in zwei Theilen
E. Schweizerbart's Verlagshandlung.
1832.
Maler Nolten.
1
[[2]][[3]]
Ein heiterer Juniusnachmittag beſonnte die Stra-
ßen der Reſidenzſtadt. Der ältliche Baron Jaßfeld
machte nach längerer Zeit wieder einen Beſuch bei dem
Maler Tillſen, und nach ſeinen eilfertigen Schritten
zu urtheilen, führte ihn dießmal ein ganz beſonderes
Anliegen zu ihm. Er traf den Maler, wie gewöhnlich
nach Tiſche, mit ſeiner jungen Frau in dem kleinen,
ebenſo geſchmackvollen als einfachen Saale, deſſen an-
tike Dekoration ſich gar harmoniſch mit den gewöhn-
lichen Gegenſtänden des Gebrauchs und der Mode aus-
nahm. Man ſprach zuerſt in heiterm Tone über ver-
ſchiedene Dinge, bis die Frau ſich in Angelegenheiten
der Haushaltung entfernte und die beiden Herren allein
ließ.
Der Baron ſaß bequemlich mit übereinanderge-
ſchlagenen Beinen im weichen Fauteil, und indeß die
Wange in der rechten Hand ruhte, ſchien er während der
eingetretenen Pauſe den Maler in freundlichem Nachſin-
nen mit der neuen Anſicht zu vergleichen, die ſich ihm
ſeit geſtern über deſſen Werke aufgedrungen. „Mein
Lieber!“ fing er jetzt an, „daß ich Ihnen nur ſage, war-
[4] um ich vornehmlich hieher komme. Ich bin kürzlich
bei dem Grafen von Zarlin geweſen und habe dort
ein Gemälde geſehen, wieder und wieder geſehen und
des Sehens kaum genug gekriegt. Ich fragte nach
dem Meiſter, der Graf ließ mich rathen, ich rieth und
ſagte: Tillſen! — ſchüttelte aber unwillkürlich den
Kopf dabei, weil mir zugleich war, es könne doch nicht
wohl ſeyn; ich ſagte abermals: Tillſen, und ſagte zum
zweiten Mal: Nein!“
Bei dieſen Worten zeigte ſich eine Spur von Ver-
druß und Verlegenheit auf des Malers Geſicht; er
wußte ſie jedoch ſchnell zu verbergen und fragte mit
guter Laune: „Nun! das ſchöne Wunderwerk, das mei-
nen armen Pinſel bereits zweimal verläugnet hat —
was iſt es denn eigentlich?“
„Stellen Sie ſich nicht, Beſter,“ erwiderte der Alte
aufſtehend, mit herzlicher Fröhlichkeit und glänzen-
den Augen, „Ihnen iſt wohl bekannt, wovon ich rede.
Der von Zarlin hat Ihnen das Bild abgekauft und
Sie ſind nach ſeiner Verſicherung der Mann, der es
gemacht. Hören Sie, Tillſen,“ hier ergriff er ſeine
Hand, „hören Sie! ich bin nun einmal eben ein auf-
richtiger Burſche, und mag, wo ich meine Leute zu ken-
nen glaube, nicht übertrieben viel Vorſicht brauchen,
alſo plazte ich Ihnen gleich damit heraus, wie mir’s mit
Ihrem Bilde ergangen; es enthält unverkennbar ſo
Manches Ihrer Kunſt, beſonders was Farbe, was
Schönheit im Einzelnen, was namentlich auch die Land-
[5] ſchaft betrifft, aber es enthält — nein, es iſt ſogar
durchaus wieder etwas Anderes, als was Sie bisher
waren, und indem ich zugebe, daß die überraſchende
Entdeckung gewiſſer Ihnen in minderem Grade eigenen
Vorzüge mich irre gemacht, ſo liegt hierin ein Vorwurf
gegen Ihre früheren Arbeiten, den Sie immer von mir
gehört haben, ohne darum zu zweifeln, daß ich Sie für
einen in ſeiner Art trefflichen Künſtler halte. Ich fand
jetzt aber eine Keckheit und Größe der Kompoſition von
Figuren, eine Freiheit überall, wie Sie meines Wiſſens
der Welt niemals gezeigt hatten; und was mir ſchlech-
terdings als ein Räthſel erſchien, iſt die auffallende Ab-
weichung in der poetiſchen Denkungsart, in der Wahl
der Gegenſtände. Dieß gilt insbeſondere von zwei
Skizzen, deren ich noch gar nicht erwähnte und die Sie
dem Grafen in Oel auszuführen verſprochen haben.“
„Hier iſt eine durchaus ſeltene Richtung der Phan-
taſie; wunderbar, phantaſtiſch, zum Theil verwegen
und in einem angenehmen Sinne bizarr. Ich denke
dabei an die Geſpenſtermuſik im Walde und Mond-
ſchein, an den Traum des verliebten Rieſen. Tillſen!
um Gottes willen, ſagen Sie, wann iſt dieſe ungeheure
Veränderung vorgegangen? wie erklären Sie mir ſie?
Man weiß und hat es bedauert, daß Tillſen in an-
derthalb Jahren keine Farbe angerührt; warum ſagten
Sie mir während der lezten zwei Monate nicht eine
Sylbe vom Wiederanfange Ihrer Arbeiten? Sie haben
heimlich gemalt, Sie wollten uns überraſchen, und
[6] wahrlich, theuerſter, unbegreiflicher Freund, das iſt Ih-
nen gelungen.“ Hier ſchüttelte der feurige Redner den
ſtummen Hörer kräftig bei den Schultern, ſchmunzelte
und ſah ihm nahezu unter die Augen.
„Ich bin wahrhaftig,“ begann der Andere ganz ruhig,
aber lächelnd, „um den Ausdruck verlegen, Ihnen meine
Verwunderung über Ihre Worte zu bezeugen, wovon ich
das Mindeſte nicht verſtehe. Weder kann ich mich zu je-
nem Gemälde zu jenen Zeichnungen bekennen, noch
überhaupt faſſ’ ich Ihre Worte. Das Ganze ſcheint
ein Streich von Zarlin zu ſeyn, den er uns wohl
hätte erſparen mögen. Wie ſtehen wir einander nun
ſeltſam beſchämt gegenüber! Sie ſind gezwungen, ein
mir nicht gebührendes Lob zurück zu nehmen, und der
Tadel, den Sie vergnügt ſchon auf die alte Rechnung
ſezten, bleibt wo er hingehört. Das muß uns aber ja
nicht geniren, Baron, wir bleiben, hoff’ ich, die beſten
Freunde. Geben Sie mir aber doch, ich bitte Sie,
einen deutlichen Begriff von den bewußten Stücken.
Setzen Sie ſich!“
Jaßfeld hatte dieſe Rede bis zur Hälfte mit
offen ſtehendem Munde, beinahe ohne Athemzug an-
gehört, während der andern Hälfte trippelte er im
Zickzack durch den Saal, ſtand nun plötzlich ſtill und
ſagte: „Der Teufelskerl von Zarlin! Wenn ja der
— aber es iſt impoſſibel, ich behaupte trotz allen himm-
liſchen Heerſchaaren, Sie ſind der Maler, kein Anderer;
auch läßt ſich nicht annehmen, daß es etwa nur zum
[7] Theil Ihre Produktion wäre; Sie haben ſich in
Ihrem Leben nie auf Fremdes verlegt.“ Der Maler
bat wiederholt um die Schilderung der befragten Stücke.
„Ich beſchreibe Ihnen alſo, weil Sie es verlangen,
ihr eigen Werk,“ hub der alte Herr, ſich niederſetzend,
an, „aber kurz, und korrigiren Sie mich gleich, wenn
ich wo fehle. — Das ausgeführte Oelgemälde zeigt uns,
wie einer Waſſernymphe ein ſchöner Knabe auf dem
Kahn von einem Satyr zugeführt wird. Jene bildet
neben einigen Meerfelſen linker Hand die vorderſte
Figur. Sie drückt ſich, vorgeneigt und bis an die Hüften
im Waſſer, feſt an den Rand des Nachens, indem ſie
mit erhobenen Armen den reizenden Gegenſtand ihrer
Wünſche zu empfangen ſucht. Der ſchlanke Knabe
beugt ſich angſtvoll zurück und ſtreckt, doch unwillkürlich,
Einen Arm entgegen; hauptſächlich mag es der Zauber
ihrer Stimme ſeyn, was ihn unwiderſtehlich anzieht,
denn ihr freundlicher Mund iſt halb geöffnet und
ſtimmt rührend zu dem Verlangen des warmen Blicks.
Hier erkannte ich Ihren Pinſel, Ihr Kolorit, Ihren
unnachahmlichen Hauch, o Tillſen, hier rief ich Ih-
ren Namen aus. Das Geſicht der Nymphe iſt faſt nur
Profil, der ſchiefe Rücken und eine Bruſt iſt ſichtbar;
unvergleichlich das naſſe, blonde Haar. Bei der Sen-
kung einer Welle zeigt ſich wenig der Anſatz des ge-
ſchuppten Fiſchkörpers, in der Nähe ſchlägt der thie-
riſche Schwanz aus dem grünen Waſſer, aber man
vergißt das Ungeheuer über der Schönheit des menſch-
[8] lichen Theils und der Knabe vergeht in dem Liebreiz
dieſes Angeſichts; er verſäumt das leichte, nur noch
über die Schulter geſchlungene Tuch, das der Wind
als ſchmalen Streif in die Höhe flattern läßt. Eine
Figur von großer Bedeutung iſt der Satyr als Zu-
ſchauer. Die muskuloſe Figur ſteht, auf das Ruder
gelehnt, etwas ſeitwärts im Schiffe, und überragt,
obgleich nicht ganz aufrecht, die Uebrigen. Eine ſtumme
Leidenſchaft ſpricht aus ſeinen Zügen, denn obgleich
er der Nymphe durch den Raub und die Herbeiſchaf-
fung des herrlichen Lieblings einen Dienſt erweiſen
wollte, ſo ſtraft ihn jezt ſeine heftige Liebe zu ihr
mit unverhoffter Eiferſucht. Er möchte ſich lieber mit
Wuth von dieſer Scene [abkehren], allein er zwingt ſich
zu ruhiger Betrachtung, er ſucht einen bittern Genuß
darin. Das Ganze rundet ſich vortrefflich ab und mit
Klugheit wußte der Maler das Eine leere Ende des
Nachens rechter Hand hinter hohe Seegewächſe zu
verſtecken. Uebrigens iſt vollkommene Meerausſicht
und man befindet ſich mit den Perſonen einſam und
ziemlich unheimlich auf dem hülfloſen Bereiche. Ich
ſage Ihnen Nichts weiter, mein Freund. Ihre ge-
laſſene Miene verräth mir eine hinlängliche Bekannt-
ſchaft mit der Sache; Sie dürften übrigens, wenn
keine Verwunderung, doch wahrlich ein wenig gerech-
ten Stolz auf ihr Werk blicken laſſen, wofern nicht
eben in dieſem Anſcheine von Gleichgültigkeit ſchon
der höchſte Stolz liegt.“
[9]
„Die Skizzen, wenn ich bitten darf!“ erwiderte
der Andere; „wie verhält es ſich damit? Sie haben
mich ſehr neugierig gemacht.“
Der Baron holte friſch Athem, lächelte und be-
gann doch bald ernſthaft: „Federzeichnung, mit Waſſer-
farbe ziemlich ausgeführt, nach Ihrer gewöhnlichen
Weiſe. Das Blatt, wovon jezt die Rede iſt, hat
einen tiefen, und beſonders als ich es zum zweiten
Mal bei Lichte ſah, einen faſt ſchauderhaften Ein-
druck auf mich gemacht. Es iſt nichts weiter als
eine nächtliche Verſammlung muſikliebender Geſpenſter.
Man ſieht einen graſigen, etwas hüglichten Wald-
platz, ringsum, bis auf Eine Seite, eingeſchloſſen. Jene
offene Seite rechts läßt einen Theil der tiefliegenden,
in Nebel glänzenden Ebene überſehen; dagegen erhebt
ſich zur Linken im Vorgrunde eine naſſe Felswand,
unter der ſich ein lebhafter Quell bildet und in deren
Vertiefung eine gothiſch verzierte Orgel von mäßiger
Größe geſtellt iſt; vor ihr auf einem bemoosten Blocke
ſizt im Spiele begriffen gleich eine Hauptfigur, wäh-
rend die Uebrigen theils ruhig mit ihren Inſtrumen-
ten beſchäftigt, theils im Ringel tanzend oder ſonſt
in Gruppen umher zerſtreut ſind. Die wunderlichen
Weſen ſind meiſt in ſchleppende, zur Noth aufgeſchürzte
Gewande von grauer oder ſonſt einer beſcheidenen
Farbe gehüllt, blaſſe mitunter ſehr angenehme Todten-
geſichter, ſelten etwas Graſſes, noch ſeltener das ge-
ſchälte häßliche Todtenbein. Sie haben ſich, um nach
[10] ihrer Weiſe ſich gütlich zu thun, ohne Zweifel aus
einem unfernen Kirchhof hieher gemacht. Dieß iſt
ſchon durch die Kapelle rechts angedeutet, welche man
unten in einiger Nähe, jedoch nur halb, erblickt, denn
ſie wird durch den vorderſten Grabhügel abgeſchnitten,
an deſſen eingeſunkenem Kreuze von Stein ein Flö-
tenſpieler mit bemerkenswerther Haltung und trefflich
drapirtem Gewande ſich hingelagert hat. Ich wende
mich aber jezt wieder auf die entgegengeſezte Seite
zu der anziehenden Organiſtin. Sie iſt eine edle Jung-
frau mit geſenktem Haupte; ſie ſcheint mehr auf den
Geſang der zu ihren Füßen ſtrömenden Quelle, als
auf das eigene Spiel zu horchen. Das ſchwarze, ſee-
lenvolle Auge taucht nur träumeriſch aus der Tiefe
des inneren Geiſterlebens, ergreift keinen Gegenſtand
mit Aufmerkſamkeit, ruht nicht auf den Taſten, nicht
auf der ſchönen runden Hand, ein wehmüthig Lächeln
ſchwimmt kaum ſichtbar um den Mundwinkel und es
iſt, als ſinne dieſer Geiſt im jetzigen Augenblicke auf
die Möglichkeit einer Scheidung von ſeinem zweiten
leiblichen Leben. An der Orgel lehnt ein ſchlummer-
trunkener Jüngling mit geſchloſſenen Augen und lei-
denden Zügen, eine brennende Fackel haltend; ein
großer goldenbrauner Nachtfalter ſizt ihm in den
Seitenlocken. Zwiſchen der Wand und dem Kaſten
ſcheint ſich der Tod als Kalkant zu befinden, denn
eine knöcherne Hand und ein vorſtehender Fuß des
Gerippes wird bemerkt. Unter den Geſtalten im
[11] Mittelgrunde zeichnet ſich namentlich eine Gruppe von
Tanzenden aus, zwei kräftige Männer und eben ſo
viel Frauen in anmuthigen und kunſtvollen Bewegun-
gen, mit hochgehaltener Handreichung, wobei zuweilen
nackte Körpertheile edel und ſchön zum Vorſchein
kommen. Indeſſen, der Tanz ſcheint langſam und den
ernſten, ja traurigen Mienen derjenigen zu entſprechen,
welche ihn aufführen. Dieſen zu beiden Seiten und
dann mehr gegen den Hintergrund entfaltet ſich ein
vergnügteres Leben; man gewahrt muntere Stellun-
gen, endlich poſſenhafte und neckiſche Spiele. Etwas
fiel mir beſonders auf. Ein Knabengerippe im leich-
ten Scharlachmäntelchen ſitzt da und wollte ſich gern
von einem andern den Schuh ausziehen laſſen, aber
das Bein bis zum Knie ging mit und der ungeſchickte
Burſche will ſich zu Tode lachen. Hingegen ein an-
derer Zug iſt folgender: Vorn bei dem Flötenſpieler
befindet ſich ein Geſträuche, woraus eine magere Hand
ein Neſtchen bietet, während ein hingekauerter Greis
ſein Söhnchen bei der hingehaltenen Kerze bereits
einem Vogel in die verwundert unſchuldigen Aeuglein
blicken läßt; der Burſche hat übrigens ſchon eine zap-
pelnde Fledermaus am Fittig. Es gibt mehrere Züge
der Art; es gäbe überhaupt noch gar Vieles anzu-
führen. Die Beleuchtung, der wundervolle Wechſel
zwiſchen Mond- und Kerzenlicht, wie dieß einſt bei’m
Oelgemälde, beſonders in der Wirkung auf’s Grün,
ſich zauberiſch darſtellen wird, iſt überall bereits effekt-
[12] voll angedeutet und mit großer Kenntniß behandelt.
Doch genug! der Henker mag ſo was beſchreiben.“
Tillſen hatte ſchon ſeit einer Weile zerſtreut
und brütend geſeſſen. Jezt da das Schweigen des
Barons ihn zu ſich ſelbſt gebracht, erhob er ſich
raſch mit glühender Stirn vom Seſſel und ſprach ent-
ſchloſſen: „Ja, mein Herr, ich darf es ſagen, von
meiner Hand iſt, was Sie geſehen haben, doch“ —
hier brach er in ein gezwungenes Gelächter aus.
„Gott ſey Dank!“ unterbrach ihn der Baron, entzückt
aufſpringend, „nun hab’ ich genug; laſſen Sie ſich
küſſen, umarmen, Charmanteſter! die anderthalb Jahre
Faſtenzeit, worin Sie die Palette vertrocknen ließen,
haben Wunder an Ihnen gereift, eine Periode ent-
wickelt, über deren Früchte die Welt ſtaunen wird.
Nun geht es Schlag auf Schlag, geben Sie Acht,
ſeitdem der neue, ſtarke Frühling für Ihre Kunſt
durchbrochen hat, und in dieſer Stunde prophezeih’ ich
Ihnen die Fülle eines Ruhmes, der vielleicht Hun-
derte begeiſtern wird, das ganze Mark der Kräfte an
die edelſte Kunſt zu wenden, aber auch Tauſende zwin-
gen muß, in muthloſem Neide ſie abzuſchwören. Ach
lieber, beſcheidener Mann, Sie ſind bewegt, ich bin es
nicht weniger von herzlicher Freude. Laſſen Sie uns
in dieſem glücklichen Moment mit einem warmen
Händedruck auseinander gehen, und kein Wort weiter.
Ich gehe zum Grafen. Leben Sie wohl! auf Wieder-
ſehen.“ Damit war er zur Thüre hinaus.
[13]
Der Maler, unbeweglich, ſah ihm nach. Es
wollte ihn jezt fortreißen, dem Baron zu folgen, ihm
eine plötzliche Aufklärung zu geben, aber ein unwill-
kürlicher trockener Entſchluß hielt ihn wie an den
Boden gefeſſelt. Erſt nach einer langen Stille brach
er, beinahe ſchmerzlich lächelnd, in die Worte aus:
O betrogener redlicher Mann! wie haſt du dich un-
nöthig über mich verjubelt, mir arglos meine ganze
Blöße gezeigt! Ich mußte ein Lob anhören, das nicht
mir, ſondern einem Andern gehört und das juſt alles
das heraus hob, was mir zum rechten Maler abgeht,
ewig abgehen wird! Es iſt wahr, fuhr er in Ge-
danken fort, die Ausführung jener Kompoſitionen iſt
mein und iſt nicht das Schlechteſte am Ganzen; ſie
dient, jenen Erfindungen die rechte Bedeutung zu geben;
ohne mein Zuthun wären vielleicht die Skizzen des
armen Zeichners gleichgültig überſehen worden. Aber
nur auf der Spur ſeines Geiſtes ſtärkte, belebte ſich
der meinige, und nur von jenem ermuthigt konnte ich
ſogar auf eine Höhe des Ausdrucks kommen, bis zu
welcher ich mich nie erhoben hatte. Wie arm, wie
Nichts erſchein’ ich mir dieſem unbekannten Zeichner
gegenüber! Wie würf’ ich mit Freuden Alles hin,
was ſonſt an mir gerühmt wird, für die Gabe, ſolche
Umriſſe, ſolche Linien, ſolche Anordnung zu ſchaffen!
Ein Crayon, ein dürftig Papier iſt ihm genug, damit
er mich über den Haufen ſtürze. Wüßten nur erſt
die Herren, daß es die Werke eines Wahnſinnigen
[14] ſind, welche ſie bewundern, eines unſcheinbaren ver-
dorbenen Menſchen, ihr Staunen würde noch größer
ſeyn, als da ſie in mir den Meiſter gefunden zu ha-
ben glauben. Noch kennt außer mir Niemand den
wahren Erfinder, aber geſezt, ich wollte auf die Ge-
fahr, das dieſer ſein eigenſinniges Incognito brechen
kann, mir dennoch den Ruhm ſeiner Schöpfungen er-
halten, ich fände einen weit ſtärkeren Grund dagegen
in dem eigenen innern Bewußtſeyn. Darum muß es
an den Tag, lieber heute als morgen, ich ſey keines-
wegs der Rechte.
Das waren ungefähr die Gedanken des lebhaft
aufgeregten Mannes. Indeſſen war er, was den lez-
ten Punkt betrifft, noch nicht ſo ganz entſchieden.
Hatte er bisher die Meinung der Freunde ſo hin-
hängen laſſen, ohne ſie eben zu beſtärken, ohne zu
widerlegen, indem er ſich mit zweideutigem Scherz
in der Mitte hielt, ſo dachte er jezt, er könne unbe-
ſchadet ſeines Gewiſſens noch eine Zeitlang zuwarten
mit der Enthüllung, und er wolle ſein Benehmen
nachher, wenn es nöthig ſey, ſchon auf ehrenvolle Art
rechtfertigen.
So eben trat die junge [Frau] wieder ins Zim-
mer: ſie bemerkte die auffallende Bewegung an ihrem
Manne, ſie fragte erſchrocken, er läugnete und herzte
ſie mit einer ungewohnten Inbrunſt. Dann ging er
auf ſein Zimmer.
[15]
Es verſtrichen mehrere Wochen, ohne daß unſer
Maler gegen irgend Jemanden ſich über den wahren
Zuſammenhang der Sache erklärte, ſeinen Schwager,
den Major v. R., ausgenommen, dem er folgende
auffallende Eröffnung machte. „Es mag nun bald ein
Jahr ſeyn, als mich eines Abends ein verwahrloſ’ter
Menſch von ſchwächlicher Geſtalt und kränklichem
Ausſehen, eine ſpindeldünne Schneiderfigur, in meiner
Werkſtätte beſuchte. Er gab ſich für einen eifrigen
Dilettanten in der Malerei aus. Aber die windige
Art ſeines Benehmens, das Verworrene ſeines Ge-
ſprächs über Kunſtgegenſtände war eben ſo verdächtig,
als mir überhaupt der ganze Beſuch fatal und räth-
ſelhaft ſeyn mußte. Ich hielt ihn zum wenigſten für
einen aufdringlichen Schwätzer, wo nicht gar für einen
Schelmen, wie ſie gewöhnlich in fremden Häuſern um-
herſchleichen, die Leute zu beſtehlen und zu betrügen.
Hingegen wie groß war meine Verwunderung, als er
einige Blätter hervorzog, die er mit vieler Beſcheiden-
heit für leichte Proben von ſeiner Hand ausgab. Es
waren reinliche Entwürfe mit Bleiſtift und Kreide
voll Geiſt und Leben, wenn auch manche Mängel an
der Zeichnung ſogleich in’s Auge fielen. Ich verbarg
meinen Beifall abſichtlich, um meinen Mann erſt aus-
zuforſchen, mich zu überzeugen, ob das Alles nicht
etwa fremdes Gut wäre. Er ſchien mein Mißtrauen zu
bemerken und lächelte beleidigt, während er die Pa-
piere wieder zuſammenrollte. Sein Blick fiel inzwi-
[16] ſchen auf eine von mir angefangene Tafel, die an der
Wand lehnte, und wenn kurz vorher einige ſeiner Ur-
theile ſo abgeſchmackt und lächerlich als möglich klan-
gen, ſo ward ich jezt durch einige bedeutungsvolle
Worte aus ſeinem Munde überraſcht, welche mir ewig
unvergeßlich bleiben werden, denn ſie bezeichneten auf
die treffendſte Weiſe das Charakteriſtiſche meiner Ma-
nier und löſ’ten mir das Geheimniß eines Fehlers,
den ich bisher nur dunkel empfunden hatte. Der wunderliche
Menſch wollte mein Erſtaunen nicht bemerken, er griff
eben nach dem Hute, als ich ihn lebhaft zu mir auf
einen Sitz niederzog und zu einer weiteren Erörterung
aufforderte. Es überſteigt jedoch alle Beſchreibung,
in welch’ ſonderbarem Gemiſche des fadeſten und un-
ſinnigſten Galimatias mit einzelnen äußerſt pikanten
Streiflichtern von Scharfſinn ſich der Menſch in einer
ſüßlich wiſpernden Sprache nun gegen mich verneh-
men ließ. Dieß Alles zuſammengenommen und das
unpaſſende Kichern, womit er ſich ſelber und mich
gleichſam zu verhöhnen ſchien, ließ keinen Zweifel
übrig, daß ich hier das ſeltenſte Beiſpiel von Ver-
rücktheit vor mir habe, welches mir je begegnet war.
Ich brach ab, lenkte das Geſpräch auf gewöhnliche
Dinge und er ſchien ſich in ſeinem ſtutzerhaft affektir-
ten Betragen nur immer mehr zu gefallen. Dieß
elegante Vornehmthun machte mit ſeinem nothdürfti-
gen Aeußern, einem abgetragenen, hellgrünen Fräck-
chen und ſchlechten Ranking-Beinkleidern einen höchſt
[17] komiſchen, affreuſen Kontraſt. Bald zupfte er mit
zierlichem Finger an ſeinem ziemlich ungewaſchenen
Hemdſtrich, bald ließ er ſein Bambusröhrchen auf dem
ſchmalen Rücken tänzeln, indem er zugleich bemüht
war, durch Einziehung der Arme mir die ſchmähliche
Kürze des grünen Fräckchens zu verbergen. Mit alle
dieſem erregte er meine aufrichtige Theilnahme. Mußt’
ich mir nicht einen Menſchen denken, der mit ſeinem
außerordentlichen Talente, vielleicht durch gekränkte
Eitelkeit, vielleicht durch Liederlichkeit, dergeſtalt in
Zerfall gerathen war, daß zulezt nur dieſer jämmer-
liche Schatten übrig blieb? Auch waren jene Zeich-
nungen, wie er ſelbſt bekannte, aus einer längſt ver-
gangenen, beſſern Zeit ſeines Lebens. Auf die Frage,
womit er ſich denn gegenwärtig beſchäftige, antwortete
er haſtig und kurz: er privatiſire; und als ich von
weitem die Abſicht blicken ließ, jene Blätter von ihm
zu erſtehen, ſchien er trotz eines pretiöſen Lächelns
nicht wenig erleichtert und vergnügt. Ich bot ihm
drei Dukaten, die er mit dem Verſprechen zu ſich
ſteckte, mich bald wieder zu ſehen. Nach vier Wochen
erſchien er abermals und zwar ſchon in merklich beſ-
ſerem Aufzuge. Er brachte mehrere Skizzen mit: ſie
waren wo möglich noch intereſſanter, noch geiſtreicher.
Indeſſen hatt’ ich beſchloſſen, ihm vor der Hand nichts
weiter abzunehmen, bis ich über die Rechtmäßigkeit
eines ſolchen Erwerbs völlig in’s Reine gekommen wäre,
etwa dadurch, daß er veranlaßt würde, gleichſam unter
2
[18] meinen Augen eine Aufgabe zu löſen, die ich ihm un-
ter einem unverfänglichen Vorwande zuſchieben wollte.
Ich hatte meine Gedanken hiezu ſchriftlich angedeutet,
erklärte mich ihm auch mündlich darüber, und er eilte
ſogleich mit der Hoffnung weg, mir ſeinen Verſuch in
einigen Tagen zu zeigen. Aber wer ſchildert meine
Freude, als ſchon am Abende des folgenden Tages
die edelſten Umriſſe zu der angegebenen Gruppe aus
dem Statius vor mir lagen, in der ganzen Auffaſſung
des Gedankens weit kühner und ſinnreicher als der
Umfang meiner Imagination jemals reichte. Manche
flüchtige Bemerkung des närriſchen Menſchen bewies
überdieß unwiderſprechlich, daß er mit Leib und Seele
bei der Zeichnung geweſen. Auch dieſer Entwurf und
in der Folge noch der eine und andere ward mein
Eigenthum; allein plötzlich blieb der Fremde aus und
eigenſinniger Weiſe hatte er mir weder Namen noch
ſonſtige Adreſſe zurückgelaſſen. Nach und nach fühlte
ich unwiderſtehliche Luſt, drei bis vier der vorhandenen
Blätter vergrößert in Waſſerfarbe auf’s Neue zu ſkizzi-
ren und ſofort in Oel darzuſtellen, wobei denn bald
die liebevollſte wechſelſeitige Durchdringung meiner
Manier und jenes fremden Genius Statt fand, ſo
daß die Entſcheidung ſo leicht nicht ſeyn möchte, wenn
nunmehr bei den völlig ausgemalten Tableaus ein
zwiefaches und getrenntes Verdienſt gegen einander
abgewogen werden ſollte. Vor einem Freunde und
Schwager darf ich dieſes ſelbſtgefällige Bekenntniß gar
[19] wohl thun, und vielleicht wird das Publikum mir nicht
mindere Gerechtigkeit wiederfahren laſſen, wenn ich
ihm demnächſt bei der öffentlichen Ausſtellung jene
Bilder vorführen werde, ohne ihren doppelten Urſprung
im mindeſten zu verläugnen; denn dieß war längſt
mein feſter Entſchluß.“
„Das ſieht dir ähnlich,“ erwiderte hierauf der
Major, welcher bisher mit geſpannter Aufmerkſamkeit
zugehört hatte; „es bedarf, dünkt mich, bei einem
Künſtler von deinem Rufe nicht einmal großer Reſig-
nation zu einer ſolchen Aufrichtigkeit, ja man wird
in dem ganzen Unternehmen eine Art Herablaſſung
finden, wodurch du jenes unbekannte Talent zu wür-
digen und zu ehren dachteſt. Aber, um wieder auf
den armen Tropfen zu kommen, haſt du ihn denn auf
keine Weiſe ausfindig machen können?“
„Auf keine Weiſe. Einmal glaubte mein Be-
dienter ſeine Spur zu haben, allein ſie verſchwand
ihm wieder.“
„Es wäre doch des Teufels,“ rief der Major
aus, „wenn meine Spürhunde mich hier im Stiche
ließen! Schwager, laß mich nur machen. Die Sache
iſt zu merkwürdig, um ſie ganz hängen zu laſſen. Du
magſt mich vor aller Welt nur ſelbſt für den geheim-
nißvollen Narren ausgeben, wenn ich dir ihn nicht
binnen vier und zwanzig Tagen aus irgend einer Spe-
lunke, Dachſtube oder dem Narrenhauſe ſelbſt hervor-
ziehe!“
[20]
Dieſe vier und zwanzig Tage waren noch nicht
um, ſo geſchah es, daß Tillſen über die wahre Be-
wandtniß der Sache auf einem ganz anderen Wege
aufgeklärt wurde, als er je vermuthen konnte.
In ſeiner Abweſenheit meldete ſich eines Mor-
gens ein wohlgekleideter junger Mann im Tillſen’ſchen
Hauſe an, und die Frau führte ihn indeß in ein Sei-
tenzimmer, wo er ihren Gemahl erwarten möchte.
Sie ſelbſt, obgleich durch ſeine ſehr vielverſprechende
und auffallend angenehme Geſichtsbildung nicht wenig
intereſſirt, entfernte ſich ſogleich wieder, weil die zer-
ſtreute Unruhe ſeiner Miene ihr hinlänglich ſagte,
daß eine weitere Anſprache hier nicht am Platze ſeyn
würde. Nach einer Viertelſtunde erſt trat der Maler
in das bezeichnete Kabinet. Er fand den jungen Mann
nachdenkend, den Kopf in beide Hände geſtüzt, auf
einem Stuhle ſitzen, den Rücken ihm zugewandt und
dem großen Gemälde gegenüber, das, bis auf die breit
goldene Rahme, verhüllt an der Wand da hing. Der
Maler, einigermaßen verwundert, trat ſtillſchweigend
näher, worauf dann der Andere erſchrocken auffuhr,
indem er zugleich hinter einer angenehmen, verlegenen
Freundlichkeit die Thränen zu verſtecken ſuchte, worin
er ſichtbar überraſcht worden war. „Ich komme,“ fing
er jezt mit heiterm Freimuthe an, „ich komme in der
wunderlichſten und zugleich in der erfreulichſten An-
gelegenheit vor Ihr Angeſicht, verehrter Mann!
Meine Perſon iſt Ihnen unbekannt, dennoch haben
[21] Sie, wie ich weiß, mein eigentliches Selbſt bereits
dergeſtalt kennen gelernt und bis auf einen gewiſſen
Grad ſogar liebgewonnen, daß ich mich nun mit un-
abweislichem Vertrauen unter Ihre Stirne dränge.
Doch, laſſen Sie mich deutlich reden. Ich heiße
Theobald Nolten und ſtudire in hieſiger Stadt
ziemlich unbekannt die Malerei. Nun fand ich geſtern
in der aufgeſtellten Galerie unter andern ein Ge-
mälde, das Opfer der Polyxena vorſtellend, das mir
auf den erſten Blick als eine innig vertraute Erſchei-
nung entgegentrat. Es war, als ſtünde durch Zau-
berwerk hier ein früher Traum lebendig verkörpert
vor meinem ſchwindelnden Auge. Dieſe ſchmerzvolle
Königstochter ſchien mich ſo ſchweſterlich bekannt zu
grüßen, ihre ganze Umgebung däuchte mir ſogar nicht
fremd, und doch, über das Ganze war ein Licht, ein
Reiz gegoſſen, der nicht aus meinem Innern, der von
einer höhern Macht, von den Olympiſchen ſelbſt her-
abgeſtrahlt ſchien; ich zitterte, bei Gott! ich —“
„Was?“ unterbrach ihn Tillſen, „Sie wären —
ja Sie ſind der wunderbare Künſtler, dem ich ſo
Vieles abzubitten —“
„Nicht doch,“ entgegnete jener feurig, „nein! der
Ihnen Unendliches zu danken hat. O edelſter Mann!
Sie haben mich mir ſelbſt enthüllt, indem Sie mich
hoch über mich hinausgerückt und getragen. Sie
weckten mich mit Freundeshand aus einem Zuſtande
der dunkeln Ohnmacht, riſſen mich auf die Sonnen-
[22] höhe der Kunſt, da ich im Begriffe war, an meinen
Kräften zu verzweifeln. Ein Elender mußte mich be-
ſtehlen, damit Sie Gelegenheit hätten, mir in Ihrem
klaren Spiegel meine wahre, meine künftige Geſtalt
zu zeigen. So empfangen Sie denn Ihren Schüler
an das väterliche Herz! Laſſen Sie mich ſie küſſen
die gelaſſene Hand, welche auf ewig die verworrenen
Fäden meines Weſens ordnete — mein Meiſter! mein
Erretter!“
So lagen ſich beide Männer einige Sekunden lang
feſt in den Armen und von dieſem Augenblicke an
war eine lebhafte Freundſchaft geſchloſſen, wie ſie
wohl in ſo kurzer Zeit zwiſchen zwei Menſchen, die
ſich eigentlich zum erſten Male im Leben begegnen,
ſelten möglich ſeyn wird.
„Erlauben Sie, mein Lieber,“ ſagte Tillſen,
„daß ich erſt zur Beſinnung komme. Noch weiß ich
nicht, bin ich mehr beſchämt oder mehr erfreut durch
Ihre herzlichen Worte. Ich werde Sie in der Folge
noch beſſer verſtehen. So ſagen Sie für’s Erſte nur,
wie verhält ſich’s denn mit dem diebiſchen Schufte, dem
wenigſtens das Verdienſt bleiben muß, uns zuſammen
geführt zu haben?“
„Wohl! Hören Sie! Nach meiner Rückkehr aus
Italien, es iſt nun über ein Jahr, traf ich auf der
Reiſe hieher, wo ich völlig fremd war, einen Haſen-
fuß, Barbier ſeiner Profeſſion, — er nannte ſich
Wiſpel, — der mir ſeine Dienſte als Bedienter an-
[23] trug, und ich nahm ihn aus einem humoriſtiſchen In-
tereſſe an ſeiner Seltſamkeit um ſo lieber auf, da er
neben einem, daß ich ſo ſage, univerſal-enthuſiaſtiſchen
Hieb, neben einem badermäßigen Hochmuth, immer
eine gewiſſe Gutmüthigkeit zeigte, die in der Folge
nur der bornirteſten Eitelkeit weichen konnte; denn ſo
wollt’ ich darauf ſchwören, er hatte mit jenen entwen-
deten Koncepten Anfangs keine andere Abſicht, als
vor Ihnen den Mann zu machen.“
„Allein er nahm doch Geld dagegen an?“
„Und wenn auch; dieſe Speculation ward ſicher-
lich erſt durch Ihr Anerbieten bei ihm erweckt.“
„Aber er ſtellte ſich völlig närriſch!“
„Ich zweifle ſehr, daß er es darauf anlegte, oder
geſezt, er legte es darauf an, ſo geſchah es nur, nach-
dem er Ihnen bereits den intereſſanten Verdacht ab-
gelauſcht. Seiner Dummheit kam übrigens die Liſt
beinahe gleich; ſo wußte er mich unter einem ausge-
ſuchten Vorwande zu einer Zeichnung aus dem Stegreife
zu bewegen, die ohne Zweifel auch für Sie beſtimmt
war, und wozu ich mich ſelbſt durch den angenehm pro-
ponirten Gegenſtand angereizt fühlte. Wenn er Sie
ferner durch den Schein eigener Bildung irre geführt
hat, ſo begreif’ ich nur um ſo beſſer, warum er ſich
bei den Unterhaltungen, welche gelegentlich zwiſchen
mir und einem Freunde vorkamen, immer viel im Zim-
mer zu ſchaffen machte. Er mag Ihnen auf dieſe Art
manchen ſchlecht verdauten Brocken hingeworfen haben.“
[24]
„Ach,“ ſagte Tillſen nicht ohne einige Beſchä-
mung, „freilich, dergleichen Aeußerungen ſahen mir dann
immer verdächtig genug aus, wie Hieroglyphen auf
einem Marktbrunnenſtein, ich wußte nicht, woher
ſie kamen. Aber ein abgefeimter Burſche iſt es doch!
Und wo ſteckt denn der Schurke jezt?“
„Das weiß Gott. Seit einem halben Jahre hat
er ſich ohne Abſchied von mir beurlaubt; etliche Wochen
ſpäter entdeckt’ ich die große Lücke in meinem Porte-
feuille.“
„Ich will ſie wieder ausfüllen!“ erwiderte Tillſen
mit Heiterkeit, indem er den Freund vor das verhängte
Bild führte. „Ich wollte es dieſen Morgen noch zur
öffentlichen Ausſtellung wegtragen laſſen; doch, es iſt
nun Ihr Eigenthum. Laſſen Sie ſehen, ob Sie auch
hinter dieſem Tuche Ihre Bekannten erkennen.“
Nolten hielt die Hand des Malers an, während
er das Geſtändniß ablegte, daß er vorhin der Verſuchung
nicht widerſtanden, den Vorhang um einige Span-
nen zurückzuſtreifen, daß er ihn aber, wie von dem Ge-
ſpenſte eines Doppelgängers erſchreckt, ſogleich wieder
habe fallen laſſen, ohne die Ueberblickung des Ganzen
zu wagen.
Jezt ſchlug Tillſen mit Einem Male die Hülle
zurück und trat ſeitwärts, um den Eindruck des Stückes
auf den Maler zu beobachten. Wir ſagen nichts von
der unbeſchreiblichen Empfindung des Letztern und er-
innern den Leſer an das wunderliche Geiſter-Konzert,
[25] wovon ihnen der alte Baron früher einen Begriff ge-
geben. Bewegt und feierlich gingen die Freunde aus-
einander.
Die umſtändlichere Erzählung dieſer Begebenheit
mußte vorangeſchickt werden, um die raſche und er-
freuliche Entwicklung deſto begreiflicher zu machen,
welche es von nun an mit der ganzen Exiſtenz des
jungen Künſtlers nahm. War es ein gewiſſer Klein-
muth oder Eigenſinn, grillenhafter Grundſatz, was ihn
bisher bewegen mochte, mit ſeinem Talente unbeſchrieen
hinter dem Berge zu halten, bis er dereinſt mit ei-
nem höhern Grade von Vollendung hervortreten könnte:
ſo viel iſt gewiß, daß die Behandlung der Oelfarbe
ihm bisher große Schwierigkeiten entgegenſezte, jedoch,
wie Tillſen fand, nicht ſo große, als unſer beſchei-
dener Freund ſich gleichſam ſelbſt gemacht hatte. Viel-
mehr entdeckte Jener auch dießfalls an den Verſuchen
des Leztern die überraſchendſten Fortſchritte, und gerne
faßte er den Entſchluß zur förderlichen Mittheilung
einzelner Vortheile. In Kurzem ſtand Nolten, was
Geſchicklichkeit betrifft, jedem braven Künſtler gleich,
und in Abſicht auf großartigen Geiſt hoch über Allen.
Seine Werke, ſowie ſeine Empfehlung durch Tillſen,
verſchafften ihm ſehr ſchätzbare Verbindungen, und na-
mentlich erwies der Herzog Adolph, Bruder des
Königs, ſich gar bald als einen freundſchaftlichen
Gönner gegen ihn.
[26]
War Theobald auf dieſe Weiſe durch die raſche
und glänzende Veränderung ſeines bisherigen Zuſtan-
des gewiſſermaßen ſelbſt überraſcht und anfänglich ſo-
gar verlegen, ſo verwunderte er ſich in der Folge bei-
nahe noch mehr über die Leichtigkeit, womit er ſich in
ſeine jetzige Stellung gewöhnte und darin behauptete.
Allerdings brauchte er die Achtung, durch die er ſich
vor Andern ausgezeichnet ſah, nur als etwas Ver-
dientes hinzunehmen, ſo kam ſie ihm auch ganz natür-
lich zu.
Durch die Vermittlung des Herzogs erhielt er
Zutritt im Hauſe des Grafen von Zarlin, der ſich
ohne eigene Einſichten, und wie Mehrere behaupteten,
aus bloßer Eitelkeit als einen leidenſchaftlichen Freund
jeder Gattung von Kunſt hervorthat, und dem es wirk-
lich gelang, einen Zirkel edler Männer und Frauen
um ſich zu verſammeln, worin geiſtige Unterhaltung
aller Art, namentlich Lektüre guter Dichterwerke vor-
kam. Die lebendig machende Seele des Ganzen jedoch
war, ohne es zu wollen, die ſchöne Schweſter des
Grafen, Conſtanze von Armond, die junge Witt-
we eines vor wenigen Jahren geſtorbenen Generals.
Ihre Liebenswürdigkeit wäre mächtig genug geweſen,
den Kreis der Männer zu beherrſchen und Geſetze
vorzuſchreiben, aber die angenehme Frau blieb mit der
ſanften Wirkung zufrieden, welche von ihrer Perſon
auf alle übrigen Gemüther ausging, und ſich allge-
mein in der erwärmteren Theilnahme an den Unter-
[27] haltungsgegenſtänden offenbarte; ja, Conſtanze ſchien
ihrer natürlichen Lebendigkeit öfters einige Gewalt an-
zuthun, um die Huldigung von ſich abzuleiten, wo-
mit die Herren ſie nicht undeutlich für die Königin
der Geſellſchaft erklärten. Auch Theobald fühlte
ſich insgeheim zu ihr hingezogen, und während der
anderthalb Monate, worin er jede Woche drei Abende
in ihrer Nähe zubringen durfte, entwickelte ſich dieß
heitere Wohlgefallen zu einem ſtärkeren Grade von
Zuneigung, als er ſich ſelbſt eingeſtehen durfte. Die
Reize ihrer Perſon, die Feinheit ihres gebildeten Gei-
ſtes, verbunden mit einem lebhaften, ſelbſt ausübenden
Intereſſe für ſeine Kunſt, hatten ihn zu ihrem leiden-
ſchaftlichen Bewunderer gemacht, und wenn ſein Ver-
ſtand, wenn die oberflächlichſte Betrachtung der äußern
Verhältniſſe ihm jeden entfernten Wunſch niederſchlu-
gen, ſo wiederholte er ſich auf der andern Seite doch
ſo manche leiſe Spur ihrer beſondern Gunſt mit un-
ermüdeter Selbſtüberredung, wobei er freilich nicht
vergeſſen durfte, daß er in dem Herzog einen ſehr
geiſtreichen Nebenbuhler zu fürchten habe, der ihm
überdieß, was Gewandtheit und ſchmeichelhaften Ton
des Umgangs betrifft, bei weitem überlegen war. Die
Leidenſchaft des Herzogs war Theobalden deſto
drückender, je inniger ſonſt ihr beiderſeitiges Verhält-
niß hätte ſeyn können, dagegen nun der Letztere ſei-
nem argloſen fürſtlichen Freunde gegenüber eine heim-
liche Spannung nur mit Mühe verläugnete.
[28]
Uebrigens hatte er wohl Grund, ſich über ſeine
wachſende Neigung ſo gut wie möglich zu myſtificiren,
denn eine früher geknüpfte Verbindung machte noch
immer ihre ſtillen Rechte an ſein Herz geltend, ob-
wohl er dieſelben mit einiger Ueberredung des Ge-
wiſſens bereits entſchieden zu verwerfen angefangen
hatte. Das reine Glück, welches der unverdorbene
Jüngling erſtmals in der Liebe zu einem höchſt un-
ſchuldigen Geſchöpfe gefunden, war ihm ſeit Kurzem
durch einen unglückſeligen Umſtand geſtört worden,
der für das reizbare Gemüth alsbald die Urſache zu
eben ſo verzeihlichem als hartnäckigem Mißtrauen
ward. Die Sache hatte wirklich ſo vielen Schein,
daß er das entfernt wohnende Mädchen keines Wor-
tes, keines Zeichens mehr würdigte, ihr ſelbſt nicht
im Geringſten den Grund dieſer Veränderung zu er-
kennen gab. Mit unverſöhnlichem Schmerz verhärtete
er ſich ſchnell in dem Wahne, daß der edle Boden
dieſes ſchönen Verhältniſſes für immerdar erſchüttert
ſey, und daß er ſich noch glücklich ſchätzen müſſe, wenn
es ihm gelänge, mit der Bitterkeit ſeines gekränkten
Bewußtſeyns jeden Reſt von Sehnſucht in ſich zu er-
tödten und zu vergiften. In der That blieb aber
dieſer traurige Verluſt nicht ohne gute Folgen für
ſein ganzes Weſen; denn offenbar half dieſe Erfah-
rung nicht wenig ſeinen Eifer für die Kunſt beleben,
welche ihm nunmehr Ein und Alles, das höchſte Ziel
ſeiner Wünſche ſeyn ſollte. Vermochte er nun aber
[29] nach und nach über eine ſchmerzliche Empfindung, die
ihn zu verzehren drohte, Herr zu werden, ſo war auf
der andern Seite das Mädchen indeſſen nicht ſchlimmer
daran. Agnes glaubte ſich noch immer geliebt, und
dieſer glückliche Glaube ward, wie wir ſpäter erfahren
werden, auf eine wunderliche Art, ganz ohne Zuthun
Theobalds, unterhalten, während er ſchon eine frei-
willige Auflöſung des Bündniſſes von ihrer Seite zu
hoffen begann, denn das Ausbleiben ihrer Briefe
nahm er ohne Weiteres für ein Zeichen ihres eigenen
Schuldbewußtſeyns. In dieſer halbfreien, noch immer
etwas wunden Stimmung fand er die Bekanntſchaft
mit der Gräfin Conſtanze, und nun läßt ſich die
Innigkeit um ſo leichter begreifen, womit die gereizten
Organe ſeiner Seele ſich nach dieſem neuen Lichte hin-
zuwenden ſtrebten.
Im ſpaniſchen Hofe, ſo hieß das bedeutendſte
Hôtel der Stadt, war es am Abende des letzten De-
zembers, wo die vornehme Welt ſich bereits eifrig zur
Maskerade zu rüſten hatte, ungewöhnlich ſtille. In
dem hinterſten grünen Eckzimmer leuchteten die beiden
hellbrennenden Hänge-Lampen nur zweien Gäſten, wo-
von der Eine, wie es ſchien, ein regelmäßiger, mit
Welt und feinerer Gaſthofſitte wohlvertrauter Beſuch,
ein penſionirter Staatsdiener von Range, der Andere
ein junger Bildhauer war, der erſt vor wenig Stun-
[30] den in der Stadt anlangte. Sie unterhielten ſich, in
ziemlicher Entfernung auseinander ſitzend, über alltäg-
liche Dinge, wobei ſich Leopold, ſo nennen wir den
Reiſenden, bald über die zerſtreute Einſylbigkeit des
Alten heimlich ärgerte, bald mit einem gewiſſen Mit-
leiden auf die krankhaften Verzerrungen ſeines Geſichts,
auf die raſtloſe Geſchäftigkeit ſeiner Hände blicken
mußte, die jezt ein Fältchen am fein ſchwarzen Kleide
auszuglätten, jezt eine Partie Whiſtkarten zu miſchen,
oder eine Priſe Spaniol aus der agatnen Doſe zu
greifen hatten. Das Geſpräch war auf dieſe Weiſe
ganz in’s Stocken gerathen, und um ihm wieder ei-
nigermaßen aufzuhelfen, fing der Bildhauer an: „Un-
ter den Künſtlern dieſer Stadt und des Vaterlandes
ſoll, wie ich mit Vergnügen höre, der junge Maler
Nolten gegenwärtig große Aufmerkſamkeit erregen?“
Dieſe Worte ſchienen den alten Herrn gleichſam
zu ſich ſelber zu bringen. Seine Augen funkelten
lebhaft unter ihrer grauen Bedeckung hervor. Da er
jedoch noch wie geſpannt ſtille ſchwieg und eine Ant-
wort nur erſt unter den ſchlaffen Lippen zurecht kaute,
fuhr der Andere fort: „Ich habe ſeit drei Jahren
nichts von ſeiner Hand geſehen und bin nun äußerſt
begierig, mich zu überzeugen, was an dieſem aus-
ſchweifenden Lobe, wie an den heftigen Urtheilen der
Kritiker Wahres ſeyn mag.“
„Befehlen Sie,“ ſagte der Alte faſt höhniſch,
„daß ich nun mit einem hübſchen Sätzchen antworte,
[31] wie etwa: vielleicht in der Mitte liegt das fürtreff-
liche Talent, das ſeine beſtimmte Richtung erſt ſucht, —
oder: es iſt das Größte von ihm zu hoffen, wie das
Schlimmſte zu fürchten, — und was dergleichen dün-
nen Windes mehr iſt? Nein! ich ſage Ihnen vielmehr
geradezu, dieſer Nolten iſt der verdorbenſte und ge-
fährlichſte Ketzer unter den Malern, einer von den
halsbrecheriſchen Seiltänzern, welche die Kunſt auf
den Kopf ſtellen, weil das ordinäre Gehen auf zwei
Beinen anfängt langweilig zu werden; der widerwär-
tigſte Phantaſie-Renommiſte! Was malt er denn?
eine trübe Welt voll Geſpenſtern, Zauberern, Elfen
und dergleichen Fratzen, das iſt’s, was er kultivirt!
Er iſt recht verliebt in das Abgeſchmackte, in Dinge,
bei denen keinem Menſchen wohl wird. Die geſunde,
lautere Milch des Einfach-Schönen verſchmäht er und
braut einen Schwindeltrank auf Kreuzwegen und un-
ter’m Galgen; à propos, mein Herr! (hier lächelte er
ganz geheimnißvoll) haben Sie ſchon Gelegenheit ge-
habt, eine der köſtlichen Anſtalten zu ſehen, worein
man die armen Teufel logirt, die ſo, verſtehn mich
ſchon, einen krummen Docht im Lichte brennen —
nun? Kam Ihnen da nicht auch ſchon der Gedanke,
wie es wäre, wenn ſich etwa der Ideendunſt, der von
dieſen Köpfen aufſteigen muß, oben an der Decke an-
ſezte, welche Figuren da in Fresko zum Vorſchein
kommen müßten? Was ſagen Sie? Nolten hat ſie
alle kopirt, hä hä hä, hat ſie ſämmtlich kopirt!“
[32]
„Sie ſcheinen,“ erwiderte Leopold gelaſſen,
„wenn ich Sie anders recht faſſe, mehr die Gegen-
ſtände zu tadeln, unter denen ſich dieſer Künſtler, nur
vielleicht etwas zu vorliebig, bewegt, als daß Sie ſein
Talent angreifen wollten; nun läßt ſich aber ohne
Zweifel auf dem angedeuteten Felde ſo gut als auf
irgend einem das Charakteriſtiſche und das Rein-
Schöne mit großem Glücke zeigen, abgeſchmackte und
häßliche Formen jedoch, gefliſſentliches Aufſuchen ſinn-
widriger Zuſammenſtellungen kann man von Nolten
nicht erwarten; ich kenne ſein Weſen von früher und
kam in der Abſicht hieher, ihn mit einem gemein-
ſchaftlichen Freunde, der auch Maler iſt, zu beſuchen
und uns an ſeiner bisherigen Ausbildung zu erfreuen.“
Der alte Herr hatte dieſe Worte wahrſcheinlich
ganz überhört, denn er ging mit lautem Kichern nur
wieder in den Refrain ſeines vorhin Geſagten über:
„Hat ſie ſämmtlich kopirt, ja ja, zum Todtlachen! Ei,
das muß er täglich von mir ſelber hören.“
In dieſem Augenblicke trat Ferdinand, der
Reiſegefährte des Bildhauers, ein und rief dieſem mit
einem glänzenden Blicke voll Freude zu: „Er kommt!
er folgt mir auf dem Fuße nach! Er iſt der gute
Nolten noch, ſag ich dir! o gar nicht der achſel-
blickende junge Glückspilz, wie man ihn ſchildern wollte.
Stelle dir vor, er vergaß vorhin im Jubel über unſre
Ankunft eine Einladung zum Herzog, mit dem er
[33] trefflich ſtehen muß, und eilte nur von der Straße
weg, ſich zu entſchuldigen.“
Nach einiger Zeit erſchien, in Begleitung eines
Andern, der Erwartete wirklich. Es war ein herzer-
freuendes Wiederſehen, ein immer neu erſtauntes
trunkenes Begrüßen und Frohlocken unter den Dreien.
Wie ergözten ſich die Freunde an dem ſtattlichen An-
ſehen Theobalds, an dem reinen Anſtande, den ihm
das Leben in höherer Geſellſchaft unvermerkt ange-
haucht hatte, nur verbargen ſie ihm nicht, daß die
kräftige Röthe ſeiner Wangen in Zeit von wenigen
Jahren um ein Merkliches verſchwunden ſey. Er ſah
jedoch immer noch geſund und friſch genug neben ſei-
nem hageren Begleiter, dem Schauſpieler Larkens,
aus, den er ſo eben freundſchaftlich produciren wollte,
als dieſer ſofort mit der angenehmſten Art ſich ſelber
empfahl und mit den Worten ſchloß: „Nun ſetz’ dich,
liebes Kleeblatt! Ich werde mich mit eurer Erlaubniß
bald auch zu euch geſellen, aber den erſten Perl- und
Brauſeſchaum des Wiederfindens müßt’ ihr durchaus mit-
einander wegſchlürfen! Ich ſehe dort ein paar Spieler-
hände konvulſiviſch fingern, das iſt auf mich abgeſehen.“
Damit ſezte er ſich zu dem alten Herrn in der
Ecke, den unſer Nolten erſt jezt gewahr wurde und
nicht ohne Achtung begrüßte. „Sag’ mir doch,“ fragte
Leopold heimlich, „was für eine Art von Kenner
das iſt? Er hat die wunderlichſten Begriffe von dir.“
„Ach,“ lächelte der Freund, „da kann ich dir
3
[34] wenig dienen. Das iſt ein ſehr kurioſer Kauz, voll
griesgrämiſcher Eigenheiten, übrigens von viel Ver-
ſtand, und mir immer ein lieber Mann. Er beſizt
gute Kenntniſſe von Gemälden, iſt aber auf dieſen
Punkt von den einſeitigſten Theorieen eingenommen.
Aus einigen meiner Stücke ſoll er eine eigene Vor-
liebe und zugleich den unverholenſten Widerwillen ge-
gen mich gefaßt haben, den ich mir kaum zu enträth-
ſeln weiß. Denn daß ich es bloß als Künſtler mit
ihm verdorben habe, iſt nicht wohl möglich, wenig-
ſtens thäte er mir ſehr Unrecht, indem der Vorwurf
des Phantaſtiſchen, den er mir zu machen ſcheint, nur
den kleinſten Theil meiner Erfindungen träfe, wenn
es je ein Vorwurf heißen ſoll. Die meiſten meiner
Arbeiten bezeichnen in der That eine ganz andere
Gattung. Ich vermuthe, der Mann hat irgend ein
geheimes Aber an meiner Perſon entdeckt, und ich
muß ihn, ohne mir das Geringſte bewußt zu ſeyn,
mit irgend Etwas beleidigt haben, das er mir nicht
vergeſſen kann, ſo gern er möchte, denn es iſt auffal-
lend, ſo oft er mich anſieht, ſträubt ſich’s auf ſeinem
Geſicht wie Sauer und Süß.“
Auf dieſe Weiſe waren jene leidenſchaftlichen
Aeußerungen einigermaßen erklärt, und es gab nun
Veranlaſſung genug, ſich gegenſeitig über Geſchäfte,
Schickſale und mancherlei Erfahrungen auszutauſchen.
Sie durchliefen die Vergangenheit, erinnerten ſich des
Aufenthalts in Italien, wo ſich vor drei Jahren ihre
[35] Bekanntſchaft entſponnen hatte. Endlich fing Ferdi-
nand an: „Du erräthſt wohl kaum, wo wir heute
vor ſechs Tagen um dieſe Stunde zu Gaſte geſeſſen
ſind; in welchem Dörfchen, in welchem Stübchen und
wer uns bewirthete?“ „Nein!“ ſagte Nolten; aber
ein aufmerkſamer Beobachter würde in dieſer klein-
lauten Verneinung ein ſehr ſchnell errathendes Ja ge-
wittert haben. „Neuburg,“ flüſterte Leopold freu-
dig zuvorkommend und von der andern Seite flog der
Name „Agnes“ über Ferdinands Mund. „Ich
dank’ euch,“ ſagte Nolten, wie abbrechend, und ver-
barg eine unangenehme Empfindung.
„Was danken? du haſt ja den Gruß noch nicht
einmal in der Hand, den wir dir zu bringen haben!“
— und hiemit ſah er ſich einen Brief entgegengehal-
ten, den er mit erzwungenem Wohlgefallen zu ſich
ſteckte, indem er die Beiden durch einen Vorſicht ge-
bietenden Blick auf die Spieler für jezt zum Still-
ſchweigen zu vermögen ſuchte.
„So laß mich,“ fuhr Ferdinand fort, „wenig-
ſtens des anmuthigen Oertchens, laß mich des Förſter-
hauſes gedenken, wo du deine Knabenjahre bei einem
zweiten Vater verlebteſt, bis der benachbarte Baron
auf dem Schloſſe, der gute lebendige Mann, für die
Förderung deines Talents ſorgte. Er lebt noch in
friſchem Marke, der ehrliche Veteran, er und der from-
me Förſter erinnerten ſich mit Herzlichkeit jenes glück-
lichen Tages, da du mich, es ſind nun drei Jahre her,
[36] nach unſerer Rückkunft von der italieniſchen Reiſe, bei
ihnen einführteſt. Wahrlich, es hätte wenig gefehlt,
ſo hätten die Alten geweint wie die Kinder bei deinem
Namen, ein paar anderer Augen nicht zu gedenken,
die auch dabei ſtanden, und von denen es ſchien, als
wollten ſie ſich im Voraus recht ſatt ſehen an mir und
meinem Gefährten, an unſern Kleidern und Bündeln,
weil das Alles in fünf Tagen mit dem Geliebten in
Berührung kommen ſollte. Du pflegteſt das Mädchen
ſonſt immer dein blondes Reh zu nennen; wie treffend
fand ich dieſen Ausdruck wieder! ja, und das iſt ſie
noch im lieblichſten rührendſten Sinne des Worts. Wie
hätt’ ich gewünſcht, den Umriß ihrer niedlichen Figur
mit dem Bleiſtift in mein Portefeuille für dich wegzu-
ſtehlen, wie ich ſie ſo durch die halboffene Thür des
Nebenzimmers am Tiſchchen ſitzen und den Brief ſchrei-
ben ſah, den Rücken gegen uns gewendet, von der
Seite kaum ein wenig ſichtbar, allein der Baron war
allzu geſprächig.“
„Du biſt es auch,“ erwiderte Nolten freundlich-
böſe, indem er aufſtand und ſich gegen den ſo eben her-
beitretenden Larkens wandte. Dieſer ſagte: „Nun,
wirſt du die Herren nicht bewegen, ſich dieſen Abend
in Domino’s zu ſtecken und ein paar Stunden mit
närriſchen Leuten närriſch zu ſeyn? oder machen wir’s
wie dort der Herr Hofrath, der an ſolchen Abenden hier
im Gaſthofe zu Nacht ſpeist, und ſich dann ein Zim-
mer vom Kellner anweiſen läßt, um füuf Straßen weit
[37] vom Lärm des Redoutenhauſes zu ſchlafen, das zum
Unglücke ſeiner Wohnung gegenüber liegt? Ich dächte,
ihr Herren, bevor Sie in den nächſten Tagen mit den
hübſchen Realitäten unſerer Stadt Bekanntſchaft machen,
müßte es unterhaltend für Sie ſeyn, heute im Masken-
ſaale, ſo zu ſagen, die Fata morgana der hieſigen
Menſchheit zu ſehen. — Verzeihen Sie mein hinkendes
Gleichniß und folgen Sie meinem Vorſchlage.“ Es
koſtete Ueberredung, aber man entſchloß ſich und
wünſchte dem ſeltſamen Hofrathe gute Nacht.
Nachdenklich, unbehaglich, ja traurig war Nolten
mit den Andern vor den Thüren des großen heller-
leuchteten Gebäudes angekommen, worin ſchon das
mannigfaltigſte Leben wogte und wühlte. Alle mög-
lichen Geſtalten, zum Theil in auffallendem Kontraſte,
drehten ſich ſtumm, feierlich, fremde oder leiſe ſummend,
kopfnickend und tanzend durcheinander. Unſer trübe
geſtimmter Freund, ſchneller als er vermuthete, von ſei-
nen Begleitern verloren, fühlte nach und nach in ſeiner
Vermummung eine Art von dumpfem Troſte, und wie
mit ſeiner Umgebung, ſo ſpielte er gewiſſermaßen mit
dem eigenen Herzen Verſteckens, wobei er ſich kaum
bekannte, welche beſondere Hoffnung ihn zwang, die
Reihen der weiblichen Masken ſorgfältiger zu muſtern,
als er ſonſt wohl gethan haben würde. Das beſchei-
dene Bild Agneſens, das ihn aus weiter Ferne ſehn-
[38] ſüchtig und bittend anzulocken ſchien, trat mehr und mehr in
den Hintergrund ſeiner Seele zurück, um einem ganz ande-
ren Platz zu machen, das mit jeder neuen Entfaltung
der glänzenden Gruppen leibhaftig aus der Menge her-
vortreten ſollte. Conſtanze! ſprach er für ſich, wer
entdeckt mir ſie? Und doch wie wäre es möglich, daß
ich aus tauſend Drahtpuppen das einzige Weſen nicht
ſollte herausfinden können, das in der einfachſten, un-
willkürlichſten Bewegung jene angeborene Grazie, je-
nen ſtets lächelnden Zauber verräth, den nur die ewig
wahrhaftige Natur, den nur die Unſchuld ſelber zu ge-
ben und ſo reizend und leicht mit der anerzogenen
Sitte zu verſchmelzen vermag! Iſt nicht Alles, was
an ihr ſich regt und bewegt, der unbewußte Ausdruck
des Engels, der in ihr athmet? iſt nicht Alles nur
Hauch, nur Geiſt an ihr? Und heute, eben heute, wie
wohl thäte mir ihr Anblick! wie wollte ich mich drei
Sekunden mit allen Sinnen und Gedanken an dieſer
tröſtlichen Erſcheinung feſtklammern und davon eilen
und mir zufrieden ſagen, daß mein Auge ſie ſah, daß
ihr Fuß einen und denſelben Boden mit mir betrat,
daß eine gemeinſchaftliche Luft meine und ihre Lippen
berührte!
Unter dieſen und ähnlichen Gedanken hatte er ſich
endlich ermüdet auf einen Sitz in einem Fenſter gewor-
fen, als der Glockenſchlag zehn Uhr ihn mahnte, ſich
mit den drei Freunden in einem zuvor abgeredeten
leeren Zimmer des Hauſes zuſammenzufinden. Sie
[39] erſchienen faſt alle zu gleicher Zeit, und Larkens
mit einer guten Ladung warmen Getränkes. Man
freute ſich auf’s Neue des Wiederſehens; jeder brachte
ſeine eigenen Bemerkungen aus dem Saale mit, nur
Nolten ſchien Wenig oder Nichts geſehen zu haben.
Es war beinahe komiſch, wie er auf die Fragen über
eine oder die andere intereſſante Erſcheinung immer
mit einem kleinlauten „ich weiß nicht“ antwortete und
zulezt, um ſich nicht gar auslachen zu laſſen, nur ſo
that, als erinnerte er ſich. „Wie gefiel dir der König
Richard und der Herzog von Friedland?“ „Recht gut,“
war die Antwort, „ſehr artig, bei meiner Seele! der
bucklichte König hätte können beſſer ſeyn.“ — Lar-
kens, indem er den Andern mit den Augen winkte,
machte den Schalk und ſagte:
„Ein Stückchen iſt aber doch wohl Allen entgan-
gen. Ein Rieſe in altdeutſcher Tracht, ohne Zweifel
einen Studenten vorſtellend, geht mit langen Sporen
und der Tabakspfeife ſchwerfällig auf und ab; endlich,
da er in einer Ecke ſtehen bleibt, eilt ein winziges
Kerlchen herbei, ein kleiner Schornſteinfeger in einer
Art von Hanswurſttracht, ſchwarz und weiß gewür-
felten Beinkleidern und Wämschen, bindet den Rieſen,
legt das ſchwarze Leiterchen an den breiten Rücken
des Mannes an, klettert flink mit Scharreiſen und
Beſen hinauf, hebt ihm vorſichtig den Scheitel wie
einen Deckel ab, und fängt nach allerlei bedenklichen
Grimaſſen an, den Kopf recht wacker auszufegen, in-
[40] dem er einen ganzen Plunder ſymboliſcher Ingredien-
zien herauszieht, z. B. einen täuſchend nachgemachten
Wurm von erſtaunlicher Länge, ein ſeltſam gezeichne-
tes Kärtchen von Deutſchland, eine ganze und dann
mehrere zerbrochene Kronen, kleine Dolche, Biergläſer,
Bänder und dergleichen. Dagegen wurden andere
Sächelchen hineingelegt, worunter man ein griechiſches
ABC-Buch zu erkennen glaubte; der Kopf wurde ge-
ſchloſſen, dann bekam der ganze Mann ein wenig
Streiche und nach einer Weile kroch ein ganz ver-
gnügtes, beſcheidenes, rundes Pfäfflein aus der prah-
leriſchen Hülle hervor.“
Die Freunde lachten im Stillen über die ächt.
Larkens’ſche Lüge (die eigentlich nur ein verſteckter
Hieb auf den Uebermuth burſchikoſer Studenten über-
haupt war, deren einer vorhin im Saale ſich durch
Streitſucht proſtituirt hatte), und man genoß heimlich
den Triumph, daß Nolten ganz die Miene annahm,
als hätte er die Farçe gar wohl geſehen, obgleich
nicht von Weitem etwas Aehnliches vorgekommen war.
Indeſſen wurde die Aufmerkſamkeit der Freunde
durch eine wirkliche Maske angezogen, welche ſich un-
verſehens im Zimmer befand. Es war eine hohe Ge-
ſtalt, einfach in ein grob braunes ſchweres Gewand
gehüllt, eine Laterne und einen Stock in der Hand,
den Kopf bedeckte eine Kapuzze. Haltung, Anſtand
und der tief herabfallende weiße Bart, Alles gab der
Perſon etwas Ehrwürdiges, Staunenerweckendes. Wie
[41] ſie ſo eine Zeitlang geſtanden, ohne daß von beiden
Seiten ein Wort fiel, begann die Maske mit ange-
nehmer Stimme, worin man jedoch trotz einer gewiſ-
ſen Dumpfheit gar bald das Frauenzimmer unter-
ſcheiden konnte, folgendermaßen:
„Ihr kennet mich nicht, meine Herren, aber Euer
Ausſehen ſagt mir, ich ſey in keiner frivolen Geſell-
ſchaft. Schwerlich ſeyd Ihr geſonnen, dieſe ernſte
Nacht, die Geburtsſtunde eines neuen Jahres, in ge-
dankenloſem Rauſche hinzubringen. Wollte es Euch
gefallen, ein Stündchen mit mir in frommer Unter-
haltung zuſammen zu ſitzen, ſo bezeichne ich Euch ei-
nen traulichen Ort. In meiner Kleidung erkennet Ihr
den Wächter der Nacht. Es ſtoße ſich Niemand an
dem ſonſt verachteten Titel. Ich bin der Geiſt die-
ſer Zunft, ich nenne mich den König der Wächter
dieſes Landes. Mancher fromme Angehörige meines
nächtlichen Staats wird Euch von meinem Daſeyn, meinem
Thun und Treiben erzählt haben. Heute mit dem zwölften
Glockenſchlage wird es hundert Jahre, ſeit ich die
Dörfer und Städte des Reiches beſuche, unter heite-
rem Sternenhimmel, wie im wilden Winterſturme.
Vor Mitternacht werd’ ich im Wächterſtübchen auf
dem Thurme der Albanikirche ſeyn.“
Hiemit neigte er ſich und ging mit kaum ver-
nehmlichem Tritte hinweg.
Einſtimmig war man geneigt, der ſonderbaren
Einladung zu folgen, was ihr auch immer zu Grunde
[42] liegen möge; an einen bösartigen Scherz oder ein ge-
meines Abenteuer ſey hier auf keinen Fall zu den-
ken, und auf einen vergeblichen Gang könne man ſich
ja gefaßt halten. Ohne die treuherzige Miene und die
große Neugierde, womit auch Larkens die Sache
aufnahm, hätte leicht der Verdacht einer Myſtifikation
auf ihn fallen können, denn ſein Humor war bekannt
genug, er hatte ihn mit Unrecht in den Ruf eines
bösartigen Spötters und Intriguanten gebracht, wozu
mitunter auch ſein Aeußeres beitrug, ſo wenig eben
eine gelbe Hautfarbe und ein paar ſchwarze blitzende
Augen häßlich, oder das lauernde Lächeln um den
Mund gefährlich war. Es war einer von den Menſchen,
die man auf den Grund kennen muß, um ſie
nicht zu fürchten. Als Schauſpieler und Sänger
ſchäzte man ihn ſehr, er wäre der Liebling des Pub-
likums geweſen, hätte er nicht die räthſelhafte und
hartnäckige Grille gehabt, das Fach des Komiſchen,
wozu er durchaus geboren war, mit ernſten Rollen zu
vertauſchen, die er, ohne es ſelbſt zu fühlen, nur mit-
telmäßig ausfüllte. Zuweilen ſchien ſich die unter-
drückte Neigung ſeiner Natur durch eine unwiderſteh-
liche Sehnſucht nach dem Luſtſpiele rächen zu wollen,
und es war immer eine Feſttagsbeute für die Kaſſe,
wenn der Name Larkens bei einer Hollberg’ſchen
oder Shakeſpear’ſchen Komödie auf dem Zettel ſtand.
Dann hatte es aber auch das Anſehen, als wäre der
Gott des Scherzes ſelbſt in den entzückten Mann ge-
[43] fahren. Der Beifall der Verſtändigen und zulezt auch
des gemeinen Volks war ihm um ſo gewiſſer, je be-
ſcheidener die ſtrotzende Ader der komiſchen Kraft in-
nerhalb der feinen Schönheitslinie blieb, die nur der
ächte Künſtler, vom richtigſten Takte geleitet, zwiſchen
Begeiſterung und Weisheit hin zu ziehen weiß. Statt,
wie ſo Mancher an ſeinem Platze, immer gleichſam
auf erhiztem Boden zu gehen, ſchien Meiſter Lar-
kens nur von einer ſanften Wärme belebt, die ihm
die Grazien angehaucht, und die Funken des Genies,
welche er auswarf, entzündeten keineswegs ihn ſelber.
Maaßhaltung blieb immer die Seele ſeines Spiels,
aber ſie verdiente um ſo mehr Bewunderung, wenn
es wahr iſt, was genauere Freunde behaupteten, daß
ſeine humoriſtiſche Stimmung jederzeit nur die günſtige
Kriſe eines ſchmerzhaft bewegten und gedrückten Ge-
müthes war. Wie dem auch ſeyn mag, die Direktion
beſoldete ihn eigentlich nur um dieſer außergewöhnlichen
Darſtellungen willen, und ließ ihn im Uebrigen, weil
er nicht gezwungen werden konnte, gewähren.
Die Viere waren ſchon nach eilf Uhr auf dem
Albanithurme angekommen. Außer dem Thürmer, ſeiner
Frau und Kindern ſaßen in dem Stübchen um die
einzige Lampe her noch einige junge Stadtmuſiker,
die nach althergebrachter Sitte um Mitternacht ein
Lied auf der Galerie abzublaſen hatten. Die neuen
Gäſte wurden gar freundlich aufgenommen, zumal ſie
für eine Kollation mit Wein geſorgt hatten. Nach
[44] einem allgemeinen Geſpräche fanden die Freunde durch
einige beiläufige Fragen zu ihrer nicht geringen Ver-
wunderung, daß die Sage von einem geſpenſterhaften
Nachtwächter dem Aberglauben dieſer Leute längſt
nichts Fremdes war, wiewohl ſie die Verſicherung,
man habe heute einen Beſuch der Art zu erwarten,
bloß für einen angelegten Spaß der Herren nehmen
wollten. Indeſſen kam die Unterhaltung auf ähnliche
Mährchen und Geſchichten, wahre Leckerbiſſen für
Larkens, und ſelbſt Nolten konnte ſich ſeine Mu-
ſterkarte phantaſtiſcher Stoffe mit manchem neuen Zuge
bereichern, wäre er weniger ſtumpf gegen Alles ge-
weſen, was ſeiner gegenwärtigen Laune keine Nahrung
gab. Deſto aufmerkſamer waren die Uebrigen, die in
ſolchen Erzählungen gleichſam einen abenteuerlichen
Widerſchein jener bunten Gaukelbilder des Masken-
ſaals zu finden glaubten. Ein ſolches Geſchichtchen
aus dem Munde eines jungen hübſchen Burſchen aus
der Geſellſchaft war auch folgendes:
„In der Lohgaſſe, wenn ſie den Herren bekannt
iſt, wo noch zwei Reihen der urälteſten Gebäude un-
ſerer Stadt ſtehen, ſieht man ein kleines Haus, ſchmal
und ſpitz und neuerdings ganz baufällig; es iſt die
Werkſtatt eines Schloſſers. Im oberſten Theile deſ-
ſelben ſoll aber ehmals ein junger Mann, nur allein,
gewohnt haben, deſſen Lebensweiſe Niemanden näher
bekannt geweſen, der ſich auch niemals blicken laſſen,
außer jedes Mal vor dem Ausbruche einer Feuers-
[45] brunſt. Da ſah man ihn in einer ſcharlachrothen,
netzartigen Mütze, welche ihm gar wunderſam zu ſei-
nem todtbleichen Geſichte ſtand, unruhig am kleinen
Fenſter auf und abſchreiten, zum ſicherſten Vorzeichen,
daß das Unglück nahe bevorſtehe. Eh noch der erſte
Feuerlärm entſtand, eh ein Menſch wußte, daß es wo
brenne, kam er auf ſeinem mageren Klepper unten
aus dem Stalle hervorgeſprengt und wie der Satan
davon gejagt, unfehlbar nach dem Orte des Brandes
hin, als hätt’ er’s im Geiſt gefühlt. Nun geſchah’s“ —
„Ei, ſo laß dein langweilig Geſchwätz!“ fiel dem
Erzähler ein Kamerade in die Rede, „und ſing’ das
Stückchen lieber in dem Liede, das du davon haſt,
laut’t ja viel beſſer ſo und hat gar eine ſchöne
ſchauerliche Weiſe. Sing’, Chriſtoph!“
Der Burſche ſah die Gäſte verlegen an, und da
ſie ihm begierig zuſprachen, begann er alsbald mit
einer klangreichen, kraftvollen Stimme:
[46]
Schon vor dem Schluſſe des Geſanges öffnete
ſich die Thür und leiſe trat die Geſtalt des Nacht-
wächters herein. Er blieb unbeweglich an der
[47] Wand hingepflanzt ſtehen, während der erſchrockene
Sänger, im Begriffe abzubrechen, auf einen Wink
des Larkens mit der lezten Strophe fortfuhr, deren
Eindruck durch die Gegenwart dieſes fremden Weſens
entweder nur um ſo mehr erhöht wurde oder ganz
verloren ging.
Jezt begrüßte der ſonderbare Gaſt mit Würde
die Anweſenden, und wenn ſich auch Anfangs einige
Verlegenheit von Seiten der Freunde bemerken ließ,
ſo war doch bald eine eben ſo natürliche als eigen-
thümliche Unterhaltung eingeleitet. Man ſprach vom
geheimnißvollen Reize des Wohnens auf Thürmen,
von dem frommen und großen Sinn des Mittelalters,
wie er ſich in den Formen der Baukunſt, der heiligen
beſonders, offenbarte, und dergleichen mehr. Die Ge-
genwart des Unbekannten, ſo ſparſam bis jezt ſeine
Worte waren, übte dennoch den größten Einfluß auf
die Bedeutung und die ſteigende Wärme des Geſprächs.
Die hohl aus der Maske tönende Sprache und der
ruhige Ernſt der durchblickenden, dunkel feurigen Au-
gen konnte ſogar ein vorübergehendes Grauen erregen
und einen momentanen Glauben an etwas Ueber-
menſchliches aufkommen laſſen.
Auf einmal erhob ſich der Unbekannte, öffnete
ein Fenſter und ſah in die klare Winterluft hinaus,
indem er ſagte: „Noch eine kurze Weile, ſo iſt der
Sand verlaufen, hoch empor gehalten ſchwebt der
[48] Faden der Zeit. Kommt hieher und fühlet, wie es
ſchon friſch herüberduftet aus der nahen Zukunft!“
Jezt ſchlug das letzte Viertel vor zwölf Uhr.
Die Zinkeniſten ſchlichen mit ihren Inſtrumenten auf
die Galerie, und ſchon ließen ſich von der entfernten
Paulskirche herüber einige ſanfte, faſt klagende Töne
vernehmen, die von unſerer Seite anfänglich in ſchwa-
chen, dann in immer ſtärkeren Akkorden erwiedert
wurden; jene bezeichneten das ſcheidende, dieſe das
erwachende Jahr, und beide begegneten ſich in einer
Art von Wechſelgeſang, der am lebhafteſten wurde,
als endlich die Glocken von verſchiedenen Seiten her
die Stunde ausſchlugen; die dießſeitige Partie ging
in freudige Melodieen über, während es von drüben
immer ſchmerzlicher und wehmüthiger klang, bis mit
dem fernſten Glöckchen, das wie ſilbern durch die
reine Luft erzitterte, die traurigen Klarinetten den
lezten ſterbenden Hauch verſandten. Nun erfolgte
eine Pauſe, und jezt erſt trat das vorhandene Jahr
im ſiegreichſten Triumphe hervor.
Nachdem Alles ſtill geworden und die Geſellſchaft
wieder traulich um den Tiſch verſammelt war, ergriff
man das freundliche Anerbieten des idealiſchen Wäch-
ters, etwas aus ſeinem Tag- oder Nachtbuch vom
vorigen Jahre mitzutheilen, mit allgemeinem Beifalle.
Er zog ein mit ſonderbaren Charakteren geſchriebenes
Heft hervor, welches unter regelmäßigen Daten, ab-
geriſſene Bemerkungen und Gedanken zu enthalten
[49] ſchien, wie ſie ihm auf ſeinen nächtlichen Wanderun-
gen, auf den Straßen der Städte und Dörfer ſich
dargeboten haben mochten; charakteriſtiſche Bilder aus
den verſchiedenſten Verhältniſſen und Zuſtänden der
Menſchen. Wir übergehen den größten Theil ſeiner
Vorleſung und führen bloß Eine Stelle an, die auf
Nolten um ſo tiefern Eindruck machte, je vielſagen-
der der Blick war, womit Larkens ihn darauf auf-
merkſam zu machen ſuchte.
„Nacht vom 7. auf den 8. Januar im Dorfe“.
— — Ich trete vor ein reinlich gebautes Haus;
ich kenne es wohl; es wohnen glückliche Menſchen
darin. In harmloſer Stille blühet hier eine Braut,
deren Verlobter ferne lebt. Vergönne mir, du Haus
des Friedens, einen Blick in deine Gemächer. Mein
Auge iſt geheiligt wie das eines Prieſters; hundert
Jahre ſchon belauſcht es die Nächte der Könige dieſes
Landes und die Schlummerſtätten der Armen im Volk,
und meine Gebete erzählen dem Himmel, was ich ge-
ſehen. Sieh da! was zeigt mir mein magiſcher Spie-
gel? Es iſt die Kammer des Mädchens. Wie ruhig
athmet die Schlafende dort! Ihr liebliches Haupt
iſt hinabgeſunken nach der Seite des Lagers. Der
Mond ſchaut durch das kleine Fenſter; mit Einem
Strahle berührt er eben das unſchuldige Kinn der
Schläferin. Eine Hyacinthe neigt ihre blauen Glocken
gegen das Kiſſen her und miſcht ihren Duft in die
4
[50] Frühlingsträume der Braut, indeß der Winter dieſe
Scheiben mit Eiſe beblümt. Wo mögen ihre Gedan-
ken jetzo ſeyn? Auf dieſem Teppiche ſind ſeltſame
Figuren eingewoben, hundert ſegelnde Schiffe. Viel-
leicht auf dieſen Bildern ruhte ihr ſinnendes Auge
noch kurz, eh’ ſie die Lampe löſchte, nun träumt ſie
den Geliebten in die wilde See hinaus verſchlagen
und ihre Stimme kann ihn nicht erreichen. O beſſer,
daß er in die Tiefe des Meeres verſänke, als daß du
ihn treulos fändeſt, gutes Kind! Aber du lächelſt ja
auf Einmal ſo ſelig, träumſt ihn im Arme zu hal-
ten, ſeinen Kuß zu fühlen. Vielleicht in dem Augen-
blicke, da du mit ſeinem Schatten ſpieleſt, ſucht er
wachend ein verbotenes Glück und treibt ſchändlichen
Verrath mit deiner Liebe. Aber immer noch ſeh’ ich
dich freundlich; du argloſe Seele, ach wohl, es iſt
auch unerhört und faſt unglaublich; was ſucht er
denn, das er bei dir nicht fände? Schönheit und
Jugendreiz? ich weiß nicht, was die Sterblichen ſo
nennen, aber hier darf ſelbſt der Himmel wohlgefällig
über ſeine Schöpfung lächeln. Verſtand und Geiſt?
O ſchlüge ſich dieß Auge auf! aus ſeiner dunkelblauen
Tiefe leuchtet mit Kindesblick die Ahnung jedes höch-
ſten Gedankens. Wie, oder Frömmigkeit? die Frage
klingt wie Spott auf ihn. Ihr beſcheidnen Wände
zeuget, wie oft ihr ſie habt knieen ſehn im brünſtigen
Gebet, wenn Alles rundum ſchlief! — — Biſt ernſt
geworden, mein Töchterchen; wie ſeltſam wechſelt
[51] dein Traum! Ach, nur zu bald wirſt du weinen. Gott
helfe dir. Gute Nacht.“
Dieß war die auffallende Stelle, die Nolten
mit heimlichem Unmuthe gegen Larkens anhörte,
denn nun zweifelte er nicht mehr, daß dieſer das
Ganze veranſtaltet hatte. Was noch weiter aus dem
Hefte vorgetragen wurde, war ohne beſondere Bezie-
hung, und der Vorleſer hörte eben zur rechten Zeit
auf, als die Ungeduld Noltens am höchſten war.
Der Leztere konnte kaum erwarten, bis man ausein-
ander ging und er Gelegenheit fand, dem Larkens
einige Worte zuzuflüſtern, die ihm wenigſtens andeu-
ten ſollten, wie wenig jener Wink am Platze geweſen.
„Ich danke dir,“ ſagte er mit beleidigtem Tone, in-
dem ſie die Treppen des Thurmes hinabſtiegen, „ich
danke dir für deine wohlgemeinte Zurechtweiſung in
einer Sache, worin ich übrigens füglich mein eigener Richter
ſeyn könnte. Ich habe mich dir ſchon früher im All-
gemeinen darüber erklärt, du ſcheinſt mich aber nicht
verſtanden zu haben. Verlang’ es, und ich will mich
weitläuftiger vor dir rechtfertigen.“
„Für’s Erſte,“ antwortete der Freund halb lä-
chelnd, „berg’ ich dir meine Freude darüber keines-
wegs, daß du meinen verſteckten Ausfall auf dein
Gewiſſen nicht ſpaßhaft aufgenommen, ſo ſeltſam auch
die Komödie war; aber es thäte mir auf der andern
Seite eben ſo leid, wenn du einen Popanz oder ſelbſt-
[52] gefälligen Sittenrichter in mir erblicken wollteſt. Nie-
mand würde ſich mit weniger Recht hiezu aufwerfen,
als ich, der ich ſelber erſt vor Kurzem dem Teufel
entlaufen bin und Dreiviertel meines Seelenheils an
ihn verloren habe; aber ich ſchwör’ ihm auch das
lezte theure Reſtchen vollends zu, wenn ich daran
lügen ſollte, daß ein uneigennützig Mitleid mit jenem
liebenswürdigen Geſchöpfe, ja mit euch Beiden, mich
zwinge, Allem aufzubieten, was deine unſelige Ent-
fremdung von dem Mädchen hintertreiben kann.“
„Gut, wir ſprechen uns bald mehr darüber,“
ſagte Nolten, und wollte ihm freundlich die Hand
drücken, was jedoch Larkens nach ſeiner Art ſchnell
abthat, weil ihn der geringſte Anſchein von Sentiment
zwiſchen Freunden immer verlegen und ärgerlich machte.
Nachdem man die beiden auswärtigen Freunde
bis zu ihrem Quartiere begleitet und die nächſte Zu-
ſammenkunft abgeredet hatte, gingen die Andern, welche
in Einem Hauſe und auf demſelben Boden wohnten,
ziemlich einſylbig ihre gemeinſchaftliche Straße.
Unſer Maler fand zwiſchen den eigenen Wänden
jene Wohlthat ungeſtörter Einſamkeit, nach welcher
er ſich vor wenigen Minuten ſo ungeduldig hinge-
drängt hatte, keineswegs. Die Eindrücke dieſer lezten
Stunden waren zu mannigfaltig, zu mächtig, zu ent-
gegengeſezt, als daß er hoffen konnte, ſie zu ordnen,
[53] ſich ihrer mit Vernunft zu bemeiſtern. Er ſchickte
den Bedienten, der ihn auskleiden ſollte, zu Bette,
und ſaß eine Weile unſchlüſſig, den Kopf in die Hand
geſtüzt, den Blick auf die ruhige Flamme der vor
ihm brennenden Kerze geheftet. Erſt der Anblick
jenes unwillkommenen Briefs (er lag noch uneröffnet
auf dem Tiſche) ſchien ſeinem Unmuth, ſeinem Grame
eine entſchiedene Geſtalt zu geben. „O!“ brach er aus,
„muß heute ſich Alles herzudrängen, mich zu peinigen?
ſoll ich nicht zu mir ſelbſt kommen? Was kann ſie
wollen mit dem Briefe? muß ſie nicht fühlen, wir
ſind getrennt auf immer, muß ſie’s nicht? Ja, wenn
dieß wirklich der Inhalt dieſes Blattes wäre! Könnt’
ich’s nur ahnen aus den Zügen dieſer Aufſchrift!
Doch, die ſind treu und gut, und blicken ſchmeichelhaft
wie in den glücklichen Tagen — Nein, nein, ich wag’
es nicht, dieß Siegel zu erbrechen.“
Er ſtand plötzlich auf und ſuchte die Geſellſchaft
des Freundes. Zu ſeinem Troſte traf er ihn noch
wach am Kamine ſitzend und nicht minder geneigt,
die wenigen Stunden bis zum Tagesbruch vollends in
vertrautem Geſpräche zuzubringen. „Recht, daß du
kommſt!“ hieß es, „du triffſt mich mit ernſthaften Be-
trachtungen über dich beſchäftigt. Es wäre gar ſchön
von dir, wollteſt du mich jezt ein wenig tiefer in
deine Karten ſchauen laſſen, denn nach dem, was du
heute gemunkelt, ſollte man ja beinahe glauben, daß
deine Erkältung gegen Agnes noch ihre abſonderlichen
[54] Urſachen habe, wiewohl ich immer bloß die Symptome
eines ganz ordinären Liebesfroſts an dir zu bemerken
meinte, der ſich ſelten anders erklären läßt, als im
Allgemeinen aus einem gewiſſen Deficit von Wärme.
In der Folge mag denn auch Gräfin Conſtanze ei-
nigen Einfluß gehabt haben; was? oder hätte ſie wirk-
lich ſchon Alles wie mit Beſen gekehrt in deinem
Herzſchrank angetroffen?“
„Laß uns nicht leichtſinnig von einer ernſthaften
Sache reden!“ verſezte Nolten, „nein, glaub’ es,
Alter, mein Verhältniß zu Agnes fand den Grund
ſeiner Zerſtörung nicht eben da, wo ihn dein Scharf-
ſinn mit ſo viel Zuverſicht entdecken will. Du hätteſt
mir die Urſache längſt abmerken können; eine ausführ-
liche Entwicklung der verhaßten Geſchichte war mir zu
verdrießlich, und zudem mag mich eine dumme Schaam
abgehalten haben, über die ich nicht gebieten konnte.
Mich von einem kindiſchen Geſchöpfe ſo genarrt, ſo
gekränkt zu wiſſen! mich ſelber ſo zu narren, ſo zu
täuſchen! Höre nun; du weißt, was mich an das
Mädchen gefeſſelt hatte, was ich Alles in ihr ſuchte,
tauſendfach fand; aber dir iſt nicht bekannt, wie ſehr
mich meine Rechnung zulezt betrog. Siehſt du, wenn
äußerſte Reinheit der Geſinnung, wenn kindliche Be-
ſcheidenheit und eine unbegränzte Ergebung von jeher
in meinen Augen für die Summe desjenigen galt, was
ich von einem weiblichen Weſen verlangen müſſe, das
ich für immer ſollte lieben können, ſo iſt der Eigenſinn
[55] begreiflich und verzeihlich, womit ſich mein Herz ver-
ſchloß, ſobald jene Eigenſchaften anfingen, ſich im Ge-
ringſten zu verläugnen; denn je gemäßigter meine An-
ſprüche in jedem andern Sinne waren, deſto beharr-
licher durften ſie ſeyn in dieſer einzigen Rückſicht, mit
welcher nach meinem Gefühle der ſchönſte und blei-
bendſte Reiz aller Weiblichkeit wegfällt.“
„Ha ha ha!“ lachte der Freund, „deine Forderun-
gen ſind beſcheiden, und doch auch impertinent groß von
Weibern der jetzigen Welt!“
„O,“ fuhr der Andere fort, „o Larkens! ja
verlache mich, denn ich verdien’s! daß ich der Thor
ſeyn konnte, zu glauben an die Unwandelbarkeit jener
urſprünglichen Einfalt, die mir unendlichen Erſatz für
jeden glänzenden Vorzug der Erziehung gab! Wo blieb
doch jener fromm genügſame Sinn, den auch die leiſe
Ahnung nie beſchlich, daß es außer dem Geliebten noch
etwas Wünſchenswerthes geben könne? jene ungefärbte
Wahrheit, welche auch den kleinſten Rückhalt nicht in
ſich duldet, jene Demuth, die ſich ſelbſt Geheimniß iſt?
Das Alles lag einſt in dem Mädchen! Wie heimlich
und entzückt belauſcht’ ich nicht zu tauſend Malen das
reine Aderſpiel ihres verborgenſten Lebens! Durch-
ſichtig wie Kryſtall ſchien der ganze Umfang ihres Da-
ſeyns vor mir aufgeſchloſſen und auch nicht Ein un-
ebner Zug ließ ſich entdecken. Sprich! mußte darum
nicht der erſte Schatten weiblicher Falſchheit mich auf
ewig von ihr ſchrecken? Mein Paradies, geſteh’ es,
[56]Larkens! war vergiftet von dieſem Augenblicke.
Kann ich es ändern? kann ſie es ändern? Sie ſelbſt
mag zu entſchuldigen ſeyn, auch ich entſchuldige ſie,
aber die Bedeutung des Ganzen iſt mir verloren, iſt
weg, unwiederbringlich. Und wenn ihre Liebe, gött-
lich neugeboren, mir entgegen weinte, ich müßte die
Hände ſinken laſſen, ſie fände ihre alte Wohnung nicht
mehr.“
Larkens ſchwieg einige Zeit nachdenklich. „Aber,“
fing er nun an, „was verbrach denn das Mädchen ei-
gentlich? wo ſtreckte denn der Satan, der in ſie gefah-
ren ſeyn ſoll, zuerſt ſein Horn heraus? wo ſind die
Indicia?“
„Meinſt du,“ fuhr Nolten fort, „es ſey mir
nicht ſchon fatal geweſen, da es bereits vor einem
Jahre bei meinem lezten Beſuch in Neuburg ſehr deutlich
das Anſehen hatte, als ob dem Närrchen bange würde um
eine genügende Verſorgung durch mich? und wenn mir
der Vater mit kritiſchem Geſichte zu verſtehen gab, es
wolle nirgends recht fort mit meiner Kunſt, mit mei-
nem Erwerbe, er ſelber könne uns nur wenig unter
die Arme greifen, ich möge mich doch wohl bedenken,
ob ich mir eine Familie zu nähren getraue, und was
des Geſchwätzes mehr war, ſo nahm das Töchterchen
mich zwar zärtlich genug in eine Ecke, küßte mir die
Runzeln von der Stirn, lächelte und verbarg doch nur
mit Müh’ und Noth ihre Sorgen, ihre Thränen. Das
ließ ich denn ſo gehen und hielt’s ihnen zu Gute.
[57] Aber bald nachher, verflucht! die garſtige Niederträch-
tigkeit!“
„Nun?“
„Ein zierlicher Laffe kam in’s Haus, Geometer,
oder was er iſt, ein weitläuftiger Vetter aus der be-
nachbarten Stadt. Mir ward von freundſchaftlicher
Hand ein Wink gegeben, daß man ſich in dem Bur-
ſcheu, nur auf gewiſſe Fälle, ein Schwiegerſöhnchen
reſerviren wolle.“
„Iſt nicht möglich das!“ rief Larkens erſchrocken
aufſpringend.
„Und iſt gewiß. Zwar Agnes wußt’ Anfangs
nicht um den ſaubern Plan, man wollt’ abwarten, ob
ihr s’ Mäulchen nicht ſelber überliefe, man ſteckte die
Leutchen recht gefliſſentlich zuſammen, daß dem Mädel
zulezt wirklich ſchwindlich ward, denn mein Rival trug
ohne Zweifel eine brillante Vorſtecknadel, wußte treff-
liche Dinge von Bällen und dergleichen zu erzählen,
wunderte ſich recht mitleidig, daß Fräulein Agnes
an ſolchen Herrlichkeiten keinen Theil nehme, worauf
denn das gute Schäfchen ſich ebenfalls im Stillen ver-
wunderte, ſich ganz tiefſinnig in die neue prächtige
Welt verguckte, von welcher ſie auf ihrem ſtillen
Waldhäuschen bisher das Mindeſte nicht geahnt. Mir
entdeckten jedoch ihre ſehr liebreichen, wiewohl etwas
ſparſamen, Briefe nichts von dieſen Viſionen, die
Wiſchchen waren lieb und ſimpel und treuherzig, wie
ſonſt auch, rochen weder nach eau de Portugal noch de
[58] mille fleurs, ſondern es war genau der alte ächte
Maiblumen- und Erdbeernduft, — aber den hölliſchen
Geſtank brachten mir die Briefe ſehr ehrenwerther
Perſonen unter die Naſe; dort iſt von muſikaliſchen
und andern Notturni’s, von Rendezvous im Gärtchen,
kurz von allerliebſten Sachen die Rede, die ich zuerſt
unglaublich und bis zur Deſperation abſcheulich, dann
aber ganz natürlich und zum Todtlachen plauſibel fand.“
„Die Briefe, von wem denn?“
„Sie ſind — gleichviel.“
„Das nun eben nicht, mein Beſter!“
„Nun ja, ich bin den Perſouen eine gewiſſe Dis-
kretion ſchuldig.“
„Nur ungefähr; männlich? weiblich? oho!
nun rath ich den Pfeffer; die Epiſteln hat der Neid
diktirt.“
„Unwürdiger Verdacht! Und ich hab’ außerdem
Beweiſe, die — o laß mich ſchweigen, laß mich ver-
geſſen! nur jezt verſchone mich, du ſiehſt ja, wie
mich’s martert!“
„Aber was ſagte Agnes zur Entſchuldigung?“
„Nichts, und ich macht’ ihr keinen Vorhalt.“
„Alle Teufel! biſt du verrückt? du ſtellteſt ſie
nicht zur Rede?“
„Mit keiner Sylbe. Der Herr Papa, in Furcht,
ich habe Wind erhalten von dem Spaß, kam mir
mit Rechtfertigungen zuvor, vielleicht weil ihm der
Reukauf angekommen. Da verſteigt er ſich nun in den
[59] rührendſten pſychologiſchen Subtilitäten, als gälte es
eine Preisaufgabe, den Leichtſinn einer läppiſchen
Dirne wieder zu Ehren zu bringen. Er ruft ſogar
die Medizin zu Hülfe; es iſt wahr, das Mädchen
war kurz vorher krank, aber was, zum Henker! hatten
die Nerven meiner Braut mit dem Geometer zu
ſchaffen? Kurzum, ich weiß nun, was ich von Allem
zu glauben habe. Ich ſchrieb ihr, wie du weißt, ſeit
ſechs Monaten nicht mehr, und hoffte zulezt, auch ſie
habe ſtillſchweigend reſignirt, allein der Alte mag von
Verbeſſerung meiner Umſtände gehört haben: nun er-
halt’ ich geſtern unerwartet einen Wiſch durch Fer-
dinand — da!“
Larkens griff haſtig nach dem Briefe, und zwar
mit einer Beſtürzung, die nur in dieſem Augenblicke
dem Freunde entgehen konnte. Nolten drang ihm
das Papier beinahe bittend auf, indem er wiederholt
ſagte: „behalt’ es, vergrab’ es bei dir, beſter einziger
Larkens! und wenn es möglich iſt, verſchone mich
mit ſeinem Inhalt, antworte ſtatt meiner, nicht wahr,
du thuſt mir die Liebe? O wie mir nun wieder leicht
iſt, ſeit ich des Quarks los bin! — Alter, komm’,
laß Wein bringen! Wollen uns einmal wieder luſtig
machen. Der Tag ſchläft noch feſt. Laß dieſe trübe
Lampe mit unſern verdüſterten Geiſtern ſich im Kar-
funkel des Burgunders ſpiegeln!“
In Kurzem ſtand eine kühle Flaſche auf dem
Tiſche. Man ſuchte einige Lieblingsmaterien der Kunſt
[60] auf und war bald im Feuer des Geſprächs. Mit
der Morgendämmerung trennte man ſich, um noch
eine kurze Ruhe nachzuholen.
„Noch Eins!“ rief Theobald unter der Thür,
„wer war denn der Vermummte auf dem Albanithurm?“
„Frag’ mich jezt nicht; es iſt gleichgültig; du
ſollſt’s ein ander Mal erfahren. Schlaf wohl.“
Nolten war auf ſeinem, vom Frühlichte blaß
erhellten Schlafzimmer angekommen. Er will ſich ſo
eben auf’s Bette werfen, als ihm an dem ſpaniſchen
Hute, welchen er geſtern auf dem Balle gebraucht,
eine Zierde auffällt, die ihm völlig fremd iſt; die
rothe Blüthe einer Granate, der Natur täuſchend
nachgemacht. Das Blut ſteigt ihm in die Wange,
eine plötzliche Ahnung ſchießt ihm durch den Kopf —
„von Ihr! von Ihr! o ſicherlich von dir, Con-
ſtanze!“ rief er aus. „Die Liebe deutet mir das
räthſelhafte Wort, das du vor wenig Tagen, halb
Scherz, halb Ernſt, gegen mich haſt fallen laſſen.
Die Blüthe der Granate — war’s nicht ſo? Ja, ſo
war’s! Und nun heute Nacht, — ſtuzte mein Auge
nicht mehr als Einmal an der Blumen austheilenden
Gärtnerin und ihrem kleinen Diener? So iſt Sie’s
doch geweſen! gewiß, der Junge hat mir’s angeſteckt,
wie ich verdrießlich in jenem Fenſter ſaß. Sie muß
ihm den Wink gegeben haben. So erkannte ſie mich
doch. Du Engel! Engel! Und du, mein ſeliges Herz!
ja hoffe nur und hoffe kühn! das iſt ein theures, un-
[61] ſchätzbares Merkzeichen. Mir beginnt ein neues Le-
ben! Herauf, du ſchläfriger Morgen! O warum ſtürzt
die Sonne ſich nicht prächtig und entzückt mit Einem
Mal über den ſchattenden Berg, da mich ein Wunder
glücklich macht? Du grauer Tag, wie blickſt du ſelt-
ſam in die glühende Blätterkrone dieſes geborſtenen
Kelchs! Lieber, grauer Tag, wahrſage mir nicht
Schlimmes mit dieſer gelaſſenen Miene! und willſt du
neidiſch ſeyn, ſo wiſſ’ es nur und ärgre dich — Sie
liebt mich! Mich! Ja, Sie — mich!
Indeſſen hatte Larkens das ihm übergebene
Briefchen Agneſens geöffnet und geleſen; es war
ein einfacher Gruß, wobei ſie Theobalden auf’s lebhaf-
teſte dankt für ſein leztes Schreiben, welches je-
doch, die Wahrheit zu ſagen, von ganz anderer Hand, und,
wie ſo manche frühere Sendung, bloß unterſchoben war.
„Du bitteſt mich,“ ſagte Larkens nach einer
Pauſe gerührten Nachdenkens vor ſich hin, „du bitteſt
mich, armer Freund, ich ſoll das Blättchen bei mir
vergraben, ſoll den Knoten zerhauen, ſoll deine ganze
verleidete Sache über Hals und Kopf der Vergeſſen-
heit überliefern, und ſo Alles mit Einem Male gut
machen. Ich will gut machen, aber auf ganz andere
Art als du denkſt, und Gott ſey Dank, daß mir nicht
jezt erſt einfällt, dieſe Sorge auf mich zu nehmen.
Wie preiſ’ ich den Genius, der mir gleich Anfangs
[62] das Mittel eingab, dem guten Kinde deinen Wankel-
muth zu verbergen, ihm durch eine leichte Täuſchung
allen Schmerz, alle Angſt zu erſparen, und, wenig-
ſtens ſo lange ſich noch Heilung für den Verblendeten
hoffen läßt, das holde Geſchöpf im ſchönen Traum
ſeiner Liebe zu laſſen. Aus einem Verhältniſſe zu
der Gräfin kann offenbar nichts werden, tauſend Um-
ſtände ſind dagegen; Conſtanze ſelber, wie ich ſie
kenne, hat nicht den entfernten Gedanken an ſo et-
was, kann ihn gar nicht haben. Theobald wird
müſſen ſeiner Leidenſchaft entſagen lernen, ich ſeh’
Alles voraus, es wird tief bei ihm einſchneiden, —
ſchad’t nichts, das ſoll mir ihn zu ſich ſelbſt bringen,
ſoll mir ihn weich machen für Agnes; er wird dem
Himmel danken, wenn ihm das weggeworfene Kleinod
erhalten blieb. Für jezt wär’s Unſinn, ihm die Gräfin
gewaltſam vom Herzen reißen zu wollen; ich hoffe,
es iſt nur ein Uebergang, und ich müßt’ ihn ſchlecht
kennen, oder es kann ihm in die Länge ſelbſt nicht
ſchmecken. Auf jeden Fall läßt er mich ja an Allem
Theil nehmen, was etwa mit ihm und Conſtanzen
vorgeht, und Larkens iſt bei der Hand, wenn Feuer
im Dach auskommen ſollte; überdieß will ich meinen
Leuten ſo genau aufpaſſen, daß mir nichts in die
Quere laufen ſoll. Das Erſte iſt nun, ich muß wiſ-
ſen, was an dem Mährchen mit Agnes iſt; gewiß
irgend eine verläumderiſche Teufelei, und mein vor-
trefflichſter Nolten hat in der blinden Hitze einmal
[63] wieder daneben geſchoſſen; ich laſſe mich rädern, das
iſt’s. — Hm! freilich, hätt’ ich nur ein einzig Mal
das Mädel mit dieſen meinen Augen geſehen! aber
ſo, was bürgt mir für ſie? Man hat Beiſpiele, daß
ſo ein Engelchen auch einmal einen ſchlechten Streich
macht, oder, was bei ihnen gerade ſo viel iſt, einen
dummen. Nein, zum Henker, ich kann’s wieder nicht
denken! Sind mir ihre Briefe nicht Zeugniß genug?
So ſchreibt doch wahrlich keine Galgenfeder! Und ge-
ſezt, ſie hätt’ einmal ein paar Tage einen Wurm im
Kopf gehabt und ein biſſel nebenaus geſchielt, etwas
Gift mag ſo was immer anſetzen bei’m Liebhaber,
doch im Ganzen was thut’s? Ein verdammter Egois-
mus, daß wir Männer uns Alles lieber verzeihen,
als ſo einem lieben Närrchen; eben als hätten wir
allein das Privilegium, uns zuweilen vom Leibhafti-
gen den Pelz ein wenig ſtreicheln zu laſſen, ohne ihn
juſt zu verbrennen. Wetter! dieſe frommen Hexchen
haben ſo gut Fleiſch und Blut wie unſer einer, und
der nächſte Blick auf die Perſon des Alleinzigen wirft
den Hundertſtels-Gedanken von Untreue und das ge-
wagteſte Luftſchloß wieder über’n Haufen; dann gibt
es nichts pikanter Wollüſtiges für ſo eine ſüße Krabbe,
als die Thränchen, womit ſie gleich drauf die Ver-
irrung ihrer Phantaſie am bärtigen Halſe des Lieb-
ſten unter tauſend Küſſen ſtillſchweigend abbüßet.
Aber auch nicht ein [...], dieſer leichten Seitenſprünge
halt’ ich Agneſen fä[h]ig; wenigſtens wär’ mir leid
[64] um das goldreine Chriſtengelsbild, das ich mir ſo
nach und nach von dem Mädchen conſtruirte. Mord
und Tod! daß man doch gar, gar Nichts in der Welt
ſoll denken können, wobei einem der alte Verderber
nicht wieder ein Eſelsohr drehte! Ich möcht’ mich in
Stücke reißen vor Wuth! nicht um meinetwillen, —
für mich iſt nichts mehr zu verlieren: nein, nur um
Noltens willen, der ſo ehrlich, gut knabenartig ſein
Ideal in einer Dorflaube ſalvirt glaubte und nun
eben auch in faule Aepfel beißen ſoll. So geht’s, —
ei, und am Ende haben wir’s All’ nicht beſſer ver-
dient. Aber laß ſehn, es fragt ſich ja immer noch —
Verflucht! was doch das Mißtrauen anſteckt! Stand
nicht bis den Augenblick mein Glaube an das Mäd-
chen feſt wie ein Fels? und, ſachte beim Licht beſehn,
ſteht er noch wie vor. So laß mich denn meine Ma-
ſchinen getroſt fortſpielen! meine Maskencorreſpondenz
mit dem Liebchen mag dauern ſo lang ſich’s thut. Bin
ich durch dieſe ſechs Monat lange Uebung im Styl der
Liebe, im Ausdruck und individueller Gedankenweiſe
nicht ſo ganz und gar zum andern Nolten geworden,
daß ich faſt fürchten muß, das Mädchen, wenn heut
oder Morgen der Spuck an Tag käme, könnte ſich in
mich verlieben? was denn ceteris paribus auch ſo
übel nicht wäre. Doch, ſoviel iſt gewiß, ich glaube
für hundert galante Schurkereien, wozu ich ehedem
meine gewandte Handſchrift [...]rauchte, mir hinläng-
liche Abſolution dadurch er [...]ben zu haben, daß ich
[65] die Kunſt, ehrlichen Leuten ihre Züge abzuſtehlen, endlich
einmal für einen guten Zweck nütze. Du liebes betro-
genes Kind! und haſt du denn niemals bei’m innigen
vertieften Anſchaun meiner Lügenſchrift etwas Unheim-
liches verſpürt, wenn du das Blatt mit dankbarem
Entzücken an deine Lippen drückteſt? hat nicht der En-
gel deiner Liebe dir zugeflüſtert: halt, eine fremde
Hand ſchiebt der des Geliebten ſich unter? Nein doch!
dein Schutzengel wird ſich ja eher mit mir verſchwören,
als daß er dich mit der unzeitigen Wahrheit betrüben
ſollte, die dir zugleich den Geliebten raubt! Immerhin
alſo laß mich gewähren. Und hat es mir zeither an
Vorwänden nicht gefehlt, dich über das immer verſcho-
bene Wiederſehn deines Theobalds und die lang-
entbehrte Umarmung zu tröſten, ſo wird es mir, denk
ich, noch gelingen, dir ihn bald als einen völlig Neuen
entgegenzuführen, und du wirſt nicht einmal wiſſen,
daß es ein ſtrafwürdiger, aber bekehrter Flüchtling iſt,
der zu deinen Füßen weint.“
Dieß war ſo ziemlich das bald leiſe, bald laute
Selbſtgeſpräch Larkens. Judem wir es wiederzugeben
ſuchten, weihten wir den Leſer in das Geheimniß ein,
das ihm gegenwärtig vor Allem am Herzen lag. Es
verſteht ſich von ſelbſt, daß er gleich bei’m Beginn ſei-
nes wunderlichen Briefwechſels mit Agnes alle Vor-
ſicht gebrauchte und jene namentlich unter irgend einem
Vorwand aufforderte, ihre Briefe immer unter der
Larkens’ſchen Adreſſe laufen zu laſſen. Dieß geſchah
5
[66] indeſſen auch pflichtlich, nur das lezte Billet machte
eine Ausnahme, weil Agnes die Gelegenheit durch
die Freunde ohne Umſchweif nützen zu können meinte,
und ſo war das Papier wirklich zu Anfangs nicht ge-
ringem Schrecken des heimlichen Korreſpondenten in
die Hände desjenigen gelangt, für den es am wenigſten
gehörte, und dem ſein Inhalt das ganze hübſche Ge-
webe hätte verrathen müſſen. Eine geſchärfte Inſtruk-
tion für die Briefſtellerin war die einzige Folge dieſer
glücklich abgeleiteten Gefahr, aber einen weit wichtigern
Grund, ungeſäumt an Agnes, ſo wie auch an den
Förſter, zu ſchreiben, fand Larkens in der Ungewiß-
heit über die bewußte Ehrenſache. Er ſezte ſich noch
in dieſer Stunde nieder, doch mit dem Vorſatze, ſeine
Sorge nur ſo gelinde als möglich reden zu laſſen, und
ſeine Erkundigungen ganz im Allgemeinen zu halten,
damit nicht etwa ein Verſtoß gegen frühere Verhand-
lungen, die ihm unbekannt waren, zum Vorſchein
komme.
Um aber die Stellung Noltens gegen die
Braut ganz anſchaulich zu machen, müſſen wir
in der Zeit etwas zurückſchreiten und Folgendes er-
zählen.
Das Verhältniß der Verlobten ſtand in der wün-
ſchenswertheſten Blüthe, als Agnes durch eine heftige
Nervenkrankheit dem Tode nahe gebracht ward. Der
kritiſche Zeitpunkt ging indeſſen gegen Erwartung glück-
[67] lich vorüber, und mehrere Wochen verſtrichen, ohne
daß es mit der allmähligen Geneſung des Mädchens
irgend einen auffallenden Anſtoß gegeben hätte. Jezt
aber konnte es dem Vater, und wer ihn ſonſt beſuchen
mochte, nimmer entgehen, daß mit der Tochter eine
Veränderung, und zwar eine ſehr bedeutende, vorge-
gangen ſey. Offenbar war ſie tief am Gemüthe ange-
griffen, auch körperlich bemerkte man die ſonderbarſte
Reizbarkeit an ihr; im Ganzen war ſie ſanft, meiſt
niedergeſchlagen, zuweilen ungewöhnlich heiter und ge-
gen ihr ſonſtiges Weſen zu allerlei Poſſen geneigt. Oft
machte ſie ihrem Herzen durch heftige Thränen Luft,
brach in Klagen aus um den entfernten Geliebten, den
ſie mit Sehnſucht zu ſich wünſchte. Zugleich äußerte
ſie eine leidenſchaftliche Liebe zur Muſik, verlangte
nichts ſo ſehr als irgend ein Inſtrument ſpielen zu kön-
nen, und ſezte jedesmal hinzu, ſie wünſche dieß nur
um Noltens willen, damit er künftig doch wenigſtens Ein
Vergnügen von ihr haben möge. „Ich bin ein gar zu
bäuriſches einfältiges Geſchöpf, und ſolch ein Mann!
O werden wir denn auch jemals für einander taugen?“
Und wollte man ſie nun beruhigen, ſezte der Vater den
ſchlichten treuen Sinn des Bräutigams recht faßlich
auseinander, ſo konnte ſie nur um deſto heftiger aus-
rufen: „das iſt ja eben der Jammer, daß er ſich ſelber
ſo betrügt! ihr Alle betrügt euch, und ich mich ſelbſt
in mancher thörichten Viertelſtunde. Meint ihr denn,
wie er im vorigen Herbſte da war, ich hätte nicht ge-
[68] merkt, daß er oft lange Weile bei mir hatte, daß ihn
etwas beengte, ſtocken machte? Seht, wenn er bei
mir ſaß, mir ſeine Hand hinlieh und ich verſtummte,
nichts in der Welt begehrte, als ihm nur immer in
die Augen zu ſehn, dann lächelt’ er wohl, — ach, und
wie lieb, wie treulich! nein, das macht ihm kein An-
derer nach! Und hab ich dann nicht oft, mitten in der
hellen Freude, beſtürzt mich weggewandt und das Ge-
ſicht mit beiden Händen zugedeckt, geweint und ihm
verhehlt, was eben an mich kam? — ach, denn ich
fürchtete, er könnte mir im Stillen Recht geben, ich
wollt’ ihm nicht ſelber drauf helfen, wie ungleich wir
uns ſeyen, wie übel er im Grunde mit mir berathen
ſey.“ So fuhr ſie eine Zeitlang fort und endete zulezt
mit bittern Thränen; dann konnte es geſchehn, daß ſie
ſich ſchnell zuſammennahm, gleichſam gegen den Strom
ihres Gefühls zu ſchwimmen ſtrebte, und mit dem Ton
des liebenswürdigſten Stolzes fing das ſchöne Kind
nun an, ſich zu rechtfertigen, ſich zu vergleichen; die
blaſſe Wange färbte ſich ein wenig, ihr Auge leuchtete,
es war der rührendſte Streit von leidender Demuth
und edlem Selbſtbewußtſeyn.
Dieſe ſonderbare Unzufriedenheit, ja dieß Ver-
zweifeln an allem eigenen Werthe fiel deſto ſtärker auf,
da Theobald in der That nicht die geringſte Urſache
zu dergleichen gegeben, man auch früher kaum die
Spur von einer ſolchen Aengſtlichkeit an ihr entdeckte.
Jezt ward es freilich aus manchen ihrer Aeußerungen
[69] klar, daß ſie ſchon in geſunden Tagen dieſe Sorge
heimlich genährt und wieder unterdrückt hatte, daß
ein krankes Gefühl, das von jenem Nervenübel bei
ihr zurückgeblieben war, ſich mit Gewalt auf den
verletzbarſten Theil des zarten Gemüthes geworfen
haben müſſe.
Damit wir jedoch ſogleich über das Ganze ein
hinreichendes Licht verbreiten, ſind wir die Erzäh-
lung einer Thatſache ſchuldig, welche jenen Symptomen
von Schwermuth vorausging, und wodurch das, was
vielleicht nur vorübergehende Grille war, eine weit
ſchwierigere Geſtalt annahm.
Zwei Wochen, nachdem Agnes vom Kranken-
lager frei geſprochen war, hatte ſie vom Arzte die Er-
laubniß erhalten, zum erſten Mal wieder die freie Luft
zu koſten. Es war an jenem Tage eben ein weitläuf-
tiger Verwandter, deſſen eigentliche Bekanntſchaft man
jezt erſt machte, im Hauſe gegenwärtig; der junge
Mann war ſeit Kurzem in der benachbarten Stadt bei
der Landesvermeſſung angeſtellt und bei dem Förſter
ein um ſo willkommnerer Gaſt, als er neben einem an-
genehmen Aeußern manches ſchöne geſellige Talent
bewies. Man ſpeiſ’te fröhlich zu Mittag und Agnes
durfte den Vetter Otto nach Tiſch beim wärmſten
Sonnenſchein eine Strecke gegen die Stadt hin beglei-
ten. Das Mädchen, wie neugeboren unter’m offenen
Himmel, genoß ganz das erhebende Vergnügen neuge-
ſchenkter Geſundheit, das ſich mit nichts vergleichen läßt;
[70] ſie ſprach wenig, eine ſtille, gegen Gott gewendete
Freude ſchien ihr den Mund zu verſchließen und ih-
ren Fuß im leichten Gang vom Boden aufzuheben;
ihr war, als ſey ihr Inneres nur Licht und Sonne;
ein deutliches Gefühl von körperlicher Kraft ſchien
ſich mit einem kleinen Reſt von Schwäche angenehm
bei ihr zu miſchen; ſie kehrte früher um und nahm
Abſchied von Otto, damit ſie völlig ungeſtört ſich
dem Ueberfluſſe des Entzückens und des Danks hin-
geben könne.
Ihr Weg führte ſie durch ein Birkenwäldchen,
bei deſſen lezten Büſchen ſie eine Zigeunerin allein
am Raſen ſitzen fand, eine Perſon von anſprechendem
und trotz ihres geſezten Alters noch immer von jung-
fräulichem Ausſehen. Man grüßt ſich, Agnes geht
weiter, und hat kaum fünfzehn Schritte zurückgelegt,
als ſie bereuet, die Unbekannte nicht angeredet zu
haben, deren ganzes Weſen und freundlich bedeuten-
der Blick doch ſogleich den größten Eindruck auf ſie
gemacht hatte. Sie beſinnt ſich, ſie lenkt um und
eine Unterredung wird angeknüpft. Nach einer Weile,
während der man gleichgültige Dinge geſprochen,
pflückt das braune Mädchen gleichſam ſpielend einige
Gräſer, knüpft ſie in eine regelmäßige Figur zuſam-
men, löſ’t ſodann kopfſchüttelnd den einen oder an-
dern Knoten wieder auf und ſagt: „Sezt Euch zu
mir. — Der Herr, den Ihr da vorhin ausgefolgt,
[71] iſt Euer Schatz zwar nicht, doch denkt an mich, er
wird es werden.“
Agnes, obgleich etwas betreten, ſcherzt Anfangs
über eine ſo unglaubliche Prophezeihung, verwickelt
ſich aber immer angelegentlicher und haſtiger in’s Ge-
ſpräch, und da die Aeußerungen und Fragen der
Fremden eine ganz unbegreifliche Bekanntſchaft mit
den eigentlichen Verhältniſſen der Braut vorauszuſetzen
ſcheinen, ſo kommt ſie den Worten der Zigeunerin un-
vermerkt entgegen. Das gutmüthige Benehmen der-
ſelben entfernt zugleich faſt jedes Mißtrauen bei Ag-
neſen. Wie ſchmerzhaft aber und wie unvermuthet
wird ihr geheimſtes Herz mit Einem Male aufgedeckt,
da ſie aus jenem ahnungsvollen Munde unter andern
die Worte vernimmt: „Was Euern jetzigen Verlobten
anbelangt, ſo wär’ es grauſam Unrecht, Euch zu ver-
bergen, daß Ihr auch allerdings nicht geboren ſeyd für
einander. Seht hier die ſchiefe Linie! das iſt ver-
wünſcht; ſtimmt doch das Ganze ſonſt gar hübſch zu-
ſammen! Aber die Geiſter necken ſich und machen Krieg
mit den Herzen, die freilich jezt noch feſt zuſammen-
halten. Ei närriſch, närriſch! mir kam ſo was noch
wenig vor.“
Agnes fand Sinn in dieſen dunkeln Reden, denn
ſie erklärten ihr nur ihre eigene Furcht. „Wie?“ ſagte
ſie leiſe und ſtarrte lange denkend in den Schoß, „ſo
iſt’s — ſo iſt’s! ja Ihr habt Recht.“
„Nicht ich, mein Töchterchen, nur Stern und Gras
[72] behalten Recht. Vergib, daß ich die Wahrheit ſagte;
aber Wermuth kann auch Arznei ſeyn, und ſey ver-
ſichert, Zeit bringt Roſen.“
Hier ſtand die Fremde auf. Agnes, im Innern
wie gelähmt und an den Gliedern wie gebunden, ver-
mochte kaum ſich zu erheben, ſie hatte nicht den Muth,
die Augen aufzuſchlagen, es war ihr leid, daß ſie ver-
rieth, wie ſehr ſie ſich getroffen fühlte. Und doch, in-
dem ſie auf’s Neue in das Geſicht der Unbekannten
ſah, glaubte ſie etwas unbeſchreiblich Hohes, Vertrauen-
erweckendes, ja Längſtbekanntes zu entdecken, in deſſen
ſeelenvollem Anblicke der Geiſt ſich von der Laſt des
gegenwärtigen Schmerzens befreie, ja ſelbſt die Angſt
der Zukunft überwinde.
„Behüt’ dich Gott, mein Täubchen! und hab’ im-
merhin guten Muth. Läßt dich die Liebe mit Einer
Hand los, ſo faßt ſie dich gleich wieder mit der an-
dern. Und ſtoße nur dein neues Glück nicht eigen-
ſinnig von dir; es iſt gefährlich, dem Geſtirn Trotz
bieten. Nun noch das Lezte: bevor ein Jahr um iſt,
wirſt du Niemand verrathen, was ich dir geſagt; es
möchte ſchlimm ausfallen, hörſt du wohl?“
Dieß Leztere hatte die Zigeunerin mit beſonderem
Nachdrucke geſprochen. Auf’s Aeußerſte ergriffen dankte
das Mädchen beim Abſchiede und reichte der Fremden
ein feines Tuch zum Angedenken hin.
Agnes war allein und vermochte kaum ſich ſel-
ber wieder zu erkennen; ſie glaubte einer fremden, ent-
[73] ſetzlichen Macht anzugehören, ſie hatte etwas erfahren,
was ſie nicht wiſſen ſollte, ſie hatte eine Frucht ge-
koſtet, die unreif von dem Baume des Schickſals ab-
geriſſen, nur Unheil und Verzweiflung bringen müſſe.
Ihr Buſen ſtritt mit hundertfältigen Entſchlüſſen und
ihre Phantaſie ſtand im Begriffe, den Rand zu über-
ſteigen. Sie hätte ſterben mögen, oder ſollte Gott
ihrer Neugierde verzeihen und ſchnell das fürchterliche
Bewußtſeyn jener Worte von ihr nehmen, die ſich
wie Feuer immer tiefer in ihre Seele gruben, und
deren Wahrheit ſie nicht umſtoßen konnte.
Erſchöpft kam ſie nach Hauſe und legte ſich ſo-
gleich mit einem ſtarken Froſte; der Alte befürchtete
einen Rückfall in das kürzlich erſt beſiegte Uebel,
allein vom wahren Grunde ihres Zuſtandes kam keine
Sylbe über ihre Lippen. Sie ließ ſich ältere und
neuere Briefe Theobalds auf’s Bette bringen, aber
ſtatt des gehofften Troſtes fand ſie beinahe das Ge-
gentheil; das liebevollſte Wort, die zärtlichſten Ver-
ſicherungen, ſchon gleichſam angeweht vom vergiften-
den Hauche der Zukunft, betrachtete ſie mit Wehmuth,
wie man getrocknete Blumen betrachtet, die wir als
Zeichen vergangener ſchöner Augenblicke aufbewahrten:
ihr Wohlgeruch iſt weg und bald wird jede Farben-
ſpur daran verbleichen.
Dergleichen traurige Ahnungen erfüllten ſie mit
deſto ungeduldigerem Schmerz, je mehr ſie Theobal-
den noch in dem vollen Irrthum ſeiner Liebe befan-
[74] gen denken mußte, — in einem Irrthum, den ſie
nicht länger mit ihm theilen durfte noch wollte, der
ihr abſcheulich und [beneidenswerth] zugleich vorkam.
Jener Fieberanfall ging indeß vorüber und außer
einer gewiſſen Ueberſpannung hielt man das Mädchen
für geſund. Die Ungewißheit ihres Schickſals be-
ſchäftigte ſie Tag und Nacht. Suchte ſie auch einen
Augenblick jene drohenden Ausſprüche mit ruhigem
Verſtande zu beſtreiten, ſchalt ſie ſich abergläubiſch,
thöricht, ſchwach, ſie fand doch immer zwanzig Gründe
gegen Einen, und ſelbſt im Fall die unerhörteſte
Täuſchung des Weibes mit im Spiele war, ſo ſchien
dieſer ſeltſame Zufall ihr wenigſtens eine früher ge-
fühlte Wahrheit auf’s wunderbarſte zu beſtätigen.
Denn freilich hatte ſie bei dem Geſpräch im Walde
nicht bemerkt, wie viel ihr die Zigeunerin, nachdem
das erſte auf’s Ungefähr keck hingeworfene Wort einmal
gezündet, mit leiſem Taſten abzulauſchen wußte, noch
weniger ließ ſie ſich träumen, daß eben dieſe Perſon
auf ſehr natürlichem Wege von der äußeren Lage der
Dinge im Allgemeinen unterrichtet, mit Theobald
nicht unbekannt, und, wie ſich ſpäterhin entdecken
wird, überhaupt gar ſehr bei der Sache intereſſirt
war. Was aber immer die geheime Abſicht dabei
ſeyn mochte, genug, das arme Kind war ſchon ge-
neigt, einen höheren Wink in jenem Auftritte zu er-
blicken.
Indeſſen, es gehen zuweilen Veränderungen in un-
[75] ſerer Seele vor, von welchen wir uns eigentlich keine
Rechenſchaft geben und denen wir nicht widerſtehen
können, wir machen den Uebergang vom Wachen zum
Schlaf ohne Bewußtſeyn und ſind nachher ihn zu be-
zeichnen nicht im Stande: ſo ward in Agnes nach
und nach die Ueberzeugung von der Unvereinbarkeit
ihres Schickſals und Noltens befeſtigt, ohne daß ſie
genau wußte, wann und wodurch dieſer Gedanke eine
unwiderſtehliche Gewalt bei ihr gewonnen. Ihre
Grundempfindung war Mitleid mit einem geliebten
und verehrten Manne, hinter deſſen Geiſt ſie ſich weit
zurückſtellte, den ſie durch ihre Hand nur unglücklich
zu machen fürchtete, weil es in der Folge doch auch
ihm ſelbſt nicht mehr verborgen bleiben könne, wie
wenig ſie ihm als Gattin genüge. Allein wenn dieß
Gefühl, das unſtreitig aus dem reinſten Grunde un-
eigennütziger Liebe hervorging, das gute Geſchöpf all-
mählig einer frommen und in ſich ſelber troſtvollen
Reſignation entgegendrängte, ſo wurde der Entſchluß
freiwilliger Trennung auf der andern Seite wieder
durch eine Idee verkümmert, welche ſich ſehr natürlich
aufdrang: ein künftiges Mißverhältniß war ja nur
in dem Falle gedenkbar, wenn Nolten überhaupt
ſeine urſprüngliche Geſinnung verläugnete, wenn er
dem erſten reinen Zuge ſeines Herzens untreu würde;
und ſo betrachtete ſich nun Agnes ſchon zum Voraus
auf’s Tiefſte gekränkt von dem Verlobten, ſie war
verſucht, ihm dasjenige bereits als Schuld anzurechnen,
[76] wovon er ſelbſt noch keine Ahnung hatte, was aber
unvermeidlich kommen müſſe. So ſonderbar es klin-
gen mag, ſo iſt es doch gewiß, es traten Augenblicke
ein, wo ihre Empfindung gegen Theobald nicht
fern von Widerwillen, ja von Abſcheu war, allein
dergleichen feindliche Regungen widerſtrebten dergeſtalt
ihrer innerſten Natur, ſie ſelbſt kam ſich dabei als
ein ſo haſſenswürdiges, entſtelltes Weſen vor, daß ſie
mit Abſicht Alles und Jedes vorkehrte, was den
Bräutigam, auch im äußerſten Falle, rechtfertigen
könnte. Es kam eine tödtliche Angſt über ſie, wenn
ihr zuweilen die Möglichkeit erſchien, daß ſie von
Dem, der ihr noch jüngſt das Theuerſte der Welt ge-
weſen, jemals geringer denken oder daß er ihr gar
ſollte gleichgültig werden können, es war ihr, wenn
es dahin kommen ſollte, als zerſtöre ſie ihr eigen
Selbſt, als ſey die innerſte Wurzel ihres Lebens an-
gegriffen, als müßte ſie jedem ſchönen Glauben, Allem,
was würdig, hoch und heilig ſey, für immerdar ent-
ſagen. Sie nahm in dieſer äußerſten Noth ihre Zu-
flucht zum Gebet, und flehte mit Inbrunſt, Gott möge
die Liebe zu Nolten ſtets friſch bei ihr erhalten, er
möge ihr nur helfen, Alles, was leidenſchaftlich an
dieſer Neigung ſey, aus ihrem Herzen wegzuſcheiden.
Bemerkenswerth iſt es, daß das treffliche Mäd-
chen, von einem richtigen Takte geleitet, ſich mitunter
alle Gewalt anthat, ganz unabhängig von jener ver-
dächtigen Prophetenſtimme zu denken und zu handeln,
[77] ſo wie ſie ſich auch leicht beredete, die Verzichtleiſtung
auf den Verlobten ſey in Betracht der erſten Gründe
doch immer aus ihr ſelbſt hervorgegangen. Vielleicht
ſie unterſchied hierin nicht ſcharf genug, und jene
dunkle Stimme behielt auf Agneſens Thun und
Laſſen den mächtigſten Einfluß; nur verſcheuchte ſie
jede Erinnerung an den verhaßten Fingerzeig des
Weibes, der ſo entſchieden auf ein neues Bündniß
hindeutete; nicht ohne heimliches Schaudern konnte
ſie in dieſem Sinne an den Vetter denken, ja ſie ver-
mied ſeinen Anblick eine Zeitlang gefliſſentlich, nur
um dieſer unerträglichen Vorſtellung los zu werden.
Wie ſehr das Mädchen unter ſolchen Umſtänden
litt, von wie viel Seiten ihr Gemüth im Stillen zer-
riſſen und gepeinigt war, läßt ſich wohl beſſer fühlen
als beſchreiben. Unglaublich erſcheint bei dieſem Allen
der Wechſel ihrer Stimmung; denn während ſie jede
Hoffnung auf Theobald verbannte und in den nüch-
ternſten Stunden ſogar die Fähigkeit bei ſich entdeckte,
ihn ſeinem beſſern Schickſale frei zu geben, fehlte es
mitunter nicht an Augenblicken, wo alle jene düſtern
Bilder gleich Geſpenſtern vor der aufgehenden Sonne
zurückflohen, wo ihre Liebe mit Einemmal wieder in
dem heiterſten Lichte vor ihr ſtand und eine Vereini-
gung mit Nolten ihr, allen Orakeln der Welt zum
Trotze, nothwendiger, natürlicher, harmloſer däuchte,
als jemals. Mit Entzücken ergriff ſie dann eilig die
Feder, dem theuren Freund ein liebevolles Wort zu
[78] ſenden, und ſich im Schreiben gleichſam ſelbſt des
überglücklichen Bewußtſeyns zu verſichern, daß ſie und
Nolten ewig unzertrennlich ſeyen.
In ſolchen Stimmungen mochte ſie auch Ottos
Gegenwart nicht ungern leiden, ſie behandelte ihn
noch immer mit einiger Zurückhaltung und hatte auch
dieſe ſchon halb überwunden; nur als der Vater ge-
legentlich dem Vetter, der die Mandoline fertig ſpielte,
den Vorſchlag machte, das Bäschen in die Lehre zu
nehmen, ward ſie einigermaßen verlegen und zauderte,
wiewohl ſie den Wunſch früher ſelbſt geäußert hatte
und noch jezt in gewiſſer Hinſicht Luſt dazu empfand.
Auf das freundlichſte Zureden Ottos entſchloß ſie
ſich wirklich, und ſogleich wurde die Probe gemacht,
die denn auch ganz munter von Statten ging; Ag-
nes bewies den größten Eifer, denn es galt, den
Geliebten ſpäter mit dieſem neuen Talent zu überra-
ſchen, und das kleine Geheimniß machte ſie glückſelig.
Aber dergleichen lichte Zwiſchenräume waren vor-
übergehend; jene ſchwermüthigen Zweifel kehrten nur
um deſto angſtvoller zurück, und ein ſolcher alle Kraft
der Seele anſpannender Wechſel diente nur, eine
Epoche vorzubereiten, worin die geiſtige Natur der
Armen unter der Laſt einer ſchrecklichen Einbildung
und eines unſeligen Geheimniſſes unterlag.
Noch immer beobachtete Agnes das tiefſte
Stillſchweigen über die Begebenheit im Walde, bloß
im Allgemeinen gab ſich ihr Gram in lauten Klagen
[79] zu erkennen, wovon wir gleich Anfangs ein Beiſpiel
gegeben.
Die muſikaliſchen Lektionen wurden ausgeſezt und
fingen wieder an, weil es der Vater verlangte, der
in ſolchen Unterhaltungen eine willkommene Zer-
ſtreuung für ſeine Tochter ſah. Dieſe zeigte nun-
mehr eine ſonderbare ſtille Gleichgültigkeit, ließ mit
ſich anfangen, was man wollte, oder ging ihr lebloſes
träumeriſches Weſen ſprungweiſe in jene zweideutige
Munterkeit über, wovon wir oben geſprochen. Der
Alte ſah es gern, wenn ſie mit Otto ſich luſtig
machte, nur ſtuzte er oft über die Ausgelaſſenheit, ja
Keckheit ſeines Mädchens, wenn es nach beendigter
Lektion an ein Spaßen, Lachen und Necken zwiſchen
den jungen Leuten ging, wenn die Schülerin dem
Lehrmeiſter blitzſchnell in die Locken fuhr und auch
wohl einen lebhaften Kuß auf die Stirne drückte, ſo
daß Freund Otto ſelbſt etwas verlegen ward und
mit all ſeiner ſonſtigen Gewandtheit ſich zum erſten
Mal ein wenig linkiſch der reizenden Couſine gegen-
über ausnahm. „Biſt doch mein lieber Vetter,“ lachte
ſie dann, „was zierſt du dich ſo närriſch? Aber für-
wahr, ich wollte, wir wären Brautleute! mit dir
könnt’ ich leben, du biſt ganz darnach gemacht, daß
man dich nicht zu viel und nicht zu wenig lieben
kann!“
Dieſe und ähnliche Reden, ſo arglos ſie auch
hingeworfen waren, klangen dem Alten bedenklich,
[80] und vollends finden wir ſein Erſtaunen gerecht, als
er einmal beim Weggehen Ottos, welcher Agneſen
wie ſonſt auf der Schwelle die Hand gab, eine Thräne
in ihrem klaren Auge bemerkte. „Was ſoll doch das,
mein Kind?“ fragte der Vater, nachdem ſie allein
waren, betroffen. „Nichts,“ erwiderte ſie mit einigem
Erröthen und drehte ſich zur Seite; „ſein Anblick
rührt mich oft, er gefällt mir nun einmal.“ Dann
ging ſie ſorglos, wie es ſchien, und ſingend in der
Stube auf und nieder.
Vorübergehende Auftritte der Art brachten den
Förſter auf mancherlei Gedanken, und es iſt zu be-
greifen, wenn er es endlich mehr als wahrſcheinlich
fand, daß hinter dieſem unnatürlichen Zuſtande eine
aufkeimende Leidenſchaft für Otto ſich verſtecke, die
er nur einer krankhaften Reizbarkeit des Mädchens
Schuld geben konnte. Der Zeit nach, worein die er-
ſten Beſuche des Vetters und jene erſten grillenhaften
Aeußerungen Agneſens fielen, widerſprach jener
Vermuthung nichts. Der Leſer aber kann über den
wahren Zuſammenhang des wunderlichen Gewebes
wohl nimmer im Zweifel ſeyn.
Der Verſtand des guten Weſens hatte das Gleich-
gewicht verloren, und der traurige Riß war kaum ge-
ſchehen, als die Schatten des Aberglaubens mit ver-
ſtärkter Wuth aus ihrem Hinterhalte brachen, um ſich
der wehrloſen Seele völlig zu bemächtigen. Jene
Idee von Otto fixirte ſich gleichſam künſtlich im Ge-
[81] müthe der Armen, und die eingebildete Nothwendig-
keit fing an, den Widerwillen gegen ihn zu überbieten.
Die Art jedoch, wie ſich Agnes äußerlich be-
trug, ließ in der That nicht auf eine ſo bedeutende
Störung ihres Innern ſchließen, und der Vater glaubte
nicht an eigentlichen Wahnſinn. Der ſonderbare Hang
zur Luſtigkeit verlor ſich ganz und machte einer geſez-
ten Ruhe, einem liebenswürdigen Gleichmuthe Platz,
der dem Geſpräche ſo wie dem ordentlichen Gange
der hänslichen Geſchäfte gleich günſtig war, man be-
merkte nichts Verkehrtes in ihrem Thun und Reden,
nichts Schwärmeriſches in Miene und Geberde; aber
an Theobald wollte ſie nicht erinnert ſeyn, ſelbſt
Ottos Namen berührte ſie kaum, ſo lange er abwe-
ſend war, nur wenn er kam, ſah man ſie ihre ganze
Aufmerkſamkeit, alle Anmuth und Freundlichkeit an
ihn verſchwenden.
Wenn nun der Alte, durch ein ſo unerhörtes
Benehmen zur Verzweiflung gebracht, ſie zur Rede
ſtellte, ſie bald mit Sanftmuth, bald mit drohenden
Vorwürfen an ihre Pflicht, an ihr Gewiſſen mahnte,
ſo zeigte ſie entweder eine ſtumme Gelaſſenheit, oder
ſie lief weinend aus dem Zimmer und ſchloß ſich ein.
Der Vater hatte indeſſen auf die Entfernung
des jungen Menſchen gedacht und ihm bereits einige
leiſe Winke gegeben, die aber bis jezt ganz ohne
Wirkung blieben; er war in der peinlichſten Noth,
zumal er Urſache hatte, zu befürchten, daß die Reize
6
[82] des Mädchens auch nicht ohne Eindruck auf Otto ge-
blieben ſeyn möchten. Und wirklich, wie erſtaunte
nicht der gute Mann, als er eines Tages dem Vetter
unter vier Augen ſeine Bitte ſo ſchonend als möglich
vortrug, und dieſer mit dem unumwundenen Geſtänd-
niſſe hervortrat: er ſey von der Neigung Agneſens
für ihn vollkommen überzeugt und nichts halte ihn ab,
ſie offen zu erwiedern, wenn er vom Vater die Zuſtim-
mung erhalten würde, die er ohnehin in dieſen Tagen
zu erbitten entſchloſſen geweſen ſey; es komme nun
freilich auf ihn an, ob er dem innigſten Wunſche ſeiner
Tochter Gehör ſchenken oder auf Koſten ihrer Ruhe
und ihrer Geſundheit eine Verbindung erzwingen
wolle, welche man, alle Vorzüge Noltens in Ehren
gehalten, nun einmal durchaus für den gröbſten Mißgriff
halten müſſe.
Der Förſter, über eine ſo kühne Sprache wie
billig empört, unterdrückte dennoch ſeinen Unmuth und
wies den vorſchnellen Freier mit Mäßigung zurecht,
indem er ihn vor der Hand zur Geduld ermahnte und
wenigſtens für die nächſte Zeit das Haus zu meiden
bat, worauf denn jener willig zuſagte und nicht ohne
geheime Hoffnung wegging.
Nun überlegte der Alte, was zu thun ſey. Bald
ward er mit ſich einig, daß unter ſo mißlichen Um-
ſtänden Veränderung des Orts, eine ſtarke Distraction,
das Räthlichſte ſeyn dürfte. Zwar dachte er Anfangs
daran, ob nicht gerade eine Reiſe zu dem Bräutigam
[83] das kürzeſte Mittel zu Ausgleichung des Ganzen wäre,
allein die geringſte Erwähnung des Planes bei Agne-
ſen verſezte dieſe in den größten Jammer, ſie beſchwor
den Vater auf den Knien, von dem Vorhaben abzu-
ſtehen, das ihr gewiß den Tod bringen würde. Da
nun überhaupt von einer Reiſe, gleichviel wohin, die
Rede war, ſchien ſie vielmehr erfreut als abgeneigt,
und gerne ließ der Förſter ſich’s gefallen, bei dieſer
Gelegenheit einen ziemlich entfernten Freund, den er
ſeit vielen Jahren nicht geſehen, heimzuſuchen.
In Kurzem befanden Vater und Tochter ſich un-
terwegs in einem wohlgepackten Gefährt. Das Wetter
war das ſchönſte, nach wenig Stationen ſah man ſchon
völlig neue Gegenden. Das Mädchen war zufrieden,
ohne gerade lebhafter zu ſeyn.
Mit dem Aufenthalte in dem kleinen Städtchen
Wiedecke, wo der vieljährige Bekannte des Förſters,
ein jovialer behaglicher Sechziger, als Verwalter eines
edelmänniſchen Guts wohlhabend wie ein kleiner Fürſt
lebte, begann für Agnes bald eine ganz andere Art
den Tag hinzubringen, als ſie es bisher gewohnt war.
Der lebensfrohe Mann machte ſich’s zur Pflicht, ſeine
Gäſte auf die mannigfaltigſte Weiſe zu vergnügen, und
im eigentlichen Sinne des Worts keine Stunde ruhen
zu laſſen. Sie mußten die Güter der gräflichen Herr-
ſchaft, Gärten, Waldungen, Parks und Fiſchplätze mu-
ſtern, gelegentlich die Ordnung des Verwalters und
ſeine Einſichten bewundern, man durfte mit keinem
[84] ſeiner Freunde im Städtchen und der Umgegend unbe-
kannt bleiben, eine ländliche Partie verdrängte die andere,
kurz der Förſter ſah ſeine Wünſche, die im Stillen
hauptſächlich nur auf Zerſtreuung der Tochter gingen,
beinahe über alles Maaß und mehr als ſie ertragen
konnte, erfüllt; eigentlich gab ſie ſich mehr nur aus
Gutmüthigkeit zu all der geräuſchvollen Luſtbarkeit
her, als daß ſie mit ganzem Herzen Theil genommen
hätte.
Großen und ſchönen Eindruck machte bei ihr eines
Abends der erſtmalige Anblick eines Theaters, wozu
eine wandernde Truppe das Wiedecker Publikum lud.
Das Stück war von der leichten, heitern Gattung und
wurde überdieß ſehr brav geſpielt. Agnes lachte
zum erſten Mal wieder recht herzlich und ging ganz
aufgeräumt zu Bette. Doch in der Nacht kam ſie in
das Schlafzimmer des Vaters geſchlichen, weckte ihn,
und wollte Anfangs auf die Frage, was ihr zugeſto-
ßen ſey, lange mit der Sprache nicht heraus. Sie
habe, geſtand ſie endlich, von Theobalden ſo lebhaft,
ſo deutlich geträumt; er ſey troſtlos geweſen und
habe ſie um Gottes willen gebeten, ihn nicht zu ver-
laſſen, zulezt ſey ſie aufgewacht, erſtickt von ſeinen
Küſſen. „Nun ſeht, Vater,“ fuhr ſie unter heißen
Thränen fort, „Euch darf ich wohl bekennen, daß er
mich unbeſchreiblich dauert, ob ich ihn gleich nicht
mehr liebe; er wird ſein Glück gewiß bei einer An-
dern finden, aber das ſieht er jezt nicht ein, und es
[85] wäre vergeblich, ihn überreden zu wollen; man muß
nur abwarten, bis er von ſelbſt zur Ueberzeugung
kommt. Aber (hier brach ſie in lautes Schluchzen
aus) wenn er während der Zeit verzweifelte! wenn
er ſich ein Leid anthäte — nein! nein! das wird er
nicht, das kann er nicht! nicht wahr, Vater, ſo weit kann
es unmöglich kommen? Ach, könnt’ ich ihn über dieſe
Zwiſchenzeit nur ſchnell wegheben, ihn mit irgend was
beruhigen, ihm einen Troſt zuſenden!“
Der Alte vernahm dieſe Worte mit heimlicher
Zufriedenheit, denn ſie waren ihm nichts anders als
das Zeichen der wiedererwachten Neigung für den
Bräutigam. „Wenn du es über dich vermöchteſt,“
ſagte er, „ihm deine volle Liebe wieder zu ſchenken,
da wäre freilich am beſten geholfen. Siehſt du, noch
iſt im Grunde nichts verloren, noch verdorben; ja,
prüfe dich, mein Kind! ſey mein verſtändiges Mäd-
chen wieder! nimm auf’s Neue meinen Segen mit
Theobald hin; ſchreib’ ihm gleich morgen einen un-
befangenen heitern Brief, ſo wie dein lezter vor drei
Wochen war, das wird ihn freuen.“
Nach einigem Nachdenken antwortete Agnes:
„Ihr wißt nicht, Vater, wie es um die Zukunft ſteht,
drum mögt Ihr wohl ſo ſprechen. Aber ſeht, ich
denke nun, Theobald muß ja mein Mann nicht
eben ſeyn, und ich darf ihn dennoch lieb behalten.
Iſt’s ja doch ohnehin noch nicht an der Zeit, daß wir
uns die Brautſchaft förmlich aufſagen, und warum
[86] ſoll ich ihn eher als nöthig iſt, aus ſeinem guten
Glauben reißen, da er die Wahrheit jezt noch nicht
begriffe, warum nicht immerfort ſo an ihn ſchreiben,
wie er’s bisher an mir gewohnt war? Ach, ganz
gewiß, ich ſündige daran nicht, mein Herz ſagt mir’s;
er ſoll, er darf noch nicht erfahren, was ihm blüht,
und, Vater, wenn Ihr ihn lieb habt, wenn Euch an
ſeinem Frieden etwas liegt, ſagt Ihr ihm auch nichts!
Dagegen aber kann ich euch verſprechen, ich will vor
der Hand mit Otto nichts mehr gemein haben. Die
Zeit wird ja das Uebrige ſchon lehren.“
Der Förſter wußte nicht ſo recht, was er aus
dieſen Reden machen ſollte, er ſchüttelte den Kopf,
nahm ſich aber vor, das Beſte zu hoffen, und entließ
Agneſen, die ſich ruhig wieder niederlegte.
Wie groß war ſeine Freude, als er ſie des an-
dern Morgens in aller Frühe mit einem Brief an
Theobald beſchäftigt fand, den ſie ihm auch nachher
zur Durchſicht reichte, wiewohl mit Widerſtreben und
ohne gegenwärtig zu bleiben, ſo lange der Alte las.
Aber welch’ köſtliche, hinreißende, und doch wohlbe-
dachte Worte waren das! So kann bloß ein Mädchen
ſchreiben, das völlig ungetheilt in dem Geliebten lebt
und webt. Nur die abſichtliche Leichtigkeit, womit
jene ernſten und tiefen Bewegungen in Agneſens
innerm Leben hier gänzlich übergangen waren, frap-
pirte den Vater an dem ſonſt ſo redlichen Kinde. Er
ſelber hatte noch geſchwankt, ob die Pflicht von ihm
[87] fordere, Theobalden von dieſen Dingen in Kennt-
niß zu ſetzen, oder ob es nicht vielmehr gerathen ſey,
jenem die Sorge und der Braut die Beſchämung über
eine Sache zu erſparen, die am Ende doch nur un-
willkürliche und vorübergehende Folge eines ſonder-
baren Krankheitszuſtandes ſey. Und nun, da offen-
bare Hoffnung war, daß Alles ſich von ſelbſt aus-
gleiche, bereute er um ſo weniger, in ſeinem lezten
Schreiben bloß im Allgemeinen von wiederholten Ge-
ſundheitsſtörungen geſprochen zu haben. Er ſah be-
reits die ſchöne Zeit voraus, wo er dem Schwieger-
ſohne den ganzen Verlauf der ſeltſamen Begebenhei-
ten in einer traulichen Abendſtunde ruhig und wohl-
gemuth wie ein glücklich überſtandenes Abenteuer
würde erzählen können.
Die Rückreiſe nach Neuburg wurde endlich an-
getreten. Man begrüßte die Heimath nach längerer
Abweſenheit mit doppelter Liebe. Agnes ward all-
gemein blühender, anſprechender, geſelliger gefunden,
als man ſie vor vier Wochen hatte abreiſen ſehen;
was aber der Vater mit beſonderem Wohlgefallen be-
merkte, war, daß ihr die alte Nähe des Vetters gar
nicht einzufallen ſchien. Dieſer wurde indeſſen durch
ſeine Geſchäfte ganz außerhalb der Gegend feſtgehal-
ten, und der Förſter durfte einen Ueberfall, worauf
er ſich bereits gefaßt gemacht, ſobald noch nicht be-
fürchten.
Uebrigens mußte es nach und nach befremden,
[88] daß Nolten ſeit einem vollen Monat und darüber
nichts von ſich hören ließ. Der Alte fand es uner-
klärlich, denn eine Irrung, welche etwa durch die
fatale Geſchichte entſtanden ſeyn möchte, war kaum
gedenkbar, da weiter Niemand darum wiſſen konnte;
möglicher ſchien es, daß Nolten krank, daß Briefe
verloren gegangen ſeyen. Agnes hatte dabei ihre
beſonderen Gedanken und ſchwieg nur immer, indem
ſie auf etwas Entſcheidendes zu ſpannen ſchien.
Wirklich hatte ſich inzwiſchen nicht wenig Be-
deutendes in der Ferne zugetragen.
Es waren, bald nachdem der Vetter die Bekannt-
ſchaft des Förſterhauſes gemacht, von zwei verſchie-
denen Seiten und von ſehr wohlmeinenden Perſonen
Briefe an Nolten gelangt, worin er auf ein ſehr
zweideutiges Benehmen des Alten und ſeiner Tochter
in Betreff des jungen Menſchen aufmerkſam gemacht
wurde. Eine dieſer Warnungen kam ſogar von dem
guten Baron auf dem Schloſſe bei Neuburg, welcher
ſonſt mit dem Förſter in freundlichem Vernehmen
ſtand, und von deſſen Rechtlichkeit und vorſichtigem
Urtheil ſich weder Uebereilung noch Parteilichkeit er-
warten ließ. Schon dieſe erſten Laute des Verdachts,
obgleich ſie unſern Maler noch keineswegs zu über-
zeugen vermochten, erſchütterten und lähmten, ja ver-
nichteten ihn doch dergeſtalt, daß er ſich lange nicht
entſchließen konnte, auch nur eine Zeile nach Neuburg
zu richten, ſeinen väterlichen Freund, den Baron, aus-
[89] genommen, dem er eine nochmalige genaue Nachfor-
ſchung dringendſt empfahl. Allein nach mehreren
Wochen erhielt er auf eine höchſt unerwartete Weiſe
die vollkommenſte Beſtätigung ſeines Argwohns, und
zwar durch das ausführliche Schreiben Otto Lien-
hart’s, — ein Name, den er früher einmal gele-
gentlich von Agnes gehört zu haben ſich ſogleich er-
innerte. Daß dieß eine und dieſelbe Perſon mit dem
mehrerwähnten Vetter ſey, brauchen wir kaum anzu-
merken.
Der Eingang des Briefes nimmt auf eine eben
ſo beſcheidene als verſtändige Art das Vertrauen
Theobalds in Anſpruch; der Unbekannte bittet um
ruhiges und männliches Gehör für dasjenige, was
er vorzutragen habe; es ſey, verſicherte er, ſo ſon-
derbar und ſo feindſelig gar nicht, als es wohl in dem
erſten Augenblicke erſcheinen könnte. Nun geht er
auf das innere Mißverhältniß der Verlobten über,
wie die Natur der Charaktere ein ſolches weſentlich
und nothwendig begründe, ohne daß einem der beiden
Theile das Geringſte dabei zur Schuld falle. Sodann
wird die Neigung des Mädchens zu ihm, dem
Vetter, entwickelt, gerechtfertigt und endlich wird
ohne Anmaßung erklärt, in welchem Sinne er Ag-
neſen ihren erſten Freund, deſſen eigenthümlichen
Werth ſie noch immer verehre, zu erſetzen hoffen
dürfe. Wenn nun die angeführten Gründe hinreichen
würden, um Nolten zu freiwilliger Abtretung ſeiner
[90] Anſprüche zu bewegen, ſo hänge am Ende Alles nur
vom Vater ab. Es ſcheine, daß dieſer im Stillen
einen ſolchen Wechſel gut heiße und ſich nur vor
Nolten ſcheue, deßwegen halte er die Sache mit
ſchwankendem Entſchluſſe hin und ſorge in der That
für keinen Theil ſehr vortheilhaft, wenn er Theo-
balden noch immer in einer Hoffnung laſſe, auf
welche er ſelber insgeheim verzichte; er thue Unrecht,
daß er die Tochter ſtets auf’s Neue irre zu machen
ſuche und ſie nöthige, in ihren Briefen unredlich
gegen Theobald zu ſeyn. Ihr Herz habe für im-
mer entſchieden. Einige Briefe von Agneſens ei-
gener Hand an den Couſin werden ihre Geſinnung
hinreichend beweiſen. (Die Blätter lagen bei, und
man hat ſich Briefe zu denken, welche die Unglückliche
ohne Vorwiſſen des Förſters an Otto geſandt.) Er
habe dieſe Eröffnungen für Pflicht gehalten, und
Nolten möge ſeine Maßregeln darnach ergreifen.
Sollte der Förſter, was jedoch wenig Wahrſcheinlich-
keit habe, zulezt eigenſinnig und grauſam die Rechte
des Vaters geltend machen, oder Theobald die des
Verlobten, ſo könne nur ein vollendetes Unglück für
Alle daraus entſpringen, während im andern Falle
Nolten wenigſtens den Troſt für ſich behalte, den
der Mann im Bewußtſeyn einer ungemein und groß-
herzig erfüllten Pflicht von jeher gefunden.
Ein ſchallendes, verzweiflungsvolles Gelächter
war das erſte Lebenszeichen, das unſer Maler, nach-
[91] dem er einige Sekunden wie beſinnungslos geſtanden,
von ſich gab. Wir ſchildern nicht, in welchem Kreis-
laufe von Zerknirſchung, Wuth, Verachtung und Weh-
muth er ſich nun wechſelnd umgetrieben ſah. Was
blieb hier zu denken, was zu unternehmen übrig?
Haß, Liebe, Eiferſucht zerriſſen ſeine Bruſt, er faßte
und verwarf Entſchluß auf Entſchluß, und hatte er
die wirbelnden Gedanken bis in’s Unmögliche und
Ungeheure matt gehezt, ſo ließ er plötzlich muthlos
jeden Vorſatz wieder fallen und blickte nur in eine
grenzenloſe Leere.
Nach Verfluß einiger Tage war er ſo weit mit
ſich im Reinen, daß er ſtillſchweigend Allem und Je-
dem ſeinen Lauf laſſen und etwa zuſehen wollte, wie
man in Neuburg ſich weiter geberden würde. Seinem
Larkens, der indeſſen von einer kleinen Reiſe zu-
rückgekommen war, und dem ſein Kummer bald auf-
fiel, entdeckte er ſich keineswegs; denn Einmal wollte
er ſich in ſeinem Benehmen in der Sache durch frem-
des Urtheil nicht geirrt wiſſen, er fürchtete die Ge-
ſchäftigkeit, welche ſein lebhafter und unternehmender
Freund in ſolchem Falle ſicherlich nicht würde ver-
läugnen können, und dann hielt ihn ein ſonderbares
Gefühl von Schaam zurück, wie es denn ſeinem Cha-
rakter eigen war, fremdes Mitleid, und käme es auch vom
geliebteſten Freunde, ſo viel möglich zu verſchmähen.
Gewiſſe weggeworfene Aeußerungen des Malers,
ſo wie eine Menge kleiner Umſtände, ließen jedoch
[92] dem Schauſpieler keinen Zweifel mehr übrig, wen die
Verſtimmung betreffe; aber weit entfernt, den Fehler
auf Seiten Agneſens zu ſuchen, ſah er an ſeinem
Freunde im Stillen nur den ſeichten Ueberdruß, die
undankbare Laune eines Liebhabers, und es mußte ihn
die kleinlaute Verlegenheit Theobalds, wenn dar-
auf die Rede kam, in der Meinung beſtärken, dieſer
fühle ſein Unrecht. Dem Maler war ein ſolcher
Irrthum gewiſſermaßen nicht zuwider, er mochte lieber
den Schein der Untreue haben, als ſein wahres Elend
täglich in den Augen des Schauſpielers leſen.
Dem Leztern konnte es nicht entgehen, daß die
gewöhnlichen Briefe nach Neuburg ſeit einiger Zeit
ſtockten, obwohl von dorther immer welche einliefen,
und ſo entſtand denn in dem ſonderbaren Manne der
Entſchluß, Noltens Pflicht in dieſem Punkte zu
verſehen. Allerdings nahm er ſogleich das Unſichere
und Zufällige mit in Rechnung, doch zu befürchten
war ja eigentlich nichts, auch wenn das kecke Spiel
früher oder ſpäter an den Tag käme.
In der Zwiſchenzeit aber, d. h. vor der heim-
lichen Einrichtung, in deren Folge nachher Alles vom
Förſterhauſe an den Bräutigam Geſchriebene in die
Hände des unächten Correſpondenten gelangte, waren
mehrere Briefe theils von Seiten des Alten, theils
von Agneſen ſelbſt an Nolten gekommen, und
ſie waren von der Art, daß Theobalds Urtheil, in
ſofern es bis jezt unbedingt verwerfend geweſen, ſich
[93] gewiſſermaßen modifiziren mußte. Der Alte erſucht
nämlich ſeinen Schwiegerſohn in einem eben ſo herz-
lichen als wahrhaftigen Ton, er möchte von gewiſſen
Gerüchten, welche ſich zu Neuburg durch die Zudring-
lichkeit eines eingebildeten jungen Menſchen verbreitet
hätten, und die vielleicht auch — was wohl der
Grund ſeines langen Stillſchweigens ſey — bis zu
ihm gedrungen ſeyn könnten, auf keine Weiſe Notiz
nehmen. Der Alte ſezt die Verirrung des Mädchens
nach ſeinen Begriffen auseinander, macht, ohne das
Rechte zu treffen, eine nicht eben unwahrſcheinliche
Erklärung davon, wobei Alles am Ende auf eine ſelt-
ſame Skrupuloſität, melancholiſche Ueberſpannung und
zulezt auf alberne Kinderei reducirt wird. Nolten
möchte der Jugend, der Unerfahrenheit des Mädchens
vergeben; er als Vater betheure, daß der Vorgang
in keinem Sinne ſtörende Folgen nach ſich ziehen
werde, Agnes habe ſich gefaßt, ihr Herz ſey rein
und hänge mit doppelter Innigkeit an ihm. Indeſſen,
fährt der Vater von ſich fort, ſey er ſo unbillig nicht,
es dem Bräutigam zu verdenken, wenn die Sache ihn
erſchreckt habe, wenn er der Zeit die Probe überlaſſe,
ob die Braut ſeiner nicht unwerth geworden, nur
wäre zu wünſchen, daß er ſich perſönlich überzeugte,
und er ſey deßhalb auf’s freundlichſte nach Neuburg
eingeladen. Uebrigens möchte er, wenn er Agneſen
ſchreibe, ihr tief gebeugtes Gemüth ſo viel wie mög-
lich ſchonen, ſie wiſſe nichts von dieſen Mittheilungen
[94] und ſcheine ſich vorzubehalten, ihm bald mündlich die
treueſte Rechenſchaft zu geben. Schließlich möge er
ſich doch wohl bedenken, ehe er ein Geſchöpf, deſſen
ganzes Glück an ihn gebunden ſey, um eines immer-
hin räthſelhaften und darum ſchwer zu richtenden Ver-
gehens willen, ohne weitere Prüfung verſtoße.
Dieſe Nachricht verſezte den Maler in die ſonder-
barſte Unruhe. Er war während des Leſens weich ge-
worden, er mußte wider Willen ſeinen entſchiedenen
Haß mit einem tiefen Verdruß und ärgerlichen Mit-
leid vertauſchen, und er fühlte ſich dabei faſt unglück-
licher als zuvor.
Wenn er freilich Agneſens urſprüngliche, ſo
äußerſt reine Natur mit ihrem neueſten Betragen ver-
glich, ſo ſchien ihm der Abſprung ſo gräßlich widerſin-
nig, daß er ſich jezt wunderte, wie er eine Weile an
die Möglichkeit einer Untreue im gewöhnlichen Sinne
des Worts hatte glauben können; der Fall ſtritt der-
geſtalt gegen alle Erfahrung, daß eben das Außeror-
dentliche des Vergehens zugleich deſſen Entſchuldigung
ſeyn mußte. „Aber was auch immer die Urſache ſey,“ —
rief Theobald auf’s Neue verzweifelnd aus, — „wie
tief der Grund auch liegen mag, die Thatſache bleibt, —
um den erſten heiligen Begriff von Reinheit, Demuth,
ungefärbter Neigung bin ich für immer beſtohlen! Was
ſoll mir eine verſchraubte, kindiſche Kreatur? Werd’
ich nun meine ſchönſten Hoffnungen zerbrochen als küm-
merliche Trümmer, halb knirſchend, halb weinend, am
[95] Boden aufſammeln und mir einbilden, was ich zuſam-
menſtückle, ſey mein altes köſtliches Kleinod wieder?
O hätt’ ich den bübiſchen Fratzen zur Stelle, der mir
an meine ſüße Lilie rührte! könnt’ ich die Augen aus-
reißen, die mir das treuſte Herz verlockt! dürft’ ich
den heilloſen Schwätzer zertreten, der in die ſtille Däm-
merung meiner Blume den frechen Sonnenſchein des
eiteln, breiten Tages fallen ließ! — Unmündig, uner-
fahren, noch ganz ein Kind, ach wohl, das war ſie
freilich, das könnte ſie entſchuldigen bei Dem und Je-
nem, vielleicht auch bei mir, aber bin ich darum weni-
ger betrogen, hilft mir das ihr entſtelltes Bild herſtel-
len, hilft es meiner verbluteten Liebe das Leben wie-
der einhauchen? Ich fühl’s, hier iſt an kein Ausglei-
chen mehr zu denken. Vergeſſen, was ich einſt beſaß,
das bleibt das Einzige, was ich verſuchen kann.“
Dieß waren die Empfindungen des Malers und
ſie blieben noch immer dieſelben, während im Förſter-
hauſe zu Neuburg durch Larkens’s Vermittlung
längſt Alles wieder einen friedlichen Gang angenommen
hatte. Zwar wunderte es den Alten, daß jene vertrau-
ten Eröffnungen ganz mit Stillſchweigen übergangen
wurden, doch hielt er zulezt dafür, es geſchehe mit
Abſicht und der Schwiegerſohn wolle den gehäſſigen
Gegenſtand für jezt nicht berührt wiſſen. Was Agne-
ſens inneres Leben betrifft, ſo verhüllte ſich jener
hoffnungsloſe Wahn, der die Unglückliche noch immer
beherrſchte, vor dem Vater und gewiſſermaßen vor
[96] ihr ſelbſt unter dem Eifer, womit ſie Noltens Liebe
durch ſchriftlichen Verkehr noch eine Zeit lang nähren
zu müſſen glaubte, und während ſie ſich einzig nur auf
ſeine Ruhe bedacht ſchien, wollte ſie keineswegs gewahr
werden, wie begierig das eigene Herz bei dieſem ſüßen
Geſchäfte ſein Theil für ſich wegnahm, wie gerne es,
den Willen des Schickſals gleichſam hintergehend, den
holden Tönen lauſchte, welche Larkens täuſchend ge-
nug dem wirklichen Geliebten nachzuſpielen wußte.
Uebrigens blieb Vetter Otto immer das gefürchtete
Augenmerk ihrer kranken Einbildung; er ſelbſt hatte
ſich, nachdem ihn der Förſter in aller Stille ernſtlich
abgewieſen, beſchämt und ärgerlich zurückgezogen.
Die Zigeunerin war inzwiſchen auch wieder zum
Vorſchein gekommen; Agnes offenbarte ihr bei einer
heimlichen Zuſammenkunft den Plan ihrer Entſagung,
womit die Betrügerin ſehr zufrieden ſchien, und ſogar
einen Brief an Nolten zu beſorgen verſprach.
Auf dieſe Weiſe ſtanden die Perſonen eine ge-
raume Zeit in der wunderlichſten Situation gegen ein-
ander, indem Eines das Andere mit mehr oder weniger
Falſchheit, mit mehr oder weniger Leidenſchaft zu hin-
tergehen bemüht war.
Nolten kam um ſo weniger in Verſuchung, dem
Schauſpieler den wahren Grund ſeiner Entfremdung
von der Braut zu entdecken, da dieſer nicht weiter in
ihn drang, indem er, vielleicht von eigenen Erfahrun-
gen in der Liebe ausgehend, Alles nur einer ekeln
[97] Lauheit zuſchrieb, wogegen kein anderes Heilmittel
ſey als die Zeit, von der er denn auch mit größter
Zuverſicht das Beſte hoffte, wenn nur ſein Freund,
erſt anderwärts durch leichten Schaden klug geworden, die
Anſicht mit ihm theilen gelernt hätte, daß die ver-
feinertſten Reize der weiblichen Welt keinen Erſatz
für ein ſo ſeltenes Gut gewähren, als jenes einfache
Mädchen nach der Ueberzeugung des Schauſpielers
war.
Wenn alſo zwiſchen beiden Freunden die Sache
nur ſehr wenig berührt wurde, ſo fehlte es gleich-
wohl nicht an Auftritten wie der, deſſen ſich der Le-
ſer vielleicht noch von jener Neujahrsnacht erinnert,
wo übrigens unſer Maler von einer offenen Darle-
gung der Umſtände nur noch durch die Furcht abge-
halten ward, der Schauſpieler möchte ihm in’s Ge-
wiſſen reden, und das zur höchſten Unzeit, da ihm in
Conſtanzen ein neues herrliches Geſtirn aufging.
Länger als gewöhnlich entbehrte Theobald die
Gelegenheit, das Zarlin’ſche Haus zu beſuchen. Der
Graf und Conſtanze hatten eine längſt vorgehabte
Reiſe zu einer Verwandten ausgeführt. Zwölf Tage
verſtrichen ihm unter leeren Zerſtreuungen, unter der
peinlichſten Unruhe, denn frühe genug hatten ſich ver-
ſchiedene Zweifel über das hohe Glück bei ihm einge-
ſtellt, das er ſich vielleicht zu voreilig aus dem ſon-
7
[98] derbaren Vorfall in jener Ballnacht gedeutet haben
konnte. Daß Conſtanze unlängſt in ſeiner und an-
derer Freunde Gegenwart, als eben von der Blumen-
ſprache die Rede war, aus Gelegenheit eines blühen-
den Granatbaums das feurige Roth deſſelben für das
Symbol lebhafter Neigung erklärt hatte, indem ſie
ſich dabei ſchalkhaft geheimnißvoll auf das Urtheil
Noltens als „beſonders paſſionirten Kenners“ vor-
zugsweiſe berief, und daß ihm eine Woche ſpäter von
unbekannter Hand ein ſolcher Strauß war angeheftet
worden, konnte ſehr leicht bloße Neckerei des Zufalls
ſeyn, oder wohl gar, — und dieſer Meinung ſind
wir ſelbſt, — der Schelmſtreich einer luſtigen Perſon,
welche nicht nur jenen Ausdruck der Gräfin mit an-
gehört, ſondern auch dem Maler ſeine ſchwache Seite
längſt mochte abgelauſcht haben. Er befand ſich deß-
halb in der größten Ungewißheit; nur ſo viel ſchien ihm
bisher ausgemacht, daß die Gräfin damals auf dem Balle
geweſen, und jezt erſt fiel ihm ein, ſich näher zu erkundigen.
Aber auch wenn er manchmal ſich ſelbſt gefliſſentlich die
vielverheißende Bedeutung jenes Zeichens ausredete,
wenn er Alles verwarf, was er ſich ſonſt zu ſeinem Vor-
theil ausgelegt, ſo konnte er am Ende bei jedem Blick
in ſein Inneres bemerken, daß ein unerklärlicher
Glaube, eine ſtille Zuverſicht in ihm zurückgeblieben
war, und er nahm ſodann dieſe wunderſame Hoffnung
gleichſam wieder als ein neues Orakel, dem er unbe-
dingt zu vertrauen habe. So eigen pflegt der Geiſt
[99] mit ſich ſelber zu ſpielen, wenn jene träumeriſche Lei-
denſchaft uns beherrſcht.
Endlich kam der Abend, der den auserleſenen
Zirkel wieder in das Haus des Grafen lud. Mit
bangen Empfindungen ſchritt Nolten, gegen die kalte
Winterluft dicht in den Mantel gehüllt, an der Seite
ſeines Freundes Larkens nach der geliebten Straße
zu. Aber ſie ſahen die Jalouſiefenſter, deren ſanft
durchſcheinendes Licht den kommenden Gäſten ſonſt
ſchon von Weitem ein wohl erwärmtes, fröhlich be-
lebtes Zimmer verſprach, dießmal nicht erhellt, und
ſchon beſorgten ſie eine widrige Täuſchung, als der
Bediente, der im untern Hausflur die Mäntel, Degen
und Stöcke der Herren abzunehmen hatte, ſie hinten
durch den Garten nach dem Pavillon wies, deſſen er-
leuchtete Glasthüren auch wirklich ſchon von ferne
die glänzende Geſellſchaft zeigten.
Sie traten in einen angenehmen, geräumigen,
halbrunden Saal, deſſen Wände rings mit Spiegel-
lampen verſehen waren. Maler Tillſen und der
wunderliche Herr Hofrath ſind die erſten, von welchen
unſer Freund ſogleich in’s Geſpräch gezogen wird.
Die ſchöne Hauswirthin, von einer Menge Damen
umringt, ſchien ſein Eintreten Anfangs nicht zu be-
merken, aber während Theobald zuweilen mit rech-
ter Ungeduld hinüber ſchielte nach den freundlich be-
redten Lippen, nach dem ſtets gefällig mitnickenden
Köpfchen, glitt zufällig ihr Blick über die verſammel-
[100] ten Gruppen hin und eine gütige Verbeugung gegen
Nolten ſezte deſſen Lebensgeiſter auf Einmal in
eine muntere, mit aller Welt ausgeſöhnte Bewegung.
Der Graf kam indeſſen mit einer Rolle Papier her-
bei und flüſterte: „Hier meine Herren, — wir könn-
ten ſpäter nicht mehr ſo leicht dazu kommen, — eine
neue Zeichnung in Tuſch von unſerer eigenſinnigen
Künſtlerin, die uns gerne Alles verſteckte und ver-
ſchöbe, — aber dießmal hab’ ich ſelbſt einigen An-
theil an dem Lobe, das Sie ihr gönnen werden; die
Idee iſt, ſo zu ſagen, hälftig mein.“ Er wollte eben
das Blatt entrollen, als ihm von hinten eine zarte
Hand in die Finger griff — „Erlauben meine Herren!“
ſagte die herbeigeeilte Schweſter, merklich erröthend,
„es iſt billig, daß ich die Sache ſelbſt vorzeige: — zu
ſeiner Zeit, heißt das!“ ſezte ſie lachend hinzu und
eilte mit dem Blatte nach dem Schrank, wo ſie es
trotz aller Einſprache der Anweſenden raſch verſchloß.
Sie verſchwand in einem Kabinet, nach dem Thee zu
ſehen.
Wenn ſie ſo auf Augenblicke abweſend war, ſo
mochte Theobald gerne im ruhigſten Anſchauen ihres
geiſtigen Bildes das Auge auf irgend einen der leblo-
ſen Gegenſtände heften, mit dem ihre Perſon noch ſo
eben in Berührung gekommen war. So ſtand auf
einem ſchmalen Mahagonipfeiler an der Wand eine
offene Kalla in buntgemaltem Topfe, der den goldenen
Buchſtaben C. im blauen Schilde trug. Dieſe Pflanze,
[101] dachte er bei ſich, nimmt ſie nicht in meiner Einbildung
einen Theil von Conſtanzens eigenem Weſen an?
Ja, dieſer herrliche Kelch, der aus ſeiner ſchneeigen
Tiefe die mildeſten Geiſter entläßt, dieſe dunkeln Blät-
ter, die ſich ſchützend und geſchüzt unter das ſtille Hei-
ligthum der Blume breiten, wie ſchön wird durch das
Alles die Geliebte bezeichnet und was ſie umgibt! wie
vertritt die Pflanze mir durch ihre ahnungsvolle Ge-
genwart die himmliſche Geſtalt!
Unverſehens war Conſtanze wieder da, die Ge-
ſellſchaft dießmal allein bedienend. Sie brachte endlich
Theobalden die Taſſe, und indeß Larkens eine neue
Anekdote zu allgemeiner Beluſtigung Preis gab, nahm je-
ner Anlaß, ſich ſcherzhaft gegen Conſtanze wegen der
vorenthaltenen Tuſcharbeit zu beſchweren.
„Ei,“ war die Antwort, „Sie haben’s nicht um
mich verdient, Sie haben mir neulich einen übeln
Schrecken zugefügt, der mir wohl das Leben hätte
koſten können, zwar bloß im Traume.“
„Wie? meine Gnädige, ich wäre ſo unglücklich
geweſen? und ſo glücklich doch, daß mein Bild im
kleinſten Ihrer Träume —?“
„Das eben nicht, — doch ja, Ihr Bild, ein Bild
aus Ihrer Phantaſie.“
„Wie ſo, wenn ich fragen darf?“
„So hören Sie und lachen mich aus! Vorige
Nacht beliebte es Ihrer geſpenſterhaften Orgelſpielerin,
ungebührlicherweiſe aus dem Rahmen des ſchauer-
[102] lichen Gemäldes heraus zu ſchreiten und leibhaftig
vor mich hinzutreten.“
Nolten war beſtürzt, ohne eigentlich zu wiſſen,
warum.
„Ja, ja, mein Herr! mit recht kurioſen, hämi-
ſchen Augen ſtarrte ſie mir tief in’s Geſicht und ſagte
— nein! das ſollen Sie jezt nicht hören.“
„Ich bitte!“
„Nehmen Sie ſich in Acht“ —
„Sagte ſie?“
„Nicht doch, das ſag’ ich; eben gleitet Ihnen ja
die Taſſe aus der Hand!“
„Wirklich faſt — Aber was ſprach der Geiſt?“
fragte Nolten dringend auf’s Neue, und nach einer
Pauſe brachte die ſchöne Frau mit kaum unterdrückter
Verwirrung die Worte hervor: „„Conſtanze Joſe-
phine Armond wird auch bald die Orgel
mit uns ſpielen.““ —
„Aber, mein Gott,“ erwiderte Nolten, „doch
hat der Traum Sie nicht erſchrecken können?“
„Bis zum Erwachen doch; übrigens dank’ ich
ihm, daß er mir Anlaß gibt, meinem etwaigen Berufe
zu dieſer Gattung von Muſik, ſo wie meiner Aufnahme
in ſo ernſte Geſellſchaft, auch ein wenig nachzudenken.“
Theobald, wie er nun wieder allein ſtand,
wußte nicht, was er aus den lezten Worten machen
ſollte; dem Tone nach konnten ſie nur für Scherz
gelten, aber das Ganze hatte einen ſtörenden Ein-
[103] druck bei ihm zurückgelaſſen. Warum denn juſt dieſe
Figur? Er wußte zu gut, daß er gerade in ihr das
getreue Portrait eines Zigeunermädchens, einer Perſon
dargeſtellt hatte, welche einſt verhängnißvoll genug in ſein
eigenes Leben eingegriffen hatte. Auf der andern Seite
ließ ſich Alles und Jedes ganz natürlich aus dem
ſtarken Eindruck erklären, welchen das Gemälde auf eine
ſehr empfängliche Einbildungskraft machen mußte.
Was übrigens den Muth unſers Freundes noch
weit mehr niederſchlug, das war die aus dem Ver-
folg des allgemeinen Geſprächs für ihn hervorgegangene
Gewißheit, daß Conſtanze damals wirklich nicht an
der Maskerade Theil genommen, ſondern bereits auf
der Reiſe begriffen geweſen.
Die nicht mehr erwartete Ankunft des Herzogs
verurſachte eine plötzliche Bewegung. Nolten aber,
ſtatt durch die Gegenwart ſeines Rivals nur immer
trüber und unmächtiger in ſich ſelbſt zu verſinken,
fühlte ſich dadurch zu einem gewiſſen Kraftaufwande
genöthigt, der, obgleich Anfangs nur erkünſtelt, doch
bald, von Larkens ehrlicher Munterkeit unterſtüzt,
eine wohlthätige Wirkung auf das Ganze ausübte.
Vorzüglich willkommen war es Theobalden, als
man endlich auf den Wunſch des Herzogs ſelbſt An-
ſtalt machte, ein gewiſſes Spiel vorzunehmen, das auf
eine ſinnreiche Art drei verſchiedene Künſte in Ver-
bindung brachte, den Tanz, die Malerei oder Zeich-
nung, und untergeordneter Weiſe die Muſik. Dieß
[104] ſezt jedoch folgende Bemerkung voraus. Conſtanze,
bekannt als fertige und geiſtreiche Zeichnerin, war zu-
gleich eine große Freundin des ſchönen künſtlichen
Tanzes und entwickelte namentlich bei Solopartien
eine hohe Grazie. Nun hatte Nolten einmal ge-
legentlich den Einfall geäußert, es müßte eine artige
Unterhaltung abgeben, wenn einige Perſonen in Zeit
von einer kleinen Stunde zuſammen ein Tableau,
irgend eine Scene zeichneten, indem ſie den Kreiden-
ſtift von Hand zu Hand gebend, nach einer langſamen
Melodie tanzend, abwechslungsweiſe vor eine aufge-
richtete Tafel träten und den darzuſtellenden Gegen-
ſtand immer nur um einige Striche weiter förderten,
bis zulezt eine harmoniſche Kompoſition zum Vorſchein
käme, über die man ſich zuvor im Allgemeinen ver-
ſtändigt, deren Einzelheiten aber der augenblicklichen
Eingebung eines Jeden überlaſſen war. Der Ge-
danke fand Beifall, und nach einigem Beſprechen zeigte
ſich die Möglichkeit ſeiner Ausführung vollkommen,
obwohl man Anfangs verlegen war, die gehörige An-
zahl von Tänzern, die auch zugleich gute Zeichner
wären, und umgekehrt, zu finden. Doch hiezu wußte
man Rath. Nolten ſelbſt, obgleich ein abgeſagter
Feind alles des Schlendrians, um den ſich unſere
Ballbeluſtigungen gewöhnlich zu drehen pflegen, beſaß
doch Leichtigkeit der Glieder und reinen Sinn genug
für eine edle rhythmiſche Bewegung. Die dritte Rolle
mußte nothwendig Herrn Tillſen übergeben werden,
[105] denn wenn vielleicht auch der ungeübteſte Tänzer im-
mer noch beſſer geweſen wäre als er, ſo blieb doch
die andere Eigenſchaft die wichtigere. „Und,“ ſagte
er verbindlich zu der Gräfin, „neben Ihnen würde ein
Beſtris überſehen werden, glücklicher Weiſe alſo auch
Tillſen, der ich in dieſem Stück zum Voraus allem
Neid und jedem Ruhm entſage.“
Seitdem hatte man dieſe Unterhaltung ſchon et-
liche Abende mit Glück verſucht. So ließ man denn
auch jezt die eigens hiezu beſtimmte große Tafel auf-
ſtellen, deren angenehm grau lackirte Fläche recht ei-
gentlich einladend ſich dem ſchwarzen Stifte darbot.
Ein ſchöner Fußteppich lag unmittelbar davor auf
dem Boden gebreitet, für eine ſtärkere Beleuchtung
war ebenfalls geſorgt. Die drei Virtuoſen kamen
heimlich in der Wahl eines anziehenden Sujets über-
ein. Larkens nahm die Violine zur Hand und er-
öffnete das Spiel mit einer gewiſſen Feierlichkeit, da-
durch die Erwartung nur noch mehr geſpannt wurde.
Jezt trat Conſtanze, im weißen Atlaskleide, mit
ernſtem Schritt hervor, ſtellte ſich einige Momente
ſinnend der Tafel gegenüber, allmählig fing ihre Ge-
ſtalt an mit der Muſik ſich zu heben, in mäßiger
Bewegung bald nach beiden Seiten ſchwebend, bald
der Tafel entgegen. Sie ſchien dabei noch immer den
erſten entſcheidenden Strich zu überlegen, jezt hielt
ſie vor dem Brette ſtill, indem ſie leicht vorgebeugt
auf dem rechten Fuße feſtſtehend, den linken rückwärts
[106] auf die Zehe geſtüzt, die Kreide anſezte. Das beglei-
tende Adagio der Violine ſchien die Hand gefällig auf
der glatten Fläche hinzuführen. Bald erkannte man
die Umriſſe eines lieblichen Knabenkopfs, welcher mit
dringenden Blicken bittend an etwas hinaufſieht. Die-
ſer Ausdruck des Affekts war von der Art, daß er in
der vorgreifenden Phantaſie des Zuſchauers beinahe
jezt ſchon ein paar flehend ausgeſtreckte Arme und
Hände hervorrufen mußte. Doch die Zeichnerin hielt
inne, und unter einem Allegro zurücktretend, beobach-
tete ſie, während ihr reizender Leib ſich hin und her
wiegte, das angefangene Werk noch eine kleine Weile.
Mit einer Verbeugung empfing Tillſen die Kreide
aus ihrer Hand und ohne viel Umſtände ſtellte dieſer
Meiſter mit raſchen Zügen den oberen kraftvollen
Körper eines Mannes in drohender Geberde dem
Mitleid fordernden Geſichtchen gegenüber. Die Begierde
der Geſellſchaft wuchs mit jeder Linie; es ließen ſich
ſchon einige Beifall rufende Stimmen vernehmen, es
hieß: der junge Prinz Arthur iſt’s, wie er vor ſei-
nem Mörder ſteht! Aber der freudigſte Applaus ent-
ſtand, als Conſtanze, nachdem Tillſen für Theo-
bald den Platz geräumt, vom Eifer ihres Gedankens
hingeriſſen, dem Leztern in den Weg ſprang und nun
die beiden großen Geſtalten mit trefflich mimiſcher
Heftigkeit um das Vorrecht der Kreide rangen, die
denn zulezt in zwei geſchickte Theile brach, worauf
das Paar bei lebhafter Muſik ein verſchlungenes Duo
[107] tanzte, um dann vereinigt vor die Tafel zu ſchreiten.
Die Hauptſache war in kurzer Zeit gethan, die Ver-
ſammlung drängte ſich herbei, inzwiſchen Tillſen
noch mit einigen derben Strichen nachhalf. Man
lobte, tadelte, lachte, bewunderte, wie es auch bei
einer ſolchen Stegreifproduktion nicht fehlen konnte,
daß neben den glücklichſten Spuren eines umfaſſenden,
gleichartigen Geiſtes doch immer etwas Inkorrektes
oder Halbes hervorſprang. Im Ganzen war die Scene
ſo wohl gerathen, daß Tillſen der Aufforderung
gerne nachgab, ſie gelegentlich für das kleine Geſell-
ſchaftsarchiv zu kopiren.
In der Hitze des Hin- und Widerredens war in-
deſſen kaum Jemanden aufgefallen, wie Conſtanze
mit jedem Augenblicke blaß und bläſſer wurde. Sie
entfernt ſich in ein Seitenzimmer, man flüſtert, die
Damen eilen nach, Alles wird aufmerkſam, der Herzog
läßt ſich nicht halten, ſie ſelbſt zu ſehen, er klagt ſich
an, daß er den anſtrengenden Tanz verlangt, am mei-
ſten iſt Nolten beſtürzt. Es kann ihm nicht entge-
hen, daß unter der Thüre noch Conſtanzens lezter
Blick mit einem matten ſonderbaren Lächeln auf ihm
ruht. Endlich geht man auseinander, nachdem der Graf,
aus dem Kabinete tretend, die Verſicherung gegeben,
man habe von dem Anfall keine Folgen zu befürchten.
In den folgenden Tagen erging vom Grafen eine
Einladung an Theobald, gemeinſchaftlich das un-
[108] fern der Stadt gelegene Luſtſchluß des Königs, Wet-
terswyl, zu beſuchen, wo man eben im Begriff war,
mehrere kürzlich vom Ausland angekommene Statuen
aufzuſtellen. Der italieniſche Künſtler mußte ſelbſt
dabei zugegen ſeyn, und ſowohl die Perſönlichkeit des
Leztern als jene Werke lockten manchen Gebildeten
und manchen Neugierigen heraus. Unſerem Freunde
war die Gelegenheit nicht minder erwünſcht, doch zog
er es vor, den angenehmen, auch zur Winterszeit im-
mer noch gar mannichfaltigen Weg dahin allein zu Pferde
zu machen, während der Graf im Schlitten fuhr. Der
heiterſte Januarmorgen begünſtigte den Ausflug; die
Sonne war kaum aufgegangen, als Theobald ſchon,
in lebhaftem Trabe ſich erwärmend, von der Straße
ab, den ſchönen einſamen Gründen zuſtrich, welche,
größtentheils von Fichten und Niederwald beſezt, all-
mählig der Höhe des königlichen Parks zuführten.
Rings gewährte die Landſchaft, in dichter Schneehülle
und nur von dunkeln Waldſtrecken durchbrochen, ein
vollſtändiges Wintergemälde, und die Gemüthsſtimmung
Noltens nahm dieſe ſtillen Eindrücke heute ganz be-
ſonders willig auf. Eine unbeſtimmte Miſchung von
Lebensluſt und Wehmuth lag allen ſeinen Betrachtun-
gen zu Grunde, wobei er Anfangs deutlich zu fühlen
glaubte, daß die Neigung zu Conſtanzen keinen oder
doch nur einen ſehr entfernten Antheil daran habe,
bis ihm mitten unter ſeinen Träumereien ein längſt
vergeſſenes Lied von Larkens wieder vor der Seele
[109] aufging, welches ihm ſeinen gegenwärtigen Zuſtand
wunderbar zu erklären ſchien. Er wiederholte ſich die
Verſe ſeines Freundes, und konnte zulezt nicht umhin,
ſie laut für ſich zu ſingen.
[110]
Bei ſeiner Ankunft im Schloſſe fand er den Ita-
liener, einen lebhaften Mann von mittleren Jahren,
in komiſch leidenſchaftlichem Kommando mit den Leuten
begriffen, welche die marmornen Kunſtwerke in dem
Hauptſaale aufzuſtellen hatten. Zwiſchen Zorn und
Spaß ſchrie und lachte der Strudelkopf auf das Grellſte
und brauchte zuweilen auch wohl den Stock gegen einen
der Arbeiter, wovon keiner ſeine Sprache verſtand.
[111]Theobald, nach einer ſorgfältigen Beachtung der in
ihrer Art einzigen Skulpturen, redete den Fremden
italieniſch an, und würde ſich bei ſeiner Unterhaltung
hinlänglich intereſſirt gefunden haben, wäre das Be-
ſtreben des Fremden, immer nur recht paradox zu ſeyn
und das Ernſthafte ins Lächerliche zu ziehen, nicht allzu
widrig aufgefallen. Ja, am Ende, als der künſtleriſche
Charakter Theobalds zur Sprache kam, konnte der
Mann eine gewiſſe tückiſche Neckerei nicht laſſen. Halb
gekränkt und unwillig entzog ſich unſer Freund, um
auf die ſpätere Ankunft des Grafen ein fruga-
les Mittagsmahl in der Meierei zu beſtellen.
Müſſig wie er war, beſah er ſich ſodann die Umgebun-
gen und die innere Einrichtung des fürſtlichen Aufent-
halts. Mehrere Zimmer gewährten eine reiche und
belehrende Unterhaltung an ausgeſuchten Malereien;
es war leicht, ſich in dieſen geſchmackvollen Räumen
auf einige Zeit ſelber zu vergeſſen, und ſo ſtand er eben
betrachtend mit ſich allein, als ihm der entfernte Spie-
gel eines dritten Zimmers zwei von der entgegengeſezten
Seite herbeikommende Perſonen zeigte, in denen er bei
genauerem Hinblicken endlich den Grafen, und gegen
alle ſeine Erwartung, Conſtanzen ſelbſt erkennen
konnte. Ganz außer Faſſung gebracht ſchaute er un-
verrückt mit klopfendem Herzen noch immer auf die nah
und näher im Spiegel herbeiſchwebenden Geſtalten, bis
die Tritte hinter ihm rauſchten, und ſeinerſeits ein
ziemlich verwirrtes, andererſeits ein durchaus unbefan-
[112] genes und fröhliches Willkommen Statt fand. Nie war
ihm die Gräfin ſo reizend, ſo anmuthig vorgekommen,
ſie trug ein mild graues Kleid mit rothen Schnüren,
Gürtel und Schleifen, deren Faltung und Farbe ihm
flüchtig die Granatblüthe wieder in das Gedächtniß
rief; an die zarte Wange, von der friſchen Luft mit
einem leiſen Karmin überhaucht, legte ſich ein weißer
Pelz, und der zurückgeſchlagene Schleier ließ dem Be-
ſchauer den Anblick des holdeſten Geſichtes frei. Man
kehrte für’s Erſte zu den neuen Sehenswürdigkeiten
und ihrem tollen Meiſter zurück, an deſſen Art und
Weiſe der Graf ſich dergeſtalt erbaute, daß die Schwe-
ſter, ſich mit einiger Ungeduld nach Anderem umſehend,
den Vorſchlag Noltens, in den mannichfaltigen Sälen
hin und wieder zu wandeln, nicht ungerne annahm.
Gar bald ging ihre Unterhaltung auf eigene Verhält-
niſſe und Perſönlichkeiten über, denn Noltens lei-
denſchaftlich beengte und zurückhaltende Stimmung gab
Conſtanzen Anlaß, einen leichten Vorwurf gegen ihn
auszuſprechen, den er ſogleich ergriff und in’s Allge-
meine über ſich ausdehnte.
„Sie haben Recht!“ ſagte er, „und nicht heute,
nicht in gewiſſen Augenblicken bloß bemächtigt ſich mei-
ner dieſer läſtige, mir ſelbſt verhaßte Mißmuth; es iſt
keine Laune, die nur kommt und geht, es iſt ein ſtetes
unruhiges Gefühl, daß es anders mit mir ſeyn ſollte
und könnte, als es iſt.“
„Wie meinen Sie das? Sollte Ihnen Ihre Lage
[113] nicht genügen? Das wäre mir doch kaum gedenk-
bar.“
„Sprechen Sie’s geradezu aus, gnädige Frau: Es
wäre unbillig. Wohl, es iſt wahr, ich könnte glücklich
ſeyn, aber ich weiß nicht eigentlich zu ſagen, warum ich
es nicht bin. Ich wäre undankbar, wollte ich nicht gerne
bekennen, daß während meines ganzen Lebens ſich alle
Umſtände vereinigten, mich endlich bis zu dem Punkte
zu führen, auf dem ich jezt ſtehe, in eine Lage, die
mancher andere und würdigere Mann vergebens ſuchte.
Ein günſtiges Schickſal, ſo grillenhaft und mißwollend
es mitunter ſcheinen mochte, trug nur dazu bei, ein
Talent in mir zu fördern, in deſſen freier Ausübung
ich von jeher das einzige Ziel meiner Wünſche erblickt
hatte. Manche Arbeit iſt mir gelungen, ich habe, wenn
ich meinen Freunden glauben darf, den höheren For-
derungen der Kunſt einiges Genüge gethan, und, was
mir faſt eben ſo lieb ſeyn ſollte, man hat von der Zu-
kunft größere Erwartungen, ohne daß mir vor ihrer
Erfüllung bange wäre. Ein unendliches Feld dehnt
ſich vor mir aus, und wenn ich ſonſt an der Möglich-
keit verzweifelte, die Welt, welche ſich in mir drängte,
jemals in heiterer Geſtaltung an das Licht hervorzuführen,
ſo ſeh’ ich, daß ſie jezt, ſobald ich recht will, von ſelber
leicht und zwanglos unter meinem Pinſel ſich befreit.
Aber wie kommt es, daß eben jezt mein Fleiß und
meine Luſt nachläßt? Warum ſo manche Arbeit ange-
fangen, ohne ſie zu vollenden? Woher die Ungeduld,
8
[114] ſich auswärts umzuthun, überall, nur nicht in meinen
vier Pfählen, vor meiner Staffelei mich zu befriedigen?
Was den Künſtler ſonſt wohl reizt und treibt und er-
muntert, das iſt die Hoffnung auf die ruhmvolle Aner-
kennung der Verſtändigen, die rege Theilnahme zunächſt
ſeiner Freunde; auch mir war dieß Gefühl nicht fremd,
jezt vermag es nichts mehr auf mich. Ungenüzt und
trocken und verdrießlich gehn mir die Wochen dahin,
und nur die Stunden glaub’ ich wirklich gelebt zu haben,
die mir in Ihrem Hauſe vergönnt ſind. Aber nun, für
einen Mann, welcher ſeine Pflicht ſo gut fühlt, als ein
jeder Andere, ſagen Sie mir, iſt ſo ein Leben nicht ein
unerträgliches? Und ſehen Sie ein Mittel, es zu ändern?
Könnten Sie auch nur den kranken Fleck entdecken,
wovon mir all dieß Unheil kommt, das mich ſo gänzlich
von mir ſelber trennt und ſcheidet?“
„Mit Verwunderung, Nolten, hör’ ich Sie an,“
erwiderte die Gräfin, „und Ihre Klagen, ich geſtehe es,
mißfallen mir mehr, als daß mein Mitleid dadurch
rege würde. Ich verſtehe Sie nicht ganz, nur glaub’
ich faſt zu ſehen, die Schuld liegt meiſt an Ihnen.
Gern dacht’ ich Sie mir dieſe ganze Zeit her thätig,
friſch und aller Hoffnung voll. Ließen nicht Ihre Ge-
ſpräche nur den wärmſten Eifer blicken für Ihren Be-
ruf und Alles, was dahin gehört? War Ihr Beneh-
men denn nicht weit mehr heiter als zerſtreut und un-
befriedigt? Wie angenehm für unſern kleinen Kreis,
wenn Sie des Abends als ein mehr und mehr unent-
[115] behrlich werdender Gaſt bei uns erſchienen, munter,
gefällig, theilnehmend an Allem, erfinderiſch für jede
Art von Unterhaltung, dabei beſcheiden und ohne viel
Worte. Dann, was ſoll ich’s Ihnen bergen, ſo wie
auf dieſe Weiſe wir Ihnen Manches ſchuldig wurden,
ſo mochten wir uns gerne überreden, daß eben in un-
ſerem Hauſe eine Zuflucht für Nolten gefunden ſey,
wo der Künſtler das vielfach bewegte Leben ſeines
Innern harmlos und ruhig mit der Geſellſchaft zu
vermitteln im Stande wäre, um immer wieder mit
freigeklärter Stirne in den Ernſt ſeiner Werkſtätte
zurückzukehren und ſich mit mehr Gelaſſenheit alles
desjenigen zu bemeiſtern, was ſonſt mit verworrener
Uebermacht betäubend und niederſchlagend auf ihn ein-
drang. Ja, mein Freund, Sie mögen im Stillen
meiner ſpotten, ich läugne nicht, ſo weit gingen meine
Hoffnungen.“
„Verhüte Gott es, edle vortreffliche Frau, daß
ich verkennen ſollte, was Sie mit unverdienter Güte
für mich dachten! Mehr, weit mehr als Sie ſo eben
angedeutet haben, könnte der herrliche Kreis mir ge-
währen, wofern ich den Segen zu nutzen verſtünde,
den er mir bietet. Aber, meine Gnädige, wenn gerade
der neue Reiz dieſer ſchönen Sphäre einen Zwieſpalt
in mir hervorbrächte, wenn der innige Antheil, den
das Herz hier nehmen muß, dem weit allgemeineren
Intereſſe des Geiſtes im Wege ſtünde, wenn ich,
ſtatt beruhigt und geſtärkt zu mir ſelbſt zurückzukehren,
[116] immer das leidenſchaftliche Verlangen fühlte, in den
Mittelpunkt eines ſo lieblichen Vereins alle Strahlen
meines menſchlichen und künſtleriſchen Daſeyns zu
verſammeln, ſie ewig dort feſtzuhalten, und ſo meinem
Beſtreben einen um ſo wärmeren Schwung, einen un-
mittelbarern Lohn zu verſchaffen, als der zerſtreute
Beifall der Welt jemals gewähren kann?“
„Es liegt,“ antwortete die Gräfin nach einigem
Nachſinnen mit Heiterkeit, „es liegt in der Natur von
Männern Ihresgleichen, Alles nur einſeitig zu nehmen,
von Einer Seite her Alles zu erwarten, und zwar je
unmöglicher, je ſchädlicher es wäre. Indeſſen, mein
lieber Maler, ich bin für jezt nicht gefaßt, noch ge-
neigt, in Ihren gegenwärtigen Zuſtand, in Ihr Wün-
ſchen und Wollen augenblicklich rathend und helfend
einzugehen. Die erhabenen Grillen dieſes Geſchlechts
von Künſtlern ſind ſchwer zu faſſen, und wir ſcharf-
ſinnigen Frauen haben jedes Mal Mühe, um bei der-
gleichen ſubtilen Erörterungen, wo wir nur lauſchen,
nur taſten und halb erwiedern können, nicht unſern
Blödſinn, unſre Einfalt zu verrathen. Am Ende
möchten wir bei einem Menſchen, welchem wir doch
einmal herzlich wohl wollen, Alles gerne mit Einem
Schlage gut machen, und, dem Unnatürlichen zum
Trotz, mit der natürlichſten Auskunft dazwiſchen fah-
ren. Gar oft ſind wir aber ſelbſt um eine ſolche
Zauberformel verlegen, ja wenn wir ſie gefunden zu
haben glauben, will es uns manchmal gefährlich dün-
[117] ken, davon Gebrauch zu machen, und ſo können wir zu-
lezt nichts Beſſeres thun, als — mit Bedeutung
ſchweigen und die Herren an ihren Genius verweiſen.“
Theobald machten dieſe Worte nachdenklich;
ſie ſchienen ein Verſtändniß der Abſicht, welche er
vorhin halb verſteckt Conſtanzen nahe gelegt, eben
ſo zweideutig zu verhüllen, und obgleich ſich bereits
ein guter Schluß auf die Geſinnungen der liebens-
würdigen Frau daraus machen ließ, ſo hatte der
muntere ablehnende Ton ihn doch etwas erſchreckt,
ſogar verlezt.
Die Gräfin ſah ſich im Vorbeigehen nach den
beiden Herren um; da jedoch der Italiener ſo eben
in einer luſtigen und langen Erzählung begriffen war,
welche für ein weibliches Ohr nicht eben von der de-
likateſten Art ſeyn mochte, ſo zog ſich Conſtanze
wieder zurück, und Theobald verfehlte keineswegs,
ihr Geſellſchaft zu leiſten.
Sie ſtiegen die breiten Stufen zur Gartenanlage
hinab, und die Gräfin bezeugte auf eine drollige und
neckiſche Art ihre Freude über die Leichtigkeit, womit
ſie auf der gefrorenen Schneedecke hinſchlüpfen konnte,
indeß ihr Begleiter zuweilen unverſehens mit dem
Fuße einſank. Aber all ihr munteres Weſen ver-
mochte kaum etwas gegen den ſinnenden Ernſt des
Malers. Sie kamen vor eine dunkle Gruppe hoher
Forchen, welche den Eingang zu der ſogenannten
ſchönen Grotte vorbereiteten. Dieſe zog ſich eine
[118] beträchtliche Länge unter einem reichbewachſenen Felſen
fort und führte unmittelbar in den großen Saal der
Orangerie. Nicht ohne vielen Sinn war die Sache
ſo angelegt worden, um dem Spaziergänger eine höchſt
überraſchende Szene zu bereiten, wenn man, beſonders
zu dieſer Jahreszeit, aus dem todten Wintergarten in
eine ſchauerliche Nacht eingetreten, nach etlichen hun-
dert Schritten mit Einem Male einen hellgrünen,
warmen Frühling zauberhaft aus breiten Glasthüren
ſich entgegenleuchten ſah.
Theobald forderte zu einem Gang durch die
Höhle auf, und die Gräfin, die den Ort noch nicht
kannte, nahm nach kurzem Zaudern den Arm ihres
Begleiters an. Ein eiſernes Geländer, woran man
fortlief, leitete ſicher an den Wänden hin, und ſo
waren Beide mit vorſichtigen Tritten eine Strecke
weit gewandert, als Conſtanze, das Ende des dun-
keln Ganges vergeblich erwartend, bereits ängſtlich die
Umkehr verlangte. Nolten bat dringend, vollends
auszuhalten und überredete ſie endlich. Aber in ſteter
Furcht, einen Mißtritt zu thun, oder gegen einen
Vorſprung des Felſen zu ſtoßen, hielt ſich die zarte
Frau feſt und feſter an ihren Führer, und indeß
Beide ſchweigend und ſachte neben einander gingen,
wie ſeltſam war es unſerem Freunde, ſo viel Schön-
heit und Jugend in voller und doch unſichtbarer Ge-
genwart leis athmend an ſeiner Seite! Sein Herz
pochte gewaltſamer, und wie ſchon das Wunderbare
[119] und Großartige eines ſolchen Ortes erhöhend auf die
Sinne wirkt, ſo ſteigerte ſich jezt ſeine Phantaſie bis
zu einer gewiſſen Feierlichkeit, Alles ſchien ihm etwas
Außerordentliches, etwas Entſcheidendes ankündigen zu
wollen.
Dieß trat auch nur zu bald und auf ganz an-
dere Weiſe ein, als er ſich hätte je vermuthen können;
denn in dem Augenblick, wo ihm vorne ein dämmernd
hereinfallendes Licht den nahen Ausgang verheißt,
glaubt er von derſelben Seite her eine Stimme zu
vernehmen, deren wohlbekannter Ton ihn plötzlich
ſtarr wie eingewurzelt ſtehen bleiben macht. Con-
ſtanze fühlt, wie er zuſammenſchrickt, wie ſein Athem
ungeſtüm ſich hebt, wie er mit der Fauſt gegen die
Bruſt fährt. „Was iſt das? um Gottes willen,
Nolten, was haben Sie?“ Er ſchweigt. „Wird
Ihnen nicht wohl? Ich beſchwöre, reden Sie doch!“
„Keine Furcht, edle Frau! Beſorgen Sie nichts —
aber ich gehe nicht weiter, — keinen Schritt — den-
ken Sie was Sie wollen, nur fragen Sie mich nicht!“
„Nolten!“ entgegnete die Gräfin mit Heftig-
keit, „was ſoll der unſinnige Auftritt? kommen Sie!
Soll ich mich etwa krank hier frieren? Was haben
Sie vor? Den Augenblick verlaſſ’ ich dieſen Ort —
werden Sie mir folgen oder geh’ ich allein? Laſſen
Sie mich los! ich befehl’ es Ihnen.“ — Er hält ſie
feſter. „Nolten! ich rufe laut, wenn Sie beharren!“
„Ja, rufen Sie! rufen Sie ihn herbei — er iſt
[120] nicht weit von uns — ich habe ſeine Stimme gehört,
meines ſchlimmſten, meines tödtlichſten Feindes, —
Herzog Adolph iſt in der Nähe!“
Nun erſt ſchien Conſtanze zu begreifen; ſie
ſtand ſprachlos, ohne Bewegung.
„Der Augenblick iſt da!“ rief Theobald, „ich
fühl’ es, jezt, jezt oder niemals muß es heraus, das
Geheimniß, das ſeit Monaten an meinem Leben zehrt
und frißt, das mich zu Grunde richten wird, wenn
ich’s nicht endlich darf aus der Bruſt ſtoßen — Con-
ſtanze! ahneſt Du es nicht? O daß ich Dir in’s
Auge blicken, Dir’s von der Stirne leſen könnte, Du
habeſt längſt errathen!“
„Still, Nolten! ſchweigen Sie — um meiner
Ruhe willen, kein Wort weiter! Kommen Sie vor-
wärts, dort an das Licht“ —
„Dorthin? nein, nimmermehr! ſeyn Sie barm-
herzig — Nicht, daß ich mich fürchtete vor ihm, dem
Uebermüthigen — ſein Anblick nur iſt mir unerträg-
lich — Jezt, eben jezt, als hätte die Hölle ihn be-
ſtellt, mir jede meiner kurzen Seligkeiten zu vergiften!
Ich haſſ’ ihn, haſſ’ ihn, weil er um deine Liebe
ſchleicht, Conſtanze! Iſt’s nicht ſo? kannſt Du’s
läugnen? und dürft’ er hoffen? Er? Gib einen Laut!
Laß mich’s erfahren! Alles weißt Du, weißt, was
ich leide, mein Herz, mein Verlangen kann Dir nicht
unbekannt ſeyn; Engel! o himmliſcher, gib mir ein
Zeichen! Laſſ' mir ein Lispeln, mir einen ſchwachen
[121] Händedruck bekennen, was Du im Stillen mir zudenkſt,
was deine Güte ſchüchtern mir gewähren möchte!
Glaub’ mir, ein Gott hat uns hieher geführt, mein
Innerſtes erſt bitter aufgeregt und Alles, Alles, —
Haß, Verzweiflung, Angſt, die unbegrenzte Wonne dei-
ner Nähe zuſammengedrängt hier in dieſen verborge-
nen Winkel, um endlich mein Herz hervorzurufen, mir
das Bekenntniß zu entreißen, und auch deine Lippen
aufzuſchließen — So ſprich denn, o ſprich! die Mi-
nuten ſind koſtbar!“ Er zog die Zitternde, Verſtummte
an ſich. Ihr Haupt ſinkt unwillkürlich an ſeine Bruſt,
indeß ihre Thränen fließen und ſein Kuß auf ihrem
Halſe brennt. Den Mund in die dichte Lockenfülle
drückend, hätte er erſticken mögen vom ſüß betäubenden
Dufte dieſer üppigen Haare — der Boden ſchien ſich zu
theilen unter den Füßen Conſtanzens — Erd’ und
Himmel zu taumeln vor ihrem geſchloſſenen Auge —
in eine unendliche Nacht voll ſeliger Qualen ſtürzt ihr
Gedanke hinab — liebliche Bilder in flammendem
Roſenſchein, wechſelnd mit drohenden, grünaugigen
Larven, dringen auf ſie ein — aber noch immer halten
ihre Kniee ſich aufrecht, noch immer entfährt ihr kein
Laut, kein Seufzer, nur von einem flüchtigen Schauder
zuckt augenblicklich ihr Körper zuſammen. Mächtiger,
kecker fühlt das herrliche Weib ſich umſchlungen; da
rauſcht auf Einmal der Tritt eines Menſchen unfern
von ihnen, jäher Schrecken faßt Theobald an, und
eh’ er noch ſeitwärts ausbeugen kann, ſtreift ſchon das
[122] Kleid des Vorübergehenden an ihnen hin. Glücklich
war die Gefahr überſtanden. Niemand als der Herzog
kann es geweſen ſeyn. Theobald ſchöpft wieder Athem.
Conſtanze, regungslos in ſeinen Armen, ſcheint von
Allem nichts bemerkt zu haben. Nach einer Weile
fährt ſie wie aus einem Traume empor und — „Fort!
fort!“ ruft ſie mit durchdringender Stimme — „Wo bin
ich? was ſoll ich hier? Hinweg, hinweg!“ Sie riß ſich
heftig los und eilte voran, ſo daß Theobald kaum
mehr folgen konnte. Ein blendendes Meer von Son-
nenſchein empfängt die Eilenden an der Schwelle des
blühenden Saales. Nolten will ſo eben die Gräfin
erreichen, aber die große Glasthüre ſchlägt klirrend
hinter ihr zu, ohne daß er ſie wieder öffnen könnte.
Er ſieht die geliebte Geſtalt zwiſchen dem Laub der
Orangen verſchwinden. Trunken an allen Sinnen, rath-
los, verwirrt, in ſchmerzlicher Furcht ſteht er allein.
Noch einmal verſucht er das verwünſchte Schloß —
umſonſt, er ſieht ſich gezwungen, rückwärts zu gehen.
Wüthend rennt er eine Strecke fort bis in die Gegend
der verhängnißvollen Stelle, wo er ſtehen bleibt, ſich
fragt, ob es Blendwerk, ob es Wirklichkeit geweſen,
was hier vorgegangen? Unmöglich ſchien es, daß noch
ſo eben Conſtanze hier zwiſchen dieſen Felſen geſtan-
den, daß er ſie, ſie ſelber in ſeinen Armen gehalten,
ihren Buſen an dem ſeinigen klopfen gehört. Wie kalt
und theilnahmlos lag jezt dieſe Finſterniß um ihn her,
wie ſo gar nichts ſchienen dieſe rohen Maſſen von jener
[123] holden Gegenwart zu wiſſen, deren Gottheit noch ſo
eben rings die Nacht purpuriſch glühen machte! Hier
klang das Rufen der Geliebten, hier fiel der Tropfe aus
dem ſchönen Auge! O läßt kein leiſer Geiſterton ſich
hören, der mir verſichere: ja, hier war es, hier ge-
ſchah’s! Begreife denn dein Glück, ungläubig Herz!
umfaſſ’, umſpanne den vollen Gedanken, wenn du es
kannſt, denn ohne Grenzen iſt dein Glück, auch dann,
wenn du ſie nimmer ſehen ſollteſt, wenn dich ihr Zorn,
ihr Stolz auch auf immer verbannte! War ſie nicht
dein, dir hingegeben einen vollen, unerſchöpflichen
Moment? O dieſer Augenblick ſollte eine bettelarme,
leere Ewigkeit reich machen können!
Glühend aufgeregt verließ der Freund den Ort,
und um ſich, ſo gut es gehen mochte, noch zu ſammeln,
nahm er abſichtlich einen weiten Umweg nach dem
Saale, wo die Geſellſchaft bei einander war.
„Sie bleiben lange aus!“ rief ihm der Graf ent-
gegen, „und haben dadurch den Herzog verſäumt, wel-
cher dieſen Morgen auf eine Stunde hier geweſen, aber
bereits wieder weg iſt.“
Die Unbefangenheit dieſes Empfangs, den er mit
einer leichten Entſchuldigung erwiederte, und die Ruhe,
welche ſich in Conſtanzens Benehmen ausſprach,
überzeugte Theobald hinlänglich, daß ihre und ſeine
Abweſenheit nicht aufgefallen war. Dennoch wollte ihn
die Art, wie die ſchöne Frau ſich anließ, befremden:
ſie kam ihm beinahe wie ein anderes Weſen vor, ernſt
[124] ohne niedergeſchlagen, zurückhaltend und höflich, ohne
abſtoßend zu ſeyn; eine gleichgültige Frage, die er an
ſie richtete, beantwortete ſie mit mehr Natürlichkeit
und Geiſtesgegenwart, als der Frager in dieſem Augen-
blicke ſelbſt beſaß. Bei alle dem ſchien ihre Miene
das, was vorgefallen war, eher ſtillſchweigend zu ver-
zeihen als zu billigen, ja es hatte das Anſehen, als
verläugnete ſie die Erinnerung daran ganz und gar.
Nicht mehr lange, ſo wurde das Mittageſſen an-
geſagt, wozu der Graf ohne Weiteres auch den Italiener
geladen hatte, zu nicht geringem Verdruſſe Noltens,
der es denn auch geduldig geſchehen laſſen mußte, als
Jener ſich die Gnade erbat, Eccellenza der Frau Gräfin
ſeinen Arm zum Gange nach dem Meierhauſe leihen
zu dürfen.
Die kleine Tafel fiel reichlicher aus, als man er-
wartet hatte, denn außer dem fremden Weine, der im
Schlitten des Grafen mitgekommen war, fand ſich ein
ſchmackhafter und ſeltener Biſſen Geflügel ein, bei
deſſen Auftiſchung der Graf zu bemerken nicht unter-
ließ, daß man den trefflichen Seevogel der Galanterie
Seiner Hoheit verdanke, der Herr Herzog haben ihn
vorhin am großen Teiche geſchoſſen.
Der Italiener hielt ſich beſonders an den feinen
Rouſſillon und ſchwazte kunterbuntes Zeug durch ein-
ander, was indeſſen für Theobald zu jeder andern
Zeit ärgerlicher geweſen wäre, als jezt, wo er ſeine
Zerſtreuung gerne hinter dieſen Lärm verbarg. Man
[125] redete dem Ausländer zu Liebe, der kein Deutſch ver-
ſtand, und Conſtanzen, der das Italieniſche nicht
geläufig war, franzöſiſch, und unſer Freund fand in
dieſer fremden Sprache eine willkommene Art von
Scheidewand zwiſchen ſich ſelber und ſeinem gegenwär-
tigen Gefühl; aber ſonderbarer Weiſe rückte ſich ihm
auch die lebhafte Scene von heute Morgen nur um
deſto mehr in das Unglaubliche, ja Conſtanze ſelbſt
verſchwand ihm in eine zweifelhafte Ferne, ſo nahe ihm
ihre äußere Geſtalt auch war. Er ſah die jezt ver-
floſſenen Stunden, wenn er je ſie wirklich verlebt haben
ſollte, wie eine längſt entflohene Vergangenheit an,
aber die Gegenwart däuchte ihm deßhalb um nichts
wahrhafter und gegenwärtiger und die Zukunft völlig
ein Unding.
So leidlich auf dieſe Art die Stimmung Theo-
balds war, ſo bitter ſollte ſie bald geſtört werden.
Der fremde Künſtler nahm nach und nach Anlaß, ſeine
gute Laune an dem Manne zu üben, welchen er doch
in keinem Betracht als Nebenbuhler anſehen konnte.
Erſt waren es leichte Spötteleien, dann höchſt indiskrete
Fragen, worauf Nolten Anfangs mit gutmüthigem
Spaße, zulezt mit einiger Schärfe antwortete, ohne
jedoch ſeinen Gegner zu dem Grade von Wuth reizen
zu wollen, welcher ſich alsbald ſehr ungeſittet hervor-
that, ſo daß Nolten ſchnelle aufſtand und dem Schreier
den Vorſchlag machte, den Streit außerhalb des Zim-
mers mit ihm abzuthun, damit wenigſtens das Ohr
[126] der Uebrigen nicht beleidigt würde. Conſtanze hatte
bereits den Tiſch verlaſſen.
„Sie ſind Zeuge!“ rief der jähzornige Mann dem
Grafen zu, „Sie geſtehen, daß Signor meinen Scherz
abſichtlich böſe mißverſtand, um mich beleidigen zu
können! Aber es ſoll ihm nicht hingehen, ſo wahr ich
lebe, Signor wird mir Genugthuung verſchaffen!“
„Sehr gern!“ erwiderte Theobald, „doch dünkt
mich, wer dieß am erſten fordern könnte, das wäre
ich; indeſſen hätte ich für meine Perſon darauf ver-
zichtet, weil Sie durch Ihre Reden meine Ehre nicht
zu kränken vermochten, weder in meinen noch in den
Augen der Anweſenden. Sollten Sie aber die Rettung
der Ihrigen noch auf irgend eine Art verſuchen wol-
len, ſo will ich Alles dazu beitragen, wiewohl ich mir
faſt lächerlich dabei vorkomme.“
„Lächerlich, Signor?“ triumphirte der Italiener,
das Wort falſch deutend, mit entſetzlichem Lachen,
„lächerlich? ja, ja, nun ja, da haben Sie Recht! ich
kann beinahe zufrieden ſeyn mit dieſem Geſtändniß,
hi, hi, hi!“
Nolten wollte ſich dem Unverſchämten mit der-
ber Wahrheit erklären, aber ein Wink des Grafen bat
ihn um Zurückhaltung, und er folgte um ſo williger,
je mehr er dabei an Conſtanzen und ihre entſchie-
dene Abneigung gegen dergleichen Ehrenerörterungen
dachte. Doch der Italiener wollte ſich ſeines Siegs
noch weiter freuen, er wandte ſich gegen ſeinen Mann
[127] mit den Worten: „Gratuliren Sie ſich, daß Sie ſo
wegkommen, mein Herr Maler! Künftig etwas beſchei-
dener, will ich gerathen haben! Sie dürften ſonſt eine
deutſche Klinge mit einer welſchen meſſen, oder daß
ich es recht ſage, ich möchte mir leicht einmal den
Spaß machen, und mein scarpello aufheben gegen
einen deutſchen — Pinſel; verſtanden?“
„Wohl, mein Herr,“ verſezte Nolten ruhig,
„ich bin der Meinung, Sie machten die Probe je
eher je lieber; ich werde mich dießfalls heute noch in
beſter Form eines Nähern bei Ihnen vernehmen laſ-
ſen. Was inzwiſchen den deutſchen Pinſel betrifft,
ſo mögen Sie immerhin den Maler in mir verachten,
und zwar noch ehe Sie ihn kennen gelernt haben, ich
bin gegen den Bildhauer gerecht, deſſen Werke ich
vorhin geſehen habe; ſie ſind vortrefflich, und ſind es
ſo ſehr, daß es der frechſten Lüge gleich ſieht, wenn
Sie, mein Herr, ſich den Schöpfer derſelben nennen.“
Dieſer lezte Ausfall machte den Fremden offen-
bar ein wenig betroffen, obgleich er gethan, als hörte
er nichts; aber er wurde noch verlegener, da Nolten
ihm tiefer in’s Geſicht ſchaute, den Kopf ſchüttelte
und mit einem zweifelnden Lächeln dem Grafen zu-
winkte; — noch einen prüfenden Blick auf die ſelt-
ſame Phyſiognomie des Italieners, noch einen, und
wieder einen und — „Gemach, mein Freund!“ rief
Theobald, den Burſchen am Schnurrbart packend,
da er eben aus der Thür ſchlüpfen wollte, „ich glaube,
[128] wir kennen uns!“ — Wunder! der falſche Schnurr-
bart blieb Nolten in den Fingern, der arme Teufel
ſelber fiel zitternd auf ſeine Kniee, es war kein an-
derer Menſch als — Barbier Wispel, der entlau-
fene Bediente Noltens.
Der Graf traute ſeinen Augen kaum bei dieſer
Scene, und unſer Freund, ungewiß, ſollte er lachen
oder zürnen, rief: „Du unterſtehſt dich, Elender,
nachdem du mich einmal ſchändlich beſtohlen, auf’s
Neue deinen Betrug, deine Narrheit an mir und in
dieſer Gegend auszuüben, wo dich das Zuchthaus er-
wartet? Wie kommſt du nur zu dieſen Kleidern, wie
kommſt du überhaupt dazu, dieſe apokryphiſche Rolle
zu ſpielen?“
In der That konnte Nolten trotz aller ange-
nommenen und wirklichen Indignation ein herzliches
Lachen kaum zurückdrängen. Es nahm ihn nun gar
nicht mehr Wunder, wie er ſich eine Zeitlang wirklich
in der Perſon dieſes Menſchen täuſchen konnte; denn
es war bei Weitem nicht der magere, ſplitterdünne
Wispel mehr, es mußte ihm auf ſeinen neuen Rei-
ſen ganz beſonders wohl ergangen ſeyn, auch von ſei-
nen früheren Manieren hatte ſich Vieles verwiſcht,
oder legte er ſie auf einige Stunden ab, und dann
die künſtlich braun gefärbte Haut, veränderte Stimme,
verſtellte Friſur, Bart und ſonſtige Ausſtattung, Alles
half zu dieſem närriſchen Quiproquo. Aus ſeinen
Bekenntniſſen ergab ſich nach und nach, daß er in die
[129] Dienſte des fremden Künſtlers ungefähr auf dieſelbe
Weiſe gekommen war, wie einſt in Theobalds; es
ging dieß um ſo leichter an, da ihm von ſeinen frühe-
ren Landſtreichereien noch einige Kenntniß der Sprache
ſeines Herrn geblieben war, und er dieſem als Dol-
metſcher auf ſeiner Reiſe nach Deutſchland, an deſſen
Grenze ſie ſich kennen gelernt, gar oft nützlich ſeyn
konnte. Die guten Kleider, die er am Leibe trug,
waren theils Geſchenk ſeines Herrn, theils hatte er
ſich zu Ausführung des gegenwärtigen Prunkſtückchens
die Garderobe des Künſtlers heimlich zu Nutze ge-
macht. Der Italiener, erſt vorgeſtern angelangt, hielt
ſich in der Stadt auf, und ſollte erſt dieſen Abend zu
Anordnung der Bildwerke herauskommen, weil aber
durch ein Mißverſtändniß die Handlanger ſchon in der
Frühe vergeblich hieher geſprengt worden, ſo empfand
Wispel einen unüberwindlichen Reiz, vor dieſen
Leuten und den etwa ſich einfindenden Fremden jenen
berühmten Mann vorzuſtellen, deſſen bizarres Weſen
er zwar mit Uebertreibung, doch nicht ganz unglück-
lich, nachzuahmen wußte. Es ſey ihm ſelber, geſtand
er nun, ſehr leid geweſen, als ihm Nolten, ſein
ehemaliger Gebieter, ſo unerwartet in den Wurf ge-
kommen, und noch jezt wiſſe er nicht recht, was ihn
verführt habe, augenblicklich eine offenſive Stellung
gegen ihn anzunehmen.
„Aber Menſch, wie konnteſt du ſo unbegreiflich
9
[130] grob, ſo frech gegen mich ſeyn? Weißt du, was du
noch im Reſt bei mir ſitzen haſt?“
„Ach, mein charmanteſter, mein göttlicher Herr,
wie ſollt’ ich’s nicht wiſſen? aber das ſteht ja in gu-
ter Hand — es mag etwa eine halbe Carolin ſeyn,
was Sie mir an meinem Lohn noch ſchulden — Ba-
gatell — wenn Sie gelegentlich, aber wohl verſtanden,
nur ganz gelegentlich, das Pöſtchen“ —
Hier bekam Wispel unverſehens einen Backen-
ſtreich von Theobalds Hand, daß ihm die Haut
feuerte. „Schandbube! eine Anweiſung in’s Spinn-
haus bin ich dir ſchuldig! Aber gib Rechenſchaft über
das, was ich eben frage: wie warſt du fähig, gegen
deinen ehemaligen Wohlthäter dich ſo zu vergeſſen?“
„Ach,“ antwortete er, ganz wieder mit ſeiner ge-
wohnten Affektation, mit jenem Hüſteln und Blinzeln,
„dem Himmel is es bewußt, wie das zuging, ich wollte
mich durch ſolch’ ein Betragen gleichſam unkenntlich
machen, mich gegen meine eigene Rührung verſchan-
zen, daher meine Wuth, meine Malice, auch läugn’
ich nicht, es war vielleicht ein — ein — vielleicht
ein Kitzel, das heiße Blut des Südens an mir ſelbſt
zu bewundern, und ſo — und dann — aber gewiß
werden Sie mir zugeben, Monſieur, ich habe den hö-
hern Ton der Chikane und den eigentlichen vornehmen
Takt, womit das point d’honneur behandelt werden
muß, mir ſo ziemlich angeeignet. Wie? ich bitte,
ſagen Sie, was denken Sie?“
[131]
Mit dieſem lezten Zuſatz war es ſeiner Eitelkeit
ſo völlig Ernſt, er war ſo geſpannt auf ein ſchmeichel-
haftes Urtheil Noltens, daß dieſer und der Graf
nur ſtaunten über die unſinnigſte Art von Ehrgeiz,
womit dieſes Subjekt wie mit einer Krankheit geſtraft
war. Erinnerte man ſich vollends der einzelnen Mo-
mente, in denen der Menſch ſeit heute früh ſich ſtu-
fenweiſe, zuerſt bei der Ankunft Theobalds, dann
bei’m Grafen, endlich als Weltmann bei der Gräfin
geltend gemacht, ſo hätte man ſich beinahe ſchämen
müſſen, wäre die Sache weniger luſtig und neu ge-
weſen. Sogar Conſtanze, welche vom Bruder her-
beigerufen ward, konnte, nachdem ſie den unglaublichen
Betrug eingeſehen, ſich des Lächelns nicht enthalten,
obgleich ſie den Entlarvten, deſſen Beſchämung ſie ſich
ſchmerzlicher als billig vorſtellte, mit einem faſt pein-
lichen Gefühl, wie einen armen Verrückten, betrachtete.
Die Fragen, welche ſie etwa an ihn that, bildeten
durch ihre wahrhaft naive Delikateſſe einen faſt komiſch
rührenden Kontraſt zwiſchen der edlen Frau und der
verächtlichen Kreatur. Theobald fand ſich hiedurch
auch wirklich zu einem gewiſſen Grad von Mitleid
mit dem ärmlichen Sünder bewogen, und als Wispel
auf das Beredteſte ihn um Wiederaufnahme in ſein
Haus erſuchte, konnte er ſich zwar hiezu nicht ver-
ſtehen, aber er verſprach, ihm außer einer Warnung,
die man dem Italiener ſchuldig ſey, keineswegs ſcha-
den zu wollen. Hierauf verabſchiedete ſich Wispel
[132] mit gehörigem Anſtand, er wollte Conſtanzen die
Hand küſſen, was jedoch höflich verbeten wurde.
Die Geſellſchaft verhehlte ſich den im Ganzen
verſöhnenden Eindruck nicht, welchen der lezte Auftritt
bei ihr zurückgelaſſen hatte. Bei der Gräfin ſelbſt
war der Rückblick auf den heutigen Morgen leichter,
weil ſeine Wirkung wenigſtens äußerlich durch ſo
manches Andre in etwas war verdrängt worden; nur
ſobald Nolten ihr näher kommen wollte, wich ſie
ſchüchtern und unbehaglich aus. Im Allgemeinen,
dieß durfte er ſich mit Recht ſagen, ließ ihr Benehmen
ſich gar nicht zu ſeinen Ungunſten auslegen, ja er
konnte den tief gegründeten Keim wirklicher Liebe
nicht mehr an ihr verkennen, er hoffte eine zwar
langſame, aber unaufhaltſame Entwicklung. Nur jede
Voreiligkeit, alles dringend Heftige, ſo ſehr dieß in
ſeinem Temperamente lag, beſchloß er zu vermeiden,
und wir ſelber ſind der Meinung, daß er dabei ſeinen
Vortheil und die Sinnesart der Frauen von Con-
ſtanzens Werthe fein genug zu ſchätzen gewußt.
Man hätte gerne noch den ächten Italiener ge-
ſehen, allein der Abend nahte ſtark heran, es war un-
wahrſcheinlich, daß der Künſtler noch käme, überdieß
verlangte Conſtanze nach Haus, und ſo ſchickte
man ſich denn zum Aufbruch an.
Nolten, der den Schlitten des Grafen eine
Weile raſch verfolgte, blieb mit ſeinem Pferde doch
bald zurück. Er hatte Zeit, ſeinen Gedanken über den
[133] heutigen Tag, ſeinen Beſorgniſſen und Hoffnungen
ſtille nachzuhängen, indeß der Mond mit immer hel-
lerem Lichte die dämmernde Schneelandſchaft überſchien.
Was hatte ſich doch verändert in den wenigen Stun-
den, ſeit er dieſe Wege hergeritten! um wie viel
näher war er gegen alles Denken und Vermuthen
ſeinem erſehnteſten Ziele gekommen, ja, das er wirk-
lich ſchon erreicht, das er ſchon mit kühnen Armen
umſchlungen und auf alle Zukunft für ſich geweiht
hatte! Je verwunderter er dieſe raſche Wendung bei
ſich überlegte, deſto ſtärker drang ſich ihm der alte
Glaube auf, daß es Augenblicke gebe, wo ein innerer
Gott den Menſchen unwiderſtehlich beſinnungslos vor-
wärts ſtoße, einer großen Entſcheidung entgegen, ſo
daß er, daß ſein Schickſal und ſein Glück ſich ſelber
gleichſam übertreffen müſſen. Er ſchauderte im In-
nerſten, er drang mit weit offenem Aug’ in das tiefe
Blau des nächtlichen Himmels und forderte die Ge-
ſtirne heraus, ſeine Seligkeit mitzuempfinden. Was
doch jezt in Conſtanzen vorgehen mag! — er
hätte die Welt verſchenken mögen, um dieſes Einzige
zu wiſſen, und doch pries er wieder ſeine Ungewißheit,
weil ſie ihm vergönnte, Alles zu glauben, was er
wünſchte. Sollte jezt nicht auch in ihrem Buſen der
wonnevollſte Tumult von Freude, Furcht und Hoffnung
laut ſeyn? und iſt nicht der Grund ihrer Seele, wie
die Tiefe eines ſtillen Meeres, jezt von jener unend-
lichen Ruhe beherrſcht, welche im Bewußtſeyn hoher
[134] Liebe liegt? — So dachte er, ſo durchlief er noch
Manches, was ihn mächtig emporhob; kräftig gab er
ſeinem Pferde die Sporen, als gälte es, noch heute
allen ſeinen Wünſchen die Krone aufzuſetzen.
In derſelben Woche kamen Briefe aus Neuburg
an an Theobald, wie gewöhnlich unter der Aufſchrift
an Larkens. Voll Begierde nach dem Inhalte,
welcher ihm, wie er zuverläſſig hoffte, jeden Zweifel
über Agnes benehmen ſollte, riß er das Couvert auf.
Jedesmal ergriff ihn die eigenſte Rührung, wenn er
ſolche treuherzige Linien anſah, die nach des Mädchens
Meinung der Geliebte leſen ſollte, und die unſer
Schauſpieler doch wiederum nur ſich ſelber zueignen
konnte, da es nur Antworten auf dasjenige waren,
was er zwar ganz im früheren Sinne Noltens ge-
ſchrieben, aber doch gleichſam durch alle Faſern des
eigenen innigſten Gefühls übertragend, empfunden
hatte. In der That, er kam ſich dann immer wie ein
gedoppeltes Weſen vor, und nicht ſelten koſtete es ihn
Mühe, ſein Ich von der Theilnahme an dieſem zärt-
lichen Verhältniß auszuſchließen.
Was Agneſens gegenwärtigen Brief betrifft,
ſo klangen ihm die Worte Anfangs einigermaßen räth-
ſelhaft, bis ihm ein größeres Schreiben vom Vater
in die Hände fiel, das er auch zugleich von Blatt zu
Blatt mit immer ſteigendem Erſtaunen haſtig durchlas.
[135] Der Alte beruft ſich auf ſeinen frühern Brief an
Theobald, worin die ſonderbare Verirrung des
Mädchens, ſo weit es damals möglich geweſen, bereits
entwickelt worden ſey; er wolle aber, da einige erſt
neuerdings entdeckte Umſtände die Anſicht des Ganzen
bedeutend verändert hätten, Alles von vorn herein er-
zählen, und ſo ſezt er denn dasjenige weitläufig aus-
einander, was wir dem Leſer ſchon mitgetheilt haben.
Mehrere auffallende Vorgänge hatten dem Förſter zu-
lezt über das Daſeyn eines ſtillen Wahnſinns keinen
Zweifel mehr übrig gelaſſen. Es ward ein Arzt zu
Rath gezogen, und mit Hülfe dieſes einſichtsvollen
Mannes gelang es gar bald, den eigentlichen Grund
des Unheils aus dem Mädchen hervorzulocken. Hiebei
mußte es für den aufmerkſamen Beobachter ſolcher
abnormen Zuſtände von dem größten Intereſſe ſeyn,
zu bemerken, daß ſchon das Ausſprechen des Geheim-
niſſes an und für ſich entſcheidend für die Heilung war.
Denn von dem Augenblicke, da der Auftritt mit der
Zigeunerin über Agneſens Lippen kam, ſchien der
Dämon, der die Seele des armen Geſchöpfs umſtrickt
hielt, ſeine Beute fahren zu laſſen, und ein herzzer-
ſchneidender Strom der heftigſten Thränen ſchien die
Rückkehr der Vernunft anzukündigen. Die Entdeckung
jener geheimen Urſache fand aber um ſo weniger
Schwierigkeit, da das Mädchen ſelbſt ſeit der zweiten
Unterredung mit der Zigeunerin ein gewiſſes Miß-
trauen gegen dieſelbe nährte, worin ſie ſich nun eben
[136] nicht ungerne beſtärken ließ. Wirklich rührend war
es anzuſehen, mit welcher Begierde ſie jedes Wort
einſchluckte, das man zum Beweis eines offenbaren Be-
trugs vorbringen mochte. Auf ihrem zwiſchen Angſt
und dankbarer Freude wechſelnden Geſichte malten ſich
die lezten Zuckungen des abergläubiſchen Gewiſſens,
dem die vernünftige Beredſamkeit des Vaters nun den
Todesſtoß gab. Dennoch fühlte ſie noch immer eine
Art von Zwieſpalt im Innern, ſie fand ſich ſchwer zu-
recht, und wie der Blindgeweſene ſich nur langſam wie-
der an das Licht gewöhnt, das alle Welt erfreut, ſo
dauerte es einige Zeit, bis Agnes ihr Glück zu faſſen
vermochte, bis ſie es wagte, ſich den andern Menſchen
wieder gleich zu ſtellen. Oft kam es ihr noch vor, als
ob irgend ein finſterer Zeuge ihres Schickſals hinter
ihrem Rücken lauſchte und auf Rache denke, weil ſie
ſeinen Banden entſprungen. Aber der Verbrecher,
der durch eine feierliche Abſolution aus dem Munde
des heiligen Vaters mit Einem Mal ſich einer ganzen
Hölle entbunden fühlt, kann nicht leichter athmen als
Agnes, nachdem endlich das düſtere Phantom für
immer verabſchiedet war. Wie ganz anders konnte ſie
nun an Nolten denken! Wie herzhaft prüfte ihre
Liebe wieder die alte Freiheit ihrer Flügel! Wie un-
gewohnt erſchien ihr Alles, was in Bezug auf ihn
geſagt oder gethan ward! Sprach Jemand ſeinen
Namen aus, ſo konnte ſie den Namen mit ſeligem Be-
fremden vor ſich wiederholen und mit Entzücken rief
[137] ſie ihn dann laut aus, ſo daß man ſie kaum begreifen
wollte. Kam ihr zufällig ſeine Handſchrift vor’s Auge,
ſo däuchten ihr die Züge wie ſprechend, ſie betrachtete
ſie mit einem völlig neuen Sinn — kurz, es ſchien,
als ſey er ihr erſt heute geſchenkt, als heiße ſie jezt
zum erſten Male Noltens Braut.
Dieſelbe unſchuldige Trunkenheit athmete aus ih-
rem Briefe, den Larkens jezt in der Hand hielt.
Sie vermied ſo viel möglich jede Berührung jener ſtö-
renden Ereigniſſe, und ihre Worte verriethen nicht
die geringſte Unruhe darüber, wie Theobald die
Geſchichte ihrer Krankheit aufnehmen werde, welche
der Vater mit ihrem Vorwiſſen, jedoch ohne der Toch-
ter ſie leſen zu laſſen, ihm aufrichtig mittheilte.
Mit Staunen und Rührung legte Larkens die
Blätter auf den Tiſch, nachdem er ſie zwei und drei-
mal mit der größten Sorgfalt durchleſen hatte. Er
hatte Mühe, ſich die Fäden dieſer unerhörten Ver-
wirrung klar zu machen, ſich zu ſammeln und ein
ruhiges Bild vom Ganzen zu gewinnen, um hierauf
ſeine Entſchließung zu faſſen. An der getreuen Dar-
ſtellung der Begebenheiten zweifelte er keinen Augen-
blick, Alles trug zu ſehr das Gepräge der inneren
Wahrheit. Aber was ihn bei der Sache beſonders
nachdenklich machte, das war die Einmiſchung der Zi-
gennerin. Denn auf der Stelle war es wie ein Blitz
in ihn geſchlagen, daß er die Perſon kenne, daß ihm
ihr ſonderbarer Bezug zu Nolten nicht unbekannt
[138] ſey. Nach dem ſehr beſtimmten Bilde, das er von
ihrem Charakter hatte, befremdete ihn einigermaßen
ihr falſches Spiel gegen Agnes, dennoch hatte er
guten Grund, ſie deßhalb keineswegs mit den gemei-
nen Betrügerinnen ihrer Nation zu verwechſeln, ja
ihn ergriff das tiefſte Mitleid, wenn er bedachte, daß
eben dieſes unbegreifliche Weſen, das an Agneſens
Verrückung Schuld war, ſelbſt ein trauriges Opfer
des Wahnſinns ſey. So verhielt es ſich wirklich;
und in dieſen Zuſtand miſchte ſich eine Leidenſchaft
für Theobald, von deren wunderbarer Entſtehung
wir dem Leſer in der Folge Rechenſchaft geben wer-
den. Die Unglückliche glaubte ſich in Agnes von
einer Nebenbuhlerin befreien zu müſſen, und leider
kam der Zufall, wie wir geſehen haben, ihrer Abſicht
gar ſehr zu Hülfe. Ihre Liſt mochte übrigens leicht
von der Art ſeyn, wie ſie ſich bei Verrückten häufig
mit der höchſten Gutmüthigkeit gepaart findet, und
Larkens entſchuldigte ſie um ſo mehr, da er Eli-
ſabeth (ſo hieß das Mädchen) immer von einer äu-
ßerſt argloſen, ja kindlichen Seite kennen gelernt hatte.
Wie viel eigentliche Lüge und wie viel Selbſtbetrug
an jener verhängnißvollen Prophezeihung Antheil ge-
habt, wäre daher nicht wohl zu entſcheiden, nur wird
es jezt um ſo begreiflicher, daß die Erſcheinung und
der ganze Ausdruck der Prophetin eine ſo gewaltſame
und hinreißende Wirkung auf das kränklich reizbare
Gemüth Agneſens machen konnte.
[139]
Einige Augenblicke war der Schauſpieler ent-
ſchloſſen, ſogleich mit dem ganzen Paket zu ſeinem
Freunde zu eilen. Aber die Sache näher betrachtet
verbot ſolches die Klugheit. Nolten wäre im ge-
genwärtigen Zeitpunkt zu einer unbefangenen Anſicht
der Dinge nicht fähig geweſen und es war zu be-
fürchten, daß ihm die Ueberzeugung von der Tadel-
loſigkeit des Mädchens jezt eben nicht willkommen
wäre, daß er, von zweien Seiten auf’s Aeußerſte ge-
drängt, an einen Abgrund widerſprechender Leiden-
ſchaften gezerrt, nichts übrig hätte, als an Allem zu
verzweifeln. Larkens ſah dieß deutlich ein, und
ſtand wirklich eine Zeitlang rathlos, was zu thun
ſey. Ich muß auf einen Kapitalſtreich ſinnen, rief
er aus, das Zögern wird mir gefährlich, es iſt Zeit,
daß man dem Teufel ein Bein breche!
Vor Allem wollte er ſuchen, es gelte was es
wolle, einen Bruch mit der Gräfin vorzubereiten.
Aus einzelnen Spuren hatte er neuerdings von der
Neigung Noltens doch ernſtlichere Begriffe bekom-
men, und er fing an, mehr und mehr an der Offen-
heit ſeines Freundes in dieſem Punkte zu zweifeln,
wie denn auch wirklich der Vorfall im Parke bisher
ganz und gar ein Geheimniß für Larkens geblieben
war. Für jezt dachte dieſer nur auf ſchleunige Be-
ruhigung des Mädchens durch einen abermaligen Brief,
den er auch ſogleich, und mit ungewöhnlicher Wärme
und Heiterkeit des Ausdrucks, niederſchrieb.
[140]
Es gingen, bis Nolten wieder eine Einladung
zu Zarlins erhielt, zwei volle Wochen auf, und wenn
dieſe lange Zwiſchenzeit unſerem Freunde deſto un-
ausſtehlicher vorkam, je bedeutender ſeine gegenwär-
tige Stellung zu Conſtanzen war, ſo ſtand er nun
doch betroffen und unentſchieden, ob Furcht oder
Freude mächtiger in ihm ſey. Aber als er ſich nun
an dem beſtimmten Abende mit Larkens wieder in
jenen geliebten Wänden, in jener edlen Umgebung
fühlte, als die Gräfin nun die Verſammlung bewill-
kommte und auch ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte,
wie man ſie ſonſt kaum an ihr wahrnahm, da ſchien
ſich um ihn und über ſein ganzes Daſeyn ein Licht-
glanz herzugießen, in welchem ſich alle Vergangen-
heit und Zukunft ſeines Lebens wie durch Magie
verklärte: und doch war es nur die Sorgloſigkeit ih-
rer Miene, es war die edle Freiheit ihres Beneh-
mens, was ihn ſo tief erquickte, und was ihm, auch
abgeſehen von jeder andern Vorbedeutung, die unei-
gennützigſte Rührung hätte abgewinnen müſſen, indem
es ihm die Wiederherſtellung des ſchönen Friedens
ihrer Seele verbürgte, welchen geſtört zu haben er
ſich zum Verbrechen rechnete.
Von ähnlicher Munterkeit wurde denn auch die
übrige Geſellſchaft belebt, und die lezte beengende
Rückſicht bei Nolten fiel vollends weg mit der Nach-
richt, Herzog Adolph werde heute nicht gegenwär-
tig ſeyn.
[141]
Herren und Damen ſaßen bereits in bunter Ord-
nung, als die Gräfin ſich mit den Worten an Lar-
kens wandte: „Sie ſagten ja von etwas ganz Be-
ſonderem, das Sie uns dießmal zum Beſten geben
wollten; machen Sie doch die Geſellſchaft mit Ihrem
Vorhaben bekannt, ich zweifle nicht, wir dürfen uns
etwas recht Hübſches, zum mindeſten etwas Unge-
wöhnliches verſprechen.“
„Es liegt,“ antwortete Larkens mit guter Laune,
„in dieſem Komplimente etwas ſo verzweifelt Beding-
tes, daß ich nun erſt ſchüchtern werde, mit meinem
Schatz hervorzutreten. Wirklich, es iſt immer gewagt,
wenn ein Einzelner oder wenn zwei Mitglieder eines
gebildeten Kreiſes die Unterhaltung ausſchließlich über
ſich nehmen wollen, und obendrein iſt mein Gegen-
ſtand von der Beſchaffenheit, daß ihm ein allgemei-
nes Intereſſe ſehr ſchwerlich zukommen möchte, we-
nigſtens in ſo weit ich dabei bethätigt bin. Aber
was mich tröſtet, iſt einzig die Unterſtützung durch mei-
nen Freund Nolten, der Ihneu bei dieſer Gelegen-
heit ein ganz neues Genre ſeiner Kunſt vorführen
wird.“
„Ich meines Theils,“ erwiderte der Maler, „muß
die Geſellſchaft unterthänigſt bitten, auf dieſe Bedin-
gung hin von ihren Forderungen an Larkens nicht
nagelsgroß nachzulaſſen, da mein Beitrag als bloße
Verzierung und Erläuterung der Hauptſache an und
für ſich nicht in Betracht kommen kann.“ —
[142]
„Kurz, meine Gnädigſten,“ fiel der Schauſpieler
ihm in’s Wort, „was wir Ihnen dießmal zeigen, iſt
nichts Anderes, als ein Schattenſpiel.“
„Ein Schattenſpiel!“ riefen die Damen in die
Hände klatſchend, „ach, das iſt ja ganz unvergleich-
lich! wirklich ein ordentliches, chineſiſches werden wir
ſehen?“
„Allerdings,“ ſagte der Graf „und zwar ein
ganz neu eingerichtetes, wozu Herr Nolten die Bil-
der auf Glas gemalt, und dieſer Herr, der als Dich-
ter noch allzu wenig von ſich hören ließ, den Text
geliefert hat. So viel ich weiß, beſteht der leztere
durchaus in einer dramatiſirten Fabel, rein von der
Erfindung des Herrn Larkens.“
„Dieſe Fabel,“ bemerkte der Schauſpieler, „und
der Ort, wo ſie vorgeht, iſt freilich närriſch genug,
und es bedarf einer kleinen Vorerinnerung, wenn
man den Poeten nicht über alle Häuſer wegwerfen
ſoll.“
„Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der
Schule ſtudirte, einen Freund, deſſen Denkart und
äſthetiſches Beſtreben mit dem meinigen Hand in
Hand ging; wir trieben in den Freiſtunden unſer
Weſen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene
Sphäre von Poeſie, und noch jezt kann ich nur mit
Rührung daran zurückdenken. Was man auch zu
dem Nachfolgenden ſagen mag, ich bekenne gern, da-
mals die ſchönſte Zeit meines Lebens genoſſen zu ha-
[143] ben. Lebendig, ernſt und wahrhaft ſtehen ſie noch
alle vor meinem Geiſte, die Geſtalten unſerer Einbil-
dung, und wem ich nur Einen Strahl der dichteri-
ſchen Sonne, die uns damals erwärmte, ſo recht gül-
den, wie ſie war, in die Seele ſpielen könnte, der
würde mir wenigſtens ein heiteres Wohlgefallen nicht
verſagen, er würde ſelbſt dem reiferen Manne es
verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang
in die duftige Landſchaft jener Poeſie machte und ſo-
gar ein Stückchen alten Geſteins von der geliebten
Ruine mitbrachte. Doch zur Sache. Wir erfanden
für unſere Dichtung einen außerhalb der bekannten
Welt gelegenen Boden, eine abgeſchloſſene Inſel, wor-
auf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verſchiedene
Stämme, Grenzen und Charakter-Abſtufungen getheilt,
aber mit ſo ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt
haben ſoll. Die Inſel hieß Orplid, und ihre Lage
dachte man ſich in dem ſtillen Ozean zwiſchen Neu-
Seeland und Süd-Amerika. Orplid hieß vorzugsweiſe
die Stadt des bedeutendſten Königreichs: ſie ſoll von
göttlicher Gründung geweſen ſeyn und die Göttin
Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands
den Namen hatte, war ihre beſondere Beſchützerin.
Stückweiſe und nach den wichtigſten Zeiträumen er-
zählten wir uns die Geſchichte dieſer Völker. An
merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht.
Unſere Götterlehre ſtreifte hie und da an die griechi-
ſche, behielt aber im Ganzen ihr Eigenthümliches;
[144] auch die untergeordnete Welt von Elfen, Feen und
Kobolden war nicht ausgeſchloſſen.
Orplid, einſt der Augapfel der Himmliſchen,
mußte endlich ihrem Zorne erliegen, als die alte Ein-
falt nach und nach einer verderblichen Verfeinerung
der Denkweiſe und der Sitten zu weichen begann.
Ein ſchreckliches Verhängniß raffte die lebende Menſch-
heit dahin, ſelbſt ihre Wohnungen ſanken, nur das
Lieblingskind Weyla’s, nämlich Burg und Stadt
Orplid, durfte, obgleich ausgeſtorben und öde, als ein
traurig ſchönes Denkmal vergangener Hoheit ſtehen
bleiben. Die Götter wandten ſich auf Ewig ab von
dieſem Schauplatz, kaum daß jene erhabene Herrſcherin
zuweilen ihm noch einen Blick vergönnte, und auch
dieſen nur um eines einzigen Sterblichen willen, der,
einem höheren Willen zufolge, die allgemeine Zerſtö-
rung weit überleben ſollte.
Neuerer Zeiten, immerhin nach einem Zwiſchen-
raum von beinahe tauſend Jahren, geſchah es, daß
eine Anzahl europäiſcher Leute, meiſt aus der niedern
Volksklaſſe, durch Zufall die Inſel entdeckte und ſich
darauf anſiedelte. Wir Freunde durchſtöberten mit
ihnen die herrlichen Reſte des Alterthums, ein gelehr-
ter Archäologe, ein Engländer, mit Namen Harry,
war zum Glück auf dem Schiffe mitgekommen, ſeine
kleine Bibliothek und ſonſt Materialien verſchiedenen
Gebrauchs waren gerettet worden; Nahrung aller
Art zollte die Natur im Ueberfluß, die neue Kolonie
[145] geſtaltete ſich mit jedem Tage beſſer und bereits blüht
eine zweite Generation in dem Zeitpunkte, wo unſer
heutiges Schauſpiel ſich eröffnet.
Was nun dieſe dramatiſche, oder vielmehr ſehr
undramatiſche Kleinigkeit betrifft, ſo ſind meine Wün-
ſche erfüllt, wenn die verehrten Zuſchauer ſich mit
einiger Theilnahme in die geiſtige Temperatur meiner
Inſel ſollten finden können, wenn ſie für die will-
kürliche Oekonomie meines Stückes einen freund-
ſchaftlichen Maaßſtab mitbringen und ſich mehr nur
an den Charakter, an das Pathologiſche der Sache
halten. Das ganze Ding machte ſich, ich weiß nicht
wie, vor Kurzem erſt, nachdem mir ſeit langer Zeit
wieder einmal eines Abends die alten Erinnerungen
in den Ohren ſummten. Eine längſt gehegte tragiſche
Lieblingsvorſtellung drang ſich vorzüglich in dem Cha-
rakter des lezten Königs von Orplid auf; dagegen gab
es Veranlaſſung, zwei moderne, aus dem Leben gegrif-
fene Nebenfiguren luſtig einzuflechten, wovon die eine
in der Laufbahn meines Freundes Nolten dergeſtalt
Epoche gemacht, daß dieſe Perſon — und ſie ſoll ja
neuerdings wieder in unſerer Stadt ſpucken. — ſogar
einigen der Anweſenden als eine nicht ganz unbekannte
Fratze wieder begegnen wird.
Hier ſteckten ſich einige begierige Köpfe zuſammen,
und als es hieß, daß jener diebiſche Bediente Nol-
tens im Schattenſpiel ſeine Aufwartung machen werde,
verlautete allgemein ein herzliches Vergnügen; man
10
[146] machte ſich überhaupt auf eine ergötzliche Unterhaltung
gefaßt, nur Tillſen fühlte ſich im Stillen durch jene
komiſche Berührung verlezt, wiewohl Niemand an et-
was Beleidigendes dachte.
„In einem andern Subjekt,“ fuhr der Schauſpie-
ler fort, „in dem Kameraden des Vorigen zeig’ ich Ih-
nen meinen eigenen ehmaligen Sancho; es machte
mir Freude, dieſe beiden Tröpfe einmal treulich zu
kopiren, Nolten verfehlte keinen Zug, und die Geſell-
ſchaft muß uns ſchon vergeben, wenn wir ſie auf einen
Augenblick in das Dachſtübchen dieſer Schmutzbärte zu
ſchauen zwingen.“
Indeſſen hatte Larkens den erforderlichen Ap-
parat aus ſeinem Hauſe holen laſſen; der Diener
brachte ein braunes Käſtchen, worin das Zaubergeräthe
verſchloſſen war; zugleich zog der Schauſpieler ein
Manuſeript hervor, blätterte und ſagte: „In Abſicht
auf die Art und Weiſe, wie die Tableaux den Text
begleiten, verſteht ſich von ſelbſt, daß der Schauplatz
zuweilen, wiewohl nur ſelten, leer bleiben wird, daß
für den Maler nicht jede Scene gleich brauchbar ſeyn
konnte, daß er von einer Scene meiſt nur Einen Mo-
ment, Eine hervorſtechende Gruppe darſtellen konnte,
daß jedoch ſo viel Varietät als nur immer möglich in
die Bilder gebracht wurde. Nun hab’ ich nur noch
Eine Bitte, den Vortrag des Dialogs betreffend. Ich
werde zwar ſämmtliche männliche Perſonen aus meinem
Munde mit abwechſelnder Stimme unter ſich ſprechen
[147] laſſen, für die weiblichen aber und für die Kinderkeh-
len ſollte mir doch Eins und das andre der Fräulein
zur Seite ſtehen und mit mir aus der Rolle leſen.
Welche von den Damen würde wohl die Gefälligkeit
haben? Sie, Fräulein von R. und von G. erfreuten
uns ſchon auf dem Liebhabertheater, an Sie richt’ ich
meine Bitte im Namen Aller.“
Die Schönen mußten ſich’s gefallen laſſen, ſie traten
mit dem dargereichten Hefte beiſeit, es vorläufig zu
durchſehen, während Larkens ſich von der Gräfin
einen geheizten Saal mit weißen Wänden ausbat und
ſeine Einrichtung traf.
Nach kurzer Zeit ertönte ſein Glöckchen, das die
Geſellſchaft hinüber lud in den verdunkelten Saal.
Hinter einer ſpaniſchen Wand, die nach einer Seite
offen war, befanden ſich Larkens und ſeine Gehülfinnen
neben der magiſchen Laterne, welche inzwiſchen nur
einen runden hellen Schein an die Zimmerdecke warf.
Man nahm im Halbkreiſe Platz, und Nolten hatte
ſich ſo geſezt, daß er Conſtanzen in’s Auge faſſen
konnte.
Nachdem Alles ſtille geworden, begann hinter der
Gardine eine einleitende Symphonie auf dem Klavier
von einem Mitgliede der Geſellſchaft geſpielt und von
Larkens mit dem Violoncello begleitet. Unter den
lezten Akkorden erſchien an der breiteſten, völlig freien
Wandſeite des Saales in bedeutender Größe die An-
ſicht einer fremdartigen Stadt und Burg, im Mond-
[148] ſchein, vom See beſpült, links im Vorgrund drei ſitzende
Perſonen und der Dialog nahm ſeinen Anfang.
Wir bedenken uns nicht, den Leſer an dem Spiele
Theil nehmen zu laſſen, da es nachher in den Gang
unſerer Geſchichte einſchlägt und die wichtigſten Folgen
hat. Zugleich mag es einen lebhaften Begriff von
dem inueren Leben jenes Schauſpielers geben, welcher
bereits unſere Aufmerkſamkeit erregte und noch mehr
künftig unſere Theilnahme gewinnen wird.
Der lezte König von Orplid.
Ein phantasmagoriſches Zwiſchenſpiel.
Erſte Scene.
vom See. Es wird eben Nacht. Drei Einwohner ſitzen vor einem
Haus der unteren Stadt auf einer Bank im Geſpräch. Suntrard,
der Fiſcher, mit ſeinem Knaben, und Löwener, der Schmied.
Laſſet uns hieher ſitzen, ſo werden wir nach einer
kleinen Weile den Mond dort zwiſchen den zwei Dächern
herauf kommen ſehen.
Vater, haben denn vor Alters in all’ den vielen
Häuſern dort hinauf auch Menſchen gewohnt?
[149]
Ja wohl. Als unſere Väter, vom Meerſturm
verſchlagen, vor ſechszig Jahren zufälliger Weiſe an
dem Ufer dieſer Inſel, was das Einhorn heißt, an-
langten, und tiefer landeinwärts dringend ſich rings
umſchauten, da trafen ſie nur eine leere ſteinerne Stadt
an; das Volk und das Menſchengeſchlecht, welches
dieſe Wohnungen und Keller für ſich gebauet, iſt wohl
ſchon bald tauſend Jahr’ ausgeſtorben, durch ein be-
ſonderes Gerichte der Götter, meint man, denn weder
Hungersnoth noch allzuſchwere Krankheit entſteht auf
dieſer Inſel.
Tauſend Jahr, ſagſt du, Suntrard? Gedenk’ ich
ſo an dieſe alten Einwohner, ſo wird mir’s, mein
Seel, nicht anders, als wie wenn man das Klingen
kriegt im linken Ohr.
Mein Vater erzählt, wie er, ein Knabe damals
noch, mit wenigen Leuten, fünf und ſiebenzig an der
Zahl, auf einem zerbrochenen Schiffe angelangt, und
wie er ſich mit den Genoſſen verwunderte über eine
ſolche Schönheit von Gebirgen, Thälern, Flüſſen und
Wachsthum, wie ſie darauf fünf, ſechs Tage herum-
gezogen, bis von ferne ſich auf einem blanken, ſpiegel-
klaren See etwas Dunkeles gezeigt, welches etwan
ausgeſehen, wie ein ſteinernes Wundergewächs, oder
auch wie die Krone der grauen Zackenblume. Als ſie
[150] aber mit zweien Kähnen darauf zugefahren, war es
eine felſige Stadt von fremder und großer Bauart.
Eine Stadt, Vater?
Wie fragſt du, Kind? Eben dieſe, in der du
wohneſt. — Deß erſchracken ſie nicht wenig, vermei-
nend, man käme übel an; lagen auch die ganze Nacht,
wo es in Einem fort regnete, vor den Mauern ruhig,
denn ſie getrauten ſich nicht. Nun es aber gegen
Morgen dämmerte, kam ſie beinahe noch ein ärger
Grauen an; es kräheten keine Hähne, kein Wagen
ließ ſich hören, kein Bäcker ſchlug den Laden auf, es
ſtieg kein Rauch aus dem Schornſtein. Es brauchte
dazumal Jemand das Gleichniß, der Himmel habe über
der Stadt gelegen, wie eine graue Augbraun über
einem erſtarrten und todten Auge. Endlich traten ſie
Alle durch die Wölbung der offenen Thore; man ver-
nahm keinen Sterbenslaut als den des eigenen Fußtritts
und den Regen, der von den Dächern niederſtrollte,
obgleich nunmehr die Sonne ſchon hell und goldig in
den Straßen lag. Nichts regte ſich auch im Innern
der Häuſer.
Nicht einmal Mäuſe?
Nun, Mäuſe wohl vielleicht, mein Kind.
[151]
Ja, aber Nachbar, ich bin zwar, wie du, geboren
hier und groß geworden, allein es wird einem doch
alleweil noch ſonderlich zu Muth, wenn man ſo des
Nachts noch durch eine von den leeren Gaſſen geht
und es thut, als klopfte man an hohle Fäſſer an.
Aber warum doch wohnen wir neuen Leute faſt
alle wie ein Häuflein ſo am Ende der Stadt und
nicht oben in den weitläuftigen ſchönen Gebäuden?
Weiß ſelber nicht ſo recht; iſt ſo herkommen von
unſern Eltern. Auch wäre dort nicht ſo vertraut zu-
ſammenniſten.
Wo wir wohnen, das heißt die untere Stadt,
hier waren vor Alters wahrſcheinlich die Buden der
Krämer und Handwerker. Die ganze Stadt aber be-
trägt wohl ſechs Stunden im Ring.
Wenn der Mond vollends oben iſt, laßt uns noch
eine Strecke aufwärts gehen, bis wo die Sonnenkeile *)
iſt. Nachbar, als ein kleiner Junge, wenn wir Bu-
ben noch Abends ſpät durch die unheimlichen Plätze
[152] ſtreiften bis zur Sonnenkeile, ſo trieb und plagte
mich’s immer, den Stein mit dem Finger zu berühren,
weil ein Glauben in mir war, daß er den warmen
Strahl der Sonne angeſchluckt, wie ein Schwamm,
und Funken fahren laſſe, welches im Mondſchein ſo
wunderlich ausſehen müſſe.
Hört, was weiß man denn auch neuerdings von
dem Königsgeſpenſt, das an der Nordküſte umgeht?
Kein Geſpenſt! wie ich dir ſchon oft verſicherte.
Es iſt der tauſendjährige König, welcher dieſer Inſel
einſt Geſetze gab. Der Tod ging ihn vorbei; man
ſagt, die Götter wollten ihn in dieſer langen Probe-
zeit und Einſamkeit geſchickt machen, daß er nachher
ihrer einer würde, wegen ſeiner ſonſtigen großen Tu-
gend und Tapferkeit. Ich weiß das nicht; doch er
iſt Fleiſch und Bein, wie wir.
Glaub’ das nicht, Fiſcher.
Ich hab’ es ſicher und gewiß, daß ihn der Koll-
mer, der Richter iſt in Elnedorf, jeweilig insgeheim
beſucht; ſonſt ſieht ihn kein ſterblicher Menſch.
Gelt, Vater, er trägt einen Mantel und trägt
ein eiſern ſpitzig Krönlein in den Haaren?
[153]
Ganz recht, und ſeine Locken ſind noch braun,
ſie welken nicht.
Laßt’s gut ſeyn! iſt ſchon ſpät. Das Licht dort
in der äußerſten Ecke vom Schloß iſt auch ſchon aus.
Dort wohnt Herr Harry, der bleibt am längſten
auf. Will noch eine Weile in die Schenke. Gut Nacht!
Schlaf’ wohl, Freund Löwener. Komm’ Knabe,
gehen zur Mutter.
Zweite Scene.
Hier pflegt er umzugehn, dieß iſt der Strand,
Den er einförmig mit den Schritten mißt.
Mich wundert, wo er bleiben mag. Vielleicht
Trieb ihn ſein irrer Sinn auf andre Pfade,
Denn oft konnt’ ich gewahren, daß ſein Geiſt
Und Körper auf verſchied’ner Fährte geh’n.
O wunderbar! mich jammert ſein Geſchick,
Denk’ ich daran, was doch kaum glaublich ſcheint,
Daß die Natur in einem Sterblichen
Sich um Jahrhunderte ſelbſt überlebt —
Wie? tauſend Jahre? — tauſend — ja nun wird mir
Zum erſten Male plötzlich angſt und enge,
[154] Als müßt’ ich’s zählen auf der Stell’, durchleben
In Einem Athemzug — Hinweg! man wird zum Narren!
Hm, tauſend Jahr; ein König einſt! — o eine Zeit
So langſam, als man ſagt, daß Steine wachſen.
Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, —
Gäb’ es für die Vernunft ein Drittes noch,
So müßt’ er dort verweilen in Gedanken.
Sind’s aber einmal tauſend, ja, ſo können
Unzählige noch kommen; ſagt man nicht,
Daß auch ein Ball, geworfen über die Grenze
Der Luft, bis wo der Erde Athem nicht mehr hinreicht,
Nicht wieder rückwärts fallen könne, nein,
Er müſſe kreiſen, ewig, wie ein Stern.
So, fürcht’ ich, iſt es hier.
Auch ſpricht man von der Inſelgöttin Weyla,
Daß ſie ein Blümlein liebgewann von ſeltner
Und nie geſeh’ner Art, ein einzig Wunder,
Dieß ſchloß die Göttin in das klare Waſſer
Des härt’ſten Diamant’s ein, daß es daure
Mit Farben und Geſtalt; wahrhaftig nein,
Ich möchte ſo geliebt nicht ſeyn von Weyla,
Doch dieſem König hat ſie’s angethan.
Oft ahnte mir, er ſelber ſey ein Gott,
So anmuthsvoll iſt ſein verfinſtert Antlitz;
Das iſt ſein größtes Unglück, darum ward,
Wie ich wohl deutlich merke, eine Fee
Von heißer Liebe gegen ihn entzündet,
Und er kann ihrem Dienſte nicht entgehn,
[155] Sie hat die Macht ſchon über ihn, daß er,
So oft ſich ihr Gedanke nach ihm ſehnt,
Tag oder Nacht, und aus der fernſten Gegend,
Nach ihrem Wohnſitz plötzlich eilen muß.
Wenn dieſer Ruf an ihn ergeht, ſo reißt
Der Faden ſeines jetzigen Gedankens
Auf Ein Mal von einander, ganz verändert
Erſcheint ſein Weſen, hell’res Licht durchwittert
Des Geiſtes Nacht, der längſt verſchüttete Brunn’
Der rauhen und gedämpften Rede klingt
Mit Ein’ Mal hell und ſanft, ſogar die Miene
Scheint jugendlicher, doch auch ſchmerzlicher:
Denn gräulich iſt verhaßter Liebe Qual.
Drum ſinnt er ſicherlich in ſchwerem Gram,
Wie er ſich ledig mache dieſer Pein;
Dahin auch deut’ ich jene Worte mir,
Die er einſt fallen laſſen gegen mich:
„Willt du mir dienſtbar ſeyn, ſo gehe hin
Zur Stadt, dort liegt in einem unerforſchten Winkel
Ein längſt verloren Buch von ſeltner Schrift,
Das iſt geſchrieben auf die breiten Blätter
Der Thranuspflanze, ſo man göttlich nennt,
Das ſuche du ohn’ Unterlaß, und bring’ es.“
Drauf lächelt’ er mitleidig, gleich als hätt’ er
Unmögliches verlangt, und redete
Zeither auch weiter nicht davon. Nun aber
Kam mir zufällig jüngſt etwas zu Ohren
Von ein paar ſchmutzigen, unwiſſenden Burſchen,
[156] Die hätten der Art einen alten Schatz
Beſtäubt und ungebraucht im Hauſe liegen.
Vielleicht, es träfe ſich; ſo will ich denn
Vom König nähere Bezeichnung hören;
Doch aber zweifl’ ich, zweifle ſehr — Horch! ja, dort
kommt er
Den Hügel vor. O trauervoller Anblick!
Sein Gang iſt müde. Horch, er ſpricht mit ſich.
O Meer! Du der Sonne
Grüner Palaſt mit goldenen Zinnen!
Wohinab zu deiner kühlen Treppe?
(Ob ich es wagen darf, ihn anzurufen?)
Mein theurer König!
Wer warf meinen Schlüſſel in die See?
Mein hoher Herr, vergönnt —
Was willſt du hier? Wer biſt du? Fort! Hinweg!
Fort! willſt du nicht fort? Fluch auf dich!
Kennſt du mich nicht mehr? dem du manches Mal
Dein gnädig Antlitz zugewendet haſt?
[157]
Du biſt’s; ich kenne dich. So ſag’ mir an,
Wovon die Rede zwiſchen uns geweſen
Das lezte Mal. Mein Kopf iſt alt und krank.
Nach jenem Buche hießeſt du mich ſuchen.
Wohl, wohl, mein Knecht. Doch ſuchet man umſonſt,
Was Weyla hat verſcharrt, die kluge Jungfrau,
Nicht wahr?
Gewiß, wenn nicht ihr Finger ſelbſt
Mich führt; wir aber hoffen das, mein König.
Für jezt entdeck’ mir mehr vom heil’gen Buche.
Mehr noch, mein Knecht? das kann ſchon ſeyn, kann ſeyn,
Will mich bedenken; wart, ich weiß ſehr gut —
— Wär’ vor der Stirn die Wolke nicht! merkſt du?
Elend! Elend! hier, hier, merkſt du? die Zeit
Hat mein Gehirn mit zäher Haut bezogen.
Manchmal doch hab’ ich gutes Licht…
Ach Armer!
Laß, laß es nur, ſey ruhig! Herr, was ſeh’ ich?
Was wirfſt du deine Arme ſo gen Himmel,
Ballſt ihm die Fäuſt’ in’s Angeſicht? Mir graut.
[158]
Ha! mein Gebet! meine Morgenandacht! Was?
Willſt einen König lehren, er ſoll knie’n?
Seit hundert Jahren ſind ihm wund die Kniee —
Was hundert —? o ich bin ein Kind! Komm her,
Und lehr’ mich zählen — Alte Finger! Pfui!
Auf, Sklave, auf! Ruf’ deine Brüder all’!
Sag’ an, wie man der Götter Wohnung ſtürmt!
Sey mir was nütze, feiger Schurke du!
Die Hölle laß’ uns ſtürmen, und den Tod,
Das faule Scheuſal, das die Zeit verſchläft,
Herauf zur Erde zerren an’s Geſchäft!
Es leben noch viel Menſchen; Narre du,
Mir iſt es auch um dich! willſt doch nicht ewig
Am ſchaalen Lichte ſaugen?
Weh! er raſet.
Still, ſtill! Ich ſinne was. Es thut nicht gut,
Daß man die Götter ſchmähe. Sag’, mein Burſch,
Iſt dir bekannt, was, wie die Weiſen meinen,
Am meiſten iſt verhaßt den ſel’gen Göttern?
Lehr’ mich’s, o König.
Das verhüte Weyla,
Daß meine Zunge nennt was auch zu denken
Schon Fluch kann bringen. — Haſt du wohl ein Schwert?
[159]
Ich habe eins.
So ſchone deines Lebens,
Und laß uns allezeit die Götter fürchten!
— Was hülf’ es auch, zu trotzen? Das Geſchick
Liegt feſt gebunden in der Weiſſagung,
So dein’s wie meines. Nun — wohlan, wie lautet
Der alte Götterſpruch? ein Prieſter ſang
Ihn an der Wiege mir, und drauf am Tag
Der Krönung wieder.
Gleich ſollſt du ihn hören;
Du ſelber haſt ihn neulich mir vertraut.
Du ſagſt es recht, mein Mann; ein ſüßer Spruch!
[160] Mich dünkt, die wen’gen Worte ſättigen rings
Die irdiſche Luft mit Weylas Veilchenhauch.
Ergründeſt du der Worte Sinn, o Herr?
Ein König, iſt er nicht ein Prieſter auch?
Still, meine heil’ge Seele kräuſelt ſich,
Dem Meere gleich, bevor der Sturm erſcheint,
Und wie ein Seher möcht’ ich Wunder künden,
So rege wird der Geiſt in mir.
— Freilich, zu trüb, zu trüb iſt noch mein Aug’ —
Ha, Sklave, ſchaff’ das Buch! mein lieber Sklave!
Beſchreib’ es mir erſt beſſer.
Nur Geduld.
Ich ſah es nie und kein gemeiner Menſch.
Von Prieſterhand verzeichnet ſteht darin,
Was Götter einſt Geweihten offenbarten,
Zukünft’ger Dinge Wachsthum und Verknüpfung;
Auch wie der Knoten meines armen Daſeyns
Dereinſt entwirrt ſoll werden, deutet es.
(Laß mich vollenden, weil die Rede fließt —
Im Tempel Nidru-Haddin hütete
Die weiſe Schlange ſolches Heiligthum,
Bis daß die große Zeit erfüllet war,
Und alle Menſchen ſtarben; ſieh, da nahm
[161] Die Göttin jenes Buch, und trug es weg
An andern Ort, wer wollte den erkunden?
Auch meinen Schlüſſel nahmen ſie hinweg,
Die Himmliſchen, und warfen ihn in’s Meer.
Herr, welchen Schlüſſel?
Der zum Grabe führt
Der Könige.
Was zitterſt du? erbleichſt?
Die Zaubrin lockt — Thereile reißt an mir —
Leb’ wohl! Ich muß —
Dritte Scene.
Ein offener, grüner Platz an einem ſanften Waldabhang beim Schmet-
tenberg, ohnweit des Fluſſes Weyla.
Thereile, eine junge Feenfürſtin. Kleine Feen um ſie her. König
an der Seite, mehr im Vorgrund.
Seyd ihr Alle da?
Zähl’ nur, Schweſter, ja!
Ein, zwei, drei, vier, fünf, ſechs, ſieben.
Silpelitt iſt ausgeblieben!
11
[162] Hat doch ſtets beſondre Neſter!
Nun, ſo ſucht, ihr faulen Dinger,
Steckt euch Lichtlein an die Finger!
Weithe!
Was?
Siehſt du nicht dort
Ihren Buhlen bei der Schweſter?
Darum ſchickt ſie uns nun fort,
Dieſes hat was zu bedeuten.
Ei, ſie mag ihn gar nicht leiden.
Bleibe doch! und laſſ’ uns lauſchen,
Wie ſie wieder Küſſe tanſchen.
Guck, wie ſpröd ſie thut zum Scheine,
Trutzig ihre Zöpfe flicht!
Sie nur immer iſt die Feine,
Unſer eins beſieht man nicht.
Aber wir ſind auch noch kleine.
Nun, ſo ſag’, iſt dieſes Paar
Nicht ſo dumm wie Eines war?
[163] Darf ſich ſüße Feenbrut
Einem Sterblichen wohl gatten?
Beide zwar ſind Fleiſch und Blut,
Doch die Braut wirft keinen Schatten.
Ja, das iſt doch unanſtändig.
Aber ſtets war ſie unbändig.
Morry, laß uns lieber fort!
Mir wird angſt an dieſem Ort.
Wie ſich wohl dieß Spiel noch endet!
Beide ſtehen abgewendet;
Wahrlich, wie im tiefſten Schlummer
Steht der König, unbeweglich.
Ach, wie traurig ſcheint der Mann!
Liebe Schweſter, iſt’s nur möglich,
Daß man ſo betrübt ſeyn kann?
Seine Stirne, voller Kummer,
Seine Arme ſind geſenkt!
Was nur unſre Schweſter denkt!
[164]
Wär’ er mir wie ihr ſo gut,
Ich ließ’ mich küſſen wohlgemuth.
Bitte, komm’ und laß uns geh’n!
Wollen nach dem Walde ſeh’n,
Ob die holden Nachtigallen
Bald in unſre Netze fallen.
Vierte Scene.
Still, ſachte nur, mein Geiſt; gib dich zur Ruhe!
Lagſt mir ſo lang’ in ungeſtörter Dumpfheit,
Hinträumend allgemach in’s Nichts dahin,
Was weckt dich wieder aus ſo gutem Schlummer?
Lieg’ ſtille nur ein Weilchen noch!
Umſonſt! umſonſt! es ſchwingt das alte Rad
Der glühenden Gedanken unerbittlich
Sich vor dem armen Haupte mir!
Will das nicht enden? mußt du ſtaunend immer
Auf’s Neue dich erkennen? mußt dich fragen,
Was leb’ ich noch? was bin ich? und was war
Vor dieſer Zeit mit mir? — Ein König einſt,
Ulmon mein Name; Orplid hieß die Inſel;
Wohl, wohl, mein Geiſt, das haſt du ſchlau behalten;
Und doch mißtrau’ ich dir; Ulmon — Orplid —
[165] Ich kenne dieſe Worte kaum, ich ſtaune
Dem Klange dieſer Worte — Unergründlich
Klafft’s dahinab — O wehe, ſchwindle nicht!
Ein Fürſt war ich? So ſey getroſt und glaub’ es.
Die edle Kraft der Rückerinnerung
Ermattete nur in dem tiefen Sand
Des langen Weges, den ich hab’ durchmeſſen;
Kaum daß manchmal durch ſelt’ne Wolkenriſſe
Ein flücht’ges Blitzen mir den alten Schauplatz
Verſunk’ner Tage wunderſam erleuchtet.
Dann ſeh’ ich auf dem Throne einen Mann
Von meinem Anſehn, doch er iſt mir fremd,
Ein glänzend Weib bei ihm, es iſt mein Weib.
Halt an, o mein Gedächtniß, halt ein wenig!
Es thut mir wohl, das ſchöne Bild begleitet
Den König durch die Stadt und zu den Schiffen.
Ja, ja, ſo war’s; doch jezt wird wieder Nacht. —
Seltſam! durch dieſe ſchwanken Luftgeſtalten
Winkt ſtets der Thurm von einem alten Schloſſe,
Ganz ſo, wie jener, der ſich wirklich dort
Gen Himmel hebt. — — Vielleicht iſt Alles Trug
Und Einbildung und ich bin ſelber Schein.
Horch! auf der Erde feuchtem Bauch gelegen
Arbeitet ſchwer die Nacht der Dämmerung entgegen,
Indeſſen dort, in blauer Luft gezogen,
Die Fäden leicht, kaum hörbar fließen,
Und hin und wieder mit geſtähltem Bogen
Die luſt’gen Sterne gold’ne Pfeile ſchießen.
[166]
Wie ſüß der Nachtwind nun die Wieſe ſtreift,
Und klingend jezt den jungen Hain durchläuft!
Da noch der freche Tag verſtummt,
Hört man der Erdenkräfte flüſterndes Gedränge,
Das aufwärts in die zärtlichen Geſänge
Der reingeſtimmten Lüfte ſummt.
Vernehm’ ich doch die wunderbarſten Stimmen
Vom lauen Wind wollüſtig hingeſchleift,
Indeß mit ungewiſſem Licht geſtreift
Der Himmel ſelber ſcheinet hinzuſchwimmen.
Wie ein Gewebe zuckt die Luft manchmal,
Durchſichtiger und heller aufzuwehen,
Dazwiſchen hört man weiche Töne geheu
Von ſel’gen Elfen, die im blauen Saal
Zum Sphärenklang,
Und fleißig mit Geſang,
Silberne Spindeln hin und wieder drehen.
O holde Nacht, du gehſt mit leiſem Tritt
Auf ſchwarzem Sammt, der nur am Tage grünet,
Und luftig ſchwirrender Muſik bedienet
Sich nun dein Fuß zum leichten Schritt,
[167] Womit du Stund’ um Stunde miſſeſt,
Dich lieblich in dir ſelbſt vergiſſeſt —
Du ſchwärmſt, es ſchwärmt der Schöpfung Seele mit!
ſüchtig nach dem Könige gerichtet. Er fährt fort, mit
ſich ſelbſt zu reden.)
Im Schoos der Erd’, im Hain und auf der Flur
Wie wühlt es jetzo rings in der Natur
Von nimmerſatter Kräfte Gährung!
Und welche Ruhe doch, und welch’ ein Wohlbedacht!
Dadurch in unſrer eignen Bruſt erwacht
Ein gleiches Widerſpiel von Fülle und Entbehrung.
In meiner Bruſt, die kämpft und ruht,
Welch’ eine Ebbe, welche Fluth!
Almiſſa — —! Wie? Wer flüſtert mir den Namen,
Den langvergeſſ’nen, zu? Hieß nicht mein Weib
Almiſſa? Warum kommt mir’s jezt in Sinn?
Die heil’ge Nacht, gebückt auf ihre Harfe,
Stieß träumend mit dem Finger an die Saiten,
Da gab es dieſen Ton. Vielleicht genoß ich
In ſolcher Stunde einſt der Liebe Glück — —
reilen, die ſich ihm liebevoll genähert hat.)
Ha! bin ich noch hier? Stehſt du immer da?
So tief verſank ich in die ſtummen Thäler,
Die mir Erinn’rung grub in mein Gehirn,
Daß mir jezt iſt, ich ſäh’ zum erſten Mal
Dich, die verhaßte Zeugin meiner Qual.
O warf ein Gott mich aus der Menſchheit Schranken,
[168] Damit mich deine fluchenswerthe Gunſt
Gefeſſelt hält in ſeligem Erkranken,
Mich ſättigend mit ſchwülem Zauberdunſt,
Mir zeigend aller Liebesreize Kunſt,
Indeß du dich in ſtillem Gram verzehrſt
Um den Genuß, den du dir ſelbſt verwehrſt?
Denn dieſer Leib, trotz deinen Mitteln allen,
Iſt noch dem Blut, das ihn gezeugt, verfallen;
Umſonſt, daß ich den deinen an mich drücke,
Vergebens dieſe durſtig ſchöne Bruſt,
So bleiben unſre Küſſe, unſre Blicke
Fruchtloſe Boten unbegränzter Luſt!
Weh! muß ich eitle Liebesklage heucheln,
Mir Mitleid und Erlöſung zu erſchmeicheln? —
Darum, unſterblich Weib, ich bitte ſehr,
Verkenne dich und mich nicht länger mehr!
Verbanne mich aus deinem Angeſicht,
So endigſt du dieß jammervolle Schwanken,
Mein unwerth Bildniß trage länger nicht
Im goldnen Netze liebender Gedanken!
Ganz recht! was ungleich iſt, wer kann es paaren?
Wann wäre Hochzeit zwiſchen Hund und Katze?
Und doch, ſie ſind ſich gleich bis auf die Tatze.
Wie ſoll, obwohl er Floſſen hat, der Pfeil
Alsbald, dem Fiſche gleich, den See befahren?
Hat ja ein edes Ding ſein zugemeſſen Theil;
[169] Doch weiß ich nichts, das wie des Menſchen Mund
So viel verſchied’ne Dienſte je beſtund:
Ei, der kann Alles trennen und vereinen,
Kann eſſen, küſſen, lachen oder weinen,
Nicht ſelten ſpricht er, wenn er küſſen ſoll;
Muß aber einmal doch geſprochen ſeyn,
So iſt es Wahrheit, ſollt’ ich meinen,
Schön Dank! da iſt er aller Lügen voll.
Denn ſieh, mit welcher Stirn’ wirfſt du mir ein,
Wir glichen uns nur halb, und nur zum Schein?
Kann der von Bitter ſagen oder Süß,
Den ich den Rand noch nicht des Bechers koſten ließ?
Still, ſtill! ich will nichts hören, nicht ein Wort!
So wenig lohnt es ſich mit dir zu rechten,
Als wollt’ ich einem Bären Zöpfe flechten.
Thu’, was du magſt. Geh’, trolle dich nur fort!
Ich bin des Schnickeſchnackens müde.
Iſt es dein Ernſt?
Ernſt? o behüte!
Jezt überfällt mich erſt die wahre Luſt,
Dir zum Verdruß dich recht zu lieben.
Komm, laß uns tanzen! Komm, mein Freund, du mußt!
Wie haſſ’ ich ſie! und doch, wie ſchön iſt ſie!
[170] Hinweg! mir wird auf Einmal angſt und bange
Bei dieſer kleinen golden-grünen Schlange.
Von ihren rothen Lippen träuft
Ein Lächeln, wie drei Tropfen ſüßes Gift,
Das in dem Kuß mit halbem Tode trifft.
Ha! wie ſie Kreiſe zieht, Anmuth auf Anmuth häuft!
Doch ſtößt’s mich ab von ihr, ich weiß nicht wie.
Horch!
Die Kinder kommen; welch’ Geſchrei!
Fünfte Scene.
Was habt ihr denn? was iſt geſchehn? ſprich,
Malwy! Talpe, oder du!
Ach Schweſter!
Nun! Der Athem ſteht euch ſtill. Wo habt ihr
Silpelitt?
Hie bin ich.
Als wir Silpelitt ſuchten, konnten wir ſie gar
nicht finden. Wir rannten wohl neun Elfenmeilen,
[171] darfſt glauben, und ſtöberten in dem Schilf herum, wo
ſie zu ſitzen pflegt, wenn ſie ſich verlaufen hat.
Auf Einmal an dem Fels, wo das Gras aus den mau-
ligen Löchern wächst, ſteht Talpe ſtill und ſagt: hört
ihr nicht Silpelitts Stimme, ſie redet mit Jemand und
lacht. Da löſchten wir die Laternlein aus und liefen
zu. Ach du mein! Thereile, da iſt ein großer,
grauſam ſtarker Mann geweſen, dem ſaß Silpclitt
auf dem Stiefel und ließ ſich ſchaukeln. Er lachte
auch dazu, aber mit einem ſo tückiſchen Geſicht —
Schweſter, ich weiß wohl, das iſt der Rieſe, er
heißt der ſichere Mann.
Ueber das verwegene, ungerathene Kind! Warte
nur, du böſes, duckmäuſeriges Ding! Weißt du nicht,
daß dieſes Ungeheuer die Kinder alle umbringt?
Bewahre, er ſpielt nur mit ihnen, er knetet ſie
unter ſeiner Sohle auf dem Boden herum und lacht
und grunzt ſo artig dabei und ſchmunzelt ſo gütig.
Mir tödtete er einſt den ſchönſten Elfen durch
dieſe heilloſe Beſchäftigung. Er iſt ein wahrer Sumpf
an langer Weile.
Gelt? ich und du wir haben ihn einmal belauſcht,
[172] wie er bis über die Bruſt im Brulla-Sumpf geſtanden,
ſammt den Kleidern; da ſang er ſo laut und brummelte
dazwiſchen: ich bin eine Waſſerorgel, ich bin die aller-
ſchönſte Waſſernachtigall!
Haſt du dieſes Ungethüm ſchon öfter beſucht,
Silpelitt? Ich will nicht hoffen.
Er thut mir nichts zu Leide.
Wer iſt das Kind? Es gleicht den Andern nicht.
Mit ſonderbarem Anſtand trägt es ſich,
Und ernſthaft iſt ſein Blick. Nein, dieſes iſt
Kein Feenkind, vielleicht die Fürſtin hat
Es grauſam aus der Wiege einſt entführt.
Trallirra — a — aa — aü — ü —
Pfuldararaddada — —! —!
Die Anweſenden erſchrecken heftig. Die Kinder hängen
ſich ſchreiend an Thereile.)
Seyd ſtille! ſeyd doch ruhig! Er kommt gar nicht
daher, es geht gar nicht auf uns.
Es iſt
die Stimme deſſen, von dem wir vorhin ſprachen.
Horch!
Horcht! ..
[173]
Dieß iſt der Wiederhall davon; das Echo, das
durch die Krümmen des Bergs herumläuft.
Habt gute Ruhe, Kinder. Jezt muß er ſchon um
die Ecke des Gebirgs gewendet haben.
Nun auf und fort ihr närriſchen Dinger alle!
Und ſammelt tauſend wilde Roſen ein;
In jeder ſoll mit grünem Dämmerſchein
Ein Glühwurm, wie ein Licht, gebettet ſeyn,
Und damit ſchmückt, noch eh’ der Morgen wach,
Mein unterirdiſch Schlafgemach
Im kühlen Bergkryſtalle!
der an den König.)
Du biſt heut nicht gelaunt zum Tanz,
Den alten Trotzkopf ſeh’ ich wieder ganz.
Was möcht’ ich doch nicht Alles thun,
Dir nur die kleinſte Freude zu bereiten!
Laſſ’ uns in ſanfter Wechſelrede ruh’n,
Zwei Kähnen gleich, die aneinander gleiten.
Sieh, wie die Weide ihre grünen Locken
Tief in die feuchte Nacht der Waſſer hängt,
Indeſſen dort der erſte Morgenwind
Ihr ihre keuſchen Blüthenflocken
Muthwillig zu entführen ſchon beginnt.
Und ſiehſt du nicht dieß hohe Feenkind,
[174] Vom Athemzug der lauen Nacht beglückt,
Nicht ahnend, welche ſchmeichelnde Gefahr
Auf ihre Tugend nah’ und näher rückt?
Du biſt ein Schalk! Dieß iſt nicht wahr!
Geſtatte wenigſtens, daß wir nun ſcheiden,
Und, möcht’ es ſeyn, für immerdar;
Ich ſehe keine Rettung ſonſt uns Beiden,
Wenn nicht dein Herz, verbot’ner Liebe voll,
So wie das meine, ganz verzweifeln ſoll.
O Gimpel! ich muß lachen über dich.
Leb’ wohl für heute. Morgen ſiehſt du mich.
Sechste Scene.
O Lügner, Lügner! ſchau’ mir in’s Geſicht!
Sprich frei und frech, du liebſt Thereile nicht!
Dieß nur zu denken zitterte mein Herz,
Und hinterlegte ſich’s mit kümmerlichem Scherz.
Nun ſteh mir, Rache, bei …! Doch dieß iſt ſo:
Von nun an wird Thereile nimmer froh.
Hätt’ ich den Hunger eines Tigers nur,
Dein falſches Blut auf Einmal auszuſaugen!
Ha, triumphire nur, du Scheuſal der Natur,
[175] Ich ſah es wohl, — allein mit blinden Augen.
Doch, bleibt mir nicht die Macht, ihn feſt zu halten?
Iſt er gefeſſelt nicht durch ein geheimes Wort?
Ich bann’ ihn jeden Augenblick,
Wenn ich nur will, zu mir zurück.
So fliehe denn, ja ſtiehl dich immer fort,
Ich martre dich in tauſend Spuckgeſtalten!
Oft in der Miene ſeines Angeſichts
Ahnt’ ich ſchon halb mein jetziges Verderben;
Ich hatte Wunden, doch ſie thaten nichts:
Da ich ſie ſehe, muß ich daran ſterben!
Siebente Scene.
Bürger ſitzen an den Tiſchen umher, trinkend und ſchwatzend.
Hört, Kollmer! Ihr habt ja neulich wieder
nach den beiden Lumpenhunden gefragt, von denen ich
Euch ſagte, daß ſie gern die alte Chronik an Euch los
wären, die kein Menſch leſen kann. Wenn Ihr noch
Luſt habt, ſo mögt Ihr dazu thun, ſie wollen’s auf’s
Schloß dem gelehrten Herrn bringen, dem Harry;
der iſt Euch wie beſeſſen auf dergleichen Schnurrpfeife-
reien aus.
Seyd außer Sorgen, ich hab’ den Schatz ſchon
in Händen und wir ſind bereits halb Handels einig.
Dieſen Abend wird es vollends abgemacht.
[176]
Wenn ich Euch rathen darf, laßt Euch nicht zu
tief mit den ſaubern Kameraden ein; Ihr habt ſie
ſonſt immer auf’m Hals.
Mir denkt’s kaum, daß ich ſie Ein Mal ſah.
O ſie liegen ganze Nachmittage im lieben Son-
nenſchein auf’m Markt, haben Maulaffen feil, ſchlagen
Fliegen und Bremſen todt und erdenken allerlei Pfiffe,
wie ſie mit Stehlen und Betrügen ihr täglich Brod
gewinnen. Es ſind die einzigen Taugenichtſe, die wir
auf der Inſel haben; Schmach genug, daß man ſie
nur duldet. Wenn’s nicht den Anſchein hätte, als ob
die Götter ſelbſt ſie aus irgend einer ſpaßhaften Grille
ordentlich durch ein Wunder an unſern Strand gewor-
fen, ſo ſollte man ſie lange erſäuft haben. Nehmt
nur einmal: Unſere Kolonie beſteht ſchon ſechszig Jahre
hier, ohne daß außer den Störchen und Wachteln auch
nur Ein lebend Weſen aus einem fremden Welttheil
ſich über’s Meer hieher verirrt hätte. Die ganze
übrige Menſchheit iſt, ſo zu ſagen, eine Fabel für unſer
einen; wenn wir’s von unſern Vätern her nicht wüß-
ten, wir glaubten kaum, daß es ſonſt noch Kreaturen
gäbe, die uns gleichen. Da muß nun von Ungefähr
einem tollen Nordwind einfallen, die paar Tröpfe, den
Unrath fremder Völker, an dieſe Küſten zn ſchmeißen.
Iſt’s nicht unerhört?
[177]
Wohl, wohl! Ich weiß noch als wär’s von ge-
ſtern, wie eines Morgens ein Johlen und Zuſammen-
rennen war, es ſeyen Landsleute da aus Deutſchland.
All das Fragen und Verwundern hätt’ kaum ärger ſeyn
können, wenn einer warm vom Mond gefallen wär’.
Die armen Teufel ſtanden keuchend und ſchwitzend vor
der gaffenden Menge, ſie hielten uns für Menſchen-
freſſer, die zufällig auch deutſch redeten. Mit Noth
bracht’ man aus ihnen heraus, wie ſie mit einer Aus-
rüſtung von Dings da, von — wie heißt das große
Land? nun, von Amerika aus, beinah zu Grund ge-
gangen, wie ſie, auf Booten weiter und weiter getrie-
ben, endlich von den Andern verloren, ſich noch zulezt
auf einigen Planken hieher gerettet ſahen.
Hätt’ doch ein Wallfiſch ſie gefreſſen! Der Eine
iſt ohnehin ein Häring, der winddürre lange Fleder-
wiſch, der ſich immer für einen geweſenen Informator
ausgibt, oder wie er ſagt, Profeſſer. — Der Henker
behalt’ alle die ausländiſchen Wörter, welche die Kerls
mitbrachten. Ein Barbier mag er geweſen ſeyn.
Sein Geſicht iſt wie Seife und er blinzelt immer aus
triefigen Augen.
Ja, und er trägt Jahr aus Jahr ein ein knappes
Fräcklein aus Nanking, wie er’s nennt, und grasgrüne
Beinkleider, die ihm nicht bis an die Knöchel reichen,
12
[178] aber er thut euch doch ſo zierlich und ſchnicklich, wie
von Zucker und bläst ſich jedes Stäubchen vom Aermel
weg.
Ich hab’ ihn nie geſehen, wo er nicht ängſtliche,
halbfreundliche Geſichter gemacht hätte, wie wenn er
bei jedem Athemzug beſorgte, daß ihm ſein Freund,
der Buchdrucker, Eins hinter’s Ohr ſchlüge. Ich
war Zeuge, als ihm dieſer von Hinten eine Tabaks-
pfcife mit dem Saft auf ſeine Häupten ausleerte, um
einen Anlaß zu Händeln zu haben.
Richtig, der mit dem rothen ſchwammigten Aus-
ſehen, das iſt erſt der rechte; ſo keinen Säufer ſah ich
in meinem Leben. Sein Verſtand iſt ganz verſchlammt,
er redt’ langſam und gebrochen, auf zehn Schritte riecht
er nach Branntwein.
So haltet nur die Naſe zu, denn dort ſeh ich beide
edle Männer an der Thür.
Sie werden mich ſuchen wegen des Kaufs. Auf
Wiederſehn, ihr Herren!
Was will denn der Kollmer mit dem unnützen
Zeug, dem Buch, oder was es iſt?
[179]
Er ſagt, er lege vielleicht eine Sammlung an
von dergleichen alten Stücken.
Ein ſonderbarer Kauz. Es heißt auch, er gehe
mit Geſpenſtern um.
Man red’t nicht gern davon. Was geht’s mich an!
Achte Scene.
Den Fund hab ich gethan, nicht du! So iſt die
Sache. Du haſt keinen Theil an der Sache, miſerable
Kreatur! Ich hab’ die Rarität entdeckt, ich hab’ im
alten Keller im Schloß, hab’ ich das eiſerne Kiſtel —
alle Wetter! hab’ ich’s nicht aufgebrochen? Willſt
gleich mein Stemmeiſen an Kopf, Nickel verfluchter?
Wieder einmal geſchlafen.
Ah! — Der Musje Kollmer wird jezt bald da
ſeyn. Muß ihn der Teufel juſt herführen, wenn ich
beſoffen bin? Nimm’ dich zuſammen, Buchdrucker, halt
die Augen offen, lieber Drucker. — Und der Tropf,
der Wispel muß weg, wenn mein Beſuch kommt, er
ſchenirt mich nur; der Affe würde thun, als gehörte
der Profit ihm und die Ehre.
[180]
Bruder, geſchwind! Wir wollen aufräumen, wir
wollen uns ankleiden. Der Herr wird gleich kommen,
er will Bunkt Ein Uhr kommen. Jezt haben wir
gerade Zwölf.
Ja, man muß ſich ein wenig einrichten. Ich will
mich etwas putzen. Wenn ich mich heut mit lauem
Waſſer waſche, kann er zufrieden ſeyn; er wird es zu
rühmen wiſſen.
Es kömmt darauf an, daß ich in größter Eile
meine Toilette rangire oder embellire.
Wo wirſt du dich indeſſen aufhalten, während mich
der Fremde ſpricht?
Ich bleibe, Guter, ich bleibe. Wo iſt das Zähne-
bürſtchen, das Zäh — — die Schuhbürſte wollt’ ich
ſagen. — Aber meine Zähne ſind ebenfalls häßlich und
theilweiſe ausgefallen — Ei, was thut’s aber? ich be-
komme dadurch eine ſehr weiche Ausſprache, eine Dik-
tion, die mich beſonders bei den Damen ſehr empfehlen
muß, denn, verſtehſt du, weil der Buchſtabe r in ſei-
ner ganzen Rohheit gar nicht ohne die Zähne ausge-
ſprochen werden kann, ſo darf ich von meinen ausge-
[181] fallenen Zähnen füglich ſagen, es ſeyen lauter elidirte
Erre. Durch dergleichen Eliſionen gewinnt aber eine
Sprache unendlich an ſüßem italieniſchem Charakter.
Aber, mein Gott, dieſes Hemd iſt gar zu ſchmutzig —
Nun!
Wo willſt du denn hingehen, ſo lang der Herr
mich abfertigt, mich honorirt?
— und meine Kamaſchen ebenfalls etwas abgetragen.
Wie? Ich bleibe, ich bleibe, Beſter.
Vielleicht machſt du in dieſer Zeit einen Gang um
die Stadt, Bruder? Geh, führ’ dich ab!
Freilich, wir ſollten ihn eher an einem dritten
Ort empfangen, du haſt Recht. Es is doch gar
zu unreinlich in unſerm Zimmerchen, in unſerm klei-
nen Apartementchen. Eine unſäuberliche Manſarde
präſentirt ſich nicht gut, — malpropre.
Er muß fort — er muß fort. Wie er ſich
puzt! Ich würde wie ein Schwein ausſehen neben
ihm; neben ſeiner geläufigen Zunge müßte ich wie
ein einfältiger unwiſſender Weinzapf da ſtehn. Ich
kann es nicht ertragen, daß er zuſehen ſoll, wie ich
meinen Profit einſtreiche, er würde gleich auch ſeine
[182] knöcherne Tatze dazwiſchen ſtrecken, mein Seel, er
wär’ im Stand und bedankte ſich mit allerhand Aus-
drücken für die Bezahlung.
Was haſt du denn
in dem großen Hafen da?
Es is nur ein Schmalznäpfchen, Bruder. Ich
habe das Näpfchen unter Wegs — ä — ä — ent-
lehnt, um meine Haare ein wenig zu befetten, weil
wir keine Pomade haben für unſre beiderſeitigen Ka-
pillen. Es is nur — e — nemlich, daß man nicht
ohne alle Elegançe erſcheint vor dem Manne; mein
Gott!
Das iſcht ja aber eine wahre Schweinerei!
Nämlich — ä — nein, es is —
Aber er wird ſich doch gut damit herausſtaffiren,
er wird für einen Prinzen neben mir gelten. Herr
Gott! was ſich dieſe Spitzmaus einreibt! was ſich
dieſer unſcheinbare weiße Ferkel auf Ein Mal her-
ausſtriegelt!
und ſtreicht ſich’s auf. Es ſtehen Beide um den Tiſch;
in der Mitte der Topf.)
Hör’ mal, Bruder, es ſoll gar ein kurioſer Mann
ſeyn, auf Ehre; ganz eichen, welcher ſeine Liebhaberei
[183] an abenteuerlichen, ſeltſamen, dunkeln Redensarten
und Ideen hat. Ich denke recht in ihn einzugehen,
recht mit ihm zu conſerviren. Ich freue mich ſehr,
wahrhaftig.
Nein, nein, nein! bitt’ dich! juſt das Gegentheil!
Je weniger man red’t, je ſtummer und verſtockter
man iſt, deſto mehr nimmt man an Achtung bei dieſem
eigenen, allerdings raren Manne zu.
Gottlob, daß mich mein beſeligter Vater in der
Erziehung nicht vernachläſſigte. Ich werde ihm z. B.
von dem eigentlichen ſinnigen Weſen der unterirdi-
ſchen Quellen oder Fontainen, von den Kryſtallen
unterhalten.
So wahr ich lebe, Kryſtallknöpfe trägt er wirk-
lich an ſeinem Rock. Ich werde ihm auch von Ko-
rallen und Steinen allerhand ſagen.
Seit meiner berühmten Seefahrt hab’ ich gewiß
allen Anſpruch auf Diſtinktion; ich werde mich erbie-
ten, ein praktiſches Kollegium über Nautik und hö-
here Schwimmkunſt vorzutragen; ich werde dem gu-
ten Kollmer überhaupt dieſes und jenes Phantom
communiziren. Und was das ſeltene Buch betrifft,
ſo überlaſſ’ nur mir, zu handeln. Man muß etwa
[184] folgendergeſtalt auftreten: Mein Herr! Es is’n
Band, der, wie er einmal vor uns liegt, ohne Eigen-
dünkel zu reden, in der That ein antiquariſches In-
tereſſe, eine antiquariſche Geſtalt annimmt. Wenn
Sie zu dem bereits feſtgeſezten Kaufpreis, nemlich
zu den drei Butten Mehl, dem Fäßchen Honig und
dem goldenen Kettlein, etwa noch eine Kleinigkeit,
eine Hemdkrauſe, eine Buſennadel oder dergleichen
— ä — hinzufügen wollten, ſo möcht’ es gehen.
Nun macht er entweder Basta oder macht nicht Basta;
ich werde jedoch auf jeden Fall delikat genug ſeyn,
um ſchnell abzubrechen; es wäre gemein, werd’ ich
ſagen, zu wuchern um etwas ganz Triwiales; tranſi-
liren wir auf andere Materie. Ich habe oft eigene
Gedanken und Ideen, mein Herr, auch weiß ich, daß
Sie nicht minder Liebhaber ſind. So z. B. fällt
mir hier ein, es wäre eichen, wenn ſich ä — wart’,
ich hab’ es ſogleich — Ja, nun eben ſtößt mir’s auf,
ich hab’ es: — nemlich in der Natur, wie ſie einmal
vor uns liegt, ſcheint mir Alles belebt, rein Alles,
obgleich in ſcheinbarer Ruhe ſchlummernd und fanta-
tiſirend; ſo par exemple, wenn ſich einmal die Stra-
ßenſteine zu einem Aufruhr gegen die ſtolzen Gebäude
verſchwüren, ſich zuſammenrotteten, die Häuſer ſtürz-
ten, um ſelbſt Häuſer zu bilden? Wie? heißt das
nicht eine geniale Fantaisie? Comment?
Eſel! So? Wenn ſich die Finger meiner Hand
[185] auch zuſammenrottiren und machen eine Fauſt und
ſchlagen dir deinen Schafskopf entzwei? Comment?
Ae hä hä hä! ja das wäre meine Idee etwas
zu weit ausgeführt, Beſter. — Aber was treibſt du —?
Ciel! Deine Haare werden ja ſo ſtarr wie ein Seil!
Dein Haupt iſt ja wie eine Blechhaube! Du leerteſt
ja die Hälfte des Topfes aus!
Alle Milliarden Hagel Donnerwetter! Warum
ſagſt du’s nicht gleich! du hundsföttiſcher neidiſcher
Blitz!
Himmel! wie konnt’ ich es früher äußern, da ich
es in dieſem Moment erſt gewahre? ſo wahr ich lebe,
Bruder — Himmel! du beſchmutzeſt ja mein Fräckchen
völlig, — ſchlag’ auf die Wange, lieber auf die Wange!
um deiner Freundſchaft willen —
Daß dich das hölliſche Pech! Du Krötenlaich! Du
Stinkthier! Schwerenoth! die Brüh’ läuft mir den
Hals ’nunter! Ein’ Kamm her! Ein’ Kamm!
So. So. Es is ja Alles wieder gut und hübſch —
Ich habe dich nie ſo glänzend geſehen, auf Ehre. So.
Jezt ſind wir ja fix und fertig.
[186] chen und hüpft freudig empor.)
Ach alle Engel! Ich ſehe aus
wie gemalt.
Sieh her, du hätteſt eben freilich auch ſolche kleine
Löckchen zwirbeln ſollen — Schau — ich hab’ hier
mehrere Dutzende auf der Stirn; allein du ſiehſt, wie
geſagt, nicht ſo übel aus, gar nicht ſo übel aus —
Horch! Es klopft doch nicht?
Laſſ’ es klopfen!
Schön geſagt! das erinnert treffend an Don Gio-
vanni, wo der Geiſt auftreten muß — Eine treffliche Oper.
Da haſt du einen Schiowanni und eine Ooper.
Und jezt gehſt du auf der Stell, weil mich Jemand
ſprechen will, weil ich einen Werth von drei Louisd’or
einnehmen will — Geh’ ſpazieren!
Er kömmt! — Bruder — Was ſtößt mir auf —
wir ſind noch nicht balbirt!
Laſſ’ dich vom Henker einſeifen, Chineſe!
Soll ich durch den Spalt wispern und ſagen: er
ſoll in einer halben Stunde wieder kommen; wir ſeyen
[187] zwar ſchon raſirt, aber wir hätten — ä noch einen
Brief zu ſchreiben?
Dummer Hund! — Herein!
Drunten hat ein Knecht von Elne einige Sachen
gebracht, und einen Gruß von Herrn Kollmer.
Mein! Will denn der Herr nicht ſelbſt kommen?
Scheint nicht.
Ich bin des Todes! Mich ſo um Nichts und wie-
der Nichts präparirt — mich bei zwei Stunden —
o himmelſchreiend! Denke nur, gutes Kind, ich hatte
ihm die wichtigſten Eröffnungen zu machen!
Mein Vater, der Wirth, läßt die Herrn erſuchen,
Sie möchten bei dieſer Gelegenheit auch an die halb-
jährige Rechnung denken.
Ja Mädchen, ich wollte Herrn Kollmern ſogar
den Plan zur Grundlegung einer gelehrten Geſellſchaft
mittheilen. So was wie die Academie française.
Der Vater läßt fragen, ob er Ihre Schuldigkeit
[188] nicht lieber gleich von den bei uns niedergelegten Sachen
abziehen ſoll, die der Knecht gebracht hat.
So manche Erfindungen der gebildeten Europa
dachte ich auch auf unſerer armen Inſel einzuführen!
z. B. die Buchdruckerkunſt, welch’ ein herrlicher Wir-
kungskreis gleich für dich, mein Bruder! — ſodann
die Fabrikation des Schießpulvers — das Münzweſen —
ein Nationaltheater — ein hôtel d’amour — ich wollte
der Schöpfer eines neuen Paris werden.
Was ſag’ ich denn meinem Vater als Antwort?
Und dieſer Monſieur Kollmer wäre offenbar der
einzige Mann, den ich mir aſſoçiiren könnte.
Ade, ihr Herrn!
Bleibe ſie ein wenig bei uns, lieber Schatz. Ver-
treibe ſie uns ein wenig die Zeit!
Ja, laſſen Sie uns einiger Zärtlichkeit fröhnen!
Jezt muß eine ganz beſondere Maaßregel ergriffen
werden, und ergib dich nur gutwillig drein.
[189]
Was ſoll dieſer Strick, Bruder?
Bei meiner armen Seele, und ſo wahr ich ſelig
werden will, ich drehe dir den Kragen um, wenn du
nicht Alles ſtillſchweigend mit dir anfangen läßt, was
ich mit dieſem Strick vorhabe.
Grand Dieu! o Himmel! nur ſchone mein bischen
Leben, nur jugulire mich nicht! bedenke, was ein Bru-
dermord beſagt!
Schweig’, ſag’ ich!
Pfoſten und knebelt ihn feſt.)
So. Ich will nur nicht haben,
daß du bei’m Auspacken meines Profits die Naſe überall
voraus habeſt, Racker! Adio indeſſen.
der langen Weile an, mit dem Saft ſeines Mundes
künſtliche Blaſen nach Art der Seifenblaſen zu bilden.
Der Buchdrucker ſieht ihm eine Zeitlang durch’s
Schlüſſelloch zu. Endlich ſchläft Wispel ein.)
Neunte Scene.
Waldiges Thal. Mummelſee. Im Hintergrunde den Berg herab gegen
den See ſchwebt ein Leichenzug von beweglichen Nebelgeſtalten. Vorne
auf einem Hügel der König, ſtarr nach dem Zuge blickend. Auf
der andern Seite, unten, den König nicht bemerkend, zwei Feen-
kinder.
[190]
Vom Berge, was kommt dort um Mitternacht ſpät
Mit Fackeln ſo prächtig herunter?
Ob das wohl zum Tanze, zum Feſte noch geht?
Mir klingen die Lieder ſo munter.
Ach nein!
So ſage, was mag es wohl ſeyn?
Das was du da ſieheſt iſt Todtengeleit,
Und was du da höreſt ſind Klagen;
Gewiß einem Könige gilt es zu Leid,
Doch Geiſter nur ſind’s, die ihn tragen.
Ach wohl!
Sie ſingen ſo traurig und hohl.
Sie ſchweben hernieder in’s Mummelſeethal,
Sie haben den See ſchon betreten,
Sie rühren und netzen den Fuß nicht einmal,
Sie ſchwirren in leiſen Gebeten;
O ſchau!
Am Sarge die glänzende Frau!
Nun öffnet der See das grünſpiegelnde Thor,
Gib Acht, nun tauchen ſie nieder!
Es ſchwankt eine lebende Treppe hervor
Und — drunten ſchon ſummen die Lieder.
Hörſt du?
Sie ſingen ihn unten zur Ruh.
Die Waſſer, wie lieblich ſie brennen und glüh’n!
Sie ſpielen in grünendem Feuer,
Es geiſten die Nebel am Ufer dahin,
Zum Meere verzieht ſich der Weiher.
Nur ſtill,
Ob dort ſich nichts rühren will? —
[191]
Es zuckt in der Mitte! O Himmel, ach hilf!
Ich glaube, ſie nahen, ſie kommen!
Es orgelt im Rohr und es klirret im Schilf;
Nur hurtig, die Flucht nur genommen!
Davon!
Sie wittern, ſie haſchen mich ſchon!
hinan. Während er verſchwindet, ruft der König mit
ausgeſtreckten Armen nach.)
Halt! Haltet! Steht! Hier iſt der König Ulmon!
Ihr habt den leeren Sarg verſenkt, o kommt!
Ich, der ihn füllen ſollte, bin noch hier.
Almiſſa, Königin! hier iſt dein Gatte!
Hörſt du nicht meine Stimme? kennſt ſie nimmer?
Nein, kennſt ſie nimmer. Weh, o weh mir, weh!
Könnt’ ich zur Leiche werden, ſie vergönnten
Mir auch ſo kühles Grab. Leb’ ich denn noch?
Wach’ ich denn ſtets?
Mir däucht, ich lag in dem kryſtallnen Sarge,
Mein Weib, die göttliche Geſtalt, ſie beugte
Sich über mich mit Lächeln; wohl erkannt’ ich
Sie wieder und ihr liebes Angeſicht.
Fluch! wenn ſie einen Anderen begraben,
Wenn einem Fremden ſie ſo freundlich that!
Wie? ſo ſtarb Lieb’ und Treue vor mir hin?
Freilich, zu lange ſäumt’ ich hier im Leben —
O Weyla, hilf! laß ſchnell den Tod mich haben!
Auf kurze Weile nur führ’ mich hinab
In’s Reich der Abgeſchied’nen, daß ich eilig
[192] Mein Weib befragen mag, ob ſie mir Treue
Bewahrt, bis daß ich komme.
Und wenn dem nicht ſo wäre, wenn ich ganz
Vergeſſen wäre bei den ſel’gen Todten?
O Weyla hilf! Laß dieſes Aergſte mich
Nicht ſchauen, dieß nur nicht! Denn eher fleh’ ich,
Wenn deine Gottheit keinen Ausweg weiß,
Laß lieber hier mich an der ird’ſchen Sonne,
Die traur’gen Tage durch die Ewigkeit
Fortſpinnend, leben, fern gebannt von Jenen,
Die meine königliche Seele ſo
Gekränkt. O ſchändlich, ſchändlich! unbegreiflich!
Almiſſa, du mein Kind? Sollt’ ich das glauben?
Das Nachtgeſichte, das ich vorhin ſah,
Ich wag’ es nun zu deuten — Ja, mir ſagt’s
Der tiefe Geiſt.
Die Götter zeigten wohlgeſinnt und gütig
Im Schattenbilde mir das bald’ge Ende
All’ meiner Noth. Es war das holde Vorſpiel
Des Todes, der mir zubereitet iſt.
Vor Freude ſtürmt mein Herz!
Und ſchwärmt ſchon an des Scees Ufern hin
Wo endlich mir die dunkle Blume duftet.
O, eilet, Götter, jezt mit mir! Laßt bald
Mich euren Kuß empfangen! ſey es nun
Im Wetterſtrahl, der ſchlängelnd mich verzehre,
Sey es im Windhauch, der die ſtillen Gräſer
[193] Vorüberwandelnd neigt und weht die Seele
Ulmons dahin.
Zehnte Scene.
In der Nähe des Meeres.
Welch’ Wunder wird geſchehen durch dieß Buch!
Ja, welch’ ein Wunder hat ſich ſchon ereignet
In meiner Gegenwart! Denn als ich ihm,
Dem König, jene Blätter übergab,
Warf er ſein Haupt empor mit ſolchem Blick,
Als ſollt’ es kommen, daß vom Himmel ein Stern
Herniederſchießend rückwärts würde prallen
Vor’m Sterne dieſes ſiegestrunk’nen Auges.
Dann, alsbald meiner Gegenwart vergeſſend,
Lief er mit ſchnellem Schritt davon. Gewiß
Iſt jenes dunkle Buch die Weiſſagung
Und Löſung ſeines Lebens, es enthüllet
Das Räthſel der Befreiung — Horch,
Es donnert! Horch! Die Inſel zittert rings,
Sie hüpfet wie ein neugebornes Kind
In den Windeln des Meers!
Neugierige Delphine fahren rauſchend
Am Strand herauf, zu Schaaren kommen ſie!
Ha! welch ein lieblich Sommerungewitter
Flammt roſenhell in kühlungsvoller Luft
13
[194] Und färbt dieß grüne Eiland morgenfriſch!
Ihr Götter, was iſt dieß? Mich wundert’ nicht,
Wenn nun, am hellen Tag’, aus ihren Gräbern
Geſpenſter ſtiegen, wenn um alle Ufer
In grauen Wolken ſich die Vorzeit lagerte!
Eilfte Scene.
König tritt herein. Silpelitt ſpringt voraus.
Hier iſt der Baum, o König, den du meinſt,
Den meine Schweſter manche Nacht beſucht;
Das Haupt anlehnend pflegt ſie dann zu ſchlummern.
Von gelber Farbe iſt der glatte Stamm,
Sehr ſchlank erhebt er ſich, und, ſonderbar,
Die ſchwarzen Zweige ſenken ſich zur Erde,
Wie ſchwere Seide anzufühlen. Kind,
Wir ſind am Ziel. Sey mir bedankt, du haſt
Mich mühſam den verſteckten Pfad geleitet,
Die zarten Füße hat der Dorn gerizt,
Doch ſind wir noch zu Ende nicht. Sag’ mir —
Ich will dir Alles ſagen, nichts verſchweigen —
Was haſt du? Warum fängſt du an zu zittern?
Nicht dich zu ängſtigen kam ich hieher.
[195]
Nein, du mußt Alles wiſſen, aber nur
Der Schweſter ſage nichts —
Gewißlich nicht.
Schon ſeit der Zeit, als ich mich kann beſinnen,
War ich Thereilen unterthan, der Fürſtin;
Doch nur bei Nacht (dieß iſt der Feeen Zeit)
War ich gehorſam, gleich den andern Kindern;
Allein am Morgen, wenn ſie ſchlafen gingen,
Band ich die Sohlen wieder heimlich unter,
Nach Elnedorf zu wandern, und im Nebel
Schlüpft’ ich dahin, von Allen unbemerkt.
Dort wohnt ein Mann, heißt Kollmer, dieſer nennt
Mich ſeine Tochter, warum? weiß ich nicht.
Er meint, ich wäre gar kein Feeenkind.
Er iſt gar gütig gegen mich. Bei Tag
Sitz’ ich an ſeinem Tiſch, geh’ aus und ein
Mit andern Hausgenoſſen, ſpiele
Mit Nachbarkindern in dem Hofe, oder
Wenn ich nicht mag, ſo zerren ſie mich her
Und ſchelten mich ein ſtolzes Ding; ey aber
Sie ſind zuweilen auch einfältig gar.
Zur Nachtzeit geh’ ich wieder fort und thue,
Als lief ich nach der obern Kammerthür,
So glaubt der Vater auch, denn droben ſteht
[196] Mein Bettlein, wo ich ſchlafen ſoll. Allein
Ich eile hinten über’n Gartenzaun
Durch Wald und Wieſen flugs zum Schmettenberg,
Damit Thereile meiner nicht entbehre;
Auch hat ſie’s nie gemerkt, doch Ein Mal faſt.
Beſorge nichts; vertraue mir; bald hörſt du weiter.
Dieß iſt die Frucht von einem ſeltnen Bund,
Den vor eilf Jahren eine ſchöne Fee
Mit einem Sterblichen geſchloſſen hat;
Nachher verließ ſie ihn, ja ſie benahm
Ihm das Gedächtniß deſſen, was geſchah,
Vermittelſt einer langen Krankenzeit;
Nur dieſes Kind ſollt’ ihm als wie ein eignes
Lieb werden und vertraut. Ja, ſonder Zweifel
Iſt es der Mann, der, wenn mein Geiſt nicht irrt,
Mich oft beſucht und mir das Buch verſchaffte.
So alſo ward der Vater Silpelitts
Zum erſten Werkzeug meiner Rettung weislich
Erleſen von den Göttern, doch das Kind
Soll noch das Werk vollenden, aber Beide
Erwartet gleicher Lohn. Dieß liebliche Geſchöpf
Wird eine Handlung feierlicher Art
Nach Ordnung dieſes Buchs mit mir begehen,
Und in dem Augenblicke, wo der Zauber
Thereilens von mir weicht durch dieſes Kind’s
[197] Unſchuld’ge Hand, iſt auch das Kind befreit;
Ein ſüß Vergeſſen kommt auf ſeine Sinne,
Und der geliebte Vater wird in ihm
Die eigne Tochter freudevoll umarmen.
Zum erſten Male morgen, Silpelitt,
Wirſt du den Fuß in’s kleine Bettlein ſetzen,
Das noch bis jezt dein reiner Leib nicht hat
Berühren dürfen; dennoch ſollſt du glauben,
Du wärſt es ſo gewohnt, Thereile aber
Wird dir ein fabelhafter Name ſeyn.
— Wo bleibſt du, Mädchen?
Sieh, hier bin ich ſchon.
Ich war den Felſen dort hinangeklettert,
Mein’ Schweſter Morry hat einmal auf ihm
’nen rothen Schuh verloren.
Sey bereit,
Hier rechter Hand die Schlucht hinabzuſteigen.
Dort wirſt du eine Grotte finden —
Wohl.
Ich kenne ſie. Noch geſtern hat der Rieſe,
Der ſtarke Mann, den Felſen weggeſchoben.
Jezt iſt der Eingang frei. Ich ſah ihm zu
Bei ſeiner Arbeit. Herr, die Erde krachte,
Da er den Block umwarf, ihm ſtund der Schweis
[198] Auf ſeiner Stirn’, doch ſang er Trallira!
Und ſagte: dieß wär nur ein Kinderſpiel.
Dann nahm er mich und ſezt’ mich auf den Gipfel;
Ich bat und weint’, er aber ließ mich zappeln,
Bis ich ihm oben ein hübſch Liedchen ſang.
Nun trollt er weg und brummt: ich ſoll dich grüßen,
Wenn du ihn wieder braucheſt, ſollſt’s nur ſagen.
Verzeih, daß ich’s vergaß.
Schon gut; nun höre!
Durch jene ſchmale Oeffnung dringeſt du
Zu einer Höhle, deren Innerſtes
Ein Schießgeräth mit einem Pfeil verwahrt.
Dieß Beides hole mir.
So lehret mich
Das Buch des Schickſals, ſo heißt mich ein Gott.
Dort lehnt ein uralt ſchwer Geſchoß, zeither
Von keines Menſchen Hand berührt, nur heute
Soll dieſer Bogen an das Tageslicht,
Den Pfeil zu ſchleudern in den gift’gen Auswuchs
Reizvoller Liebe, die nach kurzem Schmerz
Zur Heilung ſich erholet. O Thereile,
Ich nehme bittern Abſchied, denn es fährt
Die feige Schneide, die uns trennen ſoll,
Bald rücklings in dein treues Herz; hier ſteht
Der träumeriſche Baum, in deſſen Saft
Du unſer Beider Blut vor wenig Monden
[199] Haſt eingeimpft.
Jezt kreiſet es in ſüßer Gährung noch
Im Innern dieſes Stammes auf und nieder.
Wie ſehr die Nacht auch ſtille ſey, mein Ohr
Beſtrebet ſich vergeblich, zu vernehmen
Den leiſen Takt in dieſem Webeſtuhl
Der Liebe, die mit holden Träumen oft
Dein angelehnet Haupt bethöret hat.
Bald aber rinnet von dem gold’nen Pfeil
Der Liebe Purpur aus des Baumes Adern,
Und alsbald aus der Ferne ſpürt dein Herz
Die Qual der ſchrecklichen Veränderung,
Doch nach vertobtem Wahnſinn wird im Schlummer
Sich Ruhe ſenken auf dein Augenlied.
O Himmel! wie verlangt mich nach Erlöſung!
Die Senne jenes göttlichen Geſchoſſes
Zu ſpannen, fordert tauſendjähr’ge Stärke,
Ich habe ſie; doch wahrlich, o wahrhaftig,
Auch ohnedem fühlt’ ich die Kraft in mir,
Gleich jenem Gott, der den demant’nen Pfeil
Zum höchſten Himmel ſchnellte, daß er knirſchend
Der Sonne Kern durchſchnitt und weiter flog,
Bis wo des Lichtes lezter Strahl verlöſchte.
Er ſpannt ſie mit leichter Mühe, legt auf, und reicht
ſie dem Mädchen in der Richtung nach dem Baume.
Silpelitt drückt ab und in dem Augenblicke wird es
ganz finſter. Man hört ein Seufzen von der ge-
troffenen Stelle her. Beide ſchnell ab.)
Zwölfte Scene.
Thal.
Hurtig! nur ſchnelle!
Entſpringt und verſteckt euch
Da hier in’s Gebüſche!
Laſſ’ keine ſich blicken!
Los bricht ſchon das Wetter.
Was haſt du? Was ſchnakſt du?
Gift ſpeit die Schweſter!
Sie raſet, ſie heulet
Mit Wahnſinnsgebärde
Dort hinter dem Felſen
Durch’s Wäldchen daher.
Was iſt ihr begegnet?
Ach laßt uns ihr helfen!
Hat Dorn ſie geſtochen?
Eidechslein gebiſſen?
Dummköpfige Ratte,
Halt’s Maul und verſteck dich!
[201] Das iſt ihre Stimme —
Die Kniee mir zittern.
Sieh her! Sieh her, o Himmel!
Seht an, ſeht an, ihr Bäume,
Thereile, die Fürſtin,
Die Jammergeſtalt!
Die Freud’ hin auf immer!
Verrathen die Treue!
Und weh! nicht erreichen,
Und weh! nicht beſtrafen
Kann ich den Verräther,
Entflohen iſt er.
O armer Zorn!
Noch ärmere Liebe!
Zornwuth und Liebe
Verzweifelnd aneinander gehezt,
Beiden das Auge voll Thränen,
Und Mitleid dazwiſchen,
Ein flehendes Kind.
Hinweg! kein Erbarmen!
Ich muß ihn verderben!
Ha! möcht’ ich ſein Blut ſehn,
Ihn ſterben ſehen,
Gemartert ſterben
Von dieſen Händen,
Die einſt ihm gekoſet,
[202] Die Stirn’ ihm geſtreichelt —
Wie zuckt mir die Fauſt!
Vergebliche Rachluſt!
So reiſſ’ ich zerfleiſchend
Hier, hier mit den Nägeln
Die eigenen Wangen,
Die ſeidenen Haare —
Du haſt ſie geküſſet,
O garſtiger Heuchler!
Weh! Schönheit und Anmuth —
Was frag’ ich nach dieſen!
Iſt Freud’ hin auf immer,
Iſt brochen die Liebe,
Was hilft mir die Schönheit,
Was frag’ ich darnach!
Und bleibt nichts zu hoffen?
Ach leider, ach nimmer!
Der Riß iſt geſchehen,
Er traf aus der Ferne
Mir jählings das Leben,
Mein Zauber iſt aus.
Ich halt’ mich nicht — O liebe ſüße Schweſter!
Du hier? und ihr? Was iſt’s, verdammte Fratzen?
Gewiß nicht lauſchen wollten wir; ſie fürchten
[203] Sich nur vor deiner argen Meine ſo,
Da ſteckten wir uns neben in’s Gebüſch.
Was glozt ihr ſo, gefällt euch mein Geſicht?
Könnt’s auch ſo haben, wenn ihr wollt.
Wo habt ihr Silpelitt? Antwort! ich will’s!
Sey gütig, Schweſter, wir verſchulden’s nicht;
Sie fehlt uns ſchon ſeit geſtern.
Wirklich? So?
Ihr falſchen Kröten! Ungeziefer! Was?
Ich will euch lehren, eure Augen brauchen.
Daß euch die ſchwarze Peſt! Ja, wimmert nur!
Ich brech’ euch Arm und Bein, ihr ſollt’s noch büßen!
Dreizehnte Scene.
Feenkinder.
Dieß iſt der Platz; dort ſteht die ſchwarze Weide.
Was nun? ſagt, wie befahl die Fürſtin uns?
Was kümmert’s mich? Ich rühre keine Hand.
Haſt du die Püffe ſchon verſauſ’t von geſtern?
[204]
Pfui! Bückel und Beulen über’n ganzen Leib!
Ich lege mich in’s weiche Moos; kommt nur,
Wir ruhen noch ein Stündchen aus und plaudern;
Zur Arbeit iſt noch Zeit; die Andern ſind
Auch noch nicht da. — Seht, eine feine Nacht!
Vollmond faſt gar.
Wir ſingen Eins; paßt auf!
Bei Nacht im Dorf der Wächter rief:
Elfe!
Ein ganz kleines Elfchen im Walde ſchlief;
Elfe!
Und meint’, es rief ihm aus dem Thal
Bei ſeinem Namen die Nachtigall,
Oder Silpelitt hätt’ ihm gerufen.
Drauf ſchlüpft’s an einer Mauer hin,
Daran viel Feuerwürmchen glüh’n:
„Was ſind das helle Fenſterlein!
Da drin wird eine Hochzeit ſeyn,
Die Kleinen ſitzen beim Mahle
Und treiben’s in dem Saale;
Da guck’ ich wohl ein wenig ’nein“ —
Ei, ſtößt den Kopf an harten Stein!
Elfe, gelt, du haſt genug?
Gukuk! Gukuk!
Ei brav. So? thut ſich’s? Nun, das iſt ein Fleiß;
Wollt ihr nicht lieber ſchnarchen gar? Thereile
[205] Wird euch fein wecken. Das vertrackte Volk,
Noch bluten Maul und Naſen ihm, und doch
Um nichts gebeſſert.
Schaut, wie ſie ſich ſpreizt!
Sie äfft der Schweſter nach, als wenn ſie nicht
So gut wie wir voll blauer Mäler wäre.
Den Baum ſollt ihr umgraben, rings ein Loch,
Bis tief zur Wurzel, dann wird er gefällt.
Dieß Alles muß geſchehen ſeyn, bevor
Die erſte Lerche noch den Tag verkündet.
Raſch, ſpudet euch, faßt Hacken an und Schaufel!
Hört ihr nicht donnern dort?
Beim Käuzchen, ja.
Es wetterleuchtet blau vom Häupfelberg,
Der Mond packt eilig ein; gleich wird es regnen.
Dann habt ihr leidlich graben. Friſch daran!
Zum lezten Mal betritt mein ſcheuer Fuß
Den Ort der Liebe, den ich haſſen muß.
Vor dieſem Abſchied wehret ſich mein Herz
Und krümmt ſich wimmernd im verwaisten Schmerz!
[206] Verblutet haſt du, vielgeliebter Baum,
Vom gold’nen Pfeil, zerronnen iſt dein Traum.
Wie grauſam du es auch mit mir geſchickt,
Seyſt du zu guter Lezte doch geſchmückt!
Ach, mit dem Schönſten, was Thereile hat,
Bekränzet ſie der Liebe Leichenſtatt:
Ihr ſüßen Haargeflechte, glänzend reich,
Mit dieſer Schärfe langſam löſ’ ich euch;
Umwickelt ſanft die Wunde dort am Stamm!
Noch quillt die Sehnſucht nach dem Bräutigam.
Mit euch verweſe Liebesluſt und Leiden,
Auf ſolche will ich keine neuen Freuden!
Und du, verwünſchtes, mördriſches Geſchoß,
Um das die Thräne ſchon zu häufig floß,
Mein Liebling hat dich noch zulezt berührt,
So nimm den Kuß, ach, der dir nicht gebührt!
Und nun, ihr kleinen Schweſtern, macht ein Grab,
Und berget Stamm und Zweige tief hinab.
Seyd ohne Furcht, und wenn ich ſonſten gar
Zu hart und ungeſtüm und mürriſch war, —
Von heute an, geliebte Kinder mein,
Wird euch Thereile hold und freundlich ſeyn.
Vierzehnte Scene.
Mummelſee. König ſteht auf einem Felſen über’m See.
[207]
So kam es und ſo wird es kommen. Raſch
Vollendet ſich der Götter Wille nun.
Noch Einmal tiefaufathmend in der Luft,
Die mich ſo lang genährt, ruf’ ich mein Leztes
Der Erde zu, der Sonne und euch Waſſern,
Die ihr dieß Land umgebet und erfüllt.
Doch du, verſchwieg’ner See, empfängſt den Leib,
Und wie du grundlos, unterirdiſch, dich
Dem weiten Meer verbindeſt, ſo wirſt du
Mich fluthend führen in’s Unendliche,
Mein Geiſt wird bei den Göttern ſeyn; ich darf
Mit Weyla theilen bald das roſ’ge Licht.
Gehab’ dich wohl, du wunderbare Inſel!
Von dieſem Tage lieb’ ich dich; ſo laſſ’
Mich kindlich deinen Boden küſſen; zwar
Kenn’ ich dich wenig als mein Vaterland,
So ſtumpf, ſo blind gemacht durch lange Jahre
Kenn’ ich nicht meine Wiege mehr; gleichviel,
Du warſt zum wenigſten Stiefmutter mir,
Ich bin dein treuſtes Kind — Leb’ wohl, Orplid!
[208]
Wie wird mir frei und leicht! wie gleitet mir
Die alte Laſt der Jahre von dem Rücken!
O Zeit, blutſaugendes Geſpenſt!
Haſt du mich endlich ſatt? ſo ekel ſatt
Wie ich dich habe? Iſt es möglich? iſt
Das Ende nun vorhanden? Freudeſchauer
Zuckt durch die Bruſt! Und ſoll ich’s faſſen das?
Und ſchwindelt nicht das Auge meines Geiſtes
Noch ſtets hinunter in den jähen Trichter
Der Zeit? — Zeit, was heißt dieſes Wort?
Ein hohles Wort, das ich um Nichts gehaßt;
Unſchuldig iſt die Zeit; ſie that mir nichts.
Sie wirft die Larve ab und ſteht auf Einmal
Als Ewigkeit vor mir, dem Staunenden.
Wie neugeboren ſieht der müde Wandrer
Am Ziele ſich.
Er blickt noch rückwärts auf die leidenvoll
Durchlauf’ne Bahn; er ſieht die hohen Berge
Fern hinter ſich, voll Wehmuth läßt er ſie,
Die ſtummen Zeugen ſeines bittern Gangs:
Und ſo hat meine Seele jetzo Schmerz
Und Heiterkeit zugleich. Ha! fühl’ ich mir
Nicht plötzlich Kräfte gnug, auf’s Neu’ den Kreis
Des ſchwülen Daſeyns zu durchrennen — Wie?
Was ſagt’ ich da? Nein! Nein! o güt’ge Götter,
Hört nimmer, was ich nur im Wahnſinn ſprach!
Laßt ſterben mich! O ſterben, ſterben! Nehmt,
[209] Reiſſ’t mich dahin! Du Gott der Nacht, kommſt du?
Was rauſcht der See? was locken mich die Wellen —
Was für ein Bild? Ulmon, erkennſt du dich?
Fahr hin! Du biſt ein Gott! ..
See’s mit einem großen Spiegel hervor, den ſie ihm
entgegenhielt. Wie der König ſich im Bildniß als
Knaben und dann als gekrönten Fürſten erblickt,
ſtürzt er unmächtig vom Felſen und verſinkt im See.)
Das Spiel war beendigt. Das Pianoforte machte
nach einigen erhebenden Triumph-Paſſagen zulezt einen
wehmüthig beruhigenden Schluß, der den übrig ge-
bliebenen Eindruck vom Grame Thereilens mild ver-
klingen laſſen ſollte. Die Geſellſchaft erhob ſich unter
ſehr getheilten Empfindungen. Einige, beſonders die
Männer, klatſchten den herzlichſten Beifall, drei oder
vier Geſichter ſahen zweifelhaft aus und erwartungs-
voll, was Andere urtheilen würden. Schon während
der Vorſtellung war hin und wieder ein befremdetes,
deutelndes Flüſtern entſtanden, jezt ſchienen ein paar
hochweiſe unglückverkündende Frauennaſen nur auf
Conſtanzens Miene und Aeußerung geſpannt, aber
ſie zogen ſich eilig wieder ein, als die liebenswürdige
Frau ganz munter und arglos, bald dem Schauſpieler,
bald Theobalden das ungeheucheltſte Lob ertheilte,
wobei die Mehrzahl der Männer und Damen fröhlich
mit einſtimmte. Endlich konnten die Bedenklichen ſich
14
[210] doch der beſcheidenen Frage nicht enthalten, ob nicht
irgend etwas Politiſches, Satyriſches, Perſönliches dem
Stücke zu Grund liege? irgend ein verſteckter Sinn?
denn für das, was es nur obenhin an Poeſie prätendire,
könne man es doch nicht einzig nehmen.
„Und warum denn nicht, meine Gnädigſte?“ fragte
Larkens die Hofdame, indem er jenes ſchneidend ſcharfe
Geſicht zeigte, das einem durch die Seele ging.
„Weil — weil — ich meinte nur —“
„Aber wie? wenn ich Sie alles Meinens und
Vermuthens überhebe, wenn ich Sie verſichere, es iſt
ein reines Kindermährchen, womit ich Sie zu unter-
halten wagte? Doch Sie vermiſſen die Pointe dabei —
ja, ſo iſt der Dichter eben ein ruinirter Mann!“
„Er mag nur ſorgen, daß er kein ſolcher wird,
wenn man die Pointe wirklich herausgefunden haben
ſollte;“ raunte der Baron von Veſten einem Geheimen-
rath in’s Ohr und zog ihn bei Seite, „merken Sie
denn nicht, daß das Ganze ein Pasquill auf unſern
verewigten König und ſeine Geſchichte mit der Fürſtin
Viktorie iſt?“
„Was ſagen Sie? Ja, wahrlich, jezt geht mir ein
Licht auf! Mir däucht ſogar, die Figur im Schauſpiel
hatte Aehnlichkeit mit den Zügen des Höchſtſeligen“ —
„Allerdings! allerdings! nun? iſt das aber nicht
ein ungeziemender Spaß? iſt es nicht impertinent von
dieſem Larkens? aber ich hielt ihn von jeher für
einen malitiöſen Menſchen.“
[211]
„Fein und edel wär’s auf keinen Fall, ich muß ſa-
gen, wenn es ſich wirklich ſo verhielte. Denn, was
man auch behaupten mag, der Verewigte war doch
ein geiſtreicher, vortrefflicher Mann. Es iſt ſeine Schuld
nicht, daß er in der Folge krank und elend wurde, daß
er zum Verdruß gewiſſer Patrioten ein übermäßiges
Alter erreichte, daß ihn die Fürſtin — nun! könnten
wir uns aber nicht etwa täuſchen, wenn wir dieſe Be-
ziehungen —“
„Täuſchen? täuſchen? Gerechter Gott! Sind Sie
blind, Excellenz? Stieß ich denn nicht nach dem zwei-
ten Auftritt gleich meine Frau an? und fiel es ihr
nicht auch plötzlich auf? Treffen nicht die meiſten Um-
ſtände zu? Daß der Vogel ſich dann wieder hinter an-
dere unweſentliche Züge verſteckte, das hat er ſchlau
genug gemacht, aber er mag ſich wahren; es gibt Leute,
die die Lunte riechen, und ich thue mir in der That
etwas darauf zu Gute, daß ich die Bemerkung zuerſt
gemacht.“
„Jedoch, nur das noch, Baron! mir däuchte doch,
der alte Narr in der Piece da, er benimmt ſich, wenig-
ſtens der Abſicht des Poeten nach, immer recht nobel,
beſonders vis à vis der Hexe oder was es iſt, und es
widerfährt ihm, wie mir’s vorkam, zulezt noch gleich-
ſam göttliche Ehre.“
„Spott! Spott! lauter infame Ironie! ich will
mich lebendig verbrennen laſſen, wenn es was anders iſt.“
„Und wie gemein mitunter,“ lispelte die bleichſüchtige
Tochter Veſtin’s, hinzutretend, „wie pöbelhaft!“
[212]
Die Uebrigen hatten ſich inzwiſchen wieder in das
vordere Zimmer begeben. Man unterhielt ſich noch
eine Weile über das ſonderbare Stück, allein bald ſtockte
das Geſpräch; ein vorſichtiges Anſichhalten, eine ge-
wiſſe Verlegenheit theilte ſich auch dem Unbefangen-
ſten mit, es glaubten endlich Mehrere, es müſſe Je-
mand aus der Geſellſchaft beleidigt worden ſeyn und
man ſah einander lauſchend an. Wer ſich allein nicht
irre machen ließ, das war die ſchöne Wirthin des
Hauſes, und dann Larkens ſelbſt, welcher nur deſto
mehr ſchwazte, lachte, dem Wein zuſprach, je kälter
das Benehmen der Uebrigen war, das er im Stillen
gutmüthig mehr nur als eine verzeihliche Gleichgültig-
keit gegen ſein fremdartiges Produkt, denn als Span-
nung auslegte.
Da es übrigens ſchon ſpät war, ging man in Kur-
zem auseinander. Conſtanze beehrte den verkann-
ten Schauſpieler noch auf der Schwelle mit der Bitte,
ſein Manuſcript zu nochmaliger Erbauung da behalten
zu dürfen, und Freund Nolten bekam eine, wie ihm
ſchien, ungewöhnlich freundliche „Gute Nacht“ mit auf
den Weg.
Im Heimgehen machte Theobald ſeinen Be-
gleiter auf jene Störung aufmerkſam. „Gott weiß,“
antwortete Larkens, „was die Fratzen im Kopfe
hatten! Am Ende war’s nur Unbeholfenheit, was ſie
zu dem exotiſchen Ding ſagen ſollten; wären wir doch
lieber damit zu Hauſe geblieben oder hätten ihnen eine
[213] gut bürgerliche Komödie gegeben — Ei aber ein ver-
dammter Streich müßt’ es doch ſeyn, wenn ſie eine Necke-
rei mit der alten Majeſtät darunter ſuchten!“
„Das fürcht’ ich,“ erwiderte Nolten, „und rieth
ich dir nicht damals ſchon, wie du mich mit der Sache
bekannt machteſt, es lieber bei dir zu behalten, weil
für keine Mißdeutung zu ſtehen ſey? Es war voraus
zu ſehen. Denn daß dir der alte Nikolaus und die
Maitreſſe bei der ganzen Kompoſition vorgeſchwebt,
geſtehſt du ſelber und hat ſich heute nur zu ſehr
gerechtfertigt —“
„Zumal,“ unterbrach der Andere ihn mit Geläch-
ter, „zumal, wenn es wahr ſeyn ſollte, daß dir ſelbſt
der Teufel auch einige Mal in den Pinſel gefahren iſt,
weil du, wie du ſagteſt, den herrlichen Kopf des Alten
auf dem Portrait über meinem Schreibtiſch länger als
räthlich war, in’s Auge gefaßt!“
„Leid genug auf alle Fälle ſollte mir’s ſeyn,“ ge-
ſtand Nolten nach einigem Beſinnen, „man weiß nicht,
wie ſo was umkommt und ſich in der Leute Mund ver-
unſtaltet.“
„Was da!“ rief der Andere, „wer wird ſo abge-
ſchmackt ſeyn und etwas Böſes da heraus combiniren
wollen? weißt du mir was Tolleres? Gar zu klein
fänd’ ich es ſchon, wenn dieſe Kreaturen, die ſich Ge-
bildete nennen, überhaupt einem fremden Gedanken da-
bei Raum geben und über das Poetiſche der ſchlichten
Fabel hinausgehen konnten. Aber das iſt ganz in der
[214] Art eines ſchöngeiſtigen Klubbs, das weiß man ja lange.
Laſſen wir’s halt gut ſeyn; werden uns den Prozeß
nicht machen.“
So kamen die Beiden in ihrer Wohnung an.
Theobald, ganz nur in der heimlich entzückten Er-
innerung an die Güte der Geliebten ſchwelgend, ließ
ſich den ärgerlichen Gegenſtand wenig anfechten, er
freute ſich auf die Stille ſeines Zimmers, wo er unge-
ſtört mit ſeinem Herzen weiter reden konnte. Larkens
pfiff wie gewöhnlich, wenn er bei der Nachhauſekunft
den Schlüſſel in die Thüre ſteckte, ſeine fröhliche Arie,
und ſo überließ ſich denn Jeder ſich ſelber.
Dem Leſer aber mag zum Verſtändniſſe des Obigen
Folgendes dienen.
Der ſeit etwa zwei Jahren mit Tod abgegangene
König Nikolaus, Vater und Vorfahrer des regie-
renden, galt bis in ſein ſpäteres Alter für einen ausneh-
mend ſchönen und auch ſonſt ſehr begabten Mann. Er
hatte mit einer ungleich jüngeren Dame aus einem
verwandten Fürſtenhauſe ein zärtliches Verhältniß, das
die Leztere mit einiger Aufdringlichkeit und — ſo glaubte
man — aus eigennützigen, politiſchen Abſichten auch
dann noch fortzuſetzen wußte, als der Monarch für die
Reize der Jugend bereits abgeſtorben ſeyn ſollte, oder
ihnen auch wirklich ſchon entſagt hatte. Aber Schwäche
des Charakters, oder eine Verbindlichkeit, der er nicht
ausweichen konnte, machten ihn gegen die Zauberin
nachgiebiger, als wohl ſeinem Rufe dienlich war. Eine
[215] beſchwerliche Nervenkrankheit, aber mehr noch die Sorge,
er genüge als Regent ſeinem Volke nimmer, verbitterte
ihm vollends das Leben, er ſehnte ſich mit einer Unge-
duld, deren Ausbrüche oft ſchauerlich geweſen ſeyn ſol-
len, dem Tode entgegen, und man wollte wiſſen, daß
er einen mißlungenen Verſuch zum Selbſtmorde ge-
macht. Bekannt genug war die Anekdote, wonach er
einſt in einem Anfall von Verzweiflung bitter ſcherzend
ausgerufen: „der Himmel will einen neuen Methuſalah
aus mir haben, und Viktorie zerrt mich mit Gewalt
in die Jünglingsjahre zurück.“ Dieſe Worte klangen
um ſo komiſcher, je mehr man der boshaften Meinung
einiger Spötter trauen wollte, daß die ſchneeweißen
Locken Seiner Majeſtät ſich noch immer nicht ungerne
von den Roſen der jungen Fürſtin ſchmeicheln ließen.
Wie dem auch geweſen ſeyn mag — unter denjenigen,
welchen das Gedächtniß dieſes merkwürdigen, früher
ſehr wohlthätigen Regenten höchſt ehrwürdig, ja heilig
blieb, war auch unſer Larkens, und zwar abgeſehen
von der perſönlichen Gunſt des Königes gegen ihn als
Schauſpieler, war Nikolaus in ſeinen Augen ein
großartiges tragiſches Räthſel der Menſchennatur, eine
mächtige graue Trümmer an dem uralten Königspalaſt.
Geſchmäht von dem Geſchmacke einer frivolen Zeit, an-
geſtaunt von wenigen edleren Geiſtern, hätte ſich die
herrliche Säule, wie ſie bereits mit halbem Leibe ſchon
in die Erde eingeſunken war, gramvoll lieber vollends
unter den Boden verborgen mit ihren für dieſes Ge-
[216] ſchlecht unlesbar gewordenen Chiffern, aber es war an-
ders mit ihr beſchloſſen, und ſo konnte oder wollte ſie
auch den Troſt nicht von ſich abwehren, daß ein jugend-
licher Epheu ſich liebevoll an ihr hinanſchlinge.
Zu entſchuldigen iſt es nun, wenn der Freund einen
Theil jener Idee mit frommem Sinne auf ein Gebilde
ſeiner Phantaſie übertrug, und gewiſſermaßen eine
Apotheoſe jenes unglücklichen Fürſten liefern wollte,
ohne weder zu hoffen noch zu fürchten, daß Andere,
denen er ſeinen Verſuch vorgeführt, auch nur entfern-
ter Weiſe geneigt ſeyn könnten, irgend eine — würdige
oder unwürdige — Deutung zu machen.
Es war eine überaus klare und ſchöne Winter-
nacht. Die Glocke ſchlug ſo eben eilf. Im Zarlin’-
ſchen Hauſe war Alles ſchon ſtille geworden, nur das
Schlafzimmer der Gräfin finden wir noch erhellt. Con-
ſtanze, im weißen Nachtgewande, allein vor einem
Tiſchchen bei dem Bette ſitzend, iſt beſchäftigt, die ſchönen
Haare loszuwickeln, das Ohrgehänge und die ſchmale
Perlſchnur abzulegen, die ihrem Halſe immer ſo einfach
reizend geſtanden. Sie hob die Schnur nachdenklich
ſpielend am kleinen Finger gegen das Licht, und wenn
wir recht auf ihrer Stirne leſen, ſo iſt es Theobald,
an den ſie gegenwärtig denkt. Scheint es doch, als
wüßte ſie, daß ſie ihm dieſe Gabe verdanke, daß das
Geſchenk nur vermittelſt eines künſtlichen Umwegs aus
[217] ſeiner Hand durch eine dritte in die ihrige gelangt
war! — aber, in der That, ſie wußte es nicht; und
doch wiederholte ſie ſich heute nicht zum Erſtenmal
jene Worte, die er einſt, im Anſchaun ihrer Geſtalt
verloren, gegen ſie hatte fallen laſſen. Perlen, ſagte
er, haben von jeher etwas eigen Sinn- und Gedan-
kenvolles in ihrem Weſen für mich gehabt, und wahr-
lich, dieſe hier hängen um dieſen Hals, wie eine
Reihe verkörperter Gedanken, aus einer trüben Seele
hervorgequollen. Ich wollte, daß ich es hätte ſeyn
dürfen, der das Glück hatte, Ihnen das Andenken
umzuknüpfen. Es liegt ein natürliches unſchuldiges
Vergnügen darin, zu wiſſen, daß eine Perſon, die wir
verehren, der wir ſtets nahe ſeyn möchten, irgend
eine Kleinigkeit von uns bei ſich trage, wodurch un-
ſer Bild ſich ihr vergegenwärtigen muß. Warum
dürfen doch Freunde, warum dürfen entferntere Be-
kannte ſich einander nicht alle Mal in dieſem Sinne
beſchenken? muß das edlere Gefühl überall der Kon-
venienz weichen?
Conſtanze erinnerte ſich gar wohl, wie ſie da-
mals erröthete, und was ſie ſcherzhaft zur Antwort
gab. Ach, ſeufzte ſie jezt vor ſich hin, wüßte er, wie
tief ich ſein Bild im Innerſten des Herzens bewahre,
er würde den Geber dieſer armen Zierde nicht be-
neiden.
Unruhig ſtand ſie auf, unruhig trat ſie an’s Fen-
ſter und ließ den herrlich erleuchteten Himmel mit
[218] aller ſeiner Ahnung, mit all’ ſeiner Hoheit auf ihre
Seele wirken. Die Liebe zu jenem Manne, von ihren
erſten unmerklichen Pulſen bis zu dem beſtürzten Zu-
ſtande des völligen Bewußtſeyns, von der Zeit an,
wo ihr Gefühl bereits zur Sehnſucht, zum Verlangen
ward, bis zu dem Gipfel der mächtigſten Leidenſchaft —
Alles durchlief ſie in Gedanken wieder und Alles ſchien
ihr unbegreiflich. Sie ſah unter leiſem Kopfſchütteln,
mit ſchauderndem Lächeln in die reizende Kluft des
Schickſals hinab. Die Augen traten ihr über wie
damals in der Grotte, wo die noch getrennten Ele-
mente ihrer Liebe, durch Noltens unwiderſtehliche
Gluth aufgereizt, zum Erſtenmal in volle ſüße Gäh-
rung überſchlugen und alle Sinne umhüllten. Sie
hatte nichts zu beweinen, nichts zu bereuen, es waren
die Thränen, die dem Menſchen ſo willig kommen,
wenn er, ſich ſelbſt anſchauend, das Haupt geduldig
in den Mutterſchoos eines allwaltenden Geſchicks
verbirgt, das die Waage über ihm ſchweben läßt; er
betrachtet ſich in ſolchen Momenten mit einer Art ge-
rührter Selbſtachtung, die höhere Bedeutſamkeit einer
Lebensepoche macht ihn in ſeinen eigenen Augen gleich-
ſam zu einem ſeltnen Pflegekinde der Gottheit, es iſt,
als fühlte er ſich hoch an die Seite ſeines Genius
gehoben.
Lange, lange noch ſtarrte Conſtanze, ſtillver-
ſunken, einer Bildſäule gleich an die Fenſterpfoſte
angelehnt, hinaus in die ſchöne Nacht. Jezt über-
[219] wältigte ſie der Drang ihrer Gefühle; ſie ſank unwill-
kürlich auf die Kniee nieder, und indem ſie die Hände
faltete, wußte ſie kaum, was Alles in ihrem Innern
durcheinander fluthete; und doch, ihr Mund bewegte
ſich leiſe zu Worten des brünſtigen Dankes, der innig-
ſten Bitten.
Nachdem ſie ſich wieder erhoben, glaubte ſie, der
Himmel wolle ihr in der ruhigen Heiterkeit, wovon
ihre Seele jezt wie getragen war, Erhörung ihres
Gebets ankündigen. In der That, jezt war ſie auch
beherzt genug, um endlich nicht länger die Frage ab-
zuweiſen: was denn zulezt von dieſer Liebe zu hoffen
oder zu fürchten ſey? was es mit Theobald, was
es mit ihr werden ſolle? Sie ſtellte ſich aufrichtig
alle Verhältniſſe vor, ſie verſchwieg ſich kein Beden-
ken, keine Schwierigkeit, ſie wog Jegliches gegen ein-
ander ab, und mehr und mehr vertraute ſie der Mög-
lichkeit einer ehrenvollen und glücklichen Vereinigung,
ja, wenn ſie ſich genauer prüfte, ſo fand ſie dieſe Hoff-
nung längſt vorbereitet im Hintergrund ihrer Seele
gelegen. Aber nicht allzukühn durfte ſie ihr ſich über-
laſſen, denn ſchon der nächſte Augenblick wies ihr ſo
manches Hinderniß, worunter der Adelſtolz der Fa-
milie keineswegs das geringſte war, in einem ſtren-
geren Lichte, als es ihr noch kaum vorher erſchien.
Es bemächtigte ſich ihrer eine nie empfundene Angſt;
ſie wollte ſich für heute der Sache ganz entſchla-
gen, ſie griff nach einem Buche: umſonſt, kein Ge-
[220] danke wollte haften; Mitternacht war vorüber; ſollte
ſie ſich niederlegen, ſchlafen? Es wäre unmöglich ge-
weſen, ſo bang’, ſo heiß und unbehaglich wie ihr war.
Ich will Emilien wecken, fiel ihr endlich ein,
das Mädchen ſoll mit mir plaudern. Sie bedachte ſich
um ſo weniger, die Geſellſchaft des Kammermädchens
zu ſuchen, da zu ihrer Verwunderung wirklich noch der
Schein eines Lichtes in dem Erker zu ſehen war, wo
jene ſchlief. Sie ging leiſe über den Gang, öffnete
das Kabinet und fand das Mädchen feſt eingeſchlafen
im Bette, daneben das Licht, ausflammend in den
Leuchter hinabgeſunken. Eine offene Brieftaſche und
eine Anzahl zerſtreuter Blätter lag unter den Händen
der Schlafenden. Auf einen Anruf erwachte dieſe, hef-
tig erſchrocken, und ihre erſte Bewegung war, ſchnell Taſche
und Papiere zu verbergen, ſo daß Conſtanze dadurch
aufmerkſam gemacht, gelaſſen fragte: was ſie hier ge-
leſen?
„Ach!“ war die bebende Antwort, „zürnen Sie
nicht, gnädige Frau! es ſind alte Briefe, die ich nach
langer Zeit einmal wieder vornahm, und darüber muß
der Schlaf mich überraſcht haben — wie viel Uhr iſt
es doch?“
„Wie viel?“ ſagte Conſtanze, ſie ſcharf anſe-
hend, „ich denke es iſt halb — gelogen, was du da
ſprichſt. Laß doch ſehen!“
„O bitte, liebſte, ſüße gnädige Frau! ich habe ja gewiß
nichts Unrechtes — aber — erlaſſen Sie’s mir!“
[221]
„Nicht weiter, mein Kind, verlang’ ich, als einen
Blick, mich zu überzeugen.“
So reichte denn Emilie mit Zittern Alles hin,
indem ſie in lautes Weinen ausbrach. Aber Con-
ſtanze, wie mußte ſie erſchrecken, als der Anblick der
Taſche, als die goldgedruckten Lettern T.N. auf der
dunkelblauen Saffiandecke zur Genüge den Eigenthümer
bezeichneten.
„Wie kommſt du zu dieſem?“ fragte ſie, mit Mühe
ihre Verlegenheit bergend.
„Drüben,“ ſchluchzte das Mädchen, „wo die Herren
heute das Spiel machten, lag die Taſche hinter dem
Schattenſpielkäſtchen, ich wollte mir nur die bunten
Gläſer ein wenig beſehen, und da — nun da nahm ich“ —
„Hinter dem Käſtchen, ſagſt du?“
„Ja ja, gnädige Frau! ich ſage nun die reine
Wahrheit, es hälfe mir ja doch nichts mehr, und auf-
geſchlagen lag ſie da, ganz nachläſſig, als hätte man ſie
eben erſt gebraucht und dann vergeſſen; — richtig! die
Bleifeder war auch herausgenommen, ſie muß noch auf
dem Tiſchchen zu finden ſeyn. Wahrhaftig, wäre nicht
Alles ſo offen da gelegen, ich hätte mich nicht unter-
ſtanden.“
„Eine Entſchuldigung iſt das in keinem Falle. In-
deſſen — blieb nichts mehr zurück? Sieh im Bette
nach!“
„Sie haben das lezte Papierchen.“
„Ich werde das zu mir nehmen bis morgen. Löſche
[222] dein Licht. Gute Nacht!“ — Unwillig und ängſtlich eilte
ſie auf ihr Zimmer. Daß das, was ſie in Händen hielt,
Nolten zugehöre, zweifelte ſie keinen Augenblick; auch
wie es zu dem Larkens’ſchen Apparate gekommen,
erklärte ſie ſich leicht daher, daß Theobald Einmal
hinter die Gardine getreten war, um mit irgend etwas
auszuhelfen, wobei er vielleicht der Taſche bedurfte.
Aber die Möglichkeit, es könnte außer dem Mädchen
ſonſt noch Jemand neugierig auf den Inhalt derſelben
geweſen ſeyn, beunruhigte ſie um ſo ſtärker, je mehr
ſie Urſache hatte zu der Vermuthung, daß auch ihr
Name und damit ein gefährliches Geheimniß darin be-
rührt ſeyn könnte. Dieſe Rückſicht und vielleicht mit-
unter ein verzeihliches Intereſſe des eigenen Herzens
bewog ſie, zwar mit beklommenem Athem, erſt nur ei-
nen halben Blick, dann einen ganzen, endlich mehrere
und immer gierigere Blicke in die Blätter zu werfen.
Aber mitten im wärmſten Zuge riß ihr das Gefühl
von etwas Unerlaubtem, Verächtlichen die Taſche wie-
der aus der Hand. Vor lauter ängſtlicher Haſt hatte
ſie bis jezt nichts Zuſammenhängendes leſen können,
und ſie ſagte das ihrem Gewiſſen zum Troſte, während ſie,
dennoch mit einiger Ueberwindung, den Schatz bei Seite
legte. Allein plötzlich ſteigt ihr eine Beſorgniß auf,
die alles Blut in ihre Wangen jagt. Sie hatte vorhin
nur oberflächlich einige Briefe von zarter, unbekannter
Schrift geſehen, und, ohne zu wiſſen warum, an eine
Schweſter Theobalds dabei gedacht; jezt meldete
[223] ſich noch ein ganz anderer Gedanke. Entſchloſſen kehrte
ſie zu dem Gegenſtande ihres Verdachts zurück und
griff einiges Geſchriebene heraus, ſie las und las, er-
röthend, erblaſſend; ihr Buſen kämpfte mit lauten
Schlägen; jezt entfällt das Papier ihren Fingern, ſie
ſinkt auf das Lager, einer Leiche gleich, keines Lautes,
keiner Thräne mächtig.
Ein Pochen an der Thür bringt ſie endlich zu ſich,
ſie fährt auf, und indem ſie verworren umherblickt,
lächelt die Arme, wie fragend, ob jenes Entſetzliche ihr
bloß im Schlummer begegnet ſey, und lächelt wieder,
aber wie eine Verzweifelte, da das Blatt auf dem Bo-
den ihr die traurige Wahrheit bezeugt.
Es klopfte von Neuem an und eine klägliche
Mädchenſtimme ließ ſich hören: „Nein! ich kann nicht
ruhen, ich will erfrieren hier, bis ich ſie geſprochen
habe, bis ſie mir vergeben hat! — Gnädige Frau!
Liebe! Gute!“
Da keine Antwort erfolgte, bat es wiederholt im
flehentlichſten Tone: „Um Gotteswillen, laſſen Sie
Emilien ein, nur auf zwei Minuten, nur auf zwei
Worte! Vergeben Sie mir!“
„Ja, ja doch! geh nur, mein Kind!“ erwiderte
Conſtanze kaum hörbar, und das Mädchen ſchlich
getröſtet weg, ohne alle Ahnung, welchen Schmerz ſie
ihrer Herrin bereitet. Wir wagen es nicht, dieſen
Schmerz zu ſchildern. Aber wie alles zum Aeußerſten
und Unnatürlichen Geſteigerte ſich nicht lange auf die-
[224] ſer Höhe erhält, ſo fiel alsbald ein unwiderſtehlicher
tiefer Schlaf über die Erſchöpfte her und verſenkte
ſie in ein wohlthätiges Vergeſſen ihres mitleidswer-
then Zuſtandes.
Eben ſo ruhig und gelaſſen wie vor einer Stunde,
da der Blick der Sterne das Gebet einer Glücklichen
zu ſegnen ſchien, funkelten ſie jezt auf das Lager des
unglücklichſten Weibes herab. So raſch kann ſich an
die höchſte irdiſche Wonne das Daſeyn unüberſehba-
ren Jammers drängen.
Noch ehe es vollkommen Tag geworden, erwachte
Conſtanze, und leider ſchnell genug beſann ſie ſich
auf den betäubenden Schlag. Sie bat Gott um Stär-
kung und Faſſung, ſtand ermattet auf und ordnete
mit trockenem Aug’ die Brieftaſche, woraus ihr zum
Ueberfluſſe noch eine Haarlocke, ohne Zweifel von der
unbekannten Briefſtellerin, entgegenfiel.
Sie erſchien ſich ſelber im Spiegel wie ein ver-
ändertes Weſen, das, ſeitdem etwas Ungeheures mit
ihm vorgegangen, gar nicht mehr in die bisherigen
Umgebungen, in dieſe Wände, unter dieſe Geräthe
paſſen wolle; es ſchien ſie Alles umher wie einen
lange entfernten Gaſt, ja als eine Abgeſchiedene an-
zublicken, und ſie ſelbſt kam ſich mit ihrem ſchwanken
Tritt, mit ihrem Schmerz-verklärten, ſtillen Gefühl
beinahe wie ein erſt kurz aus dem Grabe Entlaſſenes
[225] vor, das noch nicht feſten Fuß gefaßt und den Ein-
druck des lezten Todeskrampfs nur nach und nach los
werden kann.
Indeſſen ſie ſich langſam ankleidete, wunderte ſie
ſelbſt ihre Ruhe, die freilich mehr Stumpfheit zu
nennen war. Sie eilte aus dem traurigen Gemach
und hinüber in die vorderen Zimmer, wo noch Nie-
mand war. Bald erſchien die Morgenſonne in den
Fenſtern und lud zu Heiterkeit und Leben ein. Ge-
dankenlos ſchaute Conſtanze durch die Scheiben,
und um nur etwas zu thun, rieb ſie die Meubles
mit dem Staubtuch ab, wobei ſie manchmal zerſtreut
inne hielt. — Emilie trat herein, voll Erſtaunen,
ihre Gebieterin ſchon hier zu treffen. „Ich habe dir
dein Geſchäft abgenommen!“ ſagte die Gräfin freund-
lich, „ſiehſt du, zum Zeichen, daß ich wieder gut bin.
Aber den Gefallen thu mir und rede kein Wort wei-
ter darüber.“ Ein warmer Handkuß dankte der
Gütigen.
Sehr willkommen war es der ſonderbar geſtimm-
ten Frau, als jezt auch ihr Bruder erſchien. „Guten
Tag, mein Schweſterchen! So früh wie der Vogel
ſchon auf? Die Sorge um das Gewächshaus trieb
mich aus den Federn; das war eine grimmkalte Nacht,
mein Thermometer zeigt faſt fünf und zwanzig; ich
muß nur nachſehen, ob unten nichts gelitten hat.“
„Ich darf dich begleiten!“ ſagte die Gräfin und warf
die Saloppe um. Ihr Weſen, erzwungen munter und
15
[226] verſtört, machte den Bruder einen Augenblick ſtutzig,
aber er hatte faſt keine Augen vor lauter Erwartung,
wie es im Garten ſtehe.
Die ſtreng friſche Luft that Conſtanzen wohl.
In gereizten Stimmungen, wie die ihrige jezt war,
hat der Menſch auf einige Sekunden vielleicht die
höchſte Empfänglichkeit für die Natur, in welcher Ge-
ſtalt ſie ihm auch entgegentreten mag; er möchte mit
Einem Sprung ſich ganz nur ihrer Freundſchaft,
ihres göttlich ſtillen Lebens bemächtigen, um auf Ein-
mal eine Laſt von alten Zuſtänden abzuwerfen und zu
vergeſſen. Aber dieſes ſchnell aufflackernde Gefühl iſt
nur der Sonnenblick, dem alsbald wieder die vorige
Wolkentrübe folgt. Conſtanze erwehrte ſich ſo gut
wie möglich. Doch als der Graf zu ſeiner größten
Freude die Gewächſe meiſt unverlezt fand, und bei
jedem neuen Stocke bemüht war, die Schweſter von
ſeinem Glück zu überzeugen, da konnte ſie den wehmü-
thigen Gedanken nicht bei ſich unterdrücken: wie war mir
zu Muthe in der Stunde, als dieſen Pflanzen, dieſen
edlen Stämmchen der Froſt das Verderben drohte?
Sie grünen noch und blühen, wie auch ich noch aufrecht
ſtehe, mir ſelber zum Wunder; aber vielleicht der in-
nerſte Lebenskeim dieſer zarten Staude iſt doch an-
gegriffen, es wird ſich zeigen, ob ſie uns nicht mit
dem bloßen Scheine von Geſundheit täuſcht, ob nicht
heute Abend ſchon dieſe Knoſpe erſtorben dahängt,
und — —
[227]
Conſtanzens künſtliche Faſſung war weg, ſie
eilte, ihr Geſicht bedeckend, mit ſchnellen Schritten
nach dem Hauſe zu. Bei dem Wiederſehen ihres
Zimmers, deſſen Thüre ſie ſogleich hinter ſich zurie-
gelte, brach aller verhaltene Schmerz mit doppelter
und dreifacher Gewalt hervor, und ſie überließ ſich
ihm ohne Schonung. Nun erſt überdachte ſie, was
geſchehen war, nun erſt wagte ſie ganz in den Ab-
grund ihres Elends hinabzutauchen. Wie begierig
auch ihr Verſtand mitunter nach einer Auskunft, nach
einem Troſte umhertaſtete, wie ſcharfſinnig auch ſelbſt
die Verzweiflung noch war, um einen erträglichen Zu-
ſammenhang der Sache zu entdecken, um den unge-
heuren Widerſpruch, worin Nolten in dem Doppel-
verhältniß zu ihr und einer Unbekannten erſchien, be-
ruhigend zu löſen oder doch zu erklären, ſie fand kei-
nen Ausweg, keinen Schimmer von Licht. Verglich
ſie alles dasjenige, wodurch er ihr die unzweideutigſte
Leidenſchaft an den Tag gelegt, mit den fremden Brie-
fen, deren ganzer Ausdruck ein längſt begründetes
und ſehr blühendes Verlobtenverhältniß verrieth, ſo
blieb nichts übrig, als Theobalden für den ruchlo-
ſeſten Heuchler zu erkennen, der zwei Geſchöpfe zu-
gleich betrog, oder für einen Wahnſinnigen, Charak-
terloſen, welcher mit ſich ſelber in unerhörtem Zwie-
ſpalte lebt. Beides aber iſt mit der ganzen Art und
Weiſe, wie Nolten ſonſt ſich gab, ſchlechterdings
nicht zu reimen. Denn ſelbſt die Spuren excentriſchen
[228] Weſens an ihm waren bei weitem gemäßigter, als ſie
zuweilen ſogar an geachteten Männern von verwand-
tem Talente und Beſtreben hervorzutreten pflegen.
Am wenigſten konnte Conſtanze die Güte ſeines
Herzens aufgeben. Jeder einzelne Moment, den ſie
ſich zurückrief und worin ſie in die Falten ſeines ei-
genſten Denkens und Empfindens geblickt zu haben
glaubte, ſo mancher Anlaß, wo in wenigen treffend
ausgeſprochenen Worten über Leben, über Kunſt, ein
gedrungener Strahl ſeines Gemüths aufgeſtiegen war
und auf eine ganze Verſammlung anregend wirkte,
endlich der ganze erſchöpfende Begriff, den ſie ſich
nach ſo langem Umgange von ihm abgezogen hatte —
Alles ſtritt mit dem finſtern, unheimlichen Zerrbilde,
das vielleicht ein blinder Zufall ihr aufdringen wollte,
ſie zu ſchrecken, zu ängſtigen, und worüber der Ge-
liebte, der wahre unverfälſchte, wohl ſelbſt verwun-
dert lächeln würde. Ein Funke von Hoffnung be-
ſchleicht ſie, ſie ſchaut auf’s Neue nach dem Datum
der Briefe, ſie rechnet ſchnell Monate, Wochen, Tage,
aber das Reſultat iſt immer nicht tröſtlich, immerhin
fällt ein Theil der zärtlichen Korreſpondenz in die Zeit,
wo Theobald Conſtanzen bereits unverkennbare
Zeichen ſeiner Abſichten gegeben. Und geſezt auch,
die Neigung, wovon jene Briefe zeugen, wäre bloß
eine einſeitige, — was jedoch den Anſchein gar nicht
hat, — geſezt, Nolten hätte, den Glauben des
Mädchens hinhaltend, ſich indeſſen heimlich einer un-
[229] glaublichen Veränderung ſchuldig gemacht, was würde
das Conſtanzen helfen? was hätte ſie von einem
ſolchen Manne zu gewarten? wie möchte ſie ein an-
deres Geſchöpf um ſeine theuerſten Hoffnungen be-
ſtehlen? und ein Geſchöpf, das ſie wirklich nicht haſſen
konnte, das Allem nach das rührendſte Bild der Un-
ſchuld, der hingebenden Liebe iſt? ja, wie konnte ihr
die heißeſte Liebe Theobalds nur im Entfernten
noch ſchmeicheln, wenn dieſe der ſündige Raub an einem
fremden guten Weſen wäre?
Aber noch immer war ja die Frage nicht über-
wunden, wie nur Nolten eines ſo beiſpielloſen Be-
trugs fähig ſeyn konnte?
Conſtanzens Auge ſtand weit, groß, nachden-
kend in einen Winkel des Zimmers gerichtet, während
ihr Geiſt ſich nach und nach den unglückſeligen Gedan-
ken zurecht arbeitete: es könne denn doch wohl einen
Menſchen geben, der aus Schwäche, frevelhafter Selbſt-
ſucht und gelegentlich aus einem Reſt urſprünglicher
Gutmüthigkeit zuſammengeſezt, vor Andern, wie zum
Theil auch vor ſich ſelber, einen Schein von Vortreff-
lichkeit zu erhalten und vor dem eigenen Gewiſſen jede
Unthat zu rechtfertigen wiſſe, es laſſe ſich ein Grad
von Verſtellung denken, der alle gewöhnlichen Begriffe
überſteige. Der genaue Umgang Theobalds mit
Larkens, ſo wenig ſie dem Leztern bis jezt mißtraut
hatte, konnte ſie nun, wenn ſie ſich der Meinungen
Anderer erinnerte, in ihrem Urtheile nur beſtärken,
[230] und ſie glaubte in ihm den Verführer entdeckt zu
haben.
Theilnehmend blickte ſie auf’s Neue nach den Brie-
fen Agneſens, ſie enthielt ſich nicht, den reinen har-
moniſchen Sinn zu bewundern, welcher ſich in jedem
Worte des Mädchens ausſprach. Arme Agnes! ſagte
ſie, armes betrogenes Kind! Iſt es möglich? ſollte er
ſich nicht der Sünde gefürchtet haben, dieſe Seele zu
hintergehen, wenn er ſie auch nur ſo weit kennen ge-
lernt hatte, als ich ſie aus dieſen Blättern kennen
lernte? Gütiger Gott! ſolch ein Lamm und ſolch eine
Schlange, wie kommen ſie zuſammen? Mich hat Got-
tes Finger noch zu rechter Zeit gewarnt, aber ſie —
thue ich Recht, wenn ich ſie ihrem Schickſal überlaſſe?
iſt’s nun nicht an mir, zu warnen? Ja, wahrlich,
das kommt mir zu — — Und doch, es könnte übereilt
ſeyn; wer weiß, ob ich Schlimmes nicht ſchlimmer machte,
ob der Verräther, wenn der Himmel ihn noch retten
will, nicht einzig durch die Liebe dieſes Engels zu ret-
ten iſt?
Der lezte Zweifel über die Geſinnungen Noltens
verſchwand vollends, als ein Dokument von ſeiner eige-
nen Hand zum Vorſchein kam — das Koncept eines
Schreibens an die Braut, das erſt geſtern entworfen
worden war. Mit einem tiefen Gefühle von Unwillen,
von Wehmuth, von Verachtung, ja von Schauder ver-
nahm ſie hier die Sprache der beredteſten Liebe und
einen ſehr redlichen, männlich klingenden Ton. Eine
[231] Stelle aber war ihr beſonders merkwürdig. „Ich be-
fand mich,“ hieß es, „dieſe lezte Zeit her in einem
vielleicht nicht ganz löblichen Rauſche von Zerſtreuun-
gen aller Art, wobei denn die geiſtige Geſtalt meiner
Agnes doch immer auf’s lebendigſte durchblickte. Ja,
ich darf dir wohl geſtehen, daß ich ſeit der glücklichen
Beilegung jenes argwöhniſchen Skrupels mit doppelter
Innigkeit in dir lebe.“
Die Aeußerung ſah faſt aus wie ein verſtecktes
Geſtändniß ſeiner Herzensverirrung, das ihm vielleicht
ſein Gewiſſen nothdürftig abgedrungen. Dieſe Verir-
rung ſelbſt konnte nunmehr in Conſtanzens Augen,
wenn auch keinen Entſchuldigungsgrund, doch eine Art Er-
klärung für Noltens Betragen abgeben, wenn ſie an-
nahm, daß das Mißverſtändniß, wovon ſie auch in ei-
nem Briefe Agneſens eine Spur gefunden, der An-
laß zu einer heftigen und nachhaltigen Verſtimmung
für Theobald geworden, daß er, ſeinem extremen
Charakter nicht ungemäß, ſich in einen deſperaten Wech-
ſel geſtürzt habe, und daß ſie als das Opfer dienen
müſſen. Seine Bekehrung war natürlich in die Zeit
zwiſchen geſtern und jener Luſtpartie gefallen, und Allem
nach unterzog er ſich ihr ſehr willig.
So viel Wahrſcheinliches dieſe Schlüſſe hat-
ten, und ſo ſehr ſie auch geeignet ſchienen, ein wenig-
ſtens erträgliches Licht auf Noltens Benehmen zu
werfen, ſo wenig Troſt gaben ſie der ſchönen Frau.
Denn von dem Augenblicke an, wo ihre Achtung für
[232] ihn ſich einigermaßen erholte, begann auch ihre Liebe
wieder zu athmen, und nun war ſie faſt übler daran,
als ſo lange ſie ihn getroſt verabſcheuen konnte. Alſo
Noltens Glück war wieder hergeſtellt, das Mädchen
ſelig in ſeinem Beſitz und — ſieſelbſt hatte nur auf
eine kurze Zeit die Lücke gebüßt, um jezt wieder allein,
verlaſſen, vergeſſen dazuſtehen, den bittern Stachel im
Herzen. Eine Regung von Zorn flammte in ihr auf,
ſie fühlte ihre weibliche Würde beleidigt, mit Füßen
getreten, ſie fühlte alle Qual verſchmähter Liebe. Und
hatte ſie vorhin einen reinen Zug ſchweſterlicher Nei-
gung zu Agnes empfunden, ſo konnte ſie nun einer
Anwandlung von ſchmerzlicher Mißgunſt nicht wider-
ſtehen, ſo lebhaft ſie ſich auch darüber anklagte. Aber
auch indem es ihr gelang, allen Groll von der Un-
ſchuldigen ab und auf den geliebten Ueberläufer zu
werfen — es blieb nur das Bewußtſeyn ihrer Un-
macht, ihrer Kränkung übrig. Jede Erinnerung an
das Vergangene, das kleinſte Zeichen, womit ſie ihm
ihre Gunſt verrathen haben mochte, verſezte jezt ihrem
Stolze, ihrem Ehrgefühle Stich auf Stich. Noch ge-
ſtern bei’m Abſchied unter der Thüre hatte ſie ihn mit
bedeutungsvoller Freundlichkeit entlaſſen und — ſo kam
es ihr jezt vor — ihm beliebte kaum ein kalter Dank
darauf. Am meiſten demüthigte und beſchämte ſie der
Auftritt in der Grotte, ſie bedeckte bei dieſem Gedan-
ken ihr glühendes Geſicht mit dem Tuche, weinend und
ſchluchzend.
[233]
Kein Wunder, wenn ihr jezt die kläglichen Worte
Thereilens aus dem geſtrigen Schauſpiele einka-
men, das gleichſam weiſſagend von ihr geſprochen;
kein Wunder, gab ſie auf einen Augenblick dem wi-
derſinnigen Gedanken Raum, als hätte Larkens
einige Mal eine boshafte Anſpielung auf ſie im
Sinne gehabt. Aber ganz iſt ihr gegenwärtiger Zuſtand
durch die leidenſchaftlichen Zeilen bezeichnet:
Deſſelben Morgens gegen zehn Uhr, als Lar-
kens eben von einem Ausgange nach Hauſe kam,
übergab ſein Bedienter ihm das braune Käſtchen, das
die Laterna magica verwahrte; man habe es vor ei-
ner Viertelſtunde aus dem Zarlin’ſchen Hauſe hie-
her gebracht nebſt dem Danke der gnädigen Frau.
Unſer Schauſpieler öffnete den Deckel, zog begierig die
zu oberſt liegende Brieftaſche heraus, unterſuchte ſie
von allen Seiten und ſein Mund verzog ſich zu einem
vergnügten, doch gewiſſermaßen befremdeten Lächeln,
indem er ausrief: „Bei’m Himmel! die Falle hat ge-
lockt, der Speck iſt angebiſſen, und das wacker! kein
[234] Zettelchen blieb unverrückt. Ich ſorge nur, der Spaß
iſt in plumpere Hände gerathen, als ich gewollt hatte.
Sey’s drum; durch die Finger von Madame iſt die
Taſche auf jeden Fall auch gekommen, und ich müßte
mich übel auf Evas Geſchlecht verſtehen, wenn dieſe
Finger mehr Diskretion gehabt hätten, als mir für
den Kaſus lieb wäre. Genug; es wird ſich zeigen,
die Wirkung kann nicht ausbleiben. Dießmal hätteſt
du fürwahr meiſterlich kalkulirt, Bruder Larkens,
der Herr gebe ſeinen Segen dazu.“
Wirklich war es die Abſicht des Freundes ge-
weſen, daß Conſtanze die Taſche finden und ſich
ihrer Geheimniſſe nicht enthalten möge; er konnte
darauf zählen, daß man ſie für das Eigenthum Nol-
tens erkennen würde, in der That aber war ſie nur
ein Geſchenk, das dieſer dem Freunde zu der Zeit ge-
macht hatte, wo er Alles, was ihn an Agnes erin-
nern konnte, Briefe, Haare und hundert andere Klei-
nigkeiten, auf immer los werden wollte.
Larkens hoffte durch jenen ausgedachten, wohl-
gemeinten Streich theils bei der Gräfin jeder mög-
lichen Neigung gegen Theobald vorzubeugen, theils
glaubte er, ſie müßte von nun an, eingedenk des Ver-
hältniſſes mit Agnes, durch ihr Betragen unzugäng-
lich für Nolten ſelber werden. Nun hatte zwar
Larkens, zu Folge der mißtrauiſchen Verſchloſſen-
heit ſeines Freundes mit der wahren Lage der Dinge
unbekannt, ſich in ſeinem Plane etwas geirrt; er
[235] hätte, wäre er beſſer unterrichtet geweſen, viel-
leicht einen ganz andern Weg eingeſchlagen, aber
auch auf dieſem erreichte er, wie wir geſehen haben,
ſeinen Hauptzweck vollſtändig, nur freilich auf eine
grauſamere Art, als er ſich vorgeſtellt hatte. Sehr
übereilt und tadelnswerth würden wir ſeine eigen-
mächtige Handlungsweiſe nennen müſſen, wenn er eine
Ahnung von den großen Fortſchritten gehabt hätte,
welche Theobalds neue Liebe bereits gemacht hatte,
weil Larkens jene Rechte der Braut nur auf große Ko-
ſten der Ehrlichkeit ſeines Freundes aufdecken konnte;
übereilt und unſicher müßten wir ſein einſeitiges Ver-
fahren auch in ſo fern ſchelten, als er ja nicht wiſſen
konnte, ob Nolten, wenn er ſich auch bis jezt noch
gegen Conſtanze zurückgehalten, doch in Kurzem
nicht vielleicht ihr ſein Herz anbieten werde, da er
dann nothwendig im zweideutigſten Lichte vor ihr er-
ſcheinen müßte; allein für’s Erſte hatte Larkens
nicht die mindeſte Vermuthung davon, wie weit be-
reits das Verſtändniß der Beiden gediehen war, und
für’s Zweite, was die Zukunft betrifft, ging er neuer-
dings ernſtlich mit dem Gedanken um, Theobalden
die Zeugniſſe für Agneſens Unſchuld vorzulegen,
ihn zu näherer Prüfung der Sache zu vermögen, ihn
im Nothfall damit zu bedrohen, daß er die Gräfin
ſelbſt zur freundſchaftlichen Schiedsrichterin darüber
aufrufen werde.
Vor allen Dingen widmete er der Frage, in wie
[236] fern es gerathen ſey, Theobalden ſchon jezt ſeine
Pflichten für die Verlobte aufzudringen, eine reifliche
Ueberlegung. — Wir überlaſſen ihn jezt ſeinen Ge-
danken und kehren in das Zarlin’ſche Haus zurück.
Dort meldete ſich des andern Tages gegen Abend
ein vornehmer Beſuch. Herzog Adolph erſchien,
und Conſtanze, in Abweſenheit ihres Bruders,
empfing ihn allein. Das ungewöhnlich blaſſe und ver-
ſtörte Ausſehen der ſchönen Frau mochte ihm ſogleich
auffallen, er erkundigte ſich auf das Angelegentlichſte
nach ihrem Befinden, ging dann mit einer leichten
Wendung auf ſein eigenes Anliegen über und erzählte
mit ſichtbarem Verdruſſe, was ihm geſtern von einer
höchſt ärgerlichen Sache bekannt geworden, wobei er
bedaure, daß ſie gerade in dieſem, ihm ſo höchſt
ſchätzbaren, Hauſe habe vorfallen müſſen. Der König,
ſein Bruder, deſſen Ehre dabei betheiligt wäre, ſey
auf das genaueſte davon unterrichtet und aus deſſen
eigenem Munde habe er es gehört.
Conſtanze erſchrack, erklärte, wie ſie zwar an
jenem Abende die allgemeine Bewegung der Geſell-
ſchaft wahrgenommen, wie auch ſie nachher den Grund
davon erfahren, wie ſie aber an einen ſolchen Frevel
von ſolchen Männern nicht ſogleich habe glauben kön-
nen. Sie bat, man möge doch wenigſtens ſie aller
Stimme dabei überheben, da Leute von beſſerer Ein-
ſicht, von bedeutenderem Urtheil zugegen geweſen.
Aber der Herzog geſtand, daß der König die vorläu-
[237] fige Ausmittelung der Sache ihm anbefohlen, daß er
das Manuſcript und was dazu gehöre, bereits in Be-
ſchlag genommen, daß er aber nach wiederholtem Le-
ſen und genauer Prüfung alles Einzelnen noch nicht
ganz habe mit ſich einig werden können. Er ſey zu-
lezt auf den Einfall gerathen, Alles von der Entſchei-
dung einer „eben ſo ſcharfſinnigen, als unbefangenen
Dame“ abhängen zu laſſen, und er werde dießfalls
auf ſeiner Bitte beharren, ihrem Ausſpruch werde
er unbedingt vertrauen. „Freilich,“ ſezte er mit einem
pikanten Accente hinzu, „freilich, wenn meine getroſte
Vorausſetzung von der gänzlichen Unbefangenheit mei-
ner geliebten Freundin mich denn doch etwas trügte,
wenn ihr Einer oder der Andere von den Beklagten
mehr als billig am Herzen läge, dann, meine Gnädige,
wäre es wirklich höchſt undelikat, trotz Ihrer Weigerung
einen gerechten Spruch aus Ihrem Munde zu ver-
langen.“
Gelaſſen ſchaute die Gräfin ihn an und erwiderte:
„Beide Männer waren mir ſehr viel werth; Sie ſelbſt
haben dieſen Nolten begünſtigt, und ſchon um Ih-
retwillen, Adolph, ſollte es mir leid ſeyn, wenn
Ihnen ein Freund unſchuldig gekränkt würde. Was
aber jenen Fehler, ich ſagte füglich, jenes Verbrechen,
betrifft, das man dieſen Leuten Schuld gibt, ſo will
ich keineswegs der Gerechtigkeit im Wege ſtehen, nur
ſie zu befördern bin ich außer Stande. Sie ſelbſt
können, dünkt mich, doch wohl am beſten wiſſen, was
[238] Ihrem Freunde allenfalls zuzutrauen wäre, Sie dür-
fen von ihm aus dann getroſt auf die Geſinnungen
des Schauſpielers ſchließen, denn Beide ſind ja Ein
Sinn und Ein Gedanke. Richten Sie alſo. Sie
waren zwar nicht Zeuge jenes Abends, aber die Do-
kumente liegen in Ihren Händen, was hätt’ ich dem-
nach vor Ihnen voraus, das mich zu einem Urtheil
geſchickter machte?“
Der Herzog ſtand auf, machte einige Schritte
und ſagte dann im freundlichſten Tone: Ich that Ih-
nen Unrecht, meine Liebe! vergeben Sie’s. Ich ſehe,
wir ſind Beide in einer und derſelben Verlegenheit,
und wären ſo ziemlich gleich geneigt, das Ganze zu
entſchuldigen, wenigſtens zum Guten zu wenden. Ich
finde nun erſt, wie unbillig es von meinem Bruder
war, mich in dieſen ſchlimmen Fall zu ſetzen, wie
thöricht von mir, den Auftrag anzunehmen. Zwar
auch meine Ehre mußte dabei intereſſirt ſeyn, aber
je leidenſchaftlicher ich die Sache aufnahm, um ſo
weniger konnt’ ich hoffen, klar darin zu ſehen, und
meinem Unwillen hielt auf der andern Seite die Nei-
gung für Nolten kaum das Gleichgewicht, da dieſe,
in der lezten Zeit gar zu läſſig von ihm gepflegt, ſo
gut wie eingeſchlafen war; um ſo ſchlimmer für Nol-
tens Recht, wenn ich ohnehin Urſache hatte, ihm
böſe zu ſeyn. Bei Ihnen, Beſte, ſpricht ein reines
menſchliches Gefühl zu Gunſten des übrigens ſo bra-
ven Künſtlerpaares, und ich geſtehe Ihnen, auch mich
[239] will in Ihrer Nähe die alte Vorliebe für dieſen
Maler wieder einnehmen, ohne daß Sie noch ein Wort
zu ſeiner Vertheidigung vorgebracht — aber vielleicht
gerade darum könnt’ ich ihm verzeihen, weil Sie
ihn nicht vertheidigen. Könnte ich bei dem Lärm,
bei der Erbitterung, die der tolle Vorfall ſchon bei
Hofe veranlaßt hat, ganz ruhig ſeyn, mich vor dem
Verdachte der Parteilichkeit bei meinem Bruder ſichern,
ich möchte die Herren wohl frei ſprechen und Alles
zu vertuſchen ſuchen; ſo aber bin ich der Sorge doch
nicht los, und meiner Stellung zu dem guten Maler
erwächſt aus der dummen Geſchichte auf alle Fälle
eine bleibende Schwierigkeit. Doch, was beſchwere
ich Sie mit dieſen Unbilden — Laſſen Sie uns davon
ſchweigen. Am artigſten wär’s,“ ſezte er ſcherzend hinzu,
„man ſezte ein Gericht nieder, beſtehend aus einem Archäo-
logen, einem Profeſſor der Aeſthetik und einem Advo-
katen, die ſich über das Manuſcript und die Bilder her-
machen ſollten. Nicht wahr, meine Schönſte?“
Die wahre Geſinnung des Herzogs und ſeine
ſchwierige Lage läßt ſich übrigens leicht aus folgenden
Bemerkungen erkennen.
Weit entfernt von der Thorheit, in der fabelhaf-
ten Figur jenes tauſendjährigen Königs eine eh-
renrührige Beziehung zu entdecken, fand er dieſe Be-
ziehung eher ſchön und wohlgemeint; dagegen ihm die
Aehnlichkeit jener Feenfürſtin mit Viktorien um ſo
bedenklicher vorkam. Denn wenn gleich das wahre
[240] Verhältniß dieſer Perſon zum verſtorbenen Regenten
nicht ganz getroffen ſeyn mochte, ſo war die ſchein-
barſte Seite davon doch ſo charakteriſtiſch herausge-
hoben, daß man nicht läugnen konnte, ein ſehr frap-
pantes Bild von Viktoriens Erſcheinung vor ſich
zu haben. Die Zeichnung des ſelbſtſüchtigen ſchalk-
haften und doch wieder ſo innigen Weſens ahmte
wirklich die leiſeſten Nüancen nach. Das Alles hätte
noch hingehen mögen. Aber dieſe Dame glänzte noch
am Hofe, das Vertrauen, das Nikolaus ihr ge-
ſchenkt hatte, ward noch vom Sohne geehrt. In ſo
ferne müſſen wir jenes Spiel höchſt unbedachtſam
nennen. Dennoch hätte es vielleicht dem Herzog nicht
ſchwer ſeyn müſſen, den möglichen Schaden abzulenken,
wäre nicht der König ſelbſt in einer müßigen Stunde
auf das verſchrieene Manuſcript neugierig geweſen.
Hier entging ihm denn ſo manche Verwandtſchaft kei-
neswegs, er äußerte ſich mit großer Unzufriedenheit
über eine ſo unſchickliche Anſpielung, namentlich die
leichtfertige oder ernſte Einführung der bewußten
werthgeſchäzten Frau empörte ihn als eine unverzeih-
liche Vermeſſenheit. Der Herzog beſänftigte ihn vor-
läufig, indem er Dieſes und Jenes noch problematiſch
darſtellte, verſprach, das Ganze nochmals genau zu
durchgehen, ſo wie auch nähere Erkundigungen einzu-
ziehen; weil er aber doch ein gerechtes Gefühl des
Bruders nicht ſchlechterdings umgehen und das Zu-
trauen nicht mißbrauchen wollte, womit dieſer ihm die
[241] Entſcheidung des keineswegs gleichgültigen Gegenſtan-
des überließ, ſo kam er wirklich mit einer doppelten
Pflicht in’s Gedränge, er hätte eben ſo gerne den
Maler geſchont als dem Bruder Genüge gethan; da-
her denn auch jene Anfrage bei Conſtanze nichts we-
niger als bloße Pantomime war; er dachte ſie bei
dieſer Gelegenheit ein wenig zu ſchrauben, fand aber
ein ſolches Frauen-Orakel wirklich bequem für ſeine
Unſchlüſſigkeit, nur glaubte er auf den Fall, daß die
Geſchichte Rumor machen könnte, aus Diskretion ge-
gen Viktorie den eigentlichen Grund des Aergerniſ-
ſes verſtecken und mehr das Allgemeine vorkehren zu
müſſen.
Conſtanze blickte noch immer ernſt vor ſich
nieder, ohne eine Miene zu ändern. Den Herzog
rührte ihr Anblick, worin er von jezt an wirklich nur
die edelſte Theilnahme an dem Schickſale zweier Haus-
freunde zu leſen glaubte; ihr ganzes Weſen, von die-
ſem Kummer leicht beſchattet, däuchte ihm nie fo rei-
zend, ſo weich geweſen zu ſeyn. Er ſezte ſich an ihre
Seite und gab dem Geſpräch eine andere Richtung,
ſie ging ſo viel möglich darauf ein, und der Zwang,
den ſie ſich mitunter dabei anthat, machte ſie nur
immer liebenswürdiger, kindlicher, unwiderſtehlicher.
Dazu kam die einladende Ruhe dieſer Stunde, von
zweien auf dem Tiſche brennenden Kerzen traulich ver-
klärt. Der Herzog ergriff in der Unterhaltung die
Hand ſeiner ſchweigſamen Nebenſitzerin, er ließ die
16
[242] ſchmeichelhafteſten Vorwürfe gegen ſie ſpielen über die
karge Art, womit ſie ſeiner Zärtlichkeit immer entgegne,
auch jezt erfuhr dieſe noch einigen Widerſtand, doch —
ſo ſchien es dem ſchlauen Manne, — mehr einen
anſtändigen als ſtrenge zurückweiſenden Widerſtand.
Aber als ihr gepreßter Schmerz, ihre Unruhe,
ihr Mißbehagen ſich immer weniger verbarg, als der
wärmer gewordene Liebhaber auf’s Neue mißtrauiſch
werden wollte, bald mit dringenden Worten, bald mit
den lebhafteſten Liebkoſungen zu einer Erklärung nö-
thigte, da war es ſeltſam, jammervoll anzuſehen, wie
die arme Frau ganz außer ſich gerieth, in dem Au-
genblick, wo ſie von ihrem unſeligen Geheimniß auf’s
Höchſte bewegt, an die verlorene Liebe doppelt ſchmerz-
lich erinnert werden mußte, indem eine andere, bisher
verhaßte, ſich hülfreich ſtürmiſch aufdrang. Jezt ſtößt
ſie den Herzog heftig weg, jezt gibt ſie ſich ſeiner
Kühnheit unerhört willig hin, dem bängſten Seufzer,
dem heißeſten Guſſe von Thränen folgt plötzlich ein
Lachen, deſſen kindiſche Lieblichkeit, deſſen herzlicher
Klang unter jeden andern Umſtänden hätte bezaubernd
ſeyn müſſen. Der Herzog ſah in alle dieſem nur den
unbeſchreiblich rührenden Ausdruck einer bis jezt ver-
hüllten Leidenſchaft für ihn, welche ſich endlich ver-
rathen und noch im entzückten Momente der erſten
Umarmung mit holder Scham und ſüßer Reue käm-
pfe, ihn ſelber jedoch zum ſeligſten der Menſchen
mache. Wie ganz anders ſah es im Buſen Con-
[243] ſtanzens aus! Oft war es ihr, als ſäße ſie, von
einem Dämon, von einem hölliſchen Weſen umſchlun-
gen, in entſetzlicher Unmacht feſtgebannt; Luſt und
Unluſt empörten ſich wechſelſeitig in ihrem Innern,
ſie überließ ſich ſeinem Kuſſe mit einem ſcyneidenden
Gefühle von Widerwillen, ja von Ekel, ſie empfand
es unerträglich, wie elend ſie ſich verirrt, wie thöricht
raſend ihre Einbildung ſey, als ob ſie auf dieſe Art
an jenem Verräther heimlich Rache üben könnte!
Er — (ſo rief, ſo wimmerte es in ihrer Seele) ja
er allein hat es verſchuldet, daß Conſtanze ſo ſich
verläugnet, daß ich thue, was ich ſonſt verabſcheut
hätte, und doch — wie wird Alles werden? wie ſoll
das enden? wohl, wohl — mag es, wie es kann! —
Sie rang ſich los, drückte den Kopf in die Purpur-
kiſſen des Sopha, ihr Schluchzen zerriß dem Herzog
das Herz, er berührte ſie ſchüchtern, er bat, er be-
ſchwor ſie um Faſſung; ſie möge ſich doch beſinnen,
warum ſie denn eigentlich verzweifle, ob das unfrei-
willige Bekenntniß einer Neigung, die ihn auf ewig
zu einem guten, mit Welt und Himmel glücklich aus-
geſöhnten Menſchen zu machen beſtimmt ſey, ob die
Furcht, daß dieſes ſchöne Verſtändniß jemals dem ro-
hen Urtheil der Menſchen bloßgeſtellt werden könne,
ob ein Zweifel an ſeiner Verſchwiegenheit, an ſeiner
Treue, ein Zweifel an ſeiner Ehrfurcht vor ihrer Tu-
gend ſie quäle? „Conſtanze! Theure! Geliebte!
blicken Sie auf! ſagen Sie, daß ich für heute, für
[244] jezt, mich entfernen ſoll, fordern Sie, daß ich Sie
mein Leben lang durch nichts, durch kein halbes Wort,
mit keiner Miene, keinem leiſen Wunſche mehr an
dieſen Abend mahne! Mir aber darf er unvergeß-
lich bleiben; ſo wie jezt wird auf ewig dieſes Zimmer,
wird das Licht dieſer Kerze und wovon es Zeuge ge-
weſen, vor meiner Erinnerung ſtehen — o Gott! und
ſo, in dieſer traurig abgewendeten Lage muß die Ge-
ſtalt der edelſten Frau vor mir erſcheinen, um allen
himmliſchen Reiz des vorigen Augenblicks wieder aus-
zulöſchen! ich werde vergehen, verzweifeln, wenn Sie
ſich nicht aufrichten, wenn ich Sie ſo verlaſſen muß.“
Er faßte ſie ſchonend an beiden Schultern, und
ſanft rückwärts gebeugt lehnte ſie den Kopf an ihn,
ſo daß die offenen ſchwimmenden Augen unter ſeinem
Kinne aufblickten. Freundlich gedaukenlos ſchaut ſie
hinan, freundlich ſenkt er die Lippen auf die klare
Stirne nieder.
Lang unterbrach die athmende Stille nichts. End-
lich ſagt er heiter: „Iſt’s nicht ein artig Sprüch-
wort, wenn man bei der eingetretenen Pauſe eines
lange gemüthlich fortgeſezten Geſprächs zu ſagen
pflegt: es geht ein Engel durch die Stube?“
Conſtanze ſchüttelte, als wollte ſie ſagen: der
vorige, der gegenwärtige Auftritt habe doch wohl ei-
nen ſo friedſamen Geiſt nicht herbeilocken können.
Abermals verſagt ihm ein weiteres Wort; er
ſinnt über den Zuſtand der Gräfin nach, der ihm auf’s
[245] Neue Verſchiedenes zu bedenken gibt. Nicht ohne
Abſicht kommt er daher ſpielend wieder auf Nolten
und Larkens zurück. „Nein,“ ſagt er zulezt, „es
würde mir ſehr angenehm ſeyn, wenn Sie, meine
Liebe, mir über den böſen Punkt Ihre Anſicht offen-
baren wollten. Ganz gewiß ſind Sie längſt darüber
im Reinen, zum wenigſten haben Sie eine Meinung.
Reden Sie mir, ich bitte recht ernſtlich — Halten
Sie die Beiden für ſchuldig?“
Die Befragte bedenkt ſich eine Weile und ſagt
mit einer ſonderbar zuckenden Bewegung: „Schuldig?
— er iſt’s!“
„Wer doch?“
„Nun, der Nolten“ —
„Ich erſtaune! — und Larkens?“
„Wohl eben ſo gut. Ja, mein Herr, darauf
verlaſſen Sie ſich.“
„Und ſind ſtrafbar?“
„So denk’ ich.“
„Nun, auf mein Wort! ſo ſollen ſie’s bereuen.“
Der Herzog ſtand auf; Conſtanze blieb wie
angefeſſelt. Er hatte dieß ſtrenge Urtheil aus Con-
ſtanzens Munde am wenigſten erwartet, um ſo
gegründeter mußte es ſeyn. Er fragte Einiges, was
ihre Anſicht näher beſtimmen ſollte, ſie verſicherte,
nichts weiter zu wiſſen: er möge ſich damit begnügen
und auf keinen Fall ſie verrathen. Nun erſt, da er
Gewißheit zu haben glaubte, da ſelbſt dieſe billig den-
[246] kende Frau von ſolcher Ungebühr bewegt, entrüſtet
ſchien, erwachte Aerger und Verdruß in ihm, er ent-
hielt ſich der empfindlichſten Ausdrücke nicht, wieder-
holt dankte er der Geliebten ihre Aufrichtigkeit, die
er als natürliche Folge einer zärtlich aufgeſchloſſenen
Stimmung auslegte. Ihm ahnete nicht, von wel-
chem Aufruhr widerſprechender Gefühle die Gräfin
innerlich zerriſſen war, ſeitdem ſie das Entſcheidende
ausgeſprochen. Wie verſteinert vor ſich hinſtarrend,
blieb ſie auf Einer Stelle ſitzen, war mehr als Ein-
mal verſucht zu Milderung, zu völliger Widerrufung
des Geſagten, aber ein unbegreiflich Etwas band ihr
die Zunge. Plötzlich hört man den Wagen des Gra-
fen vor dem Haus anrollen, ein eiliger Kuß, ein
ſchmeichelhaft Wort verſiegelt von Seiten des Her-
zogs das Geheimniß dieſer Stunde.
Ehe wir noch auf die Folgen zu reden kommen,
welche dieſe Vorgänge raſch genug nach ſich gezogen,
enthalten wir uns nicht, einen allgemeinen Blick auf
die Gemüther zu werfen, zwiſchen denen ſich durch
die fatalſte Verſchränkung der Umſtände, durch ein
doppeltes und dreifaches Mißverſtändniß eine ſo un-
geheure Kluft gebildet hatte.
Indem unſer Maler ſich den Ausſichten eines
unbegränzten Glückes überläßt, mit jedem Tage der
völligen Entſcheidung deſſelben entgegenblickt und ſo-
[247] eben beſchäftigt iſt, der Gräfin ſeine Wünſche, ſeine
Anerbietungen in einem ruhig beſonnenen Briefe frei
und edel hinzulegen, ſpinnt ihm die Liebe ſelbſt durch
Conſtanze ein verrätheriſches Netz. Der redliche
Wille eines Freundes, der im Dunkeln ſeinen Zweck
hartnäckig verfolgte, ward zum Spiel eines ſchlimmer
oder beſſer geſinnten Schickſals: die ſorgſam aber
grillenhaft angelegte Mine, womit Larkens einen
gefährlichen Standpunkt der Perſonen nur leicht aus-
einander zu ſprengen dachte, hat ſich tückiſch entladen
und iſt im Begriff, ihrer Viere, und darunter ihn ſel-
ber, mit bitterm Unheil zu treffen, ſo daß man kaum
wüßte, wer von Allen am meiſten zu bedauern ſey,
wenn es nicht jenes unſchuldige Mädchen iſt, um deſ-
ſen gerechtes Wohl es ſich von Anfang an handelte.
Aber, ſcheint Conſtanze unſer Mitleid verſcherzt zu
haben, ſeitdem ſie ſich zu einer heftigen Rache hinreiſ-
ſen ließ und derſelben einen falſchen Grund unterzu-
ſchieben wußte, ja ſeitdem es den Anſchein hat, als
wolle ſie ſich an einen zweideutigen Verehrer weg-
werfen, ſo werden wir doch billig genug ſeyn, uns
den Zuſtand eines weiblichen Herzens zu vergegen-
wärtigen, das auf’s grauſamſte getäuſcht, von der
Höhe eines herrlichen Gefühls herabgeſtürzt, an ſich
ſelber, wie an der Menſchheit, auf einen Augenblick
irre werden mußte. Was Theobalden ſelbſt be-
trifft, ſo ſehen wir ſchon jezt, wie ſich ein zwar ſehr
verzeihliches, aber dennoch übereiltes Mißtrauen in
[248] der Liebe durch ein ganz ähnliches an ihm beſtraft,
und wir wollen erwarten, ob dieſe harte Züchtigung
mehr zu ſeinem Unglück oder zu ſeinem Heile aus-
ſchlagen ſoll.
Die auf Befehl des Herzogs geſchehene Konfis-
kation des verdächtigen Spielkäſtchens war den Freun-
den ſchon kein gutes Zeichen. Larkens gerieth in
Wuth über dieſen abgeſchmackten Gewaltſtreich, wie
er’s nannte. Mögen ſie ſich doch, rief er dem Ma-
ler zu, die Zähne ausbeißen an dieſen armſeligen ver-
klexten Gläſern! und dem erſten Schöpſen, der die
Naſe in mein argloſes Machwerk ſtecken wird, ſchlage
der Geiſt des alten Nikolaus nur tüchtig hinter’s
Ohr, zur Erleichterung des kritiſchen Verſtändniſſes!
Theobald wollte den Herzog ſelbſt belehren,
der Schauſpieler gab es nicht zu, indem er behauptete,
man müſſe dem Pack den Gefallen nicht thun, man
müſſe abwarten, bis die Maus ſelbſt aus dem unheil-
ſchwangern Berg hervorſpringe und die Dummheit
ſich proſtituire. Da demungeachtet der Maler in ſei-
ner gütlichen Abſicht den fürſtlichen Gönner aufſuchte,
ward er zu ſeiner größten Beſtürzung und Verdruß
nicht vorgelaſſen. Ganz troſtlos aber machte es ihn,
als er ſich ſeine lezte Zuflucht zu Zarlin’s auf glei-
che unerhörte Weiſe abgeſchnitten ſah. Er wußte ſich
nicht zu helfen, nicht zu rathen, er hätte mit Freu-
den den Haß des ganzen Hofes auf ſich geladen, wenn
er nur über Conſtanze hätte ruhig ſeyn können.
[249]
Inzwiſchen ward jene mißliche Sache durch einen
neu hinzugetretenen Umſtand gar ſehr verſchlimmert,
ja ſie bekam eine völlig veränderte Geſtalt. Wie im-
mer ein Uebel das andere erzeugt und in ſolchen Fäl-
len des Unheils kein Ende iſt, ſo hatten einige Stim-
men nicht ermangelt, bei dieſer Gelegenheit an gewiſſe
vor längerer Zeit anhängig gemachte und zum Theil
wirklich erhobene Kriminalfälle, geheime Umtriebe be-
treffend, zu erinnern, und obgleich dieſe Dinge bereits
für abgethan galten, ſo glaubte man doch keinen un-
bedeutenden Nachtrag hinter dem Schauſpieler ſuchen
zu müſſen.
Der unruhige Geiſt, welcher, von gewiſſen poli-
tiſchen Freiheitsideen ausgehend, eine Zeitlang die
Jugend Deutſchlands, der Univerſitäten beſonders, er-
griffen hatte, iſt bekannt. Die Regierung, von wel-
cher hier die Rede iſt, behandelte dergleichen Gegen-
ſtände mit um ſo größerer Aufmerkſamkeit, als ſich
entdeckte, daß immer auch einige durch reiferes Alter,
Geiſt und übrigens unbeſcholtenen Charakter ausge-
zeichnete Männer nicht verſchmäht hatten, an ſolchen
Geheimverbindungen, im weiteren oder engeren Sinne,
Theil zu nehmen. So hegten denn namentlich zwei
genaue Bekannte unſere Schauſpielers dieſe gefähr-
liche Tendenz mit vieler Vorliebe, und der Leztere,
weit entfernt von jedem ernſtlichen Intereſſe an der
Sache, verbarg dieſen Leuten gegenüber ſeine Gleich-
gültigkeit und Geringſchätzung hinter der Maske des
[250] feurigſten Enthuſiaſten, indem er ſich das Vergnügen
nicht verſagen konnte, ſeine Genoſſen auf eine jeden-
falls unverantwortliche Weiſe zum Beſten zu haben.
Er ſchrieb ihnen Briefe voll ſchwärmeriſchen Schwungs,
machte die abſurdeſten Vorſchläge und wußte den Ver-
dacht einer bloßen Aefferei durch eine kunſtvolle iro-
niſche Einkleidung, durch abwechſelnd vernünftige Ge-
danken, ſo wie durch die höchſte Konſequenz in der
perſönlichen und mündlichen Darſtellung zu entfernen,
ſo daß ihn die Geſellſchaft zwar für ein ſeltſam über-
ſpanntes, doch aber höchſt talentvolles Mitglied an-
ſprach, wenn es gleich an einzelnen klugen Köpfen nicht
fehlte, die ihm heimlich mißtrauten und ſcharf auf die
Finger ſahen; er bemerkte dieß, ſpielte den Gekränkten,
zog ſich noch eben zu rechter Zeit zurück und erhielt ge-
gen das Verſprechen der tiefſten Verſchwiegenheit ſeine
ſchriftlichen Aufſätze ſämmtlich zurück. Als es zwei
Jahre nachher von Staats wegen zur Unterſuchung
und Aufhebung der Verbrüderten kam, und entfern-
terweiſe auch ſeiner erwähnt ward, konnte es ihm bei
der Diskretion der Bundesgenoſſenſchaft wirklich ge-
lingen, ſich wie ein Aal aus der Klemme zu winden,
während andere, zum Theil ſchon in öffentlichen Aem-
tern ſtehende, Männer zu nachdrücklicher Beſtrafung
gezogen wurden. So erfreute er ſich geraume Zeit
einer guten Sicherheit, aber ſein frevelhafter Muth-
wille ſollte nicht ungerächt bleiben. Das berüchtigte
Schauſpiel rief die alten Erinnerungen wieder hervor,
[251] übelwollende, wichtig thuende Aufklauber übten ſo-
gleich ihre ganze Geſchäftigkeit, und der König ſah
ſich bewogen, einen ſo verhaßten Gegenſtand aber-
mals in öffentliche Anregung zu bringen. Der Her-
zog, ſeinerſeits an die Erheblichkeit dieſes neuen Ver-
dachtes keineswegs glaubend, bedauerte dieſe höchſt
verdrießliche Wendung der ohnehin ſo ſchief gedrehten
Geſchichte um ſo aufrichtiger, je weniger Freund Nol-
ten ungefährdet dabei bleiben konnte, und je weniger
er ſelbſt ſich verhehlte, daß vielleicht einige glücklich an-
gebrachte Winke von ihm hingereicht haben würden,
den erſten ſchwierigen Eindruck des bewußten Gedich-
tes zu vernichten, und ſo jedem weitern Nachhalle vor-
zubeugen. Er ſah nur zu deutlich ein, wie es am
Ende doch jenes einzige Wort aus Conſtanzens
Munde geweſen, was ſeine Schritte geirrt und ſeine
verſöhnliche Geſinnung mit einem geheimen Aber an-
geſteckt habe. Jezt konnte an eine Vertuſchung nicht
mehr gedacht werden, und Alles nahm ſeinen ſtrengen,
geſetzlichen Gang.
Wie ein Donnerſchlag traf es die Freunde, als
ihre Verhaftung nun wirklich erfolgte. Eine Kommiſ-
ſion ward beauftragt, ihre Papiere zu durchſuchen, und
zum Unglück kam dieß Alles ſo raſch, ſo unvermuthet,
Beide hatten ſo gar keine Ahnung von den neueſten
Gerüchten, daß Larkens nicht von Weitem daran
dachte, jene verfänglichen Briefe [auf] die Seite zu ſchaf-
fen; denn leider waren ſie noch vorhanden, er hatte
[252] die Vertilgung ſo merkwürdiger Aktenſtücke nicht über
ſich vermocht, vielmehr lagen ſie über die Zeit der er-
ſten Unterſuchungen als geheimes Depoſitum in dem
Hauſe eines unverdächtigten Bekannten, ſpäter nahm
ſie der Verfaſſer wieder zu ſich und ein verſiegeltes
Portefeuille in ſeinem Pult verwahrte den verrätheri-
ſchen Schatz. Wie ſehr der Umſtand unſern Schauſpie-
ler beunruhigen mußte in dem Augenblick, als ihm die
Feſtnehmung ſeiner eigenen Perſon das Ernſtliche der
Abſicht genugſam bewies, läßt ſich denken; denn daß
man die Briefe finden würde, daß der Inhalt, obwohl
höchſt komiſcher Natur, gar ſehr gegen ihn zeugen müſſe,
war zu erwarten.
Die Beiden wußten kaum, wie ihnen geſchah, als
ſie ſich eines Morgens in zwei abgeſonderte Zimmer
des ſogenannten alten Schloſſes zu trauriger Einſam-
keit verwieſen ſahen. Leopold und Ferdinand
waren theilnehmende Begleiter auf dem verhaßten
Gange. Beim Abſchied konnte Nolten kein Wort
vorbringen, kaum fand er Gelegenheit, dem Bildhauer
ein kurzes Billet an den Grafen nochmals zu empfeh-
len. Larkens’s Benehmen drückte einen knirſchenden
Schmerz aus, er kehrte das Geſicht ab, während er
Noltens Hand zum lezten Mal faßte.
Wenn der Menſch von einem unerwarteten Strei-
che des ungerechteſten Geſchickes betäubt ſtille ſteht und
ſich allein betrachtet, abgeſchloſſen von allen äußeren
mitwirkenden Urſachen, wenn das verworrene Geſchrei
[253] ſo vieler Stimmen immer leiſer und matter im Ohre
ſummt, ſo geſchieht es wohl, daß plötzlich ein zuver-
ſichtliches, fröhliches Licht in unſerm Innern aufſteigt,
und mit Heiterkeit ſagen wir uns, es iſt ja nicht mög-
lich, daß dieß Alles wirklich mit mir geſchieht, ungeheu-
rer Schein und Lüge iſt es! Wir fühlen uns mit
Händen an, wir erwarten, daß jeden Augenblick der
Nebel zerreiſſe, der uns umwickelt. Aber dieſe Mau-
ern, dieſe ſorgſam verriegelte Thür wieſen dem armen
Maler mit frecher Miene ihr feſtes unbezwingliches
Daſeyn. Erſchüttert, mit lautem Seufzen ließ er ſich
auf den nächſten Stuhl nieder, ohne einmal an das
Fenſter zu treten, das ihm eine weite Ausſicht in’s
Freie und ſeitwärts einen kleinen Theil der Stadt
freundlich und tröſtlich hätte zeigen können. In der
That hatte das Zimmer eine angenehme Lage, in dem
oberſten Theil des ohnehin hochgelegenen, alterthümli-
chen, hie und da noch befeſtigten Gebäudes. Dieſer
Eine Flügel war, die Wohnung des Kommandanten
und des Wärters ausgenommen, ganz unbewohnt, von
einer andern Seite, wo Garniſon lag, tönte zuweilen
ein munterer militäriſcher Klang, Trommel und Muſik
nicht allzu geräuſchvoll. Auch die nächſten Umgebun-
gen Theobalds nahmen ſich eben nicht ſehr düſter
aus, die Wände rein geweißt und trocken, die Eiſen-
ſtäbe vor den Fenſtern weit genug, um nichts zu ver-
dunkeln, die Heizung regelmäßig, ſo weit die herankom-
mende Frühlingszeit ſie nicht gar entbehr[e] ich machte.
[254] Aber an der nothdürftigſten Unterhaltung mit Büchern,
Schreibzeug und dergleichen fehlte es, und jede Art von
Material für den Künſtler insbeſondere ſchien ausdrück-
lich verwehrt. Auch dachte unſer Gefangener für jezt
noch an alle das keineswegs; vielmehr liefen ſeine Ge-
danken mit der Geliebten, mit dem ganzen zerriſſenen
und verhüllten Bilde ſeiner Zukunft beſchäftigt, immer
in demſelben Schwindelkreiſe, wie an einem unüber-
ſteiglichen, von keiner Seite zugänglichen Walle, ver-
zweifelnd hin und her. Und wenn er ſich das Aergſte,
das Aeußerſte vorgehalten, ſo kam ihm doch ſtets wie-
der der Glaube an Conſtanzens richtiges Gefühl, an
ihre Klarheit, ihre treue Geſinnung muthig entgegen.
Sie mochte ihn damals abgewieſen haben, weil ihre
Stellung zum Hofe ihr dieſen Zwang auflegte, ſie mochte
ſelbſt, auf kurze Zeit vom allgemeinen Irrthum ange-
ſteckt, einigen Unwillen hegen, aber ihr Herz werde ihn
frei ſprechen, werde mit ihm leiden, ſie ſelbſt werde
eine Milderung des gegenwärtigen Uebels zu befördern
wiſſen. Dieſe ſeine Hoffnung, gewann nach und nach
ſo viel Stärke, daß ihm die Geſtalt der ſchönen Frau
nicht anders als mit dem Ausdruck mitleidiger Liebe
wie ein Friedensbote vorſchwebte, ja zulezt mit dem
reizenden Ungeſtüm einer angſtvollen Braut, welche
die Befreiung des Verlobten fordert. Aber furchtbar
laſtete die Zeit der Ungewißheit auf ihm, bis er den
erſten gütige[n]. Laut von ihr vernehmen könnte! Jenes
Billet an den Grafen — kaum erinnerte er ſich der
[255] haſtig hingeworfenen Worte — drückte eigentlich nur
eine lebhafte Betheurung ſeiner Unſchuld, einen ſchmerz-
lichen Klageton aus, der hauptſächlich auf das Gemüth
Conſtanzens berechnet ſeyn mochte. Ein früher ent-
worfenes Schreiben an die Leztere, wovon wir oben et-
was geſagt, hatte er mit ſich hieher gebracht; er las
jezt dieſe gemäßigten, freudig hoffenden, kühn verſpre-
chenden Linien auf’s Neue; er glaubte die Theure vor
Augen zu haben, ihre zarte Hand zu ergreifen, ihre
Zuſage zu hören, den Hauch ihres Mundes zu fühlen,
und ach! wie ſtumpfte dann wieder der Anblick dieſer
Zelle gegen den lebendigſten Traum!
Larkens an ſeinem Orte quälte ſich nicht weni-
ger mit Zweifeln und Sorgen auf und nieder. Es ent-
behrte ſeine Phantaſie der immer noch lieblichen Hin-
terg [...]nde, womit jener Leidensbruder ſich ſeinen Zu-
ſtand aufſchmeichelte. Ueberdieß mußte er nach einer
Aeußerung, die ihm privatim zugekommen war, und die
er ſchonungsvoll für ſich allein behalten, die Ausſicht
auf baldige Losſprechung viel weiter hinaus denken, als
man ſonſt geneigt war; und er empfand dieß um ſo
peinlicher, je mehr er alle Schuld dieſes doppelten Miß-
geſchicks auf ſich zurückführte. Für die auswärtigen
Angelegenheiten ſeines Freundes glaubte er indeſſen
vorläufig dadurch geſorgt zu haben, daß, er auf den
Fall eines längeren Stillſtandes im ſchriftlichen Ver-
kehr mit Agnes, dieſe unter Vorſchützung einer Ge-
ſchäftsreiſe beruhigte. Einigen Vortheil für ſeinen ge-
[256] heimen Plan fand er in der Entfernung Noltens von
der Perſon Conſtanzens. Aber dieſer kleine Ge-
winn, wie theuer erkauft! Und bedachte er vollends,
was er ſelbſt entbehre durch die Trennung von Theo-
bald, was in ſolcher Widerwärtigkeit der Troſt eines
gemeinſamen Geſpräches wäre, erwog er die Unmöglich-
keit, ſich auch nur durch einen Buchſtaben von Zeit zu
Zeit wechſelsweiſe mitzutheilen und anzufriſchen, ſo
hätte er laut toben, er hätte aufſchreien mögen über
die Einförmigkeit eines Daſeyns, wovon er, der unge-
bundene, keck verwöhnte und reizbare Menſch nie einen
Begriff gehabt. Die einzige Hoffnung ſezte er auf ein
Verhör.
Schon waren einige Tage verſtrichen, als die Lage
der Beiden durch die zugeſtandene Erholung mit Lektüre
bereits erträglicher zu werden verſprach, doch Larkens
wies dergleichen ſtarrſinnig von ſich, und während Nol-
ten bei allem erdenklichen Leidweſen doch den Vorzug
genoß, daß ihm theils die Liebe, theils ein zu Hülfe
gerufener Künſtlerſinn immer neuen Stoff zu innerlicher
Belebung zuführte, ſo verſank der Schauſpieler gar
bald in die Finſterniß ſeines eigenen Selbſt, er wurde
die freiwillige Beute eines feindſeligen Geiſtes, den
wir bisher nur wenig an ihm kennen gelernt, weil er
ihn ſelber bis auf einen gewiſſen Grad glücklich genug
bekämpft hatte. Um uns übrigens hierin ganz ver-
ſtändlich zu machen, wird folgender Aufſchluß hinreichen.
Von vermögenden Eltern herkommend, ohne ſorg-
[257] fältige Erziehung von Hauſe aus, bezog er ſehr jung
die Akademie, wo er, keinen feſten Plan im Auge,
neben einem luſtigen kameradſchaftlichen Treiben den-
noch ſchöne philoſophiſche und äſthetiſche Studien machte.
Eine Reiſe nach England und die Höhe des dortigen
Schauſpielweſens bekräftigte den Entſchluß, ſich mit
höchſtem Ernſte dieſer Kunſt zu weihen. Seine erſte
theatraliſche Schule begleiteten bereits öffentliche Pro-
ben auf einem der angeſehenſten Schauplätze, und die
Aufmerkſamkeit des Publikums wurde zur Bewunde-
rung, als er, obwohl ungerne, dem Rathe eines er-
fahrnen Mannes folgend, ſich eine Zeitlang in durch-
aus komiſchen Repräſentationen erging. In dem Maße,
wie er, einem ſonderbaren Naturzwang zufolge, wieder
zum Ernſthaften einlenkte, nahm der allgemeine Bei-
fall ab, und ſo ſchwankte er unbefriedigt, mißlauniſch
ein volles Jahr hin und her, ohne einſehen zu wol-
len, welchem von beiden Fächern er ſein Talent zu-
wenden müſſe. Dazu kam der Uebelſtand, daß dem
praktiſchen Künſtler ſeine poetiſche Produktivität viel-
mehr hinderlich als förderlich war; er wollte im Reiche
ſeiner eigenen Dichtung leben und empfand es übel,
wenn ihn mitten in der ſchaffenden Luſt das Hand-
werk ſtörte, was um ſo unvermeidlicher war, da ſeine
Arbeiten ganz außer der allgemeinen Bühnenſphäre
lagen und nur von einem engen Freundeskreiſe ge-
faßt und geſchäzt werden konnten. Dieſer widrige
Konflikt des Dichters und des Brodmenſchen brachte
17
[258] die erſten Stockungen und Unordnungen in ſeinem
Leben hervor; aus Verdruß über die Unausführbar-
keit ſeiner höhern Geiſteswelt warf er ſich in den
Strudel der gemeinen, und die Leidenſchaften, welche
er durch kunſtmäßige Darſtellung im ſchönen Gleich-
gewichte mit ſeinem beſſern Selbſt zu erhalten gedacht
hatte, ließ er jezt in zügelloſer Wirklichkeit raſen.
Um jene Zeit hatte ſich unter ſeinen Freunden
die eigene Sucht hervorgethan, ſich durch Erfindung
und Durchführung fein angelegter Intriguen zu zeigen.
Larkens ſpielte in einem gutartigen Sinne hierin
gerne den Meiſter, aber leider verwickelte ihn dieß
Unweſen bald mit einer, als ſchön und witzig gleich
bekannten, Schauſpielerin, ein Umgang, der ihn bald
in einen Wirbel der verderblichſten Genüſſe niederzog.
Sein Beruf ward ihm leidige Nebenſache, und, mehr
als Einmal im Begriffe, verabſchiedet zu werden, er-
hielt er ſich nur dadurch, daß er von Zeit zu Zeit
durch eine Vorſtellung, worin er allem Genie aufbot,
die Gunſt ſeiner Leute gewaltſam an ſich riß. Mit
Schmerzen blickte man ihm nach, als er freiwillig
den Ort verließ, welcher Zeuge ſeiner traurigen Ver-
ſunkenheit geweſen. Er entſagte dem unwürdigen
Leben, raffte ſich zu neuer Thätigkeit auf, und ward
ein erfreulicher Gewinn für die Stadt, worin wir ihn
ſpäter als Noltens Freund kennen lernten. Aber
jene fleckenvolle Zeit ſeines Lebens hinterließ auch
dann noch eine unüberwindliche Unruhe, eine Leere
[259] bei ihm, als er ſeine ſittliche und phyſiſche Natur
längſt mit den beſten Hoffnungen aus dem Schiffbruch
gerettet hatte. Des heiteren geiſtreichen Mannes be-
mächtigte ſich eine tiefe Hypochondrie, er glaubte ſei-
nen Körper zerrüttet, er glaubte die urſprüngliche
Stärke ſeines Geiſtes für immer eingebüßt zu haben,
obgleich er den zwiefachen Irrthum durch tägliche
Proben widerlegte. Wie oft hielt er Theobalden,
wenn dieſer bemüht war, ſeine Grillen zu verjagen,
mit wehmüthigem Lachen das traurige Argument ent-
gegen: „Das Bischen, was noch aus mir glänzt und
flimmt, iſt nur ein deſperates Vexir-Lichtchen, durch
optiſchen Betrug in euren Augen vergrößert und ver-
ſchönert, weil ſich’s im trüben Hexendunſte meiner
Katzen-Melancholieen bricht.“ Mit ſolchen Ausdrücken
konnte er ſich ganze Stunden gegen Theobald er-
hitzen, und erſt nachdem er ſich gleichſam völlig zer-
fezt und vernichtet hatte, gewann er einige Ruhe,
eine natürliche Heiterkeit wieder, wobei er, nach dem
Zeugniß Aller, die ihn umgaben, unglaublich ſanft und
liebenswürdig geweſen ſeyn ſoll. Außer Theobald
und etwa einem andern früheren Vertrauten kannte
ihn jedoch keine Seele von dieſer ſchwermüthigen Seite,
er wußte ſie trefflich zu verbergen, und ſein Betragen
auf dieſen Punkt gab ſelbſt dem Menſchenkenner nie-
mals eine Blöße. Inzwiſchen war der gute Einfluß
nicht zu mißkennen, den Noltens Umgang, ſein kräf-
tiger Sinn, auf jenes verdunkelte Temperament aus-
[260] übte, denn wenn gleich unſer Maler ſelbſt an einer
gewiſſen Einſeitigkeit leiden mochte, ſo war doch ſein
ſittlicher Grundcharakter unerſchütterlich, und ein Stre-
ben nach voller geiſtiger Geſundheit beurkundete ſich
zeitig in der mehr und mehr zum Allgemeinen auf-
ſteigenden Richtung ſeiner Kunſt, mit Bereinigung alles
deſſen, was ihm von einer phantaſtiſchen Entwicklungs-
periode noch anklebte. Larkens ſchöpfte mit Luſt
aus dieſer Quelle ein reines Waſſer auf ſein dürres
Land, er hielt ſich leidenſchaftlich an den neuerworbe-
nen Freund, ohne doch dieſe Inbrunſt ſtürmiſch im
Worte zu verrathen; vielmehr gerieth er unwillkürlich
in die gemäßigte Rolle eines Mentors hinein, eines
Meiſters, welcher durch eigenen unſäglichen Schaden
klug geworden, dem Jüngern gar wohl gelegentlich
auf die rechte Spur helfen zu können glaubt. Und
indem er ſo am raſchen Strom eines in jugendlicher
Fülle ſtrebenden Geiſtes Theil nahm, erwuchs ihm
ein neues Zutrauen zu ſich ſelber, die Schuppen ſeines
veralteten Weſens fielen ab, eine friſche Bildung er-
ſchien darunter. Immer ſeltener wurden jene ſelbſt-
quäleriſchen Ausbrüche, ja ſie verſchwanden zulezt
völlig; was Wunder, daß nun ein Gefühl von Dank-
barkeit ihn unſerem Freunde auf ewig verband, daß
er ſich’s zur Pflicht machte, mit aller Kraft für das
Wohl des Geliebten zu arbeiten? Mögen wir auch
an einem auffallenden Beiſpiele, das er von dieſem
warmen Eifer gab, einen Hang zum Seltſamen keines-
[261] wegs verkennen, ſo war die Intention dennoch die
lauterſte, brüderlichſte, und wer wollte ihm verargen,
wenn er bei der zarten Pflege, die er einem gebro-
chenen Liebesverhältniß widmete, zugleich ſeinem Her-
zen den Triumph bereitete, welcher in dem Zeugniß
lag, daß er als ein vielverſuchter Abenteurer ſich den-
noch mit unſchuldiger Innigkeit an der eingebildeten
Liebe eines engelreinen Weſens erfreuen konnte, eines
Mädchens, das er nie mit Augen geſehen und an
deſſen Beſitz er niemals gedacht hatte, ſo wünſchens-
werth er auch erſcheinen mochte. Gerne begnügte er
ſich mit der Fähigkeit, ein ſchönes Ideal noch in ſich
aufnehmen und außer ſich fortbilden zu können; er
fing an, mit ſich ſelber, mit der Welt ſich zu verſöh-
nen. So weit war Alles in gutem Geleiſe: nun
aber herausgeriſſen aus aller Thätigkeit, aus einem
geſellig zerſtreuenden Leben, dem Elemente ſeines Da-
ſeyns, gefoltert überdieß von dem Gedanken, einem
theuren Freunde Veranlaſſung zu bedenklichem Unfalle
geworden zu ſeyn, erwehrte er ſich eines allgemeinen
Trübſinnes nicht mehr, die alten Wunden brachen
wieder auf, geſchäftig wühlte er darin, Vergangenheit
und Gegenwart floſſen in ein grinzendes Bild vor ihn
zuſammen, er betrachtete ſich als den Elendeſten der
Menſchen, er verlor ſich mit Wolluſt in der Vorſtel-
lung, daß dem Manne, durch Schuld und Jammer
überreif, die Macht gegeben ſey, das Leben eigenwillig
abzuſchütteln. Je gewiſſer er im äußerſten Falle auf
[262] dieſe lezte Freiſtatt rechnen konnte, und je ruhiger er
nach und nach den entſetzlichen Gedanken beherrſchen
lernte, deſto mehr gewann ſein Gemüth auf der an-
dern Seite an Freiheit und an Muth, die nächſte
Zukunft duldend abzuwarten; ſein Zuſtand wurde mil-
der, ſogar heiterer.
Eine unerwartete Unterbrechung dieſes brütenden
Stilleſitzens, ſo angenehm ſie erſchien, wollte ihn doch
beinahe ſtörend überraſchen, da er die erſten Fäden
einer allmähligen Verpuppung durch den Zudrang
friſchen Lebenshauches wieder zerriſſen, und ſich ſelbſt
zu neuer Hoffnung aufgemuntert ſah. Denn eines
Morgens, in der vierten Woche der Gefangenſchaft,
trat der Kommandant in’s Zimmer, mit der Nachricht:
es ſolle beiden Herren erlaubt ſeyn, zuweilen einen
und den andern Freund bei ſich zu ſehen, doch Jeder
nur auf ſeinem eigenen Zimmer und ohne daß die
Gefangenen ſelbſt zuſammengeführt würden. Larkens
dankte ſo gut er konnte, beſonders verdroß ihn die
lezte Bedingung; auch hatte der Offizier einem weite-
ren guten Vorurtheil, das man aus dieſer Vergün-
ſtigung ziehen mochte, nicht undeutlich vorgebeugt,
und überdieß vermuthete Larkens, daß man dieſe
Gunſt nur der beſonderen Attention des Herzogs ge-
gen Nolten zu verdanken habe.
Den erſten Abend brachten Ferdinand und
Leopold bei Theobald zu, den folgenden bei dem
Schauſpieler, wozu ſich noch ein dritter Freund an-
[263] ſchloß. So lebhaft ein ſolches Wiederſehen ſeyn
mußte, ſo freundlich die lieben Gäſte mit Neuigkeiten
aller Art und mit dem beſten Weine zu Belebung der
Gemüther das Ihrige thaten, ſo war es doch nur er-
zwungene Freude, und Theobald wußte ſich um ſo
weniger zu laſſen, da er gleich Anfangs hören mußte,
daß ſein Billet an Zarlin zwar angenommen wor-
den, daß jedoch bei einem Beſuche, welchen Leopold
im Hauſe gemacht, der Graf bloß ein allgemeines,
ziemlich kühles Bedauern geäußert habe. In ſo fern
Leopold nichts von der wahren Beziehung wiſſen
ſollte, welche Noltens Intereſſe für jene Familie
hatte, ſo konnte dieſer nur durch entfernte Fragen
herauslauſchen, daß Conſtanze gar nicht ſichtbar,
auch keine Rede von ihr geweſen ſey.
Dieſe Lage der Dinge drückte nun freilich ſchwer
auf das Herz des geängſtigten Liebhabers, aber wie
ward ihm vollends zu Muthe, als der Bildhauer ſein
vor einigen Wochen ſchon gemachtes Anerbieten wie-
derholte, einen Brief an Agnes zu beſorgen, ja als
er gutmüthig äußerte, wie er die ganze Zeit her im
Zweifel geweſen, ob er nicht ſelbſt dieſe Pflicht über-
nehmen und dem Vater des Mädchens die leidigen
Begebenheiten ſchonungsvoll beibringen ſolle, wie ihn
aber ein Wort, das Larkens gleich Anfangs hierüber
fallen laſſen, dennoch beruhigt habe. „Ja wohl,“ ſagte
Nolten, „dafür iſt ſchon Rath geſchafft!“ und ver-
drängte dieſe Materie, während er im Stillen aus
[264] der ablehnenden Aeußerung, welche der Schauſpieler
gethan haben ſollte, nicht ganz klug werden konnte,
und überhaupt auf die traurigſten Kombinationen
verfiel.
Die Art, wie Larkens die Beſuche aufnahm,
war im Grunde anſprechender, denn er ſezte von jeher
einen Vorzug darein, ſich vor Menſchen zuſammenzu-
nehmen und eine wohlwollende Annäherung, auch wenn
ſie zur Unzeit kam, gutmüthig, zart und gefällig zu er-
wiedern. Die Nachricht aber, womit man ihn beſon-
ders zu erfreuen dachte, daß das Theater und deſſen
Liebhaber herzlich und laut um ihren beſten Liebling
trauern, nahm er gleichgültig auf und er wollte nichts da-
von hören. Die Urtheile der Stadt im Allgemeinen
betreffend, hieß es, man trage ſich mit allerlei übertrie-
benen Meinungen von dem Vergehen der Verhafteten;
die Vernünftigen zucken die Achſel, Niemand wolle
an eine gänzliche Unſchuld der Beiden glauben. Auch
hatten indeſſen drei Verhöre ſtatt gefunden, ohne daß
man dadurch einer glücklichen Entſcheidung um Vieles
näher gerückt wäre.
War der Zuſtand unſeres Paares unter dieſen
Umſtänden beklagenswerth genug, ſo ſollte noch die
ſchwerſte Prüfung über den Maler ergehen, indem ſich
auf alle die heftigen Erſchütterungen ein Fieber bei
ihm ankündigte, das der Arzt ſogleich für bedeutend
erkannte. Der Kranke verließ ſeit drei Tagen das Bett
nicht mehr, häufig lag er ohne Bewußtſeyn da und in
[265] freieren Stunden war das Gefühl ſeines Elends nur
um ſo ſtärker; die Phantaſien der Fieberhitze ſezten ihr
grelles Spiel auch im Wachen fort und ſchleuderten
den Gequälten in unbarmherzigem Wechſel hin und
her. Bald nahte ſich Conſtanze ſeinem Lager, und
wenn ſein inniger Klageton ihr Mitleid, ihre Liebe an-
ſprach, wenn ſich die edle Geſtalt ſo eben über den Lei-
denden herzuſenken ſchien, floh ſie entſezt und zürnend
wieder weg; bald zeigte ſich die verſtoßene Agnes an
der Thür, den ſtillen Blick betrübt auf ihn gerichtet,
bis ſie ſich nicht mehr hielt und lautweinend neben
ihm auf die Kniee ſtürzte, ſeine Hand mit tauſend Küſ-
ſen bedeckte und er die arme Reuevolle gleichfalls lieb-
reich an ſich herzuziehen genöthigt war.
Dergleichen Vorſtellungen, worin ſich der Reſt
ſeiner Neigung zu jenem verkannten liebenswürdigen
Kinde nun auf dem durch Krankheit und Schwäche er-
weichten Grunde ſeines Gemüthes ſonderbar und leb-
haft abſpiegelte, wiederholten ſich immer häufiger und
waren um ſo weniger abzuweiſen, da ſie ihm zunächſt
durch einen ſeltſamen Zufall von Außen aufgedrungen
worden waren. Denn eines Morgens erwachte er vor
Tag aus einem unruhigen Halbſchlafe an einem weib-
lichen Geſang, der aus der Küche des Wärters unter
ſeinem Fenſter zu kommen ſchien. Der Inhalt des
Lieds, ſo wenig es ihm ſelber gelten konnte, traf ihn
im Innerſten der Seele, und die Melodie klang unend-
lich rührend durch das Schweigen der dunkeln Frühe,
[266] ja die Töne ſelber nahmen in ſeiner Einbildung
eine wunderbare Aehnlichkeit mit der Stimme Agne-
ſens an.
Zum Erſtenmale ſeit undenklicher Zeit fühlte Theo-
bald wieder die Wohlthat unaufhaltſamer Thränen.
Die Stimme ſchwieg, nichts unterbrach die Ruhe des
langſam andämmernden Morgens. Der Kranke barg
das Geſicht in die Kiſſen, ganz der Süßigkeit eines —
dennoch ſo bittern! Schmerzens genießend.
[267]
An demſelben Morgen bekam Larkens, da er
kaum das Bett verlaſſen hatte, von Leopold, dem
Bildhauer, einen Beſuch, der eigentlich Theobalden
beſtimmt war; auf die Nachricht vom Pförtner je-
doch, daß der Kranke nach einer erträglichen Nacht ſo
eben noch ruhig ſchlummere, wagte der Freund keine
Störung und ließ ſich das Zimmer des Schauſpielers
aufſchließen. Er fand den Leztern in der traurigſten
Stimmung, worein ihn die Sorge um Nolten ver-
ſezte, und Leopold, gleichfalls heftig bewegt, hatte
Mühe, ihn zu tröſten.
Nach einiger Zeit fing der Bildhauer an: „Nun
muß ich Ihnen eine Eröffnung machen, die freilich
zunächſt für Nolten gehörte, ſie betrifft einen Vorfall,
womit ich mich ſchon drei Tage herumtrage, ohne daß
ich Gelegenheit erhalten konnte, ihn einem oder dem
andern von Ihnen mitzutheilen; denn der Obriſt ſchlug
mir die Bitte zweimal ab, zumal da der Arzt den
Kranken ſo wenig als möglich durch Geſellſchaft beun-
ruhigt wiſſen will; geſtern bekam ich mit Noth auf
eine Stunde Erlaubniß; die Angſt um Nolten und,
ich darf wohl ſagen, auch meine Neuigkeit ließ mir
nicht Raſt noch Ruhe mehr. Das was ich mitzuthei-
len habe, iſt unerhört, iſt ganz unbegreiflich, für Nol-
ten taugt es unter gegenwärtigen Umſtänden auf kei-
nen Fall.“
„Nun, nur um Gotteswillen kein Unglück!“ ſagte
der Schauſpieler verdrießlich lächelnd über den langen
[268] Eingang; „ich meine ſchon von einer neuen Reſolution
hören zu müſſen, daß wir armen Tropfen am Ende
noch Karren ſchieben werden bei Waſſer und Brod?“
„Nichts! Setzen wir uns, und hören Sie. Es
war an dem Abend unſerer neulichen Zuſammenkunft;
ich und Ferdinand hatten Sie kaum verlaſſen, das
Schloß lag hinter uns, ich wollte ſo eben in die Prin-
zenſtraße einlenken, ſo zeigt mir ein zufälliger Seiten-
blick in die leere Kaſtanienallee, wo wir vorüber muß-
ten, ein weibliches Weſen ganz ruhig an einen der
Bäume gelehnt. Das Auge der Unbekannten begeg-
nete dem meinigen. Ich kam faſt von Sinnen beim
Anblick dieſer Phyſiognomie, denn — doch zuvor muß
ich fragen — Sie erinnern ſich wohl des tollen Ge-
mäldes von Nolten?“
„Welches?“
„Der Organiſtin.“
„Ganz wohl.“
„Und wenn ich Ihnen nun ſage, dieſe war’s,
werden Sie mir glauben?“
„Nicht, bis ich erſt ausgerechnet, wie viel Bouteil-
len wir damals getrunken.“
„Spaſſen Sie; es war heller Mondſchein, ich ſah
das Geſicht deutlich wie am Tage, und was meine Nüch-
ternheit betrifft —“
„Schon gut!“ unterbrach ihn Larkens aufſtehend
und ging einigemal nachdenklich auf und ab, indeſſen
Leopold fortfuhr. „Noch muß ich Ihnen gleich eine
[269] Schwachheit bekennen, lieber Larkens, und Sie mö-
gen mich immerhin darüber ausſchelten, aber wer in
aller Welt iſt ganz vor’m Aberglauben ſicher, ſonder-
lich unter ſolchen Umſtänden? Kaum war mir vorgeſtern
geſagt worden, Theobald habe ſich gefährlich krank
gelegt, ſo deutete ich mein Begegniß mit der geſpenſti-
gen Orgelſpielerin urplötzlich als ein Omen aus, denn
mir fiel ein, was man von Trauerfällen ſagt, welche
auf ähnliche Weiſe angekündigt worden. Und dieſer
dummen Furcht bin ich noch heute nicht ganz los, ob-
wohl ich recht gut weiß, daß die Erſcheinung keine
Viſion, noch Geſpenſt oder dergleichen, ſondern ein or-
dentliches Menſchenkind geweſen.“
„Aufrichtig geſprochen, mein Beſter,“ ſagte Lar-
kens, „ich zweifle an dieſer Apparition ſo gar nicht
im Mindeſten, daß ich Ihnen vielleicht ſelber den
Schlüſſel zu dem Räthſel geben kann. Doch, ſchwei-
gen Sie darüber gegen unſern Freund, verſprechen Sie
mir reinen Mund zu halten.“
„Gewiß, wenn Sie’s für nöthig finden.“
„Nun denn — aber zuvor wär’ ich begierig, wie
Ihr Abenteuer abgelaufen. Sie ſprachen die Perſon?“
„Mein Gott, nicht doch! denn (beinahe ſchäme ich
mich, es zu bekennen) die Erſcheinung beſtürzte mich
dergeſtalt, daß ich mich wohl drei- viermal im Ring
herum wirbelte, und während ich nach meinem zurück-
gebliebenen Begleiter umſah, war das Nachtbild ſchon
verſchwunden, auch mit aller Mühe nicht mehr aufzu-
[270] finden. Das Einzige erfuhren wir des andern Tages
zufällig von Theobalds Bedienten, daß eine Bettle-
rin, deren Beſchreibung mit jener Perſon vollkommen
zuſammenſtimmte, ſich Tags vorher in Noltens Hauſe
eingefunden und auf die Verſicherung, er ſey auf län-
gere Zeit abweſend, ſich wieder fortgeſchlichen. Alles
mein Fragen und Forſchen blieb fruchtlos.“
„Alſo“ — fing Larkens an — „merken Sie auf.
Zwei Tage vor der lezten Neujahrsnacht, die Ihnen
hoffentlich noch im Gedächtniß iſt, traf ich auf meinem
Hausflur ein Mädchen an, deſſen Aeußeres mich gleich
frappirte, und zwar eben auch in der von Ihnen ange-
gebenen Beziehung. Es war eine Zigeunerin, hoch,
ſchlank gewachſen, nicht mehr ganz jung, aber immer
noch eine wirkliche Schönheit, kurz die Aehnlichkeit mit
jenem Bilde bis auf wenig zwiſchenliegende Jahre voll-
kommen. Ein Korb mit hölzerner Schnitzwaare hing
ihr am Arme, allein meine erſte Ahnung, daß ſie wohl
in anderer Abſicht als des Verkaufs wegen hieherge-
kommen, beſtätigte mir bald ihre Frage nach einem
Maler, der hier wohnen ſollte; ſie zog einen Brief
hervor, es war die Handſchrift von Noltens Braut,
doch lautete die Adreſſe, ich weiß nicht mehr warum,
an mich, die Sendung ſelbſt gehörte für Nolten.
Es hatte nämlich die Zigeunerin auf ihren Streifzügen
auch Neuburg berührt und einen Gruß mit hieher ge-
nommen. Mir war die Perſon nach mehrfältigen Er-
zählungen Theobalds nichts weniger als fremd, aber
[271] je genauer ich um ihre frühere Berührung mit unſerm
Freunde wußte, deſto bedenklicher fand ich’s, ſo ohne
Weiteres zur Erfüllung ihres Wunſches beizutragen,
welcher dahin ging, den „ſchönen herrlichen Jungen,“
wie ſie ihn nannte, Einmal wieder zu ſehen. Wenig-
ſtens, dacht ich, müßte der herrliche Junge vorbereitet
werden, und bei näherer Betrachtung ſchien mir die
Hintertreibung einer ſolchen Zuſammenkunft das Si-
cherſte und Zweckmäßigſte. Ich gebrauchte allerlei Fin-
ten, ſie ein für allemal von jedem Verſuche abzuſchre-
cken; da indeſſen das närriſche Ding darauf beſtand und
ihr Verlangen eben ſo gerecht als arglos und treuher-
zig erſchien, ſo ſann ich auf Mittel, wie Nolten ihr
gezeigt werden könnte, ohne daß jedoch er ſie gewahr
würde. Das ließ ſich nun wohl auf verſchiedene
Weiſe machen. Mir gefiel aber, wie ich gern geſtehen
will, ein etwas romantiſch ſeltſamer Weg beſſer als
etwa ein ſimples Gucken durch Spalt und Schlüſſel-
loch, kurz, die Neujahrsmaskerade kam mir eben recht
zu Statten und“ —
„Was?“ rief Leopold verwundert, „am Ende
wird noch der Nachtwächter vom Albanithurm aus der
Geſchichte hervorſpringen!“
„Das erräth ſich nun leicht; ſo hören Sie kurz
noch den Hergang. Nachdem ich das Mädchen mit
meinem Plane bekannt gemacht, den ſie Anfangs frei-
lich gar nicht faſſen wollte; nachdem ſie mir ferner auf
eine mir unvergeßlich rührende Weiſe das Verſprechen
[272] gegeben, mit Willen ſchlechterdings nichts gegen meine
genaue Inſtruktion zu thun oder merken zu laſſen, ſo
diktirt’ ich ihr einige Seiten, welche ſie zu meiner
größten Freude mit fremden Zeichen ſchrieb, da ſie
unſere Buchſtaben nur ſehr ſchlecht zu machen wußte.
Aber es koſtete immer noch Mühe genug, bis ich ihr
meine Worte geſchickt in die Feder gegeben und noch
mehr, bis ſie ſich die Rolle einigermaßen angeeignet
hatte. Sodann ſchafft’ ich die nöthige Kleidung,
und wahres Vergnügen gewährte mir die naive Miene,
womit ſie ſich ſelbſt in ihrer idealiſchen Vermummung
betrachtete. Sie behandelte das Ganze mit einer ge-
wiſſen Feierlichkeit und gefiel ſich gar wohl dabei; ihre
Recitation freilich war hart und trocken, allein ihr Be-
griff von dieſer poetiſchen Figur ſo ziemlich richtig.
Sämmtliche Vorbereitungen geſchahen in einem abgele-
genen Zimmer außer dem Hauſe, wo ich Schauſpielern
beiderlei Geſchlechts zuweilen Unterricht ertheilte, ſo
daß mein jetziges Geſchäft Niemanden auffiel. Wie
anſtändig das Mädchen ſeine Sache machte, haben Sie
ja geſehen, und ich ſelbſt verwunderte mich im Stillen
über die glückliche Ausführung.“
Leopold ward kaum fertig, ſein Erſtaunen aus-
zudrücken, indem er ſich die Einzelnheiten der Neu-
jahrsfeier auf dem Thurme zurückrief. Da er nun um
ſo mehr Verlangen bezeugte, über die ſonderbare Per-
ſon der Zigeunerin und ihr früheres Verhältniß zu
Theobald eines Näheren belehrt zu werden, zeigte
[273] ſich der Schauſpieler nicht ungerne bereit; er wollte
ſo eben ſeine Erzählung beginnen, als er ſich bedenkend
inne hielt und endlich ſagte: „Wiſſen Sie was, mein
Lieber? Sie erfahren die kurze Geſchichte am beſten
aus einigen Blättern, worin ich dasjenige, was mir
Nolten im Anfange unſerer Bekanntſchaft vertraute,
treulich darzuſtellen geſucht habe, da mir die Begeben-
heit gar wohl der Aufbewahrung werth geſchienen; be-
ſonders merkwürdig iſt das mit dem Ganzen verfloch-
tene Schickſal eines gewiſſen längſt geſtorbenen Ver-
wandten der Nolten’ſche Familie, in deſſen Leben
überhaupt ich die prototypiſche Erklärung zur Geſchichte
unſeres Freundes zu finden glaube. Vor mehreren
Wochen entlehnte ein Bekannter das Heft von mir,
ich gebe Ihnen einige Zeilen an ihn mit und er wird
es Ihnen einhändigen. Durchläuft man dieß Bruch-
ſtück aus unſers Noltens Leben mit Bedacht, und
vergleicht man damit ſeine ſpätere Entwicklung bis auf
die Gegenwart, ſo erwehrt man ſich kaum, den wun-
derlichen Bahnen tiefer nachzuſinnen, worin oft eine
unbekannte höhere Macht den Gang des Menſchen
planvoll zu leiten ſcheint. Der meiſt unergründlich
verhüllte, innere Schickſalskern, aus welchem ſich ein
ganzes Menſchenleben herauswickelt, das geheime Band,
das ſich durch eine Reihe von Wahlverwandtſchaften
hindurchſchlingt, jene eigenſinnigen Kreiſe, worin ſich
gewiſſe Erſcheinungen wiederholen, die auffallenden
Aehnlichkeiten, welche ſich aus einer genauen Verglei-
18
[274] chung zwiſchen früheren und ſpäteren Familiengliedern
in ihren Charakteren, Erlebniſſen, Phyſiognomieen hie
und da ergeben (ſo wie man zuweilen unvermuthet
eine und dieſelbe Melodie, nur mit veränderter Tonart,
in demſelben Stücke wieder klingen hört), ſodann das
ſeltſame Verhängniß, daß oft ein Nachkomme die un-
vollendete Rolle eines längſt modernden Vorfahren aus-
ſpielen muß — dieß Alles ſpringt uns offener, überraſchen-
der als bei hundert andern Individuen hier am Bei-
ſpiele unſeres Freundes in das Auge. Dennoch wer-
den Sie bei dieſen Verhältniſſen nichts Unbegreifli-
ches, Grobfataliſtiſches, vielmehr nur die natürlichſte
Entfaltung des Nothwendigen entdecken. Die Spitze
des Ganzen beſteht aber in der Art und Weiſe, wie
unſer Freund als Knabe zur innigſten Vermählung mit
der Kunſt geleitet worden, deren urſprünglicher Cha-
rakter ſich noch heute in einem großen Theil ſeiner Ge-
mälde erkennen läßt. Genug, Sie mögen ſelbſt urthei-
len. Aber ach! was werden Sie bei dieſer Lektüre
fühlen, wenn Sie denken, daß eben derjenige, deſſen
ahnungsvolle Knabengeſtalt Ihnen in den Blättern be-
gegnet, nunmehr als Mann von der ſinnloſen Fauſt
eines fremdartigen Geſchickes aus ſeiner eigenen Sphäre
herausgeſtoßen, und noch ehe er die Hälfte ſeiner Rech-
nung abgeſchloſſen, hier in dieſen Mauern eilig ver-
welken und vergehen ſoll! Denn, o mein Freund! ich
fürchte Alles, und dieſer Kummer wird mich aufreiben,
wird mich noch vor Ihm tödten — und möchte er nur!
[275] Sehen Sie mich an; ich glaube zu fühlen und mein
Spiegel ſagt es mir, daß der Gram dieſer drei Tage
mich um doppelt ſo viel Jahre älter gemacht hat.
Still; ich muß abbrechen, wenn ich nicht von Sinnen
kommen will. Gehen Sie hinüber zu dem Armen und
drücken ihm die Hand im Namen des Larkens. Ach,
möcht’ ich ihn wenigſtens Einmal wieder von Angeſicht
ſehen! und doch — ich fürchtete mich davor.“
Leopold griff nach dem Hute und erbat ſich noch
die Anweiſung zu dem merkwürdigen Heft; da eben
der Schließer eintrat, ſäumte er nicht länger, um vor
Allem den geliebten Patienten zu beſuchen. Mit hei-
ßen Blicken ſah ihm der Schauſpieler nach, eine unbe-
gränzte Sehnſucht nach Theobald übermannte ihn,
aber umſonſt, die Thüre zog ſich zu und drüben hörte
er das Schloß zum Zimmer des Geliebten rauſchen.
So ſtand nun der Bildhauer vor dem Bette Nol-
tens, und heimlich entſezt über das äußerſt elende
Ausſehen des Kranken mußte er aller Faſſung aufbie-
ten, um ſeine Bewegung nicht zu verrathen. Den
Gemüthszuſtand Noltens konnte er im Ganzen nicht
gewahr werden, er ſprach wenig und nur angeſtrengt
mit matter Stimme. Einmal fragte er den Wärter,
wer doch des Morgens in aller Frühe unten in der
Küche ſo hübſch zu ſingen pflege? Etwas kleinlaut er-
widerte der Alte: „Meine Tochter. Ich will’s ihr
aber unterſagen, es ſchickt ſich nicht; und ach! das
Geſinge iſt noch ihr einzig Leben.“ Theobald bat
[276] ſehr, man möge das Mädchen ja nicht irre machen in
dieſen Unterhaltungen; er fragte, wie es komme, daß
ſie nur ernſte traurige Lieder zu kennen ſcheine? „Der
Henker weiß,“ war die Antwort, „woher ſie all das
Zeug herkriegt; ſie war von Kindheit auf ein närriſches
Ding, nicht auch luſtig und raſch wie die andere Ju-
gend, aber fleißig und verſtändig, und beſorgt mir Alles
in der Haushaltung ſeit ihrer Mutter Tod.“ Da der
Alte ſofort über den Verluſt ſeiner Frau, deren Tu-
gend er nicht genug rühmen konnte, in die beweglich-
ſten Klagen ausbrach, auch zulezt immer wärmer und
aufrichtiger werdend eine unglückliche Liebſchaft ſeines
Kindes auseinander zu ſetzen anfing, konnte man leicht
bemerken, wie angreifend ſolche Dinge auf Nolten
wirkten, daher Leopold dem Erzähler einen Wink
gab. Endlich ſchied der Bildhauer mit ungewiſſem be-
klommenen Herzen. Er eilte, nachdem er ſich zuvor
das bewußte Manuſcript verſchafft, allein aus dem Ge-
räuſche der Stadt, einen ſelten betretenen Weg verfol-
gend. Ein warmer, ſonnenheller Tag ſchmolz vollends
die lezten Reſte Schnee und Eis hinweg, eine erqui-
ckende Luft ſchmeichelte bereits mit Vorgefühlen des
Frühlings. So gelangt unſer ernſter Fußgänger, eh’
er ſich’s verſah, in die ländlichſte Umgebung, ein freund-
liches Dorf lacht ihm entgegen. Dort ſucht er nach
einem ſtillen Garten hinter dem nächſten beſten Wirths-
hauſe und findet auch bald ein hübſches erhöhtes Plätz-
chen zwiſchen Weinbergen mit Tiſch und Bank, von wo
[277] man die angenehmſte Ausſicht hat. Er beſtellt eine
Flaſche Wein, ſezt ſich und holt jene Schrift hervor,
deren Inhalt wir dem Leſer nicht vorenthalten
können.
Ein Tag aus Noltens Jugendleben.
Die Zeit war wieder erſchienen, wo der ſechs-
zehnjährige Theobald von der Schule der Haupt-
ſtadt aus die Seinigen auf zwei Wochen beſuchen durfte.
In dem Pfarrhauſe zu Wolfsbühl war daher gegen-
wärtig große Freude, denn Vater und Schweſtern (die
Mutter lebte nicht mehr) hingen an dem jungen blü-
henden Menſchen mit ganzem Herzen. Ein beſonders
inniges Verhältniß fand aber zwiſchen Adelheid und
dem nur wenig jüngern Bruder Statt. Sie hatten
ihre eigenen Gegenſtände der Unterhaltung, worein
ſonſt Niemand eingeweiht werden konnte; ſie hatten
hundert kleine Geheimniſſe, ja zuweilen ihre einige
Sprache. Es beruhte dieß zarte Einverſtändniß vor-
nämlich auf einer gleichartigen Phantaſie, welche in
den Tagen der Kindheit unter dem Einfluß eines
mährchenreichen, faſt abergläubiſchen Dorfes und einer
merkwürdigen Gegend die erſte Nahrung empfangen
und ſich nach und nach auf eine eigenthümliche und
ſehr gereinigte Weiſe ihren beſtimmten Kreis gezogen
hatte. Von der Richtung, welche die beiden jugend-
[278] lichen Gemüther genommen, war alſo, wie es ſchien,
nichts zn befürchten, und ſelbſt äußerlich wurde das
Verhältniß keineswegs einſeitig auf Koſten der übri-
gen drei minder empfänglichen Schweſtern unterhalten.
Es herrſchte eine gutmüthige heitere Verträglichkeit;
nur die ältere Tochter, Erneſtine, deren Sorge vor-
züglich das Hausweſen überlaſſen blieb, zeigte mitun-
ter ein finſteres, gebieteriſches Weſen, und ſie hatte
den Vater bereits mehr als billig war auf ihre Seite
gebracht.
An einem trüben Morgen in der lezten Zeit des
Oktobers ſpazierten Theobald und ſeine Vertraute
zuſammen im Gärtchen hinter dem Hauſe. Er er-
zählte ſo eben ſeinen Traum von heute Nacht und die
Schweſter ſchien ernſthaft zuzuhören, indeß ſie unver-
wandt nach der Seite hinüberblickte, wo die alte
Ruine, der Rehſtock genannt, tief in Nebel geſteckt
liegen mußte.
„Aber du gibſt nicht Acht, Adelheid! Ich habe
vorhin, um dich zu prüfen, abſichtlich den tollen Un-
ſinn in meinen ſonſt vernünftigen Traum hineinge-
bracht und du nahmſt es ſo natürlich wie zweimal
zwei vier.“
Das Mädchen erſchrack ein wenig über die Er-
tappung, lachte ſich jedoch ſogleich herzlich ſelber aus
und ſagte: „Ja richtig! ich hab nur mit halbem Ohr
gehört, wie du unaufhörlich von einer großen großen,
unterirdiſchen Kellerthür ſchwazteſt, welche endlich mit
[279] beiden Hinterfüßen nach dem armen Mann ausge-
ſchlagen habe. Indeſſen, was iſt im Traum nicht
Alles möglich? Gib mir aber keck eine Ohrfeige! ich
hatte fürwahr ganz andere Gedanken. Höre! und daß
du es nur weißt, wir gehen heute auf den Rehſtock.
Noch nie hab’ ich ihn an einem Tag geſehen, wie der
heutige iſt, und mich däucht, da muß ſich das alte
Gemäuer, die herbſtliche Waldung ganz abſonderlich
ausnehmen; mir iſt, als könnten wir heut Einmal
die Freude haben, ſo ein paar ſtille heimliche Wolken
zu belauſchen und zu überraſchen, wenn ſie ſich eben
recht breit in die hohlen Fenſter lagern wollen. Wie
meinſt du? Schlag ein. Wir werden’s vom Papa
ſchon erhalten, daß mir Johann das Pferd ſatteln
darf und du ſelbſt biſt ja rüſtig auf den Füßen. Wir
gehen gleich nach dem Frühſtück wo möglich ganz
allein, und kommen erſt mit dem Abend wieder.“
Dem Bruder war der Vorſchlag recht; es wurde
verabredet, man wolle alles Erdenkliche von Gefällig-
keit thun, um die Uebrigen günſtig zu ſtimmen. Adel-
heid flocht der ältern Schweſter, der eiteln Erne-
ſtine, dießmal den Zopf mit ungewöhnlichem Fleiße,
verlangte nicht einmal den Gegendienſt, und der Kuß,
den ſie dafür erhielt, war für die Beiden ungefähr daſſelbe
gute Zeichen, was für Andere, wenn ſie ein gleiches
Vorhaben gehabt hätten, der erſte Sonnenblick gewe-
ſen wäre. Ehe man es dachte, hat Theobald die
Sache bereits beim Vater vermittelt und bald ſtand
[280] der Braune mit dem bequemen Frauenſattel ausge-
rüſtet im Hofe. Man ließ das Pärchen ungehindert
ziehen. Der Alte brummte unter dem Fenſter mit
einem geſchmeichelten Blick auf die ſchlanke Reiterfigur
ſeines Mädchens bloß vor ſich hin: „Narrheiten!“
Erneſtine kreiſchte nur etwas Weniges zur Em-
pfehlung der zerbrechlichen, mit Mundvorrath gefüllten
Gefäße nach, welche der Knecht in einer Ledertaſche
nebſt den Schirmen hinten nachtrug, und die ehrlichen
Wolfsbühler, an das berittene Frauenzimmer längſt
gewöhnt, grüßten durch’s ganze Dorf auf das Freund-
lichſte.
Die Sonne hielt ſich brav hinter ihrem Verſteck
und der Tag behielt zu Adelheids größter Zufrie-
denheit „ſein mockiges Geſicht“ bei.
„Indem ich,“ hob ſie nach einer Weile an, „wohl
gute Luſt hätte, recht wehmüthig zu ſeyn, wie dieſer
graue Tag es ſelber iſt, ſo rührt ſich doch faſt wider
meinen Willen ein wunderlicher Jubel in einem klei-
nen feinen Winkel meines Innerſten, eine Freudigkeit,
deren Grund mir nicht einfällt. Es iſt am Ende doch
nur die verkehrte Wirkung dieſes melancholiſchen Herbſt-
anblicks, welche ſich von Kindheit an gar oft bei mir
gezeigt hat. Mir kommt es vor, an ſolchen trauer-
farbnen Tagen werde die Seele am meiſten ihrer ſelbſt
bewußt; es wandelt ſie ein Heimweh an, ſie weiß nicht
wornach, und ſie bekommt plötzlich wieder einen Schwung
zur Fröhlichkeit, ſie kann nicht ſagen woher. Ich freue
[281] mich der Freiheit auf meinem guten Pferde, ich wickle
mich mit kindiſchem Vergnügen in mein Mäntelchen
gegen die rauhe Luft, die da auf uns zuſtreicht, und
halte mir das ſichre Herze warm und wiege mich in
meinen Gedanken. Aber nicht wahr, als wir noch in
Rißthal wohnten, da war es ein Anderes, auszureiten?
Enges Thal, dichter Wald, wohin man immer ſah. Hier
das platte Feld und lauter Fruchtbaum. Wir haben
anderthalb gute Stunden, bis es ein wenig krauſer
hergeht. Glücklich, daß wir wenigſtens die Landſtraße
nicht brauchen.“
Beide Geſchwiſter durchliefen jezt in unerſchöpflichen
Geſprächen die Lichtpunkte ihres früheren Lebens in
Rißthal, einem dürftigen Orte, wo der Vater zwölf
Jahre lang Pfarrer geweſen. Sie begegneten ſich mit
der innigſten Freude bei ſo mancher angenehmen, kaum
noch in ſchwachen Anklängen vorhandenen Erinnerung,
es wagten ſich nach und nach gegenſeitige Worte der
Rührung und Frömmigkeit über die Lippen, wie ſie
ſonſt, von einer Art falſcher Schaam bewacht, zwiſchen
jungen Leuten nicht gewechſelt werden.
Endlich ſagte der Bruder: „Indem wir da ſo offen-
herzig plaudern, läßt mich’s nicht ruhen, dir zu geſte-
hen, daß ich doch Ein Geheimniß auch vor dir habe,
Adelheid! Es iſt nichts Verdächtiges, nichts, was
ich verheimlichen müßte, eine Grille hat mich bisher
abgehalten, dir es mitzutheilen. Aber heute ſollſt du
es hören, und zwar unter den Mauern des alten
[282] Rehſtocks, damit du künftig daran denken magſt, wenn
du hinaufſiehſt.“
„Gut!“ erwiderte die Schweſter, „ich freue mich,
und für jezt kein Wörtchen weiter davon!“
Unter hundert Wendungen des Geſprächs war
man in weniger als zwei Stunden unvermerkt dem
erwünſchten Ziele ziemlich nahe gekommen. Deutlich
und deutlicher traten die Umriſſe der hohen Trümmer
hervor; in kurzer Zeit ſtand man am Fuße des wenig
bewachſenen Bergs, an deſſen Rückſeite ſich jedoch die
lange Fortſetzung eines waldreichen Gebirgs anſchloß.
Hier ward geraſtet und die faſt vergeſſene Proviant-
taſche mit weniger Gleichgültigkeit geöffnet, als man
ſie am Morgen hatte füllen ſehen. Dann ging es
langſam die Krümmung des Weges hinan, nachdem
das Pferd an Johann abgegeben war, um es in einem
nahe gelegenen Meierhof unterzubringen und zur be-
ſtimmten Zeit wieder hier mit ihm einzutreffen. Auf
der Höhe angelangt ſchweiften die Glücklichen zuerſt
Hand in Hand, dann zerſtreut durch die weitläuftigen
Räume über Wälle und Graben, durch zerfallene Ge-
mächer, feuchte Gänge, verworrenes Geſträuch. Man
verlor ſich freiwillig und traf ſich wieder unvermuthet
an verſchiedenen Seiten. So geſchah es, daß Adel-
heid eben allein mit der Entzifferung einer unver-
ſtändlichen Inſchrift beſchäftigt war, als auf Einmal
ſich die verlorenen Töne eines, wie es ſchien, weibli-
chen Geſanges vernehmen ließen. Das Mädchen er-
[283] ſchrack, ohne zu wiſſen warum. Ein beſorgter Ge-
danke an ihren Bruder, an Hülferufen, an ein Unglück
hatte ſie flüchtig ergriffen. Sie horchte mit geſchärf-
tem Ohr, ſie glaubte ſchon ſich getäuſcht zu haben,
aber in dieſem Augenblick hörte ſie dieſelbe Stimme
deutlicher und allem Anſcheine nach innerhalb des
Mauerwerks auf’s Neue ſich erheben, den ſchwermü-
thigen Klängen einer Aeolsharfe nicht unähnlich. In
einem gemiſchten Gefühle von feierlicher Rührung und
einer unbeſtimmten Furcht, als wären Geiſterlaute
hier wach geworden, wagte die Ueberraſchte kaum ei-
nige Schritte vorwärts und ſtand wieder ſtill bei je-
dem neuen Anſchwellen des immer reizendern Geſan-
ges, und während unwillkürlich ihre Lippen ſich zu
dem Lächeln einer angenehmen Verwunderung beweg-
ten, fühlte ſie doch faſt zu gleicher Zeit ihren Körper
von leiſem Schauder überlaufen. Jezt verſtummte die
räthſelhafte Stimme; nur das Rauſchen des Windes
in dem dürren Laube, der leiſe Fall eines da und
dort losbröckelnden Geſteins, oder der Flug eines Vogels
unterbrach die todtenhafte Stille des Orts. Das
Mädchen ſtand eine geraume Zeit nachdenklich, unent-
ſchloſſen, ſtets in bänglicher Erwartung, daß die un-
ſichtbare Sängerin jeden Augenblick an einer Ecke her-
vorkommen werde, ja ſie machte ſich bereits auf eine
kecke Anrede gefaßt, wenn die Erſcheinung ſich blicken
laſſen ſollte. Da rauſchten plötzlich ſtarke, haſtige,
aber wohlbekannte Tritte. Theobald kam athemlos
[284] einen Schutthügel heraufgeklommen, war froh, die
Schweſter wieder gefunden zu haben und ſagte: „Höre
nur! mir iſt etwas Sonderbares begegnet —“
„Mir auch; haſt du den wunderlichen Geſang
gehört?“
„Nein, welchen? — aber bei dem Eingang in
die Kaſematte, wo der verſchüttete Brunnen iſt, ſizt
eine Geſtalt in brauner Frauenkleidung und mit ver-
hülltem Haupt. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt,
ich konnte nichts weiter erkennen und lief bald, dich
zu ſuchen.“
Die Schweſter erzählte ihrerſeits auch, was vor-
gegangen, und beide kamen bald dahin überein, man
müſſe ſich die Perſon genauer beſehen, man müſſe ſie
anreden, ſey es auch wer es wolle. „Ein aͤhnliches
Gelüſten, wie das unſrige, hat dieſen Beſuch wohl
ſchwerlich veranlaßt,“ meinte Adelheid; „das heutige
Wetter findet außer mir und dir gewiß Jedermann
gar unluſtig zu ſolchen Partien; ich vermuthe eine
Unglückliche, Verirrte, Vertriebene, welche zu tröſten
vielleicht eben wir beſtimmt ſind.“ — „Und laß es ein
Geſpenſt ſeyn!“ rief Theobald, „wir gehen darauf zu!“
So eilte man nach der bezeichneten Stelle hin.
Sie fanden eine Jungfrau, deren fremdartiges, aber
keineswegs unangenehmes Ausſehen auf den erſten
Blick eine Zigeunerin zu verrathen ſchien. Bildung
des Geſichts, Miene und Anſtand hatte ein auffallen-
des Gepräge von Schönheit und Kraft, Alles war
[285] geeignet, Ehrfurcht, ja ſelbſt Vertrauen einzuflößen,
wenn man einem gewiſſen kummervollen Ausdruck des
Geſichts nachging. Bis zu dem Gruße Adelheids
hatte die Unbekannte die Annäherung der Beiden nicht
bemerkt, oder nicht beachten wollen; jezt aber hielt
ſie die ſchwarzen Augen groß und ruhig auf die jun-
gen Leute geſpannt und erſt nach einer Pauſe erwi-
derte ſie in wohlklingendem Deutſch: „Guten Abend!“
wobei ein Schimmer von Freundlichkeit ihren gelaſſe-
nen Ernſt beſchlich. Adelheid, hiedurch ſchnell er-
muthigt, war ſo eben im Begriff, ein Wörtchen wei-
ter zu ſprechen, als ein erſchrockener Blick der Zigeu-
nerin auf Theobald ſie mitten in der Rede unter-
brach. Sie ſah, wie er zitterte, erbleichte, wie ihm
die Kniee wankten. „Der junge Herr iſt unwohl!
Laſſen Sie ihn niederſitzen!“ ſagte die Fremde, und
war ſelbſt beſchäftigt, ihn in eine erträgliche Lage zu
bringen und ihr Bündel unter ſeinen Kopf zu legen.
„Gewiß eine Erkältung in den ungeſunden Gewölben?“
ſezte ſie fragend gegen das Mädchen hinzu, das ſprach-
los in zagender Unruhe über dem ohnmächtig Gewor-
denen hing und nun in lautes Jammern ausbrach.
„Kind! Kind! was machſt du? der Unfall hat ja,
will ich hoffen, wenig zu bedeuten; wart’ ein Weilchen,
ich will ſchon helfen!“ tröſtete die Fremde, indem ſie
in ihrer Taſche ſuchte und ein Fläſchchen mit ſtark-
riechender Eſſenz hervorholte, das ſich gar bald recht
kräftig erweiſen ſollte an dem „hübſchen guten Jungen,“
[286] wie ſie ſich ausdrückte. Als aber nach wiederholten
Verſuchen die Augen des Bruders geſchloſſen blieben
und Adelheid untröſtlich davon gehen wollte, ver-
wies ihr die Zigeunerin das Benehmen durch einen
unwiderſtehlich Ruhe gebietenden Wink, ſo daß das
Mädchen unbeweglich und gleichſam gelähmt nur von
der Seite zuſah, wie die ſeltſame Tochter des Waldes
ihre flache Hand auf die Stirne des Kranken legte und
ihr Haupt mit leiſem Flüſtern gegen ſein Geſicht herun-
terſenkte. Dieſer ſtumme Akt dauerte mehrere Minu-
ten, ohne daß Eines von den Dreien ſich rührte. Siehe,
da erhub ſich weit und helle der Blick des Knaben und
blieb lange feſt, aber wie bewußtlos, an den zwei dun-
keln Sternen geheftet, welche ihm in dichter Nähe be-
gegneten. Und als er ſich wieder geſchloſſen, um bald
ſich auf’s Neue zu öffnen und nun er klar erwachte, da
begegnete ihm ein blaues Auge ſtatt des ſchwarzen; er
ſah die Freudethränen der Schweſter. Die Unbekannte
ſtand ſeitwärts, er konnte ſie nicht ſogleich bemerken,
aber er richtete ſich auf und lächelte befriedigt, da er
ſie gefunden. Es trat nun einige Heiterkeit überhaupt
auf die Geſichter, und Theobald erholte ſich mehr
mit jedem Athemzug.
Indeß Adelheid nach dem innerſten Hofraum
der Burg eilte, wo die Reiſetaſche lag, um Wein für
den Bruder herbeizuholen, entſpann ſich zwiſchen den
Zurückgebliebenen ein ſonderbares Geſpräch. Theo-
bald nämlich begann nach einigem Stillſchweigen mit
[287] bewegter Stimme: „Sagt mir doch, ich bitte Euch ſehr,
wißt Ihr, warum das mit mir geſchehen iſt, was Ihr
vorhin mit angeſehen habt?“
„Nein!“ war die Antwort.
„Wie? Ihr habt nicht in meiner Seele geleſen?“
„Ich verſtehe Euch nicht, lieber Herr!“
„Seht nur,“ fuhr jener fort „als ich Euch anſah,
da war es, als verſänk’ ich tief in mich ſelbſt, wie in
einen Abgrund, als ſchwindelte ich, von Tiefe zu Tiefe
ſtürzend, durch alle die Nächte hindurch, wo ich Euch
in hundert Träumen geſehen habe, ſo, wie Ihr da vor
mir ſtehet; ich flog im Wirbel herunter durch alle die
Zeiträume meines Lebens und ſah mich als Knaben
und ſah mich als Kind neben Eurer Geſtalt, ſo wie
ſie jezt wieder vor mir aufgerichtet iſt; ja ich kam bis
an die Dunkelheit, wo meine Wiege ſtand, und ſah Euch
den Schleier halten, welcher mich bedeckte: da verging
das Bewußtſeyn mir, ich habe vielleicht lange geſchla-
fen, aber wie ſich meine Augen aufhoben von ſelber,
ſchaut’ ich in die Eurigen, als in einen unendlichen
Brunnen, darin das Räthſel meines Lebens lag.“
Er ſchwieg und ruhte in ihrer Betrachtung, dann
ſagte er lebhaft: „Laßt mich Eure Rechte Einmal
faſſen!“ Die Fremde gab es zu, und eine ſchönge-
bildete braune Hand wog er mit ſeligem Nachdenken
in der ſeinigen, als hielte er ein Wunder gefaßt; nur
wie endlich ein warmer Tropfen nach dem andern auf
die hingeliehenen Finger zu fallen begann, zogen dieſe
[288] ſich ſchnell zurück, die Jungfrau ſelber entfernte ſich
mit auffallender Gebärde nach einer andern Seite, wo
ſie hinter den Mauern verſchwand. In dieſem Au-
genblick kam Adelheid rüſtig den Wall herunterge-
ſprungen, allein ſie hielt mit Einemmal betroffen an,
denn der alte Geſang ſchwang ſich mächtig, durchdrin-
gend, anders als vorhin, wild wie ein flatternd ſchwar-
zes Tuch, in die Luft. Die Worte konnte man nicht
unterſcheiden. Ein leidenſchaftlicher, ein düſterer Geiſt
beſeelte dieſe unregelmäßig auf und abſteigenden Melo-
dieen, ſo fromm und lieblich auch zuweilen einige Töne
waren. Erſtaunt erhob ſich Theobald von ſeinem
Sitz, mit Entſetzen trat ihm die Schweſter nahe. „Wir
haben eine Wahnſinnige gefunden,“ ſagte ſie, „mache,
daß wir fortkommen.“ „Um Gotteswillen bleib!“ rief
Theobald, durch das Ungewöhnliche des Auftritts
zu einer außerordentlichen Kraft geſteigert: „Liebe
Schweſter, du warſt doch ſonſt keine von denen, die für
das Seltene, was ſie nicht begreifen, gleich einen ver-
pönenden Namen wiſſen. Ja, und wär es auch eine
Wahnſinnige, ſie wird uns nicht ſchaden. Ich kenne
ſie und ſie kennt mich. Du ſollſt noch Vieles hören.“
Damit ging er nach dem Orte hin, von wo der Geſang
gekommen war, welcher indeſſen wieder aufgehört hatte.
Die Schweſter, ihren Ohren kaum trauend, ſah ihm
nach, unter verworrenen Ahnungen, in äußerſter Be-
ſorgniß. So blieb ſie eine geraume Weile, dann rief
[289] ſie, von unerträglicher Angſt ergriffen, mehrmals und
laut den Namen ihres Bruders.
Er kam, und zwar Hand in Hand mit der Frem-
den, traulich und langſam heran. Es ſchien, daß un-
ter der Zeit eine entſchiedene Verſtändigung zwiſchen
den Beiden Statt gefunden haben müſſe. Wenn die
Miene Theobalds nur eine tiefbefriedigte, ent-
zückte Hingebung ausdrückte, ſo brach zwar aus der
Jungfrau noch ein matter Reſt des vorigen Aufruhrs
ihrer Sinne wie Wetterleuchten hervor, aber um ſo
reizender und rührender war der Uebergang ihres Bli-
ckes zur ſanften, gefälligen Ruhe, wozu ſie ſich
gleichſam Gewalt anthat. Adelheid begriff nichts
von Allem; doch milderte der jetzige Anbl [...] der Unbe-
kannten ihre Furcht um Vieles, erweckte ihre Theil-
nahme, ihr Mitleid. „Sie geht mit uns nach Hauſe,
Schweſter, damit du es nur weißt!“ fing Theobald
an, „ich habe ſchon meinen Plan ausgedacht. Nicht
wahr, Eliſabeth, du gehſt?“ Ihr Kopfſchütteln auf
dieſe Frage ſchien bloß das ſchüchterne Verneinen von
Jemand, der bereits im Stillen zugeſagt hat. „Laßt
uns aber lieber gleich aufbrechen, es will ſchon Abend
werden!“ ſezte jener hinzu; und ſo rüſtete man ſich,
packte zuſammen und ging.
„Ich ſehe nicht,“ flüſterte Adelheid in einem
günſtigen Augenblick, während Eliſabeth weit vor-
auslief, dem Bruder zu, „ich begreife nicht, was daraus
werden kann! Haſt du denn überlegt, wie der Vater
19
[290] dieß Abenteuer aufnehmen wird? Wenn du die Ab-
ſicht haſt, daß dieſe Perſon heute Nacht eine Unterkunft
bei uns finde, was kann ihr dieſes viel nützen? oder
was trägſt du ſonſt im Sinne? Um des Himmelswil-
len, gib mir nur erſt Aufſchluß über dein räthſelhaftes
Benehmen! Welche Bewegung! welche Leidenſchaft!
Wie hängt denn Alles zuſammen? du handelſt wie ein
Träumender vor mir!“
„Da magſt du wohl Recht haben,“ war die Ant-
wort „ja, wie ein Träumender! weiß ich doch kaum,
wie Alles kam. Ich zweifle zuweilen an der Wirklich-
keit deſſen, was da vorging. Aber doppelt wunderbar
iſt es, daß dasjenige, was ich dir heute auf dem Reh-
ſtock offenbaren wollte und was nirgends als in meiner
Einbildung lebte, uns Beiden in leibhafter Geſtalt hat
erſcheinen müſſen.“
Nach und nach erklärte er, daß ihm das Mädchen
über ſich ſelbſt nichts weiter zu ſagen gewußt, als: ſie
habe ſich vor vier Tagen heimlich von ihrer Geſellſchaft,
einer übrigens öffentlich geduldeten Zigeunerhorde, ge-
trennt, weil ſie ihre Heimath habe wieder ſuchen wol-
len, der man ſie in jungen Jahren entriſſen, deren ſie
ſich auch nur ſchwach mehr erinnere. Dieſe Nachricht
diente keineswegs, die Theilnahme Adelheids ſehr
zu vermehren, vielmehr erregte der angegebene Grund
der Entweichung ihren Verdacht in hohem Grade als
unwahrſcheinlich. Indeſſen war das vernünftige Mäd-
chen in der Vorausſicht, daß eine Zurechtweiſung des
[291] Bruders für jezt ſchlechterdings vergeblich wäre, nur
darauf bedacht, unter mißlichen Umſtänden wenigſtens
größeres Unheil zu verhüten. Theobalds körperli-
cher Zuſtand, der nach einer unnatürlichen Anſpannung
eine gefährliche Schwäche befürchten ließ, war das
Nächſte, was ſie beunruhigte, und ihr Vorſchlag, man
wolle den benachbarten Rittmeiſter um ſein Gefährt
anſprechen, fand bei dem Bruder nur inſoferne Wider-
ſpruch, als Eliſabeth ihrer Seits darauf beharrte,
den Weg zu Fuße zu machen. Johann, welcher in-
zwiſchen treulich gewartet hatte, ward jedoch mit den
geeigneten Aufträgen nach dem nächſten Hofe zu dem
alten Herrn Rittmeiſter, einem guten Bekannten des
Pfarrers, abgeſchickt. Während einer peinlichen halben
Stunde des Wartens fand Adelheid Veranlaſſung,
den Gegenſtand ihres Unmuths und ihres Mißtrauens
von einer wenigſtens unſchuldigen Seite kennen zu
lernen. Eliſabeth äußerte auf die unzweideutigſte
Weiſe eine faſt kindliche Reue darüber, daß ſie ſich von
ihrer Bande weggeſtohlen, wo man ſie nun recht mit
Sorgen vermiſſe, wo ihr nie ein Leid geſchehen ſey, wo
ſie, ſo oft ſie krank geweſen, immer guten Troſt und
geſchickte Pflege bei gar muntern und redlichen Leuten
gefunden habe. Bei dem Wörtchen „krank“ legte ſie
mit einer traurig lächerlichen Grimaſſe den Zeigefinger
an die Stirn, und gab auf dieſe Art ganz unverholen
ein freiwilliges Bekenntniß deſſen, was Adelheid An-
fangs gefürchtet hatte. Aber ſie fügte ſogar noch den
[292] naiven Troſt hinzu: „Seyd nur nicht bang’, ihr guten
Kinder, daß ich Jemand Uebels zufüge, wenn mein
Leid mich übernimmt. Da ſorgt nur nicht. Ich gehe
dann immer allein bei Seite und ſinge das Lied, wel-
ches Frau Faggatin, die Großmutter, mich gelehrt,
da wird mir wieder gut. Du, armer Junge, du ſollſt
auch das Lied noch lernen, du haſt gar viel zu leiden;
ich habe das wohl bald bemerkt, darum geh ich mit dir,
bis du zu Hauſe biſt, doch behalten könnt ihr mich
nicht. Auch ſchlaf ich heute nicht bei euch. Dieſe
Nacht noch zieht Eliſabeth weiter, woher ſie gekom-
men, denn die Heimath iſt nicht mehr zu finden. Man
hat mir ſie verſtellt; die Berge, das Haus und den
grünen See, mir Alles verſtellt! Wie das nur mög-
lich iſt! Ich muß lachen!“
Der Knecht kam jezt mit der verlangten Aushülfe;
nicht mehr zu frühe, denn ſchon war es dunkel gewor-
den. Um ſo weniger wollte Theobald und ſelbſt
Adelheid es geſchehen laſſen, daß Eliſabeth neben
dem Gefährt herging. Allein ſie war nicht zu überre-
den, und ſo rückte man immerhin raſch genug vorwärts.
Indeß die Geſchwiſter nun unter ſehr verſchiede-
nen Empfindungen, jedoch einverſtanden über die näch-
ſten Maßregeln, ſich auf dieſe Weiſe dem väterlichen
Orte nähern und Theobald endlich der Schweſter die
ganze wunderſame Bedeutung des heutigen Tags ent-
deckt, iſt man zu Hauſe ſchon in großer Erwartung der
Beiden, und der Vater machte ſeine Verſtimmung we-
[293] gen des längern Ausbleibens der jungen Leute bereits
auf ſeine Art fühlbar. Um übrigens einen richtigen
Begriff von der gegenwärtigen Stimmung im Pfarr-
hauſe zu geben, müſſen wir, ſo ungerne es geſchieht,
ſchlechterdings eine gewiſſe Gewohnheit des Hausvaters
anführen, welche ſo eben jezt wieder in Ausübung ge-
bracht wurde. Der Pfarrer nämlich, ein Mann von
den widerſprechendſten Launen, wohlwollend und tückiſch,
menſchenſcheu, hypochondriſch, und dabei oft ein belieb-
ter Geſellſchafter, hatte neben manchen höchſt widrigen
Eigenheiten den Fehler der Trägheit in einem faſt ab-
ſcheulichen Grade und ſie verleitete ihn zu den abge-
ſchmackteſten Liebhabereien. Konnte es ihm gefallen,
mit geſundem Leibe ganze Tage im Bette zuzubringen
und über Ein und daſſelbe Zeitungsblatt hinzugähnen,
ſo machte dieſes wenigſtens Niemanden unglücklich.
Nun aber fand er, der in früheren Tagen gelegentlich
ein Jagdfreund geweſen war, eine Art von Zeitvertreib
darin, vom Bette aus nach allen Seiten des Zimmers
hin mit dem Vogelrohr zu ſchießen. Zu dieſem Behuf
knetete er mit eigenen Fingern kleine Kugeln aus einem
Stücke Lehm, das ſtets auf ſeinem Nachttiſch liegen
mußte. Er ſelbſt war ſo gelegen, daß er von ſeinem
Schlafgemach aus faſt das ganze Wohnzimmer mit ſei-
nem Rohr beherrſchen konnte. Das Ziel ſeiner Uebun-
gen blieb jedoch nicht immer der große Eſſigkrug auf
dem Ofen, oder das Thürchen des Vogelkäfigs, oder das
alte Portrait Friedrichs von Preußen, ſondern der
[294] Pfarrherr betrachtete es mitunter als den angenehm-
ſten Theil ſeiner Kinderzucht, gewiſſe Unarten, die er
an den Töchtern bemerken wollte, durch dergleichen
Schüſſe zu verweiſen. Jungfer Nantchen, bei Licht
am Nähtiſche beſchäftigt, brauchte z. B. vorhin etwas
längere Zeit, als dem Vater billig vorkam, um ihren
Faden durch das Nadelöhr zu ſchleifen und unerwartet
klebte eine Kugel an ihrem bloßen Arm, die denn auch
ſo derb geweſen ſeyn muß, daß das gute Kind recht
ſchmerzhaft aufſeufzte. Es kamen dieſen Abend noch ei-
nige Fälle der Art vor, wobei doch Jungfer Erne-
ſtine verſchont blieb, ein Vorzug, welchen gewöhnlich
auch Adelheid, Theobald ohnehin, mit ihr theilen
durfte. Allein welchen Empfang können wir den Lez-
tern unter ſolchen Umſtänden verſprechen? Es wurde
acht Uhr, bis ſie gegen das Dorf herfuhren. Sie waren
inzwiſchen übereingekommen, man wolle Eliſabeth,
welche jedes Nachtquartier fortwährend mit Hartnäckig-
keit ausſchlug, zum wenigſten über Tiſch behalten, wozu
ſie ſich zulezt auch verſtand.
Die endliche Ankunft der Vermißten war indeſſen
im Pfarrhauſe ſchon durch einen Burſchen hinterbracht,
den man entgegengeſandt und welchem der ehrliche
Johann im Vertrauen das Merkwürdigſte zugeraunt
hatte. Dieß veranlaßte denn ein groß Verwundern, ein
gewaltig Geſchrei im Haus. Dem Pfarrer ſank das
Spielzeug aus der Hand, da von einer Zigeunerin, von
der Chaiſe des Rittmeiſters, von Unpäßlichkeit ſeines
[295] Sohns verlautete. Er ſtand vom Bette auf und warf
den Schlafrock um unter den Worten: „Was? eine
Kartenſchlägerin? eine Landfährerin? alle Satan! eine
Hexe? und deßwegen mein Sohn plötzlich unwohl ge-
worden? — und ein Fuhrwerk — eine Heidin, was?
Ich will ſie bekehren, ich will ihr die Nativität ſtellen!
gebt mir mein Rohr her! nicht das — mein ſpani-
ſches! Wie hat Johann geſagt? Die Pferde ſeyen
ſcheu geworden, wenn die Zigeunerin neben ihnen
hergelaufen?“
Die Thür ging auf. Adelheid und Theobald
ſtanden im Zimmer; jene mit ſtockender Stimme, an
ihrer Angſt ſchluckend, dieſer mehr beſchämt und vor
bitterem Unwillen glühend über das unwürdige Be-
nehmen ſeines Vaters. Umſonſt ſtellte er ſich dem
hitzigen Manne beſchwörend in den Weg, als er mit
dem Licht in den Hausflur treten wollte, wo Eliſa-
beth in einer Ecke unbeweglich hingepflanzt ſtand und
ihm nun groß und unerſchrocken entgegenſchaute. Jezt
aber folgte eine den geſpannten Erwartungen aller Um-
ſtehenden völlig entgegengeſezte Scene. Dem Pfarrer
erſtickt die rauhe Anrede auf der Zunge, wie er die
Geſichtszüge der Fremden in’s Auge faßt, und mit dem
Ausdruck des höchſten Erſtaunens tritt er einige
Schritte zurück. Auf der Schwelle des Zimmers wirft
er noch einen Blick auf die Geſtalt, und in lächerlicher
Verwirrung läuft er nun durch alle Stuben. „Wie
kommt ſie denn zu euch? was wißt ihr von dem Weibs-
[296] bild?“ fragt er Adelheiden, während Theobald ſich
auf den Gang hinaus ſchleicht. Das Mädchen berichtete,
was es wußte, und ſezte zulezt noch hinzu, daß der
Bruder von einem Bilde geſagt, welches er ſchon als
Kind öfters in einer Dachkammer geſehen und das
die wunderbarſte Aehnlichkeit mit dem Mädchen habe.
Der Pfarrer winkte verdrießlich mit der Hand und
ſeufzte laut. Er ſchien in der That über die Perſon
der Fremden mehr im Reinen zu ſeyn, als ihm ſelber
lieb ſeyn mochte, und der lezte Zweifel verſchwand vol-
lends während einer Unterredung, welche er, ſo gut es
gehen mochte, mit Eliſabeth unter vier Augen auf
ſeiner Studirſtube vornahm. Er ward überzeugt, daß
er hier die traurige Frucht eines längſt mit Stillſchwei-
gen zugedeckten Verhältniſſes vor ſich habe, das einſt
unabſchbares Aergerniß und unſäglichen Jammer in
ſeiner Familie angerichtet hatte. Was jedoch Eliſa-
beth jezt über ihr bisheriges Schickſal vorbrachte, war
nicht viel mehr, als was die Andern bereits von ihr
wußten, und der Pfarrer fand nicht für gut, ſie über
das Geheimniß ihrer Geburt und ſomit über die nahe
Beziehung aufzuklären, worin ſie dadurch zu ſeinem
Hauſe ſtand. Den auffallenden Umſtand aber, daß die
Flüchtige juſt in dieſe Gegend gerieth, machten einige
Aeußerungen des Mädchens klar, aus welchen hervor-
ging, daß ein unzufriedenes Mitglied jener Bande ſich
an dem Anführer durch die Entfernung Eliſabeths
rächen wollte, wozu ihm die Leztere ſelbſt durch die häu-
[297] fige Bitte Gelegenheit gegeben haben mußte, er möchte
ſie doch einmal in ihre Heimath zu Beſuche führen,
und allerdings war der Menſch, wie ſich ſpäter ergab,
von der eigentlichen Herkunft des Mädchens, ſo wie
von dem Daſeyn einiger Verwandten ihres Vaters
vollkommen unterrichtet; er beabſichtigte, ſie nach
Wolfsbühl zu bringen, wo er ſich nicht geringen Dank
verſprach, aber wenige Stunden von dem Orte traf er
auf die Spur von Zigeunern, welche ohne Zweifel ihm
nachzuſetzen kamen. Er ließ das Mädchen im Stiche
und ſezte ſeine Flucht allein fort.
Jungfer Erneſtine mahnte bereits zum dritten
Male an das ohnehin verſpätete Nachteſſen; man
ſchickte ſich alſo an, und wohl ſelten mag eine Mahlzeit
einen ſonderbarern Anblick dargeboten haben. Sie
ging ziemlich einſylbig von Statten. Der fremde Gaſt
war natürlich unausgeſezt von neugierigen zweifelhaf-
ten Blicken verfolgt, die nur, wenn zuweilen ein Strahl
aus jenen dunkeln Wimpern auf ſie traf, pfeilſchnell
und ſchüchtern auf den Teller zurückfuhren.
Eliſabeth erſah ſich nach Tiſche den ſchicklichſten
Zeitpunkt, um aus der Thür und ſo fort geſchwinde
aus dem Haus zu entſchlüpfen, ohne auch nachher, als
man ſie vermißte, wieder aufgefunden werden zu kön-
nen. Der Vater ſchien dadurch eher erleichtert als
bekümmert. Sie hatte jedoch, wie man jezt erſt bemerkte,
ihr Bündel zurückgelaſſen; ſie mußte alſo wahrſcheinlich
wieder erſcheinen, und Theobald tröſtete ſich mit dieſer
Hoffuung.
[298]
Eine mächtige und tiefgegründete Leidenſchaft, ſo
viel ſehen wir wohl ſchon jezt, hat ſich dieſes reizba-
ren Gemüths bemeiſtert, eine Leidenſchaft, deren Ur-
ſprung vielleicht ohne Beiſpiel iſt und deren Gefahr
dadurch um nichts geringer wird, daß eine reine Gluth
in ihr zu liegen ſcheint. Der junge Menſch befand
ſich, ſeit das räthſelhafte Weſen verſchwunden war, in
dem Zuſtand eines ſtillen dumpfen Schmerzens, wobei
er, ſo oft Adelheid ihn mitleidig anſah, Mühe
hatte, die Thränen zurückzuhalten. Sie nöthigte ihn
auf ſeine Schlafkammer, wo ſie ihm bald gute Nacht
ſagte. Der Pfarrer war durch das unerwartete Er-
eigniß des heutigen Abends in ſeinem gewohnten Gleich-
muthe dergeſtalt geſtört, daß er jezt noch an keine Ruhe
denken konnte. Die Erinnerung an eine bedeutende
Vergangenheit, an das unglückliche Schickſal eines leib-
lichen Bruders wurde nach langer Zeit wieder zum
erſten Male heftig in ihm aufgeregt, er fühlte ein Be-
dürfniß, ſich ſeiner älteſten Tochter mitzutheilen, und
Erneſtine, von jeher nur wenig unterrichtet über
jenes merkwürdige Familienverhältniß, ſah jezt mit
neugieriger Miene den Vater ein beſtäubtes Manu-
ſcript hervorholen, worin die Geſchichte ihres Oheims
größtentheils von deſſen eigener Hand verzeichnet ſtand.
Alle Uebrigen im Hauſe hatten ſich zu Bette begeben,
nur Adelheid ſaß nachdenklich in einem Winkel des
Zimmers und hörte beſcheiden zu, indeß der Vater aus
dem Gedächtniß erzählte, nachdem er die vor ihm lie-
[299] gende Handſchrift mit Wehmuth, ja mit Grauen, bald
wieder auf die Seite geſchoben hatte.
„Mein jüngerer Bruder Friedrich,“ fing er
an, „dein ſeliger Oheim, war ein Genie, wie man zu
ſagen pflegt, und leider bei aller Herzensgüte ein über-
ſpannter Kopf, welcher ſchon in der früheſten Jugend
nichts wollte und nichts vornahm, was in der Ord-
nung geweſen wäre. Er bewies ein außerordentliches
Geſchick zur Malerkunſt und mit der Zeit unterſtüzte
ihn der Fürſt auf das Großmüthigſte. Er ließ ihn
auf ſechs Jahre nach Italien reiſen, gab ihm auch
nach ſeiner Zurückkunft ungemeine Zeichen ſeiner Gnade.
Anfänglich nahm er ſeinen Aufenthalt in der Haupt-
ſtadt, ſpäter kaufte er ſich das etwa fünf Stunden von
Rißthal und drei von hier entfernte Gütchen F., wo
er, noch immer unverheirathet, bloß für ſein Geſchäft
lebte. In dieſer Zeit hab’ ich ihn gar oft geſehen.
Es war ein großer ſchöner Mann und gar munter,
wenn es an ihn kam. Er hätte glücklich ſeyn können,
aber eine Reiſe hat ihn in ſein Verderben geführt.
Er entſchloß ſich nämlich im Frühjahr 17** auf den
Rath der Aerzte, ſeiner Erholung wegen, einen Freund
in Böhmen zu beſuchen, mit dem er zu gleicher Zeit
in Rom geweſen war. Ach, er ahnete nicht, welchem
Verhängniß er entgegenging!“
So ſprach der Pfarrer und nun folgte die Er-
zählung einer Geſchichte, welche der Leſer beſſer aus
dem Tagebuch des Malers ſelbſt erfährt.
[300]
In der Gegend von H ** den 22. Mai.
Schon ſeit Wochen fühle ich meine Geſundheit
kräftiger als jemals; aber ſeit wenigen Tagen ſtreckt
auch der Geiſt ſeine erſchlafft geweſenen Organe ſo be-
gierig und arbeitsdurſtig wieder aus, daß ich ordentlich
über mich ſelbſt erſtaune. Ich ſpüre, es will ſich ein
neues Leben hervordrängen, es will ein Wunder in mir
werden. Ich wüßte Niemanden, dem ich die Urſache
dieſer mächtigen Revolution, die Geſchichte der lezten
vier Tage, ſo vertraulich mittheilen könnte, als dieſen
verſchwiegenen Blättern. Aber fürwahr, ich thue es
beinahe bloß in der grillenhaften Beſorgniß, daß mein
gegenwärtiges Glück, ja daß mir ſelbſt die Erinnerung
an dieſe außerordentliche Zeit entriſſen werden könne.
Am 17. Mai trat ich von G. aus eine kleine Ex-
kurſion an, und zwar allein, weil mein Freund verhin-
dert war. Ich fand etwas Reizendes in dem Gedanken,
ſo wie zuweilen im Vaterland, jezt auch auf böhmiſchem
Boden einmal ohne beſtimmtes Ziel und beſondere Ab-
ſicht auszufliegen, nur dachte ich an das ſchöne Gebirge
gegen *** zu, das ich vom Fenſter aus als dunkel-
blauen Streif geſehen hatte. Ich ſchlug alſo ungefähr
dieſe Richtung ein und ließ mich nach Bequemlichkeit
vom nächſten beſten Wege fortziehen, verweilte bei Al-
lem, was mir neu und merkwürdig war, machte meine
Beobachtungen an Menſchen und Natur, zog mein
Skizzenbuch hervor, zeichnete oder las wie mir’s einkam,
und ließ es mir mitunter in den dürftigſten Dorfſchen-
[301] ken auf’s Beſte gefallen. Am zweiten Abend meiner
Wanderung befand ich mich bereits in einer anziehenden
Gebirgsgegend und der darauf folgende Mittag ſah
mich ſchon tief in den herrlichſten Waldungen herum-
ſchwärmen, wo ich nach Herzensluſt den wilden Athem
der Natur koſtete, die Schauer der Einſamkeit empfand,
mich hundert Zerſtreuungen überließ. Unvermerkt ſank
die Dämmerung herein, da es mir denn erſt einfiel,
den Fußſteig wieder aufzuſuchen, der, wie man mir ge-
ſagt hatte, nach einer guten, mitten im Walde gelege-
nen Herberge führen mußte. Das ging aber nicht ſo
leicht; eine volle halbe Stunde quälte ich mich ab, ohne
eine Spur zu entdecken. Jezt war es faſt Nacht. Meine
Wahl ging nahe zuſammen. Auf gut Glück lief ich noch
eine Zeitlang vorwärts, bis das dicker werdende Ge-
ſträuch und eine große Müdigkeit mich verdroſſen ſtille
ſtehen machte. Ungeduld und Aerger über meine Un-
vorſichtigkeit waren auf’s Aeußerſte geſtiegen, da über-
raſchte mich mit Einemmal der Gedanke, daß ich mir
ehedem oft eine ſolche Situation gewünſcht, und daß
dieſer ſcheinbar widerwärtige Zufall recht eigentlich im
Charakter meiner Reiſe ſey. Hiemit gab ich mich denn
auch wirklich zufrieden. Unbequem genug lagerte ich
mich unter einer hohen Eiche, murmelte etwas von der
Lieblichkeit der warmen Sommernacht, vom baldigen
Aufgang des Mondes und konnte doch nicht verhüten,
daß meine Gedanken einige Mal in dem verfehlten
Wirthshaus einkehrten, wo ein ordentliches Abendbrod
[302] und ein leidlicheres Bette auf mich gewartet haben
würden. Mit ſolchen Bildern beſchäftigt, bemerkte ich
jezt in einiger Entfernung durch das Gezweige hindurch
den Glanz eines Feuers. Meine ganze Einbildungs-
kraft entzündete ſich in dieſem Anblick unter tauſend
mehr oder weniger angenehmen Vermuthungen; aber
bald entſchloß ich mich zu einer genauern Unterſuchung.
Nach einer mühſam zurückgelegten Strecke von etwa
fünfzehn Schritten unterſchied ich eine bunte Geſellſchaft
von Männern, Weibern und Kindern auf einem etwas
freien Platz um ein Feuer herumſitzend und zum Theil
von einer Art unordentlichen Gezeltes bedeckt; ſie führ-
ten, ſo viel ich hörte, ein zufriedenes aber lebhaftes
Geſpräch.
Das Herz hüpfte mir vor Freuden, hier einen
Trupp von Zigeunern anzutreffen, denn ein altes Vor-
urtheil für dieß eigenthümliche Volk wurde ſelbſt durch
das Bewußtſeyn meiner gänzlichen Schutzloſigkeit nicht
eingeſchreckt. Ich weiß nicht, welches raſche zuverſicht-
liche Gefühl mich überredete, daß wenigſtens bei dieſer
Verſammlung durch eine offene Anſprache nichts zu
wagen ſey. Mein kleiner Tubus trug in keinem Fall
etwas dazu bei, denn bei einer phyſiognomiſchen Unter-
ſuchung der vom rothen Schein der Flamme beleuchte-
ten Köpfe hätte mein Urtheil unentſchieden bleiben müſ-
ſen, trotz der frappanteſten Deutlichkeit, womit jeder
Zug ſich vor mein Auge ſtellte. Ich trat hervor, ich
grüßte treuherzig und erfuhr ganz die gehoffte Auf-
[303] nahme, nachdem ich mich durch das erſte barſche Wort
des Häuptlings nicht hatte irre machen laſſen. Meine
unbefangene Keckheit ſchien ihm plötzlich zu gefallen,
auch meinen Anzug muſterte er jezt mit ſichtbarem
Reſpekt. Man lud mich ein, auf einen Teppich nie-
derzuſitzen und bot mir zu eſſen an. Ich gab mir ein
mehr und mehr treuherziges und redſeliges Weſen,
deſſen gute Wirkung ſich gar bald an meinen Leuten zeigte,
die mit Aufmerkſamkeit meinen Schilderungen aus
fremden Ländern zuhörten, während ich mich nebenher
an den merkwürdigen Geſichtern und köſtlichen Grup-
pen in die Runde erquicken konnte.
Dieß dauerte ungeſtört eine ganze Zeit. Jezt
ließ ſich ein ferner Donner vernehmen und man machte
ſich auf ein Gewitter gefaßt, das auch wirklich un-
vermuthet ſchnell herbeikam. Jedes ſchüzte ſich ſo
gut wie möglich.
Bei dieſer allgemeinen Bewegung, indeß der Re-
gen unter heftigen Donnerſchlägen ſtromweiſe nieder-
goß und eines der ſeitwärts ſtehenden Pferde ſcheu
wurde, war mir mein Portefeuille entfallen. Ich ſuchte
es in der dickſten Finſterniß am Boden und hatte es
ſo eben glücklich aufgehoben, als ich plötzlich beim
jähen Licht eines ſtarken Blitzes hart an meiner Seite
ein weibliches Geſicht erblickte, das freilich derſelbe
Moment, welcher es mir gezeigt, wieder in die vorige
Nacht verſchlang. Aber noch ſtand ich geblendet wie
in einem Meere von Feuer und vor meinem innern
[304] Sinne blieb jenes Geſicht mit beſtimmter Zeichnung
wie eine feſte Maske hingebannt, in grünflammender
Umgebung des naſſen glänzenden Gezweigs. Nichts
in meinem Leben hat einen ſolchen Eindruck auf mich
gemacht, als die Erſcheinung dieſes Nu. Unwillkür-
lich ſtreckte ſich mein Arm aus, um mich zu überzeu-
gen, aber es rauſchte ſchon an mir vorüber und eine
längere Zeit, als meine Ungeduld wollte, verging, bis
ich in’s Klare kommen ſollte. Doch das blieb nicht aus.
Ein Mädchen, das Anfangs in dem Zelt ver-
borgen geweſen ſeyn mochte, und das man mit dem
Namen Loskine rief, zeigte ſich jezt auch unter den
Andern, als man bei nachlaſſendem Regen wieder
Feuer anmachte und ſich unter wechſelnden Scherz-
und Scheltworten auf den ſtörenden Ueberfall wieder
in Ordnung brachte. Das Mädchen iſt die Nichte
des Hauptmanns. — Loskine — wie ſoll ich ſie
beſchreiben? Sind doch ſeit jener Nacht vier volle
Tage hingegangen, in denen ich dieß Gebilde der ei-
genſten Schönheit ſtündlich Aug in Auge vor mir hatte,
ohne daß dem Maler in mir eingefallen wäre, ſich
ihrer durch das elende Medium von Linien und Stri-
chen zu bemächtigen! O dieſe wenigen Tage, wie reich
an Entdeckungen, wie unermeßlich in ihren Folgen
für meine ganze Art zu exiſtiren!
Ich bin ſeither der freiwillige Begleiter dieſer
ſtreifenden Geſellſchaft. Ja, das bin ich und ich er-
röthe keineswegs über dieſen Einfall, den mir auch
[305] kein Professor ordinarius der ſchönen Künſte beach-
ſelzucken ſoll, weil ich ihn einem Professori ordinario
ſicherlich nicht erzählen werde. Oder ſchändet es in der
That einen vernünftigen Mann, den ſein Beruf ſelber
auf Entdeckung originaler Formen hinweiſet, eine Zeit-
lang der Beobachter von wilden Leuten zu ſeyn, wenn
er unter ihnen unerſchöpflichen Stoff, die überraſchend-
ſten Züge, den Menſchen in ſeiner geſundeſten phyſi-
ſchen Entwicklung findet, und dabei die übrige Natur
wie mit neuen Augen, mit doppelter Empfänglichkeit
anſchaut? Ich lerne mit jeder Stunde und die Leute
ſind die Gefälligkeit ſelbſt gegen mich. Einiger Eigen-
nutz iſt freilich immer dabei; meine Freigebigkeit behagt
ihnen, aber mich wird ſie nie gereuen.
Einen Tag ſpäter.
Ich muß lächeln, wenn ich mein geſtriges Rai-
ſonnement von Malerſtudium und Kunſtgewinn wie-
der leſe. Es mag ſeine Richtigkeit damit haben, aber
wie käme dieſe hochtrabende Selbſtrechtfertigung hie-
her, wenn nicht noch etwas Anderes dahinter ſtäke,
um was ich mir mit guter Art einen Lappen hängen
wollte? Doch ich geſtehe ja, daß Loskine ſchon an
und für ſich allein die Mühe verlohnen könnte, ſich
eine Woche lang mit dem Zug herum zu treiben.
Ich kann dieß Geſchöpf nicht anſehen, ohne die Be-
wunderung immer neuer geiſtiger, wie körperlicher
Reize. Sie feſſelt mich unwiderſtehlich, und wäre es
20
[306] auch nur durch das Intereſſe an der ungewöhnlichen
Miſchung dieſes Charakters.
Aeußerungen eines feinen Verſtandes und einer
kindiſchen Unſchuld, trockner Ernſt und plötzliche An-
wandlung ausgelaſſener Munterkeit wechſeln in einem
durchaus ungeſuchten und höchſt anmuthigen Kontraſte
mit einander ab und machen das bezauberndſte Far-
benſpiel. Das Unbegreifliche dieſer Kompoſition und
dieſer Uebergänge iſt auch bloß ſcheinbar; für mich
hat das Alles bereits die nothwendige Ordnung einer
ſchönen Harmonie angenommen. Erſtaunlich iſt zu-
weilen die Behendigkeit ihrer äußern Bewegungen und
herrlich das Lächeln der Ueberlegenheit, wenn es ihr
mitunter gefällt, die Gefahr gleichſam zu necken. Mit
Zittern ſeh ich zu, wie ſie einen jähen Abhang hin-
unter rennt und ſo von Baum zu Baum ſtürzend ſich
nur einen kurzen Anhalt gibt; oder wenn ſie ſich auf
den Rücken eines am Boden ruhenden Pferdes wirft
und es durch Schläge zum plötzlichen Aufſtehen zwingt.
Unter den Uebrigen bildet ſie indeſſen eine ziemlich
iſolirte Figur; man läßt ſie auch gehen, weil man
ihre Art ſchon kennt, und doch hängen Alle mit einer
gewiſſen Vorliebe an ihr. Beſonders ſcheint der Sohn
des Anführers, ein geſcheidter männlich ſchöner Kerl,
größere Aufmerkſamkeit für ſie zu haben, als ich leiden
mag, wobei mich zwar eines Theils ihre Kälte freut,
auf der andern Seite aber ſein heimlicher Verdruß doch
wieder herzlich rührt. Mich mag ſie gerne um ſich dul-
[307] den, allein ich ſcheue mich faſt vor Marwin, ſo heißt
jener Menſch, und bin ſchon daran gewöhnt, vorzüglich
nur die Gelegenheit zu benützen, wann er eben auf
Rekognoszirung oder ſonſt in einem Geſchäft ausgeſchickt
wird, was häufig vorkommt. Ich habe ihr ſchon manche
kleine Geſchenke gekauft, deren Abſichtlichkeit ich durch
ähnliche Gaben an die Andern zu bemänteln weiß. — Aber,
mein Gott! was will ich denn eigentlich? Noch treffe
ich nicht die Spur eines Gedankens an die Umkehr bei mir
an. Vorgeſtern ſchrieb ich, unter einem nicht ſehr wahr-
ſcheinlichen Vorwand und ohne das Geringſte von mei-
nem jetzigen Leben verlauten zu laſſen, an Freund S.,
er möchte mir meine ganze Baarſchaft nach dem Städt-
chen G * * * ſenden, wo wir, wie der Hauptmann ſagt,
in vier Tagen zur Marktzeit eintreffen werden. Dieſer
Marſch bringt mich dem Orte, von dem ich ausgegan-
gen, wieder um fünf Meilen näher. Aber doch welche
Entfernung immer noch! Gut, daß ich in dieſen Ge-
genden nicht fürchten muß, auf irgend ein bekanntes
Geſicht zu ſtoßen, wofern ich anders in meinem gegen-
wärtigen Zuſtand noch kenntlich wäre. Ich habe meinem
Anzug durch einige geborgte Kleidungsſtücke ein etwas
freieres Weſen gegeben, um mich meinen Geſellen ei-
nigermaßen zu konformiren. Eine violett und rothe
Zipfelmütze auf dem Kopf, ein breiter Gürtel um den
Leib thut wahrlich ſchon viel.
26. Mai.
Einen artigen Auftritt hat es gegeben. Wir raſte-
[308] ten nach einem ermüdenden Strich Mittags in einem
Tannengehölze. Marwin war abweſend und ſonſt
überließ ſich faſt Alles dem Schlafe. Loskine ſuchte
ihre Lieblingsſpeiſe, das durſtlöſchende, angenehme Blatt
des Sauerklees, der dort in großer Menge wächst. Ich
begleitete ſie und wir ſezten uns endlich hinter einem
Hügel an einer ſchattigen Stelle auf den von abgefallenen
Nadeln ganz überſäeten Moosboden. Ich weiß nicht, wie
wir auf allerlei Mährchen und wunderbare Dinge zu
ſprechen kamen, woran ſie bei weitem reicher war als
ich. Unter Anderem wußte ſie von der ſpinnenden Wald-
frau zu ſagen, die im Frühen, wenn der herbſtliche
Wald von der Morgenröthe glühet, unter den Bäumen
hergehe und das Laub, wie vom Rocken, in grün und
goldnen Fäden abſpinne, indeß die Spindel neben ihr
hertanze. Auch vertraute ſie mir Vieles von der heimlichen
Kraft der Kräuter und Wurzeln, was nicht wiederholt
werden kann, ohne zugleich ihre eigenen Worte zu ha-
ben. Dazwiſchen arbeitete ſie mit dem Schnitzmeſſer
ſehr fertig an einem niedlichen Geräthe, dergleichen die
Zigeuner aus einem gelben Holze zum Verkauf machen.
Ich hatte zulezt beinahe kein Ohr mehr für ihre Er-
zählungen ob der Aufmerkſamkeit auf die Bewegung
der Lippen, auf das Spiel ihrer Miene, und endlich
von ſtille glühenden Wünſchen innerlich beſtürmt und
aufgeregt, wandte ich mich von ihr ab, ſo daß ich etwas
tiefer ſitzend ihr Geſicht im Rücken und ihren nackten
Fuß — denn ſo geht ſie gar häufig — dicht vor meinem
[309] Auge hatte. Wie trunken an allen Sinnen und meiner
nicht mehr mächtig ergriff ich den Fuß und drückte mei-
nen Mund feſt auf die feine braune Haut. In dieſem
Augenblick gab Loskine mir lachend einen derben
Stoß, wir ſtanden Beide auf und ich bemerkte eine hohe
Röthe auf ihrer Wange, eine Verwirrung, die ich ſchnell
zu deuten wußte. Dadurch kühn gemacht ſchlang ich
ohne Beſinnen die Arme um die treffliche Geſtalt, und
ſie widerſtand mir nicht. Heiß brannten ihre Lippen,
und ihr Blick ſprühte in den meinigen ſein ſchwarzes
Feuer. Aber kurz nur, denn jezt kehrte er ſich verwor-
ren ab, und der nächſte Gegenſtand, auf den er zugleich
mit dem meinigen fällt, iſt — Marwin, welcher
ruhig an einen unfernen Baum gelehnt ein Zeuge die-
ſer Scene war. Loskine ſtand wie vom Schlage ge-
rührt. Ich ſuchte, ohne Marwin bemerken zu wollen,
ihn über den Vorfall zu täuſchen, indem ich laut und
ſcherzhaft mich über Sprödigkeit beklagte und daß ſie
mir das Geſicht ſchändlich zerkrazt hätte. Bei dieſer
Komödie leiſtete mir das Mädchen nicht die geringſte
Unterſtützung. Sie ſtarrte ſchweigend vor ſich hin und
unter ſtille hervorſtürzenden Thränen entfernte ſie ſich
langſam. Nun erſt grüßte ich ganz verwundert meinen
Nebenbuhler, ging auf ihn zu und wollte in meiner
Rolle fortfahren, allein er ſah mich ein paar Sekunden
lang verächtlich an, dann ließ er mich ſtehen und ging.
Es ſind ſeitdem ſechzehn Stunden verfloſſen, ohne
[310] daß ſich bisher die mindeſte Folge gezeigt hätte, außer
daß Loskine mir überall ausweicht.
In einer Bauernhütte zu ***
Ich bin getrennt von meiner Bande, aber um
welchen Preis getrennt!
An demſelben Morgen, da ich das Lezte ſchrieb,
nahm der Hauptmann mich bei Seite und erklärte
mir mit Mäßigung, aber mit finſterm Unmuth, daß
ich ihn verlaſſen müßte oder mich ganz ſo verhalten,
als ob Loskine gar nicht vorhanden wäre. Sein
Sohn wünſche ſie als Weib zu beſitzen, er ſelber habe
ſie ihm verſprochen, ſie werde ſich auch jezt nicht län-
ger weigern. Ich möchte überhaupt auf meiner Hut
ſeyn, Marwin wolle mir ſehr übel, nur die Furcht
vor ihm, ſeinem Vater, habe ihn im Zaum gehalten,
daß er ſich nicht an mir vergriffen. Ich erwiderte,
wenn mein argloſes Wohlgefallen an dem Mädchen
Verdruß errege, ſo wäre es mir ein Leichtes, künftig
behutſam zu ſeyn; wenn aber Marwin überhaupt
durch meine Gegenwart beunruhigt werde, ſo würde
ich auch dieſe aufheben. Der Hauptmann, im Be-
wußtſeyn der nicht unbeträchtlichen Vortheile, die ihm
meine Geſellſchaft brachte, lenkte ein. Ich antwor-
tete darauf wieder in unbeſtimmten Ausdrücken und
ſo beruhte die Sache auf ſich. Aber bald kam ich
zu einer herzzerſchneidenden Scene, woran ich ſogleich
ſelber Theil nehmen ſollte. Loskine, mit dem Strick-
zeug auf dem Schooſe, ſaß an der Erde, das Geſicht
[311] mit beiden Händen bedeckend, indeß ihr Liebhaber un-
ter gräßlichen Verwünſchungen und im heftigſten
Schmerz ihr ein offenes Geſtändniß über jenen Vor-
fall auszupreſſen ſuchte. Wie er mich gewahr wurde,
ſprang er gleich einem Wüthenden auf mich los, faßte
mich an der Bruſt und forderte von mir, was jene
ihm vorenthalte. Er zog das Meſſer und drohte mir
noch immer, als wir ſchon von fünf bis ſechs Per-
ſonen, die herbeieilten, umringt waren. Der Vater
entwaffnete ihn auf der Stelle. Aber erſt Loskine,
welche ſich jezt mit einem mir unvergeßlichen Aus-
druck von würdevoller Ruhe aufhob, machte dem Lär-
men ein Ende; ſie faßte, ohne ein Wort zu ſprechen,
Marwin mit einem viel ſagenden Blicke bei der
Hand und er, der von der Bedeutung ihrer feierli-
chen Gebärde ſo mächtig ergriffen zu ſeyn ſchien, wie
ich, folgte wie ein Lamm, als ſie ihn tief mit ſich in
das Gebüſche führte.
Nach einer Weile kehrte ſie allein zurück, ging
mit entſchiedenem Schritt auf mich zu, den ſie gleich-
falls aus der Mitte der Uebrigen hinweg winkte.
„Ich habe ihm verſprochen,“ fing ſie, da wir weit
genug entfernt waren und ſtille ſtanden, in ernſtem
Tone an, „ich hab’ ihm verſprochen, dir zu ſagen, daß
ich dich haſſe wie meinen ärgſten Feind und bis in
den Tod. Ich ſage dir alſo dieſes. Doch du weißt
es anders. Ich ſage dir für mich, daß ich dich viel-
mehr liebe wie meinen liebſten Freund, und das ſo
[312] lange ein Athem in mir ſeyn wird. Aber du mußt
fort von uns, auch das hab’ ich ihm zugeſagt. Mach’
es kurz, ich darf nicht lange ausbleiben. Küſſe mich!“
„Muß ich fort,“ antwortete ich, durch das Groß-
artige dieſes Augenblicks faſt über allen Affekt hin-
ausgehoben, „muß ich fort, und iſt es wahr daß du
mich mehr liebeſt als Alles, ſo laß uns zuſammen
gehen.“
Sie ſah mich ſtaunend an, dann ſchüttelte ſie ge-
dankenvoll das ſchöne Haupt.
„Loskine!“ rief ich, „wolle nur, und was dir un-
möglich ſcheint, ſoll gewiß möglich gemacht werden.
Aber noch Eins zuvor beantworte mir: Kannſt du
Marwins Verlangen nicht gutwillig erfüllen? Kannſt
du nicht die Seinige werden?“
Sie ſchwieg. Ich that dieſelbe Frage wieder,
worauf ſie ein beſtimmtes: Nein! ausſtieß. Mir fiel
ein Berg vom Herzen und zugleich war mein Ent-
ſchluß gefaßt. Mit Blitzesſchnelle ordnete ſich ein
Plan in meinem Kopfe, deſſen Unſicherheit ich freilich
ſogleich fühlte. Er lief darauf hinaus, daß ich nach
meiner unverzüglichen Trennung von ihren Leuten
allein bis G * * * vorausreiſen wolle, dem Städtchen,
wo ſie, wie ich ja wußte, nächſtens auch eintreffen
würden. Dort ſolle ſie ſich alsdann von den Ihrigen
verlieren, ſich unter der Hand und mit kluger Art
nach dem angeſehenſten Gaſthaus erkundigen, wo ich
mich unfehlbar bereits befinden und alle Anſtalten zur
[313] ſchnellen Flucht getroffen haben würde. Loskine
hatte meinen Vorſchlag kaum vernommen, ſo entriß
ſie ſich mir eilig, denn wir hörten Geräuſch. In ei-
nem Gewirre von ängſtlich ſich durchkreuzenden Ge-
danken über die Ungewißheit, in welcher ich in mehr
als Einer Hinſicht mit meinem Plane ſtand, blieb
ich mir ſelber überlaſſen. Hat das Mädchen mich
verſtanden? Werde ich Gelegenheit finden, ſie noch
Einmal darüber zu vernehmen? oder, wenn ſie
mich gefaßt hat, wird ſie ſich zu dem Schritte ent-
ſchließen? iſt der leztere überhaupt ausführbar?
Dieſe Zweifel beunruhigten mich nicht wenig, bis mir
der glückliche Einfall kam, Alles dem Willen des
Schickſals anheim zu ſtellen und zulezt das Glücken
oder Mislingen meiner Abſichten als Probe ihrer
Güte oder Verwerflichkeit anzuſehen. Mit dieſer Idee
ſchmeichelte ich mir ordentlich, ſowie durch den ſtren-
gen Vorſatz, Loskinen für jezt nicht mehr aufzuſuchen,
mich wenigſtens nicht näher mit ihr darüber zu ver-
ſtändigen. Um wie viel bedeutender — dieß ſchwebte
im Hintergrund meiner Seele — um wie viel glän-
zender wird nachher die Erfüllung deiner Erwartungen
ſeyn! Aber auch ſelbſt in ihrem Fehlſchlagen ſah ich
einen für mich reizenden Schmerz und eine ſchöne
Entſagung voraus.
Jezt begab ich mich zu meiner Geſellſchaft, zog den
Hauptmann bei Seite und erklärte ihm die Nothwen-
digkeit meiner Entfernung, die ich ihm durch einen
[314] lezten Beweis meiner Erkenntlichkeit um ſo leichter
verſchmerzen machte. Er empfing mein immer an-
ſehnliches Geſchenk mit einer Miene von Stolz und
Freundlichkeit, erbot ſich zu einem Ehrengeleite, was
ich aber ausſchlug, und er verſprach, meiner Bitte ge-
mäß, die Andern in meinem Namen zu grüßen, da
ich aus Schonung für Marwin einen allgemeinen
Abſchied vermeiden wolle. Im Grunde aber unter-
ließ ich den Abſchied aus Schonung für mich ſelber,
aus einem eigenen Schamgefühl, das mich nicht vor
den Menſchen treten ließ, den ich um ſeine ſchönſte
Hoffnung zu betrügen gedachte. Ich ſuchte mich da-
mit zu tröſten, daß ich mir ſagte, er werde um Nichts
beraubt, das er je beſeſſen hätte oder jemals beſitzen
könnte, denn Loskinens Herz war weit von ihm
entfernt.
In kurzer Zeit befand ich mich wieder allein und
in meinen ordentlichen Kleidern. Ich verfolgte zu
Pferde mit einem gleichfalls berittenen Begleiter aus
dem nächſten Dorfe einen Umweg nach G ***, wel-
chen, wie zu vermuthen war, der Hauptmann nicht
einſchlug. Dieſe Vorſicht gebrauchte ich auf alle Fälle,
ſo wie ich ihm auch die Richtung meiner Reiſe falſch
angab.
In G. langt’ ich bei Zeiten an und nahm mein
Abſteigequartier gemäß dem Loskinen gegebenen
Worte. Was meine Abſicht weiter fördern konnte
ward unverzüglich eingeleitet. Einige neue Kleidungs-
[315] ſtücke, vor Allem ein anſtändiger Mantel lag für die
Geliebte bereit. Es fand ſich ein bequemer verſchloſ-
ſener Wagen, deſſen Anblick mich mit abwechſelnd
glücklichen und bekümmerten Ahnungen erfüllte; doch
erhielt ſich meine Hoffnung um ſo aufrechter, je wei-
ter ich die Zeit hinausſezte, wo meiner Berechnung
nach die Ankunft des Trupps erfolgen konnte. Dieß
war auf den folgenden Morgen, als den eigentlichen
Markttag. Ganz gelaſſen ſchaute ich ſo eben von mei-
nem Zimmer auf die Straße hinab und überlegte,
nicht ohne einige bedenkliche Rückſicht auf den ſehr
herabgeſunkenen Zuſtand meiner Börſe, die Art und
Weiſe, wie ich das in den nächſten Tagen unfehlbar
hier auf der Poſt einlaufende Paket von S. wollte
am zweckmäßigſten heimwärts mir nachſchicken laſſen.
Ich ſah unter dieſen Betrachtungen ruhig zu, wie
unter meinem Fenſter ein Junge vom Haus mit einer
neuen hölzernen Armbruſt ſpielte, wobei ein dunkles,
gleichgültiges Gefühl in mir war, als wäre mir ein
gleiches Inſtrument während der lezten Zeit irgendwo
vorgekommen. Wie ein Blitz durchzückt mich plötzlich
der Gedanke, daß ich noch vor zwei Tagen dergleichen
Schnitzarbeit in den Händen Loskinens geſehen, daß
ſie bereits in der Nähe ſeyn müſſe, daß ſie jeden
Augenblick in das Haus treten könne. Ich war au-
ßer mir vor Freude, vor Erwartung und Angſt.
Aber dieſer peinvolle Zuſtand ſollte nicht lange dauern.
O Gott! wer ſchildert den Augenblick, da die herr-
[316] liche Geſtalt in mein Zimmer ſchlüpfte, dieſe Arme
ſie empfingen und ſie mit erſticktem Athem rief: „Da
bin ich! da bin ich Unglückliche! beginne mit mir,
was du willſt!“
In Kurzem ſaßen wir im Wagen; erſt fuhr ich
allein eine Strecke weit vor die Stadt und erwartete
ſie dort. Wir reiſ’ten den Tag und die Nacht hin-
durch und ſind vor der Hand weit genug, um nichts
mehr zu fürchten. Aber welche Roth, welche ſüße
Noth hatt’ ich, den Jammer des holden Geſchöpfs
zu mäßigen. Sie ſchien jezt erſt den ungeheuren
Schritt zu überdenken, den ſie für mich gewagt, ſie
quälte ſich mit den bitterſten Vorwürfen und dann
wieder lachte ſie mitten durch Thränen, mit Leiden-
ſchaft mich an ſich preſſend. So kamen wir gegen
Tagesanbruch im Grenzorte B. ermüdet an. Ich
ſchreibe dieß in einem elenden Gaſthof, indeſſen Los-
kine nicht weit von mir auf ſchlechtem Lager eines
kurzen Schlafs genießt. Getroſt, gutes Herz, in we-
nig Tagen zeig’ ich dir eine Heimath. Du ſollſt die
Fürſtin meines Hauſes ſeyn, wir wollen zuſammen
ein Himmelreich gründen, und die Meinung der Welt
ſoll mich nicht hindern, der Seligſte unter den Men-
ſchen zu ſeyn.
Hier brach das Tagebuch des Malers ab. Der
Pfarrer machte eine Pauſe und Jungfer Erneſtine
ſagte: „Er brachte ſie alſo ins Vaterland und nahm
[317] ſie förmlich zum Weibe?“ „Ja, leider, daß Gott er-
barm’! er ſezt’ es durch. Er verläugnete die ab-
ſcheuliche Herkunft der Perſon, doch man merkte ſogleich
Unrath, und wer von der Familie hätte ſich nicht da-
vor bekreuzen ſollen, ſo eine wildfremde Verwandt-
ſchaft einzugehen? Alles rieth dem Bruder ab, Alles
verſchwor ſich gegen eine Verbindung, ich ſelbſt, Gott
vergebe mir’s, habe mich verfeindet mit ihm, ſo lieb
ich ihn hatte. Umſonſt, der Fürſt war auf ſeiner
Seite, er ward in der Stille getraut und lebte mit
dem Weibsbild einſam genug auf ſeinem kleinen Gute.
Seine Kunſt nährte ihn vollauf, aber es konnte kein
Seegen dabei ſeyn; beide Ehleute, ſagt man, hätten
ſich geliebt, abgöttiſch geliebt, und doch, heißt es, ſey
ſie in den erſten Monaten krank geworden vor Heim-
weh nach ihren Wäldern, nach ihren Freunden. Man
ſage mir was man will, ich behaupte, ſo ein Geſindel
kann das Vagiren nicht laſſen, und mein armer Bru-
der muß tauſendfachen Jammer erduldet haben. Es
dauerte kein Jahr, ſo ſchlug der Tod ſich in’s Mittel,
die Frau ſtarb in dem erſten Kindbett. Euer Onkel,
ſtatt, wie man hoffte, dem Himmel auf den Knieen
zu danken, that über den Verluſt wie ein Verzwei-
felnder; er lebte eine Zeitlang nicht viel beſſer als
ein Einſiedler; ſein einziger Troſt war noch das Kind,
das am Leben erhalten war und in der Folge eine
unglaubliche Aehnlichkeit mit der Mutter zeigte. Er
ließ das Mädchen ſorgfältig bei ſich erziehen bis in
[318] ſein ſiebentes Jahr. Da ſtrafte Gott den hart Ge-
züchtigten mit einem neuen Unglück. Das Kind ward
eines Tags vermißt, niemand begriff, wohin es gera-
then ſeyn konnte. Später fand man Urſache, zu glau-
ben, daß die verruchte Bande den Aufenthalt meines
Bruders entdeckt, und weil die Frau nicht mehr
zu ſtehlen war, ſich durch den Raub des Mädchens
an dem Vater gerächt habe. Sein halb Vermögen
ließ dieſer es ſich koſten, ſeinen Augapfel wieder an
ſich zu bekommen; vergebens, er mußte die Tochter
verloren geben, und nie vernahm man weiter etwas
von ihr. Und heute nun — es iſt ja unfaßlich, es
iſt rein zum toll werden, mir wirbelt der Verſtand,
wenn ich’s denke, heute muß ich es erleben, daß der
Baſtard mir durch meine eigenen Kinder über die
Schwelle gebracht wird. Mir iſt nur wohl, ſeit ſie
wieder aus dem Haus iſt! Wenn ſie ſich nur nicht
irgendwo verſteckt! dort liegt ja ihr Bündel noch;
wenn nur nicht der ganze Trupp hier in der Nähe
umherſchleicht! Heiliger Gott! wenn ſie mir das Haus
anzündeten, die Mordbrenner — Auf, Kinder! mir
läuft es ſiedend über den Rücken, mir ahnet ein Un-
glück! Durchſucht jeden Winkel — der Knecht ſoll den
Schultheiß wecken — man ſoll Lärm machen im
Dorfe —“
„Um Gotteswillen, Vater, was denken Sie?“
riefen die Mädchen, „beſinnen Sie ſich doch! die Zi-
[319] geuner ſind ja meilenweit von uns entfernt und das
Mädchen wird uns nicht ſchaden.“
„Was? nicht ſchaden? wißt ihr das? Iſt ſie
nicht von Sinnen? Was iſt von einer Närrin nicht
Alles zu fürchten!“
„So kann ja Johann die Nacht wachen, wir
alle wollen wachen.“
„Keinen Augenblick hab’ ich Ruh’, bis ich mich
überzeugt, daß nicht irgendwo Feuer eingelegt iſt.
Kommt! ich habe nun einmal die Grille; begleitet mich.“
So tappte man denn zu Dreien ohne Licht durch
das ganze Haus; die Gänge, die Ställe, die Bühne,
Alles wurde ſorgfältig unterſucht. Als man in die
Dachkammer kam, wo ſich das merkwürdige Bild be-
fand, empfanden die Mädchen einen heimlichen, jedoch
reizenden Schauder; es war ſo aufgehängt, daß ſo eben
der Mond ſein ſtarkes Licht darauf fallen ließ, und
ſelbſt der Pfarrer ward wider Willen von der dämo-
niſchen Schönheit des Geſichtes feſtgehalten; man hätte
es wirklich für ein Porträt Eliſabeths halten kön-
nen; von ganz eigenem, nicht weiter zu beſchreiben-
den Ausdruck waren beſonders die braunen durch-
dringenden Augen. Keins von den Dreien wollte
ein lautes Wort ſprechen, nur Adelheid fragte den
Vater, ob der Onkel es gemalt? ob es ſeine Frau
vorſtelle? Der Pfarrer nickte, nahm das Bild ſeuf-
zend von der Wand und verſteckte es in die hin-
terſte Ecke.
[320]
Im Vorbeigehen traten ſie in Theobalds
Schlafkammer, er ſchlief ruhig, die Hände lagen ge-
faltet über der Decke.
Mitternacht war vorüber. Der Alte hatte we-
nig Luſt ſich zur Ruhe zu begeben, die Töchter ſoll-
ten ihm Geſellſchaft leiſten, und um ſie wach zu erhal-
ten mußte er den Reſt der traurigen Geſchichte erzäh-
len. „Dieſer geht nahe zuſammen;“ ſagte er. „Der
Unfall mit dem Kinde vernichtete den Oheim ganz;
der Aufenthalt im Vaterlande ward ihm unerträglich,
er ging auf Reiſen, nach Frankreich und England,
ſoll aber in ſteter Verbindung mit ſeinem Fürſten ge-
blieben ſeyn und fortwährend für ihn gearbeitet ha-
ben, bis er aus unbekannten Gründen mit dem Hofe
zerfiel. Auf Einmal verſcholl er und man weiß bloß,
daß er mit einem Schiffe zwiſchen England und Nor-
wegen umgekommen. Den größten Theil ſeines Ver-
mögens hatte er bei ſich, aber aus dem, was er zu-
rückließ, zu ſchließen, ſchien er eine Heimkehr nicht
aufgegeben zu haben. Seine Güter fielen der Herr-
ſchaft zu, welche Anſpruch darauf machte. Außer
einem kleinen Vorrath von Effekten, worunter auch
jenes Gemälde und das Diarium ſich befand, kam
nichts an uns. — So endete der Bruder eures Va-
ters. Ich ſage, Friede ſey mit ihm! Ich werde ihn
aufrichtig beweinen bis an meinen Tod, ob ich gleich
was er that nicht billigen kann und Jeden warnen
muß, dem Gott ein ſo gefährlich Temperament ver-
[321] lieh, daß er den Fallſtrick des Verſuchers vermeide
und nie die Bahn heilſamer Ordnung verlaſſe. Ich
denke hier an meinen eigenen Sohn, an Theobald.
Der Junge hat, ſo fromm und ſanft er iſt, mich
manchmal ſchon erſchreckt. So ganz das Gegentheil
von mir! So manches Uebertriebene, Unnatürliche!
So heute wieder — mir läuft die Galle über, wenn
ich’s denke — was ſoll die dumme Neugierde auf die
Fremde? nichts, als daß ſeine Phantaſie toll wird!
Und du, Adelheid, machſt oft gemeinſchaftliche Sache
mit ihm, ſtatt ihn zu leiten. — Er läßt ſich nicht wie
andere Knaben ſeines Alters an. Da — ſtunden-
lang oben im Glockenſtuhl ſitzen, wie ein Träumer,
Spinnen ätzen und aufziehen, einfältige Geheimniſſe,
Zettel, Münzen unter die Erde vergraben — was
ſind mir das für Bizarrerien? Und daß ich einen
Maler aus ihm mache, ſoll er ſich nur nicht einbil-
den. Das iſt das ewige Zeichnen und Pinſeln! wo
man hinſieht, ärgert man ſich über ſo ein Fratzenge-
ſicht, das er gekritzelt hat, und wär’s auch nur auf dem
Zinnteller. Wenn er einmal Sonntags Nachmittag
zur Erholung ſich eine Stunde hinſezte und machte
einen ordentlichen Baum, ein Haus und dergleichen
nach einem braven Original, ſo hätt’ ich nichts dage-
gen, aber da ſind es nur immer ſeine eigenen Grillen,
hexenhafte Karikaturen und was weiß ich. Bei Gott!
gerade ſolche Poſſen hat Onkel Friedrich in ſeiner
Jugend gehabt. Nein, bei meiner armen Seele, mein
21
[322] Sohn ſoll mir kein Maler werden! So lang’ ich
lebe und gebiete, ſoll er’s nicht!“
Die Mädchen machten große Augen zu dieſen
Worten, denn es war beinahe das Erſtemal, daß der
Vater über ſeinen Liebling entrüſtet ſchien, und doch
war auch dieß nur der ängſtliche Ausdruck ſeiner grän-
zenloſen Vorliebe für ihn. Endlich brach er auf und
noch während des Auskleidens redete er nach ſeiner
heftigen Gewohnheit laut mit ſich ſelber über den
ſtörenden Vorfall des Abends.
Am folgenden Morgen meldete der Knecht, daß,
als er mit Tagesanbruch aufgeſtanden und in den
Hof getreten, um Waſſer zu ſchöpfen, das Zigeuner-
mädchen ihm dort in die Hände gelaufen ſey; ſie
hätte ſich nur ihr Kleiderbündel von ihm bringen laſ-
ſen, um ſogleich weiter zu gehen. Sie habe ihm ei-
nen freundlichen Gruß an Adelheid, beſonders aber
an den jungen Herren befohlen. Ein Medaillon, das
ſie vom Halſe losgeknüpft, ſoll man ihm als Ange-
binde von ihr einhändigen.
Der Vater nahm das Kleinod ſogleich in Em-
pfang; es war von feinem Golde, blau emaillirt, mit
einer unverſtändlichen orientaliſchen Inſchrift; er ver-
ſchloß es und verbot Jedermann auf’s Strengſte, ſei-
nem Sohn etwas von dieſem Auftrage kund zu thun.
Der junge Menſch hatte außer Adelheiden
keine Seele, der er ſein Inneres hätte offenbaren mö-
[323] gen. Er wandelte, ſeitdem er Eliſabethen geſehen,
eine Zeitlang wie im Traume.
Wenn er ſeit ſeinen Kinderjahren, in Rißthal
ſchon, ſo manchen verſtohlenen Augenblick mit der
Betrachtung jenes unwiderſtehlichen Bildes zugebracht
hatte, wenn ſich hieraus allmählig ein ſchwärmeriſch
religiöſer Umgang wie mit dem geliebten Idol eines
Schutzgeiſts entſpann, wenn die Treue, womit der
Knabe ſein Geheimniß verſchwieg, den Reiz deſſelben
unglaublich erhöhte, ſo mußte der Moment, worin
das Wunderbild ihm lebendig entgegentrat, ein unge-
heurer und unauslöſchlicher ſeyn. Es war, als er-
leuchtete ein zauberhaftes Licht die hinterſten Schach-
ten ſeiner inneren Welt, als bräche der unterirdiſche
Strom ſeines Daſeyns plötzlich lautrauſchend zu ſeinen
Füßen hervor aus der Tiefe, als wäre das Siegel
vom Evangelium ſeines Schickſals geſprungen.
Niemand war Zeuge von dem ſeltſamen Bünd-
niß, welches der Knabe in einer Art von Verzückung
mit ſeiner angebeteten Freundin dort unter den Rui-
nen ſchloß, aber nach dem, was er Adelheiden dar-
über zu verſtehen gab, ſollte man glauben, daß ein
gegenſeitiges Gelübde der geiſtigſten Liebe Statt gefun-
den, deren geheimnißvolles Band, an eine wunderbare
Naturnothwendigkeit geknüpft, beide Gemüther, aller
Entfernung zum Trotze, auf immer vereinigen ſollte.
Doch dauerte es lang’, bis Theobald die tiefe
Sehnſucht nach der Entfernten überwand. Sein gan-
[324] zes Weſen war in Wehmuth aufgelöst, mit doppelter
Inbrunſt hielt er ſich an jenes theure Bild; der Trieb
zu bilden und zu malen ward jezt unwiderſtehlich und
ſein Beruf zum Künſtler war entſchieden.
In Kurzem ſtarb der Vater am Schlagfluſſe.
Die Kinder wurden zerſtreut. Theobald ward ei-
nem wackern Manne (dem Förſter zu Neuburg) in
die Koſt gegeben, von deſſen Hauſe aus er die benach-
barte Malerſchule zu *** beſuchte. Nach fünfthalb
Jahren fleißiger Studien fand ein reicher Gönner ſich
bewogen, dem jungen Manne die Mittel zu ſeiner
weiteren Bildung im Auslande zu reichen. In ho-
hem Grade fruchtbar ward ihm der Aufenthalt zu
Rom und Florenz, aber ſelbſt die mannigfaltigen An-
ſchauungen dieſer herrlichen Kunſtwelt vermochten den
Grundton jener früheren Eindrücke nie völlig zu ver-
drängen, deren myſteriöſer Charakter zunächſt in der
Idee des Chriſtlichen eine analoge Befriedigung fand.
Eliſabethen hat er nie wieder geſehen.
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der geſtellte ſteinerne Spitz-Säulen, welche durch den Schatten, den
ſie werfen, den Ur-Einwohnern als eine Art von Sonnenuhr gedient
haben ſollen.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 2. Maler Nolten. Maler Nolten. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bmmm.0