Monatsſchrift.
Bei Haude und Spener.
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Inhalt
des vierten Bandes.
Julius.
- 1. An den Markus Lollius. Aus dem Horaz.
Vom Herrn Prof. Rammler. Seite 1 - 2. Geſchichte der Streitigkeiten Pabſt Paul
des Fünften, und der Republik Venedig.
Vom Herrn Prof. Eberhard. 13 - 3. Der Traum, ein Chor mit Flöten. Vom
Herrn Legationsſekretär Schönborn. 37 - 4. Noch etwas über die aëroſtatiſchen Maſchi¬
nen, vorzüglich über deren Lenkung. Vom
Herrn Prof. Prevoſt. 39 - 5. Heutige deutſche Philoſophie. 50
- 6. Ueber die neue preußiſche Justizverfaſſung. 56
- 7. Schreiben eines Buchhändlers von der Leip¬
ziger Oſtermeſſe. 63 - 8. Etymologie des Worts Wadel. Vom Hrn.
Hofprediger Stoſch. 74 - 9. Der Weinſtok und die andern Bäume. Zwei
Fabeln. Vom Herrn Meißner. 77 - 10. Ueber Berlin. Von einem Fremden.
(Fortſetzung.) 79 - 11. Nachtrag zur Geſchichte des katholiſchen
Gottesdienſtes in proteſtantiſchen Kirchen. 94
Auguſt.
- 1. Cyrus und Kaſſandana. Ein Singeſpiel.
Vom Herrn Profeſſor Ramler. Seite 97 - 2. Die Bildſäule. Ein pſychologiſch–allegori¬
ſches Traumgeſicht. Vom Herrn Moſes
Mendelsſohn. 130 - 3. Die Curmethoden. 155
- 4. Ueber Berlin. Von einem Fremden. (Fort¬
ſetzung.) 160 - 5. Ueber ißt und iſt. Ein von Friedr. Gedike. 175
- 6. Ueber den Regenbogen: 1 B. Moſ. IX, 13
bis 17. Vom Herrn Prof. Eberhard. 180 - 7. Von der analogiſchen Schlußart. Vom
Herrn Profeſſor Selle. 185 - 8. Ueber die Katholiken in Holland. 187
- 9. Eine Schatzgräbergeſchichte. Vom Herrn
K. G. Schröder. 189
September.
- 1. Ueber die Frage: Was heißt aufklären?
Vom Hrn. Moſes Mendelsſohn. Seite 193 - 2. Xaverius Großinger in Wien, an die
Herren Herausgeber der Berliniſchen Mo¬
natsſchrift. 201 - 3. Eingabe an das Oberſanitätskollegium in
Berlin von einem Mitgliede deſſelben. 223 - 4. Ueber den wahren Geiſt des reinen Deis¬
mus. 231 - 5. Ueber ein paar Stellen in dem neueſten Stük
des Göttingiſchen Magazins; nebſt einem
Anhang über Wetterprophezeihungen.
Vom Herrn Profeſſor Prevoſt. 238 - 6. Ueber die analogiſche Schlußart. Vom
Herrn Doktor Herz. 246 - 7. Beitrag zur deutſchen Kriminalgeſchichte. 252
- 8. Einige Vorſchläge zur Verhütung der De¬
ſertion bei den Soldaten. 256 - 9. Ueber eine räthſelhafte Räthſelgeſchichte in
unſern Tagen. Von Friedr. Gedike. 267
Oktober.
- 1. Lieb des alten Invaliden am Heck zu Schar¬
lottenburg, an die Herren und Damen in
Berlin. Seite 289 - 2. Ueber das ſittlich und phyſiſch Gute. (Ein
Briefwechſel zwiſchen Herrn Schwab
und Mendelsſohn in Berlin:) 293 - 3. Neue Theorie über den Flug der Vögel nach
den Grundſätzen der Aeroſtatik. Vom
Herrn Prof. J. R. Forſter in Halle. 304 - 4. Ueber die vielen Reiſebeſchreibungen in un¬
ſern Tagen. 319 - 5. Sulpicia an Cerinths Geburtstage. Aus
dem Tibull, (B. IV. El. V.) Vom Herrn
Manſo. 333 - 6. Nähere Beſtimmung der analogiſchen
Schlußart. Vom Herrn Prof. Selle. 334 - 7. Ueber Berlin. Von einem Fremden. (Fort¬
ſetzung.) 337 - 8. Sonderbares Gebet für verheirathete
Frauen. 351 - 9. Denkmal eines mathematiſchen Leinwebers.
Vom Herrn Prof. Wünſch. 356 - 10. Ueber die 4te Ekloge Virgils. Vom Hrn.
Prof. Bruns. 379 - 11. Karun. Vom Herrn Meißner. 383
November.
- 1. Idee zu einer allgemeinen Geſchichte in
weltbürgerlichen Abſicht. Vom Herrn
Prof. Kant. Seite 386 - 2. Liebes- und Freundſchaftsgeſchichte. Eine
Romanze. Vom Herrn Hauptmann von
Stamford. 411 - 3. Schreiben einer Alchymiſtengeſellſchaft an
die Herausgeber und Mitarbeiter der Ber
liniſchen Monatsſchrift. 416 - 4. Anekdoten. 428–446
- 1. Zwei ſchwärmeriſche Selbſtmörder. 428
- 2. Volkstäuſchung. 428
- 3. Mährchen von der Kanzel. 430
- 4. Bakchanalien in der Chriſtnacht. 431
- 5. Erinnerungskraft aus Wahnſinn. 434
- 6. Ein neuer Meſſias. 438
- 7. Ein neuer Wunderdoktor. 441
- 5. Ueber Berlin. Von einem Fremden. (Fort¬
ſetzung. 447 - 6. Auszug aus einer märkiſchen Bußpredigt,
wegen zwei monſtröſer Ferkel. 471 - 7. Der Affe. Eine Fabel. 480
December.
- 1. Beantwortung der Frage: was iſt Aufklä¬
rung? Vom Herrn Prof. Kant. Seite 481 - 2. Schreiben über die Kempeliſchen Schach¬
ſpiel- und Redemaſchinen. 495 - Zuſatz zu dieſem Schreiben. Von
Bieſter. 506 - 3. Fernere Nachricht von dem Fortgange der
allgemeinen Reviſion des geſammten Schul-
und Erziehungsweſens, von einer Geſell¬
ſchaft p[r]aktiſcher Erzieher. Vom Herrn
Edukationsrath Campe. 515 - 4. Anekdoten.
- 1. Der Pſeudo-Graf Caglioſtro. 536
- 2. Der Pſeudo-Freiherr von Mortczini. 539
- 3. Der Berliniſche Planetenleſer. 551
- 5. Ueber Berlin. Von einem Fremden. (Fort¬
ſetzung.) 556 - 6. Verſuch eines B[e]weiſes, daß es keine reine
von der Erfahrung unabhängige Vernunft¬
begriffe gebe. Vom Herrn Prof. Selle. 565 - 7. Nachtrag zu Nr. 2. über Herrn von Kem¬
pelen's Maſchinen. 576
Berliniſche Monatsſchrift.
1784.
Zwölftes Stük. December.
I.
Beantwortung der Frage:
Was iſt Aufklärung?
(S. Decemb. 1783. S. 516.)
Aufklärung iſt der Ausgang des Men¬
ſchen aus ſeiner ſelbſt verſchuldeten Unmün¬
digkeit. Unmündigkeit iſt das Unvermögen,
ſich ſeines Verſtandes ohne Leitung eines anderen
zu bedienen. Selbſtverſchuldet iſt dieſe Unmün¬
digkeit, wenn die Urſache derſelben nicht am Man¬
gel des Verſtandes, ſondern der Entſchließung und
des Muthes liegt, ſich ſeiner ohne Leitung eines
andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth
dich deines eigenen Verſtandes zu bedienen! iſt al¬
ſo der Wahlſpruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit ſind die Urſachen, warum
ein ſo großer Theil der Menſchen, nachdem ſie die
Natur längſt von fremder Leitung frei geſprochen
B. Monatsſchr. IV. B. 6. St. Hh(na¬
[482](naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens
unmündig bleiben; und warum es Anderen ſo leicht
wird, ſich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es
iſt ſo bequem, unmündig zu ſein. Habe ich ein
Buch, das für mich Verſtand hat, einen Seelſor¬
ger, der für mich Gewiſſen hat, einen Arzt der für
mich die Diät beurtheilt, u. ſ. w. ſo brauche ich mich
ja nicht ſelbſt zu bemühen. Ich habe nicht nöthig
zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere
werden das verdrießliche Geſchäft ſchon für mich
übernehmen. Daß der bei weitem größte Theil der
Menſchen (darunter das ganze ſchöne Geſchlecht)
den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er be¬
ſchwerlich iſt, auch für ſehr gefährlich halte: dafür
ſorgen ſchon jene Vormünder, die die Oberaufſicht
über ſie gütigſt auf ſich genommen haben. Nach¬
dem ſie ihr Hausvieh zuerſt dumm gemacht haben,
und ſorgfältig verhüteten, daß dieſe ruhigen Ge¬
ſchöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen,
darin ſie ſie einſperreten, wagen durften; ſo zeigen
ſie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet,
wenn ſie es verſuchen allein zu gehen. Nun iſt die¬
ſe Gefahr zwar eben ſo groß nicht, denn ſie würden
durch einigemahl Fallen wohl endlich gehen lernen;
allein ein Beiſpiel von der Art macht doch ſchüch¬
tern, und ſchrekt gemeiniglich von allen ferneren
Verſuchen ab.
Es iſt alſo für jeden einzelnen Menſchen ſchwer,
ſich aus der ihm beinahe zur Natur, gewordenen Un¬
mün¬[483] mündigkeit herauszuarbeiten. Er hat ſie ſogar lieb
gewonnen, und iſt vor der Hand wirklich unfähig,
ſich ſeines eigenen Verſtandes zu bedienen, weil
man ihn niemals den Verſuch davon machen ließ.
Satzungen und Formeln, dieſe mechaniſchen Werk¬
zeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr
Mißbrauchs ſeiner Naturgaben, ſind die Fußſchel¬
len einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer ſie
auch abwürfe, würde dennoch auch über den ſchma¬
leſten Graben einen nur unſicheren Sprung thun,
weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht ge¬
wöhnt iſt. Daher giebt es nur Wenige, denen es
gelungen iſt, durch eigene Bearbeitung ihres Gei¬
ſtes ſich aus der Unmündigkeit heraus zu wikkeln,
und dennoch einen ſicheren Gang zu thun.
Daß aber ein Publikum ſich ſelbſt aufkläre, iſt
eher möglich; ja es iſt, wenn man ihm nur Frei¬
heit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden
ſich immer einige Selbſtdenkende, ſogar unter den
eingeſetzten Vormündern des großen Haufens, fin¬
den, welche, nachdem ſie das Joch der Unmündig¬
keit ſelbſt abgeworfen haben, den Geiſt einer ver¬
nünftigen Schätzung des eigenen Werths und des
Berufs jedes Menſchen ſelbſt zu denken um ſich ver¬
breiten werden. Beſonders iſt hiebei: daß das Pu¬
blikum, welches zuvor von ihnen unter dieſes Joch
gebracht worden, ſie hernach ſelbſt zwingt darunter
zu bleiben, wenn es von einigen ſeiner Vormünder,
die ſelbſt aller Aufklärung unfähig ſind, dazu auf¬
H h 2ge¬[484] gewiegelt worden; ſo ſchädlich iſt es Vorurtheile zu
pflanzen, weil ſie ſich zuletzt an denen ſelbſt rächen,
die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber geweſen
ſind. Daher kann ein Publikum nur langſam zur
Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird
vielleicht wohl ein Abfall von perſönlichem Despo¬
tism und gewinnſüchtiger oder herrſchſüchtiger Be¬
drükkung, aber niemals wahre Reform der Den¬
kungsart zu Stande kommen; ſondern neue Vor¬
urtheile werden, eben ſowohl als die alten, zum
Leitbande des gedankenloſen großen Haufens
dienen.
Zu dieſer Aufklärung aber wird nichts erfordert
als Freiheit; und zwar die unſchädlichſte unter
allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die:
von ſeiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen
Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von al¬
len Seiten rufen: räſonnirt nicht! Der Offi¬
zier ſagt: räſonnirt nicht, ſondern exercirt! Der
Finanzrath: räſonnirt nicht, ſondern bezahlt! Der
Geiſtliche: räſonnirt nicht, ſondern glaubt! (Nur
ein einziger Herr in der Welt ſagt: räſonnirt, ſo
viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber ge¬
horcht!) Hier iſt überall Einſchränkung der Frei¬
heit. Welche Einſchränkung aber iſt der Aufklä¬
rung hinderlich? welche nicht, ſondern ihr wohl gar
beförderlich? — Ich antworte: der öffentliche
Gebrauch ſeiner Vernunft muß jederzeit frei ſein,
und der allein kann Aufklärung unter Menſchen zu
Stan¬[485] Stande bringen; der Privatgebrauch derſelben
aber darf öfters ſehr enge eingeſchränkt ſein, ohne
doch darum den Fortſchritt der Aufklärung ſonder¬
lich zu hindern. Ich verſtehe aber unter dem öffent¬
lichen Gebrauche ſeiner eigenen Vernunft denjeni¬
gen, den jemand als Gelehrter von ihr vor
dem ganzen Publikum der Leſerwelt macht. Den
Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in ei¬
nem gewiſſen ihm anvertrauten bürgerlichen Po¬
ſten, oder Amte, von ſeiner Vernunft machen darf.
Nun iſt zu manchen Geſchäften, die in das Inte¬
reſſe des gemeinen Weſens laufen, ein gewiſſer Me¬
chanism nothwendig, vermittelſt deſſen einige Glie¬
der des gemeinen Weſens ſich bloß paſſiv verhalten
müſſen, um durch eine künſtliche Einhelligkeit von
der Regierung zu öffentlichen Zwekken gerichtet,
oder wenigſtens von der Zerſtörung dieſer Zwekke
abgehalten zu werden. Hier iſt es nun freilich nicht
erlaubt, zu räſonniren; ſondern man muß gehor¬
chen. So fern ſich aber dieſer Theil der Maſchine
zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Weſens,
ja ſogar der Weltbürgergeſellſchaft anſieht, mithin
in der Qualität eines Gelehrten, der ſich an ein Pu¬
blikum im eigentlichen Verſtande durch Schriften
wendet; kann er allerdings räſonniren, ohne daß
dadurch die Geſchäfte leiden, zu denen er zum Thei¬
le als paſſives Glied angeſetzt iſt. So würde es
ſehr verderblich ſein, wenn ein Offizier, dem von
ſeinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienſte
Hh 3.über[486] über die Zwekmäßigkeit oder Nützlichkeit dieſes Be¬
fehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen.
Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt
werden, als Gelehrter, über die Fehler im Krieges¬
dienſte Anmerkungen zu machen, und dieſe ſeinem
Publikum zur Beurtheilung vorzulegen. Der Bür¬
ger kann ſich nicht weigern, die ihm auferlegten
Abgaben zu leiſten; ſogar kann ein vorwitziger Ta¬
del ſolcher Auflagen, wenn ſie von ihm geleiſtet
werden ſollen, als ein Skandal (das allgemeine
Widerſetzlichkeiten veranlaſſen könnte) beſtraft wer¬
den. Eben derſelbe handelt demohngeachtet der
Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er, als
Gelehrter, wider die Unſchiklichkeit oder auch Un¬
gerechtigkelt ſolcher Ausſchreibungen öffentlich ſeine
Gedanken äußert. Eben ſo iſt ein Geiſtlicher ver¬
bunden, ſeinen Katechismusſchülern und ſeiner Ge¬
meine nach dem Symbol der Kirche, der er dient,
ſeinen Vortrag zu thun; denn er iſt auf dieſe Be¬
dingung angenommen worden. Aber als Gelehr¬
ter hat er volle Freiheit, ja ſogar den Beruf dazu,
alle ſeine ſorgfältig geprüften und wohlmeinenden
Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol,
und Vorſchläge wegen beſſerer Einrichtung des Re¬
ligions- und Kirchenweſens, dem Publikum mitzu¬
theilen. Es iſt hiebei auch nichts, was dem Ge¬
wiſſen zur Laſt gelegt werden könnte. Denn, was
er zu Folge ſeines Amts, als Geſchäftträger der
Kirche, lehrt, das ſtellt er als etwas vor, in Anſe¬
hung[487] hung deſſen er nicht freie Gewalt hat nach eigenem
Gutdünken zu lehren, ſondern das er nach Vor¬
ſchrlft und im Namen eines andern vorzutragen
angeſtellt iſt. Er wird ſagen: unſere Kirche lehrt
dieſes oder jenes; das ſind die Beweisgründe, deren
ſie ſich bedient. Er zieht alsdann allen praktiſchen
Nutzen für ſeine Gemeinde aus Satzungen, die er
ſelbſt nicht mit voller Ueberzeugung unterſchreiben
würde, zu deren Vortrag er ſich gleichwohl anhei¬
ſchig machen kann, weil es doch nicht ganz unmög¬
lich iſt, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf
alle Fälle aber wenigſtens doch nichts der innern Re¬
ligion widerſprechendes darin angetroffen wird.
Denn glaubte er das letztere darin zu finden, ſo
würde er ſein Amt mit Gewiſſen nicht verwalten
können; er müßte es niederlegen. Der Gebrauch
alſo, den ein angeſtellter Lehrer von ſeiner Ver¬
nunft vor ſeiner Gemeinde macht, iſt bloß ein Pri¬
vatgebrauch; weil dieſe immer nur eine häusli¬
che, obzwar noch ſo große, Verſammlung iſt; und
in Anſehung deſſen iſt er, als Prieſter, nicht frei,
und darf es auch nicht ſein, weil er einen fremden
Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der
durch Schriften zum eigentlichen Publikum, näm¬
lich der Welt, ſpricht, mithin der Geiſtliche im öf¬
fentlichen Gebrauche ſeiner Vernunft, genießt
einer uneingeſchränkten Freiheit, ſich ſeiner eigenen
Vernunft zu bedienen und in ſeiner eigenen Perſon
zu ſprechen. Denn daß die Vormünder des Volks
(inHh 4[488] (in geiſtlichen Dingen) ſelbſt wieder unmündig ſein
ſollen, iſt eine Ungereimtheit, die auf Verewigung
der Ungereimtheiten hinausläuft.
Aber ſollte nicht eine Geſellſchaft von Geiſtli¬
chen, etwa eine Kirchenverſammlung, oder eine
ehrwürdige Klaſſis (wie ſie ſich unter den Hollän¬
dern ſelbſt nennt) berechtigt ſein, ſich eidlich unter
einander auf ein gewiſſes unveränderliches Symbol
zu verpflichten, um ſo eine unaufhörliche Obervor¬
mundſchaft über jedes ihrer Glieder und vermittelſt
ihrer über das Volk zu führen, und dieſe ſo gar zu
verewigen? Ich ſage: das iſt ganz unmöglich.
Ein ſolcher Kontrakt, der auf immer alle weitere
Aufklärung vom Menſchengeſchlechte abzuhalten ge¬
ſchloſſen würde, iſt ſchlechterdings null und nichtig;
und ſollte er auch durch die oberſte Gewalt, durch
Reichstäge und die feierlichſten Friedensſchlüſſe be¬
ſtätigt ſein. Ein Zeitalter kann ſich nicht verbün¬
den und darauf verſchwören, das folgende in einen
Zuſtand zu ſetzen, darin es ihm unmöglich werden
muß, ſeine (vornehmlich ſo ſehr angelegentliche)
Erkenntniſſe zu erweitern, von Irrthümern zu rei¬
nigen, und überhaupt in der Aufklärung weiter zu
ſchreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die
menſchliche Natur, deren urſprüngliche Beſtim¬
mung gerade in dieſem Fortſchreiten beſteht; und die
Nachkommen ſind alſo vollkommen dazu berechtigt,
jene Beſchlüſſe, als unbefugter und frevelhafter
Weiſe genommen, zu verwerfen. Der Probierſtein
alles[489] alles deſſen, was über ein Volk als Geſetz beſchloſ¬
ſen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk
ſich ſelbſt wohl ein ſolches Geſetz auferlegen könnte?
Nun wäre dieſes wohl, gleichſam in der Erwartung
eines beſſern, auf eine beſtimmte kurze Zeit mög¬
lich, um eine gewiſſe Ordnung einzuführen; indem
man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem
Geiſtlichen, frei ließe, in der Qualität eines Gelehr¬
ten öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Feh¬
lerhafte der dermaligen Einrichtung ſeine Anmer¬
kungen zu machen, indeſſen die eingeführte Ord¬
nung noch immer fortdauerte, bis die Einſicht in
die Beſchaffenheit dieſer Sachen öffentlich ſo weit
gekommen und bewähret worden, daß ſie durch Ver¬
einigung ihrer Stimmen (wenn gleich nicht aller)
einen Vorſchlag vor den Thron bringen könnte, um
diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die
ſich etwa nach ihren Begriffen der beſſeren Einſicht
zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt
hätten, ohne doch diejenigen zu hindern, die es beim
Alten wollten bewenden laſſen. Aber auf eine be¬
harrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde
Religionsverfaſſung, auch nur binnen der Lebens¬
dauer eines Menſchen, ſich zu einigen, und dadurch
einen Zeitraum in dem Fortgange der Menſchheit
zur Verbeſſerung gleichſam zu vernichten, und
fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommen¬
ſchaft nachtheilig, zu machen, iſt ſchlechterdings un¬
erlaubt. Ein Menſch kann zwar für ſeine Perſon,
undHh 5[490] und auch alsdann nur auf einige Zeit, in dem was
ihm zu wiſſen obliegt die Aufklärung aufſchieben;
aber auf ſie Verzicht zu thun, es ſei für ſeine Per¬
ſon, mehr aber noch für die Nachkommenſchaft,
heißt die heiligen Rechte der Menſchheit verletzen
und mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein
Volk über ſich ſelbſt beſchließen darf, das darf noch
weniger ein Monarch über das Volk beſchließen;
denn ſein geſetzgebendes Anſehen beruht eben dar¬
auf, daß er den geſammten Volkswillen in dem ſei¬
nigen vereinigt. Wenn er nur darauf ſieht, daß
alle wahre oder vermeinte Verbeſſerung mit der bür¬
gerlichen Ordnung zuſammen beſtehe; ſo kann er
ſeine Unterthanen übrigens nur ſelbſt machen laſſen,
was ſie um ihres Seelenheils willen zu thun nöthig
finden; das geht ihn nichts an, wohl aber zu ver¬
hüten, daß nicht einer den andern gewaltthätig hin¬
dere, an der Beſtimmung und Beförderung deſſel¬
ben nach allem ſeinen Vermögen zu arbeiten. Es
thut ſelbſt ſeiner Majeſtät Abbruch, wenn er ſich
hierin miſcht, indem er die Schriften, wodurch
ſeine Unterthanen ihre Einſichten ins Reine zu brin¬
gen ſuchen, ſeiner Regierungsaufſicht würdigt, ſo¬
wohl wenn er dieſes aus eigener höchſten Einſicht
thut, wo er ſich dem Vorwurfe ausſetzt: Caeſar
non eſt ſupra Grammaticos, als auch und noch weit
mehr, wenn er ſeine oberſte Gewalt ſo weit ernie¬
drigt, den geiſtlichen Despotism einiger Tyrannen
in[491] in ſeinem Staate gegen ſeine übrigen Unterthanen
zu unterſtützen.
Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt
in einem aufgeklärten Zeitalter? ſo iſt die Ant¬
wort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der
Aufklärung. Daß die Menſchen, wie die Sa¬
chen jetzt ſtehen, im Ganzen genommen, ſchon im
Stande waren, oder darin auch nur geſetzt werden
könnten, in Religionsdingen ſich ihres eigenen Ver¬
ſtandes ohne Leitung eines Andern ſicher und gut zu
bedienen, daran fehlt noch ſehr viel. Allein, daß
jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, ſich dahin
frei zu bearbeiten, und die Hinderniſſe der allgemei¬
nen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer
ſelbſt verſchuldeten Unmündigkeit, allmälig weniger
werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen.
In dieſem Betracht iſt dieſes Zeitalter das Zeital¬
ter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Frie¬
derichs.
Ein Fürſt, der es ſeiner nicht unwürdig findet,
zu ſagen: daß er es für Pflicht halte, in Religi¬
onsdingen den Menſchen nichts vorzuſchreiben, ſon¬
dern ihnen darin volle Freiheit zu laſſen, der alſo
ſelbſt den hochmüthigen Namen der Toleranz von
ſich ablehnt: iſt ſelbſt aufgeklärt, und verdient von
der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige ge¬
prieſen zu werden, der zuerſt das menſchliche Ge¬
ſchlecht der Unmündigkeit, wenigſtens von Seiten
der Regierung, entſchlug, und Jedem frei ließ, ſich
in[492] in allem, was Gewiſſensangelegenheit iſt, ſeiner
eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen
verehrungswürdige Geiſtliche, unbeſchadet ihrer
Amtspflicht, ihre vom angenommenen Symbol hier
oder da abweichenden Urtheile und Einſichten, in
der Qualität der Gelehrten, frei und öffentlich der
der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber
jeder andere, der durch keine Amtspflicht einge¬
ſchränkt iſt. Dieſer Geiſt der Freiheit breitet ſich
auch außerhalb aus, ſelbſt da, wo er mit äußeren
Hinderniſſen einer ſich ſelbſt mißverſtehenden Re¬
gierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieſer doch
ein Beiſpiel vor, daß bei Freiheit, für die öffentliche
Ruhe und Einigkeit des gemeinen Weſens nicht das
mindeſte zu beſorgen ſei. Die Menſchen arbeiten
ſich von ſelbſt nach und nach a[u]s der Rohigkeit her¬
aus, wenn man nur nicht abſichtlich künſtelt, um
ſie darin zu erhalten.
Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die
des Ausganges der Menſchen aus ihrer ſelbſt ver¬
ſchuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religions¬
ſachen geſetzt: weil in Anſehung der Künſte und
Wiſſenſchaften unſere Beherrſcher kein Intereſſe
haben, den Vormund über ihre Unterthanen zu
ſpielen; überdem auch jene Unmündigkeit, ſo wie
die ſchädlichſte, alſo auch die entehrendſte unter al¬
len iſt. Aber die Denkungsart eines Staatsober¬
haupts, der die erſtere begünſtigt, geht noch weiter,
und ſieht ein: daß ſelbſt in Anſehung ſeiner Ge¬
ſetzge¬[493] ſetzgebung es ohne Gefahr ſei, ſeinen Unterthanen
zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentli¬
chen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken
über eine beſſere Abfaſſung derſelben, ſogar mit ei¬
ner freimüthigen Kritik der ſchon gegebenen, der
Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzen¬
des Beiſpiel haben, wodurch noch kein Monarch
demjenigen vorging, welchen wir verehren.
Aber auch nur derjenige, der, ſelbſt aufgeklärt,
ſich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein
wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen
der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, — kann das
ſagen, was ein Freiſtaat nicht wagen darf: räſon¬
nirt ſo viel ihr wollt, und worüber ihr wollt;
nur gehorcht! So zeigt ſich hier ein befremdli¬
cher nicht erwarteter Gang menſchlicher Dinge; ſo
wie auch ſonſt, wenn man ihn im Großen betrach¬
tet, darin faſt alles paradox iſt. Ein größerer
Grad bürgerlicher Freiheit ſcheint der Freiheit des
Geiſtes des Volks vortheilhaft, und ſetzt ihr doch
unüberſteigliche Schranken; ein Grad weniger von
jener verſchaft hingegen dieſem Raum, ſich nach al¬
lem ſeinen Vermögen auszubreiten. Wenn denn
die Natur unter dieſer harten Hülle den Keim, für
den ſie am zärtlichſten ſorgt, nämlich den Hang und
Beruf zum freien Denken, ausgewikkelt hat; ſo
wirkt dieſer allmählig zurük auf die Sinnesart des
Volks, (wodurch dieſes der Freiheit zu handeln
nach[494] nach und nach fähiger wird), und endlich auch ſo¬
gar auf die Grundſätze der Regierung, die es ihr
ſelbſt zuträglich findet, den Menſchen, der nun
mehr als Maſchine iſt, ſeiner Würde gemäß zu
behandeln. *)
I. Kant.
Königsberg in Preußen, den 30.
Septemb. 1784.
2. Schrei¬
vom 13. Sept. leſe ich heute den 30ſten eben deſſ. die
Anzeige der Berliniſchen Monatsſchrift, von dieſem
Monat, worin des Herrn Mendelsſohn Beantwor¬
tung eben derſelben Frage angeführt wird. Mir iſt ſie
noch nicht zu Händen gekommen; ſonſt würde ſie
die gegenwärtige zuükgehalten haben, die jetzt nur
zum Verſuche da ſtehen mag, wiefern der Zufall
Einſtimmigkeit der Gedanken zuwege bringen
könne.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Kant, Immanuel. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmmn.0