Verlag von H. Haeſſel.
1876.
Das Recht der Ueberſetzung wird vorbehalten.
Erſtes Buch.
Die Reiſe des Herrn Waſer.
Meyer, Georg Jenatſch. 1[][]Erſtes Kapitel.
Die Mittagsſonne ſtand über der kahlen, von Fels¬
häuptern umragten Höhe des Julierpaſſes im Lande
Bünden. Die Steinwände brannten und ſchimmerten
unter den ſtechenden ſenkrechten Strahlen. Zuweilen,
wenn eine geballte Wetterwolke emporquoll und vorüber¬
zog, ſchienen die Bergmauern näher heranzutreten und,
die Landſchaft verengend, ſchroff und unheimlich zu¬
ſammenzurücken. Die wenigen zwiſchen den Felszacken
herniederhangenden Schneeflecke und Gletſcherzungen
leuchteten bald grell auf, bald wichen ſie zurück in
grünliches Dunkel. Es drückte eine ſchwüle Stille, nur
das niedrige Geflatter der Steinlerche regte ſich zwiſchen
den nackten Blöcken und von Zeit zu Zeit durchdrang
der ſcharfe Pfiff eines Murmelthiers die Einöde.
In der Mitte der ſich dehnenden Paßhöhe ſtanden
rechts und links vom Saumpfade zwei abgebrochene
Säulen, die der Zeit ſchon länger als ein Jahrtauſend
1*[4] trotzen mochten. In dem durch die Verwitterung becken¬
förmig ausgehöhlten Bruche des einen Säulenſtumpfes
hatte ſich Regenwaſſer geſammelt. Ein Vogel hüpfte
auf dem Rande hin und her und nippte von dem klaren
Himmelswaſſer.
Jetzt erſcholl aus der Ferne, vom Echo wiederholt
und verhöhnt, das Gebell eines Hundes. Hoch oben
an dem ſtellenweiſe grasbewachſenen Hange hatte ein
Bergamaskerhirt im Mittagsſchlaf gelegen. Nun ſprang
er auf, zog ſeinen Mantel feſt um die Schultern und
warf ſich in kühnen Schwüngen von einem vorragenden
Felsthurme hinunter zur Einholung ſeiner Schafheerde,
die ſich in weißen beweglichen Punkten nach der Tiefe
hin verlor. Einer ſeiner zottigen Hunde ſetzte ihm
nach, der andere, vielleicht ein altes Thier, konnte ſeinem
Herrn nicht folgen. Er ſtand auf einem Vorſprunge
und winſelte hilflos.
Und immer ſchwüler und ſtiller glühte der Mittag.
Die Sonne rückte vorwärts und die Wolken zogen.
Am Fuße einer ſchwarzen vom Gletſcherwaſſer be¬
feuchteten Felswand rieſelten die geräuſchlos ſich herunter¬
ziehenden Silberfäden in das Becken eines kleinen See's
zuſammen. Gigantiſche, ſeltſam geformte Felsblöcke
umfaßten das reinliche, bis auf den Grund durchſichtige
Waſſer. Nur an dem einen flachern Ende, wo es,
[5] thalwärts abfließend, ſich in einem Stücke ſaftig grünen
Raſens verlor, war ſein Spiegel von der Höhe des
Saumpfades aus ſichtbar. An dieſer grünen Stelle
erſchien jetzt und verſchwand wieder der braune Kopf
einer graſenden Stute und nach einer Weile weideten
zwei Pferde behaglich auf dem Raſenflecke und ein
drittes ſchlürfte die kalte Fluth.
Endlich tauchte ein Wanderer auf. Aus der weſt¬
lichen Thalſchlucht heranſteigend, folgte er den Windun¬
gen des Saumpfades und näherte ſich der Paßhöhe.
Ein Bergbewohner, ein wettergebräunter Geſell war es
nicht. Er trug ſtädtiſche Tracht, und was er auf ſein
Felleiſen geſchnallt hatte ſchien ein leichter Rathsdegen
und ein Rathsherrenmäntelchen zu ſein. Dennoch ſchritt
er jugendlich elaſtiſch bergan und ſchaute ſich mit ſchnellen
klugen Blicken in der ihm fremdartigen Bergwelt um.
Jetzt erreichte er die zwei römiſchen Säulen. Hier
entledigte er ſich ſeines Ränzchens, lehnte es an den
Fuß der einen Säule, wiſchte ſich den Schweiß mit
ſeinem ſaubern Taſchentuche vom Angeſicht und entdeckte
nun in der Höhlung der andern den kleinen Waſſer¬
behälter. Darin erfriſchte er ſich Stirn und Hände,
dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete mit
ehrfurchtsvoller Neugier ſein antikes Waſchbecken. Schnell
bedacht zog er eine lederne Brieftaſche hervor und be¬
[6] gann eifrig die beiden ehrwürdigen Trümmer auf ein
weißes Blatt zu zeichnen. Nach einer Weile betrachtete
er ſeiner Hände Werk mit Befriedigung, legte das auf¬
geſchlagene Büchlein ſorgfältig auf ſein Felleiſen, griff
nach ſeinem Stocke, woran die Zeichen verſchiedener
Maße eingekerbt waren, ließ ſich auf ein Knie nieder
und nahm mit Genauigkeit das Maß der merkwürdigen
Säulen.
„Fünfthalb Fuß hoch,“ ſagte er vor ſich hin.
„Was treibt Ihr da? Spionage?“ ertönte neben
ihm eine gewaltige Baßſtimme.
Jäh ſprang der in ſeiner ſtillen Beſchäftigung
Geſtörte empor und ſtand vor einem Graubarte in grober
Dienſttracht, der ſeine blitzenden Augen feindſelig auf
ihn richtete.
Unerſchrocken ſtellte ſich der junge Reiſende dem
wie aus dem Boden Geſtiegenen mit vorgeſetztem Fuße
entgegen und begann, die Hand in die Seite ſtemmend,
in fließender, gewandter Rede:
„Wer ſeid denn Ihr, der ſich herausnimmt, meine
gelehrte Forſchung anzufechten auf Bündnerboden, id est
in einem Lande, das mit meiner Stadt und Republik
Zürich durch wiederholte, feierlichſt beſchworene Bünd¬
niſſe befreundet iſt? Ich weiſe Euern beleidigenden
Verdacht mit Verachtung zurück. Wollt Ihr mir den
[7] Weg verlegen?“ fuhr er fort, als der Andere, halb
verblüfft, halb drohend, wie eingewurzelt ſtehen blieb.
„Sind wir im finſtern Mittelalter oder zu Anfang
unſeres gebildeten ſiebzehnten Jahrhunderts? Wißt Ihr,
wer vor Euch ſteht? . . . So erfahrt es: der Amts¬
ſchreiber Heinrich Waſer, Civis turicensis.“
„Narrenpoſſen!“ ſtieß der alte Bündner zwiſchen
den Zähnen hervor.
„Laß ab von dem Herrn, Lucas!“ ertönte jetzt ein
gebieteriſcher Ruf hinter den Felstrümmern rechts vom
Wege hervor und der Zürcher, der unwillkürlich dem
Klange der Stimme ſeewärts ſich zuwandte, gewahrte
nach wenigen Schritten den mittäglichen Ruheplatz einer
reiſenden Geſellſchaft.
Neben einem aus dunkeln Augen blickenden, kaum
dem Kindesalter entwachſenen Mädchen, das im Schatten
eines Felſens auf hingebreiteten Teppichen ſaß und aus¬
ruhte, ſtand ein ſtattlicher Kavalier, denn das war er
nach ſeiner ganzen Erſcheinung trotz des ſchlichten Reiſe¬
gewandes und der ſchmuckloſen Waffen. Am Rande
des See's graſten die des Sattels und Zaumes ent¬
ledigten Roſſe der drei Reiſenden.
Der Zürcher ging, die Gruppe ſcharf ins Auge
faſſend, mit immer gewiſſern Schritten auf den bünd¬
[8] neriſchen Herrn zu, während ein muthwilliges Lachen
die Züge des blaſſen Mädchens plötzlich erhellte.
Jetzt zog der junge Mann gravitätiſch den Hut,
verneigte ſich tief und begann:
„Euer Diener, Herr Pomp . . . .“ hier unterbrach
er ſich ſelbſt, als ſtiege der Gedanke in ihm auf, daß
der Angeredete ſeinen Namen auf dieſem Boden vielleicht
zu verheimlichen wünſche.
„Der Eurige, Herr Waſer,“ verſetzte der Kavalier.
„Scheut Euch nicht, den Namen Pompejus Planta
zwiſchen dieſen Bergen herzhaft auszuſprechen. Ihr habt
wohl vernommen, daß ich auf Lebenszeit aus Bünden
verbannt, daß ich vogelfrei und vervehmt bin, daß auf
meine lebende Perſon tauſend Florin und auf meinen
Kopf fünfhundert geſetzt ſind und was deſſen mehr iſt.
Ich habe den Wiſch zerriſſen, den das Thusnerprädi¬
kantengericht mir zuzuſchicken ſich erfrecht hat. Ihr,
Heinrich, das weiß ich, habt nicht Luſt, den Preis zu
verdienen! Setzt Euch zu uns und leert dieſen Becher.“
Damit bot er ihm eine bis zum Rande mit dunklem
Veltliner gefüllte Trinkſchale.
Nachdem der Zürcher einen Augenblick ſchweigend
in das rothe Naß geſchaut, that er Beſcheid mit dem
wohlüberlegten Trinkſpruche: „Auf den Triumph des
Rechts, auf eine billige Verſöhnung der Parteien in
[9] altfrei Rhätia, — voraus aber auf Euer Wohlergehen,
Herr Pompejus, und auf Eure baldige ehrenvolle Wieder¬
einſetzung in alle Eure Würden und Rechte!“
„Habt Dank! Und vor Allem auf den Untergang
der ruchloſen Pöbelherrſchaft, die jetzt unſer Land mit
Blut und Schande bedeckt!“
„Erlaubt,“ bemerkte der Andere vorſichtig, „daß ich
als Neutraler mein Urtheil über die verwickelten Bünd¬
nerdinge einigermaßen zurückhalte. Die vorgefallenen
Formverletzungen und Unregelmäßigkeiten freilich ſind
höchlich zu beklagen und ich nehme keinen Anſtand, ſie
auch meinerſeits zu verdammen.“
„Formverletzung! Unregelmäßigkeit!“ brauſte Herr
Pompejus zornig auf, „das ſind gar ſchwächliche Aus¬
drücke für Aufruhr, Plünderung, Brandſchatzung und
Juſtizmord! Daß ein Pöbelhaufe mir die Burg um¬
zingelt oder eine Scheuer in Brand ſteckt, davon will
ich noch nicht viel Aufhebens machen. Man hat mich
ihnen als Landesverräther vorgemalt und ſie ſo gegen
mich verhetzt, daß ich ihnen einen böſen Streich nicht
verarge. Aber daß dieſe Hungerleider von Prädikanten
einen Gerichtshof aus der Hefe des Volks zuſammen¬
leſen, mit der Folter hantiren und mit Zeugen, die
verlogener ſind als die falſchen Zeugen in der Paſſion
[10] unſers Heilands — das iſt ein Greuel vor Gott und
Menſchen.“
„An den Galgen alle Prädikanten!“ erſcholl hinter
ihnen der Baß des die Pferde zum Aufbruche rüſtenden
alten Knechts.
„So ſeid ihr aber, ihr Zürcher,“ fuhr Planta fort,
„daheim führt ihr ein verſtändiges züchtiges Regiment
und bekreuzt euch vor Neuerung und Umſturz. Thäte
ſich bei euch ein Burſche hervor wie unſer Prädikant
Jenatſch, er ſäße bald hinter Schloß und Riegel im
Wellenberg, oder ihr legtet ihm flugs den Kopf vor die
Füße. Von ferne aber erſcheint euch der Unhold merk¬
würdig und eure Zünfte jauchzen ſeinen Freveln Beifall
zu. Euer neugieriger und unruhiger Geiſt ergötzt ſich
daran, wenn die Flammen des Aufruhrs hell aufſchlagen,
ſo lange ſie euern eigenen Firſt nicht bedrohen.“
„Erlaubt —“ wiederholte Herr Waſer.
„Laſſen wir das,“ ſchnitt ihm der Bündner das
Wort ab. „Ich will mir nicht das Blut vergiften.
Bin ich doch nicht hier als das Haupt meiner Partei,
ſondern um eine einfache Vaterpflicht zu erfüllen.
Lucretia, mein Töchterchen, — ſie iſt Euch ja nicht un¬
bekannt, — kommt aus dem Kloſter Cazis, wohin ich
ſie zu den frommen Frauen geflüchtet hatte, als der
Sturm gegen mich losbrach, und ich führe ſie nun auf
[11] einſamen Pfaden in ein italiäniſches Kloſter, wo ſie ſich
in den ſchönen Künſten üben ſoll. Und Ihr? Wohin
geht Euer Weg?“
„Eine Ferienreiſe, Herr Pompejus, um den Akten¬
ſtaub abzuſchütteln und die rhätiſche Flora kennen zu
lernen. Seit unſer Landsmann Conrad Geßner die
Wiſſenſchaft der Botanik begründet hat, treiben wir ſie
eifrig an unſerm Carolinum. Ueberdieß ſchuldet mir
das Schickſal eine geringe Schadloshaltung für ein ge¬
ſcheitertes Reiſeprojekt. Ich ſollte nämlich,“ fuhr er
etwas ſchüchtern, aber nicht ohne geheime Eitelkeit fort,
„nach Prag an den Hof ſeiner böhmiſchen Majeſtät
gehen, wo mir durch beſondere Gunſt eine Pagenſtelle
zugeſichert war.“
„Ihr thatet klug daran, es bleiben zu laſſen,“
höhnte Herr Pompejus. „Dieſer klägliche König wird
in Kurzem ein Ende nehmen mit Schrecken und Schande.
Und jetzt,“ fuhr er lauernd fort, „wenn Ihr mit der
rhätiſchen Flora vertraut ſeid, wollt Ihr nicht auch die
des Veltlins ſtudiren? So böte ſich Euch Gelegenheit,
bei Euerm Studienfreunde Jenatſch auf ſeiner Straf¬
pfarre einzukehren.“
„Angenommen es fügte ſich ſo, ich hielte es für
kein Verbrechen,“ verſetzte der Zürcher, dem dies rück¬
[12] ſichtsloſe Eindringen in ſeinen Reiſeplan die Röthe der
Entrüſtung auf Stirn und Wangen trieb.
„Ein nichtswürdiger Bube!“ grollte Herr Pompejus.
„Mit Gunſt, das iſt ab irato geſprochen, Herr.
Wohl mögt Ihr Euch mit Recht über meinen Schul¬
genoſſen zu beklagen haben. Ich verzichte darauf, ihn
Euch gegenüber und in dieſer Stunde zu vertheidigen.
— Erlaubt mir lieber, Euch um geneigten Aufſchluß zu
bitten über jene merkwürdigen Säulen dort. Sind ſie
römiſchen Urſprungs? Ihr müßt das wiſſen, iſt doch
Euer hochberühmtes Geſchlecht ſeit Kaiſer Trajan in
dieſen Bergen heimiſch.“
„Darüber,“ antwortete Planta, wird Euch Euer
gelehrter Freund, der Blutpfarrer, Auskunft geben. —
Du biſt bereit, Lucretia?“ rief er dem Fräulein zu,
das, als das Geſpräch ſich zu erhitzen begann, mit be¬
kümmerter Miene ſtill nach dem Saumpfad hinauf ſich
entfernt und bei den Säulen verweilt hatte, wo ihr
jetzt eben Lucas eines der wieder gezäumten Pferde vor¬
führte.
„Gehabt Euch wohl, Herr Waſer!“ grüßte Planta,
ſich raſch in den Sattel des zweiten ſchwingend. „Ich
kann Euch nicht einladen, auf Euerm Heimwege bei
mir im Domleſchg einzuſprechen, wie ich es unter andern
Umſtänden gerne gethan hätte. Die ſchuftigen Hände,
[13] die jetzt unſer Staatsruder führen, haben mir, wie Ihr
wißt, mein feſtes Haus Riedberg zugeriegelt und das
durch ſie entehrte Bündnerwappen auf mein Thor ge¬
klebt.“
Waſer verbeugte ſich und ſchaute eine Weile nach¬
denklich dem über die Hochebene davon trabenden Reiſe¬
zuge nach. Dann bückte er ſich nach ſeinem aufgeblättert
am Wege liegenden Taſchenbuche und warf, bevor er es
ſchloß, noch einen Blick auf ſeine Zeichnung. Was war
das? Mitten zwiſchen die zwei flüchtig entworfenen
Säulen hatte eine kindlich ungeübte Hand große Buch¬
ſtaben hineingeſchrieben. Deutlich ſtand es zu leſen:
Giorgio, guardati.
Kopfſchüttelnd preßte er das Büchlein mit dem ein¬
geſteckten Stifte zuſammen und verſenkte es in die Tiefe
ſeiner Taſche.
Unterdeſſen hatten die Wolken ſich gemehrt und
verdüſterten den Himmel. Waſer ſetzte ſeinen Weg durch
die ſonnenloſe Felſenlandſchaft mit beſchleunigten Schrit¬
ten fort. Noch heftete ſein lebhaftes Auge ſich zuweilen
auf die großen dunkeln, jetzt unheimlich grotesken Fels¬
maſſen, aber es beſtrebte ſich nicht mehr, wie am Mor¬
gen, mit raſtloſer Neugierde dieſe ungewohnten ſeltſamen
Formen ſich einzuprägen. Es ſchaute nach innen und
ſuchte mit Hilfe alter Erinnerungen das Verſtändniß
[14] des eben Vorgegangenen ſich aufzuſchließen. Offenbar
konnten die warnenden Worte nur von der jungen
Lucretia geſchrieben ſein; ſie mußte, als die Rede auf
Jenatſch kam, des Wanderers Abſicht, den Jugendfreund
aufzuſuchen, durchſchaut haben. Offenbar hatte ſie ſich
weggeſtohlen in der Angſt ihres Herzens, um dem
jungen Pfarrer im Veltlin ein mahnendes Zeichen naher
Gefahr zu geben. Offenbar zählte ſie darauf, das
Taſchenbuch werde ihm zu Geſicht kommen.
Von dem eben Erlebten ſpannen ſich Waſer's Ge¬
danken an fliegenden Fäden in ſeine Knabenzeit zurück.
Auf dem düſtern Hintergrunde des Julier malte ſeine
Seele ein farbenluſtiges Bild, in deſſen Mitte wiederum
Herr Pompejus mit ſeinem Töchterlein Lucretia ſtand.
Zweites Kapitel.
Waſer ſah ſich in der dunkeln Schulſtube des neben
dem großen Münſter gelegenen Hauſes zum Loch im
Jahre des Heils 1615 auf der vorderſten Bank ſitzen.
Es war ein ſchwüler Sommertag und der würdige
Magiſter Semmler erklärte ſeiner jungen Zuhörerſchaft
einen Vers der Iliade, der mit dem helltönenden Dativ
magádi ſchloß. „Magás,“ erläuterte er, „heißt die
Drommete und iſt ein den Naturlaut nachahmendes
Klangwort. Glaubt Ihr nicht den durchdringenden Schall
der Drommete im Lager der Achaier zu vernehmen,
wenn ich das Wort ausrufe?“ Er hemmte ſeinen
Schritt vor der großen Wandkarte des griechiſchen Archi¬
pelagus und rief mit hellkrähender Stimme: Magádi!
Dieſe Kraftanſtrengung wurde durch ein ſchallendes
Gelächter belohnt, das der Magiſter mit Genugthuung
vernahm, ohne den Hohn zu bemerken, der im Beifalle
ſeiner beluſtigten Schüler mitklang. War es ihm doch
[16] verborgen geblieben, daß ihm dieſe alljährlich wiederholte
effektvolle Scene ſchon längſt den kriegsmäßigen Spitz¬
namen Magaddi zugezogen hatte, der ſich im Wechſel
der nachrückenden Geſchlechter von Klaſſe auf Klaſſe
vererbte.
Heinrich Waſers Aufmerkſamkeit aber wurde ſeit
einigen Minuten von einem andern Gegenſtande gefeſſelt.
Er ſaß der morſchen Eichenthüre gegenüber, an welcher
ſich in längern Zwiſchenräumen ein zweimaliges, drei¬
maliges Klopfen hatte vernehmen laſſen und die ſich
dann leiſe, leiſe aufthat. Durch die Spalte wurden
zwei ſpähende Kinderaugen ſichtbar. Als der Drom¬
metenſtoß erſcholl, mochte der kleine Beſuch das tönende
Wort für die in einer fremden Sprache an ihn er¬
gehende Aufforderung zum Eintritte nehmen. Es öffnete
ſich geräuſchlos die Thür und über die hohe Schwelle
trat ein vielleicht zehnjähriges Mädchen mit dunkeln
Augen und trotzig ſcheuer Miene. Ein Körbchen in der
Hand näherte ſie ſich ohne Zögern dem würdigen Semm¬
ler, verneigte ſich vor ihm mit Anſtand und ſprach:
„Mit Eurer Erlaubniß, Signor Maestro.“ Dann ſchritt
ſie auf Jürg Jenatſch zu, den ſie auf den erſten Blick
in der Schülerſchaar entdeckt hatte.
Dieſer ſaß, eine fremdartige Erſcheinung, unter
ſeinen fünfzehnjährigen Altersgenoſſen, die er um Hauptes¬
[17] höhe überragte. Seinem braunen Antlitz gaben die
düſtern Brauen und der keimende Bart einen faſt
männlichen Ausdruck und ſeine kräftigen Handgelenke
ragten weit vor aus den engen Aermeln des dürftigen
Wamſes, dem er längſt entwachſen war. Beim Eintreten
der Kleinen überflog eine dunkle Schamröthe ſeine breit
ausgeprägte Stirn. Er behielt eine ernſte Haltung,
aber ſeine Augen lachten.
Jetzt ſtand das Mädchen vor ihm, umſchlang den
Sitzenden mit beiden Armen und küßte ihn herzlich auf
den Mund. „Ich habe gehört, daß Du hungerſt, Jürg,“
ſagte ſie, „und bringe Dir etwas . . . Von unſerm
gedörrten Fleiſche, das Du ſo gerne iſſeſt!“ fügte ſie
heimlich hinzu.
Ein unermeßliches Gelächter durchdröhnte die Schul¬
ſtube, das Semmlers gebieteriſch erhobene Rechte lange
nicht beſchwichtigen konnte. Die Augen des Mädchens
blickten befremdet und überquollen dann von ſchweren
Thränen des Unmuths und der Scham, während ſie
Jenatſch feſt bei der Hand faßte, als fände ſie bei ihm
allein Schutz und Hilfe.
Jetzt endlich brach ſich die ſtrafende Stimme des
Magiſters Bahn: „Was iſt da zu lachen, ihr Eſel?
— Ein naiver Zug, ſag' ich euch! Rein griechiſch!
euer Gebahren iſt eben ſo einfältig, als wenn ihr
Meyer, Georg Jenatſch. 2[18] euch beigehen laßt über die unvergleichliche Figur des
göttlichen Sauhirten oder die Wäſche des Königstöchter¬
leins Nauſikaa zu lachen, was eben ſo unziemlich als
abſurd iſt, wie ich euch ſchon eines Oeftern bewieſen
habe. — — Du biſt eine Bündnerin? Wem gehörſt
Du, Kind?“ wandte er ſich jetzt mit väterlichem Wohl¬
wollen zu der Kleinen, „und wer brachte Dich hierher?
Denn,“ ſetzte er, ſeinen geliebten Homer parodirend,
hinzu, „nicht kamſt Du zu Fuß, wie es ſcheint, nach
Zürich gewandelt.“
„Mein Vater heißt Pompejus Planta,“ antwortete
die Kleine und erzählte dann ruhig weiter: „Ich kam
mit ihm nach Rapperswyl und als ich den ſchönen
blauen See ſah und hörte, daß am andern Ende die
Stadt Zürich ſei, ſo machte ich mich auf den Weg. In
einem Dorfe ſah ich zwei Schiffer zur Abfahrt rüſten
und da ich ſehr müde war, nahmen ſie mich mit.“
Pompejus Planta, der Vielgenannte, der ange¬
ſehenſte Mann in Bünden, das allmächtige Parteihaupt!
Dieſer Name machte auf Herrn Semmler einen über¬
wältigenden Eindruck. Sogleich ſchloß er die Schul¬
ſtunde und führte die kleine Bündnerin unter ſein gaſt¬
liches Dach, gefolgt von dem jungen Waſer, der bei
dem Magiſter, ſeinem mütterlichen Ohm, an dieſem
Wochentage das Mittagsmahl einzunehmen pflegte.
[19]
Als ſie die ſteile Römergaſſe hinunter ſchritten,
kam ihnen geſtiefelt und geſpornt ein ſtark gebauter
imponirender Herr entgegen.
„Hab' ich Dich endlich, Lucrezchen!“ ſagte er, das
Kind auf den Arm nehmend und heftig küſſend. „Was
fiel Dir ein, mir zu entſpringen, Kröte!“
Dann, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne
das Mädchen aus den Armen zu laſſen, wandte er ſich
mit einer nur leichten Verbeugung, aber nicht ohne
Anmuth gegen Semmler und ſagte in fließendem, doch
etwas fremdartig ausgeſprochenem Deutſch: „Ihr habt
ſeltſamen Beſuch in Eurer Schule erhalten, Herr Pro¬
feſſor! Verzeiht die Störung Eures gelehrten Vortrags
durch meinen Wildfang.“
Semmler betheuerte, daß es ihm zur beſondern
Freude und Ehre gereiche, das junge Fräulein und durch
ſie den edeln Herrn Vater kennen gelernt zu haben.
„Thut mir die Ehre an, hochmögender Herr,“ ſchloß er,
„eine beſcheidene Mittagsſuppe mit mir und meiner
lieben Ehefrau zu theilen.“
Der Freiherr willigte ein, ohne ſich bitten zu laſſen
und erzählte unterwegs, wie er Lucretia's Verſchwinden
ſpät bemerkt, dann aber gleich ſich aufs Pferd geworfen
und die Reiſende mit Leichtigkeit von Spur zu Spur
verfolgt habe. Er erzählte weiter, er beſitze in Rappers¬
2*[20] wyl ein Haus, das er ſich auf alle Fälle hin erworben,
da es in Bünden wie draußen im Reich nicht mehr
ganz geheuer ſei. Lucretia habe ihn dahin begleiten
dürfen. Wie er dann von Semmler erfuhr, was das
Kind nach Zürich getrieben, brach er in ein ſchallendes
Gelächter aus, das aber nicht heiter klang.
Als nach beendigtem Mahle die Herren beim Weine
ſaßen, während die Frau Magiſterin ſich mit Lucretia
beſchäftigte, erkundigte ſich Planta, vom Geſpräch ab¬
ſpringend, plötzlich nach dem jungen Jenatſch. Semmler
lobte ſeine Begabung und ſeinen Fleiß und Waſer wurde
abgeſchickt, ihn aus dem Hauſe des ehrſamen Schuh¬
machers, wo er ſich in Koſt gegeben hatte, abzuholen.
Nach wenigen Augenblicken trat Georg Jenatſch in die
Stube.
„Wie geht es, Jürg?“ rief der Freiherr dem
Knaben gütig entgegen, und dieſer antwortete beſcheiden
und doch mit einer gewiſſen ſtolzen Zurückhaltung, daß
er ſein Mögliches thue. Der Freiherr verſprach, ihn
bei ſeinem Vater zu rühmen und wollte ihn mit einem
Wink verabſchieden; aber der Knabe blieb ſtehen.
„Geſtattet mir ein Wort, Herr Pompejus!“ ſagte er
leicht erröthend; „Die kleine Lucretia iſt um meinetwillen
wie eine Pilgerin im Staube der Landſtraße gegangen.
Sie hat meiner nicht vergeſſen und mir aus der Heimath
[21] eine Gabe gebracht, die ſie mir freilich beſſer nicht gerade
vor meinen Kameraden überreicht hätte. Doch bin ich
ihr dafür dankbar und möchte ihr ſchon um meiner
Ehre willen ein Gegengeſchenk anbieten.“ Damit ent¬
hüllte er aus einem Tüchlein einen kleinen, inwendig
vergoldeten Silberbecher von ſchlichteſter Form.
„Iſt der Junge toll!“ fuhr der Freiherr auf.
Dann aber mäßigte er ſich ſogleich. „Was denkſt Du,
Jürg!“ fuhr er fort, „Kommt der Becher von Deinem
Vater? . . . Ich wußte nicht, daß er über Gold und
Silber gebiete. Oder erwarbſt Du ihn ſelbſt im
Schweiße Deines Angeſichts mit einer Schreiberarbeit?
So oder ſo darfſt Du ihn nicht wegſchenken. Es geht
Dir knapp genug und er hat Geldeswerth.“
„Ich darf darüber verfügen,“ antwortete der Knabe
ſelbſtbewußt, „denn ich habe ihn mit dem Einſatze meines
Lebens gewonnen.“
„Ja, das hat er, Herr Pompejus!“ ließ ſich jetzt
der lebhafte Waſer mit Begeiſterung vernehmen, „der
Becher kommt von mir. Er iſt das Zeichen meiner
Dankbarkeit dafür, daß Jürg mich beim Baden aus den
Wirbeln der reißenden Sihl, die mich hinunterzogen,
mit eigener Lebensgefahr gerettet hat. Und Jenatſch
und ich und Fräulein Lucretia, wir wollen Alle daraus
auf Euer Wohl trinken.“ Sprach's und füllte trotz
[22] eines ſeine unerhörte Kühnheit mißbilligenden Blickes,
den ihm ſein Ohm zuwarf, das Becherlein mit duften¬
dem Neftenbacher aus dem geblümten Deckelkruge.
Jürg Jenatſch ergriff den Becher und ſuchte mit
den Augen Lucretia. Sie hatte dem Vorgange mit
brennender Aufmerkſamkeit gefolgt. Jetzt machte ſie ſich
von der Magiſterin los und ſtellte ſich ernſthaft zu der
Gruppe. Jürg koſtete den Wein und reichte ihn mit
dem Spruche: „Auf Dein Wohl, Lucretia, und auf das
Deines Vaters!“ dem ſchweigenden Kinde, das langſam
von dem Tranke ſchlürfte, als beginge es eine feier¬
liche Handlung. Dann gab es den Becher ſeinem
Vater und dieſer leerte ihn aus Verdruß mit einem
Zuge.
„Mag es denn ſein, Du thörichter Junge!“ ſagte
Planta, „aber jetzt mach' daß Du fort kommſt. Auch
wir werden bald aufbrechen.“
Jenatſch ſchied und Lucretia wurde von der Ma¬
giſterin zu den Stachelbeerſträuchern in den kleinen
Hausgarten geführt, um ſich, wie die kinderfreundliche
Frau ſagte, ihren Nachtiſch ſelbſt zu holen. Während
die Herren, diesmal in italieniſcher Sprache ſich unter¬
haltend, noch einmal zum Becher griffen, ſetzte ſich
Waſer ſtill in eine Fenſterniſche mit einem Orbis pictus,
[23] in den er angelegentlich vertieft ſchien. Der Schlaue
war des Italieniſchen nicht unkundig, er hatte es mit
Jenatſch halb ſpielend getrieben und ließ, mit ſcharfem
Ohre lauſchend, ſich kein Wort des intereſſanten Ge¬
ſpräches entgehen.
„Ich werde dem Jungen den Kinderbecher zehnfach
erſetzen,“ begann Planta. „Kein übler Burſche, wenn
er nicht ſo hoffährtigen und verſchloſſenen Gemüthes
wäre. Hochmuth kleidet ſchlecht, wo das Brot im Hauſe
mangelt. Sein Vater, der Pfarrer von Scharans, iſt
ein grundbraver Mann und ſpricht als mein Nachbar
häufig bei mir ein. Früher häufiger als jetzt. Ihr
könnt Euch nicht vorſtellen, Herr Magiſter, welch ein
ſchlimmer Geiſt in unſere Prädikanten gefahren iſt. Sie
donnern von den Kanzeln gegen den ſpaniſchen Kriegs¬
dienſt und predigen Gleichberechtigung des Letzten mit
dem Erſten zu allen Aemtern im Lande, auch zu den
wichtigſten, was bei den gefährlichen politiſchen Con¬
juncturen, welche die umſichtigſte Führung unſers Staats¬
ſchiffleins erfordern, nothwendig zum Verderben des
Landes ausſchlagen muß. Von der unſinnigen pro¬
teſtantiſchen Propaganda, mit der ſie unſere katholiſchen
Unterthanen im Veltlin quälen, will ich nicht reden.
Ich bin wieder katholiſch geworden, Herr, obgleich ich
von reformirten Eltern ſtamme. Warum? Weil im
[24] Proteſtantismus ein Princip des Aufruhrs auch gegen
die politiſche Autorität liegt.“
„Stellt Eure Pfarrer beſſer,“ warf Semmler be¬
haglich lächelnd ein, „und ſie werden als zufriedene und
angeſehene Leute dem Unterthan von der nothwendigen
Ungleichheit der menſchlichen Verhältniſſe den richtigen
Begriff zu geben wiſſen.“
Planta lachte etwas höhniſch über dieſe der bünd¬
neriſchen Opferwilligkeit gemachte Zumuthung. „Um
auf den Jungen zurückzukommen,“ ſagte er dann, „ſo
gehört er auf einen Kriegsgaul, nicht hinter das Kanzel¬
bret, und würde dort weniger Unheil ſtiften. Ich hab'
es dem Alten oft geſagt: Gebt den Burſchen mir, es
iſt Schade um ihn! Aber der beſegnete ſich vor dem
ſpaniſchen Kriegsdienſte, wohin ich den hübſchen Jungen
empfehlen wollte.“
Semmler nippte bedächtig ſeinen Wein und ſchwieg.
Er ſchien den Widerwillen des Scharanſerpfarrers gegen
die ſeinem Sohne geöffnete Laufbahn nicht zu mi߬
billigen.
„Ein Weltkrieg ſteht bevor,“ fuhr Planta leiden¬
ſchaftlicher fort, „und wer weiß, wie weit es ein ſo
verwegenes Blut bringen könnte! Tollkühn iſt der
Burſche über alles Maß. Da muß ich Euch doch etwas
erzählen, Herr Magiſter! Im Sommer vor etlichen
[25] Jahren — der Junge war noch zu Hauſe — trieb er
ſich täglich mit meinem Brudersſohne Rudolf und mit
Lucretia auf dem Riedberg herum. Da kommt einmal
Lucretia, als ich durch den Garten gehe, im Sturm
mit freudeblitzenden Augen auf mich zugelaufen. „Sieh,
ſieh, Vater!“ ruft ſie athemlos und deutet in die Höhe
zu den Schwalbenneſtern meines Schloßthurmes. Was
erblick' ich dort, Herr Magiſter! Rathet einmal . . .
Den Jürg, der rittlings auf dem äußerſten Ende eines
weit aus der Dachluke ragenden und ſich auf und nieder
wiegenden Brettes ſitzt. Und der Schlingel ſchwingt
noch den Filz und begrüßt uns mit Jubelgeſchrei! Der
Andere mochte drinnen auf dem ſicheren Ende der im¬
proviſirten Schaukel hocken, und da Rudolf — ich ſag'
es ungern — ein tückiſcher Junge iſt, graute mir vor
dem Wagſtück. Ich erhob drohend die Hand und eilte
hinauf. Als ich ankam, war Alles wieder an Ort und
Stelle. Ich faßte Jürg am Kragen, ihm ſeine Frech¬
heit vorhaltend; er antwortete aber ruhig, Rudolf hätte
gemeint, er würde ſich deſſen nicht getrauen und das
hätte er nicht dürfen auf ſich ſitzen laſſen.“
Semmler, deſſen Hände bei dieſer Geſchichte ängſt¬
lich nach den Armlehnen ſeines Stuhls gegriffen hatten,
erlaubte ſich nun das in ihm aufſteigende Bedenken aus¬
zuſprechen, ob der Umgang Lucretias mit ſo wilden
[26] Jungen, vornehmlich mit dem durch eine unüberſteigliche,
mit der Zeit immer größer werdende Kluft von ihr
getrennten Jenatſch, nicht die weibliche Zartheit und
adelich feine Sitte des kleinen Fräuleins gefährden
könnte.
„Flauſen!“ rief der Freiherr. „Ihr dürft Euch
darüber keine Gedanken machen, daß das Kind dem
Jungen nach Zürich nachgelaufen iſt. Daran iſt nie¬
mand als der Rudolf Schuld. Er tyranniſirt das
Mädchen und ängſtigt es damit, daß er es ſeine kleine
Braut nennt. — Er mag wohl derartiges von ſeinem
Vater gehört haben, meinem Bruder wär' es nicht
unwillkommen, denn ich bin der Reichere; — aber das
liegt in weitem Felde. Kurz, ſie hat den ſtärkern Jürg,
den der Andere fürchtet, zu ihrem Beſchützer gemacht.
— Natürlich Kindereien. — Lucretia kommt nächſtens
zu adelicher Erziehung ins Kloſter und hinter den
Mauern wird ſie mir ſittſam genug werden, denn ſie
iſt nachdenklichen Gemüths. — Was übrigens Eure
unüberſteiglichen Klüfte betrifft, ſo meinen wir in Bün¬
den, auch wenn wir es nicht ſagen: Das iſt Vorurtheil.
Ehre, Macht und Beſitz, verſteht ſich von ſelbſt, muß
haben wer um eine Planta werben will. Ob es aus
Jahrhunderten ſtamme oder geſtern errafft ſei, darnach
fragen wir zuletzt.“
[27]
Hier verjagte der ſauſende Sturm die vor dem
Blicke des jungen Wanderers gaukelnden Bilder ſeiner
Knabenzeit. Waſer war wieder um fünf Jahre älter
und ſchritt rüſtig auf dem einſamen Saumpfade des
Julier abwärts. Und auf rauhe Weiſe wurde er in die
Gegenwart zurückgeholt. Ein aus der Thalöffnung des
Engadins aufbrauſender Windſtoß riß ihm den Hut vom
Kopfe, den er mit einem verzweifelten Seitenſprunge
gerade noch erhaſchte, ehe der zweite die leichte Beute
dem in der Tiefe ſtrudelnden Wildbache zuwarf.
Drittes Kapitel.
Waſer drückte ſeinen Filz tiefer in die Stirn,
ſchnallte ſein Ränzchen feſter, und ſprang, am jetzt ſteil
werdenden Abhange die weiten Windungen des Saum¬
pfades kürzend, eilig abwärts. Erſt überſchritt er die
Wurzeln blitzgeſchwärzter, ſeltſam verdrehter Arvbäume
und die harten Rinnen ausgetrockneter Wildbäche, dann
trat er weichen Raſen und plötzlich lag das ſammet¬
grüne Engadin geöffnet ihm zu Füßen mit ſeinen am
blitzenden Inn wie ein Geſchmeide aufgereihten Berg¬
ſeen. Aber es war ein letzter Sonnenſtrahl zwiſchen
Wolken, der es erhellte und thalabwärts in lichter Ferne
über dem See und den Weiden von St. Moritz regen¬
bogenfarbig ſpielte.
Dem Niederſteigenden gegenüber ragte eine kahle
dunkle Pyramide empor und daneben thalaufwärts ein
eben ſo hoher mit grünſchimmernden Gletſchern be¬
[29] hangener Grat. Hinter dem Joche, das ſie verband,
braute ſich das Gewitter und drängte ſeine leiſe donnern¬
den Wolken durch die Lücke, in der noch zuweilen grell
ein entfernteres Schneehaupt auftauchte.
Zur Rechten des Wanderers maskirten die Berge
der andern Thalwand jene ſteile Felstreppe, die faſt
plötzlich durch ein tief eingeſchnittenes Thal aus der
leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführt.
Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde herauf¬
gejagt, die ſchwülen Dünſte wie ein Nebelrauch hervor
über die feuchten Wieſen von Baſelgia Maria, deſſen
weiße Thürme hinter einem Regenſchleier kaum noch
ſichtbar waren.
Jetzt erreichte der Saumpfad das erſte Engadinerdorf,
eine Gaſſe feſter Häuſer, die mit ihren Strebepfeilern und
vergitterten Fenſterluken kleinen Feſtungen glichen. Aber
der junge Zürcher klopfte an keine der ſchweren Holz¬
thüren, ſondern beſchloß trotz der Dämmerſtunde auf
der Thalſtraße längs der Seen rüſtig ſüdwärts zu
ſchreiten. Sein Vorſatz war, im Hoſpiz der Maloja
zu nächtigen, um in der Frühe des nächſten Tages über
den Murettopaß nach dem Veltlin aufzubrechen; denn
— Herr Pompejus hatte es errathen — es verlangte
ihn, und jetzt mehr als je, ſeinen Schulfreund Jenatſch
zu umarmen.
[30]
Zwiſchen dieſen hohen Bergen war es früh Abend
und kühl geworden und der Weg dehnte ſich endlos
neben den am Geſtade plätſchernden Wellen. Ein feiner
froſtiger Nebelregen verhüllte die Gegend und durch¬
drang nach und nach die Kleider des in gleichmäßigem
Schritte vorwärts Eilenden. Eine Schläfrigkeit, wie er
ſie während der Hitze des Tages nicht gefühlt, fiel auf
ſeine Sinne und Gedanken wie eine leichte Erſtarrung.
Einmal an einer Stelle, wo der Inn mit raſchen Wellen
in engem Bette an ihm vorüberſchoß und auf dem andern
Ufer der ſtumpfe Thurm eines ſchwerfälligen Kirchleins
erſchien, glaubte er Pferdegetrappel zu vernehmen. Ueber
die Holzbrücke zu ſeiner Linken flog ein Reiter, der,
nach der Maloja ſchwenkend, vor ihm her jagte und
im Abenddunkel verſchwand. War dieſe in einen Mantel
gehüllte Geſtalt nicht Herr Pompejus geweſen? Nein,
es war ein einzelner ſcheuer Nachtfahrer, und der Frei¬
herr geleitete und beſchützte ja ſein Töchterlein, für das
er gewiß die ſichere Gaſtfreundſchaft ſeiner Sippe in
einem der vornehmen Engadinerdörfer angeſprochen
hatte.
Endlich, endlich war der letzte See umſchritten,
trat der letzte Felsvorſprung zurück. Durch den Nebel
ſchimmernder Feuerſchein und Hundegebell verkündeten
die Nähe eines Hauſes, das nur die Paßherberge ſein
[31] konnte. Waſer gewahrte, der dunkeln Steinmaſſe zu¬
ſchreitend, mit Befriedigung, daß die Pforte der Hof¬
mauer geöffnet war, und ſah den Wirth, einen hagern
knochigen Italiäner, die tobenden Hunde an die Kette
legen, wozu ihm der Stalljunge mit einer Pechfackel
leuchtete. Das verſprach einen gaſtlichen Empfang.
Jetzt ergriff der Wirth die Fackel und hielt ſie dem
anlangenden Wanderer vors Geſicht.
„Was verlangt der Herr? Womit kann ich
dienen?“ fragte er, in unangenehmer Ueberraſchung
einen leiſen Fluch, die Aeußerung ſeines erſten Gefühls,
unterdrückend.
„Welche Frage?“ antwortete Waſer in fröhlichem
Tone, „Platz an der Feuerſtelle, um mich zu trocknen,
Abendbrot und Nachtlager.“
„Thut mir leid, Herr, — unmöglich!“ verſetzte
der Wirth mit einer ſein Bedauern und zugleich ſeine
Unerſchütterlichkeit höchſt lebhaft ausdrückenden Geberde,
„das Haus iſt beſetzt.“
„Was, beſetzt? Ihr ſchient ja noch Gäſte zu er¬
warten? Ein Obdach, wie immer beſchaffen, könnt Ihr
einem Reiſenden in dieſer Oede und in ſolcher froſtigen
Regennacht nicht unchriſtlich verweigern!“
Der Italiäner reckte die Hand aus, gegen Süden
weiſend, wo der Nebel dünner war und jenſeits der
[32] Wetterſcheide der Maloja über zerriſſenen Bergzacken
die Mondſcheibe durchſchimmerte. „Von dorther kommt
es beſſer,“ ſagte er und holte aus dem Hauſe einen
vollen Becher Wein. „Stärkt Euch damit! Ihr kehrt am
Klügſten nach Baſelgia zurück. Ich wünſche Euch eine
geſegnete Nacht.“
Der Trank leuchtete beim Fackelſcheine im Glaſe
wie feuriger Rubin. Begierig langte Waſer nach dem
rothen Gefunkel und erquickte ſich ohne weitere Gegen¬
vorſtellung. Der Wirth drängte ihn höflich und ohne
Bezahlung zu verlangen durch die Hofpforte und ſchob
den Riegel.
Der junge Zürcher gab das Spiel noch nicht ver¬
loren. Statt einen langweiligen Rückzug auf dem eben
durcheilten Wege anzutreten, ſtieg er, ſeine Lage be¬
denkend, den wenige Schritte entfernten Vorſprung hinan,
der wie eine Warte hinausragt über das hier mit
ſteilem Abfalle beginnende Bregagliathal, jetzt ein bro¬
delnder Nebelkeſſel, aus dem mondbeglänzt die Spitzen
der zu höchſt am Rande ſtehenden Tannen auftauchten.
Waſer ſpreitete ſeinen kurzen Mantel aus, ſetzte ſich
darauf und lauſchte.
Aus dem Stalle der Herberge erſcholl von Zeit zu
Zeit das Wiehern eines Pferdes, — ſonſt blieb Alles ſtill.
Das Brauſen der Wildbäche aus der Tiefe war, vom
[33] Nebel gedämpft, dem Ohre kaum vernehmbar . . . Jetzt
löſte ſich von dem fernen Rauſchen ein leiſer heller Ton
ab, ein Geklingel, das nun verwehte — und nun nach
einer Pauſe deutlicher emporſtieg. Wieder verklang es
und hub von Neuem wieder an, diesmal näher und
lauter, als kröche es die Bergwand herauf, den Win¬
dungen eines Pfades folgend. — Lange horchte Waſer
wie im Traume dieſem lieblich unheimlichen Bergwunder
zu; jetzt aber ſchlug der Ton von Menſchenſtimmen an
ſein Ohr. Offenbar waren es Reiter oder Säumer, die
ihre Thiere antrieben, und — ſein Schluß war raſch
gezogen — die vom Wirthe erwarteten Gäſte.
Er legte ſich flach auf die Erde, um nicht ſichtbar
zu werden. Er wollte wiſſen, wer ihn ſeines Nacht¬
lagers beraube. Nach geraumer Zeit erreichten zwei
Maulthiere die Höhe, zwei Reiter ſprangen ab, offenbar
Herr und Diener, beſtürmten mit einigen harten Schlä¬
gen das ſofort ſich öffnende Thor und wurden vom
Wirthe dienſteifrig in das noch immer erleuchtete Haus
geführt.
Unwille und Neugier ſtachelten den jungen Zürcher.
Wie neubelebt ſprang er auf und umſchlich die geheim¬
nißvolle Feſtung. Er erinnerte ſich des Feuerſcheins,
der ihm bei der Ankunft entgegengeleuchtet und der nicht
von der Hofſeite gekommen ſein konnte. Richtig, da
Meyer, Georg Jenatſch. 3[34] war an der Rückſeite des Hauſes das einzelne Seiten¬
fenſter mit ſeiner durch ein ſchweres Eiſengitter flam¬
menden Helle. Er ſchwang ſich auf die Ruine eines
an die Hausmauer gelehnten Ziegenſtalles und es gelang
ihm, in die Tiefe des rauchigen Gemaches zu blicken.
Da ſtand am lodernden Herdfeuer eine ſtein¬
alte Frau mit einem grundehrlichen Geſichte und hielt
eine Eiſenpfanne in der Hand, worin Bergforellen im
praſſelnden Fette brieten. Ein bleicher Burſche, deſſen
krankhaft ſtarre Züge in dem Schwalle des dunkeln
verwirrten Lockenhaares faſt verſchwanden, ſchlief, in
eine Schafhaut gewickelt, auf einer Steinbank im Hinter¬
grunde.
Jetzt galt es klug ſein. Waſer, als angehender
Diplomat, ſuchte erſt lauſchend ſich die Situation klar
zu machen und dann den Punkt zu finden, von welchem
aus er ſich derſelben bemächtigen könnte. Der Zufall
war ihm günſtig. Der bleiche Schläfer begann mit
einem ängſtlichen Traume zu kämpfen; erſt warf er ſich
ächzend hin und her, von einer Seite auf die andere,
dann richtete er ſich plötzlich mit geſchloſſenen Augen
und einem Ausdrucke ſtumpfen Seelenleidens auf, ballte
die Fauſt, als umſchlöſſe ſie eine Waffe, führte einen
Stoß und ſtöhnte mit dumpfer Traumſtimme: „Du
wollteſt es, Santiſſima!“
[35]
Jetzt ſetzte die Alte raſch ihre Pfanne weg, faßte
den Träumer unſanft an der Schulter, rüttelte ihn und
rief ihn an: „Erwache, Agoſtin! Ich will Dich nicht
länger in meiner Küche. Das ſind nicht die Träume
des Erzvaters Jakob . . . Dich plagt der Böſe. Fort
in's Heu! Und der Herr behüte Dich vor den Fall¬
ſtricken der Hölle. —“
Die langlockige, ſchmale Geſtalt erhob ſich mit
geſenktem Haupte und entfernte ſich ohne Widerrede.
„Was Du für meinen Sohn, den Pfarrer Alexan¬
der in Ardenn, mitzunehmen haſt, werd' ich Dir morgen
in der Frühe, wenn Du hier Deinen Tragkorb holſt,
ſelber obenauf binden!“ rief ihm die Alte nach und
ſetzte dann kopfſchüttelnd hinzu: „Eigentlich ſollt' ich
dem papiſtiſchen Querkopfe das theure Erbſtück nicht an¬
vertrauen!“. . .
„Das könnt' ich Euch beſſer beſorgen, gute Frau,“
ſprach Waſer mit Vertrauen erweckender Stimme
zwiſchen den Eiſenſtäben hindurch ins Gemach hinein.
„Ich gehe morgen über den Muretto ins Veltlin zu
Pfarrer Jenatſch, dem Freunde und Nachbar Eures
würdigen Sohnes, Herr Blaſius Alexander, deſſen
Name mir wohl bekannt iſt, denn er hat ein gutes
Gerücht in proteſtantiſchen Landen. Wohlverſtanden,
wenn Ihr mir bis zur Frühe ein trockenes Schlafplätz¬
3*[36] chen anweiſen könnt, denn der Wirth hat mich andrer
Gäſte wegen, ausgeſchloſſen.“ —
Die Alte griff erſtaunt aber unerſchrocken nach
ihrer Oellampe. Das Flämmchen mit der Hand gegen
den Luftzug deckend, näherte ſie ſich der Fenſteröffnung
und beſchaute ſich den durch das Gitter redenden Kopf.
Als ſie das heiter kluge junge Geſicht und die wohl¬
anſtändige Halskrauſe erblickte, wurden ihre ſcharfen
grauen Augen ſehr freundlich und ſie ſagte: „Ihr ſeid
wohl auch ein Prädikant?“
„Ein Stück davon!“ antwortete Waſer, der in
ſeiner Heimat nicht leicht eine Unwahrheit ſagte, aber
auf dieſem wilden unwirthlichen Boden den Umſtänden
etwas einräumte. „Laßt mich ein, Mütterchen, das
Weitere wird ſich finden.“
Die Alte nickte ihm zu, den Finger auf den Mund
legend, und verſchwand. Jetzt knarrte ein niedriges
Pförtchen neben dem Ziegenſtalle, Waſer kletterte hinun¬
ter und wurde von der Alten, die ſeine Hand ergriff,
über ein paar dunkle Stufen hinauf in die Küche ge¬
zogen.
„Ein warmes Kämmerchen findet ſich wohl, — das
meinige!“ ſagte ſie, auf eine Leitertreppe neben dem
Rauchfange deutend, die zu einer Fallthüre in der ge¬
mauerten Decke führte. „Ich habe die ganze Nacht am
[37] Feuer zu thun, — die Herrſchaften drüben ſetzen ſich
eben erſt zu Tiſche. Haltet Euch droben ſtill, Ihr ſeid
dort ſicher, und einen Diener am Wort werd' ich auch
nicht verhungern laſſen.“
Damit reichte ſie ihm die Ampel, er ſtieg ohne
weitere Umſtände die Leiter hinauf, hob mit der Rech¬
ten die Thüre und trat in ein nacktes kerkerähnliches
Kämmerchen. Die Alte folgte ihm mit Brot und Wein,
trat dann durch das Seitenpförtchen in der Wand in
ein, wie es ſchien, weites luftiges Nebengemach und
kehrte mit einem anſehnlichen Stück gedörrten Schinkens
zurück. An der Wand über einem wenig einladenden
Schragen hing ein großes, maſſiv mit Silber beſchla¬
genes Pulverhorn.
„Das, Herr,“ ſagte darauf deutend die Alte, „will
ich meinem Sohne morgen ſchicken. Es iſt das Erbe
von ſeinem Ohm und Pathen, ein hundertjähriges
Beuteſtück aus dem Müſſerkriege.“
Nach kurzer Zeit ſtreckte ſich Waſer auf das Lager
und verſuchte zu ſchlafen, aber es gelang ihm nicht.
Einen Augenblick war er eingedämmert, Traumgeſtalten
bewegten ſich vor ſeinen Augen, Jenatſch und Lucretia,
Herr Magiſter Semmler und die Alte am Feuer, der
Wirth zur Maloja und der grobe Lucas ſetzten ſich zu
einander in die ſeltſamſten Wechſelbeziehungen. Plötz¬
[38] lich ſaßen ſie alle auf einer Schulbank, Semmler hob
als griechiſche Drommete merkwürdiger Weiſe das große
Pulverhorn an den Mund, aus dem die unerhörteſten
Klagetöne hervordrangen, beantwortet von einem aus
allen Ecken ſchallenden teufliſchen Gelächter.
Waſer erwachte, hatte Mühe ſich zu erinnern, wo
er ſich befinde, und war im Begriffe wieder einzu¬
ſchlummern, da erſchollen, wie er meinte von der Neben¬
kammer her, in lebhafter Zwieſprache ferne Männer¬
ſtimmen. Was er jetzt hörte, war kein Traumgelächter.
War es die Aufregung der Reiſe, war es ein die
heimlich aufſteigende Furcht bekämpfender raſcher Ent¬
ſchluß, oder war es einfache Neugier, was den jungen
Zürcher vom Lager trieb? Was immer, er ſtand ſchon
an der Thür des anſtoßenden Raumes, überzeugte ſich,
erſt horchend, dann ſachte öffnend, daß er leer ſei, und
nun durchſchritt er auf leiſen Zehen die ganze Breite
der Kammer, einem ſchmalen Lichtſchimmer folgend, der
durch die gegenüberſtehende Wand drang. Der ſchwache
röthliche Strahl kam, wie der Taſtende ſich überzeugte,
durch die Spalte einer morſchen mit ſchweren Eiſen¬
bändern beſchlagenen Eichenthür. Vorſichtig legte er
ſein ſcharfes Auge an das klaffende Holzwerk, und was
er ſah und vernahm war derart, daß er, ſeine eigene
Lage vergeſſend, an ſeinen Poſten gebannt blieb.
[39]
Es war ein enges, durch eine beſchirmte Hänge¬
lampe erhelltes Gemach, in das er blickte. Der Redenden
waren zwei und ſie ſchienen ſich an einem kleinen, mit
Briefſchaften und unordentlich zur Seite geſchobenen
Flaſchen und Tellern bedeckten Tiſche gegenüber zu ſitzen.
Der Nähere wandte der Thür den Rücken zu und die
breiten Schultern, der Stiernacken, der ſtruppige Kraus¬
kopf des heftig Sprechenden füllten zuweilen den ganzen
von der Spalte gewährten Sehkreis. Jetzt beugte er
ſich mit demonſtrirender Geberde vorwärts und über
ſeiner Achſel ward in der grellſten Schärfe des Lichtes
das auf die Hand geſtützte Haupt des Andern — Waſer
erſchrack — des Herrn Pompejus Planta ſichtbar. Wie
geſpannt und gramvoll ſah er aus! Tief eingeſchnittene
Falten zogen ſeine buſchigen Brauen zuſammen über
den eingefallenen aber unheimlich blitzenden Augen. Die
ſtolze kräftige Lebensluſt war geſchwunden und in ſeinen
Zügen kämpften heißer Groll und tiefer Jammer. Er
ſchien ſeit heute Mittag um zehn Jahre gealtert.
„Ich willige ungern in das Blutbad, das mir
manchen früher befreundeten Mann aus meiner Sippe
koſtet, und noch ſchwerer in die dann nothwendig wer¬
dende ſpaniſche Hilfe,“ ſprach Planta jetzt langſam und
gedrückt, nachdem der Andere ſeine ſprudelnde, Waſer
unklar gebliebene Rede vollendet hatte, „ . . . aber,“
[40] und hier fuhr ein Blitz des Haſſes aus den Augen des
Freiherrn, „muß Blut fließen, Robuſtelli, ſo vergeßt
mir wenigſtens ihn nicht!“
„Den Giorgio Jenatſch!“ lachte der Italiäner wild
und ſtieß ſein Meſſer in einen neben ihm liegenden
kleinen Brotlaib, den er Herrn Pompejus vorhielt wie
einen geſpießten Kopf an einer Pike.
Bei dieſer nicht zu mißverſtehenden ſymboliſchen
Antwort kehrte der Italiäner die Hälfte ſeines rohen
Geſichtes dem Lauſcher in nächſter Nähe zu. Dieſer
fuhr zurück und fand es gerathen, ſich geräuſchlos auf
ſeine Lagerſtätte zurückzuziehen. Die Scene gab ihm
viel zu denken und beſtärkte ihn in ſeinem Vorſatze, auf
dem nächſten Wege in das Veltlin zu eilen und ſeinen
Freund zu warnen. Wie er es ausführen könne, ohne
ſich ſelbſt in dieſe hochgefährlichen Dinge zu verwickeln,
dies überlegend entſchlummerte er, von Müdigkeit über¬
wältigt.
Das erſte Morgenlicht dämmerte durch ein ſchmales
Fenſterlein, das eher eine Schießſcharte zu nennen war,
als Waſer durch ein Klopfen an der Fallthüre geweckt
wurde. Er fuhr in ſeine Kleider und machte ſich reiſe¬
fertig. Die Alte trug ihm Grüße an ihren Sohn auf,
hing ihm ſorgfältig das Pulverhorn um, das ſie als
eine werthvolle Familienreliquie zu verehren ſchien, und
[41] beförderte ihn mit einiger Aengſtlichkeit durch das
Küchenpförtchen ins Freie. Hier zeigte ſie ihm den in
die Berge zur Linken der Maloja ſich verlierenden
Anfang ſeines heutigen Weges, den ſchmalen Eingang
zum Thalkeſſel von Caveloſch.
„Seid Ihr einmal drinnen,“ ſagte ſie, „ſo blickt
nach dem kahlen Hange zur Linken des See's, dort
ſchlängelt ſich, weithin ſichtbar, der Pfad und dort müßt
Ihr ohne anders den Agoſtino erblicken. Er iſt vor
einer Viertelſtunde mit ſeinem Tragkorbe aufgebrochen
und geht wie ihr nach Sondrio hinüber. Den ſprecht
an und haltet Euch zu ihm. Es iſt freilich mit ihm
hier,“ ſie wies auf die Stirne, „nicht ganz richtig, aber
den Weg weiß er auswendig und iſt ſonſt wie ein
Andrer.“
Waſer verabſchiedete ſich mit herzlichem Danke und
entfernte ſich ſchnellfüßig aus dem Umkreiſe des noch
ſtillen Hauſes. Zwiſchen wilden Felstrümmern, die den
Pfad kaum durchließen, betrat er bald das eiförmige,
rings von gletſcherbeladenen Wänden abgeſchloſſene
Thal. Er erblickte den ſchmalen Steig mit dem längs
dem Abhange ſchreitenden Agoſtino und eilte ihm nach.
Der junge Mann hatte die Eindrücke der Nacht
noch nicht überwunden, ſo ſehr er ſich bemühte, ihrer
Herr zu werden und ſie in klare Gedanken zu ver¬
[42] wandeln. Er ahnte, daß, was er geſchaut, ſchweres
Unheil bedeute und daß ihm der Zufall nur einen
geringen, für ihn zuſammenhangsloſen und unverſtänd¬
lichen Theil ſich vorbereitender ungeheurer Schickſale
enthülle. Trotz ſeines leichten Jugendblutes war er
davon tief erſchüttert, denn zwei der hier ſich feindlich
entgegengetriebenen Perſönlichkeiten, ſein Freund und
Herr Pompejus, beſaßen, wenn auch auf verſchiedene
Weiſe, ſeine Liebe und Bewunderung.
Und wie eigen, bezaubernd und ſchauerlich, war
dieſe jetzt vom Morgen geröthete Gegend. Unten eine
grüne Seetiefe, umkränzt von üppig bewachſenen Vor¬
ſprüngen und buſchigen Inſelchen, verſenkt in eine überall,
überall ſich zudrängende unendliche Wildniß dunkelroth
blühender Alpenroſen wie in ein blutiges Tuch. Ringsum
ragten ſenkrechte ſchimmernde Felswände, durchzogen von
den ſilbernen Schlangenwindungen ſtürzender Gletſcher¬
bäche, und im Süden, wo der im Zickzack ſich aufwärts
windende Pfad den einzigen Ausgang aus dem Thal¬
runde verrieth, blendete den Blick ein glänzendes Schnee¬
feld, aus dem röthliche Klippen und Pyramiden hervor¬
ſtachen.
Jetzt hatte Waſer ſeinen Vormann erreicht und
ſuchte grüßend ein Geſpräch mit dem Schweigſamen
anzuknüpfen, der, in langſames Brüten vertieft, ihn
[43] gleichgültig kaum anſah und ſich ſeine Geſellſchaft ohne
Verwunderung und ohne Neugier gefallen ließ. Er
konnte ihm nur wenige Worte abnöthigen und da der
Pfad ohnedies immer rauher und bald auf dem Schnee
ſchlüpfrig wurde, gab er ſeine Bemühungen auf.
Schneller, als Waſer erwartet hatte, erreichten ſie
die Paßhöhe. Hier beherrſchte den Ausblick nach Süden
eine hochgethürmte, düſtere Gebirgsmaſſe. Waſer er¬
kundigte ſich nach dem Namen dieſes drohenden Rieſen.
„Er hat deren verſchiedene,“ antwortete Agoſtino, „hier
oben in Bünden nennen ſie ihn anders, als wir unten
in Sondrio. Hier heißt er der Berg des Unglücks
und bei uns der Berg des Wehs.“ Von dieſen ſchwer¬
müthigen Namen unangenehm berührt, ließ Waſer ſeinen
wortkargen Begleiter voranſchreiten, hielt eine kurze
Raſt und blieb dann, ohne ihn aus den Augen zu
laſſen, eine Strecke hinter ihm, um ſich in der kräfti¬
gen Bergluft allein der freien Luſt des Wanderns zu
ergeben.
So ging es ſtundenlang abwärts längs des ſchäu¬
menden, über Felsblöcke tobenden Malero, während die
Sonne immer glühender in die Thalenge hinunter¬
brannte. Jetzt begannen kräftig aus dem Wieſengrunde
emporgewundene Kaſtanienbäume den Pfad zu beſchatten
und die erſten Weinlauben grüßten mit ihren ſchweben¬
[44] den Ranken. Auf den Hügeln ſchimmerten prunkbeladene
Kirchen und der Weg wurde immer häufiger zur ge¬
pflaſterten Dorfgaſſe. Endlich durchſchritten ſie die
letzte Schlucht und vor ihnen lag im goldenen Abend¬
dufte das breite üppige Veltlin mit ſeinen heißen Wein¬
bergen und ſumpfigen Reisfeldern.
„Dort iſt Sondrio,“ ſagte Agoſtino zu dem jetzt
wieder an ſeiner Seite ſchreitenden Waſer und wies
auf eine italiäniſche Stadt mit ſchimmernden Paläſten
und Thürmen, die dem aus der Einöde Kommenden
wie ein Feenzauber durch den dunkeln Rahmen des
Felsthors entgegenlachte.
„Ein luſtiges Land, Dein Veltlin, Agoſtino,“ rief
der Zürcher, „und dort am Felſen wächſt ja, irr' ich
nicht, der löbliche Saſſeller, die Perle der Weine!“
„Er iſt im April erfroren,“ verſetzte Agoſtino in
ſchwermüthiger Stimmung, „zur Strafe unſrer Sünden.“
„Das iſt Schade,“ verſetzte Jener, „was habt Ihr
denn eigentlich verbrochen?“
„Wir dulden unter uns den giftigen Ausſatz der
Ketzerei, aber wir werden in Kürze gereinigt und das
faule Fleiſch wird ausgeſchnitten werden. Die Todten
und die Heiligen haben in feierlicher Verſammlung das
Für und Wider erwogen am achten Mai um Mitter¬
nacht dort zu San Gervaſio und Protaſio,“ er wies
[45] auf eine vor ihnen liegende Kirche, „— der Wächter
hat es wohl gehört und iſt vor Schrecken krank gewor¬
den — ſie haben ſcharf geſtritten . . . aber unſer San
Carlo, deſſen Stimme zwanzig gilt, iſt Meiſter ge¬
worden.“
Nicht bemerkend, wie ſpöttiſch ihn ſein Begleiter
von der Seite aus lachenden Augenwinkeln anſah, that
er jetzt, was er unterwegs ſchon immer gethan, wo ein
Kreuz oder Heiligenbild am Pfade ſtand, er ſetzte, vor
einem bunten Schreine der Muttergottes angelangt,
ſeinen Tragkorb nieder, warf ſich auf die Kniee und
ſtarrte mit brennenden Augen durch das Gitter.
„Saht Ihr, wie ſie mir winkte?“ ſagte er nach
einiger Zeit im Weitergehen wie geiſtesabweſend.
„Ja wohl,“ meinte der Zürcher luſtig, „Ihr ſcheint
bei ihr gut angeſchrieben zu ſein. An was hat ſie Euch
denn erinnert?“
„Meine Schweſter umzubringen!“ erwiderte er mit
einem ſchweren Seufzer.
Das war dem jungen Zürcher zu viel. „Lebt
wohl, Agoſtino,“ ſagte er. „Auf meiner Karte ſteht
ein Seitenweg nach Berbenn, da iſt er ja ſchon, nicht
wahr? Ich kann abkürzen.“ Und er drückte dem leidigen
Geſellen ein Geldſtück in die Hand.
Waſer wandte ſich zwiſchen den Mauern der Wein¬
[46] berge rechts um den Fuß des Gebirges und erblickte
nach kurzer Wanderung das unter dem ſchattenden Grün
der Kaſtanien faſt verborgene Dorf Berbenn, ſein Reiſe¬
ziel. Ein halbnackter Bube wies ihm die Pfarre. Ein
ärmliches Haus — aber an ſeiner Vorderſeite umhangen
und beladen mit einem ſo reichen Prunke von Blättern
und Trauben, mit ſo üppigen Kränzen von übermüthi¬
gem Weinlaube, daß ſein dürftiger Bau darunter ver¬
ſchwand. Ein breites Gitterdach auf morſchen Holzſäulen
bildete die ſchwache Stütze dieſes laſtenden Reichthums
und die Vorhalle des Häuschens. Oben ſpielten die
letzten Strahlen der Abendſonne auf den warmen gold¬
grünen Blättern, darunter lag Alles im tiefſten Schatten.
Während Waſer dieſe noch nie geſchaute freie Fülle
beſtaunte, erſchien eine leichte Geſtalt in der Thüre,
und als ſie aus dem grünen Schatten trat, war es ein
ſchönes noch mädchenhaftes Weib, das einen Krug zum
Waſſerholen auf dem Kopfe trug. Der nackte Arm
ſtützte leicht das auf den dicken braunen Flechten ruhende
Gefäß, ſie bewegte ſich in ſchwebender Anmuth mit ge¬
ſenkten Wimpern heran und als nun Waſer in achtungs¬
voller Haltung höflich grüßend vor ihr ſtand und ſie
die ſanften leuchtenden Augen auf ihn richtete, war
ihm, er habe noch nie im Leben einen ſolchen Triumph
der Schönheit geſehen.
[47]
Auf ſeine Erkundigung nach dem Herrn Pfarrer
zeigte ſie ruhig mit der freien Hand durch die Wein¬
laube und den dunkeln Flur nach einer Hinterthür des
Hauſes, wo die goldene Abendhelle eindrang. Von
dorther ſcholl zu Waſers Verwunderung kriegeriſcher
Geſang.
Das Lied des deutſchen Landsknechts, das ſo todes¬
freudig und doch ſo lebensmuthig klang, konnte, daran
war kein Zweifel, nur aus der kräftigen Kehle ſeines
Freundes kommen. In der That, da kniete er im
Schatten einer mächtigen Ulme, und womit beſchloß der
Pfarrer von Berbenn ſein Tagewerk? er ſchliff am
Wetzſteine einen gewaltigen Raufdegen.
Vor Ueberraſchung blieb Waſer einen Augenblick
wortlos ſtehen. Der Knieende gewahrte ihn, ſtieß das
Schwert in den Raſen, ſprang auf, breitete die Arme
aus und drückte mit dem Rufe „Herzenswaſer!“ den
Freund an ſeine breite Bruſt.
Viertes Kapitel.
Nachdem ſich der Ankömmling aus der Umſchlingung
des Pfarrers losgewunden, maßen ſie ſich gegenſeitig
mit fröhlichen Augen.
Waſer war etwas verblüfft; aber es gelang ihm,
nichts davon merken zu laſſen. Er fühlte ſich ein wenig
gedrückt neben der athletiſchen Geſtalt des Bündners,
von deſſen braunem bärtigen Haupte ein Feuerſchein
wilder Kraft ausging. Er ahnte es, die Gewalt eines
unbändigen Willens, die früher in den düſtern, faſt
ſchläfrigen Zügen ſeines Schulgenoſſen geſchlummert
haben mochte, war geweckt, war entfeſſelt worden durch
die Gefahren eines ſtürmiſchen öffentlichen Lebens.
Jenatſch ſeinerſeits war von der fertigen und
ſaubern Erſcheinung ſeines zürcheriſchen Freundes, der
mit klug beſcheidenen Blicken, doch in ſeiner Weiſe
ſicher vor ihm ſtand, ſichtlich befriedigt, und offenbar
erfreut, mit einem Vertreter ſtädtiſcher Kultur in ſeiner
Abgeſchiedenheit zu verkehren.
[49]
Der Bündner lud ſeinen Gaſt mit einer Hand¬
bewegung zum Sitzen ein auf die rings um den Stamm
der Ulme laufende Bank und rief mit tönender Stimme:
„Wein! Lucia.“
Das ſchöne ſtille Weib, dem Waſer beim Eintritt
in das Haus begegnet war, erſchien bald mit zwei vollen
Steinkrügen, die ſie mit einer lieblich ſchüchternen Ver¬
neigung zwiſchen die Freunde auf die Holzbank ſetzte,
demüthig ſich gleich wieder entfernend.
„Wer iſt das holdſelige Geſchöpf?“ fragte Waſer,
der ihr mit Wohlgefallen nachſchaute.
„Mein Eheweib. Du begreifſt, daß hier mitten
unter den Götzendienern,“ Jenatſch lächelte, „ein pro¬
teſtantiſcher Prieſter nicht unbeweibt bleiben durfte. Es
iſt einer unſerer Hauptſätze! Ueberdieß ſchärfte mir das
jetzige laue Regiment, das mich aus dem Wege haben
wollte und mich auf dieſe einſame Strafpfarre beför¬
derte, ausdrücklich ein, ſo viele Seelen als möglich aus
dem Pfuhle des Aberglaubens zu ziehen. Das war
mein redlicher Vorſatz. Aber bis jetzt iſt mir nur eine
Bekehrung gelungen, die der ſchönen Lucia. Und wie?
Indem ich meine eigene Perſon dafür verpfändete.
„Sie iſt aus der Maßen ſchön,“ bemerkte Waſer
nachdenklich.
„Gerade ſchön genug für mich!“ ſagte Jenatſch,
Meyer, Georg Jenatſch. 4[50] ſeinem Gaſte den einen Krug überreichend, während er
den andern an die Lippen ſetzte, „und die Sanftmuth
ſelbſt, — ſie hat von ihren katholiſchen Verwandten
meinetwegen viel zu leiden. Aber was haſt Du da für
ein ſtattliches Pulverhorn, Freund? das iſt ja das Erb¬
ſtück aus der Familie der Alexander! . . . Richtig, der
Alte in Pontreſina iſt geſtorben und nun kommt es an
den wackern Blaſius, meinen Collegen in Ardenn.
Darum könnt' ich ihn beneiden. Doch wie in aller
Welt kommſt gerade Du dazu, es ins Veltlin zu
bringen?“
„Das gehört zu meinen Reiſeerlebniſſen, die ich
Dir ſpäter des Nähern berichten werde,“ erwiederte
Waſer, der mit ſich ſelbſt noch nicht im Klaren war,
wie weit er das warnende Abenteuer der Maloja ent¬
hüllen könne, ohne gegen ſeinen Vorſatz von dem hei߬
blütigen Freunde aus der einen Mittheilung in die
andere fortgeriſſen zu werden. „Aber jetzt, lieber Jürg,
kläre mich vor allen Dingen auf über die merkwürdigen
Ereigniſſe, die in den letzten Jahren die Aufmerkſam¬
keit aller Politiker auf Dein Vaterland lenkten. Quo¬
rum pars magna fuisti! Du warſt dabei die Haupt¬
perſon.“
„Darüber kannſt Du leichtlich beſſer unterrichtet
ſein als ich, wenigſtens was den Zuſammenhang be¬
[51] trifft,“ antwortete Jenatſch, indem er den linken Fuß
auf den Schleifſtein ſetzte und ein Bein über das andere
ſchlug, „Du arbeiteſt ja auf eurer Staatskanzlei und
die Herren von Zürich laſſen ſich nichts zu viel koſten,
um nur immer auf dem Laufenden zu bleiben. Uebrigens
iſt Alles ganz natürlich zugegangen, verkettet nach
Urſache und Wirkung. Du weißt alſo, denn in eurer
Rathsſtube mag es häufig aufs Tapet gekommen ſein,
daß ſeit Jahren Spanien-Oeſterreich unſere Katholiken
beſticht, um unſer Bündniß und freien Durchzug für
ſeine Kriegsbanden zu erlangen und uns jetzt, aus
Verdruß, durch ſeine Miethlinge nichts erreicht zu haben,
dort,“ er wies nach Süden, „die Feſtung Fuentes gegen
alle Verträge als eine tägliche Bedrohung an die Schwelle
unſeres Landes Veltlin geſetzt hat. — Wir können ſie
morgen beſuchen, Heinrich, wenn Du willſt und Du
wirſt bei Deinen gnädigen Herren in Zürich einen Stein
im Brete gewinnen durch die Beſchreibung des an Ort
und Stelle beſichtigten Streitobjectes. — Das war
läſtig, aber es ging uns nicht ans Leben. Dann aber,
als es jedem klar denkenden Kopfe zur Gewißheit wurde,
daß die katholiſchen Mächte zum Vernichtungskriege gegen
den deutſchen Proteſtantismus rüſteten. . . .“
„Unbeſtreitbar,“ warf Waſer ein.
„. . . Da wurde es zur Lebensfrage für Spanien,
4*[52] ſich die Militärſtraße von ſeinem Mailand ins Tyrol
durch unſer Veltlin, über unſer Gebirg, um jeden Preis
zu ſichern, und zur Lebensfrage für uns, dies um jeden
Preis zu verhindern. Unſere ſpaniſche Partei mußte
zum Nimmerwiederaufſtehn niedergeſchmettert werden!“
„Ganz richtig,“ ſagte der Zürcher, „wenn ihr
nur nicht zu ſo gar gewaltthätigen Mitteln gegriffen
hättet, wenn nur euer Volksgericht in Thuſis weniger
form- und regellos und ſeine Strafen weniger blutig
geweſen wären!“
„Waſche mir den Pelz, ohne ihn naß zu machen!
Wenn du kannſt! Uebrigens war es nicht ſo ſchlimm.
Wir wurden durch übertriebene Berichte verleumdet
und die beiden Planta zogen an euern Tagſatzungen
und in aller Herren Länder herum, uns anzuſchwär¬
zen und ſchlecht zu machen.“ —
„Der keiner Partei verfallene und von allen Recht¬
ſchaffenen geachtete Fortunatus Juvalt hat nach Zürich
geſchrieben, ihr wäret unbarmherzig mit ihm umge¬
gangen.“ —
„Geſchah dem Pedanten Recht! In einer kritiſchen
Zeit muß man Partei zu ergreifen wiſſen. Da heißt
es: Die Lauen werd' ich aus dem Munde ſpeien.“ —
„Er klagte, es wären falſche Zeugen gegen ihn
aufgeſtanden.“ —
[53]
„Mag ſein. Auch kam er ja mit dem Leben davon
und wurde nur zu einer Buße von vierhundert Kronen
verurtheilt wegen zweideutiger Geſinnung.“ —
„Ich begreife,“ fuhr Waſer nachdenklich fort, „daß
ihr Pompejus Planta und ſeinen Bruder Rudolf des
Landes verweiſen mußtet; aber war es denn nöthig,
ſie wie gemeine Verbrecher zu brandmarken und mit
Henkerſtrafen zu bedrohen, ohne Rückſicht auf die glän¬
zenden Verdienſte ihrer Vorfahren und die tiefen Wurzeln
ihrer Stellung im Lande?“ —
„Niederträchtige Verräther!“ fuhr Jenatſch zorn¬
blitzend auf. „Die Schuld unſerer ganzen Gefahr und
Verſtrickung laſtet auf ihnen und möge ſie zermalmen!
Zuerſt und vor Allen haben ſie mit Spanien gezettelt!
Kein Wort, Heinrich, zu ihrer Vertheidigung!“ —
Verletzt durch dies herriſche Ungeſtüm, ſagte Waſer
mit etwas gereizter Stimme und dem Gefühle, jetzt
einen wunden Punkt zu treffen: „Und der Erzprieſter
Nicolaus Rusca? — Er galt allgemein für unſchul¬
dig.“ —
„Ich glaube, er war es,“ — flüſterte Jenatſch,
dem ſichtlich bei dieſer Erinnerung unbehaglich zu
Muthe ward, und blickte ſtarr vor ſich hin in die
Dämmerung.
Erſtaunt über dieſe ſeltſame Aufrichtigkeit ſchwieg
[54] der Andere eine Weile. „Er iſt auf der Folter mit
durchgebiſſener Zunge geſtorben . . .“ ſagte er endlich
vorwurfsvoll.
Jenatſch antwortete in kurzen abgeriſſenen Sätzen:
„Ich wollte ihn retten . . . Wie konnt' ich wiſſen, daß
der Schwächling die erſten Foltergrade nicht überſtehen
würde . . . Er hatte perſönliche Feinde. Die Aufregung
gegen die römiſchen Pfaffen wollte ihr Opfer haben.
Unſere katholiſchen Unterthanen hier im Veltlin mußten
eingeſchüchtert werden. Es kam, wie geſchrieben ſteht:
Beſſer iſt's, daß Einer umkomme, als daß das ganze
Volk verderbe.“ —
Wie um die trübe Stimmung abzuſchütteln, erhob
ſich nun Jenatſch, den Freund aus dem dunkelnden
Gartenraume ins Haus zu führen. Ueber der Mauer
ſah man den ſchlanken Kirchthurm vom letzten Abend¬
gold ſich abheben.
„Der Unglückliche hat übrigens hier noch zahl¬
reiche Anhänger,“ ſagte er, und dann auf die Kirche
weiſend: „dort las er ſeine erſte Meſſe vor dreißig
Jahren.“ —
Im Hauptgemach, das nach dem Flur offen ſtand,
brannte eine Lampe. Als die Beiden das Haus be¬
traten, ſahen ſie die junge Frau an der Vorderthür
bei einer Freundin ſtehen, die ſie herausgerufen zu
[55] haben ſchien und ihr mit ängſtlichen Geberden etwas
zuflüſterte. Hinter ihnen auf der Dorfgaſſe liefen in
der Dämmerung Leute vorüber und man vernahm ein
wirres Getön von Stimmen, aus dem jetzt deutlich der
Ruf eines alten Weibes hervorkreiſchte: „Lucia, Lucia!
Ein entſetzliches Wunder Gottes!“
Jenatſch, dem ſolche Scenen nicht neu ſein moch¬
ten, wollte, ſeinem Gaſte den Vortritt laſſend, die Zimmer¬
ſchwelle überſchreiten, als die junge Frau ſich ihm
näherte und ihn angſtvoll am Aermel faßte. Waſer,
der ſich umwendete, ſah, wie ſie todtenblaß die gefalte¬
ten Hände zu ihrem Manne erhob.
„Geh' an Deinen Herd, Kind, und beſorge uns
ruhig das Abendeſſen,“ befahl er freundlich, „damit Du
mit Deiner Kunſt bei unſerm Gaſte Ehre einlegeſt.“
Dann wandte er ſich unmuthig lachend zu Waſer: „Die
verrückten welſchen Hirngeſpinnſte! Sie ſagen, der todte
Erzprieſter Rusca ſtehe drüben in der Kirche und leſe
Meſſe! — Ich will dem Wunder zu Leibe rücken.
Kommſt Du mit, Waſer?“
Dieſem lief es kalt über den Rücken, aber die
Neugierde überwog und: „Warum nicht!“ ſagte er mit
muthiger Stimme; dann, als ſie der vorwärts treiben¬
den Menge verſtörter Leute durch die Dorfgaſſe nach
[56] der Kirche folgten, fragte er flüſternd: „Der Erzprieſter
iſt doch wirklich nicht mehr am Leben?“
„Sapperment!“ verſetzte der junge Pfarrer, „ich
war dabei, als man ihn unter dem Galgen in Thuſis
verſcharrte.“
Jetzt traten ſie durch die Hauptpforte in die Kirche.
Das Schiff, welches ſie nun durchſchritten, war zum
Behufe des proteſtantiſchen Gottesdienſtes von allen
Heiligthümern gereinigt und enthielt außer den Bänken
für die Zuhörer nur den Taufſtein und eine nackte
Kanzel. Ein Breterverſchlag mit einer kleinen Thüre
trennte davon den weiten Chor, der den Katholiken
verblieben und von ihnen zur Capelle eingerichtet wor¬
den war.
Als Jenatſch öffnete, befanden ſie ſich dem Haupt¬
altare gegenüber, deſſen heiliger Schmuck und ſilbernes
Crucifix in einem letzten durch das ſchmale Bogenfenſter
einfallenden Abendſchimmer kaum mehr zu erkennen
waren. Vor ihnen drängte ſich Kopf an Kopf die
knieende murmelnde Menge, Weiber, Krüppel, Alte. Längs
der Wände ſchoben ſich dürftige Männergeſtalten, mit
den langen magern Hälſen vorwärts lauſchend und den
Filz krampfhaft vor die Bruſt gedrückt.
Auf dem Hochaltare flackerten zwei düſtere Kerzen,
deren Licht mit dem letzten von außen kommenden
[57] Schimmer der Dämmerung kämpfte. Die zwei Flämm¬
chen bewegten ſich in einem von zerbrochenen Fenſter¬
ſcheiben eingelaſſenen Luftzuge, der ſie auszulöſchen
drohte, und tanzende Schatten trieben auf dem Altare
ein ſeltſames Spiel. Der ſtreichende Wind bewegte
zuweilen mit leiſem Geknatter die ſchwach ſchimmernden
Falten der Altardecke. Erregte Sinne mochten wohl
das weiße Gewand eines Knieenden auf den Stufen
erblicken.
Jenatſch ſtieß im Mittelgange mit ſeinem Freunde
vor, von den einen, in Verzückung Verſunkenen, kaum
bemerkt, von den Andern mit böſen, feindlichen Blicken
und leiſen Verwünſchungen verfolgt, aber von Keinem
zurückgehalten. Jetzt ſtand der athletiſche Mann, Allen
ſichtbar, dem Altare gegenüber; aber vor dieſem hatte
ſich auch ſchon eine Anzahl unheimlich drohender Ge¬
ſellen wie eine Schutzwehr gegen Heiligenſchändung
zuſammengedrängt. Waſer glaubte blinkende Dolche zu
erblicken.
„Was iſt das für ein unchriſtlicher Zauber!“ rief
Jenatſch mit ſchallender Stimme. „Laßt mich zu, daß
ich ihn breche!“ —
„Sacrilegium!“ murrte es aus der dichten Reihe
der Veltliner, die einen Ring um den Bündner zu
ſchließen begann. Zwei griffen nach ſeiner vorgeſtreckten
[58] Rechten, Andere drängten ſich von hinten an ihn; aber
Jenatſch machte ſich mit einem gewaltigen Rucke frei.
Um ſich nach vorn Luft zu ſchaffen, packte er den nächſten
ſeiner Angreifer mit eiſerner Fauſt und ſchleuderte ihn
rücklings gegen den Hochaltar. Der Stürzende ſchlug
mit ausgebreiteten Armen, die Füße gegen die Menge
ſtreckend, hart auf die Stufen und begrub den buſchigen
Hinterkopf in die Altardecken. Leuchter und Reliquien¬
ſchreine klirrten und es erhob ſich ein langes durch¬
dringendes Wehgeheul.
Dieſer Moment der Verwirrung rettete den Pfarrer.
Er benutzte ihn blitzſchnell, durchbrach gewaltſam, ſeinen
Freund nach ſich ziehend, den verwirrten Menſchenknäuel,
erreichte die offene Sakriſtei, gewann das Freie und
eilte mit Waſer ſeinem Hauſe zu.
In dem ſichern Wohnraume angelangt, ſtieß der
Hausherr einen Schieber an der Wand zurück und rief
in die Küche hinaus:
„Trag' uns auf, meine Lucia!“
Herr Waſer aber klopfte den Staub des Hand¬
gemenges aus ſeinen Kleidern und zog Manſchetten und
Halskrauſe zurecht. „Pfaffentrug!“ ſagte er, dieſem
Geſchäfte mit Sorgfalt obliegend.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht! Warum ſollten
ſie nicht etwas geſehen haben? Irgend ein Phantom?
[59] Du weißt nicht, welche ſinnverwirrenden Dünſte aus
den Sümpfen dieſer Adda aufſteigen. — Schade um
das Volk; es iſt ſonſt ſo übel nicht. Im obern Veltlin
lebt ein geradezu tüchtiger Schlag, ganz verſchieden von
dieſen gelben Kretinen.“
„Hättet ihr Bündner nicht klüger gethan, ihnen
einige beſchränkte bürgerliche Freiheiten zu gewähren?“
warf Waſer ein.
„Nicht bürgerliche nur, auch die politiſchen Rechte
hätte ich ihnen gegeben, Heinrich. Ich bin ein Demokrat,
das weißt Du. Aber da iſt ein ſchlimmer Haken. Die
Veltliner ſind hitzige Katholiken, zuſammen mit dem
papiſtiſchen Drittel unſerer Stammlande würden ſie
Bünden zu einem katholiſchen Staate machen — und
da ſei Gott vor!“
Indeſſen hatte die reizende Lucia, die jetzt ſehr
niedergeſchlagen ausſah, den landesüblichen Riſott auf¬
getragen und der junge Pfarrer füllte die Gläſer.
„Auf das Wohl der proteſtantiſchen Waffen in
Böhmen!“ rief er, mit Waſer anſtoßend. „Schade,
daß Du Deinen Plan aufgegeben haſt und jetzt nicht
in Prag biſt. In dieſem Augenblicke vielleicht geht es
dort los.“
„Möglicherweiſe iſt es für mich rühmlicher hier
bei Dir zu ſein. Man darf nach den neueſten Nach¬
[60] richten bezweifeln, ob der Pfalzgraf den Hengſt zu
regieren weiß, auf den er ſich ſo galant geſetzt hat. —
Es iſt doch nichts daran, daß ihr euch mit dem Böhmen
verbündet habt?“
„Wenig genug, leider! Wohl ſind ein paar Bünd¬
ner hingereiſt, aber gar nicht die rechten Leute.“
„Das iſt ſehr gewagt!“
„Im Gegentheil, zu wenig gewagt! Keiner ge¬
winnt, der nicht den vollen Einſatz auf den Tiſch wirft.
Unſer Regiment iſt erbärmlich läſſig. Lauter halbe
Maßregeln! Und doch haben wir unſere Schiffe ver¬
brannt, mit Spanien ſo gut wie gebrochen und die
Vermittlung Frankreichs grob abgewieſen. Wir ſind
ganz auf uns ſelbſt geſtellt. In ein paar Wochen
können die Spanier von Fuentes her einbrechen und
es iſt — kannſt Du's glauben, Waſer? — für keine
Vertheidigung geſorgt. Ein paar erbärmliche Schanzen
ſind aufgeworfen, ein paar Compagnien einberufen, die
heute kommen und ſich morgen verlaufen. Keine Kriegs¬
zucht, kein Geld, keine Führung! Und mich haben ſie
wegen meines eigenmächtigen Eingreifens, wie ſie's
nennen, das ſich für meine Jugend und mein Amt nicht
ſchicke, von jedem Einfluſſe auf die öffentlichen Dinge
abgeſchnitten und ſo fern als möglich von ihren Raths¬
ſtuben an dieſe Bergpfarre gefeſſelt. Die ehrwürdige
[61] Synode aber ermahnt mich, eine faule Friedſamkeit
zu predigen, während über meinem Vaterlande ſtoßfertig
die ſpaniſchen Raubgeier ſchweben. Es iſt zum Toll¬
werden! — Täglich mehren ſich die Anzeigen, daß hier
unter den Veltlinern eine Verſchwörung brütet. Ich
kann nicht länger zuſehen. Morgen will ich ſelbſt noch
eine Recognoscirung gegen Fuentes vornehmen, — Du
kommſt mit, Waſer, ich habe einen anſtändigen Vor¬
wand, — und übermorgen reiten wir zum Landeshaupt¬
mann nach Sondrio. Er verſteht nichts anderes, als
am Mark dieſes fetten Landes zu zehren, das wir
morgen verlieren können, der träge Blutſauger! Aber
ich will ihm ſo zuſetzen, daß ihm der Angſtſchweiß aus
allen Poren bricht. — Du hilfſt mir, Waſer.“ —
„In der That,“ bemerkte dieſer zögernd und ge¬
heimnißvoll, „auch ich habe auf meiner Reiſe durch
Bünden einige Witterung bekommen, daß etwas im Thun
ſein möchte.“
„Und das ſagſt Du mir jetzt erſt, Kind des Un¬
glücks!“ rief der Andere ſcharf und geſpannt. „Gleich
erzähle Alles und ganz nach der Ordnung. Du haſt
etwas gehört? Wo? von wem? was?“
Waſer ordnete geſchwind in ſeinem Geiſte das
Erlebte, um es ſeinem gewaltthätigen Freunde paſſend
[62] vorzulegen. „Auf dem Hoſpiz der Maloja,“ begann er
vorſichtig.
„Sitzt als Wirth der Scapi, ein Lombarde, alſo
mit den Spaniern einverſtanden. Weiter.“
„Hörte ich, freilich halb im Schlummer, neben
meinem Schlafkämmerlein ein Zwiegeſpräch. Ich glaubte,
es ſei von Dir dir Rede. — Wer iſt Robuſtelli?“
„Jakob Robuſtelli von Groſotto iſt ein ausbündi¬
ger Schuft, ein Dreckritter, durch Kornwucher reich und
durch ſpaniſche Gunſt adelich geworden, der Patron und
Spießgeſelle aller Malandrini und Straßenräuber, —
jeder Miſſethat und jeden Verrathes fähig!“
„Dieſer Robuſtelli,“ ſagte Waſer mit Gewicht,
„trachtet Dir, wenn ich richtig hörte, nach dem Leben.“
„Wohl möglich! Das iſt nicht die Hauptſache.
Wer war der Andere, mit dem er zettelte?“ —
„Ich hörte ſeinen Namen nicht,“ antwortete der
Zürcher, der es für Pflicht hielt, dem Herrn Pompejus
das Geheimniß zu bewahren, und als Jenatſch ihn
drohend anblitzte, fuhr er herzhaft fort: „Und wüßt'
ich den Namen, ſo will ich ihn nicht nennen!“
„Du weißt ihn! . . . . Heraus damit!“ drang
Jenatſch auf ihn ein.
„Jürg, Du kennſt mich! Du weißt, daß ich
mir dieſe Fauſtrechtmanieren nicht gefallen laſſe, ich
[63] verbitte mir das,“ wehrte Waſer mit möglichſt kalter
Miene ab.
Da legte ihm der Andere liebkoſend den ſtarken
Arm um die Schultern und ſagte mit zärtlicher Wärme:
„Sei offen, Herzenswaſerchen! Du verkennſt mich!
Nicht für meine Perſon ſorg' ich, ſondern für mein
vieltheures Bünden. Wer weiß, vielleicht hängt an
Deinen Lippen ſeine Rettung und das Leben von
Tauſenden!“ . . .
„Schweigen iſt hier Ehrenſache,“ verſetzte Waſer
und machte einen Verſuch ſich der leidenſchaftlichen
Umarmung zu entziehen.
Jetzt fuhr eine düſtere Flamme über das Antlitz
des Bündners. „Bei Gott,“ rief er, den Freund an
ſich preſſend, „ſprichſt Du nicht, ſo erwürg' ich Dich,
Waſer!“ und als der Erſchrockene ſchwieg, griff er nach
dem Dolchmeſſer, womit er Brot geſchnitten, und richtete
die drohende Spitze deſſelben gegen die Halskrauſe des
Zürchers.
Dieſer wäre ſicherlich auch jetzt noch ſtandhaft ge¬
blieben, denn er war im Innerſten empört; aber bei
einer unvorſichtigen Bewegung des Sträubens, die er
gemacht, hatte der ſcharfe Stahl ſeinen Hals geritzt
und ein paar Blutstropfen waren, unheimlich warm,
daran heruntergerieſelt.
[64]
„Laß mich, Jürg,“ ſagte er, leicht erbleichend, „ich
will Dir etwas zeigen!“ Er zog ſein Taſchenbuch her¬
vor, ſchlug das Blatt mit der Skizze der Julierſäulen
auf und legte es vor Jenatſch auf den Tiſch. Dann
holte er ſein weißes Schnupftuch heraus und wiſchte
ſich behutſam das Blut ab, während der Bündner das
Büchlein haſtig ergriff. Sein erſter Blick auf die
Zeichnung traf die von Lucretia zwiſchen die Julier¬
ſäulen geſchriebenen Worte und er verſank plötzlich in
finſteres Nachdenken.
Waſer, der ihn ſchweigend beobachtete, erſchrack
innerlich über den Eindruck, den Lucretias von ihm
wider Willen übernommene und beſtellte Botſchaft auf
Jürg Jenatſch machte. Er hatte nicht ahnen können,
wie raſch der Scharfſinn des Volksführers den Zuſam¬
menhang der Thatſachen errieth und wie ſicher und
unerbittlich er ſie verkettete. Trauer und Zorn, weiche
Erinnerungen und harte Entſchlüſſe ſchienen über den
halb Abgewandten wechſelnd Gewalt zu gewinnen.
„Arme Lucretia!“ hörte Waſer ihn aus tiefſter Seele
ſeufzen, dann wurde ſein Ausdruck immer räthſelhafter,
verſchloſſener, und härtete ſich zur Undurchdringlichkeit.
— „Sie waren auf dem Julier . . . ihr Vater iſt alſo
in Bünden . . . Pompejus Planta, du biſt zum Spie߬
geſellen eines Robuſtell herabgeſunken!“ . . . ſprach er
[65] faſt ruhig. Plötzlich ſprang er auf: „Nicht wahr,
Waſer, meine verwünſchte Hitze? Du hatteſt auf der
Schule davon zu leiden und ich bin ihrer noch immer
nicht Herr geworden! . . . Geh zu Bette und verſchlafe
Dein böſes Abenteuer! — Morgen in der kühlen Frühe
machen wir den Ritt nach Fuentes auf zwei untadeligen
Maulthieren. Du ſollſt an mir den leidlichen Geſellen
finden von ehedem. Unterwegs läßt ſich über Manches
gemüthlich plaudern.“
Meyer, Georg Jenatſch. 5
Fünftes Kapitel.
Herr Waſer erwachte vor Tagesanbruch. Als er
mit Mühe den Fenſterladen aufſtieß, der von dem
üppigen Geäſte und Blätterwerke eines Feigenbaumes
geſperrt und dicht überflochten war, geſchah es im
Widerſtreite zweifelnder Gedanken. Er war mit dem
Vorſatze entſchlafen, ſeinen gewaltthätigen Freund und
das allzu abenteuerliche Veltlin ohne Zögern und auf
dem nächſten Wege über Chiavenna zu verlaſſen. Ein
erquickender Schlaf jedoch hatte die geſtrigen Eindrücke
gemildert und ſeinen Entſchluß wankend gemacht. Die
Liebe zu ſeinem merkwürdigen Jugendfreunde gewann
die Oberhand. War es denn dieſer heftigen und, wie
er ſich ſagte, nicht durch ſtädtiſche Bildung veredelten
Natur ſtark zu verargen, wenn ſie losbrach, wo Heimat
und Leben gefährdet war? Und kannte er nicht von
früher her Jürgs jähen Stimmungswechſel, ſeine wilden,
[67] heißblütigen Scherze! Eines jedenfalls war für ihn
außer Frage: Durch plötzliche Abreiſe hätte er ein
Unheil nicht verhütet, das aus dem halben Geſtändniſſe
entſtehen konnte, welches ihm Jürg abgezwungen; blieb
er aber, theilte er ſeinem Freunde das Erlebte voll¬
ſtändig mit, ſo erwiederte dieſer ſicherlich ſein Vertrauen
und er erfuhr, wie ſich Jürgs Verhältniß zu Lucretias
Vater ſo grenzenlos verbittert hatte. Dann erſt kam
der Augenblick, ſeinen verſöhnenden Einfluß geltend zu
machen.
So ritten ſie in vertraulichem Geſpräche nach
Fuentes. Jenatſch kam nicht auf das Geſtrige zurück
und war freudig wie der helle Morgen. Faſt leicht¬
ſinnig nahm er Waſers ausführlichen Reiſebericht ent¬
gegen und bereitwillig antwortete er auf deſſen ein¬
gehende Fragen. Aber Waſer erfuhr weniger und
minder Wichtiges, als er erwartete. — Nach einem
letzten Univerſitätsjahre in Baſel, erzählte Jürg, ſei er
ins Domleſchg zurückgekehrt. Dort habe er ſeinen Vater
auf dem Sterbelager gefunden und ſei nach deſſen
Ableben von den Scharanſern trotz ſeiner grünen acht¬
zehn Jahre einſtimmig zu ihrem Pfarrer gewählt worden.
Auf Riedberg habe er einen einzigen Beſuch gemacht,
wobei er allerdings mit Herrn Pompejus über politiſche
Dinge in Wortwechſel gerathen ſei. Perſönliches habe
5*[68] ſich nicht eingemiſcht; aber der Eindruck auf Beide ſei
der gewieſen, daß ſie ſich beſſer mieden. Als der erſte
Volksſturm gegen die Planta ſich erhoben, habe er von
der Kanzel abgewarnt, denn er ſei damals noch der
Meinung geweſen, ein Geiſtlicher müſſe ſeine Hände
von der Politik rein halten; als aber das Staatsruder
bei wachſender Gefahr keinen muthigen Steuermann
gefunden, habe ihn das Mitleid mit ſeinem Volke über¬
wältigt. Das Strafgericht von Thuſis, das er für
eine blutige Nothwendigkeit gehalten, habe er allerdings
mit einſetzen helfen und ihm ſein Tagewerk angewieſen.
Die Verurtheilung der Planta dagegen, deren Praktiken
übrigens landeskundig geweſen, habe er weder begünſtigt
noch verhindert, ſie ſei wie ein einſtimmiger Schrei aus
dem Volke hervorgegangen.
So wendete das Geſpräch ſich völlig der Politik
zu, obwohl Waſer zuerſt ſich beſtrebte, es auf den per¬
ſönlichen Verhältniſſen ſeines Freundes feſtzuhalten;
aber er wurde überwältigt und hingeriſſen durch das
Ungeſtüm, mit dem Jürg die den Zürcher höchlich
intereſſirenden und von ihm gründlich erwogenen
Probleme europäiſcher Staatskunſt anfaßte; er wurde
erſchreckt und aufgeregt durch die Frechheit, mit der
Jürg die harten Knoten rückſichtslos zerhieb, deren
behutſame Löſung Waſer als die höchſte Aufgabe und
[69] den wünſchenswerthen Triumph der Diplomatie er¬
kannte.
Es war ihm denn in dieſem raſchen Wechſel der
Rede und Widerrede kaum die einzige ſchüchterne Frage
gelungen, ob Fräulein Lucretia während der traurigen
Wirren im Domleſchg auf dem Riedberge gewohnt habe.
Da hatte ſich Jürgs Antlitz wie geſtern Abend wieder
plötzlich verfinſtert und er hatte kurz geantwortet: „Zu
Anfang. — Das Kind hat gelitten. Es iſt ein treues
feſtes Herz . . . Aber ſoll ich die Feſſeln eines Kindes
tragen? . . . Und dazu einer Planta! — Thorheit. —
Du ſiehſt, ich habe ein Ende gemacht.“ —
Hier hatte er ſein Thier ſo heftig geſtachelt, daß
es in erſchreckten Sprüngen vorwärts ſetzte und Waſer
nur mühſam das ſeinige in Zucht hielt.
In Ardenn trieben ſie ihre Maulthiere vor die
Thüre des Pfarrers, aber dieſe war verſchloſſen. Blaſius
Alexander war nicht zu Hauſe, Jenatſch, der mit den
Gewohnheiten ſeines einſam lebenden Freundes vertraut
ſchien, umging das baufällige Häuschen, fand den
Schlüſſel zur Hinterthüre in der Höhlung eines alten
Birnbaumes und trat mit dem Freunde in Alexanders
Stube. Der von den Bäumen des wilden Gartens
verdunkelte Raum war leer bis auf die längs der
Fenſterſeite laufende Holzbank und den wurmſtichigen
[70] Tiſch, auf dem eine große Bibel ruhte. Neben dieſer
geiſtlichen Waffe blickte aus der Ecke eine weltliche.
Dort lehnte eine altväteriſche Muskete, über welche nun
Jenatſch das ihm von ſeinem Begleiter gebotene Pulver¬
horn aus dem Müſſerkriege an einen Holznagel auf¬
hängte. Dann riß er ein Blatt aus Waſers Taſchen¬
buche und ſchrieb darauf: „Ein frommer Zürcher erwartet
Dich bei mir heute Abend zur Zeit des Ave Maria.
Komm und ſtärk' ihn im Glauben!“ Den Zettel legte
er in die beim Buche der Makkabäer aufgeſchlagene
Bibel.
Schon brannte die Sonne heiß, als Jenatſch ſeinem
Gefährten die aus dem breit gewordenen Addathale
drohend aufſteigende Zwingburg zeigte, das Ungeheuer,
wie er ſie hieß, das die eine Tatze nach Bündens
Chiavenna, die andere nach ſeinem Veltlin ausſtrecke.
Auf der Straße nach den Wällen zog eine lange Staub¬
wolke. Der ſcharfe Blick des Bündners erkannte darin
eine Reihe ſchwerer Laſtwagen. Aus ihrer Menge
ſchloß er, daß Fuentes auf lange Zeit und für eine
ſtarke Beſatzung verproviantirt werde. Und doch ging
in Bünden die Rede, daß die ſpaniſche Mannſchaft
durch die hier herrſchenden Sumpffieber auf die Hälfte
zuſammengeſchmolzen ſei und der Aufenthalt in der
Feſtung unter den Spaniern als todbringend gelte.
[71] Das war Jenatſch von einem blutjungen Locotenenten
aus der Freigrafſchaft beſtätigt worden, der in Fuentes
erkrankt war und, um ſolch ruhmloſem Untergange aus¬
zuweichen, ein paar Wochen auf Urlaub in der Berg¬
luft von Berbenn verlebt hatte. Sich die Zeit zu
kürzen, brachte er ein neues ſpaniſches Buch mit, eine
ſo luſtige Geſchichte, daß er es für unrecht hielt, allein
darüber zu lachen, und er ſie dem jungen Pfarrer mit¬
theilte, an deſſen Umgang er Gefallen fand und der
ihm durch ſeinen Geiſt und ſeine Kenntniß der
ſpaniſchen Sprache zu dieſem Genuſſe vollkommen be¬
fähigt ſchien. Dies Buch war im Pfarrhauſe zurück¬
geblieben und heute gedachte Jenatſch den ingenioſen
Hidalgo Don Quixote — ſo lautete ſein Titel — als
Schlüſſel zu der ſpaniſchen Feſtung zu benützen.
Eben öffnete ſich ein Thor der äußerſten Umwallung
vor dem erſten Proviantwagen und Jenatſch trieb ſein
müdes Thier an, um bei dieſer Gelegenheit leichter
Eingang zu erlangen. Als die Freunde jedoch die
Feſtung erreichten, ſtand an der Fallbrücke, die Einfahrt
beaufſichtigend, ein ſpaniſcher Hauptmann, ein gelber
zäher Geſelle — nur Haut und Knochen — von dem
das Fieber abgezehrt, was abzuzehren war. Er maß
die Ankommenden mit hohlen mißtrauiſchen Augen und
als Jenatſch mit anſtandsvollem Gruße nach dem Be¬
[72] finden ſeines jungen Bekannten ſich erkundigte, erhielt
er die knappe Antwort: Verreiſt. Wie er darauf Arg¬
wohn ſchöpfte und weiter fragte, wohin und auf wie
lange, hinzufügend, daß er noch etwas vom Beſitze des
Jünglings in Händen habe, verſetzte der Spanier bitter:
Dorthin. Auf immer. Ihr könnt Euch als ſeinen
Erben betrachten. — Dabei ſtreckte er den Zeigefinger
ſeiner Knochenhand nach den dunkeln Cypreſſen einer
unſern gelegenen Begräbnißkirche aus. Dann gab er
der Schildwache einen Befehl und wandte den Beiden
den Rücken.
Da Jenatſch kein anderes Mittel kannte, in die
ſtreng bewachte Feſtung einzudringen, ſchlug er dem
Freunde vor, weiter zu reiten bis an das Geſtade des
Comerſee's, den ſie in geringer Entfernung lieblich
leuchten ſahen. Bald erreichten ſie den belebten Lan¬
dungsplatz ſeines nördlichen Endes. Kühl hauchte ihnen
die blaue, vom Geflatter heller Segel belebte Flut ent¬
gegen. Die Bucht war mit Schiffen gefüllt, die gerade
ihrer Ladung entledigt wurden. Oel, Wein, rohe Seide
und andere Erzeugniſſe der fetten Lombardei wurden
zum Transport über das Gebirge auf Karren und
Mäuler geladen. Der Platz vor der großen ſteinernen
Herberge bot den Anblick eines bunten Marktes mit
ſeinem betäubenden Lärm und fröhlichen Gedränge.
[73] Mit Mühe bahnten ſich, vorüber an Körben voll
ſchwellender Pfirſiche und duftiger Pflaumen, die beiden
Maulthiere den Weg bis zur gewölbten Pforte des
Gaſthauſes. In dem düſtern Thorwege kniete der Wirth
vor einer Tonne und zapfte ein röthliches, ſchäumendes
Getränk für die durſtig ſich zudrängenden Gäſte. Ein
Blick in den anſtoßenden Schenkraum überzeugte Jenatſch,
daß hier zwiſchen lärmenden Menſchen und bettelnden
Hunden keine kühle Stätte zu finden ſei, er wandte ſich
darum nach dem Garten, der eine einzige dichte Wein¬
laube bildete und deſſen mit rankendem Grün über¬
hängte Mauern und zerfallende Landungstreppen von
den Wellen beſpült wurden.
Als ſie durch die Thorhalle am Wirthe vorüber¬
ſchritten, der von einem dichten Kreiſe von Bauern
umringt war, welche ihm geleerte Krüge entgegenſtreckten,
ſchien er mit einer ängſtlichen Geberde gegen das Vor¬
haben des Bündners Einſprache thun zu wollen; doch
in dieſem Augenblicke kam ihnen vom Garten her ein
nach fremdem Schnitte gekleideter Edelknabe entgegen
und wendete ſich mit anmuthigem Gruße an den jungen
Zürcher, in zierlichem Franzöſiſch folgenden Auftrag aus¬
richtend :
„Mein erlauchter Gebieter, Herzog Heinrich Rohan,
der ſich hier auf der Durchreiſe nach Venedig befindet,
[74] glaubte von ſeinem Ruheplatze im Garten her zwei
reformirte Geiſtliche vor der Herberge abſteigen zu
ſehen und erſucht die Herren, wenn ſie dem Gewühl
auszuweichen vorzögen, ſich durch ſeine Gegenwart nicht
vom Beſuche des Gartens abhalten zu laſſen.“
Sichtbar erfreut von dieſem glücklichen Zufalle und
der ihm widerfahrenden Ehre, erwiederte Herr Waſer,
etwas ſteif aber tadellos in demſelben Idiom ſich be¬
wegend, daß er und ſein Freund ſich die Gunſt erbäten,
ſeiner Durchlaucht für die ihnen zu Theil gewordene
Berückſichtigung perſönlich zu danken.
Die Freunde folgten dem vor ihnen herſchreitenden
ſchönen Knaben in die Lauben des Gartens. Gegen
Süden hatte er einen balkonähnlichen Vorſprung, durch
deſſen Laubwände bunte Seidengewänder ſchimmerten
und das Gezwitſcher plaudernder Frauenſtimmen, durch¬
brochen von dem hellen Jubel eines Kindes, ertönte.
Dort lehnte auf ſammetnen Polſtern eine ſchlanke blaſſe
Dame, deren haſtige Rede und bewegliches Mienenſpiel
die Lebhaftigkeit eines Geiſtes verrieth, der ſie nicht zu
erquicklicher Ruhe kommen ließ. Vor ihr auf dem
Steintiſche trippelte und jauchzte ein zweijähriges Mäd¬
chen, das eine niedliche Zofe an beiden Händchen empor¬
hielt. Dazu klang die melancholiſche Weiſe eines Volks¬
[75] liedes, die ein italiäniſcher Junge in ſchüchterner Ent¬
fernung auf ſeiner Mandoline ſpielte.
Der Herzog ſelbſt hatte ſich an das ſtillere nörd¬
liche Ende des Gartens zurückgezogen, wo er allein auf
der niedrigen von der Flut beſpülten Mauer ſaß, eine
Landkarte auf den Knieen, mit deren Linien er die
gewaltig vor ihm aufragenden Gebirgsmaſſen zweifelnd
verglich.
Waſer hatte jetzt den Ruheplatz des Herzogs er¬
reicht und ſtellte ſich und ſeinen Freund mit einer tiefen
Verbeugung vor. Rohans Auge blieb ſofort an der in
ihrer wilden Kraft ſeltſam anziehenden Erſcheinung des
Bündners haften.
„Euer Rock ließ mich auf den evangeliſchen Geiſt¬
lichen ſchließen,“ ſagte er, ſich mit Intereſſe ihm zu¬
wendend. „Ihr könnt alſo, obgleich wir uns auf dieſem
Boden treffen und trotz Eurer dunkeln Augen kein
Italiäner ſein. Da ſeid Ihr wohl ein Sohn der
nahen Rhätia, und ſo will ich Euch denn bitten, mir
von den Gebirgszügen, die ich geſtern, den Splügen
überſchreitend, durchſchnitt und die ich zum Theil noch
vor mir ſehe, einen klaren Begriff zu geben. Meine
Karte läßt mich im Stich. Setzt Euch neben mich.“
Jenatſch betrachtete begierig die vorzügliche Etappen¬
karte und fand ſich ſchnell zurecht. Er entwarf dem
[76] Herzog mit wenigen ſcharfen Zügen ein Bild der
geographiſchen Lage ſeiner Heimat und ordnete ihr
Thälergewirr nach den darin entſpringenden und nach
drei verſchiedenen Meeren ſich wendenden Strömen.
Dann ſprach er von den zahlreichen Bergübergängen
und hob, ſich erwärmend, mit Vorliebe und über¬
raſchender Sachkenntniß deren militäriſche Bedeutung
hervor.
Der Herzog war mit ſichtlichem Wohlgefallen und
ſteigendem Intereſſe der raſchen Auseinanderſetzung ge¬
folgt, jetzt aber erhob er ſein mildes, durchdringendes
Auge zu dem neben ihm ſtehenden Bündner und ließ
es nachdenklich auf ihm ruhen.
„Ich bin ein Kriegsmann und rühme mich deſſen,“
ſagte er, „aber es giebt Augenblicke, wo ich diejenigen
glücklich preiſe, die dem Volke predigen dürfen: „Selig
ſind die Friedfertigen. — Heutzutage darf nicht mehr
dieſelbe Hand das Schwert des Apoſtels und das
Schwert des Feldherrn führen. Wir ſind im neuen
Bunde, Herr Paſtor, nicht mehr im alten der Helden
und Propheten. Die Doppelrolle eines Samuel und
Gideon iſt nicht mehr die unſrige. Heute warte Jeder
in Treue des eignen Amtes. Ich achte es für ein
ſchweres Unglück,“ hier ſeufzte er, „daß in meinem
Frankreich die evangeliſchen Geiſtlichen durch ihren Eifer
[77] ſich hinreißen ließen, die Gemüther zum Bürgerkriege
zu erhitzen. Sache des Staatsmannes iſt es, die
bürgerlichen Rechte der evangeliſchen Gemeinden zu
ſichern, Sache des Soldaten, ſie zu vertheidigen. Der
Geiſtliche hüte die Seelen, anders richtet er Unheil an.“
Der junge Bündner erröthete unmuthig und blieb
die Antwort ſchuldig.
In dieſem Augenblicke erſchien der Page mit der
ehrerbietigen Meldung, die Reiſebarke des Herzogs ſei
zur Abfahrt bereit und Rohan beurlaubte die Freunde
mit einer gütigen Handbewegung.
Auf dem Heimritte erging ſich Waſer in Betrach¬
tungen über die politiſche Rolle des Herzogs, der gerade
damals ſeinen proteſtantiſchen Mitbürgern in heimiſcher
Fehde einen ehrenhaften Frieden erkämpft hatte. Er
meinte, freilich werde derſelbe von kurzer Dauer ſein
und fand Gefallen daran, die Lage Rohans und der
franzöſiſchen Reformirten ſeinem Freunde mit den
dunkelſten Farben zu malen. Er ſchien etwas empfind¬
lich und verdüſtert, daß ſeine Perſon vor dem Herzog
neben Jürg ſehr zurückgetreten, ja gänzlich verſchwunden
war. — Seit Heinrich IV., behauptete er, ſetze ſich die
franzöſiſche Politik zum Ziele, die Proteſtanten in
Deutſchland gegen Kaiſer und Reich zu ſchützen, den
Reformirten im eigenen Lande dagegen den Lebensnerv
[78] zu durchſchneiden. Sie trachte, durch Wiederher¬
ſtellung der ſtaatlichen Einheit Kraft zum Vorſtoße
nach außen zu gewinnen. Es ergebe ſich daraus das
ſeltſame Verhältniß, daß die franzöſiſchen Proteſtanten
unterliegen müßten, damit den deutſchen die diplomatiſche
und militäriſche Hilfe Frankreichs, deren ſie höchlich be¬
dürften, geſichert bleibe. — So ſchwebe über dem Herzog
trotz der Hoheit ſeiner Stellung und ſeines Charakters
das traurige Verhängnis, ſeine Kraft in unheilbaren
Conflicten aufzureiben und am Hofe von Frankreich
immer mehr den Boden zu verlieren. Jetzt bringe er
wohl Weib und Kind nach Venedig, um bei dem näch¬
ſtens neu ausbrechenden Sturme freiere Hand zu haben.
„Du biſt ja ein durchtriebener Diplomat gewor¬
den!“ lachte Jenatſch. „Aber findeſt Du es nicht in
dieſer Ebene entſetzlich ſchwül? Dort ſteht eine Scheuer
. . . wie wär's, wenn wir unſere Thiere eine Weile im
Schatten anbänden und Du Dein weiſes Haupt ins
Heu legteſt?“
Waſer war einverſtanden und in kurzer Friſt hatten
ſich Beide auf das duftige Lager ausgeſtreckt und waren
entſchlummert.
Als der junge Zürcher erwachte, ſtand Jenatſch vor
ihm, mit ſpöttiſchen Blicken ihn betrachtend. „Ei, Schatz,
was ſchneideſt Du denn im Schlafe für verklärte Ge¬
[79] ſichter?“ ſagte er. „Heraus mit der Sprache! Was
haſt Du geträumt? Von Deinem Liebchen?“
„Von meiner innig verehrten Braut, willſt Du
ſagen. Das wäre nichts Ungewöhnliches; aber ich hatte
in der That einen wunderbaren Traum. . .“
„Jetzt weiß ich's . . . . . . Dir träumte, Du ſeieſt
Bürgermeiſter von Zürich!“
„So war es . . . . merkwürdiger Weiſe!“ ſagte
Waſer ſich ſammelnd. „Ich ſaß in der Rathsſtube und
hielt Vortrag über Bündnerdinge, — über die Be¬
deutung der Feſte Fuentes. Als ich geendet, wandte
ſich das nächſtſitzende Rathsglied gegen mich mit den
Worten: Ich bin ganz der Meinung ſeiner Geſtrengen
des Herrn Bürgermeiſters. Ich ſah mich nach dieſem
um; aber ſiehe, ich ſaß ſelbſt auf ſeinem Stuhle und
trug ſeine Kette.“
„Auch mir hat geträumt,“ ſagte Jenatſch, „und
recht ſeltſam. Du weißt, oder weißt nicht, daß in Chur
ein ungariſcher Aſtrolog nur Retromant ſein Weſen
treibt. Mit dieſem Gelehrten hab' ich mich während
der letzten langwierigen Synode nächtlicher Weile ein¬
gelaſſen, um zu ſehen, was an der Sache ſei.“
„Um Himmelswillen, Aſtrologia! . . . Und Du biſt
ein Geiſtlicher!“ rief Waſer entſetzt. „Sie vernichtet
die menſchliche Freiheit und dieſe iſt die Grundlage
[80] aller Sittlichkeit! — Ich bin ein entſchiedener Bekenner
der menſchlichen Freiheit!“
„Wohl Dir,“ fuhr der Andere unbeirrt fort. „Bei¬
läufig geſagt, es gelang mir nicht, aus dem Hexen¬
meiſter etwas Feſtes und Faßbares herauszubringen.
Entweder wußte er nichts, oder er fürchtete von mir
verrathen zu werden. — Vorhin im Traume aber ſah
ich den Mann wieder vor mir und ich ſetzte ihm den
Dolch auf die Bruſt, um mein Schickſal zu erfahren.
Da entſchloß er ſich, es mir zu zeigen und zog mit den
feierlichen Worten: „Dieſer iſt dein Schickſal!“ den
Vorhang von ſeinem Zauberſpiegel.
Anfangs ſah ich nichts als eine helle Seelandſchaft,
dann trat eine grünbewachſene Mauer hervor und da
ſaß, die Karte von Bünden vor ſich, mild und bleich,
wie wir ihn eben geſehen haben, der Herzog Heinrich
Rohan.“
Sechstes Kapitel.
Unter dieſen Geſprächen waren die Freunde auf
der ſtaubigen Landſtraße, die durch das Veltlin hinauf¬
führt, eine gute Strecke weiter getrabt und ſchon er¬
glänzten in der Ferne das Schloß und die Mauern
von Morbegno.
Jetzt blickte Jenatſch ſcharf auf die letzte Windung
des in weitem Bogen nach dem Städtchen laufenden
Weges. Dort bewegte ſich langſam ein kleiner brau¬
ner Reiter.
„Bravo,“ rief der Bündner, „da machſt Du eine
prächtige Bekanntſchaft! Dort kommt der Pater Pan¬
crazi, voreinſt — das iſt vor einem Jahrzehnt — Al¬
menſerkapuziner und Beichtiger der Nönnchen von Cazis.
Wir haben ihm ſein Kloſter aufgehoben. Wären unſere
Kapuziner alle ſo gute Bündner wie er, und ſo witzige
Geſellen, man hätte ſie unbehelligt gelaſſen. Seit¬
Meyer, Georg Jenatſch. 6[82] her hat er ſein Unterkommen in einem Ordenshauſe
irgendwo am Comerſee gefunden und führt hier herum,
predigend und terminirend, ein fahrendes Leben.“
„Er iſt mir nicht unbekannt,“ erwiederte Waſer.
„Voriges Jahr collectirte er in Zürich für die Uebrig¬
gebliebenen und Verarmten eurer verſchütteten Stadt
Plurs und betonte mit beweglichen Worten als gute
Seite ſolcher Verheerungen, daß ſich die Chriſten
in dieſen Jammerfällen über die Scheidewand der
Konfeſſionen hinweg hilfreich die Bruderhand reichen.
Kurz nachher aber kam mir eine gedruckte Bußpredigt
von ihm zu Geſichte, worin er — zu meinem ärgerlichen
Erſtaunen — in der derbſten Sprache behauptet, der
Bergſturz ſei ein warnendes Gericht und eine gött¬
liche Strafe für die Duldung der Ketzerei. Das heißt
in ſträflicher Weiſe mit zwei Zungen geredet.“
„Wer wird das einem Kapuziner und praktiſchen
Manne verdenken!“ lachte der Andere. „Sieh, er ſetzt
ſein Eſelchen in Trott, er hat mich erkannt.“
Der Kapuziner trabte auf ſeinem Thiere, das
neben ihm noch zwei volle Körbe trug, ſo raſch heran,
daß der Staub in Wirbeln aufflog. Aber die luſtige
Begrüßung, die Waſer erwartete, blieb aus. Pancrazis
kurze Geſtalt drängte haſtig vorwärts und ſtreckte ihnen
die Rechte mit abmahnender Geberde entgegen, als be¬
[83] deute er die Reiſenden, ihre Maulthiere zu wenden.
Nun hatte er ſie faſt erreicht und rief ihnen zu:
„Zurück Jenatſch! Nicht hinein nach Morbegno!“ —
„Was bedeutet das?“ fragte dieſer ruhig.
„Nichts Gutes!“ verſetzte Pancratius. „Wunder
und Zeichen geſchehen im Veltlin, das Volk iſt aufge¬
regt, die Einen liegen in den Kirchen auf den Knien,
die Andern laden ihre Büchſen und wetzen ihre Meſſer.
Zeige Dich nicht in Morbegno, kehre nicht auf Deine
Pfarre zurück, wende Dein Thier und flüchte nach
Chiavenna!“
„Was? Ich ſoll mein Weib im Stiche laſſen?“
fuhr Jenatſch auf; „meine Freunde nicht warnen?
Den braven Alexander und den redlichen Fauſch auf
ſeinem Bergdorfe Buglio? Nichts da! Ich reite zurück —
natürlich das Städtchen umgehend über die Adda. Mein
Kamerad hier, Herr Waſer von Zürich, kennt keine
Furcht . . . und Du, Pancrazi, thuſt mir den Gefallen
und kommſt mit. Du nächtigſt bei mir. Meine Ber¬
benner ſind nicht ſo gottverlaſſen, daß ſie des heiligen
Franziskus Kutte nicht in Ehren hielten.“
Nach kurzem Beſinnen willigte der Kapuziner ein.
„Meinetwegen, am Ende!“ ſagte er. „Heute bin ich
Dein Schutzpatron, ein ander Mal biſt Du der meinige.“
So ritten ſie, was ihre Thiere laufen konnten,
6*[84] nach Berbenn hinüber und wie wenig Waſer auch
dieſe wilden Ereigniſſe zuſagten, er machte gute Miene
und rechnete es ſich zur Ehre, das ihm ertheilte Lob
der Tapferkeit zu verdienen.
Eben ertönte die friedliche Abendglocke, als ſie vor
der Pfarre von Berbenn abſtiegen. Unter dem niedri¬
gen Eingangsbogen des Laubdaches ſtand ein breitſchul¬
triger ernſter Mann von kleiner Statur aber mit aus¬
drucksvollem Kopfe, nachdenklich und aufmerkſam ſeinen
Hut betrachtend, welchen er nach allen Seiten drehte
und gegen das Licht hielt. Es war ein hoher ſpitzer
Filz von ſchwarzer Farbe.
„Was ſtellſt Du da für tiefſinnige Unterſuchungen
an, Kollege Fauſch?“ begrüßte ihn Jenatſch. „Was
iſt's mit Deinem Filz? Oben aufgeriſſen, wie ich ſehe.
Willſt Du ihn hinfür zur Verſtärkung Deines Baſſes
als Sprachrohr gebrauchen?“
Sorgenvoll erwiederte der Kleine: „Betrachte das
Loch näher, Jürg! Seine Ränder ſind verbrannt. Es
iſt eine Kugel durchgefahren, die mir einer Deiner Ber¬
benner zuſchickte, als ich durch die Weinberge hinunter¬
ſtieg. Natürlich galt ſie Dir; denn man ſah über der
Mauer nur meinen Kopf und der gleicht dem Deinigen,
wie Du weißt, zum Verwechſeln. Der Teufel ſoll mich
holen,“ fuhr er heftiger fort, „wenn ich nicht den geiſt¬
[85] lichen Stand quittire. Der Part iſt ungleich: uns iſt
nur das Schwert des Geiſtes geſtattet, angefallen aber
wird unſer Fleiſch mit Eiſen und Blei.“ —
„Gedenke Deines Schwurs, Fauſch, mein Sohn,
das Evangelium zu predigen usque ad martyrium,“
erſcholl aus dem Hintergrunde der Laube von einer tief
beſchatteten Bank her die etwas dumpfe Stimme eines
graubärtigen Mannes, der dort in aufrechter Haltung
am Tiſche ſaß und ſich von der ſchönen Lucia Saſſeller
einſchenken ließ. Das junge Weib aber erblickte kaum
ihren Mann, ſo eilte es ihm entgegen und ſchmiegte
ſich bleich und furchtſam an ſeine Seite, als ſuche es
Schutz vor einer entſetzlichen Angſt.
„Exclusive, Blaſius! exclusive! Bis an den
Martertod hinan, aber nicht hinein!“ antwortete Fauſch,
ſich zu ſeinem Kollegen wendend, deſſen Glas er ergriff
und bis auf den letzten Tropfen leerte.
Indeſſen machte Jenatſch ſeinen zürcheriſchen Freund
mit dem glaubensſtarken Pfarrer Blaſius bekannt und
ſtellte ihm dann lachend in Pfarrer Lorenz Fauſch einen
Schulkameraden aus dem „Loch“ in Zürich vor, deſſen
ſich Waſer gar wohl erinnerte als eines um ein paar
Jahre ältern, ziemlich liederlichen Studiengeſellen. „Die¬
ſer Mann hat ſeither in Bündnerdingen eine hervor¬
[86] ragende Rolle geſpielt,“ behauptete Jürg und ſchlug dem
Kleinen auf die Schulter.
Der Kapuziner ſchien mit beiden Pfarrern auf
bekanntem Fuße zu ſtehen und Fauſch fuhr, diesmal
an Waſer ſich wendend, in ſeiner aufgeregten Rede fort:
„Glaubſt Du's wohl, Herr Zürcher? Wäh¬
rend Du in Deiner löblichen Stadt ſittſam zur Pre¬
digt gehſt und über das Geſangbuch hinweg züchtig
nach Deinem Jungfräulein ausſchauſt, betrete ich
armer Streiter Gottes niemals die Kanzel ohne frö¬
ſtelnd den Rücken einzuziehen, aus Furcht es fahre
mir das Meſſer oder die Kugel eines meiner Pfarr¬
kinder zwiſchen die Schultern! — Aber,“ ſagte er,
nachdem er mit den Männern in die Stube getreten,
„nun bin ich auch zum längſten Pfarrer geweſen. Dies
Erlebniß,“ er zeigte auf das Loch in ſeinem Filze, „giebt
den Ausſchlag. Das Maß iſt voll. Ich habe von
meiner Muhme in Parpan zweihundert Goldgulden
geerbt, gerade genug um ein ſicheres Gewerbe zu be¬
ginnen. — Herunter mit dem Pfarrrock!“ und er legte
Hand an ſein geiſtliches Kleid.
„Warte, Freund!“ rief Jenatſch, „das verrichten
wir zuſammen. Auch mein Maß iſt heute voll gewor¬
den! Nicht eine feindliche Kugel verjagt mich von der
Kanzel, ſondern eine freundliche Rede. Der Herzog
[87] Heinrich hat Recht,“ wandte er ſich an den erſtaunten
Waſer, „Schwert und Bibel taugen nicht zuſammen.
Bünden bedarf des Schwertes und ich lege die geiſt¬
liche Waffe zur Seite, um getroſt die weltliche zu er¬
greifen.“ Mit dieſen Worten riß er ſein Predigerge¬
wand ab, langte ſeinen Raufdegen von der Wand her¬
unter und gürtete ſich ihn um den knappen Lederkoller.
„Potz Velten, ihr gebt ein luſtiges Beiſpiel,“ rief
der Kapuziner mit ſchallendem Gelächter. „Faſt ge¬
lüſtet mich, es euch nachzuthun! Aber meine braune
Kutte iſt leider zu zäh und hat ein feſter Gewebe als
eure Röcklein, ehrwürdige Herren!“
Blaſius Alexander, der dieſem Vorgange ohne Ver¬
wunderung, aber mißbilligend zuſchaute, faltete jetzt die
Hände und ſprach feierlich: „Ich aber gedenke zu ver¬
harren im Amte bis ans Ende usque ad martyrium,
bis in den Martertod, zu welcher Ehre Gott mir helfe!“
ſang Jenatſch mit flammenden Augen.
„Ich werde ein Zuckerbäcker,“ erklärte Fauſch wich¬
tig, „ein Bischen Weinhandel daneben iſt ſelbſtverſtänd¬
lich.“ Damit ſetzte er ſich an den Tiſch, ſchnallte eine
kleine Geldkatze ab, die er um den Leib trug, und begann
die Goldſtücke, eifrig rechnend, in Häuflein zu ordnen.
[88]
Jürg Jenatſch aber umſchlang die eben eintretende
Lucia und küßte ſie mit überſtrömender Zärtlichkeit:
„Sei getroſt, mein Herz, und freue Dich! Eben hat
Dein Georg den ſchwarzen geiſtlichen Rock abgeworfen,
der Dich mit den Deinen verfeindet hat. Wir ziehn
hier weg, es wird Dir wohlergehn und Du erlebſt an
Deinem Manne Ehre die Fülle.“
Lucia erröthete vor Freude und blickte mit ſeliger
Bewunderung in Jürgs übermüthiges Angeſicht, aus
dem eine wilde Freude ſprühte. Noch nie hatte ſie ihn
ſo glücklich geſehn. Offenbar wich eine dunkle Furcht
von ihrem Herzen, an der ſie von Tage zu Tage ſchwe¬
rer getragen und die ihr das Leben in der Heimat
verleidet hatte.
„Hier, Jürg, mein Bruder,“ ſagte jetzt Fauſch,
der mit ſeiner Rechnung fertig war, „hier mein Ein¬
gebinde zu Deinem Tauftage als Ritter Georg! Für
Gaul und Harniſch. Das Kapital iſt gut angelegt.
Ich komme mit einem Hundert zurecht.“ Und er ſchob
ihm die Hälfte ſeines kleinen Erbes zu.
Jürg ſchüttelte die ihm entgegengeſtreckte kurze breite
Hand derb, aber ohne ſonderliche Rührung und ſtrich
das Gold ein.
Inzwiſchen hatte ſich Waſer zu Pater Pancraz ge¬
ſetzt, um ihm auf den Zahn zu fühlen. Dem Zürcher
[89] erſchien des Kapuziners keckes Betragen, ſeine Luſtig¬
keit und Selbſtbeherrſchung etwas zweideutig und ver¬
dächtig. Aber ſein Mißtrauen ſchwand, als er die un¬
geſchminkt herzliche Beſorgniß des Paters um das Schick¬
ſal ſeiner bündneriſchen Landsleute wahrnahm und er
mußte bewundern, wie richtig Pancraz die gefährlichen
Verhältniſſe auffaßte, wie ſcharf er die Vorzeichen des
herannahenden Sturmes beobachtet hatte.
„Ich fürchte, es ſind große Herren,“ ſagte der
Pater, „Spanier, vielleicht auch Bündner, die diesmal
das Spiel in Händen halten und zu ihren habgierigen
und herrſchſüchtigen Zwecken den frommen, einfältigen
Glauben des Veltlinervolks mißbrauchen. Wehe, ſie
ſchüren einen hölliſchen Brand, das Blut, das ſie ver¬
gießen, wird ihnen bis an die Kehle ſteigen und ſie
erſäufen. — In Morbegno hieß es, die Mordbanden
des Robuſtell ſeien ſchon auf dem Wege das Thal her¬
unter. Gott gebe, daß ſolcher Greuel nur in den wel¬
ſchen Köpfen ſpukt! Eins aber iſt gewiß — und das
beherzigt, ihr Männer“ — ſprach er aufſtehend und
an die drei Bündner ſich wendend: „des Bleibens der
Proteſtanten im Veltlin iſt nicht mehr.“
Jetzt erhob Jenatſch die Stimme. „Kein Zweifel,
Brüder, die Gefahr iſt vor der Thür!“ ſagte er. „Kein
Augenblick iſt zu verlieren. Fort müſſen wir. Wir ſammeln
[90] in Eile unſere wenigen Glaubensgenoſſen, treiben unſere
geiſtliche Heerde, Mann, Weib und Kind, über das Ge¬
birge nach Bünden, und decken bewaffnet den Rückzug.“
Blaſius Alexander ſchüttelte den Kopf als er von
Flucht reden hörte, und lud mißvergnügt ſeine Muskete,
die er mitzubringen nicht verſäumt hatte, mit Pulver
aus dem großen an ſeiner Hüfte hangenden Familien¬
horn. Dann ſtellte er die Waffe zwiſchen die Kniee
und fuhr fort, langſam aber unausgeſetzt, Becher um
Becher zu leeren, ohne daß der feurige Wein den kalt
ruhigen Blick ſeines Auges im Mindeſten belebt, oder
ſein farbloſes Angeſicht geröthet hätte.
Der junge Zürcher ſah dieſem Thun bedenklich zu
und konnte endlich die Bemerkung nicht unterdrücken,
ob der edle Trank, in ſolcher Ueberfülle genoſſen, dem
Herrn Blaſius nicht zu Kopfe ſteigen und die im
nahenden Augenblicke der Gefahr ſo nöthige Geiſtes¬
klarheit trüben könnte.
Darauf warf ihm der Alte einen etwas verächt¬
lichen Blick zu, antwortete aber gelaſſen und ungekränkt:
„Ich vermag Alles in dem Herrn, der mich ſtark
macht.“
„Das iſt ein chriſtlich Wort!“ rief der Kapuziner,
ließ die Gläſer klingen und reichte dem greiſen Prädi¬
kanten über den Tiſch die Hand.
[91]
Unterdeſſen war der Mond aufgegangen und über¬
rieſelte draußen die Krone der Ulme und die ſchwere
Blätterdecke der Feigenbäume mit hellem Lichte; aber
nur eine ſpärliche Helle drang durch die kleinen Fen¬
ſter in das breite, tiefe Gemach und ſchattete ihre
maſſiven Gitterkreuze auf dem ſteinernen Fußboden ab.
Lucia ſtellte die italieniſche eiſerne Oellampe auf
den Tiſch und entfachte, die Dochte in die Höhe ziehend,
drei helle Flämmchen, die auf ihr über das Geräth
gebeugtes liebliches Antlitz einen rothen Wiederſchein
warfen.
Plötzlich fiel durchs Fenſter ein Schuß. Die Män¬
ner ſprangen auf. Das junge Weib ſank ohne Laut
zuſammen und die Lampe lag verglimmend am Boden.
Eine tödtliche Kugel hatte die ſanfte Lucia getroffen.
Schaudernd ſah Waſer das ſchöne ſterbende Haupt,
auf welches das Mondlicht fiel und das Jenatſch, auf
den Knieen liegend, im Arme hielt. Jürg weinte laut.
Während der Pater bemüht war die Lampe wieder
anzuzünden, hatte Blaſius Alexander ſeine Büchſe
ergriffen und ſchritt ruhig in den mondhellen Garten
hinaus.
Er mußte den Mörder nicht lange ſuchen.
Da kauerte zwiſchen den Stämmen der Bäume ein
langer Menſch, deſſen vorgebeugtes Geſicht dunkle darüber
[92] fallende Lockenhaare verbargen, den Roſenkranz in der
Hand, ſtöhnend und betend. Neben ihm lag ein noch
rauchendes ſchwerfälliges Piſtol.
Ohne Weiteres legte Blaſius ſein Gewehr auf ihn
an und ſtreckte ihn mit einem Schuſſe durch die Schläfen
nieder. Dann trat er neben den auf das Angeſicht
Hingeſunkenen, drehte ihn um, betrachtete ihn und mur¬
melte: „Dacht' ich mir's doch — ihr Bruder, der tolle
Agoſtino!“ — Eine Weile ſtand er horchend. Nun
ſchlich er über die Gartenmauer ſpähend wieder dem
Hauſe zu. Durch die Stille der Nacht drang ein un¬
gewiſſer Lärm an ſein Ohr. „Zwei Vögelchen haben
gepfiffen,“ ſagte er vor ſich hin, „bald fliegt uns der
ganze Schwarm aufs Dach.“
Mit einem Male ſcholl aus dem Dorfe ein gellen¬
des Geſchrei, und jetzt dröhnte es über ihm, — die
Kirchenglocke ſchlug an und läutete in haſtigen Schwün¬
gen Sturm. Alexanders Blick fiel auf den wieder ins
Dunkel hinausleuchtenden Schein der verrätheriſchen
Lampe, er ſchlug die dicken Laden des Erdgeſchoſſes zu
und ſchritt ins Haus zurück, in der Abſicht es mit den
Freunden wie eine Feſtung bis auf den letzten Mann
zu vertheidigen; denn ſchon knallten Schüſſe von der
Gaſſe her und Schläge fielen gegen die vordere Haus¬
thür. Fauſch hatte ſie eben verriegelt und ſtürzte die
[93] Bodentreppe hinauf, um durch die Dachluken auszu¬
ſchauen. Der Prädikant aber lud ſeine Muskete wieder
und ſtellte ſich an das ſchmale vergitterte Küchenfenſter,
das nach der Gaſſe ging, wie hinter eine Schießſcharte.
„ Die Schurken!“ rief er dem Zürcher zu, der eben
haſtig aus ſeiner Kammer trat, wo er ſein Ränzchen
geholt und ſeinen leichten Reiſedegen umgeſchnallt hatte,
„wir wollen unſer Leben theuer verkaufen!“
„Um Gottes willen, Herr Blaſius,“ warnte dieſer,
„gedenkt denn Ihr, ein Diener am Wort, auf die Leute
zu ſchießen?“
„Wer nicht hören will, muß fühlen,“ war des
Bündners kaltblütige Antwort.
Jetzt aber faßte Pancrazi den tapfern Alten mit
beiden Armen um den Leib und riß ihn von dem
Mauerloche zurück: „Willſt Du uns Alle verderben mit
Deiner wahnwitzigen Gegenwehr? — Macht, daß Ihr
von hinnen und in die Berge kommt!“ —
„Miſericordia!“ dröhnte Fauſchens Stimme durch
die Treppenöffnung herunter, „Sie kommen in hellen
Haufen, ſie ſtürmen das Haus des Poretto! Wir
ſind verloren!“
„Macht, daß Ihr fortkommt!“ ſchrie der Pater,
während immer heftigere Beilhiebe gegen die Thüre
ſchmetterten.
[94]
„Auch gut, Kapuziner,“ ſagte Blaſius, der jetzt
mit beiden Armen Reiſigbündel und Stroh aus der
Küche ſchleppte und mit geübten Handgriffen im Gange
zwiſchen den beiden Hausthüren aufſchichtete. „Wir
heben uns von hinnen über den Bondascagletſcher ins
Bergell. Fauſch, alle Dachluken auf, damit es Luft
giebt! Und dann hierher!“
Fauſch krabbelte die Treppe herunter, beladen mit
allerlei Mundvorrath, den er oben gefunden hatte, und
Waſer ſah ſich jetzt nach Jenatſch um.
„Hier ſcheiden ſich die Wege, Pancrazi,“ ſagte der
alte Prädikant und drückte dem Pater die Hand über den
Reiſigwall hinweg, während das Mittelſtück des Haus¬
thors unter dem Geheul der Belagerer auseinander¬
krachte. „Dein iſt die Vorderthür. Unſern Rückzug
durch die hintere deckt die Flamme“. Und er ent¬
zündete den Holzſtoß. „Abgezogen, ihr evangeliſchen
Männer!“ —
Während das Feuer in aufrechter Lohe durch die
luftige Bodenöffnung emporſchlug, trat Jenatſch, die
Todte im Arme, aus dem Wohnraume in die flackernde
Helle.
In ſeiner Rechten leuchtete das lange Schwert,
auf dem linken Arme trug er, als ſpürte er die Laſt
[95] nicht, ſeine Todte, deren ſtilles ſanftes Haupt wie ge¬
knickt ihm an der Schulter ruhte. Er wollte ſie nicht
auf der Mordſtätte zurücklaſſen. Waſer konnte trotz der
Gefahr der Stunde den Blick nicht verwenden von dieſem
Nachtbilde ſprachloſen Grimms und unverſöhnlicher
Trauer. Er mußte an einen Engel des Gerichts denken,
der eine unſchuldige Seele durch die Flammen trägt.
Aber es war kein Bote des Lichts, es war ein Engel
des Schreckens.
Indeß die Bündner durch den Garten nach dem
Fuße des Gebirges enteilten, hatte der Pater in der
Küche neben Feuer und Rauch ſtandhaft den Augenblick
erwartet, wo die Thüre in Splitter flog. Jetzt ſprang er,
das Crucifix in der vorgeſtreckten Rechten, zwiſchen die
Pfoſten und rief der blutlechzenden Menge entgegen:
„Heilige Mutter Gottes! Wollt ihr mit den Ketzern
verbrennen? . . . Feuer vom Himmel hat ſie verzehrt!
Löſchet! Rettet euer Dorf! . .“ Und hinter ihm praſſelte
die lebendige Gluth.
Mit einem Wehgeheul, das nichts Menſchliches
mehr hatte, wichen die Entſetzten zurück und es entſtand
eine unbeſchreibliche Verwirrung. Blitzſchnell verbreitete
ſich die Sage, Sankt Franziskus in eigener Perſon habe
die Ketzer im proteſtantiſchen Pfarrhauſe vernichtet und
ſei in erhabener Geſtalt den Gläubigen erſchienen.
[96]
So gelang es dem Kapuziner, ſein Eſelchen, das
er in einem benachbarten Stalle untergebracht hatte, un¬
bemerkt zu beſteigen. Brandröthen und Mordgeſchrei
hinter ſich laſſend, ritt er auf Umwegen, die Capuze tief
ins Geſicht gezogen, ſeinem Kloſter am Comerſee zu.
Siebentes Kapitel.
Am Abend des fünften Tages nach dieſen außer¬
ordentlichen Ereigniſſen näherte ſich Heinrich Waſer auf
dem von Rapperswyl herkommenden ordinären Markt-
und Poſtſchiffe ſeiner Vaterſtadt. Die ſchlanken Thurm¬
ſpitzen der beiden Münſter zeichneten ſich immer ſchärfer
und größer auf dem klar gerötheten Weſthimmel, und
bei dieſem viellieben Anblick dankte der junge Amtſchreiber
aus Herzensgrunde der gütigen Vorſehung für das glück¬
liche Ende ſeiner über Erwarten gefährlichen Ferienreiſe.
Bei der Abfahrt von Rapperswyl hatte er ſich nur
in Geſellſchaft der Schiffer befunden; denn eine Schaar
von Pilgerinnen aus dem Breisgau, alte müde Weiber,
verbargen ihre ſonnenbraunen Geſichter ſcheu unter den
rothen Kopftüchern und hatten ſich im Vordertheile des
Schiffes eng zuſammengeduckt. Sie beteten oder ſchliefen.
Sie kamen vom heiligen Gnadenort Einſiedeln und
Meyer, Georg Jenatſch. 7[98] waren noch über die lange Brücke zu den Kapuzinern von
Rapperswyl gewandert, um von den als Geiſterbanner
und Exorciſten bewährten Vätern allerlei Mittelchen ein¬
zuhandeln gegen Krankheit von Menſchen und Vieh und
gegen teufliſchen Spuk. Dort hatten die Wallfahrer von
einem ſchrecklichen Strafgerichte gehört, das in einem Thale
jenſeits der Berge über die Ketzer hereingebrochen ſei.
Alle ſeien ſie mit Feuer und Schwert vertilgt worden.
Wohl erfüllte die Weiblein mit freudigem Schrecken
dies Unglück der Mißgläubigen, aber auch mit dem
Wunſche, ſo bald als möglich den proteſtantiſchen Landen,
die ſie zu durchwandern hatten, den Rücken zu kehren und
jenſeits der Grenze in ihrer katholiſchen Heimath dieſe
großen Dinge zu verkündigen.
So war das Gerücht von dem Proteſtantenmorde
im Veltlin ſchon vor, oder doch zugleich mit dem jungen
Zürcher hieher gelangt. Auch Waſer hatte auf dem Heim¬
wege erfahren, was zu glauben er ſich immer noch in
innerſter Seele geſträubt hatte, daß der Ueberfall in
Berbenn, den er miterlebt, nur eine Einzelnheit, und
nicht die grauſamſte, eines längſt geplanten, unerhörten
Blutbades geweſen ſei. Sogar die nach und nach bei
den Dörfern, wo man anlegte, einſteigenden Marktleute
waren voll davon.
Es war eine Geſellſchaft, die ſich nicht erſt von
[99] geſtern her kannte. Die zwei Schiffleute, Vater und
Sohn, vermittelten mit ihren Ruderknechten ſchon
ſeit Jahren den Verkehr zwiſchen den beiden Seeenden.
Der Junge, ein von der Sonne geſchwärztes, kräftig
aufgeſchoſſenes Gewächs, war Waſers Altersgenoſſe.
Sein Vater hatte ihn von Kindesbeinen an auf den
See mitgenommen und ihn früh zum Vertragen der
dem Schiffe für die Stadt anvertrauten Briefe und
Pakete gebraucht. So war der Burſche mit dem jungen
Jenatſch ſchon bekannt geworden, als der Pfarrer von
Scharans ſeinen Jürg nach Zürich auf die Schule führte,
hatte ihm ſpäter manche Botſchaft gebracht, und wenn
Waſer zu Ferienanfang ſeinen Schulkameraden ſeeauf¬
wärts begleitete, hätte dem luſtigen Tage das Beſte ge¬
fehlt, wenn der wort- und ſchlagfertige Kuri Lehmann
nicht mitgefahren wäre.
Er auch war es geweſen, der mit ſeinem Vater
die müde kleine Lucretia in das Schiff aufgenommen,
ihr in Zürich den Weg nach dem Carolinum gezeigt
und ihr Muth gemacht hatte, nur friſch und unverzagt
dem Jürg ihren Kram auf die Schulbank zu ſtellen.
Auch die Dorfleute — ein alter Mann von Stäfa,
der allwöchentlich ſeine Spanferkel in Zürich zu Markte
brachte, der Honighändler, die Fiſcher und ein paar
7*[100] Hühner- und Eierweiber — waren Stammgäſte des ge¬
räumigen Bootes.
Die dunkle Nachricht, welche das Poſtboot von
Rapperswyl brachte, verſetzte deſſen Inſaſſen in unge¬
wohnte Aufregung. Ihre vor dem Schreckbild ſcheuende
Einbildungskraft erging ſich in den abenteuerlichſten
Sprüngen. Nicht zufrieden mit den überlieferten That¬
ſachen, vermutheten ſie eine allgemeine Verſchwörung der
Papiſten gegen alles Volk, das ſich zur reinen Lehre
bekenne. Schließlich waren ſie nicht weit davon, den
ihnen Allen dem Rufe nach, einigen von Angeſicht be¬
kannten Herrn Pompejus, dem ſie die Hauptſchuld an
dem Blutbade beimaßen, zum Feldhauptmann des Anti¬
chriſts zu erheben und ihm ein Heer ſchlauer Jeſuiten
und feuriger Teufel zur Verfügung zu ſtellen.
„Der letzte Sieg der Bosheit und das Weltgericht
ſteht vor der Thür“, ſprach feierlich der alte Ferkelhändler,
welcher etwas taub war und ſich um ſo eifriger auf die
ſeltene Kunſt des Leſens und die ſelbſtändige Erforſchung
der Schrift verlegt hatte, „alle Zeichen ſind da, — das
große Thier“ . . .
„Ihr könntet irren“, unterbrach ihn der Amt¬
ſchreiber, der bis jetzt in ſich gekehrt geſchwiegen hatte.
„Wißt, daß ſeit der Apoſtel Zeiten bei allen ſchweren
Calamitäten, die über das Chriſtenvolk hereinbrachen,
[101] das Ende der Welt von heute auf morgen erwartet
wurde. Und doch ſteht, wie Ihr ſeht, noch Albis und
Uto wie zu der Helvetier Zeiten und fließt die Limmat
noch ihren alten Weg. Hütet alſo Euern Geiſt und
Eure Zunge vor Irrlehre und eigenmächtiger Deutung.“
Der Alte ſenkte den Kopf, murmelte aber zwiſchen
den Zähnen: „Daß es ſo lange nicht eingetroffen iſt,
beweiſt mir gerade, daß es jetzt eintrifft.“
Kuri Lehmann, der hart neben Waſer ſtehend, ſein
langes Ruder führte, ſtreifte jetzt dieſen mit einem
ſcharfen Blicke aus ſeinen waſſerhellen, von niedrigen,
ſchwarzbuſchigen Brauen beſchatteten Augen. Dieſe durch¬
dringenden, ſonſt kalt verſtändigen Augen brannten in
frechem Feuer.
„Warum, Herr Amtſchreiber, ſchicken die Gnädigen
in Zürich nicht uns Seebuben gegen die Spaniolen und
Jeſuiten im Veltlin? Iſt Ihnen das Herz in die Hoſen
gefallen?“ ſagte er.
„Halt das Maul, um Gotteswillen, Bub!“ rief
erſchrocken der alte Lehmann, der am Steuer dieſe
reſpektloſe Rede gehört hatte, und fuhr mit der rechten
Hand in die Höhe, als wollte er ihm das Wort im
Munde zerſchlagen. Aber er faßte ſich und fügte mit
ungewohnter Süße hinzu: „Die Herren in Zürich wer¬
den in ihrer Weisheit das Rechte ſchon treffen“.
[102]
Kuri aber fuhr unbekümmert fort: „Ihr wißt
mehr als wir, Herr Waſer! Hab' ich Euch nicht mit
einem Reiſebündelein vor vierzehn Tagen nach Rappers¬
wyl geführt? Ihr wolltet ein wenig in die Berge hin¬
ein, ſagtet Ihr. Beim Eid, Ihr ſeid beim Jenatſch
geweſen! War denn der nicht zur Stelle? Der Jürg
hat ſich doch, beim Strahl, von denen Aeſern von
Pfaffen nicht abthun laſſen! Ihr blickt ſo traurig drein!
Es iſt ihm doch nichts paſſirt? Oder hat es gefehlt,
hat er dran glauben müſſen?“
„Er lebt, Kuri,“ verſetzte Waſer, wie einer, der
ſeine Worte wägt und keines zuviel ſagen will.
„Nun, dann zählt darauf, eh' ich dieſe Schuhe
verbraucht habe,“ — Kuri ſchonte ſie freilich, denn er
hatte ſie ausgezogen und neben ſich auf den Schiffskaſten
geſtellt, um erſt in Zürich damit Staat zu machen —
„eh' ich dieſe Schuhe verbraucht habe, hat der Jenatſch
den Pompius Planta kalt gemacht. Sonſt iſt er nicht
der Jenatſch mehr! Denkt daran! Leid thut es mir um
das Jüngferchen und wird dem Jürg auch leid thun.“
Dieſes in den Tag hinein geſprochene Wort machte
auf Waſer einen leidigern Eindruck, als er ſich nicht
geſtehen wollte, und hätte Kuris Vater von Neuem
erboſt, wäre nicht ſein Auge unweit vom Dorfe Küßnach
auf einer grünen, von hohen Nußbäumen beſchatteten
[103] Landungsſtelle haften geblieben. Es ergoß ſich dort
zwiſchen ſteilen, mit Hollunderbüſchen und Wurzelwerk
überwucherten Borden ein Bach in den See, ein ſtilles
und durchſichtiges Wäſſerchen, deſſen unterhöhlte aus¬
gewaſchene Ufer aber verriethen, wie heftig es im Früh¬
jahr toben konnte. Von der Anhöhe blickte ein Land¬
haus herab. Dort unter den Bäumen ſtampfte ein kleiner
ungeduldiger Junge mit Degen und Federhütchen auf dem
ſchattigen Raſen herum, während die würdige Geſtalt
eines Präceptors beſchwichtigend daneben ſtand.
„Hoheho, hieher Lehmann! Ich will in die Stadt!“
ſchrie der Kleine, während ſein Mentor ein Tuch aus
der Taſche zog, um das Boot heranzuwinken.
Ueberflüſſige Bemühung! Der alte Lehmann hatte
ſchon mit dem Rufe: „Aha, der Junker Wertmüller
vom Wampiſpach!“ ſein Schiff der Nußbaumgruppe zu¬
gelenkt und das Bret zum Einſteigen bereit gemacht.
Nach wenigen Minuten ſaß der zapplige Kleine
auf der Ehrenbank zwiſchen ſeinem Erzieher und Herrn
Waſer, deren Beinbekleidung er mit ſeinen unruhigen
Füßen, die den Boden des Schiffes noch nicht erreichten,
muthwillig und unaufhörlich in Gefahr brachte.
Herr Verbi divini Miniſter Denzler, ſo nannte ſich
der Erzieher, ließ ſich mit Waſer über den Junker hinweg
in ein lispelndes Geſpräch ein. Er beklagte höchlich die
[104] haarſträubenden Wirkungen des Fanatismus, und ob¬
gleich Waſer das von ihm Erlebte ſo knapp als möglich
erzählte und ſeine eigene Perſon dabei beſcheiden in den
Hintergrund ſtellte, konnte ſich der Präceptor nicht ge¬
nug entſetzen über die unerhörte Gefahr Leibes und
Lebens, welcher ſich der Herr Amtſchreiber durch ſeine
Kühnheit ausgeſetzt. Dann ſteuerte er ſeinen perſön¬
lichen Angelegenheiten zu, wobei er gut fand, der latei¬
niſchen Sprache ſich zu bedienen.
„Niemalen, Herr Amtſchreiber“, bemerkte er, „hätte
ich dieſe ſchwierige Erziehung übernommen, denn der
Kleine, obgleich ein ausgezeichnetes Ingenium, iſt, unter
uns geſagt, ein bösartiges Dämönlein, wenn mir nicht
des Herrn Oberſten Schmid Gnaden heilig verſprochen
hätten, daß ich bei Zufriedenheit mit meinen Leiſtungen
ſpäter dieſen ſeinen Stiefſohn auf einer Bildungsreiſe
begleiten dürfte, wie ſie noch ſelten gemacht worden iſt.
Die deutſchen Lande, Italien, Frankreich ſollen beſucht
werden, und wie Cäſar werden wir bis nach Britannia
vordringen.“
„Ja, der Verbi divini muß mit!“ rief hier plötz¬
lich der kleine Kobold, der den Gegenſtand der Unter¬
haltung errathen hatte. „Aber vorher muß er mich alle
Sprachen lehren, daß ich in allen kommandiren kann!“
„Was willſt Du denn eigentlich werden, Rudolf?“
[105] fragte Herr Waſer, um die Blöße, die der Magiſter
ſich gegeben, zu decken.
„Ein General!“ rief das Bübchen und ſprang von
der Bank, denn eben war man durch das Waſſerthor des
Grendels gefahren und legte jetzt vor der Schifflände an.
Bald bewegte Herr Waſer ſich wieder in den ge¬
wohnten Geſchäften und ſaß wie früher täglich auf der
Rathskanzlei; aber die ſtaatsrechtlichen Handlungen
waren für ihn keine leeren Formeln mehr, keine bloße
Uebung ſeiner behenden Gedanken, er war davon durch¬
drungen, daß dabei Wohl und Wehe der Völker auf
dem Spiele ſtehe, er hatte der Wirklichkeit ins drohende
Antlitz geſchaut.
In Folge ſeiner Reiſe nach Bünden und ſeiner
Rettung aus dem in allen proteſtantiſchen Landen Ent¬
ſetzen verbreitenden Veltlinermorde war das Anſehen des
jungen Amtſchreibers in ſeiner Vaterſtadt außerordent¬
lich geſtiegen. Ja, es geſchah eines Sonntags, als er
hinter dem Herrn Amtsbürgermeiſter in ſeinem Kirchen¬
ſtuhle ſaß, daß er aus dem Munde des Antiſtes der
zürcheriſchen Kirche, während alle Augen ſich theilnehmend
auf ihn richteten, folgende ſeiner Beſcheidenheit unwill¬
kommenen Worte vernahm:
[106]
„Ihr ſeid durch die Poſaune der die Welt durch¬
fliegenden Fama davon unterrichtet,“ tönte es von der
Kanzel herab, „welch ſchreckliche Hekatombe der papiſtiſche
Fanatismus in einem uns verbündeten Lande gehäuft
hat, — wie ſechshundert unſrer proteſtantiſchen Brüder
ausgerottet wurden durch die Schärfe des Schwertes, —
wie die blutgeröthete Adda geſchändete Leichen wälzte,
während die verſtümmelten Reſte anderer auf offenem
Felde liegen, dem krächzenden Gevögel ein ſcheußlicher
Fraß. — Aber daß der Himmel ſogar in allgemeiner
Vernichtung ſeine auserwählten Rüſtzeuge zu bewahren
weiß, dafür gab er uns, Geliebteſte, ein den innigſten
Dank erweckendes Zeugniß in der lebendig hier anweſen¬
den Perſon eines unſrer Herren Mitbürger, den er
durch das menſchliche Medium von deſſen Fürſichtigkeit
und Tapferkeit vorausſichtlich zu höhern Zwecken mitten
aus dieſem Verderben gerettet hat.“ . . .
Eine andere Folge war, daß Waſers Vorgeſetzte
ſeit ſeiner Reiſe ſich von ihm als einem tüchtigen und
in Bündnerdingen bewanderten jungen Manne die er¬
ſprießlichſten Dienſte verſprachen. Man berückſichtigte
ſein Urtheil, und vorzugsweiſe ſeiner gewandten Feder
ward der öffentliche Verkehr mit den bündneriſchen Be¬
hörden und der geheime Briefwechſel mit den zürcheriſchen
Vertrauensmännern in dieſem ſchickſalsvollen Lande zu¬
[107] gewieſen. Und, wunderbar, die todten Buchſtaben der
jetzt Schlag auf Schlag aus Chur eintreffenden Berichte
bewegten, was ſonſt nicht der Fall geweſen war, ſein
Herz noch mehr, als ſie ſeinen Scharfſinn beſchäftigten.
Zwiſchen den Zeilen blickten die kraftvollen Köpfe des
ſtolzen Planta, des feurigen Jenatſch, des kalt fanatiſchen
Blaſius Alexander hervor und verdeutlichten ihm die
Natur dieſes ungebändigten, parteiſüchtigen, unter einer
ruhigen Außenſeite tief leidenſchaftlichen und ſeine wilde
Freiheit über Alles liebenden Volksſtammes.
Oft wenn er ungeſtört an ſeinem Arbeitstiſche ſaß,
ward er unverſehens zurückgetragen in die Vergangenheit.
Er ſtand wieder in Berbenn vor dem brennenden Hauſe
und ſah den Schulfreund aus den Flammen treten, ſein
noch im blaſſen Tode wunderſchönes Weib über der
Schulter, er ſah ihn unausgeſetzt, unermüdet, wortlos
voranſchreiten auf den gefährlichen Bergpfaden und über
die zerriſſenen Gletſcher, bis der Schweigſame ſeine Laſt
niederlegte auf dem Kirchhofe von Vicoſoprano, um ſie
dort in Bündnererde zu beſtatten. Immer mehr wurde
Heinrich Waſer von dem Eindrucke bewältigt, die Lohe,
welche den häuslichen Herd des Bündners verzehrt,
flamme fort als verborgener unauslöſchlicher Rachebrand
in ſeiner Bruſt, von einem eiſernen Entſchluße bis zur
günſtigen Stunde niedergehalten, und als Jürg thränen¬
[108] los am Grabe ſeiner Lucia geſtanden, habe er mit ihr
alle Harmloſigkeit der Jugend, alle weichen Gefühle
und vielleicht jedes menſchliche Erbarmen verſenkt. Hatte
doch Waſers herzliche Theilnahme bei ihm keine Stätte,
nicht ein einziges erwiederndes Wort gefunden. Jenatſch
war dem Freunde gegenüber zu Stein geworden, und
die letzte Rede, faſt die einzige auf der Reiſe, die er
beim Scheiden in Stalla an ihn gerichtet, hatte dem
jungen Zürcher beunruhigend und verhängnißvoll nach¬
geklungen. „Du wirſt von mir hören!“ hatte er ihm
zugerufen. Mit Jürg war Blaſius Alexander fortge¬
gangen als einziger Begleiter. Dieſer auch hatte das
Gebet über Lucias Grabe geſprochen und dabei ſchreck¬
liche altteſtamentliche Worte ſo zuſammengeſtellt, daß
Waſer ſie kaum mehr erkannte und ſie ihm als der
Ausdruck gottesläſterlicher Rachſucht erſchienen, Ueber¬
haupt war Blaſius nicht ſein Mann. Noch nie war
ſeine heitere, für die verſchiedenen Seiten der Dinge
empfängliche Natur auf einen ſchrofferen Gegenſatz
geſtoßen, und ihm graute, ſeinen Freund in deſſen
jetziger Stimmung mit dieſem kalten Fanatiker zuſammen
zu wiſſen.
Wie geſagt, eine Hiobspoſt folgte der andern. Un¬
mittelbar nach der Schlächterei beſetzten die Spanier,
von Fuentes her eindringend, mit Heeresmacht das ganze
[109] Veltlin. Die beiden Planta führten die Oeſterreicher
ins Münſterthal, und zwei Verſuche, die verlorenen
Landſchaften wieder zu gewinnen, blieben fruchtlos. Im
Innern von Bünden wuchs täglich die Wuth gegen die
landesverrätheriſchen Anſtifter des Veltlinermordes, be¬
ſonders gegen den vervehmten Pompejus Planta, der
in der allgemeinen Verwirung ſich ſeines feſten Hauſes
Riedberg wieder bemächtigt hatte.
So war Waſer, als eines Tages durch einen
reitenden Boten die Nachricht von dem Ueberfalle des
Schloſſes und der Ermordung des Herrn Pompejus
eintraf, mehr erſchrocken als erſtaunt. Das Schreiben
kam vom Ritter Doktor Fortunatus Sprecher. Dieſer
gelehrte Juriſt behauptete in der von politiſcher Leiden¬
ſchaft beherrſchten Zeit eine zurückgezogene und verhält¬
nißmäßig unangefochtene Stellung. Von ihm war be¬
kannt, daß er, dem die waghalſige Demokratenwirthſchaft
und die ſpaniſchen Intriguen gleichermaßen verhaßt
waren, in ſtillen Stunden befliſſen ſei, die in ihm auf¬
ſteigende Bitterkeit beſtmöglich zu verſüßen durch täg¬
liche genaue Aufzeichnung aller Fehlgriffe und Greuel,
welche ſich die ihm widerwärtigen extremen Parteien zu
Schulden kommen ließen. Dies that er aber mit dem
Vorſatze, die unter dem Eindrucke des Tages entſtan¬
denen Aufzeichnungen im Laufe der Jahre gemächlich
[110] zu einer ausführlichen und, wie er ſich ſchmeichelte, völlig
vorurtheilsloſen Geſchichte ſeines Vaterlandes zu ver¬
arbeiten. Mit dieſem wohlunterrichteten Manne unter¬
hielt die Regierung von Zürich Beziehungen, um, wie
ſich Jenatſch ausgedrückt hatte, auf dem Laufenden
zu bleiben. Der Ritter beobachtete die Vorſicht, ſeine
Briefe nicht an die Staatskanzlei, ſondern an Heinrich
Waſer, den Privatmann, zu richten.
Das Schreiben, welches dieſer in ſchweren Gedanken
immer und immer wieder las und unbewußt mit häu¬
figen Thränen benetzte, trug das Datum: Chur, den
27. Februar 1621. Es erzählte das verhängnißvolle
Ereigniß in einer Sprache, welche die zornige Erregung
des Berichterſtatters verrieth.
In der Nacht vom vierundzwanzigſten auf den
fünfundzwanzigſten hätten ſich die Führer der Volks¬
partei von Grüſch im Prätigau, dem Sitze ihrer Ver¬
ſchwörung, aufgemacht, zwanzig Mann ſtark, alle gut
bewaffnet und beritten, voran der wahnwitzige Blaſius
Alexander und der teufliſche Jenatſch. In raſendem
Ritte durch das ſchlafende Land und die finſtere föhn¬
warme Nacht brauſend, ſeien ſie im Morgengrauen wie
Geſpenſter vor Riedberg aufgetaucht, haben das Thor
mit Axthieben geſprengt, ſeien ohne ernſtlichen Wider¬
ſtand der ſchlummertrunkenen entſetzten Dienerſchaft in
[111] die Schlafkammer des Herrn Pompejus eingedrungen,
dieſe aber ſei leer geweſen. Im Begriffe, fluchend und
läſternd wieder abzuziehen, habe ſie Jenatſch in einem
engen Vorzimmer auf ein altes blindes Hündlein auf¬
merkſam gemacht, das winſelnd in den Rauchfang des
Kamins hinaufſchnoberte. Aus dieſem ſei dann Herr
Pompejus mit frevler Fauſt an ſeinem langen Schlaf¬
kleide heruntergeriſſen und mit wüthenden Beilhieben zu
Tode gebracht worden. Unbegreiflicher Weiſe ſeien die
Mörder unangefochten in frechem Triumphe durch das
rings von den Sturmglocken aufgeſtörte Land nach
Grüſch zurückgekehrt, am hellen Tage durch die Straßen
von Chur im Schritte reitend, wo er, Sprecher, durch
das Pferdegetrappel an's Fenſter gerufen, ſelbſt die Ent¬
ſetzlichen erblickt und von dem blutigen Jenatſch hohn¬
lächelnd begrüßt worden ſei. Der alte Kaſtellan auf
Riedberg aber, Lucas, aus deſſen vor Amt gemachten
Angaben er dieſen ſeinen wahrhaften Bericht haupt¬
ſächlich ſchöpfe, habe nach Abzug der Meuchlerbande das
Mordbeil aufgehoben und, im Gedanken, es der gött¬
lichen Gerechtigkeit als Werkzeug ſcharf zu behalten, in
ſorgfältige Verwahrung genommen. Ueber der Todes¬
ſtätte ſeines Herrn aber habe er die Mauer mit einem
großen Kreuze bezeichnet.
Sprechers Brief endigte mit der ſchwarzſichtigen
[112] Bemerkung: in dieſer Zeit, wo den Guten jede Macht
genommen ſei, bleibe die Beſtrafung der Böſen das
einzige Zeichen einer waltenden Vorſehung, und mit dem
troſtloſen Ausrufe: „Wehe, Rhätia, wehe Dir!“
Dieſer Weheruf war nicht unberechtigt, das lehrte
die nächſte Zukunft. Nach einigen flüchtigen Sonnen¬
blicken, die eine beſſere Wendung der Dinge für Bün¬
den zu verſprechen ſchienen, erfüllten ſich ſeine Geſchicke.
Bevor ſeit der Ermordung des Herrn Pompejus ein
Jahr um war, überſchwemmten öſterreichiſche und ſpa¬
niſche Heerhaufen die rhätiſchen Lande. Das Volk
erhob ſich zum Verzweiflungskampfe, ſelbſt Frauen und
Mädchen ſchwangen rohe todbringende Waffen. Jenatſch
troff von Blut und ſeine übermenſchliche Tapferkeit
wurde zur Legende. So erſchlug er Hunderte von Oeſter¬
reichern, meldet die Sage, bei Kloſters in offener Feld¬
ſchlacht, er allein mit drei Genoſſen.
Die heldenmüthigen Bündner wurden von der
Uebermacht erdrückt. Waſer ſah eines nach dem andern
ihrer flüchtigen Häupter in Zürich anlangen. Es kam
ein Salis, ein Ruinell, ein Bioland, — Jürg Jenatſch
kam nicht. Wohl mochte es ihm ſchwer werden, das
Bollwerk ſeiner Berge zu verlaſſen.
Furcht vor dem übermächtigen Oeſterreich lähmte
diesmal die Gaſtfreundſchaft der Stadt Zürich, die ſie
[113] ſonſt keinem Vertriebenen verſagt. Beim Pokale auf den
Zünften hatte die junge Bürgerſchaft den bündneriſchen
Tellen, ſo nannte man die Mörder des Herrn Pom¬
pejus Planta, ſtürmiſch zugejauchzt, jetzt aber ſtreckten
ſich den Flüchtigen nur wenige Hände entgegen. Man
erſuchte ſie, ſich ſtille in den Häuſern zu halten, damit
in Wien ihre Anweſenheit geleugnet werden könne.
Die Geiſter waren von dunklen Ahnungen erſchreckt,
dreißig kommende Kriegsjahre warfen ihren Schatten
vor ſich her.
Eines Tages verließ Waſer ernſter als gewöhnlich
und in tief bewegter Stimmung das Haus ſeiner jungen
Braut, die er nächſtens heimführen ſollte und in deren
angeſehener Familie er das Abendbrod einzunehmen
pflegte. Hier ließ er ſonſt die Staatsſorgen vor der
Thür und freute ſich in Züchten des Lebens; heute aber
quoll ihm der Biſſen im Munde. Sein Schwager, ein
junger Geiſtlicher, hatte aus der eben verſammelten
Synode eine ergreifende Nachricht nach Hauſe gebracht.
Von ſeiner Hochwürden dem Antiſtes war ein Schreiben
verleſen worden mit der Nachricht von dem ſtandhaften
Ende des Märtyrers Blaſius Alexander. Da wurde
ausführlich von einem ſeiner Kerkergenoſſen erzählt, wie
man ihn auf der Flucht ergriffen und nach Innsbruck
gebracht habe; wie er ſich in der Gefangenſchaft
Meyer, Georg Jenatſch. 8[114] unerſchütterlich geweigert, den reformirten Glauben ab¬
zuſchwören, und wie er ſchließlich zum Verluſte der
rechten Hand und des Hauptes verurtheilt wurde. Da
ſeine Rechte abgeſchnitten auf dem Blocke lag, habe er
bereitwillig auch die Linke ausgeſtreckt, als könne er ſich
des Marterthums nicht erſättigen.
Um ſein Gemüth zu beruhigen, machte Waſer gegen
ſeine Gewohnheit einen raſchen Gang um die beſchneiten
Schanzen der Stadt. Als er in ſeine dunkle Stube
zurückkehrte und Feuer ſchlug, um ſeine Lampe anzu¬
zünden, gewahrte er in der Fenſterniſche eine hohe Ge¬
ſtalt, die ihm nun feſten Schrittes entgegentrat und ihm
die Hand auf die Schulter legte. Es war Jürg Jenatſch.
„Erſchrick mir nicht, Heinrich,“ ſagte er ſanft, „ich
komme nur für eine Nacht und verlaſſe Eure Mauern,
ſo bald in der Frühe ein Thor aufgeht. Haſt Du Platz
für mich in Deinem Kämmerlein, wie ehedem? . . . .
In Bünden hab' ich nichts mehr zu thun. Da iſt Alles
verloren — wer weiß für wie lange. Ich gehe zum
Mansfeld. Dort auf dem großen deutſchen Kampfplatze
entſcheidet ſich mit Sieg oder Niederlage der proteſtan¬
tiſchen Waffen auch das Loos meiner Heimat.“ —
Zweites Buch.
Lucretia.
8*[][]Erſtes Kapitel.
Ein durchſichtig blauer Winterhimmel umfing die
Lagunenſtadt und ſchaute ſich mit gleicher Kraft und
Helle tief aus dem Spiegel eines ihrer vielen ſchmalen
Waſſerbänder wieder entgegen. Hier zeigten die ſtillen
Waſſer auch das ſcharfe dunkle Ebenbild einer ſchlank ge¬
wölbten Marmorbrücke, die das engſte und bewohnteſte
Quartier Venedigs mit dem Campo dei Frari verbindet.
Dieſer kleine Platz bildet den ſpärlichen Vorraum zu
dem fremdartig erhabenen Meiſterbau Niccolò Piſanos,
dem rothſchimmernden Dome der Maria glorioſa de'
Frari.
In der engen Pforte eines an die Lagune gebau¬
ten Hauſes jenſeits der Brücke ſtand ein Mann von
mittleren Jahren mit einem ernſten bärtigen Kopfe und
von gedrungener, kurzer Geſtalt. Sein Blick folgte
ruhig den lautlos geführten, von Zeit zu Zeit unter
[118] dem Brückenbogen durchgleitenden Gondeln, oder be¬
trachtete die Bettler, welche auf den Stufen des Domes
lagerten und eben ihr Frühſtück verzehrten. Ihm zu
Häupten war an der Mauer, dem Halbrunde der
Thürwölbung folgend, in coloſſalen ſchwarzen Lettern
und italieniſcher Sprache zu leſen: Lorenz Fauſch, Pa¬
ſtetenbäcker aus Bünden.
Aus den herrſchaftlichen Gondeln, die an der Lan¬
dungstreppe des Campo anlegten, war ſchon manche
zarte Dame geſtiegen; manche zierliche Geſtalt, umhüllt
von den weichen Falten dunkler Seide und das Antlitz
durch die ſammetne Halbmaske vor der Kälte geſchützt,
war die Stufen hinauf über den Platz in die Kirche
geglitten, ohne daß die Züge des Bündners ſich im
Mindeſten verändert hätten. Jetzt aber ging etwas
Seltſames auf dem ernſthaft gleichmüthigen Geſichte vor.
Unter der Brücke war der wetterbraune, weißbärtige
Kopf eines Ruderers zum Vorſchein gekommen, der,
aus ſeinen ungelenken Bewegungen zu ſchließen, mit der
Lagune nicht vertraut war. Während ſein Gefährte,
der auf dem Hintertheile des Fahrzeuges ſtand, ein
jugendlich behender, ein echter Gondoliere, dieſes mit
ſchlanker Ruderbewegung an die Mauer drückte, öffnete
der Alte langſam die niedrige Gondelthüre und ſchickte
ſich an, einer nur leicht verſchleierten, offen und groß
[119] blickenden Frau beim Ausſteigen behilflich zu ſein. Sie
aber hatte ſeine Hand nicht angenommen. Unverſehens
ſtand ſie auf der Treppe und ſchritt, ohne ſich umzu¬
blicken, der Pforte des Domes zu.
Ehe der in der Gondel beſchäftigte Alte ſeiner
Herrin folgen konnte, trat Herr Fauſch, deſſen Miene
ſich plötzlich erhellt hatte, an den Rand der Lagune vor
und rief ihm mit gedämpfter Baßſtimme den ro¬
maniſchen Gruß: „Bun di“, zu; aber jener wandte
ſich nicht nach dem ſeine Bekanntſchaft Suchenden um,
er ſtreifte ihn nur mit einem Blitze unter ſeinen buſchi¬
gen Brauen hervor, halb mißtrauiſch, halb verſtändni߬
voll, dann zog er langſam einen Roſenkranz aus der
Taſche und ſchritt, Herrn Fauſch den Rücken zukehrend,
nach der Kirche.
Noch folgte ihm dieſer mit nachdenklichen Blicken,
als, aus dem Seitengäßchen raſch herauslenkend, ein
kleiner hagerer Cavalier an ihm vorüberſchoß und mit
einem ſtählernen Sprung auf der Brücke ſtand. Hier
bemerkte er zu ſeiner Rechten den Bäcker und deſſen
behaglichen Gruß, wandte ihm einen Augenblick
ſein junges nichts weniger als hübſches aber höchſt
originelles Geſicht zu und ſagte: „Augenblicklich noch
im Dienſt! Holt mir ein Fläſchchen Cyprier, Vater
[120] Fauſch — wohlverſtanden, von der Sorte, der Ihr
perſönlich huldigt. In zwei Minuten bin ich hier.“
Fauſch trat aus dem fröhlichen Sonnenlichte in ſein
etwas düſteres zu dieſer Morgenſtunde noch leer ſtehen¬
des Schenkzimmer zurück, das jedoch mit ſeinen
zahlreichen Sitzen und reinlichen weißen Marmortiſchen
offenbar auf den Beſuch von Gäſten nicht geringen
Standes eingerichtet war. Während er ſich in den ge¬
heimen, wohlverſchloſſenen Raum begab, der ihm in
der Meerſtadt als Keller diente, um ein ſtrohumflochte¬
nes Fläſchchen von ſeinem dunkeln Ehrenplatze herunter¬
zuholen, dem Befehle des jungen Cavaliers gemäß, doch
Alles mit würdiger Bedächtigkeit, hatte dieſer ſeinen
Gang gemacht und kam ſchon wieder über die Brücke
zurück.
Er hatte die Kirche betretend ſogleich die hohe Ge¬
ſtalt wieder entdeckt, die ſein Blick aus der Tiefe des
Gäßchens im Fluge erfaßt hatte, und die ihm durch
ihre dunkle kräftige Schönheit anziehend erſchienen war.
Andächtig kniete ſie, das Antlitz zum Gekreuzigten
erhoben, mit gefalteten Händen auf den Stufen des
Hochaltars. Nicht Zweifel, nicht Troſtbedürfniß, nicht
Sehnſucht ſchien ſie hergeführt zu haben. Keine innere
Aufregung, keine unſtäte Leidenſchaft bewegte die hoch¬
gewachſene Geſtalt. Feſte Ruhe lag in den ſchönen,
[121] noch jugendweichen Zügen. Aber nicht klöſterlich kalt
war ihr Ausdruck, ſondern von kräftigem Leben durch¬
glüht. Sie flehte nicht, rang nicht um Erhörung. Sie
brachte, ſo ſchien es, ein tägliches Opfer, ein gewohn¬
tes Gelübde dar, das ihre Seele erfüllte und dem ihr
Leben geweiht war.
In ſteigender Neugier war der junge Cavalier
immer näher herangetreten, da hatte ſie ſich erhoben
und war ſeinem unbeſcheidenen Auge unverſchleiert mit
einem ſtolzen fremden Blicke begegnet. Dann hatte ſie
die Kirche verlaſſen. Zwiefach enttäuſcht, — denn in der
Ferne war ihm die Dame jünger erſchienen und auf
ihre einfache Hoheit war er nach ſeinen venetianiſchen
Erfahrungen und Gewohnheiten nicht gefaßt, — hatte er
noch einen Blick auf die verſchiedenen Kirchenbilder ge¬
worfen und ein Wort mit dem Küſter geſprochen.
Als Fauſch, das Fläſchchen auf einem ſilbernen
Teller mit einiger Feierlichkeit vor ſich hertragend, in
der Hinterpforte ſeines Schenkraumes erſchien, hatte ſich
der Gaſt ſchon in nachläſſigſter Haltung auf einer Otto¬
mane nächſt der Thüre niedergelaſſen. Er zog jetzt
ſeine Füße von dem Marmortiſchchen, auf das er ſie
gelegt hatte, der Bäcker aber holte ein fein geſchliffenes
kleines Kelchglas herbei, ſtellte es neben die Flaſche und
begann nach ſeiner Gewohnheit ſelbſt das Geſpräch.
[122]
„Und wer war denn, mit Eurer Gnaden Erlaub¬
niß, das Herz und Augen erfriſchende Frauenbild, dem
der Herr Locotenent nachſchoß wie eine Kugel aus dem
Rohre?“
„Wie, Vater Lorenz, das ſolltet Ihr nicht wiſſen,“
meinte der Angeredete, „Ihr, die lebendige Tages¬
chronik und Fremdenliſte von Venedig?“ —
„ Sie kommt mir ſonderbar bekannt vor, und wer ſie
iſt, werd' ich herausbringen. Sicher keine dieſer trä¬
gen Venetianerinnen, dafür erfreut ſie ſich zu leichter
Füße. Wißt nur, Herr Wertmüller, als ich ſie vor¬
hin ſo ſchön und frei über das Campo ſchreiten ſah,
da überkam mich eine Rührung. Mir war, als ſchritte
ſie nicht neben dieſer faulenden Lagune, ſondern auf
den Bergpfaden meiner Heimat neben ſenkrechten Prä¬
zipizien und ſchäumenden Bächen. Noch eins! Ihr Die¬
ner, der alte weißbärtige Spitzbube mit den Jägeraugen
und dem Roſenkranze, iſt ein Bündner ſo gewiß als ich.“
„Alſo aus Euren Bergen,“ verſetzte Wertmüller,
„und von Eurem Schlage.“
„Was Wunder übrigens,“ meinte Fauſch, „wenn
ein Salis oder ein anderes Haupt unſerer franzöſiſchen
Partei in dieſem Augenblicke in der gaſtfreundlichen
Venezia zu thun hätte; zweifelt ja von uns Keiner
mehr daran, daß Euer Herr, der vieledle Heinrich
[123] Rohan, von Richelieu Vollmacht erhalten hat, eine
Heerfahrt nach Bünden zu rüſten. Nun kommt endlich
die Stunde, da mein Land der öſterreichiſch-ſpaniſchen
Gewalt entwunden wird.“
„Gut,“ ſagte der Andere ihn ſpöttiſch anſehend,
„der galliſche Hahn alſo, Vater Fauſch, ſoll ſich für
euch mit dem öſterreichiſchen Adler zauſen, daß die Federn
fliegen! Ihr traut ihm viel Großmuth zu, denn ihr
ſitzt feſt in den ſpaniſchen Krallen. In meiner Stellung
als Adjutant des Herzogs bin ich freilich weniger in
dieſe geheimen politiſchen Pläne eingeweiht als Ihr,
das von dem venetianiſchen Müſſiggange inſpirirte La¬
gunen- und Lügenorakel. Uebrigens“ fuhr er, ſeine
Schärfe mäßigend, fort und blickte dem Bäcker in die
Augen, der in ſeinem Innerſten beleidigt, ſich mit ge¬
röthetem Angeſicht vor ihn hingeſtellt hatte und nach
dem kräftigſten Ausdruck zur Abwehr ſolcher Mißachtung
rang, „übrigens iſt heute nicht Politik ſondern Kunſt
bei uns im [herzoglichen] Palazzo an der Tagesordnung.
Eben war beim Frühſtück von Tizian die Rede. Eine
mit unſerer Herzogin befreundete Nobildonna behaup¬
tete, unſere kunſtſinnige Dame habe bis heute eines
der edelſten Werke des Meiſters überſehen, das ſich hier
bei den Frari befinde. Es erwies ſich, daß es bei der
Herzogin letztem Aufenthalte in Venedig aus irgend
[124] einem Grunde ſich in der Werkſtätte eines Malers be¬
fand. Ich ward von ihr abgeſandt, um den jetzigen
Thatbeſtand feſtzuſtellen. Es hängt wieder drüben,
und ich fliege, es den Herrſchaften zu melden. Sie
werden ihre Wallfahrt zu dem Tizian gleich antreten
wollen.“
„Herr, ſo dürft Ihr mir nicht fort,“ ſagte Fauſch,
und vertrat ihm mit ſeiner breiten Figur den Ausweg.
„Ihr verkennt mich grauſam in dem was mir hoch und
heilig iſt. — Was hielte meinen Geiſt in dieſem
ſchmerzvollen Exil lebhaft und aufrecht, wenn nicht die
Tag und Nacht genährte Hoffnung, mein Jahrzehnte
lang zerfleiſchtes, verheertes, gefeſſeltes Bünden wieder
befreit zu ſehen! — Und ich ſoll mich nicht um Neuig¬
keiten kümmern? Soll nicht die Fühlhörner nach allen
Seiten ausſtrecken? Nicht jede günſtige Nachricht mit
durſtigen Poren einſaugen? — Pocht denn Euch nichts
hier fürs Vaterland, Herr Wertmüller? . . .“ Er drückte
tief athmend die fette Hand auf die Bruſt. „Glaubt
nicht, daß mir die für Bünden unrühmliche Hilfe der
Franzoſen willkommen ſei; ich heiße das den Teufel
durch Beelzebub vertreiben, aber ſie iſt, Gott ſei's ge¬
klagt, der letzte Ausweg aus der härteſten Sklaverei!
Auch lebt jetzt in Bünden ein matteres Geſchlecht. In
jener großen Zeit freilich, wo ich, der Würgengel Jenatſch
[125] und der Märtyrer Blaſius Alexander die Thaten eines
Leonidas und Epaminondas vollbrachten, hätten wir
Alle uns lieber, die Bruſt mit Wunden bedeckt, in ein
breites Grab reihen laſſen, als in das welſche Heer,
und unſere Seelen eher dem leibhaftigen Teufel über¬
geben, als dem franzöſiſchen Cardinal!“
Der junge Wertmüller, den die Scene insgeheim
köſtlich beluſtigte, war im Begriffe, den begeiſterten Bäcker
auf die Seite ſchiebend, die Thür zu gewinnen, konnte
ſich aber die Schlußbemerkung nicht verſagen: „So
weit ich die Weltgeſchichte kenne, Vater Lorenz, ſeid
Ihr darin nicht berückſichtigt.“
Jetzt ergriff ihn Fauſch heftig aber freundſchaftlich
bei der Hand: „Wie wird heutzutage Hiſtoria geſchrie¬
ben, Herr Locotenent? Saftlos und ohne Gewiſſen¬
haftigkeit ! Die Tradition jedoch der volksthümlich großen
Thaten erliſcht nicht, auch wenn ein pedantiſcher Ge¬
ſchichtsſchreiber ſie heimtückiſch unter den Scheffel ſtellen
ſollte. Sie geht über Berg und Thal von Mund zu
Munde und aus dem meinigen ſollt Ihr ein Euch un¬
bekanntes, wichtiges Blatt unſerer Bündnergeſchichten
kennen lernen.“
„Anno zwanzig, als die edle Demokratie in unſerem
Lande herrſchte, vollzog ſie einen großartigen, einen
[126] wahrhaft weltgeſchichtlichen Akt. Frankreich zweideutelte
damals zwiſchen Licht und Nacht, zwiſchen proteſtanti¬
ſcher und katholiſcher Politik. Dem beſchloß das zu Da¬
vos verſammelte Strafgericht in ſeiner Weisheit herzhaft
ein Ende zu machen. An den Geſandten Frankreichs, —
der Gueffier war's, er hielt damals Hof in Maienfeld, —
ſchickte es eines ſeiner Mitglieder, einen ſchlichten Bür¬
ger, einen einfachen Prädikanten, der dem Franzoſen
Befehl überbrachte, augenblicklich einzupacken, . . . und
dieſer tapfere Republikaner, Euer Gnaden, war niemand
anderes, als Lorenz Fauſch, der hier vor Euch ſteht.
Jetzt aber hättet Ihr ſehen ſollen, wie der Franzoſe
ſeinen Hut vom Kopfe riß, und ihn wie toll mit den
Füßen zerſtampfte. „Einen Salis oder Planta minde¬
ſtens hätte man an mich abordnen ſollen,“ ſchrie er
wüthend, „nicht einen ſolchen . . .“ hier hielt Fauſch
inne und beſann ſich —
„Weinſchlauch! — dies iſt des denkwürdigen Dia¬
logs beglaubigter Wortlaut,“ erſcholl es mit heller mäch¬
tiger Stimme von dem offenen Eingange her, der in
dieſem Augenblicke durch eine große Geſtalt, welche auf
die Schwelle trat, verdunkelt ward, und vor dem er¬
ſtaunt ſich umwendenden Bäcker ſtand ein Kriegsmann
von gewaltiger Statur und herriſchem Blick.
„Sagte er wirklich ſo, Jürg?“ faßte ſich der be¬
[127] troffene Herr Lorenz; aber ſtatt ihm zu antworten neigte
ſich der ſtattliche Fremde mit leichtem Anſtande gegen
den jungen Offizier, der den Gruß militäriſch erwie¬
dernd durch die freigewordene Thür hinaus in den
Sonnenſchein eilte.
Zweites Kapitel.
Der Kriegsmann ſchritt klirrend dem Hintergrunde
des ſchmalen tiefen Gemaches zu, ſchnallte den Degen
ab, legte ihn mit dem Federhute und den Handſchuhen
auf einen leeren Sitz und warf ſich mit einer unmuthigen,
harten Bewegung auf einen andern.
Fauſch hatte gerade dieſen Gaſt heute am wenig¬
ſten erwartet, auch entging ihm der mit den über¬
müthigen Worten auf der Schwelle im Widerſpruch
ſtehende Ausdruck des Kummers und der Abſpannung
auf dem kühnen Geſichte nicht. Nachdem er noch einen
beſorgten Blick auf dieſes geworfen, ſchloß er behutſam
die Thüre ſeines Schankes.
Das ſchmale Gemach lag jetzt im Halbdunkel, nur
durch ein hochgelegenes Rundfenſter über der Thür
drang ein röthlicher, von goldnen Stäubchen durch¬
ſpielter Sonnenſtrahl in ſeine Tiefe und blitzte in den
[129] aufgereihten, fein geſchliffenen Kelchen und funkelte in
dem Purpurweine, welchen Meiſter Lorenz dem in ſich Ver¬
tieften unaufgefordert vorgeſetzt hatte. Eine gute Weile
noch ſchwieg dieſer, das Haupt auf den Arm geſtützt,
während Fauſch die Hände auf die glänzende Marmor¬
platte ſtemmte und, einer Anrede gewärtig, nachdenklich
vor ihm ſtand.
Endlich entrang ſich der Bruſt des Gaſtes ein
ſchwerer Seufzer: „Ich bin ein Mann des Unglücks!“
ſprach er vor ſich hin. Dann richtete er ſich mit einem
trotzigen Rucke auf, als ob ihn ſein eigenes muthloſes
Wort aus einem böſen Traume geweckt und ſeinen
Stolz beſchämt hätte, heftete ſeine finſtern Augen feſt,
aber voll inniger Freundlichkeit auf Meiſter Lorenz und
begann: „Du wunderſt Dich, Fauſch, mich hier in
Venedig zu ſehen! Du glaubteſt, ich hätte noch eine
lange Arbeit in Dalmatien, aber ich bin zuletzt raſcher
damit fertig geworden und unblutiger als ich ſelber es
dachte. Die dalmatiſchen Räuber ſind zu Paaren ge¬
trieben und die Republik von San Marco kann mit
mir zufrieden ſein. Es war kein leichtes Spiel. Bei
Gott, ich kenne den Gebirgskrieg von der Heimat her,
aber hätt' ich nicht Verräther unter ihnen gefunden, und
ſie entzweit durch mancherlei Liſt und Vorſpiegelung, ich
ſäße noch vor ihren Bergmauern drüben in Zara. Auch
Meyer, Georg Jenatſch. 9[130] eine hübſche Beute habe ich gemacht und Dein Theil
daran, Lorenz, iſt Dir wie immer gewiß. Ich bin nicht
Jenatſch, wenn ich je vergeſſe, daß Du mich aus Deinem
ſchmalen Erbe in den erſten Harniſch geſteckt und auf
einen Kriegsgaul geſetzt haſt.“
„Ein dankbares Gemüth iſt ein ebenſo ſchönes als
ſeltenes Juwel“, ſagte Fauſch erfreut, „aber wo drückt
Euch denn der Schuh, Hauptmann Jenatſch, wenn Ihr
Ruhm und Beute vollauf zurückbringt?
„Ich bin noch mit dem letzten Schritte in eine Falle
meines tückiſchen Schickſals getreten“, verſetzte der
Hauptmann, die Brauen ſchmerzlich zuſammen ziehend.
„Geſtern Mittag landete meine Brigantine an der Riva,
ich meldete mich pflichtſchuldig bei dem Provveditore,
der mich, da ich ſeine beſondere Gunſt nicht beſitze, ohne
Weiteres zu meinem Regiment nach Padua beorderte.
Dort langte ich bei einbrechender Nacht an und fand
meinen Oberſten in einer Locanda eine halbe Meile
vor dem Thore, aufgeregt von Becher und Würfel und
in beſtialiſcher Laune. Er ſtand gerade mit roth glühen¬
dem Geſicht am Fenſter, um Luft zu ſchöpfen, als ich
vorritt. „Prächtig!“ ſchrie er mich an, „da weht uns
der Teufel noch ſein Schooßkind den Jenatſch her!
Herauf, Hauptmann, mit Eurem vollen Beutel aus
[131] Dalmatien!“ — Ich ſtieg ab und erſtattete Bericht,
dann ſetzt' ich mich zur Geſellſchaft und wir ſpielten
bis zum Morgenlicht. Dabei verlor der Oberſt an mich
etwas wie hundert Zechinen, doch verbiß er ſeinen
Grimm und ohne Streit erreichten wir die Stadt. Aber
er ließ den Mißmuth an ſeinem feurigen Rappen aus
und das ſchaumbedeckte Thier traf am Gemüſemarkt mit
den fliegenden Hufen ein Bübchen, welches dem Schul¬
meiſter und der zur Frühmeſſe ziehenden Schule nach¬
trottelte. Wir ſaßen beim Petrocchi ab und nahmen
ein Frühſtück. Natürlich war bald auch der Schul¬
meiſter da mit einer feierlichen Jammermiene und for¬
derte für das Schülerlein ein dem Edelmuth und dem
hohen Stande des Herrn angemeſſenes Schmerzensgeld.
Ruinell aber fuhr den armen Wicht ſo wüthend an,
daß mich ein Mitleid überkam und ich mich dazwiſchen
legte. So empfing denn ich die volle Ladung und der
Oberſt, der ſeiner Sinne nicht mehr mächtig war, ver¬
gaß ſich ſo weit, daß er mich am Wams packte und
einen ſchurkiſchen Demokraten ſchalt, der mit dem
paduaniſchen Lügenpöbel unter einer Decke ſtecke . . .“
„Das biſt Du auch, herrlicher Jürg“, rief der
Bäcker dazwiſchen, ſobald das Wort Demokrat ſein Ohr
erreichte, denn dieſer Zauberformel hatte er nie wider¬
ſtehen können. „Das biſt Du auch! Dein treues Ge¬
9*[132] müth hat es mit dem gedrückten Volke ſtets redlich
gemeint!“
. . . . „Je gelaſſener ich mich vertheidigte, deſto
unbändiger wurde der Raſende. „Der Degen ſoll ent¬
ſcheiden, Hauptmann“, tobte er, „kommt mit mir vors
nächſte Thor“. Ich beſchwor ihn, wenigſtens bis morgen
davon abzuſtehen und mich nicht zu nöthigen gegen
meinen Obern zu ziehen. Aber er bedeckte mich mit
Schmähungen und nannte es eine Feigheit, wenn ich
es nicht auf die Waffen ankommen laſſe. Da endlich,
um den ehrrührigen Aergerniß ein Ende zu machen,
folgte ich ihm, ungern genug, auf den Wall hinter
St. Juſtine. Wir waren ſtattlich geleitet, auch vom
Stadthauptmann und ſeinen Sbirren, tapfern Leuten,
wie Du Dir's denken kannſt, Lorenz! die ſich mit voll¬
kommener Rückſicht hüteten, in fremde Händel einzu¬
greifen. Draußen aber warf der Unſelige ſich meiner
Klinge in ſo blindem Zorne entgegen, daß er ſich nach
wenigen Gängen — — aufrannte.“
„Brrr“, fuhr Fauſch zuſammen, obwohl er dieſen
Schluß der Erzählung ahnungsvoll vorausgeſehen hatte.
Dann ſetzte er ſich hinter ſein Rechenbuch, das auf einem
kleinen Pulte zwiſchen dem Tintenfaſſe und einem um¬
fangreichen, bis auf eine kleine Neige geleerten Kelch¬
glaſe lag und ſchlug bedächtig blätternd eine Seite des¬
[133] ſelben auf, die den Namen: „Oberſt Jakob Ruinell“ als
Ueberſchrift trug. Sie war von oben bis unten mit
langen Zahlenreihen bedeckt. Er tunkte die Feder ein
und zog zwei dicke Striche kreuzweis über das ganze
Blatt. Dann ſetzte er ein Kreuzchen auch neben den
Namen und ſchrieb dazu: obiit diem supremum, ulti¬
mus suae gentis und das Datum. „Requiescat in
pace. Seine Schuld ſei ihm erlaſſen“, ſagte er. „Man
verſenkt den Letzten ſeines Geſchlechts mit Wappen und
Helm. Ich begrabe mit dem Ruinell ſeine Rechnung.
Bezahlen würde ſie mir doch niemand.“
„Nun ſchleppe ich auch das noch hinter mir her!“
ſeufzte der Andere.
„Werdet Ihr Euch flüchten? fragte Fauſch.
„Nein, ich gehe nicht aus Venedig, ich laſſe mich
nicht vom Herzog Rohan hinwegreißen“, verſetzte Jenatſch
leidenſchaftlich, „jetzt, da der Kampf zur Befreiung
meines Vaterlandes wieder entbrennen ſoll“.
„Merkt wohl, Jenatſch“, ſagte Fauſch, den Zeige¬
finger an die Naſe legend, mit liſtigem Blicke, „der
Provveditore hat Euch nicht umſonſt hinüber nach Dal¬
matien geſchickt. Sein Zweck iſt, Euch von Rohan fern
zu halten. Ahnt er doch, daß Euer gerades natürliches
Weſen im Fluge das Vertrauen des edlen Herzogs ge¬
wänne, und daß Ihr in Bünden ſeine rechte Hand
[134] werden müßtet. Wegen Eurer ſchon im Jünglingsalter ver¬
richteten demokratiſchen Großthaten ſeid Ihr dem weich¬
lichen Venetianer verhaßt und erſcheint ihm gefährlich.“
„Himmel und Hölle ſcheiden mich nicht von den
Geſchicken meiner Heimat“, brauſte Jenatſch auf, „und
dieſe liegen jetzt in den Händen des Herzogs! „Uebri¬
gens“, fuhr er bitter lächelnd fort, hat ſich Grimani
verrechnet. Ich bin ſchon ſeit Monaten mit dem ge¬
lehrten Herzog in einem militäriſchen Briefwechſel; denn
ich habe Ernſt gemacht aus dem Handwerke, Lorenz, das
mir einſt die Noth der Zeit aufgedrungen, und von
Bünden zeichnet niemand eine beſſere Karte als ich.“
„Gut“, ſagte Fauſch, „aber wie denkt Ihr Euch
das Nächſte? Ihr habt nach venetianiſchem Kriegsgeſetze
das Leben verwirkt, denn es verbietet bei Todesſtrafe
ſich mit einem Vorgeſetzten zu ſchlagen.“
„Bah, es fehlt mir nicht an Zeugen, daß ich knapp
nur mein Leben vertheidigt habe“, warf der Haupt¬
mann hin. „Grimani freilich haßt mich noch von
Bünden her, — wo er früher, wie Du Dich wohl
erinnerſt, venetianiſcher Geſandter war, — ſo gründ¬
lich, daß er den Anlaß willkommen hieße, mich in den
Canal werfen zu laſſen. Dieſe Luſt aber wird er ſich
verſagen müſſen. Ich habe einen Vorſprung von
mehreren Stunden. Gleich nach dem Zweikampfe warf
[135] ich mich zu Pferde und eilte nach Meſtre zurück. Der
amtliche Bericht an den Provveditore kann nicht vor
Mittag in Venedig ankommen. Das kleine Geſchäft,
das mich zu Dir führte, iſt gleich beendigt, dann fahre
ich ohne Weiteres nach dem Palazzo des Herzogs am
Canal grande. Ich weiß nicht, ob ich dort gerade will¬
kommen ſein werde; aber Schutz und Sicherheit als
ſeinem Gaſte verſagt mir der Herzog nicht.“
„Keinen Schritt aus meiner Bude, Jürg!“ eiferte
Meiſter Lorenz. „Der Herzog wird in wenigen Augen¬
blicken hier ſein. Er will drüben bei den Frari den
Tizian beſehen. Das hat mir eben ſein Adjutant ge¬
ſagt, der Wertmüller von Zürich, ein gebildeter Menſch,
ein feiner Kopf; aber noch grün, grün! Er ſpricht
häufig hier ein, um mit mir die öffentlichen Angelegen¬
heiten zu verhandeln und ſich ein geſundes politiſches
Urtheil zu bilden.“ — Inzwiſchen hatte er leiſe die
Thür etwas geöffnet und ſein großes Geſicht lauſchend
an die Spalte gelegt. „Sieh, ſieh,“ fuhr er fort,
„drüben ſetzen ſich die Bettler ſchon in Bewegung und
bilden in rührenden Gruppen auf beiden Seiten Spalier.
Der Herzog iſt im Anzuge.
Mit dieſen Worten ſtieß er beide Flügel weit auf.
Der dunkle Steinrahmen der Thür umſchloß ein Bild
voll Farbenglanz, Leben und Sonne.
[136]
Im Vordergrunde wurden eben an den Ringen
der Landungstreppe zwei mit zierlichem Schnitzwerke und
wallenden Federſträußen geſchmückte Gondeln befeſtigt.
Zwölf junge Gondoliere und Pagen in Roth und Gold,
die Farben des Herzogs, gekleidet, blieben zur Hut der
Fahrzeuge auf dem von der Mauer grün beſchatteten
Canale zurück und kürzten ſich in den Gondeln mit
allerlei Scherz und Neckerei die Zeit. Die Herrſchaften
waren ausgeſtiegen und hatten ſich die Treppe hinauf
nach dem hellen Platze vor der Kirche begeben. Hier
ſtanden ſie noch, die Schönheit der Faſſade bewundernd
und lebhaft beſprechend.
Leicht zu erkennen an ſeinem vornehmen hagern
Wuchs und der würdevollen aber anmuthigen Haltung
war der mit calviniſtiſcher Schlichtheit in dunkle Stoffe
gekleidete Herzog. Die ſchlanke Dame, die er führte,
war nach allen Seiten in beſtändiger Bewegung. Jetzt
neigte ſie ſich gefällig einem kurzen unterſetzten Herrn
zu, der ihr mit einiger Gravität die gothiſche Archi¬
tektur des Doms zu erklären beſtrebt war. Ein Ge¬
folge von jungen Edelleuten in militäriſcher Tracht hielt
ſich in angemeſſener Entfernung und ſetzte mit franzö¬
ſiſcher Lebendigkeit eine Unterhaltung fort, in der offen¬
bar die Maria glorioſa keine Rolle ſpielte. In ihrer
Mitte ſtolzirte der kleine kecke Wertmüller und ſchien,
[137] wie ein kampfluſtiger Sperling ſeinen Raub, eine Theſe
gegen alle gewandten Angriffe ſeiner jugendlichen Ge¬
noſſen zu verfechten.
Jenatſch hatte ſich, die Pforte leer laſſend, mit
Fauſch etwas in den Hintergrund des Gemaches ge¬
ſtellt, doch dergeſtalt, daß ſein Auge den Platz beherrſchte,
und blickte über des Bäckers Schulter mit geſpannter
Aufmerkſamkeit auf die Gruppe. Die Erſcheinung des
Herzogs feſſelte ſeine ganze Seele. Dies war wieder
das ihm unvergeßlich eingeprägte blaſſe Antlitz, in wel¬
ches er einmal vor langen Jahren am Comerſee geſchaut
hatte. In dieſem Augenblicke zeigte ihm der Herzog
ſeine ſcharf gezeichneten Züge im Profil und der Aus¬
druck langgeübter Selbſtbeherrſchung und ſchmerzlicher
Milde, der auf dem etwas gealterten geiſtvollen Ge¬
ſichte unverkennbar vorherrſchte, überwältigte ſeltſamer
Weiſe den Bündner wie mit der Macht einer erwachenden
alten Liebe. Dieſer Mann, der ihn magnetiſch anzog,
der in der Stunde, die über ſein Leben entſchied, einen
wunderbaren Einfluß auf ihn geübt, dieſer edle Menſch,
an den er ſich immer noch in verborgener Weiſe ge¬
kettet fühlte, hier ſtand er vor ihm und erſchien ihm,
als der beſtimmt ſei, in das Loos ſeiner Heimat ent¬
ſcheidend einzugreifen. Rohan hielt wieder die Urne
des Schickſals in den Händen.
[138]
„Erkennſt Du in dem ſchneeweißen Rundkragen
dort, dem anſehnlichen Herrn, der vor der Herzogin
ſcharwenzelt, unſern alten Schulkameraden Waſer von
Zürich?“ unterbrach Fauſch den ſtürmiſchen Gedanken¬
flug des Hauptmanns. „Seine Manſchetten ſind ſo
ſauber und ſchmuck wie vordem ſein Schulheft im Loch.“
„Richtig! dort ſteht Waſer! — Was ſucht der in
Venedig?“ flüſterte Jenatſch.
„Da hab' ich meine Vermuthungen. . . . Vielleicht
hat Zürich irgend eine Rechnung für ſeine Compagnien
im Dienſte von San Marco zu ordnen — das iſt aber
nur Vorwand, ſicherlich — und der Fuchs dort hat wohl
mehr mit dem franzöſiſchen Herzog als mit dem ge¬
flügelten Löwen zu thun. Das franzöſiſche Heer, das
der Herzog auf das Kriegstheater führen wird, ſammelt
ſich, ſagt man, im Elſaß und er kann es nur über den
Boden der proteſtantiſchen Kantone nach Bünden bringen.
Die Herren von Zürich aber berühmen ſich, ihre Neu¬
tralität zwiſchen Frankreich und Oeſterreich ſtreng und
peinlich aufrecht zu halten. . . . Nur durch einen unvor¬
hergeſehenen raſchen Durchbruch könnte ſie vorübergehend
perturbirt und die ſcharfſichtigſte Wachſamkeit betrogen
werden. Dieſes jeder Vorſicht der Zürcheriſchen Regen¬
ten ſpottende Ereigniß kartet ihr braver Kanzler dort mit
dem Herzog ab“.
[139]
„Vortrefflich!“ ſagte Jenatſch, den Degen um¬
ſchnallend, aber nun zu unſerm Geſchäft!“
Er zog Brieftaſche und Beutel hervor.
„Dieſe zweihundert Zechinen ſind Dein, Fauſch“,
und er ſteckte ihm eine Rolle zu, „für Gaul und Har¬
niſch. Meine übrige dalmatiſche Beute — hier iſt ſie
in Briefſchaften und Gold — bring mir bei dem Wechſler
a Marca in Sicherheit. Ich hoffe die Bleidächer zu ver¬
meiden; aber es iſt gut auf Alles gefaßt zu ſein. Addio.“
Fauſch ergriff mit Wärme die dargebotene Hand
und ſagte: „Lebe wohl Jürg, Du mein Stolz“.
Drittes Kapitel.
Auch der Hauptmann trat durch die Pforte der
Maria glorioſa. Er ſah ſich mit einem ſchnellen Blicke
um, und wandte ſich dann unbemerkt links unter die
hohen Bogen des Seitenſchiffs, in deſſen Mitte die
Geſellſchaft des Herzogs ein Altarblatt betrachtete.
Langſam vorſchreitend näherte er ſich der Gruppe.
Der Herzog ſchien gedankenvoll in das Bild ver¬
tieft, während ihm ſeine Gemahlin mit entzückten Ge¬
berden und einem Strome von Worten ihre Bewunde¬
rung des von ihr bis jetzt ungenoſſen gebliebenen Mei¬
ſterwerks ausdrückte. — Einen Schritt abſeits ließ ſich
Herr Waſer von dem hinter ihm ſtehenden Küſter mit
leiſer Stimme die verſchiedenen Figuren des Bildes er¬
klären und ſchrieb deren Namen in feiner Schrift über
die Köpfe einer in Kupfer geſtochenen winzigen Kopie,
die er aus ſeiner Brieftaſche gezogen hatte.
[141]
„Die edle Familie Peſaro,“ erläuterte in gedämpf¬
tem ſingenden Tone der Küſter, während um ſeine Füße
ſchmeichelnd ein weißes Lieblingskätzchen ſtrich, das,
ebenſo heimiſch im Dom wie ſein Meiſter und ebenſo
ſcheinheilig wie er, ihm auf Schritt und Tritt folgte,
„die edle Familie Peſaro, der allerheiligſten Madonna
vorgeſtellt durch die Schutzpatrone St. Franziskus, St.
Petrus und St. Georg. —“ Hier verbeugte er ſich
gegen die Heiligen und machte eine ehrerbietige Pauſe.
Dann bat er im Flüſtertone, auf das dem Beſchauer
zugewandte lieblich blaſſe Köpfchen der jüngſten, höch¬
ſtens zwölfjährigen Peſaro hinweiſend, den aufmerkſamen
Herrn Waſer, eine wunderſame Eigenſchaft ihrer durch¬
ſichtigen braunen Augen nicht außer Acht zu laſſen.
„... Dieſe zaubervollen Blicke, Herr, richten ſich un¬
verwandt auf mich, von woher ich immer das ſüße
kleine Fräulein beſchaue. Sie begrüßen mich, wenn ich
zum Altar trete, und wohin ich immer geſchäftig
mich wende, die leuchtenden Sterne verlaſſen mich
niemals“.
Während Herr Waſer ſeine Stellung zu wieder¬
holten Malen wechſelte, begierig zu erfahren, ob ſich
dieſe Behauptung auch zu ſeinen Gunſten erprobe,
wurde das Intereſſe der jungen Edelleute, welche ſich,
um die Herzogin ungeſtört ihrem Kunſtgenuße zu über¬
[142] laſſen, etwas im Hintergrunde hielten, durch ein anderes
Augenſpiel angezogen. Die Blicke, die ſie feſſelten,
waren nicht die wunderbaren des von Tizian gemalten
Kindes, auch durfte der Küſter ſich nicht erſt bemühen,
ſie auf dieſen natürlichen Zauber aufmerkſam zu machen.
Am Fuße des nächſten Pfeilers knieten ein paar Vene¬
tianerinnen. Jugendlich weiche Geſtalten! Durch die
das Angeſicht verhüllenden ſchwarzen Spitzenſchleier
ſchienen ſchwärzere Brauen und Wimpern und flogen
Blicke, deren ſchmachtendes Feuer zwiſchen der Himmels¬
königin und ihren kriegeriſchen Beſchauern ſich theilten.
Nicht zu Ungunſten der Letztern, die ihrerſeits den Dank
nicht ſchuldig blieben.
„Wie ſchön wäre dieſe Gruppe,“ ſagte jetzt die
ebenſo kunſtbegeiſterte als gut proteſtantiſche Herzogin,
indem ſie den Arm erhob und mit dem geöffneten Fächer
die Madonna mit den drei Heiligen ihrem Blicke ver¬
deckte. „Wie ſchön wäre dieſe Gruppe, wenn die gottes¬
fürchtige Familie ihre Andacht ohne die Vermittlung
dieſes obern Hofſtaates vor den Thron des Unſicht¬
baren brächte!“
„Ihr ſprecht als gute Proteſtantin,“ lächelte der
Herzog, „aber ich fürchte, Meiſter Tiziano wäre nicht
mit Euch zufrieden. Ihr müßtet ſchließlich über die
ganze heilige Kunſt den Stab brechen; denn unſer
[143] Himmel und was darinnen iſt läßt ſich nicht mit Linien
und Farben darſtellen.“
Bei den Worten der Herzogin wagte es der kleine
Wertmüller hinter dem Rücken der Dame ſeinem Lands¬
manne Waſer einen ſpöttiſchen Blick zuzuwerfen, worüber
dieſer in Entſetzen gerathen wäre, wenn nicht Beide
nun plötzlich den Fremden wahrgenommen hätten, wel¬
chem Wertmüller ſchon eine Stunde früher auf der
Schwelle des Zuckerbäckers begegnet war.
„Für den heiligen Georg, gnädigſte Frau, muß ich
ein Wort einlegen,“ ſagte jetzt, aus dem Schatten tre¬
tend und vor der Herzogin ſich verbeugend, Hauptmann
Jenatſch. „Ich bin ein erprobter Proteſtant; wenig¬
ſtens habe ich für die reine Lehre geblutet; doch zu
St. Jürg, meinem Namenspatron, halt' ich jeweilen
Andacht. Der heilige Drachentödter befreite vor Zeiten
mit ſeiner tapfern Lanze das kappadociſche Königstöch¬
terlein. Ich aber weiß ein viel beklagenswertheres Weib,
das an den ſtarren Felſen geſchmiedet und von den
Krallen eines feuerſpeienden Drachen zerfleiſcht, den
vom Himmel geſandten Retter mit Sehnſucht erwartet.
Die edle Magd, ſie iſt mein armes Vaterland, die Re¬
publik der drei Bünde; der ſie aber aus den Klauen
des ſpaniſchen Lindwurms reißen wird, ihr ſiegreicher
St. Georg, ſteht leibhaftig vor mir.“
[144]
„Ihr ſeid ein Bündner?“ ſagte der Herzog, an¬
genehmer berührt durch die hinreißende Wärme des Re¬
denden als durch die ſtark aufgetragene Schmeichelei,
die der Herzogin ein gewogenes Lächeln entlockt hatte.
„Irr' ich mich, oder ſeid Ihr der Hauptmann Georg
Jenatſch?“
Dieſer verneigte ſich bejahend.
„Ihr habt aus Zara an mich geſchrieben,“ fuhr
der Herzog fort. „Aus den Antworten meines Adju¬
tanten Wertmüller,“ und er ſtellte dem Hauptmann den
ſchmächtigen Zürcher vor, der des Bündners Auftreten
nicht ohne Mißtrauen ſcharf beobachtet hatte und bei
der Nennung ſeines Namens nun hinzutrat, „aus Wert¬
müllers Antworten habt Ihr erſehen, daß Eure Mit¬
theilungen über die Zuſtände Eures Vaterlandes mir
alle Beachtung zu verdienen ſcheinen und die beigelegten
Karten mir von Nutzen waren. Wäre meine Zeit durch
die Vorbereitung des Feldzuges nicht vollſtändig auf¬
gezehrt, ſo hätt' ich mir nicht verſagt, Euch perſönlich
meine Zuſtimmung in den meiſten Fällen, in andern
meine Zweifel und Einwürfe mitzutheilen. Um ſo will¬
kommener iſt mir nun Eure Gegenwart in Venedig.
Mehr als einmal, ſeit ich in brieflichen Verkehr mit
Euch getreten, hab' ich mich bei meinem Freunde, dem
Provveditore Grimani um Eure Rückberufung aus Dal¬
[145] matien verwendet. Immer vergeblich. Ich erhielt die
Antwort, Ihr wäret dort unentbehrlich. Eure Gegen¬
wart überraſcht mich. Was iſt der Grund Eurer be¬
ſchleunigten Rückkehr?“
„Größtentheils mein glühender Wunſch, Euch zu
ſehen, erlauchter Herr, und mein Eifer Euch zu dienen,“
ſagte Jenatſch. „Dies Verlangen ſtärkte meine Erfin¬
dungskraft und ließ mich zur Erreichung des Ziels die
kühnſten Mittel ergreifen. Meine Aufgabe in Zara iſt
gelöſt, und wenn ich nach Venedig zurückeilte, bevor
der Provveditore mir eine neue Herkulesarbeit auf
irgend einer fernen Inſel ausſann, ſo wird es Euch
leicht werden, wofern Ihr mir geneigt ſeid, dieſe Dienſt¬
unregelmäßigkeit in ein günſtiges — in ihr wahres
Licht zu ſtellen und bei meinem Vorgeſetzten zu ent¬
ſchuldigen.“
Der forſchende Blick des Herzogs verſenkte ſich eine
Weile in das feurige Geſicht des Bündners, das für
ihn mit irgend einer fernen Erinnerung zuſammenhing;
doch dieſer Blick wurde immer wohlwollender, beſtochen
durch die innige Bitte der finſter beſchatteten Augen.
Während dieſes Geſprächs hatte ſich die Geſell¬
ſchaft dem Ausgange zubewegt. Der Küſter hob den
ſchweren Damaſtvorhang der Pforte und empfing mit
devoten Bücklingen das Goldſtück des Herzogs und die
Meyer, Georg Jenatſch. 10[146] ſorgfältig in ein Papier gewickelte Gabe des Herrn
Waſer.
„Ein gutes Wort bei Grimani für Euch einzu¬
legen, Signor Jenatſch, das werd' ich mir noch heute
angelegen ſein laſſen,“ ſprach der Herzog, als ſie draußen
in der ſonnigen Luft ſtanden. „ Er ſpeiſt bei mir. Dieſen
Abend, nachdem Ihr mir Zeit gelaſſen habt, ihn zu Euren
Gunſten zu ſtimmen, ſtellt Euch bei mir ein, ich habe
dann Muße, mich mit Euch über Eure Angelegenheiten
zu unterhalten. Die Intereſſen Eures Vaterlandes ſind
auch die meinigen. Ich erwarte Euch zu früher Abend¬
ſtunde in meiner Wohnung am Canal grande. — Wert¬
müller,“ rief er, „bis dahin begleitet den Hauptmann.
Ihr haftet mit Eurer Liebenswürdigkeit dafür, daß
mein Gaſt nicht anderwärts in dem verlockenden Vene¬
dig gefeſſelt wird. Unterhaltet ihn geiſtreich, bewirthet
ihn ſtandesgemäß und bringt mir ihn pünktlich.“
Die Herzogin war ſchon huldvoll grüßend in eine
der harrenden Gondeln getreten. Nun ſchied auch der
Herzog und nur Waſer, welcher mit einigen Herren des
Gefolges die zweite zu benutzen Willens war, blieb noch
einen Augenblick zurück.
Er hatte die Unterredung des Herzogs mit ſeinem
Jugendgenoſſen, den er eine Reihe von Jahren aus den
Augen verloren, nicht ſtören wollen. Auch hatte er
[147] nicht ungern die Erkennungsſcene um einen Moment
hinausgeſchoben, den er benutzte, um ſich in Jürgs ge¬
genwärtiger Geſtalt zurecht zu finden. Seit jenem
hoffnungsloſen Abſchied in Zürich waren nur zufällige
und verworrene Nachrichten von Jenatſch und deſſen
Schickſalen in verſchiedenen proteſtantiſchen Heeren an
ſein Ohr gelangt; und im Laufe der Zeit hatte ſich
Jürgs Bild in Waſers Seele zu einer unbeſtimmten
und räthſelhaften Traumfigur verzogen. —
So drückte er ihm denn freundſchaftlich, aber etwas
förmlich und verlegen die Hand und beſchränkte ſich
darauf, angelegentlich nach ſeinem gegenwärtigen Befin¬
den und jetzigen Range ſich zu erkundigen. Dann be¬
ſtieg auch er die Gondel und die beiden Offiziere ſtan¬
den ſich auf dem Campo dei Frari allein gegenüber.
„Wenn es Euch genehm iſt, Herr Hauptmann,“
begann Wertmüller, „erfülle ich von meinen drei Auf¬
trägen den mittleren zuerſt und führe Euch auf den
Markusplatz in das von mir erprobte und gutgeheißene
Gaſthaus zu den Spiegeln. Hernach luſtwandeln wir
ein Stündchen in den Arkaden unter den venetianiſchen
Schönheiten. Erfreut ſich dieſes Programm der Zu¬
ſtimmung des Herrn Kameraden?“
Der ſtreng wiſſenſchaftlich geſchulte, ehrſüchtige Wert¬
müller glaubte ſich die vertrauliche Anrede dem älteren,
10*[148] aber in regelloſer Laufbahn vorgedrungenen Kriegsmanne
gegenüber erlauben zu dürfen.
„Wie Ihr meint, Wertmüller,“ ſagte Jenatſch an¬
ſcheinend mit heiterer Einwilligung, „doch ſchlag' ich zu¬
erſt noch eine kleine Spazierfahrt vor, — nach Murano?“
Dieſe laut mit fröhlicher Stimme geſprochenen
Worte wurden augenblicklich von zwei Gondolieren auf¬
gefangen, die im Vorüberfahren die beiden Offiziere
auf dem Campo erblickt und an der Landungstreppe
auf die glänzende Beute gelauert hatten. Schon hatten
ſie ihr leichtes offenes Fahrzeug von der Mauer gelöſt
und die Ruder ergriffen.
Der Hauptmann ſprang raſch in die Gondel und
Wertmüller folgte.
Viertes Kapitel.
Der Auftrag des Herzogs war der unruhigen Neu¬
gier des jungen Zürchers in hohem Grade willkommen.
In ſeiner Heimat hatte er vordem den bündne¬
riſchen Parteiführer aufs Verſchiedenſte beurtheilen hören.
Auf den lärmenden Zunftſtuben der Handwerker galt
damals Jürg Jenatſch als ein volksthümlicher Held, in
den landesväterlichen diplomatiſch gefärbten Kreiſen als
ein gewiſſenloſer, blutbefleckter Abenteurer. Aber Ru¬
dolf Wertmüller hatte ſeiner Heimat frühzeitig den
Rücken gewandt, um einen militäriſchen Bildungsgang
anzutreten, der den Begünſtigten ſchon mit ſechszehn
Jahren in das Kriegsgefolge und die perſönliche Nähe
des edeln Herzogs Heinrich geführt hatte.
Noch war ihm gegenwärtig, wie einſt die un¬
glaubliche Verwegenheit und Zähigkeit, welche Jenatſch
in den Volkskämpfen gegen die Spanier bewieſen, ſeine
[150] junge Phantaſie beſchäftigte. Doch aus noch früherer Zeit
erinnerte er ſich auch, daß der wilde Antheil des pro¬
teſtantiſchen Prädikanten an den ruchloſen demokratiſchen
Strafgerichten mit ihren Erpreſſungen und politiſchen
Morden in ſeiner Familie Abſcheu erregt hatte, und
daß es ihm beſondern Spaß gemacht, als ſein Präcep¬
tor darüber wehklagend die Hände gen Himmel erhob.
Daneben ſchwebte ihm ein anderes Erlebniß ſeiner
Kinderjahre mit friſcheſter Deutlichkeit vor. Am ſtädti¬
ſchen Jahrmarkte ſtand er einſt mitten in der geſpannt
lauſchenden Volksmenge vor dem Schauergemälde eines
Bänkelſängers und lauſchte den endloſen Verſen einer
tragiſchen Mordgeſchichte. Die ruckweis wandernde
Gerte des Leiermanns wies auf die Szenen einer mit
den grellſten Farben bemalten Tafel. Auf dem Mittel¬
ſtück umſtanden die ſogenannten drei bündneriſchen Telle
ihr nur mit dem Hemde bekleidetes, aus einem Schlot
heruntergeriſſenes Opfer, den unglücklichen Herrn Pom¬
pejus. Einer von ihnen ſchwang ein langgeſtieltes
Fleiſcherbeil — das war der berühmte Pfarrer Jenatſch! —
Als dann der aufgeregte Knabe beim Abendbrot vor
ſeinem Stiefvater, dem Oberſten Schmid, von den neuen
Tellen erzählte, verbot ihm dieſer zornroth, der blut¬
dürſtigen Canaillen in ſeiner Gegenwart Erwähnung
zu thun.
[151]
Jetzt ſchaute er dieſer Perſönlichkeit von beſtritte¬
nem Werthe Aug' in Auge und ſie war anders, als ſie
in ſeiner Vorſtellung gelebt hatte. Statt der rohen
und zweideutigen Erſcheinung eines geiſtlichen Demago¬
gen ſaß ein weltgewandter Mann mit der Sicherheit
und Freiheit des Cavaliers in Wort und Bewegung
vor ihm. — Von der ungewöhnlichen militäriſchen Be¬
gabung des ehemaligen Pfarrers hatte ihn der im Na¬
men des Herzogs mit dieſem geführte Briefwechſel ge¬
nügend überzeugt, aber was ihn überraſchend berührte,
war ein gewiſſer Zauber der Anmuth, der die kühnen
Züge und warmen Worte des Bündners verſchönt hatte,
als dieſer mit dem Herzog ſprach. — Der nichts weni¬
ger als argloſe Zürcher fragte ſich, ob dieſe Herzlichkeit
ächt ſei. Ja, ſie ſprudelte voll und natürlich, aber es
war ihm nicht entgangen, daß die unausbleibliche Wir¬
kung dieſes warmen Eindringens auf den Herzog eine
gewollte, vielleicht im Voraus berechnete war.
Nachdem die Gondel einige ſchmale Waſſergaſſen
durchglitten, folgte ſie auf kurze Zeit der Hauptader
des venetianiſchen Verkehrs, dem Canal grande, wo in
der Ferne mitten im Gewimmel der Gondeln und Fi¬
ſcherbarken noch das langſam und ſtolz dahinziehende
Fahrzeug des Herzogs ſichtbar war; dann, aufs Neue
in die Schatten enger Lagunen ſich vertiefend, eilte
[152] ſie der die Stadt nördlich begrenzenden ſtillen Meer¬
fläche zu.
„Ihr fochtet in Deutſchland, Hauptmann, bevor
Ihr der Republik von San Marco Eure Dienſte an¬
geboten habt?“ begann der ungeduldige Wertmüller das
Geſpräch, da ſein Gefährte eigenen Gedanken nachzu¬
hangen ſchien.
„Unter Mansfeld. Dann folgte ich der ſchwedi¬
ſchen Fahne bis zu dem unſeligen Tage von Lützen,“
war die zerſtreute Antwort.
„Unſelig? Es war eine entſchiedene Victorie!“
meinte der junge Offizier.
„Wäre es doch lieber eine Niederlage geweſen und
hätten zwei ſtrahlende Augen ſich nicht geſchloſſen!“ ſagte
der Bündner. „Durch den Tod eines Mannes ward
die Weltlage eine andere. Unter Guſtav Adolf war
der Krieg kein muthwilliges Blutvergießen: er führte
ihn für ſeinen großen Gedanken, zum Schutze der evan¬
geliſchen Freiheit ein ſtarkes nordiſches Reich zu grün¬
den, und ein ſolches Reich wäre der Halt und Hort
aller kleinen proteſtantiſchen Gemeinweſen, auch meines
Bündens, geworden. Dies erſehnte Ziel iſt uns mit
dem großen Todten entrückt und der ſeiner Seele be¬
raubte Krieg entartet zur reißenden Beſtie. Was bleibt
übrig? Zweckloſes Morden und habgierige Theilung der
[153] Beute. Unter Guſtav Adolfs Fahne konnte ein Bünd¬
ner freudig fechten; Blut und Leben für die proteſtan¬
tiſche Sache verſtrömend, war er ſicher, daß es in
Segensbächen zurückrinne in ſein kleines Vaterland. —
Jetzt ſehe Jeder zu, daß er heimkehre und für das
Seine ſorge.“
„Glaubt Ihr denn, daß ein einzelner Mann, und
wäre er Guſtav Adolf, ſo ſchwer in der Schickſalswage
der Welt wiege?“ fragte raſch der widerſpruchsluſtige
Wertmüller. „Die Eiferſucht der deutſchen Fürſten
hätte wie ein Geſchling von Sumpfpflanzen ſeinen Fuß
gehemmt, ſein neidiſcher Bundesgenoſſe Richelieu hätte
ihn, ſobald er die Hand nach der deutſchen Krone aus¬
ſtreckte, argliſtig zu Falle gebracht und erreicht hätte er
nichts, als das Zuſammenkrachen der alten verroſteten
Maſchine des heiligen römiſchen Reichs. — Im Grunde
erſcheint mir der Schwedenkönig als ein frommes Ge¬
genſtück zum Wallenſtein. Dieſer wird als gottloſer
Empörer ſchwarz wie der Teufel an die Wand gemalt
und jener iſt im Geruch der Heiligkeit geſtorben; meines
Erachtens aber haben beide unberechtigter Weiſe der
Welt ihre willkürlichen Pläne aufgedrängt und beide
ſind wie feurige Meteore nach kurzem Glanze erloſchen.
Heute geht nun das Räderwerk der Welt wieder ſeinen
geregelten Gang, wir rechnen wieder mit den gebräuch¬
[154] lichen Zahlen und nach den bekannten Geſetzen. Frank¬
reich und Schweden verſchaffen den deutſchen Proteſtan¬
ten die von ihnen ſo heftig begehrte evangeliſche Frei¬
heit, aber die beiden Gönner werden ſich dieſen Liebes¬
dienſt mit fetten Stücken deutſchen Landes nach Gebühr
bezahlen laſſen.“
„Wie, junger Freund,“ ſprach der Bündner auf¬
merkſam werdend, „von ſchmählichem Länderraube muß
ich Euch reden hören wie von alltäglichem Schacher?
Euch, einen Schweizer! — Schämt Euch, Wertmüller,
. . . müßt' ich ſagen, wenn ich es für Euren Ernſt hielte! —
Und das nennt Ihr den geregelten Lauf der Dinge?
Ihr anerkennt das Recht des Stärkern in ſeiner rohe¬
ſten ſeelenloſeſten Geſtalt und leugnet ſeine göttliche
Erſcheinung in der Macht der Perſönlichkeit?“
Hier blickte Wertmüller mit einem unmerklichen
Zuge des Hohns zu ihm auf und ließ einen leiſen
Pfiff hören. Die vor ihm ſitzende nach ſeinen Be¬
griffen immerhin ſchwankende und zweideutige Perſön¬
lichkeit ſchien ihm wenig berufen, in die Weltgeſchicke
einzugreifen.
Der andere aber maß ihn mit einem zornigen
Blicke. „Ihr mißverſteht mich kläglich,“ ſagte er, „wenn
Ihr meint, ich denke an die vom Boden abgelöſte Per¬
ſönlichkeit des einzelnen Mannes, wie ſie entwurzelt
[155] und eigenſüchtig ſich umhertreibt; ſondern ich rede von
der Menſchwerdung eines ganzen Volkes, das ſich mit
ſeinem Geiſte und ſeiner Leidenſchaft, mit ſeinem Elende
und ſeiner Schmach, mit ſeinen Seufzern, mit ſeinem
Zorn und ſeiner Rache in mehrern, oder meinetwegen
in einem ſeiner Söhne verkörpert und den welchen
es beſitzt und beſeelt zu den nothwendigen Thaten be¬
vollmächtigt, daß er Wunder thun muß, auch wenn er
nicht wollte! . . .
„Blickt umher! Seht Euer und mein kleines Vater¬
land, wie es zuſammengedrückt wird von der Wucht
ringsum ſich bildender großer Monarchien und ſprecht!
Genügt da, wenn wir ein ſelbſtändiges Leben behaup¬
ten wollen, eine gewöhnliche Vaterlandsliebe und ein
haushälteriſches Maß von Opferluſt?“. . .
Dieſe mit der Heftigkeit eines verwundeten Ge¬
fühls hervorſtürzenden Worte ließ der Locotenent an¬
fangs ohne Entgegnung. Er ſpielte mit ſeinem jungen
ſpitzen Kinnbarte und ſchaute nach der Stadt zurück, wo
ſich auf dem in dieſem Augenblicke hervorragendſten
Bauwerke, der neuen Jeſuitenkirche, die effektvolle Sta¬
tuengruppe des Daches von der Rückſeite in den wun¬
derlichſten Verkürzungen zeigte. Die von eiſernen
Stangen geſtützten Engel und Apoſtel mit ihren Flügeln
[156] und flatternden Mänteln erinnerten auffallend an koloſ¬
ſale geſpießte Schmetterlinge. —
„In Zürich,“ warf er jetzt hin, „ſind die Men¬
ſchen ſo klein wie die Verhältniſſe, und Bünden, haltet
es mir zu gut, Hauptmann, kenne ich bis jetzt nur durch
mein Fachſtudium, das heißt als eines der intereſſante¬
ſten Operationsfelder. Wollt Ihr dort den Leonidas
ſpielen, und mit mehr Glück als der erſte, ſo will ich's
Euch nicht neiden. — Ich aber meine, das Auftauchen
außerordentlicher Menſchen und das Aufflackern großer
Leidenſchaften, das bei der mißlichen Beſchaffenheit der
menſchlichen Natur doch einmal nicht von Dauer iſt,
reiche nirgends aus. Um aus den durcheinandergewür¬
felten Elementen der Welt etwas Planvolles zuſammen¬
zubauen, braucht es meines Bedünkens kältere Eigen¬
ſchaften: Menſchenkenntniß, will ſagen Kenntniß der
Drähte, an welchen ſie tanzen, eiſerne Disziplin und
im Wechſel der Perſonen und Dinge feſtgehaltene In¬
tereſſen. — Aus dieſem Geſichtspunkte muß ich Jene
dort als Meiſter loben!“ und er wies mit einer komi¬
ſchen, zwiſchen Ernſt und Spott ſchillernden Miene
hinüber nach dem Prachtgiebel der Jeſuiten.
Und der Locotenent ließ ſich von der Muße und
Laune des Augenblickes verlocken, eine Lobrede auf den
berühmten Orden zu halten, welche aus dem Munde
[157] des Zürchers und eines Adjutanten des kalviniſtiſchen
Herzogs den gelaſſenſten Zuhörer befremden mußte.
Erſt begann er mit einzelnen Probewürfen. Als
aber der Hauptmann, den zu reizen und bloßzulegen
er ſich heute zur beſondern Aufgabe gemacht hatte, den
Ball nicht auffing und zurückſchickte, ſetzte er den from¬
men Vätern immer phantaſtiſchere Kronen auf. Sie
waren es, behauptete er dreiſt, die zuerſt Sinn und
Verſtand in die ſich widerſprechenden, menſchen- und
ſtaatsfeindlichen Lehren des unvermittelten Chriſtenthums
gebracht hatten. Erſt durch die Umarbeitung der chriſt¬
lichen Moral, die der kluge Orden unternommen, ſei
dieſe annehmbar, ja verlockend geworden. So hätten
die unvergleichlichen Väter etwas urſprünglich Dunkles,
Unberechenbares, Weltfeindliches mit erſtaunlicher Ge¬
ſchicklichkeit praktiſch verwerthet und allen Bedürfniſſen
und Bildungsſtufen angepaßt.
„Kennt Ihr das Innere ihrer neuen Kirche?“
fragte er plötzlich, „ſie iſt, meiner Treu, ſo luſtvoll und
heiter eingerichtet, wie ein Theater.“
Der Bündner ließ dieſes kecke und ſprunghafte
Geplauder ſchweigend über ſich ergehen, — wie die große
Dogge, die in ihrer Hütte liegt, ungern, aber nur mit
leiſem Knurren die Neckerei eines unterhaltungsluſtigen
[158] kleinen Kläffers erträgt, der als überläſtiger Gaſt zu
ihr hineingekrochen iſt.
Die Gondel hatte inzwiſchen Murano erreicht, wo
ſie unſern der Kirche anlegte.
Jenatſch wandte ſich nach der nächſten Locanda,
forderte ein einfaches Mal und entſchuldigte ſich bei
ſeinem Gefährten, er ſei abgeſpannt und hungrig von
der geſtrigen Seereiſe und einem ſcharfen nächtlichen
Ritte nach Padua. Er ſchlage vor, hier im Anblicke
des Meeres eine Stunde zu raſten und diesmal auf
die Malzeit in den Spiegeln und die Venetianerinnen
auf dem Markusplatze zu verzichten.
Wertmüller, der ſowohl durch dieſen Tauſch der
Mittagstafel als durch das beharrliche Schweigen des
Bündners etwas verſtimmt war, erging ſich, die Koſten
der Unterhaltung allein beſtreitend, in immer willkür¬
lichern Gedankenſprüngen. Er kam, wie geſtachelt durch
einen geheimen Groll, von Neuem auf ſeine Vater¬
ſtadt zu ſprechen und da der Bündner ſich der edlen
Zürich und ſeines dortigen Jugendfreundes Waſer nur
zu rühmen hatte, ſo riß den Locotenenten der Wider¬
ſpruch und der feurige illyriſche Wein ſo weit fort, daß
er von den angeſehenſten heimiſchen Perſönlichkeiten
frevelhafte Zerrbilder entwarf und bei der dritten Flaſche
Seine Geſtrengen den Herrn Bürgermeiſter einen Gockel
[159] auf dem Miſt und Seine Hochwürden den Herrn An¬
tiſtes einen ſteif gehörnten Farren nannte.
Der Hauptmann, der dieſe tollen und geſchmack¬
loſen Ausfälle der Eingebung des Weines zuſchrieb,
wie ſie ſich bei dieſer ehrgeizigen und auf jedes fremde
Verdienſt eiferſüchtigen Natur äußerte, ließ den jungen
Offizier, der den Gegenſtand nicht erſchöpfen konnte und
dem darüber die Zeit verging, ſeine Laune weidlich
tummeln und blieb dabei, Zürich habe in den letzten
gefahrvollen Zeiten ebenſo viel Klugheit als Feſtigkeit
gezeigt und wenn es ſich mit dem Schilde vorſichtiger
Neutralität gedeckt, ſei das, wie der Schweiz, ſo Grau¬
bünden zu Statten gekommen.
Dann trat der in Venedig ſich unſicher fühlende
Bündner, welcher, ohne daß Wertmüller es ahnte, Allem
was im Bereiche ſeines geübten und weittragenden
Auges ſich begab, die ſchärfſte Aufmerkſamkeit zuwandte
und auch in dieſer abgelegenen Locanda keine Raſt fand,
hinaus an den ſchmalen Strand, ohne auf Wertmüllers
ſpöttiſches Gelächter zu achten.
„Neutralität!“ rief dieſer dem Hauptmann in die
Gondel nachſpringend aus. „Da hat mir der Witz
des Zufalls ein Zettelchen in die Hand geſpielt, das
für unſere aufrichtige, ſtreng abgewogene Neutralität
und nebenbei für unſre ſchlichte Bürgertugend ein rüh¬
[160] rendes Zeugniß ablegt. — Die Gleißner und Phari¬
ſäer! . . . Wollt Ihr wiſſen, Hauptmann, was jeder
unſrer Rathsherren und Zunftmeiſter werth iſt? Ich
hatte neulich im Namen meines Herzogs,“ ſagte er,
ſeine Brieftaſche hervorziehend, „dem franzöſiſchen Ge¬
ſandten in Solothurn ein Heft zu überſchicken, worin
ihm ſein Verhalten in den verſchiedenen Möglichkeiten
des bevorſtehenden Feldzuges im Veltlin von meinem
Herrn vorgezeichnet wurde und erhielt es mit Rand¬
bemerkungen und Einlagen der Geſandtſchaft zurück.
Seht hier, was ich in Form eines zufällig ſtecken ge¬
bliebenen Buchzeichens zwiſchen den Blättern fand!“ —
Er entfaltete einen ſchmalen Papierſtreifen, auf dem
eine Reihe von Namen zürcheriſcher Standesperſonen
verzeichnet ſtand mit beigeſetzten höhern und niedrigern
Zahlen, neben welchen das verrätheriſche Livreszeichen
unverkennbar zu leſen war. Das Ganze ſtellte freilich
eine nur unbedeutende Summe dar.
Diesmal konnte ſich Jenatſch eines herzlichen Lachens
nicht enthalten. „Das geſteh' ich! Eine großartige
Beſtechung!“ ſpottete er. „Wer konnte das ahnen!
Aber gerade daß ſie dieſes Taſchengeld ſo verſchämt und
vorſichtig einſtecken, das dürfen wir als einen ganz an¬
ſtändigen Reſt von Tugend nicht unterſchätzen. Unſre
Salis und Planta nehmen ausländiſches Gold mit
[161] edler Unbefangenheit am hellen Tage, auch ſind es ganz
andere Summen.“
Während Wertmüller noch die Papiere ſeiner über¬
füllten Brieftaſche muſterte, durchlief Jenatſch mit eini¬
ger Spannung die unrühmliche Liſte, auf welcher er zu
ſeiner Befriedigung den Namen Waſer nicht fand. Jetzt
zerriß er ſie plötzlich in kleine Stücke. Erſt als die
weißen Fetzen ſchon fern auf der von der Abendbriſe
bewegten Fluth ſchwebten, ward Wertmüller ſeinen Ver¬
luſt gewahr und hielt mit Mühe einen Ausbruch ſeines
Aergers zurück.
Jenatſch erklärte ihm ruhig, er habe als Freund
ſein Beſtes wahrgenommen, dies Papier würde ihm
und Andern nichts als Verdruß gebracht haben. Zürich
ſei ſeine Wiege und Sohnespflicht ſei's, die kleinen
Schwächen einer treuen Mutter zu verheimlichen.
„Was mich abhielt, Euch auf die Finger zu ſehen,
Hauptmann, war dieſer Brief,“ ſagte der Locotenente.
„Er iſt noch uneröffnet, wie ich gewahre, und ſteckt ſchon
ſeit drei Tagen in meiner Brieftaſche. Ich habe wahr¬
haftig vergeſſen, ihn zu leſen. Geſtattet mir, in Eurer
Gegenwart das Siegel zu brechen. Er kommt von
meinem Vetter, der in Mailand trotz ſeines Proteſtan¬
tismus als Handelsherr gute Geſchäfte macht und beim
Gubernatore Serbelloni in Gunſten ſteht. Erlaubt mir,
Meyer, Georg Jenatſch. 11[162] in Eurer Gegenwart von dem Inhalte des Schreibens
Kenntniß zu nehmen.“
Jenatſch winkte bejahend und Wertmüller vertiefte
ſich eine geraume Weile in den Brief, erſt um ſich
Haltung zu geben, denn das eigenmächtige Thun des
Hauptmanns hatte ihn beleidigt, nach und nach mit
immer größerem Intereſſe.
„Eine glorioſe Geſchichte! Beim Jupiter, eine alte
Römerin!“ rief er endlich aus. „Ich kann Euch das
nicht vorenthalten, obgleich Ihr eben, Hauptmann, mein
kameradſchaftliches Vertrauen hinterliſtig mißbraucht
habt! Um ſo weniger da Euch das Ereigniß ſo zu
ſagen perſönlich angeht, denn die Hauptrolle hat eine
Bündnerin! Mit den Worten dieſer Krämerſeele, — ich
meine den Briefſteller, meinen langweiligen Vetter, —
mag ich es Euch freilich nicht mittheilen, es wäre Schade
darum! Erlaubt mir, Euch die ſeltene Hiſtorie frei
vorzutragen. Alſo:
In Mailand lebt, wie Euch nicht unbekannt ſein
wird. Euer alter biſſiger Herr Rudolf, der Planta von
Zernetz mit ſeinem gleichnamigen die brave Bärentatze
mit Unehren im Wappen führenden Sohne in den ärm¬
lichſten Umſtänden. Jener intriguirt und ſpeiſt bei dem
Gubernatore und dieſer treibt ſich mit deſſen Neffen
in den eines weiten Rufs genießenden Spielhäuſern
[163] und Spelunken der Stadt herum. Die zwei jungen
Geſellen ſind von der gleichen Gemüthsart, und wäh¬
rend der alte Planta vom Oheim mit politiſchen Hoff¬
nungen kärglich genährt wird, erhält der junge vom
Neffen, dem ein Gefährte ſeiner Tollheit erwünſcht und
ein waffenkundiger Gehilfe ſeiner nicht über jeden Zwei¬
fel erhabenen Tapferkeit unentbehrlich iſt, reichliche
Mittel zum ausgiebigen Genuſſe der Gegenwart. Da¬
für wollte ſich der Knabe Rudolf dankbar erweiſen, und
da es ihm an Herz und Geiſt fehlt, um ſeinem frei¬
gebigen Freunde einen ehrenvollen und guten Dienſt zu
leiſten, verfiel er auf einen ſchlechten und ſchimpflichen.
Bei dem alten Planta, der einen verfallenen Palaſt im
einſamſten Stadtquartiere bewohnt, hatte eine verwaiſte
Nichte, ich weiß nicht von welcher geächteten Seitenlinie
des Hauſes, Zuflucht gefunden. Dies Mädchen, eine
ſeltene Schönheit, ſoll auf einen großen Beſitz in Bün¬
den gerechten, aber unter den gegenwärtigen politiſchen
Umſtänden unſichern Anſpruch haben, und wurde um
dieſer Ausſicht willen von dem alten Rudolf ſeinem
Sohne zur Frau beſtimmt. Lucretia jedoch iſt edlen
Sinnes und verſchmäht den nichtswürdigen und unnützen
Geſellen. Nun mag Rudolf, um auf einen Wurf ſeinen
Groll zu kühlen und ſeine Schuld abzutragen, mit dem
jungen Serbelloni, dem die nur in der Kirche ſichtbare
11*[164] bündneriſche Schönheit als das höchſte Gut erſchien,
einen niederträchtigen Handel abgeſchloſſen haben. Ge¬
nug, in einer Nacht, da der alte Rudolf beim Guber¬
natore, der junge im Spielhaus ſitzt und Lucretia mit
einer bejahrten lombardiſchen Dienerin in dem öden
Hauſe allein iſt, hört ſie verdächtiges Geräuſch im Neben¬
gemache. Diebe vermuthend, ergreift ſie das erſte beſte
Meſſer und tritt in ihre vom Mond nur ſchwach er¬
hellte Kammer. Da drückt ſich eine dunkle Geſtalt in
den Schatten. Lucretia ſchreitet auf ſie zu und ruft
ſie an. Der junge Serbelloni tritt ihr entgegen, ſtürzt
ihr zu Füßen und umfängt ihre Kniee mit den glühend¬
ſten Liebesbetheurungen. Sie nennt ihn einen Nichts¬
würdigen und behandelt ihn mit ſo kalter Verachtung,
daß ſein Flehen ſich jäh in Drohung verwandelt und
er ihr ſagt, ſie ſei in ſeiner Gewalt, die Thüren ſeien
bewacht. Doch Lucretia, von ſtattlicher Geſtalt und
hohem Gemüth, hält den Emporſpringenden mit der
Linken kraftvoll nieder und ſtößt ihm mit der Rechten
von oben das Meſſer in die Bruſt. Er ſchwankt und
ſchreit nach ſeinen Knechten. Jetzt ſtürzt die beſtochene
Kammervettel, die an der Thüre gehorcht hatte, mit
Jammergekreiſch ins Gemach und ſchreckt mit ihrem
mörderlichen Hilferufen die Nachbarſchaft aus dem
Schlafe. Die gewaltſame Entführung iſt vereitelt, man
[165] hebt den blutenden Serbelloni auf und trägt ihn weg.
Die Wahrheit wird vertuſcht, der Vorfall durch einen
unzeitigen Beſuch bei dem jungen Planta nothdürftig
erklärt und als ein Mißverſtändniß achſelzuckend beklagt.
Die ſchöne Lucretia aber begiebt ſich ſchon am nächſten
Morgen in den Palaſt des Gubernatore, bittet um ſei¬
nen Schutz, wird, da der Neffe nicht auf den Tod ver¬
wundet iſt, vom Oheim mit höchſter Auszeichnung, ja
mit Bewunderung aufgenommen und thut ihm den Ent¬
ſchluß kund, welches Schickſal ihrer dort warte, in ihre
bündneriſchen Berge zurückzukehren, denn es ſei beſſer
daheim zu darben als das ſchmachvolle Brot der Ver¬
bannung zu eſſen.“ —
Nach einer längern Pauſe fuhr Wertmüller fort:
„Der Schluß des Briefes iſt merkwürdig. Man meint,
ſie habe ſich nach Venedig gewandt, um von meinem
Herzog einen Freibrief zur Heimreiſe zu begehren. —
Seid Ihr nicht ſtolz auf dieſe bündneriſche Judith?
Diesmal hätte ich für meine Erzählung ſicher auf Euren
Beifall gerechnet und Ihr ſchweigt wie eine Statua,
Herr Hauptmann?“
Mit neugierigen Augen ſchaute der Locotenent dem
gegenüber ſitzenden Jenatſch, der ſich zum Schutze gegen
den Abendwind feſt in ſeinen Mantel gewickelt hatte,
in das von dem ſpaniſchen Hute beſchattete Geſicht; aber
[166] ein Scherzwort, das er ihm zuzuwerfen im Begriffe
war, erſtarb auf ſeiner Lippe und ihn fröſtelte.
Das braune Antlitz des in der Gondel Zurück¬
gelehnten, das er im Laufe dieſes Tages immer belebt
und bewegt geſehen hatte von den verſchiedenſten Aeuße¬
rungen eines feurigen Temperamentes und geſchmeidi¬
gen Geiſtes, es war wie erſtorben und erkaltet zu
metallener Härte. Unverwandt ſtaunte es vor ſich
hin auf die dämmernd gerötheten Wellen und er¬
ſchien fremdartig verzogen und drohend in ſeiner Er¬
ſtarrung.
Der Zürcher indeſſen ließ ſich nicht gerne verblüffen
und, da ihm nichts Schickliches und Kluges einfiel,
kam er noch einmal mit bewundernden Ausführungen
auf die bündneriſche Judith zurück.
„Laßt doch die unwürdige, die überaus unpaſſende
Vergleichung!“ fuhr jetzt der Andre heftig und ſcharf
aus ſeinem Traume auf. — „Jede Bündnerin hätte
an Lucretias Stelle wie ſie gethan.“
Dann ſchien er plötzlich die nahenden Lichter der
Stadt zu bemerken und ſprang, auf ſie hinweiſend,
ohne jede Vermittlung in einen liebenswürdigen Ton
über. „Da langen wir ja ſchon an,“ ſagte er leicht¬
hin. „Könnten wir nicht, bevor wir an der Treppe
des Herzogs anlegen, hinaus an die Zattere fahren,
[167] wohin ich meine Dienerſchaft mit den aus Dalmatien
zurückgebrachten Habſeligkeiten beordert habe? Ich möchte
dieſe gleich im Palaſte des Herzogs in Sicherheit
bringen.“
„Das geht kaum an, Hauptmann. Der Umweg
wäre bedeutend und die Nacht bricht ein. Ich hafte
für Euch und der Herzog iſt pünktlich bis zur Pein¬
lichkeit!“ erwiederte der Zürcher, und er wunderte ſich
insgeheim und fragte ſich, warum Jenatſch für ſich und
das Seinige wohl Schutz bedürfe.
Noch einmal ſuchte er auf dem tief beſchatteten
Geſichte vor ihm zu leſen, aber die Gondel bog eben
in eine ſchmale, finſtere Lagune ein und nur zwei glü¬
hende Augenſterne blickten ihm, wie die eines Löwen
aus der Nacht entgegen.
Als die Gondel im Canal grande vor den Mar¬
morſtufen des herzoglichen Palaſtes neben einer andern,
zur Abfahrt bereiten, anlegte, zeigten ſich auf der
Schwelle des ſchön gewölbten Thores zwei Männer¬
geſtalten in Staatstracht, die ſich in ausdrucksvoller
Silhouette vom hellen Hintergrunde der glänzend er¬
leuchteteten Halle abhoben. Die eine zeigte den feinen
Bau und die ruhige, geſchmeidige Bewegung des
vornehmen Venetianers, die andere, von behaglicher
Fülle und deutſchehrbarem Anſehen, weigerte ſich
[168] mit etwas kleinſtädtiſcher Höflichkeit den Vortritt zu
nehmen.
„Voran, Herr Waſer! Ihr ſeid mein verehrter
Gaſt,“ ſagte der Schlanke, den jetzt Jenatſch und Wert¬
müller als den Provveditore der Republik mit höchſter
Ehrerbietung begrüßten. Grimani wandte ſich dem
Bündner mit gewinnender Freundlichkeit zu.
„Für diesmal keine Auseinanderſetzung,“ ſagte er.
„Ich darf Euch, da Ihr von dem edlen Herzog erwartet
ſeid, hier nicht aufhalten. Von minder Wichtigem ſpä¬
ter. Wir ſehen uns wieder.“
Herr Waſer konnte es nicht unterlaſſen auch ſeiner¬
ſeits, bevor er den Fuß in die Gondel ſetzte, dem
Jugendfreunde die Hand zu reichen und ihm zuzuflü¬
ſtern: „Der Herzog iſt Dir überaus günſtig und auch
Grimani, mein gütiger Wirth in Venedig, äußerte ſich
wohlwollend über Deine Perſon und rühmte Deine
Leiſtungen.“
Die Gondel fuhr ab. Während ſie die Halle
durchſchritten ſagte Jenatſch lächelnd zu Wertmüller:
„Ich bin in den dalmatiſchen Bergen verwildert und
ſoll jetzt ohne Vorbereitung die Sphäre der zarten Her¬
zogin betreten. — Sie iſt ohne Frage an Rang und
Geiſt die vornehmſte Dame, der mich meine Sterne zu
[169] Füßen legten. Erlaubt, Locotenent, daß ich in Eurer
Kammer mein Wams bürſte und leiht mir Euern
ſchönſten Spitzenkragen!“
Damit eilten die beiden Offiziere in raſchen Sätzen
die breitgeſtuften Treppen hinauf.
Fünftes Kapitel.
„Der Herzog iſt allein, er wünſcht Euch wohl ver¬
traulich zu ſprechen,“ ſagte Wertmüller zu Jenatſch, als
er ihn einige Augenblicke ſpäter in die herzoglichen
Gemächer einführte. Er ließ ihn zuerſt in ein mäßig
beleuchtetes, mit dunkelm Holzwerke bekleidetes Vor¬
zimmer treten, das durch eine von Säulen getheilte
dreifache Bogenpforte den vollen Blick in den einige
Stufen höher gelegenen Prachtſaal gewährte.
Dieſes reich vergoldete längliche Gemach mit ſeiner
Reihe von fünf Fenſterbogen mochte die auf den Canal
ſchauende Faſſade des prunkenden Bauwerks bilden.
Der Herzog kehrte der dämmerigen Fenſterwand den
Rücken zu. Er ſaß, in einem Buche leſend, vor dem
hohen, mit verſchlungenen Figuren und Fruchtſchnüren
von Marmor umrahmten und überladenen Kamine, in
welchem ein lebhaftes Feuer flammte.
[171]
Schon ſetzte Wertmüller den Fuß auf die mit
türkiſchen Teppichen belegten Stufen, um den Haupt¬
mann anzumelden, als der Herzog ſein Buch ſchloß und
ſich von ſeinem Sitze erhebend, es auf den Kaminſims
legte, ohne jedoch den Eintretenden, die er noch nicht
bemerkt hatte, ſich zuzuwenden.
Im gleichen Augenblicke hielt Jenatſch den jungen
Offizier, der ihn vorſtellen wollte, mit einem raſchen
Griffe ſeiner eiſernen Hand zurück. „Halt“, flüſterte
er, auf die ihnen gegenüberliegende Thür eines anderen
Nebenraumes hinweiſend, „—ich komme zur Unzeit.“
Durch dieſe Thüre trat mit lebhafter Bewegung
und verweintem Angeſichte die Herzogin und führte an
der Hand eine große ruhige Frauengeſtalt ihrem Ge¬
mahle entgegen, in welcher Wertmüller auf den erſten
Blick die Beterin vor dem Hochaltare der Frari wieder¬
erkannte.
Unwillkürlich dem Gefühle des ihn Zurückziehenden
gehorchend, wich er mit Jenatſch hinter die Draperie
des Einganges zurück und blieb dort ſtehen als ein ver¬
borgener, aber aufmerkſamer Zeuge auch des Geringſten,
was im Saale vorging.
„Hier bring' ich Euch eine vom Schickſal Verfolgte,
mein Gemahl“, begann die erregte Herzogin. „Sie iſt
Eurer chriſtlichen Hilfeleiſtung und Eures ritterlichen
[172] Schutzes bedürftig und, wahrlich, es iſt Eurer hohen
Tugend würdig, ihr Schirmvogt zu werden. — Sie
hat mir ihr volles Vertrauen geſchenkt, und ihr ſchmer¬
zenreiches Loos ohne Rückhalt entſchleiert. Dabei war
mir vergönnt — ich kann es auch in ihrer Gegenwart
nicht verſchweigen — einen erhebenden Blick in die
Tragödie eines mit dem ehernen Schickſale kämpfenden,
antiken Charakters zu thun. Dieſes edle Weſen trägt
nicht ohne Bedeutung den Namen Lucretia. Sie ſtammt
aus einem der beſten Geſchlechter jenes wilden Berg¬
landes, das Euch als ſeinem Retter entgegenharrt. Noch
war ſie ein harmloſes Kind, als ihr Vater, der einzige
Gegenſtand ihrer Liebe, von grauſamen Feinden nächt¬
lich gewürgt, und ſie ſchutzlos und geächtet dem Elende
und der Bosheit dieſer gottloſen Welt preisgegeben
wurde . . . . Aber ihr Herz blieb rein und ihre tapfere
Hand zerſchnitt mit dem Dolche die Schlingen des
Laſters. Seid ihr hilfreich, theurer Herr! Alle dieſer
geliebten Lucretia erzeigte Gnade ſeh' ich an, als hättet
Ihr ſie mir erwieſen; denn ihr Unglück erfüllt meine
ganze Seele! —“
Hier brach die gerührte Fürbitterin von neuem in
Thränen aus und warf ſich, das Antlitz mit den Hän¬
den bedeckend, in einen Lehnſtuhl.
Während dieſes Redeſtromes hatte der Herzog ſeine
[173] Blicke voller Güte auf die ſchweigend und beſcheiden
vor ihm ſtehende Bündnerin gerichtet, als ſuchte er in
ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunkeln
Augen das Anliegen zu leſen, welches ſie zu ihm führte;
denn dieſes war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Ver¬
wendung und begeiſterten Rede ſeiner Gemahlin voll¬
kommen unverſtändlich und verborgen geblieben.
„Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia“,
beantwortete jetzt die Fremde ſeine ſtumme Frage. „Als
mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich,
die Fünfzehnjährige, zu den Kloſterfrauen nach Monza
und dort traf mich die Kunde ſeiner Ermordung. Er¬
laßt mir, Euch zu ſagen, wie ſie mein Leben zerſtörte
und wie völlig ich ſeither verwaiſt bin. Heim in mein
Bünden konnte ich nicht kehren, und kann es auch jetzt
nicht ohne Eure Hilfe. Es iſt geſchlagen von Krieg
und ſchwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch unge¬
rochener Mordthat ruht auf ihm und das Blut meines
Vaters ſchreit gen Himmel. — Wohl lebt mir noch ein
Ohm in Mailand, der geächtete Rudolf Planta, der bis
heute mit mir das Brot der Verbannung theilte; denn
in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm
war und meine Berge nicht auf ewig miſſen wollte.
Warum ich jetzt den Ohm verlaſſe, geſtattet mir zu ver¬
ſchweigen. — Ich bin ein vom Stamme geriſſener, auf
[174] dem Strome treibender Zweig und kann nicht Wurzel
ſchlagen, bis ich den Boden der Heimath erreiche und
getränkt werde mit dem Blute gerechter Sühne.
„Gebt mir einen Freibrief nach Bünden, edler Herr!
Ich habe vernommen, daß Euer Einfluß ſchon jetzt dort
mächtig iſt und ſich bald auf Eure ſiegreichen Waffen
ſtützen wird. Ich habe gegen mein Vaterland nie ge¬
frevelt und bin den Anſchlägen meines Ohms und der
ſpaniſchen Partei in Gedanken und Thaten völlig fremd
geblieben. Ich will mein Erbhaus zurückfordern und
das Recht meines Vaters ſuchen, denn allein dazu bin
ich noch da.“
Der Herzog hatte der ſchönen Fremden mit Auf¬
merkſamkeit zugehört, jetzt ergriff er väterlich ihre Hand
und ſagte mit überlegener Milde: „Ich begreife den
Schmerz Eurer Verlaſſenheit, mein Fräulein, auch bin
ich damit einverſtanden, daß Ihr Euren heimathlichen
Boden wieder gewinnt und dort dem Andenken Eures
Vaters lebt. Gerne werd' ich durch einen Freibrief Euch
dazu behilflich ſein. — Anders verhält es ſich mit dem,
was Ihr Sühne nennt. Bedarf es einer ſolchen, ſo,
glaubt es, wird ſie nicht ausbleiben. Unſer ganzes
Leben, ja das Leben der Menſchheit ſeit ihrem Anfang
iſt eine Verkettung von Schuld und Sühne. Schwer
[175] aber iſt es dem menſchlichen Kurzblicke die richtige Ver¬
geltung zu wählen, und ſicherer in jedem Falle, Frevel
durch Opfer der Liebe zu tilgen, als Gewaltthat durch
Gewaltthat zu rächen und ſo Fluch auf Fluch zu häufen.
— Beſonders die unſichere Frauenhand berühre nie¬
mals in den Leidenſchaften des Bürgerkriegs die zwei¬
ſchneidige Waffe perſönlicher Rache. Mehr als ein Mal
in unſern heimiſchen Kämpfen war auch ich von Mörder¬
hand bedroht, aber, hätte ſie mich getroffen, mit dem
letzten Athemzuge hätte ich Frau und Kind angefleht,
ſich mit keinem Rachegedanken, geſchweige mit einer
Rachethat zu beflecken. Denn: Ich will vergelten, ſpricht
der Herr.“
Lucretia ſah den Herzog mit ernſten, zweifelnden
Blicken an. Die chriſtliche Milde des Feldherrn be¬
fremdete ſie und ſein Tadel traf ſie unerwartet. Aber
bevor ſie noch ihre Gedanken zur Antwort geſammelt
hatte, veränderte ſich plötzlich ihr Angeſicht, als erblicke
ſie etwas Unmögliches. Ihre ganze Seele trat in die
erſchrockenen Augen, die, wie gebannt, auf der mittleren
Säulenpforte haften blieben.
Dort erſchien, feſten Trittes die Stufen heran¬
ſteigend, die hochaufgerichtete Geſtalt eines Mannes,
ſtolz und gefaßt, wie ein verurtheilter König ſein Blut¬
[176] gerüſt beſteigt, und Jürg Jenatſch ſchritt der Erſtarren¬
den mit entblößtem Haupte entgegen.
Nach einer ſtummen Begrüßung des herzoglichen
Paares trat er vor die Tochter des Herrn Pompejus
hin und ſprach: „Dein Recht ſoll Dir werden, Lucretia.
Der Mann, der den Planta erſchlug, iſt Dir von Rechts¬
wegen verfallen. Er ſtellt ſich Dir und erwartet hier
Deinen Spruch. Nimm ſein Leben. Es iſt Dein —
zwiefach Dein. Schon der Knabe hätte es für Dich
geopfert. Seit ich die Hand an Deinen Vater legen
mußte, iſt mir das Daſein verhaßt, wo ich es nicht für
das von Tauſenden meines Volkes einſetzen kann. Dar¬
nach dürſtet meine Seele und dazu bietet mir dieſer
edle Herr vielleicht morgen ſchon Gelegenheit. Das be¬
denke, Lucretia Planta! Bei Dir ſteht die Entſcheidung
wer von Euch Beiden das größere Recht auf mein Blut
habe, ob Bünden oder Du“. —
Der Eindruck dieſer Erklärung auf das Fräulein
war ein erſchütternder. Der Mörder, in deſſen Ver¬
folgung ſie die Pflicht ihres Lebens ſah, legte aus freiem
Entſchluſſe das ſeinige in ihre Hand und er that es
mit einer Hochherzigkeit, die eine ebenbürtige Seele
reizen mußte, ſich ihr mit einer großen That der Ver¬
zeihung gleichzuſtellen. Dieſen Wetteifer edler Gefühle
ſchien wenigſtens die Herzogin zu erwarten, die aus der
[177] Rede des Bündners und der Gewalt ihres Eindrucks
auf Lucretia leicht errathen hatte, daß eine gemeinſam
verlebte Jugend und warme Neigung die Beiden ver¬
kette. Sie glaubte, nach der eigenen Gemüthsſtimmung
urtheilend, Lucretia werde ihre Arme, die ſie einen
Augenblick in inniger Bewegung gegen den Jugend¬
genoſſen erhoben hatte, raſch um ſeinen Hals werfen
und den gerechten, langjährigen Haß gegen den Mörder
ihres Vaters dem Zauber einer alten Liebe und der
Unwiderſtehlichkeit dieſes wunderſamen Mannes zum
Opfer bringen.
Aber es geſchah nicht alſo. Die erhobenen Arme
ſanken und die Herzogin ſah Lucretias ſchöne Geſtalt
erbeben, vom tiefſten Jammer erſchüttert. Sie ſtöhnte
laut auf, dann machte ſich ihr ein Jugendleben lang
ſtolz getragenes Elend Luft und, ſich und ihre fremde
Umgebung gänzlich vergeſſend, brach die qualvoll Be¬
drängte in einen Strom leidenſchaftlicher Klage aus.
„Jürg, Jürg,“ rief ſie, „warum haſt Du mir das
gethan? Geſpiele meiner Kindheit, Schutz meiner Ju¬
gend! Oft im finſtern italieniſchen Kloſter oder in der
unheimlichen Behauſung meines Ohms, wenn mein Herz
nach der Heimath ſchrie und ich ſie doch nicht betreten
durfte ohne die Rache meines Vaters beſorgt zu haben,
dann im bangen Halbtraume ſah ich Dich, den treuen
Meyer, Georg Jenatſch. 12[178] Geſellen zum gewaltigen Kriegsmanne erwachſen und ich
rief Dich an: Jürg, räche meinen Vater! Ich habe
niemand als Dich! Du thateſt mir ja ſonſt Alles zu
liebe, was Du mir nur an den Augen abſehen konnteſt.
Jetzt hilf mir, Jürg, meine heiligſte Pflicht zu er¬
füllen! . . . Und ich ergriff Deine ſtarke Hand . . . Aber
weh' mir, ſie trieft von Blut! Du Entſetzlicher, Du
biſt der Mörder! Mir aus den Augen! Denn meine
Augen ſind mit Dir im Bunde — und ſündigen —
und ſind mitſchuldig am Blute des Vaters. Hinweg!
Kein Friede, kein Vertrag mit Dir.“
So klagte Lucretia und rang die Hände in innerm
Zwieſpalte und troſtloſer Verzweiflung.
Die Herzogin legte beſchwichtigend ihren feinen
Arm um den Nacken der Haltungsloſen, und die weinende
Lucretia ließ ſich willig von ihr in das Nebengemach
zurückführen. Dann erſchien die edle Dame noch einmal
auf der Schwelle und flüſterte dem ihr entgegentretenden
Gemahle zu: „Ich werde ſie mit Eurer Bewilligung, ſo¬
bald ſie ſich erholt hat, perſönlich in meiner Gondel
nach ihrer Wohnung bringen. Sie iſt bei a Marca,
Eurem Wechsler, abgeſtiegen, deſſen Frau ihre ent¬
fernte Verwandte iſt. Die treue Echagues mag uns
begleiten.“
Der Herzog bezeugte der Hilfreichen ſeine freundliche
[179] Beiſtimmung, und die gefühlvolle Dame verſchwand mit
einem letzten, halb vorwurfsvollen, halb bewundernden
Blicke auf den Bündner.
„Ihr tragt ein ſchweres Schickſal, Georg Jenatſch,“
ſagte, als ſie jetzt allein waren, der Herzog zu dem
Hauptmanne, deſſen Bläſſe ihm auffiel und der einen
harten Ausdruck auf dem Antlitze trug, als bekämpfe und
verberge er gewaltſam den ſtechenden Schmerz einer
alten Wunde. „Euch aber iſt die Sühne für das mör¬
deriſch von Euch vergoſſene Blut gezeigt. Was Ihr in
wildem Jugendfeuer verbrochen, dafür ſollt Ihr mit der
Arbeit geläuterter Manneskraft zahlen. In raſender
Selbſthilfe, mit willkürlichen Thaten des Haſſes wolltet
Ihr Euer Vaterland befreien und habt es dem Ver¬
derben zugeführt; heute ſollt Ihr es retten helfen durch
ſelbſtverleugnende Thaten des Gehorſams und kriegeriſcher
Zucht, durch die Unterordnung unter einen leitenden
planvollen Willen. — Wo die Tollkühnheit nützt, da
will ich Euch hinſtellen; ich weiß nun, warum Ihr die
Gefahr ſucht und liebt. — Von jetzt an betrachtet Euch
als in meinen Dienſten ſtehend, denn ich habe mich
heute überzeugt, daß mein Einfluß genügen wird, Euch
hier frei zu machen. Ich glaube nicht, daß der Provve¬
ditore Grimani Euch mir ſtreitig machen wird. Sein
Intereſſe an Euch ſchien mir lau. Er äußerte ſich
12*[180] gleichgültig über die Möglichkeit Eurer Beurlaubung.
Wann wird Eure venetianiſche Capitulation abgelaufen
ſein?“
— „Vor Monatsfriſt, erlauchter Herr.“
— „Dann iſt es gut. Ueberlaßt mir die Ver¬
mittelung. Am einfachſten nehmt Ihr ſchon heute bei
mir Wohnung und ſendet ſogleich nach Dienerſchaft und
Gepäck.“
Hier näherte ſich Wertmüller, der bis dahin im
Vorgemache unſichtbar geblieben war, mit einer ingrim¬
migen, tragikomiſchen Miene, denn die von ihm ſcharf
beobachtete Scene hatte einen gemiſchten Eindruck auf
ihn gemacht, und meldete, der Hauptmann habe Gepäck
und Leute an der Landungsmauer der Zattere zurück¬
gelaſſen. Sofern ihm dieſer Vollmacht gebe, werde er
ſie abholen.
Jenatſch war in einen Fenſterbogen getreten und
überſtreifte mit ſcharfem Blicke den mondbeſchienenen
Canal, bis in die von den Uferpaläſten geworfenen
tiefen Schatten hineinſpähend. Aufwärts, abwärts bot
die Waſſerſtraße das gewohnte friedliche Nachtbild. Nun
wandte er ſich raſch und beurlaubte ſich beim Herzog,
um ſelbſt nach ſeiner Habe und ſeiner Bedienung zu
ſehen, welcher er, wie er ſagte, ſtrengen Befehl hinter¬
[181] laſſen habe, keiner anderen Weiſung Folge zu leiſten,
als ſeiner eigenen mündlichen.
Der Herzog trat auf den ſchmalen Balkon und
blickte, noch unter dem Eindrucke der ſeltſamen Vorgänge
des Abends, in die ruhige Mondnacht hinaus. Er
ſah, wie Jenatſch eine Gondel beſtieg, wie ſie abſtieß
und mit ſchnellen leiſen Ruderſchlägen der Wendung
des Canals zuglitt. — Jetzt hielt ſie wie unſchlüſſig
ſtill, — jetzt ſtrebte ſie eilig der nächſten Landungstreppe
zu. Was war das? Aus einer Seitenlagune und
gegenüber aus dem Schatten der Paläſte ſchoſſen plötz¬
lich vier ſchmale, offene Fahrzeuge hervor und darin
blitzte es wie Waffen. Schon war die Gondel von
allen Seiten umringt. Der Herzog beugte ſich geſpannt
lauſchend über die Brüſtung. Er glaubte einen Augen¬
blick im unſichern Mondlichte eine große Geſtalt mit
gezogenem Degen auf dem Vordertheile des umzingelten
Nachens zu erblicken, ſie ſchien ans Ufer ſpringen zu
wollen, — da verwirrte ſich die Gruppe zum undeut¬
lichen Handgemenge. Leiſes Waffengeräuſch erreichte
das Ohr des Herzogs und jetzt, laut und ſcharf durch
die nächtliche Stille ſchmetternd, ein Ruf! Deutlich
erſcholl es und dringend:
„Herzog Rohan, befreie Deinen Knecht!“
Sechſtes Kapitel.
In einer vorgerückten Morgenſtunde des folgenden
Tages ſaß der Provveditore Grimani in einem kleinen
behaglichen Gemache ſeines Palaſtes. Das einzige hohe
Fenſter war von reichen bis auf den Fußboden herab¬
fließenden Falten grüner Seide halb verhüllt, doch
ſtreifte ein voller Lichtſtrahl die ſilberglänzende Frühſtücks¬
tafel und verweilte, von den verlockend zarten Farben
angezogen, auf einer lebensgroßen Venus aus Tizians
Schule. Von der Sonne berührt ſchien die Göttin,
die auf mattem Hintergrunde wie frei über der breiten
Thüre ruhte, wonnevoll zu athmen und ſich vorzubeu¬
gen, das ſtille Gemach mit blendender Schönheit er¬
füllend.
Dem Provveditore gegenüber ſaß ſein ehrenwerther
Gaſt, Herr Heinrich Waſer, diesmal mit ſorgenbelaſteter
Stirne. Er war nicht geſtimmt auf die feine, über
[183] das Gewöhnliche mit Geiſt und Anmuth hinſpielende
Unterhaltung ſeines Gaſtfreundes einzugehn und hatte
ſogar verſäumt, ſeinen hochlehnigen Stuhl ſo zu ſetzen,
daß er dem verlockenden Götterbilde den Rücken zuwandte,
was er ſonſt nie zu thun vergaß, denn die ſchmiegſame Ge¬
ſtalt mit dem Siegeszeichen des Parisapfels in der Hand
pflegte ihn allmorgendlich zu ärgern und zu betrüben.
Sie erinnerte ihn gewiſſermaßen an ſeine jung ver¬
ſtorbene ſelige Frau; aber wie ganz verſchieden war
hinwiederum dieſes reizende Blendwerk von der Unver¬
geſſenen, deren Seelenſpiegel nie ein Anhauch von
Ueppigkeit getrübt und die einen ausgeſprochenen Ab¬
ſcheu empfunden gegen Alles, was ſich im mindeſten
von ſittſamer Beſcheidenheit entfernte.
Heute aber nahm er an der Göttin keinen Anſtoß, er
war weit davon entfernt ſie nur zu beachten. Sein ganzes
Denken war darauf gerichtet, das Geſpräch auf ſeinen
Freund Jenatſch zu bringen, ohne durch die ſichere
Unterhaltungskunſt des Provveditore von der Fährte
abgebracht und ſpielend im Kreiſe herumgeführt zu
werden.
Er hatte heute ſchon in der Frühe, wie er daheim
in Zürich zu thun pflegte, einen kurzen Morgengang
gemacht, was hier in dem Gäßchen- und Waſſerlabyrinthe
der Lagunenſtadt ſeinen vorzüglichen Ortsſinn in ſpan¬
[184] nender Uebung erhielt. Er hatte zuerſt den durch ſeine
weltluſtige Pracht ihn täglich überraſchenden Markus¬
platz aufgeſucht und ſich hierauf ſinnreich durch die enge
lärmende Merceria nach dem Rialto durchgefunden.
Dort hatte er von der Höhe des Brückenbogens mit
aufmerkſamem Auge den unendlichen Handel und Wan¬
del der meerbeherrſchenden Stadt gemuſtert. Dann
war ihm plötzlich eingefallen, hinunterzuſteigen auf den
nahen Fiſchmarkt und die eben anlangenden ſeltſam ge¬
formten Seeungethüme zu beſichtigen. Hier fiel ſein
Blick auf den von Herzog Rohan bewohnten Palaſt
und in ſeinem Herzen erwachte der Wunſch, den geſtern
zweimal nur flüchtig begrüßten Jugendgenoſſen zu be¬
ſuchen und ſich nach deſſen Fahrten und Schickſalen
freundſchaftlich zu erkundigen. Sicher, im Palaſte des
Herzogs ermitteln zu können wo Jenatſch hauſe, und
nicht ohne Hoffnung ihn dort vielleicht perſönlich zu
treffen, winkte er einem Gondolier, der ihn mit wenigen
Ruderſchlägen an die Aufgangstreppe des Palaſtes
brachte. Da er von der Dienerſchaft erfuhr, Jenatſch
ſei nicht hier und der Herzog beſchäftigt, ließ er ſich
bei der Frau Herzogin anmelden.
Die hohe Dame dann hatte ihm die geſtrigen Er¬
eigniſſe bewegt und wirkungsvoll, aber höchſt unklar
geſchildert und dabei Andeutungen gemacht über das
[185] ſeinen Freund zermalmende Verhängniß, die den nüch¬
ternen Mann befremdeten und höchlich beunruhigten.
Der Verhaftungsſcene nächtliches Dunkel hatte ſie mit
der Fackel ihrer Einbildungskraft keineswegs aufgehellt;
dennoch wurde es dem klugen Zürcher ſofort klar, daß
Jenatſch in keiner andern Gewalt als in der Grimani's
ſich befinden könne. Er war deſſen vollkommen gewiß,
denn er erinnerte ſich jetzt der nachläſſigen Ruhe, mit
welcher dieſer Meiſter der Verſtellungskunſt geſtern an
der Tafel des Herzogs über die unbefugte Rückkehr des
Bündners weggeglitten war, die er unter andern Um¬
ſtänden ſicherlich als einen ſchweren Disziplinarfehler
gerügt hätte.
Waſer war ſogleich nach Hauſe geeilt, und jetzt
ſaß er dem undurchdringlichen Grimani gegenüber, aus
dem er des Bündners Schuld und Schickſal heraus¬
bringen mußte.
Der Provveditore war in glänzender Laune. Er
erging ſich in heitern Reiſeerinnerungen, erzählte von
London und dem Hofe Jakobs I., wohin ihn vor einigen
Jahren eine diplomatiſche Sendung geführt hatte, und
entwarf von dem wunderlich pedantiſchen, aber, wie er
hinzuzufügen ſich beeilte, keineswegs auf den Kopf ge¬
fallenen König ein ergötzliches Bild. Auch gedachte er
in liebenswürdigſter Weiſe ſeiner Einkehr im Waſer'¬
[186] ſchen Hauſe zu Zürich, deſſen patriarchaliſche Einfach¬
heit und fromme Zucht ihn nach dem lärmenden und
ſittenloſen London wahrhaft erquickt hätte. Dies brachte
ihn auf den beſondern Charakter der ſchweizeriſchen
Eidgenoſſenſchaft und ihre Stellung in der europäiſchen
Politik. Er beglückwünſchte den Zürcher, daß dem klei¬
nen Lande aus dem erwarteten Friedensſchluße ohne
Zweifel eine durch feſte Verträge verbürgte ſtaatliche
Unabhängigkeit erwachſen werde.
„Auf die von Niccolò Macchiavelli euch voraus¬
geſagte Weltſtellung werdet ihr freilich verzichten müſſen,“
ſagte er lächelnd, „aber ihr habt dafür euer eigenes
Herdfeuer und eine kleine Muſterwirthſchaft, in der
auch große Herren manches werden lernen können.“
Da hierauf Waſer mit leiſem Kopfſchütteln be¬
merkte, dieſes an ſich wünſchenswerthe Reſultat dürfte
neben ſchönen Lichtſeiten auch manche Schattenſeiten
zeigen, und er perſönlich ſehe ſich nur mit Schmerz
von dem proteſtantiſchen Deutſchland abgedrängt, nickte
ihm der venetianiſche Staatsmann einverſtanden zu und
ſagte, ſtaatliche Unabhängigkeit ſei eine ſchöne Sache
und es laſſe ſich dabei auch bei kleinem Gebiete ein ge¬
wiſſer Einfluß nach außen üben, vorausgeſetzt, daß
politiſche Begabung vorhanden ſei und auf ihre Aus¬
bildung aller Fleiß verwendet werde; aber um welt¬
[187] bewegend einzuwirken ſei nationale Größe nothwendig,
wie ſie gegenwärtig nur das durch ſeinen genialen Kar¬
dinal zuſammengefaßte Frankreich beſitze. Das Weſen
dieſer Größe und in welchem letzten Grunde ſie
wurzle habe er oft mit forſchenden Gedanken erwogen
und ſei zu einem eigenthümlichen Schluſſe gekommen.
Es erſcheine ihm nämlich, als beruhe dieſe materielle
Macht auf einer rein geiſtigen, ohne welche die erſte
über kurz oder lang zerfalle wie ein Körper ohne Seele.
Dieſer verborgene ſchöpferiſche Genius nun äußere ſich,
nach ſeinem Ermeſſen, auf die feinſte und ſchärfſte
Weiſe in Mutterſprache und Kultur.
„Hier iſt allerdings die Schweiz mit ihren drei
Stämmen und Sprachen im Nachtheile,“ fuhr der Prov¬
veditore fort, der offenbar mit Vorliebe an Italien ge¬
dacht hatte, „aber mir iſt um euch nicht bange. Ihr
haltet durch andere zähe Bande zuſammen. Für un¬
ſere geſegnete Halbinſel aber gereicht mir dieſe meine
Wahrnehmung zum Troſte. Heute unter verſchiedene,
zum Theil fremde Herren getheilt, beſitzt ſie immer
noch das gemeinſame Gut und Erbe einen herrlichen
Sprache und einer unzerſtörbaren, in das leuchtende
griechiſch-römiſche Alterthum hinaufreichenden Kultur.
Glaubt mir, dieſe unſterbliche Seele wird ihren Leib
zu finden wiſſen.“
[188]
Waſer, dem dieſe myſtiſchen Gedankengänge ſehr
ferne lagen und aus dem Munde ſeines ſonſt ſo kalten,
diplomatiſchen Gaſtfreundes befremdlich klangen, bemäch¬
tigte ſich jetzt der Rede, um in ein glänzendes Lob der
Republik von San Marco auszubrechen, die, einzig in
Italien, mit der Staatsweisheit und dem Rechtsſinne
der alten Roma eine Parallele bilde.
„Was die Fabeleien von willkürlicher Juſtiz und
geheimen nächtlichen Hinrichtungen betrifft, ſo bin ich
nicht der Mann, mein verehrter Gaſtfreund, an ſolche
Märlein zu glauben,“ ſchloß der Zürcher, erfreut mit
einer, wie er überzeugt war, ungezwungenen Wendung
an das heiß erwünſchte Ziel zu gelangen, „und darum
kann ich ganz ohne Rückhalt ein mir unerklärliches
Ereigniß mit Euch beſprechen, daß ſich geſtern im Canal
grande begab und wobei mein Jugendfreund, der Haupt¬
mann in venetianiſchen Dienſten Georg Jenatſch, ohne
Spur verſchwunden ſein ſoll. Die durchlauchtige Frau
Herzogin Rohan, welche die Gnade hatte mich mit dem
Vorfall bekannt zu machen, ſchien mir, ſoweit ich ihre
Andeutungen zu faſſen vermochte, nicht ferne zu ſein
von der Anſicht, der Hauptmann wäre ſeiner unbefugten
Abreiſe aus Dalmatien wegen den venetianiſchen Blei¬
dächern verfallen. Eine Vermuthung, die ich bei dem
eine höchſte Kulturſtufe erreichenden venetianiſchen Ge¬
[189] ſetze und der Milde ſeines Vollſtreckers,“ hier machte
er eine verbindliche Handbewegung gegen den Provvedi¬
tore, „— auch nach deſſen geſtrigen Aeußerungen an
der Tafel des Herzogs unmöglich theilen kann.“
„Von Hauptmann Jenatſch habe ich ſichere Kunde,“
ſagte Grimani mit einem unmerklichen Lächeln über die
Gewandtheit ſeines Gaſtes. „Er ſitzt unter den Blei¬
dächern; aber, lieber Freund, nicht wegen eines Diszi¬
plinarfehlers, ſondern belaſtet mit einer Mordthat.“
„Gerechter Gott! Und Ihr habt Beweiſe dafür?“
rief Waſer, dem es ſchwül wurde, ſprang auf und ſchritt
in dem kleinen Gemache beſtürzten Gemüthes auf und nieder.
„Ihr werdet, wenn Ihr es wünſcht, die Akten
leſen,“ verſetzte Grimani ruhig und ließ ſeinen Schrei¬
ber rufen, dem er befahl, ein Portefeuille, das er ihm
bezeichnete, ſogleich zur Stelle zu bringen.
Nach wenigen Minuten hielt Waſer zwei Akten¬
ſtücke über den Zweikampf zwiſchen Jenatſch und Ruinell
hinter St. Juſtina zu Padua in den Händen, mit denen
er ſich, eifrig leſend, in die etwas erhöhte Fenſterniſche
zurückzog.
Das eine dieſer Schriftſtücke war das mit dem
Magiſter Pamfilio Dolce aufgenommene Verhör, worin
derſelbe den Unfall des ihm zu Erziehung und Schutz
befohlenen unſchuldigen Knäbleins mit beweglichen Worten
[190] ſchilderte, alsdann zu der großen Scene bei Petrocchi
überging, wo der barbariſche Oberſt ſein in rühmlichen
Studien ergrautes Haupt mit Schimpf bedeckt, der
großherzige Hauptmann aber, von ſeiner — des Ma¬
giſters — ehrwürdiger Erſcheinung und beſcheidener
Forderung gerührt, mit ſchöner Menſchlichkeit und an¬
tikem Edelmuthe für ihn eingetreten ſei. — Dem mör¬
deriſchen Duell hatte der Magiſter nicht beigewohnt,
dagegen vom Gerichte ſich die Gunſt erbeten, dem Pro¬
tokoll eine wichtige Papierrolle beilegen zu dürfen.
Dieſe fiel Waſer in die Hand; aber er warf jetzt nur
einen flüchtigen Blick auf deren erſte Seite. Er er¬
greife, ſagte der Magiſter in der auf dieſem Blatte
ſtehenden Widmung, einem Meiſterſtücke kalligraphiſcher
Kunſt, die durch das Schickſal unverhofft ihm gewährte
Gelegenheit, dem erlauchten Provveditore, als dem hohen
Gönner aller Wiſſenſchaft, die geſammelte Frucht eines
arbeitſamen langen Lebens in Demuth erſterbend an¬
zubieten: eine Abhandlung über die Patavinität ſeines
unſterblichen Mitbürgers Titus Livius, das heißt, über
die in deſſen unvergleichliches Latein eingefloſſenen
charaktervollen paduaniſchen Provinzialismen.
Das zweite Schriftſtück, das Waſer entfaltete, war
die Relation des Stadthauptmanns, die ſich ausſchlie߬
lich mit der Schlußſcene des Handels beſchäftigte.
[191]
Ein erſchreckter Bürger habe ihn benachrichtigt, hinter
St. Juſtina ſtehe ein gefährlicher Zweikampf bevor zwiſchen
zwei Offizieren der venetianiſchen Armee. Er ſei hin¬
geeilt, von ſeinen tapfern Leuten zuſammenraffend, was
er auf dem Wege gefunden, und habe ſchon von ferne
die Gruppe der Kampfbereiten und der um ſie verſam¬
melten Neugierigen erblickt, auch deutlich erkennen können,
wie nur der Eine der Herren Griſonen mit grauſamer
Wuth und raſenden Geberden auf dem Kampfe beſtand,
der Andere aber kaltblütig mit Ernſt und Würde ihn
zu beſchwichtigen ſuchte, von den vernünftigen Vor¬
ſtellungen und höflichen Bitten der anweſenden padua¬
niſchen Bürger hierin unterſtützt, und ſich dann mäßig
und nur gezwungen vertheidigte. Er habe ſich ſeinem
Gefolge voran aufs eiligſte genähert, um, wie ſein ehren¬
volles Amt erheiſche, ſeinen Leib als Schranke zwiſchen
die Frevler am Geſetze zu werfen und den Degenſpitzen
im Namen der Republik Halt zu gebieten. Als er dieß
mit eigener Lebensgefahr gethan, ſei zwar der Eine
gehorſam zurückgewichen, der Andere aber durchbohrt
mit einem Fluche zuſammengeſtürzt. Nach ſeinem Dafür¬
halten habe ſich der Sinnloſe mit blinder Wuth in die
nur zur Vertheidigung ihm entgegengehaltene Waffe des
Andern geworfen, einen Augenblick eh' er die beiden
Degen mit dem ſeinigen niedergeſchmettert. — So
[192] glaube er ſeine Pflicht mit Aufopferung erfüllt zu haben
und auf die [Anerkennung] der erlauchten Republik, ſo¬
wie auf ein angemeſſenes Ehrengeſchenk ohne Unbe¬
ſcheidenheit rechnen zu dürfen. —
„Mit dieſen Papieren, Herr Provveditore, läßt
ſich eine Anklage auf Mord nie begründen,“ ſagte
Waſer vor ſeinen Gaſtfreund hintretend und die Akten
nicht ohne ſichtbare Zeichen der Entrüſtung auf den
Tiſch legend, wobei der Tractat über die Patavinität
des Livius auf den Marmorboden fiel. „Sie ſprechen
durchaus zu Gunſten des Hauptmanns und bezeichnen
den Fall als ſtricte Nothwehr. —“
„Wollt Ihr noch von den Ausſagen der andern
Zeugen Einſicht nehmen?“ ſagte Grimani kalt. „Sie
ſtimmen übrigens durchaus überein mit denjenigen des
bettelhaften Pedanten und des prahleriſchen Eiſenfreſſers.
„Die Zeugniſſe dieſes Geſindels“ — er ſtieß mit der
Fußſpitze an die gelehrte Arbeit des Magiſters Pam¬
filio, die langſam über die Moſaikſterne des glatten
Bodens rollte, — „führen nur den Gutmüthigen irre,
der nicht verſteht zwiſchen den Zeilen zu leſen. Ver¬
zaubert und belügt doch dieſer ungeſegnete Jenatſch, mit
ſeiner heuchleriſchen Herzenswärme und ſeiner ruchloſen
Kunſt auch das Abſichtlichſte als Eingebung des Augen¬
blicks oder harmloſen Zufall darzuſtellen, ohne Ausnahme
[193] Alle von oben bis unten, von dem edeln Herzog Rohan
bis zu dieſen Larven hinab. — Angenommen daß dieſe
Zeugniſſe den Sachverhalt in völliger Wahrheit dar¬
ſtellen, ſo führt ſie doch erſt die Kenntniß der Ver¬
hältniſſe des Hauptmanns und ſeines ränkevollen Cha¬
rakters auf ihren richtigen Werth zurück, und mittelſt
dieſer Kenntniß bin ich im Stande, mein werther Freund,
Euch vielleicht zum Schrecken Eures harmloſen Gemüths
die Geſchichte der Tödtung des Oberſten Ruinell in ihr
wahres Licht zu ſtellen.“
„Ich will mich kurz faſſen. Jenatſch hatte ſich zum
Ziele geſetzt um jeden Preis eines der vier bündneriſchen
Regimenter zu erlangen, die Herzog Rohan zum bevor¬
ſtehenden Veltliner Feldzuge mit franzöſiſchem Solde
bildet. Alle vier aber waren ſchon vergeben, eines
davon an Ruinell; folglich mußte einer der Oberſten,
am bequemſten Ruinelli, den der Degen des Ehrſüchti¬
gen erreichen konnte, weggeräumt werden. Als nun
der Schulmeiſter den heißblütigen Oberſt mit ſeinem
unverſchämten Bettel beläſtigte, ergriff der geiſtesgegen¬
wärtige Jenatſch blitzſchnell die Gelegenheit ihn zu reizen,
indem er für den Pedanten Partei nahm. Wie die
Flamme einmal aufſtieg, war es dem Kühlgebliebenen
ein Leichtes, ſie mit ſeinem boshaften Hauche zu ſchüren.
Er wußte mit ſeiner abſichtsvollen Sanftmuth den Zor¬
Meyer, Georg Jenatſch. 13[194] nigen bis zur Raſerei zu reizen und als geſchickter
Fechter den Degen ſo zu führen, daß Keiner den ſichern
leiſen Todesſtoß gewahr wurde. — So trug die Sache
ſich zu, mein braver Herr, wenn die Republik nicht
einen menſchenunkundigen Neuling zu ihrem Provvedi¬
tore hat. Euer Signor Jenatſch hat bei ſeiner dal¬
matiſchen Sendung zehnmal mehr Liſt aufgewendet, als
es nicht brauchte, dieſen armen Trunkenbold ſich aus
dem Wege zu räumen.“
Waſer hatte dieſe Auseinanderſetzung mit Grauen
angehört. Ihn fröſtelte beim Gedanken an die Gefahr,
die jedem Angeklagten aus dieſer ſcharfſinnig argwöhni¬
ſchen Auslegung an ſich unverfänglicher Thatſachen er¬
wachſen mußte. Sogar ihn, den wohlwollenden, dem
Hauptmann befreundeten Mann, durchfuhr einen Augen¬
blick der Gedanke, des Venetianers grauſame Logik
könnte Recht haben. Aber ſein gerader Menſchenver¬
ſtand und ſein rechtliches Gemüth überwanden raſch
dieſen beängſtigenden Schwindel. So hätte es ſein
können; aber, nein, es war nicht ſo. — Er erinnerte
ſich indeſſen, daß der Argwohn in Venedig ein Staats¬
princip ſei und verzichtete darauf, in dieſem Augenblicke
Grimanis Voreingenommenheit zu bekämpfen.
„Die Thatſachen entſcheiden,“ ſagte er mit über¬
zeugter Feſtigkeit, „nicht deren willkürliche Interpretation,
[195] und Hauptmann Jenatſch iſt nicht ohne Schutz in Ve¬
nedig, denn in Ermangelung eines bündneriſchen Ge¬
ſandten bei der Republik von San Marco glaube ich
Geringer im Sinne meiner Obern zu handeln, wenn
ich die Intereſſen des mit Zürich verbündeten Landes
in Venedig nach Kräften wahrnehme.“ —
„Da verwendet ſich noch ein anderer Schutzpatron
für die Unſchuld, die ich in der Perſon des Hauptmanns
Jenatſch verfolge,“ ſagte der Venetianer mit ſchmerz¬
lichem Spotte, denn eben wurde ein in rothe Seide ge¬
kleideter franzöſiſcher Edelknabe eingelaſſen, um in des
Herrn Provveditore eigene Hand ein Schreiben ſeines
Gebieters, des Herzogs Heinrich Rohan zu legen.
„Der erlauchte Herzog will mir die Ehre eines
Beſuches erweiſen,“ ſagte Grimani die Zeilen durch¬
laufend, „das darf ich nicht zugeben. Meldet, daß ich
mich ihm in einer Stunde vorſtellen werde. — Eure
Begleitung, Signor Waſer, würde mich erfreuen.“
Damit erhob ſich der feine bleiche Mann mit den
melancholiſchen Augen und zog ſich in ſein Ankleide¬
zimmer zurück.
Waſer blieb zögernd ſtehen. Dann trat er zum
Tiſche und durchlas ſorgfältig die übrigen Zeugenaus¬
ſagen. Zuletzt fiel ſein Blick auf die unter einen Stuhl
gerollte Abhandlung des Magiſters Pamfilio Dolce aus
13*[196] Padua. Ihn jammerte ihr ſchmachvolles Schickſal.
„Da klebt viel Schweiß daran,“ ſagte er und hob die
Rolle auf. „Ein Plätzchen in unſrer neu gegründeten
Stadtbibliothek wird ſich ſchon für dich finden, Werk
eines dunkeln Daſeins!“ —
Siebentes Kapitel.
Der Provveditore und Herr Waſer wurden vom
Herzog in ſeinem Bibliothekzimmer empfangen, wo
dieſer, der wenig Schlaf bedurfte und die Einſamkeit
der Morgenfrühe liebte, ſchon manche Stunde des Vor¬
mittags in ungeſtörter Arbeit mit ſeinem Schreiber, dem
Venetianer Priolo verbracht hatte.
Der Herzog begann mit einigen Worten des
Dankes für Grimanis Zuvorkommen.
„Ihr erriethet ſicherlich aus meinen Zeilen,“ ſagte
er, „das perſönliche Anliegen, welches mich ſchon heute
wieder eine Unterredung mit Euch dringend wünſchen
ließ. Ich war geſtern von meinem Balkon aus Zeuge
einer nächtlichen Scene, unter der ich mir nichts anderes,
als die Verhaftung eines Uebelthäters denken konnte.
Verſchiedene Umſtände laſſen mich mit Sicherheit ſchließen,
daß dieſer Gefangene der Republik der Bündner Georg
[198] Jenatſch ſei. Ich hatte nun, wie ich Euch, mein edler
Herr, ſchon geſtern andeutete, auf die Dienſte des ſelben
Mannes für meinen bevorſtehenden Feldzug in Bünden
gezählt und mir davon bei ſeinem militäriſchen Talent
und ſeiner mir höchſt werthvollen Kenntniß ſeines Vater¬
landes großen Vortheil verſprochen. Ihr ſeht ein, wie
ſehr mir daran liegen muß, zu erfahren, welcher Ueber¬
tretung des Geſetzes er ſich ſchuldig gemacht, und, wenn
ſein Verbrechen kein ſchweres und ſchmachvolles iſt, mein
Fürwort für ihn einzulegen.“
„Niemand iſt williger Euch zu dienen als ich,
erlauchter Herr,“ antwortete Grimani, „und in Wahr¬
heit glaubte ich gerade Euch einen nicht geringen Dienſt
zu leiſten, wenn ich dieſen mir ſchon längſt verdächtigen
Menſchen, in dem die Keime vieler Gefahren liegen,
jetzt da er ſich durch eine blutige That in meine Hand
gegeben hat, auf die Seite räumte. Er iſt, wie Ihr
aus der aktenmäßigen Darſtellung erfahren werdet, dem
Wortlaute unſeres Geſetzes nach der Todesſtrafe ver¬
fallen. Ob ich ihn, mildernde Umſtände annehmend,
begnadigen will, das ſteht vollkommen in meiner Will¬
kür. Iſt dies Euer Verlangen an mich, ſo werdet Ihr
keine Weigerung erfahren; aber höret vorher gütig an,
was ich von dieſer Perſönlichkeit denke. — Den Vorfall
ſelbſt bitte ich meinen würdigen Freund Waſer Euch zu
[199] berichten. Er hat ſoeben von den Akten Kenntniß ge¬
nommen und es iſt mir angenehm den Vortrag ihm zu
überlaſſen, da er mich insgeheim vergiftenden Argwohns
und ſchnöder Menſchenverachtung bezichtigt.“ —
Der Zürcher entledigte ſich dieſes Auftrags mit
Freundeseifer und ſachkundiger Gewandtheit. Zum
Schluſſe faßte er ſeine Meinung dahin zuſammen, daß
hier ein Fall reiner Nothwehr vorliege.
„Und nun erlaubt mir, meinerſeits Euch aus¬
zuſprechen,“ ſagte Grimani, und ſeine Stimme trübte
ſich vor innerer Bewegung, „daß ich die That für eine
vorbedachte, abſichtsvolle und dieſen Charakter kennzeich¬
nende halte. Georg Jenatſch iſt unermeßlich ehrſüchtig,
und ich glaube, er ſei der Mann, jede Schranke, welche
dieſe Ehrſucht eindämmt, rückſichtslos niederzureißen.
Jede! Den militäriſchen Gehorſam, das gegebene Wort,
die heiligſte Dankespflicht! Ich halte ihn für einen
Menſchen ohne Treu und Glauben und von grenzen¬
loſer Kühnheit.“
Mit wenigen aber noch ſchärfern Zügen, als er es
Waſer gegenüber gethan, bezeichnete er ſodann dem Her¬
zoge die ſelbſtſüchtigen Ziele, welche nach ſeiner Beur¬
theilung Jenatſch durch die Ermordung ſeines Lands¬
mannes habe erreichen wollen.
Der Herzog warf ein, es ſei ihm kaum glaublich,
[200] daß eine ſo urſprüngliche und warme Natur wie dieſer
Sohn der Berge eines ſo kalt konſequenten und ver¬
wickelten Verfahrens fähig ſei.
„Dieſer Menſch erſcheint mir unbändig und ehr¬
lich wie eine Naturkraft,“ fügte er hinzu.
„Dieſer Menſch berechnet jeden ſeiner Zornaus¬
brüche und benützt jede ſeiner Blutwallungen:“ erwiederte
der Venetianer, gereizter als es von ſeiner Selbſt¬
beherrſchung zu erwarten war. „Er iſt eine Gefahr
für Euch, und, wenn ich ihn verſchwinden laſſe, ſo hab'
ich Euch noch nie einen beſſern Dienſt erwieſen“.
Der Herzog verharrte einige Augenblicke in ſchwei¬
gendem Nachdenken, dann ſprach er mit großem Ernſte:
„Und dennoch erſuche ich Euch um die Begnadigung des
Georg Jenatſch.“
Grimani verbeugte ſich, trat an den Arbeitstiſch
des Geheimſekretärs Priolo, der in ſeiner Fenſterniſche
ruhig weiter geſchrieben hatte, warf ein paar Worte
auf ein Papier und bat den jungen Mann den Befehl
in das Staatsgefängniß zu bringen. Herzog Rohan
fügte bei, ſein Adjutant Wertmüller möge den Schreiber
begleiten.
Jetzt heftete Grimani ſeine ruhigen, dunkeln Augen
auf den Herzog und fragte plötzlich, ob er ihm nicht
die Gunſt gewähren könne, die Unterredung noch eine
[201] kurze Zeit ohne Zeugen fortzuſetzen. Rohan wandte
ſich freundlich zu Herrn Waſer und ſagte lächelnd:
„Gerade wollt' ich Euch bitten, die Herzogin über
das Loos des Hauptmanns Jenatſch, an welchem ſie
mitleidigen Antheil nimmt, an meiner Statt vorläufig
zu beruhigen.“
Geſchmeichelt durch dies Wohlwollen und erfreut
der Ueberbringer einer guten Botſchaft zu ſein, beur¬
laubte ſich der Zürcher und folgte einem Pagen, der
ihn der ungeduldig harrenden hohen Frau zuführte.
„Betrachtet, edler Herzog, es als ein Zeichen meiner
beſondern Ergebenheit,“ begann der Venetianer, wenn
ich ganz gegen meine Gewohnheit mich nicht ſcheue auf¬
dringlich zu ſein und den Vorwurf unzarten Eingreifens
in fremde Verhältniſſe mir zuziehe. Abgeſehen von
unſern gemeinſamen politiſchen Intereſſen bin ich über¬
zeugt, daß Ihr meine hohe Verehrung für Euren Cha¬
rakter genugſam kennt, um ſie als einzige Triebfeder
und als Entſchuldigung dieſes außerordentlichen Schrittes
gelten zu laſſen.
„Für Euch wollte ich dieſen Mann unſchädlich machen.
Ich kenne ſeine Vergangenheit. In Bünden, wo ich
vor Jahren die Intereſſen meiner Republik als Ge¬
ſandter wahrnahm, habe ich ihn an der Spitze raſender
[202] Volkshaufen geſehen und ſeine Herrſchaft über die toben¬
den Maſſen hat mich entſetzt.
„Ihr ſeid im Begriff, Bünden der ſpaniſchen Macht
zu entreißen und ich zweifle keinen Augenblick am Er¬
folg Eurer Waffen. Aber was dann? Wie werden ſich
nach Vertreibung der Spanier die Abſichten der fran¬
zöſiſchen Krone, die das ſtrategiſch wichtige Land bis
zum allgemeinen Frieden unmöglich aus den Händen
geben darf, mit dem ſtürmiſchen Verlangen ſeiner wil¬
den Bewohner nach der alten Selbſtändigkeit vereinigen
laſſen? Da Richelieu — ich will ſagen der allerchriſt¬
lichſte König, Euer Herr — nur den kleinſten Theil
ſeiner in Deutſchland unentbehrlichen Truppen Euch zur
Verfügung ſtellt, werdet Ihr in Bünden ſelbſt werben
und dem durch jegliches Elend erſchöpften Lande neue
Opfer zumuthen müſſen. Das aber — ich ſchäme mich
zu ſagen, was Ihr ſicherlich längſt bedacht habt — wird
Euch nur durch das Mittel weitgehender Verſprechungen
gelingen. Ich wenigſtens kann mir nichts anderes denken,
als daß Ihr mit Euerm perſönlichen Werthe den Bünd¬
nern Euch werdet verbürgen müſſen, ihnen, ſobald Euer
Sieg erfochten iſt, ihr urſprüngliches Gebiet und ihre
alte Selbſtändigkeit unvermindert zurückzugeben. — Dar¬
um ſendet, wie ich vermuthe, Richelieu gerade Euch,
deſſen Name von reiner Ehre leuchtet, nach Bünden,
[203] weil Eure Gewalt über die proteſtantiſchen Herzen ihm
dort ein Heer erſetzt. So werdet Ihr mir einräumen,
edler Herr, daß Euer eine ſchwere Stunde und eine
peinliche Doppelſtellung zwiſchen dem Cardinal und
Bünden wartet. Wohl wird es Eurer Weisheit ge¬
lingen, das Intereſſe der franzöſiſchen Krone, welcher
Ihr dient und die von Euch verbürgten Anſprüche des
Gebirgsvolkes, ohne jenes zu verleugnen oder dieſe zu
täuſchen, durch umſichtige Politik und kluge Zögerung
in der Schwebe zu halten und endlich auszugleichen;
aber nur unter der Bedingung, daß das hingehaltene
Bünden in keiner Weiſe gegen Euch und Frankreich ein¬
genommen und aufgeſtachelt werde. — Ihr lächelt,
gnädiger Herr! — In der That, wer in Bünden ſollte
es wagen gegen das mächtige Frankreich ſich zu ver¬
ſchwören oder gar mit offener Gewaltthat zu erheben!
Gewiß Keiner, Ihr habt Recht, wenn nicht vielleicht
jener Heilloſe — Euer Schützling, Georg Jenatſch.“
Der Herzog lehnte ſich mit einer abwehrenden
Handbewegung und dem ſchmerzlichen Ausdrucke ver¬
letzten Selbſtgefühls zurück. Eine Wolke zog über ſeine
Stirn. Das Bild des Bündners, wie es der Haß
Grimanis entwarf, ſchien ihm vergrößert und entſtellt;
doch nicht die ſeine Menſchenkenntniß in Frage ſtellende,
übertrieben ſchlimme und große Meinung, die Grimani
[204] von dem begabten Halbwilden hatte, welchen er ſich zum
Werkzeuge erleſen, war ihm empfindlich, wohl aber, daß
der Venetianer die geheime Wunde ſeines Lebens, ſeine
ſchiefe Stellung zu Richelieu ſcharfſinnig erkannte und
zu berühren ſich nicht ſcheute. Der Frankreich nach
großem Plane regierende, aber ihm perſönlich abgeneigte
Cardinal war im Stande — Rohan wußte es wohl —
ſeine proteſtantiſche Glaubenstreue als Mittel zum Zwecke
auszubeuten und ihn perſönlich aufzuopfern. Die Ge¬
fahr, welche er ſich ſelbſt auszureden ſuchte und in
ſchlafloſen Nächten doch immer und immer wieder ſorgen¬
voll erwog, war alſo fremden Augen offenbar.
— „Verzeiht, theurer Herr, meine vielleicht ſchwarz¬
ſichtige Sorge für Euch,“ ſagte Grimani, der den ver¬
borgenen Kummer des Herzogs in ſeiner erkälteten
Miene las. „Frankreich darf und wird ſich gegen ſeinen
edelſten Sohn nicht undankbar erzeigen. — Nur um
Eines bitte ich Euch, flehe ich Euch an: Wenn Ihr
an meine Ergebenheit glaubt, — hütet Euch vor Georg
Jenatſch.“
Kaum war das Wort ausgeſprochen, ſo klirrten
raſche Tritte im Vorſaal und der Genannte trat mit
dem Adjutanten Wertmüller in das Gemach, wo eben
noch edelmüthige Größe und menſchenverachtender Scharf¬
ſinn über ihn zu Gerichte geſeſſen und um ihn geſtritten
[205] hatten. Jenatſch ſah finſterer als je und tief bewegt
aus. Den Provveditore, der ihm zunächſt ſtand, be¬
dachte er mit einem unterthänigen Gruße und einem
Blicke voll tödtlichen Haſſes, welchem dieſer mit vor¬
nehmer Ruhe begegnete. Dann trat er raſchen Schrittes
vor den Herzog. Er ſchien in leidenſchaftlichem Dank¬
gefühle ſeine Kniee umfaſſen zu wollen; aber er ergriff
nur Rohans Hand und ließ, das geſenkte Auge ver¬
bergend, eine heiße Thräne auf dieſelbe fallen.
Der kalte Grimani, dem dieſe glühende Bewegung
einen widerwärtigen Eindruck machte, brach zuerſt das
Schweigen und bemerkte mit ſcharfer leiſer Stimme:
„Vergeßt nie, Signor Jenatſch, daß Ihr nicht der Güte
Eurer Sache, ſondern nur und allein der Fürſprache
dieſes hohen Herrn Euer verwirktes Leben verdankt.“
Der Hauptmann ſchien in ſeiner Bewegung das
Wort des Venetianers nicht gehört zu haben, er richtete
ſeinen feurigen Blick auf den Herzog und ſprach:
„Meinen Dank, theuerſter Herr, laßt mich Euch ſofort
durch die That bezeugen. Ich hoffe, Ihr habt manche
Gefahr für mich bereit — laßt mich eine vorweg nehmen.
Uebertragt mir ein Geſchäft, daß ich allein, wie Ihr
bedürft, verrichten kann, bei dem ich das mir geſchenkte
Leben zehnfach auf das Spiel ſetze und welches doch
nicht rühmlich genug iſt, daß es mir irgend einer neide
[206] oder ſtreitig mache. — Ich rede hier frei, ich bin unter
Eingeweihten. — Wie mir mein Kamerad Wertmüller
in ſeinen Briefen Euern Plan angedeutet hat, werdet
Ihr von Norden über die Bernina ins Veltlin vor¬
dringen, um mit dem Scharfblicke des großen Feldherrn
die feindliche Stellung in der Mitte zu faſſen und,
Spanier und Oeſterreicher auseinanderwerfend, die Einen
zurück in das Gebirge, die Andern hinunter nach den
Seen zu jagen. Nun iſt von höchſter Bedeutung, die
von den Spaniern vielfach neu angelegten Verſchan¬
zungen des Veltlins genau zu unterſuchen. — Laßt mich
hin! Ich nehme Euch Pläne davon auf, kenne ich doch
das Land wie Wenige.“
„Davon reden wir morgen, mein Georg,“ ſagte
der Herzog und legte ihm ſeine ſchmale Hand auf die
mächtig gebaute Schulter.
Am Abende des Tages, der den Hauptmann Jenatſch
zum Kameraden des Locotenenten Wertmüller im Dienſte
des Herzogs machte, fiel es dieſem ein, den Brief ſeines
Vetters in Mailand zu beantworten.
Er meldete, daß er einen kurzen Urlaub nach Zürich
genommen, obſchon er ſich nicht abſonderlich freue den
[207] Duft ſeines Neſtes wieder zu riechen, aber verſchwieg
dabei natürlich, daß er ſich dort dem Herzoge bei ſeinem
Durchbruche aus dem Elſaß nach Graubünden anſchließen
und die Wartezeit zu Werbungen für Frankreich ver¬
wenden werde. Dagegen berichtete er weitläufig, die
aus Mailand entflohene dolchführende Schönheit habe
er nicht nur kennen gelernt, ſondern es werde ihm ſo¬
gar die Ehre zu Theil, beſagte tapfere Perſon auf Ge¬
heiß des Herzogs über das Gebirge nach Bünden zu
geleiten, was ihn von ſeiner eigenen Reiſeroute nicht
abführe. — Als Belohnung für die vom Vetter ihm
zum Beſten gegebene Geſchichte und als deren Vervoll¬
ſtändigung erzählte er ihm den unerwarteten Auftritt
im Saale des Herzogs, dem er, perſönlich unbetheiligt,
mit gekreuzten Armen als vergeſſener Beobachter hinter
einer bergenden Säule beigewohnt habe, — halb gerührt,
halb ärgerlich, — denn er ſei eigentlich kein Liebhaber
heftig ausbrechender Gefühle. In einen ſolchen vul¬
kaniſchen Ausbruch aber habe die beſcheidene, von der
ſentimentalen Herzogin in Scene geſetzte Vorführung
einer Schutzflehenden plötzlich umgeſchlagen. Er ſelbſt
habe die Lunte angezündet, indem er den Heldenſpieler
eingeführt, einen tapfern Soldaten, aber leider ehe¬
maligen Pfarrer, der ihm trotz einiger tüchtiger Eigen¬
ſchaften wenig ſympathiſch ſei, da demſelben gewiſſe
[208] pompöſe Manieren, wahrſcheinlich von der Kanzel her,
ankleben und ein leidiger Hang zu grandioſem Komödien¬
ſpiele. In ſeiner Jugend ſei der Pfarrer ein wüthender
Demokrat geweſen und einer der böſen Geſellen, die
den Pompejus Planta umgebracht. Statt nun ſtill, wie
er, der taktvolle Wertmüller, es gethan, im Hintergrunde
zu bleiben, habe ſich der Abenteurer ſofort der bünd¬
neriſchen Dame als Mörder ihres Vaters und zugleich
als ehemaligen zärtlichen Liebhaber vorgeſtellt. Daraus
ſei plötzlich eine ſolche Exploſion verrückter Dinge ent¬
ſtanden, ein ſo einziges Spektakel, daß ihm heute noch
der Kopf davon ſchwirre. Für die Herzogin, deren
poetiſcher Schwung allen Verſtand überſteige, ſei es
eine Wonne geweſen. Sie habe ſchnatternd auf dem
Thränenmeer herumgerudert wie die Enten im Teiche. —
Jetzt arbeite ſie daran, einen würdigen Schlußakt her¬
beizuführen nach dem Muſter der gegenwärtig in Paris
Furore machenden Komödie, deren Autor einen Vogel¬
namen trage und die einen ganz ähnlichen Gegenſtand
behandle. Dort ſchließe der Conflict mit Heiraths¬
ausſichten; hier aber werde es hoffentlich, und wenn
noch Vernunft im Leben ſei, nicht dazu kommen. Es
wäre Schade um das Mädchen, er gönne ſie dem Volks¬
helden nicht. Sie ſei zwar keine blondlockige üppige
Schönheit, wie ſie Paul der Veroneſer und der flotte
[209] Tintorett, die Naturmöglichkeit überbietend, aus gold¬
durchwirktem Damaſte hervorquellen laſſen, noch habe
ſie die nächtlichen halbgeſchloſſenen Augen und die blau¬
ſchwarz ſchimmernden Flechten um die ſanfte, liſtige
Schläfe, die ihn an andern Töchtern der Lagunenſtadt
berücken; aber ſie habe es ihm nun einmal angethan
mit einem gewiſſen ehrlichen großen Weſen. Was bei
Lucretia Wahrheit ſei, halte er bei Jenatſch zum guten
Theil für Schein; gerade jene große Manier, von der
er geſprochen.
Sei übrigens der Hauptmann Jenatſch auf hohes
Spiel erpicht, ſo habe er geſtern Abend ſeine Luſt büßen
können.
Mitten aus der Rührung ſei er von Sbirren
herausgeholt und unter die Bleidächer geſetzt worden.
Der Provveditore Grimani, der den Bündner merk¬
würdiger Weiſe für ein wichtiges und ſtaatsgefährliches
Subjekt halte, hätte ihn gern ſogleich in den Kanal
verſenkt. Aber der umſtändliche alte Herr habe dabei
eine koſtbare Zeit verloren, die ſich der Herzog zu nutze
gemacht, um ſeinen neuen Günſtling ſich wieder zurück¬
liefern zu laſſen. Ihm perſönlich ſei das nicht gerade
unlieb, denn er verſpreche ſich bei den merkwürdigen
Lebensumſtänden des neuen Kameraden noch manchen
ſchlagenden Witz des Zufalls und freue ſich beſonders
Meyer, Georg Jenatſch. 14[210] darauf, mit dem geweſenen Pfarrer an ſeinen ehemaligen
Kirchen in Bünden vorüberzureiten, wo ihn dann ein
Gewiſſer darüber zur Rede ſtellen werde, was alles er
da drinnen dem Volke vorgemacht.
Hier ſtrich ſich der Locotenent vergnügt das magere
Kinn und ſchloß das Schreiben an ſeinen Vetter in
Mailand.
Drittes Buch.
Der gute Herzog.
14*[][]Erſtes Kapitel.
Auf einer Erhöhung des linken Rheinufers am
Fuße des lieblichen Heinzenbergs überſchauen die Mäuer¬
lein und anſpruchsloſen Gebäude des Frauenkloſters
Cazis die Hütten eines dem katholiſchen Glauben zu¬
gethan gebliebenen Dorfes. Am ſchmalen Bogenfenſter
einer Zelle, die nach dem grauen, jetzt vom Morgen¬
lichte beſchienenen Schloßthurme von Riedberg hinüber¬
ſchaute, ſaß die ſchöne Lucretia Planta.
Der Frühling war vorübergegangen. Auch auf
der Nordſeite der rhätiſchen Alpen hatte der laue Föhn
ſchon längſt den Schnee von den Halden weggeſchmol¬
zen und in tobenden Wildbächen dem Rheine zugeführt.
Durch die Felsſpalten der Via mala hatte der Süd¬
ſturm gebrauſt mit dem jugendlich unbändigen Strome
um die Wette. Wochenlang hatte der ſchäumende Rhein
zornig an ſeinen engen Kerkerwänden gerüttelt und
[214] herausſtürzend die flacheren Ufer verheert. Jetzt führte
er ruhiger die gemäßigten Waſſer zu Thal, umblüht
von den warmen Matten und üppigen Fruchtgärten des
gegen die rauhen Nordwinde geſchützten Domleſchg.
Es war ein klarer Morgen zu Anfang des Juni
und die älteſte Ordensſchweſter Perpetua hatte eben
nach einer längern Unterredung das edle Fräulein ver¬
laſſen.
Die frommen Frauen von Cazis hegten ſchon längſt
einen Herzenswunſch. Das Amt ihrer Priorin war
während langer Kriegsjahre unbeſetzt geblieben und ſie
ſehnten ſich darnach, daß es endlich wieder würdig be¬
kleidet und geehrt werde von einem bei Gott und Men¬
ſchen angeſehenen Sprößlinge einer großen Familie. Wen
konnten die Heiligen dazu auserwählt haben, wenn nicht
die im Thale aufgewachſene und begüterte Lucretia
Planta!
Das Kloſter hatte den Planta ſchon aus den
Zeiten vor der Reformation manche Schenkung zu ver¬
danken. Nun waren mehrere Glieder der berühmten
Familie, voran Herr Pompejus, in den Schooß der
alleinſeligmachenden Kirche zurückgekehrt; dieſer edle Herr
aber hatte ohne letzte Wegzehrung einen böſen jähen Tod
erlitten. — Was war natürlicher und chriſtlicher als
daß ſeine vereinſamte Tochter den Schleier nehme, um
[215] für das Heil ſeiner Seele zu beten und das Kloſter
in dieſen möglicherweiſe noch nicht ſo bald endenden
ſchlimmen Zeiten mit ihrem edeln Namen zu ſchirmen,
es mit ihrem Erbe zu bereichern.
Die Zurückgabe ihrer väterlichen Güter, von
welcher wegen der Planta Landesverrath und Mitſchuld
am Veltlinermord ſelbſt zur Zeit der Unterjochung durch
die Spanier nicht die Rede ſein konnte, ſtand jetzt in
naher Ausſicht, ſonderbarer Weiſe durch die Vermitte¬
lung des Oberſten Georg Jenatſch. Die Thaten des
jetzt im Veltlin unter Herzog Rohan fechtenden Scha¬
ranſer Pfarrſohns gingen in ſeinem Heimatsthale von
Mund zu Munde und ſein Ruhm im ganzen Lande
ſtieg täglich.
Zu dieſer Fürſprache hatte den Oberſten Jenatſch
wohl ein nagender Gewiſſensbiß getrieben, oder wenn
ſie einen weltlichen, dem Verſtande der Frauen von
Cazis undurchdringlichen Grund hatte, ſo wußte Gott
von jeher auch die Gedanken der Böſen zu ſeinen
Zwecken zu biegen. Daß aber das edle Fräulein in
Cazis eine bleibende Stätte finde und als Priorin die
verlaſſene Heerde weide, das war offenbar die Meinung
des heiligen Dominicus ſelber, deſſen Regel das Haus
befolgte.
Lucretia hatte ſchon im Kloſter zu Monza ſein
[216] himmliſches Wohlgefallen auf ſich gezogen. Damals
hatten kaiſerliche Kriegsbanden die Kirche zu Cazis ge¬
plündert und darin ſo unchriſtlich gehauſt, daß, wie
Perpetua dem Fräulein ſchrieb, von der heiligen Mutter¬
gottes nichts als das nackte Holz zurückblieb. Das
junge Mädchen hatte dann in der Schule der geſchickten
italiäniſchen Nonnen ein koſtbares Kleid für die beraubte
heimiſche Gottesmutter geſtickt und bald Gelegenheit
gefunden, es durch den herzhaften und wanderluſtigen
Pater Pancraz an ſeine Beſtimmung gelangen zu laſſen.
Seither hatte der heilige Dominicus der unwür¬
digen Schweſter Perpetua ſeinen Wunſch und Willen
in wiederholten Erſcheinungen kund gethan. Am deut¬
lichſten und wunderbarſten aber war dieſes in der ver¬
wichenen Nacht geſchehen. Die betrübte Ordensſchweſter
hatte in gottbegnadetem Traume die öde Zelle der Prio¬
rin betreten und dort plötzlich Lucretia erblickt, wie ſie
leibte und lebte, doch mit demüthigem Angeſichte und
geſenkten Augen. Neben ihr aber ſtand St. Domini¬
cus ſelbſt im Glanze des Himmels und ſeiner ſchnee¬
weißen Kutte, der ihr einen Lilienſtengel überreichte.
Der Träumenden war alsdann vorgekommen, als lege
ſich ein Abglanz ſeines Heiligenſcheins um Lucretias
erwähltes Haupt.
Die Schweſter öffnete die Augen voller Freude
[217] und durchdrungen von dem Gefühle, daß ſie dieſe Offen¬
barung nicht für ſich behalten dürfe. So war ſie denn
gekommen das Geſicht Lucretia mitzutheilen und mit
ihr deſſen Bedeutung zu beſprechen.
Der Eindruck des Traumbildes auf das Fräulein
war indeſſen weniger erfreulich und überzeugend ge¬
weſen, als die Nonne gehofft, und ſie hatte ſich darauf
lange bemüht zu ergründen, welche Wurzeln der Welt¬
luſt oder der Weltſorge das Fräulein immer noch draußen
zurückhielten, denn dieſes ſprach von dem Kloſter, trotz
ſeines Wohlwollens für daſſelbe, nur als von ſeiner
einſtweiligen Herberge.
An irdiſchem Beſitz ſchien Lucretias Herz nicht zu
hangen, noch weniger an irdiſcher Liebe; denn einige
beſcheidene Kloſterſcherze, die ſich Schweſter Perpetua
einzig in der Abſicht das Fräulein zu erforſchen in
dieſer Richtung erlaubte, wurden mit ſtolzem Lächeln
abgewieſen.
Noch eine Möglichkeit halte die Schweſter beun¬
ruhigt: Lucretia wolle in der Welt bleiben, bis ſie einen
würdigen Bluträcher finde, der nach altem Landesbrauche
den Tod ihres grauſam erſchlagenen Vaters mit dem¬
jenigen der Mörder ſühne, oder ſie trage am Ende ſelbſt
blutige Gedanken mit ſich herum, die ſich mit dem
Frieden des Kloſters nicht vertrügen.
[218]
Dieſe ſchreckliche Vermuthung, die urſprünglich
ihrem zahmen und frühe durch Kloſterzucht geregelten
Gemüthe ferne lag — Perpetua war keine ſchwerblütige
Bündnerin, ſondern entſtammte einer ehrbaren Zuger¬
familie — hatte ihr der alte Lucas zu Riedberg noch
vor der Fahrt, die er nach Italien gethan, um das
Fräulein heimzugeleiten, zu wiederholten Malen nahe¬
gelegt. Er ſelbſt war ganz davon durchdrungen, wie
von einer unabwendbaren Nothwendigkeit. Aber auch
dieſe Muthmaßung hielt nicht Stand. Lucretia war
der Schweſter heute ſo kindlich weich und verſöhnlich
erſchienen, daß ſie ſich einen derartigen Verdacht als ein
Unrecht gegen das verwaiſte Fräulein vorwarf.
In Wahrheit, heute hegte Lucretia keine Rache¬
gedanken. Sie ſann mit einer Trauer, die ihre geheime
Süßigkeit hatte, den Erlebniſſen ihrer Heimreiſe aus
Venedig nach. Ein ſeltſames Verhängniß hatte das
Leben des ihrer Rache Verfallenen in ihre Hand gege¬
ben und ſie hatte es erfahren, ſie wußte heute mit voller
Herzensüberzeugung, daß ſie es nicht nehmen dürfe.
Der Widerſtreit ihrer Gefühle hatte ſich gelegt, ſie war
zur Ruhe gekommen.
Lucretia hatte Venedig, begleitet von ihrem treuen
Lucas, im Frühjahr verlaſſen und die lange Strecke
bis nahe an die Grafſchaft Chiavenna erſt über Verona
[219] und Bergamo und dann längs der blühenden Ufer des
Comerſees in mäßigen Tagritten ohne Aufenthalt und
Abenteuer zurückgelegt. Grimani hatte ſie mit einem
Geleitbrief durch das Venetianiſche verſehen — im
Mailändiſchen genügte ihr Name — und von Rohan
war ihr als ſchützender Cavalier der junge Wertmüller
mitgegeben worden.
Wohl hatte die Herzogin gegen dieſes für die
ſchöne Reiſende, wie ſie behauptete, in keiner Weiſe
paſſende Geleite zuerſt Einſpruch erhoben; aber der
Herzog kannte die guten und ſchlimmen Eigenſchaften
ſeines Wertmüller nicht erſt ſeit geſtern und wußte, daß
ſein wunderlicher Adjutant ſich noch in jeder ernſten
Probe ehrenhaft, zuverläſſig und tapfer erwieſen hatte.
So gelangte der kleine Reiſezug der Donna Lu¬
cretia eines Tages in die ſumpfige Ebene durch welche
die Adda ſich langſam dem Nordende des Comerſee's
zuwindet. Da ſie am Morgen in der kühlen Frühe
aufgebrochen waren, beſchloſſen ſie an einem Kreuzwege
unſern der drohenden Feſtung Fuentes vor einer Lo¬
canda kurze Mittagsraſt zu halten, um dann heute noch
Chiavenna zu gewinnen und am nächſten Tage den
Saumpfad über den Splügen einzuſchlagen.
Lucretia zog es vor, die unreinliche Herberge nicht
zu betreten; ſie ſetzte ſich allein in eine Weinlaube,
[220] deren blaſſes Frühlingsgrün ſich eben aus den ſpringen¬
den Knospen entwickelte. So hatte ſie eine Weile den
Hühnern zugeſehn, die neben der Krippe das von den
freſſenden Pferden herausgeworfene Futter aufpickten,
da erblickte ſie zwiſchen den zarten Blättern und jungen
Ranken hindurch auf der ſtaubigen Landſtraße einen
Zug Leute, der ſogleich ihre ganze Aufmerkſamkeit feſſelte.
Sie errieth, daß ein Gefangener eingebracht werde und
als er näher kam, erbebte ihre Seele. Ein halbes
Dutzend ſpaniſcher Soldaten, voran ein alter dürrer
Hauptmann zu Pferde, führten in ihrer Mitte einen
Mann in der Alltagstracht des Veltlinerbauers, deſſen
Kleider zerriſſen und über und über von Sumpfwaſſer
geſchwärzt waren. Staub und Blut entſtellten ſein
Angeſicht, und die Hände waren ihm mit groben Stricken
hinter dem Rücken zuſammengebunden. Das Fräulein
erkannte mit Entſetzen die hohe Geſtalt und die trotzige
Haltung des Jürg Jenatſch. Auf den Spuren des
eingeholten Flüchtlings ſchnüffelten ſpaniſche Bluthunde,
welche wohl bei dieſer Menſchenjagd Dienſte geleiſtet
hatten, und gelbe halbnackte Jungen und blödſinnige
Zwerggeſtalten liefen johlend hinter dem gewaltigen
wehrloſen Manne her. Beim Herannahen des Trupps
eilten die Bewohner des Hauſes vor der Thüre zu¬
ſammen, auch Lucas kam herbei, der eben die Pferde
[221] wieder geſattelt hatte, und Wertmüller trat hinter
Lucretia.
Der ſpaniſche Hauptmann gebot ſeinen Leuten
Halt, ſtellte ſich in den Schatten der Hauspforte und
nahm ſeine Sturmhaube von dem todtenkopfähnlichen
Haupte, deſſen braune Knochen nur durch zwei erhitzte,
tiefliegende Augen belebt erſchienen. Dann hieß er ſein
abgejagtes Thier, deſſen Riemenzeug zerriſſen war, zur
Ciſterne führen und fragte kurz und barſch: „Iſt jemand
hier, der in dieſem Späher den vormaligen ketzeriſchen
Prädikanten und vielfachen Mörder Georg Jenatſch
erkennt?“
Es ſchlurfte in zerfetzten Schuhen ein ältlicher
Knecht herbei und ſagte mit kriechender Miene: „Zu
dienen, Excellenz. Ich hauſte anno 1620 in Berbenn
und war dabei, als dieſer Gottesläſterer mit verfluchter
Hand meinen leiblichen Bruder gegen den Hochaltar
von St. Peter ſchleuderte, daß der Aermſte für ſein
Lebtag ein Gebreſten davontrug.“ —
„Das paßt,“ ſagte der Spanier, „ich betraf den¬
ſelben Prädikanten im gleichen Sommer an der Zug¬
brücke unſerer Feſtung. Eure Ausflüchte, Mann, helfen
Euch nicht und der Strick iſt Euch gewiß.“
Lucretia hatte im Hintergrunde der Laube den Auf¬
[222] tritt mit laut klopfendem Herzen angeſehen. Konnte ſie
Georg retten? Wollte, durfte ſie es? . . Hinter ihr
ſtand Wertmüller, deſſen angriffsluſtige Ungeduld ſie
fühlte, und den ſie leiſe den Hahn ſeines Piſtols ſpannen
hörte. Lucretia erhob ſich und ſchritt, von einer un¬
widerſtehlichen Macht gezogen, langſam vor. Bei des
Spaniers letzten Worten ſtand ſie zwiſchen ihm und
dem an einen ſteinernen Stützpfeiler der Laube ge¬
ſchnürten Gefangenen. In dieſem Augenblicke flog eine
Handvoll Koth und Steine von einer lachenden Kropf¬
geſtalt geworfen an die blutende Stirne des Gefeſſelten,
aber ſeine Miene blieb ſtolz und ruhig, nur ſeine Lippen
bewegten ſich flüſternd: „Lucretia, deine Rache vollzieht
ſich!“ klang es in romaniſchen Lauten, ohne daß ſein
Blick ſich nach ihr gewendet hätte.
„Sennor,“ redete die Bündnerin den ſpaniſchen
Hauptmann mit feſter Stimme an, „ich bin Lucretia,
die Tochter jenes Planta, den Georg Jenatſch erſchla¬
gen hat. Ich habe ſeit dem Tode meines Vaters keinen
liebern Gedanken gehabt als den der Rache; aber in
dieſem Manne hier erkenne ich den Mörder meines
Vaters nicht.“
Der Spanier richtete ſeinen böſen Blick erſt fra¬
gend und dann höhniſch auf ſie, aber Lucretia beachtete
ihn nicht. Schon hielt ſie ihren kleinen Reiſedolch in
[223] der Hand und begann ohne Zögern die Bande des
Gefangenen zu durchſchneiden.
Was jetzt um ſie vorging traf ihre Sinne kaum.
Sie vernahm noch den raſchen Befehl Wertmüllers an
Lucas: „Pferde vor!“ gewahrte noch wie der Locote¬
nent dem Spanier mit dem Piſtol in der Hand ent¬
gegentrat und dieſer den Degen aus der Scheide riß.
Dann wurde ſie raſch aufs Pferd gehoben, das Mus¬
ketenſchüſſe hinter ſich hörend, in wilden Sprüngen ſie
von dannen trug und in jagendem Laufe an der Feſtung
Fuentes vorüber der Straße nach Chiavenna folgte.
Auf dem ſtaubigen Heerwege ſprengte ſie vorwärts mit
Mühe ſich auf dem erſchreckten Pferde haltend und doch
angſtvoll zurücklauſchend, ob ihr Freund oder Feind
nacheile. Noch fielen, ſchon aus der Ferne, vereinzelte
Schüſſe, ſonſt hörte ſie nichts als das Schnauben und
den Hufſchlag ihres eigenen Thiers.
Endlich brauſte Galopp hinter ihr und ſchon ritt
an ihrer rechten Seite, zerriſſen und blutig, aber in
hellem Uebermuthe Georg Jenatſch, hinter welchem, ihn
mit grimmer Miene umfaſſend, der alte Lucas zu Roſſe
ſaß. Zu des Fräuleins Linken ſchnaubte einen Augen¬
blick ſpäter ein zweites Roßhaupt und über demſelben
grüßte das aufgeregte Geſicht des kleinen Locotenenten,
[224] der den Rückzug gedeckt hatte und von der Rolle, die
er geſpielt, höchlich befriedigt ſchien.
„In der Feſtung wird Alarm geſchlagen,“ ſagte
Jenatſch. „Hinter jenem Waldhügel biegen wir links
ab von der Heerſtraße, auf der man uns verfolgen
wird, reiten durch die ſeichten Nebenwaſſer der Adda
und gewinnen auf Wegen, die ich als gangbar kenne,
längs des Sees und über die Berge das ſichere
Bellenz.“ —
Als die Pferde den beweglichen Kiesboden des
Flußbettes betraten, ſprang Lucas ab und ergriff, ſich
vor das Pferd ſeiner Herrin ſtellend, mit treuer Hand
deſſen Zügel. „Im Grunde habt Ihr Recht,“ ſagte
der Alte und blickte zu Lucretias glücklichem Angeſichte
auf, „es war heute nicht der paſſende Anlaß und nicht
der richtige Ort. — Euch zu liebe würd' ich mit
dem leidigen Satan ſelbander reiten, aber — wahr
bleibt's — einem ehrlichen Gaul und einem gut ka¬
tholiſchen Chriſten wird heutzutage viel Geduld zuge¬
muthet.“ —
Die darauf folgenden beſchwerlichen Reiſetage
lebten als ſelige Erinnerungen in dem Herzen Lucretias
fort. Nach dem ermüdenden Zuge quer über die ſüd¬
lichen Vorberge der Alpen hatte die Geſellſchaft in
Bellenz geraſtet und Jenatſch ſich beritten gemacht.
[225] Dann zogen ſie langſam durch das von Waſſerſtürzen
rauſchende Miſox, das ſüdlichſte und ſchönſte Thal des
Bündnerlandes. Ueber dem Bergdorfe San Bernardino
begann der Paß jäh zu ſteigen und führte zu dieſer
frühen Jahreszeit bald über eine blendende Schneedecke.
Der Himmel war von tiefer Klarheit und noch ſüdlicher
Bläue. Lucretia fühlte ſich umweht von den kräftigen
Alpenlüften der Heimat und ihr war auf Augenblicke,
als ſei ſie in die fröhlichen Reiſetage der Kindheit
zurückgekehrt; denn Herr Pompejus war häufig mit ihr
aus einem ſeiner feſten Häuſer ins andere über die
Bergjoche des thälerreichen Bündens gezogen. Ihre
Augen ſuchten mit Ungeduld den kleinen Bergſee, der,
wie ſie ſich deutlich erinnerte, auf keiner der heimiſchen
Waſſerſcheiden ausblieb. Da endlich, nahe dem nörd¬
lichen Abhange, leuchtete er ihr entgegen, unter den
heutigen ſcharfen Sonnenſtrahlen aufgethaut. Gewiß
nur eine kurze Befreiung, denn der Sommer kehrt ſpät
ein auf dieſen Höhen trotz ſeiner täuſchenden Vorboten
und das den Himmel ſpiegelnde Auge mußte ſich unter
eiſigen Stürmen wohl bald wieder ſchließen.
Auf der halb geſchmolzenen Schneedecke kamen die
Pferde nur mühſam vorwärts. Die Bündner — auch
Lucretia — waren auf der Höhe abgeſtiegen, nur der
eigenſinnige Wertmüller beharrte im Sattel und blieb,
Meyer, Georg Jenatſch. 15[226] wo der Berg ſich zu ſenken begann, mit ſeinem bei
jedem Schritte gleitenden Thiere immer mehr hinter den
Andern zurück. Zuletzt verſank er in eine vom Schnee
verrätheriſch bedeckte Spalte aus welcher ihm der die
übrigen Pferde am Zügel führende Lucas nur mit Zeit¬
verluſt und Mühe heraushalf. Während dieſer bei
dem fluchenden Locotenenten zurückblieb, ſchritten Jenatſch
und Lucretia rüſtig und allein bergab und überließen
ſich der ungewohnten Luſt, die Heimatluft in vollen
Zügen einzuathmen. Das Fräulein dachte nicht daran,
daß ſie zum erſten Male auf der Reiſe mit Jenatſch
allein ſei. Waren ihr doch, wenn ſie ſtill neben Jürg
einherritt, ihre beiden andern Begleiter — der Loco¬
tenent, trotz ſeines unausgeſetzten Beſtrebens ſich ange¬
nehm oder unangenehm geltend zu machen, der alte
Knecht, trotz ſeiner unverholenen Rachegelüſte, — in gleich¬
giltige, unperſönliche Ferne getreten.
Sie lebte in einem traumartigen Glücke unter dem
Zauber ihrer Berge und ihrer Jugendliebe, den ſie
furchtſam ſich hütete, mit einem an die grauſame Gegen¬
wart erinnernden Worte zu zerſtören.
Jetzt hatten ſie das erſte Grün über einem ſchma¬
len baumloſen Thale erreicht und ſetzten ſich auf ein
beſonntes Felsſtück, um den zurückgebliebenen Locote¬
nenten zu erwarten. Ein Wäſſerchen quoll daneben
[227] aus dem feuchten dunkeln Boden. Lucretia kniete nieder
und bemühte ſich mit der hohlen Hand einen Trunk
daraus zu ſchöpfen. „Ich muß doch ſehen,“ ſagte ſie,
„ob das bündneriſche Bergwaſſer noch ſo gut ſchmeckt
wie in meiner Jugend!“
„Nicht!“ warnte Jenatſch. „Ihr ſeid der eiskalten
Quellen entwöhnt! Hätt' ich ein Becherlein, ſo miſcht'
ich Euch einen geſunden Trunk mit ein paar feurigen
Weintropfen aus meiner Feldflaſche.“
Da blickte ihn Lucretia liebevoll an, holte aus
ihrem Gewande einen kleinen Silberbecher hervor und
ließ ihn in ſeine Hand gleiten. — Es war das Becher¬
lein, daß ihr einſt der Knabe zum Gegengeſchenk für
ihre kecke kindliche Wanderfahrt nach ſeiner Schule in
Zürich gemacht, und das ſie nie von ſich gelaſſen hatte.
Jürg erkannte es ſogleich, umfing die Knieende und zog
ſie mit einem innigen Kuſſe an ſeine Bruſt empor. Sie
ſah ihn an, als wäre dieſer einzige Augenblick ihr
ganzes Leben. Dann brachen ihr die Thränen mit
Macht hervor. „Das war zum letzten Male, Jürg,“
ſagte ſie mit gebrochener Stimme. „Jetzt miſche mir
den Becher, daß wir beide daraus trinken! Zum Ab¬
ſchiede! Dann laß meine Seele in Frieden!“ —
Schweigend füllte er den Becher und ſie tranken.
15*[228]
„Siehe dieſes Rinnſal zwiſchen uns,“ begann ſie
wiederum, „es wird unten zum reißenden Strome. So
fließt das Blut meines Vaters zwiſchen Dir und mir!
Und überſchreiteſt Du es, ſo müſſen wir beide darin
verderben. — Sieh,“ fuhr ſie mit weicher Stimme
fort und zog ihn neben ſich auf den Felsſitz, „als ich
Dich unten in den Händen der Häſcher ſah, hätt' ich
Dich lieber mit eigener Hand getödtet, als Dich ein
ſchmähliches Ende nehmen laſſen. Du haſt mir das
Recht dazu gegeben! Du biſt mein eigen! Du biſt mir
verfallen. Aber ich glaube Dir: dieſem Boden, dieſer
geliebten Heimaterde biſt Du zuerſt pflichtig. So gehe
hin und befreie ſie. — Aber, Jürg, ſieh mich niemals
wieder! Du weißt nicht, was ich gelitten habe, wie
ſich mir alle Jugendluſt und Lebenskraft in dunkle
Gedanken und Entwürfe verwandelte, bis ich zu einem
blinden willenloſen Werkzeuge der Rache wurde. Hüte
Dich vor mir, Geliebter! Kreuze nie meinen Weg!
Störe nie meine Ruhe!“ —
So ſaßen die Beiden in der Einöde.
Seit Jenatſch die Tochter des Herrn Pompejus
bei der Herzogin wieder geſehen, war die in den Wag¬
niſſen und Verwilderungen eines ſtürmiſchen Kriegs¬
lebens nie ganz vergeſſene Liebe ſeiner Kindheit flam¬
mend aus der Aſche erſtanden, und mit ihr ein trotziger
[229] Geiſt der Empörung gegen ſein Schickſal. Mit einer
Blutthat, die dem Jünglinge als Vollſtreckung eines ge¬
rechten Volksurtheils erſchienen war und die der jetzt
Gereifte und Welterfahrne als eine unnütze Befleckung
ſeiner Hände verwünſchte, hatte es ihn für immer ge¬
ſchieden von einem großen und hilfreichen Herzen, das
von jeher ſein eigen war.
Dieſer Geiſt der Auflehnung und Verzweiflung
reizte ihn jetzt, die als begehrenswerthes Weib neben
ihm ſtehende Lucretia um jeden Preis zu gewinnen und
wenn ſie ihm verderblich werde — denn er kannte ſie —
triumphirend mit ihr unterzugehen.
Aber er erdrückte den Dämon. Stand er nicht
mitten in einem andern Kampfe, der den Einſatz des
ganzen Mannes forderte und alle ſeine Kräfte und
Leidenſchaften in eine Anſtrengung zuſammenfaßte?
Auch war ſeine Natur von jenem Stahl, der aus den
Steinwänden der Unmöglichkeit immer wieder die hellen
Funken der Hoffnung herausſchlägt. Er war gewohnt,
an nichts zu verzweifeln und nichts aufzugeben.
Konnte ſich Lucretias Gemüth nicht wieder er¬
hellen? War es gänzlich unmöglich das Vergangene zu
ſühnen durch Thaten von ungewöhnlicher Größe? Mußte
denn unabänderlich auf den liebſten Kampfpreis ver¬
[230] zichtet ſein im Augenblicke da ſich des Ruhmes glänzende
Staffeln hart vor ſeinen Augen erhoben?
Auch war Lucretia heute ſo weich, und als ſie
ihm den kleinen Silberbecher in die Hand drückte, hatte
ihn aus ihren vertrauensvollen braunen Augen das
Mägdlein angeſchaut, das ihn einſt beim Kinderſpiele
zu ſeinem Beſchützer und Hüter erkoren! . . .
So bezwang er mit ſtarkem Willen ſeine Leiden¬
ſchaft, legte ihr Haupt ſanft an ſeine Bruſt, drückte
noch einen leiſen Kuß auf ihre Stirn und ſagte, wie
er vor vielen Jahren zu dem weinenden Mägdlein zu
ſagen Pflegte, wenn ſie ſich einmal entzweit hatten:
„Sei gut und ſtille, Kind! Der Friede iſt ge¬
ſchloſſen.“ —
Lucretia hatte damit Ernſt gemacht. Ruhe war
über ihr Gemüth gekommen mit dem Gefühle, daß die
Höhe des Lebens überſtiegen und die Erinnerung ihr
größter Beſitz ſei. Nun wohnte ſie ſeit Monaten in
den Kloſtermauern von Cazis. Das Wort des frommen
Herzogs, daß es ſicherer ſei, Frevel durch Opfer der
Liebe zu ſühnen als durch neue Gewaltthat, begann in
ihrer geſtillten Seele Wurzel zu ſchlagen. — Wenn ſie
den Wunſch der Frauen von Cazis nicht erfüllte, ſo
war der herüberſchauende Thurm von Riedberg daran
ſchuld, der ſie an ihre freien Kindertage erinnerte und
[231] ihr das unabhängige Leben einer Burgherrin im Ringe
ihres Geſindes und ihrer Dorfleute vor Augen ſtellte.
Sie ſehnte ſich nach den alten Schloßräumen, um darin
den Haushalt ihres Vaters wieder aufzurichten. —
Auch ſchlummerte, ihr unbewußt, ein anderer Wider¬
ſpruch in ihrem Herzen: Sie konnte der Welt nicht
klöſterlich entſagen, ſo lange Jürg in Thaten ſchwelgte
und immer größere Kampfbahnen ſich vor ihm auf¬
ſchloſſen.
In dem Meßbuche, welches aufgeſchlagen neben dem
Fräulein auf dem Sims lag, hatte der durch das offene
Fenſter ſpielende Bergwind ſchon lange ungeſtüm hin
und her geblättert, ohne daß Lucretia es gewahrte.
Jetzt aber wurde ſie durch den Ton einer wohlbekann¬
ten Stimme aus ihren Träumen aufgeſchreckt.
Sie trat an den Fenſterbogen und erblickte neben
der Pförtnerin die braune Kutte des Paters Pancraz.
Sein keckes, ſonneverbranntes Geſicht ſchaute diesmal
noch zuverſichtlicher als gewöhnlich in die Welt und er
verlangte dringend ohne Aufſchub vor das Fräulein
geführt zu werden, dem er glückhafte Nachricht zu brin¬
gen habe.
Kurz darauf trat er ein und verkündete ſeine
Botſchaft: „Freuet Euch, Fräulein Lucretia! Ihr ſeid
wieder Herrin von Riedberg. Es beginnen die ver¬
[232] dienſtlichen Werke mit denen unſer großer Oberſt für
ſeine alte ſchwere Schuld Buße thut. — Morgen
kommen die Staatskrägen von Chur, um die Siegel
zu löſen und Euch das Haus Eurer Väter wieder
aufzuthun. Gott gebe Euch einen geſegneten Einzug.“
Zweites Kapitel.
Während der Sommer- und Herbſtmonate eines
einzigen Jahres hatte Herzog Heinrich Rohan ſeinen
Feldzug im Veltlin mit raſchen entſcheidenden Schlägen
zu Ende geführt. Die friſchen Lorbeern von vier Siegen,
wie ſie nur ſelten ein Feldherr erficht, verherrlichten
ſeinen Namen.
Diesmal hatte ſich ſein Talent kühn und freudig
entfaltet, denn der Kampf hatte den äußeren Feinden
Frankreichs gegolten, nicht auf franzöſiſchem Boden
zwiſchen Kindern derſelben Erde gewüthet. Während er
früher gezwungen geweſen, Landsleute gegen Landsleute,
ſeine calviniſtiſchen Glaubensgenoſſen gegen das katho¬
liſche Frankreich mit blutendem Herzen zu führen, ſo
befehligte er jetzt zum erſten Male ein aus beiden Be¬
kenntniſſen verſchmolzenes franzöſiſches Heer. Vor der
Schlacht von Morbegno, wo ſeine Schaar vor einer in
[234] günſtigen Stellungen drohenden ſpaniſchen Uebermacht
ſtand, ließ er ſeine Leute gegen galliſche Kriegsſitte auf
den Knieen den göttlichen Beiſtand anrufen. Der cal¬
viniſtiſche Caplan des Herzogs betete mit den Proteſtan¬
ten, während ein katholiſcher Prieſter über ſeinen
Glaubensgenoſſen das ſegnende Zeichen des Kreuzes
machte.
Noch nie hatte Rohan einen ſo genialen Feldherrn¬
blick bewieſen, wie jetzt auf dieſem von tiefen Thal¬
ſchluchten zerriſſenen und von Gletſcherbergen eingeengten,
ſchwer zu überſehenden Kriegsfelde. Seinem raſchen
unfehlbaren Eingreifen kam ſeine bewundernswerthe
Ausdauer gleich und eine ascetiſche Natur von ſeltener
Bedürfnißloſigkeit zu Hilfe. Er war im Stande vierzig
Stunden lang angeſpannt thätig zu ſein, ohne der Er¬
friſchung des Schlafes zu bedürfen.
So eilte er in der Mitte zwiſchen zwei gegen ihn
vordringenden Heeren, deren jedes dem ſeinen faſt
doppelt überlegen war, thalauf-, thalabwärts und warf
ſich jetzt dem einen, dann, die Stirne wendend, dem
andern entgegen, immer ſiegreich, bis er ſie beide,
Spanier und Oeſterreicher, vom Bündnerboden verdrängt
hatte und das ganze langgeſtreckte Thal der Adda, das
ſeit Jahrzehnten herrenloſe und ſtreitige Veltlin in der
Gewalt ſeiner Waffen war.
[235]
Bei dem dritten dieſer Siege, der Schlacht in Val
Fraele, grenzt die Ungleichheit des Verluſtes an das
Unglaubliche. Der Herzog büßte nach ſeinem eigenen
Zeugniß nicht ſechs Mann ein, während zwölfhundert
Feinde auf der Wahlſtatt blieben. Es giebt nur eine
Erklärung für eine ſo ungleiche Vertheilung der Todes¬
looſe: Der franzöſiſche Feldherr hatte vor den Oeſter¬
reichern die vollkommene Kenntniß dieſer verlorenen
Hochthäler voraus. Rohan hatte Bündner neben ſich,
die das Bergland wie die mit Arvholz getäfelte Stube
ihres Vaters und das Stammwappen über dem Haus¬
thore kannten, und keiner war mit Bündens Bergen
vertrauter als Georg Jenatſch.
In dem Schreiben, das der Herzog über dieſen
Sieg an die bündneriſchen Behörden richtete, hebt er
die Tapferkeit des Oberſten Jenatſch und des von ihm
geführten heimiſchen Regimentes mit dem wärmſten Lobe
hervor. Ueberhaupt ſtieg Georg Jenatſch unaufhaltſam
in der Achtung und im Vertrauen des Herzogs und
wurde, ohne daß Rohan ſelbſt ſich deſſen bewußt war,
ſein am liebſten gehörter Rathgeber. Verſammelte der
Feldherr in Fällen, wo ſich Kühnheit und Vorſicht be¬
ſtreiten mochten, einen Kriegsrath, ſo trieb Jenatſch
immer zu den gewagteſten Angriffen und beanſpruchte
für ſich ſelbſt den gefährlichſten Poſten; aber ſeine Rath¬
[236] ſchläge bewährten ſich und ſeine Verwegenheiten mi߬
glückten nie, denn die Gunſt des Schickſals war mit
ihm. —
So trat er dem Herzog immer näher, der ſich
freudig bewußt war, dieſen bedeutenden Geiſt aus
ſchmählichem Dunkel gezogen und durch ſeinen Einfluß
entwickelt zu haben. Oft mußte Rohan ſich wundern,
wie willig und ſtreng der unbändige Griſone der Kriegs¬
zucht ſich unterwarf und, was er ihm ebenſo hoch an¬
rechnete, mit welch' unbedingtem Vertrauen der vor¬
malige bündneriſche Volksführer jede beſorgnißvolle
Aeußerung über das letzte Ergebniß des Krieges und
die Zukunft Bündens unterließ, ja vermied.
Dies Ergebniß war der Herzog geſonnen, für
Bünden ſo günſtig als möglich zu geſtalten. Er täuſchte
ſich nicht über die Abneigung des franzöſiſchen Hofes
gegen ſeine Perſon, aber dennoch hoffte er dort mit
ſeinen billigen und weislich erwogenen Vorſchlägen durch¬
zudringen. Eine Reihe mit geringer Truppenmacht durch
ſeinen individuellen Werth erfochtener Siege, welche die
franzöſiſchen Waffen mit einem blendenden Glanze um¬
gaben, mußten bei dem Sohne Heinrichs IV., mußten
ſogar bei Rohans altem Gegner, dem immerhin das
Banner mit den franzöſiſchen Lilien hoch emporhalten¬
den Kardinal entſcheidend ins Gewicht fallen. Was noch
[237] aus der Zeit der Bürgerkriege im Gemüthe des Königs
gegen den ehemaligen Kriegsführer der Hugenotten
geſchrieben ſtand, hatten — ſagte ſich der Herzog —
die von ihm jetzt in die franzöſiſchen Annalen ein¬
gezeichneten Triumphe gänzlich verwiſcht und unleſerlich
gemacht.
Rohan hatte das Land Bünden und ſein zugleich
nordiſch mannhaftes und ſüdlich geſchmeidiges Volk lieb
gewonnen. Der Aufenthalt in dieſen Bergen ruhte
ſeinen Geiſt aus und erfriſchte ſeine Lebenskraft. Aber
nicht die ernſten, kühl durchwehten Hochthäler, wo er
Siege erfochten, mit ihren Felshörnern und Schnee¬
häuptern übten einen Zauber auf ihn aus, ſondern er
zog dem Geſchmacke der Zeit und ſeinem eigenen mil¬
den Gemüthe gemäß die mittlern, mit weichem Grün
bekleideten Alpen vor, die mit Hütten und läutenden
Heerden bedeckt waren. Seine Lieblinge waren die
Höhen, die das warme Domleſchg einrahmen und er
pflegte zu ſagen, der Heinzenberg ſei der ſchönſte Berg
der Welt.
Das Geſchenk ſeiner Neigung gaben ihm die
Bündner mit Wucher zurück. Im ganzen Lande wurde
er nur „der gute Herzog“ geheißen. In Chur war
er der Abgott aller Stände; denn die vornehmen
Familien feſſelte er an ſich durch die Feinheit ſeiner
[238] adeligen Sitte, das Volk aber bezauberte er durch eine
aus dem Herzen kommende unbeſchreibliche Leutſeligkeit.
In den proteſtantiſchen Gemeinden des Landes hörten
überdies die Bündner faſt allſonntäglich ſein Lob von
der Kanzel verkündigen. Er ward ihnen gezeigt und
gerühmt als ein Muſter evangeliſcher Glaubenstreue
und als ein Hort der bedrängten Proteſtanten in allen
Landen.
Der glückliche Stern, der ſeine kriegeriſchen Unter¬
nehmungen begünſtigt hatte, ſchien jetzt auch über ſeinen
politiſchen zu leuchten. Er beſchied einige ausgezeichnete
Bündner zu ſich nach Chiavenna, berieth mit ihnen
Satz um Satz den Entwurf eines Uebereinkommens
und dieſes wurde kurz darauf von dem in Thuſis ver¬
ſammelten bündneriſchen Bundesrathe angenommen.
Man machte ſich von beiden Seiten die äußerſten Zu¬
geſtändniſſe. Um die Bündner in ihrer Hauptforderung
zu befriedigen, gab ihnen Rohan durch dieſen Vertrag
das Veltlin im Namen Frankreichs zurück. Aber er
ſicherte zugleich das militäriſche Intereſſe und die katho¬
liſche Ehre ſeines Königs, indem er feſtſetzte, daß die
bündneriſchen Bergpäſſe bis zum allgemeinen Friedens¬
ſchluſſe von Bündnertruppen in franzöſiſchem Solde
gehütet werden müßten und die katholiſche Religion im
Veltlin als die herrſchende anerkannt werde.
[239]
So lauteten die von Herzog Heinrich mit den
Häuptern Bündens zu Chiavenna berathenen und im
Domleſchg beſtätigten Vertragspunkte, die ſogenannten
Thusnerartikel.
Genehmigte der König von Frankreich dieſen von
Rohan für ihn geſchloſſenen Vertrag, — und wie hätte
er es nicht thun ſollen! — ſo waren Bündens alte
Grenzen hergeſtellt und Heinrich Rohan hatte ſein ge¬
gebenes Wort gelöſt, denn in der That für dieſe Her¬
ſtellung ihrer alten Grenzen hatte er ſich den Bünd¬
nern vor dem Feldzuge perſönlich verbürgt, verbürgen
müſſen. Dies Verſprechen zu verweigern war ihm un¬
möglich geweſen, ſollte ſich das erſchöpfte elende Land
noch einmal zum Kriege aufraffen. Darin hatte die
unerbittliche Logik des ſcharfſinnigen venetianiſchen
Provveditore das Richtige vorausgeſagt; aber wie ſehr,
wie vollſtändig hatte er ſich geirrt, als er den Herzog
vor Georg Jenatſch glaubte warnen zu müſſen!
Gerade für die Annahme der Thusnerartikel hatte
der Oberſt das Unglaubliche gethan; es war wahrlich
kein leichtes geweſen, es hatte Gewandtheit und Aus¬
dauer genug auch den Liebling des Volkes gekoſtet, um
dieſe bei den argwöhniſchen, auf ihre Unabhängigkeit
eiferſüchtigen Bündnern durchzuſetzen. Aber Jenatſch
hatte ſich vervielfacht und von Thal zu Thale, von
[240] Gemeinde zu Gemeinde eilend, hatte er überall den
Zauber ſeiner Rede ausgeübt, überall ſeinen willens¬
ſtarken, feurigen Einfluß geltend gemacht. Er hatte
darauf gedrungen, das ſichere Theil nicht aus der Hand
zu laſſen um eines ungewiſſen, ja undenkbaren größern
Gewinns willen. Er hatte gerathen, ſich mit der
Hauptſache zu begnügen, dem edeln Anwalte Bündens
bei der franzöſiſchen Krone nicht ſich undankbar zu er¬
zeigen und den mit jedem Jahre ſich mindernden Reſt
des franzöſiſchen Druckes willig in den Kauf zu
nehmen.
Doch noch eine Sorge drückte die Ehrenhaftigkeit
des Herzogs. Der ungeheure Summen verſchlingende
Krieg in Deutſchland hatte den franzöſiſchen Schatz er¬
ſchöpft. Die Sendungen des Schatzmeiſters an Herzog
Rohan floſſen ſchon lange ſpärlich und blieben jetzt
aus; es war dieſem ſeit einiger Zeit nicht mehr mög¬
lich, ſeine Bündnertruppen zu beſolden. Freilich theilten
die franzöſiſchen Regimenter daſſelbe Loos. Man ſchien
am Hofe zu St. Germain des Glaubens zu leben, die
Ehre unter dem ruhmreichen Feldherrn zu dienen, er¬
ſetze dem Soldaten Nahrung und Kleidung. Rohan
ſandte Schreiben auf Schreiben und erhielt als Ant¬
wort Verſprechen auf Verſprechen. Die Erhebung einer
neuen Kriegsſteuer in Frankreich, ſo ſchrieb man dem
[241] Herzog aus St. Germain, ſollte dem Mißſtande nächſtens
ein Ende machen.
Welche Hemmungen und Säumniſſe alſo das Werk
des Herzogs erfuhr durch den Menſchen und Dingen
inwohnenden Widerſtand gegen gerechte, einen ſelbſt¬
ſüchtigen Intereſſenkreis durchbrechende Löſungen —
nun ſtand er hart vor ſeinem Ziele und die Bündner
erreichten, dank der ihnen von Rohan auferlegten
Mäßigung, die Befreiung ihres Landes.
Da plötzlich verbreitete ſich zur Zeit der fallenden
Blätter eine unheimliche Botſchaft durch die bünd¬
neriſchen Thäler. Der gute Herzog, hieß es, weile
nicht mehr unter den Lebenden. Er ſei in ſeinem
Palaſte zu Sondrio einem Sumpffieber zum Opfer ge¬
fallen. Schon habe ein Bote das Stilfſerjoch über¬
ſchritten und ſei nach Brixen geeilt, um die Spezerei
zur Einbalſamirung ſeines Leichnams zu holen.
Dieſes Gerücht erſchreckte die Gemüther, wo es
hingelangte. Man ward ſich plötzlich ſorgenvoll be¬
wußt, was alles an dieſem edeln Leben hing. Wie in
den Bergen, wenn eine Wolke vor die Sonne gleitet,
die Landſchaft mit einem Schlage dunkel wird und zu¬
gleich in ihren einzelnen ſchroffen Zügen ſchärfer hervor¬
tritt, ſo erſchien den Bündnern, als ſie den Herzog
ſich hinwegdachten, die unſichere Abhängigkeit und die
Meyer, Georg Jenatſch. 16[242] Gefahr ihrer Lage mit drohender Deutlichkeit. War
ihnen doch nur in ſeiner Vertrauen erweckenden Perſon
Frankreich als helfende Macht nahe getreten! Er war
es, der für ſeinen König mit ihnen unterhandelt, den
von ihnen begehrten Kampfpreis zugeſagt, für Frank¬
reichs Rechtlichkeit im Worthalten dem kleinen Lande
gegenüber ſich verbürgt hatte. Was geſchah, wenn ihr
Mittler, der gute Herzog, verſchwand? Wen gab ihm
Richelieu zum Nachfolger? War der die Welt mit
kalter Berechnung überſchauende Cardinal, der rückſichts¬
loſe Staatsmann geſonnen, das unbequeme Erbe der
Gerechtigkeit des Proteſtanten Heinrich Rohan anzu¬
treten?
Das Unheil ging diesmal noch vorüber. Die
Nachricht vom Tode des Herzogs war eine falſche.
Nach einigen Wochen erfuhr man, er habe zehn Tage
lang mit geſchloſſenen Augen bewußtlos gelegen, dann
ſei er wieder zum Leben erwacht und erhole ſich lang¬
ſam. Welcher böſe Zweifel aber ihn gefoltert hatte,
bis er todesmatt aufs Lager ſank, das ahnte damals
noch niemand.
Drittes Kapitel.
An einem hellen warmen Octobertage bewegte ſich
in den Gaſſen des an der Splügenſtraße gelegenen
ſtädtiſch reichen Fleckens Thuſis eine toſende Volks¬
menge. Der Ort liegt an der nördlichen Pforte der
Bergſchreckniſſe des Paſſes. Hier pflegte der aus
Italien kehrende Reiſende nach überſtandener Müh¬
ſal und Gefahr ſich einen guten Tag zu machen,
der von Norden kommende dagegen ſeinen Muth zu
ſtärken, Saumthiere zu miethen und für die beſchwer¬
liche Reiſe die letzten Einkäufe zu beſorgen. Dieſe
für Handel und Wandel günſtige Lage hatte dem ſeit
einer großen Feuersbrunſt neu erbauten Orte ſchnell
wieder zu ſtattlicher Blüte geholfen.
Heute wurde zudem der große Thusnerjahrmarkt
abgehalten, der von nah und fern das Volk herbei¬
gelockt und die verſchiedenen Staturen, Trachten und
16*[244] Sprachweiſen aller bündneriſchen Thäler am Fuße des
Heinzenbergs verſammelt hatte. Manche waren auch
gekommen, um den guten Herzog zu ſehen, der, wie
die Sage ging, geſtern in einer Sänfte die Paßhöhe
überwunden und im Dorfe Splügen genächtigt hatte.
Dieſen Abend wurde er in Thuſis erwartet, wo ihm in
einem etwas abſeits liegenden Herrenhauſe ein ruhiges
Nachtquartier bereitet war. Einige Splügner hatten
ihn geſtern in ihrem Dorfe von Angeſicht geſchaut und
beſchrieben den edeln Herrn als auffallend gealtert, blaß
und abgezehrt; ſeine Haare ſeien völlig gebleicht.
Auch kühne, kriegeriſche Geſtalten ſchritten in der
Menge. Die Oberſten der bündneriſchen Regimenter
waren gekommen, den Herzog zu empfangen. Hatten
ſie über ihrem ſtürmiſchen Verlangen ihn wiederzuſehen,
die kriegeriſche Disciplin außer Acht geſetzt, welche ſie
an der öſterreichiſchen Grenze feſthielt? Auch ihre
Truppen waren ſonderbarer Weiſe zur Begrüßung des
Herzogs auf ſeinem Wege von Thuſis nach Chur in
gleichmäßigen Entfernungen aufgeſtellt. Warum hatten
die Oberſten ſie aus ihren Stellungen an der Grenze
ins Innere des Landes zurückgezogen?
Wild und laut ging es dieſen Abend in der ehr¬
baren Herberge zum ſchwarzen Adler zu. Das behäbige
Haus ſchenkte ſein Getränk, den dunkeln, mit ſeiner
[245] Herbe das Blut nur langſam wärmenden Veltliner
und den gefährlichern hellen Traubenſaft der vier wein¬
berühmten Dörfer am Rhein, nach Landesſitte in zwei
verſchiedenen Stuben aus, die rechts und links von
dem gepflaſterten Flur ſich gegenüberlagen. Der eine
Raum, die eigentliche Schenke mit den rohen Bänken
und Tiſchen aus Tannenholz war von lärmenden Markt¬
leuten, Viehhändlern, Sennen und Jägern dermaßen
überfüllt, daß es ſchwer wurde, ſein eigenes Wort zu
verſtehen. Die jugendliche Schenkin, eine ruhige, dunkel¬
haarige Prätigauerin, hatte mehr zu thun, als ihr lieb
war um die bauchigen Steinkrüge wieder und wieder
zu füllen und warf, von allen Seiten gerufen und
feſtgehalten, immer trotziger den Kopf zurück, zog
immer finſterer die Brauen zuſammen. In der Herren¬
ſtube gegenüber ließen ſich die vornehmen Kriegsleute
nicht weniger laut vernehmen und ſetzten dem Becher
noch ſchärfer zu.
Zwiſchen beiden Räumen ſchritt, das Chaos über¬
blickend, der feſte Wirth, Ammann Müller, in uner¬
ſchütterlicher gelaſſener Gutmüthigkeit hin und her.
Eben füllte ſeine breite viereckige Geſtalt wieder die
Thür der Schenke. Hier wurde gerade Politik getrieben,
natürlich wie es der gemeine Mann zu thun pflegt, nur
von dem Standpunkte perſönlicher Bedrängniß aus.
[246]
„Eine Schande vor Gott und Menſchen iſt es“,
übertönte ein Engadinerviehhändler das Stimmen¬
gebraus, „daß wir Bündner unſere eigene Landesgrenze
nicht mehr überſchreiten dürfen ohne einen franzöſiſchen
Paſſaport! Jüngſt wollt' ich mit einer Rinderheerde ins
Werdenbergiſche hinüber, da wurd' ich an der Grenze
ſchnöde zurückgewieſen, weil ich verſäumt hatte, mir
einen ſolchen Fetzen auf der franzöſiſchen Kanzlei in
Chur einzuhandeln. Noch von Glück konnt' ich ſagen,
daß ich alle meine Stücke zurückbrachte. Sie wollten
die glänzenden Rinder in ihr verwünſchtes Viereck bei
Maienfeld treiben und begehrten ſie mir abzukaufen
zur Verproviantirung der Feſtung, wie ſie ſagten! Ab¬
kaufen! Schöner Handel das! Ihr Schlächter, ein
ruppiger kleiner Kerl, dem ſolche Prachtſtücke offenbar
noch nie zu Geſicht gekommen, ſchätzte ſie mir zu einem
Schandpreis!“ —
„Und dieſe Knirpſe wollen behaupten, ihr Brot
zu Hauſe ſei beſſer als meine vortrefflichen Laibe“,
ſagte der Bäcker, ein Bürger von Thuſis. „Als ſie
voriges Jahr hier im Quartier lagen, warf mir einer
mein Roggenbrot vor die Füße, weil er nur an zarten
weißen Waizen gewöhnt ſei. Nicht genug. Ich mußte
gleich darauf als Hausvater Ordnung ſchaffen und dem
Affen unſre kleine braune Magd, die Oberhalbſteinerin,
[247] aus den Pfoten reißen. Die fand er nach ſeinem Ge¬
ſchmack, obſchon ſie wahrlich ſchwärzer iſt als mein
Roggenbrot und nicht halb ſo appetitlich.“ —
Hier ging ein ſeltſames Lächeln über das finſtere
Geſicht eines Gemsjägers, der dem Bäcker gegenüber,
den Rücken an die Wand geſtemmt, mit gekreuzten
Armen hinter dem Tiſche ſaß und jetzt, ohne einen
Zug zu verändern, unter ſeinem Schnurrbarte eine Reihe
blendend weißer Zähne zeigte.
Der Bäcker gewahrte dies ſtille Hohnlächeln und
ſagte im Tone vorwurfsvoller Rüge: „Ans Leben aber
griff ich ihm nicht um ſeines wüſten Gelüſtens willen
wie du, Joder, dem armen Corporal Henriot, deſſen
Seele Gott genade. Das war eine unnöthige Grau¬
ſamkeit, denn deine ſchlanke Bride, der er zärtliche
Blicke zuwarf, iſt ein herbes und ſcheues Weib.“
Der Angeredete erwiederte mit der größten Ruhe:
„Ich weiß nicht, wer das tolle Zeug über mich aus¬
ſtreut, das du da vorbringſt. Was jenen Vorfall be¬
trifft, ſo hab' ich ihn ſelbſt damals ohne Arg und
Aufſchub dem Amte dargethan. Die Sache verhält ſich
einfach. Der Franzoſe machte ſich täglich mit meinem
Gewehr zu ſchaffen und lag mir an, ihn auf die Gems¬
jagd mitzunehmen, auf die er ſich beſſer als ich zu
verſtehen behauptete. Ich nahm ihn mit und ſtieg
[248] mit ihm am Piz Beverin herum. Als wir über den
Gletſcher kamen, halten ſich die Spalten während des
langen Regens etwas verändert. Ich ſprang über ein
paar breite hinweg und als ich mich umſah, war der
Franzoſe nicht mehr hinter mir. Er muß den Schwung
zu kurz genommen haben. So war es und ſo hab' ich
es vor Gericht niedergelegt — das müßt Ihr mir be¬
zeugen, Amman Müller.“
„Das bezeug' ich Dir amtlich, ſchwarzer Joder“,
beſtätigte der Gelaſſene mit großer Gutmüthigkeit, wäh¬
rend auf den Geſichtern einzelner Gäſte zweifelndes
Nachſinnen oder einverſtandene Schadenfreude deutlich
zu leſen war.
„Nun, das iſt abgethan“, ſagte der Viehhändler
kaltblütig, „und es geht Keinen etwas an. Auch die
Franzoſen werden ſich nicht mehr drum kümmern, denn
in wenigen Wochen ſind wir, Gott und dem guten
Herzog ſei's gedankt, die fremde Brut ſammt und ſon¬
ders los. Das ſteht voran in den Thusnerartikeln,
die kräftig werden, ſobald der Name des Königs dar¬
unter ſteht, und dieſe Unterſchrift, geht die Rede, bringt
uns heute der Herzog.“ —
„Wenn er ſie bringt!“ ſagte langſam ein präch¬
tiger Alter aus dem Lugnetz mit feurigen Augen und
weißem Barte, der bisher, die Hände auf ſeinen dicken
[249] Hakenſtock und das Kinn auf die Hände geſtützt, auf¬
merkſam geſchwiegen hatte.
„Kein Zweifel!“ meinte Amman Müller, „Jürg
Jenatſch hat uns verſammelten Leuten vom Heinzenberg
und Domleſchg die ſchwere Sache erklärt und ſtand
uns dafür, daß ſie richtig abgewickelt werde. Er muß
das wiſſen, Caſutt, denn er iſt des guten Herzogs
rechte Hand.“
„An Jürg will ich mich auch halten“, ſagte der
Weißbart, „denn er hat ſich bei uns im Lugnetz gleicher¬
maßen dafür verbürgt, daß wir durch Annahme der
Thusnerartikel in Kürze das fremde Volk los würden
und wieder zu Freiheit und Ehre kämen. Sitzt er
drüben bei den Raufdegen? Ich möchte wohl ein Wort
mit ihm reden.“
„Drüben hab' ich ihn noch nicht erblickt“, ant¬
wortete Müller, „aber angekommen iſt er, das iſt ſein
Rappe.“
Damit wies er durch das Fenſter auf die Straße,
wo eben ein ſchäumendes, kohlſchwarzes Thier in präch¬
tigem Geſchirr von einem Reitknecht abgeführt wurde.
Durch das Gewühl des andrängenden Volkes ward auf
dem Platze vor der Herberge von Zeit zu Zeit der
Schimmer eines Scharlachkleids und eine hochragende
blaue Hutfeder ſichtbar.
[250]
Der Alte ſchritt raſch auf den Flur hinaus. Die
volltönende Stimme des Oberſten Jenatſch klang jetzt
von den Steinſtufen vor der Hauspforte her, wo er,
von einem Haufen umringt, neue ungeſtüme Frager
zur Ruhe wies. Der greiſe Lugnetzer bemächtigte ſich
ſeiner und jetzt erſchienen Beide vor dem offenen Ein¬
gange der Schenkſtube, deren Thüre dem Jahrmarkte zu
Ehren ausgehoben worden war, um den Gäſten freien
Ein- und Austritt zu gönnen.
„Hier hinein, Jürg!“ rief der Alte, „und gieb
mir und allem Volke Rechenſchaft.“ Willig ließ ſich
der Oberſt von dem Lugnetzer Gewalt anthun und trat
neben ihm in den Kreis, der ſich raſch durch die von
ihren Sitzen Springenden um ihn bildete und immer
dichter wurde.
„Was iſt denn für ein Geiſt des Zweifels in
Euch gefahren?“ ſagte Jenatſch, indem ſeine Augen
freundlich blitzten; „Ihr beſtürmt mich um Gewißheit,
ob der Vertrag von Chiavenna unterſchrieben ſei?
Natürlich iſt er's. Jetzt komme ich von Finſtermünz,
wo ich Grenzſtreitigkeiten zu ſchlichten hatte, wie ſollt'
ich da um das Neueſte wiſſen! Aber als ich den Her¬
zog verließ, war er der Sache gewiß und der erlauchte
Herr wurde wohl nur durch ſeine Krankheit abgehalten,
die Akte allem Volke kund zu geben.“
[251]
„Höre, Jürg“, erwiederte nach einigem Nachdenken
der Lugnetzer, „den Herzog kenne ich nicht; aber Dich
kenn' ich, und bin ſchon zu Deinem gottesfürchtigen
Vater nach Scharans hinüber gekommen, als Du noch
ein blödes, ſchamhaftes Büblein warſt. Deshalb habe
ich zu Dir Vertrauen, denn ich weiß, aus welchem
Stoffe Du gemacht biſt — nicht aus dem unſrer Salis
und Planta, die das Vaterland nach rechts und nach
links verkaufen, und ein groß Theil des Elends auf
dem Gewiſſen haben, das über uns gekommen iſt.
Von den Schlichen der Politiker verſteh' ich nichts;
Du aber biſt ihnen gewachſen. Mit Deiner golddurch¬
zogenen Schärpe werden Dir die Herren die Hände
nicht binden und unter dieſem Scharlachrocke“, er be¬
rührte den feinen Stoff des geſchlitzten Aermels, „klopft
Dein Herz dennoch für Dein Volk und für Dein Land.
Schaff' uns die alte Freiheit wieder — mit dem Her¬
zog, wenn er dazu taugt, — ohne ihn, wenn es nicht
anders gehen will! Du biſt der Mann das auszu¬
richten.“
Der Oberſt ſchüttelte lachend ſein kühnes Haupt.
„Du haſt eigne Begriffe vom Weltlauf, Caſutt!“ ſagte
er. „Dein Vertrauen aber ſollſt Du nicht weggeworfen
haben. Bleibe hier. Vielleicht bring' ich Euch heut'
Nacht noch ſelber ſichere Nachricht.“
[252]
„Tête bleue“, erſcholl hinter Jenatſch eine fröh¬
liche Baßſtimme, Du haſt die rechte Thür verfehlt,
Herr Camerad! Drüben erwartet man Dich mit Un¬
geduld!“ und ein gewaltiger Kriegsmann ſchob ſeinen
Arm unter den des Oberſten Jenatſch und zog ihn ohne
Umſtände in die Herrenſtube hinüber, wo er mit lärmen¬
dem Willkomm empfangen wurde.
Der Oberſt grüßte, aber ließ keinen ſeiner Kame¬
raden zu Worte kommen. „Vor Allem gebt mir über
Eines Auskunft, Herren“, rief er ihnen entgegen,
„was ficht Euch an, daß Ihr Eure Stellungen an der
Grenze verlaſſen und Eure Regimenter im ſichern
Domleſchg aufgeſtellt habt? Dazu kann Euch der Her¬
zog nicht Ordre gegeben haben. Still, Guler, Dir
ſteigt das Blut zu Haupt! — Gebt Ihr mir geneigten
Aufſchluß, Graf Travers, Ihr ſeid der Ruhigſte.“ —
Der Graf, ein noch jugendlicher Mann mit ſcharf
ausgeprägten italieniſchen Zügen und feſter Feinheit
des Ausdrucks, erzählte, Alle hätten ſie bei der Nach¬
richt vom Tode des Herzogs, deſſen Ehre und Perſön¬
lichkeit ihre einzige Bürgſchaft geweſen, den gänzlichen
Verluſt des rückſtändigen Soldes ihrer Regimenter be¬
fürchtet, der, wie Jenatſch wiſſe, eine Million Livres
überſteige. Dieſer Verluſt, für den ſie bei ihren Sol¬
daten, wie der Contract einmal ſei, perſönlich einzu¬
[253] ſtehen hätten, wäre ihrem völligen Ruin gleich ge¬
kommen. Um dieſem vorzubeugen, hätten ſie nur ein
Mittel gekannt und es zu ergreifen einſtimmig be¬
ſchloſſen: Das Verlaſſen ihrer Stellungen an der Grenze
mit der Erklärung, dieſelben erſt dann wieder beziehen
zu wollen, wenn der franzöſiſche Kriegsſchatzmeiſter die
Rückſtände ausgeglichen habe. Die Kunde vom Tode
des Herzogs hätte ſich glücklicherweiſe nicht beſtätigt;
aber nachdem der Schritt einmal gethan geweſen, hätten
ſie vorgezogen, ſtatt ihn zurückzuthun, auch dem von
ihnen Allen hochverehrten Herzog Heinrich gegenüber
auf ihrem Entſchluſſe zu beharren, bis ihre gerechte
Forderung befriedigt ſei.
Als dieſer davon gehört, habe er ihnen den Kriegs¬
ſchatzmeiſter Lasnier mit einer kleinen Abſchlagszahlung,
der unbedeutenden Summe von dreiunddreißigtauſend
Livres, zugeſendet und zugleich die Weiſung, ohne Ver¬
zug ihre früheren Stellungen an der Grenze wieder zu
beziehen . . . .
„Was moraliſch unmöglich war“, brach Guler los,
„da dieſer kleine Böſewicht uns mit Gift und Galle
überſchüttete und die unglaubliche Drohung ausſtieß,
er wolle uns den Bauch zertreten!“ . . . .
„Passer sur le ventre“, ſpottete Jenatſch, „das
iſt unendlich unſchuldiger, als es klingt. Du ſcheinſt
[254] vom Franzöſiſchen unſrer Kriegskameraden nur die
Flüche erlernt zu haben.“
„Morbleu“, rief Guler hitzig, „da will ich Dir
ein Anderes beweiſen. Ich weiß einen häßlichen Witz
des boshaften Kobolds, den ich ganz allein verſtanden
habe. Er höhnte, der Herzog habe ihn geſandt, uns
an die Grenze zurückzutreiben, und ſolcherweiſe das
Amt auszuüben, das ſein Name bedeute. Dieſer Aus¬
ſpruch ließ mir keine Ruhe. Ich ſuchte das Wörter¬
buch hervor, welches mir mein in Paris verſtorbener
Bruder — gewiſſermaßen ein verlorner Sohn — als
einziges Erbſtück hinterlaſſen hat. Was heißt nun
Lasnier, Ihr Herren? — Der Eſeltreiber. Hätte ich's
gewußt, als er noch da war, ich hätte das Männchen
trotz ſeines Scorpionengifts zwiſchen Daumen und Zeige¬
finger zerrieben.“
Jenatſch, der während dieſer Rede mit zuſammen¬
gezogenen Brauen nachgedacht hatte, wandte ſich auf
einmal zur ganzen Geſellſchaft mit den Worten: „Haltet
Ihr mich für zahlungsfähig? . . . Ihr wißt, ich war
immer ein guter Haushalter. Aus meiner Kriegsbeute
habe ich mir in Davos ein ſtattliches Haus erbaut
und mir ringsum ſchöne Alpen erworben. Ueberdies
liegen mir Summen bei a Marca in Venedig, welche
der kluge Wechsler nicht müßig gehen läßt. Das Alles
[255] deckt euch freilich nicht, aber mein Credit iſt aufrecht
und es wäre mir nicht unmöglich, das Fehlende herzu¬
ſchaffen. Ich verbürge mich euch mit ſchriftlichem Con¬
tract für die ganze Summe, die euch der Herzog
ſchuldet. Ihn ſollt ihr mir heute nicht beläſtigen, denn
er iſt müde und krank. Zur gelegenen Stunde werde
ich beim Herzog für euch reden und auch für mich,
denn eure Sache iſt die meinige und ich werde zum
Bettler, wenn ſie ſcheitert.“
Jetzt erhob ſich ein Sturm der Rede, in dem
Stimmen des Bedenkens, des Beifalls, des Erſtaunens
ſich bekämpften und miſchten. Eine lärmende Begeiſte¬
rung behielt die Oberhand.
Da öffnete ſich die Thür und das ſcharfe Geſicht,
die kleine ſtraffe Geſtalt des herzoglichen Adjutanten
Wertmüller wurde auf der Schwelle ſichtbar. Sein
ſchnelles graues Auge erfaßte die zügelloſe ſtürmiſche
Scene und ſie erregte ſeinen entſchiedenen Widerwillen.
Er meldete in kurzen Worten, der erlauchte Herzog
nähere ſich Thuſis, verbitte ſich aber jeden öffentlichen
Empfang. Er wünſche auszuruhen.
„Nur dieſer Herr wird in einer Stunde bei ihm
vorgelaſſen,“ ſchloß der einſylbige Locotenent und grüßte
den Oberſt Jenatſch gerade ſo flüchtig und ſo knapp,
als es der militäriſche Anſtand noch erlaubte.
Viertes Kapitel.
Als der Oberſt Jenatſch zur Zeit des Sonnen¬
untergangs die für die kurze Ruhe des Herzogs berei¬
tete Wohnung betrat, fand er, die Steintreppe hinan¬
eilend, in der offenen Vorhalle des erſten Stockes den
zürcheriſchen Locotenenten. Mit der Wachſamkeit einer
biſſigen Dogge hütete Wertmüller die Thüre ſeines
Feldherren vor jedem unbefugten Eindringen.
Eben durchſchritt eine ſchlanke feine Geſtalt, ab¬
ſchiednehmend, leiſen Fußes die Halle, der herzogliche
Privatſekretär Priolo, den der Adjutant mit böſen
Blicken begleitete, — denn er war in ſeiner ſtachlich¬
ſten Laune — und mit ſtillen Wünſchen, die offenbar
keine Segenswünſche waren.
„Aus welcher Himmelsgegend hat der Wind dieſen
hergeweht?“ fragte der Oberſt mit gedämpfter Stimme.
[257] „Er iſt, ſo viel ich weiß, nicht mit dem Herzog über
den Berg gekommen.“
„Er wurde ſchon vor einer Woche nach Chur vor¬
ausgeſandt um die neuſten Pariſerdepeſchen abzuholen,
nach denen der Herr Verlangen trug,“ verſetzte Wert¬
müller.
„Und ſie ſind in des Herzogs Händen?“ fragte
Jenatſch leiſe und mit ungewohnter Haſt, denn ſein
Herz fing an zu pochen. „Kennt Ihr den Entſcheid?
Iſt die Unterſchrift des Königs da?“
„Ich kenne nur meine Ordre“, ſagte der Andere
unhöflich, „und dieſe iſt, den Oberſten Jenatſch ohne
Zeitverluſt einzulaſſen.“
Wertmüller ſchritt voran in ein vom Wiederſchein
des Abends erhelltes wohnliches Zimmer, deſſen Fenſter
auf die ſonnig leuchtenden Halden und herbſtlich ge¬
rötheten Wälder des ſchönen Heinzenbergs hinausſchauten.
Der Oberſt trat in den kleinen Erker, während Wert¬
müller ſich leiſe in ein Nebenzimmer begab, wo der
Herzog noch ausruhte.
„Es belieb' Euch einen Augenblick zu warten!“
ſchnarrte zurückkommend der Locotenent, der ſich unver¬
züglich wieder auf ſeinen Poſten in der Vorhalle zu¬
rückzog.
Der Blick des Alleingebliebenen haftete auf einer
Meyer, Georg Jenatſch. 17[258] geöffneten Ledertaſche und zwei daneben auf den Tiſch
geworfenen, entſiegelten Briefen. Die Federzüge, welche
ſie bargen, entſchieden über das Wohl oder Wehe ſeines
Landes.
Jetzt öffnete ſich langſam die Thüre der Kammer
und Heinrich Rohan erſchien blaß und hager auf der
Schwelle. Mit einer unwillkürlichen, freudigen Bewe¬
gung ſchritt er dem Bündner entgegen, der dem hohen
Herrn in raſchem Dienſteifer einen tiefen Lehnſtuhl
neben das Fenſter rückte, wo der Blick des Reiſemüden
ſich an der goldenen Abendruhe ſeines Berges erquicken
konnte. Der Herzog ließ ſich mit jetzt ſichtbar werden¬
der Abſpannung nieder und richtete ſein klares Auge
auf Georg Jenatſch; dann begann er mit leiſer
Stimme und in fragendem Tone: „Ihr kommt von
Finſtermünz?“
Dieſer hatte ſich ehrfurchtsvoll vor den in den Seſſel
Zurückgelehnten geſtellt und betrachtete unverwandt die
edlen Züge, welche in mehr als einer Weiſe ihm ver¬
ändert erſchienen. Neben den erwarteten Spuren der
ſchweren Krankheit befremdete ihn darin ein tief ein¬
gegrabener Zug verſchwiegenen, hoffnungsloſen Grames,
der peinlich hervortrat, wenn der Herzog ſeinen lautern
ſtrahlenden Blick zeitweiſe ſenkte.
Jenatſch brannte vor Begierde zu erfahren, ob
[259] der von ihm mit raſtloſer Anſtrengung in Bünden
durchgeſetzte Vertrag in St. Germain durch die Unter¬
ſchrift des Königs endgültig geworden ſei; aber die¬
ſem Antlitz gegenüber hatte der ſonſt vor nichts Zu¬
rückſchreckende keinen Muth zur Frage. Er begnügte
ſich auf des Herzogs Erkundigung zu antworten und
ihm einen genauen Bericht über die Feſtſtellungen der
Grenze zwiſchen Tirol und Unterengadin zu geben, wie
ſie während des Waffenſtillſtandes gelten ſollten.
„Die Oeſterreicher ſind langſam und umſtändlich;
ich wurde hingehalten und bis nach Innsbruck gezogen,“
ſagte er. „Wär' ich im Lande geweſen, niemals hätten
mir meine ſtörriſchen Kameraden ohne Euren Befehl,
erlauchter Herr, ihre Poſten verlaſſen, niemals Euch
in Thuſis als erſte Begrüßung den widerwärtigen An¬
blick ihres Ungehorſams entgegengebracht.
Einen ſchlimmern Ausbruch vor Euern Augen,“ ſchloß
er zögernd, „habe ich nur mit Mühe verhütet und indem
ich mich, da mir kein anderes wirkſames Mittel mehr
zu Gebote ſtand, meinen Kameraden mit Hab' und
Gut für den rückſtändigen franzöſiſchen Sold verbürgte.
Ich hoffe, daß Ihr mir meine ungemeſſene Ergebenheit
nicht verargen werdet!“ fügte er ſchmeichelnd hinzu.
Der Herzog lehnte, zuſammenzuckend, tiefer in
die Kiſſen zurück und der ſchmerzliche Zug in ſeinem
17*[260] Angeſichte trat ſchärfer hervor. Es durchblitzte ihn der
Gedanke, welche gefährliche Gewalt in die Hand des
Menſchen falle, dem er einen ſo unerhörten, von ihm
nie begehrten Dienſt ſchulde. Aber er hielt an ſich.
„Ich danke Euch, mein Freund,“ ſagte er, „Ihr ſollt
nicht zu Schaden kommen, ſo lange ich ſelber noch etwas
beſitze. Ich fürchte, Lasnier, den ich zur Beruhigung
der Oberſten mit Geldern an ſie vorausſandte, hat im
Verkehr mit ihnen nicht den rechten Ton getroffen.“
„Er hat ſie aufs tiefſte beleidigt. Darin muß
ich zu ihnen ſtehn, erlauchter Herr, und mit ihnen ver¬
langen, daß er abberufen werde. Nicht ſeine Zornaus¬
brüche, noch ſeinen unſere Perſonen treffenden Spott
will ich ihm verdenken; aber daß er, wie ich aus ſichrer
Quelle weiß, unſerm Vaterlande das Recht beſtreitet,
überhaupt da zu ſein, weil es ein kleines Land iſt, und
dieſe vernichtende Behauptung uns auf unſerm eigenen
Bündnerboden entgegenwirft, daß er uns als ein ver¬
achtetes Anhängſel Frankreichs behandelt, das dreht
jedem Bündner das Herz um, und unmöglich iſt es,
daß ein ſolcher Mann länger unſer Brot eſſe und unſern
Wein trinke!
Thut mir die Liebe, edler Herr,“ bat er in ge¬
mäßigtem Tone, „und ſorgt für ſeine Abberufung.“ —
„Lasniers Abberufung iſt auch mein entſchiedener
[261] Wunſch, den der Cardinal ohne Zweifel erfüllen wird.
Betrachtet es als abgethan.
Um auf Wichtigeres zu kommen,“ lenkte Rohan ab,
der die auflodernde Vaterlandsliebe des Bündners in
dieſem Momente der Abſpannung zu ſcheuen ſchien, „Ihr
waret in Innsbruck, da habt Ihr wohl etwas von der
Stimmung des erzherzoglichen Hofes gegen uns erfah¬
ren. Gedenken uns die Oeſterreicher noch einmal im
Veltlin anzugreifen?“
„Dazu ſind Eure Lorbeeren noch zu friſch, erlauchter
Herr. So lange Eure Hand den Feldherrnſtab führt,
dürfen ſie's nicht wagen. — Aber,“ der Bündner ſeufzte
tief, „laßt mich mein ganzes Herz vor Euch ausſchüt¬
ten! Bei der falſchen Kunde von Eurem Hinſcheiden
regte ſich wieder alles kriechende Gewürm der Kabale
und unſere Landesverbannten von der ſpaniſchen Partei
fingen wieder an, unterirdiſch zu wühlen. Dieſe ekeln
Todtengräber glaubten ſchon, Bündens zwei höchſte
Kleinodien: Eure geliebte Perſon und ſeine theure Frei¬
heit, deren Bürge Ihr ſeid, in die gleiche Gruft
verſenkt.
„In Innsbruck,“ fuhr er nach einer beobachtenden
Pauſe mit unverhehlter Bewegung fort, „glaubt man
auch jetzt, da Gott Euch uns wieder zum Leben erweckt
hat, nicht an den Vertrag von Chiavenna. Wie
[262] hätten ſie es ſonſt gewagt, mir ſpaniſcherſeits Bündens
Unabhängigkeit in ſeinen alten Grenzen als Preis un¬
ſerer Trennung von Frankreich anzubieten, ja verſucht,
mich durch gemeines Gold von Euch zu ſcheiden! . .
Ich beſchwöre Euch, edler Herr, macht dieſen Vorſpie¬
gelungen ein Ende, indem Ihr die zwiſchen uns verein¬
barte und von Eurem König unterſchriebene Akte allem
Volke kund gebt. Sonſt wird Bünden an Frankreichs
Abſichten irre, die ſpaniſchen Verſprechungen verwirren
die Gemüther und wir verſinken wieder in das Blutbad
des Bürgerkrieges, aus dem Ihr uns emporzogt!“
Der Herzog antwortete nicht. Er erhob ſich raſch,
trat ans Fenſter und blickte nachdenklich in die Berg¬
landſchaft hinaus, deren untere Stufen im Schatten
lagen, während die höchſt gelegenen Weiler noch in der
Sonne glitzerten.
„Gott weiß, wie lieb mir dieſes Land iſt,“ wandte
er ſich jetzt zu Jenatſch, „und wie gern ich Alles daran
ſetze, um es wieder glücklich und frei zu machen! . .
Darum verſteht niemand beſſer als ich Eure eiferſüch¬
tige Vaterlandsliebe, auch wo ſie ſich ungeduldig und
rauh, und heute mir, dem redlichſten Freunde Bündens
gegenüber, ehrlich geſtanden, grauſam äußert. Doch
gebt Ihr mir zugleich ſo überzeugende Beweiſe von
Eurer Aufopferung und Treue, da Ihr bei Euren Ka¬
[263] meraden für Frankreichs Ehrenhaftigkeit mit all dem
Euern einſteht und mir die von Spanien verſuchten
Intriguen und Beſtechungen aufdeckt, daß ich glaube,
Euch volles Vertrauen ſchenken und auch in den ſchwie¬
rigſten Fällen auf Eure ſichern Dienſte zählen zu dür¬
fen. — Darf ich das, Georg, auch wenn ich Euch viel
Geduld und Selbſtverleugnung zumuthe?“
„Wie könntet Ihr an mir zweifeln?“ ſagte Jenatſch
mit leidenſchaftlicher Wärme und einem Blicke ſchmerz¬
lichen Vorwurfes.
„Offenheit alſo gegen Offenheit,“ fuhr Rohan fort
und legte die Hand auf des Bündners Schulter, „Ver¬
trauen gegen Vertrauen. — Es iſt mir peinlich aus¬
zuſprechen: Der Vertrag von Chiavenna iſt von Paris
zurückgekommen ohne Unterſchrift und mit Aenderungen,
die ich nicht billige, die ich Eurem Volke nicht zumuthen
und nicht vorſchlagen will.“
Bei dieſen traurig und leiſe geſprochenen Worten
ſah der Herzog dem Bündner in das ausdrucksvolle
Geſicht, wie nach der Wirkung des ungern gemachten
Geſtändniſſes forſchend. Es blieb unbewegt, aber über¬
zog ſich langſam mit fahler Bläſſe.
„Und welches ſind dieſe Aenderungen, gnädiger
Herr?“ fragte Jenatſch nach kurzem Schweigen.
„Zwei Hauptpunkte: Franzöſiſche Beſatzungen in
[264] der Rheinſchanze und im Veltlin bis zum allgemeinen
Frieden und für die in dieſem katholiſchen Landestheile
begüterten proteſtantiſchen Bündner Beſchränkung ihres
dortigen Aufenthalts auf jährlich zwei Monate.“
Ein unheimliches Wetterleuchten flog durch die Züge
des Bündners, dann ſagte er faſt gelaſſen: „Das eine
iſt unſere politiſche Auslieferung an Frankreich, das
andere ein unerträglicher Eingriff in die Verwaltung
unſeres Eigenthums. Beides ſind unmögliche Bedin¬
gungen.“
„Auch dürfen ſie nicht im Vertrage ſtehen bleiben,“
ſagte Rohan mit Beſtimmtheit. „Ich will meinen gan¬
zen perſönlichen Einfluß beim Könige in die Wagſchale
werfen, will meine ganze Ueberredungsgabe erſchöpfen,
den Cardinal über den entſcheidenden Ernſt der Lage
aufzuklären, will nichts unverſucht laſſen, die verderb¬
liche Einwirkung des Paters Joſeph zu lähmen, denn
dieſer, vermuth' ich, iſt der Böſe, der Unkraut unter
unſern Waizen ſät. Wegen des ſchnöden rothen Hutes,
wonach dieſer Kapuziner gelüſtet, und für den er dem
heiligen Stuhle eine Berückſichtigung in der Politik meines
edlen Vaterlandes verſchaffen ſoll, die einer fremden
Macht nicht gebührt, darf das Ehrenwort eines Rohan
keinen Schaden leiden. Schon habe ich beſchloſſen
meinen geſchickten Priolo nach Paris zu ſenden mit
[265] dringenden Briefen an den König ſelbſt und an den
Cardinal. Morgen wird er abreiſen. Gehorchte ich
meinem verletzten perſönlichen Ehrgefühle, wahrlich heute
noch legte ich mein Commando nieder; aber das darf
ich nicht um Euretwillen. Ich zweifle, daß meine Liebe
zu Euch und meine perſönlichen Verbindlichkeiten mit
meinem Feldherrnſtab auf meinen Nachfolger in Bün¬
den übergingen.“
„Das thut uns nicht an!“ rief Jenatſch erſchrocken,
„bei Euerm Heil, — nein, bei dem unſern beſchwör'
ich Euch — thut es nicht! Laſſet nicht das Werk Eurer
Hände! Stoßt uns nicht in einen ſolchen Abgrund der
Rathloſigkeit!“
„Darum will ich bis ans Ende ausharren,“ fuhr
der Herzog mit einer Feſtigkeit fort, wie ſie die klar
erkannte Pflicht giebt. — „Aber wißt, Jenatſch, von
Euch erwarte ich hier im Lande Alles. Durch mein
grenzenloſes Zutrauen ſeid Ihr in meine Sorgen und
in die Schwankungen des Looſes eingeweiht, das ich im
feſten Glauben war, Eurer Heimat ſchon geſichert zu
haben. Ihr ſeid es allein. Ich weiß, Ihr ehret mein
Vertrauen durch unverbrüchliches Schweigen. Beruhigt
Eure Landsleute. Ich ſehe, welche außerordentliche, ja
wunderbare Macht Ihr auf die Gemüther ausübt.
Schaffet Friſt! Haltet den Glauben an Frankreich auf¬
[266] recht! Verſichert Eure Bündner, daß der Vertrag von
Chiavenna, wenn auch heute noch nicht verkündet, doch
in Bälde in Kraft treten muß, und Ihr werdet bei
der Wahrheit bleiben, denn mit Gottes Hilfe überwin¬
den wir die Widerwärtigen. — Heute Nacht noch zieh'
ich weiter nach Chur. Bringt mir dorthin bald über
die Stimmung des Landes Bericht.“
Jenatſch bückte ſich tief über die Hand des Her¬
zogs, und ſuchte dann noch einmal ſein Auge mit einem
Ausdrucke ſprachloſen Schmerzes. Rohan ſah in dieſem
langen ſeltſamen Blicke die Theilnahme eines Getreuen
an ſeinem ausnahmsweiſe herben Looſe, er ahnte nicht,
welche Wandlung ſich im Geiſte des Bündners zu dieſer
Stunde vollzog und daß Georg Jenatſch nach innerm
ſchweren Kampfe ſich von ihm losſagte.
„Ihr thut wohl, edler Herr,“ ſagte der Oberſt
ſich beurlaubend, „in der guten Stadt Chur Euern Sitz
zu nehmen. Ihr ſeid dort hochgeliebt, und ſolange die
Churer Euer Angeſicht ſehen, und Ihr es ſeid, o Herr,
der den König in Bünden vertritt, wird das Land nicht
aufhören von Frankreich das Beſte zu hoffen.“
Der Herzog ſah dem Scheidenden ſorgenvoll nach,
ohne Mißtrauen, aber im Gefühle, daß wie er ſelber
eine Zuverſicht an den Tag gelegt, die nicht in ſeinem
müden Herzen war, auch der Bündner die Stürme
[267] ſeines unbändigen Gemüths niedergehalten und vor ihm
verheimlicht habe. Er blickte noch eine Weile, im Inner¬
ſten entmuthigt und traurig, hinüber an den dunkelnden
Berg. Eine Klage entwand ſich ſeiner Bruſt: „Herr,“
ſeufzte er, „warum haſt Du Deinen Diener nicht in
Ehren dahin fahren laſſen!“ —
Fünftes Kapitel.
Jenatſch war hinausgeeilt. Ein Sturm wildſtrei¬
tender Gedanken tobte in ſeinem Innern, den vor dem
Herzog niederzuhalten ihn Anſtrengung gekoſtet hatte.
Er verabſcheute die Möglichkeit, während dieſes Seelen¬
kampfes irgend einem Menſchen Rede ſtehen zu müſſen.
Mit eilenden Schritten ſtieg er, das Gewühl des wachen
Dorfes unter ſich laſſend, die dämmerigen Bergwieſen
hinan und ließ ſeine zornigen Gefühle dahinſtürmen
wie eine Schaar ins Gebiß knirſchender Roſſe; aber
ſein berechnender Geiſt behielt die Zügel und lenkte die
brauſenden Mächte ſeines Gemüths auf immer neuen
immer gefahrvolleren, aber wohlbemeſſenen Bahnen.
Das Ziel wonach er ſein ganzes Leben lang ge¬
rungen, das ſeine Tage beſchäftigt und ſeine Nächte
beunruhigt hatte, um das er mit den verſchiedenſten
Kräften ſeines Weſens gekämpft, — das Ziel wonach
[269] er auf den blutigſten Irrwegen geklommen und dem er
ſich ſeit Jahren mit gebändigtem Willen als ergebenes
Werkzeug einer edeln und, wie er glaubte, in ihrem
Machtkreiſe unbeſchränkten Perſönlichkeit auf dem ſichern
Wege der Gerechtigkeit und Ehre genähert hatte, —
dies Ziel, das er noch heute mit der Hand berührte,
es war ihm entrückt — nein, es war vor ihm ver¬
ſunken! Denn Eines ſtand vor ſeiner Seele mit ent¬
ſetzlicher Klarheit: Bünden ſollte nie frei werden, ſollte
nach der Abſicht des allgewaltigen und gewiſſenloſen
Geiſtes, der Frankreichs ſchwachen König beherrſchte und
deſſen innere und äußere Politik nach Gefallen lenkte,
aufbehalten werden bis zum allgemeinen Frieden. Dann
von Richelieu in die zu vertheilende Maſſe verfügbarer
Länder geworfen, unter die übrigen Tauſchobjekte ge¬
mengt, war ſeiner armen Heimat unvermeidliches Schickſal,
beim Länderſchacher des Friedensſchluſſes auf den Markt
gebracht und dieſem oder jenem einen günſtigen Handel
Anbietenden zugewogen zu werden.
Der Herzog trug keine Schuld daran. Er liebte
Bünden und wollte es freigeben; aber er war nicht
ſtark genug, ſeinen Willen gegen den ihn mißbrauchen¬
den des Cardinals durchzuſetzen. Er wagte es nicht,
ſich mit einem Nebenbuhler zu meſſen, der über den
Schranken der Gewiſſenhaftigkeit ſtand; er ſcheute ſich
[270] ſeinen Gegner mit jenen wirkſamſten Waffen zu be¬
kämpfen, die Richelieu mit Meiſterſchaft führte! —
War es nicht möglich, dieſe von Rohan kindiſch ver¬
ſchmähten Waffen zu ergreifen? Dem Jäger ſelbſt eine
Schlinge zu legen?
Wo galt die menſchliche Gerechtigkeit, die der Herzog
verwirklichen wollte, — wo war ihr Urbild, die gött¬
liche, um ſie zu Ehren zu bringen und zu belohnen?
Eitle Träume beides! Ein frommer Thor nur konnte
daran glauben! . . . . Der Herzog war blöde genug zu
meinen, der Cardinal anerkenne die Gültigkeit des von
dem Mächtigen einem Schwachen gegebenen Wortes! Er
war thöricht genug zu wähnen, ein zu Gunſten der
Hugenoten im Bürgerkriege gezogenes Schwert könne
jemals von Richelieu vergeben und vergeſſen werden,
es ſei möglich durch ruhmreiche Dienſte den Haß des
mächtigen Miniſters auszulöſchen! . . . Er war ſo blind,
nicht einzuſehen, daß gerade ſeine zu Frankreichs Ehre
verrichteten Heldenthaten für den Eiferſüchtigen ein
Grund mehr waren, ihn zu beargwöhnen und ihn auf¬
zuopfern!
Wohin aber war es gekommen mit dieſem chriſt¬
lichen Ritter? Er ſtand am Rande des Abgrundes, ein
verlorener Mann! . . . Und Jenatſch haßte ihn zu dieſer
Stunde darum daß er ein Betrogener und Beſiegter
[271] war. Doch unglaublich! er ſelber hatte ſich ja ver¬
blenden laſſen durch ein Gefühl bewundernder Liebe
zu dieſem edlen Menſchenbilde! Er hatte geglaubt, daß
der Werth reiner Geſinnung, der ihn berückt hatte, auch
in der Rechnung des Kardinals eine Zahl ſei . . . Ja
wohl hatte Richelieu mit dieſer Zahl gerechnet, — wie
der ſchlaue Fiſcher auf ſeinen Köder zählt — und Jenatſch
ſelbſt, — doch nicht allein er — Verzweiflung ergriff
ihn — ſein Vaterland war ein Opfer dieſes Betruges.
Vielleicht war noch Rettung möglich! Weg jetzt
mit jedem hemmenden Bedenken, mit allen Banden der
Dankbarkeit, mit allen Berückungen der Liebe, mit jeder
Eigenſucht eines rein gehaltenen Charakters! Hinunter
mit der Vergangenheit! Weg die Feſſeln ihrer liebge¬
wordenen Ueberzeugungen und Vorurtheile! Gelöſt werde
jeder Zuſammenhang des Dankes und der Treue! —
Und er forderte den großen Cardinal zum Zwei¬
kampf ein die Schranken ſeines Berglandes, Mann gegen
Mann, Liſt gegen Liſt, Frevel gegen Frevel.
Und ſein Herz brannte in wilder Freude, weil in
Bünden Einer war, der ſich der ſchlauen Eminenz ge¬
wachſen fühlte.
So durchjagte Jenatſch das Reich der Möglich¬
keiten mit raſtloſen Gedanken. Er achtete des Weges
[272] nicht und jetzt eilte er ſchon im nächſten thalabwärts
gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer da¬
hin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauer¬
kind eilig neben ſeinen langen Schritten einherlief. Die
Kleine hielt ſchon längſt einen Brief in die Höhe, der
ihr, wie ſie ehrerbietig ausrichtete, von der Schweſter
Perpetua für ſeine Gnaden den Herrn Oberſt über¬
geben worden ſei, welchen die Schweſter an der Pforte
des Kloſtergartens habe vorübergehen ſehn. —
Der Oberſt blickte um ſich, er war in Cazis.
Er verabſchiedete die Kleine und lenkte, wie vom
Finger des Schickſals berührt, in die Dorfgaſſe ein,
wo ſich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem
Umſchlage im letzten Dämmerſcheine die Handſchrift
ſeines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erken¬
nen geglaubt. Am Fenſter eines Erdgeſchoſſes ſah er
ein graues Mütterchen beim Scheine der Ampel ſpinnen.
Er lehnte ſich außen an die Mauer, ſo daß ein ſpär¬
licher Strahl auf das Blatt fiel und las:
Ich erdreiſte mich, Euch Einiges zu melden, das
für Euch und unſer Land wichtig ſein kann. Der Ver¬
trag von Chiavenna iſt ein vergängliches Blendwerk,
das uns die Eminenz in Paris vorſpiegelt. Seit ich
[273] in Mailand verweile, wurde mir zur Gewißheit, was
mir ſchon früher eine in meinem Kloſter am Comerſee
zufällig aufgefangene Rede verrieth.
Kurz vor der Weinleſe herbergte dort ein fran¬
zöſiſcher Ordensbruder, ein beredter Prediger, der zur
Erholung ſeiner abgearbeiteten Lunge und des ewigen
Heiles wegen — wozu Gott uns Allen in Gnaden ver¬
helfe — den Weg nach Rom angetreten hatte. Beim
Nachteſſen im Refectorium klagte der Prior mit ihm
über die Zeitläufte und bedauerte, daß das Valtelin
durch den Vertrag von Ehiavenna wiederum zu Bünden
geſchlagen werde. „Darüber ſeid ohne Sorgen,“ fuhr
der Franzoſe heraus, der nicht wußte, daß ein guter
Bündner am Tiſche ſaß, „daß dieſer Vertrag keinen
Soldo werth iſt, weiß ich aus beſter Quelle. Als ich
mich in Paris vor meiner Abreiſe bei meinem Supe¬
rior, dem Pater Joſeph beurlaubte, kam ich gerade dazu,
wie dieſer und der Nuntius des heiligen Vaters den
Entwurf beſagten Vertrags ihren prüfenden Blicken
unterwarfen. Der Nuntius ließ ſich hart dagegen aus,
der hitzige Pater Joſeph aber zerknitterte das Papier
in ſeiner Fauſt, ballte es zu einer Kugel zuſammen
und warf es in den Winkel mit den Worten: „Dieſer
Vertrag eines Ketzers mit Ketzern wird niemals
gelten.“ —
Meyer, Georg Jenatſch. 18[274]
„Ich verhielt mich mauſeſtill, aber hatte meine Ge¬
danken; denn, was der Pater Joſeph bedeutet, wißt
Ihr beſſer als ich. —
Hier in Mailand, wo ich mich in Ordensgeſchäf¬
ten ſeit zehn Tagen aufhalte, wurde ich geſtern in den
Palaſt des Gubernatore gerufen, um ſeinem Geſinde
wegen eines häuslichen Diebſtahls ins Gewiſſen zu
reden. Da beſchied mich der Herzog, der meine bünd¬
neriſche Herkunft erfahren, zu ſich und ſagte mir halb
ernſt, halb ſcherzweiſe: „Wie ich jetzt Euch vor Augen
habe, Pater Pancraz, möcht' ich wohl den Oberſten
Jenatſch leibhaft vor mir ſehen. Es wäre mir ein
Leichtes dem verſtändigen Manne darzuthun, daß der
Vertrag von Chiavenna nichts iſt als ein verdorbenes
Pergament, daß euch Frankreich das Veltlin nie zurück¬
giebt und daß Spanien euch Bündnern Bedingungen
machen könnte, bei denen Ihr euch ganz anders ſtündet.
— Pater Pancraz, Ihr habt mir den geſtohlenen Sie¬
gelring hervorgezaubert, könntet Ihr mir Euern Jenatſch,
den Einzigen, mit dem mir zu verhandeln möglich iſt,
auf dieſelbe ſtille und prompte Weiſe in dies Cabinet
bringen, ſo ſolltet Ihr Eurerſeits Wunder erleben.“ —
Da kam es wie eine Erleuchtung über mich, Euch
von dieſer merkwürdigen Rede Kunde zu geben.
Kommt Ihr, ſo werde ich dafür ſorgen, denn ich
[275] bleibe einſtweilen in Mailand, daß Ihr außer dem hohen
Herrn von niemand erblickt werdet. Könnet Ihr Euch
daheim nicht frei machen, was ein Unglück wäre, ſo
ſchickt eine Vollmacht, aber nur durch einen Mann, dem
Ihr traut wie Euch ſelbſt, wenn Ihr einen ſolchen kennt.
Vergebt meinen Vorwitz und ſäumt nicht!
Der für meines Herrn Oberſten zeitliches und
ewiges Heil täglich betende
Pater Pancraz.
Das Schreiben des Kapuziners, deſſen menſchen¬
erfahrene Klugheit und ſchlaue Vorſicht der Oberſt zu
gut kannte, um ſich über das Gewicht und den Ernſt
dieſer Mittheilung zu täuſchen, deckte ihm in blitzartiger
Beleuchtung die Windungen eines halsbrechenden Pfades
auf. Vielleicht hatte in ſchlimmen entmuthigten Stun¬
den ſein Blick ſchon früher ſich zuweilen dahin verirrt,
aber immer hatte er ihn mit einem Gefühl der Ver¬
achtung ſeiner ſelbſt erſchrocken und ekelnd wieder davon
abgewandt. Dieſer Weg der Gefahr und Schande war
das Bündniß mit Spanien. Jene Macht, die er von
Kindheit an mit der ganzen Kraft ſeines jungen Her¬
zens gehaßt, die er dann in vermeſſenem Jugendmuthe
mit faſt wahnſinniger, vor keinem Greuel zurückbeben¬
der Leidenſchaft bekämpft, welcher er ſein ganzes Leben
18*[276] hindurch als Todfeind gegenüber geſtanden und deren
eigennützige und wortbrüchige Politik er auch heute noch
tief verachtete — ſie bot ihm die Hand. Er konnte
dieſe Hand ergreifen — nicht in Treu und Glauben,
wohl aber um ſich von ihr die franzöſiſche Schlinge
löſen zu laſſen und ſie dann zurückzuſtoßen.
Jetzt entſchloß er ſich dazu.
Langſam wandelte er auf der dunkeln Heerſtraße
nach Thuſis zurück. Es ward ihm ſchwer zu brechen
mit der ganzen Vergangenheit. Er wußte, daß er ſich
ſelbſt in ſeinen Lebenstiefen damit zerbrach. Dort jen¬
ſeits des Rheines im Domleſchg lag das Dörfchen
Scharans, deſſen armer Pfarrer, ſein gottesfürchtiger
Vater in Geradheit und Einfalt ihn aufgezogen und
ihn zur Treue im proteſtantiſchen Glauben und zum
Haſſe der ſpaniſchen Verführung ermahnt hatte. Dort
unfern davon ſtand der Thurm von Riedberg, wo er
Pompejus Planta, der ſeiner Kindheit wohl gewollt,
wegen der eigenſinnigen aber überzeugten und ehrlichen
Parteinahme des ſtolzen Herrn für Spanien in ſeinem
eigenen feſten Hauſe nächtlich überraſcht und erſchlagen
hatte. Was dort ſchimmerte waren die erhellten Fenſter
der einſamen Lucretia . . .
Und wieder ſtürzten ſeine Gedanken in eine neue
Bahn. Er ſelbſt konnte dem dringenden Rufe des mit
[277] Serbellonis Auftrag betrauten Pancraz jetzt unmöglich
folgen. Er mußte als verderblicher Dämon unter der
Maske der Treue neben dem Herzog bleiben, als arg¬
wöhniſcher Wächter jede ſeiner Bewegungen beobachten
und um jeden Preis verhindern, daß der ermattete
Kranke ſeinen Feldherrnſtab nicht am Ende doch in die
Hände Richelieus niederlege.
Wer aber konnte an ſeiner Stelle mit Serbelloni
unterhandeln? Allerdings nur einer, dem er traute wie
ſich ſelbſt, aber dieſer Mann war nicht vorhanden. —
Noch einmal blickte er nach den Fenſtern von Riedberg
hinüber. Ein ſchneller Gedanke durchfuhr ihn und
ſtand nach einem Augenblicke der Ueberlegung als klarer
Entſchluß in ihm feſt.
Mit raſchen Schritten eilte er nach Thuſis zurück.
Vor der Herberge ſtand ein Haufen Marktleute, ſchweig¬
ſam und in gedrückter Stimmung, denn ſie hatten auf
ihn und einen günſtigen Beſcheid vom Herzoge lange
gewartet. Der alte Lugnetzer trat ihm aus der im
Dunkel zuſammengedrängten Gruppe entgegen mit der
Frage auf den Lippen, die ihrer aller Gemüth beun¬
ruhigte.
Aber Jenatſch ließ ihn nicht zu Worte kommen.
„Hört an, liebe Landsleute, und bewahrt es in
einem feinen Herzen,“ rief er mit eindringlicher aber
[278] gedämpfter Stimme: „Der Winter ſteht vor der Thür;
bleibet ruhig daheim in Euern Dörfern und erharret
den Lenz. Kommt die Schneeſchmelze zu Anfang des
Märzen, dann machet Euch und Eure Ehrenwaffen be¬
reit. Ich lade Euch zu einem Tage nach Chur. Stunde
und Loſung wird Euch noch geſagt werden. Dort rich¬
ten wir im Namen Gottes den drei Bünden ihre alte
Freiheit wieder auf!“ —
Die Leute hatten in feierlichem Schweigen zugehört.
Als Jenatſch geendigt, dauerte die Stille noch eine Weile
fort. Dann begannen ſie die Sache flüſternd ſich aus¬
zulegen, bis ſie tief in der Nacht auf ihre Heimwege
ſich zerſtreuten.
Aber er, der zu ihnen geredet, ſtand nicht mehr in
ihrem Kreiſe. Der Oberſt Guler hatte ihn weggeholt
und ſtreckte ihm jetzt in der Gaſtſtube inmitten der
Offiziere ein Papier und eine eingetunkte Feder ent¬
gegen.
„Da iſt der Pact — nach Soldatenart kurz ge¬
faßt“ — ſagte er, „haſt Du noch die edle Courage,
deren Du Dich heute berühmteſt, Ventrebleu, ſo unter¬
ſchreib' ihn.“
Der Angeſprochene ſtellte ſich unter den Leuchter
und las:
„Wenn der rückſtändige Sold der bündneriſchen
[279] Regimenter binnen Jahresfriſt von Frankreich nicht
ausgezahlt wird, haftet den Bündneroberſten für ihr
Guthaben, ſei es Ganzes oder Reſt, der Endunter¬
zeichnete mit ſeinem ſämmtlichen liegenden und fahren¬
den Gut.“
Jenatſch ergriff die Feder, ſtrich die zwei einzigen
Worte: „von Frankreich“, und unterſchrieb.
Sechstes Kapitel.
Kurze Zeit, nachdem Schweſter Perpetua den ihrer
Klugheit als ſehr wichtig empfohlenen Brief des ab¬
weſenden Beichtigers glücklich beſtellt hatte, trippelte ſie,
ein Arzneikörbchen am Arme und eine kleine Hornlaterne
in der Hand, über die Rheinbrücke bei dem Dorfe Sils.
Jenſeits derſelben beſaß das Kloſter einen Hof, deſſen
Pächter krank darniederlag. Die Heilkundige war heute
für den vom Fieber geſchwächten Mann durch eines
ſeiner Kinder, das die Kloſterſchule beſuchte, um Rath
und Hilfe angerufen worden. Sie ſcheute den nächt¬
lichen Gang nicht, — ſo wenig, daß ſie, nachdem der
Sieche ſich ihrer Tröſtungen erfreut, ſtatt das Angeſicht
wieder der Brücke und ihrem Kloſter zuzuwenden, auf
dunkeln, aber ihr wohlbekannten Straßen in der Rich¬
tung weiter eilte, aus welcher ihr die Lichter des
Schloſſes Riedberg entgegenſchimmerten.
[281]
Schon klopfte ſie ans Thor, das der alte Lucas
ihr brummend aufſchloß, und bald darauf ſaß ſie neben
der edeln Herrin in einem alterthümlich ſchmuckloſen,
aber lieblich erleuchteten Gemache vor einem herbſtlichen
Kaminfeuer und trocknete die vom Nachtthaue durchnäßten
Ränder ihres Kloſtergewandes, dir ſchweigſame Lucretia
mit erbaulichen Geſprächen ergötzend.
Das Schreiben des Paters, von deſſen Ueber¬
redungsgeiſt die Nonne eine hohe Meinung hatte, die
flüchtige Erſcheinung des Oberſten vor der Kloſterpforte,
das glänzende Geldſtück, das er der kleinen barfüßigen
Botin gereicht, arbeiteten in ihrer frommen Einbildungs¬
kraft. Dies Alles hatte ſie, der Himmel weiß durch
welche Gedankenverknüpfungen, bewogen, dem Fräulein
unverzüglich einen nächtlichen Beſuch abzuſtatten und
dieſe Ereigniſſe haarklein zu erzählen. Der Oberſt
war, meinte ſie, wie ein von Gewiſſensbiſſen gefolterter
Kain um die Mauern der heiligen Zufluchtsſtätte ge¬
irrt. Sie würde lobpreiſen und anbeten, aber nicht
erſtaunen, wenn Gott hier ein großes Wunder vor¬
bereitete, um dieſen wüthenden Feind des chriſtkatho¬
liſchen Glaubens, den Ketzern zum beſchämenden Zeichen,
in den Schooß der allein ſeligmachenden Kirche zurück¬
zuführen.
Da Lucretia nach ihrer ſtillen Weiſe nur mit
[282] einem traurigen Lächeln darauf antwortete, fuhr die
fromme Schweſter mit ſteigendem Eifer fort: „Bleibet,
liebe Tochter, nicht kalt und ungläubig vor der glück¬
ſeligen Ausſicht auf die mögliche Bekehrung eines ſo
gewaltigen Sünders! Betet lieber, daß dies Unerhörte
geſchehe! Denn Euer Gebet, Fräulein Lucretia, die
Ihr den blutigen Mann nach dem natürlichen Men¬
ſchen haſſen und verabſcheuen müßt, wäre allerdings
bei den Heiligen beſonders wirkſam und ihnen als ein
ſchmerzliches Opfer vorzüglich angenehm. Noch kräftiger
wäre es freilich, wenn Ihr dieſes Gebet als verlobte
Braut Gottes mit einem durch das dreifache Gelübde
von allen weltlichen Erinnerungen gelöſten Herzen dar¬
bringen könntet.“
Schweſter Perpetua ſagte dies mit einem tiefen
Seufzer und machte ſich in Erwartung einer Antwort,
die ausblieb, mit dem Feuer zu ſchaffen. Ach, ihr war
nicht entgangen, daß der klöſterliche Beruf Lucretia's,
an den ſie unentwegt glaubte, dieſer noch immer nicht
klar geworden, ja ſeit die Verwaiſte in ihr väterliches
Haus eingezogen, ihr wieder mehr in die Ferne gerückt
war. Sie ſtand allein unter dem in dieſen kriegeriſchen
Zeitläuften verwilderten Schloßgeſinde und den verarmten
über die franzöſiſche Bedrückung tägliche Klagen vor
ihr Ohr bringenden Dorfleuten. Und dieſe Einſamkeit
[283] that ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der
rachſüchtige Graubart, der das ſchwarze Kreuz an der
Mordmauer nicht erblaſſen ließ, und der das immer
ſcharf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer
wurmſtichigen Eichentruhe ſorgfältig verwahrt hielt.
Das Fräulein mußte, fürchtete die Schweſter, immer
tiefer in ſich ſelbſt und die ihr Gemüth von allen
Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim erſticken¬
den Erinnerungen verſinken. Sie konnte den Riß nicht
überwinden, der Altes und Neues für ſie trennte.
Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, ſondern verkehrte
im Geiſte mit ihrem todten Vater, von deſſen Gemüths¬
art ſie viel geerbt hatte, und dem ſie mit jedem Jahre
in auffallender Weiſe auch in ihrem Ausſehen ähnlicher
wurde. Es war dieſelbe Pracht der Geſtalt, dieſelbe
ſtolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war
in der Verbannung geſtorben und ſie hatte außer ſeinem
niedrig geſinnten und eigennützigen Sohne keine nähern
Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in
Chur, und ſie pflegte ſie zu beſuchen; aber dieſe Gräfin
Travers war durch ſchwere Schickſale und ein über¬
langes Leben verſteinert und wenn auch gut katholiſch,
kaum mehr als ein ſtumpfes Echo längſt verſchollener
Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Fürſtenau
und dem auf den andern Nachbarſchlöſſern ſitzenden
[284] Adel keinen Umgang pflog, das freilich konnte ihr Per¬
petua unmöglich verdenken, denn jene Alle waren Pro¬
teſtanten und gehörten zu der franzöſiſchen Partei.
So war Lucretia völlig allein, warum denn verließ ſie
ihren düſtern einſamen Pfad nicht? Warum trat ſie
nicht in die Gemeinſchaft der demüthigen Töchter des
heiligen Dominicus?
Während die Schweſter dergeſtalt dieſen ihren
Lieblingsgedankengang durcheilte, drehte Lucretia ſchwei¬
gend ihre Spindel und verfolgte einen andern.
Sie fragte ihr Herz, wie es denn möglich ſei,
daß Jürg in ſeiner wildeſten blutigſten Zeit ihrem Ge¬
fühl und Verſtändniſſe weniger fremd geweſen, als jetzt,
da er in den Räthen des Landes und im Heergefolge
des franzöſiſchen Herzogs unter die Geachteten und
Angeſehenen zählte.
Zweimal ſeit ihrer Heimkehr hatte ſie Georg,
wenn ſie zu Beſuch bei ihrer Muhme in Chur war,
von ferne erblickt. Eines Abends ſtand ſie neben dem
Lehnſtuhle der alten Dame und ſchaute durch das eiſerne
Laubwerk am Gitterkorb des Fenſters, während der
Sonnenſchein gradweiſe das Pflaſter des Platzes ver¬
ließ und nur noch auf dem ſprudelnden Waſſer des
Marktbrunnens blitzte. Der Oberſt ſchritt längs der
gegenüberſtehenden Häuſerreihe auf und nieder an der
[285] Seite einer gravitätiſchen Magiſtratsperſon, die jedes
Wort, das von ſeinen Lippen fiel mit begieriger Auf¬
merkſamkeit anhörte und ſeine Ausſprüche mit beiſtim¬
mendem Kopfnicken begleitete. Es ſchien ſich um einen
ſchweren Rechtsfall zu handeln.
Ein andermal umgab den Oberſten ein Kreis
franzöſiſcher Edelleute, mit denen er nach der Mittags¬
tafel in ſchneller, luſtiger Scherzrede ſich erging. —
Immer aber klang es ſo hell von ſeinem Munde und
leuchtete es ſo geiſtvoll von ſeiner Stirn, daß er als
einer jener ſeltenen Günſtlinge des Glückes erſchien,
die ſich alle Wege des Erfolges zu öffnen und zu ebnen
wiſſen und die das Vergangene und Unabänderliche
wie eine läſtige Feſſel abwerfen.
Ich weiß es jetzt — geſtand ſie ſich — dieſer
Freund von Jedermann iſt nicht der Jürg mehr, den
ich liebte, — nicht der ſcheu verwegene Knabe mit den
dunkeln verſchwiegenen Augen, der mein Beſchützer war,
— nicht der zornig Dahinbrauſende, der mein Glück
wie ein die Ufer zerreißender Wildbach in Trümmer
warf, — nicht der Mann, gegen den ich in meinen
Racheträumen die Hand erhob, — nicht der Traute,
den ich nach Jahren des Jammers auf dem Bernhardin
wieder zu erkennen glaubte und in die Arme ſchloß,
— nein! es iſt ein weltgewandter Höfling, ein berechnen¬
[286] der Staatsmann aus ihm geworden . . . Er will ſich
von mir ſcheiden und loskaufen, darum gab er mir
mein Riedberg wieder. Er ſcheut mich wie einen Vor¬
wurf, er flieht mein Antlitz wie das einer Todten! —
Und ſie vergaß, daß ſie ſelbſt ihn drohend beſchworen,
die Schwelle ihres Hauſes nimmermehr zu über¬
ſchreiten. —
„Heilige Mutter Gottes, was iſt das für ein
Lärm!“ fuhr jetzt Schweſter Perpetua auf, denn im
Schloßzwinger erſcholl ein raſendes Gebell der Hofhunde.
Man hörte das Schelten der ſie beſchwichtigenden Knechte,
dazwiſchen wiederholte Schläge gegen das Thor und,
als Lucretia das Fenſter öffnete, eine mit langſamer
Bedenklichkeit geführte Unterhandlung zwiſchen Lucas
und der gebieteriſchen Stimme eines Einlaß Begeh¬
renden.
Nun erſchien der Alte ſelber mit der beſtürzteſten
Miene, deren ſeine felſenharten Züge fähig waren.
„Es verlangt Einer allein mit Euch zu reden, Fräu¬
lein“ . . . . ſagte er, „der Oberſt Jenatſch, den Gott
ſtrafe!“ — ſetzte er leiſer und mit innerer Empörung
hinzu.
Lucretia ſtand groß und bleich. Sie hatte die
Stimme vor dem Hofthor am erſten Laute erkannt.
„Laß ihn nicht warten! Führe ihn hieher!“ befahl
[287] ſie dem Alten, der ſie fragend anſah und nur zögernd
gehorchte.
Die Nonne hatte ſich erhoben und eine ſtill be¬
obachtende Stellung in der tiefen Fenſterniſche ein¬
genommen. Dort lag auf der Bank ihr Nachtmantel;
ſie ſtrich ihn zurecht, aber legte ihn nicht um.
Raſche Schritte näherten ſich und Georg Jenatſch
ſtand vor Lucretia mit entſchloſſenem freudigen Antlitz
und grüßte ſie als Bekannte, doch mit großer Ehrer¬
bietung.
Schweſter Perpetua betrachtete mit einem Ausdrucke
frommer Einfalt, aber den ſchärfſten Blicken ihrer halb¬
geſchloſſenen Augen die beiden großen Geſtalten — und
ſie wunderte ſich.
Kein Kainszeichen war auf der hohen offenen
Stirn des Oberſten zu entdecken, und — merkwürdig
— das Fräulein ſtand neben ihm mit ſtrahlenden
Augen, kühn und trotzig, wie einſt Herr Pompejus
geblickt, und ſchien zur Höhe ihres gewaltigen Feindes
emporzuwachſen.
Das von Perpetua ſehnlich erwartete Geſpräch
jedoch begann nicht. Die Schloßherrin richtete das
Wort an Lucas, der mit drohender Miene an der
Thüre ſtehen geblieben war: „Die fromme Schweſter
begehrt nach Haus. Die Nacht iſt dunkel und der
[288] Weg weit. Begleite ſie mindeſtens bis jenſeits der
baufälligen Rheinbrücke.“ Und damit nahm das Fräu¬
lein von Perpetua herzlichen Abſchied.
So ſtand die Schweſter, ehe ſie ſich deſſen ver¬
ſah, am Hofthore, Lucas aber entzündete eine Pechfackel
und ſchritt mit der rauchenden Leuchte vor ihr her in
die Nacht hinaus. „Jetzt ſchickt ſie mich weg,“ murrte
er hörbar, als wollte er es der frommen Schweſter
klagen, „und es wäre gerade der rechte Ort und Augen¬
blick!“
Als Jenatſch mit dem Fräulein allein war und
ihm gegenüber am Feuer ſaß, begann er mit kurzen
klaren Worten:
„Ihr ſeid gerechtermaßen erſtaunt, Lucretia, daß
ich das Haus Eures Vaters betrete. Doch ich weiß, Ihr
traut mir zu, daß ich nicht gekommen bin, Euch zu
verwirren mit Wünſchen, die ich in meinem geheimſten
Herzen gefangen halte, — ſonſt hättet Ihr mich nicht
in den wiederhergeſtellten Burgfrieden von Riedberg
eingelaſſen. — Und doch komme ich, etwas von Euch
zu verlangen — einen großen Dienſt, den Ihr mir
leiſten werdet, wenn Ihr unſer Land ſo lieb habt, wie
ich von Euch glaube und wie ich ſelbſt es liebe; denn
an meiner Statt müßt Ihr handeln. — Ich ſchließe
ein Bündniß mit Spanien. Dies iſt unſere einzige
[289] Rettung. Richelieu verräth uns und der gute Herzog
iſt ſein Spielzeug — ein ſchönes Scheinbild, womit
der Gewiſſenloſe uns täuſcht und blendet. — Aber wer
knüpft das rettende Tau? — Ich ſelbſt kann hier nicht
fort, weil ich unſer Volk zum Bewußtſein der über ihm
ſchwebenden Gefahr aufwecken und den Herzog, den ich
als Pfand behalte, mit Beweiſen meiner Ergebenheit
einſchläfern muß . . . . . . Ihr ſtaunt, daß ich, Spaniens
Feind, zu dieſem Gifte greife! . . . . . Wundert Euch
nicht. Wenn ich nicht meine Vergangenheit zerſtöre und
mein altes Ich von mir werfe, ſo kann ich nicht meines
Landes Erlöſer ſein und Bünden iſt verloren. Ser¬
belloni erwartet mich ſelbſt, oder Einen, dem ich traue,
wie mir ſelber, — wenn ich, ſagt er, einen ſolchen
kenne. — Ich traue nur Euch.“
Lucretia richtete den Blick mit zweifelnder Frage
auf das von der Flamme beleuchtete, altbekannte Antlitz
und las darin die höchſte Spannung der Thatkraft und
einen tödtlichen Ernſt.
„Ihr wißt, Jenatſch,“ ſagte ſie, „welcher Partei
mein Vater angehörte, wie und warum er ſtarb. Ihr
wißt, wie ich ihm glaubte und ihn liebte. Ich konnte
mich nie mit Gedanken befreunden, die nicht die ſeinigen
waren. So iſt das franzöſiſche Weſen — trotz der
väterlichen Güte des Herzogs gegen mich Heimatloſe
Meyer, Georg Jenatſch. 19[290] — mir immer fern und fremd geblieben. Ich habe
mich nie darin zurecht gefunden. Ihr aber ſeid von
Spanien durch viele Blutſchuld von Alters her getrennt.
Ihr, Jürg, verdankt dem guten Herzog das Leben und
Euern Ruhm! Er hat Euch mit Vertrauen überſchüttet
und Ihr kennt ſeinen herzlichen Willen gegen unſre
Heimat, — habt Ihr ihn denn nicht lieb? . . . . . . .
Könnet Ihr, — ich will glauben der Heimat zum
Beſten, — immer nach Neuem greifen und ohne daß
Ihr daran untergehet das alte Weſen wie eine Schlangen¬
haut abſtreifen?“
„Was iſt Dir der Herzog, Lucretia!“ rief er.
„Wie magſt Du um einen Fremdling ſorgen! Biſt Du
noch ſo weichlichen Herzens nach Allem, was Du ge¬
litten und was ich ſelbſt an Dir und Deinem Hauſe
gefrevelt habe? . . . Schau um Dich . . . in allen unſern
Thälern Trümmer und Brandſtätten! Soll hier nie
Friede werden, nie Freiheit und Geſetz hierher zurück¬
kehren? Der Herzog kann uns nicht herausziehen. Er will
ſein frommhochzeitlich Kleid nicht beflecken. Doch auch
ich habe eine Rede Gottes für mich. Ich wölbte mir
die Himmel — ſpricht der Herr — den Spielraum
der Erde aber überließ ich den Menſchenkindern . . .
Siehſt Du nicht, Lucretia, wie wir Alle in dieſen
Bürgerkriegen Gebornen ein freches, ſchuldiges Ge¬
[291] ſchlecht ſind! . . . und ein unſeliges. Dort hat der
Bruder den Bruder erſchlagen und hier liegt trennend
eine Leiche zwiſchen Zweien, die ſich lieben und ange¬
hören. Darum laß uns nicht kleiner ſein als unſer
Loos! Ich ſtehe am Steuer und lenke Bündens Schiff¬
lein durch die Klippen mit ſchon längſt blutüberſtrömten
Händen. — Nimm ein Ruder und hilf mir! Zweifle
nur jetzt nicht an mir, hilf mir, Lucretia!“ drang er
in ſie.
„Und was willſt Du, daß ich thun ſoll?“ ſagte
die Bündnerin und ihre Augen begannen unternehmend
zu leuchten.
„Gehe nach Mailand,“ fiel er raſch und freudig
ein, „dort findeſt Du den Pancraz, der Dich beim
Gubernatore einführen wird. Serbelloni kennt Dich
von früher her als die, welche Du biſt. Unterhandle
mit ihm über die Bedingungen, die ich Dir nieder¬
ſchreiben will. Haſt Du mir etwas zu berichten, ſo
thue es durch den Pater, deſſen Beiſtand Dir in allen
Fällen gewiß iſt.
„Iſt es Dein Ernſt,“ fragte ſie erſtaunt, „wenn
Du mich als Deine Unterhändlerin nach Italien ſchickſt?
Wie will ich mich im Labyrinthe der Politik zurecht
finden?“
„Ich verlange nichts von Dir,“ ermuthigte er.
19*[292] „als was Du kannſt und ich Dir auch ſonſt zutraue:
daß Du mein Geheimniß bewahreſt, und müßteſt Du
es mit dem Leben ſchützen, und daß Du in der Unter¬
handlung von meinen Bedingungen nicht um eine Linie
abweicheſt. Im Uebrigen wird Dich der brave Pancraz
vortrefflich berathen. Gieb mir Tinte und Feder, ich will
Dir die Punkte aufzeichnen, die Du feſtzuhalten haſt.“
Lucretia erhob ſich und ſchritt zu der mit aſtreichem
Nußbaumholze bekleideten Rückwand des Thurmzimmers.
Dort ließ ſie die Platte ihres in das Getäfel kunſtreich
eingefügten Schreibtiſches auf die gabelförmige Eiſen¬
ſtütze nieder und der Oberſt ſchrieb, während ihm das
Fräulein aufmerkſam über die Schulter blickte:
„Donna Lucretia Planta, meine Bevollmächtigte, wird mit
der Excellenz des Herzogs Serbelloni für mich auf Grund fol¬
gender Bedingungen unterhandeln:
Der Gubernatore ſtellt einen Heerhaufen von über zehntau¬
ſend Mann bei Fort Fuentes an den Eingang des Veltlins.
Er trifft das Abkommen mit dem Hofe in Innsbruck, daß
ein kaiſerlicher Heerhaufe von derſelben Stärke gegen die bünd¬
neriſche Nordgrenze bei Finſtermünz und am Luzienſteig vorrücke.
Die Führer beider Heere gehorchen dem Oberſten Jenatſch
und betreten den Bündnerboden nicht ohne dieſes Oberſten ſchrift¬
lichen Befehl.
Der Oberſt Jenatſch verpflichtet ſich gegenüber Spanien in
weniger als Jahresfriſt den Abzug aller in Bünden ſtehenden
franzöſiſchen Truppen bis auf den letzten Mann zu bewirken.
[293] Dafür verſpricht die Krone Spanien, die völlige Unabhän¬
gigkeit der drei Bünde in ihren alten Grenzen anzuerkennen und
zu gewährleiſten.“
Noch einmal überſchaute Jenatſch die trocknenden
Federzüge, dann ſetzte er ſeinen vollen Namen unter
das Schriftſtück.
Während er vor der ihm entgegentretenden Ge¬
ſtalt ſeiner ungeheuern That insgeheim erbebte, wie
vor einem heraufbeſchworenen Dämon, der ihm helfen
oder ihn verderben konnte, war das Fräulein mit ihren
Blicken den ſeinigen über das Blatt gefolgt und hatte
ſich mit einem Unternehmen, deſſen praktiſche Seite ihr
einleuchtete, ſchneller als zu erwarten war, vertraut
gemacht. Es ſchien ihr, daß es ſich um einen raſchen,
klar geplanten, vielleicht unblutigen Handſtreich handelte
und das war ihr lieber, als wenn ihrer einfachen Natur
zugemuthet worden wäre, die Fäden eines verwickelten
Intriguennetzes in die Hand zu nehmen und zuſammen
zu knüpfen.
In dem Augenblicke als Jenatſch die Vollmacht
zuſammenfaltete und dem Fräulein übergab, zeigte ſich
der alte Kaſtellan, der ſeine Rückkehr möglichſt be¬
ſchleunigt hatte, auf der Schwelle und der Oberſt be¬
fahl ihm, ſeinen Rappen vorzuführen.
[294]
„Dieſen grauen Bären vergiß mir nicht auf die
Fahrt mitzunehmen, Lucretia, ſeine Treue iſt alt und
ſeine Tatzen ſind noch gefährlich,“ ſagte er freundlich,
ſprang auf und trat mit dem Fräulein ans Fenſter.
Er zögerte zu ſcheiden. „Die Nacht iſt klar geworden,“
ſprach er hinausblickend, „wann gedenkſt du zu reiſen?“
„Morgen vor Tag,“ erwiederte Lucretia. „Durch
Pancraz wirſt du zuerſt von mir hören. Jürg, du biſt
ein gar großer Herr geworden, — wie könnt' es dir
fehlen, wenn Kapuziner und Frauen für dich boten¬
laufen!“ Und die Thränen traten ihr in die Augen.
Dieſes halb muthwillige, halb traurige Wort ge¬
hörte wieder ganz der Lucretia ſeiner Jugendtage. Sie
ſtand neben ihm, nur größer und herrlicher, neu erblüht
zu bräunlicher Geſundheit im Hauche ihrer Berge. Der
Nachtwind bewegte die Löckchen an ihren Schläfen, die
ſich aus der Krone der dicken dunkeln Flechten gelöſt
hatten und ihre leuchtenden Augen blickten ihn an mit
einer lautern Kraft, wie ſie unter dem ermattenden
Himmel des Südens nicht gedeiht.
Alte liebe Erinnerungen erwachten in ihm, er
widerſtand nicht und umfing ſie.
„Mir iſt, es ſei noch nicht lange her, daß wir
da unten mit einander ſpielten,“ ſagte er weich und zeigte
[295] auf die im Herbſtwinde leiſe rauſchenden Bäume des
riedberger Schloßgartens nieder.
Sie fuhr ſchaudernd zuſammen — ihr Vater war
vor ihr aufgeſtiegen — und blickte, von Jürg ſich ab¬
wendend, ins Dunkel hinaus.
„Was ziehn dort für Lichter auf der Straße längs
dem Heinzenberg, iſt es ein Todtengeleit?“ fragte ſie
auf das jenſeitige Rheinufer deutend.
Jenatſch warf einen ſcharfen Blick hinüber. „Es
ſind die Fackeln des Herzogs, der im Schutze der Nacht
hinunter nach Chur fährt,“ ſagte er, blickte noch ein¬
mal in ihre naſſen Augen, küßte ihr dann raſch die
Hand und eilte von hinnen.
Siebentes Kapitel.
Herzog Heinrich hatte ſich in Chur das ſtattliche Haus
des Ritters Doctor Fortunatus Sprecher zum Quartier er¬
wählt. Der gelehrte Bündner ſtellte es ihm mit freudigem
Dienſteifer zur Verfügung, denn es war von jeher ſein
Ehrgeiz und ſein Glück geweſen, ſich edeln hiſtoriſchen
Perſönlichkeiten zu nähern und mit ihnen in einem
ſeinem Geſchichtswerke gedeihlichen Verkehr zu bleiben.
Kaum hatte ſich der herzogliche Haushalt ſo ſtan¬
desgemäß, wie es in dem republikaniſchen Berglande
möglich war, in den beſten Gemächern der raumreichen
patriziſchen Wohnung eingerichtet, als nach einer Reihe
von düſtern ſtürmiſchen Tagen der Schnee in ſchweren
Flocken zu fallen begann. Der Winter brach früh
herein und die weiße Decke blieb auf den ſteilen Dächern
und ernſthaften Stufengiebeln der alten Biſchofsſtadt faſt
ohne Unterbruch liegen, bis am Ende des Hornungs
[297] die Föhnſtürme das Land fegten und mit den erſten
Märztagen die Sonne Kraft gewann.
Der Winter war dem guten Herzog in gezwunge¬
ner Muße verfloſſen, denn er war von ſeinem Heere
im Veltlin durch den unwegſamen Schnee der Berge
getrennt, und auch ſeine Verhandlungen mit dem fran¬
zöſiſchen Hofe ſtockten und wollten zu keinem Ziele
führen. Wäre die Sorge um den Abſchluß des Ver¬
trags neben andern Sorgen und Ungewißheiten und
wäre die an dem thätigen Geiſte des Feldherrn zeh¬
rende gezwungene Muße nicht geweſen, er hätte ſich im
Sprecherſchen Hauſe nicht unwohl gefühlt und nicht
ungern unter ſeinen ſchlichten proteſtantiſchen Glaubens¬
genoſſen verkehrt.
Der Doctor Sprecher achtete ſich durch die Gegen¬
wart Rohans hochgeehrt. Erfüllte ſich ihm doch der
langgehegte Wunſch, den Lebenslauf ſeines erlauchten
Gaſtes an der Quelle ſchöpfend aufzeichnen zu dürfen.
Mit der liebenswürdigſten Herzensgüte bequemte ſich
dieſer dazu, ſeinem Wirthe täglich ein Bruchſtück ſeiner
Schickſale in italiäniſcher Sprache zu erzählen und in
dieſer Sprache verfaßte der Doktor auch das Lebens¬
bild, das ein Geſchenk werden ſollte, denn ſo hatte es
der edle Gaſt ausdrücklich verlangt, für die Frau Her¬
zogin, die ſich noch immer in Venedig aufhielt, und für
[298] Rohans Tochter, die dem Herzog Bernhard von Wei¬
mar anverlobte Marguerite. Mit dieſer erfreulichen,
aber privaten Beſtimmung ſeiner gewiſſenhaften und
ſchönen Arbeit war der Doctor Sprecher nur halb ein¬
verſtanden. Er hätte ſie lieber zum Ruhme des Her¬
zogs und nicht zur Unehre des Verfaſſers ohne falſche
Beſcheidenheit alsbald durch die Preſſe verewigen und
in die Welt ausgehen laſſen.
Auf andere Weiſe bethätigte ſich des Herzogs Ad¬
jutant, der junge Wertmüller. Ruhelos trieb er ſich
in allen hohen und niedern Regionen der kleinen Stadt
um. In kürzeſter Friſt war er in Chur eine bekannte
Perſönlichkeit, vom biſchöflichen Palaſte an, wo er ſeiner
ſcharfen Augen und boshaften Zunge wegen geſcheut,
am Spieltiſche dagegen jederzeit willkommen war, bis
hinunter in die dunkelſten Winkelſchenken, wo man ihn,
wie dort, an den gedehnten Winterabenden gerne kommen
und nicht ſelten noch lieber wieder gehen ſah. Es ge¬
lang ihm hier, die phlegmatiſchen Bündner durch ſeine
Sticheleien, politiſchen Vexierreden und mancherlei andere
Brennneſſeln ſo lange zu reizen, bis ihnen Dinge ent¬
fuhren, die ſie nachher ſchwer bereuten über die Lippen
gelaſſen zu haben.
War das Publikum empfänglich und regte es ihn
durch phantaſievolle Beſchränktheit an, ſo entfaltete er
[299] noch andere in den herzoglichen Gemächern nicht ver¬
wendbare, geheime Wiſſenſchaften, die er ſeinen gründ¬
lich getriebenen mathematiſchen und phyſikaliſchen Studien
verdankte. Es waren Kartenkünſte und Zauberſtücke,
die dem Locotenenten in den unterſten Schichten ſeines
Wirkungskreiſes den ernſtgemeinten Ruf eines Hexen¬
meiſters eintrugen, eine Auszeichnung, die ihm behagte,
die aber in Regionen, wo der Weg aus dem erſchreck¬
ten Kopfe in die derbe Fauſt ein kurzer iſt, mit man¬
cher Leibesgefahr verbunden war.
Dieſe nächtlichen Anfälle und Handgemenge reizten
übrigens die kaltblütige Tapferkeit des Locotenenten
mehr, als daß ſie ihn von ſeiner tollen Kurzweil ab¬
gebracht hätten. Auch wußte er ſich immer glücklich
daraus zu ziehen, und ſo raſch, daß ſeine militäriſche
Ehre nie Schaden litt und die Verwirrung der Geiſter
und die Arbeit der Fäuſte erſt dann ihren Höhepunkt
erreichte, wenn er ſchon in den ſtillen Räumen des
Sprecherſchen Hauſes an den herzoglichen Gemächern
vorüber auf den Zehen ſeiner Kammer zuſchritt.
Der Herzog, welchem Wertmüller mit unbedingter
Treue und raſtloſem Dienſteifer ergeben war, und der
ihm deshalb vieles nachſah, beunruhigte er ohne Unter¬
laß durch ſeine ſcharfſinnigen Entdeckungen und war¬
nenden Berichte. Wahrlich, er ſchien es darauf anzu¬
[300] legen, den hohen Herrn zu keinem Behagen kommen
zu laſſen.
Auf Jenatſch, deſſen aufopfernde Treue mit den
ſchweren Verhältniſſen wuchs, der den Herzog täglich
beſuchte und es ſich zur Aufgabe machte, ſeine Sorgen
zu verſcheuchen, ſeine leiſeſten Wünſche zu errathen,
ſeine Befürchtungen ihm abzulauſchen und ſie entweder
durch die eigene fröhliche Zuverſicht zu entwurzeln, oder
mit beredten, überzeugenden Worten zu widerlegen —
auf Jenatſch, den nützlichſten Rathgeber des Herzogs
und den Liebling des Volkes, hatte es der verhärtete
Locotenente beſonders abgeſehen. Wertmüllers Gedanken
ſpürten dem Oberſten auf allen Schritten und Tritten
nach, und er wollte aus der Haut fahren, wenn der
Herzog ſeine Warnungen lächelnd fallen ließ, weil er
ſie maßloſer Eiferſucht auf ſeinen Günſtling oder der
Unverträglichkeit dieſer zwei grundverſchiedenen Tempe¬
ramente zuſchrieb.
Was behauptete Wertmüller nicht Alles!
Das Scheitern des Vertrags von Chiavenna, wel¬
ches Rohan von dem einzigen in das Geheimniß gezo¬
genen Bündner verſchwiegen wußte, war, wenn man den
Locotenenten hörte, ſchon längſt allgemein bekannt, ja
wie abſichtlich bis in die fernſten Hütten verbreitet, eine
Kunde, die man ſich nicht verhohlen ins Ohr ſagte,
[301] nein, von der die Thäler dieß- und jenſeits der rhäti¬
ſchen Alpen wiederhallten.
Aber das war das Geringſte — Schlimmeres
drohte — Bünden unterhandelte mit Spanien, behaup¬
tete Wertmüller. Und nicht etwa einzelne Parteigänger
und Unruhſtifter zettelten, ſondern das geſammte Volk
war in Gährung und Verſchwörung gegen Frankreich
begriffen, und Jenatſch, der heilloſe Heuchler, hielt das
ganze Spiel des Betrugs in der Hand.
Der Herzog pflegte gemeiniglich leichthin zu er¬
wiedern, derartiges habe ſich noch nie ereignet, es ſei
ſchlechterdings undenkbar, daß ein ganzes Volk ſich wie
eine geheime Geſellſchaft verſchwöre, unmöglich, daß
nicht mindeſtens Einer ihn warnte unter ſeinen vielen
redlichen Anhängern im Lande. Im ſchlimmſten Falle
würde ihn ſein Gaſtfreund, der ruhige, wohlunterrichtete
und keiner Partei pflichtige Doktor Sprecher, gegen
deſſen ehrenwerthe Geſinnung ſelbſt der Locotenent nichts
werde einwenden können, vor ſolchen unerhörten ver¬
rätheriſchen Anſchlägen ſicher ſtellen.
Der unbelehrbare Zürcher ließ das nicht gelten.
Was die Verſchwörung eines ganzen Volkes be¬
treffe, ſo wolle er gerne zugeben, ſagte er, daß ſie nir¬
gends möglich wäre, als unter den Bündnern, die mit
dem nordiſchen Phlegma die ſüdliche Verſchlagenheit in
[302] glücklicher Miſchung vereinigten. Der Erſte, Beſte die¬
ſes Volkes könne dem geriebenſten Diplomaten zu rathen
geben. Die Staatskunſt ſei hier ſo allgemein verbreitet
und landesüblich, daß das ganze Volk wie ein Mann
rede oder ſchweige, wenn es ſich um einen deutlichen
Vortheil handle; die Schwierigkeit ſei alſo nur, den
langſamen Köpfen die Rechnung klar zu machen und
dafür werde der Volksredner Jenatſch ausgiebig geſorgt
haben.
Was den gelahrten Herrn Doktor angehe, ſo wolle
er ihm nicht zu nahe treten, aber für muthig halte er
ihn nicht, wenigſtens nicht einer gewiſſen geheimen
Vehme gegenüber, von der man munkle. Er könne hier
ſeine Quellen nicht nennen; aber er müſſe glauben, es
ſei im Lande ein Geheimbund errichtet mit Statuten,
die ſie den Kletten- oder Kettenbrief nennen — wahr¬
ſcheinlich um das feſte Ineinandergreifen und Zuſam¬
menhalten der Bundesglieder zu bezeichnen. Auf Ver¬
rath ſtehe der Tod. Er wolle nun nicht behaupten,
daß der Doktor ein Glied dieſer Kette ſei, er ſei nicht
das Eiſen dazu, aber daß er ſich vor dieſen Banditen
ſträflich fürchte, das ſei mehr als wahrſcheinlich.
Dieſe Verſchwörung, deren Verräther dem Tode
verfalle, behandelte der Herzog als eine vom Müſſig¬
gange erfundene und geglaubte Schauergeſchichte. „Man
[303] hat Euch das aufgebunden, Wertmüller,“ pflegte er zu
ſcherzen, „um Euerm Argwohne gleich das ſtärkſte Ge¬
würz vorzuſetzen! Und geſteht nur, Ihr verdient etwas
für Eure böſe Zunge.“
Am Verdächtigſten war dem Locotenenten die Keck¬
heit, mit der Jenatſch den Herzog über deſſen eigene
Stellung am franzöſiſchen Hofe mit ſchmeichelnden Worten
zu täuſchen verſuchte. Darüber mußte ſich Heinrich Rohan
doch ſelber im Klaren ſein. Was konnte den Bündner
dazu bewegen, fragte ſich Wertmüller, wenn nicht die
teufliſche Abſicht, den guten Herzog von allen Seiten
mit Netzen der Täuſchung und dämoniſchen Irrſals zu
umſpinnen, um den Sichergewordenen um ſo gewiſſer
zu verderben? Und ſein Haß gegen den Oberſten ſtei¬
gerte ſich ins Unglaubliche.
Priolo war unverrichteter Dinge von Paris zurück¬
gekommen — Wertmüller nahm an, er ſei in das Zö¬
gerungsſyſtem des Kardinals eingeweiht und von dieſem
gewonnen — und wurde mit neuen Briefen wieder
weggeſandt, welche die dringendſten Vorſtellungen ent¬
hielten, doch ja die Unterzeichnung des für Frankreich
verhältnißmäßig günſtigen Vertrags nicht länger zu ver¬
zögern und die Bündner dadurch ſpaniſchen Anerbie¬
tungen zugänglich zu machen.
Kaum war Priolo abgereiſt, ſo berichtete der tapfere
[304] Herr von Lecques, den Rohan an der Spitze ſeines
Heeres im Veltlin zurückgelaſſen hatte, von drohenden
Zeichen des Ungehorſams unter ſeinen Bündnertruppen,
die auf eine allgemeine Gährung im Volke hindeuteten.
Er würde, ſchrieb er, dieſen einzelnen Vorfällen weiter
keine Bedeutung beilegen, wenn nicht die Spanier in
anſehnlichen Maſſen ſich der Grenze näherten, wenn
nicht der Herzog von ſeinem Heere getrennt wäre und
ſich in der Mitte eines, wie er fürchte, mit der Politik
Frankreichs täglich unzufriedener werdenden Landes be¬
fände. Er ſchloß ſeinen Bericht damit, daß er den
Herzog bat und beſchwor, ſich um jeden Preis mit ſei¬
nem getreuen Heere im Veltlin zu vereinigen. Sei
dies geſchehen, habe er, Lecques, ſeiner peinigenden
Verantwortung ſich entledigt und den Befehl in die
ruhmreichſten Hände niedergelegt, ſo freue er ſich, an
der Seite ſeines Feldherrn, den Degen in der Fauſt,
der ganzen Welt zu trotzen.
Wertmüller vernahm dieſen rettenden Vorſchlag
mit Jubel — und fluchte wüthend, als er nach dem
nächſten Beſuche des Oberſten wahrnehmen mußte, daß
es dieſem gelungen war, den Herzog zu überzeugen,
ſein Aufenthalt in Chur ſei völlig gefahrlos, für die
franzöſiſchen Intereſſen in Bünden vortheilhaft, bei der
Verehrung, die ſeine Perſon im Lande genieße, zur
[305] Beruhigung der Gemüther ſogar unumgänglich noth¬
wendig.
Ein Augenblick des Zweifels kam auch für den
edlen Herzog. Es war Wertmüller gelungen eine Spur
aufzufinden, deren Verfolgung ihn in den Stand ſetzen
konnte, auch das blindeſte Vertrauen zu erſchüttern.
Er hatte in der Schenke zum ſtaubigen Hüttlein die
Bekanntſchaft eines welſchen Quackſalbers gemacht und
zufällig erfahren, dieſer gedenke jetzt in das Land des
Lorbeers und der Myrte zurückzukehren. Das aben¬
teuerliche Männchen, das ſich in dem kalten Klima den
Magen mit dem gefährlichen weißen Completer wärmte,
rühmte ſich in prahleriſcher Weinlaune ſeiner hohen
diplomatiſchen Beziehungen und Fähigkeiten; in Wert¬
müller, der ihn bewundernd anhörte und ihm fleißig
einſchenkte, blitzte eine Erinnerung auf. Jüngſt als er
ſpät in der Nacht den biſchöflichen Palaſt verließ, hatte
er dies unverkennbare Figürchen bei ſchwachem Mond¬
ſcheine in einer Ecke des Hofes neben einer Holofernes¬
geſtalt und im eifrigſten Geſpräche mit dieſer erblickt —
nur einen Moment, denn die Beiden waren beim Klirren
ſeines Schrittes unter einem Thorwege verſchwunden,
aber genügend lang für ſein ſcharfes Auge, um die
auffallende Geſtalt des Wunderdoktors deutlich gewahr
zu werden und in der andern, von einem dunkeln
Meyer, Georg Jenatſch. 20[306] Mantel umhüllten, den Oberſten Jenatſch zu vermuthen.
Das genügte, um den unternehmenden und durch die
Winterruhe gelangweilten Locotenenten zu einem luſtigen
Handſtreiche anzufeuern. Er belauerte die Abreiſe des
Italiäners, nahm auf ein paar Tage Urlaub, ritt dem
fahrenden Wunderdoktor nach und holte ihn auf ſeinem
feurigen Fuchs gegen Abend des erſten Reiſetages ein.
Wie ein Wegelagerer überfiel er ihn an einer einſamen
Stelle der Gebirgsſtraße. Der erſchrockene Quackſalber
mußte zuerſt ſeinen Apothekerkaſten ausräumen und ſich
dann einer Durchſuchung ſeiner Perſon unterwerfen.
Wie triumphirte Wertmüller, als er, dem Doktor
freundſchaftlich auf den Rücken klopfend, ein kniſterndes
Papier verſpürte, das zwiſchen Tuch und Unterfutter
eingenäht war, und dann mit der Pflaſterſcheere des
Unglücklichen aus deſſen ſcharlachrothem Rocke unverſehrt
ein eigenhändiges Schreiben ſeines Feindes an einen
Kapuzinerpater herausſchnitt, worin Jenatſch dieſem
Aufträge an den Gubernatore Serbelloni in Mailand
gab. Der Wortlaut freilich war dunkel, aber die That¬
ſache ſelbſt ſprach um ſo klarer. Nachdem der Locote¬
nente den ſchlotternden Zahnausreißer beruhigt und aus
ſeiner Reiſeflaſche geſtärkt hatte, jagte er in freudigem
Galopp nach Chur zurück. Jetzt war der Verräther
Jenatſch in ſeinen Händen.
[307]
Er erreichte die Stadt in vorgerückter Nachtſtunde
und wurde kaum noch vorgelaſſen. Der Ungeduldige
mußte ſich damit begnügen, ſeinem Herrn den ver¬
rätheriſchen Brief mit einer gedrängten Auseinander¬
ſetzung des Zuſammenhangs zu überreichen. Als Wert¬
müller dann am nächſten Morgen nach einem glücklichen
Schlafe ſich dem Herzog vorſtellte, fand er dieſen in ſehr
getrübter Stimmung und nicht geneigt, auf eine Be¬
ſprechung des ihm, wie er ſagte, unerklärlichen und ſehr
ſchmerzlichen Vorfalles einzugehen. Er müſſe auch von
anderer Seite ſich darüber Aufklärung verſchaffen.
Kurz vor der Stunde, zu welcher Jenatſch täglich
dem Herzog aufzuwarten pflegte, wurde der Locotenent
mit einem Tagesbefehl nach der Rheinſchanze beordert,
und, ſo ſcharf er auch ritt, er kam zu ſpät, um dem
Oberſten vor Herzog Heinrich Stirn gegen Stirn ent¬
gegenzutreten.
Bei ſeiner Rückkehr traf er dieſen in der heiterſten
Laune und wie von einer ſchweren Laſt befreit.
„Beſten Dank“ für Euern löblichen Dienſteifer,
braver Wertmüller!“ empfing er den Adjutanten.
„Diesmal hat er Euch freilich trotz Eures mit Argus¬
augen blickenden Scharfſinns in eine grobe Falle ge¬
lockt. — Ungern thue ich Eurer Eitelkeit weh. — Jenatſch
war hier und ich habe ihn mit aller Offenheit zur
20*[308] Rede geſtellt. Er hat ſich vollkommen gerechtfertigt.
Der Brief iſt falſch und die Handſchrift auf merkwür¬
dig geſchickte Weiſe nachgeahmt. Der Oberſt hat Feinde,
in deren Intereſſe es liegt, ihm mein Vertrauen zu
rauben. Sie ahnen nicht, daß ſie es mit ihren Caba¬
len im Gegentheil immer mehr befeſtigen. Er hat deren
namentlich am biſchöflichen Hof unter Euern geiſtlichen
Genoſſen am Spieltiſche, Wertmüller. Sie kennen Euch
und zählten auf Euern Argwohn und Eure Unterneh¬
mungsluſt. Da Ihr aus Euerm Widerwillen gegen
den Oberſt und, Euch zur Ehre ſei's geſagt, aus Eurer
Anhänglichkeit an meine Perſon kein Geheimniß macht,
ſo war die Intrigue der geiſtlichen Herren bald einge¬
fädelt. Der elende Dottore war ihr beſtochenes Werk¬
zeug. — Geſteht, er hat ſeine Rolle gut geſpielt! Wo
wird ſich ein Italiäner den Anlaß zu einer Comödie
jemals entgehen laſſen! — Was endlich jene nächtliche
Unterredung zwiſchen Jenatſch und dem Quackſalber un¬
ſern der biſchöflichen Reſidenz betrifft, die Euch zu den¬
ken gab, ſo hat es damit ſeine Richtigkeit — ſie drehte
ſich um das Ausſchneiden von Leichdornen. Erinnert
Euch, daß Ihr über den Oberſten geſpottet habt, als
er vor ein paar Tagen mit einem Pantoffel am linken
Fuße einherſchritt.“
Wertmüllers herbes Geſicht verfinſterte ſich unter
[309] dieſer Rede dermaßen, daß der Herzog ihm die Hand
auf die Schulter legte und ihn freundlich mit den
Worten verabſchiedete: „Sprechen wir nicht mehr da¬
von, mein Lieber, die Sache iſt nicht von Wichtigkeit.“
Fruchtlos brütend, wie er dem Oberſten trotz alle¬
dem noch beikommen könne, verließ Wertmüller das
herzogliche Gemach. In ſeinem Zuſtande verbiſſener
Wuth bemerkte er nicht, daß ein blondes Cherubim¬
köpfchen ſich die Treppen heran ihm entgegen bewegte.
Es war die goldlockige Tochter des Hauſes, Fräulein
Amantia Sprecher, die ſich mit einem Strauße erſter
Märzglöckchen zu dem Herzog begab. Nicht nur über¬
ſah ſie der Ungeſtüme, er raſte in ſo weiten Sprün¬
gen die Steinſtufen hinunter, daß er ſie faſt nieder¬
rannte. Beſtürzt hielt ſie ſich an dem reich verſchlun¬
genen Eiſengeländer und ſah ihm mit ihren unſchuldi¬
gen blauen Augen ſinnend und vorwurfsvoll nach.
War das derſelbe Wertmüller, der ihrer Lieblich¬
keit ſonſt in auffallender Weiſe huldigte, der den ganzen
Winter einer ihrer bevorzugten Tänzer geweſen war?
Auch auf morgen hatte er ſie ja wieder zum Balle,
dem letzten und glänzendſten des Faſchings, eingeladen.
Welche Tarantel hatte ihn heute geſtochen?
Wohl war er ihr auch ſonſt zu Zeiten rückſichtslos
erſchienen, wenn er ſich ſpöttiſch und wegwerfend über
[310] bündneriſche Zuſtände und Sitten äußerte. Wer oder
was blieb überhaupt von ſeiner ſcharfen Zunge ver¬
ſchont! Mit ihr hatte er doch bis jetzt immer eine Aus¬
nahme gemacht und ſie war dafür nicht unempfindlich
geblieben.
Ihre ſanfte kindliche Schönheit und das Gleich¬
gewicht ihrer durchaus friedfertigen Sinnesart wirkte
anziehend und beruhigend auf den queckſilbernen Offi¬
zier. Das Fräulein ſeinerſeits hatte ſich in allen Züch¬
ten zuweilen mit dem Gedanken beſchäftigt, wie ſich
dieſer zürcheriſche Unband wohl als Eheherr ausnehmen
würde und hatte ſeine Tapferkeit, den unbeſtreitbaren
Werth ſeiner Treue an dem edlen frommen Herzog und
ſeine hochgehenden Lebensausſichten mit weiſem Herzen
in die Wage gelegt gegen ſeine Schroffheiten, ſein ab¬
ſprechendes Weſen und ſeine Spöttereien über Geiſt¬
lichkeit und Gottesdienſt, die vielleicht doch im Grunde
weniger ſchlimm gemeint waren, als ſie übel klangen.
Doch war ſie, — nach dieſer rauhen Begegnung mußte
ſie ſich's geſtehen, — noch keineswegs zu einem günſti¬
gen Ergebniß gekommen.
So entſchlug ſie ſich dieſer Gedanken ohne daß es
ſie große Mühe koſtete, und wandelte, den ſilberhellen
Blumenſtrauß in ihrer Hand ordnend, langſam die
letzten Stufen hinauf.
[311]
Fräulein Amantia hegte für den edlen Gaſt ihres
Vaters eine unbegrenzte Verehrung, welche die liebens¬
würdige Leutſeligkeit des Herzogs von jeder Zuthat be¬
klommener Scheu befreit hatte. Sie pflegte alltäglich
zu einer Stunde, wo er ſich nicht ungern ſtören ließ,
in ſeinem Empfangszimmer zu erſcheinen und nach ſei¬
nen Wünſchen zu forſchen. Er ermangelte dann nie,
hatte er nicht dringende Geſchäfte, das gute Kind zu¬
rückzuhalten und ſich nach den Intereſſen ihres Tages
zu erkundigen.
Heute kam ſie eben aus der Wochenpredigt, weni¬
ger erbaut als in Zweifel verſenkt, denn der Pfarrer
Saluz hatte über einen außer der Reihenfolge liegenden
Text mit großer Heftigkeit gepredigt, und über welchen
ſchauerlichen Text — den Verrath des Judas Iſchariot,
Matthäus am ſechsundzwanzigſten! Er hatte dadurch
ſeine Zuhörer in große Aufregung verſetzt, die ſich ängſt¬
lich nach dem Zielpunkte dieſer Anſpielung umſahen, und
ſich, ſagte Fräulein Amantia, faſt wie ſeiner Zeit die
Jünger fragten: „Herr, wer iſt es, der Dich verräth?“
Achtes Kapitel.
Wenige Tage ſpäter, den 19. März, eilte der ge¬
lehrte Ritter Fortunatus Sprecher die Treppe zu den
Gemächern ſeines erlauchten Gaſtes herauf. Dieſe
frühe Morgenſtunde konnte unmöglich zur Fortſetzung
der Biographie des Herzogs geeignet ſein; auch war
das Antlitz des Ritters, der krampfhaft ein großes mit
dem Bündnerwappen verziertes Druckblatt in der Hand
hielt, wie ſolche zu öffentlichen Kundgebungen an die
Mauer geſchlagen werden, heute beſonders ſchwer ver¬
düſtert.
Oben angelangt, blieb er athemlos einen Augen¬
blick ſtehen und ſammelte ſich. Doch ließ er dem
Kammerdiener kaum Zeit ihn anzumelden und drang
ohne die gewohnte Rückſicht und Höflichkeit in das
Arbeitszimmer des Herzogs ein, wo dieſer, ſeine
[313] Bibel leſend, im Erker ſaß und jetzt, über die Störung
erſtaunt, zu dem Eintretenden aufblickte.
„Es ſind unerhörte Ereigniſſe,“ begann Herr
Sprecher, „die mich zwingen, erlauchter Herr, Eure
Morgenandacht zu ſtören. Es iſt, kaum wage ich es
auszuſprechen, die Sorge um die Sicherheit Eurer
edlen Perſon, die mich dazu treibt. Könnt' ich Euch
doch in mein Herz blicken laſſen, damit Ihr darin
meine aufrichtige und in jeder Probe ſtichhaltige Er¬
gebenheit läſet, überzeugender als mein Mund ſie aus¬
drücken kann! — In meine geſchichtlichen Arbeiten ver¬
tieft und gewohnt auf die eitlen Geräuſche des Tages
wenig zu merken, habe ich leider die Bedeutung der
wirren Stimmen unterſchätzt, die allerdings in der
letzten Zeit an mein Ohr ſchlugen. Ich wollte Euch
nicht unnöthig damit beunruhigen.“
Der Herzog erhob ſich raſch. „Kommt zur Sache,
Herr!“ ſagte er beſtimmt und ruhig. „Was iſt das
für ein Blatt? Gebt her.“
Sprecher überreichte das verhängnißvolle Druck¬
blatt und ſtöhnte mit ſinkender Stimme: „Es iſt der
Aufſtand gegen Frankreich und die Ernennung des Jürg
Jenatſch zum Obergeneral der drei Bünde!“ —
Rohan durchlief das Blatt und erblaßte.
Es enthielt einen Aufruf an das Volk, der die
[314] Beſchwerden der Bündner gegen die Krone Frankreich
in kurzen, treffenden Worten zuſammenfaßte und zum
Vertrauen auf Spanien-Oeſterreich aufforderte, das ſich
bereit erkläre, Bündens alte Grenzen und Freiheiten
zu gewährleiſten. Alle bündneriſchen Waffen wurden
unter den Befehl des Jürg Jenatſch geſtellt.
Die Schlußworte lauteten:
„Ihr Gemeinden der drei Bünde, greift zum
Schwert, erhebt Euch zum Landſturm im Namen des
Herrn. Sammelt Euch bei Zizers nächſt Chur am
neunzehnten des Märzen.“ Hier folgten die Unter¬
ſchriften der drei Bundeshäupter, obenan diejenige des
Amtsbürgermeiſters Meyer von Chur.
Der Herzog warf das Blatt empört auf den Tiſch.
Er rief nach ſeinen Dienern, befahl zu ſatteln und
fragte nach Wertmüller. Mit dieſem wollte er nach
der Rheinſchanze reiten. Seine ſchnelle Geiſtesgegen¬
wart und militäriſche Spannkraft verließ ihn nicht
einen Augenblick.
Während ihn ſein Diener ankleidete, wagte der
geängſtigte Sprecher noch einige Betheuerungen, An¬
deutungen und Räthe.
„Die Unterſchriebenen ſind alle Mitglieder des
Kettenbundes. Gott weiß, ich hielt ihn für eine ge¬
meinnützige Geſellſchaft ohne gefährliche Nebenzwecke! —
[315] Und dieſer Bürgermeiſter Meyer, der ſich immer ſo
verächtlich über den charakterloſen Jenatſch und ſo feind¬
ſelig gegen das papiſtiſche Spanien äußerte! . . . Ich
fürchte, erlauchter Herr, mein Hausrecht wird Euch
hier nicht ſchützen können! . . . Ihr kommt durch die
nach Zizers ſtrömenden Volksmaſſen nicht mehr in die
Rheinſchanze . . . Horcht! Mein Gott, nun läutet es
auch in der Stadt von allen Thürmen Sturm . . .
Vielleicht ließe ſich nächtlicher Weile ein Fluchtverſuch
nach Zürich wagen und von dort würdet Ihr auf Um¬
wegen Euer Heer im Veltlin erreichen!“ —
Während dieſer Worte war der Galopp eines
Pferdes auf dem Pflaſter erklungen, und ſchon ſtand
der Adjutant Wertmüller in dienſtlicher Haltung aber
mit zornblitzenden Augen vor dem Herzog.
„Die Bündnerregimenter im Domleſchg meutern
und marſchiren mit fliegenden Fahnen auf Chur, Er¬
laucht,“ meldete er. „Ich wäre ihnen bei einem Morgen¬
ritte nach Reichenau faſt in die Hände gefallen. Sie
ſind mir auf den Ferſen. Hier in der Stadt liegt,
wie der edle Herr weiß, nur die Freicompagnie der
Prätigauer. Treue Leute! Ich habe ſie an das nörd¬
liche Thor beordert. Ihr Hauptmann Janett ſchwur
mir zu, er ſei mit Leib und Leben der Eurige und
werde gegen alle Spaniolen und Meineidigen zu Euch
[316] ſtehen. Eure Pferde und Leute ſind unten bereit.
Noch iſt es möglich, wenn die Prätigauer uns den
Rücken decken, nach der Rheinſchanze durchzudringen.
Begegnet uns Volksgeſindel, ſo reiten wir es nieder.“
Herzog Heinrich hieß dieſen muthigen Vorſchlag,
welcher ſeinen eigenen Entſchluß ausſprach, mit einer
zuſtimmenden Kopfbewegung gut und ſchritt, Herrn
Sprecher flüchtig grüßend, raſch dem Ausgange zu.
Aber ſchon war er ein Gefangener.
Als Wertmüller die Thüre des Vorſaales aufriß,
ertönte von unten her Gemurmel zahlreicher Stimmen
und ſchleifendes Geräuſch treppanſteigender Füße. Man
vernahm Sporengeklirr und gedämpften Wortwechſel.
Der Herzog blieb ſtehen und legte die Hand an den
Degen.
Vor der Thüre zauderten und drängten ſich Ge¬
ſtalten, die einen in Waffen, die andern in Staats¬
tracht. Keiner wagte es, ſich voranzuſtellen. Jetzt
wichen ſie zur Seite und gaben Raum. Georg Jenatſch
trat aus ihnen hervor und überſchritt die Schwelle.
Ihm folgten Guler, der Graf Travers und ein ſtatt¬
licher Mann in bürgermeiſterlichem Ornate und goldener
Kette mit großgeſchnittenem, fleiſchigen Geſicht und
leicht ſchielenden Augen.
Der Oberſt Jenatſch war baarhaupt und näherte
[317] ſich mit ſtarren blaſſen Zügen dem Herzog, der ſtolz
und fragend vor ihm ſtand. Seine Stimme klang
ruhig und ſeltſam kalt, als er zu reden anhob:
„Erlauchter Herr, Ihr ſeid in unſerer Gewalt.
Unſer Aufſtand iſt Gegenwehr und gilt nicht Euch‚
ſondern der Krone Frankreich. Was Euch dunkel blieb,
iſt uns klar geworden: Der Kardinal will den von
Euch mit uns vereinbarten Vertrag nicht unterzeichnen.
Er will uns feſthalten und im Tauſchhandel des in
Ausſicht ſtehenden allgemeinen Friedensſchluſſes als
franzöſiſche Waare verſchachern. Das Pfand Eurer
reinen Ehre, das er uns in die Hände gab, würde er
leicht verſcherzen. So hat uns der König von Frank¬
reich und ſein Kardinal dazu getrieben, bei unſerm
Erbfeinde billigere Hilfe zu ſuchen, die uns auch ge¬
währt wurde. Gott weiß, was es uns gekoſtet hat,
unſere Freiheit unter Spaniens Schild zu ſtellen. —
Was wir von Euch verlangen und warum Ihr
es uns gewähren werdet, das kann ich Euch mit wenigen
Worten darlegen. Vor Eurer Rheinſchanze ſtrömt
Bündens ganzer Landſturm zuſammen. Die Regimenter
rücken in Chur ein. Ich habe ſie ihres Gehorſams
gegen Euch entbunden und den Eid ihrer Treue den
Häuptern unſerer drei Bünde ſchwören laſſen. Die
Oeſterreicher ſtehen am Luzienſteig, die Spanier bei
[318] der Feſtung Fuentes, beide mit Uebermacht. Auf ein
Wort von mir überſchreiten ſie die Grenze. — Seht
hier meine ſpaniſch-öſterreichiſchen vom Kaiſer ſelbſt
und vom Gubernatore Serbelloni unterzeichneten Voll¬
machten!“ — und er entfaltete zwei Papiere. „Lecques
kann Euch nicht befreien, denn bei ſeiner erſten Be¬
wegung gegen die Alpenpäſſe rücken die Spanier von
Fuentes her ins Veltlin. — Ihr ſeht, Euer Heer iſt
von allen Seiten eingeklemmt; nur Ihr könnt es Euerm
Könige retten, und Ihr thut es, wenn Ihr dieſes
Uebereinkommen unterzeichnet.“ —
Jenatſch nahm ein drittes Papier aus der Hand
des Bürgermeiſters von Chur und las:
„Die Rheinſchanze und das Veltlin werden von den Fran¬
zoſen geräumt.
Sie verlaſſen Bünden als Freunde und in kürzeſter Friſt.
Der Herzog Heinrich Rohan, Pair von Frankreich und
Generallieutenant der franzöſiſchen Armee, bleibt als unſer
Bürge in Chur bis zur Vollziehung dieſes ſeines mit uns
geſchloſſenen Uebereinkommens.
Und dies Uebereinkommen verſpricht der erlauchte Herzog
bei ſeiner Ehre auch dann in Treuen zu vollziehen, wenn Gegen¬
befehl vom franzöſiſchen Hofe einträfe,“ —
So ſteht es. Wir haben nicht das Recht, er¬
lauchter Herr, Eure Liebe zu Bünden anzurufen, denn
[319] wir haben uns ohne Euch und wider Euch geholfen.
Aber bedenkt, daß Ihr, wenn Ihr den Vertrag nicht
unterzeichnet, dieſes Land, das gewohnt iſt, Euch als
ſeinen guten Engel zu verehren, durch Euren Wider¬
ſtand in blutiges, unabſehbares Elend ſtürzt.“ —
Der Herzog nahm die Rolle nicht. Er wandte
ſich mit einer zornigen Thräne ab, dann ſagte er und
ſeine Stimme bebte: „Ich habe ſchon vielen Undank
erfahren, — aber noch nie iſt mir auf ſo bittere Weiſe
mein Vertrauen mit Verrath und die von mir dem
Rechte des Kleinen erwieſene Ehre mit Schlangenbiſſen
und Schmach heimgezahlt worden. — Ich unterzeichne
nicht. — So tief kann ich Frankreich und ſeinen Feld¬
herrn unmöglich erniedrigen.“
Die Stille, die jetzt entſtand, wurde durch einen
Tumult vor der offen gebliebenen Thüre unterbrochen.
Durch das die Treppen füllende Volk drängte ſich ein
breitſchultriger rothhaariger Kriegsmann und man hörte
ihn dringend nach dem General Jenatſch fragen. Un¬
wirſch rief ihm dieſer entgegen: „Ihr ſtört hier,
Hauptmann Gallus! Was giebt's?“
„Ich muß Eure Ordre haben,“ rief die rohe
Stimme. „Janett's Prätigauer wollen den neuen Eid
nicht ſchwören. Sie meinen, Ihr verhandelt ſie an
die ſpaniſchen Pfaffen und ſagen, ſie hätten Frank¬
[320] reich geſchworen und gehorchten niemandem als dem
Herzog.“
Jenatſch war vor Wuth todtenbleich geworden.
Er warf den Kopf nach dem Sprechenden herum und
ſchrie ihn heiſer an: „Mein Regiment gegen ſie vor¬
geführt! Erſchießt ſie Alle!“ Dann wandte er ſich wie¬
der dem Herzog zu und drohte, wie außer ſich, mit
erſtickter Stimme: „Ihr Blut über Euch, Herzog
Rohan!“
Der Herzog zuckte und ſtand eine Weile in ſchmerz¬
lichem innern Kampf. Endlich ergriff er mit zittern¬
der Hand die auf dem Tiſche liegende Rolle, wandte
ſich und ſchritt der Thüre ſeines Arbeitszimmers zu,
die der ihm folgende Wertmüller feſt hinter ihm ver¬
ſchloß.
Jenatſch kehrte ſich, immer noch tief erblaßt, zu
dem Bürgermeiſter. „Unſere Sache iſt gewonnen,“
ſagte er. „Man muß dem Herzog Ruhe laſſen. Ent¬
fernt die Leute. Ich ſtehe dafür, daß er unter¬
ſchreibt.“
Dann befahl er dem Hauptmann Gallus, der
unſchlüſſig ſtehen geblieben war: „Sagt dem Janett,
ſeine tapferen Prätigauer ſollen des Eides wegen un¬
behelligt bleiben. Der Herzog ſei mit der Regierung
[321] der drei Bünde einverſtanden und werde die Com¬
pagnie in Kurzem ſeinen Willen wiſſen laſſen.“
Wenige Minuten waren verſtrichen und die Ge¬
mächer des Herzogs hatten ſich zu leeren angefangen,
als die innere Thür ſich öffnete und Wertmüller mit
dem von Rohan unterſchriebenen Vertrage in der Hand
erſchien.
„Wer von den Herren hier hat gegenwärtig das
Ding in Händen, das in Bünden mit dem unpaſſen¬
den Namen „geſetzliche Gewalt“ bezeichnet wird?“
fragte er ſchneidend und ſtreckte dem Bürgermeiſter von
Chur, der mit ernſter Amtsmiene vortrat, die Bündens
Loos entſcheidende Rolle entgegen mit einem Ausdrucke
von verächtlicher Schärfe, deren nur ſein Geſicht
fähig war.
Herr Fortunatus Sprecher, der gerade oben an
der Treppe einige bündneriſche Staatsperſonen beglück¬
wünſchend wegkomplimentirt hatte, ſah jetzt einen jungen
Mann in Reiſekleidern athemlos die Stufen hinan¬
eilen, ergriff ſeine Hand und zog ihn bei Seite, um
ihm das Geſchehene mit bedauernden Worten mitzu¬
theilen. Es war der längſt erwartete und in dieſem
verhängnißvollen Augenblicke eben von Paris angelangte
Priolo.
Meyer, Georg Jenatſch. 21[322]
„Um Gott,“ rief Priolo, „haltet mich nicht auf,
Herr Doctor. Vielleicht iſt es noch Zeit. Ich muß
zum Herzog — der Vertrag von Chiavenna iſt unter¬
ſchrieben — Alles und mehr gewährt! Nur ſchließt
keinen Bund mit Spanien!“ Und er durcheilte das
Vorgemach.
Als ihn Jenatſch, der im Geſpräche mit dem
Bürgermeiſter ſtand, mit verſtörtem Geſichte vorüber¬
haſten ſah, ſagte er zu dieſem mit bitterm Lächeln:
„Der Cardinal glaubte ſich des Schickſals bemächtigt
zu haben, doch diesmal hat es ihn gefoppt.“
Meyer antwortete nicht, aber er umfaßte die
Schickſalsrolle mit gefalteten Händen.
Eine Stunde ſpäter war es in den äußern Ge¬
mächern des Herzogs ſtill und einſam geworden. Je¬
natſch allein ſchritt im Vorzimmer auf und nieder, die
aus dem Geſchehenen hervorbrechende Zukunft erwägend.
Was ihn beunruhigte, war das Loos ſeines Gefangenen,
und er verweilte hier in der Hoffnung, das unlängſt
ihm ſo freundliche Antlitz noch einmal zu ſehen. Daß
Herzog Heinrich ein Sklave ſeines gegebenen Wortes
ſein werde, daran zweifelte der Verräther keinen Augen¬
blick; aber es war eben ſo gewiß, daß der Kardinal
einen Haß werfen würde auf Rohan, das Werkzeug,
[323] deſſen edler feiner Stahl zerbrochen war in ſeiner es
mißbrauchenden Hand, und daß der Herzog Frankreich
nicht wieder betreten könne, ohne der Rache Richelieus
zu verfallen. Jenatſch hätte ihn gerne vor dieſer Rache
ſicher gewußt — aber wo? Welches war die Stätte,
die dem Arme des Cardinals ihn entzog und die doch
kein troſtloſes Exil für ihn war, das zu erwählen er
ſich weigern würde?
Er wartete vergebens. Der Herzog kam nicht
und als endlich die Thüre ſich öffnete, war es der
Adjutant Wertmüller, der, ein Schreiben in ſeine Brief¬
taſche ſteckend, heraustrat und ohne Gruß an ihm vor¬
über ſchreiten wollte.
„Könnt Ihr mir nicht eine kurze Audienz bei dem
Herzog verſchaffen, Wertmüller? . . . In ſeinen eigenen
Angelegenheiten,“ fragte der Bündner.
„Damit verſchont Ihr ihn beſſer,“ verſetzte der
Locotonent. „Euer Anblick hat für ihn ſeinen Reiz ver¬
loren. Was ſeine perſönlichen Angelegenheiten betrifft,
ſo ſeid Ihr nicht der Mann, ſie erfreulich zu ordnen.
Er hat es eben ſelbſt gethan.“
„Er hat ſchon über ſeine Zukunft entſchieden?“
fragte Jenatſch geſpannt. „Geht er nach Zürich oder
Genf? dort könnte er in edler Muße ſeinen Studien
leben.“
21*[324]
„Ein militäriſches Handbuch ſchreiben, meint
Ihr?“ höhnte Wertmüller. „Nicht doch! In der Lage,
die Ihr ihm ſo kunſtvoll bereitet habt, bleibt für
Herzog Rohan nur eines übrig: der Tod auf dem
Schlachtfeld. Ihr begehrt zu wiſſen, wohin mein Herr
ſich wenden wird, wenn er aus Euern Judasarmen
ſich losgemacht hat, und ich will Euch nicht belügen
— entgegen der Sitte, die von Euch hie zu Lande ein¬
geführt wurde.
Ich überbringe ein Schreiben meines edlen Herrn
an den Herzog Bernhard von Weimar, ſeinen Schwieger¬
ſohn, worin er ſich zu gemeinem Reiterdienſt im deutſchen
Heere anbietet. Kann ich Euch etwas an den Herzog
Bernhard ausrichten? Beſinn' ich mich recht, ſo folgtet
auch Ihr einſt ſeiner Fahne. Er wird ſich über Euch
wundern. Noch heute reit' ich ab und genieße ſo auch
meinerſeits zum letzten Mal Euern Anblick. Wäre
ich deſſen nie theilhaft geworden! Beſonders jenes
Mal vor der Feſtung Fuentes nicht, als Ihr in
gebührenden Ehren einherſchrittet . . . ſchon damals
mit ſpaniſchem Gefolge! Manches ſtünde beſſer und
Ihr wäret ſchon längſt an Euern richtigen Platz er¬
höht.“
„Ihr reizt mich nicht,“ ſagte der Andere finſter.
„Ich bin des Blutes ſatt und an Eurer perſönlichen
[325] Achtung liegt mir nicht das Mindeſte. — Was ich
für mein Land thue, verſteht Ihr nicht. — Geht und
ſagt dem Herzog Bernhard,“ ſchloß Jenatſch und ſchritt
das Haupt übermüthig zurückwerfend dem Eingange zu,
„er möge ſich vorſehn, daß er ſein Elſaß ſo glück¬
lich den Krallen Frankreichs entwinde wie ich mein
Bünden.“
Neuntes Kapitel.
Der warme Mai hatte das Thal des Rheines
mit Blüthen und üppigem Grün bedeckt, als das fran¬
zöſiſche Heer auf ſeinem durch den Märzvertrag er¬
zwungenen Rückmarſche aus dem Veltlin ſich auf der
ſtaubigen Landſtraße von Reichenau her den Thoren
der Stadt Chur näherte.
Das dem Herzog Rohan abgerungene und von
Priolo nach Paris gebrachte Uebereinkommen war dort
genehmigt worden, wenn auch in gewundenen Aus¬
drücken, aus welchen das widerwillige Sträuben des
Cardinals deutlich hervorblickte. Der Schrecken und
Aerger am franzöſiſchen Hofe über den in einem fernen
Bergwinkel mit beiſpielloſer Liſt geplanten Gewaltſtreich
war groß geweſen. Niemand hatte bis jetzt den Namen
des unbekannten Abenteurers, der ihn ausgeführt, der
Beachtung werth gehalten. Dennoch ging man auf das
[327] Uebereinkommen ein, mußte darauf eingehen. Der dem
Cardinal an kluger Berechnung ebenbürtige Bündner
hatte die Maſchen des Netzes zu feſt geknüpft und zu
ſicher zuſammengezogen, als daß ſelbſt die Schlauheit
Richelieus eine Lücke zum Durchſchlüpfen gefunden
hätte. Vielleicht dachte dieſer noch an die Möglichkeit,
es mit Gewalt zu zerreißen, aber dafür war der ſein
gegebenes Wort hoch und heilig haltende Rohan nicht
zu verwenden.
Dieſer war ſeinem anrückenden Heere nicht ent¬
gegen geritten und befand ſich nicht in deſſen Mitte.
Nach dem grauſamen Auftritte im Sprecherſchen Hauſe
hatte ihn ein Rückfall ſeines Uebels aufs Krankenlager
geworfen, und jetzt war er kaum ſo weit geneſen, um
in eigner Perſon ſein Heer über die wenige Meilen
von Chur entfernte bündneriſche Grenze führen zu
können. In der friſchen Morgenfrühe des nächſten
Tages wollte er ſich zum letzten Male als Feldherr an
die Spitze ſeiner Truppen ſtellen, um mit ihnen das
Land zu verlaſſen, für das er ſo viel gethan und das
ihm ſeine Liebe ſo ſchlecht gelohnt hatte.
Als die das Heer verkündende große Staubwolke
ſich näherte, ſtrömte viel Volk aus der Stadt, Jung
und Alt, den anrückenden Franzoſen entgegen, welchen
die Bürger von Chur niemals wie die wilden Leute
[328] der Gebirgsthäler abhold geweſen, und die ſie jetzt um
ſo lieber ſahen, als es das letzte Mal war und die
langjährigen Gäſte am nächſten Morgen das Land für
immer räumten.
Da ſprengte ein Reitertrupp aus dem Thor und
trieb die auf der heißen Straße ziehenden Maſſen aus¬
einander. Es waren Bündnerofficiere, voran auf einem
ſchwarzen Hengſt ein Reiter in Scharlach, von deſſen
Stülphute blaue Federn wehten, der jedem Kinde be¬
kannte Jürg Jenatſch.
Das Volk ſah dem mit ſeinem Reiterbegleite in
den aufgejagten Staubwolken ſchon wieder Verſchwin¬
denden mit Bewunderung und leiſem Grauen nach,
denn es ging die Sage, der arme Pfarrersſohn, wel¬
cher der mächtigſte und reichſte Herr im Lande gewor¬
den, habe ſeinen Chriſtenglauben abgeſchworen und
ſeine Seele dem leidigen Satan verſchrieben, darum
habe er in den unmöglichſten Anſchlägen Glück und
Gelingen.
Lauter und näher ertönte die Feldmuſik. Das
Volk vertheilte ſich auf die grünen Wieſen und Halden
zu beiden Seiten des Weges und bildete eine lebendige
Hecke. Die franzöſiſche Vorhut zog vorüber, aber die
[329] gebräunten Krieger ſchritten in raſchem Tempo, ohne
den grüßenden Zuruf der neugierigen Churer zu er¬
wiedern, und dieſer wurde ſchüchterner und verſtummte
nach und nach.
Dort an der Spitze der jetzt heranrückenden Kern¬
truppen wurde neben Jürg Jenatſch der franzöſiſche
Befehlshaber Baron Lecques ſichtbar. Aber der Fran¬
zoſe ſchien jenem für ſein Geleit wenig Dank zu wiſſen.
Stolz und verſchloſſen ritten die Beiden nebeneinander.
Der alte Degen konnte die Gegenwart des Bündners
kaum ertragen. Das jugendliche Feuer ſeiner Augen
ſprühte Funken des Haſſes und ſtrafte die Silberfarbe
ſeines kurz geſchorenen Haares Lügen. Er hatte heute
den ſchneeweißen Schnurrbart noch ſteifer und heraus¬
fordernder als ſonſt aufwärts gedreht und das geſund
davon abſtechende rothbraune Geſicht glühte von ver¬
haltenem Zorn, während ſeine Fauſt kampfluſtig die
tapfere Klinge blitzen ließ.
Die Regimenter zogen nicht durch das Thor ein,
ſondern vollführten eine Schwenkung links um die
Mauern der Stadt. Sie ſollten während der kurzen
warmen Mainacht längs der vom Nordthor nach der
nahen Grenze führenden Heerſtraße im Freien ein Feld¬
lager aufſchlagen. Als dies geſchehen war und die
Sonne unterging, beeilten ſich die Officiere, über hun¬
[330] dert an der Zahl, die Stadt zu beſuchen, um ſich
ihrem Feldherrn dem Herzog Rohan vorzuſtellen, die
Mängel ihrer perſönlichen Ausſtattung in den Kauf¬
läden von Chur zu erſetzen und ſich, jeder nach ſeinem
Geſchmacke, einen möglichſt vergnügten Abend zu machen.
Auch Lecques ritt, nachdem er ſeine letzten Be¬
fehle für den Aufbruch in der Frühe gegeben, durch
die Reihen der überall brennenden Feuer, an welchen
die Soldaten eben ihre Abendkoſt bereiteten, und wandte
ſich, nachdem er das ganze Lager mit ſcharfen Blicken
gemuſtert, langſam nach der Stadt. Hier trat er zu¬
erſt in das Gaſthaus zum Steinbock, wo er ſeine Offi¬
ciere nach Abrede verſammelt wußte, und dann begab
er ſich ſogleich zu Herzog Rohan, den er in dieſer
ſpäten Abendſtunde allein zu finden hoffte.
Er traf den Herzog zur Abreiſe bereit. Seine
Angelegenheiten waren geordnet und der Abſchied von
ſeinen Gaſtfreunden war genommen. Die franzöſiſchen
Officiere hatte der Feldherr zwar empfangen, aber nach
wenigen liebenswürdigen Worten ſchnell wieder ent¬
laſſen. Seine letzten Stunden in Chur wünſchte er
in ſtiller Sammlung und einiger Ruhe zu verbringen.
Gerne hätte er auch für den nächſten Morgen
jedes Geleit und jede Abſchiedsfeierlichkeit abgelehnt,
allein Herr Fortunatus Sprecher hatte mit Thränen
[331] in ihn gedrungen, doch der Stadt Chur, welche ihm,
wie das ganze Land, ſo unendlich viel zu danken habe
und deren Ergebenheit gegen ſeine verehrte Perſon trotz
allen böſen Scheines immer dieſelbe geblieben ſei, doch
ja dieſe unaustilgliche Schmach nicht anzuthun, und
der Herzog fügte ſich dieſem aus einer wunderlichen
Gefühlsverwirrung hervorgehenden Wunſche, den er im
Stillen ironiſch belächelte.
Als Lecques von dem Kammerdiener eingeführt
wurde, trat ihm Heinrich Rohan mit vornehmer Ruhe
entgegen und ſprach ihm ſeine Anerkennung aus für
die Umſicht und Raſchheit, womit er ſeinem Befehle
gemäß das Heer aus dem Veltlin zurückgeführt habe.
„Da das Unausweichliche geſchehen mußte,“ fügte
er bei, „ſo war es ehrenhafter, daß es ſchnell geſchah
— und ich danke es Euch, daß Ihr meinen mir pein¬
lich werdenden Aufenthalt in Chur durch Euern ſchnellen
Marſch gekürzt habt.“
Baron Lecques ſah ſeinem General forſchend in
das bleiche Angeſicht und ſagte mit einiger Schärfe:
„Meinerſeits, erlauchter Herr, fürchtete ich durch meinen
ſchnellen Gehorſam die Intereſſen Frankreichs bloß ge¬
ſtellt zu haben. Es kann Euch nicht unbekannt ſein,
daß Euer Sekretär aus Paris Gegenbefehl gebracht
hat; doch er iſt, weil Ihr mir Eile befahlt, zu ſpät
[332] gekommen. Bedauerlicherweiſe traf mich Priolo ſchon
dieſſeits der Berge im Dorfe Splügen.“
„Priolo hat ſich geſtern bei mir beurlaubt,“ er¬
wiederte der Herzog achſelzuckend, „ich kann ihn nicht
zur Rede ſtellen. Von einem zweiten, die Ordre zum
Abmarſche widerrufenden Befehle, der durch meine Ver¬
mittlung an Euch geſandt worden wäre, weiß ich
nichts.“
Lecques öffnete ſeine Brieftaſche und legte dem
Herzog eine vom König und Richelieu unterzeichnete,
in ſehr beſtimmte Ausdrücke gefaßte Weiſung vor, die
ihm befahl, das Veltlin mit ſeinen Truppen zu halten,
und die franzöſiſche Ehre mit ſeinen tapfern Waffen
um jeden Preis herzuſtellen.
Die Furche des Grams auf der durchſichtigen
Stirne des Herzogs zeichnete ſich ſchärfer. Er öffnete
ein Portefeuille, das auf dem Tiſche lag, und entfaltete
die an ihn gelangte Vollmacht zum Abſchluſſe des von
den Bündnern ihm aufgenöthigten Vertrags. — Sie
war St. Germain den 30. März datirt und von
Ludwig XIII. und Richelieu unterzeichnet. Er hielt
ſie mit der Ordre zuſammen, die ihm Lecques über¬
reicht hatte.
„Beide Dokumente tragen die Namenszüge des
Königs und des Cardinals,“ ſagte er ernſt. „Vergleicht.
[333] Die Echtheit keiner dieſer Unterſchriften iſt anzufechten.
— Der Euch gegebene Befehl opferte meine Ehre
und wohl auch mein Leben . . . . warum habt Ihr ihn
nicht ausgeführt?“
„Weil es zu ſpät war, denn ich hatte die
Feſtungen ſchon geräumt,“ ſagte Lecques trocken.
„Und beſonders,“ fügte er raſch und mit Wärme
hinzu, „weil ich, wie die Lage war, ohne Euch, er¬
lauchter Herr, nicht handeln wollte. Ich bin der Mei¬
nung, mit dieſem letzten königlichen Befehle in meinen
Händen ſei auch jetzt noch nichts verloren und es ſei
noch früh genug dem Wunſch und Willen des Königs
nachzukommen und den Frankreich beſchimpfenden Ver¬
rath zu rächen. Jetzt um ſo ſicherer, als Feldherr und
Heer wieder vereinigt ſind! — Mein Plan iſt gemacht,
wollet ihn anhören.“
Er führte den Herzog in den thurmähnlich vor¬
ſpringenden Erker, deſſen Fenſter in der lauen ſtillen
Mainacht offen ſtanden, und fuhr mit gedämpfter
Stimme fort: „Es liegen keine Bündnertruppen in der
Stadt und ihrer Umgebung. Jenatſch hat die Regi¬
menter ins Prätigau verlegt, um jeder Reibung mit
unſern durch den ruhmloſen Rückzug gereizten Soldaten
vorzubeugen. Nur einige Haufen Landſturm bewachen
die Thore. Jenatſch und die Oberſten, die uns ſcham¬
[334] loſer Weiſe morgen ihr ſchadenfrohes Ehrengeleit bis
an die Grenze geben wollen, durchzechen die Nacht zur
Feier unſers Abzuges im Schenkhauſe zur Glocke. Die
hellen Fenſter dort in der zweiten Straße ſind die
Lichter des Gelages. —
Die Rache liegt in unſerer Hand! Hundert und
fünfzig unſerer Officiere ſind in der Stadt, lauter
tapfere Edelleute, alle entſchloſſen den Frankreich ver¬
rätheriſch angethanen Schimpf mit ihren Degen zu
rächen.
Wir beſetzen vorſichtig die Ausgänge der Glocke,
dringen mit Uebermacht ein und ſtoßen die trunkenen
Meuterer bis auf den letzten Mann nieder. Auf ein
von mir mit dem Lager verabredetes Zeichen werden
die Stadtthore von außen mit Petarden geſprengt.
Unſere Truppen rücken ein und beſetzen die Stadt.
Die Churer ſind in ihrer großen Mehrzahl immer den
ſpaniſchen Cabalen entgegen und uns Franzoſen zu¬
gethan geweſen. Sie rufen halb gezwungen, halb ein¬
verſtanden: Vive la France! und ſeid verſichert, Herr,
in wenigen Tagen ſtimmt ganz Bünden ein, denn im
Grunde verabſcheut es das ſpaniſche Bündniß. Einer
hat den ganzen Verrath gebraut, der büßt zuerſt —
ich nehm' ihn auf mich. Hat erſt einmal der Judas
ſeinen Lohn empfangen, rief er mit unverhaltenem
[335] Zorn, „ſo wird ſich die Scene, glaubt mir, mit einem
Schlage verwandeln!“
„Gedenkt Ihr den Ruhm Frankreichs mit einem
Wortbruche und einer Mordnacht wieder herzuſtellen?“
ſagte der Herzog ſtreng.
Lecques wies auf ſeine Vollmacht. „Ich erfülle
damit den Willen des Königs meines Herrn,“ verthei¬
digte er ſich. „Der gelehrte Cardinal iſt in Entſchei¬
dung von Gewiſſensfragen ein Meiſter; in ſeinem Ka¬
techismus ſteht: Verrath gegen Verrath. Das durch
die rohe Gewaltthat, die am 19. März dieſes Hauſes
Gaſtrecht entehrte, Euch entriſſene Wort verpflichtet Euch
weder vor Gott noch vor den Menſchen, hättet Ihr es
auch auf die Hoſtie oder auf das Evangelium geſchworen.“
„Mein Gewiſſen entſcheidet anders,“ erklärte Hein¬
rich Rohan beſtimmt und ruhig. „Noch bin ich Euer
Feldherr, noch ſeid Ihr mir Gehorſam ſchuldig und Ihr
werdet ihn leiſten. Sprecht mir nicht mehr von Eurem
Anſchlage. Er würde, wenn er gelänge, die an der
Grenze ſtehenden Oeſterreicher und Spanier ins Land
ziehn und den furchtbarſten Krieg entflammen. Ihr
ſelbſt habt es geſagt: Ein Einziger war fähig, dieſen
kalten Verrath zu begehen. Das Volk iſt unſchuldig
und verdient nicht, was der Eine verbrochen, durch ein
ſo grauſames Loos zu büßen. Ich halte den Vertrag
[336] und glaube nicht, daß der Glanz unſrer Lilien dadurch
verdunkelt werde; aber ſelbſt wenn Frankreichs Waffen¬
ehre, wie Ihr meint, damit getrübt würde — ich müßte
den Vertrag dennoch halten.“
„So ſpricht kein Franzoſe!“ brauſte der Andere auf.
Der Herzog machte mit der Hand eine Bewegung
nach dem Herzen, als ob er dort einen plötzlichen Schmerz
empfinde. Es wurde ihm zum erſten Male geſagt, was
er ſchon längſt gefürchtet und gewußt — daß er ſein
Vaterland verloren habe.
„Iſt es für mich unmöglich, zugleich ein Franzoſe
und ein Ehrenmann zu bleiben,“ ſagte er leiſe, „ſo
wähle ich das Letztere, ſollte ich auch darüber heimat¬
los werden.“
Und die Beiden traten in das Gemach zurück.
Es war kühl geworden und das Fenſter hatte ſich
geſchloſſen. In den Mondſchein, der den ſtillen Platz
vor dem Hauſe füllte, trat jetzt eine große Geſtalt, die
ſchon längſt mit verſchränkten Armen, den Rücken an
die Mauer gelehnt und den Sprechenden unſichtbar,
unter dem Erker geſtanden hatte. Nachdem Herr von
Lecques mit harten klirrenden Tritten das Haus ver¬
[337] laſſen und ſich um die Ecke gewendet, ſchritt ſie noch
eine Weile geſenkten Hauptes im Schatten der jenſeiti¬
gen Häuſerzeile auf und nieder, von Zeit zu Zeit den
Blick zu dem Erker des Herzogs erhebend, bis der Licht¬
ſchein erloſch. Jetzt blieb ſie an der Einmündung einer
Seitenſtraße ſtehen. Wieder ertönten Schritte. Es war
ein ſchwankender, hagerer Mann in der Tracht der ſpa¬
niſchen Edelleute, der ſich näherte und einen Augenblick
unſchlüſſig ſtehen blieb. Erſt maß er den auf dem
Platze nächtliche Wache Haltenden mit ſcharfen Blicken,
dann trat er auf ihn zu und redete ihn als Bekann¬
ten an.
„Dacht' ich mir's doch, Signor Jenatſch,“ begann
der im ſpaniſchen Mantel, „daß Ihr Eure Beute zärtlich
hütet. In der Glocke wußte man nicht, wo Ihr hin¬
gerathen wäret. Gut, daß ich Euch finde und gerade
wo ich Euch vermuthet. Ihr dürft den Herzog nicht
abreiſen laſſen! Sonſt würdet Ihr Spanien einen
ſchlechten Dienſt erweiſen, der auf die Aufrichtigkeit
Eurer bisherigen Leiſtungen ein eigenthümliches Licht
würfe. Serbelloni hielt es für überflüſſig, Euch nahe
zu legen, daß Ihr den Herzog in der Hand behaltet
und ihn ſeine berühmte Waffe nicht wieder gegen Spa¬
nien-Oeſterreich erheben laſſet. Er meinte, das wäre
gleichſam ein ſelbſtverſtändlicher geheimer Artikel Eures
Meyer, Georg Jenatſch. 22[338] Uebereinkommens mit Spanien, den es nicht nöthig ſei,
Euch beſonders unterſchreiben zu laſſen. Ich aber ſagte
ihm, daß ich Euch von Kindheit an kenne und daß im
Verkehre mit Euch, wie übrigens mit Jedermann auf
dieſer, wie die neueſten Gelehrten behaupten, ſich drehen¬
den Erde, nichts beſſer ſei, als ein guter ſchriftlicher
Contract. Den hab' ich nun mitgebracht und Ihr wer¬
det Euch wundern, welch hübſches Angebot ich Euch
mache.
Gegen Heinrich Rohan die Feſtung Fuentes!
Das heißt natürlich ihre von Bünden längſt begehrte
Schleifung. Den Herzog behaltet Ihr, oder beſſer, da
das Sprecher'ſche Haus unter ſeinem Range und ihm
durch Euren Beſuch vom neunzehnten März verleidet ſein
möchte, Ihr liefert den frommen Herrn nach Mailand,
wo ihm ein ſtilles und angenehmes Privatleben ge¬
ſichert iſt. Klüger wäre es freilich geweſen, Ihr hättet
ihn, wie es der Wunſch des Herrn Gubernatore war
und ich Euch ſchrieb, vor Wochen ſchon in die Hände
Eures ſpaniſchen Verbündeten befördert, bevor das fran¬
zöſiſche Heer über den Splügen rückte, wo es mich heute
— denn ich komme ſtracks von Mailand — zeitraubend
aufgehalten hat.
Warum habt Ihr meine Briefe nicht beantwortet?
Das iſt nicht klug und auch nicht hübſch von einem
[339] Jugendfreunde. Zum Glück iſt es noch Zeit. Der
Herzog iſt noch da und krank dazu, wie man mir er¬
zählte. Es wird einem Diplomaten von Eurer Ge¬
wandtheit nicht an einem Vorwande fehlen, den unter
Eurem Zauber ſtehenden Herrn noch einige Zeit freund¬
ſchaftlich in Chur zurück zu halten. Kann er doch nicht
in Perſon ſein Heer nach Frankreich zurückführen!
Schließen wir den Handel? Fuentes gegen den Herzog?
Ihr ſchweigt? . . . . . Das gilt wohl bei Euch, wie
bei gemalten Heiligen und ſchönen Frauen, als Ja.“
Jenatſch hatte ihn mit wortloſer, zorniger Verach¬
tung angehört: „Hebet Euch von dannen, Rudolf
Planta,“ ſagte er jetzt mit gedämpfter aber heftiger
Stimme, „noch ſeid Ihr in Bünden vervehmt, und wer
Euch hier betrifft, hat das Recht Euch niederzuſtoßen.
Serbelloni weiß, daß ich mit Leuten Eures Schlages
nicht unterhandle. Er kennt meine Bedingungen, von
denen ich nicht um die Breite einer Degenklinge ab¬
weiche. Ich bin mit Spanien in Unterhandlung ge¬
treten, um die Freiheit und Würde meines Heimat¬
landes zu ſichern; Ihr aber habt Euch darum nie ge¬
kümmert, ſonſt würdet Ihr mir eine ſolche Niedertracht
nicht zumuthen. Serbelloni weiß nicht darum — das
ſchlägt in Euer Fach und iſt ein Geſchäft zu Eurem
Vortheile. Iſt es doch nicht das erſte Mal, daß Ihr
22*[340] edles Blut verkauft und ſchnöden, feigen, ſchmachvollen
Menſchenhandel treibt! — Schande über Euch!“
Planta lachte höhniſch auf: „Ei, ei, edler Herr,
Ihr ſeid den ſpaniſchen Goldſtücken auch nicht abhold . . . .
Wie wäret Ihr ſonſt zu Reichthum und Ehren gekom¬
men, während ich von allen meinen angeſtammten Gü¬
tern und feſten Sitzen in Bünden durch einen gewiſſen
demokratiſchen Pfarrer, den Ihr wohl jetzt nicht mehr
leiden mögt, und durch ſeine Pöbelhaufen verjagt wurde,
und — Gott ſei's geklagt — noch immer verſchuldet,
ein armer fahrender Ritter bin. — Doch keinen Groll!
Wir eſſen jetzt das Brot desſelben Herrn. Ich weiß
wie große Summen an Euch verſandt wurden — Ihr
dürft nicht ſcheel ſehen, daß auch ich ein einträgliches
Geſchäft mir ausgedacht habe.“
„O Schmach,“ brach Jenatſch los, „von einem
ſolchen Schurken zu Seinesgleichen gezählt zu werden.
War es nicht billig, daß Spanien den Sold vergüte,
um den Frankreich unſere Truppen betrog!“
„Der Ducatenſegen iſt durch Euere Finger ge¬
ſtrömt,“ ſpottete Planta, „wie ſollte er ſie beim Durch¬
rinnen nicht vergoldet haben!“ . . .
„Zieh, Bube, damit ich Dich nicht ermorde!“ rief
Jenatſch bebend und riß den Degen aus der Scheide.
[341]
Der Andere aber hatte ſich ſchon während ſeiner
letzten Rede an die Ecke der Seitenſtraße zurückgezogen.
„Ich werde Eure guten Geſinnungen in Mailand zu
rühmen wiſſen!“ kicherte er noch aus dem Schatten der
Häuſer hervor und war verſchwunden.
Zehntes Kapitel.
Kaum erglühten die Thurmſpitzen von Chur im
erſten Morgengolde eines wolkenloſen Maitages, als es
ſchon vor den Stadtmauern und in der langen Gaſſe,
die vom Sprecherſchen Hauſe zum Nordthore führte,
lebendig wurde. Franzöſiſche Offiziere ſprengten hin
und her, aus der Stadt nach dem Lager, deſſen Zelte
ſchon abgebrochen waren, und von den marſchfertigen
Truppen zurück zum Herzog, um ihn als ein glän¬
zendes Gefolge zu umringen und in ihm die franzöſi¬
ſche Ehre, die, wie es ihnen ſchien, in dieſem Lande
Schaden gelitten, mit ihren kriegeriſchen Geſtalten zu
decken.
In der Straße, die Rohan durchreiten ſollte, ſtan¬
den die Churer barhaupt in zwei gedrängten Reihen
längs der Häuſer, und alle Fenſter bis zu den Dach¬
[343] luken hinauf waren mit neugierigen Köpfen gefüllt.
Alles Volk wollte den guten Herzog noch einmal ſehen
und begleitete ihn mit Wünſchen und aufrichtigen
Thränen.
Als er an der Spitze ſeines ſtolzen Zuges lang¬
ſam dem Thore ſich näherte, fand er einen löblichen
Rath und die Geiſtlichkeit der Stadt zu ſeiner Rechten
aufgeſtellt. Die Herren hatten ſich in vollem Ornat
jeder nach ſeinem Rang auf den Stufen einer breiten
Freitreppe vertheilt, die zu der Pforte eines patriziſchen
Hauſes führte. Beide Thürflügel ſtanden weit offen
und im Flur wurden in ſchwarze Seide gekleidete
Frauengeſtalten ſichtbar, die Gattinnen und Töchter der
Würdenträger, welchen ihre Stellung erlaubte, über die
Häupter der Stadt hinweg dem Herzog, den ſie mit
Schmerzen ſcheiden ſahen, einen letzten Gruß zuzuwinken.
Ihr Zartgefühl hatte ihnen verboten, ſich wie bei einem
luſtvollen Schauſpiele auf dem Balkon und in den Fen¬
ſtern zu zeigen.
In der Mitte der Rathsherren fiel der Amts¬
bürgermeiſter Meyer als wahrhaft impoſante Erſchei¬
nung ins Auge. Nie hatte eine bürgermeiſterliche Kette
mit ihrer großen runden Schaumünze bequemer gelegen
und ſelbſtzufriedener geleuchtet, als die auf ſeiner brei¬
ten Bruſt ruhende; nie hatten ein ſeidener Strumpf
[344] und ein Roſettenſchuh knapper und ſchöner geſeſſen als
heute an ſeinem wohlgebildeten, feierlich vorgeſetzten
Bein. Bei näherer Betrachtung jedoch verrieth die
Befangenheit ſeines gewöhnlich geſunden und ruhigen
Geſichts und der bängliche Ausdruck ſeiner irrenden
Augenſterne einen geheimen Widerſpruch mit der magi¬
ſtralen Sicherheit ſeiner vollkommenen Haltung.
Der Gruppe der Standeshäupter gegenüber, wo
ſich die Ausmündung einer innerhalb der Stadtmauer
laufenden Nebengaſſe zu einem kleinen viereckigen Platze
erweiterte, hatten ſich, als Repräſentanten der heimiſchen
Waffen, die vornehmſten Bündneroffiziere verſammelt
und warteten zu Pferde, um ſich dem Gefolge des Her¬
zogs anzuſchließen und ihm das Ehrengeleit bis zur
Grenze zu geben. Im Gegenſatze zu der gedrückten
Stimmung auf der andern Seite der Gaſſe unter den
Söhnen der Themis herrſchte hier unter den Kindern
des Mars eine friſche und beherzte, der ſie ſich unbe¬
fangen überließen, da ſie ſahen, daß der bündne¬
riſche Dictator zur Verabſchiedung ſeines Opfers nicht
erſcheine.
Jetzt erreichte Herzog Rohan den Platz vor der
Freitreppe. Huldvoll hielt er ſeinen ſchlanken Gold¬
fuchs an, denn er ſah, wie der Amtsbürgermeiſter einen
goldenen Pokal erhob, den eben ein ergrauter Raths¬
[345] herr an ſeiner Seite aus einer ſilbernen Kanne gefüllt
hatte. Meyer trat entſchloſſen vor und bat den Herzog
in gerührten Worten, den ſeiner Erlaucht von der
Stadt Chur mit Dankſagung und Segenswunſch ange¬
botenen Abſchiedstrunk nicht zu verſchmähen. Während
Rohan ſich die Lippen netzte, ſammelte der Bürger¬
meiſter ſeinen Geiſt zu einer wohlgeſetzten franzöſiſchen
Rede, auf die er ſich ſorgfältig vorbereitet hatte.
Bürgermeiſter Meyer war kein Redner. Im Rath
und in der Gemeinde war es ihm ein Leichtes, ſeine
Gedanken ſchlicht und zweckdienlich auszudrücken und zu
einem bündigen Schluſſe zu gelangen. Aber es war ihm
nicht gegeben, zwieſpältige Gefühle und zweideutige Ge¬
danken unter zierlichen Blumen der Beredſamkeit zu
verbergen.
Er hatte damit begonnen, des Herzogs ruhmreiche
Tapferkeit und ſeine erhabene ſtaatsmänniſche Weisheit
zu preiſen, die beide zu Bündens Rettung wie zwei
geflügelte Genien herbeigeeilt ſeien. Dann warf er
einen Blick in den Abgrund, aus welchem der Herzog
das bündneriſche Volk gezogen habe. Jetzt kam eine
dunkle Stelle, in der von ſich überſtürzenden Ereigniſſen,
ſeltſamen himmliſchen Conjuncturen und dem großen
Herzen Ludwigs XIII die Rede war. — Hier wurde
Herr Meyer warm, überſprang unverſehens die logiſchen
[346] Hinderniſſe und behauptete gerührt, die Zurückgabe des
Veltlins an die Bündner durch Spanien-Oeſter¬
reich ſei und bleibe das Verdienſt des Herzogs Rohan.
Er ſei, nächſt dem gütigen Gott, ihr alleiniger Helfer
und Retter geweſen.
„Des Landes Dankbarkeit gegen Euch wäre nicht
genugſam ausgedrückt, edelſter Herr,“ rief er aus, „wenn
wir Euch ſo viele Ehrenſäulen errichteten, als Bünden
Felſen und Berge beſitzt! Und wenn jeder unſerer Berge
eine Statua wäre . . . .“ hier ſtockte der Redner und
erſtarrte ſelbſt zum Steinbild.
Ein verſpäteter Reiter war durch die Nebengaſſe
herangeeilt und auf dem kleinen Platze, dem Bürger¬
meiſter gegenüber, mitten unter die Bündneroffiziere
hineingeſprengt. Die Oberſten wichen auf ihren ſtam¬
pfenden Thieren beſtürzt nach beiden Seiten zurück.
Auf das Kommen von Georg Jenatſch hatte Keiner ge¬
rechnet. Und da war er! Auf ſeinem ſchäumenden
Rappen in der Mitte des leeren Raumes, von Allen
gemieden!
Zugleich bäumte ſich das Pferd des dicht hinter
dem Herzog haltenden Lecques, der einen wüthenden
Blick nach Jenatſch hinüberſchoß. Des Herzogs Augen
ruhten mit höflicher Aufmerkſamkeit auf dem Bürger¬
meiſter, aber dieſem, der den verrathbefleckten Befreier
[347] Bündens als eine grelle und unſchickliche Verdeutlichung
ſeiner Rede gerade vor Augen ſah und dem die dro¬
hende Haltung des Herrn von Lecques nicht entgangen
war, entglitt der Faden ſeiner Rede. Seine angſtvollen
Blicke begannen mehr als gewöhnlich zu ſchielen und
er fuhr unſicher fort: „Und wenn in Bünden jeder
Berg eine Statua . . . . . . . und jede Statua ein
Berg wäre“ . . . . . . .
„Laßt es gut ſein, lieber Bürgermeiſter!“ ſchnitt
der Herzog freundlich ab und, ſich auf die andere Seite
zu den Bündneroffizieren wendend, ſagte er mit ruhigem
Befehl: „Ich verzichte auf das Geleit der Herren.
Es wird der Schicklichkeit Genüge geſchehen, wenn Einer
von ihnen unſerm Ueberſchreiten der Grenze beiwohnt.
Ich bitte mir die Geſellſchaft des Grafen Travers aus.“
Der ſtille junge Mann mit dem braunen ſcharf¬
geſchnittenen Kopfe lenkte ſofort mit dankendem Gruße
ſein Thier zur Linken des Herzogs.
„Gott ſchütze Euch und Eure gute Stadt, werthe
Herren!“ rief dieſer, griff leicht an ſeinen Hut und
ſprengte durch das Thor in die lenzduftige Landſchaft
hinaus.
Der alte Lecques war auffallender Weiſe einer
der Letzten zurückgeblieben. Jetzt riß er ſein Pferd
herum, ritt Georg Jenatſch einige Schritte entgegen,
[348] zog ein Piſtol und ſchrie ihn an: „So ſcheidet Lecques
von einem Verräther!“
Er drückte los, der Hahn ſchlug nieder, ein Pul¬
verblick flammte auf der Zündpfanne, doch der Schuß
verſagte.
Elftes Kapitel.
Während die Ereigniſſe des Frühjahrs die Stadt
Chur und das ganze Land in aufgeregte Spannung
verſetzten, blieb Lucretia Planta von denſelben ſcheinbar
unberührt. Sie hauſte allein auf ihrem feſten Sitze
Riedberg, der, an eine ſonnige Halde fernab von der
Heerſtraße ſich lehnend, inmitten ſeiner blühenden Wieſen
und wohlgepflegten Felder und Baumgärten ein Bild
ländlichen Friedens darſtellte.
Von ganzer Seele fürchteten und hofften und
freuten ſich dagegen mit dem Lande die Frauen von
Cazis. Sie hatten, als das Aufgebot des Jürg
Jenatſch erſcholl, zum Sturm gegen die gottloſen Fran¬
zoſen alle Kloſterleute bis auf das letzte Knechtlein
geſtellt. Als fröhliche Geberinnen leerten ſie ihren
kleinen Weinkeller, um die vor die Rheinſchanze und
wieder heimwärts ziehenden Landſtürmer zu tränken.
[350] Hallebarde und Morgenſtern ruhten an den friedlichen
Kreuzen des Nonnenkirchhofs. Alt und Jung ſchaarte
ſich längs der Kloſtermauer und die frommen Schweſtern
eilten leichtfüßig auf und nieder, in kleinen hölzernen
Schalen ihren Moſt und Wein bis auf den letzten
Tropfen ausſchenkend.
Niemand aber ahnte in dem durch den Abzug der
Franzoſen mit hellem Jubel erfüllten Domleſchg, wel¬
chen Antheil Fräulein Lucretia an den geheimen Ver¬
handlungen genommen, die den Handſtreich in Chur
möglich gemacht hatten. Nicht einmal die Frauen in
Cazis, obſchon ſie den Verkehr mit dem Fräulein nach
dem Wunſche ihres Beichtigers immer eifriger und zu¬
thunlicher pflogen. Nicht daß Pancraz den eigenſüch¬
tigen Gedanken in ihnen genährt hätte, die Letzte der
Planta von Riedberg unwiderruflich in den Ring des
Kloſters zu ziehen. Sie verkehrten mit Lucretia, der
Weisheit des Paters vertrauend, ohne ſie mit Fragen
oder mit Bitten zu beſtürmen, die auf ihre Zukunft
und die Hoffnungen des Kloſters Bezug hatten, ſchon
aus geſelliger Neigung und natürlicher Gutherzigkeit.
— Das Fräulein hätte ſie gedauert, wenn es von den
merkwürdigen Dingen, die ſich im Lande zutrugen und
die ſie ſelbſt auf den verſchiedenſten Wegen erfuhren,
nicht ungeſäumt unterrichtet worden wäre.
[351]
Freilich wäre es der Schweſter Perpetua gegen
die Natur gegangen, ſich nicht mindeſtens bei Lucas
über die letzte lange Abweſenheit des Fräuleins jenſeits
der Berge einiges Licht zu verſchaffen, hätte ſie nicht
aus der allerbeſten Quelle, einem Briefe des Paters
Pancratius ſelber, ſchon im Winter erfahren, daß un¬
angenehme Erb- und Familienangelegenheiten, über die
man beſſer nicht mit ihr ſpreche, die Gegenwart Lucretias
in Mailand nothwendig machten.
Lucretias Fahrt nach Mailand im vergangenen
Jahre war ihr ſchwer geworden, aber ſie hatte das von
Jenatſch ihr vorgehaltene Ziel ſtandhaft verfolgt und
durch die Feſtigkeit ihres Willens auch erreicht. Nicht
die Mühſale des zweimaligen Ueberſchreitens der im
Winter gefährlichen Bergpäſſe hatten ihren Muth auf
die größte Probe geſtellt; dieſe Schreckniſſe hatte die
kräftige Frau, geleitet von dem treuen wetterharten
Lucas und einem ſeiner berggewohnten Söhne, ohne
Zagen und Ermüdung überwunden. Anders aber war
es, als ſie, von dem geſchäftigen Pancraz in Mailand
empfangen und bei Serbelloni eingeführt, ſich dem
klugen und zähen Staatsmanne gegenüber befand und
fühlte, daß ſie ſich auf ein ihr fremdes Gebiet verirrt,
[352] in bisher noch nicht von ihr erwogene Fragen ſich ver¬
wickelt habe.
Ihre Stellung als Bevollmächtigte des bündne¬
riſchen Kriegsoberſten war eine höchſt eigenthümliche und
mußte in den Augen Aller der Verhältniſſe Unkundigen
als eine zweideutige erſcheinen. Serbelloni, der ſie
kannte und wußte, daß der Mörder ihres Vaters ein
Gegenſtand des Haſſes für ſie war, verfiel nicht in
dieſen Irrthum und fand es begreiflich, daß ſie die
politiſchen Ziele ihres Vaters und ihres Oheims mit
Aufbietung aller ihrer Kräfte verfolge; aber er gerieth
in einen andern.
Er glaubte, ſie ſei von Anfang an mit den Um¬
trieben der Bündnerflüchtlinge von der ſpaniſchen Partei
vertraut geweſen, und wollte mit ihr als mit einer
in das ganze Gewebe der ſich kreuzenden Intereſſen
Eingeweihten verkehren. Er brachte die Unſchuldige
mit ihrem Alles um ſich her durch den Hauch ſeiner
Schlechtigkeit befleckenden und vergiftenden Vetter in
unverdiente Beziehung politiſchen Einverſtändniſſes; er
verwirrte ſie, ohne ſie verletzen zu wollen, mit Mit¬
theilungen über den Lohn und Anſpielungen auf die
Ehren, welche er den in der angeknüpften Intrigue erfolg¬
reich Handelnden zudachte, er wies auf die glänzenden
Ausſichten hin, die das Gelingen vor ihnen öffnete,
[353] und er ahnte nicht, daß dabei eine ſteigende Verachtung
der niedern Schliche und geheimen Mittel der Politik
ſich Lucretias bemächtigte.
Auch Georg Jenatſch erſchien ihr in einem an¬
dern Lichte; ihr Vertrauen auf ſeine reine Vaterlands¬
liebe wurde von dem allgemeinen Ekel, den ſie empfand,
angefreſſen und ihr Glaube an die Einheit ſeines
Weſens erſchüttert, ohne daß ſie augenblicklich ſich ganz
bewußt wurde, wie durch dieſe Zweifel ihr Verhältniß
zu ihm ſich innerlich trübe.
Was ſie aufrecht hielt, war ihre Treue an ſich
ſelbſt. Sie hatte verſprochen, von den ihr übergebenen
fünf Bedingungen in keiner Weiſe abzuweichen und
ſich keinen Punkt davon abmarkten zu laſſen. Dabei
blieb ſie unerſchütterlich. Das Andenken ihres Vaters
verließ ſie niemals. Sie ſtärkte ſich in Momenten der
Erſchöpfung an ſeinem geiſtigen Anblicke und je aus¬
ſchließender ſie in der Erinnerung mit ihm verkehrte,
deſto lebendiger ward ſie ſich bewußt, daß ſie in ſeinem
Geiſte handle, wenn ſie zum Abſchluſſe des von Jenatſch
entworfenen Vertrages mitwirke.
Nachdem ſie als williges und treues Werkzeug
ihre Aufgabe erfüllt und mit den von Spanien ge¬
währten und unterzeichneten Bedingungen das Gebirge
wieder überſchritten hatte, kehrte ſie in die Stille von
Meyer, Georg Jenatſch. 23[354] Riedberg zurück und wartete dort, bis ihr die Schriften,
die ſie verwahrte, — durch die Vermittlung des Kloſters
Cazis, vermuthete ſie — abverlangt würden.
So war der März gekommen. Da erſchien eines
Abends bei einbrechender Nacht Jenatſch ſelbſt wieder
auf Riedberg. Ein Brief des Paters Pancraz hatte
ihm aus Mailand gemeldet, daß Lucretia abgereiſt ſei
und die ihr gewährten ſpaniſchen Vollmachten auf ihrem
Schloſſe bewahre und hüte. Nun kam er, um die von
Serbelloni unterzeichneten Papiere aus ihrer Hand zu
empfangen.
Als er eintrat, pochte Lucretias Herz mit ſchweren
Schlägen, aber vor jähem Schrecken mehr als vor
Freude.
Noch einmal war eine Verwandlung mit ihm vor¬
gegangen ! Was heute aus ſeinen Augen blitzte war
nicht mehr der jugendliche Uebermuth von früher, war
nicht die vor keinem Hinderniſſe zurückweichende Sicher¬
heit, mit welcher er, ſeit ſie ihn wieder kannte, ihr
entgegen getreten, es war etwas Maßloſes in ſeinem
Weſen, eine gereizte Gewaltſamkeit in ſeiner Stimme
und Haltung, als hätte eine übermenſchliche Kraft¬
[355] anſtrengung ihn aus dem Geleiſe und über die letzten
ſeiner Natur geſetzten Markſteine hinausgeworfen.
Eine wilde Freude flammte über ſein Antlitz, als
er endlich die Schriften hielt und durchflog. Er wollte
in ſeinem Triumphe die Kniee ſeiner Botin umfaſſen;
aber Lucretia trat ſtolz und zitternd zurück.
Da ſtreckte er die Hand gen Himmel und rief in
herausforderndem Jubel: „Ich ſchwöre es, Lucretia,
wenn das gelingt, ſoll mir fortan Nichts unmöglich
ſein! . . . Müßt' ich auch das Blut Deines Vaters
durchſchreiten — müßt' ich dem Racheengel das Schwert
aus den Händen reißen, um Dich zu beſitzen, Du längſt
— Du immer Begehrte!“
Da ergriff Lucretia ſeine Hand und trat mit ihm
durch eine ſchmale Pforte in einen gewölbten Neben¬
raum, ein enges Gelaß, deſſen Rückwand durch einen
ungebrauchten alterthümlichen Kamin ganz gefüllt und
durch ein grob darauf gezeichnetes Kreuz verunziert war.
„Auf Niedberg wird keine Hochzeit gefeiert!“ ſagte
ſie und flüchtete ſich dann, das Antlitz mit den Händen
bedeckend, in ihr innerſtes Gemach.
Als wenige Wochen ſpäter der Verrath an Herzog
Rohan und die Befreiung Bündens eine Thatſache
wurde, von der das ganze Land erſcholl, beſchlich
Lucretia in ihrer Einſamkeit das bange Gefühl, als
23*[356] ſei ſie durch ihre verborgene Mithilfe mit Georg Jenatſch
auf immer und ewig verbunden, theilhaftig ſeiner retten¬
den That, theilhaftig auch ſeiner Schuld. Unauflöslich
war ſie mit ihm vereinigt im Augenblicke, da ihr Herz
vor ihm zu erſchrecken begann und ſie, um in ihrem
Gemüthe eine Schutzwehr gegen ihn aufzurichten, ſich
täglich zurückrief, daß die Pflicht ihres Lebens noch
nicht erfüllt und der Geiſt ihres Vaters durch die ihm
gebührende Blutſühne noch nicht geehrt ſei.
Zu Ende Mai nach dem Abzuge des Herzogs aus
Bünden wurde Lucretia durch einen flüchtigen Beſuch
ihres verabſcheuten Vetters beunruhigt. Er deutete ihr
an, er müſſe ſchleunig nach Mailand zurückkehren.
Dort befinde ſich Jenatſch und verhandle perſönlich
mit Serbelloni die letzten endgültigen Beſtimmungen
über die Stellung Bündens zu Spanien. Durch ſeinen
charakterloſen Parteiwechſel und ſeine trügeriſche Be¬
redſamkeit gewinne der Oberſt auf den Gubernatore
einen verhängnißvollen Einfluß, welcher die Intereſſen
der alten ſpaniſchen Partei in Bünden gefährde und
ihn ſelbſt der Früchte ſeiner langjährigen Treue an
Spanien beraube. Rudolf fügte bei, es ſei die höchſte
Zeit, daß er ſein Heimatsrecht und ſeine Stellung im
Lande wieder gewinne. Das hoffe er bei den Verhand¬
lungen in Mailand durchzuſetzen. Er wäre der Ver¬
[357] wendung Serbellonis zu ſeinen Gunſten gewiß, wenn
ihm Lucretia, welcher der Gubernatore von früher her
huldvoll gewogen ſei, ihre Hand reiche, und er durch
die Verbindung mit ihr das berühmte Geſchlecht der
Planta zu Riedberg wieder emporbringe. Er wiſſe
wohl, meinte Rudolf, an welche Bedingung Lucretia
ihr Jawort knüpfe, — an die Vollziehung ihrer Blut¬
rache an Jenatſch — und dieſe Bedingung werde er
erfüllen, was ihm jetzt leichter ſei als früher, da ſich
die Feinde des Oberſten aus den verſchiedenſten Grün¬
den gemehrt hätten und noch täglich ſich mehrten. Zu¬
erſt aber müſſe dieſer den Vertrag mit Spanien end¬
gültig abgeſchloſſen haben, denn Jenatſch allein ſei es
im Stande. — So zog er über das Gebirge.
Der Eindruck ſeiner Gegenwart war für Lucretia
ein häßlicher und beunruhigender geweſen. Doch achtete
ſie Rudolfs Perſönlichkeit zu gering, als daß ſeine Pläne
ſie ernſtlich erſchreckt oder nur beſchäftigt hätten. Das
Begegniß haftete nicht lange in ihrem Gemüthe, denn
ihre Seele war von andern bangen Zweifeln bewegt.
Der Wald röthete ſich an den Halden und die
geleerten Fruchtbäume verſtreuten leiſe ihre goldenen
Blätter, als in den letzten ſonnigen Tagen der hart
[358] entbehrte Beichtiger der Frauen von Cazis nach langem
Fernſein aus Mailand wieder ins Domleſchg zurück¬
kehrte. Pater Pancraz hatte die Herſtellung ſeines
Kloſters in Almens, für die er ſich bei den Vertrags¬
verhandlungen in Mailand verwendete, nicht erlangt;
aber er brachte andere wunderſame und hocherfreuliche
Nachrichten. Schon am Abende nach ſeiner Ankunft be¬
gab er ſich nach Riedberg und begehrte eine Unter¬
redung mit dem Fräulein, dem er mit freudeglänzenden
Augen erzählte, ſeine Excellenz der Herr General
Jenatſch, der frühere Todfeind ihrer gut katholiſchen
Familie, ſei vor einem Monate, nachdem er die General¬
beichte ſeiner Sünden abgelegt und vollſtändige Abſo¬
lution erhalten, in den mütterlichen Schooß der allein
ſeligmachenden Kirche zurückgekehrt.
Bei dieſem Berichte ſchaute er das Fräulein trium¬
phirend an. Er ſchien ihr Schickſal mit dieſem erfreu¬
lichen Ereigniſſe in Zuſammenhang zu bringen und an¬
zunehmen, mit allen übrigen Freveln und Sünden ſei
durch dieſen großen Akt der Buße auch der Tod ihres
Vaters vom Gewiſſen des Mörders abgewaſchen und
vor Gott und Menſchen geſühnt. Sie aber erbleichte,
und als er einer Antwort der Schweigenden mit ſchlauen
erwartungsvollen Blicken entgegenſah, ſagte ſie endlich,
ſich faſſend: „Das iſt ein ſo unerhörtes Wunder der
[359] göttlichen Gnade, daß ich ihr dafür nur auf eine Weiſe
meinen Dank zu bezeugen weiß, — wenn ich bei den
Frauen in Cazis den Schleier nehme.“ — Eine Ant¬
wort, welche die langgeſchulte Menſchenkenntniß des
Paters zu Schanden machte. Er hatte es ſich leichter
gedacht, das, wie er wohl wußte, ſeit Jahren an Je¬
natſch hangende Gemüth Lucretias von einer alten
Rachepflicht zu befreien, die dem praktiſchen Manne,
wenn er ſie auch nicht gerade verwarf und der ehr¬
würdigen Landesſitte gemäß achtete, doch, beſonders in
dieſem Falle, mit der chriſtlichen Liebe und weltlichen
Klugheit unvereinbar erſchien.
Lucretia war über die Mittheilung des Paters er¬
ſchrocken. Daß es Jenatſch mit der Abſchwörung ſeines
proteſtantiſchen Glaubens ein Ernſt ſei, das, wußte ſie, war
unmöglich. Es kam ihr vor, als habe er damit ſeine erſte,
innerſte Ueberzeugung verleugnet, als ſei er ſich nun
ganz untreu geworden und habe ſein Selbſt vernichtet.
Und was hatte ihn dazu vermocht? Konnte er dieſe
unlautere That mit ſeiner Liebe zu Bünden entſchul¬
digen und wie ſeine Untreue an Herzog Rohan als
eine Nothwendigkeit ſeines Schickſals darſtellen?
Was immer ihn dazu getrieben, es konnten nur
Rückſichten und Berechnungen ſein, denen der Jürg
von ehedem unzugänglich geweſen wäre.
[360] Immerhin war eine Schranke zwiſchen ihm und
ihr, deren ſich ihr ſchwaches Herz zuletzt noch getröſtet
hatte, damit gefallen.
Hoher Schnee bedeckte das ſtille Thal und laſtete
auf Dach und Thurm des Schloſſes Riedberg. Da
verlautete gegen Ende Jenner, der feſte Friede mit
Spanien-Oeſterreich, der Bündens alte Grenzen und
Freiheiten herſtelle, ſei endlich abgeſchloſſen, dank der
Alles berechnenden Klugheit und eiſernen Beharrlichkeit
des größten Mannes, den das Land je beſeſſen. Es
wurde bekannt gemacht, Bündens Geſandter, Georg
Jenatſch, werde in den nächſten Tagen in Chur ein¬
ziehen und das mit den Bändern und Riegeln vor¬
ſichtiger Klauſeln gegen jede Anfechtung gewahrte und
mit den kaiſerlichen und königlichen Unterſchriften und
Sigillen bekräftigte Dokument in feierlicher Sitzung
den Räthen von Bünden überreichen.
Zwölftes Kapitel.
Seit einigen Tagen war Thauwetter eingetreten.
Der Föhn brauſte durch die Schluchten der Viamala
und ſtöhnte und pfiff um die alten Mauern von Ried¬
berg. Die Luft war lau, als wollte der Frühling vor¬
zeitig ins Land brechen, aber ſchwer drohende Wolken
bedeckten den Himmel und unheimlich klang in der
Nacht das Rieſeln des ſchmelzenden Schnee's und das
Brauſen der übermächtigen, durch das ſternloſe Dunkel
eilenden Bäche.
Lucretia ſtand am Fenſter und ihr Blick bemühte
ſich, die Nebel zu durchdringen, die längs der Falten
des Heinzenberges krochen und über das jenſeitige
Rheinufer und die Heerſtraße wie graue Schleier herab¬
hingen. Es bewegte ſich darin ein langer, unterbroche¬
ner Zug, und ferner verwirrter Lärm drang in einzel¬
nen Tönen zu ihr herüber. Sprengende Reitergruppen
[362] ließen ſich errathen und leiſes Schellengeklingel der
Laſtthiere wurde vom Winde herübergeweht.
Das konnte nur der als Ueberbringer der Friedens¬
urkunde nach Chur ziehende Jenatſch ſein! Doch immer
und immer bewegte es ſich von Neuem in den Nebeln
und jetzt ſchien ein Theil des zurückgebliebenen Troſſes,
da wo die Straße nach Riedberg ſich abzweigt, vom
Zuge ſich zu trennen und die Richtung nach dem
Schloſſe einzuſchlagen.
Sollte er es wagen, Lucretia auf ſeinen Triumph¬
zug, der Welt zum Schauſpiel, abzuholen, ſie mitführen
zu wollen als ſeine ſchwierigſte Beute!
Doch nein, — er war voraus. Sie hatte durch
eine Lücke der Nebelwolken ſeinen glänzend geſchirrten
Rappen vorüberblitzen ſehn, und ihr war vorgekommen,
das Tanzen des Pferdes und eine Handbewegung des
Reiters könnte einen Gruß für ſie bedeuten.
Der Nebelſtaub verwandelte ſich unterdeſſen in
Regen; die Pferde auf der Riedbergerſtraße aber tauch¬
ten jetzt bei einer Wendung ganz nahe zwiſchen den
feuchten Wieſen auf. Es war des Fräuleins Vetter
Rudolf, diesmal mit einem für ſeine bedrängten Umſtände
zahlreichen Geleite berittener Knechte, der ſein Gaſtrecht
im feſten Hauſe ſeines Ohms geltend machte. Die meiſten
ſeiner Leute zeigten ein verdächtiges und unſauberes Aus¬
[363] ſehen. Er mochte ſie, nach ihrer Statur und Bewaffnung
zu urtheilen, in den nach Süden abfallenden Thälern
Graubündens geworben haben. Nur Einen in der Rotte
ſicherlich nicht. Es war ein wahrer Rieſe, derb von
Gliedern und roth von Geſichtsfarbe, in dem Lucretia
einen wegen ſeiner ſprichwörtlichen Körperſtärke weithin
gefürchteten Raufbold, den Wirthsſohn von Splügen,
erkannte. Er hatte ſich gegen den Regen eine Bären¬
haut wie einen Haubenmantel übergehängt und blickte
unter der Schnauze und den Ohren des erlegten Un¬
gethüms wie ein thieriſcher Waldmenſch hervor.
Lucretia ließ das wilde Geſinde, das ſeine Ankunft
mit Musketenſchüſſen kund that, durch ihren Kaſtellan
in einem Nebengebäude unterbringen und bewirthen.
Den unwillkommenen Vetter empfing ſie erſt am Abend¬
tiſche, an welchem ihre Dienerſchaft theilzunehmen pflegte
und Lucas das Amt des Hausmeiſters verſah.
Nachdem die Tiſchgenoſſen ſich entfernt hatten,
begehrte Rudolf eine Unterredung mit ſeiner Baſe und
blieb ungebeten im Gemache zurück, wo Lucas auf
einen Wink des Fräuleins das Abräumen des Tafel¬
geräthes nur langſam und zögernd beſorgte. Die Ge¬
genwart des alten Knechtes hielt ihn nicht ab, vor ſie
hinzutreten und ihr mit leiſer Stimme Drohungen zu¬
zuflüſtern. Er warf ihr ins Geſicht, daß er wohl wiſſe,
[364] wer für den neuen Despoten Bündens, der morgen in Chur
ſeinen prunkenden Einzug halten werde, in Mailand die
erſten Botendienſte gethan. „Der Verſchwender iſt mir
mit ſeinem fürſtlichen Gefolge und ſeinen koſtbaren Berber¬
hengſten über den ganzen Berg auf den Ferſen gewe¬
ſen“, ſagte er neidiſch. „In Splügen mußte ich ihm
die Straße frei geben, wenn ich nicht immerfort ſeine
Knaben hinter mir über die Armuth des Planta wollte
ſpotten hören!“
Lucretia gab den Zweck ihrer Reiſe nach Mailand
ruhig und ſtolz zu.
Da warf der Freche jede Scheu von ſich und be¬
zichtigte ſie vertraulicher Abhängigkeit von dem Oberſten.
„Es iſt Zeit mit ihm ein Ende zu machen,“ ſchrie er
ihr zu. „An Betrogenen und Beſchimpften, die, wie
ich, nach dieſem gemeinen Blute dürſten, iſt heute Ueber¬
fluß, ſeiner Feinde ſind in Spanien ſo viel wie in
Frankreich!“
„Du aber, Lucretia, haſt die heilige Pflicht der
Rache ſchmählich vergeſſen und biſt Deines Vaters ganz
unwürdig geworden! — Weg mit ihm, lieber heute als
morgen! Der Mörder des Pompejus Planta ſoll ſich
der Gunſt ſeiner Tochter nicht berühmen! Mir fällt es
zu, die Ehre des Hauſes wieder herzuſtellen. Sobald
der Verräther auf dem Rücken liegt, werde ich Dich
[365] als mein Weib heimführen. Ich laſſe die Güter der
Planta nicht von unberechtigten Händen verzetteln.“
Das Fräulein antwortete nicht. Aber Lucas, dem
das Herz vor Ingrimm ſchwoll, als er ſeine Herrin ſo
unwürdig behandelt ſah, trat, die Fäuſte ballend, neben
ſie. Aufrecht und bleich mit geſchloſſenen Lippen ſtand
Lucretia vor ihrem Beleidiger. „O wie gut weißt Du,
daß jedes Deiner Worte eine Lüge iſt,“ ſtöhnte ſie end¬
lich aus gepreßtem Herzen und verließ das Gemach,
Ehe ſie die Thür ihres Thurmzimmers hinter ſich
verſchloß, hatte ſie ein Knechtlein nach Cazis hinüber¬
geſchickt, um den Pater Pancraz auf den Riedberg zu
holen. Aber der Pater war nach Almens berufen wor¬
den, und es war nicht denkbar, daß man ihn von dort
in der ſchlimmen Sturmnacht zurückkehren ließ. Er
werde morgen in der Frühe hinüberkommen, ließ Schwe¬
ſter Perpetua berichten.
Jetzt war Lucretia allein. Sie trat ans Fenſter
und ſchaute in das nächtliche Land hinaus. Der Sturm
ſchwieg, aber kein Stern ſtand am Himmel. Schwere
niedere Dunſtgebilde verdeckten den Mond und ließen
kaum auf ihren zerriſſenen Säumen einen ſchwachen
Wiederſchein ſeines Lichtes ahnen. Ueberall ſchwarze
drückende Maſſen des Gebirgs und der Wolken. Mitter¬
[366] nacht ging vorüber und immer noch ſaß Lucretia am
Thurmfenſter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬
danken dem dumpfen Rauſchen des Rheines zu.
Wie ein rieſenhaftes dunkles Unheil ſtand vor ihr
was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um
ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬
laſſenheit und die Schrecken der Zukunft ſanken in ein
unbeſtimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem
ein einziger, ſtärker und ſtärker ertönender Vorwurf
emporſtieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres
Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache verſäumt.
Konnte ſie nicht jetzt noch von dieſer Laſt ſich be¬
freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬
men, ſie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer
leichtfertig vergeſſenen Kindespflicht anzuklagen? Nein!
Sie war zu ſchwach dazu! — Nein, ſie wollte nicht ſtark
genug ſein.
Ihr allein gehörte das Recht der Rache und ſie
übte es nicht aus; aber ſie erbebte vor Zorn, als ſie
ſich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen
könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das
war ihr auch jetzt, da ſie ihn im höchſten, widerwärtig¬
ſten Wuthaufwande ſeiner feigen Natur geſehn, durch¬
aus unglaublich. Wie ſollte dieſe Viper ihren ſtolzen
Adler erreichen!
[367]
Aber ſie erſchrack vor dem Zwieſpalte ihrer eigenen
Seele, vor ihrer Ohnmacht die alte Rache zu hegen
und vor ihrer verzehrenden Eiferſucht auf jeden, der in
ihr Amt eintreten könnte.
So beſchloß ſie ein Ende zu machen und der Welt
abzuſagen.
Jenſeits der Kloſterſchwelle war ſie ſicher. Sie
verzichtete ja dort auf all' ihren Beſitz, opferte ihre ſtolze,
immer bekämpfte Liebe, verzichtete auf die zu lange wie
ein Heiligthum bewahrte Rache. — Jenſeits der Kloſter¬
ſchwelle konnte weder Jürgs frevelhafte Werbung, noch
Rudolfs ekler Eigennutz ſie mehr erreichen.
Im Schloſſe war es ruhig geworden. In den
Dörfern brannte kein Licht; nur von Cazis drang ein
matter Schimmer über den Rhein. Er kam aus der
Kloſterkirche, wo die Schweſtern ſchon Frühmette ſangen.
Dort war ihre Friedensſtatt offen und ſie zögerte nicht
länger an der Pforte. Sie goß Oel in ihre Lampe,
die erlöſchen wollte, und begann ihre Papiere zu ordnen.
Sie ſtellte über alle ihre Güter Schenkungsurkunden
aus zu Gunſten der Schweſtern in Cazis und gedachte,
in ihrem Gemache eingeſchloſſen zu bleiben bis zur
Ankunft des Paters Pancraz. Nachdem Alles vollendet
war, legte ſie ſich angekleidet noch kurze Zeit zur
Ruhe.
[368]
Gegen Morgen erhob ſich der Föhn von neuem
mit heulender Wuth, wie er nach der oft wiederholten
Erzählung des alten Knechtes in jener Nacht getobt,
als ihr Vater erſchlagen wurde. Sie fiel in einen
unruhigen Schlummer, aus welchem ſie, von den Ge¬
räuſchen des Sturmes geweckt, immer wieder emporfuhr.
Ein Traum führte ſie in die Todesſtunde ihres
Vaters. Sie ſah ihn — groß und blutig lag er hin¬
geſtreckt und jammernd wollte ſie ſich über ihn werfen
— aber die Leiche verſchwand, ſie ſtand allein und
hielt das geröthete Beil in der Hand, während ſie die
Roſſe der Mörder mit ſtampfenden Hufen enteilen
hörte. Ein neuer Windſtoß rüttelte am Thurme und
ließ die Fenſterſcheiben des Gemaches in ihrer Blei¬
faſſung erklirren. Lucretia erwachte.
Im Hofe hörte ſie Pferdegetrappel und das Knarren
des ſich öffnenden Thors. Sie eilte ans Fenſter und
ſah in der ſtürmiſchen Morgendämmerung zwei Pferde
wegtraben. Das eine war der Schimmel ihres Vetters.
Erſtaunt ließ ſie Lucas rufen. Er war nicht mehr auf
dem Schloſſe, ſondern mit Herrn Rudolf nach Chur
verritten, deſſen Gefolge, wie ihr geſagt wurde, Befehl
erhalten hatte, ſpäter aufzubrechen, um zur Mittags¬
zeit mit dem Herrn in der Schenke zum ſtaubigen
Hüttlein bei Chur zuſammenzutreffen.
[369]
Daß der treue Lucas nach dem Auftritte von geſtern
mit Rudolf Planta weggeritten, daß er ſie ohne Urlaub
verlaſſen, was er noch nie gethan, das war Lucretia
unbegreiflich und erfüllte ſie mit ſchlimmen Ahnungen.
Sie betrat die Kammer des Alten und öffnete eine
hölzerne Truhe, worin er mit eigenſinniger Verehrung
das Beil aufbewahrte, das ihren Vater erſchlagen hatte
und das ſie zum ſchmerzlichen Aerger des greiſen
Knechtes nie hatte ſehen wollen. Die Truhe war leer.
Lucretia erbleichte. Die mit dem Blute ihres Vaters
benetzte Waffe alſo war ihr entriſſen; die ihr allein
zuſtehende Rache ſollte heute ſchon von den Händen
eines Feiglings oder von denen ihres Knechtes voll¬
zogen werden! Das Blut der Planta ſtürzte ihr wild
zum Herzen und empörte ſich gegen ſolch unwürdigen Ein¬
griff. Die Entſagung der verwichenen Nacht entſchwand
ihrem Gemüthe. Heute war ſie noch die Herrin auf
Riedberg, — heute war ſie noch die Erbin ihres Va¬
ters und waltete zum letzten Male ihres Amts.
Was morgen komme war ihr gleichgültig, lag doch
wie ein ſtiller Friedhof das Kloſter Cazis dort über
dem Rhein.
Noch warf ſie einen Blick hinaus in die trübe,
ſturmgepeitſchte Gegend, ob der Pater nicht komme.
Sie wollte ihm die von ihr in der Nacht geſchriebenen
Meyer, Georg Jenatſch. 24[370] und beſiegelten Documente übergeben. Aber Stunden ver¬
ſtrichen und er kam nicht. Das Gefolge Rudolfs war
ſeinem Herrn nachgeeilt. Jetzt ließ auch ſie ſatteln und
ritt nach Chur, von ihrem jüngſten Knechte, dem Sohne
des alten Lucas, begleitet.
Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder
ihn mit reinen, gerechten Händen tödten. „Jürg iſt
mein!“ ſagte ſie zu ihrem Herzen.
Erſt gegen Mittag klopfte der verſpätete Pater
ans Thor, und hörte mit Schrecken von dem Erſcheinen
Rudolfs, und daß das Fräulein in der Frühe nach
Chur verreiſt ſei. Eine vertraute Magd hatte den Auf¬
trag, den Kapuziner in das Thurmzimmer zu führen,
wo ihre Herrin zu ſchreiben pflegte. Dort fand er die
Schenkungsurkunden in vollſtändiger Ordnung und die
ſchriftliche Erklärung, daß Lucretia Planta der Welt
entſage und im Kloſter Cazis den Schleier nehme.
Nachdenklich und traurig ſtand der Mönch vor die¬
ſen Zeugen eines ſchweren und ſchmerzlich vollendeten
Seelenkampfes. Die Entſcheidung erfreute ihn weniger,
als es von einem ächten Sohne des heiligen Franziskus
zu erwarten geweſen wäre. Auch beunruhigte ihn Lu¬
cretias Ritt nach Chur. Er wußte, daß ſein Beicht¬
kind in ſchwierigen Lagen die kleinen Hülfsmittel und
Auswege weltlicher Klugheit nicht fand, daß Lucretias
[371] Gefühle mit unzerſtörbarer Liebe im einmal Ergriffenen
wurzelten, daß ihre Gedanken mit erſchreckender Gewalt
in der einmal betretenen Bahn fortſtürzten. Es war
ihm oft aufgefallen, daß ihr nahe lag und ſie natür¬
lich fand, was Andern als gefahrvoll und unerhört
erſchien, und daß ſie es in aller Einfachheit that.
Er horchte die Dienſtleute über die Vorfälle der
vergangenen Nacht aus und ihm wurde immer bänger.
Er ſteckte die Urkunden ſorgfältig zu ſich, beſtieg ſein
Eſelchen und ritt trotz Wind und Wetter ohne Aufent¬
halt gen Chur, wo er Lucretia bei der greiſen Gräfin
Travers zu finden hoffte, feſt entſchloſſen, wenn ſo oder
ſo ein Unheil geſchehen ſei, das Fräulein nach Cazis in
Sicherheit zu bringen.
24*
Dreizehntes Kapitel.
Zu derſelben Stunde ſaß in ſeinem Hauſe zu
Chur der Ritter Doctor Fortunatus Sprecher mit einem
geehrten Gaſte an der feſtlich beſetzten Mittagstafel.
Die erwärmte Stimmung der Tiſchgeſellſchaft und der
ſolide Reichthum des Gemaches ſtand in behaglichem
Widerſpruche mit dem Unwetter draußen auf der Gaſſe,
wo der rauſchende Orkan den ſchmelzenden Schnee von
den Dächern warf und mit ohnmächtiger Wuth an den
vergoldeten Eiſengittern rüttelte, die in unten weit
ausgebauchter Korbform die breiten Fenſter von hellem
Glaſe ſchützten.
Der mit Silber und venetianiſchen Kelchen beſetzte
Tiſch nahm die Mitte des Zimmers ein. Der größte,
ebenſo reiche als heimatlich behagliche Schmuck dieſer
ſchönen Familienſtube war ihr kunſtreich geſchnitztes
[373] Nußbaumgetäfel, das durch zierliche korinthiſche Holz¬
ſäulen in zwölf mit Trophäen gefüllte Felder getheilt
war. Das oberſte Geſimſe wurde von Karyatiden in
halber Figur getragen, zwiſchen welchen ein rings
herumlaufender Holzfries die verſchiedenen Scenen einer
Jagd mit Schützen, Hunden und zum Theil fabelhaftem
Gethier in erhabener Arbeit darſtellte, auf welches
Werk der Doctor mit Recht beſonders ſtolz war. Die
Stelle des Deckengemäldes vertrat das kühngeſchnitzte
Wappen der Sprecher von Bernegg.
Die Ecke des Zimmers füllte, ſtattlich und kranz¬
gekrönt, das warme Gebäude des Kachelofens. Ein
großartiger und zugleich kurzweiliger Anblick! Denn da
entfaltete ſich zwiſchen zartgefärbten Engeln und Frucht¬
ſchnüren in mehreren Bilderreihen die ganze Geſchichte
des Erzvaters Abraham. Die bibliſchen Scenen waren
in violetten, gelben und blauen Umriſſen und Schat¬
tirungen mit großem Fleiß auf die weißen Kacheln ge¬
malt und durch darunter geſetzte geiſtreiche Reimſprüche
erklärt und nutzbar gemacht.
Der Tiſchgenoſſen waren jetzt nur noch drei. Die
jüngern Kinder des Hauſes, welche das untere Ende
der Tafel eingenommen und in beſcheidener Stille ihr
Eſſen ſtehend verzehrt hatten, waren beurlaubt worden.
An dem Ehrenplatze, zwiſchen dem Hausherrn und ſeinem
[374] blonden Töchterlein, ſaß, als gefeierter Gaſt, der Herr
Amtsbürgermeiſter Heinrich Waſer. Heut am Tage
der öffentlichen Ueberreichung der Friedensakte, wozu
ihn ſeine den drei Bünden immer beſonders gewogene
Vaterſtadt, die Republik Zürich, abgeordnet hatte, be¬
fand er ſich in voller Amtstracht und im Schmucke ſeiner
bürgermeiſterlichen Kette. Die höchſte Würde des Staates
war ihm um ſeiner beſonnenen Leiſtungen und mit be¬
rechneter Beſcheidenheit nur nach und nach ans Licht ge¬
ſtellten Verdienſte willen ungewöhnlich früh und neidlos
zu Theil geworden, denn er ſtand, friſch und lebens¬
luſtig, erſt am Eingange der Vierzigerjahre. Ein Hauch
von Jugendlichkeit ſchwebte auf ſeinen vom Gaſtmahle
gerötheten Zügen, deren frühere bewegliche Feinheit
ſich zum behäbigen Ausdrucke einer wohlwollenden, aber
ans Schlaue ſtreifenden Klugheit ausgeprägt hatte.
Heute ſah er bewegt aus, beſonders wenn er mit
ſeiner Nachbarin ſprach, deren Worten und Mienen er
eine prüfende liebevolle Aufmerkſamkeit ſchenkte. Ihr
kindliches Köpfchen, das auf einem lichten Halſe über
dem blauen Tuchkleid und den von ihrer Mutter ge¬
erbten Holländerſpitzen des durchſichtigen Flügelkragens
ſchwebte, hatte für ihn etwas äußerſt Anziehendes. Die
weiche Rundung des hellen Geſichtes, der damit überein¬
ſtimmende ſanfte Glanz ihrer unter langen blonden
[375] Wimpern und angenehm gelockten Haaren hervorleuch¬
tenden Augen machten einen Eindruck von befriedigter
Ruhe, welche Herrn Waſer an die ſilberne Luna er¬
innerte, wie ſie ſich in den klaren Waſſern des Zürcher¬
ſee's ſpiegelt. Immer ſehnlicher wünſchte er, dieſes
anmuthige Geſtirn möchte glückbringend an ſeinem Abend¬
himmel aufgehen.
Obgleich des Doctors Lebensauffaſſung in Folge
ſeines galligen Temperamentes im Ganzen eine trübe
war, ſah er dem unter ſeinen Augen ſich vorbereiten¬
den häuslichen Ereigniſſe nicht ohne väterliche Be¬
friedigung entgegen. Aber ſeine Gedanken waren zer¬
ſtreut. Herr Waſer hatte ihm in allem Vertrauen vor
der Mittagstafel eine Kunde mitgetheilt, mit welcher er
Fräulein Amantia nicht vorzeitig, nicht heute betrüben
wollte — die Kunde vom Tode des Herzogs Rohan.
Ein deutſches Flugblatt, das denſelben mit rührenden
Worten beſchrieb, war nach Zürich gelangt und Waſer
hatte es für ſeinen geſchichtskundigen Freund mit¬
gebracht.
Ueberdies beſchäftigte dieſen der jeden Augenblick
erwartete Einzug des Triumphators in Chur, deſſen
Perſönlichkeit ihm von jeher fremdartig und widerwärtig
geweſen und dem er am wenigſten verzeihen konnte,
daß er das Sprecher'ſche Haus, eine Feſtung der Ehre,
[376] wie der Doctor früher mit Stolz zu ſagen gewohnt war,
durch Verrath befleckt hatte.
Doch ſonderbar! Was der Bürgermeiſter dem
Fräulein in dieſer Stunde feſtlichen Zuſammenſeins
noch verſchweigen wollte, ſchien einen magnetiſchen Zug
auf deſſen ahnungsvolles Gemüth auszuüben, wenigſtens
kam Amantia heute in Gedanken und Worten von dem
guten Herzog Heinrich Rohan nicht weg und konnte
bei dieſem Anlaſſe nicht umhin, auch ſeines tapfern
Adjutanten mit Intereſſe ſich zu erinnern.
Herr Waſer ließ für ſeinen Mitbürger keine über¬
triebene Vorliebe blicken. Der Bravour und dem auf¬
geweckten, gebildeten Geiſte Wertmüllers widerfuhr von
ſeinem Munde Gerechtigkeit, aber er ſchüttelte bedenklich
den Kopf über des Locotenenten ſchneidiges und den
Widerſpruch abſichtlich reizendes Weſen, womit er ſeine
Landsleute beunruhige und ſich eine unangenehme Be¬
rühmtheit in ſeiner Vaterſtadt zugezogen habe. So
ſelten er in Zürich verweile, ſei es ihm gelungen,
durch ſeine Ausfälle gegen eine hohe Geiſtlichkeit Ab¬
ſcheu, durch ſein hochmüthiges Geringſchätzen der in
ihrer Art intereſſanten ſtädtiſchen Angelegenheiten all¬
gemeine Mißbilligung und durch allerlei phyſikaliſchen
Hokuspokus, der ihn dem freilich thörichten Verdachte
der Zauberei ausſetze, bei dem gemeinen Manne un¬
[377] heimliche Furcht zu erregen. So habe er ſich in Zürich
den Weg verrammelt und das Zutrauen einer löblichen
Bürgerſchaft in alle Zukunft verſcherzt, welches doch,
nebſt einem reinen Gewiſſen, die Lebensluſt des ächten
Republikaners ſei. — „Das Schlimmſte aber an dem
jungen Manne,“ ſchloß der mehr als billig erregte
Bürgermeiſter, „iſt ſein Mangel an aller und jeder
Pietät, — denn, ich bitt' Euch, innig verehrte — dürft'
ich ſagen innig geliebte! — Jungfer Sprecherin, was
iſt alles Wiſſen und Können der Welt ohne die Grund¬
lage eines religiöſen Gemüthes!“
„Was mir den Locotenenten werth machte,“ ſagte
Fräulein Amantia faſt beſchämt, „war ſeine Treue an
dem edlen Herzog Heinrich. Da hat er ſich als ächten
Cavalier gezeigt neben dem Verräther Georg Jenatſch,
der mir trotz ſeines gewinnenden Weſens immer wie
ein böſer Geiſt vorkam, wenn er über unſere Treppen
zum Herzog hinaufſprang.“
„Ein ſchwer zu beurtheilender Charakter,“ ſagte
der zürcheriſche Bürgermeiſter, indem er, in einen
traurig ernſten Ton übergehend, ſich an Herrn Fortu¬
natus wandte. „In einem Stücke wenigſtens über¬
ragt Georg Jenatſch unſere größten Zeitgenoſſen — in
ſeiner übermächtigen Vaterlandsliebe. Wie ich ihn
kenne, ſo ſtrömt ſie ihm wie das Blut durch die Adern.
[378] Sie iſt der einzige überall paſſende Schlüſſel zu ſeinem
vielgeſtaltigen Weſen. Ich muß zugeben, er hat ihr
mehr geopfert, als ein aufrechtes Gewiſſen verantworten
kann. Aber,“ fuhr er zögernd und mit gedämpfter
Stimme fort, „iſt es nicht ein Glück für uns ehren¬
hafte Staatsleute, wenn zum Heile des Vaterlandes
nothwendige Thaten, die von reinen Händen nicht
vollbracht werden können, von ſolchen geſetzloſen Kraft¬
menſchen übernommen werden, — die dann der all¬
wiſſende Gott in ſeiner Gerechtigkeit richten mag.
Denn auch ſie ſind ſeine Werkzeuge, — wie geſchrieben
ſteht: Er lenkt die Herzen der Menſchen wie Waſſer¬
bäche.“
„Das iſt ein ſeltſam gefährlicher Satz,“ rief Herr
Fortunatus entrüſtet, „den ich erſtaunt bin, unter den
Betrachtungen und Maximen Eurer Geſtrengen zu fin¬
den! Damit iſt man auf geradem Wege, die ſchlimmſten
Verbrechen zu rechtfertigen. Bedenkt, wie leicht ſolch
ein geſetz- und gewiſſenloſer Menſch, einmal in ſeine
unberechenbare Bahn geſchleudert und von ſeinen Leiden¬
ſchaften wie von einem Orkan getrieben, ſein eigen ge¬
lungen Werk zerſtört. Wißt Ihr, wohin es ſchon mit
Jürg Jenatſch gekommen iſt? Ich erfahre aus zuver¬
läſſigen Quellen, daß er bei den Verhandlungen in
Mailand dem an ſeinen Vorſchlägen mäkelnden Herzog
[379] Serbelloni wie ein Raſender gedroht hat, er rufe die
Franzoſen wieder nach Bünden, wenn Spanien nicht
ſeinen Willen thue, ja, daß er, um den Beichtvater
ſeiner hiſpaniſchen Majeſtät zu gewinnen — denn er
wollte einen andern Einfluß gegen den Serbellonis zu
Madrid in die Wagſchale werfen — ſeinen ange¬
ſtammten evangeliſchen Glauben freventlich abgeſchwo¬
ren hat.“
„Da ſei Gott vor,“ ſagte der Bürgermeiſter auf¬
richtig erſchrocken.
„Und was fängt unſer kleines Land mit dieſem
jetzt müßig gewordenen und an Thaten noch unge¬
ſättigten Menſchen an,“ fuhr Sprecher fort, „der unſern
engen Verhältniſſen entwachſen und von ſeinen bei¬
ſpielloſen Erfolgen trunken iſt bis zum Wahnſinn? —
In den Pauſen ſeiner Unterhandlungen zu Mailand
hat er in unſerer Grafſchaft Chiavenna, wo er ſich
von den drei Bünden zum Lohne ſeines Verraths an
Herzog Heinrich die ganze Civil- und Militärgewalt
unumſchränkt übertragen ließ, gewirthſchaftet wie ein
ausſchweifender Nero und einen mehr als fürſtlichen
Hofhalt geführt. Ich könnte Euch manches davon er¬
zählen, denn ich verzeichne ſeine Thaten allwöchentlich
mit dem ſcharfen Griffel der Klio, deſſen Spitze ich
übrigens zu niemandes Gunſten abſtumpfen würde,
[380] nicht einmal zu Gunſten eines Sohnes oder —
Schwiegerſohnes,“ ſchloß Herr Fortunatus mit trübem
Lächeln.
„Gott genade uns, welch' ein Unwetter!“ rief
Fräulein Amantia, unter dieſem Schreckensruf ein
zartes Erröthen verbergend, und wirklich hatte ſich der
Sturm draußen verdoppelt und ſeine Stöße, welche
die Gitterverzierungen am Fenſter wegzureißen drohten,
ließen das feſte Haus erbeben und die Gläſer auf der
Tafel leiſe klingen. Es öffnete ſich die Thür, eine er¬
ſchrockene Magd erſchien und berichtete, der alte Glocken¬
thurm zu Sankt Luzi ſei, nachdem man ihn einige
Male habe ſchwanken ſehen, in dem Unwetter krachend
zuſammengeſtürzt, gerade als der Oberſt Jenatſch mit
ſeinem Gefolge durch das Thor eingeritten.
„Das iſt nicht ohne Bedeutung,“ ſagte ernſt Herr
Fortunatus, während die Männer ans Fenſter traten.
„Wir wiſſen aus Tito Livio und haben auch hier die
Erfahrung öfter gemacht, daß die Natur mit der Ge¬
ſchichte in geheimem Zuſammenhange ſteht, große Be¬
gebenheiten vorausfühlt und mit ihren Schreckniſſen
ankündigt und begleitet.“
Unter andern Umſtänden hätte wohl der Bürger¬
meiſter dieſe abergläubiſche Bemerkung mit einem feinen
Lächeln beantwortet, diesmal aber konnte er ſich eines
[381] peinlichen Eindrucks nicht erwehren. Das Zuſammen¬
ſtürzen des Luzienthurmes erinnerte ihn an die dem
Veltlinermord vorhergehenden Tage ſeines Aufenthaltes
in Berbenn, an die damaligen Zeichen und Wunder
und an den blutigen Tod der ſchönen Lucia.
Der Sturm ſchien ſich ausgetobt zu haben, aber
die Luft war feucht und ſchwer und dunkle Wolken
hingen tief herab. Die Gaſſe hatte ſich mit geringem
Volke von zerzauſtem und verſtörtem Ausſehen gefüllt.
Jetzt ſprengte ein Reiter um die Ecke in juwelenglän¬
zender rother Tracht und wehendem Mantel, den Hut
mit den flatternden Federn feſt in die Stirn gedrückt.
Es war Jürg Jenatſch, der ſeinen unruhigen Rappen
hart vor dem Sprecher'ſchen Hauſe bändigte und ſich
nach ſeinem Ehrengeleit umſah, das, vom Sturme auf¬
gehalten, eine Straßenlänge hinter dem Voranjagenden
zurückgeblieben war.
Waſer konnte ſeinen Blick von der Erſcheinung
des Jugendfreundes nicht verwenden. Er hing wie
gebannt an dem ſtarren Ausdrucke des metallbraunen
Angeſichts. Auf den großen Zügen lag gleichgültiger
Trotz, der nach Himmel und Hölle, nach Tod und Ge¬
richt nichts mehr fragte. Das Auge blickte fremd über
den erreichten Triumph hinweg, — welches unbekannte
Ziel ergreifend? . . . Und wieder tauchte dem Bürger¬
[382] meiſter eine alte Erinnerung auf: der Brand von
Berbenn. Er ſah Jürg, die ſchöne Leiche in den
Armen, mit jenem aus Gluth und Kälte gemiſchten
Ausdrucke, den er nie hatte vergeſſen können. Wie
kommt es, fragte er ſich, daß Jürg heute auf dem
Gipfel des Ruhmes gerade ſo drein ſchaut, wie damals
in der Tiefe des Elends?
„Seht einmal,“ flüſterte Sprecher durch die gleich¬
gültige Haltung des ihn nicht beachtenden Reiters ge¬
reizt, „der Abtrünnige trägt die Ordenskette St. Jacobi
von Compoſtella!“
Waſer antwortete nicht, denn ihm zu Häupten
ertönte — eine Seltenheit zu Anfang des Frühjahrs —
dumpfes Donnerrollen und jäh zerriß ein falber Blitz
die niederhangenden Wolken.
„Der Strahl des Gerichts!“ murmelte Sprecher
erbleichend.
Auch Waſer glaubte, Feuer vom Himmel habe den
Trotzigen getroffen; aber als ſeine geblendeten Augen
wieder aufblickten, ſaß Jenatſch unbewegt auf dem ſich
bäumenden, ſtampfenden Rappen. Er zwang ſein Thier
mit feſter Hand. Er allein ſchien Blitz und Donner
nicht bemerkt zu haben.
Waſer verweilte nicht mehr lange. Es drängte
[383] ihn, Jürg aufzuſuchen, um den peinigenden Eindruck,
den dieſer aus der Ferne auf ihn gemacht, durch ein
paar freundſchaftliche Worte von Mund zu Munde zu
brechen. Dies gedachte er noch vor der feierlichen
Rathsſitzung zu thun. Sprechers Stimmung gegen
Jenatſch konnte, war ſeine Befürchtung, in Bünden eine
verbreitete ſein. Ich will ihn beſchwören, ſagte ſich
Waſer, daß er ſich beſcheide und, nachdem er das Frie¬
densdocument dem Rathe übergeben und ſo den Höhe¬
punkt ſeiner ruhmvollen Bahn erreicht hat, ſich eine
Weile zurückziehe, um den Neid der Götter und der
Menſchen nicht zu reizen. Er möge, wollte Waſer ihm
andeuten, ſeine kriegeriſche Laufbahn im Auslande fort¬
ſetzen, oder den Verſuch machen, ob es ihm gelinge
durch Begründung eines häuslichen Herdes auf ſeinen
Gütern in Davos ſeine unruhige Seele auf ſtillere
Wege zu führen.
Von Herrn Fortunatus unter die Hauspforte ge¬
leitet, hatte ſich Waſer bei dieſem erkundigt, wo Jenatſch
abſteige und der Ritter in bitterm Tone geantwortet:
„Wie könnt Ihr fragen, verehrter Freund? Natürlich
im biſchöflichen Hof.“
Als der Bürgermeiſter von einem Diener geleitet
durch die hallenden Gänge der biſchöflichen Reſidenz
ſchritt, tönte ihm durch eine Thüre zur Rechten die
[384] wohlbekannte Stimme ſeines Freundes in heftiger Er¬
regung entgegen. Sie war im Zwiegeſpräch, um nicht
zu ſagen im Wortwechſel, mit einer andern etwas fetten
und ſchwerfälligen. Er wurde von dem biſchöflichen
Kammerdiener in ein gegenüberliegendes Zimmer ge¬
führt und dieſer entfernte ſich, um ihn anzumelden.
Die fernen Stimmen wurden unhörbar, kurz darauf
aber wurde eine Thür im Gange aufgeriſſen. Es war
Jenatſch, der Urlaub nahm. „Macht Euch keine Rech¬
nung darauf, Gnaden,“ hörte Waſer ihn auf dem
Gange draußen mit heiſerer faſt ſchreiender Stimme
zurückreden. „Daraus wird nichts! Ich will keine her¬
geſtellten Klöſter im Land! Ich dulde keine geiſtlichen
Uebergriffe!“
„An dieſem Euerm Ehrentage, Herr Oberſt,“ be¬
ruhigte man von innen mit ſalbungsvollem Tone, „will
ich Euch mit unſern beſcheidenen Wünſchen nicht be¬
läſtigen, bin ich doch gewiß, daß unſere kleinen Mei¬
nungsverſchiedenheiten ſich mit der Zeit von ſelbſt aus¬
gleichen werden, jetzt, da Ihr im Glauben wiederge¬
boren und aus einem Saulus ein Paulus geworden
ſeid.“ —
Die Zimmerthür flog auf und Jürg ſchritt ſeinem
Jugendfreunde mit ausgebreiteten Armen entgegen. Er
faßte ihn an beiden Schultern: „Auch einer, der ſein
[385] Ziel erreicht hat!“ ſagte er mit dem alten, fröhlichen
Lachen. „Ich gratulire, Herr Bürgermeiſter!“
„Es iſt mir eine beſondere Freude,“ erwiederte
Waſer, „daß ich, kaum mit meiner neuen Würde be¬
kleidet, von meinen gnädigen Herren zu Deinem
Triumphe nach Chur abgeordnet bin. Du haſt, ich
muß es Dir ſagen, das Unerhörte gethan, und das
Unmögliche erreicht.“
„Wenn Du wüßteſt, Heini, um welchen Preis
und mit welchen Verrenkungen meines Weſens! Noch
in den letzten Augenblicken wollten ſie meine Heimat
um das von mir Erraffte betrügen. — Da habe ich
die letzte Karte ausgeſpielt — eine ſchmutzige Karte . . .
puh! Aber ich drängte vorwärts, vorwärts, damit der
Fieberſchauer meines Lebens nicht ohne Frucht bleibe,
nicht umſonſt ſei. Nun bin ich am Ziel und gern
möcht' ich ſagen: Ich bin müde! wäre nicht ein Dämon
in mich gefahren, der mich vorwärts ins Unbekannte,
ins Leere peitſcht.“
„Mit jenem letzten unſaubern Mittel,“ ſagte
Waſer bang und nur an einem Gedanken haftend,
„meinſt Du doch nicht den Abfall von unſerm helvetiſch¬
reformirten Glauben zum Papismus? . . . das wird
nicht, kann nicht ſein!“
„Und iſt es,“ rief der Andere mit frevler Heiter¬
Meyer, Georg Jenatſch. 25[386] keit, „ſo hab' ich eine Fratze gegen eine Fratze ge¬
tauſcht!“
„Du haſt in Zürich Gottesgelahrtheit ſtudirt“ . . .
ſagte Waſer erſchüttert, wandte ſich ab und bedeckte
das Angeſicht mit beiden Händen. Schwere Thränen
rannen durch ſeine Finger.
Da ſchlug Jenatſch den Arm um ihn und ſagte
in einem zornmüthigen Humor: „Flenne mir nicht wie
ein Weib, Bürgermeiſter! Was iſt denn da Beſon¬
deres? Da habe ich ganz andere Dinge auf meinem
ſoliden Gewiſſen!“ . . . Dann plötzlich den Ton wech¬
ſelnd, fragte er dringend: „Was habt Ihr denn in
Zürich für Bericht von der bei Rheinfelden von Herzog
Bernhard den Kaiſerlichen gelieferten Schlacht? Ich
weiß noch nichts Näheres,“ fügte er bei, „in Thuſis
hieß es, Rohan ſei leicht verwundet.“
Waſer verſetzte mit unſicherer Stimme: „Sein
Zuſtand war gefährlicher, als man anfangs glaubte“ . . .
hier hielt er inne.
„Heraus mit der Sprache, Heinrich,“ rief Jenatſch
rauh, „er iſt geſtorben?“ Und es ging wie ein Todes¬
ſchatten über ſein Antlitz.
In dieſem Augenblick ertönte, — Herrn Waſer
ſehr unwillkommen, der noch gern ſeinen Freund ge¬
warnt und ſein eigenes Gemüth in ruhigem Geſpräch
[387] mit ihm erleichtert hätte, — die Glocke, welche die
Beiden auf das Rathhaus rief.
Jenatſch ergriff die Rolle, welche Bündens Ret¬
tung enthielt, hob ſie gegen Waſer empor und rief:
„Theuer erkauft!“
25*
Letztes Kapitel.
Auf dem Rathhauſe zu Chur wurden nach dem
Schluſſe der feierlichen Sitzung, in welcher Georg Jenatſch
das Friedensdocument überreicht hatte, Vorbereitungen
zu einem glänzenden Feſte getroffen, mit dem ihn die
Stadt am Abende deſſelben Tages ehren wollte. Es
war Faſtnachtszeit und die Churerinnen freuten ſich auf
den fröhlichen Anlaß; der Winter war den durch die
Geſelligkeit der frühern Jahre Verwöhnten allzu ſtill
und ernſthaft vergangen, ſie hatten die erfindungsreiche
Galanterie der franzöſiſchen Edelleute vermißt, die all¬
wöchentlich aus der nahen Rheinfeſtung nach Chur zu
eilen pflegten. Heute ſollte das Verſäumte nachgeholt
werden. Die Väter der Stadt hatten ſich nicht gewei¬
gert, die weite, bequeme Halle, wo ſie zur Sommers¬
zeit das Heil des Landes beriethen, dem wirbelnden
Reigen und der Maskenfreiheit aufzuthun, und in den
[389] beiden zur Rechten und zur Linken auf dieſen Saal
ſich öffnenden Sitzungszimmern die Schenktiſche rüſten
zu laſſen.
Das eine dieſer Nebengemächer, vor deſſen Eingang
die ſchmale, vom Hausflur auf den weiten Saal füh¬
rende Wendeltreppe ausmündete, war die Kammer der
Juſtitia, deren aus Holz geſchnitztes, buntbemaltes Bild¬
niß, auf einem phantaſtiſchen Sitze von Hirſchgeweihen
thronend, an drei Ketten von der Decke herunterhing.
Unter dem Bilde ſtand ein hoher Holzbock und auf die¬
ſem der beleibte Feſtwirth, der das mächtige Geweih
geſchäftig mit Wachskerzen beſteckte. Während ſeine
Hände ſich beeilten, ging auch ſeine Zunge nicht müßig.
Sie ließ gewichtige Worte fallen in einen Kreis junger
Leute, welche das ſeidene geſchlitzte Feſtwams mit dem
breit ausgelegten Spitzenkragen, das reich bebänderte
Beinkleid und die verwegenſten Schuhroſetten zur Schau
trugen, dabei ſchon den Becher handhabten, um, wie ſie
ſagten, die Feſtweine zu prüfen, und die Ausſprüche
des Redſeligen luſtig auffingen, ihn zu immer neuen
Mittheilungen ermunternd.
„Alſo, Vater Fauſch,“ lachte ein flotter Geſelle,
„Ihr ſeid es, der das Genie des Oberſten aus den
Windeln gewickelt hat, wodurch Ihr, ich will nicht ſagen
die kleine, aber die verborgene Urſache großer Dinge
[390] geworden ſeid! Geſteht, Ihr habt ihm auch ſeinen Plan
eingehaucht, der eines Niccolò Macchiavelli würdig iſt!
Warum aber habt Ihr die Hauptrolle darin nicht ſelbſt
übernommen?“
„Daß es probat ſei, Frankreich gegen Hiſpanien
und Hiſpanien gegen Frankreich zu hetzen,“ verſetzte der
Kleine, eine Kerze in der Hand, von ſeiner Höhe her¬
unter, „und dann den Kopf leiſe aus der Schlinge zu
ziehn, das mag ich Jürg in vertraulichen Stunden wohl
angedeutet haben zur Zeit, als wir in der ſchönen
Stadt Venezia zuſammentrafen. Selbſt aber das Ge¬
ſchäft übernehmen konnte ich nicht, wenn ich nicht dem
herben Weine meiner Denkungsart einen unächten Bei¬
ſatz geben und meine demokratiſche Vergangenheit be¬
ſchämen wollte. Nie ſah Bünden einen ehrenvollern
Tag als jenen großen, da ich die franzöſiſche Ambaſſade
über die Grenze wies.“ Und Fauſch machte eine ge¬
bieteriſche Geberde mit ſeiner Wachskerze.
„Bekannt! Bekannt wie die Schöpfungsgeſchichte!“
ſcholl es aus allen Ecken. „Etwas anderes, Vater
Lorenz! — Erzählt uns lieber, wie Ihr, ein hartge¬
ſottener Ketzer, Kellermeiſter bei ſeinen biſchöflichen
Gnaden geworden ſeid.“
„Gern, meine Herren,“ verſetzte Fauſch, „es iſt
in unſern Zeiten eine lehrreiche Geſchichte.
[391]
„Als ſeine Gnaden für ihren weltberühmten biſchöf¬
lichen Keller einen Mann nach ihrem Herzen, ausgerüſtet
mit den erforderlichen Kenntniſſen und Tugenden ſuchten,
ſchrieben ſie mir nach Venedig, an meiner ihnen wohl¬
bekannten Perſon ſei nur eines, das ſie ſtöre — die
Verſchiedenheit des Glaubens. Sie meinten, ihr Ma¬
lanſer würde ihnen nicht ſchmecken, wenn ihr Keller¬
meiſter und Mundſchenk die beſtimmte Ausſicht hätte,
dereinſt in der Flamme ewigen Durſt zu leiden, und
drangen heftig in mich, zum Beſten ihres Kellers und
meiner Seele die proteſtantiſchen Ketzereien abzuthun.
Lorenz Fauſch aber, meine Herren, blieb feſt und ge¬
langte doch ans Ziel. Die Unterhandlung ſchloß damit,
daß Gnaden einſahen, ein Apoſtat wäre nicht der Mann,
ihnen reinen Wein einzuſchenken.“
Fauſch verſtummte, denn eben war ein junges
Rathsglied zu der Gruppe getreten und erzählte mit
Lebhaftigkeit, wie ſtolz der Oberſt dem Bürgermeiſter
Meyer die Urkunde überreicht und in wie wohlgeſetzten
Worten das zürcheriſche Standeshaupt den Glückwunſch
ſeiner Vaterſtadt zu Bündens glorreicher und wunder¬
barer Wiederherſtellung vorgebracht habe.
„Der Heini Waſer hat gleichfalls mit mir auf
derſelben Schulbank geſchwitzt,“ rief Meiſter Lorenz von
ſeinem Holzbock herunter. „Auch ein Pfiffikus! Aber
[392] mit unſerm Jenatio verglichen, ein Ingenium zweiten
Ranges. Wenn mein Jürg mir nur nicht hoffärtig
wird! — Ich will heut Abend die Maskenfreiheit be¬
nützen, um ihm ſein erſtes geringes Kleid, den Pfarrrock,
und die unterſte Staffel ſeines Ruhms, die arme
Kanzel, in heilſame Erinnerung zu bringen. Gebt mir
auf den Spaß wohl Acht, ihr Herren! Ich ſchleiche als
Küſter hinter ihm her und ſpreche ihn um den Lieder¬
vers zu ſeiner Predigt an, ſo wahr ich Lorenz Fauſch
heiße.“
Unterdeſſen hatten ſich alle Lichter entzündet und
der Saal begann ſich zu füllen. In den Niſchen der
breiten Fenſter flüſterten junge Damen und verzeichne¬
ten auf ihren Fächern die Tänze, welche ſie den vor
ihnen ſtehenden Cavalieren verſprochen. Allmälig er¬
ſchienen auch die Standesperſonen, voran der Amtsbürger¬
meiſter Meyer mit ſeiner vornehm blickenden Gemahlin,
welche den runden Hals und die vollen Arme mit Perlen¬
ſchnüren umwunden, in einem golddurchwirkten Schlepp¬
kleide neben dem ſtattlichſten der Gatten einherſchritt. Bald
nach ihnen betrat den Saal der Ritter Doctor Fortunatus
Sprecher, den Alles ſich wunderte hier zu erblicken. Auch
war ſein Antlitz trüb und unfeſtlich. Der allen rauſchen¬
den Vergnügungen abholde Doctor hatte wohl ſich heute
[393] Gewalt angethan um ſeines zürcheriſchen Freundes und
Gaſtes willen, den er auch damit ehrte, daß er durch
ihn ſein liebliches Töchterlein aufführen ließ. Fräulein
Amantia ſah in ihrem weißen Seidenkleide und dem
vorn von einer Blume aus Edelgeſtein zuſammengehal¬
tenen Florwölklein um Nacken und Schultern an der
Hand des ehren- und tugendfeſten Bürgermeiſters glück¬
lich und verſchämt aus, faſt wie eine züchtige Braut.
Während Herr Waſer ſie unter ihre Freundinnen
führte, welche dem Treppenaufgang und der Kammer
der Juſtitia gegenüber am andern Ende des Saales
jugendliche Gruppen bildeten, klangen die Stufen von
Männertritten und Jenatſch betrat mit einem zahlreichen
Gefolge ſeiner Offiziere die Tanzhalle. Sein gewaltiger
Körperbau und ſein feuriges Antlitz machten ihn noch
immer zum Mächtigſten und Schönſten unter Allen.
Noch ſtand er von vielen Seiten begrüßt neben
dem Bürgermeiſter Meyer und ſeiner Gemahlin in der
Mitte des Saales, als zu nicht geringem Schrecken
dieſer Magiſtratsperſon der Doctor Sprecher mit einer
Todtengräbermiene ſich unfern von ihnen unter den
Kronleuchter ſtellte und, mit einer Bewegung der Rech¬
ten Schweigen verlangend, alſo zu reden anhub:
„Manche von Euch fragen mich, werthe Mitbürger,
was dieſe Trauer meines Angeſichts bedeute, die ich
[394] vergeblich um des heutigen Ehrenfeſtes willen unter der
Maske der Heiterkeit zu verbergen trachte. Wollet es
mir verzeihen, wenn ich ein großes Leid, das mir wider¬
fahren iſt, nicht länger verheimliche, weil ich überzeugt
bin, daß es in vollſtem Maße auch das Eurige iſt, und
wollet es den Boten nicht entgelten laſſen, der Eure
Freude in Trauer verwandeln muß.
Unſer hoher Gönner und treueſter Freund, der
Herzog Heinrich Rohan, hat das Zeitliche geſegnet.“
Hier wanderte Sprechers Blick durch die erſt laut¬
los ſchweigende und jetzt bei ſeinem letzten Worte be¬
ſtürzte Geſellſchaft. „Ein Flugblatt mit dem Berichte
ſeines Endes iſt eben in meine Hände gekommen. Wollt
Ihr die traurige Zeitung anhören?“ fragte er, ein be¬
drucktes Papier aus der Bruſttaſche ziehend.
„Leſet, leſet!“ ertönte es von allen Seiten.
Sprecher trocknete ſich die Augen und begann:
„Allen evangeliſchen Herren, Städten und Land¬
ſchaften deutſcher Nation geſchieht hiermit Kunde, daß
Herzog Bernhard von Weimar bei Schloß und Stadt
Rheinfelden eine glänzende Viktoria über die Kaiſer¬
lichen erfochten hat. In dieſer Feldſchlacht, die zwei
Tage dauerte, wurde der in der Tracht eines gemeinen
Reiters in unſern Reihen mitfechtende Herzog Heinz
Rohan von dem Feinde nach tapferer Gegenwehr und
[395] erlittener Verwundung zum Gefangenen gemacht; am
zweiten Tage aber bei erneuertem Angriffe von dem
Hauptmann Rudolf Wertmüller und ſeinem Reiterfähn¬
lein mit fürtrefflicher Tapferkeit herausgehauen und im
Triumphe ins Lager zurückgeführt. Herzog Bernhard
ließ ihn in ſein Zelt bringen, allwo die Wunde unter¬
ſucht und ungefährlich, der edle Herr aber ſehr ſchwach
befunden wurde. Herr Bernhard wich nicht von ſeiner
Seiten. Am fünften Tage danach, als es mit Herzog
Heinz zum Sterben gehen ſollte, verlangte er nach
einem geiſtlichen deutſchen Lied, wie er ſolche im Heer
ſonderlich gern hatte ſingen hören. Da verſammelten
ſich wohl hundert Mann aus dem Lager, Reiter und
Fußvolk, alle wohl geübt und erfahren in dieſer fröh¬
lichen Kunſt, vor dem Gezelt des Herzogs und ſangen
ihm ein neu geiſtlich Lied, das unlängſt in das Lager
gekommen war und bald große Gunſt gefunden hatte.
Nach dem Geſätzlein:
that ſich ſachte das Gezelt auf und man winkete, daß
der Herr ſelig verſchieden ſei. Als die Aerzte ihn
öffneten, um ihn einzubalſamiren, fanden ſie das Herz
[396] von Kümmerniß gänzlich zerſtöret. So fuhr dahin in
Ehren der edle Herzog Heinz aus Welſchland. Wenn
einſt, wie wir alle unverrücket hoffen, das deutſche
Reich erneuet wird in evangeliſcher Freiheit und großer
Gloria, ſo wird man auch dieſes gottesfürchtigen wel¬
ſchen Herzogs gedenken, dieweil er glaubenshalber aus
ſeinem Vaterlande gewichen und nachdem er ſich ſeiner
hohen Ehren demüthiglich abgethan, im evangeliſchen
deutſchen Heer einen frommen Reiterstod geſtorben iſt.
Amen.“
Tiefe Bewegung hatte ſich der ganzen Verſamm¬
lung bemächtigt, es bildeten ſich leiſe redende Gruppen.
Wie damals da der Herzog am Thore von Chur Ab¬
ſchied nahm, ſtand Jenatſch eine Weile allein mit ver¬
finſtertem Antlitz.
Dann trat der Bürgermeiſter Meyer auf ihn zu
und redete ihn herzlich und ehrerbietig an: „Wir Churer
glauben Eurer Genehmigung gewiß zu ſein, Herr Oberſt,
wenn wir Euch vorſchlagen, das Euch gebotene Dank-
und Ehrenfeſt auf einen ſpätern Tag zu verlegen. Habt
Ihr doch ſelbſt beſſer als jeder Andere das unſerm
Lande wohlgewogene Gemüth des guten Herzogs ge¬
kannt und müßte es Euch doch ſelber ſchmerzen, wenn
wir ſeinen Tod bei Fackelſchein und Reigentanz mit
hartem Herzen zu feiern den Anſchein hätten.“
[397]
Der Oberſt ſchwieg und ließ ſeine dunkeln Blicke
verächtlich über die undankbare Menge ſchweifen, die
über einem Verſchollenen und Todten die Gegenwart
ihres Retters vergaß.
An dem obern Ende des Saales wurden die Lich¬
ter ſchon ausgelöſcht und die geſchmückten Frauen ließen
ſich von ihren Cavalieren zur Treppe geleiten. Herr
Sprecher hatte, einer der Erſten, das Rathhaus verlaſſen.
Beſorglich legte ſich eine Hand auf den Arm des Ober¬
ſten und als er verſtimmt ſich umwandte, ſah er in das
fragende Geſicht des zürcheriſchen Bürgermeiſters, der
die in Thränen aufgelöſte Amantia wegführte.
„Ich muß mit Dir reden! Heute noch, Jürg!
Bleibſt Du hier?“ flüſterte Waſer und, als Jenatſch
ihm leicht zunickte: „So komm' ich wieder.“
Jetzt reckte ſich der Oberſt zu ſeiner ganzen Höhe
empor und ſagte, das Haupt trotzig zurückwerfend, zu
dem noch ſeiner Antwort harrenden Meyer, doch ſo, daß
ſeine bebende Stimme durch den ganzen Saal klang:
„Ich will mein Feſt, Bürgermeiſter. Geht oder bleibt
nach Eurem Belieben!“ —
Verwirrung füllte den Saal, unheimliche Dämme¬
rung hatte ſich zu verbreiten begonnen, in deren Schutz
die meiſten angeſehenen Churer und faſt alle Frauen
[398] ſich unbemerkt entfernt hatten. Doch auf des Oberſten
herriſches Wort entzündeten ſich die Lichter von Neuem
und beleuchteten den beginnenden Reigen. Aber die
Gäſte waren andere geworden und die Feier ſchien ſich
in eine wilde Luſtbarkeit verwandeln zu wollen.
Bevor Waſer die Treppe erreichte, war ſein Auge
an einer großen Frauengeſtalt in dunkler venetianiſcher
Tracht haften geblieben, die dem Strome der forteilen¬
den, den Stufen zudrängenden Churerinnen allein ent¬
gegen ſchritt. Es war etwas in der eigenthümlichen
Haltung dieſes edelgeformten Hauptes, in der traurigen
Gluth dieſer durch die ſammtene Halbmaske blickenden,
ſuchenden Augen, das ihn ſeltſam ſchaurig berührte.
Er ſah ihr nach, wie ſie, das Gewühl der Tan¬
zenden meidend, die Kammer der Juſtitia betrat. Dieſe
hohe, reiche Geſtalt kannte er nicht, aber ſie mußte
auch Jenatſch aufgefallen ſein, denn der Oberſt richtete
ſogleich ſeinen Gang nach derſelben Schwelle. Ob er
ſie überſchritt, das ſah Waſer nicht mehr, das Gedränge
auf der Treppe wurde jetzt ſo groß, daß der Bürger¬
meiſter ſeiner ganzen Würde und Vorſicht bedurfte,
um die verwirrte Amantia ungefährdet durch den Eng¬
paß zu bringen. Es war ein toller Maskenzug, der
die Treppe hinauf ſtürmte, wilde Geſellen unter der
Führung einer koloſſalen Bärin, der ein großes Schild
[399] mit den Wappen der drei Bünde an einer Kette um
den zottigen Hals hing.
Sobald Waſer die heimgeleitete Amantia einer
alten Dienerin übergeben hatte, eilte er wieder nach
dem Rathhauſe zurück, ohne nach dem Doctor zu fragen,
dem er es nicht leicht verzieh, daß er das unſchuldige
Flugblatt in ſo feindſeliger und hinterliſtiger Weiſe
zur Beleidigung des Oberſten ausgebeutet hatte.
Schon von fern ſah er vor dem Staatsgebäude
ein unſicher beleuchtetes verworrenes Gewühl und es
ward ihm ſchwer, bis zur Hauspforte vorzudringen.
Die gleichen Masken, denen er vor einer halben Stunde
auf der Treppe begegnet war, entſtürzten jetzt dem
Hausflur in wilder Haſt. Inmitten des an die dreißig
Vermummte zählenden Haufens glaubte er plötzlich im
Scheine einer ſprühenden Fackel die ungeheure Bärin
zu erblicken, die zerzauſt und blutig mit einer über die
Schultern gelegten Puppe oder Leiche davon ſchritt.
Waſer hatte die Thüre erreicht. Er warf einen Blick
auf die Wendeltreppe, ſie füllte ſich eben wieder mit
taumelnden Gäſten, die wirr durcheinander ſchrieen und
haſtig davoneilten.
Oben verſtummte mit abgeriſſenen Tönen die
Muſik.
Jetzt gewahrte Waſer hart neben ſich einen unter¬
[400] ſetzten Franziskanermönch, deſſen von der Capuze be¬
ſchattetes Augenpaar er forſchend auf ſich gerichtet
fühlte. Eine Maske war das nicht. Der Mönch warf
ſeine regentriefende Capuze zurück und Waſer erkannte
das nüchterne, geiſteskräftige Geſicht des Paters Pancraz
und ſeine klug blitzenden Augen. Die beiden Männer
ſchüttelten ſich die Hände.
„Thun wir uns zuſammen, Herr Bürgermeiſter,“
ſagte der Pater leis aber eindringlich. „Welt und
Kirche, Ehrenkette und Kuttenſtrick im Bunde werden
durch den tollſten Spuck dringen! Ich leſe auf Eurem
Geſicht, daß Ihr wie ich in Sorge ſeid um den Oberſten.
Etwas iſt droben vorgefallen. Was ſie dort fort¬
ſchleppten — ich habe das niederhangende Haupt ſcharf
angeſehn — war der todte oder ohnmächtige Rudolf
Planta. Um den iſt's kein Schade und an der Faſt¬
nacht ſind blutige Köpfe nichts beſonderes, aber gut
iſt's doch, wenn wir hinaufkommen!“
Bei dieſen Worten ſchob er den Bürgermeiſter in
eine geſicherte Ecke und ſtellte ſich vor ihn, denn ein
paar trunkene Officiere ſtürzten ſich eben, mit den
Degen fuchtelnd, in die Menge hinunter.
Der Pater verſchwieg ſeine Hauptſorge — Lucretia.
Er war, durch das Unwetter verſpätet, vor einer Stunde
[401] erſt in Chur angelangt, hatte die alte Gräfin Travers,
die, hinfällig wie ſie war, ſich frühzeitig zur Ruhe ge¬
legt hatte, zwar nicht geſehn, aber von der Diener¬
ſchaft erfahren, das Fräulein ſei noch vor Mittag an¬
gelangt, habe ihrer Muhme Geſellſchaft geleiſtet und
ſich dann, wie ſie bisweilen zu thun pflegte, in ein
für ihren Beſuch immer bereit gehaltenes Gemach
zurückgezogen, um ſich umzukleiden. Erſt vor Kurzem
habe ſie, in ein weites Uebergewand gehüllt, das Haus
wieder verlaſſen, Ihr Knecht, der Sohn des Ried¬
berger Kaſtellans, ſei ihr auf dieſem Gange mit der
Fackel vorangeſchritten. Wohin ſie ſich habe geleiten
laſſen, wußte niemand zu ſagen.
Pancratius hatte aus dem Berichte der Dienſtleute
zu Riedberg Verdacht geſchöpft, der junge Planta, den
er für einen Feigling hielt, möchte in Bünden be¬
herztere Genoſſen gefunden haben. Er fürchtete, der
Neid der mächtigen Familien, die Georg Jenatſch
beleidigt hatte, könnte, durch ſeinen letzten größten
Erfolg aufgeſtachelt, in mörderiſche Gewaltthat aus¬
brechen. Damit mußte Lucretias Verſchwinden zu¬
ſammenhangen, denn bei ihrer Gemüthsart zweifelte
er nicht, daß ſie als Mitſchuldige oder als Warnerin
in das Unheil verflochten ſei. Dieſes aber ſchwebte
über dem Haupte des Oberſten, — als die eine oder
Meyer, Georg Jenatſch. 26[402] die andere war ſie in ſeine Nähe gebannt und er
eilte ſie dort zu ſuchen.
Und Lucretia war es geweſen, deren ernſte feier¬
liche Geſtalt dem zürcheriſchen Bürgermeiſter in der
Verwirrung des Aufbruchs im Saale begegnet und
deren Schritten Jenatſch mit aufglühender Freude in
die Kammer der Juſtitia gefolgt war.
„Willkommen Lucretia!“ rief Georg der ſich nach
ihm Umwendenden entgegen, „ich danke Dir, daß Du
an meinem Feſte nicht fehlſt. Du bringſt mir die
Freude! Die Welt iſt mir ſchal geworden, ihre Beuten
und Ehren ſind mir ein Ekel! Gieb mir meine junge,
friſche Seele wieder! Sie ging mir längſt verloren —
ſie blieb bei Dir. Gieb mir ſie mit Deinem treuen
Herzen! Du haſt ſie darin aufbewahrt!“ Er umfaßte
ſie mit beiden Armen und drückte ihr Haupt, dem die
Maske entfiel, an ſeine Bruſt.
„Hüte Dich, hüte Dich, Jürg!“ flüſterte ſie, ſeiner
Umſchlingung widerſtrebend und erhob zu ihm Augen
voll unendlicher Angſt und Liebe.
Er mißverſtand ſie. „Ich weiß es ſchon,“ rief er,
„auf Riedberg wird keine Hochzeit gefeiert! Kehre nie¬
[403] mals dorthin zurück! Du bleibſt bei mir auf ewig!
Wir verreiten noch heute nach Davos! — Jetzt aber
zum Reigen!“ —
Im Saale erklang eine rauſchende wilde Tanz¬
weiſe. Jenatſch löſte ſeinen Degengurt, warf die Waffe
auf einen Sitz und umfaßte Lucretia feſter. Ihre
Augen hafteten ſtarr an der Thür, wo, hereinblickend,
verlarvte Geſtalten ſich drängten. Sie hatte die ſcharfe
widrige Stimme Rudolfs vernommen.
Jetzt ſtellte ſich eine kleine Ungeſtalt im langen
ſchwarzen Rocke eines Küſters mit lächerlichen Bücklingen
vor den Oberſten. Die Schiefertafel in der einen, ein
Stück Kreide in der andern Hand, fragte ſie näſelnd:
„Welchen Pſalm oder Liedervers belieben der Herr Pfar¬
rer von Scharans heut vor der Predigt ſingen zu
laſſen?“
Jenatſch erkannte ſogleich das große Haupt und
die kurzen ehrlichen Finger des Kellermeiſters Fauſch.
„Ei, Du biſt zu fett für eine Kirchenmaus!“ rief er
ihm zu, „doch mein Verslein ſollſt Du haben:
Das laß mir ſingen.“ —
Der Kellermeiſter warf einen liſtig beobachtenden
26*[404] Blick auf die ſich umſchlungen Haltenden und drückte
ſeine dicke Perſon, als wollte er ſie von ſeiner Gegenwart
befreien, ſo raſch er konnte, durch die Masken an der
Thüre in den Saal hinaus, wo die Paare, vom Raſen
der Geigen und Pauken fortgeriſſen, immer ſchneller
vorüberwirbelten. Fauſch hatte nicht bemerkt, wie ängſt¬
lich Lucretia beſtrebt war, ihm, Jenatſch mit ſich fort¬
ziehend, auf dem Fuße zu folgen.
Schon war es zu ſpät. Das Zimmer füllte ſich
mit einem wilden Maskenhaufen und es war eine Un¬
möglichkeit geworden, den umdrängten Ausgang zu ge¬
winnen. Auch dachte Jenatſch nicht mehr daran. Er
war verſunken in die wunderbare, wie von zerſtörenden
innern Flammen beleuchtete Schönheit ſeiner Braut und
führte ſie, dem Maskenſpiel in der Mitte des Gemaches
Raum gebend, in eine Fenſterniſche. Doch das den
Zug anführende Bärenungeheuer mit den Wappen der
drei Bünde auf der Bruſt ſchritt ſchwerfällig auf ihn
zu, ſtreckte, ihm auf den Leib rückend, die rechte Tatze
aus und begann mit brummender Stimme: „Ich bin
die Respublica der drei Bünde und begehre mit meinem
Helden ein Tänzlein zu thun!“
„Das darf ich nicht ausſchlagen, obgleich ich meine
Dame ungern laſſe,“ erwiederte Jenatſch und reichte
der Bärin, den Fuß wie zum Tanze hebend, bereit¬
[405] willig die Rechte. Dieſe aber ſchlug die beiden Tatzen
um die gebotene Hand und packte ſie mit eiſerner
Mannesgewalt. Zugleich zog ſich der Larvenkreis eng
um den Feſtgehaltenen zuſammen und überall wurden
Waffen bloß.
Lucretia drängte ſich feſt an die linke Seite des
Umſtellten, wie um ihn zu decken. Sie hatte ihm keine
Waffe zu reichen. Wieder traf die Stimme Rudolfs
ihr Ohr. „Dies, Lucretia, für die Ehre der Planta,“
flüſterte er dicht hinter ihr und ſie ſah, mit halbge¬
wandtem Haupte, wie ſeine feine ſpaniſche Klinge vor¬
ſichtig eine gefährliche Stelle zwiſchen den Schulter¬
blättern Georgs ſuchte, der eben mit der freien Linken
einen ſchweren ehernen Leuchter auf dem Schenktiſche
erreicht hatte, und, deſſen gewichtigen Fuß gegen die
Angreifer ſchwingend, die von vorn fallenden Hiebe
parirte.
Da ſchmetterte ein Axtſchlag neben ihr nieder.
Sie erblickte ihren treuen Lucas, ohne Maske und bar¬
haupt, der von hinten vordringend, ein altes Beil zum
zweiten Mal auf Rudolfs bleiches Haupt fallen ließ
und ihn anſchrie: „Weg, Schurke! Das iſt nicht Dei¬
nes Amtes.“ Dann warf er den Sterbenden auf die
Seite, drückte Lucretia weg und ſtand mit erhobener
Axt vor Jenatſch. Der Starke, der ſchon aus vielen
[406] Wunden blutete, ſchlug mit wuchtiger Fauſt ſeinen Leuch¬
ter blindlings auf das graue Haupt. Lautlos ſank der
alte Knecht auf Lucretias Füße. Sie neigte ſich zu
ihm nieder und er gab ihr mit brechendem Blicke das
blutige Beil in die Hand. Es war die Axt, mit der
einſt Pompejus Planta erſchlagen worden war. In Ver¬
zweiflung richtete ſie ſich auf, ſah Jürg ſchwanken, von
gedungenen Mördern umſtellt, von feigen Waffen umzuckt
und verwundet, — jetzt, in plötzlichem Entſchluß, hob
ſie mit beiden Händen die ihr vererbte Waffe und traf
mit ganzer Kraft das theure Haupt. Jürgs Arme ſan¬
ken, er blickte die hoch vor ihm Stehende mit voller
Liebe an, ein düſterer Triumph flog über ſeine Züge,
dann ſtürzte er ſchwer zuſammen.
Als Lucretia ihrer Sinne wieder mächtig wurde,
kniete ſie neben der Leiche, das Haupt des Erſchlagenen
lag in ihrem Schooß. Das Gemach war leer, neben
ihr aber ſtand Pancraz und legte die Hand auf ihre
Schulter, während unter der Thüre Fauſch dem Bürger¬
meiſter Waſer das Ereigniß jammernd erzählte.
Willig wie ein Kind folgte ſie dem Mönch, der ſie
von der Unglücksſtätte wegführte. Waſer aber über
nahm die Leichenwache.
Nicht lange blieb er allein. Als das erſte Ent¬
ſetzen vorüber war und die Verwirrung der Gemüther
[407] ſich löſte, kamen die Häupter der Stadt eines nach dem
anderen in die Todtenkammer und klagten um Bündens
größten Mann, ſeinen Befreier und Wiederherſteller.
Sie verzichteten darauf, die Urheber ſeines Todes,
die ihnen als die Werkzeuge eines nothwendigen Schickſals
erſchienen, vor Gericht zu ziehen. Keine neue Parteiung
und Rache ſollte aus ſeinem Blute entſtehen, — er
hätte es ſelbſt nicht gewollt. Aber ſie beſchloſſen, ihn
mit ungewöhnlichen, ſeinen Verdienſten um das Land
angemeſſenen Ehren zu beſtatten.
Appendix A
Leipzig, Walter Wigand's Buchdruckerei.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Meyer, Conrad Ferdinand. Georg Jenatsch. Eine alte Bündnergeschichte. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmmq.0