann erst kann die Lehre wirksam eingreifen; nur so
ist es praktische Lehre, Lehre des Thuns, des Wollens selber.
Sie wird selbst nur wollend begriffen, also muss man zu diesem
Wollen schon vorbereitet sein; nur so kann sie dann umgekehrt
das Wollen befestigen und vertiefen. Andernfalls mehrt sie
nur den unnützen Ballast eines Wissens, das man mitschleppt,
ohne es in Fleisch und Blut zu wandeln. Umgekehrt kann
das Thun, und zwar von Anfang an, des Lichtes der Einsicht
nicht entbehren, wenn es nicht auf Schritt und Tritt ins Un-
sichere tappen und sein Ziel verfehlen soll.


Beide aber, Uebung und Lehre, müssen sich, wenn sie er-
ziehend wirken sollen, in einem und demselben Elemente der
Gemeinschaft verbinden. Nur in ihr wird das erziehende
Thun und Ueben eingeleitet, und geht dann die Lehre daraus
zwingend hervor. Das Zusammenthun fordert gegenseitige Ver-
ständigung des Voranschreitenden und Nachfolgenden, die durch
die gute Gewohnheit, über den zu gehenden Weg voraus Klarheit
zu suchen, schrittweis zur Verständigung mit sich selbst und
Natorp, Sozialpädagogik. 15
[226] damit zum eigentlichen Ursprung eines gebildeten Willens
führt. Gemeinschaft ist das Element der erziehenden Uebung
und Lehre in formaler Hinsicht, ebenso wie sie material das
Werk darstellt, das durch die erziehende Uebung und Lehre
schrittweis der Vollendung entgegengeführt wird.


Hieraus lässt nun das, worauf wir ausgehen, die Form
der willenbildenden Thätigkeit, also der erziehenden Uebung
und Lehre, sich ableiten. Uebung im praktischen Sinne ist jedes
erziehende, gemeinschaftliche Thun, praktische Lehre die er-
ziehende Verständigung der so Thätigen über dieses ihr Thun.
Dass aber beides erziehend, d. h. willenbildend sei, dazu sind
die bekannten drei Stücke erforderlich: es muss zunächst das
Interesse angeregt, die erst dämmernd sich entwickelnden Trieb-
kräfte durch Aufforderung, Reizung, Angebot geeigneter Ob-
jekte in Bewegung gesetzt, wie durch Anruf aus dem Schlummer
geweckt; zweitens dem erwachten, zur Bethätigung drängenden
Trieb die Einheit der Richtung, die Zielsicherheit, Sinn und
Bedürfnis nach Regel und Gesetz eingeprägt werden; und
eben damit drittens dem nunmehr bewussten Thun auch die
Richtung auf durchgängige Einheit des Zieles, das Selbst-
bewusstsein der Idee aufgehen. Damit wäre das Werk der
Erziehung vollendet, indem fortan der zur Freiheit entlassene,
selbstbewusste Wille die rechten Wege sich selber vorzeichnen
würde, ohne des Führers zu bedürfen. Das Lernen und Fort-
schreiten hört zwar nie auf, aber die Belehrung und Leitung
durch Andre wird Selbstbelehrung, Selbstleitung.


Dies Dreifache nun gestaltet sich in der Gemeinschaft des
Lehrenden und Lernenden, indem diese ganz in derselben
Stufenfolge sich entwickelt und successiv vertieft. Die erste
Stufe ist die der sinnlichen Abhängigkeit, in der sich die leicht
bewegten, ihrer selbst kaum bewussten Triebe in enger An-
schmiegung an den Willen des Führenden noch wie weiches
Wachs biegen und formen lassen. Hier geht die Gemeinschaft
noch völlig auf im unmittelbarsten, zartesten gegenseitigen
Mitempfinden, wie zwischen Mutter und Säugling. Im
Momente ihrer reinen Gegenwart ist ihr Einfluss fast allmächtig;
sie würde sich dagegen zu einer nachhaltigen, auch in die Ferne
[227] wirkenden erzieherischen Kraft nicht emporbilden, wenn nicht
mit wachsender Bewusstheit eine neue, anders geartete Be-
ziehung sich bildete, die erst zu einem eigentlichen Mit-
einanderwollen
führt. Hier ist schon ein freieres Verhält-
nis auf sich gestellter Personen, und anfangs überwiegt weit
der Drang der Selbständigkeit. Das ist nun die eigentliche
Krisis der Erziehung, dass jetzt der erstarkende Wille, ohne
seiner Eigenheit verlustig zu gehen, ja gerade im vollberechtigten
Drang nach Selbständigkeit, doch festen Halt findet an einem
überlegenen Willen, dessen sicherer Führung er sich in freier
Zuversicht und nicht mehr blosser sinnlicher Gebundenheit ver-
trauen kann; der, in dem Maasse, wie die nächsten, sinnlichen
Bande sich lockern, scheinbar durch das lose luftige Wort die
jugendliche Kraft zu zügeln und in die rechten Bahnen zu
lenken weiss. Die Aufgabe ist indessen nicht so schwer, wie
sie in abstrakter Betrachtung erscheinen kann. Die sinnliche
Abhängigkeit reisst doch nicht plötzlich ab, sie hört in der
That nie ganz auf, sie lockert sich nur, indem schrittweise die
Kraft des Selberwollens erstarkt. Und dann bildet sich, zu-
gleich mit dem Bewusstsein der Selbständigkeit des eigenen
Wollens, normalerweise das Verständnis für ein ebenso selb-
ständiges Wollen des Andern; das Selberwollen erstarkt am
Mitwollen des Andern und mit dem Andern, und so entsteht,
während die erste Art der Gemeinschaft zurücktritt, aber
keineswegs verschwindet, zugleich eine neue, freiere und weitere,
aber desto gesetzmässigere, gesetzbewusstere Gemeinschaft.
Es ist jener natürliche Gemeingeist, wie ihn jede Schule
oder Schulklasse, die in gutem Zuge ist, deutlich erkennen lässt.
Und damit ist dann auch der beste Grund gelegt für das
dritte: für eine solche Gemeinschaft der Willen, die auf reiner
gegenseitiger Verständigung, also nicht auf Mitempfindung
allein und dem Formalen des Mitwollens, sondern auf Mit-
vernunft
, auf der gewinnenden Kraft der Ueberzeugung
ruht. Das aber ist die eigentlich erziehende Kraft des selbst-
bewussten, sittlichen Wollens. Die Macht der Vernunft über
den Willen erscheint nur dann, und ist in der That, schwach,
wenn sie losgerissen von den beiden ursprünglicheren Trieb-
[228] kräften der Willenserziehung, Mitempfinden und Mitwollen,
ins Spiel gesetzt werden sollte; findet sie dagegen durch diese
den Boden schon bereitet, so kommt keine der andern Kräfte
an nachhaltiger Wirkung ihr gleich. Diese Stufe muss erreicht
werden, wenn die Wirkung der Erziehung nicht bloss für die
Zeit ihrer eigenen Dauer, sondern fürs Leben vorhalten soll.
Jene beiden ersten Stufen reichen allenfalls nur fürs Haus
und die Schule aus. Und auch da wird die Kraft der Ver-
nunft leicht unterschätzt; weil der erwachende Freiheitssinn
des Heranwachsenden sich gerade gegen den aufdringlichen
Einfluss des Erziehers leicht auch da sperrt, wo er vernünftigen
Gründen Gehör geben sollte. Der gleichstehende und sich
gleichstellende Kamerad, aber auch der Vater, der Lehrer, der
es versteht, dem Heranreifenden ein solcher Kamerad zu werden,
wird durch überlegene Vernunft leicht eine fast unbestrittene
Herrschaft üben.


So gestaltet sich der formale Gang der Erziehung in der
ganzen Uebersicht. Aber auch wiederum jeder Einzelakt des
erzieherischen Zusammenwirkens lässt sich in dieselben drei
Schritte zerlegen; wir nennen sie: Vorthun, Mitthun, Nach-
thun
. Das erste, was dem Erzieher obliegt, ist auch im
einzelnen überall das Interesse-wecken, das zur Nachahmung
reizende Beispiel oder Vorbild, das Zeigen und Vormachen.
Es folgt das Wachen über das eigene Thun des Lernenden
und unmittelbar eingreifende Nachhelfen; endlich das Nach-
prüfen und Nachthun des Zurückgebliebenen; ein neues Zeigen,
aber unter veränderten Bedingungen, daher mit andrer Wir-
kung. Durch den eigenen Versuch, auch wenn er missglückte,
ist die Aufmerksamkeit ganz anders rege geworden, als zu
Anfang, und die Kräfte vorbereiteter, nunmehr in der rechten
Art einzugreifen. So stellen diese drei Stufen des Zusammen-
thuns einen natürlichen Kreislauf dar, der sich auf immer
höherer Stufe wiederholt und so einen andauernden, streng
gesetzmässigen Fortschritt ermöglicht. In denselben drei Stufen
gliedert sich denn auch die Mitthätigkeit des Lernenden. Sie
beginnt mit dem noch fast passiven Merken auf das Vorgethane.
Es ist allerdings nicht ein blosses uninteressiertes Beobachten,
[229] sondern ein mehr und mehr interessiertes, endlich bis zum
Willensentschluss sich interessierendes. Auf zweiter Stufe ver-
knüpft sich mit dem Wagnis des Selberthuns vielleicht anfangs
noch ein ängstliches Ausschauen nach Hülfe, dann, indem vom
ersten kleinen Erfolg an der Mut wächst, wird die Hülfe und
das Ausschauen nach ihr mehr und mehr verworfen, bis es
schliesslich Ueberwindung kostet, sie überhaupt anzunehmen.
Umso mehr will auch das dritte gelernt sein: dass man sich
geduldig der Kritik unterzieht und zum Bessermachen des
Verfehlten willig ist. Das Ziel ist, dass man selbst an der
eigenen Leistung Kritik üben, sich selber unbefangen beurteilen
und berichtigen lernt. Es sind die wesentlichen Momente der
Lehrfähigkeit von seiten des Erziehenden, der Gelehrig-
keit
von seiten des Zöglings, nämlich insofern beides, das
Lehren wie das Lernen, am Willen liegt. Durch sie werden
die drei Grundfaktoren des Wollens: Trieb, Zielsetzung und
praktische Selbsterkenntnis, im geregelten Fortgang der Er-
ziehungsarbeit fortwährend in Uebung gesetzt und also entwickelt.


So also vollzieht sich in fortschreitender Vertiefung und
Erweiterung der praktischen Aufgaben der sichere Fortschritt
von der Heteronomie zur Autonomie. Besonders im
beurteilenden Rückblick auf das Gethane weitet und klärt sich
schrittweis die Absicht selbst; die Unzufriedenheit mit dem
Geleisteten wird zum immer schärferen Sporn des Fort-
schreitens. Daraus allenfalls erklärt sich das oft übertriebene
Gewicht, das man in der Willenserziehung aufs Bereuen ge-
legt hat. Der positive Sinn dieser Unzufriedenheit ist aber,
dass man sich der Unendlichkeit der Aufgabe des Sitt-
lichen bewusst wird. Dies Bewusstsein aber ist auch wieder
erhebend: „es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken“;
und es giebt kein höheres Menschenglück, als solches Wachs-
tum zu spüren.


§ 24.
Autorität und ihre Hülfsmittel.


Der dargelegte formale Stufengang der Erziehung des
Willens bietet die Grundlage der Verständigung über einige
[230] Begriffe, deren Behandlung man in einer irgend vollständigen
Theorie der Willensbildung jedenfalls erwartet, da sie in der
bisherigen Pädagogik des Willens eine fast unbestrittene
Führerrolle gespielt haben: der Begriffe von Befehl und
Gehorsam, geübter und empfundener Autorität, als Helfern
der Willenserziehung, und ihren Helfershelfern Lob und
Tadel, Lohn und Strafe. Oft genug hat man darin fast
das Ganze der Willensbildung in formaler Hinsicht gesehen.
Die Geschicklichkeit zu befehlen und Gehorsam zu finden,
Autorität zu gewinnen und zu behaupten, Lob und Lohn,
Rüge und Strafe wirksam auszuteilen, gilt als die eigentliche
Haupttugend des Erziehers, und ein gefügiges Verhalten des Zög-
lings dagegen als seine Haupttugend, als sicherstes Kennzeichen
des Wohlerzogenen. Und doch ist offenbar, dass das Leben
des Erzogenen im Gehorchen, im blossen Wollen dessen, was
ein Andrer vorgewollt hat, nicht aufgehen kann, sondern vor
allem die Fähigkeit erfordert, selbst zu wollen und recht zu
wollen, ohne dass einer es vorgemacht hat. Vielleicht erklärt
sich diese übertriebene Schätzung der Autorität aus der schon
bemerkten Eigenheit der zweiten, für die Thätigkeit des Er-
ziehers, besonders in der Schule, wichtigsten Erziehungsstufe:
dass, nachdem das eigene Wollen einmal erwacht ist, zunächst
naturgemäss der Trieb vorwaltet, sich vom Willen des Andern,
zumeist von dem so anspruchsvollen Willen des bestellten
Erziehers loszumachen, während doch dem eignen Wollen noch
die Kraft fehlt, auf sichere Leitung verzichten zu können.
Da sieht denn der Erzieher leicht nur das Eine: dass er die
Zügel der Regierung fest in den Händen halten muss, und er-
kennt darin seine nächste, wenn nicht seine einzige Aufgabe,
was die Leitung des Willens betrifft.


Seine Aufgabe ist es ohne Zweifel. Der Wille des Zög-
lings muss geleitet werden, so lange er nicht sich selber leiten
kann. Es muss der Begriff einer Verpflichtung gewonnen
werden, der man unterliegt auch ohne eignes Wollen und
Verstehen. Aeussere Regelung ist unerlässlich notwendig
in jedem menschlichen Zusammenwirken; und es ist notwendig
sich in den Zwang äusserer Ordnungen frühzeitig zu gewöhnen.
[231] Diese Eingewöhnung ist, wie wir durchweg anerkannt haben,
sogar ein wesentlicher Faktor der Willenserziehung, und zwar
der beherrschende auf einer bestimmten mittleren Stufe zwischen
sinnlicher Abhängigkeit und sittlicher Freiheit, reiner Hetero-
nomie und reiner Autonomie.


Das dürfte das Zutreffendste sein, was zu Gunsten der
Notwendigkeit äusserer Autorität, also auch wohl der äusseren
Mittel, die man zu ihrer Aufrechthaltung ins Spiel setzt, ge-
sagt werden kann: dass ein Bewusstsein der Verantwortlichkeit
nicht nur gegen sich selbst, gegen das Gesetz in der eignen
Brust, sondern auch nach aussen, gegen den Andern, gegen
das Gesetz der Gemeinschaft, in der man lebt, dadurch geweckt
wird. Das ist in der That so wichtig, dass man — voraus-
gesetzt es sei durch die gedachten Mittel und nur durch sie
zu erreichen — selbst einigen Schaden in andrer Absicht da-
gegen in den Kauf nehmen müsste. Der Erzieher darf vom
Zögling verlangen, dass er das und das thut, er ist es schuldig,
nicht bloss sich selbst; es geht nicht ihn allein, sondern auch
den Andern an, wenn er es unterlässt oder Gegenteiliges thut;
es bleibt ihm alsdann etwas gutzumachen. Auch genügt dazu
nicht irgend eine aus freiem Ermessen etwa übernommene
Leistung, geschweige gute Worte und gute Miene zum bösen
Spiel, wie das Kind so gern glaubt, sondern der, dem es ver-
antwortlich ist, hat zu bestimmen, was zum Gutmachen hin-
reiche, er hat nach dem Grundsatz des Gleich um Gleich
über den Schuldigen auch gegen seinen Willen zu verfügen.
Das alles hat Sinn und Wert, und wenn es dem hartnäckig
Widerstrebenden oder auch nur Schwerfälligen hin und wieder
etwas derb zu Gemüte geführt werden muss, so ist das viel-
leicht zu bedauern, aber nicht zu ändern, und dient schliess-
lich zu seinem eignen Besten. Aus solchen Gründen ist die
Strafjustiz in der häuslichen und Schulerziehung ebenso wie
in der grösseren Erziehung der bürgerlichen Gemeinschaft un-
entbehrlich und heilsam.


Aber zum wenigsten muss man sich klar machen, dass
die rohen sinnlichen Mittel, die dem Erzieher so be-
quem sind, die beabsichtigte Wirkung fast sicher ver-
[232] fehlen
, und dass sie dabei das ganze Verhältnis zwischen
Erzieher und Zögling zu trüben und auf ein niederes Niveau
herabzudrücken drohen. Alles kommt doch darauf an, dass
der Begriff gewonnen wird: ich habe eine Forderung an
dich, die irgendwie eingelöst werden muss. Wo das nicht er-
reicht wird, sind alle drastischen Mittel der Zucht vergeblich;
gerade die drastischen Mittel aber verfehlen diese Wirkung
am sichersten, weil sie allem Begriff gar zu fern stehen. Ihr
Sinn wird nicht verstanden, die Strafe wird ganz anders ge-
nommen, als sie gemeint ist. Das Kind versteht am Ende
nur: man ärgert sich gegenseitig, und der Stärkere behält
die Oberhand. Das wird im Eifer, das Haus- oder Schul-
regiment aufrechtzuhalten, leicht übersehen. Man nimmt den
sichtlichen Erfolg der augenblicklichen Bändigung der Wider-
spänstigkeit für einen Sieg der Erziehung, zu dem so viel ge-
hört und der sich so schwer beurteilt; während thatsächlich
die Gemeinschaft zwischen Erzieher und Zögling einen Riss
bekommt, dessen Fortbestand alle weitere Mühe der Erziehung
vereiteln kann.


Der Hauptfehler liegt darin, dass man, zufrieden mit dem
augenblicklichen Erfolg, den Widerstand des Zöglings zu
brechen und sein äusseres Thun in die Richtung zu zwingen,
die man für notwendig hält, das Wesentlichste von allem,
wodurch allein auch das Thun dauernd gesichert wird, näm-
lich das eigene Wollen und Einsehen, nicht nur zu wecken
versäumt, sondern durch sein blindes Dreinfahren geradezu
verhindert. Verpflichtung besteht auch ohne Einsicht und
Willen des Verpflichteten. Aber dennoch hat man, wo es sich
um Erziehung handelt und nicht um blosse Regierung, die
aufs Erziehen verzichten zu können meint, durchaus Unrecht
nicht auf Einsicht und Willen, sondern lediglich auf Durch-
setzung der Forderung hinzuwirken. Gerade der echte Sinn
von Autorität und Gehorsam
wird damit verkannt. Ge-
horsam ist allerdings notwendig, aber er ist auf keiner, auch
nicht auf der untersten Stufe der Erziehung identisch mit
Willenlosigkeit, mit Verzicht auf eignen Willen. Er bedeutet
im Gegenteil den allgemeinen Willen, seinen Willen im
[233] Besondern
dem des Führenden, weil Besserwissenden,
unterzuordnen. Das ist der allein achtbare Grund der Auto-
rität: die Anerkennung, dass der Führer besser bekannt sein
muss mit dem Weg, den man zu gehen hat. Dies Zutrauen
ist vom Geführten, so lange er selbst des Weges unkundig
ist, allerdings zu verlangen, anders könnte er auch nicht zu
der Höhe geführt werden, von der er den Weg überschauen
und so lernen kann, sich künftig selber zu führen. Wie aber
ist diese Autorität zu gewinnen? Dadurch allein, dass der
Geführte in der Führung selbst deren Richtigkeit verspürt,
nämlich am Erfolg, am eigenen Fortschreiten sie unwider-
sprechlich erfährt. Ohne das ist keine Autorität rechtmässig
begründet oder zu erzwingen. Das aber gelingt nur im ge-
meinsamen, von Anfang an als gemeinsam bewussten Thun,
wie es oben geschildert wurde. Durch abstrakte Lehre kann
die Ueberzeugung, dass man Gehorsam schulde, nicht ein-
gepflanzt werden, oder höchstens eine solche abstrakte Ueber-
zeugung, die neben dem Thun hergeht, eine Ueberzeugung
in thesi, aber nicht in praxi.


Dasselbe gilt von den besonderen Mitteln der Autorität,
Lob und Tadel, Lohn und Strafe. Die einzig klare Grundlage
dafür ist das, sei es begleitende oder nachfolgende, Urteil:
dies ist recht gethan, das verkehrt. Aber schon dies Urteil,
im Munde des Erziehers, ist ohne Wert und Wirkung, wenn es
nicht eben das ausspricht, was der Zögling, erst einmal auf-
merksam gemacht, sich selber sagen muss; wenn nicht das
Urteil in seinem eigenen Gefühl so vorbereitet ist, dass eben
bloss die Bestätigung des Führenden hinzuzukommen braucht,
um es zur ganzen Festigkeit der Ueberzeugung in ihm zu
bringen. Das ist zugleich der Weg, das Selbsturteil im Zög-
ling so zu entwickeln, dass es endlich ganz an die Stelle des
fremden Urteils treten kann. Die blosse autoritative Erklärung
dagegen, der die eigene Einsicht des Zöglings gar nicht ent-
gegenkommt, wirkt in erzieherischer Hinsicht nichts oder Ver-
kehrtes. Vollends der ganze Gefühlsbeisatz, Scham und Stolz,
Erhebung und Erniedrigung ist, wenn auch kaum ganz vermeid-
lich, doch wahrlich nicht zu suchen und gar durch künstliche
[234] Mittel zu verstärken; er stört weit mehr als er fördern kann.
Man sollte dabei nie verweilen, sondern sogleich zum Berichtigen
des Verfehlten, oder andernfalls zu neuen, grösseren Aufgaben
übergehen. Dann würde bald erreicht sein, dass Lob und
Erhebung genug das einfache Fortschreiten, Tadel und Er-
niedrigung die Notwendigkeit des Nocheinmalmachens ist. So
wäre dem Ueber- und Untermut zugleich gewehrt; der Wille
übernimmt das Steuer, und der Gefühlssturm hat zu schweigen.
Jedes Lob also und jeder Tadel ist vom Uebel, ist ein un-
gerechtes Spiel mit der Seele des Kindes, dessen klares, von
ihm selbst anerkanntes Ziel nicht das Bessermachen ist. Die
Sache teilt Lob und Lohn, Tadel und Strafe aus mit einer
unerbittlichen Gerechtigkeit, wie der gerechteste Erzieher es
nicht vermag; er bescheide sich also, allein die Sache reden
zu lassen.


Insbesondere ist jedes neben der Sache hergehende Be-
lohnen und Strafen verfehlt. Die unerbittliche Klarstellung:
das ist recht gethan, das verkehrt, und die daraus folgende
Pflicht, das Verfehlte zu bessern, im Rechten fortzuschreiten,
muss an sich genügen. Entweder das Kind begreift das und
hört nur ausgesprochen, was sein eigenes Bewusstsein ihm
bestätigt; dann bleibt für Lob und Lohn, Tadel und Strafe
eigentlich nichts Ernsthaftes mehr zu erreichen übrig. Auch
nicht, was man so gern vorwendet, das tiefere Haften im
Gemüt. Das wird nur in künstlicher, äusserlicher, in der
That sehr unsicherer Weise erreicht. Die Eindrücke augen-
blicklicher Gefühlsstürme haften weit weniger als man denkt;
während die Erprobung der gewonnenen Erkenntnis im ent-
schlossenen neuen Thun sie bald zu unverlierbarer Festigkeit
erstarken lässt. Oder aber, der Sinn und Grund der Strafe
oder Rüge wird nicht begriffen, ja vielleicht bäumt sich das
Gefühl des Gestraften oder Getadelten mit mehr oder weniger
Recht dawider auf; und das ist ja der Fall, wo man Rüge
und Strafe ins Ungemessene zu steigern pflegt. Aber nur
desto mehr verfehlt sie dann ihren Zweck. Man bricht viel-
leicht den Trotz, aber pflanzt keinen besseren Willen. Und
wahrscheinlich bricht man auch den Trotz nicht, sondern er-
[235] höht ihn vielmehr und drängt nur seine offene augenblickliche
Aeusserung zurück, untergräbt seine Ehrlichkeit, was
wahrlich nicht einen Sieg, sondern eine vielleicht nicht wieder
zu verwindende Niederlage der Erziehung bedeutet; denn nun
findet die weitere Erziehung erst recht jeden Zugang zum
Gemüt des Zöglings versperrt.


Ueber die besondere Frage der körperlichen Züchtigung
habe ich mich anderwärts*) ausführlich geäussert; hier genüge
es, die Leitsätze zu wiederholen. Die körperliche Züchtigung
ist unter den gegebenen Verhältnissen, besonders in den Schulen,
schwerlich ganz zu entbehren; auch wäre es zu viel gesagt,
dass sie unter allen Umständen verwerflich sei. Aber sie hat
an sich keinerlei erziehenden Wert; sie kann bestenfalls im
gegebenen Augenblick der kürzeste und bequemste Weg sein,
Ordnung und Frieden, die unerlässlichen Voraussetzungen jeder
unterrichtlichen und erziehenden Thätigkeit, rasch und durch-
greifend wiederherzustellen. Schon bei der geringsten Ueber-
schreitung der feinen Grenzen ihrer Zulässigkeit aber wirkt
sie in erzieherischer Hinsicht überaus schädlich; daher sollte
man stets dahin streben, sie ganz entbehren zu können. Es
ist hier nicht die Rede von den einfachen Mitteln eines gelinden,
auf die Aufmerksamkeit geübten physischen Zwanges, welche
das Gemüt des Zöglings kaum berühren und das herzliche
Verhältnis zum Erzieher keinen Augenblick zu trüben brauchen.
Das fällt überhaupt nicht unter den Begriff der Züchtigung.
Ohne Einschränkung zu verwerfen ist dagegen die gewöhnlichste
aller Wirkungen der körperlichen Züchtigung, die durch die
einfache Furcht vor dem sinnlichen Schmerz. Das Kind
soll den Schmerz nicht fürchten; ist es abgehärtet, so darf
diese Wirkung gar nicht eintreten. Aber man erwartet, man
verlangt sie von ihm; damit erzieht man es zur Feigheit.
Nachdem dies von der Theorie seit Jahrhunderten gepredigt
worden ist, ziehen sich neuere Verteidiger der körperlichen
Strafen meist dahin zurück, ausschliesslich die feinere Wirkung
[236] durch das Ehrgefühl geltend zu machen. Aber, wo ein
einigermaassen empfindliches Ehrgefühl überhaupt vorhanden ist,
da giebt es andere Mittel darauf zu wirken, und ist diese
Wirkung wahrscheinlich schon zu scharf; sie erniedrigt den
Zögling vor sich selbst in einer Weise, die es ihm schwer
macht, sich wieder zu erheben. Wo dagegen das Ehrgefühl
nicht vorhanden oder nicht genügend empfindlich ist, da ver-
fehlt die Strafe nicht bloss ihren Zweck, sondern sie trägt zur
weiteren Abstumpfung des Gefühls bei. Man gewöhnt sich
an die Beschämung, und es bleibt nur die jedenfalls schädliche
Wirkung durch die Furcht. Beide Arten der Wirkung körper-
licher Strafen haben das gemein, dass sie das herzliche Ver-
hältnis zwischen Erzieher und Zögling, wenn es je vorhanden
war, empfindlich stören, vielleicht ganz zunichte machen. Ein-
schüchterung durch Gewaltthat und Beschämung sind einmal
nicht die tauglichsten Mittel, das Herz eines Menschen zu ge-
winnen. Alle repressiven Mittel der Erziehung müssten doch
vor allem dahin streben, die günstigsten Voraussetzungen für
eine nachfolgende positive Einwirkung herzustellen; durch Ein-
schüchterung aber und Beschämung zieht man dieser nach-
folgenden positiven Wirkung gerade allen Boden unter den Füssen
weg. Man giebt damit das Kind aus der Hand, man weist
es geradezu an, sich in sich zu verschliessen, der Leitung des
Erziehers vielleicht äusserlich bis zur Vermeidung groben Kon-
flikts zu folgen, aber innerlich sich ihr desto mehr zu entziehen.


Es giebt, bei dieser wie jeder andern Art der Züchtigung,
nur einen Weg, der die letztere, vielleicht ernsteste Gefahr
sicher vermeidet: die Züchtigung muss als reiner Ausfluss der
Liebe und des sittlichen Ernstes des Erziehers vom
Zögling verstanden werden. Das ist an sich möglich; und wo
es so ist, da mag im gegebenen Fall die körperliche Züchtigung
immerhin gewagt werden. Aber man muss wissen, dass sie
selbst dann noch ein gewagtes Mittel bleibt. Die Voraussetzung
ihrer Zulässigkeit ist, dass durch das ganze bisherige Verhalten
des Erziehers die Ueberzeugung von seiner Liebe und das Zu-
trauen zu seiner Führung im ganzen zu unerschütterlicher
Festigkeit bereits gebracht ist. Das ist möglich und an sich
[237] zu fordern in der häuslichen Erziehung, aber es ist sehr schwer
in der Schulerziehung, und allgemein gewiss nicht zu ver-
langen. „Wen Gott lieb hat, den züchtigt er“, das hat man
unzählige Male angeführt zur Rechtfertigung der körperlichen
Züchtigung. Aber man nehme das Wort nur ganz beim Wort;
so sagt es, dass, wer sich nicht eine göttliche Reinheit der
Liebe und des sittlichen Eifers zutraut, besser thäte, auf dieses,
unter jeder andern Voraussetzung bedenkliche Zuchtmittel ganz
zu verzichten; wir sind eben keine Götter. Es giebt auch genug
andre Mittel der Zucht; es ist nicht zuzugeben, dass in irgend
einem denkbaren Fall die körperliche Strafe das einzige Mittel
erzieherischer Einwirkung sei; dass es für irgendwelche Fälle
dem Schullehrer wohl gar zur Pflicht gemacht werden dürfte,
zu diesem letzten und gewagtesten Mittel zu greifen. Viel-
mehr wird man stets den als den bessern Pädagogen anerkennen,
der die körperlichen Strafen ganz entbehren kann.


Und so ist allgemein der Beitrag, den die Strafjustiz zur
Erziehung leistet, sehr mittelbar und im ganzen unsicher genug.
Sie kann zwar, zumal in dem regelmässigen Betrieb einer
Schule und unter so manchen erschwerenden Umständen, deren
die Organisation der Volksbildung bisher nicht Herr geworden
ist, nicht völlig entbehrt werden. Aber wenigstens wäre zu
wünschen, dass sie so wenig als möglich thatsächlich zur An-
wendung käme. Das Strafgesetz sollte mehr nur theoretisch,
als freilich notwendiger Begriff, dastehen, während man beider-
seitig bemüht ist, seine faktische Anwendung so viel als nur
möglich entbehrlich zu machen. Sie ist entbehrlich, wo von
frühester Stufe an der Sinn der Gesetzlichkeit geweckt ist. Ein
normales Kind ist dafür von früh auf empfänglich. Es fühlt
die Ueberlegenheit und Notwendigkeit des Gesetzes, lange bevor
es den Begriff davon hat; wie sollte es nicht auch den Begriff
fassen, sobald es die Reife dazu hat?


§ 25.
Sittliche Lehre.


Das bisher Gesagte galt von der Uebung und Lehre ge-
meinsam, als Mitteln der Willenserziehung; mehr aber von
[238] der ersteren. Es soll denn jetzt noch das Eigentümliche der
Lehre in formaler Hinsicht erwogen, und damit zugleich der
Uebergang zur materialen Betrachtung der Erziehungsarbeit
gemacht werden. Das Materiale der Willensbildung findet
seinen natürlichen Ausdruck im Inhalt der praktischen Lehre,
obwohl es sich ebenso auf die Uebung bezieht. Denn in der
Materie müssen beide sich decken.


Im Zusammenthun, im Zeigen, Helfen und vornehmlich
Berichtigen geht aus der Uebung die Lehre unmittelbar her-
vor. Sie ist daher anfangs nur die wörtliche Erklärung dessen,
was vorgethan wird, um nachgethan zu werden. Nun aber
ist es der Lehre eigen, sich aus dieser unmittelbaren Verbin-
dung mit dem Thun in dem Maasse zu lösen, als die Ziele
des Thuns weiter und weiter hinausrücken und so eine kom-
plexere Erwägung der Zusammenhänge von Mitteln und
Zwecken notwendig wird, während gleichzeitig die unmittel-
bare Uebung den Grad von Festigkeit erreicht haben muss,
dass sie für sich selbst der wörtlichen Lehre kaum mehr be-
darf. Eben damit kann nun die Gefahr entstehen, dass die
Lehre sich von der Uebung überhaupt loslöst. Sie scheint
leicht in dieser Loslösung sich als Theorie erst zu vollenden.
Aber desto unwirksamer wird sie für die Praxis. Vor dieser
Gefahr ist nachdrücklich zu warnen.


Soll die Lehre im rechten Sinne praktisch sein, d. i. von
der Uebung ausgehen und zu ihr zurückkehren, so muss
sie der logischen Form nach Induktion sein. Nun
genügt als Grundlage einer zulänglichen Induktion freilich
nicht die eigene Uebung und unmittelbare Erfahrung des Zög-
lings; sie ist vielmehr, nach Herbarts richtiger Vorschrift
und der guten Praxis aller Zeiten, zu erweitern durch Unter-
richt. Aber um so wichtiger ist es, dass im Unterricht selbst
die Anknüpfung an die eigene Erfahrung und schliesslich an
die Uebung nicht verloren geht; dass auch das Fernste, das
die Lehre bloss mitteilend in den Gesichtskreis des Lernenden
rückt, mit dem Nahen in kontinuierliche Verbindung tritt. So
greift hier der Unterricht, auch nach der Intellektseite, in die
Willenserziehung tief ein; insoweit bleibt Herbart im Recht;
[239] aber doch eigentlich nicht nach dieser Seite geht er uns hier
an. Sondern darauf kommt vielmehr alles an, dass die Lehre
praktisch werden, dass sie den Willen bewegen muss. Und
dazu genügt nicht, wie Herbart zu glauben scheint, eine blosse,
thunlichst systematische, nach Einheit und Ganzheit strebende
„Darstellung“ der vielgestaltigen Materie, auf die dann die
Abstraktionsarbeit sich stützen kann. Aus solcher Darstellung
und der dadurch bewirkten „Bildung des Gedankenkreises“
folgt eine Wirkung auf den Willen ohne weiteres noch nicht.
Sondern diese Wirkung ist ganz und gar dadurch bedingt,
dass, was der Zögling aus eigner Erfahrung und Uebung
kennt, in die Mitte tritt, alles Andre aber sich damit in
stetigem lückenlosem Fortschritt verbindet, und so zum Be-
wusstsein kommt als etwas, das künftig einmal auch in Uebung
kommen wird, wenigstens kommen könnte.


Das hat, klarer als alle, Pestalozzi begriffen, und er
ist davon ganz durchdrungen. Ihm danken wir denn auch
belehrende Muster einer dieser Forderung genügenden Dar-
stellung
. Denn genau die eben beschriebene Aufgabe ist es,
die er als „Menschenmaler“*) in „Lienhard und Gertrud“ sich
gestellt und, vorzüglich im ersten Teil, überaus glücklich ge-
löst hat. Er schreibt mit vollem Bewusstsein für einen ganz
bestimmten Lebenskreis, für scharf begrenzte, gegebene Be-
dingungen. In dieser Begrenzung allerdings strebt er nach
einer in gewissem Maasse erschöpfenden Lösung seiner Auf-
gabe, die denn freilich nicht durchweg erreicht ist, und ihn
aus dem anfangs so glücklich innegehaltenen Ton der reinen
Erzählung mehr und mehr in den der abstrakten Lehre fallen
lässt. Im Schlusswort seiner „Fabeln“, die in andrer Rich-
tung ein nicht minder merkwürdiges Muster bieten, hat Pesta-
lozzi das schlichte Geheimnis seiner Darstellungsart klar aus-
gesprochen. Er sei nichts weniger als ein unbedingter Feind
und Verächter einseitiger Ansichten, er glaube im Gegen-
teil, Glück und Segen von Millionen Menschen hänge wesent-
lich von der stillen Reifung und inneren Vollendung einseitiger
[240] Ansichten ab. Einseitige, aber von vieler Anschauungs-
wahrheit
unterstützte und belebte Darstellung sei nämlich
gerade geeignet ein tiefgreifendes Fundament einer
richtigen und soliden Ansicht des menschlichen
Lebens
zu gewähren. So schimmere aus der einseitigen Her-
vorkehrung des Schlechten, Tierischen im Menschen (in seinen
Tierfabeln) das Edle und Erhabene der Menschennatur
mit desto lebendigerer Kraft hervor. — Also die Einseitigkeit
bezieht sich nur auf den Ausgangspunkt; die rechte Durch-
dringung einer Einzelansicht führt aber gerade auf das „Funda-
ment“ in einer vertieften Anschauung der „Menschennatur“,
die die Einseitigkeit überwindet.


Im Grunde ist es das Geheimnis aller Darstellung, die je
in der Erziehung eine tiefe und allgemeine Wirkung gethan
hat. Ein neuerer Pädagog (Felix Adler) will, in freiem An-
schluss an Herbart, die sittliche Unterweisung ganz auf drei
klassische Darstellungen gründen: Märchen und Fabeln auf
kindlichster Stufe, dann eine kleine Zahl biblischer Historien,
endlich Homer. Die Auswahl im einzelnen und die Anord-
nung im ganzen ist anfechtbar, aber hingewiesen ist damit
allerdings auf höchst bedeutende, vielleicht die bedeutendsten
Typen einer solchen Darstellung, wie wir sie fordern. Nur
sind wir der Meinung, dass jedes neue Menschenalter die Auf-
gabe wie von vorn an zu lösen hat. Es kann das Ueber-
kommene mitverwerten, aber darf nie glauben damit auszu-
reichen. Gewiss bleibt jenen klassischen Mustern, gerade in
ihrer Abweichung von der nächsten Erfahrung, ein vorzüglicher
idealisierender Wert; und sie tragen das Ihre dazu bei, die
Anschauung zu erweitern und damit die Induktion auf eine
breitere Grundlage zu stellen. Aber ohne geeignete Vermittlung
können sie für unser Leben nicht volle Realität gewinnen, und
diese Anknüpfung an das Leben selbst ist nicht nur auch eine Auf-
gabe, sondern die erste von allen, wie Pestalozzi erkannt hat;
es fehlt sonst die in Pestalozzis Sinn „elementare“ Grundlage,
auf der erst jenes Andre alles sich aufbauen kann. Das Ziel
allerdings ist ein noch grösseres: Geschichte. Geschichten
aber müssen den Anfang machen, und zwar die kindlichsten.


[241]

Was ist denn „eine Geschichte“, und was „Geschichte“?
„Eine Geschichte“ nennen wir die Wiedergabe, nicht irgend
einer beliebigen menschlichen Erfahrung, sondern einer solchen,
die etwas Typisches hat, die ein charakteristisches Erlebnis
darstellt, und durch Konflikt und Lösung sich zum geschlossenen
Ganzen abrundet; eine Handlung, der Form nach von über-
sehbarem Umfang — übersehbar je für den bisher erreichten
Standpunkt des Lernenden — und von strenger teleologischer
Einheit, die in ihrem Inhalt irgend ein wesentliches Stück
praktischer Lehre zur Anschauung bringt. Das Moment des
Konflikts hat dabei nicht bloss die Bedeutung, die Aufmerk-
samkeit mehr zu fesseln, sondern auch, die begriffliche Lehre
vorzubereiten. Die nie bestrittene Wahrheit kommt weniger
zum Bewusstsein. Wie ein Leben ohne Kampf keiner Lehre
bedürfte, so würde es auch keine erteilen; der Streit ist, wie
der Vater der Dinge, so der Lehrmeister ihrer Erkenntnis.
Es ist somit eine nicht bloss ästhetische, sondern allgemein er-
zieherische Notwendigkeit, die ihm in der belehrenden Er-
zählung seinen Platz anweist. „Geschichte“ aber ist dasselbe
im grossen, was Geschichten im kleinen. Zu der grossen
„Fundament“-Ansicht, dass man kein Einzelner ist, sondern
der Gemeinschaft, zuletzt keiner kleineren als der der Mensch-
heit angehört, soll der Heranwachsende geführt werden. Von
allem, was hierüber an anderer Stelle*) gesagt ist, finde ich
nichts zurückzunehmen; auch der Verfolg gegenwärtiger Be-
trachtung wird darauf wiederum führen.


Die „Lehre“ selbst aber aus der Geschichte und den Ge-
schichten herauszuholen, ist Abstraktionsarbeit wie jede andre,
und so sei darüber nur bemerkt, dass man die Geschäfte teilen
und nicht die Lehre sich in die Geschichtserzählung selbst
voreilig eindrängen oder als langweiliges Nachwort dazu sie
um ihre unmittelbare Wirkung bringen lassen soll; sondern die
Aufgabe dieser Abstraktion ist von der Erzählung ganz ab-
zutrennen. Und zwar lasse man den Lernenden selbst sie
vollführen.


Natorp, Sozialpädagogik. 16
[242]

Die Grundrichtungen der Abstraktion aber müssen
voraus gegeben sein; man muss sich auf ein schon bekanntes
Grundgerüst sittlicher Lehre beziehen können. Ein solches
kann auch, nachdem einige gut ausgewählte praktische Grund-
wahrheiten gewonnen und die notwendigsten Vorbegriffe an
diesen klar gemacht sind, mit Leichtigkeit aus solchen ent-
wickelt werden.


Damit treten wir der materialen Betrachtung der
praktischen Lehre schon einen Schritt näher. Wir unter-
scheiden Gestaltung des Werks und Gestaltung der Persön-
lichkeit
. Das Erstere entspricht am nächsten dem, was man
sonst Güterlehre genannt hat, wobei man nur unter Gütern
nicht Genussobjekte, sondern Hervorzubringendes verstehe. Im
höheren Sinne ist es die ideelle Gestaltung einer Willenswelt
(Welt der Zwecke), und zwar in der Gemeinschaft, also
identisch mit dem Inbegriff der sittlichen Aufgaben. Dann
ist aber das Andre, der Aufbau der sittlichen Persönlichkeit,
eigentlich nur ein Teil davon; jedoch der Teil, der den Ein-
zelnen zu allernächst angeht und in seiner sittlichen Arbeit
naturgemäss obenan steht. Denn erst muss man ein ordent-
licher Mensch sein, ehe man es wagen darf, sich, als wäre man
mit sich schon im Reinen, um allerlei Fernerliegendes zu
kümmern. Die erziehende Uebung vor allem hat jedenfalls
dies nächste Ziel, die Persönlichkeit zu entfalten und ihr Ge-
stalt zu geben.


Deswegen ist für die sittliche Unterweisung der Gesichts-
punkt der Tugendlehre allerdings der erste. Dann aber
muss doch die Frage nach der Sache, die der sich ihr wid-
menden Person erst Wert giebt, an Gewicht und Bedeutung
mehr und mehr vorantreten. Es ist nicht gut, wenn das
zurückgeschoben und die sittliche Lehre ausschliesslich auf ein
System von Tugenden gegründet wird (wie z. B. bei Adler).
Soll z. B. das Kind zu der Erkenntnis geführt werden, dass
es seine Eltern ehren, seinen Geschwistern sich liebreich er-
weisen soll, so bedarf es dazu freilich vorerst keiner weither
geholten Begründung, denn der Grund dazu ist normalerweise
im Kinde schon gelegt, und es ist nur nötig, was ihm in
[243] eigener Seele lebendig ist, durch ausdrückliche Lehre auch zu
hellem Bewusstsein zu bringen. Aber weiterhin wird wenig-
stens der Heranwachsende doch wohl auch nach der Begrün-
dung fragen. Dann zeige man den Aufbau des sittlichen Ver-
eins der Familie und dessen Notwendigkeit im Zusammenhang
der Organisationen menschlicher Gemeinschaft überhaupt; und
so durchweg. Man sollte daher auch die zu Grunde gelegten
Stoffe, seien es biblische Geschichten oder Gesänge des Homer
oder was sonst, für die sittliche Lehre nicht allein unter dem
Gesichtspunkt der Tugendlehre fruchtbar machen, da es so
nahe liegt, auch die Lebenskreise, die Gemeinschaftsformen,
und die daraus erwachsenden sachlichen Pflichten daran auf-
zuzeigen. Ist aber diese Betrachtung einmal eingeführt, so
ordnet sich die bloss individuelle Ansicht des Sittlichen ihr
notwendig unter. Die Sache tritt beherrschend voran, und
die Aufgabe der reifenden Persönlichkeit wird es, sich zur
Höhe der Sache zu erheben.


Aus ähnlichen Erwägungen können wir auch von der be-
quemen Einteilung der Pflichten in solche gegen sich selbst
und gegen Andre keinen Gebrauch machen. Pflicht gegen
Gott, das wäre noch das Zulässigste; es erhebt wenigstens
über das Ich und Du, und zwar ohne die Persönlichkeit über-
haupt aufzuheben. An sich aber besteht sittliche Verpflichtung
einzig gegen das sittliche Gesetz oder, will man etwas Kon-
kreteres, gegen die „Menschheit in der eigenen Person und in
der Person jedes Andern“. Damit ist aber schon auf das
sachliche Fundament, auf die ewige Aufgabe, „Menschheit“
an seinem Teile auferbauen zu helfen, hingewiesen und über
die blosse Personalbeziehung, die allenfalls nur eine rechtliche,
keine sittliche Verpflichtung begründen würde, hinwegge-
schritten.


Aber man soll doch Individuen, individuelle Charaktere,
nicht allgemeine „Menschen“ bilden? Es sind doch werdende
Individuen, die der Erzieher vor sich hat, mit bestimmten, in-
dividuellen Anlagen, begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten,
oft überaus früh ausgeprägter Eigenart? — Ohne Zweifel ist
selbst der Säugling schon eine kleine, oft sehr geschlossene
[244] Individualität, und das Kind in dem Alter, wo ein eigentlicher
geistiger Verkehr erst anhebt, in vieler Beziehung ein schon
ganz fertiger, kaum mehr zu wandelnder Charakter. Allein
eben das bestätigt ja nur, dass Individualität durchaus auf
eigenem Boden erwächst, also nicht Erziehungszweck sein
kann. Was an ihr Gutes ist, bedarf gerade umso weniger der
besondern Pflege, je mehr es individuell ist. Uebrigens ist
auch ihr Bestes nur einseitig gut, sonst wäre es eben nicht
individuell. Nun ist diese Einseitigkeit allerdings zulässig,
denn es ist dem Menschen einmal nicht gegeben, alles gleich
gut zu vermögen, und es ist besser, dass das, wozu einer vor-
zugsweise taugt, auch vorzugsweise in ihm zur Entwicklung
kommt, als dass er sich fruchtlos müht an Aufgaben, die im
Bereiche seiner Natur nun einmal nicht liegen. Aber selbst
die berechtigte Eigenart wird fast mehr dadurch entwickelt,
dass sie bestritten wird, als dass man ihr allzu sehr entgegen-
kommt; gerade gegen Widerspruch wird sie sich desto ener-
gischer in sich zu befestigen streben. Schliesslich aber bleibt
Individualität immer auch Schranke, und es ist sittlich notwendig,
dass sie als Schranke zum Bewusstsein kommt; dadurch wird
nicht die Eigenart selbst zerstört, aber dem Dünkel der Eigen-
art gesteuert. Das kann aber nicht wirksamer geschehen als
durch unbedingte Voranstellung der Sache, d. i. der Ge-
meinschaft,
die jede gute Eigenart gelten lässt und in ihren
Dienst nimmt, jeder unrechten Prätention der Individualität
aber mit unwidersprechlich höherem Ansehen gegenübertritt,
ihr zu Diensten zu sein sich unbedingt weigert.


Zur Zielbestimmung der pädagogischen Thätigkeit also
taugt die Individualität nicht; sie ist für sie durchaus nur
verfügbares Material. Allerdings muss der Erzieher sie kennen
und seine Einwirkung danach einrichten. Bildet diese sich,
so wie wir angenommen haben, in ständiger sich gegenseitig
verstehender Gemeinschaft des Erziehers und Zöglings, so ist
keine Gefahr, dass es daran mangle, sondern es bedarf weit
mehr der Warnung, der Individualität nicht zu viel nachzu-
geben und nie die Sache dagegen zurückstehen zu lassen.


[245]

§ 26.
Materie der praktischen Uebung und Lehre.
Erste Stufe: Hauserziehung.


Auf Grund alles Vorausgeschickten versuchen wir nun
auch in materialer Hinsicht zu zeigen, wie in konkreter Ge-
meinschaft von Stufe zu Stufe der Mensch sich bildet zur Ge-
meinschaft, zur Teilnahme an dem endlichen Prozess, in dem
die Gemeinschaft der Menschen und mit ihr ein menschliches
Leben sich gestaltet.


Der untersten Stufe, der der Hauserziehung, gehört vor-
zugsweise das Gebiet der dritten der individuellen Tugenden
und die dieser entsprechende Seite der Tugend der Gemein-
schaft zu. Es ist das Gebiet der „Reinheit“, oder der sitt-
lichen Regelung des Trieblebens in Arbeit und Genuss, damit
aber der ökonomischen Thätigkeit im früher bestimmten, um-
fassenden Sinn. Die natürliche Stätte der Erziehung nach
dieser Richtung ist das Haus, in dem allein auch die ent-
sprechende Art der willenbildenden Thätigkeit sich rein in
ihrer Eigenart entfalten kann.


Es ist zwar eigentlich noch nicht Wille, was auf dieser
Stufe entwickelt wird, sondern erst die rechte Disposition zur
Willensbildung, die dafür geeignete Triebrichtung. Aber ge-
rade dass hier der rechte Grund gelegt wird, ist von der
grössten Wichtigkeit. Die seelische Entwicklung steht hier
noch im unmittelbarsten Zusammenhang mit der physischen.
Die leibliche Fürsorge für das Kind und das so früh sich ent-
wickelnde Verständnis dieser Fürsorge in ihm selbst, in der
wortlosen Zwiesprache zwischen Mutter und Säugling, das
ist, wie Pestalozzi gesehen, das erste, grundlegende Bildungs-
element des Willens, wenn auch grundlegend nur im Sinne
der günstigen Bereitung des Bodens. Indem das zarte, so
ganz physische und doch so ganz seelische junge Menschlein
dies mit oft schon sehr bestimmtem und starkem Gefühl er-
greift und sich fest der mütterlichen, bald auch der väterlichen
und geschwisterlichen Sorge und Zärtlichkeit anschmiegt, tritt
[246] es in jene sinnliche Führung ein, die wir als erste Stufe er-
ziehender Gemeinschaft erkannten. Ausschliesslich hierauf be-
ruht die erste Gestaltung der Liebesbeziehungen zur Umgebung,
welche die wesentlichste Vorbedingung für die ganze psy-
chische Weiterentwicklung besonders in ethischer Richtung,
d. h. eben in der Richtung der Gemeinschaft ist. Auch die
Ordnung des Affektlebens liegt für diese Stufe fast allein
hierin. Wo es an Verständnis und liebender Fürsorge nicht
fehlt, wird selbst ein schwierig angelegtes Kind sich von
Hülfe gegen die hier drohenden ernsten Gefahren nie verlassen
finden. Das gilt freilich nicht bloss vom zarten Alter, es gilt,
nur nicht mehr als Einziges, sondern neben den neu hinzu-
tretenden Faktoren, durch die ganze Kindheit hindurch. Ja
noch Jungfrau und Jüngling wahrt sich wohl in keuscher Heim-
lichkeit einen Rest davon, den kaum die Mutter wissen oder
ahnen darf, noch weniger der Vater, am wenigsten die Ge-
schwister, denn freilich würde es als fehlerhafte Weichheit
empfunden, sobald es sich vordrängen und irgend ein Recht
für sich in Anspruch nehmen wollte.


Dem mehr passiven Verhalten in allen genannten Bezieh-
ungen tritt dann bald ein entschieden selbstthätiges Moment
zur Seite in der, nach dem ersten schweren Anfang rasch fort-
schreitenden Uebung der Sinnes- und Muskelthätigkeit, an
deren Ausbildung der werdende Wille aufs stärkste beteiligt
ist und also seine Kräfte daran stählt und vielseitiger ent-
faltet. Der grosse Fortschritt liegt hier in der bestimmten,
mehr und mehr bewussten Richtung der sinnlichen wie moto-
rischen Bethätigung aufs Objekt, während in den zuvor er-
wogenen Beziehungen alles in der Subjektivität des Fühlens
beschlossen bleibt, allenfalls, als Mitfühlen, sich auf die fremde
Subjektivität zugleich erstreckt. Mit jener Objektbeziehung
ist aber schon der entscheidende erste Schritt vom Trieb zum
Willen gethan, dessen Eigentümlichkeit ganz in der bewussten
Objektivierung liegt. Dem Umfang nach ist es ein sehr mäch-
tiger Teil der kindlichen Entwicklung, der hierher gehört.
Die ganze, so viel umfassende Uebung des Blicks, des Gehörs,
des Getasts, der Körperbewegungen im Greifen und Gehen,
[247] die Kombination der Sinnes- und Muskelübung in dem allen
und besonders im Sprechenlernen liegt auf diesem Gebiet.
Ueberall geht hier mit der Bildung des Verständnisses die des
Willens Hand in Hand.


Das alles ist nun zunächst freies Spiel der zur Bethäti-
gung drängenden Kräfte, ohne (wenigstens bewusste) Zweck-
bestimmung. Ja hier wurzelt überhaupt der Begriff des Spiels
und seine Bedeutung für die kindliche Entwicklung, die man
namentlich seit Fröbel ernstlicher, wenn auch immer noch nicht
ernst genug würdigt. Hier entfalten sich die unschätzbaren
erziehenden Kräfte des Bilderbuchs, der Puppe, des Baukastens,
der mannigfachen Bewegungsspiele, wobei, wie gleichzeitig in
der Märchenerzählung*) und in den ersten Ahnungen des
Religiösen, bald eine überaus rege Thätigkeit der Phantasie
sich entwickelt, aber doch alles in der naiven Unbefangenheit
sinnlichster Beziehung zu den Dingen und namentlich zu den
Mitlebenden beschlossen bleibt, in dieser durchgehenden Eigen-
tümlichkeit aber sich zu einer eigenen kindlichen Welt ab-
rundet, die schon ein gutes Teil Idealisierung einschliesst.


Gegen alle Gefahr eines einseitigen Ueberwucherns der
Phantasie bietet dann das heilsame Gegengewicht die allmäh-
liche Ueberführung des Spiels in zweckmässige, mehr und mehr
auch zweckbewusste Arbeit. Für das Kind selbst ist der
Uebergang ganz unmerklich. Nur deswegen kann das Spielen
des Kindes an erziehender Wirkung selbst der eigentlichen
Arbeit den Rang streitig machen, weil es ihm durchaus etwas
wie Arbeit ist. Es ist mit seiner ganzen Seele dabei, wie nur
der treuste Arbeiter bei seinem Werk, es ist ihm eine ernst-
hafte Aufgabe, es sind Wirklichkeiten, womit es zu thun hat.
Seine spielende Thätigkeit nimmt daher auch, wenn sie nur
einigermaassen dahin geleitet wird, wie von selbst den geregelten
Gang an, der der eigentlichen Arbeit vorzugsweise zukommt und
notwendig ist. Es fehlt nur das wirklich Zweckvolle des
Thuns; aber dieser Mangel kommt für das kindliche Bewusst-
[248] sein kaum in Betracht, da ihm eben der Begriff dieses Unter-
schieds abgeht; das Nächste, Unmittelbare ist ihm Zweck ge-
nug und darf es noch sein. Indem aber dann seine Thätigkeit,
ohne dass sie übrigens ihren Charakter ändert, mehr und mehr
auf wirklich zweckvolle Aufgaben gelenkt wird, und zwar
auf solche, deren Zweck ihm nah genug liegt, wird das Kind
unvermerkt vom Spiel zur eigentlichen Arbeit hinübergelenkt.
Es begreift bald, dass ein geordnetes Leben Arbeit nach dem
einfachen Grundtypus der Wirtschaft verlangt: dass jeder Ver-
brauch von Material und Kräften Ersatz fordert, geregelter
Verbrauch entsprechend geregelten Ersatz. Es fasst sehr rasch
den Sinn der Raumordnung, der Zeiteinteilung, der Erhaltung
seiner eigenen Spielsachen oder Gebrauchsgegenstände wie aller
zum Haushalt gehörigen, der Sparsamkeit im Kräfte- und
Materialverbrauch jeder Art. Es fühlt zugleich, wenn auch
ohne Begriff, dass in der Regelung seines Thuns, seines Sach-
gebrauchs, der Mensch selbst, sein ganzes Leben und Sich-
fühlen, sich in Regel und Einklang fügt und so seine gesunde
Befriedigung und sicher fortschreitende leibliche und geistige
Entwicklung findet; dass in gemeinschaftlich, in gegenseitiger
Rücksichtnahme geregelter Arbeit zugleich die seelische Ge-
meinschaft der Zusammenarbeitenden sich in das gleiche, heil-
same Element der Ordnung und Harmonie eingewöhnt, und
indem eben damit wiederum die Arbeit und Arbeitsordnung
desto harmonischer wird, ein glücklicher Kreislauf einer in
gesunder Bahn sich selbst erhaltenden Thätigkeit entsteht.


Auf den mächtigen, ja beherrschenden Einfluss der Ge-
meinschaft
in diesem ganzen Bildungsgang noch besonders
hinzuweisen, erscheint fast unnötig. Es ist ja unvermeidlich,
dass die Umgebung des Kindes an der Gestaltung seines Ge-
müts auch ungewollt und unbewusst mitarbeitet. Selbst Wahr-
nehmung und Willkürbewegung ist anfangs weit überwiegend
auf die Mitlebenden gerichtet: das Auge des Kindes sucht zu-
erst das Auge der Mutter, der Geschwister; es überträgt einen
Teil des Glücksgefühls, das ihm aus jenem einzigen Quell (so
muss es wohl glauben) zufliesst, in seinem Ausdruck auf jedes
menschliche Antlitz, das ihm nur irgend freundlich begegnet.
[249] Und Mund und Hand lernt zuerst fassen und halten — an
der Mutterbrust. Aber auch wenn sich diese erste, engste
Abhängigkeit löst, ist doch im nächsten Wechselverkehr mit
den alltäglichen lieben Gefährten vorerst seine Welt beschlossen,
und muss alles, was sonst noch in sein Bewusstsein tritt, sich
erst gleichsam Heimatsrechte in dieser noch so engen und doch
so vielbedeutenden Welt erwerben. In dieser Welt aber ist
das Kind fortwährend der unbewusste Schüler und Zögling
seiner kaum mehr ihrer Rolle bewussten Lehrer und Erzieher;
worauf es in diesem Kreise, oft ganz ohne Willen und Wissen,
aufmerksam gemacht wird, das vornehmlich nimmt es wahr;
wohin es durch seine Umgebung gelenkt wird, dahin richtet
es sein Thun und Bewegen. Vorzüglich stark und beherrschend
aber ist der Einfluss der schon bewussteren Gemeinschaft im
Sprechenlernen. Ist doch die Sprache der unmittelbare Aus-
druck jeder geistigen Gemeinschaft; erschliesst sich doch darin
dem Kinde der Schatz von Erkenntnissen, den die Gemeinschaft
für jedes geringste ihrer Glieder gleichsam in Verwahrung
hält, und den sie in einem natürlichen Kommunismus allen zu
gleichen Rechten, kostenlos wie Luft und Licht, austeilt.


Gemeinschaft ist nicht minder das Element alles Spiels;
auch im Alleinsein erdichtet sich das Kind seine Genossen.
Sie mögen etwa, als Puppen, lebende Wesen vortäuschen; aber
schliesslich genügt jeder Klotz, jedes Glasperlchen zum gut
kameradschaftlichen Verkehr. So lernt es Menschlichkeit gleich-
sam am Phantom; wieviel mehr im wirklichen Verkehr mensch-
licher Gefährten. Das Zartgefühl für Leben, auch im Tier, ist
daher im einigermaassen normal aufwachsenden Kinde mit Sicher-
heit anzutreffen; was man auch von seiner natürlichen Grausam-
keit oft gefabelt hat. Richtig ist daran höchstens, dass das
Kind vom Tode keinen Begriff hat, oder vielmehr nur den
natürlichen: dass Sterben nicht lange, Totsein gar nicht weh
thut. Deshalb und überhaupt in der Unbefangenheit, mit der
es sich dem Spiel seiner Phantasie überlässt und am Phanta-
sieren selbst seine Lust hat, hört es so manchen Sterbefall
im Märchen oder Struwelpeter in vollkommener Gelassenheit
an, während es doch den thatsächlichen, sich unmittelbar
[250] äussernden Schmerz nicht bloss des Angehörigen sondern jedes
Lebendigen (oder nur lebendig Geglaubten) gar sehr mitempfindet,
so herzlich wie das physische Wohlsein des kleinen Geschwisters
oder des geliebten Haustiers. Ueberhaupt ist Rücksichtnahme
und Zartsinn jedem Kinde natürlich, das sie selbst in der rechten
Weise, d. h. ohne die verderbliche Schwäche gegen seine Fehler,
an sich und in seiner ganzen Umgebung erfährt.


Besondere Aufmerksamkeit erfordert das Affektleben
des Kindes. Seine Reizbarkeit, die gerade in den ersten Lebens-
jahren am stärksten ist, hat fast ganz nur physische Gründe;
das schliesst aber eine moralische Behandlung keineswegs aus.
Sie führt die meisten jener kleinen und grossen Konflikte her-
bei, die auch unter den günstigsten Bedingungen nicht aus-
bleiben. Aber gerade diese können zur sittlichen Entwicklung
des Kindes von einer weisen Erziehung aufs heilsamste benutzt
werden, während die unweise gerade da am augenfälligsten
scheitert und sehr leicht schon im frühesten Stadium kaum
wieder gut zu machenden Schaden anrichtet. Richtig behandelt,
verhelfen gerade diese Konflikte dem Kinde zu der sicheren,
unmittelbaren Empfindung, und bald auch zu dem bestimmten
Begriff, dass jede Disharmonie der Gemeinschaft auch die
Harmonie seines eigenen Gemütes trüben muss, und zwar um
so empfindlicher, je tiefer die Gemeinschaft schon gegründet
ist. Darum ist es so sehr zu beklagen, wenn in solchem Fall
die Eltern oder Erzieher blind dreinfahren, selbst in Hitze
geraten, und so die gestörte Harmonie recht disharmonisch
wiederherzustellen bestrebt sind. Aber das ist leider allzu-
menschlich und in der Not des Augenblicks verzeihlich. Möchte
nur nachher die Stunde der stillen Besinnung nicht aus-
bleiben, wo man sich, wenn auch nicht in Worten sagt, doch
mit allem Liebeserweis wechselseitig zu verstehen giebt: es
hätte nicht sein sollen, es war nicht unser Wille; möchten
wir stark genug sein, es künftig zu meiden. Die sicherste und
reinste Hülfe und Versöhnung aber liegt gerade dann im gemein-
samen förderlichen Thun, das die scheinbar zerrissene Gemein-
schaft am schnellsten wiederaufbaut oder vielmehr zum Bewusst-
sein bringt, dass sie trotz allem besteht und bestehen wird.


[251]

So mag eine rechte sittliche Hauserziehung sich gestalten.
Die gleichen Kräfte wirken aber weit über die früheste Kind-
heit, ja über die Familie im engsten Sinn hinaus; sie bleiben
grundlegend für die ganze Erziehung des Willens, deren sonstige
Faktoren ohne diesen ersten niemals ihre volle Wirksamkeit
entfalten könnten. In keinem menschlichen Verhältnis darf
dies Element ganz fehlen, und in seiner Kräftigung liegt, wie
wir mit Pestalozzi überzeugt sind, zuletzt alle Hoffnung
einer Versittlichung menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Ich
möchte dem Irrglauben zwar nicht Vorschub thun, dass Un-
sittlichkeit nur Krankheit sei, aber das Wahre ist daran, dass
die sittliche Gesundung von unten auf, von der Grundlage des
Trieblebens, folglich von der Sorge um Kraft und Reinheit
familienhafter Gemeinschaft ihren Ausgang nehmen muss; dass
alle Sittenpredigt verschwendet ist, ja dem sittlichen Tadel
jedes Erntenwollens, wo man nicht gesät hat, unterliegt, welche
für diese allererste Bedingung sittlicher Bildung zu sorgen
vergisst. Von der Wiederherstellung des Bewusstseins der
Arbeitsgemeinschaft, von der Heiligung der Arbeit und des
Genusses durch die Gemeinschaft, durch ihre Aufnahme in den
Plan der Erziehung zum Menschentum, erwarten wir die Heilung
unsrer privaten und öffentlichen Zustände. Vor allem, man
kümmere sich darum, wie Menschen leben, welche Be-
dingungen ihnen gewährt sind, um ein Leben führen zu können,
wie man es von ihnen fordert und erwartet. Man fasse das
Problem „sozialer Ökonomie“ einmal ernsthaft in diesem sitt-
lichen, oder sagen wir pädagogischen Sinn: dass von der Öko-
nomie der Lebensfunktionen in der Gemeinschaft alle sozialen
Funktionen bis zu den höchsten hinauf schliesslich abhängen,
und dass diese Ökonomie nur auf Grund der Gemeinschaft,
nach dem allgemeinen Typus einer sittlich geordneten Familie,
sich wirksam und rein gestalten kann. Das führt auf organi-
satorische Forderungen, wie sie an früherer Stelle angedeutet
wurden. Ich vermeine nicht darüber irgend Abschliessendes
aufgestellt zu haben; wenn es am Willen nicht fehlte, würden
auch die Wege sich wohl erschliessen. Keinesfalls darf man
uns hier auf eine voraus erwartete, wie mechanische Lösung
[252] der „sozialen Frage“ vertrösten. Die gesittete Menschheit
wird zu Grunde gehen, bevor zu deren Lösung auch nur ein
ernster Schritt gethan ist, wenn nicht für diese allererste Basis
der Gesundung in der Weise, wie es auch gegenwärtig mög-
lich ist, gesorgt wird, und dann desto mehr, je nachdem die
im allgemeinen Zustand der Gesellschaft liegenden Bedingungen
dafür sich nach und nach günstiger gestalten.


In solchem Sinne lässt sich übrigens das, was not thut,
leicht angeben. Es muss, wo die Bedingungen eines gesunden
Familienlebens nicht gegeben sind, Ersatz dafür geschaffen
werden in einem ausgebildeten Kindergartenwesen, in Familien-
verbänden, „Nachbarschaftsgilden“, oder welche andre, den je-
weiligen Bedingungen noch besser angepasste Form sich finden
mag. Es muss ermöglicht werden, dass die Kindheit, aber auch
die heranreifende Jugend, nicht mit plötzlichem Riss aus jeder
familienartigen Gemeinschaft herausgenommen wird; es muss
also, über die Familie im engern Sinn hinaus, in einem weiteren,
aber immer übersehbaren Kreise persönlicher Beziehungen eine
familienhafte Gemeinschaft sich organisieren, so dass man auch
bei weitester und freister Gestaltung der Lebensziele solchen
heilsamen Einflüssen, wie sie jetzt allein in der eigentlichen
Familie (und auch da wie selten!) sich recht entfalten, nie
ganz entzogen wird; dass zum wenigsten ein Verständnis solcher
Gemeinschaft sich immer erhält, und die Roheit des Empfindens
mit irgend einem Grade von Bildung und gesellschaftlicher
Achtung unverträglich wird, die jetzt z. B. in dem Gebrauch,
den unsere zahlungsfähige Jugend von der Prostitution macht,
ihre ekelhafte Grimasse kaum auch nur zu verbergen nötig
hat. Wie die ganze Regelung des Affektlebens, ruht ganz
besonders die Erziehung zur Keuschheit fast allein auf diesem
Grunde. Unregelmässigkeit der Begierden ist grossenteils
Wirkung einer unökonomischen Verwaltung des Körpers; ge-
regelte und straffe Thätigkeit, insbesondere sofern sie zugleich
als gesunde Leibesübung wirkt oder durch solche ergänzt wird,
ist dagegen eine wichtige, aber keineswegs ausreichende Hülfe.
Denn der innerste Grund des Schadens liegt in der nicht ge-
zügelten Phantasie und in der Schlaffheit des Wollens, mit
[253] einem Wort in mangelnder Selbstzucht. Auch die sinnlose
Geheimniskrämerei, welche die einfachen Thatsachen des Ge-
schlechtslebens gleichsam aus der Welt lügt, die unzeitige
Trennung und dann wieder die verkehrte Art der Zusammen-
bringung der Geschlechter, trägt wohl einen Teil der Schuld.
Aber auch das könnte geändert sein und die Hauptquelle des
Uebels bliebe dennoch unverstopft. Denn schliesslich hängt
doch alles an der rechten Grundlage in der Gesinnung; sonst
schützt der Gesunde seine Gesundheit vor, der Kranke seine
Krankheit, der Unwissende seine Unwissenheit und der Wissende
seine Wissenschaft, der Freie die zu grosse Freiheit und der
klösterlich Abgesperrte die Einsamkeit, während sie alle gleicher-
maassen von ihrer unbeherrschten Leidenschaft sich blenden
und entnerven lassen. Wer in einem harmonischen Familien-
leben, besonders unter im Alter nicht zu fernstehenden Ge-
schwistern des andern Geschlechts oder in einfachem, natur-
wüchsigem Freundschaftsverkehr mit ihm aufgewachsen und
sonst leidlich normal gebildet und erzogen ist, wird nicht
leicht dem an sich einfachen und verständlichen Sinn der
Keuschheitsgesetze sich widersetzen oder sich von Gegen-
kräften gegen den Ansturm eines an sich ja nur normalen
Begehrens verlassen finden. Am besten aber hilft ihm jede
hinlänglich kräftige Fort- und Nachwirkung derselben erziehen-
den Kräfte, die seine Kindheit behüteten, um ihn auch im
gefährlichen Alter gegen die Versuchung fest, ja unverwundbar
zu machen; zumal wenn zugleich durch eine ausreichende
ästhetische Erziehung dafür gesorgt ist, ihm die gemeine Form,
in der das Laster sich anbietet, von Anfang an so zuwider
zu machen, wie sie es dem etwas feinfühligeren Menschen
überhaupt nur sein kann. Eine recht wertvolle Hülfe sehe
auch ich in einem für beide Geschlechter gemeinsamen Schul-
unterricht, worüber ein Erfahrener in der „Ethischen Kultur“
(1897, N. 12 und 13) ansprechenden Bericht giebt. Ein natür-
licherer Verkehr auch jenseits der Schule würde daraus von
selbst folgen, wie er jetzt wenigstens in Bewegungsspielen
und sonstigem Sport sich langsam anzubahnen scheint. Ich
kann auch das Widerstreben gegen die Zulassung weiblicher
[254] Studierenden zur Universität, insoweit es sich auf sittliche
Besorgnisse zu stützen vorgiebt, nur lächerlich finden. Man
tanzt und spielt zusammen, und es ist meist unschuldig; sollte
man weniger unschuldig zusammen studieren? Ist man un-
schuldiger, weil sich die Sitte bis jetzt noch dagegen sträubt? —


Soviel über die Triebgrundlagen der sittlichen Erziehung;
wir kommen zu ihrem zweiten Faktor, dem der Organisation,
der seine Stätte vornehmlich in der Schulerziehung findet.


§ 27.
Zweite Stufe: Schulerziehung.


Diese Erziehungsstufe bezeichnet den entscheidendsten Fort-
schritt auf der Bahn, deren Ziel die Befreiung des Willens
von der Knechtschaft der Sinnlichkeit, vom Gesetz in den
eigenen Gliedern, die Bindung allein an das selbstgegebene
Gesetz des Willens ist. Es ist daher weniger das Stoffliche,
was die zweite Stufe von der ersten scheidet, als das Formale:
dass das Thun des Menschen mehr und mehr Willenssache wird.
Doch grenzt eben dies, wie einen neuen Kreis sittlicher Er-
wägungen, so ein eigenes Gebiet der Willenserziehung ab,
dem eine eigentümliche Organisationsform der Erziehung und
eine eigene Weise der erziehenden Thätigkeit entspricht. Am
deutlichsten prägt sich der besondere Charakter dieser Stufe
aus in dem stark hervortretenden Momente der Gegensätz-
lichkeit
, des zu überwindenden, weniger äusseren als inneren
Widerstands. Das unmittelbare Leben des Triebs wird für
die sich bewusster entfaltende Thatkraft des Willens mehr
und mehr zum blossen, zu gestaltenden Material; indem die
eigene, formende Thätigkeit in den Vordergrund des Bewusst-
seins tritt, wird der Trieb mehr als Hemmnis empfunden, ob-
wohl der Wille sich seiner positiven Kräfte zu bedienen doch
gar nicht umhin kann. Daher gehört zur Grundstimmung der
jugendlichen Entwicklung auf dieser Stufe etwas von Trotz
auch gegen den eigenen Trieb, dessen unbeherrschte Gewalt
von dem sich freier entfaltenden, zur Selbstthätigkeit drängenden
Willen als Fessel empfunden wird. Das ist das eigentliche Metall
[255] der Tugend, die echte Mannhaftigkeit, die in wenngleich zärterer
Mischung auch dem heranwachsenden Mädchen nicht fehlen
darf, die man ihm nur mehr einprägen und in ihrer strengen
Schönheit lieb machen sollte, als es in unserer Erziehung noch
im ganzen geschieht.


So wird es zunächst für den Einzelnen jetzt erstes Gebot:
Sei selbständig! — welche Regel sich aber sofort durch die
andre ergänzt: Hast du dein Selbst gewonnen, so verliere es
fröhlich wieder, d. h. setze es ohne zu viel Besinnen ein für
das erkannte Gute. Dies Moment der Lebensverneinung ist
als Nerv einer echten Tugend nicht zu entbehren. Man will
gewiss das Leben, aber will nicht propter vitam vitae perdere
causas
, um des Lebens willen das preisgeben, was allein ein
Grund zu leben ist; wer sein Leben verliert, der gerade behält
es. Das ist auch der edle Sinn der Ehrliebe, auf die Plato,
sonst allem bloss Triebartigen so feindlich gesinnt, die Tugend
der Tapferkeit ganz zu stützen gewagt hat. Dafür gerade ist
das heranwachsende Alter so empfänglich, dass der Erziehung
fast nichts zu thun übrig bleibt als diese Empfänglichkeit da-
durch wach zu erhalten und zu üben, dass sie sie voraussetzt
und in Anspruch zu nehmen wagt. Dies giebt eigentlich den
Grundton dieser Entwicklungsstufe; die tiefe Ernsthaftigkeit
besonders des reiferen Knabenalters beruht ganz hierauf. Was
nicht dem neuen hohen Ideal der Mannheit entspricht, sinkt
jetzt zum verachteten kindlichen Spiel herab, das doch auf
der vorigen Stufe so wichtig, ja die eigentliche Welt des
Kindes war. Das beweist sich auch in allen besonderen Rich-
tungen der Entwicklung. Die leibliche Ausbildung wird Selbst-
werk; besonders strebt man im Kampf und Wetteifer sie
gegensätzlich zu erproben, an den Gleichaltrigen und, wenn
es sein kann, den wenig Älteren sich zu messen, nicht mehr
in der Weichheit des zarteren Alters sich ihnen anzuschmiegen.
Die Regelung der Affekte wird jetzt bewusste, leicht etwas zu
tyrannische Beherrschung. Man strebt instinktiv darin, wie
in der vielseitigen Sinnes- und Muskelübung durch planmässige
Steigerung der Kräfte sich zum ernsten Kampf des Lebens zu
rüsten. Im Intellektuellen tritt an die Stelle des blossen
[256] interessierten Schauens oder gläubigen Hinnehmens des Ueber-
lieferten oder auch des blossen Spielens der Phantasie das
bewusst vorwärtsstrebende, an der Bewältigung grosser, weit-
ausblickender Aufgaben sich stählende Lernen. Man vertraut
nicht mehr dem sinnlichen Schein, man fragt nach Begriff und
Grund; die straffere Disziplin des Denkens wird gesucht und
gern angenommen. Man will Wahrheit; zunächst die Wahr-
heit der Thatsache, die dann aber auch sich feststellen will im
Gesetz. Der kräftige Sachsinn dieses Alters passt zu seiner
ganzen Nichtempfindsamkeit, seiner scheinbar trockenen Ver-
nunftliebe. Es gehört schon Scharfblick oder genauerer Um-
gang dazu, um auf dem Boden dieses kühl erscheinenden Realis-
mus und Rationalismus doch etwas schon von dem Feuer jenes
Idealismus zu erkennen, der im Knaben gleichwohl nur schlum-
mert und nur des mächtigen Weckrufs bedarf, um im Jünglings-
alter sich in seiner ganzen Kraft zu entfalten, und dann nur
zu leicht alle sorglich errichteten Schranken des schlichten
Sachsinns zu durchbrechen.


Uebrigens fehlt auch diesem Alter nicht die phantastische
Zuthat; nur nimmt auch die Phantasie einen andern Charakter
an. Das Märchen und was auf gleicher Stufe steht, genügt
dem erwachten Wirklichkeitssinn nicht mehr, und der Idealismus
eigentlicher Kunst und Dichtung liegt noch ausser dem Ge-
sichtskreis. Man ist Prosaiker; vielleicht eifriger Mathematiker,
Physiker, Geograph, oder regelfester Grammatiker, thatsachen-
fester Geschichtsfreund. Aber doch kann die Phantasie es
nicht lassen, eine zweite Wirklichkeit, so recht nach eigenem
Bedarf, neben der nächstgegebenen und durch Unterricht er-
weiterten zu entwerfen; sei es, dass man auf Robinsons un-
sterblicher Insel sich heimisch macht oder auf Kriegspfaden
der Rothäute; das gefährliche Abenteuer ist die Leibspeise der
Phantasie für diese Stufe. Deshalb passt ihm so die wie für
dies Alter geschaffene Welt des Homer, Ilias wie Odyssee,
deren Helden fast wie unsterbliche Knaben handeln und reden.
Es ist ein richtiger Instinkt, der nun seit so langer Zeit für
diese Stufe der Bildung gerade diesen Lehrmeister gewählt hat.


Auch das Spiel des heranwachsenden Knaben (und Mädchens)
[257] sucht ähnliche Bahnen. Es geht desto leichter und williger
in eigentliche, zweckbewusste Arbeit über; sie wird am wenigsten
in diesem Alter als Frohndienst empfunden, sondern als will-
kommene Uebung der Kraft, als fröhlicher Krieg gegen den
widerstrebenden Stoff. Der Sinn für Regel und Ordnung ist
dem normal entwickelten Kinde dieses Alters natürlich, ebenso
wie jener dem Bürgersinn vorarbeitende Gemeinsinn, wie er
in den festen Organisationen des Hauses, mehr aber der Schule,
dem verkleinerten Abbild einer bürgerlichen Gemeinschaft, sich
jetzt bestimmter herauszubilden Gelegenheit hat. Mit dem
Sinn des trotzigen Sichbehauptens und Insichverschliessens —
„als Knabe verschlossen und trutzig“, sagt Goethe — vereint
sich ganz wohl die freudige Anerkennung des gleich tüchtigen,
gleich selbständigen Andern. Das Verhältnis zum Andern ist
jetzt vorzugsweise das einer auf Anerkennung persönlicher
Tüchtigkeit ruhenden Achtung. Man ist ritterlich gesinnt ge-
gen die Kleinen, denen gegenüber am ehesten etwas von ver-
haltener Zärtlichkeit im unbeobachteten Augenblick sich her-
vorwagt; ritterlich auch gegen den gleichstrebenden Altersgenossen.
Der Wetteifer, von den Pädagogen oft über Gebühr gepriesen,
oft ebenso ungebührlich gescholten, hat auf dieser Stufe der
Erziehung seinen rechtmässigen Platz; man sollte ihm den
Spielraum nicht gar zu eng ziehen, denn er ist diesem Alter
natürlich und vermag die schönsten Kräfte aus dem Schlummer
zu wecken. Seine Grenze aber und seinen Halt findet er an
dem Sinn für Recht und Gesetz und für etwas wie ritterliche
Sitten, die jeden unredlichen, zumal feiger, hinterlistiger Mittel
sich bedienenden Wettbewerb scharf verurteilen. Das alles
ist wertvoll als Schule, wie es denn auch in der Schule und
aller schulmässigen Organisation, so im Waffendienst, vor-
nehmlich seine Stätte findet.


In diesem allen ist aber wiederum der Einfluss der Ge-
meinschaft
vorzüglich wichtig, ja entscheidend. Die straffe
Organisation der Schule ist deshalb für diese Stufe eine Not-
wendigkeit und durch nichts Andres zu ersetzen. Nur eine
etwas zu einseitige Fortsetzung davon, ein bisher nicht organisch
genug sich anfügendes, seinem ganzen Charakter nach aber
Natorp, Sozialpädagogik. 17
[258] gleichartiges Anhängsel ist die weitere Schule des Waffen-
dienstes. Sogar nirgends ist der erziehende Einfluss organisierter
Gemeinschaft so greifbar, daher auch thatsächlich so hoch,
selbst bis zum Uebermaass entwickelt. Von welcher Bedeutung
gerade dies Formale des schulartigen Betriebs der Bildungs-
thätigkeit für die Erziehung ist, ist an seinem Orte gezeigt
worden; hier sei noch besonders darauf aufmerksam gemacht,
wie das auch auf die ganze Behandlung des Stofflichen der
Bildung, in intellektueller wie sittlicher Hinsicht, Einfluss hat.
Die Konzentration, die aus dem Trieb den Willen erzeugt,
kann freilich nur von einem jeden selbst vollbracht werden;
aber sie findet die kräftigste Unterstützung in straffer äusserer
Organisation, und umso mehr, je mehr sie dabei doch den
Charakter wirklicher Gemeinschaft behält. Es ist das Element,
in dem der Bürgersinn natürlich erwächst. Ueberwog viel-
leicht anfangs der Trieb der individuellen Selbstbehauptung,
so mässigt und begrenzt er sich bald in dem gleichzeitig er-
starkenden Sinn für gemeinsame Behauptung. Man lernt, was
man für sich will, gleichsam für alle wollen, für den Verein
als solchen. Das Beste, was die Schule, und so auch der
Waffendienst, in erzieherischer Hinsicht wirken kann, wirken
beide als Verein; man sollte darum auch trachten sie möglichst
zum Verein Gleichwollender, statt zur blossen Zwangs- und
Dressuranstalt, zu machen. So würden desto mehr die an
ihnen Teilnehmenden herangebildet zum grösseren Verein des
Bürgertums, des Staats, in den beide sich, als „nationale“ Ver-
anstaltungen, sachgemäss einfügen. Es entwickelt sich aus
dem natürlichen Kameradschaftstrieb der in gemeinsamer Schu-
lung Heranwachsenden der Vaterlandssinn, als Bürgersinn und
nur in und mit diesem zugleich militärischer Sinn, dessen ge-
rechte Ansprüche wir nicht verkennen, wenn auch der Ueber-
spannung seiner Bedeutung entgegenzutreten Anlass genug ist.
Der organisierte Militärdienst hat jedenfalls das Verdienst, zu
zeigen, was Organisation vermag.


Auch in allen diesen Beziehungen sind die Stoffe des
klassischen Altertums von unschätzbarem Wert. Die ernsten
Bilder von Bürger- und Kriegertugend, welche die historischen
[259] Schriftsteller des Altertums vorführen, sind dem Sinn des
heranwachsenden Knaben durchaus homogen, sie müssen ihn
packen, wenn sie nur in der rechten Weise ihm vorgestellt
werden und nicht etwa die sonstige Erziehung das natürlich
sich entwickelnde Verständnis dafür künstlich erstickt. Es ist
oft und richtig bemerkt worden, dass die Geschichtschreibung
der Alten schlichtere, durchsichtigere Verhältnisse zeigt als
jedes moderne oder gar mittelalterliche Gemeinwesen, da sie,
ohne des grösseren, nationalen Ausblicks zu entbehren, sich
doch zunächst im Rahmen der natürlichen, d. h. der Stadt-
gemeinde hält.


Es bedarf nur des einfachen Hinweises, wie alles auf dieser
Stufe Gewonnene auch in der ganzen weiteren Entwicklung
erhalten bleibt; wie auch damit ein Grund gelegt ist, der nicht
wieder verlassen wird. Man lernt nach dem alten Spruch nicht
für die Schule, sondern fürs Leben, und das Leben bleibt,
ganz im gleichen Sinne, immerfort eine Schule, wiewohl nicht
nur das. Damit aber, dass dieser grössere Sinn der Schule
aufgeht, wird bereits die Schwelle zur dritten Erziehungsstufe
überschritten, auf der das Leben selbst der Erzieher wird,
Haus und Schule nur noch als mitwirkende, in der That sekun-
däre Faktoren in Betracht kommen.


§ 28.
Dritte Stufe: Freie Selbsterziehung.


Was bedeutet eigentlich der Schritt von der Schule zum
Leben? Denn als das eigentliche Leben, für das das Haus und
die Schule erziehe, betrachtet man ja erst das Leben jenseits
beider. Was ist die erziehende Kraft dieses Lebens, was unter-
scheidet sie von den erziehenden Kräften des Hauses und der
Schule, die doch auch zugleich ein Leben sind? Ein erhöhtes
Ziel der Bildung muss es sein, das über die enge Organisations-
weise der Haus- und Schulerziehung hinaustreibt; eine neue
Welt thut sich auf, neue grössere Formen der Gemeinschaft. Nur
scheint die Erweiterung ein Schritt ins Unendliche und damit ziel-
los zu sein. Denn gerade das Bewusstsein der Unendlichkeit
[260] der Aufgabe
der Bildung ist es, worin der entscheidende
Schritt zum „Leben“ sich vollzieht. Kein endliches Ziel mehr
will dem wie zur Selbstverewigung drängenden Streben genügen.
Nicht bloss umfassendere Einheiten werden gesucht, sondern
die letzte Einheit der Einheiten; nicht bloss höhere Zwecke
aufgestellt, sondern nach dem Zweck aller Zwecke gefragt.
„So ist denn alles nichts, wenn das Eine fehlt, das dem Menschen
alles Andre wert ist“: so ist die Grundstimmung dieses Alters
der Sehnsucht. Das Wort, aus Goethes pädagogischem Roman,
hat zunächst die Liebessehnsucht im Sinn; aber der Philosoph
wird sich dabei der Liebeslehre der Diotima in Platos Gast-
mahl erinnern, diesem philosophischen Hymnus auf die Jugend.
Da ist der Zusammenhang des unbegrenzten, aufs „hohe Meer“
gelangenden Bildungsdranges in Wissenschaft, in sittlichen Be-
ziehungen und in Kunstgestaltung mit dem erwachenden Liebes-
verlangen in einer Klarheit und Tiefe enthüllt, an die auch
Goethe kaum heranreicht. Sich selber, den Menschen in
sich zu bilden, sein eigenes tiefstes Leben anzuknüpfen an die
Kette des grossen, ewigen Lebens der Menschheit, von ihr es
zu empfangen und in sie weiterzugeben, das ist der unerschöpf-
liche Sinn des ganzen, unverstümmelten Jugenddranges. Das
so erwachte Selbstbewusstsein sucht und erzwingt dann frei-
lich auch die Objektivierung im andern Selbst; die Ahnung
des Unendlichen in der eigenen Seele will sich reinigen und
sichern in dem Glauben an das Unendliche in der Seele des
Andern, darum einzig und grenzenlos Geliebten. Allein,
ebenso wie man am Ich nicht haften will — das wäre viel
zu eng und eingeschlossen — so ist auch das einzelne Du nur
begrenzender Ausdruck eines Dranges, der an sich keine Grenze
anerkennt. Aufs Persönliche zwar ist er ganz gerichtet, aber
nicht auf die einzelne Person, weder die eigene noch die fremde,
sondern auf „die Menschheit sowohl in der eigenen Person
als in der Person eines jeden Andern“. Und so findet das „Eine,
das dem Menschen alles Andre wert ist“, seinen reineren Aus-
druck als Sache, als Idee, als „das“ Wahre, Gute, Schöne,
das in der letzten Idee, in der Idee der Idee Eins ist.


Also scheinen wir weit entfernt von einer neuen, beson-
[261] deren Form organisierter Gemeinschaft. Der jugend-
liche Drang in seiner Unbedingtheit scheint fast über jede
irgendwie konkrete Gemeinschaft hinauszutreiben. Aber
vielleicht führt er doch auf einem Umweg zu ihr zurück.
Lassen wir ihn denn sich rein seinem eigenen Gesetze gemäss
entwickeln.


Er ist, schon dem Gesagten zufolge, zu allererst Er-
kenntnisdrang
. Auf keiner andern Stufe tritt das Streben
nach Erkenntnis so unbedingt voran, ist Erkenntnis so sehr
Selbstzweck. Wahrheit um jeden Preis, ganze Wahrheit wird
verlangt; nicht dem Umfang nach, der dürfte der kleinste sein,
hätte man nur im begrenzten Umfang die Gewissheit reiner,
unverkleideter und ungeschminkter Wahrheit. Ja dem Ob-
jekte nach möchte die Erkenntnis ganz zunichte werden: das
was sie zunichte macht, die Kritik der Erkenntnis aus der
ideellen Forderung ganzer, fehlloser Wahrheit, trüge doch ein
Moment von Wahrheit, ja die höchste Wahrheit in sich, die
des Selbstbewusstseins der Erkenntnis. Daher soll man den
Geist furchtlosester Kritik zu wecken und zu nähren nicht
scheuen; es ist nichts dabei zu besorgen, am wenigsten für die
Sittlichkeit. Auf „Jugend“ zwar reimt sich „keine Tugend“.
Aber das sollte man so verstehen, dass kein äusseres, hetero-
nomes
Tugendgebot ihr mehr genügt. Sie verlangt nicht
bloss das Gute selber zu thun, sondern, um ihr ganzes Selbst
dafür einsetzen zu können, begehrt sie auch selber, autonom,
zu bestimmen, was das Gute sei, und von keinem Andern
darüber eine Belehrung annehmen zu müssen, die nicht das
eigene Bewusstsein frei zu bejahen imstande ist. Nicht Rück-
sichten des äussern Lebens, nicht blosse Sitte oder äussere
Ehre oder Menschenfurcht soll mehr bestimmend sein, sondern
unbedingte innere Aufrichtigkeit walten, die dann auch wohl
nicht umhin kann in Aufrichtigkeit gegen alles Aeussere auch
bis zur Rücksichtslosigkeit sich auszusprechen. Das ist die edle
Tugendlosigkeit der Jugend. Wer nicht in solchem Sinn in
seiner Jugend über die Stränge schlüge, wäre wohl nicht jung,
sondern einer jener Altgebornen, wie ihrer freilich viele einher-
gehen. Die schlagen auch über die Stränge, aber anders; ihre
[262] Untugend ist bestenfalls Ausbruch überschüssiger blinder Kraft,
und leicht sinnlose Kraftvergeudung, die sich nur allzu bald
rächt und aus den scheinbar jugendstrotzenden Menschen früh-
alte macht, denen man nicht ansieht, dass sie je eine Jugend
gehabt haben. Selbst dabei kann irgendwo noch eine edlere
Anlage sich verstecken, die nur etwa nicht freien Raum fand,
sich ihrer Eigenart gemäss zu entfalten. Darum ist es, wenn
die Jugend über die Stränge schlägt, so schwer zu beurteilen,
ob das nur der Most ist, der sich absurd gebärdet, oder Schlim-
meres. Bedenklich ist nicht an sich das Durchbrechen der
äusseren Sitte; bedenklich ist nur, wenn es nicht aus Kritik
geschieht, sondern aus Verachtung jedes kritischen Maasstabs.
Wenn das Erstere, so ist noch nichts verloren; denn dieselbe
Kritik, die das bloss Ueberlieferte verwarf, wird das für echt
Erkannte festhalten und besser sichern, als es in der blossen
Folgsamkeit gegen Sitte und öffentliche Meinung gesichert
war. Man soll also die Kritik nicht beirren, sondern sie selber
wecken, nur ihr auch kräftige Nahrung geben, indem man sie
vor die echten Probleme stellt. Das aber führt unaus-
weichlich zur Philosophie. Die Schule der Sokratik
thut diesem Alter not; die in Plato sich aufs schönste ver-
bindet mit der sicheren Hinleitung auf das ewige Endziel, die
Idee. Wenigstens ein Vorschmack von Philosophie sollte
keinem vorenthalten bleiben. Für die, denen zum tieferen
Eindringen die Voraussetzungen fehlen, sollte man ein philo-
sophisches Lesebuch
zusammenstellen, das auf jeden Fall
einige grosse Stücke aus Plato, das Fasslichste aus der Ethik
Kants, Auszüge etwa aus Fichtes freier gehaltenen Schriften,
aus Pestalozzi mit manchem Gleichartigen oder dazu Vorbe-
reitenden in wohlbedachter Anordnung, nicht ohne die not-
wendigen Erläuterungen, enthielte. Oder es sollte der Lehrer
des Deutschen oder Griechischen in Prima (denn leider nur an
die höheren Schulen ist unter den gegebenen Voraussetzungen
zu denken) in freien Kursen ausser der Schule denen, die den
Trieb dazu haben, das Beste und Notwendigste davon zugäng-
lich machen. Aber auch die Verstandesschule der theoretischen
Wissenschaften, die Gesetzeserkenntnis der Mathematik und
[263] Naturwissenschaft müsste wenigstens bis an die Schwelle der
Philosophie führen: zu dem Bewusstsein der Unerlässlichkeit
von Grundbegriffen, Grundsätzen, Methoden. Es ist nicht nur
das Bedürfnis eines Gegengewichts gegen den überkühnen Flug
des philosophischen Idealismus, das auf diese Ergänzung be-
sonders durch die mathematischen Wissenschaften führt, sondern
es ist die innere wurzelhafte Einheit, in der die Idee mit dem
Begriff, dem Gesetzesbegriff der Wissenschaft, das Vernunft-
gesetz mit der Gestaltung der Erfahrungswelt unter der Herr-
schaft des mathematischen Gesetzes zusammenhängt. In solcher
Vertiefung streift auch das „Gute“ ganz den weichlichen Sinn
des blossen Mitgefühls ab, und enthüllt sich als sein echter Sinn
der des Gesetzlichen, darin wurzelnd, dass der Mensch nicht
Spielball seiner wogenden Gefühle sein oder bleiben, sondern
im gesetzmässigen Grunde des eigenen Selbstbewusstseins sich
festgründen will. Der gleiche Sinn der Gesetzlichkeit waltet
auch im Reiche des Schönen, des Aesthetischen überhaupt.
Der echte Künstler mag immerhin von der „Kritik“ so viel
verstehen wie die Giraffe vom Strümpfestopfen (wie v. Lilien-
cron dafürhält), aber, wenn ihm nicht das Gesetz der Form
in den Fingerspitzen lebte, würde er (wie derselbe Mann seinen
Freunden, den Naturalisten zuruft) ein roher Bursche bleiben.
Auch den Anteil am Künstlerischen, den selbst das blosse
nachfühlende Verständnis des Kunstwerks fordert, weckt allein
das Studium der Formgesetze, ohne das alles Kunstgeniessen
roh und kunstwidrig ist.


Gesetzerkenntnis also ist der ernüchterte Sinn der
„Ideenschau“, wenn man das abstreift, was in der That das
Aeusserlichste daran ist: jenen Gefühlsrausch, den Plato un-
nachahmlich als das Jucken der wachsenden Schwingen be-
schreibt. Gesetzerkenntnis fordert aber den Halt an der
Erfahrung
. Daher wird, gerade indem man dem Idealismus
sein volles Recht zuteil werden lässt, dem Realismus das seine
keineswegs verkürzt. Nicht bloss der echte Künstler, auch
der echte Forscher, der echte sittliche Mensch ist „als
Naturalist geboren“, d. h. will nicht an der blossen Idee sich
berauschen, sondern schreckt vor dem Sinnlichsten der Wirk-
[264] lichkeit nicht zurück: um es mit der Idee d. i. mit gesetzlicher
Gestaltung ganz zu durchdringen bis zum niederen Triebleben
herab, dessen gesunde Kraft nicht entwurzelt, sondern er-
halten, aber in den Dienst edler, menschlicher Zwecke gestellt
werden soll.


Und hier ist es nun, wo gerade die höchste Entwicklung
des Menschen im Menschen nicht von der Gemeinschaft der
Menschen hinweg, sondern mitten in sie hineinführt. Es muss
nämlich doch, wenn jene Forderung gerade des höchsten Idea-
lismus irgend erfüllt werden soll, alles, was auf den vorigen
beiden Stufen gewonnen wurde, auf der dritten erhalten bleiben
und nur zu dem, was sie Neues und Eigentümliches hinzu-
bringt, in Beziehung gesetzt werden. Also wird auch die
höhere Entwicklung sich an die vorhandenen Formen der
Gemeinschaft
immer anschliessen müssen, wiewohl in der
Absicht sie zu vertiefen und, wo diese Vertiefung es fordert,
auch die gegebenen Formen zu durchbrechen, nämlich weitere,
mächtigere an ihre Stelle zu setzen.


Zunächst die Oekonomie der Triebkräfte bis zu ihrer
physischen Grundlage ist sogar für kein Alter so wichtig wie
für dieses, da ohne diese Bedingung der an der gefährlichsten
Entwicklungsscheide stehende, so leicht gewaltthätige Trieb
alsbald alles stören und zerstören würde. Wie aber hier einzig
der feste Halt an der Familie oder familienhafter Gemeinschaft,
zum wenigsten an ihrer Idee, eine Sicherung bietet, wurde
schon zur Genüge ausgeführt. Günstig genug kommt dieser
ideellen Hülfe die diesem Alter so natürliche Neigung zur
Leibesübung, zur ernsten körperlichen Anstrengung überhaupt
entgegen, die man nur auf ordentliche Ziele, d. h. dahin lenken
sollte, dass sie zugleich als Arbeit d. i. Gestaltung sinnlichen
Stoffs Gelegenheit giebt, die Tugend des lautern Sachsinn, der
Wahrheit gegen die Sache daran zu üben, zugleich den Segen
der Arbeitsgemeinschaft
an sich zu erfahren. In solchem
allen aber erhält und stärkt sich jene unmittelbare familien-
hafte Gemeinschaft, aus der wir die Elemente dazu ursprüng-
lich hervorwachsen sahen. Man verbleibt in unlöslicher Be-
ziehung zur materialen Grundlage des Menschendaseins in
[265] aller und jeder Richtung. Ein Losriss erfolgt nicht, es muss
nur, was erst ein Ganzes schien, ja es für die frühere Ent-
wicklungsstufe auch war, jetzt an das grössere Ganze sich an-
schliessen, da es an sich freilich kein Ganzes ist.


Und nicht anders verhält es sich mit dem zweiten Elemente
der Erziehung, der bewusst gewollten Organisation. Auch
sie muss bleiben, sie darf nur nicht mehr Selbstzweck sein.
Insofern sie heteronomen Charakter trägt, widerstrebt ja ihr
am meisten das einmal voll erwachte Selbstbewusstsein des
jugendlichen Menschen, der im beglückten Finden seiner selbst
eher den Trieb hat, von allen bloss äussern Ordnungen sich
loszumachen. Ihm muss zumeist der Zwang einer Schule wider-
streben, in der irgend ein engherziger Geist waltet, die es nicht
versteht, die natürliche Lockerung des äusseren Zwanges
sich zur rechten Zeit von selbst vollziehen zu lassen. Aber
die Gemeinschaft selbst erhält sich dabei nicht nur, sondern
sie erschliesst erst jetzt ihren tiefsten und letzten Sinn; sie
erhält die neue Bedeutung freier Gemeinschaft. Nicht um-
sonst lässt Platos Diotima aus der sich auseinandersetzenden
und verständigenden Zwiesprache die vergeistigte Liebesgemein-
schaft und damit die Ideenschau entspringen, die dann schon
unmittelbar den Drang in sich trägt, zeugungskräftig in der
Gestaltung des Gemeinlebens sich zu bethätigen. Das ist
der neue Sinn der Gemeinschaft, der auf dieser Stufe klar
wird: die gegenseitige autonome Verständigung als
einzige, endgültige Begründung der Gemeinschaft; der Sinn
jener echtesten Gerechtigkeit, als der Gleichachtung der
sittlichen Person im Andern, und in jedem Andern.


Nun ist diese Gemeinschaft nirgends verwirklicht oder unter
irdischen Bedingungen überhaupt zu verwirklichen, es sei denn
etwa im seltenen Bunde weniger Einzelnen. Allein die Idee
dieser Gemeinschaft wird deshalb nicht weniger, vielmehr sie
wird eben deshalb festgehalten. Und diese Idee muss sich
auch irgendwie einen Ausdruck schaffen; es muss die vor-
handene
Gemeinschaft, ein wie unvollkommener Ausdruck
der Idee sie sein mag, dennoch als ihr seinsollender, beabsichtigter
Ausdruck begriffen und dadurch geheiligt und vertieft werden.
[266] Die Idee, in ihrer Reinheit niemals in der Erfahrung darstellbar,
wird erkannt als unendliche Aufgabe für Erfahrung. Ihre
reale Bedeutung ist: dass die vorhandene empirische Ge-
meinschaft nicht wegzuwerfen, sondern umzubilden
ist
, möglichst nahe zu der edleren Gestalt wahrer, freier, allein
innerlich gebundener d. i. autonomer Gemeinschaft
.
Die Erziehung, die man selbst in der vorhandenen Gemeinschaft
und durch sie empfing, ist der lebendige Beweis dafür, dass
diese empirische Gemeinschaft dennoch unter der Botmässigkeit
der Idee steht; die Idee hat doch darin eine Art Wirklichkeit
in ihr, dass es eine in der Gemeinschaft thatsächlich wirkende
Auffassung dieser Gemeinschaft selbst giebt, die aus dem Stand-
punkt der Idee vorgezeichnet ist und nicht an die Gemein-
schaft bloss als vorhandene und so, wie sie vorhanden ist, uns
binden will.


Und so bleibt es nicht bei einem träumenden Idealismus.
Die Aufgabe der Gemeinschaft wird, obwohl durch ihre Idee,
doch in der vollen Realität der Geschichte erfasslich. Das
Verständnis für Geschichte, als Einheit der Erlebnisse der
Menschheit, gehört recht eigentlich dieser Stufe an. Und
wenn man längst der Geschichte eine vorzüglich wichtige sitt-
lich bildende Kraft zugeschrieben hat, so müsste sie diese Kraft
vor allem in dem Sinne beweisen, dass sie die empirischen
Gemeinschaftsformen und alle überlieferte Kultur der Menschheit
als wandelbares Produkt der Entwicklung, als Objekt be-
ständiger, ernstester und zwar schliesslich für die ganze
Menschheit gemeinschaftlicher Arbeit
, d. i. als ewige
Aufgabe
, nie abschliessendes Ergebnis begreifen lehrt. Darauf
beruht zugleich das Verständnis und die echte, tiefgründige,
fürs Leben vorhaltende Begeisterung für jedweden Beruf und
jedwede Berufsbildung, auf welche die jetzt zu gewissem Ab-
schluss gelangende Allgemeinbildung als auf ihre notwendige
Ergänzung hinweist. Das gehört aber genau auf die Stufe der
jugendlichen Entwicklung, von der wir eben reden. Das Ver-
ständnis für Geschichte im angedeuteten Sinne kann erst auf
dieser Stufe erwartet werden. Bis dahin war alles in gewisser
Weise doch erst gespielt; das Beste, was dabei begriffen wurde,
[267] war das freie und starke Regen der Kräfte, doch ohne sicher
und gar endgültig erkanntes Ziel. Im so vertieften Geschichts-
sinn schliesst die allgemeine Bildung sich ab und fügt sich an
sie die Berufsbildung nunmehr organisch an. Gerade der Beruf
aber und die Bildung zu ihm führt dann erst recht zum Ver-
sändnis für Bürgertum, für Volkstum. Er trennt nur, um
wieder zu verbinden; er teilt die Arbeiten, um sie desto besser
zu vereinen. Aus der Volksgemeinschaft erwachsen, wirkt er
notwendig auf sie wieder zurück, wenn nicht bewusst, dann
unbewusst, wenn nicht im Guten, dann im Verkehrten. Also
sorge man vor, dass es bewusst und im Guten geschieht. Jeder
Beruf wirkt mit zur Höherbildung des Menschentums
zunächst im Volkstum. Einen Beruf aber giebt es daher,
an dem alle teilhaben, ja der zuletzt alle andern befasst, der
direkt in das Zentrum der ganzen Aufgabe der Willensbildung
zielt: den Beruf der sozialen Erziehung. Wie jede Form
erziehender Gemeinschaft zum Ziel die ewige Erneuerung dieser
Gemeinschaft selbst hat, so hat die Erziehung im ganzen, die
auf allen Stufen in der Gemeinschaft beruht, das bestimmte
Ziel, dass der Erzogene selbst wieder befähigt werde zum Er-
zieher, zum Miterzieher der Gemeinschaft. Darin schliesst sich
der Kreis der sozialen Pädagogik, als der fortwährenden Selbst-
erneuung des Menschentums, als geistiger Fortzeugung, in der
die Menschheit, die ideelle wie die physische, sich fort und fort
selbst erhält. Auch in dieser Beziehung möchte der Idee der
„Volkshochschule“ ein vorzüglicher Wert zuzuerkennen sein,
besonders wenn man sie sich (nach den obigen Andeutungen,
S. 219 f.) in Verbindung gesetzt denkt mit der ganzen ge-
meinsamen Sorge für das Wohl der arbeitenden Klassen,
nicht im Sinne der Bevormundung, sondern der Erziehung
zur Freiheit
, in dem Sinne, jeder Arbeit in jedem Beruf
und auf jeder gesellschaftlichen Stufe einen Inhalt und damit
dem Leben eines jeden ein lebenswertes Ziel zu geben, dasselbe
für alle: Vergemeinschaftung und damit Erhöhung und Ver-
edelung des Menschentums, in unbeschränktem, sich selbst er-
haltendem Fortschritt.


Deshalb muss die geschichtliche Bildung sich ergänzen
[268] und gründlicher gestalten durch die soziologisch-poli-
tische
, die nur recht konkret an die womöglich zugleich
praktische Kenntnisnahme der wirklichen gesellschaftlichen
Zustände und ihrer Einwirkung auf das physische und geistige
Dasein der grossen Masse der Menschen sich anknüpfen sollte
(vergl. „Religion“ S. 12 u. 93). Zugleich liegt diesem Gebiet
das religiöse Leben nicht fern; worüber hier nur soviel
gesagt sei: dass die Religion die Gemeinschaft von Mensch
und Mensch, ohne weitere Bedingung, und zwar als Thatsache,
als „Leben“, nicht bloss begriffliche Lehre voraussetzt; und
dass sie eine Gewissheit des Unsichtbaren, wiederum nicht im
allgemeinen Begriff nur aufstellt, sondern lebendig einzupflanzen
sich zur Aufgabe stellt. Die schärfste Kritik ihres theoretischen
Wahrheitsgehalts darf nie diese praktisch lebendige Kraft der
Religion übersehen lassen. Uebt sie eine solche Wirkung, hat
sie sie nur je geübt, so muss sie einen soliden Grund im
Menschenwesen haben, wenn auch überwuchert und oft fast
unkenntlich gemacht durch Anderes, was man auf diesen Grund
gebaut hat und was einer wahrheitsliebenden Kritik nicht
standhält. Dieser Grund ist, unsrer Ueberzeugung nach, das
Ewigkeitsgefühl und Menschheitsgefühl, das Gefühl jener Ver-
ewigung, die das noch so zufällige und beschränkte Leben des
Einzelnen erfährt in dem Bewusstsein der ewigen Aufgabe der
Erhaltung und vertiefenden Erneuung des Menschenwesens in
den Menschen und in der Menschheit. Die Erhebung zu diesem
Bewusstsein aber ist der grosse Gewinn der dritten, darum
abschliessenden Erziehungsstufe; die ideelle Gemeinschaft, in
die der Heranwachsende durch eben diese Erhebung sich auf-
genommen weiss, wird fortan sein Erzieher, und eben dadurch,
dass er in sie mehr und mehr hineinwächst und die aus ihr
stammende Kraft der Idealisierung im eigenen Leben und Beruf
bewährt, hilft er an seinem Teil sie wiederum lebendig dar-
stellen und für fernere Erziehung fruchtbar machen. Das ist
der Grund des tiefen Zuges zur Religion, der diesem Alter
innewohnt.


So beweist sich hier wie auf den beiden vorigen Stufen,
ja hier am meisten und am tiefsten Gemeinschaft zugleich
[269] als Element der Erziehung und als das durch sie ge-
staltete, immer neu zu gestaltende Werk
, in welches
zugleich die Errungenschaften der früheren Stufen sich ein-
fügen und darin ihre Vollendung finden. Ein höheres Ziel der
Willensbildung vermöchten wir nicht zu nennen, aber auch
bei keinem minder hohen uns zu beruhigen. Jedenfalls unser
Prinzip führt bis zu diesem Punkte und nicht weiter; auf
Begründung aber kam es an, nicht auf den Vortrag von
Einfällen und guten Wünschen. —


Der Gang der Willenserziehung ist hiermit im allgemeinen
Umriss beschrieben. Was zur Ausfüllung dieses Umrisses noch
fehlt, wird sich durchweg anschliessen lassen an die besondere
Erörterung des Anteils der Bildung des wissenschaftlichen
Verstandes, der ästhetischen Phantasie und des religiösen Ge-
fühls an der Erziehung des Willens, welcher Anteil zwar schon
fortwährend mitberücksichtigt worden ist, aber einer eigenen
Untersuchung, eben im Sinne einer genaueren Durchführung
der aufgestellten Grundsätze, nicht unbedürftig erscheint.


§ 29.
Anteil der Intellektbildung an der Willenserziehung.
Grundlagen und erste Stufe.


Die einflussreiche Lehre Herbarts vom „erziehenden
Unterricht“, der Satz, dass durch die „Bildung des Gedanken-
kreises“ auch zugleich „der Grund zur Charakterbildung ge-
legt“ werde, verdient wohl eine genaue Prüfung *), um so mehr,
als ihm etwas Richtiges ohne Zweifel zu Grunde liegt. Eine
enge Beziehung zwischen Intellekt- und Willensbildung ergab
auch unsre Untersuchung. Den Stoff hat der Wille mit dem
Verstande gänzlich gemein; nichts, was dem Gesetze des Willens
unterliegt, steht etwa ausserhalb der Gesetzgebung des Ver-
standes, und umgekehrt. Und wenn beide nach der Form,
d. h. der Art der Gesetzlichkeit, sich unterscheiden, so ist
dennoch der letzte formale Grund für beide Arten von Gesetz-
[270] lichkeit einer und derselbe; und auch unterhalb des gemein-
samen Prinzips, der Gesetzlichkeit überhaupt oder der durch-
gängigen Einheit des Bewusstseins, stehen sie zu einander in
einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung, so dass, wer das
Gesetz des Verstandes rein und von seinem Prinzip aus be-
greift, sich auch der Anerkennung des Willensgesetzes nicht
wird entziehen können, und umgekehrt. Dagegen folgt aus
diesen Voraussetzungen nicht eine einseitige Abhängigkeit der
Willensbildung von der Intellektbildung, wie Herbart sie be-
hauptet. Indem nämlich der „Verstand“ — für uns nur der
kurze Ausdruck für eine bestimmte Art gesetzlicher Gestaltung
von Bewusstsein — unter Herbarts psychologischem Gesichts-
punkt als „Seelenvermögen“ verdächtig wurde, setzte er an
seine Stelle eine vielfältige Verflechtung einer unübersehbaren
Menge einzelner „Vorstellungen“, d. h. das Formgesetz des
Verstehens verschwand gänzlich vor der in ungerechtfertigter
Weise verselbständigten Materie. Umso weniger konnte beim
Willen die beherrschende Bedeutung der Form, und also die
ganze Berechtigung eines eigentümlichen Begriffs des Willens
überhaupt noch anerkannt werden; was die Gegnerschaft Herbarts
gegen Kant in der Ethik wie in der Psychologie des Willens
erklärt. Dagegen ist nach unsrer Auffassung der Wille dem
Intellekt, mit dem er den Stoff gemein hat, der Form nach
vielmehr übergeordnet. Aus der Gemeinsamkeit des Stoffs folgt
die Notwendigkeit einer durchgehenden Verbindung von Intellekt-
und Willensbildung von der untersten Stufe bis zur Höhe mensch-
licher Entwicklung; aus der formalen Unterordnung des Ver-
stands unter den Willen aber: dass einesteils die Verstandes-
entwicklung eine beständige Uebung des Willens und insofern
zugleich seiner Entwicklung dienstbar ist; andernteils die eigene
Gesetzlichkeit des Willens im Unterschied von der des Ver-
standes, obgleich ohne Widerspruch gegen sie, zu deutlichem,
abgesondertem Bewusstsein gebracht werden muss. Es muss
daher eine praktische Lehre sich von der theoretischen bestimmt
sondern; während alle direkte Uebung Verstand und Willen
gemeinsam in Anspruch nimmt, aber auch die Lehre für den
Verstand zugleich Uebung für den Willen ist.


[271]

Nach dieser grundsätzlichen Auffassung wären wir von
„erziehendem Unterricht“ ebensowohl wie Herbart und seine
Schule zu reden berechtigt. Aber wir möchten mit dieser
Schule nicht verwechselt werden. Auch wir „gestehen“, wie
Herbart, „keinen Begriff zu haben von Erziehung ohne Unter-
richt“, und erkennen, wie er, „auch rückwärts keinen Unter-
richt“ an, „der nicht erzieht“; wo anerkennen so viel besagen
muss wie gutheissen, denn dass ein nichterziehender Unterricht
möglich sei, ist doch auch Herbarts Meinung. Nicht zustimmen
können wir dagegen der Begründung dieser behaupteten Ein-
heit von Unterricht und Erziehung durch den Satz, dass „aus
Gedanken Empfindungen und daraus Grundsätze und Hand-
lungsweisen werden“, oder, wie ein jüngerer Herbartianer (Rein,
im Encykl. Handb. II, Art. „Erziehender Unterricht“, S. 2) es
schärfer noch und unzweideutiger ausdrückt, „das Vorstellungs-
leben eines Menschen seine Entschliessungen determiniert.“
Wir teilen die Meinung nicht, dass aus dem blossen Wissen —
zwar nicht aus jedem, sondern nur einem bestimmt gearteten,
aber doch ohne irgend einen weiteren psychischen Fak-
tor
— das Wollen resultiere. Und wenn als mitwirkend immer-
hin die „Empfindung“, das Interesse, die Lust und Liebe, d. h.
zuletzt das Gefühl anerkannt wird, so soll doch, nach Herbart
und den Seinen, dieses ebenfalls aus blossen Vorstellungsver-
hältnissen, ohne Hinzutritt eines neuen Faktors, resultieren.
Selbst wenn dies nicht die Meinung wäre, könnten wir uns
nicht dazu verstehen, dass Vorstellung plus Gefühl den Willen
mache (vergl. § 7); ferner nicht dazu, dass das sittliche „Inter-
esse“ bloss eines neben vielen, wenn auch in der Reihe der
Interessen das vorzüglichste sei. Sondern das Wollen bleibt
uns etwas Eigenes, welches in dem, was man Interesse nennt,
vielleicht schon keimhaft zu Grunde liegt und eigentlich es
regiert, nicht umgekehrt aus ihm sich herleitet. Fürs Wollen
aber ist das sittliche Gesetz in dem Sinne, und nicht bloss
abgeleiteterweise, bestimmend, dass sich allein in Gemässheit
seiner alles besondere Wollen unter die Einheit eines be-
herrschenden Wollens fügt. Diese notwendige Einheit des
Wollens lehnt Herbart ausdrücklich ab, und so bleibt seine
[272] Pädagogik bei jener „Vielseitigkeit“ der Interessen schliesslich
stehen, die, wie längst empfunden wird, eine reine Zielbestim-
mung überhaupt nicht zulässt.


Dagegen steht Pestalozzi mit uns auf dem Boden der
reinen Spontaneität der menschlichen Bildung überhaupt, und
dann des unbedingten Primates des sittlichen Gesetzes. Also
besteht zwischen seiner und Herbarts Grundlegung der Er-
ziehungslehre ein innerer Gegensatz, den weder das selbstver-
ständliche Zusammentreffen beider in so manchem Einzelsatze,
noch irgend eine mildere Auslegung zum Verschwinden bringen
kann.


Die auffallendste und bedenklichste Folge der Herbartschen
Ansicht vom „erziehenden Unterricht“ bei ihren heutigen An-
hängern ist, dass ihnen für den selbständigen Wert der Ver-
standesbildung oft fast jedes Gefühl abhanden kommt. Nicht
zufrieden damit, dass der Unterricht des Verstandes zur Er-
ziehung des Willens unentbehrlich ist, sehen sie in dieser nun
auch sein ganzes und ausschliessliches Ziel. Wissen ist nicht
Selbstzweck, Wissen vergeht, so ruft man uns fortwährend
zu. Aber mindestens von dem Grundgesetze der Bewusstseins-
einheit, welches mit dem Verstehen und nur durch es das echte
Wollen begründet, vom Gesetze als letzter Form der Erkennt-
nis überhaupt kann unmöglich gesagt werden, es sei nur ein
dienendes Mittel, das man, nachdem es seinen Dienst verrichtet
hat, in die Ecke werfen dürfte. Sodann aber organisiert sich
doch unter dem eigentümlichen Formgesetz des Verstehens eine
eigene intellektuelle Welt, die zunächst rein in sich aufgefasst
und anerkannt sein will, und die unter dem eigentümlichen
Gesichtspunkte des Verstehens alles, auch was zugleich Materie
des Willens ist, nur nicht auch dessen eigentümliche Form,
einschliesst. Es ist auffallend, dass diese relative Selbständig-
keit des Verstandes von den Herbartianern oft nicht minder
verkannt wird, als andrerseits die reine Selbständigkeit und
Ueberordnung des Willens. Ja bisweilen ist man aus dieser
Anschauung heraus auf einen Weg geraten, der von allen, die
man wählen konnte, der verkehrteste, und auch der eigenen
Absicht Herbarts ganz zuwider ist, auf den Weg eines künst-
[273] lichen Interessierens und Erwärmens durch äussere Mittel,
schliesslich durch eben jene unmittelbaren Gefühlswirkungen,
die doch Herbart mit grösstem Rechte ahlehnt und in denen
er das gerade Widerspiel des „erziehenden Unterrichts“ sieht.
Ohne Zweifel soll der Zögling sich durch den Unterricht auch
erwärmt und interessiert, nämlich zu selbstgewollter Mitarbeit
gespornt fühlen. Aber solches echte „Interesse“, das bereits
unter der Herrschaft des Willens steht, nicht ihn erst produ-
zieren kann, fliesst am sichersten aus der eindringenden Be-
schäftigung mit der Sache, aus dem Aufleuchten der Erkennt-
nis in der Seele des heranwachsenden Kindes, aus der Ent-
fesselung der gestaltenden Kraft des verstehenden Bewusstseins.
Dagegen muss die Sachlichkeit notwendig Schaden leiden und
ein aussersachliches, subjektives Verfahren Platz greifen, wenn
das persönliche Erfülltsein, die Begeisterung des Lehrers, das
Ergreifende der Darstellung (wovon allerdings auch Herbart
gelegentlich gesprochen hat) so einseitig betont wird, wie es
von den Herbartianern einer bestimmten Richtung geschieht.


In engem Zusammenhang damit steht schliesslich die Stempe-
lung bestimmter Unterrichtsstoffe, vorzüglich Geschichte und
Religion, zu „Gesinnungsstoffen“ vor andern. Als ob es jemals
unmittelbar Aufgabe und Wirkung des Unterrichts sein könnte,
„Gesinnung“ hervorzubringen statt Begriff und Erkenntnis;
und als ob der Unterricht eines oder einiger Fächer sich eben
hierdurch von allem übrigen unterscheiden, als ob insbesondere
die Geschichte es sich gefallen lassen dürfte, aus der Reihe
der verstandbildenden Fächer so gut wie gestrichen zu werden.
Vielmehr muss die innige Verbindung zwischen Intellekt- und
Willensbildung, je mehr sie als schlechthin notwendig und
wurzelhaft erkannt wird, umso allgemeiner für alle Gebiete
des Unterrichts behauptet und zur Wahrheit gemacht werden.
In allen ist jene relative Selbständigkeit der Verstandesbildung
zu wahren, allen aber auch eignet die fernere und letzte Be-
ziehung auf das Willensgesetz, der zufolge sie zur Charakter-
bildung zugleich beizutragen imstande sind. Auch sofern Unter-
schiede des Grades hierbei obwalten, sind sie nicht ausschliess-
lich oder zuerst zu gründen auf eine materiale Einteilung wie
Natorp, Sozialpädagogik. 18
[274] die der Herbartianer nach „Erfahrung“ und „Umgang“, sondern
es wird sich fragen nach der grösseren Nähe zur Idee, d. h.
nach dem Grade der Herrschaft der Form in den be-
treffenden Unterrichtszweigen. Nach diesem Maasstab ge-
bührt z. B. der Mathematik (wie Plato schon erkannt und
Aristoteles vergeblich geleugnet hat) sogar eine ganz hervor-
ragende Stelle; dagegen würde sie nicht der Geschichte bloss
insofern zukommen, als sie „Teilnahme“ am Menschen er-
weckt. Würde nicht im Begriff des Menschen die Idee mit-
gedacht, so wäre die Beschäftigung des Unterrichts mit
Menschen nicht gesinnungbildender als die mit Gleichungen
und Kegelschnitten. Erhebung zur Idee ist etwas sehr andres
als Weckung von Teilnahme. Zu ihr aber geht der alleinige
Weg durch den Begriff, der sich, angesichts der Unend-
lichkeit der Aufgabe der Erfahrung, mit sachlicher Notwendig-
keit zur Idee vertieft. Also sehen wir uns doch auf den Weg
der Verstandesbildung zurückverwiesen, auch für den Geschichts-
unterricht, und gerade in Hinsicht des Beitrags, den er zur
Willensbildung liefern soll.


Und so ist allgemein zu sagen: Je reiner die Verstandes-
bildung ihre Eigenart bewahrt, um so reiner vermag
sie zur Willensbildung beizutragen
. Zugleich fordert
die Wahrheit der Gesinnung selbst, dass man sich grundsätz-
lich davor hüte Gesinnung zu machen.


Auf diesen allgemeinen Grundlagen sei es nun versucht,
von Art und Maass des Einflusses der Intellektbildung auf die
Willensbildung genauere Rechenschaft zu geben. Als Grund-
satz darf nunmehr vorangestellt werden: dass die Bildung des
Verstandes in eben dem Maasse den Willen entwickeln hilft,
als sie, nach der Grundforderung Pestalozzis, die Selbstthätig-
keit
in Anspruch nimmt, und als das Stoffliche in ihr sich
dem Formalen unterordnet. Und zwar findet dies seine An-
wendung gleichermaassen auf beide notwendig zusammengehören-
den Bestandteile der intellektuellen Thätigkeit: das Kennen
und das Können, Einsicht und Ausübung, Theorie und Technik.
Denn da einerseits theoretische und praktische Einsicht wesens-
verwandt und zusammengehörig sind, andrerseits die Uebung
[275] für beide völlig in eins zusammenfällt, nämlich in der Technik
im weitesten Verstande, so muss wohl der Zusammenhang der
Entwicklung des Intellekts mit der des Willens sich in diesen
beiden Richtungen gleich sehr bewähren.


Zur Durchführung dieser Grundansicht aber haben wir
nur das früher (§ 9) begründete und weiterhin immer voraus-
gesetzte genaue Zusammengehen der drei Stufen der
Intellekt- und Willensbildung
zu Grunde zu legen und
daraus die Konsequenzen zu ziehen. Derselbe dreigliedrige
Stufengang, vom sinnlichen Bewusstsein durch das empirisch-
gesetzliche zum vernunftgesetzlichen, d. h. dem auf durch-
gängige Einheit gerichteten, muss gelten für die Verstandes-
entwicklung in der Doppelbedeutung des Kennens und Könnens
und für die Entwicklung des Willens. Indem die Entfaltung
des Verständnisses von Stufe zu Stufe den Willen je auf den
entsprechenden Stufen in Thätigkeit setzt, kann sie gar nicht
umhin auch auf seine Entwicklung in derselben Abstufung hin-
zuwirken.


So wird von seiten des Intellekts in der That „der Grund
gelegt“ zu den drei fundamentalen Tugenden des Willens.
Reinheit der sinnlichen Auffassung und sinnlichen Bethätigung,
ein gebildetes Gefühl für Maass und Harmonie im Anschauen
und verwirklichenden Thun wird gewiss, da es selbst unmittel-
bar im Triebleben Wurzel fassen muss, auch direkt hinwirken
auf jene ethische Tugend der Reinheit oder des Maasses, welche
das ganze Triebleben durchdringen und ihm seine gesunde, mit
sich selbst einstimmige Richtung geben soll. Die Erschliessung
des Verständnisses für Regel und Gesetz, für die Zusammen-
stimmung des Vielen im Einen, und die dadurch bedingte Be-
herrschung alles Stofflichen der Natur im theoretischen und
technischen Verstehen fordert nicht minder und fördert daher
die Sicherheit und Klarheit gesetzlichen Wollens, den Sinn der
Ordnung, der Organisation in allem unserm Wirken, der den
Kern unsrer zweiten ethischen Tugend bildet. Und in womöglich
noch innigerer Verbindung steht das wieder hieraus sich ent-
wickelnde Vernunftbedürfnis nach durchgehender Einheit und
Uebereinstimmung, der voll erwachte Sinn der Wahrheit in
[276] intellektueller Bedeutung mit dem Sinn und Bedürfnis der
Wahrheit als praktischer Tugend; das kritische Gewissen der
wissenschaftlichen Vernunft mit der sittlichen Selbstkritik. Man
hätte direkt von Tugenden des Intellekts, genau parallel denen
des Willens, zu reden, wenn nicht in Wahrheit jene in diesen
schon mitbegriffen wären. Dass Pestalozzi auch diesen Zu-
sammenhang nahe vor Augen gesehen, zeigen am schönsten
seine unvergesslichen Sätze über die Arbeitsbildung *). Un-
zulänglich bleibt bei ihm allenfalls, dass die technische Bildung,
die er zu eng nur als Bildung der Hand (und etwa des Auges)
versteht, der Kopf- und Herzensbildung selbständig nebengeordnet
wird; obwohl sie bisweilen deutlich als das gemeinsame, beide
vermittelnde Element zu Tage tritt.


Aber auch die vierte unsrer ethischen Tugenden, die dem
sozialen Gebiet zugewandte, obwohl zugleich individuell be-
gründete Tugend der Gerechtigkeit findet im Felde des Intellekts
ihr Gegenbild. Schon überzeugten wir uns, nicht bloss, dass
die Technik auf Gemeinsamkeit des Thuns und also auf ge-
meinschaftliche Regelung zwingend hinführt, sondern dass mensch-
liche Vernunft überhaupt, auch als bloss theoretische, wesent-
lich Vernunft der Gemeinschaft ist und nur im Leben der
Gemeinschaft sich entwickelt, also auch umgekehrt durch ihre
Entwicklung zur Bildung des Sinns und Willens der Gemein-
schaft beitragen muss. Wenn also überhaupt von intellek-
tuellen Tugenden, so wäre auch von einer intellektuellen Tugend
der Gerechtigkeit zu sprechen, als der Bereitschaft, auf dem
Grunde gemeinsamer Vernunft mit dem Andern auch im blossen
Denken Verständigung zu suchen, gerechte Kritik zu üben und
gerechter Kritik sich willig zu unterwerfen. Nur ist wiederum
ohne weiteres klar, dass dies in dem ethischen Begriff der Ge-
rechtigkeit schon mitenthalten ist.


Dieses alles findet nun notwendig in der Erziehung, und
sofern die Erziehung des Verstandes, des Kennens wie des
[277] Könnens, Unterricht ist, im Unterricht, und zwar in jedem
ohne Ausnahme, seine Anwendung. In dieser allgemeinen, auf
alle Gebiete des Intellekts ohne wesentlichen Unterschied sich
erstreckenden Beziehung wäre die völlige Einheit des Unter-
richts mit der Erziehung höchstens noch nachdrücklicher zu
betonen, als es seitens der Herbartianer geschieht, die diese
Seite der Frage kaum je beachtet, vielmehr regelmässig nur
im Materialen der Vorstellungsbildung die Grundlage der
Willenserziehung gesucht haben. Dass im Materialen aller-
dings derselbe enge Zusammenhang der Intellekt- und Willens-
bildung stattfinden muss, folgt für uns schon aus der Grund-
voraussetzung der unumschränkten Herrschaft der Form über
den Stoff, im Erkennen wie im Wollen. Nur folgt aus der-
selben Voraussetzung, dass der Zusammenhang ursprünglich
formal, nicht material begründet
ist.


Auch hier treffen wir dagegen wieder genau zusammen
mit den Gedanken Pestalozzis, nämlich mit seiner Grund-
idee der Elementarbildung, deren Kern wir eben darin sehen,
dass aller Besitz des entwickelten Menschengeistes aufgebaut
werden muss aus den ursprünglichen Elementen des ge-
setzmässigen Verfahrens, nach welchem überhaupt
das Bewusstsein seinen Gegenstand sich gestaltet
und damit erkennt
(§ 5). Wir erblicken hierin einen
Gedanken von schlechthin entscheidender Bedeutung für das
Ganze zunächst der Intellektbildung; einen Gedanken, der
durch Pestalozzi zwar nicht nach allen Seiten gleichmässig
durchgeführt, von Herbart aber gründlich verkannt und ver-
dorben worden ist. So ist die Zahl der reine Ausdruck, nicht
irgend eines in der Erfahrung vorgefundenen Gegenstandes,
oder bloss einer höchst allgemein verbreiteten Eigenschaft
solcher, sondern des gesetzlichen Verfahrens des Verstandes,
einen Gegenstand überhaupt, im Denken ursprünglich, und erst
folgeweise in der Erfahrung, als einen, zwei u. s. f. zu setzen
und solcher Setzung gemäss zu erkennen. So ist die geome-
trische Form der Objekte nicht von gegebenen Gegenständen
abgelernt oder kopiert; dies Kopieren, wenn es sonst verständ-
lich wäre, würde den Besitz der Elemente geometrischer Ge-
[278] staltung doch immer schon voraussetzen; diese sind vielmehr
ursprüngliche Entwürfe des anschauenden Geistes: aus
der Linie, dem Winkel u. s. f., d. h. gemäss der Konstruk-
tionsregel, die diese Begriffe darstellen, bauen sich die Ge-
stalten, die wir in den Dingen wahrzunehmen glauben, in
unserem Geiste ursprünglich auf, und nur vermöge dieser ur-
sprünglichen Konstruktion werden sie diesem anschauenden
Geiste erkennbar; er vermag sie zu erkennen nur, weil er sie
selber gestaltet. So ist schliesslich jeder echte Begriff Aus-
druck eines besonderen Denkverfahrens, daher zuletzt nur ver-
ständlich aus solchen reinen Grundbegriffen, welche die Ele-
mente alles Denkverfahrens in Erzeugung von Gegenständen
überhaupt, d. h. (nach Kant) die notwendigen und hinreichenden
Konstruktionsstücke einer „möglichen Erfahrung“ zum Inhalt
haben, und in diesem ihnen ursprünglich eigenen Gesetzes-
charakter auch abgesondert zu Bewusstsein gebracht werden
können und müssen. Indem diese Genesis des menschlichen
Verstandes Pestalozzi bestimmt vor Augen stand, musste er
es freilich schwer genug finden, sie gerade in der frühesten
menschlichen Geistesentwicklung, der sein Interesse fast aus-
schliesslich zugewandt war und die, so meinte er, diese Ele-
mente am deutlichsten erkennen lassen müsste, in genügend
reiner und unmittelbarer Gestalt wiederzuerkennen. Das ist es
hauptsächlich, was ihn zur vollen Klarheit nicht durchdringen
liess, wie denn auch die Ausführung, die er seinem Grund-
gedanken zu geben vermochte, ihm selber niemals genügt hat.
Diese Schwierigkeit ist begreiflich; auch der heutige Stand
der Untersuchung ermöglicht nicht ihre glatte und reine Be-
wältigung, obgleich der Weg ihrer Ueberwindung bereits un-
vergleichlich klarer als vor hundert Jahren erkennbar geworden
ist. Indem nämlich die komplexeren Bildungen der Vorstellung
sich anfangs ohne bestimmtes Bewusstsein vollziehen, oder doch
nicht ihr Vollzug, sondern nur das Ergebnis in bestimmtem
Bewusstsein verbleibt, so bedarf es immer erst einer oft schwie-
rigen Analyse, die von diesen komplexen Gestaltungen (als
den gegebenen) ihren Ausgang nehmen und zu ihren einfacheren
Elementen bis zu den einfachsten erst zurückgehen muss. Diese
[279] Analyse würde aber gar nicht möglich sein oder zu irgend
einem reinen Ergebnis führen können, wenn nicht die konstruk-
tive, synthetische Arbeit, durch die jene komplexen Gebilde
erst entstanden, voraus vollbracht, und in und mit dieser das
Verständnis in der Richtung (z. B.) der geometrischen Form
überhaupt schon vorgebildet wäre. Man würde ohne das über-
haupt nicht angeben können, was eigentlich aus den komplexen
Bildungen herauszuarbeiten, aus welchen und welcherlei Ele-
menten vielmehr sie zu rekonstruieren seien. Und doch ist
dies möglich: ein Kind setzt seine Bauklötze zusammen, so
wie es geometrisch und mechanisch richtig ist
.
Und es hat von dieser Richtigkeit auch eine Art Wissen; es weiss
bestimmt voraus, und zwar nicht durchaus nur in Fällen, wo
es des früheren, zufälligen Gelingens etwa sich erinnert, sondern
auf Grund seines bis dahin erworbenen allgemeinen Ver-
ständnisses
seiner Klötze, was es mit diesen und diesen
Klötzen wird leisten können und was nicht. Dies Wissen
kann unter günstigen Umständen schon früh in verhältnis-
mässig grosser Feinheit ausgearbeitet sein; jedenfalls lange
bevor das Kind fertige Begriffe und nicht bloss dunkle Ahnungen
von Zahlen, Grössen und gar mechanischen Beziehungen hat.
Man sagt dann, es hat diese Kenntnis aus der „Erfahrung“.
Aber man mache sich doch auf dem Wege der Sinnesphysio-
logie klar, wie solche Erfahrung zustande kommen konnte.
Sie kam zustande durch ein sehr komplexes, in den entschei-
denden Schritten aber synthetisches und keineswegs ana-
lytisches Verfahren, im Prinzip nicht verschieden von dem,
welches in voller Helle des Bewusstseins bald der Rechen-
und Geometrie-Schüler, und auf wiederum höherer Stufe der
experimentierende Physiker vollbringen wird. Gleiches gilt
von der primitiven Sprachbildung. Könnte man etwa noch
glauben, wirklich eine Erklärung damit zu geben, dass das
Kind die arithmetischen, geometrischen, mechanischen Verhält-
nisse sehe, taste etc., und dadurch lerne, so möchte ich gern,
dass mir jemand klar machte, aus welchen und welcherlei rezep-
tiven Wahrnehmungen es die oft feinen und verwickelten be-
grifflichen Bezüge, die in den Formelementen der Sprache
[280] ausgedrückt sind, verstehen und anwenden lernen, wie es auch
nur vom Zeitverhältnis anders als auf die eben erklärte Weise,
rekonstruierend, was es zuvor konstruiert hatte,
auch nur die schlichtesten Begriffe gewinnen konnte. Mit der
Berufung auf die Erfahrung ist hier überall nichts gethan;
man setzt dabei nur das, nach dessen Erklärung gefragt wird,
auf fast beliebiger Stufe als plötzlich gegeben voraus. Man
sagt im Grunde nur (wie in Lockes Kritik des „Angeborenen“
so auffallend ist): es musste doch irgend einmal zuerst
da sein, da ja anfangs nichts davon vorhanden war.
Ganz gewiss war es irgend einmal zuerst da; und vielleicht
plötzlich genug sprang es wie aus dem Nichts hervor. Allein
wir fragen: wie konnte es auf einmal da sein, eben da zu An-
fang nichts davon da war, sondern alles bis aufs letzte erst
errungen werden musste? Wie ist diese ganze Errungenschaft
zu verstehen, wenn nicht aus irgend welchen schlechthin
primitiven Anfängen, nicht Gegebenheiten, aktuellen oder
potenziellen, sondern elementaren, gesetzmässigen Verfah-
rungsweisen
, überhaupt Etwas zu setzen, als eines, grades,
gleiches u. s. f.? Das ist es, was Pestalozzi bei seinen „Ele-
menten“ vorschwebte, und was in der That den elementaren
Erwerb menschlicher Erkenntnis, vollends jeden abgeleiteteren,
allein verständlich macht.


Genau so viel aber, sagen wir nun weiter, als hierbei
Selbstthätigkeit des sich bildenden Geistes oder in
ihm selbst sich durchringende Form ist, genau so viel ist
auch Sieg des Willens, mithin zugleich Fortschritt auf der
Bahn seiner Entwicklung. Dass es der Wille zunächst in
der Elementarform des sinnlichen Triebes ist, was sich so ent-
wickelt, ist nur, was wir erwarten müssen. Nach allem aber,
was über das Verhältnis des Triebes zum Willen und Ver-
nunftwillen seines Ortes festgestellt worden, ändert dies nichts
an der Richtigkeit unsrer These. Und so meinen wir nun zu
begreifen, inwiefern schon die Entwicklung des Trieblebens
mit der Bildung der sinnlichen Vorstellungen Hand in Hand
gehen und unter gesunder Leitung in einer Richtung mit ihr
sich vereinen muss. Hier findet denn alles das seine Anknüpf-
[281] ung, was hierüber an früheren Stellen (§ 20 und 26) schon zu
sagen war und jetzt nicht wiederholt zu werden braucht. Im
besondern sei nur erinnert an das genaue Ineinandergreifen der
Entwicklung der Muskel- und Sinnesthätigkeit, wodurch ja die
engste Verbindung zwischen Erkenntnis und auf unmittelbare
Bethätigung gerichtetem Trieb sich vom ersten Anfang an
knüpfen muss.


Zum Glück ist die kindliche Bildung in diesem allen ver-
gleichsweise wenig auf planmässige Unterstützung von aussen
angewiesen. Das Planmässige der Erziehung auf dieser Stufe
kann allein bestehen in sorgsamer Körperpflege und Fernhal-
tung alles Hemmenden; wozu nicht am wenigsten die Versuche
einer künstlichen Beschleunigung oder Vorwegnahme des gei-
stigen Fortschritts gehören. Das aber ergiebt sich von selbst
bei einigermaassen verständnisvollem Entgegenkommen der ganzen
Umgebung und liebevollem Anschmiegen ihres Verhaltens gegen
das Kind an dessen eigenen gesunden Trieb; was keines ge-
lehrten Studiums, aber desto mehr der eigenen seelischen Ge-
sundheit, natürlichen Frische und Kindlichkeit dieser Umgebung
bedarf. Daraus versteht sich, dass die pädagogische Reflexion
sich von jeher wenig, in der That zu wenig, mit dieser ersten,
und fast ausschliesslich mit der zweiten Stufe der Intellekt-
bildung, der des eigentlichen, organisierten Unterrichts,
beschäftigt hat. Diese bedarf auch für uns umso mehr einer
eingehenden Behandlung, als gerade auf diesem Gebiet die
zentrale Frage des Verhältnisses der Intellektbildung zur
Willensbildung zu Streitigkeiten geführt hat, an denen wir
schon wegen ihrer grossen praktischen Tragweite nicht vorbei-
gehen dürfen; die übrigens auch des theoretischen Interesses
keineswegs ermangeln. Es sind die Fragen, die sich an den
Begriff der Herbartianer vom „Gesinnungsunterricht“ und be-
sonders an ihre Ansicht vom gesinnungbildenden Wert der
Geschichte knüpfen.


[282]

§ 30.
Fortsetzung. Zweite Stufe. „Erziehender Unterricht“,
insbesondere Geschichte als „Gesinnungsunterricht“.


Das unterscheidende Merkmal der zweiten Erziehungsstufe
in Hinsicht der Intellektbildung sehen wir in der bewussten
Erarbeitung der Begriffe, dem planmässigen Ausgehen auf
Einheit und Gliederung zunächst einzelner, bestimmt abge-
grenzter Wissensgebiete, die dann von selbst auch unter sich
Einheit suchen werden. Daraus folgt eine gewisse und zwar
fortschreitende Scheidung von Theorie und Ausübung, die auf
der ersten Stufe noch in möglichst enger Verbindung zu halten
waren. Eine starke und selbständige Entwicklung des theo-
retischen Vermögens muss aber auch zur Willensbildung Wesent-
liches beitragen, denn das Formale des Intellekts, in dem seine
tiefste Verbindung mit dem Willen liegt, kommt eben darin
erst zu seiner ganzen Wirkung.


Hierauf gründen wir die Behauptung, dass in Hinsicht
der sittlichen Wirkung gerade den Unterrichtsfächern eine
besondere Wichtigkeit zukommt, die den Charakter des In-
tellektuellen am reinsten darstellen. Diese sind aber Mathe-
matik
und mathematische Naturwissenschaft. Haben
diese dem Stoff nach zum Willen auch keine direkte Beziehung,
so dienen sie eben durch die Energie, mit der sie die Form
an die Spitze stellen und alles Materiale, mit dem sie zu thun
haben, möglichst rein in Form aufzulösen streben, desto mehr
der Disziplin des Geistes auch in der praktischen Bedeutung
der Willensherrschaft in der Erkenntnis. Sie erziehen
zum Gewissen der Wahrheit. Uebrigens bleibt auch das
Stoffliche der Naturwissenschaft (in der Mathematik ist eigent-
lich nichts Stoff, sondern die Form alles) nicht gleichgültig für
den Aufbau der Willenswelt. Denn alles Natürliche ist zu-
gleich Materie für den Willen, während zugleich die Natur-
einheit, als eine Idee der Vernunft, die Voraussetzung ist für
die reine Ausarbeitung der Idee einer Einheit der Zwecke.
Eben deswegen darf man es nicht scheuen, sie, als Idee, auch
[283] aufs organische Reich und also auf den Menschen nach allem,
was an ihm Natur ist, bis zu den unmittelbaren (physischen)
Voraussetzungen sogar der Willenshandlung auszudehnen. Dass
die Wahrheit der Sache es so fordert, sollte für sich allein
entscheiden; übrigens existiert auch die Gefahr, die man sich
dabei einbildet, in der That nur in der Einbildung. Denn je
sicherer durch das ganze Verfahren der Intellektbildung die
kritische Einsicht ermöglicht und vorbereitet ist, dass die
Natur selbst, eben in dieser strengen, allumfassenden Einheit
gedacht, eine blosse Idee, d. i. ein Entwurf der Vernunft ist,
um so weniger braucht man vor der reinen, rückhaltlosen Durch-
führung dieser Idee noch irgend ein geheimes Grauen zu em-
pfinden. Welche positiven Hülfen über dies alles gerade die
Willenserziehung von der vollen Beachtung der Naturbedingt-
heit des Menschendaseins auch im Praktischen zu erwarten
hat, ist kürzlich durch Julius Baumann*) in einem Sinne,
den wir durchaus anerkennen können, und mit so gründlicher
Sachkenntnis ausgeführt worden, dass ich mich begnügen darf,
darauf als auf eine sehr willkommene Ergänzung gegenwärtiger
Ausführungen zu verweisen.


Aus allen diesen Erwägungen ergiebt sich ein hoher Wert
gerade des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts
für die Willensbildung, den man ihm gemeinhin nicht hat
einräumen wollen; ein Wert, der gerade darin beruht, dass
diese Fächer, mehr als andre, reine Intellektbildung bieten.
In dieser Hinsicht darf sich der Sprachunterricht mit dem
mathematischen nicht vergleichen. Zwar liefert auch er zur
logischen Bildung einen unverächtlichen Beitrag, der in der
Grammatik am kräftigsten, weil reinsten zur Wirkung gelangt.
Auch sie rechnen wir also zur notwendigen Disziplin des Geistes,
auch in willenbildender Absicht. Allein wenigstens in der
lebendigen Sprache ist dies logische Moment unlöslich ver-
flochten mit einem ethischen und einem ästhetischen, und muss
auch im Unterricht damit verflochten bleiben. Die Sprache
[284] muss die ihr eigentümliche bildende Wirkung doch wohl eben
da entfalten, wo sie am meisten Sprache ist, d. h. aufs innigste
sich dem wirklichen Vorstellungslauf anschmiegt, in dem eine
Ablösung des Logischen nicht stattfindet noch stattfinden soll.
Infolge dieser unlöslichen Komplikation der drei Grundelemente
der Bildung fördert das Studium der Sprache direkt weit mehr
psychologisches als logisches oder etwa ethisches oder ästhetisches
Verständnis. Sie enthält Elemente aller drei Gebiete in grösstem
Reichtum und in einer unmittelbar dem Leben des Geistes
erwachsenen Form wie kein andres Lernfach; sie ist daher
unerschöpflich an Problemen in jeder dieser Richtungen und
noch besonders in der Vereinigung ihrer aller. Aber eine bis
zum Grunde dringende Bearbeitung dieser Probleme erfordert
eine analytische Arbeit, die im Studium der Sprache selbst
gar nicht liegt, fast ihm widerstrebt; die dagegen ganz anders
vorbereitet und (wenngleich nur nach einer, der logischen Seite)
direkt eingeleitet wird durch Mathematik und Naturwissen-
schaft, und welche ganz eigentlich die Aufgabe der Philosophie
ist; zu der es aber wiederum keinen Zugang giebt als durch
Mathematik und Naturwissenschaft. Das ist in der einseitigen
Verfechtung der überkommenen Zentralstellung der Sprachen
im Jugendunterricht (zumal dem höhern) überaus oft verkannt,
und dadurch die gerechte Sache nicht wenig geschädigt worden.


Denn gerecht bleibt die Sache selbst. Man empfindet
richtig, dass dem Sprachunterricht eine universale Bedeutung
zukommt wie keinem andern. Er stellt ein gemeinsames Ele-
ment dar, in welchem alle wesentlichen Faktoren der Bildung
sich begegnen und zu durchdringen trachten. An der Sprach-
bildung ist, wie es von den Pädagogen oftmals ausgeführt
worden ist, einerseits aller Unterricht beteiligt, denn der Unter-
richt jedes Fachs vermag je in Hinsicht seines besonderen
Gegenstandes das Sachverständnis nur zugleich mit dem Sprach-
verständnis zu entwickeln. Umgekehrt entnimmt der Sprach-
unterricht seinen Stoff allem sonstigen Unterricht. Er bringt
also die natürlichste und nächstliegende „Konzentration“ des
gesamten Unterrichts zuwege, und hat zu solcher gedient,
lange bevor dies Schlagwort der Herbartianer geprägt war,
[285] und vielleicht in einem schlichteren und wahreren Sinn als
dies Schlagwort oft verwendet wird. Durch diesen universalen
Charakter eignet sich der sprachliche Unterricht dann auch
zur Anknüpfung vieles Sachlichen, das nicht in eigenen Fächern
vertreten ist, so auch der philosophischen oder zur Philosophie
wenigstens vorbereitenden Elemente, die schon im Unterricht
der mittleren Stufe ihre Stelle haben; wovon weiterhin noch
zu reden sein wird.


Vorzüglich aber bildet die Sprache den natürlichen Kon-
zentrationspunkt alles aufs Kultürliche und folglich Geschicht-
liche bezüglichen Unterrichts. Doch wäre es falsch, sie darum
ganz dem Gesichtspunkte der geschichtlichen Bildung zu unter-
stellen, wie hier und da eine Neigung sich verrät. Die Sprache
ist ein historisches Produkt und eines der wichtigsten; sie ist
andrerseits der Träger aller oder fast aller geschichtlichen
Ueberlieferung. Allein sie ist noch etwas mehr als bloss ein
Medium und wiederum ein Gegenstand der Ueberlieferung; sie
ist über das alles und vor dem allen der unmittelbare Träger
des gegenwärtigsten, und wiederum des zeit- und geschichts-
losesten Inhalts des menschlichen Bewusstseins. Sie enthält,
wiewohl unabgesondert, Elemente rein rationaler Ordnung:
logische, ethische, ästhetische; und diese nicht bloss als ge-
schichtlich überkommene, sondern vollkommen so, wie wir dies
alles überhaupt geistig besitzen. Denn man besitzt und be-
herrscht geistig nur, was man aussprechen, was man wenigstens
in Gedanken, in der Fiktion (s. o. S. 75) mitteilen kann. Der
Mensch ist Produkt seiner Vergangenheit, aber er ist auch
Erzeuger seiner Zukunft. In aller eigentlich produktiven
geistigen Thätigkeit steht er seinem Gegenstand, dessen Schöpfer
er sich weiss, gegenüber, fast als ob es keine Vergangenheit
gäbe. Vielleicht wendet man ein, wenigstens das Kind habe
vorerst nur reproduktiv den Erkenntniserwerb der Vergangen-
heit sich zu eigen zu machen. Aber im Gegenteil, gerade die
ungeschichtliche Haltung ist die naive, also dem Kinde an-
gemessenste. Geschichtsverständnis setzt eine lange voraus-
gegangene, sozusagen geschichtslose Entwicklung voraus. Erst
der schon weit Entwickelte kann sich die Aufgabe stellen,
[286] etwas von dieser seiner eigenen Entwicklung rückwärts blickend
zu verstehen. Es ist also das Kind zwar zu bilden durch
Ueberliefertes, aber die Reproduktion des Ueberlieferten wird
umso reiner und tiefer sein, je mehr sie sich der vollkommenen
ungeschichtlichen Produktion nähert. So ist es im Mathematik-
Unterricht doch das Ideal seit Platos Meno, womöglich nichts
als die Zeichen zu überliefern, alles Sachliche den Zögling
selber finden zu lassen, also überhaupt nicht mehr mitzuteilen,
als nötig oder nützlich ist, um zum Selberfinden anzuregen.
So ist alles Dichterische zwar zu überliefern, doch so, dass es
möglichst wenig als bloss Ueberliefertes wirkt, sondern als so
sehr wie nur möglich Erlebtes. Dasselbe gilt von allem, was
von freierer Reflexion, als „Aufsatz“, erst mitgeteilt, dann dem
Mitgeteilten nachgeschaffen wird; der Aufsatz soll Uebung im
Selbstdenken und produktiver Darstellung, nicht bloss verständ-
nisvolle Reproduktion sein. Das alles reimt sich schlecht mit
der weit verbreiteten Ansicht, die den sprachlichen Unterricht
dem geschichtlichen geradezu einordnet.


Vielmehr sehen wir in der Weckung geschichtlichen
Verständnisses eine ganz eigene und bedeutungsvolle Aufgabe
besonders des höheren Unterrichts. Es ist doch einmal die
grosse Errungenschaft unseres klassischen Zeitalters diese Ein-
sicht, dass es eine höhere Stufe des Menschenbewusstseins ist,
die es zur Höhe geschichtlicher Erkenntnis, zum Menchheits-
bewusstsein erhebt. Das ist fortan ein nicht wieder preiszu-
gebendes Stück der „allgemeinen“ d. h. keine der wesentlichen
Seiten des Menschentums vernachlässigenden Bildung. Auch
ist es gewiss, dass die Höhe des sittlichen Bewusstseins
völlig erst auf dieser Grundlage erreicht wird. Dagegen kann
ich es weder als richtig erkennen, die ethische Wirkung des
Unterrichts mit der Ausschliesslichkeit, wie es von seiten der
Herbartianer mitunter geschehen ist, auf das geschichtliche
Element zu stützen, noch darf umgekehrt der Geschichtsunter-
richt unmittelbar oder gar ausschliesslich als „Gesinnungsunter-
richt“ aufgefasst werden. Es darf auf keine Weise verdunkelt
werden, dass der geschichtliche wie jeder andre Unterricht
zunächst rein intellektuellen Charakter trägt. Geschichte
[287] kommt von Geschehen; zwar fällt nicht alles Geschehen in
ihren Bereich, sondern nur das von Menschen ausgehende und
die gemeinen Interessen menschheitlicher Kultur von irgend
einer Seite wenigstens indirekt berührende, dieses aber doch
zunächst als Geschehen in der Zeit und hinsichtlich seiner
zeitlichen Bedingtheit. Nun lässt sich aber kein einzelnes
Geschehen vom Gesamtgeschehen, keine Kausalität eines ein-
zelnen Geschehens von der Totalität der Verursachungen, also
der Natur, wirklich ablösen. In der Geschichtsforschung ist
auch diese Einheit thatsächlich mehr und mehr zur Anerken-
nung gelangt; aber den Pädagogen scheint sie vielfach noch
recht fern zu liegen. Es verschwindet in den Ausführungen
über die Pädagogik des Geschichtsunterrichts oft gänzlich,
dass es in der Geschichte überhaupt etwas zu verstehen
giebt. Man erzählt und lässt wiedererzählen. Zwar sollen
es ohne Zweifel geschehene Thatsachen sein, die man erzählt,
auch bemüht man sich wohl in der Erzählung etwas von ur-
sachlichem Zusammenhang der Thatsachen wenigstens ahnen
zu lassen. Aber dass beides, die Thatsachen und der ursach-
liche Zusammenhang, erst erforscht, erst festgestellt zu
werden nötig hat, davon empfängt der Schüler fast keinen
Eindruck; während in den Naturwissenschaften, vollends in
der Mathematik doch allgemein anerkannt wird, dass der wenn
noch so begrenzte Einblick in die Erforschung der Thatsachen
und gesetzlichen Zusammenhänge, nicht die Mitteilung davon
und deren gläubige Hinnahme das eigentlich Bildende des
Unterrichts ausmacht. Muss es sich nicht in der Geschichte,
sofern es darin Thatsachen und Gesetzlichkeiten von That-
sachen zu erkennen giebt, genau so verhalten? Historie heisst
in herrschender Bedeutung Erforschung und nicht Erzählung;
die heute bei uns einflussreichste pädagogische Richtung scheint
sie ausschliesslich als Erzählung und ganz und gar nicht als
Erforschung zu verstehen. Nach Willmann z. B. hätte der
Geschichtsunterricht ausdrücklich „seinen Schwerpunkt in der
epischen Seite zu suchen“; das schliesst aber den Gesichts-
punkt der Erforschung geradezu aus; Epik und Erforschung
vertragen sich nicht. Epik ist ein ästhetischer Begriff, sie ist
[288] Sache des freien Spiels der Phantasie, nicht der Arbeit des
Verstandes. Aber auch H. Schiller — selbst Geschichtsforscher
— betont zwar die Wichtigkeit der Erkenntnis ursachlicher
Zusammenhänge, aber nur desto mehr ist man verwundert zu
finden, dass auch er eine andre Methode des Geschichtsunter-
richts als erzählende Mitteilung nicht zu kennen scheint. Man
empfindet also nicht, wie bedenklich in jeder erzieherischen,
sowohl intellektuellen wie ethischen Rücksicht ein Unterricht
ist, der dem Schüler durch einfache Mitteilung Begriffe und
zwar von der grössten, erdenklich schwierigsten Sache, vom
Werdegang und innern Zusammenhang der Entwicklung der
Völker und schliesslich der Menschheit zu überliefern vorgiebt;
Begriffe, von denen die tiefsten Forscher mit Schmerz be-
kennen, dass sie sie nicht besitzen. Man fühlt also nicht die
gefährliche (objektive) Unwahrheit, deren man sich durch solchen
Unterricht schuldig macht. Ich meinerseits kann nicht ver-
schweigen, dass ich sie als Schuljunge bereits empfunden habe,
und dann immer mehr. Wer sie je empfunden hat, kann nur
den niederschlagendsten Eindruck davon erhalten, wenn bei dieser
Lage auch noch ein starkes und anscheinend erfolgreiches
Bestreben besteht, sozusagen den ganzen Schulunterricht in
Geschichtsunterricht, d. h. in ein einziges Vorerzählen und
Nacherzählen zu verwandeln. Die preussischen Lehrpläne für
die höheren Schulen vom Jahre 1891 können dafür als ein nur
zu konkretes Belegstück gelten. Da wird besonders der ganze
Sprachunterricht mit geschichtlichen Stoffen einschliesslich der
Sage, die unter dem Gesichtspunkt der Epik ja ganz natürlich
mit der Geschichte in eine Linie rückt, förmlich vollgepfropft,
und auch für das, was von nicht unmittelbar geschichtlichen,
besonders dichterischen und rhetorischen Stoffen zugelassen
wird, eine ausschliesslich geschichtliche Behandlungsweise direkt
vorgeschrieben; während die Grammatik und die Uebersetzung
namentlich in fremde Sprache, die eine unverächtliche Uebung
in eigener Denkarbeit jedenfalls einschliessen, bedenklich ver-
kürzt und auch irgend ein Ersatz dafür in verstärktem mathe-
matisch-naturwissenschaftlichem Unterricht bekanntlich nicht
geleistet wird; gerade als ob bis dahin in den Schulen an
[289] Gedächtnisarbeit empfindlicher Mangel, an eigener Denkthätig-
keit gefährlicher Ueberfluss gewesen wäre. Wie hat man auf
solche Abwege nur geraten können? Man wird nicht fehl-
gehen, wenn man der Rede vom „erziehenden Unterricht“,
vom geschichtlichen als dem zentralen „Gesinnungsunterricht“
wenigstens einen Teil der Schuld beimisst. Die Phrasen von
den „ethischen“ Unterrichtsstoffen oder Lehrgegenständen
u. s. w. sind seit diesen Lehrplänen offiziell geworden; aus-
drücklich soll der gesamte Unterricht von „ethischem und ge-
schichtlichem“ Geiste — was für diesen Standpunkt sich ein-
fach deckt — durchdrungen sein u. dgl. Zwar die ganz
besondere politische und „soziale“ Tendenz, welche die Lehr-
pläne dem Geschichtsunterricht anbefehlen und gegen die die
Geschichtslehrer selbst sehr gegründeten Einspruch erhoben
haben, wird sich unter dem Deckmantel der Herbartschen
Theorie ja wohl nicht zu bergen versuchen; das ist Zeitstim-
mung und als solche, wie wir denken, heute bereits „historisch“
geworden. Aber wenigstens die allgemeine Auffassung des
Geschichtsunterrichts, welche die „Lehrpläne“ vertreten, weicht
doch nicht allzu weit von dem ab, was man auch in den gang-
baren Lehrbüchern der Gymnasialpädagogen lesen kann; wie
wenn es heisst, dass die Begeisterung des Lehrers, die
Lehrerpersönlichkeit, die voll nur im freien Vortrag zur
Geltung komme, die lebenswarme Schilderung der vorge-
geführten Helden im Geschichtsunterricht „fast alles thue“.
Also der aufrichtigen Wahrheit der Sache, dem geduldigen
Erarbeiten der Begriffe verbleibt so gut wie nichts! Da-
gegen muss mit allem Nachdruck betont werden, dass es im
geschichtlichen wie in jedem andern Unterricht auf Sachlich-
keit zuerst und zuletzt ankommt, die durch jedes Vordrängen
der Persönlichkeit des Lehrers nur Schaden leiden kann; dass
Wahrheit zuerst zu fordern ist und nur auf ihrem Grunde Be-
geisterung natürlich erwachsen soll, deren an sich die äusserste
Torheit fast gerade so fähig ist; dass klare Begriffe, gegründetes
Urteil das Ziel des Unterrichts sein müssen und erst sehr in
zweiter Linie die eindrucksvolle Schilderung stehen darf; dass es
mit einem Wort auf „Vernunft und rechten Sinn“ zuerst und
Natorp, Sozialpädagogik. 19
[290] schliesslich allein ankommt, und nicht auf den „Vortrag“, der
„des Redners Glück“ ist. Auch abgesehen von allem „Ethi-
schen“ ist Erzählung, Schilderung, Vortrag einmal nicht der
Erkenntnisweg für geschichtliche Wahrheit, ganz so wenig wie
für irgend welche andre.


Aber der notwendige Kampf gegen diese gefährliche Zeit-
krankheit soll uns nicht dagegen verblenden — was von andern
Seiten wieder verkannt wird —, dass doch dem Geschichts-
unterricht eine hohe Bedeutung gerade in ethischer Hinsicht
zukommt. Geschichte ist nach einer Seite Kausalforschung,
und diese Seite bedurfte, weitgehender Verkennung gegenüber,
einer nachdrücklichen Hervorhebung. Allein Geschichte steht
andrerseits unter dem Zeichen der Idee und zwar zuletzt der
sittlichen Idee. Geschichte kann schliesslich nicht anders als
auf sittlichem Grunde begriffen werden, wie konkrete Sittlich-
keit nicht anders als auf geschichtlichem Grunde; das erkennen
wir ganz an.


Geschichte, sagten wir, sei so viel als möglich natura-
listisch zu begreifen. Der Mensch und die Menschheit sind,
insofern es sich um Kausalität handelt, nach Spinoza nicht
„Staat im Staate“, sondern in der Einheit der „Natur“ mit-
begriffen. Allein Geschichte der Menschheit kann nicht
bloss naturalistisch begriffen werden. Denn zwischen Mensch
und Mensch, Mensch und Volk, Volk und Volk, und schliess-
lich zwischen beiden und der Menschheit bestehen noch andre
als bloss Kausalbeziehungen, nämlich Willensbeziehungen, folg-
lich Ideenbezüge. Solche können nur begriffen werden, indem
man sich selbst in ihnen begriffen erkennt, ja sie selber mit
dem Willen ergreift; also überhaupt nicht durch bloss theo-
retische, sondern durch eine selbst praktische, nämlich ethische
Erkenntnis. Es möchte an sich ein reines Naturgesetz mensch-
lichen Bedürfens, ja ein biologisches Gesetz sein, welches die
geschichtliche ebenso wie die naturhistorische Entwicklung
determiniert. Aber die geschichtliche Erkenntnis braucht auf
diese auch heute noch sehr nebelhafte, von erträglicher Veri-
fikation unermesslich weit entfernte Einsicht zum Glück nicht
zu warten. Die Notwendigkeit der geschichtlichen Entwick-
[291] lung in ihren durchgehenden Grundzügen stellt sich im Be-
wusstsein des in dieser Entwicklung selbst begriffenen Menschen
weit unmittelbarer und mit sicherster Ueberzeugungskraft fest
zufolge des Gesetzes der Idee, zufolge jenes Grundgesetzes der
Kontinuität des Bewusstseins, welches, der Erfahrung im theo-
retischen Sinn weit vorausgreifend, jede als möglich sich auf-
thuende Fortschreitung in der, der beherrschenden Idee gemäss
voraus zu bestimmenden Linie der Entwicklung auch als sein-
sollend, mithin zugleich als Objekt des Willens aufstellt.


So besteht schon die Familie, die Grundlage aller konkret
sittlichen Beziehungen unter Menschen, die Grundlage zugleich
aller der Gestaltungen menschlichen Gemeinlebens, deren Ent-
wicklung das eigentlichste Objekt der Geschichte ist, im Be-
wusstsein ihrer Glieder nicht nur als Seiendes sondern Sein-
sollendes; nur darum hat sie eine Geschichte d. i. eine
durch die Idee zur Einheit zusammengeschlossene Folge
gemeinschaftlicher Erlebnisse. In derselben Weise besteht ein
Volk; denn nicht die Rassengemeinschaft, nicht der blosse Zwang
gemeinsamer Not, die es auf Zeit zum Zusammenstehen und
wechselseitiger Hülfeleistung zwingt, macht schon ein Volk
aus; selbst die ungleich tiefer gegründete Gemeinschaft der
Sprache, der Sitten und des Rechts würden, isoliert genommen,
zur Begründung der Volksgemeinschaft nicht ausreichen; sondern
erst die Gesamtheit innerer, von Bewusstsein zu Bewusstsein
reichender Beziehungen, die sich in der zuerst vielleicht nur
erzwungenen, faktisch bestehenden Lebensgemeinschaft dann
immer reicher und innerlicher knüpfen: erst eine Gemeinsam-
keit von Erlebnissen
, in der man sich der inneren Zu-
sammengehörigkeit bewusst wurde, gründet eigentlich die Volks-
gemeinschaft, als etwas, das nicht sowohl gegeben als gefordert,
als Forderung aber, als Idee niemals wieder aufzugeben sei;
und schafft damit zugleich den Begriff einer gemeinschaft-
lichen Geschichte. Umgekehrt also: indem eine menschliche
Gemeinschaft in diesem Sinne eine Geschichte d. h. eine in
ideeller Einheit begriffene Folge gemeinschaftlicher Erlebnisse
hat, indem sie sich selber, nämlich die Idee, die sie sich davon
macht, was sie sein sollte, als den wahren Inhalt dieser Ge-
[292] schichte zu erleben glaubt, besteht sie als konkret sittliche
Gemeinschaft. Geschichtserfahrung also ist unmittelbar sitt-
liche Erfahrung, und als solche gründlich verschieden von Er-
fahrung im bloss theoretischen Sinne, der sie, ohne diesen hin-
zukommenden Grund, d. h. bloss als Geschehen in der Zeit
betrachtet, sich allerdings restlos ein- und unterordnen müsste.
Der gemeinsame Begriff der Erfahrung ist nur, dass Vergangenes
im Bewusstsein festgehalten, und aus der Verknüpfung, die es
in ihm mit allem so Vergegenwärtigten bis zum direkt Gegen-
wärtigen eingehen muss, der Begriff eines einheitlichen Objekts
sich herausarbeitet, das als vom zeitlichen Wechsel unabhängig,
in ihm identisch bestehend erkannt wird. Allein dies Objekt
wird in der bloss theoretischen Erfahrung konstituiert durch
die blosse Gesetzmässigkeit des thatsächlichen Geschehens,
in der praktischen durch die Erkenntnis einer Einheit der
Tendenz
, die als nicht bloss der Erfahrung gemäss bestehend,
sondern, unabhängig von diesem erfahrungsmässigen Bestand,
bestehen sollend gedacht wird.


Der Zusammenhang des Geschichtlichen mit dem Sittlichen
ist nach dieser Auffassung wahrlich eng und zwingend genug.
Man hat also nicht darin geirrt, dass man von der Weckung
des geschichtlichen Bewusstseins eine ethische Wirkung er-
wartete, die auf keinem andern Wege zu erreichen und doch
unumgänglich notwendig sei allermindestens für die, denen an
der Leitung des Volks irgend ein Maass von Anteil künftig
zufallen soll. Allein es hat hierbei zumeist an der hier alles
entscheidenden Einsicht gefehlt, dass diese Wirkung in der
Geschichte zunächst nur liegt, sofern sie erlebt, nicht, so-
fern sie bloss erzählt wird. Gewiss wird das Erlebte natur-
gemäss streben sich auch durch Erzählung zu befestigen, um
so in unvergesslichem Gedächtnis fortzuwirken. Allein die
Erzählung, auch wenn vertieft zur ernsteren Erforschung, ver-
liert alsbald alle Kraft der sittlichen Wirkung, wenn sie nicht
ihre überzeugende Bestätigung findet in den ferneren, unmittel-
baren Erlebnissen der Gemeinschaft. Daraus ergiebt sich die
sehr ernste Folge, dass die sittliche Wirkung, die man dem
Geschichtsunterricht zutraut, eine gesunde sittliche Verfassung
[293] der Gemeinschaft selbst, die in ihm ihre Geschichte dem in
sie hineinwachsenden Geschlecht erzählt, zur Voraussetzung
hat; eine Voraussetzung, die zu ersetzen der Unterricht —
zumal der bloss erzählende — bei weitem zu schwach ist. Sagt
Herbart, an sich unanfechtbar, dass der Unterricht, wie im
Theoretischen die „Erfahrung“, so im Praktischen den „Um-
gang“ (welchen etwas matten Ausdruck wir durch den gehalt-
volleren Begriff der Gemeinschaft ersetzen würden) ergänzen
müsse, so verfehlt er selbst nicht sich den Einwurf zu machen:
es sei, wenn der Unterricht Erfahrung und Umgang ersetzen
müsste, „als ob man des Tages entbehren und sich mit
Kerzenlicht begnügen sollte
“; ein Einwurf, der in seinen
weiteren Erörterungen durch nichts entkräftet wird. Die Un-
möglichkeit, das, was das Leben selbst vermissen lässt, im
Unterricht durch poetische Darstellung zu ersetzen, lässt
sich nicht einmal vergleichen mit dem Abstand zwischen Tages-
und Kerzenlicht; es ist ein Unterschied der Art und nicht
nur des Grades. Was man in noch so lebendiger Phantasie
durchmacht, erlebt man nicht, im gleichen Sinne wie das, was
man als wahr und wirklich zu schmecken bekommt; man weiss
einmal, es geht nicht an den Hals.


Also der Geschichtsunterricht vermag das, was von ethischer
Wirkung überhaupt in seinem Bereich liegt, nur auf dem
Grunde eines wahren Gemeinschaftslebens
zu leisten.
Wäre diese Bedingung voraus erfüllt, so würde es ihm dann
an der Begeisterung und Lebenswärme von selbst nicht fehlen,
die man ihm jetzt vergeblich vom grünen Tisch verordnet. Sie
würde dann unmittelbar aus der Sache fliessen, der reifere
Schüler wenigstens würde, wenn vom Volkstum die Rede ist,
sich von Haus aus auf vertrautem und liebem, heimischem
Boden finden. Es würde zugleich in ganz anderem Maasse die
erziehende Wirkung zur Geltung kommen und auch für den
Geschichtsunterricht sich fruchtbar machen lassen, welche im
Leben der Schule selbst, als einer eigenen Form der Ge-
meinschaft in der Mitte zwischen Familien- und Volksgemein-
schaft, liegt. Gemeinsame Leibesübung, besonders Waffendienst,
Wettspiele, Festfeiern, alles würde in einer und derselben
[294] Richtung wirken, und so von früh an ein Sinn und Verständnis
der Volksgemeinschaft im Leben des Zöglings selbst und allem,
was vom Leben des Volks ihm nach und nach auffassbar wird,
sich gründen, auf den dann der Geschichtsunterricht ohne
weiteres rechnen und daraus seine beste Kraft ziehen würde. Seine
eigentümliche Leistung übrigens bliebe auch dann, dem Er-
lebnis den Begriff hinzuzufügen und ihm dadurch eine noch
dauerndere und allgemeinere Wirkung, die auch störenden
Gegeneinflüssen gegenüber standhält, zu sichern. Diese Wirkung
ist nun begreiflich; aber sie ist es nicht ebenso ohne die ge-
nannten Voraussetzungen.


Welches sind denn nun die zu erarbeitenden Begriffe? Es
können nur sein die Grundbegriffe der Soziologie; die Begriffe,
welche die beiden grossen Gebiete der Wirtschaft und des
Rechts beherrschen; weiterhin die Begriffe der höheren, geistigen
Kultur. Die allgemeine pädagogische Forderung, den Unter-
richt an Erfahrung, die praktische Lehre insbesondere an die
praktische Erfahrung, an die „Uebung“ anzuschliessen und
auf ihr sich aufbauen zu lassen, wäre unter den gedachten
Voraussetzungen erfüllt. Der erste Grund wäre gelegt in der
Familiengemeinschaft, in der Schulgemeinschaft, und in allem,
was von der bürgerlichen Gemeinschaft schon dem Heran-
wachsenden unmittelbar nahe tritt oder doch so bevorsteht,
dass er nicht wohl umhin kann sein Interesse schon voraus
darauf zu lenken; dahin gehört besonders der Waffendienst.
Weiter kommt es dann an auf die Erweiterung des so zuerst
gegründeten Erfahrungskreises gleichsam in die Breite, näm-
lich von engeren zu weiteren und weiteren Formen der Gemein-
schaft, und dann in die Tiefe der Vergangenheit zurück. Das
erste führt auf Soziologie im engeren und eigentlichen Sinne,
das zweite auf Geschichte selbst; deren keines aber ohne das
andre bestehen kann. Denn Soziologie ist nicht rein rational,
sondern auf historischem Grunde konkret zu entwickeln; um-
gekehrt bedarf Geschichte, wenn überhaupt etwas dabei ver-
standen werden soll, klarer Begriffe des Objekts, nach
dessen Geschichte die Frage ist
, nämlich der mancherlei
Richtungen und Besonderungen jener Art von Gemeinschaft,
[295] welche ein Volk ausmacht, und weiter der Gemeinschaft der
Völker in einer Kulturwelt, die der Idee nach die ganze Mensch-
heit umfasst.


Dass im Centrum des Geschichtsunterrichts die Geschichte
des eigenen Volkes stehen muss, folgt jetzt so unmittelbar und
zwingend und ohne jede aussersachliche Stütze, wie man aus
andern als diesen Voraussetzungen es wohl nicht hat begründen
können. Es folgt aber ebenso sicher, dass als letztes Ziel die
menschheitliche Kultur, also auch die Mitarbeit aller an ihrer
Förderung mitbeteiligten Nationen, nicht aus den Augen ver-
loren werden darf. Dürfte man nicht die Ueberzeugung hegen
von einem eigenen Anteil, der unsrer Nation vor andern an
den Kulturaufgaben der Menschheit zugefallen ist, so wüsste
ich nicht, was den unvergleichlichen Wert, den wir dem Vater-
land und dem eigenen Volkstum beilegen sollen, eigentlich
rechtfertigte.


Aus diesem allein ergiebt sich nun, was das Verfahren
des Geschichtsunterrichts betrifft, eine Folgerung, die von der
bis jetzt in der Praxis herrschenden Auffassung ziemlich weit ab-
liegt; dass nämlich jene sittliche Wirkung, die man dem sozio-
logisch-historischen Unterricht mit gutem Grunde aufgiebt, auf
gar keinen besonderen hinzukommenden Mitteln, sondern
genau auf denselben Faktoren beruht, welche den Wert dieses
Unterrichts für die Bildung des Intellekts begründen. Das Ver-
fahren des Unterrichts in Absicht auf dessen sittliche Wirkung
braucht ganz und gar kein andres zu sein und kann und soll
kein andres sein, als welches auch in bloss verstandbildender
Absicht gefordert ist. Auch die Zurückbeziehung der begriff-
lichen Lehre auf die Erfahrung des Lebens in der Gemeinschaft,
die wir betonen, ist genau so in verstandbildender Absicht,
als Anknüpfung des Unterrichts an die Erfahrung, erforderlich;
ohne das würden die Begriffe selbst nicht in wirklichen Besitz
gebracht werden. Die Meinung von einer besonderen, eigen-
tümlichen Vertretung, die der ethische Faktor im Geschichts-
unterricht fordere, ist demnach, wie ich glaube, rundweg auf-
zugeben. Der Geschichtslehrer findet sich fortan nicht mehr
in der Verlegenheit, eine Art politischer und sozialer Seelsorge
[296] an seinen Zöglingen verrichten zu sollen. Er weiss vielmehr,
dass er sein Bestes auch in sittlicher Absicht wirkt durch
Treue gegen die Sache, ernstes Besinnen, unbestochene
Wahrheitsliebe
. Das absichtliche Betonen der „Gesinnung“
stumpft den Sinn dafür eher ab oder verführt geradeswegs zu
Unwahrheit. Auch ist es eine Täuschung, dass man den Heran-
wachsenden damit am sichersten gewinne. Der gesunde Knabe
ist, wie schon öfter bemerkt, ziemlich kühler Rationalist; er ist
nicht fühllos, aber zu keusch in seinem Gefühl, um es gern
zur Schau zu tragen, oder seinen Ausbruch beim Andern, zu-
mal beim gesetzten Manne, sonderlich schön zu finden. Ueber
einen Lehrer zumal, den er nicht anders als in erregtem Pathos
auf sich einreden hört, wird er sich im stillen lustig machen,
jedenfalls ungerührt bleiben und in seinem Gleichmut sich
ihm eigentlich überlegen fühlen. Aber auch was im Jüngling
die tiefste, nachhaltigste Bewegung weckt, ist nicht der Prediger-
und Seelsorgerton, sondern es sind die ersten aufdämmernden
Ahnungen von der Grösse einer Sache, es ist die in ihrer
Neuheit doppelt überwältigende Erfahrung jener mächtigen Er-
weiterung der Seele, die aus der in tiefgründiger, weit aus-
blickender Erkenntnis erfassten Bedeutung des Gegenstandes
fliesst. Der Lehrer, der weiss, dass auch ein klares, reines,
dauerhaftes Gefühl für eine Sache nur auf dem Grunde sicherer
Einsicht erwachsen kann, und der nun die ernste Schwierig-
keit vor Augen sieht, diese gerade dem erregbaren, innerlich
stark beschäftigten, nach Besinnung erst mühsam ringenden
Jünglingsalter einzupflanzen, wird, glaube ich, vor den kleinen
Mitteln der Gefühlserregung, vor all dem Pathos, das man ihm
zumutet, eher zurückscheuen, und sich fort und fort den un-
schätzbaren Rat gegenwärtig halten: Sei er kein schellenlauter
Thor! Such er den redlichen Gewinn!


Ein Einwand liegt nahe: der Geschichtsbetrieb, den wir
fordern, sei zu hoch für das Schulalter. Darauf ist zu ant-
worten: es ist hier nicht an das Schulalter allein gedacht.
Wir stimmen der runden Erklärung Willmanns ganz zu: „Ge-
schichte ist keine Schulwissenschaft
.“ Wohl aber liegt
es in der Kompetenz der Schule, ein ernstes Verlangen nach
[297] geschichtlicher Belehrung zu wecken und eine geeignete Vor-
bereitung
dazu zu bieten. Ich leugne, dass sie das gegen-
wärtig durchweg thue. Ihr gepriesenes Mittel, die Epik, ist
an sich nicht vorschulend zu irgend welchem Geschichts-
verständnis. Denn auf Begriffe kommt es an; um aber histo-
rische Begriffe daran zu erarbeiten, sind epische, ebenso wie
dramatische Stoffe, auch wenn wirklicher Geschichte entnommen,
zugleich zu gut und zu schlecht; zu gut, weil die begriffliche
Analyse genau die epische oder dramatische, d. h. die ästhe-
tische Wirkung zunichte macht; zu schlecht, weil diese Ana-
lyse zu solchen Ergebnissen, die für ein wirkliches Geschichts-
verständnis zulangten, schwerlich führen könnte. Das würde
gelten, wenn die Epik oder Dramatik an sich die denkbar voll-
kommenste wäre; wie nun vollends, wenn der „freie Vortrag“ des
Geschichtslehrers mit den seltenen Schöpfungen wirklich dich-
terischer Kraft den lächerlichen Wettstreit aufnehmen müsste!
Epik und Dramatik gehören in den Sprachunterricht, nicht
in den Geschichtsunterricht. Die universalgeschichtliche Ueber-
sicht freilich, die dem kaum den Kinderschuhen Entwachsenen
einen Begriff vom geistigen Inhalt einiger Hunderte von Menschen-
altern zu geben vorgiebt, ist eben wegen des Betrüglichen
dieses Vorgehens geradezu sittlich verwerflich. Ein chrono-
logisches Gerüst ist zwar unentbehrlich, aber man gebe es auch
bloss als Gerüst, ohne ethische oder ästhetische Zuthat, trocken
wie ein grammatisches Paradigma; es soll empfunden werden,
dass es eben nicht der Bau ist, nicht einmal der Rohbau, sondern
nur die allererste Zurüstung zu seiner sehr schwierigen und lang
währenden Aufführung. Was bleibt also übrig, als der eigent-
liche Kern des Geschichtsunterrichts auf der mittleren Schule?
Ich sehe nur eins: eine gründliche, bis zu den Quellen, wenigstens
den zugänglicheren und dabei möglichst ursprünglichen Quellen
gehende Einführung in eine oder einige wenige vorzüglich
wichtige Perioden, wie z. B. auch Treitschke sie verlangt hat.
Man legt wohl noch meist etwas übertriebenen Wert auf
„klassische“ Geschichtsdarstellungen. Es ist Sache der Ge-
schichtsforscher, zu beurteilen, ob, was man dafür ansieht,
wirklich als Geschichtsdarstellung und nicht unter dem
[298] Gesichtspunkt der Epik beurteilt, klassisch zu heissen verdient.
Ein vom epischen Standpunkt gar nicht hervorragender, treu-
herziger Bericht eines Augenzeugen, ein Brief, ja das trockenste
Aktenstück kann „klassisch“ sein, sofern es lediglich auf den
Zeugniswert ankommt.


Auch ohne die gedachte Reform des historischen Unter-
richts übrigens könnte ein tüchtiger Geschichtslehrer, neben
einem guten allgemeinen Einfluss seines Unterrichts, auf den
einzelnen Begabteren und Strebsamen in der angedeuteten Rich-
tung sehr wohl wirken. Bedenke ich, wie ich als 15—17 jähriger
über alles mir zugängliche Historische hergefallen bin, wie ich
dem dankbar gewesen wäre, der mir damals für mich gang-
bare Wege darin gewiesen hätte, wie die sicher nicht halb
verstandene Geschichtsphilosophie Hegels, die mir der Zufall
in die Hände gab, mich doch allein dadurch packte, dass sie
mir endlich, statt „Erzählung“, etwas von Begriff gab, so
kann ich mir nicht denken, dass ein Unterricht, wie er mir
vorschwebt, für diese Stufe etwa allgemein zu hoch wäre.
Passt er nur für eine Auswahl von Schülern, so biete man ihn
nur dieser Auswahl; aber man biete ihn, und man wird sie
und sich selber befriedigen.


Der Pflicht einer eigenen Kritik von Zillers Kultur-
stufentheorie
bin ich wohl überhoben durch die vortreff-
liche Beurteilung, die E. v. Sallwürk*) dieser Theorie seiner-
zeit gewidmet hat. Zwischen dem Bildungsgang des Individuums
und der Entwicklung der Gesamtkultur muss eine gewisse
Uebereinstimmung in grossen und allgemeinen Zügen allerdings
stattfinden. Das ideale Endziel ist eins und dasselbe, die An-
fänge wenigstens vergleichbar, und der allgemeine Gang des
Fortschritts, vom Einfacheren zum Komplizierteren in möglichst
stetigem Uebergang, gilt, wie für jede Entwicklung, so natür-
lich auch für die menschliche, individuelle wie generelle Geistes-
entwicklung. Aber schon der starke Unterschied des Zeit-
maasses schliesst eine irgend genauere, ein wirkliches Verständnis
[299] etwa eröffnende Entsprechung offenbar aus. Hat man denn
kein Gefühl für den Humor der Zumutung, dass das Kind
in einigen Jahren — neben so vielem andern, das es in der-
selben Zeit treibt — die Jahrtausende der Menschengeschichte
„durchleben“ soll? Auch sind doch alle Bedingungen im be-
sondern auf beiden Seiten über die Maassen verschieden. Die
Bildung des Individuums steht ganz innerhalb einer schon weit
entwickelten menschlichen Kultur und erfährt vom allerersten
Anfang an deren Einwirkungen. Schon die frühesten geistigen
Errungenschaften des Kindes sind von der es allenthalben um-
gebenden Kultur in einer Weise mitbestimmt, dass irgend
eine Gleichstellung mit dem Standpunkt des kulturlosen Men-
schen sehr bald sinnlos wird. Sodann ist der Fortschritt der
Gesamtkultur nichts weniger als geradlinig. Die Entwicklung
des Kindes wird es auch nicht sein; aber wenigstens die Lei-
tung des Kindes muss doch bemüht sein, es auf möglichst
ebenem Wege vorwärts zu bringen. Das Einzige, was aus dem
richtigen Grundgedanken für die Pädagogik Brauchbares mit
leidlicher Sicherheit gefolgert werden kann, ist, dass unter den
Denkmälern vergangener Kulturstufen wohl auch solche sich
finden werden, die von typisch allgemeiner Bedeutung sind,
nämlich für jede normale geistige Entwicklung notwendig zu
durchlaufende Stadien in vorbildlicher Weise zum Ausdruck
bringen. Aber solche typische Darstellung ist im allgemeinen
Sache der Poesie. In solchem Sinne wird man den besten
Märchen, der schlichten unsatirischen Tierfabel, einer Auswahl
alttestamentlicher, homerischer Erzählungen, mit wenigem Andern,
einen typischen Wert gewiss zuerkennen. Es brauchte keine
Kulturstufentheorie, um zu verstehen, dass darin kindliche,
daher dem Kindesverstand eingängliche Stadien geistiger Ent-
wicklung typisch ausgeprägt sind. Aber eben indem man sie
als Typen betrachtet, hebt man sie schon aus geschicht-
lichem Zusammenhang heraus
. Die pädagogische Wir-
kung z. B. des Märchens ist davon gänzlich unabhängig, ob
es vor tausend oder vor manchen tausend Jahren entstanden
oder vielleicht eine geglückte Nachbildung jüngsten Datums
ist; ob es aus Altindien oder aus den Wäldern Germaniens
[300] oder sonstwoher stammt. Es wirkt, eben als Typus, zeit-
und geschichtslos. Es sind Geschichten, nicht Geschichte.
Für Geschichte fragt sich’s immer: wann ist’s geschehen, in
welchem Zusammenhang mit andern Ereignissen; dem Märchen
genügt das schlichte: Es war einmal. Die typische Betrach-
tung hört auf genau wo die historische beginnt. Die letztere
fordert eine ungleich grössere Reife; diese warte man ruhig ab,
und nähre das frühzeitig hervortretende Verlangen zu erfahren,
wie es vordem gewesen, einstweilen mit Erzählungen, in deren
Behandlung der historische Gesichtspunkt sich mit dem der
typischen Bedeutung erst ganz allmählich in einigem Maasse
verknüpfen mag. Das ist aber auch dann nicht Ge-
schichtsunterricht
, es ist kaum auch nur Vorschule dazu,
sondern es ordnet sich dem Sprachunterricht sachgemäss
ein, der mit voller innerer Berechtigung sehr vieles aufnimmt,
was sich zum besonderen Unterrichtsgegenstand nicht, nämlich
für die betreffende Stufe noch nicht eignet, aber in der freien
Form des Lesestücks und der Darstellungsübung sich desto
besser dem ganzen Lehrplan einfügt. Tritt dann endlich der
eigentliche Geschichtsunterricht als etwas Neues hinzu, so findet
er an dem, was als Erzählungsstoff schon bekannt ist, zwar
eine willkommene Anknüpfung, wird aber zugleich bemüht
sein, die Eigenart historischer Betrachtungsweise in aller
Strenge vom ersten Anfang an zu betonen.


Alles in allem zeigt sich die ethische Wirkung des Unter-
richts, so wie wir sie bis hierher ins Auge fassten, schon recht
bedeutsam. Und doch war noch nicht die Rede von der Moral
selbst
als unmittelbarem Gegenstand des Unterrichts, noch
von den ästhetischen Elementen des Unterrichts, noch von
dem, was manchem wohl gar als allein ausreichend auch zur
sittlichen Unterweisung erscheint, von der Religion. Das
Urteil über alle diese Faktoren sittlicher Bildung aber hängt
eng zusammen mit der Frage, wie weit überhaupt Philosophie
oder irgend eine direktere Vorbereitung zu ihr Gegenstand des
Unterrichts überhaupt und besonders auf der Mittelstufe schul-
mässiger Unterweisung sein kann und soll, und wie dieser
Unterricht mit dem sonstigen, mathematisch-naturwissenschaft-
[301] lichen wie sprachlichen und geschichtlichen, in das rechte Ver-
hältnis zu setzen sei. Man sieht aber schon voraus, dass diese
Frage uns dann auch über die Mittelstufe hinaus und zum
letzten Stadium der Bildung hinüberführen wird.


§ 31.
Uebergang zur dritten Stufe. Philosophische Bestandteile
des Unterrichts, insbesondere Ethik als Lehrfach.


Elemente, die entweder unmittelbar zur Philosophie ge-
hören oder doch auf sie hinführen, finden sich in allem bisher
betrachteten Unterricht verstreut. So ist die Mathematik nicht
nur thatsächlich eine Schule logischen Denkens, sondern sie
kann es auch kaum vermeiden, das Logische unmittelbar zum
Ausdruck zu bringen, so in den Formen des euklidischen Be-
weisverfahrens. Nicht minder kommen die logischen Bestand-
teile des Sprachunterrichts im Grammatischen und Rhetorischen*)
sachgemäss auch zu direkter Aussprache. Hier wie dort handelt
es sich zwar nur um eine äussere Beschreibung des logischen
Verfahrens, nicht um jene logische Elementarlehre, von der
erst Kants „transcendentale“ Logik den Begriff gegeben; diese
stellt zugleich die Auflösung der alten „Metaphysik“ dar, die
Auflösung nicht im Sinne der Aufhebung, sondern der Erfül-
lung, der wahreren Beantwortung ihres besser erkannten Pro-
blems. Aber selbst diese gründlicher verstandene Logik birgt
sich, und verbirgt sich kaum, in den Elementen der Mathe-
matik und mathematischen Naturwissenschaft. Ein mathe-
matischer Unterricht, wie ihn Simons**) beschreibt, würde sehr
wirksam sein, den philosophischen Sinn nach dieser an erster
Stelle wichtigen Seite zu erwecken; nur müsste er in gleichem
Geiste durch die Elemente der Mechanik durchgeführt werden
und zum guten Schluss wenigstens den Ausblick eröffnen auf
eine mathematische Einheit der Naturkräfte, wie sie seit Hertz
[302] und andern schon in bestimmteren Linien, ich sage nicht erkenn-
bar, aber denkbar geworden ist.


Einen ganz direkten Ansatz zu ausdrücklichem Philoso-
phieren bedeutet im Sprachunterricht die Lesung Platos, so-
wohl durch das Dialektische des Verfahrens als durch die Auf-
regung zum Nachdenken über die Gründe des Sittlichen*);
ferner die ästhetischen Arbeiten Lessings und Schillers und
dessen philosophische Dichtungen. Wie aber auch die Ge-
schichte, nach ihrer wiederholt hervorgehobenen Beziehung zur
Idee, insbesondere zur Idee des Sittlichen, auf Philosophie
notgedrungen hinführt, bedarf jetzt keiner besonderen Aus-
führung mehr (vergl. übrigens S. 262. 266).


Das ganze Bestreben der Philosophie ist gerichtet auf ein
vertieftes Selbstbewusstsein der Erkenntnis in theoretischer
wie ethischer wie ästhetischer Richtung; auf Einsicht in die
eigene Gesetzlichkeit jeder dieser ursprünglichen Gestaltungs-
weisen des Bewusstseins, und damit auf die letzte Einheit, in der
alle drei zusammenhängen und Uebereinstimmung mit einander
suchen müssen. Ist nun die höchste Einheit die der Idee, die ihre
unmittelbarste Herrschaft im Sittlichen übt, so ist klar, von
welchem Werte für die Vollendung der sittlichen Bildung
der Fortschritt zur Philosophie sein muss. Für die Vollendung:
denn dass sie nicht etwa ursprünglich den Grund zur Sittlich-
keit zu legen hat, ist freilich gewiss.


Daher würden wir von Anfang an zwar misstrauisch sein
gegen eine Pädagogik, welche den Schwerpunkt der sittlichen
Erziehung in den ethischen Unterricht legen würde; allein
wir sind darum nicht genötigt, den Gedanken eines eigenen
ethischen Unterrichts überhaupt zu verwerfen, sondern werden,
im Hinblick auf die Bedeutung des schliesslichen Zieles, das
ein solcher Unterricht sich stecken müsste: der philosophischen
Einsicht in die Gründe des Sittlichen, auch alles, was erst
von fern dazu vorzubereiten geeignet ist, nur aufrichtig will-
kommen heissen. Daher mögen wir das Bestreben, einen organi-
[303] sierten Moralunterricht, wenn möglich, allgemein in die Schulen,
selbst von der untersten Stufe an, einzuführen, nicht schelten;
auch meine frühere Polemik*) richtete sich zwar gegen über-
triebene Hoffnungen, die man für die Versittlichung der Völker
auf den Moralunterricht zu setzen schien, aber nicht gegen
den Gedanken eines solchen Unterrichts überhaupt. Sittliche
Lehre wirkt sozusagen nichts ohne die Grundlage sittlicher
Lebensgemeinschaft: das war im damaligen Zusammenhang
vorzüglich zu betonen; aber wenigstens angedeutet wurde auch
die Ergänzung hierzu, dass auf der Grundlage sittlicher Lebens-
gemeinschaft die sittliche Lehre das Ihrige zur Erziehung aller-
dings beitragen kann und soll**).


Von der sittlichen Lehre ist nun (§ 25) nach Form
und Materie schon die Rede gewesen. In formaler Hinsicht
müssen Geschichten und auf höherer Stufe Geschichte, in
methodischem Anschluss an die eigene Erfahrung und Uebung,
die Grundlage bilden. Eine eigene Darstellungsweise, deren
Erfordernisse erörtert wurden, muss diesen Stoff für die Zwecke
der eigentlich sittlichen Lehre zubereiten; diese hat dann auf
dem Wege einfacher Induktion zu schlichten Sätzen fortzu-
schreiten, die sich ordnen nach Gesichtspunkten der Tugend-
und Pflichtenlehre, oder besser noch einer vertieften Güterlehre,
[304] die beide in sich schliesst. Indem wir diese das Allgemeine
des Verfahrens betreffenden Festsetzungen im Sinne behalten,
versuchen wir nun den normalen Stufengang der ethischen
Unterweisung und zwar in seinem Verhältnis zu dem ganzen
bisher dargelegten Gange der Erziehung und des Unterrichts
in grossen Zügen zu beschreiben.


Die Kulturstufentheorie wagte den „Gesinnungsstoff“ zeit-
lich nach dem Schema der einfachen und abgeleiteten „Ideen“
Herbarts zu gliedern. Wir könnten dies Schema schon an sich
nicht anerkennen*), es ist uns ersetzt durch das in Teil II
entwickelte System der individuellen und sozialen Tugenden.
Bedenklicher noch ist das Kunststück, durch welches aus den
fünf ursprünglichen und fünf abgeleiteten Ideen nicht fünf oder
zehn, sondern acht Stufen herausgerechnet werden, in nur zu
glücklichem Zusammentreffen mit den acht Schuljahren der
derzeitigen preussischen Volksschule; wobei nur (nach Sall-
würks zutreffender Bemerkung) die schwierige Folge sich er-
giebt, dass man, der Theorie zu Liebe, „die Jugend jahrelang
über eine zerstückte Sittlichkeit meditieren“ lassen muss. Ver-
ständiger stellt Felix Adler**) für die Stufe der Hauserziehung
in den Mittelpunkt die einzige Pflicht des Gehorsams, für
die der Schulerziehung dagegen die Lernpflicht, als die eben
diesen Stufen eigentümlichsten; nicht in der Meinung, auf irgend
einer Stufe irgend eine der wesentlichen Tugenden ausschliessen
zu wollen, sondern nur, die einer jeden Stufe angemessenste
„Konzentration“ herzustellen. Unsre Voraussetzungen führen
auf eine dem nicht unähnliche Anordnung, die etwas von der
(wenigstens angestrebten) schärferen Systematik des Herbart-
schen Aufbaus retten möchte, ohne der uns längst feststehenden
Ueberzeugung von der untrennbaren Zusammengehörigkeit der
sämtlichen Grundtugenden untreu zu werden. Schon oben
(§§ 26—28, cf. 20—22) wurde zu Grunde gelegt, dass die
dritte unsrer individuellen Tugenden in besonderer Weise der
[305] Stufe der Hauserziehung, die zweite der der Schulerziehung,
die erste der der freien Selbsterziehung angehört; nicht als
ob jedem Alter ein Stück der ganzen Tugend zuwachsen sollte;
sondern alle haben Teil an der ganzen, aber für jede grenzt
sich ein besonderer Kreis sittlicher Aufgaben ab, und
dieser Kreis bestimmt sich durch das Vorwalten, durch die
Zentralstellung je einer der Grundtugenden, und zwar dieser
in zugleich individualer und sozialer Bedeutung, so dass die
vierte individuale Tugend und die Tugenden der Gemeinschaft
nicht etwa ausfallen. Es handelt sich, mit andern Worten,
um den Aufbau einer und derselben sittlichen Welt im Geiste
des werdenden Menschen nur auf verschiedenen Stufen, eben
darum unter höhern und höhern Gesichtspunkten. Die Tugenden
und der schliessliche Grund ihrer Notwendigkeit, mithin auch
der innere Zusammenhang der Tugenden ist für alle Stufen
der individuellen und alle Zeitalter der menschlichen Entwick-
lung einer und derselbe; aber die sittliche Welt des Kindes,
des unentwickelten Menschen überhaupt, ist gleichwohl eine
andre als die des heranwachsenden, des zum Verständnis der
Organisation fortgeschrittenen Menschen, und diese wieder eine
andre als die des bis zur Stufe der Freiheit entwickelten; oder
richtiger, es ist eine und dieselbe Welt, aber anders und anders
orientiert; nicht anders wie von der sinnlichen Vorstellung der
äusseren Welt ihre gesetzliche Auffassung in den Wissenschaften,
und von dieser die aus der kritischen Stellungnahme des Philo-
sophen sich ergebende, erkenntnisgesetzlich begriffene Welt
sich unterscheidet. Es wird demnach nicht so sehr der materiale
Gehalt der sittlichen Lehre für die drei Stufen verschieden
sein; nur dass auch darin ein Fortschritt vom Einfachsten und
Nächstliegenden zu weiteren und weiteren Kreisen stattfindet;
aber dieser Fortschritt muss gleichsam konzentrisch geschehen,
also immer in den voraus schon eingeschlagenen oder an-
gedeuteten Richtungen bloss weiter gehen; der wesentliche
Unterschied liegt vielmehr in dem Gesichtspunkt, oder ganz
konkret gesprochen, in der Motivierung des sittlichen Gebots.
Für die erste Stufe stützt sich die Lehre (um einmal Kürze
halber die alten Termini zu brauchen) auf sinnliche Motive,
Natorp, Sozialpädagogik. 20
[306] für die zweite auf verständige, für die dritte auf vernünftige.
Es ist richtig in der Ethik, dass sinnliche Motive nicht Sitt-
lichkeit begründen; aber es bleibt darum nicht minder richtig
in der Pädagogik, dass die Anfänge des Verhaltens, das in
Absicht der Bildung zum Sittlichen vom Kinde gefordert werden
muss, bloss sinnlicher Motive bedürfen und allein durch solche
zu erzielen sind. Daher wird auch die sittliche Lehre für diese
Stufe, die nur bestimmt ist, ein solches Verhalten auch von
seiten des Begriffs zu unterstützen, keine andern als sinnliche
Motive geltend machen müssen. Das wäre freilich unver-
ständlich, wenn Sittlichkeit und Sinnlichkeit sich aufhebende
Gegensätze wären. Nachdem aber erkannt ist, dass es eine
Tugend der Sinnlichkeit giebt, jene, welche wir als Rein-
heit oder Maass bezeichnen, ist es ganz verständlich, dass der
erste Aufruf zur Tugend sich richten muss nicht an die Sinn-
lichkeit schlechtweg, aber an die Tugend der Sinnlichkeit, um
von dieser Seite her, zufolge des notwendigen Zusammenhanges
der Tugenden, zur ganzen Sittlichkeit den ersten Grund zu
legen. Ebenso wäre es in der Ethik verkehrt, auf den Grund
der Willensdisziplin und dadurch zu erreichenden Höhe der
Energie, der dem Knabenalter doch so einleuchtend ist, die
Sittlichkeit etwa ganz und gar zu gründen; aber es bleibt
darum nicht minder richtig in der Pädagogik, für die zweite
Erziehungsstufe dies Motiv, für das sie am zugänglichsten ist,
voranzustellen. Denn es giebt eine eigene Tugend der
Willensdisziplin
, die Tapferkeit, und es hat wohl Sinn,
jetzt vorzugsweise durch Weckung dieser Tugend auf das
Ganze der Sittlichkeit hinzuarbeiten, unter Festhaltung und
fortdauernder Pflege dessen, was von der sinnlichen Seite
her schon auf der ersten Stufe gewonnen wurde. Das Letzte
fügt dann die dritte Stufe hinzu, indem sie nun erst bis zum
innersten Grunde des Sittlichen, zum Grunde der „Wahrheit“
zurückgeht, und zeigt, wie in ihm alles bis dahin Gewonnene
zugleich bestätigt und überboten wird. Die sittliche Lehre
der ersten Stufe sagt also: Sei gut um der Reinheit willen;
die der zweiten: Sei gut um jener Selbstdisziplin willen, die
der wahre Sinn der Tapferkeit ist; und erst die der dritten:
[307] Sei gut allein um der Wahrheit willen. Ueberall aber wird
die Lehre dann nicht stehen bleiben bei einer bloss individuellen
Fassung des Sittlichen, bei der Forderung, dass man für sich
selbst gut sei; obgleich das gewiss das Erste ist, worum man
zu sorgen hat. Sondern die Betrachtung muss sich alsbald er-
heben zur Vorstellung des Sittlichen als an sich wertvollen
Guts, als des der gemeinsamen Hut anvertrauten Gutes der
Gemeinschaft
. Man soll gut sein nicht bloss um der eigenen
Reinheit, sondern auch um der Reinerhaltung der Gemeinschafts-
beziehungen willen; man soll gut sein nicht bloss der eigenen
Willensdisziplin wegen, sondern zur Erhaltung der Tugend der
Gesetzlichkeit auch in der Gemeinschaft; man soll gut sein
nicht nur, um gegen sich ganz wahr zu bleiben, sondern an
seinem Teil dazu beizutragen, dass das Leben der Gemeinschaft
mehr und mehr auf Wahrheitsgrund stehe. Es soll also auf
der ersten Stufe ein wenigstens gefühlsmässiges Verständnis
für die Reinheit des Hauslebens gegründet werden, wie es bei
Kindern, z. B. älteren Geschwistern gegenüber den jüngern,
oft in hohem Maasse schon entwickelt ist; und so auf zweiter
Stufe ein Sinn für die Organisation der Gemeinschaft, dessen
natürliche Entfaltung im Knabenalter, als einfache Vorschule
zur bürgerlichen Gemeinschaft, wiederholt hervorgehoben wurde;
es muss nicht minder auf der dritten Stufe die Seele sich
öffnen zum Verständnis der höchsten in der Idee aufstellbaren
Art der Gemeinschaft, nämlich der autonomen.


Wie nun solcher Absicht einerseits die ganze Lebensord-
nung des Hauses, der Schule, der freien Gemeinschaft, andrer-
seits der ganze Inhalt der sonstigen theoretischen Lehre auf
denselben Stufen, mitsamt der Methode dieser Lehre, entspricht,
ist zur Genüge ausgeführt worden. Daher bleibt der eigentüm-
lich sittlichen Lehre nur übrig, aus dem allen gleichsam das
Facit zu ziehen. Was sie liefert, ist gleichsam nur die Probe
auf die Rechnung, die, wenn diese sonst richtig aufgestellt
und weitergeführt worden, nichts Neues ergeben, sondern nur
diese Richtigkeit bestätigen darf. Aber solche Bestätigung liefert
doch erst die volle Vergewisserung, dass man im ganzen auf
dem rechten Wege ist, und zugleich die sichere Kontrolle
[308] darüber, was im besonderen noch fehlt. Und es ist, bei der
Unendlichkeit der sittlichen Aufgabe, ja keine Gefahr, dass
diese nachträgliche Kritik etwa nichts mehr zu berichtigen,
keine Lücken auszufüllen, keine neuen Aufgaben anzugreifen
finden sollte. Das Wichtigste ist, dass die sittliche Lehre
möglichst unmittelbar aus dem Zusammenhange des sittlichen
Lebens erwächst, und so auch die Kraft in sich findet, durch
die Klärung des Bewusstseins, die sie hinzufügt, auf das sittliche
Leben wiederum förderlich zurückzuwirken.


Auf der ersten Stufe darf sich, nach früher Bewiesenem, die
sittliche Lehre so wenig wie irgend eine andre von der Erfahrung
und Uebung scharf abtrennen; sie schliesst sich, so wie es
früher (§ 25) geschildert worden, an die Uebung unmittelbar
an, als blosser Ausspruch dessen, was in Uebung bereits ist
oder unmittelbar darin übergehen soll. Doch beginnt sie schon
sich zu erweitern und zu vertiefen durch erzählende Darstel-
lung; so zwar, dass sie auch dann an das Thun, nämlich das
dargestellte Thun, eng angeschlossen und unmittelbar dazu
gehörig scheint. Daraus ist klar, weshalb alle nachhinkende
Moral hier ihre Wirkung verfehlen würde: diese Ablösung und
Erhebung zu etwas wie allgemeiner Theorie liegt der Unmittel-
barkeit des kindlichen Bewusstseins noch ganz fern.


Wird aber, auf der zweiten Stufe, diese Ablösung möglich,
so ist es dann wohl richtig, sogleich zu einem wenn noch so
bescheidenen, übersehbaren Lehrbegriff, zu einer Art Kate-
chismus
überzugehen. Der ganzen, dieser Stufe so passenden
Disziplinierung und Organisierung der Gedanken entspricht es
nur, dass auch das Sittliche auf Paragraphen gebracht und
mit knappem Warum und Weil bewiesen wird, nämlich so
wie es sich diesem Alter beweisen lässt. Das scheint es mir
zu sein, was der schon von Comenius erhobenen Forderung
eines eigenen ethischen Unterrichts, nämlich für die Stufe der
Schulunterweisung, Richtiges zu Grunde liegt. Auch würde
diese Forderung wohl nicht auf ernsten Widerstand stossen,
wenn sie nicht die Absetzung des Religionsunterrichts, der bis-
her den sittlichen in sich aufnahm und für ihn fast allein ein-
stand, zu bedeuten schiene und in gewissem Sinne wirklich
[309] bedeutete. Man kann jedoch, wie das Beispiel Dörpfelds lehrt,
die sittliche Bedeutung der Religion ganz anerkennen, ja über-
schätzen, und es doch unrichtig und nicht ungefährlich finden,
die Begründung des Sittlichen ihr ganz allein anzuvertrauen;
als sollte, wem die Religion, und zwar die bestimmte von der
Schule gerade gebotene, nicht oder nicht mehr überzeugend
ist, damit nun auch ausserhalb der Gebote der Sittlichkeit ge-
stellt sein. Nun liesse sich wohl noch daran denken, dass ein
andrer, nämlich der muttersprachliche Unterricht die freie,
von Religion unabhängige sittliche Reflexion ganz auf sich
nehmen solle; besonders um nicht die jetzt schon bedenkliche
Vielspältigkeit des Unterrichts durch Hinzufügung noch eines
weiteren Fachs zu vermehren. So etwa waren, auf dem Stand-
punkt ihrer Zeit, die „Denkübungen“ v. Rochow’s gemeint.
Auch ist ja kein Zweifel, dass die sittliche Reflexion durch
Lesestück und Aufsatz ihren bescheidenen aber gesicherten
Platz im Muttersprachunterricht schon gegenwärtig hat. Das
Bestreben könnte verlockend scheinen, das, was somit stück-
weise schon heute geschieht, nur etwas gründlicher und plan-
mässiger zu leisten. Allein eben dies planmässige Vorgehen
wäre mit den sonstigen Zwecken des Sprachunterrichts schwer
zu vereinigen; es drängt im Gegenteil auf Abzweigung deut-
lich hin, möchte diese auch einstweilen nur so geschehen, dass
in besonderen, nicht zu zahlreichen, dem Muttersprachunter-
richt angeschlossenen Stunden, so etwa wie in der Gymnasial-
prima als Teil der „Philosophischen Propädeutik“, die einfachen
Grundzüge der Sittenlehre vorgeführt würden; worauf dann in
Aufsatzthemen und bei der Lektüre je nach gegebenem Anlass
Bezug genommen werden könnte, ohne dass dem eigenen Zwecke
des Sprachunterrichts dadurch Abbruch geschähe. Damit wäre
aber die Forderung eines eigenen ethischen Unterrichts im
Grunde anerkannt und es bliebe nur mehr eine technische
Frage, wie dieser im besonderen einzurichten und mit andern
Fächern in das richtige Verhältnis zu setzen sei. Innerlich
schwierig ist einzig und allein das Verhältnis zum Religions-
unterricht. Sollen beide neben einander hergehen, so fragt
sich, ob in enger Verbindung mit einander oder gerade mit
[310] Betonung ihrer gegenseitigen Selbständigkeit. Aber es bedarf
erst der Entscheidung, ob und wie sie überhaupt mit einander
verträglich sind. Diese Entscheidung kann erst unser letztes
Kapitel treffen.


Für uns steht in jedem Falle fest, dass die letzte Be-
gründung
des Sittlichen allein Philosophie zu geben ver-
mag; und zwar nur die eigentliche Philosophie, die erst der
dritten Stufe der intellektuellen und sittlichen Bildung ange-
hört. Es ist aber hierüber dem früher (§ 28) Gesagten wenig
hinzuzusetzen. Die Organisation des bezüglichen Unterrichts
betreffend, versteht man schon, dass wir uns die philosophische
Ethik als einen Hauptgegenstand allgemeiner und freier
Volksbelehrung auf dem Wege der „Volkshochschulkurse“
denken. Wenn in irgend einem Punkte, so sollte hier klar
sein, dass der Erwerb der Wissenschaft nicht ihren bestellten
Pflegern allein gehört und auch nicht bloss auf dem Wege
der Schullehre mittlerer Stufe, d. h. in notwendig abgeschwäch-
ter, nur vorbereitender Form der Allgemeinheit zugut kommen
darf; dass sie vielmehr den denkbar grössten Anspruch hat,
so viel davon unmittelbar mitgeteilt zu bekommen, als irgend
sie imstande ist mit dem Verständnis zu durchdringen und in
That und Leben zu übersetzen. Ein direktes Mittel, Gesin-
nung da einzupflanzen, wo sie nicht zuvor wenigstens der
Grundlage nach schon vorhanden war, sehen wir auch in der
bis zur Höhe der Philosophie sich erhebenden ethischen Lehre
allerdings nicht. Der Grund zum sittlichen Leben und damit
auch zur sittlichen Ueberzeugung muss schon anderweitig ge-
legt sein, das Leben selbst muss ihn gelegt haben. Fehlt es
aber an dieser Grundlage nur nicht ganz und gar, so kann
die hinzukommende, auf die letzten der Erkenntnis zugäng-
lichen Gründe gestützte Einsicht des Sittlichen unzweifelhaft
sehr viel thun, dieses Fundament weiter zu sichern und auch
zu reinigen; dem erst nach seiner Selbstvergewisserung ringen-
den guten Willen eine mächtige Stütze zu schaffen, dem schon
vorhandenen neue, weitere Ziele und reinere Wege zu weisen,
und so, in Verbindung mit allen andern Faktoren der Willens-
erziehung, den sittlichen Charakter des Einzelnen und schliess-
[311] lich des ganzen Gemeinlebens zu einer höheren Stufe der Voll-
endung zu bringen.


Alles in allem ist die sittliche Wirkung auch der Ver-
standesbelehrung, die unmittelbar das Sittliche selbst zum
Gegenstand hat, an dieselben Voraussetzungen gebunden wie
alle sittliche Wirkung der Intellektbildung; sie ist überdies
angewiesen auf das Zusammenwirken mit allem, was die Bil-
dung des Intellekts von sonstigen Seiten her zur Willens-
erziehung beiträgt. Sie ist erst der letzte, bedingteste Faktor
der Willensbildung, aber für ihren Abschluss unentbehrlich.
Diese Bedingtheit ihrer Wirkung schmälert nicht die Würde
der sittlichen Lehre; aber ihre Würde darf auch nicht darüber
täuschen, dass eine unmittelbare und gar unfehlbare Wirkung
auf die Versittlichung des Menschen von ihr nicht zu er-
warten ist.


Was sonst noch die philosophische Bildung in Absicht
der Willenserziehung leisten kann, betrifft die beiden Gebiete,
deren Betrachtung uns noch übrig bleibt: das ästhetische
und das religiöse.


§ 32.
Anteil der ästhetischen Bildung an der Willenserziehung.


Natur und Sittenwelt, das was ist und was sein soll, das
sichtbare und das unsichtbare Reich, gleichsam Erde und
Himmel des Bewusstseins — was sollte es darüber noch geben,
das ein Gegenstand menschlicher Bildung wäre? Und doch
bleiben grosse Provinzen, vielleicht die herrlichsten, noch übrig:
das Reich des ästhetischen und das des religiösen Bewusst-
seins. Wie verhalten sich diese zum Reiche des Willens oder
des sittlichen Bewusstseins, und welcher Anteil gebührt dem-
gemäss der ästhetischen, der religiösen Bildung an der Erzieh-
ung des Willens?


Die ästhetische Welt stellt sich dar als eine neue
Welt von Objekten; nicht Naturobjekten, denn alles Aesthe-
tische ist Phantasie, es erhebt nicht den Anspruch der Wahr-
heit, wenigstens nicht der Wahrheit im Sinne der Naturwirk-
lichkeit; aber auch nicht sittlicher Objekte, denn es bean-
[312] sprucht ebenso wenig eine Verbindlichkeit für den Willen.
Vielmehr ist sein auffälligstes negatives Kennzeichen die gänz-
liche Freiheit, mit der es sich über jede Verbindlichkeit logi-
scher oder ethischer Art erhebt. Nicht als ob die Schöpfungen
des Verstandes und Willens für das ästhetische Bewusstsein
nicht vorhanden wären; es kennt sie und erkennt sie an; aber
es gebraucht sie lediglich als Stoff zu einer eigenen, überhaupt
neuen, einer andern Ordnung angehörenden Weise der Ge-
staltung.


Aber der Allgewalt des Gesetzes überhaupt vermag
doch auch diese freieste Gestaltungsart sich nicht zu entziehen.
Sie könnte nicht eine eigene Welt von Objekten organisieren,
wenn nicht durch eine eigene Gesetzgebung, die sie erst zur
Welt, zum geordneten Kosmos macht. Und diese Welt wäre
nicht unser, nicht einem und demselben Bewusstsein ange-
hörig, das auch über die Welten des Verstandes und des
Willens Herr ist, wenn nicht ihre Gesetzlichkeit zugleich in
einer inneren und notwendigen Beziehung stände zu den Ge-
setzesordnungen, welche jene anderen Welten regieren. Anders
könnte es nicht eine eigene ästhetische Erkenntnis geben.
Ohne Zweifel aber giebt es sie. Was schön ist und was nicht,
allgemein was ästhetisch möglich und nicht, ist Gegenstand
der Erkenntnis. Es mag oft schwer sein darüber zur Ver-
ständigung auch nur mit sich selber zu gelangen; aber es giebt
doch eine solche Verständigung, es giebt eine erreichbare,
wenigstens persönliche Gewissheit, es giebt Wahrheit und
Falschheit
ästhetischen Urteils. Sogar im künstlerischen
Schaffen ist das eigentlich Entscheidende die Erkenntnis, aller-
dings nicht eines zuvor gegebenen, sondern im schaffenden
Geiste des Künstlers eben jetzt zuerst sich erzeugenden Ob-
jekts. Das Weitere, die äussere Herausarbeitung des mit über-
zeugender ästhetischer Wahrheit innerlich Geschauten zu einem
auch für andre so Anschaubaren und Ueberzeugenden wäre
lediglich Sache äusserer Technik, wenn nicht in Wahrheit auch
dabei die schöpferische Anschauung d. i. die ästhetische Er-
kenntnis, fort und fort thätig bliebe und sich erst zur vollen
Lebendigkeit durchränge.


[313]

Was aber ist nun das positiv Neue und Eigene dieser
notwendig gesetzmässigen Gestaltungsweise, und was der Grund
der ihr einwohnenden neuen Art Wahrheit?


Der Name des Aesthetischen scheint hinzuweisen aufs
Gefühl als das eigentümliche Organ für diese neue Art von
Erkenntnis. Wie die Natur das Objekt des blossen Verstandes,
die Sittenwelt das Objekt des Willens — zwar auch einer
eigenen, aber im Willen selbst eingeschlossenen, nicht von
aussen hinzukommenden, einer von Haus aus „praktischen“
Erkenntnis ist, so könnte die ästhetische Welt die eigene
Welt des Gefühls, wiewohl dann auch einer eigenen, eben
fühlenden, im ästhetischen Gefühl eingeschlossenen Erkenntnis
sein.


Was hieran richtig ist, wird sich sogleich herausstellen;
irrig aber ist sie, wenn unter Gefühl, nach dem herrschenden
Sprachgebrauch heutiger Psychologie, Lust und Unlust ver-
standen wird. Denn weder Lust und Unlust schlechtweg, das
blosse sich wohl oder nicht wohl finden, noch selbst die der
Erkenntnis sich nähernde Bestimmtheit des Lust- und Unlust-
gefühls, eine erhöhte Sensibilität des Organismus etwa, die
uns von den feinsten Regungen unsres organischen Lebens
(wenn auch oft genug trügende) Kunde giebt, ist etwa an sich
schon etwas Aesthetisches. Zwar scheint es, dass die Lust-
und Unlusterregung zur Materie der ästhetischen Gestaltung,
und zwar notwendig zu allem, was irgend ihr als Materie
dienen mag, gehört, denn ohne irgend einen Grad der Freude,
des Wohlgefallens ist ein ästhetisches Bewusstsein ja wohl
nicht denkbar. Allein darum fragt es sich nicht weniger nach
dem formenden Gesetz; und das ist eigentlich erst die
Frage danach, was das Aesthetische selbst sei. Es ist viel-
leicht das in bestimmter Weise gestaltete Gefühl, aber keines-
falls das Gefühl schlechtweg. Man könnte versuchen zu erklären,
es sei das rein seiner eigenen Art gemäss gestaltete Gefühl.
Allein wie soll etwas so wesentlich Gestaltloses und dabei
Einförmiges wie das blosse sich wohl und nicht wohl fühlen
überhaupt eine eigene Art gesetzmässiger Gestaltung aufbringen?
Wie soll ein bloss subjektives Sichfühlen überhaupt von sich
[314] aus ein Objekt setzen? Das erscheint nicht nur, sondern ist
in der That schwierig.


Nun giebt es aber noch einen andern, geradezu auf die
fragliche Gestaltungsart zielenden psychologischen Ausdruck,
nämlich den der Phantasie. Zwar ist wiederum nicht alle
Phantasie ästhetisch, die Phantasie z. B. nicht, die einen
noch nicht gesehenen Gegenstand, eine Maschine etwa, nach
gegebener Beschreibung vorzustellen, und so zu erkennen
trachtet. Allein das ist dienstbare, anderweitigem Zweck,
hier dem der theoretischen Erkenntnis sich unterordnende
Phantasie. So dient sie in andern Fällen lediglich den Zwecken
des Willens; die lebendige Vorstellung des Gewollten fördert
die Bestimmtheit des Wollens, das sonst leicht ins Gestaltlose
schweifen und so der vollen Kraft des Lebens verlustig gehen
würde. Aber es giebt auch eine freie, keinem anderweitigen
Zweck dienende, sozusagen selbstzweckliche Phantasie,
die demnach wohl auch einem eigenen Gesetze ihrer Gestaltung
wird folgen müssen. Diese freie, nach eigenem Gesetz ge-
staltende Phantasie würde also die ästhetische, und überhaupt
das Prinzip des Aesthetischen sein.


Damit ist aber vielleicht auch das Unterscheidende der
ästhetischen Lust oder besser Freude, das wir vorher nicht
anzugeben wussten, schon gefunden: es ist die Freude, in der
die frei gestaltende Thätigkeit der Phantasie lediglich sich
selbst geniesst. Aesthetisches Gefühl ist reines Thätigkeits-
gefühl, Gestaltungsgefühl des Bewusstseins, nicht blosses
Lebensgefühl; ausser sofern man eben sein wahres Leben
nur im Gestalten sieht. An jenem allein lässt sich ein Cha-
rakter der Objektivität begreifen; sofern es auf die Gestaltung,
die, als gesetzmässige, auch immer ein „Objekt“ schaffen muss,
sich unmittelbar bezieht und allein an ihr haftet, kommt diesem
Gefühle die Allgemeingültigkeit zu, die dem Aesthetischen, bei
aller seiner Freiheit vom logischen oder ethischen Gesetz,
dennoch zugesprochen werden muss, und die, ohne diese Be-
ziehung zu einer gesetzmässigen Gestaltung, im Gefühl un-
möglich gefunden werden könnte.


Nur so gelingt es nun auch, das innere Verhältnis der
[315] ästhetischen zur theoretischen und ethischen Gestaltungsweise
klar zu bestimmen. Dem ästhetischen Objekt ist die Form,
d. i. die Einheit der Gestaltung, so wesentlich wie dem
Naturobjekt oder dem Objekt der Sitte. Aber es überbietet
gewissermaassen die gesetzlichen Ansprüche beider, indem es
sie, die an sich einander zu widerstreben, und in diesem Wider-
streit ewig unerfüllbar zu sein scheinen, vereint zu erfüllen
— vielleicht nicht behauptet, aber, kraft eines ihm ganz
eigentümlichen Rechtes — fingiert.


Das ästhetische Objekt unterwirft sich nicht den theore-
tischen Erfordernissen des Naturwirklichen. Es bestände
nicht die Probe dieser Erfordernisse, und es weigert sich über-
haupt dieser Probe. Man soll es auf Wirklichkeit (im Natur-
sinn) gar nicht befragen dürfen — und doch es so hin-
nehmen, wie wenn es wirklich sei
, und wäre es in
Nirgendheim. Auch befolgt es, wie mit List, die Gesetze
der Wirklichkeit gerade so weit als es nötig ist, um diesen
Schein behaupten zu können, oder als ein ästhetisches Gemüt
vorausgesetzt werden darf, treuherzig genug, diesem vorge-
spiegelten Scheine zu vertrauen. Es unterwirft sich ebenso
wenig in Wahrheit den strengen Forderungen des an sich
Seinsollenden. Es bestände ebenso wenig die Probe der sitt-
lichen wie die der theoretisch-wissenschaftlichen Kritik, ja es
verbittet sich überhaupt die Anlegung des sittlichen Maass-
stabes; und verlangt dabei doch so hingenommen zu werden,
als ob es an sich sein sollte, wie es ist, wäre, wie es sein
soll. Und wieder, um diesen Schein zu behaupten, befolgt es
die Gesetze des Seinsollenden insoweit, als es zur Möglichkeit
dieses Scheines erforderlich ist; immer mit der Freiheit sie zu
verlassen, wo der eigene, von dem des Sittlichen verschiedene
Zweck der ästhetischen Gestaltung es erheischt.


Bei dem allen ist es ein ehrlicher Betrug, den wir
uns so vormachen lassen oder vielmehr uns selber mehr oder
weniger bewusst vormachen. Wir kommen gar nicht in Ge-
fahr, das ästhetische Objekt mit dem Naturobjekt oder aber
mit dem sittlichen im Ernst zu verwechseln. „Illusion“ wäre
daher kein zutreffender Name für den Zustand ästhetischer
[316] Auffassung. Wir werden nicht wirklich getäuscht, sollen auch
gar keine Mühe haben uns der wirklichen Täuschung zu er-
wehren. Wenn, so wäre unser Verhalten schon nicht mehr
rein ästhetisch, sondern in irgend einem Grade pathologisch;
während die rein ästhetische Haltung höchste Gesundheit
der Seele voraussetzt. Es ist richtig, dass z. B. in der Ro-
mantik diese an sich klaren Grenzen verwischt wurden, aber
dann hatte sie eben die Grenzen des Aesthetischen bereits
überschritten.


Was ist denn aber der Zweck dieses sonderbaren Spiels,
da es nicht Wahrheit sein soll, und doch auch nicht Betrug?
Spiel ist sein Zweck, nichts weiter. Das schlichteste Spiel
des Kindes enthält das Prinzip der ästhetischen Gestal-
tung, und den ganzen unerschöpflichen Quell der Seligkeit,
die sie einschliesst. „So ihr nicht werdet wie die Kinder“,
so werdet ihr in diesen Himmel nicht eingehen. Und wenn
in der Kunst, etwa der Tragödie, dies Spiel sich zum erschüt-
terndsten Ernst erheben kann, indem es Natur und Sittlich-
keit, Welt und Ueberwelt, Erde und Himmel — und Hölle
des Bewusstseins in Bewegung setzt und mit Titanenübermut
über sie alle verfügt, so ist es in all diesem erhabenen Ernst
immer noch Spiel; und in nichts Gefährlicherem besteht zuletzt
sein Uebermut, als darin, auch jenes alles, das Ernsteste, was
nur ein Menschenherz ergreifen mag, mitten in diesem Ernst,
für einen Augenblick dennoch zum Spiel zu gebrauchen, und
so darüber zu triumphieren. Und wozu das? Was giebt uns
das Recht eines so erhabenen Spiels selbst mit dem Heiligsten?
Dies Recht giebt uns das vollkommen wahre Bewusstsein:
dass Natur wie Sittlichkeit, Welt und Ueberwelt, Erde und
Himmel und Hölle unsrem Bewusstsein zu eigen gehören,
als seine Gebilde nicht nur je auf ihr Objekt (als wäre es
schlechthin für sich), sondern auf es selbst als den Urquell,
aus dem sie sich erzeugen, bezogen sind. Es ist das reine,
doch zugleich überindividuelle, weil eben auf die Gestaltung
von Objekten bezogene Selbstgefühl, was das Spiel der ästhe-
tischen Gestaltung uns verschafft; Selbstgefühl im Gestalten,
darum mehr als bloss individuell, wiewohl es immer auch,
[317] ja zuerst und zuletzt, individuell ist. Deswegen verlangt die
Kunst, und sucht sogar, gerade wo sie zu ihrer höchsten Höhe
sich erhebt, das bis hart an die Grenzen des Erträglichen
Erschütternde, ja Vernichtende auf. Sie darf es, eben
weil und wenn sie stets die göttliche Ueberlegenheit des
Spiels selbst ihm gegenüber bewahrt: die überlegene Gestal-
tung selbst befriedigt sich, sogar in der Darstellung eines Ob-
jekts, das, wenn wirklich, uns vernichten würde.


So haben Tiefblickende uns die ästhetische Welt begreifen
gelehrt. Und nun dürfen wir die Frage aufnehmen, was denn
die ästhetische Bildung zur Erziehung des Willens bei-
trägt.


Voraus thut reinliche Scheidung not. So wie die Rein-
heit des Sittlichen Schaden leidet, wenn man es dem Aesthe-
tischen unterordnet, obgleich es gewissermaassen in ihm ein-
geschlossen ist, so verwirrend ist wiederum jede Auffassung,
welche das Aesthetische bloss als dienendes Mittel der Sitt-
lichkeit zu würdigen weiss. Es ist zulässig und auch von
uns zugelassen worden, Stoffe der Dichtung zu moralischer
Belehrung zu verwenden. Aber es ist scharf zu betonen, dass
dies nur von den Stoffen gilt. Zuvor muss die Dichtung rein
für sich, als ästhetische Schöpfung, zur Geltung gekommen
sein. Das kann sie aber nicht, wenn sie von Anfang an bloss
als Unterlage moralisierender Betrachtung dargeboten wird.
Das gilt schon von der Verwendung des Märchens, der Fabel,
der biblischen Erzählung, und so erst recht vom Homer und
allem, was ausdrücklich als Dichtung auftritt.


Sogar ist gerade die reine sittliche Wirkung des Aesthe-
tischen bedingt durch seine deutlichste Scheidung vom Sitt-
lichen selbst. Denn es hilft zum Sittlichen so und nur so
wie in ihrem harmonischen Verhältnis zu einander alle seeli-
schen Kräfte sich helfen; zu ihrer Harmonie gehört aber, wie
zur musikalischen, dass die Elemente, zwischen denen Har-
monie stattfinden soll, sich nicht verwirren, sondern deutlich
von einander abheben. Am engsten ist wohl die Berührung
des Sittlichen mit dem Aesthetischen in der Tugend des Maasses,
die den Griechen völlig mit dem „Schönen“ der Seele zusam-
[318] menfloss. Aber doch bleibt auch hier ganz klar der Unter-
schied der Verbindlichkeit: Maass im sittlichen Sinne ist
geboten; die wie ein Naturgebilde erwachsende innere Har-
monie dagegen, welche die Schönheit der Seele ausmacht, kann
man sich nicht mit Willen geben, sie kann also auch nicht
dem Willen anbefohlen werden. Das Leben kann sogar sitt-
liche Forderungen stellen, die diese naturartige Harmonie zu
bewahren nicht einmal gestatten; die Forderung des Sittlichen
kann im besonderen wider die Schönheit sein, so gewiss
Sittlichkeit als Ganzes auch etwas Schönes, vielleicht das
Schönste ist.


Es darf also die Sittlichkeit, wenn sie sich die Bundes-
genossenschaft der ästhetischen Kräfte gefallen lässt, sie keines-
falls erkaufen durch irgend ein Opfer an der Strenge ihrer
Forderungen. Vor dieser Gefahr muss jede Verwendung ästhe-
tischer Mittel zur sittlichen Erziehung ebenso auf der Hut
sein, wie vor der andern, der sie weit öfter erliegen mag: dass
sie die Reinheit der ästhetischen Wirkung zunichte macht und
eigentlich gar nicht mehr sie selbst, sondern nur ihren der
Form entkleideten Stoff dem sittlichen Zweck dienstbar macht;
was man ein nicht ganz ehrliches Spiel nennen müsste, wenn
nicht die eigene ästhetische Roheit die so verfahrenden Er-
zieher in der Regel sittlich freispräche.


Indem wir mit solchen Vorbehalten die sittliche Wirkung
ästhetischer Erziehung anerkennen, untersuchen wir nun die
Wege dieser Wirkung. Es ist hierbei zweierlei zu bedenken:
die sichere, aber dem Zögling selbst kaum bewusste, weil bloss
passiv erfahrene Wirkung einer ästhetischen Stimmung
der ganzen Umgebung
, und die direkte ästhetische
Bethätigung
des Zöglings selbst.


Wie die erstere unvermerkt, gleich dem Einatmen guter
Luft, auf die Gestaltung des in Bildung begriffenen Gemüts
Einfluss gewinnt, hat schon Plato im Staat geschildert, der
diese Wirkung nur zu ausschliessend von moralischer und zwar
stofflicher Seite anzusehen scheint. Sie hat in der That grösseren
Einfluss auf den Gemütsstand, den der sittliche Wille vorfindet
und zu bearbeiten hat, als auf die Entwicklung des sittlichen
[319] Willens selbst. Aber natürlich kommt es auch dieser zu gute,
wenn der Wille das Gemüt in einer ihm günstigen und gleich-
sam entgegenkommenden Verfassung findet. Die höchste An-
erkennung und Nachfolge verdient aber, dass bereits Plato die
Frage sogleich auf sozialem Boden stellt und beantwortet.
In der That, wenn das Haus und die Schule auch ungleich
grössere Anstrengungen in dieser Hinsicht machten, als es meist
hat geschehen können, selbst ihr vereinter Einflusss würde sich
doch nur mühsam behaupten gegen einen dieser Wirkung wider-
strebenden Einfluss der weiteren Gemeinschaft; während ein
erhöhtes ästhetisches Niveau der letzteren auch auf Schule und
Haus unwiderstehlich zurückwirken würde. So sehen wir uns
selbst von seiten der Aesthetik auf die sozialen Bedingungen
der Erziehung hingewiesen.


Weit direkter indessen ist doch die Wirkung der eigenen
Bethätigung des Zöglings in ästhetischer Richtung; so wie alle
Selbstthätigkeit, da sie unmittelbar den Willen in Anspruch
nimmt, auch zu seiner Entwicklung unmittelbar beitragen muss.
Sehr klar liegt aber hier der tiefste Zusammenhang im Formalen,
im Vordringen zur autonomen Gestaltung. In diesem Be-
tracht möchte sogar richtig sein, dass ohne einen Funken
ästhetischer Freiheit wenigstens zu den höheren Stufen der
Sittlichkeit nicht zu gelangen ist. Höchste sittliche Erhebung
erfordert ohne Zweifel auch die Schwingen der Phantasie. Es
ist kein Zufall, dass der höchste Idealismus der Sittlichkeit
die Jahrtausende der Menschengeschichte hindurch an ihm ge-
mässen ästhetischen Schöpfungen seinen Halt gesucht hat.


Um aber hier am schlichtesten Anfang zu beginnen, so
stellt ja das freie Spiel des sich selbst überlassenen frohgemuten
Kindes, wie schon bemerkt, ein sehr reines Beispiel ästhetischen
Thuns dar. Ist Kunst, nach Schiller, überhaupt Spiel, ist sein
erstes Kennzeichen der „aufrichtige Schein“, so ist dem un-
verdorbenen Kinde beides, der Schein und die Aufrichtigkeit,
gleich natürlich. Ist aber das Kind wohl je zu allem in seinem
Bereiche liegenden Guten mehr aufgelegt als in der seligen
Unbefangenheit des Spiels?


Aber auch der fast unmerkliche Uebergang vom Spiel zum
[320] Ernste der Arbeit muss nicht diesen ästhetischen Grundzug
des ganzen kindlichen Daseins durchaus verwischen. Allerdings
ist der Unterschied eben der des Sittlichen vom bloss Aesthe-
tischen: Arbeit bleibt gefordert, auch wo es nicht möglich ist,
sie zugleich ästhetisch zu gestalten. Aber es ist darum mit
nicht geringerem Nachdruck zu verlangen, dass sie ästhetisch
gestaltet werde, soweit es irgend möglich ist. Es ist ein
vielleicht sehr fernes, aber darum nicht weniger richtiges Ideal,
dass sich einmal selbst „aus allen Bauern und Handwerkern
Künstler bilden liessen, d. h. Menschen, die ihr Gewerbe um
ihres Gewerbes willen liebten, durch eigen gelenkte Kraft und
eigene Erfindsamkeit verbesserten, und dadurch ihre intellek-
tuellen Kräfte kultivierten, ihren Charakter veredelten, ihre
Genüsse erhöhten“, und so „die Menschheit durch eben die
Dinge geadelt“ würde, „die jetzt, wie schön sie auch an sich
sind, so oft dazu dienen, sie zu entehren“. Dies Ideal eines
Wilhelm v. Humboldt*) ist auch das Pestalozzis, der
von den Kindern der Maurersfrau in seinem Roman berichtet:
„Sie spinnen so eifrig als kaum eine Taglöhnerin spinnt, aber
ihre Seelen taglöhnern nicht. Sie bewegen sich während
der ununterbrochenen Gleichheit ihrer leiblichen Bewegung so
leicht und frei wie der Fisch im Wasser, und so froh wie die
Lerche, die in den Lüften ihren Triller spielt.“**) Mag aber
auch dies Ideal heute für den Arbeiter allgemein nicht erfüllbar
sein, für das arbeitende Kind wenigstens muss es erfüllbar sein.
Auch die Gemeinschaft der Kinder unter sich und mit kind-
lichen Menschen drängt geradezu zu einem Rhythmus der
Thätigkeiten, heissen sie nun Arbeit oder Spiel, und damit zu
aller kindlichen Lyrik, Epik und Dramatik, Musik und Orchestik,
kurz zu allem Aesthetischen. Fröbel hatte davon wohl etwas
erkannt; aber es gehörte ein ganzer Künstler dazu, es nach
allen Seiten auszuführen. Dass das zum Guten wirkt, dar-
über ist man wohl einig; worin aber der Grund dieser Wir-
kung liegt, sagen in ganz übereinstimmendem Sinne die ge-
[321] nannten zwei; Humboldt: „Der Gewinn, welchen der Mensch
an Grösse und Schönheit einerntet, wenn er unaufhörlich dahin
strebt, dass sein inneres Dasein immer den ersten Platz be-
haupte, dass es immer der erste Quell und das letzte
Ziel
alles Wirkens, und alles Körperliche und Aeussere nur
Hülle und Werkzeug desselben sei, ist unabsehlich;“ und
Pestalozzi: „Der Eindruck der harten Abrichtungskünste [im
Spinnen] war menschlich gemildert und dem Höheren des
Bildenden und Erhebenden in der Erziehung unter-
geordnet
und durch diese Unterordnung unschädlich gemacht.“
Anderwärts spricht derselbe von der Unterordnung der „äusseren“
Arbeit unter die „innere“, auf der der Segen und die sittliche
Wirkung der Arbeit überhaupt beruhe; genau mit dieser Unter-
ordnung aber nimmt die Arbeit selbst ästhetischen Charakter an.


Vielleicht scheint manchem dennoch wenigstens der Ernst
der Schulerziehung dem Aesthetischen ferner zu stehen. Doch
möchten wir, wenn es irgend in unsrer Macht stände, den
finsteren Pedanten das Gewissen schärfen, die es oft wie mit
Gewalt aus der Schule fernhalten zu wollen scheinen, und
damit den höchst lebendigen und im tiefsten Grunde berechtigten
ästhetischen Drang der Jugend sich zum Feinde machen. An
sich widerspricht nichts im Leben der Schule der Forderung
ästhetischer Gestaltung, nur dass es eine besondere Seite des
Aesthetischen ist, die hier beherrschend vorantritt. Das Kindische
des Spiels wird verachtet; aber ist denn die Welt des Schul-
kinds schon die ganze, wache Wirklichkeit? Ist es nicht auch
eine Art Spielwelt, in die es eintritt, wenn auch schon auf
höherer, der Wirklichkeit um einen Grad näherer Stufe? Oder
ist es weniger wahr für diese als für irgend eine andre Stufe,
dass dem Menschen „nur mit dem Schönen zu spielen er-
laubt“ sei?


Der Realismus des Schulalters scheint dem schönen Spiel
zu widerstreben. Aber das Schöne hat selbst eine rea-
listische Seite
, und eben diese ist es, zu der die zweite
Erziehungsstufe den Grund zu legen hat. Auf der ersten ver-
blieb noch alles in sinnlicher Ungeschiedenheit; der ästhetische
Trieb war vielleicht schon sehr lebendig, aber er war noch
Natorp, Sozialpädagogik. 21
[322] nicht gebildet; seine Schöpfungen gehörten nur dem Augenblick.
Dabei soll es nicht bleiben. Nichts Geringeres ist die Auf-
gabe als Natur selbst unter die Herrschaft der ästhe-
tischen Form zu zwingen
, der sie doch sich zu weigern
scheint. Da gilt es, ihr tapfer zu Leibe zu rücken mit der
scharf geschliffenen Waffe der Technik. Das ist die Seite,
die das Aesthetische dem Unterricht bietet; also gehört es auch
in das Alter des Unterrichts. Die ästhetische Thätigkeit selbst
braucht der Disziplin. Diese ästhetische Disziplin aber
findet Anknüpfungen in allen Gebieten des Unterrichts, über-
dies in der ganzen Organisation des Schullebens. Mathematik
und Naturkunde, Naturgeschichte, besonders in der mit grossem
Recht jetzt betonten Verbindung mit Heimatkunde, die den
Sinn fürs Naturschöne vom Kleinsten des Pflanzenwuchses und
der mineralogischen Bildungen bis zum Grossen der Land-
schaft, ja zur Ahnung eines ästhetischen Universums anzuregen
unerschöpfliche Kräfte zur Verfügung hat; und wiederum fast
der ganze Inhalt des sprachlichen und geschichtlichen Unter-
richts, der ein andres Universum, das Universum des Innern,
in oft ja schon direkt ästhetischen Formen erschliesst; dazu
Zeichnen (nebst Modellieren) und Gesang, die ganz unmittelbar
die ersten Stufen der Kunsttechnik erklimmen lehren; aber
auch Leibespflege und Spiel — was überhaupt, das der Unter-
richt in rechtem Verhältnis zum Ganzen der menschlichen Bil-
dung böte, könnte verfehlen dem schon regen ästhetischen Sinn
neue und neue Nahrung zuzuführen, oder den noch schlum-
mernden zu wecken? Und wenn damit allerdings noch nicht
unmittelbar auch sittliches Leben gepflanzt wird noch werden
soll, so würde doch die ganze geistige Befreiung, die in
einem so durch die Selbstthätigkeit der Zöglinge ästhetisch
gestalteten Unterricht läge, der Entwicklung des sittlichen
Bewusstseins zur gleichen Autonomie unfraglich zu gute kommen;
unter der Voraussetzung freilich, dass die sonstigen, so viel-
fältigen Bedingungen dieser sittlichen Entwicklung nicht fehlen
oder gar direkt entgegengesetzte Einflüsse vorwalten.


Wie aber der realistische Faktor der ästhetischen Bildung
der zweiten, so möchte der rein idealistische der dritten
[323] Erziehungsstufe vorzugsweise angemessen sein. Die Grenze
macht der Zeitpunkt, wo nach Diotima in Platos Gastmahl
(die schon fortwährend hier hätte angeführt werden können)
der Drang zum Schönen aufs „hohe Meer“ hinausstrebt: näm-
lich aufs Ganze des inneren wie äusseren Universums, um
durch die Suche nach ihrer letzten Einheit alsbald auf und
über die Schwelle des Ideenreichs geführt zu werden. Soll er
dabei nicht überschwänglich werden, so bedarf er des Rüst-
zeugs der Kritik, jener Selbstkritik ästhetischer „Urteils-
kraft“, wie sie Kant und Schiller uns verstehen gelehrt haben.
In ihr findet die ästhetische Bildung ihren Abschluss im gleichen
Sinne wie die theoretische in der Kritik der theoretischen,
die sittliche in der der sittlichen Vernunft; ihren Abschluss näm-
lich in dem Sinne, dass die Zeit der Schulung damit sich voll-
endet, deren Gewinn aber durchs ganze Leben sich erhalten
und mehren und sichern soll.


So bewährt sich durchgängig die Harmonie der drei Grund-
kräfte der Bewusstseinsgestaltung auch im Stufengang der Er-
ziehung, so wie es nach ihrem inneren Verhältnis zu einander
auch erwartet werden durfte. Auf Einzelausführungen ver-
zichte ich, so lockend die Aufgabe ist, und so dienlich sie sein
möchten, unsern Schlussfolgerungen, die hier allzu ausschliess-
lich deduktiv konstruiert erscheinen müssen, etwas mehr Glauben
zu verschaffen. Nur angedeutet sei, dass für das naive Alter
folgerecht die mehr naive dichterische und bildnerische Gestal-
tungsweise, also besonders die der Alten und was bei den
Modernen dieser gleichartig ist, dagegen erst für die letzte
Stufe die vollbewusste Weise der eigentlich modernen ästhe-
tischen Schöpfung gehört; so wie in der Musik etwa für die
erste Stufe Volkslied und Choral ausreichen, für die zweite
die höchst formvolle, kunstverständige, in der Empfindungshöhe
aber noch fast kindliche Gestaltungsweise Mozarts, aber auch
die ersten Elemente der wie naturgesetzlich gefügten Polyphonik
Bachs, dagegen z. B. Beethoven sicher erst für die dritte ge-
hört; womit ich nicht vermeine irgendwem etwas Neues zu
sagen, sondern nur darauf hindeuten will, mit welcher Sicher-
heit hier die Praxis den Weg von selber eingeschlagen hat,
[324] den die verwegene Deduktion auch dann vorzeichnen müsste,
wenn er nicht der längst gebräuchliche wäre. So wird man
uns auch nicht bestreiten, dass das scharf unterscheidende Merk-
mal moderner ästhetischer Gestaltung liegt in dem Durchgang
durch die bewussteste Kritik, und dem seit unsrer klassischen
Periode unaufheblich geschlossenen Bündnis der ästhetischen
Schöpfung mit der strengsten Arbeit der Wissenschaft, mit
dem kühnsten Idealismus der Sittlichkeit, und mit dem Vor-
dringen der Philosophie zu einem einheitlichen, zentralen Ver-
ständnis des Bewusstseinsgrundes, in dem dies alles zu-
sammenhängt; welches aber genau die Kennzeichen der der
dritten Stufe eigenen Art und Richtung ästhetischer Bildung
dem Dargelegten zufolge ist. Darin liegt schliesslich der tiefste
Grund des Zusammenhangs des Aesthetischen mit dem Sitt-
lichen, mithin des Beitrags, den die ästhetische Bildung zur
Bildung des Willens liefern kann und soll.


§ 33.
Religion und Humanität.


Ueber den Quell der Religion im menschlichen Gemüt
und ihr Verhältnis zur Humanität d. i. zu Wissenschaft, Sitt-
lichkeit und Kunst in ihrer wesentlichen Zusammengehörigkeit
und inneren, organischen Einheit ist in einer früheren Schrift
eigens gehandelt worden. Indem ich zur Ergänzung des hier
und im letzten Kapitel zu sagenden darauf verweise, benutze
ich gern die von selbst sich bietende Gelegenheit, um hier
und da hervorgetretenen Missverständnissen oder Einwendungen
durch minder biegsame Fassungen zu begegnen.


Religion, behauptete ich zuerst, verfüge nicht über
eine eigene, von den drei vorgenannten etwa grundver-
schiedene Gestaltungsweise. Sondern, soweit sie eines
objektivierenden Ausdrucks nicht etwa ganz entbehren zu
können oder zu müssen glaubt, bedient sie sich lediglich der
Ausdrucksmittel, die von jenen ihr zur Verfügung gestellt
werden. So giebt es einen eigenartigen religiösen Lehr-
begriff
in den Formen der Wissenschaft, eine religiöse „Dog-
[325] matik“, die durchaus bewiesene, theoretische Wissenschaft
sein, zugleich aber alle bloss menschliche Wissenschaft
überragen und (wo sie es ganz ernst meint) unterjochen will.
Es giebt ebenso eine eigene, wiederum dem Anspruch nach die
höchste, alle andern überragende, religiöse Sittlichkeit,
die den Menschen in ein völlig neues, der bloss humanen Sitt-
lichkeit unbekanntes, gleichwohl sittliches, jedenfalls in den
Formen und gleichsam im Stile der Sittlichkeit gedachtes
Verhältnis setzen will, nämlich zu „Gott“; aus welchem Ver-
hältnis ferner auch ein neues sittliches Verhältnis unter den
Menschen, als Angehörigen der Gottesgemeinde, als Gottes-
kindern, sowie auch zu sich selbst, abgeleitet wird; und
wiederum soll die bloss humane Sittlichkeit sich dieser höheren
schlechterdings unterordnen, durch sie erst geheiligt werden.
Es giebt endlich auch eine eigentümliche, mit besonderem
Geltungsanspruch auftretende, in ihren Mitteln aber von der
bloss humanen gar nicht verschiedene, religiöse Weise der
Kunstgestaltung: die religiöse Symbolik. Eine weitere,
von diesen dreien verschiedene, etwa ganz eigene Weise des
objektivierenden Ausdrucks, eine andre Sprache der Religion
als diese giebt es meines Wissens nicht. Ich folgere: also
vertritt Religion nicht eine vierte, jenen dreien koordinierte
Gestaltungsweise bewussten Inhalts. An dieser ersten,
bloss negativen, ihrem Kern nach übrigens schon bei Schleier-
macher erreichten Feststellung dürfte nicht zu rütteln sein.


Nun aber will Religion keinesfalls restlos in diesen drei
Weisen objektivierender Gestaltung aufgehen. Sie behauptet
über einen Gehalt zu verfügen, der in keiner einzelnen von
ihnen, auch nicht in allen zusammen, sich erschöpfe. Wohl
spricht die Seele der Religion in ihnen, aber sie spricht sich
niemals aus; ja zuletzt gilt wohl von ihr das Wort: Spricht
die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr. Das
alles sind Aeusserungen, vielleicht die natürlichen und not-
wendigen Aeusserungen, aber es ist nicht Wurzel und Grund
der Religion. Sie möchte des Begriffs sogar entbehren oder
mit sehr unzulänglichen Begriffen sich behelfen — sie darf es,
eben weil zuletzt auch der höchste menschliche Begriff ihr
[326] nicht Genüge thut; die Tiefe des religiösen Lebens braucht
dabei nicht Schaden zu leiden. Sie möchte selbst in der Sitt-
lichkeit es nicht gar weit bringen — auch die reinste mensch-
liche
Sittlichkeit befriedigt ja nicht ihre Ansprüche; so würde
selbst das nicht den Quell der Religion im menschlichen Herzen
verschütten; ja recht aus der Seele der Religion gesprochen
ist das Wort des Mystikers, das selbst die Sünde selig preist,
die einer solchen Erlösung (wie Religion sie bietet) wert sei.
Und vollends unwesentlich bleibt der Religion ihr symbolischer
Ausdruck, dessen Unzulänglichkeit von den ernst Religiösen
allzeit betont worden ist. Umgekehrt: der Mensch, der in
jenen objektivierenden Gestaltungen seine ganze Welt erblickt,
der Forscher in der rein aufs Objekt gerichteten Arbeit seiner
Forschung, der sittlich strebende Mensch, in eben diesem
Streben, als bloss auf sein Objekt, das menschlich Gute, ge-
richtet; vollends der künstlerische Mensch, ganz versenkt in
die Thätigkeit der ästhetischen Gestaltung, in jenes freie, rein
sich selber genügen wollende Spiel der gestaltenden Kräfte,
nichts darüber hinaus suchend noch verlangend, ist insoweit,
nach dem Urteil der Religiösen, nicht religiös, weiss nichts
von Religion. Auch wer das „Wahre, Gute, Schöne“ in irgend
einer letzten Einheit zu verstehen glaubte und darin nun sein
Alles fände, auch der wäre, ja er vielleicht erst recht, für die
Auffassung des Religiösen ein irreligiöser Atheist. Er möchte
der vollkommen gebildete Mensch sein, so ist er damit
noch nicht im mindesten religiös. Also hatte Keppler nicht
recht, in seiner Astronomie, noch Michelangelo, in seiner Bild-
nerei seinen besten Gottesdienst zu sehen, noch ist es recht
gesagt von einem Goethe: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat (damit und darin) auch Religion; es würde auch noch
nicht richtig, wenn man das vergessene Dritte, die humane
Sittlichkeit, hinzusetzte. Sondern auch wer das alles besitzt,
und nichts darüber, wird noch immer den Vorwurf der Irreli-
giosität erfahren, der denn auch gerade den wissenschaftlichsten,
den sittlichsten, den künstlerischsten Menschen niemals erspart
worden ist. Mit diesem allen ist — das möge man nicht
missverstehen — nichts für noch gegen Religion gesagt, es ist
[327] nur ihr eigenster, fort und fort thatsächlich erhobener An-
spruch
formuliert.


Nun fragen wir weiter: aus welchem Quell im Men-
schentum
wird dieser eigene Anspruch der Religion begreiflich?
Denn vom Menschen verlangt man, dass er Religion nicht
bloss als etwas Aeusserliches habe oder sich zuzueignen trachte,
sondern sie in sich, im eigenen Innersten finde; er selber
soll religiös sein, in Religion leben, ein tieferes, eigeneres
Leben als in irgend einem andern Erlebnis, etwa des Wahren,
des Guten, des Schönen. Bildung hat man; das Wahre, Gute,
Schöne, so weit es sich uns überhaupt erschliesst, bleibt immer,
als „Objekt“, ein uns Aeusseres; Religion lebt man; es genügt
nicht einmal zu sagen, man erlebe sie; denn man ist nicht bloss
dabei, um dann mehr oder weniger davon zu ergreifen und
gleichsam an sich zu bringen, sondern man lebt sie unmittel-
bar, sie ist nur da in unserem Selbstleben. Umso mehr
muss der Quell der Religion im Menschen selbst
aufgezeigt werden können
.


Ich bezeichnete nun diesen Quell, nach Schleiermachers
Vorgang, durch das Wort Gefühl. Bei der schillernden Natur
dieses psychologischen Kunstworts, die auch in der Aesthetik
Verwicklungen herbeiführte, ist es begreiflich, dass man, trotz
aller beigegebenen Erklärungen, an diesem Worte sich ge-
stossen hat; daher wird besonders hier eine weitere Aufhellung
nötig sein.


Auch das Aesthetische hat unzweifelhaft eine nahe Be-
ziehung zum Gefühl; obgleich uns schien, dass mit (frei ge-
staltender) „Phantasie“ sein Wesen unzweideutiger bezeichnet
werde. Soweit aber Gefühl, ist es schlechthin nur Gestal-
tungsgefühl. Zwar ist es gewiss auch Selbstgefühl, aber
nur das Selbstgefühl im Gestalten, das Gefühl des Selbst als
des Gestaltenden. Das ästhetische Gefühl haftet ganz allein
an der Gestaltung, es lebt nur von ihr und in ihr; es erlischt,
sobald die gestaltende Kraft (der Phantasie) erlahmt. Es ent-
behrt deswegen auch eigentlich ganz des (im ausschliessenden
Sinn) individuellen Charakters. Nicht, dass ich, und nicht der
und jener, Herr dieser Gestaltung bin, ist sein Inhalt; das ist
[328] durchaus nichts Aesthetisches, sondern ein nebenher gehender,
ziemlich unaufrichtiger Selbstbetrug. Sondern allein, dass
der gestaltende Geist Herr der Gestaltung ist, ist tiefster
Quell der ästhetischen Freude. Das besagt aber im Grunde
nur, das Gesetz der Gestaltung sei Herr; und im rein ästhe-
tischen Empfinden wird in der That nur dies empfunden.


Das religiöse Gefühl hingegen hängt durchaus nicht an
der Gestaltung. Zwar sucht es auch alle Gestaltung zu durch-
dringen, da es überhaupt eine unumschränkte Herrschaft bean-
sprucht über alles, was im Bewusstsein Sein und Leben hat.
Aber es will noch etwas unergründlich Tieferes sein als alle
einem Menschenbewusstsein fassliche, notwendig doch end-
liche
Gestaltung. Dieser über alle objektivierende Gestaltung
(menschlicher Art) hinausgehende Anspruch der Religion ist
es, für den ich keine andre Erklärung finde als in der Eigen-
heit des Gefühls. Was damit gemeint, ist die Unmittel-
barkeit rein innerlichen Lebens
, im Unterschied von
aller objektivierenden und damit veräussernden Gestaltung,
der doch gerade das eigen ist, den „Gegenstand“ vom unmittel-
baren Erlebnis des Subjekts abzulösen und als ein Andres, für
sich Seiendes, ihm gegenüberzustellen. Es ist die ursprüng-
liche Konkretion des unmittelbaren Erlebnisses, der gegen-
über jede objektivierende Gestaltung zur blassen, unzuläng-
lichen Abstraktion herabsinkt. Auch das Gefühl in der
von Psychologen gemeinhin angenommenen Bedeutung der
Lust und Unlust ist nur eine solche Abstraktion, in der nur
gleichsam nach dem Pegelstand des augenblicklichen subjek-
tiven Befindens gefragt, von allem aber, was dabei innerlichst
erlebt wird, geflissentlich abgesehen wird. Darin ist besten-
falls eine und zwar die äusserlichste, daher fasslichste Seite
des Gefühls zum Ausdruck gebracht, sein wirklicher Gehalt
aber ist ein ohne allen Vergleich reicherer. Dass es so schwer
ist, von diesem letzten Gehalt des Gefühles zu reden — „Ge-
fühl ist alles, Name ist Schall und Rauch“ — versteht sich
eben aus dieser seiner unnahbaren Innerlichkeit. Ausdrückbar
wird es etwa nur durch die unausführbare Vorschrift: setze
alle möglichen Abstraktionen, die irgend welchen besonderen
[329] Inhalt des Bewusstseins herauslösen und damit objektivieren,
voraus, lasse aber dann diese Ablösung wieder ungeschehen und
die herausgelösten Inhaltsbestandteile in die ursprüngliche
Verbindung, die alles mit allem im unmittelbaren „subjek-
tiven“ Bewusstsein hatte, zurückversetzt sein. Aber auch das
ist schliesslich nur ein abstraktives Verfahren, welches dem
angeblich Unmittelbaren erst durch weite, ja grenzenlose Ver-
mittlungen beizukommen unternimmt und es so erst recht nicht
erreichen wird; aber eben indem auf diese Weise seine Un-
nahbarkeit durch den vergeblichen Versuch, ihm zu nahen,
erst recht zum Bewusstsein gebracht wird, so wird eben damit
die Existenz dieses Unnahbaren dem Zweifelnden gewiss ge-
macht. Für das Erlebnis des Gefühls übrigens ist es in
der That ganz gleichgültig, ob es einen zulänglichen Ausdruck
überhaupt findet oder nicht; es will nur in reiner Gegenwart
gelebt, es will nicht gedacht d. h. mittelbar vergegenwärtigt
sein. In jener Klage: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon
die Seele nicht mehr“ ist das „ach“ grundlos: eben diese Un-
aussprechlichkeit des Gefühls ist sein Höchstes.


Findet man für das so mehr Umschriebene als Beschriebene,
zweifellos aber Vorhandene ein andres Wort passender als das
Wort Gefühl, so wird niemand zögern, dies Wort preiszugeben;
es wurde gewählt, weil ein andres (meines Wissens) nicht ge-
bräuchlich, dieses aber zweifellos oft so gebraucht, namentlich
in die Sprache der Religionsphilosophie seit Schleiermacher
als technischer Terminus eingeführt ist. Jedenfalls dürfte es
in einer so gewichtigen Sache förderlicher sein um Sachen zu
streiten als um Wörter. Man hätte meiner Aufstellung nicht
entgegenhalten dürfen: Religion beruhe eben nicht auf einer
seelischen Kraft allein, sondern auf allen zusammen; Verstand
und Wille gehöre auch dazu. Eben dies „Alles in allem“
der seelischen Kräfte ist, nach dargelegter Auffassung, das
„Gefühl“. Der Begriff, sofern er selbst und das darin Be-
griffene mir unmittelbares, subjektives Erlebnis ist, ist darin
mitbefasst, und so alles, was man sonst noch nennen mag; nur
dass es eben jene Unmittelbarkeit besagt, in der nicht ein
Besonderes sich als solches abgrenzt. Unter Denken aber
[330] verstehen wir ein solches Begrenzen, und so unter Wollen
u. s. f., insofern ist dieses alles nicht Gefühl; insofern aber,
behaupte ich, ist es auch nicht Religion. Dass aber der blosse,
abgelöste Begriff, und wäre es der Begriff des Göttlichen,
ohne diesen Grund der Innerlichkeit, aus dem er quillt, etwas
Religiöses sei, ja dass es überhaupt möglich wäre diesen Be-
griff mit der lebendigen Ueberzeugung seiner Wahrheit zu
haben, anders als auf diesem Grunde innerlichen Erlebens, oder
dass die bezügliche sittliche oder künstlerische Haltung oder
was sonst noch als für Religion charakteristisch angesehen
werden mag, in der Seele lebendig sein könnte ohne diesen
Grund der Innerlichkeit, das hat der Einwand vermutlich nicht
sagen wollen; wenn doch, so wäre er thatsächlich widerlegt
durch das einhellige Zeugnis der ernst Religiösen aller Zeiten.
Es wird, wie man sieht, in dieser Grundbestimmung über den
Gefühlsquell der Religion nur das unzähligemal Gesagte ganz
beim Wort genommen, dass Religion unmittelbares Leben und
nicht mittelbarer Begriff, oder ein blosses Werk des Willens
oder der Kunst oder sonst irgend ein äusserlich sich darstellen-
des Werk sei. Daraus aber erklärt sich nunmehr, weshalb
auch die vollendetste menschliche Erkenntnis, menschliche Sitt-
lichkeit oder menschliche Kunstgestaltung, oder auch dies alles
im Verein, dem von Religion Erfüllten geradezu irreligiös er-
scheint. Das ist eben immer Abstraktion, Mittelbarkeit, Par-
tikularisation des in sich konkreten, unmittelbaren, unzer-
stückten Ganzen des Erlebnisses, Veräusserlichung — Verend-
lichung
des in sich rein Innerlichen — Unendlichen.


Darin liegt nun die Angel des ganzen Problems, in diesem
Begriff des Innerlichen, im Gefühl unmittelbar Erlebten, als
des „Unendlichen“. Denn dies ist der Quell der Trans-
zendenz
, die von Religion untrennbar gehalten wird, und von
ihr, sofern sie, ohne sonstige Rücksicht, rein als Religion sich
vollenden will, auch in der That untrennbar ist. Man erkläre
den Hang zur Transzendenz anders als aus dieser Rücksichts-
losigkeit, in der die reine Innerlichkeit des Gefühls sich aller
objektivierenden Veräusserung gegenüber behaupten will; ich
habe eine andre Erklärung bisher nicht gefunden; glaubt man
[331] sich in ihrem Besitz, so werde ich dem dankbar sein, der sie
mir fasslich zu machen der Mühe wert hält.


Denn aus keiner der drei Grundrichtungen der Objekti-
vierung ist sie etwa begreiflich zu machen. Begreifen heisst
begrenzen. Das Unendliche des blossen Verstandes besagt nur,
negativ, die Unmöglichkeit, mit dem jederzeit endlichen und
auf endliche Anwendungen allein zugeschnittenen Verfahren des
verstehenden Bewusstseins je zu Ende d. h. zu einem ab-
schliessenden Ziel des Erkennens zu gelangen; allenfalls auch
positiv die Immer-wieder-Anwendbarkeit desselben Verfahrens
dieses verstehenden Bewusstseins. So bedeutet die Unendlich-
keit der Zahl: das Verfahren der Zählung sei so geartet, dass
ein Weiterzählen, soviel an der Natur des Verfahrens liegt,
immer möglich bleibt, dass es keinen Begriff einer letzten Zahl
giebt; sie besagt dagegen keineswegs die Existenz einer Zahl ∞,
durch die ein (numerisch) Unendliches erkannt werde. Und
so ist jeder andre verstandesmässige Ausdruck des Unendlichen.
Auch das „Absolute“ bezeichnet nur negativ die Grenze des
Begreifens, kein Begriffenes, keinen in einem positiven Begriff
erfassten oder erfasslichen Gegenstand des Erkennens; es ist
bestenfalls der Begriff davon, wie wir den Gegenstand begriffen
haben müssten, um ihn ganz, ohne Einschränkung, begriffen
zu haben. Es ist, vom Standpunkt des wirklichen Begreifens,
sogar ein sich selbst missverstehender Aufgabenbegriff;
denn menschliches Begreifen besteht nur und hat nur seine
Aufgabe in einem Fortschreiten von Grenze zu Grenze, ohne
Abschluss in einem solchen Begriffenen, woran nichts weiter zu
begreifen übrig bliebe. So ist aber nicht das Unendliche, das
die Religion im Erlebnis des Innern, nicht sucht, sondern un-
mittelbar zu haben
, zu leben glaubt. Nun unternimmt
sie wohl nachträglich auch das in den Formen des begreifenden
Denkens auszudrücken, da sie, kraft ihres universellen An-
spruchs auf das ganze Reich des Bewusstseins, auch das
Gebiet des Verstandes, der theoretischen Erkenntnis, für sich
zu erobern trachten muss. Und so arbeitet sie ihr Dogma
vom Unendlichen in aller Form begrifflich aus, und man
empfindet sogar eine „innere“, nämlich subjektive Notwendig-
[332] keit dabei, die über die Skrupel des objektivierenden Verstandes
leicht hinweghilft; diese Subjektivität ist ja, für den Stand-
punkt der Religion, eigentlich ein Lob und eine Tugend; das
Subjektive, nicht das Objektive, ist ja für diesen Standpunkt eben
das „Wahre“. Als blosser, von Abstraktion zu Abstraktion,
von Objektivierung zu Objektivierung in grenzenloser Stufen-
folge fortschreitender, somit „endlicher“ Verstand mag er im
Recht sein; aber diesem stellt man gegenüber den höheren Ver-
stand, und wäre es allein der göttliche. Das besagt aber in
Wahrheit: man versteht nicht, sondern postuliert
ein Verstehen
, das über alles (menschliche) Verstehen sei.


Im Gebiete des Willens aber hat zwar das „Unbedingte“
eine ganz positive Bedeutung, doch nur die der Unbedingt-
heit des Sollens, der Aufgabe, nämlich einer geforderten,
aber für Endliche nie erreichbaren letzten Einheit der Zwecke.
Auch diese positivere Bedeutung des Unbedingten, Unendlichen
also ist doch lediglich formal, mithin grundverschieden von
dem, was Religion, wie gesagt, nicht sowohl sucht als zu
haben behauptet. Reine Sittlichkeit — ein unerbittliches, ab-
straktes, unpersönliches Gebot ohne Erfüllung; ein Gericht,
das nur verdammt, niemals freispricht; ein Gesetz, das uns
in eine Schuld stürzt, für die es kein Lösegeld giebt — das
ist nicht, worin Religion sich zu befriedigen vermag. Das
ist nicht Gott; der nicht hilft
, nicht uns nahe kommt
oder vielmehr ewig nahe ist. Man thut der Religion Unrecht,
wenn man ihr vorwirft, dass sie nur die „Glückseligkeit“ des
Ich im Auge habe. Nein, sie will, wenigstens in ihren höheren
Formen, in der That die sittliche Reinheit; diese allerdings
ganz individuell: „Was soll ich thun, dass ich selig werde“ —
selig in Reinheit, in Gerechtigkeit — so allerdings lautet ihre
Frage. Und zwar verlangt sie in diesem gegenwärtigen Leben
schon solcher Seligkeit gewiss zu werden, wenn auch nur mit
der Gewissheit einer zweifellosen Verheissung; da sie sich doch
nicht völlig dagegen verschliessen kann, dass die ganze Erfül-
lung die Bedingungen dieses irdischen Lebens übersteigt. Ge-
rade die kühne These, dass nichts als „Glaube“ dazu gehöre,
um diese ewige Errettung und Erlösung von aller Schuld sich
[333] anzueignen (nämlich nicht etwa sich zu erwerben, sondern ge-
schenkt zu erhalten), wird hieraus ganz begreiflich. Es gehört
wirklich dazu nichts als die unbekümmerte Hingabe an jenen
Drang des Gefühls, der in keine Grenze des Verstandes- oder
Willensgesetzes sich einengen lässt, sondern kraft des souveränen
Rechts seiner Unendlichkeit unendliche Gnade bereithält für
die unendliche Schuld des endlichen Willens, unendliche Macht,
den unendlichen Abstand des Endlichen vom Ewigen zu über-
brücken, unendliche Fülle unmittelbarer Wahrheit, um den
unendlichen Zweifel des im Endlichen, Mittelbaren endlos ver-
irrten Verstandes zu beschwichtigen.


Religion ohne Transzendenz ist nicht mehr Religion: das
hat man in allen Tonarten meiner früheren Darlegung entgegen-
gehalten. Eine wunderliche Antwort, da ich doch eben dies
behauptete, dass der Religion, bloss als solcher, die Trans-
zendenz in der That unvermeidlich sei. Allein, eben diesen
schier unüberwindlichen Hang zur Transzendenz zu erklären,
das war die Aufgabe, die ich mir stellte. Bliebe aber auch
nur der negative Teil dieser Erklärung stehen: dass der Trans-
zendenzanspruch sich nicht erklärt gemäss den eigenen Ge-
setzen des Verstandes oder des Willens oder der ästhetischen
Gestaltung, so wie diese Gesetze bekannt sind aus der reinen,
menschlichen Wissenschaft, aus der reinen, humanen Sitten-
lehre und der reinen, humanen Kunst, oder auch aus irgend
einer letzten Vereinigung dieser aller etwa in einer (nicht selbst
auf ein andres, nämlich religiöses Fundament gestützten) Philo-
sophie der Erkenntnis — so bliebe zum wenigsten die Folge-
rung aufrecht: dass also ein Konflikt besteht — wie
denn angesichts der Geschichte dieser Konflikt sich ehrlicher-
weise nicht leugnen oder als blosser Missverstand Einzelner
verstehen lässt — zwischen Religion und Humanität. Man
kann dann diesen Konflikt von der einen oder andern Seite
her zu überwinden versuchen; da ich nun von seiten der Religion
(der Transzendenz) die Möglichkeit seiner Ueberwindung nicht
abzusehen vermag, so versuche ich es von seiten der Humanität.


So kommen wir zu der zweiten, grösseren Frage nach dem
Rechte, und nicht bloss dem Ursprunge, der Transzendenz.


[334]

Der Nichts-als-religiöse zwar wird diese Frage gleich von
der Schwelle abweisen. Begreiflich: habe ich Gott, was ver-
mag dann wider mich aller Zweifel menschlichen Verstandes,
menschlicher Sittlichkeit, menschlicher Kunstgestaltung. Dieser
Zweifel selbst ist schon ein Beweis tiefer „Gottlosigkeit“ oder
doch Gottferne. Nicht die Religion überhebt sich, wird ein
solcher sagen; was kann demütiger sein als das Gefühl „Gott
ist gegenwärtig“. Sondern die Ueberhebung ist auf der Seite
der menschlichen Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die
sich vermisst, ihr gebrechliches „Gesetz“, jenes Kantsche ABC,
womit wir „Erfahrung buchstabieren“, zum Maasstab zu machen
für — Gott den Unendlichen; während sie doch selber ein-
gestehen muss, nichts als dies ABC und was sich damit buchsta-
bieren lässt, zu kennen.


Das alles ist nur folgerichtig. Freilich ein seltsames Ge-
schick, das der kritischen Vernunft begegnet. Lehrt sie die
Selbstbescheidung, auf Transzendenz zu verzichten, so wird ihr
Schuld gegeben, dass sie eben damit ihre Kompetenz über-
schreite und sich des Einbruchs in ein Gebiet schuldig mache,
das ihr grundsätzlich verschlossen sei.


Eine Verständigung scheint hier ausgeschlossen; und dass
sie ausgeschlossen ist, kann jenem Nichts-als-religiösen nur
gerade recht sein. Man tritt nicht in Friedensverhandlung mit
dem, den man niederzuwerfen gewiss ist; warum paktieren,
wenn man Gott auf seiner Seite hat? Abfinden übrigens
kann sich die Religion der Transzendenz mit der humanen
Kultur ganz wohl: sie lässt sie ganz gelten, wofern sie sich
nur dahin demütigt ihr dienstbar zu werden und die Schranken
sich gefallen zu lassen, die sie ihr bestimmt; nur leider nicht
in reiner Anerkennung ihrer objektiv gesetzlichen
Ansprüche
. Abfinden kann sich umgekehrt die humane
Kultur mit der Religion: aber nicht mit der Religion der
Transzendenz, sondern allein mit einer solchen, die auf die
„Grenzen der Menschheit“ sich bereits zurückbesonnen hat.
Wird diese von den Transzendenzgläubigen nicht mehr als
Religion anerkannt, so vermag umgekehrt die reine Wissen-
schaft, die rein menschliche Sittlichkeit und die rein mensch-
[335] liche Kunstgestaltung das, was die Religion der Transzendenz
aus diesem allen macht, nicht für echt und ehrlich zu er-
kennen.


Auf diesem toten Punkt ist der Streit gegenwärtig an-
gekommen. Es fragt sich, ob es hierbei bleiben, ob also die
Menschheit in diese zwei unversöhnlichen Parteien für immer aus-
einanderfallen soll. Warum nicht? wird der Religiöse sagen, dessen
ganzes Denken ja darauf eingestellt ist, eine solche schliessliche
Dualität als unvermeidlich hinzunehmen; auch wenn ihm Hölle
und Teufel zu etwas verblassten Realitäten geworden sein sollten.
Anders der Humanist. Er wird, nicht aus schwächlicher Friedens-
sehnsucht oder gar im Gefühl der eigenen Kampfunfähigkeit,
sondern nach dem ganzen Prinzip seiner Denkweise den Aus-
gleich für möglich und notwendig halten; möglich und not
wendig eben auf dem Boden — der Humanität. Er wird ver-
suchen, Religion selbst als eine Geburt des Menschentums zu
begreifen; er wird versuchen zu zeigen, dass der Quell und
innere Grund der Religion — derselbe innere Grund, der,
wenn ausschliesslich wirkend, nicht in sein reines Verhält-
nis gesetzt zu Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, die Trans-
zendenz und damit jenen unheilbaren Konflikt unvermeidlich
herbeiführt — dann, wenn er dies reine Verhältnis zu suchen
nicht verschmäht, auf die Transzendenz verzichten, und gerade
so erst in seiner Reinheit, seiner echten Menschlichkeit sich
enthüllen wird. Ich möchte, dass man auf diese Grundthese
meiner früheren Schrift ernstlich eingegangen wäre. Die Ant-
wort: Religion ohne Transzendenz sei eben keine Religion mehr,
bedeutet, dieser These gegenüber, nicht eine Antwort, sondern
ein Achselzucken.


Alle edleren Gestaltungen der Religion, gerade die, die
man als die edelsten immer hat anerkennen müssen, enthalten
rein humane, namentlich menschlich-sittliche Elemente von
tiefster Bedeutung. Man kann dagegen einwenden: das beweise
nur, dass solche Elemente sich mit Religion also verträglich
erwiesen haben, und zwar mit der Religion der Transzendenz,
die doch diese selben Religionen nicht etwa preisgegeben haben.
Allein auf der Höhe ihrer Bewusstheit treten diese
[336] Elemente in unvermeidlichen Konflikt mit der
Religion, sofern sie Transzendenz ist
; während sie,
wie ich behaupte, verträglich bleiben mit der Religion, die
auf die Transzendenz verzichtet. Ob man das nun noch Religion
nennen will oder nicht, ist gleichgültig. Es fliesst aus dem-
selben Quell, aus dem allein auch die Religion der Transzendenz
fliesst, es lebt in gleicher Art in der Seele des Menschen, es
wirkt in gleicher Art, ja es ist dasselbe, was jemals in der
Religion reine Kraft und Wirkung bewiesen hat, was in
ihr Wahrheit gewesen und für immer ist. Mit dem Weg-
fall der Transzendenz wird nicht der Quell der Religion ver-
schüttet, nicht ihre Kraft und Wahrheit entwurzelt. Ist dies
so, so ist es wahrlich die müssigste aller Doktorfragen, ob
man über das alles auch den Namen der Religion beibehalten
soll oder nicht.


Betrachten wir nun noch die Folgen, die aus der gedachten
Umwandlung der Religion sich ergeben müssten. Die erste
dieser Folgen ist der Wegfall aller und jeder Dogmatik.


Ursprüngliche Religion kennt kein Dogma. Sie hat
Vorstellungen des Göttlichen, aber ohne irgend welchen
Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Erst auf einer
bestimmten Stufe der Entwicklung, nicht sowohl der Religion
als der Wissenschaft stellt sich das Bedürfnis einer wissen-
schaftlichen Rechtfertigung der Religion allerdings naturgemäss
ein. Aber auf dieser selben Stufe der bis zur Kritik ent-
wickelten Wissenschaft wird diese Rechtfertigung auch sofort
zurückgewiesen, da sie nun einmal die Grenzen und Gesetze
menschlicher Wissenschaft übersteigt. Bleibt nun dieser Ein-
wand im Recht — fällt damit also die Wahrheit der Religion?
Vielmehr bloss jener neue, unwahre Anspruch religiöser
Vorstellungen auf schlechthin objektiven Erkenntniswert fällt
hin. Die religiöse Vorstellungsbildung unterliegt eigenen Ge-
setzen, verschieden von denen der theoretischen Erkenntnis;
aber sie tritt eben darum mit diesen nicht in Widerspruch,
so lange sie nicht den Anspruch objektiv-wissenschaftlicher
Geltung erhebt, so lange sie keine andre Bedeutung als die
eines Haltes für das Gefühl beansprucht. Aber man müsse
[337] von der Wirklichkeit des Vorgestellten überzeugt sein,
hält man entgegen. Es ist zu antworten: diese Wirklichkeit
wird anfangs naiv geglaubt, wie die der täglichen Drehung des
Himmels um die Erde; ist aber einmal diese Naivität zerstört,
ist die Frage nach der Wirklichkeit eine wissenschaftliche
erst geworden, so kann auch nicht länger verborgen bleiben,
dass die Bestimmung „Wirklichkeit“ dem Gesetze des er-
kennenden Verstandes
unterliegt, und an ganz bestimmte
erkenntnis-gesetzliche Bedingungen gebunden ist. Diese aber
schliessen eine erkennbare Wirklichkeit des Unbedingten aus;
eine theoretische Behauptung von Wirklichkeit, die diese Grenze
nicht innehält, ist wissenschaftlich unzulässig. Aber vielmehr
ist die „Wirklichkeit“, deren die Religion bedarf, gar nicht
im Gebiet und gemäss den Begriffen theoretischer Erkenntnis
zu suchen. Religion will gar nicht vermittelte Erkenntnis,
sondern unmittelbares Erlebnis sein. Es hat aber keinen Sinn,
eine andre Wirklichkeit unmittelbar im Gefühl erleben zu
wollen als die Wirklichkeit des Gefühls selbst. Die religiöse
Vorstellung ist rechtmässigerweise nur Gefühlshalt, nur Aus-
spruch, Buchstabe; es ist widersinnig für diesen Buchstaben
noch eine besondere Buchstabenwahrheit zu verlangen, ver-
schieden von der Wirklichkeit des Gefühlserlebnisses, das darin
zwar sich aussprechen möchte, aber sich dabei doch bewusst
bleibt sich nie wirklich aussprechen zu können, und im Grunde
auch nicht aussprechen zu sollen.


Stark religiöse Naturen haben denn auch stets die Unzuläng-
lichkeit jedes Dogmas mehr oder weniger empfunden. Sollte es
nicht heissen mit der Innerlichkeit der Religion erst ganz
Ernst machen, wenn man den Wegfall jeglicher Dogmatik
fordert?


Jede Gottesvorstellung, jeder ausgeführte Gedanke von
Gott ist einmal unvermeidlich anthropomorph. Kann man
denn unter Gott etwas Andres denken als die Menschheit —
den „Geist“, den wir nur kennen als menschlichen — zur Idee
erhoben? Weiss man auch nur ein einziges göttliches „Attri-
but“ anzugeben, das etwas Andres nennt als eine menschliche
Eigenschaft, nur mit der an einer solchen leider unvollzieh-
Natorp, Sozialpädagogik. 22
[338] baren näheren Bestimmung der Unendlichkeit, Absolutheit? Woher
anders könnte uns wohl irgend ein Inhalt des Begriffs des
Göttlichen kommen als aus uns selber? Wie nach alter Lehre
alle „Offenbarung“ Gottes an den Menschen die Sprache des
Menschen redet, um doch von Menschen verstanden zu werden
— weshalb man sich auch an dieser menschlichen Sprache
nicht stossen dürfe —, so muss ja all ihr Sinn menschlich
sein, da er nur dadurch Menschen verständlich und von
irgend welcher auch nur subjektiven Wahrheit für Menschen sein
kann, dass es menschlicher Sinn ist. Sie macht Gott zum
Vater, zum Bruder, zum Richter, Gesetzgeber und Kriegsherrn,
schliesslich zum höchsten Walter des Wissens, zum grössten
Geometer und Naturkündiger, zum vollkommenen Künstler —
kurz, das ganze Universum des Menschentums muss dienen,
die Idee des Göttlichen aufzuerbauen. Wodurch anders sollte
der Mensch zu dieser Potenzierung seines eigenen Wesens
in der Idee des Göttlichen wohl geführt werden, als da-
durch, dass eben dies Universum seines Innern ihm ahnend
bewusst wird, und in dieser Ahnung er sich getrieben fühlt,
an sein eigenes, reinstes Ideal sich mit vollem ungehemmtem
Gefühl hinzugeben? Somit ist die religiöse Vorstellung un-
verwerflich als Gefühlshalt, auf höchster Stufe als Symbol,
nämlich im künstlerischen Sinne des „aufrichtigen Scheins“,
nicht aber der Behauptung der wirklichen Gegenwart des Un-
endlichen in dem doch immer sterblichen Leibe der Vorstel-
lung. Wir glauben nicht, dass bei voller Klarheit der Selbst-
besinnung dieser Stufe der Reinigung der Religion ehrlicher-
weise mehr ausgewichen werden kann. Man kann wohl in
Einzelrichtungen wissenschaftlich forschen, aber man kann nicht
philosophieren, d. i. Wissenschaft treiben mit reinem Bewusst-
sein dessen, was man thut, ohne diese Konsequenz.


Noch weit schwerer wird wohl manchen die zweite Forde-
rung bedünken, die sich auf das sittliche Verhalten des
religiösen Menschen bezieht. Auch dieses kann für das er-
wachte kritische Gewissen nicht unverändert das bleiben, was
es war. Der Anspruch des unmittelbaren Ergreifens des sitt-
lichen Heils, diese so emporhebende, so weltüberwindende Ueber-
[339] zeugung, dass man seine „Rechtfertigung“ und „Versöhnung“,
die Wiederherstellung seiner Gotteskindschaft in begnadeter
Stunde in der Seele unmittelbar erlebe, ist nicht haltbar. Es
ist auch hier, wie man sieht, nicht die Rede von dem viel-
gescholtenen Glückseligkeitsanspruch der Religion, sondern von
ihrem Allerheiligsten, von der sittlichen Reinigung, die sie
ihren Gläubigen verheisst. Es ist hart und kann selbst sittlich
gefährlich scheinen, von sich selbst und vollends vom Andern
zu fordern, dass man sogar auf diesen rein sittlichen Glauben
der Religion verzichte. Und doch ist es notwendig, denn dieser
Glaube hält vor der ganzen Schärfe gerade der sittlichen Kritik
nicht stand. Denn sie fordert Wahrheit über alles, und wäre
es über unser Heil; obgleich sie den Glauben nicht verbietet,
dass zuletzt Wahrheit auch unser Heil ist, auch wenn wir es
jetzt nicht erkennen. Es ist aber nicht Wahrheit, was der
Ueberschwang des sittlichen Gefühls, die Selbstgewissheit des
Gefühlserlebnisses des Sittlichen, uns zu glauben verführt:
dass wir, in eben diesem Erlebnis, nun sittlicher Reinheit und
gottgleicher Schuldlosigkeit teilhaft geworden seien. Die Wucht
der Schuld, wir müssen sie weiterschleppen, und in harter,
resignierter Arbeit ihr ein reelles Gegengewicht schaffen; eine
andre Erlösung giebt es sittlicherweise nicht. — Also giebt es
keine, wird man antworten; denn dies Gegengewicht — wie
oft hat man uns das vorgerechnet — vermögen wir nicht auf-
zubringen. — Nun denn, so muss man, wenn Friedrich Vischer
trotzig dichtet: „Es giebt keinen lieben Vater im Himmel“,
auch hinzusetzen: es giebt keine Erlösung, sondern Arbeit ist
Menschenlos, ein Streben sonder Rast zum ewig fernen Ziel. Und
dennoch: „In Seelen, die das Leben aushalten und Mitleid üben
und menschlich walten, mit vereinten Waffen wirken und
schaffen trotz Hohn und Spott — da ist Gott.“ Der in der
Religion schlummernde sittliche Glaube hat Tausenden
Kraft gegeben eben hierzu; solche Kraft kann nicht aus Nichts,
aus leerer Einbildung entstammen. Es muss also solche Kraft
im Gefühlsgrunde der Religion liegen, eine Kraft zu trauen
auf die Realität der sittlichen Aufgabe, allem zum Trotz.
Aber braucht dies Zutrauen, neben diesem subjektiven, einen
[340] andern objektiven Grund als das Sittengesetz selbst, welches
spricht: Du kannst, denn du sollst? Erhebt sich nicht unsre
Seele zum Sittlichen, indem sie es als ihr eigenes Gesetz er-
kennt, und liegt nicht in eben dieser Erkenntnis Grund genug
zum Vertrauen, dass das Sittliche, dessen Idee wir haben und
als letztes Gesetz unsres eigenen Wollens in uns finden, auch
den Sieg behalten muss über alles, was in oder ausser uns ihm
widerstrebt? Kann nicht die Grösse dieser Erkenntnis unsre
Seele auch ausfüllen mit mächtigem und doch beruhigtem Ge-
fühl: hier ist das Heil und es ist dir errungen, so du nur in
deiner Seele es fest fassen und halten, so du nur „glauben“
wolltest? Ich kann nicht erkennen, dass Religion in ihrem
wahren Grunde mehr oder Andres sagte; was sie sonst noch
sagt, verstehen wir nicht, und was nicht verstanden wird, ist
so gut wie nicht gesagt. Der Fehler liegt allein in der über-
schwänglichen Beziehung dieses rein menschlich verständlichen
Erlebnisses auf die in mir dem Individuum nun übernatürlich
gegenwärtige Gottheit. Gewiss muss die reine Idee auch in
Beziehung treten zu meinem individuellen Sein und Leben,
wenn sie mir dem Individuum jene Erhebung bedeuten soll.
Aber die Reinheit der Idee selbst leidet Schaden, wenn die
mit noch so reiner Selbstgewissheit des Wollens ergriffene sitt-
liche Aufgabe aufhört als Aufgabe verstanden zu werden; wenn
das ewig Seinsollende als in diesem Augenblick wahr und wirklich
geworden geglaubt wird. Gerade das heisst den tiefsten Quell
des Sittlichen verunreinigen, denn das sittliche Wollen fliesst
allein aus dem Bewusstsein der ewigen Aufgabe. „Glaube“ ist ein
gutes Wort dafür, gerade sofern es einschliesst, dass wir „nicht
sehen und doch glauben“. Ueberbietet also nicht der sittliche
Glaube den religiösen (im Sinne der Transzendenz) sogar in
der Energie des Glaubens selbst?


Die religiöse Symbolik endlich vermag ihre Bedeutung
unverkürzt zu erhalten, bis auf das Eine, dass sie das endliche,
ja sinnliche Zeichen nicht bloss als Zeichen, als Stützpunkt
des Gefühls ansieht, sondern eine Gegenwart des Unendlichen
im Endlichen, des Ewigen in der Zeit dabei dogmatisch be-
hauptet; dass das Symbol des Heiligen zu dem Heiligen selbst
[341] gemacht wird, und in dieser Meinung etwa der Gestus der
Anbetung sich gegen es richten darf. Ganz hat auch der
bilderfeindlichste Kultus das nicht gemieden. Das Angebetete,
Göttliche soll unsichtbar, ohne körperliche Sinne, auch keinem
menschlichen Laut erreichbar sein; aber die sichtbare Geberde,
die hörbare Sprache der Anbetung scheint doch es in den Ort
und Augenblick bannen zu wollen. Sobald die Gegenwart des
Göttlichen so genommen wird, ist der Sinn des „aufrichtigen
Scheins“ verletzt, und eine Dogmatik in die an sich rein ästhe-
tische Gestaltung hineingetragen, die doch dem Aesthetischen
seinem ganzen formalen Grunde nach fremd und feindlich ist.
Auch hier wird nur die Wahrheit der Sache in ihrer Reinheit
wiederhergestellt, wenn man den transzendenten Sinn des
Symbols abstreift und ihm die klare, unangreifbare Bedeutung
der künstlerischen Gestaltung zurückgiebt, die einzige, die es
ehrlicherweise behaupten kann und die es erfahrungsmässig
auch an dem unverkürzt beweist, der den dogmatischen Sinn
des Symbols ganz verwirft. Der Transzendenzgläubige wird
freilich eben hieran sich stossen; so wie jüngst einer unsrer
feinsten Gelehrten aus dem ultramontanen Lager den Faust-
Epilog für eine Blasphemie erklären konnte. Uns Andern ist
es eine gewichtige Bestätigung, dass die Kunst und Dichtung
schon längst den Weg gegangen ist, den wir vorschlagen,
und zu einigen ihrer unsterblichsten Schöpfungen auf diesem
Wege gelangt ist.


So also ist die Wandlung der Religion, die wir, nicht
fordern, sondern erwarten; die, in Vielen ohne klares Wissen,
in Wenigen bewusst, schon jetzt vollzogen ist. Es bleibt übrig
zu untersuchen, welche Wirkung die so gereinigte Religion —
aber auch die Religion, insofern sie die aufgezeigten wesent-
lichen Momente, wenngleich in noch nicht abgeklärter Reinheit,
dennoch enthält — in sittlicher Hinsicht, im Verein mit allen
früher aufgewiesenen Faktoren der sittlichen Bildung, zu üben
imstande ist.


[342]

§ 34.
Anteil der Religion an der Willenserziehung.


Wie allgemein die Harmonie der menschlichen Kräfte da-
durch bedingt ist, dass jede in ihrer unvermischten Eigenart
zur Geltung kommt, so hat auch die Hülfe, welche die Reli-
gion der Sittlichkeit leistet, zur Voraussetzung, dass die Grenzen
zwischen beiden sich nicht verwischen. Dauernd wird sich
Religion nicht zu einer blossen Krücke der Sittlichkeit, einer
mehr neben so vielen andern, hergeben; wie umgekehrt eine
gereinigte Sittenlehre sich weigert anzuerkennen, dass sie dieser
Krücke an sich bedürfte.


Einen neuen Inhalt hat Religion der Sittlichkeit in der
That nicht anzubieten, wie wir uns überzeugten. Wohl aber
kann sie durch den Einfluss, den sie auf das Gefühlsleben
überhaupt gewinnt, von seiten des letzteren der bereits fest in
sich gegründeten, ihres Inhalts gewissen sittlichen Ueberzeu-
gung neue Kräfte zuführen, dieser Ueberzeugung auch nach-
zuleben. Aber gerade nicht die Hochflut des Enthusiasmus
vermag dies, der so oft ein Niedergang oder bleierne Wind-
stille folgt; sondern allein die stetige Wärme eines durch rich-
tige Einsicht und reine Entschliessung geläuterten, am „auf-
richtigen Scheine“ der Kunst oft erquickten und erbauten Ge-
fühls; insbesondere des an der Gemeinschaft genährten: das
„mit vereinten Kräften Wirken und Schaffen“, das besonders
giebt dem Gefühl den Halt, ohne den es schwer sein möchte,
„das Leben auszuhalten“. Dass aber der Individualitäts-
charakter des Gefühls an sich der Gemeinschaft nicht wider-
strebt, dafür ist gerade die Religion beweisend, die sich allzeit
gemeinschaftbildend bewiesen hat. Selbst die Idee einer Ge-
meinschaft des ganzen Menschengeschlechts hat sie zuerst uns
errungen. Desgleichen hat sie den Begriff einer gemeinsamen
Geschichte der Menschheit zuerst aufgestellt. Sie konnte es,
weil in ihr das Erlebnis der Idee verborgen lag, das erst
eine Menschheit geschaffen hat. Das ist es, worin die reli-
giöse Geschichte alle Geschichten überragt und eine schlecht-
[343] hin unvergleichliche Bedeutung gewinnt: dass sie die Idee
einer die Menschheit umspannenden Einheit des Erlebens
schlicht und konkret, als Thatsache, nicht blosse Lehre, hin-
stellt, dem einfachsten Gemüt offenbar, und dem erhabensten
Verstande unergründlich. Angesichts dessen will es doch allzu
ahnungslos erscheinen, wenn man die religiösen Stoffe in einem
„ethischen“ Unterricht etwa auf einer Linie mit Grimms Kinder-
märchen, Robinson und Homer aufmarschieren lässt.


Also: Religion kann nur als etwas Eigenes, nicht
als blosser Bestandteil oder Anhang der Sittenlehre, für die
Erziehung fruchtbar gemacht werden. Desto näher freilich
rückt die Gefahr der Transzendenz. Es wäre schon etwas ge-
wonnen, wenn diese wenigstens dem ganzen übrigen Unterricht
ferngehalten würde, nicht in Geschichte und Litteratur, und
gar in die Naturlehre, sich einmengen dürfte. Andrerseits
kann dem Privaten, der seiner Gewissenspflicht als Erzieher
nur durch eine religiöse Erziehung im Sinne der Transzendenz
zu genügen glaubt, das Recht, eine solche seinem Kinde zu
geben oder geben zu lassen, gegenwärtig nicht bestritten
werden, da die öffentliche Erziehung bisher nicht in der Lage
ist, die Sorge und Verantwortung für die Erziehung etwa aus-
schliesslich auf ihre Schultern zu nehmen. Dagegen, wenn die
Religion der Transzendenz mit allgemeinem Zwang jedem ohne
Unterschied aufgedrungen wird, so wird damit nicht minder
die Gewissensfreiheit des andern Teils vergewaltigt. Also ist
der Grundsatz, Religion im Sinne der Transzendenz als
„Privatsache“ anzusehen, für eine heutige Schulpolitik der
einzig annehmbare.


Aber muss nun darum Religion in jedem Sinne aus der
öffentlichen Erziehung verbannt werden? Das ist es, was ich
nicht einsehen kann. Ich habe in meiner früheren Schrift
ausgeführt, weshalb diese Folgerung, selbst für den Fall, dass
man nicht mit mir eine Religion ohne Transzendenz anerkennt,
nicht berechtigt scheint. Religion, das kann einmal nicht ver-
kannt werden, ist bis jetzt viel zu sehr ein unablöslicher Be-
standteil des wirklichen, uns rings umgebenden Lebens, und
ein Bestandteil dessen, was sich von heimischer Geschichte
[344] Litteratur und Kunst noch lebenskräftig im Volke erweist, als
dass es zulässig oder überhaupt möglich wäre, die allgemeine
und öffentliche Erziehung mit einem gewaltsamen Riss, heute
oder in naher Zukunft, von ihr ganz zu lösen. Und so müssen
freilich die, welche nur eine Religion der Transzendenz kennen
und diese mit uns ablehnen, die ernsteste Schwierigkeit finden,
mit der öffentlichen Erziehung, wie sie gegenwärtig ist und
nur sein kann, sich überhaupt auf erträgliche Weise abzu-
finden.


Nachdem sich uns aber eine Möglichkeit eröffnet hat, den
menschlichen Kern der Religion festzuhalten und nur den un-
haltbaren Anspruch der Transzendenz abzulehnen, wird damit
das Problem lösbar. Nur was allgemein überzeugend gemacht
werden kann, darf Gegenstand eines für alle obligatorischen
Unterrichts sein. Dieser Bedingung aber genügt nicht die
Religion, insofern sie den Transzendenzanspruch einschliesst,
dagegen wohl die Religion in ihrer rein humanen Bedeutung.
Thatsächlich hat die Religion der Transzendenz die allbeherr-
schende Bedeutung, die ihr ehedem willig zugestanden wurde,
schon längst eingebüsst. Selbst wer sie zurückwünscht, sollte
doch für ehrlicher erkennen, dass sie abliesse, Ansprüche zum
Scheine aufrechtzuerhalten, die sie in Wahrheit schon längst
nicht mehr durchsetzt. Umso reinere Anerkennung würde dem
echten Kerne der Religion zu teil werden. Das ist der einzige
Weg, den wir für gangbar und zum Ziele der unverkürzten
und in sich harmonischen menschlichen Bildung führend er-
kennen können; der einzige daher auch, auf dem wir die sitt-
liche Wirkung der Religion suchen können.


Was nun den religiösen Erziehungsgang im besonderen
betrifft, so scheiden sich wieder in grösster Deutlichkeit die
drei Stufen menschlicher Bildung. Die unterste ist die des
naiven, noch mit keinem Anspruch der Wissenschaft und der
reinen humanen Sittlichkeit komplizierten und daher kollidie-
renden „Kinderglaubens“; die gefahrloseste von allen. Diese
Stufe der Religion dem Kinde vorzuenthalten sehe ich keinen
stichhaltigen Grund. Von dogmatischer Verhärtung oder von
irgend einer sittlichen Gefahr kann auf dieser Stufe doch nicht
[345] die Rede sein. Gott ist dem Kinde im menschlichsten Sinne
Vater, das Christkind ein lieber Gespiele seiner Gedanken, in
dem es das Beste, was es selbst sein möchte, dargestellt denkt.
Es hat an diesen schlichten, ganz im Bereiche des Menschen
verbleibenden Vorstellungen einen Gemütshalt, den man ihm,
wo er sich natürlich aus seiner Umgebung aufdrängt, nicht
vorenthalten oder durch altkluge Kritik verleiden sollte. Es
ist reine Idealisierung sittlicher Grundbeziehungen des Men-
schen, in einer dem Kinde durchaus fasslichen Form. Will
man etwas von dieser Bedeutung sich klarmachen, so vergegen-
wärtige man sich den Christknaben der Sixtinischen Madonna:
in diesem weit, ins Unermessliche blickenden Auge liegt eine
Ahnung von Wahrheit, von Schaffensgewalt und unergründ-
licher Liebe, die hoch über jede Märchengestalt hinausragt.
Das ist nicht ein Menschenkind wie andre, oder ein wunder-
sames Märchenkind etwa, sondern es ist das Kind Mensch,
nach dem höchsten, was dies Wort einschliessen kann, mit dem
Hinweis auf die Idee, die all-eine, ewige; sowie die Mutter,
die unter dem Geleit der Himmlischen den Knaben uns, nein,
der Menschheit zum Beschauen entgegenträgt, nicht bloss eine
Mutter ist, sondern die Mutter, nicht bloss ein Weib, sondern
das Weib, nach dem Anteil, der an der Idee der Menschheit
ihm zukommt. Ja es darf wohl in der menschlichen Mutter
des menschgewordenen Gottes die Ahnung gefunden werden,
dass Gott, der Gott, den Menschen sollen glauben können,
seinen Ursprung haben müsse in der Idee des Menschen selbst.
Und so hat es wiederum auch Sinn, dass der Mensch von Gott
geschaffen sei. Denn nicht ohne den Inhalt der Idee, der den
Völkern unter dem Namen Gott lebendig gegenwärtig ist, ist
der Mensch Mensch. Will man sich auch das an einer künst-
lerischen Darstellung vergegenwärtigen, so denke man an die
Erschaffung des Menschen im Deckenbild Michelangelos. Das
Selbstbewusstsein des zur Mannheit erstarkten Menschen
ist es, das, auf den Wink des gewaltig in stürmender Wolke
einherfahrenden Gottschöpfers, in dem vollendeten Mannesbilde
dort wie aus tiefem Schlummer erwachend sich emporhebt.
So hat die Naivität der höchsten Kunst die religiösen Grund-
[346] vorstellungen sich gedeutet. Und ganz in dieser Naivität nun
vermöchte das Kind sie aufzunehmen. Pestalozzis wunder-
volle Schilderungen der frühesten, grundlegenden religiösen Bil-
dung liegen ganz auf dieser Linie. Auf diesem Boden kann
der Anhänger Feuerbachs mit dem Gläubigen alten Stils sich
ruhig vertragen. Denn auch dieser kann nicht verlangen, dass
dem Kinde etwas Andres von Religion geboten werde als, was
kindlich und also menschlich ist. Ist es nicht aber ein Zeug-
nis für den humanen Ursprung der Religion, dass eben dieser
Kindesglaube den Gläubigen immer als das wahre verlorene
Paradies der Religion vorschwebt? Ist nicht gesagt: So ihr
nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr das Reich Gottes
nicht schauen?


Die eigentliche Krise der religiösen Bildung gehört der
zweiten Stufe, der des Begriffs. In wem der religiöse
Drang einmal allbeherrschend geworden ist, der wird den Be-
griff entweder ganz ablehnen oder sofort zum Dogma verhärten;
in wem umgekehrt der Sinn der Kritik früh erwacht, der
wird in Gefahr kommen, sogleich mit allem Religiösen als
leerem Kindertrug zu brechen. Und es ist, glaube ich, nicht
so ganz selten, dass schon der heranwachsende Knabe diese
Wegscheide bestimmt vor Augen sieht. Daher sehe ich keinen
andern Rat für die Erziehung, als dass sie die religiösen Be-
griffe zwar entwickle, denn man soll sie kennen, selbst um sie
verwerfen zu dürfen, aber zugleich in keiner Weise ihre Partei
nehme, und darauf halte, dass auch der Zögling sich nicht ge-
traue vor der vollen Reife des Urteils, die er auf dieser Stufe
noch nicht haben kann, für oder wider zu entscheiden. Irgend
eine dogmatische Entscheidung ist für das Schulalter ohne jede
Frage verfrüht, also darf sie nicht verlangt, sondern muss,
wenn möglich, sogar hintangehalten werden. Die erziehende
Wirkung der Religion hängt an ihr durchaus nicht; es ist er-
ziehender, vor eine so grosse Frage gestellt zu werden als
eine fertige Entscheidung diktiert zu erhalten, mit der Zumutung,
sie um jeden Preis anzunehmen, selbst ohne Einsicht, selbst
wider den vielleicht schon sich regenden Zweifel. Wer einmal
als Vierzehnjähriger mit schon erwachtem Denken diesen Kampf
[347] mit sich hat kämpfen müssen, wird zwar vielleicht die erlebte
innere Aufrüttelung auch später nicht aus seinem Bildungsgang
wegwünschen, aber die Erinnerung daran wird ihm zeitlebens
peinlich bleiben, dass ihm zugemutet wurde, bei seiner Seelen
Seligkeit für dies und ein andres Leben sich in einem be-
stimmten Sinne zu entscheiden, bis dann und dann, und vor
versammelter Gemeinde feierlich Zeugnis davon abzulegen.


Es ist darum nicht meine Meinung, dass die religiösen
Begriffe in absichtlicher Kälte und Gleichgültigkeit gegen den
Gefühlsgehalt, der sich unter ihnen birgt, sollten dargelegt
werden. Da vielmehr die ganze Bedeutung der Religion im
Gefühl liegt, da auch die religiösen Begriffe nur aus diesem
Quell ihre Nahrung ziehen, so muss man im Gegenteil wünschen,
dass sie nur auf der Grundlage eines starken religiösen Em-
pfindens zu erwachsen scheinen, d. h. wir wünschen als Re-
ligionslehrer Menschen, denen Religion Herzenssache ist, die
für ihren Gefühlsgehalt zum wenigsten nicht empfindungslos
sind. Dass Menschen zur Religion kommen, und gerade zu
dieser, wird nur verständlich aus dem seelischen Konflikt, von
dem eigentlich das religiöse Pathos sich nährt: ist Gott und
gilt für den Menschen sein heiliges Gebot, so vermag er doch
als Mensch nicht es zu erfüllen, er ist also gegen Gott in
ewiger Schuld; wer erlöst ihn von dieser Schuld? Nur Gott
selbst, eben indem wir ihn in unsre Seele aufnehmen und ganz
in ihm leben. Dies, und so der ganze Gedankengang der Er-
lösungslehre, lässt sich nach seiner Gefühlsbedeutung auch dem
verständlich machen, der diese Lehre als Dogma sich nicht
anzueignen vermag, dem der zu Grunde liegende wahre Kon-
flikt sich einmal anders, oder auch gar nicht, lösen wird. Auch
er kann das verstehen, als ein ungeheures Drama, an die
Seele greifend wie kein andres, weil es den Menschen, jeden
besonders und das Geschlecht im ganzen, so unmittelbar im
Innersten trifft wie kein andres. In solchem Sinn vor die
Frage der Religion gestellt zu werden, kann, auch in sitt-
licher Absicht, dem heranreifenden Menschen sicherlich nicht
schädlich sein; ausser wenn, wie freilich jetzt, die Forde-
rung der Entscheidung
und zwar in einem ausschliesslichen
[348] Sinne, bei Strafe ewiger Verwerfung, unmittelbar dahinter steht.
Diese Forderung freilich muss den Konflikt, insofern er über-
haupt ernst genommen wird, bis zum kaum Erträglichen ver-
schärfen und droht dann die seelische Entwicklung ganz
aus dem Geleise zu bringen. Die Aufrichtigkeit wird
dadurch untergraben, indem eine für ewig bindende Entscheidung
vor erlangter Reife erzwungen und die ganze Skala der Ge-
mütserschütterungen von tiefster Zerknirschung bis zur über-
schwänglichsten Erhebung der jugendlich biegsamen Seele
zugemutet, ja aufgedrängt wird. Und wiederum muss die
offenbare Unnatur und schliesslich Unwahrheit solcher Zu-
mutung den, der sich in eigentlich gesunder Reaktion dagegen
wehrt, dann fast unvermeidlich dahin bringen, sich des ganzen
Ernstes der Frage lieber zu entschlagen, oder mit ein paar
leichten Rührungen und noch weniger ernsten Gelübden sich
äusserlich mit ihm abzufinden, um dann entweder die öde Heuchelei
lebenslang fortzusetzen, wie es doch leider recht viele fertig
bringen, oder bald, von Ekel über sich selbst und über dies
ganze Spiel erfasst, der Religion ganz und auf immer den
Rücken zu wenden. Es muss wohl überaus schwer sein für den
Religiösen, sich darein zu finden, dass das, was ihm als sein
Heiligstes bewusst ist, einem Andern verständlich sein kann,
ohne zugleich überzeugend zu sein; sonst wäre es gerade
vom Standpunkt der Religion selbst
schier unbegreiflich,
dass man diese Art, Religion als notwendig anzunehmende
Ueberzeugung und nicht bloss Gegenstand gemütlicher Aneig-
nung dem Kinde von 12—14 Jahren mit allen Mitteln psycho-
logischen Zwanges aufzudrängen, ja ganz eigentlich zu sugge-
rieren, noch immer nicht bloss nicht bedenklich findet, sondern
für hochnötig, wohl gar für die einzige Rettung der gesunkenen
Menschheit hält, so dass ein aufrichtiger Kampf dagegen schon
als Friedensbruch, als Aufforderung zum geistigen Umsturz
empfunden wird. Allein wenigstens die Pädagogik hat schon
längst gegen solches Verfahren unerschrocken ihre Stimme er-
hoben, und sie muss es unermüdlich immer von neuem thun.
Es fordert nichts weiter als Ehrlichkeit gegenüber der
thatsächlichen Lage
, auzuerkennen, dass religiöses Ver-
[349] ständnis möglich ist ohne religiöse Ueberzeugung; dass das
erstere von jedem normal Gebildeten erwartet und in einigem
Maasse auch verlangt werden kann, das letztere nicht. Daraus
ergiebt sich die Forderung eines „undogmatischen“ Religions-
unterrichts jedenfalls für die öffentliche und allgemeine Er-
ziehung, neben welcher, so lange die patria potestas im bis-
herigen Sinne in der Erziehung gilt, eine, sei es ganz private
oder korporative religiöse Erziehung im Sinne der einzelnen
Bekenntnisse allerdings nicht ausgeschlossen werden kann. Auf
dem Boden des Verständnisses ist Gemeinsamkeit möglich und
wird immer möglich bleiben, auf dem Boden der Ueberzeugung
ist sie zur Zeit ausgeschlossen; das allein müsste in unserm
Sinne entscheiden, da die Gemeinsamkeit eine zu wesentliche
Bedingung nationaler Erziehung ist, um je wieder aufgegeben
werden zu können, selbst wenn dadurch (was ich nicht zugebe)
eine erträglichere Lösung der religiösen Frage ermöglicht würde*).


Dass auch das Tiefste der Religion, die Erlösungslehre,
dem nicht religiös Ueberzeugten dennoch verständlich sein
kann, dafür genügt es, sich auf die Wirkungen der gewaltigen
künstlerischen Darstellungen, etwa der Matthäuspassion oder
der H-moll-Messe Bachs zu berufen. Das ist aus den tiefsten
Tiefen des religiösen Gemüts geschöpft, wie wohl nicht leicht
einer wird leugnen wollen, und doch ergreift es den nicht
religiös Ueberzeugten mit nicht geringerer Gewalt; jede innerste
Regung des Gemüts, die da zu so überzeugender Aussprache
kommt, durch ihre Vermittlung aber schliesslich auch die ge-
dankliche Fassung, wird ihm verständlich. Der Schluss liegt
doch nahe genug: also muss wohl gerade dieser tiefste Gehalt
der Religion rein menschlich, und er muss unabhängig sein von
einer dogmatischen oder überhaupt irgend welcher Ueberzeu-
gung, die auf eine andre Wirklichkeit als die des innersten
Gemütslebens des Menschen selbst sich bezöge. Wollte man
sich doch entschliessen auf diesen unerschütterlichen Grund
[350] allein zu bauen, und gerade um der reinen Gemütswirkung
willen lieber verzichten auf jeden auf die Ueberzeugung ge-
übten Zwang, in einem Alter zumal, wo die verlangte Ueber-
zeugung ganz rein und unerzwungen kaum vorhanden sein kann.


Zuletzt freilich muss es auch Bedürfnis werden, eine feste
Stellung zur Religion sich zu erringen. Dies ist die Aufgabe
der dritten Erziehungsstufe, als der der autonomen Kritik.
Ohne religionsgeschichtliche und wenigstens vorbereitend re-
ligionsphilosophische Belehrung würde aber diese Entscheidung
der sicheren Basis entbehren. Denn das Ziel muss sein die
Abklärung der Religion zur Ideenerkenntnis. Indem wir
dieses Ziel der religiösen Bildung stecken, scheiden wir uns
scharf von jedem „Illusionismus“, ebenso wie wir von der
blossen Aufklärung uns geschieden haben durch die ausdrück-
liche Anerkennung der unzerstörlichen Gefühlsgrundlage der
Religion. Eine Illusion, einen subjektiv festgehaltenen Glauben
an das objektiv als falsch oder doch nichtbegründet Erkannte
empfehlen oder verteidigen wir nicht. Was wir als echten
Gehalt der Religion festhalten wollen, woran zugleich die
ganze Wärme des Gefühls sich heften darf und soll, es ist zu-
letzt die Idee und nichts Andres; sie aber gilt uns als so ob-
jektiv erkennbar wie irgend ein Satz der Wissenschaft oder
theoretischen Philosophie objektiv erkennbar ist. Es ist nur
die unmittelbare Beziehung auf das Erlebnis des Individuums,
was dem Ideenglauben das Pathos der Religion hinzufügt und
zugleich die sinnbildliche Vorstellung, eben als Halt für das
Gefühl, als Mittel seiner „Erbauung“ herbeiruft. Dem zu
wehren, sehe ich keinen Grund, obgleich es subjektiv ist; wo-
fern nur der falsche Anspruch aufgegeben wird, dass in dem
Sinnbild das Objekt der Idee mir dem Individuum leibhaft
gegenwärtig und gegeben sei. Das geklärte Verständnis des
ganzen Sinns einer Idee aber macht ja einen so verkehrten
Anspruch zur vollen Unmöglichkeit.


Gerade so aber leuchtet erst ein, wie Religion der Sitt-
lichkeit zu einer sehr gewichtigen, ja kaum entbehrlichen Stütze
werden kann. Sie macht für sich nicht sittlich; keiner der
sonstigen Faktoren der Willenserziehung wird durch sie etwa
[351] ersetzt; aber auch sie selbst ist durch keinen der andern
Faktoren ersetzlich; sondern im Verein mit ihnen allen erfüllt
sie noch eine eigentümliche und wichtige Aufgabe: die sittliche
Idee, die sonst nur als ungreifbar fernes Ziel dastände, zum
unmittelbarsten, innerlichsten Leben des Individuums in Be-
ziehung zu setzen, ihm nah und gegenwärtig zu halten, und so
seinem Gemüt eine stetige und gleichmässige Erwärmung für
das Gute mitzuteilen, die die sittliche Entschliessung auch im
schwersten Fall aus voller Seele fliessen und sie die Seligkeit
des Glaubens nicht vermissen lässt, ohne die in den ernsten
Erschütterungen des Lebens auch der Starke vielleicht nicht
aufrecht bliebe. Das ist doch, was man der Religion (in sitt-
licher Beziehung) zuschreibt; und wir glauben nicht, dass sie
das weniger vermag, wenn sie sich auf ihre rein menschliche
Grundlage zurückbesinnt und mit allem Menschlichen in reine
Harmonie zu treten sich entschliesst, statt dass sie entweder, in
einseitiger Stärke entwickelt, den Menschen im Menschen er-
tötet, oder aber als Trug des Gemüts erklärt und zu beklagens-
werter Verarmung aus der Seele mit Stumpf und Stiel aus-
gerottet wird.


Religion, das kann nicht verkannt werden, ist in den
lebenskräftigsten Völkern oder doch in den lebenskräftigsten
Schichten dieser Völker von sehr geschwächtem, fast ist man
versucht zu sagen, von keinem merklichen Einfluss mehr. Hat
sie also ihre Rolle ausgespielt? Sofern es sich um die Religion
der Transzendenz handelt, zögere ich nicht die Frage zu be-
jahen. Aber ihr Platz ist leer, und er kann nicht leer bleiben.
Der Mensch lebt nicht vom Brote der Vernunft allein, so
wenig er dieser gesunden Kost entbehren kann. Er bedarf
noch der Religion, und wenn die bisherige ihm nicht mehr
genügen kann, so wird er sich eine neue, seinem gereifteren
Stande angemessene schaffen. Wir möchten glauben, dass die
alte Religion der notwendigen Umbildung an sich fähig ist,
und wir meinen auch zu beobachten, dass man sich dieser Er-
kenntnis von beiden Seiten, wenn auch sehr langsam, nähert.
Doch ist es zwecklos, darüber zu grübeln, wie künftig einmal
der Mensch sich seine Religion gestalten wird. Es ist wider-
[352] sinnig, Religion machen zu wollen; sie wird, als eine Geburt
des menschlichen Genius, eines Tages von selbst da sein —
eine Frucht der sittlichen Erneuerung menschlicher Gemein-
schaft.


Auf diese aber lässt sich hinarbeiten, und dazu ein kleines
beizutragen durch Klärung des vor uns liegenden Weges, war
die Absicht dieser ganzen nun zu Ende gediehenen Unter-
suchung.


[][][][][]
Notes
*)
Zur näheren Begründung vgl. des Verf. „Einleitung in die Psy-
chologie nach kritischer Methode“. (Freiburg, Mohr, 1888.)
*)
Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, 6. Abschn. (Reclam S. 82.)
*)
Charakteristisch dafür ist v. Ehrenfels’ Psychologie des Begehrens
(Werttheorie, 1. Band) — die eigentlich darauf hinauskommt, dass es kein
Begehren giebt.
*)
Vergl. des Verf. Darstellung, Philos. Monatsh. Bd. XXX S. 356 ff.
*)
Vgl. „Religion“ S. 86.
*)
So sagt Pestalozzi richtig in den „Nachforschungen“ (Werke
hr. v. Seyffarth X 133; in der Sonderausg. Zürich, Schulthess 1886, S. 134):
„Die Sittlichkeit ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien“; näm-
lich im Unterschied vom „gesellschaftlichen Recht“, welches nach seiner
(Rousseau’schen) Auffassung auf Vertrag d. h. auf gegenseitiger Verpflich-
tung beruht. Dagegen wird das Sittliche seinem Inhalt nach von Pestalozzi
wesentlich sozial verstanden. (Vgl. Pestalozzis Ideen etc., und: Herbart,
Pestalozzi etc., 8. Vortrag.)
*)
Vgl. „Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik.“
*)
Z. B. Apol. 29: φϱονήσεως καὶ ἀληϑείας καὶ τῆς ψυχῆς ὅπως
ὡς βελτίστη ἔσται . . . . Protag. 356: δηλώσασα δὲ τὸ ἀληϑὲς ἡσυχίαν
ἄν ὲποίησεν ἔχειν τὴν ψυχὴν μένουσαν ἐπὶ τῷ ἀληϑεῖ καὶ ἔσωσεν ἄν
τὸν βίον. Phileb. 58: εἳ τις πέφυκε τῆς ψυχῆς ἡμῶν δύναμις ἐϱᾶν τε
τοῦ ἀληϑοῦς καὶ πάντα ἕνεκα τούτου πϱάττειν. An allen drei Stellen
beachte man die Entsprechung zwischen den Begriffen ἀλήϑεια und ψυχή
(Bewusstsein).
**)
Plat. Men. 88, mit zahlreichen Parallelstellen.
***)
Ueber diesen Sinn der „Idee des Guten“ vgl. „Platos Staat und die
Idee der Sozialpädagogik“.
*)
Vgl. zu der Frage auch den Aufsatz „Ueber Sinnenglück und
Seelenfrieden“, in der Zeitschrift „Die Wahrheit“, Bd. 8 S. 65 ff.
*)
R. Stammler, Wirtschaft und Recht. Leipzig 1896. — Die im Text
folgende Kritik findet man etwas mehr im Einzelnen ausgeführt im Arch.
f. syst. Philos. II S. 318 ff.
*)
Stammlers; vgl. Arch. a. a. O. S. 323.
*)
Stammler, S. 83 ff., 89, 91, 105.
*)
Stammler S. 106.
**)
Stammler S. 113.
*)
Stammler, S. 107.
*)
Stammler, 4. u. 5. Buch.
**)
Derselbe, 3. Buch.
*)
Nach Stammlers zweifellos richtiger Bestimmung; dem ich nur
nicht beistimmen kann in der Ablehnung jedes gemeinsamen Begriffs
individualer und sozialer Wirtschaft, und ferner nicht in der Gleichsetzung
der Wirtschaft mit der Materie des sozialen Lebens. Wirtschaft überhaupt
verhält sich zu sozialer Wirtschaft nicht anders als Willensregelung über-
haupt zu sozialer Willensregelung, Menschenvernunft überhaupt zu sozialer
Vernunft. Materie der sozialen Regelung aber, und also des sozialen
Lebens, ist nicht die wirtschaftliche Thätigkeit allein, sondern jede soziale
Thätigkeit, auch die regierende und die bildende. Vgl. weiter unten im
Text, und Arch. II 329 ff.
*)
Vgl. „Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik.“
*)
Stammler, S. 325. (Genaueres über dessen Stellung zu unsrer Frage,
Arch. II, 340 f.)
*)
So erwartet Stammler (im Schluss, S. 634 ff.) den Anbruch einer
Aera des objektiv Richtigen“ im praktischen Erkennen, wie sie
für das theoretische längst angebrochen sei. Wo sich nur von neuem die
Frage aufdrängt, ob nicht zwischen beiden ein zwingender
Zusammenhang obwalten muss
?
*)
S. die Vergleichung von Morus (Utopia) mit Fr. Engels, bei
Stammler S. 663.
*)
Vgl. Stammler, S. 551 ff.
*)
Wie es, bezüglich des rechtlichen Faktors im besondern, auch
Stammler (S. 552) mit gutem Grunde aufstellt.
*)
F. Tönnies, Eth. Kultur 1894, Nr. 36, 37. Vgl. des Verf. Aufsatz
„Ueber volkstümliche Universitätskurse (Universitäts-Ausdehnung)“, Acad.
Revue, Jahrg. II, H. 23/24, Aug.-Sept. 1896, wo diese ganze Frage ein-
gehend behandelt ist.
*)
Vgl. „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“, bes. Kap. 5;
und unten § 34.
*)
Wie sie in meiner früheren Schrift, zu meiner Verwunderung, von
Julius Baumann gefunden werden konnte (Göttinger Gel. Anz. 1894,
S. 689 f.). Dagegen ist einem anderen Kritiker, Jul. Duboc, (Zukunft,
Bd. VIII, S. 270) als das Merkwürdigste an der Schrift gerade die Rück-
haltlosigkeit erschienen, mit der sie von der Kirche selbst den Verzicht
auf das Dogma zu fordern wagt.
*)
In der Monatsschrift „Die deutsche Schule“, her. v. Rob. Rissmann,
Berlin, Leipzig u. Wien, Klinkhardt, 1. Jahrg., 5. u. 6. H., S. 271, 344;
wo auch allgemeinere, die Schulstrafen betreffende Fragen berührt werden.
*)
S. die erste seiner „Fabeln“.
*)
Religion innerhalb der Grenzen der Humanität; bes. S. 11 ff. 93 f.
*)
Gute Bemerkungen darüber (obschon nicht ohne Einseitigkeit) bei
dem schon genannten F. Adler, The Moral Instruction of Children,
New York 1895, p. 66.
*)
Vgl. Herbart, Pestalozzi etc., 4. Vorl.
*)
Lienhard und Gertrud (Werke hr. v. Seyffarth Bd. 4, S. 208).
Vgl. „Pestalozzi’s Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage“ S. 27;
Herbart, Pestalozzi etc. S. 123 f.
*)
Ueber Willens- und Charakterbildung auf physiol.-psychol. Grund-
lage. (Sammlg v. Abh. a. d. Geb. d. pädag. Psychol. u. Physiol. Bd. I.
H. 3. Berlin, Reuther \& Reichard, 1897.)
*)
Gesinnungsunterricht und Kulturgeschichte. Zur pädagogischen
Kritik. Langensalza, Beyer. 1887.
*)
Vortreffliche Ausführungen hierüber bei E. Laas, Der deutsche
Aufsatz. 2. Aufl. Berlin 1877. Einl. S. 10 ff.
**)
Rechnen und Mathematik. In Baumeisters Handb. d. Erz.- und
Unterrichtslehre f. höh. Schulen. München 1895.
*)
Auch hierüber (doch zu kurz) Laas II. 381 ff. Ich möchte be-
sonderen Nachdruck legen auf gründliche Durcharbeitung des „Gorgias“.
*)
Religion etc. S. 89 ff.
**)
S. 92: „Also müsste vor allem Andern ein sicherer Grund sitt-
lichen Lebens gelegt sein; hernach würde es mit der sittlichen Lehre keine
Not mehr haben; sie würde dann nur aussprechen und zu hellerem Bewusst-
sein bringen, wozu das Leben schon in jeden den Keim gelegt hätte.“
Und S. 11: „Deswegen kann kein noch so hoch gegriffener sittlicher Unter-
richt, ausser hülfsweise, für die sittliche Erziehung einstehen.“
Etwas zu eng zwar heisst es an ersterer Stelle weiter: „Soweit Unterricht
helfen kann, kann es nur eben der sein, der die Gemeinschaftsordnung …
als den wahren Quell der Sittlichkeit … erkennen lehrt,“ nämlich der sozio-
logisch-geschichtliche. Hier hätte auf die Ergänzung durch direkte moralische
Reflexion bis zur philosophischen Ethik wenigstens hingedeutet werden können.
Die Frage war aber im dortigen Zusammenhang, wie die sittliche Gesinnung
ursprünglich gegründet werden könne; dies aber liegt in der That
ausser der Kompetenz der abstrakten Sittenlehre; wogegen der soziologisch-
historische Unterricht zur konkretesten Grundlage der Sittlichkeit, dem
Leben der Gemeinschaft, eine ganz unmittelbare Beziehung hat.
*)
Eine Kritik findet man in der Schrift „Herbart, Pestalozzi etc.“,
2. Rede.
**)
In der schon citierten Schrift The Moral Instruction of Children.
New York, 1895.
*)
Grenzen der Wirksamkeit des Staats, bei Reclam S. 38.
**)
Vgl. Pestalozzis Ideen etc. S. 29 f., Religion etc. S. 13 f.
*)
Dies entscheidet auch gegen Dörpfeld’s „Familienprinzip“, dessen ernste
Schwierigkeiten übrigens der ehrliche Mann selber mehr hervorgekehrt als
verdeckt hat. Vgl. die Abhandlung „Dörpfelds Fundamentstück“ (Deutsche
Schule, II. Jahrg. S. 9—26).

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 2. Sozialpädagogik. Sozialpädagogik. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmnt.0