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Aeſthetik des Häßlichen.


Königsberg.:
Verlag der Gebrüder Bornträger.
1853.
[[II]][[III]]

Vorwort.

Eine Aeſthetik des Häßlichen? Und warum nicht?
Aeſthetik iſt ein Collectivname für eine große Gruppe
von Begriffen geworden, die ſich wieder in drei be¬
ſondere Claſſen theilt. Die eine derſelben hat es mit
der Idee des Schönen, die zweite mit dem Begriff
ſeiner Production, d. h. mit der Kunſt, die dritte mit
dem Syſtem der Künſte, mit der Darſtellung der Idee
des Schönen durch die Kunſt in einem beſtimmten
Medium zu thun. Die Begriffe, die zur erſten Claſſe
gehören, pflegen wir unter dem Titel der Metaphyſik
des Schönen zuſammenzufaſſen. Wird aber die Idee
des Schönen auseinandergeſetzt, ſo iſt die Unterſuchung
des Häßlichen davon unzertrennlich. Der Begriff des
Häßlichen, als des Negativſchönen, macht alſo einen
Theil der Aeſthetik aus. Es gibt keine andere Wiſſen¬
[IV] ſchaft, welcher derſelbe überwieſen werden könnte, und
es iſt alſo richtig, von der Aeſthetik des Häßlichen zu
ſprechen. Niemand wundert ſich, wenn in der Biologie
auch vom Begriff der Krankheit oder wenn in der
Ethik vom Begriff des Böſen, in der Rechtswiſſenſchaft
vom Begriff des Unrechts, in der Religionswiſſenſchaft
vom Begriff der Sünde gehandelt wird. Theorie des
Häßlichen zu ſagen, würde die wiſſenſchaftliche Genea¬
logie des Begriffs nicht ſo beſtimmt ausdrücken. Die
Ausführung der Sache ſelbſt hat übrigens den Namen
zu rechtfertigen.


Ich habe mich bemühet, den Begriff des Häßlichen
als die Mitte zwiſchen dem des Schönen und dem des
Komiſchen von ſeinen erſten Anfängen bis zu derjenigen
Vollendung zu entwickeln, die er ſich in der Geſtalt
des Sataniſchen gibt. Ich rolle gleichſam den Kosmos
des Häßlichen auf von ſeinen erſten chaotiſchen Nebel¬
flecken, von der Amorphie und Aſymmetrie an, bis
zu ſeinen intenſivſten Formationen in der unendlichen
Mannigfaltigkeit der Desorganiſation des Schönen durch
die Caricatur. Die Formloſigkeit, die Incorrectheit
und die Deformität der Verbildung machen die ver¬
ſchiedenen Stufen dieſer in ſich conſequenten Reihe von
[V] Metamorphoſen aus. Es iſt verſucht worden, zu zeigen,
wie das Häßliche an dem Schönen ſeine poſitive Vor¬
ausſetzung hat, daſſelbe verzerrt, ſtatt des Erhabenen
das Gemeine, ſtatt des Gefälligen das Widrige, ſtatt
des Ideales die Caricatur erzeugt. Alle Künſte und
alle Epochen der Kunſt bei den verſchiedenſten Völkern
ſind hierbei herangezogen, die Entwicklung der Begriffe
durch paſſende Beiſpiele zu erläutern, die auch noch für
künftige Bearbeiter dieſes ſchwierigen Theils der Aeſthetik
Stoff und Anhaltspuncte darbieten werden. Ich hoffe,
mit dieſer Arbeit, deren Unvollkommenheiten ich ſelber
am Beſten zu kennen glaube, einem bisher ſehr fühl¬
baren Mangel abzuhelfen, da der Begriff des Häßlichen
bisher nur theils zerſtreut und nebenbei, theils in einer
großen Allgemeinheit abgehandelt worden iſt, welche
ihn bereits in Gefahr brachte, in ſehr einſeitigen Be¬
ſtimmungen fixirt zu werden.


Wenn der wohlwollende Leſer, der ſich wirklich
unterrichten will, dies Alles nun auch zugibt, ſoll,
könnte man fragen, ein ſo unangenehmer, abſcheulicher
Gegenſtand ſo gründlich unterſucht werden? Unzweifel¬
haft, denn die Wiſſenſchaft hat einmal ſeit einiger Zeit
dies Problem immer von Neuem berührt und ſo verlangt
[VI] es ſeine Erledigung. Dieſe abſolvirt zu haben, kömmt
mir natürlich nicht in den Sinn, behaupten zu wollen.
Ich bin zufrieden, wenn man mir hier, wie auf andern
Gebieten, zugeſteht, einen Schritt wenigſtens vorwärts
gethan zu haben. Der Einzelne mag von dieſem Ge¬
ſtande denken:


— da unten aber iſt's fürchterlich,

Und der Menſch verſuche die Götter nicht,

Und begehre nimmer und nimmer zu ſchauen,

Was ſie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen!

Der Einzelne darf ſo denken und dann kann er
dieſe Wiſſenſchaft des Häßlichen ungeleſen laſſen. Die
Wiſſenſchaft ſelbſt aber folgt nur ihrer Nothwendigkeit.
Sie muß vorwärts. Charles Fourier hat unter den
Rubriken der Arbeitstheilung auch eine aufgeſtellt, die er
travaux de dévouement nennt, zu denen keine indivi¬
duelle Neigung angeboren iſt, zu denen ſich aber Menſchen
aus Reſignation entſchließen, weil ſie die Nothwendigkeit
derſelben für das Geſammtwohl erkennen. Solch' einer
Pflicht iſt auch hier zu genügen verſucht worden.


Aber iſt denn die Sache in der That ſo abſchreckend?
Enthält ſie nicht auch Lichtpuncte? Iſt für den Philo¬
ſophen, für den Künſtler, nicht auch ein poſitiver Gehalt
darin verborgen? Ich denke wohl, denn das Häßliche
[VII] kann nur begriffen werden als die Mitte zwiſchen dem
Schönen und dem Komiſchen. Das Komiſche iſt ohne
ein Ingrediens von Häßlichkeit, das von ihm aufgelöſt
und in die Freiheit des Schönen zurückgebildet wird,
unmöglich. Dieſer überall ſich ergebende heitere Aus¬
gang unſerer Unterſuchung wird für das unleugbar
Peinliche mancher Abſchnitte entſchädigen.


Im Verlauf der Abhandlung habe ich mich ein¬
mal darüber gewiſſermaaßen entſchuldigt, ſo viel in
Beiſpielen zu denken. Allein ich ſehe ein, daß ich es
gar nicht nöthig gehabt hätte, denn alle Aeſthetiker,
auch Winkelmann, auch Leſſing, auch Kant, auch Jean
Paul, auch Hegel, auch Viſcher, und Schiller ſelbſt,
der den ſparſamen Gebrauch des Beiſpiels empfiehlt,
verfahren in dieſer Weiſe. Von dem Material, das
ich eine Reihe von Jahren über zu dieſem Zweck an¬
gehäuft hatte, habe ich übrigens nur etwas über die
Hälfte verwendet und darf inſofern behaupten, recht
ſparſam geweſen zu ſein. Bei der Auswahl der Beiſpiele
iſt es mir nur darauf angekommen, vielſeitig zu ſein,
um nicht durch das Beiſpiel, wie die Geſchichte aller
Wiſſenſchaften zeigt, eine beſchränkte Auffaſſung des
Allgemeingültigen zu veranlaſſen.


[VIII]

In der Art, wie ich mit dem Material verfahren
bin, mag ich vielleicht etwas altväteriſch, vielleicht zu
exact, erſcheinen. Die modernen Schriftſteller haben
ſich eine merkwürdige Art, zu citiren, erfunden, nämlich
mit ſogenannten „Gänſefüßchen“ ganz in's Blaue hinein.
Wo ſie das Citat hernehmen, bleibt im Dunkeln. Es
iſt ſchon viel, wenn ſie einen Namen hinzufügen. Es
ſcheint ihnen ſchon pedantiſch, wenn ſie zu dem Namen
des Autors noch den Namen des Buchs hinzufügen.
Unſtreitig wäre es auch läppiſch, allgemein bekannte
oder irrelevante Dinge immer mit ſpeciellen Citaten
belegen zu wollen. Aber weniger geläufige, ſeltner
berührte, weiter entlegene, dem Streit noch ausgeſetzte,
fordern nach meiner Meinung eine größere Genauigkeit
der Angabe, damit der Leſer, falls es ihm beliebt, ſelber
zu den Quellen gehen, ſelber vergleichen und richten kann.
Eleganz kann nie Zweck, nur ein und zwar ſehr unter¬
geordnetes Mittel wiſſenſchaftlicher Darſtellung ſein; die
Gründlichkeit und Beſtimmtheit müſſen immer obenan ſtehen.


Mit Schrecken ſehe ich jetzt, nach Vollendung
des Drucks, daß unter den Beiſpielen ſich eine ziemliche
Menge aus der nächſten Gegenwart hervorgedrängt
hat, weil ſie natürlich mir am Friſcheſten im Gedächtniß
[IX] waren, weil ſie mich noch durch das Intereſſe, welches
ich auch an den Autoren nehme, lebhaft beſchäftigen.
Werden mir dieſe Autoren, unter denen ich mir perſönlich
befreundete zähle, dies nicht übel deuten, werden ſie
mir deshalb nicht gram werden? Es würde mir ſehr
ſchmerzlich ſein. Aber die Verehrten werden ſich vor
Allem fragen müſſen, ob, was ich ſage, wahr iſt?
Verhält es ſich ſo, dann iſt ihnen nichts zuwider ge¬
ſchehen. Sodann aber werden ſie aus meiner ſchonſamen
Art, zu tadeln, und aus andern Stellen, wo ihnen
auch, wenn ſie es verdienen, gebührendes Lob geſpendet
iſt, erſehen, daß meine freundſchaftliche Geſinnung für
ſie dieſelbe iſt. Ja, ich erinnere mich, den meiſten
meine Ausſtellungen brieflich gemacht zu haben. So
können ſie ſich denn nicht wundern, wenn ich auch ge¬
druckt derſelben Meinung bin. Doch würde ich dieſe
ganze Bemerkung unterlaſſen, wüßte ich nicht aus mancher
Erfahrung, wie reizbar die modernen Geiſter ſind, wie
wenig ſie Widerſpruch zu ertragen vermögen, wie ſehr
ſie nur gelobt, nicht belehrt zu werden wünſchen, wie
ſcharf ſie ſind, nur in der Kritik Anderer, und wie ſie
auch von der Kritik vor Allem Geſinnung und Hingebung
d. h. Bewunderung fordern.


[X]

Ich glaube, daß meine Darſtellung auch in all¬
gemeineren Kreiſen, nicht blos in dem der Schule, lesbar
iſt. Allein durch die Natur des Stoffs wird dieſe
Lesbarkeit gewiſſe Grenzen haben. Ich habe ſcheußliche
Materien berühren und gewiſſe Dinge bei ihrem Namen
nennen müſſen. Als Theoretiker habe ich mich von
dem Hinunterſteigen in manche Kloake zurückhalten und
mit der Andeutung begnügen können, wie namentlich
bei den Sotadiſchen Erfindungen. Als Hiſtoriker hätt'
ich das nicht gedurft, als Philoſoph ſtand es mir frei.
Und trotz meiner außerordentlichen Vorſicht wird Mancher
urtheilen, ich hätte wohl nicht nöthig gehabt, in ſolchem
Grade aufrichtig zu ſein. Dann hätte aber, darf ich
verſichern, die Unterſuchung überhaupt nicht gemacht
werden dürfen, nicht gemacht werden können. Es iſt
traurig, daß bei uns auch für die Wiſſenſchaft ſich eine
gewiſſe Pruderie einſchleicht, indem man namentlich
bei Gegenſtänden der thieriſchen Natur und der Kunſt
die Decenz zum excluſiven Maaßſtab macht. Und wie
erreicht man dieſe Decenz heut zu Tage am Beſten?
Man ſpricht gar nicht von gewiſſen Phänomenen.
Man decretirt ihr Nichtdaſein. Man ſecretirt ſie ge¬
wiſſenlos, um ſalonfähig zu bleiben. Man gibt z. B.
[XI] mit Holzſchnitten — denn ohne holzſchnittliche Illu¬
ſtrationen iſt eigentlich auch ſchon moderne Wiſſenſchaft¬
lichkeit nicht mehr möglich —, mit mikroskopiſchen
Enthüllungen, eine Phyſiologie heraus, eine Lehre vom
Leben, Vorleſungen, gehalten vor einem Kreiſe von
Damen und Herrn in einer Hauptſtadt, und ſagt vom
ganzen Generationsapparat und von allen ſexuellen
Functionen kein Wort. Gewiß recht decent. Unſere
Deutſche Literaturgeſchichte iſt durch das Zurechtmachen
derſelben für Mädchenpenſionate und höhere Töchter¬
ſchulen ſchon ganz caſtrirt worden, um nur immer
das Edle, Reine, Schöne, Erhebende, Erquickende,
Gemüthliche, Liebliche, Veredelnde und wie die Stich¬
worte weiter lauten, für die zarten Jungfrauen- und
Frauenſeelen herauszuſtellen. Es iſt dadurch eine un¬
glaubliche Falſchmünzerei der Geſchichte der Literatur in
Gang gekommen, die auch ſchon über die pädagogiſchen
Rückſichten hinaus die Auffaſſung entſtellt und durch höchſt
einſeitig ausgewählte traditionelle Blumenleſen unterſtützt.
Ein Glück, daß jetzt ein Werk, wie das von Kurz,
erſcheint, was durch ſeine Selbſtſtändigkeit die Fabrik¬
arbeiter nöthigen wird, doch einmal auch wieder andere
Objecte und in anderer Ordnung und mit anderm
[XII] Urtheil, als in dem zum Ekel ausgetretenen Gleiſe,
zu berühren. Jeder Einſichtige wird begreifen, daß
ich, bei allem Anſtande, einen ſolchen bleichſüchtigen
Penſionatsſtyl nicht ſchreiben durfte, und daß ich über¬
haupt wohl auf den vorliegenden Fall Leſſings Wort
anwenden darf:


Ich ſchreibe nicht für kleine Knaben,

Die voller Stolz zur Schule gehn,

Und den Ovid in Händen haben,

Den ihre Lehrer nicht verſtehn.

Königsberg, den 16. April 1853.


Karl Roſenkranz.


[[XIII]]

Inhalt.



Einleitung.
  • Seite.
  • Das Negative überhaupt  10.
  • Das Unvollkommene  11.
  • Das Naturhäßliche  15.
  • Das Geiſthäßliche  26.
  • Das Kunſthäßliche  35.
  • Das Häßliche im Verhältniß zu den einzelnen Künſten  47.
  • Das Wohlgefallen am Häßlichen  52.
  • Eintheilung  53.
Erſter Abſchnitt.
  • Die Formloſigkeit  67.
    • A. Die Amorphie  68.
    • B. Die Aſymmetrie  77.
    • C. Die Disharmonie  99.

Zweiter Abschnitt.
  • Die Incorrectheit  115.
    • A. Die Incorrectheit im Allgemeinen  116.
    • B. Die Incorrectheit in den beſondern Stylarten  138.
    • C. Die Incorrectheit in den einzelnen Künſten  149.

[XIV]
Dritter Abſchnitt.
  • Seite.
  • Die Deſiguration oder die Verbildung 164.
    • A. Das Gemeine  176.
      • I. Das Kleinliche  180.
      • II. Das Schwächliche  188.
      • III. Das Niedrige  197.
        • a. Das Gewöhnliche  199.
        • b. Das Zufällige und Willkürliche  214.
        • c. Das Rohe  226.
    • B. Das Widrige  277.
      • I. Das Plumpe  284.
      • II. Das Todte und Leere  289.
      • III. Das Scheußliche  298.
        • a. Das Abgeſchmackte  300.
        • b. Das Ekelhafte  312.
        • c. Das Böſe  323.
          • α. Das Verbrecheriſche  325.
          • β. Das Geſpenſtiſche  337.
          • γ. Das Diaboliſche  353.
            • Das Dämoniſche  364.
            • Das Hexenhafte  367.
            • Das Sataniſche  371.
    • C. Die Caricatur  386.
  • Anmerkungen.
[[1]]

Aeſthetik des Häßlichen.

— — — Und laß dir rathen, habe
Die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne,
Komm, folge mir in's dunkle Reich hinab!

(Göthe.)
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 1[[2]][[3]]

Große Herzenskündiger haben ſich in die ſchauerlichen
Abgründe des Böſen vertieft und die furchtbaren Geſtalten
geſchildert, die ihnen aus ihrer Nacht entgegengetreten ſind.
Große Dichter, wie Dante, haben dieſe Geſtalten weiter
ausgezeichnet; Maler, wie Orcagna, Michel Angelo,
Rubens, Cornelius, haben ſie uns in ſinnlicher Gegen¬
wärtigkeit dargeſtellt und Muſiker, wie Spohr, haben uns
die gräßlichen Töne der Verdammniß vernehmen laſſen, in
welchen der Böſe die Zerriſſenheit ſeines Geiſtes auskreiſcht
und ausheult.


Die Hölle iſt nicht blos eine religiös-ethiſche, ſie iſt
auch eine äſthetiſche. Wir ſtehen inmitten des Böſen und
des Uebels, aber auch inmitten des Häßlichen. Die Schrek¬
ken der Unform und der Mißform, der Gemeinheit und
Scheußlichkeit, umringen uns in zahlloſen Geſtalten von
pygmäenhaften Anfängen bis zu jenen rieſigen Verzerrungen,
aus denen die infernale Bosheit zähnefletſchend uns an¬
grinſ't. In dieſe Hölle des Schönen wollen wir hier nie¬
derſteigen. Es iſt unmöglich, ohne zugleich in die Hölle des
Böſen, in die wirkliche Hölle, ſich einzulaſſen, denn das
1 *[4] häßlichſte Häßliche iſt nicht das, was aus der Natur in
Sümpfen, in verkrüppelten Bäumen, in Kröten und Mol¬
chen, in glotzenden Fiſchungeheuern und maſſiven Dickhäu¬
tern, in Ratten und Affen uns anwidert: es iſt die Selbſt¬
ſucht, die ihren Wahnſinn in den tückiſchen und frivolen
Geberden, in den Furchen der Leidenſchaft, in dem Scheel¬
blick des Auges und — im Verbrechen offenbart.


Bekannt genug ſind wir mit dieſer Hölle. Jeder hat
an ihrer Pein ſeinen Antheil, In mannigfaltigſter Weiſe
werden Gefühl, Auge und Ohr von ihr getroffen. Der zarter
Organiſirte, der feiner Gebildete, hat von ihr oft unſäglich
zu leiden, denn die Rohheit und Gemeinheit, die Abform und
Ungeſtalt, ängſtigen den edlern Sinn in tauſendfachen Ver¬
larvungen. Allein eine Thatſache kann genugſam bekannt
und doch ihrer vollen Bedeutung, ihrem ganzen Umfang
nach, noch nicht gehörig erkannt ſein. Dies iſt mit dem
Häßlichen der Fall. Die Theorie der ſchönen Künſte, die
Geſetzgebung des guten Geſchmacks, die Wiſſenſchaft der
Aeſthetik, iſt ſeit einem Jahrhundert von den Europäiſchen
Culturvölkern bis in eine große Breite hin durchgebildet
worden, allein der Begriff des Häßlichen, obwohl man ihn
überall ſtreifte, war doch verhältnißmäßig ſehr zurückgeblie¬
ben. Man wird es in der Ordnung finden, daß nunmehr
auch die Schattenſeite der Lichtgeſtalt des Schönen eben ſo
ein Moment der äſthetiſchen Wiſſenſchaft werde, als die
Krankheit in der Pathologie, als das Böſe in der Ethik.
Nicht, wie geſagt, als wenn das Unäſthetiſche in ſeinen
einzelnen Erſcheinungen nicht hinreichend bekannt wäre. Wie
auch ſollte dies möglich ſein, da die Natur, das Leben und
die Kunſt jeden Augenblick uns daran erinnern? Aber eine
vollſtändigere Darlegung ſeines Zuſammenhanges und eine
[5] ausdrücklichere Erkenntniß ſeiner Organiſation iſt noch nicht
verſucht.


Allerdings gebührt der Deutſchen Philoſophie der
Ruhm, zuerſt den Muth gehabt zu haben, das Häßliche
als die äſthetiſche Unidee, als ein integrirendes Moment der
Aeſthetik erkannt und auch erkannt zu haben, daß das
Schöne durch das Häßliche zum Komiſchen übergeht (1).
Man wird dieſe Entdeckung, in welcher das Negativſchöne
zu ſeinem Rechte gelangt iſt, nicht wieder verleugnen können.
Allein die Behandlung des Begriffs des Häßlichen iſt bisher
theils bei einer kurzen, wenig eingehenden Allgemeinheit,
theils bei einer zu einſeitig ſpiritualiſtiſchen Faſſung ſtehen
geblieben. Sie war zu ausſchließlich darauf gerichtet, einige
Figuren bei Shakeſpeare und Göthe, bei Byron und Callot
Hoffmann zu erklären (2).


Eine Aeſthetik des Häßlichen kann Manchem ähnlich
klingen, wie ein hölzernes Eiſen, weil das Häßliche das
Gegentheil des Schönen. Allein das Häßliche iſt vom Be¬
griff des Schönen untrennbar, denn dies hat in ſeiner Ent¬
wicklung daſſelbe beſtändig als diejenige Verirrung an ſich,
in die es mit einem oft geringen Zuviel oder zu Zuwenig
verfallen kann. Jede Aeſthetik iſt gezwungen, mit der Be¬
ſchreibung der poſitiven Beſtimmungen des Schönen irgend¬
wie auch die negativen des Häßlichen zu berühren. Man
trifft mindeſtens die Warnung, daß, wenn nicht ſo verfahren
würde, als ſie fordern, das Schöne verfehlt und ſtatt ſeiner
das Häßliche erzeugt werden würde. Die Aeſthetik des
Häßlichen ſoll ſeinen Urſprung, ſeine Möglichkeiten, ſeine
Arten ſchildern und kann dadurch auch dem Künſtler nützlich
werden. Bildender natürlich wird es für dieſen immer ſein,
die mangelloſe Schönheit darzuſtellen, als dem Häßlichen
[6] ſeine Kraft zuzuwenden. Auf eine Göttergeſtalt zu ſinnen
iſt unendlich erhebender und genußreicher, als eine teufliſche
Frazze zu bilden. Allein der Künſtler kann das Häßliche
nicht immer vermeiden. Oft ſogar bedarf er ſeiner als eines
Durchgangspunctes in der Erſcheinung der Idee und als
einer Folie. Der Künſtler vollends, der das Komiſche pro¬
ducirt, kann dem Häßlichen gar nicht ausweichen.


Von Seiten der Künſte können jedoch hier nur die¬
jenigen herangezogen werden, die als freie ſich ſelber Zweck
und als theoretiſche für den Sinn des Auges und des Ohrs
thätig ſind. Die andern dem Dienſt der praktiſchen Sinne
des Gefühls, Geſchmacks und Geruchs gewidmeten Künſte
bleiben hier ausgeſchloſſen. Herr von Rumohr in ſeinem
Geiſt der Kochkunſt, Anthus, in ſeinen intereſſanten Vor¬
leſungen über die Eßkunſt, v. Vaerſt in ſeinem geiſtvollen
Werk über die Gaſtronomie, das vorzüglich in ethnographi¬
ſcher Hinſicht bleibenden Werth anſprechen darf, haben dieſe
ſybaritiſche Aeſthetik auf eine hohe Stufe gehoben. Man
kann ſich aus dieſen Arbeiten überzeugen, daß die allgemeinen
Geſetze, die für das Schöne und Häßliche gelten, auch für
die Aeſthetik der guten Tafel, die Vielen die wichtigſte iſt,
die nämlichen ſind. Wir aber können uns hier nicht darauf
einlaſſen. — Daß eine Wiſſenſchaft, wie die unſrige, den
vollen Ernſt des Gemüthes verlangt und daß man ſie nicht
mit Gründlichkeit zu behandeln vermag, wenn man bei ihr
die gebrechliche Eleganz der Theetiſchäſthetik zum Maaßſtab
machen und dem Cyniſchen und Scheußlichen zimperlich aus¬
weichen wollte, verſteht ſich von ſelbſt, denn in dieſem Fall
müßte die Sache ſelbſt unterbleiben. Die Aeſthetik des Hä߬
lichen macht die Beſchäftigung auch mit ſolchen Begriffen
zur Pflicht, deren Beſprechung oder auch nur Erwähnung,
[7] ſonſt wohl als ein Verſtoß gegen den guten Ton betrachtet
werden kann. Wer eine Pathologie und Therapie der
Krankheiten in die Hand nimmt, macht ſich auch auf das
Ekelhafte gefaßt. Und ſo auch hier.


Daß das Häßliche ein Begriff ſei, der als ein rela¬
tiver nur in Verhältniß zu einem andern Begriff gefaßt
werden könne, iſt unſchwer einzuſehen. Dieſer andere Be¬
griff iſt der des Schönen, denn das Häßliche iſt nur, ſofern
das Schöne iſt, das ſeine poſitive Vorausſetzung aus¬
macht. Wäre das Schöne nicht, ſo wäre das Häßliche gar
nicht, denn es exiſtirt nur als die Negation deſſelben. Das
Schöne iſt die göttliche, urſprüngliche Idee und das Hä߬
liche, ſeine Negation, hat eben als ſolche ein erſt ſecundäres
Daſein. Es erzeugt ſich an und aus dem Schönen. Nicht,
als ob das Schöne, indem es das Schöne iſt, zugleich hä߬
lich ſein könnte, wohl aber indem dieſelben Beſtimmungen,
welche die Nothwendigkeit des Schönen ausmachen, ſich in
ihr Gegentheil verkehren.


Dieſer innere Zuſammenhang des Schönen mit dem
Häßlichen als ſeiner Selbſtvernichtung begründet daher auch
die Möglichkeit, daß das Häßliche ſich wieder aufhebt, daß
es, indem es als das Negativſchöne exiſtirt, ſeinen Wi¬
derſpruch gegen das Schöne wieder auflöſt und in die Ein¬
heit mit ihm zurückgeht. Das Schöne wird in dieſem Pro¬
ceß als die Macht offenbar, welche die Empörung des Hä߬
lichen ſeiner Herrſchaft wieder unterwirft. In dieſer Ver¬
ſöhnung entſteht eine unendliche Heiterkeit, die uns zum
Lächeln, zum Lachen erregt. Das Häßliche befreit ſich in
dieſer Bewegung von ſeiner hybriden, ſelbſtiſchen Natur. Es
geſteht ſeine Ohnmacht ein und wird komiſch. Alles Ko¬
[8] miſche begreift ein Moment in ſich, welches ſich gegen das
reine, einfache Ideal negativ verhält; aber dieſe Negation
wird in ihm zum Schein, zum Nichts heruntergeſetzt. Das
poſitive Ideal wird im Komiſchen anerkannt, weil und indem
ſeine negative Erſcheinung ſich verflüchtigt.


Die Betrachtung des Häßlichen iſt daher eine durch
das Weſen deſſelben genau begrenzte. Das Schöne iſt die
poſitive Bedingung ſeiner Exiſtenz und das Komiſche iſt die
Form, durch welche es ſich, dem Schönen gegenüber, von
ſeinem nur negativen Charakter wieder erlöſt. Das einfach
Schöne verhält ſich gegen das Häßliche ſchlechthin negativ,
denn es iſt nur ſchön, ſoweit es nicht häßlich iſt, und das
Häßliche iſt häßlich nur, ſo weit es nicht ſchön iſt. Nicht
als wenn das Schöne, um ſchön zu ſein, des Häßlichen be¬
dürftig wäre. Es iſt ſchön auch ohne ſeine Folie, aber das
Häßliche iſt die Gefahr, die ihm an ihm ſelber drohet, der
Widerſpruch, den es durch ſein Weſen an ſich ſelber hat.
Mit dem Häßlichen iſt es anders. Es iſt, was es iſt, em¬
piriſch
freilich durch ſich ſelber; daß es aber das Häßliche
iſt, das iſt nur möglich durch ſeine Selbſtbeziehung auf das
Schöne, an welchem es ſein Maaß beſitzt. Das Schöne iſt
alſo, wie das Gute, ein Abſolutes, und das Häßliche, wie
das Böſe, ein nur Relatives.


Keineswegs jedoch ſo, als ob, was häßlich ſei, in
einem beſtimmten Fall zweifelhaft ſein könnte. Dies iſt un¬
möglich, weil die Nothwendigkeit des Schönen durch ſich
ſelbſt beſtimmt iſt. Wohl aber iſt das Häßliche relativ, weil
es nicht durch ſich ſelbſt, ſondern nur durch das Schöne
gemeſſen werden kann. Im gewöhnlichen Leben mag Jeder
ſeinem Geſchmack folgen, nach welchem ihm ſchön dünkt,
was einem Andern häßlich, häßlich, was einem Andern ſchön.
[9] Soll aber dieſe Zufälligkeit des empiriſch-äſthetiſchen Urtheils
aus ihrer Unſicherheit und Unklarheit herausgehoben werden,
ſo bedarf ſie ſogleich der Kritik und damit der Vergegenwärti¬
gung der höchſten Principien. Das Gebiet des conventionell
Schönen, der Mode, iſt voll von Erſcheinungen, die, von
der Idee des Schönen aus beurtheilt, nur häßlich genannt
werden können und welche doch, temporär, für ſchön gelten,
nicht, weil ſie es an und für ſich wären, ſondern nur,
weil der Geiſt einer Zeit gerade in dieſen Formen den ange¬
meſſenen Ausdruck ſeiner Eigenthümlichkeit findet und ſich an
ſie gewöhnt. In der Mode kommt es dem Geiſt vor allen
Dingen darauf an, ſeiner Stimmung zu entſprechen, der auch
das Häßliche als Mittel der adäquaten Darſtellung dienen
kann. Vergangene Moden, vornämlich die nächſtvergangenen,
werden daher in der Regel als häßlich oder komiſch verurtheilt,
weil der Wechſel der Stimmung ſich nur in Gegenſätzen
entwickeln kann. Die republicaniſchen Römer, welche die
Welt unterwarfen, raſirten ſich. Noch Cäſar und Auguſtus
trugen keinen Bart und erſt ſeit Hadrian's romantiſcher
Epoche, als das Reich immer mehr den andringenden Bar¬
baren zu erliegen begann, ward der reichliche Bart Mode,
als hätte man, im Gefühl ſeiner Schwäche, durch den Bart
ſich die Gewißheit der Männlichkeit und Kühnheit geben
wollen. Die äſthetiſch denkwürdigſten Metamorphoſen der
Mode bietet uns die Geſchichte der erſten Franzöſiſchen Revo¬
lution dar. Sie ſind vom Hauff philoſophiſch zerglie¬
dert worden (3).


Das Schöne iſt alſo am Eingang die eine Grenze des
Häßlichen, das Komiſche am Ausgang die andere. Das
Schöne ſchließt das Häßliche von ſich aus, das Komiſche
dagegen fraterniſirt mit dem Häßlichen, nimmt ihm aber zu¬
[10] gleich das Abſtoßende dadurch, daß es, dem Schönen ge¬
gegenüber, ſeine Relativität und Nullität erkennen läßt. Eine
Unterſuchung des Begriffs des Häßlichen, eine Aeſthetik
deſſelben, findet demnach ihren Weg genau vorgezeichnet.
Sie muß anfangen mit einer Erinnerung an den Begriff des
Schönen, nicht jedoch, um daſſelbe nach der ganzen Fülle
ſeines Weſens darzulegen, wie dies die Obliegenheit einer
Metaphyſik des Schönen iſt, ſondern nur in ſoweit, als die
Grundbeſtimmungen des Schönen anzugeben ſind, aus und
als deren Negation das Häßliche ſich erzeugt. Enden aber
muß dieſe Unterſuchung mit dem, Begriff der Umbildung,
welche das Häßliche dadurch erfährt, daß es ein Mittel der
Komik wird. Natürlich iſt auch das Komiſche hier nicht
nach ſeiner ganzen Ausführlichkeit, vielmehr nur inſoweit zu
berühren, als der Nachweis des Uebergangs es erfordert.


Das Negative überhaupt.

Daß das Häßliche ein Negatives iſt, erhellt aus dem
Geſagten hinlänglich. Der allgemeine Begriff des Negativen
aber ſteht mit dem der Häßlichkeit in keinem weitern Ver¬
hältniß, als dem, daß auch dieſer ein Negatives ausdrückt.
Der Gedanke des Negativen überhaupt in ſeiner reinen Ab¬
gezogenheit hat gar keine ſinnliche Form. Was nicht ſinnlich
ſich zu manifeſtiren vermag, kann auch kein äſthetiſches Ob¬
ject werden. Vom Begriff des Nichts, des Andern, des
Maaßloſen, des Unweſentlichen, des Negativen überhaupt,
kann, als von logiſchen Abſtractionen, keine allgemeine An¬
ſchauung und Vorſtellung gegeben werden, weil ſie als ſolche
auf keine Weiſe in die Sinnlichkeit zu fallen vermögen. Das
[11] Schöne iſt die Idee, wie ſie im Element des Sinnlichen als
die freie Geſtaltung einer harmoniſchen Totalität ſich aus¬
wirkt. Das Häßliche theilt als Negation des Schönen auch
das ſinnliche Element deſſelben und kann daher nicht in einer
Region vorkommen, die eine nur ideelle iſt, in welcher das
Sein nur als der Begriff des Seins exiſtirt, die Realität
deſſelben aber als eine den Raum und die Zeit erfüllende
noch ausgeſchloſſen iſt.


Und ſo wenig als der Begriff des Negativen überhaupt
häßlich genannt werden kann, ſo wenig auch dasjenige Ne¬
gative, welches das Unvollkommene iſt.

Das Unvollkommene.

In dem Sinne, daß das Schöne weſentlich Idee iſt,
kann auch von ihm geſagt werden, daß es das Vollkommene
ſei. Und ſo iſt auch oft genug, namentlich auch in der
Baumgarten'ſchen Aeſthetik des vorigen Jahrhunderts
der Begriff der Vollkommenheit mit dem der Schönheit iden¬
tiſch genommen. Allein Vollkommenheit iſt ein Begriff, der
mit dem der Schönheit nicht direct zuſammenhängt. Es
kann ein Thier ſehr zweckmäßig, alſo als lebendiges Indi¬
viduum ſehr vollkommen organiſirt und eben deswegen ſehr
häßlich ſein, wie das Kameel, das Unau, die Sepia, die
Pipa u. ſ. w. Ein Fehler im ſubjectiven Denken, ein un¬
richtiger Begriff, ein Irrthum, ein falſches Urtheil, ein ver¬
kehrter Schluß, ſind Unvollkommenheiten der Intelligenz,
die aber nicht unter die Kategorie des Aeſthetiſchen gehören.
Tugenden, die erſt erworben werden, die alſo noch nicht zur
Virtuoſität der Gewohnheit durchgebildet ſind, machen ethiſch
[12] genommen den Eindruck der Unvollkommenheit, können aber
in ihrer Werdeluſt äſthetiſch ſogar etwas unendlich Reizendes
haben. Eine häßliche Gemüthsart aber ſoll ſoviel heißen als
eine böſe.


Der Begriff des Unvollkommenen iſt relativ. Es
kommt für ihn immer auf das Maaß an, von welchem für
ſeine Schätzung ausgegangen wird. Das Blatt iſt unvoll¬
kommen gegen die Blüthe, die Blüthe gegen die Frucht,
wenn man nämlich von der Frucht als der Normalexiſtenz
der Pflanze den Werth der Blüthe abwägt. Aeſthetiſch wird
die im botaniſchen oder beſſer ökonomiſchen Sinn unvollkom¬
mene Blüthe in der Regel höher ſtehen, als die Frucht. Die
Unvollkommenheit iſt in dieſer Beziehung ſo wenig identiſch
mit Häßlichkeit, daß ſie ſogar das der Realität und Totali¬
tät nach Vollkommnere übertreffen kann. Iſt in dem Un¬
vollkommenen der Trieb des Aechten, Wahren und Schönen
thätig, ſo wird es auch ſchön ſein können, wenngleich noch
nicht ſo ſchön, als es in ſeiner Vollendung zu ſein vermag.
Die anfänglichen Werke eines wahrhaften Künſtlers z. B.
werden noch mannigfache Mängel an ſich tragen, aber doch
ſchon den Genius durchblicken laſſen, der zu höhern Leiſtun¬
gen berufen iſt. Die Jugendgedichte eines Schiller und
Byron ſind noch unvollkommen, verrathen aber doch ſchon
die Zukunft ihrer Urheber, oft gerade in der Art ihrer
Unvollkommenheit.


Das Unvollkommene im Sinn der Anfänglichkeit darf
daher nicht mit dem Begriff des Schlechten zuſammengewor¬
fen werden, für welches wir es allerdings gern euphemiſtiſch
gebrauchen. Das Unvollkommene als die nothwendige Ent¬
wicklungsſtufe iſt immerhin auf dem Wege zur Vollkommen¬
heit; das Schlechte dagegen iſt diejenige Realität, welche nicht
[13] blos zu wünſchen übrig läßt, nicht blos das Verlangen nach
größerer Vollendung erweckt, ſondern mit ihrem Begriff in
poſitiven Widerſprüchen befangen iſt. Das Unvollkommene
im poſitiven Sinn entbehrt nur der weiteren Geſtaltung, ſich
ganz als das zu zeigen, was es an ſich ſchon iſt. Das
Schlechte aber iſt ein Unvollkommenes im negativen Sinn,
das noch etwas Anderes, Nichtſeinſollendes in ſich ſchließt.
Eine Zeichnung kann noch unvollkommen und doch ſchön
ſein; eine ſchlechte Zeichnung aber iſt eine fehlerhafte, die
den äſthetiſchen Geſetzen widerſpricht.


Für unſere Unterſuchung iſt vorzüglich der Compa¬
rativ
des Schönen recht zu verſtehen, der in der Kunſt
ſelber liegt und den man ſo ausdrücken kann, daß, weil
etwas ſchöner, als ein Anderes, daraus nicht folgt, daß das
weniger Schöne häßlich ſei. Vielmehr iſt dies ein gradueller
Unterſchied, der die Qualität des Schönen an ſich noch
nicht alterirt.


Vorzüglich hat man ſich zu erinnern, daß alle Arten
in Verhältniß zur Gattung coordinirt ſind, wenn ſie auch
unter ſich in dem Verhältniß der Subordination ſtehen kön¬
nen. Der Gattung gegenüber ſind alle Arten gleichberech¬
tigt und doch ſchließt dies nicht aus, daß nicht die eine,
gegen die andere gehalten, objectiv höher ſtehe. Architektur,
Sculptur, Malerei, Muſik und Poeſie, ſind als Arten der
Kunſt einander völlig gleich und doch iſt es wahr, daß ſie
in der hier gegebenen Reihenfolge zugleich eine Steigerung
ausdrücken, in welcher die nächſtfolgende Kunſt die vorige
immer an Möglichkeil übertrifft, das Weſen des Geiſtes, die
Freiheit angemeſſener darzuſtellen.


Innerhalb der einzelnen Kunſt gilt dieſelbe Beſtim¬
mung, denn die qualitativen Unterſchiede einer Kunſt ver¬
[14] halten ſich zu ihr wieder als Arten. Wenn man dies er¬
wägt, ſo wird man aller Streitigkeiten enthoben ſein, welcher
Art man den Vorzug geben ſolle, denn man wird über die
Subordination niemals die Coordination vergeſſen. Die
Poeſie z. B. iſt als dramatiſche objectiv vollendet; die lyri¬
riſche und die epiſche ſind ihr inſofern ſubordinirt; aber dar¬
aus folgt nicht, daß nicht die Lyrik und Epik, da ſie noth¬
wendige Formen der Poeſie ſind, die gleiche Abſolutheit
beſäßen. Relativ genommen iſt alſo die Baukunſt unvoll¬
kommener, als die Sculptur, dieſe unvollkommer, als die
Malerei u. ſ. w. Und doch kann jede Kunſt innerhalb der
Eigenthümlichkeit ihres Materials und ihrer Form die Abſo¬
lutheit erreichen. Mit andern Worten heißt dies ſo viel,
daß die Subordination als ſolche in gar keinem Verhältniß
zur Häßlichkeit ſteht. Wenn man alſo, wie wir dies müſſen,
die eine Kunſt oder die eine Gattung einer Kunſt als die
niedrigere oder unvollkommenere bezeichnet, ſo liegt hierin keine
äſthetiſche Degradation derſelben. Es iſt das nur relativ
geſagt, ohne den Begriff einer aus dieſem Stufenverhältniß
etwa nothwendigen Häßlichkeit zu involviren. Bei einzelnen
Kunſtwerken pflegt man den Comparativ des Schönen oft
durch einfache Bezeichnungen der Quantität auszudrücken.
Man ſagt z. B. der Münchhauſen iſt Immermann's
größtes Werk und will damit allerdings auch ſagen, daß es
ſein ſchönſtes ſei. Weniger ſchön iſt aber noch keineswegs
identiſch mit häßlich.


[15]

Das Naturhäßliche.

In der Natur, deren Idee die Exiſtenz in Raum und
Zeit weſentlich iſt, kann ſich das Häßliche bereits in zahllo¬
ſen Formen geſtalten. Das Werden, dem Alles in der
Natur unterliegt, macht durch die Freiheit ſeines Proceſſes
in jedem Augenblick das Uebermaaß und das Unmaaß mög¬
lich, damit eine Zerſtörung der reinen, von der Natur an
ſich angeſtrebten Form und damit das Häßliche. Die ein¬
zelnen Naturexiſtenzen, da ſie in ihrem bunten Durcheinan¬
der ſich rückſichtslos in's Daſein drängen, hemmen ſich oft
in ihrem morphologiſchen Proceſſe.


Die geometriſchen und ſtereometriſchen Formen, Dreieck,
Viereck, Kreis, Prisma, Würfel, Kugel u. ſ. w. ſind in
ihrer Einfachheit durch die Symmetrie ihrer Verhältniſſe
eigentlich ſchön. Als allgemeine Formen in abſtracter Rein¬
heit haben ſie freilich nur in der Vorſtellung des Geiſtes
eine ideelle Exiſtenz, denn in concreto erſcheinen ſie nur als
Formen beſtimmter Naturgeſtalten an den Kryſtallen, Pflan¬
zen und Thieren. Der Gang der Natur iſt hier der, aus
der Starrheit geradlinigter und geradflächiger Verhältniſſe
zur Schmiegſamkeit der Curve und zu einer wunderſamen
Verſchmelzung des Geraden und Krummen überzugehen.


Die bloße rohe Maſſe, ſo weit ſie nur vom Geſetz der
Schwere beherrſcht wird, bietet uns äſthetiſch einen gleichſam
neutralen Zuſtand dar. Sie iſt nicht nothwendig ſchön, aber
auch nicht nothwendig häßlich; ſie iſt zufällig. Nehmen wir
z. B unſere Erde, ſo würde ſie, um als Maſſe ſchön zu
ſein, eine vollkommene Kugel ſein müſſen. Das iſt ſie aber
nicht. Sie iſt abgeplattet an den Polen und geſchwellt am
Aequator, außerdem auf ihrer Oberfläche von der größten
[16] Ungleichheit der Erhebung. Ein Profil der Erdrinde zeigt
uns, blos ſtereometriſch betrachtet, das zufälligſte Durch¬
einander von Erhebung und Vertiefung in den unberechen¬
barſten Umriſſen. So können wir auch von der Oberfläche
des Mondes nicht ſagen, daß ſie mit ihren Gewirr von
Höhen und Tiefen ſchön ſei. Die Silberſcheibe des Mondes,
aus der Ferne als ein einfacher Glanzkörper geſchauet, iſt
ſchön, allein dies Gewimmel von Kegeln, Rillen, Thälern iſt
es nicht. Die Linien, welche die Weltkörper in ihrer Be¬
wegung als mannigfach elliptiſche in Spiralwendungen be¬
ſchreiben, können wir nicht als äſthetiſche Objecte anſehen,
weil ſie nur in unſern Zeichnungen als Linien ſich darſtellen.
Die Unendlichkeit der Sternenmenge aber wirkt auf unſern
Geſichtsſinn nicht durch die Maſſe, ſondern durch das Licht.
Bei manchen Bewunderern des funkelnden Nachthimmels
ſchleicht ſich auch eine gewiſſe Illuſion der Phantaſie durch
die Benennung der Sternbilder ein; die Leier, der Schwan,
das Haar der Berenike, Herkules, Perſeus u. ſ. w. wie
ſchön klingt das nicht! Die neuere Aſtronomie iſt in ihren
Benamſungen ſehr proſaiſch geworden, indem ſie den Sex¬
tanten, das Teleskop, die Luftpumpe, die Buchdruckerwelk¬
ſtatt und ähnliche wichtige Erfindungen in Sterngruppen
verherrlicht hat.


Daß mechaniſche Actionen, Stoß, Wurf, Fall,
Schwung, ſchön werden können, iſt nicht blos durch die
Form der Bewegung, ſondern auch durch die Beſchaffenheit
der Objecte und den Grad ihrer Geſchwindigkeit bedingt. Eine
Schaukel wird z. B. in ihrem Schwung nicht gerade häßlich,
aber auch nicht ſchön ſein. Man ſtelle ſich aber vor, daß
ein junges Mädchen in graciöſer Haltung auf der Schaukel
in heller Frühlingsluft hin und her ſchwingt, ſo wird dies
[17] ein heiter-ſchöner Anblick ſein. Der kühne Aufſchuß einer
Rakete, die das Nachtdunkel erhellt und im höchſten
Punkt zerplatzend mit dem Sternenhimmel zu fraterniſiren
ſcheint, iſt ſchön nicht blos durch die mechaniſche Bewegung,
ſondern auch durch ihr Leuchten und durch ihre Geſchwindigkeit.


Die dynamiſchen Proceſſe der Natur ſind an ſich weder
ſchön noch häßlich, weil bei ihnen die Form zu keiner Aus¬
drücklichkeit gelangt. Cohäſion, Magnetismus, Elektricität,
Galvanismus, Chemismus, ſind in ihrer Actuoſität als ſol¬
cher einfach. Ihre Reſultate aber können ſchön ſein, wie
das Sprühen des elektriſchen Funkens, der Zickzackſtrahl ſei¬
nes Blitzes, das majeſtätiſche Rollen des Donners, die Far¬
benverwandlungen bei chemiſchen Vorgängen u. ſ. w. Ein
großes Feld eröffnen hier die phantaſtiſchen Bildungen,
welche das Gas in ſeiner elaſtiſchen Beweglichkeit zu ent¬
wickeln vermag. Die große Freiheit derſelben bringt eben
ſowohl ſchöne als häßliche Formen hervor. Die Grundform
der Gasexpanſion iſt allerdings die ſphäriſche, nach allen
Seiten gleichmäßig ausſtrebende. Weil aber das Gas in's
Ungemeſſene ſich ausdehnt, ſo verliert ſich die ſphäriſche Ge¬
ſtalt bald durch die Grenze, die feſte Körper ihm entgegen¬
ſtellen, bald durch andere Gaſe, mit denen es ſich miſcht
und chaotiſch zerfließt. Welch' ein unendlich reiches, uner¬
ſchöpfliches Spiel von Dämmergeſtalten, die an Alles und
an Nichts erinnern, bieten uns nicht die Wolken dar! (4).


In der organiſchen Natur macht die Abgeſchloſſenheit
der Geſtalt das Princip ihrer Exiſtenz aus. Hiervon iſt die
Folge, daß die Schönheit ſich aus der träumeriſchen Zufäl¬
ligkeit losmacht, die ihr in der unorganiſchen Natur anhaf¬
tet Das organiſche Gebilde hat ſofort einen beſtimmten
äſthetiſchen Charakter, weil es ein wirkliches Individuum iſt.
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 2[18] Eben deshalb aber wird nun hier auch die Häßlichkeit in viel
beſtimmterer Weiſe möglich. Es iſt Aufgabe der beſondern
Betrachtung des Naturſchönen, den Gang der Natur in
dieſer Hinſicht zu verfolgen. Wir können uns hier nicht
ſpeciell darauf einlaſſen und verweiſen auf die trefflichen
Arbeiten von Bernardin St. Pierre, von Oerſtedt
und von Viſcher (5). Im Allgemeinen erhebt ſich die Eu¬
rythmie, Symmetrie und Harmonie der Form in der Natur
von den einfachen kryſtalliniſchen Gebilden durch den Kampf
der geraden und krummen Linie des Pflanzenreichs bis zu
den zahlloſen Geſtaltungen der Thierwelt, in welcher mit
tauſendfältigen Schwingungen und Verſchmelzungen die Curve
ſiegreich wird; ein Fortgang, der zugleich eine unendliche
Metamorphoſe und Gradation des Colorits involvirt.


Die einzelnen Kryſtalle, für ſich genommen, ſind ſchön.
Im Aggregatzuſtand mit andern gemengt erſcheinen ſie oft
in phantaſtiſcher Combination, wie man in Schmidt's
Mineralienbuche an ſchönen Exemplaren ſehen kann (6).


Die großen Maßenaggregate auf der Erdoberfläche ſind
von den mannigfaltigſten oft indefiniſſableſten Formen. Berge
können ſchön ausſehen, wenn ſie in ſanftgeſchwungenen,
reinen Linien ſich hinſtrecken; erhaben, wenn ſie als wall¬
artige Mauerkoloſſe, als himmelſtürmende Rieſenkegel ſich
emporthürmen; häßlich, wenn ſie das Auge in wüſter Zer¬
klüftung und charakterloſem Gewirr zerſtreuen; komiſch, wenn
ſie mit bizarren und grotesken Ausſchweifungen die Phan¬
taſie necken. In der unmittelbaren Wirklichkeit gewinnen
dieſe Formen durch die Beleuchtung noch eigenthümliche
Reize. Wie wird durch das Mondlicht die Wunderlichkeit
der Au-ma-tu oder fünf Pferdsköpfe, der Boheatheehügel,
der Tſi-Tſin oder Siebenſternberge in China geſteigert (7).
[19] Zwiſchen der chemiſchen Beſchaffenheit und der Form findet
allerdings auch ein Zuſammenhang ſtatt, der von Haus¬
mann
in einer claſſiſchen Abhandlung namentlich auch für
das Verhältniß nachgewieſen iſt, in welchem die Bodenge¬
ſtalt zur Vegetation und zur Thierwelt ſteht. Die Erkaltung
der einſt glühenden Erdrinde und das Spiel von Waſſer und
Luft haben die großen Lineamente der Erdphyſiognomik ge¬
zeichnet (8).


Die Pflanzen ſind faſt durchgängig ſchön. Die Gift¬
pflanzen müßten, einer antiquirten Theologie zufolge, häßlich
ſein und ſie gerade bieten uns eine überſchwängliche Fülle
zierlicher Formen und köſtlicher Farben. Ihre narkotiſche
Kraft kann allerdings dem Leben den Tod bringen, allein
was geht dieſe Wirkung die Pflanze an? Liegt es denn in
ihrem Begriff, zu tödten? Wie die Narkoſe lethal wirken
kann, ſo kann ſie ja auch im Rauſch, den ſie erzeugt, ent¬
zücken; ja ſie kann das Leben aus Erkrankungen retten.
Gift iſt ein ganz relativer Begriff und das Griechiſche Phar¬
makon bezeichnet eben ſowohl Gift als Heilmittel (9).


Aber weil die Pflanze lebendig iſt, ſo kann ſie auch
häßlich werden. Das Leben als die Freiheit der Geſtaltung
führt ſie nothwendig in dieſe Möglichkeit ein. Pflanzen
können, was ihre Erſcheinung in Gruppen betrifft, ſich über¬
wuchern und ſo in ſelbſterzeugter Ungeſtalt ſich verhäßlichen.
Sie können von Außen her gewaltſam angegriffen, willkür¬
lich gemodelt und verhunzt werden. Aber ſie können auch
von Innen heraus durch Erkrankung verkümmern und ent¬
arten. Mit der Erkrankung kann auch die Entſtaltung und
Verfärbung und zwar als eine häßliche ſich entwickeln. In
allen dieſen Fällen iſt die natürliche Urſache der Häßlichkeit
eine ganz offenbare. Es iſt kein dem Leben und der Pflanze
2 *[20] fremdes, ſataniſches Princip, ſondern es iſt eben die Pflanze
ſelber, die als lebendige krank und als Folge der Erkrankung
in Geſchwulſten, Vertrocknungen, Verzwergungen und Ver¬
wachſungen ihre normale Form, ſo wie in Abbleichungen und
Umfärbungen ihr normales Colorit einbüßen kann. Fremd
an ſich iſt der Pflanze die Gewalt, die ihr vom Sturm,
vom Waſſer, von der Gluth, von Thieren und Men¬
ſchen angethan werden kann. Dieſe Gewalt kann die
Pflanze verhäßlichen, aber auch verſchönen. Es kommt auf
die nähere Art der Einwirkung an. Der Sturm kann einer
Eiche das Laub abſtreifen, die Aeſte zerſplittern und ſo den
ſtolzen Baum verkrüppeln. Er kann aber auch, wenn er
mit rhythmiſchen Stößen in den laubreichen Aeſten wühlt,
durch die Bewegung des Baums das Markige und Energi¬
ſche in ſeiner Schönheit erſt recht zur Erſcheinung bringen.
Normale Veränderungen in der Metamorphoſe der Pflanze
ſind frei von Häßlichkeit, denn als nothwendig ſind ſie
nichts Krankhaftes. Der Uebergang der Knospe zur Blüthe,
der Blüthe zur Frucht iſt von einem ſtillen, unſäglichen
Reiz begleitet. Wenn zur Herbſtzeit das Chlorophyll aus
den Blättern entweicht und dieſe ſich nun in tauſend gelb¬
lichen, braunen und rothen Tinten färben, ſo werden dadurch
unendlich maleriſche Effecte hervorgebracht. Und wie ſchön
iſt nicht die Anſchauung der goldenen Saaten, wenn die
nährenden Gräſer reifen und gelben d. h. abwelken!


Noch größer, als bei der Pflanze, wird die Möglichkeit
des Häßlichen innerhalb der Thierwelt, weil hier der Reich¬
thum der Formen in's Unendliche hin wächſt und das Leben
energiſcher und ſelbſtiſcher wird. Um das Häßliche der Thier¬
form richtig zu verſtehen, muß man erwägen, daß die Natur
zunächſt nur darauf ausgeht, das Leben und die Gattung
[21] zu ſchützen und ſich, für dieſen Zweck, gegen die Schönheit
und gegen das Individuum gleichgültig zu verhalten. Hierin
liegt der Grund, weshalb die Natur auch wirklich häßliche
Thiere hervorbringt d. h. Thiere, die nicht blos durch Ver¬
ſtümmelung oder Alter und Krankheit häßlich werden, ſondern
bei denen die häßliche Form conſtitutiv iſt. Für unſer äſthe¬
tiſches Urtheil ſchleichen ſich hierbei viel Täuſchungen ein,
theils durch Gewöhnung an einen Typus, den wir dann für
ſchön, ſo wie eine Abweichung von ihm für häßlich zuhalten
geneigt ſind; theils durch die Iſolirung des Thiers in der
abſtracten Weiſe, wie ein Kupferſtich oder ein Exemplar in
einer Sammlung uns das Thier vorführt. Wie ganz anders
erſcheint ein Thier lebendig in ſeiner natürlichen Umgebung,
der Froſch im Waſſer, die Eidechſe im Graſe oder in der
Felſenſpalte, der Affe am Baum kletternd, der Eisbär auf
der Eisſcholle u. ſ. w.


Die Kryſtalle können ſich in ihrer ſtarren Regelmäßigkeit
wenn ſie im Act ihrer Formation gehemmt werden, empiriſch
unvollkommen ausbilden, in ihrem Begriff aber liegt die
Schönheit der ſtereometriſchen Geſtalt. Die Pflanzen können
verſtümmelt werden oder von Innen her abwelken und ſich
entſtalten, aber ihrem Begriff nach ſind ſie ſchön. Wenn
ſie in manchen Formen häßlich zu werden ſcheinen, mildern
ſie die Unförmlichkeit ſogleich durch einen komiſchen Zug,
wie das Geſchlecht der Cactus, der Rüben, der Cucurbitaceen,
welche letztere namentlich von der Malerei ſchon öfter zu
phantaſtiſch komiſchen Figuren benutzt ſind (10). Bei dem
Thier dagegen, es iſt nicht zu leugnen, erzeugen ſich Formen
von urſprünglicher Häßlichkeit, die ihren Gräuelanblick durch
keinen komiſchen Zug aufheitern. Der Realgrund ſolcher
Geſtalten iſt die Nothwendigkeit der Natur, den Thierorga¬
[22] nismus den verſchiedenen Elementen, Zonen und Bodenformen
einzuverleiben und ihn durch die verſchiedenen Erdperioden
hindurchzuleiten. Dieſer Nothwendigkeit ſich unterwerfend,
muß ſie denſelben Typus z. B. den des Hundes, in's Un¬
endliche variiren. Gewiſſe Quallen, Sepien, Raupen,
Spinnen, Rochen, Eidechſen, Fröſche, Kröten, Nager,
Pachydermaten, Affen, ſind poſitiv häßlich (11). Manche
dieſer Thiere ſind uns wichtig, mindeſtens intereſſant, wie
der Zitterroche. Andere imponiren uns in ihrer Häßlichkeit
durch ihre Größe und Stärke, wie das Nilpferd, das Nas¬
horn, das Kameel, der Elephant, die Giraffe. Zuweilen
nimmt die Thiergeſtalt eine komiſche Wendung, wie bei
einigen Reihern, Hornſchnäblern, Pinguins, bei einigen
Mäuſen und Affen. Viele Thiere ſind ſchön. Wie ſchön
ſind nicht manche Konchylien, Schmetterlinge, Käfer,
Schlangen, Tauben, Papagaien, Pferde! Wir ſehen, daß
die häßlichen Formen ſich vorzüglich auf den Uebergängen
der Thierreiche erzeugen, weil auf ihnen ſich ein gewiſſer
Widerſpruch, ein Schwanken zwiſchen verſchiedenen Typen
auch in der Geſtalt kund geben muß. Viele Amphibien z. B.
ſind häßlich, weil ſie Land- und Waſſerthiere zugleich ſind.
Sie ſind noch Fiſche und ſind es auch nicht mehr, eine
Amphibolie, die nun innerlich und äußerlich in ihrer Structur
und ihrem Verhalten zu Tage kommt. Die ungeheuerlichen
Geſtalten der Vorwelt ſind vorzüglich dadurch entſtanden,
daß die gigantiſchen Organismen ſich den extremen Verhält¬
niſſen der Bodenform und Temperatur anpaſſen mußten.
Fiſch- und Vogeleidechſen, mit Ruderfloſſen ausgeſtattete
Rieſenreptilien, konnten allein in dieſen grenzenloſen Sumpf¬
ländern und in dieſer gluthdampfenden, verſengenden Atmos¬
phäre ausdauern. Die Zweideutigkeit der damaligen terreſtri¬
[23] ſchen Zuſtände mußte ſich auch in der Zweideutigkeit der
Thiergeſtalt ausprägen. Finden wir doch jetzt noch, wo die
Bodenform noch unreif und die Vegetation jungfräulich iſt,
ſolche Zwitterexiſtenzen, wie in Auſtraliens Schnabelthieren.


Das Thier kann alſo ſchon in ſeinem unmittelbaren
Typus häßlich ſein. Allein es kann auch, wenn gleich der¬
ſelbe primitiv ſchön iſt, häßlich werden, denn es kann, wie
die Pflanzen, durch Verſtümmelung von Außen oder durch
Erkrankung von Innen der Mißbildung unterworfen werden.
In beiden Fällen überſteigt ſeine Häßlichkeit die der Pflanze
bei weitem, weil ſein Organismus viel einheitlicher und ab¬
geſchloſſener iſt, während die Pflanze in's Unbeſtimmte hin¬
ausrankt und daher im Umriß ihrer Geſtalt einer gewiſſen
Zufälligkeit unterliegt. Die Gliederung des Thiers iſt eine
an und für ſich beſtimmte. Wird alſo bei ihm ein Glied
verletzt oder weggenommen, ſo wird dadurch das Thier ſofort
verhäßlicht. Daß Thier kann von ſeinem Organismus nichts
entbehren, mit Ausnahme des vegetativen Ueberfluſſes von
Haaren, Hörnern u. dgl., den es zu erneuern vermag.
Von einem Roſenſtrauch kann man eine Roſe pflücken,
ohne damit die Pflanze an ſich zu ſchädigen oder ihre Geſtalt
zu verunſchönen. Einem Vogel kann man nicht einen Flügel
wegſchneiden, einer Katze nicht den Schwanz abhacken, ohne
ſie damit unförmlich zu machen und in ihrem Lebensgenuß
zu beeinträchtigen. — Wegen der in ſich a priori abgeſchloſſenen
Articulation wird nun die Thiergeſtalt auch umgekehrt hä߬
lich durch einen Ueberfluß, der nicht in ihrem Begriff liegt.
Die Glieder des animaliſchen Organismus ſind der Zahl
und der Lage nach genau beſtimmt, denn ſie ſtehen unter
einander in harmoniſcher Wechſelwirkung. Ein Glied mehr
oder ein Glied an einer andern Stelle, als dem Begriff nach
[24] ſtattfinden ſollte, widerſpricht demnach der Grundgeſtalt und
macht ſie häßlich. Wird z. B. ein Schaaf mit acht Füßen
geboren, ſo iſt dieſe Verdoppelung der ihm nothwendigen
Anzahl eine Monſtroſität und Häßlichkeit.


Eben die genaue, von Innen ſich entwickelnde Maa߬
beſtimmtheit der Thiergeſtalt hat auch zur Folge, daß jedes
Glied ſeine normale, im ſogenannten Balancement der Organe
liegende Größe hat und daß alſo, wenn dieſelbe über dies
Maaß hinaus vergrößert oder verkleinert wird, ein Mißver¬
hältniß ſich erzeugt, das nothwendig häßlicher Art iſt. Solche
Uebervergrößerung oder Ueberverkleinerung iſt jedoch in der
Regel ſchon Folge von Krankheit, deren Urſprung auch eine
erbliche, aus der Tiefe des eigenſten Lebens ſich entwickelnde
Anlage ſein kann. Die Verbildung kann ſchon im Ei, im
Samen, im Uterus, während der Fötalperiode beginnen.
Krankheit zerſtört den Organismus erſt partiell, endlich
total und mit dieſer Zerſtörung iſt durchſchnittlich Entfärbung
und Verunſtaltung verbunden. Je ſchöner das Thier ſeinem
Begriff nach iſt, um ſo häßlicher wird dann der Anblick
ſeiner verkümmerten, vermagerten, verſchwollenen, verfahlten,
wohl gar mit Geſchwüren bedeckten Geſtalt. Das Pferd iſt
unſtreitig das ſchönſte Thier, allein eben deshalb iſt es auch
dasjenige, welches krank, veraltert, mit Triefaugen, mit
Hängebauch, mit vorſtehenden Knochen, mit ſich durchzeich¬
nenden Rippen, mit ſtellenweiſer Enthaarung, einen überaus
widrigen Anblick gewährt.


Aus dem Bisherigen ergibt ſich, daß die Häßlichkeit
der Thiergeſtalt, ſei es daß wir ſie als eine urſprüngliche
oder als eine durch Zufall und Krankheit entſtandene antreffen,
für uns hinreichend erklärlich iſt und daß wir nicht, wie
Daub in ſeinem Judas Iſcharioth (12), die Hypotheſe von
[25] einem Unnatürlichen in der Natur als ſeiner Urſache zu
machen haben. Die Nothwendigkeit der Natur, Contraſte in
Einem Organismus zu verknüpfen, Säugethiere als Walen
und Robben in's Waſſer, als Flughäuter in die Luft zu
werfen, Chelidonen, Saurier und Batrachier für den Auf¬
enthalt im Waſſer und auf dem Lande gleichmäßig auszu¬
rüſten, iſt eben ſo klar, als die Nothwendigkeit des Zufalls,
der ein Thier von Außen gewaltſam verkrüppeln oder von
Innen durch Krankheit verbilden kann. Daß die Blutgier
der Carnivoren und das Gift mancher Thiere, mit Einſchluß
des Geſtankes, den einige zu ihrer Vertheidigung verbreiten,
mit der Schönheit oder Häßlichkeit ſo wenig im Zuſammen¬
hang ſtehe, als das Gift einiger Pflanzen mit ihrer Form,
braucht noch kaum bemerkt zu werden. Wäre die ſuper¬
naturaliſtiſche Hypotheſe vom Urſprung des Häßlichen durch
das Böſe, was die Natur corrumpirt habe, wahr, dann
müßten auch die Giftſchlangen und Raubthiere principiell
häßlich ſein, was doch ſo wenig der Fall iſt, daß vielmehr
die giftzahnigen Schlangen und die wilden Katzen durch
Schönheit, ja Pracht ſich auszeichnen. Das Unnatürliche
aber hat für die Natur eigentlich keinen Sinn, da ſie, als
ohne Freiheit des Bewußtſeins und des Willens, einer will¬
kürlichen Verletzung eines Geſetzes nicht fähig iſt. Für die
Thiere exiſtirt kein Geſetz der Selbſtachtung und Pietät, alſo
auch kein Verbrechen gegen ein ſolches. Selbſtbefleckung,
Blutſchande und Kindermord ſind Begriffe, die nur der
Geiſterwelt angehören und es iſt eine falſche Sentimentalität,
ſich über Unthaten der Thierwelt zu entſetzen, die als
ſolcher in ihr gar nicht da ſind.


Gewöhnlich denken wir auch nicht an dieſe Einzelheiten,
wenn von Schönheit und Häßlichkeit der Natur die Rede
[26] iſt, ſondern im Durchſchnitt ſchwebt uns dabei die landſchaft¬
liche Schönheit vor, welche alle Naturgeſtalten zu einer
charakteriſtiſchen Einheit in ſich verſammelt. Die Landſchaft
iſt entweder monoton, wenn eine der Naturgeſtalten in ihr
elementariſch vorherrſcht, der Berg, der Strom, der Wald,
die Wüſte u. ſ. w.; oder ſie iſt contraſtirend, wenn zwei
Formen ſich einander entgegengeſetzt ſind; oder ſie iſt har¬
moniſch, wenn ein Gegenſatz in einer höhern Einheit ſich
auflöſt. Jede dieſer Grundformen kann durch den Wechſel
der Tages- und Jahreszeiten eine unendliche Mannigfaltigkeit
von Phaſen durchlaufen. Auf die Beleuchtung vorzüglich
kommt es an, welchen äſthetiſchen Eindruck eine Landſchaft
zu machen fähig iſt. Eine Wüſte kann erhaben, furchtbar
erhaben ſein, wenn die tropiſche Sonne ſie als tiefliegende
Sahara durglühet; melancholiſch erhaben, wenn der Mond
der gemäßigten Zone ſie als hochliegende Gobi mit ſeinem
Silberlicht überſchimmert. Aber jede der landſchaftlichen
Grundformen kann ſowohl ſchön als häßlich ſich geſtalten.
Die Monotonie, die im Ruf der Häßlichkeit ſteht, verdient
denſelben erſt durch den Indifferentismus abſoluter Geſtaltloſig¬
keit, wie das bleifarbene, glattſtagnirende Meer unter
grauem Himmel bei völliger Windſtille.

Das Geiſthäßliche.

Gehen wir nun von der Natur zum Geiſt über, ſo
werden wir vorweg ſagen müſſen, daß der abſolute Zweck des
Geiſtes Wahrheit und Güte iſt, denen er die Schönheit eben
ſo unterordnet, wie die organiſche Natur ihren abſoluten
Zweck, dem Leben. Chriſtus, das Ideal der Freiheit, ſtellen
[27] wir uns nicht gerade häßlich, aber auch nicht in Griechiſcher
Weiſe ſchön vor. Was wir Schönheit der Seele nennen,
iſt der Begriff der Güte und Reinheit des Willens; eine
ſolche kann auch in einem Leibe wohnen, der unanſehnlich,
ja häßlich iſt. Der Wille an und für ſich in dem Ernſt
ſeiner Heiligkeit geht über das äſthetiſche Element hinaus.
Die Geſinnung mit der Tüchtigkeit ihres Inhaltes fragt
zunächſt nicht nach der Form, in welcher ſie erſcheint. Die
Innigkeit des liebevollen Gemüthes läßt die eckigen Manieren,
die Armſeligkeit des Anzugs, die etwaigen Sprachfehler u. dgl.
bei dem Handelnden vergeſſen. Es iſt aber natürlich, daß
die Wahrheit und Güte des Willens eine Würde der per¬
ſönlichen Haltung zur Folge hat, die auch äußerlich bis in
die ſinnliche Erſcheinung durchdringt und inſofern gilt vom
Geiſt der Lichtenbergiſche Satz, daß alle Tugend verſchönt,
alles Laſter verhäßlicht.


Dieſen an ſich richtigen Satz können wir noch allge¬
meiner ausdrücken, indem wir ſagen, daß alles Gefühl und
Bewußtſein der Freiheit verſchönt und alle Unfreiheit ver¬
häßlicht, Freiheit wollen wir hier nur in dem Sinn der in
ſich unendlichen Selbſtbeſtimmung nehmen und dabei von der
Wahrheit ihres Inhaltes abſtrahiren. Der Organismus iſt
einmal dazu beſtimmt, nichts für ſich ſelber zu bedeuten,
ſondern als das Werkzeug des Geiſtes dieſen in ſich durch¬
ſcheinen zu laſſen. Wir können an den Racen und Ständen
die Wahrheit dieſes Begriffs beobachten. Mit der wachſenden
Freiheit wächſt auch die Schönheit der Erſcheinung. Die
ariſtokratiſchen Geſchlechter werden ſchöner, weil ſie ſich freier
fühlen, weil ſie von der Gebundenheit an die Natur eman¬
cipirter ſind, weil ſie mehr Muße haben und dieſelbe durch
Spiel, Liebe, Waffenübung, Poeſie ausfüllen. Die Inſulaner
[28] der Südſee waren ſchön, ſo lange ſie der Liebe, dem Tanz,
dem Kampf und dem Genuß des Seebades lebten. Die
Neger von Dahomey und Benin ſind ſchön, weil ſie mit
ſinnlichem Wohlſein kriegeriſchen Muth und mercantiliſche
Unternehmungsluſt verbinden. Sie nehmen daher auch
ſchon an der Schönheit ein Intereſſe. Der König hat eine
Leibwache von mehren tauſend Amazonen wahrhaft ſchöner
und tapferer Mädchen, von denen A. Boué uns Zeichnungen
gegeben hat. Wer ein Geſchenk vom Könige empfängt,
drückt ſeinen Dank durch einen Tanz, alſo durch einen
äſthetiſchen Act, öffentlich vor allem Volke aus.


Auch der in moraliſchem Betracht nach gewiſſen Seiten
hin ſchlechte oder gar böſe Menſch kann doch Schönheit zeigen,
ſofern er neben ſeinen Untugenden und Laſtern auch Tugenden,
ſelbſt Gemüth beſitzen kann. Namentlich wird er oft formale
Freiheit, Klugheit, Vorſicht, Beſonnenheit, Selbſtbeherrſchung,
Ausdauer haben, wodurch Verbrecher ſogar mit einem ge¬
wiſſen ritterlichen Schwung und Adel hervorſtechen. Es
kommen auf dieſem Gebiet ſeltſame Wunderlichkeiten vor.
Eine Ninon de l'Enclos war gewiß ſchön und nicht weniger
galant, als ſchön; allein ſie war es mit Freiheit von niedrigen
Nebenrückſichten; ſie war es mit Gefühl und Grazie und
blieb daher ſchön. Sie verſchenkte ihre Gunſt mit Freiheit
nach Neigung, aber ſie verkaufte ſie nicht.


Weil der Leib im Verhältniß zum Geiſt einen nur
ſymboliſchen Werth anſprechen darf, ſo erklärt ſich, wie es
möglich wird, daß ein Menſch körperlich ſogar häßlich ſein
kann, ſchief gewachſen, von unregelmäßigen Geſichtszügen,
blatternarbig und daß er doch dies Alles nicht nur kann
vergeſſen laſſen, ſondern noch mehr, daß er dieſe unglücklichen
Formen von Innen heraus mit einem Ausdruck zu beleben
[29] vermag, deſſen Zauber uns unwiderſtehlich hinreißt, — wie
der häßliche Mirabeau die ſchönſten Frauen leidenſchaftlich zu
feſſeln wußte, ſobald ſie nur ihm zu ſprechen erlaubten; wie
Richard III. bei Shakeſpeare in ſolch geiſtüberlegener Weiſe an
der Bahre Heinrichs VI. die Liebe der ihm zuerſt fluchenden
Anna zu erwerben weiß; wie Alkibiades im Platoniſchen
Sympoſion von Sokrates ſagt, daß er ſchweigend häßlich,
redend aber ſchön ſei.


Daß das Böſe als das Geiſthäßliche, wenn es habituell
wird, die Phyſiognomie des Menſchen verhäßlichen müſſe,
liegt in ſeinem Weſen, weil es diejenige Unfreiheit iſt, die
aus der freien Negation der wahrhaften Freiheit entſpringt.
Der Habitus und die Phyſiognomie glücklicher Naturvölker
kann ſchön ſein, weil ſie einer wenn auch vorerſt natürlichen
Freiheit ſich erfreuen. Die Unfreiheit, welche darin beſteht,
daß man das Böſe, indem man es als das Böſe weiß, doch
will, enthält den tiefſten Widerſpruch des Willens mit ſeiner
Idee; ein Widerſpruch, der ſich auch äußerlich verrathen
muß. Einzelne Verkehrtheiten und Laſter gewinnen ihren
beſtimmten phyſiognomiſchen Ausdruck. Neid, Haß, Lüge,
Geiz, Wolluſt arbeiten ihnen eigenthümliche Formen aus.
So bemerkt man an Diebinnen einen unſichern, ſeitlich ab¬
irrenden Blick, deſſen Bewegung die Franzoſen vom Lateiniſchen
fur fureter nennen und der in ſeinem flüchtig ſcharfen, ver¬
ſtohlen offenen Umhertaſten etwas Entſetzliches hat. Wenn
man große Gefängniſſe beſucht und in Sääle tritt, wo öfter
ſechszig bis hundert Diebinnen zuſammen ſpinnen, ſo kann
man dieſen ſpecifiſchen Blick des lauernden, kniffigen Auges
gleichſam als Gattungsblick wahrnehmen. Noch größer muß
natürlich die Häßlichkeit werden, wenn das Böſe an und für
ſich gewollt wird. Aber ſo paradox es klingt, ſo wird doch
[30] dadurch, daß das Böſe in dieſem Fall als eine ſyſtematiſche
Totalität ſich fixirt, wieder eine gewiſſe Harmonie des Willens
und damit auch der Erſcheinung hervorgebracht, welche die
Formen äſthetiſch mildert. Die Verirrung des einzelnen
Laſters kann oft einen viel unangenehmern, grellern Ausdruck
haben, als das ſchlechthin Böſe, das in ſeiner Negativität
wieder ein Ganzes iſt. Das grobe Laſter wird in ſeiner Ein¬
ſeitigkeit augenfällig; die Tiefe oder vielmehr Untiefe des
abſolut Böſen durchdringt mit ihrer Intenſität Habitus und
Antlitz auf gleichmäßigere Weiſe und kann exiſtiren, ohne
der Criminaljuſtiz beſondern Stoff zu bieten. Reiche, von
aller Cultur beleckte, jedem Eigenſinn fröhnende, in den
feinſten Raffinements ihrer Selbſtſucht ſchwelgende, in Frauen¬
verführung kokettirende, in der Qual ihrer Blaſirtheit die
Qual ihrer Diener werdende Salonmenſchen ſind oft in das
abgrundloſe Inſichſein des Böſen verfallen. — Nach rück¬
wärts mit der Natur verglichen erkennen wir hier die Steige¬
rung, daß die Natur in manchen Thieren das Häßliche
allerdings unmittelbar und poſitiv hervorbringt, daß der
Menſch aber die ihm gegebene Naturſchönheit von Innen
heraus durch das Böſe zu entſtellen und zu verzerren ver¬
mag, ein Werk der ſich ſelbſt vernichtenden Freiheit, deſſen
das Thier unfähig iſt.


Die Urſache des Böſen und des durch daſſelbe vermittelten
Häßlichen in der äußern Erſcheinung des Menſchen iſt alſo
die Freiheit deſſelben, keineswegs ein transcendentes Weſen
außer ihm. Das Böſe iſt die eigene That des Menſchen
und ſo gehören ihm auch deſſen Folgen. Da nun der Menſch
die Naturſeite weſentlich an ſich hat, ſo ergibt ſich, daß auch
alle diejenigen Beſtimmungen des Häßlichen, die wir bei der
organiſchen, insbeſondere animaliſchen Natur fanden, bei dem
[31] Menſchen möglich ſind. Der Typus deſſelben ſollte freilich
ſeiner Idee nach die Schönheit der menſchlichen Erſcheinung
erwarten laſſen, allein die empiriſche Realität, weil der Zufall
und die Willkür in ihr nothwendige Factoren ausmachen,
zeigt uns auch häßliche Geſtalten und zwar nicht blos in der
Form vereinzelter Individuen, ſondern in der erblichen Aus¬
breitung über größere Kreiſe. Doch ſind ſolche Geſtalten
nicht Gattungen in dem Sinn, wie es von Geburt häßliche
Thiere gibt, in deren Begriff ſchon die Häßlichkeit, das
Verzerrte und Widerſpruchsvolle liegt. Gegen die Idee des
Menſchen gehalten, bleiben ſie Zufälligkeiten, die empiriſch
nur relativ nothwendig waren. Sie können theils ſingulärer,
theils particulärer Art ſein. Singulärer Art, wenn ein
menſchlicher Organismus durch individuelle Krankheit, z. B.
Skropheln, Rückgratverkrümmung, Bruch u. dgl. verun¬
ſtaltet wird; particulärer Art, wenn die Verunſtaltung ſich
dadurch erzeugt, daß der Organismus einer beſondern Loca¬
lität ſich anpaſſen muß. In dieſem Fall der Adaption an
eine beſtimmte Bodenform und an ein beſtimmtes Klima
muß der Menſch dieſelben Proceſſe, wie die Pflanze und
das Thier, durchlaufen Die Verſchiedenheit der telluriſchen
Bedingungen drückt ſich auch in der Verſchiedenheit des
Habitus und der Phyſiognomie aus, zumal ſie auch eine
Verſchiedenheit der Lebensart hervorrufen. Der Bewohner
des Gebirgs und der der Ebene, der Waldjäger und der
Fiſcher, der Hirt und der Ackerbauer, der Polanwohner und
der Tropenländer, empfangen nothwendig einen andern an¬
thropologiſchen Charakter. Selbſt der Cretinismus iſt hieher
zu rechnen, da er an beſtimmten Localitäten, namentlich an
gewiſſen von Kalkauflöſungen geſchwängerten Bergwaſſern zu
haften ſcheint. Der Cretin iſt noch häßlicher als der Neger,
[32] weil er zur Unförmlichkeit der Figur noch die Stupidität der
Intelligenz und Schwäche des Geiſtes hinzufügt. Seine
ſtumpfen Augen, ſeine niedrige Stirn, ſeine hängende Un¬
terlippe, ſeine gegen den Stoff indifferente Freßgier und
ſexuelle Brutalität, ſtellen ihn unter den Neger und nähern
ihn dem Affen, der äſthetiſch vor dem Cretin voraus hat,
nicht Menſch zu ſein.


Im Begriff alſo des Menſchen liegt die Häßlichkeit
nicht. Sein Begriff als der der Vernunft und Freiheit for¬
dert, daß er ſich auch im Ebenmaaß der Geſtalt, im Unter¬
ſchied von Füßen und Händen und in der aufrechten Haltung
als äußere Erſcheinung realiſire. Iſt der Menſch, wie der
Buſchmann, wie der Cretin, von Natur häßlich, ſo wird
ſich in ſolcher Mißform auch die locale und relativ erbliche
Unfreiheit darſtellen. Die Krankheit iſt Urſache des Hä߬
lichen allemal, wenn ſie eine Verbildung des Skeletts, der
Knochen und Muskeln zur Folge hat z. B. bei ſyphilitiſchen
Knochenauftreibungen, bei gangränen Zerſtörungen. Sie iſt
es allemal, wenn ſie die Haut färbt, wie in der Gelbſucht;
wenn ſie die Haut mit Exanthemen bedeckt, wie im Schar¬
lach, in der Peſt, in gewiſſen Formen der Syphilis, im
Ausſatz, in Flechten, im Weichſelzopf u. ſ. w. Die ſcheu߬
lichſten Deformitäten werden unzweifelhaft durch die Syphi¬
lis hervorgebracht, weil ſie nicht nur ekelhafte Ausſchläge,
ſondern auch Faulungen und Knochenzerſtörungen bewirkt.
Exantheme und Eiterbeulen ſind der Krätzmilbe vergleichbar,
die unter der Haut ihre Kanäle gräbt; ſie ſind gewiſſer¬
maaßen paraſitiſche Individuen, deren Exiſtenz dem Weſen des
Organismus als Einheit widerſpricht und in welche er aus¬
einanderfällt. Die Anſchauung eines ſolchen Widerſpruchs iſt
ſo überaus häßlich. — Die Krankheit iſt überhaupt Urſache
[33] der Häßlichkeit, wenn ſie die Geſtalt abnorm verändert, wo¬
hin alſo auch Waſſerſucht, Tympanitis u. dergl. gehören.
Aber ſie iſt es nicht, wenn ſie in Kacherie, in Hektik, in
Fieberzuſtänden, dem Organismus jene transcendente Tinctur
gibt, die ihn ätheriſcher erſcheinen läßt. Die Abmagerung, der
brennende Blick, die bleichen oder vom Fieber gerötheten
Wangen des Kranken können das Weſen des Geiſtes ſogar
unmittelbarer zur Anſchauung bringen. Der Geiſt iſt dann
gleichſam ſchon von ſeinem Organismus geſchieden. Er durch¬
wohnt ihn noch, allein nur um ihn in der That zum reinen
Zeichen zu machen. Der ganze Körper in ſeiner durchſichti¬
gen Morbidezza bedeutet ſchon nichts mehr für ſich und iſt
durch und durch nur noch Ausdruck des von ihm bereits
auswandernden, naturunabhängigen Geiſtes. Wer hätte nicht
ſchon eine Jungfrau oder einen Jüngling auf dem Sterbe¬
bette geſehen, die als Opfer der Schwindſucht einen wahr¬
haft verklärten Anblick darboten! So etwas iſt bei keinem
Thiere möglich. — Aus denſelben Gründen ergibt ſich auch,
daß der Tod keineswegs mit Unausbleiblichkeit eine Verhä߬
lichung der Geſichtszüge hervorzubringen hat, ſondern eben
ſowohl einen ſchönen, ſeligen Ausdruck hinterlaſſen kann.


Kann nun Krankheit den Menſchen unter gewiſſen
Umſtänden ſogar verſchönen, ſo kann ſie noch mehr im Ver¬
ſchwinden eine Urſache des Schönen werden. Die allmälige
Wiederkehr der Geſundheit gibt dem Blicke freie Klarheit,
den Wangen ſanfte Röthe. Das Wiederſchwellen der Adern
und Muskeln und das Spiel der Kraft, die ſich genußverlan¬
gend wieder zu regen beginnt, verbreiten eine außerordentliche
potenzirte Schönheit und übergießen die Geſtalt mit jenem
unausſprechlichen Zauber, in welchem der Reiz der Verjün¬
gung noch ſeinen Gegenſatz der Hinfälligkeit, das Leben den
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 3[34] Tod, noch an ſich hat. Ein Geneſender iſt ein Anblick
für Götter!


Doch können wir den Geiſt hier noch nicht verlaſſen,
denn noch auf andere Weiſe, als in nur gewöhnlicher Krank¬
heit, kann er Häßlichkeit erzeugen. Er kann nämlich in ſich
erkranken und den Widerſpruch, in welchen er mit ſich als
Geiſt geräth, dann auch in ſeiner Erſcheinung ausdrücken.
Oder richtiger, die Seelenſtörung ſelber iſt ſo gut, als das
Böſe, das eigentlich Häßliche im Geiſt als ſolchem. Dieſe
Häßlichkeit aber des Innern überſetzt ſich auch in die Aeußer¬
lichkeit. Blödſinn, Verrücktheit, Wahnſinn, Raſerei, machen
den Menſchen häßlich. Auch die Betrunkenheit als eine
acute, künſtlich erzeugte Selbſtentfremdung des Geiſtes ge¬
hört hieher. Die Beſonnenheit, mit welcher der bei ſich
ſeiende Geiſt alle ſeine Verhältniſſe zuſammenfaßt und ſich,
den einzelnen, doch zugleich als allgemeines Vernunftweſen
weiß, verleihet dem Geiſt die rechte Gegenwart und demge¬
mäß auch die rechte Herrſchaft über ſeinen Organismus. In
der Seelenſtörung aber verliert der Menſch die Allgemeinheit
ſeines Selbſtgefühls als blödſinniger, oder er entäußert ſie
an eine Endlichkeit als Verrückter, oder er fühlt ſich als
Wahnſinniger von der Macht eines Widerſpruchs in ſich
vernichtet und rettet ſich aus dieſem Widerſpruch nur durch
Fiction eines andern oder durch Raſerei. In allen dieſen
Fällen ertheilt der Kranke dem Reellen wie dem Imaginären
falſche Werthe. Der Blödſinnige verſinkt mehr und mehr
in thieriſche Apathie; bei dem Verrückten entwickelt ſich ein
eigenthümlicher, von der Realität der gegenwärtigen Gegen¬
ſtände und Menſchen ins Unbeſtimmte abirrender Blick, ein
ekles Grimaſſiren, eine widrige Beweglichkeit oder Starrheit,
und ſelbſt bei den Wahnſinnigen, die an tieferer Zerriſſenheit
[35] des Gemüths kranken, bemerkt man in der Feierlichkeit,
mit der ſie öfter auftreten, den Verrath des gebrochenen
Selbſtgefühls an der Hohlheit und Zuſammenhangloſigkeit
ihres Pathos.

Das Kunſthäßliche.

Das Reich des Häßlichen iſt, wie wir ſehen, ſo groß,
als das Reich der ſinnlichen Erſcheinung überhaupt; der
ſinnlichen Erſcheinung, denn ein äſthetiſches Object wird das
Böſe und die unſelige Selbſtentfremdung des Geiſtes erſt
durch die Vermittelung der äußerlichen Darſtellung. Weil
das Häßliche an dem Schönen iſt, ſo kann es als die Ne¬
gation jeder ſeiner Formen ſich ſowohl vermöge der Noth¬
wendigkeit der Natur als der Freiheit des Geiſtes erzeugen.
Die Natur miſcht Schönes und Häßliches nach der Zufälligkeit,
wie Ariſtoteles ſagen würde, χαταβεβηχῶς, zuſammen. Die
empiriſche Wirklichkeit des Geiſtes thut daſſelbe. Um daher
das Schöne an und für ſich zu genießen, muß der Geiſt es
hervorbringen und zu einer eigenthümlichen Welt für ſich ab¬
ſchließen. So entſteht die Kunſt. Aeußerlich knüpft auch
ſie an Bedürfniſſe des Menſchen an, allein ihr wahrhafter
Grund bleibt doch die Sehnſucht des Geiſtes nach dem reinen,
unvermiſchten Schönen.


Iſt nun das Hervorbringen des Schönen Aufgabe der
Kunſt, muß es da nicht als der größte Widerſpruch erſchei¬
nen, wenn wir ſehen, daß die Kunſt auch das Häßliche
hervorbringt?


Wollten wir hierauf antworten, daß die Kunſt aller¬
dings das Häßliche hervorbringe, jedoch als ein Schönes, ſo
würden wir offenbar zu dem erſtbemerkten Widerſpruch nur
3 *[36] einen zweiten, und, wie es ſcheint, größern hinzufügen, denn
wie iſt es möglich, daß das Häßliche ſchön werden könne?
Durch dieſe Fragen ſehen wir uns in neue Schwierig¬
keiten verwickelt. Da ſie ſich von ſelbſt aufdrängen, hilft
man ſich gegen ſie gewöhnlich dadurch, daß man den trivialen
Satz hervorſucht, die Schönheit bedürfe der Häßlichkeit oder
könne ſich ihrer doch wenigſtens bedienen, um als Schönheit
deſto nachdrücklicher zu erſcheinen; — ähnlich, wie man wohl
das Laſter zu einer Bedingung der Tugend macht. Von der
dunklen Folie des Häßlichen hebe ſich das reine Bild des
Schönen um ſo leuchtender ab.


Kann man ſich aber wohl bei dieſem Satz beruhigen?
Seine Wahrheit, daß nämlich dem Häßlichen gegenüber das
Schöne um ſo mehr als ſchön empfunden werden müſſe, iſt
nur relativ. Wäre ſie abſolut, ſo müßte alles Schöne ſich
die Begleitung eines Häßlichen wünſchen. Nur neben einem
Therſites würde dann die Schönheit eines Achilleus ganz
ſein, was ſie ſein ſoll. Allein eine ſolche Behauptung iſt
irrig. Das Schöne, als der ſinnlich erſcheinende Ausdruck
der Idee, iſt in ſich abſolut und bedarf nicht eines Haltes
außer ſich, einer Verſtärkung durch ſeinen Gegenſatz. Es
wird nicht ſchöner durch das Häßliche. Die Gegenwart des
Häßlichen bei dem Schönen kann nicht das Schöne als ſolches,
ſondern nur den Reiz des Genießens erhöhen, indem wir,
ihm gegenüber, die Vortrefflichkeit des Schönen um ſo leb¬
hafter fühlen; — wie z. B. viele Maler zur Danaë, indem ſie
mit ſüßſchmachtendem Verlangen den Goldregen in ihrem
ſchönen Schooß empfängt, eine runzlichte, ſpitzkinnige Alte
im Hintergrund oder an der Seite gemalt haben.


Aber das ſchlechthin Schöne und Erhabene läßt uns
vielmehr ſogar ſeine ausſchließliche und unbedingte Gegenwart
[37] wünſchen. Es iſt ſo ſehr ſich ſelbſt genug, daß es nicht nur
aller Folie des Häßlichen entrathen kann, ſondern daß eine
ſolche auch ſtörend zu wirken vermag. Das abſolut Schöne
wirkt beruhigend und läßt über ſich momentan alles Andere
vergeſſen. Wozu aus ſeiner ſeligen Fülle auf Anderes ab¬
gelenkt werden? Wozu ſeinen Genuß durch die Reflexion
auf ſein Gegentheil würzen? Hat neben der Statue des
Gottes im Adyton ſeines Tempels noch die eines tückiſchen
Dämons Raum? Will der Anbetende ſich an etwas Anderm,
als an den Zügen des Gottes erſättigen?


Wir müſſen alſo die uneingeſchränkte Geltung des
Satzes, daß das Häßliche in der Kunſt um des Schönen
willen da ſei, verwerfen. In der Architektur, Sculptur,
Muſik und Lyrik würde man beſonders verlegen ſein, ihn zu
bewähren. Der Contraſt, deſſen die Kunſt oft bedarf,
braucht nicht durch den Gegenſatz des Häßlichen erzeugt zu
werden; das Schöne iſt mannigfaltig genug, ſich mit ſeinen
eigenen Formen zu contraſtiren — wie z. B. in Göthe's
Iphigenia lauter ſchöne Charaktere auftreten; oder in Ra¬
phaels Sirtiniſcher Madonne nur Majeſtät, Huld, Anmuth,
Würde, Lieblichkeit und durchaus nichts Häßliches zu finden
iſt und es doch in dieſen Werken nicht an Contraſten fehlt,
die, als ſchöne, jenes unendliche Entzücken bereiten, das dem
Abſoluten als dem mangellos Göttlichen inwohnt. Die teleo¬
logiſche Auffaſſung des Häßlichen hat alſo keine durchgrei¬
fende Berechtigung. Für die Natur haben wir uns über¬
zeugt, daß es ihr, teleologiſch genommen, weſentlich auf
das Leben und erſt in zweiter Rückſicht auf die Schönheit
ankommt. Auch für den Geiſt haben wir geſehen, daß in
ihm Wahrheit und Güte aller äſthetiſchen Forderung vorange¬
hen. Es iſt ſchön, wenn das Wahre und Gute auch ſchön
[38] erſcheinen, allein es iſt nicht nothwendig. Daß man dies
nicht ſo zu verſtehen habe, als ob Wahrheit und Güte, wenn
ſie nicht in idealer Schönheit zu erſcheinen vermögen, ſich
häßlich darſtellen müßten, iſt ausdrücklich bemerkt worden.
Das unbefangen Häßliche hat weder in der Natur, noch im
Geiſt einen ihm äußern Zweck. Die Natur warnt uns vor
Giften in Metallen, Pflanzen und Thieren nicht durch ab¬
ſchreckende Geſtalt und Farbe und der liebenswürdigſte Geiſt
kann das fatale Schickſal haben, mit einem Aeſopiſchen Höcker,
mit einem Byronſchen Schleppfuß zeitlebens vorlieb nehmen
zu müſſen.


Wie kann nun die Kunſt, deren Zweck nur das
Schöne ſein ſoll, dazu kommen, das Häßliche zu bilden?
Der Grund muß offenbar tiefer liegen, als in jenem äußer¬
lichen Reflexionsverhältniß. Er liegt im Weſen der Idee
ſelber. Die Kunſt hat zwar — und dies iſt gegen die Frei¬
heit des Guten und Wahren ihre Schranke — das ſinnliche
Element nothwendig, aber in dieſem Element will und ſoll
ſie die Erſcheinung der Idee nach ihrer Totalität ausdrücken.
Es gehört zum Weſen der Idee, die Exiſtenz ihrer Erſchei¬
nung frei zu laſſen und damit die Möglichkeit des Negativen
zu ſetzen. Alle Formen, die aus dem Zufall und aus der
Willkür entſpringen können, realiſiren auch factiſch ihre
Möglichkeit und die Idee beweiſt ihre Göttlichkeit vornämlich
durch die Macht, mit welcher ſie im Gewimmel der ſich kreu¬
zenden Phänomene, in der Entzweiung von Zufall und
Zufall, von Trieb und Trieb, von Willkür und Willkür,
von Leidenſchaft und Leidenſchaft, doch in dem Ganzen die
Einheit ihres Geſetzes erhält. Will alſo die Kunſt die Idee
nicht blos einſeitig zur Anſchauung bringen, ſo kann ſie auch
des Häßlichen nicht entbehren. Die reinen Ideale ſtellen uns
[39] allerdings das wichtigſte Moment des Schönen, das poſitive,
hin. Sollen aber Natur und Geiſt nach ihrer ganzen dra¬
matiſchen Tiefe zur Darſtellung kommen, ſo darf das natür¬
lich Häßliche, ſo darf das Böſe und Teufliſche nicht fehlen.
Die Griechen, ſo ſehr ſie im Idealiſchen lebten, haben doch
Hekatoncheiren, Kyklopen, Satyre, Grajen, Empuſen, Har¬
pyen, Chimären, haben einen hinkenden Gott gehabt, haben
in ihrer Tragödie Verbrechen der ſcheußlichſten Art (Oedipodie
und Oreſtie), Wahnſinn (Ajas), ekle Krankheit (der Eiter¬
fuß des Philoktetes) und vollends in ihrer Komödie Untu¬
genden und Schändlichkeiten aller Art zur Anſchauung ge¬
bracht. Mit der chriſtlichen Religion aber als der, welche
das Böſe in ſeiner Wurzel erkennen und von Grund aus
überwinden lehrt, iſt das Häßliche nun vollends in die Welt
der Kunſt eingeführt.


Aus dieſem Grunde alſo, die Erſcheinung der Idee
nach ihrer Totalität zu ſchildern, kann die Kunſt die Bil¬
dung des Häßlichen nicht umgehen. Es wäre eine ober¬
flächliche Auffaſſung der Idee, wollte ſie ſich auf das einfach
Schöne beſchränken. Aus dieſer Integration folgt jedoch
nicht, daß das Häßliche mit dem Schönen äſthetiſch auf
gleicher Stufe ſtünde. Die ſecundäre Entſtehung des Hä߬
lichen macht auch hier einen Unterſchied. Das Schöne näm¬
lich, weil es in ſich ſelbſt beruhet, kann auch ganz bezie¬
hungslos und ohne allen weitern Hintergrund von der Kunſt
hervorgebracht werden, während das Häßliche einer gleichen
Selbſtſtändigkeit äſthetiſch nicht fähig iſt. Empiriſch freilich
verſteht es ſich von ſelbſt, daß das Häßliche auch iſolirt
auftreten kann, äſthetiſch hingegen iſt ein abſtractes Fixiren
des Häßlichen unzuläſſig, denn äſthetiſch muß es ſich immer
in das Schöne reflectiren, an welchem es die Bedingung
[40] ſeiner Exiſtenz hat. Wir können nunmehr den oben für das
Schöne betrachteten Satz wieder aufnehmen und ſagen, daß
das Häßliche allerdings, da es nicht in ſich ſelbſt beruhet, an
dem Schönen die ihm nothwendige Folie beſitzt. Neben einer
Danaë laſſen wir uns wohl die häßliche Alte gefallen, aber
dieſe allein würde der Maler uns nicht malen, es wäre denn
als Genrebild, wo die Situation das äſtetiſche Element aus¬
machen würde, oder als Portrait, das zunächſt unter die
Kategorie der hiſtoriſchen Richtigkeit fällt. Die Abhängigkeit
des Häßlichen vom Schönen iſt ganz natürlich wieder nicht
ſo zu nehmen, als dürfte das Häßliche ſich das Schöne zum
Mittel machen. Dies wäre eine Abſurdität. Das Häßliche
kann alſo neben dem Schönen, gleichſam unter ſeinem Patro¬
nat, accidentell erſcheinen; es kann uns die Gefahr vergegen¬
wärtigen, der das Schöne in der Freiheit ſeiner Beweglichkeit
beſtändig ausgeſetzt iſt, aber es kann nicht directer und
excluſiver Gegenſtand der Kunſt werden. Nur die Religionen
können auch das Häßliche als abſolutes Object hinſtellen,
wie ſo viele ſcheußliche Götteridole ethniſcher Religionen,
aber auch Idole chriſtlicher Secten zeigen.


In der Totalität der Weltanſchauung macht das Hä߬
liche, wie das Kranke und das Böſe, nur ein verſchwindendes
Moment aus und in der Verſchlungenheit mit dieſem großen
Zuſammenhang ertragen wir es nicht nur, ſondern kann es
uns intereſſant werden. Nimmt man es aber aus dieſem
Zuſammenhang heraus, ſo wird es äſthetiſch ungenießbar.
Erblicken wir z. B. auf dem Eykſchen Weltgericht zu Danzig
auf der einen Seite des Mittelbildes einen Flügel, der uns
die Grauengeſtalten der Hölle, die Verzweiflung der Ver¬
dammten und den Hohn der mit ihrer Strafe beſchäftigten
Teufel darſtellt, ſo hat der Maler dieſen finſtern Knäuel
[41] widriger Fratzen offenbar nur in Beziehung zu dem gegen¬
überſtehenden Flügel gemalt, der den Eintritt der Be¬
gnadeten in die lichten Hallen des Himmels enthält, und
beide hat er wieder nur gemalt im Verhältniß zu dem
großen Mittelbilde, dem Gericht ſelbſt, welches erſt die Ex¬
treme der Seitenbilder erklärt und zu ihnen in ſymmetriſchen
Gruppen und wunderbaren Farben-Auf- und Abſtufungen den
Uebergang macht. Aber die Hölle allein oder gar einen
Teufel allein würde er nicht gemalt haben. Für Zwecke
der Belehrung iſoliren wir natürlich auch das Häßliche, aber
ein Künſtler, der daſſelbe noch ſo porträtartig treu wieder¬
gäbe, würde niemals glauben, damit ein Kunſtwerk geſchaf¬
fen zu haben. Das Bild eines Chriſtuskopfes wird Jeder¬
mann ohne Bedenken ſich überall aufſtellen; nicht ſo die
Maske eines Mephiſto. Eine ſolche Vereinzelung würde dem
Häßlichen eine Selbſtſtändigkeit zugeſtehen, die gegen ſeinen
Begriff iſt, während das Schöne in der Malerei bis zum
Stillleben herunter iſolirt werden kann. So haben auch alle
Werke der Poeſie, die ſich einen ſchlechthin häßlichen Gegen¬
ſtand genommen haben, bei allem Aufwand von Geiſt nie
die geringſte Popularität gewinnen können. Niemand kann an
dergleichen rechte Freude haben. Die Franzoſen beſitzen Lehr¬
gedichte über die Pornographie und ſogar über die Syphilis;
die Holländer über die Blähungen u. ſ. w., allein die
Eigenthümer ſolcher Gedichte ſchämen ſich ſogar, wenn man
ſie bei ihnen trifft. Jener Prinz von Pallagonia, von
welchem Göthe erzählt (13), wollte das Häßliche ſelbſt durch
die Kunſt, die gegen ſeine Geſtaltung ſich am Entſchiedenſten
ſträubt, durch die Sculptur in einer gewiſſen ſyſtematiſchen
Vollſtändigkeit darſtellen und hat mit all ſeinem Aufwande
doch nichts hervorgebracht, als eine verworrene, lächerlichtrau¬
[42] rige Curoſität. Nur in der Combination mit dem Schönen
erlaubt die Kunſt dem Häßlichen das Daſein; in dieſer Ver¬
bindung aber kann es große Wirkungen hervorbringen. Die
Kunſt bedarf ſeiner nicht nur zur Vollſtändigkeit der Welt¬
erfaſſung, ſondern vorzüglich auch zur Wendung einer Hand¬
lung in's Tragiſche oder in's Komiſche.


Wenn nun die Kunſt das Häßliche darſtellt, ſo würde
es, wie es ſcheint, gegen den Begriff deſſelben ſein, es zu
verſchönen, denn in dieſem Fall wäre ja das Häßliche nicht
mehr häßlich, ganz abgeſehen davon, ob nicht ein Verſchönen
des Häßlichen, als das ſophiſtiſche Wegkünſteln einer äſtheti¬
ſchen Lüge, nicht noch ein Häßliches mehr durch den innern
Widerſpruch hervorbringen würde, das Häßliche, alſo die Ne¬
gation des Schönen, doch wieder ſchön zu bilden, ihm folg¬
lich etwas Poſitives anzulügen, was gegen ſeine Natur iſt
und ſchließlich eine Caricatur des Häßlichen, einen Wider¬
ſpruch des Widerſpruchs, zu erzeugen. So ſcheint es, wie
geſagt, und doch iſt es wahr, daß die Kunſt auch das Hä߬
liche idealiſiren, d. h. nach den allgemeinen Geſetzen des
Schönen, die es durch ſeine Exiſtenz verletzt, behandeln muß;
nicht, als ſollte die Kunſt das Häßliche verbergen, verkleiden,
verfälſchen, mit ihm fremden Ausputz verzieren, wohl aber
daſſelbe, der Wahrheit unbeſchadet, nach dem Maaß ſeiner
äſthetiſchen Bedeutung geſtalten. Dies iſt nothwendig, denn
die Kunſt verfährt in dieſer Weiſe mit aller Wirklichkeit.
Die Natur, welche die Kunſt uns darſtellt, iſt die wirkliche
und doch nicht die gemein empiriſche Natur. Sie iſt die
Natur, wie ſie ſein würde, wenn ihre Endlichkeit ihr ſolche
Vollendung geſtattete. Und ſo iſt die Geſchichte, welche die
Kunſt uns gibt, die wirkliche und doch nicht die gemein
empiriſche Geſchichte. Sie iſt die Geſchichte nach ihrem
[43] Weſen, nach ihrer Wahrheit, als Idee. In der gemeinen
Wirklichkeit mangelt es niemals an den empörendſten und
widerwärtigſten Häßlichkeiten; die Kunſt darf dieſelben nicht
ſo ohne Weiteres aufnehmen. Sie muß uns das Häßliche
in der ganzen Schärfe ſeines Unweſens vorführen, aber ſie
muß dies dennoch mit derjenigen Idealität thun, mit der ſie
auch das Schöne behandelt. Bei dieſem läßt ſie vom Inhalt
deſſelben Alles hinweg, was ſeiner nur zufälligen Exiſtenz
angehört. Sie hebt das Bedeutſame einer Erſcheinung her¬
vor und verwiſcht in ihm die unweſentlichen Züge. Das
Gleiche muß ſie mit dem Häßlichen thun. Sie muß an ihm
diejenigen Beſtimmungen und Formen herausſtellen, die das
Häßliche zum Häßlichen machen, allein ſie muß alles das¬
jenige von ihm entfernen, was ſich nur zufällig in ſein Da¬
ſein eindrängt und ſeine Charakteriſtik ſchwächt oder verwirrt.
Dies Reinigen des Häßlichen vom Unbeſtimmten, Zufälligen,
Charakterloſen, iſt ein Act der Idealiſirung, die nicht im Hin¬
zuthun eines dem Häßlichen fremden Schönen, ſondern in
einer prägnanten Hervorkehrung derjenigen Elemente beſteht,
die es zum Gegenſatz des Schönen ſtempeln und in denen,
ſo zu ſagen, ſeine Originalität, als die des äſthetiſchen
Widerſpruchs liegt. Die Griechen erreichten in dieſer Ideali¬
ſirung allerdings zuweilen einen Punct, wo ſie das Häßliche
aufhoben und in das poſitiv Schöne umbildeten, wie bei
den Eumeniden und bei der Meduſe (14). Wenn man aber
ſich häufig vorgeſtellt hat, als ob die Griechen die ideale
Schönheit vorzüglich in einer heitern Ruhe geſucht und die
Bewegtheit und Heftigkeit des Ausdrucks als häßlich ge¬
mieden hätten, ſo iſt dies eine zu enge, von einzelnen Sculp¬
turwerken hergenommene Vorſtellung ihrer Kunſt. Von der
Poeſie wird man dies bei einigem Nachdenken bald einräumen;
[44] von der Sculptur hat Anſelm Feuerbach in ſeinem treffli¬
chen Werk über den Vaticaniſchen Apollo den Beweis geführt,
daß ſie auch das Furchtbare und die dramatiſche Lebendigkeit
nicht ſcheuete (15); von der Malerei lehrt uns dies nicht
nur das tiefere Eindringen in die Wandmalerei von Hercu¬
lanum und Pompeji, ſondern auch die Beſchreibung der
Gemälde des Polygnotos in den Leschen zu Delphi und
zu Athen, wie auch Göthe bei ihrer Beſprechung aus¬
drücklich zu bemerken ſich veranlaßt ſieht, ein ſo großer
Verehrer der Heiterkeit, Ruhe und maaßvollen Lebendigkeit
er auch war (16).


Das Häßliche muß alſo durch die Kunſt von allem
ihm heterogenen Ueberfluß und ſtörſamen Zufall gereinigt
und ſelbſt wieder den allgemeinen Geſetzen des Schönen unter¬
worfen werden. Eben deshalb würde eine iſolirte Darſtellung
des Häßlichen dem Begriff der Kunſt widerſprechen, weil es
durch ſie als Selbſtzweck erſchiene. Die Kunſt muß ſeine
ſecundäre Natur hervorblicken laſſen und daran erinnern, daß
es urſpünglich nicht durch ſich ſelbſt, daß es nur an und
aus dem Schönen als deſſen Negation exiſtirt. Wird es nun
in dieſer ſeiner accidentellen Stellung zur Anſchauung gebracht,
ſo muß bei ihm alle Rückſicht genommen werden, die ihm
als einem Moment in einer harmoniſchen Totalität zukommt.
Es darf nicht müßig ſein, ſondern ſich als nothwendig
erweiſen. Es muß ſich angemeſſen gruppiren und ſich für
das Ganze den Geſetzen der Symmetrie und Harmonie, die
es an der eigenen Geſtalt verletzt, unterordnen; es darf ſich
nicht über das ihm nach dem Zuſammenhang gebührende
Maaß hervordrängen und muß eine Kraft individuellen
Ausdrucks beſitzen, die es in ſeiner Bedeutung nicht ver¬
kennen läßt.


[45]

Nehmen wir z. B. die bildende Kunſt, ſo iſt die An¬
ſchauung eines Menſchen, der ſeine Nothdurft verrichtet oder
der ſich erbricht, gewiß ekelhaft. Dennoch haben Maler ſich
nicht geſcheuet, ſolche Züge bei großen Gaſtereien mit aufzu¬
führen. Es iſt einmal der Lauf der Welt, daß die Leute,
wenn es ihnen prächtig ſchmeckt, ſich auch wohl übernehmen.
Zur Vollſtändigkeit der Schilderung hat der Künſtler dieſen
Moment nicht fortlaſſen wollen, allein er hat es durch die
Art ſeiner Darſtellung äſthetiſch gemildert. Paul Veroneſe
hat ſo bekanntlich die Hochzeit zu Kanah gemalt. Im Vor¬
dergrund hat er einen kleinen Jungen gemalt, der in kind¬
licher Unſchuld pißt. Ein Kind in dieſer Situation iſt im
Vordergrund ertragſam, zumal es, wie es lächelnd ſein
Röckchen emporhebt, die niedlichen Waden und Lenden zeigt.
Den ſich Erbrechenden aber, einen Erwachſenen, der des
guten Eſſens und Trinkens zu viel genoſſen, ſehen wir in
den Hintergrund geſtellt, wo er den weinſchweren Kopf an
eine Mauer lehnt.


Die Diſſonanz iſt, muſikaliſch genommen, die Vernich¬
tung der Muſik, die Unmuſik. Der Muſiker darf ſie aber
nicht willkürlich, vielmehr nur da eintreten laſſen, wo ſie
vorbereitet iſt, wo ſie nothwendig wird, wo ſie durch die
Auflöſung des Mißtons den Triumph der höhern Har¬
monie begründet.


Der Dichter, der uns einen Kaliban hinſtellt, thut dies
auf einer Inſel im Weltmeer, die von einem Zauberer be¬
herrſcht wird, ſo daß in dieſem Zuſammenhang ſeine Erſchei¬
nung die Abſonderlichkeit verliert. Er iſt der urſprüngliche
barbariſche Einwohner dieſer wilden Inſel, über den ſich der
gebildete Eindringling zum Herren gemacht hat — das
Schickſal aller Naturvölker, die mit Culturvölkern in Be¬
[46] rührung kommen. Kaliban hat daher, Prospero gegenüber,
ſogar ein Urrecht des Beſitzes und weiß dies auch. Er iſt
alſo nicht blos ein Ungethüm, ſondern er drückt eine weltge¬
ſchichtliche Idee aus. Aber noch mehr. Als ätheriſche Com¬
penſation hat ihm Shakeſpeare den Ariel hinzugefügt,
wodurch uns einerſeits das Täppiſche und Thieriſche des
gezähmten Ungeheuers ſchärfer hervortritt, wir andrerſeits
aber auch uns über ſeine plumpe Maſſenhaftigkeit durch den
Contraſt des zierlichen Luftgeiſtes erhoben fühlen.


Eine beſondere Frage könnte hier die Architektur durch
ihre Ruinen veranlaſſen. Die Zertrümmerung eines Gebäudes
ſollte nämlich Häßlichkeit erwarten laſſen; allein es wird, ob
dies der Fall, theils von dem Bau, theils von der Art ſeiner
Zerſtörung abhängen. Der ſchöne Bau nämlich wird auch
als Ruine noch die Größe ſeines Plans, die Kühnheit ſeiner
Verhältniſſe, den Reichthum und die Zierlichkeit ſeiner Aus¬
führung zeigen und unſere Phantaſie wird unwillkürlich aus
ſeinen Andeutungen wieder das Ganze herzuſtellen verſuchen.
Der häßliche Bau kann durch die Zertrümmerung gewinnen;
ſeine Fragmente können phantaſtiſch durcheinander geworfen
werden, abgeſehen davon, daß die Zerſtörung des Häßlichen
uns eine äſthetiſche Genugthuung gewährt. Allein es wird
auch darauf ankommen, wie die Ruine beſchaffen iſt, wie die
Trümmer durcheinandergeſchleudert, welche Reſte übrig ge¬
blieben ſind. Ein winziger Steinhaufen, ein paar kahle
Mauren gewähren noch keinen maleriſchen Anblick. Die
Trümmer einer Scheune, eines Viehſtalls werden ſelbſt in
Mondſcheinbeleuchtung uns nicht intereſſiren; ein Palaſt
hingegen, ein Kloſter, eine Ritterburg werden uns romantiſch
erſcheinen. Daß die Ruine als ſchön erſcheinen kann, wird
endlich nicht nur durch die urſpünglichen Verhältniſſe des
[47] Baues und die Art ſeiner Zerſtörung, ſondern auch dadurch
beſtimmt, ob das Bauwerk mit der umgebenden Natur ver¬
wächſt und ſelbſt den Charakter eines Naturwerks annimmt.
Indem Dach und Fenſter und Thüren offen ſtehen, indem
alle Abgeſchloſſenheit aufhört, indem das Moos die Steine
begrünt, Pflanzen ſich zwiſchen den Steinen einwurzeln,
Vögel ihre Neſter bauen und der Fuchs durch das zerbrochene
Fenſter lugt, iſt der Bau gleichſam zu einer Production der
Natur geworden, der ſie in ihren Baſaltformationen oft
ſehr nahe kommt.

Das Häßliche im Verhältniß zu den einzelnen
Künſten.

Zur Möglichkeit überhaupt, in das Häßliche zu ver¬
fallen, haben die Künſte eine ganz gleiche Stellung. Jede
kann es und zwar bis zur Unerträglichkeit hervorbringen.
Dennoch findet eine qualitative Temperatur dieſer allgemeinen
Möglichkeit nach der Eigenthümlichkeit einer jeden ſtatt.
Nach der Natur einer jeden Kunſt iſt ihr Inhalt, ihr Um¬
fang, ihre Modalität, eine andere. Wir können die ver¬
ſchiedenen Künſte als einen Weg zur äſthetiſchen Selbſtbe¬
freiung des Geiſtes anſehen, auf welchem er zuletzt, in der
Poeſie, ſich vollkommen ſelbſt erreicht. Der Durchgang durch
das verſchiedene Material der Realiſirung des Schönen ſtellt
uns die beſondern Stufen dieſer Befreiung dar. In der
Materie, im Raum, in der Anſchauung, d. h. in der bilden¬
den Kunſt, iſt er noch außer ſich. Mit dem Ton, mit der
Zeit, mit der Empfindung d. h. in der Muſik, tritt er in
ſich ein. Mit dem Wort, mit dem Bewußtſein, mit der
[48] Vorſtellung und dem Gedanken, in der Dichtkunſt, gelangt
er zur vollkommenen Innerlichkeit und zur völligen Idealität
der Form. In dieſem Stufengang wächſt mit der zuneh¬
menden Freiheit, mit der größern Leichtigkeit und äußern
Müheloſigkeit der Darſtellung, auch die Möglichkeit des
Häßlichen.


In der Architektur kann allerdings ſcheußlich gebauet
werden, wie nicht blos zahlloſe dem beſchränkten Bedürfniß
entſprungene Gebäude, ſondern wie auch viele öffentliche
Bauten, ja ſolche Gebäude zeigen, die ausdrücklich architek¬
toniſche Prachtwerke ſein ſollten. Aber es iſt ſchwer, in der
Baukunſt ganz abſcheulich zu ſein. Wenn Göthe geſagt
hat, daß Fehler nicht gebaut werden ſollen, weil ſie durch
ihre Größe und Dauer den äſthetiſchen Sinn zu ſchmerzlich
beleidigen, ſo hat er damit angedeutet, daß die Werke der
Architektur zu ernſt und zu koſtbar ſeien, irgendwie leicht
genommen zu werden. Durch ſein Material, als die maſſen¬
hafte Materie, fordert das Bauen immer die Ueberlegung
heraus. Es muß mindeſtens Sicherheit gewähren und ſeinem
Zweck einigermaßen entſprechen. Mit dieſen beiden Nützlich¬
keitsrückſichten kommt ſchon von ſelbſt immer einige Eurythmie
in das Werk. Ein Gebäude iſt um ſo ſchöner, je mehr es
nach Außen die Feſtigkeit ſeiner Verhältniſſe beruhigend aus¬
ſpricht und je mehr es in ſeiner Geſtalt ſchon ſymboliſch den
Zweck verkündigt, dem es gewidmet iſt. Manche Häuſer,
aus der erſten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vornämlich,
ſehen freilich ſo aus, als hätte man erſt vier Mauern ge¬
bauet, ſie nothdürftig überdacht und dann, wie die Schöppen¬
ſtädter in ihrem Rathhauſe, von Innen her nach Laune kleine
und große Fenſter ohne alle Symmetrie herausgeſchlagen.
Ein größerer Bau wird jedoch immer einige Beſinnung
[49] verrathen und ein Durcheinander verſchiedenartiger Bauſtyle
aus verſchiedenen Jahrhunderten wird nicht ſowohl einen
häßlichen, als einen phantaſtiſch impoſanten Eindruck machen.


Auch die Sculptur beſchränkt das Häßliche durch die
Sprödigkeit und Koſtbarkeit ihres Materials außerordentlich.
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß, wie ja die ſchreiendſten That¬
ſachen bekunden, auch die jämmerlichſten Statuen gemeißelt
und gegoſſen werden können, allein die Koſtſpieligkeit des
Stoffs und die Mühſamkeit der Arbeit werden immerhin den
productiven Leichtſinn zügeln. Ein Carrariſcher Marmorblock
oder altes Kanonengut zu einer Statue iſt nicht ſo wohl¬
feil zu haben. Nur ſehr langſam weicht der Block den
tauſenden von Hammerſchlägen; nur in ſehr verwickelter oft
Jahre in Anſpruch nehmender Procedur wird das Erz der
Form eingegoſſen und dann noch Monate auf Monate ciſe¬
lirt. Daher iſt auch in keiner Kunſt die Tradition ſo
mächtig, als in der Sculptur. Das Neue wagt ſich ſeltener
hervor, weil beim Mißlingen zu viel auf dem Spiele ſteht.
Ein in Stein ausgehauener, ein in Bronze ausgegoſſener
Fehler ſind in ihrer plaſtiſchen Realität viel auffallender, als
wenn ſie nur gezeichnet oder gemalt wären. Dazu kommt,
daß keine Kunſt vermöge der Idealität, zu welcher das
Beharren ihrer Formen drängt, eine ſo geringe Neiglichkeit
hat, das Negative in Krankheit, Schmerz und Bosheit
darzuſtellen.


Die Malerei dagegen iſt unter den bildenden Künſten
dem Verfall in's Häßliche am meiſten preisgegeben, weil ſie
die individuelle Lebendigkeit und den Schein der Perſpektive
vorzutäuſchen hat. Die Bildhauerei kann in der Geſtalt,
Stellung und Drapperie einzelne kleinere, ſelbſt größere Feh¬
ler bei einer Statue machen und doch noch ganz Achtungs¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 4[50] würdiges leiſten. Die Malerei aber kann durch die Wohl¬
feilheit ihres Materials und die Leichtigkeit ihrer Production
vielmehr zur Pfuſcherei verleitet werden. Der Umfang ihrer
Möglichkeit iſt ſchon unendlich größer, als der der Sculptur:
die Landſchaft, das Thier, der Menſch; nichts, was irgend
in die Sichtbarkeit zu treten vermag, iſt von ihr ausge¬
ſchloſſen. Zugleich iſt ſie nach vielen Seiten hin bedingt:
die Umriſſe der Geſtalten, das Colorit, die Perſpective —
was iſt hier nicht Alles zu beachten, das als Einheit er¬
ſcheinen ſoll! Daher Unrichtigkeit der Zeichnung, Unwahrheit
des Colorits, Falſchheit der Perſpective ſo bald ſich einſchlei¬
chen. Eine Verkürzung, wie bald iſt ſie verzeichnet! Ein
Farbenton, wie bald vergriffen! Ein Schatten oder ein
Lichtreflex, wie bald vergeſſen! Es gibt daher ganz un¬
zweifelhaft viel mehr ſchlechte Gemälde, als Statuen, wobei
man nicht einmal die aus religiöſen Principien häßlichen
Indiſchen und Aegyptiſchen auszunehmen braucht.


Mit der Muſik ſteigert ſich die Leichtigkeit der Production
und mit ihr ſo wie mit der dieſer Kunſt eigenen ſubjectiven
Innerlichkeit die Möglichkeit des Häßlichen. Obwohl nämlich
dieſe Kunſt in ihrer abſtracten Form, im Tact und Rhythmus,
auf der Arithmetik beruhet, ſo iſt ſie doch in dem, was ſie
erſt zum wahren, ſeelenvollen Ausdruck der Idee macht, in
der Melodie, der größten Unbeſtimmtheit und Zufälligkeit aus¬
geſetzt und das Urtheil, was ſchön, was nicht ſchön ſei, in
ihr oft unendlich ſchwer. Daher denn die Häßlichkeit vermöge
der ätheriſchen, volatilen, myſteriöſen, ſymboliſchen Natur des
Tons und vermöge der Unſicherheit der Kritik hier noch mehr
Boden, als in der Malerei, gewinnt.


Endlich in der freieſten Kunſt, in der Poeſie, erreicht
die Möglichkeit des Häßlichen mit der Freiheit des Geiſtes und
[51] mit dem ſo leicht zu ſprechenden oder zu ſchreibenden Wort
als dem Medium der Darſtellung den Gipfel. Um der Idee
wahrhaft zu genügen, iſt die Poeſie die ſchwerſte Kunſt, weil
ſie am wenigſten das empiriſch Gegebene direct nachahmen
kann, vielmehr es aus der Tiefe des Geiſtes ideell verarbeiten,
verdichten muß. Iſt ſie aber einmal da, hat ſie erſt eine
literariſche Exiſtenz gewonnen, hat ſie ſich erſt eine poetiſche
Technik erſchaffen, ſo iſt auch keine Kunſt ſo leicht zu mi߬
brauchen, als die Poeſie, weil dann, nach dem bekannten
Urtheil eines großen Dichters, die Sprache ſelber ſchon für
uns dichtet und denkt. Im Epos, in der Lyrik, Dramatik
und Didaktik erzeugt ſich für den Inhalt wie für die Form
ein oberflächliches Modificiren deſſelben Materials, deſſen
Geſtaltung nur ſcheinbar ſich verändert. Es gehört dann ſchon
ein gebildeterer und in ſich durch vielſeitigere Erfahrung be¬
reicherter, durch tiefere Erkenntniß beruhigter Geſchmack dazu,
das Häßliche zu entdecken. Hiezu kommt noch das Intereſſe,
welches an der Poeſie von Seiten der Tendenz genommen
werden kann, ſo daß nicht der poetiſche Werth, ſondern das
revolutionaire oder conſervative, das rationaliſtiſche oder
pietiſtiſche Pathos das Schickſal eines Gedichts entſcheidet,
wie unſere Epoche hiezu ſo viele Beläge liefert. Vor den
Parteiidealen iſt bei uns das göttliche Ideal oft verdüſtert, ja
verſchwunden. In der Poeſie kann am leichteſten und un¬
merklichſten geſündigt werden und in ihr wird gewiß die
größte Maſſe des Häßlichen producirt.


4 *[52]

Das Wohlgefallen am Häßlichen.

Daß das Häßliche ſolle ein Wohlgefallen erzeugen
können, ſcheint eben ſo widerſinnig, als daß das Kranke oder
Böſe ein ſolches hervorrufe. Und doch iſt dies möglich, einmal
auf geſunde, einmal auf krankhafte Weiſe.


Auf geſunde Weiſe, wenn das Häßliche in der Totalität
eines Kunſtwerks ſich als eine relative Nothwendigkeit recht¬
fertigt und durch die Gegenwirkung des Schönen aufgehoben
wird. Nicht das Häßliche als ſolches bewirkt dann unſer
Wohlgefallen, ſondern das Schöne, welches den Abfall von
ſich, der auch zur Erſcheinung kommt, überwindet. Hiervon
iſt oben ſchon gehandelt.


Auf krankhafte Weiſe, wenn ein Zeitalter phyſiſch und
moraliſch verderbt iſt, für die Erfaſſung des wahrhaften, aber
einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunſt
das Pikante der frivolen Corruption genießen will. Ein ſolches
Zeitalter liebt die gemiſchten Empfindungen, die einen Wider¬
ſpruch zum Inhalt haben. Um die abgeſtumpften Nerven
aufzukitzeln, wird das Unerhörteſte, Disparateſte und Widrigſte
zuſammengebracht. Die Zerriſſenheit der Geiſter weidet ſich
an dem Häßlichen, weil es für ſie gleichſam das Ideal ihrer
negativen Zuſtände wird. Thierhetzen, Gladiatorſpiele, lüſterne
Symplegmen, Caricaturen, ſinnlich verweichlichende Melodien,
koloſſale Inſtrumentirung, in der Literatur eine Poeſie von
Koth und Blut (de boue et de sang, wie Marmier ſagte),
ſind ſolchen Perioden eigen.


[53]

Eintheilung.

Wenden wir uns nach Beſeitigung dieſer Vorfragen
zur Entwickelung der Eintheilung des Begriffs des Häßlichen,
ſo haben wir oben ſchon die Stelle, die er in der Metaphyſik
des Schönen einnimmt, im Allgemeinen angegeben. Wir
haben geſagt, daß er zwiſchen dem Begriff des Schönen an
ſich und dem des Komiſchen die negative Mitte ausmache.
Dieſe Stellung weicht von derjenigen ab, welche das Häßliche
gar nicht als ein beſonderes Moment der Idee des Schönen,
ſondern nur als eine untergeordnete Nebenbeſtimmung theils
des Erhabenen in der Form des Furchtbaren und Gräßlichen,
theils des Komiſchen in der Form des Poſſirlichen und Niedrig¬
komiſchen behandelt. Viele der heutigen Aeſthetiker nämlich
nehmen das Komiſche als den Gegenſatz des Erhabenen und
wollen das Abſolutſchöne als die Einheit des Erhabenen und
Komiſchen betrachtet wiſſen. Das Komiſche aber ſteht nicht
blos dem Erhabenen, es ſteht dem einfach Schönen überhaupt
entgegen oder richtiger vielmehr, es ſteht ihnen nicht ent¬
gegen, ſondern es iſt die Aufheiterung des Häßlichen in's
Schöne. Das Häßliche ſteht dem Schönen entgegen; es
widerſpricht ihm, während das Komiſche zugleich ſchön ſein
kann, ſchön nicht im Sinn des einfachen, poſitiv Schönen,
wohl aber im Sinn der äſthetiſchen Harmonie, der Rückkehr
aus dem Widerſpruch in die Einheit. Im Komiſchen iſt ein
Häßliches als Negation des Schönen mitgeſetzt, die es jedoch
wiederum negirt. Ohne einen Widerſpruch, der durch einen
Schein aufgelöſt wird, weil er ſelber nur ein Schein iſt,
kann das Komiſche nicht gedacht werden. Ariſtoteles und
nach ihm Cicero habe dieſen Zuſammenhang bereits ſo auf¬
gefaßt (16). Der Begriff des Erhabenen iſt auch nicht von
[54] dem des Schönen zu trennen, ſondern als eine eigenthümliche
Form deſſelben anzuſehen. Da nun das Häßliche nichts Ab¬
ſolutes, vielmehr nur ein Relatives iſt, ſo muß für ſeine
Begriffsbeſtimmung auf die Idee des Schönen ſelbſt, durch
die es bedingt iſt, zurückgegangen werden.


Das Schöne überhaupt iſt, wie wir hier, wo uns nur
das Häßliche beſchäftigt, vorauszuſetzen haben, die ſinnliche
Erſcheinung der natürlichen und geiſtigen Freiheit in har¬
moniſcher Totalität.


Das erſte Erforderniß des Schönen iſt deshalb bekanntlich
das Bedürfniß der Grenze; es muß ſich als Einheit in ſich
ſetzen und ſeine [Unterſchiede] als organiſche Momente derſelben.
Dieſer Begriff der abſtracten Formbeſtimmtheit macht ge¬
wiſſermaaßen die Logik des Schönen aus, weil er noch
gänzlich von dem beſondern Inhalt deſſelben abſtrahirt und
für alles Schöne, in welchem Material es ſich auch realiſire
und welches immer ſeine geiſtige Erfüllung ſei, die gleiche
formale Nothwendigkeit hat.


Die Negation dieſer allgemeinen Einheit der Form iſt
alſo die Formloſigkeit. Die bloße Abweſenheit aller Form iſt
nicht ſchön, allein auch noch nicht häßlich. Der Raum in der
Grenzenloſigkeit ſeiner Ausdehnung kann nicht häßlich genannt
werden; das Nachtſchwarz, worin gar keine Form ſich ab¬
ſcheidet, auch nicht; ein gleichmäßig fortklingender Ton eben
ſo wenig u. ſ. w. Erſt da wird die Formloſigkeit häßlich,
wo ein Inhalt eine Form haben ſollte und derſelben noch er¬
mangelt, oder wo zwar ſchon eine Form allein noch nicht ſo
geſtaltet iſt, als ſie es dem Begriff des Inhalts gemäß ſein
ſollte. Inſofern wir mit dem Ausdruck Formloſigkeit auch
die Unbeſtimmtheit der Grenze bezeichnen, kann die Form¬
loſigkeit auch die nothwendige Form eines Inhalts ſein, wie
[55] z. B. die Unendlichkeit des Raums eine ſolche erfordert, denn eine
Form, alſo eine Begrenzung zu haben, würde gegen den
Begriff des abſoluten Raumes ſein, d. h. er kann nur die
Formloſigkeit zu ſeiner Form haben. Soll aber ein Inhalt
eine Form haben und iſt dieſe nun nicht da, ſo vergleichen
wir ihn mit dieſer für ihn und von ihm ſelber vorausgeſetzten
Form und empfinden dieſen Mangel als Häßlichkeit. Meta¬
phyſiſch genommen iſt es allerdings ganz richtig, daß kein
Inhalt ohne irgend eine Form exiſtiren kann, relativ aber
kann, wie die Inhaltsloſigkeit, ſo auch die Formloſigkeit
ausgeſagt werden. Stellen wir uns z. B. einen Landſchafts¬
maler vor, der eine Gegend aufnimmt und, von der Zeit
gedrängt, ſeinen flüchtigen Umriſſen nur einige Farbenſtriche
für ſein Gedächtniß hinzuzufügen vermag, ſo wird die Land¬
ſchaft nur eine ſehr unvollkommene Form haben. Es werden
ſich uns auf dem Gemälde ſtatt des wirklichen Colorits nur
formloſe Farbenpuncte darbieten, die ſich erſt auf die künftige
Ausführung beziehen und dies Farbenaggregat würde inſofern
noch formlos und dadurch häßlich ſein. Nun können wir
uns weiter das Bild als vollendet vorſtellen, jedoch verfehlt
und mißrathen, ſo würde die Ausführung, alſo die vollſtän¬
dige Form da ſein und doch nicht diejenige, welche da ſein
ſollte. Statt ihrer würde eine dem Begriff der Sache mehr
oder weniger fremde entſtanden ſein, alſo eine Form, die
dem Inhalt nicht entſpräche. Es wäre folglich ein poſitiver
Widerſpruch von Inhalt und Form da und dieſe Formloſig¬
keit der Form wäre wieder häßlich.


Das Schöne erfordert alſo Einheit des Inhalts und
der Form in beſtimmten Verhältniſſen, die, abſtract genom¬
men, Maaßverhältniſſe ſind. Aber das Schöne hat weſent¬
lich auch eine ſinnliche Seite an ſich, denn gerade als Form
[56] fällt es in die Natur. Auch der geiſtigſte Inhalt bedarf, um
ſchön zu ſein, der Vermittelung der ſinnlichen Manifeſtation
Von dieſem Standpunct aus enthält die Natur die Wahr¬
heit der concreten Individualiſirung, in welche die Exiſtenz
des Schönen eingehen muß. In ſeiner Wirklichkeit iſt daſ¬
ſelbe ein zugleich ideell beſtimmtes, dieſe Beſtimmtheit aber
irgendwie an die Natur gebunden, denn nur durch die Natur
kann die Idee ſich verendlichen und als eigenthümliche Er¬
ſcheinung realiſiren. Ohne die Natur exiſtirt einmal keine ſchöne
Geſtaltung und die Kunſt bedarf inſofern des Studiums
der Natur, ihrer Formen mächtig zu werden; die Kunſt ſoll
die Natur in dieſer Rückſicht und zwar mit gewiſſenhafter
Treue nachahmen, denn ſie hängt hierin von ihr ab. — Die¬
ſer Satz iſt eben ſo wahr, als der, daß die Kunſt die Na¬
tur nicht nachahmen ſolle, ſofern unter Nachahmen ein blo¬
ßes, wenn auch noch ſo genaues Copiren der zufälligen, em¬
piriſchen Objecte verſtanden wird. Wie der Formalismus
der abſtracten Maaßverhältniſſe noch nicht ausreicht, das
Schöne zu ſchaffen, ſo auch nicht der abſtracte Realismus.
Das Nachbilden der cruden Erſcheinung iſt noch nicht Kunſt,
denn dieſe ſoll von der Idee ausgehen, die Natur aber, da
ſie in ihrer Exiſtenz aller Aeußerlichkeit und Zufälligkeit preis¬
gegeben iſt, kann oft ihren eigenen Begriff nicht erreichen.
Es bleibt Sache der Kunſt, die von der Natur angeſtrebte,
allein durch ihr Daſein in Raum und Zeit ihr oft unmöglich
gemachte Schönheit, das Ideal der Naturgeſtalt, zu realiſiren.
Um aber dieſe ideale Wahrheit der Naturformen möglich zu
machen, muß allerdings die empiriſche Natur ſorgfältig
ſtudirt werden, wie dies auch alle ächten Künſtler thun und
wie nur die falſchen Idealiſten es verſchmähen. Die Wahr¬
heit der Naturformen gibt dem Schönen die Correctheit.


[57]

Demgemäß beſteht die Correctheit im Allgemeinen
darin, daß in Darſtellung der nothwendigen Naturform keine
Fehler gemacht werden. Das Schöne kann dieſer Richtigkeit
nicht entbehren. Verſtößt alſo eine Geſtalt gegen die Geſetz¬
mäßigkeit der Natur, ſo erzeugt ſich aus ſolchem Widerſpruch
unfehlbar Häßlichkeit. Die Natur ſelber wird unſchön, wenn
ſie durch irgendwelche Verirrung von ihrem Geſetz abfällt.
Die Kunſt aber wird es noch mehr, weil bei ihr die Ent¬
ſchuldigung fortfällt, welche der Natur zu Gute kommt, dem
einmal vorhandenen Zuſammenhang nicht haben ausweichen zu
können, durch welchen Monſtroſitäten, Kakerlaken, Waſſer¬
köpfe u. ſ. w. entſtehen. Stellen wir uns z. B. vor, daß
die Sculptur eine Elephantin mit einem ſäugenden Jun¬
gen, als ein Gegenſtück zu jener ſäugenden Kuh Myrons,
bilden wollte, ſo würden in der Unordnung der Gruppe
die abſtracten Maaßverhältniſſe zur Anwendung kommen
müſſen, das Moment der natürlichen Correctheit aber
würde darin liegen, daß das Junge in der That auch
ſo geſäugt wird, als es der Elephantin nach der Natur
möglich iſt. Der weibliche Elephant trägt nämlich die
Euter zwiſchen den Vorderfüßen, eine Tendenz zum
menſchlichen Buſen, und das Junge ſaugt nicht mit
dem Rüſſel, mit welchem der Elephant doch auch das
Waſſer aufſchlürft, es ſich in den Schlund zu ſpritzen,
ſondern es ſaugt mit den Lippen des Unterkiefers. Würde
dies nun nicht beobachtet, ſo würde eine Incorrectheit
und mit ihr eine Häßlichkeit entſtehen, denn alle Ver¬
hältniſſe der Geſtalt des Elephanten ſind auf dieſe Art des
Saugens berechnet. Es verſteht ſich, daß auch ein äußer¬
liches ſogenanntes Verſchönen der Natur, das ihre ideale
Wahrheit alterirt, unter den Begriff der Incorrectheit fällt,
[58] ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬
liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht,
äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf.


Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬
weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬
men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in
phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf.
Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das
conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬
druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung
wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬
maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬
hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit
von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit
recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft
Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬
ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch
Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬
chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den
Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht,
wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will
als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬
winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus
und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen,
ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬
liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften
hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand
zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner
poſitiven hiſtoriſch gegebenen Form darzuſtellen haben. Auch
hier gilt es nicht eine ſcrupuloſe Akribie, aber doch eine
Beachtung deſſen, was die Geſtalt durch die Steigerung der
[59] Eigenthümlichkeit auch zu einem äſthetiſch individuelleren
Object macht. Die breit heruntergezogene Unterlippe des
Botocuden; die Dickbäuche und Zwergfüße der Chineſiſchen
Damen; die kerlhaften Geſichter und kurzen Taillen der
Weiber in den Steierſchen Alpen u. ſ. w. ſind gewiß häßlich.
Ein Verſtoß gegen dieſe Formen würde alſo äſthetiſch den
Vorzug verdienen. Handelte es ſich aber darum, eine Dame
gerade als Chineſiſche Schönheit darzuſtellen, ſo würde nichts
übrig bleiben, als dies eben Chineſiſch zu thun und ihr folg¬
lich weder den Dickbauch noch den Zwergfuß zu erſparen.
Die Kunſt könnte dieſe Formen mildern, dürfte ſie aber nicht
ignoriren. Es gehört dergleichen dann einmal zur individuellen
Charakteriſtik eines geſchichtlichen Vorwurfs. Die naive
Epoche einer Kunſt wird ſich zwar um dieſe hiſtoriſche Ge¬
nauigkeit wenig kümmern und ſich vor Allem an das allgemein
Menſchliche halten, aber die zur Reflexion gelangte Kunſt
wird ſich der Rückſicht auf die geſchichtliche Correctheit
nicht entſchlagen können. Das Franzöſiſche Theater unter
Ludwig XIV. und XV. ſpielte bekanntlich die Griechiſchen und
Römiſchen Heroen und Heroinen in Perücken und Reifröcken
mit Galanteriedegen. Die Schauſpieler ſtanden dadurch dem
Publicum näher, ſofern daſſelbe ein Handeln in dieſem
Coſtum leichter verſtehen mußte. Aber allmälig beunruhigte
man ſich über jene Licenz. Man wollte die Vergangenheit
und die Fremde in ihre Rechte einſetzen. Eine eigene, mit
recht inſtructiven Kupfern ausgeſtattete Zeitſchrift, die
Costumes et Annales des grands Theâtres de Paris unter
Ludwig XVI., machte es ſich zum Zweck, das Celtiſche, Grie¬
chiſche, Römiſche, Jüdiſche, Perſiſche und mittelaltrige Coſtum
nach ſeiner hiſtoriſchen Treue zu ſchildern und mit der Thea¬
terpraxis in Einklang zu bringen.


[60]

Die Formloſigkeit wäre alſo die erſte und die Incor¬
rectheit die zweite Hauptform des Häßlichen. Aber noch iſt
diejenige Form zurück, die recht eigentlich erſt den Grund
für beide enthält, die innere Verbildung, die auch in äußere
Disharmonie und Unnatur ausſchlägt, weil ſie in ſich
ſelbſt trüb und verworren iſt. Für das Schöne nämlich iſt
Freiheit der wahrhafte Inhalt, Freiheit in dem allgemeinen
Sinn, daß nicht nur die ethiſche des Willens, ſondern auch
die Spontaneität der Intelligenz und die freie Bewegung
der Natur darunter verſtanden wird. Die Einheit der Form
und die Individualität derſelben werden vollkommen ſchön
erſt durch Selbſtbeſtimmung. Man muß dieſen Begriff
der Freiheit hier allgemein nehmen, weil man das äſthetiſche
Gebiet ſonſt ohne Noth verengt. Die Metaphyſik des Schö¬
nen gilt nicht nur für die Kunſt, ſondern auch für die Natur
und das Leben. Es iſt in der neuern Zeit üblich geworden,
bei dem Schönen ſogleich von dem geiſtigen Gehalt der ſinn¬
lichen Form zu ſprechen. Dies kann den Sinn haben, daß
auch die Natur an und für ſich geiſtentſprungen iſt, daß ſie
als ein Werk des ſchöpferiſchen Geiſtes dieſen auch aus ſich
widerſtrahlt und der Geiſt inſofern in ihrer Anſchauung auch
ſeine Freiheit mitanſchaut. Dieſen Sinn, wie geſagt, kann
jene Auffaſſung haben. Beſchränkt ſie ſich aber, wie oft
geſchieht, lediglich auf die Kunſt, ſo entſteht dadurch eine
grundloſe und ungerechte Verkürzung des Begriffs des
Schönen und damit auch des Häßlichen. Der Begriff der
Freiheit iſt nicht ohne den der Nothwendigkeit zu denken,
denn der Inhalt der Selbſtbeſtimmung, die ſeine Form iſt,
liegt in dem Weſen des individuellen Subjects, das ſich be¬
ſtimmt. Wir wollen es vermeiden, hier in jene ſchwierigen,
oft ventilirten Unterſuchungen über den Urſprung und das
[61] Ziel der Freiheit einzugehen. Sie mögen andern Wiſſen¬
ſchaften überlaſſen bleiben. Begnügen wir uns hier mit dem
äſthetiſchen Geſichtspunct, ſo ergibt ſich, daß die Freiheit als
die ſich ſelbſt beſtimmende Nothwendigkeit den ideellen Gehalt
des Schönen ausmacht. Die Freiheit hat durch ihr Weſen
die Möglichkeit einer doppelten Bewegung an ſich, indem
ſie entweder über das mittlere Maaß der Erſcheinung in das
Unendliche hinaus, oder unter ihm in das Endliche hinein¬
gehen kann. An und für ſich iſt ſie die Einheit der Unend¬
lichkeit ihres Inhaltes und der Endlichkeit ihrer Form und
als ſolche Einheit ſchön. Hebt ſie aber die Endlichkeit ihrer
Selbſtbegrenzung auf, ſo wird ſie mit dieſem Act erhaben;
ſetzt ſie dagegen ihre Verendlichung, beſchränkt ſie ſich, ſo
wird ſie mit ſolcher Faßlichkeit gefällig. Das abſolut Schöne
ruhet in ſeiner eigenen Unendlichkeit, weder hinausſtrebend
in's Grenzenloſe, noch ſich verlierend in's Kleine.


Der wahrhafte Gegenſatz des Erhabenen iſt nicht das
Häßliche, wie Ruge und K. Fiſcher, nicht das Komiſche,
wie Viſcher meint, ſondern das Gefällige. Es muß in der
Idee des Schönen unterſchieden werden zwiſchen dem Gegen¬
ſatz, den das Schöne überhaupt, alſo auch das Erhabene an
dem Häßlichen als dem Negativſchönen hat, und dem poſiti¬
ven Gegenſatz, den das Erhabenſchöne an den niedlichen und
zierlichen Formen des Gefälligſchönen hat. Durch die Ver¬
mittelung, welche das Häßliche für das Komiſche hervor¬
bringt, kann dieſes zwar relativ auch dem Erhabenen ent¬
gegengeſetzt werden, allein es iſt wohl zu erwägen, daß das
Komiſche, weil es des Humors fähig iſt, auch wieder in's
Erhabene übergehen kann. Was man beim Sturze Napo¬
leons
I. ſagte: du sublime au ridicule il n'y a qu'un pas;
und was man bei der Erhebung NapoleonsIII. ſagte: du
[62] ridicule au sublime il n'y a aussi, qu'un pas
! kann als
allgemeine äſthetiſche Regel genommen werden. Ariſto¬
phanes iſt oft ſo erhaben, daß jeder Tragöde ihn darum
beneiden kann.


Innerhalb des Häßlichen aber wird folgerichtig die
Unfreiheit das Princip ausmachen, von welchem die indivi¬
duell äſthetiſche oder vielmehr unäſthetiſche Charakteriſtik
ausgeht; Unfreiheit auch in dem allgemeinen Sinn genom¬
men, daß nicht blos die Kunſt, ſondern auch die Natur
und das Leben überhaupt hierhergezogen wird. Die Unfrei¬
heit als der Mangel an Selbſtbeſtimmung oder als der
Widerſpruch der Selbſtbeſtimmung gegen die Nothwendigkeit
des Weſens eines Subjectes erzeugt das in ſich ſelbſt Häßliche,
das dann auch weiterhin als Erſcheinung zum Incorrecten
und Formloſen wird. Betrachten wir z. B. das Lebendige
im Zuſtande der Krankheit, ſo iſt allerdings die Möglichkeit
deſſelben, krank zu werden, nothwendig, allein es iſt deshalb
keineswegs nothwendig, daß es wirklich krank werde. Durch
die Krankheit wird es in der Freiheit ſeiner Bewegung und
Entwicklung geſtört; es wird alſo durch die Krankheit ge¬
bunden, deren Folgen endlich, nachdem ſie ſein Inneres
durchſchlichen, ſich auch in ſeiner äußern Entſtaltung und
Verhäßlichung offenbaren müſſen. — Oder betrachten wir den
Willen, ſo wird er durch frivole Negation ſeiner Nothwendig¬
keit poſitiv unfrei; er wird böſe. Das Böſe iſt das ethiſch
Häßliche und dies Häßliche wird auch das äſthetiſch Häßliche
zur Folge haben. Wird doch ſchon die theoretiſche Unfreiheit,
die Dummheit und Bornirtheit, nicht umhin können, ſich
in der ſtupiden und ſchlaffen Phyſiognomie zu reflectiren.
Wahre Freiheit iſt in allewege die Mutter des Schönen,
Unfreiheit des Häßlichen. Das Häßliche wird aber, wie das
[63] Schöne, als der negative Doppelgänger deſſelben, die Un¬
freiheit nach zwei Seiten hin entfalten können: einmal nach
der Seite hin, daß die Unfreiheit da eine Schranke ſetzt, wo,
nach dem Begriff der Freiheit, keine ſein ſollte; und ſodann
nach der Seite, daß die Unfreiheit da eine Schranke aufhebt,
wo eine ſolche, nach dem Begriff der Freiheit, ſein ſollte.
Das eine Mal erzeugt ſie die Gemeinheit, das andere Mal
die Widrigkeit. Die Unfreiheit endlich, wie ſie, in der Form
eines apodiktiſchen Urtheils, ſich mit ihrem Weſen, das ſie
freilich zum Unweſen verkehrt, mit der Nothwendigkeit der
Freiheit, ſelbſt vergleicht, wird zur Verzerrung der Freiheit
und Schönheit, zur Caricatur. Sie iſt in ihrem Urſprung
häßlich, denn ſie iſt im Inhalt wie in der Form der aus¬
drückliche Widerſpruch der Freiheit und Schönheit mit ſich
ſelbſt. Aber in der Caricatur wird durch den beſtimmten
Reflex in ihr Urbild die Macht des Häßlichen wieder ge¬
brochen; ſie kann relativ wieder zur Freiheit und Schönheit
durchdringen, denn ſie erinnert nicht nur an das Ideal, dem
ſie widerſpricht, ſondern ſie kann dies auch mit einer ge¬
wiſſen Selbſtbefriedigung thun, die in dem Schein des poſitiven
Behagens der abſoluten Nullität an ſich ſelbſt komiſch wird.


Der Gegenſatz des Erhabenen iſt alſo das Gemeine;
der des Gefälligen das Widrige; der des Schönen die Cari¬
catur. Der Begriff der letztern iſt allerdings ein ſehr weit¬
läufiger, denn wir gebrauchen ihn, da er alle Wendungen
des Häßlichen in ſich concentrirt, faſt gleichbedeutend mit
dieſem als Gattungsbegriff, und ſetzen die Caricatur dem
Ideal, das in ihm verkehrt wird, mit Recht entgegen. Wegen
dieſer beſtimmten Beziehung auf das Schöne vermag die
Caricatur den Uebergang zum Schönen zu machen und alle
Tonarten der Erſcheinung zu durchlaufen, denn es gibt flache
[64] und tiefe, heitere und düſtere, gemeine und erhabene, greu¬
liche und allerliebſte, lächerliche und furchtbare Caricaturen.
Wie ſie aber auch in ſich beſtimmt ſein mögen, immer weiſen
ſie mit ſich zugleich auf ihren poſitiven Hintergrund hin und
laſſen ihr Gegentheil unmittelbar mit ſich erſcheinen. Von
jedem Häßlichen muß man allerdings ſagen, daß es durch
ſich die Beziehung auf dasjenige Schöne mitſetzt, das von
ihm negirt wird. Das Formloſe für ſich fordert die Form
heraus; das Incorrecte erinnert ſofort an ſein normales
Maaß; das Gemeine iſt gemein, weil es dem Erhabenen,
das Widrige, weil es dem Gefälligen widerſpricht. Die Cari¬
catur aber iſt nicht nur die Negation allgemeiner äſthetiſcher
Beſtimmungen, ſondern ſpiegelt als Zerrbild eines erhabenen,
eines reizenden oder ſchönen Urbildes die Qualitäten und
Formen deſſelben auf individuelle Weiſe in ſich ab, ſo daß
ſie, wie geſagt, relativ ſagar als ſchön erſcheinen können,
aber in ihrer Verlorenheit dann eine um ſo energiſchere
Wirkung hervorbringen. Man nehme z. B. den Don
Quixote
von Cervantes. Der edle Manchaner iſt ein
Phantaſt, der ſich mit künſtlich krankhafter Anſtrengung noch
als Ritter des Mittelalters gerirt, nachdem die ganze Um¬
gebung ſich ſchon aus demſelben herausgearbeitet und mit
einer ſo abenteuerlichen Handlungsweiſe in Widerſpruch geſetzt
hat. Schon gibt es keine Rieſen, Caſtelle, Zauberer mehr;
ſchon hat die Polizei einen Theil der Ritterpflichten auf ſich
genommen; ſchon hat der Staat ſich zum geſetzmäßigen Be¬
ſchützer der Wittwen, Waiſen und Unſchuldigen gemacht; ſchon
iſt die individuelle Kraft und Tapferkeit gegen die Gewalt
des Feuergewehrs gleichgültig geworden. Dennoch handelt
Don Quixote, als ob dies Alles noch nicht exiſtirte, geräth
dadurch nothwendig in tauſend Conflicte und wird in ihnen
[65] zur Caricatur, weil ſie die unvermeidliche Ohnmacht ſeines
Benehmens um ſo mehr offenbar machen, je mehr er ſich
zur Rechtfertigung und Bekräftigung ſeines Verfahrens auf
die glorreichen Vorbilder eines Amadis von Gallien, eines
Liſuarte u. A. in ähnlichen Lagen beruft. Die reellen Vor¬
ausſetzungen, unter welchen dieſe Blumen der Ritterſchaft
handelten, ſind eben nicht mehr da und die Fiction ihrer
Exiſtenz verfälſcht die Weltauffaſſung unſeres Hidalgo bis
zum Wahnſinn. Allein dieſer Thor beſitzt in ſeiner Phan¬
taſterei zugleich wirklich alle Eigenſchaften eines ächten
Ritters. Er iſt tapfer, großmüthig, mitleidig, hülfbereit, ein
Freund der Unterdrückten, verliebt, treu, wundergläubig,
abenteuerſüchtig. In ſeinen ſubjectiven Tugenden müſſen
wir ihn bewundern und die Poeſie ſeiner Rede, wenn ſie
von philanthropiſcher Erhabenheit überſtrömt, mit Wohlgefal¬
len vernehmen. Im Mittelalter wäre er ein würdiger Ge¬
noſſe an Königs Artus Tafelrunde, ein gefährlicher Rival
aller „Irrenden“ geworden. Gerade durch ſeine poſitiven
Elemente wird er eine um ſo bedeutendere Caricatur, weil
dieſe an ſich herrlichen Eigenſchaften bei ihm zu einer Ver¬
kehrtheit ausſchlagen, die ſich ſelbſt vernichtet, die in trüber
Begeiſterung an eine Mühle als einen mächtigen Rieſen ihre
Tapferkeit verſchwendet, die Galeerenſträflinge als unſchuldig
Unterdrückte befreiet, die einen Löwen, weil er ein königliches
Thier, aus dem Käfig losläßt, die ein Barbierbecken als
den Helm des unſterblichen Mambrin verehrt u. ſ. w. An¬
gelangt auf dieſen Punct der Selbſtvernichtung der Erhaben¬
heit ſeines Pathos lachen wir dann über ihn; die Komik
bricht aus der Caricatur hervor, die uns ſonſt wohl ſogar
zur Wehmuth bewegt. Don Quixote, armſelig, hager,
irrend, iſt nie gemein oder widerwärtig, aber er wird form¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 5[66] los; ſeine Rozinante iſt ein ſehr incorrectes Streitroß; ſein
Urbild, die ideale Ritterlichkeit, verwandelt ſich gerade durch
die praktiſche Nullität ihrer Methode in ihr Zerrbild und
zugleich hat Cervantes die große Kunſt verſtanden, in dem
phantaſtiſchen Ritter und ſeinem verſtändigen Begleiter ewige
Richtungen der Menſchennatur überhaupt zu ſchildern; er
hat die Kunſt verſtanden, dieſe Verzerrung, in welche die edelſten
Gefühle und die nobelſte Geſinnung umſchlagen, zu einer
Kritik der Mängel der bürgerlichen Geſellſchaft zu machen
— und nicht blos der Spaniſchen, in deren Mitte der lie¬
benswürdige Don lebt. Wir müſſen dem Dichter eingeſtehen,
daß trotz des Staates, trotz der Polizei, trotz der Auf¬
klärung, das freiwillige Eingreifen einer kraftvollen, hoch¬
herzigen Perſönlichkeit oft eine Wohlthat für die faulen
Zuſtände ſein würde. So groß, ſo vielſeitig, ſo bedeutungs¬
voll kann eine Caricatur — durch das Genie — werden!


[67]

Erſter Abſchnitt.

Die Formloſigkeit.

Die abſtracte Grundbeſtimmung alles Schönen iſt, wie
wir oben ſahen, die Einheit. Als ſinnliche Erſcheinung der
Idee bedarf es der Begrenzung, denn nur in ihr liegt die
Kraft der Unterſcheidung, Unterſcheidung aber iſt ohne eine
ſich abſondernde Einheit unmöglich. Alles Schöne muß ſich
als Einheit darſtellen, aber nicht blos als Einheit nach Außen
hin ſich abſchließen, vielmehr auch ſich in ſich ſelbſt wieder
von ſich als Einheit unterſcheiden. Der Unterſchied, als ein
beſtimmter, kann zur Entzweiung werden; die Entzweiung
aber, da ſie der Kampf der Einheit mit ſich ſelber iſt, muß
mit ihrem Proceß in die Einheit zurückgehen können, wenn
auch der empiriſche Verlauf thatſächlich nicht immer ſo weit
gelangt. Die Einheit bringt durch Erzeugung ihres Unter¬
ſchiedes und durch ſeine Auflöſung ſich als harmoniſche hervor.


Dies ſind Lehnſätze aus der Metaphyſik des Schönen.
Wir müſſen an ſie erinnern, denn aus ihnen ergibt ſich,
daß das Häßliche als das Negativſchöne 1. die Nichteinheit,
Nichtabgeſchloſſenheit, Unbeſtimmtheit der Geſtalt ausmacht;
2. daß es den Unterſchied, wenn es ihn ſetzt, entweder als
eine falſche Unregelmäßigkeit, oder als eine falſche Gleichheit
und Ungleichheit hervorbringt; 3. daß es ſtatt der Wieder¬
einheit der Geſtalt mit ſich vielmehr den Uebergang der Ent¬
zweiung in die Verworrenheit falſcher Contraſte erzeugt.
5 *[68] Dieſe verſchiedenen Formen des Formloſen könnten wir auch
mit Deutſchen Ausdrücken als Geſtaltloſigkeit, als Un¬
geſtalt
und als Mißeinheit bezeichnen. Es wird aber
für die wiſſenſchaftliche Technik bequemer ſein, wenn wir
Griechiſche Ausdrücke gebrauchen, die wir Deutſche mit den
Romaniſchen Völkern gemeinſam beſitzen und welchen durch
den Umfang ihres Gebrauchs auch eine größere Präciſion
zukommt. Wir können nämlich den Gegenſatz der Geſtalt
überhaupt die Amorphie; den der verſtändigen Anordnung
der Unterſchiede die Aſymmetrie und den der lebendigen
Einheit die Disharmonie nennen.


A.
Die Amorphie.

Einheit im Allgemeinen iſt ſchön, weil ſie uns ein
Ganzes gibt, das ſich auf ſich ſelbſt bezieht; daher Einheit
das erſte Bedingniß aller Geſtaltung iſt.


Der Gegenſatz der Einheit als abſtracte Nichteinheit
wäre alſo zunächſt die Abweſenheit der Begrenzung nach
Außen, der Unterſcheidung nach Innen zu.


Die Abweſenheit der Begrenzung nach Außen
iſt die äſthetiſche Geſtaltloſigkeit eines Weſens. Eine ſolche
Grenzenloſigkeit kann in der Nothwendigkeit eines Weſens
liegen, wie der Raum, wie die Zeit, wie das Denken, das
Wollen an ſich als ohne Grenze gedacht werden müſſen.
Sie wird aber erſt da ſich ſinnlich bemerklich machen, wo,
dem Begriff nach, eine Unterſcheidung nach Außen hin ſtatt
finden ſollte und nicht da iſt. Die Grenzenloſigkeit über¬
[69] Haupt kann man weder ſchön noch häßlich nennen. Im
Vergleich mit ihr aber iſt das Begrenzte das Schönere, weil es
eine ſich auf ſich beziehende Einheit darſtellt, wie Platon be¬
kanntlich dem περας vor dem ᾿απειρον den Vorzug gibt (17).
Sie iſt an ſich deshalb nicht ſchlechthin häßlich, weil ſie in
ihrem Nichts die Möglichkeit der Begrenzung darbietet. Da
dieſe Begrenzung jedoch nicht wirklich iſt, ſo iſt ſie auch
nicht ſchön.


Von dieſem abſoluten Mangel der Geſtalt iſt nun die¬
jenige Geſtaltloſigkeit verſchieden, die wir relativ ausſagen,
ſofern zwar ſchon eine Geſtalt, alſo eine Einheit und Be¬
grenzung da iſt, dieſelbe jedoch in ſich noch ohne allen Unter¬
ſchied iſt. Eine ſolche Geſtalt iſt alſo innerhalb ihrer ſelbſt
durch ihre Ununterſchiedenheit geſtaltlos. Dieſer Man¬
gel an Unterſcheidung wird langweilig und treibt alle Künſte,
ſich gegen ihn zu waffnen. Die Architektur z. B. greift
zur Ornamentik, um mit Zickzacklinien, mit Mäandern, mit
Roſetten, mit Reifen, mit Zahnſchnitten, mit Eierſtäben,
mit Ein- und Ausbiegungen u. ſ. w., auch da noch Unter¬
ſchiede hervorzubringen, wo ſonſt die Monotonie einer
einfachen Fläche vorhanden ſein würde. Die kahle, unter¬
ſchiedloſe Identität iſt an ſich auch noch nicht poſitiv häßlich,
aber ſie wird es. Die Reinheit eines beſtimmten Gefühls,
einer beſtimmten Form, einer Farbe, eines Tons kann un¬
mittelbar ſogar ſchön ſein. Stellt ſich uns aber wieder und
wieder immer nur dies Eine ohne Unterbrechung, ohne Wech¬
ſel und Gegenſatz dar, ſo entſteht dadurch eine triſte Armſe¬
ligkeit, Einförmigkeit, Einfärbigkeit, Eintönigkeit. Die leere
Unbeſtimmtheit, die noch das Nichts aller Geſtaltung, hat
ſich hier ſchon aufgehoben; aus dem noch unterſchiedloſen
Abgrund der Möglichkeit der Geſtaltung iſt es ſchon zu einer
[70] Wirklichkeit und Beſtimmtheit der Form, der Farbe, des
Tons, der Vorſtellung gekommen. Indem es nun jedoch bei
dieſer Einen Beſtimmtheit ſein Bewenden hat, erzeugt ſich
durch das Fixiren der bloßen Identität eine andere Häßlichkeit.
Anfänglich nehmen wir einen ſo in ſich beſtimmten Eindruck
noch mit Wohlgefallen auf, denn die Einheit und Reinheit,
zumal wenn ſie mit Energie verbunden, hat etwas Erfreu¬
liches. Bleibt es aber bei dieſer abſtracten Einheit, ſo wird
ſie durch ihre Unterſchiedloſigkeit häßlich und unausſtehlich.
Was Göthe vom Leben überhaupt ſagt, daß nichts ſchwerer
zu ertragen ſei, als eine Reihe von guten Tagen, das gilt
auch vom Aeſthetiſchen. Der in ſich ununterſchiedene, der nur
erſt gegen das Nichts der äußern Geſtaltloſigkeit ſich abſchei¬
dende und wiederholende Purismus Einer Geſtalt und Farbe,
Eines Tons und Einer Vorſtellung wird häßlich, ja unaus¬
ſtehlich. Grün iſt eine ſchöne Farbe, aber nur grün, ohne
den blauen Himmel darüber, ohne blinkendes Waſſer dazwi¬
ſchen, ohne eine weißflockige Schaafheerde darauf, ohne ein
rothes Ziegeldach, das aus Bäumen hervorlauſcht, wird lang¬
weilig. Le parti des ennuyés in Paris war 1830 entzückt,
als das Rottenfeuer und der Kanonendonner die Monotonie
des ewigen Wagengeräuſchs auf den Boulevards unterbrach.
Als aber der zweite Tag den Kampf fortſetzte und gar als
am dritten das Schießen nimmer ſchien enden zu wollen,
riefen die kaum Entlangweilten aus: Oh, que c'est ennuyant!


Die Einheit, die eine Nureinheit iſt, wird alſo häßlich,
weil es im Begriff der wahrhaften Einheit liegt, ſich von ſich
ſelbſt zu unterſcheiden. Nun kann die Geſtalt in ſich der Ein¬
heit den Unterſchied ihrer Auflöſung entgegenſetzen. Sie
kann nach einer Seite hin, ja ſie kann überhaupt ſich als
Geſtalt wieder aufheben und verſchwinden. Eine ſolche Auf¬
[71] löſung kann ſchön ſein, weil mit ihr das Werden als Ver¬
gehen, alſo ein Unterſcheiden verbunden iſt, wenngleich dies
Unterſcheiden in das Nichts übergeht. Das Anziehende dieſes
Phänomens beſteht eben darin, daß mit der Geſtalt zugleich
das Werden der Geſtaltloſigkeit, das reine Uebergehen in An¬
deres, vorhanden iſt Man ſtelle ſich ein Gebirge vor, deſſen
waldgekrönte Häupter in den Duft der Ferne träumeriſch
verdämmern. Man ſtelle ſich den Schaum eines Wogen¬
ſturzes vor, deſſen aufſpritzenden, zerflatternden Giſcht der
Wirbelſturm mit raſendem Jauchzen in die Lüfte fortſchleudert,
ſo iſt der Uebergang der kaum entſtandenen Waſſerſäule in
den Untergang ſchön. Oder man ſtelle ſich einen Ton vor,
der, als Ton ſich gleich, allmälig verhallt, ſo iſt dies Ver¬
klingen ſchön. Verglichen mit der Oede der änderungloſen
Gleichheit iſt alle Bewegung, auch die des Vergehens, ſchön.
Was aber in ſolcher Weiſe ſchön iſt, wird häßlich, wenn die
Auflöſung da eintritt, wo ſie nicht ſein ſollte, wo wir viel¬
mehr die Beſtimmtheit und Abgeſchloſſenheit der Geſtalt zu
erwarten hätten, wo alſo die Geſtalt, ſtatt durch ein ſolches
Aufheben ihrer ſelbſt zu gewinnen, verſtört, verwaſchen und
verblaſen wird. Es entſteht dann das, was wir in der
Kunſt das Nebuliſtiſche und Unduliſtiſche nennen, der
Mangel an Beſtimmtheit, an Unterſcheidung, wo ſie doch
ſein ſollten. In der epiſchen und dramatiſchen Poeſie kommt
daſſelbe auch als Planloſigkeit zu Tage; in der Muſik
nennen wir es mit einem euphemiſtiſchen Ausdruck das Wilde;
das Wilde kann nämlich auch, wie bei einer Schlachtmuſik,
ſchön werden, als Tadel aber bezeichnet es die Formloſigkeit.
Das Schwanken und die Unſicherheit der Begrenzung wider¬
ſprechen dem Begriff der Geſtalt und dieſer Widerſpruch iſt
häßlich. Die Unerfindſamkeit und die Kraftloſigkeit verbergen
[72] ſich oft hinter ſolch lockern Formen und blos andeutenden
Umriſſen. Man verwechsle dieſe molluskenweichen, amorphen
Geſtalten nicht mit der Skizze. Die wirkliche Skizze iſt der
erſte Entwurf zu einer Ausführung. Sie iſt noch nicht be¬
friedigend, eben weil ihr noch die Ausführung fehlt, aber ſie
kann uns ſchon, wie die Handzeichnungen großer Maler und
Bildhauer, in ihren vorbereitenden Lineamenten die mögliche
Schönheit vollkommen zu fühlen geben. Göthe hat in dem
Dialoge: der Sammler und die Seinigen, alle hieher
gehörigen Unterſchiede mit Feinheit abgewogen und aus¬
einandergeſetzt (18).


Das Nebuliſtiſche iſt alſo nicht der ſchöne Duft, in
welchen eine Geſtalt ſich hüllen kann; das Unduliſtiſche iſt
nicht die ſanfte Wellenlinie, in welche eine Form ver¬
ſchwimmen; nicht das Abtönen, in welches ein Klang ver¬
ſchweben kann. Es iſt im Gegentheil die Mattigkeit der Be¬
grenzung, wo dieſe als eine entſchiedene nothwendig wäre;
die Unklarheit des Unterſchiedes, wo er hervortreten müßte;
das Unverſtändliche des Ausdrucks, wo er ſich zu markiren
hätte. In der Sculptur und Malerei ſind es vorzüglich
ſymboliſche und allegoriſche Geſtalten, die zu einer
ſolchen Behandlung verführen. Und ſelbſt bei dem beſten
Willen können die Künſtler oft keine charakteriſtiſche Be¬
ſtimmtheit erreichen, wenn ſie ſolche Abſtracte, wie la patrie,
la France, le choléra morbus, Paris u. dgl. darſtellen ſollen.
Man kann ſehr zufrieden ſein, wenn ſie uns in ſolchem
Fall eine ſchöne weibliche Geſtalt überhaupt geben. Die
ältere Düſſeldorfer Malerſchule krankte eine Zeitlang an
ſolcher Formloſigkeit, weil ſie durch das Vorherrſchen einer
ſentimentalen Albummanier über den Unterſchied des Maleri¬
ſchen vom Poetiſchen getäuſcht ward, und, den Dichtern ſich
[73] anſchließend, zu ſehr ſich darauf verließ, daß das erklärende
Wort derſelben ihren ſchwankenden, problematiſchen Geſtalten
zu Hülfe käme. — In der Poeſie finden wir nach dem Auf¬
treten großer Genien ſehr häufig eine Periode der Nachahmer,
bei denen die Geſtaltloſigkeit graſſirt. Im Epiſchen neigt ſie
zu der Schlegelſchen Theorie, daß die Handlung, als ein
bloßes Fragment aus einem größern Zuſammenhange, in's
Unendliche ohne innere Einheit fortlaufen könne. Im Lyri¬
ſchen kennzeichnet ſie ſich gewöhnlich durch ein Uebermaaß
von Prädicaten, mit denen ſie die Subjecte ausſtattet. In¬
dem das eine Prädicat immer das andere erdrückt, entſteht
durch ſolche Ueberfülle ſtatt des beabſichtigten reichen Bildes
eine nichtsſagende Vollſtändigkeit, die das Unweſentliche mit
dem Weſentlichen vermiſcht. Im Dramatiſchen huldigt ſie
dem ſogenannten dramatiſchen Gedicht, das nämlich
von der Aufführbarkeit a priori abſtrahirt, daher principiell
auf eigentliche Handlung, auf Durchführung der Charaktere,
auf Wahrſcheinlichkeit verzichtet und oft nur eine lockere
Reihe lyriſcher Monologe enthält. Da bei uns Deutſchen,
weil wir uns nicht als Nation fühlen und folglich auch keine
Nationalbühne haben, leider zwei Drittel unſerer dramatiſchen
Productionen aus ſolchen theatraliſch unmöglichen reinen
Dramen beſtehen, ſo iſt es überflüſſig, beſondere Beiſpiele
hier namhaft zu machen. Wenn Göthe oft als der be¬
züchtigt wird, von welchem dies Unweſen ſtamme, weil er
den Fauſt gedichtet, ſo iſt dies irrig, denn der Fauſt hat
die theatraliſche Probe in ſeinem erſten Theil glänzend be¬
ſtanden, und der zweite, wenn nur erſt auch zu ihm die
nöthige Muſik componirt wäre, wird ſie auch beſtehen, denn
er iſt nicht weniger theatraliſch gedacht und opernbühnen¬
mäßig gearbeitet.


[74]

Nachdem wir bisher die Entſtehung des häßlich Geſtalt¬
loſen betrachtet haben, müſſen wir auch ſeinen Uebergang
in's Komiſche unterſuchen. Der komiſche Effect wird hier
nämlich theils dadurch bewirkt, daß ſtatt des beſtimmten
Unterſchiedes, der erwartet werden durfte, immer daſſelbe
wiederkehrt, theils dadurch, daß eine Geſtalt von dem An¬
fang ihrer Bewegung aus plötzlich in ein ganz anderes ihm
entgegengeſetztes Ende herumgeworfen wird. Die Unbeſtimmt¬
heit der Geſtaltung, welche darin beſteht, daß in der leeren
Unendlichkeit noch gar keine da iſt, kann weder poſitiv ſchön,
noch poſitiv häßlich genannt werden, denn non entis nulla
ſunt prädicata
Wir können ſie, als den noch neutralen
Boden, auch nicht komiſch nennen.


Die unterſchiedloſe Beſtimmtheit der Geſtalt dagegen,
die in der unaufhörlichen Wiederkehr derſelben Wendung liegt,
kann eine komiſche Wirkung erzeugen. Statt zu einem andern
Prädicat fortzugehen, fällt ſie immer wieder in daſſelbe zurück.
Die bloße in's Endloſe fortgeſetzte Identität würde uns lang¬
weilen. Sollten wir auch über eine ſolche etwa anfänglich
lachen, ſo würde ſie uns doch bald abſtoßen und häßlich
werden, wie wir bei ſchlechten Luſtſpielen erfahren, in denen
die Dürftigkeit des Autors einer Perſon irgend eine abge¬
ſchmackte Redensart in den Mund legt, die uns, weil ſie
à tort et à travers überall angebracht wird, einige Mal zum
trocknen Lachen reizt, ſich jedoch bald abnutzt und den kläg¬
ligſten Eindruck einer witzig ſein wollenden Geiſtloſigkeit her¬
vorbringt. Der rechte Künſtler weiß die komiſche Wirkung
der Wiederholung (mit welcher hier natürlich nicht der auf
andern Geſetzen beruhende Refrain gemeint iſt) richtig zu
verwenden, wie z. B. Ariſtophanes in den Fröſchen,
wo er, die Jämmerlichkeit der Euripideiſchen Prologe zu
[75] erweiſen, den Aeſchylos ſich erbieten läßt, an alle Trimeter
des Anfangs ein Wort, wie Widderfell, Salbgefäß, Haber¬
ſack, anzuhängen und ſie dadurch lächerlich zu machen. Hier
darf man, nach jedem Anfang, einen andern Fortgang er¬
warten, allein jedem hängt der unerbittliche Aeſchylos das
vernichtende Salbgefäß an. Droyſen hat frei überſetzt:
„fiel mit der alten Leier durch“, was allerdings den Sinn
bezeichnet, aber eigentlich ſchon ein abſtractes Ausſprechen
des von Ariſtophanes beabſichtigten Reſultates enthält.
Nach Voß, III., 185. ff.:


Euripides.


Aegyptos, wie ſich weit umher ausdehnt der Ruf,
Sammt ſeinen funfzig Söhnen, durch Seeruderſchwung
Gen Argos ſteuernd —


Aeſchylos.


— brach entzwei ſein Salbgefäß.


— — — — — —


Euripides.


Dionyſos, der, mit Thyrſos und ſchönſprenklichter
Hirſchhaut geſchmückt, bei Fackeln durch den Parnaſoshain
Aufhüpft im Reihntanz —


Aeſchylos.


— brach entzwei ſein Salbgefäß.


— — — — — —


Euripides.


Nicht lebt ein Mann wo, der in allem glücklich iſt:
Denn bald, von Herkunft edel, mangelt er des Guts;
Bald, niedres Abſtamms, —


Aeſchylos.


— brach er entzwei ſein Salbgefäß.


— — — — — —


[76]

Euripides.


Kadmos, von Sidons hoher Burg einſt abgeſchifft,
Der Sohn Agenors —


Aeſchylos.


— brach entzwei ſein Salbgefäß.
u. ſ. w. u. ſ. w.


Das ſtete Anſetzen zu einer Geſtaltveränderung und
das ſtete Zurückfallen in die nämliche ſchon dageweſene Ge¬
ſtalt iſt hier die vis comica, von der die Poſſe einen glück¬
lichen und ſtarken Nutzen zu ziehen weiß, wie man dies
auch an jedem Hanswurſt von Akrobaten und Reiterbanden
beobachten kann. Die Geſtaltloſigkeit kann auch in dem
Uebergang in das poſitive Gegentheil des Anfangs der Ge¬
ſtaltung beſtehen. Es kündigt ſich uns eine Geſtalt an, aber
ſtatt der erwarteten erſcheint das Gegentheil, eine Auflöſung
der anfänglichen Geſtalt in den entgegengeſetzten Ausgang.
Eine Geſtalt wird derſelbe natürlich irgendwie auch haben,
allein im Verhältniß zur erſten wird ſie die Vernichtung der¬
ſelben ſein. Z. B. Der Bajazzo nimmt einen ungeheuren
Anlauf, über eine Barriere zu ſpringen. Schon erblicken
wir, in unſerer Phantaſie vorgreifend, den kühnen Sprung,
als er, dicht vor dem Ziel, ſich plötzlich anhält und ſich
ruhig unten hindurchduckt oder ſpaziergängeriſch umkehrt.
Wir lachen, weil er uns getäuſcht hat. Wir lachen, weil
der vollkommenſte Gegenſatz der größten Heftigkeit der Be¬
wegung und der phlegmatiſchen Ruhe uns überraſcht. Oder
der Bajazzo ſoll reiten lernen. Er ſtellt ſich dumm an.
Mühſam macht man ihm vor, was er zu thun hat und
überredet ihn zum Aufſitzen. Endlich ſchwingt er ſich auf
das Pferd, aber — verkehrt, ſo daß er den Schwanz ſtatt
der Zügel in die Hand nimmt u. ſ. w. Auch die Taſchen¬
[77] ſpielerkunſt verſteht uns in dieſer Hinſicht vorzüglich zu
unterhalten, indem ſie ſogar aus dem Nichts etwas hervor¬
zuzaubern weiß. Der Verſtand ſagt ſich, daß aus Nichts
Nichts werden kann und doch ſehen wir, ihm zum Trotz,
den Magier aus einem leeren Hut Strauß auf Strauß her¬
ausnehmen. Wir ſtaunen, aber wir lachen, weil unſer Ver¬
ſtand, während ihm öffentlich ſo widerſprochen wird, im
Stillen ſich doch ſagt, daß er an ſich Recht hat. Dieſer
Widerſpruch eben, mit Bewußtſein dupirt zu werden, ergötzt
uns. — Auch das Uebergehen Betrunkener aus dem Sprechen
in das bloße Lallen, in unarticulirte Laute, den Reflex der
Verwirrung, worin die Intelligenz verfallen, kann bis auf
einen gewiſſen Grad komiſch ſein. Der Schauſpieler Gern
der Sohn in Berlin konnte dieſe geſtaltſuchenden, brum¬
menden, quetſchenden, gurgelnden, miauenden Töne, unter¬
miſcht mit einzelnen Wortfragmenten, vortrefflich und zu
unfehlbarer Wirkung hervorbringen.


B.
Die Aſymmetrie.

Die Amorphie iſt unmittelbar die totale Unbeſtimmtheit
der Geſtalt. Dieſe hebt ſich auf zur Einheit einer Geſtalt,
der es aber an dem Unterſchied innerhalb ihrer ſelbſt gebricht,
ſo daß ſie durch die Ununterſchiedenheit in ſich geſtaltlos iſt.
Oder der Unterſchied bildet ſich an der Geſtalt hervor, aber
ſo, daß er in der Auflöſung derſelben beſteht.


Die Einheit einer Geſtalt kann ſich in einfachen Unter¬
ſchieden wiederholen, nach einer gewiſſen Regel ſich fortſetzen.
[78] Dies iſt die Regularität. Zwiſchen der Regularität und der
Einheit liegt aber noch das unmittelbare Andersſein der
Exiſtenzen, die Verſchiedenheit, deren bunte Mannigfal¬
tigkeit äſthetiſch ſehr erfreulich ſein kann. Ganz inſtinctiv
ſtrebt daher auch alle Kunſt nach der Abwechſelung, um das
Einerlei der formalen Einheit zu unterbrechen. Dieſe an ſich
alſo durch den Gegenſatz gegen die abſtracte Identität an¬
genehm wirkende Mannigfaltigkeit ſchlägt aber in das Häßliche
um, wenn ſie zu einem wüſten Durcheinander der verſchie¬
denſten Exiſtenzen wird. Wenn ſich aus dem Gemenge der¬
ſelben nicht wieder eine gewiſſe Gruppirung herausſtellt,
wird ſie uns bald läſtig werden. Die Kunſt bemühet ſich
daher frühzeitig, des Chaotiſchen, worin die Verſchiedenheit
ſo leicht verfällt, durch Abſtractionen gleicher Verhältniſſe
wieder Herr zu werden. Wir haben vorhin daran erinnert,
wie der Geſchmack der Völker in der bildenden Kunſt die
Leerheit einer großen Fläche frühzeitig zu beleben bemühet
iſt. Anfänglich behilft er ſich mit Formen, die wenig mehr
als Reifen und Puncte, als bunte Striche und Tüpfeln ſind;
bald aber beginnt er dieſelben ein wenig zu ordnen. Das
Viereck, der Zickzack, die Blattranke, der Zahnſchnitt, das
verſchlungene Band, die Roſette werden die Fundamental¬
formen aller Ornamentik, die noch unſere Tapeten und
Teppiche durchwirkt.


Die Häßlichkeit im Verſchiedenen liegt alſo in dem
Mangel einer verſtändigen Gebundenheit, welche die pululli¬
rende Fülle ſeiner Einzelheiten doch wieder zu einer relativen
Geſtaltung zuſammenfaßt. Nur vom Geſichtspunct des
Komiſchen aus wird das regelloſe Gewirr wieder befriedigend.
Die gemeine Wirklichkeit wimmelt von Verworrenheiten,
die uns äſthetiſch beleidigen müßten, wenn ſie uns nicht
[79] glücklicher Weiſe zu lachen machten. Wir erblicken ſie durch
das Auge eines Jean Paul oder Dickens Boz und ſie
gewinnen ſofort einen komiſchen Reiz. Wir können nicht
über die Straße gehen, ohne nicht unaufhörlichen Stoff zu
ſolchen humoresken Betrachtungen zu finden. Da begegnet
uns ein Meubelwagen, auf welchem Sopha's, Tiſche,
Küchengeräth, Betten, Gemälde in eine Nachbarſchaft gerathen
ſind, die, nach ihrer ſonſtigen Vertheilung, von ihnen ſelbſt
für unmöglich gehalten werden würde. Oder jenes Haus
dort zeigt uns im Erdgeſchoß einen Flickſchuſter, parterre
einen Cigarrenladen mit obligater Bierſtube, darüber einen
Pariſer Modeſchneider und oben in der Dachſtube einen
Orientaliſchen Blumenmaler. Wie ſinnreich iſt nicht dies
vom Zufall zuſammengewürfelte Durcheinander! Oder wir
treten in einen Buchladen und ſehen auf dem Auslegetiſch
Claſſiker, Kochbücher, Kinderſchriften, gegen einander wüthende
Brochüren, in den witzigſten Combinationen ſich berühren, wie
nur ein Washington Irwing oder Gutzkow für ihre
ſatiriſche Laune es ſich wünſchen könnten. Und nun gar
der Trödel! Welch ein Meiſter des Humors iſt er nicht in
der Unſchuld, mit welcher er abgeblichene Familienportraits
und mottenzerfreſſene Pelze, alte Bücher und Nachtſtühle,
Schleppſäbel und Küchenbeſen, Reiſekoffer und Waldhörner
durcheinander miſcht! Märkte, Gaſthäuſer, Schlachtfelder,
Poſtkutſchen wimmeln von ſolchen Improviſationen des
neckiſchen Wirrwarrs. Die Heterogeneität der mannigfachen
Exiſtenzen verändert in ihrer Berührung den gewöhnlichen
Werth der Dinge durch Beziehungen, die ihnen für unſere
Anſchauung aufgedrängt werden. Der Zufall kann allerdings
ſehr proſaiſch und geiſtlos, er kann aber auch ſehr poetiſch
und witzig ſein. Dinge, die ſonſt weit auseinander liegen
[80] und die ſich durch die Gemeinſchaft mit einander für profanirt
erachten würden, finden ſich durch ihn in überraſchende
Nähe gerückt. Die Modernen haben dieſen quodlibetariſchen
Witz ſehr weit und oft ſehr glücklich ausgebildet; die große
empiriſche Fülle eines heutigen Bewußtſeins hat es möglich
gemacht, zahlloſe Verbindungen zu erzeugen, die uns im
zufälligen Zuſammenſein durch ihre Reflexion in einander
ergötzen. Das Britiſche Inſelvolk, das meerdurchfurchende
London, Eliſabeths Zeitalter, Shakeſpeare's Weltima¬
gination haben vorzüglich dies Spiel der Phantaſie angeregt.
Hogarth hat daſſelbe in die Malerei eingeführt, iſt aber
ſchon, wie trefflich auch ſeine Charakteriſtik, beſonders die
phyſiognomiſche, ſei, von einer gewiſſen Abſichtlichkeit nicht
frei zu ſprechen, die eine übertriebene, aufdringliche Sorg¬
lichkeit verräth, keine der Beziehungen ſeines Calculs über¬
ſehen zu laſſen. In die poetiſche Literatur der ſpätern Zeit
iſt dieſe Manier beſonders von den humoriſtiſchen Roman¬
ſchriftſtellern eingeführt worden, die es ſich mit ihr nicht
nur oft ſehr bequem gemacht, ſondern ſie auch durch Ge¬
ſchraubtheit bis zur Albernheit abgehetzt haben. Eine bloße
Verworrenheit der Vorſtellungen iſt häßlich. Manche unſerer
forcirten Humoriſten ſind oft nichts beſſer, als die Kranken
in Irrenhäuſern, die an der Gedankenflucht leiden.


Die freie Mannigfaltigkeit iſt ſchön, ſofern ſie eine
gewiſſe Sinnigkeit der Gruppirungen in ſich ſchließt. Denken
wir uns die Tendenz zur Ordnung des Verſchiedenen als
eine abſtracte ſich wiederholende Einheit in dem Mannigfalti¬
gen, ſo erhalten wir den Begriff des Regelmäßigen d. h.
der Erneuung des Verſchiedenen nach einer feſten Regel, die
ſeine lockern Differenzen unter ſich bindet. So die gleichen
Zeittheile des Tactes, ſo der gleiche Abſtand der Bäume einer
[81] Allee, ſo die gleichen Dimenſionen der gleichartigen Theile
eines Gebäudes, ſo die Wiederkehr des Refrains im Liede
u. ſ. w. Solche Regularität iſt an ſich ſchön, allein ſie
befriedigt erſt die Bedürfniſſe des abſtracten Verſtandes und
iſt deshalb auf dem Wege, häßlich zu werden, ſobald die
äſthetiſche Geſtaltung ſich auf ſie beſchränkt und außer ihr
nichts darbietet, das eine Idee ausdrückte. Sie ermüdet
durch ihre ſtereotype Gleichheit, die uns den Unterſchied
immer in der nämlichen Weiſe vorführt und wir ſehnen uns
aus ihrer Einförmigkeit heraus nach der Freiheit, ſelbſt
wenn ſie im Extrem eine chaotiſche wäre. Tieck hat in der
Einleitung zum Phantaſus die Holländiſche Manier der
Gartenanlage von der Seite her in Schutz genommen, daß
ſie mit ihren Heckenwänden, geſchorenen Bäumen und Buchs¬
baum eingefriedigten Rabatten für die Converſation Luſtwan¬
delnder ſehr zweckmäßig ſei. Wo die Geſellſchaft ſich ſelbſt
der Zweck iſt, an einem glänzenden Hofe, ſind dieſe breiten
mit weichem Sand beſtreueten Wege, dieſe grünen Mauern,
dieſe im Paradeſchritt aufmarſchirenden Bäume, dieſe grotten¬
artigen Boskette, ganz paſſend. Wurde dieſe Manier doch
auch eben von Lenôtre unter dem großen Ludwig zur grö߬
ten Vollkommenheit gebracht. Ihn copirten dann die Nach¬
ahmer in Schönbrunn, in Caſſel, Schwetzingen u. ſ. w.
Die Natur ſoll hier nicht in ihrer freien Naturwüchſigkeit
erſcheinen, ſie ſoll vielmehr, der Majeſtät gegenüber, ſich
beſchränken und mit gefälliger Dienſtbarkeit nur einen luftigen
Salon herſtellen, in welchem die ſeidenen Gewänder, die
goldſtarrenden Uniformen einherrauſchen. Aber in kleinen
Dimenſionen und ohne den Schauplatz hoffeſtlicher Actionen
abzugeben, überkommt uns zwiſchen kubiſchen Hecken und
Bäumen, die von der Scheere zu Kugeln und Pyramiden
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 6[82] verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬
zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬
liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen.


Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬
ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der
Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als
Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als
abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann
ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das
Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön
ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen;
am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie
eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender
Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß
Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in
einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung
derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Negligée par
excellence
zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen
oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler
und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele
zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen
in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen
Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian
freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit
von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches
darin war vortrefflich, wie in einigen Klopſtockſchen
Bardieten und einigen Götheſchen Compoſitionen. Aber
wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern
aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch
in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬
ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.


[83]

Regularität wie Irregularität können eben deshalb
durch ihre Entgegenſetzung komiſch werden. Die erſtere wird
es z. B. im Pedantismus, die zweite in ſeiner Verſpottung.
Der Pedantismus möchte das Leben gern in ſeine Regeln
einſchnüren und ſelbſt einem Gewitter nicht geſtatten, anders,
als zu gelegener Zeit, ſeine artige Aufwartung zu machen.
Weil ſein Zwang ein für die Sache unnützer und ſelbſtge¬
wollter iſt, ſo wird er komiſch, und die Irregularität, die
als ein ſchalkiger Kobold ihm ſeine mühſam gezogenen Kreiſe
ſtört, wird komiſch als die gerechte Perſiflage ſolcher Thorheit,
die das Leben gegen ſeinen Begriff als Maſchine zu behandeln
ſich unterfängt.


Soll die Einheit mit dem Unterſchied vereint werden,
ſo kann dies zunächſt dadurch geſchehen, daß die Geſtalt ſich
zwar wiederholt, in dieſer Wiederholung aber zugleich als
Inverſion umkehrt. Die Wiederholung der Geſtalt iſt
die Gleichheit der Regularität; die Umkehr der Ordnung
iſt die Ungleichheit der Irregularität. Dieſe Form der in
der Ungleichheit dennoch identiſchen Gleichheit iſt die eigentliche
Symmetrie. So haben die Alten die beiden Dioskuren
in ſchöner Symmetrie dargeſtellt, wie jeder ein ſich auf¬
bäumendes Pferd hält, der eine mit der linken, der andere
mit der rechten Hand; der eine mit dem linken, der andere
mit dem rechten Fuß vortretend; die Köpfe der Pferde nach
Innen gegen, oder nach Außen hin auseinander gewandt.
Auf beiden Seiten iſt hier daſſelbe vorhanden und doch iſt
es unterſchieden; es iſt nicht blos ein einfach Anderes, ſondern
es iſt das eine die Umkehr des andern und damit die Be¬
ziehung
auf daſſelbe. Die Symmetrie ſtellt alſo nicht eine
bloße Einheit, nicht eine bloße Verſchiedenheit oder einfache
Unterſchiedenheit; nicht eine bloße Regularität oder Irregu¬
6 *[84] larität, ſondern eine Einheit dar, die in ihrer Gleichheit die
Ungleichheit enthält. Dennoch iſt auch die Symmetrie noch
nicht die Vollendung der Form; die höhere Bildung der
Schönheit ordnet auch ſie ſich nur als ein Moment unter,
über welches ſie, unter gewiſſen Bedingungen, hinausgeht.—
Fehlt ſie, wo wir ſie erwarten dürften, ſo verletzt uns ein
ſolcher Mangel, zumal wenn ſie etwa ſchon vorhanden war
und nur zerſtört iſt, oder wenn ſie in der Anlage gegeben,
aber nicht zur Ausführung gekommen iſt. Die Symmetrie
iſt abſtract genommen nur das Gleichmaaß überhaupt; genauer
aber iſt ſie ein Gleichmaaß, das einen Gegenſatz von Oben
und Unten, von Rechts und Links, von Groß und Klein,
von Hoch und Tief, von Hell und Dunkel enthält; oder
noch genauer, das in der Wiederholung des Gleichen die
Umkehr der Lage in ſich ſchließt, was wir eben Inverſion
nennen, wie die Augen, Ohren, Hände, Füße des menſch¬
lichen Organismus in ſolcher Weiſe ſymmetriſch ſich verhalten.
Die Verdoppelung des Gleichen kann ſich auf einen für
beide Seiten gleichen Punct
beziehen, wie die Fenſter¬
ſtellungen in Verhältniß zu einer Thür; wie zwei Halbkreiſe
von Säulen in Verhältniß zu zwei Durchgängen, die ſie
ſchneiden; wie beim Diſtichon die auf und abſteigende Hälfte
des Pentamenters in Verhältniß zum Hexameter u. ſ. w.
Dies Alles ſind ſymmetriſche Ordnungen, die wir in der
Baukunſt, in der Sculptur, Malerei, in der Muſik, Orcheſtik
und Poeſie nach dem eigenthümlichen Inhalt dieſer Künſte
ſpecificiren. Wird nun in ſolchem Fall die Symmetrie negirt,
ſo erzeugt dies eine Disproportion, die häßlich iſt.


Fehlt die Symmetrie überhaupt, iſt ſie gar nicht da,
ſo iſt eine ſolche Abweſenheit derſelben erträglicher, als
eine poſitive Verletzung. — Fehlt an einem, ſeinem Weſen
[85] nach ſymmetriſch ſeinſollenden Verhältniß die eine Seite
deſſelben, ſo iſt die Exiſtenz der Symmetrie unvollſtändig.
Indeſſen wirkt unſere Phantaſie dann ſupplementariſch und
fügt in unſerer Vorſtellung aus der ſchon vorhandenen Seite
die noch fehlende hinzu, ſo daß dieſe Halbſymmetrie als
eine dem Begriff nach daſeiende, der Realität nach nur nicht
durchgeführte auch noch erträglich bleibt. Wir empfinden
dies bei vielen Gothiſchen Kirchen, bei denen oft nur der
eine Thurm ausgebauet iſt, während der andere ganz fehlt oder
nur bis zu einem untern Stockwerk gelangt iſt. Im Ueber¬
blick der Facade der Thurmſeite iſt der, mangelnde Thurm
offenbar ein äſthetiſcher Defect, denn, nach der Anlage des
Baues, ſollte er da ſein. Da es jedoch im Begriff des
Thurms als eines auf Erhabenheit Anſpruch machenden Ge¬
bäudes liegt, in einer gewiſſen Einzigkeit daſtehn, zu können,
ſo ertragen wir den Mangel nicht nur ziemlich leicht, ſondern
ergänzen ihn auch, wenn er auffallender iſt, aus unſerer
Vorſtellung. — Iſt die Symmetrie vollſtändig da, ſind aber
in ihr ſelbſt Widerſprüche enthalten, ſo wird unſerer Phan¬
taſie der Spielraum genommen, weil wir durch etwas
Poſitives gehemmt werden. Wir können dann nicht etwas
Anderes an die Stelle des Gegebenen ſetzen, das Vorhandene
nicht ideell und idealiſch ergänzen; wir müſſen uns vielmehr
dem empiriſch Exiſtirenden unterwerfen und daſſelbe nehmen,
wie es iſt. Die Gleichheit kann auf eine in ſich verkehrte,
allein nicht inverſe Weiſe da ſein. Nicht das ſymmetriſche
und ſymphoniſche Correlat bietet dann ſich dar, ſondern das
correſpondiren ſollende Gleiche ſtellt ſich in einer qualitativ
verſchiedenen Weiſe dar. Stellen wir uns z. B. vor, daß
eine Gothiſche Kirche nach dem urſprünglichen Plan zwei
Thürme hätte haben ſollen, daß nur der eine derſelben vor¬
[86] erſt ausgeführt wäre, daß ſpäterhin noch ein zweiter Thurm,
allein in einem andern Styl hinzugefügt würde, ſo wäre
zwar die Symmetrie da, denn es ſollten ja zwei Thürme
ſein, aber ſie wäre zugleich in einer dem Begriff des Ganzen
nicht entſprechenden, ſeiner Einheit vielmehr qualitativ wider¬
ſprechenden Weiſe vorhanden. Auf Theatern kommen durch
Mängel der Garderobe öfter ſehr luſtige Dinge in dieſer
Form der Unſymmetrie vor. — Oder die Symmetrie kann
qualitativ der Einheit der Geſtalt entſprechen, allein quan¬
titativ
das Gleichmaaß verletzen, ſo iſt auch dieſe Unförm¬
lichkeit häßlich. In den bildenden Künſten werden ſehr viel
Fehler dieſer Art gemacht. Dem Begriff nach ſollte von zwei
Parallelthürmen der eine nicht höher als der andere; von
zwei Flügeln eines Baues der eine nicht länger als der andere;
von zwei durch ein Portal geſchiedenen Fenſterreihen die An¬
zahl der einen nicht größer, als die der andern; von einer
Statue der eine Arm nicht länger, als der andere ſein u. ſ. w.
Krüppel ſtellen uns vornämlich dieſen Mangel der Symmetrie
dar, wie wenn ein Arm oder Fuß verſchrumpft oder ver¬
krümmt iſt.


Die Aſymmetrie iſt nicht einfache Geſtaltloſigkeit, ſie
iſt entſchiedene Ungeſtalt. Byron hat in einem phantaſtiſchen
Drama, the transformed disformed, die Qualen eines geiſt¬
ſtarken Bukligen geſchildert. Er läßt ihn, da ſelbſt die
Mutter ihn verläugnet, den Tod ſuchen, in dieſem Augen¬
blick von einem myſtriöſen Fremden unterbrochen werden, der
ihm jede andere Form zum Geſchenk anbietet und ihm ſagt:


Wenn ich mit deinem Klumpfuß einen Büffel,
Das ſchnelle Dromedar mit deiner Höhe
Des Hökers höhnen wollte, jubelten
Die Thiere ob des Compliments. Und doch
[87] Sind beide Weſen ſchneller, ſtärker, mächtiger
An Thatkraft und an Ausdauer, als du,
Und all die Kühnen, Schönen deiner Gattung.
Naturgemäß iſt deine Form; es war nur
Verfehlte Güte der Natur, die Gaben,
So andern zugedacht, dem Menſchen gab.


Arnold aber, ſo heißt der Ungeſtalte, fühlt das ganze
Gewicht der Schönheit. Er ſagt weiterhin:


Mir liegt


Nicht viel an Kraft, denn Häßlichkeit iſt kühn.
Ihr Weſen iſt's, an Herz und Geiſt die Menſchheit
Zu überholen, und den Andern gleich,
Ja, höher ſich zu ſtellen.


Weil die Häßlichkeit in ihrer Negativität etwas Poſitives
iſt, ſo fühlt ſie ſich einſam und dies Gefühl iſt ihre größte
Pein. Arnold ſagt:


Böt keine Macht mir


Die Möglichkeit des Wechſels, hätt' ich Alles
Gethan, was nur der Geiſt vermag, den Weg mir
Zu bahnen, trotz des Scheuſals ſchwerer, ekler,
Entmuthigender Laſt, die wie ein Berg,
Meinem Gefühl nach, Herz und Schultern drückt —
Ein ekler, ungeſtalter Maulwurfshügel
Für glücklichere Augen. Dann erſchaut' ich
Die Schönheit des Geſchlechts, das Urbild iſt
Von Allem, was man kennt und träumt als ſchön,
Mehr als die Welt, die es verklärt durch Seufzer
Der Lieb' nicht, der Verzweiflung: ſucht' auch nicht,
Obgleich ganz Liebe, zu gewinnen, was mich
Nicht minder liebt ob dieſes krummen Klumpens,
Der mich ſo einſam macht.


[88]

So düſter äußert ſich der Schmerz der Mißgeſtalt.
Und doch kann ſie ein großes Mittel für die Komik werden.
In der Abweſenheit der Symmetrie liegt zwar noch nichts
Komiſches, in der Verworrenheit aber regt ſie ſich ſchon,
weil in ihr eine Geſtalt die andere verdrängt und verlöſcht.
In der Halbſymmetrie hat der Anſatz zur Verwirklichung,
die nicht zu Ende kommt, ganz abgeſehen von der Beſon¬
derheit des Inhalts, ebenfalls einen komiſchen Anſtrich. Die
poſitive Unſymmetrie aber, die in ihrer Congruenz doch nicht
congruent, die in der Gleichheit ihrer Theile doch ungleich iſt,
dieſe in ſich unſymmetriſche Symmetrie iſt an ſich in der
That ſchon komiſch, inſofern das Lächerliche der Widerſpruch
des Unmöglichen als eines empiriſch Wirklichen mit der dem
Begriff nach ſeinſollenden Wirklichkeit iſt. Es ſollte wohl,
dem Begriff nach, unmöglich ſein, daß der eine Arm länger,
als ſein Gegenarm; iſt nun aber factiſch der eine Arm doch
länger, als der andere, ſo iſt damit die dem Begriff wider¬
ſprechende, nichtſeinſollende Wirklichkeit wirklich und dieſer
Widerſpruch wird komiſch — gerade wie, in Anſehung der
Füße, das Hinken etwas Komiſches an ſich hat. Die Komik
zieht die Beſchäftigung der Menſchen, die eine Krümmung
und ſcheinbare-Verkürzung eines Arms zur Folge haben kann,
herein und ſtellt uns den Schreiber, Schneider, Schuſter,
Tiſchler u. ſ. w. in ihren komiſchen Bewegungen dar.


Eine beſonders beliebte Komik entſteht im Drama
dadurch, daß dem tragiſchen Verlauf der Haupthandlung
ſymmetriſch der komiſche Verlauf einer Nebenhandlung gegen¬
übergeſtellt wird. Alle poſitiven Vorgänge der ernſten Sphäre
wiederholen ſich in der Nullität der komiſchen und ſteigern
durch dieſen Parallelismus den Effect ihres Pathos. Im
Engliſchen, vorzüglich aber im Spaniſchen Theater
[89] herrſcht dieſe Manier. Shakeſpeare hat ſie von der hohen
Tragödie ausgeſchloſſen, Calderon aber, weil er überhaupt
moraliſch-conventionelle Rechenexempel zu löſen hat, wendet
ſie faſt überall an. Selbſt im theologiſchen Drama, wie im
magico prodigioso, läßt er die tragiſche Entwicklung ſich in
die Folie der Komik reflectiren.


Dieſelben Beſtimmungen der Aſymmetrie, die wir häßlich
nennen, wenn ſie einen poſitiven Charakter anſprechen, werden
komiſch, wenn dieſe Prätenſion nur ein Schein iſt. Die
Komik haben wir jedoch hier nicht weiter zu verfolgen, wo
uns das Häßliche beſchäftigt und wir ſeine Auflöſung in's
Lächerliche nur anzudeuten haben. Wohl aber haben wir zu
zeigen, wie die Aſymmetrie durch den falſchen Contraſt der
antagoniſtiſchen Hebel der Symmetrie in die Disharmonie
übergeht. In der Symmetrie, wie in der Aſymmetrie, iſt die
Beziehung der inverſen Glieder im Allgemeinen noch eine
ruhige. Geht die Entgegenſetzung in Spannung über, ſo
wird ſie zum Contraſt. Er iſt bekanntlich eines der vor¬
züglichſten äſthetiſchen Mittel. Qualitativ kann er nur in
ſich widerſprechenden Beſtimmungen beſtehen, quantitativ aber
viele Grade haben, ſchwach und ſtark, matt und grell ſein.
Es liegt in den nähern Umſtänden begründet, was für ein
Contraſt in einem gegebenen Fall der nothwendige iſt. Für
ein und daſſelbe Weſen ſind nach verſchiedenen Seiten hin
verſchiedene Widerſprüche möglich; aber jedes hat auch kraft
ſeiner Eigenthümlichkeit einen abſoluten Widerſpruch an ſich,
der ſeine totale Negation enthält; dem Leben ſteht der Tod,
dem Tod das Leben, der Wahrheit die Lüge, der Lüge die
Wahrheit, dem Schönen das Häßliche, dem Häßlichen das
Schöne u. ſ. w. als abſoluter Widerſpruch gegenüber. Dem
Leben ſteht dagegen die Krankheit, der Wahrheit der Irrthum,
[90] dem Schönen das Komiſche nur als relativer Widerſpruch ent¬
gegen und daher haben dieſe Beſtimmungen ſelbſt noch wieder
andere als ihren abſoluten Widerſpruch an ſich. Die Krankheit
iſt allerdings eine Hemmung und Minderung des Lebens; ſie
widerſpricht ihm, nämlich ſofern das Leben ſeinem Begriff nach
geſund ſein ſollte; der abſolute Widerſpruch der Krankheit iſt
daher, im Leben, die Geſundheit. So iſt dem Irrthum die ob¬
jective Gewißheit; dem Komiſchen das Tragiſche abſolut ent¬
gegen, geſetzt. Wegen ſolcher Unterſchiede wird es möglich, auch
ſolche Beſtimmungen mit einander zu contraſtiren, die nicht
durch ſich ſelbſt, ſei es abſolut, ſei es relativ, mit einander
in Widerſpruch ſtehen, ſondern zwiſchen denen ein Widerſpruch
nur hervorgekünſtelt und bald als ein abſoluter, bald als
ein relativer hingeſtellt wird. Formell genommen kann das
Abſolute mit dem Abſoluten, das Abſolute mit dem Relativen,
das Relative mit dem Relativen in Widerſpruch gerathen.
Reeller Weiſe werden ſolche Verhältniſſe ſich in mannigfaltige
Wendungen einhüllen können.


Es iſt hier nicht der Ort, auf dieſe allgemeinen Be¬
griffe näher einzugehen, welche theils der Metaphyſik und
Logik überhaupt, theils der äſthetiſchen Metaphyſik insbe¬
ſondere angehören. Wir haben uns ihrer nur inſoweit er¬
innern müſſen, als nothwendig iſt, den falſchen Contraſt als
den häßlichen vom richtigen als dem ſchönen zu unterſcheiden.
Der falſche Contraſt entſteht zunächſt dadurch, daß ſtatt des
Gegenſatzes, der geſetzt werden ſollte, das blos Verſchiedene
auftritt; denn dies iſt die nur unbeſtimmte Differenz, die
einer Spannung noch nicht fähig iſt. Die bunte Mannig¬
faltigkeit des Verſchiedenen kann äſthetiſch vollkommen be¬
rechtigt ſein; wird ſie aber da geboten, wo der Contraſt
wirken müßte, ſo bleibt ſie unzureichend. Alle Verſchiedenheit,
[91] wie ſehr ſie auch gehäuft werde, vermag nicht, das Intereſſe
zu erſetzen, das uns der beſtimmte Gegenſatz einflößt. Wenn
in einem Roman eine Menge von Perſonen auftreten, wenn
eine Fülle von Begebenheiten ſich entwickelt, wenn aber nicht
eine Contraſtirung der Handelnden und ihrer Schickſale die
Menge der Situationen durchgreift, ſo wird uns die Mannig¬
faltigkeit bald ermüden, ja zuletzt anekeln. Oder wenn in
einem Gemälde vielerlei Farben prunken, wenn es aber an
der Entſchiedenheit eines Farbengegenſatzes fehlt, ſo wird
unſer Auge von dem bloßen Durcheinander bald abgeſtumpft
werden. Unbeſchadet des Reizes der Verſchiedenartigkeit kann
ſehr wohl auch die Entgegenſetzung aus ihr ſich hervorheben.


Die poſitive und negative Entgegenſetzung macht erſt
den Contraſt d. h. die Gleichheit muß mit ſich ſelbſt
ungleich
werden und kann bis zum Conflict und bis zur
Colliſion fortgehen. Das Unterſchiedene muß alſo irgendwie
zugleich identiſch ſein; es muß durch ſeine Einheit mit ſich in
Gegenſeitigkeit ſtehen. Jemehr es ſich als ein Wechſel¬
wirkendes
darſtellt, um ſo ſchöner iſt es. Soll nun der
beſtimmte Gegenſatz erſcheinen und es wird auf die eine Seite
ſtatt des identiſch Negativen nur etwas Anderes geſetzt, das
zwar auch einer Beziehung, aber keiner immanenten, fähig
iſt, ſo iſt ein ſolches ein blos Verſchiedenes. So iſt z.B.
in der Oper, Robert le diable, der Teufel von ſeinem
Sohne nur verſchieden, denn er ſollte als Teufel ihn haſſen,
aber dieſer „Fremde“ liebt, gegen die Natur des Teufels,
aus der Natur des Vaters heraus, den Sohn; d. h. mit der
Liebe zum Sohn iſt die Idee des Diaboliſchen aufgehoben.
Er kann nicht mit dem Guten contraſtiren, obwohl er es
immer ſoll; ein ſentimentaler Teufel iſt lächerlich. Es iſt ein
verfehlter Contraſt. An die Stelle der ſeinſollenden Ent¬
[92] gegenſetzung iſt die bloße Verſchiedenheit getreten. Dieſer
Contraſt iſt nicht blos matt, er iſt vergriffen.


Der Contraſt wird aber als häßlicher ferner dadurch
hervorgebracht, daß die Entgegenſetzung die Spannung über¬
bietet. Wir nennen dieſe Form der contraſtirenden Seiten
Effecthaſcherei. Die Kunſt vertrauet nicht der einfachen
Wahrheit, ſondern ſteigert die Extreme, Sinn und Gefühl
aufzuſtacheln. Sie will um jeden Preis die Wirkung er¬
zwingen und darf daher dem Genießenden keine Freiheit
laſſen. Er ſoll und muß überwältigt werden und für ſeine
Niederlage — denn ein Sieg der Kunſt wäre hier ein falſcher
Ausdruck — iſt der Contraſt ein Hauptmittel. Die Sorge
aber, daß er von einem überſättigten und abgeſtumpften Ge¬
ſchlecht überſehen oder überhört werden könnte, läßt nun da¬
rauf hinarbeiten, ihn, wie man heut zu Tage ſagt, packend
zu machen. Er wird grell, ſchreiend. Die naturwahre
Grenze wird ſchwindelnd überſchritten, um unſere Nerven
durch Ueberaufregung (surexcitation) unfehlbar zu ſpannen.
Eine ſolche Geſtaltung der Kunſt, wie ſie namentlich unſere
moderne Muſik entſtellt, iſt häßlich. Voltaire handelte in
dieſem Ungeſchmack, als er Shakeſpeare's Cäſar für die
Franzöſiſche Bühne umarbeitete. Es war ihm nicht genug,
daß Brutus als Republicaner mit Cäſar, dem nach Allein¬
herrſchaft ſtrebenden Conſul und Dictator contraſtirte; er
machte Brutus auch zu Cäſars Sohn; er ließ beide darum
wiſſen; er ſteigerte den Mord des politiſchen Gegners auch
zum Vatermord und, um ſein Werk zu krönen, ließ er die
Schlacht von Philippi weg, in welcher Cäſars Schatten
gegen Brutus ſein welthiſtoriſches Recht erlangt.


Der wahre Contraſt, ſagten wir, enthalte die Entgegen¬
ſetzung als die Ungleichheit des Gleichen. So iſt Roth und
[93] Grün identiſch in der Farbe; Weiß und Schwarz in der
Farbloſigkeit; Gut und Böſe in der Freiheit; Starres und
Flüſſiges in der Materie u. ſ. w. Der falſche Contraſt geht
dagegen aus der qualitativen Allgemeinheit heraus und
bringt das ſcheinbar Entgegengeſetzte, wie wenn dem Großen
nicht das Kleine oder ſelbſt Große, ſondern das Geringe oder
Schwache entgegengeſtellt wird. Denn dem Geringen ſteht
das Bedeutende, Vornehme, Gediegene, dem Schwachen das
Starke, Mächtige gegenüber. Weil ſolche Formen allerdings
auch wieder einen gewiſſen Zuſammenhang haben, weil ſie zu
Synonymen werden können, ſo erklärt ſich, warum hier ein
Fehlgreifen ſich auch bei dem beſſern Künſtler einſchleichen kann.
Unſere moderne Lyrik hat nach der Richtung der Sprache hin,
die ihr der facettirte Schliff der Brillantdiction von Ana¬
ſtaſius Grün
gegeben, viele ſolcher hybriden Contraſte her¬
vorgebracht. Man kann ihren Urſprung aber bei A. Grün
ſelber und ſogar in ſeinen beſten Gedichten entdecken. Selbſt
in dem ſchönen, mit Recht ſo beliebten Gedicht: der letzte
Dichter
, haben ſich ſolche Fälſchungen eingeſchlichen, z. B.
wenn es heißt:


„So lang der Wald noch rauſchet

Und einen Müden kühlt.“

Der Müdigkeit ſteht die Ruhe, dem Kühlen das Bren¬
nende entgegen. Müdigkeit und Kühlung aber paſſen nicht
zuſammen. Das Rauſchen, mit dem der Wald eingeführt
wird, contraſtirt mit dem Schweigen der baumloſen Ebene
oder mit ſeinem eigenen. Man ſieht, A. Grün hat hier
vieles zuſammenfaſſen wollen. Der Wald ſoll den in der
Hitze der freien Ebene Ermüdeten mit dem Rauſchen ſeiner
Zweige Kühlung zufächeln; allein dieſe Vorſtellung iſt un¬
vollkommen ausgedrückt.


[94]

Der grelle Contraſt dagegen ſteigert die Spannung
durch Mittel, welche die an ſich vorhandene richtige Entgegen¬
ſetzung nach Seiten herumwenden, die einem noch andern
Intereſſe den Zugang eröffnen und uns dadurch von der ſub¬
ſtantiellen Beziehung ablenken, ſtatt dieſelbe, wie es die Ab¬
ſicht iſt, zu verſtärken. Mole ruit sua, kann man von ſeinem
Effect ſagen. Wenn Brutus dem Cäſar den Tod ſchwört,
weil er die Republik als die nothwendige Form des Römiſchen
Staats erhalten will, ſo erſcheint uns hierin die ganze, große
politiſche Kriſis der Zeit. Brutus muß ſeine Neigung zu
Cäſar, ſeine perſönliche Sympathie opfern, ſeiner Pflicht
gegen das Vaterland treu zu bleiben; — wie der erſte Brutus
der Republik ihr ſeine Söhne opfern mußte, als ſie mit den
Tarquiniern ſich eingelaſſen hatten. Wenn Voltaire aber
den Brutus zu Cäſars Sohn macht, ſo wird er zu einem
tugendhaften Ungeheuer; eine ſolche Verletzung der Pietät iſt
an ſich ſo greuelhaft, daß ſie allein ſchon hinreicht, unſer
Blut erſtarren zu laſſen. Nun ſind zwei Elemente vorhanden,
die uns in Anſpruch nehmen, die Römiſche Staatstugend und
die Pietät. Bei Shakeſpeare fehlt nicht diejenige Pietät in
Brutus, die ihm den Entſchluß zu Cäſars Mord erſchweren
muß; allein ſie hindert in Brutus nicht nothwendig den Ver¬
ſchwörer und der Hauptaccent bleibt auf das Politiſche gelegt.


Der grelle Contraſt kann äſthetiſch unter gewiſſen Be¬
dingungen auch ſchön werden; er wird aber häßlich, wenn er
nicht von der Einheit des an ſich Gleichen getragen wird.
Ein ſolches Transcendiren der homogenen Baſis ſoll ihn
pikant machen; das Pikante iſt Scribe's und Sue's
alle wahre Kunſt corrumpirende Virtuoſität. Die große Oper
zu Paris wird nur noch von dem Streben beherrſcht, durch
Syntheſe heterogener Gegenſätze neu zu ſein Das
[95] Unmögliche, was darin liegt, beſchäftigt den Verſtand durch
ſeine Unwahrheit und überraſcht die Phantaſie — nicht mit
der Naivität des Mährchens, deſſen kindliche Unerfahrenheit
noch mit den Schranken des Daſeins ſpielt, ſondern mit dem
Raffinement des blaſirten Wahnwitzes. Wir haben zuvor
Bertram aus Scribe's und Delavigne's Robert
dem Teufel
angeführt, zu zeigen, daß derſelbe keinen wirk¬
lichen Contraſt zu ſeinem Sohn darſtellt; auch gegen Alice
contraſtirt er nicht, da dieſe ein „junges Mädchen aus der
Normandie“, kein Dämon, wie er, iſt; aber das Pikante
ſoll eben darin beſtehen, daß der Teufel einen Sohn hat,
den er zärtlich liebt und den er, weil er ihn liebt, zu ver¬
derben, den er, weil er ihn liebt, zum Genoſſen der Hölle
zu machen beſtrebt iſt. Dieſe Liebe läßt ihn nun z B. Act III.
No. 9. nach der bei uns üblichen Ueberſetzung von Theod.
Hell ſingen:


O mein Sohn, o Robert! Für dich,

Der mir der Güter höchſtes,

Trotzte ich ſchon dem Himmel,

Trotzte der Hölle ich. —

Für den Ruhm, der nun entwichen,

Für den Glanz, der nun verblichen,

Warſt du mein Troſt allein,

Durch dich fand ich Ruh!

Dieſer ganz unteufliſche Teufel ſoll eben durch die
väterliche Sentimentalität intereſſant werden. Ein liebender
Teufel, der Troſt und Ruhe in ſeinem Sohne findet, war
freilich noch nicht dageweſen! (20.)


Es iſt begreiflich, daß die Kritik durch ſolche Pro¬
ductionen öfter in Verlegenheit geſetzt werden kann, weil die
Falſchheit des Widerſpruchs ſich zu verſtecken vermag. Wir
[96] haben in Deutſchland an dem Streit über Hebbel's Maria
Magdalena
ein ſehr denkwürdiges Beiſpiel davon gehabt,
wie ſehr falſche Contraſte für das Maximum der Schönheit
gehalten werden können. Traurig genug iſt dieſe dramatiſirte
Geſchichte gewiß. Vorfallen kann ſie leider auch alle Tage
und unſere Zeitungen ſind ja überreich an dieſen putres¬
cirenden Stoffen. Aber dieſe Geſchichte iſt nicht tragiſch,
wofür Hebbel ſie, nach ſeinem Vorwort, hält und wofür
ſeine fanatiſchen Anhänger ſie auch halten; das Traurige
des Vorganges iſt zum tragiſchen Contraſt gemacht und
mit dem Anſpruch an eine ſolche Dignität gefälſcht, woraus
ſich überhaupt die blendende Eigenthümlichkeit der Hebbelſchen
Dramatik ergibt. Ein ſchroffer Mann, der alte Tiſchler
Anton, verweigert einem Gerichtsdiener, mit ihm anzuſtoßen,
ſagt ihm Grobheiten und der Gerichtsdiener denuncirt ſeinen
Sohn als Dieb. Der Sohn wird in's Gefängniß geworfen;
der Vater glaubt an ſeine Schuld; die Mutter ſtirbt aus
Entſetzen. Die Tochter Clara hat einen jungen Mann ge¬
liebt, der ſie auf der Univerſität vergeſſen zu haben ſcheint.
Sie läßt ſich mit Leonhard, einem gemeinen, berechnenden
Verſtandesmenſchen ein. Mit Bewußtſein, um ſich zur
Treue gegen ihn zu zwingen, opfert ſie ihm ihre Jung¬
fräulichkeit auf und wird ſchwanger. Leonhard aber, weil
er durch eine andere Heirath ſein äußeres Glück fördern
kann, verläßt ſie. Inzwiſchen entdeckt ſich die Unſchuld des
Sohnes — der nach Amerika als Matroſe auswandert.
Der frühere Geliebte Clara's kehrt zurück, liebt ſie noch,
möchte ſie heirathen — aber leider iſt ſie ſchwanger.


„Darüber kann kein Mann hinweg!“


So ruft er ſelber aus. Umſonſt flehet Clara Leonhard
an, ſie zu heirathen; er weiſt ſie, da ſie nicht im Rauſch
[97] der Leidenſchaft ſich ihm ergeben hat und im Herzen einen An¬
dern liebt, höhniſch ab. Ihr früherer Geliebter, ein promo¬
virter Doctor, duellirt ſich darüber mit dem Schreiber und
ſie ſchießen ſich gegenſeitig todt. Der alte Anton, der mit
Catoniſchen Stachelreden ſehr freigebig iſt, muß doch der
Sittenſtrenge der Tochter nicht getrauet haben. Er hat die
Drohung ausgeſtoßen, daß, falls ſie ihm einmal Schande
machte, er ſich den Hals abſchneiden würde. Die Tochter,
ihres Elends gewiß, ſtürzt ſich daher aus Liebe zum Vater
in einen Brunnen. Dieſer ſchneidet ſich mit dem Raſirmeſſer
nicht, wie die Erwartung zu einem Cato des bürgerlichen
Trauerſpiels gemacht war, den Hals ab, fällt auch nicht in
Wahnſinn — dazu iſt er viel zu verſtändig, — ſondern
ſchließt das Stück mit der ſarkaſtiſch inhaltsloſen Phraſe:


„Ich verſtehe die Welt nicht mehr.“


Dies Drama iſt ein wahrer Rattenkönig von falſchen
Contraſten. Sohn und Mutter, Sohn und Vater, Tochter
und Vater, Liebhaber und Geliebte, Alles ſteht in falſchen
Beziehungen. Da iſt auch nicht Ein Verhältniß, Haustyrannei,
Diebſtahl, Fall der Unſchuld, Untreue, Ehrloſigkeit, Duell,
Selbſtmord mit obligatem Kindermord, das nicht eine häßliche
Wendung darböte. Der Mittelpunct des Ganzen ſollte Clara
ſein. Allein wie können wir ſie für tragiſch gelten laſſen,
da ſie einem ſolchen Subject, wie dieſer herzloſe Leonhard
iſt, ſich in die Arme wirft! Wäre derſelbe ein edler Menſch,
ſo würde ein tragiſcher Contraſt zwiſchen ihm und dem Doctor
möglich ſein. So aber fehlt in ihrer Beziehung auf Clara
die Einheit. Oder Clara könnte mit ihm contraſtiren. Aber
wie ſoll ſie es, da ſie die wahre Liebe ihres Herzens ihm
verrathen, ja in einer frivolen Laune ihm ihre jungfräuliche
Reinheit geopfert hat. Mit welcher Sophiſtik ſie dies Ver¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 7[98] hältniß verblümen möge, es iſt und bleibt gemein. Unglück¬
lich genug iſt ſie, gewiß! Aber wenn wir fünf Acte hindurch
ein Mädchen verſtohlen weinen oder mit Pathos jammern
hören, das uns ſelbſt erzählt, wie es nicht aus Liebe, nicht
aus Sinnenrauſch, ſondern aus einer eigentlich infernalen
Berechnung heraus ſich einem von ihm im tiefſten Innern
ungeliebten Menſchen hingegeben, ſo iſt uns unmöglich, ein
anderes Gefühl, als das des Bedauerns zu haben. Hebbel
hat die unglückſelige Geſchichte, die alle Tage in unſerer
Nachbarſchaft ſich wiederereignen kann, mit größter genre¬
bildlicher Treue in lebenswarmer, eigenthümlich bildhafter
Sprache geſchildert und hat damit nur bewirkt, daß wir aus
ihrer Miſère heraus uns innigſt nach den erhabenen, durch
Furcht und Mitleid reinigenden Schauern der Tra¬
gödie ſehnen.


Daß die Häßlichkeit des falſchen Contraſtes ſehr leicht
in die Komik übergehen könne, iſt eigentlich in dem bisher
Geſagten ſchon zwiſchen den Zeilen zu leſen. Die Hetero¬
genität darf nur noch etwas weiter hinausgerückt, der geſuchte
Effect nur noch etwas überboten werden und die Lächer¬
lichkeit iſt fertig; — wie denn gewiß z. B. über die Qualen
des Teufels Bertram in Robert le diable glücklicher Weiſe
Viele ſchon, trotz der Muſik Meyerbeers, herzlich gelacht
haben werden.


Der falſche Contraſt iſt ſchon der innere Bruch des
ſymmetriſchen Verhältniſſes, der Uebergang in die mit dem
Widerſpruch erfüllte Disharmonie.


[99]

C.
Die Disharmonie.

Die Symmetrie iſt unter den formalen Beſtimmungen
des Schönen noch nicht die letzte, denn in der Gleichheit
ihrer Wiederholung liegt noch eine Verſtändigkeit, die an ſich
zwar wohlthuend, allein nur als ſolche auch äußerlich und,
wie die Unterſchiede der bloßen Regularität, langweilig iſt.
Die Aegyptiſche Kunſt zeigt uns ein großartiges Bild der
äſthetiſchen Monotonie, die aus dem Standpunct der Regel¬
mäßigkeit und Symmetrie nicht zu freiern Formen ſich erhebt.
Weil z. B. die hieroglyphiſchen Figuren eines Index bedürfen,
ob ſie von rechts nach links oder umgekehrt geleſen werden
ſollen, ſo müſſen ſie in der einen oder andern Wendung bei
einer Inſchrift alle übereinſtimmen. Daher dieſe weiten
Mauerflächen, auf denen alle Figuren, oft tauſende, ſämmt¬
lich im Profil nur nach einer und derſelben Seite hingerichtet
erſcheinen; ein außerordentlich ermüdender Anblick, mit welchem
nur die an den Thoreingängen ſitzenden Koloſſe en face
contraſtiren. Natur und Kunſt ſtreben daher oft mit einer
gewiſſen Gewaltſamkeit darnach, die Starrheit der Symmetrie
zu überwinden. Um die Harmonie der großen Verhältniſſe
zu erreichen und zu erhalten, opfert die geniale Kühnheit
unbedenklich die Regularität und Symmetrie der untergeord¬
neteren Beziehungen, wie wir dies in umfaſſenden architek¬
toniſchen Conceptionen, z. B. dem ſo bewundernswerthen
Marienburger Schloß (21), in muſikaliſchen z. B. in
einigen Beethovenſchen Sonaten, in poetiſchen, z. B.
in Shakeſpeare's hiſtoriſchen Dramen, ſehen können.
Das Schöne kann den Unterſchied bis zur Entzweiung des
Widerſpruchs entwickeln, ſofern es den Widerſpruch ſich ſelbſt
7 *[100] wieder in die Einheit auflöſen läßt, denn durch dieſe Auf¬
löſung der Entzweiung
erzeugt ſich erſt die Harmonie.
Die einfache Einheit iſt zwar an ſich auch ſchön, weil ſie die
erſte Bedingung aller äſthetiſchen Geſtaltung erfüllt, ein
Ganzes darzuſtellen. Wir haben aber geſehen, wie die bloße
Einheit noch dürftig iſt und theils durch innere Unterſchied¬
loſigkeit, theils durch Verworrenheit der Unterſchiede, durch
nebuliſtiſche Verſchwommenheit häßlich wird. Der Unterſchied
kann als Verſchiedenheit zur freien und ſchönen Mannigfal¬
tigkeit werden, allein durch Mangel an Gruppirung kann die
bloße Verſchiedenheit als der oberflächliche, äußerliche Unter¬
ſchied, in das Wilde und Wüſte übergehen, gegen deſſen Form¬
loſigkeit das Schöne durch Unterordnung des Verſchiedenen
unter eine gemeinſame Regel zu reagiren ſucht. So entſteht,
wie wir ſahen, die Regelmäßigkeit als die gleiche Wiederkehr
derſelben Unterſchiede, allein eben dieſe Regularität kann
ſelbſt wieder häßlich werden, ſobald ſie die ausſchließliche
Form eines äſthetiſchen Ganzen ausmacht, weshalb das
Schöne den Unterſchied zum beſtimmten Unterſchied erheben
muß. Das Poſitive und Negative wird durch Inverſion der
an ſich gleichen Momente zur eigentlichen Symmetrie, deren
Wechſelbeziehung innerhalb ihrer ſelbſt ſchön iſt. Mangelt
ſie überhaupt, wo ſie doch dem Begriff der Geſtalt nach
daſein ſollte; oder fehlt die eine Hälfte der ſymmetriſch an¬
gelegten Geſtalt; oder iſt ſie zwar da, jedoch fehlerhaft und
die vorausgeſetzte Gleichheit der einheitlich gegen einander
gekehrten Unterſchiede durch innern Widerſpruch ſtörend, ſo
entſteht wiederum das Häßliche. Den Widerſpruch zu ſetzen,
widerſpricht dem Schönen nicht. Der wahre Contraſt des
Relativen mit dem Relativen, des Relativen mit dem Abſoluten,
des Abſoluten mit dem Abſoluten, iſt ſchön. In allem
[101] dynamiſch Aeſthetiſchen macht die Colliſion den Hochpunct
der Entwicklung aus; der falſche Contraſt aber wird häßlich,
weil er eine Entgegenſetzung deſſen ſetzt, was nicht durch die
Einheit ſeines Weſens ſich in ſich ſelbſt zu widerſprechen ver¬
mag. Der ächte Widerſpruch muß die Entzweiung der Ein¬
heit mit ſich ſelber enthalten, denn eine ſolche trägt die Mög¬
lichkeit ihrer Auflöſung in ſich; die Diſſonanz läßt durch ihre
Colliſion die Einheit hindurch vernehmen als das ἑν διαφεϱουν
ἑαυτῳ. Daß die aus der Einheit, Verſchiedenheit, Regula¬
rität, Symmetrie, Contraſtirung entſtehende Häßlichkeit in
das Komiſche umſchlagen könne, iſt auf allen Puncten nach¬
gewieſen.


Als äſthetiſche erreicht die Einheit ihre Vollendung erſt
dadurch, daß die Unterſchiede ſich als lebendige Momente
des Ganzen erzeugen und unter einander in freier Wech¬
ſelwirkung
ſtehen. Nicht nur die Einheit muß als die
zu ihren Unterſchieden ſich ſelbſt beſtimmende erſcheinen,
ſondern auch die Unterſchiede müſſen den nämlichen Charakter
der Selbſtbeſtimmung beſitzen. Dies iſt der Begriff der
Einheit als harmoniſcher. Die Harmonie iſt nicht blos
abſtracte, ſelbſtſtändige Einheit; ſie iſt auch nicht eine Einheit,
die nur in äußerliche, gegen einander gleichgültige Unter¬
ſchiede zerfällt; ſie iſt vielmehr die ihre eigenen Unterſchiede
frei erzeugende und in ſich wieder zurücknehmende Totalität,
die wir deshalb gern, nach dem Vorbilde der Natur, die
organiſche nennen. Sie hat die Kraft, den Widerſpruch,
in den ihre Unterſchiede gerathen können, durch ſich ſelbſt
zu überwinden. Den Alten ſtand die Harmonie ſo hoch,
daß ſie ihr die Individualität der Unterſchiede durchaus unter¬
ordneten, während die Modernen eine Neigung haben, der
individuellen Charakteriſtik die Harmonie aufzuopfern. Man
[102] nehme z. B. die Pompejaniſche Wandmalerei, ſo iſt
ihr die Harmonie der Farben ſo weſentlich, daß in einem
Zimmer der Grundton Alles bis in die kleinſten Details
beherrſcht. Hettner, in ſeiner Vorſchule der bildenden
Kunſt bei den Alten (22), hat ſehr gut gezeigt, daß nur
aus dieſem hohen harmoniſchen Sinn die Anomalieen gegen
die Naturwahrheit ſich erklären laſſen, die wir auf den
Wandgemälden finden, wie wenn Thiere oder Menſchen
in einem ihnen unnatürlichen Colorit dargeſtellt werden.
Bei näherer Unterſuchung finden wir ſolche Abweichungen
von der Natur durch die Harmonie bedingt, in welcher die
Grundfarbe der Wand und des Centralgemäldes auf ihr
mit den Nebenbildern und den Ornamenten zuſammenſtimmen.
Die Alten machten die Wand zu einer lebendigen optiſchen
Einheit, aus welcher heraus alles Beſondere in ihr ſein
Colorit entnehmen mußte.


Wie in allen ähnlichen Fällen wird der Ausdruck
Harmonie auch ſchon für diejenigen Stufen der Einheit ge¬
braucht, die in ihr nur Momente ſind. Die Reinheit einer
einfachen Beſtimmtheit, einer Farbe, eines Tons, einer Fläche,
nennen wir auch wohl ſchon harmoniſch. Nicht weniger die
Eurythmie einer glücklichen ſymmetriſchen Anordnung. Streng
genommen können wir aber harmoniſch nur eine ſolche Ein¬
heit nennen, deren Unterſchiede einen genetiſchen Charakter
haben. Es iſt die Proportionalität der Verhältniſſe nicht
nur, es iſt auch die Thätigkeit in der Beziehung, die zur
Harmonie erfordert wird. Je mannigfaltiger die Unterſchiede
des Ganzen ſind, je ſelbſtſtändiger jeder von ihnen für ſich
erſcheint, und je inniger ſie doch in einandergreifen, eine
durchgängige homologe Einheit hervorzubringen, um deſto
harmoniſcher iſt der Eindruck. Das harmoniſche Werk wieder¬
[103] holt das Weſen des Ganzen in jedem ſeiner Unterſchiede und
verleihet dieſen dennoch eine eigene Seele. Es ſcheuet ſich
nicht, in die Vielheit der Unterſchiede auseinanderzugehen,
denn es verſteht dieſelben doch unter die Syntheſe des Ganzen
wieder als Momente zuſammenzufaſſen, die in ihrer Eigen¬
lebigkeit einander eben ſo, als des Ganzen bedürfen. Die
Disharmonie entſpringt demnach aus der Harmonie als ihre
Selbſtverkehrung denn ohne das Poſtulat der Harmonie an
eine Geſtalt machen zu dürfen, wird man auch nicht von
Disharmonie reden können. Das Leere, Todte, Wider¬
ſpruchloſe, Nuridentiſche gibt zu ihr noch keinen Stoff; erſt
bei der Wechſelbeziehung von Einheit und Vielheit, von
Weſen und Form, von Allgemeinheit und Beſonderheit
tritt ſie ein.


Wir werden die Harmonie vermiſſen, wenn wir da,
wo wir eine lebendige Einheit erwarteten, nur eine abſtracte
antreffen; aber in dieſem Fall iſt noch keine poſitive Dis¬
harmonie vorhanden. Der Mangel einer freien Mannig¬
faltigkeit iſt nicht ſchön, allein er iſt auch keine Entzweiung
der Einheit. — Geht die Einheit zu Unterſchieden fort,
bleiben dieſelben jedoch äußerlich gegen einander, verſchmelzen
ſie nicht unter einander, ſo vermiſſen wir die Beſeelung der
Harmonie. In dieſem Fall iſt auch noch keine poſitive Dis¬
harmonie, ſchon aber eine Unharmonie vorhanden, weil
die Unterſchiede als ungegliederte, als nebeneinanderſtehende,
die Einheit in die Vielheit zerfallen laſſen. Die Unterſchiede
werden ſelber zu Einheiten, die nicht miteinander in Wechſel¬
wirkung ſtehen. Die Einheit erſcheint deshalb ſtatt har¬
moniſch in der Trockenheit eines bloßen Aggregatzuſtandes.
Nirgends empfinden wir dieſe Mißform übler, als im Theater
beim Mangel des Zuſammenſpiels. Jede Perſon treibt dann
[104] auf der Bühne ihr Weſen für ſich, als gingen die übrigen
ſie nichts an. Das Spiel der Einzelnen greift nicht inein¬
ander; die Handlung ſtockt beſtändig und der Eindruck des
fehlenden Enſemble muß, zumal bei ſchwachbeſetztem Hauſe,
ein öder und froſtiger werden; ja zuweilen, wenn die Schau¬
ſpieler zu ſehr vom Souffleur abhängen und nur lauter her¬
ſagen, was man von dem heiſernen Flüſtern ſeiner Orkus¬
ſtimme ſchon vorvernommen hat, iſt der Eindruck nicht ſehr
weit von dem entfernt, den die Kranken in einer Irren¬
anſtalt machen, von denen auch ein jeder rückſichtslos ſeine
Rolle fortſpielt.


Vernichtet ſich die Einheit der Unterſchiede dadurch,
daß ſie in den Widerſpruch übergehen, ohne in die Einheit
zurückzugehen, ſo entſteht diejenige Entzweiung, die wir vor¬
zugsweiſe und mit Recht als Disharmonie bezeichnen. Ein
ſolcher Widerſpruch iſt häßlich, weil er die fundamentale
Bedingung aller äſthetiſchen Geſtaltung, die Einheit, von
Innen heraus zerſtört. Die Disharmonie iſt nun zwar
an ſich ſelbſt häßlich, aber es muß ſogleich unterſchieden
werden zwiſchen der Disharmonie, die, als eine noth¬
wendige, doch ſchön, und zwiſchen derjenigen, die, als
eine zufällige, häßlich iſt. Die nothwendige Dishar¬
monie iſt der Conflict, in welchen die in einer Einheit
liegenden ſo zu ſagen eſoteriſchen Unterſchiede durch ihre
gerechtfertigte Colliſion gerathen können; die zufällige iſt
der gleichſam exoteriſche Widerſpruch, der einer Einheit
octroyirt wird. Der nothwendige macht uns in dem un¬
geheuren Riß, den er aufklaffen läßt, die ganze Tiefe
der Einheit offenbar. Die Kraft der Harmonie erſcheint
um ſo gewaltiger, je größer die Disharmonie iſt, über
welche ſie triumphirt, aber nicht nur muß die Ent¬
[105] zweiung das mit der Einheit homogene Element theilen,
ſondern ſie muß die negative Beziehung der Einheit auf ſich
ſelber ſein; denn nur unter dieſer Vorausſetzung iſt die
Wiederherſtellung der Einheit möglich. Schön alſo iſt die
Entzweiung nicht durch das Negative als ſolches, ſondern
durch die Einheit, die in der Entzweiung als die innerlich
wirkſame, zuſammenhaltende, rettende, erneuende Macht
ihre Energie beweiſt.


Schön iſt, ſagt Kant mit Recht, was ohne Intereſſe
allgemein gefällt; häßlich alſo, was ohne Intereſſe allgemein
mißfällt. Das Disharmoniſche kann nun ſehr wohl unſer
Intereſſe erregen, ohne ſchön zu ſein; wir nennen es dann
intereſſant. Was nicht in ſich einen Widerſpruch birgt,
werden wir nicht intereſſant nennen. Das Einfache, Leichte,
Durchſichtige, iſt nicht intereſſant; das Große, Erhabene,
Heilige ſteht wieder zu hoch für dieſen Ausdruck; es iſt mehr,
als nur intereſſant. Aber das Verwickelte, das Widerſpruch¬
volle, das Amphiboliſche, und daher ſelbſt das Unnatürliche,
das Verbrecheriſche, das Seltſame, ja Wahnſinnige, iſt
intereſſant. Die gährende Unruhe im Hexenkeſſel des Wider¬
ſpruchs hat eine magiſche Anziehungskraft. Es gibt Schrift¬
ſteller, welche das Intereſſante mit dem Poetiſchen
oft verwechſeln und daſſelbe durch den Reichthum ihres
Geiſtes, durch die Kunſt ihrer Darſtellung, ſo zu idealiſiren
verſtehen, daß es dem Idealen ſich nähert. Solche Autoren
faſſen vor allen Dingen immer den Widerſpruch treffend auf,
wie Voltaire und Gutzkow. In der Geneſis dagegen
und in der Auflöſung des Widerſpruchs ſind ſie nicht eben
ſo glücklich, woher ſich denn erklärt, daß ſie mehr den Ver¬
ſtand und die Phantaſie beſchäftigen, als das Gefühl hin¬
reißen, das vom Strudel der Disharmonie zwar auch
[106] erſchüttert, aber doch zugleich vom ſiegreichen Strom der
Harmonie getragen ſein will. Die wahre Disharmonie iſt
ein erlöſender Durchgangspunct der Einheit; die falſche
damit häßliche Disharmonie iſt eine Pſeudoentzweiung, ein
künſtlich eingeimpfter Widerſpruch. Eine ſolche ſtellt uns
alſo auch nicht die Erſcheinung eines wahrhaften Weſens,
vielmehr eines wahrhaften Unweſens dar und wird uns
daher peinlich. In Hebbels zuvor betrachteter Maria
Magdalena
fühlen wir, ſo oft Clara die Bretter beſchreitet,
den permanenten Widerſpruch deſſen, was ſie factiſch iſt, und
deſſen, was ſie ſein will und auch wohl ſein ſoll. Was ſie auch
Edles und Schönes ſagen mag, es iſt all' ihren Worten die
Spitze abgebrochen, denn immer müſſen wir entgegnen: aber du
biſt ja ſchwanger und — haſt es ſein wollen! Dieſe Norddeutſche
Clara iſt im Grunde nicht unterſchieden von der Fleur de Marie
in Sue'sMystères de Paris. Dieſe Goualeuſe, eine geborene
Prinzeſſin, mit ihrer friſchen Silberſtimme, mit ihrer naiven
Mädchenhaftigkeit, ihrem Naturſinn, ihrem engelhaften Ge¬
müth, ſollte ein Ideal ſein. Allein gerade je mehr ihre
Lieblichkeit ſich entfaltet, um ſo entſchiedener empfinden wir
die Disharmonie, daß dies liebe Kind uns zuerſt in einem
tapis franc der Pariſer Cité begegnet, daß es, obwohl die
Freundin der tapfern, reinen Rigolette, aus Mangel an
Arbeit, nachdem ſie ihr Geld vertändelt, ſich einer lieder¬
lichen Trägheit ergeben hat. Sie hat ſich von der ogresse
mit Brantwein berauſchen und zur Proſtitution eingarnen
laſſen. Eine geborne Prinzeſſin in einem repaire der Cité!
Himmelſchreiend intereſſant, aber nichts weniger als poetiſch.
Wir kommen über den Makel, der ihrer ſittlichen Haltung
von hier anhaftet, nicht wieder hinaus; ſie ſelbſt auch nicht
und Sue hat wenigſtens ſo viel Tact gehabt, ſie unver¬
[107] heirathet am Hof ihres Vaters, des Deutſchen allegoriſchen
Fürſten Rudolphe, an der Schwindſucht ſterben zu laſſen (23).


Eine wahrhafte Disharmonie wird häßlich, wenn
ihre Auflöſung falſch iſt, denn in dieſem Fall wird
offenbar ein Widerſpruch im Widerſpruch erzeugt. In
der folgerechten Entwicklung des Widerſpruchs würde die
Geſetzmäßigkeit der in ihm wirkſamen Einheit allmälig haben
hervortreten können und dieſe Anſchauung der innern Noth¬
wendigkeit uns Befriedigung gewährt haben, weil wir den
Untergang des Diſharmoniſchen durch die Harmonie begreifen,
in welche ſie ſich auflöſt, ſtatt daß das Ablenken auf einen
dem Eingang innerlich nicht entſprechenden Ausgang offenbar
häßlich iſt. Dies iſt z. B. dem ſonſt ſo klaren Prutz in
ſeinem Karl von Bourbon begegnet. Statt der Poeſie
der Geſchichte gehorſam zu ſein, ſtatt ihn vor den Mauern
Roms im Kampf gegen den Papſt durch Benvenuto Cellinis
Kugel fallen zu laſſen, läßt er ihn ſchon mehre Jahre zuvor
auf dem Schlachtfelde von Pavia an Gift ſterben, das er
aus der Ringkapſel einer aus einem Kloſter entflohenen, ins
Schlachtgetümmel à propos einvagabondirenden Halbgeliebten
kredenzt erhält. Verwundet, erſchöpft, im Wahn, mit dem
Trunk ſich zu erkräftigen, ſtirbt der große Connetable langſam
mit langen kleinathmigen Reden. Welch' ein ſentimental
triſter Contraſt mit ſeinem erſten kühnen Auftreten, in
welchem er Frankreichs Wohl und Ruhm dem Könige von
Frankreich gegenüber geltend macht. Welch' eine Disharmonie!
Welch' eine falſche Harmonie, daß die elende Vergifterin,
ein unſeliges romantiſches Geſchöpf, ſich natürlich mitver¬
giftet. Eine raſche Kugel im heißen Kampf durchs kühne
Herz, wie die Geſchichte es gethan hat, das war hier allein
harmoniſch und poetiſch. — Die Romantik hat ſich oft er¬
[108] laubt, ſtatt einer objectiven, ſich von ſelbſt geſtaltenden
Auflöſung eines Widerſpruchs eine nur ſubjective und phan¬
taſtiſche zu geben, die uns in unſerer Erwartung täuſcht. —
Jedoch iſt ſich wohl daran zu erinnern, daß man in der
Betrachtung des Schönen, ſei es das der Natur, ſei es
das der Kunſt, nicht liberal genug verfahren kann. Je ge¬
wiſſer die großen äſthetiſchen Grundſätze für uns ſein müſſen,
je unverbrüchlicher wir an ihrer ewigen Wahrheit feſtzuhalten
haben, um ſo nachſichtiger können wir gegen die concrete
Geſtaltung des Schönen ſein, wenn ſie oft das Verſchiedenſte
und Widerſprechendſte in ſich zuſammenfaßt. Wir haben
zuvor, und mit Fug, zwiſchen dem Intereſſanten und dem
Poetiſchen unterſchieden; um jedoch mißverſtändliche Auf¬
faſſung zu verhüten, bemerken wir, daß natürlich das wahr¬
haft Poetiſche zugleich auch höchſt intereſſant ſein kann.
Da gibt es Felſengegenden, ſo fürchterlich zerriſſen, ſo
wunderlich zerklüftet, daß ſie nicht ſchön und nicht häßlich
im Sinn des reinen Ideals und ſeiner Negation wohl aber
intereſſant zu nennen ſind und als intereſſant eine wilde,
ſchauerlich ſeltſame Poeſie athmen können. Da gibt es
Bauwerke, in denen der Styl verſchiedener Jahrhunderte
ſich ſo wunderbar verſchmolzen hat, daß ſie bei aller
Heterogeneität der beſondern Beſtandtheile doch ein höchſt
intereſſantes, disharmoniſch-harmoniſches Ganzes ausmachen.
Da gibt es Gedichte, die keiner entſchiedenen Gattung an¬
gehören und deshalb äſthetiſch nicht eine vollkommen reine
Wirkung zu haben vermögen, aber eine Fülle gediegener
Poeſie beſitzen. Harold's Pilgerfahrt von Byron iſt
kein Epos, kein Melos, kein didaktiſch-descriptives Gedicht,
keine Elegie — es iſt dies Alles zuſammen in einer intereſſanten
Vereinheit.


[109]

Weil die Disharmonie auf der Entzweiung des Weſens
mit ſich ſelbſt beruhet [und] weil ſie alle Momente des formalen
Häßlichen in ihrer falſchen Begründung und falſchen Auf¬
löſung verſammelt, ſo wird ſie natürlich zur Erzeugung des
Komiſchen ein viel ſtärkeres Mittel als alle frühern Ueber¬
gänge ins Häßliche. Jede bloße Beſeitigung, jede vergriffene
Auflöſung, jede phantaſtiſche Beendigung des Widerſpruchs
ſtatt der Nothwendigkeit ſeiner immanenten Selbſtentfaltung
iſt ſchon auf dem Wege, komiſch zu werden. In Werken
ſolcher Art, in denen alſo das Komiſche als Begriff nicht
in ſie ſelbſt, ſondern in ein anderes Bewußtſein fällt, das
ſich durch ihre Täuſchung getäuſcht findet, iſt der Wider¬
ſpruch zu ernſter Natur, als daß ſeine verkehrte Verwicklung
und Mißauflöſung unſere völlige Heiterkeit erregen könnte,
denn die Komik muß, alle trübe Verſtimmung in den Son¬
nenſtrahl des Gelächters verſchwinden zu laſſen, von aller
Bedenklichkeit frei ſein, weshalb ſolche Werke, ganz gegen
ihre Tendenz, häßlich werden. Hebbel, der Dichter des
Peſſimismus und der Bizarrerie, wie Henneberger ihn
treffend genannt hat (24), möge uns geſtatten, an ſeiner
Julia nachzuweiſen, wie das Tragiſche, wenn es die Knoten
ſeiner Widerſprüche weder recht ſchürzt, noch recht löſt, ſchon
in das Komiſche umzuſchlagen anfängt, jedoch weil es noch
zu ernſt und gewichtig iſt, vorerſt häßlich bleibt. Ein
Räuberhauptmann Antonio will ſich oder vielmehr ſeinen
auch als Räuberhauptmann hingerichteten Vater Grimaldi
an einem reichen Mann Tobaldi rächen, weil er denſelben
für die Urſache hält, daß ſein Vater einſt ins Exil habe
wandern müſſen. Wie fängt er dies an? Er beſchließt,
Tobaldis Tochter zu entehren. Er nähert ſich ihr, ohne
daß ſie natürlich von ſeinem Metier als Räuber eine Ahnung
[110] hat; ſie verliebt ſich in den hübſchen jungen Mann; er
ſchändet ſie, dem Vater zum Hohn. Mehr als Italieniſch
teufliſch! Im Act der Schändung aber ſchlägt ſein Haß
zur Liebe um und in Folge dieſer Liebe ändert ſich ſeine
ganze Geſinnung. Er verſchwindet, ſich von ſeiner Räuber¬
bande loszumachen, ein ordentliches Mitglied der bürgerlichen
Geſellſchaft zu werden und mit ſeiner Julia nach Amerika
auszuwandern — durchaus unitalieniſch. Allein er iſt ſo
unverſtändig, dem Mädchen von all dieſer Zukunft kein
Wort zu ſagen, obwohl er noch das Malheur hat, längere
Zeit in einem Verſteck krank zu liegen. Die Zeit verſtreicht.
Julia fühlt ſich ſchwanger, ſoll aber, als die keuſcheſte
Jungfrau ihrer Stadt, am Feſt der heiligen Roſalia die
Königin der Jungfrauen darſtellen. Dieſen Widerſpruch er¬
trägt ſie nicht; ſie fliehet, irrt im Lande umher, hofft
irgendwo zu ſterben. Statt ins Waſſer zu ſpringen, wie
doch noch die Hebbelſche Clara in der Maria Magdalena thut;
ſtatt ſich einen Dolch ins Herz zu ſtoßen, wie Lucretia;
ſtatt ſich vom Vater tödten zu laſſen, wie Virginia; ſtatt
wenigſtens einen Schlaftrunk zu nehmen, wie Shakeſpeare's
Julie; lockt ſie einen Banditen in einen Wald — mutter¬
ſeelenallein — hält ihm eine Börſe vor und redet ſeltſamlich,
bis der Bandit erahnt, daß es ihr angenehm ſein dürfte,
nicht länger zu leben. Aber in dieſem Augenblick hebt die
unerhörte Kataſtrophe an. In dem Walddickicht kauert
nämlich ein reicher, Deutſcher, junger, äußerſt blaſirter Graf
von ausgezeichneter Liebe zum Menſchengeſchlecht im Allge¬
meinen; ſo gründlich hat er ſich ruinirt, daß er mit mathe¬
matiſcher Gewißheit nicht lange mehr leben kann. Da er
jedoch eigentlich ein ſehr guter Menſch iſt, wie ihm auch
ſein alter Diener Chriſtoph bezeugt, ſo möchte er gern den
[111] Reſt ſeines Lebens noch zu einer nützlichen, wo möglich
noblen That verwerthen. Leider iſt das Wie ſeinem geiſt¬
reichen Kopfe dunkel, aber die Vorſehung des Dramas ſorgt
auch für die Narren. Mit Ueberraſchung hat er nämlich
der originellen Mordſcene beigewohnt, jagt im rechten Augen¬
blick mit einem kräftig ausgeſtoßenen „Bube“ den ehrlichen
Banditen Pietro in die Flucht, erfährt von Julia ſofort den
Thatbeſtand und iſt entzückt, bei ihr eine ſchöne Gelegenheit
gefunden zu haben, ſein Nichts von Leben doch noch gut
verwerthen zu können. Er entſchließt ſich nämlich, die
ſchwangere Julia zu heirathen. Worüber Clara's früherer
Geliebter in Hebbels Magdalena noch nicht hinfort kann,
weil kein „Mann“ darüber hinfort kann, das exiſtirt für
den ausgemergelten Grafen nicht mehr. Sein Standpunct
iſt höher, freier, denn er dürſtet vor dem nahen Tode nach
einer tugendhaften Handlung und einem gefallenen Mädchen
recht pfiffig wieder zu ihrer Ehre zu helfen — ſollte das
nicht außerordentlich tugendhaft ſein? Unterdeſſen hat der
alte Vater ſeine Tochter vermißt und täuſcht die Stadt mit
einem leeren Sarge, als ob ſie geſtorben wäre, bei welcher
Poſſe der Hausarzt Alberto ihn unterſtützt, der als Haus¬
freund erſt Juliens Mutter, dann dieſe ſelber, immer in
beſcheidener Ferne, geliebt hat. Graf Bertram kommt mit
Julia an und der Vater gibt, wohl oder übel, dem vor¬
nehmen Schwiegerſohn ſeinen Segen. Aber der ſo ſchöne
und durch die Liebe zum Philiſterium bekehrte Räuber Antonio
kommt auch an und raſ't natürlich zuerſt, bis ihm Ber¬
trams wunderbare, nicht ſowohl keuſche, als richtiger impo¬
tente Willensmeinungen klar gemacht werden. Auf einem
Schloß des Grafen in Tyrol finden wir im letzten Act
Julien mit ihrem Mann, ihrem Geliebten und dem Plato¬
[112] niker Alberto friedlich zuſammen. Bertram fühlt zwar ganz
die unendliche Schönheit und Liebenswürdigkeit ſeiner jungen
Frau; er verſpricht aber, recht artig zu ſein. Er will Gemſen
jagen in den Alpen — und dann? Nun er hat G. Sand's
Jacques
wohl gut inne, denn dann ſoll es nicht mehr
einen Monat dauern — und dann, zu Julia und Antonio
gewendet, verſprechen Sie mir Beide —


Julia.


Dann —


Antonio.


Dann wollen wir uns fragen, ob wir noch glücklich
ſein dürfen?


Julia.


Wir wollen uns fragen, ob wir noch glücklich ſein
können?


Finis.


So endet dieſe durch das Talent ihres Urhebers bis
in die kleinſten Züge hinein verzerrte Tragödie, deren Inhalt
wir mit ſchlichten Worten angegeben haben und dabei doch
nicht verhüten konnten, nicht ſchon komiſche Streiflichter
darauf fallen zu laſſen. Wir bezweifeln nicht im Geringſten
den ſubjectiven Ernſt der ethiſchen Tendenz, den Hebbel in
ſeinem Vorwort mit ſo großem Pathos verkündet. Doch
laſſen wir uns dadurch nicht beſtechen und erkennen, daß
dieſe Tragödie im Grunde durch die Art ihrer Disharmonie
eine gräßliche Komödie, ein Ungeheuer von Scheincontraſten
iſt. Wir wollen von craſſeren Motiven, die in dieſer Tra¬
gödie vorkommen und oft höchſt komiſcher Beſchaffenheit
ſind, wegſehen; wir wollen nur bei den fundamentalen Ver¬
hältniſſen bleiben, ſo ſind ſie nicht tragiſch, ſondern komiſch.
Daß ein Mädchen, welches ſich heimlich hat ſchwängern
[113] laſſen, als Königin der Jungfrauen bei einem Feſte erſcheinen
ſoll, iſt gewiß komiſch. Daß ein Vater, deſſen Tochter, wie
er glaubt, mit ihrem Liebſten durchgegangen iſt, die Stadt
durch einen Scheintod und einen Scheinſarg ſeiner Tochter
täuſcht, iſt gewiß komiſch. Daß ein Deutſcher Graf, nach wüſt
durchnoſſenem Leben, eine hypochondriſche Anwandlung zur
Tugend bekommt und ſeinem blaſirten Leichnam noch die
Ehre anthun möchte, zu irgend etwas Nützlichem, wohl gar
Edlem, zu dienen, iſt gewiß komiſch. Daß ein ſchwangeres
Mädchen in einem Lande, worin es doch auch Gensdarmen
gibt, ſo ohne Weiteres zu Fuß umherirrt und todesſehnſüch¬
tig im Waldesdunkel einem Banditen durch eine vorgehaltene
Börſe die Luſt, ſie zu tödten, beibringt, ſtatt daß man er¬
warten ſollte, er werde ſich der Börſe auch ohne Mord ver¬
ſichern und das Mädchen als eine ſchöne Beute zu ſeiner
Luſt zwingen, iſt gewiß komiſch. Daß Bertram und Julia
eine Ehe ſchließen, die doch keine iſt; er, um doch, bevor er
ſtirbt, ſich noch zu etwas Gutem verbrauchen zu laſſen; ſie,
um doch ihre Ehre durch einen Gatten zu ſalviren, das iſt
gewiß komiſch. Daß endlich alle drei Liebhaber, jeder von
ſeinem Standpunct aus den andern anerkennend, ja vereh¬
rend, ſich auf dem Schloß in Tyrol trefflich vertragen und
der Graf Antonio und Julia die angenehme Ausſicht gibt,
nächſtens zu ihrer Bequemlichkeit für immer zu verſchwinden,
nun, das iſt gewiß komiſch. Komiſch? Ja, im Ariſtophani¬
ſchen Sinn, ſo weit derſelbe auch die ethiſche Nullität in ſich
faßt, nicht aber in dem weitern auch Ariſtophaniſchen
Sinn der heitern Ausgelaſſenheit der abſoluten Nullität,
die ohne Prätenſion iſt. Vielmehr ſind dieſe corrupten Ver¬
hältniſſe im feierlichſten Ernſt mit großwortigen Reden be¬
handelt, ſo daß ſtatt ſeligen Lächelns nur die Trübſeligkeit
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 8[114] in uns aufkommt, eine mißrathene Tragödie vor uns zu
haben.


Iſt der Widerſpruch ſchon ſeinem Inhalt nach nicht
idealer Natur und fühlt das in ihm befangene Subject ihn
nicht als Widerſpruch, ſondern erſcheint es vielmehr in ihm
vollkommen befriedigt, ſo iſt eine ſolche Disharmonie komiſch.
Erinnern wir uns z. B. des Strepſiades aus den Ariſto¬
phaniſchen Wolken
, ſo will dieſer ehrſame Athenienſer
bei Sokrates Philoſophie ſtudiren. Doch wozu? Um ſich
ſeine Gläubiger ſophiſtiſch vom Halſe zu ſchaffen. Dieſer
Zweck, den er der Philoſophie ſetzt, widerſpricht ihrem
Weſen. Wird ſie aber ſo genommen, ſo iſt das eben komiſch.
Strepſiades befindet ſich daher auch in der Ehrlichkeit ſeines
Zutrauens zur Philoſophie, ihn von ſeinen Schulden zu
emancipiren, zunächſt ganz gemüthlich, bis der Sohn ihn
überſophiſtet und ihm dialektiſch ſein Recht beweiſt, ihn ſchla¬
gen zu dürfen.


[115]

Zweiter Abſchnitt.

Die Incorrectheit.

Die abſtracten Beſtimmungen der Formloſigkeit gelten
für alles Häßliche überhaupt. Das Häßliche iſt aber in con¬
creto
theils ein natürliches, theils ein geiſtiges. Die All¬
gemeinheit der Amorphie, der Aſymmetrie und Disharmonie
wird in der Natur oder im Geiſt zu einem individuellen Da¬
ſein. Als ein ſolches iſt es der Nothwendigkeit unterworfen,
in ſeiner Erſcheinung den allgemeinen Begriff, der ſein Weſen
ausmacht, zu realiſiren. Die Uebereinſtimmung der Realität
mit dem Begriff, die objective Erfüllung der Geſetzmäßigkeit,
macht die Correctheit aus. Sie beſteht alſo darin, daß die
äſthetiſche Geſtalt nach ihrer normalen Eigenthümlichkeit dar¬
geſtellt, daß alſo nichts, das ihr nach ihrem Begriff zugehört,
fortgelaſſen, nichts, das ihrem Weſen fremd iſt, hinzugefügt,
nichts an ihr gegen ſeine Normalität verändert werde. In
dieſen Negationen liegt der Begriff der Incorrectheit.


Die Incorrectheit führt in das Gebiet der einzelnen
Künſte. Wollte man ſich aber auf dieſelben einlaſſen, ſo
würde man in ein unendliches und überflüſſiges Detail ge¬
rathen. Man würde nämlich jeder poſitiven Beſtimmung
den Kanon hinzuzufügen haben, daß ein Verſtoß gegen ſie
incorrect ſei. Welch' eine ermüdende Weitſchweifigkeit würde
es werden, alle Regeln der Kunſt aufſtellen und bei jeder
die Litanei wiederholen zu müſſen, daß ein Verfehlen derſelben
8 *[116] nicht correct ſei. Es genügt daher, für unſern Zuſammen¬
hang zu zeigen, wie im Incorrecten das Häßliche liege und
wie auch das Incorrecte ein Quell des Lächerlichen zu werden
vermöge.


Wir werden demnach zuerſt den Begriff des Incor¬
recten im Allgemeinen zu erörtern haben; ſodann werden
wir die beſondern Modificationen durchgehen müſſen, welche
das Incorrecte in den eigenthümlichen Stylarten der Na¬
tionen und Schulen, in den individuellen Idealformen
des Ausdrucks zu erhalten vermag; für die Geſtaltung aber,
welche daſſelbe innerhalb der einzelnen Künſte annimmt,
wird eine Angabe des allgemein Charakteriſtiſchen hinreichen.


A.
Die Incorrectheit im Allgemeinen.

Die Correctheit überhaupt beſteht in der Richtigkeit,
mit welcher eine Geſtalt diejenigen Formen darſtellt, die ihr
kraft ihres weſentlichen Inhalts, ſei es der Natur, ſei es
der Geſchichte, inwohnen. In der Sprache der formalen
Logik würde man ſagen können, daß ſie einen Gegenſtand
mit all den Merkmalen ausſtattet, durch welche er ſich von
andern weſentlich unterſcheidet. Nur durch die Beſtimmtheit
und Klarheit ihrer fundamentalen Richtigkeit kann eine Ge¬
ſtalt ſich auch äſthetiſch von andern ſondern. Die Correct¬
heit fordert daher z. B. daß in einem Landſchaftbilde die
Baumgattungen durch ihren natürlichen Typus unterſchieden,
daß in einem Architekturwerk die Säulen nach dem Geſetz
ihrer Ordnung in den Verjüngungen und Ornamenten ge¬
gliedert ſeien, daß in einem Gedicht der Charakter ſeiner
[117] Gattung u. ſ. w. feſtgehalten ſei. Dieſe Beſtimmtheit iſt
durchaus erforderlich, weil ohne ſie die Individualiät der
Geſtalt nicht zur Erſcheinung kommen kann. Sie iſt inſofern
ſchön. Da ſie jedoch erſt auf die formale Uebereinſtimmung
der individuellen Geſtalt mit ihrer generiſchen Geſetzmäßigkeit
geht, ſo iſt ſie an ſich noch nicht abſolut ſchön, ſondern
macht nur die Erfüllung einer für das Schöne unerläßlichen
Bedingung aus. Der idealiſche Schwung, die Weihe einer
höhern Poeſie liegt noch nicht in ihr und ſie allein vermag
daher noch nicht äſthetiſch zu befriedigen.


Sagen wir von einem Kunſtwerk, daß es völlig cor¬
rect ſei, ſo iſt das gewiß ein Lob und ein nicht geringes,
denn wir erkennen damit an, daß es den Regeln der Kunſt
gemäß ſei. Sagen wir aber nichts weiter von ihm, ſo iſt
dies Lob nahe daran, ein Tadel zu werden, denn als nur
correct kann es zugleich trocken, ohne Seele, ohne den Sprudel
origineller Erfindung ſein. Wir ſehen dies vorzüglich an den
Werken derjenigen Kunſtrichtung, die wir die akademiſche
nennen. Formell ſind ſie gewöhnlich richtig, indem ſich ihr
Verdienſt aber auf die Abweſenheit einzelner Fehler
beſchränkt, ermangeln ſie nicht, uns trotz ihrer Correctheit
bald zu langweilen, denn ſie ergreifen uns nicht durch eine
Begeiſterung, die über das richtige Maaß hinaus uns mit
jenem Ueberſchuß göttlicher Eigenart, idealer Wahrheit,
urſprünglicher Freiheit entzückte, der ein Kunſtwerk erſt zu
einem claſſiſchen macht. Die akademiſche, wohlgeſchulte Cor¬
rectheit, die noch weiter nichts iſt, wird daher mit ihrer oft
peinlichen Genauigkeit, dem ſchöpferiſchen Hauch des Genius
gegenüber, kalt und dürftig, — alſo häßlich erſcheinen.
Nicht das Correcte als ſolches iſt häßlich, ſondern häßlich
iſt das Schöne, ſofern es auf der Stufe der bloßen Correctheit
[118] ſtehen bleibt und ſie nicht zum bloßen Mittel ſeelenvoller
Manifeſtation macht. Ein Werk, das in Einzelheiten un¬
richtig, alſo incorrect iſt, kann dagegen, dieſen Verſtößen
gegen Zeichnung, Tonſatz, Anordnung, Versbau u. ſ. w.
zum Trotz, dennoch ſchön ſein, wenn es im Ganzen von
einer idealen Kraft getragen wird, die uns das Fehlerhafte
des Details vergeſſen läßt. Die Neuheit der Erfindung, die
Kühnheit der Anordnung, die Gewalt oder Lieblichkeit der
Ausführung machen, daß wir die einzelnen Inconvenienzen,
Irrungen und Mißgriffe im Namen des Genius vergeben.
So iſt z. B. Platen außerordentlich correct, jedoch weniger
eigenthümlich und eigenſchöpferiſch; Heine dagegen iſt oft
incorrect, zuweilen ſogar mit Bewußtſein, allein ſeine
productive Kraft, ſeine Originalität iſt ungleich größer. In
Folge dieſes Unterſchiedes iſt denn auch ſeine Einwirkung
auf unſere Literatur eine bei weitem intenſivere und um¬
faſſendere geweſen, als die Platens.


Daß die Incorrectheit an ſich, da ſie eine nothwendige
Formbeſtimmtheit durch Weglaſſen, durch heterogene Zuthat
oder durch Veränderung negirt, unter die Kategorie des
Häßlichen falle, iſt zweifellos. Die Kunſt muß die Correct¬
heit fordern und darf gegen das Incorrecte keine ſchlechte
Toleranz üben. Die Nothwendigkeit, der ſich die Kunſt für
die correcte Behandlung im Allgemeinen zu unterwerfen hat,
iſt eine phyſiſche, pſychologiſche und hiſtoriſch-con¬
ventionelle
. Es kommt hiermit der Begriff der Nach¬
ahmung zur Sprache, weil ſich die Kunſt hier zu einem
Gegebenen verhält, dem ſie folgen muß. Sie muß die
Formen der Erſcheinung der Natur und des Geiſtes beobachten,
denn nur in dieſen Formen kann ſie die Geſtalten indivi¬
dualiſiren. Die Nachahmung hat jedoch bekanntlich nicht
[119] den Sinn einer bloßen Copirung des zufällig Empiriſchen,
ſondern den, durch Hingebung an daſſelbe, durch exacte
Nachbildung ſeiner Geſtalt, die ideale Form, das allgemeine
Maaß, zu erkennen. Natur und Geiſt ſind wegen der Zu¬
fälligkeit und Willkür, die ihrer Erſcheinung mit Nothwen¬
digkeit anhaftet, oft durch ſich ſelbſt gehemmt, diejenige Form
zu erreichen, die ſie ihrem Weſen nach als deſſen adäquate
Erſcheinung anſtreben. Ihre Realität bleibt hinter der Ten¬
denz ihres Begriffs oft zurück, weil ſie ſich in ihrer Noth¬
wendigkeit wie in ihrer Freiheit oft unabſichtlich ſtören. Die
Kunſt befreiet die äſthetiſche Geſtaltung von dieſer Mi߬
lage, entfernt von ihr alles Verderbliche und Unweſentliche,
ſchält den reinen Kern heraus und erfreuet uns mit der
Ewigkeit des mangelloſen Ideals. Durch einen nur empiriſchen
Eklekticismus iſt dies nicht zu erreichen, denn je exacter die
Productionen eines ſolchen ſind, wie bei Wachsfiguren,
Automaten, Daguerrotypen u. ſ. w., um ſo mehr entfernen
ſie ſich von der Freiheit und Wahrheit des Ideals. Ein
Daguerrotypportrait gibt uns nicht den ganzen Menſchen,
ſondern den Menſchen, wie er gerade in dieſem Augenblick
in ganz particulären Zuſtänden ſich befindet, wie er von
einer vorübergehenden Stimmung beherrſcht wird u. ſ. w.
Der Künſtler muß das Ideal zuletzt aus der geiſtigen An¬
ſchauung heraus produciren, zu welcher der Gehorſam gegen
die Empirie ihm nur das Material liefern kann. Praxiteles
würde ſeine Idealſtatue der Aphrodite niemals hervorgebracht
haben, hätte er ſich darauf beſchränken wollen, von den
Hetären, welche die Athenienſer ihm für ſeine Studien zur
Verfügung ſtellten, nur eine treue Zuſammenſetzung ihrer
vorzüglichſten Schönheiten zu machen. Denken wir uns,
daß er von der einen den Buſen, von der andern den Arm,
[120] von der dritten den Fuß u. ſ. f. entlehnt und dieſe Einzel¬
heiten äußerlich verbunden hätte, ſo würde er ſicherlich ein
ſchönes Ungeheuer, keine anbetungswürdige Göttin der
Schönheit erſchaffen haben; aus dem eigenen Innern heraus
mußte er den Triumph weiblicher Schönheit erzeugen. Allein
deshalb waren ihm jene Hetären nicht unnütz, denn ihr
Studium machte ihm die Correctheit möglich, ſofern er in
einer jeden eine relativ wahre Erſcheinung des Ideals erblicken
konnte. Wie ſehr wird es doch bei unſern modernen Bild¬
hauern und Malern fühlbar, daß ſie nackte weibliche Ge¬
ſtalten oft nur nach Griſettenmodellen bilden, die durch
Schnürleiber die reinen Formen der Natur corrumpirt haben.
Die Kunſt ſoll, correct zu ſein, das Weſen der natürlichen
und geiſtigen Wirklichkeit in ſich aufnehmen, aber ſie ſoll
nicht naturaliſiren, ſo wenig als ſie im Sinn einer
falſchen Transcendenz idealiſiren ſoll. Wir werden dem
Künſtler ein relatives Umbilden der bloßen Richtigkeit
einräumen müſſen, ſofern er ſeiner zur Herſtellung der ob¬
jectiven Wahrheit des Ideals bedarf und werden ein ſolches
Hinausgehen über die empiriſchen Formen nicht Incorrectheit
ſchelten dürfen; nur das ſubjective Idealiſiren werden wir
verwerfen müſſen, welches die ſpecifiſche Kraft der Indivi¬
dualität in abſtracten Potenzirungen verpufft.


Die phyſiſche Correctheit läßt ſich am ſicherſten feſt¬
ſtellen, weil die Vergleichung der künſtleriſchen Production
mit dem Gegebenen hier am Leichteſten und Zugänglichſten iſt.
Den Ausdruck: nach der Natur, gebrauchen wir durch
Uebertragung auch in dem allgemeinen Sinn, daß wir das
Unmittelbare überhaupt darunter verſtehen. Wir ſagen z. B.
auch von einem Architekturgemälde, obwohl der Bau ein
Werk des Geiſtes, daß es nach der Natur gemalt ſei. Eben
[121] ſo ſagen wir auch wohl: nach dem Leben. Obwohl nun
aber die Anſchauung der Natur für die richtige Auffaſſung
derſelben jederzeit bereitwillig ſich darbietet, ſo iſt die letztere
dennoch keineswegs ſo wohlfeil, als es ſcheinen möchte.
Ein rein gegenſtändliches Sehen und Hören iſt keineswegs
eine ſo allgemein verbreitete Fähigkeit. Bei genauerem Be¬
trachten entdecken wir daher zu unſerm Erſtaunen gewöhnlich
mehr Incorrectheiten, als zunächſt glaublich. Andere In¬
correctheiten entſpringen aber auch aus der Fixirung von
Manieren, wie z. B. die überlangen Geſtalten, Hände und
Füße in der Byzantiniſchen Malerei (25).


Die pſychologiſche Richtigkeit nennen wir oftmals
auch Naturwahrheit. Sie umfaßt die Sphäre des Gemüths
in ſeinen Begierden, Neigungen und Leidenſchaften; den
richtigen Ausdruck derſelben in Gebehrden, Mienen, Worten;
nicht weniger aber auch die richtige Motivirung der Affecte.
Der Zuſammenhang der Gefühle nach ihrem Inhalt, die
Form der Erſcheinung derſelben in mimiſcher, pathognomiſcher
und phyſiognomiſcher Beziehung, die Darſtellung derſelben in
Ton und Wort, bietet ein unendliches Feld zu Verletzungen
der objectiven Wahrheit dar, deren Correctur ſchon nicht ſo
leicht iſt, als die von phyſiſchen Incorrectheiten. In der
Poeſie, Muſik und Malerei wird die pſychologiſche Verirrung
beſtimmter nachgewieſen werden können, als in der Sculptur,
weil dieſe, auf den generiſchen Ausdruck hinarbeitend, die
Entſchiedenheit des Charakteriſtiſchen abzumildern und nicht
ſelten das abſtract Allegoriſche darzuſtellen hat. So haben
die Franzoſen z. B. einen Begriff in ihrer Poetik, den ſie
la poésie legère nennen. Dieſen Begriff hat Pradier in
einer Statue dargeſtellt, von welcher die Franzöſiſchen Kunſt¬
richter in den überſchwänglichſten Ausdrücken reden und auf
[122] welche die Dichter enthuſiaſtiſche Verſe gemacht haben. Ein
ſchönes, tanzendes Weib hält in der Linken eine kleine Harfe,
während es die Rechte über den Kopf hin ausſtreckt. Es
ſteht auf den Zehen des linken Fußes; der rechte iſt in
leichtem Schwunge gehoben und tippt mit der Spitze nach
hinten auf den Boden. Daß die Geſtalt, nach Franzöſiſchen
Begriffen der poésie fugitive, eine gewiſſe Fülle hat, wollen
wir zugeſtehen; mußte aber auch am Kopfe, der himmelwärts
gewandt Begeiſterung athmen ſoll, die Mentalregion den
Ausdruck eines genußgeſättigten Embonpoints haben? Mußten
die Augen ſo klein, ſo opiumſchwer geſchloſſen ſein? Geht
dieſe Phyſiognomie nicht zu ſehr in das Phrynenhafte über?
Mußte Pradier nicht bedenken, daß ſeine leichte Poeſie zwar
einen lasciven Zug haben, jedoch in Kinn und Auge das
Spirituelle mehr markiren mußte? Solche Bedenken entſtehen
aus dem Gedanken, ob auch der Begriff der ſcherzenden,
witzigen, lebensluſtigen, erotiſchen Muſe in dieſen Formen
correct ausgedrückt worden. Pradier, nächſt Canova unter
den modernen Bildhauern wohl der, welcher den Ausdruck
der Lieblichkeit am meiſten in ſeiner Gewalt hatte, würde
ſich vielleicht damit vertheidigt haben, daß ein weniger gerun¬
detes Kinn und ein größeres Auge wiederum zu edel, zu
Apolliniſch geweſen ſein würden (26).


In der hiſtoriſch-conventionellen Richtigkeit bleibt
die Freiheit des Geiſtes der weſentliche Punct, dem ſich die
Rückſicht auf das Gegebene unterzuordnen hat. Iſt der
pſychologiſche Ausdruck des Gemüthes correct, iſt die eigent¬
liche Subſtanz eines hiſtoriſchen Vorganges richtig gefaßt, ſo
kommt es auf die äußerliche Morphologie der Erſcheinung
weniger an. Es wird deshalb wegen der Incorrectheit der¬
ſelben hier ein größerer Spielraum verſtattet ſein. Der ge¬
[123] ſchichtliche Geiſt bringt ſeine Eigenthümlichkeit auch in ſeiner
Art, zu wohnen, ſich zu kleiden, in der Form ſeiner Geräth¬
ſchaften, in dem Charakter ſeiner Sitten hervor. In allen
dieſen Manifeſtationen geht er zu einer Unendlichkeit von Be¬
ſtimmungen fort, die, ein Ausdruck ſeines Weſens, doch für
die Tiefe deſſelben mehr accidentell ſind. Betrachten wir
ſolche Dinge im Großen und Ganzen, ſo erfreuen wir uns
an der Conſequenz, mit welcher das Individuelle auch bis in
die Kleinigkeiten hinunterdringt, aber für die Kunſt müſſen wir
anerkennen, daß die Mannigfaltigkeit der beſondern Formen,
in welche die Individualität ſich auslegt, gegen das Pathos
der Freiheit als den weſentlichen Inhalt einen nur ſecundären
Werth anſprechen könne. Die antiquariſche Mikrologie darf
nicht den äſthetiſchen Primat einnehmen wollen. Ein Schwert
z. B. bleibt endlich immer nur ein Schwert, obwohl es
richtig iſt, daß alle Nationen und ein und dieſelbe Nation
in verſchiedenen Epochen Klinge und Griff individuell variirt
haben. Die Kleidung, wie ſie auch nach dem Klima und
der Sitte der Völker und gar erſt nach dem Eigenſinn der
Mode verändert werde, behält denn doch immer und überall
die Nothwendigkeit, ein Halsloch für den Kopf und zwei
Seitenlöcher für die Arme darzubieten u. ſ. w. Die Kunſt
muß daher berechtigt ſein, für die Darſtellung des Geſchicht¬
lichen vor allen Dingen das allgemein Menſchliche, den
geiſtigen Gehalt, das Innere der Handlung und ſeine Aeuße¬
rung in Geberde, Miene und Wort hervorzuheben, denn
dieſe Wahrheit macht gegen die Richtigkeit der conventionellen
Formen die Poeſie aus, auf welche es doch dem Schönen zu¬
nächſt ankommen muß. Vorausgeſetzt alſo, daß das ſub¬
ſtantielle Intereſſe befriedigt wird, welches wir an der Er¬
ſcheinung des Geiſtes haben, brauchen wir es mit der Objec¬
[124] tivität der hiſtoriſchen Treue weit weniger genau zu nehmen,
als mit der phyſiſchen und pſychologiſchen. Die gelehrte Ge¬
nauigkeit in der geſchichtlichen Aeußerlichkeit kann niemals
Zweck der Kunſt ſein, weil dieſe mehr will, als unterrichten.
Fällt, wie bei Walter Scott, die antiquariſche Treue mit
dem poetiſchen Reiz zuſammen, ſo wird dies ſehr angenehm
ſein, nicht aber darf umgekehrt die Poeſie in der Gelehr¬
ſamkeit untergehen; ſind Productionen ſogleich in dieſer didak¬
tiſchen Tendenz geſchrieben, wie Barthelemy'sVoyage en
Grêce,
wie Beckers Charikles und Gallus, ſo wird von
vorn herein zugeſtanden, daß es ſich nur um eine angenehme
Einkleidung des Nützlichen handle und die Prätenſion des
Kunſtwerks fällt fort. Dem Künſtler geſtehen wir unbedingt
eine gewiſſe Läßlichkeit in allen Außenwerken einer hiſtoriſchen
Compoſition zu, wenn er uns nur den Menſchen bringt.
Selbſt an Anachronismen ſtoßen wir uns nicht, falls ſie
nicht geradezu widerſinnig werden oder falls ſie keinen
künſtleriſchen Effect hervorbringen, der ſie zu rechtfertigen
vermöchte.


In dieſer Freiheit haben große Künſtler die Geſchichte
behandelt, ohne daß wir ihnen die Freiheiten, die ſie ſich ge¬
nommen, als Incorrectheiten anrechneten. So hat Shake¬
ſpeare
nicht nur die Engliſche, ſondern auch die Römiſche
Geſchichte behandelt. Seine Römer ſind in gewiſſem Sinn
auch Engländer, aber ſie ſind vor Allem wirkliche Menſchen,
Plebejer, Ariſtokraten, voll ewig wahrer Affecte und Leiden¬
ſchaften. Was die Kleinmeiſterei bei ihm hiſtoriſche Incorrect¬
heit genannt hat, zeigt ſich bei genauerer Kritik poetiſch
motivirt. Im Wintermährchen läßt er das Meer an
Böhmens Küſte branden. Welche Ignoranz, kann hier der
Pedantismus ausrufen! Aber es iſt eben ein Mährchen und
[125] die Geographie des Mährchens iſt phantaſtiſch. Für die da¬
maligen Engländer war Böhmen eben ein fernes Land,
ein Land überhaupt, eben ſo hiſtoriſch für das Mährchen,
als deſſen Könige und Zauberer. In Gutzkow's Richard
Savage
treffen wir auf einen Anachronismus, der eine
Incorrectheit genannt zu werden verdient. Savage unterredet
ſich mit dem bekannten Journaliſten Steele. Dieſer will
den melancholiſch Grübelnden zerſtreuen und ſagt zu ihm:
„Sieh einmal, ich bemitleide Dich und mich, daß Du uns
aus der Stickluft Londons entführt wirſt; aber Botany
Bay
, mein Freund (ich muß ihn zu tröſten ſuchen) — ver¬
lohnt wirklich einmal ein gründliches Studium. Für mein
Journal iſt es mir ungeheuer viel werth, dort einen Cor¬
reſpondenten zu haben.“ Gutzkow gibt auf dem Perſonen¬
verzeichniß die Zeit ſeines Drama’s ſelber 172 * an; er iſt
zu gut geſchult, nicht zu wiſſen, daß damals Oceanien noch
gar nicht entdeckt war; für die humanitären Gedanken, die
Steele ferner ausſpricht, war Botany Bay gar nicht er¬
forderlich; der Anachronismus iſt alſo ganz unmotivirt und
dieſe Abſichtlichkeit in der Ueberflüſſigkeit macht ihn incorrect.


Kann nun die Kunſt in ſolchen Dingen ſich gegen die
[Correctheit] gleichgültiger verhalten, ſo darf ſie es doch nicht
gegen diejenige, in welcher der poetiſche Nerv liegt. Ein
Abweichen von derjenigen Richtigkeit, die ein Ausdruck der
Wahrheit der Handlung, ihrer entſprechenden phyſiogno¬
miſchen, pathognomiſchen und rhetoriſchen Erſcheinung iſt,
würde zugleich eine Zerſtörung des idealen Weſens ſein,
ohne welche das Kunſtwerk nicht als ein ſchönes beſtehen
kann. Die Malerei liefert uns ſehr intereſſante Beiſpiele,
wie die Trefflichkeit der Compoſition, die hiſtoriſche Incon¬
gruenz der Form kann überſehen laſſen. Die Eykſche
[126] Schule z. B. hat uns die Maria als ein Deutſches Mädchen
gemalt, das in einem wohlgetäfelten Zimmer vor einem
nußbraunen Betpult knieet und die Verkündung des Engels
vernimmt. Teppiche ſchmücken den Boden; ein Blumentopf
mit Lilien prangt in einer Ecke; durch das Fenſter blicken
wir auf die burgengeſchmückten Ufer des Rheins. Dieſe
ganze Decoration iſt für das Factum objectiv unmöglich,
denn in Paläſtina vor Chriſti Geburt konnte es natürlich
nicht ſo ausgeſehen haben, wie in einer Rheiniſchen Bürger¬
ſtube des Mittelalters. Inſofern iſt alſo dieſe ganze Um¬
gebung, dies Coſtüm, dieſer Ledergürtel, dies goldblonde
Haar, dies blaue Auge, dies Deutſche Profil unhiſtoriſch
und incorrect. Aber, fragen wir, iſt in der betend hinge¬
goſſenen Geſtalt, in den Zügen des Antlitzes, im Blick des
Auges, die Demuth, die jungfräuliche Hoheit, die ſehn¬
ſüchtig fromme Gläubigkeit enthalten? Finden wir dies und
finden wir es in ſeiner natürlichen und pſychologiſchen Cor¬
rectheit dargeſtellt, ſo iſt das hiſtoriſch Conventionelle Neben¬
ſache; die Jungfräulichkeit der Empfängniß, der chriſtliche
Gegenſatz zur wollüſtigen Conception einer Danaë, das iſt
die Idee des Bildes und dieſe Idee iſt realiſirt.


Im Intereſſe der Schönheit müſſen wir dem Künſtler
auch die Umbildung der Mythe und Geſchichte zugeſtehen, ſo¬
fern er dadurch den poetiſchen Gehalt derſelben idealer her¬
ausſtellt, nicht, wie Euripides, durch ſeine Veränderung
eine Deformation hevorbringt. Kein großer Künſtler hat
ſich vor der Schuld ſolcher Umbildungen geſcheuet, weil ſolche
Schuld das Verdienſt hat, die äſthetiſche Correctur der
hiſtoriſchen Ueberlieferung zu ſein. Wie Shakeſpeare,
Göthe, Schiller, die Geſchichte verändert haben, iſt da¬
durch die hiſtoriſche Wahrheit in ihrem Weſen nicht verletzt.
[127]Schiller's Don Carlos iſt nicht völlig der hiſtoriſche und
doch iſt er es, denn nicht nur ſchildert er die tragiſche
Situation eines Prinzen, der ſo unglücklich iſt, durch Talent
und Geſinnung den Argwohn eines tyranniſchen Vaters gegen
ſich zu haben und ſeine junge, ihm ſelbſt zuerſt als Gattin
zugedacht geweſene Stiefmutter zu lieben, ſondern er ſchildert
auch dieſe Tragik in der Individualiſirung des Spaniſchen
Geiſtes und ſeiner Hofetiquette. Fouqué hat uns in ſeinem
Don Carlos den richtigen, den empiriſch treuen, den
hiſtoriſch correcten Don Carlos gegeben — ſo viel wir näm¬
lich von ihm überhaupt wiſſen — aber dieſer Infant von
Spanien iſt der Welt ſo gut wie unbekannt geblieben, denn
es fehlt ihm doch von der Geſchichte das, was ihr Element
iſt — der Geiſt. — Obwohl nun die Kunſt im Hiſtoriſchen,
ſofern ſie deſſen ideale Wahrheit erreicht, einer gewiſſen
Freiheit genießt, ſo wird doch jeder wahrhafte Künſtler ſich
auch um die hiſtoriſche Treue ſchon um deswillen bemühen,
weil ſie ihm ein ſo glückliches Mittel der Individualiſirung
darbietet. Nur dasjenige wird er von ihr zurückweiſen, was
ihn in ſeinen äſthetiſchen Zwecken geradezu hemmt und nur
dasjenige umbilden, was die Harmonie der idealen Wahrheit
beeinträchtigt. Man durchlaufe die Werke großer Meiſter,
ob man ſie der Vernachläſſigung des geſchichtlichen Colorits
bezüchtigen könne. Wie ſehr iſt Raphael in ſeinen Logen,
ohne alle ängſtliche Akribie, doch hiſtoriſch genau geweſen!
Man frage ſich, ob Shakeſpeare in ſeinen Römer¬
tragödien
die hiſtoriſche Wahrheit nicht nur im Ganzen
feſtgehalten, vielmehr auch bis in die individuellſten Be¬
ziehungen hin getroffen habe? Man frage ſich, ob z. B. ſeine
Cleopatra etwa nur ein ſchönes, heißblütiges, wollüſtiges,
großherrſcheriſches Weib überhaupt, oder ob ſie nicht auch
[128] das Aegyptiſche Weib, die „alte Schlange vom Nil“ iſt?
Man höre, wie die Hiſtoriker, wie ein Gervinus (27),
über den hiſtoriſchen Gehalt dieſer Tragödien ſich ausſprechen.
Man zergliedre Schiller's Wallenſtein, ob die Zer¬
klüftung der Europäiſchen Welt zur Zeit des dreißigjährigen
Kriegs darin nicht mit geſchichtgeſättigten Farben gemalt iſt?
Man betrachte Schinkels Bilder zu Theaterdecorationen,
ob er darin nicht die hiſtoriſche Individualität mit dem
äſthetiſchen Ideal und mit dem beſondern Bedürfniß des
Theaters in Einklang zu ſetzen gewußt habe? — Immer
aber werden wir die freie Behandlung, die wir der Kunſt
für die Natur und noch mehr für den Geiſt zugeſtehen
müſſen, nur unter der Bedingung anerkennen, daß die
Idealität im objectiven Sinne des Worts durch ſie gewinne,
denn ohne dieſe Steigerung, welche die eigene Tendenz des
Weſens zur Klarheit der Erſcheinung befreiet, wird ſie der
Kategorie des Incorrecten zufallen müſſen, oder ſie wird
komiſch werden.


Wie immer und überall, liegt das Komiſche auch hier
darin, daß das dem Begriff nach Unmögliche ſcheinbar wirk¬
lich wird und durch ſeine empiriſche Realität unſerm Verſtande
Hohn ſpricht. Wenn, wie oben erwähnt, die Griechiſchen
und Römiſchen Heroen und Heroinen auf der Pariſer Bühne
ehemals mit gepuderten Allongeperücken, mit Reifröcken,
Stelzſchuhen, Petitdegen und Fächern erſchienen, ſo finden
wir heut zu Tage in dieſem Coſtüm eine lächerliche Incorrect¬
heit. Wie wenig aber dieſe Aeußerlichkeit für die Sache auf
ſich habe, ſehen wir daraus, daß jetzt dieſe Tragödien von
Corneille, Racine und Voltaire auf dem Theâtre francais
nicht mehr in jenem Hofgallacoſtüm der abſoluten Monarchie,
ſondern in wirklich antiken Trachten geſpielt werden, ohne
[129] daß dieſe Veränderung einen Widerſpruch mit dem Inhalt
hervorriefe. Denken wir uns aber eine abſichtliche hiſtoriſche
Incorrectheit, ſo muß dieſelbe eine komiſche Wirkung haben,
weil ſie als Parodie erſcheinen muß. In einem Puppenſpiel
von Glasbrenner, das Paradies, tritt z. B. Adam mit
folgenden Worten in die Scene:


„Ich freue mich ſehr darüber, daß ich erſchaffen bin.
Man kann nicht wiſſen, wozu das gut iſt. (Er ſieht ſich um.)
Ein allerliebſter botaniſcher Garten! Auch die blaue Decke da
oben und die warme Laterne drinn ſind nicht ohne Verdienſt.
Abgeſehen davon, daß man es als fait accompli hinnehmen
muß, wie es einmal da, iſt das All auch wirklich ziemlich
gelungen. Der Verfertiger hat Anſpruch auf den Beifall des
Publicums. Es iſt doch jetzt wenigſtens der Anfang gemacht,
die Initiative für eine Schöpfung ergriffen, welche ſich durch
geeignete Maaßregeln einer ſtarken Regierung noch zu einem
ganz netten Aufenthalte heranbilden kann. (Er wirft ſeine
Blicke nach allen Seiten.) Für ſechs Tage wirklich allens
Mögliche! (Schüttelt den Kopf.) An Einen übrigens, der
das vollbracht haben ſoll, glaube ich nicht. Es werden mehrere
geweſen ſein: eine Union. Jedenfalls hat Radowitz dabei
geholfen, denn ohne Den kommt keine Schöpfung zu Stande.
u. ſ. w. u. ſ. w.“


Unmöglich, rufen wir aus, kann Adam ſo geſprochen
haben! Aber dieſer Adam des Puppenſpiels ſpricht wirklich
ſo. Wir ſehen, daß die Schöpfung hier mit einem Berliner
blaſirten Kannegießer anfängt und müſſen über dieſen Wider¬
ſpruch des Begriffs des Protoplaſten mit der Realität eines
raiſonnirenden Weißbierphiliſters lachen.


Das Correcte beſteht im Allgemeinen in einer treuen
Beachtung der poſitiven Normalität der Natur und des
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 9[130] Geiſtes. Die Freiheit der Kunſt vermag jedoch, wie wir ge¬
ſehen haben, in der Beſchränkung auf das Correcte keine ge¬
nügende Befriedigung zu finden; ſie darf unter gewiſſen Be¬
dingungen ſogar incorrect werden, ohne dadurch dem Schönen
zu widerſprechen. In parodiſcher Abſichtlichkeit kann es komiſch
werden. Wie aber verhält es ſich mit dem Phantaſtiſchen?
Wie ſollen wir jene Compoſitionen beurtheilen, die phyſiſch
und geiſtig unmöglich ſcheinen und doch durch die Vermittelung
der Kunſt mit der ganzen Energie der Wirklichkeit vor uns
hintreten? Wie verhalten ſich dieſe Traumgeſtalten zum Be¬
griff des Häßlichen? Die Kunſt hat für ſich freilich kein
anderes Geſetz, als die Schönheit, aber die Schönheit hat
ein nothwendiges Verhältniß zum Wahren und Guten, das
auch in den freieſten Productionen der Kunſt nicht verletzt
werden darf. Dieſe Identität iſt ſo wenig eine negative
Schranke der Kunſt, daß im Gegentheil erſt durch ſie die
poſitive Vollendung des Schönen möglich wird. Von ihr
jedoch muß die Richtigkeit unterſchieden werden und dieſe iſt
es, welche durch ihre Relativität der Phantaſie erlaubt, mit
den Geſtalten der empiriſchen Realität ein träumeriſches Spiel
zu treiben. Die Phantaſie genießt ſich recht in ihrem Spiel¬
triebe, indem ſie ſich gleichſam von dem Gehorſam losſagt,
mit welchem ſie dem Poſitiven in der Reproduction deſſelben
zu huldigen hat, durch ein feſſelloſes Produciren von Geſtalten,
die nur ihrer eigenen Schöpferkraft angehören. Sie verge¬
wiſſert ſich ihrer Freiheit durch die Saturnalien ihrer Willkür.
Sie ſcherzt mit ihrer Ueberſchwänglichkeit. Sie erſchafft
Pflanzen, die in keiner Flora, Thiere, die in keiner Fauna,
Begebenheiten, die in keiner Geſchichte vorkommen. Kann
auch bei dieſem phantaſtiſchen Weſen noch von Correctheit
die Rede ſein? Es ſcheint nicht ſo, denn mit welchen
[131] poſitiven Normalformen ſollen dieſe Kunſtgebilde verglichen
werden?


Zunächſt werden wir uns erinnern müſſen, daß Natur
und Geſchichte ſelber reich ſind an phantaſtiſchen Erzeugniſſen.
Wenn nur der Verſtand darin wirkſam ſein dürfte, würden
dieſelben freilich nicht vorkommen, aber Zufall und Willkür
ergehen ſich in den keckſten Ausgelaſſenheiten; es iſt buch¬
ſtäblich wahr, daß die empiriſchen Combinationen mit den
Erfindungen der ſubjectiven Phantaſie dreiſt zu wetteifern
vermögen. Dem Verſtande allein zufolge dürfte es ſchwerlich
Thiere geben, die äußerlich von Pflanzen nicht unterſcheidbar
ſind, wie die große Gruppe der Phytozoen. Der Verſtand
allein würde jene vorſündfluthlichen Rieſenconvolute wider¬
ſprechender Formen nicht hervorgebracht haben. Auch in der
jetzigen organiſchen Epoche der Erde würde er keine fliegenden
Fiſche, Flügeleidechſen, fliegende Mäuſe, Eidechſen mit langen,
ſpießlöffelförmigem Schnabel, Nagethiere mit Fiſchſchuppen¬
ſchwänzen, warmblütige Säuger, die uns aus den Wogen
des Meeres heraus als Fiſche necken u. ſ. w. geduldet haben.
Die Natur, mehr als verſtändig, nämlich vernünftig, iſt in
ihrer Freiheit auch launig und phantaſtiſch genug, das ſchein¬
bar Widerſprechende zu vereinen. Nur das ſcheinbar Wider¬
ſprechende, denn im Innern des Organismus darf kein
Widerſpruch ſein, weil er ſonſt nicht lebensfähig wäre; in
der äußern Form hingegen kann er widerſprechend erſcheinen.
Die Phantaſtik der Kunſt hätte alſo, wenn ſie Stierlöwen,
Adlerſtiere, Greife, Sphinxe, Centauren u. dgl. erſchafft,
Analogien der Natur für ſich. Nicht weniger in der Ge¬
ſchichte, denn die Freiheit des Geiſtes erzeugt in Verbindung
mit dem Zufall die ungeheuerlichſten, fabelhafteſten Phäno¬
mene, welche die Phantaſtik der Natur unendlich überbieten.
9 *[132] Der Geiſt bringt zahlloſe phantaſtiſche Geſtalten und Be¬
gebenheiten hervor, deren buntſchillernde Exiſtenz oft die
kühnſten Phantasmagorien der Künſtler kaum zu dichten ge¬
wagt haben würden. Napoleons des Erſten Leben — das
Leben eines Lieutenants der Artillerie, eines Generals, eines
Staatsmannes, eines Eroberers, eines Verbannten, — welche
Phantaſie hätte Kraft genug gehabt, ein ſolches Wunderge¬
dicht zu erſinnen? Das Leben der Goldfinder in den
Californiſchen und Auſtraliſchen Minen, wer würde es nicht
noch vor einem Decennium für ein Mährchen erklärt haben?
Der Zug der Mormonen von Nauvoo durch die Wüſte
zum Utahſee — wer hätte, während im alten Europa Barri¬
caden gebaut wurden, gleichzeitig ſolche wahrhaft Altteſta¬
mentliche Poeſie in dem verſtändigen Nordamerika erwartet?
Othello, geſpielt von Ira Aldridge, einem wirklichen
Mohren, — wie hätte Shakeſpeare ſich dies träumen
laſſen? — Doch wir halten ein, weitere Thatſachen anzu¬
führen; Thatſachen, die unſerm Jahrhundert, unſerer nächſten
Gegenwart angehören; Thatſachen, die nicht durch weite Ent¬
legenheit, durch graues Alterthum, durch Ueberdichtung der
Tradition einen phantaſtiſchen Schimmer erſt erhalten haben. —
Der Geiſt geht über die verſtändige Zweckmäßigkeit, über das
bloße Bedürfniß, über die kahle Nützlichkeit unbedenklich hin¬
aus, wenn es gilt, ſeiner Eigenthümlichkeit Raum zu ſchaffen.
Aber auch die reinen Contouren der Schönheit achtet er nicht,
wenn er dem Drange folgt, ſeine Individualität zu markiren.
Welcher Wunderlichkeit begegnen wir nicht in der Mode der
Völker? Man erinnere ſich z B. jener mittelaltrigen Schnabel¬
ſchuhe, die in ein ſpitzes, ſchellenverziertes Horn ſich empor¬
bogen. Forderte die Geſtalt des Fußes eine ſolche Form?
Nein. Gewährte ſie eine beſondere Bequemlichkeit? Gewiß
[133] nicht. Sollten dieſe Hörner ernſtlich auf Schönheit Anſpruch
machen? Unmöglich. Wozu alſo exiſtirten ſie? Offenbar
nur, um einer tollen Laune des übermüthig ſpielenden Geiſtes
zu genügen. Man erinnere ſich jener Trachten des Direc¬
toriums, wie Wattier ſie ſo trefflich auf jenem Bild in
der Galerie Moreau gemalt hat. Während die Frauen als
merveuilleuses Hals und Buſen, die Arme, ja, durch den
Seitenſchlitz der Tunika mehr als nur die Waden bloß
trugen, während ſie alſo die Natur enthüllten, ſehen wir die
Dandys als Incroyables recht im Gegenſatz die Natur durch
ſtupende Haarwulſte, durch ſteife breite Kinntücher, durch
ſeltſam zugeſpitzte Rockſchöße gleichſam unkenntlich machen.
Solcher Geſtalten erinnere man ſich, um einzugeſtehen,
daß die Geſchichte mit ihren phantaſtiſchen Formationen
oft mitten am ſonnenhellen Tage in die Traumwelt überzu¬
ſchwanken ſcheint.


Wenden wir uns zur Kunſt zurück, ſo werden wir
für ihre Phantaſtik eine äſthetiſche Grenze anzuerkennen
haben, nicht was die Richtigkeit, wohl aber, was die Wahr¬
heit
der Gebilde anbetrifft. Sie müſſen uns mit der Illuſion
ergreifen, zwar kein directes empiriſches Gegenbild, jedoch
eine gewiſſe Realität zu haben. Dies Verhältniß nennen
wir die ideelle Wahrſcheinlichkeit Unſerm Verſtand
widerſprechen ſie und doch müſſen ſie ſich ihn durch ihre
Einheit in ihren Widerſprüchen, durch die Natürlichkeit in
ihrer Unnatur, durch die Wirklichkeit in ihrer Unmöglichkeit
unterwerfen. Wir müſſen anerkennen, daß ſolche Geſchöpfe
der Phantaſie, wie Chimären, Hekatoncheiren, Centauren,
Sphinxe u. ſ. w. anatomiſch und phyſiologiſch unmöglich
wären, aber doch müſſen ſie uns in ſolcher Harmonie mit
ſich erſcheinen, daß bei ihrem Anblick ein Zweifel an ihrer
[134] Realität unmittelbar gar nicht in uns aufkommt. Das von
dem Verſchiedenen Hergenommene muß ſeiner Wahrheit nach
gebildet ſein. Ohne dieſer Forderung zu entſprechen, würden
wir das Phantaſtiſche für incorrect erklären müſſen. Dieſe
Correctheit der Einheit, der Symmetrie und der Harmonie
im Heterogenen, das die Willkür der Phantaſie verknüpft
hat, muß vorhanden ſein, widrigenfalls die Geſtaltung häßlich
oder komiſch ausfällt. Eine Aegyptiſche Sphinx vereinigt
ein Menſchenhaupt und einen weiblichen Buſen mit dem
Leibe der Löwin. Anatomiſch und phyſiologiſch iſt ſolche
Einheit unmöglich; die Plaſtik gibt ſie uns aber mit ſolcher
Beſtimmtheit und Klarheit, daß wir im Moment des An¬
ſchauen an jenen naturwiſſenſchaftlichen Scrupel gar nicht
denken. Wie ruhig liegt doch der Leib auf ſeine Tatzen
hingeſtreckt, wie gerade iſt der Hals emporgerichtet, wie
ſinnig das Auge vor ſich hinblickend! Und wir ſollten dieſe
Exiſtenz in unſerer Phantaſie nicht kategoriſch gewähren
laſſen? Wäre freilich das Frauenhaupt mit dem Körper der
Löwin nicht in natürlich ſcheinendem Uebergang verſchmolzen,
wäre der eine dem andern nur aggregatmäßig angeſetzt, ver¬
ſchwiſterte ſich das an ſich Heterogene nicht ungezwungen
mit einander, ſo würden wir die Sphinx häßlich finden.
Daſſelbe gilt von den ähnlichen Halbthieren, von den
phantaſtiſchen Pflanzen und ſelbſt den Arabesken. Eine
Phantaſieblume muß mit ihrer Blattform, Blattſtellung,
mit ihrem Kelch den Schein der Naturwahrheit vortäuſchen;
ihre Proportionen müſſen äſthetiſch möglich ſein. — Auch
für den Geiſt werden wir, wie phantaſtiſch er ausſchweife,
die Wahrſcheinlichkeit im Sinne der Idee fordern; im
Sinne der Idee, denn dem verſtändig empiriſchen kann die
Phantaſtik ſchlechthin widerſprechen, ohne höhere Geſetze zu
[135] verletzen. Die Excentricität muß innerhalb ihrer Wirbel eine
gewiſſe Möglichkeit behalten; d. h. man darf nicht ſchon,
womit ſo viele Heutige zufrieden ſind, das Abſurde mit dem
Phantaſtiſchen verwechſeln. Manche Autoren der ältern
romantiſchen Schule in Deutſchland haben ihre geſunden
Anfänge in eine geſchmackloſe Verworrenheit auslaufen laſſen,
die ſie für den Gipfel poetiſchen Tiefſinns nahmen, während
ſie damit in der That nur beim Abſurden, beim ideenloſen
Nihilismus angelangt waren. Arnim's treffliche Dolores,
Brentano's Godwi oder das ſteinerne Bild der Mutter,
ſind Beiſpiele dazu (28). — Unter den modernen Malern
hat Grandville ſich wohl als einen Rieſen der phantaſtiſchen
Kunſt bewährt. Wie wunderbar ſind in ſeinen Fleurs animés
die Mädchengeſtalten mit den Blumenformen verwebt, ſo
daß man nicht weiß, ſoll man ſagen, die Mädchen ſeien
zu Blumen oder die Blumen zu Mädchen geworden! Die
Blume iſt nur ein Schmuck, aber ein ſo botaniſch correcter,
daß ſeine Drapperie mit der menſchlichen Geſtalt den identiſchen
Charakter zeigt (29). In ſeinem Werk, un autre monde,
unſtreitig dem Culminationspunct ſeines Genies, hat er ſich
aber in Wagniſſe eingelaſſen, deren Widerſprüche unſere
Phantaſie völlig zerreißen. Wir ſtehen mit ihnen an der
Grenze des Wahnſinns und vermögen die Anſchauung kaum
zu ertragen. Worin liegt das Peinliche mancher dieſer
Bilder? Wir glauben darin, daß Grandville innerhalb
des Phantaſtiſchen nicht nur der äſthetiſchen Wahrſcheinlichkeit
treu blieb, vielmehr in der abſoluten Losgelaſſenheit der
dichtenden Willkür eine erſchreckende Naturwahrheit behalten
hat. Die Höllenbreughel, die Teniers und Callot
haben für ihre Verſuchungen des heiligen Antonius
höchſt phantaſtiſche Figuren erſchaffen, die aber von aller
[136] Naturtreue abſtrahiren und nur einen phantaſtiſchen àplomb
beſitzen. Grandville dagegen hat in ſeinen Verzerrungen
nicht blos eine Schildkröte mit einem Pudelkopf, nicht blos
einen Bären mit einem Schlangen-, eine Heuſchrecke mit
einem Papagaienkopf; er hat nicht blos Maſchinen als
Menſchen, Menſchen als Maſchinen gemalt; ſondern er hat
unter Anderm auch einen Thierzwinger gemalt, vor welchem
ſelbſt antediluvianiſche Monſtra ſich entſetzen würden, denn
wir erblicken in ihm Doppelthiere, die nicht blos Syntheſen
zwieträchtiger Formen, vielmehr ſich ausſchließende Bildungen
ſind, welche die Illuſion der Einheit in einer fürchterlichen
Weiſe vernichten. Wir ſehen z. B. einen Büffel, deſſen
Schwanz in eine krokodilartige Schlange endet, ſo daß nun
zwei Hufe des Büffels nach vorn, zwei Tatzen des Krokodils
nach hinten gerichtet ſind, ein Zwieſpalt der Tendenz, der
die Einheit auf verrückte Weiſe ſtört. Oder auch wir ſehen
von einem Kletterbaum einen Löwen herabſtürzen, deſſen
Schwanz ein Pelikanhals iſt, welcher eben einen Fiſch
verſchlingt. Dies iſt wirklich häßlich und zu gräßlich, um
komiſch wirken zu können. Mit einer komiſchen Wendung
werden allerdings ſelbſt die extremſten Widerſprüche erträglich.
So hat Grandville in demſelben Werk eine Menagerie
gemalt, vor deren Käfigten allerlei neugieriges Thiervolk ſich
umtreibt. Da erblicken wir den Engliſchen Einhornleoparden
im Käfigt und vor demſelben eine Hundegeſtalt mit dem
Kopf und Hut eines Matroſen, der eine kurze Pfeife raucht.
Vor einem in ſich verdoppelten Napoleoniſchen Adler ſehen
wir eine Sphinx kauern, welche den Kopf einer Elſaſſiſchen
Amme hat, die, ſtatt mit der Aegyptiſchen Kalantika, mit
ihrer bekannten hohen Haube geziert iſt. Jener Matroſen¬
hund, dieſe Sphinxamme, das iſt phantaſtiſch und witzig,
[137] ohne häßlich zu ſein. — Um die ſchlechte Unwahrſcheinlichkeit
einer falſchen Phantaſtik zu verſpotten, erfindet die Komik
auch wohl das Unmögliche, trägt es aber im Ton der
doctrinärſten Ehrlichkeit vor, wie Lukianos ſo vortrefflich
in ſeinen wahren Geſchichten die Aufſchneiderei der
Reiſenden und die Pedanterie der Gelehrten zugleich ver¬
ſpottet (30).


Nun könnte man noch das Mährchen als eine Gattung
anführen, in deren Weſen der Widerſpruch mit der Nor¬
malität der Natur und Geſchichte liege. Wimmelt es nicht
von Geſtalten und Begebenheiten, welche der poſitiven Ge¬
ſetzmäßigkeit ins Geſicht ſchlagen, alſo unmöglich, alſo incor¬
rect ſind? Das wahrhafte Mährchen wird aber niemals
incorrect ſein in dem Sinne, daß ſeine Unmöglichkeiten nicht
ſymboliſch wahrſcheinlich wären. Seine Blumen werden
ſingen; ſeine Thiere werden ſprechen; Menſchen werden ſich
in Thiere, Thiere in Menſchen verwandeln und Wunder über
Wunder werden geſchehen: aber durch dieſe Phantaſtik wird
ein tiefer, man möchte ſagen, heiliger Anklang der Natur-
und Geſchichtwahrheit hindurchgehen; die künſtlichen Hüllen,
mit welchen die Civiliſation alle Verhältniſſe umkleidet,
werden von der Unbedingtheit der Mährchenwelt durchbrochen.
Es bleibt, wie im Orientaliſchen und Altnordiſchen Mähr¬
chenſtock (weniger im Celtiſchen), innerhalb der Idee correct
und bewahrt ſich die natürliche Unſchuld der kindlichen Phan¬
taſie. Läßt es einen Menſchen in einen Eſel verwandelt
werden, ſo läßt es denſelben noch immer als Menſchen
denken und handeln, aber als Eſel Stroh und Diſteln
freſſen. Es wird nicht auf ſolche Abſurditäten verfallen,
wie ſie unſere jüngſte Mährchenpoeſie uns dargeboten hat.
In Redwitzens Mährchen vom Tannenbaum ſoll der
[138] Tannenbaum ein Symbol Gottes ſein. Der Tannenbaum
liebt trocknen ſandigen Grund; Redwitz läßt dennoch ſeinen
Wurzeln einen Quell entrauſchen — das ſoll der Menſch
ſein, der ſich, der natürlichen Fallkraft folgend, in die Weite
und Breite der Welt verliert und endlich in Gefahr iſt, zu
ſtagniren und zu vertrocknen. Da ſendet ihm der Baum
einen rettenden Aſt nach — und nun fließt der Bach rück¬
wärts ſeinem Urſprung wieder zu! Der Erlöſer der Menſchen
— durch einen nachgeſchleuderten Tannenaſt ſymboliſirt!
Welche dürre Nadelholzpoeterei! Ein rückwärts fließender
Bach! Welch' ein Tiefſinn!

B.
Die Incorrec theit in den beſondern Stylarten.

Die Kunſt hat an der Idee der Natur und Geſchichte
eine allgemeine Norm für die Correctheit ihrer Gebilde.
Allein ſie erzeugt ſich auch durch ihre eigene Nothwendigkeit
Normen, denen ſie ſich für die Verwirklichung ihrer
Werke unterwerfen muß. Wir nennen die beſondere Form
ihres typiſchen Verfahrens Styl. Ein Kunſtwerk iſt nur
dann correct, wenn es die Eigenthümlichkeit eines be¬
ſondern Styls durchführt. Eine Vernachläſſigung dieſer
Identität wird incorrect. Es gehört nicht hieher, die ver¬
ſchiedenen Richtungen abzuleiten, in welche das Ideal für
ſeine Realiſirung durch den Styl auseinandergeht. Wir
haben dieſelben nur ſo viel hier zu beachten, als erforderlich
iſt, uns eine beſondere Form des Häßlichen zu erklären, die
aus der Negation der Individualität eines Styls entſpringt.


Aus der Idee des Schönen ſelber ergibt ſich, daß die
Darſtellung eines Kunſtwerkes entweder im hohen und
[139]ſtrengen, im mittlern, oder im leichten und niedern
Styl
möglich iſt. Für eine dieſer Tonarten muß der
Künſtler ſich entſchließen. Jede enthält Abſtufungen in ſich,
die Uebergänge zu den andern bilden, aber jede hat eine nur
ihr zukommende aſthetitſche Qualität. Die Kunſt muß darauf
beſtehen, daß ihre Producte entſchieden in der einen oder
andern dieſer Stylarten gehalten ſeien. Werden dieſelben,
wie beſonders in der Romanform geſchieht, gemiſcht, ſo
müſſen doch innerhalb der Miſchung die Unterſchiede in ihrer
Reinheit für ſich hervortreten. Der hohe Styl ſchließt
Formen und Wendungen von ſich aus, die dem mittlern er¬
laubt ſind; der mittlere ſolche, deren der niedere ſich bedienen
darf und muß. Der hohe Styl ſtrebt ins Erhabene hinauf;
der mittlere bewegt ſich würdig und anmuthvoll; der niedere
geht in das Gewöhnliche, noch mehr aber in das Burleske
und Groteske über. Es iſt folglich incorrect, wenn in einem
Kunſtwerk ein durch ſein Weſen geforderter Styl nicht durch¬
gehalten wird. Die Feierlichkeit des Hymnus, die Begeiſte¬
rung des Dithyrambus, der Schwung der Ode ſchließen
z. B. Worte und Wendungen von ſich aus, welche für das
einfach geſellige Lied unverfänglich ſind. Umgekehrt würde
es nicht weniger incorrect ſein, wenn dies im Pomp von
Prachtausdrücken ſich ergehen wollte, die lediglich dem hohen
Styl eignen. Die Geſchichte der Kunſt bietet uns in An¬
ſehung der Reinheit des Styls die ähnliche Erſcheinung dar,
wie die Geſchichte der Wiſſenſchaft in Anſehung der Methode.
In der Wiſſenſchaft ſind die Werke äußerſt ſelten, die ein
Bewußtſein über ihr Verfahren beſitzen. Die Mehrheit der
wiſſenſchaftlichen Darſtellungen iſt ſich nicht klar, ob ſie den
Gegenſtand analytiſch, ſynthetiſch oder genetiſch behandelt.
Und ſo erkennen wir denn auch in vielen Kunſtwerken eine
[140] ähnliche Bewußtloſigkeit des Künſtlers über ſein Verhältniß
zu dem Ton, den er von vorn herein hätte fixiren müſſen.
Manche Widerſprüche entſtehen auch dadurch, daß andere,
als nur äſthetiſche Motive die Darſtellung beſtimmten. Die
Frazzen z. B., die wir an den Säulknäufen Gothiſcher
Kirchen antreffen und die bekanntlich oft ſehr cyniſche Ob¬
jecte in ſich ſchließen, können als ein Luxus der Phantaſie,
der die Macht des totalen Eindrucks nicht zu ſchwächen ver¬
mag, geduldet werden; ſie hatten aber nicht in äſthetiſchen
Gründen, ſondern in andern Beziehungen ihren Urſprung,
die zum Theil der ſocialen Stellung und Tradition der Bau¬
hütten angehörten. Aus dem Styl des Ganzen können ſie
nicht abgeleitet werden und dem harmoniſchen Sinn eines
Griechen wären ſie als ungehörig erſchienen. Die Verſtöße
ſind oft nicht grell, aber doch fühlbar. Hölty's Trink¬
lied
(Ein Leben, wie im Paradies, gewährt uns Vater
Rhein) iſt im mittlern Styl gedichtet, der in den leichten
überklingt. Wenn Hölty aber zuletzt ſingt:

Es lebe jeder Deutſche Mann,

Der ſeinen Rheinwein trinkt.

So lang er's Kelchglas halten kann,

Und dann zu Boden ſinkt!

ſo geht dieſe letztere Wendung aus dem mittlern und leichten
Ton in den niedern über. Trinken, bis man zu Boden
ſinkt — das iſt brutal. Wenn das Leben im Paradieſe,
welches der Vater Rhein gewährt, mit dieſem Reſultat
endigen ſoll, ſo iſt es nicht ſehr einladend. Und einem
ſolchen Zecher noch ein Lebehoch auszubringen, iſt auch nicht
anſprechend. In derſelben Strophe läßt Hölty die Winzerin
hoch leben, die er ſich zur Königin erkor. Wie nahe lag es,
von hier aus einen ganz andern, edleren Schluß zu ge¬
[141] winnen, als jenen rohen, der die Jovialität des Liedes gar
zu Deutſch beendet.


Das unabſichtliche Vermiſchen der Stylarten, das be¬
wußtloſe Ueberſpringen von einer in die andere wird häßlich;
komiſch wird es nur, wenn es mit Ironie parodiſtiſch her¬
vorgebracht wird. Im ſiebzehnten und achtzehnten Jahr¬
hundert hat man an und in den Gothiſchen Kirchen und
Rathhäuſern viel Reparaturen, Ergänzungen, Umbauten in
einem antikiſirenden Styl gemacht, deſſen heitere Schön¬
heit mit der Tendenz zum Erhabenen im Deutſchen Styl gar
nicht im Einklang war; ein Widerſpruch, den man nur
häßlich, nicht komiſch finden kann, zumal die meiſten dieſer
ſupplementariſchen Bauten in ſich ſelbſt oft Monſtra des
Styles waren, den ſie ausdrücken ſollten. Wenn aber das
Herunterfallen aus einer Tonart in die andere mit Abſicht
hervorgebracht wird, kann es ein Hauptmittel der Komik
werden. Der große Napoleon erinnerte ſeine Krieger in
Aegypten daran, daß vierzig Jahrhunderte von den Pyra¬
miden auf ſie herabſchaueten. Auf einem Bilde erbicken wir
FauſtinI., wie er ſeine halbnackte Garde im ſpärlichen
Schatten einiger Palmen mit den Worten haranguirt: „Sol¬
daten! Von der Höhe dieſer Palmen ſchauen — vierzig Affen
auf Euch herab!“ Der feierliche Beginn der Rede wider¬
ſpricht ſich durch ihren Ausgang — aber komiſch.


Die allgemeinen Geſetze des äſthetiſchen Ideals werden
aber durch den nationalen Styl zu einer charakteriſtiſchen
Beſonderung individualiſirt, welche aus der Raçe, aus dem
Local, aus der Religion und aus der Hauptbeſchäftigung
entſpringt, der ein Volk ſich widmet. Je mehr der Genius
einer Nation in Thaten ſich ausdrückt, um ſo mehr geiſtiger
Gehalt tritt in ihr Selbſtgefühl und um ſo individueller kann
[142] ihr Kunſtſtyl werden. Eine Nation verfügt nicht frei über
ihr Schickſal; ſie iſt in den ungeheuren Zuſammenhang des
ganzen Weltlebens eingegliedert und wird oft durch Be¬
dingungen in ihrer Exiſtenz beſchränkt, die ihr lange ver¬
borgen bleiben, die ihr ſogar zuweilen erſt in der tragiſchen
Epoche ihres Unterganges klar werden. In dem National¬
ſtyl können ſich deshalb Formen entwickeln, welche zwar der
Eigenthümlichkeit der Nation entſprechen, jedoch zugleich ſo
ſehr mit der unvermeidlichen, beſondern Beſchränkheit ihres
Selbſtgefühls verwachſen ſind, daß ſie mit den abſoluten
Forderungen des Ideals nicht übereinſtimmen und, einmal
zur Gewohnheit, zum allgemeinen Vorurtheil geworden, ihre
Kunſt auf einem unvollkommneren Standpunct feſthalten. Ein
Volk ſetzt dann bei ſeinen Künſtlern ſtillſchweigend die Be¬
folgung dieſer habituellen Normen voraus; ſie werden,
indem die Zeit ihre Herrſchaft befeſtigt, zu einem empiriſchen
Ideal, an welchem man die Correctheit mißt. Was nicht
innerhalb der Schranken deſſelben hervorgebracht wird, gilt
alsdann einem Volk für incorrect. Wir bedienen uns ganz
richtig, um das Problematiſche des hier entſpringenden Ur¬
theils zu bezeichnen, des Ausdrucks Nationalgeſchmack
für die individuelle Typik in der Kunſt einer Nation.


Es verſteht ſich, daß der Nationalgeſchmack mit den
Forderungen des Ideals zuſammenfallen kann; eben ſowohl
aber kann auch das Gegentheil ſtattfinden. In dieſem letztern
Fall wird es möglich, daß der Künſtler gerade dadurch, daß
er im höchſten Sinne des Worts correct iſt, im Sinne des
Nationalſtyls incorrect wird. Der Künſtler, dem abſoluten
Gebote der Kunſt getreu, geräth durch dieſen Gehorſam in
Widerſpruch mit dem empiriſch fixirten Ideal. In China
z. B. hat ſich die Architektur als Holzbau entwickelt. Um
[143] nun das Holz, welches die Chineſen als das fünfte Element
nehmen, gegen die Witterung zu ſchützen, hat man es mit
Porzellanflieſen belegt und mit Firniß überſtrichen und, um
die Monotonie zu brechen, ſich an bunte, grelle Farben ge¬
wöhnt. Der Farbenglanz des Lacks, durch Vergoldung ge¬
ſteigert, iſt national geworden und correct im Chineſiſchen
Sinn erſcheint nunmehr nur dasjenige, was dieſer hellen
Farbenmannigfaltigkeit entſpricht. Oder man erinnere ſich,
daß die Franzoſen vermeintlich die abſtracte Einheit des
Ortes, der Zeit und der Handlung beim Drama für Ariſto¬
teliſch hielten, daß ſie dieſe Theorie zur abſoluten Norm bei
ſich erhoben, ſo wird man begreifen, daß ihnen ein Verſtoß
gegen eine der drei Einheiten als incorrect erſcheinen mußte.
Sie hatten ſich ſo ſehr in jene abſtracte Einheit hineingedacht,
hineingelebt, daß eine Abweichung von derſelben, und wäre
ſie noch ſo poetiſch geweſen, von ihnen als häßlich empfunden
wurde. Man vergegenwärtige ſich nur eines der bekannten
Urtheile, welche Voltaire von ſeinem nationalen Geſichts¬
punct aus über die Engliſche Bühne als eine barbariſche
fällte, weil bei dieſer umgekehrt der Wechſel von Ort und
Zeit und der Uebergang der Haupthandlung in eine freie
Mannigfaltigkeit epiſodiſcher Nebenhandlungen, die von den
Franzoſen nur dem Epos geſtattet wurden, zum nationalen
Ideal ſich entwickelt hatte. — Verbindet ſich die Beſtimmt¬
heit des nationalen Styls mit religiöſen Anſchauungen, ſo
kann dieſelbe, wenn ſie im Sinn des abſoluten Ideals
incorrect iſt, die reine Geſtaltung des Schönen oft lange
Zeit niederhalten. Die Kunſt kann in ihrer Technik nicht
nur, ſondern auf andern Gebieten, die mit dem religiöſen
nicht direct zuſammenhängen, auch in ihrem idealen Streben
ſchon höhere Stufen erreicht haben, ſieht ſich aber auf dem
[144] religiöſen gezwungen, die typiſche Geſtalt, wiewohl ſie ſogar
häßlich ſein kann, noch immerfort zu reproduciren; wie
Gutzkow in ſeinem humoriſtiſchen Roman Mahaguru
veranſchaulicht hat, worin die Gebrüder Hali-Yong in
Tübet einem Ketzerproceß unterworfen werden, weil ſie ge¬
wagt haben, das Bild des Gottes zu verſchönen und in
ihrer Götterfabrik an der Statue des Dalai Lama den
Zwiſchenraum zwiſchen Mund und Naſe in einer äſthetiſcheren
Dimenſion darzuſtellen, als die geheiligten Traditionen es
geſtatteten. So finden wir im Kreiſe des Islam die Plaſtik
und Malerei durch das Verbot des Koran gehemmt, eine
beſeelte Geſtalt zu bilden; ſie bleibt alſo auf das Feld der
Ornamentik beſchränkt und hat die plaſtiſche Productionskraft
in den überſchwänglichen Reichthum derſelben ergießen müſſen.


Wir beſitzen in den verſchiedenen Nationalſtylen zugleich
verſchiedene objective Formen des äſthetiſchen Ideals. Sie
ſind inſofern das adäquate Mittel, gewiſſe Zuſtände, Em¬
pfindungen, Stimmungen auszudrücken. Es wird deshalb
zur Correctheit gehören, den einer beſondern Aufgabe ent¬
ſprechenden Styl zu finden und ihn conſequent, nach den
ihm inhärirenden Eigenheiten, durchzuführen. Es kann z. B.
der äſthetiſchen Wahrheit gemäß ſein, einen Gegenſtand im
Chineſiſchen oder Griechiſchen oder Mauriſchen Styl u. ſ. w.
darzuſtellen. In ſolchem Fall würde man incorrect werden,
nicht auch die richtigen Formen des betreffenden National¬
ſtyls zu verwenden. Man erinnere ſich an Montesquieu's
Briefwechſel zwiſchen Usbeck und Rica, der das Perſiſche
Coſtum angelegt hat; an Voltaire's Zadig; an Leſſing's
Nathan; an Göthe's Weſtöſtlichen Divan; an Rückert's
Oeſtliche Roſen u. ſ. w., in welchen Dichtungen überall der
Muhammedaniſch Orientaliſche Styl herrſcht.


[145]

Innerhalb einer Nation pflegt ihr Kunſtſtyl wiederum
verſchiedene Epochen der Entwicklung zu durchlaufen, die
ſich als Schulen geſtalten. Eine Schule fixirt eine Zeit
lang einen eigenthümlichen Geſchmack, der in der Realiſirung
des Ideals eine beſondere Stufe ausmacht und daher ſich
ähnlich, wie ein Nationalſtyl, zu einem relativen äſthetiſchen
Kanon machen kann. Im Allgemeinen wird ſich in einer
Schule die Richtung eines Nationalſtyls zur reinſten Dar¬
ſtellung zuſammenfaſſen. Das Ideal eines Nationalgeiſtes
wird mit dem Ideal einer Schule zuſammenfallen; die übrigen
Schulen derſelben Nation werden als voraufgehende und
nachfolgende Entwicklungsmomente der Hauptſchule erſcheinen.
Ein ſolcher Styl wird durch die Univerſalität, zu welcher er
ſich erhebt, auf bleibende Weiſe Organ der Kunſt werden
können, wie wenn wir heut zu Tage in der Malerei ſagen,
daß ein Bild im Italieniſchen oder Niederländiſchen Styl
gemalt ſei, zugleich aber angeben, ob es in der Weiſe der
Florentiniſchen oder Römiſchen oder Venetianiſchen oder
Sieneſiſchen Schule u. ſ. w. concipirt ſei. Iſt einmal eine
ſolche Vorausſetzung gemacht, ſo wird der Künſtler incorrect,
wenn er ſich nicht den Eigenheiten unterwirft, die zu den
conſtitutiven des beſondern Schulgeſchmacks gehören. Es iſt
nicht unmöglich, daß einige derſelben nicht correct ſind im
Sinne der Naturwahrheit; der Künſtler würde incorrect im
Sinne der Schule werden, wollte er nicht mit ihrer Indi¬
vidualität auch ihre Fehler realiſiren, weil er, aller Wahr¬
ſcheinlichkeit nach, ohne dieſelben auch nicht die Tugenden
würde erreichen können, welche den Styl der Schule aus¬
zeichnen.


Hier iſt der Punct, eines Begriffs zu erwähnen, der
Göthe viel beſchäftigt hat, nämlich des Dilettantismus.
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 10[146]Göthe hat in ſeiner Bearbeitung von Diderots Verſuch
über die Malerei ſich demſelben inſofern entgegengeſetzt, als
Diderot die pragmatiſche Nothwendigkeit des Richtigen mit
der äſthetiſchen Wahrheit des Ideals verwechſelte. In der
wohlbegründeten Polemik, welche er dem Pedantismus der
akademiſchen Steifheit entgegenſetzte, wurde er zum unbe¬
dingten Apologeten der Natur, die, ihm zufolge, nichts In¬
correctes macht, denn ſagt er, jede Geſtalt, ſie mag ſchön
oder häßlich ſein, hat ihre Urſache, und unter allen exiſtirenden
Weſen iſt keins, das nicht wäre, wie es ſein ſoll. Göthe,
der Apologet der nach Regeln producirenden Kunſt, geht
ſeinerſeits ſo weit, zu behaupten, daß man eher ſagen dürfte:
Die Natur iſt niemals correct! „Die Natur arbeitet auf
Leben und Daſein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres
Geſchöpfs, unbekümmert, ob es ſchön oder häßlich erſcheine.
Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu ſein beſtimmt
war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Theile ver¬
letzt werden: ſogleich leiden andre Theile mit. Denn nun
braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wiederherzu¬
ſtellen, und ſo wird den übrigen etwas entzogen, wodurch
ihre Entwickelung durchaus geſtört werden muß. Das Ge¬
ſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern was es
ſein kann.“ Die Zucht der Schule und den unſchätzbaren
Werth ihrer Erfahrung hervorhebend ruft Göthe weiterhin
aus: „welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das
bloße Anſchauen der Natur, ohne Ueberlieferung, ſich zu
Proportionen entſcheiden, die ächten Formen ergreifen, den
wahren Styl erwählen und ſich ſelbſt eine Alles umfaſſende
Methode erſchaffen!“ Dieſe Tendenz hat er 1799 in dem Ent¬
wurf eines Werkes verfolgt, von welchem zu bedauern iſt,
daß er keine Ausführung, auch nicht von einem Göthe¬
[147] enthuſiaſten, erhalten hat. Wenn bei uns Deutſchen etwas
einmal im Ganzen vollbracht iſt, dann wird es bis zur
Schäbigkeit wiederholt, aber einen kleinen Schritt vorwärts
zu gehen und ſelbſt weiter fortzuarbeiten, iſt das bei Weitem
Seltnere. Die bequeme Manier, Fragmente zuſammen¬
drucken zu laſſen und mit ſolcher Blumenleſerei ſich doch
auch einen literariſchen Namen zu machen, iſt wohl bei keiner
Nation ſo, wie bei der unſrigen, im Schwange. Jener Auf¬
ſatz, den wir meinen, findet ſich in den Werken Band 44.:
über den ſogenannten Dilettantismus oder die praktiſche Lieb¬
haberei in den Künſten. Er enthält eine vollſtändige, oft
ſehr detaillirte Dispoſition, deren Entwicklung wir hiermit
einer jüngern Kraft empfehlen und an's Herz legen wollen.
Göthe ſtellt zuerſt den Begriff des Dilettantismus im All¬
gemeinen auf, paralleliſirt ihn der Pfuſcherei im Handwerk,
ſpecificirt ihn in den einzelnen Künſten, gibt ſeinen Nutzen
und zuletzt ſeinen Schaden an. Wir wollen aus dieſen Be¬
merkungen dasjenige ausheben, was ſich auf die Erzeugung
des Häßlichen bezieht. „Die Kunſt gebietet der Zeit, der
Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit. Wenn die
Meiſter in der Kunſt dem falſchen Geſchmack folgen, glaubt
der Dilettant deſto geſchwinder auf dem Niveau der Kunſt zu
ſein. Weil der Dilettant ſeinen Beruf zum Selbſtproduciren
erſt aus den Wirkungen der Kunſtwerke auf ſich empfängt,
ſo verwechſelt er dieſe Wirkungen mit den objectiven Urſachen
und Motiven und meint nun den Empfindungszuſtand, in
den er verſetzt iſt, auch productiv und praktiſch zu machen;
wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume ſelbſt
hervorzubringen gedächte. Das an das Gefühl Sprechende,
die letzte Wirkung aller poetiſchen Organiſationen, welche
aber den Aufwand der ganzen Kunſt ſelbſt vorausſetzt, ſieht
10 *[148] der Dilettant als das Weſen derſelben an und will damit
ſelbſt hervorbringen. — Was ihm eigentlich fehlt, iſt Archi¬
tektonik im höchſten Sinne, diejenige ausübende Kraft,
welche erſchafft, bildet, conſtituirt. Er hat davon nur eine
Art von Ahnung, gibt ſich aber durchaus dem Stoff dahin,
anſtatt ihn zu beherrſchen. Man wird finden, daß der
Dilettant zuletzt vorzüglich auf Reinlichkeit ausgeht, welches
die Vollendung des Vorhandenen iſt, wodurch eine Täuſchung
entſteht, als wenn das Vorhandene zu exiſtiren werth ſei.
Eben ſo iſt es mit der Accurateſſe und mit allen letzten Be¬
dingungen der Form, welche eben ſo gut die Unform be¬
gleiten können. — Der Dilettant überſpringt die Stufen,
beharrt auf gewiſſen Stufen, die er als Ziel anſieht und hält
ſich berechtigt, von da aus das Ganze zu beurtheilen, hin¬
dert alſo ſeine Perfectibilität. Er ſetzt ſich in die Nothwen¬
digkeit, nach falſchen Regeln zu handeln, weil er ohne
Regeln auch nicht dilettantiſch wirken kann und er die ächten
objectiven Regeln nicht kennt. Er kommt immer mehr von
der Wahrheit der Gegenſtände ab und verliert ſich auf ſubjec¬
tiven Irrwegen. Der Dilettantismus nimmt der Kunſt ihr
Element und verſchlechtert ihr Publicum, dem er den Ernſt
und den Rigorismus nimmt. Alles Vorliebnehmen zerſtört die
Kunſt, und der Dilettantismus führt Nachſicht und Gunſt
ein. Er bringt diejenigen Künſtler, welche dem Dilettantis¬
mus näher ſtehen, auf Unkoſten der ächten Künſtler in An¬
ſehen. — Der poetiſche Dilettantismus vernachläſſigt entweder
das unerläßlich Mechaniſche und glaubt genug gethan zu
haben, wenn er Geiſt und Gefühl zeigt; oder er ſucht die
Poeſie blos im Mechaniſchen, worin er ſich eine handwerks¬
mäßige Fertigkeit erwerben kann, und iſt ohne Geiſt und Ge¬
halt. Beide ſind ſchädlich, doch ſchadet jener mehr der Kunſt,
[149] dieſer mehr dem Subject ſelbſt. — Alle Dilettanten ſind
Plagiarii. Sie entnerven und vernichten jedes Original
ſchon in der Sprache und im Gedanken, indem ſie es nach¬
ſprechen, nachäffen und ihre Leerheit damit ausflicken. So
wird die Sprache nach und nach mit zuſammengeplünderten
Phraſen und Formeln angefüllt, die nichts mehr ſagen, und
man kann ganze Bücher leſen, die ſchön ſtyliſirt ſind und
gar nichts enthalten. Kurz alles wahrhaft Schöne und Gute
der ächten Poeſie wird durch den überhandnehmenden Dilet¬
tantismus profanirt, herumgeſchleppt und entwürdigt.“

C.
Die Incorrectheit in den einzelnen Künſten.

Im Allgemeinen beſteht alſo, wie wir geſehen haben,
die Incorrectheit in der Unrichtigkeit, in dem Abweichen von
der Geſetzlichkeit, welche der Natur und dem Geiſt einwohnt.
Im Beſondern beſteht ſie in dem Ungehorſam und Wider¬
ſpruch gegen die ideale Beſtimmtheit eines Styls, gegen den
Styl einer Nation, gegen den Styl einer Schule. Wenn
man Kant's Unterſcheidung von Ideal und Normalexiſtenz (31)
auf den Begriff des Incorrecten anwendet, ſo kann man
ſagen, daß das äſthetiſche Ideal innerhalb des Geſchmacks
einer Nation, einer Schule, zu einer particulären Normal¬
exiſtenz fortgebildet und fixirt werde. Eine Schule oder
Nation identificirt dann die empiriſch durch den geſchichtlichen
Proceß entſtandene Normalexiſtenz mit dem abſoluten Ideal.
Die Correctheit kann inſofern, wie wir uns überzeugten, zu
einer negativen Schranke der äſthetiſchen Production werden.
[150] Glücklicherweiſe hat aber jede Kunſt, ſchon durch die Be¬
ſchaffenheit ihres Darſtellungsmittels, einen ihr eigenthüm¬
lichen Trieb, der ſolche Beengtheit wieder durchbricht und
unabweisliche Incorrectheiten im Sinne des conventionellen
Styls erzeugt, weil er ſonſt der ſpecifiſchen Nothwendigkeit, der
für ſeine Kunſt erforderlichen Correctheit, nicht würde genügen
können. Hierin liegt das Geheimniß, weshalb allgemeine
Richtungen, auch wenn ſie legislative Autorität gewonnen
haben, die künſtleriſche Production doch niemals ganz zu ruiniren
vermögen. Es iſt die individuelle Correctheit der einzelnen
Kunſt, von welcher dieſe höchſt objective Wirkung ausgeht.


Alle Künſte ſollen das Schöne darſtellen, jede aber
kann es nur innerhalb ihres ſpecifiſchen Mediums. Die
Aeſthetik hat im Syſtem der einzelnen Künſte die Regeln des
daraus reſultirenden Verfahrens zu entwickeln. Wie ſchon
früher bemerkt worden, würde es von unſerer Seite unge¬
ſchickt ſein, hier in das Detail zu gehen, weil es nur in der
Litanei beſtehen könnte, allen poſitiven Beſtimmungen die
Abweichung als einen Verſtoß gegen die nöthige Correctheit
hinzuzufügen. Wir haben uns deshalb mit der Angabe einiger
allgemeinen Puncte zu begnügen, aus welchen diejenige In¬
correctheit erſichtlich wird, die gerade einer jeden Kunſt aus
ihrer Eigenthümlichkeit heraus als die Gefahr einer beſondern
Verhäßlichung drohet.


Die bildenden Künſte laſſen uns das Schöne im Raum,
in der ſtummen Materie, erſcheinen. Die Baukunſt hat die
Aufgabe, die Materie durch die Materie zu heben und zu
tragen. Sie muß daher vor allen Dingen den Schwerpunct
beachten. Verfehlt ſie dieſen, ſo wird ſie incorrect und alle
ſonſtige ornamentale oder pittoreske Schönheit kann den ar¬
chitektoniſchen Grundfehler nicht vergüten. Die Schwere
[151] corrigirt dann ſelbſt den Fehler d. h. das Gebauete ſtürzt
wieder ein; eine theure Art der Correctur, die aber in unſerer
Zeit ſehr beliebt iſt. Scheinbar kann der Schwerpunct ver¬
rückt ſein, allein nicht thatſächlich. So iſt der ſchiefe Thurm
zu Piſa mit dem fundamentalen Geſetz der Architektur nur
ſcheinbar in Widerſpruch; er iſt ein Kunſtſtück des techniſchen
Uebermuthes; Niemand aber wird dies ſchön finden, denn die
Baukunſt ſoll auch in der größten Kühnheit der Verhältniſſe
das Gefühl der Sicherheit und der Dauer erzeugen. Erſt
wenn dieſer primitiven Forderung genügt iſt, können auch
andere architektoniſche Conſequenzen befriedigt werden. Ein
Bau muß in der Erde ruhen, ſoll aber, falls er nicht Hypo¬
gäenbau iſt, über die Erde hinaus ſich in die Lüfte erſtrecken,
denn die Materie ſoll ja eben die Materie — die Wand die
Decke — tragen. Dieſe aus der Mutter Erde zum Himmel
emporſtrebende Tragkraft verleihet erſt jedem Bau ſeinen
charakteriſtiſchen Schwung, ſeine Freiheit. Es iſt alſo die
Beachtung des Schwerpunctes die innere, centripetale, die
Beachtung des Aufſteigens aus der Erde die äußere, cen¬
trifugale Correctheit zu nennen. So iſt es z. B. an Klenze's
ſonſt trefflicher Glyptothek zu München incorrect, daß ſie
ſich ſo wenig aus der Fundamentirung hervorhebt.


Für die Plaſtik entſteht die ihr eigene Incorrectheit aus
dem Verfehlen der natürlichen Maaßverhältniſſe der leben¬
digen, insbeſondere der menſchlichen Geſtalt. Die plaſtiſchen
Werke ſtellen ſich uns in der Fülle aller Raumdimenſionen
als beharrende Erſcheinung hin und verletzen deshalb unſer
Gefühl durch Unmaaß, Uebermaaß, falſche Bildung, un¬
mögliche Stellungen, auf das Empfindlichſte. Der berühmte
Kanon des Polyklet verdankt ſeinen Urſprung dem Be¬
dürfniß der Kunſt, die normalen Proportionen der Menſchen¬
[152] geſtalt als Anhalt zu fixiren. Allein gerade in der Plaſtik
finden wir auch Abweichungen von den poſitiven natürlichen
Verhältniſſen, die, nur empiriſch genommen, Incorrectheit
genannt werden könnten. Es ſind diejenigen, die ſich durch
das Bedürfniß einer höhern Harmonie rechtfertigen, wie ſchon
früherhin bei dem allgemeinen Begriff des Incorrecten be¬
merkt worden. Eine weſentliche Norm wird freilich niemals
verletzt werden dürfen, wohl aber ſind jene zarten, leiſen
Abweichungen von der natürlichen Richtigkeit geſtattet, welche
dem geiſtigen Gehalt erſt die volle Realiſirung ſeiner Eigen¬
thümlichkeit möglich machen, wie z.B. bekanntlich der Bauch
des Vatikaniſchen Apollo anatomiſch vielleicht nicht ganz
correct iſt; wir werden dies aber nicht als einen Fehler ge¬
wahr, weil die Schlankheit der Geſtalt durch die Schmäch¬
tigkeit der Hüften eine eigenthümliche vom Boden zum Himmel
aufſchwebende Elaſticität empfängt, die mit der Begeiſterung
des Hauptes harmonirt. Auch coloſſale Formen würden im
Sinn der empiriſchen Nichtigkeit nicht correct ſein; für be¬
ſtimmte Zwecke aber, erhabene Effecte hervorzubringen, können
ſie für die Kunſt vollkommen correct werden. Dennoch wird
es bei ihnen auf den Grad des Maaßes und auf die In¬
dividualität des Gegenſtandes ankommen. Auf das Maaß,
denn es darf nicht ſo groß ſein, daß die Auffaſſung der
Einheit der Geſtalt darunter leidet; auf den Gegenſtand,
denn er muß, ſchön zu ſein an ſich eine edle Form haben.
Die coloſſalen Stiere und Löwen in den Paläſten von
Niniveh ſind ſchön, denn Stier und Löwe bieten an ſich
edle Formen dar; ſtellen wir uns aber vor, daß ein Künſtler
eine auf den Hinterfüßen ſitzende Ratte, wenn auch noch
ſo vollkommen, als ein plaſtiſches Werk bilden wollte, ſo
würde daſſelbe unter allen Umſtänden ſcheußlich ſein. Das
[153] Nämliche gilt von der Verkleinerung, die ebenfalls an der
Größe wie an dem Gegenſtande ihre Grenze hat. Auch in
den einzelnen Gliedern der Geſtalt wird die Plaſtik eine
Temperirung der natürlichen Normalität ſich erlauben, allein
ſie wird dabei nicht in das Abnorme überſchweifen dürfen.
Sie wird einen Muskel, um ihn in beſonderer Beziehung
zu accentuiren, etwas ſtraffer anſchwellen oder ſanfter in
ſich zuſammenſinken laſſen, als von Natur möglich wäre,
ihm aber ſeine richtige Stelle und Form zu geben haben,
denn ein Verſtoß gegen die anatomiſche Grundwahrheit
würde ſich auch ſofort äſthetiſch rächen. Die Griechen haben
bekanntermaaßen in der Bildung des Augenknochens die ge¬
wöhnliche Formation der Natur übertrieben, allein nur
innerhalb der Plaſtik, um der farbloſen Statue durch das
tiefer liegende Auge die Kraft der Blickhaftigkeit zu geben;
der optiſche Schein gleicht daher die oſteologiſche Incorrectheit
wieder aus.


Für die Malerei liegt die ſpecifiſche Energie in der
Farbe und in der Beleuchtung; die Zeichnung als das
plaſtiſche Moment tritt dagegen zurück. Die Umriſſe der
Geſtalten müſſen allerdings richtig ſein; weil jedoch die
Malerei die individuelle Geſtalt in der Lebendigkeit ihrer
charakteriſtiſchen Färbung, im Wechſelſpiel von Licht und
Schatten und in der Maaßveränderung des perſpektiviſchen
Scheines zu geben hat, ſo iſt bei ihr ein Fehler gegen die
Zeichnung eher zu ertragen, als in der Plaſtik, die uns ihre
Geſtalten als Vollgebilde darbietet, welche ihre Farbe un¬
mittelbar an ſich ſelbſt haben und ihre Beleuchtung von
Außen her empfangen. Bei der Plaſtik iſt umgekehrt die
Farbe unweſentlich, weil es ihr auf die Geſtalt als ſolche
ankommt; mit der Starrheit des plaſtiſchen Werkes ſteht
[154] die individualiſirende Farbe in Widerſpruch; ihre Anwendung
wird für ſie ein incorrectes Verfahren, wie man bemalten
Statuen und Wachsfiguren gegenüber empfindet. In Klöſtern
und auf ſogenannten Stationen der Paſſion Chriſti, auf
Calvarienbergen, findet man zuweilen die Statuen durch
Anwendung von wirklichen Haaren und Kleidern der Natür¬
lichkeit noch mehr, als nur durch Uebermalung, genähert
und die Statue empfängt durch ſolchen Schein des unmittel¬
baren Lebens etwas Geſpenſtiſches. Wenn man in Salz¬
burg
z. B. die Stationen des Capuzinerberges bis zu dem
guten Hirten hinaufſteigt, wie ſchauerlich blicken da nicht die
grellen Geſtalten der Juden, der Kriegsknechte und des ge¬
marterten Chriſtus hinter den Drathgittern aus den Felſen¬
kammern hervor.


Das Correcte iſt eigentlich diejenige Schönheit, die
gelernt werden kann, die äſthetiſche Technik. Dies zeigt ſich
vorzüglich in der Muſik, denn obwohl dieſe Kunſt die
innerſten Regungen des Gemüths darſtellt, ſo iſt ſie doch
gerade durch die Natur des Tones an die Regeln einer
ſtrengen Arithmetik gebunden und kann deshalb in ihren
Incorrectheiten auf das Genaueſte controlirt werden.


In der Poeſie iſt die Correctheit unbeſtimmter, weil
es in ihr mehr noch, als in den übrigen Künſten, auf die
Tiefe des geiſtigen Gehaltes ankommt und weil zugleich
dieſer Gehalt mehr, als anderwärts, eine etwaige Incor¬
rectheit kann verzeihen laſſen. Ariſtoteles, Horaz,
Brileau und Batteur, haben die Regeln der Poeſie
und mit ihnen den Begriff des poetiſch Incorrecten zu be¬
ſtimmen geſucht. Sprachreinigkeit, metriſche Richtigkeit, rhe¬
toriſche Vollkommenheit und Auseinanderhalten der Gattungen
ſind Forderungen, die an jedes poetiſche Werk geſtellt werden
[155] müſſen. Diejenige Incorrectheit, an welcher unſere Zeit
leidet, liegt vorzüglich in dem letzten Punct begründet, da
wir übergenug Epen ohne Kampf, Lieder ohne Gefühl,
Dramen ohne Handlung erhalten und beſonders der Titel
Novelle für die charakterloſeſten Miſchlingsproducte beliebt iſt.


Eine eigene Art der Incorrectheit entſteht nun durch
die ungehörige Vermiſchung der Künſte. Sie können und
ſollen ſich einander unterſtützen, denn ſie ſind geſelliger
Natur und die Oper dankt ja ihre unvergleichliche Macht
dem Zuſammenwirken alle Künſte. Etwas Anderes aber iſt
es, wenn die einzelnen Künſte nach vorwärts oder rück¬
wärts über ihre Sphäre hinausgehen und Effecte hervor¬
bringen wollen, die ihnen kraft ihrer Eigenthümlichkeit ver¬
ſagt bleiben müſſen. Jede Kunſt hat ihre Stärke nur innerhalb
ihrer qualitativen Beſtimmtheit. Verläßt ſie dieſelbe und ſtrebt
ſie Wirkungen an, die nicht durch ihr Medium, nur durch
das einer andern Kunſt möglich ſind, ſo widerſpricht ſie ſich
und verfällt damit dem Häßlichen. Ein Kunſtwerk kann
alſo correct nur ſein, ſofern es die im particulären Medium
einer Kunſt liegende Grenze innehält. Ueberſpannt ſie ſich,
ſo wird ſie freilich mit eben dieſem Wagniß Effect machen,
denn ſie bringt ja dann etwas hervor, was ſie nicht her¬
vorbringen ſollte und was als eine ſeltſame Erſcheinung
immerhin intereſſant ſein kann, jedenfalls aber die Geſetze
der wahren Kunſt verletzt. Man verſtehe dies richtig. Daß
eine Kunſt die andere unterſtützt, iſt ſchön; daß aber eine
Kunſt die Individualität einer andern auslöſcht, iſt häßlich.
Die Architektur z. B. kann alſo von der Sculptur und
ſogar von der Malerei unterſtützt werden, allein nicht ſo
darf dies geſchehen, daß nicht die Baukunſt ſich ihre Selbſt¬
ſtändigkeit erhielte und, was Sculptur und Malerei zu
[156] ihrem Werk hinzuthun, nur die Rangſtufe des Ornamentes
behielte. Die Polychromie der Alten hat, wie es nach den
Berichten von Semper und Kugler (32) ſcheint, dieſe
Grenze ſorgfältig beachtet. Die Architektur bereitet der
Sculptur und der Malerei eine Stätte; ſollen nun aber die
Thaten dieſer Künſte von den Maſſen der Architektur nicht
erdrückt werden, ſo muß dieſe eine beſondere Rückſicht nehmen
und, um der Statue das Poſtament, um dem Bilde die
Wandfläche zu bereiten, den baulichen Organismus zu
dieſem Zweck modificiren. Muſik und Poeſie können ſich
ebenfalls unterſtützen, und die Poeſie kann ſogar geſungen
werden, aber auch hier kommt es darauf an, daß die Muſik
als begleitende Inſtrumentalmuſik das Wort nicht völlig
unhörbar mache und, wie in ſo manchen modernen Opern,
den Sänger zum Schreien und Brüllen zwinge, an welchem
nur noch die phyſiſche Gewalt anzuſtaunen, aber nichts
Schönes zu lieben iſt.


Leſſing hat bekanntlich in ſeinem Laokoon die
Grenzen der Malerei und Poeſie zu beſtimmen geſucht. Er
hat die Incorrectheiten angedeutet, welche dadurch entſtehen,
daß die Malerei ihre Fundamentalbedingung, die Coëxiſtenz,
und die Poeſie die ihrige, die Succeſſion, vergißt. Er hat
die Fehler, die aus ſolcher Vergeſſenheit reſultiren, für die
Poeſie als Schilderungsſucht und für die Malerei als
die Allegoriſterei bezeichnet: „indem man jene zu einem
redenden Gemälde hat machen wollen, ohne eigentlich zu
wiſſen, was ſie malen könne und ſolle, und dieſe zu einem
ſtummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem
Maaße ſie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne ſich
von ihrer Beſtimmung zu entfernen und zu einer willkür¬
lichen Schriftart zu werden.“ Bei dieſer Unterſuchung hat
[157]Leſſing von Abſchnitt 33. bis 35. die Häßlichkeit von der
Malerei ausgeſchloſſen und der Poeſie vindicirt. Dies iſt
aber ein Irrthum und nach ſeiner feinen Art wird Leſſing
ſelbſt zum Zweifel geführt, ob nicht die Malerei, zur Er¬
reichung des Lächerlichen und Schrecklichen, ſich häßlicher
Formen bedienen dürfe? „Ich will es nicht wagen, ſo ge¬
radezu mit Nein hierauf zu antworten.“ Er unterſcheidet
nun eine unſchädliche Häßlichkeit für das Lächerliche und
eine ſchädliche für das Schreckliche und behauptet, daß in
der Malerei der erſte Eindruck des Lächerlichen und Schreck¬
lichen ſich bald verliere und nur das Unangenehme und Un¬
förmliche zurückbleibe. In ſeiner Ausführung nimmt er aber
die Materialien ſeines Beweiſes immer nur aus Werken der
Poeſie, nicht auch der Malerei her und hat deshalb, wie
wir tiefer unten beim Begriff des Ekelhaften im folgenden
Theil unſerer Unterſuchung ſehen werden, die Malerei zu
eng umgrenzt.


Es zeigt ſich unter den Künſten ein innerer Zuſammen¬
hang, der uns den immanenten Uebergang der einen in die
andere darſtellt. In ihrem vornehmſten Organ, in der Säule,
kündigt die Architektur ſchon die Statue an, aber die Säule
iſt deshalb doch keine Statue. Im Relief kündigt die Sculp¬
tur ſchon die Malerei an, aber das Relief als ſolches hat
noch kein maleriſches Princip, denn es hat noch keine Per¬
ſpective und noch keinen andern Schatten, als den der zu¬
fälligen Beleuchtung. Die Malerei drückt die Wärme des
individuellen Lebens ſchon mit ſolcher Macht aus, daß der
Ton nur zufällig zu fehlen ſcheint, aber das Spiel des Lichts,
die Töne der Farben ſind noch kein wirklicher Klang. Erſt
die Muſik ſchildert in ihren Tönen unſere Gefühle. Wir
empfinden ſie in der Symbolik ihres Tongewoges, ſehnen
[158] uns aber, je mehr ſie unſer Inneres ausdrückt, aus ihrer
myſtiſchen Tiefe zur Poeſie, um in der Beſtimmtheit der
Vorſtellung und des Wortes zur Klarheit zu gelangen. Jene
ſchweſterliche Hülfe, welche ſich die Künſte unter einander
gewähren, und dieſer innere Uebergang derſelben von der
Architektur bis zur Poeſie, iſt etwas ganz Anderes, als das
falſche Uebergreifen der Künſte in einander, denn dies beſteht
nicht in einer natürlichen Steigerung, ſondern darin, daß
eine Kunſt durch Uſurpation oder Degradation Wir¬
kungen hervorzwingen ſoll, die ihr vermöge der Qualität ihres
Elementes unzugänglich ſind oder doch bleiben ſollten. Greift
eine Kunſt unberechtigt vor, ſo uſurpirt ſie; ſtellt ſie ſich
niedriger, als ſie ihrem Begriff nach ſteht, ſo degradirt ſie
ſich; Uſurpation aber und Degradation haben, wie die Wiſſen¬
ſchaft der Idee als ein allgemeines Geſetz zeigt, die Mon¬
ſtroſität in ihrem Gefolge. Nur einige Beiſpiele zur Er¬
läuterung ſeien geſtattet. Für die Architektur iſt ein Zurück¬
greifen in eine andere Kunſt nicht möglich; nach vorwärts
hin ſoll ſie ihre großen Verhältniſſe nicht durch die Sculptur
oder Malerei abſchwächen. Die Sculptur ſoll nicht rückwärts
die Rolle der Säule für die Architektur übernehmen. Atlanten
von herkuliſchem Bau ſind zwar geeigneter als zierliche Frucht¬
korbträgerinnen, zu Karyatiden zu dienen und Gebälk und
Decken zu ſtützen; niemals aber werden ſolche Träger ent¬
ſcheidende architektoniſche Glieder, immer aber eine Degradation
der menſchlichen Geſtalt ſein, die zu edel iſt, nur zum Tragen
eines Balkens zu dienen. Wie der rieſige Atlas die ganze
Erde zu tragen, hat einen poetiſchen Sinn, weil es eine
ſchlechthin unendliche Kraft vorausſetzt; aber zu vollbringen,
was eine Säule eben ſo gut oder vielmehr beſſer thun würde,
iſt gegen die Würde der Menſchengeſtalt. Umgekehrt, wenn
[159] wirkliche Säulen, wie viele Aegyptiſche, ſtatt des Capitäls
einen Kopf haben, wenn es auch der Kopf der Iſis ſelber
iſt, ſo iſt das von Seiten der Säulenformation eine Uſur¬
pation, d. h. eine äſthetiſch ungerechtfertigte Anticipation der
Statue. Verſucht die Muſik, zu malen, was nur geſehen
werden könnte, ſo ſtrengt ſie ihre Mittel vergeblich an. Die
berühmte Paſſage in Haydn's Schöpfung, es werde Licht
und es ward Licht! kann niemals das Licht als Licht ſchildern,
ſondern immer nur die ungeheure Bewegung, die ſeine Er¬
ſcheinung im Univerſum hervorbrachte. In den Jahres¬
zeiten
kommen Haydn die ſelbſt tönenden Verſchiedenheiten
der Naturereigniſſe und der Beſchäftigungen der Menſchen
zu Hülfe, im Klang maleriſch zu werden; den Jäger charak¬
teriſirt der Ruf des Horns, den Hirten der Lockton der Schal¬
mei, den Ackerer der Tanzſchritt der Flöte. Das Rauſchen
des Waſſerfalls, das Brauſen des Sturms, das Grollen des
Donners kann die Muſik nachahmen; Gefühle aber vermögen
nur einen ſymboliſchen Ausdruck zu gewinnen. Wenn man
für die muſikaliſche Malerei öfter aus Figaro's Hochzeit
von Mozart die Stelle anführt, wo die „kleine, unglück¬
ſelige Nadel“ geſucht wird, ſo iſt zu erwägen, daß ohne
dieſes Wort und ohne die mimiſche Darſtellung ſchwerlich
irgend Jemand aus der Muſik die Vorſtellung: hier wird
zum Schein eine verlorene Nadel geſucht, würde heraus¬
nehmen können. Umgekehrt kann die Malerei nicht dasjenige
darſtellen, was nur muſikaliſch oder nur poetiſch, wohl gar
nur ganz proſaiſch, ausgedrückt werden kann. Die Poeſie
freilich kann durch das Medium des Wortes Alles darſtellen;
ihrer descriptiven Kraft kann ſich nichts entziehen; die Malerei
hingegen kann nur dasjenige darſtellen, was in das Bereich
der Sichtbarkeit zu treten vermag. Es iſt ſehr ſchwer,
[160] hierüber im Allgemeinen etwas ein für alle mal feſtzuſetzen;
für ein beſtimmtes Urtheil, ob die Malerei ihre Grenzen
ſchon überſchreitet oder nicht, wird man ſich an den concreten
Fall halten müſſen. Das ſchlechthin Innerliche, Lyriſche,
wohl gar Intellectuelle, hört auf, maleriſch zu ſein; die
Malerei muß das Subjective in eine Situation verlegen,
um es maleriſch zu machen. Ein Pariſer Maler, de Le¬
mud
, malt uns einen Maler, der düſter blickend auf einer
Bank vor einer Kruke ſitzt, die neben Pinſeln und anderm Ge¬
räth auf einer Erhöhung ſich befindet; neben ihm ſteht mit
ermuthigender Gebärde, einen Schlüſſel in der Hand, ein
ältliches Frauenzimmer; beide in mittelaltrigem Coſtüm. Was
in aller Welt ſoll dies Bild? Ohne die Inſpiration des
Katalogs würden wir es nimmer errathen. Es ſoll Johann
von Eyck und ſeine Schweſter Margarethe darſtellen, wie
ſie die Oelmalerei nach vielem Kopfzerbrechen erfinden. Hätte
Herr de Leumud doch Leſſing's Laokoon geleſen gehabt!
Die Erfindung oder vielmehr Entdeckung des Schießpulvers
kann man malen, denn man kann den Mönch B. Schwarz
darſtellen, wie er vor dem explodirenden Mörſer erſchreckt
zurücktritt. Die Exploſion macht hier die Scene klar; die
Entdeckung der Oelmalerei aber kann man nicht malen, nur
erzählen, wie die Schopenhauer es gethan hat.


Die Incorrectheit innerhalb der einzelnen Künſte kann,
wie jede Beſtimmung des Häßlichen, ſofort in's Komiſche
gewandt werden, als ſie vom Künſtler mit Abſicht geübt
wird. In der Architektur und Sculptur wird dies jedoch
wegen der Strenge und Einfachheit dieſer Künſte, in der
Muſik wegen ihrer arithmetiſchen Grundlage wenig möglich
ſein, mehr in der Malerei, am meiſten in der Poeſie. Da
die letztere durch die Sprache darſtellt, ſo wird die Incor¬
[161] rectheit derſelben ein vorzügliches Mittel der Komik. Sprach¬
unrichtigkeit
, Jargon und Sprachmengerei, ſind
vom Standpunct der Schönheit aus gewiß incorrect. Werden
ſie aber mit Abſicht verwandt, ſo können ſie den Widerſpruch
des Geiſtes mit ſich und zugleich ſein humoriſtiſches Darüber¬
hinausſein, weil die Sprache doch immer nur Mittel bleibt,
ſehr ergötzlich darſtellen. Das ſonſt Häßliche wird dann
höchſt lächerlich und die dramatiſche Poeſie macht daher
einen großen Gebrauch von dieſer Form des Incorrecten.
Shakeſpeare hat die Sprachunrichtigkeit faſt durch alle
Töne ihrer ungeheuren Scala mit unendlichem Witz ver¬
folgt (33). — Zur Sprachunrichtigkeit kann man auch das
Stottern rechnen, an deſſen komiſcher Production ſich die
Italiener ſo außerordentlich vergnügen, daß unter den Neapoli¬
taniſchen Masken immer ein Balbutore. Der Dialekt, ob¬
wohl an ſich correct, kann einer gebildeten Schriftſprache
gegenüber als incorrect erſcheinen; die Komiker benutzen ihn
daher zur Contraſtirung, wie Ariſtophanes, Shakeſpeare,
Molière. Wie köſtlich ſind nicht der Capitain Fluellen
und der Paſtor Evans von Shakeſpeare in ihren Dialekten
gezeichnet! Das Schäferlied des letztern macht noch in Tiecks
Ueberſetzung lachen:


Am ſtille Pach, pey teſſe Fall

Ertönt der Vöckel Matrikal,

Laß uns ein Pett mit Roſe ſtreun,

Und tauſend würz'ge Plume drein!

Vom Dialekt iſt der Jargon verſchieden, der eine aus
verſchiedenen Sprachgebieten zuſammengeraubte aber doch in
ſich wieder zu einer gewiſſen Einheit gelangte Sprache iſt,
wie das Rothwälſch der Gaunerſprache, wie das Argot der
Bagno's, wie das Sprachchaos des Pöbels großer Städte.
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 11[162]Bulwer, Sue u. A. haben von dieſem Mittel zuweilen
auch für das Entſetzliche einen reichen Gebrauch gemacht,
weil eine ſolche aparte Sprache uns aus der geſitteten und
gebildeten bürgerlichen Geſellſchaft herausfallen läßt. Wir
ſchaudern, die Sprache der Barbarei zu vernehmen, die
mitten unter uns im Dunkel der Heimlichkeit lebt und für
uns die Sprache unſerer Feinde iſt. Der Berliner Jargon
hat wohl deshalb ſeit einigen Decennien eine ſo große Aus¬
breitung erhalten, weil er ein gewiſſes Element heiterer
Selbſtironiſirung enthält, das ihn, ſo zu ſagen, geſellſchafts¬
fähig macht. In Glasbrenner hat er ſeinen Claſſiker er¬
halten, der Nante Strumpf, Herrn Buffey, Madam Piſecke,
Buffey's Sohn, Willem u. ſ. w. eben ſo populair gemacht
hat, als vordem Bäuerle mit dem Wiener Dialekt den
Herrn Staberle gemacht hatte. Daß der Jargon auch
Sprachfehler macht, verſteht ſich von ſelbſt.


Vom Jargon und von der Sprachunrichtigkeit ver¬
ſchieden iſt noch die Sprachmengerei. Da eine jede Sprache
ein harmoniſches Ganze ſein ſollte, ſo wären ſtreng genom¬
men alle Wörter aus andern Sprachen zu tadeln. Allein ſo
weit läßt der Purismus ſich nicht treiben. Da, wo ſich Miſch¬
ſprachen erzeugen, wie die heutigen Romaniſchen Sprachen,
oder wo der Kosmopolitismus der univerſellen Civiliſation, wie
in Europa und Amerika, die Völker zur innigſten Wechſel¬
wirkung mit einander durchdringt, da iſt Sprachreinheit eine
Unmöglichkeit geworden. Ja es kann ſogar ein Fehler
werden, in einem vorkommenden Fall nicht das allverſtänd¬
liche Fremdwort zu gebrauchen. Die Sprachmengerei wird
häßlich, wenn ſie, wie in unſerer Literatur in der Mitte des
ſiebzehnten Jahrhunderts, die äſthetiſche Einheit aufhebt; ein
Fehler, in den bei uns auch Sealsfield öfter verfällt,
[163] wenn er die Charakteriſtik der verſchiedenen Nationen durch
Einmiſchung ihrer gewöhnlichſten Phraſen outrirt. Aber die
Sprachmengerei wird komiſch, ſobald ſie einen innern Wider¬
ſpruch auszudrücken dient, wie in des Gryphius Horri¬
biliſcribrifrax
, oder ſobald ſie den lächerlichen Verſuch
macht, aus zwei Sprachen eine ganz neue ſelbſtſtändige
andere willkürlich erſchaffen zu wollen, wie dies im ſoge¬
nannten Macaroniſchen geſchehen iſt (34). Aber eben
dies zeigt, in ſeiner Geſchichte, daß es nur da mit rechtem
Glück hervorgebracht werden kann, wo die Sprachen eine
gewiſſe Verwandſchaft haben, wie die Italieniſche mit der
Lateiniſchen. Aus dieſem Grunde iſt es, daß Theophilo
Folengo
immer der größte Macoroniſche Dichter bleiben
wird. — Die Sprachmengerei der Epiſtolae obscurorum
virorum
iſt nicht Macaroniſch, ſondern eigentlich nur,
was man einen Germanismus im Lateiniſchen zu nennen
pflegt, vulgo Küchenlatein.


11 *[164]

Dritter Abſchnitt.

Die Defiguration oder die Verbildung.

Das Häßliche iſt keine bloße Abweſenheit des Schönen,
ſondern eine poſitive Negation deſſelben. Was ſeinem Be¬
griff nach nicht unter die Kategorie des Schönen fällt, das
kann auch nicht unter die des Häßlichen ſubſumirt werden.
Ein Rechenexempel iſt nicht ſchön, aber auch nicht häßlich;
ein mathematiſcher Punct, der gar keine Länge und Breite
hat, iſt nicht ſchön, aber auch nicht häßlich; eben ſo ein
abſtracter Gedanke u. ſ. w. Weil das Häßliche das Schöne
poſitiv negirt, ſo iſt es nicht blos als ein Uebergewicht des
Sinnlichen über das Geiſtige zu nehmen, wie manche Aeſthe¬
tiker es kurzſichtig definiren, denn das Sinnliche als ſolches
iſt doch das Natürliche und das Natürliche, wie wir früher
geſehen haben, iſt zwar ſeinem Begriff nach nicht noth¬
wendig ſchön, da es vor allen Dingen zweckmäßig zu ſein
ſtrebt und ſeiner teleologiſchen Einheit die äſthetiſche Form
unterordnet; allein eben ſo wenig iſt es auch, ſeinem Be¬
griff nach, nothwendig häßlich; vielmehr kann es, ohne
ſeinem Begriff zu widerſprechen, auch ſchön ſein, wie
ſelbſt die unorganiſche Natur in ihrer elementariſchen Geſtal¬
tung zeigt. Wie ſchön kann ein Berg, ein Fels, See,
Strom, ein Waſſerfall, eine Wolke ſein! Wäre der Satz
richtig, daß das Sinnliche das Princip der Häßlichkeit
ausmache, ſo würde das nur Natürliche häßlich ſein müſſen. —
[165] Umgekehrt aber kann eben ſo wenig behauptet werden,
daß das Geiſtige an ſich das Princip des Schönen ſei, weil
zum Schönen einmal das Sinnliche als ein conſtitutives
Moment gehört. Das Geiſtige in ſeiner abſtracten Iſolirung
von der Natur, in ſeiner gegen das Sinnliche negativen
Innerlichkeit, iſt kein äſthetiſches Object. Erſt von da ab
wird es zu einem ſolchen, wo es durch die Vermittlung der
Natur oder Kunſt in den Kreis der endlichen, ſinnlich wahr¬
nehmbaren Erſcheinung eintritt. — Daher kann man auch
nicht ſagen, daß das Böſe und das Gefühl ſeiner Ver¬
dammniß Princip des Häßlichen ſei, denn obwohl das Böſe
und ſein Schuldgefühl Urſache des Häßlichen werden können,
ſo iſt dies doch nicht ſchlechthin nothwendig. Die religöſe
Vorſtellung drückt dies populär aus, wenn ſie ſagt, daß
der Teufel ſich auch in einen Engel des Lichts — der er
ja urſprünglich geweſen — verſtellen könne. Das Häßliche
kann ſich auch ohne das Böſe erzeugen. Das Schuldgefühl
aber, ſofern es nicht die haarſträubende Angſt vor der Strafe
iſt, kann als ächte Reue einem Geſicht ſogar einen über¬
irdiſch ſchönen Ausdruck verleihen, wie die Maler ihn der
büßenden Magdalena zu geben ſuchen. Wenn ein Bild¬
hauer eine ſchlechte Statue, ein Muſiker eine ſchlechte Oper,
ein Poet ein ſchlechtes Gedicht macht, ſo braucht dieſe Hä߬
lichkeit ihrer Production nicht von einer Häßlichkeit ihres
Herzens, von ihrer Schlechtigkeit abgeleitet zu werden. Sie
können die beſten Menſchen von der Welt ſein, denen es
jedoch an Talent und Geſchick gebricht. Kann ja doch das
Gute ſelber Urſache des Häßlichen werden, wie wir bei
manchen harten, gefährlichen, ſchmuzigen Arbeiten des Men¬
ſchen ſehen. Arbeiter in Arſenikgruben, Bleiweißfabriken,
Kloaken, Schornſteinfeger u. ſ. w. ſind gewiß höchſt ehren¬
[166] werth in ihrer Thätigkeit; werden ſie aber durch dieſelbe
verſchönt?


Wir haben uns überzeugt, wie die Möglichkeit des
Häßlichen zunächſt darin liegt, daß die allgemeine Maa߬
beſtimmtheit der Einheit, des Unterſchiedes, der Harmonie
verletzt wird; eine Negation, die als ſolche mit dem Gegen¬
ſatz von Natur und Geiſt, von Gutem und Böſem, noch
nichts zu thun hat. — Wir haben uns ferner überzeugt,
wie das Häßliche dadurch entſtehen kann, daß die beſondere
Formbeſtimmtheit, welche dem Natürlichen und Geiſtigen
nothwendigerweiſe zukommt, negirt wird. Die Correctheit
einer Erſcheinung beſteht in der ungehemmten Uebereinſtim¬
mung des Einzelnen mit der Gattung, in der Vollſtän¬
digkeit und Richtigkeit, mit welchen die Erſcheinung ihrem
Weſen entſpricht. Wird dieſe Norm verletzt, ſo ergibt ſich
die Incorrectheit, eine Häßlichkeit, die viele Einſchränkungen
leidet, weil die bloße Richtigkeit ſich der idealen Wahrheit
unterzuordnen hat. — Der letzte Grund der Schönheit näm¬
lich iſt erſt die Freiheit; dies Wort hier nicht blos in dem
ausſchließend ethiſchen, ſondern in dem allgemeinen Sinn
der Spontaneität genommen, die ihre abſolute Vollendung
freilich in der ſittlichen Selbſtbeſtimmung findet, die aber
auch im Spiel des Lebens, im dynamiſchen und organiſchen
Proceſſe, äſthetiſches Object wird. Einheit, Regelmäßigkeit,
Symmetrie, Ordnung, Naturwahrheit, pſychologiſche und
hiſtoriſche Richtigkeit allein vermögen dem Begriff des
Schönen noch nicht vollkommen zu genügen. Dies erfordert
noch die Beſeelung durch Selbſtthätigkeit, durch ein ihm
ſelber entſtrömendes Leben. Dieſe Selbſtthätigkeit kann in
äſthetiſcher Hinſicht, wie wir zugeben müſſen, eine Wahrheit
und in realer ein bloßer Schein ſein. Die Aeſthetik darf
[167] ſich an den Schein halten. Wenn der Strahl einer Fontaine
emporſprühet, ſo iſt dieſe Erſcheinung ein rein mechaniſches
Product der Fallhöhe, welche das Waſſer zuvor durchlaufen
muß; aber die Gewalt, mit welcher es aufſchießt, gibt ihm
den Schein der freien Bewegung. Eine Blume wiegt ihren
Kelch hin und her. Nicht ſie ſelber iſt es, die ſich auf und
ab, hin und her wendet; der Wind iſt es, der ſie ſchaukelt;
der Schein aber läßt ſie als ſich ſelbſt bewegend erſcheinen.


Ohne Freiheit alſo keine wahrhafte Schönheit; ohne
Unfreiheit alſo keine wahrhafte Häßlichkeit. Formloſigkeit
und Incorrectheit erreichen erſt in der Unfreiheit ihren Gipfel,
ihren genetiſchen Grund. Von ihr aus entwickelt ſich die
Verbildung der Geſtalten. Das Schöne überhaupt wird im
Beſondern zur Entgegenſetzung des erhaben und des gefällig
Schönen; ein Gegenſatz, der im abſolut Schönen ſich zur
Vermählung der Würde mit der Anmuth aufhebt. In dieſer,
wie uns ſcheint, natürlichen Eintheilung wird das Erhabene
nicht, wie man ſeit Kant gewöhnlich thut, dem Schönen
entgegengeſtellt, ſondern als eine Form des Schönen ſelber
behandelt, als ein Extrem ſeiner Erſcheinung, mit welchem
ſie in die Unendlichkeit übergeht. Eben deshalb ſetzt dieſe
Eintheilung auch das Gefällige als eine poſitive, weſentliche
Form des Schönen, als das andere Extrem ſeiner Erſchei¬
nung, als den Uebergang derſelben in die Verendlichung.
Das Erhabene wie das Gefällige ſind ſchön und als ſchön,
als einander entgegengeſetzt, coordinirt; ſubordinirt ſind ſie
dem abſolut Schönen, das, als ihre concrete Einheit, eben
ſowohl erhaben als gefällig, weil nämlich nicht einſeitig das
eine oder das andere iſt. Das Häßliche als die Negation
des Schönen muß daher poſitiv das Erhabene, das Ge¬
fällige, das ſchlechthin Schöne verkehren; durch dieſe Ver¬
[168] kehrung entſteht es. Paradox könnte man ſagen: das Er¬
habene, das Gefällige, das Würdige und Anmuthige, ſind
ſchön, aber ſie können häßlich werden; allein ſolche para¬
doxe Faſſungen ſind für das richtige Verſtändniß ſehr ge¬
fährlich, weil ſie leicht unbedingt genommen werden; in
unſerm Fall ſo, als ob das Erhabene und Gefällige nicht
ſchön wären, als ob die abſolute Schönheit nicht alle Hä߬
lichkeit von ſich ausſchlöſſe. Weiße in ſeiner Aeſthetik hatte
die Kühnheit, im dialektiſchen Verlauf ſeiner Entwicklung (35)
ſogar zu ſagen, daß das unmittelbar Schöne das Häßliche
ſei. Der abſtracte Verſtand lohnt ſolche Kühnheiten, die bei
den Griechiſchen Philoſophen gar nicht ſelten ſind, jetzt nur
noch mit Schmähungen, weil er nicht in die Tiefe der
Dinge untertaucht, weil er nicht, wie Fauſt, zu den Müt¬
tern
herunterſteigt, die alles Werden in ihrem Dunkel
hegen. Das Häßliche muß, um begriffen zu werden, nicht
blos als ein Daſeiendes, es muß als ein Werdendes be¬
griffen werden. Das Erhabene wird dadurch negirt, daß es,
ſtatt der Unendlichkeit der Freiheit, die Endlichkeit der Un¬
freiheit zeigt. Nicht die Unfreiheit des Endlichen, denn dieſe
iſt äſthetiſch harmlos. Die Endlichkeit aber, die in der Un¬
freiheit liegt, wird zum Widerſpruch gegen die Freiheit, deren
Weſen in ſich unendlich iſt. In dieſem Contraſt nennen wir
ſie gemein. Gemeinheit hat einen Sinn nur, ſofern ſie
nicht ſein ſoll, weil ſie nämlich dem Weſen als einem frei
ſein ſollenden widerſpricht. Der Begriff der Erhabenheit iſt
die Bedingung des Begriffs der Gemeinheit. Wir nennen
z. B. eine Phyſiognomie gemein, wenn ſie die Abhängigkeit
ihres Inhabers von einem Laſter verräth, weil eine ſolche
Abhängigkeit gegen den Begriff des Menſchen iſt, als
welcher darüber hinaus ſein ſollte. — Das Gefällige läßt
[169] die Freiheit in untergeordneten Beſtimmungen, in endlichen
Beziehungen erſcheinen. Es feſſelt uns durch den Reiz der
Selbſtbeſchränkung der Freiheit. Das Gefällige iſt daher
recht eigentlich das geſellig Schöne und das geſelligſte Volk,
richtiger wohl noch, geſellſchaftlichſte Volk, das Franzöſiſche,
ſpricht daher auch ſeine Anerkennung des Schönen mehr in
dem Prädicat des joli als dem des beau aus. Die Negation
der Freiheit, die mit ihrer Verendlichung ſpielt, iſt die Auf¬
hebung der Freiheit durch die ſich ſelbſt widerſprechende Un¬
freiheit. Eine ſolche iſt widrig, denn ſie negirt Schranken,
die nach der Nothwendigkeit der Freiheit ſein ſollten, und
ſetzt Schranken, die nach eben derſelben nicht ſein ſollten.
Die Freiheit im Zuſtande der Unfreiheit iſt widrig und das
Widrige iſt daher dem Gefälligen entgegengeſetzt, weil es die
Freiheit in dem Widerſpruch erſcheinen läßt, an dem End¬
lichen, das nur ein Moment und Mittel ihrer Bewegung
ſein ſollte, eine Schranke zu haben, die ſie nicht aufhebt,
und zugleich Schranken, welche ſein ſollten, aufzuheben.
Warum iſt z. B. Verweſung des Lebendigen ein widriger
Anblick? Unſtreitig, weil es verweſend den elementariſchen
Mächten anheimfällt, als deren Macht es, ſo lang es lebte,
exiſtirt. Verweſend zeigt es uns noch die Form, in welcher
wir es als ein ſich ſelbſt beſtimmendes, ſeine elementariſche
Vorausſetzung beherrſchendes Weſen zu ſchauen gewohnt
waren, allein eben dieſe Form ſehen wir ſich auflöſen, ſehen
wir ſich gerade den Mächten unterwerfen, die es lebend be¬
zwang. Dies iſt widrig, denn das ſeinem Begriff nach
Freie iſt nunmehr in einen Zuſtand gerathen, deſſen Un¬
freiheit in eine Verendlichung auseinandergeht, welche die
ihm als Lebendigem nothwendigen Schranken aufhebt. Das
Verweſende fällt und fließt auseinander und ſo nothwendig
[170] dieſer Proceß unter gegebenen Umſtänden ſein kann, ſo widrig
iſt er, weil wir äſthetiſch die Fiction machen, daß die Form
auch noch die Kraft des Lebens in ſich trage.


Gemeinheit und Widrigkeit hängen natürlich zuſammen,
ſind aber auch unterſchieden. Das Gemeine wird in der Regel
auch widrig. Wenn ſich Jemand im Eſſen und Trinken
übernimmt, ſo iſt das eine Gemeinheit. Erbricht er ſich in
Folge ſeiner Völlerei, ſo geht die Gemeinheit in die Widrig¬
keit über. Die Endlichkeit der Unfreiheit wird zu einem Zu¬
ſtand der Unfreiheit im Endlichen. Das Uebermaaß verkehrt
den geordneten Gang der Natur und degradirt den Mund
zum After.


Im abſolut Schönen wird das Erhabene zur Würde
und das Gefällige zur Anmuth. Die Unendlichkeit des erſtern
wird in ihm zur Kraft der Selbſtbeſtimmung und die Endlich¬
keit der zweiten zur Sänftigung der Selbſtbegrenzung. Das
häßliche Analogon des abſolut Schönen iſt daher diejenige
äſthetiſche Geſtaltung, welche die Endlichkeit der Unfreiheit
im Zuſtand der Unfreiheit des Endlichen, aber ſo darſtellt,
daß die Unfreiheit den Schein der Freiheit und die Endlich¬
keit den Schein der Unendlichkeit annimmt. Eine ſolche Ge¬
ſtalt iſt häßlich, denn das wahrhaft Häßliche iſt das Freie,
das ſich ſelbſt durch ſeine Unfreiheit widerſpricht und im End¬
lichen ſich eine Schranke ſetzt, die nicht ſein ſollte. Durch
den Schein der Freiheit mildert ſich aber die Häßlichkeit; wir
vergleichen ſie mit derjenigen Form, die ihr ideales Gegenbild
ausmacht; eine Vergleichung, welche die häßliche Erſcheinung
in's Komiſche hinüberſpielt. Die Selbſtvernichtung des Hä߬
lichen durch den Schein der Freiheit und Unendlichkeit, die
gerade in der Verzerrung des Ideals hervorbricht, iſt komiſch.
Wir nennen dieſe eigenthümliche Form des Häßlichen die
[171] Caricatur. Caricare heißt im Italieniſchen überladen und
wir definiren daher die Caricatur gewöhnlich als die Ueber¬
treibung des Charakteriſchen. Im Allgemeinen iſt dieſe De¬
finition richtig; im Beſondern aber muß ſie durch den Zu¬
ſammenhang, in welchem eine Erſcheinung ſteht, genauer be¬
ſtimmt werden. Das Charakteriſche iſt das Element der In¬
dividualiſirung. Uebertreibt dieſelbe das Individuelle, ſo ver¬
ſchwindet das Allgemeine dagegen, indem das Inviduelle, ſo
zu ſagen, ſich zur Gattung aufſpreizt. Eben hierdurch aber
erzeugt ſich die Aufforderung, den Contraſt der Hyperindivi¬
dualiſirung mit dem Maaße der nothwendigen Allgemeinheit
zu vergleichen und eben in dieſer Reflexion liegt das Weſen
der Caricatur. Das abſolut Schöne gleicht die Extreme des
Erhabenen und Gefälligen poſitiv in ſich aus, die Caricatur
hingegen treibt die Extreme des Gemeinen und Widrigen hervor,
indem ſie aber zugleich das Erhabene und Gefällige durch¬
blicken läßt und das Erhabene als das Gefällige, das Ge¬
fällige als das Erhabene, das Gemeine als das Erhabene,
das Widrige als das Gefällige und die Nullität der charakter¬
loſen Leerheit als das Abſolutſchöne ſetzt.


Hieraus wird die große Vielſeitigkeit des Begriffs der
Caricatur, ja die Möglichkeit ſeiner Ausdehnung auf den Be¬
griff des Häßlichen überhaupt erhellen. Das nur Formloſe
oder Incorrecte ſowohl, als das nur Gemeine oder Widrige
iſt deshalb noch keine Caricatur. Das Unſymmetriſche z. B.
iſt noch keine Caricatur; es iſt die einfache Negation der
Symmetrie. Allein eine Uebertreibung der Symmetrie, wo
ſie ſchon gar nicht mehr hingehört, wird als Verzerrung der¬
ſelben zu einer Carikirung, zu einem Hinausgehen über das
dem Begriff der Sache nach erforderliche Maaß des Symme¬
triſchen. Oder daß Jemand Sprichwörter in ſeine Rede ein¬
[172] miſcht, iſt noch nicht incorrect; wenn Jemand aber, wie
Sancho Panſa, endlich nur noch in Sprichwörtern redet,
ſo wird ein ſolches Aggregat von Sprichwörtern zu einer
Verzerrung, in welcher die ſententiöſe Kraft des zu rechter Zeit
angewendeten Sprichwortes durch Uebertreibung verloren geht.
Eine gemeine Phyſiognomie iſt als ſolche noch keine Caricatur;
wenn aber ein Geſicht ganz in einem ſeiner Theile aufzu¬
gehen, wenn es nur Unterkiefer, nur Naſe, Stirn u. ſ. w.
zu ſein ſcheint, ſo entſteht eine Verzerrung; ein Menſch mit
einer ſogenannten Pfundnaſe läßt uns nach den übrigen
Theilen des Geſichts gleichſam ſuchen. Und ſo iſt auch das
Widrige als ſolches noch keineswegs Caricatur. Wenn ein
widriger Zuſtand einen Menſchen zwingt, ihm ſich willen¬
los zu ergeben, ſo vermag dies unſer innigſtes Mitleiden
zu erregen, wie z. B. in der Epilepſie. Wenn wir aber in
den Ekkleziazuſen des Ariſtophanes den Blepyros
ſehen, wie er in der eilig aufgerafften Kleidung ſeiner Frau
im Frühroth aus dem Hauſe tritt, ſeine Nothdurft zu ver¬
richten, ſo wird das Widrige zur Caricatur komödirt, indem
Blepyros unbemerkt zu ſein glaubt (35).


Ein ſo großer Künſtler, wie Ariſtophanes, verbindet
mit einem ſolchen Zug eine Ueberſchwänglichkeit feiner An¬
ſpielungen, ganz abgeſehen davon, daß er das frühe Auf¬
ſtehen des Blepyros durch den Drang des „Meiſters
Kothios“, wie Voß überſetzt, ungezwungen motivirt.
Worin liegt hier die Carikirung beſonders? Offenbar
darin, daß die Frau des ehrſamen Athenienſiſchen Spie߬
bürgers, die Praxagora, in den Kleidern ihres Mannes
ſchon auf den Markt zu einer Verſammlung der Weiber ge¬
gangen iſt und während Blepyros ſich mit der Verrichtung
eines gemeinen Bedürfniſſes herumbalgt, dort eine andere
[173] Einrichtung des Gemeinweſens geſetzlich ordnen will. Die
Männer, heißt dies, ſind nicht mehr Männer; die Weiber
ſind hier die Männer. Daher erſcheint Blepyros auch mit
dem halbgefütterten Mäntelchen ſeiner Frau und in ihren
Perſerſchuhen; ſein Nachbar tritt zu ihm — und beide ehren¬
werthe Staatsbürger unterhalten ſich nun über die Noth¬
durft des Blepyros, dem plötzlich „eine Holzbirne den
Nahrungsgang eingeſperrt hält.“ Geiſtreicher Geſprächs¬
ſtoff, den Ariſtophanes aber ſogleich ſatiriſch wendet, mit
dieſer Scene nicht nur politiſche Anſpielungen verknüpfend,
ſondern auch jene Dichter verſpottend, die in ihren Komödien
dem Publicum durch ein Uebermaaß ſo greller Cynismen das
Attiſche Salz, deſſen ſie entbehrten, erſetzen wollten.


Die Caricatur treibt ein Beſonderes über das Maaß
hinaus, erzeugt dadurch ein Mißverhältniß und wird, indem
ſie an ihr ideales Gegentheil erinnert, komiſch. Sie wird
damit komiſch, denn an ſich iſt es nicht nothwendig, daß
jede Caricatur komiſch wirke, da ſie nämlich als Verzerrung
auch einfach häßlich oder fürchterlich ſein kann. Die gleich¬
mäßige Vergrößerung oder Verkleinerung über die normale
Größe hinaus würde z. B. noch keine Caricatur hervor¬
bringen, weil bei ſolchem Hinausgehen über die Norm oder
Zurückbleiben hinter derſelben doch die Einheit aller Verhält¬
niſſe bewahrt bleiben würde. Napoleons Statue auf der
Vendomeſäule iſt coloſſal und muß es ſein, den Propor¬
tionen der umgebenden Häuſermaſſen und der Säule ſelber
gemäß. Eine Nachbildung dieſer Statue aus Eiſenguß in
Fingergröße, die wir auf unſern Schreibtiſch ſtellen, iſt keine
Caricatur. So iſt ein Lappländer, der nur vier Fuß groß,
aber vollkommen proportionirt iſt, ſo wenig eine Caricatur,
als die Zwergbirke ſeiner Triften. Die Zwerggröße iſt die
[174] Normalgröße des Lappländers. Der Buſchmann hingegen,
deſſen Kopf groß, deſſen Schenkel dünn, deſſen Beine faſt
wadenlos ſind, ſtreift ſchon in's Affenartige und wird hiermit
zu einer Caricatur der Menſchengeſtalt. Ein particuläres
Moment in ſeiner einſeitigen Ueberwucherung bringt in der
Geſtalt erſt diejenige Entzweiung hervor, die Caricatur zu
heißen verdient, wenn wir auch, wie ſchon erinnert, geneigt
ſind, alles Häßliche als eine Verzerrung des Schönen auf¬
zufaſſen. Wir ſtehen z. B. im gewöhnlichen Leben nicht
an, etwa die Phorkyas eine Caricatur zu nennen, weil
ſie, der ſchönen Helena gegenüber, uns die Häßlichkeit über¬
haupt, das äſthetiſch Böſe, repräſentirt. Im engern Sinn
aber ſind dieſe zahnloſen Kiefern, dieſe Runzeln, dieſe fleiſch¬
loſen Arme, dieſer platte, welke Buſen, dieſe eilig langſame
Geberde, nur einfach häßlich und faſt in's Grauenhafte hin¬
überſchwankend. Um Caricatur zu ſein, müßte an der Phor¬
kyas ein beſonderer Punct der Verbildung ins Abnorme
tendiren, den man aber an ihr nicht findet, es wäre denn
höchſtens ihre extreme, ſkelettartige Magerkeit; wie umge¬
kehrt uns auch die Rieſendamen der Jahrmärkte nicht durch
ihre Größe, ſondern durch ihre unförmliche Dicke, als Zerr¬
geſtalten zu erſcheinen pflegen. Der Bruch in einer Geſtalt
muß zur Carikirung die Unfreiheit zum Inhalt und die End¬
lichkeit zur Form haben, allein er muß zugleich den Schein
der Freiheit beſitzen, denn ohne dieſen ſinkt die Erſcheinung
theils in die bloße Gemeinheit, theils in die bloße Widrig¬
keit zurück. Je größer dieſer Schein der Freiheit wird, um
ſo mehr wird die Caricatur komödiſch begeiſtet. Die Ueber¬
treibung des Charakteriſtiſchen, die Ueberladung mit dem
Unmaaß, muß als ihre eigene That erſcheinen. Das Luſtſpiel
liebt daher, den Widerſpruch der Meinung der Menſchen
[175] mit ihren wirklichen Eigenſchaften und Zuſtänden zu benutzen,
weil ſie durch die Freiheit, welche ihnen die Unwiſſenheit
über ihre wahre Erſcheinung verleihet, den Reiz des Lächer¬
lichen ſteigert. Ein Buckligter z. B. kann häßlich ſein; er
kann aber ſich dennoch für ſchön halten; ja er kann, wie
man dies von vielen Buckligten beobachtet haben will, kaum
wiſſen, daß er buckligt iſt. Er macht alſo die Prätenſion
der Schönheit, der normalen Geſtaltung und hiermit wird
er erſt zu einer Caricatur und zwar zu einer komiſchen, denn
nun fordert ſein Betragen ſelber uns auf, ihn mit ſeiner
Normalform zu vergleichen.


Doch genug mit ſolchen vorläufigen Erläuterungen.
Sie ſollen uns nur erkennen laſſen, daß der letzte Grund
des Häßlichen als der Defiguration, als des Gemeinen und
Widrigen, in der Unfreiheit liegt. Die Unfreiheit iſt nicht
eine bloße Abweſenheit der Freiheit, ſondern poſitive Negation
der wirklichen Freiheit. Wird nun aber die Unfreiheit und
die aus ihr reſultirende äſthetiſch negative Form als ein
Product der Freiheit geſetzt, ſo wird dadurch — ſcheinbar —
die Unfreiheit aufgehoben. Genauer können wir dieſe ſchwie¬
rige Dialektik vielleicht ſo ausdrücken: das Gemeine, das
Widrige, das Leere, ſind Producte der Freiheit, die in
ſolchen Zuſtänden ſich ſelbſt als Unfreiheit hervorbringt; wenn
aber dieſe Unfreiheit ihren Widerſpruch mit der wahren
Freiheit vergißt, wenn ſie alſo in ſelbſtzufriedener Behag¬
lichkeit ſchwelgt, wenn ſie im Gemeinen, Widrigen, Leeren
Genugthuung findet und in ihm die Exiſtenz des Ideals
ignorirt, ſo erfüllt ſich die Erſcheinung dadurch formell mit
Freiheit, und dieſe macht die Caricatur komiſch. Unfreiheit
iſt denkbar, ohne weder gemein, noch widrig zu ſein.
Epiktet als Sclav, Huß, Columbus, Galilei im
[176] Kerker, waren äußerlich in einem unfreien Zuſtand, der ſie
aber nicht mit Gemeinheit befleckte. Ihre Situation, weil
ſie innerlich der Freiheit treu blieben, erſcheint uns daher
auch nicht gemein und widrig, ſondern traurig erhaben.
Eben ſo iſt Aufhebung der wirklichen Unfreiheit möglich,
ohne alle Verhäßlichung, im Gegentheil durch den Uebergang
zur wirklichen Freiheit als Verſchönung. Die Freiheit aber,
die wir hier zu beſchreiben verſuchen, iſt die Spontaneität
der in ſich verſunkenen Unfreiheit. Dieſe freie Unfreiheit
verabſolutirt das Charakteriſtiſche als eine endliche Seite der
Individualität, entzweiet ſich dadurch mit dem Ideal, bleibt
aber mit ihrer Scheinrealität verſöhnt und gewährt durch
ſolchen Widerſpruch dem Anſchauenden Stoff zum Lachen.


A.
Das Gemeine.

Die wiſſenſchaftliche Darſtellung des Häßlichen darf
niemals vergeſſen, daß ſie ihren logiſchen Leitfaden nur aus
der poſitiven Idee des Schönen zu entnehmen vermag, weil
das Häßliche nur an und aus dem Schönen als deſſen Ne¬
gation entſtehen kann. Es verhält ſich mit dem Begriff des
Häßlichen hierin gerade ſo wie mit dem Begriff der Krank¬
heit oder des Böſen, deſſen Logik auch durch die Natur
des Geſunden und des Guten gegeben iſt. Nun würde das
Bedürfniß der Wiſſenſchaft, wie es ſcheint, am Gründlichſten
durch die logiſche Präciſion gefördert werden, denn wer in
der Erkenntniß etwas leiſten will, muß, wie Schiller ſagt,
tief eindringen, ſcharf unterſcheiden, vielſeitig verbinden, und
ſtandhaft beharren. Niemand wird dies leugnen. Allein der
[177] Schriftſteller wird den Begriff auch durch Beiſpiele erläutern
müſſen, zumal auf einem Gebiete, das noch weniger ange¬
bauet iſt; erſt mit dem Beiſpiel wird er oft den Zweifel
zerſtreuen, welcher ſeinen abſtracten Beſtimmungen ſich noch
anheften kann. Mit dem Beiſpiel läuft er jedoch eine neue
Gefahr, weil daſſelbe, als ein beſonderer Fall, die Allge¬
meinheit des Wahren beſchränkt und das Zufällige mit dem
Nothwendigen zu vermiſchen drohet. Ein Schriftſteller,
ſagt daher Schiller mit Recht (36), dem es um wiſſen¬
ſchaftliche Strenge zu thun iſt, wird ſich deswegen der Bei¬
ſpiele ſehr ungern und ſehr ſparſam bedienen. Dennoch
werden wir in dem Verfolg dieſer Abhandlung gegen dieſe
im Allgemeinen richtige Regel verſtoßen müſſen, weil wir
es hier mit einem Gegenſtande zu thun haben, welcher der
Anſchauung angehört und für deſſen abſtracte Begriffsbe¬
ſtimmung wir an dem Beiſpiel gleichſam die Probe ſeiner
Wahrheit zu machen haben. Die Ungeduld der Menſchen,
das Allgemeine auf ein Beſonderes anzuwenden, die Unge¬
übtheit der meiſten Leſer, in rein begrifflichen Beſtimmungen
lange zu verweilen, wird den heutigen Schriftſteller, ſobald
er für einen größeren Kreis, als den der bloßen Schule,
darſtellen will, zu der Conceſſion zwingen, viel in Beiſpielen
zu denken. Man darf nur an der Geſchichte eines Begriffs
ſehen, wie ſehr ſich die traditionelle Bildung an ein Beiſpiel
anhängt, um die außerordentliche Bedeutung eines ſolchen zu
erkennen. Leſſing war gewiß ein Mann genauer, ſcharfer
Begriffsbeſtimmung. Man beobachte aber auf unſerm Felde,
wie unzählige Mal ihm nachgeſprochen worden, daß wir den
Therſites zwar von Homer gedichtet uns vorſtellen, nicht
aber gemalt würden anſchauen können; ein Gedanke, auf den
Leſſing ſelber erſt durch den Grafen Caylus gerieth, der in
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 12[178] ſeinen Zeichnungen zum Homer den Therſites fortgelaſſen
hatte. Schiller in ſeiner Abhandlung über den Gebrauch
des Gemeinen und Niedrigen in der Kunſt geht, den Leſſing¬
ſchen Fußtapfen folgend, ſchon weiter, indem er behauptet,
den von Homer als Bettler vorgeſtellten Odyſſeus würden
wir gemalt nicht ertragen können, weil mit einer ſolchen
Anſchauung zu viel niedrige Nebenvorſtellungen verknüpft
wären. Eine ganz grundloſe Meinung, an welche ſich die
Malerei glücklicherweiſe niemals gekehrt hat.


Das wahrhaft Schöne iſt die glückliche Mitte zwiſchen
dem Erhabenen und Gefälligen; die glückliche Mitte, die ſich
nämlich mit der Unendlichkeit des Erhabenen und mit der
Endlichkeit des Gefälligen gleichmäßig erfüllt. Das erhabene
Schöne iſt eine Form des Schönen, die an und für ſich beſtimmt
iſt. Kant hat in der Kritik der Urtheilskraft die Definition
des Erhabenen ganz in's Subjective geſpielt, weil es nach
ihm dasjenige ſein ſoll, was auch nur denken zu können
eine Macht des Gemüths beweiſt, die alles Sinnliche über¬
ſteigt. Dieſe Theorie iſt dann nicht blos dahin ausgebildet
worden, daß man, wie Schiller in jenem bekannten Diſti¬
chon, das Erhabene des unendlichen Raums leugnete, ſondern
bis ſo weit, daß man, wie von Ruge und K. Fiſcher ge¬
ſchehen (37), der Natur das Erhabene überhaupt abſprach.
Dies iſt ein Irrthum, denn die Natur iſt, unter Anderm,
auch an ſich ſelbſt erhaben. Wir wiſſen ſehr wohl, wo das
Erhabene in ihr exiſtirt; wir ſuchen es auf, es zu genießen;
wir machen es zum Ziel beſchwerlicher Reiſen. Wenn wir
auf dem ſchneebedeckten Gipfel des rauchenden Aetna ſtehen
und nun Sicilien zwiſchen den Küſten Calabriens und Afrika's
von den Wellen des Meeres umfluthet erblicken, ſo iſt das
Erhabene dieſes Anblicks nicht unſere ſubjective That, viel¬
[179] mehr das objective Werk der Natur, das wir, bevor wir
noch auf dem Gipfel angelangt waren, ſchon erwarteten.
Oder wenn der Niagarafall mit zum Himmel dampfendem
Giſcht über die bebende Felſenmauer meilenbreit hindonnert,
ſo iſt er an ſich erhaben, mag ein Menſch Zeuge dieſes
Schauſpiels ſein oder nicht. — Was aber das Sinnliche an¬
betrifft, ſo iſt daſſelbe nicht im Geringſten ein Gegengrund
gegen das Erhabene. Weder die Natur, noch die Kunſt,
können vom Sinnlichen abſtrahiren. Kant hat auch nur
von der Macht des Gemüths geſprochen, die alles Sinnliche
überſteigt; Spätere haben erſt das Sinnliche ganz aus dem
Erhabenen eliminirt und daſſelbe ausſchließend in's Moraliſche
und Religiöſe verlegt. Das Erhabene hat das Endliche,
Sinnliche an ſich, indem es zugleich über daſſelbe hinaus¬
geht. Nicht wir nur denken das Unendliche, ſondern die
Unendlichkeit realiſirt ſich und dieſe Anſchauung iſt es, die
uns von den Schranken des Endlichen entlaſtet. Die Er¬
hebung unſeres Gemüthes wiederholt nur, was objectiv vor¬
handen iſt. Wenn wir vom eisgekrönten Aetna aus Himmel,
Erde und Meer in ſo großen Verhältniſſen anſchauen, daß,
was ſonſt ſchon die Schranke des Horizontes ausmacht, tief
unter uns liegt, ſo befreiet uns dieſer makrokosmiſche Blick
von aller ſubjectiven Engheit und erhebt uns zu den im
Weltall waltenden Göttern, wie Hölderlin im Tod des
Empedokles
ſo herrlich geſchildert hat.


Man würde ſich für den Begriff des Erhabenen auch
dadurch manches Mißverſtändniß erſpart haben, wenn man
ſeine Unterſchiede beachtet und nicht einen derſelben mit dem
allgemeinen Begriff oft identificirt hätte, denn das Erhabene
iſt einmal diejenige Erſcheinung des Schönen, welche die
Negation der Freiheit durch Aufhebung ihrer Schranken, ſei
12 *[180] es ideell, ſei es reell, ſo realiſirt, daß ihre Unendlichkeit uns
Gegenſtand wird: die Größe; ſodann diejenige, welche die
Unendlichkeit der Freiheit in der Macht des Schaffens oder
Zerſtörens darſtellt; endlich die in der Größe ihrer Schöpfung
oder Zerſtörung mit ruhiger Selbſtgewißheit in ſich verhar¬
rende Macht: die Majeſtät. In der Größe erhebt ſich die
Freiheit über ihre Schranken; in der Macht enfaltet ſie po¬
ſitiv oder negativ die Stärke ihres Weſens; in der Majeſtät
erſcheint ſie eben ſo groß als mächtig. Hieraus folgt, daß
das Gemeine als die Negation des Erhabenen 1. diejenige
Form des Häßlichen iſt, die eine Exiſtenz unter die Schranken
herabſetzt, welche ihr zukommen: die Kleinlichkeit; 2. die¬
jenige Form, welche eine Exiſtenz hinter demjenigen Maaß
von Kraft zurückbleiben läßt, das ihr nach ihrem Weſen
einwohnen ſollte: die Schwächlichkeit; 3. diejenige, welche
Beſchränktheit und Ohnmacht mit der Unterordnung der
Freiheit unter die Unfreiheit vereinigt: die Niedrigkeit.
Es ſtehen ſich alſo von Seiten des Erhabenen und Gemeinen
als Wechſelbegriffe einander gegenüber das Große und
das Kleinliche; das Mächtige und das Schwächliche; das
Majeſtätiſche und das Niedrige; Gegenſätze, die in concreto
nach ihren feineren Schattirungen noch mit vielen andern
Namen bezeichnet werden.


I. Das Kleinliche.

Größe (magnitudo) überhaupt iſt noch nicht erhaben;
zwanzig Millionen Thaler ſind ein großes Vermögen, das
zu beſitzen wahrſcheinlich recht angenehm iſt, allein etwas
Erhabenes liegt gewiß nicht darin. So iſt denn auch Klein¬
[181] heit (parvitas) überhaupt noch nicht gemein. Ein Vermögen,
das nur zehn Thaler enthält, iſt ſehr klein, aber es iſt
immer ein Vermögen, in welchem nichts Verächtliches liegt.
Ein Vaterunſer, das ſehr klein auf einem Kirſchkern ge¬
ſchrieben iſt, iſt deshalb nicht häßlich, es iſt eben nur ſehr
klein geſchrieben. Die Kleinheit kann am rechten Ort und
zu rechter Zeit äſthetiſch eben ſo nothwendig ſein, als die
Größe. Auch die Ueberkleinheit kann wie die Uebergröße in
einem gegebenen Falle ſich rechtfertigen. Das Kleinliche iſt
aber der Begriff einer nichtſeinſollenden Kleinheit, nämlich
derjenigen, welche eine Exiſtenz unter die ihr nothwendigen
Schranken herabſetzt Das erhabene Große hebt durch ſeine
Unendlichkeit die Schranken des Raums und der Zeit, des
Lebens und des Willens, der Unterſchiede der Bildung und
des Standes auf; es realiſirt darin die Freiheit. Das Klein¬
liche hingegen befeſtigt dieſe Schranken über die ihnen zu¬
kommende Nothwendigkeit hinaus; es wird mit ihrer Ver¬
abſolutirung die Verkehrung des Großen. Schiller ſagt,
gemein ſei Alles, was nicht zum Geiſt ſpreche und woran
man nur ein ſinnliches Intereſſe nehmen könne. Er hat mit
dieſen Worten das Element der Unfreiheit andeuten wollen,
durch welche ſich das Gemeine charakteriſirt. Die Kleinlich¬
keit iſt nur deshalb gemein, weil ſie die Freiheit einer Exiſtenz
da ſchon beſchränkt, wo es noch gar nicht nothwendig wäre.
Wir nennen z. B. einen Menſchen im Leben kleinlich, wenn
er durch ein pedantiſches Feſthalten am Unweſentlichen das
Weſentliche an ſeiner Verwirklichung hindert; ein ſolcher
Menſch iſt gegen das Unweſentliche unfrei, kann ſich nicht
darüber erheben.


Von der Natur läßt ſich, was ihre Einzelgebilde an¬
betrifft, die Kleinlichkeit nur ſelten und nur relativ ausſagen;
[182] in landſchaftlicher Beziehung jedoch wird dieſer Begriff für
ſie nur zu häufig möglich. Es gibt Gegenden, denen der
Stempel der Unfreiheit aufgedrückt iſt. Da ſind Felſen, die
uns aber weder durch Maſſe noch Höhe imponiren; da iſt
ein Waſſerfall, allein ſo ſeicht, daß er kaum hinreicht, eine
Mühle zu treiben; da ſind Bäume und Büſche, aber klein
und dünn geſäet; da ſind Thäler, aber eigentlich nur mul¬
denförmige Auswaſchungen zwiſchen beſcheidenen Hügeln; da
ſchleicht ein Fluß vorbei und bildet ſogar eine Inſel, die aber
nur eine kleine, ſchwachbegrünte Sandbank iſt — wie klein¬
lich iſt dies Alles!


In der Kunſt liegt die Kleinlichkeit entweder in dem
Gegenſtande oder in der Behandlung; im Gegenſtande, wenn
derſelbe durch die Nullität ſeines Inhalts der Darſtellung
unwerth iſt; in der Behandlung, wenn dieſelbe ſich mit der
breiten Ausführung von Nebenbeſtimmungen beſchäftigt und
darüber das Hervorheben des Weſentlichen vergißt; oder
wenn ſie ſogar das an ſich Große überhaupt, gegen ſeinen
Begriff, klein nimmt. Der Gegenſtand der Kunſt ſollte
nicht das Kleinliche ſein; d. h. nicht etwa, ſie ſolle nicht
das Einfache darſtellen, wie es in manchen Zuſtänden vor¬
kommt. Durchaus nicht. Das Genre in der Malerei und
die Idylle in der Poeſie zeigen uns, wie die Kunſt auch in
der Hütte des Armen die Schönheit auszufinden weiß. George
Sand hat in ihren neueren Erzählungen, in der Jeanne, in
la mare au diable, in der petite Fadette Bauern des
Berry geſchildert; die höchſte Einfachheit der Charaktere und
Situationen und die größte Treue in der Nachbildung der
Wirklichkeit hat ſie nicht gehindert, den ganzen Reichthum
des menſchlichen Gemüths mit einer ſo bewundernswürdigen
Tiefe darzulegen, daß man am Schluß einer ſolchen Er¬
[183] zählung ſich unwillkürlich fragt, ob man in der That nur
von ſchlichten Bauern und zum Theil ſogar in der naiven
Sprache derſelben geleſen habe. So ſehr iſt der, wie es
ſcheint, gemeine Stoff durch die Behandlung geadelt worden.
Eine Schaafhirtin, wie Jeanne, eine Bäuerin, wie Marie,
eine Gänſehüterin, wie Fadette, erſcheinen uns, ohne Ver¬
künſtelung ihrer dörflichen Lage, durch die Reinheit ihrer
Seele, durch die Hohheit ihres Geiſtes, wahrhaft groß.
Wenn aber ein Dichter einen an ſich völlig indifferenten
Stoff als ein Diminutivum ſich zum Gegenſtande macht, ſo
wird er kleinlich und in weiterer Folge wohl gar widrig.
In Rückert's Gedichten, 1836, Bd. II., S. 145., Nr. 38.,
finden wir z. B. folgende Verſe:


Geſtern hab' ich vom Nachtbeſuch beim Liebchen,

(Welch' ein nagendes Liebesangedenken!)

Ach, ein Flöhchen mit heimgetragen, das nun,

Den jungfräulichen Aufenthalt vermiſſend,

Hüpfend, wühlend, mich quält den ganzen Tag lang.

Gegen Abend, auf meinem Sopha liegend,

Da die Stunde gekommen, wo ich dachte

Hinzugehen und das Flöhchen hinzutragen;

Wie ich höre, daß draußen Regen praſſelt,

Und ich ſage: nun ich kann heut nicht hingehn!

Tobt das Thierchen an mir ganz ungeheuer.

Dergleichen kann man nur kleinlich finden. Ein Lieb¬
haber, der ein Flöhchen der Geliebten beſingt; ein Liebhaber,
der ſich vom Regen abhalten läßt, zur Geliebten zu gehen;
ein Liebhaber, der ſich mit ſeinem Affect recht bequem auf
das Sopha hinſtreckt und nun die Kreuz- und Queerzüge
des lieben Flöhchens beobachtet — iſt ungeheuer proſaiſch. —
Es kann die Kleinlichkeit aber auch in der Behandlung liegen.
[184] In dieſen Fehler verfällt die Kunſt, wenn ſie ſich ſo ſehr in
das Nebenſächliche vertieft, daß ſie dadurch von dem Weſent¬
lichen abgezogen wird. Sie räumt dann dem an ſich Unter¬
geordneten eine Breite ein, die ihm in ſeinem Verhältniß zur
Hauptſache nicht zuſteht. In der Epik ſoll uns z. B. zwar
auch das Local, die Kleidung, Bewaffnung u. dgl. vorgeſtellt
werden. Geht ſie jedoch über den poetiſchen Zweck hinaus,
beſchreibt ſie uns, wie in neueren Romanen geſchieht,
Pflanzen mit wiſſenſchaftlicher Genauigkeit, wohl gar mit
Hinzufügung des Lateiniſchen Namens; beſchreibt ſie uns
Kleider mit der Sorgfalt eines Modejournals, Meubel und
Hausrath mit techniſcher Accurateſſe, ſo wird eine ſolche
Ausführlichkeit kleinlich und damit häßlich. Selbſt beſſere
Schriftſteller, wie Balzac bei den Franzoſen, Max Waldau
bei uns in der erſten Ausgabe ſeiner Romannovelle: „Nach
der Natur
“, kranken öfter an dieſem kleinlichen Zuge. Eben
ſo kann die Poeſie nach der Innenſeite des Geiſtes hin kleinlich
werden, wenn ſie das Gefühl zu weitläufigen Analyſen unter¬
wirft und die Vermittelungen des pſychologiſchen Pragma¬
tismus ohne objective Berechtigung in haarſpaltenden Unter¬
ſchieden entwickelt. Eine ſolche Behandlung iſt ganz dazu
gemacht, ſelbſt der Anlage nach große Gefühle in der Sub¬
tilität der Zergliederung wegzuſchwemmen. Dies war der
Fehler Richardſons in ſeiner Clariſſe und Pamela;
dies der Fehler — man darf es ja wohl heut zu Tage ſagen,
ohne anathematiſirt zu werden— der Fehler Rouſſeau's in
ſeiner Neuen Heloiſe. Es kann die Kleinlichkeit der
Behandlung aber auch darin liegen, daß ein an ſich großer
Vorwurf von vorn herein zu klein genommen und in allen
ſeinen Verhältniſſen gegen ſeinen Begriff verzwergt wird.
Das Kleine, wie oben ſchon bemerkt worden, ἐυτοπῶς χαὶ
[185] ἑυχαιρῶς, rechtfertigt ſich ſelbſt. Denken wir uns aber
einen großen Inhalt nicht blos nach einzelnen Seiten der
Ausführung verkleinlicht, ſondern denken wir ihn uns von
vorn herein zu klein gefaßt, ſo wird er nothwendig ebenfalls
zu einer häßlichen Erſcheinung. Die Kleinheit der Formen,
in denen er ſich darſtellt, widerſpricht alsdann der Größe
ſeines Weſens. Soll z. B. eine Kirche gebauet werden, ſo
ſollte ein ſolcher Bau den großen Zweck, dem er gewidmet
iſt, unzweideutig ausſprechen. Er ſollte die Einheit einer
Volksgemeinde ausdrücken und daher in ſeinen Mauern,
Thüren, Fenſtern uns ſofort die Anſchauung geben, daß er
ſchlechthin über das Privatleben hinausgehe. Erblicken wir
ſtatt deſſen ein charakterloſes Gebäude, das ein Pferdeſtall,
ein Gartenhaus, eine Reſſourçe ſein könnte, ſo iſt das, der
im Begriff eines Tempels liegenden Erhabenheit gegenüber,
kleinlich und deshalb gemein. Eine Kirche kann natürlich
auch klein ſein; eine Capelle iſt ja nur eine kleine Kirche;
allein ihr Styl muß edel ſein und die Größe ihrer Beſtim¬
mung in ſeiner Totalität ausdrücken. Unſere Zeit nennt ſolche
Kirchen, die auch Fabrikgebäude, Bahnhofgebäude u. ſ. w.
ſein könnten, Polkakirchen.


Daß das Kleinliche als Parodie der Größe, namentlich
auch der falſchen Größe, komiſch gewendet werden könne,
liegt auf der Hand, weil es durch ſeine Uebertreibung ſich
dann ſelbſt vernichtet. So hat Gutzkow in ſeinem Blaſe¬
dow
den Alten vortrefflich geſchildert, wie die Vorſtellung
von zehn Thalern, die ihm fehlen, ſein ganzes Bewußtſein
erfüllt und Alles ihn an die zehn Thaler erinnert, bis ſie
von ſeiner Phantaſie zu einem Ungeheuer aufgeſchwellt ſind.
Das Flöhchen in Rückerts Gedicht mußte uns als ein
kleinlicher Gegenſtand erſcheinen; daſſelbe Thierchen als Gegen¬
[186] ſtand eines epiſch descriptiven Gedichts macht uns lachen,
wie in jener Macaroniſchen Floïa, die mit den Worten
beginnt:


Deiriculos canam, qui bene huppere possunt ꝛc.


In der Behandlung eines Gegenſtandes kann ein
Humoriſt, Dickens Boz, unbedenklich auch die einzelnſten
Details hervorziehen, wie in Kopperfield z. B. die weit¬
läuftigſte Beſchreibung des feierlichen Ceremoniels, mit wel¬
chem Maicawber Punſch bereitet; oder der Anſtrengungen,
denen ſich die kleine Frau unterwirft, ihr Haushaltbuch zu
ſchreiben u. ſ. w. uns nicht zu weitläufig iſt.


Ein an ſich großer Gegenſtand kann von vorn herein
mit Bewußtſein klein genommen werden; er wird dann tra¬
veſtirt, wie der pius Aeneas in Blumauers Aeneide, oder
er wird boshaft perſiflirt, wie die Begeiſterung der helden¬
müthigen Jeanne d'Arc in Voltaire'sPucelle d' Orléans
(38) auf lauter kleinliche, ja ſchändliche Motive zurückge¬
führt wird.

II. Das Schwächliche.

Das Kleinliche kann zugleich das Schwächliche ſein, ſo
wie das Schwächliche in der Regel auch kleinlich ſein wird.
Dennnoch iſt zwiſchen beiden ein Unterſchied. Das Kleinliche
ſetzt eine Exiſtenz unter Schranken herunter, die ſie aufheben
ſollte; das Schwächliche läßt die Kraft einer Exiſtenz hinter
demjenigen Maaß zurückbleiben, das ihr, ihrem Weſen gemäß,
einwohnen ſollte. Das Erhabene als das dynamiſch Erhabene
äußert ſeine Unendlichkeit im Schaffen und Zerſtören. Sie
erſcheint als Kraft, Gewalt und kann auch furchtbar und
[187] gräßlich werden. Das Schwächliche dagegen ſtellt ſeine
Endlichkeit in der Ohnmacht des Hervorbringens, in der
Paſſivität des Duldens und Leidens heraus.


Die Schwäche an ſich iſt noch nicht häßlich, ſo wenig,
als die Kleinheit an ſich häßlich iſt. Sie wird es erſt, wenn
ſie da erſcheint, wo die Kraft erwartet wird. Die Freiheit
als die Seele aller wahren Schönheit manifeſtirt ihre Macht
im Schaffen und Zerſtören oder im Widerſtand gegen eine
Macht; die Schwäche zeigt ihre Unkraft in der Unfruchtbar¬
keit ihres Thuns, in der Nachgibigkeit gegen die Gewalt, in
dem abſoluten Beſtimmtwerden. Eine ſchwächliche Phantaſie,
ein ſchwächlicher Witz, ein ſchwächliches Colorit, ein ſchwäch¬
licher Ton, eine matte Diction, ſind etwas Anderes, als
eine zarte Phantaſie, als ein feiner Witz, als ein ſanftes
Colorit, als ein weicher Ton, als eine leichte Diction. Das
dynamiſch Erhabene äußert ſeine Macht als eine abſolute, ihr
Handeln von ſich anfangende. Die Selbſtbeſtimmung kann,
was ihre reale Vermittlung betrifft, ein Schein ſein, äſthetiſch
aber muß ſie als ſolche ſich darſtellen. Sehen wir, wie ein
Krahn aus einem Schiffsraum eine große Laſt emporhebt,
ſo finden wir darin nichts Erhabenes, weil der Anblick der
Maſchine jeden Gedanken an irgend welche freie Bewegung
entfernt. Wirft dagegen ein Vulcan Lavagüſſe, Steine,
Aſchenregen aus ſeinem Innern heraus, ſo iſt dies ein er¬
habenes Schauſpiel, weil hier ein freier elementariſcher Proceß
vorhanden iſt; die elaſtiſche Spannung der Dämpfe im Erd¬
innern wirkt auch mechaniſch, allein mit einer ſpontanen
Gewalt. Nun wäre es ſehr ungeſchickt, zu folgern, daß
eine Maſchine, weil ſie nicht den Eindruck des Erhabenen
macht, den des Schwächlichen mit ſich führen müßte. Dies
iſt nicht der Fall; ſie erſcheint auch in ihren größten Leiſtun¬
[188] gen nur deshalb nicht erhaben, weil ſie von einer andern
Macht, von der Intelligenz und dem Willen des Menſchen,
abhängig iſt, alſo nicht, wie der Begriff des Erhabenen es
verlangt, ihren Urſprung und den Anfang ihrer Bewegung
aus ſich nimmt. Der Geiſt dagegen, der eine ungeheure
Naturkraft ſo bemeiſtern, der ihre Nothwendigkeit in ſolchem
Grade ſeiner Freiheit unterwerfen kann, wird uns erhaben
dünken. Er kann ſeinen Maſchinen den Schein der Selbſt¬
ſtändigkeit verleihen und dann wird es auf die nähern Um¬
ſtände ankommen, ob ſie nicht ſogar einen an das Erhabene
grenzenden Eindruck hervorzubringen vermögen; an das Er¬
habene doch nur grenzenden, weil unſer Bewußtſein der
Genauigkeit der mechaniſchen Berechnung die äſthetiſche Wir¬
kung zum Theil wieder aufhebt, wie wir empfinden, wenn
ein großer Wagenzug auf der Eiſenbahn bei uns vorüber¬
ſauſt. — Das organiſche Leben wird erhaben erſcheinen
können, wenn es ſeine Macht als Gewalt realiſirt. Un¬
mittelbar werden wir kein Thier erhaben zu nennen ver¬
mögen. Schauen wir aber den Adler, wie er die Schwingen
entfaltet und nun über Wälder und Berge, ja über Wolken
hinaus, mit ruhigem Flügelſchlage aufſchwebt; ſchauen wir
den plumpen Elephanten, wie er mit den Säulen ſeiner
Füße einen Tiger zerſtampft; oder den Löwen, wie er mit
einem ſichern Rieſenſprung auf die Gazelle ſtürzt: ſo werden
dieſe Thiere uns erhaben ſcheinen, weil ſie die ihnen in¬
wohnende Macht durch die Aeußerung derſelben als Gewalt
in ihrer Unendlichkeit darſtellen. Für den Adler ſcheint keine
Grenze des Fluges; für den Elephanten und Löwen keine
Schranke am Widerſtand eines andern Thiers zu exiſtiren.


Der Geiſt wirkt erhaben, wenn er, der Nothwendigkeit
der Natur, wie der Freiheit anderer Geiſter gegenüber, ſeine
[189] Freiheit als ſeine eigene Nothwendigkeit feſthält, auch dann
noch, wenn er der Gewalt unterliegt. An die abſolute Macht
der Freiheit reicht die Natur auch mit ihren furchtbarſten
Schrecken nicht heran. Der Menſch kann von der Natur
überwältigt, aber, wenn er im Untergang ſeine Würde be¬
wahrt, nicht beſiegt werden. Er erhält ſich gegen ſie in ſich
frei; worin die Erhabenheit des ſtoiſchen Weiſen liegt, den
die Trümmer des zuſammenbrechenden Univerſums unerſchrocken
begraben würden. Man braucht ſich die Freiheit nicht als
abſtracte Fühlloſigkeit vorzuſtellen; die Schranke des Lebens,
die Herbheit des Schmerzes kann gefühlt und die Freiheit
dennoch erhalten werden. Das Opfer wird erhabener, je
härter die Nothwendigkeit iſt, deren Gewalt es durch ſeine
Freiheit überwindet und je tiefer die Empfindung des Gegen¬
ſatzes gefühlt wird. Ein Curtius, der in den Schlund der
Erde hinabſprengte, am lichten Tag, in voller Rüſtung, von
ſeinen Mitbürgern umringt, konnte den ganzen Werth des
Lebens innigſt fühlen — und doch ſtürzte er, die Natur zu
bezwingen, in die finſtere Tiefe mit freiem Muth hinab. —
Im Conflict der Freiheit mit der Freiheit wird die Erhaben¬
heit der Geſinnung auch hauptſächlich durch die Erhebung
über den unvermeidlichen Schmerz des Gemüths erſcheinen —
Nun werden wir in der relativen Schwäche kleiner Thiere,
des Weibes, des Kranken, des Kindes, des Unerfahrenen
und Ungeübten, da ſie eine ganz natürliche iſt, noch nichts
Häßliches finden. Hört aber dieſe Unbefangenheit auf, macht
eine Exiſtenz Anſpruch auf Kraft und genügt ihm nicht, ſo
geht die Schwäche in eine Schwächlichkeit über, die häßlich
wird, weil ſie einen Widerſpruch enthält. Hier zeigt ſich
alſo eine wohl zu beachtende Grenzlinie. Tritt das Erhabene
mit ſeiner abſoluten Gewalt auf, ſo kann gegen dieſelbe auch
[190] dasjenige relativ ſchwach erſcheinen, was außerdem wohl
ſelbſt eine Macht iſt. Eine ſolche Schwäche iſt dann noch
nicht Schwächlichkeit im negativen Sinn. Gegen die Uebel¬
macht der elementariſchen Natur z. B. wird alle Kraft des
Lebens, alle Energie der Freiheit, wie groß ſie ſeien, ohn¬
mächtig. Die erbebende Erde, die anſtürmende Fluth, das
entfeſſelte Feuer, ſind ſolche erbarmungloſe Gewalten. Die
erzitternde, aufklaffende, Thiere, Menſchen, Städte ver¬
ſchlingende Erde iſt erhaben, in ihrer Rückſichtsloſigkeit aber
gegen Alles, was, ihrem Schooß entſprungen, auf ihrem
Rücken ſich des Daſeins erfreut hat, gräßlich erhaben. Das
Lebendige in ſeiner Angſt, wie es flüchtet und in irrer Ver¬
zweiflung nach jedem Schatten der Rettung haſcht, erſcheint
gegen ſie ohnmächtig; weil aber das Verhältniß ein incom¬
menſurables iſt, kann man es nicht der Schwächlichkeit
zeihen. Wenn die Wogen des Meeres mit den größten
Schiffen ſpielen, ihre Maſten zertrümmern, ſie gegen Felſen
ſchleudern, ſo erſcheinen ſie furchtbar erhaben und die um¬
ſonſt nach Rettung ringenden Menſchen ohnmächtig; ſchwäch¬
lich aber nur, ſofern ſie einer ungemeſſenen Verzweiflung
ſich hingeben würden. Eine Ueberſchwemmung, wie die
Sündfluth, kann die Fruchtloſigkeit der Mühen des In¬
dividuums, aber zugleich ſeine Freiheit darſtellen, die ſich
alsdann, auch ſterbend, der Gewalt überlegen zeigt. So
hat Girodet in ſeinem berühmten Bilde im Louvre eine
Scene aus der Sündfluth gemalt, die uns eine Familie noch
im Untergang an der Pietät feſthaltend erblicken läßt. Der
Mann hat den greiſen ſchon halbtodten Vater auf den
Schultern hängend. Mit der Linken umklammert er einen
dürren ſchon eingebrochenen Baumſtamm; mit der Rechten
verſucht er ſein Weib aus den Wellen zu ziehen. Aber als
[191] Mutter will dies die Kinder nicht laſſen; das eine, ein
Säugling, umſchlingt die Bruſt; das andere hängt ſich an
die Haare der Mutter; ſchon hat dieſe den Fuß auf den
Felsrand geſetzt, allein die Laſt iſt zu groß, der Aſt wird
gänzlich brechen — und alle werden ihr Grab gemeinſam
finden; noch im Tode wird die Familie Eines ſein. Das
Thier kann in ſolchen Situationen nur den Inſtinct der
Selbſterhaltung ohne jede andere Rückſicht walten laſſen,
wie ein neuerer Deutſcher Maler uns z. B. einen Waldbrand
gemalt hat. Mit nimmerſattem Rachen verzehrt das Feuer
Sträucher und Bäume und ſcheucht die Thiere aus ihren
Lagern auf; in dichten Schaaren mit geſträubtem Haar, mit
ſchreckentflammtem Blick, mit lechzender Zunge, ſtürzen ſie
hervor und ſcheinen ihre ſonſtige Natur vergeſſen zu haben,
indem Bär und Büffel, Panther und Reh, Wolf und
Schaaf, neben einander im großen Knäuel eine von der all¬
gemeinen Gefahr erzwungene Friedfertigkeit athmen. Im
Entſetzen dieſer fliehenden Beſtien malt ſich die Wuth des
hölliſchen Elementes.


Thiere im Kampf mit einander können nur dann er¬
haben werden, wenn ſie groß ſind. Ein kleines Thier kann
ſehr ſtark und muthig ſein, allein ſeine Kraft kann nicht
den Schein ſich aus ſich ſelbſt erzeugender und ſich in ſich er¬
neuernder Unendlichkeit gewinnen. Ein Hahnenkampf iſt nichts
Erhabenes. Der Gegenkampf kleinerer und ſchwächerer
Thiere gegen größere und ſtärkere eben ſo wenig. Die Maus
unter den Tatzen der Katze, der Haſe in den Klauen des
Geiers, die Taube unter den Zähnen des Marders zittern
ihrem gewiſſen Untergange entgegen. Man kann ſie darin
auch nicht häßlich nennen, denn der Kampf iſt ungleich. —
Der Naturmacht gegenüber ſollte der Menſch ſeine Freiheit
[192] bewahren und ihr die Kraft ſeines Bewußtſeins und ſeines
Willens entgegenſetzen. Unterliegt er ihr, indem er vor
ihrer Gewalt erbangt, ſo erſcheint er ſchwach. Ob aber
dieſe Schwäche ſchon häßlich zu nennen ſei, kommt auf die
nähern Umſtände, auf den Grad ſeiner Furcht und auf die
Form an, in welcher er ſie ausdrückt. Der Menſch, der
das Raubthier mit einer Keule anzugreifen, der auf einem
gehöhlten Baumſtamm die unwirthliche Woge zu durchmeſſen
den Muth hat, erhebt uns eben ſo ſehr, als ein umgekehrtes
Verhalten uns demüthigt. Der Feindſeligkeit der elemen¬
tariſchen Naturmacht gegenüber kann jedoch auch für den
höchſten Heroismus aller Kampf vergeblich ſein; dann bleibt
der Freiheit, ſich zu erhalten, nichts übrig, als im äußern
Erliegen den unſterblichen, den ungebeugten Muth, innerlich
zu bewahren.


Die Geſinnung, die auch im härteſten Leiden ſich gleich
bleibt, iſt erhaben, wie die des Aeſchyleiſchen Prome¬
theus
, wie die des Calderon'ſchen ſtandhaften Prinzen;
die Schwäche, die ſich zwingen läßt, iſt häßlich, wofern ſie
nicht lächerlich wird. So im Allgemeinen iſt dies wahr; im
Beſondern aber erzeugt die Geſchichte eine unendliche Man¬
nigfaltigkeit von Verhältniſſen, in denen der Zwang oft die
ſüßeſten, verführeriſchſten, ja von der Berufung auf heilige
Pflichten unterſtützten Formen annimmt. Hier, im Gebiet
der moraliſchen Colliſionen, werden Situationen möglich,
wo die Schwäche durch perſönliche Liebenswürdigkeit ſich den
Schein der Freiheit erhält, wo ſie durch Sophiſtik ſelbſt die
Form der Kraft uſurpiren kann, wie dies das bekannte
Thema ſo vieler Romane iſt. An der Liebenswürdigkeit
ſolcher ſentimentalen Helden hat der Künſtler das Mittel,
die Erſcheinung des Häßlichen zu mildern, ja, es intereſſant
[193] zu machen. Leichtſinn, Schwanken, Inconſequenz, Zaudern,
Vergeſſenheit, unzeitige Nachgibigkeit, voreiliges Handeln,
dürfen allerdings nicht als etwas hingeſtellt werden, das an
ſich ſelber recht oder liebenswürdig wäre. Die Liebenswür¬
digkeit muß in den Geiſt, in die Phantaſie, in das perſön¬
liche Benehmen verlegt werden; die Schwächlichkeit des
Willens muß durch die Beſchaffenheit des Temperaments,
durch die Schwierigkeit der Verhältniſſe, durch die Möglich¬
keit, mit einem entſchiedenen Handeln nach andern Seiten
hin Unrecht zu thun, entſchuldigt, ſie darf aber nicht gerecht¬
fertigt werden. Die Schönſeligkeit der moraliſchen Schwäche
iſt immer dicht daran, in die Niedrigkeit zu verfallen, die zum
wirklichen Verbrechen wird; es kommt, wie die Xenien ſagen,
nur auf die Gelegenheit an. Sie wird ſophiſtiſch, ſich vor
ſich ſelbſt als edel hinzuſtellen, aber in dieſer Sophiſterei wird
ſie oft das Scheußlichſte hervorbringen helfen. Aus Bequem¬
lichkeit, aus Trägheit, aus Mangel an Muth, aus Eitelkeit,
ſinkt ſie der Sache nach in das Gemeine herunter und erträgt
eine Abhängigkeit von einem fremden Willen, den ſie vielleicht
verabſcheut, den ſie aber aus anderweiten egoiſtiſchen Rück¬
ſichten anerkennt. Solche Erniedrigung verhüllt ſie ſich durch
ein pſychologiſches Raiſonnement, durch Fiction von Krank¬
heit, durch Annahme eines grauſamen Schickſals, gegen deſſen
Nothwendigkeit der Einzelne unvermögend ſei. Man muß
aber unterſcheiden zwiſchen der Schwäche, wie ſie Gegenſtand
der Darſtellung iſt, und zwiſchen der Schwächlichkeit, wie
ſie ein Fehler der äſthetiſchen Behandlung wird. Die Schwäche
darzuſtellen, muß erlaubt ſein. Die Werther, die Weis¬
lingen, die Brackenburg, die Fernando's, die Eduarde, wie
Göthe ſie ſchildert; die Woldemar, wie Jacobi, die
Roquairol, wie Jean Paul ſie malt; die André und
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 13[194]Stenio, wie George Sand ſie gleichſam daguerrotypirt,
haben auch ihr Recht zur Darſtellung. Aber etwas Anderes
iſt es, wenn die Darſtellung ſelber ſchwächlich iſt, wenn alſo
vorzüglich da, wo Kraft erwartet werden ſollte, unmächtige,
ſchwache, matte Formen erſcheinen. Dies iſt ein entſchiedener
Fehler, der zu derjenigen Auflöſung der äſthetiſchen Geſtalt
führt, die wir früher als das Unduliſtiſche und Nebuliſtiſche
kennen gelernt haben und die von einer jeden Kunſt nach
der Eigenthümlichkeit ihres Elementes ſpecificirt wird.


Da Schwächlichkeit im negativen Sinn und Stärke
einander entgegengeſetzt ſind, ſo kann es die Kunſt reizen,
den Uebergang von der einen zur andern darzuſtellen. Dies
mit pſychologiſcher Wahrheit zu thun, iſt eine ſehr ſchwere
Aufgabe, die in der Regel nur großen Künſtlern wahrhaft
gelingt. Iffland und Kotzebue, die dramatiſchen Ver¬
herrlicher der Schwäche, haben uns viele Scheinübergänge ge¬
geben. Byron hat merkwürdiger Weiſe Göthe zwei Dramen
gewidmet, die zu ihrem Gegenſtande die Schwäche haben,
den Sardanapal und den Irner. Im Sardanapal erhebt
ſich eine an ſich edle, aber zu weiche, humane, aber zu
nachſichtige Natur, von ſorglos heiterer Hingebung an den
Genuß des Lebens Schritt um Schritt zur wahrhaft könig¬
lichen Würde, zum Heldenmuth, zur Tapferkeit, zur Er¬
habenheit des Opfertodes; ein Seelengemälde von ſo unver¬
gleichlicher Tiefe und Schönheit, daß es völlig räthſelhaft
bleibt, warum keine Bühne uns daſſelbe vorführt. Im
Irner hat der Dichter dagegen gezeigt, wie eine an ſich
ebenfalls edle Natur durch ihre Schwäche bis zur Gemein¬
heit fortgeriſſen wird und nun das ganze übrige Leben an
der ſchamvollen Erinnerung ihres Vergehens würgt. Irner,
in großer Noth, ſtiehlt ſeinem ſchlummernden Todfeind hundert
[195] Ducaten. Vor ſich ſelbſt, vor ſeiner Frau, ſeinem Sohn,
will er ſich damit rechtfertigen, daß er da nur geſtohlen
habe, wo er ſeinen Todfeind hätte morden können. Schiller
hat aber ſchon genugſam gezeigt, daß der Mord, weil er
mehr Kraft erfordert, äſthetiſch höher ſteht, als der Diebſtahl.
Irner würde ſchuldiger, und doch weniger gemein gehandelt
haben, hätte er Stralenheim ermordet. Seine Schwäche
hat ihn nur ſtehlen laſſen und die Sophiſterei, daß das Geld
im Grunde ja ſein Eigenthum ſei, hält vor ſeinem Gewiſſen
nicht aus. Sein Sohn Ulrich vollbringt, ohne Wiſſen des
Vaters, den Mord. Als Irner dieſe entſetzliche Entdeckung
macht, muß er vom Sohn als Vertheidigung die Doctrin
der Schwäche vernehmen, die er ſelbſt ihn gelehrt habe:


Wer hat mir geſagt, die

Gelegenheit entſchuldige manche Laſter?

Die Leidenſchaft ſei unſere Natur? Auf

Des Glückes Güter folgten die des Himmels?

Wer wies mir ſeine Menſchlichkeit abhängig

Nur von den Nerven? Wer nahm alle Macht mir,

Mich zu vertheidgen, zu zeigen mich

Im offnen Kampf, durch ſeine Schmach, die mich

Vielleicht mit Baſtardſchaft gar ſtempelt, ihn mit

Des Miſſethäters Brandmal? Er, der warm

Zumal und ſchwach iſt, der zu Thaten reizt, die

Er thun will und nicht wagt. Iſt es ſo ſeltſam,

Daß ich vollbringe, was du denkſt?

Wie die Schwäche und Schwächlichkeit, ohne es zu
ahnen, vielmehr im Wahn, recht gut zu ſein, in das Böſe
übergeht, hat G. Sand meiſterhaft in der Fadette gezeigt.
Fadette klärt Sylvain über ſich auf, wie er ſchwach, ſenti¬
mental, tyranniſch gegen ſeine Umgebung, ſophiſtiſch und
13 *[196] egoiſtiſch iſt; „la faiblesse engendre la fausseté et c'est
pour cela, que vous êtes égoïste et ingrat.“
Sylvain be¬
greift ſich endlich und nun wird dieſer Mutterverzug, dieſer
Stubenhocker, ein ganz anderer Menſch, der ſeine Liebe zur
Fadette im Schlachtenlärm der Napoleoniſchen Kriege zu
vergeſſen ſucht.


Am Häßlichſten muß die Schwächlichkeit offenbar er¬
ſcheinen, wenn ſie mit der Macht ſelber verbunden iſt. Die
Macht ſollte ſich mit ihr nicht beſtecken; um ſo mehr degra¬
dirt ſie ſich, wenn ſie es dennoch thut. Für die Natur hat
dies keinen Sinn, weil ihr der freie Wille fehlt. Wenn dem
rieſigen Elephanten in der Nähe der winzigen Maus der
Angſtſchweiß ausbricht, ſo iſt das keine Schwächlichkeit
deſſelben, ſondern ein ganz richtiger Inſtinct, weil die Maus,
kröche ſie in ſeinen Rüſſel, ihn mit ihrem Gekrabbel bis zur
Tobſucht aufſtacheln würde. Fröhnt aber ein Fürſt, ein
Held, ein hoher Prieſter, ſeinen Launen, ſeinen Schwächen,
ſo fällt er damit in eine Gemeinheit, die mit ſeinem Weſen
um ſo greller contraſtirt. Daß z. B. der König David den
Urias verrätheriſch aus dem Wege räumt, deſſen Weib
Bathſeba ungeſcheut genießen zu können, iſt zumal für einen
König von der Tendenz ſeines Charakters eine Schwäche,
in welcher er bis zur Gemeinheit und bis zum Verbrechen
herunterſinkt. Wenn Meißners Weib des Urias ein
mißrathenes Drama iſt, ſo liegt die eine Hälfte der Schuld
an der Wahl des Stoffs.


Ins Komiſche ſchlägt das Schwächliche um, wenn
daſſelbe ſich verkennt und ſich als Stärke gerirt. Jedoch wird
dieſer Widerſpruch nur dann lächerlich, wenn der Inhalt der
Schwäche die Forderungen der Tugend nicht zu empfindlich
verletzt. Es werden daher intellektuelle Schwächen, Schwächen
[197] unſchädlicher Art, die mehr von der Natur oder von den Um¬
ſtänden abhängen, ſich dazu eignen, wie wir dies vorzüglich
im Luſtſpiel ſehen. Wird die Entwicklung der Schwäche an
die Fiction eines Schickſals angeknüpft, wird ſie dadurch
mit dem Schein der Nothwendigkeit umgeben, ſo wird der
komiſche Effect dadurch geſteigert. Ein glänzendes Meiſter¬
werk dieſer Komik wird ewig Diderot'sJacques le fataliste
et son maître
bleiben. Daß der Herr ohne den Diener
nicht leben kann, iſt eine Schwäche, die Niemandem ſchadet;
daß der Herr vor allen Dingen gern erzählen hört, iſt eine
Schwäche, die Andern Gelegenheit gibt, ihr Erzählertalent
zu entfalten; daß der Herr den Diener, der ihn offen be¬
herrſcht, von der Falſchheit ſeines Fatalismus überzeugen
will, iſt eine Schwäche, die liebenswürdig iſt. Mit welch
unvergleichlichem Humor weiß Diderot den Fatalismus des
Jacques ins Spiel zu ſetzen. Alles geſchieht, parceque
c'étoit écrit là en-haut, sur le grand rouleau
. Diderot wäre
aber nicht Diderot geweſen, wenn er nicht an die Plaudereien
des Dieners und der Wirthin, an den Fatalismus des
Dieners und an die Kritik des Herrn, die tiefſten Probleme
des menſchlichen Daſeins anzuknüpfen gewußt hätte. Man
irrt ſehr, wenn man nach gewiſſen landläufigen Schilde¬
rungen meint, daß Jacques nur eine frivole Tendenz
habe (39). Sein Grundtext iſt vielmehr die Idee des Schick¬
ſals, was Diderot durch das Prädicat fataliſtiſch auch ſelber
angedeutet hat.

III. Das Niedrige.

Das Erhabene in ſeiner Schrankenloſigkeit iſt groß; in
der widerſtandloſen Aeußerung ſeiner Macht gewaltig; in der
[198] unbedingten Selbſtbeſtimmung ſeiner Unendlichkeit majeſtätiſch.
Die Majeſtät vereint die abſolute Größe mit der abſoluten
Macht. Der Gegenſatz des erhaben Großen iſt das Klein¬
liche, welches unter die ſeinem Weſen nothwendigen Schranken
heruntergeht; der Gegenſatz des erhaben Mächtigen das
Schwächliche, welches hinter dem ihm möglichen Maaß von
Kraft zurückbleibt; der Gegenſatz des Majeſtätiſchen iſt das
Niedrige, welches in ſeiner Selbſtbeſtimmung von zufälligen
und beſchränkten, von kleinlichen und egoiſtiſchen Motiven
beſtimmt wird. Niedrig iſt allerdings ein Ausdruck, der
auch relativ iſt; wird er aber nicht comparativ, ſondern
poſitiv gebraucht, ſo bezeichnet er das Unvollkommene, Ge¬
ringe, Gemeine ſchlechthin. Es hat ſich im Deutſchen der
Uſus gebildet, daß man niedrig und nieder unterſcheidet,
indem man unter erſterem das Gemeine, unter dem zweiten
das Einfache, Schlichte, Untere, verſteht. Eine niedrige
Geſinnung, eine niedrige Behandlung, ein niedriger Streich
u. ſ. w.; dagegen ein niederes Dach, eine niedere Hütte,
ein niedrer Stand u. ſ. w. Vordem ſagte man nur niedrig
überhaupt. Das Majeſtätiſche iſt in ſeiner ruhigen Größe
einzig und in ſeinem Handeln, als nicht von Außen und
nicht durch den Zufall beſtimmbar, abſolut ſicher. Es kann
daher zwar, ſofern es als ein beſonderes Daſein der Welt
der Erſcheinungen angehört, Seiten haben, welche dem An¬
griff von Außen her preisgegeben ſind, es kann leiden, es
kann den Schmerz fühlen, aber innerlich wird es ſich in der
Gleichheit mit ſich erhalten und im Untergang deſſen, was
an ſeiner Exiſtenz vergänglich iſt, ſeiner Unendlichkeit gewiß
bleiben. Hieraus erklärt ſich der ſcheinbare Widerſpruch,
weshalb die Majeſtät gerade im Leiden ihre Größe und Macht
am Herrlichſten zu offenbaren vermöge. Die Niedrigkeit
[199] hingegen wird: 1. unmittelbar das Alltägliche, Gewöhnliche,
Triviale ſein; 2. relativ das Wechſelnde und Haltloſe, das
Zufällige und Willkürliche; 3. die Rohheit als die Erniedri¬
gung der Freiheit unter eine ihr fremde Nothwendigkeit oder
gar als das Hervorbringen einer ſolchen Erniedrigung. Alle
dieſe Begriffe werden auch mit vielen andern Synonymen
bezeichnet, wie wir auch das Majeſtätiſche nach ſeiner gra¬
duellen Verſchiedenheit mit noch andern Namen edel, hoch,
vornehm, imponirend, grandios u. ſ. w. benennen.


a) Das Gewöhnliche.

Das Gewöhnliche, ſofern es die empiriſche Exiſtenz des
Allgemeinen ausmacht, iſt deshalb noch nicht häßlich; dies
Prädicat kann ihm erſt relativ zukommen; es wird unter
gewiſſen Bedingungen häßlich. Das majeſtätiſch Erhabene
iſt in ſeiner Erſcheinung inſofern einzig, als es eine ganze
Welt in ſich zuſammennimmt, denn einzig in dem Sinn,
empiriſch nicht ihres Gleichen zu haben, iſt am Ende nach
dem Leibnitziſchen principium indiscernibilium jede Exiſtenz,
auch die gewöhnlichſte. Die Majeſtät aber iſt andern Er¬
ſcheinungen nicht blos überhaupt empiriſch ungleich, ſondern
ſie iſt einzig als ohne Vergleich innerhalb einer gegebenen
Sphäre. Man ſtelle ſich eine Bergkette vor, ſo kann die¬
ſelbe ſchon durch ihre Größe erhaben ſein. Nun ſoll aber
aus ihrem Kamm hervor Ein Berg noch weit in den Aether
ſein Haupt erheben, ſo wird derſelbe nicht nur erhaben über¬
haupt, ſondern majeſtätiſch erhaben erſcheinen, weil er der
ungeheuren Maſſe gleichſam einen perſönlichen Ausdruck ver¬
leihen wird. So ſtrahlt das Licht des Mondes unter den
Sternen als ein einziges in ſanfter Majeſtät u. ſ. f. Dies
ſind Beiſpiele aus dem Gebiet des Raumes; aber auch die
[200] Zeit kann an dem Räumlichen majeſtätiſch erſcheinen, wenn
uns daſſelbe die unendliche Reihe der Jahre, die es als ein
Entſtandenes beſteht, unmittelbar vergegenwärtigt. Das
Entſtehen iſt auch ein Vergehen. Ein Entſtandenes, das
in der Flucht der Zeiten ſich gleich bleibt, gewinnt da¬
durch den Anſchein der Ewigkeit, aus deren Unendlichkeit
heraus der Strom der Zeit entſpringt. Im Steppenlande
morgenwärts vom todten Meere hängen die Felſenthore,
durch welche die Moabiterkönige von Baſan vor viertauſend
Jahren aus- und einzogen, noch in denſelben Angeln. Jetzt
ſind es nur ärmliche Ziegenhirten, die ſie paſſiren, aber die
Thore ſind die nämlichen. Es verſteht ſich, daß der Gegen¬
ſtand, erhaben zu wirken, groß und mächtig ſein muß; die
Dauer allein würde ihn nicht erhaben machen, auch wenn
er Jahrtauſende unverändert exiſtirte, wie z. B. im neuen
Berliner Muſeum ein Ziegel von denen gezeigt wird, welche
die Juden in Aegypten ſtreichen mußten. Ein Ziegel wird
auch durch Ewigkeiten nicht erhaben. In der Geſchichte
ſind Perſonen, Thaten, Begebenheiten voller Majeſtät, wenn
ſie poſitiv einzig ſind und eine Gattung, eine ganze Welt
in ſich concentriren. Ein Moſes, ein Alexander, ein So¬
krates ſind majeſtätiſch erhabene Perſönlichkeiten, weil ſie
im poſitiven Sinn einzig ſind. Daß Sokrates nicht floh,
daß er nicht durch rhetoriſche Kunſt die Richter zu beſtechen
ſuchte, daß er den Tod im Kerker mit heiterem Ernſt
erwartete, — was Alles nämlich Menſchen gewöhnlichen
Schlages nicht würden gethan haben, — gibt ihm den
majeſtätiſchen Nimbus. So iſt der Brand von Moskau
eine furchtbar majeſtätiſche Begebenheit, weil der Widerſtand
der Ruſſen in dieſem erhabenen Brandopfer ſich auf eine
welthiſtoriſch einzige Weiſe concentrirte. Drücken Perſonen
[201] und Thaten nicht ſolche von der Idee affirmativ getragene
Einzigkeit aus, ſo ſind ſie auch nicht majeſtätiſch; eine
Einzigkeit, welche durch ihre Negativität ſich auszeichnet,
kann auf das Prädicat des Majeſtätiſchen keinen Anſpruch
machen; ſie wird im Gegentheil ins Häßliche fallen. Ein
Commodus, ein Heliogabalus, Herrn der Welt, ſind mo¬
raliſche Abnormitäten, welche die Majeſtät, je mehr ſie die¬
ſelbe mit ihrem knabenhaften Wahnſinn in launiſcher Tyrannei
geltend machen wollten, nur um ſo mehr verzerrten; ſie ſind
einzig in dieſer Verzerrung, aber dieſe Einzigkeit iſt die
traurige der coloſſalen Ausſchweifung verrückten Eigendünkels.
Heroſtrat, als er die Fackel in den Tempel der Epheſiniſchen
Artemis warf, hat ſeinen Zweck erreicht, aber dieſe nichts¬
würdige Handlung iſt in ihrer frivolen Einzigkeit das Ge¬
gentheil aller Majeſtät. Die wahrhafte Majeſtät wird
natürlich ihrem Afterbilde gegenüber um ſo einziger erſcheinen,
wie Chriſtus, dem elend neugierigen König Herodes gegen¬
über, die Unendlichkeit ſeiner Majeſtät in vernichtendes
Schweigen hüllte. Herodes, ein König, fragt einen ge¬
fangenen, verurtheilten Juden — und dieſer würdigt ihn
keiner Antwort; dem entſittlichten Schattenkönige öffnen dieſe
ſonſt ſo freundlichen, liebeathmenden Lippen ſich nicht; dies
Schweigen — welch eine furchtbare Majeſtät!


Das Gewöhnliche iſt, wie geſagt, keineswegs auch
ſchon das Häßliche. Niemand kann in ſeinem Begriff dieſe
Nothwendigkeit nachweiſen und es kann ſogar, wenn auch
nicht ſchön, doch hübſch ſein. Allein als das, was in vielen
Exemplaren vorhanden iſt, was nach keiner Seite hin her¬
vorſticht, erſcheint es äſthetiſch bedeutungslos. Es fehlt ihm
an charakteriſtiſcher Individualiſirung. Das Schöne ſoll
uns allerdings die allgemeine Wahrheit der Dinge darſtellen,
[202] allein es ſoll dies in der Form individueller Freiheit thun,
welche die Nothwendigkeit des Allgemeinen in ihrer Eigen¬
thümlichkeit vereinzigt. Das Gewöhnliche, Alltägliche, wird
durch ſeinen Mangel an Unterſcheidung nichtsſagend, lang¬
weilig, gemein und geht damit in die Häßlichkeit über.
Man mißverſtehe dies nicht. Nicht das Schöne wird unſchön,
das iſt unmöglich, aber die Häufigkeit der Wiederholung,
die Breite einer maſſenhaften Exiſtenz, läßt es gleichgültig
werden, weil ein anderes Exemplar als eine bloße Tautologie
ohne den Reiz der Neuheit iſt. In den Motiven wird
jede Kunſt ſich innerhalb eines gewiſſen Kreislaufs bewegen
müſſen. Sie hat inſofern eine Grenze der Erfindung. Aber
dieſe im Begriff der Sache liegende Wiederholung iſt kein
Vorwurf für die Kunſt; es kommt darauf an, daß ſie die
an ſich immer gleichen Motive durch die Individualiſirung,
uns neu erſcheinen laſſe. Man erinnere ſich z. B. daß man
alle tragiſchen Colliſionen ausgerechnet hat; mehr als acht
und zwanzig ſind nach Benjamin Conſtant nicht möglich;
dieſe werden alſo, wie der Dichter es auch anfangen möge,
ſich immer wieder darbieten; er hat an ihnen eine ethiſche
Schranke ſeiner Production, allein er muß es verſtehen, dieſe
unvermeidliche Gleichheit des Inhalts ſo zu behandeln, daß
der von ihm gewählte, doch als ein neuer, einziger Fall
erſcheint. Die bloße Wiederholung mit einer oberflächlichen,
nur formellen Differenz genügt uns nicht. Die Unmöglich¬
lichkeit, die Idee ſelber und ihre Nothwendigkeit zu verändern,
begreifen wir; für die Erſcheinung aber fordern wir mit
Recht, daß der Künſtler ſie uns in einer wieder andern,
überraſchenden Weiſe darſtelle. Wenn man aus Werken,
wie die von Valentin Schmidt über die romantiſche Poeſie,
von Dunlop'shistory of the fiction, von v. d. Hagen
[203] über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf
über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht
gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker,
Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo
kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen;
allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die
Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß
ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten
Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung
zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie
das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort
beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener
machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels
aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des
Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot,
der Pickwickier von Boz u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei
dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der
Maître und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener
Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit
bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen
Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener
beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬
halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬
einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden
Phantaſie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr ſieht,
eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt,
die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige
Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder
mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat,
ſo wenig als dieſe mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬
pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als
[204] Plagiat, ärgert uns und wir rufen ihr mit dem Rabbi Akhiba
in Gutzkows Uriel Acoſta verdrießlich zu: Alles ſchon da¬
geweſen! Wir können die erlaubte Identität der Motive
von der nichtſeinſollenden Gleichheit der Behandlung dadurch
unterſcheiden, daß wir die Letztere als den Gemeinplatz be¬
zeichnen. Alle Künſte haben ihre Gemeinplätze; alle Epochen
haben die ihrigen. Der Gemeinplatz iſt die ſchon als ſolche
bekannte, erkannte und geſtempelte Trivialität. Das Ge¬
meinplätzliche iſt einſt auch neu und intereſſant geweſen; aber
in der Häufigkeit der Wiederholung iſt es verbraucht, entgeiſtet.
Es wird daher, ſobald es mit der Prätenſion der Neuheit
auftritt, lächerlich. In der Poeſie muß man es jedoch nicht
zum Gemeinplatz rechnen, wenn zum Stoff ihrer Bilder
immer wieder die großen Naturgegenſtände, Sonne, Meer,
Berg, Wald, Blume u. ſ. w. oder die Griechiſchen Mythen
genommen werden. Beide ſind einmal ewige Symbole ge¬
worden, in denen die gebildete Menſchheit ſich allverſtändlich
ausdrückt. Wie die Natur und die Götter immer wieder
ſchön und unergründlich ſind, ſo auch kann jener Bilderſtoff
immer wieder anders gewendet und verjüngt werden. Haben
nicht Schiller und Hölderlin die Griechiſche Mythe mit
univerſellem Geiſte fortgedichtet und romantiſch beſeelt?


Wenn Leſſing dem Gewöhnlichan das Ungewöhnliche
entgegengeſetzt hat, ſo kann man dagegen zunächſt nichts er¬
innern, denn dieſe Unterſcheidung iſt nur erſt ein limitatives
Urtheil. Wenn er nun aber das Gewöhnliche für das Natür¬
liche erklärt, ſo würde folgen, daß das Ungewöhnliche nicht
natürlich ſein dürfte. „Wenn der Dichter nichts auf das
Theater bringt, als was er in der einfachen Natur findet,
ſo wird er ſeinen Zuſchauern nichts zu ſehen und zu hören
geben, als was man alle Tage ſieht und hört. Wer beſucht
[205] aber deswegen den Schauplatz, damit er das daſelbſt an¬
treffe, was er außer demſelben mehr als zu häufig findet?
Er muß alſo ungewöhnliche Züge in ſeine Charaktere ein¬
miſchen, wenn er die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer auf ſich
ziehen will. Was iſt aber das Ungewöhnliche anders, als
eine Abweichung von dem Natürlichen?“ Abweichung von
dem Natürlichen ſoll hier das Ungewöhnliche charakteriſiren.
Conſequent langt man mit ihr bei der Zauberei und beim
Wunder, oder auch bei der Künſtelei und dem Widernatür¬
lichen an, denn dies ſind doch wohl die ſtärkſten Abweichungen
vom Natürlichen. Allein ſo hat Leſſing es nicht gemeint,
ſondern, wie der Zuſammenhang zeigt, hat er nur ſagen
wollen, daß die Kunſt noch nicht Kunſt ſei, wenn ſie die
gemeine Wirklichkeit abſchreibe, gegen welche gehalten alle
Poeſie, alle Kunſt ſelber das Ungewöhnliche iſt. Auch ver¬
wechsle man nicht die Gewöhnlichkeit mit der Verviel¬
fältigung
. Das Schöne als ſolches kann durch ſeine Ver¬
vielfältigung nicht alterirt werden, weil es in ſich unendlich
iſt; wie wir nicht müde werden, das Blau des Himmels,
das Grün der Erde, die Blüthen des Frühlings, den Geſang
der Nachtigall mit immer friſcher Dankbarkeit zu genießen.
An der theatraliſchen Erneuung der Sophokleïſchen Antigone
haben wir in unſern Tagen ein recht merkwürdiges Beiſpiel
der unſterblichen Kraft erlebt, welche dem wahrhaft Schönen
unalternd einwohnt. Es iſt eine der wichtigſten Seiten der
modernen Technik, daß ihre Vervollkommnung Werke der
bildenden Kunſt in immer wohlfeilern und doch treuen Ver¬
vielfältigungen möglich und damit den Genuß derſelben immer
allgemeiner macht. Solche Vervielfältigung iſt etwas Anderes,
als die ſchaale Reproduction typiſcher Vorbilder in der erfin¬
dungsloſen Nachahmung der unproduktiven Schwäche. Welche
[206] Gewöhnlichkeit in den Minneliedern des Mittelalters, die
Schiller zu dem Sarkasmus veranlaßte, daß in ihnen nichts
enthalten ſei, als der Frühling, der komme, der Winter,
welcher gehe, und die Langeweile, welche bleibe; wenn die
Sperlinge, meinte er, einen Muſenalmanach ſchreiben könnten,
würde ungefähr daſſelbe herauskommen. So ſind tauſende
von Sonetten der Petrarchiſten, Hunderte von Tyrannen¬
tragödien der ältern Franzöſiſchen Bühne, ſo die Fabrikwaare
unſerer Kindermährchenalbernheiten, ſo das Heer unſerer Ent¬
ſagungsromane, ſo in der jetzigen Deutſchen Malerei das zahl¬
reiche Geſchlecht der trauernden Königspaare, Juden, Mütter,
(Hauſer's Bethlehemitiſcher Kindermord) (40), Toggen¬
burge u. ſ. w. zu Gewöhnlichkeiten geworden. Die Nach¬
ahmer halten ſich oft für claſſiſche Künſtler, weil ſie nämlich
auf ein Haar daſſelbe hervorzubringen ſcheinen, was aner¬
kannte Auctoritäten auch producirt haben. Allein eben die
außerordentliche Aehnlichkeit mit ihren Vorbildern iſt das
Langweilige an ihnen, was das Publicum, das ſie ungerecht
ſchelten, von ihren Werken entfernt. Hätten ſie daſſelbe,
was ſie bieten, als ein Neues aus ſich hervorgebracht, ſo
würden ſie mit Recht Anſpruch auf Beifall machen können;
nunmehr aber dürfen ſie uns nicht verargen, wenn wir ihre
hübſch gemeißelten, bunt colorirten, richtig contrapunctirten,
nett ſtyliſirten Werke trivial finden. Ein ächter Künſtler,
der dem Ideal mit heiligem Ernſt nachſtrebt, wird freilich
auch Eine Idee in immer andern Wendungen darſtellen.
Weil er jedoch darin dem Ideal immer näher zu kommen
ſucht, ſo wird er uns doch nicht ermüden. Jede ſeiner
Schöpfungen wird ſein Urbild nach einer neuen Seite hin
offenbaren. Für Petrarcha waren die Sonette und Can¬
zonen, in denen er ſeine Leidenſchaft für Laura nach allen
[207] Höhen und Tiefen ſchilderte, ſo wenig ſchlechte Tautologieen,
als für Raphael ſeine Madonnen, als für Byron ſeine
düſtern Helden, als für Lyſippus ſeine Bildſäulen des gött¬
lichen Alexander u. ſ. w. Die Mittelmäßigkeit oder gar die
völlige Ohnmacht wiederholt das ſchon Geſchaffene ohne Fort¬
ſchritt, ohne productive Vertiefung und entgeiſtert uns durch
ihre von ihr ſelbſt unerkannte Gewöhnlichkeit eben ſo ſehr,
als das wahre Genie uns durch die einfache Urſprünglichkeit
ſeiner Compoſitionen begeiſtert.


Hat die Mittelmäßigkeit eine wiewohl uneingeſtandene
Ahnung von der Gewöhnlichkeit ihrer Leiſtungen, ſo ſchmückt
ſie dieſelben wohl, um die Plattheit zu verbergen, mit hete¬
rogenen Reizmitteln. Der Erfolg ihrer Anwendung wird
jedoch nur ſein, die Flachheit der Conception, die Armuth
der Ausführung, um ſo fühlbarer zu machen. Heut zu Tage
betrügen ſich Dichterlinge vorzüglich mit dem gefährlichen
Lobe, das ihnen wohl gezollt wird, geiſtreich zu ſein.
Wirklicher Reichthum des Geiſtes, gewonnen aus der Weite
vielſeitiger Erfahrung, aus der Tiefe gewaltiger Kämpfe,
wie ſelten iſt er nicht! Wie gewöhnlich dagegen iſt jenes
Halbgemiſch von Anſchauung und Reflexion, von Poeſie und
Philoſophie geworden, deſſen verworrene Buntheit man heut
zu Tage geiſtreich zu nennen beliebt. Die Impotenz hat
jetzt an der dialektiſchen Reflexion das Mittel, den Schein
des ſchöpferiſchen Producirens einen Augenblick hindurch
vorzutäuſchen.


Daß das Gewöhnliche ſich ſelbſt richtet, indem es durch
ſeine Uebertreibung komiſch wird, erhellt ſchon aus dem Ge¬
ſagten. Allein von der Komik, welcher es objectiv und un¬
willkürlich verfällt, iſt diejenige Komik zu unterſcheiden, welche
die Leerheit des Gewöhnlichen mit Bewußtſein parodirt. Wenn
[208] das Gewöhnliche die Nullität ſeines Inhalts durch den Bom¬
baſt eines falſchen Pathos auszuſpreizen bemühet iſt, ſo iſt
das eine unbeabſichtigte Lächerlichkeit. Unſer Lachen über
das Häßliche bedeutet in dieſem Fall ſeine Verurtheilung.
Wird aber das dem Inhalt nach Gewöhnliche in der Form
der Erhabenheit, oder umgekehrt das dem ſeinſollenden Inhalt
nach Erhabene in der Form der Gewöhnlichkeit vorgeführt,
ſo entſteht beidemal eine komiſche Wirkung. Das Erſtere iſt
der Fall in der Traveſtie, wie wenn die Fröſche in der
Batrachomyomachie die Sprache der Homeriſchen Helden
reden; das Zweite iſt der Fall in der Parodie, wie wenn
die Idee des Schickſals als einer an ſich erhabenen Macht
auf einen futilen Gegegenſtand gewendet wird. So perſiflirte
Natalis mit ſeinem Strickſtrumpfdrama, ſo Platen mit
ſeiner Gabel die Verirrungen unſerer fataliſtiſchen Schule;
ſo perſiflirte Baggeſen den Schwulſt, in welchen das
geiſtliche Epos bei uns verfallen war, mit ſeinem Adam und
Eva. Die erſten Menſchen ſind gewiß ein naiv erhabener
Gegenſtand. Theologie ſtudiren und Franzöſiſch lernen ſind
gewiß ſehr gewöhnliche Beſchäftigungen der heutigen Welt.
Baggeſen läßt nun Adam bis zwölf Uhr Theologie ſtudiren.
Eva ſpaziert unterdeſſen im Paradieſesgarten umher, wo die
Thiere ihr ſehr artig den Hof machen und ihr ſchmeichelnd
den niedlichen Fuß lecken. Vorzüglich fein benimmt ſich die
buntſchillernde Schlange. Sie macht ſich für Eva höchſt
intereſſant dadurch, daß ſie Franzöſiſch ſprechen kann und
viel von Paris zu erzählen weiß. Adam, mit welchem Eva
gut bürgerlich um zwölf Uhr zu Mittag ſpeiſt, hat längere
Zeit keine Ahnung von dieſer gefährlichen Bekanntſchaft, bis
er ſie auf einer gemeinſchaftlichen Promenade mit ſeiner Frau
zufällig entdeckt u. ſ. w. Dieſe ganze Behandlung macht
[209] die Protoplaſten zu heutigen Menſchen; indem aber zu all
den Gewöhnlichkeiten, wie Theologie ſtudiren, um zwölf Uhr
zu Mittag eſſen, Franzöſiſch lernen, einen verdauenden Spazier¬
gang machen, die phantaſtiſchen Vorausſetzungen des para¬
dieſiſchen Zuſtandes hinzugenommen ſind, worin die Thiere
noch ohne Entzweiung ſind und worin die Schlange ſpricht,
ſo erzeugt ſich ein ſehr ergötzlicher Widerſpruch, der dem
Dichter zu ſinnreichen ſatiriſchen Zügen Gelegenheit gegeben
hat, unter denen nicht einer der ſchlechteſten iſt, daß die
Schlange Evchens unſchuldige Phantaſie mit den Erzählungen
von Paris vergiftet und ihr die Sprache dieſes Babels
einſchmeichelt.


Das Gewöhnliche kann auch dadurch ins Komiſche
gewendet werden, daß es mit Ironie über ſich ſelbſt behan¬
delt wird. Schon vorhin iſt angedeutet worden, daß, was
wir äſthetiſch als das Gewöhnliche vermeiden, reeller Weiſe
ſehr wichtig ſein kann. Kommt nicht in ihm die Nothwen¬
digkeit, der wir alle unterthan ſind, zum Vorſchein? Iſt
daſſelbe nicht das Element, in welchem der Fürſt mit dem
Bettler ſich begegnet? Müſſen wir nicht alle eſſen und
trinken, ſchlafen und verdauen? Müſſen wir nicht alle
arbeiten, wenigſtens an unſerm Nichtsthun? Müſſen die
Kinder nicht geboren werden? Kann eine Kaiſerin ſich die
Wehen der Geburt wegdecretiren laſſen? Können wir nicht
alle krank werden, trotz Reichthum und Bildung? Müſſen
wir alle nicht endlich ſterben? Iſt daher dieſe Alltäglichkeit
nicht auch ſehr ernſt und ehrwürdig? Machen ihre Zuſtände
nicht das in ſeiner ſtabilen Gleichheit epiſche Element der
Geſchichte aus? Faßt die Kunſt ſie von dieſer Seite auf,
ſo verſchwindet an ihnen alle Gemeinheit. Und ſo haben in
der That Sculptur, Malerei und Poeſie den göttlichen
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 14[210] Schlaf, die Arbeit des Menſchen, das gemeinſame Mahl,
Hochzeit, Geburt und Tod, nach dem Adel ihrer poſitiven
und univerſellen Bedeutung geſchildert. Man erinnere ſich,
wie Homer auf dem Schilde des Kriegers Achilleus den
ganzen Cyklus der Begehungen und Feſte des Friedens vom
Hephaiſtos hat bilden laſſen; man erinnere ſich der Werke
und Tage des Heſiodos; man erinnere ſich der Idyllik,
der ſocialen, der ſkoliſchen Lyrik; man erinnere ſich, wie
das antike Relief, die antike Vaſenmalerei, die Pompejaniſche
Wandmalerei unſere gewöhlichen Zuſtände in naiver Heiter¬
keit vorführt; wie die chriſtliche Poeſie, Plaſtik und Malerei
aus der Geſchichte der Patriarchen und Chriſti heraus alle
gewöhnlichen Vorkommniſſe des Menſchenlebens nach ihrem
idealen Werth gebildet haben, ſo wird man erkennen, welch'
großen Umfang das Gewöhnliche in der Kunſt mit einem
vollkommen affirmativen Charakter einnimmt. Allein eben
weil dieſe epiſchen Elemente des Weltlebens in ihrer unend¬
lichen praktiſchen Wichtigkeit doch zugleich die alltäglichen
ſind, welche auch die Abhängigkeit des Menſchen von der
Natur verrathen und in ihrer ſteten Wiederkehr die Lange¬
weile unſeres Daſeins enthalten, immer wieder eſſen und
trinken, arbeiten und ſchlafen, gebären und ſterben zu müſſen,
ſo liegt auch in ihnen ſelbſt ſchon ein ironiſcher Anflug.
Die Kunſt darf aus ihnen nur den Punct unſeres Zuſam¬
menhangs mit der Natur, unſerer Gebundenheit an das
Endliche, ſchärfer hervorheben, ſo iſt die Komik im Nu fertig.
Dann entſteht auch ein Genrebild, aber ein ſolches, das
uns ein Lächeln abgewinnt, weil es uns die Freiheit in ihrer
natürlichen Beſchränktheit zeigt. In der großen Totalität
iſt der einzelne Zuſtand nur ein Moment; welche Befriedi¬
gung ein Zuſtand relativ und momentan gewähre, ſo muß
[211] er doch in den allgemeinen Zuſammenhang ſich auflöſen; die
Andeutung dieſes Ueberganges wird ſeine Ironiſirung. Ohne
im epiſchen Sinn ernſt und würdig, ohne im ironiſchen
komiſch zu ſein, wird die pittoreske wie die poetiſche Genre¬
bildlichkeit gemein und langweilig. Unſerer dermaligen Genre¬
malerei wäre Leſſings Rath für den komiſchen Dichter, von
dem Gewöhnlichen durch ein Abweichen von der puren, cru¬
den, alltäglichen Natur loszukommen, wohl auch zu empfehlen,
denn wir haben durch ſie die ganz ideenloſe Conterfeis
unſerer beſchränkteſten empiriſchen Zuſtände, eine nur zu
getreue Abſchilderung der Köchinnen, Obſtverkäuferinnen,
Schulbuben, Strümpfe ſtopfenden Mütter, Stiefel flickenden
Schuſter, im Schlaflock meditirenden Paſtore, in Kneipen
herumlungernden Müſſiggänger u. ſ. w. ohne die geringſte
ideale Verklärung, ohne ein Atom von Witz erhalten. Da
wir Deutſche keine gemeinſame große Geſchichte, keinen ein¬
heitlichen, himmelantragenden Enthuſiasmus haben, ſo erklärt
ſich, weshalb unſere Kunſt ſo ſehr um würdige Gegenſtände
verlegen ſein und ſo leicht in die gehaltloſeſte Tändelei und
Quängelei mit dem Gewöhnlichen verfallen kann. Hegel
und Hotho (41) haben allerdings an der Genremalerei mit
Recht hervorgehoben, daß die Unbedeutendheit der Objecte
um ſo mehr den Reiz einer glänzenden Ausführung geſtatte,
allein man thut dieſen Philoſophen Unrecht, wenn man ihre
Begeiſterung für das Genre in der Niederländiſchen Schule
als ein Zugeſtändniß dafür nimmt, daß auch der bloße
Abdruck einer empiriſchen Realität ihnen ſchon genügen
könnte und daß ideale Compoſitionen in ihrem Detail dem
Glanz der virtuoſen Technik nicht eben ſo günſtig ſeien.
Eine ſolche Vorſtellung, zum allgemeinen Vorurtheil gemacht,
würde den Kunſtſinn der Nation vollends ruiniren, denn ſie
14 *[212] würde uns die Beſchränktheit als ein Letztes verehren laſſen,
uns in einer flachen Gemüthſeligkeit, in einem idylliſchen
Duſel verdumpfen und uns immer unfähiger machen, den
wahrhaften Schmerz des Lebens zu faſſen, deſſen Gefühl
und Erkenntniß unſerm Daſein erſt die Weihe ächter Heiter¬
keit zu geben vermag. Der Mangel an Idealität, die Tri¬
vialität des Inhalts, führt in allen Künſten zur Breite des
Details, deſſen Ausputz ſchon für Poeſie genommen wird; es
entſteht ein maaßloſes Verweilen im Gewöhnlichen, weil man
nichts übergehen will, und mit dieſer Tendenz zur ſchlech¬
ten Vollſtändigkeit die entſetzlichſte Langeweile. Voltaire
hat bekanntlich geſagt, daß alle Gattungen gut und erlaubt
ſeien, hors le genre ennuyeux; eben derſelbe hat aber auch
geſagt: le secret, d'être ennuyant, c'est de tout dire. Man
darf ſich nicht wundern, wenn in ſolchen Epochen gerade
höhere Naturen, ſtrebende Gemüther, aus Ekel über die Götzen¬
dienerei, die mit dem Gemeinen und Gewöhnlichen getrieben
wird, die Ironie gegen das Endliche wieder übertreiben und
bald ins Frivole, bald ins Pietiſtiſche, bald ins Verrückte
fallen. Der rechte Künſtler wird alſo das Gewöhnliche ent¬
weder ſo darſtellen, daß er deſſen poſitive Berechtigung als
eine nothwendige Form des allgemeinen Weltlaufs hervor¬
kehrt; oder ſo, daß er ironiſch die Beſchränktheit eines Zu¬
ſtandes zugleich in die Freiheit reflectirt, die darüber hinaus
iſt; oder ſo, daß er es direct ins Komiſche wendet. Wodurch
ſind Murillo's Bettelknaben ſo berühmt geworden? Weil
ihre Dürftigkeit ſie nicht genirt und weil aus ihren Lumpen
das Frohgefühl einer über alle äußere Noth ſorgloſen Seele
hervorblickt. Murillo hat die affirmative Seite ihrer Exiſtenz
ergriffen. Wodurch iſt Biard zu ſo großem Ruf gekom¬
men? Weil er das ironiſche Moment im Gewöhnlichen her¬
[213] vorzukehren verſteht. Seine berühmte Springergeſell¬
ſchaft
wartet des ſtrömenden Regens halber heute umſonſt
auf Beſuch. Das Licht bei den Wachsfiguren, unter denen
wir ſelbſt einige Olympiſche Gottheiten bemerken, brennt
umſonſt herunter. Die Vorſtände der Geſellſchaft, um eine
verſchmitzt erfahrene Alte verſammelt, überzeugen ſich gründ¬
lich von dem leeren Boden der Caſſe. Der Erklärer der
Wachsfiguren, die Gerte unter dem Arm, ſchaut verdrießlich
auf die düſtere Straße hinaus, auf welcher die regenſchirm¬
beſchirmten Menſchen ſchattenartig vorüberhuſchen. Man
ſieht es den Leuten an, daß ſie, lebenserfahren, an Täu¬
ſchung gewöhnt, hungergeübt, zwar ſo bald die Laune nicht
verlieren, daß jedoch die Zuſtände augenblicklich höchſt troſt¬
los ſind. Aber da vorn auf dem Eſtrich, welch liebliche Er¬
ſcheinung? Ein junges Mädchen in knabenhaftem Anzug
ſitzt mit einer Violine beſchäftigt unberührt von all dem
Elend um es herum. Es wird dies Elend theilen; es wird
ſchlecht und wenig eſſen und trinken; es wird in ſeinen
dünnen Kleidern frieren; aber es wird die Kunſt lieben um
der Kunſt willen. Dieſe ſchwarzen Haare, dieſe ſehnſüchtigen
Züge, dieſe feurigen Blicke verbürgen uns das Genie und
reißen uns aus aller Gewöhnlichkeit heraus. Unter den
Düſſeldorfer Malern verdient Haſenclevers Komik her¬
vorgehoben zu werden; ſeine Tanzſtunde, ſein Maleratelier,
ſeine Theegeſellſchaft, ſein Jobs als Nachtwächter, welch'
köſtliche Bilder!


Die Alten ſtellten der Megalographie als der Ma¬
lerei der Götter und Heroen die Rhyparographie, auch
Rhypographie, oder auch, wie Th. Welker meint, Rho¬
pographie
, entgegen, weil das Schmuzige auch mit dem
Gewöhnlichen und Niedrigen zuſammenhängt. W. Gring¬
[214] muth
in einer eigenen Abhandlung (42) und Hettner in
in einem Abſchnitt ſeiner Vorſchule der Kunſt haben dieſe
antike Genremalerei näher zu ſchildern unternommen. Aus
den auf uns gekommenen Bildwerken erſehen wir, daß die
Alten Amoretten, die ſich mit Waffen umherſchleppen,
Schuſterſtuben, malende Zwerge, Kämpfe von Pygmäen mit
Hähnen und Kranichen, Stillleben von Früchten, Vögeln,
Gefäßen dahin rechneten.

b) Das Zufällige und Willkürliche.

Das Gemeine iſt in ſeiner Beſchränktheit eben ſo ge¬
wöhnlich, als das Erhabene in ſeiner Einzigkeit majeſtätiſch.
In ſeinem ſchöpferiſchen, ſich ſchlechthin aus ſich beſtimmen¬
den Verhalten handelt das Majeſtätiſche wohl plötzlich, aber
nicht zufällig, wohl frei, aber nicht willkürlich. Moſes ſchlägt
in der Wüſte mit ſeinem Stabe an einen Felſen und plötzlich
quillt aus deſſen dürrer Bruſt ein Strom lebendigen Waſſers.
Dies majeſtätiſche Handeln iſt weder zufällig, noch willkür¬
lich; nicht zufällig, denn Moſes iſt der gottgeſandte Führer
des Volkes, der alſo für daſſelbe ſorgen muß; nicht willkür¬
lich, denn das Volk war nahe daran, zu verſchmachten.
Das majeſtätiſche Handeln iſt ſeiner ſelbſt als eines ſchöpfe¬
riſchen abſolut ſicher und erreicht ſein Ziel ohne ſonderliche
äußerliche Vermittelung; im Grunde durch den einfachen
Act des bloßen Wollens. Der Vatikaniſche Apollo hat von
ſeinen Tempelmauern irgend welchen Unhold, ſei es nun
Python, ſeien es die Erinnyen, weggeſcheucht. Er hält zwar
noch den Bogen in der Hand, allein ſeine Haltung und
Miene ſprechen entſchieden aus, daß er, der fernhintreffende
Gott, ſich des Erfolgs ſeines Handelns vorher gewiß war.
Er will den Unhold tödten und er tödtet ihn. Kein Zweifeln,
[215] Schwanken, Zaudern darf in ein Weſen eintreten, das auf
Majeſtät Anſpruch macht. Fällt die Majeſtät in ihrem
Handeln dem Zufall und der Willkür anheim, ſo wird ſie
häßlich. Ihr Handeln muß mühelos, jedoch in ſeiner Leich¬
tigkeit am rechten Ort, zu rechter Zeit, nothwendig ſein,
weshalb ein ſogenannter Deus ex machina und Alles, was
ihm ähnlich iſt, den Eindruck der Majeſtät verfehlt. — Er¬
reicht eine majeſtätiſch ſein ſollende Exiſtenz in ihrem Handeln
nicht einmal, was ſie beabſichtigt, ſo widerſpricht ſie damit
der bei ihr vorausgeſetzten Sicherheit und wird häßlich oder
komiſch. Stellen wir uns einen Löwen vor, der aus einem
Hinterhalt auf eine Gazelle zuſpringt, in ſeinem Sprung
aber ſich überbietet, ſo daß er über ſie hinwegſpringt,
während ſie unter ihm davonläuft, ſo wird der König der
Thiere lächerlich erſcheinen. Auch darf die Majeſtät in der Form
ihres Handeln ſich nicht haſten, weil ihre Autonomie feierlich
auftreten muß. Die im Innern vorhandene abſolute Sicher¬
heit muß ſich auch in der Ruhe und Gemeſſenheit des Aeußern
darſtellen. Bäume neigen ihre Kronen majeſtätiſch, wenn
ſie ſich langſam auf und ab beugen; ein Ton iſt feierlich,
wenn er ſich ſelbſt anhält und in gemeſſenen Pauſen die
Stille wieder unterbricht; ein Schritt iſt feierlich, wenn er,
da das Gehen ein aufgehobenes Fallen, den Fuß mehr von
hinten her ſchleift, als nach vorn hin fallen läßt. Alle Be¬
wegungen daher, welche ein majeſtätiſch ſein ſollendes Indi¬
viduum als ein unruhiges, haſtiges, hin und her gezerrtes
erſcheinen laſſen, ſind häßlich, weil ſie der unbedingten
Selbſtgewißheit als dem Weſen der Majeſtät widerſprechen.
Auch die Sprache der Majeſtät wird kurz, lapidariſch, ehern,
maaßvoll ſein müſſen. Wortfülle, limitirende Wendungen,
eigenen ſich nicht für ſie; weit eher ein humoriſtiſches Spiel
[216] mit dem Scherze, weil im Spiel ſich die Herrſchaft über
etwas zeigt. Ein queckſilbern beweglicher, ſtolpernder und
polternder Fürſt, der nicht Meiſter ſeiner Affecte bleibt, und
in ſeinem Benehmen verräth, daß er über alle den gemeinen
Menſchen beunruhigende Störung nicht hinaus iſt, ſteht auf
dem Sprunge, lächerlich zu werden.


Im Gegenſatz zum reflexionsloſen, ſich ſelbſt genügenden
Handeln der Majeſtät charakteriſirt ſich die Gemeinheit durch
Zufälligkeit und Willkür. Der Zufall an ſich iſt ſo wenig
gemein, als die Willkür. Sie als ſolche ſind daher auch
noch nicht häßlich; ſie werden es erſt, wenn ſie ſich an die
Stelle der Nothwendigkeit und der Freiheit ſetzen. Die
Schönheit hat nicht den Zwang, wohl aber die Nothwendig¬
keit, nicht die Geſetzloſigkeit, aber die Freiheit, zum Inhalt.
Die Nothwendigkeit der Freiheit iſt ihre Seele und Zufall
ſowohl als Willkür kann ſie daher nur tragiſch oder komiſch
wenden. Wird die Nothwendigkeit im Zuſammenhang der
Erſcheinung der Freiheit zu einer Grille, ſo wird das Schick¬
ſal zufällig und willkürlich, während es als die ſich objectiv
von ſelbſt ergebende Grenze für die Ausſchweifungen des Zu¬
falls und der Willkür majeſtätiſch wirkt. Der ſogenannte
Zufall iſt für die tragiſche Entwicklung nur die Form, in
welche die abſolute Nothwendigkeit ſich ſelbſt verhüllt. Das
Schickſal ſoll nicht blos eine Grenze überhaupt, ſondern die¬
jenige ausdrücken, die wir als eine durch das Weſen der
Freiheit nothwendige anerkennen, in welcher Hinſicht die
Colliſionen auch der antiken fataliſtiſchen Tragödie ſittlicher
Natur ſind, wenn auch das Fehlen von ihr noch nicht als
ethiſcher Widerſpruch genommen wird, ſondern als ein moraliſch
ungewolltes Thun, deſſen Begründung ſogar in den Schooß
der Götter hinabreicht. Die Schuld aber, die in unſerm
[217] Sinn nicht als moraliſche exiſtirt, wird von der alten
Tragödie doch anerkannt, wie die bekannten Sophokleiſchen
Verſe ſo unübertrefflich ausdrücken:


ἀλλ ἐι μεν ὀυν ταδ᾽ ἐν ϑεοις ϰαλα,

παϑοντες ἀν ξυγγνοιμεν ἠμαστηϰοτες.

Für die Komik iſt natürlich der Zufall nicht weniger
als die Willkür der abſolute Hebel, weil ſie allein auch
wieder die Häßlichkeit des ſchlechten Zufalls und der ſchlechten
Willkür durch ſubjective Maaßloſigkeit zu parodiren im Stande
ſind. Es iſt das Bizarre und Barocke, das Groteske
und Burleske, worin ſich das Zufällige und Willkürliche
vom Häßlichen zur Verklärung des Komiſchen emporhebt.
Keine dieſer Formen iſt ſchön im Sinne des Ideals; in
jeder exiſtirt eine gewiſſe Häßlichkeit, aber in jeder auch die
Möglichkeit, in die heiterſte Komik überzugehen.


Das Bizarre iſt der Eigenſinn der Laune. Das Wort
kommt vom Italieniſchen bizza her, welches Zorn, auch
Bosheit bedeutet. Weil die Bosheit etwas Singuläres iſt,
ſo iſt es dann auch auf das Abſonderliche, Seltſame über¬
tragen worden, in deſſen Hervorbringen die Laune ſich ge¬
fällt. Bedenkt man, daß das Schöne auf die Darſtellung
des Ideals geht, ſo kann man nicht erwarten, daß das
Bizarre ſchön ſei. Eher tendirt es in's Komiſche, iſt jedoch
durch ſeinen zu aparten Inhalt ſelten rein lächerlich. Die
Bizarrerie übertreibt das Individualiſiren ſo, daß es häßlich
erſcheint oder wenigſtens an das Häßliche ſtreift. Es ver¬
bindet in ſeiner Laune, was man zu trennen, es trennt,
was man zu verbinden pflegt. Der Engliſche Spleen iſt
reich an bizarren Einfällen. Schwangere Frauen, in der
Entwicklung begriffene Mädchen haben öfter bizarre Gelüſte,
z. B. Tabacksaſche zu genießen. Hypochonder quälen ſich
[218] mit bizarren Einbildungen. Die Liebe als Leidenſchaft reizt
auch zu bizarren Handlungen, wie der Troubadour Peire
Vidal
aus Toulouſe ſich dadurch vorzüglich im Andenken
erhalten hat. Wir können ſeinen ſentimentalen Albernheiten
von den Deutſchen Minneſingern die Ulrichs von Lichten¬
ſtein
an die Seite ſetzen (43). In der Architektur und
Sculptur kann das Bizarre ſich noch wenig geltend machen,
weil der Ernſt und die Eigenthümlichkeit des Materials dieſer
Künſte ſeine Ausſchweifungen hemmen. In der Malerei
gewinnt es ſchon einen bedeutenden Spielraum, namentlich
durch ganz eigene Farbentöne. In der Muſik kann es
natürlich die Unergründlichkeit ſeiner Metamorphoſen recht
nach Wohlgefallen in dem weichen, nachgibigen, unbeſtimmt¬
beſtimmten Element der Töne auslaſſen und die Muſik
nennt auch manche ihrer wunderlichen Schöpfungen aus¬
drücklich Capriçen. In der Poeſie endlich verſteht ſich die
mannigfaltigſte Darſtellung des Indefiniſſabeln, was im Bi¬
zarren liegt, von ſelbſt. Shakeſpeare hat ihm in einigen
ſeiner Luſtſpiele glänzende Verherrlichungen angedeihen laſſen.
Unter den neuern Franzoſen zeichnet ſich Balzac in der
Kunſt aus, das Bizarre zu idealiſiren. So hat er einen
Roman geſchrieben, welcher den Swedenborgianismus ſchildert.
Die Heldin deſſelben erſcheint wegen ihrer engelhaften Natur
den Männern als Jungfrau, als Seraphita, den Frauen
als Jüngling, als Seraphitus. Dieſer pſychologiſche
Hermaphroditismus führt nun auch zu bizarren Situationen.
Unter den neuern Deutſchen Autoren hat Gutzkow eine
vorzügliche Begabung zur Erfindung bizarrer Charaktere und
Situationen. Sein Mahaguru, ſeine Wally, ſeine Se¬
raphine
, ſein Nero, ſein Prinz von Madagascar,
ſein Blaſedow, ſein Hackert in den Rittern vom
[219] Geiſt ſind im eminenteſten Sinn bizarr und berühren eben
ſo oft das Erhabene als das Lächerliche. In der Schöpfung
des nachtwandleriſchen, geheimpolizeilichen, häßlichgeiſtvollen,
boshaftguten Hackert hat Gutzkow das Bizarre auf das
Treffendſte geſchildert. Im Prinzen von Madagascar hat
er das Bizarre beſonders in die Situationen gelegt. Welche
bizarre Lage des Prinzen, von ſeinen eigenen Unterthanen
gefangen und als Sclav verkauft zu werden! Auch in
kleinern Erzählungen wird man bei Gutzkow die Neigung
zum Bizarren als ein Hauptingrediens finden bis zur
köſtlich erzählten Geſchichte jenes Kanarienvogels hin, der
ſich ſeltſamer Weiſe in ſein eigenes Spiegelbild verliebte und
aus Melancholie über die Unrealität ſeines vis à vis ſtarb.
Selbſt Charakterbilder ſolcher Art ſind Gutzkow außerordentlich
gelungen, wie ſein Portrait Schottky's, zu welchem wohl
nur Schall's Portrait von Laube als Pendant gelten kann.


Die pointirte Abenteuerlichkeit, die phantaſtiſche Be¬
weglichkeit des Bizarren, machen es zur Ironie des Gewöhn¬
lichen und laſſen es in dieſer Richtung ſelbſt an eine kokette
Geſuchtheit ſtreifen. Wie leicht dieſelbe ins entſchieden Hä߬
liche fallen kann, ſehen wir zuweilen bei Tieck, der ſo reich
an ächt bizarren Geſtalten iſt. In der Novelle: Eigenſinn
und Laune
, läßt er die Heldin Emmeline zuletzt als Bor¬
dellwirthin auftreten. Dieſe Laune iſt häßlich und ihre
Motivirung übergeht der Dichter, während er die ſonſtigen
Verirrungen Emmeline's in einem Zuſammenhange darſtellt,
der ſie einigermaaßen begreifen läßt. Emmeline konnte einen
Kutſcher heirathen wollen, konnte ſich von einem leichtſin¬
nigen Commis ſchwängern laſſen, konnte einen Geldariſto¬
kraten heirathen, konnte mit einem Officier durchgehen, in
welchem ſie doch den Kutſcher Martin wiederfand — brauchte
[220] ſie aber ſo tief zu ſinken, daß ſie aus der Proſtitution ein
Gewerbe machte, ein Gewerbe nicht bloß für ſich, ſondern
in der ſcheußlichſten Weiſe, als Vorſteherin eines Bordells?
Dieſer Ausgang iſt mehr als bizarr. Emmeline zeigt bis
dahin Eigenſinn und Laune, aber nicht dieſe empörende Ge¬
meinheit. — Von dem Bizarren iſt das Barocke ſchwer zu
unterſcheiden. Man könnte aber wohl ſagen, daß es darin
beſtehe, dem Gewöhnlichen, dem Zufälligen und Willkürlichen
durch die Außerordentlichkeit der Form eine Bedeutung zu
geben. Man leitet das Wort von einer bekannten Schlu߬
form ab, welche den Namen barocco hat; nach Andern ſoll
es ſo viel als ſchief bedeuten und von den vertieften Rahmen
gebraucht ſein, die mit ſchräger Fläche zum Bild oder Spiegel
ſich abſenken und noch jetzt Barockrahmen heißen. Sollte
es aber nicht von baro herkommen, im Lateiniſchen ein
dummer Menſch, im Italieniſchen ein falſcher Spieler,
Schurke? Sollte nicht das Barocke den Begriff des falſchen
Spiels auf das Spiel mit dem Zufälligen übertragen haben?
Es liegt in ihm eine gewiſſe Keckheit und Schroffheit der
ſich ſelbſt überbietenden Willkür, die oft in's Komiſche, aber
auch ins Grauſame und Düſtere überſpringen kann, wie wir
dies in den Strafen der Völker finden, die oft eben ſo
brutal als barock waren — und leider noch ſind. Jener
Syriſche Paſcha fand ſogar ein offenbar ſehr barockes Ver¬
gnügen darin, die Geſichter von Verbrechern höchſt eigen¬
händig mit einem Meſſer künſtleriſch zu bearbeiten, um
Naſen, Ohren und Lippen die ihm genehme Geſtalt zu geben.
Eugene Sue hat das Barocke zuweilen mit vielem Geiſt,
immer jedoch nach der grauenhaften Seite hin, darzuſtellen
verſtanden. In der Mathilde, ſeinem vollendetſten Roman,
hat er die tiefe Bosheit des Fräulein von Maran durch
[221] bizarre Launen und barocke Wendungen ſehr charakteriſtiſch
gezeichnet. Die Willkür dieſer ſataniſchen Perſon äußert ſich
nämlich auch in der Schöpfung von Worten, die nur in
ihrem Lexikon zu finden ſind, wie z. B. wenn ſie, etwas
ſehr bemerkenswerth zu finden, ſagt: c'est pharamineux!


Dem Barocken, wie dem Bizarren verwandt, und
doch von ihnen durch eine individuelle Paradoxie verſchieden
iſt das Groteske. Seinen Namen hat es — nachdem es
längſt in aller Komik exiſtirte — in Italien zur Zeit Cel¬
linis von einer beſondern Art der Gold- und Silberarbeit
erhalten, worin verſchiedene Stoffe in ſeltſamer Miſchung
zuſammengewürfelt wurden; dann wurde das Wort auf die
buntſcheckige Manier übertragen, mit welcher Grotten und
Gartenhallen, Waſſerbecken u. dgl. mittelſt farbigter Steine,
Korallen, Muſcheln, Erzſtufen, Moos ausgelegt wurden.
Von dieſem Buntgemiſch ging der Name auf alle Formen
über, in denen ein ſonderbares Durcheinander unberechen¬
barer Schnörkel und unerwarteter Sprünge unſere Aufmerk¬
ſamkeit eben ſo ſehr feſſelt als zerſtreuet. Nun wurden auch
die Tänzer, die in Verrenkungen wunderlichſter Art uns
vergeſſen machen, daß ſie, wie wir, Knochen haben, Gro¬
tesktänzer genannt. Ihr Beinausſpreizen, ihr Wippen,
Wiegen, Drehen, Froſchhüpfen, Bauchkriechen, iſt wahr¬
lich nichts weniger, als ſchön; es iſt auch nicht komiſch;
aber es iſt als eine Willkür, die aller Geſetze zu ſpotten
ſcheint, grotesk. Flögel hat als Fortſetzung ſeiner Geſchichte
der komiſchen Literatur Collectaneen hinterlaſſen, die man
unter dem Titel einer Geſchichte des Groteskkomiſchen 1788
herausgegeben hat. In dieſer Geſchichte beſchäftigt er ſich
vom Satyrſpiel der Griechen an vorzugsweiſe mit dem Hans¬
wurſt, den Marionetten, den Narrenfeſten und Geckenge¬
[222] ſellſchaften und verſteht unter dem Groteskkomiſchen beſonders
das Niedrigkomiſche, zumal wie es ins Derbſinnliche, Un¬
züchtige und Rohe übergeht. Schon 1761 hatte Möſer
ſeinen Harlequin oder Vertheidigung des Groteskkomiſchen
geſchrieben und den Begriff deſſelben ebenfalls vorzüglich an
den Italieniſchen Masken nach Riccoboni erläutert. Er
nimmt es auch als gleichſinnig mit dem Niedrigkomiſchen,
mit der Poſſenreißerei, mit der zweideutigen Anſpielung.
Seine Heirath Harlequins oder die Tugend auf der
Schaubühne (abgedruckt in den ſämmtlichen Werken, her¬
ausgegeben von Abeken, Berlin 1843, Th. 9., S. 107. ff.)
iſt jedoch ziemlich zahm gehalten. Das Groteske iſt in vieler
Beziehung der Kindergeſchmack, die Chineſiſche Aeſthetik.


Das Bizarre, Barocke und Groteske können ins Bur¬
leske übergehen. Burla heißt im Italieniſchen und Spani¬
ſchen Spott. Von Italien kam die burleske Manier nach
Frankreich und wurde hier vorzüglich durch Scarron's Tra¬
veſtirung der Aeneide ſo verbreitet, daß die kurzen Verſe der¬
ſelben ſchlechthin als burleske Verſe in Umlauf kamen nnd
ſogar die Geſchichte Chriſti ganz ernſthaft, aber, wie ſchon
der Titel meldete (44), in burlesken Verſen bearbeitet ward.
Das Burleske iſt die parodiſche Ueppigkeit der Willkür, die
zur Ausführung heiterer Caricaturen außerordentlich geeignet
iſt. Aus dieſem Grunde macht es die Seele des Italieniſchen
Maskenſpiels und aller ihm ähnlichen Komik aus. Das
ſtumme Spiel, was wir, aus dem corrumpirten aczioni, lazzi
nennen, gehört dem Burlesken als ſeine eigentlich claſſiſche
Darſtellung an. Der ſchöpferiſche Uebermuth muß mit ſeinem
tollen Sprudelgeiſt dieſe unbeſchreiblichen Geſten, Beugungen,
Sprünge, Faxen, Grimaſſen hervorbringen, die nur im
Moment ihrer Bewegung und im Contraſt mit ihren Um¬
[223] gebungen ein Intereſſe haben. Im heutigen komiſchen
Vaudeville hat es ſich eine feinere Exiſtenz zurecht gemacht.
Die Franzoſen beſitzen namentlich an der Parodie der Eng¬
länder einen unendlichen Schatz für burleske Erfindungen,
wie z. B. im Vaudeville Sport und Turff. Wegen des
Parodiſchen lieben ſie es aber überhaupt und man wird beob¬
achten können, wie ſehr es ihre Schauſpieler aus einer Rolle
herauszufinden und zu entwickeln verſtehen. Man nehme z. B.
ein Vaudeville, wie den Koch Vatel, im Ehrgeiz in der
Küche, ſo iſt dieſe Rolle, in der auch Seydelmann ſo
claſſiſch war, ohne die Schöpferlaune des Schauſpielers in
burlesken Mienen und Geberden nur die Hälfte deſſen, was
ſie ſein ſoll. Vatel will ſich eines mißrathenen Puddings
halber mit dem Küchenmeſſer ermorden. Die Ehre der Koch¬
kunſt, die Ehre ſeiner Ahnen befiehlt es ihm. Dieſe Scene
iſt köſtlich, ſobald ſie als burleske Parodie des Pathos der
großen Tragödie geſpielt wird. Vatel, mit der weißen
Schürze, mit der weißen Mütze des Kochs bekleidet, wohl¬
beleibt, das Küchenmeſſer ſchwingend, hält einen rührenden
Monolog, der uns vor Lachen faſt erſticken macht — wenn
die Genialität des Schauſpielers die Burleske in der Gewalt
hat. Vorſchreiben läßt ſich dergleichen nicht. In dem Vau¬
deville, les vieux péchés, ſehen wir einen ehemaligen Pariſer
Tanzmeiſter, der unter anderm Namen ſich als wohlhabender
Rentier in ein Städtchen der Provinz zurückgezogen, ſich die
Achtung und das Vertrauen ſeiner Mitbürger erworben hat
und endlich zum Maire ernannt wird. Sobald nun dieſer
treffliche Mann in Affect geräth, fällt er unwillkürlich in
ſymboliſche Tänzerattitüden, ſo daß das Pathos der magiſtralen
Würde und das frivole Enjambement des Ballets höchſt
burlesk ſich widerſprechen. Nur die Laune des Schauſpielers,
[224] nur ſeine burleske Grazie kann ermöglichen, daß dieſer Wider¬
ſpruch nicht ein unerträglich häßlicher werde. Oder man
vergegenwärtige ſich jenes Vaudeville, in welchem ein alter
Rentier der Fanny Elsler nachreiſt, und im Gaſthof, als er
Morgens Toilette macht, von der Vorſtellung ihrer Nähe
bezaubert, in ſelige Erinnerung verloren, mit der Barbier¬
ſerviette um den Hals und dem Raſirmeſſer in der Hand
der liebenswürdigen Tänzerin ihre anmuthig verführeriſche
Cachucha auf das Scheußlichſte aber Lächerlichſte nachtanzt.


Dergleichen iſt burlesk. Wenn wir uns mit dieſen
Veranſchaulichungen in das dramatiſche Gebiet verloren haben,
ſo müſſen wir bemerken, daß dies nur geſchehen iſt, weil
daſſelbe das Maximum der burlesken Energie möglich macht,
keineswegs jedoch, als ob nicht andern Kunſtgattungen das
Burleske eben ſo wohl möglich wäre. Die Poeſie beſitzt
ſogar gewiſſe ſtereotype Mittel, das Burleske zu erzeugen,
wie im gezwungenen Reime, in der Sprachmiſcherei,
im Jargon, wovon oben ſchon bei einer andern Gelegenheit
gehandelt worden (45). Worin liegt hier das äſthetiſch Er¬
laubte? Offenbar darin, daß in dem, was wir an ſich als
häßlich verurtheilen müßten, die Freiheit als ein heiteres
Spiel ſich geltend macht und durch die bewußte Maa߬
loſigkeit der Willkür das Häßliche ins Lächerliche verklärt.
Einen unrichtigen Reim wird z. B. Niemand ſchön finden.
Ein gezwungener Reim verzerrt ein Wort, um es zum
richtigen Reim zu machen. Dieſe Mißhandlung der Sprache
iſt auch nicht ſchön; weil ſie aber aus der Freiheit entſpringt,
welche die Sprache ſelber geſchaffen hat und aus welcher
heraus das Wort auch ſo heißen könnte, ſo müſſen wir
lachen. Daſſelbe iſt der Fall mit den Fiſchart'ſchen und
ähnlichen Wortungeheuern. Wenn eine bekannte Parodie
[225] des Mignonliedes anhebt: „Nach Italjen, nach Italjen,
Möcht' ich, Alter, nur einmalgen!“, ſo iſt das Zeitwort:
einmaligen, ein unerhörtes, unmögliches. Aber die burleske
Laune wagt ſich damit hervor und fordert unſer Lachen
heraus.


Wegen der Verwandtſchaft, worin das Bizarre, Ba¬
rocke, Groteske und Burleske unter einander ſtehen, wird
die Poſſe, die komiſche Oper und der komiſche Roman ſie
uns in den mannigfaltigſten Uebergängen vorführen. Cramer,
Jean Paul und Tieck bei uns, Smollet und Sterne bei den
Briten, Scarron und Paul de Kock unter den Franzoſen,
haben uns ſolche Verſchmelzungen gegeben. Tieck iſt hierbei
weniger in der Anlage des Ganzen, deſto mehr im Detail
glücklich. Welch' ein barocker Einfall, in der Novelle: die
Geſellſchaft auf dem Lande, den Accuſativ als einen
anmuthigen, freundlich entgegenkommenden Jüngling, den
Dativ als einen ſitzenden, bärtigen, verdrießlich auf ſeinen
Schooß niederſchauenden Alten zu bilden. Dazu aber die
burleske Rechtfertigung, die in pathetiſchem Ton ausführt,
daß mit dieſer Erfindung den bildenden Künſten, die ſich an
der antiken und Nordiſchen und chriſtlichen Mythologie er¬
ſchöpft hätten, ein ganz neues Feld aufgethan ſei. Welch'
eine Zukunft, wo auch der fürſtliche Infinitiv, der ſouve¬
raine Imperativ von Bildhauern und Malern würden ver¬
herrlicht werden! Dieſe Rede iſt eine Meiſterſtück der feinſten
Burleske. Paul de Kock ſteht in dem Ruf, frivol zu
ſein. Er iſt es auch, allein er iſt dennoch weit weniger ge¬
fährlich, als ſo manche andere wohlgelittene Schriftſteller,
weil er nämlich komiſch, weil er vor allen Dingen grotesk
und burlesk iſt. So läßt er z. B. in einem ſeiner Romane
einen jungen Mann endlich ein Rendezvous mit ſeiner Ge¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 15[226] liebten in einem Gartenpavillon hoffen. Er kommt auch
zum Pavillon, verirrt ſich aber in ein anderes Zimmer, muß,
unter ein Sopha gekauert, die Zärtlichkeiten zweier Gatten
mitgenießen, die ſich ſchlafen legen, ſchleicht, als ſie ſchlafen,
aus der Stube, findet die Treppe, findet das rechte Zimmer,
findet die Geliebte. Kaum aber hat er ſich ihr im Bette
zugeſellt, als Feuer ausbricht. Es entſteht Lärm, er muß
fliehen, ergreift aber in der Eil die Kleider ſeiner Geliebten,
flüchtet mit ihnen durch ein Fenſter und entkommt glücklich
über die Gartenhecke. Da will er ſich anziehen, findet zu
ſeinem Schrecken das Damengewand, muß nothgedrungen in
daſſelbe ſchlüpfen und erlebt nun in dieſer grotesken Ver¬
kleidung auf dem kurzen Wege nach Paris tauſend Aben¬
teuer. Nicht die Willkür, aber der Zufall iſt hier burlesk.

c) Das Rohe.

Die Gemeinheit überhaupt iſt die Erniedrigung der
Freiheit unter eine Nothwendigkeit, die nicht ihre eigene iſt.
Als Rohheit iſt ſie eine Hingebung an eine Abhängigkeit von
der Natur, welche die Freiheit aufhebt, oder ein Hervorbringen
von Zwang gegen die Freiheit, oder ein Verhöhnen des ab¬
ſoluten Grundes, auf welchem alle Freiheit beruhet, des
Glaubens an Gott. — Das Majeſtätiſche kann auch dem
Leiden verfallen, aber nur von ſeiner endlichen und ſterblichen
Seite, die es der äußern Gewalt preisgeben muß, während
es ſich in ſich als frei behauptet und daher gerade im Leiden
die durch daſſelbe unverkümmerte Unendlichkeit ſeines Handelns
um ſo energiſcher zu bewähren vermag, wie Rückert ſo
ſchön ſagt:


Es trübt die ſchmutzge Welle die reine Perle nicht,

Ob ſich ihr Schaum auch wüthend an ihrer Schaale bricht.

[227]

Die Freiheit widerſpricht ſich noch nicht, wenn ſie erſt
unvollkommen ſich ausdrückt, wovon ſchon in der Einleitung
gehandelt worden. Gegen die höhere, gegen die letzte Stufe
der möglichen Entwicklung gehalten, können die erſten, un¬
unreifen Geſtalten unſchön erſcheinen und, ſofern ſich die
werdende Kraft darin gewaltſam hervordrängt, eine rohe
Form haben. Eine ſolche Exiſtenz entſpricht dann in ihrer
Realität noch nicht vollkommen ihrem Begriff, allein dies
Nochnichtentſprechen iſt keineswegs ein Widerſprechen, viel¬
mehr auf dem Wege zur wirklichen Congruenz des Weſens
und ſeiner Erſcheinung. Die Rohheit, die wir dann ausſagen
müſſen, iſt nicht eine dem Schönen conträr entgegengeſetzte
Häßlichkeit. Es ſind niedrigere, oft unvermeidliche Stadien,
welche die Exiſtenz durchlaufen muß, ſucceſſiv ihren Begriff
vollſtändig zu realiſiren. Die rohe Anlage iſt ein Zuſtand
der Anfänglichkeit, der die Schönheit nicht poſitiv von ſich
ausſchließt und dem wir den Zuſtand der Ausglättung und
Ausfeilung, der Politur entgegenſetzen. In dieſem Sinn
kann Rohheit, ſofern ein Ueberſchwang gährender Produc¬
tionskraft darin waltet, uns ſogar ein Unterpfand künftiger
Tüchtigkeit ſein. Der große Inhalt einer Conception kann
in markigen Entwürfen erſcheinen, aus deren Rohheit den¬
noch ihre mögliche, ihnen ſchon inwohnende Schönheit her¬
vorleuchtet. Handzeichnungen von Bildhauern und Malern,
Baupläne, dramatiſche Skizzen, können uns in ihrer em¬
bryoniſchen Geſtalt doch ſchon die ganze Unendlichkeit ächter
Kunſt offenbaren. In den Erſtlingswerken nationaler Kunſt¬
beſtrebungen finden wir mit der Rohheit der Darſtellung doch
oft ſchon einen Typus wahrhafter Schönheit verbunden,
deſſen Ringen mit der Unvollkommenheit der Erſcheinung
etwas tief Ergreifendes haben kann. Ganz unbedenklich
15 *[228] kann man ſelbſt von einer rohen Majeſtät ſprechen, weil es
möglich iſt, daß ihre Größe und Macht noch der feinern
Ausarbeitung entbehrt, wohl aber ſchon in dem freien, un¬
abhängigen, kühnen Wurf der ganzen Geſtaltung ſicht¬
bar wird.


Dieſe Art der Rohheit betrifft alſo die Feinheit der
Form und die Ausführung in den Detailbeſtimmungen. Von
ihr iſt diejenige Rohheit zu unterſcheiden, die einen Wider¬
ſpruch der Freiheit mit ſich ſelber enthält und zwar zunächſt
dadurch, daß ſich dieſelbe vom Sinnlichen, welches ihr
als ein Mittel untergeordnet ſein ſollte, abhängig macht.
Der Geiſt ſoll das Sinnliche genießen, ohne in dieſen Ge¬
nuß völlig aufzugehen und ihm ſeine freie Herrſchaft da¬
rüber aufzuopfern. Die Häßlichkeit der Gefräßigkeit Trunk¬
ſucht und Ausſchweifung liegt in einer Gebundenheit der
Freiheit, die gegen ihren Begriff iſt. Weder die Ernährung
noch die Zeugung als ſolche ſind, als eine reine Nothwen¬
digkeit der Natur, unſchön. Sie werden es erſt, ſofern
ſie die Freiheit des Geiſtes unterjochen. Für die Thierwelt
kann daher dieſe Geſtalt der Häßlichkeit, als eine durch
ſittliche Begriffe vermittelte, nicht exiſtiren. Dem Thiere
fehlt die Freiheit der Beſinnung, die Vergleichung ſeines Zu¬
ſtandes mit einem ſeinſollenden Begriff. Schieben wir jedoch,
wie in der Fabel geſchieht, den Thieren analogiſch die Vor¬
ſtellung unſerer Freiheit unter, ſo kann auch das Thier
kraft ſolcher Fiction zur häßlichen Anſchauung werden. Die
Hyäne z. B. kann dann in ihrer Gefräßigkeit darin ſcheu߬
lich erſcheinen, daß ihre Gier auch die Gräber nicht ver¬
ſchont und ihr unerſättlicher Schlund auch die Leichen ver¬
ſchlingt. Es tritt hier alſo ein ethiſches Moment ein, das
unſer Urtheil beſtimmt. Weil jedoch Ernährung und Zeu¬
[229] gung an ſich nothwendige Acte der Natur ſind, ſo kann die
Komik gerade an ihnen außerordentliche Mittel gewinnen,
indem der Menſch, wenn er von der ſtrengen Geſetzmäßig¬
keit der Freiheit abfällt und ſich dem Sinnengenuß behaglich
überläßt, die Schuld von ſich auf die Natur abwirft, der
er nur als ein homuncio ſeinen Tribut zahle, wie der Fran¬
zöſiſche Leichtſinn ſich dafür die Phraſe erfunden hat, zu
ſagen: c'est plus fort, que moi. Ohne Laune aber iſt dies
nicht möglich. Alle Tiſch- und Trinklieder, die nicht von ihr
durchathmet werden, ſind häßlich. Die Komik kann mit dem
Naturtriebe auch ironiſch ſpielen. Sie kann die Leidenſchaft
für den ſinnlichen Genuß ſcherzhaft übertreiben, als ob für
den Menſchen oder gar für die Götter nichts Höheres und
Wichtigeres exiſtirte. So haben die antiken Komiker den He¬
rakles gern als einen Landſtreicher dargeſtellt, deſſen Hunger
durch nichts zu ſtillen. Ariſtophanes hat dieſer Hanswurſtia¬
den geſpottet, ihre Manier jedoch beibehalten z. B. in den
Fröſchen. Von den Satyrſpielen iſt uns nur der Euripi¬
deiſche Kyklops erhalten, der uns die coloſſale Rohheit des
Polyphemos vorführt. Im Gargantua und Pantagruel
hat der gelehrte und weltkundige Arzt Rabelais den Pariſern
ein Spiegelbild ihrer Unſitten vorgehalten, indem er Saufen
und Freſſen als ein ernſtes Studium ſchildert, mit welchem
ſich die Helden auf der Univerſität in gründlicher Forſchungs¬
luſt beſchäftigen. In Immermanns Münchhauſen
treffen wir den Bedienten Karl Buttervogel, wie er zum
gnädigen Fräulein von Poſemuckel nur deshalb eine brennende
Liebe fingirt, um von ihr mit fetten Butterbröden und
ſonſtigen Victualien regalirt zu werden. — Für die komiſche
Behandlung des Geſchlechtstriebes iſt diejenige Situation
vorzüglich günſtig, welche die Nothwendigkeit der Natur
[230] ganz verleugnen, ihr in falſchem Hochmuth eine eingebildete
Naturloſigkeit entgegenſetzen möchte und nun, von der Macht
der Natur überraſcht, zu einer halb unfreiwilligen Aner¬
kennung derſelben gezwungen wird. Dieſer komiſche Zug
durchzittert ſchon die altindiſchen Geſchichten jener Büßer¬
könige, die den Göttern durch ihre Kraft gefährlich zu
werden drohten und denen ſie daher eine der reizendſten
Apſaraſen zuſchickten, ſie in ihrer heiligen Einſamkeit zu ver¬
führen. Derſelbe Zug belebt eine Unzahl der mittelaltrigen
Erzählungen, welche den in ihm enthaltenen Contraſt am
zierlichſten in jenen Geſchichtchen vorgeſtellt haben, wie
Alexander dem Ariſtoteles eine Buhlin zuſendet, die den
Philoſophen von der Höhe ſeiner Abſtractionen dazu herab¬
ſchmeichelt, daß er, auf allen Vieren kriechend, es ſich ge¬
fallen läßt, ihre holde Bürde auf ſeinem Rücken umherzu¬
tragen, in anmuthigen Beſchäftigung ihn der lachende
Alexander überraſcht. Welche ſchlüpfrige Hiſtorien im Boc¬
caccio
und im Wieland auf dieſem Element beruhen, iſt
bekannt genug.


Obwohl nun der Erhaltungs- wie der Gattungstrieb
nur durch ſittliche Weihe oder durch die Komik äſthetiſch
möglich werden, ſo iſt es doch intereſſant, zu ſehen, wie mit
den natürlichen Folgen ihrer Befriedigung Zuſtände ver¬
bunden ſein können, die äſthetiſch uns noch roher zu er¬
ſcheinen vermögen. Die Natur zwingt z. B. den Menſchen,
wie das Thier, zur Entäußerung des Ueberflüſſigen und
zwar in einer noch viel dringlicheren Weiſe, als zum Eſſen
und Trinken ſelber, weshalb wir auch im Deutſchen dieſe
gemeine Nothwendigkeit mit einem beſondern Wort Noth¬
durft
nennen. Der Organismus befreiet ſich darin von
dem, was er zu ſeinem Leben nicht hat verwenden können,
[231] was er als ein relativ Todtes von ſich ausſcheidet, was
ein vom Organismus producirtes Unorganiſches, ein vom
Leben getödtetes Daſein iſt. Dieſe Entäußerung iſt, wie
nothwendig ſie ſei, häßlich, weil ſie den Menſchen in der
niedrigſten Abhängigkeit von der Natur erſcheinen läßt. Er
ſucht daher auch die Verrichtung der Nothdurft, ſo viel er
kann, zu verbergen. Das Thier iſt natürlich in Anſehung
auch dieſes Actes ſorglos und nur die reinliche, ſich immer
beleckende und putzende Katze verſcharrt ihren an heimlichen
Orten entleerten Koth. Das Kind thut anfänglich wie das
Thier und die Unſchicklichkeit der lieben Kleinen kann der
Geſchloſſenheit conventioneller Formen gegenüber ſehr unan¬
genehm ergötzliche Contraſte hervorbringen. Die Darſtellung
der Nothdurft iſt daher unter allen Umſtänden unäſthetiſch
und nur die Komik kann ſie erträglich machen. Potter hat
eine „piſſende Kuh“ gemalt, die zuletzt nach Petersburg hin
um einen ungeheuern Preis verkauft iſt; wäre Potter aber
nicht ein ſo guter Thiermaler geweſen, ſo würde auch die
exacteſte Copirung der Kuh in jenem Zuſtand gerade den
Werth des Kunſtwerks wohl nicht geſteigert haben. Wir
geſtehen uns, daß wir das Piſſen der Kuh wohl miſſen
könnten und daß aus ihm heraus uns keine äſthetiſche Be¬
friedigung erwächſt. Dennoch dürfen wir an das Thier
nicht den Maaßſtab des Menſchen legen und dies iſt der
Grund, weshalb eine „piſſende Kuh“ uns nicht verletzt. Wir
müſſen hier umgekehrt ſagen: quod licet bovi, non licet Jovi.
In Brüſſel heißt eine bekannte Fontaine, an welcher die
Fluth der faſhionabeln Welt vorüberſtrömt, Mannekenpiss,
weil ein derber Junge das Waſſer pißt. Aber dieſe Nieder¬
ländiſche Komik iſt kaum noch komiſch, denn Waſſer ſoll
rein, ſoll eben Waſſer ſein und es miſcht ſich etwas Widriges
[232] in die Vorſtellung, aus ſo entſtandenem Waſſer zu ſchöpfen
und zu trinken. Wenn Rembrand dagegen den Ganymed
gemalt hat, wie er, vom Adler emporgetragen, in der Ueber¬
raſchung vor Schrecken nach Kinderart pißt, ſo iſt das
wirklich komiſch. Der feiſte Junge hält in der Linken noch
die Weintraube, die er ſich hat ſchmecken laſſen, als der
Vogel des hochher donnernden Zeus ihn ergriffen und ihm
mit der Kralle das Hemdchen über ſeinen rundlichen Hintern
emporgezogen hat. Wie Ariſtophanes das Hoſiren ſogar
auf die Bühne gebracht hat, iſt in anderer Hinſicht oben
ſchon erwähnt. Im Pfaffen von Kalenberge, im Pfaffen
Amis und im Eulenſpiegel wimmelt es von ſo grob¬
fläthigen Scherzen. Auch der häßliche, cyniſche Morolf
mit ſeiner ganzen Italieniſchen Sippe gehört hierher.


Die übermäßige Befriedigung des Nahrungstriebes kann
als Folge die Geſtalt auch wampig, wanſtig und dadurch
häßlich machen, eine Deformität, die von der Komik immer
auf's Neue zu ganz unfehlbarem Effect ausgebeutet wird,
wenn auch ſchon Ariſtophanes darüber ſchmält, daß die
Komiker, Lachen zu erzwingen, es ſich mit der Anwendung
von Dickbäuchen zu bequem machten. Der dicke Bauch, der
ſo viel Inconvenienzen mit ſich bringt, vor welchem der In¬
haber ſeine eigenen Füße nicht mehr ſehen kann, der ſo bos¬
haft den Dichtern das Aetheriſche, den Prieſtern das Geiſtliche
nimmt, der dicke Bauch, den man vor ſich hertragen muß
und der an einer Straßenecke eher, als ſein Träger, ſichtbar
wird, iſt bis zum Spitzbauch des ſchalkiſchen Punch herunter
ein Liebling der niedern Komik geweſen. Ohne Geiſt, ohne
Witz, ohne Ironie iſt das Lächerliche eines Dickbauchs aller¬
dings ſehr dünn, bei einem Fallſtaff aber wird er zu einer
unerſchöpflichen Fundgrube humoriſtiſcher Witze.


[233]

Trunkenheit kann liebenswürdig erſcheinen, ſo lange ſie
die Freiheit des Menſchen ſteigert und ihm nur die Schranken
wegräumt, die ihn ſonſt einengen. Als enthuſiaſtiſche kann
ſie daher die Geſtalt ſogar verklären, wie die feſtliche Raſerei
der himmelanſchauenden Mänaden. Dem Silenos hat das
Bakchiſche Feuer zwar den Gebrauch ſeiner Füße geraubt;
man muß ihm auf den Eſel helfen; allein ſein ſinniges
Lächeln zeigt, daß die göttliche Trunkenheit die Gegenwart
ſeines Geiſtes nur intenſiver geſpannt, keineswegs vernichtet
hat. Der Uebergang des Trunkenen aus der Beſonnenheit
in die Unbewußtheit iſt die Zeugeſtätte für die Poſſenreißerei
und ſelbſt für die feinere Komik, wenn ſie Jemand als
„beſpitzt“ darſtellt. Erreicht aber die Trunkenheit einen
Grad, der dem Menſchen alle Beſinnung raubt, ſo wird ſie
nothwendig häßlich. In vielen Aeſthetiken wird zwar ohne
Weiteres vom Betrunkenen ſo geſprochen, als ob er un¬
mittelbar lächerlich ſei. Dies iſt jedoch keineswegs der Fall,
denn der Untergang der perſönlichen Freiheit, der den Menſchen
dem Thier nähert, kann nur häßlich erſcheinen. Lächerlich
kann dieſer Zuſtand nur ſo lange ſein, als er die Freiheit
in vergeblichem Kampf mit der Natur darſtellt und wir bei
dieſer Anſchauung von aller ſittlichen Zurechnung einſtweilen
wegſehen. Das Lallen und Stottern des Trunkenen, ſein
Schwanken, ſein unbewachtes Ausplaudern von Geheimniſſen,
ſeine Monologe, ſeine Dialoge mit nicht vorhandenen Per¬
ſonen, ſeine Kreuz- und Queerzüge von A. bis Z. ſind komiſch,
ſo lange ſie noch eine gewiſſe Selbſtbeherrſchung verrathen.
Schon kann der Betrunkene nicht anders, als dem Zufall
und der Willkür anheimfallen, aber noch möchte er anders
und dieſer Schein der im Nebel ſeines Unbewußtſeins unter¬
gehenden Freiheit iſt für uns komiſch. Wegen dieſer Unent¬
[234] behrlichkeit der Mimik und der Tonmalerei iſt es, daß nur
Pantomimen und Dramatiker dieſen Zuſtand recht erfolgreich
benutzen können, was ſie denn auch ſo häufig gethan haben,
daß Beiſpiele anzuführen entrathen werden kann.


Blähungen ſind unter allen Umſtänden etwas Häßliches.
Weil ſie aber gegen die Freiheit des Menſchen etwas Unwill¬
kürliches behaupten, weil ſie ihn oft zu ſeinem Schrecken am
unrechten Ort überraſchen, bei einer ſchnellen Bewegung
ihm unbeaufſichtigt entſchlüpfen, ſo haben ſie die Eigenſchaft
eines neckiſchen Kobolds, der unangemeldet sans gène in
Verlegenheit ſetzt. Die Komiker haben ſich daher ihrer im
Grotesken und Burlesken immer bedient, mindeſtens in An¬
ſpielungen. Es können die lächerlichſten Scenen durch dieſe
„tönenden Unſchicklichkeiten“ hervorgebracht werden, unter
welchen von den bekannten die Anekdote vom Förſter und
ſeinen Hunden gewiß die ergötzlichſte iſt. Karl Vogt er¬
zählt ſie auch in ſeinen Bildern aus dem Thierleben (46). —
Weil wir Menſchen, wie wir auch ſonſt an Alter, Bildung,
Wohlſtand und Rang uns unterſcheiden mögen, uns in
dieſer unwillkürlichen Niedrigkeit unſerer Natur begegnen, ſo
verfehlen auch die Anſpielungen darauf ſelten, dem Pu¬
blicum ein Lachen abzunöthigen und die niedere Komik liebt
daher alle hieher einſchlägigen Grobianismen, Unfläthereien
und Tölpeleien außerordentlich. Auch der eleganteſte Cir¬
cus producirt ſie in ſeinen Clowns doch von Neuem.
Ohne Witz, mindeſtens ohne Laune, ſind ſie überaus ſchaal,
dürftig, abſtoßend, ja wahrhaft widrig; die bengaliſche
Flamme des Witzes vermag freilich ſelbſt die Cynismen
zu begeiſten. In Paris hatte ein Hundeſcheerer ſich zwei
Hunde auf ſeinen Schild malen laſſen, die ſich gegen¬
ſeitig in den Hintern rochen. Darunter hatte er aber
[235] die Worte geſchrieben: Au bon jour des chiens! und alle
Welt lachte.


Von dieſen Natürlichkeiten, die dem Menſchen ſelbſt
bei größter Vorſicht ἀτοπῶς χαὶ ἀχαιρῶς paſſiren können,
iſt die Gemeinheit des Obscönen verſchieden, weil daſſelbe
ſchamlos iſt. Die Scham iſt heilig und ſchön, denn ſie
drückt das Gefühl des Geiſtes aus, ſeinem Weſen nach über
die Natur hinaus zu ſein; naturlos kann er nicht ſein, aber
naturfrei ſollte er ſein. Die Natur kennt die Scham nicht
und das liebe Vieh, wie man im Deutſchen ſagt, ſchämt ſich
nicht; der Menſch aber, ſeines Unterſchiedes von der Natur
ſich innewerdend, ſchämt ſich. Das Obscöne beſteht in der
abſichtlichen Verletzung der Scham. Schon eine zufällige
und unabſichtliche Entblößung erweckt Verlegenheit, vielleicht
einen peinlich komiſchen Moment, aber ſie iſt nicht obscön.
Bei Kindern, bei unbefangen Badenden, bei ſchönen Statuen
oder Bildern, die den nackten Körper in ſeiner Totalität
darſtellen, wird Niemand von Obscönität reden, denn auch
die Natur iſt göttlich und auch die Schamglieder ſind an ſich
ein eben ſo natürliches, gottgeſchaffenes Organ, als Naſe
und Mund. Feigenblätter aber, auf die Schamtheile von
Statuen geklebt, bringen ſchon obscöne Wirkungen hervor,
weil ſie aufmerkſam darauf machen und ſie iſoliren. Man
wolle dies nicht ſo verſtehen, als ſollte geſagt ſein, daß die
Kunſt nicht wohl thue, keuſch zu ſein; wir wollen nur be¬
merklich machen, daß Keuſchheit und Prüderie nicht daſſelbe
iſt. Das Obscöne beginnt erſt mit der ſexuellen Beziehung,
weil das geſchlechtliche Gefühl das Schamglied des Mannes
erregt und ihm eine häßliche Form gibt, die in dieſem Zu¬
ſtande zur übrigen Geſtalt in ein Mißverhältniß tritt. Das
Weib iſt von der Natur ſchämiger behandelt worden, aber
[236] die Katamenien ſind es, die ihm doch eine Verhüllung der
Scham aufdrängen. Alle Darſtellung der Scham und der
Geſchlechtsverhältniſſe in Bild oder Wort, welche nicht in
wiſſenſchaftlicher oder ethiſcher Beziehung, ſondern der Lüſtern¬
heit halber gemacht wird, iſt obscön und häßlich, denn ſie
iſt eine Profanation der heiligen Myſterien der Natur. Alles
Phalliſche, obwohl in den Religionen heilig, iſt doch,
äſthetiſch genommen, häßlich. Alle phalliſchen Götter ſind
häßlich. Der Priap in der Geradlinigkeit ſeines ausgeſteiften
Gliedes iſt häßlich. Die Masken der alten und die Moha¬
bazzin
oder Straßenſchauſpieler der neuen Aegyptier, die mit
beweglichen Gliedern ein obscönes Spiel treiben; oder gar
die Zwergfiguren der Römer mit ihren coloſſalen männlichen
Gliedern, der Sannio, der Morion, der Drillops, ſind
häßlich, denn der Penis einer ſolchen Figur iſt beinahe ſo
groß, als ſie ſelber (47). — Iſt aber ſchon die Oſtentation
der Schamglieder an ſich häßlich, ſo muß die Häßlichkeit
ſich noch ſteigern, wenn die ſexuelle Beziehung in beſtimmter
Weiſe hervortritt, wie z. B. im Indiſchen Lingam, der den
Phallus in der Yoni d. h. in den weiblichen Schamtheilen
ſteckend darſtellt, was freilich innerhalb des Indiſchen Cultus
religiös gemeint iſt. Wie viele Menſchen übrigens auf dieſem
Indiſchen Standpunct auch in Europa ſtehen, wie ſehr die
Phantaſie der Menge ſich immer mit Phalliſchen Bildern
befleckt, ſieht man in jeder Stadt, wo eine Mauer, ein
Thorweg nur recht friſch und rein angeſtrichen zu werden
braucht, um ſchon Tags darauf mit ſolchen Figuren beſudelt
zu ſein. Im Mittelalter war es eine Zeitlang ſogar üblich,
dem Zuckerwerk des Nachtiſchs phalliſche Formen zu geben. —
Alle Priapeiſchen Bilder, Gedichte und Romane ſind daher
häßlich, mit einem wie großen Aufwand von Phantaſie,
[237] Witz und techniſcher Virtuoſität ſie auch gemacht ſeien.
Man ſehe die Ueberſicht der weitläufigen, hiehergehörigen
Romanliteratur in O. L. B. Wolf's Geſchichte des Romans
(48). In der Malerei fingen die Pornographen, welche die
verſchiedenen τϱόποι τῆς Ἀφϱοδίτης darſtellten, zur Zeit
Alexanders an; für die moderne Welt haben die bekannten
Bilder des Pietro von Arezzo und die von Julio Romano
gezeichneten von Raimondi geſtochenen Figuren den Grund zu
ſolchen Darſtellungen gelegt. Im Roman hat Petronius
mit ſeinem Satyrikon das Fundament ſolcher obscön
wollüſtigen Schilderungen mit einer gewiſſen Großheit der
Anſchauung gegeben, die ſeinen Nachfolgern fehlt. Nichts
wohl iſt für dieſe infame Gattung charakteriſtiſcher, als
daß Sadé, der ſogenannte König der Galeerenſclaven, in
ihr der vornehmſte Claſſiker geworden iſt. Die blaſirten
Nerven jener Wüſtlinge, die Alles durchgenoſſen haben,
kitzeln ſich noch in der Phantaſie mit ſolchen Raffinements
auf. Eine traurige Erſcheinung der neueren Zeit, daß ſolche
obscöne Schriften und Bilder eine immer größere Verbrei¬
tung finden und, wie der Touriſt Kohl erzählt, in den
Straßen Londons ſelbſt der Jugend ſchon in die Hände ge¬
ſpielt werden. Auch unſer modernes Ballet iſt von ſolchen
Elementen inficirt und äſthetiſch hauptſächlich dadurch ſo
ſehr heruntergekommen, daß es nicht ſymboliſch die Leiden¬
ſchaft der Liebe, ſondern die Zuckungen der Wolluſt darzu¬
ſtellen ſucht. Dieſe Pirouetten und Windmühlengeſtalten,
dies freche himmelanſchreiende Beinausſtrecken und ekelhafte
Kreuzen von Tänzer und Tänzerin, werden für den Triumph
der Kunſt gehalten. Da iſt nicht mehr von idealer Schön¬
heit und Grazie, nur von gemeinem Kitzel die Rede. Der
Chahut und Cancan ſind in dem Tanz der heutigen Ge¬
[238] ſellſchaft die unausbleiblichen Conſequenzen eines ſolchen
Standpuncts, der nur noch von den halbnackten oder nackten
Geſtalten in den lebenden Bildern eines Quirinus Müller
überboten werden kann. Der Franzöſiſche Chicard war
bis vor einiger Zeit der Gipfel dieſer obscönen Tendenz.
A. Stahr, Zwei Monate in Paris, 1851, ll., S. 155
beſchreibt ihn folgendermaaßen: „Keine Spur von dem Hin¬
geriſſenſein in den Taumel der Sinne und des Bluts, in
jene Trunkenheit der Leidenſchaft, die ihre Entſchuldigung
in ſich trägt; keine Ausgelaſſenheit der Jugend, welche die
Ueberfülle der Kraft im wilden Rhythmus der Leibesbewe¬
gung aufjauchzen läßt. Nein, hier war nichts, als kaltes,
bewußtes, überlegtes Raffinement des Häßlichen und Nie¬
derträchtigen. Dieſer Chicard war der Genius der Polizei¬
ſittlichkeit, die ſich ſelbſt ironiſirt. Die ihm zur Seite ſtehen¬
den Wächter derſelben dienten nur dazu, als Folie den Glanz
ſeiner Triumphe zu erhöhen. Denn alles Intereſſe beruhte
weſentlich darauf, wie weit er es in der Darſtellung des
Abſcheulichen, Sittenloſen zu treiben verſuchen werde, ehe
dieſe Wächter der Sittlichkeit ſich geſetzlich berechtigt erachteten,
ſeine Kunſtleiſtungen zu unterbrechen, und ihn ſelbſt von
dem Schauplatz ſeiner Triumphe zu entfernen. Es war die
Verhöhnung der uniformirten Moral, der betreßten, ſäbel¬
tragenden Sittlichkeit, des für Geld gemietheten Tugend¬
ſchutzes, um die ſich das ganze Intereſſe bei dieſem Tanze
drehete. Der Chicard wagte das Aeußerſte und er ging als
Sieger hervor.“ Dieſe pikante Schilderung iſt jedoch ſehr
einſeitig; man vergleiche mit ihr die ausführliche Darſtellung
vom Chicard durch Taxile Delord in den Français peints
par eux mêmes
, II., p. 361 — 76, (49). — Die Griechen
mit ihrem tiefen, ethiſch wahren Kunſtſinn milderten das
[239] Obscöne dadurch, daß ſie es größtentheils halbmenſchlich ge¬
ſtalteten Weſen beilegten, wie den Satyrn und den Faunen.
Geriren ſolche Individuen, die ſich unterhalb mit Bocks¬
füßen präſentiren, dann auch böckiſch, ſo darf uns das billig
nicht Wunder nehmen. Mehre Pompejaniſche Bilder zeigen
uns Satyrn, wie ſie im Wald eine Nymphe beſchleichen, die
ſich in aller Pracht ihrer ſchneeigen Glieder auf den mooſigen
Pfühl hingebettet hat. Die Schöne ſtellt ſich gewöhnlich in
einer halben Rückenlage dar und iſt öfter mit einem Schleier
bedeckt geweſen, den der genußlüſterne Satyr aufhebt. Mit
vor Wolluſt ſchauernden Gliedern, in die Erſtarrung des
Sinnenrauſchs verloren, ſteht hier die ins Thieriſche fallende
Häßlichkeit vor der halbſchlummernden Schönheit. Wie
ganz anders ſchauen dieſe üppigen, obscöndecenten Bilder
ſich an, als jene erotiſchen Scenen aus den cubiculis Veneris
der Pompejaniſchen Häuſer, wo Liebende in mannigfachen
Stellungen dem Werk der Natur obliegen und gewöhnlich
ein Sclav dabeiſteht, der den Aphrodiſiſchen Trank gereicht
hat und deſſen Gegenwart erſt recht lebhaft die Empfindung
des Obscönen hervorbringt. Ekelhaft!


Um das Obscöne zu mildern, wendet der Geiſt die
Liſt der Zweideutigkeit an, d. h. der mehr oder weniger
verdeckten und verſteckten Anſpielung auf unvermeidliche cyniſche
Verrichtungen oder auf die geſchlechtlichen Verhältniſſe des
Menſchen. Die Zweideutigkeit iſt ein indirectes Anſchauen
deſſen, was uns Scham einflößt. Sie entſpringt offenbar
ſelber aus dieſer Scham, indem ſie ihr zugleich durch das
Eingehen auf die Geſchlechtsverhältniſſe widerſpricht, verhüllt
aber dieſe Unſchamhaftigkeit durch Formen, die zunächſt einen
andern Sinn einzuſchließen ſcheinen, ſich jedoch leicht in eine
andere Verſion überſetzen laſſen. Das Spiel der Phantaſie
[240] kann ſich daher hier gerade in witzigen Analogien recht her¬
vorthun. Man erwäge, was Schopenhauer über das
Verhältniß der beiden Geſchlechter ſagt (50), ſo wird man
begreiflich finden, weshalb durch alle Culturen und Stände
hindurch in allen Zeitaltern die ſexuelle Zweideutigkeit als die
Amphibolie par excellence eine Lieblingsbeſchäftigung der
Menſchheit geweſen iſt. Mit der Civiliſation vermehrt ſich
das Wohlgefallen daran ſo lange bis aus ihr die noch höhere,
reine, ideale Bildung geboren wird. Die Religionen in ihrer
Obscönität ſind ohne alle Verſchleierung der Geſchlechtsver¬
hältniſſe und, was ein Phallus, Lingam, Priap, iſt nicht
erſt durch ſymboliſche Deutung auszumachen. Die Religionen
erkennen darin die göttliche, heilige Kraft der Natur und
entkräften durch ihre Offenheit den Verſuch, damit zu ſpielen.
In den Bildern, Reliefs und Gemmen aus dem Alter¬
thum (51), die uns Opfer darſtellen, welche junge Frauen
dem Priap darbringen, wird man nichts Wollüſtiges, viel¬
mehr eine ſtrenge Haltung finden. Sculptur und Malerei
können nun allerdings wollüſtig und obscön werden, allein
der Corruption der Zweideutigkeit erliegen ſie weit weniger,
als die Mimik und die Poeſie. Die Muſik iſt ihrer gar
nicht fähig Die Zweideutigkeit beſchäftigt unſere Phantaſie
und unſern Verſtand zugleich und iſt durch ihre Alluſion nicht
ganz daſſelbe mit der Zote, die ihrerſeits auch eine Zwei¬
deutigkeit ſein kann, während umgekehrt eine Zweideutigkeit
nicht auch ſchon eine Zote zu ſein braucht. Die Zote be¬
ſitzt eine Derbheit, Dreiſtigkeit, Grobheit, von welcher die
Zweideutigkeit als dem Witz verpflichtet ſich entfernt. Die
Zote, ein Hauptelement des ſogenannten Niedrigkomiſchen,
ſpielt am liebſten mit den Entäußerungen der Nothdurft.
Sie lacht über den Menſchen, daß er als ein ſo privile¬
[241] girtes Weſen doch nicht umhin kann, ſein Waſſer abzuſchlagen
und zu Stuhle zu gehen. Wie ſprudelt Rabelais von
Zoten, wie ſparſam iſt er mit der Zweideutigkeit! Wie reich iſt
Shakeſpeare an Zweideutigkeiten und wie mager an Zoten!
Bei Rabelais iſt es ganz im Weſen der Zote, daß ſein
Held ſich z. B. ernſthaft mit der tiefſinnigen Forſchung be¬
ſchäftigt, welcherlei Arten von Torcheculs wohl die vor¬
züglichſten, deshalb eine lange Reihe von Experimenten an¬
ſtellt, die gewiſſenhaft in einem Katalog aufgezählt werden,
und mit dem Reſultate ſchließt, daß der Steiß von jungen
Hühnern, die eben aus dem Ei gekrochen, unſerm Hintern
am angenehmſten ſei. Es verſteht ſich, daß Rabelais nebenbei
durch ſeine Behandlung dieſes Themas die ſterile Wiſſen¬
ſchaft perſifliren will, die ſich oft ſo gründlich mit dem
Nichts abgibt. Von der Satire kann die Zote überhaupt
als Correctiv gegen die Prüderie gewendet werden, durch
ihre Naturwüchſigkeit die Zimperlichkeit zu erinnern, daß
ihre affectirte Engelhaftigkeit eine Lüge. Wenn die Abge¬
ſchmacktheit des Puritaniſchen Rigorismus in Nordamerika
verbietet, in Gegenwart von Damen das Wort Hemde oder
Beinkleid zu gebrauchen, ſo beweiſt der Ausdruck Inexpressibles
am beſten, daß man recht gut wiſſe, was Hoſen ſeien. Ein
Titel eines Romans, wie der: die Hoſen des Herrn
von Brederlow
, von W. Alexis, würde den Autor in
Nordamerika für ewig geſellſchaftsunfähig gemacht haben.
Es kommt viel darauf an, wie die Zote vorbereitet wird,
in welcher Kunſt Heine großes Geſchick beſitzt. Man erin¬
nere ſich an ſeine Polemik gegen Platen in den Reiſebil¬
dern; an ſeine Memoiren des Herrn von Schnabelowopski;
an ſeinen Schluß des Wintermährchens, wo die feiſte Ham¬
monia ihm den Nachſtuhlthron Karls des Großen aufzu¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 16[242] decken befiehlt. Die Zweideutigkeit dagegen bewegt ſich vor¬
nämlich auf dem Gebiet mehr oder weniger verſteckter ge¬
ſchlechtlicher Anſpielungen. Das ſiebzehnte und das acht¬
zehnte Jahrhundert haben ſich denſelben außerordentlich über¬
laſſen. Ronſard, Voltaire, Crebillon, Greſſet u. A. ge¬
hören hieher. Als ein Maximum der damaligen äquivoken
Franzöſiſchen Literatur pflegt immer ein Werk Diderot's
angeführt zu werden: les bijoux indiscrets. Man würde
ſich jedoch ſehr irren, wenn man daſſelbe nach der Art, wie
es gewöhnlich erwähnt wird, in die Claſſe Sotadiſcher Er¬
findungen ſetzen wollte. Die Literarhiſtoriker pflanzen noth¬
gedrungen Urtheile fort, ohne den Gegenſtand derſelben zu
kennen. Eine gleichſam banale Phraſe heftet ſich als ſtereotypes
Prädicat einem Buche an. Die bijoux indiscrets ſind der
Sache nach eine Fortſetzung der Lettres Persanes von Mon¬
tesquieu, eine Satire auf die grenzenloſe Liederlichkeit und
politiſche Corruption der Zeit, ein Sittengericht über die
geheimſten Laſter und Schändlichkeiten der damaligen Geſell¬
ſchaft, vorgetragen mit allem Geiſt eines Diderot, aber, es
läßt ſich nicht leugnen, nicht ohne einen frivolen Einſchlags¬
faden, nicht ohne ein gewiſſes Wohlgefallen an den erotiſchen
Scenen. Diderot hat in dem Sultan Mongogul und in
ſeiner Favoritin Mirzoza die zarteſten Verhältniſſe den extra¬
vaganten Cynismen, welche durch den Zauberring des weiſen
Cucufa enthüllt werden, tactvoll gegenübergeſtellt; er hat
Liebe und Zärtlichkeit von Wolluſt und Gemeinheit ſtreng
geſchieden; er überſchreitet niemals eine gewiſſe Grenze,
ſondern bricht ab, wo ein Autor, dem es um Erregung des
Sinnenkitzels zu thun geweſen wäre, ſich erſt recht ver¬
tieft hätte; er läßt durch das ganze Buch die bittre Erkennt¬
niß durchſchmecken, die der Sultan ſelber in die Worte zu¬
[243] ſammenfaßt (Oeuvres de Diderot, ed. Naigeon, X., p. 126.):
„Que d'horreurs! un époux, déshonoré, l'état trahi, des cito¬
yens sacrifiés, ces forfaits ignorés, récompensés même comme
des vertus: et tout cela à propos d'un bijou.“
Und den¬
noch macht das Buch einen widerwärtigen Eindruck, weil
die fundamentale Fiction zur Enthüllung der Abgründe menſch¬
licher Leidenſchaften ſchlechthin häßlich iſt. Die Gemeinheit
dieſer Vorausſetzung wirkt durch die ganze Reihe der Er¬
zählungen hin ähnlich, wie in Ben Jonſons Epicöne
(oder das ſtumme Frauenzimmer, überſetzt von Tieck, auf¬
genommen in ſeine ſämmtlichen Werke Bd. 12.) die Baſis
des Stücks, daß ein Heirathsvertrag propter frigiditatem wieder
zurückgenommen werden ſoll.


Eine eigenthümliche Gruppe des Häßlichen bieten hier
noch diejenigen Darſtellungen, die nicht im Sinne der
Lüſternheit oder Zweideutigkeit ſchamlos ſind und dennoch
das Schamgefühl tief verletzen, weil ſie einen Inhalt, den
wir von der Muſe der Geſchichte mit unbefangenem Ernſt
aufnehmen würden, poetiſch machen wollen. Es gibt eine
Offenheit der Corruption, die zu einer verkehrten Unſchuld
wird. Man kann gewiſſen Darſtellungen nicht den Vor¬
wurf machen, daß ſie die Wolluſt durch Verſchleirung
pikanter ſchilderten oder umgekehrt, die Sinne zu beſtechen,
einen beſondern Aufwand trieben. Ihre Treue in den Ge¬
mälden der phyſiſchen und ethiſchen Verworfenheit, ihre
peinlich genaue Anatomie der Gemeinheit, läßt uns gegen ſie
nicht den Vorwurf erheben, daß wir durch halbverrathene
Reize verführt oder durch kokette Farben überwältigt würden,
allein gerade weil dieſe Entſchuldigung fehlt, iſt die Wirkung
ſolcher Producte eine um ſo ekelhaftere. Wenn ein Sue¬
tonius und Tacitus uns mit objectiver Wahrheitsliebe der¬
16 *[244] gleichen berichten, ſo ſchaudern wir über die Brutalität, zu
welcher ſich die Menſchheit verirren kann; wenn wir uns
aber ſolche Scheußlichkeiten mit dem Anſpruch dargeboten
ſehen, Poeſie darin zu finden, ſo fühlen wir uns ethiſch
und äſthetiſch zugleich vernichtet. Beaumont und Fletcher
haben dieſen Fehler oft gemacht; er iſt auch Lohenſteins
Fehler in ſeinen Dramen; er iſt der Fehler ſo vieler Pro¬
ducte der neuern Franzöſiſchen Hyperromantik, wie jetzt in
der Caméliendame des jüngern Dumas; der Fehler
Sue's in vielen Partieen ſeiner Pariſer Myſterien z. B. in
der mediciniſch correcten Beſchreibung des amor furens; —
alle Phantaſie reicht nicht hin, das entſetzlich Proſaiſche,
das einmal in der Sache liegt, zu vertilgen. Auch Diderot
hat in ſeiner Réligieuse einen abſchreckenden Beleg hierzu
gegeben. Unter dem culturhiſtoriſchen Geſichtspunct iſt dies
Buch gewiß eines der wichtigſten Vermächtniſſe des acht¬
zehnten Jahrhunderts, denn an intimer Kenntniß der furcht¬
baren Geheimniſſe der Nonnenklöſter übertrifft es ſogar die
Geſchichte der ſchwarzen Nonne von Mont Real in Canada.
Und welche einfache, hinreißende Darſtellung! Unter dem
äſthetiſchen Geſichtspunct aber iſt dieſe Schilderung durch¬
aus verwerflich, denn eine dicke, wollüſtige Aebteſſin, die ihre
Nonnen zu Lesbiſchen Sünden zwingt, iſt ein unpoetiſches
Scheuſal. Freilich könnte Diderot ſagen, weshalb wir ihm
die Prätenſion aufdrängten, einen Roman, ein Kunſtwerk
gegeben zu haben; allein er ſelbſt, wie Naigeon (51) be¬
richtet, überzeugte ſich, auch ohne ſolchen Anſpruch zu
machen, von der Gefährlichkeit ſeiner Darſtellungen und
wollte ſie ſogar caſtigiren, woran ihn jedoch ſeine Krankheit,
an welcher er ſtarb, hinderte. Auch in Jacques le fataliste
finden wir eine Art Entſchuldigung für die Nüditäten, die
[245] darin vorkommen, eingeflochten (52). — Die Romaniſche
Literatur hat einen Hang zum Schlüpfrigen, Obscönen,
Zweideutigen, Lasciven, der ſchon vom Mittelalter, von
den contes und fabliaux an, von den galanten Abenteuern
der Artusritter her, bis zu den Chansons eines Béranger
ſich hinzieht, welchen Autor man, wenn man an ſeine
Frétillon denkt, von dem ſpecifiſchen Wohlgefallen der
Franzoſen an ſinnlich frivolen Vorſtellungen nicht wird frei¬
ſprechen können, mit welcher Laune und Anmuth er auch ſo
häßliche Stoffe zu behandeln wiſſe. Die Fiction eines ge¬
wiſſen Fatalismus der Liebe, die wir auch ſchon in der
Triſtanſage finden und die von den Göthe'ſchen Wahlver¬
wandtſchaften in‘s Tragiſche und damit Sittliche gewendet
worden, iſt von den Franzoſen zu einer ungenügenden Ent¬
ſchuldigung für ſehr zweideutige Darſtellungen gemacht. Noch
immer iſt bei ihnen einer der beliebteſten Romane Manon
L'escaut
von Prevôt d'Exiles. Zwei Liebende ſind
darin gleichſam magiſch mit einander verkettet und bleiben
ſich durch allen, oft ſehr herben Wechſel des Geſchicks, bis
in den Tod getreu. Aber wie? Wenn ihre äußerliche Noth
ſehr groß wird, ſo verfällt die ſchöne, liebenswürdige Manon
regelmäßig auf das Auskunftsmittel, ſich mit Zuſtimmung
ihres Geliebten irgend einem Reichen in die Arme zu werfen,
ihn gehörig auszubeuten und dann mit den durch ihre Pro¬
ſtitution erworbenen Schätzen ſich und ihrem Geliebten wieder
ein ſorgenfreies Leben zu bereiten. Manon bleibt ihrem
Geliebten treu, ſo treu, daß ſie für ihn ſich proſtituirt! Und
er, der Herr Ritter Desgrieux? Er verdient durch falſches
Spiel! Pikant ſind dieſe Situationen gewiß und Franzöſiſch
ſind ſie gewiß auch, wie die vielen, noch immer neu er¬
ſcheinenden Ausgaben der Manon L'escaut beweiſen. Aber
[246] ethiſch und äſthetiſch gemein und niedrig ſind ſie gewiß auch.
Daß die Liebenden hinterher nach Amerika ziehen dort ſehr
tugendhaft werden und ein rührendes Ende nehmen, das
Vorbild zu Chateaubriands Atala, iſt keine Rechtfertigung,
ſondern ethiſch und äſthetiſch ein Fehler, weil dieſe Manon
und dieſer Desgrieur auf Amerikaniſchem Boden gar nicht
mehr dieſelben Perſonen ſind, George Sand hat ſich
verleiten laſſen, in ihrem Leone Leoni ein Seitenſtück zur
Manon liefern zu wollen, mit dem Unterſchiede, daß Julie
keuſch iſt und das Gewerbe Leoni's, der auch ein falſcher
Spieler, nicht kennt. Sie iſt aber ganz ins Häßliche ver¬
fallen, denn, was bei Prevôt d'Exiles durch die offne Ueberein¬
kunft der Liebenden zu einer, wie wir oben ſagten, verkehrten
Unſchuld wird, das wird durch die Tücke und den Zwang
Leonis gegen Julie, die er einem Engländer in der brutalſten
Weiſe verhandelt, zum Unerträglichen. Die Treue Manons
hat nichts Unnatürliches, aber die leidenſchaftliche Anhäglich¬
keit Juliens an ein ſittliches Ungeheuer, das ſie zu einem
Mittel des Erwerbs hat erniedrigen wollen und ſie auf das
Ehrloſeſte betrügt, iſt empörend (53).


Dieſe ganze Region der ſexuellen Gemeinheit kann nur
durch die Komik äſthetiſch befreiet werden. Die ethiſche
Seite muß in dieſem Fall ignorirt und nur der thatſäch¬
liche Widerſpruch, der in der Situation als ſolcher liegt,
feſtgehalten werden. Die Komik muß ſich nur dem Geſchehen
als ſolchem zuwenden, denn jede tiefere Auffaſſung würde
ſie ſtören. Byron hat in ſeinem Don Juan dieſe Komik
in ſehr pikanten Scenen geübt, die uns lachen laſſen, ohne
uns zu entrüſten. Julia, die üppige Spaniern, ſtopft, als
ihr Mann mit den Alguazils in ihr Zimmer dringt, Don
Juan unter das Bettdeck und hält nun eine fulminante
[247] Predigt, wie man ſo ſchamlos ſein könne, bis an ihr Bett
zu dringen. Man durchſucht Alles in der Stube bis unter
das Bett und findet nichts Verdächtiges, während der
Schuldige im Bette ſchwitzt. Oder Don Juan wird von
der Sultanin in Konſtantinopel als Sclav gekauft, als
Mädchen verkleidet, in den Harem geſteckt, da es aber noch
an einem Bett für ihn fehlt, proviſoriſch für die erſte Nacht
einer der Odalisken zugeſellt, welche dann einen ſo ſonder¬
baren und lebhaften Traum träumt, daß ihr Aufſchrei den
ganzen Schlafſaal in Aufruhr bringt. In dieſen Fällen muß
die Komik, wie geſagt, von aller ſittlichen Kritik abſtrahiren,
allein die Möglichkeit dieſer Abſtraction muß auch in dem
ganzen übrigen Complex der Umſtände liegen, wie wir z. B.
hier in einem Harem von einem als Mädchen verkleideten
Don Juan, der ohne ſein Zuthun einer Odaliskin als Bett¬
genoſſe zuertheilt wird, die Vergeſſenheit der ethiſchen Poſtu¬
late nicht überraſchend finden werden. Byron malt in
ſeinem Don Juan niemals in der Weiſe mit lüſternen Farben,
wie es Wieland thut, der ſich im Auskoſten des Sinn¬
lichen gefällt. Unter den Neuern hat ſich für dies Genre
vorzüglich Paul de Kock die friſche Sorgloſigkeit bewahrt,
ohne welche es durch und durch abſtoßend iſt. Man fühlt
ihm an, daß das Lächerliche der Situation ihm die Haupt¬
ſache iſt und daß er das Sinnliche zwar lasciv, allein ohne
Hintergedanken behandelt. So läßt er einmal eine alte
Jungfer auf die Vorſtellung verfallen, alle ſexuelle Unſittlich¬
keit lediglich daraus abzuleiten, daß ſo viele Frauenzimmer
keine Hoſen trügen. Sie duldet daher in ihrem Hauſe kein
weibliches Weſen, das nicht bebeinkleidert wäre. Miethet ſie
eine Magd, ſo muß dieſelbe angeloben, Hoſen zu tragen.
Eingetreten in das Haus, muß ſie erſcheinen, die Röcke auf¬
[248] heben und zeigen, daß ſie ſittlich behoſt iſt. Sie nimmt eine
Nichte zu ſich. Das junge Mädchen muß ſofort vor allen
Dingen Calençons anziehen, denn Hoſentragen iſt für die
ehrwürdige Dame mit Anſtand und Sittlichkeit identiſch
geworden und ſie hält dem jungen Mädchen weitläufige Aus¬
einanderſetzungen über die Wichtigkeit dieſes ethiſchen Princips.
Eines Tags nun ſitzt die Nichte mit ihrem Vetter im Garten
auf einer Bank. Die Bank kippt auf, die jungen Leute
fallen herunter und durch dieſen Zufall entdeckt der Vetter,
daß ſeine Couſine allerliebſte Hoſen trägt. Unglückliche Ent¬
deckung, denn man ſieht vorher, daß ſie Folgen haben kann,
welche den erhabenen Intentionen der weiſen Pädagogin ganz
entgegen laufen. Früher haben wir ſchon einmal geſagt,
daß Paul de Kock überhaupt durch ſeine Komik, weil dieſelbe
in's Groteske und Burleske tendirt, viel weniger gefährlich
ſei, als mancher andere Autor. Dieſe joviale Laune hat er
mit großem Glück beſonders in einem Roman, la maison
blanche
, entfaltet. Von den vielen ächt komiſchen Situationen
deſſelben wollen wir zur Beleuchtung unſeres Thema's nur
eine einzige anführen. Robineau, ein Parvenu, hat ein
Schloß in der Provinz gekauft und veranſtaltet auf demſelben
ein ländliches Feſt. Unter andern Beluſtigungen findet ſich
auch ein Mât de Cocagne. Allein alle gewinnluſtigen Jungen
gleiten von der glatten Kletterſtange ab und ſchon hat es den
Anſchein, als ob Niemand den Preis erlangen würde. Da
erſcheint die rüſtige Köchin, ſchlägt die Röcke feſt zuſammen,
klimmt eben ſo decent als glücklich hinan, ergreift den Preis
und beginnt den Rückrutſch. Allein inzwiſchen haben ſich
ihre Kleider oben verhakt und falten ſich ungeahnt über
ihrem Kopf zuſammen, ſo daß das Publicum die derben,
unbehoſten Hinterbacken der Siegerin zu ſchauen bekommt.
[249] Dieſe höchſt lächerliche Situation iſt von Kock ganz unge¬
zwungen herbeigeführt. —


Die bisher als Formen der Rohheit aufgeführten Be¬
griffe haben die Abhängigkeit der Freiheit von dem Sinn¬
lichen gemeinſam. Von ihnen unterſcheidet ſich die Bruta¬
lität
, die nämlich an dem Zwang, den ſie der Freiheit
Anderer anthut, ein Vergnügen hat. Das majeſtätiſche
Handeln kann auch Andere leiden laſſen, allein nur, wenn
die Gerechtigkeit es fordert; noch erhabener erſcheint die
Majeſtät, wenn ihre Gnade verzeihen kann. Die Gemein¬
heit dagegen vollendet ihre Rohheit darin, daß ſie in Andern
zur Genugthung ihres Egoismus Leiden hervorbringt. Das
Wort brutal charakteriſirt ſich ſchon durch ſeinen etymolo¬
giſchen Urſprung, obwohl das Vieh ſelber, eben weil es
Vieh iſt, nicht brutal ſein kann. Nur der Menſch kann
brutal werden, weil er aus ſeiner Freiheit heraus ſich in eine
Gewaltſamkeit verlieren kann, die einen viehiſchen Charakter
annimmt. Wenn ein Kater, ein Eber ihre Jungen freſſen,
ſo iſt das unnatürlich, allein es iſt nicht brutal, denn das
Thier iſt der Pietät unfähig. Die Rückſichtsloſigkeit, mit
welcher der thieriſche Drang verfährt, iſt recht eigentlich das
Weſen des Brutalen; das Thier folgt ihm unbekümmert;
der Menſch aber ſollte ihn ſeinem Willen unterwerfen. Die
Brutalität iſt roh, weil ſie gegen die Freiheit mit gewalt¬
ſamer Willkür, alſo grauſam, verfährt, und weil ſie in
dieſem Verhalten zugleich Luſt empfindet. Grauſamkeit wird
im Brutalen zur Wolluſt, Wolluſt zur Grauſamkeit. Je
berechneter die Gewalt in ihrer Grauſamkeit, je raffinirter
die Schwelgelei in ihrer Wolluſt, um ſo brutaler werden
ſie — und äſthetiſch um ſo häßlicher, weil nämlich die Ent¬
ſchuldigung einer Uebereilung durch den Affect dann um ſo
[250] mehr wegfällt und das Brutale um ſo mehr als ein Werk
des ſelbſtbewußten freien Willens erſcheint. Die Brutalität
mißbraucht die Gewalt des Stärkern gegen den Schwächern,
des Mannes gegen das Weib, des Erwachſenen gegen das
Kind, des Geſunden gegen den Kranken, des Freien gegen
den Gefangenen, des Bewaffneten gegen den Wehrloſen,
des Herrn gegen den Sclaven, des Schuldigen gegen den
Unſchuldigen. Der Zwang, den die Uebermacht in ihrer
Selbſtſucht gegen den Schwachen ausübt, iſt das Himmel¬
ſchreiende in der Brutalität.


Der Form nach kann die Brutalität aber theils eine
gröbere, theils eine feinere ſein. Eine gröbere, wenn
das Leiden, das ſie hervorbringt, einen direct ſinnlichen
Ausdruck annimmt, wie bei Thierhetzen, Stiergefechten,
Hinrichtungen, Torturen u. dgl.; eine feinere, wenn das
Leiden mehr auf einem pſychologiſchen Zwange beruht. Die
erſtere Form iſt diejenige, die in den criminaliſtiſchen Dramen,
in Ritter- und Räuberromanen, in Proletariernovellen, in
Sclavengeſchichten herrſcht. Als Eugene Sue ſeine Pariſer
Geheimniſſe geſchrieben hatte, was für Brutalitäten der
gröbſten Art häuften da nicht ſeine Nachahmer zuſammen!
Sue hat für die Schilderung des Brutalen ein außerordent¬
liches Talent; er iſt oft grell, allein zuweilen auch wahrhaft
plaſtiſch. Seine Geſchichte von Gringalet und Coupe-
en-deux in den Myſterien iſt ein Meiſterſtück. Dieſer
Coupe-en-deux iſt noch ganz in der Weiſe des Blaubart
gehalten, dieſes finſtern, aus den Feudalzeiten ſtammenden
Wüthrichtypus. Er hat ſich eine Menagerie hülfloſer Kleinen
zuſammengebracht, die er Tags über ausſendet, den einen
mit einer Schildkröte, den andern mit einem Affen; wehe
ihnen, wenn ſie am Abend ohne reichlichen Erlös zurück¬
[251] kehren; Schimpfworte, Mißhandlungen, Prügel, Hunger
warten ihrer dann in der entſetzlichſten Grauſamkeit. — Die
feinere Form der Brutalität, der pſychologiſche Zwang, hat
wohl nirgends eine tiefere Durchbildung, als in dem
Calderon'ſchen Drama erhalten, deſſen Dialektik von
Glaube, Liebe und Ehre die unerhörteſten Peinigungen auch
an Andern hervorruft, denn die Qual, die Jemand ſich
ſelbſt zufügt, kann man nicht Brutalität nennen, beſtände
ſie auch, wie bei Origenes, in Selbſtcaſtration, wie bei
Suſo, im Tragen eines Stachelgürtels, im Schlafen auf
einem hölzernen Kreuz u. ſ. w. Die große Phantaſie des
Spaniſchen Dichters und das religiöskatholiſche Intereſſe,
das ſich mit ihm verbindet, haben in ſeiner Betrachtung
allerdings die Anerkennung, ja auch nur die Bemerklich¬
machung des brutalen Elementes ſehr zurückgedrängt. In¬
deſſen beſitzen wir auch eine Arbeit, die ſich mit vieler
Gründlichkeit der Mühe unterzogen hat, an den berühmteſten
Dramen Calderons die empörende Unmenſchlichkeit nachzu¬
weiſen, in welche die Dialektik von Glaube, Ehre und Liebe
ausartet. Wir meinen Julian Schmidt in ſeiner Geſchichte
der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Re¬
volution, 1848, Bd. I., S. 244 — 302. Nur aus dem
Schluß dieſer ſcharfſinnigen Entwicklung wollen wir hier
dasjenige anziehen, was S. 290 — 91. ſich auf unſer Thema
bezieht. Julian Schmidt (54) ſagt: „Hinter dieſer Mytho¬
logie der Ehre, des Glaubens und der Liebe, dieſen blüthen¬
reichen Träumen der Phantaſie, verbirgt ſich eine kalt be¬
rechnende, abſtracte Selbſtſucht. — Der äußerliche Gottes¬
dienſt läßt alle Naturkräfte frei, und der düſtere Reiz des
Aberglaubens verkehrt das Leben in einen wüſten Tummel¬
platz böſer Geiſter. Wer in Calderon die üppig ſchaffende
[252] Phantaſie bewundert, vergeſſe nicht, daß in dieſer Phantaſie
das Wort des Geheimniſſes ſich verbirgt, das Spaniens
Verderben überdeckt. Dieſe blüthenreiche Sprache feierte
mit derſelben Pracht die Glaubenshandlungen der Inqui¬
ſition, ſie übertönte mit ihrem ſüßen Geflüſter das Geheul
der Ketzer in den Flammen, ſie breitete ſich wie der Duft
eines Arabiſchen Weihrauchs verhüllend über die unwürdige
Opferſtätte des Fanatismus. — Das Weſen des Fanatismus
iſt, ſich an eine Abſtraction zu veräußern, die ſich als abſo¬
lute Negativität gegen alles Concrete richtet. So iſt das
Leben im vollſten Sinne des Wortes ein Traum, geträumt
von einem abſtracten Weſen. Die Wirklichkeit iſt dem Augen¬
blick anheimgegeben, weil ſie von dem Abſoluten nicht aner¬
kannt wird. Dafür wird ſie von ihm auch nicht einge¬
ſchränkt; ſie kennt kein Maaß. Die Natur bricht in der
Gluth der Leidenſchaft, gedankenlos und ohne Zügel, brau¬
ſend aus dem dunkeln Quell des unheiligen Gemüths, und
zerſtört heute, was ſie geſtern geliebt. Es iſt Nichts feſt,
als das Jenſeits. In allen Formen ſpielt dieſe Leidenſchaft,
dieſe auf ſich concentrirte, von der Heiligkeit der Abſtraction
nicht gebrochene Subjectivität; der Einzelne iſt im Haß
wie in der Liebe, im Edelmuth wie in der Bosheit ſchranken¬
los; die Gluth des Lebens, von keiner Subſtantialität ge¬
nährt, flammt mit deſto unbändigerer Gewalt im Innerſten
des Menſchen. Die Rechtfertigung des Menſchen iſt, daß
er von ſich und der Wirklichkeit abſtrahirt: hat er den Kelch
der irdiſchen Luſt bis auf die Neige geleert, ſo ſchwingt er
ſich auf den Flügeln der Abſtraction durch ein Wunder in
die Seligkeit des Himmels. — Da die erlöſende Wirkung
dieſer blinden Kraft auf äußerliche Weiſe eintritt, ohne innere
Entzweiung, ſo geht der Menſch in ſeiner nackten natürlichen
[253] Wildheit unbefangen und gedankenlos dieſem wüſten Schick¬
ſal entgegen. Auf der einen Seite die Blutgier des Tigers,
das gedankenlos um ſich wüthende Tollwerden, auf der
andern die Heiligkeit, die alle Abſtraction von der Welt be¬
reits vollbracht hat und ſich im reinen Ueberſinnlichen bewegt.
All dieſe Figuren ſind Abſtractionen, weil ſie ohne Entzweiung
und ohne Entwickelung ſind; ſie empören das Gefühl, weil
das Thieriſche oder Göttliche als Natur gegen den Geiſt ſich
geltend macht. Strebt der Menſch nach der Erkenntniß des
Abſoluten, ſo greift er zur Magie; findet eine Wiedergeburt
ſtatt, ſo iſt es durch ein Wunder.“ — Was Schmidt Ab¬
ſtraction nennt, nennen wir bei Calderon den pſychologiſchen
Zwang, denn die Motivirung der Handlungen wird immer
aus dem Calcul entnommen, ob das Leben der Liebe, ob die
Liebe der Ehre, ob die Ehre dem Glauben nachzuſetzen ſei.
Wenn in La nina de Gomez Arias die Frau nach den ent¬
ſetzlichſten Mißhandlungen von Seiten des Mannes, der ſie
ſogar den Mauren als Sclavin verkauft, dem Manne dennoch
verzeiht, ſo iſt es die Macht der Liebe, die als abſolute
Leidenſchaft des Weibes ihr die Ehre unterzuordnen erlaubt.
Wenn in dem bei uns bekannter gewordenen Schauſpiel
El medico de su honra Don Gutierre auf einen bloßen Ver¬
dacht hin, daß ſie durch ein Verhältniß zu einem Prinzen
die Treue verletzt habe, ſeine Frau grauſam ermordet und,
als die Nichtigkeit ſeines Argwohns ſich entdeckt, dennoch
ruhig bleibt, ja eine andere heirathet, ſo iſt es die Leiden¬
ſchaft des Mannes für die Ehre, die ihm die Liebe für die
Ehre aufzuopfern befiehlt. Wenn im principe constante der
Infant Fernando in der Gefangenſchaft, obwohl von der
Tochter des Marokkaniſchen Königs geliebt, obwohl in der
Möglichkeit, durch die Auslieferung von Ceuta ſich zu be¬
[254] freien, dennoch das größte Elend, die äußerſte Schmach
erduldet und darin auch umkommt, ſo iſt es, weil der Glaube
von ihm als Chriſten fordert, Liebe, Freiheit, Leben für
Nichts gegen ſeine Herrlichkeit zu achten. In dieſer Dialektik
hat die Brutalität der Entehrung, des Mordes, der Mi߬
handlung, des Märtyrertodes ihre Methode. — Von dieſer
feinern Brutalität des pſychologiſchen Zwanges ſind auch
manche unſerer neuern Tragödien inficirt, wie z. B. Halm's
Griſeldis
(55). Die Vergleichung derſelben mit der Be¬
handlung des ähnlichen Thema's in Shakeſpeare's Cymbeline
kann uns begreifen laſſen, daß weder von Seiten Parzivals
noch von Seiten der Griſeldis hier wahrhafte Liebe ein tra¬
giſches Pathos aufkommen läßt, denn Parzival könnte ſonſt
unmöglich in der Peinigung ſeines Weibes bis zu ſo grauen¬
hafter Brutalität fortgehen und Griſeldis in der Hingebung
für ihn ſich nicht bis zu ſo entwürdigender Erniedrigung
ſinken laſſen. Der Reiz der gebildetſten Sprache und die
Steigerung der Proben, denen der übermüthige Parzival die
Treue ſeiner Frau unterwirft, reißen uns hin, ohne uns
zu erheben.


Wenn die Rohheit der Gewalt die Unſchuld mißhan¬
delt, ſo wird die Brutalität ihres Zwanges um ſo häßlicher,
je mehr die Unſchuld entweder die des Kindes iſt, das noch
nicht in die überall mit Schuld befleckte Verwirrung der
Geſchichte ſich eingelebt hat, das noch nicht durch eigene
That ſchuldig geworden iſt; oder jemehr die Unſchuld die
ſelbſtbewußte Hohheit der Sittlichkeit iſt, die ſich von dem
allgemeinen Verderben befreiet hat. Dorthin gehört z. B.
der Bethlemitiſche Kindermord, den die Maler ſo
gern gemalt haben, den Marini beſungen hat. Aehnliches
kann in der Form feinerer Barbarei ſich darſtellen, wie
[255]Sue in ſeiner Mathilde die niederträchtigen Quälereien
geſchildert hat, mit denen Mademoiſelle de Maran die kleine
Mathilde ſyſtematiſch unter dem Schein abmartert, ihr eine
gewiſſenhafte, ſorgfältige Erziehung zu geben. Wie grenzenlos
brutal iſt jenes Ungeheuer in der Scene, wo ſie, im Bett
liegend, der Kleinen ihr ſchönes Haar abſchneidet! In der
berüchtigten Chouette der Pariſer Myſterien hat Sue nur
einen ſchon carikirten, ins Grobe gezeichneten Abklatſch dieſer
diaboliſchen Egoität gegeben. — Den Contraſt der Majeſtät
ſelbſtbewußter Freiheit mit der Brutalität finden wir be¬
ſonders durch die Paſſionsgeſchichte Chriſti zum Gegen¬
ſtande der Kunſt gemacht. In der antiken Kunſt war dieſer
Gegenſatz noch nicht hervorgetreten. Niobe, Dirke, Laokoon
waren durch Hybris; Oedipus, Oreſtes durch unfreiwillig frei¬
williges Handeln ſchuldig; Marſyas, dem Gotte gegenüber
ebenfalls durch Hybris ſchuldig, kann uns durch die Art
ſeiner Strafe Mitleiden erregen, weil es unſern heutigen
Gefühlen widerſagt, daß ein Gott ſelber, auch wenn er be¬
rechtigt iſt, eine ſolche Strafe vollzieht, ſeinem überwun¬
denen Gegner mit einem Meſſer die Haut abzuſtreifen. An¬
tike Darſtellungen auf Reliefs mildern daher auch dieſe
brutale Anſchauung dadurch, daß ſie den Apollo mit dem
Meſſer auf den an einen Baumſtamm gebundenen Marſyos
nur zuſchreiten laſſen. In der Paſſion Chriſti aber erblicken
wir den diametralen Gegenſatz der Unſchuld zur Brutalität,
die ihr in feinern und gröbern Formen gegenübertritt. Früh
hat die Malerei dieſen Contraſt ergriffen und die ältere
Deutſche Schule vornämlich hat ſich angelegen ſein laſſen,
den Phariſäern, Schriftgelehrten und Kriegsknechten recht
brutal diaboliſche Phyſiognomieen zu geben (56). Von der
Geſchichte Chriſti aus wurde dieſer Contraſt in der Geſchichte
[256] der Märtyrer und Heiligen nach allen Seiten hin weiter
entwickelt. In tauſendfachen Schattirungen wurde hier die
Verſpottung Chriſti durch die Kriegsknechte, die ihn mit
Ruthen ſtrichen, mit Dornen krönten, ihm ſein Kreuz zu
tragen auferlegten, wiederholt. Das Kneipen mit glühenden
Zangen, das Annageln an das Kreuz, bei Petrus ſogar
mit dem Kopf nach Unten, das Braten auf einem Roſt,
das Schinden der Haut, das Ausreißen der Gedärme, das
Köpfen, das Auszerren der Glieder auf Folterbänken, das
Sieden in Oel, das Eingraben in die Erde u. ſ. w. ſind
Brutalitäten, die äſthetiſch nicht weniger, als ethiſch den
Fluch verdienen. So ſehr auch das Genie der Künſtler be¬
mühet geweſen iſt, dieſe Stoffe mit den Forderungen der
Schönheit zu verſöhnen, ſo ſelten iſt dies doch wirklich ge¬
lungen. Man ſage nicht, daß ein Schlachtgemälde uns doch
auch das Schauſpiel des Mordes und der Todesqual in
mannigfaltigen Geſtalten darbiete. In der Schlacht tritt
Gewalt der Gewalt gegenüber; der Krieger kämpft mit dem
Krieger; der Angegriffene iſt zugleich der Angreifende. Den¬
noch wird der Maler mit den Schrecken des Krieges haus¬
hälteriſch verfahren; er wird uns Verwundete und Sterbende
aller Art malen, allein gewiſſe Verſtümmelungen wird er
unſerer Anſchauung darzubieten Anſtand nehmen. Auch die
antike Malerei hat das Schreckliche ungeſcheut dargeſtellt,
allein nur das Nothwendige, von welchem Göthe in der
Betrachtung der Philoſtratiſchen Gemälde ſagt, daß es
das Schickliche ſei. Bd. 39. S. 65. äußert er bei Gelegen¬
heit der Zerfleiſchung des Abderos: „In dieſen Bildern
finden wir das Bedeutende niemals vermieden, ſondern viel¬
mehr dem Zuſchauer mächtig entgegen gebracht. So finden
wir die Köpfe und Schädel, welche der Straßenräuber am
[257] alten Baum als Trophäen aufgehängt; eben ſo wenig fehlen
die Köpfe der Feier Hippodamias am Palaſte des Vaters
aufgeſteckt; und wie ſollen wir uns bei den Strömen Blutes
benehmen, die in ſo manchen Bildern mit Staub vermiſcht
hin und wieder fließen und ſtocken. Und ſo dürfen wir wohl
ſagen, der höchſte Grundſatz der Alten war das Bedeutende,
das höchſte Reſultat einer glücklichen Behandlung aber das
Schöne. Und iſt es bei uns Neueren nicht derſelbe Fall?
Denn wo wollten wir in Kirchen und Galerien die Augen
hinwenden, nöthigten uns nicht vollendete Meiſter ſo manches
widerwärtige Martyrthum dankbar und behaglich anzuſchauen.“
Ein äſthetiſcher Gegenſtand kann die Brutalität, welche den
wehrloſen Heiligen ausgeſuchte Leiden bereitet, nur inſofern
werden, als die Darſtellung den Sieg der innern Freiheit
über die äußere Gewalt zur Erſcheinung bringt. Die Henker
müſſen daher musculöſe Körper, harte, fühlloſe Geſichter,
grinſende Mienen haben, mit ihrem gräßlichen Geſchäft per¬
ſönlich in Einklang zu ſtehen, während die Geſtalt und das
Antlitz der Heiligen uns durch Würde und Schönheit feſſeln
muß. Die Ohnmacht der Brutalität über die Freiheit muß
durch die Verklärung der Phyſignomie, durch den Adel in
der Haltung der Gemarterten ſich zweifellos herausſtellen.
Die ſelbſtgewiſſe Majeſtät des Glaubens muß der Banden
und der Qualen, des Todes und Hohnes, man kann nicht
einmal ſagen, ſpotten, weil dies noch eine gewiſſe Befan¬
genheit, eine Endlichkeit der Entgegenſetzung in ſich ſchließen
würde, ſondern ſie muß ſchlechthin darüber hinaus ſein und
im Erleiden und Empfinden des Schmerzes triumphiren.
Im Anblick ſolcher erhabenen Ruhe muß das Graunvolle der
brutalen Handlungen als ein Nichts verſchwinden. Ohne
dieſen Untergang des Entſetzlichen in der Größe und Macht
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 17[258] der göttlichen Geſinnung wird die Anſchauung einer bloßen
Henkerarbeit unerträglich und mit dieſem Gräuelanblick pei¬
nigen uns diejenigen Maler und Bildhauer ſogleich, die uns
Chriſtus, die Apoſtel und die Heiligen als Irokeſen darſtellen,
welche ſich ſelbſt damit ergötzen, den Qualen, mit denen
ihre Feinde ſie martern, den Trotz einer abſtracten Un¬
empfindlichkeit entgegenzuſetzen. Die Unſterblichkeit des für
die abſolute Wahrheit opferfreudigen Geiſtes muß die Grau¬
ſamkeit in ſich aufzehren. Und doch ſind ſolche Scenen für
die bildende Kunſt durch ihre effectvollen Contraſte noch immer
günſtiger, als für die Poeſie, denn das Bild oder die Gruppe
gibt uns mit Einemmale, was, durch die Breite der Be¬
ſchreibung hindurchgezerrt, uns nur noch abſtoßender berühren
kann. Es ſcheint dies dem Leſſingſchen Kanon zuwider zu
ſein, allein jeder, der jene Legenden des Mittelalters kennt,
in denen die Martyrien von Heiligen mit protokollartiger
Gründlichkeit beſchrieben ſind, wird uns beipflichten; es gibt
kaum etwas langweilig Häßlicheres. Manche Stoffe aus
dieſer Region ſind bei den Malern von jeher außerordentlich
beliebt geweſen, weil ſie Gelegenheit zu grellen Contraſten
darbieten, ſtehen aber an einer bedenklichen Grenze und ſind
deshalb auch häufig genug bei der Ausführung ins Häßliche
verfallen. Wie mancher Maler hat den Bethlehemitiſchen
Kindermord zu einer ſcheußlichen Schlächterei entſtellt! Wie
mancher hat die Herodias gemalt, nicht als ob ſie das
blutige Haupt eines Märtyrers, ſondern als ob ſie einen
Blumenſtrauß oder in der Schüſſel gar ein leckeres Gericht
trüge! Das Mittelalter fühlte hier eine Lücke, daß Jugend,
Schönheit, Weltluſt, Leichtſinn ſo fühllos der Würde, Ent¬
ſagung, Gottergebenheit, Ausdauer, ſollte entgegentreten
können und erfand daher eine Liebesgeſchichte der ſchönen
[259] Tänzerin zu dem Propheten, der ſie verſchmähet hatte und
an welchem ſie nun durch ſeinen Tod ſich rächen wollte.


Um an der Brutalität das Graſſe der Erſcheinung zu
ſänftigen, wird ein Zuſammenhang des Gewaltthätigen mit
der Gerechtigkeit immer die günſtigſte Situation bleiben, weil
ſie den Gedanken der bloßen Willkür und Zufälligkeit ent¬
fernt. Wir haben vorhin aufmerkſam gemacht, wie die
antike Kunſt den ſchwarzen Faden der Schuld in ſolchen
Fällen feſtgehalten hat. Die Bildhauer Apollonios und
Tauriskos haben in der berühmten Gruppe des Farne¬
ſiſchen Stieres
, die ſich jetzt zu Neapel befindet, die
Dirke dargeſtellt, wie Amphion und Zethos ſie an die Hörner
eines Stieres binden, der bereits zum gliederzerſchmetternden
Lauf ſich emporbäumt. Wie ſchön iſt dies Weib! Aber ihre
Schönheit rührt nicht die kraftvollen Jünglinge. Dieſe haben
auch nicht etwa Freude an ihrem brutalen Werk, ſondern
ſie üben nach antiken Begriffen eine Pflicht aus, die Rache
für ihre Mutter. Sie thun daſſelbe, was Apollon und Ar¬
temis, wenn ſie die Kinder der Niobe tödteten. Der Mangel
der ſogenannten poetiſchen Gerechtigkeit wird daher
von uns als eine unverantwortliche Brutalität empfunden
werden. Die moderne Franzöſiſche Tragik nach ihrem Grund¬
ſatz, le laid c'est le beau, hat es auch hieran nicht fehlen
laſſen. In einem Trauerſpiel, le Roi s'omuse, hat z. B.
Victor Hugo dieſen Fehler gemacht. Der Majeſtät eines
ſchönen und ritterlichen Königs, Franz I., hat er hier in Tri¬
boulet einen häßlichen und buckligen Narren entgegengeſtellt.
Den König degradirt er aber zu einem wahren liederlichen
Lumpen, der jeder Schürze den Hof macht und verkleidet
bis in die unſauberſten Kneipen ſelbſt den gemeinſten Schenker¬
mädchen nachläuft. Ein ſolcher König iſt kein König, denn
17 *[260] von der Orgie an, in welcher wir ihn zuerſt kennen lernen,
bis zu dem ekelhaften Abentheuer in der Spelunke, worin
er ermordet werden ſoll, iſt auch nicht eine Spur edlen
Weſens an ihm zu entdecken. Dieſer Triboulet aber, der ſo
giftige Impromtus auf Jedermann ſchleudert, der ſo bos¬
hafte Rathſchläge gibt, der den unglücklichen St. Vallier
ſeiner vom Könige geſchändeten Tochter halber verhöhnt,
ſoll doch zugleich ein zärtlicher Vater ſein und neben ſeinem
Narrenthum, das er nur als Gewerbe betreibt, ein wahrhaft
prieſterliches, humanes Bewußtſein beſitzen. Er hat zu ſeinem
Unglück eine ſchöne Tochter, die dem Könige gefällt. Der
König, der ſie in der Kirche geſehen, weiß nicht, daß Blanche
die Tochter ſeines Hofnarren iſt. Verkleidet ſchleicht er ihr
nach. Höflinge, von Triboulets Sarkasmen beleidigt, über¬
fallen ſeine Tochter, knebeln ſie, rauben ſie und führen ſie
dem Könige zu, der ſie, die weinende und flehende, in ſein
Cabinet nimmt, deſſen Thür verſchließt und ſie con amore
ſchändet, während eben dieſe Thür von den Höflingen be¬
wacht und gegen den ahnungsvoll auf ſie eindringenden
Triboulet vertheidigt wird. Kann man ſich eine brutalere
Situation erſinnen? Nun will der Narr den König von
einem Zigeuner Saltabadil für zwanzig Goldſtücke ermorden
laſſen, der aber durch Zufall und Wirrniß Triboulets Tochter
ermordet, welche den König liebt, obwohl er ſie ihrer Ehre
beraubt hat. Saltabadil ſteckt die Leiche in einen Sack;
Triboulet ſetzt darin die Leiche des Königs voraus und will
den Sack in die Seine werfen. Jedoch, ſeine Rache recht
zu erſättigen, will er den Gemordeten noch einmal ſehen.
In der pechfinſtern Nacht wäre dies freilich unmöglich, allein
der gefällige Dichter läßt ſofort ein Gewitter heraufziehen,
mit dem Schein ſeiner Blitze zuweilen zu leuchten. Triboulet
[261] ſchneidet den Sack mit einem Dolch auf und erkennt ſeine
Tochter, die noch etwas lebt, und, mit halbem Leibe im
Sack ſteckend, noch einige rührende Reden hält, voll ſenti¬
mentaler Leidenſchaft für den König, der in der Kneipe
hatte ermordet werden ſollen, wohin er ſich geſtohlen, um
bei der Schweſter des Zigeuners, Magelone, die Nacht zu¬
zubringen. Hierauf ſtirbt ſie; ein herbeieilender Chirurg er¬
klärt dem Vater mit handwerksmäßiger Sentenz, daß ſeine
Tochter nun wirklich todt ſei, worauf Triboulet ſich nicht
einmal ermordet, ſondern nur die Beſinnung verliert, während
der König, durch Magelone vom Tode errettet, unbekannt
mit den Vorgängen um ſich herum, ausgeſchlafen und trällernd
von dannen geht! Dieſe Strafloſigkeit iſt offenbar die ärgſte
Brutalität in dieſem Schauſpiel, das ſo recht eine Muſter¬
karte von Gemeinheiten. Es würde uns zu weit führen,
wollten wir uns noch auf andere Dramen dieſes Dichters
einlaſſen und wir begnügen uns mit der Bemerkung, daß
ſeit Victor Hugo die Verletzung der poetiſchen Gerechtigkeit
bei den Franzoſen nichts Seltenes geworden iſt. Eine der
gländzendſten Rollen der Rachel iſt die der Adrienne Le¬
couvreur
, welche Scribe eigends für ſie geſchrieben.
Adrienne, eine Schauſpielerin, welcher der Marſchall von
Sachſen den Hof macht, empfängt von der eiferſüchtigen
Geliebten deſſelben, einer verheiratheten Herzogin, einen ver¬
gifteten Blumenſtrauß, der ſie richtig tödtet, während die
Frau Herzogin frei ausgeht. Die eigentliche Pointe dieſes
Stücks iſt aber nicht einmal dieſe Diſſonanz, ſondern die
pathologiſch exacte Darſtellung des Sterbens der Unglücklichen.
Alle Phaſen, welche das Gift bewirkt, werden in ihren
gräßlichen Uebergängen bis zum Aushauchen des letzten Seuf¬
zers nur zu correct vorgeführt. Auch bei der Caméliendame
[262] des jüngern Dumas iſt das treu geſchilderte Sterben der
Lorette zur intereſſanteſten Brutalität für das Publicum
geworden.


Obſchon es unſere Aufgabe iſt, den Begriff des Hä߬
lichen zu entwickeln, ſo wollen wir doch nicht anſtehen, zu
bekennen, daß es uns, bei allem wiſſenſchaftlichen Muth,
unmöglich fällt, uns noch in diejenige Form des Brutalen
zu vertiefen, welche durch die Verbindung der Grauſamkeit
mit der Wolluſt und durch die Unnatur der Wolluſt entſteht.
Die Annalen der Kunſtgeſchichte ſind leider überreich an
ſolchen Producten. Wir begnügen uns, aus der Deutſchen
Literatur nur an Lohenſteins Agrippina zu erinnern (57).
Nothzucht, gröbere und feinere, iſt natürlich die Lieblings¬
brutalität aus dieſem Gebiet.


Das Brutale kann auch in's Komiſche gewendet werden.
Dieſe Wendung wird als Parodie am Gewöhnlichſten ſein,
wie in neuerer Zeit die Münchener Fliegenden Blätter
das Brutale in Bänkelſängerballaden und in kleinen tragi¬
komödiſchen Actionen oft köſtlich perſiflirt haben und die
Marionettentheater zu Paris und London (58) mit ſolcher
Parodie die Unnatur der Situationen und das geſchraubte,
falſche Pathos, worin die Tragödie epochenweiſe verfiel, ab¬
ſichtlich geißelten. Jedoch kann die komiſche Wendung auch
ohne Parodie möglich werden. Der Raub der Sabine¬
rinnen
iſt an ſich eine Gewaltthat; der plötzliche Ueberfall
der Jungfrauen iſt brutal; indem hier aber das Urverhältniß
der Geſchlechter intervenirt, mildert ſich Angſt und Schrecken!
Die Bildhauer und Maler haben dieſen Vorfall daher ſehr
gern dargeſtellt, weil ſie durch ihn Gelegenheit haben, die
erſchreckten Mienen zugleich mit dem Ausdruck ſüßen Er¬
bangens, das Sträuben der Scham mit unwillkürlicher Hin¬
[263] gebung zu verſchönen; von den kühnen Römern geraubt
zu werden, iſt am Ende nicht zu unangenehm. Aehnlich
verhält es ſich mit dem Raub der Proſerpina, mit der
Entführung der Europa u. ſ. w. Wenn Reinecke das
Weib Iſegrimms vor deſſen Augen auf dem Eiſe noth¬
züchtigt, ſo iſt das unbedingt brutal, wird aber durch die
nähern Umſtände komiſch (59). Auch gibt es manche Hand¬
lungen, die gewaltthätig ſind, ohne brutal genannt werden
zu können; dieſe können nur als komiſche Gegenſtand der
Kunſt werden; dahin gehören alle jene Bilder der Nieder¬
ländiſchen Schule, welche uns Zahnbrecher darſtellen, wie
ſie mit einfältigen Jungen, die ganz ungebärdig ſchreien,
oder mit Bauern hanthieren, die ſich wie arme Sünder zu
einer Hinrichtung anſchicken. —


Wir haben bis jetzt das Obscöne und das Brutale
als Formen der Rohheit betrachtet, es iſt noch eine Form
zurück: das Frivole, welches dem Erhabenen, ſofern es
das Heilige iſt, durch ſeine abſolute Willkür widerſpricht und
damit den innerſten Halt des Univerſums antaſtet. Natur
und Geſchichte haben einen Sinn endlich nur unter Vor¬
ausſetzung der Wahrheit des Sittlichen und Göttlichen. Frivol
iſt nicht, wer die Exiſtenz dieſer Wahrheit deshalb negirt,
weil er ſich von derſelben nicht überzeugen kann, ſondern der¬
jenige, der aus grundloſer Frechheit heraus den Glauben an
das Heilige verſpottet. Der Skeptiker, der zum Atheiſten
wird, braucht deshalb noch keineswegs frivol zu ſein; der
Egoiſt aber, dem das Heilige zur Poſſe wird, weil die Wirk¬
lichkeit ſeines Daſeins ihm unbequem fällt, iſt frivol. Die
Willkür frevelt mit ihrem Hohn an dem Weſen, welches der
Grund aller Freiheit und Nothwendigkeit ſelber iſt, wäh¬
rend dem wiſſenſchaftlichen Atheimus, der als das traurige
[264] Reſultat ernſter Bemühungen möglich iſt, das Gepräge einer
religiöſen Verzweiflung aufgedrückt ſein kann. Die Frivolität
iſt häßlich, weil ſie der Affe der göttlichen Majeſtät iſt, von
welcher alle Majeſtät der Natur und Geſchichte zu Lehen
trägt. Sie ſetzt ſich ſelber als das Abſolute. Für die Natur
iſt daher dieſe Form des Häßlichen unmöglich, weil dieſelbe,
als ohne Bewußtſein, ihre eigene Nothwendigkeit nicht ver¬
lachen kann. Unter den Künſten iſt die Poeſie für die Dar¬
ſtellung des Frivolen am meiſten geeignet, weil ſie durch die
Sprache in den Gedanken ſich zu vertiefen im Stande iſt.
Die Frivolität gibt das Heilige dem Gelächter als ein in ſich
Nichtiges preis; die Pietät in der Ehe, Freundſchaft, Vater¬
landsliebe, Religion, gelten ihr als eine Bornirtheit und
Schwachheit, über welche ſich der ſtarke Geiſt als über Vor¬
urtheile des gemeinen Haufens erhebt. Dieſe Stärke des
Geiſtes iſt jedoch nichts, als die Willkür, die aus ihrem
ſubjectiven Belieben das Göttliche als eine Nullität purer
Einbildung verachtet und damit dasjenige eigentlich für ge¬
mein erklärt, was unter den Völkern den objectiven An¬
ſpruch macht, als ein Ehrwürdiges und Höchſtes verehrt
zu werden.


Es iſt ſehr wohl zu unterſcheiden zwiſchen dem Glauben
der Menſchen an die Exiſtenz des Abſoluten und zwiſchen
den Irrthümern, denen ſie darin zugleich unterworfen ſein
können, weil ſie frei ſind und weil es mit dem Weſen des
Göttlichen ſtreiten würde, den Menſchen den Glauben an
ſich äußerlich abzuzwingen. Im Beſondern werden alſo die
Menſchen keineswegs immer die abſolute Wahrheit zum In¬
halt ihres Glaubens haben; ſie werden die Wahrheit mit
dem Wahn verwechſeln und dieſen ſogar, als eine falſche
Religion, vergöttern können. Die Religionen haben im
[265] Beſondern einen verſchiedenen Inhalt, ſind aber darin iden¬
tiſch, Religion zu ſein und den Menſchen in ein Verhältniß
zum Abſoluten zu ſetzen; der wahre Buddhiſt, Jude, Muha¬
medaner ſtirbt eben ſo freudig für die Wahrheit ſeines Glau¬
bens, als der wahre Katholik, Lutheraner, Methodiſt u. ſ. w.
Auch in der Beſonderheit der Sitte ſind die Völker ver¬
ſchieden, aber jedem iſt ſeine Sitte heilig. Der Wilde be¬
beeifert ſich, von ſeinem ſittlichen Standpunct aus, ſeinem
Gaſt ſeine Töchter, ſeine Frau, zum Beiſchlaf anzubieten,
was ein anderer Standpunct für eine Entehrung hält. Die
Sitten deſſelben Volkes ſind zu verſchiedenen Zeiten ver¬
ſchiedene und noch im achtzehnten Jahrhundert würde man
es bei uns für ein frivoles Untergraben aller Auctorität an¬
geſehen haben, wenn Kinder ihre Eltern zu duzen gewagt
hätten, was nun ſogar Mitglieder fürſtlicher Familien thun.
Weil die Sitte die Geſtalt iſt, welche der Wille eines Volkes
in ſeiner Gewöhnung annimmt, ſo achten die Völker ſich in
ihren Sitten, wie abweichend dieſelben auch von einander
ſein mögen, und es gilt mit Recht für frivol, den Einzelnen,
der in ihre allgemeine Nothwendigkeit hineingeboren und
hineinerzogen wird, deshalb zu verſpotten. — Sehr wohl
iſt nun auch ein Conflict mit der Sitte, mit dem Glauben
eines Volkes denkbar, der nichts weniger als frivol zu ſein
braucht, vielmehr ſogar aus der tiefſten Sittlichkeit und Re¬
ligioſität hervorgehen kann, wie dies bei allen großen Re¬
formatoren der Fall iſt. — Frivol wird erſt die Ernſtloſigkeit,
die ein Wohlgefallen daran verräth, die Achtung einer Sitte,
den Glauben an ein Göttliches, als Widerſinn und Betrug,
als Wahn und Selbſttäuſchung darzuſtellen. Die Frivolität
iſt nicht der heilige Kampf jener erhabenen Skepſis, die aus
der innerſten Wahrhaftigkeit des Geiſtes entſpringt; ſie iſt
[266] die unreine Freude der geiſtigen Verliederlichung, die ſich
vom Abſoluten als einem dummen Geſpenſt emancipirt hat
und es recht ſehr zufrieden iſt, daß Zufall und Willkür als
die einzigen Factoren alles Geſchehens im Grunde nichts,
als ein ephemeres Genußleben geſtatten. Die Frivolität
charakteriſirt ſich daher äſthetiſch durch die Wolluſt der Grau¬
ſamkeit, mit welcher ſie den Glauben als eine Beſchränktheit,
die Sitte als eine Verkehrtheit zu zerſtören ſich kitzelt.


In Anſehung der concreten Erſcheinung aber wird das
Urtheil, ob etwas frivol ſei, oft ſehr ſchwer fallen, weil in
der Geſchichte des Geiſtes die Erkenntniß des Wahren im
Conflict mit dem als falſch Erkannten und die Ausübung
der Tugend im Conflict mit privilegirten Laſtern den Schein
der Frivolität gewinnen kann. Die an und für ſich berech¬
tigte Polemik des ewig Wahren und Guten gegen die
Plattheit und Nichtswürdigkeit, die ſich oft empiriſch dafür
ausgibt, wird von eben dieſer als frivol ausgeſchrieen. Es
iſt natürlich, daß jene Polemik nicht immer den wehmüthigen
Zug des unendlichen Schmerzes über das ſittliche und
geiſtige Unglück der Menſchheit an der Stirn tragen kann;
ſie wird als menſchliche ſich nicht entrathen können, über
die Anmaaßung ihrer Gegner auch wohl in ein Gelächter
auszubrechen und ihr mit Satire zu entgegnen, die dann
unfehlbar Frivolität geſcholten werden wird. Hier erzeugen
ſich nun für den beſtimmten Fall wieder feine Grenzlinien,
denn ſehr leicht kann die an ſich ernſt begründete Polemik
durch die Luſt am Witz zu Aeußerungen fortgeriſſen werden,
die ſchon ſelber einen frivolen Beigeſchmack haben. Der zer¬
malmende Zorneifer eines Ariſtophanes iſt zugleich von
dem Behagen erfüllt, das ihm die Verſpottung ſeiner Gegner
einflößt, und das komiſche Element reißt ihn zu manchen
[267] Wendungen hin, die, vom Griechiſchen Standpunct aus,
eine kauſtiſche Frivolität athmen (60). Das Gelächter,
welches der Unſitte und dem Unglauben ſeiner Gegner gelten
ſoll, trifft unwillkürlich auch wohl die Sitte und den Glauben
ſelber. Heine wird eben dadurch oft ſo gemein, daß er
dem Gelüſten nicht widerſtehen kann, dem Witz auch das
Heilige mit rückſichtsloſer Rohheit zu opfern und dann wirk¬
lich frivol zu werden. Seine Poeſie würde ohne dieſe frivolen
Ausläufer viel mehr Poeſie ſein (61). In der Frivolität
kennzeichnet ſich ihre Wahrheit durch eine gewiſſe Brutalität,
mit welcher ſie, was einem Menſchen oder Volk als heilig
gilt, vernichtet und an der Herabſetzung des Heiligen zu
einer lächerlichen Fratze Freude empfindet. Der Begriff der
Frivolität iſt daher zwar im Allgemeinen ein ganz beſtimmter,
im Beſondern aber ein relativer, wie wir dies ganz
poſitiv durch die Verſchiedenheit der Geſetzgebungen ſehen,
die für ſeine Verwirklichung Strafen feſtſetzen. Was auf
einem beſchränktern Standpuct noch für frivol gilt und von
ihm aus mit Recht verurtheilt wird, hat auf einem höhern
und freiern nicht mehr dieſe Bedeutung. Wir haben hier
nur die äſthetiſche Seite der Sache aufzufaſſen, welche
darauf beruhet, daß das wahrhaft Schöne ſich nur in der
Einheit mit dem wahrhaft Guten vollenden kann, daß alſo
ein äſthetiſches Product, welches dieſem Axian widerſpricht,
auch nicht wirklich ſchön zu ſein vermag, alſo mehr oder
weniger häßlich ſein wird. Daß eine Sitte oder ein Glaube
von einem andern Standpunct aus als lächerlich empfunden
wird, iſt noch keine Frivolität; erſt wenn man die, welche
einer Sitte anhängen, in ihrer Befolgung; die welche einem
Glauben ergeben ſind, in ihrem Vertrauen verſpotten wollte,
würde man frivol werden. Wir haben oben angeführt, daß
[268] in Dahomey und Benin jeder, auch ein Miniſter oder General,
der von dem Könige ein Geſchenk empfängt, öffentlich vor
ihm tanzen muß. Wie lächerlich auch dies dem Fran¬
zöſiſchen Geſandten Boué erſchien, ſo hütete er ſich wohl,
zu lachen. Wenn die Ruſſiſchen Hetären ſich Jemand hin¬
geben, ſo tragen ſie Sorge, das Bild des heiligen Nikolaus
mit einem Schleier zu bedecken, weil ſie ſich vor ihm ſchämen.
Wer wollte es wagen, dieſen Ausdruck des heiligen Scham¬
gefühls, ſo lächerlich er uns erſcheinen kann, in ihrer Ge¬
genwart zu verlachen? Man kann in ſo zarten Materien
mit ſeinem Urtheil und Benehmen nicht vorſichtig genug
ſein. Wollte man aber der Komik die Berechtigung nicht
zugeſtehen, Sitten fremder Nationen oder vergangener Zeiten,
religiöſe Vorſtellungen anderer Völker oder überwundener
Bildungsformen, als lächerliche Widerſprüche der Wahrheit
und Freiheit des Geiſtes zu behandeln, ſo begreift man,
daß nicht nur die Kunſt, ſondern auch die Wiſſenſchaft auf
eine Trappiſtiſche Lebensweiſe ſich einrichten müßten. Der
Scherz hat von den moraliſch engherzigen Biedermännern
eben ſo viel zu leiden, als von den dumm bigotten Frömmig¬
keitsbefliſſenen, weil die Kurzſichtigkeit beider in ſeinem be¬
weglichen Spiel überall ſchon ein gefährliches Attentat auf
die gute Sitte und den rechten Glauben erblickt. Ging es
lediglich nach ihnen, ſo würden wir in einer Stagnation
der hausbackenſten Proſa erſticken müſſen. Nichts hat von
dieſer Seite der unbefangenen Würdigung poetiſcher Kunſt¬
werke mehr geſchadet, als das Iſoliren einzelner Stellen,
das Premiren einzelner Worte. Die Geſchichte der Poeſie
beſitzt über ſolche Conflicte höchſt denkwürdige Actenſtücke
in den Proceſſen, denen Béranger unter der Reſtauration
unterworfen war und worin Marchangy und Champanhet
[269] die Anklage eben ſo geiſtvoll begründeten, als Dupin, Barthe
und Berville ihnen, mit der intereſſanteſten Bezugnahme auf
die Geſchichte der Chanſon in Frankreich, antworteten. Hätten
wir hier nur den Begriff des Frivolen zu erörtern, ſo würden
wir nicht ermangeln, näher darauf einzugehen; für uns iſt
aber das Frivole nur ein Moment in einer viel größern
Totalität (62). Wir beſchränken uns darauf, durch einige
Beiſpiele die bisherige Auseinanderſetzung zu illuſtriren. Wenn
Heine in ſeinem Gedicht: Disputation, den Mönch gegen
den Rabbi zur Vertheidigung des chriſtlichen Glaubens
ſagen läßt:

Trotzen kann ich deinen Geiſtern,

Deinen dunkeln Höllenpoſſen,

Denn in mir iſt Jeſus Chriſtus,

Habe ſeinen Leib genoſſen.

ſo läßt ſich unter den einmal vorhandenen Umſtänden, auf
Spaniſchem Boden, im Mittelalter, nichts dagegen ſagen.
Wenn er nun aber den Mönch fortfahren läßt:

Chriſtus iſt mein Leibgericht,

Schmeckt viel beſſer als Leviathan

Mit der weißen Knoblauchſauce,

Die vielleicht gekocht der Satan.

ſo iſt der Ausdruck: Leibgericht, ſchlechthin frivol und durch
die Gemeinheit des Fanatismus, der hier geſchildert werden
ſoll, nicht zu rechtfertigen. — Man kann von Heine nicht
fordern, daß er das Sacrament des Abendmahls zu einem
Moment ſeines eigenen Glaubens mache; allein die Poeſie
darf von ihm fordern, daß er nicht mit Hohn überſchütte,
was tauſenden der Hörer, an die er ſich wendet, heilig iſt.
Die Trockenheit, die doctrinäre Einfachheit, womit er ſich
ausſpricht, ſteigern nur die Verletzung. In den Romanzen
[270] von Vitzliputzli, die ſo reich an den größten dichteriſchen
Schönheiten ſind, bricht ſein Haß gegen daß Chriſtenthum,
gegen das Abendmahl, in folgenden Verſen aus:

„Menſchenopfer“ heißt das Stück

Uralt iſt der Stoff, die Fabel;

In der chriſtlichen Behandlung

Iſt das Schauſpiel nicht ſo gräßlich,

Denn dem Blute wurde Rothwein,

Und dem Leichnam, welcher vorkam,

Wurde eine harmlos dünne

Mehlbreiſpeis transſubſtituiret —

Wir abſtrahiren hier ganz vom religiöſen Standpunct; wir
legen nur den äſthetiſchen Maaßſtab an und von ihm aus
verurtheilen wir dieſe Verſe als ſchlechte Verſe, denn was
in ihnen wäre wohl poetiſch? Klingen ſie nicht, als wären
ſie in ihrer Hölzernheit aus Daumers berüchtigter Abhand¬
lung über die chriſtliche Anthropophagie abgeſchrieben? Heine
ſagt kein Wort des Abſcheus, der Verachtung; er referirt
wie ein accurater Hiſtoriker; aber welche unermeßliche Frivoli¬
tät liegt nicht in dieſen kalten Worten, die ſich über ein religiöſes
Myſterium auslaſſen, als ob es ein culinariſches Object wäre!


Einem Dichter kann, wie wir bemerkten, dadurch großes
Unrecht geſchehen, daß man ihn nicht im Zuſammenhange
auffaßt und ihm da eine Frivolität aufbürdet, wo ſie nur
ſcheinbar vorhanden iſt. In den zuvor angeführten Verſen
kann die zweite Strophe gänzlich fehlen und das Gedicht
würde nichts verlieren, vielmehr ſehr gewinnen. Wir wollen
aber auch aus Heine ein Beiſpiel geben, wie ihm Unrecht
gethan werden könnte. In einem Gedicht: der Schöpfer
erzählt er, wie Gott die Sonne, Sterne, Ochſen, Löwen,
Katzen geſchaffen habe und fährt fort:


[271]
Zur Bevölkerung der Wildniß

Ward hernach der Menſch erſchaffen;

Nach des Menſchen holdem Bildniß

Schuf er gar nachher die Affen.

Satan ſah dem zu lachte:

Ei! der Herr copirt ſich ſelber!

Nach dem Bilde ſeiner Ochſen

Macht er noch am Ende Kälber!

Jedermann erkennt aus dieſen Verſen ſofort die Satire
auf Religionen, in welchen der Thierdienſt herrſchte, auf das
goldene Kalb, welches ſelbſt die Israeliten umtanzten. Nun
könnte man das Verlachen Gottes durch den Satan frivol
finden: allein das Gedicht beſteht aus vier kleinern, im
zweiten entgegnet Gott:


Und der Gott ſprach zu dem Teufel

Ich der Herr copir mich ſelber,

Nach der Sonne mach' ich Sterne,

Nach den Ochſen mach' ich Kälber,

Nach den Löwen mit den Tatzen

Mach' ich kleine, liebe Katzen,

Nach den Menſchen mach' ich Affen:

Aber du kannſt gar nichts ſchaffen.

Dieſe Antwort gebührt dem Satan und muß zu ſeinem
Spott als deſſen göttliche Negation hinzugenommen werden.
Um nun aber die Heineſche Malice recht zu faſſen, muß
man auf den Schluß des Ganzen ſehen; im vierten Gedicht
dieſes kleinen Cyklus, worin er von Größerem immer auf
Kleineres übergeht, läßt er Gott zuletzt ſagen:


Das Schaffen ſelbſt iſt eitel Bewegung,

Das ſtümpert ſich leicht in kurzer Friſt.

[272]
Jedoch der Plan, die Ueberlegung,

Das zeigt erſt, wer ein Künſtler iſt.

Ich hab' allein dreihundert Jahre

Tagtäglich drüber nachgedacht,

Wie man am beſten Doctores Juris

Und gar die kleinen Flöhe macht.

Dieſe Pointe geht auf Göthe, der eine juriſtiſche Ab¬
handlung über die Flöhe geſchrieben, die 1839 in Berlin
gedruckt wurde.


Die Frivolität wird ſehr begreiflich den religiöſen und
den ethiſchen Nihilismus zu gegenſeitiger Verſtärkung mit¬
einander verbinden. Die meiſten Werke der obscönen Lite¬
ratur ſind zugleich materialiſtiſche und atheiſtiſche. Eine ge¬
wiſſe ſtumpfe und düſtere Apathie, der geradeſte Gegenſatz
einer edlen Melancholie, lagert ſich über ſie hin und öfter
wühlt in ihren verzweifelten Reflexionen ein halber Wahn¬
ſinn, wie dies vorzüglich in dem berüchtigten Roman, Therèse
philosophe
, der Fall iſt. Die Franzöſiſche Literatur hat die
Schuld auf ſich, die Vereinigung von Unzucht und Gott¬
loſigkeit auf's Höchſte getrieben zu haben. VoltairesPu¬
celle d'Orléans
iſt der Anfang, Evariſte Parny'sGuerre
des dieux
der Gipfel dieſer Richtung. Man kann beiden
Schriftſtellern den Spott auf Frömmelei, auf die Auswüchſe
des Kloſterlebens, auf die Verkehrtheiten des Aberglaubens
und des kirchlichen Fanatismus zugeben; allein gegen die
Art und Weiſe, wie ſie den Glauben an Gott ſelber, wie
ſie die fundamentalen Vorſtellungen des Chriſtenthums zer¬
fleiſchen, wird man immer die Anklage der Frivolität er¬
heben müſſen. Die Virtuoſität ihrer eleganten Sprache, der
Witz ihres Scharſinns, die Fülle ihrer lächerlichinfernalen
Erfindungen, die Correctheit ihrer Zeichnungen, vermögen
[273] nicht, das Gefühl der Gemeinheit aufzuheben, mit welchem
ſie uns erniedrigen. Parny hat die Griechiſchen Götter mit
den Perſonen der chriſtlichen Trinität kämpfen und dieſe von
den brutalrieſigen Scandinaviſchen Göttern faſt beſiegen laſſen.
Er hat die heidniſchen Götter verſpottet, aber nur um die
Mythologie des chriſtlichen Glaubens deſto mehr zu verlachen.
Daß Chriſtus als ein Lamm, aufgeputzt mit einem blauen
Bändchen; daß der heilige Geiſt als eine zierliche Taube;
daß Maria als eine „ſüße Dame“, wie das Mittelalter ſie
nannte, von ihm aufgeführt wird, iſt natürlich zu erwarten,
denn der Widerſpruch des ſinnlichen Elementes mit dem Be¬
griff Gottes als des Geiſtes gibt ſeinem abſtracten Verſtande
reiche Nahrung. Gottvater ſtellt er als einen etwas bornirten
Judengott dar, der zuweilen Spuren von Altersſchwäche zeigt.
Er muß, genau auf der Erde zu ſehen, ſich einer Brille be¬
dienen; ſeine Donner ſind ſchon etwas abgebraucht; ſein
Arm iſt nicht mehr ſicher. Einſt erblickt ſein Sohn einen
Räuber, der einen Prieſter tödten will; der Sohn fordert
ihn auf, mit dem Blitz zu interveniren; er ſchleudert den
tödtlichen Strahl, trifft aber ſtatt des Räubers den Prieſter
u. ſ. w. Die chriſtlichen Götter als die neuen erregen immer
mehr die Aufmerkſamkeit der antiken und um ſie kennen zu
lernen, ladet man ſie zu einem Diner auf dem Olymp ein.
Bei dieſer Gelegenheit beſieht ſich die neugierige Maria den
Palaſt der Olympier, Apollon ſchleicht ihr nach und noth¬
züchtigt ſie. Nothzucht iſt Parny's Leidenſchaft; in den ver¬
ſchiedenſten Situationen ergötzt er ſich an ihr; mitten im
Gefecht der Götter läßt er den Engel Gabriel die Artemis
nothzüchtigen. Dieſer unreine Geiſt läßt ihn mit höchſtem
Intereſſe die alte apokryphiſche Sage weitläufig ausmalen,
daß Chriſtus ein unehelicher Sohn der Maria und des
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 18[274] Römiſchen Ritters Pantheras; läßt ihn die Fiction machen,
daß Priap nebſt den Satyrn ſich taufen laſſen, um als
Mönche ein feiſtes, wollüſtiges Leben zu führen u. ſ. w.
Wenn ein Faun dichtete, würde er wie Parny dichten, denn
durch den Priap läßt er endlich die Ruhe zwiſchen den
Göttern wiederherſtellen, nachdem unter Conſtantin ſich ein¬
mal ſo viele Menſchen den Olympiern entwöhnt und den
Chriſtengöttern ſich zugewendet hätten:


Ici l'on plaide, et l'on juge la bas:

L'homne a jugé: bien ou mal, il n'importe.

Damit aber iſt Parny noch nicht zufrieden, ſondern in
einem Epilog nimmt er, um in ſeinem frivolen Hohn recht
methodiſch gründlich zu ſein, die Miene eines heiligen
Sängers an, deſſen Herz rein, deſſen Zunge lauter ſei,
ſchildert den Untergang der Welt und das Gericht des
Herrn mit den lebhafteſten Farben und verſetzt ſich ſchließlich
in's Paradies:


Moi qui, plug sage, ai cru sans examen,

Au paradis radieux je m'enlève:

l'entre; et tandis qu'auprès de Geneviève

Je suis assis dans le céleste Eden,

L'enfer reçoit nos soldats téméraires,

Qui de Jésus houspillent les vicaires,

Lez persiffleurs du culte de nos pères,

Et les amans des filles de nos mères,

Et les frondeurs de mes rimes sincères,

In saecula saeculorum; amen!

Man wird ſich wohl an dieſem einen Beiſpiel ächter
Frivolität genügen laſſen, denn es widerſteht uns, uns
weiter auf ein Feld zu begeben, auf welchem der Witz zur
Aermlichkeit der fadeſten Pointen und das Schöne zu ſtereo¬
[275] typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬
ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen
im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten
ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt
wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten
Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬
dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen
geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche
zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein
heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph
Gottſchall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deésse
de la raison
der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen.
Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer
Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die
Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬
durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein
ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit
Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will
und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns,
als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte
Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht;
wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem
Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten
motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬
ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬
ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires
Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die
weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche
ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint
die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel
und der Innigkeit einer Madonna, denn


18 *[276]
um die edlen Züge,

Welche Hellas' Stempel tragen,

Hat der träumende Gedanke

Düſtern Mantel umgeſchlagen —

Wie madonnenhaftes Leuchten

Zuckt um's Haupt ein Glorienſchein,

Kündend des Gedankens Qualen,

Lebensnoth und Herzenspein.

In's Komiſche kann das Frivole übergehen, wenn es
durch die Wahrheit berechtigt, alſo nur ſcheinbar ein Frevel
am Heiligen iſt. Es deckt dann den Widerſpruch auf, der
zwiſchen dem Weſen und ſeiner Form vorhanden ſein kann.
Werke, die von hier entſpringen, können denjenigen, die
polemiſch davon berührt werden, auch frivol erſcheinen, ohne
es zu ſein. Sie werden zwar Incongruenzen der Vorſtellung
des Göttlichen angreifen, aber ſie werden niemals die Sitt¬
lichkeit beleidigen. Lukianos beſitzt eine vorzügliche Stärke
in der heitern Art, wie er die innern Widerſprüche des
antiken Olymps ſchonungslos aufdeckt. Uns werden ſeine
Götterparodieen als ein nothwendiges Moment in der Auf¬
löſung des Heidenthums, einem damaligen Griechen aber
konnten ſie auch frivol vorkommen. In ſeinem tragiſchen
Zeus
läßt er einen Stoiker Timokles mit einem Epikuräer
Damis öffentlich über die Exiſtenz der Götter und ihrer
Vorſehung kämpfen. Der Stoiker bringt die gewöhnlichen
teleologiſchen Argumente vor, ſchimpft gewaltig auf die Ruch¬
loſigkeit ſeines Gegners, weiß aber zuletzt, nachdem ſeine
Vergleichung der Welt mit einem von einem Steuermann
gelenkten Schiff an des Damis Dialektik Schiffbruch gelitten,
ſich nur auf den Schluß zurückzuziehen, daß, weil es Altäre
gebe, es doch auch Götter geben müſſe. Zeus nimmt an
[277] dieſer Disputation ein großes Intereſſe, weil die Opfer der
Menſchen ſich durch die ſteigende Aufklärung immer mehr
vermindern. Hermes muß daher alle Götter, auch die bar¬
bariſchen, zu einer Berathung einladen. Sie kommen und
werden nach dem Werth des Stoffs ihrer Bildſäulen rangirt,
ſo daß die goldenen und ſilbernen Barbarengötter vor den
ſchönen aber nur marmornen oder erznen Hellenengöttern
den Vorſitz erhalten. Die verſchiedenſten Vorſchläge werden
erörtert und bei ihrer Widerlegung die ſchwache Seite der
Göttlichkeit dieſer Götter perſiflirt, an Apollon die dunkle
Zweideutigkeit ſeiner Orakelſprüche, an Herakles die Rohheit
ſeiner phyſiſchen Gewalt u. ſ. w. Als die disputirenden
Philoſophen zu Athen ihren Streit wieder aufnehmen, weiß
der Vater der Menſchen und Götter vor Angſt über den
Ausgang endlich nichts weiter zu rathen, als daß die Götter
mit ihm für den Vertheidiger ihres Daſeins, Timokles, der
die Faſſung verloren zu haben ſcheine, beten möchten.
„Darum wollen wir wenigſtens thun, was an uns iſt,
und — für ihn beten, aber


Nur unter uns in der Stille, damit nicht Damis
es höre!“

B.
Das Widrige.

Unwillkürlich haben wir bei der Darſtellung der letzten
Begriffsbeſtimmungen des Gemeinen auch ſchon den Begriff
des Widrigen als die gegen das Gemeine äſthetiſch noch
häßlichere Geſtaltung erwähnen müſſen. Der poſitive Gegen¬
ſatz des erhaben Schönen iſt nämlich das gefällig Schöne.
[278] Das Erhabene ſtrebt in die Unendlichkeit hinaus, während
das Gefällige ſich in die Schranken der Endlichkeit hinein¬
ſchmiegt. Das erſtere iſt groß, gewaltig, majeſtätiſch; das
letztere niedlich, ſpielend, reizend. Der negative Gegenſatz
des Erhabenen, das Gemeine, ſtellt dem Großen das Klein¬
liche, dem Gewaltigen das Schwächliche, dem Majeſtätiſchen
das Niedrige entgegen. Der negative Gegenſatz des gefällig
Schönen iſt das Widrige, denn es ſtellt dem Niedlichen das
Plumpe, dem Spielenden das Leere und Todte, dem Reizenden
das Scheußliche entgegen. Das gefällig Schöne ladet uns
zu ſeinem Genuß ein, indem es uns von vorn herein ent¬
gegenkommt und alle ſinnlich angenehmen Seiten, uns zu
feſſeln, nicht ohne Abſichtlichkeit hervorkehrt. Die Unnah¬
barkeit des Erhabenen reißt uns über die gemeinen Schranken
hinaus und erfüllt uns mit Bewunderung und Ehrfurcht.
Der Reiz des Gefälligen lockt uns zu ſich hin, es zu ge¬
nießen, und ſchmeichelt uns in allen unſern Sinnen. Das
Widrige dagegen ſtößt uns von ſich ab, weil es uns durch
ſeine Plumpheit Mißfallen, durch ſeine Todtheit Grauen,
durch ſeine Scheußlichkeit Ekel erweckt. Ein Mangel an
Einheit der Form, an ſymmetriſcher Gliederung, an harmo¬
niſcher Eurythmie, iſt häßlich, aber noch nicht widrig. Eine
Statue z. B. kann verſtümmelt und dann reſtaurirt worden
ſein. Iſt dieſe Reſtauration nicht glücklich, bringt ſie einen
fremden Zug in die Geſtalt, verhält ſich das Maaß ihrer
Theile nicht vollkommen proportional zum urſprünglichen
Kunſtwerk, ſcheiden ſich die reſtaurirten Theile zu grell von
den Originalreſten, ſo wird eine ſolche Dualität nicht ſchön
ſein, allein ſie kann noch weithin haben, widrig zu ſein.
Dies würde ſie erſt werden, wenn die Reſtauration die ur¬
ſprüngliche Idee geradezu aufhöbe. Eine Geſtalt kann auch
[279] incorrect ſein und mit der Normalität, die in ihr ſich aus¬
drücken ſollte, mehr oder weniger in Widerſpruch ſtehen,
allein ſie braucht deshalb noch nicht von ſich zurückzuſchrecken.
Große Incorrectheiten können ſogar durch große mit ihnen
nach andern Seiten hin verbundene Schönheiten bis zur
Vergeſſenheit aufgewogen werden. Erſt dann wird das In¬
correcte widrig, wenn es die Totalität der Geſtalt zerſtückelt,
wenn es eine durchgängige Stümperhaftigkeit verräth, deren
Anmaaßung uns empört, falls ſie uns nicht lächerlich wird.
Das Gemeine iſt häßlich, weil es in ſeiner Kleinlichkeit,
Schwächlichkeit und Niedrigkeit die Unfreiheit darſtellt, die
ſich über ihre Schranken erheben könnte, ſtatt deſſen aber in
der Plattheit des Zufalls und der Willkür, in der Dürftig¬
keit der Ohnmacht, in der Niedrigkeit des Sinnlichen und
Rohen verharrt. Das Gemeine iſt unſchön, allein es iſt
deshalb noch nicht widrig und die Frivolität beſtrebt ſich
ſogar, uns durch ſinnlichen Zauber zu beſtricken, und uns
ſeine Verhöhnung des Heiligen durch formelle Liebenswür¬
digkeit recht eingänglich zu machen.


Das Widrige erzeugt ſich aus dem gefällig Schönen
als deſſen negative Entgegenſetzung. Als poſitiver Gegenſatz
des quantitativ Erhabenen iſt das Gefällige dasjenige Kleine,
das in ſeiner Totalität leicht überſichtlich, in ſeinen Theilen
zierlich ausgearbeitet iſt und das wir im Deutſchen niedlich
nennen. Das Kleine als ſolches, ein kleines Haus, ein
kleiner Baum, ein kleines Gedicht u. ſ. f. iſt deshalb noch
nicht niedlich, ſondern erſt dasjenige Kleine iſt es, das in
ſeinen Theilen Zartheit und Sauberkeit der Ausgeſtaltung
zeigt. Wie niedlich hat die Natur, manche Schneckenge¬
häuſe und Muſchelſchaalen gebildet! Wie ſind die Blätter
und Blüthen vieler Pflanzen ſo überaus niedlich, weil ſie bei
[280] ihrer Kleinheit auch in ihren beſondern Verhältniſſen zierlich
und bunt ſich darſtellen. Wie niedlich ſind Alexanderpapa¬
geien, Canarienvögel, Goldfiſchchen, Bologneſerhündchen,
Affenpinſcher, Sagoins u. ſ. w., weil dieſe Thierchen man¬
nigfach gegliedert und in ihren Details zierlich ſind. — Als
der poſitive Gegenſatz des dynamiſch Erhabenen iſt das Ge¬
fällige das Spielende Das Erhabene als Macht äußert
ſeine Unendlichkeit im Schaffen und Zerſtören des Großen
und man kann nicht mit Unrecht ſagen, daß es in der abſo¬
luten Freiheit ſeines Thuns mit ſeiner Macht gleichſam ſpiele,
wie ja Theologen und Dichter die Weltſchöpfung ſelber als
ein Spiel der göttlichen Liebe bezeichnet haben. Das Erhabene
an ſich iſt ernſt und der Ausdruck Spiel ſoll bei ihm nur
die abſolute Leichtigkeit der göttlichen Production charakteri¬
ſiren. Zum Spiel als bloßem Spiel gehört eine Bewegung,
welcher der Ernſt des Zweckes fehlt, wie der Wind mit den
Wolken, Wellen und Blumen ſpielt. Die Unruhe der Ver¬
änderung geht im Spiel von Form zu Form lediglich des
Wechſels wegen über. Es iſt eine nur accidentelle Bewegung,
die an der Subſtanz nichts ändert; es gewährt den ſüßen,
halbträumeriſchen Genuß der Oberfläche des Daſeins, während
dies in ſeinen Grundveſten ſich gleich bleibt. Der Proceß
des Spiels muß daher die Gefahr von ſich ausſchließen; ein
Sturm, welcher die Rieſenbäume eines Waldes krümmt und
zerbricht, ſpielt nur gleichſam mit ihnen in furchtbarem Ernſt,
während ein lauer Weſt koſend die Blumen wirklich umſpielt;
Wogen des tobenden Meers, welche die Schiffe zu den Wolken
emporheben, um ſie ſofort wieder in den klaffenden Abgrund
zu ſtürzen, ſpielen nur gleichſam mit ihnen, während die
ſanft an den Strand klatſchende Welle mit dem Uferſande
wirklich ſpielt. Alles Spiel, welches als zweck- und gefahr¬
[281] los ein gefälliges iſt, tändelt mit der Veränderung, indem
es die Veränderung, die es hervorbringt, ſogleich mit heiterer
Laune als ein Nichts wieder zurücknimmt. Selbſt wenn es
erſchreckt, will es nur Vergnügen, ja Lachen erregen, wie
beſonders in jenen grotesken Vermummungen, welche die
wilden Völker nicht weniger, als die civiliſirten, ſo leiden¬
ſchaftlich lieben. Das Spielende iſt ſchön, weil es uns die
verſchiedenen Seiten eines Weſens in dem Schein einer Ver¬
änderung zeigt, deren Hin und Her die Einheit deſſelben
unangetaſtet läßt.


Endlich der poſitive Gegenſatz des majeſtätiſch Er¬
habenen innerhalb des Gefälligſchönen iſt das Reizende. Auch
das Niedliche, auch das Spielende kann, wie ſich von ſelbſt
verſteht, reizend ſein; das Reizende als ſolches aber wird die
Zierlichkeit der Geſtalt mit dem heitern Spiel der Bewegung
vereinen. Es iſt merkwürdig, welche Voreingenommenheit
gegen das Reizende ſich bei manchen Aeſthetikern findet.
Sie verachten es oft, weil es durch ſeine Sinnlichkeit in das
Aeſthetiſche eine praktiſche Aufforderung einmiſche. Wir
halten dieſen Vorwurf für ungerecht, denn in dem cyniſchen
Sinn kann für das unreine Gemüth auch die idealſte Schön¬
heit, auch eine Madonne reizend werden. Das Erhabene
allerdings läßt, auch wenn es der Natur angehört, das
Sinnliche in die Wirkung ſeiner Unendlichkeit verſchwinden,
indeſſen das Reizende uns die ſinnliche Seite der Erſcheinung
des Schönen mit verführeriſcher Anmuth hervorkehrt. Aber
kann denn dieſer Reiz nicht ein ſchuldloſer ſein? Muß das
Sinnliche denn unmittelbar mit dem Böſen identiſch ſein?
Gibt es keinen harmloſen Genuß des Sinnlichſchönen? Es
ſcheint, als ob Viele ſich das Reizende nur ſo zu denken ver¬
möchten, wie Delacroir eine nackte Schöne gemalt hat,
[282] die vor einem Toilettenſpiegel das herabwallende Haar ſtrählt,
während hinter demſelben in der Maske eines reichen Ren¬
tiers, zum Ueberfluß mit eleganten Hörnern ausgeſtattet, der
Teufel lauſcht und eine Rolle Goldes aufthürmt. Wie ab¬
ſcheulich hat der Maler hiedurch das ganze Bild vergiftet!
Hätte er die Schöne im Reiz ihrer Glieder unbefangen hin¬
geſtellt, ſo würde man an den reinen, edlen Formen ſich
entzückt haben. Durch jene im Dunkeln kauernde Fratze,
recht im Ungeſchmack der Franzöſiſchen wohl gar tugendhaft
ſich dünkenden Allegoriſterei, zwingt er uns, an die Lüſtern¬
heit der Begier, an die Käuflichkeit der Unſchuld zu denken.
Die großen Maler und Bildhauer haben den Reiz nackter
Schönheit sans phrase dargeſtellt und ſind eben damit keuſch
geweſen; ſie haben aber das Sinnliche zugleich in eine Si¬
tuation zu bringen gewußt, worin es doch die Superiorität
des Geiſtes eingeſteht. Z. B. Tiziano Vecelli hat Philipp
den Zweiten mit ſeiner Geliebten gemalt, wie dieſe ganz
nackt auf einem Lotterbette ruhet; er ſitzt nach hinten am
Rande deſſelben; die Scene geht in eine freie, ſchöne Land¬
ſchaft hinaus. Aber wie hat er nun die Liebenden gezeichnet?
Sie machen Muſik; er ſpielt die Guitarre und blickt ſich
eben zärtlich nach ihr um, ihr das Zeichen zum Einfallen zu
geben, während ſie das Notenblatt neben ſich auf dem Kiſſen
liegen hat und die Flöte erhebt. Dies Gemälde iſt unendlich
reizend, aber der freie offene Reiz regt keine Begierde auf,
denn die ſinnliche Seite der Schönheit, ſo ſtark ſie hier her¬
vortritt, bleibt doch dem Geiſt und Gemüth der Liebenden
untergeordnet. Wird das Sinnliche, uns als Sinnliches zu
feſſeln, zur Tendenz, ſo wird damit der Reiz in ſeiner Ein¬
fachheit geſtört und manche Producte ſchwanken hierin ſchon
bedenklich, namentlich aus der neueren Pariſer Malerſchule.
[283]Ingres' berühmte Odaliske iſt ein ſolches Bild. Die
Geſtalt iſt eben ſo unvergleichlich, als die Ausführung, aber
die ganze Situation athmet nur Sinnlichkeit. Ein ge¬
ſchloſſenes, enges Gemach; ſchwerſeidene Polſter und Vor¬
hänge, kein Blick hinaus in die freie Natur; auf einem
Teppich neben dem Lager, auf welchem die ſchlanküppige,
ſammthäutige Schöne ſich ohne alle Beſchäftigung hingeſtreckt
hat, Confituren, Früchte, Gläſer; vor ihr an der Wand
lehnend eine Opiumpfeife. Die Venus des Harems hat ge¬
raucht! Ingres kann ſagen, daß er Alles ganz treu nach
der Sitte des Orients gemalt habe; gewiß, allein dadurch
wird von dem Bilde nicht der beengende Druck hinwegge¬
nommen, daß es uns nur eine Sclavin zeigt, nicht eine
freie Schönheit. Dieſe Odaliske iſt nur wie ein ſchönes ein¬
gefangenes, eingeſperrtes Menſchenwild; wenn ſie etwas
thut, denn im Durchſchnitt thut ſie gar nichts, ſo ißt ſie,
ſo trinkt ſie, ſo raucht ſie. O wie geiſtreich, wie ſchön iſt
gegen die Opiumpfeife jene Flöte in der Hand von Philipps
Geliebten! — Das Reizende, als eine der nothwendigen
Formen des Schönen, verbindet ſich natürlich mit allen
übrigen und entfaltet ſich in ſehr verſchiedenen Graden,
weshalb wir den Gebrauch des Wortes Reiz ſehr weit aus¬
dehnen und auch das Niedliche und Spielende unbedenklich
reizend nennen. Bei größerer Genauigkeit werden wir jedoch
den Reiz nur da zugeſtehen, wo der ſinnliche Factor des
Schönen vorherrſcht, gerade wie umgekehrt die Erhabenheit
der Majeſtät wächſt, je mehr ſie in die Tiefen des Geiſtes,
in die abſolute Freiheit, zurückgeht, aus welchem Grunde
wir den Frühling, die Jugend, das Weib reizender finden,
als den Herbſt, das Alter und den Mann. Der Reiz liebt,
die ſinnliche Energie zu ſteigern, das Bunte, vornämlich den
[284] Contraſt, wie z. B. eine weiße Marmorſtatue von dem
Grün eines Gartengrundes ſich um ſo reizender abhebt.
Auch eine Verhüllung ſteigert daher den Reiz, ſofern ſie
mit einer gewiſſen Agaçerie ihn uns zeigt, indem ſie
ihn verbirgt, wie ähnlich die alten Römiſchen Dichter
ſchon geſungen haben, daß die Schöne als fliehende um ſo
reizender wäre.


Der negative Gegenſatz des Gefälligſchönen iſt das
Widrige, nämlich 1. als Negation des Niedlichen das Plumpe;
2. als Negation des Spielenden das Leere und Todte;
3. als Negation des Reizenden das Scheußliche. Das Plumpe
iſt der Mangel an Ausgliederung, an Entwicklung der Theil¬
ſchönheit; das Todte iſt der Mangel an Bewegung, die Un¬
terſchiedloſigkeit des Daſeins; das Scheußliche die thätige
Vernichtung des Lebens durch das auch in häßlicher Geſtalt
erſcheinende Negative. In Anſehung des Erhabenen ſteht
das Plumpe dem Großen; das Todte dem Mächtigen; das
Scheußliche dem Majeſtätiſchen gegenüber. Die Vornehmheit
des Erhabenen ſchließt alle Gemeinheit von ſich aus, während
das Widrige dieſelbe in ſich aufnimmt; das Erhabene ver¬
klärt das Endliche in die Idealität ſeiner Unendlichkeit,
während das Widrige ſich in den Schmuz des Endlichen
vertieft; das Erhabene ſpannt uns mit göttlichen Kräften
bis zum Heroismus an, während das Widrige mit ſeiner Un¬
geſtaltheit und Ohnmacht uns bis zur Hypochondrie abſpannt.


I. Das Plumpe.

Das Niedliche iſt das Kleine, das uns durch ſeine
Zierlichkeit gefällt; das Plumpe iſt das, was uns durch die
Ungeſtalt ſeiner Maſſe oder durch die Schwerfälligkeit ſeiner
[285] Bewegung mißfällt. Das Niedliche, weil es in ſeinen
Theilen ſorgfältig ausgearbeitet iſt, nennen wir auch wohl
das Feine, ſo wie das Plumpe wegen des Mangels an Ent¬
wicklung der Unterſchiede das Grobe. Das Plumpe iſt alſo
nicht formlos; es hat Geſtalt, aber eine ungeſchickte, in
welcher die Maſſe vorwaltet. Auch kann es ſich bewegen,
aber ſeine Bewegungen ſind täppiſch, rückſichtslos, klotzig.
Ein dicker Weidenſtamm, deſſen Zweige gekröpft ſind und
dem es hiedurch an Geſtalt fehlt, ſieht plump aus. Das
Krokodil, Nilpferd, Faulthier, der Seelöwe u. ſ. w. ſind
Thiere, deren Bewegung plump iſt, weil es ihrer Maſſe an
Gliederung und Elaſticität fehlt. Weder die Größe der
Maſſe noch die Einfachheit der Form ſind Urſache der Plump¬
heit, ſondern die Proportion und die Unform. Eine Aegyp¬
tiſche Pyramide iſt eine große, höchſt einfache Maſſe ohne
alle Plumpheit; die Aſiatiſchen Dhagopen (oder Stupa's)
dagegen, in deren Gewölbbau man die Weltblaſe nachahmen
wollte, erſcheinen durch ihre maſſigen und ſtumpfen Ver¬
hältniſſe plump. Die Kabiriſchen Götter mit ihren Dick¬
bäuchen, ihren kurzen, breiten Füßen, ihrem Mangel an
Hals und ihren hockenden Sellungen ſind plump. Die Kraft
wird in Gefahr ſtehen, mit dem Ausdruck ihrer Energie in
das Plumpe zu gerathen, wie es der bildenden Kunſt mit
dem Herakles und dem Silenos begegnet iſt. Das Derbe
ſtreift auch an ſeine Grenze, wie ſie zuweilen bei Rubens
erſcheint. Seinen kräftigen Heldengeſtalten gegenüber mußten
allerdings auch ſeine weiblichen Figuren etwas vom Fland¬
riſchen Typus annehmen, breite Rücken, volle Brüſte,
ſchwellende Hüften, wohlgerundete Lenden und Arme, aber
in der ſtrotzenden Fülle doch eine Innigkeit des Lebens, eine
Gliederung, Gelenkheit, nervöſe Spannung, die das ent¬
[286] ſchieden Plumpe noch nicht aufkommen läßt. Dies inne zu
werden, dürfen wir nur Martin de Vos mit ihm ver¬
gleichen, in deſſen Geſtalten die wampigte Ueberwucherung
des Fleiſches die Gliederung verdeckt, ſo daß die Verhält¬
niſſe gedrückt und ſchwerfällig erſcheinen.


Das Plumpe als Bewegung wird natürlich zunächſt an
die ſelbſt plumpe Geſtalt gebunden ſein. Von einem Nilpferd,
Krokodil, Pinguin, Eisbären, von einem ungeſchlachten
Tölpel ſind auch nur plumpe Bewegungen zu erwarten.
Allein es kann auch von einer an ſich ſchönen, ja zierlichen
Geſtalt eine plumpe Bewegung hervorgebracht werden, die
als Widerſpruch mit ihr um ſo häßlicher erſcheinen muß;
gerade wie umgekehrt die zierliche Bewegung einer an ſich
plumpen Maſſe, z. B. eines Elephanten, der auf dem Seil
tanzt, wozu die Römer ihn abrichteten, nothwendig den
Eindruck des Plumpen an der Geſtalt vermindern muß.
Je mehr ein Element ſchon dazu berechtigt, Feinheit der
Form, Leichtigkeit, ja Eleganz der Bewegung in ihm ent¬
faltet zu ſehen, um ſo widriger empfinden wir es, wenn
ſtatt ihrer Rohheit und Grobheit ſich breit machen. Dies
iſt vorzüglich im Element des Scherzhaften und Witzigen der
Fall. Der plumpe Scherz, der plumpe Witz, ſind häßlich,
weil ſchon im Begriff des Scherzes und Witzes als eines
Spiels die Leichtigkeit als ein ihnen weſentliches Prädicat
liegt. Die Gemeinheit eines Morolf z. B. äußert ſich in
ſolcher Plumpheit.


Oft wird das Plumpe auch das Bäuriſche genannt.
Man würde aber ſehr irren, wollte man mit ihm das
Bäuerliche vermengen. Das Bäuerliche kann derb, kraft¬
voll, allein es braucht nicht ungeſchlacht zu ſein. In der
Scala einer ſtändiſchen Gliederung wird die Ariſtokratie jeder
[287] Art die Manieren der ihr untergeordneten Stände für plump
und ungeſchickt halten. Der Bauer aber iſt urſprünglich
mit dem Landadel identiſch; wo er als der freie Grundbe¬
ſitzer auftritt, iſt er zwar als der Gewältiger der Natur
kräftig, in ſeiner Sitte und ſeinem Anſtand jedoch nichts
weniger als plump, vielmehr im Selbſtgefühl ſeiner Kraft,
ſeines Vermögens, von natürlicher Würde durchdrungen,
wie dies der freie Bauer in Norwegen, in den Norddeutſchen
Marſchländern, in Weſtphalen, in der Schweiz zeigt; wie
Voß in ſeinen Idyllen den Holſteiner Bauern, wie Im¬
mermann
in ſeinem Münchhauſen den Weſtphäliſchen
gezeichnet hat. Immermanns Dorfſchulze zeigt uns die volle
Manneshoheit, die ſogar mit dem Schwert Karls des Großen
zu Gericht ſitzt, und ſeine Tochter Lisbeth zeigt uns die
ganze Anmuth und ſittige Feinheit eines Bauermädchens,
das ſehr gut zu harken, zu melken, zu nähen, zu ſpinnen,
zu kochen verſteht, ohne mit ſolcher Werkthätigkeit weder das
Adlige ihrer Geſinnung, noch das Liebliche ihres Benehmens
zu beeinträchtigen. Mit Recht hebt der Dichter an dem
Schulzen hervor, daß er Alles „mit Manier“ gethan haben
wolle, d. h. mit dem Maaß der Sitte, mit dem Rhythmus
des durch die Natur der Sache geforderten Anſtandes. Auch
die George Sand hat ſehr richtig an ihren Bauern des
Berry im Meunier d'Angibault, in der Jeanne, im péché de
Mr. Antoine
u. ſ. w. das Conventionelle ihres Weſens als
charakteriſtiſch herausgefühlt. Ungeſchlacht iſt die Vernach¬
läſſigung der Manier. Der Bauer kann ἀγροιχος, rusticus,
rustre, bäuriſch genannt werden im Gegenſatz zur Urbanitas,
zur gewandten Schmiegſamkeit, Redefertigkeit der ſtädtiſchen
Artigkeit. Aeſthetiſch widrig iſt ſeine Geſtalt und Erſcheinung
aber erſt geworden, als der feudale Adel ihn durch Ueber¬
[288] bürdung verkümmerte, ihm durch übertriebene Frohndienſte
das Mark ausſaugte, als er ihn durch eigene Härte und
Rohheit der Behandlung hart und roh machte, als er ihn
durch ſeinen Stolz von ſich entfremdete. Nun verſtockte ſich
der Bauer; nun wurde er, der als bornirt und linkiſch ver¬
höhnte, bäuriſch und der hohe Name: Bauer, der Gottes
Erde mit ſeiner Hand bauet und mit dieſem wahrhaft adligen
Geſchäft der ganzen bürgerlichen Geſellſchaft den Grund er¬
bauet, wurde nunmehr zum Schimpfwort, vorzüglich bei der
Frivolität des Brief- und Geldadels. Inſofern nun der
Begriff der Bäuriſchen mit dem des Niedrigen zuſammen¬
hängt, müſſen wir auf die frühere Abhandlung dieſes Be¬
griffs zurückweiſen.


In dieſem Zuſammenhang iſt auch ſchon erörtert worden,
inwiefern die Unmanier im Grotesken und Burlesken lächer¬
lich wird. Das Plumpe iſt für die niedere Komik ein Haupt¬
hebel; doch muß das Ungefüge der maſſigen Geſtalt und
das Unbeholfene der Bewegung, komiſch zu ſein, in ge¬
wiſſen Grenzen bleiben; es darf nicht brutal werden. Dem
Kinde zeigt ſich bei uns der komiſche Gegenſatz des Plumpen
und Gewandten am Früheſten auf der Straße im Bären
und Affen. Wie lächerlich erſcheint es dem Kinde, wenn
das wilde Raubthier zweibeinig, wie das Kind ſelber thut,
auf einem Stocke reitet, wenn es, wie die Magd, Waſſer
zu holen, ein Queerholz über den Nacken legt! Und wie
klug und zierlich kommt ihm dagegen das rothbejackte Aeffchen
vor, das auf dem Rücken des Bären Becken ſchlägt, Nüſſe
knabbert, ein Flintchen abſchießt! Die Komiker haben
immer großen Vortheil aus der Contraſtirung des Plumpen
mit dem Graziöſen gezogen. Sie haben, namentlich in
Uebergangsphaſen, immer den Provinzialen und Kleinſtädter
[289] mit dem Reſidenzler und Großſtädter, den Kleinbürger mit
dem Großbürger, den Recruten mit dem geſchulten Soldaten,
den verlegenen Subalternbeamten mit dem Hochgeſtellten
u. ſ. w. contraſtirt. L'homme de province iſt zumal bei den
Franzoſen wegen der Centraliſation all ihrer Bildung in
Paris in allen möglichen Variationen eine ſtereotype komiſche
Figur. Ariſtophanes hat in ſeinen Komödien die Plump¬
heit der Lakonen, Triballer u. dgl. noch dadurch verſtärkt,
daß er ſie, der Feinheit der Attiſchen Sprache gegenüber,
in ihrem Dialekt reden läßt. Alle mimiſchen Künſte haben
am Plumpen ein unfehlbares Effectmittel. In Glucks
Iphigenie auf Tauris iſt der Skythentanz, den Griechen
gegenüber, von unvergleichlicher Wirkung. Gluck hat in
der Muſik zu demſelben das Dumpfe, Unaufgeſchloſſene
einer großen naturwüchſigen Kraft des Barbarenvolks ſowohl
in der Melodie als in der Inſtrumentirung auf das Ge¬
nialſte geſchildert. Akrobaten und Kunſtreiter wenden oft
das Plumpe als eine groteske Hülle an, durch den Contraſt
einer ſich aus ihm entpuppenden ätheriſchen Bewegung deſto
mehr zu überraſchen. So ſtellen ſich gerade die Parforcereiter
gewöhlich erſt als dumme, plumpe Teufel an, die das
Reiten gar nicht faſſen können. Sitzen ſie jedoch erſt ein¬
mal auf dem Rücken des Pferdes, ſo überbieten ſie Alles
mit ihrer Keckheit und halsbrechenden Verwegenheit.

ll. Das Todte und Leere.

Dem Leben ſteht der Tod und im Leben ſteht die Hei¬
terkeit des Spiels dem Ernſt der Arbeit gegenüber. Aeſthe¬
tiſch iſt zur zweckloſen Unruhe des Spielenden das Todte
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 19[290] und Leere der Gegenſatz als Ausdruck für den Mangel an
Leben und freier Bewegung.


Das Todte als ſolches iſt noch keineswegs ohne Wei¬
teres häßlich; ja der Tod kann bei dem Menſchen ſogar
eine Verſchönung der Züge zur Folge haben. Aus den
Furchen des Leidens, aus den Narben des Kampfes lächeln
uns die kindlichen Züge des Urgeſichts des Geſtorbenen noch
einmal an. Auch das Sterben iſt, obzwar der Uebergang
zum Tode, an ſich nicht nothwendig häßlich. Leſſing in
der Abhandlung: wie die Alten den Tod gebildet; ſagt ganz
richtig: „Todt ſein hat nichts Schreckliches; und inſofern
Sterben nichts als der Schritt zum Todtſein iſt, kann auch
das Sterben nichts Schreckliches haben. Nur ſo und ſo
ſterben, eben jetzt, in dieſer Verfaſſung, nach dieſes oder
jenes Willen, mit Schimpf und Marter ſterben, kann
ſchrecklich werden und wird ſchrecklich. Aber iſt es ſodann
das Sterben, iſt es der Tod, welcher das Schrecken ver¬
urſachte? Nichts weniger; der Tod iſt von allen dieſen
Schrecken das erwünſchte Ende, und es iſt nur der Armuth
der Sprache zuzurechnen, wenn ſie beide dieſe Zuſtände, den
Zuſtand, welcher unvermeidlich in den Tod führt, und den
Zuſtand des Todes ſelbſt, mit einem und eben demſelben
Wort benennt.“ Die Griechen, wie Leſſing weiter aus¬
einanderſetzt, unterſchieden die traurige Nothwendigkeit,
ſterben zu müſſen, als Kere, vom Tode ſelber. Jene bildeten
ſie als ein grauenvolles Weib mit gefräßigen Zähnen und
krallenbewehrten Händen, dieſen als einen anmuthigen Ge¬
nius, der die geſenkte Fackel verlöſcht, als den Bruder des
Schlafes. Sie haben aber auch in dem abgehauenen Haupt
der Meduſa, der ſinnenden, den entſeelenden Blick des Todes
dargeſtellt. Aus dem Haupt der ſterbenden entſprang noch
[291] der Pegaſos und Athene fügte das ſchlangenumlockte der
Aegis ein, denn ſie, die kriegeriſche Göttin des Gedankens,
war es ja eigentlich geweſen, welche die einzig ſterbliche der
Gorgotöchter getödtet hatte. Wir haben oben, in anderm
Betracht, die Meduſe zu den Formen gerechnet, mit welchen
die Griechen das Furchtbare ſelbſt zur edelſten Schönheit
fortzubilden ſo glücklich waren. Dies gewaltige Haupt mit
den kraftvollen, krampfdurchbebten Lippen, mit dem impe¬
ratoriſchen Kinn, mit der an des Zeus Stirn erinnernden,
nur etwas niedrigeren Stirn, mit den großen, gebrochen
rollenden Augen, mit dem dunkeln Nattergelock, ſtrahlt auch
getödtet noch Tod und Verderben. Das ſpätere Meduſen¬
ideal hat mit der Kraft der Züge eine eigenthümliche Wehmuth
wunderbar verſchmolzen. In einem Meduſenbilde, welches
Ternite in ſeinen Wandgemälden, Heft II., getreu in
Farben wiedergegeben hat, ſind die grauen, grünen, gelb¬
fahlen Töne des ſterbenden Antlitzes von der ergreifendſten
Wirkung; bei der vollkommenſten pſychologiſchen Wahrheit,
bei der erhabenen Größe der ganzen Conception, iſt doch
das Gräßliche bis zum Entzücken gemildert. — Die chriſt¬
liche Kunſt ging noch weiter, da ihre ganze Weltanſchauung
das wahre Leben als durch das rechte Sterben vermittelt
auffaßt. Der geſtorbene aber zum ewigen Leben wieder auf¬
erſtehende Gottmenſch wurde ihr Mittelpunct. Der Leichnam
Chriſti muß daher bei aller Wahrheit des Todes doch noch
den unſterblichen Geiſt, der ihn beſeelte und ihn wieder be¬
ſeelen wird, durchſchimmern laſſen. Dieſe geſchloſſenen
Augen werden ſich wieder öffnen, dieſe bleichen, ſchlaffen
Lippen werden ſich wieder regen, dieſe ſtarren Hände werden
wieder ſegnen und das Brod des Lebens brechen. Dieſe
Möglichkeit muß nun vom Bildhauer oder Maler nicht als
19 *[292] ein im Leichnam zurückgehaltenes Leben dargeſtellt werden,
denn das wäre nur ein Scheintod, ſondern ſie muß als das
Wunder erſcheinen, das in dieſem Leichnam einzig exiſtirt;
unbedingt die ſchwerſte Aufgabe der geſammten bildenden
Kunſt, der nur die genialſten Kräfte gewachſen ſind. Der
Glaube freilich hat mit dieſen äſthetiſchen Poſtulaten unmit¬
telbar nichts zu ſchaffen und auf ſeinen niedrigeren Bildungs¬
ſtufen kann ihm ſogar ein recht craſſer Ausdruck des Todes
Chriſti ſehr angemeſſen ſein; ein recht entfleiſchter, wunden¬
zerriſſener, ſchmerzzertrümmerter Leichnam wird für die Maſſe
eben durch ſeine Gräßlichkeit und durch den Widerſpruch,
in ſolcher Geſtalt doch den Welterlöſer gegenwärtig zu ſchauen,
viel ergreifender ſein. Die äſthetiſch vollendeten Kunſtwerke
ſind bekanntlich nicht die wunderthätigen, ſondern jene ganz
abſonderlichen, oft entſchieden häßlichen Figuren, die mit
ihren grellen Formen für den Aberglauben eine magiſch
feſſelnde Anziehungskraft beſitzen. Der Typus des ſterben¬
den und todten Chriſtus wurde natürlich auch auf die Maria,
weiter auf die Heiligen übertragen. Leben aus dem Tode
iſt hier überall der Grundgedanke, die gerade Umkehr des
todblickenden Meduſenhauptes, das Perſeus, wie mehre
Wandgemälde von Pompeji darſtellen, der Andromeda des¬
halb nur im Waſſerſpiegel zu zeigen wagte. — Der Tod als
Perſonification, als Skelet mit der erbarmungsloſen Sichel,
die chriſtliche Metamorphoſe des alten Kronos, iſt eigentlich
auch nicht häßlich. Das menſchliche Skelet iſt ſchön; es
ſind nur die Nebenvorſtellungen von Sterbenmüſſen, von
Grabesdunkel, Verweſung, Gericht, welche es mit herkömm¬
lichem Grauſen umgeben haben. Nur relativ in Verhältniß
zum blühenden Leben iſt das Gerippe, wie man ſich mit
verabſcheuender Bezeichnung ausſpricht, häßlich. In den
[293]Todtentänzen hat daher die Malerei auch den Tod als
die lebenvertilgende Macht zur höchſten Lebendigkeit zu indi¬
vidualiſiren verſtanden. Das Pathos der Vernichtung ſpannt
in dem fleiſchloſen Skelet die Knochen mit unüberwindlicher
Kraft, die das Leben in allen Ständen, Altersſtufen und
Situationen überraſcht und es in das Grab niederzwingt (63).
Dieſe Idee läßt den Tod nicht allein erſcheinen, ſondern im
Contraſt mit der Mannigfaltigkeit des Lebens, im Kampf
mit welchem er grauenhaft ſchön wird.


In allen dieſen Beziehungen kann nicht von dem
Todten und Leeren die Rede ſein, welches wir hier vor Augen
haben, ſofern es die abſtracte Negation des Lebens ausmacht,
das über die Nothdurft hinaus in ſeinem Uebermuth ſpielt.
In allem Werden, in aller Veränderung, in allem Kampf
liegt ſchon ein Reiz. Regt ſich aber das Leben in der Froh¬
heit ſeines luſterquickten Selbſtgefühls mit ſpielender Zweck¬
loſigkeit, ſo genießt es ſich darin erſt recht als Leben. Wenn
das Waſſer geſchwätzig über die Kieſel hinmurmelt, wenn die
Blumen ſtill ihren Opferduft verhauchen und die Schmetter¬
linge ihre ſchaukelnden Kelche umflattern, wenn die Schwalbe
auf des Daches Giebel ihren Gruß zwitſchert, wenn die
Tauben durch das Blau des Himmels unermüdlich ihre leuch¬
tenden Kreiſe ziehen, wenn die Hunde muthwillig im grünen
Raſen ſich tummeln, wenn die Mädchen den Ball werfen,
die Jünglinge die Kraft der markigen Glieder im Ringkampf
verſuchen, wenn Mädchen und Jünglinge den Ueberſchwang
der Luſt im Geſang austönen oder im Tanz ausraſen, —
dann, dann genießt ſich das Leben im heitern Spiel. Wie
traurig, wie häßlich erſcheint dagegen ein ſeichthinſchleichender
Bach, ein ſtagnirender Sumpf, ein verbrannter, verſtaubter
Raſen, ein grauer Himmel, eine lautloſe Oede, der mecha¬
[294] niſche Dienſt in einer Maſchinenfabrik, die nur von Seufzern
durchbrochene Stille eines Lazarethſaals!


Das häßlich Todte beſteht in dem Mangel an Selbſt¬
beſtimmung, die in einer Mannigfaltigkeit von Unterſchieden
ſich enfaltet. Es ſchließt daher mehr oder weniger die Vor¬
ausſetzung des Lebens in ſich, der es durch ſeine Unterſchied¬
loſigkeit widerſpricht. Und zwar kann dies in verſchiedener
Weiſe geſchehen. Einmal kann die Anlage an ſich vortrefflich,
die Ausführung aber matt und leer ſein; — wie dies der
Fall zu ſein pflegt, wenn ein größerer Genius ein Wert be¬
gonnen hat, es nicht durchführt und ein geringeres Talent
die Vollendung übernimmt. Hier hat der Plan des Ganzen
keine Schuld, aber die Darſtellung erreicht nicht die Höhe
ſeiner Intention und läßt uns kalt, wie Schillers Deme¬
trius
und ſeine Durchführung von Maltitz u. ſ. w. —
Oder die Anlage iſt froſtig und es ſoll nun der äußerliche
Reichthum der Ausführung die innere Armuth verſtecken.
Der Zwieſpalt zwiſchen der urſprünglichen Todtheit und dem
Luxus der eroteriſchen Ausſtattung hilft nur, den Eindruck
des Leeren zu ſteigern, wie in der Berniniſchen Verbildung
des von Palladio ausgegangenen Bauſtyls eine üppig aufge¬
bauſchte Ornamentik doch den Mangel an Seele in der
eigentlichen architektoniſchen Erfindung nicht zu verbergen
vermochte. Oder man erinnere ſich jenes Heeres endloſer
Epen, welche in Hexametern, Stanzen oder Nibelungen¬
ſtrophen die ideenloſeſten Begebenheiten in unausſtehlicher
Breite hervorlallen, wie Kunze's Heinrich der Löwe (64),
wie Bodmers Noachide, in welcher ein Komet auf gött¬
lichen Befehl der Erde ſich ſo weit nähert, das Steigen der
Gewäſſer auf ihr hervorzubringen. Welche Fülle von Waſſer,
welche Fülle von Unglück aller Art, welche Fülle ſchlechter
[295] Hexameter — und welcher Ueberfluß an poetiſcher Leerheit!
Man erinnere ſich jener gedankenloſen Oden, die in der
muſiviſchen Anhäufung traditioneller Großwörter Begeiſterung
affectiren; jener nüchternen Lieder, die uns immer das
Commando wiederholen, daß wir trinken und ſingen und
ſingen und trinken ſollen; jener trivialen Trauerſpiele, deren
unſeligen Dummheiten und Bettlerpathos man ſogleich ein
Ende machen würde, falls es erlaubt wäre, vom Parterre
aus dem Elenden auf der Bühne zehn Thaler vorzuſchießen;
jener ungeſalzenen Luſtſpiele, in denen ein an ſich ſehr un¬
ſchuldiger Einfall bis zur Verzweiflung der Zuhörer ausge¬
beutet wird. Wie todt, wie leer ſind ſie nicht. — Endlich
kann die Todtheit aber zugleich ſowohl in dem Mangel an
Form wie in dem Mangel an Inhalt liegen. Richtiger ge¬
ſagt, die Todtheit der Conception kann mit der Todtheit der
Ausführung zu einer fürchterlichen Harmonie zuſammenfallen.
Es iſt dies bei vielen allegoriſchen Producten der Fall,
welche den Mangel wahrhaft poetiſcher Anſchauung durch
Perſonification von Laſtern und Tugenden, von Künſten und
Wiſſenſchaften, und durch eine mühſelig zuſammengeklügelte
Symbolik zu erſetzen ſtreben, von welcher Art, einzelne
Partieen abgerechnet, der im Franzöſiſchen Mittelalter ſo be¬
liebt geweſene Roman von der Roſe iſt (65). — Es iſt dies
ferner der Fall bei vielen Werken, welche die Kunſt nur
zum Mittel einer Tendenz machen. Keineswegs gehören
wir zu denen, welche die Tendenz überhaupt verſchmähen,
denn der Künſtler kann ſich den Strömungen der Zeit, in
welcher er lebt, nicht entziehen; die Tendenzen ſchließen auch
Ideen in ſich; aber ſie müſſen nicht mit dem abgeſchloſſenen
Dogma einer Partei verwechſelt werden. Die Tendenz
unſerer Zeit z. B. durch wahrhafte Bildung von Innen
[296] heraus den Gegenſatz der Ariſtokratie und Demokratie in
allen ihren Formen zu vermitteln, hat zwei unſerer vorzüg¬
lichſten Romane befruchtet, das Engelchen von Prutz und
die Ritter vom Geiſt von Gutzkow. Dieſe Dichter haben
ihre großen Erfolge aber nur dadurch erreicht, daß ſie von
der Tendenz aus ſich zum Ideal erhoben haben. Sinkt die
Tendenz dagegen zur excluſiven Parteipointe herab, ſo er¬
tödtet ſie durch ſolche proſaiſche Abſicht unfehlbar die Poeſie.
Die Tendenz in dieſem beſchränkten Sinne hat ähnliche
Folgen, wie die Allegoriſterei. Die Geſtalten werden gleich
bei der Conception Opfer des Begriffs, um deſſen Sieg oder
Niederlage es zu thun iſt. Ferner tritt das Todtgeborene
von Inhalt und Form bei vielen Werken der Sculptur und
Malerei durch die akademiſche Geſchultheit, durch das unfreie
Anheften an die Poſen der Modelle und die Falten der
Phantome ein. Statt Kunſtwerke zu werden, werden ſie
blos Machwerke. Der Ausdruck ſolcher akademiſchen Geſtalten
gibt das Gefühl, als verſtellten ſie ſich nur zu ihm. Doch
auch von der Muſik und Poeſie läßt ſich Aehnliches bemerken,
wenn blos nachahmende, an ſich unproductive Mittelmäßig¬
keiten ihre Ohnmacht in unfruchtbaren, innerlich hohlen,
äußerlich hölzernen Wiederholungen der Ideen großer Vor¬
bilder proſtituiren. Was bei dem Original ein Spiel des
friſchen Lebens iſt, wird in der Copie des Nachahmers zu
einer todten Machwerkerei, zum öden Aggregat eines ſterilen
Eklekticimus. Die lebendige Erfindung entſpringt aus ge¬
heimnißvollen Quellen und ſtürzt wie ein Bergſtrom mit
Jubelgetön hervor; die Nachahmung ſchleicht als ein abgeleitetes
Gewäſſer in abgezirkelten Canälen lautlos dahin. Der Er¬
finder wird durch die Offenbarung der Idee ſelber begeiſtert;
der Nachahmer begeiſtert ſich erſt an dieſer Begeiſterung.
[297] Iſt der Nachahmer zugleich der Dilettant, ſo tritt noch alles
das ein, was wir oben bei dem Begriff des Correcten darüber
erinnert haben. Den ſchöpfriſchen Genius erfüllt die Macht
der Idee mit jener Freiheit, die ſich mit der Nothwendigkeit
der Sache Eines fühlt und aus welcher heraus er in der
Neuheit, Größe und Kühnheit ſeiner Compoſition auch wohl
gegen die empiriſche Normalität und die Regeln der Technik
verſtößt. Der Nachahmer, in welchem das Wohlgefallen an
dem ſchon geſchaffenen Werke thätig iſt, das für ihn zu einem
empiriſchen Ideal, zu einem Surrogat der Idee wird, kann
kein wahrhaft productives Pathos haben, ſollte er ſelbſt auch
ein ſolches ſich anlügen. Die Nachahmung übertreibt in
ihrer Unſelbſtſtändigkeit nicht blos die Fehler, ſondern ge¬
wöhnlich auch die Tugenden ihres Originals und verkehrt
durch ſolches Unmaaß die Tugenden ſelbſt wieder zu Fehlern.
Eben hierdurch wird der Reſt urſprünglichen Lebens, der aus
dem Urbilde noch herübergenommen, vollends getödtet.


Wie wir nun das Lebendige nach ſeinen verſchiedenen
Seiten hin verſchiedentlich benennen, ſo auch das Todte,
indem wir es als das Leere, Hohle, Kahle, Trockne, Oede,
Wüſte, Froſtige, Kalte, Hölzerne, Lederne, Stumpfe, Gleich¬
gültige u. ſ. w. bezeichnen und dieſe Synonyma für die
qualitative Charakteriſtik des Widrigen mannigfach unter
einander verbinden, wie Heine im Atta Troll ſingt:


Tönt der Schall der großen Trommel,

Und der Klang des Kupferbeckens,

Wo das Hohle mit dem Leeren

Sich ſo angenehm verbindet.

Den Uebergang ins Komiſche macht das Todte durch
das Langweilige. Das Todte, Hohle, Kalte wird durch
ſeinen Mangel an freier Unterſcheidung, an ſpontaner Ent¬
[298] wicklung intereſſelos, langweilig. Das Langweilige iſt häßlich
oder vielmehr die Häßlichkeit des Todten, Leeren, Tauto¬
logiſchen erzeugt in uns das Gefühl der Langenweile. Das
Schöne läßt uns die Zeit vergeſſen, weil es als ein Ewiges,
ſich ſelbſt Genügendes, uns auch in die Ewigkeit verſetzt
und uns mit Seligkeit erfüllt. Wird nun die Leerheit einer
Anſchauung ſo groß, daß wir auf die Zeit als Zeit merken,
ſo empfinden wir die Inhaltloſigkeit der reinen Zeit und dies
Gefühl iſt die Langeweile. Dieſe an ſich iſt daher keines¬
wegs komiſch, aber der Wendepunct ins Komiſche, wenn
nämlich das Tautologiſche und Langweilige als Selbſtpa¬
rodie oder als Ironie producirt wird und eine ganze ſchreck¬
liche Ballade nur in dieſen Verſen beſteht:


Eduard und Kunigunde,

Kunigunde, Eduard;

Eduard und Kunigunde,

Kunigunde, Eduard!
III.Das Scheußliche.

Vereint das Schöne die Lieblichkeit der zierlichen Ge¬
ſtalt mit dem graziöſen Spiel der Bewegung, ſo wird es
reizend. Es iſt nicht nothwendig, daß dies Spiel ein agi¬
tirtes ſei; es kann die größte Ruhe darin herrſchen; es muß
aber den ſeelenvollen Ausdruck der Freiheit des Lebens dar¬
ſtellen. Erinnern wir uns einer jener ſchlafenden Nymphen,
wie die Alten, wie Tizian, wie Netſcher, Rubens, ſie ge¬
malt haben, ſo iſt der Schlaf kein Tod; auch in der ſchlafen¬
den ſpannt die Fülle des Lebens die weiche Haut, hebt und
ſenkt den Buſen, ebbt und fluthet durch den leiſe geöffneten
[299] Mund und durchzuckt die Augenlieder. In dieſem Spiel des
Lebens wird die zierliche Geſtalt reizend. Nehmen wir
daſſelbe fort, ſo würde die todte Geſtalt auch noch zierlich
ſein, denn es hätte ſich ja zunächſt an den Proportionen
derſelben nichts geändert, allein reizend würden wir ſie nicht
mehr zu nennen vermögen. Décamps hat ein junges
ſchönes Mädchen gemalt, das als Leiche, von einem dünnen
Schleier überdeckt, durch welche ihre edlen Züge durch¬
ſchimmern, auf einem Geſtell in einer leeren Dachkammer
liegt. Niemand wird hier von Reiz ſprechen, denn der
Reiz wohnt nur im Lebendigen. Oder nehmen wir an, daß
die Geſtalt unſchön wäre, ſo würden wir ſie auch nicht
reizend finden. Ein altes Weib, eine anus libidinosa, wie
Horaz ſagt, athmet auch im Schlaf, läßt auch den welken
Buſen auf und abſinken u. ſ. w., aber wird uns nur um
ſo häßlicher erſcheinen. Das Reizende fordert aber auch die
Zierlichkeit der Geſtalt, denn ſtellen wir uns eine erhabene
Schöne vor, ſo wird die Kraft ihrer Glieder und die Strenge
ihrer Formen eher etwas Ablehnendes, als zum Genuß Ein¬
ladendes haben, was die Alten in dem Mythus ausdrückten,
daß Here, dem Zeus Liebreiz zu erwecken, ſich erſt von der
Aphrodite den Anmuthſtrahlenden Gürtel leihen mußte.


Dem Reizenden entgegengeſetzt iſt das Scheußliche als
die Ungeſtalt, die in ihrer häßlichen Bewegung nur immer
neue Mißformen, Mißtöne und Mißworte hervorbringt.
Das Scheußliche hält uns nicht, wie das Erhabene, in ehr¬
fürchtiger Ferne, ſondern ſtößt uns von ſich ab; es zieht
uns nicht, wie das Gefällige, lockend zu ſich heran, ſondern
macht uns vor ſich ſchaudern. Es befriedigt uns nicht, wie
das vollkommen Schöne, durch abſolute Verſöhnung in dem
Innerſten unſeres Weſens, ſondern wühlt vielmehr aus den
[300] Tiefen deſſelben die äußerſte Entzweiung hervor. Daß Scheu߬
liche vornämlich iſt dasjenige Häßliche, deſſen die Kunſt gar
nicht entbehren kann, will ſie nicht auf die Darſtellung des
Böſen verzichten und in einer oberflächlichen und beſchränkten
Weltauffaſſung ſich bewegen, deren Ziel nur die angenehme
Unterhaltung wäre. Das Scheußliche iſt nun: 1. ideeller
Weiſe das Abgeſchmackte, die Negation der Idee im ſchlecht¬
hin Sinnloſen; 2. reeller Weiſe das Ekelhafte, die Negation
aller Schönheit der ſinnlichen Erſcheinung der Idee: 3. ideel¬
reeller Weiſe das Böſe, die Negation ſowohl des Begriffs
der Idee des Wahren und Guten, als auch der Realität
dieſes Begriffs in der Schönheit der Erſcheinung. Das Böſe
iſt der Gipfel des Scheußlichen als die poſitive, abſolute
Unidee. Die Kunſt darf nicht nur aller dieſer Formen des
Häßlichen ſich bedienen, ſondern ſie muß es unter gewiſſen
Bedingungen. Die allgemeinen Bedingungen ſind von uns
in der Einleitung erörtert; es ſind diejenigen, ohne welche
die Darſtellung des Häßlichen überhaupt nicht zuläſſig iſt.
Das Scheußliche darf alſo niemals Selbſtzweck ſein; es darf
nicht iſolirt werden; es muß durch die Nothwendigkeit her¬
ausgefordert ſein, die Freiheit in ihrer Totalität zu ſchildern,
und endlich muß es eben ſo idealiſirt werden, wie alle Er¬
ſcheinung überhaupt. Sehen wir nun aber zu, worin die
beſondern Bedingungen ſeiner äſthetiſchen Möglichkeit beſtehen.


a) Das Abgeſchmackte.

Das Scheußliche im Allgemeinen widerſtreitet der
Vernunft und Freiheit. Als Abgeſchmacktes ſtellt es dieſen
Widerſtreit in einer Form dar, die vorzüglich den Verſtand
durch die grundloſe Negation des Geſetzes der Cauſalität
und die Phantaſie durch die daraus ſich ergebende Zuſam¬
[301] menhangloſigkeit beleidigt. Das Abgeſchmackte, Abſurde,
Ungereimte, Widerſinnige, Alberne, Inſipide, Verrückte,
Tolle, oder wie wir es ſonſt noch benamſen mögen, iſt die
ideelle Seite des Scheußlichen, die theoretiſche, abſtracte
Grundlage der in ihm vorhandenen äſthetiſchen Entzweiung.
Nicht der Widerſpruch überhaupt iſt abſurd, denn er kann
ein vernünftig berechtigter ſein, wie wir ſchon bei der Be¬
leuchtung des Begriffs des Contraſtes geſehen haben. Das
Gute widerſpricht dem Böſen, das Wahre der Lüge, das
Schöne dem Häßlichen mit Recht. Wohl aber iſt die ſoge¬
nannte Contradictio in adjecto ein ſich ſelbſt vernichtender
Widerſpruch und ein ſolcher macht den Inhalt des Abge¬
ſchmackten aus. Die Logik unterſcheidet zwiſchen Widerſpruch
und Widerſtreit ſo, daß Widerſpruch nur die einfache, un¬
beſtimmte Negation eines Prädicates von Seiten des Urthei¬
lenden (ἀντιφατιϰως ἀντιϰειμενον), Widerſtreit dagegen
die poſitive Negation eines Prädicates durch das ihm imma¬
nenter Weiſe entgegengeſetzte (ἐναντιως ἀντιϰειμενον) ſein
ſoll. Weder jener Widerſpruch, noch dieſer Widerſtreit ſind
abſurd, wohl aber derjenige Widerſpruch, der durch das
Prädicat das Subject ſelbſt negirt, wie z. B. wenn ich
ſagen wollte: das Weiße iſt ſchwarz, oder das Gute iſt
böſe u. ſ. w. Allerdings iſt nun dieſe an ſich ganz richtige
Beſtimmung des Verſtandes kein Letztes, denn die Extreme
können in einander übergehen, wie jede Hausfrau unbefangen
von der weißen Wäſche ſagt, daß ſie ſchwarz geworden ſei;
wie das Recht, an ſich ein Gutes, durch abſtracte Hart¬
näckigkeit grauſam, damit böſe wird; wie das Häßliche durch
richtige Behandlung innerhalb einer äſthetiſchen Totalität die
Bedeutung des Schönen, nicht eines häßlichen Schönen,
wohl aber eines ſchönen Häßlichen gewinnen kann u. ſ. w.
[302] Der bloße Verſtand hält Vieles für abſurd, was es ſo
wenig iſt, daß es vielmehr das Vernünftige ſelber iſt. Wir
müſſen dieſe Dialektik, die im Endlichen liegt, wohl im
Auge behalten, die Grenzen des Abgeſchmackten genau zu
erkennen und ſeine Verwandtſchaft mit dem Lächerlichen zu
begreifen.


Es erhellt aus dem Geſagten ſchon, daß das völlig
Sinnloſe ohne tiefere Motivirung, ein pures Chaos zufäl¬
liger Widerſprüche, für die Kunſt ſchlechthin verwerflich iſt.
Wer ſoll an ihm ein Intereſſe nehmen, es wäre denn der
Pſychiatriker, wie z. B. Hohenbaum in ſeiner trefflichen
Abhandlung über: Pſychiſche Geſundheit und Irreſein in
ihren Uebergängen, 1845 S. 54. ff. von einem an Zer¬
ſtreuung leidenden Lehrer ſolche Unſinnigkeiten aufführt.
Dieſer Mann verſprach ſich häufig und ſagte z. B.: „Jeru¬
ſalem war damals in den Feinden der Türken. — Sehen
Sie, dieſer Satz iſt klar verwickelt, indeſſen es iſt gar nichts
Verwickeltes darin. — Hannibal band den Fluß ans linke
Ufer und ließ Sand darauf ſtreuen, daß die Elephanten
beſſer überſchreiten könnten. — Die Kaiſerin ſtarb und hin¬
terließ einen ungeborenen Knaben. — Die Lacedämonier
trugen damals einen Pileus auf dem Hute. — Ajax nahm
einen Stein und warf damit dem Ajax ſo auf den Kopf,
daß er ſtarb u. ſ. w.“ An dergleichen, wie geſagt, kann
nicht die Aeſthetik, nur die Pſychiatrie, ein Intereſſe nehmen.
Es läßt ſich nicht leugnen, daß ein nicht geringer Theil der
poetiſchen Literatur unſers Jahrhunderts eigentlich nur unter
dieſe Kategorie gehört. Von Seiten der ſuperſtitiös und
bornirt gewordenen Reaction ſowohl, als von Seiten der
atheiſtiſch und libertin gewordenen Revolution, ſind in Eng¬
land, Frankreich und Deutſchland genug Producte, namentlich
[303] Romane erſchienen, die nur als Symptome der Zeitſtimmun¬
gen von der Politik und Pſychologie aus, nicht aber als
Kunſtwerke Beachtung verdienen. Die Zerriſſenheit der em¬
pörten Geiſter iſt darin bei der Confuſion der Gedankenflucht
angelangt und Mager hat keinen Anſtand genommen, in
ſeiner Geſchichte der Franzöſiſchen Nationalliteratur neuerer
und neueſter Zeit, 1839, Bd. II., S. 374, geradezu die
Kategorie: Verrückte Romane, aufzuſtellen.


Man muß daher mit der abſoluten Unfaßlichkeit dieſes
faſelnden Abſurden nicht denjenigen Widerſpruch verwechſeln,
der in der phantaſtiſchen Weltanſchauung allerdings dem
Verſtande widerſpricht, allein nur, weil er, im Spiel mit
den Schranken des Endlichen, doch das Weſen der Idee zur
Vorſtellung bringen will. Hieher gehört das Wunderbare,
welches das Geſetz der objectiven Cauſalität negirt, um eine
höhere Idee, die Freiheit des Geiſtes von der Natur, in ſolch
phantaſtiſcher Form darzuſtellen. Das ächte Wunder unter¬
ſcheidet ſich von dem ſchlechten Mirakel durch die Unend¬
lichkeit ſeines ethiſch-religiöſen Gehaltes, während das Mi¬
rakel den Widerſinn als ſolchen, die Abſurdität ſelber, ver¬
abſolutirt. Wir haben dieſen Unterſchied in zwei Mytholo¬
gien vor uns, in der Griechiſchen und Indiſchen. Die
thaumatiſchen Momente in den Mythen der erſteren hängen
immer mit den tiefſten Ideen zuſammen, ſo daß ſie für die
gebildete Menſchheit die ſchönſten und univerſellſten Symbole
derſelben geworden ſind, während die Mythen der letztern zu
ſehr von abſurden Schlingpflanzen umrankt ſind, als daß
das Sinnige, was in der Anlage auch wohl vorhanden iſt,
ſichtbar werden könnte. Aehnlich unterſcheiden ſich die Wunder,
welche die kanoniſchen Evangelien erzählen, von denen der
apokryphiſchen, die mehr oder weniger abſurd ſind. Auch in
[304] den Legenden finden wir dieſe Doppelrichtung wieder. Das
Wunderbare der Mährchenpoeſie verliert ſich zwar ganz
in das Seltſame und Abenteuerliche und ſtreift mit ſeinen
Einzelheiten oft ganz ins Abſurde, allein ſo lange ſie noch
einen wirklich dichteriſchen Gehalt beſitzt, wird ſie auch in
ihrem thaumatiſchen Element jene ſymboliſche Wahrheit haben,
die wir ihr oben in der Abhandlung über das Incorrecte
vindiciren mußten. Dieſe Symbolik, der Widerſchein der
Idee in der weichen Kinderphantaſie, wird das ächte Mährchen
inſtinctiv mit den großen Mächten des natürlichen und
ſittlichen Lebens in Einheit belaſſen, während das Mährchen,
wie es von unſern pädagogiſchen Unterhaltungsſchriftſtellern
oder Goldſchnittduodezſalontheetiſchdichtern jetzt ſo oft fabri¬
cirt wird, von dieſen Mächten abfällt und ſeine Stärke im
Kindiſchen ſucht. Je abſurder, ſcheinen dieſe Jugendver¬
derber zu meinen, deſto poetiſcher. Weil in dieſer zuchtloſen
Phantaſterei, die eine Callot-Hoffmannſche Richtung ins
Extrem trieb, endlich alle Spur der wahren Cauſalität un¬
tergegangen war und ſelbſt die ordinärſten Meubel endlich
zu denken und zu ſprechen anhoben, ſo wirkte die Manier
des Struwelpeterhoffmann ſo außerordentlich, weil ſie
den haarſträubendſten Unſinn mit einer Art Lapidarpoeſie und
Frescomalerei doch wieder naiv vorzutragen und damit die
Quängelei der eleganten, gedankenloſen Mährchenpoeten
zu ironiſiren verſtand. Hieraus erklärt ſich, weshalb die
Erwachſenen merkwürdiger Weiſe die Struwelpetriaden eben
ſo gern, als die Kinder laſen, bis der Schwarm der Nach¬
ahmer ihre Manier natürlich auch wieder ins Kindiſche de¬
gradirt hat. — Doch zurück von dieſer Abſchweifung zum
Begriff des Abſurden, ſo iſt das, was innerhalb des Mähr¬
chens, ja auch der Mythe, recht eigentlich die Wurzel der
[305] Ungereimtheit enthält, die Zauberei als die an ſich be¬
griffloſe Realiſirung der abſoluten Phantaſiewillkür. Die
Zauberei iſt ein abgeſchmacktes Handeln, denn ſie bringt
Wirkungen durch Urſachen hervor, die zu ihnen in keinem
Verhältniß ſtehen. Der Zaubernde dreht einen Ring — und
es erſcheint ein gehorſamſter Geiſt; er berührt einen wüthenden
Tiger mit einem Stäbchen — und ſofort iſt derſelbe zur
Bildſäule erſtarrt; er ſpricht ein ganz ſinnloſes, ihm ſelber
durchaus unverſtändliches Wort aus — und ein Palaſt ſteigt
aus der Erde. Weil alſo in der Magie die pragmatiſche,
Cauſalität aufgehoben iſt, ſo iſt es conſequent, wenn auch
ihr Verfahren, ihre Sprüche, Beſchwörungen, Begehungen,
ohne allen Verſtand ſind. Nichtsdeſtoweniger wird man
auch hier noch jene ſelbe Doppelrichtung finden, die wir
zuvor als den Unterſchied des ächten Wunders vom Mirakel,
des ächten Mährchens von dem krankhaften Pſeudoproduct
einer nervenſchwachen, verrückten Phantaſterei angegeben
haben. Nimmt die Zauberei nämlich die Richtung darauf,
dem Menſchen eine höhere Geiſterwelt aufzuſchließen; will
ſie die Pforte eines unbekannten Jenſeits eröffnen, ſo wird
an der Schwelle derſelben ein gewiſſer ſchrecklicher Ernſt
unerläßlich ſein, denn es liegt in ſolchem Unterfangen eine
Art erhabener Verwegenheit. Wird aber der Zweck der
Zauberei ein futiler, läppiſcher, kleinlich egoiſtiſcher, wohl
gar unſittlicher, ſo iſt es in der Ordnung, daß auch ihre
Mittel albern, tollhäusleriſch und frazzenhaft werden. Wenn
der Götheſche Fauſt den Erdgeiſt beſchwört, ſo iſt dies ein
erhabener Moment, dem auch die Erhabenheit der citirten
Erſcheinung entſpricht. Wenn dieſer ſelbe Fauſt aber von
einer Hexe ſich einen Trunk brauen läßt, mit dem im Leibe
er Helenen ſieht in jedem Weibe, ſo vernehmen wir in der
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 20[306] Hexenküche ſofort das Abſurde, das dem Philoſophen bald
widerſteht.


In der Verrücktheit iſt die Incohärenz der Gedanken,
die Abgeſchmacktheit der Vorſtellungen, die Sinnloſigkeit der
Handlungen, zur traurigen Wirklichkeit geworden. Malerei
und Muſik können dieſen Zuſtand nur relativ darſtellen,
Donizetti in ſeiner Oper Anna Boleyn hat den aus¬
brechenden Wahnſinn derſelben beſonders durch wimmernd
tremulirende, plötzlich hochaufkreiſchende, dann in tiefen Noten
exſpirirende Töne auszudrücken verſucht. Nur die Poeſie
kann hier ſich an die Vollendung wagen. Sie wird aber
das Abſurde nur zu einem Mittel machen dürfen, die Ge¬
brochenheit des Geiſtes gleichſam ſymboliſch darzuſtellen. Die
quodlibetariſchen Combinationen, die Abſprünge, die un¬
möglichen Syntheſen in der Zerfloſſenheit der verrückten
Intelligenz ſind an ſich ſchauderhaft. Mit ſcheuem Beben
wenden wir uns von einem Abgrunde weg, aus welchem die
Abſurdität uns angähnt. Die Poeſie muß uns den Wahnſinn
als Folge eines ungeheuren Geſchicks zeigen, ſo daß wir in
dem zuſammenhangloſen Gefaſel des Irrſinnigen die Wuth der
gewaltigen Widerſprüche anſchauen, denen der Menſch erlegen
iſt. Wir erſchrecken nicht blos vor der Zerriſſenheit, die aus
ſolchem Aberſinn uns entgegenſprudelt, ſondern auch vor den
Mächten, die ſolch' grauſame Entzweiung haben erzeugen kön¬
nen. Leſſing hat bekanntlich geſagt, daß wer über gewiſſe
Dinge den Verſtand nicht verliere, überhaupt keinen zu ver¬
lieren habe. Er hat aber nicht von der Vernunft geſprochen,
ſondern angedeutet, daß es vielmehr ſehr vernünftig ſei, über
gewiſſe Dinge den Verſtand zu verlieren, den Verſtand, der
nämlich das Ungeheure, alle ſeine Grenzen Ueberſteigende, die
Nichtexiſtenz der Vernunft in einem concreten Fall, nicht
[307] faſſen kann, ſo daß die Vernunft es iſt, die als Unvernunft
den Verſtand irre macht. Die gewiſſen Dinge — was kann
denn Leſſing anders mit ihnen gemeint haben, als die Exiſtenz
von Widerſprüchen, die ſcheinbar die Realität der Idee ſelber
vernichten? Nur ſcheinbar, denn die Kunſt muß an der
Wahrheit der Idee feſthalten und im Geſchwätz des Wahn¬
ſinnigen noch immer ihren poſitiven Hintergrund manifeſtiren,
was Shakeſpeare die Methode im Wahnſinn nennt. Sie
muß denſelben in jener Verwandtſchaft mit dem Weſen des
Genies ergreifen, welche Schopenhauer ſo treffend ge¬
zeichnet hat (66). Aeſthetiſch werden wir alſo fordern müſſen,
daß in den abenteuerlichen Aeußerungen des Irren noch ein
Schimmer der Idee aufleuchte, daß in den zerſtückten Sätzen,
in dem widerſinnigen Durcheinander, in den elliptiſche Inter¬
jectionen und im abſonderlichen Gebaren deſſelben doch noch
die Vernunft als in ihrem Zerrbilde ſich ſelbſt beleuchte und
daher in dem Unglückſeligen möglich bleibe. Das Abſurde
einer Verrücktheit, welche durch eine nur ſomatiſche Urſache,
Schlagfluß, Gehirnerweichung u. dgl. entſtanden iſt, kann
daher kein äſthetiſcher Gegenſtand werden, weil ihr das In¬
grediens der Vernunft fehlt. Eben ſo wenig kann der tolle
Raptus, der aus kleinlicher Veranlaſſung, aus gemeiner
Leidenſchaft entſteht, äſthetiſches Object werden. Beide Zu¬
ſtände ſind einfach häßlich. Stürzt aber der Widerſpruch
eines gewaltigen Schickſals, oder die Nemeſis als die Folge
ſchwerer Thaten, einen Menſchen in Wahnſinn, ſo wird
durch ſeine verkehrten Handlungen und wirren Reden noch
immer wieder die Vernunft durchblitzen. Iſt Vernunft in
der Welt, lebt ein Gott, ſollte dann das Entſetzliche, das
Unnatürliche, das Teufliſche möglich ſein, ſollte die Unſchuld
als Schuld, das Recht als Unrecht verhöhnt und die Nieder¬
20 *[308] trächtigkeit vergöttert werden dürfen? Der wahre Dichter
läßt den Unglücklichen den die Erfahrung der Wirklichkeit
ſo fürchterlicher Dinge zermalmt, die ungeheuerſten Frevel
gegen Menſchen und Götter ausſprechen. Was der Menſch
ſich ſonſt wohl verbirgt, was er, durch Pietät, Sitte, Ge¬
ſetz, Glaube beſtimmt, als einen gottloſen Frevel in ſich nieder¬
drückt, was, einer beſtehenden und [anerkannten] Weltordnung
gegenüber, Thorheit und Albernheit iſt, das wird von der
Anarchie der in ſich zerriſſenen Intelligenz mit Mark und
Bein erſchütternder Frechheit herausgeſagt. Der tragiſche
Wahnſinn kehrt ſich die Weltordnung um, denn nach dem,
was ihm begegnet, muß dem Abſurden der Thron gebühren.
Der Freund verräth den Freund, verführt ihm ſeine Frau;
der Geliebte bricht die Treue; die Gattin vergiftet den Gatten;
der Gaſtfreund, der zugleich der Herr und König iſt, wird
von dem erſchlagen, der ihn mit ſeinem Blute ſchützen ſollte;
der Vater wird von den Kindern, denen er Alles geopfert,
verleugnet u. ſ. w. Solche Thaten, ſchwarz wie die Nacht,
rütteln ſie nicht an den ewigen Geſetzen des Univerſums?
Und doch ſtehen ſie da in ſcharfer, blanker, trotziger Wirk¬
lichkeit und ſcheinen den als einen Narren zu verhöhnen,
der dennoch an die Heiligkeit des Guten, an die Macht der
Vernunft zu glauben ſchwach genug iſt. Die Kunſt darf
dem Wahnſinn nicht das letzte Wort laſſen. Sie muß in
ihm den Fluch der im Dunkeln ſchreitenden Nemeſis darſtellen
oder ſie muß ihn in einer höhern Totalität auflöſen. Es
war der gefährliche Abweg der neueren Romantik, ihre Op¬
poſition gegen die Aufklärung und Verſtändigkeit, ihre Ironie,
wie ſie es nannte, ſo weit zu treiben, daß die Verrücktheit,
der Traum, die Narrheit, als die eigentliche Wahrheit der
Welt angeſehen werden ſollten; eine in ſich ſelbſt verrückte
[309] Auffaſſung, die nichts als häßliche Producte zur Folge haben
konnte. Der Wahnſinnige hat das Vorrecht, Gedanken,
die ſonſt nur im philoſophiſchen Skepticismus nicht ruchlos
ſein würden, oder die als revolutionaire Manifeſte der ge¬
ängſteten Seele nur den Traum durchzucken dürfen, mit
ungezügelter Parrheſie zu äußern. Um aber ſchön zu ſein,
muß die Alles durch einander wühlende Raſerei einen äſthetiſch
individualiſirenden Mittelpunct haben, der den Drang der
excentriſchen Gedanken doch nicht ins abſolut Leere ver¬
ſchweben, vielmehr in ihn wieder gravitiren läßt. Der Dichter
muß dem Irren ein allgemein intereſſirendes Thema zu
ſeinen ins Abſurde ausſchweifenden Variationen geben. So
hat Gretchens Wahnſinn im Kerker ein ſolches Centrum an
dem Gedanken, wegen der Liebe zum Manne die zur Mutter
und zum Kinde verletzt zu haben; ſo Auguſtino im Meiſter
an der Vorſtellung des Fatalismus; Lear an der verletzten
Auctorität des Königs und Vaters u. ſ. w. Die Darſtellung
des Wahnſinns iſt daher unendlich ſchwer und kann nur den
größten Meiſtern gelingen, wie Shakeſpeare, Göthe,
G. Sand, unter den Malern Kaulbach in ſeinem Narren¬
hauſe u. ſ. w. Von der neueren Franzöſiſchen Bühne, die mit
Disharmonieen ſonſt nicht ſparſam iſt, verdient ein Stück von
Scribe und Melesville: elle est folle! nicht nur deshalb
ausgezeichnet zu werden, weil es pſychologiſch höchſt exact
iſt, ſondern auch, weil es den Wahnſinn wieder auflöſt.
Ein Mann hat den Wahnſinn, ſeine Frau für wahnſinnig
zu halten; er ſelbſt iſt aber wahnſinnig, weil er Jemand
ins Meer geſtoßen und getödtet zu haben wähnt. Unter¬
fängt ein Stümper ſich der ſchweren Aufgabe, den Wahn¬
ſinn zu ſchildern, ſo kommt das Scheußlichſte des Albernen
zu Tage, das gewöhnlich mit ſeinen vielen Ausrufungs¬
[310] zeichen und Gedankenſtrichen ſo armſelig iſt, daß man nicht
einmal darüber lachen kann, ſondern die beklemmende Nähe
des Blödſinns wittert.


Wir könnten ſagen, daß die Tragik es mit der Ent¬
zweiung der Vernunft, die Komik es mit den Widerſprüchen
des Verſtandes zu thun habe. Dieſe kann daher vom Ab¬
geſchmackten einen poſitiven, ſehr glücklichen Gebrauch machen.
Ihr kann das Alberne, Tolle, Verrückte, Widerſinnige nicht
abſurd genug ſein, wie Calderon in ſolch luſtiger Ueber¬
ſchwänglichkeit des Närriſchen ſein Drama: Zelos aun del
ayre matan
in ſeiner Burleske: Cefalo y Procris, ſelbſt tra¬
veſtirt hat. Das blos Abſurde iſt aber wahrlich noch nicht
lächerlich; dies wird es erſt dadurch, daß es ſich in beſtimmten
Beziehungen als ein in ſich unmögliches, das doch ſcheinbar
wirklich iſt, ſelbſt aufhebt. Der Wahnſinn kann an ſich
oft erhaben ſein, wie der eines Don Quixote, jedoch in
ſeiner Ausgeſtaltung komiſch werden; die Narrheit aber kann
auch an ſich als Faſelei, Zerſtreutheit, aberwitzige Einbildung
höchſt komiſch ſein. Die Narren ſind privilegirte Lieblinge
der Komik; der Uebermuth der Intelligenz kann auch mit
dem Abſurden ſpielen. Hieher gehören auch jene Verkettungen
des Heterogenen, die im Altdeutſchen Lugenmaerchen, Wun¬
dermaerchen, heut zu Tage: blühender Unſinn, im Franzö¬
ſiſchen coq à l'âne genannt werden. Hierher gehören die
Krähwinkliaden, die Judenwitze, die Albernheiten des Hans¬
wurſtes, namentlich die, welche er als Turlupin mit dem
Wunderdoctor producirte. Auf den Pariſer Jahrmärkten
ſpielte dieſer eine Hauptrolle (67). In einem alten coq â l'âne
wird dieſe Art des Abgeſchmackten als der beſtändigen contra¬
dictio in adjecto
ein quasi radotiren genannt (O. L. B. Wolf,
Altfranzösische Volkslieder, Leipzig, 1831, p. 118):


[311]
Je m'en allay à Bagnolet,

Où ie trouvay un grand mulet,

Qui plantoit des carottes.

Ma Madelon, je t'aime tant,

Que quasi je radotte.

Je m'en allay un peu plus loing,

Trouvay une botte de Foing,

Qui dansoit la gavotte.

Ma Madelon, je etc.

Die Gascognaden der Franzoſen ſind ebenfalls ſolche
heitere Abſurditäten, wie ſie in der alten noch immer gern
geſehenen, aus dem Franzöſiſchen auch zu uns verpflanzten
Poſſe: der Lügner und ſein Sohn, zu einem lockern
Ganzen verſammelt ſind. Vater und Sohn überbieten ſich
einander in albernen Erfindungen. Herr von Crac hat
einen Punſchbaum gepflanzt, indem er einer Reisſtaude einen
Citronenſtengel eingeimpft und mit Rum begoſſen habe; der
Sohn erzählt, eine Büchſe beſeſſen zu haben, mit welcher
er kreuzweis um die Ecke habe ſchießen können u. ſ. w.
Bei uns haben ſich ſolche Schnurren früher im Eulen¬
ſpiegel
, ſpäter durch Bürger und Lichtenberg, im
Münchhauſen concentrirt. Münchhauſen will auf einer
Bohnenranke in den Mond klettern, an ſeinem Zopf ſich
aus dem Sumpf ziehen. Seinem Pferde wird von einem
zuſammenklaffenden Thorweg der halbe Leib weggeſchlagen;
der Vorderleib bleibt ruhig ſtehen und ſäuft aus einem Röhr¬
brunnen ins Unendliche, da das Waſſer immer hinten aus¬
läuft. Sein Jagdhund läuft ſich die Beine kurz und meta¬
morphoſirt ſich ſo vom Windhund zu einer Art Teckel.
Einem Hirſch ſchießt er einen Kirſchkern in den Kopf. Im
nächſten Jahr begegnet er ihm und der Hirſch trägt zwiſchen
[312] den Geweihen einen Kirſchbaum u. ſ. w. Unſinn, rufen
wir bei dieſen Jägerlügen aus, unterhalten uns aber vor¬
trefflich. Immermann hat in ſeinem Münchhauſen die
Parodie der Jägeraufſchneiderei fallen gelaſſen, dafür aber
dem Baron einen köſtlichen Zuſchnitt univerſeller Lügenhaf¬
tigkeit im Geiſt oder vielmehr Ungeiſt unſerer Zeit gegeben,
die mit ihren Puffs und Hombugs ins Große ſpeculirt, wie
wenn Münchhauſen den alten Baron von Poſemuckel über¬
redet, eine Luftſteinfabrik anzulegen, denn ſchließt er, alles
Materielle beſteht aus den vier chemiſchen Grundſtoffen; da
nun in der Luft dieſelben enthalten ſind, ſo hat man an der
Luft das trefflichſte, wohlfeilſte, überall gegenwärtige Mate¬
rial zu Steinen! — Die niedere Komik bedient ſich natür¬
lich des Abſurden in einem außerordentlichen Umfange, im
Stottern, im Verſprechen, im Verhören, im Radebrechen
einer fremden Sprache, beſonders auch im luſtigen Verſpotten
der Abſurditäten der Zauberei. Caspar im Puppenſpiel vom
Fauſt iſt in dieſer Hinſicht eine der ergötzlichſten Geſtalten.
Er perſiflirt das ganze Studium der Nekromantie und
Magie; er läßt ſich von den Teufeln nicht imponiren, ſon¬
dern hänſelt ſie vielmehr mit ſeinem Perlippe, Perlappe auf
grauſam luſtige Weiſe.

b) Das Ekelhafte.

Das Abgeſchmackte iſt die ideelle Seite des Scheußlichen,
die Negation des Verſtandes. Das Ekelhafte iſt die reelle
Seite, die Negation der ſchönen Form der Erſcheinung durch
eine Unform, die aus der phyſiſchen oder moraliſchen Ver¬
weſung entſpringt. Nach der alten Regel, a potiori fit
denominatio
, nennen wir auch niedrigere Stufen des Widrigen
[313] und Gemeinen ekelhaft, weil alles das uns Ekel einflößt,
was durch die Auflöſung der Form unſer äſthetiſches Gefühl
verletzt. Für den Begriff des Ekelhaften im engern Sinn
aber müſſen wir die Beſtimmung des Verweſens hinzufügen,
weil daſſelbe dasjenige Werden des Todes enthält, das nicht
ſowohl ein Welken und Sterben, als vielmehr das Entwerden
des ſchon Todten
iſt. Der Schein des Lebens im an ſich
Todten iſt das unendlich Widrige im Ekelhaften. Das Ab¬
ſurde in ſeiner alogiſchen Verworrenheit erregt auch Abſcheu,
ſofern es nicht in's Komiſche gewendet wird, allein wegen ſeines
intellectuellen Elementes iſt ſeine Wirkung nicht ſo heftig,
als die des Ekelhaften, das unſern Sinnen den Genuß eines
für ſie feindlichen Daſeins zumuthet und das man auch das
ſinnlich Abſurde nennen könnte. Am Abſurden, auch wenn
es ein Scherbenhaufen der Intelligenz, kann man noch ein
Intereſſe der Kritik nehmen, während das Ekelhafte
unſere Sinne empört und uns ſchlechthin von ſich abſtößt.
Das Ekelhafte als ein Product der Natur, Schweiß, Schleim,
Koth, Geſchwüre u. dlg., iſt ein Todtes, was der Orga¬
nismus von ſich ausſcheidet und damit der Verweſung über¬
gibt. Auch die unorganiſche Natur kann relativ ekelhaft
werden, aber nur relativ, nämlich in Analogie oder in
Verbindung mit der organiſchen. An ſich ſelbſt aber läßt ſich
der Begriff der Verweſung auf ſie nicht anwenden und aus
dieſem Grunde kann man Steine, Metalle, Erden, Salze,
Waſſer, Wolken, Gaſe, Farben durchaus nicht ekelhaft nennen.
Nur relativ, in Beziehung auf unſere Geruchs- und Ge¬
ſchmacksorgane, kann man ſie ſo nennen. Ein Schlamm¬
vulcan, das gerade Gegentheil des majeſtätiſchen Schauſpiels
eines feuerſpeienden Berges, wird für uns widrig, weil das
Ausſtrömen trüber Effluvien analogiſch uns an das Waſſer
[314] erinnert und hier ſtatt ſeiner eine flüſſige, undurchſichtige, etwa
noch mit todten, verweſenden Fiſchen untermiſchte Erdauf¬
löſung, eine gleichſam verweſende Erde ſich darbietet. Man
ſehe die Darſtellung eines ſolchen Schlammausbruches in A.
v. HumboldtsVues des Cordillères. So iſt auch das
Sumpfwaſſer in Stadtgräben, worin ſich die Immunditien
aus den Rinnſteinen ſammeln, worin Pflanzen- und Thier¬
reſte aller Art mit Lumpen und ſonſtigen Culturverweſungs¬
abſchnitzeln zu einem ſcheußlichen Amalgam ſich zuſammenfinden,
höchſt ekelhaft. Könnte man eine große Stadt, wie Paris,
einmal umkehren, ſo daß das Unterſte zu oberſt käme und
nun nicht blos die Jauche der Cloaken, ſondern auch die
lichtſcheuen Thiere zum Vorſchein gebracht würden, die
Mäuſe, Ratten, Kröten, Würmer, die von der Verweſung
leben, ſo würde dies ein entſetzlich ekelhaftes Bild ſein. Daß
der Geruch in dieſer Hinſicht eine vorzügliche Empfindlichkeit
beſitzt, iſt gewiß. Der üble Geruch der Excremente läßt ſie
in ihrer puren Natürlichkeit noch widriger, als in ihrer bloßen
Geſtalt erſcheinen. Ein Koprolith z. B., der verſteinerte
Koth vorſündfluthlicher Thiere, hat nichts Ekelhaftes mehr an
ſich und wir haben ihn in unſern mineralogiſchen Sammlungen
ruhig neben andern Petrefacten liegen. Unter den herrlichen
Bildern des Campo Santo Piſano ſehen wir auch eine
ſtolze Jagdgeſellſchaft, die bei einem offenen, den Leichnam
zeigenden Grabe vorüberreitet und ſich die Naſe mit der Hand
zuhält; wir ſehen dies wohl, aber wir riechen es nicht. Der
Schweiß der Arbeit, der von der Stirne rinnt, von der
Bruſt perlet, iſt zwar ſehr ehrenwerth, allein äſthetiſch iſt
er nicht. Wird nun der Schweiß gar in das Vergnügen
hineingemiſcht, ſo iſt das ſchlechthin ekelhaft, wie wenn Heine
z. B. einem jungen Ehepaar zur Vermählung zuſingt:


[315]
Schütz' Euch Gott vor Ueberhitzung,

Allzuſtarke Herzensklopfung,

Allzuriechbarliche Schwitzung,

Und vor Magenüberſtopfung.

Dreck und Koth ſind äſthetiſch ekelhaft. Wenn der
Kaiſer Claudius ſterbend ausrief: Vae! puto concacavi me!
ſo iſt hiermit all ſeine kaiſerliche Majeſtät vernichtet. Wenn
Jordan in ſeinem Demiurgos, 1852, S. 237 die
Trennung Heinrichs von Helenen dadurch motivirt, daß er
ſeine Frau einmal auf dem Abtritt angetroffen, ſo iſt das
ſo grenzenlos ekelhaft, gemein, ſchamlos, daß man kaum
begreift, wie ein unſtreitig höchſt vielſeitig gebildeter Dichter
ſo geſchmacklos werden kann, wenn er auch den Lucifer über
dieſe überfeine Delicateſſe hell auflachen läßt. Dies Myſte¬
rium iſt überhaupt mit cyniſchen Manifeſtationen der grellſten
Art bedacht; wir wollen jedoch der Verſuchung, weitere
Beiſpiele des Ekelhaften aus ihm zu entnehmen, Wider¬
ſtand leiſten. Die Derbheit der Sprache des Volkes liebt
den Koth freilich als ultima ratio im Schimpfen, die abſo¬
lute Nullität von etwas auszudrücken und das Maximum
ſeines Abſcheues zu bezeichnen, in der Weiſe etwa, wie auch
Göthe das Ignoriren ſeiner Gegner in den Xenien ent¬
ſchuldigt:


Sage mir von deinen Gegnern, warum willſt du gar nichts
wiſſen? —


Sage mir, ob du dahin trittſt, wo man in den Weg g — — — ?


Die Poeſie aber kann nur für die grotteske Komik einen
Gebrauch davon machen, wie wir ſchon früher den Blepyros
in den Ekkleſiazuſen des Ariſtophanes als ein ſolches Bei¬
ſpiel citirt haben oder wie Hr. Hoffmann in einer Ariſto¬
phaniſirenden Komödie: die Mondzügler, 1843, der Dia¬
[316] lektik der modernen Philoſophie damit ſpottet, daß den ſtrei¬
tenden Philoſophen die Aufgabe geſtellt wird, den Urbe¬
griff des Drecks
zu definiren. Der eine will nun z. B.
beweiſen, daß man den Sinn des Drecks nie verſtanden habe,
weil man nicht einmal ſein Genus richtig gefaßt:


Subject und Object, abſolut identiſch ſind ſie Beiden,
Es iſt das A egal dem B und nicht zu unterſcheiden.
Das B, das Object, iſt der Dreck. Das iſt doch reine
Wahrheit?


Daß ich das A, das Subject bin, iſt evidente Klarheit;
Und mithin bin ich ſelbſt der Dreck, ich ſelbſt, identiſch bin ich.
Es iſt bewiesne Wahrheit dieß und wenn auch widerſinnig!
Wenn einer nun geſetzten Falls den Dreck euch producirt hat,
So folgt daraus, daß dieſer Mann ſich eben ſelbſt creirt hat.
Nun nenn ich ſolche Zeugung doch wahrhaftig ungeſchlechtlich,
Und ſag' ich: der, und ſag' ich: die, ſo iſt es widerrechtlich.
Vielmehr um dieſen ganzen Schluß in einem Wort zu faſſen,
So kann fortan als richtig nur: das Dreck ich gelten laſſen.


Man könnte von der Verweſung ſagen, daß ſie durch
die chriſtliche Religion doch zu einem poſitiven Gegenſtande
der Kunſt geworden, indem die Malerei ſich an die Auf¬
erſtehung des Lazarus
gewagt habe, von welchem ja
die Schrift ſelber ſage, daß er ſchon rieche. Vor allen
Dingen vergeſſe man nur nicht, daß die Malerei dieſen
Geruch nicht darſtellt und ſodann, daß man doch eben nur an
einen oberflächlichen Beginn der Verweſung zu denken hat.
Das eigentlich Poſitive in dieſem Vorwurf bleibt doch immer
die Anſchauung, wie der Tod durch das von Chriſtus aus¬
gehende göttliche Leben überwunden wird. Der ins Leichen¬
tuch gehüllte, aus dem geöffneten Grab kommende Lazarus
contraſtirt höchſt maleriſch mit der Gruppe der Lebendigen,
[317] die das Grab umſtehen. Lazarus muß an ſeiner etwas
ſchemenhaften Geſtalt und in ſeinen bleichen Zügen allerdings
verrathen, daß er ſchon eine Beute des Todes geweſen,
zugleich aber muß er zeigen, wie die Macht des Lebens den
Tod in ihm auch ſchon wieder aufgehoben hat.


Von der Krankheit iſt ſchon in der Einleitung gehan¬
delt worden. Sie an ſich iſt nicht nothwendig widrig oder
gar ekelhaft. Dies wird ſie erſt, wenn ſie den Organismus
in der Form der Verweſung zerſtört und wenn wohl gar
das Laſter die Urſache der Krankheit iſt. In einem Atlas
der Anatomie und Pathologie zu wiſſenſchaftlichen Zwecken
iſt natürlich auch das Scheußlichſte gerechtfertigt, für die
Kunſt hingegen wird die ekelhafte Krankheit nur unter der
Bedingung darſtellbar, daß ein Gegengewicht ethiſcher oder
religiöſer Ideen mitgeſetzt wird. Ein mit Schwären bedeckter
Hiob tritt unter die Reverbère der göttlichen Theodicee.
Der arme Heinrich von Hartmann von der Aue iſt freilich
ein faſt brutaler Gegenſtand, der es ſchwer begreifen läßt,
weshalb die Deutſchen ihn am häufigſten abgedruckt und der
Jugend tauſendfach, im Original wie in den verſchiedenſten
Formen der Bearbeitung, dargeboten haben, indeſſen iſt doch
bei ihm, wenngleich in ſehr widrigen Nebenumſtänden, die
Idee des freien Opfers noch feſtgehalten. Le lépreux de la
ville
d'Aosta von Xavier de Maiſtre, ein höchſt ergreifendes
Gemälde menſchlicher Vereinſamung, baſirt ſich auf der Idee
der abſoluten Reſignation. Der antike Philoktetes leidet
am Fuß, weil die Schlange ihn an dem von Jaſon auf
Chryſe bei Lemnos errichteten Altar darum gebiſſen hatte,
daß er ihn den Griechen zeigte u. ſ. w. Ekelhafte Krank¬
heiten, die auf einem unſittlichen Grunde beruhen, muß die
Kunſt von ſich ausſchließen. Die Poeſie proſtituirt ſich ſelbſt,
[318] wenn ſie dergleichen ſchildert, wie Sue in ſeine Pariſer
Myſterien eine ärztliche genaue Beſchreibung von St. Lazare,
eine Deutſche Schriftſtellerin, Julie Burow, in einen
Roman: Frauenloos, die exacte Beſchreibung der ſyphi¬
litiſchen Station eines Lazareths aufgenommen hat. Das
ſind Verirrungen einer Zeit, welche aus ihrem krankhaft
pathologiſchen Intereſſe an der Corruption das Elend der
Demoraliſation für poetiſch hält. Krankheiten, die zwar
nicht infam ſind, ſondern mehr nur den Charakter der Cu¬
rioſität haben, der ſich in ſeltſamen Deformitäten und Aus¬
wüchſen kund gibt, ſind auch nicht äſthetiſche Objecte, wie
z. B. die Elephantiaſis, die einen Fuß oder Arm ſchlauch¬
artig anſchwellen läßt, ſo daß ſeine eigentliche Form ganz
verloren geht.


Wohl aber darf die Kunſt Krankheiten darſtellen, die
als eine elementariſche Macht Tauſende dahinraffen, indem
dieſelben theils als das Schickſal einer bloßen Naturgewalt,
theils als ein göttliches Strafgericht erſcheinen können. In
dieſem Fall nimmt die Krankheit, ſelbſt wenn ſie ekelhafte
Formen in ſich ſchließt, ſogar einen ſchauerlich erhabenen
Charakter an. Die Maſſen der Kranken geben ſofort die
Anſchauung des Außerordentlichen und es entſtehen maleriſche
Contraſte der Geſchlechter, Altersſtufen und Stände. Aeſthe¬
tiſch genommen wird aber für alle ſolche Scenen die Aufer¬
weckung des Lazarus den kanoniſchen Typus abgeben und das
Leben als die ewige Macht des Todes dem Sterben ſiegreich
gegenübertreten müſſen. Der Anblick des maſſenhaften Sterbens
allein, wie es Raffet in ſeinem Bilde vom Typhus der
Franzöſiſchrepublicaniſchen Armee in Mainz geſchehen iſt,
würde uns niederdrücken, aber der Strahl des Lebens, der
von der göttlichen Freiheit des Geiſtes ausgeht, läßt Siech¬
[319] thum und Todesqual überwinden. So haben die Maler die
Juden in der Wüſte gemalt, wie ſie, von Krankheit ergriffen,
zur ehernen Schlange aufſchauen, die Moſes auf Jehovah's
Geheiß zu ihrer Geneſung aufgeſtellt hat. Hier iſt die Krank¬
heit Strafe ihres Murrens wider Gott und Moſes, ſo wie
die Heilung vom Biß der feurigen Schlangen der Lohn für
ihre Reue. In dem Bilde von Rubens, wie der heilige
Rochus die Peſtkranken heilt, iſt der Uebergang vom Tode
zum Leben die Poeſie, welche die Schrecken der ſcheußlichen
Krankheit äſthetiſch vom Ekel befreiet. Ein treffliches Bild
aus dieſer Sphäre iſt auch das von Gros, Napoleon unter
den Peſtkranken zu Jaffa. Wie gräßlich ſind dieſe Kranken
mit ihren Beulen, mit ihrer lividen Farbe, mit den graubläu¬
lichen und violetten Tinten der Haut, mit dem trocken¬
brennenden Blicke, mit den verzerrten Zügen der Verzweiflung!
Aber es ſind Männer, Krieger, Franzoſen, es ſind Soldaten
Bonoparte's. Er, ihre Seele, erſcheint unter ihnen, ſcheuet
nicht die Gefahr des tückiſchen, ſcheußlichſten Todes; er theilt
ſie, wie er mit ihnen in der Schlacht den Kugelregen getheilt
hat. Dieſer Gedanke entzückt die Braven. Die matten, dumpfen
Köpfe richten ſich empor; die halberlöſchenden oder fieberhaft
funkelnden Blicke wenden ſich zu ihm, die ſchlaffen Arme
ſtrecken ſich begeiſtert nach ihm aus, ein ſeliges Lächeln um¬
ſpielt nach dieſem Genuß die Lippen der Sterbenden — und
mitten unter dieſen Grauengeſtalten ſteht der Rieſenmenſch
Bonoparte voll Mitgefühl aufrecht und legt ſeine Hand auf
die Beule eines Kranken, der halbnackt ſich vor ihm erhoben
hat. Und wie ſchön hat Gros gemalt, daß man aus den
Gewölbbogen des Lazareths in das Freie blickt, daß man
auf Stadt und Berg und Himmel die von der Schwüle des
Krankenlagers entlaſtende Ausſicht hat. Aehnlich, wie
[320] Shakeſpeare am Schluß des Hamlet, als die vergifteten
Leichen eines in Fäulniß gerathenen Geſchlechts gekrümmt
umher liegen, den kräftigen Trompetenſchall erſchmettern und
den jugendheitern, reinen Fortinbras als Beginn eines neuen
Lebens auftreten läßt. Lazarethe, in denen nur Verwundete
liegen, haben nicht das Ekelhafte ſolcher Scenen und ſind
daher häufig ohne Anſtoß gemalt.


Auch das Erbrechen iſt früher ſchon erwähnt worden.
Mag es eine unſchuldig krankhafte Affection, mag es Folge der
Völlerei ſein, immer iſt es höchſt ekelhaft. Dennoch haben
Poeſie wie Malerei es dargeſtellt. Die Malerei kann es
durch die bloße Stellung andeuten, obwohl Holbein im
Todtentanz ſich nicht genirt hat, den Schlemmer ganz
im Vordergrunde den genoſſenen Fraß wider ausſpeien zu
laſſen. In ihren Jahrmarkt- und Wirthshausſcenen ſind
auch die Niederländer nicht blöde damit geweſen. Ueber die
Zuläſſigkeit ſolcher widrigen Züge wird es ſehr auf die übrigen
Seiten der Compoſition und auf den Styl ankommen, in
welchem ſie gehalten iſt, denn ſelbſt eine komiſche Wendung
iſt möglich, wie in Hogarth's Punſchgeſellſchaft oder in
jenem Gemälde einer Griechiſchen Vaſe, wo Homer, auf
ein Polſterbett hingeſtreckt, ſich in ein am Boden ſtehendes
Gefäß erbricht. Eine weibliche Geſtalt, die Poeſie, hält ihm
das göttliche Haupt. Um das Gefäß herum ſtehen eine
Menge Zwergfiguren, die eifrig das Ausgebrochene wieder
zum Munde führen. Es ſind die ſpätern Griechiſchen Dichter,
die von dem cyniſch weggeworfenen Ueberfluß des großen
Poeten ſich ernähren. Auch eine Apotheoſe Homers (68)!
Geht die Poeſie aber ſo weit, daß ſie vom Erbrechen nicht
blos erzählt, vielmehr es auf die Bühne bringt, ſo iſt das
ein Ueberſchreiten des äſthetiſchen Maaßes, das auch komiſch
[321] nicht wirken kann. Hiermit hat es Hebbel in ſeinem
Diamanten verſehen. Der Jude, der ihn verſchluckt hat,
bricht ihn auf der Bühne wieder aus, und nicht nur bricht
er ihn aus, ſondern er ſteckt ſogar deshalb den Finger
in den Mund. Das iſt zu widrig! Die Geburt hat als ein
nothwendiger Naturtact nicht dies Abſtoßende, ſelbſt wenn
ſie nicht, wie in Hans Sachs Narrenſchneiden und in
Prutz politiſcher Wochenſtube, komiſch gewendet wird.


Das Ekelhafte wird auch dadurch äſthetiſch unmöglich
gemacht, wenn es mit dem Unnatürlichen ſich vermiſcht.
Blaſirte Epochen der Völker wie der Individuen kitzeln die
erſchlafften Nerven mit den heftigſten und daher nicht ſelten
auch ekelhafteſten Reizmitteln auf. Wie ſcheußlich iſt nicht
das neueſte fashionable Vergnügen der Londoner Müßig¬
gänger, der Rattenkampf! Kann man ſich etwas Ekelhafteres
erſinnen, als einen Rattenhaufen, der ſich in Todesangſt
gegen einen beſtialiſchen Hund wehrt? Doch, könnte man¬
cher ſagen, die Wettenden, die, mit der Uhr in der Hand,
um die ausgemauerte Grube herumſtehen. Allein Pückler
Muskau
in ſeinen erſten, unſterblichen Briefen eines Ver¬
ſtorbenen erzählt doch noch von etwas Ekelhafterem, daß
er nämlich zu Paris auf dem Boulevard Mont Parnaſſe
geſehen, wie die Spießbürger nach einer Ratte ſchoſſen, die
ſie auf einem ſchrägen Brett angebunden hatten, ſo daß
ſie auf dem engen Raum in Verzweiflung hin und her lief.
Zum Vergnügen nach einer Ratte ſchießen! Infernaliſch
ekelhaft. Petronius hat eine gewiſſe grandioſe Nacktheit,
eine gewiſſe, der Juvenaliſchen verwandte Herbheit, die ſeinen
Darſtellungen der blaſirten Verworfenheit einen düſtern Reiz
ertheilt. Eine Scene in ſeinem Gaſtmahl des Trimalchio
ſchildert gewiſſermaaßen ſymboliſch den innerſten Ungeiſt einer
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 21[322] ſolchen Welt. Es wird ein Schwein, das den Gäſten erſt
lebend vorgeführt worden, nach kurzer Zeit aufgetragen.
Es iſt nicht ausgeweidet. Wüthend läßt der Herr den Koch
kommen, ihm für ſolche Vergeſſenheit, für ſolche Beleidigung
ſeiner Gäſte den Kopf vor die Füße legen zu laſſen. Auf
einen Wink des Herrn macht ſich der Koch furchtſam an's
Ausweiden und was ſind dieſe ekelhaften Gedärme? Man ent¬
deckt in ihnen die trefflichſten Würſte, denen aber die Form
der natürlichen Eingeweide belaſſen worden. Alles iſt enthu¬
ſiasmirt. Man macht dem Herrn ſeine Complimente, einen
ſolchen Koch zu beſitzen und der Koch behält nicht nur ſein
Leben, ſondern wird ſogar mit einer Silberkrone gekrönt
und mit einem Becken von Korinthiſchem Erz beſchenkt.
Mache die Eingeweide des Schweins zu Leckerbiſſen und du
wirſt ſolch ekelhaftelender Zeit ein großer Mann ſein. Einen
Pätus wird ſie hinrichten, aber dich wird ſie mit Lorbeern
kränzen (69)! — Der Cynismus der geſchlechtlichen Ver¬
hältniſſe geſtattet zwiſchen der Natur und der entſchiedenen
Unnatur noch einen Spielraum ekler Lüſtelei, auf den wir
hier nicht eingehen wollen (70). Die Komik ſelber, wenn
ſie dergleichen durch die Zote auch ins Burleske treibt, kann
doch das Häßliche nicht daraus eliminiren. Wir rechnen
hieher z. B. aus des Ariſtophanes Lyſiſtrata die an
ſich höchſt komiſche Scene, wo Myrrhine die Begierden des
Kineſias aufs Außerſte ſteigert und ihn dann ſtehen läßt (71).
Kommt zu ſolchen Situationen und Empfindungen noch das
Alter hinzu, ſo wächſt die Widrigkeit. Horaz hat ſie in
der achten Ode der Epoden geſchildert (72). Die Unnatur
als die Verkehrung des Naturgeſetzes durch die Freiheit oder
richtiger Frechheit des menſchlichen Willens iſt durchaus
ekelhaft. Die Sodomiterei, die Päderaſtie, die lüſtern raffinir¬
[323] ten Arten des Beiſchlafs (bei den Alten z. B. ἁϱμα, φιλοτης)
u. ſ. w. ſind ſcheußlich. Die Pornographen ſtellten auch ſolche
erotiſche Scenen dar, die man libidines oder spinthria nannte
und worüber man die gelehrteleganten Erläuterungen von
Raoul Rochette zum Musée secret von Herculanum und
Pompeji von Ainé und Barré, Paris 1840, nachleſen möge.
Nach des Plinius Bericht kaufte z. B. Tiberius zu einem
ungeheuren Preiſe ein Gemälde des Parrhaſius, es in
ſeinem Schlafzimmer aufzuhängen. Dies Bild ſtellte die Ata¬
lanta dar, wie ſie dem Meleager auf ekelhaft obscöne Weiſe
mit dem Munde zu Willen war. Mit Panofka (73) eine
Parodie darin zu ſehen, ſcheint uns zu mißlich.

c) Das Böſe.

Das Abgeſchmackte iſt das theoretiſch Scheußliche; das
Ekelhafte iſt das ſinnlich Scheußliche, das aber, wie wir er¬
kannt haben, in ſeinen unnatürlichen Extremen ſchon mit
dem praktiſch Scheußlichen, mit dem Böſen zuſammenhängt.
Der böſe Wille iſt das ethiſch Häßliche. Als Wille für ſich
fällt er in die reine Innerlichkeit. Um aber äſthetiſch möglich
zu werden, muß er theils von Innen aus ſich in die Hä߬
lichkeit der Geſtalt ſymboliſch reflectiren, theils ſich als That
äußern und zum Verbrechen werden. Schon Homer hat den
Therſites ſo geſchildert, daß er ſein zänkiſches Weſen in
einer conformen Geſtalt erſcheinen läßt, (Ilias, II., 214:)
Immer verkehrt, nicht der Ordnung gemäß, mit den
Fürſten zu hadern,

Wo ihm nur etwas erſchien, das lächerlich vor den Argeiern
Wäre. Der häßlichſte Mann vor Ilios war er gekommen:
Schielend war er, und lahm am andern Fuß; um die
Schultern
21 *[324] Höckerig, gegen die Bruſt ihm geengt, und oben erhub ſich
Spitz ſein Haupt, auf der Scheitel mit dünnlicher Wolle
beſäet.
Widerlich war er vor allen des Peleus' Sohn und Odyſſeus.


Wir müſſen für unſere Unterſuchung den äſthetiſchen
Geſichtspunct dem ethiſchen voranſtellen. Man erwarte hier
alſo nicht eine Abhandlung über den Begriff des Böſen;
dieſer gehört der Ethik; die Aeſthetik hat ihn vorauszuſetzen
und ſich nur mit der Form der Erſcheinung zu beſchäftigen,
inwiefern dieſelbe den moraliſch häßlichen Inhalt in einer
[adäquaten] und mit den Geſetzen des Schönen verträglichen
Manier auszudrücken vermag. Es kommt hier auf die Be¬
griffe des Verbrecheriſchen, Geſpenſtiſchen und Dia¬
boliſchen
an. Das Verbrecheriſche nämlich iſt die empiriſch
objective Wirklichkeit des böſen Willens. Aber dieſe Wirklich¬
keit iſt, verglichen mit der Idee des Willens als dem Guten,
die Unrealität ihres Begriffs. Als Erſcheinung wirklich, iſt
ihr Weſen das Nichts des Unweſens. Die Gewißheit dieſer
Nichtigkeit in dem Handelnden iſt ſein böſes Gewiſſen. Von
der Schuld des Böſen iſt das Bewußtſein, mit der poſitiven
Verletzung der Idee des Guten zugleich etwas in ſich Nichtiges
hervorgebracht zu haben, unzertrennlich und dies Scheinda¬
ſein des Böſen daher an ihm ſelbſt das Geſpenſtiſche. Die
Vorſtellung des Verbrechers erzeugt aus ſeiner Schuld die
Vorſtellung eines unheimlichen, jenſeitigen, dunkeln, rächen¬
den Weſens. Weiß der Wille endlich ſich als den principiell
böſen, der ſich als den Schöpfer einer Welt des Nichts
benimmt und daran ſeine widrige Freude hat, ſo wird er
diaboliſch. Ein ſolcher Wille iſt in ſeiner Negativität zu¬
gleich dämoniſch und dies Dämoniſche iſt in ſeiner Erſcheinung
das Geſpenſtiſche.


[325]
α. Das Verbrecheriſche

Daß im tiefſten Grunde das Schöne mit dem Guten
Eines iſt, iſt nicht blos eine Idioſynkraſie des ſchönredenden
Platon, vielmehr die volle Wahrheit. Eben ſo wahr iſt es
daher, daß das Häßliche an und für ſich mit dem Böſen
identiſch iſt, ſofern nämlich das Böſe das radicale, das ab¬
ſolute, das ethiſche und religiöſe Häßliche iſt. Dehnt man
jedoch dieſe Identität ſo weit aus, daß die Urſache des
Häßlichen überhaupt im Böſen liegen ſoll, ſo iſt das eine
Ueberſpannung ſeines Begriffs, die unausbleiblich zu un¬
wahren und gewalthätigen Abſtractionen führen muß; denn,
wie in der Einleitung gezeigt worden, kann das Häßliche
auch auf vielfach andere Weiſe aus der Freiheit des Daſeins
überhaupt entſtehen. Man verwechſelt das Häßliche als ſol¬
ches mit dem Maximum ſeiner Erſcheinung, die allerdings
erſt durch das Böſe hervorgebracht werden kann, weil dies
erſt der tiefſte Widerſpruch der Idee mit ſich ſelber iſt. Das
Böſe als die Urlüge des Geiſtes kann für den Verſtand und
die Phantaſie intereſſant ſein, wird aber nothwendig, ſelbſt
in dieſer Form, den gründlichſten Abſcheu erregen. Der böſe
Wille gibt ſich durch die böſe That eine objective Exiſtenz,
deren grundloſe Willkür die abſolute Nothwendigkeit der Frei¬
heit durchbricht, um derenwillen allein das ganze Univerſum
da iſt. Das Verbrechen kann ſeinen Zuſammenhang mit der
nothwendigen Freiheit nicht von ſich abſtreifen, da es nur
durch ſeinen ſelbſtbewußten Widerſpruch gegen dieſelbe Ver¬
brechen iſt. Durch dieſen Zuſammenhang wird es als ein
äſthetiſcher Gegenſtand möglich, denn mit ihm muß auch
ſein immanenter Gegenſatz, die wahre Freiheit, zum Vor¬
ſchein kommen und am Verbrechen ſeine Hohlheit und Lüge
offenbar machen. In dieſem Zuſammenhang begründet ſich
[326] auch die ſeit Schiller ſo oft wiederholte Forderung, daß
das Verbrechen, äſthetiſch möglich zu werden, groß ſein
müſſe, weil es dann Muth, Liſt, Klugheit, Kraft, Aus¬
dauer, in nicht gewöhnlichem Grade erfordert und damit
wenigſtens die formale Seite der Freiheit enthält.


Dieſe hier angedeuteten Begriffe ſind nunmehr ſeit der
Ariſtoteliſchen Poetik ſo oft und, zuletzt von Viſcher, ſo
genügend auseinandergeſetzt, daß wohl kein Punct unſeres
Themas in gleichem Grade ausgearbeitet und in der allge¬
meinen Vorſtellung geläufig iſt. Wir werden uns deshalb
hier nur auf wenige Bemerkungen beſchränken.


Dem Inhalt nach ſind alle diejenigen Verbrechen un¬
vermögend, äſthetiſche Objecte zu ſein, die wegen ihrer Alltäg¬
lichkeit und Geringfügigkeit und wegen des geringen Auf¬
wandes von Intelligenz und Wille, den ihr Begehen erfordert,
in die Kategorie der Gemeinheit des Gewöhnlichen fallen. Der
kleinliche Egoismus, der ihnen zu Grunde liegt und nur den
Acten der Polizei und des correctionellen Gerichts Nahrung
liefert, iſt zu untergeordnet, als daß er die Kunſt beſchäftigen
dürfte. Seine Verbrechen ſind oft kaum Thaten zu nennen,
ſo ſehr gehen ſie oft aus einem Kreiſe der Rohheit und Un¬
bildung, der Faulheit und Noth, der Beſchänktheit und
habituell gewordenen Schuftigkeit hervor.


Acceſſoriſch, in Verbindung mit höhern Motiven, als
Epiſode, als Nebenglied in einer größern Verkettung, wird
das gemeine Verbrechen ſchon äſthetiſch möglich, weil es
dann in dem weitern Zuſammenhange als ein ſittengeſchicht¬
liches Moment erſcheint. Haß, Rachſucht, Eiferſucht, Spiel¬
wuth, Ehrgeiz, ſind ſchon äſthetiſcher, als der Diebſtahl,
als die Fälſchung, als der Betrug, als die grobe Unkeuſch¬
heit, als der Mord, nur des Habens und Genießens willen.
[327] Sie nehmen daher in der epiſchen und dramatiſchen Unter¬
haltungsliteratur einen ungeheuren Spielraum ein. Das
Verbrechen an ſich iſt natürlich verabſcheuenswerth, allein
durch die culturhiſtoriſche, pſychologiſche und ethiſche Verflech¬
tung, in der es erſcheint, gewinnt es ſchon ein höheres In¬
tereſſe. Die Engländer ſind in dieſer Gattung von jeher die
Meiſter geweſen. Schon in ihren alten Balladen können
wir dem criminaliſtiſchen Zuge begegnen. Das Theater vor
und nach Shakeſpeare's Zeit wimmelte von ſolchen Dramen,
unter denen ſich manche ſogar von unbekannten Autoren,
wie das Trauerſpiel Arden von Feversham (74), lange
erhalten haben. Später hat der Roman dieſe Miſſion bei
ihnen übernommen und die erſten Autoren haben nicht ver¬
ſchmäht, in einer Gattung zu arbeiten, die von unſern
Claſſikern kaum berührt worden iſt. Bulwer's Paul Clif¬
ford
, Eugen Aram, von Nacht zu Morgen u. ſ. w.,
oder Boz' Oliver Twiſt ſind ſolche Materien. Im
Pelham hat Bulwer die fashionabelſte Ariſtokratie, aber
zugleich die extremſte Verworfenheit des ſyſtematiſchen Diebs-
und Räuberhandwerks in der ausführlichſten Breite geſchildert.
Nach den Engländern haben die Franzoſen erſt ſeit der Juli¬
revolution in ſolchen Motivirungen ſich gefallen. Die bril¬
lante Tyrannei und die Hofverſchwörung, die Liebe und die
Liederlichkeit als feine Galanterie wie als Orgie, waren bis
dahin ihre bevorzugten Themata geweſen. Erſt mit dem
Bewußtſein über das welthiſtoriſche Auftreten des Proleta¬
riats hat ſich auch bei ihnen die Neigung zur poetiſirenden
Behandlung des Criminalverbrechens in raſchem Zuge ent¬
wickelt und zwar, ihrer ſocialen Natur nach, auch erſt im
Drama, dann im Roman. Caſimir Delavigne, Alfred de
Bigny, Alexandre Dumas, Victor Hugo und Eugene Sue
[328] ſind die Claſſiker dieſer Tendenz geworden, der aber noch
eine große Menge derjenigen Dramatiker zweiten und dritten
Ranges ſich anſchließt, die für die Boulevardstheater, be¬
ſonders für das der Porte St. Martin und Ambigu comique
arbeiten, wie Dumanoir, Pyat, Melesville u. A. D'Arlington,
le docteur noir, le pacte de Famine, Marie Jeanne, le marché
de Londres, le chiffonier, les deux forçats on le Moulin de
St. Alderon, Marie Lafarge, la chambre ardente, l'homme
en masque de fer
u. ſ. w. ſind ſolche Schauerſtücke, in
denen die grellſten Contraſte Stundenlang die Nerven des
Publicums ſpannen. Noth bis zum Verhungern, Verbrechen
aus Leichtſinn, aber auch aus kälteſter Berechnung, falſches
Spiel, Wechſelfälſchung, Mord in allen Formen bis zum
Giftmorde und Selbſtmorde, Schwelgerei, Grauſamkeit,
Kinderdiebſtahl, Inceſt, Ehebruch, Verrath, alle Scheußlich¬
keiten der brutalen Geſinnung ſind in dieſen Dramen dar¬
geſtellt, die man zum großen Theil auch dem Deutſchen Re¬
pertoir angeeignet hat. Indem aber die Deutſchen doch die
Horreurs der Forfaits nicht in ihrer ganzen Franzöſiſchen
Nacktheit haben belaſſen mögen, ſind aus den Bearbeitungen
noch viel fatalere Producte hervorgegangen, denn die infer¬
naliſche Motivirung der ſiniſtren Handlungen, die im Deut¬
ſchen gewöhnlich abgekürzt, wohl gar unterdrückt wird, gibt
ihnen doch noch eine pſychologiſchere Berechtigung, und das
Aeßerſte der Schändlichkeiten, die man erblickt, gewinnt nur
durch die ganz und gar nichtswürdig originelle Weiſe, mit
der es vollbracht wird, ein Intereſſe. Den ſogenannten
ſocialen Roman der heutigen Franzoſen, der unter der Re¬
gierung der Julidynaſtie ſo viele Giftblüthen getrieben hat,
haben wir ſchon nach einzelnen Seiten hin ſo oft berühren
müſſen, daß wir ihn hier wohl nur zu nennen brauchen.


[329]

Das furchtbarſte Product dieſer Sphäre, le nom de Famille
von Auguſt Luchet, iſt glücklicherweiſe, ſo viel uns be¬
kannt, nicht ins Deutſche überſetzt. Die kindiſche, im letzten
Decennium bis zu einem für eine große Nation ſcandalöſen
Wetteifer ausgeartete Gier der Deutſchen, die Romane der
Engländer und Franzoſen zu überſetzen, während ſie noch
erſcheinen und bevor noch ein Urtheil über ihren ethiſchen
und äſthetiſchen Werth möglich iſt, erklärt vielleicht die
Schwäche, die wir ſelber auf dieſem Gebiet zeigen. Nur im
Ritter- und Räuberroman begehen auch wir noch immer
die empörendſten Verbrechen mit einer gewiſſen naiven Origi¬
nalität, die aber zu geſchmacklos iſt, das Intereſſe der Fran¬
zoſen und Engländer zu erregen und ihnen zur Ueberſetzung
Luſt einzuflößen (75).


Gehen wir aus der Sphäre der bürgerlichen Geſellſchaft
heraus, ſo wird das Verbrechen wiederum äſthetiſcher durch
Motive, welche den höhern Gebieten des Staates oder der
Religion entnommen ſind, denn mit ſolcher Begründung
wird der Einzelne aus dem beſchränkten Kreiſe kleinlich
egoiſtiſcher Antriebe und untergeordneter Zufälligkeiten heraus
geriſſen. Die Verbrechen, die begangen werden, ſind mate¬
riell dieſelben, wie in der bürgerlichen Sphäre, Verrath,
Ehebruch, Gewaltthat, Mord. Allein indem ſie ihren Ur¬
ſprung aus allgemeineren Verhältniſſen entnehmen, erwerben
ſie ſich das Recht einer gewiſſen Nothwendigkeit, und indem
mit dem Leben hervorragender, insbeſondere fürſtlicher Per¬
ſönlichkeiten, unmittelbar große Veränderungen des Staats
und der Geſellſchaft unmittelbar verknüpft ſind, ſteigert ſich
unſere Theilnahme. Durch die Verwicklung der großen
Mächte des Lebens werden Conflicte möglich, die den Ein¬
zelnen ſchuldig werden laſſen, indem er doch zugleich nicht
[330] im Sinn des gemeinen Verbrechers ſchuldig iſt. Es ſind
hier drei Fälle möglich. Erſtlich kann das Verbrechen nicht
als Verbrechen begangen werden; es iſt eine Schuld, aber
eine, indem ſie begangen wurde, nicht als Verbrechen voll¬
brachte. Zweitens kann das Verbrechen mit dem vollkom¬
menſten Bewußtſein über ſeine Bosheit begangen werden.
Drittens kann die Schuld in der Unſchuld beſtehen, die von
der Brutalität aufgeopfert wird. Für den erſten Fall iſt
der Sophokleiſche Oedipus, für den zweiten Shakeſpeare's
RichardIII., für den dritten Leſſings Emilie Galotti
das bekannteſte Beiſpiel. Wir ſind hiermit bei dem Tra¬
giſchen
angelangt, deſſen Weſen einer beſondern Ausein¬
anderſetzung nicht bedarf. Das Verbrechen im erſtern Fall
wird äſthetiſch möglich, weil es, obwohl ein Werk der Frei¬
heit des Einzelnen, doch nicht eigentlich That iſt. Vollbracht
wird es eigentlich von der Nothwendigkeit des pragmati¬
ſchen Cauſalnerus und eben hiermit wird dem Verbrechen die
perſönliche Häßlichkeit genommen. Im zweiten Fall wird
das Verbrechen durch das gerade Gegentheil äſthetiſch mög¬
lich, nämlich durch die vollkommenſte ſelbſtbewußte Freiheit.
Der Böſe kann uns natürlich durch den Inhalt ſeines Thuns
nur Abſcheu erwecken; durch die Form ſeines Handelns aber
ſchauen wir die Freiheit von ihrer formalen Seite, nämlich
der Selbſtbeſtimmung, auf dem Gipfel ihrer Virtuoſität an.
Daß ein ſolcher Böſewicht in dem geſammten Complex der
Umſtände auch durch ſein für ihn ungerechtes Handeln doch
zugleich in anderer Beziehung ein Organ der göttlichen Ge¬
rechtigkeit werden kann, würde ihn äſthetiſch noch nicht er¬
träglicher machen. Aber ſeine außerordentliche Intelligenz
und die rieſige Stärke ſeines Willens bringen einen dämo¬
niſchen Eindruck hervor, denn die Virtuoſität der ſubjectiven
[331] Freiheit im Widerſpruch mit ihrem negativen Inhalt läßt uns
hier, wie Chriſtus vom ungerechten Haushalter, urtheilen,
daß ſie an ſich nachahmenswerth ſein würde. Im dritten
Fall wird die Aufhebung des Häßlichen im Verbrechen da¬
durch bewirkt, daß die Reinheit, die Tugend, die Unſchuld
ihm zum Opfer fällt. Die Häßlichkeit des Verbrechens er¬
ſcheint hier um ſo ſcheußlicher, je vergeblicher es die Freiheit
der Unſchuld beſtürmt. Die ſieghafte Selbſtgewißheit derſelben
iſt es, die uns, dem Verbrechen gegenüber, auch in ihrem
äußern Untergange frei aufathmen läßt. Die Tragödie
ſchließt für dieſen Fall Manches von ſich aus, was der
epiſchen Darſtellung noch erlaubt iſt, weil ſie die ganze
Breite der Vermittelung in ſich aufnehmen kann, wo das
Drama epitomatoriſch und epigrammatiſch zu Werke gehen
muß. Wir wollen auch dies an einem Beiſpiel verdeutlichen.
Shelley hat in ſeiner Cenci eine ſeltene Kunſt bewieſen,
einen höchſt widerwärtigen Stoff mit poetiſchem Hauch dar¬
zuſtellen, allein für das Drama iſt derſelbe doch ungeeignet.
Der alte Cenci, der Tyrann der Seinen, erfährt bei einem
Gaſtmahl den Tod zweier Söhne und dankt dafür dem
Himmel öffentlich. Alles entfernt ſich in Entſetzen. Er
beſchließt, ſeine Tochter Beatrice zu ſchänden, um ſie an
Leib und Seele zu verderben. Beatrice und ihr Bruder
Giacomo, im Verein mit ihrer Stiefmutter Lucretia, laſſen
ihn durch Banditen tödten. Der Mord wird entdeckt und
die Schuldigen werden hingerichtet. Dies iſt in wenigen
Worten der Hauptinhalt jener bekannten gräßlichen Geſchichte.
Dieſer Stoff iſt nicht für das Drama paſſend, nicht nur
wegen der Unnatur, weil der teufliſche Vater die Tochter
ſchänden will, ſondern auch, weil nur die Erzählung alle
die ſcheuſeligen Nebenumſtände darzulegen vermag, welche
[332] die ganze Lage dieſer Unglücklichen zu einer ſchlechthin ex¬
ceptionellen machten; welche die Qualen, mit denen der alte
Francesco die Seinigen marterte, zu einer Hölle ohne
Gleichen umſchufen; welche die Entdeckung herbeiführten
und welche den Papſt vermochten, trotz der Verwendung
ſo vieler angeſehener Römer, ja ſelbſt einiger Cardinäle,
das Todesurtheil für Beatrice, Lucretia und Giacomo zu
beſtätigen. Shelley hat ſich in dieſen Puncten mit Andeu¬
tungen begnügen müſſen, die namentlich den dritten Act, der
den Entſchluß Beatrice's zum Morde ihres Vaters motivirt,
zu einem höchſt peinlichen machen. Aus dieſem nämlichen
Grunde darf auch die Malerei uns manche Verbrechen nicht
zur Anſchauung bringen, die in dem epiſchen Vortrag noch
möglich ſind. Die Alten haben den Maler Timomachos
gelobt, daß er den Ajax gemalt hat nach der blutigen Ra¬
ſerei ſeines Wahnſinns und die Medea vor der Vollbrin¬
gung des Mordes ihrer Kinder, wie auch eines der Her¬
culaniſchen Gemälde ſie uns darſtellt. Die Kinder ſitzen
unter der Aufſicht des Pädagogen Würfel ſpielend an einem
Tiſch, während ſie finſterblickend, im Kampfe mit ſich, ſeit¬
wärts ſteht, das verhängnißvolle Schwert in den Händen
zuckend. Iſt dem Maler vergönnt, eine Folge von Scenen
darzuſtellen, die einander erklären helfen, ſo wird auch ihm
eine gewiſſe Epik möglich, wie in den Schinkelſchen von
Cornelius ausgeführten Fresken in der Vorhalle des alten
Berliner Muſeums oder in Hogarths Bilderreihe vom
Lebenslauf des idle und des industrious prentice. Dieſe iſt
ein genrebildlicher Roman, in welchem wir die einzelnen
Momente durch ihren Zuſammenhang verſtehen können.
Hogarth nach ſeiner Manier, das Charakteriſtiſche auf die
Spitze zu treiben, hat es auf der Seite des faulen Lehr¬
[333] lings nicht an Entſetzlichkeiten fehlen laſſen und das Elend
des Verbrechers in den nackteſten Farben gemalt, wie z. B.
in jener Scene, wo der Faule auf einer ſchmuzigen Dach¬
kammer mit einer Dirne im Bette liegt, ein Nachtgeſchirr
mitten zwiſchen Reſten eines Mahles ſteht, eine Katze durch
den Kamin einer Ratte nachſpringt, die an dem Lager vor¬
überhuſcht und der Faule vor Schrecken auffährt, indeſſen
die Dirne die geſtohlenen Ohrringe mit ſtumpfſinniger Eitel¬
keit und Freude betrachtet.


Gewöhnlich iſt in den Aeſthetiken bei dem Begriff des
Tragiſchen nur von der Tragödie die Rede, allein es ſollte
billig ſeine epiſche Darſtellung, die in der Ballade, im Roman
einen ſo großen Umfang gewonnen hat, mit herangezogen
werden. Und eben ſo iſt bei dem Tragiſchen ſchon ein ge¬
wiſſer Kreis des Schrecklichen herkömmlich, während derſelbe
ein ungleich größerer und vielſeitiger iſt. Wir haben in Be¬
treff des Verbrechens erſtlich das gemeine, ſchlechthin proſaiſche
unterſchieden, dem ſich kaum durch die ſorgfältigſte Pſycho¬
logie ein Intereſſe abgewinnen läßt, wie Auerbach in
einigen ſeiner neuen Dorfgeſchichten verſucht hat. Zweitens
haben wir das Verbrechen unterſchieden, wie es aus den
Verwicklungen der bürgerlichen Geſellſchaft, aus den Leiden¬
ſchaften des Egoismus hervorgeht. Drittens das tragiſche
Verbrechen, dem nämlich in den öffentlichen Zuſtänden der
Geſellſchaft, des Staats und der Kirche, eine Berechtigung
zu Theil wird, die wir ſelbſt einem Richard III. oder Mac¬
beth nicht abſprechen können. Je tiefer das Verbrechen mit
den großen Intereſſen der Geſellſchaft des Staats und der
Kirche verſchmolzen iſt, um ſo fürchterlicher wird es zwar
durch ſeine Folgen, die ſich auf Tauſende erſtrecken, allein
um ſo idealer wird es auch und verliert durch dies Pathos
[334] an Häßlichkeit. Es erſcheint weniger als Abſicht eines be¬
ſchränkten Egoismus, mehr als Werk eines Irrthums, der
aus den Umſtänden ſich dem Helden aufgedrängt hat, wie
bei Fiesko, Wallenſtein, Macbeth, Pugatſchef u. ſ. w. Ma¬
teriell genommen ſind die Verbrechen der hohen Tragödie
dieſelben, wie in der Sphäre des gemeinen bürgerlichen
Trauerſpiels; es iſt auch Raub, Mord, Ehebruch, Verrath.
Weshalb aber erſcheinen ſie edel? Oder, wenn dieſer Aus¬
druck zu viel ſagen ſollte, doch jedenfalls vornehm? Wa¬
rum iſt der Diebſtahl einer Krone doch etwas Anderes, als
der Diebſtahl eines Paars ſilberner Löffel? Aus keinem
andern Grunde offenbar, als weil die Natur des Objects
ein ganz anderes Pathos nothwendig macht und, einen Kampf
auf Leben und Tod involvirend, uns in Beziehungen hin¬
ausverſetzt, die wir bei kleinlich privaten Leidenſchaften nicht
haben können.


Das, was im Verbrechen das Unſittliche iſt, kann
nicht ins Komiſche gewendet werden, wenn nicht von ſeiner
ethiſchen Bedeutung mehr oder weniger abſtrahirt und ſein
Geſchehen unter andern Geſichtspuncten dargeſtellt wird.
Es muß nur das intellectuelle Element hervorgehoben werden,
wie z. B. wenn die Lüge als Uebertreibung der unbeherrſchten
Phantaſie, als Nothlüge, als Schelmerei und Scherz auf¬
tritt, denn in dieſem Fall iſt ihr die Gravität des ethiſchen
Elementes von vorn herein genommen und wir ergötzen uns
an ihr lediglich von Seiten des Verſtandes. Der ſoldatiſche
Großſprecher, wie er bei Plautus und Terentius vorkommt,
begeht kein Verbrechen, wenn er uns als ein an ſich ſehr
harmloſes Subject mit der plumpen Erfindung ſeiner Auf¬
ſchneidereien amüſirt, die durch ihre Widerſprüche ſofort ſich
ſelbſt richten. Unmoraliſch iſt und bleibt die Lüge, aber als
[335] eine unſchädliche Poſſe, wie ſie auch bei einem Falſtaff,
einem Münchhauſen und ähnlichen Figuren erſcheint, wird
ſie lächerlich. Benedix hat ein Luſtſpiel: das Lügen,
ſehr glücklich darauf baſirt, daß ein ſehr wahrheitsliebender
Mann, der ſeine Braut auf einigen Lügen nach Weiberart
ertappt, endlich aus bloßer Caprice, das Lügen doch auch
einmal zu verſuchen, eine höchſt gleichgültig ſcheinende Un¬
wahrheit vorbringt. Aber dies Nichts, nämlich eines Abends
auf einem Schimmel nach einem Wäldchen zugeritten zu ſein,
zieht die herbſten Conſequenzen nach ſich, ſo daß man ihn
ſogar gefänglich einziehen will. Nun verſichert er, jenen
Ritt blos erfunden zu haben, um doch zu ſehen, ob denn das
Lügen eine ſolche Kunſt ſei, allein da man ihn ſtets als
den ſtrengſten Freund der Wahrheit gekannt hat, ſo will
man ihm anfänglich ſchlechterdings nicht glauben, daß er
diesmal wirklich gelogen. Wenn Jemand durch einen leicht¬
ſinnigen Hang, ohne Andern ſchaden zu wollen, lügt, wie
in Schmidts Luſtſpiel, der leichtſinnige Lügner, ſo erſcheint
die Lüge mehr als ein Naturproduct, denn als ein mora¬
liſches Vergehen. Sie wird zu dem, was wir Temperaments¬
fehler nennen. — Der Verrath, um komiſch zu ſein, muß
wie die Lüge behandelt werden, nämlich nur als eine ſchel¬
miſche Verrätherei. Die Intrigue ſpielt einen Betrug, um
die Schwäche und Eitelkeit, die falſche Selbſtgewißheit und
Heuchelei, in ihren eigenen Netzen zu fangen. Wenn
Madame Orgon ihren Gatten unter dem Tiſch verſteckt und
nun die zudringlichen Erklärungen des gleißneriſchen Tar¬
tüffe
mit ſcheinbarer Empfänglichkeit aufnimmt, ihren Ge¬
mahl von der Schändlichkeit des Scheinfrommen zu über¬
zeugen, ſo erfreuen wir uns ethiſch und äſthetiſch an dieſer
Entlarvung. Alte Vormünder, die des Vermögens halber
[336] ihre jungen und ſchönen Nichten zur Heirath zwingen wollen,
wie Doctor Bartolo im Barbier von Sevilla, verdienen,
wie er, geprellt zu werden und wir ſympathiſiren ſofort, dem
habſüchtigen Alten entgegen, mit allen Liſten, die ihn in ſei¬
nen ſchnöden Ränken zu Schanden machen, — Der Ehebruch,
als wirklicher Ehebruch, läßt keine komiſche, nur eine tragiſche
Behandlung zu (76). In einer Unzahl mittelaltriger Geſchicht¬
chen, Franzöſiſcher Contes, Italieniſcher Novellen (77), Deut¬
ſcher Schwänke, iſt der Ehebruch nur von Seiten des Verſtandes
dargeſtellt worden, nämlich die Hinderniſſe zu überwinden,
die ſich den Liebenden entgegenſtellen. Das ſittliche Moment
iſt ganz ignorirt und durch ſolche Abſtraction allerdings eine
Komik möglich gemacht. Kotzebue freilich hat in ſeinem
Schauſpiel Menſchenhaß und Reue, den Ehebruch auch
in einer Weiſe dargeſtellt, die nicht tragiſch und auch nicht
komiſch iſt. Er wird nämlich, wie das empiriſch der Welt
Lauf, verziehen — der Kinder wegen. Meinau und Eulalie
ſehen ſich nach vier Jahren wieder. Ihre Zuſammenkunft
ſchließt mit dem erſchütternden Entſchluß der Wiedertrennung.
Da eilen die Kinder, dieſe wahren Helden Kotzebue's, her¬
bei — und halten Vater und Mutter zuſammen. Kotzebue
hat damit nur eine höchſt traurige, aber ſehr gewöhnliche
Thatſache ausgedrückt, daß nämlich viele Ehen, innerlich
untergraben, auch äußerlich zuſammenbrechen würden, wenn
nicht der Gedanke, den Kindern gegenüber mit dem öffent¬
lichen Eingeſtändniß der Schuld die Pietät in ihnen zu ver¬
giften, die Eltern in leidlicher Scheineinheit zuſammenhielte.
Dieſe Motivirung, der tragiſchen Reſignation die Spitze ab¬
zubrechen, iſt es unſtreitig geweſen, welche dieſem Schauſpiel
durch ganz Europa hin einen ſo beiſpielloſen Erfolg erwarb
und unter den Damen ſelbſt die Eulalienhüte in Mode brachte.


[337]

Der Mord endlich kann komiſch nur als Parodie er¬
ſcheinen. Er wird zum poſſenhaften Spiel übertrieben, wie
wir in neuerer Zeit viel ſolcher ſchaudriger, maudriger Mo¬
rithaten in den Münchener fliegenden Blättern, in den
Muſenklängen aus Deutſchlands Leierkaſten, in den Düſſel¬
dorfer Monatsheften u. ſ. w. haben beſingen hören. Wäre
das Wort nicht doch noch zu gut dafür, ſo könnte man ſie
tragikomiſch nennen.

β. Das Geſpenſtiſche.

Das Leben ſcheuet ſeiner Natur nach den Tod. Vom
Todten iſt ſchon oben gehandelt. Es wird zum Geſpenſtiſchen,
wenn es, ſeiner Natur entgegen, doch wieder als das Le¬
bendige erſcheint. Der Widerſpruch, daß das Todte dennoch
lebendig ſein ſolle, macht das Grauen der Geſpenſterfurcht
aus. Das geſtorbene Leben als ſolches iſt nicht geſpenſtig.
Wir können bei einem Leichnam unbefangen wachen. Würde
aber ein Windhauch ſeine Decke bewegen oder würde das
Flackern des Lichts uns ſeine Züge ungewiß machen, ſo
würde der bloße Gedanke des Lebens in dem Todten, der
uns außerdem vielleicht ſehr angenehm ſein kann, zunächſt
etwas Geſpenſtiſches an ſich haben. Mit dem Tode ſchließt
für uns das Dieſſeits ab; die Eröffnung des Jenſeits durch
einen ſchon geſtorben Geweſenen hat den Charakter einer
furchtbaren Anomalie. Der Geſtorbene, dem Jenſeits ange¬
hörig, ſcheint Geſetzen zu gehorchen, die wir nicht kennen.
Mit dem Abſcheu vor dem Todten als einem der Verweſung
verfallenen Daſein, mit der Ehrfurcht vor dem Todten als
einem geweiheten Weſen, miſcht ſich das abſolute Myſterium
der Zukunft. Wir haben für unſere äſthetiſchen Zwecke die
Vorſtellung von Schatten und Geſpenſt auseinanderzu¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 22[338] halten, wie die Römer ähnlich zwiſchen Lemuren und Larven
unterſchieden. Die Vorſtellung von Geiſtern, die urſprüng¬
lich einer andern Ordnung angehören, hat zwar etwas Außer¬
ordentliches, auch wohl Grauenhaftes, aber nichts Geſpenſti¬
ſches an ſich. Dämonen, Engel, Kobolde, ſind, was ſie
ſind, von Hauſe aus, ſind es nicht erſt durch den Tod ge¬
worden. Sie ſtehen über den Schatten. Zwiſchen dem
Geſpenſt und dem Lebenden ſteht die eigenthümliche Vor¬
ſtellung des Vampyrismus. Der Vampyr wird als ein
Todter vorgeſtellt, der das Grab im Schein voller Leben¬
digkeit zeitweiſe verläßt, das junge, warme Leben zu ergreifen
und ihm das Blut auszuſaugen. Der Vampyr iſt ſchon
geſtorben und doch gelüſtet ihn noch, gegen das Weſen des
Todten, nach Nahrung, und zwar nach dem blühenden
Leben ſelber. Durch Göthe's Braut von Korinth, durch
Byron's Erzählung und Marſchners Oper: der Vampyr,
iſt dieſe Grabphantaſie auch bei uns bekannt genug geworden.
Als Sage iſt ſie unter den Griechiſchen und Serbiſchen
Völkern daſſelbe, was die Sage von den Wehrwölfen (loups
garoux
) unter den Romaniſchen. In den Mährchen von
Tauſend und Einer Nacht kommt auch die Vorſtellung von
Menſchen vor, die das Gelüſt haben, Leichen zu genießen,
das Leben alſo mit der Verweſung des Todes zu erſättigen,
die ſogenannten Gulen. Dieſe Orientaliſchen Lamien ſind
noch widerwärtiger, als die Vampyre, weil ſie noch unna¬
türlicher ſind.


Der Todte als einfacher Schatten erſcheinend kann
den Eindruck des Fremden machen, braucht aber durchaus
nicht häßlich zu ſein. Er kann im Weſentlichen dieſelbe Ge¬
ſtalt, wie im Leben, haben, nur etwa ins Bleiche, Farbloſe
verſchwimmend. In den Perſern hat Aeſchylos den
[339] Schatten des Dareios vom Chor aus der Unterwelt herauf¬
klagen laſſen, und als er nun ihm und der Atoſſa erſcheint,
läßt der Dichter den Chor (V. 690.) nur ſagen:

Mich ergreift Scheu vor dem Anſchaun,

Mich ergreift Scheu vor der Anred',

O Du alt ehrwürdiger König!

gibt aber durch kein Wort zu erkennen, daß in der Erſchei¬
nung als ſolcher irgend etwas Widriges liege. So iſt es der
Fall auch mit den Schatten, die in der Odyſſee aus dem
Hades ſich zur Opfergrube des Odyſſeus drängen. So mit
dem Schatten des Samuel, den die Todtenbeſchwörerin von
Endor für den Saul erſcheinen läßt. In einer für unſere
Aufgabe ſehr wichtigen Betrachtung über: der Tänzerin
Grab
(Werke, 44, 194 ff.) hat Göthe das Weſen des
Schattenhaften, Lemurenhaften, ſo vortrefflich auseinander¬
geſetzt, daß wir uns nicht enthalten können, Folgendes her¬
auszuheben. Es ſind drei Bilder, eine cykliſche Trilogie.
„Das kunſtreiche Mädchen erſcheint in allen dreien, und
zwar im erſten die Gäſte eines begüterten Mannes zum
Hochgenuß des Lebens entzückend; das zweite ſtellt ſie vor,
wie ſie im Tartarus, in der Region der Verweſung und
Halbvernichtung, kümmerlich ihre Künſte fortſetzt; das dritte
zeigt ſie uns, wie ſie, dem Schein nach wieder hergeſtellt,
zu jener ewigen Schattenſeligkeit gelangt iſt.“ Die erſte
Tafel ſtellt nun die Tänzerin bei einem Gaſtmahl in der
Rolle eines Bakchiſchen Mädchens dar, die Bewunderung
jeder Altersſtufe erregend. Das zweite Bild faßt ſie im
Uebergang von der Ober- zur Unterwelt auf. „Wenn auf
dem erſten die Künſtlerin uns reich und lebensvoll, üppig,
beweglich, graciös, wellenhaft und fließend erſchien, ſo ſehen
wir hier, in dem traurigen lemuriſchen Reiche, von Allem
22 *[340] das Gegentheil. Sie hält ſich zwar auf einem Fuße, allein
ſie drückt den andern an den Schenkel des erſtern, als wenn
er einen Halt ſuchte. Die linke Hand ſtützt ſich auf die
Hüfte, als wenn ſie für ſich ſelbſt nicht Kraft genug hätte;
man findet hier die unäſthetiſche Kreuzesform, die Glieder
gehen im Zickzack, und zu dem wunderlichen Ausdruck muß
ſelbſt der rechte aufgehobene Arm beitragen, der ſich zu einer
ſonſt graciös geweſenen Stellung in Bewegung ſetzt. Der
Standfuß, der aufgeſtützte Arm. das angeſchloſſene Knie,
alles gibt dem Ausdruck des Stationairen, des Beweglich¬
unbeweglichen: ein wahres Bild der traurigen Lemuren,
denen noch ſo viel Muskeln und Sehnen übrig bleiben, daß
ſie ſich kümmerlich bewegen können, damit ſie nicht ganz
als durchſichtige Gerippe erſcheinen und zuſammenſtürzen,
Aber auch in dieſem widerwärtigen Zuſtande muß die Künſtle¬
rin auf ihr gegenwärtiges Publicum noch immer belebend,
noch immer anziehend und kunſtreich wirken. Das Verlangen
der herbeieilenden Menge, der Beifall, den die ruhig Zu¬
ſchauenden ihr widmen, ſind hier in zwei Halbgeſpenſtern
ſehr köſtlich ſymboliſirt. Sowohl jede Figur für ſich, als
alle drei zuſammen componiren vortrefflich und wirken in
Einem Sinne zu Einem Ausdruck. — Was iſt aber dieſer
Sinn, was iſt dieſer Ausdruck? Die göttliche Kunſt, welche
Alles zu veredeln und zu erhöhen weiß, mag auch das
Widerwärtige, das Abſcheuliche nicht ablehnen. Eben hier
will ſie ihr Majeſtätsrecht gewaltig ausüben; aber ſie hat
nur Einen Weg, dies zu leiſten: ſie wird nicht Herr
vom Häßlichen
, als wenn ſie es komiſch behandelt;
wie denn ja Zeuxis ſich über ſeine eigene ins Häßlichſte
gebildete Hekuba zu Tode gelacht haben ſoll. — Bekleide
man dieſes gegenwärtige lemuriſche Scheuſal mit weiblich
[341] jugendlicher Muskelfülle — ſo wird man eine von den
komiſchen Poſituren ſehen, mit denen uns Harlekin und
Colombine unſer Leben lang zu ergötzen wußten. Verfahre
man auf dieſelbe Weiſe mit den beiden Nebenfiguren, und
man wird finden, daß hier der Pöbel gemeint ſei, der am
meiſten von ſolcherlei Vorſtellungen angezogen wird.“


„Es ſei mir verziehen, daß ich hier weitläufiger als
vielleicht nöthig wäre, geworden; aber nicht jeder würde
mir, gleich auf den erſten Anblick, dieſen antiken humoriſti¬
ſchen Genieſtreich zugeben, durch deſſen Zauberkraft, zwiſchen
ein menſchliches Schauſpiel und ein geiſtiges Trauerſpiel eine
lemuriſche Poſſe, zwiſchen das Schöne und Erhabene
ein Fratzenhaftes hineingebildet wird. Jedoch geſtehe ich gern,
daß ich nicht leicht etwas Bewundernswürdigeres finde, als
das äſthetiſche Zuſammenſtellen dieſer drei Zuſtände, welche
Alles enthalten, was der Menſch über ſeine Gegenwart
und Zukunft wiſſen, fühlen, wähnen und glauben kann.“


„Das letzte Bild wie das erſte ſpricht ſich von ſelbſt
aus. Charon hat die Künſtlerin in das Land der Schatten
hinübergeführt, und ſchon blickt er zurück, wer allenfalls
wieder abzuholen drüben ſtehen möchte. Eine den Todten
günſtige und daher auch ihr Verdienſt in jenem Reich des
Vergeſſens bewahrende Gottheit blickt mit Gefallen auf ein
entfaltetes Pergamen, worauf wohl die Rollen verzeichnet
ſtehen mögen, in welchem die Künſtlerin ihr Leben über
bewundert worden. — Cerberus ſchweigt in ihrer Gegen¬
wart, ſie findet ſchon wieder neue Bewunderer, vielleicht
ſchon ehemalige, die ihr zu dieſen verborgenen Regionen
vorausgegangen. Eben ſo wenig fehlt es ihr an einer
Dienerin; auch hier folgt ihr eine nach, welche, die ehe¬
maligen Functionen fortſetzend, den Shwal für die Herrin
[342] bereit hält. Wunderſchön und bedeutend ſind dieſe Umge¬
bungen gruppirt und disponirt, und doch machen ſie, wie auf
den vorigen Tafeln, blos den Rahmen zu dem eigentlichen
Bilde, zu der Geſtalt, die hier wie überall entſcheidend
hervortritt. Gewaltſam erſcheint ſie hier, in einer Mä¬
nadiſchen Bewegung, welche wohl die letzte ſein mochte,
womit eine ſolche Bakchiſche Darſtellung beſchloſſen wurde,
weil darüber hinaus Verzerrung liegt. Die Künſtlerin
ſcheint mitten durch den Kunſtenthuſiasmus, welcher ſie auch
hier begeiſtert, den Unterſchied zu fühlen des gegenwärtigen
Zuſtandes gegen jenen, den ſie ſo eben verlaſſen hat.
Stellung und Ausdruck ſind tragiſch, und ſie könnte hier
eben ſo gut eine Verzweifelnde als eine vom Gott mächtig
Begeiſterte vorſtellen. Wie ſie auf dem erſten Bilde die
Zuſchauer durch ein abſichtliches Wegwenden zu necken ſchien,
ſo iſt ſie hier wirklich abweſend; ihre Bewunderer ſtehen
vor ihr, klatſchen ihr entgegen, aber ſie achtet ihrer nicht,
aller Außenwelt entrückt, ganz in ſich ſelbſt hineingeworfen.
Und ſo ſchließt ſie ihre Darſtellung mit den zwar ſtummen,
aber pantomimiſch genugſam deutlichen, wahrhaft heidniſch
tragiſchen Geſinnungen, welche ſie mit dem Achill der
Odyſſee theilt, daß es beſſer ſei, unter den Lebendigen
als Magd einer Künſtlerin den Shwal nachzutragen, als
unter den Todten für die Vortrefflichſte zu gelten (77).“


Der Schatten iſt, wie ſein Name ſchon beſagt, ohne
Greifiichkeit. Er iſt zwar ſichtbar und hörbar, allein un¬
faßlich und daher von den materiellen Schranken unbeirrt.
Er kommt und geht — überall und iſt, der Zeit nach,
kaum an das ihm günſtige Dunkel der Nacht gebunden.
Die in's Düſtere malende Vorſtellung wird in ihm das
Grabhafte abſpiegeln, wie die Balladen beſonders die Ge¬
[343] rippe und Todtenhemden lieben, zuweilen aber, wie gleich
in Bürgers Lenore, den Schatten ſcheinbar auch in der
Form der vollen Wirklichkeit auftreten laſſen. Die Unfarben,
Schwarz, Weiß, Grau, ſind bei allen Völkern die Farben der
Schattenwelt, denn alle wirklichen Farben gehören dem Leben,
dem Tage und der Welt an. Zum Geſpenſt, larva, wird
nun der Schatten, wenn denſelben noch ein ethiſcher Zuſam¬
menhang mit der dieſſeitigen Welt verknüpft und ihn alſo im
Intereſſe der Geſchichte aus dem Jenſeits, worin er Ruhe
finden ſollte, wieder in das Getriebe des Dieſſeits zurückruft.
Abſolute, freie Ruhe, Seligkeit kann nur der Geiſt finden,
der die Geſchichte überwunden hat. Wenn der Menſch ſeine
Geſchichte noch nicht ausgelebt hat, ſo läßt ihn die Phantaſie
aus dem Grabe wiederkehren, auf der Oberwelt die Vollendung
ſeines Dramas zu betreiben. Sie verſpart die Abwickelung
des Reſtes ſeiner Geſchichte nicht auf eine unbeſtimmte Zeit
eines allgemeinen Gerichtes, ſondern löſ't ſie als poetiſche
Gerechtigkeit hier ſchon auf. Der Todte hat hiernach etwas
gethan oder ihm iſt etwas gethan, was als ein Angefangenes
zum Schluß geführt, oder als eine Schuld geſühnt werden
muß. Aeußerlich hat ihn der Tod aus dem geſchichtlichen
Zuſammenhang herausgeriſſen, allein die Einheit der innern
Nothwendigkeit läßt ihn noch nicht los und er erſcheint noch
wieder, ſein Recht, ſeine Sühne zu ſuchen. Nachts, wenn
der Schlaf die Lebenden umfängt, ſchleicht er hervor aus
der Erde Schooß, der ihn als einen noch Ungerechtfertigten
noch nicht für immer bergen kann, und nahet ſich dem Lager
der Träumenden, Halbwachenden. Er zeigt der Gattin
oder dem Sohne die blutende Wunde, die ihm, fern von
ihnen, von tückiſcher Hand geſchlagen; er beunruhigt den
Mörder ſelbſt durch die Qual ſeines Anblicks; er fordert
[344] die Seinigen auf zur Rache für ihm geſchehene Schmach;
er winkt, ihm nach Orten zu folgen, wo er den Lebenden
wichtige Zeugniſſe oder Schätze hinterlaſſen; oder er offenbart
auch Verbrechen, die er heimlich begangen und fleht, ihn
von ſeiner Schuld erlöſen, ihm ſeine Buße bewirken zu
helfen. Denn der Todte iſt ſchon unleibhaft und machtlos,
kann lichtſcheu nicht ſelbſt mehr in die taghelle Wirklichkeit
eingreifen; er kann nur flehen, beſchwören, lenken, daß
Recht und Liebe auch ihm, dem Todten, von den Lebendigen
nicht verkümmert werden. Ganz ſtumm kann der Geiſt bei
Todten dem Lebenden ſeine Schuld vorhalten, wie Banquo's
Schatten, der ſich an Macbeths Tafel niederläßt; oder er
kann mit dumpfem Klagenlaut reden, wie Hamlets Vater
u. ſ. w. Was iſt alſo das Geſpenſt? Es iſt der Reflex
des Schuldbewußtſeins, die Ruheloſigkeit der eigenen Ent¬
zweiung, die ſich in das Bild des drängenden Geiſtes
projicirt, wie jener Maler geiſtreich den Steckbrief als
das Doppelbild des Mörders ſelber, den er verfolgt, gemalt
hat. Der Mörder flieht in trüber Nacht; rieſengroß eilt
der Steckbrief ihm nach; dieſer Brief iſt aber, ſieht man
ihn näher an, wieder der Mörder ſelber, er iſt der unendliche
Widerſchein ſeiner Schuld; er flieht vor ſich ſelber und ſchreibt
ſich ſelber den Steckbrief. Dies ethiſche Moment gibt dem
Geſpenſtiſchen die ideale Weihe; in ſeiner Schattenhaftigkeit
muß es doch daß Gewicht derjenigen Nothwendigkeit durch¬
fühlen laſſen, die auf dem ewigen Grunde der ſittlichen
Mächte beruhet. In dem Geſpenſt muß ſich ein Intereſſe
manifeſtiren, das über alle Meinung, über allen Hohn und
Angriff der Lebenden hinaus iſt, wie der Geiſt des erſchla¬
genen Comthur dem leichtſinnig frevelnden Don Juan in
ſolcher Hoheit gegenüber ſteht.


[345]

Die Darſtellung des Geſpenſtiſchen iſt daher außer¬
ordentlich ſchwer. Leſſing hat in № X.–XII. der Dra¬
maturgie die äſthetiſche Theorie des Geſpenſtiſchen gegeben.
„Der Same, Geſpenſter zu glauben, liegt in uns Allen, und
in denen am häufigſten, für die er (der dramatiſche Dichter)
dichtet. Es kommt nur auf ſeine Kunſt an, dieſen Samen
zum Keimen zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe, den
Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geſchwindigkeit den
Schwung zu geben. Hat er dieſe in ſeiner Gewalt, ſo
mögen wir im gemeinen Leben glauben, was wir wollen; im
Theater müſſen wir glauben, was Er will.“ Leſſing ſtellt
nun Voltaire und Shakeſpeare einander entgegen, den
erſtern als den, welcher das Weſen des Geſpenſtes verfehlt,
den zweiten als den, welcher es richtig verſtanden und mei¬
ſterhaft, nach Leſſing faſt einzig und allein, dargeſtellt habe.
Voltaire hatte in ſeiner Semiramis den Schatten des
Ninus, am hellen Tage, mitten in einer Verſammlung der
Stände des Reichs, von einem Donnerſchlag begleitet, aus
ſeiner Gruft hervortreten laſſen. „Wo hat Voltaire jemals
gehört, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau
hätte ihm nicht ſagen können, daß die Geſpenſter das Son¬
nenlicht ſcheuen, und große Geſellſchafen gar nicht gern
beſuchen? Doch Voltaire wußte das zuverläßig auch; aber
er war zu furchtſam, zu ekel, dieſe gemeinen Umſtände zu
nutzen: er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein
Geiſt von einer edlern Art ſein, und durch dieſe edlere Art
verdarb er Alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge heraus¬
nimmt, die wider alles Herkommen, wider alle guten Sitten
unter den Geſpenſtern ſind, dünkt mich kein rechtes Geſpenſt
zu ſein; und Alles, was die Illuſion nicht befördert, ſtört
hier die Illuſion.“ Leſſing beſchränkt ſich auf die Verglei¬
[346] chung des Ninus mit dem Vater des Hamlet. Er macht
die feine Bemerkung, daß der Geiſt des letztern nicht ſowohl
durch ſich, als durch die Art und Weiſe wirke, wie Hamlet
uns die Wirkung der Erſcheinung auf ſich ausdrückt. Der
Geiſt des Ninus hat den Zweck, Blutſchande zu verhindern
und Rache an ſeinem Mörder zu üben. Er iſt nur als eine
poetiſche Maſchine des Knotens wegen da; Hamlets Vater
dagegen eine wirklich handelnde Perſon, an deren Schickſal
wir Antheil nehmen, die Schauder, aber auch Mitleid erweckt.
Voltaire's Hauptfehler beſteht nun nach Leſſing darin, daß
er in der Erſcheinung des Geiſtes eine Ausnahme von den
Geſetzen der Weltordnung, ein Wunder, Shakeſpeare hin¬
gegen eine ganz natürliche Begebenheit erblickt, „denn es
iſt unſtreitig dem weiſeſten Weſen weit anſtändiger, wenn
es dieſer außerordentlichen Wege nicht bedarf, und wir uns
die Belohnung des Guten und Beſtrafung des Böſen in die
ordentliche Kette der Dinge von ihm mit eingeflochten denken.“
Dies iſt es, was wir oben mit den Worten haben bezeichnen
wollen, daß erſt die Nothwendigkeit der ewigen ſittlichen
Mächte dem Geſpenſtiſchen die ideale Weihe zu geben ver¬
möge. Der eigene Trieb des Geiſtes muß von Innen her¬
aus die ſonſtigen Schranken des Grabes durchbrechen. —
Aber eine kleine Bemerkung dürfen wir uns wohl gegen
Leſſing erlauben. Er hat den Unterſchied zwiſchen Schatten
und Geſpenſt hier unbeachtet gelaſſen. Er hat nicht daran
gedacht, daß der Geiſt Banquo's ſeinen Platz an der Tafel
einnimmt, bei hellem Lichte einnimmt, bei demſelben Dichter,
den er übrigens mit dem vollkommenſten Rechte als den
Meiſter in der Schilderung des Grauenhaften im Geſpenſti¬
ſchen rühmt. Er tadelt es an Voltaire als eine Unſchick¬
lichkeit, ein Geſpenſt vor den Augen einer großen Menge
[347] erſcheinen zu laſſen. „Alle müſſen auf einmal, bei Er¬
blickung deſſelben, Furcht und Entſetzen auf verſchiedene Art
äußern, wenn der Anblick nicht die froſtige Symmetrie eines
Ballets haben ſoll. Nun richte man einmal eine Heerde
dummer Statiſten dazu ab; und wenn man ſie auf das
Glücklichſte abgerichtet hat, ſo bedenke man, wie ſehr dieſer
vielfache Ausdruck des nämlichen Affects die Aufmerkſamkeit
theilen und von den Hauptperſonen abziehen muß.“ Wenn
nun Leſſing an den Geiſt des Dareios den Aeſchyleiſchen
Perſern gedacht hätte? Erſcheint derſelbe nicht außer der
Atoſſa auch dem ganzen Chor? Aber Dareios erſcheint eben
nicht als Geſpenſt; es iſt von keiner Schuld zwiſchen ihm
und Atoſſa die Rede, ſie will nur ihm, dem großen Könige,
das unermeßliche Leid klagen. Das Geſpenſt, darin hat
Leſſing Recht, bezieht ſich nur auf eine oder auf wenige
Perſonen, denn es hat ein beſtimmtes Verhältniß zu ihnen.
Shakeſpeare hat dieſe ausſchließende Beziehung ſtets mit
tiefer Pſychologie beachtet. Hamlet ſieht des Vaters Geiſt,
die Mutter nicht. Banquo wird von Macbeth, nicht von
den Gäſten geſehen. Aus dem Zelte des Brutus entfernt
ſich einer nach dem andern; nur ein Knabe bleibt, den aber
der Schlaf auch überwältigt; Brutus iſt allein und nun er¬
ſcheint ihm, dem Mörder, am dämmernden Morgen der ent¬
ſcheidenden Schlacht, der Geiſt Cäſars.


Wird die ethiſche und ätheriſche Natur des Geſpen¬
ſtiſchen mit plumpen Händen angefaßt, ſo ſinkt ſie in eine
niedrigere Stufe, in das Spukhafte herunter, wie es
namentlich von den Deutſchen Ritter- und Räuberromanen
geliebt wird: Pantolino oder das furchtbare Geſpenſt um
Mitternacht; Don Aloyſo oder die unerwartete Erſcheinung
am Kreuzwege u. ſ. w. Das Spukhafte iſt durchſchnittlich
[348] im Inhalt eben ſo abſurd, als in der Form. Es äfft den
Lebenden durch unheimliche, verſtandloſe, mit dem Ernſt des
Jenſeits mehr kokettirende als wirklich mit ihm zuſammen¬
hängende Dinge. Unſere romantiſche Schule hat das Ge¬
ſpenſtiſche vorzüglich nach dieſer Richtung hin ausarten laſſen.
Die ſeltſamſte Albernheit, die fratzenhafteſte Verrücktheit galt
für genial. Man konnte conſequeut das Ethiſche, ſofern
man noch überhaupt an daſſelbe dachte, nur noch als das
Fataliſtiſche und dann immer nur in einer ſcheußlichen Geſtalt
feſthalten, wie z. B. in Hr. v. Kleiſt Familie Schroffen¬
ſtein
der abgehauene Kindesfinger. Wenn in der Oreſtie
die Klytämneſtra mit dem Dolch in der Wunde erſcheint, die
des Sohnes Hand ihr geſchlagen, ſo iſt dies ein durch ſeine
Wahrheit erſchütterndes Phantom; wenn aber mit einem
Meſſer, wie in Werners Februar, wieder gemordet werden
muß, weil ſchon einmal mit ihm gemordet iſt, ſo iſt das
ein unvernünftiger, ſpukhafter Zuſammenhang. Dieſe Ten¬
denz hat daher auch eine große Vorliebe für Puppen, Nu߬
knacker, Automate, Wachsfiguren u. ſ. w. Hoffmann's
Nußknacker zog eine ganze Menge ähnlicher Spukfiguren
nach ſich, ſo daß Immermann noch im Münchhauſen eine
Satire darauf in dem großen, bramabarſirenden Ruspoli
einflechten konnte. Je hohler und gehaltloſer ſolche Einfälle
wurden, für um ſo phantaſtiſcher wurden ſie oft gehalten.
Es war ein Glück, daß man durch die Phantaſie des Volkes
doch ſchon manche Elemente vorgearbeitet fand, in denen
wenigſtens die ſchreckliche Seite des Spukhaften richtiger
gefaßt und mit einem Anklang der Idee verſetzt war. So
waren eine Zeitlang durch Arnim die Golems Mode ge¬
worden, Lehmfiguren, welche durch einen auf die Stirn
geklebten, mit Sprüchen des Geiſterfürſten Salomo beſchrie¬
[349] benen Zettel ein Scheinleben erhalten. Das Höchſte in
dieſer Region hat wohl Shelley's Frau in einem umfäng¬
lichen Roman geleiſtet, der Frankenſtein oder der mo¬
derne Prometheus
heißt. Dieſer Roman verdient hier
um ſo mehr erwähnt zu werden, als er auch die Idee des
Häßlichen auf intereſſante Weiſe verarbeitet hat. Ein Natur¬
forſcher hat ein menſchliches Automat unter unzähligen
Mühen vollendet. Der große Augenblick iſt gekommen, wo
die Maſchine zur Autonomie übergehen, wo ſie ſehen, hören,
ſprechen, ſich bewegen ſoll. Dies Schauſpiel kann ihr
Schöpfer nicht ertragen; er ſtürzt in ſein Schlafgemach fort
und ſchläft hier trotz ſeiner fieberhaften Spannung vor Er¬
müdung ein. Als er endlich wieder erwacht und in ſein
Atelier zurückkehrt, findet er es leer. Das Automat iſt
nämlich unterdeſſen wirklich lebendig geworden und hat, als
ein vollkommen ausgebildeter Menſch, ſchnell die ganze Scala
von Empfindungen durchlaufen, wie Condillac ſie in ſeiner
bekannten ſenſitiv gewordenen Statue ſchildert. Im Mond¬
licht, mit einem Anzug Frankenſteins, dringt es aus dem
Zimmer ins Freie und verliert ſich in die Einſamkeit der
Berge, in das Dickicht der Wälder, von Menſchen, ſelbſt
von Thieren, als ein ſchlechthin heterogenes Weſen gemieden.
Obwohl nach der Intention ſeines Schöpfers nicht nur ſtark,
ſondern auch ſchön gebildet, erſcheint es doch lebend als
ein widriges Ungeheuer. Die Bewegung des Lebens macht
alle ſeine Formen und Züge zu geſpenſtigen Verzerrungen.
Endlich intereſſirt es ſich für eine einſam wohnende Prediger¬
familie, die es heimlich beobachtet. Es erzeugt ſich das Be¬
dürfniß, die Sympathie auszudrücken und es thut dies,
indem es nächtlich Holz herzuträgt. Zu Winters Anfang
nimmt man das wohlthätige Monſtrum, das blos durch
[350] verſtecktes Lauſchen hier nicht nur ſprechen, auch leſen gelernt
hat, eines Morgens wahr, entſetzt ſich aber vor ihm, brennt
die Wohnung nieder und reiſt über Nacht ab. Wir enthalten
uns jeder pſychologiſchen Kritik, denn obwohl Miſtriß
Shelley mit großer Ausführlichkeit es gerade auf die Pſycho¬
logie angelegt hat, ſo gehört doch ein ernſteres Nachdenken
über den Cauſalnexus nicht in ein Werk, das von vorn herein
auf einer Fiction beruhet und deſſen Geſchichte mehr einen
ſymboliſchen Charakter hat. Wir ſchweigen daher auch von
den ſonſtigen äſthetiſchen Mängeln und fahren in unſerm
Bericht fort. Aus einem Brief in Frankenſteins Kleidern,
in denen es entwichen, erfährt das Ungethüm — denn wozu
hätte es leſen gelernt? — das Geheimniß ſeiner Geburt.
Rache gegen ſeinen Schöpfer, der es ſo elend gemacht,
treibt es zum Morde von Frankenſteins Sohn. Im Gebirge
trifft es mit Frankenſtein ſelber einſam zuſammen, ſchleppt
ihn in eine Höhle und erzwingt von ihm den Schwur, ihm
ein weibliches, durch gleiche Häßlichkeit zur Verbindung mit
ihm geeignetes Weſen zu ſchaffen, widrigenfalls es alles
ihm Theure morden werde. Der moderne Prometheus macht
ſich auch an die Ausführung und iſt ſchon wieder der
Vollendung nahe, als der entſetzliche Gedanke in ihm auf¬
ſteigt, durch das Weib vielleicht einer ſcheußlichen Raçe die
Exiſtenz zu geben. Da er ſich in ſeiner Arbeit von den
heimlich ſchleichenden Späheraugen des Ungeheuers überwacht
weiß, bricht eine unendliche Wuth in ihm aus, in welcher
er ſeine Schöpfung wieder zerſtört, die Stücke des Au¬
tomats in einen Korb packt, dieſen in ein Boot ſetzt und
damit allein auf den See hinausfährt. Hier verſenkt er
ſein Werk, hat aber dabei, obwohl es nur ein Maſchinen¬
weib, faſt das Gefühl eines Verbrechens. Im weitern ſehr
[351] phantaſtiſchen Verlauf, der nicht hieher gehört, ermordet das
Ungeheuer die Geliebte Frankenſteins und verliert ſich dann
in die Nebel des Nordens. Dieſe verworrene, weiblich auf¬
gebauſchte Compoſition hat manches Kühne und Tiefe, das
ſie anziehend macht. Das reifſte Product menſchlicher Tech¬
nik, wenn es mit der Wunderthat des Schöpfers rivaliſiren
will, wird gerade durch das erreichte künſtliche Leben zum
Monſtrum, das in ſeiner abſoluten Iſolirung, keinem Weſen
naturverwandt, ſich höchſt elend fühlt. Gerade im Augen¬
blick, als Frankenſtein dem Triumph ſeiner mühſeligen Arbeit
ſich nähert, erbebt er vor ſeiner Schöpfung, entfernt ſich
das eine Mal, zerſtört ſie das andere Mal. Und bei dieſer
Zerſtörung erſchrickt er nicht etwa nur vor den Folgen in
Beziehung auf ſein Wohl, ſondern es durchſchauert ihn wie
bei einem Morde. In dieſem Gefühl culminirt hier die
Schilderung des Spukhaften, denn das Spukhafte beſteht
nicht nur darin, daß Todte als Lebendige ſich regen, ſondern
vorzüglich darin, daß todte Dinge, Beſenſtiele, Meſſer,
Uhren, Bilder, Puppen, lebendig werden und noch eine
Potenz höher nur noch darin, daß wunderliche Töne er¬
klingen, ſeltſame, ganz unerhörte, unausſprechliche Myſterien
bergend; denn wenn noch ein gewiſſer ethiſcher Zuſammen¬
hang da iſt, wie in Kleiſt's Bettelweib von Locarno,
wo aus dem Winkel eines Zimmers zu einer gewiſſen Zeit
ein röchelnd durchdringender Ton erſchallt, weil man hier
einmal ein armes Bettelweib hat verſchmachten laſſen, deſſen
Todesſeufzer zur ſelben Stunde ſich ſeitdem als eine gräßlich
feierliche Mahnung zum Mitleid vernehmen läßt, ſo iſt noch
viel zu viel Vernunft da. Der ganz inhaltloſe, ganz in der
Luft ſchwebende Ton, iſt dieſen Romantikern à la Hoffmann
erſt recht romantiſch, wie ihre Blume nicht Roſe und Veil¬
[352] chen, ſondern „die blaue Blume“ überhaupt iſt. Je ab¬
ſtracter, deſto räthſelhafter. Shelley's Frau hat denn doch
wirklich tiefere Phantaſieen. Wie groß tritt bei ihr die Vor¬
ſtellung in Frankenſtein auf, durch die neue von ihm ins
Daſein gerufene Raçe in dem menſchlichen Geſchlecht auf
immer eine unaustilgliche Entzweiung zu begründen, nämlich
zwiſchen dem gottgeſchaffenen Naturmenſchen und dem vom
Calcul gemachten Kunſtmenſchen. Wie tief iſt nicht die
Nothwendigkeit motivirt, dem häßlichen Manne folgerichtig
auch das häßliche Weib zuzueignen und mithin das Häßliche
als Norm, als Ideal der Gattung zu ſetzen!


Wie leicht das Spukhafte in's Komiſche gewendet
werden könne, iſt auszuführen überflüſſig, da die Satire
auf die Geſpenſterſeherei ſich oft genug mit dieſer Perſiflage
beſchäftigt hat (78). Aber auch außerhalb der Satire hat
die Kunſt das Geſpenſtiſche und Spukige oft genug zur Be¬
reitung der lächerlichſten Verwicklungen benutzt, unter welchen
der Schlußgeſang von Byron's Dun Juan wohl die ele¬
ganteſte, ſceniſch und pſychologiſch am Folgerechteſten durchge¬
führte Darſtellung enthällt. Don Juan iſt entſchloſſen, den
Mönch zu ſehen, der im Schloſſe ſpuken ſoll. Ein alter¬
thümlich meublirtes, Gothiſches Zimmer, Mondſchein; zwei
Piſtolen auf dem Tiſch; Mitternacht; ſonderbares Rauſchen
auf dem Corridor; es nahet ſich; er iſt es, der Mönch!
Zwei Feueraugen ſchauen aus einer verhüllten Kapuze. Don
Juan ſpringt auf; der Mönch weicht auf den dunklern Cor¬
ridor zurück; der Ritter folgt, ergreift das Phantom, ringt
mit ihm — und


Der Geiſt, — ſo's einer war, — ſchien ſüße Seele,

Süß wie ſie je ſich barg im Muſchelhut,

Mit Grübchenkinn und Schwanenhals, als ſtöhle

[353]
Sich aus der Kutte Form von Fleiſch und Blut.

Da ſank die graue Hüll' und ſonder Hehle

Enthüllte ſich — wozu denn ach! war's gut? —

Der Geiſt mit üppger Bruſt und vollen Waden

Als Herzogin Fitzfulk höchſt muntre Gnaden.
γ. Das Diaboliſche.

Wir haben das Böſe zuerſt als das Verbrecheriſche be¬
trachtet. Als pure negative Geſinnung, ohne ſich ſymboliſch
in einer deformen Geſtalt oder objectiv in einer Handlung
auszudrücken, würde es nämlich kein äſthetiſches Object ſein.
Wir haben die Bezeichnung des Verbrecheriſchen aber auch
deshalb gewählt, weil wir andeuten wollten, daß der Menſch
ſich durch einen hybriden Affect, durch Leidenſchaft, durch den
Conflict der Umſtände zu einer böſen That kann hinreißen
laſſen, ohne in ſich durch und durch, ohne principiell böſe,
ohne diaboliſch zu ſein. Oedipus, Oreſtes, Medea, Othello,
Karl Moor u. ſ. w. begehen Verbrechen, ohne daß man
ihnen Bosheit, Freude am Böſen, zuſchreiben könnte. Das
Geſpenſtiſche haben wir dem Verbrecheriſchen nachfolgen
laſſen, weil es weſentlich durch irgendwelchen ſchuldvollen
Zuſammenhang vermittelt wird. Wir haben es unterſcheiden
vom Reich der Dämonen; wir haben es auch unterſcheiden
vom Reich der Schatten überhaupt. Die Erſcheinung eines
Geiſtes, wie des Erdgeiſtes im Götheſchen Fauſt, eines
Schattens, wie des Dareios in den Aeſchyleiſchen Perſern,
kann Grauen erwecken, aber zugleich erhaben ſchön ſein.
Zum Geſpenſt wird der Schatten erſt, wenn ein Todter
ſeine Geſchichte noch nicht ausgelebt hat, alſo in den Prag¬
matismus der fortlaufenden noch verwickelt iſt. Wir be¬
dienten uns aus Vorſicht auch hier einer umfaſſenderen Be¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 23[354] ſtimmung, um nicht ſolche Erſcheinungen auszuſchließen, die
nicht direct durch das Böſe hervorgerufen werden. Durch
das Böſe nämlich als ein ihnen ſelbſt inhärirendes, denn
Banquo ſelber z. B. iſt ja nicht böſe, nicht verbrecheriſch,
und doch erſcheint er. Wir hoben die Ruheloſigkeit des
Todten hervor, den noch irgend ein wichtiges Intereſſe in
das Dieſſeits zurückbannt. Inſofern aber das Geſpenſtiſche
zum Spuk wird, tritt es auch noch nicht geradezu in das
Gebiet des Böſen ſchlechthin, vielmehr in die früher von uns
betrachtete Region des Abſurden ein. Das Geſpenſtiſche als
der Widerſchein der innern Zerriſſenheit kann äſthetiſch eben
dadurch ſchön werden, daß es, wie Leſſing richtig ſagt,
Schaudern und doch Mitleid erweckt. Als mit den Vor¬
ſtellungen des Todes, der Verweſung, der Schuld, des Böſen
zuſammenhängend, erregt es unſern Abſcheu; es iſt widrig;
aber als mit den ethiſchen Intereſſen verknüpft, als die
Würde der ſelbſt über den Tod hinausgreifenden Gerechtig¬
keit darſtellend, wird es zugleich von der Häßlichkeit wieder
befreiet, wie die Schattengeſtalt des Comthur in Mozarts
Don Juan ſo unvergleichlich zeigt. Der Wahnſinn hat in
ſeiner Selbſtverlorenheit unſtreitig etwas Geſpenſtiſches an
ſich. Der Verrückte iſt aber umgekehrt als der Todte an
eine Vorſtellung entfremdet; das Geſpenſt nämlich kehrt aus
dem Jenſeits in das Dieſſeits zurück; es hat den ungeheuren
Sprung von dem einen zum andern gethan; der Verrückte
hingegen lebt noch, iſt aber der Wirklichkeit durch ſeinen
Wahn entzogen, iſt für die lebendigen Intereſſen der poſi¬
tiven Realität krankhaft todt. Die unermeßliche Größe Sha¬
keſpeare's, der das menſchliche Herz in allen ſeinen Höhen
und Tiefen gründlichſt gekannt hat, gibt uns auch hier die
trefflichſten Beiſpiele. Seine Lady Macbeth, wie ſie des
[355] Nachts vom Lager ſich erhebt und im Traumwachen die
Blutflecken von der kleinen Hand waſchen möchte, iſt eine
dem Geſpenſtiſchen ganz nahe ſtehende Erſcheinung, welche
uns das Blut in den Adern erſtarren macht. Schuldbewußt¬
ſein, Nachtwandeln, beginnende Zerrüttung des Geiſtes
miſchen ſich hier zu einem ungeheuren Effect. Sein König
Lear, wenn er, einen Kranz von Stroh tragend, mit einem
Baumaſt ſich ſtützend, auf offener Haide wahnſinnige Reden
ſprudelt, macht einen geſpenſtiſchen Eindruck. Aber in dieſen
Scenen iſt durch den gewaltigen Zuſammenhang, in welchem
ſie ſtehen, noch immer Vernunft. Der Spuk dagegen geht
in's Alberne und Unheimliche über. Dennoch wäre es ſehr
einſeitig, auch ihm ſein äſthetiſches Recht zu verſagen. Die
Phantaſie hat auch ihm eine wunderbare Schönheit abzuge¬
winnen verſtanden, theils in den Mährchen der Völker,
theils in den Kunſtdichtungen großer Meiſter, wie in Tiecks
herrlichen Phantaſusſagen vom blonden Eckbert vom Runen¬
berge, vom Pokal u. a.


Aus dieſer Entwicklung wird nun wohl die falſche Ein¬
ſeitigkeit derjenigen Begriffsbeſtimmung erhellen, welche das
Häßliche mit dem Geſpenſtiſchen und dies wieder mit dem
Böſen identificirt. Weiße hat ſich bei ſeiner Theorie durch
die Vorſtellung der Hölle in der religiöſen Phantaſie der
Völker zu dem Irrthum fortreißen laſſen, in den Höllenbe¬
wohnern, vulgo Teufeln, die wahren Geſpenſter, zu ſehen,
was ſich äſthetiſch nicht rechtfertigen läßt. Aeſthetik I. 188:
„Die Geſtalten dieſes Abgrunds ſind die Geſpenſter, die
ein ſelbſtſtändiges, oder objectives und von der Subjectivität
der Phantaſie losgetrenntes Daſein lügen, und durch dieſe
Lüge die endlichen Geiſter, denen ſie, jedem einzelnen zur un¬
endlichen Particularität entfaltet, erſcheinen, in denſelben Ab¬
23 *[356] grund der Verworfenheit herunterzureißen drohen.“ S. 196:
„Daher als allgemeines Attribut alles Häßlichen, daß es ein
Geſpenſtiſches und Unheimliches iſt; welche Ausdrücke
man der myſteriöſen oder heimlichen Natur der Schön¬
heit gegenüberſtellen kann. Als dieſe geſpenſtiſche Natur
drängt ſich die Häßlichkeit in alle Formbildungen der Schön¬
heit ein, und ſtört dieſe, indem ſie ihnen ſtatt ihrer wahren
Bedeutung, die jeder einzelnen ihre beſondere dialektiſche
Stellung anweiſt, das gehaltloſe Treiben der ſich an die
Stelle des Höchſten ſetzenden Phantaſie unterſchiebt. Weil
übrigens dies Hinaustreten der geſpenſtiſchen Phantaſie aus
der Sphäre ihres Seins d. h. ihrer Nichtigkeit, in die höhern
Sphären der äſthetiſchen Wirklichkeit, eine Zertrümmerung
der Formen iſt, in denen die Idee der Schönheit weſentlich
beſteht, ſo iſt der letzte und zureichende Grund dieſes Ge¬
ſchehens nicht innerhalb, ſondern außerhalb oder jenſeits dieſer
Idee, nämlich in der Weſenheit und dem Begriff des Böſen
zu ſuchen“. Wir haben nicht nur nichts dagegen, ſondern
wir ſtimmen ganz damit überein, im Böſen die abſolute
Lüge und inſofern in ihm auch ein geſpenſtiges Mo¬
ment
zu erblicken, allein das Geſpenſtiſche nur als eine
Lüge und das Häßliche nur als ein Geſpenſtiſches zu nehmen,
ſcheint uns eine Verirrung des Aeſthetikers zu ſein, deren
Falſchheit erſt recht bei ſeinem Nachfolger Ruge und wiede¬
rum bei deſſen Ausmaler K. Fiſcher ans Licht tritt (79).


Indem wir nun weiter vorwärts zum Diaboliſchen
gehen könnten, müſſen wir noch mit einem andern Philoſo¬
phen, mit Hegel uns auseinanderſetzen, denn nach einer
ausführlichen und ſehr nachdrücklichen Stelle deſſelben in der
Aeſthetik I., 284. ff. iſt das Böſe überhaupt unfähig, ein
äſthetiſches Intereſſe zu erregen. Bei der Wichtigkeit der
[357] Sache an ſich und bei dem Werth, den wir auf Hegels
Anſichten legen, wird man uns wohl erlauben, ſeine eigenen
Worte anzuführen und mit einigen Bemerkungen zu be¬
gleiten. Hegel ſagt: „Die Realität des Negativen kann
zwar dem Negativen und deſſen Weſen und Natur ent¬
ſprechen, wenn aber der innere Begriff und Zweck bereits
in ſich ſelber nichtig iſt, ſo läßt die ſchon innere Häßlichkeit
noch weniger in ſeiner äußern Realität eine ächte Schönheit
zu“. Daß das Negative nicht die Form des Poſitiven
haben könne, iſt natürlich. Daß ſein Inneres als ein hä߬
liches ſich auch äußerlich in eine entſprechende Geſtalt reflec¬
tiren müſſe, ebenfalls. Nun tritt aber äſthetiſch ein Unter¬
ſchied ein. Wenn nämlich die Kunſt das Aeußere dem Innern
gemäß bildet, ſo wird bei dem Schlechten dies Aeußere ſelbſt
freilich nicht ſchön in dem Sinne ſein dürfen und ſein
können, wie es bei dem Guten und Wahren der Fall iſt.
Werden wir aber nicht urtheilen müſſen, daß der Künſtler,
der das Negative ganz ſeinem Weſen gemäß zur Anſchauung
bringt, daſſelbe ſchön darſtelle? Nicht ſchön durch erhabene
oder gefällige, ſondern durch gemeine und widrige Formen,
die er aber ſo zu treffen, ſo zu vereinen, ſo zu geſtalten
gewußt hat, daß ſie eben das negative Innere unverkennbar
als ein häßliches darſtellen. Iſt denn die Zeichnung des
Böſen ſo leicht, daß ſie jedem Stümper gelingen kann? —
„Die Sophiſtik, fährt Hegel fort, kann zwar durch Geſchick¬
lichkeit, Stärke und Energie des Charakters den Verſuch
machen, poſitive Seiten in das Negative hineinzubringen,
wir behalten aber dennoch nur die Anſchauung eines über¬
tünchten Grabes. Denn das nur Negative iſt überhaupt
in ſich matt und platt und läßt uns deshalb entweder leer,
oder ſtößt uns zurück, mag es nun als Beweggrund einer
[358] Handlung oder blos als Mittel gebraucht werden, um die
Reaction eines andern herbeizuführen. Das Grauſame,
Unglückliche, die Herbigkeit der Gewalt und Härte der Ueber¬
macht läßt ſich noch in der Vorſtellung zuſammenhalten und
ertragen, wenn es ſelber durch die gehaltvolle Größe des
Charakters und Zwecks gehoben und getragen wird; das
Böſe als ſolches aber, Neid, Feigheit und Niederträchtigkeit
ſind nur widrig, der Teufel für ſich iſt deshalb eine
ſchlechte äſthetiſch unbrauchbare Figur
, denn er
iſt nichts als die Lüge in ſich ſelbſt, und deshalb eine höchſt
proſaiſche Perſon“. Halten wir hier einen Augenblick an.
Daß das Böſe ethiſch und religiös verwerflich iſt, verſteht
ſich von ſelbſt. Haben doch die Neuplatoniker es ſogar nur
als das, ſeiner empiriſchen Exiſtenz ungeachtet, Nichtſeiende
genommen. Daß das Böſe äſthetiſch widrig iſt, bejahen
auch wir in ſolchem Grade, daß unſere ganze Abhandlung
des Widrigen im Begriff des Böſen und Diaboliſchen cul¬
minirt. Iſt deshalb aber das Böſe äſthetiſch unbrauchbar?
Iſt in der Welt der Erſcheinungen nicht das Negative mit
dem Poſitiven, das Böſe mit dem Guten in einem Comrer,
der das Weſen des einen immer durch die Erſcheinung des
andern illuſtrirt? Nun ſagt Hegel auch wohl nicht ohne
Vorſicht: der Teufel für ſich ſei eine ſchlechte äſthetiſch un¬
brauchbare Figur. Der Teufel für ſich ſoll doch wohl ſo
viel bedeuten, als allein, als losgeriſſen von dem geſammten
Weltzuſammenhang, als iſolirtes Object der Kunſt. Da¬
gegen läßt ſich nichts einwenden. Wir haben in der Ein¬
leitung ſchon auseinandergeſetzt, daß das Böſe und Hä߬
liche nur als in Totalität der großen, göttlichen Weltord¬
nung verſchwindende Momente gedacht werden müſſen. Allein
innerhalb dieſer Bedingung, iſt da das Teufliſche auch ſo
[359] durchaus unäſthetiſch? Wer dies behaupten wollte, müßte
von der Kunſt nur moraliſche Exhibitionen verlangen, müßte
von ihr gar nicht fordern, daß ſie das Bild der Welt in
ihren Schöpfungen ſo abſpiegele, daß wir durch den Kampf
der Erſcheinungen hindurch auf den ſich ewig gleichen Grund
der ſchlechthin affirmativen Idee blicken. Es iſt richtig, daß
das Böſe uns leer läßt, daß es uns von ſich zurückſtößt;
es iſt richtig, daß die Sophiſtik der Leidenſchaft die innere
Hohlheit des Schlechten nicht verdecken kann. Aber die
Darſtellung des Schlechten, die jenes Urtheil als ein Re¬
ſultat
in uns werden läßt, kann ſie nicht äſthetiſch
intereſſant ſein? Iſt der formale Geiſt, den das Böſe
heuchleriſch entwickelt, iſt die formale Energie, mit welcher
es ſeine Zwecke verfolgt, iſt die tyranniſche Größe, mit der
es rückſichtslos Verbrechen auf Verbrechen häuft, iſt das
Alles äſthetiſch unbrauchbar? Wie kommt es, daß die ganze
dramatiſche Kunſt des Mittelalters ſich an dieſem „proſai¬
ſchen“ Element hat groß ziehen können? Wie kommt es,
daß auch Englands claſſiſche Bühne von den Myſterien zu
den Moralplays und von dieſen zum eigentlichen Luſt- und
Trauerſpiel nur an der Metamorphoſe des Teufels und
ſeines Schalcksnarren (the Vice) hat übergehen können?
Doch ermäßigen wir unſere Fragen, da vielleicht im Fol¬
genden Aufſchluß erfolgt. Hegel fährt fort: „Eben ſo ſind
zwar die Furien des Haſſes und ſo viele ſpätere Allegorien
ähnlicher Art wohl Mächte, aber ohne affirmative Selbſt¬
ſtändigkeit und Halt, und für die ideale Darſtellung un¬
günſtig, obſchon auch in dieſer Beziehung für die beſondern
Künſte, und die Art und Weiſe, in welcher ſie ihren Gegen¬
ſtand vor die Anſchauung bringen oder nicht, ein großer
Unterſchied des Erlaubten und Verbotenen feſtzuſtellen iſt“.


[360]

Wenn die „Furien des Haſſes“ vielleicht gar die Eumeniden
bedeuten ſollten, ſo würde Hegel entſchieden fehlgreifen, da
dieſelben, als Wächterinnen über die Blutſchuld, weſentlich
affirmative Mächte ſind, welche die Verletzung des Rechts
und der heiligen Sitte rächen. In ihrer Furchtbarkeit ſind
ſie erhaben ſchön gebildet worden, wenn auch der Lichtgott
ſie als Nachtunholdinnen Scheuſale nennt. Indeſſen wird
er hier weniger an die Griechen als an die Römer und
Franzoſen gedacht haben, z. B. an Voltaire's Henriade, die
mit ſolchen allegoriſchen Figuren als einer Art Mythologie
reichlich ausgeſtattet iſt. Wenn aber ſolche Allegorien äſthe¬
tiſch matt und kahl ausfallen, iſt davon der Grund nicht
eben in der Natur der Allegorie zu finden? Sind denn die
Tugenden, in allegoriſcher Vereinzelung ausgedrückt, äſthe¬
tiſch beſſer daran, als die Laſter? Iſt nicht das fruchtbarſte,
formenreichſte Genie, wie das eines Albrecht Dürer, eines
Rubens, kaum vermögend, das Proſaiſche der Allegorie auf¬
zuheben? Hegel gibt etwas zu, nämlich daß die verſchiedenen
Künſte ſich hier wohl verſchieden verhalten dürften. Gewiß,
aber eben deshalb vermag die Poeſie das Böſe durchaus
intereſſant zu geſtalten, weil ſie den eigenthümlichen Wahn¬
ſinn, der es erzeugt, in ſeiner letzten Geneſis zu zeigen im
Stande iſt. Sie braucht ſich nicht, wie die bildende Kunſt,
mit allegoriſchen und ſymboliſchen Mitteln zu behelfen,
ſondern kann die eigene negative Tiefe des böſen Selbſtbe¬
wußtſeins ſich ausſprechen laſſen. Iſt nicht die Größe des
Götheſchen Mephiſto eben in der ironiſchen Klarheit gelegen,
mit welcher ſich der Schalck, der ſtets verneint, ausſpricht?
„Das Böſe aber, fährt unſer Philoſoph fort, iſt im Allge¬
meinen in ſich kahl und gehaltlos, weil aus demſelben nichts
als ſelber nur Negatives, Zerſtörung und Unglück heraus¬
[361] kommt, während uns die ächte Kunſt den Anblick einer
Harmonie in ſich darbieten ſoll“. Die allgemeine Verſiche¬
rung von der Gehaltloſigkeit des Böſen nehmen wir wieder
hin, aber die Begründung durch die Folgen lehnen wir ab.
Kann denn aus dem Guten nicht auch Unglück und Zer¬
ſtörung in mannigfaltigſter Weiſe hervorgehen? Iſt die
Harmonie eines Kunſtwerks durch Unglück und Zerſtörung
gehemmt? Iſt nicht in jeder Tragödie unendlich viel Elend
und hindert daſſelbe ihre äſthetiſche Harmonie? „Vornehm¬
lich, meint Hegel, iſt die Niederträchtigkeit verächtlich,
indem ſie aus dem Neid und Haß gegen das Edle ent¬
ſpringt, und ſich nicht ſcheut, auch eine in ſich berechtigte
Macht zum Mittel für die eigene ſchlechte oder ſchändliche
Leidenſchaft zu verkehren. Die großen Dichter und Künſtler
des Alterthums geben uns deshalb nicht den Anblick der
Bosheit und Verworfenheit; Shakeſpeare dagen führt uns
in Lear z. B. das Böſe in ſeiner ganzen Gräßlichkeit vor
u. ſ. w.“ Nun ſchilt Hegel auf den alten Mann, daß er
ſo thörigt geweſen, ſein Reich zu theilen, Cordelia zu ver¬
kennen, und findet es conſequent, daß ſo verrücktes Handeln
endlich die Verrücktheit ſelber zur Folge haben müſſe. Wir
wollen davon abſehen, ob nicht der große Homer ſchon im
Therſites uns doch den Anblick jener Niederträchtigkeit ge¬
geben, die aus Neid und Haß gegen das Edle entſpringt.
Wir wollen von einigen Charakteren des Euripides abſehen,
weil Hegel dieſen Dichter vielleicht nicht mehr zu den großen
des Alterthums zählt. Sollten wir aber im Ernſt glauben,
daß Hegel Shakeſpeare den großen Dichtern des Alterthums
in der Art habe entgegenſetzen wollen, als wenn derſelbe
mit der Vorführung „des Böſen in ſeiner ganzen Grä߬
lichkeit“ ein äſthetiſches Vergehen ſich habe zu Schulden
[362] kommen laſſen? Dieſer Meinung würden die zahlloſen
Stellen der Aeſthetik widerſprechen, in denen er ſich für die
Bewunderung Shakeſpeares gar nicht genug thun kann und
für den vorliegenden Fall die beſtimmte Aeußerung III.,
571. ff. Was ſollen wir alſo denken? Unſtreitig müſſen
wir zugeben, daß Hegel diejenige Handlung, in welcher die
Colliſion von durchaus ſittlich berechtigten, affirmativen
Mächten ausgeht, unbedingt poetiſch höher geſtanden hat,
als eine ſolche, worin das Negative als ein Hebel ausge¬
nommen iſt. Seine grenzenloſe Verehrung der Antigone
erklärte dieſelbe eben aus dieſem Grunde für das „vortreff¬
lichſte, befriedigendſte Kunſtwerk“ überhaupt, Aeſthetik III.,
556. Wir müſſen ferner zugeben, daß er zwar der abge¬
ſagteſte Feind alles ſtrohernen Moraliſirens, namentlich des
ſophiſtiſchen Geſchwätzes der ſchlaffen, verzeihungslüſternen
Moral eines Iffland und Kotzebue, aber doch und eben
deswegen ein Mann der äußerſten ethiſchen Gravität war,
dem in einem dem Platoniſchen Genius verwandten Sinne
das Unſittliche bis zur Unerträglichkeit empörend war und
dem für die komiſche Behandlung des Böſen, die während
des chriſtlichen Mittelalters ſich ausbildete, der Sinn fehlte.
Auch die Ironie der romantiſchen Schule zerfiel ihm weſent¬
lich in „platte Späße“. Die Niederländiſche Genremalerei
allein hatte bei ihm das Privilegium, von dem Hohen und
Würdigen des Inhalts abzuſehen, worauf er ſonſt unabläſſig
drang. Die Alten, die Hegel hier auch accentuirt, konnten
wegen der Idee des Schickſals das Böſe noch nicht in freier
ſubjectiver Form darſtellen; die Modernen, wie Hegel an
andern Orten ſehr wohl auseinanderzuſetzen weiß, mußten
das Böſe wegen der Idee der Freiheit, von welcher ihre
Weltanſchauung durch die Vermittelung des Chriſtenthums
[363] ausgeht, nothwendig in den Kreis ihrer Darſtellung auf¬
nehmen, weil die ſubjective Seite der Freiheit gerade im
Böſen ſich als ausſchließliche manifeſtirt und ſich mit ihrer
Negativität das Schickſal des Unterganges durch die affir¬
mativen Mächte des Guten ſelber bereitet. Die Niederträch¬
tigkeit des Neides, die Hegel ſo abſcheulich findet, fiel bei
den Alten in das φϑονεϱον der Götter ſelber, bei den
Chriſten in den Teufel. Wie wären denn gerade die größten
Künſtler, Orcagna, Dante, Raphael, Michel Angelo, Pierre
Corneille, Racine, Marlowe, Shakeſpeare, Göthe, Schiller,
Cornelius, Kaulbach, Mozart, ſo fleißig geweſen, das Böſe
nicht nur als das Verbrecheriſche und Geſpenſtiſche, ſondern
auch als das Teufliſche zu ſchildern (80)!


Von dem Böſen einer einzelnen Leidenſchaft, einer
particulären Schlechtigkeit, eines vorübergehenden Affectes,
unterſcheidet ſich das Böſe als diaboliſches dadurch, daß es
das Gute principiell haßt, ſeine Negation ſich zum abſoluten
Zweck macht und an dem Hervorbringen des Uebels und des
Böſen ſeine Freude hat. In dieſer, von ſeinem Begriff un¬
abtrennlichen Bewußtheit ſeiner Oppoſition gegen das Gute,
liegt der Grund, daß es den Uebergang zur Caricatur macht.
Nur als ſelbſtbewußtes Zerrbild des an ſich in ihm daſein¬
ſollenden göttlichen Urbildes iſt es möglich. Es erinnert ſo¬
fort an das Gute, deſſen Vernichtung ſeine Luſt iſt; es
grinſ't es als den Widerſinn an; es fletſcht ihm die Zähne
entgegen — aber es kann nicht von ihm loskommen, denn
wenn das Gute nicht wäre, wäre es ſelber gar nicht; das
Böſe iſt inſofern wahnſinnig. Das Diaboliſche wiederholt
nun das Verbrecheriſche in der Vorſtellung von Menſchen,
die von teufliſchen Dämonen beſeſſen und von ihnen zu einem
ſcheußlichen Thun gezwungen werden. Der Beſeſſene tobt
[364] in Leidenſchaften, ſpielt, ſäuft, flucht und ſinkt wohl gar
bis zur unumwundenen Beſtialität des Thiermenſchen her¬
unter. Der eigentlich Handelnde in ihm ſoll, nach der Vor¬
ſtellung, der Dämon oder ſollen auch die vielen Dämonen
ſein, die von ihm Beſitz genommen haben. Aber noch eigent¬
licher iſt es doch der Menſch ſelber, der dies Alles thut,
denn die Vorſtellung führt die Unfreiheit ſeines Zuſtandes
doch auf ſeine Freiheit dadurch zurück, daß er irgend ein Ver¬
ſehen begangen, daß er irgend einem Dämon, der Herrſch¬
gier, der Wolluſt u. ſ. w. den Zugang zu ſich geſtattet habe,
dem ſich dann, da bekanntlich die Laſter unter ſich eben ſo
geſellig ſind, als die Tugenden, bald andere angeſchloſſen
haben. Das Beſeſſenwerden bleibt alſo die Schuld des
Menſchen, der das Böſe nicht, wie er ſollte, kraft ſeiner
Freiheit und um derſelben willen, von ſich ausſchließt. —
Das Element des Geſpenſtiſchen wiederholt das Diaboliſche
im Hexenweſen. Die ſogenannte ſchwarze Magie be¬
zweckt, durch Aufopferung der wahren Freiheit und Selig¬
keit die Macht von hölliſchen Dämonen in ihren Dienſt zu
zwingen, alle frivolen Begierden eines ſcheußlichen Egoismus
zu befriedigen. In der Magie verliert der Menſch nicht die
ſubjective Freiheit, die im Zuſtande der Beſeſſenheit unter¬
geht. Er will das Böſe mit klarem Bewußtſein und ſchließt
Verträge mit den Teufeln. — Das Diaboliſche an und für
ſich, wie es ſich frank und frei als daſſelbe weiß und will
und bekennt und wie es an der hämiſchen Zerrüttung der
göttlichen Weltordnung ſein Wohlgefallen hat, können wir
das ſataniſche nennen.


Vergeſſen wir nicht, daß wir dieſe Zuſtände hier nicht
pſychologiſch und ethiſch oder gar religionsphiloſophiſch, ſon¬
dern äſthetiſch zu betrachten haben. In der Vorſtellung des
[365] Beſeſſenſeins liegt noch ein Dualismus des Menſchlichen und
des Teufliſchen. Der Beſeſſene wird vorgeſtellt, als wenn
Dämone von ihm Beſitz genommen hätten und über ihn eine
willkürliche Herrſchaft ausübten. Eine ſolche Dualität ver¬
ſchiedener Perſönlichkeiten in demſelben Organismus kann
natürlich nicht ſchön ſein; einerſeits iſt die gleichſam ruhende
Geſtalt des Beſeſſenen, anderſeits die excentriſche Bewegtheit
vorhanden, welche die Gewalt der den Menſchen beſitzenden
Dämone erzeugt. Bringt uns alſo die Malerei oder Poeſie
eine ſolche Zerriſſenheit zur Anſchauung, ſo müſſen ſie zwiſchen
der Naturgeſtalt und zwiſchen der von den Dämonen ge¬
machten gleichſam künſtlichen unterſcheiden. Da jedoch die
Dämone von dem Menſchen nicht würden Beſitz haben
nehmen können, wenn er ihnen nicht ſelber den Zugang zu
ſich eröffnet hätte, ſo fällt dieſer Unterſchied im Grunde
doch wieder weg. Alle Religionen ſtimmen in dieſer Auf¬
faſſung überein. Selbſt die Indiſche ſetzt die Schuld, alſo
die Freiheit des Menſchen für ſolchen Fall voraus. Nalas,
der Fürſt von Niſchada, Damajanti's ſtrahlender Gemahl,
hat den Neid der Götter durch das Glück erregt, daß die
Schöne ihn den Göttern vorgezogen. Lange lauern ſie ihm
auf, ihm etwas anzuhaben, denn neidiſch und rachſüchtig
ſind die Indiſchen Götter nicht weniger, als die Griechiſchen.
Umſonſt. Der Edle erfüllt ſtreng alle Pflichten ſeiner Kaſte.
Endlich nach zwölf Jahren urinirt er einmal, vergißt die
vorgeſchriebene Reinigung, tritt mit dem Fuß in das urin¬
feuchte Gras — und gibt hiermit dem böſen Dämon Ge¬
legenheit, in ihn einzufahren. Der ihn immer ſchon umlun¬
gernde tückiſche Kalis nimmt Beſitz von ihm und verführt
ihn zunächſt zum Hazardſpiel. Man kann darüber ver¬
nünfteln, daß eine Religion ſo abſurde Vorſchriften mache.
[366] Die Deutſchen Ueberſetzer von Nal und Damajanti haben
auch die ächt Indiſche Kataſtrophe ohne alles Recht fortge¬
laſſen. Bopp in der ſeinigen, 1838, bringt ſie ſchüchtern
in die Anmerkungen, aber, weil auch da noch ein Damen¬
auge ſich hinverirren könnte, mit Lateiniſchen Worten: „Qui
fecerat urinam et eam calcaverat, crepusculo, sedebat
Naishadus, non facta pedum purificatione;
hac occasione
Calis eum ingressus est.“ Körperliche Reinigkeit iſt aber in
der That nichts ſo Geringes, daß nicht Religionen, die
noch den ganzen Menſchen erziehen, einen großen Werth
darauf legen ſollten. Und Pflichterfüllung verlangt einmal
Verwirklichung aller Pflichten. Indem der Indiſche Dichter
nun von Nalas eine in der That äußerſt geringe Uebertretung
des Geſetzes begehen läßt, will er damit doch eben die Heilig¬
keit deſſelben an das Herz legen, daß nämlich nichts, auch
nicht das Kleinſte, in ihm gleichgültig ſei, und zugleich will
er den Nalas damit hochſtellen, daß er nur in eine ſo leichte
Sünde, in ein wahres pecatillum fiel. — Die Befreiung
von den Dämonen wird die Kunſt am effectreichſten in dem
Augenblick darſtellen können, wo durch die Einwirkung einer
erlöſenden Macht die Gebrochenheit des Lebens, das Wahn¬
ſinnige des Blicks, das Krampfhafte der Glieder, die Ver¬
dunkelung des Bewußtſeins, der linden Morgenröthe einer
geiſterfüllten, liebefähigen Beſinnung zu weichen beginnt;
noch ſind die Augen halb verſchleiert, aber ſchon öffnet ſich
der Mund, dem ausfahrenden Dämon Raum zu geben.
Mit ihm verſchwindet die Häßlichkeit der Verzerrung. So
haben Rubens, Raphael dieſen Vorwurf behandelt. In
Raphaels Transfiguration Chriſti erblickt man auf der Höhe
des Berges die aufſchwebende Lichtgeſtalt des Erlöſers; unten
am Fuß des Berges eine Gruppe um einen Dämoniſchen,
[367] der von ſeinen Verwandten und von ſeiner im Vordergrund
knieenden Mutter den Apoſteln zur Heilung dargeſtellt wird,
die ihn nach Oben hin, nach demjenigen weiſen, der allein
wahrhaft zu befreien vermag.


Im Diaboliſchen liegt auch ein geſpenſtiſcher Zug, weil
es der affirmativen Weltordnung ſich principiell entgegenſetzt.
Dieſer Zug nimmt eine beſondere Geſtalt im Hexenweſen an,
das man vom Magiſchen überhaupt noch unterſcheiden muß.
Das Zaubern ſchließt, wie wir früher geſehen haben, das
Abſurde in ſich, allein es verträgt ſich übrigens noch mit
der Schönheit der Zaubernden, ja mit nützlichen Abſichten,
mit guten Zwecken und kann als weiße Magie vorgeſtellt
werden, als eine hohe Wiſſenſchaft, deren Kunſt das Ueber¬
ſpringen von Mittelgliedern möglich macht, an welche das
gewöhnliche Handeln ſich gebunden ſieht. So der Pater
Baco
von Robert Green, ſo Prospero im Sturm von
Shakeſpeare, ſo Merlin in der Artusſage, Malagis
in der Kerlingiſchen Sage, ſo Elberich im Otnit, ſo Vir¬
gilius
in der Romaniſch-Italieniſchen Sage u. ſ. w. Das
Zaubern als ſolches kann auch mit Heiterkeit als ein zier¬
liches Geſchäft betrieben werden, wie manche Frauen in
Tauſend und Einer Nacht ſo geſchildert werden, wie die
Wirthin des Lucius in Lukianos Geſchichte dieſes Namens
ſich ſehr reizend in einen Vogel verwandelte, zu ihrem Ge¬
liebten zu fliegen, während er durch den Gebrauch einer
unrechten Salbe zum Eſel wurde. Ganz anders die Hexerei.
In weiterem Umfange müſſen wir die ſogenannte ſchwarze
Magie darunter verſtehen, die nämlich darauf ausgeht, die
Hülfe böſer, hölliſcher Geiſter zu ſelbſt böſen Werken zu er¬
langen. Dieſe Magie will das Böſe mit Bewußtſein und
ruft den Damonen zur Cooperation ihrer ſchwarzen Thaten.
[368] Die Schwäche eröffnet unbewußt oder halbbewußt, immer
ohne es zu wollen, den Dämonen den Zugang, der aber,
welcher ſich der Hexerei ergeben, reißt ſich ſelbſtbewußt aus
dem Kreiſe des Menſchlichen los und verbündet ſich mit den
Mächten des Abgrunds. Dieſe Vorſtellung finden wir auch
ſchon bei den Alten, allein durch den Dualismus des chriſt¬
lichen Mittelalters wurde ſie zu einem förmlichen Syſtem
der ſcheußlichſten Phantaſieen ausgearbeitet. Im Orient und
bei den Alten war das ſchadenfrohe alte Weib, als der
vettelhafte Gegenſatz zur ehrwürdigen Matrone, ſchon zum
Typus der Hexe geworden, die mit ihrem böſen Blick, ihren
Zaubertränken, ihren Zauberformeln Unheil anrichtete. Hexe
ſoll von Hekate herkommen, der alten Nachtgöttin. Das
böſe alte Weib, wie Ariſtophanes es ſchon ſo oft in den
Thesmophorien, Ekkleſiazuſen und in der Lyſiſtrate ſchildert,
iſt grauenerregend häßlich, nicht ſowohl weil auch ſeine
Wangen einfallen, ſeine Stirn Runzeln bedecken, ſeine Haare
bleichen, ſondern weil es als niederträchtige Neiderin des
Jugendglücks und der Jugendſchönheit auftritt, weil es als
Kupplerin die holde Jungfräulichkeit mit ſataniſcher Freude
verderbt, weil es, trotz ſeines Alters, noch von unreinen
Begierden gequält wird und auf deren Befriedigung ausgeht.
Die böſe Alte übt durch Kuppelei eine ſcheußliche Rache an
der Naturfriſche, die ſie als ihre natürliche Feindin betrach¬
tet, und durch magiſchen Zwang ſucht ſie einen Genuß zu
erreichen, den die Natur ihr freiwillig nicht mehr zu gewähren
geneigt wäre. Dieſe, man darf wohl ſagen, infame Per¬
ſönlichkeit macht den fundamentalen Boden der Hexen aus.
Nun kommt aber die Vorſtellung hinzu, daß ſie mit Teufeln,
ja mit dem Teufel ſchlechthin ſich eingelaſſen haben. Die
orthodoxe Phantaſie der katholiſchen wie der proteſtantiſchen
[369] Kirche geſtaltete das Hexenweſen zu einem diaboliſchen
Cultus
aus. Die Verſammlungen der Waldenſer auf einſa¬
men Bergkoppen gaben die erſte Veranlaſſung zur Vorſtellung
des Hexenſabbaths, den man in Frankreich auch Vauderie
nannte und den die Norddeutſche Sage auf den Brocken ver¬
legte. Hier, in der synagoge diabolica, ſollte der geſammte
chriſtliche Gottesdienſt mit dem ekelhafteſten Cynismus parodirt
werden. Der Satan in menſchlicher Geſtalt zwar, aber mit
einem Bocksgeſicht, mit Krallen an den Händen, mit Gänſe¬
oder Pferdefüßen, läßt ſich förmlich adoriren. Man küßt
ihm die Genitalien und den Hintern. Taufe und Abend¬
mahl werden perſiflirt, indem man Kröten, Igel, Mäuſe
u. dgl. tauft; was der Teufel ſtatt der Hoſtie darreicht,
gleicht einer Schuhſole, iſt ſchwarz, herb und zähe; was er
zu trinken gibt, iſt gleichfalls ſchwarz, bitter, ekelerregend.
Auch opfert ſich der Satan gewiſſermaaßen, um auch Chriſti
Opfertod zu parodiren, indem er ſich als Bock mit großem
Geſtank verbrennt. Die teufliſche Kirche feiert ihre Andacht
in der Orgie, in wollüſtigen Tänzen und Umarmungen, die
jedoch das Eigenthümliche haben, daß der Same der Teufel
kalt iſt, da ſie als gottverfluchte Subjecte nicht productiv
ſind, daher erſt in angenommener Weibsgeſtalt als Succubus
von einem Zauberer ſich müſſen beſchlafen laſſen, um Samen
zu empfangen, und dann erſt als Incubus in männlicher
Geſtalt die viehiſche Wolluſt ihrer Buhlinnen befriedigen
können, Wüſte Schlemmerei und Völlerei und Unzucht aller
Art, ſyſtematiſche Verkehrung der göttlichen Ordnung, ſelbſt¬
bewußte Verleugnung Gottes, ſind daher von der Kunſt in
den Geſtalten und Phyſiognomien der Hexen auszudrücken
verſucht, wie Teniers, vorzüglich aber A. Dürer ſie ge¬
zeichnet hat. Zu Wien in der Sammlung von Handzeich¬
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 24[370] nungen des Erzherzogs Karl befinden ſich einige unſchätzbare
Blätter Dürers, auf denen Hexen mit ihrem ſtrudelnden
Haar, ihrem Triefauge, ihren enterartig verthierten Brüſten,
ihrem geknautſchten, ſtummelzahnigen Munde und dem Aus¬
druck eben ſo großer Schadenfreude, als zügelloſer Geilheit,
Schauder erregen. Die Poeſie hat das Hexenweſen beſonders
im ältern Engliſchen Drama durchgearbeitet, in der Hexe,
die Middleton verfaßt hat; in der Hexe von Edmon¬
ton
, die Rowley, Decker und Ford zuſammen arbei¬
teten; in Shakeſpeare's Macbeth und in Heywoods
Hexen
von Lancashire (81). Im letztern Stück iſt ge¬
wiſſermaaßen eine Galerie aller Arten von Unfug gegeben,
womit die Hexen die Geſellſchaft zerrütten. So bewirken
ſie z. B. daß in einer Familie die ganze ſittliche Ordnung
des Hauſes ſich umkehrt, Vater und Mutter fürchten den
Sohn und die Tochter, der Sohn fürchtet den Knecht, die
Tochter die Magd u. ſ. w. Heine hat das Weſentliche
der Scenerie des Hexenſabbaths in ſein Tanzpoem Fauſt
aufgenommen. Das Grundloſe für die Annahme wirklicher
Hexen und namentlich das Entſetzliche des Hexenproceſſes iſt
ſehr anſchaulich in einer trefflichen Deutſchen Erzählung:
Veit Fraſer dargeſtellt, die ſich in den „Nachtſeiten der
Geſellſchaft, eine Galerie merkwürdiger Verbrechen und
Rechtsfälle“, 1844, Bd. 9–11., findet. Weitläufiger über
das Hexenhafte zu ſein, können wir uns erſparen, da in den
letzten Decennien die vielen Commentatoren des Götheſchen
Fauſt es nicht an Fleiß haben fehlen laſſen, vielerlei Notizen
und Bemerkungen über die Magie, die Hexenküche und die
Walpurgisnacht auf dem Blocksberge zuſammenzutragen; am
vollſtändigſten iſt dies in den Studien zu Göthe's Fauſt von
Ed. Meyer 1847 geſchehen.


[371]

Obwohl nun, äſthetiſch genommen, Scheußlicheres, als
der Hexenſabbath, nicht erſonnen werden kann, ſo geht doch
die Geſtaltung des Diaboliſchen als ſataniſche geiſtig noch
tiefer. Das Hexenweſen mit ſeinem aberwitzigen Apparat
ſpielt hauptſächlich in einem Kreiſe rohſinnlicher Begierden,
in der Sphäre wollüſtiger, ſchadenfroher Weiber, in einer
phantaſtiſchen Scheinwelt. Das Sataniſche iſt in ihm zwar
der Mittelpunct des Cultus, allein mehr als Parodie des
kirchlichen Gottesdienſtes; der geiſtige Gehalt iſt gering.
Das eigentlich Sataniſche hingegen kehrt das Bewußtſein
ſeines Unwillens hervor. Nicht aus Schwäche, wie der Be¬
ſeſſene, durch relativ fremde Mächte beſtimmt; nicht durch
arge Lüſte, wie die Hexe, zur Hingabe an das Böſe ge¬
trieben; findet es ſeinen höchſten Genuß an der ſelbſtbe¬
wußten, freien Hervorbringung des Böſen. Seinem Be¬
griff nach iſt daß abſolut Böſe allerdings auch das abſolut
unfreie, denn es beſteht ja nur im Negiren der wahren Frei¬
heit, im Wollen des Nichtwollen des Guten, weshalb wir
ſeinen Willen vorhin den Unwillen genannt haben als den
Willen, der das Nichts will. In dieſem Abgrund des ſub¬
ſtanzloſen Wollens allein fühlt es ſich, wenn man ſo ſagen
darf, frei, weil es nur ſich, nur ſeinen ſchlechthin excluſſiven
Egoismus fühlt. Das Gute als der heilige Grund aller
Dinge erinnert es nur daran, alle gottgeſchaffenen Schranken
zu zertrümmern, alle Ordnung der Natur zu unterwühlen,
alle Zucht und Scham des Geiſtes höhniſch zu vernichten.
Mit Recht kann man daher bei ihm das Maximum der
Häßlichkeit erwarten, allein ſo paradox es klingt, ſo iſt es
doch wahr, daß die metaphyſiſche Abſtraktion, die in dieſem
Standpunct liegt, die Häßlichkeit wieder abmildert. Das ſa¬
taniſche Subject hat einen gewiſſen Enthuſiasmus der Ver¬
24 *[372] worfenheit, der ſeiner Erſcheinung, bei aller Scheußlichkeit,
eine gewiſſe formale Freiheit verleihet, die es zu einem äſthe¬
tiſcheren Object werden läßt, als man zunächſt denken ſollte.
Der Teufel, ſo ſehr er ſich forciren möge, ſich an Gottes Stelle
zu ſetzen, kann doch nichts ſchaffen, als nur das monſtröſe
Wunder ſeines Ja-Neins, ſeines abſoluten Widerſpruchs und
iſt, wegen der aprioriſchen Vergeblichkeit ſeines Bemühens um
Originalität, doch immer nur eine Frazze, deren angemaaßte
Majeſtät ſofort ins Komiſche des „armen und dummen“
Teufels umſchlägt. Die Phantaſie hat den Teufel 1. über¬
menſchlich
, 2. untermenſchlich, 3. menſchlich dargeſtellt.


Uebermenſchlich als Glied einer höhern, von dem
wahren Gott aus Neid und Hochmuth abgefallenen Geiſter¬
welt. Solche ſataniſche Subjecte hat die religiöſe Phantaſie
in coloſſalen Formen vorgeſtellt. In den niedrigeren Natur¬
religionen wird die Macht des Böſen den höchſten Göttern
noch ſelber beigelegt und die Geſtalt der Götzen daher darauf
berechnet, durch Ungeheuerlichkeit Furcht und Grauſen ein
zuſtoßen. Wie greulich glotzt uns nicht der Mongoliſche
Changor, der Mexikaniſche Huitzilopochtli an! Wie fürch¬
terlich ſtarren uns dieſe grellen Augen an, wie blutdürftig
lechzt uns dieſe brutale Zunge aus dem Rachen entgegen,
wie drohend grinſen uns dieſe ſcharfen Zähne an, wie
beſtialiſch zeigen uns dieſe ungefügen Tatzen ihre blinde
Unwiderſtehlichkeit, wie ſinnverwirrend ſchaut ſich der Leib
als ein buntſcheckiges Conglomerat von menſchlichen und
thieriſchen Formen an, wie ſchauerlich der Ausputz mit Men¬
ſchenſchädeln und zermalmten Leichnamen! In höher ſtehen¬
den Religionen verſchwindet dieſe Raubthierphyſiognomie.
Lüge, Neid und Hochmuth treten als die conſtanten
Züge der ſataniſchen Geiſter hervor, der Mord erſt als
[373] Folge. Die Vergeiſtigung der Vorſtellung macht die Geſtalt
unbeſtimmter und arbeitet ſie mehr in den böſen Handlungen
aus, wie bei dem Indiſchen Kalis, dem Parſiſchen Eſchem,
dem Aegyptiſchen Set, der dickbauchig mit einem Nilpferd¬
kopf gebildet wurde und den die Griechen Typhon nannten.
Bei den Griechen wurde das Böſe als die Negation des
natürlichen und ſittlichen Maaßes gefaßt, aber nicht in eine
beſondere Individualität concentrirt. Die Häßlichkeit des
Negativen wurde an verſchiedene Subjecte nach verſchiedenen
Momenten vertheilt (82). Die vielgliedrigen, an die Indi¬
ſchen Götter erinnernden Hekatoncheiren waren als Titaniſche
Mächte mit den neuen Göttern im Kampf, aber nicht böſe.
Die ungeſchlachten und einäugigen Kyklopen waren nicht
ſowohl böſe, als roh. Die Grajen waren ſchönwangige
Mädchen mit greiſem Haar, Phorkyas einzahnig, die Har¬
pyien ekelhaft, die Sirenen ſchönbuſigte Jungfrauen, unten
in Fiſchſchwänze ausgehend, die Lamien und Empuſen nach
dem Blut ſchöner Jünglinge lüſtern, die ſie verführten,
die dem Trunk und der Wolluſt ergebenen Satyr bocks¬
füßig — aber alle dieſe Fabelweſen waren nicht in un¬
ſerm Sinn böſe. Die Kinder der Nacht, die Heſiodos
in der Theogonie nach der Schilderung des Chaos auf¬
zählt, waren ſchrecklich, aber nicht böſe. Der Urſprung
des Uebels, aber nicht eigentlich des Böſen, wird in dem
Prometheiſchen Mythus dargeſtellt. Genug, bei aller ſittli¬
chen Tiefe, die wir bei den Griechen treffen, müſſen wir
doch urtheilen, daß ihnen die Vorſtellung des ſataniſch
Böſen fremd geblieben iſt. Ihre ἀσεβεια reicht nicht ent¬
fernt an dieſe Verruchtheit. In der Scandinaviſchen Mytho¬
logie hingegen iſt die Vorſtellung des Böſen in Loki ſchon
viel concentrirter. Loki haßte, ächt ſataniſch, den guten,
[374] freundlichen Baldur. Im Uebermuth fröhlichen Spiels be¬
ſchloſſen die Götter, nach ihm zu ſchießen. Alle Dinge aber
wurden vorher in Eid genommen, ihm nicht zu ſchaden,
nur eine Miſtelgerte hatte Loki's Liſt auszunehmen gewußt.
Sie ward der verhängnißvolle Todespfeil. Loki gab ſie dem
blinden Gotte Hödur, auf Baldur zu ſchießen. Die Götter
ſtraften nun zwar Loki, indem ſie ihn an einen Felſen ketteten
und von Schlangen ſchmerzendes Gift auf ihn herabträufeln
ließen. Allein mit dem Tode Baldurs des guten war die
Kataſtrophe der Welt angebrochen, unaufhaltſam ihrem Un¬
tergange und dem großen Kampf der Aſen entgegenzueilen.
Dieſer Gedanke, daß die Welt nach dem Tode des durch
Bosheit geopferten guten Gottes nicht mehr beſtehen kann,
iſt ungemein ſchön und tief. — Im Hebräiſchen Monotheis¬
mus iſt der Satan, der von Jehovah die Miſſion zur Ver¬
ſuchung des Hiob empfängt, nur ein Engel, keineswegs ein
diaboliſches von Gott losgeriſſenes Weſen. Erſt ſpäter
nahmen die Juden aus dem Parſismus die Vorſtellung des
Eſchem auf, den Fliegengott u. ſ. w. Auch im Islam iſt
Eblis mit Allah auf gutem Fuß. Er ſchwört ihm, alle
Menſchen, die nicht zum Muhammedanismus ſich bekehren
würden, zum Böſen zu verführen, damit er ſie zur Hölle
verdammen könne. Der Karageuz (gargousse) der Türken
und ganz Nordafrika's, die Hauptperſon im Chineſiſchen
Schattenſpiel daſelbſt, iſt allerdings ein Teufel, aber nur
als ein freches, poſſenreißeriſches Subject (83). — Erſt in
der chriſtlichen Religion vollendet ſich mit der abſoluten
Tiefe der Freiheit auch das Böſe in der Form eines ſich in
ſich vereinſamenden, abſolut negativen Selbſtbewußtſeins.
Dem menſchlich erſcheinenden Gotte gegenüber konnte das
abſolut Böſe auch nur anthropologiſch auftreten, wenn auch
[375] zunächſt noch in der Form eines mächtigen, Flügel tragenden
Engels, der von andern Engeln ſich faſt nur durch ſeine
graue, ſchattenhafte Farbe unterſcheidet. So kommt der
Satan auf Abraras und in alten Miniaturen vor. Auch
als Trinität des Böſen wurde das Diaboliſche in drei
gleichen, geharniſchten, gekrönten, bezepterten, die Zunge
hervorſtreckenden, widrigen Perſonen gebildet, wovon Didron
in ſeiner Inconographie chrétienne eine Abbildung gege¬
ben (84). Später geſtalteten die Maler die Flügel auch
wohl zu Fledermausflügeln, wie im Campo Santo Pisano,
bis das Streben nach energiſcher Contraſtirung die Kunſt
zum Ergreifen auch anderer thieriſcher Formen führte. Dante
im Inferno hat einer Menge phantaſtiſcher Geſtaltungen ſich
bedient. Die anthropologiſche Formation als die auch im
Uebelmenſchlichen hervorragende Tendenz gab im Mittelalter
auch zu dem Mythus von Merlin Veranlaſſung, indem der
Teufel, Gott nachahmend, auch ſich einen Sohn zeugen
wollte. Er beſchlief daher eine ſehr fromme Nonne zu Cär¬
marthen ohne ihr Wiſſen, um ſo die Kräfte des Guten mit
denen des Böſen zu vereinen. Merlin, die Frucht dieſer
Verbindung, empfangen und geboren von einer heiligen
Jungfrau, ſollte nun als des Teufels Sohn das Reich des
Sohnes Gottes zerſtören. Natürlich erfolgte das Gegentheil.
Die Altfranzöſiſche Geſchichte des Merlin hat Fr. Schlegel
bekanntlich ins Deutſche überſetzt (85). Ein köſtliches Drama,
die Geburt des Merlin von Shakeſpeare und Rowley
(86), hat den Teufel vortrefflich gezeichnet, nicht ohne eine
gewiſſe infernale Scheinmajeſtät, die aber den Sohn gar
nicht abhält, dem Herrn Vater ſehr derbe zu begegnen, ein
wahres Gegenſtück zu Scribe's ſchon ein paar Mal von uns
getadelten ſentimentalen Behandlung des Sohnes durch den
[376] Vater in Robert le diable. Immermann's Merlin hat
die Idee des Teufels nicht tief genug gefaßt; der Dichter
iſt nicht genug in den chriſtlichen Sinn des Mythos einge¬
drungen und zu ſehr bei gnoſtiſch kosmogoniſchen Phantaſieen
ſtehen geblieben.


Die untermenſchliche Geſtaltung des Sataniſchen iſt im
Weſentlichen von der antiken Satyrmaske ausgegangen,
von welcher der einfache Bock wohl nur eine Conſequenz
war Die Nachweiſe dafür hat J. Piper in ſeiner Mytho¬
logie und Symbolik der christlichen Kunst von den ältesten Zei¬
ten bis in's sechzehnte Jahrhundert, I
., 1847, S. 404 — 6.
gegeben. Nicolo Piſano bildete den Beelzebub in ſeinem
jüngſten Gericht an der Kanzel zu Piſa 1260 als Satyr.
Bis dahin hatte dieſe Formation geruhet. Im vierzehnten
Jahrhundert finden wir ſie dann im Campo Santo Pisano
in der Geſchichte des heiligen Ranieri von Neuem und von
hier ab im ſteigendem Wachsthum. Auch der Löwe und
der Drache (le cocodrill, Wurm, Orm, Lindwurm) wur¬
den Symbole des Sataniſchen. Weiterhin vermiſchten die
Künſtler Thierformen nicht nur, ſondern ſelbſt todte Dinge,
wie Fäſſer, Bierkrüge, Töpfe, mit Menſchenköpfen und
Menſchengeſtalten auf das Seltſamſte miteinander. In ſol¬
chen muſiviſchen Compoſitionen wollten ſie die unendliche
Abſurdität und Entzweiung des Böſen verſinnbilden. Welche
Fülle traumhaft wunderlicher, bizarr grotesker Frazzen haben
nicht Jeronymus Boſch, die Breughel, Teniers und
Callot auf dieſem Gebiet erſchaffen! Solche phantaſtiſche
Unförmlichkeit wandte man auch auf die Darſtellung der
Verſuchungen von Heiligen durch Dämone an, die von ihnen
Beſitz nehmen wollen, nicht weniger auf die Darſtellung der
Hölle, die Qualen der Verdammten zu veranſchaulichen.
[377] Man war unerſchöpflich in ſymboliſchen Abſchilderungen der
Laſter und ihrer Strafen. Dante hat in ſeiner Hölle noch
viel Antikes, was auf den Zeichnungen, die Flarmann
zum Inferno gemacht hat, recht in die Augen ſpringt. Es
herrſcht hier noch eine plaſtiſche Art zu ſehen und zu grup¬
piren. Umgekehrt hat Breughel Formen der chriſtlichen
Hölle in ſeiner Ankunft der Proſerpina auf den antiken
Tartarus übertragen. Bei der ſo beliebten Verſuchungsge¬
ſchichte des heiligen Antonius wird den umſchwärmenden
Kobolden, Larven, Teufeln und Teufelinnen, die uns den
Kampf im Innern des Heiligen vergegenſtändlichen ſollen,
ein Mittelpunct in dem Teufel gegeben, der als ein ſchönes
Weib den Einſiedler zur Wolluſt zu reizen ſucht. Dieſe ver¬
führeriſche Schönheit ſoll jedoch an kleinen Merkmalen die
Heimath verrathen, aus der ſie ſtammt: daher das Horn, das
aus der Fülle der Locken hervordringt, daher der Schweif,
der unter dem Schlepp des Sammtkleides hervorguckt, da¬
her der Pferdehuf, der ſich durch das Gewand durchzeichnet.
Doch noch mehr, als ſolche ſymboliſche Attribute, ſollen Stel¬
lung, Geberde, Züge, Blick des Weibes, welches dem Ere¬
miten einen Pocal dareicht, das Scheinweſen der hölliſchen
Schönen erkennen laſſen, die Tod und Elend in ſich birgt.
Callot (87) hat in ſeiner Behandlung dieſes Süjets eine
Ueberſchwänglichkeit toller Erfindungen bewieſen. Er hat ein
großes Felſengeklüft gemalt, das hinten einen Ausblick auf
die von Feuersbrünſten und Waſſersnöthen moleſtirte Welt
darbietet. Rechts vor unſern Augen, in einen Winkel zu¬
ſammengedrängt, ſehen wir den heiligen Antonius ſich gegen
die Laſter wehren, die ihn mit Ketten feſſeln und fortreißen
möchten. Eben ſcheint er den Sieg über den Teufel der
Wolluſt davon getragen zu haben. In einer dunkeln Ecke
[378] des Felſens richtet ſich ein rattenartiges Thier mit einer
Brille auf der Schnauze empor und legt ein Gewehr an,
tückiſch aus dem Hinterhalt zu ſchießen. Auf einem Abſatz
des Felſens über der Höhle des Eremiten hat ſich eine ſonder¬
bare Gemeinde verſammelt. Eine nackte vogelartige Geſtalt
mit dickem Bauch, langem Hals und einem nicht menſchlichen
und doch menſchlichen Geſicht lieſt aus einem Meßbuche vor.
Man kann ſich nichts Heuchleriſches vorſtellen. Um dieſen
Pfaffen herum ſind allerhand Teufel, keiner dem andern gleich
und doch alle in einem widrigen Zuge der gemeinſten Sinnlich¬
keit und Heuchelei ſich ähnlich. Einer faltet die Hände.
Einer, auf eines Reiſeeſels Rücken knieend, ſcheint Ablaß
zu verkünden. Einige ſpielen auf ihren langgezogenen Naſen
Clarinette; andere haben an Stelle des Geſichts einen After,
auf welchem ſie trommeln. Ganz zur Linken des Bildes,
von uns aus, erblicken wir einen Felſen, der ſich mit meh¬
ren Einſchnitten hoch hinaufwölbt. Auf einem Vorſprung
ſteht hier ein ganz und gar verſchrobenes, kriegeriſch ange¬
thanes Weſen, das nach Oben blickt, von wo ihm ein Un¬
gethüm Koth in den ſchmunzelnd geöffneten Schlund fallen
läßt. Es fühlt ſich durch ſolche Herablaſſung und Mitthei¬
lung beſeligt. Ganz im Vordergrunde ſteht ein vierfüßiges,
ganz aus Panzerſtücken und Armaturen zuſammengeſetztes
längliches Thier, aus deſſen aufgeſperrtem Rachen ſo eben
Lanzen, Gewehre, Pfeile, Kugeln aller Art entſtürzen, weil
ein leichtſinniger Burſche mit einer Lunte den Hintern an¬
gezündet hat. Voran rennt ein obscuranter Krebs mit einer
qualmenden Laterne. Doch in der Mitte des Ganzen er¬
ſcheint ein ſcheußlicher Triumphzug. Auf dem Hals und
Kopf eines Thiergerippes ſitzt eine nackte Geſtalt mit einem
Spiegel. Soll es Venus ſein? Zwei höchſt ſonderbare
[379] Weſen ziehen den Gerippewagen, das eine ganz vermaſert,
verhozzelt, ein rechtes Unthier, das andere mit einem ele¬
phantenartigen Fuß und einer Klaue, die eine Krücke hält.
Und über all dieſen Ausgeburten der ausgelaſſenſten Phan¬
taſie ſchwebt oben der Höllendrache und ſpeit Teufelszeu¬
gungen aus, die ſich in der Luft ſofort wieder vermehren,
wie ein böſer Gedanke eine Reihe anderer ins Unendliche
hervorbringt.


Die übermenſchliche Geſtaltung des Sataniſchen iſt im
Grunde eben ſo einfach, als die untermenſchliche mannigfaltig.
Wie phantaſtiſch aber auch die letztere ausſchweife, ſo kann
ſie doch einer Anknüpfung an die menſchliche nicht entbehren,
weil es ſich immer um die Freiheit des Menſchen handelt,
ſie zum Abfall von ihrer göttlichen Nothwendigkeit zu be¬
ſtimmen. Die Malerei hat daher ſelber der Schlange im
Paradieſe, wie ſie vom Baum der Erkenntniß herunter den
Protoplaſten ihre Sophismen vorträgt, ein menſchliches
Haupt mit einer liſtig ſchmeichleriſchen, boshaft freundlichen
Phyſiognomie gegeben. Da einmal für uns keine andere
Form, als die menſchliche, exiſtirt, die Perſönlichkeit des
Geiſtes anzuſchauen, ſo iſt es nur eine unvermeidliche Con¬
ſequenz der Kunſt, das Diaboliſche endlich auch in einfach
menſchlicher Geſtalt darzuſtellen. Iſt doch im Grunde die
des Teufels als eines böſen Engels auch keine andere. In
der Phantaſie macht auch die Vorſtellung, daß der Teufel
jede, alſo auch die menſchliche Geſtalt annehmen könne, den
Uebergang zur Vermenſchlichung. Es ſcheint, als ob in der
Kunſt hier zwei verſchiedene Ausgangspuncte geweſen wären;
der eine, der das Sataniſche in der Geſtalt eines Mönches,
der andere, der es in der Geſtalt eines Jägers darſtellte;
jene war die kirchliche, dieſe die weltlich nationale. Jener
[380] Form begegnen wir z. B. unter den Bildern der Boiſſerá
ſchen Sammlung bei einer Verſuchung Chriſti von Pate¬
nier
, auf welcher dem Teufel in der Kutte nur die kleinen
Krallen an der Hand als Symbol geblieben ſind, übrigens
die ganze Energie des diaboliſchen Ausdrucks in die Indi¬
vidualiſirung der Geſtalt und Phyſiognomie verlegt iſt, eine
natürlich viel ſchwierigere Leiſtung, als eine Darſtellung, die
ſich auf die attributive Verdeutlichung ſtützt. So hat auch
der Holländiſche Maler Chriſtoph van Sichem, Fauſt ge¬
genüber den Teufel als Franciscaner gemalt, eine gedrungene
Geſtalt mit einem kraftvollen, rundlichen Geſichte voll Sinn¬
lichkeit und Tücke und mit einer kleinen aber durch die
Kürze ihrer dicken fleiſchigen Finger unangenehmen Hand (88).
Der Mephoſtophilis der alten Fauſtſage treibt mit dem
Doctor viel ſpeculative Theologie über den Urſprung der
Welt, über die Ordnungen der Geiſter, über das Weſen der
Sünde, über alle Heimlichkeiten des Jenſeits, und zu dieſen
Tiefſinnigkeiten paßt die Mönchsfigur ganz gut. Heine in
ſeinem Tanzpoëm Fauſt bemerkt S. 87, daß Göthe dieſe
Seite der alten Sage, die noch in der Tragödie Fauſt des
Engländers Marlowe 1604 ſichtbar iſt, nicht gekannt
haben müſſe, daß er die Elemente zu ſeinem Fauſt wohl nur
aus dem Puppenſpiel nicht aus dem Volksbuche entlehnt
habe: „Er hätte ſonſt in keiner ſo ſäuiſch ſpaßhaften, ſo
cyniſch ſterilen Maske den Mephiſtopheles erſcheinen laſſen.
Dieſer iſt kein gewöhnlicher Höllenlump, er iſt ein ſubtiler
Geiſt, wie er ſich ſelbſt nennt, ſehr vornehm und nobel
und hochgeſtellt in der unterweltlichen Hierarchie, im hölli¬
ſchen Gouvernemente, wo er einer jener Staatsmänner iſt,
woraus man einen Reichskanzler machen kann“. Dieſer
Tadel iſt wohl irrig, denn es fehlt dem Mephiſto zwar die
[381] doctrinäre Theologie, aber gar nicht ein metaphyſiſcher Zug. —
Der andere weltliche Ausgangspunct ſcheint in der Vorſtel¬
lung des wilden Jägers zu liegen, der auf Bildern der
Oberdeutſchen Schule in grüner knapper Tracht mit ſpitzem
Hut und einer Auerhahnfeder daran vorkommt und jenes
lederfahle, magere, kniffige, ſpitzige, ins Satyrhafte ſchla¬
gende Geſicht, ſo wie jene länglicht dürren Hände und
ſchlanken, ſkeletartigen Glieder hat, die ihm durch die
Bilder von Retzſch, Arys Scheffer und durch die ihnen
folgenden theatraliſchen Darſtellungen zur ſtereotypen Maske
bei uns geworden ſind und über welchen „Baron mit
falſchen Waden“ auch Seybertz in ſeinen Illuſtrationen
zum Götheſchen Fauſt nicht hinausgekommen iſt. Da der
wilde Teufel im Volksglauben der Teufel ſelber, eigentlich
Othin, iſt, ſo lag dieſe Form des Anthropomorphismus nahe.
In Calderonsmagico prodigioso erſcheint der Dämon,
der den heiligen Cyprianus zu verführen trachtet, in voll¬
kommen menſchlicher Geſtalt. Bei den geiſtlichen Epikern
wurde der Satan natürlich wieder in übermenſchlicher Geſtalt
vorgeführt, bei Milton als ein kriegeriſcher Höllenfürſt, bei
Klopſtock in Abbadonnah als ein von einem wehmüthigen
Gefühl überhauchter Demiurgos.


Von dieſer anthropomorphiſchen Incarnation des Teuf¬
liſchen iſt aber noch wiederum diejenige Form zu unter¬
ſcheiden, die es dadurch empfängt, daß der Menſch ſelber
zum Teufel wird, was zwar nach einer ſeichten Moral und
ſtupid gutmüthigen Theologie gar nicht möglich ſein ſoll,
factiſch aber nur zu oft wirklich wird. Ja es iſt entſetzlich,
aber es iſt wahr, daß wir Menſchen uns gegen unſern
göttlichen Urſprung empören und in dem Hunger nach Ich¬
heit unerſättlich werden können. Nicht einzelne Momente
[382] des Böſen kommen hier in's Spiel, wie Wolluſt, Herrſch¬
ſucht u. dgl., ſondern der Abgrund der abſoluten, bewußten
Selbſtſucht. Von dieſer Form geht die eine Richtung mehr
auf das Handeln, die andere mehr auf eine ſataniſche Schön¬
ſeligkeit. Dort erzeugt die Kunſt Charaktere, wie Judas
Richard
III., Marinelli, Franz Moor, den Secretair
Wurm, Francesco Cenci, Vautrin, Lugarto, u. a.,
hier zerriſſene Seelen, wie Roquairol, Manfred u. ſ. w.
In jenen handelnden Böſewichtern iſt noch eine gewiſſe naive
Geſundheit des negativen Princips, in dieſen contemplativen
Teufeln aber geht das Böſe durch das ſophiſtiſche Spiel einer
ſchlechten, hohlen Ironie in eine ſcheußliche Verweſung über.
Aus den unruhig ermatteten, genußgierig impotenten, über¬
ſättigt gelangweilten, vornehm cyniſchen, zweckslos gebil¬
deten, jeder Schwäche willfahrenden, leichtſinnig laſterhaften,
mit dem Schmerze kotettirenden Menſchen der heutigen Zeit
hat ſich ein Ideal ſataniſcher Blaſirtheit entwickelt,
das in den Romanen der Engländer, Franzoſen und Deut¬
ſchen mit dem Anſpruch auftritt, für edel gehalten zu wer¬
den, zumal dieſe Helden gewöhnlich viel reiſen, ſehr gut eſſen
und trinken, die feinſte Toilette machen, nach Patſchouli
duften und elegante weltmänniſche Manieren haben. Aber
dieſe Nobleſſe iſt nichts als die jüngſte Form der anthropo¬
logiſchen Erſcheinung des ſataniſchen Princips. Der „ſchöne
Ekel“ in dieſer Diabolik, die ſich abſichtlich in Sünde ſtürzt
um nachher den ſüßen Schauder der Reue zu genießen, die
Menſchenverachtung, die Hingabe an das Böſe, nur um in
dem wüſten Gefühl der univerſellen Verworfenheit zu ſchwel¬
gen, die geniale Frechheit, welche die Moral den Philiſtern
überläßt, die Angſt vor der Möglichkeit einer wirklichen Ge¬
ſchichte, der Unglaube an den lebendigen Gott, der in Natur
[383] und Geſchichte ſich offenbart, dieſe ganze Häßlichkeit der zer¬
riſſenen und verſchliſſenen Weltſchmerzler iſt von I. Schmidt
in ſeiner Geſchichte der Romantik, 1848, II., 385 – 89.
vortrefflich charakteriſirt worden. Den Anfang dieſer äſtheti¬
ſchen Satanerie findet er im Lovelace.


Die Auflöſung des Diaboliſchen in's Komiſche liegt
ſchon in ſeinem urſprünglichen Widerſpruch. Sein Unter¬
fangen, im Univerſum einen Ausnahmezuſtand begründen zu
wollen, erſcheint um ſo thörigter, je größer der formale
Verſtand und Wille iſt, die ſich dabei bethätigen. Gegen die
Erhabenheit der göttlichen Weisheit und Allmacht nimmt
ſich die teufliſche Intelligenz und Kraft doch nur als eine
Duodezallwiſſenheit und Miniaturallmacht aus. Die Mittel,
deren ſie ſich für ihre Zwecke bedient, helfen endlich das
Gegentheil realiſiren. Von dieſer Seite hat die chriſtliche
Kunſt vorzüglich die Darſtellung des Teufels gefaßt. Das
Mittelalter hat ſeine Komik weſentlich an ihr entwickelt.
Dem Teufel wurde das Laſter als Narr zugeordnet und aus
ihm ging der ſpätere clown und Rüpel hervor. Der Teufel
kommt trotz ſeiner großen Anſtrengungen überall zu kurz
und wird, nachdem er eine Zeitlang Verlegenheiten bereitet
hat, zuletzt ausgelacht. Das Volk macht ihn in ſeinen
Sagen zum armen und dummen aber auch luſtigen
Teufel. In Ben Jonſons dummen Teufel (überſetzt
von Baudiſſin in Ben Jonſon und ſeine Schule) wird
der Teufel von allen Menſchen hinter's Licht geführt und
endlich in's Gefängniß gebracht, aus welchem Satan ihn be¬
freien muß. Im Engliſchen Puppet-shaw erſchlägt Punch
ſogar zuletzt den Teufel und ſingt:


Juchhe! Aus iſt die[ ]Noth,

Denn ſelber der Teufel iſt todt!
[384]

Im Mittelalter geſtattete die Figur des Teufels, deſſen
Macht der chriſtliche Glaube überwunden wußte, eine Licenz
der Kritik, die ſonſt verpönt war. Späterhin mußte auch
dieſe Komik eben ſo wohl in concrete menſchliche Individuali¬
täten gelegt werden, als auch die finſtere Seite des Böſen
in wirkliche Menſchen gelegt ward. Daher iſt der Teufel
allmälig für die Kunſt überflüſſig geworden. Er iſt, auch
in der Komik, zu einer allegoriſchen Perſon zuſammenge¬
ſchrumpft, die nur noch in barocken und burlesken Com¬
poſitionen eine gewiſſe Poeſie erlaubt, wie z. B. Grabbe
in einem Luſtſpiel die Großmutter des Teufels auf den Ein¬
fall gerathen läßt, die Hölle ſchroppen zu laſſen. Der Herr
Sohn wird ſo lang auf die Oberwelt geſchickt. Da es hier
aber gerade kalt iſt, ſo erſtarrt der von der Höllenwärme
verwöhnte Teufel und bleibt in dieſem Zuſtande am Wege
liegen. Ein höchſt aufgeklärter Dorfſchulmeiſter, der ſich
vom Glauben an den Teufel längſt emancipirt hat, findet
ihn, hält ihn für ein Curiosum naturae und nimmt ihn nach
Hauſe, ſehr erfreut über ſolche Rarität. Hier thauet nun
aber der Teufel auf, was denn zu ſehr lächerlichen Situationen
Anlaß gibt. Die Pariſer haben auch das teufliſche Element
zu ganz allerliebſten Zeichnungen mit Anmuth zu geſtalten
gewußt, zu den ſogenannten diableries, phantaſtiſchen
Schattenbildern in der Art der Ombres chinoises. Sie
machen auch einen Ausläufer jener Breughel-Callot-Hoff¬
mannſchen Zerrbildnerei aus, welche die Franzoſen einmal für
ächte Romantik zu halten ſich capriçirt haben. Wir wollen
zum Schluß dieſer kurzen äſthetiſchen Phänomenologie des
Teufels eine ſolche diablerie von Nicolet beſchreiben, die
auch für uns Deutſche durch Lewald's 1836, I.,
Beilage zum erſten Heft, zugänglich geworden iſt. Wir
[385] befinden uns auf einem glänzenden Ballfeſte, das uns über¬
all verliebte Päärchen in den mannigfachſten Attitüden vor¬
führt. Plötzlich erſcheinen im bunten Gemiſch der Tänzer
drei furchtbare Teufel, die aufeinanderſitzen und mit Dreh¬
orgel, Waldhorn, Türkiſcher Trommel und Triangel ein
ſcheußliches Concert anſtimmen. Ihnen nach ein luftiges
Ding mit großen Glocken in der Hand. Ihr folgt ein
Teufel, der mit einer Küchengabel und Ketten den Tact
dazu ſchlägt; andere Teufel, die auf Keſſel pauken, Caſſe¬
rolen ſtatt der Becken gebrauchen, und auf Trichtern blaſen,
verſtärken dies Orcheſter. Drei tolle wilde Hexen von eben
nicht unangenehmem Aeußern ziehen nun einen garſtigen ſich
heulend ſträubenden Teufel mit Gelächter in den Saal. Sie
haben ihm einen Strick um den Leib gelegt und ſchnüren
ihn tüchtig zuſammen. Kaum in der Mitte, ſo drängen
ſich alle Weiber hinzu, ihn zu bitten, daß er die wohlthätige
Manipulation der Verjüngung mit ihnen vornehmen möge.
Der Teufel fängt die Weiber ein, ſperrt ſie in einen großen
Korb und ſetzt in die Mitte des Saales einen coloſſalen
Mörſer, aus dem eine Röhre in einen davor liegenden Re¬
cipienten geht. Ein Teufel wirft nun die Weiber in den
Mörſer, in welchem der gräßliche Urteufel ſie mit wildem
Hohngelächter zerſtampft. — Nun folgt ein Maskenzug, wie
nur die zügelloſeſte Phantaſie ihn erſinnen kann. Zuerſt ein
Teufel auf Stelzen; dann ein Chineſe Tabackrauchend auf
einem Zwergſkelet einherreitend; eine Amazone auf einem auf
Stelzen gehenden Strauß; ein zierlich Dirnchen, einen Teufel
Huckepack tragend; ein alter ehrbarer Herr mit Paraplui
und Degen gar elegant auf einem Wiedehopf einhertrottend
und endlich eine lange Reihe von Vogel-, Affen- und Hunde¬
teufeln, Gerippen, Sprühteufeln, Luftgeſtalten. Mitten in
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 25[386] dieſem tollen Spuk erſcheint ein dicker Beelzebub, eine Schaale
in der Hand; ein rieſiges Todtengerippe in Reiterſtiefeln
poſtirt ſich ihm mit einer Champagnerflaſche gegenüber; der
Kork ſpringt in die Luft und Fliegen, Skorpione, Schlangen,
Teufelchen, Wanzen, Flöhe, entſprudeln der Flaſche und
ſtürzen in die bereit gehaltene Schaale. Zuletzt aber kommt
eine Sylphide und tanzt ein entzückendes Solo. Doch plötz¬
lich ſpringt ein Teufel mit der Hetzpeitſche hervor. Die
Sylphide verliert ihre Flügel und bekommt Arme dafür.
Die Hetzpeitſche knallt und die Tänzerin muß nun auf den
Armen ſtehen, gehen und tanzen. Ueberall ſchweben ähnliche
Sylphiden in der Luft, von hölliſchen Blasbälgen und Teufels¬
odem getrieben, die man bald auf Degenſpitzen ſchweben,
bald durch Reifen ſpringen ſieht, bis endlich die Teufel ſich
auf ſchuppige Drachengeſpenſter ſchwingen, welche die Tänze¬
rinnen mit ihren Krallen ergreifen und mit ihnen davon
fahren:


„Das iſt das Loos der Schönen auf der Erde.“

C.
Die Caricatur.

Das Schöne erſcheint entweder als das erhabene oder
gefällige, oder als das abſolute, welches den Gegenſatz des
Erhabenen und Gefälligen in ſich zur vollkommenen Harmonie
verſöhnt. Nicht ſo transcendent, wie das Erhabene, nicht ſo
bequem zugänglich, wie das Gefällige, wird die Unendlichkeit
des erſtern in ihm zur Würde, die Endlichkeit des zweiten zur
Anmuth. Die Würde kann aber zugleich anmuthig, die An¬
muth zugleich würdevoll ſein. Das Häßliche als eine
[387] Secundogenitur iſt in ſeinem Begriff von dem des Schönen
abhängig. Das Erhabene verkehrt es in das Gemeine, das
Gefällige in das Widrige, das Abſolutſchöne in die Cari¬
catur, in welcher die Würde zum Schwulſt, der Reiz zur
Koketterie wird. Die Caricatur iſt inſofern die Spitze in
der Geſtaltung des Häßlichen, allein eben deshalb macht ſie,
durch ihren beſtimmten Reflex in das von ihr verzerrte poſi¬
tive Gegenbild, den Uebergang in's Komiſche. Ueberall im
Häßlichen hat ſich uns bisher ſchon der Punct aufgedeckt,
wo es lächerlich werden kann. Das Formloſe und Incor¬
rette, das Gemeine und Widrige, können durch Selbſtver¬
nichtung eine ſcheinbar unmögliche Wirklichkeit und damit
das Komiſche erzeugen. Alle dieſe Beſtimmungen gehen in
die Caricatur über. Sie wird auch formlos und incorrect,
gemein und widrig durch alle Abſtufungen dieſer Begriffe
hin. Sie iſt unerſchöpflich in chamäleontiſchen Wendungen
und Verbindungen derſelben. Kleinliche Größe, ſchwächliche
Stärke, brutale Majeſtät, erhabene Nichtigkeit, plumpe Grazie,
zierliche Rohheit, ſinniger Unſinn, leere Fülle und tauſend
andere Widerſprüche ſind möglich.


Inſofern haben wir auch bisher ſchon den Begriff der
Caricatur indirect auseinandergeſetzt. Genauer aber beſteht
derſelbe in der Uebertreibung eines Momentes einer Ge¬
ſtalt zur Unförmlichkeit. Doch iſt dieſe Definition noch zu
beſchränken, wenn ſie auch im Allgemeinen richtig iſt. Das
Uebertreiben nämlich hat eine Grenze. An ſich iſt es die
quantitative ſei es vermehrende oder vermindernde Verände¬
rung einer Qualität als eines beſtimmten Quantums, eine
Veränderung, die an das Weſen der Qualität ſelber gebunden
iſt. Die maaßloſe Veränderung gelangt, als unendliche Ver¬
mehrung oder Verminderung, zuletzt bei der Vernichtung der
25 *[388] Qualität des Quantums an, weil zwiſchen der Qualität und
Quantität ein inneres Verhältniß beſteht. Die Qualität iſt
ſelber die Grenze der Quantität. Wir finden es daher lächer¬
lich, wenn eine Qualität in ihrer Einfachheit einen Compa¬
ratio haben ſoll. Relativ kann ſie allerdings Grade in ſich
ſchließen, allein abſolut kann ſie nur Eine ſein. Gold als
ſolches kann nicht goldener, Marmor nicht marmorner, die
Allwiſſenheit nicht allwiſſender, ein Dreieck nicht noch drei¬
eckiger ſein u. ſ. w. Jener Sonntagsjäger kommt zu einem
Krämer, Schrot zu kaufen. Dieſer bietet ihm mehrere
Sorten an; eine viel theurer, aber auch vorzüglicher. Dieſer
graduelle Unterſchied iſt hier möglich. Empfiehlt der Krämer
nun aber eine Sorte beſonders aus dem Grunde, weil ſie
todter ſchieße, ſo iſt dieſer Comparativ lächerlich, denn
todter als todt kann nichts Todtes ſein. Es kommt aber
ſogleich auf die nähern Umſtände an, dieſen hier lächerlichen
Comparativ auch in ganz anderm Lichte erſcheinen zu laſſen.
Wenn bei den Ruſſen, weil bei ihnen die Todesſtrafe abge¬
ſchafft iſt, ein Menſch zu einigen tauſend Hieben verurtheilt
wird und die Soldaten endlich nur noch auf einen Leichnam
ſchlagen, der auf einem Armenſünderkarren durch ihre Reihen
gezogen wird, ſo iſt dies zu Tode prügeln eines Todten,
nur um die Strafe vollſtändig zu vollſtrecken, gewiß nicht
lächerlich. Die Uebertreibung als Vergrößerung und Ver¬
ſtärkung, als Verkleinerung und Verſchwächung überhaupt,
iſt daher noch keine Carikirung. Die athletiſche Steigerung
der Körperkraft iſt ſo wenig eine Verzerrung, als die hin¬
ſchwindende Kraft eines Siechen. Ein Vermögen von Roth¬
ſchildeſchem Umfang iſt ſo wenig eine Caricatnr, als eine
große Schuldenlaſt. Swifts Rieſenmenſchen von Brobdignac
und ſeine Zwergmenſchen von Liliput ſind phantaſtiſche Ge¬
[389] ſchöpfe, aber keine Caricaturen. Der kranke Organismus
übertreibt die Thätigkeit eines leidenden Organs, der Leiden¬
ſchaftliche übertreibt ſein Gefühl für den Gegenſtand ſeiner
Affection, der Laſterhafte ſeine Abhängigkeit von einer
ſchlechten, verwerflichen Gewohnheit. Niemand aber wird
Schwindſucht eine Verzerrung der Magerkeit, patriotiſche
Aufopferung eine Verzerrung der Vaterlandsliebe, Verſchwen¬
dung eine Verzerrung der Freigebigkeit nennen. Uebertrei¬
bung allein iſt ein zu unbeſtimmter, relativer Begriff. Bliebe
man bei ihm ſtehen, ſo würden Ueberſchwemmungen, Orkane,
Feuersbrünſte, Seuchen u. ſ. w. auch Caricaturen ſein müſſen.
Zum Begriff der Uebertreibung muß alſo, den der Caricatur
zu begründen, noch ein anderer hinzukommen, nämlich des
Mißverhältniſſes zwiſchen einem Moment einer Geſtalt
und ihrer Totalität, alſo die Aufhebung der Einheit, welche
nach dem Begriff der Geſtalt daſein ſollte. Würde nämlich
die geſammte Geſtalt gleichmäßig in allen ihren Theilen ver¬
größert oder verkleinert, ſo würden die Proportionen an
ſich dieſelben bleiben, folglich auch, wie bei jenen Swiftſchen
Figuren, nicht eigentliche Häßlichkeit entſtehen. Geht aber
ein Theil aus der Einheit in einer Weiſe heraus, welche
das normale Verhältniß aufhebt, ſo erzeugt ſich, da daſſelbe
an ſich in den übrigen Theilen fortbeſtehen bleibt, eine Ver¬
ſchiebung [und] Verſchiefung des Ganzen, die häßlich iſt. Die
Disproportion nöthigt uns, immerfort die proportionale
Geſtalt zu ſubintelligiren. Eine kräftige Naſe z. B. kann
eine große Schönheit ſein. Wird ſie aber zu groß, ſo ver¬
ſchwindet das übrige Geſicht zu ſehr gegen ſie. Es entſteht
eine Disproportion. Wir vergleichen unwillkürlich ihre
Größe mit derjenigen der übrigen Theile des Geſichts und
urtheilen, daß ſie nicht ſo groß ſein ſollte. Ihre Uebergröße
[390] macht nun aber nicht ſie allein, ſondern auch das Geſicht,
dem ſie angehört, zur Caricatur, wie Grandville in den
petites misères de la vie humaine die ſocialen Verlegen¬
heiten einer ſolchen Großnaſe ſehr ergötzlich gezeichnet hat. —
Die Uebertreibung wird alſo zur Disproportion führen müſſen.
Allein auch hier iſt noch wieder eine Beſchränkung erforder¬
lich. Ein bloßes Mißverhältniß nämlich könnte auch nur
eine einfache Häßlichkeit zur Folge haben, die aber noch
keineswegs eine Caricatur zu nennen wäre. Alles Gemeine,
alles Widrige würde dann ſchon auf dieſe Benennung An¬
ſpruch machen dürfen, weil es doch im Allgemeinen eine
Verzerrung des Schönen. Daß im Leben ſo geſprochen
und auch das einfach Häßliche ſchon Caricatur geſcholten
wird, iſt kein Grund, innerhalb der Wiſſenſchaft den Begriff
nicht ſtrenger zu faſſen. Hier kann nur diejenige Mißform
Caricatur heißen, die ſich in einen beſtimmten poſitiven Ge¬
genſatz reflectirt und ſeine Formen ins Häßliche verbildet.
Aber nicht eine vereinzelte Anomalie, Regelloſigkeit, Mi߬
beziehung reicht dazu hin, vielmehr muß die Uebertreibung,
welche die Geſtalt verzerrt, als eine dynamiſch wirkende die
Totalität derſelben in Mitleidenſchaft ziehen. Ihre Desor¬
ganiſation muß organiſch werden.


Dieſer Begriff iſt das Geheimniß der Erzeugung der
Caricatur. In ihrer Disharmonie entſteht durch die falſche
Sucht
eines Momentes des Ganzen doch wieder eine ge¬
wiſſe Harmonie. Die ſo zu ſagen verrückte Tendenz des
einen Punctes durchſchleicht auch die übrigen Theile. Es
bildet ſich ein falſcher Schwerpunct, nach welchem hin Alles
in der Geſtalt zu gravitiren beginnt und damit eine mehr
oder weniger durchgreifende Verzerrung des Ganzen hervor¬
bringt. Dieſe nach Einer verkehrten Richtung hin thätige
[391] Seele der Deformität producirt nicht blos eine einzelne, be¬
ſonders auffällige Häßlichkeit, ſondern durchdringt das Ganze
mit ihrer abnormen Entſtellung. Im Allgemeinen werden
wir hier eine zwiefache Weiſe der Verbildung erkennen, die
Uſurpation und die Degradation. Jene rückt eine
Erſcheinung in eine höhere Form hinauf, als ihr vermöge
ihres Weſens zukommen kann; dieſe ſetzt ſie in eine niedri¬
gere Form herunter, als ihr vermöge ihres Weſens zukom¬
men ſollte. Die Uſurpation ſchraubt eine Exiſtenz zu dem
Widerſpruch hinauf, mehr ſcheinen zu wollen, als ihr eigent¬
liches Sein ihr erlaubt. Sie affectirt das ihr nicht urſprüng¬
lich zugehörige Weſen. Die Degradation wirft eine Exiſtenz
in den Widerſpruch, ſich in eine Sphäre als die ihr weſent¬
liche einzulaſſen, welche ſie ihrem primitiven Standpunct
nach ſchon hinter ſich hat. Uſurpation und Degradation
ſind daher nicht mit Potenzirung und Depotenzirung identiſch.
Potenzirung iſt normale Steigerung. Die mittelaltrige
Sage z. B. von Gregorius auf dem Steine, die Hart¬
mann von der Aue Deutſch bearbeitet hat und die noch jetzt
als Volksbuch curſirt, iſt eine chriſtliche Potenzirung der
antiken Oedipusſage, aber keineswegs eine Carikirung der¬
ſelben. So iſt die Art und Weiſe, wie Euripides den
Stoff der Oreſtie und Oedipodie behandelt hat, gegen die
Aeſchyleiſche Darſtellung der erſteren, gegen die Sophokleiſche
der zweiten gehalten, eine poetiſche Depotenzirung, allein
noch keineswegs eine Carikirung derſelben. Es wird alſo
noch eine Beſtimmung erforderlich ſein, die zu hoch oder
zu niedrig greifende Richtung der Deformität zur carikirenden
zu machen und dies wird die beſtimmte Vergleichung
ſein, zu welcher die Verzerrung auffordern muß. Alle Be¬
ſtimmungen des Häßlichen als Reflexionsbegriffe ſchließen
[392] eine Vergleichung mit denjenigen poſitiven Begriffen des
Schönen in ſich, die von ihnen negativ geſetzt werden. Das
Kleinliche hat am Großen, das Schwächliche am Starken,
das Niedrige am Majeſtätiſchen, das Plumpe am Niedlichen,
das Todte und Leere am Spielenden, das Scheußliche am
Reizenden das Maaß, worin es ſich reflectirt. Die Caricatur
dagegen hat ihr Maaß nicht mehr nur an einem allgemeinen
Begriff, ſondern verlangt die beſtimmte Beziehung auf
einen ſchon individualiſirten Begriff, der eine ſehr
allgemeine Bedeutung, einen großen Umfang haben kann,
jedoch aus der Sphäre der bloßen Begrifflichkeit herausgehen
muß. Den Begriff der Familie, des Staates, des Tanzes,
der Malerei, des Geizes u. ſ. w. überhaupt kann man nicht
carikiren. Um das Urbild im Zerrbilde verzerrt zu erblicken,
muß zwiſchen ſeinem Begriff und der Verzerrung wenigſtens
diejenige Individualiſirung in die Mitte treten, welche
Kant in der Kritik der reinen Vernunft das Schema nennt.
Das Urbild darf nicht der blos abſtracte Begriff bleiben,
es muß eine ſchon irgendwie individuelle Geſtalt gewonnen
haben. Was wir aber hier Urbild für das Zerrbild nennen,
iſt auch nicht im ausſchließlich idealen Sinn, ſondern nur
in dem eines poſitiven Hintergrundes überhaupt zu
nehmen, denn es kann eine ſelbſt durchaus empiriſche Er¬
ſcheinung ſein. Ariſtophanes in ſeinen Wolken geißelt
die Unphiloſophie, die Sophiſterei, den ungerechten Logos.
Als Zerrbild des Philoſophen ſtellt er den Sokrates auf.
Dieſer Sokrates, der auf der Paläſtra Mäntel ſtiehlt, der den
Flohſprung berechnet, der das Ungerade gerade machen lehrt,
der, dem Aether näher zu ſein, in ſeiner Denkſtube auf
einem Käſekorbe ſchwebt, der ſeine Schüler nasführt, iſt
freilich nicht derſelbe Sokrates, mit welchem er enthuſiaſtiſche
[393] Sympoſien feierte. Aber in einer Hinſicht iſt es doch der¬
ſelbe Sokrates, denn ſeine Geſtalt, ſeine nackten Füße,
ſeinen Stab und Bart, ſeine Manier zu dialektiſiren, hat
er doch wieder von ihm entlehnt und eben dadurch eine ächte
Caricatur erſchaffen. Die Philoſophie überhaupt kann man
nicht carikiren, wohl aber einen Philoſophen, die allgemeinſte,
eminenteſte, dem Publicum geläufigſte Form der Erſcheinung
der Philoſophie in einem Philoſophen, ſeinen Dogmen, ſeiner
Methode, ſeiner Lebensart; wie auch Paliſſot in ſeinen
Philoſophen Rouſſeaus Naturevangelium, Gruppe in
ſeinen Winden Hegels Kathedermanier carikirten. Für
Ariſtophanes war Sokrates das Schema, der Uebergang zur
poetiſchen Individualiſirung. Sokrates beſaß Philoſophie
und Urbanität genug, bei der Aufführung der Wolken gegen¬
wärtig zu ſein und ſogar im Theater aufzuſtehen, dem Pu¬
blicum die Vergleichung zu erleichtern. Hätte Ariſtophanes
nur einen abſtracten Sophiſten hingeſtellt, ſo würde ſeiner
Figur die individuelle Vertiefung gefehlt haben.


Allein nun werden wir ſofort einen Unterſchied aner¬
kennen müſſen zwiſchen den Caricaturen, welche der Welt
der wirklichen Erſcheinung und denen, welche der Welt der
Kunſt angehören. Die wirkliche Caricatur ſtellt uns auch
den Widerſpruch der Erſcheinung mit ihrem Weſen dar, ſei
es durch Uſurpation oder Degradation. Sie iſt aber eine
ſehr unfreiwillige. Alle jene Induſtrieritter, jene altklugen
Kinder, jene Pedanten der Gelehrſamkeit, jene Pſeudophi¬
loſophen, jene Pſeudoreformatoren des Staats und der
Kirche, jene Pſeudogenies, jene forcirt liebenswürdigen Schö¬
nen, jene ewig achtzehn Jahr alten Weiber, jene Ueberbil¬
deten u. ſ. w., wie ſie aus der Corruption aller Culturen
beſtändig hervorgehen, alle Werke, die nur Realiſationen des
[394] Widerſpruchs ihres Begriffs ausmachen, alle dieſe Exiſtenzen
ſind unſtreitig Caricaturen. Allein als empiriſche Exiſtenzen
ſind ſie nach allen Seiten hin mit der Wirklichkeit ſo ver¬
flochten, daß ſie auch noch eine Menge von anderweiten,
oft höchſt reſpectabeln Beziehungen in ſich ſchließen. Von
ihnen muß daher die äſthetiſche Caricatur als das Product
der Kunſt
unterſchieden werden, welches von den Zu¬
fälligkeiten des empiriſchen Daſeins gereinigt iſt und dieje¬
nige Einſeitigkeit, um die es zu thun iſt, prägnant hervor¬
hebt. Der Standpunct der Kunſt für ihre Schöpfung der
Caricatur iſt mithin der ſatiriſche. Alle Begriffe, welche
dem der Satire gehören, gehören folglich auch der Caricatur.
Alle Modificationen des Tons, welche der Satire möglich
ſind, ſind auch für die Caricatur möglich. Sie kann heiter
und düſter, erhaben und niedrig, ſcharf und milde, grob
und artig, plump und witzig ſein. Es iſt aber eine falſche
Beſchränkung, die Caricatur nur in den Werken der Malerei
zu ſuchen, wie es Paulin Paris in der Einleitung zum
Musée de la Caricature en France geſchehen iſt, wenn er
S. 1. ſagt: „La caricature est, dans son acception la plus
étendue, l'art de donner à l'imitation de la nature et à
l'expression des sentimes et des habitudes le caractère de
la satire. Cet art ne doit pas être de beaucoup postérieur
à l'invention de la peinture. Dès qu'on a compris l'idéal
dansses rapports avec la beauté, on a dû sentir le besoin
de l'idéal dans ses rapports avec la laideur physique et mo¬
rale. Cependant le mot
caricature, d'origine italienne,
est d'un Français assez nouveau. Admis, depuis le seizième
siècle, dans la langue des arts, c'est de nos jours seulement
qu'il est devenu académique et qu'à ce tître on l'a vu pren¬
dre rang parmi les expressions ordinaires de la conversation.“

[395] Dieſe Beſchränkung auf die Malerei wird von Paris ſelber
ſogleich factiſch dadurch widerlegt, das er den Roman Fau¬
vel
, le pélérinage de la vie humaine und la danse Macabre
als ſatiriſche Werke beſpricht, aus denen die Miniaturmalerei
den Stoff zu den Bildern genommen hat, mit welchem die
Handſchriften geſchmückt ſind. Die Poeſie iſt eben ſowohl,
als die Malerei, ja wegen der höhern Geiſtigkeit ihres Dar¬
ſtellungsmittels in noch viel größerem Umfang und viel ein¬
dringlicherer Tiefe, der Carikirung fähig. Die Geſchichte der
komiſchen Literatur von C. F. Flögel, 1784, 4 Bde., ent¬
hält beſonders die Geſchichte der ſatiriſchen Dichtung und
damit der poetiſchen Caricatur. Was aber das Wort Cari¬
catur anlangt, ſo haben wir Deutſche es wohl erſt auf dem
Franzöſiſchen Umwege aus dem Italieniſchen aufgenommen.
Im Italieniſchen leitet es ſich von caricare: überladen, ab;
die Franzoſen haben für Caricatur das ähnliche Wort charge
in Gebrauch. Wir Deutſche haben vordem den Ausdruck:
Afterbildniß für Caricatur gehabt. Eine beſondere Richtung
auf die Beachtung des Häßlichen als Mittel der Carikirung
hat unter den Malern längſt vor Hogarth Leonardo da
Vinci gehabt, deſſen hierhergehörige Zeichnungen, meiſt Stu¬
dienköpfe, ſeit Caylus öfter herausgegeben ſind.


Von der Natur wird man nur uneigentlich ſagen
können, daß ſie Caricaturen hervorbringe. Wenn ihre Reali¬
tät ihren Begriff nicht erreicht, ſo kann daraus, wie wir
uns früher überzeugten, das Häßliche, auch wohl, unter ge¬
wiſſen Bedingungen, das Komiſche entſtehen, eine wirkliche
Caricatur aber würde die Möglichkeit vorausſetzen, daß die
Geſtalt in ihrer Verbildung auf Freiheit zurückgeführt werden
könnte. Wir nennen den Affen ein Zerrbild des Menſchen,
allein wir wiſſen ſehr wohl, daß dies nur witziger Weiſe ge¬
[396] ſagt werden kann. Der Affe iſt kein häßlicher, entarteter
Menſch und es iſt unmöglich, eine Satire auf den Affen zu
ſchreiben, denn er kann einmal nicht anders ſein, als er iſt
und wir können von ihm nicht fordern, weniger Affe und
mehr Menſch zu ſein. Wohl aber kann die Satire einen de¬
pravirten Menſchen zum Affen degradiren, weil er, gegen
ſeinen Begriff, ſich ſelber dazu herabſetzt. Vom Cretin läßt
ſich ſchon mit mehr Recht ſagen, daß er eine Caricatur
Menſchen ſei, weil er, ſeinem Weſen nach ſchon Menſch,
doch ſeiner Erſcheinung nach in die Thierheit verſunken iſt,
während der Affe, der Form nach dem Menſchen ſich an¬
nähernd, dem Weſen nach von ihm unterſchieden bleibt.
Wenn manche Thiere als totale Verzerrungen ihres Typus
erſcheinen, ſo miſcht ſich hierbei gewöhnlich der Zwang ein,
welchen der Menſch ihnen anthut und dieſer Zwang hebt
wieder alle äſthetiſche Freiheit auf. Wenn wir auf einer
Thierſchau Schweine, auf dem Pariſer Mardi gras Ochſen
erblicken, die in ihrem Fett erſticken, ſo werden wir ſolche
Fleiſchmaſſen nur häßlich, vielleicht komiſch finden, aber
eigentliche Caricaturen ſind ſie nicht. Ein Pferd zu ſehen,
das ehemals den Fanfaren der Trompeter des Regiments
kriegsluſtig entgegenwieherte, wie es nun, als abgetriebener
Gaul, den Kehrichtkarren die Straßen entlang ſchleifen muß,
iſt ein trauriger Anblick. Ein Mops, der durch ein ſybari¬
tiſches Stubenleben dick und unverſchämt, durch Damenhät¬
ſchelei in ſeiner Hundenatur verrückt geworden iſt, wird uns
eine ſcheußliche Unnatur darſtellen, aber eine Caricatur werden
wir ihn nur uneigentlich nennen.


Wohl aber wird die Kunſt ſich gerade der Thierwelt
gern bedienen, die Satire auf die Menſchen durch traveſti¬
rende und parodirende Carikirung auszudrücken. Die Satire
[397] verſpottet das an ſich Nichtige durch ſeine eigene Uebertrei¬
bung, mit welcher es ſeine Ohnmacht enthüllt und damit in's
Lächerliche übergeht. Das Thier eignet ſich, gewiſſe Einſei¬
tigkeiten und Laſter recht entſchieden darzuſtellen. Die
höhern, edleren Eigenſchaften des Menſchen vermag die thie¬
riſche Analogie weniger adäquat auszudrücken, als die Re¬
gungen eines beſchränkten, ſelbſtſüchtigen Egoismus. Doch
iſt das Thiereich groß und mannigfaltig genug, auch gute
Eigenſchaften und Tugenden in's Spiel zu bringen, um ein
ziemlich vollſtändiges Gegenbild des menſchlichen Treibens
darbieten zu können. Der Orient, das Alterthum, das
Mittelalter, die moderne Zeit, haben die Abſpiegelung deſ¬
ſelben in der Thiermaske gleich ſehr geliebt. Die Batra¬
chomyomachie
der Homeriden iſt eine der älteſten und
trefflichſten ſolcher Dichtungen. Die alte Komödie bediente
ſich ſolcher Thiermasken in ihren Chören, wie uns noch die
Wespen und Fröſche des Ariſtophanes erhalten ſind.
Unter den kleinen Genrebildern der Pompejaniſchen Wand¬
malerei finden wir viele groteske, in's Satiriſche hinüber¬
ſpielende Thierſcenen. Ein Wiedehopf kutſchirt ſtolz auf einer
Biga, die von Stieglitzen, von Schmetterlingen, von Greifen
gezogen wird. Eine Ente geht auf ein Gefäß zu, zu trinken
begierig; eine Glasglocke verhindert ſie daran, ſie ſteht da
voll getäuſchter Erwartung u. ſ. w. Ein vorzügliches Bild
iſt jenes treffliche, das den frommen Aeneas verſpottet, wie
er mit ſeinem Vater Anchiſes auf den Schultern und den
kleinen Ascanius an der Hand die Trümmer des brennenden
Troja verläßt. Aeneas und Ascanius ſind als hundsköpfige
Affen, Anchiſes als ein alter Bär dargeſtellt. Statt der
vaterländiſchen Penaten hat dieſer ein Würfelſpiel aus den
Flammen gerettet. Die Ausdeutung dieſes Bildes als einer
[398] ſatiriſchen Caricatur auf die kaiſerliche Familie und nebenbei
auf Virgilius, wie Raoul Rochette im Musée secret de
Pompéi, p
. 223 — 26. ſie verſucht, ſcheint uns zu weit
hergeholt. Warum ſoll nicht der pius Aeneas als ſolcher
ſchon dem Spott erlegen ſein, da ja die Alten in ſolchen
Bildern auch der Götter nicht ſchonten!“ Die Sculptur des
Mittelalters hat in den Kirchen eine Menge ähnlicher Frazzen
zur Verſpottung der Juden und der Pfaffen angebracht.
In der Wolfs- und Fuchsfabel hat die Poeſie die Parodi¬
rung des Weltlaufs durch die Thierform zu einem univer¬
ſellen Bilde zuſammengefaßt, das in unſern Tagen durch
Kaulbachs Genie von Seiten der Malerei nicht blos illuſtrirt
ſondern intenſiv fortgedichtet iſt. Er hat die Thiere eben ſo
naturtreu als menſchlich wahr gezeichnet und dabei einen be¬
wundernswürdigen Humor entwickelt, der in ſelbſtſtändigen
Erfindungen hervortritt. Wie köſtlich iſt nicht das große
Bankett, wo der Elephant eine Flaſche Champagner in ſeinen
Rachen gießt! Wie köſtlich das Stillleben der königlichen
Familie, wo die Löwenmutter im Bett liegt, der König
Nobel mit der Brille auf der Naſe ſorglich umhergeht und
der kleine Kronprinz eben auf dem Nachttopf ſitzt! Bei
den Franzoſen hat Grandville in dieſer Gattung durch
ſeine politiſchen Thiere und durch ſeine Illuſtrationen
zu Lafontaine's Fabeln ganz Außerordentliches geleiſtet.
Seine Kunſt, menſchliche Geſtalt und Kleidung mit der
Thierform zu verſchmelzen, iſt unnachahmlich. Er malt
z. B. zwei Hähne als Bauern, die auf einander losknuffen,
aber doch bleiben die Bauern Hähne, indem er den Figuren
Hahnenköpfe aufſetzt und Sporen anſchnallt.


Ein anderes, nicht weniger wirkſames Mittel der pa¬
rodiſchen Carikirung ſind ſeit jeher die Marionetten ge¬
[399] weſen, wie man ſich aus Charles Magnin'sHistoire des
Marionettes en Europe depuis l'antiquité jusqu'à nos jours,
Paris
1852, überzeugen kann. Die Marionetten der Jahr¬
marktstheater von St. Germain und St. Laurent, deren
Chronik Magnin S. 152—169 excerpirt hat, parodirten
nicht nur die hohe Tragödie, wie die Oreſtie, Merope u. ſ. w.,
ſondern auch das höhere Luſtſpiel, z. B. Molières Médécin
malgré lui
.


Zwiſchen Parodie und Traveſtie iſt der Unterſchied,
daß die Parodie nur das Allgemeine, die Traveſtie aber
auch das Beſondere verkehrt. Die Traveſtie iſt daher jedes¬
mal auch Parodie, nicht aber die Parodie auch Traveſtie.
Shakeſpeare's Troilus und Creſſida parodiren die
Helden der Ilias, aber traveſtiren ſie nicht. Die edlen
Fürſten erſcheinen als ſinnliche, brutale Klopffechter, Helena
und Creſſida als lockere, zweideutige Dirnen. Der ſchädigte,
keifende Therſites macht mit ſeinen ſatiriſchen Anmerkungen
den witzigen Chor zu dem geiſtarmen Treiben der berühmten
Helden. Shakeſpeare hat die Züge, die im Homer die
charakteriſtiſchen, übertrieben und mit dieſer Charge das
heroiſche Pathos derſelben lächerlich gemacht. Der Kraft¬
ſtolz des Ajas, das Herrſcheramt des Agamemnon, die Hahn¬
reiſchaft des Menelaos, die Freundſchaft des Achilleus für
den Patroklos, die ritterliche Abenteurerei des Diomedes
ſind in die prahlſüchtigſte Phraſe aufgelöſt und das Unſittliche
in allen dieſen Verhältniſſen ſchonungslos blosgelegt. Dieſe
Carikirung iſt Parodirung. Die traveſtirende Caricatur hin¬
gegen verfolgt den Inhalt auch ins Detail, ihn zu verkehren,
wie Scarron und Blumauer dies mit Virgils Aeneis,
Philippon und Huart mit Sue's Juif errant gethan
haben. In neun kleine Bücher haben ſie den weitſchichtigen
[400] Roman zuſammengefaßt, indem ſie ihn in den Hauptſachen
Schritt vor Schritt noch einmal erzählen, dabei aber alle
Fehler ſeiner Compoſition aufdecken, alle Widerſprüche und
Unwahrſcheinlichkeiten enthüllen und das Häßliche, das in
den Perſonen liegt, durch Uebertreibung höchſt ergötzlich her¬
ausſtellen. Der Thierbändiger Morock, der alte Soldat
Dagobert, die ätheriſche Adrienne von Cardoville, die buck¬
ligte Mayeur, der Indiſche Prinz Dſchalma, beſonders der
brutalenergiſche, Alle überliſtende Jeſuit Rodin ſind in den
Zeichnungen Philippons zu den ſcheußlichlächerlichſten Frazzen
umgeſchaffen. Das iſt auch Parodie, aber traveſtirende (89).


Was den Begriff der Frazze betrifft, ſo ſcheint Kant
denſelben in den: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen
und Erhabenen zu weit ausgedehnt zu haben, wenn er ſagt:
„Die Eigenſchaft des Schrecklicherhabenen, wenn ſie ganz
unnatürlich wird, iſt abenteuerlich. Unnatürliche Dinge, in¬
ſoferne das Erhabene darin gemeint iſt, ob es gleich wenig
oder gar nicht angetroffen wird, ſind Frazzen“. „Ich will
dies — durch Beiſpiele etwas verſtändlicher machen, denn
der, welchem Hogarths Grabſtichel fehlt, muß, was der
Zeichnung am Ausdrucke mangelt, durch Beſchreibung er¬
ſetzen. Kühne Unternehmung der Gefahren für unſere, des
Vaterlandes, oder unſerer Freunde Rechte iſt erhaben. Die
Kreuzzüge, die alte Ritterſchaft waren abenteuerlich: die
Duelle, ein elender Reſt der letztern aus einem verkehrten
Begriff des Ehrenrufs, ſind Frazzen. Schwermüthige Ent¬
fernung von dem Geräuſch der Welt aus einem rechtmäßigen
Ueberdruß iſt edel; der alten Eremiten einſiedleriſche Andacht
war abenteuerlich: Klöſter und dergleichen Gräber, um leben¬
dige Heilige einzuſperren, ſind Frazzen. Bezwingung ſeiner
Leidenſchaften durch Grundſätze iſt erhaben: Caſteiungen,
[401] Gelübde und andere Mönchstugenden mehr ſind Frazzen.
Heilige Knochen, heiliges Holz und all dergleichen Plunder,
den heiligen Stuhlgang des großen Lama von Tibet nicht
ausgeſchloſſen, ſind Frazzen. Von den Werken des Witzes
und des feinen Gefühls fallen die epiſchen Gedichte des
Virgil und Klopſtock ins Edle, Homers und Miltons ins
Abenteuerliche: die Verwandlungen des Ovid ſind Frazzen,
die Feenmährchen des Franzöſiſchen Aberwitzes ſind die elen¬
deſten Frazzen, die jemals ausgeheckt worden. Anakreontiſche
Gedichte ſind gemeiniglich nahe beim Läppiſchen“. Dieſe
Auffaſſung des Frazzenhaften als eines Unnatürlichen, aber
vermeintlich Erhabenen, beſonders vom moraliſchen Stand¬
punct aus, geht wohl über die Grenzen der äſthetiſchen Be¬
ſtimmung dieſes Begriffs zu weit hinaus. Nach Kant fehlt
nicht viel, daß wir nicht alles Phantaſtiſche Frazze nennen
müßten. Wir würden dieſen Namen nur theils denjenigen
Verzerrungen geben, die ins Unduliſtiſche übergehen, theils
denjenigen, die an ſich normale oder edle Geſtalten in eine
widrige Häßlichkeit verunſtalten. In der erſteren Form
kann die Frazze höchſt komiſch ſein, wie z. B. in Töpfers
genialen Zeichnungen und in ſo manchen Jean Paulſchen
Figuren; in der zweiten Form kann ſie, um anderweiter
Beziehungen willen, auch unſer Lachen, wenigſtens Lächeln
erregen, aber einen unangenehmen Beigeſchmack haben, der
uns auf ſolchen Geſtalten nicht mit Wohlgefallen ruhen,
ſondern uns von ihnen bald zu andern forteilen läßt. In
einer kleinen Geſprächsnovelle, die guten Weiber, hat
Göthe dieſen Punct abgehandelt. S. W. 15., S. 263 ff.
Er läßt hier eine Geſellſchaft für und[] wider das Hä߬
liche ſtreiten. Phantaſie und Witz fänden mehr ihre Rech¬
nung, ſich mit dem Häßlichen zu beſchäftigen, als mit dem
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 26[402] Schönen. Aus dem Häßlichen laſſe ſich viel machen, aus
dem Schönen nichts. Freilich mache dies uns zu etwas,
jenes vernichte uns und Caricaturen hinterließen einen un¬
auslöſchlichen Eindruck, der durchaus zu verabſcheuen ſei.
„Warum ſollen jedoch, meint einer der Unterredner, Bilder
beſſer ſein, als wir ſelbſt? Unſer Geiſt ſcheint zwei Seiten
zu haben, die ohne einander nicht beſtehen können. Licht
und Finſterniß, Gutes und Böſes, Hohes und Tiefes, Edles
und Niedriges und noch ſo viel andere Gegenſätze ſcheinen,
nur in veränderten Portionen, die Ingredienzien der menſch¬
lichen Natur zu ſein, und wie kann man einem Maler ver¬
denken, wenn er einen Engel weiß, licht und ſchön gemalt
hat, daß ihm einfällt, einen Teufel ſchwarz, finſter und
häßlich zu malen.


Amalie. Dagegen wäre nichts zu ſagen, wenn nur
nicht die Freunde der Verhäßlichungskunſt auch das in ihr
Gebiet zögen, was beſſern Regionen angehört.


Seyton. Darin handeln ſie, dünkt mich, ganz recht.
Ziehen doch die Freunde der Verſchönerungskunſt auch zu
ſich hinüber, was ihnen kaum angehören kann.


Amalie. Und doch werde ich den Verzerrern niemals
verzeihen, daß ſie mir die Bilder vorzüglicher Menſchen ſo
ſchändlich entſtellen. Ich mag es machen, wie ich will, ſo
muß ich mir den großen Pitt als einen ſtumpfnäſigen Beſen¬
ſtiel, und den in ſo manchem Betracht ſchätzenswerthen
Fox als ein wohlgeſacktes Schwein denken.


Henriette. Das iſt, was ich ſagte. Alle ſolche
Frazzenbilder drücken ſich unauslöſchlich ein und ich leugne
nicht, daß ich mir manchmal in Gedanken damit einen Spaß
mache, dieſe Geſpenſter aufrufe und ſie noch ſchlimmer ver¬
zerre.“

[403]

Wenn die Caricatur durch Ueberladung entſteht, ſo
möchten wir die Frazze als das Extrem der Caricatur be¬
trachten, wodurch die Uebertreibung übertrieben wird und
damit in das Unduliſtiſche, Nebuloſe übergeht, wie dieſen
Uebergang die letzten hier aus Göthe angeführten Aeußerungen
richtig bezeichnen. Die Frazze als ſolche iſt allerdings hä߬
lich, aber durch ihre bizarre und groteske Geſtaltung kann
ſie ein vorzügliches Mittel der Komik werden. Wie reich
iſt nicht Shakeſpeare an ſolchen Frazzen! In Heinrich IV.
und in den luſtigen Weibern von Windſor ſind der Cor¬
poral Nym, Bardolph, Dortchen Lakenreißer, Schaal, die
Recruten, in den beiden Veroneſern der Diener Lanze, in
Liebes Leid und Luſt Nathanael, Holofernes, Dumm und
Schädel, in viel Lärmen um Nichts der Friedensrichter und
Conſtabler u. ſ. w. nichts als Frazzen, die uns aber
herzlich zu lachen machen. Gargantua und Pantagruel bei
Rabelais wie bei Fiſchart ſind Frazzen. Tieck und Boz
ſind überſchwänglich in Frazzen. Auch die Malerei hat
zahlloſe Ausgeburten luſtiger Frazzen hervorgebracht. Wir
erinnern nur an die Compoſitionen der Breughel und Teniers.
Selbſt die bildende Kunſt, welcher doch die Frazze gänzlich
zu widerſtreben ſcheint, hat ſie in verſchiedenen Formen cul¬
tivirt. Jene ſchon öfter von uns erwähnten monſtröſen
Figuren, in denen die Satire der mittelaltrigen Steinmetzen
ſich freien Lauf ließ, was ſind ſie anders als die ſeltſamſten,
ungeheuerſten Frazzen! Dantans Statuetten von Niſard,
Ponichard, Lißt, Brougham u. ſ. w. ſind Frazzen. Die
Komik der Pantomine kann ihrer gar nicht entbehren. Die
Figur des gefräßigen breitmäulig ſchlottrigen, tölpelhaften, ein¬
fältig pfiffigen, durchgeprügelten Pierrot, welche Dominico
auf dem Italieniſchen Theater zu Paris aus der Kleidung des
26 *[404] Polichinello und dem Charakter des Arlechino zuſammen¬
ſetzte, iſt weſentlich eine Frazze.


Die Caricatur iſt von uns in die unfreiwillige und in
diejenige unterſchieden worden, die von der Kunſt mit Ab¬
ſicht hervorgebracht wird. Es würde jedoch ein Mißverſtand
ſein, dieſen Unterſchied ſo zu nehmen, als ob in den Pro¬
ducten der Kunſt nicht auch ſolche möglich wären, die, ohne
Caricatur ſein zu wollen, alſo unfreiwillig, wirklich Carica¬
turen ſind. Dies iſt ſo wenig der Fall, daß im Gegentheil
eine Menge von Kunſtwerken ganz gegen ihre Abſicht ſich
in die Carikirung verlieren. Der Grund dieſer Erſcheinung
liegt in dem Weſen des Abſolutſchönen, die Extreme des Er¬
habenen und Gefälligen in ſich auszugleichen. Das wahrhaft,
Schöne hervorzubringen erfordert eine Tiefe der Conception,
eine Kraft der Produktion, die höchſt ſelten ſind. Die
Mittelmäßigkeit hat Empfindung genug für das Schöne,
aber nicht Originalität genug, es ſelbſtſtändig hervorzubrin¬
gen. Sie iſt es daher vorzüglich, die ſich in einem Pſeudo¬
idealismus gefällt, der ſich durch einen hohlen Adel der Ten¬
denz und durch formelle Reinlichkeit der Ausführung in das
Ideal zu vertiefen wähnt. Dieſer Idealismus erzeugt Ge¬
ſtalten, die im Grunde eine nur allegoriſche Allgemeinheit
beſitzen, während ſie doch auf die Geltung lebenswirklicher
Exiſtenzen Anſpruch machen. Es wäre beſſer, wenn ſie nur
Allegorien wären, denn alsdann würden ſie ſich nicht wider¬
ſprechen. Sie wären dann nur Abſtraktionen. Statt deſſen
verlangen ſie von uns als naturwahre Geſtalten voll eigenſter
Lebendigkeit anerkannt zu werden und fallen damit in das
Häßliche; denn ſie täuſchen uns mit dem Schein wirklicher
Idealität. Die Abweſenheit aller poſitiven Incorrectheit, die
Anwendung bekannter edler Formen im Einzelnen, die Fern¬
[405] haltung jedes Ueberſchwangs, die Zahmheit des gewählten
Ausdrucks, die negative Sauberkeit, mit welcher das Detail
ausgeglättet iſt, betrügt über die Gehaltloſigkeit des Innern
und läßt den Künſtler nicht ahnen, daß er nur eine ideale
Caricatur zu Tage gefördert habe. Wir haben vorhin ab¬
ſichtlich geſagt, daß die Mittelmäßigkeit es vorzüglich ſei,
welche in dieſen Irrthum falle, das ächte Ideal in ſolchen
blutloſen Schatten zu verwirklichen. Das Genie ſelber näm¬
lich iſt keineswegs geſichert, nicht auch in dieſen Abweg zu
gerathen, weil das Abſolutſchöne wirklich alle Extreme von
ſich ausſchließt und die Nothwendigkeit der abſoluten Har¬
monie einen Antrieb zu einem Nivelliren erzeugen kann,
welches alle friſche Kraft und Eigenart in eine falſche Vor¬
nehmheit, in eine dünnliche Formenſpielerei, in einen krank¬
haften Adel der Geſtaltung auflöſen kann.


Dieſe feine Art der Verzerrung, die ſo viel unfrucht¬
bare Schönheit erzeugt, die ſo oft als das Eunuchenideal
die productiven Kräfte mißleitet [und] gewöhnlich, wenn ſie
eine Zeitlang Alles ausgemattet und ausgemergelt hat, die
Reaction einer wilden, naturwüchſigen, roh empiriſchen
Sturm- und Drangperiode nach ſich zieht, erfordert eine
ganz beſondere Aufmerkſamkeit der Kritik, weil ſie ſcheinbar
das Höchſte darbietet. Jede Kunſt ſpecificirt natürlich dieſe
Idealität nach dem Medium ihrer Darſtellung. Hierauf ein¬
zugehen, muß daher der beſondern Kunſtlehre überlaſſen
bleiben. Doch wollen wir einige Beiſpiele zur Verdeutlichung
geben. Als die antike Kunſt in Verfall gerieth, verfiel ſie
auf die Hermaphroditenbildung, die doch nichts als
eine Caricatur iſt. Nur im Unterſchied der Geſchlechter kann
ſich die Eigenthümlichkeit der Schönheit zum Ideal vollenden,
wie W. v. Humboldt in ſeiner trefflichen Abhandlung:
[406] über die männliche und weibliche Form, in Schillers Horen
1795, jetzt in ſeinen Gesammelten Werken, I., S. 215. ff.
ſo gründlich gezeigt hat. Nur im Mann kann die Würde,
nur im Weibe die Anmuth zur abſoluten Reinheit ſich erheben.
In der Jünglingsperiode kann die männliche Geſtalt als
Ephebe eine gewiſſe weibliche Weichheit, in der Periode des
greiſen Alters die weibliche als Matrone eine gewiſſe männ¬
liche Strenge annehmen, ohne die individuelle Wahrheit des
geſchlechtlichen Typus zu beeinträchtigen. Allein aus den
Schönheiten des männlichen und weiblichen Ideals ein drittes
Ideal zuſammenzuſetzen, das weder männlich noch weiblich,
vielmehr mannweiblich ſein ſoll, iſt eine Verſuchung der
irreführenden Reflexion, die unausbleiblich zu Verzerrungen
führen muß. Es bleibt ein unnatürliches Beginnen, das
nur einem in Päderaſtie verſunkenen Geſchlechte ſchmeicheln
konnte. Sculptur und Malerei haben einen großen Auf¬
wand gemacht, dieſem Pſeudoideal zu huldigen, aber auch
in den Werken höchſter Virtuoſität bleibt es Caricatur. Die
Schönheit dieſer Zwittergeſtalten hat gerade, weil ſie die
Prätenſion der abſoluten, allerſchöpfenden Schönheit machen
muß, eine faſt geſpenſtiſches Grauen, ja Ekel erweckende Hä߬
lichkeit an ſich. Schneidet ſich eine Amazone, den Bogen
beſſer ſpannen zu können, die eine Bruſt weg, ſo bleibt ſie
doch Weib, ja ſie bleibt, wie eine Pentheſilea, der Liebe
fähig. Wird ein Mann gewaltſam zum Hämmling gemacht,
ſo verweibt der Eunuch als ein Unglücklicher. Ein Herma¬
phrodit aber, der zugleich Mann und Weib ſein ſoll, iſt ein
Monſtrum. Unter den Pompejaniſchen Bildern finden wir
auch manche Hermaphroditen, aber doch auch eines, worin
der Ekel der geſunden Natur vor ſolchem zweideutigen Ideal
treffend dargeſtellt iſt, Musée secret, pl. 13., p. 68. Ein
[407] Hermaphrodit mit weiblichem Kopfputz, mit Ohrgehängen,
mit buſenhafter Bruſtanſchwellung und breiten Hüftformen,
liegt in einer Landſchaft auf ſchwellende Kiſſen hingeſtreckt.
Ein Satyr, durch den Anſchein von Weiblichkeit getäuſcht,
hat von ihm eine Decke weggezogen. Lüſtern blickt der Her¬
maphrodit nach ihm hin, aber der Satyr, der nicht, wie
er erwartet, eine Nymphe gefunden, fliehet entſetzt, wagt
nicht ſich umzuſchauen und ſtreckt abwehrend die Hände zurück.
Die Kunſt darf nicht von der Individualiſirung laſſen, will
ſie nicht die wahre Poeſie aufgeben. Sie ſoll das Weſen,
aber ſie ſoll es als concrete Erſcheinung darſtellen. Das
Allgemeine als Allgemeines iſt Sache der Wiſſenſchaft, nicht
der Kunſt. Dieſe muß ſich daher vor ſolchen Verallgemei¬
nerungen hüten, welche die Individualität abſorbiren. In
der Fortſetzung der Conſuelo, in der Gräfin von Rudol¬
ſtadt, namentlich aber im Epiloge, iſt die G. Sand z. B.
dieſer an ſich edlen aber unkünſtleriſchen Verzerrung ver¬
fallen. Conſuelo als Zingara und ihr Mann als Trisme¬
giſtus werden endlich zu den reinen Menſchen, zu den
Menſchen als ſolchen
. Trismegiſtus rief: „Bin ich nicht
der Menſch? Warum ſoll ich nicht ſagen, was die menſch¬
liche Natur verlangt und alſo auch verwirklicht? Ja, ich
bin der Menſch, alſo kann ich ſagen, was der Menſch
will und was er wirken wird. Wer die Wolke aufſteigen
ſieht, kann den Blitz und den Orkan vorausſagen. Ich
weiß, was ich in meinem Herzen trage und was daraus
hrrvorgehen wird. Ich bin der Menſch und ſtehe in Be¬
zug mit der Menſchheit meiner Zeit. Ich habe Europa
geſehen“ u. ſ. w. Pure, proſaiſche Abſtraction! Solche
Werke können nobel, können ſchön ſein, allein ihr Adel wie
ihre Schönheit ſind auf einem Abwege der Verzerrung ins
[408] Abſtracte. Wir erinnern uns hier des großen Aufſehens,
das eine Statue des Bildhauers Cléſinger auf dem Pariſer
Salon 1847 machte, weil ſie aus Mangel einer mythologi¬
ſchen oder anderweiten Situation kaum zur Ausſtellung zu¬
gelaſſen wäre und Furore machte. Es war ein üppiges
Weib, das auf einem mit Roſen beſtreueten Bette ſich in
wollüſtigen Träumen wand. Dies war die Realität, die
man aber nicht geradezu geſtehen mochte. Was that nun
die Kritik? Sie behauptete, Cléſinger habe eine ganz neue
Bahn gebrochen. Freunde hatten dem Bildhauer gerathen,
den einen untergeſchlagenen Fuß von einer Schlange um¬
ringeln zu laſſen, damit dadurch der Anſtand des Katalogs
gewahrt würde, weil man ſich nun eine Cleopatra oder Eu¬
rydice denken könne und die Statue bekam den Titel: la
femme piquée par un serpent.
Die Kritik zählte auf, daß
dies Meiſterſtück keine Göttin, Nymphe, Dryade, Oreade,
Napee, Okeanide ſei, „mais tout bonnement une femme.
Il a trouvé, cet audacieux, ce fou, cet enragé, que c'était
là un sujet suffisant“. „Vous êtes étonné et ravi de ce
type, qui n'est ni grec ni romain, et qui est charmant, de
cette bouche entr' ouverte, de ces yeux mourans, de ces
narines passionées, de cette physiognomie convulsive et douce,
qu'agite un sentiment inconnu, de cet évanouissement vo¬
luptueux causé par l'ivresse du poison, philtre perfide,
monté du talon au coeur, et qui glace les veines en les
brûlant“.
Wenn auch mit Hülfe der Fiction des Giftes,
iſt doch offen genug ausgeſprochen, daß das Entzücken ein
wollüſtiges ſei. „Un esprit méticuleux pourrait bien deman¬
der: qu'exprimait — elle avant l'addition du serpent? Nous
ne saurions trop le dire. Eh bien! Elle avoit reçu en pleine
poitrine une des flêches d'or du carquois d'Eros“.
Zuletzt
[409] ſoll nun die Neuheit der Richtung, die hier eingeſchlagen,
geſchildert werden, kommt aber nur auf eine Allgemeinheit
hinaus, die uns deutlich die Gefahr verräth, welche damit
verknüpft iſt, tout bonnement une femme, ein Weib
ſchlechthin
, darzuſtellen. „Clésinger a, par cette statue,
fait preuve d'une incontestable originalité. L'antiquité d'Athè¬
nes ou de Rome n'a rien à voir dans son oeuvre: la Re¬
naissance non plus. Il ne procède pas plus de Phidias que
de Jean Goujon; il ne ressemble pas le moins du monde à
David, ni même à Pradier, ce païen attardé: peut être, avec
de la bonne volonté, lui trouveroit-on quelques rapports
avec Couston ou Clodion, mais il est bien plus mâle, bien
plus fougeux, bien plus violent dans la grâce, bien autre¬
ment épris de la nature et de la vérité. Nul sculpteur n'a
embrassé la réalité d'une étreinte plus étroite! Il a résolu
ce probléme, de faire de la beauté sans mignardise, sans
affection, sans maniérisme, avec une tête et un corps de
notre temps, ou
chacunpeut reconnaître sa maîtresse, si
elle est belle“!


Sehr nahe liegt es, daß die Verzerrung des abſtracten
Idealismus das Genie und ſeinen Kampf mit der Welt ſich
zum Gegenſtande macht. Das Genie iſt ſelbſt eine ideale
Macht. Worin alſo könnte ſich das Ideal glänzender ent¬
falten, als in einer Darſtellung des Genies ſelber? Dieſer
Schluß ſcheint ſo bündig, daß wir ihm eine Menge von
Gedichten, Novellen, Romanen, Dramen verdanken, in denen
die Geſchichte künſtleriſchen Schaffens den Inhalt ausmacht.
Da nun aber dies Schaffen an ſich etwas Stilles, Geheim¬
nißvolles, Unſichtbares, ein Zuſtand iſt, ſo blieb nichts übrig,
als die Künſtler in Umſtände zu verſetzen, die ihnen Gelegen¬
heit gaben, ihre Gefühle, ihre Beſtrebungen, ihr gewaltiges
[410] Wollen durch Worte kund zu thun. Und wie hätte man
dies wieder beſſer gekonnt, als durch ungünſtige Umſtände,
Verkennung, Noth, Armuth, ſociale Mißſtellung u. dgl.
So kommt denn eine traurige Gelegenheit nach der andern,
der undankbaren Welt, die ſolche Genies zu beſitzen eigentlich
gar nicht werth iſt, gehörig die Wahrheit zu ſagen und dem
Stolz des empörten Geiſtes genug zu thun, der denn doch
nicht ſtolz genug iſt, auf den Beifall der ſo tief verachteten
Welt zu reſigniren. Seit Göthe's Taſſo und Oelenſchlägers
Correggio iſt wohl kaum noch ein einigermaaßen renommirter
Künſtler übrig, der nicht in der einen oder andern Form zu
einem weltſchmerzlichen Ideal umgedichtet wäre, das von
der Caricatur immer nur um eine Linie entfernt iſt, wofern
es nicht ganz hineinfällt. Eines der vielbeſprochenſten dieſer
edlen Zerrbilder iſt der Chatterton von Alfred de Vigny,
nach deſſen Aufführung im Theater Français Jules Janin
in Lewalds Allgemeiner Theaterevue, II., 1836, S. 218.
ſagte: „Dieſer Chatterton iſt eine Art von talentvollem
Narren, den die Eitelkeit in's Verderben ſtürzt. Anſtatt
mit Bewußtſein und Muth, wie ein Mann, der für ſich
eine Zukunft ſieht, an's Werk zu gehen, beginnt Chatterton
über Menſchen und Welt zu klagen. An einem ſchönen
Tage tödtet er ſich, weil er nicht länger warten will. Aller¬
dings iſt dies beklagenswerth, allein zugleich iſt es ein trau¬
riges Beiſpiel, das nie den Stoff zu einer kläglichen Elegie
hätte geben ſollen. Ueberhaupt ſagt man es nicht genug
den jungen Leuten, daß die Geſellſchaft denen nichts ſchuldig
iſt, die nichts für ſie gethan haben. Sie glauben ſogleich,
wenn ſie einige Verſe oder Proſa im Kopfe ſpüren, daß
die Welt ihnen mit offenen Armen und offenen Börſen ent¬
gegenkommen ſoll, während ſie der Welt entgegenkommen
[411] ſollten. Seiner Natur nach iſt das Genie geduldig, je un¬
ſterblicher es iſt, deſto beſſer verſteht es zu warten. Wo iſt
das Genie auf der Welt, das nicht gewartet hätte ſtand¬
haft, gleich dem alten Horaz, bis die Reihe an ihn ge¬
kommen war? Treibt Ihr nicht dieſe jungen ungeduldigen
Geiſter zur Empörung, die nicht einſehen, daß die Jugend
ſelbſt ſchon ein ſehr großes Gut iſt und undankbar gegen
den Himmel ſind, ſich nicht glücklich zu fühlen, daß ſie jung
ſind? Befördert nicht durch Eure ungeſtümen Klagen, durch
Eure betrüglichen Beſchwerden die Handlungen des Selbſt¬
mords. Der Tod Guilberts, Malfilatres, Chattertons hat
ſchon viel Uebel angerichtet. — Unter dieſem Geſichtspunct
iſt der Chatterton Alfred de Vigny's eine beklagenswerthe
und mörderiſche Compoſition. Stellen Sie ſich einen Dichter
vor, der während ganzer fünf Acte umhergeht und gegen
die Geſellſchaft declamirt, weil er kein Kleid und kein Brod
hat. Aber Arbeit hat er; warum arbeitet er nicht? Welches
Privilegium hat er, daß man zu ihm gehen ſollte, ehe man
ihn an ſeinen Werken erkennt? Ein unerbittlicher Gläubiger
will Chatterton in das Gefängniß werfen laſſen. Er gehe
doch in das Gefängniß; dort wird er genährt und beherbergt
und kann ganz nach Willkür dichten; größere Dichter als
Chatterton lebten in Feſſeln und weniger bequem. Sheridan
ſelbſt, war er nicht ein Gefangener des Os alienum und war
er um deshalb weniger Sheridan? Der Lordmayor bietet
Chatterton den Platz ſeines erſten Kammerdieners an, und
Chatterton verweigert es. J. J. Rouſſeau war weniger
ſtolz; er hat die Livrée getragen und war doch Jean Jacques,
und wenn er ſich getödtet hat, ſo geſchah es heimlich, ver¬
borgen, nachdem er Heloiſe, Emile und den contrat social
geſchrieben hatte“.


[412]

So viel über die Verzerrungen, welche von den Künſt¬
lern in der Meinung hervorgebracht werden, mit ihnen das
Ideal der Schönheit ſelbſt zu realiſiren. So viel von der
verſteckteren Form dieſer Caricaturen und den Täuſchungen,
denen ſelbſt die Kritik bei ihnen unterworfen ſein kann.
So viel von der faſt unausbleiblichen Carikirung, welche
durch den Stoff herbeigeführt wird. Aus allen dieſen
Gründen folgt aber, daß ganz das Nämliche für die Er¬
zeugung der abſichtlichen Caricatur möglich iſt. Da ſie als
ein Kunſtwerk den allgemeinen Geſetzen des Schönen unter¬
liegt, wenn ihre Form ſich auch gegen dieſelben negativ
verhält, ſo kann es natürlich auch ſchlechte Caricaturen
geben. Es ſind diejenigen, die in der Bosheit der Tendenz
und in der Häßlichkeit der Geſtalt ſtehen bleiben und ſich
nicht zur Heiterkeit des ſcherzhaften Muthwillens erheben.
Es ſind diejenigen, die um ſolcher proſaiſchen Biſſigkeit
halber nicht von der Endlichkeit einer beſchränkten Abſicht,
zu ärgern, zu verletzen, loskommen. Es ſind aber auch
diejenigen, die ihre Züge nicht ſcharf genug in das voraus¬
geſetzte Gegenbild, reflectiren, alſo nicht witzig genug aus¬
fallen und in ihrer Stumpfheit eine Unſicherheit der Be¬
ziehung, eine Schwierigkeit der Deutung veranlaſſen. Es
ſind ferner diejenigen, die um der Schwäche ihrer Zeichnung
willen ſich mit den Aeußerlichkeiten eines ſymboliſchen Bei¬
werks umgeben müſſen und durch Ueberhäufung deſſelben
abermals in Gefahr bringen, die rechte Beziehung doch zu
verfehlen. Schlecht endlich ſind diejenigen, welche den Punct
nicht feſtzuhalten oder wohl gar kaum zu finden wiſſen, von
dem eigentlich die Verzerrung der Geſtalt ausgeht und ſich
von Innen her als die reale Ironie des Begriffs entwickelt,
der eigentlich da ſein ſollte. Man hört wohl von der Cari¬
[413] catur ſo ſprechen, als ob ſie eine höchſt untergeordnete
Leiſtung der Kunſt ſei, als ob nur geringere Talente mit
ihr ſich befaſſen könnten und als ob die Beſchäftigung mit
ihr den Geſchmack verderben müſſe. Dieſe banale Meinung
hat einen Sinn nur in Anſehung der ſchlechten Caricatur,
denn die gute iſt wahrlich gerade eben ſo ſchwer, wie —
alles Gute und Schöne. Wir müſſen bedenken, daß, wie
Platon ſchon im Sympoſion ſagt, der beſte tragiſche Dichter
auch der beſte komödiſche iſt, d. h. daß die Komik mit der
Tragik aus derſelben Tiefe des Geiſtes entſpringt und die¬
ſelbe Kraft erheiſcht. Die antiken Tragiker dichteten zu ihren
Trilogien ſelber das übliche Satyrdrama. Die Menge der¬
ſelben iſt verloren gegangen. Nur eines, den Euripideiſchen
Kyklopen, haben wir übrig. Es reicht hin, uns zu zeigen,
daß die Carikirung die Seele dieſer Gattung war. Wer alſo
nicht von der ſchlechten, ſondern von der Caricatur überhaupt
geringſchätzig denkt, der laſſe die Namen der alten Tragiker,
der laſſe den Namen des Ariſtophanes und Menander, den
Namen des Horaz und Lucian, des Calderon und Shakeſpeare,
des Arioſto und Cervantes, des Rabelais und Fiſchart, des
Swift und Boz, Tiecks und Jean Pauls, Molières und Bé¬
rangers, Voltaires und Gutzkows, der laſſe den Namen der
Breughel und der Teniers, der Callot und Grandville, der
Hogarth und Gavarni bei ſich vorübergehen und frage ſich dann,
ob er die Schöpfung ächter Caricaturen noch für eine ſo unter¬
geordnete Leiſtung anzuſehen den Muth haben könne? Frei¬
lich ohne idealen Gehalt, ohne Witz, ohne Freiheit, ohne
Kühnheit oder Zierlichkeit, ohne humoriſtiſche Elaſticität, nun
freilich da iſt die Caricatur nur eine abſcheuliche, quälende
Frazze und eben ſo langweilig und unausſtehlich, als jedes
andere ſchlechte Kunſtwerk.


[414]

Die Caricatur muß die Idee in der Form der Unidee,
das Weſen in der Verkehrung ſeiner Erſcheinung darſtellen,
aber dieſe Unidee und Verkehrung in ein concretes Medium
reflectiren. Mit andern Worten, ſie muß die Kunſt der
Individualiſirung verſtehen. Die Caricatur iſt das Wider¬
ſpiel der wahrhaften Schönheit, die ihre Genugthuung in
ſich ſelbſt trägt und ſich am Wohllaut ihrer eigenen Formen
erſättigt. Die Caricatur weiſt unruhig über ſich hinaus,
weil ſie mit ſich zugleich etwas Anderes darſtellt. Sie iſt
eine in ſich entzweiete, wenn auch in dieſer Entzweiung mit
ſich relativ harmoniſche Geſtalt. Die empiriſche Vermit¬
telung
, von welcher ſie ausgeht, kann eine unendlich
verſchiedene
ſein. Zuſtände, Handlungen, Bildungs¬
tendenzen jeglichen Inhalts können zu ihr die Veranlaſſung
geben. Wir ſehen, daß Nachbarvölker ihre Eigenheiten
in Zerrbildern zuſammenfaſſen. Der Franzoſe carikirt den
Briten, der Brite den Franzoſen u. ſ. w. Hervorragendere
Städte bringen aus ſich Zerrbilder hervor, in denen ſie
ihre Eigenthümlichkeiten ironiſch verlachen. Die Typen der
Römiſchen Attellanen z. B. vererbten ſich auf die neuern
Italieniſchen Masken, zu welchen die verſchiedenen Haupt¬
ſtädte Italiens ihren Beitrag lieferten. Der Arlechino iſt
der alte Römiſche Sannio; Pantalone der Venetianiſche
Kaufmann; der Dottore iſt von Bologna; der Beltramo
von Mailand; der Scapino iſt der ſpitzbübiſche Bediente von
Bergamo; der Spaniſche Capitano und Scaramuccia iſt von
Neapel; Pulicinella der Apuliſche Spaßvogel von Acerra,
der Maccus der Alten; Tartaglia der Stotterer; Brighella
der Betrüger und Kuppler von Ferrara; Pascariello, der
ſchwatzhafte Geck von Neapel; Gelſomino das ſüße Herrchen
von Rom und Florenz u. ſ. w. Der Mezzetino und Pierrot
[415] ſind Umbildungen der Italieniſchen Masken auf dem Ita¬
lieniſchen Theater zu Paris. Dieſe Masken ſind in vieler
Hinſicht die vollendetſten Caricaturen. Sie enthalten alle
Nüançen des Häßlichen, aufgelöſt ins Komiſche. Sie paro¬
diren Alles, aber ſie parodiren es in einer concreten Indi¬
vidualiſirung, die eine geſchichtliche Baſis hat. Große
Städte, wie London, Paris, Berlin, perſifliren ſich ſelbſt in
ihren cockneys, ihren badauds, ihren Buffey's. Die fort¬
währende Zerſetzung der Geſellſchaft in dieſen Culturcentren
iſt unerſchöpflich an zerrbildneriſchen Stoffen. Mayhew in
ſeinem unendlich wichtigen Werk über die Londoner Armen
hat den Gedanken ausgeführt, die charakteriſtiſchen Figuren
des Straßenelends und der Spelunken Londons daguerro¬
typiren zu laſſen, ſo daß man erſchreckend treue Abbilder
des geſpenſtigen Hades der Londoner Civiliſation bei ihm
ſehen kann; das Proletariat derſelben beſteht faſt nur aus
Caricaturen, und dieſe Caricaturen beſtehen faſt nur aus
Frazzen, die ganz den eigenthümlichen ſinnlichen Zug haben,
der aus den Zerrbildern von Cruishank und Phiz uns
anwidert. Namentlich machen die verwahrloſten Kinder einen
entſetzlichen Eindruck, die in der Frühreife ihres von Mangel,
Noth, Verbrechen, Trunk und zeitweiliger Schwelgerei ver¬
wüſteten Daſeins ein ganz vergreiſtes Ausſehen darbieten.
Manche Geſtalten ſind edler aber nur um ſo ergreifender,
wie z. B. jener Hindubettler, der an einer Straßenecke
chriſtliche Tractätlein feil hält. Dieſe dunkle, ſchmächtige
Geſtalt mit ihrem ſubtilen Knochengebäude, mit ihrer quie¬
tiſtiſchen Beſchränktheit, mit ihrem rührend melancholiſchen
Geſicht, aus welchem doch noch ein höherer Geiſt als eine
nicht ganz erloſchene Erinnerung blickt, in den Nebeln
Londons! — Die Franzoſen haben ein Werk hervorgebracht,
[416] das uns die Wirklichkeit nur mit treuem Griffel abzuſchreiben
ſcheint, dabei aber das carikirende Element nicht verbirgt,
in welches ſo viele Typen der heutigen Geſellſchaft eingetaucht
ſind. Wir meinen Les Français peints par eux mêmes;
[Encyclopédie]morale du dix neuvième siècle. Dies mit den
trefflichſten Zeichnungen von den erſten Künſtlern ausge¬
ſtattete, von den claſſiſchen Autoren Frankreichs geſchriebene
Werk erſchien in acht Quartbänden von 1841 ab und ver¬
dient von Pſychologen, Moraliſten, Dichtern, Geiſtlichen
und Staatsmännern weit mehr gekannt zu werden, als es
den Anſchein hat. Drei Bände dieſes Werks enthalten die
Typen der Provinzen. Die Artikel über die Armee, über
die Forçats, über St. Lazare und ähnliche ſind mit der
gründlichſten Wiſſenſchaftlichkeit geſchrieben. Der diable à
Paris
oder Paris et les Parisiens, der 1845 in zwei Quart¬
bänden erſchien, iſt als eine Fortſetzung zu betrachten, die
jedoch ſchon mehr nur der Unterhaltung gewidmet iſt und
ſich faſt ausſchließlich mit den Caricaturen beſchäftigt, welche
das feinere und rohere Proletariat liefert bis herunter zu
den Bettlern und den Proſtituirten.


Wie Völker und Städte, ſo ſehen wir auch die ver¬
ſchiedenen Stände der Geſellſchaft ſich gegenſeitig carikiren.
Der Bauer, der Soldat, der Schulmeiſter, der Barbier,
der Schuſter, der Schneider, der Krämer, der Literat und
Winkelpoet, der Thürhüter, der Aufwärter, u. ſ. w. werden
in Zerrbildern fixirt, die ſich von Epoche zu Epoche meta¬
morphoſiren, aber immer dieſelbe Richtung erneuen.


Endlich geben die Verſchiedenheit des Geſchlechts
und der Altersſtufen das Material zu Carikirungen ab.
Man könnte zu ihnen auch die Leidenſchaften hinzurech¬
nen, wie Theophraſtos in ſeinen Charakteren, nach
[417] ihm Labruyère, dann Rabener ſie geſchildert haben und
wie ſie den Inhalt des von Menandros und Diphilos
begründeten Luſtſpiels ausmachen.


Von ſolchen Zuſtänden haben wir die Handlungen zu
unterſcheiden. Sie machen den Inhalt der eigentlich hiſto¬
riſchen
Caricatur aus, welche die Widerſprüche ſatiriſirt,
die in dem öffentlichen Handeln der Völker und Regierungen
zum Vorſchein kommen. Periodiſche Caricaturwerke, wie der
Londoner Punch, der Pariſer Charivari, der Berliner
Kladderadatſch, werden dadurch zu Chroniken der poli¬
tiſchen und kirchlichen Verkehrtheiten.


Die Bildungstendenzen geben den Stoff zu vielen und
oft ſehr intereſſanten Caricaturen, und zwar in einer doppelten
Weiſe, einmal durch Perſiflirung einer Tendenz überhaupt,
ſodann aber durch Perſiflirung der Widerſprüche, die zwiſchen
der Cultur und Uncultur, zwiſchen der Cultur und Hyper¬
cultur entſtehen. Eine Tendenz überhaupt kann carikirt
werden, ſofern ihre Eigenthümlichkeit von der Satire zur
Einſeitigkeit beſchränkt und in dieſer Fixirung übertrieben
wird. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß die Bil¬
dung in der Unvollkommenheit ihrer Anfänge oder in der
Ueberreife ihrer Ausgänge der Verzerrung die glücklichſten
Stoffe liefern wird. Die Caricaturen, die nach jener Seite
hin liegen, erzeugen ſich im Großen überall, wo Cultur¬
völker mit Naturvölkern ſich berühren. Sie können von
einem andern Geſichtspunct aus für uns oft einen ſehr
ſchmerzlichen Anblick darbieten, indem wir ſehen, wie ein
kräftiges, relativ ſchönes Daſein von der fremden Bildung
ergriffen, zerſtört und zu einer ſcheußlich lächerlichen Frazze
verbildet wird. Catlin in ſeinen Indianern Nordamerikas
(Deutſche Ausgabe von Berghaus, 1848, S. 306. ff.) gibt
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 27[418] die Abbildung und die Geſchichte eines Aſſinneboinerhäupt¬
lings Wei-dſchun-dſchoe, der nach Washington im vollen
Schmuck ſeines prächtigen Nationalcoſtums gekommen war.
Wie aber kehrte er nach einem längern Aufenthalt in den
Städten der Union zu den Seinen zürück? „Als er auf
dem Verdecke des Dampfbootes erſchien, trug er einen Rock
vom feinſten blauen Tuch mit Goldtreſſen beſetzt, auf den
Schultern zwei gewaltige Epauletten, um den Hals eine
glänzend ſchwarze Binde, und ſeine Füße waren in ein Paar
waſſerdichter Stiefel mit hohen Abſätzen gezwängt, wodurch
ſein Gang ſchwankend und unſicher wurde. — Auf dem
Kopf trug er einen hohen Biberhut mit breiter Silbertreſſe
und einem zwei Fuß langen rothen Federbuſch. Der ſteife,
gerade Rockkragen reichte ihm bis über die Ohren hinauf
und über den Rücken hing ſein langes, mit rother Farbe
geſchmücktes Haar in Flechten herab. Um den Hals trug
er eine große ſilberne Medaille an einem blauen Bande und
an einem breiten über die rechte Schulter gehenden Riemen
hing ein breiter Säbel. Die Hände waren mit ziegenledernen
Handſchuhen bekleidet, in der Rechten trug er einen großen
Fächer und in der Linken einen blauen Regenſchirm. So
hatte man in Washington den armen Wei-dſchun-dſchoe
ausſtaffirt!“ Catlin gibt ein Bild dieſer Caricatur. Der
Säbel ſchleppt dem Helden zwiſchen den Beinen; er dampft
eine Cigarre und aus jeder der beiden Rocktaſchen ſchauet
der Hals einer Brantweinflaſche heraus. Doch die rechte
Carikirung erfolgte erſt, als er zu Hauſe angelangt war,
wo die Seinigen ihn wegen der Berichte, die er von den
Yankee's machte, für einen Lügner hielten. Am Tage nach
ſeiner Ankunft verfertigte ſeine Frau ſich aus den Schöößen
als einem überflüſſigen Theil des Rocks ein Paar Bein¬
[419] kleider und aus der ſilbernen Huttreſſe ein Paar Strumpf¬
bänder. Den ſo verkürzten Rock trug nunmehr ſein Bruder,
während er ſelbſt mit Köcher und Bogen, aber ohne Rock,
erſchien und ſeine ſtaunenden Freunde ſein feines Hemd mit
koſtbaren Hemdknöpfen bewunderten. Der Säbel behauptete
noch immer ſeinen Platz, aber ſchon um Mittag vertauſchte
er die Stiefeln mit Mokaſſins und in dieſem Aufzuge ſaß er,
bei einem Fäßchen Brantwein, erzählend unter ſeinen Freun¬
den. Eine ſeiner Geliebten hatte ihre Blicke auf ſeine ſchönen
ſeidenen Tragbänder gerichtet und am nächſten Tage ſah
man ihn, Yankee Doodle und Washingtonmarſch pfeifend,
mit dem Brantweinfäßchen unter dem Arm, nach der Hütte
ſeiner alten Bekanntſchaft hinſchwanken. Sein weißes Hemd,
oder derjenige Theil deſſelben, welcher im Winde geflattert
hatte, war auf anſtößige Weiſe verkürzt worden; ſeine blauen
mit Goldtreſſen beſetzten Pantalons waren in ein Paar comfor¬
table Beinkleider verwandelt; dabei hatte er Bogen und
Köcher umgehängt, und der breite Säbel, welcher auf der
Erde nachſchleppte, war ihm zwiſchen die Beine gekommen
und diente ihm ſo gewiſſermaaßen als Steuer, um ihn ſicher
über die „unruhige Oberfläche der Erde“ hinwegzuführen. —
Auf dieſe Weiſe waren zwei Tage vergangen, das Fäßchen
war leer und von ſeinem ganzen ſtattlichen Aufzuge war
ihm nur noch der Regenſchirm übrig geblieben, an dem ſein
ganzes Herz hing und den er in jedem Wetter bei ſich führte,
während er übrigens eine Lederkleidung trug!


Behandelt die Kunſt ſolche Widerſprüche, ſo wird ſie
die Ironie haben müſſen, in ihnen die Mängel der Cultur
ſelber mit zu verſpotten. Die Franzoſen haben z. B. nach
der Beſitznahme der Marqueſasinſeln eine Suite von Cari¬
caturen in dieſem Sinn gegeben. Sie haben die tättowirten
27 *[420] Wilden gemalt, wie ſie in den Europäiſchen Anzügen, gleich
jenem Indianerhäuptling, ſich zu den tollſten Caricaturen
verunſtalteten; wie ſie von der Fenſterſteuer zu ihrem höchſten
Erſtaunen beglückt wurden; wie die Fortſchritte der Fran¬
zöſiſchen Civiliſation ſich den überraſchten Vätern in wei߬
farbigten Kindern offenbarten u. ſ. w. Auf einem Blatt
ſehen wir einen edlen Marqueſaner in Stiefeln zwar, ſonſt
aber nur im Hemde, mit einer Keule, wie er aus der Hütte
hinaus will, durch deren Thür man draußen ſeine Frau in
einem zärtlichen Tête à Tête mit einem Franzöſiſchen Elegant
ſieht. Aber ein anderer Franzoſe hält ihn zurück und ſucht
ihm die Keule zu entreißen. Malheureux! qu'allez-vous faire?


Parbleu! une volée à l'amant de ma femme.


Ce serait vous perdre de réputation. Suivez la mode
européenne, envoyez un cartel à votre rival, demain matin
vous tirez sur le terrain, ce monsieur vous brûlera la cer¬
velle — et au moins vous aurez eu complète satisfaction!


Auf einem andern Bilde erblickt man ein Opfer der
Mode, in weiße Strippenbeinkleider, gelbes Gilet, ſteift
Binde, knappen Frack eingezwängt. Mais, tailleur, il m'est
absolument impossible, de remuer bras ou jambe dans les
vêtements, que vous m'apportez là.


C'est ce qu'il faut. C'est justement ce qu'il faut.
A Paris les gens riches ne s'habillent pas autrement; plus
on est gêné dans ses habits, plus on passe, pour être à
son aise!


Vielſeitiger natürlich fällt das Material aus, welches
die Verbildung als Hypercultur in der falſchen Sentimen¬
talität, in der falſchen Convenienz, in der falſchen Gelehr¬
ſamkeit, in der Verrücktheit des politiſchen Raiſonnirens, in
dem Wahnſinn ſectireriſcher Fanatismen, in den Abgeſchmackt¬
[421] heiten des Luxus, in der Rivalität der modiſchen Heilme¬
thoden, in den Verirrungen der Kunſt ſelber darbietet.
Dieſe Caricaturen ſind gewöhnlich ſchon die Aeußerungen der
Reaction, mit welcher der Geiſt ſolche Krankheiten zu über¬
winden ſucht. So der basbleu als Satire auf die ſchrift¬
ſtellernden Damen; ſo Mr. Prudhomme als Satire auf die
Alles beſſer wiſſenden Kritiker; ſo Mr. Mayeux in der Uniform,
die große Bärenmütze auf dem Kopf, die Conſervationsbrille
auf der Naſe, als Satire auf die Nationalgardiſten; ſo
Jean Patûrot à la recherche de la meilleure des républiques
als Satire auf die Socialiſten und Communiſten u. ſ. w.
Solche Caricaturen werden auch zuweilen ganz perſönlich,
wie z. B. A. W. Schlegel Kotzebue's Poeſie verſpottete
oder wie das Streben der Gräfin Hahn-Hahn, in ihren
Romanen den Rechten zu finden, in der Diogena geiſtreich
perſiflirt worden iſt. Nachdem ſie es mit einer ganzen Reihe
von Männern, ſogar mit einem nordamerikaniſchen India¬
nerhäuptling, umſonſt verſucht hat, erkennt ſie endlich den
Rechten in — einem Chineſen.


In der Behandlung muß die Caricatur den allgemeinen
Geſetzen der Kunſt folgen. Sie kann portraitiren, ſymbo¬
liſiren, idealiſiren.


Die Portraitirung wird im Durchſchnitt der perſön¬
lichen Caricatur angehören, die aus der Satire gegen ein
beſtimmtes Individuum entſpringt. Da jedoch dieſe Richtung
gewöhnlich mit den Kämpfen der Parteien im Staat, in der
Kirche, in der Kunſt zuſammenhängt, ſo wird der Haß
einen großen Antheil daran haben. Hiervon iſt die Folge,
daß die äſthetiſche Ausarbeitung des Zerrbildes dem materiellen
Intereſſe, den vergifteten Pfeil auf den Gegner abzuſchnellen,
untergeordnet wird. Man begnügt ſich deshalb mit einer
[422] gewiſſen Aehnlichkeit der Figur und der Phyſiognomie. Wenn
ſie nur hinreicht, für den ſatiriſchen Angriff als Enveloppe
zu dienen. Der Kunſtwerth faſt aller Caricaturen ſolcher
Art iſt ein äußerſt geringer. Man ſehe ſolche Sammlungen
durch, wie das Musée de la caricature en France, worin die
Zerrbilder aus der Zeit der Fronde, der Huguenottenkriege,
des Lawsſchen Geldſchwindels u. ſ. w. bis zur erſten Revo¬
lution nach den Originalen abgebildet ſind; man ſehe die
ebenfalls nach dem Original wiedergegebenen Caricaturen
aus der Revolutionsgeſchichte ſelber in der Histoire musée
de la république Française dépuis l'assemblée des Notables
jusqu'a l'empire par Augustin
Challamel, Paris, 1842,
2 Tomes; man ſehe die Caricaturen in dem Journal: London
und Paris, welches Böttiger zu Ende des vorigen und
Anfang dieſes Jahrhunderts in Weimar herausgab; man
vergleiche mit ſolchen Bildern die ähnlichen ſatiriſchen Schriften,
Pasquille, Lieder — ob man nicht überall einem herben,
ſcharfen, proſaiſchen Ton begegnen wird, dem es vor Allem
nur darum zu thun iſt, dem Gegner in der öffentlichen
Meinung einen Stoß beizubringen. Es wiederholen ſich
daher in dieſem Kreiſe ſogar gewiſſe Handgriffe, den Feind
dem Gelächter preiszugeben.


Dieſe Armſeligkeit der Mittel iſt eine Folge des egoiſti¬
ſchen Standpuncts der perſönlichen Satire, die ſich ſelten
zur Heiterkeit und Harmloſigkeit erhebt. Die zweite Art
der äſthetiſchen Behandlung unterſcheidet ſich von der Por¬
traitirung dadurch, daß ſie die Verzerrung ſchon als eine
allgemeine, als einen Typus nimmt, der eine Gattung dar¬
ſtellt und inſofern für die Individuen, die zu derſelben ge¬
hören, einen ſymboliſchen Werth empfängt. Hier verſchwindet
die Bitterkeit der directen Beziehung und die Poeſie ge¬
[423] winnt einen großen Spielraum. Dieſe ſymboliſche Darſtel¬
lung folgt den Wandlungen der Geſchichte, den Untergang
ihrer bedeutendern Geſtalten in den Widerſprüchen zu ſchildern,
die aus ihrer empiriſch unvermeidlichen Beſchränktheit ſich
allmälig entwickeln. So iſt z. B. unſer Deutſches Volks¬
buch von den Schild- oder Lalenbürgern eine ſolche
Caricatur, die ohne alle perſönliche Beziehung das Lächer¬
liche des in ſeine Bornirtheit vertieften Spießbürgerthums
mit wahrem Humor geißelt. So iſt in Wernhers mittel¬
hochdeutſchem Gedicht: Helmbrecht, die Verliederlichung
des Bauern- und Ritterthums in ein wüſtes, ſchlampiges
Räuberleben trefflich geſchildert. So hat die Periode der
Julimonarchie den Typus des Robert Macaire hervor¬
gebracht d. h. des allgemein organiſirten Betruges. Macaire,
mit ſeinem Genoſſen Bertrand, iſt überall, auf der Tribune,
auf der Börſe, im Salon, am Spieltiſch, bei der ärztlichen
Conſultation, im Cabriolet u. ſ. w., Macaire wohlbeleibt,
im Frack, im Glanzhut, mit dickem ſeidenem Halstuch, bril¬
lanter Bruſtnadel, möglichſt einnehmend; ſein Helfershelfer
Bertrand mit einer knappen Mütze in abgetragenen Kleidern,
langen beuteligen Taſchen zum Einfuppen von allem Mög¬
lichen, mit ſchlottrigem Gange, bloßem dürrem Halſe, confis¬
cirten Mienen voll ſpitzbübiſcher Unſchuld. Auch die Bilder
gehören hieher, welche die Nationen ſich epochenweis von
einander entwerfen, wie wenn wir von Bruder Jonathan
in Amerika, von John Bull in England, von Michel in
Deutſchland u. ſ. w. ſprechen. In China bedient ſich ſogar
die Regierung der ſymboliſchen Caricatur, das Opiumrauchen
zu verfolgen, indem ſie alle Stadien des Untergangs eines
Unglücklichen auf Bildern darſtellen läßt, der durch den
Genuß des Opiums endlich allem menſchlichen Gefühl, allem
[424] Pflichtbewußtſein, aller Wirklichkeit entfremdet und zum
ſcheußlichen Skelet abgezehrt wird.


Die ideale Behandlung der Caricatur können wir auch
die phantaſtiſche nennen. Die Maaßloſigkeit der Uebertrei¬
bung macht das Zerrbild ſich ſelbſt zum Zweck und ſtellt das
Häßliche bald als harmloſen Zufall, bald als höchſte Noth¬
wendigkeit dar. Die Verzerrung vernichtet ſich ſelbſt, weil
ſie aus den Schranken der gemeinen Wirklichkeit heraus¬
tritt und ſich in eine mährchenhafte Freiheit hinüberſpielt.
Nur große Künſtler beſitzen Genie genug, dieſe wunderbare
Metamorphoſe des Häßlichen hervorzubringen, die uns durch
ihren Humor gerade ſolche Beſeligung bewirkt, wie außer¬
dem nur die abſolute Schönheit es vermag. Die Freiheit
und Größe der Behandlung überwindet in ihrer Komik das
Negative der Form wie des Inhalts. Die Phantaſie dieſes
Standpuncts verhält ſich zur Verſtändigkeit des erſtern,
wie der junge Debüreau zum ältern Bruder, als er dieſen
zu Konſtantinopel in die äußerſte Gefahr brachte. Debüreau's
Vater ſollte mit ſeiner Familie vor dem Großherrn ſeine
athletiſchen und akrobatiſchen Künſte produciren. Er ward
daher eines Tags in einen großen Saal geführt, der aber
ganz leer war; hier machte er vor einem ſeidenen Vorhang
mit den Seinen die halsbrechendſten Kunſtſtücke. Unter An¬
derm nimmt der ältere Bruder eine Leiter auf die Zähne
und der jüngere klettert dieſelbe hinauf. Glücklich oben an¬
gelangt vergißt er zurückzukehren, weil er von der oberſten
Sproſſe plötzlich den ganzen Harem des Sultans erblickt,
der hinter dem Vorhang ſaß. Der Bruder gab Zeichen auf
Zeichen und erlag faſt, bis der Junge oben aus ſeinem
Erſtaunen erwachte und herunterkletterte. Dieſe Geſchichte,
die Jules Janin in ſeinem Debureau, histoire du theâtre
[425] à quatre sous
, im dritten Capitel, erzählt, iſt ſelber ein
Symbol. Unten der berechnende, balançirende Verſtand,
dann die kahle, unſchöne Leiter als Mittel, oben aber die
entzückte, im Anſchauen des Schönen ſich ſelbſt vergeſſende
Phantaſie.


Die Caricatur wird als Product der Malerei ſehr oft
und gern die Hülfe des Wortes annehmen, ihre Abſicht
deutlich ausſprechen. Aus dieſer Verbindung ſind allmälig
nicht nur vereinzelte Bildwitze, ſondern ganze Suiten
von Caricaturen, ja ganze zuſammenhängende Geſchichten
von Bildworten und Weltbildern entſtanden. Gavarni iſt
in dieſer Doppelkunſt ein außerordentliches Genie, aber
Töpfer übertrifft ihn an Humor. Die Oeuvres choisies de
Gavarni, études de moeurs contemporaines
, vier Quart¬
bände, 1846, führen uns die terribles, die Loretten,
die Studirenden, den Carneval, die débardeurs, die Schau¬
ſpielerinnen, Clichy, Paris am Abend u. ſ. w. vor, immer
witzig, aber kauſtiſch. Töpfer dagegen in ſeinen köſtlichen
histoires en estampes ſprudelt von jenem heitern Uebermuth,
der einen Shakeſpeare ſeinen Falſtaff, einen Jean Paul ſeinen
Dr. Katzenberger, einen Tieck ſeine Vogelſcheuche Ledebrinna
ſchaffen ließ. Biſcher hat dieſe ganze Gattung in einem
Aufſatz über Gavarni und Töpfer in Schweglers Jahr¬
büchern der Gegenwart, 1846, S. 554–66. ſo vorzüglich
charakteriſirt, daß wir darauf verweiſen müſſen, da wir ihn
nur wiederholen könnten (90).


Die phantaſtiſche Caricatur ſtreift von der Verzerrung
alle ethiſche Gefährlichkeit ab. Sie geſtattet den Vortheil,
die gemeine Verſtändigkeit von vorn herein zu überſpringen
und parodirt ſich ſelber. Nun könnte es ſcheinen, als ob
durch ſolche Ausgelaſſenheit die Uebertreibung des Charakte¬
[426] riſtiſchen entweder ganz aufgehoben oder ſo ſehr ins Extrem
geſteigert würde, daß die äußerſte Häßlichkeit die Folge ſein
müßte, weil das Häßliche alles Maaß negirt, wie ſchon
Platon es im Sophiſtes, 228., a., το ἀμετϱιας παν¬
ταχου δυσειδες ο͗ν γενος, das allwärts mißgeſtaltete Ge¬
ſchlecht des Häßlichen nennt. Allein dies wäre doch ein
Irrthum. Die Maaßloſigkeit der Phantaſtik erzeugt nämlich
in ſich ſelbſt wieder ein Maaß, indem innerhalb ihrer Ueber¬
treibung die Geſtalten doch wieder in ein gewiſſes propor¬
tionales Verhältniß zu einander treten müſſen. Hiedurch wird
eine außerordentliche Freiheit, Kühnheit, aber auch Anmuth
der Behandlung möglich, ſo daß die Caricaturen ſich nicht
nur in ein endliches Medium, vielmehr in die Unendlichkeit
der Idee ſelber, in das Schöne und Wahre und Gute an
und für ſich reflectiren. Wie die alte Komödie der Griechen
in dieſer idealen Phantaſtik ſo Bewundernswürdiges leiſtete,
ſo würden auch wir Deutſche unſerer Anlage zufolge gerade
in dieſer Richtung Unſterbliches hervorzubringen vermögen,
wenn nur einigermaaßen mehr nationale Kraft, mehr ein¬
heitliches Zuſammenwirken unter uns vorhanden wäre und
nicht die beſten Kräfte oft in Winkelexiſtenzen, in völlig
localen Ephemeriden, verkommen müßten. Wir ſtehen nicht
an, außer den anerkannten Meiſtern auf dieſem Gebiet,
Jean Paul, Tieck u. A[.], das von Stranitzky einſt gegrün¬
dete Leopold'sſtädter Theater in Wien für dasjenige zu halten,
welches vorzüglichen Beruf zeigte, die Caricatur in den
reinſten Himmel der Komik zu verſetzen und, befreiet von
aller einſeitigen Verſtandesſchärfe, das „ganze mißgeſtaltete
Geſchlecht des Maaßloſen“ zu einem Quell der reinſten Lach¬
freude zu machen. Bäuerle bezeichnete ſchon ſeinen an¬
nahenden Verfall; mit Raimund ſchwang es ſich noch ein¬
[427] mal zum höchſten Glanz empor; mit Neſtroy eilte es ſeinem
Untergang zu. Dieſer Gegenſtand verdiente wohl eine eigene
Abhandlung, die wir hier nicht geben können, wo wir von
der Caricatur nur Abſchied zu nehmen, nur ihre Fortbildung
zum Lächerlichen anzudeuten haben. Wir enthalten uns da¬
her weiterer Ausführung und geben nur ein Paar Züge zu
beſſerem Verſtändniß. In der „Lindane“ ſoll ein furchtſamer
Pantoffelmacher im Reiche der Feen eine Großthat vollbringen.
Das Geſchick hat ihn einmal dazu erleſen, ſo unbequem und
widrig es ihm fällt, einen Helden zu ſpielen. Er muß
durch einen Wald gehen. Seine Furchtſamkeit wird carikirt,
aber wie? Vollkommen phantaſtiſch. Er nimmt ſeinen
Altgeſellen und eine Flinte mit. Als ſie in den Wald kom¬
men, wird er natürlich ſehr bange. Es iſt gar keine be¬
ſtimmte Gefahr vorhanden. Das thut nichts. Der Wald
überhaupt, die Furcht überhaupt ſind Grund genug, etwas
zum Schutz gegen mögliche Gefahren zu unternehmen. Der
Geſelle muß alſo ſchießen. Aber wohin, da ſich nirgends
etwas Verdächtiges zeigt. Er ſchießt auf das Gerathewohl
in die Luft, während der Pantoffelmacher ſich grenzenlos
ängſtet. Und ſiehe da — dies iſt nun das Phantaſtiſche der
Ausführung — es fällt etwas aus der Luft herunter. Man
wagt ſich näher, den Vogel anzuſehen. Der Vogel ſieht
aber gar nicht recht wie ein Vogel aus; er hat vier Füße;
er hat auch gar nicht rechte Federn, ſondern Borſten; genug,
der Vogel iſt ein Schwein! Unmöglich, aber da liegt es
wirklich. Wir lachen natürlich, aber der Pantoffelmacher
fürchtet ſich nun um ſo mehr. Oder in Raimunds „Alpen¬
könig und Menſchenfeind“ ſieht Herr von Rappelkopf durch
den Alpenkönig, der ſeine Geſtalt mit ihm ausgetauſcht hat,
ſich ſelber ſprechen, handeln, grollen, toben. Aber nun
[428] findet er dieſen Doppelgänger übertrieben. Der Alpenkönig,
meint er, carikire ihn doch zu ſehr! Wie wahr, wie tief,
wie philoſophiſch, möchten wir ſagen, iſt dieſer Humor!
Wenn wir alle uns einmal ſo recht objectiv anſchauen könnten,
würden wir nicht auch meinen, daß wir uns zwar erſchienen,
aber doch nicht ganz ſo, wie wir eigentlich ſeien, doch etwas
übertrieben?


[429]

Schluß.

Die Olympiſchen Götter waren die ſchönſten Geſtalten,
die jemals von der Phantaſie erzeugt wurden. Dennoch
hatten ſie unter ſich den hinkenden Hephäſtos und dieſer
hinkende Gott war nicht nur mit der ſchönſten Göttin, mit
der ſchaumgeborenen Aphrodite, vermählt, ſondern er war
auch der ſinnige Gott der bildenden Kunſt und wußte die
ſchönſten Geſtalten zu erſchaffen. Und obwohl die Götter
ſo ſchön und ſo unſterblich waren, ſo hielten ſie es doch nicht
unter ihrer Würde, zuweilen in ein Gelächter auszubrechen,
das Homer ein unauslöſchliches nennt, wie da, als Hephäſtos
die eigene Gattin und den Ares mit einem Fangnetz umwo¬
ben hatte. So erkennt die Griechiſche Mythologie den Zu¬
ſammenhang des Schönen, Häßlichen und Komiſchen an.
Aber ſie thut dies auch noch in einem beſondern Mythus,
auf welchen Bohtz in ſeiner Schrift: über das Komiſche
und die Komödie, 1844, 51., aufmerkſam macht und den
wir in den Deipnoſophiſten des Athenäus, XIV., 2.,
finden. Parmeniskos war in die Höhle des Trophonios
geſtiegen und hatte ihre grauenvollen Wunder geſehen. Seit¬
dem konnte er nicht mehr lachen und befragte deshalb das
Orakel von Delphi, welches ihm antwortete, daß ihm die
Mutter in ihrem Hauſe die Fähigkeit zum Lachen wieder
verleihen werde. Als nun Parmeniskos nach Delos kam,
ſuchte er das Bild der Mutter des Gottes, der Latona.
Dies wurde ihm in einem unförmlichen Klotz gezeigt, worüber
er, der eine ſchöne Bildſäule zu ſchauen erwartet hatte, zum
[430] heftigſten Lachen erregt ward. So hielt das Orakel ſein
Wort. Die Mutter des ſchönen Apollon und ein Klotz
ſcheinen zu heterogene Dinge zu ſein und doch war dieſes
Unvereinbare hier wirklich und dieſe Wirklichkeit als eine,
die nicht möglich ſein ſollte, lächerlich. Iſt dieſer Mythus
nicht die Geſchichte des Zuſammenhangs des Häßlichen, das
uns verſtummen macht, mit dem Komiſchen, das uns heiter
erſchüttert?


Wir haben das Häßliche zuerſt im Begriff des Nega¬
tiven, des Unvollkommenen überhaupt aufgeſucht. Es zeigte
ſich, daß es nichts Urſprüngliches, nur etwas Secundäres
war, das am Schönen die Bedingung ſeiner Exiſtenz hat.
Wir überzeugten uns nun, wie es in der Natur theils in
unmittelbareren Formen derſelben, theils durch die Vermittelung
von Krankheit oder Verſtümmelung ſich verwirklicht. Vom
Naturhäßlichen unterſchied ſich das Geiſthäßliche, unter wel¬
chem nicht Irrthum, Unwiſſenheit, Ungewandtheit, nur der
Wahnſinn und das Böſe verſtanden werden konnte. Es ſchien
ein Widerſpruch zu ſein, daß die Kunſt, als die Erzeugerin
des Schönen, das Häßliche ſollte zu ihrem Gegenſtande
machen können. Aber nicht nur die Möglichkeit ſolcher
Bildung ergab ſich, ſondern auch die Nothwendigkeit, einer¬
ſeits aus der Univerſalität des Inhalts der Kunſt, die das
allgemeine Bild der Welt der Erſcheinungen in ſich reflectirt,
anderſeits aus dem Weſen des Komiſchen, welches das Hä߬
liche als Mittel nicht entbehren kann. Da nun die Künſte
ſich von einander qualitativ durch die Verſchiedenheit des
Mediums der Darſtellung unterſcheiden, ſo reſultirte hieraus
ein verſchiedenes Verhältniß zur Möglichkeit der Hervor¬
bringung des Häßlichen, worin der Architektur und Muſik
das Minimum, der Sculptur das Mittlere, der Malerei
[431] und Poeſie das Maximum zufiel. In der Möglichkeit über¬
haupt, hinter dem Ideal zurückzubleiben oder es zu entſtellen,
ſind die Künſte freilich coordinirt, Baukunſt, Sculptur und
Muſik aber durch ihre Technik gegen die Verhäßlichung
geſchützter.


Alles Schöne, da es der Geſtaltung bedürftig iſt, be¬
ruht auf allgemeinen Maaßverhältniſſen, auf Einheit, Sym¬
metrie, Harmonie. Die Häßlichkeit beginnt deshalb mit der
Formloſigkeit, welche die Einheit ſich abzuſchließen hindert
oder dieſelbe in's Geſtaltloſe auflöſt, ein Durcheinander der
Ungeſtalt und disharmoniſchen Widerſpruch erzeugend.


Jedoch nicht nur im Allgemeinen iſt das Häßliche dem
Maaße feindſelig, vielmehr auch im Beſondern verhält es
ſich gegen die normale Geſtalt negativ, die entweder als ein
conſtanter Typus durch die Geſetzlichkeit der Natur, oder
als ein conventionelles Maaß der äſthetiſchen Behandlung,
als ein beſtimmter Geſchmack, durch die Gewöhnung der
Cultur hervorgebracht iſt und die wir Correctheit nennen.
Die Negation dieſer Normalität iſt das Incorrecte, das in
den einzelnen Künſten und Stylarten ſich beſonders ſpecificirt.


Jene Negation der Maaßverhältniſſe, dieſe Negation
der phyſiſchen und conventionellen Normen haben ihren
Grund erſt in der Verbildung, in dem negativen Proceß
des Innern, der ſeine Auflöſung in der äußern Deformität
nur zur Erſcheinung bringt. Die Freiheit des Daſeins, des
Lebens, des Geiſtes kann das Erhabene in's Gemeine, das
Gefällige in's Widrige, das Schöne in's Verzerrte verkehren.
Nicht als ob das Erhabene, Gefällige, Schöne als ſolche
nicht erhaben, nicht gefällig, nicht ſchön wären, wohl aber
ſo, daß das Kleinliche am Großen, das Schwächliche am
Mächtigen, das Niedrige am Majeſtätiſchen, das Plumpe
[432] am Niedlichen, das Todte am Spielenden, das Scheußliche
am Reizenden ſein objectives Maaß hat. Als die Spitze
der Scheußlichkeit ſtellte ſich uns das Böſe dar, die freie
Selbſtvernichtung des Guten. Das Böſe als das diaboliſche
zeigte ſich als die abſolute Scheinfreiheit, die mit Bewußt¬
ſein principiell das Gute negirt und in dem Abgrund ihrer
Qual vergeblich wahre Befriedigung ſucht.


Das Böſe gab uns inſofern den Uebergang zur Cari¬
catur, als es die Reflexion von Inhalt und Form in ſein
Gegentheil weſentlich in ſich ſchließt. Die Vorſtellung des
Teufels iſt die Vorſtellung der abſoluten Caricatur, denn
er iſt die Lüge als die fictive Zerſtörung der Wahrheit, der
Unwille als der Wille des Nichts, die Häßlichkeit als die
poſitive Vernichtung der Schönheit. Aber die Caricatur löſt
die Widrigkeit in's Lächerliche auf, indem ſie alle Formen
des Häßlichen, aber auch des Schönen in ſich aufzunehmen
vermag. Daß ſie in ihrer Verzerrung ſchön werde, unſterb¬
licher Heiterkeit voll, iſt jedoch nur möglich durch den Hu¬
mor, der ſie in's Phantaſtiſche übertreibt. Die entfeſſelte
Ausgelaſſenheit des Humors, deſſen mitleidiger Uebermuth
ſich auch der Frazze annimmt, entbehrt nicht der reinſten
Beſinnung und gleicht der Mänade, die, auf des Berges
Scheitel den Fuß erhebend, das Haupt, getrieben von der
Begeiſterung des Gottes, zu den Sternen des Himmels mit
kühnem Schwung emporgeworfen hat, als wolle ſie ſchon
der Erde entfliehen und in den göttlichen Aether, aus dem
Alles hervorgegangen, zurückkehren.

[[433]]

Anmerkungen.

Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 28[[434]][[435]]

(1) S. 5. Wenn wir es recht bedenken, ſo wird auch hier,
wie in ſo vielen andern Dingen, Leſſing den eigentlichen Anfang
gemacht haben, nämlich im Laokoon, wo Capitel XXIII. bis XXV.
vom Häßlichen und Ekelhaften handeln. Das Verdienſt, den Begriff
des Häßlichen als ein organiſches Moment der Idee des Schönen mit
Bewußtſein in die Wiſſenſchaft eingeführt zu haben, gebührt Chr.
H. Weiße in ſeinem: Syſtem der Aeſthetik; im erſten Theil, Leipzig
1830, S. 163–207.


(2) S. 5. Weiße hatte jedoch die Unidee des Häßlichen im
Weſentlichen zu ſpiritualiſtiſch gefaßt und dieſe Einſeitigkeit, das mo¬
raliſche Moment als die Lüge des Geſpenſtiſchen, Böſen, Teufliſchen
vorzugsweiſe zu berückſichtigen, ging auch auf ſeine Nachfolger über.
Unter dieſen ſtand Arnold Ruge voran in ſeiner: Neuen Vorſchule
der Aeſthetik; Halle 1837, S. 88–107. Ruge, ein lebhafter Kopf,
voll von mancherlei naiven Anſchauungen, die er abzulagern begierig
war, aufgeregt durch die ihm neue Lectüre Hegelſcher Schriften, war
in manchen Exemplificationen glücklich, ließ aber in Anſehung der
Klarheit viel zu wünſchen über. Er ſagt S. 93: „Wenn ſich der
endliche Geiſt in ſeiner Endlichkeit gegen ſeine Wahrheit, den abſoluten
Geiſt, feſthält und geltend macht, ſo wird dieſer ſich ſelbſt genügen
wollende Geiſt als Erkenntniß die Unwahrheit, als Wille, der ſich
losſagt und in ſeiner Endlichkeit nur ſich beabſichtigt, das Böſe,
und beides, wenn es zur Erſcheinung kommt, das Häßliche.“
Die Folge dieſer engen Umgrenzung iſt bei ihm, daß er, wenn er
das Häßliche beſchreibt, faſt nur an die Hoffmann'ſche und Heine'ſche
Poeſie denkt. — Bohtz: Ueber das Komiſche und die Komödie, Göt¬
tingen 1844, S. 28–51. hat den Begriff des Häßlichen etwas freier
und allgemeiner, aber auch noch als den „verkehrten Geiſt“, als die
auf „den Kopf geſtellte Schönheit“ genommen. — Kuno Fiſcher
iſt gänzlich wieder Ruge und Weiße gefolgt in ſeiner: Diotima oder
28 *[436] die Idee des Schönen, Pforzheim 1849, S. 236–59. Das Häßliche
iſt ihm als die Kehrſeite des Erhabenen der entſchiedene Widerſpruch
des ſinnlichen Daſeins gegen das Ideale; das Vermögen des Häßlichen
hat nach ihm nur der ſittliche Geiſt und nur in der Menſchenwelt
iſt für ihn das Häßliche eine äſthetiſche Wahrheit. S. 259.: „Die
frivolen Römer und die erſtarrten Juden ſind der letzte Ausdruck der
entſeelten Vorwelt, wie die lüſternen Mönche und die verweichlichten
Chalifen der Triumph des Häßlichen über die Ideale des gläubigen
Katholicismus und des muthigen Islam ſind. So wird das Häßliche
auf einen Augenblick das Schickſal des Erhabenen im Begriff des
Schönen, wie in der Geſchichte der Menſchheit.“


(3) S. 9. Hauff: Moden und Trachten. Fragmente zur
Geſchichte des Coſtüms. Tübingen und Stuttgart 1840, S. 17–23.


(4) S. 17. Durch die Howard'ſche Theorie iſt ſelbſt die
flüchtige Geſtaltung der Wolken auf gewiſſe Grundformen zurückge¬
führt. Wir haben hier die von Reiſenden und von Dichtern ſo oft
und mannigfach geſchilderten äſthetiſchen Eindrücke der Wolken im Auge,
die unter Anderm in Novalis Heinrich von Ofterdingen, Schriften I.,
3te 1815, S. 238. vorzüglich ſo gegeben iſt: „Sie — die
Wolken — ziehen und wollen uns mit ihrem kühlen Schatten auf
und davon nehmen, und wenn ihre Bildung lieblich und bunt, wie
ein ausgehauchter Wunſch unſers Innern iſt, ſo iſt auch ihre Klarheit,
das herrliche Licht, was dann auf Erden herrſcht, wie die Vorbedeutung
einer unbekannten, unſäglichen Herrlichkeit. Aber es giebt auch düſtre
und ernſte und entſetzliche Umwölkungen, in denen alle Schrecken der
alten Nacht zu drohen ſcheinen: nie ſcheint ſich der Himmel wieder
aufheitern zu wollen, das heitere Blau iſt vertilgt, und ein fahles
Kupferroth auf ſchwarzgrauem Grunde weckt Grauen und Angſt in
jeder Bruſt. u. ſ. w.“


(5) S. 18. Von den hier genannten Namen iſt der Oerſtedts
in den letztern Jahren bei uns auch dem größern Publicum bekannt
genug geworden, da die Manie der Deutſchen, für das Fremde ſich
zu begeiſtern, eine Concurrenz von Ueberſetzungen ſeiner populären
Schriften hervorrief. Bernardin St. Pierre iſt zwar dem Namen
nach bei uns bekannt genug, da er durch ſeine Erzählung, Paul
und Virginie
, der Unterhaltungsliteratur ſeit lange angehört und
Kupferſtiche, ja Ballette, dieſen Stoff und den Namen ſeines Autors
weit genug verbreitet haben. Das Buch aber, was wir hier meinen,
ſind ſeine Ètudes de la nature, 3 Tomes (in der Pariſer Ausgabe,
die wir vor uns haben, 1838, chez Desleds), ein Buch, worin
wegen der Polarzone unhaltbare Hypotheſen vorkommen, das aber
[437] außerdem einen Schatz der vielſeitigſten Beobachtung und einen Reich¬
thum der ſchönſten Naturgemälde enthält, der nur von Wenigen
genoſſen und benutzt zu ſein ſcheint. I. Viſchers Abhandlung über
das Naturſchöne findet ſich in ſeiner Aeſthetik, Bd. II, Erſte Ab¬
theilung, 1847, und iſt eine der ausgezeichnetſten Arbeiten, die wir
auf dieſem Felde beſitzen. Hätten die Deutſchen ſich an dieſe Arbeit,
oder auch nur an die Abtheilung von Kant's Kritik der Urtheilskraft
erinnern wollen, die von der Teleologie handelt, ſo würden ſie nicht
ſich eingebildet haben, durch Oerſtedt etwas ganz Neues zu erfahren.


(6) S. 18. F. A. Schmidt: Mineralienbuch, oder allge¬
meine und beſondere Beſchreibung der Mineralien. Mit 44 colorirten
Tafeln. Stuttgart 1850, 4. Thiere und Pflanzen ſind oft genug
abgebildet worden, Mineralien ſelten. Dies Buch iſt daher ein
erfreulicher Fortſchritt. Der Herausgeber ſagt mit Recht: „Es iſt
nichts Leichtes, ein Mineral abzubilden, und gar tüchtige Künſtler,
die es unternahmen, haben das begonnene Werk verlaſſen. Die ſtarren,
lebloſen Formen widerſtreben dem Künſtlerſinn, jede Veränderung der
Stellung ruft andere Reflexe, ja völlig verſchiedene Farbentöne hervor,
und den Grad des Glanzes darzuſtellen iſt durchaus unmöglich. Die
Geduld tüchtiger Maler pflegt in Bezug auf derlei Arbeiten, zu
denen kein inneres Motiv ſie treibt, nicht übergroß zu ſein, und
manche Farben dieſer Gnomenwelt ſind auch, mit allem Fleiß, —
völlig unerreichbar. Welche Schwierigkeit bei dieſen Umſtänden nur
die Auswahl der Objecte hat, iſt leicht denkbar.“


(7) S. 18. Man ſehe die Abbildungen dieſer merkwürdigen
Gegenden in dem zu Carlsruhe erſchienenen Stahlſtichwerk: China,
hiſtoriſch, romantiſch, maleriſch. Da der Titel ſo wenig als die
Einleitung eine Jahreszahl haben, ſo können wir auch keine angeben.


(8) S. 19. Die Abhandlung von Hausmann, die wir hier
im Sinn haben, heißt: die Zweckmäßigkeit der lebloſen Natur, und
ſteht in einem Bändchen, welches den beſcheidenen Titel führt:
Kleinigkeiten in bunter Reihe, Göttingen 1839, l., S. 20 — 226.
Auch die voranſtehende Abhandlung: über die Schönheit der belebten
und unbelebten Natur, iſt vortrefflich. Beide ſind muſterhaft geſchrie¬
ben, wahre Zierden unſerer Nationalliteratur, obwohl unſere Literatoren,
die jetzt Geſchichten unſerer „Nationalliteratur“ ganz fabrikmäßig zu
Dutzenden herausgeben, nichts davon wiſſen. Trefflicher Hausmann,
wärſt Du doch ein Ausländer, wärſt Du doch erſt durch ſchlechte
Ueberſetzungen eingewandert — ja dann würde man von dieſen ſchönen
Unterſuchungen wiſſen. — Die Aeſthetik der landſchaftlichen Geographie,
die bei uns durch A. v. Humboldt in ſeinen Anſichten der Natur
[438] begründet wurde, iſt ſeitdem außerordentlich fortgeſchritten. Allein
auch hier iſt der Mangel an Bewußtſein zu beklagen, der uns Deutſche
um allen höhern Zuſammenhang bringt und uns Alles hundert Mal
thun läßt. Es gibt eine ganz vorzügliche Abhandlung über: Aeſthe¬
tiſche Geographie
, die den Aeſthetikern, nicht nur, ſondern auch
den Geographen viel zu unbekannt geblieben iſt und die wir auch in
Anſehung der darſtellenden Kunſt dem Beſten anreihen müſſen, was
wir beſitzen. Sie ſteht aber in einem Sammelwerk und ſo iſt ſie nicht
hinlänglich beachtet worden. Wir meinen: G. L. Kriegk: Schriften
zur allgemeinen Erdkunde, Leipzig
1840, S. 220–370. Die zur
Aeſthetik der Erdphyſiognomie gehörigen Schilderungen von Humboldt
im Kosmos, von Schleiden (Die Pflanze und ihr Leben), von
Maſius (Naturſtudien) u. A. ſind bekannter geworden. Ihnen
reihet ſich ſo eben an: Bratraneck: Beiträge zur Aeſthetik der
Pflanzenwelt, 1853.


(9) S. 19. Die Aeſthetik der Pflanzenform begründete
eigentlich Jussieu durch ſein Aufſuchen des Familientypus; ſodann
A. v. Humboldt: Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse. Tü¬
bingen 1806, 8. — Ein Kupferhandbuch der Giftpflanzen, worin man
die vornehmſten ihrer zum Theil bezaubernden Formen und Farben
überſehen kann, iſt das: Giftpflanzenbuch von Berge und Riecke,
Stuttgart, zweite Aufl. 1850. 4. Daß die Giftpflanzen ſich durch
den übeln Geruch verrathen ſollen, iſt auch nur ſehr beſchränkt wahr,
Veilchen aber, Kirſche, Lorbeer, die ſo ſtarke Gifte enthalten, riechen
vortrefflich. — In Anſehung der Urwelt iſt zwiſchen den Thieren und
Pflanzen derſelben der Unterſchied, daß auch ihre Pflanzen ſchön, ja
erhaben ſind. Man vergleiche Unger'sUrwelt, mit den nach ſeiner
Angabe von Kuwaſſeg ausgeführten, wovon ich in Prutz Deutſchem
Muſeum, 1852, I., S. 62–69 eine Ueberſicht gegeben habe.


(10) S. 21. Grandville in ſeinen Fleurs animées hob bei
der Runckelrübe und dem Zuckerrohr zuerſt den komiſchen Zug hervor,
den Barin hinterher auf die Cucurbitaceen und Rüben, aber, wie
uns ſcheint, mit ungleichem Erfolg, anwandte.


(11) S. 22. Die äſthetiſche Betrachtung der Thiere iſt noch
ſehr im Rückſtand gegen die der Pflanzen. Außer der ſchon oben
gerühmten Abhandlung Viſchers wüßte ich kaum eine Arbeit von
Belang zu nennen, die ſich hier zu allgemeineren Geſichtspuncten
erhoben hätte. Scheitlins Verſuch einer allgemeinen Thierſeelenkunde,
1840, 2 Bde. ſcheint mir noch das Beſte, was die Naturforſcher
ſelber gegeben haben, ich müßte denn bis auf des Ariſtoteles Thier¬
geſchichte zurückgehn wollen.


[439]

(12) S. 24. Daub: Judas Iſcharioth oder das Böſe in
Verhältniß zum Guten, Zweites Heft, I. Abtheil. Heidelberg 1818,
S. 350. ff. Eine Hauptſtelle S. 352.: „Der gewaltſame Tod z. B.
einer ganzen, einſt in den Fluthen untergegangenen Thierwelt iſt darum
nicht weniger gewaltſam, alſo nicht weniger widernatürlich,
weil ſie etwa wie verſuchsweiſe entſtanden war, und er, nachdem die
Fluthen ihre Canäle und Becken gefunden hatten, für eine andre und
vielleicht für das Menſchengeſchlecht ſelber auf Erden, wie aus Abſicht
und Vorbedacht, Platz gemacht — Euch aber Gelegenheit gegeben hat,
an den Gerippen jener Urthiere (?) Eure Neugierde zu befriedigen,
und an ihrem Gebiß Euren Witz zu ſchärfen. Daran, daß ſie, ſtatt
ihr Leben zu verleben, erſäuft, erſtickt, oder in irgend anderer Art um¬
gebracht worden, mag ihnen Recht geſchehen ſein; ihre gewaltſame
Vertilgung bleibt nichts deſto weniger eine Ermordung, die durch
das in der Natur Unnatürliche, nicht aber durch die Natur ſelbſt, ge¬
ſchweige durch die Gottheit geſchah. Dieſelbe tückiſche Gewalt, die
dort (ſ. Luc. 8, 33.) eine Heerde Säue ins Waſſer ſtürzt, daß ſie
erſaufen, ſtürzte hier die Gewäſſer über Eure Mammuths und Höh¬
lenbären, über Eure Megatherien und andre ſolche Beſtien her; und
eben ſie, die in jedem Element gleichſam wie im Hinterhalt, lauert,
nicht aber das Element ſelber iſt es, wodurch, wie z. B. Erdbeben,
örtliche Ueberſchwemmungen und ſonſtige Calamitäten lehren, das Leben
der Thiere, die Werke des Menſchen, und ſelbſt das Leben dieſes, mit
Freiheit und Vernunft ausgerüſteten, Königs der Erde immer noch
und immerfort gefährdet wird, denn „was fragen, mit dem Dichter
zu reden, die brüllenden Wogen im Sturm nach dem Namen eines
Königs?“ Die Natur hat ihre Schrecken, aber das in ihr Schrecken
Erregende iſt weder die Natur ſelbſt, ſie, ein Werk der ewigen Liebe,
noch die Uebernatur, ſie, die ewige Liebe ſelber; und wenn Euch der
Glaube an die göttliche Macht fehlt, die Wind und Meer bedräuet,
ſo daß es ſtille wird (Matth. 8, 26.), wird ihn Eure Meinung von
der phyſiſchen Nothwendigkeit des ſogenannten phyſiſchen Uebels
erſetzen? Oder wiſſet Ihr Euch etwa ſo ſicher, daß obgedachte Schrecken
für Euch keine ſind?“ Eine Widerlegung dieſer Theorie habe ich in
meiner Abhandlung: über die Verklärung der Natur, in den Studien
I., 1839, S. 155 ff., verſucht und den Punct der Häßlichkeit, ſo weit
er hier einſchlägt, S. 185–92 berührt.


(13) S. 41. Göthe, Werke, 28., S. 111–119. Wir
wollen aus den Thorheiten des Prinzen Pallagonia die Elemente
ſeiner Tollheit, wie Göthe ſich ausdrückt, herausheben. S. 115:
Menſchen: Bettler, Bettlerinnen, Spanier, Spanierinnen, Mohren,
[440] Türken, Buckelige, alle Arten Verwachſene, Zwerge, Muſikanten, Pul¬
cinelle, antik coſtumirte Soldaten, Götter, Göttinnen, altfranzöſich
Gekleidete, Soldaten mit Patrontaſchen und Gamaſchen, Mythologie
mit frazzenhaften Zuthaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Thiere:
nur Theile derſelben, Pferd mit Menſchenhänden, Pferdekopf auf Menſchen¬
körper, entſtellte Affen, viele Drachen und Schlangen, alle Arten von
Pfoten an Figuren aller Art, Verdoppelungen, Verwechſelungen der
Köpfe. Vaſen: alle Arten von Monſtren und Schnörkeln, die unter¬
wärts zu Vaſenbäuchen und Unterſätzen endigen. — Denke man ſich
nun dergleichen Figuren ſchockweiſe verfertigt und ganz ohne Sinn und
Verſtand entſprungen, auch ohne Wahl und Abſicht zuſammengeſtellt,
denke man ſich dieſe Sockel, dieſe Piedeſtale und Unformen in einer
unabſehbaren Reihe, ſo wird man das unangenehme Gefühl mit
empfinden, das einen jeden überfallen muß, wenn er durch dieſe Spitz¬
ruthen des Wahnſinns durchgejagt wird.“


„Das Widerſinnige einer ſolchen geſchmackloſen Denkart zeigt
ſich aber im höchſten Grade darin, daß die Geſimſe der kleinen Häuſer
durchaus ſchief nach einer oder der andern Seite hinhängen, ſo daß
das Gefühl der Waſſerwage und des Perpendikels, das uns eigentlich
zu Menſchen macht und der Grund aller Eurythmie iſt, in uns zerriſſen
und gequält wird. Und ſo ſind denn auch dieſe Dachreihen mit Hydern
und kleinen Büſten, mit muſicirenden Affenchören und ähnlichem Wahn¬
ſinn verbrämt. Drachen mit Göttern abwechſelnd, ein Atlas, der ſtatt
der Himmelskugel ein Weinfaß trägt. — Gedenkt man ſich aber aus
allem dieſem in das Schloß zu retten, welches, vom Vater erbaut,
ein relativ vernünftiges äußeres Anſehn hat, ſo findet man nicht weit
von der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines römiſchen Kaiſers auf
einer Zwerggeſtalt, die auf einem Delphin ſitzt“.


(14) S. 43. Nach Levezow's Abhandlung über das Gor¬
gonenideal hatte die Entwicklung deſſelben drei Momente. Zuerſt war
es ein Thiergeſicht; ſodann wurde es eine Maske mit blökender Zunge;
endlich ein menſchliches Geſicht, deſſen Schönheit aber allmälig charak¬
terlos wurde und das Meduſenhafte nur noch attributiv durch die
Haare und Flügel andeute. Die φοβερα χαρις, die wir an der Meduſe
Rondanini bewundern, verſchwand zuletzt.


(15) S. 44. Anſelm Feuerbach: der Vaticaniſche Apollo.
Eine Reihe archäologiſch-äſthetiſcher Betrachtungen. Nürnberg 1833.
Feuerbach, der nun ſchon Dahingeſchiedene, nimmt einen äußern Haupt¬
beweis für ſeine Anſichten daher, daß die meiſten Werke in der gefügigen
Bronze, welche die volle Freiheit des Meiſters geltend machen konnten,
untergegangen ſind. F 75: „Wären die Bronzeſtatuen von Athleten
[441] und Ringern, welche die Altis von Olympien bevölkerte, noch erhalten,
oder nur die Marmororiginale der Thyaden und Tänzerinnen, deren
ſchwache Schatten auf Reliefs und mittelmäßigen Wandgemälden noch
unſer Auge feſſeln, ſo würde ſich hier für uns eine ganz neue Quelle
der Bewunderung eröffnen; wir würden ſtaunen über die Meiſterſchaft
jener Künſtler, welche im vollen Gefühl ihrer Sicherheit, das Aeußerſte
wagen durften, und wirklich wagten. Wir würden es ihnen Dank
wiſſen, daß ſie ſich nicht ſtill bedachtſam, jede freiere Bewegung
ſcheuend, innerhalb der vier Pfähle reinſter Plaſtik gehalten; wir
würden dem Künſtler freudig folgen, wenn er die ſchwindelnde Bahn
bis zum äußerſten Gipfel ſeiner Kunſt wagt, und erſt dann den
Meißel niederlegt, wenn ihn das Zerrbild lebloſer Unnatur zurückſchreckt,
oder ihm als Bildner ſeiner Götter, — die Grazie, dieſe Nemeſis
der Kunſt, innezuhalten gebietet. Nichts lag außerhalb dem Bereich
des Griechiſchen Künſtlers, als der Tod der Aegyptiſchen Ruhe“.


(16a) S. 44. Angeregt durch die Zeichnungen der Gebrüder
Riepenhauſen, hat ſich Göthe viel Mühe gegeben, die Polygno¬
tiſchen Bilder in der Atheniſchen Poikile und Delphiſchen Leſche zu
ordnen. Sie ſtellten eine Art von epiſchem Panorama vor. Aus den
uns erhaltenen Beſchreibungen, wie unvollkommen ſie ſeien, erkennt
man doch immer die Stoffe der Malerei und aus dieſen, daß dieſelben
nichts Furchtbares von ſich ausſchloßen. Die gewöhnlichen aus Win¬
kelmann
und Leſſing geſchöpften Vorſtellungen von der Delicateſſe,
mit welcher die bildende Kunſt das Häßliche gemieden habe, reichen
hier nicht zu. Ich will von zerſtückten Leibern ſchweigen, die man in
den Krippen den Pferden unter den Häckſel geſtreuet ſah u. dgl.; ich
will aus des Pauſanias Bericht von dem Bilde in der Delphiſchen
Leſche, welches den Beſuch des Odyſſeus in der Unterwelt darſtellte,
nur Einiges, minder Schreckliche anführen: „Unter Charons Rachen
wird ein vatermörderiſcher Sohn von ſeinem eigenen Vater erdroſſelt.
Zunächſt wird ein Tempelräuber geſtraft. Das Weib, dem er über¬
liefert iſt, ſcheint ſowohl jede Arzneimittel, als alle Gifte, mit denen
man die Menſchen tödtet, ſehr wohl zu kennen. Ueber dieſen Be¬
nannten ſieht man den Eurynomos, welcher unter die Götter der Unter¬
welt gezählt wird. Man ſagt, er verzehre das Fleiſch der Todten
und laſſe nur die Knochen übrig. Hier iſt er ſchwarzblau vorgeſtellt.
Er zeigt die Zähne und ſitzt auf dem Fell eines Raubthiers u. ſ. w.“


(16b) S. 53. Es ſollte dies eigentlich ſchon No. 17. ſein.
Aus Verſehen iſt 16 wiederholt. Die im Text erwähnten Stellen
ſind zwar oft genug gedruckt, indeſſen können wir uns wohl nicht
entſchlagen, ſie auch hier noch einmal als eine wichtige Auctorität her¬
[442] zuſetzen. Ariſtoteles, de Poetica, V.: „ἡδε, ϰωμωδια ἐοτιν, ὡδπερ
ἐιπομεν, μιμησις φαυλοτερων μεν, ὀυ μεντοι ϰατα πασαν ϰαϰιαν, ἀλλα
του ἀισχρου, ὁυ εστι το γελοιον μοριον. το γαρ γεοιον ἐστιν
ἁμαρτημα τι ϰαι ἀισχρος ἀνωδυνον, ϰαι ὀυ φϑαρτιϰον ὁιον ευϑυς το
γελοιον προσωπον ἀισχρον τι ϰαι διεσταμμαενον ἀνευ ὀδυνης.“ Und
Cicero de Oratore, ll. 58.: „Locus et regio quasi ridiculi turpitu¬
dine et deformitate quadam continetur: haec enim ridentur vel sole,
vel maxime, quae notant et designant turpitudinem aliquam non
turpiter“.


(17.) S. 69. Die Hauptſchrift Platons für dieſen Unter¬
ſchied wird immer der Philebos bleiben. Anderwärts zeigt er, daß
das Schöne mehr iſt, als nur eine nützliche Luſt; mehr als das,
was Liebe erregt, mehr als das Zweckmäßige; aber in dieſem
Dialog kommt er zu poſitiven Beſtimmungen. Das Maaß iſt ihm
hier der Grundbegriff. Der Natur des Zeus müſſe eine königliche
Seele und königliche Vernunft einwohnen wegen der Kraft der Urſache.
Vom Geiſt und zuleßt aus Zeus königlicher Seele alſo entſpringt jeg¬
liche Ordnung und nimmt jegliches Ordnende ſeinen Urſprung, ſo daß
wir nicht in Verlegenheit ſein können, die Heimath, des Maaßes, der
Zahl, der Beſtimmung (περας), des Begriffs oder der Idee der Dinge
zu beſtimmen, das Maaß, μετρον, iſt dem Platon hier das Erſte;
das auf dieſem ewigen Grunde beruhende Zweite iſt ihm το συμμετον
ϰαι ϰαλον ϰαι το τελεον ϰαι ἱϰανον ϰαι πανϑ᾽ ὁποσα της γενεας ἀν
ταυτης ἐστιν. Das Häßliche (δυσειδες) nennt er daher anderwärts
alles das, was in allewege, πανταχου, zum Geſchlecht der ἀμετρια
gehört. Man vergleiche A. Ruge: die Platonische Aesthetik, Halle
1832
, S. 22 — 60. und Eduard Müller, Geſchichte der Theorie der
Kunſt bei den Alten, Bd. I. Breslau, 1834, S. 58—72. Der letztere
macht wegen des Begriffs der Harmonie und Anharmonie noch beſon¬
ders darauf aufmerkſam, daß man nach Philebos 25, d. e., 26, a.,
die γενεα του περατος, das ἰδον und διπλασιον, die Vereinigung des
Entgegeſetzten, ἠ ὀρϑη του περαιος ϰαι ἀπειρου ϰοινωνια, von dem
einfachen Begriff des Maaßes noch unterſcheiden müſſe.


(18) S. 72. In dieſem Aufſatz, der Sammler und die
Seinigen, W. 38., hat Göthe im Grunde genommen den Gegen¬
ſatz der Idealiſten und der Charakteriſtiker, wie man ſich damals
ausdrückte, abgehandelt und als Reſultat der hin und her wogenden
Debatte folgendes Schema aufgeſtellt:


1. Ernſt allein; individuelle Neigung: Manier. a) Nach¬
ahmer. b) Charakteriſtiker. c) Kleinkünſtler. (Oder auch
a) Copiſten, b) Rigoriſten, c) Mignaturiſten).


[443]

2. Spiel allein; individuelle Neigung: Manier. a) Phan¬
tomiſten. b) Unduliſten. c) Skizziſten. (Oder auch a) Ima¬
ginanten, b) Schlängler, c) Entwerfer).


3. Ernſt und Spiel verbunden; Ausbildung ins Allge¬
meine; Styl. a) Kunſtwahrheit. b) Schönheit c) Vollendung.


(19) S. 82. Im Text iſt ein Druckfehler. Es muß nicht
Meilhart, ſondern Meilhant heißen. Dies merkwürdige Schloß iſt
auf fünf Blättern abgebildet in J.GailhabaudsDenkmälern der
Baukunst. Unter Mitwirkung von Franz
Kuglerund JacobBurck¬
hardt
herausgeben von Lud.Lohde. Bd. III. Denkmäler des
Mittelalters, Sechste Abtheilung
. Dieſe an ſich recht inſtructive und
elegant ausgeführte Sammlung iſt leider von dem engſten Franzöſiſchen
Geſichtspunct aus unternommen. Der Celtiſche, Römiſche, Romaniſch
mittelaltrige und Italieniſche Bauſtyl ſind übermäßig darin bevorzugt.
Hingegen ſind außerordentlich wichtige Entwicklungsglieder der Kunſt,
z. B. die Architektur des Deutſchen Ordens, ganz übergangen. Das
Schloß Meilhant iſt recht intereſſant, kann ſich aber doch nicht entfernt
mit dem Schloß Marienburg meſſen, das man vergebens ſucht.


(20) S. 95. Aus dem Felde der Oper hätten wir eine höchſt
fruchtbare Aehrenleſe der abſcheulichſten Albernheiten der poetiſchen
Compoſition oder vielmehr Decompoſition der Poeſie entnehmen können,
denn „des Lebens Unverſtand mit Wehmuth zu genießen“ iſt wohl
nirgends ſo ſehr, als in unſerer dermaligen Opera ſeria und mezza,
der Fall. Da jedoch Richard Wagner in ſeinem dreibändigen Werk
über die Oper und das Drama die antipoetiſche Häßlichkeit der moder¬
nen Operntexte und inſonderheit auch die Schlechtigkeit, ja den Unſinn
ihrer Ueberſetzungen, hinreichend gewürdigt hat, ſo haben wir uns auf
dies einzige Beiſpiel beſchränkt.


(21) S 99. Das Marienburger Schloß iſt nicht all¬
mälig zuſammengebaut, ſo daß man ſolches Uebergreifen über blos
ſymmetriſche Formen durch die Verſchiedenheit der Zeit und Anſetzen
anderer Stylarten erklären könnte. Vielmehr wurde es urſprünglich
in wenigen Jahren aus Einem Plan heraus erbauet, was alſo beweiſt,
daß der hohe Kunſtſinn der Architekten aus der Fülle der Harmonie
heraus ſich dergleichen Freiheiten gegen untergeordnetere äſthetiſche
Forderungen, architektoniſche Fugen, erlaubte.


(22) S. 102. H. Hettner: Vorſchule der bildenden Kunſt
der Alten, Oldenburg 1848, l., S. 307. ff.


(23) S. 107. Die Goualeuſe erzählt ſelbſt: „Je ne savais
plus comment vivre. Elles m'ont emmenée. Elles m'ont fait boire
de l'eau de vie!
Eh voilà!“


[444]

„Je comprends, dit le Chourineur“.


Weiter ſagt E. Sue: „Par une anomalie étrange (ja wohl!)
les, traits de la Goualeuse offrent un de ces types angéliques et can¬
dides, conservent leur idealité même au milieu de la dèpravation,
comme si la créature était impuissante à effacer par ses vices la
noble empreinte
, que Dieu a mise au front de quelques êtres pri-
vilégiés“
.


Dieſe Art der Sophiſtik in den Mystères de Paris verdiente die
ſchonungloſe Kritik, welche Paulin Limeyrac ihnen in der Revue des
deux Mondes
1844, I., p. 74. ff. angedeihen ließ. Die äſthetiſche
Kritik dieſes für den Begriff des Häßlichen in ſeiner carikirenden Manier
ſo wichtigen Romans iſt noch ſchärfer gegeben in Schweglers Jahr¬
büchern der Gegenwart 1844, S. 655. ff. In demſelben Jahrgang
iſt aber auch von W. Zimmermann S. 199 — 219, die culturhiſto¬
riſche Bedeutſamkeit dieſes Romans vertheidigt.


(24) S. 109. A. Hennenberger: das Deutſche Drama
der Gegenwart, 1853, S. 64. ff. Dieſe kleine Schrift iſt eine der
vernünftigſten, unparteiſchſten, gehaltreichſten, die wir über den frag¬
lichen Gegenſtand beſitzen.


(25) S. 121. Man vergleiche die Sammlung von Seroux
d’ Agincourt, Malerei I., Taf. 40 ff.


(26) S. 122. Dieſe Statue befindet ſich jetzt im Muſeum
von Nimes. Die Geſtalt hat viel Einſchmeichelndes. Von ihr konnte
und durfte die Franzöſiſche Kritik ſagen: C'est la grâce elle même,
et la vie, et la jeunesse, et le rhythme-dansant. Wir tadeln aber
den Kopf oder vielmehr Kinn und Augen.


(27) S. 128, Gervinus Shakeſpeare, IV., 1850, S. 36.:
„Auch heute noch müſſen wir die Wahrheit dieſer Auffaſſung anerkennen,
die ſelbſt durch die oft wiederholte Ausſtellung nicht angefochten wird, es
habe Shakeſpeare aus dem Römiſchen Volke Engliſche Bürger und
Handwerker gemacht; da die Maſſen in Bewegung ſich überall, vollends
in zwei ſo ſtaatsverwandten Völkern, gleich ſind, ſo iſt dieſer Tadel
vielmehr nur ein Lob. Wir mögen es nicht im wörtlichſten Sinn ge¬
rade nachſprechen, was man auf der andern Seite rühmend geſagt
hat, daß in dieſen Stücken der Charakter, die Schickſale, die Vater¬
landsliebe, der Kriegsruhm, die ächte Geſinnung, das öffentliche Leben
der ewigen Stadt wieder aufgelebt ſei; aber wahr iſt es, daß die treue
Herübernahme und lebendige Verarbeitung des Wenigen, was Shakeſpeare
zur Charakteriſirung des Römiſchen Lebens im Plutarch erbeuten konnte,
mehr werth iſt, als die [genaueſte] Zeitſchilderung aus den angeſtreng¬
teſten antiquariſchen Studien“.


[445]

(28) S. 135. Brentano's Godwi iſt zu Bremen, 1802,
in 2 Bden. erſchienen. Brentano nannte ſich Maria auf dem Titel
und ſchrieb charakteriſtiſch genug auf denſelben: ein verwilderter Roman.
In die Geſammtausgabe von Brentano's Schriften iſt dies merkwür¬
dige Buch, eine hyperromantiſche Nebenſonne der W. Meiſterſchen
Lehrjahre, nicht aufgenommen, ſondern Bd. V. nur ein Fragmentchen
daraus abgedruckt.


(29) S. 135. In Bratraneks Beiträgen zu einer Aeſthetik
der Pflanzenwelt iſt mit Recht den Fleurs animées ein Capitel gewidmet
worden und Bratranek ſagt S. 396. treffend: „Schon in ſeinen
Scenen aus dem Privat- und öffentlichen Leben der Thiere hatte
Grandville gezeigt, wie man die urſprüngliche Sinnigkeit des Sym¬
boliſirens von der höchſten Reflexion aus wieder hervorrufen könne, in¬
dem er, ſei es am Menſchen die thieriſche Seite, ſeien es am Thier
Anklänge an menſchliche Verhältniſſe und Beziehungen, hervorhob und
in der Thiermenſchenwelt ein getreues Abbild aller aus der Geſellſchaft
hervorgehenden Mißrealitäten zuſammenſtellte. So geht er auch in
ſeinen Fleurs animées, wie dort von den typiſch gewordenen Vorſtel¬
lungen, hier von der urſprünglich oder traditionell oder conventionell
feſt geſtellten Bedeutſamkeit der Pflanze aus, und überträgt ſie nun
in die Mienen, Haltung und Bekleidung der Frauen. Die Beſeelung,
welche eine Pflanze durch's Symboliſiren von der menſchlichen Innigkeit
erhielt, verleiht nun der Künſtler der im Vegetationstypus erſcheinenden
menſchlichen Geſtalt, — es ſind menſchgewordene Blumen, welche wir
vor uns haben, während die Symbolik das Menſchliche verblümt aus¬
ſprach. Immer, überall und in allen Formen weiß uns Grandville an
ſolchen Menſchenpflanzen den Genius ſelbſt der Landſchaft aufleuchten
zu machen.“


(30) S. 137. Lucian, in der Ueberſetzung von Pauly,
ſagt am Schluß ſeiner Vorrede zu den wahren Geſchichten: „Ich ge¬
ſtehe, daß ich allen dieſen Leuten, ſo viele mir deren vorgekommen
ſind, das Lügen an und für ſich um ſo weniger zum Vorwurf machen
konnte, als ich ſah, wie geläufig daſſelbe ſogar Männern iſt, welche
ſich den Titel Philoſophen beilegen: nur darüber mußte ich mich wun¬
dern, wie Jene ſich einbilden konnten, die Leſer würden nicht merken,
daß an ihren Erzählungen (Homer, Jambolos, Kteſias) kein wahres
Wort ſei. Zugleich war ich eitel genug, der Nachwelt auch ein Werk¬
chen von meiner Feder hinterlaſſen zu wollen, um nicht allein auf das
Recht und die Freiheit, Mythen zu ſchaffen, verzichten zu müſſen.
Denn Wahres zu erzählen hatte ich nichts (was ich in meinem Leben
erfahren, iſt der Rede nicht werth); und ſo mußte ich mich zur Lüge
[446] entſchließen, doch ſo, daß ich dabei ein wenig aufrichtiger, als die Ue¬
brigen, zu Werke ginge. Denn ich ſage doch wenigſtens die Eine
Wahrheit; ich lüge. Durch dieſes freie Geſtändniß hoffe ich allen
Vorwürfen wegen des Inhalts meiner Geſchichte zu entgehen. So er¬
kläre ich denn feierlich: Ich ſchreibe von Dingen, die ich weder ſelbſt
geſehen, noch erfahren, noch von Andern gehört habe, und die eben
ſo wenig wirklich, als je möglich ſind. Nun glaube ſie, wer
Luſt hat!“


(31) S. 149. Kant in der Kritik der Urtheilskraft, Analytik
des Schönen, §. 17., vom Ideal, unterſcheidet zwiſchen dieſen und
der Normalidee. „Dieſe iſt nicht aus von der Erfahrung herge¬
nommenen Proportionen als beſtimmten Regeln abgeleitet, ſondern
nach ihr werden allererſt Regeln der Beurtheilung möglich. Sie iſt
das zwiſchen allen einzelnen, auf mancherlei Weiſe verſchiedenen, An¬
ſchauungen der Individuen ſchwebende Bild für die ganze Gattung,
welches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derſelben Species
unterlegte, aber in keinem Einzelnen völlig erreicht zu haben ſcheint.
Sie iſt keineswegs das Urbild der Schönheit in dieſer Gattung,
ſondern nur die Form, welche die unnachlaßliche Bedingung aller
Schönheit ausmacht, mithin blos die Richtigkeit in Darſtellung
der Gattung.“


(32) S. 156. Dr. FranzKugler: Ueber die Polychromie der
Griechischen Architektur und Sculptur und ihre Grenzen Berlin
1835. 4.


(33) S. 161. S. H. Ulrici: Ueber Shakeſpeare's dra¬
matiſche Kunſt. Halle 1839, S. 146 und 174.


(34) S. 163. S. die Einleitung zu Genthe'sGeschichte
der Macaronischen Poesie und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale.
Halle
1829.


(35a) S. 168. Weiße: Syſtem der Aeſthetik, l, S. 177.
S. 178. ſagt er: „Dafern die abſtracten Beſtimmungen, wie Schön¬
heit, Häßlichkeit u. ſ. w. überhaupt nicht ganz leer bleiben, ſondern
etwas bedeuten ſollen, ſo müſſen ſie auch in dieſe Stellung des Wider¬
ſpruchs unter einander gebracht weiden, damit durch jene Abſtraction
nicht ihre dialektiſche Wahrheit und Lebendigkeit verloren gehe.“


(35b) S. 172. Ich werde aus dem artiger, als Voß,
überſetzenden Droyſen die Stelle beibringen:


— — — es pocht ja ſchon
Gevatter Stuhlgang brummend an die Hinterthür —
Dies Unterröckchen muß ich nehmen von meiner Frau,
Einfahren ſchnell in ihre Perſerpantöffelchen!


(Steht auf, zieht ſich die Weiberkleidung an).
[447] Wo aber gleich ein Plätzchen, wo man ungeſehn
Hofirte? Ach, bei Nacht ſind alle Katzen grau.
(Geht vorn auf das Proscenium hin).
Hier wird mich jetzt mein Häufchen Niemand legen ſehn!


(36) S. 177. Schiller war mit Fichte in Streit gerathen.
Fichte hatte ihm für ſein Journal eine Abhandlung über Geiſt und
Buchſtab zugeſchickt. Schiller wollte dieſelbe nicht ſo, wie ſie war,
abdrucken, weil er am Vortrag auszuſetzen fand, Fichte vertheidigte
ſich mit großem Stolz und Schiller beſtand auf der Forderung, daß
für eine äſthetiſchbefriedigende Darſtellung Begriff und Bild in
Wechſelwirkung mit einander treten müßten. Dieſer Streit in
einem uns nun gedruckt vorliegenden Briefwechſel hat Schiller wohl
zu der Abhandlung: über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch
ſchöner Formen, 1795, angeregt, in welcher wir, freilich nur in eine
Anmerkung geworfen, die von mir im Text citirten Worte finden.


(37) S. 178. Ruge: Neue Vorſchule der Aeſthetik, S. 75
–77. Nach ihm Fiſcher in der Diotima, S. 198 ff. „Was wir
in der Natur gewöhnlich erhaben nennen, iſt weit mehr der Ausdruck
des Affects, als eine äſthetiſche Ueberzeugung. Die Natur erhebt
uns nicht, ſie imponirt uns nur.“


(38) S. 186. Voltaire im Prolog zur Pucelle gibt in
einem einzigen Zuge die ganze Richtung an, die er in dem Gedicht
verfolgt. Er rühmt die Wunder der Tapferkeit und des Glaubens,
welche Jeanne vollbrachte. —


Jeanne d'Arc eut un coeur de lion :

Vous le verrez, si lisez cet ouvrage.

Vous tremblerez de ses exploits nouveaux;

Et le plus grand de ses rares travaux

Fut,de garder un an son pucelage.

(39) S. 197. Es erben ſich, nach Göthe's bekannten Worten
im Fauſt, Geſetz und Rechte, wie eine ewige Krankheit fort. Aber
es erben ſich auch Urtheile über Menſchen und Bücher als eine ewige
Krankheit fort. Diderot und ſeine Schriften gehören zu den Gegen¬
ſtänden, an welchen unwiſſende und befangene Menſchen ihr Müthchen
zu kühlen pflegen, indem ſie die Abſcheulichkeit dieſes Atheiſten, dieſes
Herausgebers der Encyklopädie, dieſes Verfaſſers unſittlicher Romane,
mit recht derben Worten brandmarken, ohne Diderot und ſeine Werke
zu kennen. Es gilt einmal für ausgemacht, daß man ſeiner und ihrer
nur im Ton ſittlicher Entrüſtung erwähnen dürfe. Ich habe ſchon
früher anderwärts eine größere Billigkeit der Beurtheilung Diderots
auch bei uns einzuleiten verſucht. Ich habe aufmerkſam gemacht, wie
[448] Leſſing, Göthe, Schiller, Varnhagen, Moritz Arndt, über ihn denken.
Wegen des Jacques will ich hier nur bemerken, daß Diderot ſelbſt
über den Vorwurf des Cyniſchen ſich darin verheidigt, Oeuvres, éd.
Naigeon
, XI., p. 333 ff. Man irrt ſich, wenn man meint, daß in
dem Fataliſten nur cyniſche Geſchichten vorgetragen würden. Die
tragiſche Geſchichte der Marquiſe de la Pommeraye, welche die Wirthin
erzählt, nimmt ein Drittel des Ganzen ein. Sie iſt von Schiller
unter dem Titel: Merkwürdiges Beiſpiel einer weiblichen Rache, in
der Rheiniſchen Thalia, I., S. 27. ff. 1785, überſetzt. Das Thema,
nämlich die Idee des Schickſals, des objectiven Zuſammenhangs der
Begebenheiten, wird gleich in den erſten Worten der Schrift, die man
nur ſehr uneigentlich einen Roman nennen kann, feſtgeſtellt. „Jacques
disoit, que son capitaine disoit, que tout ce qui nous arrive de bien
et de mal ici bas étoit écrit là haut.


Le Maitre.

C'est un grand mot que cela.

Jacques.

Mon capitaine ajoutoit, que chaque balle, qui partoit d'un

fusil, avoit son billet.

(40) S. 206. Hauſer's Bethlehemitiſcher Kindermord zeigt
uns nur eine Verſammlung unglücklicher Mütter, welche die Leichname
ihrer Kinder, aus deren Wunden das Blut rieſelt, anſtarren. Dieſe
Monotonie gibt dem ſchön gemalten Bilde etwas höchſt Triſtes, ja
Langweiliges. Wie anders hat der alte Le Brun dies Sujet behandelt!
Bei ihm ſieht man auch getödtete Kinder, traurende Mütter, aber
man ſieht auch Mütter, welche ihre Kinder zu retten verſuchen, welche
den Kriegern ſich entgegenwerfen, welche mit den Kriegern kämpfen.
Man ſieht, daß die Mutterliebe es den Soldaten, die ſogar zu Pferde
einherſprengen, mit Speeren nach den Kindern ſtoßen, nicht leicht
macht, den entſetzlichen Befehl auszuführen. Ueberdem blickt man
über einen weiten Raum hinweg. Ein großer offener Platz, im
Hintergrund eine Brücke, auf welcher ſich Soldaten und fliehende
Weiber drängen, mannigfaltige Gruppen. Bei Hauſer eine gefängni߬
artige Abſchließung.


(41) S. 211. Hegel Aeſthetik, III., 1838, S. 123. „Wir
ſehen deshalb keine gemeinen Empfindungen und Leidenſchaften vor
uns, ſondern das Bäuriſche und Naturnahe in den untern Ständen,
das froh, ſchalkhaft, komiſch iſt. In dieſer unbekümmerten Ausge¬
laſſenheit ſelber liegt hier das ideale Moment: es iſt der Sonntag
des Lebens, der Alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt;
Menſchen die ſo von ganzem Herzen wohlgemuth ſind, können nicht
[449] durch und durch ſchlecht und niederträchtig ſein. Es iſt in dieſer
Rückſicht nicht daſſelbe, ob das Böſe nur als momentan oder als
Grundzug in einem Charakter heraustritt. Bei den Niederländern hebt
das Komiſche das Schlimme in der Situation auf, und uns wird ſogleich
klar, die Charaktere können auch noch etwas Anderes ſein, als das,
worin ſie in dieſem Augenblick vor uns ſtehen. Solch eine Heiterkeit
und Komik gehört zum unſchätzbaren Werth dieſer Gemälde. Will
man dagegen in heutigen Bildern der ähnlichen Art pikant ſein, ſo
ſtellt man gewöhnlich etwas innerlich Gemeines, Schlechtes und Böſes
ohne verſöhnende Komik dar. Ein böſes Weib z. B. zankt ihren
betrunkenen Mann in der Schenke aus, und zwar recht biſſig; da
zeigt ſich denn, wie ich ſchon früher einmal anführte, nichts, als daß
Er ein liederlicher Kerl und Sie ein giftiges altes Weib iſt.“ —
Hotho, Geſchichte der Deutſchen und Niederländiſchen Malerei,
Berlin 1842, I., S. 137. ff. „Der Künſtler, der ſich auf dieſen
Kreis gemeiner Täglichkeit und intereſſeloſen Scheines concentriren,
aus ihm ſeine alleinige Norm entlehnen und gewaltſam den Muth
ſeiner erniedrigenden Begeiſterung ſchöpfen wollte, würde ſelbſt bei
dem höchſten Grade formeller Geſchicklichkeit dadurch nichts Andres
gethan haben, als aus der Sphäre der Kunſt überhaupt heraus¬
getreten zu ſein“


(42) S. 214. W.Gringmuth: de Rhyparographia. Dipu¬
tatio philosophica. Vratislaviae, 1883, 8. Dieſe fleißige und intereſſante
Abhandlung hat das Schickſal der meiſten akademiſchen Diſſertationen,
ungekannt und ungenannt zu verkommen. Gringmuth hat in der
Einleitung verſchiedene Definitionen des Häßlichen geſammelt, ſtellt
ſich ſelbſt ziemlich auf den Weißeſchen Standpunct, kann ſich aber
gar nicht in die Komik finden und ſchließt ſeine Anſicht in Göthe's
Verſen ab:


Dann zuletzt iſt unerläßlich

Daß der Dichter Manches haſſe;

Was unleidlich iſt und häßlich,

Nicht wie Schönes leben laſſe.

(43) S. 218. Ueber Peire Vidal ſ. Fr. Diez Leben und
Werke der Troubadours, Zwickau 1829, S. 149. ff. Lichtenſteins
Verrücktheiten ſind durch ſeinen Frauendienſt bekannt genug.


(44) S. 222. Wegen des Grotesken wäre noch anzuführen,
daß Leſſing in einem kleinen Aufſatz ſeinen Urſprung aus dem Aegyp¬
tiſchen ableitet. Aber ſein Urſprung an und für ſich liegt in der Natur
der Sache. Eben ſo gut könnte man es aus dem Chineſiſchen oder
Roſenkranz, Aeſthetik des Häßlichen. 29[450] Indiſchen ableiten. Das im Text citirte Buch heißt: la Passion de
Notre Seigneur J. O. en vers burlesques,
und erſchien 1649. Dies
Buch war poetiſch ſchlecht, aber ganz ernſt gemeint, nicht etwa parodiſch.
Die burlesken Verſe waren nur ein Buchhändlerkniff für größern Abſatz.


(45) S. 224. Von dieſen Mitteln hat die Poſſe zu allen
Zeiten, bei allen Völkern, einen reichlichen Gebrauch gemacht. Eine
gewiſſe äſthetiſche Uebervornehmheit blickt zwar auf das Poſſenhafte
mit verächtlichem Mitleid hinunter, aber daſſelbe hat ſo gut ſein Recht,
als die ſogenannte feine oder hohe Komik, die neuerdings bei uns ſo
fein geworden iſt, daß man ſie richtiger wohl langweilig nennt.


(46) S. 234. Carl Vogt: Bilder aus dem Thierleben.
Frankfurt a. M. 1852, S. 433: „Kennt man etwa die wirklich
wahre Geſchichte von dem Freunde des Förſters nicht, welcher ſich
in dem Zimmer allein glaubte, eine tönende Unſchicklichkeit ſich zu
Schulden kommen ließ und zu ſeinem Erſtaunen ſah, wie plötzlich die
unter Tiſchen und Stühlen liegenden Hunde in lautes Wehgeheul
ausbrachen und unter allen Zeichen der Angſt ſich endlich aus den
Fenſtern der Parterrewohnung in den Garten ſtürzten? Der Förſter,
als er wieder herein kam, errieth ſogleich die Urſache des plötzlichen
Tollgewordenſeins ſeiner Hunde. Er prügelte jedesmal, ſobald eine der
Beſtien das Zimmer verpeſtete, die ganze thieriſche Geſellſchaft zur
Strafe ab, da er den Schuldigen weder ſuchen wollte, noch konnte.“


(47) S. 236. Man ſehe ihre Abbildungen bei Raoul-
Rochette, Musée secret, Tafel
37, 40 und 42.


(48) S. 237. O. L. B. Wolff: Allgemeine Geſchichte
des Romans von deſſen Urſprung bis zur neueſten Zeit. Jena 1841,
S. 324. ff.


(49) S. 238. T.Delord führt den Chicard auf die Weinleſen
von Burgund zurück. Geſang und Tanz des Chicard faßt er als Parodie
der Liebe auf. S. 371.: n'est point une c'est encore une
parodie; parodie de l'amour, de la grâce, de l'ancienne politesse fran¬
çaise, et, admirez jusqu'où peut aller chez nous l'ardeur de la dérision!
parodie de la volupté; tout est réuni dans cette comédie licencieuse
qu'on nomme le
chahut. Ici les figures sont remplacées par des
scènes; on ne danse pas, on agit, le drame de l'amour est représenté
dans toutes ses péripéties, tout ce qui peut contribuer à en faire
deviner le dénoûment. est mis en oeuvre; pour aider à la vérité de
sa pantomime, le danseur, ou plutôt l'acteur, appelle ses muscles à
son secours; il s'agite, il se disloque, il tous ses mouvemens
ont un sens, toutes ses contorsions sont des emblèmes; ce que les
[451] bras ont indiqué, les yeux achèvent de le dire; les hanches et les
reins ont aussi leurs figures de rhétorique, leur éloquence. Ef¬
frayant assemblage de cris stridents, de rires conoulsifs, de dissonances
gutturales, d'inimaginables conforsions. Danse bruyante, effrénée,

satanique, avec ses battemens de mains, ses évolutions de bras,
ses frémissements de hanches, ses tressaillements de reins, ses tré¬
pignements de pieds, ses attaques du geste et de la voix; elle saute,
glisse, se plie, se courbe, se cabre; dévergondée, furieuse, la sueur
au front, l'oeil en feu, le délire au visage. Telle est cette danse,
que nous venons d'indiquer, mais dont nulle plume ne peut retracer
l'insolence lascive, la brutalité poétique, le dévergondage spirituel;
le vers de Pétrone ne serait pas assez large pour la contenir; elle
effraierait même la verve de Piron,“
Aber damals ſchon, 1841,
glaubte Delord, daß der Chicard den Moment des höchſten Glanzes
erreicht habe. „Il se croit assez puissant, pour méconnaître son
origine populaire; il tourne depuis quelque tems d'une façon déplorable
à l'aristocratie; il fait l'homme célèbre, l'artiste, le lion. — Chicard
s'en va!“
Stahr hat nur noch ſeine froſtige Ausartung geſehen.


(50) S. 240. Arthur Schopenhauer, die Welt als
Wille und Vorſtellung, Leipzig, Bd. II., 1844, S. 531–564.
Dieſe „Metaphyſik der Geſchlechtsliebe“ iſt zwar hin und wieder
etwas cyniſch, aber voll von anziehenden, aus der Natur und dem
Leben geſchöpfter Beobachtungen.


(51) S. 240. In der Galerie von Florenz ſind unterhalb
der Kupferſtiche der Bilder aus dem Palaſt Pitti eine große Menge
von Gemmen vergrößert dargeſtellt und vortrefflich geſtochen. Sehr
viele dieſer herrlichen Werke enthalten Opfer von jungen Frauen und
Mädchen, die an die Kraft der Natur appelliren, aber mit einer
Züchtigkeit und Grazie, welche die Abweſenheit jedes andern Gedankens,
als des religiöſen, ausdrückt.


(52) S. 245. Die Wiederholung von No. 51. auf S. 244.
iſt abermals ein Erratum. Naigeon, im zwölften Bande ſeiner Ausgabe
Diderots, hat S. 25–66. eine Rechtfertigung einrücken laſſen,
weshalb er von den ſogenannten Romanen Diderots „den Skandal
des Textes in ſeiner ganzen Reinheit“ beibehalten habe, ohne etwas
zu unterdrücken, weil ſonſt das Publicum, wie die Literärgeſchichte
allerdings zeigt, mit noch ärgern Dingen und in ſchlechterem Styl in
Diderots Namen wäre myſtificirt worden. S. 263. erzählt er nun,
daß er Diderot oft Vorſtellungen über die Gefahren gemacht habe,
welche in jenen Büchern für die Phantaſie liegen könnten: „et je
29 *[452]dois dire ici, pour disculper à cet égard le philosophe, que frappé
des raisons, dont j'appuyois mon opinion, il étoit bien déterminé, à
faire à la décence, à la pudeur et aux convenances morales, ce sa¬
crifice de quelques pages froides, insignifiantes et fastidieuses pour
l'homme, même le plus dissolu, et révoltantes ou inintelligibles pour
une femme honnête. Il est certain, que l'ouvrage ainsi épuré,
n'auroit rièn perdu de son effet
.“ Schon Leſſing, der in der Dra¬
maturgie, No. 84. ff. 1768, ein Stück aus den bijoux indiscrets
überſetzte und dadurch ſchon damals das Deutſche Publicum zuerſt
wohl mit der Exiſtenz dieſes Buchs bekannt machte, ſagt überein¬
ſtimmend mit Naigeon: „Dieſes Buch heißt: Les Bijoux indiscrets,
und Diderot will es jetzt durchaus nicht geſchrieben haben. Daran
thut Diderot auch ſehr wohl; aber doch hat er es geſchrieben, und muß
es geſchrieben haben, wenn er nicht ein Plagiarius ſein will. Auch
iſt es gewiß, baß nur ein ſolcher junger Mann dieſes Buch ſchreiben
konnte, der ſich einmal ſchämen würde, es geſchrieben zu haben.“


(53) S. 246. In dieſem Urtheil ſtimme ich mit I. Dunlop:
Geſchichte der Proſadichtungen, (history of the fiction) aus dem Eng¬
liſchen von F. Liebrecht, Berlin 1851, S. 397., überein. Die
Franzoſen ſchwärmen noch immer für das Buch. Wir glauben, daß
St. Beuve auch bei uns als Kritiker ein ſehr geachteter Name iſt
und St. Beuve ſagt in den critiques et portraits littéraires, ed. de
Bruxelles,
1832, T. II., S. 176. ff. ſo viel Schmeichelhaftes, als nur
möglich. Er nennt es ein kleines Meiſterwerk, dont la fraicheur sans
Fard soit immortelle
. Manon Lescautsubsiste à jamais, et, en
dépit des révolutions du goût et des modes sans nombre, qui en éclip¬
sent le vrai règne, elle peut garder au fond sur son propre sort
cette indifférence folâtre et languissante, qu'on lui connoît“
.


(54) S. 251. I. Schmidts Arbeit enthält nicht weniger
über Shakeſpeare, Racine, Voltaire und die Deutſche Romantik viel
Intereſſantes, aus wirklichem Quellenſtudium Hervorgegangenes. Wenn
dieſelbe, wie es ſcheint, wenig bekannt geworden iſt, ſo hat dies ſeine
Urſache wohl in zwei Umſtänden: einmal darin, daß der Verfaſſer
keinen eigentlich hiſtoriſchen Gang einhält, ſondern eine, wie uns ſcheint,
künſtliche Gruppirung befolgend, dem Leſer, der mit einem Apperçü
der Weltgeſchichte im Kopf an ihn herangeht, ſchwer zugänglich iſt;
ſodann darin, daß der Verfaſſer an keiner der von ihm betrachteten
Geſtalten Freude hat. Ein gewiſſer mißmuthiger, mit allen Erſchei¬
nungen der Geſchichte grollender Ton geht durch das ganze Buch.
I. Schmidt hat das Talent, die negative Seite der Phänomene ſcharf
[453] zu faſſen, lebendig zu ſchildern, aber er neigt hierin noch zu ſehr nach
der Ruge-Bauerſchen Manier hin, den Proceß des Werdens nur in
den düſtern Farben der Auflöſung zu erblicken. Er iſt recht der Gegen¬
ſatz von Valentin Schmidt, der für die Romantik ſo katholiſch glü¬
hend begeiſtert war und dem wir bekanntlich in den Wiener Jahr¬
büchern die erſte vollſtändige Ueberſicht und Claſſeneintheilung der
Calderon'ſchen Dramen verdanken. Schmidt war ein Heros in der
Kenntniß der Literatur des Mittelalters. Ich kann die Gelegenheit
nicht vorüberlaſſen, eine Frage wieder zu erneuen, die ich von Zeit zu
Zeit ſchon gethan habe. Wir Deutſche verdrucken ſo unendlich viel
Papier mit Wiederholungen. Man denke z. B. an die Unzahl unſerer
Blumenleſen, die ſich zu einem förmlichen, anſtändigen Nachdruckgeſchäft
organiſirt haben. Man denke an die Unzahl von Ueberſetzungen Aus¬
ländiſcher Romane. Warum drucken wir nicht von Schmidt ſeine Ar¬
beit über Calderon, ſeine noch auf lange wichtige, weil poſitiv ergänzende
Kritik von Dunlops history of the fiction, ſeine Arbeit über das De¬
camerone, ſeine Beiträge zur Geſchichte der romantiſchen Literatur,
einmal in Einem Band zuſammen? Wie dankbar würden dafür
alle ſein, die Literatur ſtudiren. Ich weiß aus Erfahrung, wie
ſchwer es hält, ſich aus den Wiener Jahrbüchern die betreffenden
Hefte zu verſchaffen. Nur die Beiträge ſind als ein einzelnes
Bändchen gedruckt. Die Kritik Dunlops läuft durch vier Hefte der
Wiener Jahrbücher. Die Arbeit über Calderon ſteht ſogar nur im
Intelligenzblatt derſelben.


(55) S. 254. Henneberger, das Deutſche Drama, S. 8.:
„Der Dichter könnte vielleicht antworten, daß Griſeldis durch ihre Zu¬
rückweiſung Parzivals, als ſie erfährt, es ſei Alles nur zum Spiel
geweſen, das Gegengewicht in die Wagſchaale werfe.“ Aber — „iſt
denn das, was uns hier für Liebe verkauft wird, wirklich die wahre
Liebe des Weibes? Können wir vergeſſen, daß eine ſolche das Recht
der eigenen Perſönlichkeit, ja bis auf einen gewiſſen Grad die Würde
des Menſchen aufgebende Hingebung eher an die inſtinctive Anhänglich¬
keit des Thiers, als an die freie Liebe anſtreift, die dem Liebenden das
Gefühl der eigenen Würde noch erhöhen muß?“


(56) S. 255. Hotho in ſeiner Geſchichte der Deutſchen und
Niederländiſchen Malerei S. 160. ff. unterſcheidet von Eyk zu I. Boſch,
von Boſch zu Schongawer (Martin Schön) einen Fortgang. S. 212.:
„In ſeinen heraufgeputzten Henkern, ſeinen muthwillig fletſchenden
Knaben und geißelnden Knechten beweiſt Martin Schön ein volles
naturgetreues Studium. Er ſteigert nur häufig die beobachteten
[454] Züge mit nachhelfender Energie. Die verſtärkte Mißbildung der rüffel¬
artigen Mäuler, der bocksartigen Köpfe und knöchernen Körper ſoll
deutlicher noch die innere und äußere Verkehrtheit darthun.“ Vgl.
Kugler: Handbuch der Geschichte der Malerei, ll., Berlin 1837,
S. 84. ff.


(57) S. 262. S. J. B. Rouſſeau: Dramaturgiſche Paral¬
lelen, München 1834, I., S. 189 ff. Als Oloaritus zuletzt den Dolch
auf Agrippina zückt, ruft ſie aus:

Stoß, Mörder, durch das Glied, das es verſchuldet hat,

Stoß durch der Brüſte Milch, die ſolch ein Kind geſäuget,

Stoß durch den nackten Bauch, der einen Wurm gezeuget


u. ſ. w.


(58) S. 262. Ch. Magnin: Histoire de Marionettes en
Europe
. Paris 1852, p. 147. ff.


(59) S. 263. Frau Gieremund, nach Fiſchen lecker, war im
Eiſe feſtgefroren.


(60) S. 267. Dieſe Infection des Ariſtophanes mit demſelben
Element, welches er bekämpft, hat recht gut nachgewieſen Th.Röt¬
scher
: Aristophanes und sein Zeitalter. Berlin 1827.


(61) S. 267. Heine kann durch die Leichtfertigkeit, mit
welcher er ganz überflüſſig plötzlich eine Capriole ſchneidet, mitten im
Strom der edelſten Gefühle eine Grimaſſe macht, förmlich Schmerz
erregen und hat nun eine Schaar von knabenhaften Poetlein verführt,
dieſe proſaiſchen Pointen für die eigentlichſte Poeſie bei ihm zu halten.
S. Prutz Vorleſungen über die Deutſche Literatur der Gegenwart,
Leipzig 1847, S. 238. ff.


(62) S. 269. S. Oeuvres complètes de P. J. deBéranger,
édition illustrée par Grandville et Raffet. Paris
1837, T. III. p. 195
–380. Für die damalige Zeitgeſchichte unſchätzbare Actenſtücke.


(63) S. 293. Ueber die Todtentänze, danses Macabres
iſt nunmehr eine ſehr reichhaltige Literatur vorhanden. Eben ſo wenig
fehlt es jetzt an ſinnreichen Betrachtungen. Doch kann ich hier die
Bemerkung nicht zurückhalten, daß der letzte der Todtentänze (ich
meine nicht den Rethelſchen Holzſchnitt) in Deutſchland unbeachtet
und mit den frühern nicht in Verbindung geſetzt zu ſein ſcheint.
Er iſt in Oel gemalt, hauptſächlich von einem Maler Becher;
eine lange Reihe ziemlich großer, oft gar nicht unebener Gemälde,
im Geſchmack der Bürgerſchen Balladen componirt, auf dem Haupt¬
[455] corridor des Auguſtinerſtifts in Erfurt, in mitten Deutſch¬
lands, während des achtzehnten Jahrhunderts. Fängt man von
Baſels Todtentanz an, ſo kann man über Erfurt bis Lübeck,
wo ſich auch ein Todtentanz findet, gerade eine Diagonale ziehen.
Der Erfurter verdiente doch wohl wenigſtens der Vollſtändigkeit
halber eine Lithographie. Eine Analyſe des Holbeinſchen Todten¬
tanzes habe ich gegeben: Zur Geschichte der Deutschen Literatur.
Königsberg 1836, S. 25.


(64) S. 294. Heinrich der Löwe, Heldengedicht in 21 Ge¬
ſängen, mit hiſtoriſchen und topographiſchen Anmerkungen von Stepha¬
nus Kunze. 3 Thle. Quedlinburg bei G. Baſſe. 1817. 8.


(65) S. 295. S. J. L. Jdeler: Geschichte der Altfranzösi¬
schen National-Literatur von den ersten Anfängen bis auf Franz I
.
Berlin 1842, S. 248. ff. Dieſe blaſſe Allegoriſterei iſt übrigens vom
vierzehnten bis zum ſechszehnten Jahrhundert in Europa allgemein
herrſchend geweſen.


(66) A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorſtellung,
1819, S. 262, ff.


(67) S. 310. Turlupin hieß auch Tabarin, Gaultier Gar¬
guille, Gros Guillaume, jetzt Grosboyaux. Èmile de laBédollière
hat in einer Schilderung der heutigen Banquiſten, Les Français
peints par eux mêmes
, I. de Province, p. 150. ff., viele Proben des
heutigen, oft aber von Alters her überlieferten Unſinns mitgetheilt.
Nur eine Probe vom Geſang des Paillaſſe:


Trois p'tits cochons sur un fumier

S'amusaient comm des portes cochères.

J'lui dis: Sansonnet, mon petit,

J'voudrois avoir un liv' de beurre.
J'te mettrai d'huil sur tes sabots

Pour faire friser tes papillotes.

Ma veste est percèe aux genoux

Ah' rendez moi mon bout d'chandelle.

(68) Abgebildet bei Panofka: Parodieen und Karikaturen auf
Werken der klassischen Kunst. Berlin,
4, 1851, Taf. I., fig. 3.


(69) S. 322. Wer die Scene nicht in Burmanns Ausgabe
des Petronius nachleſen will oder kann, denn er gehört zu den ſelte¬
neren Büchern, kann ſie in den: Begebenheiten des Enkolp nachleſen,
[456] die Heinſe aus dem Satyrikon überſetzt hat, angeblich zu Rom ge¬
druckt, 1773, Bd. I., S. 132. ff.


(70) S. 322. Was wäre hier nicht Alles zu ſagen! Es ge¬
hören hier Stoffe her, deren vorzüglich die Malerei ſich bemächtigt hat
und für deren Anſchauung wir durch Gewohnheit abgehärtet ſind, die
aber im Grunde nur ekelhaft genannt werden können. Die Sunamitin,
dem alten Könige David zugeführt, Lot in der Höhle des Gebirges,
trunken gemacht von den Töchtern, damit er ſie beſchlafe u. ſ. w.
Aber auch eine ganze Menge abſcheulicher klinopaler Symplegmen und
infamer Gemälde von widrigſter Ueppigkeit gehört hieher, von denen
man kaum ſprechen mag. Nur Ein Beiſpiel will ich anführen. 1823
habe ich auf den Sammlungen der Göttinger Univerſität ein durch
einen Schieber, der etwas Anderes zeigte, verdecktes Bild geſehen, auf
das vom Führer als etwas beſonders Merkwürdiges hingewieſen ward.
Ludwig XV. hatte mit der Pompadour gewettet, daß ſie nicht durch
einen Ring piſſen könne. Das Bild ſtellt nun die Pompadour dar,
wie ſie dies Experiment verſucht und die Majeſtät liegt auf beiden
Knieen und hält ſelber mit lüſterner Neugier den Ring!


(71) S. 322. Nach Droyſen, 1838, Ariſtophanes, III.,
204, will ich nur den Anfang des Monologs des arg gefoppten Ki¬
neſias, der gewiß auch den Dithyrambographen Kineſias parodiren
ſollte, herſetzen:


Zu Grunde gerichtet, ganz mich vernichtet hat das Weib!

Zu allem Andern, ſo abgehülſ't läßt ſie ihn mir ſtehn!

O wie wird mir! weh! wo ergieß' ich mich hin,

Von dem ſüßeſten Weib ſo entſetzlich getäuſcht!

u. ſ. w.

(72) S. 322. Horatii Epodon liber, VIII.: In anum libidi¬
nosam:


Rogare longo putidam te saeculo,

Vires quid enervet meas!

Cum sit tibi dens ater, et rugis vetus

Frontem senectus exaret;

Hietque turpis inter aridas nates

Podex, velut crudae bovis.

Sed incitat me pectus, et mammae putres,

Equina qualis ubera;

Venterque mollis, et femur tumentibus

Exile suris additum.
[457]
Esto beata; funus atque imagines

Ducant Trumphales tuum;

Nec sit marita, quae rotundioribus

Onusta baccis ambulet.

Quid? quod libelli Stoici inter Sericos

Jacere pulvillos amant?

Illiterati num minus nervi rigent?

Minusve languet fascinum?

Quod ut superbo provoces ab inguine,

Ore allaborandum est tibi.

Ich geſtehe, in dieſer ſcheußlichen Schilderung auch nicht einen
Funken Poeſie zu finden.


(73) S. 323. Panofka a. a. O. p. 4., ſieht darin eine
Parodie der Jungfräulichkeit, weil der Atalanta der Charakter derſel¬
ben par excellence zugekommen ſei. Wegen ἁϱμα und φιλοτης iſt hier
noch zu bemerken, daß ſie allerdings auch ganz einfach Begattung,
Beiſchlaf überhaupt bedeuten. Sie haben aber nach Plutarch die hier
gemeinte Nebenbedeutung, die von LucretiusCarus, de rerum natura,
IV., V. 1259. ff. beſchrieben wird:


Et quibus ipsa modis tractetur blanda voluptas,

Id quoque permagni refert: nammore ferarum,

Quadrupedumque magis ritu, plerumque putantur.

Concipere uxores, quia sic loca sumere possunt,

Pectoribus positis, sublatis semina lumbis.

Worüber Lucretius ſich dann weiter in naturphiloſophiſche Er¬
klärungen von ſeinem Standpunct aus ergeht.


(74) S. 327. Arden v. Feversham, überſetzt in Tiecks
Vorſchule Shakeſpeare's, 1823, Bd. I., S. 113. ff.


(75) S. 329. Die gedankenloſe Ueberſetzungsmanie der Deut¬
ſchen in Anſehung Engliſcher und Franzöſiſcher Romane und Novellen
iſt ein tiefer Krebsſchaden unſerer Literatur, ja unſeres Lebens. Man
vergleiche einmal ſtatiſtiſch, wie viel wir von den Engländern und
Franzoſen in dieſem Fach überſetzen, mit dem, was ſie von uns über¬
ſetzen. Die elendeſten Schmierſale weniger als mittelmäßiger Autoren
werden ſofort in's Deutſche überſetzt und, wenn man die Kataloge der
Leihbibliotheken durchmuſtert, ſollte man faſt glauben, Paul de Kock,
d'Arlincourt, A. Dumas, Féval, James u. ſ. w. wären unſere Claſſi¬
ker. Man frage ſich, ob nicht zehn Ueberſetzungen erſchienen ſein wür¬
den, wenn die ausländiſchen Literaturen Romane, wie Max Waldau
nach der Natur, Auerbachs Neues Leben, Gutzkow's Ritter vom
[458] Geiſt, Prutz' Engelchen, Stifter's Studien u. a., gebracht hätten?
Man frage ſich, ob eins dieſer Bücher in's Engliſche oder Franzöſiſche
überſetzt iſt? Man erinnere ſich, daß ſelbſt von den anerkannteſten,
ältern Claſſikern unſerer Nation immer nur Weniges, ſogar von
Tieck, der mehr für die Unterhaltung erzählt hat, nur einzelne No¬
vellen, le livre bleu u. dgl., überſetzt iſt. Und dazu bedenke man,
daß ein Drittel der Deutſchen Engliſch, wenigſtens Franzöſiſch genug
verſteht, jene Romane auch im Original (der Brüſſeler, Berliner und
Leipziger Nachdrücke) zu leſen, während nur wenige Engländer und
Franzoſen Deutſch lernen, ſo wird man ſich eingeſtehen müſſen, daß
das Verhältniß zu einem ſchreienden Mißverhältnis wird. Durch poli¬
zeiliche Einſchreitungen iſt hier nichts auszurichten, ſie ſind ihrer Natur
nach zu oberflächlich und erzeugen nur das Gelüſt, auf Umwegen ſich
den verbotenen Genuß zu ſchaffen. Nur von Innen heraus, durch
wahrhafte Bildung, nur durch Stärkung unſeres Nationalgefühls,
durch Achtung vor uns ſelbſt, durch wirkliche Liebe zu unſerm Vater¬
lande (ſtatt der ironiſchen Stellung, die wir gewöhnlich dazu einnehmen
und die alle Kraft, auch die ſittliche, bei uns in der Wurzel ver¬
dirbt), iſt etwas Reelles dagegen zu wirken. Die im Text erwähnten
Ritter- und Räuberromane ſind aber ein Beweis, wie wüſt und kin¬
diſch phantaſtiſch es noch in einem großen Theil der untern Schichten
des Volks bei uns ausſieht. Nur eins vergeſſe man nicht, daß ſie
eine gewiſſe wilde Poeſie, eine grelle Abenteuerlichkeit beſitzen, die den
Ungebildeten und Halbgebildeten zu feſſeln vermag und daß ſo hölzerne,
wenn auch noch ſo gut gemeinte, moraliſirende und ökonomiſch den
Werth der Zeit und des Geldes nachdrücklich einprägende dicke Bücher,
wie die Käſerei auf der Vehfreude von I. Gotthilf und ähnliche, nicht
mit jenen an ſich erbärmlichen Producten des Paſtors Leibrock u. A.
concurriren können.


(76) S. 336. Ueber den Ehebruch ſ. meine Abhandlung in
den Studien I., Berlin 1839, S. 56–90.


(77a.) S. 336. Man ſ. darüber v. Bülows Novellenbuch,
4 Bde., oder in Anſehung der Italieniſchen die treffliche Auswahl und
Ueberſetzung, die Adalbert Keller in ſeinem Italieniſchen Novellen¬
ſchatz, Leipzig 1851, 6 Bde., gegeben hat.


(77b.) S. 342. Dieſe köſtliche Schilderung Göthe's hätte
ich eigentlich in die Anmerkungen bringen ſollen, da ſie einen ſo großen
Raum wegnimmt. Allein ich bedachte, daß am Ende nur wenige ſich
um die Anmerkungen kümmern und daß ich daher wohl daran thäte, den
Leſer im Text heranzuzwingen. Man ſage nicht, daß ich ja noch beſſer
nur auf Göthe's Werke hätte verweiſen können, denn wie träge ſind
[459] wir nicht, nachzuſchlagen — und wer hat auch die Werke immer zur
Hand! Ohne meinen geehrten Leſern daraus einen Vorwurf zu machen,
bin ich überdem gewiß, daß die Meiſten derſelben bis zu dem Augen¬
blick, der ſie hier darauf führt, von dieſem Grab der Tänzerin bei
Göthe gar nichts gewußt haben, weil dieſe kleinen Arbeiten Göthe's
überhaupt wenig geleſen werden.


(78) S. 352. Es gibt eine ganze Gruppe von Luſtſpielen
und Operetten, die darauf baſirt ſind. Die Wiener Poſſe hat z. B.
in dem: roſenfarbenen Geiſt, eine äußerſt komiſche und heitere
Anwendung davon gemacht. Unter Anderm erſcheint der Leichenzug
auf der Bühne. Der Verſtorbene geht, ganz in Roſa gekleidet, als
Geiſt mit einem Geſangbuch und einem Sacktuch in der Hand ſelbſt
unter den Leidtragenden mit, trauert über ſich ſelbſt u. ſ. w.


(79) S. 356. Ruge's Neue Vorſchule S. 106: „Alle
Häßlichkeit der Poeſie und ſonſtiger Kunſt, der Geſinnung und That,
gewinnt wirklich nur ein Scheindaſein, eine ſcheinbare Wirklichkeit des
Geiſtes, das Scheindaſein des Geſpenſtes. Das Geſpenſt iſt Erſchei¬
nung, aber nicht die wahre und wirkliche Erſcheinung des Geiſtes, alſo
vielmehr nicht Erſcheinung“ u. ſ. w.


(80) S. 363. Auch Göthe, im funfzehnten Buch ſeiner
Autobiographie, ſagt, daß die Titanen die Folie des Polytheismus
ſeien, wie der Teufel die Folie des Monotheismus und daß der Teufel
keine poetiſche Figur
ſei. Aber eben als Folie wird er, was er
nicht in ſich ſelbſt iſt, ein Moment der Poeſie und der Kunſt. Alles
Häßliche, als ſolches, iſt unſchön, unpoetiſch, unkünſtleriſch. Aber
innerhalb eines gewiſſen Zuſammenhangs, unter gewiſſen Bedingungen,
wird es äſthetiſch möglich und wirkſam. Cain z. B., der Bruder¬
mörder, iſt für ſich abſcheulich; Lucifer, der ihn ſophiſtiſch irrt, für
ſich abſcheulich; aber in Byrons Myſterium Cain wird Cain durch
Abel, Adah und Zillah und Lucifer durch Cain poetiſch. Uebrigens
iſt die Satanologie des Chriſtenthums auch noch eine andere, als die
des einfachen Monotheismus.


(81) S. 371. Ueberſetzt in Tieck, Vorſchule Shakeſpeare's,
Bd. I. Ulrici, über Shakeſpeare's dramatiſche Kunſt, 1839, S. 221.
ſagt von den Hexen im Macbeth ſehr richtig: „Seine Hexen ſind Zwit¬
tergeſchöpfe, halb naturmächtige, der Nachtſeite der irdiſchen Schöpfung
angehörige Weſen, halb abgefallene, im Böſen verſunkene, gemeine
Menſchengeiſter; ſie ſind das Echo des Böſen, das aus der Bruſt und
dem Geiſterreiche dem Böſen in der Bruſt des Menſchen antwortet, es
hervorlockt, zu Entſchluß und That entwickeln und ausbilden hilft.“
[460] (82) S. 373. S. I. A. Märker: das Princip des Böſen
nach den Begriffen der Griechen, Berlin, 1842, S. 58 — 162.
S. 151 — 56. hat Märker das Häßliche, το α͗ισχϱον, im Unterſchiede
von und im Zuſammenhange mit ϰαϰον auseinandergeſetzt. Sehr wich¬
tig iſt die Stelle, die er über die σοφια aus Platons Hippias maj. 289,
B. beibringt: „τηνϰ αλλιστην παϱϑενον πϱος ϑεων γενος α͗ισχϱαν ε͗ιναι“,
ſofern nämlich die göttlichen Mächte, auch der Gerechtigkeit, als furcht¬
bar vorgeſtellt wurden.


(83) S. 374. Eine Abbildung des Schattenſpiels Kara-geuz
f. in der Illustration universelle, Paris 1846, N. 150., p. 301.
M. F. Mornand in ſeinen Souvenirs de voyage en Afrique ſagt von
dieſem Teufel: „Grotesque rèsumé de tous les vices et de toutes les
turpitudes, il réunit les types divers inventés chez nous, pour effrayer
les enfants, amuser la populace, rendre muette l'attention des vielles
femmes aux récits exagérées des veillées d'hiver, ou, dans les orages
politiques, pour détourner la vigilance soupçonneuse des masses aux
approches d'un coup d'État, ou bien encore pour alimenter cette source
de folie originale, qui consitue bien souvent le mérite de nos hommes
à la mode. Garagousse est l'Arlequin, le Paillasse, le Polichinelle,
le Croquemitaine, le Barbe-Bleue, le Cartouche, le Mayeux, le Ro¬
bert-Macaire de l'Afrique septentrionale; mais avec ces qualités, il
n'excite encore qu'une faible admiration chez les spectateurs; c'est comme
modèle d'obscénité qu'il enleve tous les suffrages. Dans ce rôle, il
produit en scène ce que le cynisme a de plus repoussant et de plus
horrible; ses paroles, ses actions sont d'une crudité dégoûtante. Outra¬
geant la pudeur et la nature, il parodie jusqu'aux monstruosités attri¬
buées par la fable à Pasiphaë.“


(84) S. 375. Didron: iconographie chrétienne, Paris 1843,
4, p. 545. An der Stelle der Zeugungsglieder findet ſich auch ein
Kopf, der die Zunge hervorblöckt. Uebrigens glaubten die Miniatur¬
maler des Mittelalters ein frommes Werk zu vollbringen, wenn ſie den
Teufel recht ſcheußlich malten, weil ſie in ihrem frommen Wahn an¬
nahmen, daß er ſich darüber ärgere — und den Teufel zu ärgern, nun,
es war doch immer einiges Verdienſt.


(85) S. 375. Auch in ſeinen ſämmtl. Werken VII.


(86) S. 375. Ueberſetzt im zweiten Theil von Tiecks Vor¬
ſchule Shakeſpeare's.


(87) S. 377. Ich beſitze von dieſer Tentation de St. Antoine
Abbé
einen großen Kupferſtich, den P. Picault geſtochen hat. Callot
[461] hat das wunderliche Bild dem Abbé Antoine de Sever, prédicateur
ordinaire du Roy
, gewidmet, mit dem Motto: Si consistant adversus
me castra, non timebit cor meum
. — Wegen des Namens der dia¬
blerie
will ich noch bemerken, daß im Mittelalter diejenigen Myſterien
grande diablerie hießen, in denen wenigſtens vier Teufel ſpielten.


(88) S. 380. Abgebildet in Scheible's Doctor Faustus, Stutt¬
gart, 1844, S. 23. (Auch als Thl. II. der Sammelſchrift: das Cloſter).
— Ueber den Jägertypus ſ. auch F.Kugler in der Geschichte der
Malerei, II.,
79., der von Hans Holbein ſolche Figuren mit einem
„Italieniſchen“ Geſicht anführt.


(89) Mit den Begriffen Parodie und Traveſtie ergeht es den
Aeſthetikern ähnlich, wie den Logikern mit den Begriffen der Induction
und der Analogie. Der eine nennt Parodie, was der andere Traveſtie,
und umgekehrt. Bei der Traveſtie wird die Grundbeſtimmung bleiben,
daß ſie auch Parodie iſt, aber nicht blos im Allgemeinen, ſondern daß
ſie, wie der Name andeutet, denſelben Inhalt in eine andere Form
verkleidet, eben damit aber auch den Inhalt anders qualificirt. Eine
Parodie kann auch ernſt ſein, eine Traveſtie iſt immer lächerlich.


(90) Viſcher a. a. O. hat Gavarni mit Töpffer vergli¬
chen und den Humor des letztern vortrefflich dargeſtellt. Töpffers
Zeichnungen ſind nur flüchtige Federzeichnungen; oft ſcheinen es nur Tüp¬
felchen und Strichelchen zu ſein, aber man muß die Geſchichten hinzu¬
nehmen, dieſe köſtlichen Geſchichten von Mr. Jabot, Jolibois, Mr. Pencil
u. A. Töpffers Manier iſt durch ihre Anwendung in den Münchener
Fliegenden Blättern von Schneider und Braun bei uns nunmehr faſt
populär geworden. Wir erlauben uns, zu ihrer Charakteriſtik aus
Viſchers Schilderung nur einige Worte herauszuheben. Viſcher hebt
an ihm als Hauptmoment das Epiſche ſeines Verfahrens hervor, wel¬
ches ihn auch einladet, den Epiſoden nachzugehen: „Sind die Aſtro¬
nomen im Dr. Feſtus aus dem Waſſer gerettet, ſo müſſen wir auch
noch erfahren, was aus ihren Perücken geworden, und das gibt noch
eine lange höchſt intereſſante Geſchichte. Mad. Crépin legt ein Pech¬
pflaſter auf und verliert es; dann wandert es weiter durch verſchiedene
Hände, bis es ſeinen Kreislauf auf der Haut des frühern Erziehers
ihrer Kinder, nunmehrigen Zolljägers Bonichon beſchließt. So erſchöpft
er aber auch die Hauptmotive mit epiſcher Ausführlichkeit. Wie er ſie
aufgehaspelt, haspelt er ſie auch bis auf den letzten Faden ab. Endlich
iſt die ganze Methode Töpffers durchaus im engſten Sinn als ſucceſſiv
zu bezeichnen, man hat völlig den Eindruck des Fortmachens, Fortge¬
hens, der gedehnten Folge, wie bei einer Erzählung, welche aber eben
[462] deswegen, um nicht zu ermüden, von Strecke zu Strecke Ruhepuncte
anſetzt; — wie in der histoire d'Albert, wo jede neue Phaſe dieſes mi߬
rathenen Sohns mit einem Tritt vor den Hintern ſchließt, den ihm
ſein Vater ertheilt, wobei man nur den Fuß des Einen und die Poste¬
riora
des Andern ſieht; eben ſo die wiederkehrenden Momente, wo
Hr. Jabot ſich wieder in Poſitur ſetzt, Hr. Bieux Bois das Hemd
wechſelt u. dgl. m. Das Succeſſive aber behandelt Töpffer in ſeiner
phantaſtiſchen Weiſe gern ſo, daß er dieſelbe Handlung auf mehren,
durch Striche getrennten Feldern in mehren unmittelbar auf einander
folgenden Momenten darſtellt. Albert wird unter Andern Reiſender
zuerſt für einen Weinhändler, dann für einen Buchhändler, welcher
letztere eine Metaphysique pittoresque herausgibt. Man ſieht ihn bei
einer Familie eintreten, die er mit ſeiner Zudringlichkeit mißhandelt
(assassine). Nun trennt Töpffer das weitere Blatt durch Striche in
eilf ſchmale Streifen; auf dem erſten ſieht man Herrn Albert noch in
ganzer Figur, ein Compliment machend: il assassine au rez de chaus¬
sée
; auf dem zweiten nur noch halbe Figur: à l'entresol; auf dem drit¬
ten nur noch Hintertheil und Beine, immer in tiefer Verbeugung: au
premier
— und ſo fort mit Grazie in infinitum, bis man am Ende
nur noch einen verſchwindenden Punct ſieht. M. Pencil zeichnet die
ſchöne Natur. Wie er fertig iſt, betrachtet er ſein Werk mit höchſter
Zufriedenheit. Wieder ein Bild: er ſieht es von der andern Seite an
und il est content aussi. Er ſieht es über die Schulter an und er iſt
eben ſo zufrieden; er kehrt es gar um, ſieht die leere Rückſeite an und
remarque avec plaisir, qu'il est encore content. Töpffer verſteht ſeine
Sache gut genug, um im Text eben ſo jedesmal die Worte zu wieder¬
holen. So wird auch der wüthend eiferſüchtige Jolibois im M. Pencil
immer mit dem Zuſatz in Parentheſe: car hélas la passion aveugle,
eingeführt. — Nun müſſen wir noch das wahnſinnige Spiel des Zu¬
falls, die phantaſtiſche Aufhebung der Naturgeſetze hervorheben, welche
beginnt, ſowie das Hauptſubject von der erſten Expoſition in die Ver¬
flechtung ſeines Schickſals, in die Verwicklung eintritt. Das ſauſende
Rad einer verrückten Welt packt es am kleinen Finger, am Rockzipfel
und reißt es unerbittlich im Schwunge mit fort. Das Unmögliche wird
behandelt, als verſtehe es ſich von ſelbſt. In mehren dieſer Hefte geht
faſt die ganze Geſchichte in der Luft vor ſich, in deren Höhen ein ſchalk¬
hafter Zephyr mehre Perſonen hinaufbläſt. Die Perſonen ſind ordent¬
lich auch dem Leibe nach unzerſtörbar; hundertmal müßten ſie zu Staub
zermalmt, zu Brei gequetſcht ſein, ſich zu Tode geſchnauft, in Schweiß
aufgelöſt haben, wären ſie nicht komiſche Götter, unſterbliche Weſen
auf dem Olympe der Narrheit. Es gibt keine Schwere mehr; doch es
[463] gibt noch eine, man ſchwitzt und keucht unter ihrer Laſt, aber ein tüch¬
tiger Ruck und das Unmögliche iſt geleiſtet. Es gibt kein Bedürfniß
mehr; doch es gibt noch eines, es kommt nur darauf an, durch große
Anſtrengung es zu überwinden: einige Ausdauer und man kann Tage,
Wochenlang hungern, durſten, in hohlen Baumſtämmen ſtecken, in Rie¬
ſenteleskopen durch die Luft ſchiffen, in einem verſchloſſenen Koffer,
durch deſſen Löcher man die beiden Arme frei bekommen, Spaziergänge
machen. Töpffer iſt nicht auf die Weiſe phantaſtiſch, wie Ariſtophanes,
Callot und mehre neuere groteske Zeichner; er componirt keine abſolut
unmöglichen Geſtalten, Froſchmenſchen, Vogelmenſchen u. ſ. w. Dies
litte ſchon die moderne Sphäre ſeiner Stoffe nicht. Aber durch einen
Uebergang, der ſich durch einige Motive, die ganz conſequent ſcheinen,
einſchleicht, ſo daß das Unmögliche möglich wird, und wenn man nur
den erſten Zoll über die Linie zugegeben, unmerklich Meilen daraus
entſtehen, löſt er die Geſetze der Schwere, des Bedürfniſſes, der Gren¬
zen menſchlicher Kraft und menſchlicher Täuſchung auf und hat uns,
ehe wir umſehen, in eine eigene Welt, eine Wolkenkukuksburg hinein¬
gezaubert, wo wir eben ſo ſehr in jedem Augenblick an das Allerge¬
wöhnlichſte, an alle Unentbehrlichkeiten des Lebens erinnert, als auch
über ſie hinweggeſchnellt werden. Dadurch nun vollendet ſich die Frei¬
heit und Reinheit der Komik, die eigene, ganze und abſolute Welt des
Humors. Auch darum verſchwindet das Bittere und Boshafte der
Satire, weil wir ſo ganz in dieſe zweite, freie Welt der möglich ge¬
wordenen Unmöglichkeiten uns hineingetäuſcht finden.“


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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Rosenkranz, Karl. Ästhetik des Häßlichen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmmw.0