Forschungen
Verlag von Duncker \& Humblot.
1890.
sociale Differenzierung.
Untersuchungen
Verlag von Duncker \& Humblot.
1890.
Das Übersetzungsrecht wie alle anderen Rechte sind vorbehalten.
[]
Inhalt.
- Seite
- 1. Kapitel. Einleitung. Zur Erkenntnistheorie der
Socialwissenschaft1—20 - Das Material der Socialwissenschaft; komplizierter Cha-
rakter desselben Die Unmöglichkeit sociologischer Ge-
setze S. 1—9. - Begriff der Gesellschaft; die Kritik desselben vom
Standpunkte des individualistischen Realismus. Begriff
des Individuums S. 10—12. - Die Einheit der Gesellschaft als Wechselwirkung
ihrer Teile. Die Verdichtung dieser Wechselwirkung
zu objektiven Gebilden S. 12—20. - 2. Kapitel. Über Kollektivverantwortlichkeit21—44
- Die Heimsuchung der persönlichen Schuld an der ganzen
socialen Gruppe in primitiveren Epochen. Objektive und
subjektive Veranlassungen. Die Einheitlichkeit der
Gruppe als Folge des solidarischen Verhaltens dem
Dritten gegenüber S. 21—33. - Die allmähliche Lösung dieser Verbindung, Heraus-
differenzierung der verantwortlichen Einzelpersönlichkeit,
Fortsetzung dieser Differenzierung auf die Vorstellungs-
gruppen des Individuums S. 33—36. - Scheinbare Rückkehr zu dem früheren Standpunkt:
Erkenntnis der Schuld der Gesellschaft an der Schuld
des Einzelnen. Änderung des moralischen Charakters
einer Handlung durch bloſse Vergröſserung des Kreises,
in dem sie geschieht. Kollektivistische Maſsregeln, um
auch der Unsittlichkeit socialen Nutzen abzugewinnen
S. 36—43. - Die sociologische Betrachtung als differenzierendes
Kulturprinzip, insofern sie den Einzelnen in sittlicher
Beziehung sowohl stärker entlastet wie stärker belastet,
als die individualistische S. 43. 44. - 3. Kapitel. Die Ausdehnung der Gruppe und die Aus-
bildung der Individualität45—69 - Die Entwicklung in sich homogener, aber einander sehr
entgegengesetzter Gruppen: Differenzierung in jeder für
sich bewirkt Anähnlichung und Annäherung unter den - Seite
- Mitgliedern der verschiedenen Gruppen. Auflösung der
engen Kreise: 1) durch Individualisierung der Teilnehmer,
2) durch Ausbreitung und Anknüpfung an entferntere
S. 45—49. - Je individueller die Gruppe als solche, desto weniger
ihre Mitglieder; dem Plus der Differenzierung auf socialem
Gebiet entspricht ein Minus auf persönlichem S. 49—55. - Die allgemeine Gleichheit und der Individualismus
S. 55—57. - Ethische Anwendungen: die unpersönlichen Interessen,
die Pflichten gegen sich selbst, die sittliche Autonomie,
das Gefühl der Persönlichkeit S. 57—64. - Psychologische Darstellung der Korrelation zwischen
Erweiterung und Differenzierung der Vorstellungsobjekte
S. 64—69. - 4. Kapitel. Das sociale Niveau70—99
- Die Schätzung des Seltenen als solchen, ihre theore-
tischen und praktischen Veranlassungen. Das Verbreitete
ist das Niedrigere, weil es das ältere ist, auf die Ver-
erbung aus primitiveren Epochen zurückgeht. Daraus
sich ergebendes Niveau der groſsen Masse S. 70—74. - Das Verhältnis zwischen dem geistigen Inhalt der
Gruppe und dem des Einzelnen. Die mannigfaltigen Be-
ziehungen dieses Verhältnisses zu der absoluten Höhe
der Inhalte S. 74—79. - Die Vereinheitlichung der Gruppe und das Niveau
derselben. Überwiegen der gefühlsmäſsigen Bewuſst-
seinsvorgänge. Die Eigenart des kollektivistischen Han-
delns S. 79—91. - Die beiden Bedeutungen des socialen Niveaus: für
den individuellen, aber gleichartigen Besitz und für den
Kollektivbesitz; die Verhältnisse zwischen beiden. Die
Ausgleichung der individuellen Niveaus; psychologischer
Ursprung der socialistischen Forderung S. 92—99. - 5. Kapitel. Über die Kreuzung socialer Kreise100—116
- Der sociale Kreis als zufällige Vereinigung ver-
schiedenartiger Elemente; Fortschritt zu associativen
Verhältnissen homogener Elemente aus heterogenen
Kreisen S. 100—102. - Möglichkeit für den Einzelnen, Mitglied verschiedener
Gruppen zu sein; daraus folgende Bestimmtheit der Per-
sönlichkeit S. 103—107. - Neue Differenzierung innerhalb neugebildeter Kreise,
die Konkurrenz, die Zugehörigkeit zu entgegengesetzten
Gruppen. Die individuelle Freiheit in der Wahl kollek-
tivistischer Anlehnung S. 108. 109. - Association nach sachlicher, statt nach äuſserlicher,
lokaler und mechanischer Zusammengehörigkeit; ab-
strakter Charakter der zusammenschlieſsenden Gesichts-
punkte. Herstellung superordinierter Kreise aus in-
dividuellen; Lösung koordinierter Kreise von einander
S. 109—113. - Gelegentliche Zweckmäſsigkeit der Zusammenschlie-
ſsung nach schematischen Normen S. 113—116. - Seite
- 6. Kapitel. Die Differenzierung und das Prinzip der
Kraftersparnis117—147 - Psychische Kraftersparnis durch Differenzierung der
Denkinhalte. Absolute Vermehrung und relative Ver-
minderung des Kraftverbrauchs bei höheren Gebilden
S. 117—120. - Die Parteibildung und die von ihr ausgehende Kraft-
entwicklung. Teilung der höheren und der niederen
Arbeit S. 120—123. - Auseinanderlegung älterer Komplexe, Zusammenschluſs
ihrer Elemente zu neuen Gebilden; Beherrschtwerden
dieses Prozesses durch die Tendenz der Kraftersparnis
S. 123—127. - Kraftverschwendung bei zu weit gehender Differen-
zierung, Rückbildung derselben. Die religiöse und die
militärische Differenzierung vom Gesichtspunkte der
Kraftersparnis S. 128—137. - Gegensatz der Differenzierung der Gruppe, die die
Einseitigkeit des Individuums fordert, zu der des Indi-
viduums, die seine Vielseitigkeit fordert. Ursachen und
Folgen dieses Widerspruchs S. 137—143. - Das Nebeneinander und das Nacheinander der Diffe-
renzierungen; latente und aktuelle Differenzierungen;
das Gleichgewicht beider als Aufgabe der socialen Kraft-
ersparnis S. 143—147.
I.
Einleitung.
Zur Erkenntnistheorie der Socialwissenschaft.
Die häufig beobachtete Eigentümlichkeit komplizierter
Gebilde: daſs das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern
sich innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt —
liegt auch in dem Verhältnis zwischen Theorie und Praxis
vor. Wenn man innerhalb der theoretischen Erkenntnis nicht
auf den rein ideellen Inhalt, sondern auf das Zustandekommen
desselben achtet, auf die psychologischen Motive, die metho-
dischen Wege, die systematischen Ziele, so erscheint doch
auch die Erkenntnis als ein Gebiet menschlicher Praxis, das
nun seinerseits wieder zum Gegenstand des theoretisierenden
Erkennens wird. Damit ist zugleich ein Wertmaſs für die
erkenntnistheoretische und methodologische Betrachtung der
Wissenschaften gegeben; sie verhält sich als Theorie der
Theorie zu der auf die Objekte gerichteten Forschung, wie
sich eben die Theorie zur Praxis verhält, d. h. von geringerer
Bedeutung, unselbständiger, mehr im Charakter des Registrie-
rens als des Erwerbens, nur die formalen Seiten eines schon
gegebenen Inhaltes auf höherer Bewuſstseinsstufe wiederholend.
Im allgemeinen liegt dem Menschen mehr daran, etwas zu
machen, als zu wissen, wie er es macht, und die Thatsache
des ersteren ist auch stets der Klarheit über das letztere
vorausgegangen. Ja, nicht nur das Wie, sondern auch das
Wozu des Erkennens pflegt im Unbewuſsten zu bleiben, so-
bald es über die nächste Stufe der Zweckreihe hinaus nach
den entfernteren oder letzten Zielen desselben fragt; die Ein-
ordnung der einzelnen Erkenntnis in ein geschlossenes System
von Wahrheiten, ihre Dienstbarkeit als Mittel zu einem höch-
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 1
[2]X 1.
sten Erkennen, Empfinden oder Handeln, ihre Zurückführung
auf erste Prinzipien — dies alles sind Angelegenheiten, die in
einem ideellen Weltbild obenan stehen mögen, bei der that-
sächlichen Bildung desselben aber sowohl der Zeit als der
Wichtigkeit nach nur Epilog sind.
Diesem geschichtlichen Gang sich entwickelnder Er-
kenntnis entspräche es, wenn man insbesondere bei einer erst
beginnenden Wissenschaft, wie die Sociologie ist, alle Kraft
an die Einzelforschung setzte, um ihr zunächst einen Inhalt,
eine gesicherte Bedeutung zu geben, und die Fragen der
Methode und der letzten Ziele so lange bei Seite lieſse, bis
man hinreichendes thatsächliches Material für ihre Beantwor-
tung hat, auch weil man andernfalls in die Gefahr geräth,
eine Form zu schaffen, ohne die Sicherheit eines möglichen
Inhaltes, ein Gesetzbuch ohne Subjekte, die ihm gehorchen,
eine Regel ohne Fälle, aus denen sie gezogen wird und die
ihre Richtigkeit gewährleisteten.
Dies im allgemeinen zugegeben, begründet doch der jetzige
Zustand der Wissenschaften einen Unterschied gegen die oben
charakterisierten früheren Arten, eine solche zustande zu
bringen. Wie sich moderne politische Revolutionen dadurch
von denen primitiverer Zeiten unterscheiden, daſs man heute
schon bekannte, anderwärts verwirklichte und erprobte Zu-
stände zu verwirklichen sucht, daſs eine bewuſste Theorie
vorangeht, der man die Praxis nachbildet: so wird es auch
durch die höhere Bewuſstheit des modernen Geistes gerecht-
fertigt, daſs man aus der Fülle vorhandener Wissenschaften
und bewährter Theorieen heraus die Umrisse, Formen und
Ziele einer Wissenschaft fixiere, bevor man an den thatsäch-
lichen Aufbau derselben geht.
Ein besonderes Moment kommt noch für die Sociologie
hinzu. Sie ist eine eklektische Wissenschaft, insofern die
Produkte anderer Wissenschaften ihr Material bilden. Sie ver-
fährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung, der An-
thropologie, der Statistik, der Psychologie wie mit Halb-
produkten; sie wendet sich nicht unmittelbar an das primitive
Material, das andere Wissenschaften bearbeiten, sondern, als
Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Syn-
thesen aus dem, was für jene schon Synthese ist. In ihrem
jetzigen Zustande giebt sie nur einen neuen Standpunkt für
die Betrachtung bekannter Thatsachen. Deshalb aber ist es
für sie besonders erforderlich, diesen Standpunkt zu fixieren,
weil die Wissenschaft allein von ihm ihren specifischen Cha-
rakter entlehnt, nicht aber von ihrem, den Thatsachen nach
sonst schon bekannten Material. In diesem Fall sind die all-
gemeinen Gesichtspunkte, die Einheit des letzten Zwecks, die
Art der Forschung mit Recht das Erste, was in das Bewuſst-
sein zu heben ist; denn dies muſs thatsächlich in ihm vor-
[3]X 1.
handen sein, damit es zu der neuen Wissenschaft komme,
während andere mehr von dem Material als von seiner For-
mung ausgehen, welche letztere bei ihnen unmittelbarer durch
das erstere gegeben wird. Es braucht kaum erwähnt zu
werden, daſs es sich dabei nur um graduelle Unterschiede
handelt, daſs im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissen-
schaft aus bloſsen objektiven Thatsachen besteht, sondern
immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorieen
und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft
a priori sind, d. h. von dem auffassenden Geiste an die an
und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden.
Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueber-
wiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen
Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerecht-
fertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre
Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewuſstsein zu
bringen.
Damit ist indes natürlich nicht gemeint, daſs es unbe-
strittener und festumgrenzter Definitionen für die Grund-
begriffe der Sociologie bedürfe, daſs man z. B. von vorn-
herein die Fragen beantworten könne: was ist eine Gesell-
schaft? was ist ein Individuum? wie sind gegenseitige
psychische Wirkungen der Individuen auf einander möglich?
u. s. w.; vielmehr wird man sich auch hier mit einer nur un-
gefähren Umgrenzung des Gebietes begnügen und die völlige
Einsicht in das Wesen der Objekte von, aber nicht vor der
Vollendung der Wissenschaft erwarten müssen, wenn man
nicht in den Irrtum der älteren Psychologie verfallen will:
man müsse zuerst das Wesen der Seele definiert haben, ehe
man die seelischen Erscheinungen wissenschaftlich erkennen
könne. Noch immer gilt die aristotelische Wahrheit, daſs,
was der Sache nach das Erste ist, für unsere Erkenntnis
das Späteste ist. Im logisch systematischen Aufbau der
Wissenschaft bilden freilich die Definitionen der Grundbegriffe
das Erste; allein erst eine fertige Wissenschaft kann sich so
vom Einfachsten und Klarsten aufbauen. Wenn eine Wissen-
schaft erst zustande gebracht werden soll, muss man von den
unmittelbar gegebenen Problemen ausgehen, die immer höchst
kompliziert sind und sich erst allmählich in ihre Elemente
auflösen lassen. Das einfachste Resultat des Denkens ist eben
nicht das Resultat des einfachsten Denkens.
Vielleicht ist das unmittelbar gegebene Problem auch
gerade bei der Socialwissenschaft eines der kompliziertesten,
die überhaupt denkbar sind. Ist der Mensch das höchste
Gebilde, zu dem die natürliche Entwickelung sich aufgipfelt,
so ist er dies doch nur dadurch, daſs ein Maximum ver-
schiedenartiger Kräfte sich in ihm gehäuft hat, die durch
gegenseitige Modifizierung, Ausgleichung und Auslese eben
1*
[4]X 1.
diesen Mikrokosmos zustande brachten; offenbar ist jede
Organisation eine um so höhere, je mannichfaltigere Kräfte
sich in ihr im Gleichgewicht befinden. Ist nun schon das
menschliche Einzelwesen mit einer fast unübersehbaren Fülle
latenter und wirkender Kräfte ausgestattet, so muſs die Kom-
plikation da noch eine viel gröſsere werden, wo gegenseitige
Wirkungen solcher Wesen auf einander vorliegen und die
Kompliziertheit des einen, gewissermaſsen mit der des andern
sich multiplizierend, eine Unermeſslichkeit von Kombinationen
ermöglicht. Wenn es also die Aufgabe der Sociologie ist, die
Formen des Zusammenseins von Menschen zu beschreiben und
die Regeln zu finden, nach denen das Individuum, insofern
es Mitglied einer Gruppe ist, und die Gruppen untereinander
sich verhalten, so hat die Kompliziertheit dieser Objekte eine
Folge für unsere Wissenschaft, die sie in einer erkenntnis-
theoretischen Beziehung, der ich eine ausführliche Begründung
widmen muſs, neben die Metaphysik und die Psychologie
stellt. Diese beiden haben nämlich das Eigentümliche, daſs
durchaus entgegengesetzte Sätze in ihnen das gleiche Maſs
von Wahrscheinlichkeit und Beweisbarkeit aufzeigen. Daſs die
Welt im letzten Grunde absolut einheitlich und alle Indivi-
dualisierung und aller Unterschied nur ein täuschender Schein
sei, kann man ebenso plausibel machen, wie den Glauben an
die absolute Individualität jedes Teiles der Welt, in der nicht
einmal ein Baumblatt dem andern völlig gleich ist, und daſs alle
Vereinheitlichung nur eine subjektive Zuthat unsres Geistes,
nur die Folge eines psychologischen Einheitstriebes sei, für
den keine objektive Berechtigung nachweisbar wäre; der durch-
gehende Mechanismus und Materialismus im Weltgeschehen
bildet ebenso einen letzten metaphysischen Zielpunkt, wie im
Gegentheil die Hinweisung auf ein Geistiges, das überall durch
die Erscheinungen hindurchblickt und den eigentlichen letzten
Sinn der Welt ausmacht; wenn ein Philosoph das Gehirn
als das Ding-an-sich des Geistes bezeichnet hat, und ein
anderer den Geist als das Ding-an-sich des Gehirns, so
hat der eine ebenso tiefe und gewichtige Gründe für seine
Meinung angeführt, wie der andere. Und Ähnliches be-
obachten wir in der Psychologie, wo ihr noch nicht der Zu-
sammenhang mit der Physiologie die Isolierung und damit die
exaktere Beobachtung der primitiven sinnlichen Grundlagen
des Seelenlebens ermöglicht, sondern wo es sich um Kausal-
verhältnisse der an der Oberfläche des Bewuſstseins auf-
tauchenden Gedanken, Gefühle, Willensakte handelt. Da
sehen wir denn, daſs persönliche Glückssteigerung die Ursache
von selbstloser Freundlichkeit ist, die den Andern gern ebenso
glücklich sehen möchte, wie man selbst ist, — ebenso oft aber
von hartherzigem Stolz, dem das Verständnis für das Leiden
anderer abhanden gekommen ist; beides läſst sich psycho-
[5]X 1.
logisch gleichmäſsig plausibel machen. Und so deduzieren
wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, daſs die Entfernung ge-
wisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert,
wie daſs sie sie schwächt; daſs der Optimismus, aber auch
gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen
ethischen Handelns ist; daſs die Liebe zu einem engeren
Kreise von Menschen das Herz nun auch für die Interessen
weiterer Kreise empfänglich macht, wie daſs sie dasselbe gegen
die letzteren abschlieſst und verbaut. Und ebenso wie der
Inhalt läſst sich auch die Richtung der psychologischen Ver-
knüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüſsen. Daſs
Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird uns mit
ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen be-
wiesen, wie von dem andern, daſs das Unglück die Ursache
der Demoralisierung ist; daſs der Glaube an gewisse religiöse
Dogmen die Ursache geistiger Unselbständigkeit und Ver-
dummung wird, ist mit nicht schlechteren Gründen und Bei-
spielen bewiesen, wie das umgekehrte, daſs die geistige Un-
zulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei, die
sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen lieſs. Kurz,
weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen
findet sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel,
sondern stets die Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahr-
scheinlichkeit die entgegengesetzte entgegenzustellen.
Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar
die, daſs die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird,
schon an und für sich nicht eindeutig sind. Das Ganze der
Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält
eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, daſs
fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl
von Stützen findet, die oft genug soviel psychologisches Ge-
wicht besitzen, um entgegenstehende Erfahrungen und Deu-
tungen aus dem Bewuſstsein zu verdrängen, die nun ihrer-
seits in andern, gerade für sie disponierten Geistern den Ge-
samtcharakter des Weltbildes bestimmen. Das Falsche liegt
nur darin, daſs entweder eine partielle Wahrheit zu einer
absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung
gewisser Thatsachen ein Schluſs auf das Ganze gezogen wird,
der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter aus-
gedehnt wäre; also sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt
des Urteils als in dessen Betonung, mehr in der Quantität
als in der Qualität. Nahe dabei flieſst die Quelle für die
Unzulänglichkeit der psychologischen Urteile. Die Allgemein-
begriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbin-
dungen stiften, sind so sehr allgemein und schlieſsen eine
solche Fülle von Nüancen ein, daſs je nach der Betonung
der einen oder der andern ganz verschiedene Folgen aus dem
der Bezeichnung nach identischen Affect hervorgehen können;
[6]X 1.
ein so weites Gebiet umfaſst z. B. der Begriff des Glücks
oder der Religiosität, daſs die von einander abstehendsten
Punkte desselben trotz des Enthaltenseins unter dem gleichen
Begriff durchaus als Ursachen heterogener Folgen verständlich
sind. Ganz Unrecht hat mithin keine jener allgemeinen psycho-
logischen Sentenzen; sie irren meistens nur darin, daſs sie
die specifische Differenz vernachlässigen, die, die in Rede
stehenden Allgemeinbegriffe näher bestimmend, sie bald
in diese, bald in jene ganz entgegengesetzte Verbindung
bringt. Es ist ganz richtig, daſs Trennung die Liebe steigert;
aber nicht Trennung überhaupt und Liebe überhaupt, sondern
nur eine bestimmte Art beider steht in diesem Verhältnis;
und ebenso ist es richtig, daſs Trennung die Liebe schwächt;
aber nicht jede Trennung jede Liebe, sondern eine gewisse
Nüance der ersteren schwächt eine gewisse Nüance der letz-
teren. Hier ist auch insbesondere der Einfluſs der Quantität
des seelischen Affekts im Auge zu behalten. Wir können
freilich gewisse Abänderungen einer Empfindung nur unter
die Denk- und Sprachkategorie der Quantität bringen und
bezeichnen sie deshalb noch immer mit dem gleichen Begriff;
thatsächlich aber sind es auch innerliche, qualitative Verän-
derungen, die auf diese Weise mit ihr vorgehen. Wie ein
groſses Kapital zwar nur quantitativ anders ist, als ein kleines,
dennoch aber qualitativ ganz anders geartete wirtschaftliche
Wirkungen ausübt, so und noch viel mehr ist der Unterschied
zwischen einer groſsen und einer geringen Empfindung in
Liebe und Haſs, Stolz und Demut, Lust und Leid ein nur
scheinbar quantitativer, thatsächlich aber ein so genereller,
daſs, wo über die psychologischen Beziehungen einer Empfin-
dung als solcher und im allgemeinen ausgesagt werden soll,
je nach dem Quantum derselben, über das man gerade Er-
fahrungen gesammelt hat, die heterogensten Verbindungen
derselben beweisbar sind. Und nun das, was für die Ana-
logie, die ich im Auge habe, das Wichtigste ist. Wo wir
von der Verursachung irgend eines psychischen Ereignisses
durch ein anderes sprechen, da ist das letztere in der Isolie-
rung und Selbständigkeit, die sein sprachlicher Ausdruck an-
zeigt, doch nie die an sich zureichende Veranlassung des
ersteren; vielmehr gehört der ganze übrige bewuſste und un-
bewuſste Seeleninhalt dazu, um, im Verein mit der neu ein-
getretenen Bewegung, den weiteren Vorgang zuwege zu bringen.
Insofern man psychische Ereignisse wie Liebe, Haſs, Glück,
oder Qualitäten wie Klugheit, Reizbarkeit, Demut und ähn-
liche als Ursachen bezeichnet, faſst man in ihnen einen ganzen
Komplex mannichfaltiger Kräfte zusammen, die nur von jener
besonders hervorgehobenen die Färbung oder die Richtung
empfangen. Das Bestimmende hierbei ist nicht nur der all-
gemeine erkenntnistheoretische Grund, daſs die Wirkung jeder
[7]X 1.
Kraft von dem sonstigen Gesamtzustand des Wesens abhängt,
an dem sie sich äuſsert, und so gewissermaſsen als die Re-
sultante zwischen der hervorgehobenen Kraft und einer An-
zahl anderer, im gleichen Augenblick auf den gleichen Punkt
wirkender anzusehen ist; sondern speciell die menschliche
Seele ist ein so auſserordentlich kompliziertes Gebilde, daſs,
wenn man einen Vorgang oder Zustand in ihr unter einen
einheitlichen Begriff bringt, dies immer nur eine Benennung
a potiori ist; es spielen stets so viele Prozesse zugleich in
unserer Seele, so viele Kräfte sind zugleich in ihr wirksam,
daſs die Feststellung einer Kausalverbindung zwischen ein-
fachen psychologischen Begriffen, wie in den bisherigen Bei-
spielen, immer ganz einseitig ist; nicht der eine einheitliche
Affekt geht in den andern einheitlichen über, sondern Gesamt-
zustände thun dies, in denen jene etwa die Hauptsachen oder
besonders hell beleuchtete Punkte sind, deren entscheidende
Nüancierung aber von unzähligen gleichzeitigen Seeleninhalten
herrührt. Wie ein Ton seine Klangfarbe von den zugleich
erklingenden Obertönen erhält, wir also nicht den reinen Ton,
sondern eine groſse Anzahl von Tönen hören, von denen einer
nur der hervortretendste, keineswegs aber über den ästheti-
schen Eindruck allein entscheidende ist: so hat jede Vor-
stellung und jedes Gefühl eine groſse Zahl psychischer Be-
gleiter, die es individualisieren und über seine weiteren
Wirkungen entscheiden. Von der Fülle des gleichzeitigen
psychischen Inhaltes treten immer nur wenige führende
Vorstellungen in das klare Bewuſstsein, und die Kausalverbin-
dung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist das
nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der
Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige
Vorgänge etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbin-
dung, das zweite Mal aber ihr entgegenwirkten. Dies ist der
Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissen-
schaftlichen Sinne erreichen kann: weil wegen der Kom-
pliziertheit ihrer Erscheinungen keine isolierte einfache Kraft-
wirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern jede von so
vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, daſs nie mit voll-
kommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich
die Ursache einer gegebenen Folge oder die Folge einer ge-
gebenen Ursache ist.
Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psycho-
logischen Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen
Wert absprechen zu wollen. Wenn sie auch nicht exakte
Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer derselben. Sie
orientieren doch einigermaſsen über die Erscheinungen und
schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung,
Wiederauflösung und Zusammenfügung nach anderen Gesichts-
punkten eine immer gröſsere Annäherung an die Wahrheit
[8]X 1.
erreicht wird; sie stiften unter diesen zwar einseitige Verbin-
dungen, deren Einseitigkeit aber durch die entgegengesetzte
paralysirt wird; sie stellen wenigstens eine erste Organisierung
der Massen dar, wenn sie diese auch noch nicht soweit be-
herrschen, um zu den Beziehungen der letzten einfachen Teile
vorzudringen, in die die komplexen Erscheinungen aufzulösen
das letzte Ziel der Wissenschaft ist.
In einer ähnlichen Verfassung nun befindet sich die Socio-
logie. Weil ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen
in sich schlieſst, wird je nach den Beobachtungen und Ten-
denzen des Forschers bald die eine, bald die andere als typisch
und innerlich notwendig erscheinen; das Verhältnis des In-
dividuums zur Allgemeinheit, die Ursachen und die Formen
der Gruppenbildung, die Gegensätze und Übergänge der
Klassen, die Entwickelung des Verhältnisses zwischen Füh-
renden und Beherrschten und unzählige andere Angelegen-
heiten unserer Wissenschaft zeigen einen solchen Reichtum
von verschiedenartigen geschichtlichen Verwirklichungen, daſs
jede einheitliche Normierung, jede Feststellung einer durch-
gehenden Form dieser Verhältnisse einseitig sein muſs und
die entgegengesetztesten Behauptungen darüber sich durch
vielfache Beispiele belegen lassen. Der tiefere Grund liegt
auch hier in der Kompliziertheit der Objekte, die der Auf-
lösung in einfache Teile und deren primitive Kräfte und Ver-
hältnisse völlig widerstehen. Jeder gesellschaftliche Vorgang
oder Zustand, den wir uns zum Objekt machen, ist die Er-
scheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen
Teilvorgänge. Da nun die gleiche Wirkung von sehr ver-
schiedenen Ursachen ausgehen kann, so ist es möglich, daſs
die genau gleiche Erscheinung durch ganz verschiedene Kom-
plexe von Kräften hervorgebracht werde, die, nachdem sie
an einem Punkte zu der gleichen Wirkung zusammengegangen
sind, in ihrer weiteren, darüber hinausgehenden Entwickelung
wieder völlig verschiedene Formen annehmen. Aus der
Gleichheit zweier Zustände oder Perioden in groſsen Ent-
wickelungsreihen läſst sich deshalb noch nicht schlieſsen, daſs
die Folge dieses Abschnitts in der einen der des gleich er-
scheinenden in der andern gleich sein werde; im weiteren
Verlaufe kommt dann die Verschiedenheit der Ausgangs-
punkte wieder zur Geltung, die nur einer zufälligen und
vorübergehenden Gleichheit Platz gemacht hatte. Eine Häufig-
keit dieses Verhaltens wird natürlich da am wahrscheinlich-
sten sein, wo die Fülle, die Komplikation und die Erkenntnis-
schwierigkeit der einzelnen Faktoren und Teilursachen die
gröſste ist. Dies aber trifft, wie gesagt, bei den gesellschaft-
lichen Erscheinungen im höchsten Maſse zu; die primären
Teile und Kräfte, die diese zustande bringen, sind so unüber-
sehbar mannichfaltig, daſs hundertfach gleiche Erscheinungen
[9]X 1.
eintreten, die im nächsten Augenblicke in ganz verschiedene
Weiterentwickelungen auslaufen — gerade wie die Kompli-
ziertheit der seelischen Kräfte die ganz gleiche Bewuſstseins-
erscheinung bald mit einer, bald mit einer andern, genau ent-
gegengesetzten Folge verbindet. Auch in sonstigen Wissen-
schaften ist ähnliches zu beobachten. In der Geschichte der
Gesundheitslehre, insbesondere in den Theorieen der Ernährung,
sehen wir oft die entgegengesetztesten Behauptungen über den
Wert eines Nahrungsmittels einander ablösen. Innerhalb
des menschlichen Körpers sind aber thatsächlich so viele
Kräfte thätig, daſs eine neu eintretende Einwirkung die ver-
schiedenartigsten Folgen haben, die eine fördern, die andere
hemmen kann. Deshalb irrt vielleicht keine jener Theorieen
ganz in dem Kausalverhältnis, das sie zwischen dem Nahrungs-
mittel und dem menschlichen Organismus aufstellt, sondern
nur darin, daſs sie dieses für das einzige und definitive hält.
Sie vergiſst, daſs dasjenige, was in einem sehr komplizierten
System nach einer Seite hin entschieden wirkt, nach einer
andern eine entschieden entgegengesetzte Nebenwirkung haben
kann, und überspringt die zeitlichen und sachlichen Zwischen-
glieder, die sich zwischen die unmittelbare Wirkung einer
Kraft und den schlieſslichen Gesamtzustand des Ganzen, auf
das sie einseitig wirkt, einschieben. Eben diese Unbestimmt-
heit in den schlieſslichen Erfolgen eines Vorgangs am socialen
Körper, die zu so vielen Entgegengesetztheiten im sociologi-
schen Erkennen führt, veranlaſst die gleichen auch in den
praktisch socialen Angelegenheiten; die Mannichfaltigkeit und
Feindseligkeit der Parteien in diesen, von denen doch jede
mit ihren Mitteln das gleiche Ziel eines Glückseligkeitsmaxi-
mums für die Gesamtheit zu erreichen glaubt, beweist jenen
eigentümlichen, durch seine Kompliziertheit jeder exacten
Berechnung widerstrebenden Charakter des socialen Materials.
Von Gesetzen der socialen Entwickelung kann man deshalb
nicht sprechen. Zweifellos bewegt sich jedes Element einer
Gesellschaft nach Naturgesetzen; allein für das Ganze giebt
es kein Gesetz; so wenig hier wie sonst in der Natur erhebt
sich über die Gesetze, die die Bewegungen der kleinsten Teile
regeln, ein höheres Gesetz, das diese Bewegungen nun in
immer gleicher Weise und zu dem gleichen Gesamteffect zu-
sammenschlösse. Deshalb können wir nicht wissen, ob nicht
in jedem von zwei gleich erscheinenden gesellschaftlichen
Zuständen Kräfte latent sind, die im nächsten Augenblick
völlig verschiedene Erscheinungen aus jenen hervortreiben.
So ist auch die Differenzierung, über die im folgenden ge-
handelt wird, keine besondere Kraft, kein in das Spiel der
primären Mächte der socialen Gestaltung eingreifendes Gesetz,
sondern nur der Ausdruck für ein Phänomen, das aus der
Wirkung der realen elementaren Kräfte hervorgeht. Und
[10]X 1.
ferner: wo wir die Folge eines Komplexes einfacher Erschei-
nungen festzustellen suchen, ist es nur durch die schwierig-
sten und auf höheren Gebieten oft ganz unanwendbaren Me-
thoden möglich, diejenige Erscheinung festzustellen, die die
allein oder wesentlich wirksame ist; wo überhaupt Mannich-
faltiges mit Mannichfaltigem in eine einheitlich erscheinende
Beziehung tritt, da ist überall dem Irrtum über die eigent-
lichen Träger der Ursache wie der Wirkung Thür und Thor
geöffnet.
Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man
vom erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen die Gesell-
schaftswissenschaft überhaupt erheben kann. Der Begriff der
Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in
irgend einem Gegensatz gegen die bloſse Summe der Einzelnen
steht. Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er
nicht anders das Objekt einer Wissenschaft sein zu können,
als etwa „der Sternhimmel“ als Gegenstand der Astronomie
zu bezeichnen ist; thatsächlich ist dies doch nur ein Kollektiv-
ausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind nur die Be-
wegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese
regeln. Ist die Gesellschaft nur eine in unserer Betrachtungs-
weise vor sich gehende Zusammenfassung von Einzelnen, die
die eigentlichen Realitäten sind, so bilden diese und ihr Ver-
halten auch das eigentliche Objekt der Wissenschaft, und der
Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich. Und wirklich
scheint es sich so zu verhalten. Was greifbar existiert, sind
doch nur die einzelnen Menschen und ihre Zustände und Be-
wegungen: deshalb könne es sich nur darum handeln diese
zu verstehen, während das rein durch ideelle Synthese ent-
standene, nirgend zu greifende Gesellschaftswesen keinen Ge-
genstand eines auf Erforschung der Wirklichkeit gerichteten
Denkens bilden dürfe.
Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der So-
ciologie ist durchaus richtig: wir müssen in der That so scharf
wie möglich zwischen den realen Wesen, die wir als objek-
tive Einheiten ansehen dürfen und den Zusammenfassungen
derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem syn-
thetischen Geiste existieren, unterscheiden. Und auf dem
Rückgang auf jene beruht freilich alles realistische Wissen;
ja, die Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer
spukender Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung
einschwärzt, als bloſs subjectiver Gebilde und ihre Auflösung
in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen ist eines
der Hauptziele der modernen Geistesbildung. Allein wenn
der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschafts-
begriff richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine
Stufe zu vertiefen, um zu sehen, daſs er damit zugleich sein
eigenes Urteil spricht. Denn auch der einzelne Mensch ist
[11]X 1.
nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Reali-
täten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon
der individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche
zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vor-
bedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschafts-
wissenschaft, der ich deshalb hier näher treten möchte.
Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten,
als ein Schöpfungsgedanke Gottes galt, als ein Wesen, das
mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet in die Welt
trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen
Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteil-
bare Persönlichkeit, deren „einfache“ Seele in der einheit-
lichen Zusammengehörigkeit ihrer körperlichen Organe Aus-
druck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche
Weltanschauung macht dies unmöglich. Wenn wir die un-
ermeſslichen Wandlungen bedenken, die die Organismen durch-
machen muſsten, ehe sie von ihren primitivsten Formen sich
zum Menschengeschlecht aufgipfeln konnten, die entsprechende
Unermeſslichkeit der Einflüsse und Lebensbedingungen, deren
Zufälligkeiten und Entgegengesetztheiten jede Generation aus-
gesetzt ist, endlich die organische Bildsamkeit und die Ver-
erbung, vermöge deren jeder dieser wechselnden Zustände
irgend ein Merkmal, eine Modifikation auf jeden Nachkommen
abgelagert hat: so erscheint jene absolute, metaphysische Einheit
des Menschen in einem sehr bedenklichen Lichte. Er ist viel-
mehr die Summe und das Produkt der allermannichfaltigsten
Faktoren, von denen man sowohl der Qualität wie der Funktion
nach nur in sehr ungefährem und relativem Sinne sagen kann,
daſs sie zu einer Einheit zusammengehen. Auch ist es physio-
logisch längst anerkannt, daſs jeder Organismus sozusagen ein
Staat aus Staaten ist, daſs seine Teile immer noch eine ge-
wisse gegenseitige Unabhängigkeit besitzen und als eigentliche
organische Einheit nur die Zelle anzusehen ist; und auch
diese letztere ist nur für den Physiologen und nur insofern
eine Einheit, als sie, abgesehen von den aus bloſsem Proto-
plasma bestehenden Wesen, das einfachste Gebilde ist, an das
sich noch Lebenserscheinungen knüpfen, während sie an und
für sich eine höchst komplizierte Zusammensetzung chemischer
Urbestandteile ist. Wenn man den Individualismus wirklich
konsequent verfolgt, so bleiben als reale Wesen nur die
punktuellen Atome übrig und alles Zusammengesetzte fällt
als solches unter den Gesichtspunkt der Realität geringeren
Grades. Und was man sich unter der Einheit der Seele kon-
kret zu denken habe, weiſs kein Mensch. Daſs irgendwo in
uns ein bestimmtes Wesen säſse, das der alleinige und ein-
fache Träger der psychischen Erscheinungen wäre, ist ein
völlig unbewiesener und erkenntnistheoretisch unhaltbarer
Glaubensartikel. Und nicht nur auf die einheitliche Substanz
[12]X 1.
der Seele müssen wir verzichten, sondern auch unter ihren
Inhalten ist keine wirkliche Einheit zu entdecken; zwischen
den Gedanken des Kindes und denen des Mannes, zwischen
unsern theoretischen Überzeugungen und unserm praktischen
Handeln, zwischen den Leistungen unserer besten und denen
unserer schwächsten Stunden bestehen so viele Gegensätze, daſs
es absolut unmöglich ist einen Punkt zu entdecken, von dem
aus dies alles als harmonische Entwickelung einer ursprüng-
lichen Seeleneinheit erschiene. Nichts als der ganz leere, for-
male Gedanke eines Ich bleibt, an dem alle diese Wandlungen
und Gegensätze vor sich gingen, der aber eben auch nur ein
Gedanke ist und deshalb nicht das sein kann, was, vorgeblich
über allen einzelnen Vorstellungen stehend, sie einheitlich
umschlieſst.
Daſs wir also eine Summe von Atombewegungen und
einzelnen Vorstellungen zu der Geschichte eines „Individuums“
zusammenfassen, ist schon unexakt und subjektiv. Dürfen
wir, wie jener Individualismus will, nur das als wahrhaft ob-
jective Existenz ansehen, was an und für sich im objectiven
Sinne eine Einheit bildet, und ist alle Zusammensetzung
solcher Einheiten zu einem höheren Gebilde nur menschliche
Synthese, der gegenüber die Wissenschaft die Aufgabe der
analysierenden Zurückführung auf jene Einheiten habe: so
können wir auch nicht bei dem menschlichen Individuum
stehen bleiben, sondern müssen auch dies als eine subjektive
Zusammenfassung betrachten, während den Gegenstand der
Wissenschaft nur die einheitlichen, atomistischen Bestandteile
derselben bildeten.
Ebenso richtig wie diese Forderung in der Theorie des
Erkennens ist, ebenso unerfüllbar ist sie in der Praxis des-
selben. Statt des Ideales des Wissens, das die Geschichte
jedes kleinsten Teiles der Welt schreiben kann, müssen uns
die Geschichte und die Regelmäſsigkeiten der Konglomerate
genügen, die nach unsern subjektiven Denkkategorieen aus der
objektiven Gesamtheit des Seins herausgeschnitten werden;
der Vorwurf, der diese Praxis trifft, gilt jedem Operieren mit
dem menschlichen Individuum so gut, wie dem mit der mensch-
lichen Gesellschaft. Die Frage, wie viele und welche realen
Einheiten wir zu einer höheren, aber nur subjektiven Ein-
heit zusammenzufassen haben, deren Schicksale den Gegen-
stand einer besonderen Wissenschaft bilden sollen — ist nur
eine Frage der Praxis. Wir haben also, die bloſse Vorläufig-
keit und den blos morphologischen Charakter solcher Erkennt-
nisse ein für allemal zugegeben, nach dem Kriterium der-
artiger Zusammenfassungen, und wie weit diejenige zu einer
Gesellschaft ihm genügt, zu fragen.
Es ist mir nun unzweifelhaft, daſs es nur einen Grund
giebt, der eine wenigstens relative Objektivität der Verein-
[13]X 1.
heitlichung abgiebt: die Wechselwirkung der Teile. Wir be-
zeichnen jeden Gegenstand in demselben Maſse als einheitlich,
in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen
stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Er-
scheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wir-
kung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zu-
sammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug
ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren
Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu
lassen. Innerhalb des persönlichen Seelenlebens ist trotz der
vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funk-
tionelle Beziehung höchst eng; jede entlegenste oder noch so
lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere
wirken, daſs hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von
dieser Seite her die gröſste Berechtigung besitzt. Natürlich
sind die Unterschiede solcher Berechtigungen nur gradweise;
als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, daſs Alles
mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht, daſs zwischen
jedem Punkte der Welt und jedem andern Kräfte und hin-
und hergehende Beziehungen bestehen; es kann uns deshalb
logisch nicht verwehrt werden, beliebige Einheiten herauszu-
greifen und sie zu dem Begriff eines Wesens zusammenzu-
schlieſsen, dessen Natur und Bewegungen wir nach histori-
schen wie gesetzlichen Gesichtspunkten festzustellen hätten.
Das Entscheidende hierbei ist nur, welche Zusammenfassung
wissenschaftlich zweckmäſsig ist, wo die Wechselwirkung
zwischen Wesen kräftig genug ist, um durch ihre isolierte
Behandlung gegenüber den Wechselwirkungen jedes derselben
mit allen andern Wesen eine hervorragende Aufklärung zu
versprechen, wobei es hauptsächlich darauf ankommt, ob die
behandelte Kombination eine häufige ist, so daſs die Erkenntnis
derselben typisch sein kann und, wenn auch nicht Gesetz-
mäſsigkeit, die für die Erkenntnis den Wirkungen der ein-
fachen Teile vorbehalten ist, so doch Regelmäſsigkeiten nach-
weist. Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe
der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung
des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst
Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzu-
lösen und in allem Sein den historischen Prozeſs seines Wer-
dens zu erkennen. Daſs nun eine Wechselwirkung der Teile
unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird
niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen,
eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie
das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den
realen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Re-
sultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung.
Wenn wir hier von der morphologischen Erscheinung absehen,
in der freilich der Einzelne ganz und gar das Produkt seiner
[14]X 1.
socialen Gruppe ist, sondern vielmehr auf den letzten er-
kenntnistheoretischen Grund zurückgreifen, so müssen wir
sagen: es ist nicht eine Gesellschaftseinheit da, aus deren ein-
heitlichem Charakter sich nun Beschaffenheiten, Beziehungen,
Wandlungen der Teile ergäben, sondern es finden sich Be-
ziehungen und Thätigkeiten von Elementen, auf Grund deren
dann erst die Einheit ausgesprochen werden darf. Diese Ele-
mente sind nicht etwa an sich wirkliche Einheiten; aber sie
sind hier für die höheren Zusammenfassungen so zu behan-
deln, weil jedes im Verhältnis zum andern einheitlich wirkt;
darum brauchen es auch nicht nur menschliche Personen zu
sein, deren Wechselwirkung die Gesellschaft konstituiert,
sondern es können auch ganze Gruppen sein, die mit andern
zusammen wieder eine Gesellschaft ergeben. Ist doch auch
das physikalische und chemische Atom kein einfaches Wesen
im Sinne der Metaphysik, sondern absolut genommen immer
weiter zerlegbar; aber für die Betrachtung der betreffenden
Wissenschaften ist dies gleichgültig, weil es thatsächlich als
Einheit wirkt; so kommt es auch für die sociologische Be-
trachtung nur sozusagen auf die empirischen Atome an, auf
Vorstellungen, Individuen, Gruppen, die als Einheiten wirken,
gleichviel ob sie an und für sich noch weiter teilbar sind.
In diesem Sinne, der von beiden Seiten her ein relativer ist,
kann man sagen, daſs die Gesellschaft eine Einheit aus Ein-
heiten ist. Es ist aber nicht etwa eine innerliche, geschlossene
Volkseinheit da, welche das Recht, die Sitte, die Religion,
die Sprache aus sich hervorgehen lieſse, sondern äuſserlich
in Berührung stehende sociale Einheiten bilden durch Zweck-
mäſsigkeit, Not und Gewalt bewogen diese Inhalte und Formen
unter sich aus, und dieses bewirkt oder vielmehr bedeutet
erst ihre Vereinheitlichung. Und so darf man auch für die
Erkenntnis nicht etwa mit dem Gesellschaftsbegriff beginnen,
aus dessen Bestimmtheit sich nun die Beziehungen und gegen-
seitigen Wirkungen der Bestandteile ergäben, sondern diese
müssen festgestellt werden, und Gesellschaft ist nur der Name für
die Summe dieser Wechselwirkungen, der nur in dem Maſse der
Festgestelltheit dieser anwendbar ist. Es ist deshalb kein ein-
heitlich feststehender, sondern ein gradueller Begriff, von dem
auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der
gröſseren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen
Personen bestehenden Wechselwirkungen. Auf diese Weise
verliert der Begriff der Gesellschaft ganz das Mystische, das
der individualistische Realismus in ihm sehen wollte.
Man scheint freilich nach dieser Definition der Gesell-
schaft auch zwei kämpfende Staaten etwa für eine Gesell-
schaft erklären zu müssen, da unter ihnen doch zweifellose
Wechselwirkung stattfindet. Trotz dieses Konfliktes mit dem
Sprachgebrauch würde ich glauben, es methodologisch ver-
[15]X 1.
antworten zu können, wenn ich hier einfach eine Ausnahme
zugebe, einen Fall, auf den die Definition nicht paſst. Die
Dinge und Ereignisse sind viel zu kompliziert und haben viel
zu flüssige Grenzen, als daſs man auf eine Erklärung, die
für eine Thatsache geeignet ist, verzichten sollte, weil sie
auch auf andere und sehr abweichende Thatsachen paſst.
Man hat dann eben nur die specifische Differenz zu suchen,
die zu dem Begriff der wechselwirkenden Personen oder
Gruppen noch hinzugesetzt werden muſs, um den üb-
lichen Begriff der Gesellschaft im Gegensatz zu dem der
kämpfenden Parteien zu ergeben. Man könnte etwa sagen,
er sei eine Wechselwirkung, bei der das Handeln für die
eignen Zwecke zugleich die der andern fördert. Allein ganz
reicht auch dies nicht zu; denn man wird auch dasjenige Zu-
sammen noch immer Gesellschaft nennen, das nur durch den
Zwang von einer Seite und zum ausschlieſslichen Nutzen dieser
gestiftet und gehalten wird. Ich glaube überhaupt: welche
einfache und einheitliche Definition der Gesellschaft man auch
aufstellen mag, es wird immer ein Grenzgebiet aufzufinden
sein, auf dem sie sich nicht mit dem von unserer Vorstellung
der Gesellschaft umschriebenen Gebiete deckt. Auch ist dies
das Loos aller Definitionen, die noch etwas mehr wollen, als
einen selbstgemachten Begriff beschreiben, und die infolge-
dessen ihren Gegenstand völlig decken, weil ihr Gegenstand
eben nichts anderes ist, als was sie beschreiben; will man
aber eine Definition so geben, daſs zie zugleich in der Ein-
heit ihres Inhalts einen gewissen sachlichen, in der Natur der
darunter fallenden Dinge selbst liegenden Zusammenhang
kenntlich macht, so macht sich in demselben Maſse auch gleich
die Inkongruenz zwischen der Abrundung unserer Begriffe und
der Fluktuation der Dinge geltend. Es ist aber auch viel
wichtiger, statt unsere Begriffe als abgeschlossene Gebilde an-
zusehen, deren implizierten Inhalt man sich nur zu explizieren
hätte, sie als bloſse Hinweisungen auf Wirklichkeiten zu be-
handeln, deren eigentlicher Inhalt erst zu ergründen ist, nicht
als Bilder, die nur die helle Beleuchtung brauchen, um einen
in sich vollendeten Inhalt zu zeigen, sondern als Umriſs-
skizzen, die erst der Erfüllung harren. So scheint mir die
Vorstellung der wechselwirkenden Wesen jedenfalls die im
Gesellschaftsbegriff liegende Hinweisung auf die Beziehungen
zwischen Personen einigermaſsen zu erfüllen.
Allein diese Bestimmung muſs wenigstens quantitativ ver-
engert werden, und vielleicht erzielt sich hiermit wenigstens
eine nähere Hinweisung auf den Inhalt dessen, was wir Gesell-
schaft nennen. Denn auch zwei Menschen, zwischen denen nur
eine ephemere Beziehung existirt, würden dem Obigen gemäſs
eine Gesellschaft bilden. Prinzipiell muſs das auch zugegeben
werden; es ist nur ein Unterschied des Grades zwischen der
[16]X 1.
losesten Vereinigung von Menschen zu einem gemeinsamen
Werk oder Gespräch, dem flüchtigsten Auftauchen einer Ver-
änderung in jedem von ihnen, die durch eine vom andern
ausgehende Kraft bewirkt wird — und der umfassendsten
Einheit einer Klasse oder eines Volkes in Sitte, Sprache, po-
litischer Aktion. Man kann aber die Grenze des eigentlich
socialen Wesens vielleicht da erblicken, wo die Wechsel-
wirkung der Personen untereinander nicht nur in einem sub-
jektiven Zustand oder Handeln derselben besteht, sondern ein
objektives Gebilde zustande bringt, das eine gewisse Un-
abhängigkeit von den einzelnen daran teilhabenden Persön-
lichkeiten besitzt. Wo eine Vereinigung stattgefunden hat,
deren Formen beharren, wenngleich einzelne Mitglieder aus-
scheiden und neue eintreten; wo ein gemeinsamer äuſserer
Besitz existiert, dessen Erwerb und über den die Verfügung
nicht Sache eines Einzelnen ist; wo eine Summe von Er-
kenntnissen und sittlichen Lebensinhalten vorhanden ist, die
durch die Teilnahme der Einzelnen weder vermehrt noch ver-
mindert werden, die, gewissermaſsen substantiell geworden,
für jeden bereit liegen, der daran teilhaben will; wo Recht,
Sitte, Verkehr Formen ausgebildet haben, denen jeder sich
fügt und fügen muſs, der in ein gewisses räumliches Zusammen-
sein mit andern eintritt — da überall ist Gesellschaft, da hat
die Wechselwirkung sich zu einem Körper verdichtet, der sie
eben als gesellschaftliche von derjenigen unterscheidet, die
mit den unmittelbar ins Spiel kommenden Subjekten und ihrem
augenblicklichen Verhalten verschwindet.
Man kann das Allgemeine in doppeltem Sinne verstehen:
als dasjenige, was, gewissermaſsen zwischen den Einzelnen
stehend, sie dadurch zusammenhält, daſs zwar jeder daran
Teil hat, aber keiner es doch ganz und allein besitzt; oder
als dasjenige, was jeder besitzt und was nur durch den be-
ziehenden oder vergleichenden Geist als Allgemeines kon-
statiert wird. Zwischen beiden Bedeutungen aber, die man
die reale und die ideelle Allgemeinheit nennen könnte, be-
stehen sehr tief gelegene Beziehungen. Obgleich es nämlich
sehr wohl möglich ist, daſs die letztere ohne die erstere vor-
kommt, so wird man doch wenigstens als heuristischen Grund-
satz annehmen können: wo sich gleiche Erscheinungen an
äuſserlich in Berührung stehenden Individuen zeigen, ist von
vornherein eine gemeinsame Ursache anzunehmen; ent-
sprechend deduziert Laplace aus der Thatsache, daſs die
Umläufe der Planeten sämtlich in einer Richtung und
fast in einer Ebene vor sich gehen, es müsse dem eine ge-
meinsame Ursache zu Grunde liegen, weil diese Überein-
stimmung bei gegenseitiger Unabhängigkeit ein nicht anzu-
nehmender Zufall wäre; so beruht die Entwicklungslehre
auf dem Gedanken, daſs die Ahnlichkeiten aller Lebewesen
[17]X 1.
untereinander es gar zu unwahrscheinlich machen, daſs die
Arten unabhängig von einander entstanden sind. So giebt
jede Gleichheit einer gröſseren Anzahl von Gesellschafts-
gliedern Anweisung auf eine gemeinsame, sie beeinflussende
Ursache, auf eine Einheit, in der die Wirkungen und Wechsel-
wirkungen der Gesamtheit Körper gewonnen haben und die
nun, ihrerseits auf die Gesamtheit weiterwirkend, dies in für
alle gleichem Sinne thut.
Daſs hierin sehr viele erkenntnistheoretische Schwierig-
keiten liegen, darf nicht verkannt werden. Jene mystische
Einheit des Gesellschaftswesens, die wir oben verwarfen,
scheint sich hier auf dem Wege wieder einschleichen zu
zu wollen, daſs sein Inhalt nun doch von der Vielheit und
Zufälligkeit der Individuen sich ablösen und ihnen gegenüber-
stehen soll. Es stellt sich wieder das Bedenken ein, daſs ge-
wisse Realitäten jenseits der Einzelnen existieren und doch
offenbar, abgesehen von diesen, nichts haben, woran sie exi-
stieren könnten. Es ist ungefähr die gleiche Schwierigkeit,
wie sie sich in dem Verhältnis zwischen den Naturgesetzen
und den Einzeldingen, die ihnen unterworfen sind, aufthut.
Denn ich wüſste keine Art von Wirklichkeit, die jenen Ge-
setzen zuzuschreiben wäre, wenn es keine Dinge gäbe, auf
die sie Anwendung finden; andererseits scheint doch die Kraft
des Gesetzes über den Einzelfall seiner Verwirklichung hinaus-
zuragen. Wir stellen uns vor, daſs, wenn ein solcher auch
bis jetzt nie eingetreten wäre, dennoch das Gesetz als ein
allgemeines, sobald er nur einträte, seine Wirkung unweiger-
lich üben würde; ja, wenn überhaupt die Kombinationen der
Wirklichkeit nie zu den Bedingungen dieser Wirkung führten,
so haben wir dennoch die Vorstellung, daſs dieses unrealisierte,
bloſs ideelle Naturgesetz noch eine Art von Giltigkeit hätte,
die es von einem bloſsen Traume oder einer logisch und
physisch unmöglichen Phantasie unterschiede. In diesem
zwischen Realität und Idealität schwebenden Zustande steht
auch das Allgemeine, das die Individuen zu einer Gesellschaft
zusammenbindet, jedem von diesen gegenüber — von ihm ge-
tragen und doch von ihm unabhängig. So wenig man zu
sagen wüſste, wo denn der Ort der Naturgesetze sei, die wir
als wahr anerkennen, wenn sie auch vielleicht nie eine absolut
reine Verwirklichung erfahren haben (wie z. B. die geometri-
schen Sätze), so wenig ist der Ort dieser ungreifbaren inter-
subjektiven Substanz zu nennen, die man als Volksseele oder
als deren Inhalt bezeichnen könnte. Sie umgiebt jeden in
jedem Augenblick, sie bietet uns den Lebensinhalt dar, in
dessen wechselnden Kombinationen die Individualität zu be-
stehen pflegt — aber wir wissen niemanden namhaft zu
machen, von dem sie entsprungen wäre, keinen einzelnen,
Forschungen (42) X 1. Simmel. 2
[18]X 1.
über den sie nicht hinausragte, und selbst wo wir den Bei-
trag einzelner Menschen meinen feststellen zu können, da
bleibt noch immer die Frage, ob diese nicht auch ihr We-
sentliches von jenem öffentlichen Besitz empfangen haben, der
sich in ihnen nur konzentrierte oder originell formte. Die
Schwierigkeiten, die sich in dem Verhältnisse zwischen dem
Allgemeinen und dem Individuellen in sociologischer Be-
ziehung finden, entsprechen ganz denen, die es in rein er-
kenntnistheoretischer Hinsicht aufweist, wie sie sich denn
auch in den praktischen Schwierigkeiten und Kontroversen
über die reale Gestaltung dieses Verhältnisses spiegeln.
Ich glaube nun, daſs die eigentümlichen Widersprüche,
die jenes Verhältnis im Theoretischen zeigt und die in dem
mittelalterlichen, aber noch immer in andern Formen fort-
lebenden Gegensatz von Nominalismus und Realismus auf-
fälligste Gestaltung gewonnen haben, eigentlich nur aus mangel-
hafter Denkgewohnheit stammen können. Die Formen und
Kategorieen unseres Denkens und unserer Ausdrücke für das
Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primi-
tiven Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits
verworren komplizierten Vorstellungen erfüllt waren, was
durch die Einfachheit unkultivierter Lebensinteressen und
durch das Vorherrschen der psychologischen Association vor
der logischen Abstraktion begreiflich wird. Die Probleme
späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse,
von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Be-
wältigung aber nur diejenigen Denk- und Sprechformen da
sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken ge-
prägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich
darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen,
der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der
eigentlich ganz andere, jetzt aber nicht mehr herstellbare Denk-
bewegungen fordert. Schon für die psychischen Vorgänge
haben wir keine besonderen Ausdrücke mehr, sondern müssen
uns an die Vorstellungen äuſserer Sinne halten, wenn wir
uns ihre Bewegungen, Reibungen, quantitativen Verhältnisse
etc. zum Bewuſstsein bringen wollen, weil viel eher die
Auſsenwelt als die psychischen Ereignisse als solche Gegen-
stände der menschlichen Aufmerksamkeit waren und, als die
letzteren diese errangen, die Sprache nicht mehr schöpferisch
genug war, um eigenartige Ausdrücke für sie zu formen,
sondern zu Analogieen mit den ganz inadäquaten Vorstellun-
gen des räumlichen Geschehens greifen muſste. Je allge-
meiner und umfassender die Gegenstände unserer Frage-
stellung sind, desto weiter liegen sie hinter dem Horizonte,
der die Epoche der Sprach- und Denkbildung umgrenzte,
desto unhaltbarere, oder nur durch eine Umbildung der Denk-
[19]X 1.
formen sich lösende Widersprüche müssen sich ergeben, wenn
wir derartige Probleme, also etwa die Frage nach dem Ver-
hältnis zwischen Einzelding und Allgemeinbegriff, mit unseren
jetzigen Kategorieen behandeln. Es scheint mir, als ob die
Erkenntnisschwierigkeiten, die das Verhältnis zwischen dem
Individuum und seiner socialen Gruppe umgeben, aus einer
entsprechenden Ursache stammten. Die Abhängigkeit von
der Gattung und der Gesellschaft nämlich, in der der Ein-
zelne in den grundlegenden und wesentlichen Inhalten und
Beziehungen seines Lebens steht, ist eine so durchgängige
und undurchbrechlich giltige, daſs sie nur schwer ein beson-
deres und klares Bewuſstsein für sich erwirbt. Der Mensch
ist ein Unterschiedswesen; wie wir nie die absolute Gröſse
eines Reizes, sondern nur seinen Unterschied gegen den bis-
herigen Empfindungszustand wahrnehmen, so haftet auch
unser Interesse nicht an denjenigen Lebensinhalten, die von
jeher und überall die verbreiteten und allgemeinen sind,
sondern an denen, durch die sich jeder von jedem unter-
scheidet. Die gemeinsame Grundlage, auf der sich alles In-
dividuelle erst erhebt, ist etwas Selbstverständliches und kann
deshalb keine besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, die
vielmehr ganz von den individuellen Unterschieden verbraucht
wird; denn alle praktischen Interessen, alle Bestimmung unserer
Stellung in der Welt, alle Benutzung anderer Menschen ruht
auf diesen Unterschieden zwischen Mensch und Mensch, wäh-
rend der gemeinsame Boden, auf dem alles dies vorgeht, ein
konstanter Faktor ist, den unser Bewuſstsein vernachlässigen
darf, weil er jeden der allein wichtigen Unterschiede in der
gleichen Weise berührt. Wie Licht und Luft keinen ökono-
mischen Wert haben, weil sie allen in gleicher Weise zu-
gute kommen, so hat der Inhalt der Volksseele als solcher
oft insoweit keinen Bewuſstseinswert, als keiner ihn in an-
derem Maſse besitzt, als der andere. Auch hier kommt es
zur Geltung, daſs, was der Sache nach das Erste ist, für
unsere Erkenntnis das Letzte ist; und da findet denn die neu
geforderte Erkenntnis nur schwer Kategorieen, in denen die
Verhältnisse ihres Inhalts sich widerspruchslos formulieren
lieſsen, insbesondere da, wo es sich um weiteste Gebiete han-
delt, für die es keine Analogieen giebt.
Das einzige Gebiet, auf dem das Socialgebilde als solches
früh in das Bewuſstsein getreten ist, ist das der praktischen
Politik, viel später das der kirchlichen Gemeinde. Hier war
der zu allem Bewuſstwerden erforderte Unterschied durch den
Gegensatz gegen andere Gruppen gegeben, und auſserdem
fordert das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der All-
gemeinheit nach seiner politischen Seite hin sehr fühlbare
Beiträge des ersteren, was denn immer ein stärkeres Bewuſst-
2*
[20]X 1.
sein erweckt als das Empfangen, wie es in anderen Be-
ziehungen zwischen dem Individuum und seiner Gruppe für
jenes vorherrscht. Im Gegensatz zu den Bewegungen der
ganzen Gruppe, die sich dem sociologischen Denken als
nächstes Objekt darboten, sollen die folgenden Überlegungen
im wesentlichen die Stellung und die Schicksale des Ein-
zelnen zeichnen, wie sie ihm durch diejenige Wechselwirkung
mit den andern bereitet werden, die ihn mit diesen zu einem
socialen Ganzen zusammenschlieſst.
[[21]]
II.
Über Kollektivverantwortlichkeit.
Rohere Epochen zeigen durchgängig die Tendenz, die
schädigende That des Einzelnen als strafbares Verschulden
seines socialen Kreises, der ganzen Familie, des Stammes
u. s. w. anzusehen. Innerhalb einer politisch einheitlichen
Gruppe geschieht, wo eine Centralgewalt die Missethat heim-
sucht, dies oft bis ins dritte und vierte Glied, und Strafen
jeder Art treffen Familienglieder, die an dem Vergehen völlig
unschuldig sind; in noch stärkerem Maſse findet dasselbe bei
Privatrache statt, die häufig auf eine Schädigung des Ein-
zelnen durch einen Einzelnen hin in einen Krieg der ganzen
Familien untereinander ausartet, und zwar sowohl ihrer ganzen
Breite nach, wie auf die Folge ganzer Generationen hin. Bei
politisch getrennten Gruppen fordert die Gesamtheit der einen
von der Gesamtheit der andern Genugthuung für die Be-
schädigung, die ihr oder einem ihrer Mitglieder von einem
Mitgliede der andern widerfahren ist. Ein Differenzierungs-
mangel kann hierin nach zwei Seiten liegen: zunächst ob-
jectiv, insofern die Verschmelzung zwischen Individuum und
Gesamtheit thatsächlich eine so enge sein kann, daſs die Thaten
des Ersteren mit Recht nicht als individuelle im strengen Sinne,
sondern aus einer gewissen Solidarität jedes mit jedem hervor-
gegangen gelten können; zweitens subjektiv vermöge der Un-
fähigkeit des Beurteilenden, das schuldige Individuum von der
Gruppe zu sondern, mit der es sich in allen übrigen Be-
ziehungen, aber doch gerade nicht in der der vorliegenden
Schuld in Verbindung befindet. — Da öfters indes eine und
dieselbe Ursache nach beiden Seiten hin wirkt, so scheint es
zweckmäſsig, daſs die folgende Begründung dieser Möglich-
keiten sie nicht in scharfer Sonderung behandelt.
[22]X 1.
In Bezug auf die reale Zusammengehörigkeit scheint es
allerdings, als ob in der primitiven Gruppe das Vererbungs-
prinzip, das auf Zusammenhang und Gleichheit der Individuen
geht, gegenüber dem Anpassungsprinzip, das auf Verselbstän-
digung und Variabilität geht, im Übergewicht wäre. Man hat
mit Recht hervorgehoben, daſs der sociale Zusammenschluſs
eines der wesentlichsten Mittel der Menschen im Kampfe ums
Dasein ist und sich deshalb wahrscheinlich durch natürliche
Zuchtwahl zu seiner thatsächlichen Enge und Strenge erhoben
hat. Je kleiner aber die Gruppe ist, die dem Einzelnen die
Gesamtheit der ihm nötigen Anlehnungen bietet, und je weniger
er auſserhalb gerade dieser die Möglichkeit einer Existenz
findet, desto mehr muſs er mit ihr verschmelzen. Die Ver-
selbständigung und Loslösung des Individuums von dem Boden
der Allgemeinheit geschieht durch die Fülle und Verschieden-
artigkeit der Vererbungen und Lebensbeziehungen; je mehre
davon jeder zu Lehen trägt, desto unwahrscheinlicher ist die
Wiederholung der gleichen Kombination, desto gröſser die
Möglichkeit, sich von einer Anzahl von Beziehungen zu Gun-
sten anderer zu lösen. Wir fühlen uns enger verknüpft und
sind es auch thatsächlich, wenn nur wenige Fäden uns binden,
die aber doch alle Richtungen unseres Thuns und Empfindens
leiten und eben wegen dieser geringen Anzahl stets ganz im
Bewuſstsein bleiben; wo viele nach den verschiedensten Rich-
tungen verlaufende Bindungen statthaben, erscheint die Ab-
hängigkeit von dieser Totalität kleiner, weil sie in Hinsicht
jeder einzelnen kleiner ist, und sie ist es auch insofern, als
die hervorragende Bedeutung des Einen oder des Andern uns
jedenfalls dem Ganzen als Ganzem gegenüber gröſsere Frei-
heit giebt. Je einfacher die realen und idealen Kräfte sind,
die eine Gemeinschaft zusammenbinden, welche die wesent-
lichen Lebensbeziehungen des Einzelnen einschlieſst, desto
enger und solidarischer ist der Zusammenhang zwischen diesen
und dem Ganzen; aber desto kleiner kann natürlich das letztere
nur sein. Die Geschichte der Religionen giebt dafür treffende
Analogieen. Die kleinen Gemeinden des Urchristentums
hatten einen verhältnismäſsig geringen Besitz an Dogmen;
aber sie wurden durch diese in Zusammenhänge gebracht,
die, von unzerreiſsbarer Stärke, jeden an jeden unbedingt
banden. In demselben Maſse, in dem der Kreis des christ-
lichen Glaubens sich äuſserlich erweiterte, wuchs auch der
Dogmenbesitz und verminderte sich zugleich die solidarische
Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinde. Der Entwicke-
lungsprozeſs fast aller Parteien zeigt den gleichen Typus:
in der ersten Periode des Grundgedankens der Partei, also
gleichsam in der primitiven Form der Gruppenbildung, ist
die Partei einerseits klein, andererseits aber von einer Ent-
schlossenheit und Festigkeit des Zusammenhanges, der ge-
[23]X 1.
wöhnlich verloren geht, sowie die Partei sich vergröſsert, was
Hand in Hand mit der Erweiterung des Parteiprogramms zu
geschehen pflegt.
Das sociale Ganze als solches fordert, um bestehen zu
können, ein gewisses Quantum von Ernährung, welches ganz
wie beim einzelnen Organismus nicht im gleichen Verhältnis
der Gröſse jenes wächst; infolge dessen wird, wo nur ver-
hältnismäſsig wenige Mitglieder die Gruppe bilden, jedes der-
selben mehr zur Erhaltung der Gruppe beitragen müssen,
als wo dies einer gröſseren Anzahl obliegt; so bemerken wir,
daſs oft die Kommunallasten in kleinen Städten relativ viel
gröſsere sind, als in gröſseren; gewisse Ansprüche der Gesell-
schaft bleiben die gleichen, ob diese nun klein oder groſs ist,
und fordern deshalb von dem Einzelnen um so stärkere Opfer,
auf je wenigere sie sich verteilen. Der Umweg der folgenden
Überlegung führt zu dem gleichen Endpunkt.
Der sociale Organismus zeigt denjenigen analoge Erschei-
nungen, die für das einzelne Lebewesen zur Annahme einer
besonderen Lebenskraft geführt haben. Die wunderbare
Zähigkeit, mit der der Körper die Entziehung von Bedingungen
erträgt, an die normalerweise seine Ernährung und der Be-
stand seiner Form geknüpft ist; der Widerstand, den er po-
sitiven Störungen entgegensetzt, indem er von innen heraus
Kräfte entfaltet, die gerade in dem Maſse disponibel scheinen,
dessen es zur Überwindung des augenblicklichen Angriffs be-
darf; endlich darüber noch hinausgehend das Wiederwachsen
verletzter oder verlorener Teile, das gewissermaſsen von selbst
und durch eine innerliche Triebkraft das wie auch immer be-
schädigte Ganze herzustellen vermag oder wenigstens strebt —
das alles schien auf eine besondere Kraft hinzuweisen, die,
über allen einzelnen Teilen stehend und von ihnen unab-
hängig, das Ganze als solches in seinem Bestande erhält.
Ohne nun eine mystische Harmonie hinzuzuziehen, bemerken
wir doch an dem gesellschaftlichen Ganzen eine ähnliche
Widerstandskraft, welche sich proportional den Ansprüchen
entfaltet, die äuſsere Angriffe an sie stellen, eine Heilkraft
gegenüber zugefügten Beschädigungen, eine Selbsterhaltung,
deren äuſsere Quellen scheinbar nicht aufzufinden sind, und
die oft das Ganze noch zusammenhält, wenn ihm längst die
gesunden Säfte vertrocknet und der Zufluſs neuer Nahrung
abgeschnitten ist. Nun hat man sich aber überzeugt, daſs
jene Lebenskraft doch kein besonderes, über den Teilen des
Organismus schwebendes Agens ist, sondern höchstens als zu-
sammenfassender Ausdruck für die Wechselwirkung der Teile
gelten kann; kein einziger Teil eines Körpers bewegt, erhält
oder ergänzt sich in einer Weise, die nicht auch auſserhalb
des Organismus herstellbar wäre, wenn man ihm die gleichen
mechanischen und chemischen Reize darböte; und nicht werden
[24]X 1.
die einzelnen Organe und Zellen zum Zusammenhalt und
Wachstum bewogen durch eine jenseits ihrer, sondern nur
durch die in ihnen selbst befindlichen Kräfte, und die Form
und Dauer ihres Beisammenseins hängt nur von den Spann-
kräften ab, die jedes mitbringt und deren Entwicklung sie
gegenseitig hervorrufen. Nur die unermeſsliche Feinheit und
Verkettung dieser Wechselwirkungen, die die Einsicht in ihre
Einzelheiten und in den Beitrag jedes Teiles verwehrten,
schienen auf eine besondere Kraft jenseits der in den Elementen
selbst liegenden Anweisung zu geben. Je höher, ausgebildeter
und feiner ein Gebilde, desto mehr scheint es von einer ihm
eigentümlichen, nur dem Ganzen als Ganzem geltenden Kraft
dirigiert zu werden, desto unmerkbarer wird der Anteil der
Elemente an dem Bestehen und der Entwicklung des Ganzen.
Während in einem rohen und unorganischen oder nur aus
wenigen Teilen zusammengesetzten Aggregate die Einwirkung
jedes Teiles zu dem Schicksal des Ganzen sich sozusagen
makroskopisch feststellen läſst, ist sie in einem feinen und
vielgliedrigen nur dem geschärften Blick sichtbar; dieses ge-
stattet dem Teile eine solche Fülle von Beziehungen, daſs er,
gewissermaſsen zwischen diese gestellt, sich keiner völlig hin-
giebt und so eine Selbständigkeit gewinnt, die seine Mit-
wirkung am Ganzen objektiv und subjektiv verdeckt. So
wichtig für primitive Verhältnisse das Angewiesensein des
Einzelnen auf seine Gruppe ist, so werden sie doch noch cha-
rakteristischer durch das hohe Maſs bezeichnet, in dem die
Gruppe auf den Einzelnen angewiesen ist und das einfach
die Folge dieser geringen Mitgliederzahl ist. Trotzdem nun
die einfacheren Lebensbedingungen und das Übergewicht
körperlicher Thätigkeit über die geistige dem Naturmenschen
vielleicht zu einer gesunderen und normaleren Constitution
verhelfen, als der Culturmensch sie besitzt, so ist doch infolge
des eben genannten Verhältnisses seine Gruppe auſserordentlich
viel empfindlicher und angreifbarer und zersplittert auf un-
vergleichlich leichtere Anstöſse hin als etwa ein groſser Kultur-
staat, dessen Individuen vielleicht, für sich betrachtet, viel
schwächlicher sind. Gerade aus diesem Verhältnis wird die
wachsende Unabhängigkeit des Ganzen und seiner Kraft von
jedem seiner Individualelemente klar; je mehr das Ganze auf
diese angewiesen ist, d. h. je gröſsere Beiträge sie ihm leisten
müssen, desto zugänglicher muſs es für die von Einzelnen
ausgehenden oder irgendwie durch sie hindurchgehenden Er-
schütterungen sein; dies ändert sich mit der Zunahme und
Kultivierung des öffentlichen Wesens derart, daſs dieses sogar
nach gewissen Seiten hin eine Depravierung seiner Mitglieder
gegen den früheren Zustand verträgt, ohne daſs die Über-
legenheit seiner Selbsterhaltung diesem gegenüber vermindert
würde. Wenn aber die sociale Gruppe deshalb den Anschein
[25]X 1.
erweckt, als ob eine eigene, von ihren Elementen relativ
unabhängige Lebenskraft ihre Selbsterhaltung bewirkte und
ihre Störungen ausgliche, so beweist dies nur die hohe Aus-
bildung und innerliche Verknüpftheit ihrer Vereinigungsform;
und mit dem Steigen dieser Eigenschaften wird auch jene
Folge wachsen, das Ganze wird selbständiger den Teilen
gegenüber erscheinen und sein, der Teil immer weniger sich
dem Ganzen hinzugeben brauchen. So ist die Thatsache der
anspruchsvolleren Verpflichtung des Einzelnen durch die klei-
nere Gruppe, seine engere Verschmelzung mit ihr als mit der
gröſseren nur als ein specieller Fall einer ganz allgemeinen,
für den Zusammenhang der Dinge geltenden Norm anzusehen.
Eine etwas einfachere Überlegung stellt das gleiche Ver-
hältnis noch von einer andern Seite dar. Da die Differen-
zierung auch der individuellen Kräfte und Thätigkeiten bei
primitiven socialen Zuständen noch eine unvollkommne ist, so
kann auch eine scharfe Sonderung zwischen dem, was des
Kaisers ist, und dem, was die privaten oder anderweitigen
socialen Interessen des Einzelnen beanspruchen und bean-
spruchen dürfen, noch nicht eintreten, und das dem Gemein-
wesen gebrachte Opfer ist deshalb leicht umfänglicher, als die
Sache es fordert; wegen der noch zu engen Verbindung zwi-
schen den einzelnen Willensakten und Interessenkreisen setzt
die einzelne Zweckthätigkeit noch viele andere, eigentlich
nicht dazu gehörige in Bewegung und verbraucht sie — un-
gefähr wie Kinder und ungeschickte Menschen zu einer vor-
gesetzten Thätigkeit viel mehr Muskelgruppen innervieren,
als für sie erforderlich ist, wie sie oft den ganzen Arm be-
wegen, wo sie nur einen Finger, den ganzen Körper, wo sie
nur einen Arm zu bewegen brauchten. Wo die Ansprüche
der socialen Gruppe an den Einzelnen, wo das Maſs, in dem
er sich ihnen hingeben kann, in scharfer Umgrenzung heraus-
differenziert ist, da können sie ceteris paribus geringere sein,
als wo ein ungefüges Ineinander und Durcheinander der
Lebensmomente die einzelne Forderung noch so und so viel
Benachbartes gewissermaſsen mit sich fortreiſsen läſst. Ich
erinnere daran, wie die Mitgliedschaft in einer Zunft sehr oft
eine politische Parteistellung erforderte, die eine höhere Ent-
wickelung ganz von dem Zwecke der Zunft ablöste, an die
ziemlich unbedingte Notwendigkeit in engeren und primitiven
Staatsgruppen auch dem religiösen Bekenntnis derselben an-
zugehören, an den Zwang früherer Zeiten bei Zugehörigkeit
zu einer gewissen Familie auch den in ihr erblichen Beruf
zu ergreifen, z. B. in [Ägypten], Mexico u. s. w. Wie dieser
Zustand noch in die höchsten Kulturen hineinragt, lehrt jeder
unbefangene Blick; ich nenne nur ein etwas abgelegeneres
Beispiel: in England war bis 1865 jeder Arbeiter oder An-
gestellte, der durch Gewinnanteil besoldet wurde, eo ipso
[26]X 1.
als Teilnehmer (partner) des Geschäftsinhabers angesehen,
also solidarisch haftbar für ihn. Ein Gesetz dieses Jahres
erst löste diese Verbindung, indem es durch feinere Differen-
zierung gerade nur diejenigen bestehen lieſs, auf die es ankam.
Der Arbeiter konnte nun Teil am Gewinne haben, ohne in das
sachlich ungerechtfertigte Risiko der vollkommenen Teilhaber-
schaft hineingerissen zu werden. Es ist für alle diese Ver-
hältnisse zu beachten, daſs die mangelhafte Differenzierung
nicht nur, im Objektiven stattfindend, die Funktion eines
Teils mit der eines andern, die teleologisch nicht dazu er-
forderlich wäre, verschmelzen läſst, sondern daſs auch das
subjektive Urteil oft die Möglichkeit der Sonderung nicht
entdeckt und nun, wenn das Geschehen von bewuſster Er-
kenntnis, Plan oder Befehl abhängig ist, die Heraussonderung
des allein Erforderlichen deshalb selbst dann nicht stattfindet,
wo dies sachlich schon geschehen könnte. Die Differenzierung
in unserm Vorstellen der Dinge steht keineswegs in gleichem
Verhältnis zu dieser thatsächlichen Differenzierung oder Dif-
ferenzierungsmöglichkeit, wenngleich im groſsen und ganzen
die erstere von der letzteren bestimmt werden wird; da nun
aber auch vielfach die erstere die letztere bestimmt, so wird
bei Mangelhaftigkeit derselben sich der Zirkel ergeben, daſs
der Glaube, die Personen oder Funktionen gehörten zu-
sammen, auch thatsächlich ihre Individualisierung verhindert
und dieser reale Mangel wieder jene mangelhafte Erkenntnis
stützt. So hat gerade der Glaube an die unlösliche Solidarität
der Familie, der einem undifferenzierten Vorstellen entsprang,
zu dem Heimsuchen der gegen dritte Personen gerichteten in-
dividuellen That an der Familie als Ganzem geführt und
dieser Umstand wiederum die Familie genötigt sich zur Ab-
wehr des Angriffs wirklich aufs engste zusammenzuschlieſsen,
was dann jenem Glauben wieder eine verstärkte Grundlage
gab.
Man muſs nun auch im Auge behalten, daſs in demselben
Maſse, in dem sich der Einzelne an den Dienst seiner Gruppe
hingiebt, er von ihr auch Form und Inhalt seines eigenen
Wesens empfängt. Freiwillig oder unfreiwillig amalgamiert
der Angehörige einer kleinen Gruppe seine Interessen mit
denen der Gesamtheit, und so werden nicht nur ihre In-
teressen die seinen, sondern auch seine Interessen die ihren.
Und schon dadurch wird seine Natur gewissermaſsen der des
Ganzen eingeschmolzen, daſs namentlich im Verlauf vieler
Generationen die Eigenschaften sich immer den Interessen
anpassen und so die Einheit der Zwecke zur Einheit des
geistigen und leiblichen Wesens führt.
Wir sehen, wie die Beziehungen, die den Einzelnen in
völliger Einheitlichkeit mit seiner Gruppe erscheinen lassen,
zwei Typen aufweisen, welche mit denjenigen Hauptgründen
[27]X 1.
zusammenfallen, die im individuellen Geiste die Association
der Vorstellungen bewirken: einerseits die Gleichheit, anderer-
seits der reale Zusammenhang. Trotzdem die Anpassung
schlieſslich, wie eben erwähnt, die erstere aus dem letzteren
kann hervorgehen lassen, obgleich ferner die Entwickelung der
gesellschaftlichen Gruppe aus der Familie eine gemeinsame
Ursache für beiderlei Beziehungen schafft, so sind sie doch in
hohem Grade von einander unabhängig; zwei Vorstellungen
ebenso wie zwei Individuen können einander im höchsten
Maſse ähnlich sein, ohne daſs irgend eine funktionelle Be-
rührung zwischen ihnen existiert; nur in dem auffassenden
Geiste entsteht der Zusammenhang und die vielfache Ver-
schmelzung von Objekten, die nichts Anderes als gewisse
Qualitäten gemeinsam haben. Durch diese Eigenschaft des
Geistes, daſs das gleich Erscheinende sich in ihm associiert
und reproduziert, werden natürlich auch die Gefühle, die sich
an einen der gleich qualifizierten Gegenstände oder Personen
knüpften, auf den andern übertragen, der sachlich durchaus
keine Veranlassung dazu gegeben hat. Kein Mensch wird
sich ganz frei davon fühlen, daſs er einem andern eine wenig
freundliche und nicht ganz vorurteilslose Stimmung entgegen-
bringt, der etwa mit seinem Todfeinde eine täuschende
Ähnlichkeit hat. Umgekehrt fesseln uns einzelne Züge an
Menschen oft mit einer Stärke, die aus ihren eigentlichen
Werten und Reizen nicht verständlich ist, und die sich einem
näheren Nachforschen oft so enthüllt, daſs ein anderer uns
teurer Mensch eben diese Eigenschaft besessen hat und nun
die Gleichheit derselben die Übertragung des Gefühls ver-
mittelt, das ehemals mit ihr verknüpft war, auch wenn die
sachlichen Gründe, die es in jenem Falle erzeugten, in diesem
völlig fehlen; die formale Gleichheit in einem Punkte genügt,
um für unser Empfinden ein annäherndes Verhältnis zu dieser
wie einst zu jener Person herzustellen. Wie sehr dies unser
praktisches Verhalten beeinfluſst, liegt auf der Hand. Freund-
schaftliche wie feindselige Gesinnungen gegen eine Gruppe
werden unzählige Male dadurch hervorgerufen oder verstärkt,
daſs ein einzelnes Mitglied derselben sachliche Veranlassung
dazu gegeben hat, und nun die psychologische Association
zwischen den gleich charakterisierten Vorstellungen das gleiche
Gefühl auch auf alle diejenigen überträgt, die, wie es in einer
Familie oder einem Volksstamme der Fall zu sein pflegt,
durch Ähnlichkeit oder äuſsere Kennzeichen — sei es auch
nur die Führung des gleichen Namens — diese Zusammen-
schlieſsung im Geiste des Dritten begünstigen. Und, worauf
es für unsere Beweisführung ankommt, dies wird in Zeiten
eines unausgebildeteren und roheren Bewuſstseins in erhöhtem
Maſse stattfinden, weil ein solches ganz besonders von der
Association durch äuſserliche Gleichheit beherrscht wird; so
[28]X 1.
wird uns von Naturvölkern berichtet, daſs sie die Vorstellung
eines Menschen, die sein Bild hervorruft, nicht von der seiner
wirklichen Gegenwart zu unterscheiden wissen. Je unklarer
und verworrener das Denken ist, desto unmittelbarer zieht die
Association auf Grund irgend einer Äuſserlichkeit die Identi-
fizierung der Objekte auch in jeder anderen Beziehung nach
sich, und in demselben Maſse, in dem dieses psychologische
Verhalten überhaupt statt ruhiger Sachlichkeit eine vorschnelle
Subjektivität herrschen läſst, wird es ohne weiteres diejenigen
Empfindungen und Handlungsweisen, die einer bestimmten
Person aus sachlichen Gründen gelten, auf den ganzen Kreis
derjenigen übertragen, die durch irgend welche Gleichheiten
die Association hervorrufen.
Andererseits aber bedarf es einer Gleichheit erscheinender
Eigenschaften nicht, um die Gesamtheit einer Gruppe für die
That eines ihrer Mitglieder verantwortbar zu machen, sobald
funktionelle Verbindungen, Einheit der Zwecke, gegenseitige
Ergänzung, gemeinsames Verhalten zu einem Oberhaupt u. s. w.
stattfinden. Hier liegt, glaube ich, der Haupterklärungsgrund
für das Problem, von dem wir ausgingen. Die feindselige
Aktion gegen den fremden Stamm, handle es sich nun um
Erbeutung von Frauen, Sklaven oder sonstigem Besitz, um
Befriedigung eines Rachegefühls oder um was immer, wird
kaum je von einem Einzelnen unternommen, sondern immer
in Gemeinschaft wenigstens mit einem wesentlichen Teile der
Stammesgenossen; schon deshalb ist das nötig, weil, wenn sich
der Angriff auch nur gegen ein einzelnes Mitglied eines
fremden Stammes richtet, dennoch dieser als ganzer zu dessen
Verteidigung herbeieilt; und dies wiederum geschieht nicht
nur, weil die angegriffene Persönlichkeit vielleicht dem Gan-
zen von Nutzen ist, sondern weil jeder weiſs, daſs das Ge-
lingen des ersten Angriffes dem zweiten Thür und Thor
öffnet, und daſs der Feind, der heut den Nachbar beraubt
hat, sich morgen mit gewachsener Kraft gegen ihn selber
wenden wird. Diese Analogisierung des eigenen Schicksals
mit dem des Nachbars ist einer der mächtigsten Hebel der
Vergesellschaftung überhaupt, indem sie die Beschränkung
des Handelns auf das unmittelbare eigene Interesse aufhebt
und das letztere durch den Zusammenschluſs gewahrt sieht,
der zunächst nur dem anderen zugute kommt. In jedem Fall
ist klar, wie die Vereinigung zur Offensive und die zur De-
fensive in Wechselwirkung stehen, wie der Angriff nur in der
Zusammenwirkung der Vielen erfolgreich ist, weil die Ver-
teidigung die Vielen aufruft, und umgekehrt dies nötig ist,
weil der Angriff ein kombinierter zu sein pflegt. Die Folge
muſs die sein, daſs in allen feindlichen Begegnungen, in denen
also jeder einer Gesamtheit gegenübersteht, er auch in jedem
Gegner nicht sowohl diese bestimmte Person, als vielmehr ein
[29]X 1.
bloſses Mitglied der feindlichen Gruppe erblickt. Feindliche
Berührungen sind in viel höherem Maſse kollektivistisch als
freundliche, und umgekehrt pflegen kollektivistische Be-
ziehungen der Gruppen zu einander überwiegend feindseliger
Natur zu sein und zwar bis in die höchsten Kulturen hinein,
weil auch in diesen noch jeder Staat absolut egoistisch ist;
wo selbst solche freundlicherer Art von Stamm zu Stamm
stattfinden, sind sie doch im ganzen nur die Grundlage für
individuelle Beziehungen — Handel, Connubium, Gastfreund-
schaft u. s. w. —, räumen nur die Hindernisse weg, die diesen
sonst von Stammes wegen entgegenstehen; und wo sie positi-
veren Inhalt annehmen, wo die Vereinigung ganzer Stämme
mit einander anders als durch gewaltsame Unterwerfung und
Verschmelzung geschieht, da pflegt doch der Zweck davon
kein anderer als ein kriegerischer, eine gemeinsame Offensive
oder Defensive zu sein, so daſs auch hier nicht nur dem
Dritten gegenüber der Einzelne seine Bedeutung nur als Mit-
glied des Stammes und durch die Solidarität mit diesem hat,
sondern auch die Verbündeten untereinander nur vom Stand-
punkt des Stammesinteresses aus miteinander zu thun haben;
was sie aber zusammenführt und verknüpft, ist nur das ge-
meinsame Verhältnis zum Feinde, und der Einzelne hat einen
Wert nur insofern, als die Gruppe hinter ihm steht. Diese
aus praktischen Gründen erforderte Solidarität hat nun man-
cherlei Folgen, die sich weit über Dauer und Umfang ihrer
ursprünglichen Veranlassung hinaus erstrecken. Es ist mit
Recht hervorgehoben worden, daſs gerade bei den Völkern,
die sich durch Freiheitssinn auszeichneten, Griechen, Römern,
Germanen, die vornehme Geburt einen Wert besaſs, der weit
über die reale Macht und Bedeutung der Persönlichkeit
hinausreichte. Die edle Abstammung, die Ahnenreihe, die von
den Göttern ausgeht, erscheint fast als das höchste dessen,
was der griechische Dichter preist; für den Römer drückte
die unfreie Abstammung einen durch nichts zu tilgenden
Makel auf, und bei den Germanen begründete der Unter-
schied der Geburt zugleich einen rechtlichen Gegensatz. Dies
ist wohl die Nachwirkung der Zeit der unbedingten Familien-
solidarität, in der die ganze Familie zu Schutz und Trutz
hinter dem Einzelnen stand, welcher dadurch in demselben
Maſse angesehener und bedeutender war, als seine Familie
groſs und mächtig war. Wenn etwa bei den Sachsen das
Wehrgeld eines Adligen das Sechsfache dessen für einen Ge-
meinfreien betrug, so erscheint dies nur als rechtliche
Fixierung der Thatsache, daſs eine groſse und mächtige Fa-
milie den Mord eines ihrer Mitglieder viel kräftiger und
schärfer rächen konnte und rächte als eine unbedeutendere.
Die Zugehörigkeit zu einer solchen Familie behielt diese so-
ciale Wirkung noch dann, als das eigentlich wirkende und
[30]X 1.
verbindende Glied: die Unterstützung durch diese Familie,
schon längst weggefallen war. Mit einer starken freiheit-
lichen Tendenz der Völker konnte dies zusammentreffen,
weil unter Völkern, die tyrannisch regiert wurden und ihre
socialen Verhältnisse diesem Regime angepaſst hatten, mäch-
tige Familiengruppen nicht bestanden haben können. Eine
starke Centralgewalt muſs derartige Staaten im Staate zu be-
seitigen und ihrerseits dem Einzelnen die sociale, politische,
religiöse Anlehnung und vor allem den persönlichen und
Rechtsschutz zu gewähren suchen, den er in politisch freieren
Gruppen nur durch den Anschluſs der Familie findet. Des-
halb ist für das römische Kaisertum gerade dies so bezeich-
nend, daſs es Freigelassene an die höchsten Stellen setzte
und so im Gegensatz zu allen Anschauungen der freieren
Zeit aus demjenigen, der seitens seiner Familie nichts war,
willkürlich alles machte. So löst sich der scheinbar psycho-
logische Widerspruch zwischen dem Freiheitssinn der Völker
und ihrer Bindung der individuellen Bedeutung an den Zu-
fall der Geburt, sobald unsere Hypothese gilt, daſs die letztere
dem realen Schutze durch die Familie entstammt, der seiner-
seits nur in freieren Staaten möglich ist, in denen die Fa-
milie selbständige Macht besitzen darf. Wie sehr übrigens
die Solidarität auch der weiteren Familie sich noch in unsre
Kultur hineinerstreckt, sieht man recht aus der Ängstlichkeit,
mit der die meisten Personen selbst entfernte Verwandte von
social niedrigerer Stellung von sich entfernen und manchmal
geradezu verleugnen; gerade die Besorgnis, durch sie kom-
promittiert zu werden, und die Bemühung, die Zusammen-
gehörigkeit mit ihnen abzuweisen, zeigt, welche Bedeutung
man dieser Zusammengehörigkeit doch noch zutraut.
Der praktische Zusammenschluſs, in dem der Dritte die
Familie erblickt, ist von vornherein kein völlig gegenseitiger,
sondern nur der Schutz, den die Eltern den Kindern zu teil
werden lassen. Man kann dies wohl als eine Fortsetzung der
Selbsterhaltung ansehen und zwar schon von einer ziemlich
tiefen Stufe der Organismen an: das Weibchen muſs die Eier
oder den Fötus zu sehr als pars viscerum fühlen, vor allem
muſs die Ausstoſsung derselben, ebenso wie für das Männ-
chen die Ejaculation des Samens, mit einer zu groſsen Er-
regung verbunden sein, um nicht dem Wesen, mit dessen Er-
scheinung diese Erregungen associiert sind, eine hochgradige
Aufmerksamkeit zuzuwenden und es noch als zur Sphäre des
eigenen Ich gehörig zu behandeln; das gleiche Interesse, so
hat ein Zoologe dies ausgedrückt, das der Erzeuger für die
associiert gebliebenen Teile seines Körpers fühlt, bewahrt er
eine Zeit lang fast in demselben Maſse für jene Elemente,
welche sich von ihm losgelöst haben, ohne ihm schon fremd
zu sein. Daher ist bei den Insekten das Männchen gegen
[31]X 1.
seine Nachkommenschaft so gleichgiltig, weil die Befruchtung
dort eine innere ist und die im Innern des weiblichen Kör-
pers vorgehende Entwickelung ihm verborgen bleibt, während
umgekehrt der männliche Fisch häufig die Mutterrolle über-
nimmt, weil er seine Geschlechtsprodukte zuletzt über die
Eier ergieſst, indessen das Weibchen, das von ihnen getrennt
ist, sie in dem unbeständigen Elemente, in das sie geworfen
wurden, nicht mehr erkennen kann. Indem so zwischen Er-
zeuger und Erzeugtem die organische Gemeinschaft fort-
besteht, auch wo ihre physische Erscheinung abgeschlossen
ist, wird gewissermaſsen eine familienhafte Einheit a priori
hergestellt. Der Zusammenschluſs geht hier nicht aus dem
Bestreben des Individuums hervor, sich oder andere zu er-
halten, sondern umgekehrt folgt dieser Trieb, die Gesamtheit
der Familie zu schützen, aus dem Gefühl der Einheit, das
den Erzeuger mit dieser zusammenschlieſst. Daſs die wach-
sende Intensität dieser Beziehungen, wie wir sie bei den
höheren Tieren und schlieſslich beim Menschen beobachten,
eine über die unmittelbare Abstammung hinausreichende So-
lidarität der Familie bewirkt, ist psychologisch leicht ver-
ständlich; ebenso, daſs auch die Jungen schlieſslich aus der
Passivität heraustreten, die zunächst ihr Verhalten in der
Familieneinheit charakterisiert, und wenigstens dadurch, daſs
sie den elterlichen Schutz suchen, sich ihm unterordnen und
die Masse der zusammenhaltenden Gruppe vermehren, zum
Bestande und Fortschritt dieser beitragen.
Überblicken wir diese Erwägungen, so tritt uns neben
dem Seite 26 f. genannten ein weiteres Einteilungsprinzip der
Ursachen entgegen, die dem Dritten gegenüber das Mitglied
einer Gruppe nur als ein solches, nicht aber als Individualität
erscheinen lassen. Zunächst machen sich uns dahin wirkende
Beziehungen bemerkbar, die von den Verhältnissen zu dritten
Personen relativ unabhängig sind: die organische Zusammen-
gehörigkeit von Eltern und Kindern, die Ähnlichkeit der-
selben untereinander, die Anpassung der Interessen an gleiche
Lebensbedingungen, ihre Verschmelzung auch an solchen
Punkten, die abseits von der Beziehung zu anderen Stämmen
stehen — alles dies verursacht eine Einheitlichkeit, die es
einerseits dem Dritten erschwert, den Einzelnen als Individu-
alität zu erkennen und zu behandeln, andererseits die Aktion
der Gruppe gegen alle Auſsenstehenden hinreichend zu-
sammenschlieſst, um das Verhältnis zu Einem auch mit sach-
licher Richtigkeit als ein solches zur Gesamtheit gelten zu
lassen, auch gegen diese diejenigen Gefühle und Reaktionen
solidarisch zu richten, die ein Einzelner hervorgerufen hat.
Während hier also eine ursprüngliche Einheit den Grund
bildet, daſs dem Dritten gegenüber einheitlich gehandelt wird,
sahen wir zweitens, daſs die Not des Lebens vielfach eine
[32]X 1.
Gemeinsamkeit des Vorgehens veranlaſst, und daſs diese, auch
ohne daſs eine reale Einheit vorhergeht, nun umgekehrt eine
solche bewirkt. Ich halte dies für den tieferen und wich-
tigeren, wenngleich verborgeneren Prozeſs. Auch auf ent-
wickeltsten Gebieten glauben wir oft, daſs die solidarische
Aktion zweier Persönlichkeiten aus einer inneren Zusammen-
gehörigkeit derselben hervorginge, während thatsächlich diese
erst durch die Notwendigkeit jener vorübergehend, aber oft
auch dauernd bewirkt wurde; hier wie sonst bilden sich die
Organe nach den Funktionen, die die Umstände von ihnen
verlangen, nicht aber sind jene, resp. die Subjekte, immer
von vornherein so eingerichtet, daſs sich die geforderte Leist-
ung von selbst, wie von innen heraus ergiebt. Auch inner-
halb des Individuums ist dasjenige, was man Einheit der
Persönlichkeit nennt, keineswegs die Grundlage des Wesens,
aus der nun die Einheit des Verhaltens gegenüber Menschen
und Aufgaben folgte, sondern umgekehrt hat oft erst die
praktische Notwendigkeit für die verschiedenen Seelenkräfte,
sich einem Dritten gegenüber gleich zu verhalten, innere Be-
ziehungen und Vereinheitlichungen unter ihnen zur Folge.
So gewinnt z. B. ein Mensch, der von widersprechenden
Neigungen und Leidenschaften erfüllt ist, den etwa sinnliche,
intellektuelle, ethische Triebe nach ganz verschiedenen Seiten
reiſsen, die Einheitlichkeit seines Wesens dadurch, daſs die
religiöse Idee über ihn kommt; indem die verschiedenen
Seiten seiner Natur sich gleichmäſsig dem fügen, was als
göttlicher Wille für jede derselben offenbart ist, und so in
das gleiche Verhältnis zu der Gottesidee treten, entsteht eben
hierdurch eine Einheitlichkeit unter ihnen, die ihnen ur-
sprünglich vollkommen fremd war. Oder wo etwa dich-
terische Phantasie sich mit starkem Verstande zusammenfindet
und dadurch das Bewuſstsein in einen steten Zwiespalt
zwischen idealistischer und realistischer Anschauung der
Dinge versetzt, da wird die Notwendigkeit, ein bestimmtes
Lebensziel zu erreichen, oder einer Person gegenüber eine
bestimmte Stellung einzunehmen, die zersplitterten Kräfte oft
zur Einheit zusammenführen und wird der Phantasie die
gleiche Richtung mit dem Denken geben u. s. w. Zu zusammen-
gesetzteren Gebilden fortschreitend, erwähne ich als Beispiel,
wie das gemeinsame Verhalten zu einem Dritten den kollek-
tivistischen Zusammenhalt bewirkt und stärkt, die Sekte der
Herrnhuter. Zu Christus, den sie als den unmittelbaren
Herrn ihrer Gemeinde ansehen, hat jedes Mitglied ein ganz
individuelles, man könnte sagen, ein Herzensverhältnis; und
dies führt zu einem so unbedingten Zusammenschluſs der
Mitglieder der Gemeinde, wie er in keiner anderen zu finden
ist. Dieser Fall ist deshalb so belehrend, weil jenes Verhält-
nis des Einzelnen zu dem zusammenhaltenden Prinzip ein
[33]X 1.
rein persönliches ist, eine Verbindung zwischen ihm und
Christus herstellt, die von keiner anderen gekreuzt wird, und
dennoch die bloſse Thatsache, daſs diese Fäden alle in
Christus zusammenlaufen, sie gewissermaſsen nachträglich ver-
webt. Und im Grunde beruht die unermeſsliche socialisie-
rende Wirkung der Religion überhaupt wesentlich auf der
Gemeinsamkeit des Verhältnisses zum höchsten Prinzip; ge-
rade das specifische Gefühl, aus dem man gern die Religion
herleitet, das der Abhängigkeit, ist ganz besonders geeignet,
unter den in gleicher Weise von ihm Erfüllten Religion, d. h.,
nach der alten, wenn auch sprachlich falschen Deutung, Ver-
bindung zu stiften. Ich hebe ferner in dieser Hinsicht her-
vor, daſs der erste Zusammenhalt der patriarchalischen Fa-
milienform sich nicht auf der Erzeugung durch den Vater,
sondern auf seiner Herrschaft aufbaute, ihre Einheit im
Empfinden und Handeln sich also gleichfalls nicht a priori,
sondern nachträglich durch das gleiche Verhältnis zu einem
Dritten herstellte; und was die zusammenschlieſsende Wir-
kung eines gemeinsamen feindseligen Verhaltens betrifft, so
hat schon der Verfasser des Gesetzbuches des Manu betont,
der Fürst möge seinen Nachbar stets für seinen Feind, den
Nachbar seines Nachbars aber für seinen Freund halten, und
es braucht unter vielfachen Beispielen nur daran erinnert zu
werden, daſs Frankreich das Bewuſstsein seiner nationalen
Zusammengehörigkeit wesentlich erst dem Kampfe gegen die
Engländer verdankt, wozu dann die Geschichte der letzten
deutschen Reichsbildung das Seitenstück geliefert hat. Kurz,
daſs das Nebeneinander zum Miteinander, daſs die lokale,
gleichsam anatomische Einheit zur physiologischen werde, ist
unzählige mal dem gemeinsamen, freiwilligen oder erzwungenen
Verhalten einem Dritten gegenüber zuzuschreiben. Was die
Sprache sehr bezeichnend vom Einzelnen sagt, daſs er bei
Bethätigung gegen andere „sich zusammennehmen“ muſs,
wenn er auch sonst „zerstreut“ oder „zerfahren“ ist, das gilt
genau ebenso von ganzen Gruppen.
Aus alledem ist es hinreichend klar, daſs das ethische
Verschulden des Einzelnen einem Dritten gegenüber diesen
zu Reaktionen gegen die ganze Gruppe anregen muſs, der
jener angehört, und daſs eine äuſserst feine Differenzierung
sowohl objektiv innerhalb der Gruppe, wie subjektiv im Er-
kenntnisvermögen des Verletzten vorgehen muſs, um das re-
agierende Empfinden und Handeln genau zu lokalisieren.
Die thatsächliche Differenzierung hinkt indes, namentlich wo
es sich um strafende Reaktionen handelt, der theoretischen
oft bedeutend nach. So sehr jeder kultiviertere Mensch und
jede höhere Gesetzgebung es verwerfen mag, die Angehörigen
eines Verbrechers für dessen That mit büſsen zu lassen, so
geschieht das thatsächlich doch noch in hohem Maſse und
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 3
[34]X 1.
zwar unmittelbar dadurch, daſs Frau und Kinder eines Straf-
gefangenen oft dem hilflosesten Elend preisgegeben sind,
mittelbar, indem die Gesellschaft diese und selbst entferntere
Verwandte zwar nicht zugestandenermaſsen, aber doch that-
sächlich ächtet. — Das Streben zu höherer Differenzierung
in dieser Richtung macht nun übrigens bei dem Individuum
nicht Halt, sondern setzt sich noch in dem Verhalten gegen
dieses fort. Mit verfeinerter Erkenntnis machen wir immer
weniger den ganzen Menschen für ein ethisches Verschulden
verantwortbar und begreifen vielmehr, daſs Erziehung, Bei-
spiel, Naturanlage einen einzelnen Trieb oder Vorstellungs-
kreis verdorben haben können, während der übrige Teil der
Persönlichkeit sich durchaus sittlich verhalten mag. Die fort-
schreitende Differenzierung unter den praktischen Elementen
unserer Natur trägt objektiv dazu ebensoviel bei wie subjek-
tiv die unter ihren theoretischen Kräften; je feiner die Per-
sönlichkeit ausgebildet ist, je gesonderter und selbständiger
ihre verschiedenen Triebe, Fähigkeiten und Interessen neben-
einander stehen, desto eher kann die Schuld thatsächlich auf
einem Teil ihrer haften, ohne ihrer Gesamtheit zurechenbar
zu sein; dies ist z. B. auf dem sexuellen Gebiet recht klar,
das oft eine ziemlich hochgradige Unsittlichkeit bei völliger
Tadellosigkeit des anderweitigen Verhaltens aufweist.
Und nun subjektiv: in dem Maſse, in dem der Beurtei-
lende nicht mehr seine ganze Persönlichkeit in die Empfin-
dung hineinlegt, die der andere ihm bereitet, und der That
desselben keine andere Folge gestattet als die ihr genau ent-
sprechende, in diesem Maſse wird er auch jenem gegenüber
objektiv, beschränkt seine Reaktion auf den Umfang, in dem
die That selbst nur ein Teil der Persönlichkeit jenes ist,
lernt er die Sache von der Person, das Einzelne vom Ganzen
zu trennen; so erkennt die Gesellschaft den eben angeführten
Fall der sexuellen Unsittlichkeit bekanntlich sogar im ex-
tremsten Maſse an, indem sie dem männlichen Sünder auf
diesem Gebiete kaum ein Minimum derjenigen socialen Strafen
zudiktiert, die sie sonst schon auf eine geringere Immoralität
setzt — wovon die Ursachen freilich auſser in jener Dif-
ferenzierung gerade in einem Rudiment des Barbarismus
gegenüber den Frauen liegen. Die Verbindung der subjek-
tiven Differenzierung mit der höheren Entwicklung zeigt
sich auch an den gegenteiligen Erscheinungen, an dem die
ganze Person packenden Jähzorn roher Naturen, an der voll-
kommenen Erfülltheit des unkultivierten Menschen durch den
augenblicklichen Affekt, an den Urteilen in Bausch und
Bogen, zu denen ungebildetere Geister neigen; sie zeigt sich
an jener eigentümlichen Empfindung von Solidarität, der ge-
mäſs man „Rache an der Menschheit“ oder „Rache an den
Männern, Frauen etc.“ fordern hört, und zwar insbesondere
[35]X 1.
von unreifen Menschen oder solchen von entweder niedrige-
rer Geistesausbildung oder unbeherrschteren Empfindungen.
Übrigens ist noch auf unserer augenblicklichen Entwicklungs-
stufe kaum jemand ganz frei davon, nach groſsem Leid, das uns
namentlich Bosheit und Betrug zugefügt haben, gegen dritte,
unschuldige Personen unbarmherziger als sonst zu sein —
freilich nicht ohne das Nachgefühl, durch diesen Mangel an
Differenzierung im Empfinden uns selbst zu degradieren.
Aus jener doppelten Differenzierung ergeben sich z. B. für
die Pädagogik wichtige Folgen. Niederen Kulturepochen ist
es eigen, mit dem Begriff der Erziehung vor allem den der
Züchtigung zu verbinden, deren Ziel die Unterdrückung und
Ausrottung der Triebe ist; je mehr die Kultur steigt, desto
mehr wird dahin gestrebt, die Kraft, die auch in den unsitt-
lichen Trieben liegt, nicht schlechthin durch Züchtigung zu
brechen, sondern solche Zustände zu schaffen, in denen sie
sich nützlich bethätigen kann, ja in denen die thatsächliche
Unsittlichkeit als solche selbst anderweitig nützliches schafft,
ungefähr wie die technische Kultur das früher Weggeworfene
oder sogar Hinderliche immer mehr auszunutzen versteht.
Dies ist nur durch Differenzierung möglich, indem die Arten
und Beziehungen des Handelns und Empfindens immer mehr
aus der Form umfassender Komplexe gelöst werden, in der
sie zunächst auftreten, und in der das Loos des einen Gliedes
das des anderen solidarisch mitbestimmt. Erst wenn jede
Beziehung, jeder Bestandteil des öffentlichen und persönlichen
Lebens sich zu derartiger Selbständigkeit differenziert hat,
daſs ihm ein individuelles Leiden und Handeln möglich ist,
ohne daſs mechanische Verflechtungen mit sachlich heteroge-
nen Elementen diese in das gleiche Schicksal hineinzögen, —
erst dann wird es möglich, die schädlichen Elemente in rein-
licher Abgrenzung zu entfernen, ohne die angrenzenden nütz-
lichen anzugreifen. So erlauben differenziertere medizinische
Kenntnisse, erkrankte Körperteile in genau circumscripter
Weise zu entfernen, wo früher gleich ein ganzes Glied abge-
schnitten wurde; z. B. bei schweren Kniegelenkentzündungen
wird jetzt nur Gelenkresektion vorgenommen, während früher
der ganze Oberschenkel amputiert wurde, und ähnliches. Nun
hat indes die Differenzierung in der Strafe, insbesondere der
kriminalistischen, sehr bald eine Grenze. Man nimmt eine
so weit einheitliche Seele an, daſs eben da, von wo die That
ausging, auch der Schmerz der Strafe empfunden werde, und
kann deshalb für eine Ehrenkränkung, einen Betrug, ein Sitt-
lichkeitsvergehen auf dieselbe Strafe erkennen. Die Anfänge
einer Differenzierung in diesen Punkten sind sehr dürftig:
daſs etwa Festungshaft auf solche Vergehen gesetzt ist, die
die gesellschaftliche Ehre des Thäters unberührt lassen,
und einiges ähnliche. Indessen ist jedenfalls schon die
3*
[36]X 1.
gröſsere Milde, die fortgeschrittenere Zeiten dem Verbrecher
gegenüber zeigen, ein Zeichen davon, daſs man die einzelne
That von dem Ganzen der Persönlichkeit differenziert, und
daſs die einzelne Unsittlichkeit nicht mehr, wie es einem ver-
schwommeneren Vorstellen natürlich ist, als durchgehende
Verderbtheit der Seele erscheint — ganz analog der Dif-
ferenzierung, die das sociale Ganze von der Verantwortung
für die That eines Mitgliedes entlastet. Auch die Besserung
bestrafter Personen, die eines der Hauptziele höherer Kultur
ist, wird eine Aussicht auf Erfolg wesentlich auf die gleiche
psychologische Voraussetzung gründen können, daſs auch die
Verbrecherseele differenziert genug ist, um neben den verdor-
benen Trieben noch gesunde einzuschlieſsen; denn eine tiefer
blickende Psychologie darf nicht von einer direkten Beseiti-
gung jener, sondern nur von Stärkung und Hebung dieser
eine dauernde Besserung des Sünders hoffen. Man kann
übrigens die Milderung der Strafen, die Verjährung, wie die
Versuche, den gesellschaftlichen Ruin dessen, der sich einmal
ein Vergehen zu Schulden kommen lieſs, zu hindern, auſser
auf die Differenzierung des Nebeneinander seiner Seelenteile
auf eine solche des Nacheinander seiner seelischen Entwick-
lung bauen, indem man spätere Epochen nicht mehr für das
büſsen lassen will, was früheren zur Last fällt.
Auf dem Standpunkte der höchsten Kultur zeigt sich in-
des eine eigentümliche Form der Rückkehr zu der früheren
Anschauung. Gerade in der letzten Zeit ist wieder die Nei-
gung hervorgetreten, die Gesellschaft für die Schuld des In-
dividuums verantwortlich zu machen. Der äuſseren Stellung,
in die sie den Einzelnen hineinsetzt, den entweder atrophi-
schen oder hypertrophischen Lebensbedingungen, die sie ihm
bietet, den übermächtigen Eindrücken und Einflüssen, denen
er seitens ihrer ausgesetzt ist, — all diesem, aber nicht einer
„Freiheit“ der Individualität, schreibt man jetzt gern die
Verantwortung für die Missethat des Individuums zu. Die
transcendentale Erkenntnis von der ausnahmslosen Herrschaft
natürlicher Kausalität, die die Schuld im Sinne des liberum
arbitrium ausschlieſst, verengt sich zum Glauben an die
durchgängige Bestimmtheit durch sociale Einflüsse. In dem
Maſse, in dem die alte individualistische Weltanschauung
durch die historisch sociologische ersetzt wird, die in dem
Individuum nur einen Schnittpunkt socialer Fäden sieht,
muſs an die Stelle der Individualschuld wieder die Kollektiv-
schuld treten. Ist der Einzelne seinen angeborenen Anlagen
nach das Produkt der vorangegangenen Generationen, der
Ausbildung derselben nach das Produkt der gegenwärtigen,
trägt er den Inhalt seiner Persönlichkeit von der Gesellschaft
zu Lehen, so können wir ihn nicht mehr für Thaten verant-
wortlich machen, für die er, nicht anders als das Werk-
[37]X 1.
zeug, mit dem er sie ausgeführt hat, nur der Durchgangs-
punkt ist. Es liegt nun freilich nahe einzuwenden, daſs die
den Einzelnen determinierende Verfassung der Gesellschaft
doch irgendwo von einzelnen ausgegangen sein müsse, an
denen dann die Schuld dieser schlieſslichen Wirkung haften
bleibt; folglich könne doch das Individuum als solches schul-
dig werden, und einen wie groſsen Teil seiner Verantwortung
es auch auf die Gesellschaft abwälze, so gelänge dies nicht
vollständig, weil die Gesellschaft doch aus Individuen besteht
und deshalb nicht schuldig sein könnte, wenn diese es nicht
wären; zu jeder unvollkommenen und ungerechten socialen
Einrichtung, die den in sie Hineingeborenen auf die Bahn
des Verbrechens drängen mag, muſs doch der Anstoſs von
einem einzelnen ausgegangen sein; jede Vererbung, die den
Keim eines Lasters in uns legt, ist doch nicht von Ewigkeit
her vorhanden, sondern muſs ihren Ursprung in irgend einem
primären Verhalten eines Vorfahren haben. Und wenn nun
auch die Mehrzahl der Fäden, von denen das Handeln des
Individuums geleitet wird, von früheren Generationen her
angesponnen sei, so gehen doch auch von ihm wiederum neue
aus, die die künftigen Geschlechter mitbestimmen; und die
Verantwortung für diese müsse gerade um so schärfer betont
werden, je tiefer man davon durchdrungen sei, daſs keine
That innerhalb des socialen Kosmos folgenlos bleibe, daſs die
Wirkung einer individuellen Unsittlichkeit sich bis ins tau-
sendste Glied geltend mache. Wenn also auch die sociale
Bestimmtheit, nach der Vergangenheit hin betrachtet, den
Einzelnen entlastet, so belastet sie ihn in demselben Maſse
schwerer, wenn man nach der Zukunft zu blickt, deren
Kausalgewebe eben deshalb ein immer komplizierteres, das
Individuum immer vielseitiger bestimmendes werden kann,
weil jeder Einzelne zu der Gattungserbschaft ein Teil hinzu-
gefügt hat, da es sonst zu einer solchen überhaupt nicht ge-
kommen wäre.
Ohne hier in den Streit über die Prinzipien einzutreten,
der das Schicksal der Unfruchtbarkeit mit allen Diskussionen
über die Freiheit teilen müſste, will ich hier nur auf den fol-
genden Gesichtspunkt hinweisen. Die Folgen einer That
wechseln leicht ihren Charakter auf das vollkommenste, wenn
sie sich von den persönlichen Verhältnissen oder dem kleinen
Kreise, auf den sie sich zuerst und in der Absicht des Han-
delnden beziehen, auf einen gröſseren Kreis verbreiten.
Wenn z. B. die Bestrebungen der Kirche, die Gesamtheit
auch der irdischen Lebensinteressen sich unterthänig zu
machen, als unrecht verurteilt werden, so kann zunächst, so-
bald sich die Anschuldigung gegen bestimmte Personen etwa
des Mittelalters richtet, erwidert werden, daſs hier eine Tra-
dition von den ältesten Zeiten des Christentums her vorlag,
[38]X 1.
die der Einzelne als undurchbrechliche Tendenz, selbstver-
ständliches Dogma, vorfand, so daſs auf jenen frühsten Per-
sönlichkeiten, die sie ausbildeten, aber nicht auf dem einzel-
nen Epigonen, den sie ohne weiteres in ihren Bann zwang,
die Schuld haften bleibt. Allein für jene war es eben keine
Schuld, weil in den kleinen urchristlichen Gemeinden die voll-
kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee, die
Hingabe alles Seins und Habens an das christliche Interesse
eine durchaus sittliche, für den Bestand jener Gemeinden un-
entbehrliche Anforderung war, die auch den Kulturinteressen
solange unschädlich blieb, als es noch anderweitige, hinreichend
groſse Kreise gab, die sich der Besorgung der irdischen
Dinge widmeten. Das änderte sich erst mit der Verbreitung
der christlichen Religion; würde diejenige Lebensform, die in
der kleinen Gemeinde zu rechte bestand, sich über die Ge-
samtheit des Staates erstrecken, so würde damit eine Reihe
von Interessen verletzt, die für durchaus unentbehrlich, deren
Verdrängung durch die kirchliche Herrschaft für unsittlich
gehalten wird. Eben dieselbe Tendenz also, die bei einer ge-
ringen Ausdehnung des socialen Kreises verdienstvoll ist,
wird durch dessen Erweiterung schuldvoll; und wird nun im
letzteren Falle die Schuld vom Einzelnen fortgeschoben, indem
sie durch die Tradition erklärt wird, so liegt auf der Hand,
daſs sie nicht auf jenen Ersten, von denen die Tradition aus-
ging, haften bleibt, sondern ihre Veranlassung ausschlieſslich
in der Quantitätsänderung des gesellschaftlichen Kreises hat.
Es ist eine der Untersuchung noch sehr bedürftige Frage, in
wiefern die blos numerische Vermehrung eines Kreises die
sittliche Qualität der auf ihn bezüglichen Handlungen ab-
ändert. Da es aber zweifellos der Fall ist, können Schuld
und Verdienst, die der Handlung in einem kleineren Kreise
zukommen, oft bei Erweiterung desselben in ihr direktes
Gegenteil verwandelt werden, ohne daſs die nun geltende
sittliche Qualifikation der Handlung einer persönlichen Ver-
antwortung unterläge, weil sie dem Inhalt nach blos über-
liefert ist, die Abänderung ihres Wertes aber von keinem
einzelnen Menschen, sondern nur von dem Zusammen der-
selben ausgeht. Wir finden z. B. in dem Berglande von
Tibet noch jetzt Polyandrie herrschend, und zwar offenbar,
wie selbst Missionäre anerkennen, zum gesellschaftlichen
Wohle; denn der Boden ist dort so unfruchtbar, daſs ein
rasches Anwachsen der Bevölkerung nur das gröſste allge-
meine Elend hervorbringen würde. Um dieses aber zurück-
zuhalten, ist die Polyandrie ein vortreffliches Mittel; auch
sind die Männer dort oft genötigt, um entfernte Herden zu
weiden oder Handel zu treiben, sich lange von der Heimat
zu entfernen, und da wird denn der Umstand, daſs von meh-
reren Männern einer Frau wenigstens einer immer zu Hause
[39]X 1.
bleiben wird, zum Schutze der Frau und zum Zusammenhalt
der Familie dienen. Diese mehrfach bestätigten, günstigen
Einflüsse auf die Sitten des Landes würden aber sofort um-
schlagen, sobald etwa durch Aufschlieſsung neuer Ernährungs-
quellen eine Vermehrung der Volkszahl möglich und erfordert
würde; gerade die Geschichte der Familienformen zeigt oft
genug, wie das einst Sittliche durch die bloſse und oft blos
quantitative Änderung äuſserer Verhältnisse zu einem sittlich
Verwerflichen wurde. Wenn nun ein Einzelner die jetzt
schuldvolle That beginge, also etwa in dem obigen Beispiel
ein Weib auch nach geänderten Verhältnissen noch polyan-
drischen Neigungen folgte und die Verantwortung dafür von
sich weg auf die Generationen schöbe, die durch Vererbung,
Rudimente ihrer Zustände und Ähnliches sie auf diesen Weg
getrieben, so würde, dies als richtig zugegeben, die Schuld
auf keinem Einzelnen haften bleiben, weil sie für ihre Ur-
heber eben noch nicht Schuld war. Freilich wird auch die
Gesellschaft, deren Modifikationen die Schuld schufen, nicht
im Sinne einer moralischen Verantwortung schuldig sein, weil
jene Modifikationen sich aus Gründen vollzogen, die mit dem
fraglichen moralischen Vorgang an sich gar nichts zu thun
haben und ihn nur zufällig zur Folge hatten. Wie gewisse
schädliche Maſsregeln, die für einen Teil der socialen Gesamt-
heit gelten, diesen Charakter manchmal dann verlieren, wenn
sie über das Ganze derselben verbreitet werden [so hat der
Socialismus betont, daſs die erfahrungsmäſsigen Nachteile der
Regiewirtschaft, die man ihm entgegenhält, nur dadurch ent-
standen sind, daſs die Regie bisher überall in eine in allem
übrigen individualistische Wirtschaftspolitik hineingesetzt
wurde, dagegen verschwinden würden, wenn sie einheitliches
ökonomisches Prinzip wäre] — ganz ebenso wird umgekehrt
die Erweiterung des Wirkungskreises einer Handlungsweise
Vernunft in Unsinn, Wohlthat in Plage umwandeln können
und so ermöglichen, daſs die Schuld, die der Einzelne von
sich abwälzen kann, dennoch auf keinen anderen Einzelnen
falle.
Indessen ist die rein quantitative Erweiterung der Gruppe
nur der deutlichste Fall der moralischen Entlastung der In-
dividuen; andere Modifikationen der Gruppe können zu dem
gleichen Resultat für den Einzelnen führen, indem sie die
Schuld, die der unmittelbare Thäter von sich wegschiebt,
auf keinem anderen Einzelnen brauchen haften zu lassen. Wie
die chemische Mischung zweier Stoffe einen dritten zustande-
bringen kann, dessen Eigenschaften völlig andere sind als die
seiner Elemente, so kann eine Schuld dadurch entstehen, daſs
eine bestimmte Naturanlage mit bestimmten socialen Verhält-
nissen zusammentrifft, während keiner dieser Faktoren an sich
Unsittliches enthält. Von dieser Möglichkeit aus läſst sich
[40]X 1.
die von neuesten anthropologischen Forschungen bestätigte
Behauptung aufstellen, daſs Laster sehr häufig gar nichts an-
deres sind als Atavismen.
Wir wissen, daſs Raub und Mord, Lüge und Gewaltthat
jeder Art in früheren Zuständen unseres Geschlechtes eine
ganz andere Beurteilung erfuhren als jetzt; sie waren, gegen
den fremden Stamm gerichtet, teils gleichgiltige Privatsache,
teils gepriesene Heldenthaten, innerhalb des eigenen Stammes
aber unentbehrliche Mittel der Kultursteigerung, indem sie
einerseits eine Zuchtwahl zu gunsten der Kräftigen und
Klugen einleiteten, andererseits die Mittel der Tyrannis und
der Versklavung wurden, von denen die erste Disziplinierung
und Arbeitsteilung unter den Massen ausging. Eben dieselben
Handlungsweisen aber sind unter späteren Verhältnissen laster-
haft, und so ist gewiſs das Laster oft ein Vererbungsrück-
schlag in jene frühere Entwicklungsstufe unseres Geschlechts,
in der es eben noch nicht Laster war. Ein hervorragender
Anatom hat die Bemerkung gemacht, die ich für höchst fol-
genreich halte: es lasse sich nachweisen, daſs alles das, was
wir als körperliche Häſslichkeit beurteilen, eine Ähnlichkeit
mit dem Typus der niederen Tiere, einen Rückfall in ihn
aufweise. So ist vielleicht seelische Häſslichkeit ein Rück fall
in die Naturstufe, der durch das disharmonische und destruk-
tive Verhältnis, das aus seinem Hineingesetztsein in ganz ver-
änderte Umstände hervorgeht, als Laster erscheint. Damit
stimmt zusammen, daſs mit specifischen Lastern sehr häufig
Rohheit und Wildheit des ganzen Wesens, also offenbar ein
allgemeiner Atavismus verbunden ist; und ferner: sehr viele
Laster finden in den kindlichen Ungezogenheiten ihre Par-
allele, wie die Neigung zur Lüge, die Grausamkeit, die Zer-
störungslust, die rücksichtslose Selbstsucht, ungefähr wie man
nachgewiesen hat, daſs alle Sprachstörungen Erwachsener ihr
genaues Gegenbild in den Unvollkommenheiten des kindlichen
Sprechens haben. Und da nun aller Wahrscheinlichkeit nach
überhaupt die Kindheit des Individuums die Kindheit seiner
Gattung wenigstens in den Hauptzügen wiederholt, so ist an-
zunehmen, daſs die moralischen Unzulänglichkeiten jener die
durchgehenden Eigenschaften dieser abspiegeln; und wenn
wir nun das Kind von eigentlicher Schuld für solche Fehler
entlasten, weil wir wissen, daſs es eben in stärkstem Maſse
das Produkt der Gattungsvererbungen ist, so wird das
Gleiche für denjenigen gelten, der durch atavistischen Rück-
schlag auf jener moralischen Stufe der Gattungsentwicklung
stehen geblieben ist, die der normale Mensch als Kind in ab-
gekürzter Form durchläuft und überwindet, die aber nur da-
durch einstmals in der Gattung fixiert werden konnte, daſs
sie zulässig und nützlich war. In diesem Fall aber lastet die
moralische Schuld der Handlung, die der Thäter seinem Erb-
[41]X 1.
lasser, der Gattung, zuschiebt, überhaupt nirgends als auf den
veränderten Verhältnissen, die dem ehemals Guten und Nütz-
lichen jetzt die entgegengesetzte Folge geben.
Nun ist nicht zu verkennen, daſs in vielen Fällen die
fortschreitende Socialisierung umgekehrt den schlechten und
unsittlichen Trieben die Möglichkeit eines sittlichen Erfolges
giebt. Ich habe schon oben erwähnt, daſs vermöge ge-
steigerter Differenzierungen auch die im Unsittlichen liegende
Kraft noch den Zwecken der Kultur dienstbar gemacht wer-
den kann. Dann fällt der Gesellschaft mindestens in dem-
selben Sinne ein Verdienst an der Sittlichkeit des Einzelnen
zu, wie sie in obigen Fällen Schuld an seiner Unsittlichkeit
trägt. Mir wurde von einer Barmherzigen Schwester in einem
Krankenhause erzählt, die sich durch einen unersättlichen
Blutdurst auszeichnete und sich zu den allergrausigsten
und abschreckendsten Operationen drängte; aber gerade
durch diese Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit leistete sie
die allerwertvollsten Dienste, zu denen die erforderliche Ruhe
einer mitfühlenden Person abgegangen wäre. Dieselbe Natur-
anlage also, die in roheren Zeiten wahrscheinlich ein ver-
brecherisches Scheusal gestaltet hätte, lenken die vorge-
schrittenen gesellschaftlichen Verhältnisse in die Bahn sitt-
licher Bethätigung. Schon das rein numerische Anwachsen
der Gruppe, wie es nach den obigen Ausführungen die rich-
tige Handlungsweise des Individuums zur falschen machen
kann, vermag umgekehrt die angeborene oder sonst über-
lieferte unsittliche Neigung zu einer social nützlichen zu
machen. Denn die Vermehrung der Gruppe fordert in dem-
selben Maſse auch Differenzierung; je gröſser das Ganze ist,
desto nötiger ist es ihm, bei der stets vorhandenen Knappheit
der Lebensbedingungen, daſs — innerhalb gewisser selbst-
verständlicher Schranken — jeder sich andere Ziele setze als
der andere und, wo er sich die gleichen setzt, wenigstens an-
dere Wege zu ihnen einschlägt als der andere. Dies muſs
zur Folge haben, daſs Einseitigkeiten, Bizarrerieen, individu-
ellste Neigungen in einem groſsen Kreise geeignete Stellen
und Möglichkeiten, sich in social nützlicher Weise auszuleben,
finden werden, während ebendieselben für diejenigen allge-
meineren Ansprüche untauglich machen, die der engere Kreis
an den Einzelnen stellt, und sich deshalb in diesem dem Wesen
der Unsittlichkeit nähern.
Noch durch die folgende Beziehung wirkt die Vergröſse-
rung des socialen Kreises derart auf die Handlungsweise des
Individuums versittlichend, daſs das Verdienst davon dennoch
nicht diesem Kreise selbst, sondern, wie oben die Schuld,
dem Zusammentreffen zweier Faktoren zuzuschreiben ist, von
denen keiner es für sich allein in Anspruch nehmen kann.
In den einfachen Verhältnissen einer kleinen Gruppe wird
[42]X 1.
der Einzelne seine egoistischen oder altruistischen Zwecke,
soweit er sie überhaupt durchsetzen kann, mit relativ ein-
fachen Mitteln erreichen. Je gröſser sein socialer Kreis wird,
desto mehr Umwege braucht er dazu, weil die komplizierteren
Verhältnisse uns vielerlei Dinge wünschenswert machen, die
von unserer augenblicklichen Machtsphäre weit entfernt sind,
weil sie ferner an unsere Ziele manche Nebenerfolge knüpfen,
die vermieden werden müssen, weil endlich das einzelne von
so vielen Bewerbern gesucht wird, daſs der direkte Weg auf
jenes zu oft das Letzte ist, und die Hauptsache in dem oft sehr
komplizierten Unschädlichmachen der Konkurrenten und in
der Gewinnung von Beiständen besteht, die ihrerseits wieder
nur indirekt erlangbar und verwendbar sind. Die Folge von
alledem ist, daſs zum Erreichen des eigentlichen egoistischen
Zieles wir in gröſseren Kreisen vielerlei thun müssen, was nicht
unmittelbar egoistisch ist, vielerlei Kräfte in Bewegung setzen,
die ihren eigenen Gesetzen und Zwecken folgen, wenn sie
auch schlieſslich die unseren fördern. In je weiteren Ver-
hältnissen wir leben, desto weniger pflegt die Arbeit für das
eigene Glück dieses unmittelbar zu bereiten, sondern besteht
in der Bearbeitung äuſserer und hauptsächlich menschlicher
Objekte, welche dann erst lusterweckend auf uns zurück-
wirken. Mag der Endzweck noch so sehr ein persönlicher sein
— zu den Mitteln müssen wir uns aus uns selbst entfernen.
Abgesehen nun davon, daſs dies die Sittlichkeit der subjek-
tiven Gesinnung insofern fördert, als das so erforderliche
Kennenlernen objektiver Verhältnisse sehr oft auch ein In-
teresse für sie hervorruft und die Hingabe an andere Men-
schen und Dinge um selbstischer Endzwecke willen häufig in
einer selbstlosen Hingabe an sie gemündet hat — abgesehen
hiervon, sind die Umwege zu jenem Endzwecke oft durchaus
sittlicher Natur; je gröſser der sociale Kreis ist, je ent-
wickelter namentlich die wirtschaftlichen Beziehungen, desto
häufiger muſs ich den Interessen anderer dienen, wenn ich
will, daſs sie den meinen dienen sollen. Dies bringt eine
Versittlichung der gesamten socialen Lebensatmosphäre mit
sich, die nur deshalb im Unbewuſsten zu bleiben pflegt, weil
die Endzwecke, um derentwillen sie entsteht, egoistische
sind. Die innere Sittlichkeit des Individuums wird darum
zunächst noch keine höhere, weil über diese nicht die That
zu gunsten der anderen, sondern die Gesinnung entscheidet,
aus der heraus sie geschieht; dennoch müssen die thatsäch-
lichen Erfolge sittlich genannt werden, insofern sie die För-
derung anderer mit sich bringen; und da dies mit der Aus-
dehnung unserer Beziehungen immer notwendigeres Vehikel
zu unsern Zwecken wird, so läſst die Vergröſserung des
Kreises uns thatsächlich sittlicher handeln, ohne daſs wir
eigentlich ein Verdienst daran hätten. Auch liegt die Ur-
[43]X 1.
sache davon nicht etwa in einer Kollektivsittlichkeit, sondern
in dem Zusammentreffen egoistischer Ziele mit einer der-
artigen Gröſse des socialen Kreises, daſs jene nur durch eine
Reihe von Umwegen altruistischer Natur zu erreichen sind.
In etwas höherem Grade läſst eine andere Station des
gleichen Umweges die Sittlichkeit im Handeln des Einzelnen
als Resultat einer Kollektivsittlichkeit erscheinen. Nicht nur
Menschen brauchen wir zu unsern Zwecken, sondern auch
objektive Einrichtungen. Die Festsetzungen des Rechts, der
Sitte, der Verkehrsformen jeder Art, die die Allgemeinheit
zu ihrem Nutzen, d. h. im sittlichen Interesse, geprägt hat,
erstrecken sich schlieſslich soweit in alle Lebensverhältnisse
des Einzelnen hinein, daſs er in jedem Augenblick von ihnen
Gebrauch machen muſs. Auch die egoistischsten Absichten
können, abgesehen von unmittelbarer Gewaltthat, nicht anders
verwirklicht werden als in den social vorgeschriebenen
Formen. Mit jedem Male aber, wo man sich dieser Formen
bedient, werden sie gestärkt, und dadurch muſs die unsitt-
lichste Absicht gewissermaſsen der Sittlichkeit ihre Steuer
entrichten, indem sie die Formen anwendet, in denen die
öffentliche Moral objektiv geworden ist. Es ist die Aufgabe
der fortschreitenden Socialisierung, diese Steuer immer zu er-
höhen, so daſs der Weg zur Unsittlichkeit, der freilich nie
ganz verlegt werden kann, wenigstens durch möglichst viele
Gebiete des Sittlichen hindurchgehen muſs und so den Weg
durch sie verbreitern und festigen hilft. Der Gauner, der eine
betrügerische Transaktion in streng rechtlichen Formen voll-
zieht, der Schurke, der die Regeln der gesellschaftlichen Höf-
lichkeit genau beobachtet, der Sybarit, dessen unsittlich ver-
schwenderische Ausgaben sich wenigstens in den ökonomischen
Formen vollziehen, die seine Gruppe als die zweckmäſsigsten
konstituiert hat, der Heuchler, der um irgend welcher per-
sönlichen Zwecke willen sein Leben nach religiösen Normen
einrichtet, — sie alle leisten der Sittlichkeit, der Förderung
des Allgemeinen sozusagen im Vorbeigehen einen Beitrag, an
dem das Verdienst freilich nicht ihrem Willen, sondern der
socialen Verfassung zuzuschreiben ist, die den Einzelnen in
seinen unsittlichen Bestrebungen auf Wege zwingt, auf denen
er den öffentlichen Institutionen und damit dem öffentlichen
Wohle steuerpflichtig wird.
Die besprochene Abwälzung der individuellen Schuld auf
die Gesellschaft gehört im übrigen zu denjenigen Erkennt-
nissen, deren Verbreitung der Socialpädagogik bedenklich er-
scheinen könnte. Denn sie möchte leicht zu einer Art Ablaſs
für die persönliche Schuld werden, und in dem Maſse, in dem
das Gewissen sich erleichtert fühlt, dürfte die Verführung zur
That wachsen. Der Gewinn der Unsittlichkeit bleibt dem
Individuum, während sozusagen die moralischen Unkosten der
[44]X 1.
Allgemeinheit zur Last fallen. Für dieses Verhältnis haben
wir ein Symbol, das auch an sich für die Frage der Kollek-
tivverantwortlichkeit wichtig ist, an den Aktiengesellschaften.
Wo persönliche Haftbarkeit stattfindet, da wird schon das
eigene Interesse die Tendenz haben, vor allzu gewagter Spe-
kulation, vor Überschuldung, Überproduktion u. s. w. zu be-
wahren. Für den Vorstand einer Aktiengesellschaft dagegen,
der mit fremdem Gelde operiert, fehlt dieser Regulator; er
kann in ein Risiko eintreten, von dessen Gelingen er mit pro-
fitiert, dessen Miſslingen aber weiter keine Konsequenzen für
ihn hat, als daſs er einfach herausgeht, wenn die Sache zu-
sammengebrochen ist, während die Gläubiger das Nachsehen
haben. Wie in jenem moralischen Falle die Schuld, lasten im
ökonomischen die Schulden auf einem Wesen, dessen Unper-
sönlichkeit diese Überwälzung duldet und zu ihr verlockt.
Hier ist jedoch recht zu beobachten, wie ein fortschreitender,
in sehr verwickelte Verhältnisse eingreifender Gedanke dif-
ferenzierend wirkt, d. h. Förderung und Zuspitzung ganz ent-
gegengesetzter Tendenzen in gleichem Maſse bringt. Denn
während einerseits die Erkenntnis unserer socialen Abhängig-
keit das individuelle Gewissen abstumpfen kann, muſs sie
dasselbe andererseits schärfen, weil sie lehrt, daſs jeder Mensch
im Schnittpunkt unzähliger socialer Fäden steht, so daſs jede
seiner Handlungen die mannichfachsten socialen Wirkungen
haben muſs; innerhalb der socialen Gruppe fällt sozusagen
kein Samenkorn auf den Felsen, wofür die an keinem Punkt
unterbrochenen Wechselwirkungen mit der lebenden Gene-
ration in Hinsicht der Gegenwart, der Einfluſs jedes Thuns
auf das Vererbungsmaterial aber in Hinsicht der Zukunft
sorgen. Die Beschränkung des Individuums auf sich selbst
hört sowohl a parte ante wie a parte post auf, so daſs die
sociologische Betrachtung sowohl seine Entlastung wie seine
Belastung steigert und sich so als echtes Kulturprinzip er-
weist, das von der Einheit einer Idee aus differenteste In-
halte des Lebens zu weiterer Ausgeprägtheit und Vertiefung
differenziert.
[[45]]
III.
Die Ausdehnung der Gruppe und die Ausbildung
der Individualität.
Bei 1 dem Verhältnis zwischen der Ausbildung der Indi-
vidualität und dem socialen Interesse ist vielfach zu beobachten,
daſs die Höhe der ersteren Schritt hält mit der Erweiterung
des Kreises, auf den sich das letztere erstreckt. Haben wir
zwei sociale Gruppen, M und N, die sich scharf von einander
unterscheiden, sowohl nach den charakteristischen Eigen-
schaften wie nach den gegenseitigen Gesinnungen, deren jede
aber in sich aus homogenen und eng zusammenhängenden
Elementen besteht: so bringt die gewöhnliche Entwicklung
unter den letzteren eine steigende Differenzierung hervor; die
ursprünglich minimalen Unterschiede unter den Individuen
nach äuſserlichen und innerlichen Anlagen und deren Bethä-
tigung verschärfen sich durch die Notwendigkeit, den um-
kämpften Lebensunterhalt durch immer eigenartigere Mittel
zu gewinnen; die Konkurrenz bildet bekanntlich die Specia-
lität des Individuums aus. Wie verschieden nun auch der
Ausgangspunkt dieses Prozesses in M und N gewesen sei, so
muſs er diese doch allmählich einander verähnlichen. Es ist
von vornherein wahrscheinlich, daſs, je gröſser die Unähnlich-
keit der Bestandteile von M unter sich und derer von N unter
sich wird, sich eine immer wachsende Anzahl von Bildungen
im einen finden werden, die solchen im andern ähnlich sind;
die nach allen Seiten gehende Abweichung von der bis dahin
für jeden Complex für sich giltigen Norm muſs notwendig
eine Annäherung der Glieder des einen an die des andern
[46]X 1.
erzeugen. Schon deshalb wird dies geschehen, weil unter
noch so verschiedenen socialen Gruppen die Formen der
Differenzierung gleich oder ähnlich sind: die Verhältnisse der
einfachen Konkurrenz, die Vereinigung vieler Schwacher gegen
einen Starken, die Pleonexie Einzelner, die Progression, in
der einmal angelegte individuelle Verhältnisse sich steigern
u. s. w. Die Wirkung dieses Prozesses — von der blos for-
malen Seite — kann man häufig in der internationalen Sym-
pathie beobachten, die Aristokraten unter einander hegen und
die von dem specifischen Inhalt des Wesens, der sonst über
Anziehung und Abstoſsung entscheidet, in wunderlicher Weise
unabhängig ist. Nachdem der sociale Differenzierungsprozeſs
zu der Scheidung zwischen Hoch und Niedrig geführt hat,
bringt die blos formale Thatsache einer bestimmten socialen
Stellung die durch sie charakterisierten Mitglieder der ver-
schiedenartigsten Gruppen in innerliche, oft auch äuſserliche
Beziehung.
Dazu kommt, daſs mit einer solchen Differenzierung der
socialen Gruppe die Nötigung und Neigung wachsen wird,
über ihre ursprünglichen Grenzen in räumlicher, ökonomischer
und geistiger Beziehung hinauszugreifen und neben die an-
fängliche Centripetalität der einzelnen Gruppe bei wachsender
Individualisierung und dadurch eintretender Repulsion ihrer
Elemente eine centrifugale Tendenz als Brücke zu andern
Gruppen zu setzen. Wenige Beispiele werden für diesen an
sich einleuchtenden Vorgang genügen. Während ursprünglich
in den Zünften der Geist strenger Gleichheit herrschte, der
den Einzelnen einerseits auf diejenige Quantität und Qualität
der Produktion einschränkte, die alle andern gleichfalls leisteten,
andererseits ihn durch Normen des Verkaufs und Umsatzes
vor Überflügelung durch den andern zu schützen suchte, —
war es doch auf die Dauer nicht möglich, diesen Zustand der
Undifferenziertheit aufrecht zu halten. Der durch irgend-
welche Umstände reich gewordene Meister wollte sich nicht
mehr in die Schranken fügen, nur das eigene Fabrikat zu ver-
kaufen, nicht mehr als eine Verkaufsstelle und eine sehr be-
schränkte Anzahl von Gehülfen zu halten, und Ähnliches.
Indem er aber das Recht dazu, zum Teil unter schweren
Kämpfen, gewann, muſste ein Doppeltes eintreten: einmal
muſste sich die ursprünglich homogene Masse der Zunft-
genossen mit wachsender Entschiedenheit in Reiche und Arme,
Kapitalisten und Arbeiter differenzieren; nachdem das Gleich-
heitsprinzip einmal so weit durchbrochen war, daſs Einer den
Andern für sich arbeiten lassen und seinen Absatzmarkt frei
nach seiner persönlichen Fähigkeit und Energie, auf seine
Kenntnis der Verhältnisse und seine Chancenberechnung hin,
wählen durfte, so muſsten eben jene persönlichen Eigen-
schaften mit der Möglichkeit, sich zu entfalten, sich auch stei-
[47]X 1.
gern und zu immer schärferen Specialisierungen und Indivi-
dualisierungen innerhalb der Genossenschaft und schlieſslich
zur Sprengung derselben führen. Andererseits aber wurde
durch diese Umgestaltung ein weiteres Hinausgreifen über
das bisherige Absatzgebiet gegeben; dadurch, daſs der Pro-
ducent und der Händler, früher in einer Person vereinigt,
sich von einander differenzierten, gewann der letztere eine
unvergleichlich freiere Beweglichkeit und wurden früher un-
mögliche kommerzielle Anknüpfungen erzielt. Die individuelle
Freiheit und die Vergröſserung des Betriebes stehen in
Wechselwirkung. So zeigte sich bei dem Zusammenbestehen
zünftiger Beschränkungen und groſser fabrikmäſsiger Betriebe,
wie es etwa anfangs dieses Jahrhunderts in Deutschland statt-
fand, stets die Notwendigkeit, den letzteren die Produktions-
und Handelsfreiheit zu lassen, die man den Kreisen kleinerer
und engerer Betriebe kollektivistisch einschränken konnte oder
wollte. Es war also eine zwiefache Richtung, in der die Ent-
wicklung von dem engen homogenen Zunftkreise aus führte
und die in ihrer Doppelheit die Auflösung desselben vorbe-
reiten sollte: einmal die individualisierende Differenzierung
und dann die an das Ferne anknüpfende Ausbreitung. Die
Geschichte der Bauernbefreiung zeigt z. B. in Preuſsen einen
in dieser Beziehung ähnlichen Prozeſs. Der erbunterthänige
Bauer, wie er in Preuſsen bis etwa 1810 existierte, befand
sich sowohl dem Lande wie dem Herrn gegenüber in einer
eigentümlichen Mittelstellung; das Land gehörte zwar dem
letzteren, aber doch nicht so, daſs der Bauer nicht gewisse
Rechte auf dasselbe gehabt hätte. Andererseits muſste er zwar
dem Herrn auf dessen Acker frohnden, bearbeitete aber da-
neben das ihm zugewiesene Land für seine eigene Rechnung.
Bei der Aufhebung der Leibeigenschaft wurde nun dem Bauer
ein gewisser Teil seines bisherigen, zu beschränkten Rechten
besessenen Landes zu vollem und freiem Eigentum übermacht,
und der Gutsherr war auf Lohnarbeiter angewiesen, die sich
jetzt zumeist aus den Besitzern kleinerer, ihnen abgekaufter
Stellen rekrutierten. Während also der Bauer in den frühe-
ren Verhältnissen die teilweisen Qualitäten des Eigentümers
und des Arbeiters für fremde Rechnung in sich vereinigte,
trat nun scharfe Differenzierung ein: der eine Teil wurde zu
reinen Eigentümern, der andere zu reinen Arbeitern. Wie
aber hierdurch die freie Bewegung der Person, das Anknüpfen
entfernterer Beziehungen hervorgerufen wurde, liegt auf der
Hand; nicht nur die Aufhebung der äuſserlichen Bindung an
die Scholle kam dafür in Betracht, sondern auch die Stellung
des Arbeiters als solchen, der bald hier, bald dort angestellt
wird, andererseits der freie Besitz, der Veräuſserlichungen und
damit kommerzielle Beziehungen, Umsiedlungen u. s. w. er-
möglicht. So begründet sich die im ersten Satz ausgesprochene
[48]X 1.
Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert
das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues — reales und
ideales — zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der
Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und das-
selbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, daſs die
Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander
unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden
im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unter-
abteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei
unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbil-
dung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schär-
feres Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen
Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein
Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe
hinausgehenden Gleichheit mit einer gröſseren Allgemeinheit.
Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns ver-
sichert wird, daſs die Haustierrassen unzivilisierter Völker
viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die
bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben
noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen,
der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Ab-
teilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt.
Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren
proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines
Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich;
dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und
feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des
eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem
fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzie-
rung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den
fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, daſs die breiten
ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener,
dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Cha-
rakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten
beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die
dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muſs
Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psycho-
logischen Regel, daſs differente, aber zu dem gleichen Genus
gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefaſste
Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegen-
seitig derart paralysieren, daſs ein mittlerer Eindruck heraus-
kommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere
ausgeglichen, und wie die äuſserst verschiedenen Farben das
farblose weiſse Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannich-
faltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persön-
lichkeiten, daſs das Ganze, in dem die Vorstellung sie zu-
sammenfaſst, einen indifferenteren, der scharfkantigen Ein-
[49]X 1.
seitigkeit entbehrenden Charakter trägt. Die Reibung zwi-
schen scharf ausgebildeten Individualitäten, die in der Wirk-
lichkeit zu Ausgleichungen oder Konflikten führt, findet auch
im subjektiven Geiste statt. Je differenzierter ein Kreis seinen
Bestandteilen nach ist, desto weniger wird er als ganzer einen
individuellen Eindruck machen, weil jene sich sozusagen gegen-
seitig nicht zu Worte kommen lassen, sich gegenseitig zu
einem Durchschnittseindruck aufheben, der um so unbestimmter
sein wird, je mehre und je verschiedenere Faktoren zu ihm
zusammenwirken.
Dieser Gedanke läſst sich auch verallgemeinernd so
wenden, daſs in jedem Menschen ceteris paribus gleichsam
eine unveränderliche Proportion zwischen dem Individuellen
und dem Socialen besteht, die nur die Form wechselt: je
enger der Kreis ist, an den wir uns hingeben, desto weniger
Freiheit der Individualität besitzen wir; dafür aber ist dieser
Kreis selbst etwas Individuelles, scheidet sich, eben weil er
ein kleiner ist, mit scharfer Begrenzung gegen die übrigen
ab. Die sociale Ordnung des Quäkertums zeigt dies recht
klar. Als Ganzes, als Religionsprinzip von dem extremsten
Individualismus und Subjektivismus, bindet es die Gemeinde-
glieder in höchst gleichförmige, demokratische, alle indivi-
duellen Unterschiede möglichst ausschlieſsende Lebens- und
Wesensart; dafür mangelt ihm aber jedes Verständnis für die
höhere staatliche Einheit und ihre Zwecke, sodaſs die Indi-
vidualität der kleineren Gruppe einerseits die der Einzelnen,
andererseits die Hingabe an die groſse Gruppe ausschlieſst.
Und nun stellt sich dies im einzelnen darin dar: in dem, was
Gemeindesache ist, in den gottesdienstlichen Versammlungen,
darf jeder als Prediger auftreten und reden, was und wann
es ihm beliebt; dagegen wacht die Gemeinde über die persön-
lichen Angelegenheiten, z. B. die Eheschlieſsung, sodaſs diese
ohne Einwilligung eines zur Untersuchung des Falles ein-
gesetzten Komitees nicht stattfindet. Sie sind also individuell
nur im Gemeinsamen, aber social gebunden im Individuellen.
Und nun entsprechend: erweitert sich der Kreis, in dem wir
uns bethätigen und dem unsere Interessen gelten, so ist darin
mehr Spielraum für die Entwicklung unserer Individualität;
aber als Teile dieses Ganzen haben wir weniger Eigenart,
dieses letztere ist als sociale Gruppe weniger individuell.
Wenn so die Tendenzen zur Individualisierung einerseits,
zur Undifferenziertheit andererseits sich derart gleich bleiben,
daſs es relativ gleichgiltig ist, ob sie sich auf dem rein per-
sönlichen oder auf dem Gebiet der socialen Gemeinschaft, der
die Person angehört, zur Geltung bringen, — so wird das
Plus an Individualisierung oder ihrem Gegenteil auf dem
einen Gebiet ein Minus auf dem andern fordern. Auf diese
Weise kommen wir zu einer allgemeinsten Norm, welcher die
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 4
[50]X 1.
Gröſsen unterschiede der socialen Gruppen nur die häufigste
Gelegenheit zum Hervortreten bieten, die sich indes auch
aus andern Veranlassungen zeigt. So bemerken wir z. B. bei
gewissen Völkern, wo das Extravagante, Überspannte, launen-
haft Impulsive sehr vorherrscht, doch eine sklavische Fesse-
lung an die Mode. Die Verrücktheit, die Einer begeht, wird
automatenhaft von allen andern nachgeäfft. Andere dagegen
mit mehr nüchterner und soldatisch zugeschnittener Form
des Lebens, die als Ganzes lange nicht so bunt ist, haben
doch einen viel stärkeren Individualitätstrieb, unterscheiden
sich innerhalb ihres gleichförmigen und einfachen Lebens-
stiles viel schärfer und prägnanter voneinander, als jene in
ihrer bunten und wechselnden Art. So hat also einerseits
das Ganze sehr individuellen Charakter, aber seine Teile sind
untereinander sehr gleich; andererseits ist das Ganze farbloser,
weniger nach einem Extrem zu gebildet, aber seine Teile sind
untereinander stark differenziert. Im Augenblick indessen
kommt es uns hauptsächlich auf das Korrelationsverhältnis
an, das sich an den Umfang der socialen Kreise knüpft und
die Freiheit der Gruppe mit der Gebundenheit des Indivi-
duums zu verbinden pflegt; ein gutes Beispiel davon zeigt
das Zusammenbestehen kommunaler Gebundenheit mit politi-
scher Freiheit, wie wir es in der russischen Verfassung der
vorzarischen Zeit finden. Besonders in der Epoche der
Mongolenkämpfe gab es in Ruſsland eine groſse Anzahl terri-
torialer Einheiten, Fürstentümer, Städte, Dorfgemeinden, welche
untereinander von keinem einheitlichen staatlichen Bande zu-
sammengehalten wurden und also als Ganze groſser politi-
scher Freiheit genossen; dafür aber war die Gebundenheit
des Individuums an die kommunale Gemeinschaft die denkbar
engste, so sehr, daſs überhaupt kein Privateigentum an Grund
und Boden bestand, sondern allein die Kommune diesen
besaſs. Der engen Eingeschlossenheit in den Kreis der Ge-
meinde, die dem Individuum den persönlichen Besitz und
gewiſs auch oft die persönliche Beweglichkeit versagte, ent-
sprach der Mangel an bindenden Beziehungen zu einem wei-
teren politischen Kreise. Die Kreise der socialen Interessen
liegen konzentrisch um uns: je enger sie uns umschlieſsen,
desto kleiner müssen sie sein. Nun ist aber der Mensch nie
bloſses Kollektivwesen, wie er nie bloſses Individualwesen ist;
darum handelt es sich hier natürlich nur um ein Mehr oder
Minder und nur um einzelne Seiten und Bestimmungen der
Existenz, an denen sich die Entwicklung vom Übergewicht
des Einen zu dem des Andern zeigt. Und diese Entwicklung
wird Stadien haben können, in denen die Zugehörigkeiten zu
dem kleinen wie zu dem gröſseren socialen Kreise neben-
einander in charakteristischen Folgen hervortreten. Während
also die Hingabe an einen engeren Kreis im allgemeinen dem
[51]X 1.
Bestande der Individualität als solcher weniger günstig ist als
ihre Existenz in einer möglichst groſsen Allgemeinheit, ist
psychologisch doch zu bemerken, daſs innerhalb einer sehr
groſsen Kulturgemeinschaft die Zugehörigkeit zu einer Familie
die Individualisierung befördert. Der Einzelne vermag sich
gegen die Gesamtheit nicht zu retten; nur indem er einen
Teil seines absoluten Ich an ein paar andere aufgiebt, sich
mit ihnen zusammenschlieſst, kann er noch das Gefühl der
Individualität und zwar ohne übertriebenes Abschlieſsen, ohne
Bitterkeit und Absonderlichkeit wahren. Auch indem er seine
Persönlichkeit und seine Interessen um die einer Reihe an-
derer Personen erweitert, setzt er sich dem übrigen Ganzen
sozusagen in breiterer Masse entgegen. Zwar der Individua-
lität im Sinne des Sonderlingtums und der Innormalität jeder
Art wird durch ein familienloses Leben in einem weiten Kreise
weiter Spielraum gelassen; aber für die Differenzierung, die
dann auch dem gröſsten Ganzen zugute kommt, die aus der
Kraft, aber nicht aus der Widerstandslosigkeit gegenüber ein-
seitigen Trieben hervorgeht — für diese ist die Zugehörigkeit
zu einem engeren Kreise innerhalb des weitesten oft von
Nutzen, vielfach freilich nur als Vorbereitung und Übergang.
Die Familie, deren Bedeutung zuerst eine politisch reale, mit
wachsender Kultur mehr und mehr eine psychologisch ideale
ist, bietet als Kollektivindividuum ihrem Mitglied einerseits
eine vorläufige Differenzierung, die es auf diejenige im Sinne
der absoluten Individualität wenigstens vorbereitet, andererseits
einen Schutz, unter dem die letztere sich entwickeln kann,
bis sie der weitesten Allgemeinheit gegenüber bestandsfähig
ist. Die Zugehörigkeit zu einer Familie stellt in höheren
Kulturen, wo doch zugleich die Rechte der Individualität und
der weitesten Kreise sich geltend machen, eine Mischung der
charakteristischen Bedeutung der engen und der erweiterten
socialen Gruppe dar.
Wenn ich oben andeutete, daſs die gröſste Gruppe den
extremen Bildungen und Verbildungen des Individualismus,
der misanthropischen Vereinzelung, den barocken und launen-
haften Lebensformen, der krassen Selbstsucht gröſseren Spiel-
raum gewährt, so ist dies doch nur die Folge davon, daſs die
weitere Gruppe geringere Ansprüche an uns stellt, sich weniger
um den Einzelnen kümmert und deshalb das volle Auswachsen
auch der perversesten Triebe weniger hindert als die engere.
Die Gröſse des Kreises trägt also nur die negative Schuld,
und es handelt sich mehr um Entwicklungen auſserhalb als
innerhalb der Gruppe, zu welch’ ersteren die gröſsere ihren
Mitgliedern mehr Möglichkeit giebt, als die kleinere. Wäh-
rend dies einseitige Hypertrophieen sind, deren Ursache oder
deren Folge eine Schwäche des Individuums ist, sehen wir
doch auch, wie gerade in der Einseitigkeit, die die Stellung
4*
[52]X 1.
in einer groſsen Gruppe mit sich bringt, eine unvergleichlich
starke Kraftquelle flieſst und zwar nicht nur für die Gesamt-
heit, sondern auch für den Einzelnen. Durch nichts wird
dies klarer dargelegt, als durch die unzählige Male beobachtete
Thatsache, daſs Personen, die in einem bestimmten Wirkungs-
kreise alt geworden sind, unmittelbar nach dem Ausscheiden
aus demselben die Kräfte verlieren, durch die sie bisher ihren
Beruf ganz zureichend erfüllt haben; nicht nur, daſs dieses
Kraftquantum, nicht mehr längs der gewohnten Bahnen ver-
laufend, sich nicht in neu gebotene hineinfinden kann und
deshalb modert, sondern die gesamte Persönlichkeit in allen
ihren, auch auſserhalb des Berufes liegenden Bethätigungen
klappt in der Mehrzahl solcher Fälle zusammen, sodaſs es
uns nachträglich scheinen mag, als habe der Organismus an
und für sich schon lange nicht mehr die zu seiner Bethäti-
gung erforderlichen Kräfte besessen und habe gerade nur in
dieser bestimmten Form derselben ein in ihm selbst eigentlich
nicht mehr liegendes Vermögen entfalten können — ungefähr
wie man sich von der Lebenskraft vorstellte, daſs sie, über
die bloſs natürlichen, in den Bestandteilen des Körpers woh-
nenden Kräfte hinaus, den chemischen und physikalischen
Wirkungen in demselben noch eine besondere, der specifischen
Form des Organischen eigene Kraft hinzufügte. So gut man
nun diese dem Leben abgesprochen und die scheinbar durch
dasselbe erzeugte Kraftsumme auf eine besondere Zusammen-
stellung der sonst bekannten, im natürlichen Kreislauf befind-
lichen Kräfte zurückgeführt hat, so gut wird man den ener-
gischen Zusammenhalt der Persönlichkeit und den Kraft-
zuschuſs, den der Beruf uns zu verleihen und den die Folgen
des Verlassens desselben zu beweisen scheinen, nur als eine
besonders günstige Anpassung und Anordnung der auch sonst
in der Persönlichkeit vorhandenen Kräfte erkennen; die Form
erzeugt eben keine Kraft. Wie nun aber dennoch das Leben
thatsächlich eben diese besondere, mit nichts anderem ver-
gleichbare Kombination und Konzentration der Naturkräfte
ist, so bewirkt auch der Beruf durch die Art, wie er die
Kräfte des Individuums anordnet, eben doch Entfaltungen
und zweckmäſsige Zusammenfassungen derselben, die sonst
unmöglich wären. Und da nur innerhalb einer groſsen und
sehr arbeitsteilig gegliederten Gruppe diese specifische Form-
gebung für den Einzelnen stattfinden kann, so wird auch auf
diesem Wege wieder durchsichtig, in wie engem Zusammen-
hange die Kräftigung und Durchbildung der Persönlichkeit
mit dem Leben innerhalb eines gröſsten Kreises steht.
Aus weiterer Entwicklung dieses Zusammenhanges ver-
stehen wir, daſs eine starke Ausbildung der Individualität
und eine starke Wertschätzung derselben sich häufig mit
kosmopolitischer Gesinnung paart, daſs umgekehrt die Hingabe
[53]X 1.
an eine engbegrenzte sociale Gruppe beides verhindert. Und
die äuſseren Formen, in denen die Gesinnung sich ausspricht,
folgen dem gleichen Schema. Die Renaissancezeit bildete in
Italien einerseits die vollkommene Individualität aus, anderer-
seits die weit über die Grenzen der engeren socialen Um-
gebung hinausgehende Gesinnung und Gesittung; dies spricht
sich direkt z. B. im Worte Dantes aus, daſs — bei all seiner
leidenschaftlichen Liebe zu Florenz — ihm und seinesgleichen
die Welt das Vaterland sei, wie das Meer den Fischen; in-
direkt und gleichsam a posteriori beweist es sich dadurch,
daſs die Lebensformen, die die italienische Renaissance schuf,
von der ganzen gebildeten Welt angenommen worden sind
und zwar gerade, weil sie der Individualität, welcher Art sie
auch immer sei, einen vorher ungeahnten Spielraum gaben.
Als Symptom dieser Entwicklung nenne ich nur die Gering-
schätzung des Adels in dieser Epoche. Der Adel ist nur so
lange von eigentlicher Bedeutung, als er einen socialen Kreis
bezeichnet, der, in sich eng zusammengehörend, sich um so
energischer von der Masse aller anderen und zwar nach unten
und nach oben abhebt; seinen Wert zu leugnen bedeutet
das Durchbrechen beider Kennzeichen, bedeutet einerseits die
Erkenntnis vom Werte der Persönlichkeit, gleichviel welchem
Geburtskreise sie angehört, andererseits eine Nivellierung
gegenüber denjenigen, über die man sich sonst erhoben hat.
Und beides findet sich thatsächlich in der Litteratur jener
Zeit deutlich ausgesprochen.
Aus solchen Zusammenhängen erklärt sich übrigens der
Verdacht der Herzlosigkeit und des Egoismus, der so häufig
auf groſsen Männern lastet, — weil die objektiven Ideale,
von denen sie entflammt sind, nach ihren Ursachen und Folgen
weit über den engeren sie umgebenden Kreis hinausreichen
und die Möglichkeit dazu eben in dem starken Herausragen
ihrer Individualität über den socialen Durchschnitt gegeben ist;
um so weit sehen zu können, muſs man über die Nächst-
stehenden hinwegblicken.
Die bekannteste Analogie dieses Verhältnisses bietet der
Zusammenhang, den Republikanismus und Tyrannis, Nivelle-
ment und Despotismus und zwar sowohl im Nacheinander
wie im Zugleich aufweisen. Alle Verfassung, die ihren Cha-
rakter von der Aristokratie oder der Bourgeoisie entlehnt,
kurz, die dem socialen und politischen Bewuſstsein eine Mehr-
zahl aneinander grenzender engerer Kreise bietet, drängt, so-
bald sie überhaupt über sich hinauswill, einerseits nach der
Vereinheitlichung in einer persönlichen führenden Gewalt,
andererseits zum Socialismus mit anarchischem Anstrich, der
mit dem Auslöschen aller Unterschiede das absolute Recht der
freien Persönlichkeit herstellen will. So führte der Poly-
theismus des Altertums mit seinen lokal geschiedenen und in
[54]X 1.
vielfachen Verhältnissen der Über- und Nebenordnung stehenden
Bezirken göttlicher Wirksamkeiten gegen Beginn unserer Zeit-
rechnung aufwärts zum Monotheismus, abwärts zum Atheismus;
so hat der Jesuitismus im Gegensatz zu der aristokratischen
Kirchenverfassung einerseits eine gleichmachende Demagogie,
andererseits einen päpstlichen Absolutismus zu Zielpunkten.
Deshalb ist das Nivellement der Massen in der Regel das
Korrelat des Despotismus, und deshalb läſst gerade diejenige
Kirche, die am energischsten in einer persönlichen Spitze
gipfelt, die Individualität ihrer Bekenner am wenigsten auf-
kommen und hat den meisten Erfolg im Aufbau eines welt-
umspannenden, die Persönlichkeiten als solche möglichst nivellie-
renden Reiches gehabt.
In diesen Beispielen nimmt unsere Korrelation zwischen
individualistischer und kollektivistischer Tendenz also eine
andere Form an: die Erweiterung des Kreises steht mit der
Ausbildung der Persönlichkeit nicht für die Angehörigen des
Kreises selbst in Zusammenhang, wohl aber mit der Idee einer
höchsten Persönlichkeit, an die gleichsam der individuelle
Wille abgegeben wird, die dafür, wie in anderer Beziehung
die Heiligen, Stellvertretung übernimmt.
Die Entwicklung, die von der engeren Gruppe aus
gleichzeitig zur Individualisierung und zur gesteigerten Sociali-
sierung führt, braucht freilich nicht immer beides in gleichem
Maſse zu realisieren, sondern das eine Element kann unter
Umständen das andere sehr überwiegen, da es sich ja nicht
um eine metaphysische Harmonie oder um ein Naturgesetz
handelt, das mit innerer Notwendigkeit jedes Quantum des
einen mit dem gleichen des andern verbände, sondern das
ganze Verhältnis nur als ein sehr allgemeiner zusammen-
fassender Ausdruck für das Resultat sehr komplizierter und
modifizierbarer historischer Bedingungen gelten darf. Wie
oben schon angedeutet, begegnen wir auch dem Fall, daſs
die Entwicklung nicht nach beiden Seiten zugleich, sondern
vor die Alternative zwischen beiden führt und doch auch so
die Korrelation zwischen ihnen beweist. In sehr bewuſster
Weise zeigt dies eine Phase in der Geschichte der Allmend,
des Kollektivbesitzes der schweizerischen Gemeinden. Inso-
weit die Allmenden in den Besitz von Teilgemeinden, Orts- und
Dorfkorporationen übergegangen sind, werden sie jetzt in
einigen Kantonen (Zürich, St. Gallen u. a.) von der Gesetz-
gebung mit der Tendenz behandelt, dieselben entweder an
die einzelnen Genossen aufzuteilen, oder an gröſsere Land-
gemeinden übergehen zu lassen, weil jene kleinsten Verbände
eine zu geringe personale und territoriale Basis besäſsen, um
ihren Besitz für das öffentliche Wesen recht fruchtbar werden
zu lassen.
[55]X 1.
Man könnte vielleicht das ganze Verhältnis, das wir hier
meinen und das in den mannichfachsten Modis des Zugleich,
des Nacheinander, des Entweder-Oder Gestalt gewinnt, sym-
bolisch so ausdrücken, daſs die engere Gruppe gewissermaſsen
eine mittlere Proportionale zwischen der erweiterten und der
Individualität bildet, so daſs jene, in sich geschlossen und
keines weiteren Faktors bedürfend, das gleiche Resultat der
Lebensmöglichkeit ergiebt, das aus dem Zusammen der beiden
letzteren hervorgeht. So hatte z. B. die Allgewalt des römi-
schen Staatsbegriffes zum Korrelat, daſs es neben dem ius
publicum ein ius privatum gab; die für sich ausgeprägte Ver-
haltungsnorm jenes allumfassenden Ganzen forderte eine ent-
sprechende für die Individuen, die es in sich schloſs. Es gab
nur die Gemeinschaft im gröſsten Sinne einerseits und die
einzelne Person andererseits; das älteste römische Recht kennt
keine Korporationen, und dieser Geist bleibt ihm im allge-
meinen. Umgekehrt giebt es im deutschen Recht keine
andern Rechtsgrundsätze für die Gemeinschaft wie für die
Einzelnen; aber diese Allgemeinheiten sind nun auch nicht
die allumfassenden des römischen Staates, sondern kleinere,
durch die wechselnden und mannichfaltigen Bedürfnisse der
Einzelnen hervorgerufene. In kleineren Gemeinwesen bedarf
es nicht jener Abtrennung des öffentlichen Rechts vom pri-
vaten, weil das Individuum in ihnen inniger mit dem Ganzen
verbunden ist.
Es ist nur eine Folge des Gedankens einer solchen Be-
ziehung zwischen Individuellem und Socialem, wenn wir sagen:
je mehr statt des Menschen als Socialelementes der Mensch
als Individuum und damit diejenigen Eigenschaften, die ihm
bloſs als Menschen zukommen, in den Vordergrund des
Interesses treten, desto enger muſs die Verbindung sein, die
ihn gleichsam über den Kopf seiner socialen Gruppe hinweg
zu allem, was überhaupt Mensch ist, hinzieht und ihm den
Gedanken einer idealen Einheit der Menschenwelt nahe legt.
Für diese Korrelation liefert die stoische Lehre ein deutliches
Beispiel. Während der politisch-sociale Zusammenhang, in
dem der Einzelne steht, noch bei Aristoteles den Quellpunkt
der ethischen Bestimmungen bildet, heftet sich das stoische
Interesse, was das Praktische betrifft, eigentlich nur an die
Einzelperson, und die Heranbildung des Individuums zu dem
Ideale, welches das System vorschrieb, wurde so ausschlieſslich
zur Aegide der stoischen Praxis, daſs der Zusammenhang der
Individuen untereinander nur als Mittel zu jenem idealen in-
dividualistischen Zweck erscheint. Aber dieser freilich wird
seinem Inhalt nach von der Idee einer allgemeinen, durch alles
Einzelne hindurchgehenden Vernunft bestimmt. Und an dieser
Vernunft, deren Realisierung im Individuum das stoische Ideal
bildet, hat jeder Mensch Teil; sie schlingt, über alle Schranken
[56]X 1.
der Nationalität und der socialen Abgrenzung hinweg, ein
Band der Gleichheit und Brüderlichkeit um alles, was Mensch
heiſst. Und so hat denn der Individualismus der Stoiker
ihren Kosmopolitismus zum Komplement; die Sprengung der
engeren socialen Bande, in jener Epoche nicht weniger durch
die politischen Verhältnisse wie durch theoretische Überlegung
begünstigt, schob, unserm vorangestellten Prinzip zufolge,
den Schwerpunkt des ethischen Interesses einerseits nach dem
Individuum hin, andererseits nach jenem weitesten Kreise, dem
jedes menschliche Individuum als solches angehört. Daſs die
Lehre von der Gleichheit aller Menschen häufige Verbindungen
mit einem extremen Individualismus eingeht, verstehen wir
aus diesem und den folgenden Gründen. Es liegt psycholo-
gisch nahe genug, daſs die furchtbare Ungleichheit, in welche
der Einzelne in gewissen Epochen der Socialgeschichte hinein-
geboren wurde, die Reaktion nach zwei Seiten hin entfesselte:
sowohl nach der Seite des Rechts der Individualität, wie
nach der der allgemeinen Gleichheit; denn beides pflegt im
gleichen Grade den gröſseren Massen zu kurz zu kommen.
Nur aus diesem zweiseitigen Zusammenhange heraus ist eine
Erscheinung wie Rousseau zu verstehen; und die steigende
Entwicklung der allgemeinen Schulbildung zeigt dieselbe
Tendenz: sie will einerseits die schroffen Unterschiede der
geistigen Niveaus beseitigen und gerade durch die Herstellung
einer gewissen Gleichheit jedem Einzelnen die früher versagte
Möglichkeit zur Geltendmachung seiner individuellen Be-
fähigungen gewähren. Ich glaube sogar, daſs die Vorstellung
der allgemeinen Gleichheit psychologisch durch nichts mehr
gefördert werden kann, als durch ein scharfes Bewuſstsein
von dem Wesen und dem Werte der Individualität, von der
Thatsache, daſs jeder Mensch doch ein Individuum mit cha-
rakteristischen, in genau dieser Zusammensetzung nicht zum
zweiten Male auffindbaren Eigenschaften ist; gleichviel wie
diese Eigenschaften inhaltlich beschaffen seien: die Form der
Individualität kommt doch jedem Menschen zu und bestimmt
seinen Wert gemäſs dem Seltenheitsmoment. Hierdurch wird
eine formale Gleichheit geschaffen; gerade wenn jeder etwas
Besonderes ist, ist er insoweit jedem andern gleich. Und das
Dogma vom absoluten Ich, von der persönlichen unsterblichen
Seele, die jedem Menschen eigen sei, muſste mehr als alles
andere zu der Vorstellung der allgemeinen Gleichheit bei-
tragen, weil die empirischen Unterschiede, die man im Inhalte
der Seelen vorfindet, gegenüber ihren ewigen und absoluten
Qualitäten, in denen sie gleich sind, nicht in Betracht kommen.
Wenn man von dem socialistischen Charakter des Urchristen-
tums gesprochen hat, so geht dieser vielleicht weniger aus
positiven Gründen, als aus den negativen der vollständigen
Gleichgiltigkeit hervor, die die ersten Christen alledem
[57]X 1.
gegenüber empfanden, was sonst Unterschiede unter den Men-
schen ausmacht — und zwar gerade wegen des absoluten
Wertes der Einzelseele. Hört die absolute Individualität auf,
so werden die Einzelnen nur als Summe ihrer Eigenschaften
gerechnet und sind natürlich so verschieden, wie diese es sind;
sind diese Eigenschaften aber etwas Nebensächliches gegen-
über der Hauptsache, nämlich der Persönlichkeit, Freiheit und
Unsterblichkeit der Seele, die etwa noch dazu wie bei Rousseau
von vornherein sich einer vollkommenen, erst durch Erziehung
und Gesellschaft verdorbenen Güte erfreut, so ist die Gleich-
heit alles Menschenwesens die natürliche Folge. Übrigens
führt, wie ersichtlich, dieser metaphysische Sinn der Persön-
lichkeit zur Vernachlässigung ihres empirischen und eigentlich
bedeutungsvollen Inhalts. Da nun aber die weitergehende
Socialisierung in einer natürlichen und innerlich notwendigen
Beziehung zu einer weitergehenden Individualisierung steht,
so ist das eben charakterisierte Verhältnis, wo es praktisch
wird, allemal verderblich. Revolutionäre Bewegungen, wie
die der Wiedertäufer oder die von 1789, kommen zu ihren
logischen und ethischen Unmöglichkeiten dadurch, daſs sie
zwar die niedere Allgemeinheit zu gunsten einer höheren auf-
heben, aber ohne zugleich das Recht der Individualität zu
wahren. Besonders die französische Revolution zeigt durch
ihre Beziehung zu Rousseau, wie leicht die metaphysische
Bedeutung der Persönlichkeit zur Vernachlässigung ihrer
realen Bedeutung führt und wie durch diese nun auch die
Socialisierung leidet, die von jener ausging. Wenden wir uns
nun wieder zu dem Verhältnis des Individualismus zum Kos-
mopolitismus zurück, so stellt sich in ethischer Beziehung der
erstere oft als Egoismus dar, wie es da sehr nahe liegt, wo
das Band der patriotischen Gesinnung zerfallen ist, das den
Einzelnen zwar an einen kleineren Kreis fesselt, als der
Kosmopolitismus es thut, aber dafür dem Egoismus ein kräf-
tigeres Gegengewicht bietet. Schon die Cyniker zeigen die
gleiche Korrelation zwischen Kosmopolitismus und Egoismus,
indem sie das Zwischenglied des Patriotismus ausschalten,
dessen es für die meisten Menschen bedarf, um den Egoismus
im altruistischen Sinne zu beugen. Wenn andererseits die
klassische Philosophie vielfach noch über Aristoteles hinaus
es zu keiner scharfen begrifflichen Fassung der Persönlich-
keit gebracht hat, wenn der Begriff der Vernunft für sie oft
genug zwischen allgemeinster Weltvernunft und rein persön-
licher Denkkraft schwankt, so ist dies doch die Folge der an
den engeren staatlichen Kreis als an ein gewisses Mittleres
zwischen Allgemeinstem und Persönlichstem gebundenen Denk-
gewohnheit. Die Anwendbarheit dieser Formel von der Kor-
relation zwischen Steigerung des Individuellen und Anwachsen
der Socialgruppe auf ethische Verhältnisse läſst sich ferner in
[58]X 1.
folgender Wendung darstellen. Solange das wirtschaftliche
oder sonstige Produzieren innerhalb eines engeren Kreises
vorgeht, so daſs dem Schaffenden sein Publikum mehr oder
weniger bekannt ist, wird die unvermeidliche psychologische
Association zwischen der Arbeit und den Personen, für die
sie bestimmt ist, oft zweierlei verhindern: einerseits das rege
Interesse an der Sache selbst und ihrer objektiven Vollkommen-
heit, gleichgiltig dagegen, welchen zufälligen und subjektiv
bestimmten Bedürfnissen sie gerade dienen wird, andererseits
aber auch den reinen Egoismus, dem nur an dem Preise seiner
Arbeit liegt, aber gar nicht daran, von wem er gezahlt wird.
Beides aber wird durch die Vergröſserung des Kreises, an
den die Arbeit sich wendet, begünstigt. Wie im Theoreti-
schen dasjenige als objektive Wahrheit erscheint, was Wahr-
heit für die Gattung ist, wovon sich die Gattung, von vorüber-
gehenden psychologischen Hindernissen abgesehen, muſs über-
zeugen lassen: so erscheinen uns Ideale und Interessen in
demselben Maſse objektiv, als sie einem gröſsten Interessenten-
kreise gelten; alles Subjektive, Einseitige, wird aus ihnen da-
durch herausgeläutert, daſs sie sich an eine möglichst groſse
Anzahl von Subjekten wenden, in der der Einzelne als solcher
verschwindet und die das Bewuſstsein an die Sache zurück-
weist. Ich halte es nicht für zu kühn, wenn ich das soge-
nannte sachliche, unpersönliche, ideale Interesse ausdeute als
entstanden aus einem Maximum in ihm zusammenströmender
Interessen; dadurch erhält es seinen verklärten, scheinbar
über allem Persönlichen stehenden Charakter. Deshalb läſst
es sich auch nachweisen, daſs diejenigen Bethätigungen, die
am häufigsten und gründlichsten die selbstlose Vertiefung in
die Aufgabe, die reine Hingebung für die Sache aufweisen,
also die wissenschaftlichen, künstlerischen, die groſsen sitt-
lichen und praktischen Probleme, sich ihren Wirkungen nach
immer an das weiteste Publikum wenden. Wenn man z. B.
sagt, daſs die Wissenschaft nicht um ihrer Nützlichkeit oder
überhaupt nur um irgendwelcher „Zwecke“, sondern um ihrer
selbst willen betrieben werden müsse, so kann dies nur ein
ungenauer Ausdruck sein, weil ein Handeln, dessen Erfolg
nicht von Menschen als nützlich und förderlich empfunden
würde, nicht ideal, sondern sinnlos wäre; die Bedeutung davon
kann nur jene psychologische Verdichtung und gegenseitige
Paralysierung unzähliger Einzelinteressen sein, im Gegensatz
gegen welche die Verfolgung der im Einzelnen erkannten
und bewuſsten Interessen eines engeren Kreises als Nützlich-
keit oder Zweckmäſsigkeit κατ̕ ἐξοχήν erscheint. Wir sehen
hier also, wie die Beziehung zum allergröſsten Kreise zwar
auch über den individuellen Egoismus hinaustragen kann,
aber doch das Bewuſstsein eigentlicher socialer Zweckmäſsig-
keit aufhebt, das vielmehr den Bethätigungen für eine kleinere
[59]X 1.
Gruppe eigen ist; andererseits aber führt die bei Vergröſse-
rung des socialen Kreises eintretende Schwächung des so-
cialen Bewuſstseins gerade auf dem Gebiete der wirtschaft-
lichen Produktion zum vollständigen Egoismus. Je weniger
der Produzent seine Konsumenten kennt, desto ausschlieſs-
licher richtet sich sein Interesse nur auf die Höhe des
Preises, den er von diesen erzielen kann; je unpersönlicher
und qualitätloser ihm sein Publikum gegenübersteht, um so
mehr entspricht dem die ausschlieſsliche Richtung auf das
qualitätlose Resultat der Arbeit, auf das Geld; von jenen
höchsten Gebieten abgesehen, auf denen die Energie der
Arbeit aus dem abstrakten Idealismus stammt, wird der Ar-
beiter um so mehr von seiner Person und seinem ethischen
Interesse in die Arbeit hineinlegen, je mehr ihm sein Ab-
nehmerkreis auch persönlich bekannt ist und nahe steht, wie
es eben nur in kleineren Verhältnissen statthat. Mit der
wachsenden Gröſse der Gruppe, für die er arbeitet, mit der
wachsenden Gleichgiltigkeit, mit der er dieser nur gegenüber-
stehen kann, fallen vielerlei Momente dahin, die den wirt-
schaftlichen Egoismus einschränkten. Nach vielen Seiten ist
die menschliche Natur und sind die menschlichen Verhältnisse
so angelegt, daſs, wenn die Beziehungen des Individuums
eine gewisse Gröſse des Umfanges überschreiten, es um so
mehr auf sich selbst zurückgewiesen wird.
Und nun zeigt eine noch weiter in das Gebiet des Indi-
viduellen und Socialen vorschreitende ethische Betrachtung,
wie auch für die äuſsersten Punkte beider noch unsere Kor-
relation gilt. Was man als Pflichten gegen sich selbst im
gebietenden wie verbietenden Sinne bezeichnet, ist gerade
das, was andererseits auch als Würde und Pflicht des „Men-
schen überhaupt“ zu gelten pflegt. Die Selbsterhaltung,
Selbstbeherrschung, das rechte Selbstgefühl, die Vervoll-
kommnung der eigenen Persönlichkeit — das alles sind
Pflichten, die wenigstens in dieser abstrakten Form alle spe-
cielle Beziehung zu dem engeren socialen Kreise ablehnen,
der uns sonst, hier anders als dort, seine besonders charak-
terisierten Verpflichtungen auferlegt. Sie gelten nicht nur
unter allen möglichen Verhältnissen, sondern ihre teleologische
Bestimmung geht auch auf die weitesten und allgemeinsten
Kreise, mit denen wir überhaupt in Berührung kommen und
kommen können. Nicht als Angehörige dieses und jenes
Kreises sollen wir solche Selbstpflichten erfüllen, sondern als
Menschen überhaupt; und es ist gar kein Zweifel, daſs das all-
gemeine Menschentum, das uns dieselben auferlegt, nur der
weitere sociale Kreis im Gegensatz zu dem engeren ist, der
unmittelbarere und in ihrer Beziehung auf dritte Personen
deutlichere Leistungen von uns fordert. Gerade weil man
gewohnt ist, daſs Pflicht nur Pflicht gegen Jemand sei, wird
sie als Pflicht gegen sich selbst vorgestellt, sobald man sie
[60]X 1.
empfindet, ohne daſs sie sich in greifbarer Weise auf andere
Menschen bezöge. Die erweiterte und verdichtete Gattungs-
erfahrung hat diesen Pflichten volle sittliche Würde verliehen,
indem sie zugleich wegen der Weite des Kreises und der
Fülle der Interessen und Zwecke, die sich in ihnen zu-
sammenfanden, alle einzelne teleologische Beziehung derselben
hinter den Horizont des Bewuſstseins rückte und dieses, das
doch einen Zweck, ein Objekt des Pflichtgefühls suchte, nur
an sich selbst zurückzuweisen wuſste, sodaſs gerade die
Pflicht gegen die gröſste Allgemeinheit uns als Pflicht gegen
das eigenste Ich erscheint.
Mit einer etwas anderen Wendung, die statt des Wohin
mehr das Woher der Sittlichkeit ins Auge faſst, stellt sich
dies so dar. Wir unterscheiden nach Kants Vorgang sittliche
Heteronomie, d. h. sittliches Handeln auf Grund äuſseren
Gebotes, von sittlicher Autonomie, die von innen heraus und
nur um dem eigenen Pflichtgefühl zu genügen Gleiches thut.
Wie nun aber alle Pflicht ihrem Zwecke nach Pflicht gegen
Jemand und dieser Jemand ursprünglich eine äuſsere Person
ist, so ist sie auch ihrem Ursprung nach ein äuſseres Gebot,
das erst durch einen langwierigen, durch die ganze Gattungs-
geschichte sich hindurchziehenden Prozeſs in das Gefühl eines
rein innerlichen Sollens übergeht. Nun gehörte aber offen-
bar die umfassende Fülle einzelner äuſserer Impulse dazu, um
den Ursprung des einzelnen sittlichen Gebotes für das Be-
wuſstsein zu verlöschen; denn überall bemerken wir, wie
einer einzelnen Erscheinung ihre Genesis psychologisch an-
klebt, solange sie nur aus dieser einen hervorgegangen ist,
daſs sie aber psychologische Selbständigkeit erlangt, sobald
das Hervorgehen des Gleichen aus einer groſsen Anzahl und
Mannichfaltigkeit von Vorbedingungen beobachtet wird. Die
psychologische Verbindung mit jeder einzelnen derselben löst
sich in dem Maſse, als die Erscheinung anderweitige eingeht.
Tausendfach können wir es schon im individuellen Leben be-
obachten, wie ein gewisser Zwang nur oft genug, nur von
genügend vielen Seiten, ausgeübt zu werden braucht, um eine
Gewohnheit und schlieſslich einen selbständigen, des Zwanges
gar nicht mehr brauchenden Trieb zu der betreffenden
Handlung zu erzeugen. Und das Gleiche wird vermöge der
Vererbung stattfinden. Je öfter und aus je mannichfaltigeren
Verhältnissen heraus innerhalb der Gattung die Nötigung zu
social nützlichen Handlungen erfolgt ist, desto eher werden
diese als an sich notwendig empfunden und aus einem auto-
nom erscheinenden Triebe des Individuums heraus ausgeführt
werden, — sodaſs auch hier die gröſste Fülle, der weiteste
Umkreis der Impulse sich unter Ausschaltung der dazwischen
liegenden Sphären als das Allerindividuellste darstellt. Ein
Blick auf den Inhalt der sittlichen Autonomie bestätigt
[61]X 1.
diesen Zusammenhang. Engere und speciellere Pflichten
pflegen nicht unmittelbar an diese Autonomie zu appellieren;
in demselben Maſse, in dem unsere Pflichten inhaltlich weiteren
Charakter tragen, hängen sie dagegen nur von persönlichem
Pflichtgefühl ab. Untersuchen wir, wodurch sich denn das
„aus bloſser Sittlichkeit“ zu Vollbringende von den äuſser-
lichen Geboten des Staates, der Kirche, der Sitte unter-
scheidet, so finden wir immer, daſs es ein allgemein Mensch-
liches ist, — mag das Allgemeine nun qualitativen Sinn wie
bei den Pflichten der Familie gegenüber oder quantitativen
wie bei der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe haben.
Die Specialzwecke haben eine Specialexekutive; das allgemein
Menschliche liegt dem Einzelnen aus sich selbst auszuführen
ob. Die autonome Sittlichkeit enthält das, was „an sich“ gut
ist; das ist aber nur das, was für den Menschen überhaupt,
d. h. für die maximale Allgemeinheit, gut ist. Es läſst sich,
wie ich glaube, behaupten, daſs, um wieder Kantische Aus-
drücke zu brauchen, zwischen dem Statutarischen und dem
autonom Gebotenen ein gradueller Übergang, parallel dem
zwischen dem kleineren und dem gröſseren socialen Kreise,
stattfindet. Man muſs im Auge haben, daſs dies ein kon-
tinuierlicher Prozeſs ist, daſs nicht etwa nur die Extreme des
Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch
und ethisch berühren, sondern daſs schon auf den Wegen zu
diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten
Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen.
Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel-, sondern auch Kol-
lektivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familien-
formen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden.
Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekon-
struiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht ver-
drängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der
Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine dar-
stellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine be-
stimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich
nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zu-
gekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u. s. w.
befanden und unter einheitlichem Regimente zusammenge-
halten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen
Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der
bloſsen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein
selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei
weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene um-
fassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte
sich ihr Zusammenschluſs zu einem nun viel gröſseren staat-
lichen Ganzen. Jene ältere Gruppe konnte allenfalls sich
selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes
wie zur kriegerischen Aktion; hatte sie sich aber erst in
[62]X 1.
kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegenden
Gründen der Zusammenschluſs der letzteren zu einer nun er-
weiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen
Prozeſs nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die
Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als
solche auf ein Maximum von Zusammenschluſs und Kraft zu
bringen.
Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobach-
tung gemacht worden, daſs die Neigung zur Familienbildung
in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung gröſserer Gruppen
steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat
etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft
beansprucht die Eltern in so hohem Maſse, daſs die weiter-
gehende Socialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet.
Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln
verhältnismäſsig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei
denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige
Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammen-
haltenden Meuten leben, und bei den Säugetieren, bei denen
sowohl familienhafte wie sociale Triebe herrschen, bemerken
wir stets, daſs in Zeiten des Vorherrschens jener, also wäh-
rend der Paarungs- und Erzeugungszeit, die letzteren bedeu-
tend abnehmen. Auch ist die Vereinigung der Eltern und
der Jungen zu einer Familie eine um so engere, je geringer
die Zahl der Jungen ist; ich erwähne nur das bezeichnende
Beispiel, daſs innerhalb der Klasse der Fische diejenigen,
deren Nachkommenschaft völlig sich selbst überlassen ist, ihre
Eier zu ungezählten Millionen ablegen, während die brütenden
und bauenden Fische, bei denen sich also die Anfänge eines
familienhaften Zusammenhaltes finden, nur wenige Eier pro-
duzieren. Man hat in diesem Sinne behauptet, daſs die so-
cialen Verhältnisse unter den Tieren nicht von den ehelichen
oder elterlichen, sondern nur von den geschwisterlichen Be-
ziehungen ausgingen, da diese dem Individuum viel gröſsere
Freiheit lieſsen als jene und es deshalb geneigter machen,
sich eng an den gröſseren Kreis anzuschlieſsen, der sich ihm
eben zunächst in den Geschwistern bietet, sodaſs man das
Eingeschlossensein in eine tierische Familie als das gröſste
Hemmnis für den Anschluſs an eine gröſsere tierische Gesell-
schaft angesehen hat.
Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe
in Wechselwirkung steht mit Erweiterung der Socialisierung
einerseits, der Durchsetzung des Individuums andererseits, zeigt
auf dem Gebiete der Familienformen weiterhin etwa die
Sprengung der patriarchalischen Gruppierung im alten Rom.
Wenn die bürgerlichen Rechte und Pflichten in Krieg und
Frieden ebenso den Söhnen zukommen wie dem Vater, wenn
die ersteren persönliche Bedeutung, Einfluſs, Kriegsbeute
[63]X 1.
u. s. w. erwerben konnten, so war damit in die patria po-
testas ein Riſs gekommen, der das patriarchalische Verhältnis
immer weiter spalten muſste und zwar zu gunsten der erwei-
terten staatlichen Zweckmäſsigkeit, des Rechtes des groſsen
Ganzen über jedes seiner Mitglieder, aber auch zu gunsten
der Persönlichkeit, die nun aus dem Verhältnis zu diesem
Ganzen eine Geltung gewinnen konnte, die das patriarcha-
lische Verhältnis unvergleichlich eingeschränkt hatte. Und
nach der subjektiven Seite, auf das Gefühl der Individuali-
tät hin angesehen, zeigt eine nicht sehr schwierige psycholo-
gische Überlegung, in wie viel höherem Maſse das Leben in
und die Wechselwirkung mit einem weiteren als mit einem
beschränkten Kreise das Persönlichkeitsbewuſstsein entwickelt.
Dasjenige nämlich, wodurch und woran die Persönlichkeit
sich dokumentiert, ist der Wechsel der einzelnen Gefühle,
Gedanken, Bethätigungen; je gleichmäſsiger und unbewegter
das Leben fortschreitet, je weniger sich die Extreme des Em-
pfindungslebens von seinem Durchschnittsniveau entfernen,
desto weniger stark tritt das Gefühl der Persönlichkeit auf;
je wilder aber jene schwanken, desto kräftiger fühlt sich der
Mensch als Persönlichkeit. Wie sich überall die Dauer nur am
Wechselnden feststellen, wie erst der Wechsel der Accidenzen die
Beharrlichkeit der Substanz hervortreten läſst, so wird offenbar
das Ich dann besonders als das Bleibende in allem Wechsel
der psychologischen Inhalte empfunden, wenn eben dieser
letztere besonders reiche Gelegenheit dazu giebt. Solange die
psychischen Anregungen, insbesondere der Gefühle, nur in
geringer Zahl stattfinden, ist das Ich mit ihnen verschmolzen,
bleibt latent in ihnen stecken; es erhebt sich über sie erst in
dem Maſse, in dem gerade durch die Fülle des Verschieden-
artigen unserem Bewuſstsein deutlich wird, was doch allem
diesem gemeinsam ist, gerade wie sich uns der höhere Begriff
über Einzelerscheinungen nicht dann erhebt, wenn wir erst
eine oder wenige Ausgestaltungen desselben kennen, sondern
erst durch Kenntnis sehr vieler derselben, und um so höher
und reiner, je deutlicher sich das Verschiedenartige an diesen
gegenseitig abhebt. Dieser Wechsel der Inhalte des Ich, der
dieses letztere als den ruhenden Pol in der Flucht der psy-
chischen Erscheinungen eigentlich erst für das Bewuſstsein
markiert, wird aber innerhalb eines groſsen Kreises auſser-
ordentlich viel lebhafter sein, als bei dem Leben in einer en-
geren Gruppe. Man wird zwar einwenden können, daſs doch
gerade die Differenzierung und Specialisierung in jenem den
Einzelnen in eine viel einseitiger gleichmäſsige Atmosphäre
bannt als es bei geringerer Arbeitsteilung stattfindet; allein
dies als negative Instanz selbst zugegeben, gilt es doch
wesentlich vom Denken und Wollen der Individuen; die An-
regungen des Gefühls, auf die es für das subjektive Ichbe-
[64]X 1.
wuſstsein besonders ankommt, finden gerade da statt, wo
der sehr differenzierte Einzelne inmitten sehr differenzierter
anderer Einzelnen darin steht und nun Vergleiche, Rei-
bungen, specialisierte Beziehungen eine Fülle von Reak-
tionen auslösen, die im engeren undifferenzierten Kreise latent
bleiben, hier aber gerade durch ihre Fülle und Verschieden-
artigkeit das Gefühl der eigenen Person steigern oder viel-
leicht erst hervorbringen.
Es bedarf sogar durchaus der Differenzierung der Teile,
wenn bei gegebenem Raum und beschränkten Lebensbedin-
gungen ein Wachsen der Gruppe stattfinden soll, — eine Not-
wendigkeit, die auch auf Gebieten stattfindet, denen der
Zwang wirtschaftlicher Verhältnisse ganz fern liegt. Nach-
dem z. B. in der frühesten christlichen Gemeinde eine voll-
kommene Durchdringung des Lebens mit der religiösen Idee,
eine Erhebung jeder Funktion in die Sphäre derselben ge-
herrscht hatte, konnte bei der Verbreitung auf die Massen
eine gewisse Verflachung und Profanierung nicht ausbleiben;
das Weltliche, mit dem sich das Religiöse mischte, überwog
jetzt quantitativ zu sehr, als daſs der hinzugesetzte religiöse
Bestandteil ihm sofort und ganz hätte sein Gepräge auf-
drücken können. Zugleich aber bildete sich der Mönchsstand,
für den das Weltliche vollkommen zurücktrat, um das Leben
ausschlieſslich sich mit religiösem Inhalt erfüllen zu lassen.
Das Einssein von Religion und Leben zerfiel in weltlichen
und religiösen Stand, — eine Differenzierung innerhalb des
Kreises der christlichen Religion, die zu ihrem Weiterbestande
durchaus erforderlich war, wenn sie die ursprünglichen engen
Grenzen überschreiten sollte. Wenn Dante den schärfsten
Dualismus zwischen weltlichem und kirchlichem Regime, die
völlige gegenseitige Unabhängigkeit zwischen den Normen der
Religion und denen des Staates predigt, so setzt er dies in un-
mittelbaren und sachlichen Zusammenhang mit dem Gedanken
des Weltkaiserreichs, der völligen Vereinheitlichung des ganzen
Menschengeschlechts zu einem organischen Ganzen.
Wo ein groſses Ganzes sich bildet, da finden sich soviele
Tendenzen, Triebe, Interessen zusammen, daſs die Einheit des
Ganzen, sein Bestand als solcher, verloren gehen würde, wenn
nicht die Differenzierung das sachlich Verschiedene auch auf
verschiedene Personen, Institutionen oder Gruppen verteilte.
Das undifferenzierte Zusammensein erzeugt feindselig wer-
dende Ansprüche auf das gleiche Objekt, während bei völliger
Getrenntheit ein Nebeneinanderhergehen und Befaſstsein in
dem gleichen Rahmen viel eher möglich ist. Gerade das
Verhältnis der Kirche zu anderen Elementen des Gesamt-
lebens, nicht nur zum Staat, läſst dies häufig hervortreten.
Solange z. B. die Kirche zugleich als Quelle und Behüterin
von Erkenntnis galt und gilt, hat die in ihr erstandene
[65]X 1.
Wissenschaft sich schlieſslich doch immer in irgendwelche
Opposition zu ihr gesetzt; es kam zu den entgegengesetztesten
Ansprüchen, die Wahrheit über ein bestimmtes Objekt aus-
zumachen, und zu den „zweierlei Wahrheiten“, die immerhin
den Anfang einer Differenzierung vorstellten, aber in dem-
selben Maſse umgekehrt zu um so schlimmeren Konflikten
führten, je einheitlicher im Ganzen noch Kirche und Wissen-
schaft aufgefaſst wurden. Erst wenn beide sich vollkommen
sondern, können sie sich vollkommen vertragen. Erst die
differenzierende Übertragung der Erkenntnisfunktion an an-
dere Organe als die der religiösen Funktionen ermöglicht
ihr Nebeneinanderbestehen bei jenem Angewachsensein beider,
das in einer umfänglichen Gruppeneinheit besteht.
Auch eine auf den ersten Blick entgegengesetzte Er-
scheinung führt doch in gleicher Weise auf unseren Grund-
gedanken. Wo nämlich schon differenzierte und zur Dif-
ferenzierung angelegte Elemente in eine umfassende Einheit
zusammengezwungen werden, da ist gerade oft gesteigerte
Unverträglichkeit, stärkere gegenseitige Repulsion die Folge
davon; der groſse gemeinsame Rahmen, der doch einerseits
Differenzierung fordert, um als solcher bestehen zu können,
bewirkt andererseits eine gegenseitige Reibung der Elemente,
eine Geltendmachung der Gegensätze, die ohne dies Anein-
anderdrücken innerhalb der Einheit nicht entstanden wäre,
und die leicht zur Sprengung dieser letzteren führt. Allein
auch in diesem Fall ist die Vereinheitlichung in einem groſsen
Gemeinsamen das wenngleich vorübergehende Mittel zur In-
dividualisierung und ihrem Bewuſstwerden. So hat gerade
die weltherrschaftliche Politik des mittelalterlichen Kaisertums
den Partikularismus der Völker, Stämme und Fürsten erst
entfesselt, ja ins Leben gerufen; die beabsichtigte und teil-
weise durchgeführte Einheitlichkeit und Zusammenfassung in
einem groſsen Ganzen hat dasjenige, was sie freilich dann zu
sprengen berufen war: die Individualität der Teile, erst er-
schaffen, gesteigert, bewuſst gemacht.
Für dieses Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung
und Verallgemeinerung finden wir Beispiele auf äuſserlichen
Gebieten. Wenn statt der Geltung von Amts- und Standes-
tracht jeder sich kleidet, wie es ihm gefällt, so erscheint dies
einerseits individueller, andererseits aber menschlich allgemeiner,
insofern jene doch etwas Auszeichnendes hat, eine engere,
besonders charakterisierte Gruppe zusammenschlieſst, deren
Auflösung gleichzeitig eine weite Socialisierung und Indivi-
dualisierung bedeutet. Noch entschiedener zeigt der folgende
Fall, daſs nicht nur im realen Verhalten, sondern auch in der
psychologischen Vorstellungsart die Korrelation zwischen dem
Hervortreten der Individualität und der Erweiterung der
Gruppe statthat. Wir vernehmen von Reisenden und
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 5
[66]X 1.
können es auch in gewissem Maſse leicht selbst beobachten,
daſs bei der ersten Bekanntschaft mit einem fremden Volks-
stamme alle Individuen desselben ununterscheidbar ähnlich
erscheinen, und zwar in um so höherem Maſse, je verschie-
dener von uns dieser Stamm ist; bei Negern, Chinesen u. A.
nimmt diese Differenz das Bewuſstsein so sehr gefangen, daſs
die individuellen Verschiedenheiten unter jenen völlig davor
verschwinden. Mehr und mehr aber treten sie hervor, je
länger man diese, zunächst gleichförmig erscheinenden Men-
schen kennt; und entsprechend verschwindet das stete Be-
wuſstsein des generellen und fundamentalen Unterschiedes
zwischen uns und ihnen; sobald sie uns nicht mehr als ge-
schlossene, in sich homogene Einheit entgegentreten, ge-
wöhnen wir uns an sie; die Beobachtung zeigt, daſs sie in
demselben Maſse als uns homogener erscheinen, in dem sie
als unter sich heterogener erkannt werden: die allgemeine
Gleichheit, die sie mit uns verbindet, wächst in dem Verhält-
nis, in dem die Individualität unter ihnen erkannt wird.
Auch unsere Begriffsbildung nimmt den Weg, daſs zu-
nächst eine gewisse Anzahl von Objekten nach sehr hervor-
stechenden Merkmalen in eine Kategorie einheitlich zu-
sammengefaſst und einem andern ebenso entstandenen Begriff
schroff entgegengestellt wird. In demselben Maſse nun, in
dem man neben jenen, zunächst auffallenden und bestimmen-
den Qualitäten andere entdeckt, welche die unter dem zuerst
konzipierten Begriff enthaltenen Objekte individualisieren, —
in demselben müssen die scharfen begrifflichen Grenzen
fallen. Die Geschichte des menschlichen Geistes ist voll von
Beispielen für diesen Prozeſs, von denen eines der hervor-
ragendsten die Umwandlung der alten Artlehre in die De-
scendenztheorie ist. Die frühere Anschauung glaubte zwischen
den organischen Arten so scharfe Grenzen, eine so geringe
Wesengleichheit zu erblicken, daſs sie an keine gemeinsame
Abstammung, sondern nur an gesonderte Schöpfungsakte
glauben konnte; das Doppelbedürfnis unseres Geistes, einer-
seits nach Zusammenfassung, andererseits nach Unterscheidung,
befriedigte sie so, daſs sie in einen einheitlichen Begriff eine
groſse Summe von gleichen Einzelnen einschloſs, diesen Be-
griff aber um so schärfer von allen andern abschloſs und,
wie es entsprechend der Ausgangspunkt der oben entwickelten
Formel ist, die geringe Beachtung der Individualität innerhalb
der Gruppe durch um so schärfere Individualisierung dieser
den andern gegenüber und durch Ausschluſs einer allgemeinen
Gleichheit groſser Klassen oder der gesamten organischen
Welt ausglich. Dieses Verhalten verschiebt die neuere Er-
kenntnis nach beiden Seiten hin; sie befriedigt den Trieb
nach Zusammenfassung durch den Gedanken einer allgemeinen
Einheit alles Lebenden, welche die Fülle der Erscheinungen
[67]X 1.
als blutsverwandte aus einem ursprünglichen Keime hervor-
treibt; der Neigung zur Differenzierung und Specifikation kommt
sie dadurch entgegen, daſs ihr jedes Individuum gleichsam
eine besondere, für sich zu betrachtende Stufe jenes Entwick-
lungsprozesses alles Lebenden ist; indem sie die starren Art-
grenzen flüssig macht, zerstört sie zugleich den eingebildeten
wesentlichen Unterschied zwischen den rein individuellen und
den Arteigenschaften; so faſst sie das Allgemeine allgemeiner
und das Individuelle individueller, als die frühere Theorie es
konnte. Und dies eben ist das Komplementärverhältnis, das
sich auch in den realen socialen Entwicklungen geltend macht.
Die psychologische Entwicklung unseres Erkennens zeigt
auch ganz im allgemeinen diese zwiefache Richtung. Ein roher
Zustand des Denkens ist einerseits unfähig, zu den höchsten
Verallgemeinerungen aufzusteigen, die überall giltigen Gesetze
zu ergreifen, aus deren Kreuzung das einzelne Individuelle
hervorgeht. Und andererseits fehlt ihm die Schärfe der Auf-
fassung und die liebevolle Hingabe, durch die die Individua-
lität als solche verstanden oder auch nur wahrgenommen wird.
Je höher ein Geist steht, desto vollkommener differenziert er
sich nach diesen beiden Seiten; die Erscheinungen der Welt
lassen ihm keine Ruhe, bis er sie auf so allgemeine Gesetze
zurückgeführt hat, daſs alle Besonderheit vollkommen ver-
schwunden ist und keine noch so entlegene Kombination der
Erscheinungen der Auflösung in jene widerstrebt. Allein wie
zufällig und flüchtig diese Kombinationen auch sein mögen, sie
sind doch nun einmal da, und wer die allgemeinen und ewigen
Elemente des Seins sich zum Bewuſstsein zu bringen vermag,
muſs auch die Form des Individuellen, in der sie sich zu-
sammenfinden, scharf percipieren, weil gerade nur der ge-
naueste Einblick in die einzelne Erscheinung die allgemeinen
Gesetze und Bedingungen erkennen läſst, die sich in ihr
kreuzen. Die Verschwommenheit des Denkens setzt sich bei-
dem entgegen, da die Bestandteile der Erscheinung sich ihr
weder klar genug sondern, um ihre individuelle Eigenart, noch
um die höheren Gesetzmäſsigkeiten zu erkennen, die ihnen
mit andern gemeinsam sind. Es steht damit in tieferem Zu-
sammenhange, daſs der Anthropomorphismus der Weltanschau-
ung in demselben Maſse zurückweicht, in dem die naturgesetz-
liche Gleichheit der Menschen mit allen anderen Wesen für
die Erkenntnis hervortritt; denn wenn wir das Höhere er-
kennen, dem wir selbst und alles andere untergeordnet sind, so
verzichten wir darauf, nach den speciellen Normen dieser zu-
fälligen Komplikation, die wir selbst ausmachen, auch die
übrigen Weltwesen vorzustellen und zu beurteilen. Die für
sich bestehende Bedeutung und Berechtigung der anderwei-
tigen Erscheinungen und Vorgänge in der Natur geht in der
anthropozentrischen Betrachtungsart verloren und färbt ganz
5*
[68]X 1.
und gar von dem Kolorit des Menschentums ab. Erst die
Erhebung zu dem, was auch über diesem steht, zu der allge-
meinsten Naturgesetzlichkeit, schafft jene Gerechtigkeit der
Weltanschauung, die jedes Ding in seinem Fürsichsein, seiner
Individualität erkennt und anerkennt. Ich bin überzeugt:
wenn alle Bewegungen der Welt auf die allbeherrschende
Gesetzmäſsigkeit der Mechanik der Atome zurückgeführt
wären, so würden wir schärfer als je vorher erkennen, worin
sich jedes Wesen von jedem andern unterscheidet.
Dieses erkenntnistheoretische und psychologische Verhält-
nis erweitert sich, wenngleich dieselbe Entwicklungsform bei-
behaltend, sobald es sich statt um Naturgesetze um metaphy-
sische Allgemeinheiten handelt. Neben der Abstraktionskraft
des Verstandes ist es hier die Wärme des Gemütes, die aus
seinem Innersten die metaphysische Blüte hervortreibt, die
Innigkeit des Mitlebens mit den Erscheinungen der Welt, die
uns die allgemeinsten, überempirischen Triebkräfte ahnen läſst,
von denen sie im Innersten zusammengehalten wird. Und
ebendieselbe Tiefe und Sammlung des Empfindens flöſst uns
oft eine heilige Scheu vor dem Individuellen der innern und
äuſseren Erscheinungen ein, die uns nun gerade hindert, in
transcendenten Begriffen und Bildern gleichsam ein Asyl für
die Not oder auch nur für die Unerklärlichkeit des augen-
blicklichen Erlebens zu suchen. Nicht woher dieses Schicksal
kommt und wohin es geht, macht das aus, worauf es uns
ankommt, sondern daſs es gerade dieses Eigenartige, in dieser
bestimmten Kombination mit nichts anderem Vergleichbare
ist. Während die höchsten metaphysischen Verallgemeine-
rungen dem verfeinerten Gefühlsleben entspringen, ist gerade
ein solches oft genug von dem Aufnehmen und Betrachten
der empirischen Welt der Einzelheiten zu sehr ergriffen, ist
zart genug organisiert, um alle die Schwankungen, Gegen-
sätze, Wunderlichkeiten in dem Verhältnis des Individuellen
zu bemerken, an denen der Stumpfsinnigere vorüberempfindet,
und begnügt sich mit dem bloſsen Anschauen und Anstaunen
dieses wechselvollen Spieles der Einzelheiten. Ich brauche es
kaum auszusprechen, daſs es die ästhetische Naturanlage ist,
die diese Differenzierung am vollendetsten darstellt; sie sucht
einerseits die Ergänzung des Irdisch-Unvollkommenen im Bau
einer Idealwelt, in der die reinen typischen Formen wohnen,
andererseits die Versenkung in das Allereigenste, Allerindividu-
ellste der Erscheinungen und ihrer Schicksale. Und im
Praktisch-Ethischen knüpft sich das Interesse des Herzens
am wärmsten gerade an die engsten und dann wieder an die
weitesten Kreise der Pflichterfüllung: einerseits an die engste
Familie, andererseits an das Vaterland, einerseits an die Indi-
vidualität, andererseits an das Weltbürgertum; die Verpflich-
tungen für die dazwischen liegenden Kreise, so enge und
[69]X 1.
strenge sie sein mögen, entbehren doch der Wärme und In-
nigkeit der Empfindung, die an jene Pole des socialen Lebens
sich heftend auch von dieser Seite deren innere Zusammen-
gehörigkeit zeigt. Und wie die hingebend optimistische Stim-
mung pflegt sich auch die skeptisch-pessimistische zu ver-
halten: sie verbindet gern die Verzweiflung am eigenen Ich
mit der an der weitesten Allgemeinheit, projiciert das Gefühl
innerer Wertlosigkeit, das aus rein subjektiven Momenten
quillt, gar zu oft auf die Welt als Ganzes. Was dazwischen
liegt, einzelne Seiten und Bezirke der Welt können dabei
objektiv und selbst optimistisch beurteilt werden. Und um-
gekehrt kann ein Pessimismus, der nur diese Einzelheiten
trifft, sowohl das Ich wie das Ganze der Welt unberührt
lassen.
[[70]]
IV.
Das sociale Niveau.
Es ist allgemein zu beobachten, daſs das Seltene, Indivi-
duelle, von der Norm sich Abhebende, eine Wertschätzung
genieſst, die sich an seine Form als solches knüpft und inner-
halb weiter Grenzen von seinem specifischen Inhalt unab-
hängig ist. Schon die Sprache läſst die „Seltenheit“ zugleich
als Vorzüglichkeit und etwas „ganz Besonderes“ ohne weiteren
Zusatz, als etwas ganz besonders Gutes gelten, während das
Gemeine, d. h. das dem weitesten Kreise Eigene, Unindivi-
duelle, zugleich das Niedrige und Wertlose bezeichnet. Es
liegt nahe, zur Erklärung dieser Vorstellungsart darauf hin-
zuweisen, daſs alles Gute, alles was ein bewuſstes Glücks-
gefühl erregt, selten ist; denn die Lust stumpft sich auſser-
ordentlich schnell ab, und in dem Maſse ihrer Häufigkeit tritt
eine Gewöhnung an sie ein, die dann wieder das Niveau
bildet, über das ein neuer Reiz hinausgehen muſs, um als
solcher bewuſst zu werden. Versteht man deshalb unter dem
Guten die Ursache bewuſster Lebensreize, so bedarf es keines
besonderen Pessimismus, um ihm die Seltenheit als notwen-
diges Prädikat zuzusprechen. Ist man sich aber hierüber
klar, so liegt psychologisch die Umkehrung sehr nahe: daſs
auch alles Seltene gut sei; so völlig falsch es logischerweise
ist, daſs, weil alle a = b sind, nun auch alle b = a sein
sollen, so begeht doch das thatsächliche Denken und Fühlen
unzähligemal diesen Fehlschluſs: ein gewisser Styl in künst-
lerischen oder realen Dingen gefällt uns, und ehe wir es uns
versehen, wird er uns zum Maſsstabe alles Gefallens über-
haupt. Der Satz: der Styl M ist gut, wandelt sich uns für
die Praxis in den: alles Gute muſs den Styl M zeigen; ein
Parteiprogramm erscheint uns richtig — und gar zu bald
[71]X 1.
halten wir nichts anderes für richtig, als was in diesem ent-
halten ist u. s. w. Einer solchen Umkehrung des Satzes, daſs
alles Gute selten ist, mag die durchgehende Schätzung des
Selteneren entstammen.
Ein praktisches Moment kommt hinzu. Die Gleichheit
mit Anderen ist zwar als Thatsache wie als Tendenz von
nicht geringerer Wichtigkeit als die Unterscheidung gegen
sie, und beide sind in den mannichfaltigsten Formen die groſsen
Prinzipien für alle äuſsere und innere Entwicklung, sodaſs
die Kulturgeschichte der Menschheit schlechthin als die Ge-
schichte des Kampfes und der Versöhnungsversuche zwischen
ihnen aufgefaſst werden kann; allein für das Handeln inner-
halb der Verhältnisse des Einzelnen ist doch der Unterschied
gegen die Anderen von weit gröſserem Interesse, als die Gleich-
heit mit ihnen. Die Differenzierung gegen andere Wesen ist
es, was unsere Thätigkeit groſsenteils herausfordert und be-
stimmt; auf die Beobachtung ihrer Verschiedenheiten sind wir
angewiesen, wenn wir sie benutzen und die richtige Stellung
unter ihnen einnehmen wollen. Der Gegenstand des prakti-
schen Interesses ist das, was uns ihnen gegenüber Vorteil
oder Nachteil verschafft, aber nicht das, worin wir mit ihnen
übereinstimmen, das vielmehr die selbstverständliche Grund-
lage vorschreitenden Handelns bildet. Darwin erzählt, er
habe bei seinem vielfachen Verkehr mit Tierzüchtern nie einen
getroffen, der an die gemeinsame Abstammung der Arten ge-
glaubt habe; das Interesse an derjenigen Abweichung, die die
von ihm gezüchtete Spielart charakterisiere und ihr den prak-
tischen Wert für ihn verleihe, fülle das Bewuſstsein so aus,
daſs für die Gleichheit in allen Hauptsachen mit den übrigen
Rassen oder Gattungen kein Raum darin mehr vorhanden sei.
Dieses Interesse an der Differenziertheit des Besitzes erstreckt
sich begreiflich auch auf alle anderen Beziehungen des Ich.
Man wird im allgemeinen sagen können, daſs bei objektiv
gleicher Wichtigkeit der Gleichheit mit einer Allgemeinheit
und der Individualisierung ihr gegenüber für den subjektiven
Geist die erstere mehr in der Form von Unbewuſstheit, die
letztere mehr in der der Bewuſstheit existieren wird. Die
organische Zweckmäſsigkeit spart das Bewuſstsein in jenem
Fall, weil es in diesem für die praktischen Lebenszwecke
nötiger ist. Bis zu welchem Grade aber die Vorstellung der
Verschiedenheit die der Gleichheit verdunkeln kann, zeigt
vielleicht kein Beispiel lehrreicher, als die konfessionalisti-
schen Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten,
namentlich im 17. Jahrhundert. Kaum war die groſse Ab-
sonderung gegen den Katholicismus geschehen, so spaltet sich
das Ganze um der nichtigsten Dinge willen in Parteien, die
man oft genug äuſsern hört: man könnte eher mit den Papisten
Gemeinschaft halten, als mit denen von der andern Konfession!
[72]X 1.
So weit kann über der Differenzierung die Hauptsache, über
dem Trennenden das Zusammenschlieſsende vergessen werden!
Daſs dies Interesse an der Differenziertheit, das also die
Grundlage des eigenen Wertbewuſstseins und des praktischen
Handelns bildet, zu einer Wertschätzung derselben psycholo-
gisch emporwächst, ist leicht verständlich, und ebenso, daſs
dies Interesse hinreichend praktisch wird, um eine Differen-
zierung auch da zu erzeugen, wo eigentlich kein sachlicher
Grund dazu vorliegt. So bemerkt man, daſs Vereinigungen —
von gesetzgebenden Körperschaften bis zu Vergnügungs-
komitees —, die durchaus einheitliche Gesichtspunkte und
Ziele haben, nach einiger Zeit in Parteien auseinandergehen,
die sich zu einander verhalten, wie die ganze sie einschlieſsende
Vereinigung etwa zu einer von radikal andern Tendenzen be-
wegten. Es ist, als ob jeder Einzelne seine Bedeutung so
sehr nur im Gegensatz gegen andere fühlte, daſs dieser Gegen-
satz künstlich geschaffen wird, wo er von vornherein nicht
da ist, ja wo die ganze Gemeinsamkeit, innerhalb deren nun
der Gegensatz gesucht wird, auf Einheitlichkeit anderen Gegen-
sätzen gegenüber gegründet ist.
War die zuerst genannte Ursache für die Schätzung der
Differenzierung eine individuell psychologische, die zweite
aus individuellen und sociologischen Motiven gemischt, so
läſst sich nun eine dritte von rein entwicklungsgeschichtlichem
Charakter auffinden. Wenn nämlich die Organismenwelt eine
allmähliche Entwicklung durch die niedrigsten Formen hin-
durch zu den höheren durchmacht, so sind die niedrigeren
und primitiveren Eigenschaften jedenfalls die älteren; sind es
aber die älteren, so sind es auch die verbreiteteren, weil die
Gattungserbschaft um so sicherer jedem Individuum vererbt
wird, je länger sie sich schon erhalten und gefestigt hat.
Kürzlich erworbene Organe, wie die höheren und kompli-
cierteren es in relativem Grade immer sind, erscheinen stets
variabler, und man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, daſs
jedes Exemplar der Gattung schon an ihnen teilhaben wird.
Das Alter der Vererbung einer Eigenschaft ist also das Band,
das zwischen der Niedrigkeit und der Verbreitung derselben
eine reale und synthetische Verbindung knüpft. Wenn es
uns deshalb scheint, als ob die individuelle und seltenere
Qualität die vorzüglichere wäre, so ist dies freilich auch von
diesem Gesichtspunkte aus ein oft irrender, aber oft auch
treffender Induktionsschluſs. Die Differenzierung kann freilich
auch nach der Seite des Häſslichen und Bösen stattfinden.
Allein eine tiefere Analyse zeigt hier häufig, daſs bei hoch-
differenziertem Charakter sowohl des ethisch wie des ästhetisch
Schlechten die Differenzierung mehr die Mittel und Ausdrucks-
weise betrifft, also etwas an sich Gutes und Zweckmäſsiges,
das nur durch einen bösen Endzweck, zu dem es gebraucht
[73]X 1.
wird und der an sich kein differenziertes Wesen zeigt, das
negative Werturteil rechtfertigt; dies ist bei allen Raffine-
ments des Sybaritentums und der Unsittlichkeit der Fall.
Andererseits sehen wir auch gerade, wie entschieden häſsliche,
also auf primitive Entwickelungsstufen zurückschlagende Er-
scheinungen, die uns dennoch fesseln, dies durch Beimischung
sehr individueller Züge zustande bringen; die sogenannte
beauté du diable ist dafür ein häufig angetroffenes Beispiel.
Noch mehr Werturteilen dieser Art begegnen wir, wenn
wir, statt nach der Schätzung des Seltenen, nach der des Neuen
fragen. Jedes Neue ist ein Seltenes, wenn auch nicht immer
im Verhältnis zu dem aktuellen Inhalt des Bewuſstseins, so
doch zu der Totalität der Erfahrungen überhaupt, nicht immer
im Verhältnis zu dem, was neben ihm ist, so doch jedenfalls
im Verhältnis zu dem, was vor ihm war und in irgend einer
psychischen Form doch noch gegenwärtig sein muſs, um jenes
sich eben als Neues abheben zu lassen. Das Neue ist das
aus der Masse des Gewohnten Herausdifferenzierte, es ist in
der Form der Zeit dasjenige, was dem Inhalt nach als Seltenes
erscheint. Welche Schätzung aber das Neue rein als solches
und ohne Rücksicht auf seinen specifischen Inhalt genieſst,
bedarf nur der Erwähnung. Verdankt es dieselbe nun auch
wesentlich unserer Unterschiedsempfindlichkeit, die einen Reiz
nur an dasjenige knüpft, was sich vom bisherigen Empfin-
dungsniveau abhebt, so wirkt doch zweifellos die Erfahrung
mit, daſs das Alte — welches das durch die Zeitreihe Ver-
breitete ist, wie das bisher als verbreitet Angesprochene durch
die Raumreihe — die primitive Gestaltung gegenüber dem
Späteren, erst einen beschränkteren Zeitteil hindurch Existie-
renden bedeutet. So finden wir, daſs in Indien die sociale
Stufenordnung der Gewerbe von ihrem Alter abhängig ist:
die jüngeren sind in der Regel die höher geachteten — wie
mir scheint, aus dem Grunde, daſs sie die komplicierteren,
feineren, difficileren sein müssen. Wenn wir dem entgegen
auch vielfach einer Schätzung des Alten, Gefesteten, lange
Bewährten begegnen, so ruht dieses seinerseits auf sehr realen
und durchsichtigen Gründen, die die Kraft jener wohl für
die einzelne Erscheinung einschränken, aber nicht zunichte
machen können. — Was in diesen Fragen so leicht irre führt,
ist dies, daſs so allgemeine Tendenzen, wie die Schätzung des
Neuen und Seltenen oder des Alten und allgemein Verbrei-
teten, als Ursachen der einzelnen Erscheinung, als Kräfte
oder psychologische Naturgesetze aufgefaſst werden und dann
freilich in den Widerspruch verwickeln, daſs ein Naturgesetz
das genaue Gegenteil des andern auszusagen scheint. Der-
artige allgemeine Prinzipien sind vielmehr die Folgen des
Zusammentreffens primärer Kräfte, nichts als ein zusammen-
fassender Ausdruck für Erscheinungen, deren jede aus besonders
[74]X 1.
zu untersuchenden Ursachen hervorgeht. Aus der unermeſs-
lichen Kombinationsmöglichkeit jener primären Ursachen er-
klärt sich die Verschiedenheit der allgemeinen Tendenzen,
die als Widerspruch nur dann erscheint, wenn sie als allge-
meine Ursachen, allgemein gültige Gesetze gefaſst werden und
also gleichzeitige und gleichmäſsige Anwendung auf jede Er-
scheinung fordern. Daſs sie freilich, nachdem sie lange genug
als bloſse Folgeerscheinung im Bewuſstsein waren, dann auch
im Verlauf des Seelenlebens zu Ursachen weiterer psycholo-
gischer Geschehnisse werden, ist sicher. In keinem Fall aber
kann die Herleitung des notwendigen Eintretens einer derartigen
Tendenz dadurch widerlegt werden, daſs auch eine entgegen-
gesetzte Geltung hat. Der Nachweis der Notwendigkeit, daſs
das Neue und Seltene geschätzt wird, leidet nicht unter der
Thatsache, daſs auch das Alte und Überlieferte geschätzt wird.
Die Niedrigkeit des letzteren nun in der hier betrach-
teten evolutionistischen Beziehung hat gegenüber dem Jün-
geren und Individuelleren die gröſsere Sicherheit der Ver-
erbung, die gröſsere Gewiſsheit, jedem Einzelnen überliefert
zu werden, zum Korrelat. Daher ist es klar, daſs groſsen
Massen als Ganzen nur die niedrigeren Bestandteile der bisher
erreichten Kultur eigen sein werden.
Von dieser Grundlage aus wird uns z. B. die auffallende
Diskrepanz verständlich, die zwischen den theoretischen Über-
zeugungen und der ethischen Handlungsweise so vieler Men-
schen herrscht und zwar meistens im Sinne eines Zurückbleibens
dieser hinter jenen. Es ist nämlich richtig bemerkt worden,
daſs ein Einfluſs des Wissens auf die Charakterbildung nur
insoweit stattfinden könne, als er von den Wissensinhalten
der socialen Gruppe ausginge: denn zu der Zeit, wo der Ein-
zelne dazu käme, sich ein wirklich individuelles, über seine
Umgebung durch differenzierte Qualitäten hinausgehendes
Wissen zu erwerben, — zu dieser Zeit sei sein Charakter
und die Richtung seiner Sittlichkeit längst abgeschlossen. In
der Periode der Bildung dieser ist er ausschlieſslich den Ein-
flüssen des in der socialen Gruppe objektivierten Geistes, des
in ihr allgemein verbreiteten Wissens ausgesetzt, die freilich
je nach der angebornen Eigenart des Individuums zu sehr
verschiedenen Resultaten führen werden — man denke z. B.
daran, wie verschieden die den Individuen social entgegen-
gebrachte Überzeugung einer jenseitigen Vergeltung auf starke
oder schwache, heuchlerische oder aufrichtige, leichtsinnige
oder ängstliche Naturanlagen ethisch einwirken muſs. Ist nun
aber das Wissensniveau der Gruppe als solches ein niedriges,
so verstehen wir aus seiner Wirkung auf die ethische For-
mierung, daſs diese oft so wenig mit derjenigen theoretischen
Bildung übereinstimmt, die wir dann an dem fertigen, mit
individuellem Inhalt erfüllten Geiste wahrnehmen. Wir mögen
[75]X 1.
überzeugt sein, daſs das selbstlose Handeln unvergleichlich
höheren Wert hat als das egoistische, — und handeln doch
egoistisch; wir sind davon durchdrungen, daſs die geistigen
Freuden viel dauerndere, reuelosere, tiefere sind als die sinn-
lichen, — und jagen doch wie blind und toll hinter diesen her;
wir sagen uns tausendmal vor, daſs der Beifall der Menge
weitaus durch den von ein paar Einsichtigen aufgewogen wird,
— und wieviele, die dies nicht nur sagen, sondern aufrichtig
glauben, lassen nicht hundertmal diesen im Stich um jenes
willen! Das kann wohl nur daher stammen, daſs solche
höheren und vornehmeren Erkenntnisse uns erst kommen, wenn
unser sittliches Wesen schon fertig ist und in der Zeit, wo es
sich bildet, nur die allgemeineren, d. h. niedrigeren theoreti-
schen Auffassungen uns umgeben.
Wenn nun aber auch jeder Einzelne aus der Masse
höhere und feinere Eigenschaften besitzt, so sind diese doch
individuellere, d. h. er unterscheidet sich in der Art und Rich-
tung derselben von jedem andern, der qualitativ ebenso hoch-
stehende Eigenschaften aufweist. Die gemeinsame Grundlage,
von der sie sich abzweigen müssen, um höher zu kommen,
wird von den niedrigeren Qualitäten gebildet, deren Ver-
erbung allein eine unbedingte ist. Von hier aus wird uns
das Schillersche Epigramm verständlich: „Jeder, sieht man
ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig, Sind sie in cor-
pore, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.“ Und ebenso
der Heinesche Vers: „Selten habt ihr mich verstanden, Selten
auch verstand ich euch, Nur wenn wir im Kot uns fanden,
Dann verstanden wir uns gleich.“ Von hier aus die That-
sache, daſs Essen und Trinken, also die ältesten Funktionen,
das gesellige Vereinigungsmittel oft sogar sehr heterogener
Personen und Kreise bilden, von hier aus auch die eigen-
artige Tendenz selbst gebildeter Herrengesellschaften, sich in
der Erzählung niedriger Zoten zu ergehen; je niedriger ein Ge-
biet ist, desto sicherer kann man darauf rechnen, von allen
verstanden zu werden; das wird um so zweifelhafter, je höher
man kommt, weil es in demselben Verhältnis differenzierter,
individueller wird. Die Handlungen von Massen werden hier-
durch in entsprechender Weise charakterisiert. Der Kardinal
Retz bemerkt in seinen Memoiren, wo er das Verfahren des
Pariser Parlaments zur Zeit der Fronde beschreibt, daſs zahl-
reiche Körperschaften, wenn sie auch noch so viel hoch-
stehende und gebildete Personen einschlieſsen, doch bei ge-
meinschaftlichem Beraten und Vorgehen immer wie der Pöbel
handeln, d. h. durch solche Vorstellungen und Leidenschaften
wie das gemeine Volk regiert werden, — nur diese sind eben
allen gemeinsam, während die höheren differenziert, also bei
den Verschiedenen verschieden sind. Wenn eine Masse ein-
heitlich handelt, so geschieht es immer auf Grund möglichst
[76]X 1.
einfacher Vorstellungen; die Wahrscheinlichkeit ist zu gering,
daſs jedes Mitglied einer gröſseren Masse einen mannichfalti-
geren Gedankenkomplex in Bewuſstsein und Überzeugung
trägt. Da nun aber angesichts der Kompliciertheit unserer
Verhältnisse jede einfache Idee eine radikale, vielerlei andere
Ansprüche negierende sein muſs, so begreifen wir daraus die
Macht der radikalen Parteien in Zeiten, wo die groſsen Massen
in Bewegung gesetzt sind, und die Schwäche der vermittelnden,
für beide Seiten des Gegensatzes Recht fordernden, und ver-
stehen auch, weshalb gerade diejenigen Religionen, die alle
Vermittelung, alle Aufnahme andersartiger Bestandteile am
schroffsten und einseitigsten von sich abweisen, die gröſste
Herrschaft über die Gemüter der Masse erlangten.
Dem stellt sich scheinbar die manchmal gehörte Behaup-
tung entgegen, daſs religiöse Gemeinschaften um so kleiner
seien, je geringer ihr dogmatischer Besitz, und dass der Um-
fang des Glaubens im geraden Verhältnis zu der Zahl der
Bekenner stehe. Da ein differenzierterer Geist dazu gehört,
um eine groſse Anzahl von Vorstellungen, als um wenige
zu beherbergen, so würde hiernach gerade die gröſsere Gruppe,
falls ihr als solcher die mannichfaltigere Glaubensmasse zu-
käme, sich in der gröſseren geistigen Differenziertheit zu-
sammenfinden. Allein die Thatsache selbst zugegeben, be-
stätigt sie doch die Regel, statt eine Ausnahme von ihr zu
bilden. Denn auf religiösem Gebiet stellt gerade Einheit und
Einfachheit sehr viel gröſsere Ansprüche an Vertiefung des
Denkens und Fühlens als bunte Fülle, wie denn auch die
scheinbare Differenziertheit des Polytheismus dem Monotheis-
mus gegenüber als die primitive Stufe auftritt.
Steht nun ein Angehöriger einer Gruppe sehr niedrig,
so ist das Gebiet, das ihm mit dieser gemeinsam ist, relativ
groſs. Dieses Gemeinsame selbst muſs aber, absolut genommen,
um so niedriger und roher sein, je mehr solcher Einzelnen
es giebt, da ein höheres Gemeinsames natürlich nur da möglich
ist, wo die einzelnen Bestandteile der Gruppe ein solches auf-
weisen; die relative Niedrigkeit der Ausbildung, die die Mit-
glieder einer Gruppe zeigen — relativ in ihrem Verhältnis
zum Gruppenbesitz — bedeutet zugleich die absolute Niedrigkeit
des letzteren und umgekehrt. Es wäre ein wenngleich be-
stechender, so doch oberflächlicher Schluſs, daſs bei hoher
Differenziertheit der Einzelnen von einander das gemeinsame
Gebiet mehr und mehr verkleinert und auf die unentbehrlich-
sten und also niedrigsten Eigenschaften und Funktionen ein-
geschränkt würde. Unsere vorige Abhandlung beruht zwar auf
dem Gedanken, daſs, je ausgedehnter ein socialer Kreis ist, desto
Wenigeres nur ihm gemeinsam sein kann, und daſs die Aus-
dehnung nur durch gesteigerte Differenzierung möglich sei,
sodaſs diese letztere der Gröſse des gemeinsamen Inhalts um-
[77]X 1.
gekehrt proportional sei. Wir können uns, um diesen schein-
baren Widerspruch gegen die obige Behauptung zu lösen, das
Verhältnis schematisch so denken, daſs der früheste Zustand
ein sehr niedriges Socialniveau mit gleichzeitiger Gering-
fügigkeit individueller Differenziertheiten dargestellt habe.
Die Entwicklung habe nun beides gesteigert, aber so, daſs
die Vermehrung des gemeinsamen Inhalts nicht in dem gleichen
Verhältnis wie die der Differenzierungen stattgefunden habe.
Die Folge davon wird sein, daſs der Abstand zwischen beiden
sich immer vergröſsert, daſs das sociale Niveau im Verhältnis
zu den darüber sich erhebenden Differenzierungen immer
niedriger und ärmer wird, an sich betrachtet aber doch in
fortwährender Steigerung begriffen ist. Die drei Bestimmungen:
erhebliche absolute Höhe des gemeinsamen Besitzes der Gruppe,
ebensolche der Individualisierungen, Armut des ersteren im
Verhältnis zum letzteren, sind also durchaus zu vereinigen.
Vielerlei analoge Entwicklungen finden nach diesem Schema
statt. Dem Proletarier sind heut vielerlei Komforts und Kultur-
vorteile zugänglich, die er in früheren Jahrhunderten ent-
behrte, und doch ist die Kluft zwischen seiner Lebenshaltung
und der der oberen Stände auſserordentlich viel weiter ge-
worden. Bei hoher Kultur sind schon die Kinder geweckter
und gewitzter, als in roheren Epochen, und doch ist zweifellos
der Weg, den sie zur höchsten Ausbildung durchmachen
müssen, ein gröſserer, als in den überhaupt „kindlicheren“
Zeiten des Menschengeschlechts. Auch innerhalb des Indivi-
duums stehen sich in der Jugend etwa die sinnlichen und die
intellektuellen Funktionen nahe; mit vorschreitender Entwick-
lung werden nun zwar die ersteren reicher und stärker aus-
gebildet, aber wenigstens bei vielen Naturen lange nicht in
gleichem Verhältnis mit den letzteren, sodaſs erhebliche ab-
solute Höhen beider sich mit relativer Armut der ersteren
gegenüber den letzteren sehr wohl vertragen. Und so sehen
wir in unserm Falle: der geistige Unterschied zwischen Ge-
bildeten und Ungebildeten ist in solchen Zeiten der gröſste, wo
auch die letzteren schon ein höheres Maſs von Bildung besitzen,
als bei gröſserer allgemeiner Gleichheit des geistigen Inhalts.
Und im Sittlichen verhält es sich wenigstens ähnlich; gewiſs ist
die sociale Sittlichkeit, wie sie einerseits in der Rechtsver-
fassung, den Verkehrsformen etc. objektiviert ist, anderer-
seits im Durchschnitt der bewuſsten Gesinnungen an den
Tag tritt, eine höhere geworden; ebenso gewiſs aber ist die
Schwingungsweite zwischen den tugendhaften und den laster-
haften Handlungen vergröſsert; die absolute Höhe der Diffe-
renzierungen kann sich also über die des socialen Niveaus
beliebig erheben, wenigstens gleichgültig gegen die absolute
Höhe des letzteren. In den meisten Fällen aber ist sogar,
wie wir sahen, eine gewisse absolute Höhe des gemeinsamen
[78]X 1.
Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüber
der Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der
obige Satz ist, daſs bei unausgebildetem socialem Niveau auch
ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muſs.
Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns ver-
stehen lehrt, wie wenig dazu gehört, um sich in einer rohen
und tiefstehenden Horde zum Führer und Herrn aufzu-
schwingen. Dies ist auch an den rudelweise lebenden Tieren
charakteristisch, bei denen das führende Tier sich keineswegs
immer durch so besondere Eigenschaften auszeichnet, daſs sie
diese ganz besondere Stellung rechtfertigten; auch unter Kin-
dern in Schulklassen ist es häufig zu beobachten, daſs ein
Kind zu einer Art führender Stellung unter seinen Kameraden
gelangt, ohne durch besondere körperliche oder geistige Kräfte
dazu prädestiniert zu sein. Ein sehr geringes oder sehr ein-
seitiges Herausragen über den Durchschnitt bringt da schon
ein Überwiegen über sehr viele mit sich, wo die Schwan-
kungen um den Durchschnitt herum äuſserst geringe sind;
über eine stark differenzierte Gesellschaft sich zu erheben
ist deshalb um so viel schwerer, weil, wenn man auch in ge-
wissen Hinsichten den Durchschnitt überragt, immer andere
nach anderen Seiten Ausgebildete da sind, die es in Hinsicht
dieser thun. Es ist deshalb besonders charakteristisch, wenn
von den Küstennegern berichtet wird, daſs der geschickteste
Mann im Dorfe gewöhnlich Schmied, Tischler, Baumeister
und Weber in einer Person ist, und wenn bei den niedrig-
sten Stämmen die klugen Männer immer zugleich Priester,
Ärzte, Zauberer, Jugendlehrer u. s. w. sind. Eine Vereinigung
wirklicher specifischer Begabungen für alle diese verschie-
denen Funktionen ist kaum anzunehmen, sondern nur ein
Hervorragen nach irgend einer Seite, das sich aber bei der
Niedrigkeit des umgebenden allgemeinen Niveaus zu einer
überhaupt ausgezeichneten Stellung ausbildet. Das gleiche
Verhalten liegt der psychologischen Thatsache zu Grunde, daſs
ungebildete Menschen von demjenigen, der auf irgend einem
Gebiete Ungewöhnliches und ihnen Imponierendes leistet, nun
auch gleich in jeder sonstigen Hinsicht Auſserordentliches
voraussetzen und fordern. Bei der Fesselung des Individuums
an das gemeinsame und deshalb niedrigere Niveau genügt
schon ein geringes Maſs von differenzierender Erhebung
darüber, um nach allen Seiten die Situation zu beherrschen.
Man möchte es für eine der Zweckmäſsigkeiten der socialen
Evolution halten, daſs gerade auf den Stufen, wo Herrschaft
und Unterordnung den ersten und wichtigsten Grund der
Kultur zu legen haben, der durchgehende Mangel an Diffe-
renziertheit das Aufkommen herrschender Persönlichkeiten
erleichtert. Ein analoges Verhalten zeigen auch die Vor-
stellungen des Individuums. Je weniger differenziert, je un-
[79]X 1.
ausgebildeter die Vorstellungsmasse ist, um so leichter wird
eine abweichende Vorstellung eine führende Stellung gewinnen
und mit Leidenschaft ergriffen werden, gleichviel, ob sie dazu
sachlich berechtigt ist oder nicht; die Impulsivität und eigen-
sinnige Leidenschaftlichkeit roher und dummer Menschen ist
eine häufig beobachtete Erscheinung in diesem Sinne. Allent-
halben sehen wir so, daſs das Differenzierte und Aparte
einen Wert erhält, der zu seiner sachlichen Bedeutung nur
ein sehr unstetiges Verhältnis aufweist; je niedriger eine
Gruppe, desto bemerkbarer wird jede Differenzierung, weil
Niedrigkeit durchgehende Gleichheit der Individuen bedeutet
und jede Besonderheit deshalb gleich sehr vielen gegenüber
eine Ausnahmestellung bewirkt.
Soll nun in einer schon differenzierteren Masse dasjenige
Nivellement, das zur Einheitlichkeit ihres Handelns gehört,
erzielt werden, so kann es nicht so geschehen, daſs der Nie-
dere zum Höheren, der auf primitiver Entwicklungsstufe
Stehengebliebene zu dem Differenzierteren aufsteige, sondern
nur so, daſs der Höchste zu jener von ihm schon überwun-
denen Stufe herabsteige; was Allen gemeinsam ist, kann nur
der Besitz des am wenigsten Besitzenden sein. Wo sich über
Klassen, von denen eine bisher die herrschende, die andere
die beherrschte war, ein Regiment erhebt, pflegt es sich des-
halb auf die letztere zu stützen. Denn um sich gleich-
mäſsig über alle Schichten erheben zu können, muſs es diese
nivellieren. Nivellement aber ist nur so möglich, daſs die
Höheren weiter herabgedrückt, als die Tieferen empor-
gezogen werden. Deshalb findet der Usurpator in letzteren
bereitwilligere Stützen. Damit hängt es zusammen, daſs, wer
auf die Massen wirken will, dies nicht durch theoretische
Überzeugungen, sondern wesentlich nur durch Appell an ihre
Gefühle durchsetzen wird. Denn das Gefühl ist zweifellos
gegenüber dem Denken phylogenetisch die niedere Stufe;
Lust und Schmerz, sowie gewisse triebhafte Gefühle zur Er-
haltung des Ich und der Gattung haben sich jedenfalls vor
allem Operieren mit Begriffen, Urteilen und Schlüssen ent-
wickelt; und deshalb wird sich eine Menge viel eher in pri-
mitiven Gefühlen und durch dieselben zusammenfinden, als
durch abstraktere Verstandesfunktionen. Hat man den Ein-
zelnen vor sich, so darf man hinreichende Differenzierung
seiner Seelenkräfte voraussetzen, die den Versuch rechtfertigt,
durch Erweckung theoretischer Überzeugungen auf seine Ge-
fühle zu wirken. Beiderlei Seelenenergieen müssen erst eine
gewisse Selbständigkeit erlangt haben, um eine durch den
sachlichen Inhalt bestimmte Gegenseitigkeit der Wirkung aus-
zuüben. Wo die Differenzierung noch nicht so weit vor-
geschritten ist, wird die Beeinflussung nur in derjenigen Rich-
tung stattfinden, die die natürliche, psychologische Entwick-
[80]X 1.
lung innehält; da nun die Masse als solche nicht differenziert
ist, so wird der Weg zu ihren Überzeugungen im allgemeinen
durch ihre Gefühle hindurchgehen; man wird also umgekehrt
wie beim Einzelnen auf diese wirken müssen, um jene zu
gestalten.
Hierzu mag eine Erscheinung beitragen, die sich beson-
ders deutlich an einer aktuell zusammenbefindlichen Menge
beobachten läſst: die Verstärkung eines Eindrucks oder Im-
pulses dadurch, daſs er zugleich eine groſse Anzahl von Ein-
zelnen trifft. Ebenderselbe Eindruck, der uns, wenn er sich
nur auf uns richtet, ziemlich kühl lassen würde, kann eine
sehr starke Reaktion hervorrufen, sobald wir uns unter einer
gröſseren Menge befinden, wenngleich jedes einzelne Mitglied
derselben im genau gleichen Falle ist; hundertfach lachen
wir im Theater oder in Versammlungen über Scherze, über
die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, irgend ein
Impuls, dem jeder Einzelne nur sehr bedingt folgen würde,
bewegt ihn, sobald er sich in einer groſsen Menge befindet,
zum Mitmachen der enthusiastischsten, lobens- oder tadelns-
werten Handlungsweisen. Das Mitgerissenwerden des Ein-
zelnen bei den Empfindungsäuſserungen einer Menge bedeutet
keineswegs, daſs jener an sich vollkommen passiv wäre und
zu seinem Verhalten nur durch die anderen, anders Gestimmten
angeregt würde; ihm mag es von seinem subjektiven Stand-
punkt aus so erscheinen; allein thatsächlich besteht die Masse
doch aus lauter Einzelnen, deren jedem es ebenso geht. Es
findet hier die reinste Wechselwirkung statt; jeder Einzelne
leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn
freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Bei-
trag sich ihm verbirgt. Wenn man auch durchaus kein Ge-
setz aufstellen kann, das die Wirkung eines Reizes und die
Zahl der gleichzeitig von ihm Getroffenen in durchgängige
funktionelle Beziehung brächte, so ist doch im Ganzen kein
Zweifel, daſs jene sich zugleich mit dieser erhöht. Daher die
oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse
gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen, das den
leisesten Impulsen von Liebe und Haſs oft zu teil wird. Schon
an den heerdeweise lebenden Tieren ist dies festzustellen: der
leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet
oft in einen panischen Schrecken der ganzen Heerde aus.
Eine der eigentümlichsten und durchsichtigsten Steigerungen
des Gefühls vermöge des gesellschaftlichen Zusammenseins
zeigen die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Sub-
jektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemein-
samkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch
statt, indessen oft so, daſs sie stundenlang schweigend zu-
sammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsam-
keit dadurch, daſs sie uns dienen könne, uns dem Geiste
[81]X 1.
Gottes näher zu bringen: da dies aber für sie nur in einer
Inspiration und nervösen Exaltation besteht, so muſs offenbar
das bloſse, auch schweigende Beieinandersein die letztere be-
günstigen. Ein englischer Quäker am Ende des 17. Jahr-
hunderts beschreibt ekstatische Erscheinungen, die an einem
Mitglied der Versammlung vorgehen, und fährt fort: In Kraft
der Verbindung aller Glieder einer Gemeinde zu einem Leibe
teile sich häufig ein solcher Zustand eines Einzelnen allen mit,
sodaſs eine ergreifende fruchtbare Erscheinung zu Tage ge-
fördert werde, die schon viele dem Vereine unwiderstehlich
gewonnen habe. Man kann geradezu von einer Nervosität
grosser Massen sprechen; eine Empfindlichkeit, eine Leiden-
schaft, eine Excentricität ist ihnen oft zu eigen, die an keinem
einzigen ihrer Mitglieder oder vielleicht nur an äusserst
wenigen, für sich allein betrachtet, zu konstatieren wäre.
Alle diese Erscheinungen weisen auf diejenige psycho-
logische Stufe hin, auf der das Seelenleben noch überwiegend
von der Association bestimmt wird. Höhere geistige Ent-
wicklung unterbricht die associativen Zusammenhänge, die
die Elemente des Seelenlebens so mechanisch untereinander
verknüpfen, daſs sich an die Erregung irgendeines Punktes
oft die weitgehendste Erschütterung in einer Stärke und durch
Gebiete hindurch heftet, die in gar keinem sachlichen Ver-
hältnis zu jenem Ausgangspunkte stehen; steigende Differen-
zierung verselbständigt die einzelnen Bewuſstseinselemente
derart, daſs sie mehr und mehr nur logisch gerechtfertigte
Verbindungen eingehen und sich aus den Verwandtschaften
lösen, die aus der verschwimmenden Unklarheit und dem
Mangel scharfer Umgrenzung bei primitiven Vorstellungen
hervorgehen. Solange aber diese noch herrschen, ist auch
ein Überwiegen der Gefühle über die Verstandesfunktionen zu
beobachten. Denn wie viel oder wenig Wahrheit jene Lehre
haben mag, daſs die Gefühle nur undeutliche Gedanken sind,
in jedem Falle bewirkt Verschwommenheit, unklares Durch-
einandergehen der Vorstellungsinhalte eine relativ lebhafte
Anregung des Gefühlsvermögens. Je niedriger also das in-
tellektuelle Niveau ist, je mehr unsichere Begrenzung der
Vorstellungsinhalte jeden derselben mit jedem irgendwie ver-
knüpft, desto erregbarer sind die Gefühle und desto weniger
werden namentlich Willensäuſserungen durch scharf um-
grenzte und logisch gegliederte Vorstellungsreihen hervor-
gerufen werden, sondern durch jene Gesamterregung des
Geistes, die aus der Fortpflanzung eines gegebenen Anstoſses
erfolgt und ebenso Ursache wie Folge von Fluktuierungen
des Gefühls ist. Indem also die Aufnahme eines Gedankens
oder Impulses durch eine gröſsere Menge ihm die begriffliche
Schärfe nimmt — schon weil die Auffassung jedes Einzelnen
durch die seiner Genossen beeinfluſst wird —, ist die psycho-
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 6
[82]X 1.
logische Grundlage für die Stimmung und Bestimmung der
Menge durch den Appell an ihre Gefühle geschaffen; wo die
Unklarheit der Begriffe dem Gefühlsleben einen weiten Spiel-
raum giebt, da wird auch in Wechselwirkung das Gefühl
einen gröſseren Einfluſs auf die anderen und höheren Funk-
tionen ausüben, und Entschlüsse, die sonst aus einem deutlich
gegliederten teleologischen Bewuſstseinsprozeſs hervorgehen,
werden aus jenen viel unklareren Überlegungen und Impulsen
entspringen, die der Erregung der Gefühle folgen. Wesentlich
ist auch die Widerstandslosigkeit, die aus dieser psychischen
Verfassung folgt und so das oben charakterisierte Mitgerissen-
werden erklären hilft; je primitiver und undifferenzierter der
Bewuſstseinszustand ist, desto weniger findet ein auftauchender
Impuls sofort die nötigen Gegengewichte. Das beschränkte
geistige Niveau hat nur für eine einzige Vorstellungsgruppe
Raum, die sich vermöge der Grenzverschwommenheit seiner
Elemente widerstandslos fortpflanzt. Daher erklärt sich aber
auch das ebenso rasche Umschlagen der Stimmungen und
Entschlüsse einer Volksmenge, das nun dem früheren Inhalte
so wenig Raum giebt, wie sie damals für den jetzigen übrig
hatte; Schnelligkeit und Schroffheit im Nacheinander der
Vorstellungen und Entschlüsse ist das begreifliche Korrelat
zu dem Mangel ihres Nebeneinander.
Die weiteren psychologischen Gründe dessen, was ich
als Kollektivnervosität bezeichnete, gehören wohl hauptsächlich
in das weite Gebiet der Erscheinungen der „Sympathie“. Es
ist zunächst anzunehmen, daſs durch das enge Zusammensein
mit vielerlei Menschen eine groſse Anzahl dunkler Empfin-
dungen sympathischer und antipathischer Art ausgelöst wird,
daſs sich vielerlei Reize, Triebe und Associationen an die
Mannichfaltigkeit der Eindrücke knüpfen, die wir etwa in einer
Volksversammlung, in einer Zuhörerschaft u. s. w. erfahren;
und wenn auch keiner derselben zu klarem Bewuſstsein kommt,
so wirken sie doch gerade in ihrer Gesamtheit anregend
und bewirken eine innere nervöse Bewegung, die jeden sich
darbietenden Inhalt mit Leidenschaft ergreift und ihn weit
über das Maſs hinaus steigert, das ihm ohne diesen subjek-
tiven Reizzustand zukäme; wir begreifen hieraus ganz im
allgemeinen die Steigerung des Nervenlebens, die die Ver-
gesellschaftung mit sich bringt, und daſs sie um so gröſser
sein muſs, je verschiedenartiger die von dieser ausgehenden
Eindrücke und Anregungen sind, d. h. je weiter und differen-
zierter unser Kulturkreis ist. Eine andere Form der Sym-
pathie ist hier indes noch wichtiger. Unwillkürlich ahmen
wir Bewegungen nach, die wir um uns herum vorgehen sehen;
wie wir häufig beim Anhören eines Musikstücks dieses ganz
oder halb unbewuſst mitsingen, beim Anblick einer lebhaften
Aktion dieselbe mit unserm Körper oft in der seltsamsten
[83]X 1.
Weise akkompagnieren, so machen wir zunächst rein physisch
die Bewegungen, Änderungen der Gesichtszüge u. s. w. mit, in
denen sich eine Gemütserregung neben uns befindlicher Per-
sonen offenbart. Vermöge der Association aber, die auch in
uns zwischen einem Gefühl und seiner Äuſserung gebildet ist
und auch in rückläufiger Richtung wirksam wird, erregt jene
rein äuſserliche Mitbewegung auch wenigstens ein Teilchen
des ihr entsprechenden inneren Ereignisses. Alle höhere
Schauspielkunst ruht auf diesem psychologischen Vorgang.
Indem der Schauspieler zunächst äuſserlich die geforderte Lage
und Bewegung nachahmt, lebt er sich schlieſslich in das
innere Sein derselben ein, versetzt sich über die Brücke der
äuſsern Nachahmung ganz in dieses, sodaſs er dann völlig aus
der psychologischen Beschaffenheit der betreffenden Person
heraus spielt. Auch ist längst festgestellt, daſs die rein mecha-
nische Nachahmung der Geberden eines Zornigen in der Seele
selbst einen Anklang von zornigem Affekt hervorruft. Durch
die Mittelglieder also der sinnlichen Äuſserung des Affekts
und der sympathisch reflektorischen Nachahmung derselben
zieht eine in unserm Gesichtskreise befindliche Erregung uns
mehr oder weniger in ihren Bann. Das findet natürlich um
so ausgedehnter und sicherer statt, je vielfacher der gleiche
Affekt um uns herum zur Äuſserung kommt. Und geschieht
das schon, wenn wir unbefangen in eine Menge hineintreten,
so wird es da, wo die eigene Stimmung die gleiche ist, zur
erheblichsten Steigerung derselben, zu jenem gegenseitigen
Sichhinreiſsen, zur Überwucherung aller verstandesmäſsigen
und individuellen Momente durch dasjenige Gefühl führen,
das uns mit dieser Zahl gemeinsam ist; die Wechselwirkung
der Individuen untereinander strebt dahin, jede gegebene
Stärke der Empfindung über sich hinauszutreiben.
Hiermit aber scheinen wir unserm bisherigen Resultat zu
widersprechen, daſs die Vereinigung einer Menge auf dem
gleichen Niveau immer eine relative Niedrigkeit des letzteren
und ein Herabsteigen der Einzelnen voraussetze. Allein wenn
auch das Individuelle eine relative Höhe gegenüber dem so-
cialen Niveau einnimmt, so muſs doch das letztere immer eine
gewisse absolute Höhe haben, und diese wird eben durch die
wechselseitige Steigerung der Empfindungen und Energieen
erreicht. Auch ist es nur das voll ausgebildete Individuum,
das, um auf das sociale Niveau zu kommen, herabsteigen
muſs; so lange und so weit sich seine Anlagen noch im Zu-
stande der bloſsen Potenz befinden, kann es sehr wohl zu
jenem noch heraufsteigen müssen. Auch ist die Nachahmung,
die die Gleichheit des Niveaus herstellt, eine der niedrigeren
geistigen Funktionen, wenngleich sie in socialer Beziehung
von der gröſsten und noch keineswegs genügend hervorge-
hobenen Bedeutung ist. Ich erwähne in dieser Hinsicht nur
6*
[84]X 1.
daſs die Nachahmung eines der hauptsächlichen Mittel gegen-
seitigen Verständnisses ist; vermöge der vorhin betonten Asso-
ciation zwischen der äuſseren Handlung und dem ihr zu grunde
liegenden Bewuſstseinsvorgang giebt uns die Nachahmung der
Handlung eines andern oft erst den Schlüssel zu ihrem inner-
lichen Verständnis, indem die Gefühle, die früher auch bei
uns die Handlung hervorriefen, erst durch jene psychologi-
sche Hülfe ihre Reproduktion erfahren. Dem volkstümlichen
Ausdruck, daſs man, um irgendeine Handlungsweise eines
anderen recht zu begreifen, erst in seiner Haut stecken müsse,
liegt eine tiefe psychologische Wahrheit zu Grunde, und die
Nachahmung des anderen läſst uns wenigstens soweit in seiner
Haut stecken, als sie eine partielle Gleichheit mit ihm bedeutet;
wie sehr aber das gegenseitige Verständnis die Schranken
zwischen Mensch und Mensch niederreiſst, wieviel es zur Her-
stellung eines gemeinsamen geistigen Besitzes beiträgt, bedarf
keiner Ausführung. Auch ist kein Zweifel, daſs wir für die
ungeheure Mehrzahl unserer Thätigkeiten auf Nachahmung
vorgefundener Formen angewiesen sind, was uns nur nicht
ins Bewuſstsein tritt, weil das uns und andere Interessierende
eben nicht dies, sondern das Eigene und Originelle an uns
ist. Ebenso sicher ist freilich die Niedrigkeit des Geistes,
dessen Bewegungen in der Form der Nachahmung befangen
bleiben, weil, bei der durchgehenden Tendenz auf diese, das
am häufigsten Geschehende, am häufigsten zur Nachahmung
Auffordernde die Norm des Handelns abgeben wird, das sich
demnach mit dem trivialsten Inhalt füllen wird. Wenn nun
auch diese Art des geistigen Lebens ihrem Begriffe nach die
weit überwiegende sein muſs, so hat doch das wachsende
Streben nach Differenzierung eine Form geschaffen, die alle
Vorteile der Nachahmung und socialen Anlehnung, zugleich
aber auch den Reiz einer wechselvollen Differenzierung be-
sitzt: die Mode. Im Mitmachen der Mode auf jeglichem Ge-
biet ist der Einzelne sociales Wesen κατ᾽ ἐξοχήν. Die Qual
der Wahl, die Verantwortung derselben anderen gegenüber ist
ihm erspart; mit der Bequemlichkeit des Thuns verbindet sich
die Sicherheit der allgemeinen Billigung. Indem aber die
Mode nun ihrem Inhalte nach in stetem Wechsel begriffen
ist, befriedigt sie zugleich das Bedürfnis der Verschiedenheit
und stellt eine Differenzierung im Nacheinander dar; der Un-
terschied der heutigen Mode gegen die von gestern und vor-
gestern, die Zusammendrängung des auf sie gerichteten Be-
wuſstseins an einem Punkt, der sich gegen das Vorher und
das Nachher oft aufs schärfste abscheidet, die Abwechselungen
und Übergänge in ihr, die an die Verhältnisse, Streitigkeiten,
Kompromisse zwischen Individualitäten erinnern, — alles
dieses ersetzt vielen Geistern in der Mode die Reize eines
[85]X 1.
individuell differenzierten Verhaltens und täuscht sie über die
Niedrigkeit des Niveaus, an das sie sich binden.
Aus dieser Verfassung der Masse, insofern sie einheitlich
auftritt, erklärt sich ungezwungen eine Erscheinung, die zu
den abenteuerlichsten sociologischen Ideen Veranlassung ge-
geben hat. Die Handlungen einer Gesellschaft haben gegen-
über denen des Individuums eine schwankungslose Treffsicher-
heit und Zweckmäſsigkeit. Der Einzelne wird von wider-
sprechenden Empfindungen, Antrieben und Gedanken hin- und
hergezogen, und seinem Geiste bieten sich in jedem Augen-
blick vielfache Handlungsmöglichkeiten dar, zwischen denen
er nicht immer mit objektiver Richtigkeit oder auch nur mit
subjektiver Gewiſsheit zu wählen weiſs; die sociale Gruppe
dagegen ist sich stets darüber klar, wen sie für ihren Freund
und wen für ihren Feind hält, und zwar nicht so sehr in
theoretischem Sinne, als wenn es aufs Handeln ankommt.
Zwischen dem Wollen und dem Thun, dem Erstreben und
dem Erreichen, den Mitteln und den Zwecken der Allgemein-
heit ist eine geringere Diskrepanz, als zwischen denselben
Momenten im Individuellen. Dies hat man so zu erklären
gesucht, daſs die Bewegungen der Masse im Gegensatz zu
dem freien Individuum naturgesetzlich bestimmt werden,
daſs sie schlechthin dem Zuge ihrer Interessen folgen, dem
gegenüber sie so wenig wählen und schwanken können, wie
die Materienmassen gegenüber dem Zuge der Gravitation.
Eine ganze Anzahl fundamentaler erkenntnistheoretischer Un-
klarheiten steckt in dieser Erklärungsweise. Gäben wir selbst
zu, daſs die Handlungen der Masse als solche in besonderem
Maſse naturgesetzlich sind gegenüber den Handlungen der
Einzelnen, so bliebe es noch immer ein Wunder, wenn hier
Naturgesetz und Zweckmäſsigkeit immer zusammenfielen. Die
Natur kennt Zweckmäſsigkeit nur in der Form, daſs sie eine
groſse Anzahl von Produkten mechanisch hervorbringt, von
denen dann zufällig eines besser als die andern sich den Um-
ständen anpassen kann und sich dadurch als zweckmäſsiges
erweist. Aber sie hat kein Gebiet, auf dem jede Hervor-
bringung von vornherein und unbedingt gewissen teleologi-
schen Forderungen genügte. Den alten Satz, daſs die Natur
immer den kürzesten Weg zu ihren Zwecken einschlage,
können wir in keiner Weise mehr anerkennen; da die Natur
überhaupt keine Zwecke hat, so können auch ihre Wege nicht
durch eine Beziehung zu einem solchen als lange oder kurze
charakterisiert werden; deshalb wird auch die Übertragung
dieses Prinzips auf das Verhältnis zwischen den socialen
Zwecken und ihren Mitteln nicht zutreffen. Im Ernst wird
doch auch diese Meinung nicht behaupten wollen, daſs das
Wählen und Irren des Einzelnen eine Ausnahme von der all-
gemeinen Naturkausalität darstelle; aber selbst wenn das so
[86]X 1.
wäre und das Handeln der Masse sich dem gegenüber streng
natürlich verhielte, so wären noch immer die beiden Fragen
zu erledigen, ob denn nicht auch innerhalb der reinen Natur-
kausalität ein Wählen und Schwanken stattfinden könne, und
ferner, durch welche prästabilierte Harmonie gerade in den
socialen Bestrebungen der Erfolg sich immer mit der Absicht
decken müſste. Wenn auch beide Momente, das Wollen und
das Handeln, naturgesetzlich bestimmt sind, ja gerade weil sie
es sind, bliebe es doch ein Wunder, wenn der Erfolg des
letzteren genau die Umrisse ausfüllte, die das erstere doch
nur ideell gezeichnet hat.
Diese Erscheinungen indes, insoweit sie überhaupt fest-
zustellen sind, erklären sich leicht unter der Voraussetzung,
daſs die Ziele des öffentlichen Geistes viel primitivere und
einfachere sind als die des Individuums; worin eine groſse
Anzahl von Menschen übereinstimmt, das muſs, wie oben
ausgeführt, im allgemeinen dem Niveau des Niedrigsten unter
ihnen adäquat sein. Es kann nur die primären Grundlagen
der einzelnen Existenzen betreffen, über die sich erst das
höher Ausgebildete, feiner Differenzierte derselben zu erheben
hat. Daraus verstehen wir die Sicherheit sowohl des Wollens
wie des Gelingens der socialen Zwecke. In demselben Maſse,
in dem der Einzelne in seinen primitivsten Zwecken schwan-
kungslos und irrtumslos ist, in ebendem Maſse ist es die so-
ciale Gruppe überhaupt. Die Sicherung der Existenz, der
Gewinn neuen Besitzes, der Schutz des Erworbenen, die Lust
an der Behauptung und Erweiterung der eigenen Machtsphäre
— dies sind grundlegende Triebe für den Einzelnen, in denen
er sich mit beliebig vielen anderen zweckmäſsigerweise zu-
sammenschlieſsen kann. Weil der Einzelne in diesen prin-
zipiellen Strebungen nicht wählt noch schwankt, kennt auch
die sociale Strebung, die jene zusammenschlieſst, keine Wahl
oder Schwankung. Es kommt hinzu, daſs, wie der Einzelne
bei rein egoistischen Handlungen klar bestimmt und zielsicher
handelt, die Masse es bei allen ihren Zielsetzungen thut; sie
kennt nicht den Dualismus zwischen selbstischen und selbst-
losen Trieben, in dem der Einzelne rathlos schwankend steht,
und der ihn so oft zwischen beiden hindurch ins Leere
greifen läſst. Daſs aber auch die Erreichung der Ziele
irrtumsloser und gelingender ist als beim Einzelnen, folgt
zunächst aus der Thatsache — die unseren augenblick-
lichen Erörterungen ferner liegt —, daſs innerhalb eines
Ganzen Reibungen und Hemmungen der Teile stattfinden,
von denen das Ganze als solches frei ist, dann aber daraus,
daſs der primitive Charakter der socialen Zwecke sich auſser
in der einfacheren Qualität ihres Inhalts auch in ihrem Näher-
liegen bekundet; d. h. die Allgemeinheit bedarf für ihre Zwecke
nicht der Umwege und Schleichwege, auf die der Einzelne
[87]X 1.
so oft angewiesen ist. Das liegt aber nicht an irgendeinem
mystischen Charakter besonderer Natürlichkeit, sondern nur
daran, daſs erst höhere Differenzierung der Ziele und Wege
es nötig macht, mehr und mehr Mittelglieder in die teleolo-
gische Kette einzuschieben. Worin sich aber viele differen-
zierte Wesen zusammenschlieſsen, das kann selbst nicht in
gleichem Maſse differenziert sein; und wie sich der Einzelne
über diejenigen Zweckverbindungen nicht zu irren pflegt, in
denen Ausgangs- und Zielpunkt nahe aneinander liegen, und
wie eben die Zwecke am sichersten von ihm erreicht werden,
bei denen die erste Initiative am unmittelbarsten dazu hin-
reicht, so wird natürlich auch der sociale Kreis, insofern der
einfachere Inhalt seiner Ziele den eben bezeichneten formalen
Charakter derselben zur Folge hat, weniger Irrtümern und
Miſserfolgen ausgesetzt sein.
Bei gröſseren Gruppen, die den Verlauf ihrer Entwick-
lungen nicht mehr durch augenblickliche Impulse, sondern
durch umfassende und feste, allmählich herangewachsene In-
stitutionen bestimmen, müssen die letzteren eine gewisse
Weite, einen objektiven Charakter tragen, um der ganzen
Fülle verschiedenartiger Bethätigungen den gleichen Raum,
die gleiche Sicherung und Förderung zu gewähren. Sie müssen
nicht nur irrtumsloser sein, weil jeder Irrtum sich bei der
ungeheuren Anzahl davon abhängender Verhältnisse aufs
schwerste rächen würde und deshalb mit der gröſsten Vorsicht
vermieden werden muſs, sondern sie werden von vornherein
und abgesehen von diesem Zweckmäſsigkeitsgesichtspunkt
schon deshalb als besonders richtig, erhaben über Schwankungen
und Einseitigkeiten auftreten, weil sie aus dem Zusammen-
prall der Gegensätze, aus dem Streite der Interessen, aus dem
gegenseitigen Sichabschleifen der in einer Gruppe enthaltenen
Verschiedenheiten überhaupt entstanden sind. Für den Ein-
zelnen entsteht die Wahrheit und Sicherheit in der Theorie
wie in der Praxis dadurch, daſs die zunächst einseitige sub-
jektive Maxime zu einer groſsen Anzahl von Verhältnissen
in Beziehung tritt; die Richtigkeit eines allgemeineren Vor-
stellens besteht überhaupt nur darin, daſs es durch vielerlei
und möglichst verschiedene Fälle durchführbar ist; alle Ob-
jektivität erhebt sich nur aus der Kreuzung und gegenseitigen
Einschränkung einzelner Vorstellungen, deren keiner man es
an und für sich ansehen kann, ob sie nicht etwa bloſs sub-
jektiv ist; sowohl in realer wie in erkenntnistheoretischer Be-
ziehung läutert sich die Übertriebenheit, die falsche Subjek-
tivität, die Einseitigkeit nicht durch das plötzliche Hinein-
greifen eines absolut anders gearteten Objektiven, sondern nur
durch das Zusammenströmen einer gröſsten Zahl subjektiver
Vorstellungen, die ihre Einseitigkeiten gegenseitig korrigieren
und paralysieren und so das Objektive gewissermaſsen als
[88]X 1.
Verdichtung des Subjektiven herstellen. Offenbar bildet sich
nun der öffentliche Geist von vornherein auf dem Wege, der
den Einzelgeist relativ spät zur Richtigkeit und Sicherheit
seiner Inhalte führt. Gerade weil so äuſserst verschieden-
artige Interessen in gleichem Maſse an den öffentlichen Ein-
richtungen und Maſsregeln beteiligt sind, müssen diese sozu-
sagen im Indifferenzpunkt aller jener Entgegengesetztheiten
stehen; sie müssen den Charakter der Objektivität tragen,
weil die Subjektivität jedes Einzelnen schon dafür sorgt, daſs
nicht der eines anderen ein zu groſser Einfluſs auf sie ein-
geräumt werde. Als gemeinsame Grundlage, aber, worauf es
für die jetzige Betrachtung ankommt, auch als gemeinsames
Resultat der Bewährung aller möglichen Tendenzen und Be-
anlagungen muſs das Handeln der Gruppe eine umfassende
Objektivität zeigen und den Durchschnitt bilden, der selbst
von der Excentricität seiner Faktoren frei ist. Dieser Sicher-
heit und Möglichkeit entspricht nun freilich ein gewisser For-
malismus und Mangel an konkreten Inhalten in groſsen Be-
zirken des öffentlichen Wesens. Je gröſser der sociale Kreis
ist, desto mehr Interessen kreuzen sich in ihm und desto
farbloser müssen die Bestimmungen sein, die ihn als ganzen
treffen und die nun ihre specielle und konkrete Erfüllung
von engeren Kreisen und von Individuen erwarten müssen.
Wenn es also auch genetisch eine höhere und spätere Stufe
ist, die das Niveau der Allgemeinheit objektiv sicher und
zweckmäſsig bestimmt erscheinen läſst, so sehen wir doch auch
in dieser Beziehung, daſs mit jenen Vorzügen eine gewisse
Niedrigkeit seines Inhalts in bedingender Verbindung steht.
Die anscheinende Irrtumslosigkeit der Allgemeinheit dem
Einzelnen gegenüber mag aber auch so zusammenhängen, daſs
ihr Vorstellen und Handeln die Norm bildet, an der sich für
den Einzelnen Richtigkeit oder Irrtum messen. Wir haben
schlieſslich kein anderes Kriterium für die Wahrheit als die
Möglichkeit, jeden hinreichend ausgebildeten Geist von ihr
zu überzeugen. Die Formen, in denen dies möglich ist, haben
allerdings allmählich eine solche Festigkeit und Selbständig-
keit erlangt, daſs sie, als logische und erkenntnistheoreti-
sche Gesetze, auch da zu der subjektiven Überzeugung von
Wahrheit führen, wo im einzelnen Fall die Allgemeinheit
noch anderer Überzeugung ist; aber immer muſs auch dann
der Glaube vorhanden sein, daſs irgendwann auch diese sich
wird davon durchdringen lassen; ein Satz, von dem es fest-
stände, daſs die Allgemeinheit ihn nie annehmen wird, würde
auch für den Einzelnen nicht den Stempel der Wahrheit
tragen. Und das Gleiche gilt für die Richtigkeit des Han-
delns; wo wir gegen den Widerspruch einer ganzen Welt
überzeugt sind, recht und sittlich zu handeln, muſs doch der
Glaube zu grunde liegen, daſs eine vorgeschrittenere Gesell-
[89]X 1.
schaft, eine solche, die eine tiefere Einsicht in das ihr wahr-
haft Nützliche haben wird, unsere Handlungsweise billigen
wird. Aus dieser, wenn auch unbewuſsten Anlehnung an eine
ideale Gesamtheit, auf deren Niveau die jetzt vorhandene nur
relativ zufällig noch nicht steht, schöpfen wir die Stärke und
Siegessicherheit für unsere theoretischen und praktischen
Überzeugungen, die augenblicklich noch völlig individuelle
sind. In der Gewiſsheit eben dieser anticipiert das Indivi-
duum ein Niveau der Allgemeinheit, auf dem das jetzt Diffe-
renzierte zum Gemeingut geworden ist.
Die Begründung dieser Annahmen liegt wesentlich auf
praktischem Gebiet. Der Einzelne kann seine Zwecke so sehr
nur im Anschluſs an eine Allgemeinheit und durch ihre Mit-
wirkung erreichen, daſs die Isolierung von ihr ihm zugleich
auch in jeder andern Beziehung alles das nehmen würde, was
er als Norm, als Gesolltes empfindet, und daſs, wo er sich
ihr dennoch entgegensetzt, dies nur durch eine individuelle
Kombination der von der Gesamtheit dennoch ausgehenden
Normen geschieht, die in ihr selbst zwar noch nicht realisiert
ist, aber ohne die Möglichkeit einer solchen Realisierung über-
haupt wertlos wäre. Welches nun aber auch die gattungs-
psychologischen Motive seien, es scheint mir unbezweifelbar,
daſs das subjektive Gefühl der Sicherheit in theoretischer und
ethischer Beziehung zusammenfalle mit dem mehr oder minder
klaren Bewuſstsein der Übereinstimmung mit einer Gesamt-
heit; bei der durchgängigen Wechselwirkung dieser Be-
ziehungen ist dann die ruhevolle Befriedigung, die Meeres-
stille der Seele, wie sie aus der Unerschütterlichkeit von
Überzeugungen quillt, eben daraus zu erklären, daſs diese
letztere nur einen Ausdruck für die Übereinstimmung mit
einer Gesamtheit und für das Getragensein durch sie bildet.
Hierdurch verstehen wir den eigenartigen Reiz des Dogmati-
schen als solchen; was sich uns als Bestimmtes, Unanzweifel-
bares und zugleich als allgemein Geltendes giebt, gewährt an
und für sich eine Befriedigung und einen inneren Halt, dem
gegenüber der Inhalt des Dogmas relativ gleichgültig ist. In
dieser Form der absoluten Sicherheit, die nur ein Korrelat
der Übereinstimmung mit der Gesamtheit ist, liegt eine der
hauptsächlichen Anziehungskräfte der katholischen Kirche;
indem sie dem Individuum eine Lehre bietet, welche καϑ̕ ὅλου
gilt, und von der jede Abweichung eigentlich unmöglich,
jedenfalls völlig ketzerisch ist — wie es denn Pius IX. direkt
aussprach, daſs jeder Mensch in irgendeinem Sinne der ka-
tholischen Kirche zugehöre —, appelliert sie in stärkstem Maſs
an das sociale Element im Menschen und läſst den Einzelnen
in der sachlichen Bestimmtheit des Glaubens zugleich alle
Sicherheit gewinnen, die in der Übereinstimmung mit der
Gesamtheit liegt; und umgekehrt, weil sich Objektivität und
[90]X 1.
Wahrheit mit der Annahme durch die Gesamtheit deckt, ge-
gewährt die Lehre, von der die letztere gilt, allen Rückhalt
und alle Befriedigung der ersteren. Eine durchaus zuver-
lässige Persönlichkeit erzählte mir von einer Unterredung mit
einem der höchsten Würdenträger der katholischen Kirche,
in deren Verlauf dieser äuſserte: Die innigsten und nützlich-
sten Anhänger der katholischen Kirche seien immer Menschen
gewesen, die eine schwere Sünde oder einen groſsen Irrtum
hinter sich hatten. Das ist psychologisch durchaus begreiflich.
Wer sehr geirrt hat, sei es im Sittlichen oder im Theoreti-
schen, wirft sich allem, was sich ihm als unfehlbare Wahr-
heit darbietet, in die Arme; d. h. das subjektive individuali-
stische Prinzip hat sich ihm als so unzulänglich erwiesen, daſs
er nun das Niveau sucht, auf dem ihm die Übereinstimmung
mit der Gesamtheit Sicherheit und Ruhe gewährt.
Indessen ist der Nachteil eines solchen Vorteils nicht nur
der, daſs nach den obigen Ausführungen ein sociologisches
Niveau, um allen zugänglich zu sein, so niedrig liegen muſs,
daſs es den Höheren viel tiefer hinabzusteigen nötigt, als es
den Niedrigen hinaufzieht, sondern die Entlastung von indi-
vidueller Verantwortung und Initiative läſst die zu dieser er-
forderlichen Kräfte rosten und giebt dem Individuum eine
sorglose Sicherheit, die die Schärfung und Ausbildung seiner
Anlagen verhindert. In der Vogelwelt finden wir auffallende
Beispiele dafür; von den australischen Lorikets, von den
Tukans, von den amerikanischen Tauben wird uns berichtet,
daſs sie sich auſserordentlich dumm und unvorsichtig benehmen,
sobald sie in groſsen Zügen auftreten, dagegen scheu und ge-
witzt, wenn sie sich allein halten. Indem der einzelne Vogel
sich auf seine Gefährten verläſst, erspart er gewisse höhere
individuelle Funktionen, wodurch indes dann schlieſslich auch
das Niveau der Gesamtheit leidet.
Doch wird im groſsen und ganzen ein sociales Niveau
um so mehr Chancen zu seiner Erhöhung haben, je mehr
Mitglieder es zählt; denn erstens ist der Kampf um die Exi-
stenz und um die bevorzugte Stellung ein schärferer unter
vielen, als unter wenigen, und die Auslese eine um so stren-
gere. Auf dem hohen Kulturniveau der oberen Zehntausend,
deren Lage behaglich genug ist, um schon auf einen viel ge-
ringeren Kampf den Preis des Lebenkönnens zu setzen, auf
dem auch die Specialität des Einzelnen früh genug ausge-
bildet wird, um ihn für relativ weniger umkämpfte Stellungen
zu befähigen, machen sich die Nachteile der weniger strengen
Auslese hier und da bemerklich. Schon in äuſserer Beziehung
glaube ich, daſs die zunehmende körperliche Schwächlichkeit
unserer höheren Stände zum groſsen Teil daher rührt, daſs
sie elende, an sich kaum lebensfähige Kinder vermöge aus-
gezeichneter Pflege und Hygiene aufbringen, natürlich aber
[91]X 1.
ohne sie auf die Dauer zu normalen und kräftigen Menschen
machen zu können. In roheren Zeiten und in niedrigeren
Ständen, in die die nur wenigen zugänglichen hygienischen
Mittel noch nicht gedrungen sind, rafft die natürliche Auslese
die schwächlichen Existenzen weg und läſst nur die kräftigen
groſs werden. Auſserdem ist aber von vornherein die Wahr-
scheinlichkeit vorhanden, daſs unter der gröſseren Anzahl von
Teilnehmern auch eine gröſsere Anzahl hervorragender Na-
turen vorhanden sei, sodaſs jener Kampf ein günstiges
Material vorfindet und durch energische Verdrängung des
Schwächeren ein immer günstigerer Durchschnitt für die Ge-
samtheit erreicht wird. Durch die ganze Natur geht dieser
Nutzen der gröſseren Zahl. Über die Schafe in einem Teile
von Yorkshire sagt ein Kenner, daſs, weil sie gewöhnlich
armen Leuten gehören, welche nur wenige besitzen, sie nie
veredelt werden können; andererseits haben Handelsgärtner,
welche dieselben Pflanzen in groſsen Massen ziehen, gewöhn-
lich mehr Erfolg als die bloſsen Liebhaber in Bildung neuer
und wertvoller Varietäten, wie Darwin bemerkt, unter dem
Hinzufügen, daſs die verbreiteten und gemeinen Arten gröſsere
Wahrscheinlichkeit als die selteneren haben, in einer gege-
benen Zeit vorteilhafte Anderungen hervorzubringen. Dieser
Vorgang scheint mir ein bedeutsames Licht auf die organische
Entwicklung überhaupt zu werfen. Nachdem einmal eine
gewisse Art verbreitet und herrschend geworden ist, sondert
sich durch besondere Bedingungen eine Unterart ab, welche,
in weniger Exemplaren vorhanden, eine gewisse Stabilität
zeigt. Treten nun neue Lebensumstände ein, die veränderte
Anpassungen fordern, so wird die auf der früheren Stufe
zurückgebliebene und zahlreichere Art auf Grund der oben
angeführten Vorteile der groſsen Zahl eine gröſsere Wahr-
scheinlichkeit haben, wenigstens teilweise den neuen Anforde-
rungen gemäſs zu variieren, als jene schon ausgesonderte,
welche früher vielleicht die besser angepaſste war. Wir ver-
stehen daraus, wieso aristokratische Differenzierungen über
das allgemeine Niveau, nachdem sie eine Zeit lang ein höheres
Niveau für sich gebildet, später so oft ihre Lebensfähigkeit
gegenüber jenem tieferen verlieren. Denn dieses hat zunächst
vermöge der überwiegenden Zahl seiner Teilnehmer die gröſsere
Wahrscheinlichkeit, bei geänderten Verhältnissen führende
Persönlichkeiten hervorzubringen, die jenen besonders gut
angepaſst sind; dann aber ist die niedrige Entwicklung, in
der die schärferen Differenzierungen erst im Keime vorhanden
sind, überhaupt für manche Anforderungen die günstigere
Bedingung, weil sie ein weiches, der Formung sich leicht
schmiegendes Material bietet, während scharf umrissene und
individualisierte Formen zwar ihren ursprünglichen Lebens-
bedingungen besser entsprechen, geänderten und entgegen-
[92]X 1.
gesetzten aber oft schlechter. Daher erklärt es sich auch,
daſs Klassen mit einseitig ausgeprägtem socialem Besitz in
lebhaft bewegten und wechselvollen Zeiten weniger Vorteile
haben als solche, die nur geringere Gemeinsamkeiten besitzen;
so treten in den Bewegungen der modernsten Kultur die
Chancen des Bauernstandes wie der Aristokratie zurück vor
denen des industriellen und handeltreibenden Mittelstandes,
der keine so festen und bestimmt differenzierten socialen Palla-
dien besitzt wie jene.
Wenn man von dem socialen Niveau und seinem Ver-
hältnis zur Individualität spricht, ist der zweierlei Bedeutungen
desselben zu gedenken, die in den vorhergehenden Betrach-
tungen nicht immer gesondert werden konnten. Der gemein-
same geistige Besitz einer Anzahl von Menschen kann den
Sinn desjenigen Teils des individuellen Besitzes haben, der
gleichmäſsig in jedem derselben vorhanden ist; dann kann er
aber auch den Kollektivbesitz bedeuten, der keinem Einzelnen
als solchem eigen ist. Man könnte die letztere Gemeinsam-
keit als eine reale, die erstere als eine ideale im erkenntnis-
theoretischen Sinne bezeichnen, insofern diese nur durch den
gegenseitigen Vergleich, durch die beziehende Erkenntnis als
Gemeinsamkeit erkannt werden kann; an und für sich brauchte
es den Einzelnen nicht im Sinne eines einheitlichen Zusammen-
gehörens zu berühren, daſs so und so viele Andere noch die
gleichen Eigenschaften besitzen wie er selbst. Zwischen den
Höhen dieser beiden socialen Niveaus bestehen nun die man-
nichfaltigsten Verhältnisse. Man wird die aufsteigende Ent-
wicklung zunächst von der einen Seite in die Formel bringen
können, daſs der Umfang des socialen Niveaus im Sinne der
Gleichheit abnimmt zu gunsten des socialen Niveaus im Sinne
des Kollektivbesitzes; die Grenze für diese Entwicklung wird
dadurch gezogen, daſs die Individuen einen gewissen Grad
von Gleichheit bewahren müssen, um noch von einem einheit-
lichen gemeinsamen Besitz profitieren zu können; freilich muſs
mit der Ausdehnung dieses letzteren seine Einheitlichkeit im
strengeren Sinne leiden und sich in vielspältige Teile zer-
legen, deren Einheit statt der substantiellen mehr und mehr
eine bloſs dynamische wird, d. h. sich nur noch in einem
funktionellen Ineinandergreifen von inhaltlich sehr getrennten
Bestandteilen zeigt, welche nun auch entsprechend verschieden-
artigen Individualitäten die Teilnahme an dem gemeinsamen
öffentlichen Besitz ermöglichen. So wird z. B. ein durch-
greifendes und vielgliedriges Rechtssystem da heranwachsen,
wo eine starke Differenzierung der Persönlichkeiten nach
Stellung, Beruf und Vermögen eintritt und die möglichen
Kombinationen unter diesen eine Fülle von Fragen schaffen,
denen primitive Rechtsbestimmungen nicht mehr genügen
können; trotzdem wird immer noch eine gewisse Einheitlich-
[93]X 1.
keit aller dieser Personen vorhanden sein müssen, damit dieses
Recht wirklich allseitig befriedige und dem moralischen Be-
wuſstsein der Einzelnen entspreche. Die Ausdehnungen des
socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit und im Sinne des
gemeinsamen Besitzes werden also auf ein Kompromiſs selbst
da angewiesen sein, wo die fortschreitende Differenzierung
solche Formen des öffentlichen Geistes schafft oder vorfindet,
die die Möglichkeit eines rechtlich sittlichen Zusammenbe-
stehens der mannichfaltigsten Bestrebungen und Lebensfüh-
rungen gewähren. Umgekehrt muſs die irgendwie herbei-
geführte Verbreiterung des Kollektivbesitzes auch eine solche
der persönlichen Ähnlichkeiten zur Folge haben. Dies liegt
am augenfälligsten da vor, wo eine Nation gewonnene Pro-
vinzen durch gewaltsame Einführung ihrer Sprache, ihres
Rechts, ihrer Religion auch innerlich sich anzugliedern sucht;
im Verlauf mehrerer Generationen werden dann die scharfen
Differenzen zwischen den alten und den neuen Provinzen aus-
geglichen sein, die Gleichheit des objektiven Geistes zu gröſserer
Gleichheit der subjektiven Geister geführt haben. Als ein
der Substanz nach hiervon sehr entferntes Beispiel nenne ich
die merkwürdige Anähnlichung des Wesens, des Charakters
und schlieſslich der Gesichtszüge, die manchmal unter alten
Ehegatten zu beobachten ist. Die Schicksale, Interessen und
Sorgen des Lebens haben ein sehr umfassendes gemeinsames
Niveau für sie geschaffen, das keineswegs ursprünglich in dem
Sinne gemeinsam ist, daſs persönliche Eigenschaften in jedem
von beiden in gleicher Weise vorhanden wären, sondern es
entsteht und besteht gewissermaſsen zwischen ihnen als ein
Kollektivbesitz, aus dem der Anteil des Einzelnen nicht
herauszulösen ist, weil er überhaupt als solcher gar nicht
existiert; so wenig bei der Gravitation zwischen zwei Materien
die Schwere dem einen oder dem andern im Sinne einer in-
dividuellen Qualität zukäme, weil der eine immer nur im Ver-
hältnis zum andern schwer ist, so wenig kann man bei den
Erlebnissen und inneren Erwerbungen, bei der Konstituierung
des objektiven Geistes innerhalb eines Ehelebens immer dem
einen und dem andern einen, wenn auch gleichen Teil des-
selben zuschreiben, weil er ja nur in der Gemeinsamkeit
und durch sie zustande kommt. Aber diese Gemeinsamkeit
wirkt nun zurück auf dasjenige, was jeder für sich ist, und
schafft eine Gleichheit des persönlichen Denkens, Fühlens und
Wollens, die sich, wie gesagt, schlieſslich auch in der äuſseren
Erscheinung ausprägt. Die Voraussetzung dazu ist freilich,
daſs die individuellen Unterschiede schon von vornherein keine
übermäſsig groſsen gewesen seien, weil sonst die Bildung jenes
objektiv gemeinsamen Niveaus Schwierigkeiten finden würde.
Auch hat die absolute Gröſse dieses letzteren eine Grenze,
wenn sie zu dem in Rede stehenden Erfolge führen soll; bei
[94]X 1.
einer gewissen Ausdehnung nämlich gestattet sie wieder, daſs
je nach der Verschiedenheit der persönlichen Anlagen der eine
mehr von dem einen Teil, von der einen Beziehung des
Kollektivbesitzes beeinfluſst wird, der andere von der anderen;
es kann darum noch immer ein gemeinsamer Besitz sein; aber
während seine Gröſse relativ zum individuellen Besitz der
Teilhaber in geradem Verhältnis zu seiner verähnlichenden
Wirkung steht, giebt sie, absolut betrachtet, mit ihrem eignen
Wachstum auch wachsende Möglichkeit ungleicher Wir-
kungen. Deshalb findet man jenes allmähliche Gleichwerden
besonders an Ehepaaren in ruhigen und einfachen Verhält-
nissen, und wenn man es besonders an kinderlosen Ehepaaren
bemerken wollte, so ist das ganz in diesem Sinne; denn so
sehr jenes gemeinsame Niveau gerade durch den Besitz von
Kindern vergröſsert wird, so erlebt es doch dadurch eine
Mannichfaltigkeit und Differenzierung, die die Gleichheit seiner
Wirkungen auf die Individuen fraglich macht.
Eine andere Kombination zwischen den beiden Bedeu-
tungen des socialen Niveaus und der Differenzierung zeigt
sich auf wirtschaftlichem Gebiet. Das vielfache Angebot der
gleichen Leistung bei beschränkter Nachfrage erzeugt die Kon-
kurrenz, welche in viel weiterem Umfange, als man es sich
gewöhnlich klar macht, schon unmittelbar Differenzierung ist.
Denn wenn auch die angebotene Ware die genau gleiche
ist, so muſs doch jeder versuchen, sich wenigstens in der Art
des Angebots von dem andern zu unterscheiden, weil der
Konsument sich sonst in der Buridanischen Lage befinden
würde. In der Formung oder wenigstens im Arrangement
der Ware, in der Anpreisung oder wenigstens in der Miene,
mit der man die Leistung anpreist, muſs jeder sich von jedem
zu unterscheiden suchen. Je gleichartiger das Angebot dem
Inhalt nach ist, desto gröſsere Verschiedenheiten werden die
Anbietenden in den persönlichen Seiten desselben ausbilden,
wozu noch beiträgt, daſs die unmittelbare Konkurrenz gegen-
seitig antagonistische Gesinnungen hervorruft, die die Persön-
lichkeiten auch ihrem Denken und Fühlen nach von einander
entfernen. Die persönlichen Gemeinsamkeiten, die in der
Gleichheit der Beschäftigung und in der des Absatzkreises
liegen, erzeugen eine um so schärfere Differenzierung nach
anderen Seiten der Persönlichkeit hin. Jene Gleichheit aber
drängt doch wieder zur Schaffung eines socialen Niveaus in
dem anderen Sinne, insofern der Beruf oder Geschäftszweig
als Ganzes gewisse Interessen hat, zu deren Wahrnehmung
sich alle Beteiligten zusammenschlieſsen müssen, sei es in
Kartellen, die die Konkurrenz zeitweilig beschränken oder auf-
heben, sei es in Vereinigungen, die sich auf auſserhalb der
Konkurrenz liegende Zwecke beziehen, wie Repräsentation,
Rechtsschutz, Entscheidung in Ehrensachen, Verhalten gegen
[95]X 1.
andere in sich geschlossene Kreise u. s. w., die in manchen
Fällen zur Bildung eines entschiedenen Standesbewuſstseins
führen. Eine bedeutende Höhe des socialen Niveaus im Sinne
der Gleichheit ermöglicht eine entsprechende auch im letzteren
Sinne, wofür die Zunft das entscheidende Beispiel giebt. Dem
gegenüber erscheint die durch den Wettbewerb und die kom-
plizierteren Verhältnisse ausgebildete Differenzierung als die
höhere Stufe, während wiederum eben diese Differenzierung
einen gemeinsamen Besitz von neuen Gesichtspunkten aus
schafft. Denn einerseits ist das sehr specialisierte Individuum
zur Erreichung der obengenannten Zwecke dringender auf
andere angewiesen, als eines, welches mehr die Totalität eines
Zweiges in sich darstellt; andererseits bringt gerade erst die
feinere Differenzierung Bedürfnisse und Zuspitzungen der ein-
zelnen Wesensseiten zustande, die die Grundlage für kollek-
tive Bildungen abgeben. Wenn also Konkurrenten, die das-
selbe Bedürfnis mit verschiedenartigen Mitteln decken wollen,
wie etwa in der Leibwäschenbranche Leinen, Baumwolle und
Wolle mit einander konkurrieren, sich vereinigen, um ein
Preisausschreiben über die beste Art der Befriedigung jenes
Bedürfnisses zu erlassen, so hofft zwar jeder, daſs die Ent-
scheidung gerade für ihn günstig sein werde; allein es ist doch
von einem Punkte aus ein gemeinsames Vorgehen zustande ge-
kommen, zu dem zwar ohne die vorangegangene Differenzie-
rung keine Veranlassung gewesen wäre, das aber nun der
Ausgangspunkt weiterer Socialisierungen werden kann. Ich
werde noch in anderem Zusammenhange zu erwähnen haben, daſs
gerade die Mannichfaltigkeit und Differenzierung der Beschäf-
tigungszweige den Begriff des Arbeiters überhaupt, den Ar-
beiterstand als selbstbewuſstes Ganzes geschaffen hat. Die
Gleichheit der Funktion tritt erst recht hervor, wenn sie sich
mit sehr verschiedenartigem Inhalt füllt; erst dann löst sie
sich aus der psychologischen Association mit ihrem Inhalt,
die bei gröſserer Gleichförmigkeit desselben statthat, und kann
socialisierende Macht zeigen.
Bewirkt die Differenzierung der Individuen hier eine
Vermehrung des socialen Niveaus, so wird einem oben ange-
deuteten Momente zufolge auch die umgekehrte Wirkung statt-
finden. Je mehr geistige Produkte nämlich aufgehäuft und
allen zugänglich sind, desto eher werden schwächliche Be-
anlagungen, die der Anregung und des Beispiels bedürfen,
zur Bethätigung gelangen. Unzählige Fähigkeiten, eine in-
dividuellere Ausbildung und Stellung zu gewinnen, bleiben
latent, wenn kein hinreichend weites, jedem sich darbietendes
sociales Niveau da ist, dessen mannichfaltige Inhalte aus
jedem hervorlocken, was nur in ihm ist, wenn dieses auch
nicht stark genug ist, um sich ganz originell und ohne
solchen Anreiz zu entfalten. Daher sehen wir allenthalben,
[96]X 1.
wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in der
griechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance,
in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der
Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird
uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, un-
differenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines
künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen
über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen,
und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung
vorgedrungen wären. Je mehr Muster schon vorliegen, desto
gröſser ist die Wahrscheinlichkeit, daſs jede nur einiger-
maſsen besondere Anlage ihre Entfaltung und also eine diffe-
renzierte Lebensstellung gewönne. Das sociale Niveau im
Sinne des Kollektivbesitzes verringert von diesem Gesichts-
punkt aus eben dasselbe im Sinne der Gleichheit des Besitzes.
Diese Ungleichmäſsigkeiten im Verhältnis der socialen
Niveaus in beiderlei Sinne scheinen indes nur so lange herr-
schen zu können, als beide unter ihren höchsten erreichbaren
Graden bleiben und als es neben der Steigerung derselben
noch andere Zwecke des Individuums und der Allgemeinheit
giebt, die die Entwicklung jener modifizieren und zwar na-
türlich nicht so, daſs beide stets in gleichem Maſse davon
getroffen würden. Das absolute Maximum des einen wird
indes mit dem des andern zusammenfallen. Um nämlich
erstens ein Maximum individueller Gleichheit innerhalb einer
Gruppe herzustellen und namentlich zu erhalten, ist das
sicherste Mittel, daſs ihr Kollektivbesitz ein möglichst groſser
ist; wenn jeder Einzelne einen möglichst gleichen Teil seines
innern und äuſsern Besitzes an die Gesamtheit abgiebt und
der Besitz dieser dafür groſs genug ist, um ihm ein Maxi-
mum von Formen und Inhalten zu liefern, so ist dies jeden-
falls die gröſste Garantie dafür, daſs der eine im wesentlichen
dasselbe hat und ist wie der andere; und umgekehrt, wenn
eine maximale Gleichheit der Individuen herrscht und über-
haupt Socialisierung stattfindet, wird auch der sociale Besitz
deshalb im Verhältnis zum individuellen ein maximaler werden,
weil das Prinzip der Kraftersparnis dahin drängt, möglichst
viele Thätigkeiten an die Allgemeinheit abzugeben — mit
Ausnahmen, die wir in unserm letzten Kapitel zu behandeln
haben — und möglichst vielen Anhalt von ihr zu entlehnen,
während die Verschiedenheit der Individuen, die dieser Ten-
denz sonst Schranken setzte, der Voraussetzung nach auf-
gehoben ist. Der Socialismus hat deshalb die Maximisierung
beider Niveaus gleichmäſsig im Auge; die Gleichheit der Indi-
viduen ist eben nur durch Konkurrenzlosigkeit, diese aber nur
bei Centralisierung aller Wirtschaft durch den Staat zu erreichen.
Psychologisch ist es mir indessen noch zweifelhaft, ob
die Forderung der Ausgleichung der Niveaus dem Triebe der
[97]X 1.
Differenzierung wirklich so absolut entgegengesetzt ist, wie es
scheint. Durch die ganze Natur hindurch sehen wir das
Streben der Lebewesen, höher zu kommen, über ihre augen-
blickliche Stellung hinweg eine günstigere zu erwerben; in
der Menschenwelt steigert sich dies zu dem lebhaftesten
bewuſste Wunsch, mehr zu haben und zu genieſsen, als jeder
gegebene Augenblick es darbietet, und die Differenzierung
ist nichts als das Mittel dazu oder die Folge davon. Nie-
mand begnügt sich mit der Stellung, die er seinen Mit-
geschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in
irgendeinem Sinne günstigere erobern, und da die Kräfte und
Glücksfälle verschieden sind, so gelingt es Einem, sich über
die groſse Mehrzahl der andern mehr oder weniger hoch zu
erheben. Wenn nun die unterdrückte Majorität den Wunsch
nach erhöhter Lebenshaltung weiter empfindet, so wird der
nächstliegende Ausdruck dafür sein, daſs sie dasselbe haben
und sein will, wie die obern Zehntausend. Die Gleichheit
mit den Höheren ist der erste sich darbietende Inhalt, mit
dem sich der Trieb eigener Erhöhung erfüllt, wie es sich in
jedem beliebigen engeren Kreise zeigt, mag es eine Schul-
klasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein. Das
gehört zu den Gründen der Thatsache, daſs der Groll des
Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände,
sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er
unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Staffel
der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf
die sich deshalb für den Augenblick sein Bewuſstsein und
sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert. Der Niedere will
zunächst dem Höheren gleich sein; ist er ihm aber gleich,
so zeigt tausendfache Erfahrung, daſs dieser Zustand, früher
der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangs-
punkt für weiteres ist, nur die erste Station des ins Unend-
liche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung. Überall,
wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich
von diesem neuen Boden aus das Streben des Einzelnen, die
Andern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend ge-
macht; so z. B. in der häufigen Thatsache, daſs sich über dem
vollzogenen socialen Nivellement die Tyrannis erhebt. In
Frankreich, wo von der groſsen Revolution her die Gleich-
heitsideen noch am energischsten wirkten, und wo die Juli-
revolution diese Traditionen wieder aufgefrischt hatte, tauchte
doch kurz nach der letzteren neben der schamlosen Pleonexie
Einzelner eine allgemeine Ordenssucht auf, ein unstillbares
Verlangen, sich durch ein Bändchen im Knopfloch vor der
groſsen Menge auszuzeichnen. Und es giebt vielleicht keinen
treffenderen Beweis für unsere Vermutung über den psycho-
logischen Ursprung der Gleichheitsidee, als die Äuſserung
einer Kohlenträgerin aus dem Jahre 1848 zu einer vornehmen
Forschungen (42) X. 1. — Simmel. 7
[98]X 1.
Dame: „Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden:
ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen“ —
eine Äuſserung, deren historische Zuverlässigkeit gleichgültig
ist gegenüber ihrer innern psychologischen Wahrheit.
Diese Genesis des Socialismus bedeutete freilich den
denkbar schärfsten Gegensatz gegen die meisten theoretischen
Begründungen desselben. Für diese ist die Gleichheit der
Menschen ein durch sich selbst gerechtfertigtes, für sich be-
stehendes und befriedigendes Ideal, eine ethische causa sui,
ein Zustand, dessen Wert unmittelbar einleuchtet. Ist er statt
dessen nur ein Durchgangspunkt, nur das zunächst erreich-
bare Ziel der Pleonexie der Massen, so verliert er den kate-
gorischen und idealen Charakter, den er nur deshalb ange-
nommen hat, weil den meisten Menschen derjenige Punkt
ihres Weges, den sie zunächst erreichen müssen, so lange er
noch nicht erreicht ist, als ihr definitives Ziel vorschwebt.
Es ist durchaus kein anderes Interesse, aus dem der Niedrig-
stehende die Gleichheit durchsetzen will, als es der Höhere
an der Erhaltung der Ungleichheit hat; wenn diese Forderung
indes durch langen Bestand ihren relativen Charakter ver-
loren und sich verselbständigt hat, so kann sie auch zum
Ideal solcher Personen werden, bei denen sie jene Genesis
subjektiv nicht durchgemacht hat. Die Behauptung eines logi-
schen Rechtes der Gleichheitsforderung — als folgte es ana-
lytisch aus der Wesensgleichheit der Menschen, daſs auch ihre
Rechte, Pflichten und Güter jeder Art gleich sein müſsten —
hat nur den alleroberflächlichsten Schein für sich; denn erstens
geht aus einem wirklichen Verhalten nie vermöge der bloſsen
Logik ein bloſs Gesolltes, nie vermöge dieser aus einer Realität
ein Ideal hervor, sondern es bedarf dazu stets eines Willens,
der sich aus dem bloſsen logisch theoretischen Denken nie
ergiebt; zweitens giebt es insbesondere keine logische Regel,
nach der die substantielle Gleichheit von Wesen ihre funk-
tionelle Gleichheit zur Folge haben müſste. Drittens ist aber
auch die Gleichheit der Menschen als solcher eine sehr be-
dingte, und es ist völlig willkürlich, über demjenigen, worin
sie gleich sind, ihre vielfachen Verschiedenheiten zu vernach-
lässigen und an den bloſsen Begriff Mensch, unter dem wir
so verschiedenartige Erscheinungen zusammenfassen, der-
artig reale Folgen knüpfen zu wollen — ein Überbleibsel
des Begriffsrealismus der Naturauffassung, der statt des
spezifischen Inhalts der einzelnen Erscheinung nur den All-
gemeinbegriff, dem sie zugehörte, ihr Wesen ausmachen lieſs.
Die ganze Vorstellung von dem selbstverständlichen Rechte
der Gleichheitsforderung ist nur ein Beispiel für die Neigung
des menschlichen Geistes, die Resultate historischer Prozesse,
wenn sie nur hinreichend lange bestanden haben, als logische
Notwendigkeiten anzusehen. Suchen wir aber nach dem
[99]X 1.
psychischen Triebe, dem die Gleichheitsforderung der unteren
Stände entspricht, so finden wir ihn nur in demjenigen, der
gerade auch der Ursprung aller Ungleichheit ist, in dem
Triebe nach Glückserhöhung. Und da dieser ins Unendliche
geht, so ist durchaus keine Gewähr dafür gegeben, daſs die
Herstellung eines gröſsten socialen Niveaus im Sinne der
Gleichheit nicht zum bloſsen Durchgangspunkt für weiter wir-
kende Differenzierung werde. Deshalb muſs der Socialismus
zugleich auf ein gröſstes sociales Niveau im Sinne des Kollektiv-
besitzes halten, weil hierdurch den Individuen mehr und mehr
die Gelegenheit und der Gegenstand individueller Auszeich-
nung und Differenzierung entzogen wird.
Es ist indes noch immer die Frage, ob nicht die gering-
fügigen Unterschiede des Seins und Habens, die selbst die
gesteigertste Socialisierung nicht beseitigen kann, dieselben
psychologischen und also auch äuſseren Folgen haben würden,
wie jetzt die viel gröſseren. Denn da es nicht die absolute
Gröſse eines Eindrucks oder eines Objekts ist, die unsere
Reaction darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen
anderweitige Eindrücke, so kann eine gewachsene Unter-
schiedsempfindlichkeit an die verringerten Differenzen unver-
ringerte Folgen knüpfen. Allenthalben findet dieser Prozeſs
statt. Das Auge paſst sich an geringe Helligkeitsgrade derart
an, daſs es schlieſslich die Farbenunterschiede ebenso empfindet
wie früher nur in viel hellerer Beleuchtung; die geringen
Differenzen in Stellung und Lebensgenuſs, die sich innerhalb
des gleichen socialen Kreises finden, erregen einerseits Neid
und Nacheiferung, andererseits Hochmut, kurz alle Folgen der
Differenzierung in demselben Grade, wie die zwischen sehr
getrennten Schichten bestehenden Unterschiede u. s. w. Ja, es
ist sogar vielfach zu beobachten, daſs die Empfindung des
Unterschiedes gegen andere Personen um so schärfer ist, je
mehr wir im übrigen mit ihnen gemeinsam haben. Deshalb
sind einerseits diejenigen Folgen der Differenzierung, die dem
Socialismus als schädliche und zu beseitigende erscheinen,
noch keineswegs durch ihn aufgehoben; andererseits aber sind
die Kulturwerte der Differenzierung nicht in dem Maſse von
ihm bedroht, wie seine Gegner es wollen; die Anpassung
unserer Unterschiedsempfindlichkeit kann eben den geringeren
persönlichen Differenzen eines socialisierten Zustandes die
gleiche Macht nach der guten wie nach der schlechten Seite
verschaffen, wie die jetzigen sie besitzen.
[[100]]
V.
Über die Kreuzung socialer Kreise.
Der Unterschied des vorgeschrittenen vor dem roheren
Denken zeigt sich am Unterschied der Motive, welche die
Associationen der Vorstellungen bestimmen. Das zufällige
Zusammensein in Raum und Zeit reicht zunächst hin, um die
Vorstellungen psychologisch zu verknüpfen; die Vereinigung
von Eigenschaften, die einen konkreten Gegenstand bildet,
erscheint zunächst als ein einheitliches Ganzes, und jede der-
selben steht mit den andern, in deren Umgebung allein man
sie kennen gelernt hat, in engem associativem Zusammenhang.
Als ein für sich bestehender Vorstellungsinhalt wird sie erst
bewuſst, wenn sie in noch mehreren und andersartigen Ver-
bindungen auftritt; das Gleiche in allen diesen tritt in helle
Beleuchtung und zugleich in gegenseitige Verbindung, indem
es sich von den Verknüpfungen mit dem sachlich Andern,
nur im zufälligen Zusammensein am gleichen Gegenstand mit
ihm Verbundenen mehr und mehr frei macht. So erhebt sich
die Association über die Anregung durch das aktuell Wahr-
nehmbare zu der auf dem Inhalt der Vorstellungen ruhenden,
auf der die höhere Begriffsbildung sich aufbaut, und die das
Gleiche auch aus seinen Verschlingungen mit den verschieden-
artigsten Wirklichkeiten herausgewinnt.
Die Entwicklung, die hier unter den Vorstellungen vor
sich geht, findet in dem Verhältnis der Individuen unter-
einander eine Analogie. Der Einzelne sieht sich zunächst in
einer Umgebung, die, gegen seine Individualität relativ gleich-
gültig, ihn an ihr Schicksal fesselt und ihm ein enges Zu-
sammensein mit denjenigen auferlegt, neben die der Zufall
der Geburt ihn gestellt hat; und zwar bedeutet dies Zunächst
sowohl die Anfangszustände phylogenetischer wie ontogeneti-
[101]X 1.
scher Entwicklung. Der Fortgang derselben aber zielt nun
auf associative Verhältnisse homogener Bestandteile aus hete-
rogenen Kreisen. So umschlieſst die Familie eine Anzahl ver-
schiedenartiger Individualitäten, die zunächst auf diese Ver-
bindung im engsten Maſse angewiesen sind. Mit fortschrei-
tender Entwicklung aber spinnt jeder Einzelne derselben ein
Band zu Persönlichkeiten, welche auſserhalb dieses ursprüng-
lichen Associationskreises liegen und statt dessen durch sach-
liche Gleichheit der Anlagen, Neigungen und Thätigkeiten
u. s. w. eine Beziehung zu ihm besitzen; die Association durch
äuſserliches Zusammensein wird mehr und mehr durch eine
solche nach inhaltlichen Beziehungen ersetzt. Wie der höhere
Begriff das zusammenbindet, was einer groſsen Anzahl sehr
verschiedenartiger Anschauungskomplexe gemeinsam ist, so
schlieſsen die höheren praktischen Gesichtspunkte die gleichen
Individuen aus durchaus fremden und unverbundenen Gruppen
zusammen; es stellen sich neue Berührungskreise her, welche
die früheren, relativ mehr naturgegebenen, mehr durch sinn-
lichere Beziehungen zusammengehaltenen, in den mannichfal-
tigsten Winkeln durchsetzen.
Eins der einfachsten Beispiele ist das angeführte, daſs
der ursprüngliche Zusammenhang des Familienkreises dadurch
modifiziert wird, daſs die Individualität des Einzelnen diesen
in anderweitige Kreise einreiht; eins der höchsten die „Ge-
lehrtenrepublik“, jene halb ideelle, halb reale Verbindung aller
in einem so höchst allgemeinen Ziel wie Erkenntnis überhaupt
sich zusammenfindenden Persönlichkeiten, die im übrigen den
allerverschiedensten Gruppen in Bezug auf Nationalität, per-
sönliche und specielle Interessen, sociale Stellung u. s. w. an-
gehören. Noch stärker und charakteristischer als in der Gegen-
wart zeigte sich die Kraft des geistigen und Bildungsinteresses,
das Zusammengehörige aus höchst verschiedenen Kreisen
heraus zu differenzieren und zu einer neuen Gemeinschaft
zusammenzuschlieſsen, in der Renaissancezeit Das humani-
stische Interesse durchbrach die mittelalterliche Absonderung
der Kreise und Stände und gab Leuten, die von den ver-
schiedensten Ausgangspunkten hergekommen, und die oft noch
den verschiedensten Berufen treu blieben, eine gemeinsame
aktive oder passive Teilnahme an Gedanken und Erkennt-
nissen, welche die bisherigen Formen und Einteilungen des
Lebens auf das mannichfaltigste kreuzten. Die Vorstellung
herrschte, daſs das Bedeutende zusammengehöre; das zeigen
die im XIV. Jahrhundert auftauchenden Sammlungen von
Lebensbeschreibungen, die eben ausgezeichnete Leute als
solche in einem einheitlichen Werke zusammen schildern,
mochten sie nun Theologen oder Künstler, Staatsmänner oder
Philologen sein. Nur so ist es möglich, daſs ein mächtiger
König, Robert von Neapel, mit dem Dichter Petrarka Freund-
[102]X 1.
schaft schlieſst und ihm seinen eignen Purpurmantel schenkt;
nur so war die Sonderung der rein geistigen Bedeutung von
alledem möglich, was sonst als wertvoll galt, infolge deren
der venetianische Senat bei der Auslieferung Giordano Bruno’s
an die Kurie schreiben konnte: Bruno sei einer der schlimm-
sten Ketzer, habe die verwerflichsten Dinge gethan, ein lockeres
und geradezu teuflisches Leben geführt — im übrigen sei er
aber einer der ausgezeichnetsten Geister, die man sich denken
könne, von der seltensten Gelehrsamkeit und Geistesgröſse.
Der Wandertrieb und die Abenteuerlust der Humanisten, ja
ihr teilweise schwankungsreicher und unzuverlässiger Cha-
rakter entsprach dieser Unabhängigkeit des Geistigen, das
ihr Lebenszentrum bildete, von allen sonstigen Anforderungen
an den Menschen; sie muſste eben gegen diese gleichgültig
machen. Der einzelne Humanist wiederholte, indem er sich
in der bunten Mannichfaltigkeit der Lebensverhältnisse be-
wegte, das Los des Humanismus, der den armen Scholaren
und Mönch ebenso wie den mächtigen Feldherrn und die
glanzvolle Fürstin in einem Rahmen geistigen Interesses
umfaſste.
Die Zahl der verschiedenen Kreise nun, in denen der
Einzelne darin steht, ist einer der Gradmesser der Kultur.
Wenn der moderne Mensch zunächst der elterlichen Familie
angehört, dann der von ihm selbst gegründeten und damit
auch der seiner Frau, dann seinem Berufe, der ihn schon für
sich oft in mehrere Interessenkreise eingliedern wird (z. B.
in jedem Beruf, der über- und untergeordnete Personen ent-
hält, steht jeder in dem Kreise seines besonderen Geschäfts,
Amtes, Büreaus etc. darin, der jedesmal Hohe und Niedere
zusammenschlieſst, und auſserdem in dem Kreise, der sich aus
den Gleichgestellten in den verschiedenen Geschäften etc.
bildet); wenn er sich seines Staatsbürgertums und der Zu-
gehörigkeit zu einem bestimmten socialen Stande bewuſst ist,
auſserdem Reserveoffizier ist, ein paar Vereinen angehört und
einen die verschiedensten Kreise berührenden geselligen Ver-
kehr besitzt: so ist dies schon eine sehr groſse Mannichfaltig-
keit von Gruppen, von denen manche zwar koordiniert sind,
andere aber sich so anordnen lassen, daſs die eine als die
ursprünglichere Verbindung erscheint, von der aus das Indi-
viduum auf Grund seiner besondern Qualitäten, durch die es
sich von den übrigen Mitgliedern des ersten Kreises ab-
scheidet, sich einem entfernteren Kreise zuwendet. Der Zu-
sammenhang mit jenem kann dabei weiter bestehen bleiben,
wie eine Seite einer komplexen Vorstellung, wenn sie psycho-
logisch auch längst rein sachliche Associationen gewonnen
hat, doch die zu dem Komplex, mit dem sie nun einmal in
räumlich-zeitlicher Verbindung existiert, keineswegs zu ver-
lieren braucht.
[103]X 1.
Hieraus ergeben sich nun vielerlei Folgen. Die Gruppen,
zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinaten-
system, derart, daſs jede neu hinzukommende ihn genauer
und unzweideutiger bestimmt. Die Zugehörigkeit zu je einer
derselben läſst der Individualität noch einen weiten Spielraum;
aber je mehre es werden, desto unwahrscheinlicher ist es,
daſs noch andere Personen die gleiche Gruppenkombination
aufweisen werden, daſs diese vielen Kreise sich noch einmal
in einem Punkte schneiden. Wie der konkrete Gegenstand
für unser Erkennen seine Individualität verliert, wenn man
ihn einer Eigenschaft nach unter einen allgemeinen Begriff
bringt, sie aber in dem Maſse wiedergewinnt, in dem die
andern Begriffe hervorgehoben werden, unter die seine andern
Eigenschaften ihn einreihen, so daſs jedes Ding, platonisch
zu reden, an so vielen Ideen Teil hat, wie es vielerlei Qua-
litäten besitzt, und dadurch seine individuelle Bestimmtheit
erlangt: gerade so verhält sich die Persönlichkeit gegenüber
den Kreisen, denen sie angehört. Innerhalb des psychologisch-
theoretischen Gebietes ist ganz das Analoge zu beobachten;
was wir das Objektive in unserm Weltbild nennen, was sich
als das Sachliche der Subjektivität des Einzeleindrucks gegen-
überzustellen scheint, das ist doch thatsächlich nur ein sehr
gehäuftes und wiederholtes Subjektives — wie nach Hume’s
Meinung die Kausalität, das sachliche Erfolgen nur in einem
oft wiederholten, zeitlich sinnlichen Folgen, und wie der sub-
stantielle Gegenstand uns gegenüber nur in der Synthese
sinnlicher Eindrücke besteht. So nun bilden wir aus diesen
objektiv gewordenen Elementen dasjenige, was wir die Sub-
jektivität κατ̕ ἐξοχήν nennen, die Persönlichkeit, die die Ele-
mente der Kultur in individueller Weise kombiniert. Nachdem
die Synthese des Subjektiven das Objektive hervorgebracht,
erzeugt nun die Synthese des Objektiven ein neueres und
höheres Subjektives — wie die Persönlichkeit sich an den
socialen Kreis hingiebt und sich in ihm verliert; um dann
durch die individuelle Kreuzung der socialen Kreise in ihr
wieder ihre Eigenart zurückzugewinnen. Übrigens wird ihre
zweckmäſsige Bestimmtheit so gewissermaſsen zum Gegenbild
ihrer kausalen: an ihrem Ursprung ist sie doch auch nur der
Kreuzungspunkt unzähliger socialer Fäden, das Ergebnis der
Vererbung von verschiedensten Kreisen und Anpassungs-
perioden her, und wird zur Individualität durch die Besonder-
heit der Quanten und Kombinationen, in denen sich die
Gattungselemente in ihr zusammenfinden. Schlieſst sie sich
nun mit der Mannichfaltigkeit ihrer Triebe und Interessen
wieder an sociale Gebilde an, so ist das sozusagen ein Aus-
strahlen und Wiedergeben dessen, was sie empfangen, in ana-
loger, aber bewuſster und erhöhter Form.
[104]X 1.
Ihre Bestimmtheit wird nun eine um so gröſsere sein,
wenn die bestimmenden Kreise mehr nebeneinander liegende,
als konzentrische sind; d. h. allmählich sich verengende Kreise,
wie Nation, sociale Stellung, Beruf, besondere Kategorie inner-
halb dieses, werden der an ihnen teilhabenden Person keine
so individuelle Stelle anweisen, weil der engste derselben ganz
von selbst die Teilhaberschaft an den weiteren bedeutet, als
wenn jemand auſser seiner Berufsstellung etwa noch einem
wissenschaftlichen Vereine angehört, Aufsichtsrat einer Aktien-
gesellschaft ist und ein städtisches Ehrenamt bekleidet; je
weniger das Teilhaben an dem einen Kreise von selbst An-
weisung giebt auf das Teilhaben an dem andern, desto be-
stimmter wird die Person dadurch bezeichnet, daſs sie in
einem Schnittpunkt beider steht. Ich will hier nur andeuten,
wie die Möglichkeit der Individualisierung auch dadurch ins
Unermeſsliche wächst, daſs dieselbe Person in den verschie-
denen Kreisen, denen sie gleichzeitig angehört, ganz ver-
schiedene relative Stellungen einnehmen kann. Denn jeder
neue Zusammenschluſs unter gleichem Gesichtspunkt erzeugt
sofort wieder in sich eine gewisse Ungleichheit, eine Differen-
zierung zwischen Führenden und Geführten; wenn ein ein-
heitliches Interesse, wie es etwa das erwähnte humanistische
war, für hohe und niedere Personen ein gemeinsames Band
war, das ihre sonstige Verschiedenheit paralysierte, so ent-
sprangen nun innerhalb dieser Gemeinsamkeit und nach den
ihr eigenen Kategorieen neue Unterschiede zwischen Hoch und
Niedrig, welche ganz auſser Korrespondenz mit dem Hoch
und Niedrig innerhalb ihrer sonstigen Kreise stehen. Indem
die Höhen der Stellungen, welche eine und dieselbe Person
in verschiedenen Gruppen einnimmt, von einander völlig un-
abhängig sind, können so seltsame Kombinationen entstehen,
wie die, daſs in Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht der
geistig und social höchststehende Mann sich einem Unter-
offizier unterzuordnen hat und daſs die Pariser Bettlergilde
einen gewählten „König“ besitzt, der ursprünglich nur ein
Bettler wie alle, und, so viel ich weiſs, auch weiter ein solcher
bleibend, mit wahrhaft fürstlichen Ehren und Bevorzugungen
ausgestattet ist — vielleicht die merkwürdigste und indivi-
dualisierendste Vereinigung von Niedrigkeit in einer und
Höhe in anderer socialen Stellung. Auch sind hier diejenigen
Komplikationen in Betracht zu ziehen, die durch die Kon-
kurrenz innerhalb einer Gruppe entstehen; der Kaufmann ist
einerseits mit anderen Kaufleuten zu einem Kreise verbunden,
der eine groſse Anzahl gemeinsamer Interessen hat: wirt-
schaftspolitische Gesetzgebung, sociales Ansehen des Kauf-
mannsstandes, Repräsentation desselben, Zusammenschluſs ge-
genüber dem Publikum zur Aufrechterhaltung bestimmter
Preise und vieles andere — geht die gesamte Handelswelt als
[105]X 1.
solche an und lässt sie Dritten gegenüber als Einheit er-
scheinen. Andererseits aber befindet sich jeder Kaufmann in
konkurrierendem Gegensatz gegen so und so viele andere,
das Eintreten in diesen Beruf schafft ihm im gleichen Moment
Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung;
er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit
denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses
willen oft aufs engste zusammenschliessen muſs. Dieser inner-
liche Gegensatz ist zwar auf dem kaufmännischen Gebiet wohl
am krassesten, indes auch auf allen andern bis herab zu der
ephemeren Socialisierung einer Abendgesellschaft irgendwie
vorhanden. Und wenn wir nun bedenken, welche Bedeutung
für die Persönlichkeit das Maſs hat, in dem sie Anschluſs oder
Gegensatz in ihren socialen Gruppen findet, so thut sich
uns eine unermeſsliche Möglichkeit von individualisierenden
Kombinationen dadurch auf, daſs der Einzelne einer Mannich-
faltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von
Konkurrenz und Zusammenschluſs stark variiert, und da jedem
Menschen ein gewisses Maſs kollektivistischen Bedürfnisses
eigen ist, so ergiebt die Mischung zwischen Kollektivismus
und Isolierung, die jeder Kreis bietet, einen neuen rationalen
Gesichtspunkt für die Zusammenstellung der Kreise, denen
sich der Einzelne anschlieſst: wo innerhalb eines Kreises starke
Konkurrenz herrscht, werden die Mitglieder sich gern solche
anderweitigen Kreise suchen, die möglichst konkurrenzlos
sind; so findet sich im Kaufmannsstand eine entschiedene
Vorliebe für gesellige Vereine, während das die Konkurrenz
innerhalb des eigenen Kreises ziemlich ausschlieſsende Standes-
bewuſstsein des Aristokraten ihm derartige Ergänzungen
ziemlich überflüssig macht und ihm vielmehr die Vergesell-
schaftungen näher legt, die in sich stärkere Konkurrenz aus-
bilden, z. B. alle durch Sportinteressen zusammengehaltenen.
Endlich erwähne ich hier noch drittens die oft diskrepanten
dadurch entstehenden Kreuzungen, daſs ein Einzelner oder
eine Gruppe von Interessen beherrscht werden, die einander
entgegengesetzt sind und jene deshalb zu gleicher Zeit ganz
entgegengesetzten Parteien angehören lassen. Für Individuen
liegt ein solches Verhalten dann nahe, wenn bei vielseitig
ausgebildeter Kultur ein starkes politisches Parteileben herrscht;
dann pflegt nämlich die Erscheinung einzutreten, daſs die po-
litischen Parteien die verschiedenen Standpunkte auch in den-
jenigen Fragen, die mit der Politik gar nichts zu thun haben,
unter sich verteilen, sodaſs eine bestimmte Tendenz der
Litteratur, der Kunst, der Religiosität etc. mit der einen
Partei, die entgegengesetzte mit der andern associiert wird;
die Linie, die die Parteien sondert, wird schlieſslich durch die
Gesamtheit der Lebensinteressen hindurch verlängert. Da
liegt es denn auf der Hand, daſs der Einzelne, der sich nicht
[106]X 1.
vollkommen in den Bann der Partei geben will, sich etwa
mit seiner ästhetischen oder religiösen Überzeugung einer
Gruppierung anschlieſsen wird, die mit seinen politischen
Gegnern amalgamiert ist. Er wird im Schnittpunkt zweier
Gruppen stehen, die sich sonst als einander entgegengesetzte
bewuſst sind. Ganzen Massen wurde eine solche Doppel-
stellung zur Zeit der grausamen Unterdrückung der irischen
Katholiken durch England aufgezwungen. Heute fühlten sich
die Protestanten Englands und Irlands verbunden gegen den
gemeinsamen Religionsfeind ohne Rücksicht auf die Lands-
mannschaft, morgen waren die Protestanten und Katholiken
Irlands gegen den Unterdrücker ihres gemeinsamen Vater-
landes verbunden ohne Rücksicht auf Religionsverschiedenheit.
Die Ausbildung des öffentlichen Geistes zeigt sich nun
darin, daſs genügend viele Kreise von irgendwelcher objek-
tiven Form und Organisierung vorhanden sind, um jeder
Wesensseite einer mannichfach beanlagten Persönlichkeit Zu-
sammenschluſs und genossenschaftliche Bethätigung zu ge-
währen. Hierdurch wird eine gleichmäſsige Annäherung an
das Ideal des Kollektivismus wie des Individualismus geboten.
Denn einerseits findet der Einzelne für jede seiner Neigungen
und Bestrebungen eine Gemeinschaft vor, die ihm die Be-
friedigung derselben erleichtert, seinen Thätigkeiten je eine
als zweckmäſsig erprobte Form und alle Vorteile der Gruppen-
angehörigkeit darbietet; andererseits wird das Specifische der
Individualität durch die Kombination der Kreise gewahrt,
die in jedem Fall eine andere sein kann. Wenn die vor-
geschrittene Kultur den socialen Kreis, dem wir mit unserer
ganzen Persönlichkeit angehören, mehr und mehr erweitert,
dafür aber das Individuum in höherem Maſse auf sich selbst
stellt und es mancher Stützen und Vorteile des enggeschlossenen
Kreises beraubt: so liegt in jener Herstellung von Kreisen
und Genossenschaften, in denen sich beliebig viele, für den
gleichen Zweck interessierte Menschen zusammenfinden können,
eine Ausgleichung jener Vereinsamung der Persönlichkeit, die
aus dem Bruch mit der engen Umschränktheit früherer Zu-
stände hervorgeht.
Die Enge dieses Zusammenschlusses ist daran zu er-
messen, ob und in welchem Grade ein solcher Kreis eine be-
sondere „Ehre“ ausgebildet hat, derart, daſs der Verlust oder
die Kränkung der Ehre eines Mitgliedes von jedem andern
Mitgliede als eine Minderung der eigenen Ehre empfunden
wird, oder daſs die Genossenschaft eine kollektivpersönliche
Ehre besitzt, deren Wandlungen sich in dem Ehr-Empfinden
jedes Mitgliedes abspiegeln. Durch Herstellung dieses speci-
fischen Ehrbegriffes (Familienehre, Offiziersehre, kaufmänni-
sche Ehre u. s. w.) sichern sich solche Kreise das zweck-
mäſsige Verhalten ihrer Mitglieder besonders auf dem Gebiete
[107]X 1.
derjenigen specifischen Differenz, durch welche sie sich von
dem weitesten socialen Kreise abscheiden, sodaſs die Zwangs-
maſsregeln für das richtige Verhalten diesem gegenüber, die
staatlichen Gesetze, keine Bestimmungen für jenes enthalten.
Einer der gröſsten socialethischen Fortschritte vollzieht sich
auf diese Weise: die enge und strenge Bindung früherer Zu-
stände, in denen die sociale Gruppe als Ganzes, resp. ihre
Zentralgewalt, das Thun und Lassen des Einzelnen nach den
verschiedensten Richtungen hin reguliert, beschränkt ihre Re-
gulative mehr und mehr auf die notwendigen Interessen der
Allgemeinheit; die Freiheit des Individuums gewinnt mehr
und mehr Gebiete für sich. Diese aber werden von neuen
Gruppenbildungen besetzt, aber so, daſs die Interessen des
Einzelnen frei entscheiden, zu welcher er gehören will; in-
folge dessen genügt statt äuſserer Zwangsmittel schon das
Gefühl der Ehre, um ihn an diejenigen Normen zu fesseln,
deren es zum Bestande der Gruppe bedarf. Übrigens nimmt
dieser Prozeſs nicht nur von der staatlichen Zwangsgewalt
seinen Ursprung; überall, wo eine Gruppenmacht eine Anzahl
von individuellen Lebensbeziehungen, die sachlich auſser Be-
ziehung zu ihren Zwecken stehen, ursprünglich beherrscht —
auch in der Familie, in der Zunft, in der religiösen Gemein-
schaft u. s. w. —, giebt sie die Anlehnung und den Zusammen-
schluſs in Bezug auf jene schlieſslich an besondere Vereine
ab, an denen die Beteiligung Sache der persönlichen Freiheit
ist, wodurch denn die Aufgabe der Socialisierung in viel voll-
kommnerer Weise gelöst werden kann, als durch die frühere,
die Individualität mehr vernachlässigende Vereinigung.
Es kommt hinzu, daſs die undifferenzierte Herrschaft
einer socialen Macht über den Menschen, wie ausgedehnt und
streng sie auch sei, doch immer noch um eine Reihe von
Lebensbeziehungen sich nicht kümmert und nicht kümmern
kann, und daſs diese der rein individuellen Willkür um so
sorgloser und bestimmungsloser überlassen werden, je gröſserer
Zwang in den übrigen Beziehungen herrscht; so muſste der
griechische und noch mehr der altrömische Bürger sich zwar
in allen mit der Politik nur irgend im Zusammenhang stehenden
Fragen den Normen und Zwecken seiner vaterländischen Ge-
meinschaft bedingungslos unterordnen; aber er besaſs dafür
als Herr seines Hauses eine um so unumschränktere Selbstherr-
lichkeit; so giebt jener engste sociale Zusammenschluſs, wie
wir ihn an den in kleinen Gruppen lebenden Naturvölkern
beobachten, dem Einzelnen vollkommene Freiheit, sich gegen
alle auſserhalb des Stammes stehenden Personen in jeder ihm
beliebenden Weise zu benehmen; so findet der Despotismus
häufig sein Korrelat und sogar seine Unterstützung in der
vollkommensten Freiheit und selbst Zügellosigkeit der wenigen
ihm nicht wichtigen Beziehungen der Persönlichkeiten. Nach
[108]X 1.
dieser unzweckmäſsigen Verteilung kollektivistischen Zwanges
und individualistischer Willkür tritt eine angemessenere und
gerechtere da ein, wo der sachliche Inhalt der Sitten und
Tendenzen der Personen über die associative Gestaltung ent-
scheidet, weil sich dann auch für ihre bis dahin ganz un-
kontrollierten und rein individualistisch bestimmten Bethäti-
gungen leichter kollektivistische Anlehnungen finden werden;
denn in demselben Maſse, in dem die Persönlichkeit als
Ganzes befreit wird, sucht sie auch für ihre einzelnen Seiten
socialen Zusammenschluſs und beschränkt freiwillig die indivi-
dualistische Willkür, in der sie sonst einen Ersatz für die
undifferenzierte Fesselung an eine Kollektivmacht findet; so
sehen wir z. B. in Ländern mit groſser politischer Freiheit
ein besonders stark ausgebildetes Vereinsleben, in religiösen
Gemeinschaften ohne starke hierarchisch ausgeübte Kirchen-
gewalt eine lebhafte Sektenbildung u. s. w. Mit einem Wort,
Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäſsiger, wenn die
Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persön-
lichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die
Möglichkeit gewährt, daſs das Homogene aus heterogenen
Kreisen sich zusammenschlieſst.
Dies ist einer der wichtigsten Wege, den fortschreitende
Entwicklung einschlägt: die Differenzierung und Arbeits-
teilung ist zuerst sozusagen quantitativer Natur und verteilt
die Thätigkeitskreise derart, daſs zwar einem Individuum oder
einer Gruppe ein anderer als einer andern zukommt, aber
jeder derselben eine Summe qualitativ verschiedener Be-
ziehungen einschlieſst; allein später wird dieses Verschiedene
herausdifferenziert und aus allen diesen Kreisen zu einem
nun qualitativ einheitlichen Thätigkeitskreise zusammenge-
schlossen. Die Staatsverwaltung entwickelt sich häufig so, daſs
das zuerst ganz undifferenzierte Verwaltungszentrum eine
Reihe von Gebieten aussondert, welche je einer einzelnen Be-
hörde oder Persönlichkeit unterstehen. Aber diese Gebiete
sind zunächst lokaler Natur; es ist also z. B. ein Intendant
von seiten des französischen Staatsrats in eine Provinz geschickt,
um nun dort alle die verschiedenen Funktionen auszuüben,
die sonst der Staatsrat selbst über das Ganze des Landes übt;
es ist eine Teilung nach dem Quantum der Arbeit. Davon
unterscheidet sich die später hervorgehende Teilung der
Funktionen, wenn sich dann z. B. aus dem Staatsrat die ver-
schiedenen Ministerien herausbilden, deren jedes seine Thätig-
keit über das ganze Land, aber nur in einer qualitativ be-
stimmten Beziehung erstreckt. Wenn die Specialisierung der
Heilkunst schon im alten Aegypten für den Arm einen andern
Arzt ausbildete, als für das Bein, so war auch dies eine
Differenzierung nach lokalen Gesichtspunkten, der gegenüber
die moderne Medizin gleiche pathologische Zustände, gleich-
[109]X 1.
viel an welchem Körpergliede sie auftreten, dem gleichen
Specialarzt überantwortet, sodaſs wiederum die funktionelle
Gleichheit an Stelle der zufälligen Äusserlichkeit die Zu-
sammenfassung beherrscht. Die gleiche Form einer über die
ältere Differenzierung und Zusammenfassung hinausgehenden
neuen Verteilung zeigen jene Geschäfte, die alle verschiedenen
Materialien für die Herstellung komplizierter Objekte führen,
z. B. das gesamte Eisenbahnbaumaterial, alle Artikel für Gast-
wirte, Zahnärzte, Schuhmacher, Magazine für sämtliche Haus-
und Kücheneinrichtung u. s. w. Der einheitliche Gesichts-
punkt, nach dem hier die Zusammenfügung der aus den ver-
schiedensten Herstellungskreisen stammenden Objekte erfolgt,
ist ihre Beziehung auf einen einheitlichen Zweck, dem sie
insgesamt dienen, auf den terminus ad quem, während die
Arbeitsteilung sonst nach der Einheitlichkeit des terminus a
quo, der gleichen Herstellungart, stattfindet. Diese Geschäfte,
welche die letztere freilich zur Voraussetzung haben, stellen
eine potenzierte Arbeitsteilung dar, indem sie aus ganz hete-
rogenen Branchen, die aber an sich schon sehr arbeitsteilig
wirken, die nach einem Gesichtspunkt zusammengehörigen,
sozusagen die zu einem neuen Grundton harmonischen Teile
einschlieſsen.
Eine Zusammenfassung zu einheitlichem socialem Bewuſst-
sein, die durch die Höhe der Abstraktion über den indivi-
duellen Besonderheiten interessant ist, findet sich in der Zu-
sammengehörigkeit der Lohnarbeiter als solcher. Gleichviel,
was der Einzelne arbeite, ob Kanonen oder Spielzeug, die
formale Thatsache, daſs er überhaupt für Lohn arbeitet,
schlieſst ihn mit den in gleicher Lage Befindlichen zusammen;
das gleichmäſsige Verhältnis zum Kapital bildet gewisser-
maſsen den Exponenten, der an so verschiedenartigen Be-
thätigungen das Gleichartige sich herausdifferenzieren läſst
und eine Vereinheitlichung für alle daran Teilhabenden schafft.
Die unermeſsliche Bedeutung, die die psychologische Differen-
zierung des Begriffs des „Arbeiters“ überhaupt aus dem des
Webers, Maschinenbauers, Kohlenhäuers etc. heraus hatte,
wurde schon der englischen Reaktion am Anfang dieses Jahr-
hunderts klar; durch die Corresponding Societies Act setzte
sie durch, daſs alle schriftliche Verbindung der Arbeitervereine
untereinander und auſserdem alle Gesellschaften verboten
wurden, welche aus verschiedenen Branchen zusammengesetzt
waren. Sie war sich offenbar bewuſst, daſs, wenn die Ver-
schmelzung der allgemeinen Form des Arbeiterverhältnisses
mit dem speciellen Fach erst einmal gelöst sei, wenn die ge-
nossenschaftliche Vereinigung einer Reihe von Branchen erst
einmal durch gegenseitige Paralysierung des Verschiedenen
das ihnen allen Gemeinsame in helle Beleuchtung rückte, —
daſs damit die Formel und die Aegide eines neuen socialen
[110]X 1.
Kreises geschaffen sei, dessen Verhältnis zu den früheren un-
berechenbare Komplikationen ergeben würde. Nachdem die
Differenzierung der Arbeit ihre verschiedenartigen Zweige ge-
schaffen, legt das abstraktere Bewuſstsein wieder eine Linie
hindurch, die das Gemeinsame dieser zu einem neuen socialen
Kreise zusammenschlieſst. Ein ähnlicher, zu realen kollekti-
vistischen Einrichtungen führender Zusammenschluſs schafft
den Kaufmannsstand als solchen. So lange die Arbeitsteilung
noch nicht sehr vorgeschritten ist, sondern eine ganze Anzahl
verwandter Aufgaben von dem gleichen Individuum, resp. dem
gleichen Berufskreise, gelöst wird, also nur eine geringere
Zahl von solchen vorhanden ist, da finden folgenreiche psycho-
logische Verschmelzungen leicht nach zwei Seiten hin statt,
oder vielmehr eine Einheit von Elementen, die von dem
Standpunkte späterer Differenziertheit als Verschmelzung be-
zeichnet wird, indes ungenau, da dieser Ausdruck eine vor-
herige Getrenntheit von erst später mit einander verschmel-
zenden Elementen anzudeuten scheint. Erstens ist der höhere
Begriff, der einer Anzahl verschiedenartiger Bethätigungen
gemeinsam ist, noch nicht hinreichend von diesen in ihrer
Einzelheit gelöst, um gemeinsame Handlungen und Einrich-
tungen hervorzurufen. So war es z. B. erst Sache der neue-
sten Kultur, daſs die Frauen sich in groſser Anzahl zusammen-
thaten, um politische und sociale Rechte zu erringen oder
kollektive Veranstaltungen zu ökonomischen Unterstützungs-
und anderen Zwecken zu treffen, die nur die Frauen als
solche angingen; wir können annehmen, daſs der Allgemein-
begriff Frau bis dahin für jede noch zu eng mit derjenigen
Ausgestaltung desselben, die sie selbst darstellte, verschmolzen
war, wofür es natürlich keinen Unterschied macht, ob die
Loslösung dieses Allgemeinbegriffs die Quelle praktischer
Gestaltungen ist oder umgekehrt äuſsere Notwendigkeiten zu
jener drängten. Die Bethätigungen der Frauen waren und
sind eben im allgemeinen noch zu ähnliche, als daſs ein von
realem und praktischem Inhalt erfüllter Allgemeinbegriff hätte
entstehen hönnen, der ja überall erst durch verschieden-
artige Einzelerscheinungen zum Bewuſstsein gebracht wird;
gäbe es nur eine einzige Art von Bäumen, so würde es zur
Bildung des Begriffs Baum überhaupt nicht gekommen sein.
So neigen auch Menschen, die in sich stark differenziert,
vielfach ausgebildet und bethätigt sind, eher zu kosmopoliti-
schen Empfindungen und Überzeugungen, als einseitige Na-
turen, denen sich das allgemein Menschliche nur in dieser
beschränkten Ausgestaltung darstellt, da sie sich in andere
Persönlichkeiten nicht hineinzuversetzen und also zur Empfin-
dung des allen Gemeinsamen nicht durchzudringen vermögen.
Die Normen für den kaufmännischen Verkehr werden um so
reiner von den speciellen, für einen Zweig erforderlichen Be-
[111]X 1.
stimmungen abgelöst, in je mehr Zweige die wirtschaftliche
Produktion auseinandergeht, während z. B. in Industrie-
städten, die sich wesentlich auf je eine Branche beschränken,
zu beobachten ist, wie sich der Begriff des Industriellen noch
wenig von dem des Eisen-, Textil-, Spielwaarenindustriellen
losgelöst hat und die Usancen auch des anderweitigen, des
industriellen Verkehrs überhaupt ihren Charakter von der
das Bewuſstsein hauptsächlich füllenden Branche entlehnen.
Dabei stellen sich, wie angedeutet, die praktischen Konse-
quenzen einer Herausbildung höherer Allgemeinheiten nicht
immer chronologisch als solche dar, sondern bilden wechsel-
wirkend auch häufig die Anregung, die das Bewuſstsein der
socialen Gemeinsamkeit hervorrufen hilft. So wird z. B. dem
Handwerkerstand seine Zusammengehörigkeit durch das Lehr-
lingswesen nahe gelegt; wenn durch übermäſsige Verwendung
von Lehrlingen die Arbeit verbilligt und verschlechtert wird,
so würde die Eindämmung dieses Übels in einem Fache nur
bewirken, daſs die aus ihm herausgedrängten Lehrlinge ein
anderes überschwemmten, sodaſs also nur eine gemeinsame
Aktion helfen kann, — eine Folge, die natürlich nur durch
die Mannichfaltigkeit der Handwerke möglich ist, aber die
Einheit aller dieser über ihre specifischen Differenzen hinaus
zum Bewuſstsein bringen muſs.
Bewirkt die Differenzierung hier die Herausgliederung
des superordinierten Kreises aus dem individuelleren, in dem
er vorher nur latent lag, so hat sie nun zweitens auch mehr
koordinierte Kreise von einander zu lösen. Die Zunft z. B.
übte eine Aufsicht über die ganze Persönlichkeit in dem Sinne,
daſs das Interesse des Handwerks deren ganzes Thun zu re-
gulieren hatte. Der in die Lehrlingsschaft bei einem Meister
Aufgenommene wurde dadurch zugleich ein Mitglied seiner
Familie u. s. w.; kurz, die fachmäſsige Beschäftigung zentrali-
sierte das ganze Leben, das politische und das Herzensleben
oft mit eingeschlossen, in der energischsten Weise. Von den
Momenten, die zur Auflösung dieser Verschmelzungen führten,
kommt hier das in der Arbeitsteilung liegende in Betracht.
In jedem Menschen, dessen mannichfaltige Lebensinhalte von
einem Interessenkreise aus gelenkt werden, wird die Kraft
dieses letzteren in demselben Maſse abnehmen, als er in sich
an Umfang verliert. Die Enge des Bewuſstseins bewirkt, daſs
eine vielgliederige Beschäftigung, eine Mannichfaltigkeit zu ihr
gehöriger Vorstellungen auch die übrige Vorstellungswelt in
ihren Bann zieht. Sachliche Beziehungen zwischen dieser und
jener brauchen dabei gar nicht zu bestehen; durch die Not-
wendigkeit, bei einer nicht arbeitsgeteilten Beschäftigung die
Vorstellungen relativ schnell zu wechseln, wird ein solches
Maſs von psychischer Energie verbraucht, daſs die Bebauung
anderer Interessen darunter leidet und nun die so geschwächten
[112]X 1.
um so eher in associative oder sonstige Abhängigkeit von
jenem zentralen Vorstellungskreise geraten. Ein Mensch, den
eine groſse Leidenschaft erfüllt, setzt auch das Entfernteste,
jeder inhaltlichen Berührung mit jener Entbehrende, das durch
sein Bewuſstsein geht, mit ihr in irgendwelche Verbindung.
Sein ganzes Seelenleben empfängt von ihr aus sein Licht und
seinen Schatten; und eine entsprechende psychische Einheit
wird jeder Beruf bewirken, der für die sonstigen Lebens-
beziehungen nur ein relativ geringes Quantum von Bewuſst-
sein übrig läſst. Hier liegt eine der wichtigsten inneren
Folgen der Arbeitsteilung; sie gründet sich auf die erwähnte
psychologische Thatsache, daſs in einer gegebenen Zeit, alles
Übrige gleichgesetzt, um so mehr Vorstellungskraft aufgewandt
wird, je häufiger das Bewuſstsein von einer Vorstellung zur
andern wechseln muſs. Und dieser Wechsel der Vorstellungen
hat die gleiche Folge, wie in dem Falle der Leidenschaft ihre
Intensität. Deshalb wird eine nicht arbeitsgeteilte Beschäfti-
gung, wiederum alles Übrige gleichgesetzt, eher als eine sehr
specialisierte zu einer zentralen, alles Übrige in sich ein-
saugenden Stellung in dem Lebenslaufe eines Menschen kom-
men, und zwar insbesondere in Perioden, in denen es in den
übrigen Lebensbeziehungen noch an der Buntheit und den
wechselvollen Anregungen der modernen Zeit fehlte. Und in
dem Maſse, in dem die einseitigere und deshalb mehr mecha-
nische Beschäftigung jenen andern Beziehungen mehr Raum
im Bewuſstsein gestattet, muſs auch deren Wert und Selb-
ständigkeit wachsen. Diese koordinierende Sonderung der
Interessen, die vorher in ein zentrales eingeschmolzen waren,
wird auch noch durch eine andere Folge der Arbeitsteilung
gefördert, die mit der oben besprochenen Lösung des höheren
Socialbegriffs aus den specieller bestimmten Kreisen heraus
zusammenhängt. Associationen zwischen zentralen und peri-
pheren Vorstellungen und Interessenkreisen, die sich aus bloſs
psychologischen und historischen Ursachen gebildet haben,
werden meist so lange für sachlich notwendig gehalten, bis
die Erfahrung uns Persönlichkeiten zeigt, die ebendasselbe
Zentrum bei ganz anderer Peripherie oder eine gleiche Pe-
ripherie bei anderem Zentrum aufweisen. Wenn also die
Berufsangehörigkeit die übrigen Lebensinteressen von sich
abhängig machte, so muſste sich diese Abhängigkeit mit der
Zunahme der Beschäftigungszweige lockern, weil, trotz der
Verschiedenheit dieser, vielerlei Gleichheiten in allen übrigen
Interessen an den Tag traten. So gewinnen wir auch in den
feinsten Beziehungen des Seelenlebens manche innere und
äuſsere Freiheit, wenn wir ein sittlich nötiges Handeln und
Fühlen bei Andern von ganz anderen Vorbedingungen ab-
hängig sehen, als sie bei uns mit jenem verbunden waren;
dies gilt z. B. in hohem Maſse von den ethischen Beziehungen
[113]X 1.
der Religion, an welche letztere sich manche Menschen des-
halb gebunden fühlen, weil alte psychologische Gewohnheit
ihre sittlichen Impulse stets an religiöse knüpfte; da bringt
denn erst die Erfahrung, daſs auch religiös ganz anders ge-
sinnte Menschen in ganz gleichem Maſse sittlich sind, die Be-
freiung von jener Zentralisierung des ethischen Lebens und
die Verselbständigung des letzteren mit sich. So muſste die
wachsende Differenzierung der Berufe dem Individuum zeigen,
wie die ganz gleiche Richtung anderweitiger Lebensinhalte
mit differenten Berufen verknüpft sein kann und also vom
Beruf überhaupt in erheblicherem Maſse unabhängig sein muſs.
Und zu derselben Folge führt die gleichfalls mit der Kultur-
bewegung vorschreitende Differenzierung jener anderen Lebens-
inhalte. Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der
übrigen Interessen und die Verschiedenheit dieser bei Gleich-
heit des Berufs muſste in gleicher Weise zu der psychologi-
schen und realen Loslösung des einen vom andern führen.
Sehen wir auf den Fortschritt von der Differenzierung und
Zusammenfassung nach äuſserlichen schematischen Gesichts-
punkten zu der nach sachlicher Zusammengehörigkeit, so zeigt
sich dazu eine entschiedene Analogie auf theoretischem Ge-
biet: man glaubte früher durch das Zusammenfassen gröſserer
Gruppen der Lebewesen nach den Symptomen äuſserer Ver-
wandtschaft die hauptsächlichen Aufgaben des Erkennens
jenen gegenüber lösen zu können; aber zu tieferer und rich-
tigerer Einsicht gelangte man doch erst dadurch, daſs man
an scheinbar sehr verschiedenen Wesen, die man unter ent-
sprechend verschiedene Artbegriffe gebracht hatte, morpho-
logische und physiologische Gleichheiten entdeckte und so
zu Gesetzen des organischen Lebens kam, die an weit von
einander abstehenden Punkten der Reihe der organischen
Wesen realisiert waren und deren Erkenntnis eine Vereinheit-
lichung dessen zuwege brachte, was man früher äuſserlichen
Kriterien nach in Artbegriffe von völlig selbständiger Genesis
verteilt hatte. Auch hier bezeichnet die Vereinigung des
sachlich Homogenen aus heterogenen Kreisen die höhere Ent-
wicklungsstufe.
Wenn so der Sieg des rational sachlichen Prinzips über
das oberflächlich schematische mit dem allgemeinen Kultur-
fortschritt Hand in Hand geht, so kann dieser Zusammenhang,
da er kein apriorischer ist, doch unter Umständen durch-
reiſsen. Die Solidarität der Familie erscheint zwar gegenüber
der Verbindung nach sachlichen Gesichtspunkten als ein
mechanisch äuſserliches Prinzip, andererseits dennoch als ein
sachlich begründetes, wenn man es gegenüber einer rein nu-
merischen Einteilung betrachtet, wie sie die Zehntschaften
und Hundertschaften im alten Peru, in China und in einem
groſsen Teile des älteren Europa zeigen. Während die social-
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 8
[114]X 1.
politische Einheitlichkeit der Familie und ihre Haftbarkeit
als Ganzes für jedes Mitglied einen guten Sinn hat und um
so rationeller erscheint, je mehr man die Wirkungen der Ver-
erbung einsehen lernt, entbehrt die Zusammenschweiſsung
einer stets gleichen Zahl von Männern zu einer — in Bezug
auf Gliederung, Militärpflicht, Besteuerung, kriminelle Ver-
antwortung u. s. w. — als Einheit behandelten Gruppe ganz
einer rationalen Wurzel, und trotzdem tritt sie, wo wir sie
verfolgen können, als Ersatz des Sippschaftsprinzipes auf und
dient einer höheren Kulturstufe. Die Rechtfertigung auch für
sie liegt nicht in dem terminus a quo — in Hinsicht dieses
übertrifft das Familienprinzip als Differenzierungs- und Inte-
grierungsgrund jedes andere —, sondern im terminus ad quem;
dem höheren staatlichen Zweck ist diese, gerade wegen ihres
schematischen Charakters leicht überschaubare und leicht zu
organisierende Einteilung offenbar günstiger als jene ältere.
Es tritt hier eine eigenartige Erscheinung des Kulturlebens
ein: daſs sinnvolle, tief bedeutsame Einrichtungen und Ver-
kehrungsweisen von solchen verdrängt werden, die an und
für sich völlig mechanisch, äuſserlich, geistlos erscheinen;
nur der höhere, über jene frühere Stufe hinausliegende Zweck
giebt ihrem Zusammenwirken oder ihrem späteren Resultat
eine geistige Bedeutung, die jedes einzelne Element für sich
entbehren muſs; diesen Charakter trägt der moderne Soldat
gegenüber dem Ritter des Mittelalters, die Maschinenarbeit
gegenüber der Handarbeit, die neuzeitliche Uniformität und
Nivellierung so vieler Lebensbeziehungen, die früher der freien
individuellen Selbstgestaltung überlassen waren; jetzt ist einer-
seits das Getriebe zu groſs und zu kompliziert, um in jedem
seiner Elemente sozusagen einen ganzen Gedanken zum Aus-
druck zu bringen; jedes dieser kann vielmehr nur einen
mechanischen und für sich bedeutungslosen Charakter haben
und erst als Glied eines Ganzen seinen Teil zur Realisierung
eines Gedankens beitragen; andererseits wirkt vielfach eine
Differenzierung, die das geistige Element der Thätigkeit
herauslöst, sodaſs das Mechanische und das Geistige gesonderte
Existenz erhalten, wie z. B. die Arbeiterin an der Stick-
maschine eine viel geistlosere Thätigkeit übt, als die Stickerin,
während der Geist dieser Thätigkeit sozusagen an die Ma-
schine übergegangen ist, sich in ihr objektiviert hat. So
können sociale Einrichtungen, Abstufungen, Zusammenschlüsse
mechanischer und äuſserlicher werden und doch dem Kultur-
fortschritt dienen, wenn ein höherer Socialzweck auftaucht,
dem sie sich einfach unterzuordnen haben und der nicht mehr
gestattet, daſs sie für sich den Geist und Sinn bewahren, mit
dem ein früherer Zustand die teleologische Reihe abschloſs;
und so erklärt sich jener Übergang des Sippschaftsprinzips
für die sociale Einteilung zum Zehntschaftsprinzip, obgleich
[115]X 1.
dieses thatsächlich als eine Vereinigung des sachlich Hetero-
genen entgegen der natürlichen Homogeneität der Familie
erscheint. —
Ferner: in primitiven Gesellschaften und namentlich in
denjenigen, die durch Vereinigung elementarer, in sich schon
geschlossener Gruppen gebildet werden, wird der Anführer
zunächst für den Krieg, dann aber auch für dauernde Herr-
schaft sehr häufig durch Wahl berufen; seine Vorzüge be-
wirken, daſs ihm die Würde spontan übertragen wird, die er
an andern Stellen durch eben diese Vorzüge vermöge Usur-
pation erlangt, die aber hier wie dort spätestens mit seinem
Tode derart erlischt, daſs nun irgend eine andere, durch ähn-
liche Vorzüge qualifizierte Persönlichkeit auf die eine oder
die andere Weise sich des Prinzipats bemächtigt. Der sociale
Fortschritt indes heftet sich gerade an das Durchbrechen des
an die Vorzüge der Person geknüpften Verfahrens und an
die Aufrichtung erblicher Fürstenwürde; obschon das ver-
gleichsweise mechanische und äuſserliche Prinzip der Erblich-
keit Kinder, Schwachsinnige, in jeder Beziehung ungeeignete
Persönlichkeiten auf den Thron bringt, so überwiegt die von
ihm ausgehende Sicherheit und Kontinuität der Staatsentwick-
lung doch alle Vorteile des rationaleren Prinzips, nach dem
die persönlichen Eigenschaften über den Besitz der Herrschaft
entscheiden. Wenn die Reihe der Herrscher statt durch sach-
liche Auslese durch den äuſseren Zufall der Geburt bestimmt
wird und dies dennoch dem Kulturfortschritt günstig ist, so
kann man nur insofern sagen, daſs diese Ausnahme die Regel
bestätigt, als sie zeigt, daſs auch diese sich selbst unterge-
ordnet ist, d. h., daſs auch nicht einmal sie, nicht einmal die
Verwerfung des äuſserlich Schematischen durch das innerlich
Rationale ihrerseits wieder zu einer schematischen Norm
werden darf. Und endlich sei dafür das ziemlich analoge
Verhalten angeführt, das der Monogamie ihren Vorzug vor
der Promiskuität der Geschlechter verschafft hat. Ist es näm-
lich die Kraft, Gesundheit und Schönheit der Eltern, die die
grösste Wahrscheinlichkeit für eine tüchtige Nachkommenschaft
gewährt, so wird eine Depravierung der Gattung da zu er-
warten sein, wo auch ihren gealterten und herabgekommenen
Mitgliedern die Gelegenheit zur Fortpflanzung gesichert bleibt.
Dies aber ist gerade in der lebenslänglichen Ehe der Fall.
Würde nach jedesmaligem Fruchtbringen einer Vereinigung
jeder Teil von neuem das aktive und passive Wahlrecht dem
andern Geschlechte gegenüber haben, so würden diejenigen
Exemplare, die inzwischen ihre Gesundheit, ihre Kraft und
ihre Reize verloren haben, nicht mehr zur Zeugung zuge-
lassen werden, und es wäre auſserdem die gröſsere Wahr-
scheinlichkeit gegeben, daſs die wirklich zu einander passenden
Individuen sich zusammenfänden. Dieser, die rationalen
8*
[116]X 1.
Gründe wie den rationalen Zweck der geschlechtlichen Ver-
einigung stets von neuem berücksichtigenden Erneuerung der
Auswahl steht die unverbrüchliche Dauer der ehelichen Ver-
bindung, ihre Fortsetzung über das völlige Erlöschen der
einstmals für sie bestimmenden Gründe hinaus — auch dann,
wenn dieses Erlöschen nur das vorliegende Verhältnis trifft,
während eine Vermischung jedes Teils mit irgendeinem an-
dern noch durchaus rational wäre, — als ein gewissermaſsen
äuſserliches und mechanisches Verfahren gegenüber. Wie die
Erblichkeit des Prinzipats statt der Erlangung desselben auf
Grund persönlicher Eigenschaften einen schematischen Cha-
rakter trägt, gerade so bannt die lebenslängliche Ehe die ganze
Zukunft eines Paares in das Schema eines Verhältnisses, das,
für einen gegebenen Zeitpunkt zwar der adäquate Ausdruck
seiner innerlichen Beziehungen, dennoch die Möglichkeit einer
Variierung abschneidet, die die Gesamtheit im Interesse einer
tüchtigeren Nachkommenschaft scheint wünschen zu sollen,
wie sie dies in dem volkstümlichen Glauben ausdrückt, daſs
uneheliche Kinder die tüchtigeren und begabteren seien. Wie
aber in jenem Falle die Stabilität durch ihre sekundären
Folgen alle Vorteile einer aus sachlichen Momenten erfolgenden
Bestimmung weit überholt, so schafft auch der äuſserlich
fixierte Übergang, gleichsam die Vererbung der Form einer
Lebensepoche auf die andere, für das Verhältnis der Ge-
schlechter einen Segen, der keiner Auseinandersetzung bedarf
und für die Gattung allen Vorteil übertrifft, der aus der fort-
gesetzten Differenzierung eingegangener Verbindungen ge-
zogen werden könnte. Hier würde also die Zusammenfügung
des eigentlich Zusammengehörigen aus früherem heterogenem
Zusammenschluſs nicht kulturfördernd wirken.
[[117]]
VI.
Die Differenzierung und das Prinzip der Kraft-
ersparnis.
Alle aufsteigende Entwicklung in der Reihe der Or-
ganismen kann betrachtet werden als beherrscht von der Ten-
denz zur Kraftersparnis. Das entwickeltere Wesen unter-
scheidet sich von dem niedrigeren so, daſs es zunächst die
gleichen Funktionen wie dieses, auſserdem aber noch andere
auszuüben imstande ist. Das wird allerdings so möglich sein,
daſs diesem Wesen ausgiebigere Kraftquellen zur Verfügung
stehen. Diese indes als gleich gesetzt, wird es das Plus an
Zweckthätigkeit dadurch erreichen, daſs es die niederen
Funktionen mit einem geringeren Aufwand von Kraft voll-
bringen und auf diese Weise für die darüber hinausgehenden
Kraft gewinnen kann; Kraftersparnis ist die Vorbedingung
der Kraftausgabe. Jedes Wesen ist in dem Maſse vollkom-
mener, in dem es den gleichen Zweck mit einem kleineren
Kraftquantum erreicht. Alle Kultur geht nicht nur dahin,
immer mehr Kräfte der untermenschlichen Natur unsern
Zwecken dienstbar zu machen, sondern auch jeden dieser letz-
teren auf immer kraftsparenderem Wege durchzusetzen.
Es sind, wie ich glaube, dreierlei Hindernisse der Zweck-
thätigkeit, in deren Vermeidung die Kraftersparnis besteht:
die Reibung, der Umweg und die überflüssige Koordination
der Mittel. Was der Umweg im Nacheinander ist, das ist die
letztere im Nebeneinander; wenn ich zur Erreichung eines
Zweckes eine unmittelbare, darauf führende Bewegung be-
wirken könnte, statt dessen aber eine abseits gelegene einleite,
welche erst ihrerseits und vielleicht erst durch Erregung einer
dritten jene direkt zweckmäſsige anregt, so ist dies, auf die
Zeit übertragen, wie wenn ich neben der einen zum Zweck
[118]X 1.
hinreichenden Bewegung noch eine Reihe anderer ausführe —
sei es, weil sie mit jener associiert und, obgleich augenblicklich
überflüssig, nicht von ihr zu trennen sind, sei es, daſs sie
thatsächlich dem gleichen Zwecke dienen, der aber durch eine
einzige von ihnen hinreichend realisiert wird.
Der evolutionistische Vorteil der Differenzierung läſst sich
nun als Kraftersparnis fast nach allen hier angezeigten Rich-
tungen ausdeuten. Ich gehe zunächst von einem nicht un-
mittelbar socialen Gebiete aus. In der Sprachentwicklung
hat die Differenzierung dahin geführt, daſs aus den wenigen
Vokalen der älteren Sprachen eine mannigfaltige Reihe der-
selben in den neueren auftrat. Jene früheren Vokale weisen
scharfe und grelle Lautunterschiede auf, während die neueren
Vermittelungen und Schattierungen zwischen ihnen stiften,
sie gleichsam in Teile spalten und diese Teile mannigfaltig
zusammenfügen. Man hat dies wohl richtig so erklärt, daſs
es eine Erleichterung der Arbeit für die Sprachorgane mit
sich brächte; jenes leichtere Gleiten der Sprache durch Misch-
laute, durch unentschiedene und biegsame Schattierungen war
eine Kraftersparnis gegenüber dem unvermittelten Springen
zwischen scharf von einander abstehenden, jedes Mal eine
völlig anders gerichtete Innervation fordernden Vokalen. Viel-
leicht ist nun auch rein geistig die Verflüssigung der scharfen
Begriffsgrenzen, wie sie aus der Entwicklungslehre und der
monistischen Weltanschauung überhaupt hervorgeht, eine Er-
sparnis von Denkarbeit, insofern das Vorstellen der Welt um
so gröſsere Anstrengung fordert, je heterogener ihre Teile
sind, je weniger das Denken des einen derselben inhaltlich
mit dem des andern vermittelt ist. Wie eine kompliziertere,
kraftverbrauchendere Gesetzgebung da nötig ist, wo die
Klassen der Gruppe durch besondere Rechte oder Formen
der rechtlichen Verhältnisse von einander getrennt sind; wie
das denkende Umfassen der letzteren sich erleichtert, wenn
die Schroffheit absoluter rechtlicher Unterschiede sich in die-
jenigen flieſsenden Differenzen auflöst, die bei ganz einheit-
licher und für alle gleicher Gesetzgebung noch wegen des
Unterschiedes des Besitzes und der gesellschaftlichen Position
bestehen bleiben: so wird vielleicht jede psychische Arbeit
in dem Maſse erleichtert, in dem die Starrheit streng be-
grenzter Begriffe sich zu Vermittelungen und Übergängen
verflüssigt. Als Differenzierung ist dies insofern aufzufassen,
als so das Band, welches eine groſse Anzahl von Individuen
schematisch zusammengefaſst hat, durchgeschnitten wird und
statt der gleichen Kollektiveigenschaften die Individualität des
Wesens den Inhalt seines Vorgestelltwerdens ausmacht. Während
jene scharf begrenzten, begrifflichen Zusammenfassungen immer
subjektiven Charakter tragen — alle Synthesis, so drückt
Kant dies erschöpfend aus, kann nicht in den Dingen, son-
[119]X 1.
dern nur im Geiste liegen —, zeigt das Zurückgehen auf den
Einzelnen in seiner Einzelheit realistische Tendenz; und die
Wirklichkeit ist unsern Begriffen gegenüber immer vermit-
telnd, immer ein Kompromiſs zwischen diesen, weil sie nur
herausgelöste und in unserem Kopfe verselbständigte Seiten
der Wirklichkeit sind, die an sich diese mit vielen anderen
verschmolzen enthält. Daher ist die Differenzierung, die
scheinbar ein trennendes Prinzip ist, doch in Wirklichkeit so
oft ein versöhnendes und annäherndes und eben dadurch ein
kraftsparendes für den Geist, der theoretisch oder praktisch
damit operiert.
Die Differenzierung zeigt hier wieder ihr Verhältnis zum
Monismus; sobald die scharf abgrenzende Zusammenfassung
in einzelne Gruppen und Begriffe aufhört, um zugleich mit
der Individualisierung auch Vermittelung und Allmählichkeit
der Übergänge eintreten zu lassen, stellt sich eine zusammen-
hängende Reihe kleinster Unterschiede und damit die Fülle
der Erscheinungen als einheitliches Ganzes dar. Aller Mo-
nismus ist nun aber seinerseits als denkkraftsparendes Prinzip
angesprochen worden. Gewiſs mit vielem Recht; ob mit be-
dingungslosem und so unmittelbarem, wie es den Anschein
hat, möchte ich dennoch bezweifeln. Wenn sich die monisti-
sche Anschauung der Dinge auch enger an die Wirklichkeit
anschlieſst, als etwa das Dogma der gesonderten Schöpfungs-
akte und ihre erkenntnistheoretischen Pendants, so bedarf
doch auch sie einer synthetischen Thätigkeit und zwar viel-
leicht einer umfassenderen und anstrengenderen, als wenn
man sich begnügt, beliebig viele Reihen von Erscheinungen,
je nachdem einem gerade Ähnlichkeiten unter ihnen auffallen,
als genetisch zusammengehörige anzusehen; es erfordert wohl
ein höheres Denken, die Gesamtheit der physikalischen Be-
wegungen aus einer einheitlichen Kraftquelle und ihren in-
einander übergehenden Umsetzungen zu begreifen, als für jede
verschiedene Erscheinung auch eine verschiedene Ursache zu
konstituieren: für die Wärme eine besondere Wärmekraft, für
das Leben eine besondere Lebenskraft, oder, mit jener typi-
schen Übertreibung, für das Opium eine besondere vis dor-
mitiva. Es ist wohl endlich schwieriger, das Leben der Seele
als jenes einheitliche Ganze zu erkennen, wie es sich bei der
Auflösung in die Prozesse zwischen den einzelnen Vorstellun-
gen darbietet, als wenn man mit gesonderten Seelenvermögen
rechnet und die Reproduktion der Vorstellungen aus dem
„Gedächtnis“ oder die Fähigkeit des Schlieſsens aus der „Ver-
nunft“ erklärt glaubt.
Wo freilich der Monismus der Anschauungsweise nicht
die Differenzierung und Individualisierung ihrer Inhalte zum
Korrelat hat, da ist er vielfach kraftsparend, allein nicht im
Sinne der anderweitig und im ganzen erhöhten Thätigkeit,
[120]X 1.
sondern im Sinne der Trägheit. So ist es, um auf theoreti-
schem Gebiete zu bleiben, keineswegs immer eine Stärke des
Denkens, welche zu so hohen und allgemeinen Abstraktionen
aufsteigt, wie es z. B. die indische Brahmaidee ist, vielmehr
oft eine Schlaffheit und Widerstandslosigkeit, die vor der
scharfkantigen, grellen Wirklichkeit der Dinge flieht, nicht
imstande, mit den Räthseln der Individualität fertig zu werden,
und nun immer höher und höher getrieben wird bis zu der
metaphysischen Idee des All-Einen, bei der überhaupt jedes
bestimmte Denken aufhört. Statt in den dunklen Bergwerks-
schacht der Einzelheiten der Welt hinabzusteigen, aus dem
allein sich das Gold wahrer und gerechter Erkenntnis heraus-
holen läſst, überspringt eine bequemere, kraftlosere Denkart
einfach die Gegensätze des Seins, die sie vielmehr zu ver-
einigen streben sollte, und badet sich im Aether des all-einen
und all-guten Prinzips. Wo nun aber, wie in den vorher an-
geführten Fällen, der auf Grund von Differenzierung sich er-
hebende Monismus mehr Kraft verbraucht, als die pluralistische
Denkart, ist dies doch mehr vorübergehend als definitiv. Denn
die auf diese Weise erreichten Resultate sind dafür um so
reicher, sodaſs im Verhältnis zu diesen doch ein geringerer
Kraftverbrauch stattfindet — ungefähr wie eine Lokomotive
sehr viel mehr Kraft verbraucht, als eine Postkutsche, allein
im Verhältnis zu den erreichten Wirkungen sehr viel weniger.
So macht ein groſser, einheitlich verwalteter Staat eine groſse
und bis ins Kleinste arbeitsteilig gegliederte Beamtenschaft
nötig, richtet aber mit diesem bedeutenden, durch seine Ein-
heitlichkeit und seine Differenzierung erforderlichen Kraft-
aufwand doch auch relativ viel mehr aus, als wenn eben das-
selbe Gebiet in lauter kleine staatliche Einheiten zerfiele,
deren jede freilich in sich keiner hohen Differenzierung des
Verwaltungskörpers bedarf.
Schwieriger liegt die Frage nach der Kraftersparnis bei
jener Differenzierung, die ein Auseinandergehen in feindliche
Gegensätze enthält, also z. B. in dem früher erwähnten Falle,
daſs eine ursprünglich einheitliche Körperschaft mannigfach
entgegengesetzte Parteien in sich ausbildet. Man kann dies
als Arbeitsteilung betrachten; denn die Tendenzen, aus denen
die Parteibildungen hervorgehen, sind Triebe der mensch-
lichen Natur überhaupt, die sich in irgendeinem, wie auch
immer verschiedenen Maſse in jedem Einzelnen finden, und
man kann sich vorstellen, daſs die verschiedenartigen Momente,
die früher im Kopfe jedes Einzelnen Abwägung und relative
Ausgleichung fanden, nun auf verschiedene Persönlichkeiten
übertragen und von jedem in specialisierter Weise gepflegt
werden, während die Ausgleichung erst im Zusammen Aller
stattfindet. Die Partei, die als solche nur die Verkörperung
eines einseitigen Gedankens darstellt, unterdrückt in dem ihr
[121]X 1.
Angehörigen, insoweit er ein solcher ist, alle anders gearteten
Triebe, von denen er von vornherein doch nicht ganz frei zu
sein pflegt; verfolgen wir die psychologischen Momente, die
die Parteistellung des Einzelnen bestimmen, so sehen wir, wie
in den weitaus meisten Fällen nicht eine undurchbrechliche
Naturanlage auf sie hingedrängt hat, sondern die Zufälligkeit
der Umstände und Einflüsse, denen der Einzelne ausgesetzt
war, und die in ihm gerade die eine von verschiedenen
Richtungsmöglichkeiten und potentiell vorhandenen Kräften
zur Entwicklung gebracht haben, während die anderen rudi-
mentär werden. Aus diesem letzten Umstande, aus dem Auf-
hören der inneren Gegenbewegungen, die vor dem Eintritt in
eine einseitige Partei unserm Denken und Wollen einen Teil
seiner Kraft nehmen, erklärt sich die Macht, die die Partei
über das Individuum übt, und die sich u. A. darin zeigt, daſs
die sittlichsten und gewissenhaftesten Menschen die ganze
rücksichtslose Interessenpolitik mitmachen, die eben die Partei
als solche für nötig findet, welche sich um Bedenken der in-
dividuellen Moral fast so wenig kümmert, wie es Staaten
untereinander thun. In dieser Einseitigkeit liegt ihre Stärke,
wie es sich besonders daraus ergiebt, daſs die Parteileiden-
schaft ihre volle Wucht auch dann noch behält, ja oft erst
entfaltet, wenn die Parteiung ihren Sinn und ihre Bedeutung
ganz verloren hat, wenn gar nicht mehr um positive Ziele
gestritten wird, sondern die durch keinen sachlichen Grund
mehr bestimmte Zugehörigkeit zu einer Partei den Antago-
nismus gegen die andere hervorruft. Vielleicht das stärkste
Beispiel sind die Zirkusparteien in Rom und Byzanz; trotzdem
nicht der geringste sachliche Unterschied die weiſse von der
rothen Partei, die blaue von der grünen trennte, um so we-
niger, als schlieſslich nicht einmal die Pferde und Lenker den
Parteien eigentümlich, sondern von Unternehmern gehalten
waren, die sie jeder beliebigen Partei vermietheten, — trotz-
dem genügte das zufällige Ergreifen der einen oder der an-
deren Partei, um ein tödlicher Feind der entgegengesetzten
zu werden. Unzählige Familienzwiste früherer Zeiten trugen,
wenn sie mehrere Generationen hindurch gewährt hatten,
keinen anderen Charakter; das Objekt des Streites war oft
längst verschwunden; aber die Thatsache, daſs man der einen
oder der anderen Familie angehörte, gab jedem eine Partei-
stellung des schärfsten Gegensatzes gegen die andere. Als im
14. und 15. Jahrhundert die Tyrannieen in Italien aufkamen
und dadurch das politische Parteileben überhaupt jede Be-
deutung verlor, dauerten dennoch die Kämpfe zwischen Guelfen
und Ghibellinen weiter fort, aber ohne irgendeinen Inhalt: der
Parteigegensatz als solcher hatte eine Bedeutung gewonnen,
die nach seinem Sinne gar nicht mehr fragte. Kurz, die
Differenzierung, die in der Parteiung liegt, entwickelt Kräfte,
[122]X 1.
deren Gröſse sich gerade in der Sinnlosigkeit zeigt, mit der
sie, oft ohne Einbuſse zu erleiden, jeden Inhalt abstreift und
sich nur an die Form der Partei überhaupt hält. Nun geht
zwar aller sociale Zusammenschluſs aus der Schwäche und
Bestandsunfähigkeit des Individuums hervor, und die blinde,
sinnlose Hingabe an eine Partei, wie in den angeführten Fällen,
kommt gerade häufig in Zeiten des Niedergangs und der Im-
potenz der Völker oder Gruppen vor, in denen der Einzelne
das sichere Gefühl individueller Kraft, wenigstens für die bis-
herigen Arten ihrer Auſserung, verloren hat. Immerhin zeigen
sich in dieser Form noch Kraftquanta, die sonst unentwickelt
geblieben wären. Und wenn viele Kräfte auch gerade durch
solche Parteiungen nutzlos aufgerieben und verschwendet
werden mögen, so ist dies doch nur eine Übertreibung und
ein Miſsbrauch, vor dem keine menschliche Tendenz sicher
ist; im Ganzen wird man sagen müssen: die Parteibildung
schafft Zentralgebilde, an welche die Anlehnung dem Einzelnen
die inneren Gegenbewegungen erspart und seine Kräfte da-
durch zu groſser Wirkung bringt, daſs sie dieselben in einen
Kanal leitet, wo sie, ohne psychologische Hindernisse zu finden,
ausströmen können; und indem nun Partei gegen Partei
kämpft und jede eine groſse Anzahl persönlicher Kräfte ver-
dichtet in sich enthält, muſs sich das Resultat aus der gegen-
seitigen Messung der Momente und der ihnen entsprechenden
Kräfte reiner, schneller und vollständiger herausstellen, als wenn
der Kampf zwischen ihnen in einem individuellen Geiste oder
zwischen einzelnen Individuen ausgefochten würde.
Ein eigenartiges Verhältnis zwischen Kraftverbrauch und
Differenzierung findet bei jener Arbeitsteilung statt, die man
die quantitative nennen könnte; während die Arbeitsteilung im
gewöhnlichen Sinne bedeutet, daſs der eine etwas anderes ar-
beitet als der andere, also qualitative Verhältnisse betrifft, ist
auch die Arbeitsteilung von dem Gesichtspunkte aus wichtig,
daſs der eine mehr arbeitet als der andere. Diese quantita-
tive Arbeitsteilung wirkt freilich nur dadurch kultursteigernd,
daſs sie zum Mittel der qualitativen wird, indem das Mehr
oder Weniger einer zunächst für alle wesensgleichen Arbeit
eine wesensverschiedene Gestaltung der Persönlichkeiten und
ihrer Bethätigungen zur Folge hat; die Sklaverei und die
kapitalistische Wirtschaft zeigen den Kulturwert dieser quan-
titativen Arbeitsteilung. Die Umsetzung derselben in quali-
tative bezog sich zunächst auf die Differenzierung zwischen
körperlicher und geistiger Thätigkeit. Die bloſse Entlastung
von der ersteren muſste ganz von selbst zu einer Steigerung
der letzteren führen, da diese sich spontaner einstellt als jene
und vielfach ohne auf bewuſste Impulse und Anstrengungen zu
warten. Und nun zeigt sich auch hier, wie die Kraftersparnis
durch Differenzierung doch zum Vehikel so viel höherer Kraft-
[123]X 1.
wirkung wird. Denn man kann doch wohl das Wesen der
geistigen Arbeit gegenüber der körperlichen darein setzen, daſs
sie mit geringerem Kraftaufwand die gröſseren Wirkungen
erzielt.
Dieser Gegensatz ist freilich kein absoluter. Weder giebt
es eine körperliche, hier in Betracht kommende Thätigkeit,
die nicht irgendwie vom Bewuſstsein und Willen gelenkt
würde, noch eine geistige, die ohne irgendeine körperliche
Wirkung oder Vermittelung bliebe. Man kann also nur sagen,
daſs das relative Mehr von Geistigkeit in einem Thun kraft-
sparend wirkt. Man darf dieses Verhältnis der körper-
licheren und der geistigeren Arbeit wohl mit dem zwischen
der niederen und der höheren Seelenthätigkeit in Analogie
stellen. Der psychische Prozeſs, der im Einzelnen und Sinn-
lichen befangen bleibt, ist zwar weniger anstrengend, als der
abstrakte und rationale; aber seine theoretischen und prakti-
schen Ergebnisse sind dafür auch um so geringer. Das Denken
nach logischen Prinzipien und Gesetzen ist kraftersparend,
insofern es durch seinen zusammenfassenden Charakter das
Durchdenken der Einzelheit ersetzt: das Gesetz, das das Ver-
halten unendlich vieler Einzelfälle in eine Formel verdichtet,
bedeutet die höchste Kraftersparnis des Denkens; wer das
Gesetz kennt, verhält sich zu dem, der nur den einzelnen Fall
kennt, wie der, der die Maschine besitzt, zum Handarbeiter.
Wenn aber das höhere Denken so Zusammenfassung und Ver-
dichtung ist, so ist es zunächst doch Differenzierung. Denn
jede Einzelheit der Welt, die von einem bestimmten Gesetz
zwar nur einen einzigen Fall bedeutet, ist doch ein Kreuzungs-
punkt auſserordentlich vieler Kraftwirkungen und Gesetze,
und es bedarf zunächst der psychologischen Auseinander-
legung derselben, um jene einzelne Beziehung zu erkennen,
die, mit der gleichen an anderen Erscheinungen zusammen-
gehalten, den Grund und das Bereich des höheren Gesetzes
abgiebt; erst über der Differenzierung aller der Faktoren, in
deren zufälligem Zusammen die einzelne Erscheinung besteht,
kann sich die höhere Norm erheben. Und nun verhält sich
offenbar die geistige Thätigkeit überhaupt zur körperlichen,
wie sich innerhalb des Gebietes jener die höhere zur niederen,
da ja, wie oben erwähnt, der Unterschied zwischen körper-
licher und geistiger Thätigkeit nur ein quantitatives Mehr und
Minder beider Elemente an der Thätigkeit bedeutet. Das
Denken schiebt sich zwischen die mechanischen Thätigkeiten
wie das Geld zwischen die realen ökonomischen Werte und
Vorgänge, konzentrierend, vermittelnd, erleichternd. Und
auch das Geld ist aus einem Differenzierungsprozeſs hervor-
gegangen; der Tauschwert der Dinge, eine Qualität oder
Funktion, die sie neben ihren anderweitigen Eigenschaften
erwerben, muſs von ihnen gelöst und im Bewuſstsein verselb-
[124]X 1.
ständigt werden, ehe die Zusammenschlieſsung dieser, den
verschiedensten Dingen gemeinsamen Eigenschaft in einen
über allen einzelnen stehenden Begriff und Symbol stattfinden
konnte; und die Kraftersparnis, die durch diese Differenzie-
rung und nachherige Zusammenschlieſsung erreicht wird, liegt
gleicherweise in dem Aufsteigen zu höheren Begriffen und
Normen, die in der gleichen Weise gewonnen werden. Wie
kraftsparend die Konzentration, die Zusammenfassung der
Individualfunktionen in eine Zentralkraft wirkt, ist ohne wei-
teres klar; aber man muſs sich zum Bewuſstsein bringen, daſs
einer solchen Zentralisierung stets Differenzierung zugrunde
liegt, daſs sie, um Kraft zu ersparen, nicht die Erscheinungs-
komplexe in ihrer Totalität, sondern immer nur herausgeson-
derte Seiten derselben zusammenzufassen hat. Die Geschichte
des menschlichen Denkens, ebenso wie die der socialen Ent-
wicklungen, läſst sich als die Geschichte dieser Fluktuationen
auffassen, durch die der bunte, prinzipienlos zusammengestellte
Erscheinungskomplex nach gewissen Gesichtspunkten hin
differenziert und die Resultate der Differenzierung zu einem
höheren Gebilde zusammengeschlossen werden; das Gleich-
gewicht zwischen Auflösung und Zusammenfassung ist aber
nie ein stabiles, sondern immer ein labiles; jene höhere Ein-
heit ist nie eine definitive, insofern sie entweder selbst wieder
in Elemente differenziert wird, die dann ihrerseits neue und
wieder höhere Zentralgebilde formen, für die sie das Material
bilden, oder insofern jene früheren Komplexe nach anderen
Gesichtspunkten differenziert werden, was dann neue Zusammen-
schlieſsungen hervorbringt und die früheren antiquiert.
Diese ganze Bewegung läſst sich vorstellen als beherrscht
von der Tendenz zur Kraftersparnis, und zwar zunächst im
Sinne der Reibungsminderung. Ich habe dies oben von einem
anderen Gesichtspunkte für das Verhältnis der kirchlichen
Interessen zu den staatlichen und den wissenschaftlichen aus-
geführt. Unzählige Kräfte gehen da verloren, wo die Arbeits-
teilung noch nicht jedem ein gesondertes Gebiet angewiesen
hat, sondern der Anspruch an das gleiche, gewissermaſsen
nicht aufgetheilte, den Wettbewerb entfesselt; denn so sehr
dieser in vielen Fällen dem Produkt zugute kommt und zu
höherer objektiver Leistung anspornt, so bringt er doch in
vielen anderen es mit sich, daſs zunächst auf die Beseitigung
des Konkurrenten Kräfte verwandt werden müssen, bevor
man an die Arbeit geht, oder auch neben ihr her. Der Sieg
in diesem Kampf entscheidet sich unzählige Male nicht durch
die Anspannung aller Kräfte auf die Arbeit, sondern auf
auſserhalb derselben gelegene, mehr oder weniger subjektive
Momente; und diese Kräfte sind verschwendet: sie gehen für
die Sache verloren; sie dienen nur zur Beseitigung einer
Schwierigkeit, die für den einen da ist, weil sie für den an-
[125]X 1.
dern da ist, und unter günstigerer Zielsetzung für beide fort-
fallen würde: es ist das doppelt unzweckmäſsige Verhältnis,
daſs Kräfte verbraucht werden, um andere Kräfte lahmzu-
legen. Wenn es das Ideal der Kultur ist, daſs die Kräfte der
Menschen auf die Besiegung des Objekts, resp. der Natur, statt
auf die des Mitmenschen verwandt werden, so ist die Ver-
teilung der Arbeitsgebiete die gröſste Förderung desselben;
und wenn die griechischen Socialpolitiker den eigentlich kauf-
männischen Beruf dem Staatswesen verderblich hielten und
nur den Landbau als geziemenden und gerechten Erwerb
gelten lassen wollten, da dieser seinen Nutzen nicht von Men-
schen und deren Beraubung nähme, so ist kein Zweifel, daſs
der Mangel an Arbeitsteilung sie zu diesem Urteil berechtigte.
Denn die Gestattung des Landbaues erweist ihre Erkenntnis,
daſs nur Hinwendung an das Objekt allein die Konkurrenz
besiegt, von der sie die Sprengung des Staatswesens fürch-
teten, und daſs unter den damaligen, noch nicht arbeits-
geteilten Verhältnissen die Hinwendung an das Objekt un-
möglich wäre, auſser wo es sich um ein der Konkurrenz so
wenig zugängliches Objekt, wie das der Landbebauung, han-
delt. Erst wachsende Differenzierung kann die Reibung be-
seitigen, die aus der Setzung des gleichen Zieles hervorgeht,
welche die Kräfte von diesem fort auf die persönliche Be-
siegung des Mitbewerbers lenkt.
Die Betrachtung des Individuums zeigt dies von einer
anderen Seite. Wenn die Gesamtheit der Willens- und Denk-
akte eines Einzelnen als ein Ganzes seiner Gruppe gegenüber
sehr differenziert, in sich also sehr einheitlich ist, so werden
damit jene Umstimmungen, jener Wechsel der Innervierungen
vermieden, der bei gröſserer Verschiedenheit der Denkrich-
tungen und Impulse notwendig ist. In unserm psychischen
Wesen ist etwas dem physischen Beharrungsvermögen wenig-
stens Analoges zu beobachten: ein Trieb, dem augenblicklich
herrschenden Gedanken auch weiter nachzuhängen, dem
jetzigen Wollen sich noch weiter zu überlassen, sich innerhalb
des einmal gegebenen Interessenkreises auch weiter zu be-
wegen. Wo nun ein Wechsel, ein Abspringen erfordert ist,
da muſs diese Trägheitswirkung erst durch einen besonderen
Impuls überwunden werden; die neue Innervierung muſs
stärker sein, als ihr Zweck an und für sich erfordert, weil
sie zunächst von einer anders gerichteten Kraftwirkung ge-
kreuzt wird und deren ablenkende Wirkung nur durch ver-
mehrte Energie paralysieren kann. Man darf sich jene phy-
sisch-psychische Analogie der vis inertiae vielleicht damit er-
klären, daſs wir die Kraftsumme nie mit völliger Bestimmt-
heit berechnen können, die um eines gegebenen inneren oder
äuſseren Zweckes willen aus dem latenten in den wirkenden
Zustand übergeführt werden muſs; da aber das Zurückbleiben
[126]X 1.
hinter dem nötigen Quantum sich sehr schnell bemerkbar
machen würde, so irren wir offenbar mehr und öfter nach
der Seite des Zuviel, und die motorisch aufgewandte Energie
wirkt noch über den Punkt hinaus, auf den sie rationaler
Weise gerichtet ist. Setzt an diesem nun eine neue Willens-
richtung ein, so hat sie gewissermaſsen nicht ganz freies Feld
vor sich, sondern findet jenen Überschuſs anders gerichteter
Kraft vor, den sie erst durch eine entsprechende eigene Ver-
stärkung überwinden muſs.
Man muſs hier auch an Vorgänge innerhalb des Indivi-
duums erinnern, die wenigstens gleichnisweise als Reibung
und Konkurrenz zu begreifen sind. Je vielseitiger man sich
bethätigt, je geringer die Einheitlichkeit und Umgrenzung un-
seres Wesens ist, desto häufiger wird die verfügbare Kraft-
summe desselben von verschiedenen Direktiven in Anspruch
genommen, die so wenig wie Individuen untereinander eine
friedliche Teilung jener vornehmen, sondern indem jede mög-
lichst viel Kraft für sich beansprucht, muſs sie jeder anderen
Abbruch thun, und zwar geschieht dies offenbar oft genug so,
daſs auf die direkte Beseitigung des konkurrierenden Triebes
Kraft verwandt wird, die uns dem sachlichen Ziele nicht
näher bringt; es findet nur eine gegenseitige Aufhebung ent-
gegengesetzt gerichteter Kräfte statt, deren Resultat Null ist,
ehe es zu positiver Leistung kommt. Durch zweierlei Diffe-
renzierungen allein kann das Individuum die so in ihm ver-
schwendeten Kräfte sparen: entweder indem es sich als Ganzes
differenziert, d. h. in möglichster Einseitigkeit seine Triebe
auf einen Grundton abstimmt, zu dem sie nun insgesamt
harmonisch sind, so daſs es wegen ihrer Gleichheit oder
Parallelität zu keiner Konkurrenz kommt; oder indem es sich
seinen einzelnen Trieben und Seiten nach derart differenziert
und jede derselben ein so gesondertes Gebiet — sei es im
Nebeneinander, oder, wie wir es weiterhin ausführen werden,
im Nacheinander —, ein so scharf umgrenztes Ziel und so
selbständige, abseits aller anderen liegende Wege dazu besitzt,
daſs gar keine Berührung und deshalb keine Reibung und
Konkurrenz unter ihnen stattfindet; die Differenzierung im
Sinne des Ganzen wie im Sinne der Teile wirkt gleicher-
maſsen kraftsparend. Will man diesem Verhältnis eine Stellung
in einer kosmologischen Metaphysik anweisen, was ja immer
nur den Anspruch einer unsicheren Ahnung und andeutenden
Symbolik erheben kann, so dürfte man auf die Zöllner’sche
Hypothese verweisen: die den Elementen der Materie inne-
wohnenden Kräfte müſsten so beschaffen sein, daſs die unter
ihrem Einflusse stattfindenden Bewegungen dahin streben, in
einem begrenzten Raume die Anzahl der stattfindenden Zu-
sammenstöſse auf ein Minimum zu reduzieren. Danach würden
also z. B. die Bewegungen eines mit Gasmolekülen erfüllten
[127]X 1.
kubischen Raumes sich mit der Zeit in drei Gruppen teilen,
von denen jede parallel zu zwei Seitenflächen vor sich ginge;
dann würden eben gar keine Zusammenstöſse der Moleküle
mehr untereinander, sondern nur noch mit je zwei einander
gegenüberliegenden Gefäſswänden stattfinden und daher die
Zahl der Zusammenstöſse auf ein Minimum reduziert sein.
Ganz analog sehen wir nun, wie die Verminderung der Zu-
sammenstöſse, resp. der Reibung, innerhalb zusammengesetzterer
Organisationen so zustande kommt, daſs sich die Wege der
einzelnen Elemente möglichst auseinanderlegen. Aus dem
wirren Durcheinander, das sie in jedem Augenblick an einen
Punkt zusammenführt, an dem also Reibung, Repulsion, Kraft-
aufhebung stattfindet, stellt sich der Zustand der gesonderten
Bahnen her, und man kann jene physikalische Tendenz ebenso
als Differenzierung, wie diese psychologisch sociale als Re-
duktion der Zusammenstöſse bezeichnen. Zöllner selbst deutet
auf erkenntnistheoretische Gründe hin das Verhältnis so aus,
daſs den äuſseren Zusammenstöſsen der Dinge ein Unlust-
gefühl entspräche, und giebt der obigen physikalischen Hypo-
these deshalb diese metaphysische Form: Alle Arbeitsleistungen
der Naturwesen werden durch die Empfindungen der Lust
und Unlust bestimmt, und zwar so, daſs die Bewegungen
innerhalb eines abgeschlossenen Gebietes von Erscheinungen
sich verhalten, als ob sie den unbewuſsten Zweck verfolgten,
die Summe der Unlustempfindungen auf ein Minimum zu
reduzieren.
Wie sich in dieses Prinzip das Differenzierungsstreben
einordnet, liegt auf der Hand. Man kann aber vielleicht in
der Abstraktion noch eine Stufe höher steigen und als all-
gemeinste formale Tendenz des Naturgeschehens die Kraft-
ersparnis ansehen; dies ersetzte den alten und jedenfalls höchst
miſsverständlich ausgedrückten Grundsatz, daſs die Natur
immer den kürzesten Weg nimmt, durch die Maxime, daſs
sie den kürzesten Weg sucht; zu welchen Zielen dieser führt,
ist dann Sache materialer Ausmachung und gestattet vielleicht
keine einheitliche Zusammenfassung. Die Herbeiführung von
Lust und die Vermeidung der Unlust wären dann nur ent-
weder eines dieser Ziele, oder für gewisse Naturwesen das
Zeichen gelungener Kraftersparnis, oder ein angezüchtetes
psychologisches Lock- und Hülfsmittel für dieselbe.
Ordnen wir nun die Differenzierung dem Prinzip der
Kraftersparnis unter, so ist von vornherein wahrscheinlich,
daſs gelegentlich auch ihr entgegengesetzte Bewegungen und
Einschränkungen diesem höchsten Ziele werden dienen müssen.
Denn bei der Mannigfaltigkeit und Heterogeneität der mensch-
lichen Dinge wird kein höchstes Prinzip immer und überall
durch gleichgeartete Einzelvorgänge verwirklicht, sondern
wegen der Verschiedenheit der Ausgangspunkte und der Not-
[128]X 1.
wendigkeit, auf Ungleiches auch Ungleiches wirken zu lassen,
um Gleiches als Resultat zu erzielen, werden die Zwischen-
glieder, die zu der höchsten Einheit hinaufführen, in dem
Verhältnis verschiedenartige sein müssen, als sie in der teleo-
logischen Kette noch von dieser abstehen. Aus der Täuschung
hierüber, aus dem falschen monistischen Schein, den die Ein-
heit des höchsten Prinzips psychologisch auch auf die Stufen
zu ihm wirft, erklären sich unzählige Verblendungen und Ein-
seitigkeiten im Handeln wie im Erkennen.
Die Gefahren einer zu weit getriebenen Individualisie-
rung und Arbeitsteilung sind zu bekannt, um hier mehr als
einer Hinweisung zu bedürfen. Nur das eine will ich doch
erwähnen, daſs die der Specialthätigkeit zugewandte Kraft
zunächst zwar durch den Verzicht auf anderweitige Thätigkeit
aufs Äuſserste gesteigert wird, bei groſser Entschiedenheit und
langer Dauer dieses Zustandes aber wieder abnimmt. Denn
der Mangel an Übung bringt für jene anderen Muskel- oder
Vorstellungsgruppen Schwächung und Atrophie mit sich, die
natürlich eine Affection des gesamten Organismus in gleichem
Sinne bedeutet. Da nun aber der allein funktionierende Teil
doch schlieſslich aus diesem Ganzen seine Nahrung und Kraft
zieht, so muſs auch seine Tüchtigkeit leiden, wenn das Ganze
leidet. Die einseitige Anstrengung bringt also auf dem Um-
wege über die Zusammenhänge des Gesamtorganismus, den
die durch jene nötige Vernachlässigung der anderen Organe
schwächt, auch eine Schwächung eben des Organes mit, dessen
Kräftigung sie ursprünglich diente.
Ferner wird auch jene Arbeitsteilung, die in der Abgabe
der Funktionen an öffentliche Organe besteht und im allge-
meinen eine eminente Kraftersparnis bewirkt, eben um der
Kraftersparnis willen oft wieder an die Individuen oder an
kleinere Verbände zurückgehen. Es tritt dabei nämlich Fol-
gendes ein. Wenn mehrere Funktionen von den Individuen
abgelöst und von einem gemeinsamen Zentralorgan, z. B. dem
Staat, übernommen werden, so treten sie in diesem, als einem
einheitlichen, in derartige gegenseitige Beziehung und Ab-
hängigkeit, daſs die Wandlungen der einen auch die Gesamt-
heit der andern alterieren. Dadurch wird die einzelne mit
einem Ballast von Rücksichten, mit der Notwendigkeit, ein
stets verschobenes Gleichgewicht wiederzugewinnen, belastet
und bedingt dadurch eine gröſsere Kraftaufwendung, als für
das vorliegende Ziel an sich erforderlich wäre. Sobald sich
aus den abgegebenen Funktionen ein neuer, mehrseitig thätiger
Organismus zusammengliedert, steht dieser unter selbständigen
Lebensbedingungen, die auf die Gesamtheit der Interessen
berechnet sind und deshalb für die einzelne einen gröſseren
Apparat arbeiten lassen, als ihre isolierte Zweckmäſsigkeit be-
anspruchen würde. Ich nenne nur einige dieser Belastungen,
[129]X 1.
die jede an den Staat übergegangene Funktion treffen: die
Etatisierung der Ausgaben, die Notwendigkeit, jede kleinste
Aufwendung in einer Balancierung ungeheurer Gesamtsummen
zu halten, die Vielfachheit der Kontrolle, die, im allgemeinen
notwendig, im einzelnen oft überflüssig ist, das Interesse der
politischen Parteien und die öffentliche Kritik, die oft einer-
seits zu unnützen Versuchen zwingen, andererseits nützliche
unterdrücken, die besonderen Berechtigungen, die die vom
Staate angestellten Funktionäre genieſsen: die Pension, das
sociale Übergewicht und vieles andere, — kurz, das Prinzip
der Kraftersparnis wird vielfach die Ablösung der Funktionen
von den individuellen Wesen und ihre Übertragung auf einen
Zentralkörper ebenso einschränken, wie es sie andererseits
hervorruft.
Die zwischen Differenzierung und ihrem Gegenteil wech-
selnde Zweckmäſsigkeit der Entwicklung zeigt sich klar auf
dem religiösen und auf dem militärischen Gebiet. Die Ent-
wicklung der christlichen Kirche hatte sehr früh zu einer
Scheidung zwischen den Vollkommenen und den Alltags-
menschen geführt, zwischen einer geistig-geistlichen Aristo-
kratie und der misera contribuens plebs. Der Priesterstand
der katholischen Kirche, der die Beziehungen der Gläubigen
zum Himmel vermittelt, ist nur ein Resultat eben derselben
Arbeitsteilung, die etwa die Post als ein besonderes sociales
Organ konstituiert hat, um die Beziehungen der Bürger zu
entfernten Orten zu vermitteln. Diese Differenzierung hob
die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung
zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm ab-
gelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte;
die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und
die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bür-
gerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens
die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von
ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser
zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein beson-
derer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem
der Geist ihn treibt, predigt.
Inwieweit jener frühere Zustand indes unter das Prinzip
der Kraftersparnis fällt, zeigt die folgende Betrachtung. Drei
wesentliche Requisite des Katholizismus: der Cölibat, das
Klosterleben und die dogmatische Hierarchie, die sich zur
Inquisition aufgipfelte, waren höchst wirksame und umfassende
Mittel, um alles geistige Leben in einem bestimmten Stande
zu monopolisieren, der alle Elemente des Fortschritts aus den
weitesten Kreisen heraussaugte; dies war zwar in den aller-
rohesten Zeiten ein Weg, um die vorhandenen geistigen Kräfte
zu konservieren, die sich ohne Anhalt an einem bestimmten
Stande und bestimmten Mittelpunkten wirkungslos zerstreut
Forschungen (42) X 1. — Simmel. 9
[130]X 1.
hätten; dann aber bewirkte es doch eine negative Zuchtwahl.
Denn für alle tieferen und geistigeren Naturen gab es keinen
anderen Beruf, als das Klosterleben, und da dieses den Cö-
libat forderte, so war die Vererbung höherer geistiger Anlage
stark verhindert; gerade die roheren und niedrigeren Naturen
gewannen dadurch das Feld für sich und ihre Nachkommen-
schaft. Das ist immer und überall der Fluch des Keusch-
heitsideales; gilt die Keuschheit als sittliche Forderung und
sittliches Verdienst, so wird sie doch nur diejenigen Seelen
für sich gewinnen, die überhaupt der Beeinflussung durch
ideale Momente zugänglich sind, also gerade die feineren,
höheren, ethisch angelegten, und der Verzicht dieser auf Fort-
pflanzung muſs notwendig das schlechte Vererbungsmaterial
überwiegen machen. Wir haben hierin ein Beispiel für den
oben charakterisierten Fall, daſs die Konzentration der Kräfte
auf ein arbeitsteilig bestimmtes Glied zunächst zwar eine Stär-
kung, dann aber auf dem Umwege über die Gesamtverhält-
nisse des Organismus eine Schwächung eben dieses bewirkt.
Zuerst wurden durch die scharfe Differenzierung zwischen
den Organen für die geistigen und für die irdischen Interessen
die ersteren konserviert und gesteigert; indem sie aber durch
die völlige Abkehr vom Sinnlichen die Durchdringung der
gröſseren Massen mit vererbbaren höheren Qualitäten ver-
hinderten, sich selbst aber wieder nur aus eben diesen Massen
rekrutieren konnten, muſste ihr eigenes Material schlieſslich
degenerieren. Dazu kam der Dogmatismus im Inhalt der
Lehre, der die fortschrittliche Entfaltung geistigen Lebens
zunächst durch unmittelbare Einwirkung auf die Geister, dann
aber auch mittelbar durch die Ketzerverfolgung beschränkte,
welche man gleichfalls mit einer Zuchtwahl verglichen hat,
die mit äuſserster Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten
Männer auswählte, um sie auf irgend eine Weise unschädlich
zu machen. Allein in alledem hat doch vielleicht eine segens-
reiche Kraftersparnis gelegen. Vielleicht war damals die
geistige Kraft der Völker in ihren älteren Bestandteilen zu
erschöpft, in ihren jüngeren zu barbarisch, um bei voller
Freiheit zur Entwicklung jedes geistigen Triebes tüchtige
Gebilde hervorzubringen; es war vielmehr günstig, daſs ihr
Auskeimen verhindert oder beschnitten und dadurch die Säfte
konzentriert wurden; das Mittelalter war so eine Spar-
büchse für die Kräfte der Volksseele; seine bornierende Re-
ligiosität versah die Stelle des Gärtners, der die unzeitigen
Triebe wegschneidet, bis sich durch Konzentrierung des für
sie doch nur verschwendeten Saftes ein wahrhaft lebensfähiger
Zweig bildet. Wie viele Kräfte nun aber durch das Rück-
gängigmachen jener Arbeitsteilung in der Reformation direkt
und indirekt gespart wurden, liegt auf der Hand. Nun war
für die religiöse Empfindung und Bethätigung der Umweg
[131]X 1.
über den Priester und das weitläufige Zeremoniell überflüssig
gemacht; wie es nicht mehr der Wallfahrt nach bestimmten
Orten bedurfte, sondern von jedem Kämmerlein aus ein kür-
zester Weg zu Gottes Ohre führte; wie das Gebet nicht mehr
die Instanz der fürsprechenden Heiligen passieren muſste, um
Erfüllung zu finden; wie das individuelle Gewissen sich un-
mittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewuſst werden
durfte, ohne erst durch Nachfrage beim Priester diesen und
sich selbst mit Aussprachen, Zweifeln, Vermittelungen zu be-
lasten, — so wurde die Gesamtheit der innerlichen und äuſser-
lichen Religiosität vereinfacht und durch Rückgewähr der
herausdifferenzierten religiösen Qualitäten an den Einzelnen
die Kraft gespart, die der zu ihrer Bewährung nötige Umweg
über das Zentralorgan gekostet hatte.
Wir finden endlich die folgende Form, in der eine kraft-
sparende Rückbildung der Differenzierung stattfindet, insbe-
sondere in religiösen Verhältnissen. Zwei Parteien, von ge-
meinsamer Grundlage ausgehend, haben sich auf Unterschei-
dungslehren hin als entschieden gesonderte, für sich bestehende
Gruppen konstituiert. Nun soll eine Wiedervereinigung statt-
finden; allein nicht so wird das oft möglich sein, daſs das
Unterscheidende von einer oder von beiden aufgegeben wird,
sondern nur so, daſs es zur Sache der persönlichen Über-
zeugung jedes einzelnen Mitgliedes wird. Das Gemeinsame
beider, das für jede bisher nur in so fester Verbindung mit
ihrer specifischen Differenz existiert hatte, daſs jede Partei
es sozusagen für sich allein besaſs und es kein Gemeinsames
im Sinne einer zusammenschlieſsenden Kraft war, wird nun
wieder ein solches unter Vernachlässigung jener Differenzen.
Diese letzteren dagegen verlieren ihre gruppenbildende Macht
und werden vom Ganzen auf das Individuum übertragen.
Bei den Aussöhnungsversuchen, denen sich Paul III. den
Lutheranern gegenüber geneigt zeigte, war die Absicht offen-
bar beiderseits auf eine derartige Formulierung der Dogmen
gerichtet, die beiden Parteien wieder einen gemeinsamen Boden
gewährte, während es im übrigen jedem überlassen bleiben
konnte, sich für sein Teil noch das Besondere und Ab-
weichende, dessen er bedurfte, hinzuzudenken. Auch bei der
evangelischen Union in Preuſsen war die Meinung keines-
wegs die, daſs die bisherigen Unterscheidungslehren ver-
schwinden, sondern nur, dass sie zur Privatsache jedes werden
sollten, statt von einem besonders differenzierten konfessionellen
Gebilde getragen zu werden; es stünde dem Unionisten demnach
noch frei, von der Willensfreiheit im lutherischen Sinne, vom
Abendmahl im reformierten zu denken. Die scheidenden
Fragen waren nur keine entscheidenden mehr; sie waren
wieder an das Gewissen des Einzelnen zurückgegangen und
hatten dadurch den gemeinsamen Grundgedanken die Mög-
9*
[132]X 1.
lichkeit gegeben, die vorangegangene Differenzierung wieder
aufzuheben — was übrigens der in unserm dritten Kapitel
gewonnenen Formel entspricht, nach der der Weg der Ent-
wicklung von der kleineren Gruppe einerseits zur gröſseren,
andererseits zugleich zur Individualisierung führt. Eine Kraft-
ersparnis liegt hier insofern vor, als das religiöse Zentral-
gebilde von solchen Fragen und Angelegenheiten entlastet
wird, die der Einzelne am besten für sich allein ordnet, und
entsprechend der Einzelne nicht mehr durch die Autorität
seiner Konfession genötigt ist, mit dem, was ihm richtig
erscheint, noch eine Anzahl Glaubensartikel auſser den
Hauptsachen in Kauf zu nehmen, die ihm persönlich über-
flüssig sind.
Wenn auch keine genaue Parallelität hiermit, so doch
eine teilweise Verwandtschaft der Form zeigt die Entwick-
lung des Kriegerstandes auf. Ursprünglich ist jedes männliche
Mitglied des Stammes auch Krieger; mit jeglichem Besitz und
dem Wunsch nach Mehrbesitz ist es unmittelbar verbunden,
daſs jener verteidigt, dieser erkämpft werde; die Führung
der Waffen ist die selbstverständliche Konsequenz davon, daſs
jemand etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat. Daſs eine
so allgemeine, natürliche, mit jeglichem Interesse verknüpfte
Bethätigung von dem Einzelnen als solchem gelöst und in
einem besonderen Gebilde verselbständigt werde, bedeutet
schon eine hohe Differenzierung und eine besonders groſse
Kraftersparnis. Denn je mehr eigentliche Kulturbeschäfti-
gungen sich ausbildeten, desto störender muſste die Notwen-
digkeit, jeden Augenblick zu den Waffen zu greifen, desto
kraftsparender die Einrichtung wirken, daſs lieber ein Teil
der Gruppe sich ganz der kriegerischen Beschäftigung wid-
mete, damit die Übrigen möglichst ungestört ihre Kräfte für
die anderen nötigen Lebensinteressen entfalten könnten; es
war eine Arbeitsteilung, welche ihren Gipfel in den Söldnern
erreichte, die von jedem auſserkriegerischen Interesse soweit
losgelöst waren, daſs sie sich jeder beliebigen Kriegspartei zu
Diensten stellten. Die erste Rückgängigmachung dieser Dif-
ferenzierung fand da statt, wo die Heere ihren internationalen
oder unpolitischen Charakter verloren und wenigstens dem
Lande entstammten, für das sie fochten, so daſs der Krieger,
wenn er auch im übrigen nur dies und nichts anderes
war, doch wenigstens zugleich Patriot sein konnte. Wo dies
aber der Fall ist, da wird doch die zugrunde liegende,
in den Kampf mitgebrachte Empfindung, der Mut, die
Spannkraft, die kriegerische Tüchtigkeit überhaupt auf eine
Höhe gehoben, die der vaterlandslose Söldner nur künstlich,
durch bewuſste Willensanstrengung und mit entsprechend
gröſserem Kraftverbrauch erreichen konnte. Überall bedeutet
es eine erhebliche Kraftersparnis, wenn eine erforderte Be-
[133]X 1.
thätigung gern und mit Unterstützung des spontanen Gefühles
geschieht; die Widerstände der Trägheit, der Feigheit, der
Abneigung jeder Art, die sich unsern Thätigkeiten entgegen-
setzen, fallen dann eben von selbst weg, während es sonst,
wenn unser Herz nicht dabei beteiligt ist, besonderer An-
strengung zu ihrer Überwindung bedarf. Das höchste Maſs
so zu erzielender Kraftersparnis stellen die modernen Volks-
heere dar, in denen die Differenzierung des Kriegerstandes
ganz zurückgebildet ist. Indem die Wehrpflicht nun wieder
jeden Bürger trifft, indem die Gesamtheit eines aus unermeſs-
lich vielen Elementen bestehenden Vaterlandes an jeden Ein-
zelnen gewiesen ist und mit auf ihm ruht, indem mannich-
faltigste eigene Interessen der kriegerischen Verteidigung
bedürfen, — wird ein Maximum von innerlichen Spannkräften
dieser Richtung frei, und es bedarf weder des Soldes, noch
des Zwanges, noch der künstlichen Anspannung, um den
gleichen oder vielmehr einen viel höheren militärischen Effekt
zu erzielen, als die Differenzierung des Kriegerstandes ihn
hervorbrachte.
Diese auch sonst häufige Art der Entwicklung, nach der
das letzte Glied derselben eine ähnliche Form wie das An-
fangsglied aufweist, sehen wir in der wichtigen Frage nach
der Stellvertretung differenzierter Organe für einander. Im
körperlichen Leben sind stellvertretende Thätigkeiten nicht
selten, und es ist zunächst klar, daſs, je niedriger und un-
differenzierter der Bau eines Wesens ist, seine Teile um so eher
für einander vikariieren können; wenn man den Süſswasser-
polypen umkrämpelt, sodaſs sein innerer, bisher verdauender
Teil an die Stelle der Haut kommt und umgekehrt, so findet
demnächst eine entsprechende Vertauschung der Funktionen
statt, sodaſs die frühere Haut nun das verdauende Organ wird
u. s. w. Je feiner sich nun die Organe eines Wesens individuell
ausgestalten, desto mehr ist jedes einzelne auf seine besondere,
von keinem anderen erfüllbare Funktion angewiesen. Aber
gerade bei dem Gipfelpunkt aller Entwicklung, bei dem Ge-
hirn, ist ein Vikariieren der Teile für einander wieder in re-
lativ hohem Maſse vorhanden. Die teilweise Fuſslähmung,
die ein Kaninchen durch teilweise Zerstörung der Hirnrinde
erlitten, wird nach einiger Zeit wieder aufgehoben. Die apha-
sischen Störungen bei Verletzung des Gehirns lassen sich zum
Teil wieder gutmachen, indem offenbar andere Hirnpartieen
die Funktionen der verletzten übernehmen; auch ein Vikariat
nach der quantitativen Seite hin findet statt, indem nach Ver-
lust eines Sinnes die übrigen an Schärfe soweit zuzunehmen
pflegen, daſs sie die durch jenen Verlust behinderten Lebens-
zwecke möglichst erreichen helfen. Dem entspricht es nun
ganz, wenn innerhalb der niedrigsten Gesellschaft die Un-
differenziertheit ihrer Mitglieder es mit sich bringt, daſs die
[134]X 1.
meisten in ihr vor sich gehenden Thätigkeiten von jedem be-
liebigen vollzogen werden können, jeder an jedes Stelle treten
kann. Und wenn eine höhere Entwicklung diese Möglichkeit
des Vikariats aufhebt, indem sie jeden für eine dem andern
versagte Specialität ausbildet, so finden wir gerade wieder,
daſs die höchsten und intelligentesten Menschen eine hervor-
ragende Fähigkeit besitzen, sich in alle möglichen Lagen zu
finden und alle möglichen Funktionen zu übernehmen. Die
Differenzierung hat sich hier vom Ganzen, von dem sie die
Einseitigkeit der Teile fordert, auf den Teil selbst übertragen
und diesem eine solche innere Mannichfaltigkeit verliehen, daſs
für jeden auftauchenden äuſseren Anspruch eine entsprechende
Fähigkeit da ist. Die Spirale der Entwicklung erreicht hier-
mit einen Punkt, der senkrecht über dem Ausgangspunkt
liegt: auf dieser Höhe der Ausbildung verhält sich der Ein-
zelne zum Ganzen nicht anders, als im primitiven Zustande,
nur daſs in diesem beides nicht differenziert, in jenem aber
differenziert ist. Die scheinbare Rückbildung der Differen-
zierung, die in diesen Erscheinungen liegt, ist thatsächlich
eine Weiterbildung derselben; sie ist an den Mikrokosmos
zurückgegangen.
In entsprechender Weise kann man die oben dargelegte
militärische Entwicklung nicht als eine Rückläufigkeit des
Differenzierungsprozesses ansehen, sondern als einen Wechsel
der Form, in der, und des Subjektes, an dem er sich voll-
zieht. Während zur Zeit der Söldner nur ein Bruchteil des
Volkes Soldat war, aber ziemlich das ganze Leben lang, ist
es jetzt das ganze Volk, aber nur eine gewisse Zeit lang. Die
Differenzierung hat sich aus dem Nebeneinander innerhalb
der Gesamtheit auf das Nacheinander der Lebensperioden
des Individuums übertragen. Überhaupt ist diese Differen-
zierung der Zeit nach wichtig, derzufolge nicht Übertragung
einer Funktion auf einen bestimmten Teil und gleichzeitig die
einer andern auf einen andern stattfindet, sondern das Ganze
zu einer Zeit sich einer bestimmten Funktion hingiebt, zu
einer andern einer andern. Wie bei der homochronen Diffe-
renzierung ein Teil sich einseitig gegen anderweitig mögliche
Funktionen verschlieſst, so hier eine Periode. Jener auf so
vielen Gebieten bemerkbare Parallelismus der Erscheinungen
der räumlichen Folge und der zeitlichen Folge nach macht
sich auch hier geltend. Wenn der Weg der Entwicklung der
ist, daſs aus unterschiedsloser Organisation sich scharf ge-
sonderte, nebeneinander funktionierende Glieder bilden, daſs
aus der homogenen Masse der Gruppengenossen sich indivi-
duelle, einseitig ausgebildete Persönlichkeiten differenzieren:
so geht eben derselbe auch dahin, daſs das gleichförmige, von
Anfang an in geradlinigeren Gleisen verlaufende Leben nie-
driger Stufen in immer entschiedenere, schärfer gegen einander
[135]X 1.
abgesetzte Perioden zerfällt, und daſs überhaupt das Leben
des Einzelnen, wenngleich als Ganzes und, relativ betrachtet,
einseitiger, so doch in sich eine immer gröſsere Mannichfaltig-
keit von besonders charakterisierten Entwicklungsstadien durch-
macht. Darauf weist schon die Thatsache hin, daſs, je höher
ein Wesen steht, es um so langsamer den Gipfel seiner Ent-
wicklung erreicht; während das Tier in der kürzesten Frist
alle die Fähigkeiten völlig entwickelt, in deren Ausübung dann
sein weiteres Leben vergeht, braucht der Mensch dazu unver-
gleichlich längere Zeit und durchläuft also viel mehr ver-
schiedenartige Entwicklungsperioden; und offenbar muſs sich
dies in dem Verhältnis des niederen Menschen zum höheren
wiederholen. Das Leben der höchsten Exemplare unserer
Gattung ist oft bis in das Greisenalter hinein fortwährende
Entwicklung — sodaſs Goethe noch die Unsterblichkeit
daraufhin postulierte, daſs er hier keine Zeit zu vollkommner
Entwicklung hätte —, von der man sogar oft die Vorstellung
hat, daſs die spätere Stufe nicht sowohl ein Fortschritt über
jede frühere hinaus und diese nur die zu überwindende Vor-
bedingung zu jener sei, sondern vielmehr die, als stellten
diese verschiedenen Überzeugungs- und Bethätigungsweisen
die an sich gleichberechtigten Seiten des menschlichen We-
sens dar; und von den Wesen, die das Ganze unserer Gattung
möglichst vollkommen in sich repräsentieren, würden sie im
Nacheinander durchlaufen, weil ihr Bestehen im gleichzeitigen
Nebeneinander logisch und psychologisch unmöglich ist. Ich
erinnere daran, wie ein Kant eine rationalistisch-dogmatische,
eine skeptische und eine kritische Periode durchlaufen hat,
deren jede eine allgemeine und relativ berechtigte Seite mensch-
licher Ausbildung darstellt und sonst in gleichzeitiger Ver-
teilung auf verschiedene Individuen vorkommt; ferner an den
Stilwechsel innerhalb künstlerischer Entwicklungen, an den
Wechsel auſserberuflicher Interessen — von dem der Ver-
kehrskreise bis zu dem des Sports —, an die gegenseitige
Verdrängung realistischer und idealistischer, theoretischer und
praktischer Epochen des Lebens, an die sich ablösenden Über-
zeugungen in mancher groſsen politischen Laufbahn. Jede
Parteimeinung, der die letztere etwa sich abschnittsweise zu-
wendet, ruht auf einem tiefgegründeten Interesse der mensch
lichen Natur; insofern die Gesamtheit überhaupt fortschreitet,
entwickeln sich in ihr, obschon nicht immer in gleichen Maſs-
verhältnissen, die Momente, die für Kollektivismus wie für
Individualismus, für konservative wie für fortschrittliche Maſs-
regeln, für Bevormundung wie für Liberalismus sprechen;
und die wachsende Entschiedenheit des Parteilebens zeigt,
wenn nicht das Recht, so doch die psychologische Kraft jeder
dieser Tendenzen. Wenn der Einzelne nun befähigt ist, die
Gesamtheit in sich aufzunehmen und zum Schnittpunkt der
[136]X 1.
in ihr angesponnenen Fäden zu werden, so ist dies entweder
im Nebeneinander oder im Nacheinander ihrer einzelnen Mo-
mente möglich. Und hier kommt der Gesichtspunkt der
Kraftersparnis wieder zur Geltung; wo entgegengesetzte Ten-
denzen gleichzeitig ihren Anspruch auf unser Bewuſstsein
geltend machen, wird unzählige Male Reibung, Hemmung,
unnützes Aufbrauchen von Kraft stattfinden. Darum diffe-
renziert die natürliche Zweckmäſsigkeit dieselben, indem sie
sie auf verschiedene Zeitmomente verteilt. Die Kraft ein-
seitiger Persönlichkeiten erklärt sich sehr vielfach gewiſs nicht
so, daſs sie von vornherein eine übernormale Kraftsumme be-
sitzen, sondern so, daſs ihnen die unnütze Hemmung und
Aufreibung der Kraft durch Verschiedenartigkeit der Interessen
und Strebungen erspart bleibt; und entsprechend leuchtet es
ein, daſs bei einer gegebenen Mannichfaltigkeit von Anlagen
und Reizbarkeiten dasjenige Wesen die geringsten inneren
Widerstände, also den geringsten Kraftverbrauch aufweisen
wird, das in jeder gegebenen Periode seines Lebens sich ein-
seitig der einen oder der anderen hingiebt und bei der Un-
möglichkeit, dieselben im Nebeneinander an verschiedene Or-
gane zu verteilen, sie wenigstens im Nacheinander an geson-
derte Epochen differenziert. Dann wird das Zusammentreffen
entgegengesetzter Strebungen und ein gegenseitiges Paralysieren
ihrer Kraft nur in relativ kurzen Übergangsperioden statt-
finden, in denen das Alte noch nicht ganz tot, das Neue noch
nicht ganz lebendig ist, und die deshalb auch immer ein ge-
ringeres Maſs von Kraftentwicklung darbieten.
Zu derselben Lösung der Frage nach der Thätigkeits-
art, die ein Maximum von Kraft spare, resp. entwickle, kommt
man, wenn man nicht, wie bisher, das Nacheinander des Ver-
schiedenen, sondern die Verschiedenheit im Nacheinander be-
tont. Ist die Aufgabe, mannichfaltige Strebungen so anzu-
ordnen, daſs sie sich in möglichst vollkommener Weise und
mit möglichster Energie ausleben können, so hatten wir ihre
Differenzierung in der Zeit als erforderlich erkannt; wenn
nun umgekehrt eine zeitliche Entwicklung gegeben ist und
gefragt wird, welcher Inhalt für sie der geeignetste sei, um
mit möglichst wenig Kraftaufwand eine möglichst groſse Wir-
kung zu erzielen, so muſs geantwortet werden: ein in sich
möglichst differenzierter. Die Analogie mit dem Nutzen, den
der Fruchtwechsel gegenüber der Zweifelderwirtschaft bringt,
muſs hier jedem beifallen. Wird ein Feld immer mit der-
selben Fruchtart bepflanzt, so sind in relativ kurzer Zeit alle
die Bestandteile, die sie zu ihrer Entwicklung braucht, dem
Boden entzogen, und dieser bedarf der Ruhe zu ihrer Er-
gänzung. Wird aber eine andere Art angepflanzt, so bedarf
diese anderer Bodenbestandteile, welche von jener nicht be-
ansprucht worden sind, und läſst dafür die bereits erschöpften
[137]X 1.
in Ruhe. Dasselbe Feld gewährt also zwei verschiedenen
Arten die Möglichkeit der Entwicklung, die es zwei gleichen
nicht gewährt. Die Ansprüche, die an die Kraft des mensch-
lichen Wesens gestellt werden, verhalten sich nicht anders.
Der veränderte Anspruch zieht aus dem Boden des Lebens
eine Nahrung, die der unverändert gebliebene nicht gefunden
hätte, weil er auf die früher gebrauchten und deshalb mehr
oder weniger verbrauchten angewiesen wäre. Auch unsere
Beziehungen zu Menschen erschöpfen sich leicht, wenn wir
immer dasselbe von ihnen verlangen, während sie sich frucht-
bar erhalten, wenn wir durch abwechselnde Ansprüche ver-
schiedene Teile ihres Wesens in Thätigkeit setzen. Wie der
Mensch in sensorischer Beziehung ein auf den Unterschied
angewiesenes Wesen ist, d. h. nur den Unterschied gegen den
bisherigen Zustand empfindet und wahrnimmt, so ist er es
auch in motorischer Beziehung, insofern die Energie der Be-
wegung sich auſserordentlich schnell abstumpft, wenn sie keine
Unterschiede enthält. Die Kraftersparnis aus dieser Form
der Differenzierung unseres Handelns läſst sich folgender-
maſsen darstellen. Haben wir zwei verschiedene Thätigkeits-
formen a und b vor uns, die den gleichen oder zwei quanti-
tativ gleiche Effekte e hervorbringen können, und haben wir
soeben oder eine Zeit lang hintereinander schon a ausgeübt:
so wird zur weiteren Erreichung von e durch a eine gröſsere
Anstrengung gehören, als durch b, das eine Abwechselung
gegen die bisherige Thätigkeit bildet. Wie es für den Em-
pfindungsnerven eines höheren zentripetalen Reizes bedarf, um
nach eben stattgehabter Erregung noch einmal die gleiche zu
produzieren, als wenn eine gleiche von einem andern, bisher
nicht oder in anderer Weise gereizten verlangt wird: genau
so braucht es eines gröſseren zentrifugalen Reizes, also eines
gröſseren Gesamt-Kraftaufwandes des Organismus, um den
eben erzielten Effekt noch einmal zu bewirken, als wenn es
sich um einen neuen handelt, für den die specifische Energie
noch nicht verbraucht ist. Es ist nicht möglich zu sagen,
daſs ein Wesen, dessen Bethätigungen im Nacheinander nicht
differenziert sind, deshalb schon mehr Kraft verbrauche, als
ein differenzierendes, wohl aber, daſs es mehr Kraft ver-
braucht, wenn es gleich groſse Erfolge wie das letztere er-
reichen will.
Überblicken wir die bisher gewonnenen Resultate, so
scheint sich ein fundamentaler Widerspruch durch sie hindurch
zu ziehen, den ich statt durch Rekapitulation lieber direkt
darstellen will. Die Differenzierung der socialen Gruppe steht
nämlich offenbar zu der des Individuums in direktem Gegen-
satz. Die erstere bedeutet, daſs der Einzelne so einseitig wie
möglich sei, daſs irgend eine singuläre Aufgabe ihn ganz er-
fülle und die Gesamtheit seiner Triebe, Fähigkeiten und In-
[138]X 1.
teressen auf diesen einen Ton abgestimmt sei, weil bei der
Einseitigkeit des Einzelnen die gröſste Möglichkeit und Not-
wendigkeit dafür vorhanden ist, daſs sie sich inhaltlich von
der jedes andern Einzelnen unterscheide. So bannt der Zwang
der öffentlich wirtschaftlichen Verhältnisse den Einzelnen sein
Leben lang in die einförmigste Arbeit, in die umschränkteste
Specialität, weil er auf diese Weise die Fertigkeit in ihr er-
langt, die die geforderte Güte und Billigkeit des Produktes
ermöglicht; so verlangt das öffentliche Interesse oft Einseitig-
keit des politischen Standpunktes, die dem Einzelnen oft durch-
aus nicht sympathisch ist, wofür die Solonische Bestimmung
über Parteilosigkeit heranzuziehen ist; so steigert die Allge-
meinheit die Ansprüche an diejenigen, denen sie irgendwelche
Stellungen gewährt, derart, daſs ihnen oft nur durch äuſserste
Konzentration auf das Fach unter Ausschluſs aller andern
Bildungsinteressen genügt werden kann. Dem gegenüber be-
deutet die Differenzierung des Individuums gerade das Auf-
heben der Einseitigkeit; sie löst das Ineinander der Willens-
und Denkfähigkeiten auf und bildet jede derselben zu einer
für sich bestehenden Eigenschaft aus. Gerade indem der
Einzelne das Schicksal der Gattung in sich wiederholt, setzt
er sich in Gegensatz zu diesem selbst; das Glied, das sich
nach der Norm des Ganzen entwickeln will, negiert damit in
diesem Falle seine Rolle als Teil desselben. Die Mannich-
faltigkeit scharf gesonderter Inhalte, die das Ganze verlangt,
ist nur herstellbar, wenn der Einzelne auf eben dieselbe
verzichtet: man kann kein Haus aus Häusern bauen. Daſs
die Entgegengesetztheit dieser beiden Tendenzen keine abso-
lute ist, sondern nach verschiedenen Seiten hin ihre Grenze
findet, ist deshalb selbstverständlich, weil der Trieb der Diffe-
renzierung selbst nicht ins Unendliche geht, sondern für jeden
gegebenen Einzel- oder Kollektivorganismus an dem Geltungs-
bereich des entgegengesetzten Triebes halt machen muſs. So
wird es, wie wir schon mehrfach hervorgehoben, einen
Grad von Individualisierung der Gruppenmitglieder geben,
bei dem entweder die Leistungsfähigkeit dieser auch für ihren
Specialberuf auf hört, oder bei dem die Gruppe auseinander-
fällt, weil jene keine Beziehungen mehr zu einander finden.
Und ebenso wird auch das Individuum für sich selbst darauf
verzichten, die Mannichfaltigkeit seiner Triebe bis in die
äuſserste Möglichkeit hin auszuleben, weil dies die unerträg-
lichste Zersplitterung bedeuten würde. Innerhalb gewisser
Grenzen wird also das Interesse des Einzelnen an seiner
Differenzierung im Sinne eines Ganzen zu keinem andern
Zustand führen, als das Interesse der Gesamtheit an seiner
Differenzierung im Sinne eines Gliedes. Wo aber diese Grenze
liegt, wo die Wünsche des Einzelnen nach innerer Mannich-
[139]X 1.
faltigkeit oder nach specialisierter Einseitigkeit mit den gleichen
Forderungen der Allgemeinheit an ihn zusammenfallen, das
werden nur diejenigen im Prinzip ausmachen wollen, die die
aus augenblicklichen Verhältnissen sich ergebende Forderung
nur so meinen stützen zu können, daſs sie sie als absolute,
aus dem an sich seienden Wesen der Dinge folgende hin-
stellen. Es ist jedenfalls die Aufgabe der Kultur, jene Grenzen
immer zu erweitern und die socialen wie die individuellen
Aufgaben immer mehr so zu gestalten, daſs der gleiche Grad
von Differenzierung für beide erforderlich ist.
Was gegen die wachsende Verwirklichung dieses Zieles
spricht, ist vor allem dies, daſs die entgegengesetzten An-
sprüche von beiden Seiten her wachsen. Wenn nämlich das
Ganze stark differenziert ist und eine Fülle sehr verschieden-
artiger Thätigkeiten und Persönlichkeiten einschlieſst, so
werden die Triebe und Anlagen, die durch die Vererbung in
dem Einzelnen auftreten, schlieſslich gleichfalls sehr mannich-
faltige und divergente sein und werden in ihrer ganzen Bunt-
heit und Divergenz in demselben Maſse zur Äuſserung drängen,
in dem gerade die Differenzierung der Verhältnisse, die sie
hervorrief, ihnen die Möglichkeit dieser allseitigen Bewährung
versagt. So lange die Differenzierung des socialen Ganzen
noch nicht die Individuen, sondern vielmehr ganze Unter-
abteilungen desselben betrifft — also bei Herrschaft des
Kastenwesens, des erblichen Handwerks, auch der patriarcha-
lischen Familienform und der Zunft, und bei jeder gröſseren
Strenge der Standesunterschiede —, wird dieser innere Wider-
spruch der Entwicklung noch weniger auftreten, weil die Ver-
erbung der Eigenschaften wesentlich innerhalb des gleichen
Kreises bleibt, also solche Personen trifft, die die so über-
lieferten Triebe und Dispositionen auch ausbilden können.
Sobald indes die Kreise sich mischen, sei es so, daſs der Ein-
zelne an mehreren Teil hat, sei es durch Anhäufung der von
verschiedenen Ascendenten ausgehenden Anlagen auf einen
Erben, da wird mit der Andauer eines solchen Zustandes
durch viele Generationen schlieſslich jeder Einzelne eine Reihe
unerfüllbarer Forderungen in sich fühlen. In je umfassen-
derer Weise die verschiedenen Bestandteile der Gesellschaft
sich kreuzen, desto verschiedenere Dispositionen trägt jeder
Nachkömmling von ihr zu Lehen, desto vollkommner erscheint
er der Anlage nach als ihr Mikrokosmos, desto unmöglicher
aber ist es ihm zugleich, jede Anlage zu der Entfaltung zu
bringen, auf die sie hindrängt. Denn erst bei starkem An-
wachsen des socialen Makrokosmos findet jene Mischung
seiner Elemente statt, und gerade dieses Anwachsen zwingt
ihn, immer gröſsere Specialisierung seiner Mitglieder zu ver-
langen. Hiermit mag die gröſsere Häufigkeit der sogenannten
[140]X 1.
problematischen Naturen in der modernen Zeit in Zusammen-
hang stehen. Goethe bezeichnet als problematisch solche
Naturen, die keiner Situation genugthun und denen keine
Situation genugthut. Wo sich nun eine groſse Anzahl von
Trieben und Dispositionen, die natürlich auch in Form von
Begehrungen auftreten, zusammenfindet, da wird das Leben
leicht sehr viele unaufgegangene Reste zeigen. Die Befriedi-
gungen, die die Wirklichkeit zu bieten weiſs, betreffen nur
dieses und jenes einzelne Verlangen, und wo es ursprünglich
scheint, als ob ein [Schicksal], eine Beschäftigung, ein Ver-
hältnis zu Menschen uns ganz ausfüllte, da pflegt doch bei
vielseitigeren Naturen bald eine Lokalisierung der Befriedi-
gung einzutreten, und wenn die Verbindungen innerhalb der
Seele zunächst auch den Reiz auf das Ganze derselben sich
fortpflanzen lassen, so beschränkt er sich doch in kurzem auf
seinen ursprünglichen Herd, die sympathisch erregten Schwin-
gungen verklingen, und das Problem allseitiger Befriedigung
wird auch durch diese Situation nicht als gelöst erkannt. Und
die Verhältnisse ihrerseits fordern für die specielle Lage den
ganzen Menschen, der sich derselben aber doch nur dann ge-
währen kann, wenn die Gesamtheit seiner Anlagen sich einiger-
maſsen nach dieser Richtung hin vereinigen läſst, was eben
angesichts der Mannichfaltigkeit der Vererbungen immer un-
wahrscheinlicher wird. Nur sehr starke Charaktere, die einer-
seits den nicht für die augenblickliche Forderung geeigneten
Trieben halt gebieten, andererseits die Forderung selbst so
zu gestalten die Kraft haben, daſs sie mit ihren eigenen Be-
gehrungen übereinstimmt, — nur diese können sich von pro-
blematischer Wesensart in Zeiten fernhalten, wo die Lagen
immer specialisierter und die Anlagen immer mannichfaltiger
werden. Mit Recht ist deshalb der Ausdruck: problematische
Natur fast zu einem Synonymum von: schwacher Charakter —
geworden, wenngleich die Schwäche des Charakters nicht die
eigentliche und positive Ursache jener Wesensgestaltung ist,
die vielmehr nur in den Verhältnissen der individuellen und
der socialen Differenzierung liegt, sondern nur insoweit Ur-
sache, als man behaupten kann, daſs ein entschieden starker
Charakter diesen Verhältnissen ein Gegengewicht geboten
hätte.
Hier erzeugt also das Differenzierungsstreben, indem es
sich einerseits auf das Ganze, andererseits auf den Teil be-
zieht, einen Widerspruch, der das Gegenteil von Kraftersparnis
ist. Und ganz analog sehen wir auch innerhalb des Einzel-
wesens die erwähnte Differenzierung im Nacheinander in
Konflikt mit der im Nebeneinander geraten. Die Einheit-
lichkeit des Wesens, die charaktervolle Bestimmtheit des
Handelns und der Interessen, das Festhalten einer einmal
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eingeschlagenen Entwicklungsrichtung — alles dies wird von
starken Trieben unserer Natur selbst um den Preis der Ein-
seitigkeit verlangt und damit jene primäre Kraftersparnis er-
zielt, die in der einfachen Ablehnung aller Vielheit liegt;
dem gegenüber steht der Trieb nach mehrfacher Bewährung,
allseitiger Entfaltung, und bewirkt die sekundäre Kraft-
ersparnis, die in der Geschmeidigkeit vielfältiger Kräfte, in
der Leichtigkeit des Übergangs von einer Anforderung des
Lebens an die andere liegt. Man kann auch hierin die Wir-
kung der groſsen Prinzipien sehen, die alles organische Leben
bestimmen: der Vererbung und der Anpassung; die stabile
Einheitlichkeit des Lebens, die Gleichheit des Charakters der
einen Lebensperiode mit der andern entspricht am Individuum
dem, was an der Gattung als Erfolg der Vererbung auftritt,
während Mannichfaltigkeit im Thun und Leiden als Anpassung
erscheint, als Modifikation des angeborenen Charakters je nach
den Umständen, die in unberechenbarer Fülle und Entgegen-
gesetztheit an uns herantreten. Und nun sehen wir den Kon-
flikt dieser, auf das ganze Leben erstreckten Tendenzen sich
innerhalb des Differenzierungsstrebens selbst wiederholen, wie
überhaupt im Organischen das Verhältnis der Teile eines
Ganzen zu einander sich oft im gegenseitigen Verhältnis der
Unterabteilungen eines Teiles wiederholt. Wo die Neigung
für Differenzierung vorhanden ist, da macht sich doch der
Gegensatz geltend, daſs jede gegebene kürzere Epoche einer-
seits mit möglichst scharf ausgebildetem, nach einer Rich-
tung hin differenziertem Inhalt erfüllt und nach irgendwelcher
Zeit von einer andern, von anderm Inhalt in gleicher Form
erfüllten, abgelöst werde — also Differenzierung im Nach-
einander; und andererseits beansprucht nun jeder gegebene
Zeitteil einen in sich, d. h. im Nebeneinander, möglichst diffe-
renzierten, mannichfachen Inhalt. Auf unzähligen Gebieten
wird dieser Zwiespalt von der äuſsersten Wichtigkeit. Z. B.
die Auswahl des Lehrstoffes für die Jugend hat stets einen
Kompromiſs zwischen den beiden Tendenzen zu schlieſsen:
daſs zunächst ein einheitlicher Teil des zu bewältigenden In-
halts vorgenommen und einseitig, aber entsprechend fest ein-
geprägt werde, um dann einem andern, ebenso behandelten
Platz zu machen, und daſs andererseits doch auch ein Neben-
einander der Gegenstände stattfinden muſs, das zwar nicht so
schnell Gründlichkeit erzielt, aber durch die Abwechselung
den Geist frisch und anpassungsfähig erhält. Die Tempera-
mente, die Charaktere, die gesamten Verschiedenheiten des
menschlichen Wesens, von den äuſserlichen des Berufs bis zu
denen der metaphysischen Weltanschauung, zeichnen sich
dadurch voneinander ab, daſs die einen die Vielheit mehr
im Nacheinander, die andern mehr im Nebeneinander ent-
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wickeln, resp. bewältigen. Man kann vielleicht behaupten,
daſs sich die Proportion zwischen beiden für jedes Individuum
etwas anders, als für jedes andere stellen wird, und daſs die
Richtigstellung derselben zu den letzten Zielen praktischer
Lebensweisheit gehört. Es pflegt erst durch die Reibung zwi-
schen den beiden Tendenzen auſserordentlich viel Kraft ver-
schwendet zu werden, ehe man sie so auf die verschiedenen
Aufgaben des Lebens verteilt, daſs dem Prinzip der höchsten
Kraftersparnis genügt wird.
Man muſs indes im Auge behalten, daſs es sich im letzten
Grunde hier auch mehr um einen graduellen, als um einen
prinzipiellen Unterschied handelt. Vermöge der Enge des Be-
wuſstseins, die den Inhalt desselben in jedem gegebenen Augen-
blick auf eine oder äuſserst wenige Vorstellungen beschränkt,
ist doch auch das sogenannte Nebeneinander der verschie-
denen inneren und äuſseren Bethätigungen und Entwicklungen,
genau genommen, ein Nacheinander. Daſs wir eine gewisse
Periode als Einheit abgrenzen und das in ihr Vorgehende
als nebeneinander vorgehend bezeichnen, ist schlieſslich etwas
rein Willkürliches. Wir vernachlässigen die kleinen Zeit-
unterschiede zwischen dem Auftauchen der Entwicklungs-
inhalte in einer Periode und betrachten sie als gleichzeitig;
die Gröſse dieses vernachlässigten Zeitunterschiedes hat aber
keine objektive Grenze. Wenn also in dem obigen pädago-
gischen Falle mehrere Lehrgegenstände nebeneinander betrieben
werden, so ist dies doch, genau genommen, kein Nebeneinander,
sondern ein Nacheinander, das nur kürzere Intervalle zeigt,
als in dem Falle, den wir im engeren Sinne so bezeichnen.
Für das Nebeneinander bleiben demnach nur zweierlei speci-
fische Bedeutungen bestehen. Zunächst das wechselseitige
Nacheinander der Inhalte; zwei Entwicklungsreihen bezeichnen
wir als gleichzeitig, wenn auf einen Schritt in der einen
immer ein solcher in der andern und dann wieder ein Zurück-
kehren zu jener erfolgt; sie sind so als Ganze in demselben
Zeitabschnitt befaſst, wenngleich ihre Teile immer verschie-
dene Unterabteilungen desselben erfüllen. Zweitens bestehen
die Fähigkeiten und Dispositionen, die durch nacheinander-
folgende Thätigkeiten erworben werden, thatsächlich neben-
einander, sodaſs der eintretende Reiz jede beliebige erwecken
kann; neben dem Nacheinander der Erwerbungen und dem
Nacheinander der Ausübungen besteht das Nebeneinander der
latenten Kräfte. Sind dies die beiden Formen, in denen das
Nebeneinander der Differenzierungen seinen genaueren Sinn
findet, so wird die Konkurrenz desselben mit der Tendenz
des Nacheinander sich folgendermaſsen darstellen. Wo es in
einem abwechselnden Auftreten der Thätigkeiten besteht, han-
delt es sich um die Frage, wie lange jedes Element des Kom-
[143]X 1.
plexes im Vordergrunde stehen soll, ehe es von dem andern
abgelöst wird. Was diesen Konflikt von dem einfachen zwi-
schen dem Beharrungsstreben der einzelnen Thätigkeitsform
und dem sich Vordrängen der andern unterscheidet, ist
die dadurch eintretende Modifikation, daſs hier mit dem Nach-
lassen jeder die Vorstellung ihrer Rückkehr verbunden ist.
Dies kann das Nachlassen einerseits erleichtern; es kann es
aber auch erschweren, sobald der Übergang von einer zur
andern überhaupt mit Schwierigkeiten verbunden ist und nun
das Bewuſstsein, daſs mit jedem ersten Wechsel auch gleich
der zweite näher rückt, leicht zu einem möglichsten Hinaus-
schieben des ersten führen kann. Ein deutliches Gegenstreben
der erwähnten Tendenzen findet sich nun etwa in der Orga-
nisierung der Beamtenfunktionen, sei es im privaten oder im
öffentlichen Dienst. Der Vorgesetzte oder Chef wird oft ein
Interesse daran haben, daſs die Thätigkeit seiner Beamten
einen gewissen Kreis von Aufgaben umfasse, denen sie sich
abwechselnd widmen. Dies hat eine gröſsere Gewandtheit in
den Geschäften und vor allem die Erleichterung von nötig
werdenden Stellvertretungen und Aushülfen zur Folge. Dem
aber wird sich oft ein Interesse des Beamten selbst entgegen-
stellen, der die ihm überhaupt zugänglichen Funktionen lieber
in eine Reihe gliedern wird, die die eine endgültig abgethan
sein läſst, wenn die nächste beginnt. Denn hierdurch erreicht
er viel eher ein Aufsteigen im Dienst, indem sehr häufig nicht
sowohl die höhere und besser bezahlte Funktion die spätere
ist, als vielmehr die gewohnheitsmäſsig später aufgetragene
schlieſslich als solche die Würde und das Entgelt einer höheren
gewinnt, wie dies namentlich in der Hierarchie der Sub-
alternen, aber auch bei den höchsten, an die Sinekure strei-
fenden Stellungen zu beobachten ist. Wo dagegen schon aller-
hand höhere und niedere Funktionen in abwechselnder Folge
in einer Stellung befaſst sind, da wird sich das Aufsteigen
aus derselben nicht so leicht geben, weil die Differenzierungs-
momente, die sonst die Form des Nacheinander forderten oder
mit sich brachten, hier schon zugleich, im Nebeneinander,
bestehen.
Zu anderweitigen Konflikten führt der zweite Sinn eines
wirklichen Nebeneinander der Differenzierungen am Indivi-
duum, der die latenten Kräfte und Fähigkeiten einschlieſst.
Hier werden sich die Verschiedenheiten des geistig-sittlichen
Wesens darin zeigen, daſs der eine eine Mehrzahl von Thä-
tigkeiten übt, um die Fähigkeiten zu möglichst vielen gleich-
sam in sich aufzuspeichern, der andere nur an ihrem ver-
flieſsenden Nacheinander, an der Abwechselung ihrer Aktua-
lität Interesse hat. Die gleiche Form der Differenz zeigen
etwa zwei Rentiers, von denen der eine sein Vermögen in
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einer Anzahl verschiedenartiger Werte anlegt — Grundbesitz,
Fonds, Hypotheken, Geschäftsbeteiligungen u. s. w. —, der
andere das gesamte Kapital bald ganz der einen, bald ganz
der andern ihm günstig erscheinenden Anlage zuwendet. Die
Differenzierung der Besitztümer in eine einerseits im Neben-
einander, andererseits im Nacheinander bestehende Mehrheit
von Anlagen dient bei dem ersteren mehr der Sicherheit, bei
dem zweiten mehr der Höhe der Verzinsung. Man könnte
den Kapital-, insbesondere den Geldbesitz überhaupt als eine
latente Differenzierung ansehen. Denn sein Wesen liegt darin,
daſs vermöge seiner eine unumschränkte Anzahl von Wir-
kungen geübt werden kann. In sich vollkommen ein-
heitlichen Charakters, weil als bloſses Tauschmittel voll-
kommen ohne Charakter, strahlt er doch in die Mannich-
faltigkeit alles Handelns und Genieſsens aus, und, in der Form
der Potentialität, vereinigt er in sich den ganzen Farben-
reichtum des wirtschaftlichen Lebens, wie das farblos er-
scheinende Weiſs alle Farben des Spektrums in sich enthält;
es konzentriert gleichsam in einem Punkt sowohl die Resultate,
wie die Möglichkeit unzähliger Funktionen. Denn thatsäch-
lich schlieſst es die Mannichfaltigkeit nicht nur im Vorblick,
sondern auch im Rückblick ein; nur aus der Fülle sich kreu-
zender Interessen, aus dem Reichtum verschiedenartigster
Thätigkeiten konnte dieses, nun sozusagen über den Parteien
stehende Tauschmittel hervorgehen. Die Differenzierung des
wirtschaftlichen Lebens im allgemeinen ist die Ursache des
Geldes, und die Möglichkeit jeder beliebigen wirtschaftlichen
Differenzierung ist für den Einzelnen der Erfolg seines Be-
sitzes. Das Geld ist demnach das vollständigste Nebeneinander
der Differenzierungen im Sinne der Potentialität. Gegenüber
dem Geldbesitz ist alle Thätigkeit überhaupt Differenzierung
im Nacheinander; sie legt doch jedenfalls die vorhandene
Kraftsumme in eine Anzahl verschiedener Momente auseinander,
wenn sie sich auch innerhalb dieser in gleicher Form äuſsert,
während die Zeit des Geldbesitzes als „fruchtbarer Moment“
im eminenten Sinne, als momentane Zusammenschlieſsung un-
zähliger Fäden anzusehen ist, die im nächsten Augenblick
wieder zu gleich zahllosen Wirkungen auseinandergehen. Es
liegt auf der Hand, zu wie vielen und tiefen Konflikten die
Zweiheit dieser Tendenzen sowohl im Individuum, wie in der
Gesamtheit führen muſs, und daſs es sich hier um nichts
weniger, als um den von einer bestimmten Seite her be-
trachteten Kampf zwischen Kapital und Arbeit handelt. Und
hier greift wieder die Frage der Kraftersparnis ein. Kapital
ist objektivierte Kraftersparnis und zwar in dem doppelten
Sinne, daſs eine früher erzeugte Kraft nicht sofort wieder
verbraucht, sondern aufgespeichert worden ist, und daſs künf-
[145]X 1.
tige Wirkungen mit diesem höchst kompendiösen, absolut
zweckmäſsigen Werkzeug geübt werden. Das Geld ist offenbar
dasjenige Werkzeug, bei dessen Verwendung weniger Kraft,
als bei jedem anderen durch Reibung nebenbei geht; wie es
aus Arbeit und Differenzierung hervorgeht, setzt es sich in
Arbeit und Differenzierung um, ohne daſs bei diesem Um-
setzungsprozeſs etwas verloren wird. Infolgedessen aber
erfordert es auch, daſs auſser ihm Arbeit und Differenzierung
vorhanden sei, weil es sonst Allgemeinheit ohne Einzelheit,
Funktion ohne Stoff, Wort ohne Sinn ist. Die Differenzie-
rung im Zugleich, in dem Sinne, wie wir sie dem Kapital
zusprechen, weist demnach notwendig auf eine Differenzierung
im Nacheinander hin; das Maſsverhältnis beider derart zu
bestimmen, daſs im Ganzen ein Maximum von Kraftersparnis
eintritt, bildet für die Einzelnen und für die Allgemeinheit
eines der höchsten Probleme, und diese wie jene unterscheiden
sich oft aufs schärfste, indem sie bald die Differenzierung im
Nebeneinander, die den Besitz ausmacht, bald die im Nach-
einander, die der Arbeit entspricht, überwiegen lassen; keines
von beiden kann in irgend höheren Verhältnissen entbehrt
werden.
Wo nun wie hier zwei Elemente oder Tendenzen sich gegen-
seitig fordern, aber auch sich gegenseitig begrenzen, da ge-
rät die Erkenntnis leicht in die Versuchung eines doppelten
Irrtums. Zunächst mit einem nichtssagenden: Nicht zu wenig
und nicht zu viel! die Frage nach den Quanten beant-
worten zu wollen, in denen jene Elemente sich zur Herstellung
des wünschenswertesten Zustandes mischen müssen: das ist
ein rein analytischer, ja identischer Satz; der Zusatz des
„zu“ bezeichnet doch schon von vornherein ein unrichtiges
Maſs, und durch die Negierung desselben wird deshalb noch
absolut kein Anhaltspunkt gegeben, welches denn nun das
richtige Maſs ist; die ganze Frage ist gerade die, an welchem
Punkte des Anwachsens oder des Zurückweichens beider das
„zu“ beginnt. Diese Gefahr, eine Formulierung des Pro-
blems schon für seine Lösung zu halten, liegt eben da be-
sonders nahe, wo das Maſs des einen Elementes eine Funktion,
wenn auch eine unstätige, von dem des andern ist, wie es
bei Kapital und Arbeit der Fall ist. Die Entfaltung der
Kräfte im Nacheinander, wie die Arbeit sie mit sich bringt,
erscheint leicht durch das Maſs bestimmt, in dem ihre poten-
tielle Differenzierung im Nebeneinander, im Kapital, vor-
handen oder wünschenswert ist; und dieser letzteren bestimmt
man nun wieder das rechte Maſs nach dem Quantum der vor-
handenen oder zu leistenden Arbeit.
Von fühlbareren Folgen ist ein anderer häufiger Irrtum:
daſs man das labile Gleichgewicht zwischen beiden Elementen
Forschungen (42) X 1. Simmel. 10
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als ein stabiles ansieht, und zwar sowohl für die Wirklich-
keit, als für das Ideal. Das sogenannte eherne Lohngesetz
ist ein solcher Versuch, die aktuelle Differenzierung der Ar-
beit als in einem stetigen Verhältnis zu der latenten Differen-
zierung des Kapitals stehend zu erkennen. Ebenso die Carey-
sche Begründung der Interessenharmonie zwischen Kapital
und Arbeit: da die steigende Zivilisation das für ein Produkt
nötige Arbeitsquantum stetig vermindert, so werde der Ar-
beiter für das gleiche Produkt relativ immer besser bezahlt;
da aber zugleich die Konsumtion auſserordentlich wächst, so
steigt auch der Gewinn des Kapitalisten, der zwar an jedem
einzelnen Produkt relativ weniger Anteil hat, durch die Masse
der Produktion aber, absolut genommen, doch noch einen
gröſseren Vorteil hat, als bei geringerer Produktion. Hier
soll also wenigstens die Entwicklung der aktuellen Differen-
zierung, wie sie in der zivilisierten Arbeit liegt, zu der Ent-
wicklung ihrer Aufspeicherung im Kapital ein dauerndes Ver-
hältnis aufweisen, das nicht von der Zufälligkeit historischer
Umstände, sondern von der logisch sachlichen Beziehung
dieser Faktoren selbst bestimmt wird. Andererseits versuchen
socialistische Utopieen ein derartiges Verhältnis wenigstens
für die Zukunft zu konstruieren und gehen von der naiven
Voraussetzung aus, es lieſse sich überhaupt eines auffinden,
das durchweg verwendbar wäre und — wenn wir das socia-
listische Ideal einmal nach der Seite unsrer jetzigen Betrach-
tung hin deuten können — das ein Maximum von socialer
Kraftersparnis darstellte. Ich denke hier etwa an die Vor-
schläge Louis Blancs, der die Kräftevergeudung durch das
Arbeiten der Individuen gegeneinander dadurch vermeiden
will, daſs die in den Kapitalgewinn einmündende und in ihm
latent werdende Arbeit nicht individualistisch verwandt, son-
dern zu einem Drittel völlig gleich aufgeteilt, zu zwei Dritteln
aber zur Verbesserung und Vermehrung der Arbeitsmittel etc.
bestimmt werden soll.
Ich glaube, daſs alle Versuche, das Verhältnis zwischen
Kapital und Arbeit theoretisch oder praktisch zu fixieren,
das Schicksal erleiden werden, das den Operationen mit den
„Seelenvermögen“ in der älteren Psychologie zu Teil wurde.
Auch hier wollte man von bestimmten Verhältnissen zwischen
Verstand und Vernunft, zwischen Willen und Gefühl, zwi-
schen Gedächtnis und Einbildungskraft sprechen, bis man
einsah, daſs dies nur ganz rohe sprachliche Zusammen-
fassungen sehr komplizierter Seelenvorgänge sind, und daſs
man zu einem Verständnis derselben nur kommt, indem man,
von jenen Hypostasierungen absehend, auf die einfachsten
psychischen Prozesse zurückgeht und die Regeln ermittelt,
nach denen die einzelnen Vorstellungen sich wechselwirkend
[147]X 1.
zu jenen höheren Gebilden zusammenschlieſsen, die den un-
mittelbaren Inhalt des Bewuſstseins bilden. So wird man
wohl auch das Verständnis für so allgemeine und kompli-
zierte Gebilde, wie Kapital und Arbeit, und für ihr gegen-
seitiges Verhältnis nicht in unmittelbarem Aneinanderhalten
und durch die scheinbar unmittelbare Bestimmtheit des einen
durch das andere gewinnen, sondern durch das Zurückgehen
auf die ursprünglichen Differenzierungsprozesse, von denen
jenes beides nur verschiedene Kombinationen oder Entwick-
lungsstadien sind
[[148]]
Appendix A
Pierer'sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.
in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. XII, Heft 1.
- Lizenz
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CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Simmel, Georg. Über sociale Differenzierung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmn4.0