zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
zu
Befoͤrderung der Humanitaͤt.
beiJohann Friedrich Hartknoch.
108.
In den Fragmenten uͤber die Poe-
ſie der neueren Voͤlker, als einer
Foͤrdrerin der Humanitaͤt, *) fan-
den unſre Freunde manches bedenklich. A.
glaubte, daß ſeiner Lieblingsnation, den
Franzoſen, B. daß ſeinem beguͤnſtigten
Volk, den Britten, im Anſchlage ihres
Verdienſtes nicht Gnuͤge geſchehen ſey.
[6] C. meinte, daß die Poeſie der Trobadoren
ſich anders woher leite, und daß man auch
dem Reim nicht gnug Gerechtigkeit wie-
derfahren laſſen; er ſei wirklich ein Zu-
wachs des Wohlklanges und der Schoͤn-
heit. D. E. F. ſind der Meinung, daß
die Verdienſte unſres Vaterlandes gegen
andre Voͤlker viel zu hoch geſetzt ſeyn und
daß ein unverdientes Lob dieſer Art nur
den Bettel- und Bauernſtolz unſrer Lands-
leute naͤhre. Sie haͤtten, meinte F., bei
der ungeheuren Gutmuͤthigkeit, die
Sie den Deutſchen als einen Grundzug
ihres Charakters zuſchreiben, auch die ih-
nen angebohrne Luſt zu dienen, gefaͤlli-
ge Sklaven, und mit ganzer Gutmuͤthig-
keit freudige Werkzeuge der Gewaltthaͤtig-
keit, des Uebermuths zu ſeyn, nicht ver-
geſſen ſollen. Da er Europa durchreiſet
hat, ſo fuͤhrt er ein langes Regiſter der
[7] Ehrennamen an, die alle civiliſirte und un-
civiliſirte Nationen, nah und fern, Italiaͤ-
ner, Spanier, Franken, Britten, Daͤnen,
Schweden, ſelbſt Ruſſen, Wenden, Liwen,
Eſthen und Pohlen den Deutſchen geben.
Woruͤber ganz Europa einig ſei, meint
er, muͤſſe doch wohl etwas Wahres in ſich
enthalten. Geſchichte, Spruͤchwoͤrter, ſelbſt
der Staatskalender zu Peking ſtanden
ihm dabei zu Huͤlfe, in welchem letzten die
Deutſchen als ein Volk charakteriſirt ſeyn
ſollen, das in aller Voͤlker Dienſten iſt,
und zwiſchen zwei Federbetten ſchlaͤft. —
G. wunderte ſich, warum Sie die Politik
von der Poeſie ausgeſchloſſen haben woll-
ten, da dem was die Menſchen humaniſi-
re, jedes Feld offen, jede Materie zu
Gebot ſtehen muͤſſe. H. begrif nicht recht,
wohin Sie fuͤr die Poeſie mit Ihrer Ein-
falt und Wahrheit wollten, ſo daß es
[8] noch lebendige, abwechſelnd-reiche Poeſie
bliebe? Und J. fragte, woher unſern
Dichtern dieſe Einfalt und Wahrheit
kommen ſolle? Antworten Sie ihren
Freunden.
[9]
109.
Kein Vorwurf iſt druͤckender als der,
fremden Nationen Unrecht gethan zu ha-
ben; zumal wenn ſie in Werken des Gei-
ſtes unſre Wohlthaͤterinnen waren; er muß
alſo zuerſt abgewaͤlzt ſeyn.
Daß es ſchwer ſey, eine Nation in ei-
nem ſo vielumfaſſenden, feinen und vielſei-
tigen Geſchaͤft als das Humaniſiren durch
Sprache und Werke des Geſchmacks iſt,
mittelſt einiger Worte zu charakteriſiren,
[10] haben Fragmente und Briefe gern und
oft geſtanden. Eher koͤnnte man alle Ge-
ſtalten Proteus in Ein Wort, alle Ver-
wandlungen Ovids in Ein Bild faſſen,
als mit ein paar Worten den Geiſt der
verſchiedenſten Voͤlker, wie er ſich Jahr-
hunderte hinab erwieſen, darſtellend zu
zeichnen. In dieſer Verlegenheit zeichnet
man eine Außenlinie von innen mit weni-
gen Zuͤgen, und uͤberlaͤßt es dem Gemuͤth
des Anſchauenden, dieſes Sbozzo zu er-
gaͤnzen. Die Geſchichte des Volks, ſeine
Geiſtesproducte muͤſſen ihm bekannt ſeyn;
ſonſt war fuͤr ihn der Umriß vergebens ge-
zeichnet.
Was man bei ſolchen Charakterzeich-
nungen nicht angiebt, laͤugnet man deß-
halb noch nicht. Vielleicht ward es vor-
ausgeſetzt, vielleicht folgets; nur als der
erſte hervorſpringende Charakterzug konnte
[11] es nicht angefuͤhrt werden, weil es dieſer
— nicht war.
Wenn z. B. der Franzoͤſiſchen Nation
eine vorzuͤgliche Ausbildung ihrer Sprache
zur Klarheit, zur Praͤciſion, zur Po-
liteſſe, als ein Lob angerechnet wird;
ſollte damit geſagt ſeyn, mit dieſer hellen,
praͤciſen, politen Sprache koͤnne ſie nicht
ruͤhren? In eines jeden großen Schrift-
ſtellers Haͤnden iſt die Sprache ein eigenes
Ding: er braucht und formt ſie nach ſei-
nem Gefallen; ſein Charakter, ſein Geiſt,
ſein Herz belebt ſie. Montaigne's und
Roußeau's, Paſkal und Diderots,
Voltaire und Fenelons Schreibart iſt
dem Charakter nach gewiß nicht dieſel-
be; und doch ſchrieben ſie in der, auch zu
Corneille und Boßvets Pracht, zu des
Racine empfindlichen Zartheit, zu Fon-
tenelle's witzigen Nettigkeit ausgearbei-
[12] teten Sprache. Kann man der Rede uͤber-
haupt ein groͤßeres Lob beilegen, als daß
ſie ſich der Klarheit und Praͤciſion, der
Gewandtheit und Artigkeit befleißiget? In
einer ſolchen Sprache wird ſich Alles aus-
druͤcken laſſen. Wie ſie zu unſerm Ver-
ſtande ſpricht, wird ſie auch zu unſerm
Herzen zu ſprechen wiſſen und dies, als
waͤre es der Verſtand, ſanft uͤberreden,
verſtaͤndig ruͤhren.
Als aus der alten Romaniſchen Spra-
che die Franzoͤſiſche ſich mit ihren Schwe-
ſtern, der Italiaͤniſchen, Caſtilianiſchen,
Galliciſchen u. f. bildete, zeigte ſich bald
ihr Charakter. Nach dem Verfall des Roͤ-
miſchen Reichs, unter den Koͤnigen des er-
ſten und zweiten Stammes war ſie jenen
ihren Schweſtern noch ſehr aͤhnlich; all-
maͤlich aber legte ſie die Feſſeln, ſelbſt der
Harmonie, des Italiaͤniſch-Caſtilianiſchen
[13] Wohllauts ab, wo er ihr eine ſchwere
Ruͤſtung duͤnkte; ſie warf Buchſtaben, Syl-
ben, ganze Worte hinweg, und flog leicht
in die Luͤfte. Man erzaͤhlte, ſang, ſprach,
lachte, geſticulirte. Als die Scholaſtik auf-
kam, diſputirte man; die Abſtractionen des
lateiniſchen Schulgeiſtes gingen in die ver-
wandte Sprache des Landes und Volks
unvermerkt uͤber. Einer Sprache, die
Zweideutigkeiten unablaͤßig ausgeſetzt iſt,
mußte man, als ſie ſich regelte, durch eine
deſto genauere Conſtruction und Wortord-
nung helfen. Keinem Volk waͤre dies ein-
gefallen, dem nicht ſchon eine Art ſpre-
chender Vernunft zur Regel geworden
war; und ſo wurde die Franzoͤſiſche Spra-
che was ſie iſt, eine an leichten Abſtrac-
tionen reiche Sprache, die ſich durch Ord-
nung, durch Wendungen helfen mußte, und
zur Ehre des Geiſtes der Nation tauſend-
[14] fach geſchickt aushalf. Welch einen be-
daͤchtigern Gang nahmen die Italiaͤniſche,
Spaniſche, und welchen ſchwereren die
Deutſche Sprache! Man entnimmt einer
Nation nichts, wenn man ihr das Eigen-
thuͤmliche ihrer Ausbildung zum Ruhme
anrechnet.
Dahin gehoͤrt auch, daß ſie gern re-
praͤſentire. „Was heißt hier repraͤſen-
tiren?“ fragt unſer Freund. Ich antwor-
te: aus ſich ſelbſt etwas machen, ſich werth
halten und ein natuͤrliches Beſtreben aͤu-
ßern, daß auch der andre unſern Werth
anerkenne; mit Einem Wort, ſich ihm
vorſtellen, vorſpiegeln. Wenn die-
ſe Selbſtſchaͤtzung auf etwas Wahres und
Gutes geht, iſt ſie nicht verwerflich; man-
cher andern Nation moͤchte man wuͤnſchen,
daß ſie ſich ſelbſt mehr anerkennt und ehre.
Auch die Tendenz, in andrer Augen zu
[15] ſeyn, was man gern ſeyn moͤchte, iſt auf-
munternd, ein Sporn zu vielem auszeich-
nend-Guten und Edeln. Nenne mans
Eitelkeit, Selbſtliebe; dieſe Eitelkeit, die
uns mit andern bindet, ſie zum Spiegel
unſrer Vorzuͤge macht, iſt, ohne Aufdring-
lichkeit und Arroganz, ein ſehr verzeihlicher
Fehler. Wer kann es laͤugnen, daß die
Franzoͤſiſche Nation, ſo oft ſie konnte, der
Welt ein Schauſpiel gab, daß ſie im-
mer gern die zuͤndende Lunte vortrug, und
aufregte? War ſie es nicht, die unter
Karl dem großen die alte Roͤmermacht in
gothiſcher Form zuruͤckbringen wollte und
auf kurze Zeit wirklich zuruͤckbrachte? War
ſie es nicht, die mit ihrem Rittergeiſt ganz
Europa zum heiligen Grabe trieb? Fran-
zoͤſiſche Familien waren es, die zu Jeru-
ſalem und eine Zeitlang in Conſtantinopel
herrſchten. Ein Franzoͤſiſcher Koͤnig war
[16] es, der ſiebenzig Jahre lang Rom nach
Avignon verlegte und durch dieſen Zug
im Schachſpiel die Paͤbſte zu ſeinen folg-
ſamen Dienern machte. Nach Frankreich
wanderten Jahrhunderte lang Edle und
Fuͤrſten, um dort die Ritterſitte, das Hof-
cerimoniel, die leichteſte und beſte Lebens-
art zu lernen, bis endlich von Paris und
Verſailles aus der Franzoͤſiſche Ton, die
Franzoͤſiſche Sprache als Mode ſich uͤber
die Welt ausgoß. Sein Kleinſtes hat
Frankreich bemerkbar zu machen geſucht;
in allen Staatsveraͤnderungen und Unter-
handlungen hatte lange es die Hand und
trat gern hervor zu ſagen: „ſehet, daß ich
dabin! und wie ichs treibe. Hieße dieß
nicht repraͤſentiren? Der Ton der guten
Erziehung, des Unterſchiedes der Staͤnde,
der anſtaͤndigen Lebensart, des hoͤflichen
Ausdrucks, der ganze Charakter der Fran-
zoͤſiſchen
[17] zoͤſiſchen Sprache, iſt eine Art Repraͤſenta-
tion. Selbſt wenn der Franzoſe mit Gott
ſpricht; er repraͤſentiret.
Aber auch dieſe Eigenheit iſt kein Vor-
wurf. Denn bei dem Scheinen kann man
ja auch ſeyn, beym Repraͤſentiren auch
leiſten. Außer den Griechen iſt mir kein
Volk der Geſchichte bekannt, das beide Ei-
genſchaften ſo leicht zu verbinden, ſo un-
vermerkt zu verſchmelzen wußte, als die-
ſes. Das Spruͤchwort ſagt: der Franzoſe
ſcheint oft kluͤger, als er iſt, der Spa-
nier iſt oft kluͤger als er ſcheinet.
Mit dem Wort Repraͤſentation auf dem
Theater, in Geſellſchaften, bei Aufzuͤgen,
Feierlichkeiten ſollte gar nichts Nachtheili-
ges geſagt ſeyn. Einmal ſind die Helden
des Corneille und Racine keine Roͤ-
miſche Helden; das Franzoͤſiſche Theater
ſollte kein Griechiſches, ſondern ein Fran-
Neunte Sammlung. B
[18] zoͤſiſches Theater ſeyn; wer haͤtte etwas da-
gegen? Die Nation war uͤber die Regeln
des Geſchmacks, der guten Lebensart, des
Ausdrucks der Empfindungen mit ſich ſelbſt
uͤbereingekommen; welcher Auslaͤnder
haͤtte Recht, dies zu tadeln? Er doͤrfte
ja nicht hingehen, um jene Repraͤſentation
des Hofes, der Akademieen, des Theaters,
der Oper, der Parlemente, der Luſtſchloͤſſer
und Gaͤrten zu bewundern. An ihnen,
auch in ihren Fehlern, zu lernen blieb ihm
ein weites Feld.
Eben nun in dies Feld lockt die all-
gemeine Charakteriſtik der Voͤl-
ker. Daß jede Nation zu ihrer Zeit, auf
ihrer Stelle nur das war, was ſie ſeyn
konnte; das wiſſen wir alle, damit aber
wiſſen wir noch wenig. Was jede in Ver-
gleich der andern war, wie ſie auf einan-
der wirkten und fehlwirkten, einander nutz-
[19] ten oder ſchadeten, aus welchen Zuͤgen
nach und nach das Bild zuſammengefloſ-
ſen ſei, das wir als die Tendenz unſres
geſammten Geſchlechts, als die hoͤch-
ſte Bluͤthe der Schoͤnheit, Wahrheit und
Guͤte unſrer Natur verehren, das iſt
die Frage.
[20]
110.
Da wendet ſich nun freilich das Blatt.
Germanus fragt nicht, was Nachbar
Gallus ihm dem Gallus, ſondern ihm
dem Germanus geweſen ſei, ſeyn koͤn-
ne und ſeyn doͤrfe? Und hieruͤber giebt
die Geſchichte klare Auskunft.
Die alten Gallier und Germanen wol-
len wir ruhen laſſen. Sie waren gegen
einander bald Freunde, bald Feinde, die
Germanen das rohere Volk, beide aber
[21] nicht von Einerley Stammesart, Sprache,
Sitten und Gebraͤuchen. Von Karl dem
großen faͤngt die ungluͤckliche Vereinigung
an, die Deutſchland Leides genug gebracht
hat, ob Karl gleich ſelbſt ein Frank und
Deutſcher war und in beſter Abſicht
ſeine Anſtalten machte. Ihm ſind wir
die dreiſſigjaͤhrigen blutigen Kriege und
Verheerungen des damaligen Sachſenlan-
des, ihm die Unterjochung Deutſchlands
bis uͤber die Elbe zur Ungriſchen Grenze
hin, ihm die erſte Zerſtoͤrung der alten
germaniſchen Verfaſſung, die den Roͤmern
nie hatte gelingen wollen, die Einfuͤhrung
des Roͤmiſch-Galliſchen Chriſtenthums, ihm
und ſeinen Nachkommen die Pflanzung
ſo vieler Biſchoͤfsſitze, Domkapitel und Ab-
teien laͤngs dem Rhein und der Donau,
ihm und ihnen die Suͤndfluth von Uebeln
ſchuldig, unter denen Germanien endlich
[22] zum ſtehenden und abgeſtandenen, verwach-
ſenen Teich ward. Die kurze Verbindung
Germaniens mit der Fraͤnkiſchen Monar-
chie hat Deutſchland in ein Labyrinth ge-
zogen, aus welchem es der Lauf tauſend
folgender Jahre nicht hat erretten moͤgen.
Sobald beide Reiche getrennt wurden,
ſuchte Frankreich ſich zu conſolidiren;
Deutſchland blieb von außen und innen
im ewigen Streit mit einer furchtbaren,
der geiſtlichen Macht, die es im Namen
der Chriſtenheit in Schranken halten ſoll-
te, wenn es daruͤber auch ſelbſt zu Grun-
de ginge und ſich ganz und gar vergaͤße.
Dies Amt hatte ihm das galliſche Chri-
ſtenthum, die Fraͤnkiſche Monarchie aufge-
buͤrdet; ein Deutſcher Kopf haͤtte ſchwerlich
nach ſolchem gefaͤhrlichen Diadem geſtrebet.
An den Ritter- und Kreuzzuͤgen, die
Frankreich ausbrachte, hat kein Land ſo
[23] viel Theil und ſo viel Schaden genommen,
als Deutſchland. Jene Cultur, die man
Bluͤthe des Rittergeiſtes nennt, ließ ſich
durch Kreuzzuͤge nicht erringen, wenn der
Saame dazu nicht in den Menſchen ſelbſt
vorhanden war; leider aber haben der
Franzoͤſiſche und Deutſche Ritter ſich im-
mer weſentlich unterſchieden. Was in dem
Einem Lande zur Verfeinerung der Sitten,
zur Veredlung gereichte, ging in dem an-
dern auf Pluͤnderung und Unterdruͤckung,
zuletzt aufs rohe Fauſtrecht hinaus. Um
Franzoͤſiſche Ritter auf den Thronen Pa-
laͤſtina's aufrecht zu erhalten, zogen Deut-
ſche Kaiſer mit gewaltigen Heeren gerade
in einem Zeitalter aus, da ihre Anweſen-
heit in Deutſchland am noͤthigſten war;
denn nachdem andre Laͤnder in ihrer inne-
ren Verfaſſung und Conſolidation ſtark
vorgeſchritten waren, ſollte eben die Zeit
[24] der Schwaͤbiſchen Kaiſer fuͤr Deutſchland
entſcheiden. Sie entſchied ſo, daß nach
dem Tode des letzten Kreuzziehenden Kai-
ſers Friedrich II. das Deutſche Reich drei
und zwanzig Jahre lang oͤffentlich ausge-
boten ward, und faſt niemand eine ſo
druͤckende Krone annehmen wollte.
Wie oft zog auch in den folgenden Zei-
ten Frankreichs truͤgender Glanz die Deut-
ſchen an ſich, um ſie angenehm zu vergol-
den! Wer will uns eine Geſchichte der
Fuͤrſten, Prinzen, Grafen und Ritter ge-
ben, die Jahrhunderte hinab in Frankreich
Bildung, Fortkommen, Ehre ſuchten, und
getaͤuſcht zuruͤckkamen? *) Die Univerſi-
[25] taͤt zu Paris, zu der man eben ſo gewal-
tig hinſtroͤmte, hat in Vielem eben alſo die
Welt getaͤuſchet.
Als endlich die Sonne des Franzoͤſi-
ſchen Hofes in ihrem Mittage ſtrahlte, als
*)
[26] die Sprache, die Sitten, die Verhandlun-
gen deſſelben faſt allenthalben in Europa
den Ton angeben wollten; wer iſt, inſon-
derheit ſeit dem Weſtphaͤliſchen Frieden,
dadurch mehr zu kurz gekommen, als
Deutſchland? Jeder kleine Hof ſollte ein
Verſailles, jede adliche Geſellſchaft ein Cir-
kel Franzoͤſiſcher Ducs et Marquis, Prin-
cesses et Comtesses werden. In Erzie-
hung, Sitten, Sprache, Lebenszweck und
Lebensfuͤhrung trenneten ſich die Staͤnde.
Was dieſe uͤber ein Jahrhundert fortdau-
rende Franzoͤſiſche Propaganda und
Propagata den Deutſchen fuͤr Unheil
gebohren, davon ſoll ein andrer Brief re-
den. Beſchaͤmt und verwirrt lege ich die
Feder nieder; ſpreche daruͤber ein Fran-
zoſe ſelbſt:
[27]
Premontval gegen die Gallicomanie,
und
den falſch-franzoͤſiſchen Geſchmack. *)
— „Die Gallicomanie oder der falſch-
franzoͤſiſche Geſchmack, worauf hat er ſich
nicht heut zu Tage faſt durch ganz Europa
verbreitet? Sitten, Gebraͤuche, Moden, Klei-
der, Manieren, Fantaſieen, Capricen; in alle
dieſem, wie viel ungeſchickte Affen, wie viel
ſchlechte Copien, von leidlichen Originalen
giebts nicht allenthalben! Man hat nicht
ohne Grund geſagt, daß der Franzoſe mei-
ſtens nur laͤcherlich ſey, indeß der Fremde, der
ihn in ſeinem Laͤcherlichen nachahmt, aufs aͤu-
ßerſte widrig und abgeſchmackt werde. Wollte
ich dieſe Wahrheit verfolgen und die zahllo-
ſen Portraͤte zeichnen, die ſie ſehr ſinnlich
[28] machen, welch ein weites Feld laͤge vor mir!
Ich will mich aber nur an die Franzoͤſi-
ſche Sprache und Literatur halten.
1. Woher der Franzoͤſiſche Geſchmack in
Deutſchland?
„Unter allen Europaͤiſchen Nationen iſts
ohne Widerrede die Deutſche Nation, die ſich
am meiſten beſtrebt, unſern Geſchmack nachzu-
ahmen; bei ihr hat ſich unſre Sprache am
allgemeinſten verbreitet. Und das aus ver-
ſchiedenen Urſachen. Die erſte iſt ihr ge-
meinſchaftlicher Urſprung. Beide Nationen
koͤnnen ſich als Schweſtern anſehen, oder die
Deutſche kann ſogar mit einigem Wohlgefal-
len die Franzoͤſiſche als eine Tochter betrach-
ten, die ihr oft Ehre gemacht hat. Die
zweite Urſache iſt die nahe Nachbarſchaft
beider Nationen. Keine unerſteiglichen Ber-
ge, kein Gefahrvolles Meer trennet ſie, ſon-
dern ein bloßer Strom, mit Staͤdten beſetzt,
[29] in welchen man zum Theil ſchon beide Spra-
chen redet. Auch giebt es drittens keine
Rivalitaͤt und Eiferſucht zwiſchen beiden Voͤl-
kern. Nie haben ſie ſo lange, grauſame,
und große Angelegenheiten betreffende Kriege
gegen einander gefuͤhrt, als z. B. Frankreich
mit England und Spanien. Dazu kommt
viertens, daß unſre Armeen, entweder als
Freunde oder als Feinde zu verſchiednen Zei-
ten in alle Theile von Deutſchland gedrungen
ſind und die Voͤlker mit unſern Gebraͤuchen
und mit unſrer Sprache bekannt gemacht ha-
ben. Auch findet die Deutſche Nation Ge-
ſchmack am Reiſen und reiſet gewoͤhnlich zu-
erſt nach Frankreich. Fuͤnftens hat die
Auswanderung der refugiés unſere Buͤrger,
unſre Manufacturen, unſre Kuͤnſte, unſern
Geſchmack, unſre Gebraͤuche, unſre Sprache
nirgend ſo leicht verbreitet, nirgend ſo viel und ſo
zahlreiche Colonieen geſtiftet, als in Deutſchland.
„Darf ich noch hinzuſetzen, daß die große
Anzahl von Hoͤfen und Souverains, die den
[30] Deutſchen Staatskoͤrper theilen, auch Eine
der Urſachen geweſen, die zu Verbreitung des
Franzoͤſiſchen Geſchmacks in Deutſchland maͤch-
tig gewirket? Nichts iſt gewiſſer, als dieſes.“
„In Deutſchland giebts große und kleine
Hoͤfe, dieſe in einer großen Anzahl, von je-
nen acht oder neun. Beide haben hiebei auf
verſchiedene Art mitgewirket. Die kleinen
Souverains, Prinzen, Grafen, Barons, ſe-
tzen eine Ehre darinn, wie Perſonen von nie-
derm Range zu reiſen, ja mehr als dieſe ge-
reiſet zu ſeyn. Faſt alle gehen nach Frank-
reich, faſt alle bringen ganze Jahre zu Paris
oder am Hofe zu, mit einem anſehnlichen
Gefolge. Werden ſie nicht ihren dort ange-
nommenen Geſchmack in ihre Reſidenzen, d. i.
in hundert und hundert Orte in Deutſchland
mitnehmen? Dieſen theilen ſie ſodann zuerſt
ihren kleinen Hoͤfen und Unterthanen durch
den Einfluß mit, den jeder Souverain, groß
oder klein, uͤber die Geiſter derer hat, die in
ſeiner Dependenz ſind. Von da aus verbrei-
[31] tet ſich dieſer Geſchmack mit Huͤlfe des Trie-
bes, den alle Menſchen zur Nachahmung ha-
ben, allmaͤlich weiter.. Das alles waͤre nicht
ſo, wenn dieſe kleine Souverains nur reiche
Hofleute, (grands Seigneurs) waͤren, die
nach ihrer Ruͤckkunft aus Frankreich ſich in ei-
ner Hauptſtadt, wie Madrid, London u. f.
ſich in einer Menge verloͤren. An einem Ho-
fe, wo ein Einzelner fuͤr ſeine Perſon wenig
bedeutet, im Ganzen aber ein feſtgeſetzter, be-
ſtimmter Ton und Charakter herrſchet, wird
ein Engliſcher Lord, ein Spaniſcher Grand
den Firniß, den er nachahmend auf Reiſen
an ſich gezogen hatte, bald wegthun, und zwar
aus eben demſelben Principium der Nachah-
mung. Er wird ſich mit andern, die ihn
umgeben, in Uniſon ſetzen, oder wenigſtens
wird ſein Reſtchen fremder Farbe keinen gro-
ßen Einfluß haben. — Gluͤckes gnug, wenn
man ihn nicht laͤcherlich findet.“
[32]
2. Folgen der Gallicomanie in Deutſchland.
— „Der erſte Misbrauch, der aus die-
ſem verbreiteten Franzoͤſiſchen Geſchmack ent-
ſpringt, iſt daß man ſeine eigne Sprache ver-
nachlaͤßigt; (woran man gewiß Unrecht hat;
ich kann es nicht gnug wiederholen!) ein
ſchreiender Misbrauch. Mit einem Wort, es
geht ſo weit, daß eine ungeheure Menge von
Perſonen ſich piquirt, nur franzoͤſiſch zu
leſen, und daß ſie es endlich ſo weit bringen,
ihre eigne Schriftſteller nicht mehr verſtehen
zu koͤnnen. Ich habe, ja ich habe Deutſche
gekannt, Leute von Geiſt und Verdienſt, die
das beſte, das wir in unſrer Sprache pro-
ſaiſch und poetiſch haben, mit Nutzen laſen,
und geſtanden, daß ſie die Dichter ihrer eig-
nen Sprache durchaus nicht verſtuͤnden, ſo
gar behaupteten, daß die Schuld hiebei an den
Dichtern, nicht an ihnen ſelbſt liege. Ich
mußte ihnen zeigen, daß an ihrer Seite die
Schuld ſei, da ihnen alle Uebung und Be-
kannt-
[33] kanntſchaft mit einer Sprache fehle, die ſich
uͤber die gemeine Volksſprache nur etwas er-
hebet. Sie verwunderten ſich, wenn ich ih-
nen verſicherte, daß mich dieſe Sprache nicht
abſchreckte, daß ſie mir vielmehr leichter wuͤr-
de, als die platte, ſchwatzhafte Proſe der Zei-
tungsſchreiber. Dieſe voͤllige Unbekanntſchaft
mit den Dichtern ihrer eignen Nation iſt in
Deutſchland der Fall bei ſo vielen Perſonen,
daß es ein wahres Wunder iſt, daß man in
dieſem Lande dennoch die Muſen cultiviret.
Sehr wenige Deutſche alſo wiſſen ihre
Sprache (außer einem gewiſſen Geſchwaͤtz des
taͤglichen gemeinen Lebens) denn man weiß
eine Sprache nicht, deren Dichter man nicht
verſtehet. Und da der ausſchweifende Ge-
ſchmack an der Franzoͤſiſchen Litteratur daran
Schuld iſt, ſo wundert mich der Verdruß und
Unwille nicht, mit dem ihm mehrere Gelehrte
Deutſchlands begegnen.“
„Ein andrer nicht weniger empfindlicher
Misbrauch, der die Deutſchen von Einſicht
Neunte Sammlung. C
[34] aufbringt, iſt die tolle Wut, jeden Augenblick
Franzoͤſiſche Worte und Redarten im Deut-
ſchen anzubringen; eine Raſerei, die auch die
beſitzt, die ſelbſt kein Franzoͤſiſch wiſſen. Un-
ſre Sprache, wer ſollte es glauben? die Spra-
che eines Volks, das der Pedanterei ſo feind iſt,
iſt zur andringlichſten, unausſtehlichſten Pedan-
terei ſelbſt bei der Deutſchen Nation worden.“
— „Alles dies iſt biſarr und dient zu
nichts Gutem. Beide Sprachen leiden dabei,
ſelbſt wenn man die Eine und die Andre
Sprache vollkommen inne hat; meiſtens faͤhrt
Eine von beiden dabei ſehr uͤbel. Ein Jargon
wird daraus, unwuͤrdig jedes verſtaͤndigen und
vernuͤnftigen Weſens! In Wahrheit, der
Geſchmack fuͤr die Franzoͤſiſche Sprache hat
der Deutſchen Nation einen uͤbeln Dienſt ge-
than, und zum Ungluͤck darf man kaum hof-
fen, einem ſo tief eingewurzelten Uebel abzu-
helfen. Ich ſage dies alles gegen meinen
Privatvortheil: denn ich verſtehe das Deut-
ſche nur in Buͤchern.
[35]
Die beiden Misbraͤuche, deren aͤußerſtes
Uebermaas ich bemerkt habe, gereichen beiden
Sprachen, der erſte der Deutſchen, der zwei-
te der Deutſchen und Franzoͤſiſchen unendlich
zum Schaden; ſie ſind aber nichts gegen einen
dritten Nachtheil, der auf nichts geringeres
ausgeht, als den Geiſt und Geſchmack der
Nation ſelbſt im Grunde zu verderben. Und
dies geſchieht unfehlbar durch die Wahl einer
uͤblen Lectur und durch den ſchlechten Ge-
brauch der beſten Schriften. Glaube man
doch nicht, daß dieſe uͤbertriebnen Liebhaber
der Franzoͤſiſchen Sprache, die ſie radebrechen,
ihre wahre Schoͤnheiten und die in ihr ge-
ſchriebenen ſchaͤtzbarſten Werke je gekannt ha-
ben? Sind ſie dazu faͤhig? Guter Gott!
Die Geiſtesgeſtalt, die ihnen die Schoͤnheiten
ihrer eignen Sprache ſo ganz und gar mis-
kenntlich macht, daß ſie ſie vernachlaͤßigen
und auf die erbaͤrmlichſte Art verderben; dieſe
Geiſtesbildung, oder vielmehr dieſe fuͤr jede
C 2
[36] Sprache, fuͤr jede Literatur misgebildete
Schiefheit und Unform, bringt zu unſern
Schriftſtellern eine Grundlage von Pedante-
rei, die ein wahrer Antipode von aller Deli-
cateſſe des wahren Franzoͤſiſchen Geſchmacks
iſt. Oder ſie bringen einen Leichtſinn zu ih-
nen, der nur den Namen des ſchlechteſten, ei-
nes falſchen Franzoͤſiſchen Geſchmacks verdie-
net. Wiſſen ſie nur einmal, was es ſei, gute
Schriftſteller leſen? Wiſſen ſie, daß es nicht
zu viel iſt, ſie zehn, zwanzig, dreißig mal mit
Geſchmack, mit Fleiß und Anſtrengung leſen,
um ſie zu verdauen, um ihren Inhalt in
Blut und Saft zu verwandeln? Nichts we-
niger, als dieſes. Eine einmalige fluͤchtige
Lectur, und weſſen? einer kleinen Zahl
von Werken, die den meiſten Ruf, die
man ſich ruͤhmen will geleſen zu haben; ein
Zwanzig vielleicht, von denen ihnen nichts
blieb, ſelbſt die bekanntſten Anſpielungen nicht,
die in der Geſellſchaft oder in den Schrift-
[37] ſtellern vorkommen *). Endlich nur neue Buͤ-
cher, nur Zeitſchriften!“
„In Frankreich unterſcheidet man gute und
ſchlechte Buͤcher; man tadelt den falſchen Ge-
ſchmack und ſeufzet uͤber den Verfall der Wiſ-
ſenſchaft, indeß in Deutſchland die Verfechter
der Franzoͤſiſchen Literatur weit entfernt ſind,
ſo etwas auch nur zu vermuthen. Leute von
Geſchmack wiſſen es und ſchweigen, man
ſchwimmt nicht gern gegen den Strom. Und
ich, der ich es zuerſt wage, welchen Wider-
ſpruͤchen und Tracaßerien ſetze ich mich
aus! Welch eines Muths, welcher Geduld
habe ich noͤthig!“
„Woher kommts, daß in England der
falſch-franzoͤſiſche Geſchmack die boͤſen Wir-
kungen nicht hervorgebracht hat, wie in Deutſch-
land? Die Urſache iſt klar. Die Neigung
[38] fuͤr unſre Literatur und Sprache war da
viel gemaͤßigter. Der Nationalhaß erregte
Mitbewerbung; man las nicht ſinnlos, man
ſtarrte nicht bewundernd an, ſondern eiferte
nach und voran. Dieſe Eiferſucht, ſo unge-
recht ſie manchmal war, hatte fuͤr die Nation
eine gute Wirkung. Man ließ ſich nicht un-
terjochen, am wenigſten ſo weit, daß man ſei-
ne eigne Sprache aufgegeben, die Werke ſei-
ner Mitbuͤrger verachtet und dieſe durch den
Mangel an Aufmerkſamkeit fuͤr ihre Bemuͤ-
hungen ganz muthlos gemacht haͤtte, wie man
es in Deutſchland gethan hat; und am Ende
wozu gethan hat? Um eine fremde Sprache
ſchlecht zu verſtehen, ſie noch ſchlechter zu
ſprechen und in ihr nichts als Thorheiten zu
leſen. Schoͤner Gewinn dafuͤr, daß man in
ſeinem Lande ein doppelter Barbar wird!
Lohnte dies der Muͤhe, ſich mit unſrer Lite-
ratur zu uͤberſtopfen, geſetzt dieſe haͤtte auch
tauſendmal mehr Verdienſt, als man ihr zu-
geſteht, um ſolchen Preis?“
[39]
„Verhehlen kann man ſichs alſo auch nicht,
daß der Fortgang beider Nationen, der Eng-
liſchen und Deutſchen, ſich wie ihr verſchiede-
nes Betragen verhalte. Hier entſcheidet die
That; ich will und kann nicht entſcheiden.
Daß die Engliſche Literatur die Deutſche an
Verdienſt uͤbertreffe, erweiſet ſich augenſchein-
lich dadurch, daß man in Deutſchland, wie in
ganz Europa, Engliſche Werke ſucht und lie-
ſet, da hingegen England ſowohl als ganz
Europa um Deutſche Werke ſehr unbekuͤm-
mert iſt. Gegen dieſen Beweis laͤßt ſich nichts
einwenden; die Deutſche Nation giebt hier
ihre Stimme wider ſich ſelbſt. — Uebrigens
bin ich weit entfernt zu glauben, daß es zwi-
ſchen den Nationen weſentliche Verſchieden-
heit, unabhaͤngig von ihrer Geiſtescultur gebe.
Der Deutſche wird Delicateſſe zeigen, wie
der Franzoſe, Tiefſinn und Erhabenheit wie
der Englaͤnder, wenn er auf dem rechten
Wege ſeyn wird; er iſt aber noch nicht dar-
auf. Und die Urſache davon liegt, wie ich
[40] glaube, in ſeiner Leidenſchaft nicht fuͤr die
Franzoͤſiſche allein, ſondern fuͤr jede Sprache,
ſobald ſie nur nicht die ſeinige iſt. Nur in
dieſer falſchen und ſchiefen Neigung liegt es.
Seine Sprache iſt jedes Ausdrucks empfaͤn-
gig; warum bauet er ſie nicht an, wie er ſoll-
te? Meinethalb lerne er auch Franzoͤſiſch;
nur auf eine Art, die ihm Ehre bringe und
nicht gar laͤcherlich macht. Er halte ſich in
ihr an die unſterblichen Werke, die den Ruhm
Frankreichs ausmachen, und naͤhre ſich in ih-
nen mit Geſchmack. Geiſtige wie koͤrperliche
Nahrung, wenn ſie gedeihen ſoll, will geko-
ſtet, genoſſen werden. Man muß zu ihr von
einer Begierde, einem Hunger getrieben wer-
den, der nicht erkuͤnſtelt, nicht der Appetit ei-
ner verdorbenen Geſundheit ſei. Die Deut-
ſche Nation, im Grund' eine Nation von
veſtem und edeln Sinn; (ein veſter Sinn
aber haßt Frivolitaͤt, ſo wie ein edler Sinn
jedes Niedertraͤchtigen Feind iſt) um dieſen
lobenswuͤrdigen Eigenſchaften treu zu bleiben
[41] laſſe der Deutſche fortan und immer ſowohl
jene nichtswuͤrdige falſchſchimmernde Franzoͤ-
ſiſche Schoͤngeiſterei, als jene unfoͤrmliche
Plattheiten, deren vieljaͤhrige Geltung ihm
gnugſam zeiget, in welchem Irrthum er ſei
und mit welchem Uebel, von welchem er nicht
die geringſte Ahnung hat, er behaftet gewe-
ſen.“ So weit Premontval. *)
[42]
III.
Eine viel tiefere Wunde hat uns die
Gallicomanie (Franzoſen-Sucht
muͤßte ſie Deutſch heißen) geſchlagen, als
der gute Premontval angiebt. An ſei-
nem Ort konnte er nicht mehr ſagen, und
hatte gewiß ſchon zu viel geſaget.
Wenn Sprache das Organ unſrer
Seelenkraͤfte, das Mittel unſrer
innerſten Bildung und Erziehung
iſt: ſo koͤnnen wir nicht anders als in der
[43] Sprache unſres Volks und Landes gut er-
zogen werden; eine ſogenannte Franzoͤ-
ſiſche Erziehung, (wie man ſie auch
wirklich nannte) in Deutſchland muß
Deutſche Gemuͤther nothwendig mißbilden
und irre fuͤhren. Mich duͤnkt, dieſer Satz
ſtehe ſo hell da, als die Sonne am Mit-
tage.
Von wem und fuͤr wen ward die Fran-
zoͤſiſche Sprache gebildet? Von Franzo-
ſen, fuͤr Franzoſen. Sie druckt Begriffe
und Verhaͤltniſſe aus, die in ihrer Welt,
im Lauf ihres Lebens liegen; ſie bezeich-
net ſolche auf eine Weiſe, wie ſie ihnen
dort jede Situation, der fluͤchtige Augen-
blick, und die ihnen eigne Stimmung der
Seele in dieſem Augenblick angiebt. Au-
ßer dieſem Kreiſe werden die Worte halb
oder gar nicht verſtanden, uͤbel angewandt,
oder ſind, wo die Gegenſtaͤnde fehlen, gar
[44] nicht anwendbar, mithin Nutzlos gelernet.
Da nun in keiner Sprache ſo ſehr die
Mode herrſcht, als in der Franzoͤſiſchen,
da keine Sprache ſo ganz das Bild der
Veraͤnderlichkeit, eines wechſelnden Farben-
ſpiels in Sitten, Meinungen, Beziehungen
iſt, als ſie; da keine Sprache wie ſie leich-
te Schatten bezeichnet und auf einem Far-
benclavier glaͤnzender Lufterſcheinungen und
Stralenbrechungen ſpielet; was iſt ſie zur
Erziehung Deutſcher Menſchen in ihrem
Kreiſe? Nichts, oder ein Irrlicht. Sie
laͤßt die Seele leer von Begriffen, oder
giebt ihr fuͤr die wahren und weſentlichen
Beziehungen unſres Vaterlandes falſche
Ausdruͤcke, ſchiefe Bezeichnungen, fremde
Bilder und Affectationen. Aus ihrem
Kreiſe geruͤckt, muß ſie ſolche, und waͤre
ſie eine Engelsſprache, geben. Alſo iſt es
gar nicht vermeſſen zu ſagen, daß ſie un-
[45] ſrer Nation, in den Staͤnden, wo ſie die
Erziehung leitete, oder vielmehr die ganze
Erziehung war, den Verſtand verſchoben,
das Herz veroͤdet, uͤberhaupt aber die See-
le an dem Weſentlichſten leer gelaſſen hat,
was dem Gemuͤth Freude an ſeinem Ge-
ſchlecht, an ſeiner Lage, an ſeinem Beruf
giebt; und ſind dies nicht die ſuͤßeſten
Freuden? haben Sie je den Cours einer
Deutſch-Franzoͤſiſchen Erziehung kennen ge-
lernt? Fuͤr Deutſche eine ſchoͤne Einoͤde
und Wuͤſte! —
Und doch beſtehet der ganze Werth ei-
nes Menſchen, ſeine buͤrgerliche Nutzbar-
keit, ſeine menſchliche und buͤrgerliche
Gluͤckſeligkeit darinn, daß er von Ju-
gend auf den Kreis ſeiner Welt, ſeine
Geſchaͤfte und Beziehungen, die Mittel und
Zwecke derſelben, genau und aufs reinſte
kennen lerne, daß er uͤber ſie im eigenſten
[46] Sinn geſunde Begriffe, herzliche froͤhliche
Neigungen gewinne, und ſich in ihnen un-
geſtoͤrt, unverruͤckt, ohne ein untergelegtes
fremdes und falſches Ideal, ohne Schielen
auf auswaͤrtige Sitten und Beziehungen
uͤbe. Wem dies Gluͤck nicht zu Theil
ward, deſſen Denkart wird verſchraubt,
ſein Herz bleibt kalt fuͤr die Gegenſtaͤnde,
die ihn umgeben; oder vielmehr von einer
fremden Buhlerin wird ihm in jugendli-
chem Zauber auf Lebenslang ſein Herz ge-
ſtohlen.
Hat Ihnen das Gluͤck nie einen Deutſch-
Franzoͤſiſchen Liebesbriefwechſel zugefuͤhret?
Vielleicht die ſchoͤnſte Blumenleſe auswaͤr-
tiger Empfindungen; auf Deutſchem Bo-
den duͤrres Heu, mit verwelkten Blumen.
Jetzt muß man lachen, jetzt ſich ver-
wundern, am Ende aber moͤchte man
uͤber die nicht ausgebrannte, ſondern ſo
[47] fruͤh ausgeſpuͤlte, flache Sentimentalitaͤt
weinen.
Kennen Sie SwiftsTea-table Miſ-
cellanies? Gehen Sie in die galanten
Cirkel der Deutſch-Franzoͤſiſchen Conver-
ſation; und ſuchen Gedanken, ſuchen wah-
re und angenehme Unterhaltung; Sie wer-
den den alten Swift in Leerheit ſowohl
als anmuthigen Fortleitungen des Ge-
ſpraͤchs uͤbertroffen finden. „Deutſch ſpre-
che ich nicht in dieſer Geſellſchaft: im
Deutſchen ſagt man immer zu viel, und
hier will ich nichts ſagen. Wir zaͤhlen einan-
der Zahlpfennige zu; die Deutſche Sprache
will wahre Muͤnze. Sie iſt ſo ehrlich, ſo herz-
lich wie eine Bauerdirne. Wir ſind hier in
guter, d. i. leerer Geſellſchaft.“ Ein ſolches
Leben, ein ſolcher Ton der Seele, eine Ge-
wohnheit dieſer Art, von Kindheit auf ſich zur
Form gemacht; ſind ſie nicht traurig?
[48]
Was haben wir denn in der Welt ſchaͤtz-
bareres als die wahre Welt wirklicher
Herzen und Geiſter? Daß wir unſre Ge-
danken und Gefuͤhle in ihrer eigenſten
Geſtalt anerkennen und ſie andern auf die
treueſte, unbefangenſte Art aͤußern, daß
andre dagegen uns ihre Gedanken, ihre
Empfindungen wiedergeben, kurz, daß je-
der Vogel ſinge, wie die Natur ihn ſingen
hieß? Iſt dies Licht erloͤſcht, dieſe Flam-
me erſtickt, dies urſpruͤngliche Band zwi-
ſchen den Gemuͤthern zerriſſen oder verzau-
ſet; ſtatt des allen ſagen wir auswendig-
gelernte, fremde, armſelige Phraſeologieen
her; o des Jammers! der ewigen Flach-
heit und Falſchheit! Eine Geiſt- und Herz-
austrocknende Duͤrre und Kaͤlte. Den ei-
gentlichen Beſitzern dieſer Sprache gnuͤgt
ſolche: denn ſie leben in ihr; ſie beleben
ſie mit ihrer froͤhlichen Leichtigkeit und
Sprach-
[49] Sprachſeligen Anmuth. Wir Deutſche
aber, mit unſrer Leichtigkeit? mit un-
ſerm Franzoͤſiſchen Scherz? O alle Gra-
zien und Muſen! —
Jedermann muß bemerkt haben, daß es
im ganzen Europa keine verſchiedenere
Denk- und Mundarten gebe, als die Fran-
zoͤſiſche und Deutſche, ſo nachbarlich ſie
wohnen. Aus keiner Sprache iſt ſo ſchwer
zu uͤberſetzen, als aus der Franzoͤſiſchen,
wenn der Deutſchen Sprache ihr Recht,
ihre urſpruͤngliche Art bleiben ſoll; vol-
lends das Eigenſte derſelben, ihr Geiſt
und Scherz, ihre fluͤchtigen Malereien und
Bezeichnungen, Spiele der Phantaſie und
der leichteſten Bemerkung ſind uns ganz
fremde. Wie ſchwerfaͤllig geht die Fran-
zoͤſiſche Comoͤdie auf unſern Theatern ein-
her! wie hoͤlzern klingen im Deutſchen ihre
froͤhlichſten Geſellſchaftslieder! Und ihre
Neunte Sammlung D
[50] Verſification, der Ton ihrer Contes à rire,
ihre tauſend Uebereinkommniſſe uͤber das
Schickliche und Unſchickliche im Ausdruck,
(welches alles ſie Regeln des Ge-
ſchmacks zu nennen belieben;) wem iſt
es fremder als der Deutſchen Sprache und
Denkart? Viel leichter koͤnnen wir uns
unter Griechen und Roͤmer, unter Spa-
nier, Italiaͤner und Englaͤnder verſetzen,
als in ihren Kreis anmuthiger Frivoli-
taͤten und Wortſpiele. Geſchieht dies end-
lich, zwingen wir uns von Jugend an die-
ſe Form auf, gelangen wir mit ſaurer
Muͤhe zu der Vortreflichkeit, wozu wenige
gelangen, Franzoͤſiſch zu denken, zu ſcher-
zen und zu amphiboliſiren; was haben wir
gewonnen? Daß der Franzoſe den Deut-
ſchen Ungeſchmack, die Tudeſke Muſe,
lobend verhoͤhnet, und wir unſre natuͤrliche
Denkart einbuͤßten. Schwerlich giebt es
[51] eine ſchimpflichere Sklaverei, als die Dienſt-
barkeit unter Franzoͤſiſchem Witz und Ge-
ſchmack, in Franzoͤſiſchen Wortfeſſeln.
Und ſie macht uns andrer, ſtaͤrkerer
Eindruͤcke ſo unfaͤhig, ſo in uns ſelbſt er-
ſtorben! Sagen Sie einer flachen Seele
von Deutſch-Franzoͤſiſcher Erziehung das
Staͤrkſte, das Beſte in einer andern Spra-
che; man verſteht ſie Franzoͤſiſch. Laſ-
ſen Sie es ſich wieder ſagen, und Sie wer-
den ſich vor Ihrem eignen Gedanken oft
ſchaͤmen. Die Sprachrichtigſten Franzoſen,
wie interpretiren ſie die Alten? wie uͤber-
ſetzen ſie aus neueren Sprachen? Laͤſe
ſich Horaz in einer Franzoͤſiſchen Ueber-
ſetzung, was wuͤrde er ſagen? Da nun
die Deutſche Sprache, (ohne alle Ruhm-
redigkeit ſei es geſagt) gleichſam nur Herz
und Verſtand iſt, und ſtatt feiner Zier-
de Wahrheit und Innigkeit liebet; ſo zer-
D 2
[52][ſt]aͤubt ihr Nachdruck einem gemeinen Fran-
zoͤſiſchen Ohr, wie der fallende Strom, der
ſich in Nebel aufloͤſet. Wie manchen ho-
hen Begriff, wie manches edle Wort auch
der alten Roͤmerſprache hat die Galliſche
Eitelkeit geſchminkt, entnervt, verderbet!
Wenn ſich nun, wie offenbar iſt, durch
dieſe thoͤrichte Gallicomanie in Deutſchland
ſeit einem Jahrhunderte her ganze Staͤn-
de und Volksclaſſen von einander
getrennt haben; mit wem man Deutſch
ſprach, der war Domestique, (nur mit
denen von gleichem Stande ſprach man
Franzoͤſiſch, und foderte von ihnen dieſen
jargon als ein Zeichen des Eintritts in die
Geſellſchaft von guter Erziehung, als ein
Standes-Ranges- und Ehrenzeichen;) zur
Dienerſchaft ſprach man wie man zu Knech-
ten und Maͤgden ſprechen muß, ein
Knecht- und Maͤgde-Deutſch, weil
[53] man ein edleres, ein beſſeres Deutſch nicht
verſtand und uͤber ſie in dieſer Denkart
dachte; wenn dies ein ganzes reines Jahr-
hundert ungeſtoͤrt, mit wenigen Ausnah-
men, ſo fortging; doͤrfen wir uns wohl
wundern, warum die Deutſche Nation ſo
nachgeblieben, ſo zuruͤckgekommen, und gan-
zen Staͤnden nach ſo leer und veraͤchtlich
worden iſt, als wir ſie leider nach dem Ge-
ſammt-Urtheil andrer Nationen im Ange-
ſicht Europa's finden? Bis auf die Zei-
ten Maximilians war die Deutſche
Nation, ſo oft auch ihre Ehrlichkeit ge-
mißbraucht ward, dennoch eine geehrte
Nation; ſtandhaft in ihren Grundſaͤtzen,
bieder in ihrer Denkart und Handlungs-
weiſe. Seit fremde Voͤlker mit ihren
Sitten und Sprachen ſie beherrſchten, von
Karl dem fuͤnften an, ging ſie hinunter.
Die Reformation trennte, das politiſche
[54] Intereſſe trennte. Zuerſt kam Spaniſches
Cerimoniel zu uns; bald ſchrieben die Fuͤr-
ſten, Prinzen, Generale Italiaͤniſch, bis
ſeit dem Glorreichen dreißigjaͤhrigen Kriege
nach und nach faſt das ganze Reich an
Hoͤfen und in den obern Staͤnden eine
Provinz des Franzoͤſiſchen Geſchmacks ward.
Hinweg war jetzt in dieſen Staͤnden der
Deutſche Charakter! Frankreich ward die
gluͤckliche Geburtsſtaͤte der Moden, der Ar-
tigkeit, der Lebensweiſe. An Hoͤfen bekam
Alles andre Namen; in manchen Laͤndern
ward die ganze Landesverwaltung Franzoͤ-
ſiſch eingerichtet. Den Landesherrn, die
voreinſt Deutſche Fuͤrſten und Landesver-
walter waren, ward jetzt wohl, wenn ſie
ſich unter ihres Gleichen durch eine frem-
de Sprache in einem andern Lande finden
konnten, und an Geſchaͤfte nur von einer
abgeſonderten Claſſe Menſchen, (der Na-
[55] tion, die ſie naͤhrte,) in grobem Deutſch
erinnert werden dorften. Die Edeln und
Ritter folgten ihnen; der weibliche Theil
unſrer, nicht mehr unſrer Nation
(denn von den Muͤttern haͤngt doch faſt
aller gute oder ſchlechte Geſchmack der Er-
ziehung ab) uͤbertraf beide. So geſchah,
was geſchehen iſt; Adel und Franzoͤſiſche
Erziehung wurden Eins und Daſſelbe; man
ſchaͤmte ſich der Deutſchen Nation, wie
man ſich eines Fleckens in der Familie
ſchaͤmet. Deutſche Buͤcher, Deutſche Lite-
ratur in dieſen obern Staͤnden — wie nie-
drig, wie ſchimpflich! Der maͤchtigſte,
wohlhabendſte, Einflußreichſte Theil der
Nation war alſo fuͤr die thaͤtige Bildung
und Fortbildung der Nation verlohren;
ja er hinderte dieſe, wie er ſie etwa hin-
dern konnte, ſchon durch ſein Daſeyn.
Denn wenn man nur mit Gott und mit
[56] ſeinem Pferde Deutſch ſprach; ſo ſtellten
ſich aus Pflicht und Gefaͤlligkeit auch die,
mit denen man alſo ſprach, als Pferde.
Werden Sie nicht muͤde, meine Jere-
miade auszuhoͤren; ich ſchreibe ſie nicht
aus Haß und Groll, wozu ich perſoͤnlich
nie die mindeſte Urſache gehabt habe, ſon-
dern mit reinem Gemuͤth, aus dem Welt-
bekannten Buch der Zeiten und — ſie iſt
bald zu Ende.
Nachdem alſo der Theil der Nation,
der ſich das Haupt und Herz derſelben
nennet, ihr entwendet war, was ſollten die
armen Schriftſteller thun? Sie betrugen
ſich auf verſchiedene Weiſe. Ein Theil
fuhr fort, lateiniſch zu ſchreiben; und wie-
wohl der Deutſchen Sprache hiedurch ihr
Beitrag zur Cultur abging, ſo gewann die
Wiſſenſchaft dennoch mehr, als wenn ſie
damals, in der ſeit Luther ſehr verfalle-
[57] nen Sprache, Deutſch geſchrieben haͤtten.
Auch anmuthige Sachen, auch Gedichte
ſchrieben ſie lateiniſch, deren wir aus den
beiden letztvergangnen Jahrhunderten viele
gute, einige vortrefliche haben. Andre,
edle Gemuͤther, ſuchten die Deutſche Spra-
che empor zu bringen; ſie ahmten aus
fremden Sprachen nach, was ſich nachah-
men ließ; ſo erſchienen Opitz, Logau,
und andre Schleſier, die wenigſtens ver-
hinderten, daß die Deutſche Sprache nicht
ganz und gar zum poͤbelhaften Streitge-
waͤſch damaliger Zeit, oder zur erbaͤrmli-
chen Canzleiſprache herabſank. Einige Fuͤr-
ſten *) hatten ein Ohr fuͤr ſie; und ſuch-
[58] ten ihr durch Geſellſchaften, ſogar durch
eigne Arbeiten aufzuhelfen. Andre, ſchlech-
tere Geſellen, ahmten den Franzoͤſiſchen
Witz nach, und ſo entſtand jene Zunft
Schulfuͤchſe, die nicht nur beide Spra-
chen erbaͤrmlich mengten, ſondern auch um
ſich ihren aͤltern Bruͤdern gefaͤllig zu ma-
chen, galant wie Voiture, affectirt wie
Balzac, erhaben wie Corneille ſchrie-
ben. Wie ſchaͤmt ſich ein Deutſcher, der,
nicht Franzoͤſiſch erzogen, Alt-Deutſcher
Scham noch faͤhig iſt, wenn er die Deutſch-
franzoͤſiſchen witzigen Schriften dieſes Zeit-
raums mit der Denk- und Schreibart
Kaiſersbergs, Luthers, Hans
*)
[59]Sachſe (in ſeinen proſaiſchen Aufſaͤtzen *))
uͤberhaupt mit allem, was vor dem Aus-
gange des ſechzehnten Jahrhunderts ge-
ſchrieben ward, vergleichet! — Endlich
blieb uns nichts als die Fluͤßigkeit;
und noch jetzt ruͤhmen ſich alle Deutſche
Canzleien, die Regensburgiſche nicht aus-
genommen, daß ſie, der wahren Courtoisie
getreu, außerordentlich einnehmend, kurz
und fluͤßig ſchreiben. Wer ſollte es glau-
ben? Unſre Canzlei-Courtoiſie, meynen
wir, iſt echt Franzoͤſiſch.
Da that ſich endlich (denn die Barm-
herzigkeit wollte, daß es mit uns nicht
[60] gar aus wuͤrde) ferne vom Hof- und
Schul-Geſchmack hie und da Einer her-
vor, der glaubte, daß auch in Deutſchland
die Sonne ſcheine und die Natur regiere.
Brockes waͤhlte den Garten zu ſeinem
Hofe; Bodmer ſtahl ſich uͤber die Al-
pen und koſtete einen Athemzug Italiaͤni-
ſcher Luft; kurz, man wagte den kuͤhnen
Gedanken, daß Deutſchland auch außer
den franzoͤſirenden Hoͤfen Etwas ſei,
und ſchrieb und ſtritt und dichtete, ſo gut
man konnte. Fuͤr wen? darauf ward An-
fangs nicht gerechnet; es ſchloß ſich aber
bald ein Kreis von Freunden und Feinden.
Die echten Gottſchedianer waren jetzt hin-
ter Neukirch, Heraͤus und Koͤnig
der Hofgeſchmack; ſie ſchrieben fluͤßig;
was irgend myſtere und Tibere reimen
konnte, war fuͤr ſie. Gewiß, wir ſind
undankbar gegen den unbelohnten und un-
[61] belohnbaren Eifer, von dem damals eini-
ge beſſere Koͤpfe fuͤr einen beſſeren Ge-
ſchmack brannten. Welche Muͤhe uͤbernah-
men ſie! welchen Befehdungen ſetzten ſie
ſich aus! Und wie wenige Luſt, wie we-
nig aͤußere Vortheile ſie dabei eingeerntet
haben, erweiſet die Privatgeſchichte ihres
Lebens.
Nachſchrift. Neulich ſind mir eini-
ge Blaͤtter zu Haͤnden gekommen, der
Auszug aus den Schriften eines Mannes,
der von 1729. bis 1781. lebte und gewiß
mehr als Jemand dazu beigetragen hat,
daß Deutſchland ſich einſt (wir wollen es
hoffen,) ruͤhmen kann, einen eigenen Ge-
ſchmack gewonnen zu haben. Die Blaͤt-
ter nennen ſich
Funken:
wahrſcheinlich, weil Der, den ſie redend
einfuͤhren, Eine ſeiner Schriften ſelbſt
[62]fermenta cognitionis nannte; uͤberdem war
der Name Funken([ſcintillae]) in den
mittleren Zeiten ſehr gewoͤhnlich. Mir
ſind ſie geweſen, was ſie dem Sinn des
Sammlers nach ſeyn ſollten, ein Charak-
terbild vom Leben des vielverdienten
Mannes, und ich ſtelle mir einen Juͤng-
ling des neunzehnten Jahrhunderts vor,
der mit Claſſiſchen Kaͤnntniſſen in der
Schule ausgeruͤſtet, ehe er die Akademie be-
ſchreitet, dieſe Funken, nachher auch mit
Ordnung und Wahl die mannichfaltigen
Schriften dieſes vielverdienten, gewandten
Schriftſtellers ſelbſt lieſet; was wird er
ſagen? — „Wie? wird er ſagen, lebte die-
ſer Mann in einer Wuͤſte? Bei ſeinem
muͤhſamen, fuͤr ſein Vaterland ruͤhmlichen,
gleichſam allbeſtrebenden Gange war denn
niemand, der ihm half? der ſeinen Ideen,
deren Nuͤtzlichkeit jedermann lobpries, ei-
[63] nen Spielraum, ſeinen Faͤhigkeiten, die je-
dermann anerkannte, Wirkſamkeit und ihm
nur einige Bequemlichkeit verſchaffte, die-
ſe Ideen auszubilden, auszufuͤhren?“ —
Ich wage es nicht, dieſe Fragen zu beant-
worten; mir iſts gnug, den maͤnnlichen
Verſtand, die biedere Denkart zu
bemerken, die ſich in jedem ſeiner Lebens-
zeichen aͤußert. Heil dem Juͤnglinge, der
ſich dieſe Bogen zum Kanon ſeines
Geſchmacks waͤhlet und zugleich fruͤhe
lernet, was er zu thun und zu vermeiden,
endlich auch was er von ſeinem Vaterlan-
de zu erwarten habe.
[64]
Funken,
aus der Aſche eines Todten.
1.
„In dem engen Bezirk einer kloſtermaͤßigen
Schule waren Theophraſt, Plautus und
Terenz meine Welt, die ich mit aller Be-
quemlichkeit ſtudirte. — Wie gern wuͤnſchte
ich mir dieſe Jahre zuruͤck, die einzigen, in
welchen ich gluͤcklich gelebt habe!“ *)
2.
„Ich kam jung von Schulen, in der ge-
wiſſen Ueberzeugung, daß mein ganzes Gluͤck
in den Buͤchern beſtehe. Stets bei den Buͤ-
chern, nur mit mir ſelbſt beſchaͤftigt, dachte
ich eben ſo ſelten an die uͤbrigen Menſchen,
als
[65] als vielleicht an Gott. Doch es dauerte nicht
lange, ſo gingen mir die Augen auf. Ich
lernte einſehen, die Buͤcher wuͤrden mich wohl
gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menſchen
machen. Ich wagte mich von meiner Stube
unter meines Gleichen. Guter Gott! was
wurde ich fuͤr eine Ungleichheit zwiſchen mir
und andern gewahr! Ich empfand eine
Schaam, die ich niemals empfunden habe und
die Wirkung derſelben war der veſte Entſchluß
mich hierin zu beſſern, es koſte, was es
wolle.“ *) —
3.
„Mein Koͤrper war durch Leibesuͤbungen
geſchickter geworden und ich ſuchte Geſellſchaft,
um auch leben zu lernen. Ich legte die ernſt-
haften Buͤcher eine Zeitlang auf die Seite,
um mich in denjenigen umzuſehen, die weit
angenehmer und vielleicht eben ſo nuͤtzlich ſind.
Neunte Sammlung. E
[66] Die Komoͤdien kamen mir zuerſt in die Hand.
Es mag unglaublich vorkommen, wem es
will; mir haben ſie große Dienſte gethan.
Ich lernte daraus eine artige und gezwungene,
eine grobe und natuͤrliche Auffuͤhrung unter-
ſcheiden. Ich lernte, wahre und falſche Tu-
gend daraus kennen, und die Laſter eben ſo
ſehr wegen ihres Laͤcherlichen als wegen ihres
Schaͤndlichen fliehen. Ich lernte mich ſelbſt
kennen, und ſeit der Zeit habe ich gewiß uͤber
niemanden mehr gelacht und geſpottet, als
uͤber mich ſelbſt.“ *)
4.
„Man darf mich nur in einer Sache loben,
wenn man haben will, daß ich ſie mit meh-
rerem Ernſt treiben ſoll. Ich ſann daher
Tag und Nacht, wie ich in einer Sache eine
Staͤrke zeigen moͤchte, in der, wie ich glaub-
[67] te, noch kein Deutſcher ſich ſehr hervorge-
than hat.“ *)
5.
„Wenn man nicht verſucht, welche Sphaͤ-
re uns eigentlich zukommt, ſo wagt man ſich
oͤfters in eine falſche, wo man ſich kaum uͤber
das Mittelmaͤßige erheben kann, da man ſich
in einer andern vielleicht zu einer bewun-
dernswuͤrdigen Hoͤhe haͤtte ſchwingen koͤnnen.
Meine Neigung war, mich in allen Arten
der Poeſie zu verſuchen, und ward muͤde
mich blos in Kleinigkeiten zu uͤben.“ **)
6.
„Seneka giebt den Rath: omnem ope-
ram impende, vt te aliqua dote notabilem
facias.***) Aber es iſt ſehr ſchwer, ſich in
E 2
[68] einer Wiſſenſchaft notabel zu machen, worinn
ſchon allzuviele excellirt haben. Habe ich alſo
ſehr uͤbel gethan, daß ich zu meinen Jugend-
arbeiten etwas gewaͤhlt, worinn noch ſehr we-
nige meiner Landsleute ihre Kraͤfte verſucht
haben? Und waͤre es nicht thoͤricht, eher auf-
zuhoͤren, als bis man Meiſterſtuͤcke von mir
geleſen hat?“ *)
7.
„Man darf nicht glauben, daß ich meine
Lieder Kleinigkeiten nennte, damit ich der
Critik mit Hoͤflichkeit den Dolch aus den
Haͤnden winden moͤchte. Ich erklaͤrte, daß ich
der erſte ſeyn wolle, zu verdammen, was ſie
verdammt; ſie, der zum Verdruß ich wohl ei-
nige mittelmaͤßige Stuͤcke koͤnnte gemacht ha-
ben; der zum Trotz aber ich nie dieſe mittel-
maͤßige Stuͤcke fuͤr ſchoͤn erkennen wuͤrde.
Ich habe geaͤndert, ich habe weggeworfen.
[69] Das Elende ſtreicht ſich ſelbſt durch, und
ſchlechte Verſe, die niemand lieſet, ſind ſo gut
als waͤren ſie nicht gemacht worden.“ *)
8.
„Den wenigen Oden gebe ich nur mit
Zittern dieſen Namen. Sie ſind zwar von
einem ſtaͤrkern Geiſt als die Lieder und haben
ernſthaftere Gegenſtaͤnde; allein ich kenne die
Muſter in dieſer Art gar zu gut, als daß ich
nicht einſehen ſollte, wie tief mein Flug un-
ter dem ihrigen iſt. Und wenn zum Ungluͤck
nur das Oden ſeyn ſollte, was ich, der ſchma-
len Zeilen ohngeachtet, fuͤr Lehrgedichte halte,
die man anſtatt der Paragraphen in Stro-
phen eingetheilt hat; ſo werde ich vollends
Urſache mich zu ſchaͤmen haben.“ **)
[70]
9.
„In Sinngedichten erkenne ich kei-
nen andern Lehrmeiſter als den Martial; es
muͤßten denn die ſeyn, die er fuͤr die ſeinigen
erkannt hat, und von welchen uns die Antho-
logie einen ſo vortreflichen Schatz derſelben
aufbehalten. Daß ich zu beißend und zu frei
darin bin, wird man mir wohl nicht vorwer-
fen koͤnnen, ob ich gleich beinah in der Mey-
nung ſtehe, daß man beides in Sinnſchriften
nicht gnug ſeyn kann.“ *)
10.
„Man nenne mir doch diejenigen Geiſter,
auf welche die komiſche Muſe Deutſchlands
**)
[71] ſtolz ſeyn koͤnnte! Was herrſcht auf unſern
gereinigten Theatern? Iſt es nicht lauter
auslaͤndiſcher Witz, den, ſo oft wir ihn bewun-
dern, eine Satyre uͤber den unſrigen macht?
Aber wie kommt es, daß nur hier die Deut-
ſche Nacheiferung zuruͤckbleibt? Sollte wohl
die Art ſelbſt, wie man unſre Buͤhne hat ver-
beſſern wollen, daran Schuld ſeyn? Sollte
wohl die Menge von Meiſterſtuͤcken, die man
auf einmal, beſonders den Franzoſen abborgte,
unſre urſpruͤnglichen Dichter niedergeſchlagen
haben? Man zeigte ihnen auf einmal, ſo zu
reden, alles erſchoͤpft und ſetzte ſie auf einmal
in die Nothwendigkeit, nicht blos etwas Gu-
tes ſondern etwas Beſſeres zu machen. Die-
ſer Sprung war ohne Zweifel zu arg; die
Kunſtrichter konnten ihn wohl befehlen, aber
die, die ihn wagen ſollten, blieben aus.“ *)
[72]
11.
„Wenn ich von den allweiſen Einrichtun-
gen der Vorſehung weniger ehrerbietig zu re-
den gewohnt waͤre, ſo wuͤrde ich keck ſagen,
daß ein gewiſſes neidiſches Geſchick uͤber die
Deutſchen Genies, welche ihrem Vaterlan-
de Ehre machen koͤnnten, zu herrſchen ſcheine.
Wie viele derſelben fallen in ihrer Bluͤthe da-
hin! Sie ſterben reich an Entwuͤrfen, und
ſchwanger mit Gedanken, denen zu ihrer Groͤ-
ße nichts als die Ausfuͤhrung fehlt. Sollte
es aber ſchwer ſeyn, eine natuͤrliche Urſache
hievon anzugeben? Wahrhaftig, ſie iſt ſo
klar, daß ſie nur derjenige nicht ſieht, der ſie
nicht ſehen will. Nehmen Sie an, daß ein
ſolches Genie in einem gewiſſen Stande ge-
bohren wird, der, ich will nicht ſagen der
elendeſte, ſondern nur zu mittelmaͤßig iſt, als
daß er noch zu der ſogenannten goldnen Mit-
telmaͤßigkeit zu rechnen waͤre. Und Sie wiſ-
ſen wohl, die Natur hat einen Wohlgefallen
dran, aus eben dieſem immer mehr große Gei-
[73] ſter hervor zu bringen, als aus irgend einem
andern. Nun uͤberlegen Sie, was fuͤr Schwie-
rigkeiten dieſes Genie in einem Lande als
Deutſchland, wo faſt alle Arten von Ermun-
terungen unbekannt ſind, zu uͤberſteigen habe.
Bald wird es von dem Mangel der noͤthigſten
Huͤlfsmittel zuruͤckgehalten; bald von dem Nei-
de, welcher die Verdienſte auch ſchon in ihrer
Wiege verfolgt, unterdruͤckt; bald in muͤhſa-
men und ſeiner unwuͤrdigen Geſchaͤften ent-
kraͤftet. Iſt es ein Wunder, daß es nach auf-
geopferten Jugendkraͤften dem erſten ſtarken
Sturme unterliegt? Iſt es ein Wunder, daß
Armuth, Aergerniß, Kraͤnkung, Verachtung
endlich uͤber einen Koͤrper ſiegen, der ohnedem
der ſtaͤrkſte nicht iſt, weil er kein Koͤrper eines
Holzhackers werden ſollte. In dieſem Fall
war M. oder es iſt nie einer darinn ge-
weſen.“ *)
[74]
„— Das iſt ſein Lebenslauf. Ein Le-
benslauf, ohne Zweifel, in welchem das Ende
das ungluͤcklichſte nicht iſt. Und doch behaupte
ich, daß er mehr darin geleiſtet hat, als tau-
ſend andere in ſeinen Umſtaͤnden nicht wuͤr-
den geleiſtet haben. Der Tod hat ihn fruͤh,
aber nicht ſo fruͤh uͤberraſcht, daß er keinen
Theil ſeines Namens vor ihm in Sicherheit
haͤtte bringen koͤnnen. — Er gewinnet im
Verlieren, und iſt vielleicht eben jetzt beſchaͤf-
tiget, mit erleuchteten Augen zu unterſuchen,
ob Newton gluͤcklich gerathen und Brad-
ley genau gemeſſen habe. Er weiß ohne
Zweifel ſchon mehr, als er jemals auf der
Welt haͤtte begreifen koͤnnen.“ *)
12.
„Ein gutes Genie iſt nicht allemal ein gu-
ter Schriftſteller, und es iſt oft eben ſo un-
billig, einen Gelehrten nach ſeinen Schriften
[75] zu beurtheilen, als einen Vater nach ſeinen
Kindern. Der rechtſchaffenſte Mann hat oft
die nichtswuͤrdigſten, und der kluͤgſte die
duͤmmſten; ohne Zweifel weil dieſer nicht die
gelegenſte Stunde zu ihrer Bildung, und je-
ner nicht den noͤthigen Fleiß zu ihrer Erzie-
hung angewendet hat. Der geiſtliche Vater
kann oft in eben dieſem Fall ſeyn, beſonders
wenn ihn aͤußerliche Umſtaͤnde noͤthigen, den
Gewinnſt ſeine Minerva, und die Nothwen-
digkeit ſeine Begeiſterung ſeyn zu laſſen. Ein
ſolcher iſt alsdann meiſtentheils gelehrter als
ſeine Buͤcher, anſtatt daß die Buͤcher derjeni-
gen, welche ſie mit aller Muße und mit An-
wendung aller Huͤlfsmittel ausarbeiten koͤnnen,
nicht ſelten gelehrter als ihre Verfaſſer zu
ſeyn pflegen.“ *)
13.
„Warum giebt es gewiſſe, ſchwer zu ver-
gnuͤgende Kunſtrichter, die zum Luſtſpiel
[76] eine anſtaͤndige Dichtung, wahre Sitten, eine
maͤnnliche Moral, eine feine Satyre, eine leb-
hafte Unterredung, und ich weiß nicht, was
ſonſt noch mehr verlangen? — Und ich weiß
uͤberhaupt nicht, was ich von der Satyre ſa-
gen ſoll, die ſich an ganze Staͤnde wagt. Doch
Galle, Ungerechtigkeit und Ausſchweifung ha-
ben nie ein Buch um die Leſer gebracht, wohl
aber manchem Buche zu Leſern verholfen.“ *)
14.
„Den ſchoͤnen Wiſſenſchaften ſollte nur ein
Theil unſrer Jugend gehoͤren; wir haben uns
in wichtigern Dingen zu uͤben, ehe wir ſterben.
Ein Alter, der ſeine ganze Lebenszeit uͤber
nichts als gereimt hat, und ein Alter, der ſei-
ne ganze Lebenszeit uͤber nichts gethan, als
daß er ſeinen Athem in ein Holz mit Loͤchern
gelaſſen: von ſolchen Alten zweifle ich ſehr, ob
ſie ihre Beſtimmung erreicht haben.“ **)
[77]
15.
Auch Freunde ſind Guͤter des Gluͤcks, die
ich lieber finden als ſuchen will.“ *)
16.
„Geſegnet ſei Ihr Entſchluß, ſich ſelbſt zu
leben. Um ſeinen Verſtand auszubreiten, muß
man ſeine Begierden einſchraͤnken. Wenn
Sie leben koͤnnen, ſo iſt es gleichviel, ob Sie
von maͤßigen oder großen Einkuͤnften leben.
Wie viel lieber wollte ich kuͤnftigen Sommer
mit Ihnen und unſerm Freunde zubringen,
als in England! Vielleicht lerne ich da wei-
ter nichts, als daß man eine Nation bewun-
dern und haſſen kann.“ **)
17.
„O was iſt unſer Grenadier ***) fuͤr ein
vortreflicher Mann! Zu einer ſolchen unan-
[78] ſtoͤßigen Verbindung der erhabenſten und laͤ-
cherlichſten Bilder war nur Er geſchickt! Nur
Er konnte die Strophen
Gott aber wog bei Sternenklang —
und
Dem Schwaben, der mit Einem Sprung —
machen und ſie beide in Ein Ganzes brin-
gen. Was wollte ich nicht darum geben,
wenn man das ganze Lied ins Franzoͤſiſche
uͤberſetzen koͤnnte! Aber wollen wir unſern
Grenadier nicht nun bald avanciren laſſen?
Verſichern Sie ihn, daß ich von Tag zu Tage
ihn mehr bewundere, und daß er alle meine
Erwartung ſo zu uͤbertreffen weiß, daß er das
Neueſte, was er gemacht hat, immer fuͤr das
***)
[79] Beſte halten muß. Ein Bekenntniß, zu dem
mir noch kein einziger Dichter Gelegenheit
gegeben hat. *)
18.
„Der Grenadier erlaubt es doch noch,
daß ich eine Vorrede dazu machen darf? Ich
habe verſchiednes von den alten Kriegsliedern
geſammlet; zwar ungleich mehr von den Kriegs-
liedern der Barden und Skalden als der Grie-
chen. **) Der alten Siegslieder wegen habe
ich ſogar das alte Heldenbuch durchgeleſen,
und dieſe Lecture hat mich hernach weiter auf
die zwei ſogenannten Heldengedichte aus dem
[80] Schwaͤbiſchen Jahrhunderte gebracht, welche
die Schweizer jetzt herausgegeben haben. Ich
habe verſchiedene Zuͤge daraus angemerkt, die
wenigſtens von dem kriegeriſchen Geiſte zeu-
gen, der unſre Vorfahren zu einer Nation
von Helden machte. — Die griechiſche Grab-
ſchrift, die ich dem Grenadier geſetzt habe, *)
ſind zwei alte Verſe, die bereits Archilochus
von ſich geſagt hat: Ich bin ein Knecht
des Enyaliſchen Koͤnigs, (des Mars)
und habe die liebliche Gabe der Mu-
ſen gelernt. Wuͤrden ſie nicht auch vor-
treflich unter das Bildniß unſers Kleiſts
paſſen?“ **)
19.
„Vielleicht zwar iſt auch der Patriot
bei mir nicht ganz erſtickt, obgleich das Lob
eines
[81] eines eifrigen Patrioten, nach meiner Den-
kungsart, das allerletzte iſt, wornach ich geizen
wuͤrde; des Patrioten nehmlich, der mich ver-
geſſen lehrte, daß ich ein Weltbuͤrger ſeyn
ſollte. Ich habe uͤberhaupt von der Liebe des
Vaterlandes (es thut mir leid, daß ich Ih-
nen vielleicht meine Schande geſtehen muß)
keinen Begriff, und ſie ſcheint mir aufs hoͤch-
ſte eine heroiſche Schwachheit, die ich recht
gern entbehre. *)
20.
„Der Krieg hat ſeine blutigſte Buͤhne un-
ter uns aufgeſchlagen, und es iſt eine alte
Klage, daß das zu nahe Geraͤuſch der Waffen
die Muſen verſcheucht. Verſcheucht es ſie nun
aus einem Lande, wo ſie nicht recht viele,
recht feurige Freunde haben, wo ſie ohnedies
nicht die beſte Aufnahme erhielten: ſo koͤnnen
ſie auf eine lange Zeit verſcheucht bleiben.
Neunte Sammlung. F
[82] Der Friede wird ohne ſie wiederkommen; ein
trauriger Friede, von dem einzigen melancho-
liſchen Vergnuͤgen begleitet, uͤber verlohrne
Guͤter zu weinen.“ *)
21.
„Man behauptet, der Kunſtrichter muͤſſe
nur die Schoͤnheiten eines Werks aufſuchen,
und die Fehler deſſelben eher bemaͤnteln als
blosſtellen. In zwei Faͤllen bin ich ſelbſt der
Meinung. Einmal, wenn der Kunſtrichter Wer-
ke von einer ausgemachten Guͤte vor ſich hat;
die beſten Werke der Alten, z. E. Zweitens,
wenn der Kunſtrichter nicht ſowohl gute Schrift-
ſteller als nur blos gute Leſer bilden will. **)
[83] Die Guͤte eines Werks beruhet nicht auf ein-
zeln Schoͤnheiten; dieſe einzeln Schoͤnheiten
muͤſſen ein ſchoͤnes Ganze ausmachen, oder
der Kenner kann ſie nicht anders, als mit ei-
nem zuͤrnenden Mißvergnuͤgen leſen. Nur
wenn das Ganze untadelhaft befunden wird,
muß der Kunſtrichter von einer nachtheiligen
Zergliederung abſtehen und das Werk, ſo wie
der Philoſoph die Welt betrachten.“ *)
F 2
[84]
22.
„Kommt es denn bei unſern Handlungen
blos auf die Vielheit der Bewegungsgruͤnde
an? Beruhet nicht weit mehr auf der In-
tenſion derſelben? Kann nicht ein einziger
Bewegungsgrund, dem ich lange und ernſtlich
*)
[85] nachgedacht habe, eben ſo viel ausrichten, als
zwanzig Bewegungsgruͤnde, deren jedem ich
den zwanzigſten Theil von jenem Nachdenken
geſchenkt habe?“
23.
„Die edelſten Woͤrter ſind eben deßwegen
weil ſie die edelſten ſind, faſt niemals zugleich
diejenigen, die uns in der Geſchwindigkeit be-
ſonders im Affecte zuerſt beifallen. Sie ver-
rathen die vorhergegangene Ueberlegung, ver-
wandeln die Helden in Declamatoren und ſtoͤ-
ren dadurch die Illuſion. Es iſt daher ſogar
ein großes Kunſtſtuͤck eines tragiſchen Dichters,
wenn er, beſonders die erhabenſten Gedanken,
in die gemeinſten Worte kleidet, und im Af-
fect nicht das edelſte ſondern das nachdruͤck-
lichſte Wort, wenn es auch ſchon einen et-
was niedrigen Nebenbegrif mit ſich fuͤhren
ſollte, ergreifen laͤßt. Von dieſem Kunſtſtuͤcke
werden aber freilich diejenigen nicht wiſſen
wollen, die nur an einem correcten Racine
[86] Geſchmack finden und ſo ungluͤcklich ſind, kei-
nen Shakeſpear zu kennen.“ *)
24.
„Ueberhaupt glaube ich, daß der Name
eines wahren Geſchichtſchreibers nur
demjenigen zukommt, der die Geſchichte ſeiner
Zeiten und ſeines Landes beſchreibt. Denn
nur der kann ſelbſt als Zeuge auftreten, und
darf hoffen, auch von der Nachwelt als ein
ſolcher geſchaͤtzt zu werden, wenn alle Andre,
die ſich nur als Abhoͤrer der eigentlichen Zeu-
gen erweiſen, nach wenig Jahren von ihres-
gleichen gewiß verdraͤngt ſind. Die ſuͤße Ueber-
zeugung, von dem gegenwaͤrtigen Nutzen, den
ſie ſtiften, muß ſie allein wegen der kurzen
Dauer ihres Ruhms ſchadlos halten. Und
kann ein ehrlicher Mann mit dieſer Schadlos-
haltung auch nicht zufrieden ſeyn?“ **)
[87]
25.
„Krank will ich wohl einmahl ſeyn; aber
ſterben will ich deßwegen noch nicht. Alle
Veraͤnderungen unſeres Temperaments, glau-
be ich, ſind mit Handlungen unſrer animali-
ſchen Oekonomie verbunden. Die ernſtliche
Epoche meines Lebens nahet heran! ich begin-
ne ein Mann zu werden, und ſchmeichle mir,
daß ich in dieſem hitzigen Fieber den letzten
Reſt meiner jugendlichen Thorheiten verra-
ſet habe. Gluͤckliche Krankheit! Aber ſoll-
ten ſich wohl Dichter eine athletiſche Geſund-
heit wuͤnſchen? Sollte der Phantaſie, der
Empfindung nicht ein gewiſſer Grad von Un-
paͤßlichkeit weit zutraͤglicher ſeyn? Wuͤnſchen
Sie mich alſo geſund, aber wo moͤglich mit
einem kleinen Denkzeichen, das dem Dich-
ter von Zeit zu Zeit den hinfaͤlligen Menſchen
empfinden laſſe, und ihm zu Gemuͤth fuͤhre,
daß nicht alle Tragici mit dem Sophokles
neunzig Jahr werden; aber, wenn ſie es auch
wuͤrden, daß Sophokles auch an die neunzig
[88] Trauerſpiele, und ich erſt ein einziges gemacht.
Neunzig Trauerſpiele! Auf einmal uͤberfaͤllt
mich ein Schwindel!“ *)
26.
„Ihnen geſtehe ich es am allerungernſten,
daß ich bisher nichts weniger als zufrieden
geweſen bin. Ich muß es Ihnen aber geſte-
hen, weil es die einzige Urſache iſt, warum
ich ſo lange nicht an Sie geſchrieben habe.
Nein, das hatte ich mir nicht vorgeſtellt!
aus dieſem Ton klagen alle Narren. Ich
haͤtte mir es vorſtellen ſollen und koͤnnen, daß
unbedeutende Beſchaͤftigungen mehr ermuͤden
muͤßten, als das anſtrengendſte Studiren;
daß in dem Cirkel, in welchen ich mich hin-
einzaubern laſſen, erlogene Vergnuͤgen und
Zerſtreuungen uͤber Zerſtreuungen die ſtumpf-
gewordene Seele zerruͤtten wuͤrden; daß —
Ihr Leßing iſt verlohren. In Jahr und
Tag werden Sie ihn nicht mehr kennen. Er
[89] ſich ſelbſt nicht mehr. O meine Zeit, meine
Zeit, mein Alles was ich habe — ſie ſo, ich
weiß nicht was fuͤr Abſichten aufzuopfern!
Hundertmal habe ich ſchon den Einfall ge-
habt, mich mit Gewalt aus dieſer Verbin-
dung zu reiſſen. Doch kann man einen un-
beſonnenen Streich mit dem andern wieder
gut machen?“ *)
27.
„Meine Eltern betrachten mich, als wenn
ich hier ſchon etablirt waͤre; und dieſes bin
ich doch ſo wenig, daß ich gar leicht meine
laͤngſte Zeit hier geweſen ſeyn doͤrfte. Ich
warte nur noch einen einzigen Umſtand ab,
und wenn dieſer nicht nach meinem Willen
ausfaͤllt, ſo kehre ich zu meiner alten Lebens-
art wieder zuruͤck. Ich habe mit dieſen
Nichtswuͤrdigkeiten nun ſchon mehr als drei
Jahr verlohren. Es iſt Zeit, daß ich wieder
[90] in mein Geleiſe komme. Alles was ich durch
meine jetzige Lebensart intendirte, das habe
ich erreicht; ich habe meine Geſundheit ſo
ziemlich wieder hergeſtellt, ich habe ausgeru-
het — — Ich bin uͤber die Haͤlfte meines
Lebens und wuͤßte nicht, was mich noͤthigen
koͤnnte, mich auf den kuͤrzeren Reſt deſſelben
noch zum Sklaven zu machen. — Wie es wei-
ter werden wird, iſt mein geringſter Kummer.
Wer geſund iſt und arbeiten will, hat in der
Welt nichts zu fuͤrchten. Langwierige Krank-
heiten und ich weiß nicht was fuͤr Umſtaͤnde
befuͤrchten, die außer Stand zu arbeiten ſetzen
koͤnnen, zeigt ein ſchlechtes Vertrauen auf die
Vorſehung. Ich habe ein beſſeres, und habe
Freunde.“ *)
28.
„Fragen Sie mich nicht, auf was ich
nach H. gehe. Eigentlich auf nichts. Wenn
[91] ſie mir in H. nur nichts nehmen, ſo geben ſie
mir eben ſo viel als ſie mir hier gegeben ha-
ben. Doch Ihnen brauche ich nichts zu ver-
hehlen. Ich habe allerdings mit dem dorti-
gen neuen Theater und den Entrepreneurs
deſſelben eine Art von Abkommen getroffen,
welches mir auf einige Jahre ein ruhiges und
angenehmes Leben verſpricht. Als ich mit
ihnen ſchloß, fielen mir die Worte aus dem
Juvenal bei:
Quod non dant proceres, dabit hiſtrio*) —
Ich will meine theatraliſchen Werke, welche
laͤngſt auf die letzte Hand gewartet haben,
daſelbſt vollenden und auffuͤhren laſſen. Sol-
che Umſtaͤnde waren nothwendig, die faſt erlo-
ſchene Liebe zum Theater wieder bei mir zu
entzuͤnden. Ich fing eben an, mich in andre
Studien zu verlieren, die mich gar bald zu
[92] aller Arbeit des Genies wuͤrden unfaͤhig ge-
macht haben. Mein Laokoon iſt nun wie-
der die Nebenarbeit. Mich duͤnkt, ich komme
mit der Fortſetzung deſſelben fuͤr den großen
Haufen unſrer Leſer auch noch immer fruͤh
genug. Die wenigen, die mich jetzt leſen, ver-
ſtehen von der Sache eben ſo viel wie ich,
und mehr.“ *)
29.
„Und hat es nicht das Publikum in ſei-
ner Gewalt, was es an Geſchmack und Ein-
ſicht beim Theater mangelhaft finden ſollte,
abſtellen und verbeſſern zu laſſen? Es kom-
me nur, und ſehe und hoͤre, und pruͤfe und
richte. Seine Stimme ſoll nie geringſchaͤtzig
verhoͤret, ſein Urtheil ſoll nie ohne Unterwer-
fung vernommen werden.
Nur daß ſich nicht jeder kleine Kritikaſter
fuͤr das Publikum halte, und derjenige, deſſen
[93] Erwartungen getaͤuſcht werden, auch ein we-
nig mit ſich ſelbſt zu Rathe gehe, von wel-
cher Art ſeine Erwartungen geweſen. Nicht
jeder Liebhaber iſt Kenner; nicht jeder, der die
Schoͤnheiten Eines Stuͤcks, das richtige Spiel
Eines Akteurs empfindet, kann darum auch
den Werth aller andern ſchaͤtzen. Man hat
keinen Geſchmack, wenn man nur einen ein-
ſeitigen Geſchmack hat; aber oft iſt man de-
ſto partheiiſcher. Der wahre Geſchmack iſt
der allgemeine, der ſich uͤber Schoͤnheiten von
jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr
Vergnuͤgen und Entzuͤcken erwartet, als ſie
nach ihrer Art gewaͤhren kann.
Der Stufen ſind viel, die eine werden-
de Buͤhne bis zum Gipfel der Vollkommen-
heit zu durchſteigen hat; aber eine verderb-
te Buͤhne iſt von dieſer Hoͤhe, natuͤrlicher
Weiſe, noch weiter entfernt: und ich fuͤrchte
ſehr, daß die Deutſche mehr dieſes als jenes iſt.
Alles kann folglich nicht auf einmal ge-
ſchehen. Doch was man nicht wachſen ſieht,
[94] findet man nach einiger Zeit gewachſen. Der
Langſamſte, der ſein Ziel nur nicht aus den
Augen verlieret, geht noch immer geſchwinder,
als der ohne Ziel herumirret.“ *)
30.
„Die Namen von Fuͤrſten und Helden koͤn-
nen einem Stuͤck Pomp und Majeſtaͤt geben;
aber zur Ruͤhrung tragen ſie nichts bei. Das
Ungluͤck derjenigen, deren Umſtaͤnde den unſri-
gen am naͤchſten kommen, muß natuͤrlicher
Weiſe am tiefſten in unſre Seele dringen;
und wenn wir mit Koͤnigen Mitleiden haben,
[95] ſo haben wir es mit ihnen als mit Menſchen,
nicht als mit Koͤnigen. Macht ihr Stand
ſchon oͤfters ihre Unfaͤlle wichtiger, ſo macht
er ſie darum nicht intereſſanter. Immerhin
moͤgen ganze Voͤlker darein verwickelt werden;
unſre Sympathie erfordert einen einzelnen
Gegenſtand, und ein Staat iſt ein viel zu
abſtrakter Begrif fuͤr unſre Empfindung.“ *)
31.
„Wenn die Belagerung von Ca-
lais**) nicht verdiente, daß die Franzoſen
einen ſolchen Laͤrmen damit machten, ſo ge-
reicht doch dieſer Laͤrmen ſelbſt den Franzoſen
zur Ehre. Er zeigt ſie als ein Volk, das auf
ſeinen Ruhm eiferſuͤchtig iſt; auf das die gro-
ßen Thaten ſeiner Vorfahren den Eindruck
nicht verlohren haben; das, von dem Werth
eines Dichters und von dem Einfluß des
[96] Theaters auf Tugend und Sitten uͤberzeugt,
jenen nicht zu ſeinen unnuͤtzen Gliedern rech-
net, dieſes nicht zu den Gegenſtaͤnden zaͤhlt,
um die ſich nur geſchaͤftige Muͤßiggaͤnger be-
kuͤmmern. Wie weit ſind wir Deutſchen in
dieſem Stuͤck noch hinter den Franzoſen. Es
gerade herauszuſagen: wir ſind gegen ſie noch
die wahren Barbaren! Barbariſcher, als un-
ſre barbariſchten Voreltern, denen ein Lieder-
ſaͤnger ein ſehr ſchaͤtzbarer Mann war, und
die, bey aller ihrer Gleichguͤltigkeit gegen
Kuͤnſte und Wiſſenſchaften, die Frage, ob ein
Barde, oder einer der mit Baͤrenfellen und
Bernſtein handelt, der nuͤtzlichere Buͤrger waͤ-
re? ſicherlich fuͤr die Frage eines Narren ge-
halten haͤtten. — Ich mag mich in Deutſch-
land umſehen, wo ich will, die Stadt ſoll
noch gebauet werden von der ſich erwarten
ließe, daß ſie nur den tauſendſten Theil der
Achtung und Erkenntlichkeit gegen einen Deut-
ſchen Dichter haben wuͤrde, die Calais gegen
den Du Belloi gehabt hat. Man erkenne
es
[97] es immer fuͤr Franzoͤſiſche Eitelkeit: wie weit
haben wir noch hin, ehe wir zu ſo einer Ei-
telkeit faͤhig ſeyn werden! Was Wunder
auch? Unſre Gelehrten ſelbſt ſind klein ge-
nug, die Nation in der Geringſchaͤtzung alles
deſſen zu beſtaͤrken, was nicht geradezu den
Beutel fuͤllet. Man ſpreche von einem Wer-
ke des Genies, von welchem man will; man
rede von der Aufmunterung der Kuͤnſtler;
man aͤußere den Wunſch, daß eine reiche bluͤ-
hende Stadt der anſtaͤndigſten Erholung fuͤr
Maͤnner, die in ihren Geſchaͤften des Tages
Laſt und Hitze getragen, und der nuͤtzlichſten
Zeitkuͤrzung fuͤr andre, die gar keine Geſchaͤf-
te haben wollen, durch ihre bloße Theilneh-
mung aufhelfen moͤge: — und ſehe und hoͤre
um ſich.“ *)
32.
„Es iſt einem jeden vergoͤnnt, ſeinen eig-
nen Geſchmack zu haben; und es iſt ruͤhmlich,
Neunte Sammlung. G
[98] ſich von ſeinem eignen Geſchmack Rechenſchaft
zu geben ſuchen. Aber den Gruͤnden, durch
die man ihn rechtfertigen will, eine Allgemein-
heit ertheilen, die, wenn es ſeine Richtigkeit
damit haͤtte, ihn zu dem einzigen wahren Ge-
ſchmack machen muͤßte, heißt aus den Gren-
zen des forſchenden Liebhabers herausgehen,
und ſich zu einem eigenſinnigen Geſetzgeber
aufwerfen. Der wahre Kunſtrichter folgert
keine Regeln aus ſeinem Geſchmack, ſondern
hat ſeinen Geſchmack nach den Regeln gebil-
det, welche die Natur der Sache erfordert.“ *)
33.
„Ich weiß einem Kuͤnſtler nur eine einzige
Schmeichelei zu machen; und dieſe beſteht
darinn, daß ich annehme, er ſei von aller ei-
teln Empfindlichkeit entfernt, die Kunſt gehe
bei ihm uͤber alles, er hoͤre gern frei und laut
uͤber ſich urtheilen, und wolle ſich lieber auch
[99] dann und wann falſch, als ſeltner beurtheilt
wiſſen. Wer dieſe Schmeichelei nicht verſteht,
bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und
er iſt nicht werth, daß wir ihn ſtudiren. Der
wahre Virtuoſe glaubt es nicht einmal, daß
wir ſeine Vollkommenheit einſehen und em-
pfinden, wenn wir auch noch ſo viel Geſchrei
davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir
auch Augen und Gefuͤhl fuͤr ſeine Schwaͤche
haben. Er ſpottet bei ſich uͤber jede uneinge-
ſchraͤnkte Bewunderung, und nur das Lob
desjenigen freuet ihn, von dem er weiß, daß
er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.“ *)
34.
„Wie ſchwach muß der Eindruck ſeyn, den
das Werk gemacht hat, wenn man in eben
dem Augenblick auf nichts begieriger iſt, als
die Figur des Meiſters dagegen zu halten?
G 2
[100] Das wahre Meiſterſtuͤck, duͤnkt mich, erfuͤlle
uns ſo ganz mit ſich ſelbſt, daß wir des Ur-
hebers daruͤber vergeſſen; daß wir es nicht
als das Produkt eines einzelnen Weſens,
ſondern der allgemeinen Natur betrachten.
Young ſagt von der Sonne, es waͤre Suͤn-
de in den Heiden geweſen, ſie nicht anzubeten.
Wenn Sinn in dieſer Hyperbel liegt, ſo iſt er
dieſer: der Glanz, die Herrlichkeit der Son-
ne iſt ſo groß, ſo uͤberſchwenglich, daß es dem
roheren Menſchen zu verzeihen, daß es ſehr
natuͤrlich war, wenn er ſich keine groͤßere
Herrlichkeit, keinen Glanz denken konnte, von
dem jener nur ein Abglanz ſei, wenn er ſich
alſo in der Bewunderung der Sonne ſo ſehr
verlohr, daß er an den Schoͤpfer der Sonne
nicht dachte. Ich vermuthe, die wahre Urſa-
che, warum wir ſo wenig Zuverlaͤſſiges von
der Perſon und den Lebensumſtaͤnden des
Homer wiſſen, iſt die Vortrefflichkeit ſeiner
Gedichte ſelbſt. Wir ſtehen voller Erſtaunen
an dem breiten rauſchenden Fluſſe, ohne an
[101] ſeine Quelle im Gebirge zu denken. Wir
wollen es nicht wiſſen, wir finden unſre Rech-
nung dabei es zu vergeſſen, daß Homer, der
blinde Bettler, eben der Homer iſt, der uns
in ſeinen Werken ſo entzuͤckt. Er bringt uns
unter Goͤtter und Helden; wir muͤßten in die-
ſer Geſellſchaft viel Langeweile haben, um
uns nach dem Thuͤrſteher ſo genau zu erkun-
digen, der uns hereingelaſſen. Die Taͤuſchung
muß ſehr ſchwach ſeyn, man muß wenig Na-
tur, aber deſto mehr Kuͤnſtelei empfinden,
wenn man ſo neugierig nach dem Kuͤnſt-
ler iſt.“ *)
35.
„Kann es nicht eben ſowohl ſeyn, daß der
Dichter und Kuͤnſtler das, was ich fuͤr Fle-
cken halte, fuͤr keine haͤlt? Und iſt es nicht
ſehr wahrſcheinlich, daß er mehr Recht hat,
als ich? Ich bin uͤberzeugt, daß das Auge
[102] des Kuͤnſtlers groͤßtentheils viel ſcharfſichtiger
iſt, als das ſcharfſichtigſte ſeiner Betrachter.
Unter zwanzig Einwuͤrfen, die ihm dieſe ma-
chen, wird er ſich von neunzehn erinnern, ſie
waͤhrend der Arbeit ſich ſelbſt gemacht, und
ſie auch ſchon ſich ſelbſt beantwortet zu haben.
Gleichwohl wird er nicht ungehalten ſeyn, ſie
auch von andern machen zu hoͤren: denn er
hat es gern, daß man uͤber ſein Werk ur-
theilet; ſchal oder gruͤndlich, links oder rechts,
gutartig oder haͤmiſch, alles gilt ihm gleich;
und auch das ſchalſte, linkſte, haͤmiſchſte Ur-
theil iſt ihm lieber als kalte Bewunderung.
Jenes wird er auf die eine oder die andre
Art in ſeinen Nutzen zu verwenden wiſſen;
aber was faͤngt er mit dieſer an? Verach-
ten moͤchte er die guten ehrlichen Leute nicht
gern, die ihn fuͤr ſo etwas Außerordentli-
ches halten: und doch muß er die Achſeln
uͤber ſie zucken. Er iſt nicht eitel, aber er
iſt gemeiniglich ſtolz; und aus Stolz moͤch-
te er zehnmal lieber einen unverdienten Ta-
[103] del, als ein unverdientes Lob auf ſich ſitzen
laſſen.“ *)
36.
„Der Gedanke iſt an und fuͤr ſich ſelbſt
graͤßlich, daß es Menſchen geben kann, die
ohne alle ihre Schuld ungluͤcklich ſind. Die
Heiden haͤtten dieſen graͤßlichen Gedanken ſo
weit von ſich zu entfernen geſucht als moͤg-
lich; und wir wollten ihn naͤhren? wir woll-
ten uns an Schauſpielen vergnuͤgen, die ihn
beſtaͤtigen? wir? die Religion und Vernunft
uͤberzeugt haben ſollte, daß er eben ſo unrich-
tig als gotteslaͤſterlich iſt.“ **)
37.
„Ich bin weder Schauſpieler noch Dich-
ter. Man erweiſet mir zwar manchmal die
Ehre mich fuͤr den letztern zu erkennen; aber
[104] nur weil man mich verkennt. Aus einigen
dramatiſchen Verſuchen, die ich gewagt habe,
ſollte man nicht ſo freigebig folgern. Nicht
jeder, der den Pinſel in die Hand nimmt
und Farben verquiſtet, iſt ein Mahler. Die
aͤlteſten von jenen Verſuchen ſind in den Jah-
ren hingeſchrieben, in welchen man Luſt und
Leichtigkeit ſo gern fuͤr Genie haͤlt. Was in
den neuern Ertraͤgliches iſt, davon bin ich mir
bewußt, daß ich es einzig und allein der Kri-
tik zu verdanken habe. Ich fuͤhle die leben-
dige Quelle nicht in mir, die durch eigne Kraft
ſich empor arbeitet, durch eigne Kraft in ſo
reichen, ſo friſchen, ſo reinen Stralen auf-
ſchießt, ich muß alles durch Druckwerk und
Roͤhren bei mir heraufpreſſen. Ich wuͤrde ſo
arm, ſo kalt, ſo kurzſichtig ſeyn, wenn ich
nicht einigermaßen gelernt haͤtte, fremde Schaͤ-
tze beſcheiden zu borgen, an fremdem Feuer
mich zu waͤrmen und durch die Glaͤſer der
Kunſt mein Auge zu ſtaͤrken. Ich bin daher
immer beſchaͤmt oder verdrießlich geworden,
[105] wenn ich zum Nachtheil der Kritik etwas las
oder hoͤrte. Sie ſoll das Genie erſticken:
und ich ſchmeichelte mir, etwas von ihr zu
erhalten, was dem Genie ſehr nahe kommt.
Ich bin ein Lahmer, den eine Schmaͤhſchrift
auf die Kruͤcke unmoͤglich erbauen kann.“ *)
[106]
„Doch freilich; wie die Kruͤcke dem Lahmen
wohl hilft, ſich von einem Ort zum andern
*)
[107] zu bewegen, aber ihn nicht zum Laͤufer ma-
chen kann, ſo auch die Kritik. Wenn ich
mit ihrer Huͤlfe etwas zu Stande bringe,
welches beſſer iſt, als es einer von meinen Ta-
lenten ohne Kritik machen wuͤrde: ſo koſtet es
mir ſo viel Zeit, ich muß von andern Geſchaͤf-
ten ſo frei, von unwillkuͤhrlichen Zerſtreuun-
gen ſo ununterbrochen ſeyn, ich muß meine
ganze Beleſenheit ſo gegenwaͤrtig haben, ich
muß bei jedem Schritte alle Bemerkungen,
die ich jemals uͤber Sitten und Leidenſchaften
gemacht, ſo ruhig durchlaufen koͤnnen; daß zu
einem Arbeiter, der ein Theater mit Neuig-
*)
[108] keiten unterhalten ſoll, niemand in der Welt
ungeſchickter ſeyn kann als ich.
Was Goldoni fuͤr das italiaͤniſche Thea-
ter that, der es in Einem Jahre mit dreizehn
neuen Stuͤcken bereicherte, das muß ich fuͤr
das deutſche zu thun folglich bleiben laſſen.
Ja das wuͤrde ich bleiben laſſen, wenn ich es
auch koͤnnte. Ich bin mißtrauiſcher gegen alle
erſte Gedanken, als de la Caſa und der
alte Shandy nur immer geweſen ſind.
Denn wenn ich ſie auch ſchon nicht fuͤr Ein-
gebungen des boͤſen Feindes, weder des eigent-
lichen noch des allegoriſchen halte: ſo denke
ich doch immer, daß die erſten Gedanken die
erſten ſind. Meine erſten Gedanken ſind ge-
wiß kein Haar beſſer, als Jedermanns erſte
Gedanken; und mit Jedermanns Gedanken
bleibt man am kluͤgſten zu Hauſe.“
38.
„Seines Fleißes darf ſich Jedermann ruͤh-
men: ich glaube die dramatiſche Dichtkunſt
[109] ſtudirt zu haben, ſie mehr ſtudirt zu haben,
als zwanzig die ſie ausuͤben. Ich verlange
auch nur eine Stimme unter uns, wo ſo man-
cher ſich eine anmaaßt, der, wenn er nicht
dem oder jenem Auslaͤnder nachplaudern ge-
lernt haͤtte, ſtummer ſeyn wuͤrde, als ein
Fiſch. — Aber man kann ſtudiren und ſich
tief in den Irrthum hineinſtudiren. Was
mich alſo verſichert, daß mir dergleichen nicht
begegnet ſei, daß ich das Weſen der dramati-
ſchen Dichtkunſt nicht verkenne, iſt dieſes, daß
ich es vollkommen ſo erkenne, wie es Ariſto-
teles aus den unzaͤhligen Meiſterſtuͤcken der
griechiſchen Buͤhne abſtrahirt hat. Ich ſtehe
nicht an, zu bekennen (und ſollte ich in die-
ſen erleuchteten Zeiten auch daruͤber ausgelacht
werden!) daß ich ſie fuͤr ein eben ſo unfehl-
bares Werk halte, als die Elemente des Eu-
klides nur immer ſind. Ihre Grundſaͤtze
ſind eben ſo wahr und gewiß, nur freilich nicht
ſo faßlich, und daher mehr der Chikane aus-
geſetzt, als alles was dieſe enthalten.
[110]
Ich wage es hier eine Aeußerung zu thun,
man mag ſie doch nehmen, wofuͤr man will!
— Man nenne mir das Stuͤck des großen
Corneille, welches ich nicht beſſer machen
wollte. Was gilt die Wette? —
Man merke aber wohl, was ich hinzuſetze:
Ich werde es zuverlaͤßig beſſer machen und
doch lange kein Corneille ſeyn und doch
lange kein Meiſterſtuͤck gemacht haben. Ich
werde es beſſer machen und mir doch wenig
darauf einbilden doͤrfen. Ich werde nichts ge-
than haben, als was jeder thun kann, der ſo
feſt an den Ariſtoteles glaubt, wie ich.“ *)
39.
„Ich gehe kuͤnftigen — von — weg. Und
wohin? Geraden Weges nach Rom. Was
ich in Rom will, werde ich Ihnen aus Rom
ſchreiben.**) Von hier aus kann ich Ihnen
[111] nur ſo viel ſagen, daß ich in Rom wenigſtens
eben ſo viel zu ſuchen und zu erwarten habe
als an einem Orte in Deutſchland. So viel
kann ich ungefaͤhr noch mithinbringen, um ein
Jahr da zu leben; wenn das alle iſt, nun ſo
waͤre es auch hier alle, und ich bin gewiß ver-
ſichert, daß es ſich luſtiger und erbaulicher in
Rom muß hungern und betteln laſſen als in
Deutſchland.“ *)
40.
„Noch erwartet man vielleicht vom Verf.
(der antiquariſchen Briefe) daß er ſich uͤber
den Ton erklaͤre, den er in ihnen genommen.
— Vide quam sim antiquorum homi-
num!**) antwortete Cicero dem lauen Atti-
cus, der ihm vorwarf, daß er ſich uͤber et-
was waͤrmer, rauher und bitterer ausgedruͤckt
[112] habe, als man von ſeinen Sitten erwarten
koͤnnen.
Der ſchleichende ſuͤße Complimentirton
ſchickte ſich weder zu dem Vorwurfe, noch zu
der Einkleidung. Auch liebt ihn der Verfaſſer
uͤberhaupt nicht, der mehr das Lob der Be-
ſcheidenheit als der Hoͤflichkeit ſucht. Die
Beſcheidenheit richtet ſich genau nach dem
Verdienſte, das ſie vor ſich hat; ſie giebt je-
dem, was jedem gebuͤhret. Aber die ſchlaue
Hoͤflichkeit giebt allen alles, um von allen al-
les wieder zu erhalten. Die Alten kannten
das Ding nicht, was wir Hoͤflichkeit nennen.
Ihre Urbanitaͤt war von ihr eben ſo weit
als von der Grobheit entfernt.
Der Neidiſche, der Haͤmiſche, der
Rangſuͤchtige, der Verhetzer iſt der wah-
re Grobe; er mag ſich noch ſo hoͤflich aus-
druͤcken.
Doch es ſei, daß jene gothiſche Hoͤflich-
keit eine unentbehrliche Tugend des heutigen
Umganges iſt. Soll ſie darum unſere Schrif-
ten
[113] ten eben ſo ſchal und falſch machen, als un-
ſern Umgang?“ *)
41.
„Die wahre Beſcheidenheit eines Gelehrten
beſtehet darinn, daß er genau die Schranken
ſeiner Kenntniſſe und ſeines Geiſtes kennet,
innerhalb deren er ſich zu halten hat; daß er
fuͤr jeden Schriftſteller ſo viel Achtung hegt,
ihm nicht eher zu widerſprechen, als bis er
ihn verſtanden; daß er in den Streitigkeiten,
die er ſich ſelbſt zuziehet, rund zu Werk geht,
nicht tergiverſirt u. f. Mit ſolchen Wendun-
gen macht ſich nur die beleidigte Eitelkeit aus
dem Staube; und ein eitler Mann iſt zwar
hoͤflich, aber nie beſcheiden.“ **)
42.
„Jeder Tadel, jeder Spott, den der
Kunſtrichter mit dem kritiſirten Buche in der
Hand gutmachen kann, iſt dem Kunſtrichter
Neunte Sammlung. H
[114] erlaubt. Auch kann ihm niemand vorſchrei-
ben, wie ſanft oder wie hart, wie lieblich
oder wie bitter er die Ausdruͤcke eines ſolchen
Tadels oder Spottes waͤhlen ſoll. Er muß
wiſſen, welche Wirkung er damit hervorbrin-
gen will, und es iſt nothwendig, daß er ſeine
Worte nach dieſer Wirkung abwaͤget.
Aber ſobald der Kunſtrichter verraͤth, daß
er von ſeinem Autor mehr weiß, als ihm die
Schriften deſſelben ſagen koͤnnen; ſo bald er
ſich aus dieſer naͤhern Kenntniß des gering-
ſten nachtheiligen Zuges wider ihn bedienet:
ſogleich wird ſein Tadel perſoͤnliche Beleidi-
gung. Er hoͤret auf Kunſtrichter zu ſeyn und
wird — das veraͤchtlichſte, was ein vernuͤnfti-
ges Geſchoͤpf werden kann — Klaͤtſcher, An-
ſchwaͤrzer, Pasquillant.*)
43.
„Es thut mir leid, wenn mein Styl ir-
gendwo blos ſatyriſch iſt. Meinem Vorſatze
[115] nach ſoll er allezeit mehr als ſatyriſch ſeyn.
Und was ſoll er mehr ſeyn als ſatyriſch?
Treffend.
„Aber die Hoͤflichkeit iſt doch eine ſo ar-
tige Sache — Gewiß! denn ſie iſt eine ſo
kleine!
Aber ſo artig, wie man will: die Hoͤflich-
keit iſt keine Pflicht; und nicht hoͤflich ſeyn,
iſt noch lange nicht, grob ſeyn. Hingegen,
zum Beſten der Mehrern, freimuͤthig ſeyn, iſt
Pflicht; ſogar es mit Gefahr ſeyn, daruͤber
fuͤr ungeſittet und boͤsartig gehalten zu wer-
den, iſt Pflicht.
Wenn ich Kunſtrichter waͤre, wenn ich mir
getraute, das Kunſtrichterſchild aushaͤngen zu
koͤnnen; ſo wuͤrde meine Tonleiter dieſe ſeyn.
Gelinde und ſchmeichelnd gegen den Anfaͤnger;
mit Bewunderung zweifelnd, mit Zweifel be-
wundernd gegen den Meiſter; abſchreckend
und poſitiv gegen den Stuͤmper; hoͤhniſch ge-
gen den Prahler; und ſo bitter als moͤglich
gegen den Cabalenmacher.
H 2
[116]
Der Kunſtrichter, der gegen alle nur Einen
Ton hat, haͤtte beſſer gar keinen. Und beſon-
ders der, der gegen alle nur hoͤflich iſt, iſt im
Grunde gegen die er hoͤflich ſeyn koͤnnte,
grob.“ *)
44.
„Gewiſſe Dinge verdienten freilich nie
geſagt zu werden; und doch muͤſſen ſie wenig-
ſtens Einmal geſagt werden.
Die perſoͤnlichen Verhaͤltniſſe der Schrift-
ſteller gegen einander intereſſiren kaum den
kleinſten Theil des zeitverwandten Publici.
Welcher wuͤnſcht, daß ſein Buch auch bei
der Nachwelt nicht ganz vergeſſen ſei —
und welcher ſollte es nicht wuͤnſchen? —
muß uͤber nichts ſtreiten, was nur ihn ſelbſt
angeht.“ **)
[117]
45.
„Er ſei ein Deutſcher, ein Wahle, oder
was er will, geweſen; er war Einer von den
ganz gemeinen Leuten, die mit halboffnen Au-
gen, wie im Traum ihren Weg ſo fortſchlen-
dern. Entweder weil ſie nicht ſelbſt denken
koͤnnen, oder aus Kleinmuth nicht ſelbſt den-
ken zu doͤrfen vermeinen, oder aus Gemaͤch-
lichkeit nicht wollen, halten ſie feſt an dem,
was ſie in ihrer Kindheit gelernt haben: und
gluͤcklich gnug, wenn ſie nur von andern nicht
verlangen, daß ſie ihrem Beiſpiel hierinn fol-
gen ſollen.“ *)
„Das Ding, das man Ketzer nennt, hat
eine ſehr gute Seite. Es iſt ein Menſch, der
mit ſeinen eignen Augen wenigſtens ſehen wol-
len. Die Frage iſt nur, ob es gute Augen
geweſen, mit welchen er ſelbſt ſehen wollen.
Ja in gewiſſen Jahrhunderten iſt der Name
Ketzer die groͤßte Empfehlung, die von einem
[118] Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden
koͤnnen: noch groͤßer als der Name Zauberer,
Magus, Teufelsbanner; denn unter dieſen
laͤuft doch mancher Betruͤger mit unter.“
46.
„Ich weiß nicht, ob es Pflicht iſt, Gluͤck
und Leben der Wahrheit aufzuopfern; wenig-
ſtens ſind Muth und Entſchloſſenheit, welche
dazu gehoͤren, keine Gaben, die wir uns ſelbſt
geben koͤnnen. Aber das, weiß ich, iſt Pflicht,
wenn man Wahrheit lehren will, ſie ganz
oder gar nicht zu lehren; ſie klar und rund,
ohne Raͤthſel, ohne Zuruͤckhaltung, ohne Miß-
trauen in ihre Kraft und Nuͤtzlichkeit zu leh-
ren; und die Gaben, welche dazu erfodert
werden, ſtehen in unſrer Gewalt. Wer die
nicht erwerben, oder, wenn er ſie erworben,
nicht brauchen will, der macht ſich um den
menſchlichen Verſtand nur ſchlecht verdient,
wenn er grobe Irrthuͤmer uns benimmt, die
volle Wahrheit aber vorenthaͤlt und mit einem
[119] Mitteldinge von Wahrheit und Luͤge uns be-
friedigen will. Denn je groͤber der Irrthum,
deſto kuͤrzer und gerader der Weg zur Wahr-
heit; da hingegen der verfeinerte Irrthum uns
auf ewig von der Wahrheit entfernt halten
kann, je ſchwerer uns einleuchtet, daß er Irr-
thum iſt.
Der Mann, der bei drohenden Gefahren
der Wahrheit untreu wird, kann die Wahr-
heit doch ſehr lieben; und die Wahrheit ver-
giebt ihm ſeine Untreue, um ſeiner Liebe
willen. Aber wer nur darauf denkt, die
Wahrheit unter allerlei Larven und Schmin-
ke an den Mann zu bringen, der moͤchte
wohl gern ihr Kuppler ſeyn, nur ihr Liebha-
ber iſt er nie geweſen. Ich wuͤßte kaum et-
was Schlechteres als einen ſolchen Kuppler
der Wahrheit.“ *)
[120]
47.
Wozu die fruchtloſen Unterſuchungen der
Wahrheit, wenn ſich uͤber die Vorurtheile un-
ſrer erſten Erziehung doch kein dauerhafter
Sieg erhalten laͤßt? wenn dieſe nie auszurot-
ten, ſondern hoͤchſtens nur in eine kuͤrzere oder
laͤngere Flucht zu bringen ſind, aus welcher
ſie wiederum auf uns zuruͤckſtuͤrzen, eben wenn
uns ein andrer Feind die Waffen entriſſen
oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns
ehedem gegen ſie bedienten? Nein, nein;
einen ſo grauſamen Spott treibt der Schoͤ-
pfer mit uns nicht. Wer daher in Beſtrei-
tung aller Arten von Vorurtheilen niemals
ſchuͤchtern, niemals laß zu werden wuͤnſchet,
der beſiege ja dieſes Vorurtheil zuerſt, daß die
Eindruͤcke unſrer Kindheit nicht zu vernichten
waͤren. Die Begriffe, die uns von Wahrheit
und Unwahrheit in unſrer Kindheit beige-
bracht werden, ſind gerade die allerflachſten,
die ſich am allerleichteſten durch ſelbſterwor-
[121] bene Begriffe auf ewig uͤberſtreichen laſſen:
und diejenigen, bei denen ſie in einem ſpaͤ-
tern Alter wieder zum Vorſchein kommen,
legen dadurch wider ſich ſelbſt das Zeugniß
ab, daß die Begriffe, unter welche ſie jene
begraben wollen, noch flacher, noch ſeichter,
noch weniger ihr Eigenthum geweſen, als
die Begriffe ihrer Kindheit. Nur von ſol-
chen Menſchen koͤnnen alſo auch die graͤßli-
chen Erzaͤhlungen von ploͤtzlichen Ruͤckfaͤllen
in laͤngſt abgelegte Irrthuͤmer auf dem Tod-
bette, wahr ſeyn, mit welchen man jeden
kleinmuͤthigeren Freund der Wahrheit zur Ver-
zweiflung bringen koͤnnte. Freilich muß ein
hitziges Fieber aus dem Spiele bleiben; und
was noch ſchrecklicher iſt als ein hitziges Fie-
ber, Einhalt und Heuchelei muͤſſen das Bet-
te des Sterbenden nicht belagern, und ihm
ſo lange zuſetzen, bis ſie ihm ein paar zwei-
deutige Worte ausgemergelt, mit welchen
der arme Kranke ſich bloß die Erlaub-
[122] niß erkaufen wollte, ruhig ſterben zu koͤn-
nen. — “ *)
48.
„Was ich Ihnen nicht verzeihe, iſt, daß
Sie nicht vergnuͤgt ſind. Alles in der Welt
hat ſeine Zeit, alles iſt zu uͤberſtehen und zu
uͤberſehen, wenn man nur geſund iſt. — Ich
ſelbſt ſpiele jetzt eine traurige Rolle in meinen
Augen und dennoch, bin ich verſichert, wird
ſich und muß ſich alles um mich herum wie-
der aufheitern; ich will nur immer vor mich
weg und ſo wenig als moͤglich hinter mich zu-
ruͤckſehen. Thun Sie ein Gleiches. Vergnuͤgt
wird man unfehlbar, wenn man ſich nur im-
mer vorſetzt, vergnuͤgt zu ſeyn.“ **)
49.
„Sie werden ſagen, daß ich eine beſonde-
re Gabe habe, etwas Gutes an etwas Schlech-
[123] tem zu entdecken. Die habe ich allerdings;
und ich bin ſtolzer darauf, als auf alles, was
ich weiß und kann. Nichts kann uns mit
der Welt zufriedner machen, als eben dieſe
Gabe. — Faſt fange ich an zu zweifeln, ob
man, ſie in Ausuͤbung zu bringen, in * * eben
mehr Gelegenheit hat, als an andern Or-
ten. — Wie ich hier lebe, wundern ſich mehr
Leute, daß ich nicht vor langer Weile und
Unluſt umkomme, als ſich wundern wuͤrden,
wenn ich wirklich umkaͤme. *)
50.
„Was kann ich fuͤr Luſt haben, an Leute
zu ſchreiben, mit denen ich nur ſehr ſelten Luſt
haben wuͤrde, zu ſprechen? Sie wiſſen, was
ich Ihnen oft geſtanden habe, daß ich es auf
die Laͤnge unmoͤglich hier aushalten kann. Ich
werde in der Einſamkeit, in der ich hier leben
muß, von Tag zu Tag duͤmmer und ſchlimmer.
[124] Ich muß wieder unter Menſchen, von denen
ich hier ſo gut als gaͤnzlich abgeſondert bin.
Beſuche ſind kein Umgang, und ich fuͤhle es,
daß ich nothwendig Umgang, Umgang mit
Leuten haben muß, die mir nicht gleichguͤltig
ſind, wenn noch ein Funken Gutes an mir
bleiben ſoll. *)
Ich kann es mir leider nicht bergen, daß
ich hypochondriſcher bin, als ich je zu werden
geglaubt habe. So bald ich aus dem ver-
wuͤnſchten Schloſſe wieder unter Menſchen
komme, ſo geht es wieder eine Weile. Und
denn ſage ich mir: Warum auch laͤnger auf
dieſem verwuͤnſchten Schloſſe bleiben? Wenn
ich noch der alte Sperling auf dem Dache waͤre,
ich waͤre ſchon hundertmal wieder fort.“ **)
51.
„Ich habe uͤber keine Zeile meiner neuen
Tragoͤdie weder hier, noch in * * eine Seele
[125] koͤnnen zu Rathe ziehn; gleichwohl muß man
wenigſtens uͤber ſeine Arbeit mit Jemand
ſprechen koͤnnen, wenn man nicht ſelbſt dar-
uͤber einſchlafen ſoll. Die bloße Verſicherung,
welche die eigne Kritik uns gewaͤhrt, daß man
auf dem rechten Wege iſt und bleibt, wenn ſie
auch noch ſo uͤberzeugend waͤre, iſt doch ſo
kalt und unfruchtbar, daß ſie auf die Ausar-
beitung keinen Einfluß hat.“ *)
52.
„Wer wird durch Mittheilung und Freund-
ſchaft die Sphaͤre ſeines Lebens zu erweitern
ſuchen, wenn ihm beinah des ganzen Lebens
eckelt? Oder wer hat Luſt nach vergnuͤgten
Empfindungen in der Ferne umherzujagen,
wenn er in der Naͤhe nichts um ſich ſieht,
was ihm deren auch nur Eine gewaͤhren koͤnn-
te. Ich habe gearbeitet, mehr als ich ſonſt
zu arbeiten gewohnt bin. Aber lauter Dinge,
[126] die, ohne mich zu ruͤhmen, auch wohl ein
groͤßerer Stuͤmper eben ſo gut haͤtte machen
koͤnnen. — Solche trockne Arbeit laͤßt ſich ſo
recht huͤbſch hinſchreiben, ohne alle Theilneh-
mung, ohne die geringſte Anſtrengung des
Geiſtes. Dabei kann ich mich noch immer
mit dem Troſt beruhigen, daß ich meinem Amt
Genuͤge thue, und manches dabei lerne; ge-
ſetzt auch, daß nicht das Hundertſte von die-
ſem Manchen werth waͤre, gelernt zu werden.
Doch ich will mich gern noch weit mehr aller
Geſellſchaft entziehen, um hier in der Einſam-
keit zu kahlmaͤuſern und zu buͤffeln, wenn ich
nur ſonſt von einer andern Seite meine Ruhe
wieder damit gewinnen kann.“ *)
53.
„Daß ich etwas wieder fuͤr das Theater
machen ſollte, will ich wohl bleiben laſſen.
Kein Menſch unterzieht ſich gern Arbeiten,
[127] von welchen er ganz und gar keinen Vortheil
hat, weder Geld noch Ehre noch Vergnuͤgen.
In der Zeit, die mir ein Stuͤck von zehn
Bogen koſtet, koͤnnte ich gut und gern mit
weniger Muͤhe hundert andre Bogen ſchrei-
ben. Zwar habe ich, nach meinem letzten
Ueberſchlage, wenigſtens zwoͤlf Stuͤcke, Komoͤ-
dien und Tragoͤdien zuſammengerechnet, deren
jedes ich innerhalb ſechs Wochen fertig machen
koͤnnte. Aber wozu mich, fuͤr nichts und wie-
der fuͤr nichts, ſechs Wochen auf die Folter
ſpannen? Jeder Kuͤnſtler ſetzt ſeine Preiſe;
jeder Kuͤnſtler ſucht ſo gemaͤchlich von ſeinen
Werken zu leben, als moͤglich: warum denn
nun nicht auch der Dichter? Wenn meine
Stuͤcke nicht hundert Louisd'or werth ſind; ſo
ſagt mir lieber gar nichts mehr davon: denn
ſie ſind ſodann gar nichts mehr werth. Fuͤr
die Ehre meines lieben Vaterlandes will ich
keine Feder anſetzen, und wenn ſie auch in
dieſem Stuͤck auf immer einzig und allein von
meiner Feder abhangen ſollte. Fuͤr meine
[128] Ehre aber iſt es mir gnug, wenn man nur
ungefaͤhr ſieht, daß ich allenfalls in dieſem Fa-
che etwas zu thun im Stande geweſen waͤre.
Alſo Geld fuͤr die Fiſche — oder bekoͤſtigt
euch noch lange mit Operetten.
Es waͤre auch naͤrriſch, wenn ich den ein-
zigen Weg, Geld zu verdienen, mir wenig-
ſtens nicht offen halten und das Publikum
erſt mit meinen Stuͤcken ſaͤttigen wollte. Das
Geld iſt gerade das, was mir fehlt; und mir
mehr fehlt, als es mir jemals gefehlt hat. Ich
will ſchlechterdings in Jahr und Tag keinem
Menſchen mehr etwas ſchuldig ſeyn, und dazu
gehoͤrt ein beſſerer Gebrauch meiner Zeit als
fuͤr das Theater.“ *)
54.
„Mein Stillſchweigen hat noch immer
die nehmliche Urſache. Ich bin aͤrgerlich und
arbeite,
[129] arbeite, weil Arbeiten doch das einzige Mit-
tel iſt, um einmal aufzuhoͤren, jenes zu ſeyn.
Ich bin in meinem Leben ſchon in ſehr elen-
den Umſtaͤnden geweſen, aber doch nie in ſol-
chen, wo ich im eigentlichen Verſtande um
Brodt geſchrieben haͤtte. Ich habe meine
Beitraͤge*) blos darum angefangen, weil
dieſe Arbeit foͤrdert, indem ich nur einen Wiſch
nach dem andern in die Druckerei ſchicken
darf, und ich doch dafuͤr von Zeit zu Zeit ein
Paar Louisd'or bekomme, um von einem Tage
zum andern zu leben. Wer nun noch daran
zweifelt, daß es die abſolute Unmoͤglichkeit iſt,
warum ich gewiſſe Pflichten nicht erfuͤlle,
mein Verſprechen in gewiſſen Dingen nicht
halte, den bin ich ſehr geneigt, eben ſo ſehr
zu verkennen als er mich verkennt. **)
Neunte Sammlung. J
[130]
Vor einiger Zeit ließ es ſich hier an, als
ob man mir gluͤcklichere Ausſichten machen
wollte. Aber ich ſehe wohl, daß man mir nur
das Maul ſchmieren wollen. Denkt man gar
nicht oder nicht ſo bald darauf, ſo koͤnnen ſie
ſehr verſichert ſeyn, daß ich fuͤr nichts in der
Welt mich hier halten laſſe; und in Jahr und
Tag laͤngſtens ſchreibe ich Dir aus einem an-
dern Ort. — Es iſt ohnedies zwar recht gut,
eine Zeitlang in einer großen Bibliothek zu ſtu-
diren; aber ſich darinn vergraben iſt eine Raſe-
rei. Ich merke es ſo gut als andre, daß die Ar-
beiten, die ich jetzt thue, mich ſtumpf machen.
Aber daher will ich auch je eher je lieber mit ih-
nen fertig ſeyn und meine Beitraͤge, ununterbro-
chen, bis auf die letzte Armſeeligkeit, die nach
meinem erſten Plan hineinkommen ſoll, fortſe-
tzen und ausfuͤhren. Dieſes nicht thun, wuͤrde
heißen, die drei Jahre, die ich nun hier zuge-
bracht, muthwillig verlieren wollen.“ *)
[131]
55.
„Hier haben Sie einen ganzen Miſtwagen
voll Moos und Schwaͤmme. *) Eine Frage
faͤllt mir dabei ein, die Sie mir gelegentlich
beantworten koͤnnen. — Iſt es die Eiche, oder
iſt es der Boden, worinn die Eiche ſteht,
welcher das Moos und die Schwaͤmme um
und an der Eiche hervorbringt? — Iſt es
der Boden? was kann die Eiche dafuͤr, wenn
endlich des Mooſes und der Schwaͤmme ſo
viel wird, daß ſie alle Nahrung an ſich
ziehen, und der Gipfel der Eiche daruͤ-
ber verdorret? — Doch er verdorre immer-
hin! Die Eiche, ſo lange ſie lebt, lebt
nicht durch ihren Gipfel, ſondern durch ihre
Wurzeln.“ **)
J 2
[132]
56.
„Mit dem Ferguſon*) will ich mir ein
eigentliches Studium machen. Ich ſehe ſchon
aus dem vorgeſetzten Inhalte, daß es ein
Buch iſt, wie mir hier gefehlt hat, wo ich
groͤßtentheils nur ſolche Buͤcher habe, die uͤber
lang oder kurz, den Verſtand, ſo wie die Zeit
toͤdten. Wenn man lange nicht denkt, ſo
kann man am Ende nicht mehr denken. Iſt
es aber auch wohl gut, Wahrheiten zu den-
ken, ſich ernſtlich mit Wahrheiten zu beſchaͤf-
tigen, in deren beſtaͤndigem Widerſpruch wir
nun ſchon einmal leben, und zu unſrer Ruhe
beſtaͤndig fortleben muͤſſen? Und von derglei-
chen Wahrheiten ſehe ich in dem Englaͤnder
ſchon manche von weitem.
„Wie auch ſolche, die ich laͤngſt fuͤr keine
Wahrheiten mehr gehalten. Doch ich beſorge
es nicht erſt ſeit geſtern, daß, indem ich ge-
[133] wiſſe Vorurtheile weggeworfen, ich ein wenig
zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde
wiederholen muͤſſen. Daß ich es zum Theil
nicht ſchon gethan, daran hat mich nur die
Furcht verhindert, nach und nach den gan-
zen Unrath wieder in das Haus zu ſchleppen.
Es iſt unendlich ſchwer zu wiſſen, wenn und
wo man ſtehen bleiben ſoll, und Tauſenden
fuͤr Einen iſt das Ziel ihres Nachdenkens
die Stelle, wo ſie des Nachdenkens muͤde ge-
worden.“ *)
57.
„Die Ode an die Koͤnige**) will ich
mir dreimal laut vorſagen, ſo oft ich werde
Luſt haben, an meiner antityranniſchen Tra-
goͤdie zu arbeiten. Ich hoffe mit Huͤlfe
derſelben aus dem Spartacus einen Hel-
den zu machen, der aus andern Augen
[134] ſieht, als der beſte Roͤmiſche. Aber wenn!
wenn!“ *)
„Kritik, will ich Ihnen nur vertrauen, iſt
das einzige Mittel, mich zu mehrerem aufzu-
friſchen, oder vielmehr aufzuhetzen. Denn da
ich die Kritik nicht zu dem kritiſirten Stuͤcke
anzuwenden im Stande bin, da ich zum Ver-
beſſern uͤberhaupt ganz verdorben bin; ſo nutze
ich die Kritik zuverlaͤſſig zu etwas Neuem.
Alſo wenn auch Sie es wollen, daß ich wie-
der einmal etwas Neues in dieſer Art machen
ſoll; ſo ſehen Sie, worauf es dabei mit an-
kommt — mich durch Tadel zu reizen, nicht
dieſes Nehmliche beſſer, ſondern uͤberhaupt et-
was Beſſeres zu machen. Und wenn auch die-
ſes Beſſere ſodann nothwendig noch ſeine
Maͤngel haben muß: ſo iſt dieſes allein der
Ring durch die Naſe, an dem man mich in
immerwaͤhrendem Tanze erhalten kann.“ **)
[135]
58.
„Die oͤftere Abaͤnderung der Arbeit iſt noch
das Einzige, was mich erhaͤlt. Freilich wird
ſo viel angefangen und wenig vollendet. Aber
was ſchadet das? Wenn ich auch nichts in
meinem Leben mehr vollendete, ja nie etwas
vollendet haͤtte, waͤre es nicht eben das? —
Vielleicht wirſt Du auch dieſe Geſinnung ein
wenig miſanthropiſch finden, welches Du mich
in Anſehung der Religion zu ſeyn im Ver-
dacht haſt. Ohne nun aber zu unterſuchen,
wie viel oder wie wenig ich mit meinem Ne-
benmenſchen zufrieden zu ſeyn Urſache habe,
muß ich Dir doch ſagen, daß Du mein ganzes
Betragen in Anſehung der Orthodoxie ſehr
unrecht verſtehſt. Ich ſollte es der Welt miß-
goͤnnen, daß man ſie mehr aufzuklaͤren ſuche?
Ich ſollte es nicht von Herzen wuͤnſchen, daß
ein jeder uͤber die Religion vernuͤnftig denken
moͤge? Ich wuͤrde mich verabſcheuen, wenn
ich ſelbſt bei meinen Sudeleien einen andern
Zweck haͤtte, als jene große Abſichten befoͤr-
[136] dern zu helfen. Laß mir aber doch nur meine
eigne Art, wie ich dieſes thun zu koͤnnen
glaube. Und was iſt ſimpler als dieſe Art?
Nicht das unreine Waſſer, welches laͤngſt nicht
mehr zu brauchen, will ich beibehalten wiſſen;
ich will es nur nicht eher weggegoſſen wiſſen,
als bis man weiß, woher reineres zu nehmen;
ich will nur nicht, daß man es ohne Beden-
ken weggieße, und ſollte man auch das Kind
hernach in Miſtjauche baden. Und was iſt
ſie anders, unſre neumodiſche Theologie gegen
die Orthodoxie als Miſtjauche gegen unreines
Waſſer.
„Mit der Orthodoxie war man, Gott ſei
Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwiſchen
ihr und der Philoſophie eine Scheidwand ge-
zogen, hinter welcher jede ihren Weg fortge-
hen konnte, ohne die andre zu hindern. Aber
was thut man nun? Man reißt dieſe Schei-
dewand nieder, und macht uns unter dem
Vorwande, uns zu vernuͤnftigen Chriſten zu
machen, zu hoͤchſt unvernuͤnftigen Philoſo-
[137] phen. Ich bitte Dich, erkundige Dich doch
nur nach dieſem Puncte genauer, und ſiehe
etwas weniger auf das, was unſre neuen
Theologen verwerfen, als auf das, was ſie
dafuͤr in die Stelle ſetzen wollen. Ich moͤch-
te nicht mit Dir ſagen, daß unſer altes Re-
ligionsſyſtem ein Flickwerk von Stuͤmpern
und Halbphiloſophen ſei; ich weiß kein Ding
in der Welt, an welchem ſich der menſchliche
Scharfſinn mehr gezeigt und geuͤbt haͤtte, als
an ihm. Flickwerk von Stuͤmpern und Halb-
philoſophen iſt das Religionsſyſtem, welches
man jetzt an die Stelle des alten ſetzen
will; und mit weit mehr Einfluß auf Ver-
nunft und Philoſophie, als ſich das alte an-
maaßt. Und doch verdenkſt Du es mir, daß
ich dies alte vertheidige? Meines Nachbars
Haus drohet ihm den Einſturz. Wenn es
mein Nachbar abtragen will, ſo will ich ihm
redlich helfen. Aber er will es nicht abtra-
gen, ſondern er will es, mit gaͤnzlichem Ruin
meines Hauſes ſtuͤtzen und unterbauen. Das
[138] ſoll er bleiben laſſen, oder ich werde mich ſei-
nes einſtuͤrzenden Hauſes ſo annehmen als
meines eigenen.“ *)
59.
„Da ich es nur allzu ſehr empfinde, wie
viel trockner und ſtumpfer ich an Geiſt und
Sinnen dieſe vier Jahre geworden bin: ſo
[139] moͤchte ich es um alles in der Welt willen
nicht noch vier Jahre thun. Aber ich muß es
auch nicht Ein Jahr mehr thun, wenn ich
noch ſonſt etwas in der Welt thun will. Hier
iſt es aus; hier kann ich nichts mehr thun.
Du wirſt dieſe Meſſe auch nichts von mir le-
ſen; denn ich habe den ganzen Winter nichts
gethan, und bin ſehr zufrieden, daß ich nur
das Eine große Werk von Philoſophie (oder
Poltronnerie) zu Stande gebracht, — daß ich
noch lebe. Gott helfe mir in dieſem edlen
Werke weiter, welches wohl werth iſt, daß
man alle Tage darum ißt und trinkt. —
„Ich haſſe alle die Leute, welche Sekten
ſtiften wollen, von Grund meines Herzens.
Denn nicht der Irrthum, ſondern der ſektiri-
ſche Irrthum, ja ſogar die ſektiriſche Wahr-
heit machen das Ungluͤck der Menſchen; oder
wuͤrden es machen, wenn die Wahrheit eine
Sekte ſtiften wollte.“ *)
[140]
60.
„Faſt koͤnnte ich Sie beneiden, daß Sie
noch Blumen leſen, da ich verdammt bin,
nichts als Dornen zu ſammeln. Das iſt Ihre
Schuld! werden Sie ſagen. Ich ſollte nicht
meynen. Ich ſehe auf meinem ganzen Felde
nichts als Dornen; und einmal iſt es nun
mein Feld. Umſonſt erinnern Sie mich un-
ſrer gemeinſchaftlichen Entſchluͤſſe, ein blumen-
reicheres anzubauen. Es hat nicht ſeyn ſol-
len! Mit mir iſt es aus; und jeder dichteri-
ſche Funken, deren ich ohnedies nicht viel hat-
te, iſt in mir erloſchen. Leiſten Sie allein,
was wir zuſammen leiſten wollten. — Ich,
der ich die ganze Welt ausreiſen wollte, wer-
de, allem Anſehen nach, in dem kleinen W.
unter Schwarten vermodern.“ *)
61.
„Von gewiſſen Dingen laͤßt ſich gar nicht
ſprechen; ſprechen zwar wohl, aber nicht ſchrei-
[141] ben. Man ſchreibt immer zu wenig oder zu
viel, wenn man bei ſich ſelbſt noch kein Re-
ſultat gezogen. Im Sprechen kann man ſich
alle Augenblick corrigiren, welches im Schrei-
ben nicht angeht. So viel duͤrfte ich Dir im
Vertrauen doch faſt ſagen, daß auch dieſe
Reiſe noch bis jetzt unter die Erfahrungen ge-
hoͤrt, daß das deutſche Theater mir fatal iſt;
daß ich mich nie mit ihm, es ſei auch noch
ſo wenig, bemengen kann, ohne Verdruß und
Unkoſten davon zu haben.
„Und Du verdenkſt es mir noch, daß ich
mich dafuͤr lieber in die Theologie werfe? —
Freilich, wenn mir am Ende die Theologie
eben ſo lohnt, als das Theater.“ *)
62.
„Will es denn Eine Klaſſe von Leuten
nie lernen, daß es ſchlechterdings nicht wahr
iſt, daß jemals ein Menſch wiſſentlich und
[142] vorſetzlich ſich ſelbſt verblendet habe? Es iſt
nicht wahr, ſag' ich, aus keinem andern Grund-
de, als weil es nicht moͤglich iſt. Was wol-
len ſie denn alſo mit ihrem Vorwurfe muth-
williger Verſtockung, gefliſſentlicher Verhaͤr-
tung, mit Vorbedacht gemachter Plane, Luͤ-
gen auszuſtaffiren, die man Luͤgen zu ſeyn
weiß? Was wollen ſie damit? *) Was an-
ders, als — — Weil ich auch ihnen dieſe
Wahrheit muß zu gute kommen laſſen, weil
ich auch von ihnen glauben muß, daß ſie
vorſetzlich und wiſſentlich kein falſches verleum-
deriſches Urtheil faͤllen koͤnnen: ſo ſchweige ich
und enthalte mich alles Wiederſcheltens.
[143]
„Nicht die Wahrheit, in deren Beſitz ir-
gend ein Menſch iſt oder zu ſeyn vermeynet,
ſondern die aufrichtige Muͤhe, die er ange-
wandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen,
macht den Werth des Menſchen. Denn nicht
durch den Beſitz, ſondern durch die Nachfor-
ſchung der Wahrheit erweitern ſich ſeine Kraͤf-
te, worinn allein ſeine immer wachſende Voll-
kommenheit beſtehet. Der Beſitz macht ru-
hig, traͤge, ſtolz —
Wenn Gott in ſeiner Rechten alle Wahr-
heit, und in ſeiner Linken den einzigen immer
regen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit dem
Zuſatz, mich immer und ewig zu irren, *) ver-
ſchloſſen hielte und ſpraͤche zu mir: waͤhle!
Ich fiele ihm mit Demuth in ſeine Linke, und
[144] ſagte: Vater gieb! die reine Wahrheit iſt ja
doch nur fuͤr dich allein!“ *)
63.
„Wenn wird man aufhoͤren, an den Fa-
den einer Spinne nichts weniger als die gan-
ze Ewigkeit haͤngen zu wollen? **)
„Welcher Thor wuͤhlt neugierig in dem
Grunde ſeines Hauſes, blos um ſich von der
Guͤte des Grundes ſeines Hauſes zu uͤberzeu-
gen? Setzen mußte ſich das Haus freilich erſt,
an dieſem und jenem Orte. — Aber daß der
Grund gut iſt, weiß ich nunmehr, da das
Haus ſo lange Zeit ſteht, uͤberzeugender, als
es die wiſſen konnten, die ihn legen ſahen.
„Ich lobe mir, was uͤber der Erde ſteht,
und nicht, was unter der Erde verborgen
liegt.
[145] liegt. — Vergieb es mir, lieber Baumeiſter,
als daß ich von dieſem weiter nichts wiſſen
mag, als daß es gut und veſt ſeyn muß:
denn es traͤgt und haͤlt ſo lange. An der
Schoͤnheit des Ganzen will ich meine Be-
trachtungen weiden; in dieſer, in dieſer will
ich dich preiſen, lieber Baumeiſter!“ *)
64.
„Luther, Du! Großer, verkannter Mann!
Du haſt uns von dem Joche der Tradition
erloͤſet; wer erloͤſet uns von dem unertraͤgli-
chern Joche des Buchſtabens? **) Wer bringt
uns endlich ein Chriſtenthum, wie du es jetzt
lehren wuͤrdeſt; wie es Chriſtus ſelbſt lehren
wuͤrde? Wer —
Neunte Sammlung. K
[146]
Der wahre Lutheraner will nicht bei Lu-
thers Schriften, er will bei Luthers Geiſte
geſchuͤtzt ſeyn; und Luthers Geiſt erfordert
ſchlechterdings, daß man keinen Menſchen, in
der Erkenntniß der Wahrheit nach ſeinem eig-
nen Gutduͤnken fortzugehen, hindern muß.
Aber man hindert Alle daran, wenn man auch
nur Einem verbieten will, ſeinen Fortgang in
der Erkenntniß andern mitzutheilen. Denn
ohne dieſe Mittheilung im Einzeln iſt kein
Fortgang im Ganzen moͤglich.“ *)
65.
„Jeder Menſch hat ſeinen eignen Styl;
was kann ich dafuͤr, daß ich nun einmal kei-
nen andern Styl habe? Daß ich ihn nicht
erkuͤnſtle, bin ich mir bewußt. — Es kommt
wenig darauf an, wie wir ſchreiben; aber viel,
wie wir denken. Man wird doch wohl nicht
behaupten, daß unter verbluͤmten Bilderreichen
Worten nothwendig ein ſchwankender, ſchiefer
[147] Sinn liegen muß? daß niemand richtig und
beſtimmt denken kann, als wer ſich des
eigentlichſten, gemeinſten, platteſten Ausdrucks
bedienet? daß, den kalten ſymboliſchen Ideen
auf irgend eine Art etwas von der Waͤrme
und dem Leben natuͤrlicher Zeichen zu geben
ſuchen, der Wahrheit ſchlechterdings ſchade?
Wie laͤcherlich, die Tiefe einer Wunde nicht
dem ſcharfen, ſondern dem blanken Schwerdt
zuzuſchreiben? Wie laͤcherlich alſo auch, die
Ueberlegenheit, welche die Wahrheit einem
Gegner uͤber uns giebt, einem blendenden
Style deſſelben zuzuſchreiben! Ich kenne kei-
nen blendenden Styl, der ſeinen Glanz nicht
von der Wahrheit mehr oder weniger entleh-
net. Wahrheit allein giebt echten Glanz; und
muß auch bei Spoͤtterei und Poſſe, wenig-
ſtens als Folie, unterliegen. Alſo von der
Wahrheit laſſet uns ſprechen und nicht vom
Styl. Den Meinen gebe ich aller Welt Preis. *)
K 2
[148]
Allerdings ſuche ich durch die Phantaſie
mit auf den Verſtand meiner Leſer zu wir-
ken. Ich halte es nicht allein fuͤr nuͤtzlich,
ſondern auch fuͤr nothwendig, Gruͤnde in
Bilder zu kleiden; und alle die Nebenbegrif-
fe, welche die einen oder die andern erwecken,
durch Anſpielungen zu bezeichnen. Wer hie-
von nichts weiß oder verſtehet, muͤßte ſchlech-
terdings kein Schriftſteller werden wollen;
denn alle gute Schriftſteller ſind es nur
auf dieſem Wege geworden. Der Begrif
iſt der Mann; das ſinnliche Bild des Be-
griffes iſt das Weib; und die Worte ſind
die Kinder, welche beide hervorbringen. Ein
ſchoͤner Held, der ſich mit Bildern und Wor-
ten herumſchlaͤgt, und immer thut, als ob er
den Begriff nicht ſaͤhe! oder immer ſich einen
Schatten von Mißbegriff ſchafft, an dem er
zum Ritter werde!“ *)
[149]
66.
„Meine Frau iſt todt; und dieſe Erfahrung
habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich,
daß mir viele dergleichen Erfahrungen nicht
mehr uͤbrig ſeyn koͤnnen zu machen; und bin
ganz leicht. — Wenn ich noch mit einer Haͤlf-
te meiner uͤbrigen Tage das Gluͤck erkaufen
koͤnnte, die andre Haͤlfte in Geſellſchaft dieſer
Frau zu verleben; wie gern wollt ich es thun!
Aber das geht nicht; und ich muß nur wie-
der anfangen, meinen Weg allein ſo fortzu-
duſeln. *)
67.
„Vor allen Dingen laß mich Deinen Erſt-
gebohrnen mit meinem beſten Seegen hienie-
den bewillkommen! Er werde beſſer und
gluͤcklicher, als alle ſeines Namens. **)
[150]
„Jetzt iſt man hier auf meinen Nathan
geſpannt und beſorgt ſich davon ich weiß nicht
was. Es wird nichts weniger, als ein ſaty-
riſches Stuͤck, um den Kampfplatz mit Hohn-
gelaͤchter zu verlaſſen. Es wird ein ſo ruͤh-
rendes Stuͤck, als ich nur immer gemacht
habe. Spott und Lachen wuͤrde ſich zu dem
Tone nicht ſchicken, den ich in meinem letzten
Blatt angeſtimmt habe; du wirſt ſehen, daß
ich meiner eignen Sache durch dieſen drama-
tiſchen Abſprung im geringſten nicht ſchade.“ *)
68.
„Mein Nathan iſt ein Stuͤck, welches ich
ſchon vor drei Jahren vollends aufs Reine
bringen und drucken laſſen wollen. Mit un-
ſern jetzigen Schwarzroͤcken hat es nichts zu
thun; und ich will ihm den Weg nicht ſelbſt
verhauen, endlich doch einmal aufs Theater
[151] zu kommen, wenn es auch erſt nach hundert
Jahren waͤre. Mit dem Praͤnumeriren moͤch-
te ich gern nichts zu thun haben. Denn wenn
ich nun ploͤtzlich ſtuͤrbe? So bliebe ich viel-
leicht tauſend Leuten einem jeden einen Gul-
den ſchuldig, deren jeder fuͤr zehn Thaler auf
mich ſchimpfen wuͤrde. *) Nach meinem er-
ſten Anſchlage ſollte noch ein Nachſpiel dazu
kommen, genannt der Derwiſch, welches
auf eine neue Art den Faden der Epiſode des
Stuͤcks ſelbſt wieder aufnaͤhme und zu Ende
braͤchte. Aber auch das muß wegbleiben.“ **) —
69.
„Wenn man ſagen wird, daß ein Stuͤck
von ſo eigner Tendenz nicht reich genug an
eigner Schoͤnheit ſei: ſo werde ich ſchweigen,
aber mich nicht ſchaͤmen. Ich bin mir eines
[152] Ziels bewußt, unter dem man auch noch viel
weiter mit allen Ehren bleiben kann.
Noch kenne ich keinen Ort in Deutſch-
land, wo dieſes Stuͤck ſchon jetzt aufgefuͤhrt
werden koͤnnte. Aber Heil und Gluͤck dem,
wo es zuerſt aufgefuͤhrt wird.“ *)
70.
„Mein Ungenannter ſcheint ein wenig
Luft zu bekommen. Nun wird er ſich ſchon
von ſelbſt ſo weit helfen, als er ſich, nach den
Geſetzen einer hoͤhern Haushaltung helfen
ſoll. Auf mein eignes Glaubensbekenntniß
habe ich mich bereits eingelaſſen; wenigſtens
mich daruͤber ausgelaſſen. Denn zum
Einlaſſen gehoͤren zwei; und nachdem ich
es als ein ehrlicher Mann gethan, hat nie-
mand davon etwas weiter zu wiſſen verlangt.
Vermuthlich weil es noch zu orthodox war,
[153] und hierdurch weder der einen noch der an-
dern Parthei gelegen kam. Iſt er noch ſo
weit zuruͤck? dachten die einen. Wenn er nur
das will, dachten die andern, was haben wir
denn fuͤr einen Lermen uͤber ihn angefangen?“
„Die Verſatilitaͤt des Geiſtes verliert ſich,
glaube ich, von ſeinen Eigenſchaften am er-
ſten. Es koſtet ſo viel Arbeit mich umwaͤlzen
zu laſſen, daß es kaum mehr der Muͤhe ver-
lohnt, wenn ich nicht eine geraume Zeit in der
neuen Lage wieder verweilen kann.“ *)
71.
„Der Reiſende, den Sie mir vor einiger Zeit
zuſchickten, waͤr ein neugieriger Reiſen-
der. Der mit dem ich Ihnen jetzt antworte,
iſt ein emigrirender. Dieſe Claſſe von
Reiſenden findet ſich unter Yoriks Claſſen
nun zwar nicht; unter dieſen waͤre nur der
[154]ungluͤckliche und unſchuldige Reiſen-
de, der hier allenfalls paßte. Doch warum
nicht lieber eine neue Claſſe gemacht, als ſich
mit einer beholfen, die eine ſo unſchickli-
che Benennung hat? Denn es iſt nicht
wahr, daß der Ungluͤckliche ganz unſchuldig
iſt. An Klugheit hat er es wohl immer feh-
len laſſen.
Dieſer Emigrant will von Ihnen nichts,
als daß Sie ihm den kuͤrzeſten und ſicherſten
Weg nach dem europaͤiſchen Lande vorſchla-
gen, wo es weder Chriſten noch Juden giebt.
Ich verliere ihn ungern; aber ſobald er gluͤck-
lich da angelangt iſt, bin ich der erſte, der
ihm folgt.
An Ihrem Briefchen kaue und nutſche
ich noch. (Das ſaftigſte Wort iſt hier
das edelſte.) Und wahrlich, ich brauche ſo
ein Briefchen von Zeit zu Zeit ſehr noͤthig,
wenn ich nicht ganz mißmuͤthig werden ſoll.
Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen
Menſchen kennen, der nach Lobe heißhungrig
[155] iſt. Aber die Kaͤlte, mit der die Welt gewiſ-
ſen Leuten zu bezeugen pflegt, daß ſie ihr auch
gar nichts recht machen, iſt, wenn nicht toͤd-
tend, doch erſtarrend. *)
Daß Ihnen nicht Alles gefallen, was
ich ſeit einiger Zeit geſchrieben, das wundert
mich gar nicht. Ihnen haͤtte gar nichts ge-
fallen muͤſſen: denn fuͤr Sie war nichts ge-
ſchrieben. Hoͤchſtens hat Sie die Erinnerung
an unſre beſſeren Tage noch etwa bei der
und jener Stelle taͤuſchen koͤnnen. Auch ich
war damals ein geſundes ſchlankes Baͤum-
[156] chen; und bin jetzt ein ſo fauler knorrichter
Stamm! Ach, lieber Freund, dieſe Scene
iſt aus! Gern moͤchte ich Sie freilich noch
einmal ſprechen!“ *)
Leßing.
Und ſo fiel er, der edle Hirſch, vielver-
wundet, und unuͤberwunden. Da wo er er-
ſtarrte, ſagt man, ſtehe ſein Bild in Stein.
[157]
112.
Die Funken aus der Aſche eines
Todten haben mich wie ein ſtummes
Trauerſpiel im Innerſten geruͤhret. Das
alſo war Leßings Privatleben! ſo leitete
es ſich fort! ſo hat es geendet!
Dank ſeinem Bruder und deſſen Ge-
huͤlfen, daß ſie uns eine Sammlung Le-
ßingſcher Schriften gegeben, wie wir ſie
noch von keinem Deutſchen Schriftſteller
gehabt haben. Wuͤnſchten wir nicht alle,
[158] daß Leibnitz einen ſolchen Herausgeber
gehabt haͤtte? Ueber die Art der Heraus-
gabe hat er ſich, meinem Beduͤnken nach,
gnugſam gerechtfertigt. *) Die Wahl der
Maͤnner, die ihm beiſtanden, ganz und voͤl-
lig endlich rechtfertigt ihn die oft und frei
bekannte Denkart ſeines Bruders. „Ein-
mal, ſagt dieſer, **) habe ich nun eine ganz
aberglaͤubiſche Achtung gegen jedes geſchrie-
bene und nur geſchrieben vorhandene Buch,
von welchem ich erkenne, daß der Verfaſ-
ſer die Welt damit belehren oder vergnuͤ-
gen wollen. Es jammert mich, wenn ich
ſehe, daß Tod oder andre dem thaͤtigen
Mann nicht mehr und nicht weniger will-
kommene Urſachen ſo viel gute Abſichten
[159] vereiteln koͤnnen; und ich fuͤhle mich ſofort
in der Befaſſung, in welcher ſich jeder
Menſch, der dieſes Namens noch wuͤrdig
iſt, bei Erblickung eines ausgeſetzten Kin-
des befindet. Er begnuͤgt ſich nicht, ihm
nur nicht vollends den Garaus zu machen,
es unbeſchaͤdigt und ungeſtoͤrt da liegen zu
laſſen, wo er es findet; er ſchafft oder
traͤgt es in das Findelhaus, damit es we-
nigſtens Taufe und Namen erhalte. Gera-
de ſo wuͤnſchte ich wenigſtens (denn was waͤ-
re es nun, wenn auch darum noch ſo viel
Lumpen mehr dergeſtalt verarbeitet werden
muͤßten, daß ſie Spuren eines unſterblichen
Geiſtes zu tragen faͤhig wuͤrden?) wuͤnſchte
ich wenigſtens alle und jede ausgeſetzte
Geburten des Geiſtes mit eins in das gro-
ße fuͤr ſie beſtimmte Findelhaus der Dru-
ckerei bringen zu koͤnnen: und wenn ich
deren ſelbſt nur wenige wirklich dahin
[160] bringe, ſo liegt die Schuld gewiß nicht an
mir allein. Ich thue was ich kann, und
jeder thue nur eben ſo viel.
So dachte Leßing und ſo habe Ers
denn ſeiner eignen Nemeſis Dank, daß
nach dem Maas, nach dem er fremde
Handſchriften hervorzog, die Seinigen auch
ans Licht geſtellt werden. Ehre gnug fuͤr
Jeden, Schriftſteller oder nicht, deſſen klein-
ſtes Blaͤttchen, deſſen eiligſter Brief mit ſo
viel Ehre ans Licht treten darf!
Gens sui tantum similis, ein gar ab-
ſunderliches Volk ſind wir Deutſche.
Unſre Nachbarn ruͤhmen ſich ihrer
Schriftſteller; ſie ſammlen ihre Werke,
Aufſaͤtze, Briefe, Fragmente mit groͤßeſtem
Fleiß und ſetzen darin ein edles Eigen-
thum, eine Nationalehre. So ſind (nur
wenige anzufuͤhren,) in Frankreich die Wer-
ke nicht etwa nur der Corneille, Ra-
cine,
[161]cine, Moliere, Voltaire, Rouſ-
ſeau, Fenelon, Boßvet ſondern auch
der Motte le Vayer, Motte Hou-
dart u. f. in England Shakeſpear's,
Bacon's, Milton's, Swift's, Po-
pe's, Hume's Werke, zum Theil mit
einer Pracht erſchienen, mit welcher der
eitelſte Schriftſteller ſelbſt zuweilen unzu-
frieden ſeyn wuͤrde; und wo irgend ein
Brief, ein Einfall, eine Anekdote von die-
ſem oder jenem aufgegriffen ward, wird er
bekannt gemacht und verherrlichet. Unſre
Deutſche Journale ſagen nach, ruͤhmen und
preiſen. Nur gegen unſre eigenſten Verdien-
ſte ſind wir undankbar, verachten was nach
der ſorgfaͤltigſten Bearbeitung in der beſchei-
denſten Tracht vor uns tritt, und entziehen
ſelbſt dem Todten, was ihm gebuͤhret. —
Fuͤr Hoͤfe ſchrieb Leßing nicht; auch
nicht fuͤr den großen Maasſtab alles Ge-
Neunte Sammlung. L
[162] ſchmacks, den Geſchmack der Franzoſen.
Gegen dieſen ſchreibt man ihm vielmehr,
(obwohl meines Erachtens mit Unrecht)
einen ungerechten Widerwillen zu; ſie moͤ-
gen ihn alſo nicht leſen. *) Wir Deut-
ſche wollen ihn leſen; theoretiſch und prak-
tiſch war er der Sprache Meiſter. Wenn
es auch keine Deutſche Nation gaͤbe, die
ſich um Dies oder Jenes, woruͤber er ge-
ſchrieben hat, kuͤmmerte: ſo ſollte es, duͤnkt
mich, Deutſche Gelehrte geben, denen Dies
und Jenes nicht gleichguͤltig ſeyn darf, und
der verſtaͤndige Mann in ſeiner
Sinnes- und Denkart, iſt fuͤr einen
gebildeten Mann bei jedem Schriftſteller
das Wichtigſte, das Beßte.
[163]
Auch ich ſtelle mir Ihren Juͤngling
vor, der „mit claſſiſchen Kaͤnntniſſen in
„der Schule ausgeruͤſtet, ehe er die Aka-
„demie beſchreitet,“ eben auf dieſe Samm-
lung Leßingſcher Schriften geriethe. Na-
tuͤrlich wird er vieles in ihnen uͤberſchla-
gen; wobei er aber verweilet, an den Wer-
ken ſeines Genius, an den Grundſaͤtzen
und Urtheilen ſeiner Kritik, an ſeinen un-
vollendeten Entwuͤrfen, an ſeinen hie und
da kaum genannten Vorſaͤtzen, an ſeinen
Meynungen uͤber das was ihm leicht und
ſchwer, nothwendig oder erlaͤßlich ſchien,
an ſeiner Waage des Billigen und Rech-
ten, des Zweckmaͤßigen, Edlen und Schoͤ-
nen; an ſeiner Kunſt zu diſputiren, nach
Ort und Zeit zu reden, Wahrheit zu ver-
huͤllen ohne ſie zu beleidigen, ſie nicht im-
mer unmittelbar ſondern auf gewaͤhlten
Umwegen geſchickt zu befoͤrdern; vor Allem
L 2
[164] an ſeinem veſten und beſcheidnen Charak-
ter, der nie mehr von ſich hielt als ſich ge-
buͤhrt zu halten, der auch im Spiele ernſt,
auch gegen Feinde gerecht, uͤber die menſch-
liche Beſtimmung rein und ſicher, uͤber das
menſchliche Wiſſen und Beſtreben demuͤthig
und beſcheiden, ſeinen Grundſaͤtzen treu
blieb und in den widrigſten Faͤllen des Le-
bens den herben Apfel oft mit Scherz, im-
mer aber mit maͤnnlicher Heiterkeit koſtete;
an dieſem Mann und Schriftſteller wird
er viel zu lernen finden! Seine Winke,
ſeine Fehler werden ihn das Wichtigſte
lehren; er wird ihn hochſchaͤtzen und
bedauren. Hochſchaͤtzen, daß er ſich
in ſo Vieles wohlgeruͤſtet, muthig und
gluͤcklich warf; wo es ihm mißlang, ſich
am Ziel ſelbſt nicht irre machen ließ, ſon-
dern es auf andern Bahnen ſuchte. Be-
dauern wird er ihn —
[165]
Doch wozu die Nutzloſe Wiederholung?
Mit Leßing iſt das Problem abermals
aufgeloͤſet. Gebt dieſem reinen Stahl in
dephlogiſirter Luft nur Einen Funken, welch
Schauſpiel einer herrlichen Flamme an
Glanz und Farbe werdet ihr erblicken bis
zum letzten Moment der Erſcheinung. Bringt
dieſe helle Flamme dagegen — Der be-
ſcheidne Leßing erwartete von ſeinem Va-
terlande Nichts; das ſchmerzlichſte aller
Gefuͤhle, das Gefuͤhl der Kraͤnkung maͤßig-
te er, ſelbſt wenn man ihn taͤuſchte.
„Noch ſind mir, ſagte er *) in meinem
Leben alle Beſchaͤftigungen ſehr gleichguͤl-
tig geweſen: ich habe mich nie zu einer
gedrungen oder nur erboten; aber auch die
geringfuͤgigſte nicht von der Hand gewie-
ſen, zu der ich mich aus einer Art von
[166] Praͤdilection erleſen zu ſeyn glauben konn-
te.“ Seine erſte Jugendrede (1743) han-
delte von der Gleichheit eines Jahrs
mit dem Andern*); in Anſehung ſei-
ner Erwartungen ſcheint er dieſer Jugend-
philoſophie Zeitlebens treu geblieben zu ſeyn.
Kurz, das Trauerſpiel Spartakus, das
er uns auf der Buͤhne nicht geben konnte,
hat er uns durch ſeinen Lebenslauf gege-
ben. — Fahren Sie mit Ihrer Geſchichte
der Franzoͤſiſchen Propaganda in
Deutſchland fort. Was iſt zu thun?
was wird werden?
[167]
113.
„Was iſt zu thun? was wird werden?“
Da wir die ſieben Weiſen Griechenlands
nicht aufrufen koͤnnen, ſo duͤnkt mich
1. Laſſet geſchehen ſeyn, was geſchehen
iſt; es iſt geſchehen. Haͤtten die obern
Staͤnde Deutſchlands ſich in den Kopf
geſetzt, ſtatt Franzoͤſiſch, Kalmuckiſch zu
ſprechen; (das Mangoliſche iſt auch eine
ſehr ausgebildete Sprache;) was wolltet
ihr dagegen? Die Jahrhunderte ſind ver-
[168]lohren; und nicht ihr, ſondern ſie tra-
gen die Schuld.
2. Ihr ſehet, daß die Zeit das Blatt
wendet. Ein Theil des Franzoͤſiſchen Ge-
ſchmacks, der Hofgeſchmack naͤmlich, iſt
bei den Franzoſen ſelbſt antiquiret.
Wartet, ob ihn die Deutſchen beibehalten;
oder ob ſie gar aus Mode Republikaner
werden. Deutſch-Franzoͤſiſche Republika-
nerinnen und Republikaner!
3. Schmaͤht nicht; ſondern bemitleidet,
ſchweiget, ehret; und wenn ihr es koͤnnt,
belehret. Es iſt ein poͤbelhafter Wahn,
daß wir der obern Staͤnde nicht bedoͤr-
fen; wir bedoͤrfen ihrer, wie ſie unſer be-
doͤrfen. Wir ſollen ihr Auge, wir muͤſſen
ihre Hand ſeyn; ſie hingegen ſinds, von
deren Willen und Meinung im Guten und
Boͤſen faſt Alles abhaͤngt. Zum Wohl
des Ganzen ſind ſie unentbehrlich. — Eben
[169] ſo falſch iſt die andre Behauptung, daß es
Deutſchland vortheilhaft ſei, wenn Schrift-
ſteller blos fuͤr Schriftſteller ſchrei-
ben. Der Koch kocht fuͤr Gaͤſte, nicht fuͤr
Koͤche; und wenn Koͤche ſich in Deutſch-
land zu Haͤuptern einer gelehrten Republik
aufwerfen und ſtatt der von ihnen verach-
teten Hoͤfe ſchmaͤhende Jahrs- und Mo-
natsbuden errichten; ſo iſt die oͤffentli-
che Kritik, die jeder Nation ein Palladium
des guten Geſchmacks, des geſunden und
redlichen Urtheils ſeyn ſollte, in Deutſch-
land dazu geworden, wozu ſie Weltleute,
mit verachtendem Spott aus innrer Ab-
neigung gegen alles Deutſche Buͤcherwe-
ſen nur wuͤnſchen mochten. Welcher Mann,
ich will nicht ſagen, von Stande, ſondern
nur von Achtung fuͤr ſeinen Namen wird
ſich in eine Geſellſchaft miſchen, die auf
ſolche Art fuͤr ſich ſelbſt ſchreibet?
[170]
4. Glaube man nicht, daß die unter-
ſten Staͤnde die obern erſetzt haben, ſo-
bald irgend nur das Product abgeht.
Der groͤßte Theil Deutſcher Schriftſteller
ſchreibt jetzt fuͤr Leſegeſellſchaften,
und manche derſelben ſcheinen ſich an die-
ſen das Geſinde der Deutſchen Nation
zu denken, fuͤr welches ihre Producte ge-
wiß auch die unterhaltendſten ſind. Da-
durch beſſern wir unſern Geſchmack nicht;
dadurch erwerben wir keine Ehre. Der
Namenloſe, der ſolche Werke ſchrieb, ſchaͤm-
te ſich ihrer zuerſt ſelbſt, bis er, (denn
man gewoͤhnt ſich an jedes Handwerk) in
Kurzem auch die Schaam ablegte. Er
weiß, daß er die Nation mit ſeinen Hefen
der Aufklaͤrung verderbe; die Hefenfa-
brik aber bringt ihm Geld und iſt gut zu
Leihbibliotheken der großen Geſind-
ſtube des Deutſchen Witzes und Unraths.
[171]
5. Wir haben Gaͤſte um uns, deren
manche endlich ſchon ſich entſchließen, das
barbariſche Deutſche zu lernen, die alſo
(bei Franzoſen kann es nicht fehlen) uns
bald in die Schule nehmen werden. Schon
hat Einer den Anfang gemacht *) und
uns verwieſen, daß wir „ſogern Origi-
nale und Fuͤrſtenſklaven“ ſeyn moͤ-
gen, daß es uns an Woͤrterbuͤchern,
an einer richtigen Orthographie und
an lateiniſchen Lettern mangle; ſol-
cher Belehrer werden ſich mehrere finden.
Und mit Verehrung werden die Deutſchen
Zeitſchriften dieſe Seltenheiten aufnehmen,
nicht gnug zu ruͤhmen wiſſen, wie ſehr
unſre Literatur dadurch in Aufnahme kom-
me, indem ſogar Auslaͤnder ſich endlich
[172] um ſie bekuͤmmern. Jeder, dem ſein Va-
terland lieb iſt, huͤte ſich vor ihren beſchaͤ-
menden Schmeicheleien; und mache ſich
eben ſo viel aus dergleichen laͤngſtbekann-
ten Rathſchlaͤgen. Was von Franzo-
ſen uͤber unſre Literatur geſagt werden
kann, iſt hundertfach geſagt; wir aber wiſ-
ſen ſelbſt am beſten, wo uns der Schuh
druͤckt, woran das Uebel liege. Ich ſchaͤm-
te mich, wenn die beſten Deutſchen Schrift-
ſteller ſich aus einem Lobe wie z. B. im
Journal etranger ſo viel machten, und die
Reſervationen nicht bemerkten, mit denen
jedes Lob geſagt war. Behuͤte Gott je-
den Deutſchen, daß er nicht um Franzoͤſi-
ſchen und Engliſchen Ruhm ſchreibe! Wo
die Natur durch Sprache, Sitten und Cha-
rakter die Voͤlker geſchieden; da wolle man
ſie doch nicht durch Artefacta und chemi-
ſche Operationen in Eins verwandeln.
[173]
6. Mich duͤnkt, wir bleiben auf unſerm
Wege, und machen aus uns, was ſich ma-
chen laͤßt. Sage man uͤber unſre Nation,
Literatur und Sprache Boͤſes und Gutes;
ſie ſind einmal die Unſern. Mit der
Franzoͤſiſchen Sprache wollen wir nicht
tauſchen, ihr auch nicht beneiden, daß ſie
die Sprache der Welt ſei. Buͤſch hat die
Frage: „gewinnt ein Volk in Abſicht auf
ſeine Aufklaͤrung, wenn ſeine Sprache zur
Univerſalſprache wird? ſcharfſinnig und
meinem Beduͤnken nach wahr beantwor-
tet.“ *) Als demuͤthige Deutſche wollen
wir das geſammte Univerſum noch nicht
lehren, ſondern von jeder Nation, von der
wir lernen koͤnnen, lernen. Von den Alt-
franzoſen ſowohl als von den Neufranken
wollen wir fortfahren zu lernen: denn eben
[174] von jenen iſt uns, ihrer boͤſen Einfuͤhrung
wegen, unpartheiiſch betrachtet, noch vieles
zu lernen uͤbrig. Der Eine Theil unſrer
Nation nahm ſie, ohne alles Verhaͤltniß
zu unſrem Daſeyn, mit blinder Verehrung
auf, und, gewann an ihnen gerade das
lieb, was fuͤr uns nicht diente, Plaiſante-
rien uͤber die Religion, und Zoten; der
andere verabſcheuete ſie um ſo mehr und
betrug ſich uͤberhaupt etwas pedantiſch.
Vielleicht waren wir zum richtigen Em-
pfang und zu Beurtheilung dieſer man-
nichfaltigen Zeit- und Geiſtesprodukte an
beiden Theilen noch zu ſehr im Nebel.
Jetzt hat ſich die Wolke zertheilt; Frank-
reich ſelbſt hat die Folgen vom Misbrauch
mehrerer Grundſaͤtze Roußeau's, Vol-
taire, Helvetius gekoſtet; die Zeit hat
uͤber ſie gerichtet und der Zuſchauer Urtheil
gereifet. — Selbſt uͤber Montesquieu
[175] ſind wir noch in Schulden: denn mir iſt
kein Deutſches Werk bekannt, daß das
Franzoͤſiſche fuͤr uns brauchbar oder ent-
behrlich gemacht haͤtte. Die ganze aͤltere
Franzoͤſiſche Literatur erwartet zur Anwen-
dung fuͤr uns noch ein ruhiges Auge.
7. Bei allen Misleitungen einer ſo
vielfach-zertheilten Nation, wie die Deut-
ſche iſt, bei Verirrungen, die Jahrhunderte
lang gedauert haben und ſich noch jetzt
faſt in jedes Urtheil miſchen, muͤſſen wir
am meiſten auf die große Alliirte, die
weiſe Lenkerinn menſchlicher Thorheiten,
die Providenz rechnen. Ihr wollen
wirs zuglauben, daß auch die Gallicoma-
nie der Deutſchen, die laͤcherlichſte Thorheit,
deren ſich ein ernſthaftes Volk bewußt ſeyn
kann, ihr Gutes haben werde; waͤre es
auch kein Anderes als Fehler zu entbloͤ-
ßen, die man noch lange verſchleiert haͤtte
[176] und gegen welche kein Salz der Comoͤdie
wirkſam geweſen waͤre. Die Mutter,
Zeit hat entſchleiert; das Salz iſt geko-
ſtet; thue es die beſte Wirkung! Den gan-
zen Gallicismus unſrer oberen Staͤnde ge-
linde abzufuͤhren, und den kalten beſonne-
nen Deutſchen den Satz begreiflich zu ma-
chen, daß wir nirgend anders als in un-
ſerm Ulubraͤ, nach Deutſcher Weiſe, mit
der Nation, die die unſrige iſt, wo nicht
witzig, ſo doch vernuͤnftig und gluͤcklich
ſeyn ſollen. Jedes Andre, fremde Alfan-
zerei, iſt vom Daͤmon. —
Noch ſollte ich mich uͤber den Vorwurf,
als ob wir Deutſche die Englaͤnder nicht
gnug geehrt haͤtten, rechtfertigen; der aber
widerlegt ſich ſelbſt. Mit den Britten ſte-
hen wir in reinerem Verhaͤltniß; wir eh-
ren ſie aus Neigung uͤber Gebuͤhr von
ihnen keine Ehre erwartend. Unſer Herz
ſagt
[177] ſagt uns naͤmlich, „auch wir haͤtten in den
vorigen Jahrhunderten einen Bacon,
Shakeſpear, Milton haben koͤnnen;“
wir fuͤhlen ſie als Gebein von unſerm Ge-
bein, als Menſchen unſrer Art; ſie ſind
die auf eine Inſel verpflanzten Deutſchen.
Daher ſind von den Englaͤndern ſelbſt ihre
treflichſten Schriftſteller kaum mit ſo re-
ger, treuer Waͤrme aufgenommen worden,
als von uns Shakeſpear, Milton,
Addiſon, Swift, Thomſon, Ster-
ne, Hume, Robertſon, Gibbon auf-
genommen ſind. Richardſon's drei Ro-
mane haben in Deutſchland ihre goldne Zeit
erlebet; Youngs Nachtgedanken, Tom-
Jones, der Landprieſter haben in
Deutſchland Sekten geſtiftet; in Engliſchen
Zeitſchriften haben wir bewundert,
ſelbſt was wir nicht verſtanden, was fuͤr
uns nicht geſchrieben war. Und wer waͤre
Neunte Sammlung. M
[178] es, der die Schotten Ferguſon, Smith,
Stewart, Millar, Blair nicht ehrte?
Auf dieſem demuͤthigen Wege wollen wir
bleiben, und nicht erwarten, daß man uns
verſtehe und ehre. Der Nationalruhm iſt
ein taͤuſchender Verfuͤhrer. Zuerſt lockt er
und muntert auf; hat er eine gewiſſe Hoͤhe
erreicht, ſo umklammert er den Kopf mit
einer ehernen Binde. Der Umſchloſſene
ſieht im Nebel nichts als ſein eigenes Bild,
keiner fremden neuen Eindruͤcke mehr faͤ-
hig. Behuͤte der Himmel uns vor ſol-
chem Nationalruhm; wir ſind noch
nicht, und wiſſen, warum wir noch nicht
ſind? wir ſtreben aber und wollen werden.
Appendix A Inhalt.
- Brief 108. Einwuͤrfe gegen die Schaͤtzung aus-
waͤrtiger Nationen und das den
Deutſchen zugebilligte Lob. Name
der Deutſchen bei auswaͤrtigen Na-
tionen. Mehrere Einwuͤrfe. Seite 5 - Br. 109. Wie ſchwer es ſei, allgemein zu
charakteriſiren. Lob einer zur Klar-
heit und Praͤciſion gebildeten Spra-
che. Was repraͤſentiren ſei? Wie
ſehr die Franzoͤſiſche Nation Re-
praͤſentation liebe. S. 9 - Br. 110. Was die Franzoͤſiſche Nation der
Deutſchen im Lauf der Geſchichte ge-
weſen. Karl der Große. Die Kreuz-
zuͤge. Das Ritterweſen. Seit dem
Weſtphaͤliſchen Frieden. — Pre-
montval gegen die Gallicomanie,
und den falſch-Franzoͤſiſchen Ge-
ſchmack. S. 20 - Br. 111. Folgen der Gallicomanie — fuͤr
Deutſchland. Ob die Franzoͤſiſche
Neunte Sammlung,
[[180]]Inhalt.
Sprache fuͤr uns gebildet ſei? Was
ſie gewaͤhre und nehme. Verſchie-
denheit beider Nationen in ihrer
ganzen Denkart. Trennung der
Staͤnde durch die Gallicomanie in
Deutſchland. Verſchiednes Betragen
der Schriftſteller dabei. Verdienſt
derer, die dem Charakter unſres
Volks zu Huͤlfe kamen. S. 42 - Funken aus der Aſche eines
Todten; ein Kanon des Geſchmacks
fuͤr mancherlei Wiſſenſchaften, fuͤr
die Kritik, und fuͤr Erwartungen
der Muſe in Deutſchland. S. 64 - Br. 112. Von der vollſtaͤndigen Ausgabe
Leßingſcher Schriften. Was ein
Juͤngling aus und an ihm zu lernen
habe. S. 157 - Br. 113. Rathſchlaͤge uͤber unſer Verhaͤlt-
niß zur Franzoͤſiſchen Literatur.
Von unſrer Neigung fuͤr die Brit-
ten. Achtung, die man ihnen er-
wieſen. S. 167
Th. 7. 8.
Zeit eigene Nachahmungsſucht erhielt unge-
meine Nahrung durch das immer mehr zur
Gewohnheit werdende Reiſen. Man wird
kaum die Lebensbeſchreibung eines etwas be-
Zeiten finden, wo nicht ſeiner gethanen Rei-
ſen Erwaͤhnung geſchaͤhe. Fremde Sprachen,
Sitten und Moden waren dasjenige, wor-
aus ihre Landesleute nach der Heimkunft
ſchließen ſollten, was ſie fuͤr einen Mann vor
ſich haͤtten. Selbſt die vielen vom Adel ſo-
wohl als dem Volk, die wegen der Kriegs-
dienſte ſo haͤufig nach Frankreich und den
Niederlanden zogen, brachten meiſtens anſtatt
des fremden Geldes, das ſie zu erhaſchen ge-
glaubt, nichts zuruͤck als fremde Moden und
Grimaſſen. Dadurch ward der Abſtand von
den vorigen Sitten in kurzer Zeit ſo groß,
daß mehrere Deutſche Fuͤrſten ſelbſt in ihren
Teſtamenten ihre Soͤhne vor fremder Pracht
warnten. Schmidts Geſchichte der Deut-
ſchen, Th. 9. S. 129.
zu Berlin, 1759.
ture wußten nicht, wer Cotin ſei, und ver-
wandelten ihn ſehr gelehrt in Catin.
uͤber dieſen Misbrauch geklagt; eine Biblio-
thek von Beſchwerden der Deutſchen und
Spoͤttereien der Auslaͤnder waͤre hieruͤber
anzufuͤhren. Piccart, ein eben ſo geſchei-
ter als gelehrter Mann, (Obſervat. hiſtor.
politic. Dec. III. Cap. 10.) zeigt, wie an-
ders Griechen und Roͤmer uͤber den Gebrauch
fremder Sprachen in ihrem Vaterlande ge-
dacht haben. Deßgleichen viele andre. Was
half aber alles dieſes? Gens peregrinandi avi-
da et exterorum morum, dum ſe receperit
domum, aut ſimulatrix aut retinens, ſagt
Barclai in ſeinem Icon animorum, (c. 5.)
wo er die Deutſchen ſeiner Zeit in mehreren
Zuͤgen treffend ſchildert. A. d. H.
Braunſchweig, von Liegnitz u. f. Ei-
nige derſelben uͤberſetzten ſelbſt, und zwar
ſehr gute Buͤcher, aus dem Italiaͤniſchen,
Franzoͤſiſchen, Spaniſchen. Mehrere Fuͤrſtin-
ten. S. Moſers Patriotiſches Archiv der
Deutſchen, und ſeine andern Schriften hin
und wieder.
A. d. H.
kurze Geſpraͤche, von Haͤßlein oder von
einem andern Kenner der Sprache geſamm-
let, oder im Bragur wieder erſchienen.
Sie ſinds werth.
A. d. H.
Th. 8. S. 44.
Etwas merkbar macheſt.“
ge Oden dieſen Namen ſehr wohl; ſie haben
ihren eignen Gang und Charakter. In die
vollſtaͤndige Sammlung ſeiner Schriften iſt
ein neues ſchaͤtzbares Stuͤck gekommen, der
lin, (Th. 2. S. 31.) und vier Entwuͤr-
fe zu Oden (S. 202 - 12.) durch die
man den Geiſt der Horaziſchen Ode, „den
Flug, der irrt und ſich nicht verir-
ret,“ vielleicht beſſer kennen lernt, als
durch lange Commentare uͤber den Roͤmiſchen
Dichter. A. d. H.
Th. 8. S. 47.
Die Vorrede, mit der Leßing dieſe Lieder
Beſtimmung des Werths und des Charakters
dieſer Gedichte, als einer neuen individuellen
Gattung, die ſie auch ſind. Die ganze Vor-
rede verdiente hergeſetzt zu werden; ſie traͤgt
den Charakter der Lieder ſelbſt. S. Leßings
Schriften Th. 8. S. 98.
A. d. H.
Streitbare Maͤnner waren wir
Streitbare Maͤnner ſind wir u. f.
von Leßing uͤberſetzt, ſteht jetzt in dieſer
vollſtaͤndigen Sammlung ſeiner Schriften
Th. Th. 2. S. 195.
A. d. H.
nicht das erſte Erforderniß ſeyn? Der
Schriftſteller ſchreibt fuͤr Leſer; ſind dieſe
verdorben, ſo ſchreibt jener und der Verle-
ger verlegt fuͤr ihren verdorbenen Geſchmack.
Die vielen ſchlechten Schriftſteller Deutſch-
ſchaͤdlichſte Partheilichkeit ein. Will man
ein Werk ſchoͤn finden, ſo ſingt man Theodi-
und kennen es ſehr gut; eben ſo auch die
Verleger. Leſer zu bilden muß alſo der
Kunſtrichter erſte Beſtrebung ſeyn; die
Schriftſteller werden ſelbſt wider Willen fol-
gen. In den hoͤheren Wiſſenſchaften wird
jeder Stuͤmper ausgeziſcht und verachtet:
denn ſein kleines, aber beſtimmtes Publikum
iſt der Sache verſtaͤndig.
A. d. H.
haupt iſt das Gleichniß von der Welt, wie
ſie der Philoſoph betrachtet, auf Werke der
Menſchen, zumal auf Kunſtwerke unanwend-
bar. Iſt das Ganze ſchoͤn: ſo kann die
ſtrengſte Zergliederung ihm keinen Nachtheil
bringen: denn ein lebendiges Ganze beſtehet
nur in Theilen; und daß bei dieſem ſchoͤnen
Ganzen die mangelhaften Theile mit ſtrenger
Unpartheilichkeit bemerkt werden, iſt um ſo
nothwendiger, weil in ihnen das Fehlerhafte
und Uebertriebene gewoͤhnlich zuerſt Nachah-
mer findet. Zwiefaches Maas und Gewicht
iſt wie allenthalben ſo auch in der Kritik der
Gerechtigkeit ein Graͤuel und der Sache des
Ganzen aͤußerſt verderblich.
A. d. H.
ge das Schauſpiel geben.“
reichſten kritiſchen Werks Leßings. Aus dem
reichſten Vorrathe ſind hier nur wenige Stel-
len gewaͤhlt, die Leßings Charakter naͤher
zeigen; ſeinen durchdringenden, ſchneidenden
Verſtand, ſo wie ſeine Billigkeit und Scho-
nung beweiſet die Dramaturgie von Anfange
bis zum Ende.
A. d. H.
nicht etwas ungerecht gegen ihn ſelbſt ſeyn?
Jeder muß ſich am beſten kennen, und Leßing
war kein Demuͤthiger, der durch eine falſche
Beſcheidenheit ein groͤßeres Lob zu erjagen
ſuchte, noch ein Fauler, der Talente in ſich
ablaͤugnete, um ſie nicht brauchen zu doͤrfen.
Nichts aber iſt truͤglicher, als die Meinung,
die wir von uns ſelbſt in einzelnen Le-
bensperioden faſſen und hegen; wir brin-
gen die Umſtaͤnde außer uns oft zu wenig, oft
zu viel in Anſchlag. Setzet Leßing in ein Land,
an einen Ort, in Umſtaͤnde, unter denen die
lebendige Quelle von Jugend auf ſich em-
porarbeiten konnte, wo ihr tauſend lebendige
Kraͤfte, ungeſehen und unbemerkt halfen; er
haͤtte weniger des Druckwerks, der Roͤhren
noͤthig gehabt, aus ſich heraus zu preſſen,
Stralen aufgeſchoſſen waͤre. Nicht die Kri-
tik, ſondern der leere Luftraum erſtickt und
toͤdtet. Er preſſet unter Beduͤrfniſſen, unter
Verhaͤltniſſen, die dem Geiſt keinen Tropfen
Erquickung (pabulum vitae) geben, und
jagt zuletzt den Verzweifelnden hie und dort
hin, allenthalben an flache Waͤnde. Leßings
Lebensumſtaͤnde dringen dem Verwundernden
die Frage ab: nicht, warum er nicht mehr
hervorgebracht? ſondern wie er in ſeinen La-
gen Das und So viel und ſo kraͤftig habe
hervorbringen koͤnnen, was er geleiſtet. Dazu
half ihm, wie er ſagt, Kritik; aber Kritik
kann Kraͤfte nicht geben, ſondern nur regeln,
ordnen. Alſo war die Kaͤnntniß der Alten,
die Bekanntſchaft mit fremden Sprachen,
mit gluͤcklichern Genies unter lebhaftern Voͤl-
kern in beſſern Zeiten das Feuer, daran er
ſich waͤrmte, das kuͤnſtliche Glas, wodurch er
ſein Auge ſtaͤrkte. Und wehe dem beſten
Deutſchen Kopf, der ſich nicht aus ſeiner, in
dieſe alte, oder fremde Welt zuweilen zu ſe-
jener Geſchoͤpfe gerathen, die, (S. Dramat.
Bl. 22.) in Deutſcher Alltagskleidung, in ei-
ner engen Sphaͤre kuͤmmerlicher Umſtaͤnde in-
nerhalb ihrer viel Pfaͤhle herumtraͤumen.
Alle wiſſen wir, welche Witterung es ſei,
die die Senne des beſten Bogens er-
ſchlafft und die gefuͤllteſte Maſchiene ihrer
elektriſchen Kraft ſanft entladet.
A. d. H.
gen waͤre! Er lebte vielleicht noch.
ten Welt bin.
den Schaͤtzen der Herzogl. Bibliothek zu Wol-
fenbuͤttel. 1773.
der Wolfenbuͤttelſchen Bibliothek. 1772.
Geſellſchaft.
gen Hauſes an? Man beſſert es ernſtlich
oder reißt es nieder und bauet ein andres:
in beiden Faͤllen aber erkundigt man ſich,
was denn eigentlich Schadhaftes an ihm ſei.
Der Ungenannte gab vieles dafuͤr aus, was
es nicht iſt; Leßing nahm vieles, was er da-
fuͤr erkannte, Gewandsweiſe, gymnaſtiſch in
ſeinen Schutz. Dies iſt nicht der reine Weg
zur Wahrheit, obgleich darauf ſehr viel Scharf-
ſinn, hie und da unnoͤthig, angewandt wor-
den iſt. Ich kann alſo den Weg, den Leßing
in Fuͤhrung dieſer Streitigkeit nahm, nicht
ganz billigen, wie er denn auch ſeine eigentli-
che Abſicht nicht erreicht hat.
A. d. H.
Verblendungen aus gewohnten Vorurtheilen,
ja aus mancherlei Leidenſchaften einen bittern
Haß gegen die Wahrheit, oder gegen ernſte
Unterſuchungen der Wahrheit nicht nur ge-
ben koͤnne, ſondern wirklich gebe, hat L. nicht
laͤugnen wollen, und auf ſeinem Lebenswege
ſelbſt erfahren.
A. d. H.
das ſchließt der Trieb nach Wahrheit und
ihr Begriff ſelbſt ein.
A. d. H.
den der Geſchichte des Chriſtenthums, im
Anfange derſelben.
A. d. H.
den Buchſtaben d. i. den literaren Sinn
nach ſeiner wahren, Zeitmaͤßigen, ungezwei-
felten Bedeutung nicht kennen lernen ſollten.
Eben dieſen, mithin den Geiſt der Schriften
des Chriſtenthums ſollten wir kennen lernen.
A. d. H.
ſondern auf die ganze Wirkung, die L. mit
ſeinen letzten Bemuͤhungen zu machen hoffte,
und die er freilich zu kurz nahm. Alles hat
ſeine Wirkung gethan und wird ſie thun,
ſeine Beitraͤge, ſeine Schriften uͤber die Frag-
mente, ſein Nathan; in der Hand der Vor-
ſehung iſt nichts verlohren. Nur ſeine Lauf-
bahn war vor der Zeit zu Ende; er ver-
lechzte.
S 355.) Der letzte ſeiner gedruckten Briefe
iſt vom 26. Jan. 1781. (Th. 29. S. 498.)
Er ſtarb den 15. Febr. 1781.
Schriften Berl. 1784.
terſuchungen ſo wie uͤberhaupt uͤber die Bil-
dung ſeines Styls hat Leßing ſich frank und
frei erklaͤret. S. Saͤmmtliche Schriften B.
13. Vorr. IX. S. 390. B. 6. S. 174. f.
1796.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Herder, Johann Gottfried von. Briefe zu Beförderung der Humanität. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bmm2.0