einiger
Abhandlungen
Neuen Bibliothek der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften und der freyen Kuͤnſte
im Verlage der Dykiſchen Buchhandlung,
1779.
[][[1]]
Verzeichniß der Abhandlungen.
- Vorrede S. 3
- Verſuch uͤber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten 8
- Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
Betrachtung einiger Verſchiedenheiten in den
Werken der aͤlteſten und neuern Schrift-
ſteller, beſonders der Dichter 116 - Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek
der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen
Kuͤnſte.
Vermiſchte Anmerkungen uͤber Gellerts Mo-
ral, deſſen Schriften uͤberhaupt und Cha-
rakter 198 - Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek
der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen
Kuͤnſte.
[[2]] Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende.
Erſter Theil S. 253 - Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek
der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen
Kuͤnſte.
Einige Gedanken uͤber das Intereſſirende.
Zweyter Theil 313 - Aus dem dreyzehnten Bande der Neuen Biblio-
thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen
Kuͤnſte.
Anhang zur voranſtehenden Abhandlung 379 - Hier zum erſtenmale gedruckt.
Ueber den Einfluß einiger beſondern Umſtaͤn-
de auf die Bildung unſerer Sprache und
Litteratur. Eine Vorleſung 440 - Aus dem vierzehnten Bande der Neuen Biblio-
thek der ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen
Kuͤnſte.
[[3]]
Vorrede.
Ich habe dieſe Abhandlungen zuſammendrucken laſ-
ſen, weil einige meiner Freunde dieſelben zu be-
ſitzen wuͤnſchten, ohne ſich das große Werk anſchaffen
zu duͤrfen, in welchem ſie zerſtreut ſind. Da dieſelben
fuͤr eine periodiſche Schrift verfertiget worden, an wel-
cher mehrere Theil hatten: ſo wird ſich der Leſer an
das Wir nicht ſtoßen, mit welchem der Verfaſſer
von ſich ſelbſt redet, und welches Schriften dieſer Art
eigen zu ſeyn pflegt.
Ich habe dieſe [Aufſaͤtze] beynahe ganz unveraͤn-
dert gelaſſen, nicht weil ich ſie fuͤr vollkommen halte,
ſondern weil ich jezt außer Stande bin, große Ver-
beſſerungen zu machen, und kleine fuͤr den Nutzen, den
A 2
[4]Vorrede.
ſie ſtiften, zu muͤhſam finde. Ueberdieß macht oft
die Veraͤnderung, die in dem Gemuͤth oder den Um-
ſtaͤnden eines Schriftſtellers vorgegangen iſt, daß er
Stellen ſeiner ehemaligen Schriften zu verbeſſern
glaubt, wenn er ſie blos ſeiner jetzigen Lage und Den-
kungsart gemaͤßer macht. Endlich iſt es entweder an
ſich, oder nur mir insbeſondre ſchwer, den Faden al-
ter Gedanken ſo vollſtaͤndig wiederzufinden, daß er
anders geleitet werden kann, ohne zerriſſen zu werden.
Ich finde es weit leichter, eine Materie von neuem
durchzudenken, als einzelne Stuͤcke derſelben nach einem
alten Plane zu bearbeiten.
Unter allen ſcheint mir jezt die Abhandlung vom
Intereſſirenden am meiſten einer Verbeſſerung zu be-
duͤrfen. Sie iſt zu weitſchweifig, zuweilen mit einer
unnuͤtzen Metaphyſik uͤberladen; und oft mit Betrach-
tungen ausgeziert, die nicht nothwendig zum Haupt-
ſtoffe gehoͤren.
Folgender Plan ſcheint mir jezt der einfachſte,
kuͤrzeſte und richtigſte zu ſeyn.
Intereſſe im eigentlichen Verſtande, iſt die
Theilnehmung an dem Gewinnſte oder Verluſte eines
[5]Vorrede.
andern. Intereſſe im figuͤrlichen Verſtande, iſt die
Theilnehmung der Seele an den Handlungen oder
Eindruͤcken eines andern. So vielerley Arten der
Beſchaͤftigungen der Seele es giebt, wann Gegenſtaͤn-
de auf uns ſelbſt wirken: eben ſo viele Arten der
Theilnehmung oder des Intereſſes giebt es auch,
wann dieſe Gegenſtaͤnde auf andre wirken. So wie
die Vorſtellungen unſers Verſtandes, unſre Gemuͤths-
bewegungen und unſre Schickſale uns unmittelbar
einnehmen: ſo koͤnnen die Gedanken, die Empfin-
dungen, die Begebenheiten eines andern uns durch
die Theilnehmung beſchaͤftigen, das heißt, uns in-
tereſſiren. Wir nehmen aber an den Gedanken ei-
nes andern alsdann am erſten Theil, wenn ſie ſo
klar, ſo einleuchtend, und von ſo begreiflichem Nut-
zen ſind, es ſey zum menſchlichen Leben oder zur
Aufloͤſung von Schwierigkeiten, daß wir ſie leicht
zu unſern eignen Gedanken machen koͤnnen, und
Luſt haben, uns darauf einzulaſſen. Wir nehmen
an den Gemuͤthsbewegungen eines andern Theil,
wenn wir die Wahrheit und die Billigkeit der-
ſelben, in ihren Ausbruͤchen oder in ihrer Schil-
A 3
[6]Vorrede.
derung erkennen. Wir nehmen an den erzaͤhlten
Begebenheiten andrer Theil, wenn dieſe wahrſchein-
lich, anſchauend, deutlich und erheblich ſind; jenes,
um uns leicht in die Stelle der handelnden Perſonen
verſetzen zu koͤnnen; dieſes, um in dieſer Stelle einen
merklichen Einfluß der Begebenheiten auf uns gewahr
zu werden.
In einigen Werken des Genies ſind alle dieſe
Arten von Intereſſe vereiniget, als, zum Beyſpiele,
im Drama; faſt in allen ſind einige derſelben ver-
miſcht. Ueberhaupt aber gehoͤrt zu dieſer Theilneh-
mung eben ſo wohl eine Empfaͤnglichkeit von Sei-
ten des Zuhoͤrers, als ein Grad von Wirkſamkeit
von Seiten des Redners oder Dichters. Diejeni-
gen Gegenſtaͤnde intereſſiren allgemein, die, um an
ſich und nach ihrer Brauchbarkeit verſtanden zu wer-
den, keine andern Faͤhigkeiten und Kenntniſſe erfo-
dern, als die allen wohlerzogenen Menſchen gemein
ſind. Diejenigen intereſſiren nur eine gewiſſe Klaſſe,
die Erfahrungen oder Neigungen einer beſondern
Art vorausſetzen.
[7]Vorrede.
Man kann ſagen, das Intereſſe der Gedan-
ken oder der Empfindungen ſey die Grundlage, wor-
auf ſich das Intereſſe der Begebenheiten ſtuͤzt, weil
dieſe nur inſofern wichtig werden, als ſie die Urſa-
chen von einem von beiden ſind.
A 4
Verſuch
uͤber die
Pruͤfung der Faͤhigkeiten.
- Aus dem achten Bande der Neuen Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.
Wenn das Hauptwerk der Erziehung darin-
nen beſteht, den Faͤhigkeiten der Seele
Beſchaͤftigung und den Neigungen ihre gehoͤri-
gen Gegenſtaͤnde zu geben: ſo wird ihr erſtes
Geſchaͤft ſeyn muͤſſen, dieſe Faͤhigkeiten zu ken-
nen. Aber wie ſchwer und wie mißlich iſt dieſe
Unterſuchung! Wodurch will man die Faͤhigkei-
ten des Geiſtes kennen lernen, wenn man ihn
nicht handeln ſieht? Und doch, was kann es in
[9]Ueber die Pruͤfung der Faͤhigkeiten.
dieſem Alter fuͤr Verrichtungen geben, bey denen
dieſe Faͤhigkeiten merklich wuͤrden? Es geht mit
der Bildung der Geiſter, wie mit der Entſtehung
der Koͤrper. Wir werden dieſe leztern nicht eher
gewahr, als bis ſie ſchon eine merkliche Groͤße
erreicht haben, und ſchon lange uͤber die Epoque
hinaus ſind, wo ſich ihre Beſtandtheile zuſam-
menfuͤgten, und durch ihre Lage und ihre Geſtalt
die Beſchaffenheit und Erſcheinungen des kuͤnfti-
gen Dinges beſtimmten. Eben ſo erkennen wir
die Vollkommenheiten eines Geiſtes erſt alsdann,
wann ſie an wichtigen Gegenſtaͤnden geuͤbt wer-
den; aber dann iſt es gemeiniglich ſchon zu ſpaͤt,
die Wahl iſt geſchehen, und nur der gluͤckliche
oder ungluͤckliche Erfolg laͤßt uns auf die Anlage
der Seele ſchließen, die dieſen Gegenſtaͤnden an-
gemeſſen war. In der That, wie viel Kenntniß
der Seele und was fuͤr eine feine Beobachtung ge-
hoͤrt dazu, wenn man in kleinen Wirkungen eben
die Kraft, die große hervorbringen koͤnnte, in
nichtswuͤrdigen Beſchaͤfftigungen das Genie, und
ſelbſt in Ausſchweifungen und Fehlern die Vor-
A 5
[10]Ueber die Pruͤfung
zuͤge des Geiſtes erkennen ſoll? Wenn nicht hier
der Zufall oft mehr thaͤte, als die Klugheit und
die Wahl, oder wenn nicht die Natur, mit vor-
zuͤglichen Faͤhigkeiten fuͤr gewiſſe Sachen, auch
eine vorzuͤgliche Neigung dazu verbunden haͤtte,
ſo wuͤrden die meiſten Talente erſtickt oder ſchlecht
angewendet werden.
Alſo, wenn das der einzige Endzweck dieſer
Unterſuchung waͤre, dem Menſchen ſeine Beſtim-
mung und ſeine Geſchaͤfte anzuweiſen, ſo koͤnnte
man ſie getroſt aufgeben. Der Richterſtuhl, der
uͤber die Faͤhigkeiten junger Buͤrger in einem
Staate den Ausſpruch thun, und jedem ſeine
Lebensart nach dieſem Ausſpruche zuerkennen ſoll-
te, iſt einer von den ſchoͤnen Vorſchlaͤgen, die zu
weiter nichts dienen, als ihre Erfinder zu belu-
ſtigen. Die Natur will nicht haben, daß ſich
unſre Weisheit in alle ihre Werke miſchen ſoll;
und am Ende macht ſie es doch vielleicht eben ſo
gut, als wir es mit unſrer ganzen Klugheit wuͤr-
den gemacht haben.
[11]der Faͤhigkeiten.
Aber um den erwachſenen Mann mit ſeinen
eignen Kraͤften bekannt zu machen, ihm, wenn
der Zufall ihn gerade an die rechte Stelle ge-
ſtoßen hat, mehr Zufriedenheit zu geben, oder
wenn er an die unrechte gekommen iſt, ihm we-
nigſtens einen Zeitvertreib zu zeigen, der ſich beſ-
ſer fuͤr ihn ſchickt, als ſeine Geſchaͤfte; endlich
wenigſtens von den Erſcheinungen in dieſer
Sphaͤre Grund anzugeben, und die ſeltſame Ver-
einigung zu erklaͤren, die man ſo oft in demſel-
ben Menſchen zwiſchen großem Verſtande und
großer Einfalt, zwiſchen ausnehmenden Talenten
und einer ungewoͤhnlichen Unfaͤhigkeit, zwiſchen
großen Kraͤften und einer voͤlligen Ohnmacht ge-
wahr wird, dazu iſt dieſe Unterſuchung nuͤtzlich.
Kann wohl die Philoſophie, wenn ſie nun einmal
nicht zugelaſſen wird, die Dinge in der Welt zu
beſſern, etwas anders thun, als das, was
geſchieht, zu beſchreiben? und wenn ſie nicht
an der Spitze des Heeres gehen kann, als
Befehlshaber, um die Begebenheiten zu len-
ken, ſo muß ſie wenigſtens hinter her ge-
[12]Ueber die Pruͤfung
hen, als Geſchichtſchreiber, um ſie aufzuzeich-
nen.
Alle Unterſuchungen, die man zu dem Ende
anſtellen muͤßte, theilen ſich in zwo Klaſſen. Ent-
weder ſammlet man die Kennzeichen, aus denen
man auf gewiſſe Faͤhigkeiten der Seele ſchließen
kann Dieſer Theil iſt lang und beruhet auf ei-
ner Reihe von Beobachtungen, zu denen jeder
einzelne Menſch nur einen Beytrag thun kann.
Oder man beſtimmt fuͤr jede Faͤhigkeit die Art von
Geſchaͤften, die ſie am beſten auszurichten im
Stande iſt. Dieſer Theil wuͤrde leicht ſeyn,
wenn es moͤglich waͤre, jede Art von Geſchaͤften
durchaus zu kennen, ohne ſelbſt die Faͤhigkeit zu
beſitzen, ſie auszufuͤhren.
Um zu wiſſen, wie ſich gewiſſe Faͤhigkeiten der
Seele aͤußern, muß man dieſe Faͤhigkeiten erſt un-
terſcheiden.
I. Die erſte Faͤhigkeit, der Grund aller uͤbrigen,
und die, welche die Staͤrke und Beſchaffenheit der
andern beſtimmt, iſt das Vermoͤgen zu empfinden.
— So iſt der Gang der Natur: Zuerſt empfaͤngt
[13]der Faͤhigkeiten.
die Seele eine Menge Eindruͤcke, das Gedaͤchtniß
erhaͤlt ſie, die Einbildungskraft ſezt ſie zuſam-
men, der Verſtand ſammlet das Aehnliche in
denſelben, und verwandelt die Eindruͤcke in Ideen,
die Vernunft endlich bringt dieſe Ideen in Ver-
bindung und erbaut ſich daraus das Syſtem ih-
rer Grundſaͤtze und ihrer Regeln. Die Empfin-
dungen ſind alſo der Stoff, welchen die uͤbrigen
Faͤhigkeiten bearbeiten. Iſt dieſer feſt und dauer-
haft, ſo iſt weiter nichts als ein geſchickter Kuͤnſt-
ler dazu noͤthig, um vortrefliche Werke daraus
zu machen; iſt er ſchwach und untauglich, ſo
wird ſelbſt eine Meiſterhand und die weiſeſte An-
wendung nur etwas Mittelmaͤßiges hervorbrin-
gen.
Von der Empfindung ſollte alſo der Anfang
dieſer Unterſuchung, ſo wie der Erziehung uͤber-
haupt, gemacht werden. Sind die Eindruͤcke,
die die Seele des Kindes von ſich ſelbſt und
von den Sachen außer ſich empfaͤngt, richtig,
mit den Gegenſtaͤnden uͤbereinſtimmend, tief und
dauerhaft; ſind ihre Empfindungen wahr und
[14]Ueber die Pruͤfung
ſtark? das iſt die Frage, die man zuerſt entſchei-
den muß. Ich ſetze mich in die Stelle des Va-
ters und Lehrers, und folge dem Kinde in allen
ſeinen Bewegungen.
1. Das erſte, worauf ich Acht haben werde,
iſt, ob das Kind die Sachen, die es einmal em-
pfunden hat, geſchwind und leicht wieder er-
kennt. Dieſe Beobachtung werde ich ſelbſt zu
der Zeit anſtellen, wo das Kind fuͤr dieſe Empfin-
dungen noch keine Worte hat. Der Schluß
ſelbſt iſt klar. Um eine Sache wiederzuerken-
nen, iſt noͤthig, den alten und den gegenwaͤrti-
gen Eindruck zu vergleichen. Je geſchwinder
dieſe Vergleichung geſchieht, deſto merklicher muͤſ-
ſen die Spuren ſeyn, die die Sache in der Seele
zuruͤckgelaſſen hat. Man ſieht zugleich, warum
dieſes Merkmal bey Kindern richtig iſt, und bey
Erwachſenen truͤgt. Die Seele der erſten be-
ſchaͤftigt ſich ganz allein mit Empfindungen; ihre
Aufmerkſamkeit iſt niemals zwiſchen den ſinnli-
chen Gegenſtaͤnden und allgemeinen Ideen ge-
theilt; und das Maaß der Staͤrke alſo, mit wel-
[15]der Faͤhigkeiten.
chem ſie empfindet, iſt zugleich das Maaß ihrer
Kraft uͤberhaupt. Bey den andern haͤngt die
Leichtigkeit, die alten Gegenſtaͤnde wiederzuer-
kennen, nicht blos von dem Nachdrucke, mit
dem man ſie zuerſt empfunden hat, ſondern auch
von dem Grade der Aufmerkſamkeit ab, den man
izt auf ſie wendet; und fuͤr die Empfindung bleibt
nur ſo viel von der Kraft der Seele, als zum Den-
ken nicht noͤthig iſt.
2. Ein ander noch allgemeineres und ſiche-
rers Merkmal iſt es, wenn das Kind eine große
Aufmerkſamkeit auf den jedesmaligen Gegenſtand
ſeiner Empfindung hat, und ſich durch die uͤbri-
gen Sachen, die itzund nicht eigentlich zu ſeiner
Betrachtung gehoͤren, wenig oder gar nicht zer-
ſtreuen laͤßt. Jedermann wird ſich erinnern,
dieſen Unterſchied an Kindern bemerkt zu haben.
Einige werden von dem Anblicke keiner einzigen
Sache ſo ſtark geruͤhrt, daß ſie eine Zeitlang bey
derſelben verweilen, ſie ſehen alles an, ohne ir-
gend etwas zu bemerken; unter der Menge von
Dingen, die um ſie ſind, irret der Sinn und die
[16]Ueber die Pruͤfung
Seele beſtaͤndig von einem Gegenſtande zum an-
dern, ohne bey einem einzigen ſtille zu ſtehen;
oder vielmehr, ſie verhalten ſich gegen alle nur
leidend, nehmen alle Eindruͤcke an, wie ſie ihnen
von ungefaͤhr in die Sinne fallen, ohne einem
einzigen freywillig den Vorzug zu geben.
Andre ſind immer nur mit einem Gegenſtan-
de auf einmal beſchaͤftigt. Ihre Augen oder
Ohren haben immer etwas Feſtes und Beſtimm-
tes, worauf ſie ſich richten. Unter einem noch ſo
großen Haufen von Sachen oder Perſonen un-
terſcheiden ſie augenblicklich das Bekannte vom
Fremden, gehen unachtſam bey dem einen vor-
bey, und ſehen dafuͤr das andre ſo lange ſtarr
und unverwandt an, bis ſie ungefaͤhr damit
eben ſo bekannt worden ſind, wie mit den
uͤbrigen.
Wenn man das Uebrige gleich ſezt, ſo kann
man mit Recht vermuthen, daß die Bilder in der
Seele des leztern beſſer und richtiger find, als
in der erſten.
[17]der Faͤhigkeiten.
Dieſe Gabe, viele Dinge nicht zu ſehen und
nicht zu hoͤren, um von einer recht geruͤhrt zu
werden, die Aufmerkſamkeit mit einem Worte, iſt
ſowohl die Urſache als der Beweis ſtarker Em-
pfindungen. Die Urſache, weil, wo mehr Kraft
angewendet wird, die Wirkung groͤßer ſeyn muß;
der Beweis, weil die Seele von jeder Sache um
ſo viel mehr an ſich gezogen wird, je groͤßer die
Thaͤtigkeit iſt, in die ſie die Seele ſezt. Iſt die
Seele nur zu leichten und gleichſam nur beruͤh-
renden Eindruͤcken faͤhig; ſo werden ſie niemals
uͤber die Zerſtreuungen die Oberhand behalten;
die Kraft der Seele wird unter alles gleich ausge-
theilt, und durch dieſe Theilung verzehrt. Hef-
tige Wirkungen hingegen werden die Aufmerkſam-
keit, auch ohne ihren Willen, auf die Gegenſtaͤn-
de feſthalten, die ſie erregen.
3. Ein drittes, aber mehr zweydeutiges
Kennzeichen iſt ſchon immer bey dieſer Unterſu-
chung gebraucht worden; die Lebhaftigkeit meyne
ich, und die Geſchaͤftigkeit des Geiſtes. Die
Wahrheit, die zum Grunde liegt, iſt dieſe: Je
B
[18]Ueber die Pruͤfung
beſſer und lebhafter die Bilder ſind, die die Seele
durch die Empfindungen erhaͤlt, deſto groͤßer iſt
das Vergnuͤgen uͤber dieſelben, und deſto groͤßer
das Verlangen nach neuen.
Die Begierde alſo, mit welcher wir gewiſſe
Seelen immer neue und neue Gegenſtaͤnde ihrer
Empfindung aufſuchen ſehen, und die Behendig-
keit, die dieſe Begierde allen ihren Handlungen
giebt, koͤnnte ein Beweis von der Guͤte ihrer Em-
pfindungen ſeyn, wenn nur dieſe Munterkeit nicht
oft einer gewiſſen Beharrlichkeit entgegen waͤre,
welche jedem Eindrucke Zeit genug laͤßt, ſich in
den Seelen feſtzuſetzen, ehe ein neuer auf ihn
folgt. Ein ſchneller Uebergang von einer Sache
zur andern zeigt freylich eine wirkſame Seele,
aber er loͤſcht zu leicht einen Eindruck durch den
andern aus, und zerſioͤrt die Wirkung, indem er
den Gegenſtand zu oft abaͤndert.
Man ſieht alſo, wie leicht hier der Irrthum
iſt. Ein langſamer Fortgang von einem Gegen-
ſtande zum andern, der bey Kindern oft fuͤr
Dummheit angeſehen wird, kann eben die Urſache
[19]der Faͤhigkeiten.
ihres kuͤnftigen Verſtandes ſeyn, weil er fuͤr ihn
eine Reihe unterſchiedner und ſorgfaͤltig gezeich-
neter Bilder ſammlet. Und die Fluͤchtigkeit der
andern, uͤber die man ſich als eine unfehlbare
Verkuͤndigung eines faͤhigen Geiſtes freuet, ver-
wirrt und vermiſcht dieſe Bilder, und giebt der
Reflexion, wenn ſie endlich ihr Amt anfangen
will, nichts als ein Chaos von halbverloͤſchten
und verworrnen Zuͤgen, aus denen ſich nichts
zuſammenſetzen laͤßt. Die Kunſt beſteht alſo dar-
innen, zu unterſcheiden, ob die Seele aus Traͤg-
heit und Verdroſſenheit ſo ſchwer die alten Gegen-
ſtaͤnde verlaͤßt, oder ob es aus einer gewiſſen Art
von dunkler Betrachtung herruͤhrt, die ſie daruͤber
anſtellt.
4. Die unmittelbarſten Wirkungen der Em-
pfindungen ſind die Begierden. Man kann alſo
dieſe brauchen, um auf jene zuruͤckzuſchließen; und
da ſich die Begierden eher als die Faͤhigkeiten ent-
wickeln, ſo iſt dieß auch der erſte Weg der Unter-
ſuchung, die Talente aus den Leidenſchaften zu
beurtheilen.
B 2
[20]Ueber die Pruͤfung
Sind dieſe rauſchend und heftig, aber vor-
uͤbergehend, ſo ſind die Eindruͤcke in der Seele
ſchnell, aber fluͤchtig. Sind ſie ruhig, aber
dauerhaft, ſo iſt die Empfindung langſam, aber
tief. Iſt zwiſchen den Begierden und ihren Ge-
genſtaͤnden ein gewiſſes Verhaͤltniß, geſezt auch,
daß ſie zuweilen daruͤber hinausgehen ſollten, ſo
kann man in den Begriffen Ordnung und Rich-
tigkeit vermuthen. Ausſchweifende oder ganz
verkehrte Leidenſchaften, ohne alles wenigſtens
ſcheinbare Verhaͤltniß mit dem Guten, auf wel-
ches ſie gerichtet ſind, zeigen Zerruͤttung und Un-
deutlichkeit in den Bildern an, die die Dinge von
ſich in der Seele abgedruͤckt hatten. Ein Mangel
aller Leidenſchaften iſt das untruͤglichſte Kennzei-
chen der Dummheit.
5. Aber die genaueſte und ſchaͤrfſte Pruͤfung
laͤßt ſich durch die Beobachtung des Geſchmacks
anſtellen. Fuͤr diejenige Klaſſe von Empfindun-
gen iſt das Vermoͤgen der Seele am faͤhigſten, in
der ſie das Schoͤne vom Haͤßlichen am leichteſten
und richtigſten unterſcheidet. Nach der Einrich-
[21]der Faͤhigkeiten.
tung der Natur bringt, wenn die ſinnlichen Werk-
zeuge richtig und die Seele nicht unfaͤhig iſt, das
Schoͤne Vergnuͤgen und das Haͤßliche Verdruß
hervor. Aber nicht bey allen Gegenſtaͤnden iſt
dieſe angenehme oder unangenehme Empfindung
gleich ſtark. Das Auge eines Malers empfindet
weit mehr Verdruß uͤber eine unrichtige Geſtalt,
als ſein Ohr uͤber eine Disharmonie; hingegen
ſieht der Tonkuͤnſtler die abgeſchmackteſte Zeich-
nung ohne Ekel, und geraͤth bey falſchen Toͤnen
oder bey verfehltem Takte außer ſich.
Man kann alſo dieſe Beobachtung auf zweyer-
ley Art brauchen.
Einmal das Empfindungsvermoͤgen uͤber-
haupt zu beurtheilen. Ein Menſch, dem alles
gleichguͤltig iſt, der das Schlechte und Gute mit
gleicher Zufriedenheit aufnimmt, und auf den
Harmonie, Ordnung und Schoͤnheit keine Wir-
kung thun; deſſen Eindruͤcke muͤſſen an und vor
ſich ſchlecht, unrichtig und ſchlaͤfrig ſeyn: denn
wenn das Bild von der Sache ſelbſt richtig gefaßt
B 3
[22]Ueber die Pruͤfung
iſt, ſo iſt dieſe begleitende Empfindung von Luſt
oder Unluſt unausbleiblich.
Zum andern die Art von Gegenſtaͤnden zu be-
ſtimmen, zu denen jede Seele die beſte Anlage
hat, naͤmlich fuͤr die, wo ſie am leichteſten und
genaueſten das Gute nicht nur vom Schlechten,
ſondern auch vom Mittelmaͤßigen unterſcheidet,
wo ihre Unterſcheidungen die feinſten, und ihr
Vergnuͤgen und ihre Unluſt die lebhafteſten ſind.
Es wuͤrde dieſe Art von Pruͤfung weit vollkomm-
ner werden, wenn es moͤglich waͤre, von jeder
Art der ſinnlichen Gegenſtaͤnde dem Kinde die
ſchoͤnſten und vortreflichſten vorzuſtellen, um an
ihnen ſeine Empfindung zu pruͤfen. Wenigſtens
waͤre es doch billig, anſtatt das Auge und das
Ohr des Kindes von Jugend auf an Mißgeſtal-
ten und Disharmonie zu gewoͤhnen, und es gegen
den natuͤrlichen Ekel davor abzuhaͤrten, es lieber
durch richtige Zeichnung und wohlklingende Toͤne
ſchon zuvor einzunehmen, und ihm ſeine erſten
Vergnuͤgungen zu einem Muſter zu machen, nach
[23]der Faͤhigkeiten.
denen es ſchlechtere beurtheilen und verwerfen
lernte.
6. Das waͤren alſo ſolche Kennzeichen der
Empfindung, die ſelbſt Urſachen oder Wirkungen
der Sache ſind, die ſie bezeichnen. Es giebt
aber andre, die mehr Anzeichen als Merkmale
ſind, die ganz auf der Oberflaͤche liegen, die bey
den einzelnen Menſchen am leichteſten bemerkt
werden, und ſich doch, weil ſie ſo mannichfaltig
und ſo veraͤnderlich ſind, am ſchwerſten in eine
allgemeine Regel verwandeln laſſen.
Das Wichtigſte dieſer aͤußern Merkmale iſt
der Bau der Werkzeuge. Ein lebhaftes, mun-
teres und feuriges Auge iſt daher immer mit Recht
fuͤr das Zeichen eines faͤhigen Geiſtes gehalten
worden, weil es die Quelle der vornehmſten und
meiſten Empfindungen, oder, wie Milton ſagt,
das große Thor der Weisheit iſt.
Die Munterkeit und das aͤußere Betragen,
die Beweglichkeit und Thaͤtigkeit des Koͤrpers iſt
ein ander ſolches Merkmal. So wie der Schlaf
die Beraubung aller Empfindung iſt, ſo iſt die
B 4
[24]Ueber die Pruͤfung
Schlaͤfrigkeit die Schwaͤchung derſelben. Eine
Seele, die immer mit gewiſſen Gegenſtaͤnden be-
ſchaͤftiget iſt, ſetzet auch ihren Koͤrper in Bewe-
gung, und verhindert die Erſchlaffung der Ner-
ven, aus der die Traͤgheit entſteht. Wenn hin-
gegen die Seele leer oder nur ſchlecht geruͤhrt iſt,
ſo wirkt ſie in ihren Koͤrper eben ſo langſam und
eben ſo ſchwach, als auf ſie war gewirkt worden,
und der Menſch verſinkt in Langeweile und Muͤ-
digkeit.
7. Aber ein Merkmal, welches ſeltner beob-
achtet wird, iſt die Unfaͤhigkeit eines jungen em-
pfindenden Kopfs zu Erlernung abſtrakter Be-
griffe, oder der Woͤrter, die ſie ausdruͤcken. Man
hoͤrt ſo oft uͤber die Ungelehrigkeit von Kindern
klagen, die allenthalben, nur nicht in ihren Lehr-
ſtunden verſtaͤndig ſcheinen. Ganz gewiß muͤſſen
alsdann entweder die Sachen nicht gut fuͤr ſie
gewaͤhlt ſeyn, die man ſie lehrt, oder der Lehrer
unterſcheidet die Gabe, bloß andrer Gedanken zu
behalten, nicht von der Faͤhigkeit ſelbſt zu denken.
In einem je hoͤhern Grade es die leztere beſizt,
[25]der Faͤhigkeiten.
deſto weniger wird es von der erſten haben, be-
ſonders von den unfruchtbaren Gegenſtaͤnden,
mit denen man gemeiniglich den Unterricht an-
faͤngt. Eine Seele, die mit wirklichen Bildern
von Dingen erfuͤllt iſt, wird ſich ſehr ungern von
denſelben zu bloßen Worten wegwenden, die es
nicht verſteht; und je lebhaftere Eindruͤcke es be-
koͤmmt, mit deſto groͤßerm Widerwillen wird es
ſich die Gewalt anthun, Sachen zu behalten, die
ohne alle Eindruͤcke ſind.
Die Geſchichte der Genies hat dieſe Anmer-
kung beſtaͤtigt, und oft das Urtheil ihrer erſten
Schullehrer widerlegt.
Nur noch zwey Worte uͤber dieſe ganze Ma-
terie.
Erſtlich. Es iſt nichts ſchwerer, als die Em-
pfindungen anderer zu beurtheilen oder zu verglei-
chen. Unſre Sprache druͤckt das ſinnliche Bild
bloß durch den Namen des Gegenſtandes aus.
Jeder erinnert ſich alſo bey dem Worte an ſeine
eigne Idee, aber keiner erfaͤhrt die Idee des an-
dern. Die Mittheilung der Gedanken beſteht
B 5
[26]Ueber die Pruͤfung
nicht ſowohl darinnen, in dem andern eben die
Eindruͤcke hervorzubringen, die wir ſelbſt haben,
ſondern nur die Eindruͤcke wieder zu erwecken,
die durch eben die Gegenſtaͤnde bey ihm hervor-
gebracht werden. Unſre ſinnlichen Begriffe ſind
lauter Verhaͤltniſſe. Das Abſolute in denſelben
koͤnnte ſich voͤllig aͤndern, und alle unſre Aus-
druͤcke wuͤrden noch koͤnnen dieſelben bleiben, wenn
nur die Aenderung durchgaͤngig und auf eine
gleichfoͤrmige Art geſchaͤhe. Um alſo zu wiſſen,
wie empfindet ein anderer, muͤſſen wir unterſu-
chen, was faͤngt die Seele mit ihren Empfindun-
gen an? und der Gebrauch, den jemand von den
Bildern macht, die in ſeiner Seele geſammlet
ſind, zeigt am erſten, wie dieſe Bilder beſchaffen
ſind. Man wird dieſes nirgend ſo gewahr, wie
bey den nachahmenden Kuͤnſtlern. Wuͤrde man
wohl aus der beſten Beſchreibung eines Malers
ſchließen, daß er was anders und beſſer ſieht,
als wie andere? Sobald er durch Worte mitthei-
len ſoll, ſo ſchraͤnkt ſich ſeine Empfindung bloß auf
das Allgemeine ein, was allen ſehenden Menſchen
[27]der Faͤhigkeiten.
in die Augen faͤllt, und wofuͤr die Sprache nur al-
lein gemacht iſt. Aber ſobald er den Pinſel in die
Hand nimmt, da wird man gewahr, daß ſein
Auge tauſend Sachen bemerkt hat, die uns un-
ſichtbar waren, und daß in ſeiner Vorſtellung
die Natur mit allen ihren Geſtalten ſich auf eine
ganz andre Art abmale, als in der unſrigen.
Zweytens: Obgleich die Werkzeuge nicht
verdorben ſeyn muͤſſen, wenn die Empfindung
gut ſeyn ſoll, ſo iſt es doch falſch, daß ſich die
Staͤrke der leztern nach der Schaͤrfe der erſtern
richtet. Was wir ein ſcharfes Auge nennen, iſt
nur ein Auge, das entferntere oder kleinere Ge-
genſtaͤnde doch noch deutlich ſieht. Es ſieht alſo
ohne Zweifel mehr auf einmal: aber bey einer
gewiſſen Groͤße und Naͤhe ſieht das ſchwaͤchere
Auge eben ſo gut: es bedarf alſo mehr Zeit, ſich
dieſelbe Anzahl von ſinnlichen Begriffen zu ver-
ſchaffen, aber es gelangt endlich doch dazu; und
oft beſſer, weil ſein Geſichtskreis immer einge-
ſchraͤnkter und ſeine Aufmerkſamkeit alſo weniger
getheilt iſt.
[28]Ueber die Pruͤfung
Ueberdieß iſt es nicht der bloße Eindruck der
Sache, ſondern es iſt die Idee, die aus die-
ſem Eindrucke herausgezogen wird, die den
Stoff zu den folgenden Wirkungen der Seele
giebt.
Alſo iſt die Beurtheilung der Empfindungen
etwas anders, als die bloße Beurtheilung des Se-
hens und Hoͤrens; alſo kann dieſe Beurtheilung
nicht unmittelbar durch die Beobachtung deſſen,
was das Kind oder der Menſch von ſeinen Em-
pfindungen ſagen kann, geſchehen; alſo iſt kein
ander Mittel, zu irgend einer Kenntniß derſelben
zu kommen, als die Wirkungen und Folgen der
Empfindungen kennen zu lernen.
II. Die zweyte Handlung der Seele, die auf
die Empfindungen zunaͤchſt folgt, iſt die Wieder-
hervorbringung derſelben, entweder in eben der
Form und Ordnung, in der wir ſie gehabt haben,
das iſt das Gedaͤchtniß; oder getrennt und zu-
ſammengeſezt, die Einbildungskraft. Beides
iſt in gewiſſer Maaße eine unmittelbare Folge der
[29]der Faͤhigkeiten.
Empfindung und eine nothwendige Vorbereitung
zum Denken.
Keine Faͤhigkeit ſcheint leichter zu erkennen
zu ſeyn, als das Gedaͤchtniß, weil man glaubt
nur Achtung geben zu duͤrfen, wie viel man
behalten kann. Im Grunde aber iſt die Unter-
ſuchung eben ſo ſchwer, und der Irrthum haͤu-
fig, weil man gemeiniglich von dem Mangel
einer gewiſſen Gattung von Gedaͤchtniſſe auf
den Mangel des Gedaͤchtniſſes uͤberhaupt
ſchließt.
Es giebt ein gewiſſes blos behaltendes, und
ein andres, ſo zu ſagen raͤſonnirendes Gedaͤcht-
niß. Man koͤnnte das erſte das Gedaͤchtniß im
engern Verſtande, und das andre die Gabe der
Erinnerung nennen. Jenes iſt das, wovon man
am erſten urtheilt, und wovon man vielleicht nicht
ohne Grund behauptet, daß es bey einem großen
Verſtande ſelten ſey; es erhaͤlt die ehemaligen
Eindruͤcke, und ſtellt ſie der Seele, ſo oft ſie will,
in eben der Ordnung wieder vor, ohne daß ſie
dabey eine andre Bemuͤhung noͤthig haͤtte, als
[30]Ueber die Pruͤfung
ſich darauf zu richten. Man kann die Staͤrke
dieſes Gedaͤchtniſſes ziemlich richtig nach demje-
nigen abmeſſen, was ein Menſch auswendig ler-
nen kann.
Das andre iſt ein Erinnern, welches durch
Nachdenken geſchieht, wenn die Seele ihre ehemali-
gen Vorſtellungen, ſobald nur eine davon wieder
lebhaft worden iſt, durch ihre Verbindung und
Folge aufzuwecken weis. Dieſes Gedaͤchtniß ſezt
zwar voraus, daß die alten Ideen auf eine ge-
wiſſe Weiſe verloͤſcht ſind, aber es erſetzt dieſe
Schwaͤche durch eine andre Kraft der Seele, die
es anzeigt, die Kraft die Verbindungen der Dinge
einzuſehen, und ſelbſt verdunkelte Bilder durch
ihre eigne Bemuͤhung wieder klar zu machen.
Dieſes Gedaͤchtniß iſt ein ſehr ſicher Kennzeichen,
oder vielmehr ein Theil des Verſtandes.
Man wird ſehr oft Menſchen ſehen, die Er-
zaͤhlungen und Geſchichte ſchlecht behalten, und
immer entweder Luͤcken oder Irrthuͤmer finden, ſo
oft ſie Begebenheiten wieder erzaͤhlen ſollen; und
die ſich doch ganzer Reihen von Vernunftſchluͤſſen
[31]der Faͤhigkeiten.
und Raiſonnemens ohne Muͤhe erinnern. Dieſe
Menſchen haben gewiß die zweyte Art des Ge-
daͤchtniſſes, und die erſte fehlt ihnen.
Der Grund iſt dieſer: Die Verbindung zwi-
ſchen Wahrheiten iſt genauer, als die zwiſchen
Begebenheiten; die Seele alſo, die ihre alten Bil-
der nach und nach durch eine gewiſſe Art von
Schluͤſſen wieder erwecken muß, ſieht bey den er-
ſten den Weg genau bezeichnet, den ſie zu gehen
hat, bey den leztern aber muß ſie ihn auf Gera-
thewohl ſuchen, und geht alſo oft fehl. Die
meiſten Begebenheiten werden nur durch Zeit und
Ort verknuͤpft, oder dieſe Verbindung iſt doch we-
nigſtens die einzige, die wir einſehen; wenn die
Seele alſo ihre Ordnung bey der Erinnerung
nicht verruͤcken ſoll, ſo muͤſſen ſich die Begriffe in
eben der Reihe und Ordnung nach einander erhal-
ten haben; weil das Nachdenken das Fehlende
nicht erſetzen kann.
Zweytens. Wenn man unmittelbar, ſo
bald man nur die Gedanken auf das richtet, was
man ehemals empfunden oder erlernt hat, ſich
[32]Ueber die Pruͤfung
die ganze Reihe der alten Ideen wieder vorſtellt,
ſo hat man die erſte Art von Gedaͤchtniß. Wenn
man aber bey dem erſten Blicke auf die Sache
wenig oder nichts von ihr weis, nach und nach
aber und ſtufenweiſe ſich eines Theils nach dem
andern erinnert, und den Fortgang immer gewahr
wird, wie eine Idee die naͤchſtliegende aufweckt;
ſo hat man die zweyte.
Man ſieht alſo auch, warum man bey Kin-
dern faſt nur uͤber das erſte urtheilt. Alles, wo-
mit man ſie beſchaͤftigt, und woran man ihre Faͤ-
higkeiten pruͤft, ſind groͤßtentheils Sachen, die
ohne innere Verbindung ſind, und wo alſo kein
ander Mittel iſt, als daß man ſie entweder aus-
wendig wiſſen oder vergeſſen muß.
Wem beide Arten von Gedaͤchtniß fehlen, der
wird fuͤr ſein Nachdenken nur wenig Gegenſtaͤnde,
und alſo einen kleinen und eingeſchraͤnkten Ver-
ſtand haben.
III. Die Einbildungskraft nimmt aus den Em-
pfindungen einzelne Theile, und macht daraus
[33]der Faͤhigkeiten.
ein neues Ganze. In einem hoͤhern Grade nennt
man ſie die Gabe der Dichtung.
Ihre Vollkommenheit beruht, wie einer jeden
Zuſammenſetzung ihre, erſtlich auf der Richtigkeit
der Theile und ihrer Aehnlichkeit mit den Dingen,
von denen ſie genommen ſind. Zweytens, auf
der Regelmaͤßigkeit und Richtigkeit der Verknuͤp-
fung. So erfodern die Maler bey dem, was ſie
Ideal nennen, die genaueſte Wahrheit und die
getreueſte Kopie der Natur in den Theilen, und in
dem Ganzen Wahl und Anordnung.
Jeder Menſch baut ſich zuweilen in ſeinen
Gedanken eine kleine Welt, in der er wohnt,
und in der er ſich gefaͤllt. Wenn dieſe gut geord-
net iſt, und eine Reihe von Moͤglichkeiten enthaͤlt,
die zuſammenhaͤngen, ſo iſt die Imagination
richtig; wenn die Bilder den wirklichen Empfin-
dungen an Staͤrke nahe kommen, ſo iſt ſie leb-
haft; wenn ſie zuſammengeſezt einen hoͤhern
Grad von Vollkommenheit haben, als die Na-
tur, aus der ſie geſammlet ſind, ſo iſt ſie erha-
ben. Auf dieſe Art alſo koͤnnen unſre Spielwerke
C
[34]Ueber die Pruͤfung
uns unſre weſentlichen Vollkommenheiten auf-
klaͤren.
Dieſe Faͤhigkeit hat noch das Eigne, daß ſich
bey ihr vorzuͤglich die Beſtimmung der Seele und
die Art von Gegenſtaͤnden zeiget, fuͤr die ſie ge-
macht iſt. Die Empfindungen, die die ſtaͤrkſten
waren, laſſen auch die ſtaͤrkſten Eindruͤcke zuruͤck,
und die Verbindungen werden alſo auch am leich-
teſten und beſten. Durch dieſen Weg zeigt zu-
weilen die Natur von ſelbſt die Abſicht mit ihrem
Geſchoͤpfe. Der kuͤnftige Bildhauer macht Men-
ſchen aus Leim, der junge Tonkuͤnſtler ſingt rich-
tigere und kuͤnſtlichere Melodien.
Dieſe Werke der jugendlichen Einbildungs-
kraft ſind leicht zu erkennen, wo ſie wirklich koͤr-
perliche Theile zu einem Ganzen verbindet. Man
darf nur darauf Achtung geben, in welcher Gat-
tung das Kind die groͤßte Erfindſamkeit, den rich-
tigſten Geſchmack und die beſte Anordnung hat.
Aber die Einbildungskraft, die bloße Bilder zu-
ſammenſetzet, zeigt ſich ſpaͤter und laͤßt ſich leich-
ter verkennen, und auf dieſer beruht doch eigent-
[35]der Faͤhigkeiten.
lich die Faͤhigkeit zum Gelehrten oder zum ſchoͤnen
Geiſt.
Man kennt gemeiniglich nur eine einzige Art
von Einbildungskraft, die, welche ſinnliche Bil-
der vereinigt, um neue Bilder hervorzubringen,
die aus den Theilen der Koͤrper neue Koͤrper, aus
Thatſachen Thatſachen, und aus einzelnen Erſchei-
nungen in der Natur und beym Menſchen eine aͤhn-
liche Welt und aͤhnliche Menſchen zuſammenſezt.
Hier geben die Sinnen zuerſt den Stoff, und ih-
nen wird auch zulezt das Werk, wann es vollen-
det iſt, vorgeſtellt. Aber es giebt auch eine Ein-
bildungskraft fuͤr den Philoſophen, oder wenig-
ſtens fuͤr den Erfinder der Philoſophie. Um zu
einer neuen Wahrheit zu kommen, wenn ſie nicht
eine unmittelbare Folge einer ſchon bekannten iſt,
iſt es unmoͤglich, die Art von deutlich gedachten
Schluͤſſen zu brauchen, durch welche man dieſe
Wahrheit, wenn ſie erfunden iſt, beweiſt. Wie
will man den Weg zu einem Ziele abzeichnen, wel-
ches man noch nicht kennt? Alſo Schluß vor
Schluß von der bekannten Wahrheit zur unbe-
C 2
[36]Ueber die Pruͤfung
kannten fortzugehen, und ſich die ganze Reihe
von Begriffen, durch welche beide zuſammenhaͤn-
gen, gleich mit Deutlichkeit und richtiger Unter-
ſcheidung zu denken, das iſt unmoͤglich. Hier
muß der ſchnelle Flug des Genies erſt das unbe-
kannte Land ausſpaͤhen, erſt die fremde Gegend
durchſchaut haben, ehe der langſam fortſchreiten-
de Verſtand ſeinen Weg antreten kann. Die
Seele muß das Vermoͤgen haben, die ganze Reihe
mit Einem Blick und einer Art von unmittelbarem
Anſchauen zu uͤberſehen. Ideen, die entwickelt
eine ganze Wiſſenſchaft ausmachen, muͤſſen ſich
zuſammendraͤngen, ein Ganzes ausmachen, und
ſich gleichſam in ein Bild vereinigen. So wie
es eine gewiſſe Ahndung giebt, durch die man
kuͤnftige Begebenheiten vorausſieht, ohne ſich alle
die Urſachen erklaͤren zu koͤnnen, aus denen man
ſie folgert: ſo giebt es eine gewiſſe Kunſt gluͤck-
lich zu rathen, durch die man weit hinaus lie-
gende Ideen und entfernte Folgerungen der Wahr-
heiten vorausſieht, ohne ſich aller der Schluͤſſe
[37]der Faͤhigkeiten.
bewußt zu ſeyn, durch die man auf ſie gekom-
men iſt.
Wuͤrde wohl in einem andern Kopfe, als in
Neutons ſeinem, der Fall eines Apſels die Idee
eines neuen Weltſyſtems haben erregen koͤnnen?
Mit welcher Geſchwindigkeit des Blitzes mußte
ſeine Seele die unendliche Reihe von Begriffen
durchlaufen und erleuchten, die von der Idee der
Schwere auf alle Koͤrper angewendet veranlaſſet
wurden.
Unerklaͤrlich ſcheint es in der That zu ſeyn,
allgemeine Ideen, zu denen kein Bild in der Ima-
gination gehoͤrt, auf gewiſſe Weiſe ſinnlich klar
zu denken; und doch iſt dieſe Faͤhigkeit gewiß in
der menſchlichen Seele. In einem geringern
Grade finden wir ſie ſchon bey der Erlernung
und Wiederholung der Wiſſenſchaften. Man
wird oft gewahr, daß, ehe man ſich aller Theile
eines allgemeinen Beweiſes, oder mit einem Worte
alles deſſen, was man von einer Sache weiß,
einzeln erinnert, man ſchon zum voraus auf ge-
wiſſe Art empfindet, wie der Gang des ganzen
C 3
[38]Ueber die Pruͤfung
Nachdenkens ſeyn wird. Und eben dieſe Voraus-
empfindung, wann wir ſie haben, macht uns als-
dann die Aufklaͤrung der einzelnen Theile leichter.
Es giebt gewiſſe Augenblicke, wo es ſcheint, als
wenn in einen dunkeln Theil unſrer Seele auf
einmal ein Licht gebracht wuͤrde; die ganzen Ideen,
die hier verborgen liegen, zeigen ſich mit einem
male, obgleich Zeit und Folge dazu gehoͤrt, um ſie
einzeln nach und nach herauszuheben, und zum
Bewußtſeyn zu bringen.
Wo alſo dieſe ſchnellen ploͤzlichen Aufklaͤrungen
oͤfter geſchehen; wann der Geiſt des Schuͤlers den
Beweiſen ſeines Lehrers zuvorkoͤmmt, und das
Ende der Schlußfolge ſchon zum voraus fuͤhlt,
ehe ihn noch die Reihe der Schluͤſſe dahin gefuͤhrt
hat; bey wem einzelne Winke viel Gedanken ver-
anlaſſen; weſſen Verſtand nicht immer durch alle
Wendungen und Umſchweife lauter unmittelbarer
Folgerungen fortſchleicht, ſondern zuweilen gluͤck-
liche Spruͤnge thut: bey dem hat die Natur die
Anlage zu dem großen Lehrer oder dem Erfinder
der Wiſſenſchaften gemacht.
[39]der Faͤhigkeiten.
Die dichteriſche Einbildungskraft hat Merk-
male, die auch ſchon in einem zarten Alter ſtatt
finden. Das erſte iſt, wenn es wohlgemachte
Erdichtungen mit Vergnuͤgen und einer Art von
Theilnehmung hoͤrt; wenn es ſchnell ihre Anlage
und ihren Entwurf faßt, und wenn es ſie bald
von abgeſchmackten, ungeheuern oder unnatuͤr-
lichen unterſcheidet. Eine lebhafte Einbildungs-
kraft wird leicht Bilder, die ihm von einer Mei-
ſterhand vorgemalt ſind, nachmalen. Die Per-
ſonen und Begebenheiten werden anfangen ihr
gegenwaͤrtig zu werden; und ſie wird alſo alle
die Wirkung thun, die die Empfindung bey dem
wirklichen Daſeyn der Gegenſtaͤnde haben wuͤrde.
Eine richtige Einbildungskraft wird die Aehn-
lichkeit mit der Natur leicht gewahr werden, und
wenn ſie einmal den Reiz derſelben empfunden
hat, ſie in allen denen Werken vermiſſen, die unge-
treue oder mit Fleiß verſtellte Kopien von ihr ſind.
Wer einmal eine richtige menſchliche Bildung
kennt, wird Rieſen und Zwerge leicht unterſchei-
den. Alſo, wenn die Fabel oder Geſchichte Mit-
C 4
[40]Ueber die Pruͤfung
leiden, Liebe, Haß, Bewunderung, kurz alle Ar-
ten von Leidenſchaften in der Seele rege macht,
ſo iſt die Einbildungskraft gut. Die Entſtehung
dieſer Leidenſchaften haͤngt immer von einer ge-
wiſſen idealen Gegenwart der Gegenſtaͤnde ab,
und dieſe wird von der Einbildungskraft gewirkt.
Eine ruͤhrende Begebenheit alſo mit Kaltſinn an-
hoͤren; bey der Erzaͤhlung einer vortreflichen That
gleichguͤltig ſeyn; an dem Schickſale der Tugend-
haften keinen Antheil nehmen; ſich fuͤr keine Per-
ſon oder fuͤr keine Art von menſchlichen Vollkom-
menheiten intereſſiren, zeigt nicht bloß ein unem-
pfindliches Herz, ſondern auch einen ſchwachen
Kopf an. Die Seele muß ganz unfaͤhig ſeyn,
ſich dieſe Art von Bildern nur vorzuſtellen,
wenn ſie von ihnen gar keine Wirkung em-
pfindet.
Weiter! Wenn man bey gewiſſen Kindern
zuweilen eine ploͤtzliche Freude, eine Frucht, eine
Niedergeſchlagenheit ſieht, die ſich aus ihren ge-
genwaͤrtigen Empfindungen nicht erklaͤren laͤßt;
ſo kann man daraus auf eine geheime Geſchaͤftig-
[41]der Faͤhigkeiten.
keit der Einbildungskraft ſchließen, die ihre Wir-
kungen aͤußert, ohne uns die Mittel dazu zu ent-
decken. Diejenigen, deren Ideen bloß von der
gegenwaͤrtigen Empfindung beſtimmt werden, ha-
ben auch niemals andere Leidenſchaften, als die
aus ihrer wirklichen Verfaſſung und ihren Um-
ſtaͤnden entſtehen. Wem aber die guͤtige Natur,
außer der einen Welt, die ſie ſeinem Sinne vor-
geſtellt hat, die Gabe verleiht, noch viele andere
in ſich ſelbſt zu bauen, der verliert ſich oft von den
Dingen, die ihn umgeben, mit ſeinen Begierden
eben ſo wohl als mit ſeinen Gedanken, und ſeine
Vergnuͤgungen und ſeine Schmerzen entſtehen
nicht bloß aus der Lage, die er in dieſer Welt hat,
ſondern auch aus der, welche er in der von ihm
erdichteten annimmt.
In einem hoͤhern Alter hat man ſo viele
Muͤhe nicht noͤthig, dieſe Kraft gleichſam auf der
That zu ertappen und ſie bey ihrer geheimen
Wirkſamkeit zu uͤberraſchen; man kann ſie als-
dann dazu auffodern, und ihr ſelbſt die Arbeiten
vorſchreiben, nach denen man ſie beurtheilen will.
C 5
[42]Ueber die Pruͤfung
Die natuͤrlichſten Proben, die man machen kann,
ſind die Erzaͤhlung und die Erdichtung ſelbſt. Es
zeigt ſchon einen hohen Grad von Einbildungs-
kraft an, wenn wir wirkliche Begebenheiten oder
die Erdichtungen andrer gut beſchreiben koͤnnen;
einen hoͤhern, wenn wir ſelbſt dieſe Begebenhei-
ten erfinden. Ohne Einbildungskraft werden wir
Perſonen, Sitten und Handlungen, wenn ſie uns
auch vor Augen ſind, niemals in ein vollſtaͤndi-
ges und aͤhnliches Bild faſſen, das dieſe Gegen-
ſtaͤnde andern wieder kenntlich machte. Aber ohne
einen weit hoͤhern Grad werden wir uns nicht neue
Perſonen und Begebenheiten zuſammenſetzen, die
in der Zeichnung richtig und der Natur aͤhnlich,
und doch ohne Original waͤren. Warum muͤſſen
alſo diejenigen Uebungen des Stils, die den faͤhi-
gen Kopf am ſtaͤrkſten unterſcheiden, und dem mit-
telmaͤßigen die meiſte Gelegenheit zum Unterrichte
geben, warum muͤſſen dieſe bey der Erziehung am
wenigſten gebraucht werden?
Dieß ſind die Aeußerungen dieſer Faͤhigkeit
durch ihre Wirkungen; es giebt noch andre, die
[43]der Faͤhigkeiten.
mehr mit derſelben beyſammen zu ſeyn, als von ihr
unmittelbar herzuruͤhren ſcheinen, und die eben
deswegen nur mit den erſten verbunden den
Schluß zuverlaͤßig machen.
Erſtens: Man findet oft bey Leuten von ei-
ner ſtarken Einbildungskraft eine Art von Zer-
ſtreuung und Abweſenheit von den Gegenſtaͤnden,
die um ſie ſind. Die Einrichtung der Natur haͤlt
zwiſchen dem dunkeln und dem hellen Theile un-
ſrer Vorſtellungen ein beſtaͤndiges Gleichgewicht.
Sobald die einen an Klarheit ſteigen, ſo ſinken
die andern in eine tiefere Finſterniß; und jede An-
naͤherung der Seele auf einen Gegenſtand iſt zu-
gleich eine Entfernung von den uͤbrigen. Die
Eindruͤcke alſo, die die aͤußern Gegenſtaͤnde durch
die Sinne auf uns machen, werden in eben dem
Grade ſchwaͤcher, in welchem andre Vorſtellungen,
die ſchon in der Seele da ſind, ſtark ſind. Auf
dieſe Art kann die Einbildungskraft ihre Bilder
zuweilen ſo lebhaft und ſo ſtark machen, daß die
Seele auf eine Zeitlang die Empfindungen ganz
[44]Ueber die Pruͤfung
vergißt, und ſich deſſen nicht bewußt wird, was
um ſie herum vorgeht.
Zweytens: Die Faͤhigkeit der Seele, ſich
durch ſich ſelbſt zu beſchaͤftigen, iſt ein noch ſiche-
rers Kennzeichen von einer ſtarken Einbildungs-
kraft oder Reflexion. Der Trieb zur Wirkſamkeit
iſt der erſte und urſpruͤnglichſte in der menſchli-
chen Seele, und vielleicht der Grund aller uͤbrigen.
Wenn die Seele alſo in ſich und in ihren eignen
Bildern oder Ideen fuͤr ihre Beſchaͤftigungen keine
Gegenſtaͤnde findet, ſo ſucht ſie darnach außer
ſich, und ohne einen neuen Zufluß von Empfin-
dungen, geraͤth ſie in den Stand der Unthaͤtigkeit,
der unter dem Namen von Langeweile ſo bekannt
und ſo quaͤlend iſt. Wer alſo, ſobald ſeine Ge-
ſchaͤfte geendigt ſind, unmittelbar nach Geſell-
ſchaft, nach Zerſtreuungen und nach Vorrath von
neuen Eindruͤcken ſchmachtet; wer nicht mehr den-
ken kann, ſobald ſeine Augen und ſeine Ohren
nicht angefuͤllt ſind, der muß ſelbſt wenig Ideen
hervorzubringen wiſſen. Um deswillen liebt der
Poͤbel alle Schauſpiele, nicht weil ſie ſchoͤn ſind,
[45]der Faͤhigkeiten.
ſondern weil ſie ihn beſchaͤftigen; ein Seiltaͤnzer
ſezt auf einige Augenblicke ſeine ſchwache Seele in
eine Bewegung, die er ihr ſelbſt nicht zu geben
weiß, und die ihm angenehm iſt.
Um ſo viel groͤßer das Vermoͤgen der Seele
iſt, ſich ſelbſt alte Bilder wieder zu erneuern, oder
dieſelben durch neue und noch nicht angeſtellte
Verknuͤpfungen reizender zu machen, um ſo viel
mehr kann ſie des beſtaͤndigen Anſtoßes von außen
entbehren. Um deswillen haben von je her die
Dichter die Einſamkeit und die Einoͤde geliebt;
nicht weil ſie Feinde des Vergnuͤgens oder der Ge-
ſellſchaft waren; ſondern weil ſie ſich das Vergnuͤ-
gen, das andre in der Geſellſchaft ſuchen, und das
ſie ohne Huͤlfe der Sinnen nicht erhalten koͤnnen,
durch ihre eigne Einbildungskraft zu verſchaffen
wußten
Endlich eine gewiſſe Abneigung und Unfaͤhig-
keit bey Begriffen, wo keine Bilder ſind, und ein
ſchneller Fortgang in allem, wobey es auf die rich-
tige Vorſtellung eines Bildes ankoͤmmt, iſt das
lezte aͤußere Kennzeichen.
[46]Ueber die Pruͤfung
Man hat angemerkt, daß eine ſehr große
Richtigkeit und Correction in den Werken des ju-
gendlichen Witzes gemeiniglich das Zeichen eines
geringen Genies iſt. Man koͤnnte eben ſo uͤber-
haupt ein zu fruͤhzeitiges Nachdenken und abſtracte
Betrachtungen zu einer Zeit, wo die Seele noch
mehr empfinden als denken ſollte, zum Zeichen ei-
ner ſchwaͤchern Seele annehmen. Nach der Ord-
nung der Natur entwickelt ſich die Einbildungs-
kraft zuerſt, der Verſtand hernach. So wie alſo
bey gewiſſen Koͤrpern, die zu ſchnell zur Reife kom-
men, der Bau ſchwach und die Kraft klein iſt: ſo
ſind die Seelen, die nicht mit der gehoͤrigen Lang-
ſamkeit eine Faͤhigkeit nach der andern entwickelt
und ausgebildet haben, beſtaͤndig mittelmaͤßig.
Ein Kind alſo, welches von einer ſchoͤnen Fabel
entzuͤckt wird, und bey einem eben ſo ſchoͤnen Be-
weiſe gaͤhnt; das voll Munterkeit und Aufmerk-
ſamkeit iſt, wann es die Geſchichte auf einem gu-
ten Kupferſtiche oder Gemaͤlde erklaͤren hoͤrt, und
verdroſſen und zerſtreut wird, ſobald man ihm all-
gemeine Wahrheiten vortraͤgt; das in ſeinen
[47]der Faͤhigkeiten.
Spielen Erfindſamkeit, und in den Lernſtunden
Unfaͤhigkeit zeigt, wuͤrde mir weit mehr Hofnung
machen, als ein andres, das eine ganze Moral
mit der groͤßten Geduld und der ſcheinbarſten Auf-
merkſamkeit anhoͤrt, und in der Grammatik eben
ſo gern lieſt, als im Robinſon.
IV. Aus dieſen Materialien nun endlich, die
die Empfindung herbeygeſchafft, das Gedaͤchtniß
bewahrt, die Einbildungskraft geſammlet hat, er-
baut die Vernunft das Syſtem allgemeiner Be-
griffe, nach denen der Menſch ſich und ſeine Ge-
ſchaͤfte regieret.
Dieſe Frage iſt alſo ohne Zweifel die wichtigſte,
und die erſt ſpaͤt und faſt nur vom Menſchen ſelbſt
zu beantworten iſt: Wie ſtark iſt in der Seele die
Faͤhigkeit nachzudenken, und durch welche Merk-
male kann man ſie erkennen?
Zuerſt alſo wieder: Was iſt der Verſtand,
und wie vielfach ſind ſeine Geſchaͤfte? Die Aus-
breitung der Philoſophie hat dieſe Begriffe ſo be-
kannt gemacht, daß man nur darauf zuruͤckzufuͤh-
ren braucht, ohne ſie zu erklaͤren.
[48]Ueber die Pruͤfung
Jede Empfindung bezieht ſich auf einen ein-
zelnen Gegenſtand. Wenn alſo die Empfindung
die einzige Art von Vorſtellungen iſt, ſo muß ſie
entweder ſo weit ausgebreitet ſeyn, wie die Na-
tur ſelbſt; alsdann wuͤrde ſie die allgemeinen Be-
griffe unnoͤthig machen, aber ſie iſt nur eine Ei-
genſchaft der Gottheit; oder ſie iſt nur auf Einen
Gegenſtand eingeſchraͤnkt, alsdann macht ſie allen
Fortgang der Erkenntniß unmoͤglich, und iſt das
Unterſcheidende des Thiers. Um alſo unſrer Ein-
ſchraͤnkung zu Huͤlfe zu kommen, mußten wir die
Geſchicklichkeit erhalten, die unendliche Menge
von einzelnen Gegenſtaͤnden, die ſich uns nach und
nach durch die Sinnen darſtellen, unter gewiſſe
Klaſſen und gleichſam in große Gruppen zu brin-
gen, wir mußten ein Mittel haben, aus unſern
Empfindungen, die fuͤr ſich abgeſonderte und im-
mer neue Ganze ausmachten, einen gewiſſen Theil
herauszuziehen, der der Seele zuruͤckbliebe, wenn
die Empfindung ſelbſt ſchon lange vergeſſen waͤre;
und die unermeßliche Mannichfaltigkeit von Ei-
genſchaften, die mit jedem einzelnen Dinge ſich
[49]der Faͤhigkeiten.
der Seele zeigen, mußten ſich auf eine kleine An-
zahl von ſolchen einſchraͤnken laſſen, die ſich oft
wieder finden, und die alſo eine immer wieder-
holte Erfahrung erſparen: dieſes Mittel iſt die
Abſtraktion.
Alſo, mehrere Empfindungen mit einander
vergleichen, das, was in ihnen aͤhnlich iſt, be-
merken, dieſes in einen Begriff ſammlen, und das
Uebrige alles, was unaͤhnlich war, weglaſſen, das
heißt Abſtrahiren; und dieſes mehrmals wieder-
holt, heißt Nachdenken; oder weil bey uns die
Sprache ſchon eher, dieſe abſtrakten Begriffe mit
Worten verbunden, der Seele liefert, ehe ſie ſelbſt
noch zur Abſtraktion faͤhig iſt: ſo beſchaͤftigt ſich
nunmehr die Vernunft zuerſt damit, die Bedeu-
tung der Worte zu beſtimmen, und die wahre all-
gemeine Idee aufzuſuchen, von welcher das Wort
ein Zeichen ſeyn ſoll.
Die Erlernung der Sprache haͤngt alſo mit
der Vernunft zuſammen, als ein Mittel; und der
richtige Gebrauch derſelben haͤngt davon ab, als
Wirkung.
D
[50]Ueber die Pruͤfung
Man findet indeſſen hier doch einen ſehr merk-
lichen Unterſchied.
Wer durch Worte denken und ſich ausdruͤcken
ſoll, muß allgemeine Begriffe haben, das iſt klar;
denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die
Seele kann dieſe Begriffe auf eine doppelte Art
haben. Entweder ſucht ſie nur in den einzelnen
Faͤllen den Begriff auf, und begnuͤgt ſich, wenn
ſie in jedem vorkommenden neuen Falle dieſe
Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen-
den kann: oder ſie ſammlet dieſe Merkmale in
eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be-
muͤht ſich, den allgemeinen Begriff abgeſondert
von den Faͤllen, aus denen er abgezogen iſt, vor-
zuſtellen. Der erſte macht ſich das Wort und die
Vorſtellung deutlich, indem er eine geſchwinde
dunkle Ueberſehung der Faͤlle anſtellt, in denen es
gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er-
klaͤrung davon macht.
Man koͤnnte jenes den praktiſchen, und dieſes
den theoretiſchen Verſtand nennen.
[51]der Faͤhigkeiten.
Der praktiſche Verſtand haͤngt mit der Einbil-
dungskraft zuſammen, oder iſt vielmehr nur eine
beſondere Anwendung derſelben. Ihr Werk iſt
es, der Seele zugleich mit dem Worte die Faͤlle her-
beyzubringen, aus deren ſchneller und ihr ſelbſt
unbewußter Vergleichung ſie jedesmal den Begriff
von neuem hervorbringt.
Die Kennzeichen von beiden werden ſich alſo
einander ſehr aͤhnlich ſeyn.
Erſtens: Leute von dieſer Art koͤnnen ſich ſehr
wenig uͤber Sachen erklaͤren, die ſie doch recht
gut verſtehen, und die ſie recht gluͤcklich ausfuͤh-
ren, wenn ſie ſie unternehmen. Der Grund iſt
augenſcheinlich. Zur Erklaͤrung gehoͤren Worte,
zu dieſen Merkmale, die von ihren Gegenſtaͤnden
abgeſondert, und ohne ſie gedacht und bezeichnet
worden, kurz gerade das, durch deſſen Mangel
dieſe Art von Verſtande ſich unterſcheidet. Man
kann uͤberhaupt zwey Arten von Menſchen in der
Welt bemerken. Einige wiſſen vortreflich von
Sachen zu ſprechen, und koͤnnen ihre ganze Theo-
rie mit Genauigkeit und Deutlichkeit vortragen,
D 2
[52]Ueber die Pruͤfung
die ihnen doch mißlingen, ſobald ſie die Hand
daran legen. Andere reden wenig und verwirrt,
und bringen ſie zu Stande.
Man thut ſehr unrecht, wenn man die erſten
als Schwaͤtzer, und die andern als bloße Hand-
werker anſieht.
Die Faͤhigkeiten, die ſie zu dem machen, was
ſie ſind, ſind von der Natur ſelbſt unterſchieden.
Der Philoſoph, der erklaͤrt, vergißt uͤber den
Merkmalen, die er ſammlet, die individuellen Um-
ſtaͤnde der Faͤlle, die doch in der Ausuͤbung muͤſ-
ſen mit zu Rathe gezogen werden, und ſie verun-
gluͤckt ihm alſo. Der Kuͤnſtler, welcher arbeitet,
findet in dem Bilde, das ihm anſtatt der Erklaͤ-
rung gegenwaͤrtig iſt, alle dieſe kleinen Umſtaͤnde;
aber er kann aus dieſem Bilde nicht die einigen,
wenigen Theile herausnehmen, die das Uebrige
wuͤrden kenntlich machen: er kann alſo ſich nicht
erklaͤren, als indem er die Sache zeigt. Wenn die
erſten beſtaͤndig zum Erklaͤren und die andern
zum Ausuͤben beſtimmt wuͤrden, ſo wuͤrde die Welt
[53]der Faͤhigkeiten.
richtige Theorien und vortrefliche Werke zugleich
erhalten.
Zweytens. Ein ander Zeichen eines ſolchen
praktiſchen Verſtandes iſt die genaue Beobachtung
des Schicklichen; die Uebereinſtimmung in ſeinen
Reden und Handlungen mit der Zeit, dem Orte
und den Verhaͤltniſſen der Perſonen; mit einem
Worte, eine gewiſſe groͤßere Aufmerkſamkeit auf
alles, was zum menſchlichen Leben gehoͤrt. Man
ſieht viel junge Leute, die dieſe Gabe vollkommen
beſitzen, und deren Fortgang in den Wiſſenſchaf-
ten ſehr geringe iſt, die deswegen von der Welt
und beſonders von Leuten ihres Alters hervorge-
zogen und von ihren Lehrern verachtet werden.
Die Urſache iſt die: Zu dieſer Klugheit des geſell-
ſchaftlichen Lebens iſt eine ſchnelle Ueberſehung
einer Menge von Gegenſtaͤnden auf einmal, aber
nicht die Ergruͤndung eines einzigen noͤthig. Die
Seele muß ihre Aufmerkſamkeit zwiſchen ſehr vie-
len Dingen zu theilen, oder ſie muß ſich vielmehr
von dem Ganzen ein richtiges Bild bis auf alle
Kleinigkeiten zu machen wiſſen: aber ſie hat
D 3
[54]Ueber die Pruͤfung
nicht noͤthig, dieſe kleinen Umſtaͤnde, die ſie bloß
empfindet, und nach denen ſie ſich richtet, in Ge-
danken von den uͤbrigen zu trennen und auszu-
druͤcken.
Und dieß iſt drittens eben die Urſache, warum
dieſe Art von Koͤpfen weit eher zur Reiſe zu kom-
men ſcheint, als die andern. Ihr Verſtand er-
ſcheint zugleich mit ihrer Einbildungskraft, und
dieſe iſt eine unmittelbare Wirkung der Empfin-
dungen. Ueberdieß finden ſie jeden Angenblick
und allenthalben Gegenſtaͤnde, an denen ſie ihn
uͤben; die Zerſtreuungen und Zeitvertreibe, die
den Fortgang der uͤbrigen Faͤhigkeiten verzoͤgern,
ſind ſo viele Gelegenheiten, dieſe zu ſchaͤrfen.
Man wird alſo weit zeitiger von dieſer Art von
Faͤhigkeit urtheilen koͤnnen. Ein junger Menſch,
der im Umgange artig, in Geſellſchaft klug und
vorſichtig, in Ausrichtung kleiner Geſchaͤfte ge-
ſchickt und gluͤcklich, aber ohne ſonderlichen Ge-
ſchmack und Talente fuͤr die eigentlichen Wiſſen-
ſchaften iſt; ein ſolcher junger Menſch hat die Art
von Verſtand, davon wir reden.
[55]der Faͤhigkeiten.
Viertens. Ein hoͤherer Grad dieſes Verſtan-
des bringt die Gabe der Vorherſehung hervor, die
wir ſchon oben genannt haben, und die das ei-
gentliche Talent zu Geſchaͤften ausmacht. Die
Zukunft liegt in dem Gegenwaͤrtigen eingewickelt.
Man muß dieſes ganz uͤberſehen koͤnnen, um jene
darinn zu finden. Wirkungen kann man nur
aus ihren Urſachen kennen: aber dieſe ſind oft in
ſo vielen Dingen zerſtreut; viele davon ſo klein,
ſo unmerklich, und doch in der Zuſammenkunft ſo
erheblich, daß es unmoͤglich iſt, ſie zu bemerken,
wenn man ſie ſich nicht anders als deutlich den-
ken kann. Ein Kopf, der immer zergliedern und
ſchließen muß; deſſen Faͤhigkeiten nur die Dinge
von derjenigen Seite faſſen, von der ſie ſich deut-
lich machen laſſen; wird dieſe kleinen Umſtaͤnde
uͤberſehen, er wird ſich bloß an die Hauptſachen
halten, dieſer ihre Kraͤfte unterſuchen, und ſo ge-
nau er immer dieſe kann abgemeſſen haben, einen
falſchen Erfolg herausbringen. Das iſt die ei-
gentliche Graͤnzſcheidung zwiſchen Theorie und
Praxis. Die erſte nimmt keine andern als die
D 4
[56]Ueber die Pruͤfung
groͤßten, die in die Augen fallendſten Urſachen,
und dieſe ergruͤndet ſie voͤllig; die andere nimmt
alle Umſtaͤnde zuſammen, aber bloß in einem Bil-
de. Wer alſo auf dieſe anſchauende Art denken
kann, weſſen Seele eine Menge verwickelter Bege-
benheiten zugleich zu umfaſſen im Stande iſt, weſ-
ſen Beobachtung ſo genau iſt, daß er unter der
Menge doch nicht die kleinſten Umſtaͤnde uͤberſieht;
wer endlich alle dieſe Beobachtungen ſo ſchnell
und ſo fertig anwenden kann, daß er augenblick-
lich aus ihnen den Erfolg zieht, ohne ſich ſelbſt
ſeines Schluſſes bewußt zu ſeyn: das iſt der
Mann, der den entſcheidenden Augenblick in der
Schlacht oder im Kabinet treffen wird, und deſ-
ſen Entſchluͤſſe zugleich ſchnell und ſicher ſeyn
werden.
Eben daher ruͤhrt bey dieſen Leuten die feſte
Ueberzeugung, mit der ſie die Gewißheit eines Er-
folgs vorherſehen, deſſen Gruͤnde ſie doch nicht
angeben koͤnnen. Dieſe Gruͤnde liegen in dem
Bilde, was ſie haben, und dieſes Bild koͤnnen ſie
niemand mittheilen, weil Worte nur immer ge-
[57]der Faͤhigkeiten.
wiſſe Theile, niemals den ganzen Eindruck be-
zeichnen. Plato ſezt deswegen die Staatsmaͤnner
und den Wahrſager in eine Klaſſe, und leitet bey
beiden dieſe Gabe, das Zukuͤnftige ohne Schluͤſſe
zu entſcheiden, (weil ſich die Wirkungen der Seele
dabey nicht erklaͤren laſſen,) von dem Einfluſſe ei-
ner hoͤhern Macht her; denn, ſagt Sokrates, daß
dieſe Gabe nicht unter die Wiſſenſchaften gehoͤret,
ſehen wir augenſcheinlich. Wem wuͤrden Perikles
und Themiſtokles eher dieſe Kunſt gelehrt haben,
wenn ſie ſich lernen ließe, als ihren Soͤhnen, die
doch ohne Anſehn und Einfluß in Griechenland
waren?
Fuͤnftens. Dieſe Art von Verſtand macht
endlich, daß der Menſch uͤber Begebenheiten, Per-
ſonen und Handlungen richtige Urtheile faͤllen
kann, unerachtet er verlegen iſt, wenn er die Ei-
genſchaften, die er den Dingen beylegt, erklaͤren,
oder die Gruͤnde anfuͤhren ſoll, warum ihnen die-
ſelbe zukommen. Er iſt deswegen ein genauer
Beobachter der Unſchicklichkeit in dem Betragen
anderer, empfindet das Laͤcherliche leicht und ge-
D 5
[58]Ueber die Pruͤfung
ſchwind, und wird alſo zur Satyre oder zur Spoͤt-
terey mehr als andre Koͤpfe aufgelegt ſeyn. Eben
dieſer Geiſt der Beobachtung, der ihn faͤhig
macht, ſelbſt alle dieſe kleinen Verhaͤltniſſe zu
wiſſen, um ſie zu beobachten, macht ihn auch zu-
gleich aufmerkſam, wenn andre ſie aus den Au-
gen ſetzen.
Das Laͤcherliche iſt das Ungereimte in Klei-
nigkeiten. Eine Seele, die nur immer auf das
Große, auf gewiſſe Hauptbegriffe, auf ganze
Summen von Merkmalen geht, uͤberſieht dieſe
kleinen Mishelligkeiten oder vergißt ſie augenblick-
lich. Von dem andern, der nicht uͤber die Sa-
chen gruͤbelt, ſondern ſie nur anſieht, werden ſie
gefaßt und behalten. Die Seele des erſten iſt
ein Maler, der die großen Zuͤge allein abſon-
dert, und durch ſie das Bild entwirft; die Seele
des andern iſt ein Spiegel, der die Sache ganz,
wie ſie iſt, mit allen ihren kleinſten Flecken dar-
ſtellt.
Die andere Gattung von Verſtande, die raͤ-
ſonnirende, wenn ich ſo ſagen darf, gehoͤrt ei-
[59]der Faͤhigkeiten.
gen tlich fuͤr die Wiſſenſchaften, und verdient alſo
am meiſten unſre Aufmerkſamkeit. Sie iſt nichts
anders als ein philoſophiſches Genie, ein gewiſ-
ſer Trieb, der zugleich mit Faͤhigkeit verbunden
iſt, das Individuelle aufs Allgemeine zuruͤckzu-
fuͤhren, und dieſes Allgemeine zu einem abgeſon-
derten Gegenſtande ſeiner Betrachtung zu ma-
chen.
Dieſe Faͤhigkeit aͤußert ſich zuerſt dadurch,
daß die Seele, die ſie beſizt, indem ſie durch die
Sprache die Anzahl von Begriffen erhaͤlt, die un-
gefaͤhr den Umfang deſſen ausmachen, was man
bon ſens oder den Menſchenverſtand nennt, ſich
nicht dabey beruhigt, dieſe Begriffe bloß klar zu
haben, ſondern von jedem Worte Beſchreibung
und Erklaͤrung verlangt. Jede Seele iſt bemuͤht,
Gedanken in ſich hervorzubringen; es iſt alſo na-
tuͤrlich, daß, wenn ſie ein Zeichen von einer Sache
bekoͤmmt, die ſie ſo ſehr wuͤnſcht, ſie dieſe Sache
ſelbſt ſucht. Die Einbildungskraft kam den Koͤ-
pfen von der erſten Art in dieſem Falle zu Huͤlfe,
und ſtellte ihnen geſchwind einen einzelnen Fall,
[60]Ueber die Pruͤfung
eine Begebenheit vor, wo dieſes Wort hingehoͤrte,
und gab ihnen alſo fuͤr eine Idee ein Bild. Aber
bey unſrer Gattung von Koͤpfen iſt die Einbil-
dungskraft weder ſtark noch ausgebreitet, alſo
kann die Seele ſich den Begriff des Worts nicht
durch die Erinnerung der Faͤlle aufklaͤren; ſie
wuͤnſcht alſo die Beſtimmungen, die in den Faͤllen
liegen, und die eigentlich allein zu dieſem Worte
gehoͤren, ſchon abgeſondert, ſchon aus ihrer Ver-
wickelung mit dem Uebrigen herausgehoben, ſchon
mit einander zuſammengeſezt.
Mich deucht, ich brauche nicht erſt auf eine
Erfahrung zuruͤckzufuͤhren, die alle Tage gemacht
werden kann. Einige Kinder fodern von jedem
neuen Worte eine Erklaͤrung, und dieſe fuͤhret ſie
erſt zur Aufmerkſamkeit auf die Sache. Die
andern beobachten ganz in der Stille, und ken-
nen ſchon die Sache eher, zu der das Wort ge-
hoͤrt, ehe man ihnen noch das Wort ſelbſt geſagt
hat.
Die Folge alſo hieraus muß gerade die ent-
gegengeſezte von derjenigen ſeyn, die wir oben
[61]der Faͤhigkeiten.
aus einem entgegenſtehenden Grunde zogen.
Dieſe Faͤhigkeit muß ſich viel ſpaͤter entwickeln,
weil zu der erſten nur Empfindung und Erinne-
rung, zu dieſer eine wiederholte Vergleichung und
eine langſame Sammlung der Aehnlichkeiten ge-
hoͤrt. Ein Kind von dieſer Art kann alſo in den
erſten Jahren ſehr leicht ein Dummkopf zu ſeyn
ſcheinen. Abſtraktionen hat es noch nicht Zeit
genug gehabt zu machen, und die Einbildungs-
kraft erſetzet bey ihm dieſen Mangel nicht durch
die Erinnerung der Faͤlle. Um eben dieſes Be-
duͤrfniſſes willen verlangt es Erklaͤrungen; weil
es ſonſt bey dem Worte nichts als einen leeren
Schall hoͤrt. Die Seele iſt alſo in dieſer Zeit be-
ſtaͤndig wirkſam, aber ihre Arbeit iſt noch unvoll-
endet; und erſt der Erfolg kann entſcheiden, ob
ihre Kraft ſich nur deswegen verbarg, weil ſie in-
nerlich geſchaͤftig war, oder weil ſie durch ihre
Schwaͤche eingeſchraͤnkt wurde.
In allen Sachen, wo es keine Abſtraction
durch Worte giebt, iſt der Fortgang eines ſolchen
Kopfs langſam. Alle dieſe Begriffe, die die Seele
[62]Ueber die Pruͤfung
anders nicht als klar denken kann, die mehr ge-
fuͤhlt als geſagt werden koͤnnen, kommen bey
ihm ſpaͤt und ſind ſelten richtig genug. Hinge-
gen alles, wo ſich die Merkmale von dem Dinge
abſondern, wo ſie ſich unter einen Begriff und in
ein Wort faſſen laſſen, kurz, was ſich erklaͤren
und lehren laͤßt, begreift er ſchnell, und iſt in kur-
zem im Stande, es wieder mitzutheilen.
Der Geſchmack iſt ein dunkles Gefuͤhl des
Schoͤnen. Einige Theile davon laſſen ſich in Be-
griffe aufloͤſen, und ſind deswegen der Erklaͤrung
und einer Theorie faͤhig; andre aber ſind zu ſehr
im Ganzen verſtreut, zu vielfach und zuſammen-
geſezt, als daß ſie gedacht werden koͤnnten, wenn
man ſie nicht mehr empfindet. Die Art von Gei-
ſtern, von der wir reden, werden alſo mit der er-
ſten Gattung von Schoͤnheiten weit leichter be-
kannt werden, als mit der lezten; wo ihr Gefuͤhl
durch kein Raͤſonnement geleitet oder unterſtuͤtzet
werden kann, wird es mangelhaft oder unſicher
ſeyn; ſie werden als Kunſtrichter die Erfindung
und die Anordnung eines Gedichts, die Richtig-
[63]der Faͤhigkeiten.
keit der Bilder und die Genauigkeit des Ausdrucks
geſchwinder einſehen, als die feinen Schoͤnheiten
der Harmonie, die Uebereinſtimmung des Ganzen,
oder den Ton, der uͤberhaupt darinne herrſcht.
Von einem Gemaͤlde werden ſie die dichteriſchen
Schoͤnheiten weit eher als die mechaniſchen fin-
den; der Ausdruck der Leidenſchaften wird von ih-
nen beſſer bemerkt werden, als die Wirkungen des
Lichts oder die Harmonie der Farben; und ihre
Entſcheidung wird oft von des Malers ſeiner un-
terſchieden ſeyn.
Unter dieſe Sachen, die nicht erklaͤrt, ſondern
nur gefuͤhlt werden koͤnnen, wie ſie ſeyn muͤſſen,
gehoͤren faſt die ganzen Geſetze des Wohlſtandes
und der Lebensart; die Klugheit in den Geſchaͤf-
ten des taͤglichen Lebens; die beſtaͤndige Ruͤckſicht
bey allem, was man ſagt oder thut, auf die Cha-
raktere, die Verhaͤltniſſe und die Umſtaͤnde der
Perſonen, mit denen man zu thun hat. In die-
ſem allem wird unſer junger Philoſoph von dem
bloß gemeinen Verſtande des andern uͤbertroffen
werden.
[64]Ueber die Pruͤfung
Dieſes hat noch eine andre Folge. Er wird
ſich mit dem allgemeinen Geſpraͤche in einer groſ-
ſen Geſellſchaft ſchlecht behelfen, und wird doch
in einer Unterredung mit einer einzelnen Perſon,
wo eine beſtimmte Materie der Vorwurf iſt, vor-
treflich ſeyn koͤnnen. Bey dem erſten iſt ein Ge-
miſch von tauſend abgebrochenen und zerſtuͤckten
Gedanken, ein beſtaͤndiger Uebergang von einem
Gegenſtande zum andern. Man will durchaus
nichts ergruͤndet, ſondern alles nur beruͤhrt ha-
ben. Jede Idee, die vorgebracht wird, muß, ſo
zu ſagen, auf der Oberflaͤche des Dinges liegen,
von der ſie genommen iſt; der Zugang zu ihr muß
leicht ſeyn, und ſie muß eben ſo geſchwind begrif-
fen als verlaſſen werden koͤnnen. Unſer guter
Philoſoph wird nun hierbey nicht bloß durch die
Mannichfaltigkeit der Vorwuͤrfe uͤberhaͤuft; ſon-
dern er bleibt auch bey ihrem ſchnellen Fortgange
zuruͤck; man laͤßt ihm nicht Zeit, ſeine Betrach-
tungen vorzubringen, oder wenn er ſie geſagt
hat, ſo ſind ſie fuͤr die uͤbrigen weder einleuchtend
noch treffend; ſie hoͤren ſie alſo mit Kaltſinnigkeit
[65]der Faͤhigkeiten.
an, und geben ihm wenig Gelegenheit, ſie zu wie-
derholen. Alles dieſes iſt in einer geheimen Un-
terredung veraͤndert; der Gegenſtand iſt einfa-
cher, und man haͤlt laͤnger bey demſelben aus;
uͤberdieß hat man mehr die Abſicht, zu unterſu-
chen. Der andre findet alſo nunmehr, da er
ſich die Zeit nimmt nachzudenken, die Betrach-
tung des philoſophiſchen Geiſtes richtig, aber
feiner, als er ſie ſelbſt wuͤrde gemacht haben,
und nun entſteht die Achtung aus eben den Urſa-
chen, um deren willen er vorher vernachlaͤßiget
wurde.
Im Ganzen genommen aber muß die erſte
Art von Verſtand den Menſchen zur Geſellſchaft
geſchickter machen, als die zweyte. Helvetius
ſagt: Die gewoͤhnlichſte Materie des Geſpraͤchs
in der Welt iſt von Perſonen und Begebenheiten,
nicht von Sachen. Der angenehme Menſch in
der Geſellſchaft iſt alſo der, der durch einen ſehr
ausgebreiteten Umgang viele Perſonen und ihre
Umſtaͤnde kennt, und zwar gerade die Perſonen,
von denen der Geſellſchaft daran gelegen iſt, et-
E
[66]Ueber die Pruͤfung
was zu wiſſen. Wenn er ſeine Erzaͤhlungen mit
etwas Witz vermiſcht, wenn er noch dabey den
Leidenſchaften der Anweſenden zu ſchmeicheln, und
ihre Geſinnungen gegen die Perſonen, von denen
er ſpricht, zu errathen und anzunehmen weiß, ſo
iſt er vollkommen. Und dieß iſt gerade alles das,
was unſerm Manne fehlt. Er hat nicht den Be-
merkungsgeiſt, um ſich von ſo viel Kleinigkeiten,
als dabey noͤthig ſind, zu unterrichten; nicht das
Gedaͤchtniß, ſie ſich einzupraͤgen; nicht die Ein-
bildungskraft, um ſie vorzutragen; endlich nicht
die praktiſche Urtheilskraft, ob das, was er ſagt,
den Perſonen, die es hoͤren, angenehm oder ver-
druͤßlich ſeyn werde.
Aber eben aus dieſem Geiſte der Zergliede-
rung folgt, daß, wenn ſich dieſer Kopf einmal
entwickelt hat, er ſich durch ſeine Werke weit rich-
tiger abmeſſen laͤßt. Er wird das, was er weiß,
allemal ausdruͤcken und mittheilen koͤnnen. Sei-
ne Begriffe muͤſſen ſchlechterdings entweder voͤl-
lig entwickelt oder dunkel ſeyn. Die bloße Klar-
heit des Anſchauens, die die Gegenſtaͤnde in der
[67]der Faͤhigkeiten.
Seele erleuchtet, ohne ſie aufzuloͤſen, iſt fuͤr
ihn nicht gemacht. Was er alſo nicht zu ſagen
weiß, davon hat er auch gewiß keine Vorſtel-
lung.
Die reine Mathematik iſt ein rechter Probier-
ſtein fuͤr dieſe Koͤpfe. Da ſie faſt die einzige Wiſ-
ſenſchaft iſt, wo nur eine Idee, (die Idee der
Groͤße,) durchaus entwickelt wird; da in ihr nir-
gends Einbildung, aber allenthalben Verſtand
herrſcht; da hier das Nachdenken durch keine von
den Schwierigkeiten aufgehalten wird, die in der
Philoſophie den Fortgang ſo langſam und oft die
Schritte ſo unſicher machen: ſo muß dieſe Wiſſen-
ſchaft dieſer Art von Verſtande angemeſſen ſeyn.
Wer alſo bey ihrer Erklaͤrung die Beweiſe leicht
einſieht, dem Lehrer in ſeinen Schluͤſſen zuvor-
koͤmmt, und zuweilen von dem Satze, der vorge-
tragen wird, ſchon die Beweiſe vorherſieht, der
hat dieſen Verſtand gewiß. Sollte dieß nicht ein
Grund mehr ſeyn, warum die Mathematik ſehr
bequem waͤre, um damit den Unterricht eines kuͤnf-
tigen Gelehrten anzufangen?
E 2
[68]Ueber die Pruͤfung
Dieſe Koͤpfe unterſcheiden ſich gemeiniglich
im Umgange noch durch ein ander Merkmal. Sie
ſind beſtaͤndig damit beſchaͤftigt, von allen Bege-
benheiten die Urſachen anzugeben, dahingegen die
andern ſich mit der bloßen Wirklichkeit der That-
ſache und mit der Kenntniß der Umſtaͤnde beru-
higen. Die erſten haben nicht ſo bald einen Vor-
fall aus der phyſiſchen oder ſittlichen Welt ge-
hoͤrt, ſo fangen ſie ſchon an ihn zu erklaͤren; die
andern ſuchen an ſtatt der Erklaͤrung lieber meh-
rere Nachrichten, oder wenn ihnen die, welche ſie
haben, hinreichen, ſo ſuchen ſie lieber wieder eine
neue Begebenheit, als die Urſache der alten auf.
Die erſten wiſſen mit einer bloßen Thatſache nichts
anzufangen, wenn ſie ſie nicht gleich auf ihre
Moͤglichkeit zuruͤckfuͤhren, ſie mit ihren Grund-
ſaͤtzen in Verbindung bringen, und daraus entwe-
der ihre alten Begriffe beſtaͤtigen, oder neue abzie-
hen koͤnnen. Die andern verlangen nichts als
ein getreues und vollſtaͤndiges Bild von der Sache;
das Anſchauen deſſelben lehret ſie alsdann auf
kuͤnftige Faͤlle eben das, was jenen ſeine Schluͤſſe.
[69]der Faͤhigkeiten.
Wenn die Klugheit nicht dieſe Neigung des Philo-
ſophen alles zu erklaͤren einſchraͤnkt, ſo wird er
der Geſellſchaft beſchwerlich und ſelbſt in den Wiſ-
ſenſchaften unnuͤtz.
Man kann zuweilen die Faͤhigkeiten der Seele
durch ihre Fehltritte erkennen; oder vielmehr, ge-
wiſſe Faͤhigkeiten ſind einer unrechten Anwendung
ſo ſehr unterworfen, daß man bey aller Ueberzeu-
gung, daß man ſie beſitzt, doch noch mit einer
großen Behutſamkeit von der andern urtheilen
muß. Z. E. weil dieſen Koͤpfen der ſchleichende
Gang von einer Erfahrung zur andern, um daraus
endlich durch vielfaͤltige Beobachtungen und im-
mer neue Vergleichungen die abſtracten Begriffe
zu ſammlen, oft zu langſam iſt: ſo iſt ihre Me-
thode, aus einem einzelnen Falle, oder aus weni-
gen, den allgemeinen Begriff herauszuziehn, und
nun ohne Anſtand aus dieſem Begriffe die uͤbrigen
Faͤlle zu erklaͤren.
Dieſes iſt es, was die Syſtemmacher hervor-
gebracht hat, die aus einzelnen Beobachtungen
gleich Geſetze der Natur machen, und durch eine
E 3
[70]Ueber die Pruͤfung
einmal zug [...]troffne Hypotheſe alle Erſcheinungen
der Welt erklaͤren; die eingeſchraͤnkten Kunſtrich-
ter, die die freye Wahl des erſten Genies in eine
Regel fuͤr alle kuͤnftige verwandeln, und dem Ver-
gnuͤgen verbieten, aus andern Quellen zu fließen,
als aus denen ſie es ſchon gekoſtet haben; die ein-
ſeitigen Moraliſten, die immer die menſchliche Na-
tur und die ihrige vermiſchen, und alle Erfahrun-
gen unter das Joch der Grundſaͤtze bringen, die
gar nicht mit Huͤlfe dieſer Erfahrungen waren ge-
macht worden.
Ein andrer Abweg dieſer Koͤpfe iſt das Sub-
tiliſiren. Sobald der Zergliederer Koͤrper theilen
will, die entweder zu dicht ſind und zu feſt zuſam-
menhaͤngen, um ſich trennen zu laſſen, oder zu
klein, um gefaßt zu werden; ſo iſt ſeine Kunſt ver-
geblich. Und wenn der Philoſoph Begriffe aufloͤ-
ſen will, die entweder zu verwickelt und zu indi-
viduell ſind, um einer andern Erklaͤrung als des
Vorzeigens faͤhig zu ſeyn; oder zu einfach und
ſchon zu weit zergliedert, um noch eine neue Auf-
loͤſung zuzulaſſen; ſo iſt ſeine Arbeit nicht bloß
[71]der Faͤhigkeiten.
vergeblich, ſondern auch ſchaͤdlich. Eine ſolche
hat zuerſt die Vernunftlehre mit Sophismen, und
die ganze Philoſophie mit Spitzfuͤndigkeiten ange-
fuͤllt, ſie hat die Erklaͤrungen eingefuͤhrt, die dunk-
ler als die erklaͤrte Sache ſind, und den Geiſt des
Weiſen durch Beweiſe geblendet, die in einer an-
dern Form der bloße natuͤrliche Verſtand wuͤrde
fuͤr abgeſchmackt erkannt haben.
Aber nun noch einmal zu unſerm richtig phi-
loſophirenden Juͤnglinge zuruͤck, der dieſe Abwege
vermeidet. Er wird ſich noch durch eine gewiſſe
Methode in ſeinen Geſpraͤchen unterſcheiden; alle
ſeine Gedanken werden einander untergeordnet,
und die Verhaͤltniſſe, in denen ſeine Ideen fortge-
hen, werden immer genauer und weſentlicher ſeyn.
Aber eben deswegen ſcheinen ſeine Vorſtellungen
oft ſeltſam, widerſinnig, oder mit dem Gegen-
ſtande unzuſammenhaͤngend, entweder weil er ſei-
ne Betrachtungen zu weit hinausgefuͤhrt hat, und
der Gedanke, den er vorbringt, erſt durch viele
Mittelglieder mit der gegenwaͤrtigen Sache oder
Begebenheit zuſammenhaͤngt, die er oft zu ſagen
E 4
[72]Ueber die Pruͤfung
vergißt, und die die andern nicht ergaͤnzen koͤnnen;
oder, weil er zu weit zu den Principien zuruͤckgeht,
und ſeine Einbildungskraft erſt durch eine Menge
von andern vorbereiten muß, deren Abſicht man
nicht errathen kann.
So alſo zeigt ſich dieſe Faͤhigkeit in dem Um-
gange und im geſellſchaftlichen Leben.
Die hoͤhern Verſtandskraͤfte und den Geiſt
der Unterſuchung durch die gewoͤhnlichen Aeuße-
rungen im geſellſchaftlichen Leben kennen zu ler-
nen, iſt ſchwer, weil er hier außer ſeiner ei-
gentlichen Sphaͤre iſt, und ihn viele Hinderniſſe
entweder zuruͤckhalten oder unbrauchbar ma-
chen; aber bey der Erlernung der Wiſſenſchaf-
ten zeigt er ſich uneingeſchraͤnkt und unverdun-
kelt.
Das erſte Merkmal eines verſtaͤndigen Lehr-
lings iſt die Faͤhigkeit und die Neigung zu eignen
Betrachtungen. Die Verſchiedenheit der menſch-
lichen Geiſter bringt unausbleiblich auch in ihre
aͤhnlichſten und uͤbereinſtimmendſten Begriffe eine
gewiſſe Verſchiedenheit, ſobald nur dieſe Begriffe
[73]der Faͤhigkeiten.
nicht bloße Wiederholungen eines einzigen ſind.
Von zwey Menſchen, die durchaus einerley uͤber
eine gewiſſe Materie denken, hat gewiß nur Einer
oder gar keiner gedacht; es muß ihnen ein frem-
des Gepraͤge ſeyn aufgedruͤckt worden, ihre eigne
Geſtalt wuͤrde Unaͤhnlichkeiten haben. Ein jun-
ger Menſch alſo, bey dem ſich die Faͤhigkeit des
Nachdenkens zuerſt entwickelt, wird ſeines Lehrers
Unterſuchung mehr zur Gelegenheit als zum Mu-
ſter ſeiner eignen brauchen. Wenn er mit ihm
zuſammentrifft, ſo wird er die nunmehr erlernten
Begriffe als die ſeinigen mit dem vollen Bewußt-
ſeyn des Eigenthums annehmen und bewahren;
wenn er von ihm abgeht, ſo wird er eben ſo dreiſt
verwerfen, und wenn man ihn belehren will, reich
an Zweifeln und Einwuͤrfen ſeyn. Man ſieht ſo
oft, daß gute junge Koͤpfe ſtreitſuͤchtige Koͤpfe
ſind. Wenn dieſer Widerſpruch die Folge von
wirklich angeſtellten Unterſuchungen, und nicht die
Abſicht derſelben iſt: wenn er bloß von einer
freyen und durch kein Anſehen des Lehrers einge-
ſchraͤnkten Beurtheilung herruͤhrt, ohne zuvor
E 5
[74]Ueber die Pruͤfung
ſchon beſchloſſen worden zu ſeyn, ehe man noch
gepruͤft hatte: ſo iſt er eine Uebung fuͤr den Schuͤ-
ler und eine Probe ſeiner Faͤhigkeiten. In dieſem
Fall giebt es, wie Plato ſagt, fuͤr die Irrenden
keine andre Strafe, als die, belehrt zu werden. —
Aber wenn ſich die Eitelkeit darein miſcht, und
man ſchon immer geneigt iſt, die entgegenſtehen-
de Meynung anzunehmen, ehe man noch die
Gruͤnde dazu gefunden hat; wenn man nun
ſchon anfaͤngt, Irrthuͤmer zu wuͤnſchen, um ſie
aufdecken zu koͤnnen: ſo kann die Streitſucht den
Kopf verderben, den Faͤhigkeiten eine falſche
Richtung geben, und das auf Spitzfuͤndigkei-
ten und Diſputirkuͤnſte verwenden, was die Na-
tur zur Erforſchung der Wahrheit beſtimmt
hatte.
Die Erlernung der Sprachen iſt gemeiniglich
unſer erſtes Studium; alſo wird ſie auch die erſte
Gelegenheit fuͤr den Lehrer ſeyn, die Koͤpfe ſeiner
Schuͤler zu unterſuchen. Ein Theil der Sprache
iſt willkuͤhrlich, und kann bloß von dem Gedaͤcht-
niſſe gefaßt werden; der andre iſt philoſophiſch,
[75]der Faͤhigkeiten.
und beruht auf den Verhaͤltniſſen der Begriffe.
Von dem bloß nachdenkenden Geiſte wird der erſte
ſchwer gefaßt; er hat nichts, woran er ſich hal-
ten kann, und alles Vergoßne iſt verloren. Aber
der andre wird ihm leicht; er koͤmmt geſchwind
mit der Abſtraction gewiſſer allgemeinen Regeln
der Anordnung und Verbindung der Begriffe zu
Stande, die er, ohne es zu wiſſen, bey der Er-
klaͤrung der Stellen zum Grunde legt, die er nicht
nach den Bedeutungen aller einzelnen Woͤrter ver-
ſteht; ein lebhaftes Gefuͤhl vom Zuſammenhange
macht ihm beſtaͤndig das Unrichtige oder das
Mangelhafte ſeiner Erklaͤrungen merklich, und
hilft ihm oft zum voraus ſchon dasjenige muth-
maßen, was er durch die Auslegung finden ſoll.
Bey einer gewiſſen Fertigkeit in der Sprache, bey
welcher er ſchon Verſuche im Schreiben machen
kann, wird es ihm oft an Woͤrtern und Ausdruͤcken
fehlen, aber er wird dem Genie der Sprache we-
niger Gewalt anthun; er wird viele von ſolchen
Sprachfehlern begehen koͤnnen, die bloß willkuͤhr-
liche Regeln der beſondern Grammatik uͤbertreten,
[76]Ueber die Pruͤfung
aber keine ſolchen, die in allen Sprachen Unge-
reimtheiten waͤren.
So wie die Sprache, ſo hat jeder andre Ge-
genſtand des Wiſſens und des Thuns eine dop-
pelte Seite; eine Seite fuͤr den Fleiß und das Ge-
daͤchtniß, eine andre fuͤr das Nachdenken und
den Verſtand. Man kann nach einem langen
Studio der Geſchichte von ihr, außer einzelnen
merkwuͤrdigen und großen Thatſachen, faſt nichts
als ihre Philoſophie wiſſen; und man kann hin-
gegen in der Mathematik nichts als eine Nach-
richt von ihren Saͤtzen lernen. Ob man alſo
gleich in der erſten Erziehung nicht ſchon der
Wiſſenſchaft einen ausſchließenden Vorzug geben
darf, die man nach der Wahl oder nach den Faͤ-
higkeiten des Lehrlings als ſein kuͤnftiges Stu-
dium anſieht, theils, um nicht dadurch den Kopf
zu ſehr einzuſchraͤnken, wenn man ſeinen natuͤrli-
chen Hang durch eine zu fruͤhzeitige Befriedigung
noch verſtaͤrkte, theils weil keine Ausuͤbung einer
menſchlichen Faͤhigkeit ohne einen gewiſſen Grad
von Vollkommenheit in den uͤbrigen, vortreflich
[77]der Faͤhigkeiten.
oder auch nur brauchbar werden kann: ſo iſt es
doch ſehr unrecht, daß, wenn man auch mit dem
groͤßten Theile junger Leute einerley Wiſſenſchaf-
ten treiben darf, man von ihnen einerley fodert,
und ihren Fleiß oder ihre Tuͤchtigkeit gerade nach
einerley Art des Fortgangs beurtheilt. In der
That wird der junge Menſch vom groͤßten Ver-
ſtande in dieſem Alter am meiſten zuruͤckgeſezt;
weil man auf das, was er beſſer als andre in ſei-
nen Arbeiten leiſtet, als auf ein Nebenwerk oder
etwas Ueberfluͤßiges nicht Acht hat, und hingegen
die Art von Vortreflichkeit verlangt, zu der er am
unfaͤhigſten iſt. Thatſachen und Woͤrter, mit ei-
nem Worte alles das, was man durch Sprachen
und Geſchichte erlernet, muͤſſen freylich jedem ſtu-
direnden Juͤnglinge gelehrt werden. Sie berei-
chern den Kopf, indem ſie ihm zugleich eine man-
nichfaltige Art von Gegenſtaͤnden darbieten, un-
ter denen die Natur leichter und ſichrer den rech-
ten findet, fuͤr den ſie den Menſchen beſtimmt hat.
Aber man muß bey dieſem Unterrichte nicht durch-
gaͤngig einerley Zweck haben. Wir wollen die
[78]Ueber die Pruͤfung
Geſchichte zum Beyſpiele nehmen. Dem einen
wird es leicht, ſich die ganze Folge und den Zu-
ſammenhang der Begebenheiten, ſo wie er durch
fruchtbare und unfruchtbare Zeiten von Genealo-
gie und Chronologie fortgefuͤhrt wird, einzupraͤ-
gen; ohne daß irgend eine Begebenheit heftigen
Eindruck genug gemacht haͤtte, um ſich mit allen
ihren kleinen Umſtaͤnden, die allemal bey Bege-
benheiten das Intereſſirende ausmachen, in ſeiner
Einbildungskraft zu erhalten. — Dem Geſchichts-
lehrer, dem eigentlichen Gelehrten im engſten
Verſtande des Worts, iſt eine ſolche Erlernung
nothwendig. — Ein andrer findet unbeſchreib-
liche Muͤhe, dieſe Kette zuſammenzuſetzen; kaum
denkt er ſie vollſtaͤndig zu haben, ſo ſind ſchon
wieder einige Glieder davon verloren gegangen;
Namen ohne Begebenheiten, Zeitpunkte ohne Um-
ſtaͤnde, die dieſelben merkwuͤrdig gemacht haben,
entwiſchen ihm augenblicklich; und alle Muͤhe,
dieſe Luͤcken wieder auszufuͤllen, iſt verloren. Aber
dafuͤr bleibt das Bild großer Maͤnner und großer
Thaten mit allen ſeinen kleinen Zuͤgen in ſeiner
[79]der Faͤhigkeiten.
Seele unausloͤſchlich; er behaͤlt nichts, als wo-
fuͤr er ſich intereſſirt, aber dieß behaͤlt er auch
ganz und ſo, daß er alle Augenblicke davon Ge-
brauch machen kann. — Große Staatsmaͤnner
und große Heerfuͤhrer haben die Geſchichte nicht
anders gekannt; und kaum hat der ſie noͤthig an-
ders zu kennen, der nur Beyſpiele und Rath-
ſchlaͤge bey ihr ſucht. Ein dritter wird vielleicht,
nach einem eben ſo langen und aͤmſigen Studio,
immer noch Namen, Perſonen und Begebenheiten
verwechſeln; weder das Ganze noch die einzelnen
Theile haben ſich in ſeinem Gedaͤchtniſſe erhalten,
er weiß in der That von den Vorfaͤllen ſelbſt
nichts: aber deswegen hat doch dieſe Wiſſenſchaft
ihre Frucht fuͤr ihn gebracht; waͤhrend der Arbeit
eine Menge von Uebungen, und nach derſelben
eine Menge von Reflexionen, Grundſaͤtzen, Er-
fahrungen, die er nach und nach ohne deutliches
Bewußtſeyn aus den Begebenheiten herausgezo-
gen hat, und die die Principien ſeines Denkens
geblieben ſind, nachdem er ſich an keine einzige
dieſer Begebenheiten mehr erinnern konnte. Viel-
[80]Ueber die Pruͤfung
leicht giebt es einen vierten, der aus der Geſchich-
te ungefaͤhr eben ſo ein weſentliches Stuͤck von ihr
zuruͤckbringt, als der rechnende engliſche Bauer
aus der Oper, der die Violinſtriche zaͤhlte; und
doch wuͤrde ſie noch immer einen Einfluß uͤber
ſeine Denkungsart und ſeinen Kopf behalten. —
Dieß alſo iſt des weiſen Lehrers Arbeit und ſein
Verdienſt, bey jeder Wiſſenſchaft von ihrem ei-
genen und unmittelbaren Endzwecke, der Erler-
nung der Sachen, die ſie enthaͤlt, noch den
mannichfaltigen Gebrauch, der ſich davon ma-
chen laͤßt, zu unterſcheiden, und ſeiner Schuͤler
Faͤhigkeiten aus dieſem Gebrauche zu beur-
theilen.
Der philoſophirende Verſtand, um uns nicht
zu weit von ihm zu verlieren, zeigt ſich am deut-
lichſten durch die Begriffe, die er ſelbſt hervor-
bringt. In nichts unterſcheiden ſich die guten
Koͤpfe von den ſchlechten ſo ſehr, als in ihren
Aufſaͤtzen. Bey dem bloßen Lernen kann groͤßre
Aemſigkeit und vielleicht mehr Gedaͤchtniß die lez-
tern weiter gebracht haben: aber der Gebrauch,
[81]der Faͤhigkeiten.
den die erſtern auch von ihrer geringern Kenntniß
in dem machen, was ſie fuͤr ſich ſelbſt denken,
wird ihnen ſehr bald ihren Vorzug wiedergeben.
Zuerſt iſt immer etwas Eignes und Charakteriſti-
ſches, wo die Kraft der Seele ſelbſt ſchafft, nicht
bloß empfangne Ideen zuruͤckgiebt; zweytens
aͤußert ſich der Geiſt des Nachdenkens durch eine
gewiſſe Verfolgung einerley Idee, durch eine Aus-
einanderwickelung allgemeiner Grundſaͤtze, durch
die Geſchicklichkeit, viele Begriffe aus einem ge-
meinſchaftlichen Gliede herzuleiten. Wenn auch
in den einzelnen Begriffen noch Dunkelheit, in
den Saͤtzen Irrthum, in ihrer Anwendung Spitz-
fuͤndigkeit iſt; ſo wird doch das Ganze zuſammen-
haͤngen, ein Irrthum wird wenigſtens durch den
andern unterſtuͤtzt werden.
Die Faͤhigkeit nachzudenken, mit einem Gra-
de von Einbildungskraft vermiſcht, giebt das, was
wir nach Verſchiedenheit der Gegenſtaͤnde Witz
oder Scharfſinn nennen. Es iſt bekannt, daß
man zu dem Gebiete des erſten die Aehnlichkeiten,
und zum Gebiete des andern die Unterſchiede der
F
[82]Ueber die Pruͤfung
Dinge beſtimmt. Aber darauf hat man nicht im-
mer Acht gegeben, daß dieſe Verbindungen oder
dieſe Trennungen bald durch die Einbildungskraft
und bald durch den Verſtand geſchehen koͤnnen;
daß es einen ſinnlichen und einen vernuͤnftigen
Witz gebe.
Das, was man den Witz im engern Ver-
ſtande nennen koͤnnte, und was in der Welt un-
ter dieſem Namen gemeiniglich bekannt iſt, beſteht
in einer gewiſſen Erfindſamkeit, verborgne und
doch einleuchtende Verbindungen unter Begriffen
zu entdecken, die von einander ſehr entfernt ſchei-
nen. Man hat die Productionen deſſelben Ein-
faͤlle genannt, um dadurch die Art von Verglei-
chungen auszuſchließen, die durch Unterſuchung
und Nachdenken gefunden werden, und den Cha-
rakter der Schnelligkeit anzuzeigen, der dieſen
Werken des Witzes weſentlich iſt, und ihr vor-
nehmſtes Verdienſt ausmacht. Es iſt begreiflich,
daß dieſe außerordentlichen Verbindungen unter
ſehr fremdſcheinenden Ideen ſchlechterdings eine
gewiſſe Mannichfaltigkeit und einen unordentli-
[83]der Faͤhigkeiten.
chen Reichthum von Objekten verlangen, unter
welchen ſich von Zeit zu Zeit einige zuſammen fin-
den muͤſſen, die einer ſolchen Verbindung faͤhig
ſind. Um deswillen iſt die Geſellſchaft und ein
vermiſchtes abwechſelndes Geſpraͤch der eigentliche
Ort und die Werkſtaͤtte des Witzes. Wo eine
fortgehende Reihe von Begriffen die Abſicht iſt, da
ſind die Ideen alle von einerley Art, ihre Ueber-
einſtimmung wird ſchon vorhergeſehen, und darf
nur von dem Verſtande beſtimmt und abgewogen
werden. Ein witziger Kopf befindet ſich alſo oft
weit beſſer unter einer Geſellſchaft leerer Schwaͤtzer,
die niemals auf einer Sache beharren, und deren
durch einander gehende verworrene Begriffe deſto
ſeltſamere Verbindungen erlauben, (noch das Ver-
gnuͤgen der Eitelkeit hinzugerechnet, das Leben
und die einzige Seele der Geſellſchaft zu ſeyn,) als
bey einer Zuſammenkunft verſtaͤndiger Maͤnner,
deren Gedanken gleichfoͤrmiger und regelmaͤßiger
fortgehen.
Man ſieht leicht, daß dieſe Art von Witz ſich
mit dem, was wir den praktiſchen Verſtand ge-
F 2
[84]Ueber die Pruͤfung
nannt haben, beſſer als mit dem theoretiſchen
vertraͤgt. Die Einbildungskraft muß viele Be-
gebenheiten und Bilder im Vorrath haben, und
ſie muß durch jeden Anlaß, durch die kleinſte Ver-
wandtſchaft der gegenwaͤrtigen Dinge an dieſelbe
erinnert werden, wenn die Vernunft ſie eben ſo
geſchwind ſoll vergleichen koͤnnen. Ueberdieß lie-
gen dieſe Aehnlichkeiten, die der Witz aufſucht,
nicht in dem Weſentlichen und Innern der Sa-
chen, nicht, ſo zu ſagen, in ihrer Struktur, ſon-
dern nur in der aͤußern Geſtalt, in ihren zufaͤlli-
gen und abwechſelnden Merkmalen. Aber dieſe
leztern koͤnnen, ihrer Menge und ihrer Kleinheit
wegen, nicht durch deutliche Begriffe erkannt wer-
den; und wer durch dieſe am meiſten denkt, uͤber-
ſieht ſie, oder ſtellt ſie ſich falſch vor. Endlich
iſt der Schein des Ohngefaͤhrs, der dem wirklich
witzigen Einfalle nothwendig iſt, niemals zu er-
halten, wenn die Ideen zu ſehr in einander ge-
gruͤndet ſind, und man augenſcheinlich die Folge
einſieht, in der man auf ſie hat kommen koͤnnen.
Der zu genaue und innere Zuſammenhang alſo,
[85]der Faͤhigkeiten.
der zwiſchen den Ideen in einem bloß philoſophi-
renden Kopfe ſeyn muß, wenn eine die andre ſoll
erwecken koͤnnen, macht ihm leichte und zufaͤllige
Verknuͤpfungen unmoͤglich; ſeine Einfaͤlle haben
immer das Anſehen des Studirten und Ausge-
dachten. In der Geſellſchaft ſind die Erfah-
rungen leicht zu machen, die dieſes beſtaͤtigen.
Wenn eine gewiſſe Materie zum Geſpraͤche aufge-
worfen wird, ſo ſind gemeiniglich, (wenn uͤber-
haupt die Geſellſchaft nicht aus Dummkoͤpfen be-
ſteht,) zwo Parteyen in der Art, wie ſie mit dem
Gegenſtande umgehen. Die einen wollen die Sa-
chen als eine wirkliche Materie des Geſpraͤchs, die
andern nur als eine Gelegenheit dazu brauchen.
Jene wiſſen von den Dingen nichts zu ſagen, als
in ſo fern ſie ſie ſelbſt unterſuchen koͤnnen; dieſe
finden an den Beziehungen derſelben Stoff zum
Reden genug, entweder durch die Erinnerungen,
die ſie in ihnen erwecken, oder durch die Anwen-
dungen, die ſie davon machen koͤnnen. Beſon-
ders iſt die Gabe gut zu erzaͤhlen das Eigenthum
des witzigen Kopfs. Die Theile einer Begeben-
F 3
[86]Ueber die Pruͤfung
heit ſo zu ordnen, daß diejenigen neben einander
kommen, deren Aehnlichkeit oder deren Kontraſt
den Eindruck machen ſoll; ſie durch den Ausdruck
in das gehoͤrige Licht zu ſtellen, und ihr ein laͤ-
cherliches, oder wenigſtens ein außerordentliches
Anſehen zu geben: alles das hindert der bloße
reine Verſtand durch die Langſamkeit, mit der er
verfaͤhrt. Zum Unterſuchen ſind dieſe Sachen
zu klein und zu mannichfaltig; ein gewiſſes Ge-
fuͤhl muß ſie uns finden lehren, und dieſes Ge-
fuͤhl giebt der Witz. Aber eben deswegen iſt es
dem witzigen Kopfe ſo natuͤrlich, Geſchichte zu er-
dichten, oder die wahren zu verunſtalten. Da
die ſeltſamen Verbindungen unter Vorfaͤllen im-
mer angenehmer ſind, als die unter Ideen: ſo
erzaͤhlt er noch lieber, als er Einfaͤlle ſagt. Und
weil nun in der wirklichen Welt, beſonders in
dem engen Zirkel der Erfahrungen eines einzigen
Menſchen, ſolche Verbindungen weit ſeltner vor-
kommen, als ſie der witzige Kopf braucht: ſo muß
er oft die Armuth der Natur in dieſem Stuͤcke er-
ſetzen, oder wenigſtens dem Alltaͤglichen der Bege-
[87]der Faͤhigkeiten.
benheiten durch einen Zuſatz von ſeiner eigenen
Schoͤpfung aufhelfen.
Auf keine Faͤhigkeit thun ſich Aeltern bey ih-
ren Kindern mehr zu gute, und bey keiner koͤnnen
ſie leichter hintergangen werden, als bey dem
Witze. So wie der wirkliche Witz ſeinen Erfin-
dungen den Schein des bloßen Zufalls und eines
nicht vorhergeſehenen, nicht zur Abſicht gehabten
Laͤcherlichen geben muß: ſo kann hinwiederum
der Zufall in der That oft eben das hervorbrin-
gen, was ſonſt nur das Werk des Witzes iſt. In
einem Kopfe, wo ſchon die Ideen nach gewiſſen
Abſichten und nach gewiſſen Regeln geordnet wer-
den, iſt dieſes nicht moͤglich, oder wenigſtens ſel-
ten. Aber wo noch die Seele alle Begriffe, die
ihr vorkommen, ohne den geringſten Grund ihrer
Aehnlichkeit oder ihrer Verbindung dabey noͤthig
zu haben, zuſammenſezt; da muͤſſen nothwendig
unter der Menge ganz ungereimter und nichtsbe-
deutender Verknuͤpfungen einige vorkommen, in
die ſich ein laͤcherlicher oder ein verſtaͤndiger Sinn
hineinlegen laͤßt. Ein Zweig des Witzes iſt die
F 4
[88]Ueber die Pruͤfung
Naivetaͤt. Sie beſteht darinnen, wenn unter
dem Scheine der Einfalt und der Unwiſſenheit eine
große oder doch eine auffallende Wahrheit geſagt
wird; wenn der Ausdruck ungereimt oder einfaͤl-
tig, und der Sinn groß iſt. Wenn man nun bey
Kindern ſolche Ausdruͤcke noch dazu mit der ein-
nehmenden Miene der Unſchuld und der Freund-
lichkeit vorbringen hoͤrt, ſo glaubt man, ſie ſind
naiv, ob ſie gleich bey ihnen oft wirklich Einfalt
ſind. Man bemerkt naͤmlich nicht, daß der Ge-
danke, den man ſonſt vielleicht mit dieſem oder
einem aͤhnlichen Ausdrucke zu verbinden gewohnt
iſt, bey dem Kinde wirklich fehlt; der, den es hat-
te, war vielleicht ſo nichtsbedeutend oder ſo wi-
derſinnig, als der Ausdruck. Daher ſcheinen ſo
oft dieſe artigen Einfaͤlle, die im dritten Jahre be-
wundert wurden, Ungereimtheiten im achten.
Das Kind ſagt izt nichts ſchlechters, als zuvor;
aber man wird nur mehr gewahr, daß der Ge-
danke, den man vorausgeſezt hatte, nicht vorhan-
den ſey; der angenommene Kontraſt zwiſchen Be-
[89]der Faͤhigkeiten.
zeichnung und Idee faͤllt weg, das Naive wird
toͤlpiſch.
Wenn es aber auch noch leicht waͤre, den
wahren Witz zu erkennen, ſo iſt es doch gewiß
ſchwer, die uͤbrigen Faͤhigkeiten des Kopfes nach
demſelben zu beurtheilen. Natuͤrlicherweiſe aͤuſ-
ſert ſich der Witz am erſten, weil auch unter einem
kleinen Vorrathe von Ideen ſchon genug Zuſam-
menſetzungen moͤglich ſind, und dieß eben das
Werk und das Verdienſt des Witzes iſt, das Ver-
borgne zu finden: aber er iſt deswegen nicht im-
mer die Ankuͤndigung eines großen Geiſtes. Mit
dem philoſophiſchen Geiſte vertraͤgt er ſich ſelten;
eine ſehr feurige Einbildungskraft verzehrt ihn ſo zu
ſagen, und er findet nur bey einer gewiſſen Mit-
telmaͤßigkeit dieſer beiden Hauptfaͤhigkeiten ſtatt.
Alles, was er ſucht, liegt nur auf der Oberflaͤche,
und bedarf weder ein tiefes Nachdenken, noch eine
ſehr ſtarke Empfindung.
Er iſt ſogar, wenn er zu fruͤhzeitig ausgebil-
det wird, der Uebung der andern Faͤhigkeiten
ſchaͤdlich. Da er die Seele gewoͤhnt, immer von
F 5
[90]Ueber die Pruͤfung
dem Weſentlichen der Sachen abzugehen, und auf
ihre Zufaͤlligkeiten und ihre aͤußern Verhaͤltniſſe
zu ſehen, ſo verhindert er die Unterſuchung; und
indem er die Aufmerkſamkeit der Seele bey jedem
Gegenſtande theilt, und ſie von der bloßen Be-
trachtung gleich auf Anwendungen deſſelben ab-
zieht, ſo laͤßt er keinen ſtarken und bleibenden
Eindruck zu. Der Witz iſt der Diener und der
Gehuͤlfe der Eitelkeit. So wie er das Licht iſt,
welches die Talente den Augen des großen Hau-
fens ſichtbar macht, ſo erhoͤhet er ſie zugleich in
den Augen des Menſchen ſelbſt. Die Geſchicklich-
keit, ſich mit Vortheile zu zeigen, erweckt die Be-
gierde, es oft zu thun: und ſo wird die Bemuͤ-
hung, neue Vorzuͤge zu erwerben, durch die Be-
muͤhung, ſeine alten ſehen zu laſſen, geſtoͤrt.
Man ſollte ſich aber um deſto weniger um
dieſe Faͤhigkeit Muͤhe geben, weil ſie unter allen
uͤbrigen die wenigſte Cultur zulaͤßt oder erfodert.
Sie entwickelt ſich von ſelbſt, und man kann
nichts anders zu ihrer Ausbildung thun, als ſie
regieren und im Zaume halten. Der Witz iſt vor-
[91]der Faͤhigkeiten.
treflich, wenn er in eine Seele, die ſchon mit
Ideen und Bildern angefuͤllt iſt, als die lezte
Verſchoͤnerung hinzukoͤmmt. Der Reichthum
wird alsdann zugleich zur Pracht, und die Ge-
ſtalten, in welche die Seele ihre Begriffe kleidet,
werden eben ſo ſchoͤn, als die Begriffe ſelbſt ge-
ſund und vollkommen ſind. Sollen aber dieſe
Ideen und Bilder erſt geſammlet werden,
dann iſt ſeine Geſchaͤftigkeit ſchaͤdlich und hin-
derlich.
Aber dieſe ganze Gattung von Witz iſt nicht
die einzige. Es giebt einen andern ſo zu ſagen
reflektirenden Witz, der mit der zwoten Art von
Imagination, von der wir oben geredet haben,
in Verbindung ſteht; ein Witz, der nicht unter
einzelnen Dingen, ſondern unter allgemeinen
Ideen, und nicht aͤußere Verhaͤltniſſe, ſondern in-
nere Uebereinſtimmungen, aber auf eine ſolche Art
ſucht, daß man die Operation des Verſtandes
und die Folge der Begriffe, durch welche dieſe Ue-
bereinſtimmungen ſind gefunden worden, nicht ge-
wahr wird. Naͤmlich ein bloß geſunder natuͤrli-
[92]Ueber die Pruͤfung
cher Verſtand, ohne dieſen Witz, haͤlt keine an-
dern Ideen gegen einander, als wo ſich ſchon aus
dem, was er von ihnen weiß, ihre Uebereinſtim-
mung vorherſehen laͤßt, und wo es alſo bloß dar-
auf ankoͤmmt, dieſelbe auf etwas Beſtimmtes und
Deutliches zu bringen. Auf dieſe Art verfaͤhrt
die kluge Vorſichtigkeit in den gewoͤhnlichen Ge-
ſchaͤften des gemeinen Lebens, und die beſcheidene
Lehrbegierde in der Erlernung der Wiſſenſchaften.
Dieſe Eigenſchaften ſichern den Menſchen vor Ver-
wegenheit und Irrthum; aber ſie machen ihn
auch zu großen Unternehmungen und zu neuen
Entdeckungen untuͤchtig. Wenn aber mit dem
Verſtande ſich der Witz vermaͤhlt, ſo wird der
erſte beherzter und unternehmender. Er bekoͤmmt
einen gewiſſen geheimen Zug, die unaͤhnlichſten
Begriffe mit einander zu vergleichen, und die
entfernteſten zuſammenzubringen; das Feld ſeiner
Geſchaͤftigkeit wird groͤßer, die Vergleichung ge-
ſchieht ſchneller; die Verbindungen, die er macht,
werden mannichfaltiger und neuer.
[93]der Faͤhigkeiten.
Es giebt ferner in der Philoſophie, im Erklaͤ-
ren und im Beweiſen eben ſo wohl einen gewiſſen
Geſchmack, als in den Kuͤnſten und in den Wer-
ken des ſchoͤnen Geiſtes; ein dunkles Gefuͤhl von
der Staͤrke oder der Schwaͤche der Gruͤnde ſelbſt,
ehe man ſie noch genau gepruͤft hat; ein vorlaͤu-
figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch-
barkeit ſeiner Ideen vor der Unterſuchung. Die-
ſer Geſchmack nun wird von dem Witze, von dem
wir reden, und den die Lateiner Sagacitaͤt nen-
nen, hervorgebracht. Er weiſet dem Nachdenken
die Punkte an, auf die es ſich zu richten hat.
Bey der Erlernung der Wiſſenſchaften bringt er
eine ſchnelle Begreifung und eine richtige Anwen-
dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey
einem hoͤhern Fortgange aͤußert er ſich durch eine
gewiſſe Erfindſamkeit, die Seite des Dinges zuerſt
zu finden, von der ſie ſich am beſten angreifen
laͤßt, und den Begriff von ihm zu faſſen, der am
leichteſten und am fruchtbarſten bearbeitet werden
kann. So zeigt er ſich z. B. in der Mathematik
durch die Wahl der Beweiſe, durch die Abkuͤrzung
[94]Ueber die Pruͤfung
des Weges, und durch eine gewiſſe feinere Ver-
wickelung und eine unvermuthete Aufloͤſung der
Aufgaben.
Mit dem Witze gehoͤrt der Scharfſinn zu ei-
ner Klaſſe. Der Scharfſinn ſcheint mehr auf der
Partey des philoſophiſchen Verſtandes zu ſeyn,
ſo wie der Witz auf der Seite des dichteriſchen.
Denn eben das Unterſcheiden und Abſondern, mit
dem der Scharfſinn zu thun hat, bringt die Ab-
ſtraktion hervor, oder iſt eine Folge derſelben. Um
deswillen iſt die Subtilitaͤt, die eine Wirkung die-
ſer Urſache iſt, ſo oft fuͤr die Eigenſchaft der Phi-
loſophen angeſehen worden. — In der That
aber giebt es auch einen Scharfſinn, der ſich mit
dem Witz vermiſcht, und unter ſeinem Namen ver-
birgt. Die Begriffe von Aehnlichkeit und Unter-
ſchied ſind immer gegenſeitig, und wo Ueberein-
ſtimmungen bemerkt werden, da muß man die
Verſchiedenheiten zugleich mit empfinden, die von
jenen abſtechen.
Die andere Gattung von Scharfſinn aͤußert
ſich nur bey der Erlernung der Wiſſenſchaften.
[95]der Faͤhigkeiten.
Man hat aber nicht ſo wohl ihn kennen zu lernen,
als die Fehler, zu denen er verleiten kann. Die
falſche Anwendung von Scharfſinn iſt Spitzfin-
digkeit, und beſteht in der Entdeckung nichtswuͤr-
diger oder falſcher Unterſchiede.
Das fruͤhzeitigſte und beynahe das ſicherſte
Zeichen des Scharfſinns iſt ein richtiger Gebrauch
der Sprache. Jede Sprache hat eine Menge
Woͤrter und Ausdruͤcke, die im Hauptbegriffe
uͤbereinkommen, aber ſich doch durch ſo beſtimmte
und ausgemachte Nebenbegriffe unterſcheiden,
daß es wenig Faͤlle giebt, wo der Gebrauch der-
ſelben ganz gleichguͤltig waͤre. Dieſen Unterſchied
genau zu bemerken, und aus der Natur und der
Verbindung der uͤbrigen Begriffe zu beurtheilen,
welcher von dieſen Unterſchieden hier nothwendig
oder wenigſtens ſchicklich ſey, das kann nur der
Scharfſinn; und eben dieſes iſt es, was die Ge-
nauigkeit im Ausdrucke ausmacht. Leute, die
ſelbſt den Werth jedes Worts und den Gedanken
jeder Rede genau wiſſen, werden leicht an jungen
Leuten dieſe Verſchiedenheit bemerken. Einige ſa-
[96]Ueber die Pruͤfung
gen alles nur halb; ſie ſind zufrieden, wenn man
nur ungefaͤhr gewahr wird, was ſie ſich denken;
ſie nehmen immer das gewoͤhnlichſte Wort zuerſt,
und kennen keine andre Wahl des Ausdrucks, als
die Nachahmung, weil ſie keine Unterſchiede ken-
nen, nach denen ſie ihre Wahl beſtimmen ſollten.
Bey andern hingegen ſieht man wenigſtens die
Bemuͤhung, fuͤr ihre jedesmaligen Ideen einen
ihnen eignen Ausdruck zu finden; man bemerkt,
daß ſie auf den Zuſammenhang des ganzen Ge-
dankens Achtung gegeben, und in den Worten
mehr als den ganz groben Begriff, der in allen
andern Synonymen eben ſo gut war, geſucht ha-
ben. In der That, weil dieſe Richtigkeit des Aus-
drucks der Grund und beynahe das weſentlichſte
Stuͤck der Schoͤnheit des Stils iſt, ſo ſollte bey
den Ausarbeitungen, die man junge Leute machen
laͤßt, auf keine Eigenſchaft ſo ſehr geſehen wer-
den. Ein richtiger Gebrauch der Sprache bringt
in unſere Vorſtellungen eine groͤßere Mannichfal-
tigkeit, indem er uns unter Begriffen, die wir
ſonſt fuͤr einen einzigen gehalten haͤtten, Unter-
[97]der Faͤhigkeiten.
ſchiede finden laͤßt, durch die ſie zu mehrern wer-
den. Er macht die Entwickelung der Ideen
leichter, indem er uns bey jedem Begriffe, den
wir aufklaͤren wollen, die am naͤchſten damit ver-
wandten zeigt, von denen der Begriff durch die
Erklaͤrung abgeſondert werden muß; er giebt uns
endlich mehr Stoff zur Philoſophie, indem er
mehr Bedeutungen der Worte als ſo viel ſinnlich
klare Begriffe uns anweiſet, die wir deutlich zu
machen, und durch genaue Merkmale zu beſtimmen
haben.
Jetzo ſind wir im Stande, uns den Begriff
von einem Genie zu machen. — Wir haben geſe-
hen, daß einige Faͤhigkeiten in gewiſſer Maaße
einander entgegen ſtehn, und daß man ſie deswe-
gen ordentlicher Weiſe nur unter verſchiedenen
Menſchen vertheilt findet. — Aber wenn dieſel-
ben in einem beſtimmten Falle dieſen Streit auf-
heben; wenn ſie in einer gewiſſen Seele zuſam-
menkommen, und ſich einander das Gegengewicht
halten; wenn ſie ſich endlich alle zuſammen auf
einen gewiſſen Gegenſtand vereinigen: alsdann
G
[98]Ueber die Pruͤfung
bringen ſie ein Genie hervor. — Ueberhaupt heißt
Genie entweder alles, was in unſern Faͤhigkeiten
von der Natur herruͤhrt, und wird dem Erlern-
ten oder der Gelehrſamkeit entgegengeſezt; oder
es zeigt eine hoͤhere Klaſſe von Geiſt an, und in
dieſem Verſtande nehmen wir es jezt. — Es
giebt alſo ſo viel Genies, als es Gegenſtaͤnde fuͤr
beſondere Faͤhigkeiten giebt. Wir wollen zum
Beyſpiel das dichteriſche Genie nehmen. Es iſt
klar, daß ſeine herrſchende Eigenſchaft die Ein-
bildungskraft ſeyn muß, die von richtigen, ſtar-
ken und feinen Empfindungen geleitet, von einer
einſichtvollen, aber praktiſchen Vernunft ausge-
bildet, und durch den Witz ausgeſchmuͤckt wird.
Aber wenn die nachdenkende oder die philoſophi-
rende Vernunft dieſer nicht zur Seite gienge, ſo
wuͤrden ſich dieſe Bilder und dieſe Begriffe nicht
ausdruͤcken laſſen; denn alle Worte ſind Zeichen
fuͤr abgezogne Begriffe. Dieſe Uebereinſtimmung
und Vereinigung alſo von Empfindungskraft
und Vernunft, wovon die eine die Bilder, die
nachgemacht werden ſollen, vorſtellt; die andre
[99]der Faͤhigkeiten.
ſie ordnet und die Farben herbeyſchafft, mit de-
nen ſie entworfen werden: dieſes macht das Ei-
genthuͤmliche und das Seltne von dieſem Genie.
Faͤhigkeiten, die ſich in gewiſſem Grade aufheben,
muͤſſen ſich bey ihm vereinigeu; die Erinnerungs-
kraft, die die Ideen durch ihre Folge und Verbin-
dung aufweckt, muß mit dem Gedaͤchtniſſe, das
ganze Reihen von Begebenheiten wieder darſtellen
kann, verbunden ſeyn; die Empfindungen muͤſ-
ſen ſo ungeſtoͤrt bleiben, als wenn die Seele ſich
bloß mit dem Gegenſtande ſelbſt beſchaͤftigte,
und doch muß die Seele zugleich einen gehei-
men Blick auf ſich ſelbſt thun, um dieſe Empfin-
dungen gewahr zu werden, und ſie in den ge-
hoͤrigen Schranken zu halten. Empfinden und
Denken zugleich, das iſt die große Kunſt des Dich-
ters.
Ich will nur noch einige allgemeine Merk-
male, woran ſich gute Koͤpfe uͤberhaupt erkennen
laſſen, hinzuſetzen:
Erſtlich. Die Eitelkeit hat bey ihnen we-
niger Einfluß, und die Erwartung des Lobes iſt
G 2
[100]Ueber die Pruͤfung
bey ihnen ein ſchwacher oder uͤberfluͤßiger Bewe-
gungsgrund, weil die Sache ſelbſt ſchon fuͤr ſich
ſie beſchaͤftigt und einnimmt. Ein guter Schrift-
ſteller und ein wirklicher Gelehrter wird ſchon
durch das Vergnuͤgen, das er genießt, indem er
ſchreibt oder lehret, hinlaͤnglich belohnt, ohne
erſt die Hoffnung zu Huͤlfe zu nehmen, daß es
andre wiſſen werden. Wer alſo nicht mit einer
gewiſſen Leidenſchaft an ſeine Arbeit geht; nicht
aus Vergnuͤgen uͤber ſeine eigne Beſchaͤftigung
bey derſelben aushaͤlt, ohne alles Intereſſe des
Eigennutzes oder des Ehrgeizes; wer bey ſeiner
Wiſſenſchaft oder bey ſeinem Werke einen andern
Bewegungsgrund, als das Angenehme des Ge-
genſtandes ſelbſt, und das Vergnuͤgen ſeine Kraft
auszuuͤben bedarf, der iſt ohne Genie.
Zweytens. Gute Koͤpfe, die, wenn ſie fuͤr
ſich ohne Aufforderung und ohne Anſtrengung
uͤber eine Materie denken, voller Einſichten ſind,
werden vielleicht an den Zeiten und Orten, wo ſie
ſich am meiſten zeigen wollen, und wo es eigent-
lich darauf ankoͤmmt, eine Probe ihrer Faͤhigkeit-
[101]der Faͤhigkeiten.
ten zu geben, weniger leiſten als andre. Dieſes
iſt eine nothwendige Erinnerung fuͤr Lehrer, die
oft ſehr unrichtig die Faͤhigkeiten ihrer Schuͤler
aus den oͤffentlichen Pruͤfungen beurtheilen. —
Die Urſache davon iſt zum Theil phyſiſch. Zum
Denken wird eine gewiſſe Bewegung des Bluts
und der Lebensgeiſter erfodert. Die, bey wel-
chen ſonſt dieſe Bewegungen langſam und ſchlaͤf-
rig ſind, werden bey einer außerordentlichen Ge-
legenheit, wo dieſelben durch die Leidenſchaft des
Ehrgeizes, der Furcht, der Hoffnung beſchleunigt
und verſtaͤrkt werden, beſſer und richtiger denken.
Dahingegen die andern, bey welchen der gehoͤrige
Grad von Bewegung ordentlicher Weiſe vorhan-
den iſt, wenn die Bewegung durch eben dieſe Lei-
denſchaft noch mehr beſchleunigt wird, eben da-
durch unfaͤhiger werden. — Zum Theil iſt die
Urſache ſittlich. Jede Leidenſchaft entzieht dem
Gegenſtande einen Theil von der Aufmerkſamkeit
und von der Kraft der Seele, und nimmt ſie fuͤr
ſich weg. Je ſtaͤrker man alſo die Leidenſchaften
erregt, um deſto mehr ſchwaͤcht man eine jede an-
G 3
[102]Ueber die Pruͤfung
dre Anwendung der Seelenkraͤfte; und zwar ge-
rade da am meiſten, wo dieſe am groͤßten, und
alſo zugleich die Leidenſchaften am ſtaͤrkſten ſind:
dahingegen bey andern, wo Triebfedern fehlen,
wo die Wirkſamkeit der Seele an und fuͤr ſich
klein iſt, eben dieſe Leidenſchaften nuͤtzlich ſeyn
koͤnnen.
Drittens. Gute Koͤpfe haben ſelten eine ge-
wiſſe Art von ſo anhaltendem, und, wenn ich ſo
ſagen darf, ſklaviſchem Fleiße. Sie unterrichten
noch weit lieber ſich ſelbſt, als ſie ſich unterrich-
ten laſſen, und ihre Seele beſchaͤftigt ſich lieber
damit, ſelbſt Begriffe hervorzubringen, als ſie
bloß einzuſammeln. — So richtig dieſe Bemer-
kung iſt, ſo wuͤrde ſie verfuͤhren koͤnnen, wenn
man ſie nicht gehoͤrig einſchraͤnkte. Zuerſt alſo
ſteht der Grundſatz feſt: Ohne fortgeſezte und
vielfaͤltige Uebung, und ohne eine Erlangung von
mannichfaltigen Kenntniſſen, kann keine einzige
Faͤhigkeit des menſchlichen Geiſtes, und wenn ſie
auch von der eigentlichen Gelehrſamkeit noch ſo
entfernt waͤre, zur Vollkommenheit gelangen.
[103]der Faͤhigkeiten.
Aber dieſe Uebungen koͤnnen entweder von uns
ſelbſt gewaͤhlt, oder von andern vorgeſchrieben
ſeyn; dieſe Kenntniſſe koͤnnen uns entweder von
andern beygebracht, oder von uns ſelbſt aufge-
ſucht werden. Mittelmaͤßige Koͤpfe haͤngen in
beiden ſchlechterdings von ihren Lehrern ab; ſie
ſind niemals begierig, mehr von der Sache zu
wiſſen, als ihnen von derſelben iſt geſagt worden,
und niemals koͤmmt ihnen die Luſt zu andern Ar-
beiten an, als die ihnen aufgegeben ſind. Ihre
ganze Bemuͤhung alſo beſteht bloß im Faſſen und
im Wiederholen, und dieſe beſchaͤftigt ſie genug,
um zu nichts anderm weder Zeit noch Neigung zu
haben. Gute Koͤpfe hingegen finden in dem Un-
terrichte ihrer Lehrer nur einen Stoff, den ſie ſelbſt
erſt bearbeiten, ſie ſuchen ſich die Quellen der
Kenntniſſe, die ſie brauchen, ſelbſt; und ob ſie
gleich diejenigen nicht vernachlaͤßigen, die ihnen
angeboten werden, ſo ſind ſie doch nicht ſo aͤngſt-
lich begierig darnach, als die andern, die darin
das einzige Mittel ihrer Aufklaͤrung finden. —
Dieß iſt die eine Urſache dieſer Erſcheinung. Die
G 4
[104]Ueber die Pruͤfung
andre iſt, daß mit einer groͤßern Faͤhigkeit auch
nothwendig eine groͤßere Leichtigkeit im Arbeiten
verbunden iſt. Bey einer gleichen Anzahl von
Beſchaͤftigungen werden alſo natuͤrlicherweiſe die
erſten doch mehr Zeit unbeſchaͤftigt ſeyn, als die
andern. — Lehrer von Einſicht werden dieſes
Merkmal nutzen, und den Fleiß, der eine behende
und zugleich anhaltende Wirkſamkeit iſt, (das ei-
gene Gepraͤge des Genies,) von der bloßen Ar-
beitſamkeit, die in einer aͤmſigen und unermuͤde-
ten Wiederholung einerley vorgeſchriebner, und
vielleicht immer fruchtloſer, Bemuͤhungen beſteht,
unterſcheiden. Nur Lehrer von eingeſchraͤnkten
Einſichten, die noch dabey Eitelkeit haben, werden
die Faͤhigkeit ihrer Schuͤler nach der Zeit abmeſſen,
die ſie in ihren Hoͤrſaͤlen zugebracht haben, und
den beſtaͤndigen Zuhoͤrer auch fuͤr den geſchickte-
ſten halten.
Es iſt alſo nur noch die zwote Frage uͤbrig,
zu welcher Art von Geſchaͤften oder Wiſſenſchaften
jede Faͤhigkeit gehoͤrt. Ueberhaupt iſt ſchon aus
der Erklaͤrung dieſer Faͤhigkeiten ſelbſt klar, daß
[105]der Faͤhigkeiten.
der bloß philoſophirende Verſtand fuͤr die Theorie,
der andre fuͤr die Ausuͤbung iſt; der eine Gelehr-
te, der andre Leute von Geſchaͤften oder Kuͤnſtler
macht. Huart hat dieſen Theil unſrer Materie
ſchon ſehr gut abgehandelt, und wir brauchen alſo
nichts als einige Anmerkungen zu machen, die
ſich hauptſaͤchlich auf die Wiſſenſchaften einſchraͤn-
ken ſollen.
Unter der Klaſſe von Menſchen, die man Ge-
lehrte nennt, ſind einige bloß dazu beſtimmt, die
ſchon bekannten Wahrheiten fortzupflanzen, und
die Wiſſenſchaft zu lehren; andere, ſie zu erwei-
tern: die dritten, ſie auf das menſchliche Leben
und den wirklichen Nutzen der Geſellſchaft anzu-
wenden. Man wuͤrde ſehr unrecht thun, wenn man
lauter Genies fuͤr die Wiſſenſchaften foderte, da es
doch eine Menge von Aemtern und Verrichtungen
giebt, die einen Gelehrten fodern, und die ohne
Genies beſſer beſtellt werden. Geſunder Verſtand,
(bon ſens) das heißt, eine nicht ſehr tiefſinnige,
aber doch richtige Vernunft, die ſich an den ge-
woͤhnlichen Gegenſtaͤnden der menſchlichen Kennt-
G 5
[106]Ueber die Pruͤfung
niſſe geuͤbt hat; eine Gabe, die Gedanken andrer
zu faſſen, und in den Sinn deſſen, was man lieſt
oder hoͤrt, einzudringen; ein Gedaͤchtniß, wel-
ches, wenigſtens bey einer hinlaͤnglichen Wieder-
holung, die alten Gedanken erneuert, und uns in
den Stand ſezt, immer das wieder von neuem zu
lernen, was wir von Zeit zu Zeit vergeſſen: das
iſt fuͤr dieſe Aemter und fuͤr die Klaſſe von Gelehr-
ten, die ſie beſorgen, und alſo ohne Zweifel fuͤr
den groͤßten Theil, hinlaͤnglich. Wenn zu dieſen
Faͤhigkeiten des Verſtandes noch gewiſſe Eigen-
ſchaften des Charakters hinzukommen; erſtlich
die Beharrlichkeit, welche Schwierigkeiten uͤber-
windet, und auch einen langſamen Fortgang un-
unterbrochen verfolgt; zweytens eine Sorgfalt,
keine Begriffe eher fuͤr erlernt anzuſehen, bis ſie
ſie andern wieder beybringen koͤnnen: ſo koͤnnen
recht gute Lehrer auf Akademien und Schulen dar-
aus werden, ſie koͤnnen gute Koͤpfe zubereiten,
und mittelmaͤßigen ihre Bildung geben. Man
wuͤrde alſo durch die Strenge, die alle mittel-
maͤßigen Koͤpfe von der Gelehrſamkeit ausſchließt,
[107]der Faͤhigkeiten.
dem Staate mehr ſchaden als nuͤtzen. Geiſter
von hoͤhern Gaben laſſen ſich entweder ſchwerlich
zu dieſen Dienſten brauchen, oder verrichten ſie
in der That ſchlechter, weil ſie ſie unwillig oder
zerſtreut thun, und ſie nur als Nebendinge anſe-
hen, von denen ſie je eher je lieber wieder loszu-
kommen ſuchen. Ein geſchickter Lehrer wird ei-
nen jungen Menſchen, der in dieſe Klaſſe von
brauchbaren Gelehrten kommen kann, bald erken-
nen. Seine Gedanken werden niemals etwas
Eigenes und Hervorſtechendes haben, aber ſie
werden auch niemals abgeſchmackt ſeyn; er wird
oft andern nachahmen, aber er wird es doch auf
eine ſchickliche Art zu thun wiſſen; er wird fleißig,
bedachtſam und uͤberlegt ſeyn, und vor allen
Dingen bey dem Mittelmaͤßigen, was er macht,
ſich einer gewiſſen hoͤhern Vollkommenheit bewußt
ſeyn, die er nicht erreichen kann. In der That
kann eine ſehr mittelmaͤßige Arbeit, ein ſchlechtes
Gedicht, von einem ganz guten Kopfe herruͤhren:
aber wenn er es ſelbſt fuͤr vortreflich haͤlt, wenn
er den Unterſchied gegen andre nicht fuͤhlt, dann
[108]Ueber die Pruͤfung
iſt er verloren. Ein ſolcher muß die Wiſſenſchaf-
ten verlaſſen.
Die andere Klaſſe von Gelehrten, welche die
Wiſſenſchaften erweitern ſollen, erfodert wirklich
das, was man Genie nennt, das heißt, irgend
eine Faͤhigkeit in einem vorzuͤglichen Grade und
die uͤbrigen in einer gehoͤrigen Unterordnung, ſie
zu unterſtuͤtzen. Wir haben hier das meiſte ſchon
gethan, da wir die Merkmale dieſer Faͤhigkeiten
angegeben haben. Die Wiſſenſchaften ſelbſt
braucht man hier nicht erſt auszuzeichnen; zuerſt,
weil ſolche Koͤpfe fuͤr ſich ſelbſt die Gegenſtaͤnde
finden, die fuͤr ſie gemacht ſind; zweytens, weil
faſt jede Wiſſenſchaft ſo viel verſchiedene Seiten
hat, daß man eben ſo viel verſchiedene Koͤpfe
braucht, um ſie anzubauen.
Nur bey der Wahl der Wiſſenſchaften iſt noch
dieß zu merken. Man ſuche den jungen Leuren
einen wirklichen Begriff von denſelben beyzubrin-
gen, ſo daß ſie im Ganzen, (und ſo weit es, ohne
ſie erlernt zu haben, moͤglich iſt,) ungefaͤhr vor-
ausſehen koͤnnen, was ſie darinne zu erwarten
[109]der Faͤhigkeiten.
haben, und ſtelle mit ihnen kleine Proben uͤber die
Sachen einer jeden Wiſſenſchaft an. Man kennt
aus dem Xenophon die Schule der Gerechtigkeit
der Perſer, in welcher der Lehrer nicht bloß die
Geſetze des Rechts vortrug, ſondern ſeine Schuͤ-
ler auch nach denſelben uͤber Streitigkeiten den
Ausſpruch thun ließ. Waͤre es nicht moͤglich,
daß man auf dieſe Art junge Leute uͤber jede Gat-
tung etwas verſuchen ließe, und dann auf dieje-
nige, in welcher ſie das Beſte lieferten, ihre Nei-
gungen zu leiten ſuchte? Man bemuͤhe ſich ferner,
ſo viel moͤglich den Eindruck zu zerſtoͤren, den auf
die erſten Jahre die aͤußern Blendwerke eines je-
den Standes gemacht haben, und lege dem jun-
gen Menſchen, wenn man kann, ein getreues Ge-
maͤlde von dem menſchlichen Leben und den ver-
ſchiedenen Staͤnden deſſelben vor. Nichts iſt
hierbey ſo wichtig, als ihn zu uͤberzeugen, daß
die Gluͤckſeligkeit und das Elend beynahe allent-
halben gleich, und faſt nirgends von dem Stan-
de, ſondern durchaus von der Perſon abhaͤngig
ſey.
[110]Ueber die Pruͤfung
Die Pruͤfung der Geſchicklichkeiten muß we-
niger durch oͤffentliche Examina und feyerliche Un-
terſuchungen, als durch die beſtaͤndige Aufmerk-
ſamkeit auf die gewoͤhnlichen Arbeiten, geſchehen.
Ueberdieß ſollten die erſten Probeſtuͤcke nicht ſowohl
ganz neue Ausarbeitungen ſeyn, die gemeiniglich
elend und leer ſind, und nur den Stolz der jun-
gen Leute vermehren, und die Zeit zum Lernen neh-
men, ſondern freye Wiederholungen des Gelern-
ten. Das erſte, wodurch ſich die Seele im Den-
ken uͤbt, iſt, die Gedanken anderer mit eignen
Ausdruͤcken zu wiederholen, und einige eigne da-
mit zu vermiſchen. Durch nichts alſo koͤnnte man
die Geſchicklichkeit beſſer erforſchen, als wenn der
Schuͤler (der waͤhrend des Unterrichts nichts
oder nur ſo viel, als zur Erhaltung der Aufmerk-
ſamkeit nothwendig iſt, aufzeichnen muͤßte) fuͤr
ſich ſelbſt alsdann eben dieſe Materie, als wenn
er zu unterrichten haͤtte, ſchriftlich oder muͤndlich
vortruͤge. Man wuͤrde auf dieſe Art ſowohl die
Art von Wiſſenſchaft, als den Grad der Faͤhigkeit,
der einem jeden zukaͤme, erkennen.
[111]der Faͤhigkeiten.
Die dritte Klaſſe, welche die ausuͤbenden Ge-
lehrten in ſich begreift, erfodert in der That oft
weit weniger Gelehrſamkeit, als Klugheit und
Witz. Die Merkmale von dieſen Faͤhigkeiten ſind
alſo auch die Beſtimmung fuͤr die Praxis. Man
wird dieſe Sache ziemlich richtig einſehen, wenn
man ſich nur an das Beyſpiel der praktiſchen Arz-
neykunſt erinnert. Man weis, wie oft große
Kuren von Leuten ſind verrichtet worden, deren
Wiſſenſchaft ſehr mittelmaͤßig war. Man kann
daraus wenigſtens ohne weitere Unterſuchungen
die Nothwendigkeit lernen, auf dieſe Merkmale
Achtung zu geben. Es iſt nichts gewoͤhnlicher,
als Leute von wirklichem Verdienſt verachtet zu
ſehen, bloß weil ſie ſich nicht in den Plaͤtzen befin-
den, wo ſie von ihren Gaben Gebrauch machen
koͤnnen. Leute von großer Gelehrſamkeit, die auf
einer Akademie die Stuͤtze ihrer Wiſſenſchaft wer-
den koͤnnten, leben oft ohne Nutzen und ohne
Anſehen, weil ſie durchaus obrigkeitliche Aemter
bekleiden, oder uͤberhaupt Geſchaͤften vorſtehen
wollen.
[112]Ueber die Pruͤfung
Ich will dieſes Ganze nur noch mit der Be-
merkung einiger Hinderniſſe beſchließen, die der
Pruͤfung der Talente im Wege ſtehn.
1) Ein jeder Menſch kann groͤßtentheils von
den menſchlichen Faͤhigkeiten nur nach ſeinen eige-
nen urtheilen; und je eingeſchraͤnkter er ſelbſt iſt,
deſto weniger kann er hoͤhere Vollkommenheiten
begreifen. Daher koͤmmt es, daß, da das Maaß,
welches er annimmt, ſchon zu klein iſt, die Groͤße,
welche er mißt, zu groß herauskoͤmmt, und er alſo
immer uͤber ſeine Faͤhigkeit ein zu guͤnſtiges Urtheil
ſpricht. Dieſe Bemerkung zeigt uns erſtlich die
Nothwendigkeit, uͤber unſer Genie andre urthei-
len zu laſſen, die ſelbſt Genie haben. Zweytens
giebt ſie uns ein Merkmal, woran wir unſer eige-
nes pruͤfen koͤnnen.
2) Jeder Menſch ſteht in gewiſſen Verbin-
dungen, die ſeiner Eitelkeit entweder aufhelfen
und ſie unterſtuͤtzen, oder in andern, die ſeine
wirkliche Faͤhigkeit verkleinern und unterdruͤcken.
Es iſt nur gar zu gewiß, daß unſre eigne Ge-
muͤthsart in die Beurtheilung unſrer ſelbſt einen
[113]der Faͤhigkeiten.
zu großen Einfluß hat. Und ſo, wie in Abſicht
auf die Moral, die Schwermuth oder der Leicht-
ſinn das Maaß unſrer Tugenden und Laſter ver-
faͤlſcht; ſo werden auch oft Furchtſamkeit und
Mistrauen unſre Faͤhigkeiten herunterſetzen, oder
Dreiſtigkeit und Munterkeit ſie vergroͤßern. Der
Eine ſucht ſelbſt nicht ſo viel in ſeinem Verſtande,
als er finden wuͤrde, wenn er nur Zutrauen zu
ſich haͤtte, und laͤßt daher einen Theil ſeiner Ga-
ben ungebraucht; der Andre ſucht in ſich ſo viel,
und vielleicht noch etwas mehr, als er hat, und
wendet alſo eine kleinere Kraft mit groͤßerm Nach-
druck an. Um alſo dieſem Hinderniſſe abzuhelfen,
iſt es eine Regel fuͤr den Lehrer, die Wage auf bei-
den Seiten einigermaßen gleich zu machen, entwe-
der, indem er dem einen etwas weniger, dem an-
dern etwas mehr als Gerechtigkeit wiederfahren
laͤßt, oder indem er ſie in ſolche Umſtaͤnde und
Verbindungen ſezt, wo dieſe ihre Leidenſchaften
ohne Einfluß ſind. Vornehmlich aber muß er ſich
dadurch warnen laſſen, ſeine Schuͤler nicht nach
einzelnen Faͤllen, in denen ſie ſich entweder ſehr
H
[114]Ueber die Pruͤfung
vortheilhaft oder nachtheilig gezeigt haben, ſon-
dern nach dem Ganzen zu beurtheilen.
3) Dieß iſt endlich noch ein großes Hinderniß
bey dieſer ganzen Unterſuchung, daß wir eine lange
Zeit, von uns ſelbſt und andern, bloß nach der
Groͤße unſers Gedaͤchtniſſes beurtheilt werden.
Wie viel weißt du? iſt immer die erſte Frage, die
man an ein Kind thut. Das heißt mit andern
Worten ſo viel, als: was haſt du behalten? und
gemeiniglich verlangt man alsdann die Wiederho-
lung der Gedanken, die man ihm ſelbſt vorgeſagt
hat, und zwar auch gerade mit den Ausdruͤcken,
in denen ſie uns am deutlichſten ſcheinen. Und
doch kann das Kind, welches bey einem ſolchen
Verhoͤr oft verſtummt, und ſehr fehlerhaft und zer-
ſtuͤckt das wieder erzaͤhlt, was es gehoͤrt hatte, ein
weit faͤhigerer Kopf als das andre ſeyn, das alles
auf das genaueſte herſagt. Die wahre Unterſu-
chung des Vermoͤgens zu denken iſt, wenn man
zwo Perſonen uͤber eine Materie, uͤber die ſie gleich
viel Erfahrung und Unterricht haben, ihre eignen
Meynungen und Urtheile ſagen oder aufſchreiben
[115]der Faͤhigkeiten.
laͤßt. Der gute Kopf wird hier den Mangel deſ-
ſen, was er vergeſſen hat, durch eigne Betrach-
tungen erſetzen, der andre wird entweder bloß
wiederholen, oder nichts hervorbringen. Daher
wird auch in den Gedanken des einen mehr Me-
thode und anſcheinende Buͤndigkeit ſeyn, weil ſie
bloß entlehnt ſind, in des andern ſeinen mehr Un-
regelmaͤßiges, aber zugleich mehr Eigenthuͤmliches.
Die Natur giebt auch ihren geringſten Werken ge-
wiſſe Vorzuͤge vor den bloßen Werken des Fleißes
und der Kunſt, die dem Auge des Kenners nicht
entgehen.
[116]Verſchiedenheiten in den Werken
Betrachtung
einiger
Verſchiedenheiten in den Werken der aͤlte-
ſten und neuern Schriftſteller, be-
ſonders der Dichter.
- Aus dem zehnten Bande der Neuen Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.
Dem Geiſte der Kinder, ſagt Quintilian, wird
eine Menge abwechſelnder Arbeiten weni-
ger ſchwer, weil ſie dieſelben mit einem geringern
Bewußtſeyn und mit weniger freywilligen An-
ſtrengung thun; eben ſo wie ihr Koͤrper ſich durch
die Bewegung weniger ermuͤdet, weil ſie eine klei-
nere Laſt mit minderer Gewalt, und ohne ſich
ſelbſt zu fuͤhlen, in Bewegung ſetzen. Ueberdieß,
[117]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſezt er hinzu, meſſen ſie niemals in ihren Gedan-
ken ab, wie viel ſie ſchon gethan haben; da hin-
gegen bey den Erwachſenen die Ermuͤdung bey-
nahe oͤfter aus dem Ueberdenken und der Erinne-
rung der Arbeit, als aus dem Gefuͤhle der Kraft-
loſigkeit entſteht. — Anmerkungen von der Art,
welche dieſer Schriftſteller oft macht, wenn er
fuͤr ſich ſelbſt denkt, erregen den Wunſch, daß er
weniger Fleiß auf die Wiederholung und Berich-
tigung der Ideen ſeiner Vorgaͤnger gewandt
haͤtte.
Die Erfahrung, welche in dieſer Anmerkung
ausgedruͤckt iſt, ſtimmt mit einer andern vollkom-
men uͤberein, die der erwachſene Mann bey ſich
ſelbſt, und eben deswegen vielleicht mit mehr Zu-
verlaͤßigkeit machen kann. Welche Arbeiten des
Geiſtes gerathen wohl in irgend einer Art beſſer,
als diejenigen, bey welchen man ſich am wenig-
ſten aͤngſtlich bemuͤht, ſie vortreflich zu machen?
Welche unſerer Begriffe ſind wohl die reichſten,
lebhafteſten, in der Entwickelung am fruchtbar-
ſten? Die, welche ein freywilliges Nachdenken
H 3
[118]Verſchiedenheiten in den Werken
uͤber den Gegenſtand nach und nach aus den be-
kannten Ideen hervorgearbeitet, oder die, welche
ein oft bloß zufaͤlliger ſchneller Blick auf die Sache
aus der Reihe ſich ſelbſt darbietender Vorſtellun-
gen aufgefaßt hat? Die Werke, die man fuͤr das
Publikum ſchon beſtimmt, indem man ſie verfer-
tiget, ſind gemeiniglich unter dem, was man fuͤr
ſich ſelbſt oder fuͤr ſolche Freunde macht, von de-
ren Beyfall und Achtung man ſich ſchon verſichert
haͤlt. Der Wunſch, etwas Gutes hervorzubrin-
gen, die Begierde nach den Vortheilen, die uns
unſer Werk, wenn es gelingt, zuwege bringen ſoll,
die Achtſamkeit endlich auf unſer eigenes Bemuͤ-
hen, es zu Stande zu bringen, alles dieß iſt eine
Art von Zerſtreuung, durch welche diejenige Kraft,
die ganz auf den Gegenſtand vereinigt ſeyn ſollte,
auf ſich ſelbſt zuruͤckgekehrt, und durch Unruhe und
Hoffnung verzehrt wird.
Die obige Anmerkung iſt aber noch einer an-
dern Anwendung faͤhig, und dieſe iſt eigentlich
unſer Zweck. Da das menſchliche Geſchlecht und
der einzelne Menſch in dem ſtufenweiſen Fortgange
[119]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ihrer Faͤhigkeiten einander ſo aͤhnlich ſind, ſo fin-
det man hier einen Grund von der nothwendigen
und unausbleiblichen Verſchiedenheit, die zwiſchen
den aͤlteſten und den ſpaͤtern Arbeiten deſſel-
ben ſeyn muß. Es giebt in beiden eine Zeit der
Kindheit und des maͤnnlichen Alters. In den
Werken der erſten ſehen wir eine Kraft, die ſich
durch ihre bloße Energie und die Gegenſtaͤnde ge-
trieben fuͤhlt zu wirken, und deswegen in ihrer
natuͤrlichen Thaͤtigkeit durch nichts geſtoͤrt wird;
in den Werken der andern eine Kraft, die erſt durch
ein beſonderes Intereſſe gereizt werden muß, die
nach Abſicht und in Hofnung eines gewiſſen Er-
[folges] wirkt, und die eben deswegen in ihren Aeuſ-
ſerungen eingeſchraͤnkt, und von ihrer natuͤrlichen
Richtung abgebracht wird. In den Werken der
einen Zeit werden ſich die Schriftſteller ihrer Ideen
nur ſo zu ſagen entſchuͤtten, die ihnen durch die
Gegenſtaͤnde ſelbſt und eine ganz unwillkuͤhrliche
Beobachtung derſelben aufgedrungen worden; —
in den Werken der andern werden ſie Ideen, die
ſie geſucht und ausgearbeitet haben, in der Ab-
H 4
[120]Verſchiedenheiten in den Werken
ſicht mittheilen, ſich Beyfall und Ruhm zu erwer-
ben. Der aͤlteſte Schriftſteller iſt das Kind, das
den ganzen Tag ohne Abſicht hin und her laͤuft,
und niemals fuͤhlt, wie muͤde es iſt, weil es ſich
bey keinem Schritte mehr an denjenigen erinnert,
den es ſchon gethan hat, noch den voraus ſieht,
den es noch zu thun gedenkt. Der neuere Schrift-
ſteller iſt ein Wanderer, der immer den Ort im
Geſichte hat, wo er hin will, in der Begierde an-
zulangen ſeine Schritte zaͤhlt, und ſich durch das
Ueberſehen des zuruͤckgelegten und des noch vor
ihm liegenden Weges freywillig entkraͤftet.
Dieſer eine Umſtand haͤngt mit vielen andern
zuſammen, die ſich, duͤnkt uns, ſo am beſten ent-
wickeln laſſen, wenn man ſich zuerſt alle die Ver-
ſchiedenheiten der beiden Zeitalter vorſtellt, und
alsdann ſieht, was fuͤr Einfluß ſie auf die Werke
des Geiſtes, und vornehmlich auf die Schriftſteller
haben mußten.
Die erſte und groͤßte Verſchiedenheit liegt in
der Art und Weiſe, diejenigen Begriffe zu bekom-
men, die der Schriftſteller mittheilen ſoll. Bey
[121]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
uns iſt faſt das einzige Mittel das Lernen. Un-
terricht und Leſen lehren uns meiſtentheils alles
kennen, was wir wiſſen; und beides unterneh-
men wir nicht anders, als in ſo fern wir es zur
Ausfuͤhrung eines gewiſſen Plans brauchen. Bey
den Alten ſcheint dieſe Erlernung weniger Stu-
dium als inſtinktmaͤßige Beſchaͤftigung geweſen
zu ſeyn. Ihre Sinnen waren ihre Lehrer, ſie ſahen,
ſie hoͤrten, ſie dachten zu Folge der Eindruͤcke, die
die Natur und ihre Verhaͤltniſſe mit andern Men-
ſchen auf ſie gemacht hatten.
Was erſtlich die ſichtbare koͤrperliche Natur
betrifft, ſo weit ſie durch den Anblick erkannt wer-
den kann: ſo kannten ſie ſie in der That beſſer,
als wir, und dieſe Kenntniß koſtete ihnen keine
Arbeit. Wir werden von Kindheit an erſt durch
unſere Erziehung, dann durch unſere Lebensart
und Geſchaͤfte von dem Anblicke der Natur abge-
halten; und viel alſo von dem, was wir durch
unſere eignen Augen lernen koͤnnten, muͤſſen wir
erſt von unſern Lehrern und aus Buͤchern erfah-
ren. Die Klaſſe von Menſchen, unter welchen es
H 5
[122]Verſchiedenheiten in den Werken
faſt allein Schriftſteller giebt, lebt bey uns be-
ſtaͤndig in ihren Haͤuſern eingeſchloſſen; ihre Be-
ſchaͤftigungen und ihre Zeitvertreibe ſind groͤßten-
theils innerhalb der vier Waͤnde ihres Zimmers.
Nur gelegentlich, nur auf Augenblicke werden un-
ſere Menſchen in das freye Feld hinausgefuͤhrt.
Und dann ſind ſie gemeiniglich ſchon ermuͤdet und
zerſtreut, oder ihr Kopf iſt ſchon mit ſo viel klei-
nem Eigennutze, mit dem Entwurfe ſo vieler Ver-
gnuͤgungen, mit ſo viel ſelbſtgemachten Ideen und
Begierden angefuͤllt, die das eingeſchraͤnkte buͤr-
gerliche und haͤusliche Leben giebt, daß ſie ſelten
mehr lebhaft von dem geruͤhrt werden, was ſie
ſehen und hoͤren, wofern es nicht neu und außer-
ordentlich iſt, und ihre Aufmerkſamkeit durch ei-
nen ſtaͤrkern Reiz an ſich zieht, als der bloß ein-
fache Eindruck auf ihre Sinne iſt. — Wir beob-
achten alſo ſehr wenig ſelbſt. Viele Dinge ge-
ſchehen taͤglich vor unſern Augen, oder ſind nur
wenig Schritte von uns, die wir doch kaum eher
bemerken, als bis wir ſie in Buͤchern gefunden
haben. Die Dichter muͤſſen uns erſt ſagen, was
[123]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
eine ſchoͤne Gegend ſey, und wie die Sonne auf
und untergehe. Die Abwechſelung der Jahres,
und der Tageszeiten, die verſchiedenen Geſtalten
der Natur, die ſichtbaren Eigenſchaften und Ver-
aͤnderungen der Pflanzen und Thiere gleiten, ih-
rer Gewoͤhnlichkeit und unſrer Zerſtreuung wegen,
nur uͤber die Oberflaͤche unſerer Seele weg, und
beruͤhren ſie kaum, wenn wir ſie nicht zuvor ſchon
durch Beſchreibungen haben kennen lernen. Erſt
durch die Kopien werden wir auf die Originale
aufmerkſam, weil wir in der Vergleichung zwiſchen
beiden eine Beſchaͤftigung finden, die mehr nach
unſrer itzigen Denkungsart iſt, als die freye Be-
obachtung ſelbſt.
Was die Kenntniß betrifft, die der Menſch
nur von Menſchen und durch ſeine Verbindung
mit ihnen bekommen kann; ſo ſcheint es zwar,
daß unſer itziger Zuſtand uns weit geſellſchaftli-
cher gemacht, uns in mannichfaltigere Verhaͤlt-
niſſe mit andern Menſchen geſetzt habe, und ſie
uns alſo auch von mehrern Seiten kennen lehre.
Und das iſt in gewiſſem Verſtande auch wahr.
[124]Verſchiedenheiten in den Werken
Auf einer andern Seite aber ſind wir in der That
mehr von ihnen abgeſondert, als in dem fruͤheſten
Zeitpunkte der Geſellſchaft. Itzo kennt jeder
Menſch nur einige wenige Menſchen ſeines Stan-
des, von ſeiner Denkungsart, von ſeinen Geſin-
nungen. Alle uͤbrigen Klaſſen und Staͤnde der
Menſchen, ſammt ihren Begriffen und ihren Em-
pfindungen bleiben ihm Zeitlebens fremde, wenn
er ſie nicht hoͤchſtens aus Buͤchern lernt. Der Um-
gang mit andern Menſchen iſt ein Recht geworden,
das uns nur gegen die zuſteht, mit welchen wir
gleiches Ranges ſind. Wenn wir mit Hoͤhern
umgehen wollen, ſo muͤſſen wir uns dieß erſt durch
gewiſſe Vorzuͤge, die Aufſehen machen, verdient
haben. Jeder entfernt ſich von denen, die unter
ihm ſind, und zu denen, die uͤber ihm ſind, darf
er ſich nicht nahen. Oder wenn auch zuweilen
der Eigennutz der Geringern, oder die Begierde be-
luſtigt zu werden bey den Vornehmern, oder end-
lich eine edlere, minder eingeſchraͤnkte Denkungs-
art auf beiden Seiten dieſe Graͤnzen uͤberſpringt;;
ſo bleibt doch der Umgang froſtig, ohne diejenige
[125]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Offenherzigkeit und Vertraulichkeit, die uns allein
die Kenntniß fremder Herzen gewaͤhren, und uns
in dem Umgange mit ihnen eine Quelle zu Beob-
achtungen eroͤffnen kann. In den alten Zeiten
waren faſt alle Glieder einer Stadt, einer Repu-
blik einander bekannt. Die Staaten waren klei-
ner. Ihre Buͤrger hatten alle ein gewiſſes gemein-
ſchaftliches Intereſſe; Geſchaͤfte, die ſie oft zu-
ſammenbrachten; oͤffentliche Zuſammenkuͤnfte, wo
ſie ſich durchaus kennen lernten; Feyerlichkeiten,
an denen ſie alle Theil nahmen. Die Rechte der
verſchiedenen Staͤnde aͤußerten ſich weniger durch
eine gegenſeitige Entfernung von einander in dem
geſellſchaftlichen Leben, als in einer Unterord-
nung bey der Ausfuͤhrung offentlicher Geſchaͤfte.
Das Befehlen und Gehorchen war bey denen Ge-
legenheiten, wo es eigentlich darauf ankam, die
Pflichten ſeines Standes zu erfuͤllen, ſehr ſtrenge.
Aber ſobald dieſe Gelegenheiten voruͤber waren,
ſo ſtellte ſich eine Art von Gleichheit wieder her.
Einen weit groͤßern Unterſchied unter den Men-
ſchen macht der Reichthum, als der Rang; und
[126]Verſchiedenheiten in den Werken
nur dadurch, daß beide gemeiniglich bey uns ver-
einigt zu ſeyn pflegen, iſt die Abſonderung der
Staͤnde aufs hoͤchſte geſtiegen. Das Verhaͤltniß,
das der Befehlende gegen den Gehorchenden hat,
kann er nur unter gewiſſen Umſtaͤnden zeigen, und
ſo lange, als die Art von Handlungen vorkoͤmmt,
die er anzuordnen verſteht. Hingegen der Unter-
ſchied, den der Reichthum macht, iſt beſtaͤndig,
und erſtreckt ſich auf alles. Wohnung, Haus-
geraͤthe, Kleidung, Aufwand der Tafel, Koſtbar-
keit der Ergoͤtzungen, alles, was der Reiche hat
und thut, iſt anders als bey dem Armen. Der
eine kann alſo ſeine Erhabenheit, und der andre
ſeine Niedrigkeit niemals aus den Augen verlieren.
— Ueberdieß bildet ſich durch die lange Abſon-
derung auch endlich ein Unterſchied in dem, was
man Anſtand und Sitten nennt, in der Art, ſich
zu betragen und auszudruͤcken. So willkuͤhrlich
auch dieſe Begriffe bald an die eine, bald an die
entgegenge ezke Art etwas zu thun und zu ſagen
verknuͤpft werden, ſo ſind ſie doch das erſte, wor-
nach wir den Vorzug und die Verdienſte des Men-
[127]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſchen meſſen; und dieß alſo ſezt endlich die vor-
her ſchwankende und oft niedergerißne Graͤnze
zwiſchen Leuten von Stande und gemeinen Leuten
feſt, und hebt alle Moͤglichkeit zur Wiedervereini-
gung auf. Beylaͤufig zu ſagen: die Begriffe und
die Geſinnungen des gemeinen Mannes ſind bey
weitem nicht ſo ſehr von der feinern Welt ihren
unterſchieden, als die Verſchiedenheit des Aus-
drucks vermuthen laͤßt. Es gehoͤrt aber, auch
ſelbſt fuͤr den denkenden Mann, etwas dazu, ſeine
eignen Vorſtellungen unter einer niedrigen ihm
ungewoͤhnlichen Bezeichnung wieder zu erkennen.
Was geſunder Verſtand, natuͤrlicher Scharfſinn,
und Witz durch Erfahrung gebildet geben kann,
das hat der geringere Theil des menſchlichen Ge-
ſchlechts mit dem groͤßern gemein, und oft in ei-
nem hoͤhern Grade. Aber die Gewohnheit macht,
daß wir dieß alles nicht mehr fuͤr das halten, was
es iſt, wenn es uns nicht unter der Geſtalt, auf
die Art gewendet, mit den Worten geſagt vor-
koͤmmt, wie wir es zu denken gewohnt ſind. Die
Vernunft muß ein mehr didaktiſches Anſehen kri[e]-
[128]Verſchiedenheiten in den Werken
gen. Manche Beobachtung, die in dem Munde
eines gemeinen Tageloͤhners veraͤchtlich iſt, weil
ſie ſich nur auf etwas einzelnes und uns gering
ſcheinendes beziehet, wuͤrde, von einem Philoſo-
phen geſagt, ſobald er ſie mit abſtrakten und zu-
gleich edlern Worten ausgedruͤckt, ſie allgemein
und vielleicht dadurch unrichtiger gemacht haͤtte,
eine Entdeckung ſcheinen. Und doch iſt der Ver-
ſtand gerade die Kraft, deren Wirkung noch am
wenigſten von dem Werkzeuge abhaͤngt, deſſen ſie
ſich bedient. Bey den Ideen der uͤbrigen Faͤhig-
keiten koͤnnen wir oft kaum bis auf den Grund
kommen. Wir wiſſen immer nicht, iſt es das
Wort oder die Sache, die wir jedesmal witzig und
artig und groß nennen. Wenigſtens ſind es die
Falten des Gewandes, durch die wir den Bau
des Koͤrpers beurtheilen. Wenn alſo die Mit-
theilung der Ideen das einzige Band der Geſell-
ſchaft ſeyn kann, ſobald der Eigennutz ſchweigt
und die Beduͤrfniſſe befriedigt ſind; ſo giebt es
kein ſolches mehr unter Gliedern einer Nation, die
eine ſich fremde Sprache reden, und von einan-
[129]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
der weder geliebt noch hochgeſchaͤtzt werden koͤn-
nen. Dieß alles faͤllt in den erſten Zeiten weg.
Erziehung und Sitten, und Kenntniſſe und Spra-
che ſind noch unter die verſchiedenen Staͤnde ei-
nes Staats gleich ausgetheilt. Nichts iſt durch
Verabredung unedel und veraͤchtlich worden. Je-
des Ding, jedes Wort, macht noch den Eindruck,
den es vermoͤge ſeiner Natur oder ſeiner Bedeu-
tung zu machen im Stande iſt; nicht den, wel-
chen es bloß von Gelegenheiten und Umſtaͤnden
erborgt. — Alſo liegt in der That das Gemaͤlde
menſchlicher Handlungen und Leidenſchaften dem
Beobachter mehr und in einem groͤßern Umfange
vor Augen.
Unſere Schauſpiele, unſere Romanen, warum
ſind ſie uns izt ſo reizend, oder vielmehr ſo noth-
wendig geworden? Zum Theil deswegen, weil ſie
uns in die menſchliche Geſellſchaft wieder verſetzen,
von der wir gewiſſermaßen ausgeſchloſſen ſind;
weil ſie uns Menſchen von allerley Staͤnden, und
in weit wichtigern Auftritten ihres Lebens han-
delnd und redend zeigen, als wir ſelbſt zu ſehen
J
[130]Verſchiedenheiten in den Werken
Gelegenheit haben; weil ſie uns wieder in die
Haͤuſer der Großen fuͤhren, zu denen wir keinen
Zutritt mehr haben, und uns mit der Vorſtellung
ſchmeicheln, daß dort dieſe Großen uns aͤhnlicher
und weniger uͤber uns erhaben ſind, als ſie zu
ſeyn ſcheinen, wenn wir bloß die Mauern ihrer
Palaͤſte anſehen; weil ſie uns in den niedrigſten
Klaſſen, zu denen wir uns aus Vorurtheil und
Stolz und angewoͤhntem Ekel nicht herablaſſen
wollen, eben die Aeußerungen der Natur zeigen,
die uns bey uns ſelbſt gefallen: mit einem Wor-
te, weil ſie uns das Vergnuͤgen, unter Menſchen
und unter Menſchen aller Art zu ſeyn, das wir
in der Wirklichkeit verloren haben, in der Erdich-
tung wieder verſchaffen; und weil ſie daher zu-
gleich den Theil unſerer Kenntniſſe ergaͤnzen, den
wir durch Erfahrung nicht mehr einſammeln
koͤnnen.
Eben aus dieſer groͤßern Vereinigung der
Menſchen folgte eine gewiſſe allgemeinere Be-
kanntſchaft mit ihren Verrichtungen, beſonders
zu einer Zeit, wo ein Theil der Bequemlichkeiten,
[131]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
die durch dieſe Arbeiten verſchafft wurden, noch
ganz neu, und als ein wichtiges Geſchenk fuͤr die
menſchliche Geſellſchaft noch hochgeſchaͤtzt war. —
Die Kuͤnſte, die Handwerke, die Geſchaͤfte des
Ackerbaues, die Arbeiten jedes Standes waren
weniger ſchwer zu erlernen, wurden von dem Thei-
le, der ſie nicht trieb, noch nicht verachtet, und
machten ein Stuͤck der allgemeinen Kenntniß aus,
die ſich jeder erwarb, ohne darnach geſtrebt zu
haben.
Auf dieſe Art alſo mußte ſich ihr Geiſt mit
mannichfaltigen Begriffen anfuͤllen, die ihm in
der That weit weniger Bemuͤhung, Nachdenken
und Anſtrengung koſteten, als uns unſere viel-
leicht eingeſchraͤnktern, aber mehr ergruͤndeten
Kenntniſſe. Das Auge und das Ohr kann in ei-
ner kurzen Zeit von unendlich viel Sachen unter-
richten. Nachdenken und Leſen haͤlt uns lange
bey wenig Gegenſtaͤnden auf. Aber freylich zei-
gen uns jene auch nur die Erſcheinungen, nur das,
was uns zunaͤchſt und der Empfindung offen
liegt, nur das Reſultat von dem geheimen Spiele
J 2
[132]Verſchiedenheiten in den Werken
der natuͤrlichen Triebfedern; dahingegen uns dieſe
zugleich daran gewoͤhnen, den innern Bau der
Dinge und die Urſachen von den Begebenheiten
zu erforſchen. Wir wiſſen izt vielleicht weniger,
wie die Dinge ausſehen, aber wir wiſſen beſſer,
was ſie ſind.
Dieſer Unterſchied nun in der Muͤhe oder
Leichtigkeit, mit der wir gewiſſe Ideen bekommen,
hat ſelbſt auf die Geſtalt dieſer Ideen einen großen
Einfluß. Wo eine Muͤhe uͤberwunden werden
ſoll, da muͤſſen wir eine Begierde haben, deren
Befriedigung der Beſchwerlichkeit der Arbeit werth
iſt; da muͤſſen wir uns eine Abſicht vorſetzen,
Mittel waͤhlen; uns ſelbſt zur Anwendung unſrer
Kraft auffodern; ſie, wenn ſie ermuͤdet, oder ſich
von dem Gegenſtande verliert, zuruͤckbringen und
feſthalten; ſie in ihren Operationen nach einem
Plane leiten; dem natuͤrlichen Fortgange unſrer
Vorſtellungen durch einen kuͤnſtlichen entgegen ar-
beiten. Alle Begriffe, die auf dieſe Art entſtehen,
ſind mehr unſer Werk, als das Werk der Dinge,
die wir betrachten. Unſre Regeln, unſre vorher-
[133]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
geſammleten Begriffe haben immer mehr oder we-
niger an dem Eindrucke gekuͤnſtelt, den die Sa-
chen auf einen voͤllig noch uneingenommenen Geiſt
machen wuͤrden. Selbſt das, was wir fuͤr reine
lautere Beobachtung halten, iſt ſchon zum Theil
aus unſerm uͤbrigen Gedankenſyſtem gefolgert. —
Ueberdieß, je mehr wir uns die Hervorbringung
und Zuſammenſetzung gewiſſer Gedanken Arbeit
koſten laſſen, deſto mehr ſind wir in Gefahr, die
naͤchſten unmittelbarſten Verhaͤltniſſe der Begriffe
zu uͤberſehen, und dafuͤr entferntere und weit her-
geſuchte zu waͤhlen. Die einfaͤltige, nackende,
einleuchtende Wahrheit, ſo wie ſie ſich dem bloß
ruhigen Zuſchauer der Natur von ſelbſt darbietet,
wird von dem zu geſchaͤftig ſuchenden Geiſte uͤber-
gangen, und an ihre Stelle ſezt er eine Menge
erkuͤnſtelter halb falſcher Saͤtze, denen er erſt durch
den Ausdruck wieder einen Schein von Wahrheit
und Aehnlichkeit mit der Sache ſelbſt geben
muß.
Das, was wir Anſtrengung nennen, beſteht
nicht ſowohl in einem gewiſſen Maaße der aufge-
J 3
[134]Verſchiedenheiten in den Werken
wendeten Kraft, als in der Muͤhe, dieſelbe von
den Gegenſtaͤnden, welche nach den phyſiſchen
Geſetzen am ſtaͤrkſten auf unſere Sinne oder auf
unſre Einbildungskraft wirken wuͤrden, abzuzie-
hen, und ſie auf ſolche zu richten, mit denen wir
nach unſrer gegenwaͤrtigen Lage gar nicht oder
nur ſchwach beſchaͤftigt ſeyn wuͤrden. Die Ideen
koͤnnen bey einem Schauſpiele eben ſo lebhaft ſeyn,
als bey einer Meditation. Die Aufmerkſamkeit
kann bey dem erſtern ſogar in einem noch hoͤhern
Grade angeſtrengt ſeyn. Aber in dem erſtern
Falle laſſen wir uns nur beſchaͤftigen; wir ſind
leidend; die Objekte bieten ſich von ſelbſt dar;
der Fortgang unſrer Vorſtellung iſt vollkommen
mit dem Fortgange der Veraͤnderungen analogiſch,
die um uns her vorgehen. In dem andern
Falle beſchaͤftigen wir uns ſelbſt. Wir ſelbſt
muͤſſen die Gegenſtaͤnde in uns erſt hervorbringen,
oder ſie unſerm Verſtande gegenwaͤrtig machen;
den Eindruck der andern muͤſſen wir dagegen
ſchwaͤchen oder bey Seite ſchaffen. Dieſer Streit
zwiſchen den Gegenſtaͤnden, die eben izt auf unſre
[135]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Sinne wirken, oder die unſre gegenwaͤrtige Ver-
faſſung uns ins Gemuͤthe bringt, und zwiſchen
denen, die ſich der Verſtand zu betrachten vorge-
ſezt hat; dieſer macht eben das Beſchwerliche und
Ermuͤdende der Arbeit aus.
Der alte Dichter ſah die Natur, ohne zu wiſ-
ſen, daß er dieſe Betrachtung als ſeine Beſtim-
mung, oder als das Mittel zu gewiſſen Abſichten
zu betrachten haͤtte. Sie malte ſich alſo in ſeiner
Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinſelſtrich
beygetragen, oder ſie in ihrer Zeichnung geleitet
haͤtte. Unſere Dichter, wenn ſie die Natur beob-
achten, thun es ſchon immer in der Abſicht, ſie zu
ſchildern, ſie wollen ſie gern ſchoͤn ſehen, oder we-
nigſtens ſo, wie ſie ſich ſchoͤn ausdruͤcken laͤßt;
und dadurch wird das Gemaͤlde ein Gemiſche von
wahren Eindruͤcken, von bloß eingebildeten Zuͤgen
ihrer Einbildungskraft, und von abſtrakten Be-
griffen, die ſie durch Unterricht und Ueberlieferung
bekommen haben.
Alſo ſchon der Weg, die Sachen ſelbſt ken-
nen zu lernen, welche den Stoff der Dichter aus-
J 4
[136]Verſchiedenheiten in den Werken
machen, war bey den Alten und Neuen nicht der-
ſelbe. Die Sinne unterrichten den Verſtand mehr
bey den erſten, und der Verſtand die Sinne mehr
bey den andern. — Aber um das, was jeder von
Begriffen ſich geſammlet hat, mitzutheilen, dazu
gehoͤren auch noch Bewegungsgruͤnde, und die
ſind wieder bey beiden verſchieden.
In der Kindheit des Menſchen und der
menſchlichen Geſellſchaft kannte man die Lange-
weile nicht; man fuͤhlte keine Beduͤrfniſſe, ſich
durch ſeinen Witz Zeitvertreibe zu verſchaffen.
Bey allen den Menſchen, deren Arbeit in Be-
wegung beſteht, iſt Ruhe eine hinlaͤngliche Erho-
lung. — Erſt alsdann, da es Beſchaͤftigungen
im Kabinete gab, bey denen der Geiſt ſich erſchoͤpfte
und der Koͤrper nicht ermuͤdete, brauchte man Er-
holungen, die nicht in dem Aufhoͤren der Beſchaͤf-
tigung, ſondern in ihrer Abwechſelung beſtunden;
ſolche, wo nur an die Stelle von der Anwendung
der einen Faͤhigkeit die Anwendung einer andern,
an die Stelle von Vorſtellungen des Verſtandes
und des Nachdenkens ſinnliche und imaginative
[137]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Eindruͤcke geſezt wurden. Dazu waren nun an-
fangs alle die Sachen gut genug, die heftig und
lebhaft die Sinne ruͤhrten. Nach und nach woll-
te man nicht ſo ſtarke, aber mannichfaltigere, mehr
abwechſelnde Eindruͤcke haben, ſolche, bey denen
ſich noch uͤberdieß Ideen von Richtigkeit und
Schoͤnheit antreffen ließen. Der Witz und die
Einbildungskraft wurden zu den Regierern dieſer
Vergnuͤgungen beſtimmt. Nach einer Menge von
Revolutionen in den Dingen, welche die Men-
ſchen zu ihren Ergoͤtzungen beſtimmten, iſt das
Beduͤrfniß zu leſen an die Stelle vieler andern ge-
kommen. Dieſes Beduͤrfniß zu befriedigen, ſezt
ſich der Schriftſteller, und am meiſten der Dich-
ter, vor. Natuͤrlicherweiſe muß er ſich alſo in
dem, was er unternimmt, nach der Natur des
Beduͤrfniſſes richten, fuͤr welches er arbeitet. In
der That werden bey uns die Dichter ſelten an-
ders als zum Vergnuͤgen geleſen, und der Dichter
ſelbſt kann ſich ſchwerlich einen andern Endzweck
vorſetzen. Iſt er durch das Vergnuͤgen zugleich
nuͤzlich, floͤßt er den Leſern, deren Zeit er verkuͤrzt,
J 5
[138]Verſchiedenheiten in den Werken
zugleich eine Anzahl nuͤzlicher Wahrheiten und tu-
gendhafter Geſinnungen ein: vortreflich! wir
wiſſen ihm dafuͤr Dank, unſerer Erholung ſo viel
Werth in unſern eignen Augen gegeben zu haben;
— und im Grunde wuͤrde es ihm auch ohne ir-
gend einen Einfluß des Nutzens auf unſern Geiſt
nicht einmal gelungen ſeyn, den Einfluß zu erhal-
ten, uns Vergnuͤgen zu machen. Aber bey dem
allen wird er es doch nicht dahin bringen, daß wir
uns aus der Leſung der Dichter, (wenn wir aus
den Jahren der Erziehung heraus, und nicht ſelbſt
Dichter oder Kunſtrichter ſind) eine eigentliche Ar-
beit, eine Beſchaͤftigung machten.
Noch eine andere große Verſchiedenheit in den
Werken der Schriftſteller liegt in dem Unterſchiede
ihrer Sprache. Oder vielmehr, wenn man bey
den Werken einzelner Schriftſteller das, was ih-
nen, und das, was ihrer Zeit zugehoͤrt, zu leicht
vermiſchen kann; ſo kann man hingegen aus der
Vergleichung der Sprachen ſicherer die Verſchie-
denheiten lernen, durch welche die ganzen Natio-
nen und die ganzen Zeitalter ſich charakteriſiren.
[139]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Die Sprachen ſind fuͤr den einzelnen Menſchen,
der durch die Geburt in eine ſchon civiliſirte Ge-
ſellſchaft eintritt, eben ſo viel ſchon zubereitete
Formen, nach welchen er ſeine Begriffe zu model-
liren genoͤthigt iſt, oder unter welchen ſie ihm al-
lein bekannt werden. Und da der Verſtand die
Woͤrter braucht, nicht bloß andern zu ſagen,
was er denkt, ſondern es ſich auch erſt ſelbſt deut-
lich vorzuſtellen; da die Sprache nicht bloß das
Werkzeug der Mittheilung, ſondern auch der
Bildung der Gedanken iſt: ſo muß der Geiſt,
der in den Werken jeder Nation herrſcht, eben
ſo verſchieden ſeyn, als das Naturell ihrer
Sprache.
Wenn wir die aͤlteſte griechiſche Sprache mit
der unſrigen vergleichen, ſo finden wir, erſtlich,
was natuͤrlicherweiſe bey Menſchen ſeyn mußte,
die beſtaͤndig unter dem Anblicke der Natur leb-
ten, und ſie alſo uͤberhaupt genommen beſſer kann-
ten, als unſere immer eingeſchloßne Menſchen;
wir finden, ſage ich, die Sprache, in Abſicht der
natuͤrlichen Dinge und ihrer ſichtbaren Veraͤnde-
[140]Verſchiedenheiten in den Werken
rungen, reicher als die unſrige. Sie hatte fuͤr
Pflanzen, fuͤr Thiere, fuͤr die gewoͤhnlichſten Er-
ſcheinungen und Handlungen derſelben, und fuͤr
die Arbeiten, die der Menſch mit ihnen vornimmt,
mehr Namen der allgemeinen Sprache, die be-
kannt, und an Wuͤrde und Deutlichkeit allen an-
dern Woͤrtern der Sprache gleich waren. Unſere
Sprache iſt an ſolchen Woͤrtern arm. Nicht als
ob die Perſonen, die mit jedem dieſer Dinge als
mit ihrem Geſchaͤfte umgehen, ſie nicht auch zu
benennen wuͤßten. Aber dieſe Namen ſind nur
bloß den Leuten dieſes Standes und dieſer Be-
ſchaͤftigung bekannt. Eben deswegen wechſeln
ſie auch von Provinz zu Provinz, von Stadt zu
Stadt ab. Was von den wenigſten gekannt
wird, das wird auch keinen allgemeinen feſtgeſez-
ten Namen haben, oder dieſer Name wird unter
dem beſondern Beynamen jedes Orts bald verlo-
ren ſeyn. Wenn einmal die Sache aus der Zahl
derjenigen weggeſchafft iſt, die ſich alle Glieder
einer Nation mitzutheilen haben, ſo braucht es
auch kein Zeichen mehr, woran alle das Ding er-
[141]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
kennen. — Woͤrter haben wir alſo wohl fuͤr alle
dieſe Dinge, aber nur nicht bekannte, nicht edle
Woͤrter.
Lieſt man den Homer da, wo er Gegenſtaͤnde
fuͤrs Geſicht und beſonders Bewegungen vor-
ſchreibt, ſo wird man gewahr, daß er fuͤr jede
kleine Abaͤnderung in der Geſtalt der Sache ein
beſondres Wort hat, fuͤr die wir nur ein gemein-
ſchaftliches, oder Umſchreibungen haben. Er
kann den Verfolg einer ſinnlichen Veraͤnderung,
die Abwechſelung, die die Bewegung der Koͤrper
in ihrem Anblicke hervorbringt, in ihrer vollſtaͤn-
digen Folge auf einander vorſtellen. — Waͤren
uns eben die Sachen zu beſchreiben gegeben wor-
den, ſo wuͤrde uns unſre itzige Denkungsart und
das Naturell unſrer Sprache darauf gefuͤhrt ha-
ben, nur einen einzigen Umſtand, den wir fuͤr den
hauptſaͤchlichſten gehalten haͤtten, herauszuheben.
Wir haͤtten der Einbildungskraft unſrer Leſer nur
auf die Spur helfen koͤnnen. Homer zeichnet ihr
die Sache vollſtaͤndig vor.
[142]Verſchiedenheiten in den Werken
Man ſehe z. B. die Beſchreibung eines
Sturms beym Homer Iliade IV B. v. 421.
Ὡς δ᾽ ὁτ᾽ ἐν αἰγιαλῷ πολυηχέτ κῦμα ϑα-
λάσσης
Ὀρνυτ᾽ ἐπασσύτερον Ζεφύρου ὑποκινήσαντος
Πόντῳ μὲν τὰ πρῶτα κορύσσεται αὐτὰρ
ἔπειτα
Χέρσῳ ῥηγνύμενον μεγάλα βρέμει, ἀμφὶ δὲ
τ᾽ ἄκρας
Κυρτὸν ἐὸν κορυφοῦται, ἀποπτύει δ᾽ ἁλὸς
ἄχνην.
Man vergleiche ſie nur mit der Ueberſetzung des
Pope, oder mit der Beſchreibung eines ſpaͤtern
Dichters, und man wird den Vorzug der homeri-
ſchen Sprache im Ausdrucke ſichtbarer Erſchei-
nungen gewahr werden. Zuerſt giebt er die
Sache, die er malen will, nur uͤberhaupt an,
κῦμα ὄρνυτ῍; aber er ſezt ein Beywort hinzu,
ἐπασσύτερον, das der Imagination ſchon ein ſehr
zuſammengeſeztes Bild giebt. Es zeigt das
Draͤngen einer Welle gegen die andere an, die
Schnelligkeit, mit der auf jede heranrollende und
[143]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſich zerſchlagende Welle eine zweyte und eine dritte
folgt, die das Auge beynahe mit der erſten ver-
miſcht. Pope druͤckt dieß einzige Wort durch
zwo Zeilen aus:
The wave behind rolls on the wave before.’
Das Wort ὑποκινήσαντος zeigt nicht bloß, wie das
Engliſche the Winds move the Seas, die Bewe-
gung an, ſondern es beſtimmt auch die Art der
Bewegung; es iſt ein innerer Aufruhr, der das
Waſſer von der Tiefe in die Hoͤhe treibt. Pope
ſcheint dieß durch einen andern Vers ausgedruͤckt
zu haben:
Bis ſo weit hat Pope den Homer zwar umſchrie-
ben, aber doch ausgedruͤckt; — aber wo dieſer
die Beſchreibung der auf einander folgenden Ge-
ſtalten des ſtuͤrmiſchen Meeres anfaͤngt, da ver-
laͤßt ihn ſein Ueberſetzer gaͤnzlich. Eine allge-
meine Redensart gilt fuͤr eine Menge beſtimmter
und maleriſcher. Erſtlich wird das Meer nur
noch leicht bewegt, es ruͤſtet ſich, κορύσσεται, noch
[144]Verſchiedenheiten in den Werken
iſt die Bewegung mitten im Meere, die Wellen zer-
ſchlagen ſich gegen einander, keine reicht bis ans
Ufer. — Aber der Sturm waͤchſt, die Wellen
werden groͤßer, eine treibt die andre fort, die lezte
bricht ſich ſchon mit großem Geraͤuſch am Lande,
Χέρσῳ ῥηγνύμενον. Der Sturm erreicht ſeine groͤß-
te Hoͤhe, die Wellen thuͤrmen ſich bey den Vorge-
birgen, wo ſie weniger Raum haben, ſich auszu-
breiten, kruͤmmen ſich in ihrer groͤßten Erhebung,
κυρτὸν ἐὸν κορυϕοῦται, werfen an ihrer Spitze ei-
nen weißen Schaum aus, und ſtuͤrzen wieder zu-
ruͤck. Dieſe auf einander folgenden Erſcheinun-
gen wird ſchwerlich irgend eine neuere Sprache
mit gleicher Genauigkeit und Kuͤrze ausdruͤcken
koͤnnen.
So werden wir in den meiſten Beſchreibun-
gen Homers immer den Anblick, den die Sache ge-
waͤhrt, die Art und Weiſe, wie ſie ſich dem Auge
darſtellt, genau angegeben finden. Wenn wir
bloß ſagen: er hat ihn mit ſeinem Schwerte durch-
bohrt; ſo ſagt er:
[145]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Ἀντικρὺ κατὰ κύςιν ὑπ᾽ ὀςέων ἤλυϑ᾽ ἀκωκὴ.’
διὰ, der Spieß gieng durch; πρὸ, er kam vorne
wieder hervor; ἀντικρὺ, die Spitze war auf der
entgegenſtehenden Seite von der, wo er ſie einge-
ſtoßen hatte.
Wenn er das Schwaͤrmen der Bienen be-
ſchreibt, ſo zeigt er uns alles, was das Auge da-
bey vorzuͤglich ruͤhrt: erſt das unaufhoͤrliche Her-
vorkommen eines Schwarms nach dem andern
aus dem Stocke; dann die zuſammengedraͤngten
Truppe, die nur Einen Koͤrper auszumachen ſchei-
nen; dann die Zertheilung und die mannichfalti-
gen Richtungen dieſer Haufen.
Ἠΰτε ἔϑνεα εἶσι μελισσάων ἀδινάων
Πέτρης ἐκ γλαφυρῆς ἀεὶ νέον ἐρχομενάων
Βοτρυδὸν δὲ πέτονται ἐπ᾽ ἄνϑεσιν εἰαρινοῖσιν
Ἁι μὲν τ᾽ ἔνϑα ἅλις πεποτήαται ἁι δέ τε
ἔνϑα.
Hingegen ſind wir in Namen abſtrakter Be-
griffe und in Ausdruͤcken fuͤr die Verhaͤltniſſe der-
ſelben reicher. Wir haben erſtlich weit mehr Ab-
K
[146]Verſchiedenheiten in den Werken
ſtrakta gemacht, mehr Kraͤfte der Dinge, mehrere
ihrer gemeinſchaftlichen Eigenſchaften, mehrere
Beziehungen derſelben auf einander wahrgenom-
men, und alſo auch benannt. Beſonders haben
wir in den Faͤhigkeiten und Operationen des Gei-
ſtes eine Menge Unterſchiede durch eigne Woͤrter
kenntlich gemacht, die bey den Alten ſich unter ei-
nem gemeinſchaftlichen Namen vermiſchten. Ue-
berdieß haben wir Woͤrter, die dieſe abſtrakten
Begriffe geradezu ausdruͤcken; die den Verſtand
unmittelbar darauf fuͤhren, und ohne erſt den Um-
weg durch ein gewiſſes Bild zu nehmen, aus dem
jeder ſich den hieher gehoͤrigen Theil ſelbſt ausſu-
chen muß. Es ſind zwar in allen Sprachen die
Woͤrter fuͤr die Dinge aus der unſichtbaren und
geiſtigen Welt ihrem Urſprunge nach Metaphern.
Aber dieſer Urſprung iſt bey uns vergeſſen, die
Metapher wird nicht mehr bemerkt. Bey den
Alten war eben dieſe Metapher das einzige Mit-
tel, ſich den Begriff entweder ſelbſt zu formiren,
oder ihn andern verſtaͤndlich zu machen. Die
Etymologie erhaͤlt bey uns noch die Denkmaͤler
[147]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
dieſes Ueberganges von den ſichtbaren Gegenſtaͤn-
den zu den abſtrakten. Aber der Sprachgebrauch
laͤßt uns nicht mehr an die erſten gedenken. —
Urſpruͤnglich konnte man ſich den Begriff eines
Worts anders nicht aufklaͤren, als indem man
entweder das Ding ſelbſt, oder ſonſt etwas zeigte,
das dem Dinge aͤhnlich war. Im leztern Falle
mußten die Vergleichungsſtuͤcke, die die Merkmale
des Begriffs ausmachten, nothwendig nach der
verſchiedenen Faͤhigkeit oder Aufmerkſamkeit deſſen,
der die Vergleichung anſtellte, verſchieden ſeyn;
und der Begriff war daher ſchwankend, und wurde
auf ſehr ungleichartige Gegenſtaͤnde angewandt.
Izt kommen wir freylich ebenfalls zulezt zu die-
ſem einzigen Huͤlfsmittel; aber nur erſt nach ei-
nem laͤngern Umwege. Wir erhalten die Idee
eines abſtrakten Wortes, indem wir es in eine
ganze Menge anderer verwandeln, die concreter
und von den ſinnlichen Begriffen ſo zu ſagen we-
niger entfernt ſind. So loͤſen wir immerfort
Woͤrter in Redensarten auf, bis wir endlich auf
ſolche kommen, die nicht anders, als durch die
K 2
[148]Verſchiedenheiten in den Werken
Gegenwart des Objekts oder durch eine Metapher
klar werden koͤnnen; dieſe Verwandlung heißen
wir Erklaͤren. Wir werden alſo den Urſprung
unſrer abſtrakten Ideen aus den ſinnlichen weni-
ger gewahr, weil wir erſt nach einer Succeßion
von andern abſtrakten Ideen darauf zuruͤckkom-
men, und gemeiniglich dieſe Kette nicht bis ſo weit
fortfuͤhren. In der aͤlteſten Sprache war dieſer
Urſprung gleich unmittelbar bey jedem Worte
ſichtbar. Ein Bild fuͤr das Auge oder Ohr war
das naͤchſte Glied, an welches der allgemeine Be-
griff geknuͤpft war.
Drittens. Die aͤlteſte Sprache iſt maleri-
ſcher, als die unſrige; maleriſcher in einer doppel-
ten Bedeutung. Erſtlich: weil ſie noch weniger
zuſammengeſezte Ideen ausdruͤckte, ſo hatte ſie
auch noch weniger abgeleitete, und mehr Stamm-
woͤrter; dieſe Stammwoͤrter, je naͤher ſie ihrem
Urſprunge ſind, je weniger ſie noch an den erſten
Toͤnen geaͤndert haben, die die Menſchen bey Er-
blickung eines gewiſſen Gegenſtandes ausſtießen,
und die ſie nachher brauchten, um ihn andern
[149]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
wieder eingedenk zu machen, deſto mehr kommen
ſie mit der Sache ſelbſt im Tone oder Accent uͤber-
ein. Das Malen der Gegenſtaͤnde fuͤrs Ohr iſt
bey einer ſolchen Sprache weniger die Abſicht des
Dichters und das Werk ſeiner Kunſt, als eine
natuͤrliche Wirkung der Woͤrter und Ausdruͤcke,
welche die einzigen waren, die er waͤhlen konnte.
Zweytens: Jedes Wort, das den ſinnlichen An-
blick der Sache unmittelbar in der Einbildungs-
kraft rege macht, und zu deſſen Bezeichnung nur
ganz allein beſtimmt iſt, malt die Sache, in ſofern
die Erweckung des Bildes in der Imagination die
erſte und einzige Wirkung iſt, die es thut. Es
giebt in jeder Sprache Woͤrter, die von einer
Sache oder Handlung gerade nur den ſinnlichſten
Theil ausdruͤcken, und denſelben ſo geradezu, ſo
ohne allen Nebenbegriff vorſtellen, daß man an
nichts, als an dieſen ſinnlichen Anblick der Sache,
denken kann. Andere hingegen druͤcken mehr eine
innere Beſchaffenheit und Einrichtung des Din-
ges aus, oder ſtellen es zugleich mit gewiſſen Ne-
benzuͤgen vor, die den Eindruck des bloß ſinnli-
K 3
[150]Verſchiedenheiten in den Werken
chen Bildes ſchwaͤchen, und die Idee mehr intel-
lectuell machen. Starr anſehen und begaffen,
etwas befuͤhlen und betaſten, ſagt einerley; aber
das erſte druͤckt mehr die Handlung, und das an-
dere mehr die koͤrperliche Bewegung aus, die da-
bey vorgeht. Die alten Sprachen hatten einen
Ueberfluß von der erſten Gattung von Woͤrtern
und Redensarten. Die unſrigen haben auch
noch einige; aber faſt die meiſten derſelben ſind
in dem Munde des Poͤbels. Es giebt bey uns
eine Menge ſolcher niedrig gewordner Ausdruͤcke,
die kein Mann von guter Lebensart, und noch we-
niger ein Schriftſteller brauchen darf, und die doch
die Sache weit ſinnlicher bezeichnen, ſie ſo zu ſa-
gen weit mehr vor Augen ſtellen, als die edlern
Ausdruͤcke.
Von allen dieſen Verſchiedenheiten nun in
den Sachen, welche gekannt wurden, in der Me-
thode ſie zu erlernen, in den Werkzeugen ſie aus-
zudruͤcken, was mußten davon die Folgen in Ab-
ſicht der Werke ſelbſt ſeyn, die das Genie aus die-
[151]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſem Stoffe und in einer ſolchen Sprache hervor-
brachte?
Erſtlich muß in den alten Schriftſtellern
nothwendig mehr Originelles ſeyn. Wir nennen
original, was ſeine naͤchſte und unmittelbare Ur-
ſache in dem Dinge ſelbſt hat, an welchem es er-
ſcheint. Diejenigen Gedanken ſind original, die
dem Menſchen der ſie hat, ganz eigen, aus der
individuellen Natur ſeines Geiſtes und ſeiner
Verfaſſung entſprungen ſind, und die eben des-
wegen von keinem andern eben ſo gedacht werden
koͤnnen.
Jeder Menſch hat ſeine eigenthuͤmliche Form
des Geiſtes, ſo wie ſeine Geſtalt. Er iſt anders or-
ganiſirt, als die uͤbrigen; die Gegenſtaͤnde bringen
in ſeinen Werkzeugen durch dieſelbige Einwirkung
doch andere Bewegungen hervor, und malen ſich
in ſeiner Seele mit andern Schattirungen ab. Er
hat eine andere Anlage ſeiner Faͤhigkeiten, und
richtet alſo ſeine groͤßte Aufmerkſamkeit auf andre
Gegenſtaͤnde, oder auf andere Theile derſelben.
Die Reihe der Dinge ſelbſt, die er ſicht, und die
K 4
[152]Verſchiedenheiten in den Werken
Ordnung, in welcher er ſieht, iſt verſchieden; und
ſeine neuen Erfahrungen finden alſo bey ihm eine
andere Grundlage vorher eingeſammleter Begriffe,
als bey jedem andern. Er hat andere Veran-
laſſungen, ſich an ſeine gemachten Erfahrungen
zu erinnern. Alſo bleiben bey ihm gewiſſe Ideen
haften, die den uͤbrigen entwiſchen, weil gerade
nur er den Anſtoß gehabt hat, ſie ſo oft, als noͤ-
thig war, zu erneuern. Dafuͤr werden andere
ihm dunkel, auf die ihn ſeine Umſtaͤnde nicht oft
genug wieder zuruͤckgefuͤhrt haben. Er hat andre
Neigungen, und daher auch die andre Beduͤrfniß,
die Sachen kennen zu lernen. Er hat endlich an-
dere Beyſpiele vor ſich, und hat ſeine einzelnen
Begriffe auf eine andre Art zuſammengeſezt. In
allen denen Ideen, die der Geiſt aus ſolchen Ope-
rationen ſelbſt hervorbringt, die er aus ſeinen
eignen Erfahrungen, durch ſeine eigne Art von Ab-
ſtraktion ſchoͤpft, muß jeder Menſch etwas Eigen-
thuͤmliches, oder mit einem andern Worte etwas
Originelles haben. Wir geben aber den Gedan-
ken deſſelben dieſen Namen nur alsdann, wenn
[153]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
die Unterſchiede merklicher, und die Gedanken ſelbſt
von Wichtigkeit ſind.
Alſo nur in denjenigen Begriffen eigentlich
kaun es eine vollkommene Uebereinſtimmung un-
ter mehrern Menſchen geben, die ſie ſich einander
ſchon unter einer abſtrakten Form mit Woͤrtern
ausgedruͤckt, uͤberliefert haben. Dieſe Woͤrter
und Ausdruͤcke ſind in unſrer itzigen Welt fuͤr die
Beduͤrfniſſe und die Guͤter des Geiſtes, das heißt
fuͤr die Ideen, ungefaͤhr eben das geworden, was
das Geld in Abſicht der aͤußern Guͤter und Be-
duͤrfniſſe iſt; eine Art von conventionellen Zeichen,
die man im geſellſchaftlichen Verkehr an die Stelle
der Sache ſelbſt ſezt, giebt und empfaͤngt, nicht
weil ſie ſelbſt das ſind, was man begehrt oder
mittheilen will, ſondern weil man vorausſezt, daß
jeder ſich bey Gelegenheit den wirklichen Werth
des Dinges, den ſie vorſtellen, dafuͤr eintauſchen
koͤnne. Dieſe Woͤrter ruhen eben ſo oft unge-
braucht in dem Gedaͤchtniſſe des Gelehrten, als
das Geld im Kaſten des Reichen, und befriedigen
ihre Beſitzer nur mit der bloßen Moͤglichkeit, ſich
K 5
[154]Verſchiedenheiten in den Werken
die Vorſtellungen oder die Vergnuͤgungen zu ver-
ſchaffen, deren Symbole ſie ſind. Mit beiden
laſſen wir unſere Kinder lange vor der Zeit ſpie-
len, ehe ſie begreifen koͤnnen, wozu das eine an-
gewendet werden koͤnne, und was die andern be-
deuten.
Naͤmlich eine ſolche allgemeine Idee, die je-
mand aus ſeinen eignen Beobachtungen noch nicht
gefunden hat, muß, wenn ſie bey ihm eine wirk-
liche Idee werden ſoll, erſt mit den Erfahrungen
zuſammengehalten, und aus denſelben ſo zu ſagen
aufgeklaͤrt und beſtaͤtigt werden. Sie iſt als-
dann eine Art von Wegweiſerinn, die ihm bey
dem vorkommenden Falle anzeigt, worauf er zu
ſehen habe: und wenn er nun das Ding oder die
Seite deſſelben auffindet, von welchem andre zu-
erſt dieſen Begriff genommen haben; wenn er un-
ter den Factis, die ihm vorkommen, das Muſter
entdeckt, wovon die Wahrheit, die er zuvor den
Worten nach gefaßt hatte, der Ausdruck ſeyn
ſoll; dann iſt es erſt wahrhaftig ſein Begriff, und
ſein Verſtand weiß, was die Worte ſagen wollen.
[155]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Aber die nach dieſer Methode aufgeklaͤrte Vor-
ſtellung hat weit weniger die unterſcheidende Form
ſeines Geiſtes, weil der Verſtand dabey weniger
frey zu Werke gegangen, weil die Aufmerkſamkeit
ſchon immer von der vorhergefaßten woͤrtlichen
Idee geleitet worden, weil die Arbeit des Geiſtes
mehr darauf gerichtet geweſen iſt, die Dinge ſo
anzuſehen, ſie ſich ſo vorzuſtellen, wie es mit der
Beobachtung und der Meynung der uͤbrigen uͤber-
einſtimmte, als die Sache in ihrem ganzen Um-
fange und nach der ſaͤmmtlichen Summe der Ein-
druͤcke, die ſie auf ihn zu machen faͤhig war, ken-
nen zu lernen.
Nun iſt klar, daß in dem aͤlteſten Zuſtande
der Ideen mehr als izt geweſen ſeyn muͤſſen, die
jeder Menſch fuͤr ſich aus ſeinen eignen Empfin-
dungen, ſo gut er konnte, herleitete; und daß
hingegen in dem unſrigen die uͤberlieferten und
mit gewiſſen Woͤrtern bezeichneten Ideen die
Oberhand haben, ſolche, die nur umgetauſcht,
nicht von dem Geiſte ſelbſt hervorgebracht und
gepraͤgt werden. In jenem erwuchs der Menſch
[156]Verſchiedenheiten in den Werken
ohne viel Unterricht. Aber deſto mehr Gelegen-
heit, Muße und Auffoderung hatte er, ſeine Sinne
zu brauchen. Was hernach ſein Verſtand mit
den dergeſtalt geſammleten Ideen anfangen ſollte,
das hieng noch weit weniger von der Leitung und
dem Beyſpiele anderer, als von dem natuͤrlichen
Hange und den freywilligen Bewegungen eines
jeden ab. Was jeder von der Natur oder vom
Menſchen kannte, das hatte er ſelbſt an ihr geſe-
hen. So oft er davon redete, ſo ſtund vor ſei-
ner Einbildungskraft wieder die Perſon, der Vor-
fall, die Begebenheit, an der er zuerſt dieſe Be-
ſchaffenheit oder dieſes Verhaͤltniß wahrgenom-
men hatte. Bey ihnen hatte, nach des Prota-
goras Syſtem, noch jeder Menſch ſeine eigene
Wahrheit. — Bey uns hingegen koͤmmt der Un-
terricht den Sinnen lange zuvor. Wie viel Na-
men ſind nicht in dem Munde unſrer Kinder und
Erwachſenen, ehe ſie die Objekte geſehen haben,
und die ſie zum Theil niemals recht ſehen. Wie
viel Ausdruͤcke von Eigenſchaften und Verhaͤlt-
niſſen der ſichtbaren und moraliſchen Welt brau-
[157]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
chen wir nicht, ehe wir jemals durch unſre eigne
Umſtaͤnde ſind veranlaßt worden, dieſe Verhaͤlt-
niſſe kennen zu lernen, und ehe uns die Verknuͤ-
pfungen der Dinge vorgekommen ſind, bey wel-
chen allein dieſelben ſich haben entdecken laſſen.
Wie viel allgemeine Saͤtze und Sentenzen, und
Regeln und Sittenſpruͤche koͤnnen wir nicht ſchon
auswendig, ehe wir noch den kleinſten Theil der
vorlaͤufigen Ideen haben, an deren Kette jene
erſt das lezte Glied ſeyn ſollten. Unſere Ammen
und unſere Lehrmeiſter bringen uns eine Menge
ſolcher praͤſumtiver Kenntniſſe durch Woͤrter und
Formeln bey, von denen wir vor der Hand nur ſo
viel wiſſen, daß etwas dabey gedacht werden ſoll,
und von andern gedacht worden iſt, die wir aber
erſt hinterdrein, und oft ſehr ſpaͤt, mit wahren
Gedanken ausfuͤllen koͤnnen. Wir hoͤren und re-
den ſchon viel von menſchlichen Handlungen und
Tugenden und Fehlern, ehe wir noch einen Men-
ſchen mit Aufmerkſamkeit haben handeln geſehen.
Je mehr alſo die natuͤrliche Ordnung unſrer Auf-
klaͤrung umgekehrt wird, je mehr woͤrtliche ab-
[158]Verſchiedenheiten in den Werken
ſtrakte Ideen vor den ſinnlichen und Erfahrungs-
ideen vorhergehen, je mehr der Beobachtungsgeiſt
dem Syſtem nachfolgt, und daſſelbe nur zu beſtaͤ-
tigen ſucht, deſto mehr Gleichheit unter den Be-
griffen mehrerer, die izt bloß den gemeinſchaftli-
chen Theil ihrer Faͤhigkeiten und nach einerley
Vorſchrift geuͤbt, und den eigenthuͤmlichen ver-
nachlaͤßigt haben; deſto weniger Originelles
alſo.
Und ſo finden wirs auch in der That, wenn
wir die Werke der Alten und Neuern anſehen.
Muß es nicht einen etwas denkenden Menſchen
wundern, wenn er hoͤrt, daß alle die vornehm-
ſten Gattungen der Dichtkunſt, die, welche noch
bis auf den heutigen Tag den ganzen Umfang
menſchlicher Werke in dieſer Art zu umfaſſen ſchei-
nen, gerade zu der Zeit ſind erfunden und feſtge-
ſezt worden, da man am wenigſten uͤber die Na-
tur dieſer Gattungen, und uͤber die Verſchieden-
heiten, deren dieſelben faͤhig waͤren, nachdenken
konnte? Iſt es nicht augenſcheinlich, daß dieſe
verſchiedene Dichtungsarten nur ſo viel verſchie-
[159]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
dene Geſtalten waren, die die Begriffe in dem
Kopfe der erſten Schriftſteller annahmen? Daß
die Klaſſifikation derſelben, die wir izt als noth-
wendig anſehen, zum Theil von dem zufaͤlligen
Umſtande abhieng, daß gerade ſolche und ſolche
Genies die erſten waren, die die Aufmerkſamkeit
der Nationen auf ſich zogen? Der erſte poetiſche
Erzaͤhler alter Geſchichte, und der, welcher in der
Ode die Empfindungen bloß aus den Thatſachen
herauszog, und dieſe als eine Art groͤbern Stoffs
liegen ließ, und der, welcher die Begebenheiten
vor den Augen ſeiner Zuſchauer vorgehen ließ:
waren das Leute, welche bemerkt hatten, wie vie-
lerley Formen die Vorſtellung einerley Sachen an-
nehmen koͤnnte? Oder geriethen ſie nicht vielmehr
darauf, weil ſie nach keinem Muſter gebildet, ſich
bloß den Bewegungen ihres eignen Geiſtes uͤber-
ließen, und alſo durch die groͤßre Leichtigkeit, die
ſie fanden, ſich die Sachen auf die eine als auf
die andre Art vorzuſtellen, getrieben wurden, dieſe
zu waͤhlen? Sobald aber die erſten Schriftſteller
einen Grad von Anſehen und Ruf erhalten hat-
[160]Verſchiedenheiten in den Werken
ten, ſo wurde nunmehr die natuͤrliche Wirkſam-
keit der nachfolgenden geſtoͤrt. Jedermann war
auf dieſe Werke aufmerkſam, und machte ſich mit
denſelben bekannt. Eine neue Laufbahn zur Ehre
und zur Achtung war geoͤffnet. Am Ende derſel-
ben ſah man dieſe Maͤnner angelangt. Jeder-
mann ſezte ſich alſo nunmehr in Bewegung; nicht
mehr dahin, wohin er ſelbſt natuͤrlicherweiſe ohne
Wegweiſer gegangen ſeyn wuͤrde, ſondern dahin,
wo er ſahe, daß andre vor ihm gluͤcklich geweſen
waren. Endlich kam die Philoſophie, die immer
Gruͤnde findet, warum das Ding, das auf die
eine Art geſchehen iſt, nur auf dieſe einzige Art
geſchehen konnte, theilte die Dichtkunſt 2 priori
in ſo viel Klaſſen, als der Zufall und die Natur
der erſten Dichter verſchiedene Werke hervorge-
bracht hatten, und ſchraͤnkte nun vollends die
Freyheit der folgenden Schriftſteller durch den
Schein von Vollſtaͤndigkeit ein, den ſie dieſer Klaſ-
ſification gab.
So haben bey allen Arten der Erfindungen
die beſondern Umſtaͤnde, die Talente und der Ge-
[161]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſchmack der erſten Perſon, die durch dieſelbe be-
kannt worden iſt, entſchieden, nach welchen Re-
geln alle kuͤnftige arbeiten ſollten. Die erſte Ent-
deckung eines neuen Werks zum Nutzen oder zur
Bequemlichkeit der Geſellſchaft, iſt ein Werk des
Zufalls, das heißt, eines Zuſammenfluſſes von
Urſachen, die wir nicht aus einander ſetzen koͤn-
nen. Sobald der Menſch die Fruͤchte derſelben
genießt, ſo giebt ihm ſeine Traͤgheit ſo viel An-
haͤnglichkeit an die Form, unter welcher er die
Sache zuerſt geſehen hat, daß nun gar nicht mehr
davon die Rede iſt, ob nicht vielleicht, wenn
noch nichts erfunden waͤre, ſein eigner Verſtand
ihn auf einem andern Wege zu demſelben Ziele
wuͤrde gefuͤhrt haben. Eine zweyte Erfindung
koſtet oft mehr als die erſte, weil man, außer
der Schwierigkeit der Unternehmung ſelbſt, noch
zugleich den Hang der Nachahmung uͤberwinden
muß.
In der That iſt es wohl begreiflich, daß die
Empfindungen des Menſchen in Verſen oder in
Proſe ſich auf nicht mehr als vier oder fuͤnferley
L
[162]Verſchiedenheiten in den Werken
Arten ſollten mittheilen laſſen; daß es entweder
eine Erzaͤhlung mit Goͤtter- und Heldengeſchich-
ten und Wundern und Erſcheinungen; oder eine
dialogiſche Vorſtellung, und zwar dieſe, wenn ſie
traurig iſt, zwiſchen Koͤnigen und Fuͤrſten, und
wenn ſie luſtig iſt, zwiſchen Buͤrgern und Bedien-
ten; oder daß es ein Geſang, und in dieſem als-
dann nur Empfindungen mit Enthuſiaſmus und
Unordnung; oder daß es endlich eine Fabel ſeyn
muͤſſe, wenn etwas ein Gedicht ſeyn ſoll? Man
ſtelle ſich einmal vor, unſer Klima waͤre zuerſt
bevoͤlkert, unſere Nation zuerſt civiliſirt, unſere
Sprache zuerſt ausgebildet worden; unſere Reli-
gion, unſere Geſchichte, unſer Naturkenntniſſe,
unſre Regierungsformen waͤren die aͤlteſten gewe-
ſen. Haͤtte ſich wohl auch ein einziges Stuͤck der
alten Dichtkunſt ſo vorſtellen laſſen, wie es izt
iſt? Haͤtte wohl irgend ein Menſch an Epopeen
und Oden und Schauſpiele nach Art der Alten
denken koͤnnen? Wuͤrden wir wohl, wenn wir
von der ganzen Natur und dem menſchlichen Ge-
ſchlechte nichts weiter gewußt haͤtten, als was
[163]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
wir izt wirklich vor Augen haben, alle die Ein-
richtungen abgerechnet, die ſchon den Geiſt der
alten Zeit in die unſrige verpflanzen; wuͤrden wir
wohl auf viele von den Regeln gekommen ſeyn,
die izt die klaſſiſchen Schriftſteller der neuern be-
obachten?
Man ſehe nur, wie genau die ganzen For-
men unſerer poetiſchen Werke zu der Lage und
Verfaſſung und Geſchichte von Griechenland, und
wie wenig ſie zu der unſrigen paſſen! Bey jener
machen ſie einen Stein des ganzen Gebaͤudes aus,
bey uns ſind ſie ein angeflickter Zierrath. Ihre
Epopee enthielt ihre aͤlteſte Geſchichte, den Ur-
ſprung ihrer Staͤdte und ihrer großen Geſchlech-
ter. Was der Dichter dort in eine zuſammen-
haͤngende Erzaͤhlung brachte, das hoͤrte ſtuͤckweiſe
ſchon das Kind an der Bruſt ſeiner Mutter, das
beſang der Juͤngling an den Feſten der Goͤtter
und Helden, davon redete der Sachwalter vor
Gerichte, der Patriot im Rathe, der Herrfuͤhrer
im Felde. Ihre Oden, ihre Schauſpiele, der
Stoff und die Form derſelben, waren in die be-
L 2
[164]Verſchiedenheiten in den Werken
ſondern Ceremonien ihres Gottesdienſtes, oder
in die beſondern Feyerlichkeiten ihrer Zuſammen-
kuͤnfte, oder in die Verfaſſungen ihrer Regierungs-
formen ſo eingewebt, daß ſie nur unter dieſen auf
alle Weiſe ihre Veranlaſſung, ihre Beziehung, ihre
volle Wirkung hatten.
Der Glanz, den ein beruͤhmt gewordner Dich-
ter oder Redner von ſich wirft, blendet ohne
Zweifel ſeine unmittelbaren Nachfolger am mei-
ſten, und die Nachahmungsſucht iſt in der That
niemals ausſchweifender und ſklaviſcher, als
gleich nach der Epoque der Erfinder. So war
es in Griechenland, ſo in Rom, ſo in Italien zu
den Zeiten Petrarchs. Die erſten Dichter wurden
von den naͤchſten Jahrhunderten nicht bloß als
Originale angeſehen, die man aus freyer Hand
nachzeichnen wollte, ſondern als Modelle, in wel-
che man ſein Werk bis auf die kleinſten Fugen
paſſen mußte. — Nach und nach, da die Anzahl
der aufgeklaͤrten Voͤlker, unter denen es Dichter
giebt, groͤßer geworden, haben ſich auch die Ori-
ginale vermehrt: die Verehrung hat ſich getheilt,
[165]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
die Philoſophie hat uns Moͤglichkeiten gewieſen,
wo wir auch noch keine Beyſpiele haben, und wir,
die wir izt ſo ſpaͤt kommen, haben eben dadurch,
daß uns ſo viele Muſter zum Nachahmen uͤberlie-
fert worden, den Vortheil erlangt, daß es uns
leichter wird, mitten unter der Nachahmung noch
etwas von dem Eignen unſers Kopfes und Her-
zens zu behalten.
So erhaͤlt der menſchliche Geiſt in ſeinem wei-
teſten Fortgange auf einige Art das Recht wieder,
was er bey ſeinen fruͤheſten Verſuchen gehabt hat-
te. Die erſten Genies waren Originale gewiſſer-
maßen aus Nothwendigkeit. Was haͤtten ſie
anders ſeyn ſollen, da ſie die erſten waren? Die
nachfolgenden waren viele Jahrhunderte durch,
aus Traͤgheit und aus Bewunderung, ihre Nach-
ahmer. Dieſer Einfluß wuͤrde vielleicht nicht ſo
lange und ſo merklich fortgedauert haben, wenn
nicht Zwiſchenzeiten von Unwiſſenheit und Barba-
rey den menſchlichen Geiſt auf ſeiner Laufbahn
aufgehalten, oder ihn beynahe wieder ganz bis
an die Schranken zuruͤckgebracht haͤtten. Und
L 3
[166]Verſchiedenheiten in den Werken
waͤre es nur noch reine einfaͤltige Unwiſſenheit,
ein Mangel aller Kultur geweſen: ſo haͤtte ſie we-
nigſtens die Freyheit des Menſchen in den Opera-
tionen ſeiner Sinne und ſeines Verſtandes wie-
der herſtellen koͤnnen. Die Geſellſchaft und die
Wiſſenſchaften haͤtten alsdann ihre Reiſe wieder
von vorne angefangen, und nach einer Reiſe aͤhn-
licher Revolutionen waͤren unſere Homere oder
Solons doch auch erſchienen. Aber ſo waren es
Jahrhunderte einer verkehrten ungeſtalten Gelehr-
ſamkeit. Die Anhaͤnglichkeit fuͤr das Alterthum
dauerte fort, aber man kannte und verſtund die-
ſes Alterthum nicht mehr. Als man ſich nun aus
dieſer Dunkelheit hervorarbeitete, ſo hatte man
die alten Muſter noch immer im Geſichte. Die
Erhabenheit derſelben uͤber alles, was in den ſpaͤ-
tern Jahrhunderten oder von andern Nationen
war hervorgebracht worden, war augenſcheinlich.
Die Hochachtung fuͤr ſie mußte ohne Graͤnzen
ſeyn. Die Schwierigkeit, die es koſtete, ſie zu
finden und zu ergaͤnzen, und die Arbeit, die man
ſich machte ſie zu erklaͤren, waren ſehr geſchickt,
[167]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
dieſe Hochachtung noch hoͤher zu treiben. Nach
und nach iſt dieſes Studium durch die Menge der
ſchon vorhandenen Huͤlfsmittel weniger ſchwer,
und nach eben dem Maaße weniger eifrig gewor-
den. Der Mann von Genie hat auch bey der
Leſung der Alten doch noch einige Muße uͤbrig be-
halten, an ſeinen eignen Ideen zu arbeiten. —
Die Philoſophie hat endlich ihr Licht auch an dieſe
Gegenſtaͤnde gebracht. Sie hat uns die Regeln,
die ihren Grund in dem Beſtaͤndigen der menſch-
lichen Natur haben, von denen unterſcheiden ge-
lehrt, die aus dem veraͤnderlichen Zuſtande der-
ſelben fließen.
Alles das zuſammengenommen hat zwar nicht
unſrer Litteratur die Grundzuͤge nehmen koͤnnen,
die von der alten griechiſchen und roͤmiſchen in ihr
liegen: aber es hat doch wenigſtens die Geſtalten
und Farben derſelben geaͤndert.
Eben dieſe Philoſophie iſt es, welche unſere
Schriftſteller noch zu Originalen, wenigſtens in
einzelnen Theilen ihrer Werke, machen kann.
L 4
[168]Verſchiedenheiten in den Werken
Naͤmlich derjenige Theil der Dinge, der der
Empfindung nicht unmittelbar offen liegt, der
erſt durch eine Reihe von Beobachtungen und
Schluͤſſen aus ihnen gefunden werden muß, wird
da genauer erkannt, wo nicht jeder Menſch mit
ſeinen Erkenntniſſen immer von vorne anfangen,
und alle die erſten einfachſten Erfahrungen wieder
durchwandern muß, ſondern wo er bey ſeinem
Eintritte in die Geſellſchaft das Reſultat von den
Erfahrungen ſeiner Vorfahren concentrirt erhaͤlt,
und von dieſen nunmehr ausgehen kann. Die
aͤlteſten Menſchen ſponnen ſich ſo zu ſagen den
ganzen Faden ihrer Ideen ſelbſt: ſie kannten ihn
deswegen genau, er war voͤllig ihre, aber weit
fortgeſezt war er nicht. Izt bekoͤmmt jeder
Menſch durch Ueberlieferung und Unterricht ſchon
ein ganzes Gewebe von Ideen in die Hand, das
er ſelbſt noch nicht uͤberſehen kann, das er indeß
als einen unbekannten Schatz verwahret, bis er
es nach und nach bey Gelegenheit aus einander
wickelt. — Und alsdann erſt, wenn er damit
fertig iſt, dasjenige, was er von fremden Gedan-
[169]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ken bekommen hatte, in ſeine eignen zu verwan-
deln: alsdann erſt kann er nun anfangen, um-
herzugehen und ſich ſelbſt Gegenſtaͤnde fuͤr ſeine
eigne Bearbeitung aufzuſuchen.
Zu denjenigen Dingen, deren Kenntniß nicht
bloß Empfindung, ſondern auch Zergliederung
des Empfundnen verlanget, gehoͤrt die Entſtehung
und die Abwechſelung der Begierden; aber noch
weit mehr die Art der Erzeugung und der Ent-
wickelung der Ideen ſelbſt, der Mechaniſmus,
nach welchem die Seele bey ihren Operationen
verfaͤhrt, die Triebwerke und die Geſetze ihrer Be-
wegungen. Dieſe muͤſſen wir alſo von Rechts-
wegen beſſer kennen, als die Alten. Hingegen die
Aeußerungen derfelben, die Geberdenſprache, die
von der Leidenſchaft unwillkuͤhrlich ausgeſtoßnen
Worte, alles, was vom innern Menſchen merk-
lich in den aͤußern uͤbergeht; das konnten ſie ſo
gut wiſſen, wie wir, denn es gehoͤren nur Augen
und Aufmerkſamkeit dazu; ja ſie bemerkten es viel-
leicht beſſer, eben weil ſie nichts weiter zu bemer-
ken hatten. Daraus entſpringen zween Unter-
L 5
[170]Verſchiedenheiten in den Werken
ſchiede zwiſchen unſern Dichtern und den ihrigen.
Erſtlich: Jene zeigen uns mehr das Innere, dieſe
mehr das Aeußere der menſchlichen Handlungen.
Unſere Dichter ſind ſchon eine Art Metaphyſiker,
und muͤſſen es faſt fuͤr uns ſeyn. Sie zergliedern
die Empfindung, die der Alte ganz einfach durch
ein Wort ausgedruͤckt haͤtte, in die Summe der
einzelnen Bewegungen, aus denen ſie ſich erklaͤren
laͤßt. Sie ſagen uns nicht bloß die Gedanken,
die der wirklich hatte, welcher in der vorgeſtellten
Verfaſſung war, ſondern auch die, welche bloß
dunkel in ſeiner Seele zum Grunde lagen, und in
der Leidenſchaft ſich aͤußerten, ohne von dem Ver-
ſtande bemerkt zu werden. Sie ſondern in dem
Gemaͤlde der menſchlichen Seele die Zuͤge, die in
Eins verlaufen waren, von einander ab, und
laſſen die geheimern kleinern Triebfedern einzeln
vor unſern Augen ſpielen, die die Natur uns nicht
anders als in ihrer vereinigten Wirkung zeiget.
Der Alte hingegen nennt das Phaͤnomen ſo im
Ganzen, wie wir es ſehen, beſchreibt und erklaͤrt
nichts; iſt genau, reich, umſtaͤndlich, wenn er
[171]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
die Wirkungen erzaͤhlt; unbeſtimmt, arm, kurz,
wenn er ihre Urſachen angiebt. Zweytens:
Wenn unſere Dichter originell ſeyn ſollen, ſo koͤn-
nen ſie es nicht anders ſeyn, als durch neue Ent-
deckungen in dieſem Theile der Natur; der andere
Theil iſt erſchoͤpft, oder fuͤr uns zerſtreute Zu-
ſchauer weniger ſichtbar. Und ſo ſind auch die-
jenigen originell geworden, welchen wir zu un-
ſern Zeiten dieſes Verdienſt zugeſtanden haben.
Sie haben irgend eine neue Klaſſe der Empfindun-
gen wahrgenommen, verborgene Unterſchiede und
Schattirungen ſonſt aͤhnlicher Veraͤnderungen der
Seele entdeckt, die Begriffe, die in einer zuſam-
mengeſetzten Vorſtellung oder einer Begierde ver-
borgen liegen, richtiger erforſcht. Die Alten
konnten originell ſeyn, ſelbſt in dem ganz ſichtba-
ren Theile der Natur.
Der Vorzug, den in dieſem Stuͤcke unſer
Jahrhundert vielleicht vor allen uͤbrigen voraus
hat, iſt augenſcheinlich. Man muͤßte in der That
ſeine eigene Empfindung verleugnen, wenn man
ſagen wollte, daß man den Menſchen von ſeiner
[172]Verſchiedenheiten in den Werken
innern Seite, die Philoſophie ſeines Herzens, in
den Alten mehr oder nur eben ſo gut kennen lern-
te, als in einigen vortreflichen Werken der Neuern.
Vielleicht ſind dafuͤr Handlungen und Reden bey
jenen genauere Kopien der damaligen Natur, als
ſie es bey unſern Dichtern von der unſtigen ſind.
Unſere Imagination bekoͤmmt dort vielleicht ge-
treuere Bilder: aber unſer Verſtand erhaͤlt weni-
ger Begriffe, oder weniger Unterſchiede unter aͤhn-
lichen Begriffen. Unſer Herz wird vielleicht hef-
tiger angegriffen; aber die Schlaͤge ſind einfoͤrmi-
ger, und zielen mehr darauf ab, das Ganze un-
ſerer Empfindungen uͤberhaupt in Bewegung zu
ſetzen, als eine jede einzelne Saite derſelben beſon-
ders zu ruͤhren.
Kein Unterſchied zwiſchen den alten und neuen
Dichtern iſt ſichtbarer als der, daß jene mehr
Dinge wußten und ſchilderten, dieſer ihre Kennt-
niſſe eingeſchraͤnkter, aber tiefer ſind.
Es giebt izt unter dem Haufen der wißbaren
Dinge einen Theil, der, ſo zu ſagen, das gemein-
ſchaftliche Gut aller menſchlichen Geiſter auſ-
[173]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
macht, Gegenſtaͤnde, die allen gleich wichtig, un-
gefaͤhr gleich bekannt ſind, und deren Erlernung
die gewoͤhnliche Art der Uebung iſt, die jeder ſei-
nem Verſtande giebt. Andere hingegen ſind nur
das Eigenthum einer gewiſſen Gattung von Men-
ſchen; die uͤbrigen kennen ſie nicht: und von der
Unwiſſenheit bis zur Verachtung iſt nur noch ein
Schritt: — ſie nehmen auch keinen Theil daran.
Ein ſolcher Unterſchied war in der erſten Epoche
weniger ſichtbar. Der alte Dichter breitete ſich
alſo in der That uͤber den ganzen Umfang der Na-
tur, der Kuͤnſte und der Geſchaͤfte des Menſchen
aus. Die Beſchreibung eines Wagens, eines
Rades, einer Handarbeit, eines Schildes, eines
Gebaͤudes war fuͤr ihn beynahe gleich erheblich;
alles war noch neu. Heute zu Tage iſt der Dich-
ter in allem, was zu den Arbeiten der niedern
Klaſſen gehoͤrt, unwiſſend, und der Leſer in Abſicht
derſelben ekel. Der eine iſt nicht im Stande, ſie
zu beſchreiben, und der andere hat kein Intereſſe,
ſie kennen zu lernen.
[174]Verſchiedenheiten in den Werken
Von wie viel Sachen mußte Homer nicht
Kenntniſſe haben, von denen unſre heutigen Dich-
ter nichts wiſſen, eben deswegen nichts wiſſen,
weil ſich izt ſo viel davon wiſſen laͤßt; aber nur
durch Studium und Fleiß, da Homer, zu deſſen
Zeit jede Klaſſe der Kenntniſſe noch arm war,
leicht den ganzen Vorrath einſammeln konnte,
ohne ſelbſt recht zu wiſſen, wie er zu demſelben ge-
kommen war. Welcher Dichter weiß izt bey uns,
wann die Plejaden auf- und untergehen? welcher
Wind der angenehmſte und welcher der Regen-
wind ſey? welche Tage zur Saat dieſer oder jener
Frucht taugen? Wer kennt den Bau des Pfluges,
des Weberſtuhls, des Schiffes, und weiß die
Handgriffe, durch die ſie gebraucht werden?
Wem iſt die Beſchaffenheit und die Lage aller
Staͤdte und Doͤrfer ſeines Vaterlands ſo gut be-
kannt, als dem Homer die von Griechenland und
Kleinaſien? Wer kennt die Ruͤſtung unſerer Sol-
daten, ihre Art zu fechten, die Anordnung eines
Heeres ſo gut? Wer iſt von den Erdarten, den
beſondern Produkten, dem Klima jeder Provinz
[175]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſo gut unterrichtet, als Homer, deſſen gewoͤhn-
lichſte Beywoͤrter davon entlehnt ſind? Alles das
ſind Dinge, die uns entwiſchen, weil wir unſern
ſtarren Blick nur auf Einen oder wenige Gegen-
ſtaͤnde gerichtet haben, um dieſe ganz zu durch-
ſchauen; da jene ihr freyes unangeſtrengtes Auge
in der ganzen weiten Welt umherſchweifen, und
auf jedem Gegenſtande ruhen ließen, der ſich durch
irgend eine Art von Neuheit oder Sonderbarkeit
auszeichnete?
Was insbeſondre die Natur außerhalb dem
Menſchen betrifft, von wie viel Thieren oder
Pflanzen koͤnnen unſere Dichter reden, ohne un-
verſtaͤndlich oder niedrig zu werden? Wie viele
von den Erſcheinungen der todten Natur ſind nicht
gaͤnzlich aus der Zahl nachahmbarer Objekte bey
uns ausgeſtrichen, weil ſie weder recht genau ge-
kannt werden, noch edle Namen haben, noch bey
dem Leſer dieſe ſchon vorlaͤufige Kenntniß der
Sache finden, ohne welche die beſte Beſchreibung
fuͤr ihn bloße Woͤrter ſind? Andere werden noch
in unſere Nachahmungen aufgenommen, aber wir
[176]Verſchiedenheiten in den Werken
ſchildern ſie nicht nach unſern eigenen Beobach-
tungen, ſondern nach Begriffen, die wir von an-
dern und großentheils von alten Dichtern uͤber-
kommen haben. Sehr wenige ſehen die Natur
ſo, wie ſie innerhalb ihres eignen Geſichtskreiſes
liegt, und wie ſie deswegen von einem Bezirke
zum andern abwechſelt. Den Beſchreibungen
der Alten ſieht man es an, daß ſie auf der Stelle
ſind gemacht worden; alles ſchickt ſich nur auf
ihr Land, ihre Menſchen, ihre Geſchichte. Selbſt
jede ihrer Erdichtungen hieng auf gewiſſe Weiſe
mit der Wahrheit zuſammen. Unſere Erdichtun-
gen gehen in die weite Welt hinaus, und ſehen
dem einen Lande, der einen Epoche ſo aͤhnlich,
wie der andern. Wir richten uns bloß nach den
allgemeinen Geſetzen der Natur; ſie weit mehr
nach den Verfaſſungen und Denkmaͤlern ihres
Volks.
Aus dem, was wir bisher geſagt haben, wird
ſich erklaͤren laſſen, was die Simplicitaͤt heiße,
die man den aͤlteſten Schriftſtellern als einen ih-
nen eignen Charakter zuſchreibt, und die, wie
[177]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
man vorgiebt, die groͤßte Schwierigkeit fuͤr den
Ueberſetzer derſelben in eine unſrer Sprachen aus-
macht. Dieſe Simplicitaͤt iſt nichts anders, als
die zuſammengefaßte unentwickelte Empfindung
aller der Verſchiedenheiten zwiſchen der Art, wie
wir die Sachen ſehen und ausdruͤcken, und zwi-
ſchen der ihrigen. Ungefaͤhr folgende Stuͤcke ſind
einige von den Urſachen dieſer Empfindung. Sie
ſchildern alle Arten von Gegenſtaͤnden, ſeltene
und gemeine, bekannte und fremde: wir ſind ge-
wohnt, nur gewiſſe Gegenſtaͤnde der Beſchreibung
und Betrachtung werth zu halten. Sie gehn mit
ihrer ganzen Abſicht niemals weiter, als uns das
Bild der Sache, von der ſie reden, zu uͤberliefern:
wir brauchen die Begebenheiten, die wir erzaͤhlen,
die Objekte, die wir ſchildern, gemeiniglich nur
als Gelegenheiten, eine Anzahl guter Ideen, die
wir in unſerm Kopfe geſammelt haben, anzubrin-
gen. Sie legen niemals in den Ausdruck einen
groͤßern Reichthum von Gedanken, als der in dem
Gegenſtande ſelbſt liegt: wir haben faſt immer
noch außer der Abſicht, der Imagination des Le-
M
[178]Verſchiedenheiten in den Werken
ſers ein gewiſſes Bild vorzuſtellen, die zweyte, in
ſeinem Verſtande gewiſſe Betrachtungen zu ver-
anlaſſen. Sie ſuchten geringſcheinende Gegen-
ſtaͤnde, wenn ſie ihnen auf ihrem Wege aufſtießen,
nicht durch feine Nebenzuͤge, durch veranlaßte An-
wendungen derſelben, durch bewirkte kleine Ver-
haͤltniſſe mit erheblichern, wichtig zu machen: bey
uns wird der gute Schriftſteller in dieſem Falle
immer eine Art von Kunſtgriff gebrauchen, uns
noch an etwas anders denken zu laſſen, als was
er geradezu ſagt. Sie nahmen allen ihren Stoff
faſt durchgaͤngig aus der Geſchichte ihres Landes,
und noch dazu aus einer gewiſſen Epoche derſel-
ben; ſie erfanden niemals ganz neue Subjekte,
ſondern ſetzten hoͤchſtens zu den alten einige neue
Umſtaͤnde hinzu; alle ihre Fabeln haben auch des-
wegen einen gemeinſchaftlichen Charakter: wir
haben in den unſrigen mehr Mannichfaltigkeit,
weil ſie [ganz] von unſrer Wahl abhaͤngen. Sie
ſuchten in ihren Gemaͤlden nur Wahrheit, nicht
Abwechſelung; und wenn deswegen in dem Laufe
der Begebenheit dieſelbe Sache wieder vorkam, ſo
[179]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſcheuten ſie ſich nicht, ſie auf dieſelbige Art zu ſa-
gen: wir ſind mit der Richtigkeit noch nicht zu-
frieden, oder wir opfern auch wohl einen Theil
derſelben auf, wenn nur unſre Neubegierde unter-
halten wird; das immer Veraͤnderte in den Vor-
ſtellungen iſt fuͤr unſre Seelen, deren uͤbrige Trieb-
federn ſchon zum Theil abgenutzt ſind, ein noth-
wendiger Reiz geworden, wenn ſie uns gefallen
ſollen. Sie richten ſich in der Umſtaͤndlichkeit ih-
rer Schilderungen nicht nach der Rangordnung,
die unſer Stolz oder auch der Mißbrauch gewiſſer
Sachen unter den Gegenſtaͤnden gemacht hat:
bey uns werden nur wenige ausfuͤhrlich gezeigt,
andere kommen nur beruͤhrt wieder, noch andere
muͤſſen wir mit einer Decke uͤberziehen, die ſie ge-
heimnißreicher und anziehender zugleich machen.
Sie faſſen in ihrem Ausdrucke alles das in Eins
zuſammen, was in der Empfindung der Seele nur
als einfach vorkoͤmmt: wir ſondern das alles
von einander ab, und druͤcken es einzeln aus,
was der Verſtand Mannichfaltiges in dieſer Em-
pfindung wahrnimmt. Ihre Vorſtellungen gehen
M 2
[180]Verſchiedenheiten in den Werken
ſehr auf das Einzelne, und beſtimmen jeden Theil
der Sache, wenn ihr Anblick geſchildert werden
ſoll; ſie halten ſich bloß an das Allgemeine, und
geben nur uͤberhaupt die Gattung an, wenn ihre
Kraͤfte und Geſetze beruͤhrt werden: wir hingegen
geben von den ſichtbaren Veraͤnderungen nur un-
gefaͤhre ſchwankende Bilder, von den geiſtigen ge-
naue zergliederte Begriffe.
Aus dem Haufen dieſer Verſchiedenheiten wol-
len wir noch beſonders zwey herausheben.
Erſtlich: Alle alte Gedichte der Griechen ſind
eine Art von Denkmaͤlern, die zwar nicht die ge-
naue Wahrheit und die wirkliche Geſchichte ent-
halten, aber doch etwas ihr Aehnliches uͤberlie-
fern. Alles, was ihre Dichter von ihren Goͤt-
tern und Helden erzaͤhlen, ſo unwahrſcheinlich es
auch ſeyn mag, wenn es mit der Natur der Dinge
und des Menſchen uͤberhaupt verglichen wird, be-
koͤmmt doch eine Art von Glaubwuͤrdigkeit, wenn
man es mit der Natur und der beſondern Ge-
ſchichte des Landes vergleicht. Das Syſtem ih-
rer politiſchen und gottesdienſtlichen Einrichtun-
[181]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
gen, viele unlaͤugbare Facta der folgenden Zei-
ten, viele fortdauernde Spuren der aͤlteſten Pe-
riode haͤngen auf gewiſſe Weiſe mit den Fabeln der
Dichter zuſammen, und ſcheinen dieſelben voraus-
zuſetzen. Zwiſchen der wirklichen und der mytho-
logiſchen Geſchichte war doch ein gewiſſes Band,
das, wenn es nicht der letztern die Glaubwuͤrdig-
keit erwarb, ihr wenigſtens mehr Intereſſe gab,
und ſie ungefaͤhr zu eben dem machte, was un-
ſere Hypotheſen in der Naturlehre ſind, zu Vor-
ausſetzungen, aus denen ſich Umſtaͤnde und Be-
gebenheiten, die wirklich erfolgt ſind, erklaͤren laſ-
ſen. Die Dichtkunſt ſcheint ſich bey allen Voͤl-
kern, die ihre Ausbildung nicht von andern be-
kommen haben, ihre Goͤtter und Helden und die
ehrwuͤrdigſten Zeiten ihres hoͤchſten Alterthums
zugeeignet zu haben. Wie Homer und Sopho-
kles auf den trojaniſchen Krieg, ſo koͤmmt David
immer auf die Ausfuͤhrung aus Aegypten und den
Untergang der Aegypter zuruͤck.
Nothwendig aber mußte das, was wir zu
unſern Zeiten als die Abſicht der Dichtkunſt anſe-
M 3
[182]Verſchiedenheiten in den Werken
hen, durch dieſe eingeſchraͤnkte Wahl ihrer Sub-
jekte zum Theil vernichtet, zum Theil in einen
bloßen Nebenzweck verwandelt werden. Die Per-
ſonen wurden weder gut noch boͤſe von den Dich-
tern gewaͤhlt; ſie wurden ſo genommen, wie ſie
jedermann glaubte. Die geheimen Triebfedern
der unſichtbar wirkenden Kraͤfte ſprachen den Dich-
ter davon frey, die Bewegungsgruͤnde und Ver-
anlaſſungen unter den ſichtbaren Kraͤften und in
ihren bekannten Geſetzen aufzuſuchen. Die Be-
gebenheit im Ganzen ward ſchon als bekannt und
geglaubt vorausgeſetzt; es wurde alſo nicht mehr
gefragt, ob ſie habe geſchehen koͤnnen: nur das,
was nach dieſer Vorausſetzung in den einzelnen
Theilen der Handlung hatte erfolgen koͤnnen oder
muͤſſen, nur das war dem Dichter uͤbriggelaſſen,
nach ſeiner Kenntniß von Natur und Wahrſchein-
lichkeit zu beſtimmen. Das Principium war die
Ueberlieferung, aus dieſem durfte nur richtig ge-
folgert werden. — Die moraliſchen Zwecke alſo,
Thorheiten zu verſpotten, oder Tugenden zu em-
pfehlen, oder Wahrheiten zu lehren, fanden bey
[183]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Leuten nicht ſtatt, die nicht einen eigenen Stoff
bearbeiteten, ſondern einen ſolchen, welcher das
Eigenthum der Nation geworden war. — Ihre
Fabeln waren eben deswegen einfacher, nicht bloß
weil ſie das Einfache liebten, weil ihr Genie frucht-
barer war, aus ſehr wenigen Zufaͤllen eine Menge
intereſſanter Reden und Handlungen herauszuzie-
hen; ſondern vornehmlich, weil ihnen dieſe Fa-
beln ſo einfach waren uͤberliefert worden, weil es
Fabeln waren, die man nicht zum Vergnuͤgen er-
dichtet hatte, ſondern die nach und nach durch un-
merkliche Zuſaͤtze und Abaͤnderungen aus der er-
ſten Tradition waren gebildet worden. — Ueber-
haupt muß alles das, was von einem einzigen
Kopfe in der Abſicht hervorgebracht wird, zu un-
terrichten oder zu ruͤhren, einen ganz andern Cha-
rakter haben, als was ſo zu ſagen das Reſultat
von tauſend Koͤpfen, und der Zuſammenfluß von
Ideen und Meynungen einer noch ganz inculti-
virten Nation iſt.
Fuͤr uns iſt dieſes Band, das die dichteriſche
Welt mit der wirklichen zuſammenhieng, zerriſſen;
M 4
[184]Verſchiedenheiten in den Werken
die Erdichtungen oder ſelbſt die Geſchichten, die
die Dichter bearbeiten, koͤnnen auf uns keine an-
dere Beziehung haben, als die ihnen zukommen,
in ſo fern es menſchliche Begebenheiten ſind; wir
muͤſſen alſo nothwendig von einer andern Seite
den Eindruck verſtaͤrken, der ihnen von der einen
abgeht. Unſer Verſtand und unſer Herz ſind
dem Vergnuͤgen verſchloſſen, das dem Griechen die
Thaten ſeiner aͤlteſten Helden, durch ſeine aͤlteſten
Weiſen beſchrieben, machen mußten; aber beide
ſtehen immer noch dem Vergnuͤgen offen, das
mannichfaltige und lebhafte Ideen oder geſell-
ſchaftliche Neigungen in ihnen erregen. Unſer
Dichter muß nothwendig mehr Abſichten ſich vor-
ſetzen, als ſein Werk unmittelbar ankuͤndigt.
Bey der Bildung unſerer neuen Dichtkunſt iſt
ein Streit von entgegenwirkenden Urſachen merk-
lich. Durch die Bewunderung, die man fuͤr die
Alten hatte, wurde man zu der Nachahmung der-
ſelben gezogen, man ſuchte, ſo viel man konnte,
ſich in ihre Zeit und Umſtaͤnde zu verſetzen, ihre
Denkungsart anzunehmen, und ſah die Aehnlich-
[185]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
keit mit ihnen fuͤr das hoͤchſte Verdienſt eines
Werks an. Durch die Veraͤnderungen hingegen,
welche unterdeſſen in Sprache und Religion und
Wiſſenſchaften und ſogar Aberglauben vorgegan-
gen waren, wurde dieſe Nachahmung zum Theil
unmoͤglich. Man konnte nicht mehr voͤllig ſich
in den Geſichtspunkt ſetzen, aus dem die Alten die
Dinge angeſehen hatten, oder man kam immer
von Zeit zu Zeit wieder zu dem ſeinigen zuruͤck.
So vermiſchten ſich die Farben des Antiken und
des Modernen; Begriffe, die ihre Gegenſtaͤnde
nur in jener Zeit hatten, mit einer Ausfuͤhrung
derſelben, die nur auf die unſrige paßte.
Und dieſe Nachahmung mußte nothwendig
mehr auf den aͤußern Bau, auf die Wahl der Ver-
zierungen, auf die Form des Werks gehen, als
auf das innere Weſen deſſelben. Man uͤberlie-
fert uns die Alten als Muſter der Vortrefflichkeit,
die das Zeugniß aller Jahrhunderte fuͤr ſich ha-
ben. Aber dieſe Vortrefflichkeit nehmen wir an-
fangs nur auf Treu und Glauben an, und weit
eher, als wir ſie durch uns ſelbſt in ihren Werken
M 5
[186]Verſchiedenheiten in den Werken
zu finden im Stande ſind. Denn die Sprachen,
in denen ſie geſchrieben ſind, erfordern ein langes
Studium; und wenige gelangen dazu, ſie bis
auf den Grad zu kennen, daß das Leſen des Ori-
ginals auf ſie denjenigen unmittelbaren Eindruck
des Vergnuͤgens macht, nach welchem wir ohne
weitere Regeln von dem Vorzuge eines Werks ur-
theilen koͤnnen. Dasjenige, wovon dieſer Ein-
druck abhaͤngt, liegt in der That bey den Alten
wie bey den Neuen weit weniger in dem, was ſich
durch allgemeine Regeln ſagen, erklaͤren und fin-
den laͤßt, als in der unnennbaren Richtigkeit und
Malerey des Ausdrucks; in tauſend Kleinigkei-
ten, die ſo in das Innere der Sprache verwebt
ſind, daß nicht der Verſtand, ſondern nur das
Gefuͤhl ſie bemerken kann. Man darf ſicher aus
der Schwierigkeit, die es koſtet, ſich ein ſolches
Gefuͤhl zu erwerben, und der Menge der Bewun-
derer, die dem unerachtet die Alten haben, ſchlieſ-
ſen, daß der groͤßte Theil es nur aus einer falſchen
Scham iſt; ſie fuͤrchten durch einen oͤffentlichen
Widerſpruch gegen die allgemeine Meynung ſich
[187]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
den Verdacht eines uͤbeln Geſchmacks oder eines
Mangels an Kenntniß zuzuziehen.
Was alſo von den Alten am meiſten nachge-
ahmt wurde, was ſich bey ihnen auf etwas All-
gemeines und Deutliches bringen, in Regeln ab-
faſſen, in ein Syſtem vereinigen ließ, das iſt ihre
Geſchichte, ihre Maſchinen, ihre Metaphern, der
Gang ihrer Epopee, ihres Trauerſpiels, ihrer Ode,
ihre Erklaͤrungen der natuͤrlichen Phaͤnomene, ihre
politiſchen Geſinnungen (z. B. ihre ausſchließende
Hochachtung fuͤr die Tapferkeit und fuͤr die Ehre
eines Kriegers), ihre Anzeichen und Prophezei-
hungen, u. ſ. w. —
Im Einzelnen hingegen, in der Ausfuͤhrung
behalten die Werke der Neuern, ſo ſehr ſie ſich auch
mit dem Geiſte der Alten moͤgen genaͤhrt haben,
doch immer das Gepraͤge eines Jahrhunderts,
das immer weniger und weniger ſinnlich wird;
deſſen Imagination ſich immer weiter von der
bloßen Zuſammenſetzung von Bildern entfernet,
und unter der Aufſicht der Philoſophie nur an der
Verſchoͤnerung allgemeiner Ideen arbeitet. Das
[188]Verſchiedenheiten in den Werken
Syſtem der Alten war rein, einfach, ganz allein
durch ihre eignen Umſtaͤnde beſtimmt; das unſrige
iſt vermiſcht, zuſammengeſezt, der Abdruck zweyer
verſchiedenen Geſtalten des menſchlichen Geſchlech-
tes zugleich.
Es iſt eine bekannte Anmerkung, daß es ſehr
wenig ſchoͤn geſagte Gedanken giebt, die nicht et-
was Falſches enthielten, die nicht, um ſchoͤn zu
werden, etwas haͤtten muͤſſen uͤbertrieben werden.
Man muß entweder das in der vollkommenſten
Allgemeinheit ausdruͤcken, was nur auf einige
Faͤlle paßt, oder man muß den hoͤchſten Grad
nennen, wo nur ein niedrigerer vorhanden iſt.
Ideen, die nur einige Verſchiedenheiten haben,
muͤſſen durch die Verbergung ihrer Aehnlichkeiten
zu einem vollkommnen Kontraſte erhoͤht, andere,
die ſich nur in einigen Merkmalen aͤhnlich ſind,
zur vollkommnen Uebereinſtimmung gebracht wer-
den. Man unterſuche einmal die glaͤnzendſten
Ideen aus den beſten philoſophiſchen Dichtern
unſers Jahrhunderts, aus den Philoſophen ſelbſt,
die aber zugleich ſchoͤn ſchreiben wollen, und frage
[189]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
ſich, ob die Sache genau immer ſo ſey, wie ſie ſie
vorſtellen? ob es nicht oft eben ſo viel Ausnah-
men als Faͤlle gebe, die unter die Regeln paſſen?
ob nicht etwas von der Wahrheit habe verſchwie-
gen oder verfaͤlſcht werden muͤſſen, um die Vor-
ſtellung ſtark und neu zu machen?
Dieſe vorſetzliche Unwahrheit in den Gedan-
ken, die ihren Ausdruck reizender macht, wuͤr-
de ich zu einem unterſcheidenden Charakter der
Neuen machen, und hingegen das Matte und
wie es ſcheint Kraftloſe im Ausdrucke, mit einer
genauen Wahrheit verbunden, zum Charakter der
Alten.
Wenn zum erſtenmal ein beobachtender Geiſt
eine Verbindung der Dinge, eine gewiſſe Folge
von Urſachen und Wirkungen, eine Aehnlichkeit
oder Verſchiedenheit unter den Gegenſtaͤnden, ge-
wiſſe Regeln in den Operationen des Menſchen
und der Natur entdeckt hatte: ſo war die Neu-
heit dieſer Erfindung ſchon genug, den Ausdruck
auffallend und ſtark zu machen. Ich begreife
recht wohl, warum gemeine Gedanken, Senten-
[190]Verſchiedenheiten in den Werken
zen, die itzo in dem Munde unſerer Kinder und
unſrer Diener ſind, in den erſten Zeiten einem
Manne den Titel eines Weiſen erwerben konnten;
denn in der That ſolche Gedanken und Sentenzen
ſind alles, was uns die philoſophiſche Geſchichte
von den meiſten der erſten Weiſen aufbehalten hat.
Ein ſolcher Gedanke war von großem Werthe,
als er das erſtemal aus der Huͤlle der einzelnen
Erfahrungen herausgezogen, und mit allgemei-
nen Worten noch richtig und bedeutend abgebil-
det wurde. Es gehoͤrte ein hoher Grad von
Scharfſinn dazu, dieſe erſten Grundſaͤtze, auf die
noch durch keine vorhergehenden allgemeinen Be-
griffe die Seele gefuͤhrt wurde, der Natur ſelbſt
abzulernen. Man denke nur, wie ſchwer es uns
itzt noch wird, itzt, da wir einen ſo großen Vor-
rath von erklaͤrten zergliederten Ideen haben, de-
ren Ausdruͤcke wir nur auf eine neue Art zuſam-
menſetzen duͤrfen, um das Eigenthuͤmliche unſrer
eignen Ideen auszudruͤcken; wie ſchwer es uns
dem unerachtet noch wird, ein Gefuͤhl, das wir
ohne Anweiſung oder Beyſpiel, bloß durch die
[191]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Verbindungen und Umſtaͤnde unſers eignen Le-
bens bekommen haben, bis zu der Deutlichkeit zu
erhoͤhen, daß es ſich mit Worten verſtaͤndlich aus-
druͤcken und mittheilen laͤßt. Und man wird be-
greifen, welches in der That die Groͤße eines Gei-
ſtes ſeyn mußte, der, ohne dieſe Huͤlfsmittel, ſeine
Sprache zum erſtenmal zu dem Ausdrucke ſolcher
ihm eignen Erfahrungen bringen, und die Form
finden mußte, in welcher ſeine Idee kenntlich blieb.
Aber mehr brauchte es auch alsdann nicht, ſie
vortreflich zu machen. Bey uns hingegen iſt dieſe
erſte Anzahl von Ideen ſchon durch tauſend Koͤpfe
gegangen, von allen gedacht, geſagt und etwas
beruͤhrt worden. Einen großen Theil davon ler-
nen wir ſchon an der Bruſt unſrer Muͤtter, oder
auf dem Arme unſrer Waͤrterinnen. Unſer Um-
gang, unſre Buͤcher, alles erfuͤllt uns mit ſolchen
Grundſaͤtzen und Bemerkungen, und macht uns
mit ihnen ſo bekannt, daß wir ſie anfangen ge-
ringe zu ſchaͤtzen. Ihnen alſo mehr Leben und
Staͤrke in unſrer Seele zu geben, muͤſſen ſie durch
den Ausdruck erhoͤht, geſchaͤrft, verfeinert wer-
[192]Verſchiedenheiten in den Werken
den. Wenn man die Bilder und Ideen ſeines
Kopfes fuͤr das Vergnuͤgen eines Fremden zurich-
ten will, ſo muß man ſie dem andern nicht bloß
mittheilen, denn er hat die meiſten derſelben ſchon,
und er wuͤrde ſie alſo als ein Geſchenk, das man
ihm mit ſeinem Eigenthume machen wollte, ver-
achten; ſondern man muß ihm zugleich eine aus-
gebreitetere Nutzbarkeit derſelben, einen groͤßern
Umfang von Faͤllen, die er darunter zuſammen-
faſſen kann, eine groͤßere Mannichfaltigkeit von
darinn verborgenen Vorſtellungen zeigen, als er
bisher in ihnen wahrgenommen hat. Was man
feine Gedanken nennt, ſind gemeiniglich ſolche,
wo außer der erſten offenbaren und deutlich aus-
gedruͤckten Verbindung der Ideen, noch eine an-
dre verſtecktere bloß angezeigte Verhaͤltniß derſel-
ben unter ſich oder mit gewiſſen Gegenſtaͤnden ge-
meynt iſt. Starke Gedanken ſind die, wo man-
nichfaltige Wirkungen unter eine einzige Urſache,
viele Faͤlle unter eine Regel, viele Ideen unter ei-
nen einzigen Ausdruck gebracht werden. —
[193]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Wir finden einen großen Theil dieſer Anmer-
kungen durch eine Art von Originalen beſtaͤtigt,
die aus den alten Zeiten zu uns gekommen ſind;
ich meyne die Stuͤcke der alten hebraͤiſchen Poeſie.
Hier ſehen wir eine andre Natur, andre Meynun-
gen, andre Begebenheiten, eine andre Verfaſſung
eben ſo ungehindert auf den Geiſt des Dichters
wirken. In der That ſind auch die Werke, die
er hervorbringt, eben ſo originell, eben ſo ſeinem
Volke und Lande angemeſſen, als die Werke der
Griechen den ihrigen. Nur iſt hier die Denkungs-
art noch antiker, die Einbildungskraft noch ge-
ſchaͤftiger, der Bilder noch mehr, der abſtrakten
Begriffe noch weniger, und dieſe noch ſchwanken-
der; die Sprache nicht bloß allegoriſch, ſondern
zum Theil noch hieroglyphiſch; noch mehr Feuer
und Enthuſiaſmus in der Beſchreibung der ſicht-
baren Natur; noch weniger Kenntniß des innern
Menſchen, ſeiner Faͤhigkeiten und Neigungen; die
Ideen noch alle mehr einzeln, alle gleichſam noch
einfache Erſchuͤtterungen der Empfindung, ohne
bemerkte Verhaͤltniſſe; aber alle dieſe Gegenſtaͤnde
N
[194]Verſchiedenheiten in den Werken
immer in Beziehung auf die Religion; der ganze
Stoff der Dichtkunſt durch die beſtaͤndige Verbin-
dung mit einer Gottheit belebt und veredelt, und
zwar einer Gottheit nach dem wuͤrdigſten Begriffe,
den ſich je der menſchliche Geiſt von dieſem Weſen
gemacht hatte.
Auch dieſe Dichter haben wir nachzuahmen
angefangen. Aber wir koͤnnen uns in der That
noch weniger in ihre Zeit und in ihren Geiſt ver-
ſetzen. Einmal ſind der Denkmaͤler ſelbſt zu we-
nig. Nur eine lange und haͤufige Lektuͤre kann
endlich aus der Menge dunkler verworrener Be-
griffe, die jedes Stuͤck einzeln von dem Charakter
einer ſolchen alten Zeit zuruͤcklaͤßt, ein klares
Ganze machen. Ueberdieß wenn Sprache und
Verfaſſung ſchon zu weit von uns entfernt ſind,
ſo geht der Unterſchied der Denkungsarten und das
Eigenthuͤmliche der Alten bis zum Unverſtaͤndli-
chen; wir haben nur ungefaͤhre, nur ungewiſſe
Vorſtellungen, wo wir von unſern gewoͤhnlichen
zu weit abgehen ſollen.
[195]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
Alles alſo, was von den Alten und Neuen
iſt geſagt worden, giebt uns zuſammengenommen
folgende Charaktere von beiden:
Die Alten waren Originale, weil ſie nichts
anders als die Natur ſelbſt zum Muſter hatten.
Dieſe Natur war ihr Gegenſtand nach allen ihren
Theilen. Sie beobachteten ihre Erſcheinungen
in den verſchiedenſten Klaſſen; kein Theil der
Dinge, keine Verrichtung des Menſchen war ih-
nen voͤllig fremd oder veraͤchtlich. Aber ſie kann-
ten auch von der Natur nichts als die Oberflaͤche,
und ſorgten fuͤr nichts weiter. Ihre Sprache
war dazu gemacht, ſinnliche Bilder auszudruͤcken,
und ihr Geiſt hatte wenig andre. Selbſt die rei-
nen Ideen des Verſtandes erſchienen noch unter
koͤrperlicher ſichtbarer Geſtalt. — Ihr Stoff
war nicht das Werk ihres Witzes, ſondern eine
Folge ihres Zuſtandes, und alſo genau mit ihm
uͤbereinſtimmend. Das Gefallen war nicht ihre
Abſicht. Ihre Werke ſind die Wirkungen eines
ſich ſelbſt gelaſſenen Geiſtes, der in ſeinen Ope-
rationen nur von der Natur der Dinge und ſei-
N 2
[196]Verſchiedenheiten in den Werken
nem Inſtinkte geleitet, dieſelben durch keine frey-
willigen Entwuͤrfe und Abſichten in ihrer Rich-
tung veraͤndert.
Die Neuen koͤnnen in den meiſten Faͤllen nicht
mehr Originale ſeyn, — nicht nur weil ſchon
ſo viel vor ihnen iſt geſagt, ſchon die erſten ſicht-
barſten Phaͤnomene der Natur ihnen ſind wegge-
nommen worden, ſondern vornehmlich, weil ſie
ſich eher mit den Beſchreibungen als mit den be-
ſchriebenen Gegenſtaͤnden bekannt machen, und
eher die Begriffe von den Dingen als ihre Bilder
bekommen. — Die Natur hat den Augen jedes
menſchlichen Geiſtes eine eigene Struktur gegeben,
damit die Natur ſich anders in ihnen abbilden ſoll.
Aber wir verſchließen ſie, und laſſen uns dafuͤr
erzaͤhlen, was andere vor uns geſehen haben. —
Wo wir alſo noch original ſeyn koͤnnen, das iſt
in den feinern Beobachtungen innerer Eigenſchaf-
ten und Einrichtungen des menſchlichen Geiſtes,
der Denkungsart, der Sitten. — Die Gegen-
ſtaͤnde der Nachahmung ſind weit eingeſchraͤnkter.
Ein Theil iſt unbekannt, ein anderer veraͤchtlich
[197]der aͤlteſten und neuern Schriftſteller.
geworden. — Aber dieſe wenigen kennen wir
beſſer, und haben ſie mehr durchdrungen. Unſere
Sprache iſt fuͤr abſtrakte Begriffe gemacht, und
unſer Geiſt hat ihrer weit mehr als Bilder. Wenn
Verſtandsideen durch Bilder ausgedruͤckt werden,
ſo iſt es nicht mehr Beduͤrfniß, ſondern Zierrath;
es iſt nicht mehr die einzige, ſondern eine uns
fremde Art ſie zu denken. — Wir waͤhlen unſern
Stoff; unſre eignen Umſtaͤnde koͤnnen uns nichts
weiter als Bemerkungen des Einzelnen zur Aus-
fuͤhrung verſchaffen. — Unſer Zweck iſt das Ver-
gnuͤgen unſerer Leſer und unſer Ruhm. — Die
Werke unſrer Zeit ſind Denkmaͤler von dem, was
der menſchliche Geiſt nach Abſicht, mit Bewußt-
ſeyn und durch ſich ſelbſt hervorzubringen im
Stande iſt.
[198]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Vermiſchte Anmerkungen
uͤber
Gellerts Moral, deſſen Schriften uͤber-
haupt, und Charakter.
- Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und freyen Kuͤnſte.
Unſere Abſicht iſt, das Andenken eines vortreff-
lichen Mannes und unſers Freundes zu er-
neuern, indem wir zugleich von dem letzten Ge-
ſchenke reden, das er uns und dem Publiko ge-
macht hat.
Wer Gellerten kannte, mußte ſchon voraus-
ſehen, was das Eigenthuͤmliche dieſer Moral ſeyn
wuͤrde. Er konnte keine tiefſinnigen Unterſuchun-
gen uͤber die erſten Triebſedern unſrer Natur und
[199]deſſen Schriften und Charakter.
die erſten Gruͤnde von Verbindlichkeit erwarten:
aber er konnte wiſſen, daß er die Religion zum
Grunde der Moral geſetzt; daß er die einzelnen
Tugenden ſorgfaͤltig erklaͤrt; ihre Bewegungs-
gruͤnde auf die eindringendſte Art eingeſchaͤrft;
die Mittel zu ihrer leichtern Ausuͤbung aus der
Erfahrung geſchoͤpft; daß er durchgaͤngig Eifer
fuͤr die Religion, Zaͤrtlichkeit fuͤr die, welche er
belehrte; daß er in den Begriffen Deutlichkeit
ohne muͤhſame Zergliederungen, und Ordnung
ohne ſtrenge Methode; daß er im Vortrage An-
muth und Beredſamkeit, den ruͤhrenden Ton vaͤ-
terlicher Ermahnungen und die eindringende
Stimme eines tugendhaften Freundes finden
wuͤrde. Wer dieß in dieſem Werke ſucht, der
findet es gewiß, und er wird Gellerten darinn
erkennen.
Wir haben ſchon oft, duͤnkt uns, das Urtheil
gehoͤrt und geleſen: daß dieſe Moral kein Syſtem
ſey. Wir ſollten denken, wenn ein Syſtem eine
Reihe von Wahrheiten iſt, die zuſammenhaͤngen,
und davon die vorhergehenden zum Verſtande
N 4
[200]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
oder zum Beweiſe der folgenden angewandt wer-
den, ſo iſt dieß ein Syſtem. Denn die wichtig-
ſten Pflichten ſind entweder ausdruͤcklich, oder bey
Gelegenheit abgehandelt, die allgemeinen Grund-
ſaͤtze ſind vorausgeſchickt, die beſondern Tugen-
den aus dieſen Grundſaͤtzen hergeleitet.
Wenn der Leſer, welcher den Schriftſteller
kennt, ihn ſelbſt handeln geſehen, ihn reden ge-
hoͤrt hat, wenn ein ſolcher Leſer uͤberhaupt die
Schriften des Mannes beſſer verſteht; wenn er
ſich viele Stellen durch die Geberde deſſelben,
durch ſeine Mienen, durch ſein ganzes Betragen
beſſer zu erklaͤren weiß, oder ſie ruͤhrender und
eindringender findet, ſo muß es bey dieſer Moral
vorzuͤglich ſtatt finden. In der That ſehen wir
bey gewiſſen Stellen das Bild dieſes ehrwuͤrdigen
Mannes wieder vor uns; wir denken uns ſein
leidendes aber liebreiches Geſicht, wir hoͤren den
Ton ſeiner Stimme, wir erklaͤren, wir verſtaͤrken
uns alles, was wir leſen, indem wir uns das
hinzudenken, was ſeine Worte nicht auszudruͤcken
vermochten, was aber in ſeiner ganzen Perſon,
[201]deſſen Schriften und Charakter.
und noch mehr in ſeinem Umgange und ſeinem Le-
ben ſichtbar wurde. Koͤnnten wir doch dieſe
Empfindung unſern Leſern mittheilen! koͤnnten
wir das Bild, das von ihm in unſerer Einbil-
dungskraft daſteht, zergliedern, ohne es zu zer-
ſtoͤren, um auch dem Verſtande unſrer Leſer einige
Zuͤge davon kenntlich zu machen! Aber auch das
unvollkommenſte Bildniß eines ſolchen Geiſtes
und eines ſolchen Herzens muß immer noch ein
einnehmendes Gemaͤlde geben, wenigſtens muß es
eine reizende Arbeit fuͤr den Maler ſeyn; und
warum ſollen wir nicht auch etwas auf unſer ei-
gnes Vergnuͤgen rechnen duͤrfen?
Wenn in einem ſchoͤnen Koͤrper es irgend ein
beſonderer Zug, ein einzelner Theil iſt, der ihn
ſchoͤn macht: ſo iſt es dem Maler leicht, zu tref-
fen. Aber wenn die Schoͤnheit nicht in der aus-
nehmenden Vortrefflichkeit eines Gliedes, ſondern
in der guten Bildung aller Theile, und in der Ue-
bereinſtimmung derſelben liegt: dann wird es
ſchwer, das, was man bey dem Anblicke auf ein-
mal empfunden hat, durch einzelne Zuͤge nach
N 5
[202]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
und nach wieder darzuſtellen. Das letztere iſt
der Fall, wenn man den eigenthuͤmlichen Charakter
des Gellertſchen Geiſtes ſchildern will. Seine
Talente waren gewiß groß, aber ſie waren nicht
groß durch den ausnehmenden Grad einer einzi-
gen Faͤhigkeit, ſondern durch die Vereinigung und
die mittlere Proportion aller. So mußten die
Talente eines Mannes ſeyn, deſſen Schriften das
Verdienſt haben ſollten, das Abbt den Gellert-
ſchen zuſchreibt, von ſeiner ganzen Nation geleſen,
verſtanden und geachtet zu werden; zu Aufklaͤ-
rung der niedrigſten und zur Verbeſſerung und
Ergoͤtzung der hoͤchſten Klaſſen beyzutragen. Nur
durch dieſe ſeine Miſchung der verſchiedenen Er-
kenntnißkraͤfte kann die Natur einen Geiſt hervor-
bringen, deſſen Werke vortrefflich ſeyn koͤnnen,
ohne uͤber die Faſſung des großen Haufens erho-
ben zu ſeyn.
Der Leſer muß immer die Talente des Schrift-
ſtellers, den er verſtehen, und der ihm gefallen
ſoll, zwar in einem niedrigern Grade, aber doch
in einem gewiſſen Maaße haben. Diejenige Art
[203]deſſen Schriften und Charakter.
von Genie alſo, die, indem ſie uͤber andere erha-
ben iſt, doch noch die meiſte Aehnlichkeit mit ih-
nen beybehaͤlt; welche die Denkungsart am we-
nigſten veraͤndert: dieſe wird auch den meiſten
brauchbar und ergoͤtzend werden. Sobald in den
Ideen oder im Ausdrucke eines Buches Witz,
oder Scharfſinn, oder nachforſchende Vernunft,
ein ſehr merkliches Uebergewicht uͤber die uͤbrigen
Faͤhigkeiten haben, ſobald wird es nur Eine Klaſſe
von Leſern geben, die an dem Buche Geſchmack
findet, und die es zu brauchen weiß. Es muß
ebenfalls ein in ſeiner Art witziger Kopf, oder ein
Philoſoph einer niedrigern Stufe ſeyn, der alles
das gewahr werden ſoll, was der hoͤhere Witz und
die tiefere Philoſophie in das Werk hineingelegt
hat. Wenn aber die Vernunft die Zergliederung
nur ſo weit treibt, als noͤthig iſt, die Begriffe,
welche alle Menſchen klar haben, vollkommen
deutlich zu machen; wenn die Einbildungskraft
ihre Bilder aus dem allgemeinen Vorrathe aller
menſchlichen Erfahrungen hernimmt, und ſie nach
den Regeln der natuͤrlichſten, gewoͤhnlichſten Ord-
[204]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
nung zuſammenſetzt; der Witz neue, aber keine
ſehr verſteckte Aehnlichkeit aufſucht; und wenn
alle dieſe Faͤhigkeiten in einer Sprache ſich aus-
druͤcken, die rein, anſtaͤndig, gewaͤhlt, und doch
nicht zu ausgeſucht fremd und kuͤnſtlich iſt: dann
wird das, was durch die Vereinigung ſo vieler
ſich im Gleichgewichte haltenden Kraͤfte iſt hervor-
gebracht worden, auch einen ſehr zuſammengeſetz-
ten Eindruck auf die Seele der uͤbrigen machen;
es wird fuͤr jede Klaſſe von Leſern eine Seite ha-
ben, die ihrem Kopfe und ihrem Geſchmacke ge-
maͤß iſt: und ſo wird es auch von allen Klaſſen
geſchaͤtzt und geliebt werden. Dieß, deucht uns,
iſt der Charakter der Gellertſchen Schriften. Sei-
ne Fabeln ſind das Buch der Nation geworden;
man lieſt ſie, wo man ſonſt nichts lieſt; jeder-
mann verſteht ſie, findet den Scherz, woran er
ſich vergnuͤgen, und die Wahrheit, die ihn beſſern
ſoll. Und iſt nicht eben in dieſen Fabeln dieſes
gluͤckliche Gleichgewicht aller Gaben des Geiſtes
am meiſten ſichtbar? Sie enthalten viel Wahr-
heit und Philoſophie, ſowohl Beobachtungen uͤber
[205]deſſen Schriften und Charakter.
die Dinge und Menſchen, als Regeln, ſie beſſer
zu machen: aber es ſind ſolche, die jeder, ſobald
er ſie hoͤrt, als bekannt anſehen, die jeder, auch
wenn er kein großer Beobachter iſt, durch ſeine
eigne Erfahrung rechtfertigen kann. Die Erzaͤh-
lung iſt lebhaft, voller Munterkeit und eines ein-
nehmenden Scherzes: aber kein einziger witziger
Einfall, den es Muͤhe koſtete zu erklaͤren; keine
ſcharſſinnige Sentenz, deren verborgener Sinn
erſt durch einen aͤhnlichen Scharfſinn entdeckt
werden muͤßte. Die Poeſie des Styls iſt in ih-
rer Art die vollkommenſte, die ſeyn kann; kein
Zwang, nicht die geringſte Abweichung von der
Richtigkeit des Sinns und der Genanigkeit des
Ausdrucks um des Sylbenmaaßes willen, allent-
halben die eigentlichſten Woͤrter, keine neugemach-
te Redensart, keine fremde Wendung, alles mit-
ten aus dem gemeinſten Sprachgebrauche heraus-
genommen, lauter Ausdruͤcke, die jedermann im
Munde fuͤhret, und doch alle edel, ihrem Ge-
genſtande angemeſſen, und in der Verbindung
neu.
[206]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Uns duͤnkt, wenn man das Ding, was man
Geſchmack nennt, irgendwo zu ſuchen hat, ſo iſt
es eben nicht an den aͤußerſten Graͤnzen des Ge-
nies, ſondern in dieſem Mittelpunkte, wo die ver-
ſchiedenen Faͤhigkeiten, die in den Umkreis des
menſchlichen Geiſtes gehoͤren, gleichſam zuſam-
menſtoßen, und ſich in gleichen Proportionen
vereinigen. Genie naͤmlich ſoll irgend eine aus-
nehmende Groͤße der Geiſteskraft, die in einem
Werke ſichtbar iſt, und Geſchmack die Uebereln-
ſtimmung und Schicklichkeit aller Theile deſſelben
anzeigen. Wenn nun jene Groͤße nicht ſowohl
darinn beſteht, daß das ganze Syſtem aller Faͤ-
higkeiten in gleichem Grade erweitert iſt, als daß
vielmehr nur Eine aus allen uͤbrigen abgeſondert,
und einzeln unter ihnen gleichſam hervorgezogen
worden: ſo wird der Theil des Werks, der gerade
durch dieſe Faͤhigkeit ſich bearbeiten laͤßt, vor-
trefflich, und vielleicht in einem hoͤhern Grade
vortrefflich werden, aber alle uͤbrigen (und kein
Werk von gewiſſem Umfange laͤßt ſich in allen ſei-
nen Theilen nuͤr durch dieſelbe Faͤhigkeit bearbei-
[207]deſſen Schriften und Charakter.
ten,) alle uͤbrigen werden ohne Vergleich ſchlech-
ter ſeyn. Ueberdieß wird es an der Verbindung
und dem gehoͤrigen Verhaͤltniſſe der Theile fehlen;
und eben in dieſer gleichen Ausarbeitung aller
Stuͤcke und in der richtigen Zuſammenfuͤgung
derſelben liegt das Geſchmackvolle. Man kann
alſo wohl ſagen, daß vielleicht kein deutſcher
Schriftſteller dieſe Eigenſchaft ſo ſehr ſeinen Wer-
ken mitgetheilt habe, als Gellert. Wenn ſeine
Werke nicht alle von gleicher Vortrefflichkeit ſind,
ſo iſt doch das Unanſtaͤndige, Unſchickliche in
keinem.
Dieſen ſo von Natur gleichſam gemaͤßigten
Geiſt findet man gewiß auch in ſeiner Moral wie-
der. Die Grundſaͤtze der Pflichten ſind alle da,
ſind bis auf einen gewiſſen Grad entwickelt, aber
ſie ſind nur ſo weit verfolgt, als ſie ohne Muͤhe
erklaͤrt und verſtanden, nnd ohne Streitigkeiten
feſtgeſetzt werden koͤnnen. Allenthalben findet
man in den Abhandlungen der einzelnen Pflich-
ten, daß der Verfaſſer ein Mann iſt, der die Tu-
gend kennt, weil er ſie ausuͤbt; daß er ſich ſelbſt
[208]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
erforſcht, an ſich ſelbſt Verſuche gemacht hat, wie
man gut ſeyn koͤnne, und ſeinen Leſern nicht bloß
die Folge ſeiner Schluͤſſe, ſondern die Sammlung
ſeiner Erfahrungen mittheilt.
Dieſe Moral, ſagt Gellert ſelbſt, und ſeine
Freunde wiederholen es, ſoll mehr fuͤr das Herz,
als fuͤr den Verſtand geſchrieben ſeyn. Was die-
ſes Verſprechen fuͤr einen Sinn habe, zeigt die
Art ſelbſt, auf welche er es erfuͤllt hat. Es konn-
te unmoͤglich ſeine Meynung ſeyn, daß er ruͤhren
wollte, ohne zu unterrichten; denn wir ſehen ihn
ja in der That weit laͤnger mit der Erklaͤrung,
als mit der Einſchaͤrfung der Pflichten beſchaͤff-
tigt. Er verlangt nicht die Neigungen zu beſſern,
ohne vorher die Meynungen und Grundſaͤtze be-
richtigt zu haben; denn was iſt denn der groͤßte
Theil ſeines Buchs anders, als ein Vortrag all-
gemeiner Wahrheiten? Alſo nur das konnte er
meynen: einmal, daß das Vermoͤgen und der
Eifer, die Pflichten auszuuͤben, nicht von einer
philoſophiſchen Kenntniß der Natur des Men-
ſchen und des Urſprungs der Pflichten abhange;
[209]deſſen Schriften und Charakter.
zum andern, daß der Vortrag, der Styl, die
Methode ſeines Buchs mehr auf die wirkliche
Beſſerung, als auf den bloßen Unterricht abzielen
ſolle.
Wenn ein Werk einen großen und guten End-
zweck hat, und dieſen Endzweck erreicht, ſo iſt
das Werk gut. Und kann es wohl einen beſſern
und hoͤhern Endzweck geben, als den, die Schaͤtze
der menſchlichen Weisheit aus den Haͤnden der
wenigen, die ſie zuerſt geſammlet und zum Theil
bisher in verborgenen Gefaͤßen verwahrt haben,
in die Haͤnde des Volks zu bringen; mit einem
Worte, den großen Haufen der Nation, ſelbſt mit
Vorbeylaſſung der Gelehrtern und Weiſern, zu
erleichten und zu veredeln? Wenn alſo Gellerts
Moral auch weiter nichts thaͤte, als daß ſie die
Vorſchriften und Bewegungsgruͤnde der Moral,
die lange bekannt, und vielleicht vollſtaͤndiger
und tiefſinniger abgehandelt ſind, ſo vortruͤge,
daß ſie nun nicht bloß auf den kleinen Haufen
ſchon edler Seelen wirkten, die, um uͤberzeugt zu
ſeyn, nur Gruͤnde, und um bewegt zu werden,
O
[210]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
nur den Anblick des Guten brauchen, ſondern daß
ſie auch den Verſtand und das Herz gemeiner
Menſchen einnaͤhmen, die uͤberredet und in Lei-
denſchaft geſetzt ſeyn wollen, und die alſo bey ih-
rem Lehrer Beredſamkeit fodern: waͤre Gellerts
Moral nicht immer noch eines unſerer brauchbar-
ſten Buͤcher? Und haͤtte es wohl dieſe Brauchbar-
keit behalten, wenn die Erklaͤrungen ſchaͤrfer und
kuͤrzer, die Beweiſe ſtrenger, die Unterſuchungen
tiefſinniger, der Vortrag wiſſenſchaftlicher waͤre?
Jetzo mag vielleicht der Gelehrte und der Philo-
ſoph weniger neuen Unterricht daraus ſchoͤpfen,
vielleicht der Mann, der ſchon viel gedacht und
geleſen hat, weniger Nahrung darinnen finden:
aber die weit groͤßere Anzahl vernuͤnftiger, aber
nicht gelehrter Hausvaͤter und Hausmuͤtter wird
ſich aus dieſem Buche unterrichten und er-
bauen.
Unterdeſſen, wenn auch dieſes Buch nicht ei-
gentlich zur Bereicherung der Moral als Wiſſen-
ſchaft, ſondern zur Ausbreitung derſelben als ei-
nes gemeinſchaftlichen Gutes der Menſchheit be-
[211]deſſen Schriften und Charakter.
ſtimmt iſt: ſo iſt es doch gewiß auch fuͤr den auf-
geklaͤrten Leſer noch lehrreich, wofern er nur das
Gemeine von dem Leichtbegreiflichen zu unter-
ſcheiden, wofern er nur die Begriffe zu entwickeln
weiß, deren Saame in den Betrachtungen des
Verfaſſers liegt. Ein Beyſpiel davon muͤſſen
wir nothwendig anfuͤhren.
„Die Einbildungskraft, ſagt Gellert, ent-
„zuͤndet die Leidenſchaften, indem ſie uns die ge-
„noßne Luſt, oder den erlittnen Schmerz, entwe-
„der groͤßer vorſtellt, als er war, oder allein vor-
„ſtellt, da er doch mit gegenſeitigen Empfindun-
„gen vermiſcht war.“
Dieſe Anmerkung ſcheint
alt und bekannt; aber die Ausfuͤhrung derſelben
leitet auf Betrachtungen, die weniger bekannt,
oder weniger bemerkt ſind. Dieß naͤmlich iſt der
vollſtaͤndige Sinn dieſer Regel. Vor jeder Be-
gierde nach einem gewiſſen Vortheile oder Vergnuͤ-
gen geht die Vorſtellung, und zwar eine bildliche
Vorſtellung, des vollkommnern und angenehmern
Zuſtandes, in welchen wir uns ſetzen wollen, vor-
her. So denkt der, welcher den Wein liebt, erſt
O 2
[212]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
an das Vergnuͤgen des Trinkens, ehe er nach der
Flaſche greift. Waͤre nun in dieſem Augenblicke
das Bild von dem Uebel oder dem Schmerze, der
aus der Befriedigung folgen wird, eben ſo leb-
haft, ſo waͤre die Begierde uͤberwunden. Aber
das Ungluͤck iſt, daß dieſes Bild gemeiniglich
ſchwerer fuͤr die Einbildungskraft, und oft un-
moͤglich, immer aber unbeſtimmt und dunkel iſt.
Als in unſerm Falle waͤre es das Bild einer kuͤnf-
tigen Krankheit, aber doch keiner gewiſſen, zu kei-
ner gewiſſen Zeit; oder es waͤre das Bild eines
Menſchen, der verachtet wird, oder der ſich Vor-
wuͤrfe macht; aber wie wenig ſinnlich iſt nicht
dieſes Bild? Alſo iſt nur dieß Mittel wider die
Leidenſchaft, entweder der Einbildungskraft alle
Arten von ſehr lebhaften und ausfuͤhrlichen Schil-
derungen, angenehmer oder verdrießlicher Gegen-
ſtaͤnde, zu verwehren, und nur deutlichen Ueber-
legungen Platz zu laſſen; oder ihr die Fertigkeit
zu erwerben, ſich beide Arten von Bildern, die,
welche der Leidenſchaft, und die, welche der Tu-
gend zu Dienſten ſind, gleich lebhaft vorzuſtellen.
[213]deſſen Schriften und Charakter.
Denn, ſich ein Vergnuͤgen zu verſagen, das man
ſich jetzt eben nach allen verſchoͤnernden Umſtaͤn-
den vorſtellt; oder eine Beſchwerde zu uͤberneh-
men, deren finſteres Gemaͤlde jetzt eben die Ein-
bildungskraft einnimmt: das ſteht nicht in des
Menſchen Macht. Die Regel ſagt alſo: Wer uͤber
ſeine Leidenſchaften herrſchen will, muß erſt uͤber
ſeine Einbildungskraft Herr werden; er muß den-
ken koͤnnen, was er will; muß durch den koͤnigli-
chen Befehl ſeiner Vernunft ſeine Aufmerkſamkeit
auf diejenige Sache und auf denjenigen Theil
und Umſtand der Sache richten koͤnnen, der ſei-
ner Abſicht gemaͤß iſt. Das wird wieder andere
Huͤlfsmittel vorausſetzen, und unter dieſen fallen
die beiden folgenden am meiſten in die Augen:
1) Man muß ſeinen Verſtand und ſeine Einbil-
dungskraft mit ſo viel wichtigen und einnehmen-
den Begriffen und Bildern anzufuͤllen ſuchen, als
man kann. Man muß denken lernen. Nur als-
dann kann die Aufmerkſamkeit von einem Gegen-
ſtande abgezogen werden, wenn man einen an-
dern gleich bey der Hand hat, der ſie eben ſo ſtark
O 3
[214]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
beſchaͤftigt. Wem bey jeder Sache eine Menge
intereſſanter Gedanken und Bilder zu Gebote ſte-
hen, der wird leicht den erſten Gedanken vertrei-
ben koͤnnen, deſſen ſchaͤdliche Wirkſamkeit er kennt.
2) Man muß, ohne beſondere Abſichten, ſeiner
Einbildungskraft nicht geſtatten, auch die ſinn-
lichen Objekte anders als im Großen ſich vorzu-
ſtellen. Wenn einmal die Seele den Hang hat,
ihre Gemaͤlde bis auf die kleinſten Zuͤge auszufuͤh-
ren, ſo wird ihre Begierde immer nur durch das
Einzelne, nur durch Einen Gegenſtand, nur durch
Einen Umſtand der Sache beſtimmt ſeyn, und die
Tugend geht aufs Allgemeine, umfaßt Alle Ge-
genſtaͤnde, zieht Alle Umſtaͤnde zugleich zu Rathe.
Alles, was die Leidenſchaft reizt, laͤßt ſich ſo ganz
umſtaͤndlich vorſtellen; aber die Ideen, die zur
Tugend antreiben, ſind die Ideen des Vaterlan-
des, der ganzen menſchlichen Geſellſchaft, der gan-
zen Natur, der ganzen Zeit, der Zukunft, die alle,
entweder nur mit dem Verſtande, oder nur durch
einige große und allgemeine Zuͤge der Einbildungs-
kraft vorgeſtellt werden koͤnnen.
[215]deſſen Schriften und Charakter.
Wir kommen wieder auf den Mann ſelbſt zu-
ruͤck, von deſſen Werke wir redeten. Wir haben
keine beſondere Nachrichten von ſeinen Lebensum-
ſtaͤnden. Wir kennen ihn nur aus ſeinen Schrif-
ten und aus ſeinem Umgange. Wir werden alſo
nur wenig erzaͤhlen koͤnnen; aber bey einem ſol-
chen Manne muß uns auch dieſes Wenige viel zu
denken geben.
Nichts iſt ſchwerer zu beſtimmen, als das Ei-
genthuͤmliche eines gewiſſen Geiſtes, beſonders
wenn dieſer ein großer Geiſt, und noch mehr,
wenn er ein Genie iſt. Alle Vollkommenheiten
des Geiſtes laſſen ſich auf gewiſſe Vollkommenhei-
ten der Gedanken bringen; oder vielmehr, nur
ſo viel Unterſchiede und Vorzuͤge der Faͤhigkeiten
und der Kraͤfte kennen wir, als wir Verſchieden-
heiten und Grade der Vortrefflichkeit in den Ideen
finden. Den Charakter einer beſtimmten Faͤhig-
keit koͤnnen wir alſo faſt nicht anders angeben,
als indem wir den beſondern Urſprung, die Ent-
ſtehungsart der Gedanken beſchreiben, die dieſer
Faͤhigkeit eigenthuͤmlich ſind. Dieſes geht nun
O 4
[216]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
alsdann an, wenn dieſe Gedanken Folgen ande-
rer Gedanken, mit einem Worte Wirkungen der
Reflexion und des Nachdenkens ſind. Aber wenn
ſie unmittelbar aus der Kraft der Seele zu ent-
ſtehen ſcheinen, wenn ſich die veranlaſſenden hoͤ-
hern oder fruͤhern Ideen nicht finden, ſelbſt von
dem Menſchen, der jene hat, nicht bemerken laſ-
ſen: dann iſt, ſo wie allenthalben, wo wir in
unſerer Erklaͤrung der Phaͤnomene nicht mehr
Wirkungen aus Wirkungen herleiten koͤnnen, ſon-
dern bis zur wirkenden Kraft ſelbſt kommen, un-
ſere Unterſuchung zu Ende. Und gerade dieſe
letzte Art vortrefflicher Gedanken iſt es, die wir
dem Genie zuſchreiben; gerade die Quelle ſolcher
Ideen ſoll dieß Wort ausdruͤcken, die nicht durch
Fleiß nach und nach ausgebildet worden, ſon-
dern die aus dem Grunde der Seele ploͤtzlich ent-
ſprungen ſind.
Wenn wir alſo hier etwas erklaͤren, und da-
zu Urſachen aufſuchen wollen: ſo duͤrfen wir uns
in der Seele ſelbſt nicht mehr darnach umſehen;
ſondern wir muͤſſen die Umſtaͤnde des Menſchen
[217]deſſen Schriften und Charakter.
zu Rathe ziehen; die Gegenſtaͤnde, von denen
er ſeine Begriffe bekommen, die Begebenheiten,
durch welche er zur Aufmerkſamkeit auf gewiſſe
Begriffe bewogen worden. Dieß iſt es, was Er-
ziehung heißt.
Alles, was wir von der erſten Erziehung und
dem fruͤhern Unterrichte Gellerts wiſſen, iſt bloß
das, was ſie mit der Erziehung und dem Unter-
richte jedes andern jungen Gelehrten gemein hat.
In dieſem Alter wird der Juͤngling, den die Na-
tur zum großen Manne beſtimmt hat, wenn er
nicht von reichen oder vornehmen Aeltern gebo-
ren iſt, wenig bemerkt. Und wenn er auch be-
merkt wuͤrde: wer wuͤrde der Natur in dieſer ih-
rer geheimen Werkſtaͤtte folgen koͤnnen? wer wuͤr-
de unter der Menge wirklich gemeiner Vorfaͤlle
die wichtigen, welche eben ſo gemein ſcheinen,
herauszufinden, und unter dem Haufen kindi-
ſcher Uebungen, und oft verkehrter Arbeiten, die-
jenigen zu unterſcheiden wiſſen, bey welchen das
Genie des kuͤnftigen Mannes ſich zuerſt gezeigt
hat?
O 5
[218]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Und in der That hat bey den wirklich großen
Geiſtern dieſe erſte Erziehung weit weniger Ein-
fluß, als bey den uͤbrigen. Eben weil ſie eine ei-
genthuͤmliche Form haben, ſo haftet die fremde
ſchlechtere nicht, die man ihnen aufdruͤcken will,
oder ſie wird zu einer gewiſſen Zeit wieder abge-
worfen.
Faſt alle Menſchen einer hoͤhern Klaſſe erin-
nern ſich eines gewiſſen Zeitpunkts in ihrem Leben,
in welchem ſich ihre Denkungsart, ihr Charakter,
ihre Schreibart ausnehmend geaͤndert habe.
Gellert wußte einen ſolchen Zeitpunkt. Vielleicht
wuͤrde alſo zu der Abſicht, die wir haben, eine
vollſtaͤndigere Geſchichte ſeiner erſten Studien un-
brauchbar ſeyn.
So viel koͤnnen wir aus der Vergleichung
deſſen, was er geworden iſt, mit den Umſtaͤnden,
in denen er ſich zuerſt befunden hat, errathen,
daß die Vorſehung alles darauf angelegt habe,
einen wirklich großen emporſtrebenden Geiſt auf
gewiſſe Weiſe niederzuhalten, um ihn gemeinnuͤtzi-
ger zu machen. Man ſtelle ſich einen faͤhigen
[219]deſſen Schriften und Charakter.
und thaͤtigen, aber doch ſchon ernſthaften und
empfindlichen Juͤngling vor, der erſt die gewoͤhn-
liche Zeit in der Sklaverey unſrer Schulen ſeufzt;
dann ſeine akademiſchen Jahre in Duͤrftigkeit
und Dunkelheit, unter Beſchaͤftigungen, die ihm
mißfallen, oder fuͤr die er nicht gemacht iſt, zu-
bringt; dann von ſeinen Umſtaͤnden hin und her
getrieben, von wenigen geſchaͤtzt, und noch von
niemanden fuͤr das erkannt und zu dem aufge-
muntert wird, wozu ihn die Natur beſtimmt hat;
der von dem beſchwerlichen Geſchaͤfte eines Pri-
vatlehrers, von einem Orte, wo er zu ſeiner ei-
genen Aufklaͤrung und Verbeſſerung nichts thun
konnte, mit nicht guͤnſtigern Ausſichten wieder
zu der Akademie zuruͤckkehrt, und es fuͤr eine un-
erreichbare Gluͤckſeligkeit haͤlt, auf dieſer Akade-
mie Lehrer zu werden; der, da er anfaͤngt ſeine
Talente zu fuͤhlen, und Maͤnner zu finden, die
ihm in der Ausbildung derſelben beyſtehen koͤn-
nen, durch die Duͤrftigkeit gezwungen wird, ſein
aufkeimendes Genie zu Arbeiten zu brauchen,
durch welche es erniedrigt und in ſeinem Wachs-
[220]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
thume verzoͤgert wird; bey dem ſich zeitig mit die-
ſen niederſchlagenden Umſtaͤnden, eine Schwach-
heit des Koͤrpers, und ein anhaltendes, wenn
auch nicht heftiges, Leiden vereiniget: was kann
man wohl natuͤrlicherweiſe von dieſem Juͤnglinge
erwarten? Wenn er nur einen geringen Grad
von Kraft und Thaͤtigkeit unter dieſe Umſtaͤnde
gebracht hat, ſo wird dieſe wahrſcheinlicherweiſe
verloͤſchen oder geſchwaͤcht werden, und ſich in
den alltaͤglichen Beſchaͤfftigungen eines Hand-
werksgelehrten verzehren. Iſt es aber ein Menſch
von edlerer Natur, von hoͤhern Gaben, von groͤſ-
ſerm Feuer, ſo wird zwar der Flug des Geiſtes ei-
nigermaßen gehemmt, ſeine emporſtrebende Kraft
ein wenig zuruͤckgehalten, vielleicht ſeine eigene
Gluͤckſeligkeit mit ſeinem Stolze zugleich vermin-
dert werden: aber es werden auch die Fruͤchte
dieſes Geiſtes reifer und milder, ſeine Gaben
mehr in den Schranken der Brauchbarkeit erhal-
ten, ſein Trieb zu Unternehmungen mehr zu einer
ſtillen ſanften Wohlthaͤtigkeit herabgeſtimmt wer-
den.
[221]deſſen Schriften und Charakter.
Vielleicht war es auch fuͤr Gellerten nuͤtzlich,
oder es gehoͤrte wenigſtens dazu, ſeinem Kopfe
und ſeinen Schriften ihren eignen Charakter zu
geben, daß, wo er nicht Gottſcheds Schuͤler war,
er doch wenigſtens die Werke und den Geſchmack
deſſelben herrſchend fand, als er ſich bildete.
Wenn ein junger guter Kopf Schriftſteller vor ſich
findet, die mehr erhaben als ſchoͤn, mehr ſtark
als anmuthig zu ſeyn ſuchen; wenn der Geſchmack
der Zeit darauf geht, das Aeußerſte zu verſuchen,
was die Sprache vermag; ſo iſt er ſehr in Ge-
fahr, aus Begierde nach noch hoͤherer Vollkom-
menheit, unnatuͤrlich und ſchwuͤlſtig zu werden;
wenigſtens wird ſchwerlich unter ſolchen Umſtaͤn-
den ein Schriftſteller ſeyn gebildet worden, den
alle Welt geleſen und genuͤtzt haͤtte. Wenn aber
das Genie Leeres auszufuͤllen, wirkliche Maͤngel
zu erſetzen, das Matte und Kraftloſe zu beleben
findet; wenn es nicht ſowohl damit zu thun hat,
das Gute zu uͤbertreffen, als das Schlechte gut
zu machen; wenn es ſeine Kraft, die ſonſt zu
dem Erhabenen emporſteigen wuͤrde, dazu anwen-
[222]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
den muß, ſich aus dem Niedrigen und dem Ge-
meinen hervorzuarbeiten: dann wird, durch dieſe
Verbindung ſeiner eignen Vortrefflichkeit mit den
Maͤngeln ſeiner Lehrer und ſeiner Zeit, diejenige
Leichtigkeit, Verſtaͤndlichkeit, Simplicitaͤt hervor-
gebracht, die Gellerts Werke faſt von allen nach-
ſolgenden unterſcheiden.
Das einzige Huͤlfsmittel, von welchem wir
deutlich ſehen, daß die Vorſehung es gebraucht
hat, die Anlagen, die in ſeinem Geiſte waren,
auszufuͤhren, ſind die Freunde, die ſie ihm in
Leipzig zufuͤhrte, und mit denen er zugleich Mann
und Schriftſteller wurde. Es iſt merkwuͤrdig, daß
faſt unter allen Nationen ſich die guten Koͤpfe in
Einem Zeitpunkte zuſammengefunden haben. Gel-
lert wußte, was er dieſen Freunden ſchuldig war.
Er erinnerte ſich mit Dankbarkeit und Vergnuͤgen
an die Strenge, mit der er von ihnen beurtheilt
worden, an die Schuͤchternheit, mit welcher er
ihnen ſeine Sachen vorgelegt, und an den kleinen
Stolz, mit welchem ihr ſparſames Lob ihn erfuͤllt
hatte.
[223]deſſen Schriften und Charakter.
Richter uͤber ſeine Auffuͤhrung oder ſeine
Schriften zu haben, die man nicht ſo weit uͤber
ſich ſetzet, daß ihr Rath ein Befehl und ihr Tadel
ein Vorwurf wuͤrde, und die man doch auch ſo
weit hochachtet, daß man ihr Urtheil fuͤr guͤltig
haͤlt, und zuweilen dem ſeinigen vorzieht; Freun-
de von gleichem Grade des Verſtandes und von
gleichen Abſichten, die man nicht erſt in ſeinem
maͤnnlichen Alter ſich erwirbt, als wo immer die
neuentſtandene Vertraulichkeit Behutſamkeit und
Schonung, und die Freymuͤthigkeit die Decke der
Hoͤflichkeit verlangt; ſondern die man aus ſei-
nem Juͤnglingsalter mitbringt, in welchem man
dreiſten Widerſpruch zu hoͤren am leichteſten ge-
wohnt wird: ſolche Richter, ſolche Freunde zu
haben, iſt zur Ausbildung und zur Beſſerung des
Menſchen gleich vortheilhaft. Die Correction,
die in Gellerts Werken herrſcht, hatte er gewiß
dieſen zu danken.
So weit koͤnnen wir die Urſachen errathen,
die auf die Denkungsart Gellerts einen Einfluß
[224]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
gehabt haben. Wir wollen jetzt ſehen, was ſie
fuͤr Wirkungen hervorbrachten.
Sowohl ſeine natuͤrlichen Kraͤfte, als ſeine
erworbene Einſichten, hatten den eignen Charakter
der Gemeinnuͤtzigkeit. Seine Wiſſenſchaft und
ſein Genie, anſtatt daß ſie ſonſt den Mann, dem
ſie in einem vorzuͤglichen Grade eigen werden,
von den uͤbrigen gemeinern Menſchen entfernen,
dienten nur dazu, ihn genauer mit denſelben zu
vereinigen. Da ſie ſonſt oft nichts als eine
Hochachtung auflegen, die immer mit einiger Ei-
ferſucht, und alſo mit einer Art von Widerwillen
verbunden iſt, ſo ſollten ſie bey ihm nur ſeiner
Tugend Zutritt verſchaffen. Sie leuchteten gleich-
ſam vor ihm her, damit die Wirkung ſeines Cha-
rakters und ſeiner Menſchenliebe ſich auf mehrere
erſtrecken koͤnnte.
Zu dem Ende mußten ſeine Einſichten am mei-
ſten auf das praktiſche Leben gerichtet, ſie muß-
ten nicht ſowohl Wiſſenſchaft als Weisheit ſeyn;
er mußte weniger erlernte, als Erfahrungsideen,
mehr richtige Beurtheilungskraft in einzelnen
[225]deſſen Schriften und Charakter.
Faͤllen, als Tiefſinn zu allgemeinen Theorien be-
ſitzen; er mußte weniger Feuer in ſeiner Einbil-
dungskraft, als Richtigkeit haben; er mußte in
den Sachen mehr das Offenbare und Gemein-
nuͤtzige ins Licht zu ſetzen, als das Verſteckte und
weniger Brauchbare zu finden wiſſen; ſein Witz
mußte nicht ſowohl durch die Neuheit und das
Außerordentliche ſeiner Verknuͤpfungen, als durch
ihre in die Augen fallende Wahrheit gefallen.
Weit mehr Stoff zu ſeinen Erkenntniſſen
hatte Gellerten die eigene Beſchaͤfftigung ſeines
Verſtandes an den Dingen und Begebenheiten
ſelbſt verſchafft, als das Leſen und der Unterricht;
weit mehr Begriffe ſcheint er von der innern Em-
pfindlichkeit ſeines Herzens, als von der Schaͤrfe
ſeiner aͤußern Sinne bekommen zu haben. Er
hatte fuͤr keine der Kuͤnſte, deren Schoͤnheiten
durch die letztern beurtheilt werden, einen ent-
ſchiedenen und ſichern Geſchmack. Aber das mo-
raliſch Gute und Boͤſe in ſich und in andern zu
erkennen, dazu hatte er ein feines Unterſcheidungs-
vermoͤgen und ein ſicheres Gefuͤhl. Er war ein
P
[226]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Beobachter, nicht in der Abſicht, um die menſch-
liche Natur uͤberhaupt kennen zu lernen, ſondern
um ſeine eigne Beſſerung, auf die er weit fruͤher
und weit ernſtlicher als die meiſten Menſchen be-
dacht war, durch die Kenntniß ſeiner Fehler zu be-
foͤrdern. Dieſe Beobachtungen ſah er nicht als
Erſcheinungen an, die er aus allgemeinen Geſetzen
der Natur erklaͤren wollte, ſondern er machte
ſie zu Maximen und Regeln, die er unmittelbar
auf ſeine Perſon und ſeine Umſtaͤnde anwenden
muͤßte.
Demunerachtet zeigen ſeine Werke, daß er die
moraliſche Welt auch in einem weitern Umfange
kannte. Er kannte die Empfindungen, das Be-
tragen, die Sitten, die Neigungen, die Aus-
druͤcke der verſchiedenen Staͤnde und der verſchie-
denen Charaktere. Was er ſchildert, iſt allemal
kenntlich, und das innerſte Gefuͤhl eines jeden Le-
ſers ſtimmt damit uͤberein. Er kannte die Lei-
denſchaften vielleicht nur in ihren ſanfteſten Aeuſ-
ſerungen; aber er war auch um ſo viel weniger
[227]deſſen Schriften und Charakter.
in Gefahr, durch das Gemaͤlde derſelben ſchaͤdlich
zu werden.
Seine Einbildungskraft war in der Epoche
ſeines Lebens, wo er ſeine beſten Werke ſchrieb,
ſehr wirkſam, obgleich nicht heftig. Die Arbeit
erfuͤllte und beſchaͤfftigte alsdann ſeinen Geiſt voͤl-
lig; er genoß das volle Gluͤck, das ein Schrift-
ſteller genießen kann, ſich unter ſeinen eigenen
Ideen ſelbſt zu vergeſſen, und die Empfindung
der Unannehmlichkeiten in der wirklichen Welt,
durch die Vorſtellung einer erdichteten, auszuloͤ-
ſchen. So, wie Gellert, kann kein Mann erzaͤh-
len, wenn nicht die Sache, die er erzaͤhlt, vor ſei-
nen Augen vorgeht; wenn er nicht mitten unter
den Perſonen iſt, die er ſprechen laͤßt; wenn er
ſich nicht die Begebenheit ſo als eine gegenwaͤr-
tige denkt. Aber man ſieht auch, und er ſelbſt
bezeugte es, daß nicht ſowohl eine außerordent-
liche ploͤtzliche Anſtrengung ſeines Geiſtes, als
eine anhaltende gleiche Wirkſamkeit, ſeine beſten
Stuͤcke hervorgebracht habe. Er war immer ge-
maͤßigt, ruhig; vollkommen beſchaͤfftigt, aber
P 2
[228]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
nicht begeiſtert; er behielt alſo noch alle Beſon-
nenheit, auf den vollkommenſten Ausdruck, den
richtigſten Reim und die ſtrengſte Correction zu
denken. Ueberdieß wurde dadurch das ganze
Kolorit ſeiner Gemaͤlde ſanfter, ſein Spott un-
ſchuldiger, die Freude gelaßner. Es blieb alles
in den genaueſten Schranken der Moralitaͤt und
der Kritik. Dagegen ermuͤdete ſein Geiſt nicht ſo-
bald, er arbeitete oft an einer Fabel ununterbro-
chen mehrere Tage, aͤnderte ohne ungeduldig oder
unmuthsvoll zu werden, und verfolgte die Idee
von Vortrefflichkeit, auch wenn es ihm zuerſt fehl-
ſchlug, mit Standhaftigkeit und Muth.
Seine Imagination war, beſonders in ſei-
nen letzten Jahren, mehr der traurigen Bilder faͤ-
hig, weil ſelbſt die traurigen Empfindungen die
Oberhand hatten. Immer ſcheint das Wehmuͤ-
thige, das Sanfte, mehr Eindruck bey ihm ge-
macht zu haben, als das Froͤhliche und das Hef-
tige. Er war oft und gern allein, und konnte
ohne Buͤcher, ohne Umgang, und ohne mit neuen
Werken umzugehen, ſich lange mit ſeinen eignen
[229]deſſen Schriften und Charakter.
Gedanken vergnuͤgen; dieß kann man nur, wenn
man entweder Tiefſinn oder Einbildungskraft
hat. Die ſanften Ruͤhrungen der Religion ſelbſt,
die er zu dieſen Zeiten hatte, erfodern die Huͤlfe
dieſer Faͤhigkeit. Das Nachdenken uͤber Gott
kann die Seele in eine ſtarke Thaͤtigkeit ſetzen: aber
ſie wehmuͤthig machen, ſie ruͤhren, Freudenthraͤ-
nen hervorbringen kann es nur, wenn es mit
gewiſſen Bildern vergeſellſchaftet iſt. Er klagte
in ſeinen ſpaͤtern Jahren oft, daß dieſe Ruͤhrun-
gen ausblieben, daß der Anblick der Natur, und
die Feyerlichkeit gottesdienſtlicher Handlungen,
nicht mehr daſſelbe Feuer der Andacht bey ihm er-
rege. Aber in der That war er zu mistrauiſch
gegen ſich ſelbſt, um die natuͤrlichen Urſachen, die
er ſich von dieſer Veraͤnderung angeben konnte,
zu glauben. Seine Ueberzeugung und ſein Wille
waren noch gleich lebhaft; aber ſeine Einbildungs-
kraft, und die dunkeln Triebe, die damit zuſam-
menhaͤngen, waren geſchwaͤcht.
Sein Nachdenken und die Faͤhigkeiten, die
den Philoſophen ausmachen, waren bey ihm ſo,
P 3
[230]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
wie ſie bey einem ſolchen Grade von Empfindungs-
vermoͤgen und Einbildungskraft ſeyn koͤnnen, und
ſo, wie ſie ſeyn muͤſſen, wenn dieſe Kraͤfte zum
Beſten des Menſchen und der Welt wirken ſollen.
Er hatte in ſeinen erſten akademiſchen Jahren die
tiefſinnige ſpekulative Philoſophie ſehr geliebt,
und mit Eifer getrieben. Aber in der That war
es nur der Eifer eines an ſich thaͤtigen Geiſtes,
der ſeinen wahren Gegenſtand noch nicht gefunden
hatte. Dieſe Philoſophie hatte gewiß auf ſeine
Schriften und ſeinen Charakter wenig Einfluß.
Aber er machte ſich ſelbſt in der Folge eine andre;
eine, die dem bloß geſunden Verſtande aller Men-
ſchen naͤher koͤmmt; die in der Geſellſchaft und in
der Welt beſſer gebraucht werden kann; und die
die Cinbildungskraft nicht toͤdtet, ſondern leitet.
Sein Verſtand war wirklich helle und durchdrin-
gend; er faßte leicht; brachte ſeine Begriffe ge-
ſchwind aufs Reine und Klare; gab ihnen den
kuͤrzeſten, gedraͤngteſten und klaͤrſten Ausdruck;
urtheilte mit Beſtimmung und Genauigkeit, und
wußte allemal die Wahrheit, die er eingeſehen
[231]deſſen Schriften und Charakter.
hatte, einleuchtend zu machen. Eben weil er in
jeder Sache nur auf das Große und Hauptſaͤch-
liche ſah, und weil er ſeine Betrachtungen nur im
Ganzen darſtellte, und ſie nicht bis auf zu feine
Theile zergliederte; eben deswegen iſt er von dem
Großen, von dem Manne von Geſchaͤfften, die
beide nur ſolche Betrachtungen faſſen oder brau-
chen koͤnnen, eben ſo ſehr geleſen und geachtet,
als von denjenigen Philoſophen, die den Werth
des geſunden Verſtandes noch zu ſchaͤtzen wiſ-
ſen.
Seine Kritiken ſind ſeinen guten Schuͤlern
ſehr nuͤtzlich geweſen. Er fand jede Unrichtigkeit
in Gedanken und Ausdruck, ſobald er ſie finden
wollte, und nur nicht fuͤr die Perſon zu guͤnſtig
eingenommen war. Denn Wohlwollen konnte
zuweilen ſein Urtheil verfuͤhren, aber niemals
Haß.
Seine Kenntniſſe, ſo weit ſie durch Buͤcher-
leſen und Fleiß erlangt werden koͤnnen, waren
nicht ſehr ausgebreitet; aber ſie waren in derje-
nigen Klaſſe, welche er ſich gewaͤhlt hatte, voll-
P 4
[232]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
ſtaͤndig, und fuͤr ihn, zum beſten Gebrauche ſei-
ner Talente, hinreichend. Er war, beſonders in
den letzten Jahren ſeines Lebens, einer ſtrengen
und anhaltenden Aufmerkſamkeit nicht faͤhig. Ue-
berdieß ſchraͤnkten ſich ſeine Abſichten immer mehr
auf ſeine moraliſche Vollkommenheit ein. Selbſt
die Beſchaffenheit ſeines Geiſtes machte, daß nur
wenig Buͤcher von ihm mit großer Begierde gele-
ſen werden konnten. Dem Geiſte, der ſelbſt thaͤ-
tig ſeyn kann, wird es immer ſchwer, ſich bloß
von Andern beſchaͤfſtigen zu laſſen. Das Genie
bringt lieber Ideen hervor, als daß es ſich die-
ſelben mittheilen laͤßt. Ueberdieß giebt die Leb-
haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin-
dung dem Menſchen eine gewiſſe Unruhe, die ſich
mit dem ſtillſitzenden Fleiße des unermuͤdeten Buͤ-
cherleſens wenig vertraͤgt. Wenn aber Gelehr-
ſamkeit ſo viel heißt, als ein aufgeklaͤrter und be-
reicherter Geiſt; ſo hatte ſie Gellert in dem vor-
zuͤglichſten Grade.
In ſeinen Schriften herrſchet noch außer allen
dieſen Faͤhigkeiten eine ſo einnehmende Munterkeit,
[233]deſſen Schriften und Charakter.
ein ſo lachender Scherz, eine bey aller Unſchuld
doch ſo fuͤhlbare Spoͤtterey, daß nothwendig in
der urſpruͤnglichen Anlage ſeines Geiſtes ein ho-
her Grad von Lebhaftigkeit geweſen ſeyn muß, weil
ſie, auch nachdem ſie durch das Nachdenken ge-
maͤßigt und durch Krankheit geſchwaͤcht worden,
ſich noch ſo merklich aͤußern konnte.
Die Gabe, die dazu gehoͤrt, vortreffliche Ver-
ſe zu machen, genau zu beſchreiben, iſt vielleicht
mehr, als irgend ein Philoſoph vermag; dieſe
Gabe, nur den Ausdruck des Gedankens zu ſu-
chen’, und doch zugleich den Reim und das Me-
trum zu finden. Gellert beſaß dieſe Gaben,
wenn irgend einer unſerer Dichter, und vielleicht
hat nichts zu dem großen und allgemeinen Auf-
ſehen, das ſeine Fabeln machten, mehr beyge-
tragen. Es war eine ſeltſame und in Deutſch-
land noch unerhoͤrte Erſcheinung, Verſe zu leſen,
wo alles ſo geſagt war, wie man ſpricht, und
doch alles edel und einnehmend, und alles zugleich
im Sylbenmaaße und Reime richtig. Es iſt ge-
wiß, daß die Poeſie, wenn ſie dieſe Vortrefflichkeit
P 5
[234]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
erreicht, einen weit groͤßern Eindruck macht, als
die Proſe. Sogar das Vergnuͤgen, welches der
Reim macht, iſt alsdann kein veraͤchtliches Ver-
gnuͤgen mehr. Und wir glauben, daß, obgleich
ein gewiſſer Zeitpunkt im menſchlichen Leben und
in der menſchlichen Geſellſchaft koͤmmt, wo man
uͤberhaupt gegen Verſe gleichguͤltiger wird, doch
die Fabeln Gellerts zu denen wenigen gehoͤren, die
zu allen Zeiten und in jedem Alter mit Vergnuͤgen
werden geleſen werden.
So groß aber auch Gellert als Schriftſteller
und Dichter iſt, ſo iſt er gewiß nicht bloß als
Schriftſteller und Dichter ſo ſehr geſchaͤtzt wor-
den, als er es war. Dieſe ganz allgemeine Ver-
ehrung, die er genoß, dieſer Enthuſiaſmus, deſ-
ſen unſre Nation fuͤr Dichter und Schriftſteller
ſo wenig faͤhig zu ſeyn ſcheint, und der in allen
Staͤnden und an allen Orten fuͤr die Perſon Gel-
lerts herrſchte; dieſer ſein Ruhm, der nicht bloß
im Beyfalle, ſondern in Liebe beſtund, iſt gewiß
mehr eine Wirkung ſeines Charakters als ſeiner
Gaben. Fuͤr den Freund der Tugend iſt dieß eine
[235]deſſen Schriften und Charakter.
herrliche Erſcheinung. Sie zeigt, was die [Tu-]
gend unter den Menſchen vermag; ſie beweiſt,
was bey Beobachtung einzelner Perſonen zweifel-
haft werden koͤnnte, daß die Menſchen den Werth
moraliſcher Vortrefflichkeit kennen, und, wo ſie
nicht durch Vorurtheile gehindert werden, die
Rechtſchaffenheit, mehr als irgend einen andern
Vorzug, fuͤr den eigentlichen Gegenſtand der Hoch-
achtung halten.
In der That waͤre Gellert fuͤr ſeine Freunde
und fuͤr ſein Land immer ein merkwuͤrdiger Mann,
wenn er auch kein großer Schriftſteller geweſen
waͤre. Derjenigen Menſchen, die es zu dem
Hauptgeſchaͤffte des Lebens machen, gut zu ſeyn,
und Gutes zu thun, dieſer Menſchen giebt es noch
zu wenig, als daß wir nicht aufmerkſam werden
ſollten, wenn wir ſo gluͤcklich ſind, auf dem Wege
unſers Lebens einen derſelben anzutreffen. Die
Grundfeſte dieſes Charakters war die Religion;
und nur die Religion kann einen ſolchen Charak-
ter hervorbringen.
[236]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Nur der Mann kann immer rechtſchaffen han-
deln, der das immer fuͤr nuͤtzlich erkennt, was
recht iſt. Das iſt nun in vielen Faͤllen ſchon aus
den naͤhern und ſichtbaren Verbindungen, in
welchen der Menſch ſteht, und aus den naͤchſten
Folgen ſeiner Handlungen einleuchtend. Solche
Tugenden werden alſo von dem Verſtaͤndigen,
auch ohne Religion, ausgeuͤbt werden koͤnnen.
Aber in noch mehrern, und gewiß in den ſchwer-
ſten Faͤllen, erhellt die Nutzbarkeit der tugendhaf-
ten Handlung erſt, wenn ſich der Menſch mit der
ganzen Natur der Dinge, und alſo zugleich mit
ihrem Urheber in Verbindung ſetzt; wenn er ſich
die ganze Zukunft, und alſo zugleich das Weſen
denkt, in deſſen Verſtande allein dieſe Zukunft vor-
handen iſt, und durch deſſen Willen ſie beſtimmt
wird.
Der menſchliche Geiſt muß Begierden, einen
Endzweck, wornach er ſtrebt, Triebfedern haben,
die ihn in Bewegung ſetzen. Wenn man ihm nun
die kleinen eingeſchraͤnkten Endzwecke des Eigen-
nutzes und der Eitelkeit nehmen will, ſo muͤſſen
[237]deſſen Schriften und Charakter.
andere Gegenſtaͤnde, andere Abſichten an deren
Stelle treten; aber dieſer andere Gegenſtand kann
nur Gott, dieſe andere Abſicht kann nur Voll-
kommenheit, das heißt Tugend, ſeyn. Alle Dinge
koͤnnen nur dieſe doppelte Beziehung auf uns ha-
ben: die Beziehung, nach der ſie unſere aͤußern
Vortheile, Bequemlichkeiten oder Ergoͤtzungen
vermehren; und die Beziehung, nach der ſie un-
ſer Weſen vollkommener machen. Zu der erſten
Beziehung brauchen wir den Gedanken von Gott
nicht. Die Sinne lehren uns zuerſt dieſe Wir-
kungen jedes Gegenſtandes; die Vernunft ſagt ſie
uns, nach einigen Erfahrungen, zuvor; und al-
les, was wir dabey mehr oder anders thun als
die Thiere, iſt, daß wir dieſe Vortheile auf einem
laͤngern Wege ſuchen. Die Gegenſtaͤnde aber in
der zweyten Beziehung anzuſehen, und durch dieſe
Beziehung bewegt zu werden, dazu gehoͤrt das
lebhafte Bewußtſeyn von der Gegenwart und dem
Einfluſſe Gottes. Ohne den Begriff von Gott
wiſſen wir nichts von einer innern Vortreflichkeit
unſrer Natur, weil eben die Betrachtungen, die
[238]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
uns lehren, was ein vollkommner Geiſt ſey, uns
darauf fuͤhren, daß es einen vollkommenſten ge-
ben muͤſſe; und ohne die Ueberzeugung von dem
Einfluſſe Gottes uͤber die Welt und uns, koͤnnen
wir uns dieſe Vortreflichkeit nicht als einerley mit
Gluͤckſeligkeit, nicht als einen Gegenſtand unſrer
Begierde vorſtellen.
Dieſe Geſinnungen herrſchten in Gellerts
Seele; aber ſie waren auf eine beſondere Art be-
ſtimmt, weil er ſie ganz durch den Glauben an
die Offenbarung bekommen hatte. Bloße Ver-
nunftſchluͤſſe und Betrachtungen uͤber die Natur
der Dinge wirkten bey ihm weder eine ſo feſte Ue-
zeugung, noch ſo tiefe Ruͤhrungen, als die Leh-
ren, die er aus der heiligen Schrift ſchoͤpfte. Es
iſt gewiß, daß wir zuerſt aus dieſem Buche die
Wahrheiten als Ueberlieferungen bekommen, die
unſere Vernunft in ihrer folgenden Reife in eigne
Einſichten verwandeln kann; es iſt auch gewiß,
daß der Eifer derjenigen, welche dieſe Wahrhei-
ten, durch ihr ganzes Leben, aus dieſem Buche
ſchoͤpfen, gemeiniglich groͤßer und brennender iſt,
[239]deſſen Schriften und Charakter.
als der Eifer der Andern, die dieſe Einſichten
brauchen wollen, ohne auf ihre Quelle zuruͤckzu-
gehn; weil dieſe nur durch das Gewicht der Wahr-
heit koͤnnen geruͤhrt werden, jene aber noch das
aͤußere Anſehen einer goͤttlichen Ueberlieferung die-
ſer Wahrheiten hinzuthun.
Gellert glaubte von ganzem Herzen alle Leh-
ren unſerer Religion. Dieſe Anhaͤnglichkeit an
die Wahrheit, die bey vielen Menſchen aus eben
den Urſachen entſteht, aus welchen ſie die Irr-
thuͤmer und Vorurtheile nicht ablegen, weil ſie
ſie ſehr fruͤh bekommen und im Alter niemals
daruͤber nachgedacht haben, entſtund bey Geller-
ten aus dem herrſchenden Grundſatze der Pflicht,
und dem beſcheidenen Gebrauche ſeiner Vernunft.
Der Grundſatz der Pflicht machte, daß alle Be-
weiſe bey ihm mehr galten, wenn ſie auf Feſt-
ſetzung irgend einer Verbindlichkeit abzielten; daß
er ſchon zum voraus geneigt war, jede Wahr-
ſcheinlichkeit anzunehmen, die Lehren der Gottſe-
ligkeit beſtaͤtigte; und daß er ſelbſt in den klein-
ſten Theilen des Gebaͤudes ſeiner Religion, deren
[240]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
Hauptwerk ihm ſo unendlich wichtig war, keine
Aenderung wollte gemacht wiſſen. Der beſchei-
dene Gebrauch ſeiner Vernunft machte, daß er
die Nachforſchungen entweder nicht dahin zu trei-
ben ſich erlaubte, wo die Schwierigkeiten anfan-
gen; oder daß er die einmal empfundene Gewiß-
heit mehr bey ſich gelten ließ, als alle nachfolgen-
de Zweifel.
Was aber noch mehr werth iſt, als der bloße
Glaube an gewiſſe Lehren: Gellert machte aus
der Religion die vornehmſte Triebfeder ſeiner
Thaͤtigkeit. Seine Betrachtungen in der Ein-
ſamkeit, ſeine Geſpraͤche in der Geſellſchaft, ſein
Unterricht in ſeinen Lehrſtunden, ſeine Schriften,
ſeine Briefe, ſeine Arbeiten und ſeine Erholungen,
alles war mit dem Geiſte dieſer Religion erfuͤllt,
alles hatte die Abſicht, ihre Kraft bey ihm ſelbſt
zu verſtaͤrken, oder ihren Einfluß bey andern aus-
zubreiten. Nur in einer nicht gemeinen Seele
kann irgend ein allgemeines Principium ſo herr-
ſchend werden, daß es auf alle Umſtaͤnde und Zei-
ten des Lebens einen Einfluß habe; und nur bey
[241]deſſen Schriften und Charakter.
einem vortreflichen Herzen kann dieß Principium
die Religion ſeyn.
Von Jugend auf ſcheinen die unangenehmen
Empfindungen, nicht die, welche Zorn, ſondern
die, welche Traurigkeit erregen, bey Gellerten ge-
herrſcht zu haben. Sein koͤrperliches Leiden fieng
zeitig an, und ſeine duͤrftigen Umſtaͤnde dauerten
lange. Dieſer Theil des Temperaments unter-
ſtuͤzte und beſtimmte manche Tugend; und wenn
er einige Maͤngel hervorbrachte, ſo waren es ſol-
che, die nur ihm den Genuß ſeiner Verdienſte
raubten, nicht ſolche, die die Wirkſamkeit derſel-
ben verhinderten.
Das beſtaͤndige Gefuͤhl von Schwachheit oder
von Schmerz hat die natuͤrliche Wirkung, daß es
den Muth ſchwaͤcht, das Gemuͤth mit der Idee
von kuͤnftigen noch groͤßern Uebeln erfuͤllt, und
dem Menſchen ein Mistrauen gegen ſeine Kraͤfte
und gegen ſeinen Werth beybringt. Gellert hat-
te in der That eine Kraft in der Seele, die, wenn
ſie ſich bey außerordentlichen Gelegenheiten auf
eine kurze Zeit ſammlete, ihn getroſt und beherzt
Q
[242]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
machte. Er redete mit den Koͤnigen ohne Schuͤch-
ternheit; er fuͤrchtete den Tod weit mehr in ſeinen
leichtern Zufaͤllen, als in ſeiner lezten Krankheit.
Aber in dem gewoͤhnlichen Laufe ſeines Lebens,
wenn ihn nichts zu einer außerordentlichen An-
ſtrengung aufforderte, beunruhigten ihn auch
kleine Uebel; und er erſchrak vor Schwierigkeiten,
zu deren Ueberwindung er nur Entſchließung ge-
braucht haͤtte.
Dieſe Furchtſamkeit entfernte ihn, auf der
einen Seite, von allen Arten weitlaͤuftiger Un-
ternehmungen, toͤdtete ſeinen Ehrgeiz, fuͤhrte ihn
mehr auf ſich ſelbſt zuruͤck, und vermehrte alſo
ſeine perſoͤnliche Vollkommenheit, indem ſie eine
Menge andrer Beſtrebungen, die ihn von ſeiner
Beſſerung zerſtreut haben wuͤrden, verhinderte;
auf der andern ließ ſie ihn nicht zu dem Grade
der Heiterkeit der Seele und der Froͤhlichkeit
kommen, die die Belohnung der Tugend ſeyn
ſoll.
Die Aufmerkſamkeit auf ſich ſelbſt hat, ſie
mag auf den Koͤrper oder auf die Seele gerichtet
[243]deſſen Schriften und Charakter.
ſeyn, bey beiden aͤhnliche Wirkungen; und ge-
meiniglich ſind beide Arten der Aufmerkſamkeit
verbunden, weil ſie beide aus einer gemeinſchaft-
lichen Quelle entſpringen. Im Koͤrper entdecken
wir durch eine ſolche Achtſamkeit immer kleine
Unordnungen, und in der Seele kleine Fehler,
die wir unter den Zerſtreuungen der Luſtbarkeiten
oder der Geſchaͤfte nicht wuͤrden bemerkt haben.
Man genießt alsdann weder ſeiner Geſundheit,
noch ſeiner Tugend, weil man durch das, was
in Unordnung iſt, weit mehr beunruhigt, als
durch das, was geſund und untadelhaft iſt, ver-
gnuͤgt wird. Gellert hatte dieſe doppelte Auf-
merkſamkeit; und er wurde auch wirklich auf dieſe
Weiſe durch ſie beunruhigt. Es fehlte ihm an
dem Muthe, der vor einem Fehler eben ſo we-
nig, als vor der Anlage zu einer Krankheit er-
ſchrickt, die Beſſerungsmittel braucht, und den
Ausgang erwartet. Wenn dieſes ruhige Beſtre-
ben nach ſeiner Beſſerung zur gegenwaͤrtigen
Gluͤckſeligkeit des Menſchen mehr beytraͤgt; ſo
Q 2
[244]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
iſt vielleicht das aͤngſtlichere mit einem groͤßern
Eifer verbunden.
Die Furchtſamkeit machte ihn zugleich ſehr
beſcheiden. Kein Gelehrter, kein Schriftſteller iſt
wohl mehr geneigt geweſen, andern einen Vor-
zug vor ſich zuzugeſtehen. Er ſchaͤzte die Voll-
kommenheiten beynahe am hoͤchſten, die er nicht
beſaß; er zog die Gelehrſamkeit dem Genie vor.
Er war niemals ein Nebenbuhler irgend eines
Menſchen geweſen. Auf der Laufbahn, in der er
ſich befand, und in welcher ungluͤcklicher Weiſe
Neid und Eiferſucht ſo leicht entſtehen, weil viele
um einen gemeinſchaftlichen Preiß ſtreiten, haͤtte
er gern jeden ſich zuvorkommen geſehen; und nur
durch einige Gewalt war er ſo weit hervorgezogen
worden. Er wußte zwar, daß der Stand gegen
perſoͤnliche Eigenſchaften in keine Betrachtung
koͤmmt; und wie waͤre es moͤglich, daß ein Mann
von ſeinem Geiſte anders urtheilte? Aber demun-
erachtet waren ihm dieſe Verhaͤltniſſe in der buͤr-
gerlichen Geſellſchaft, als Einrichtungen der goͤtt-
lichen Vorſehung, ſo wichtig, und er war zu-
[245]deſſen Schriften und Charakter.
gleich ſo geneigt, jeden Anſpruch eines andern,
jedes Vorrecht gelten zu laſſen, daß er auch dem
bloßen Stande eine ausnehmende Ehrerbietung
und Achtung bewies. Er war uͤberhaupt weit
mehr geneigt, ſich allen einmal gemachten Ein-
richtungen der Welt, des Staates, oder ſeines
Standes, zu unterwerfen, und von ihnen den
beſten Gebrauch zu machen, als ſie, wo er ſie
auch fuͤr fehlerhaft erkannte, zu aͤndern. Die
Perſonen, die uͤber ihm waren, hielt er gemei-
niglich auch fuͤr weiſer und einſichtsvoller, als
ſich. Die Obrigkeit, die Gewalt uͤber ihn hatte,
ſah er faſt immer als eine gerechte und guͤtige
Obrigkeit an. Vielleicht hatte er gegen ſolche
Verbeſſerungen, die ohne große Aenderungen nicht
geſchehen koͤnnen, allzuviel Mißtrauen, und von
der Guͤte der Anordnungen, die ſchon vorhanden
ſind, einen zu vortheilhaften Begriff. Aber eben
der Gehorſam gegen alles, was den Anſchein von
Geſetz und Pflicht hatte, eben die Unterwerfung
ſeiner eignen Einſichten und Neigungen unter alle
goͤttlichen und menſchlichen Vorſchriften, welche
Q 3
[246]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
auf ſeinen ganzen uͤbrigen Charakter ſo viel Ein-
fluß hatte, brachte auch dieſe vielleicht zu weit ge-
triebne Behutſamkeit hervor.
Seine ſinnlichen Begierden waren von Natur
maͤßig. Seine Krankheit hatte ihm eine ſtrenge
Enthaltſamkeit aufgelegt; und ſeine Gottesfurcht
machte ihn geneigt, lieber eine unnoͤthige Ver-
leugnung zu uͤbernehmen, als ſich der nothwen-
digen zu weigern. Er foderte zu den Bequem-
lichkeiten und zu den Zierrathen des Lebens nur
wenig. Und in der That iſt Eitelkeit gewiß die
Leidenſchaft, die ein großer Geiſt am erſten unter
die Fuͤße tritt. Denn es iſt unmoͤglich, daß die
Seele mit etwas Großem und Gutem ſich abge-
ben, oder daß ſie mit wichtigen Gedanken und
Abſichten erfuͤllt ſeyn kann, wenn ihr noch der
Unterſchied der Kleider und des Hausgeraͤthes
wichtig ſcheint. Bey Gellerten konnte nur die
Gewohnheit, nicht die ſinnliche Begierde, eine
Art neuer Beduͤrfniſſe erzeugen. Er verlangte
keine Sache praͤchtig oder ſehr bequem; aber er
verlangte ſie ſo, wie er ſie immer gehabt hatte.
[247]deſſen Schriften und Charakter.
Er veraͤnderte daher in ſeinen Umſtaͤnden und
Einrichtungen wenig. Und ſo wie dieß in der
That das Zeichen einer ruhigen und geſunden
Seele iſt, ſo iſt es doch zuweilen eine Hinderniß
der Verbeſſerung ſeiner Umſtaͤnde.
Da er von den Vorzuͤgen oder Vergnuͤgun-
gen, die man fuͤr Geld haben kann, einen ſo ge-
ringen Theil verlangte, ſo bedurfte er auch keiner
großen Einkuͤnfte. So maͤßig die ſeinigen auch
bis an ſein Ende waren: ſo hatte er doch auch
dieſe nicht geſucht; und ſie reichten nicht bloß fuͤr
ihn zu, ſondern ſeine Maͤßigkeit konnte noch ei-
nen guten Theil davon zu Wohlthaten bey Seite
legen. Keine kraͤftigere Stuͤtze kann die Tugend
und Religion haben, als die Gleichguͤltigkeit gegen
Rang und Vermoͤgen. Dieſe Gegenſtaͤnde, wenn
ſie einmal in der Seele Eindruck gemacht haben,
verlangen eine viel zu anhaltende Geſchaͤftigkeit,
bringen viel zu viel andre Leidenſchaften ins Spiel,
als daß der Seele Kraft und Zeit ſollte uͤbrig blei-
ben, fuͤr die Rechtmaͤßigkeit jeder Handlung und
fuͤr ihre innere Vollkommenheit zu ſorgen. Ueber-
Q 4
[248]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
dieß muͤſſen wir auf dem Wege zu dieſen Abſichten
nothwendig eine Menge Menſchen finden, die ſich
uns widerſetzen, und die wir mit Gewalt oder Liſt
bey Seite ſchaffen muͤſſen, wenn es uns durchaus
darum zu thun iſt, jene Abſichten zu erreichen.
Denjenigen koͤnnen wir durchaus nicht lieben, der
uns in der Erreichung unſrer Abſichten verhindert.
Haben wir nun ſolche Abſichten, in denen wir ge-
ſtoͤrt werden, und welche wir beynahe nur errei-
chen koͤnnen, inſofern wir andre darinn ſtoͤren:
ſo muͤſſen wir uͤber lang oder kurz haſſen oder ge-
haßt werden. Die ganze Welt iſt ein Schauſpiel
dieſes Krieges.
Menſchenliebe aber und Guͤtigkeit, die lezte
Frucht der Tugend, und das Werkzeug, durch
welche ſie zum Beſten der Welt wirkſam wird, war
eine der ſichtbarſten Eigenſchaften in Gellerts Cha-
rakter. Er that von einem geringen Vermoͤgen
viel Gutes: aber er leiſtete noch weit mehr perſoͤn-
liche Dienſte; und perſoͤnliche Dienſte ſind immer
die beſſern Wohlthaten. Er war ſehr geneigt,
andre fuͤr gut anzunehmen, von denen er nichts
[249]deſſen Schriften und Charakter.
Boͤſes wußte, und leicht geneigt, in denjenigen
alles fuͤr vortreflich zu halten, in welchen er ei-
nige vortrefliche Eigenſchaften gefunden hatte.
Da er an ſich die moraliſche Guͤte mehr als ſeine
Gaben ſchaͤzte, ſo beurtheilte er auch andrer Werth
mehr nach ihrer Tugend, als nach ihrem Verſtan-
de. Und freylich iſt es, bey einem nicht beſtaͤndi-
gen Umgange, leichter, in der erſten, als in der
andern Abſicht hintergangen zu werden. Fuͤr ſeine
erſten und aͤlteſten Freunde hatte er wahre innere
Zaͤrtlichkeit; fuͤr die uͤbrigen, die er in ſpaͤtern
Jahren bekommen hatte, Achtung und Dienſteifer.
Zu ſeinem Umgange gehoͤrten nur wenige, und weil
das Ungewohnte ihm immer einige Anſtrengung
koſtete, nur dieſelben Perſonen.
Sein Beyſpiel und ſein Rath hielten eine Men-
ge junger Leute, die ihm naͤher bekannt worden wa-
ren, von Ausſchweifungen zuruͤck, und gewoͤhnten
ſie zur Arbeitſamkeit und Ordnung. Seine Briefe
hatten den Einfluß ſeiner Wohlthaͤtigkeit noch viel
weiter ausgebreitet. Aus ſehr entfernten Gegen-
den wendete ſich der Nothleidende, der Betruͤbte,
Q 5
[250]Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
der Zweifler, der Geaͤngſtete, oder der Unentſchloß-
ne an ihn; und er that, was er vermochte, einen
jeden Beyſtand oder Beruhigung zu verſchaffen.
Dieſe Arbeiten fuͤllten einen großen Theil ſeiner
Zeit aus; und ob er gleich zuweilen daruͤber, als
uͤber eine Beſchwerlichkeit klagte, ſo iſt es doch ge-
wiß, daß dieſe Beſchaͤftigung, die dem jetzigen Gra-
de ſeiner Kraft gerade angemeſſen war, und ihm
dabey die angenehme Ausſicht oͤfnete, wohlgethan
zu haben, einen großen Theil ſeiner geheimen
Gluͤckſeligkeit ausmachte, die jeder Menſch genießt,
ohne ſie ſelbſt recht gewahr zu werden.
Er haßte gewiß niemanden; er verachtete nie-
manden: und wenn er in ſeinen lezten Jahren
nicht mehr der Ergießungen einer lebhaften Zu-
neigung, oder einer innigen Zaͤrtlichkeit faͤhig
war: ſo kam dieſes entweder daher, weil er von
allen denen Freunden entfernt lebte, mit denen
ſein Herz in den Zeiten ſeiner vollen Empfindlich-
keit ſich vereinigt hatte; oder weil er uͤberhaupt
in allen ſeinen Neigungen gemaͤßigter und dem
Anſcheine nach kaͤlter geworden war.
[251]deſſen Schriften und Charakter.
Sein Anſehen, mit der Liebe verbunden, die
er einfloͤßte, hat einen gluͤcklichen Einfluß auf die
Akademie gehabt, auf der er lehrte. Sein Lob
und ſeine Freundſchaft haben manchen jungen
Kopf erweckt und muthig gemacht; ſein Rath
und ſeine Vorſorge das Gluͤck vieler wuͤrdigen
jungen Maͤnner gegruͤndet.
Seine perſoͤnlichen Eigenſchaften hatten ihm
diejenige Art von Anſehen und Einfluß gegeben,
die die ſchaͤzbarſte Oberherrſchaft unter den Mer-
ſchen iſt. Er vermochte viel, weil er ſehr geliebt
wurde, und nur immer das foderte, was der, von
welchem er es foderte, billigen mußte.
Ein Mann von ſolchen Gaben und von ſol-
chem Charakter iſt immer ein Geſchenk fuͤr ſeine
Nation. Und wirklich hat die unſrige Gellerten
vieles zu danken. Seine Schriften ſind immer
die erſten Schriften, und an vielen Orten noch die
einzigen, welche geleſen werden. Seine Fabeln
unterrichten unſre erſte Kindheit, und ergoͤtzen
und erbauen unſer maͤnnliches und hohes Alter.
Seine meiſten Schriften ziehen den Leſer durch ihre
[252]Anmerk. uͤber Gellerts Moral, ꝛc.
Schoͤnheit an ſich, und ſie beſſern ihn, indem er
ſich bloß zu vergnuͤgen gedenkt. Seine geiſtlichen
Lieder ſind wirklich das erſte Erbauungsbuch,
welches zu dem Privat- oder oͤffentlichen Gottes-
dienſte eines verſtaͤndigen Mannes geſchickt iſt.
Schon mancher Nothleidende hat ſich mit demſel-
ben getroͤſtet; ſchon mancher Sterbende ſich den
Tod erleichtert.
So lange die Deutſchen ihre jetzige Sprache
verſtehen, werden ſie die Gellertſchen Schriften
leſen; dieſe Epoche kann ihre Graͤnzen haben:
aber den Gellertſchen Charakter werden die Men-
ſchen verehren, ſo lange ſie die Tugend kennen;
und dieſe Zeit iſt unbegraͤnzt.
[253]
Einige Gedanken
uͤber
das Intereſſirende.
Erſter Theil.
- Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
Unſre Aufmerkſamkeit, die gewoͤhnlicherweiſe
unter mehrere Dinge vertheilt iſt, oder
ſchnell von einem Dinge zum andern uͤbergeht,
kann zuweilen auf einen einzigen, oder eine An-
zahl verbundner Gegenſtaͤnde ſo zuſammengebracht
werden, daß wir des uͤbrigen Theils der Dinge,
die auf oder in uns wirken, vergeſſen; ſie kann
zuweilen auf dieſen Gegenſtaͤnden ſo feſtgehalten
werden, daß wir eine betraͤchtliche Zeit lang mit
keinen andern Gegenſtaͤnden abwechſeln. Dieſes
[254]Einige Gedanken
Zuſammenhalten und dieſes Aufhalten unſrer
Aufmerkſamkeit bey Einem Gegenſtande erfodert
allemal eine außerordentliche Kraft, die dieſes be-
wirke; entweder die Kraft des Menſchen ſelbſt,
oder die Kraft der Dinge, von denen er geruͤhrt
wird. Im erſten Falle heißt ſeine Aufmerkſam-
keit Anſtrengung; die Sache, worauf ſie gerich-
tet iſt, ein Geſchaͤfte, und die Handlung Arbeit.
In dem andern iſt es entweder die bloße Staͤrke
und Gewaltſamkeit des Eindrucks, oder es iſt die
beſtimmte Art deſſelben, welche unſre Aufmerkſam-
keit feſſelt. Jenes iſt Zwang, und der Schmerz
iſt es nebſt allem, was Schmerzen droht, der auf
dieſe Weiſe die Seele wider ihren Willen auf ſich
aufmerkſam macht. Dieſes iſt der ſanfte Zug,
mit welchem das Vergnuͤgen, oder allgemeiner,
alles, was mit unſerm Zuſtande, unſern Gedan-
ken und unſern Neigungen in einem beſondern
Zuſammenhange ſteht, das Auge unſers Geiſtes
von andern Gegenſtaͤnden abwendet und auf ſich
richtet.
[255]uͤber das Intereſſirende.
Alle die Gegenſtaͤnde, oder die Arten ſie vor-
zuſtellen, welche, ohne unſre freywillige Anſtren-
gung, vermoͤge des Wohlgefallens, das ſie in
uns erregen, ſich unſrer Aufmerkſamkeit bemaͤch-
tigen und dieſelbe ſtaͤtig machen, dieſe, glauben
wir, ſoll das Wort intereſſant von andern Arten
der Gegenſtaͤnde unterſcheiden; — es ſoll die
Dinge ausdruͤcken, welche auf eben die Weiſe und
vermoͤge eben der Triebfedern uns nach ihren Vor-
ſtellungen begierig machen, wie das uns aufmerk-
ſam macht, was zur Befriedigung unſers Eigen-
nutzes etwas beytragen kann.
Dieſer Unterſchied zwiſchen der Aufmerkſam-
keit, deren Urheber wir ſelbſt ſind, und zwiſchen
der, die das Werk der Gegenſtaͤnde iſt, faͤllt bey
den gemeinſten Verrichtungen des Lebens in die
Augen. Geſezt, man leſe ein Werk der Genea-
logie oder Diplomatik. Es kann ſeyn, daß wir
mit unſrer ganzen Aufmerkſamkeit leſen: aber
wir ſind uns auch dabey der Muͤhe bewußt, die
es uns koſtet, der Zerſtreuungen, die wir alle Au-
genblicke abwehren, des Widerſtandes, den wir
[256]Einige Gedanken
andern mehr reizenden Ideen, die ſich eindringen
wollen, leiſten muͤſſen. Nicht die Sachen, die
wir leſen, erhalten die Seele in ihrer Richtung
auf dieſelben, ſondern unſre Begierde zu lernen,
unſre Pflicht, oder die Abſicht, wozu wir die Nach-
richten brauchen; wir werden nicht angezogen,
wir ſelbſt ſtellen uns zu der Sache hin, und zwin-
gen uns dabey zu bleiben. In dieſem Falle wer-
den wir nimmermehr ſagen, daß das Buch in-
tereſſant ſey; wir werden nur ſagen, daß wir
fleißig arbeiten. Geſezt aber, ein ander Werk,
das wir ebenfalls aus Pflicht oder Zwang zu leſen
anfiengen, enthalte Geſchichte, Schilderungen,
Reden, die uns, indem wir fortfahren, unſrer ur-
ſpruͤnglichen Abſicht, warum wir laſen, nach und
nach uneingedenk machen, und uns bloß mit den
Sachen ſelbſt beſchaͤftigen, die wir in jedem Au-
genblicke erfahren; geſezt, die Begierde, die an-
fangs nur auf einen entfernten Endzweck, und
auf das Leſen als auf ein Mittel gerichtet war,
gehe nun auf den Inhalt des Buchs ſelbſt, wir
leſen nunmehro bloß, um zu wiſſen, was geſagt
[257]uͤber das Intereſſirende.
und was folgen wird, ohne weiter an einen Ge-
brauch zu denken: ſo werden wir alsdann zwar
auch noch hoͤchſt aufmerkſam ſeyn, vielleicht auf-
merkſamer als zuvor, aber wir werden uns kei-
ner Bemuͤhung mehr bewußt ſeyn, unſere Auf-
merkſamkeit zu erhalten; die Kraft, die der na-
tuͤrlichen Beweglichkeit der Seele Einhalt thut,
wird nicht mehr unſer Entſchluß, ſondern der Ein-
druck der Gegenſtaͤnde ſeyn. Das Buch, ſagen
wir alsdann, faͤngt an uns zu intereſſiren. —
Noch ein anderer Umſtand unterſcheidet dieſe bei-
den Arten der Aufmerkſamkeit; und gerade iſt der
eine Umſtand das, was man ſich bey dem Worte
Intereſſiren denkt. Naͤmlich, wenn ich bloß durch
meinen Vorſatz in einer beſtimmten Reihe der
Dinge mit meinen Gedanken bleibe: ſo ſtehe ich
in jedem Augenblicke nur bey dem Gliede der Reihe
ſtill, das jezt gegenwaͤrtig iſt, und bekuͤmmere
mich um die kuͤnftigen nicht; ich ſchließe die Reihe,
ſobald mein Vorſatz erreicht, oder die Zeit der Ar-
beit geendigt iſt, ohne mich im geringſten wegen
deſſen, was folgen wird, zu beunruhigen. Wenn
R
[258]Einige Gedanken
ich hingegen, durch die anziehende Kraft der Ge-
genſtaͤnde ſelbſt, dieſe Reihe durchlaufe: ſo bin
ich mit meiner Aufmerkſamkeit immer ſchon ein
wenig vor der gegenwaͤrtigen Idee voraus; ich
verlange nach den folgenden Gliedern, indem ich
die gegenwaͤrtigen betrachte: und ehe die Reihe
nicht bis ans Ende, oder bis an einen Unterbre-
chungspunkt kommt, werde ich nicht ruhig auf-
hoͤren koͤnnen. — Ein Schauſpiel oder ein
Roman intereſſirt mich, und, ich bin nach
dem Erfolge begierig, ſind gleichbedeutende Re-
densarten; und es iſt das ſicherſte Zeichen, daß
ein dramatiſcher Dichter ſeinen Endzweck zu inter-
eſſiren erreicht hat, wenn er den Zuſchauer in ein
Verlangen und eine unruhige Erwartung der Zu-
kunft ſezt. Der Grund dieſer Verſchiedenheit iſt,
duͤnkt uns, dieſer. Die Begierde der Seele geht
eigentlich immer auf etwas Kuͤnftiges. Geht ſie
nun nicht auf die Sache ſelbſt, mit der man ſich
beſchaͤftigt, ſondern auf eine Abſicht, die außer-
halb derſelben liegt, und bloß durch ſie erreicht
werden ſoll: ſo iſt außer dem gegenwaͤrtigen Theile
[259]uͤber das Intereſſirende.
der Sache nichts, als dieſe Abſicht, uns in den
Augen. — Hingegen, wo die Begierde auf die
Dinge ſelbſt geht, mit denen wir unſere Aufmerk-
ſamkeit beſchaͤftigen, da ſind es eigentlich die fol-
genden Theile der Dinge, auf die ſie gerichtet iſt,
denn die gegenwaͤrtigen werden ſchon genoſſen;
und eben dieſe Befriedigung, die das Gegenwaͤr-
tige der Seele gewaͤhrt, richtet ihren Blick gegen
das Zukuͤnftige, um neue Befriedigungen zu ſu-
chen.
Alſo alles das intereſſirt uns, was uns
durch den Eindruck des Wohlgefallens, den es
auf uns macht, ohne unſern Vorſatz aufmerkſam
und nach der Fortſetzung und der Folge begierig
erhaͤlt.
Alles Wohlgefallen entſpringt entweder aus
dem, was unſere Kraft zu denken beſchaͤftiget,
oder aus dem, was unſre Empfindungen erweckt.
Alles, was mit uns auf gewiſſe Weiſe zuſammen-
haͤngen, und uns mit ſich vereinigen ſoll, muß
entweder Gedanken, oder es muß Neigungen er-
regen, ſo wie ſie zu unſrer Natur und zu unſerm
R 2
[260]Einige Gedanken
Zuſtande paſſen. Wer uns intereſſiren will, muß
uns viel zu denken geben, oder uns in Affekt
bringen.
Zuerſt alſo von dem Intereſſe, das die Dinge
und ihre Schilderungen haben koͤnnen, inſofern
ſie Vorſtellungen erregen.
Das Wohlgefallen, das wir an gewiſſen Ge-
danken finden, beruhet auf unſerer Wißbegierde,
oder auf dem Triebe, unſere Kraͤfte zu aͤußern.
Unſerer Wißbegierde gefallen alle die Reihen
von Gedanken, die entweder uͤberhaupt der Seele
Wahrheit und Kenntniß, oder die ihr beſonders
ſolche Kenntniſſe, ſolche Begriffe geben, welche
eine beſondere Beziehung auf ihren ehemaligen
oder gegenwaͤrtigen Zuſtand haben; und dieſer
lezte Reiz iſt ſtaͤrker, und bekoͤmmt oft allein den
Namen des Intereſſirenden. Unſerm Triebe zur
Geſchaͤftigkeit gefallen alle die Vorſtellungen, die
reich und doch leicht zu faſſen, neu und doch klar
ſind, ſtark und ſchnell und doch mit Ordnung ab-
wechſeln.
[261]uͤber das Intereſſirende.
Wir wollen dieſe Triebfedern des Intereſſiren-
den ſtuͤckweiſe durchgehen.
Wir haben geſagt, die Wißbegierde werde
durch Wahrheit und Kenntniß gereizt. — Einige
dieſer Wahrheiten und dieſer Kenntniſſe wirken
vermoͤge ihrer innern Kraft, bloß als Theile
von Wiſſenſchaft, entweder der allgemeinen, wel-
che alle Menſchen ſuchen, oder der beſondern,
auf welche ſich gewiſſe Menſchen legen. Andere
wirken vermoͤge gewiſſer Beziehungen, die ſie
auf den Menſchen durch ſeine beſondern Umſtaͤnde
bekommen haben. Jene wenden ſich bloß an den
Verſtand, dieſe ziehen auch ſchon gewiſſe kleine
Leidenſchaften mit ins Spiel, die ſie befriedigen,
oder denen ſie Nahrung verſchaffen. In der Be-
ſchreibung einer Reiſe, die nach dem Nordpole
unternommen worden, die Geſtalt der Erde zu
unterſuchen, wird durch die Figuren und Rech-
nungen nur die Wißbegierde des Mathematikers
gereizt; dieß iſt das Intereſſe einer beſondern
Wiſſenſchaft. Aber das Reſultat dieſer Figu-
ren und Rechnungen, ob die Erde oval oder ein-
R 3
[262]Einige Gedanken
gedruͤckt ſey, dieß erregt die Neubegierde aller;
dieß iſt das Intereſſe der Wiſſenſchaft uͤber-
haupt. Die Schilderung der Sitten und der Le-
bensart der Einwohner des Nordens, die in die-
ſer Reiſebeſchreibung vorkommen koͤnnte, wuͤrde
von noch mehrern mit Theilnehmung und Begier-
de geleſen werden; nicht bloß, weil ſie dadurch
neue Einſichten bekaͤmen, ſondern noch mehr, weil
ſie dabey viele Vergleichungen mit ihren eigenen
Umſtaͤnden anſtellen koͤnnten, durch die ſchon
vorher gefaßte Begriffe und ſchon daſeyende Nei-
gungen wieder erweckt und beſchaͤftigt werden
wuͤrden. Dieß iſt das Intereſſe, welches aus
allgemeinen Beziehungen der Dinge auf uns
entſteht. Vielleicht lieſt dieſe Reiſe ein Mann,
der von dem Nordlichte eine Theorie gemacht und
ein Buch daruͤber geſchrieben hat, und dem wuͤrde
nichts wichtiger ſeyn, als was von beſondern
Beobachtungen dieſes Phaͤnomens, oder von
neuen Erklaͤrungen deſſelben geſagt wuͤrde, weil
dieß durch die Begierde, ſeine Meynung beſtaͤtigt zu
ſehen, oder die Furcht, ſich widerlegt zu finden,
[263]uͤber das Intereſſirende.
von wichtigen Folgen fuͤr ihn waͤre. Dieß iſt
das Intereſſe, das aus beſondern Beziehun-
gen der Dinge entſteht. Endlich der Theil,
der die Gefahren beſchriebe, welche die Reiſenden
ausgeſtanden, die Muͤhſeligkeiten, welche ſie er-
duldet haben, wuͤrde ohne Zweifel die meiſten
und die aufmerkſamſten, begierigſten Leſer finden.
Dieß iſt das Intereſſe der Empfindung.
Von dem beſondern Reize, den jede Wiſſen-
ſchaft fuͤr den hat, der ſie treibt, von dem allge-
meinen Intereſſe, das jede wichtige und verſtaͤnd-
liche Wahrheit fuͤr den Menſchen uͤberhaupt hat,
wollen wir weiter nichts ſagen. Das Erſte ge-
hoͤrt gar nicht zu unſerer Abſicht, und das Lezte
iſt durch ſich ſelbſt verſtaͤndlich. Nur von dem
Intereſſe wollen wir reden, das ſich auf gewiſſe
Beziehungen der Dinge, auf einen gewiſſen Ein-
fluß ihrer Ideen auf unſern Zuſtand gruͤndet, und
welches das eigentliche Intereſſe iſt, das Dichter
und Kuͤnſtler, zu denen wir hier reden, ihren Wer-
ken geben ſollen. Aber eine allgemeine Anmer-
kung muͤſſen wir vorausſchicken. — Man kann
R 4
[264]Einige Gedanken
es unſern Dichtern nicht oft genug wiederholen,
daß es nicht bloß durch Leidenſchaften moͤglich iſt
zu intereſſiren; daß ſie durch dieſe nur ſelten, und
immer nur Augenblicke lang intereſſiren; daß es
nur allein der Reichthum der Vorſtellung, die
Wichtigkeit und die Menge deſſen, was ſie uns
zu denken geben, ſeyn kann, was uns bey einem
groͤßern Werke vom Anfange bis zu Ende geſchaͤf-
tig, aufmerkſam und befriedigt erhalte. Das
ruͤhrendſte Drama erregt bey dem empfindlichſten
Zuſchauer immer nur Blitze der Empfindung.
Auf einen Augenblick, wo man getaͤuſcht wird,
folgt eine weit laͤngere Zeit, wo man wieder ſich
und die Schauſpieler fuͤr das erkennt, was ſie
ſind. Fuͤr einen Vorfall, fuͤr eine Rede, die un-
mittelbar Leidenſchaft erregt, giebt es hundert,
die nur Vorſtellungen erwecken. — Das Ver-
gnuͤgen, Mitleiden und Schrecken zu empfinden,
genießt man alſo nur in einzelnen und kurzen
Stellen eines Trauerſpiels. Aber das Vergnuͤ-
gen, Menſchen von einem unterſcheidenden Cha-
rakter, einem gebildeten Geiſte, feinen Sitten, ei-
[265]uͤber das Intereſſirende.
ner edlen Sprache, uͤber wichtige Vorfaͤlle des Le-
bens reden zu hoͤren; das koͤnnen wir in allen
Auftritten und ohne Unterbrechung genießen.
Elend oder Gluͤckſeligkeit ſehe ich nur am Ende
des Stuͤcks, aber denkende und handelnde Men-
ſchen ſehe ich durch das Ganze. Iſt nun der Dich-
ter um weiter nichts bekuͤmmert geweſen, als bloß
dieſen Fall ſeines Helden recht ſchrecklich zu ma-
chen, ſo wird auf viele lange Weile endlich ein er-
goͤtzender Augenblick folgen, der noch dazu durch
den vorhergehenden Verdruß die Haͤlfte ſeiner
Kraft ſchon verloren hat. Hat aber der Dichter
durch das ganze Stuͤck Nahrung fuͤr meinen Geiſt
ausgeſtreuet, laͤßt er ſeine Perſonen ſo reden, daß
ſie mich mannichfaltige und wichtige Sachen leh-
ren, mich an vieles eriunern, viele dunkle Be-
merkungen deutlich, viele Wahrheiten, die ich ab-
ſtrakt erkannte, anſchauend machen: dann wird
er mich bey den unerheblichen wie bey den wich-
tigen Vorfaͤllen, am Anfange wie bey der Kata-
ſtrophe ſeines Stuͤckes, ergoͤtzen; die erwartende
Begierde nach dem Zukuͤnftigen wird durch das
R 5
[266]Einige Gedanken
ſuͤße Gefuͤhl des Gegenwaͤrtigen gemaͤßigt werden;
und mein Herz wird fuͤr die leztern ſtarken Ein-
druͤcke, die er fuͤr daſſelbe beſtimmt, nur deſto mehr
geoͤfnet ſeyn.
Wir kehren von dieſer kleinen Ausſchweifung
wieder zuruͤck. — Wir muͤſſen alſo erſt erklaͤren,
wie gewiſſe Ideen eine naͤhere Beziehung auf die
Umſtaͤnde des Menſchen bekommen, und dann,
auf wie vielerley Art ſolche Beziehungen formirt
werden koͤnnen.
Man erfaͤhrt dieß ſchon in dem Vortrage der
abſtrakten Wiſſenſchaften. Wenn jemand einen
Lehrer oder Schriftſteller uͤber Materien hoͤrt oder
lieſt, uͤber welche er ſelbſt noch niemals nachzu-
denken veranlaßt worden: ſo muß es bloß die
Deutlichkeit und Evidenz der Sachen, die ihm
vorgetragen werden, und ſeine eigne Luſt zu der
Wiſſenſchaft ſeyn, die ihn fuͤr das, was er hoͤrt,
einnehmen, und eine gewiſſe Theilnehmung an de-
nen Unterſuchungen, welche angeſtellt werden, be-
wirken kann. Und auch alsdann iſt es doch bey-
nahe gewiß, daß er vieles vorbeylaſſen wird, was
ihm gleichguͤltig ſcheint, ob es gleich unmittelbar
[267]uͤber das Intereſſirende.
zu der Abſicht des Redners und Schriftſtellers ge-
hoͤrte; vieles als einen Gewinn auffaſſen wird,
was ohne Bedeutung iſt, und bloß zu Nebenbe-
griffen oder zu Ausfuͤllungen gehoͤrt. Denſelben
Weg, den die Natur bey der Erfindung der Wahr-
heit nimmt, den will ſie auch bey der Erlernung
derſelben genommen wiſſen, wenn die Wahrheit
ihren Ein druck machen ſoll. — So wie man nun
nicht eher Erklaͤrungen der Phaͤnomenen ſucht,
als bis man von denſelben befremdet wird, und
ſo wie beynahe alle unſre Unterſuchungen bloß zu
Aufloͤſung von Schwierigkeiten angeſtellt werden,
durch die man zuvor beunruhigt worden iſt; ſo
muß man auch, damit man an dieſen Erklaͤrun-
gen und Aufloͤſungen, wenn ſie von andern erfun-
den worden, und uns nun vorgetragen werden,
ein Intereſſe finde, eben dieſe Erfahrungen wenig-
ſtens im Vorbeygehn gemacht, eben dieſe Schwie-
rigkeiten wenigſtens dunkel wahrgenommen ha-
ben. — Jeder Gedanke in den Reden und Schrif-
ten anderer, deſſen Wahrheit wir zwar einſehen,
deſſen Brauchbarkeit wir aber nicht empfinden,
und deſſen Abzielung wir nicht gewahr werden,
[268]Einige Gedanken
ruͤhrt uns wenig. — Dieſe Brauchbarkeit aber,
dieſe Abzielung kann in nichts anderm liegen, als
entweder in dem Lichte und der Gewißheit, die
dieſer Gedanke uͤber andere ſchon vorher gehabte,
uns wichtig ſcheinende Gedanken ausbreitet, in
welchen wir noch Dunkelheit oder Zweifel fanden;
oder in den Regeln und Huͤlfsmitteln, die uns
derſelbe zu ſolchen Verrichtungen giebt, an deren
Ausfuͤhrung uns gelegen iſt, und in denen wir
nicht fortkommen konnten. — Dieſe andern
Ideen muß man alſo nothwendig erſt gehabt, und
ihre Luͤcken oder ihre Undeutlichkeit empfunden ha-
ben; zu dieſen Verrichtungen muß man erſt ver-
anlaßt, und durch Mangel dieſer Kenntniſſe ge-
hindert worden ſeyn, wenn man das Intereſſe
an dem Unterrichte finden ſoll, das ſich auf die
Aufklaͤrung dieſer Dunkelheiten und die Erſetzung
dieſes Mangels gruͤndet.
Nicht das Gute, ſagt Locke, erregt an und
fuͤr ſich Begierde, ſondern nur das Gute, welches
eben jezt zur Vollſtaͤndigkeit unſers Zuſtandes
fehlt, nur dasjenige, deſſen Mangel in unſerer
[269]uͤber das Intereſſirende.
jetzigen Verfaſſung eine Luͤcke macht, uͤber die wir
unruhig ſind. Eben die Beziehung, die das Gute
auf die Begierden hat, eben dieſelbe hat das In-
tereſſirende auf den Verſtand. Nicht jede wahre
große ſchoͤne Idee macht uns aufmerkſam, ſon-
dern nur diejenige, die in die Reihe der in uns
ſchon vorhandenen und von uns bemerkten
Ideen noch hineinfehlt, die, welche eine von
uns wahrgenommene Luͤcke unſerer Kenntniſſe
ausfuͤllt, eine gewiſſe Unruhe ſtillt, die wir
uͤber unſere Unwiſſenheit in dieſem Stuͤcke em-
pfanden.
Wir ſehen alſo, wie der vorhergehende Zu-
ſtand des Menſchen, die Summe deſſen, was er
bisher erfahren, empfunden und gedacht hat, ei-
nen Einfluß darauf haben kann, an welchen von
den neuankommenden Ideen er den meiſten Ge-
ſchmack finden, welche er am geſchwindeſten ſich
zueignen, bey welchen er mit ſeiner Aufmerkſam-
keit ſtehen bleiben ſoll. Wenn die Natur zuerſt
das Auge und das Ohr des neugeborenen Men-
ſchen oͤfnet: ſo uͤberlaͤßt ſie denſelben eine Zeit-
[270]Einige Gedanken
lang ganz der Herrſchaft aͤußerer Gegenſtaͤnde:
ſeine innere Wirkſamkeit hat noch gar keine Rich-
tung; alle Dinge, die ſich ſehen, hoͤren oder fuͤh-
len laſſen, befriedigen denſelben auf gleiche Weiſe.
Nur das hellere Licht, oder der ſtaͤrkere Schall iſt
das einzige, was einem Dinge vor dem andern
in ſeiner Aufmerkſamkeit und in ſeiner Zuneigung
einen Vorzug giebt. Er verlangt an keine an-
dere Sache zu denken, als die ſich ihm darſtellt;
er erwartet keine andere Vorſtellung, als die er
wirklich hat. Die Form jedes Gegenſtandes iſt
der Seele gleichguͤltig, weil der Gegenſtand ſelbſt
erſt der Seele ihre Geſtalt geben ſoll. — Der erſte
Unterſchied, der ſich zwiſchen den Dingen feſtſtellt,
iſt der zwiſchen Luſt und Schmerz; und die erſte
Triebfeder, die Aufmerkſamkeit und Erwartung
erregt, iſt die Leidenſchaft. Aber indem dieſe
Begierden ſich entwickeln, ihre Gegenſtaͤnde oͤfter,
und in neuen Verbindungen vorkommen, breiten
ſich die Ideen aus, und erzeugen aus ſich neue;
viele derſelben fuͤgen ſich in gewiſſe Reihen zuſam-
men, wovon jedes Glied die Vorausſehung und
[271]uͤber das Intereſſirende.
das Verlangen nach den uͤbrigen erregt; viele
vereinigen ſich zu gewiſſen Ganzen, die ſich der
Seele auf einmal darſtellen, und in welchen ſie
das Mangelnde aus dem, was vorhanden iſt,
fuͤhlen lernt. Der indeß immer fortgehende Fluß
aͤußerer und innerer Gegenſtaͤnde und Vorfaͤlle
fuͤhret neue Begriffe dazu, verſtaͤrket oder modifi-
cirt die alten; bis endlich der Koͤrper reif, die Or-
ganiſation voͤllig befeſtiget, die Ideen der meiſten
und wichtigſten Dinge erlangt, die vornehmſten
Freuden und Schmerzen des Lebens empfunden,
und der Menſch und die Dinge, die ihn umgeben,
durch ihre gegenſeitige Operation gegen einander
gleichſam abgeformt ſind. Alsdann koͤnnen die
neuankommenden Gegenſtaͤnde nicht mehr die
Seele auf ganz neue Weiſen erſchuͤttern, ſie muͤſ-
ſen gewiſſermaßen in die Fußſtapfen der alten tre-
ten, wenn ſie Eindruck machen ſollen. Die Seele
nimmt nicht mehr alles auf, was ſich ihr anbie-
tet; ſie ſucht das, was ſich an die Reihen an-
ſchließt, oder in die Ganzen hineinpaßt, die ſich
in ihr formirt haben, und nach welchen ſie alles
[272]Einige Gedanken
ordnen muß, was ihr denkbar und empfindbar
ſeyn ſoll. Die Aufmerkſamkeit hat ſchon ihre ge-
wiſſen Objekte, und an jedem Dinge ihre gewiſſen
Theile, nach welchen ſie ſich allemal mit Vorbey-
gehung der uͤbrigen hinkehrt; und wer alſo dieſe
Aufmerkſamkeit gewinnen will, der muß der Seele
gerade dieſe Objekte, oder dieſe Theile jedes Ob-
jekts vorhalten.
Ueberdieß legt jede Begebenheit, die dem
Menſchen aufſtoͤßt, jeder Zuſtand, in den er ge-
raͤth, einen gewiſſen Stoff in ſein Gedaͤchtniß nie-
der, der bearbeitet werden ſoll; jede Idee, die er
bekoͤmmt, bereitet ihn zu einer neuen vor, oder
enthaͤlt den Samen zu derſelben. — Was nun
alſo aus dieſen in ihm ſchon vorhandenen Mate-
rialien erbaut wird, was aus dieſem in ihm lie-
genden Samen aufſchießt und reift, iſt ihm weit
wichtiger, gehoͤret weit mehr zu ihm, bringt ſeinen
Kopf in weit groͤßere Thaͤtigkeit, und ſeine Einbil-
dungskraft in weit groͤßere Waͤrme, als was aus
ganz fremdem Stoffe zuſammengeſezt, und auf
auslaͤndiſchem Boden gezeugt iſt.
[273]uͤber das Intereſſirende.
Es wird alſo leicht ſeyn, zu finden, auf wie
vielfache Weiſe Ideen und Schilderungen eine ge-
nauere Beziehung auf unſern Zuſtand bekommen.
Einmal, wenn ſie das, was wir ſchon halb wiſ-
ſen, ergaͤnzen, was wir dunkel empfunden haben,
uns deutlich denken, oder was wir in abſtrakten
Worten erlernt haben, in einem einzelnen Falle
anſchauen lehren. Zweytens, wenn ſie uns an
irgend etwas von dem, was wir ſelbſt mit groͤße-
rer oder geringerer Ruͤhrung erfahren haben, leb-
haft wieder erinnern, und uns in unſer eigenes
voriges Leben einen Blick thun laſſen, der uns
Aufſchluͤſſe von dem giebt, was wir damals nicht
verſtanden, oder uns bemerken laͤßt, was wir da-
mals uͤberſahen. Drittens, wenn ſie uns fuͤr
gewiſſe Geſchaͤfte, an denen uns gelegen iſt, oder
zu einem Betragen, nach welchem wir ſtreben,
Muſter und Anweiſung geben. Viertens, wenn
ſie uns zu irgend einer eignen Uebung unſrer den-
kenden Kraft veranlaſſen, indem wir ſie mit den
uns bekannten Grundſaͤtzen zuſammenhaͤngen, und
durch die uns wiederfahrnen Begebenheiten erlaͤu-
S
[274]Einige Gedanken
tern, oder indem wir irgend eine Art von Ver-
wandtſchaft, es ſey der Aehnlichkeit, es ſey der
Abhaͤngigkeit zwiſchen ihnen und unſern alten Er-
fahrungen aufſuchen.
Man wird vielleicht noch mehr Arten eines ſol-
chen Zuſammenhangs der Vorſtellungen mit uns
finden, oder dieſe noch in mehr Unterarten zer-
gliedern koͤnnen. Aber die, welche wir angefuͤhrt
haben, ſind hinlaͤnglich, den Begriff ſelbſt zu er-
laͤutern, und die Folgerungen verſtaͤndlich zu ma-
chen, die wir aus ihm in Abſicht auf die Werke
der Dichter ziehen wollen.
Dieß naͤmlich fragt ſich jezt: was fuͤr Gegen-
ſtaͤnde muß denn alſo der Dichter waͤhlen, wie
muß er ſie bearbeiten, wenn er die meiſten, we-
nigſtens die aufgeklaͤrten, die geſitteten Menſchen
durch die Vorſtellungen, die er in ihnen erweckt,
intereſſiren will?
Er muß, werden wir uͤberhaupt antworten,
diejenigen Gegenſtaͤnde waͤhlen, von welchen
er erwarten kann, daß ſie in aller dieſer Menſchen
Seelen correſpondirende Begriffe finden, und daß
[275]uͤber das Intereſſirende.
ſie mit den alten Empfindungen derſelben zuſam-
menhaͤngen; er muß dieſe Gegenſtaͤnde ſo bear-
beiten, daß ſie die Zuͤge dieſer Bilder, die Spu-
ren dieſer Empfindungen getreu wieder darſtellen,
aber in denſelben mehr, und dieſes deutlicher oder
anſchauender zeigen, als die Seele ſelbſt in ihnen
entdeckte.
Nach dem erſten Grundſatze alſo werden 1)
die Dinge, welche ein wahres Intereſſe haben ſol-
len, natuͤrliche Gegenſtaͤnde und deren ihre natuͤr-
liche Veraͤnderungen ſeyn muͤſſen, Dinge, deren
Gattung wir durch unſere eigne Erfahrung ken-
nen. Die wirkliche vor uns liegende Welt iſt es,
aus der alle unſre Ideen geſchoͤpft, auf die alle
unſre Neigungen gerichtet ſind. Sie iſt der In-
begriff alles deſſen, was uns verſtaͤndlich oder
wichtig oder angenehm ſeyn kann. Ihr Reich-
thum fuͤllt den ganzen Umfang unſrer denkenden
Kraft, und erſchoͤpft das ganze Maaß unſrer Em-
pfindſamkeit. Wer ungeſehene Geſtalten und un-
erhoͤrte Veraͤnderungen uns vorſtellt, der fuͤhrt
uns in fremde Welten, wo wir andere Organen
S 2
[276]Einige Gedanken
noͤthig haͤtten, um zu ſehen, und ein ander Herz,
um zu fuͤhlen, was uns gezeigt wird. Das
Schlimmſte iſt, daß derjenige ſelbſt dieſe Organen
und dieſes Herz nicht hat, der uns dieſe Dinge
zeigen will. Dieſe neue Welten ſind bloß aus ei-
nigen Truͤmmern der gegenwaͤrtigen erbauet, die
groͤßtentheils uͤbel zuſammengefuͤgt, und dadurch
weit unkenntlicher, weit unkraͤftiger geworden ſind,
als ſie in ihrer alten Anordnung waren. Einige
Kunſtrichter, die, wie uns duͤnkt, mehr nach al-
ten Muſtern und alten Regeln, als nach der Na-
tur und nach ihrer eigenen Empfindung philoſo-
phiren, haben der ſogenannten Imagination in
der Dichtkunſt, ich meyne der Imagination, wel-
che ganz neue in der Natur nicht vorhandene We-
ſen und Begebenheiten erfindet, einen viel zu ho-
hen Rang unter den dichteriſchen Faͤhigkeiten, und
ihren Werken einen viel zu großen Werth beyge-
legt. Vom Longin oben an bis herunter zu dem
Englaͤnder Dufft*) wollen uns dieſe Herren durch-
[277]uͤber das Intereſſirende.
aus uͤberreden, daß den Homer nichts groͤßer
mache, als ſein Jupiter, wenn er mit ſeinem
Haupte den Olymp erſchuͤttert, und die Pferde
des Mars, wenn ſie mit einem Schritte ſo weit
ausgreifen, als man von einem hohen Berge ſe-
hen kann; daß Schakeſpears Genie nirgends mehr
hervorleuchte, als wo er ſeine Hexen und Unge-
heuer reden laͤßt; und daß Pope bloß ein feiner
Verſifikateur ſeyn wuͤrde, wenn er nicht zum
Gluͤcke den Gabalis geleſen, und in ſeinen Locken-
raub Sylphen und Gnomen gebracht haͤtte.
Wenn dieſe Kunſtrichter nach ihrem wirklichen Ge-
fuͤhle reden, ſo iſt es freylich ein ſicherer Beweis,
daß das unſrige kein allgemeines Gefuͤhl ſey.
Denn dieß geht ganz darauf, daß es ein groͤßer
Genie erfodere, das Wirkliche und das Natuͤrliche,
als das Erdichtete und das Uebernatuͤrliche zu
ſchildern, (wir reden hier bloß von den redenden
Kuͤnſten,) oder daß, wenn auch das lezte mehr
Bewunderung erregen ſollte, doch das erſte nur
intereſſiren koͤnne. — Die wirkliche Natur iſt
weit reicher in dem Stoffe, aus dem ſie jedes Ding
S 3
[268[278]]Einige Gedanken
zuſammengeſezt, weit mannichfaltiger in den Ar-
ten, durch welche ſie daſſelbe abgeaͤndert hat. Je-
des Ding in der Natur iſt ein Gewebe von unzaͤh-
lichen Theilen; eine Miſchung von unendlich viel
Beſchaffenheiten, und dieſe alle wieder auf alle
moͤgliche Weiſe beſtimmt: jedes Ding der bloßen
Imagination hingegen iſt faſt immer nur eine
Zuſammenſetzung aus zwo, drey allgemeinen Ei-
genſchaften, die man in einem Uebermaße nimmt,
in welchem ſie keine beſondern Beſtimmungen, kei-
ne Einſchraͤnkungen leiden. Alle dieſe Geſchoͤpfe
der mythologiſchen und Feyen-Welt ſind im Grun-
de wirklich nur abſtrakte Begriffe. Es iſt Macht,
oder Groͤße, oder Geſchwindigkeit, oder irgend
eine andere ſolche Eigenſchaft allein, im hoͤchſten
Grade gedacht, die den Namen Jupiter oder Obe-
ron bekoͤmmt. Ferner ſind die Verſchiedenheiten
der natuͤrlichen Gegenſtaͤnde in derſelben Gattung
unzaͤhlich. Unter der Menge von Beſchaffenhei-
ten, die ihre Individualitaͤt ausmachen, darf nur
eine einzige abgeaͤndert werden, ſo ſtimmt ſich
das ganze Syſtem um, und das Gemeinſchaftliche
[279]uͤber das Intereſſirende.
der Gattung bleibt doch. Ueberdieß giebt es in
dem, was ſeine beſtimmten Graͤnzen hat, unzaͤh-
liche Grade des Mehr und des Weniger. Hinge-
gen eine ſolche fremde Geſtalt, deren ganze Exi-
ſtenz an zwey bis drey einmal ausgemachte Zuͤge
gebunden iſt, wuͤrde gar nicht wieder erkannt wer-
den, wenn man nicht gerade eben dieſelben Zuͤge
vorbraͤchte: und weil man zugleich die ganze
Gattung dieſer Dinge ſelbſt aus lauter Eigen-
ſchaften im hoͤchſten Grade genommen zuſammen-
geſezt hat, ſo kann es zwiſchen den Individuen
keine merkliche Verſchiedenheit mehr geben, wenn
ſie noch zu der Gattung gehoͤren ſollen. — Man
hat es tauſendmal wiederholt, daß die Natur ein-
geſchraͤnkt, aber das Feld der Imagination un-
endlich ſey. Uns duͤnkt, die imaginative Welt
iſt gegen die wirkliche ein enges armſeliges Ge-
hege, wo man immer daſſelbe Wild unter neuen
Namen haſcht, und weil man ſich lange im Kreiſe
herumbewegt hat, glaubt, daß man ſehr weit
fortgekommen ſeyn muͤſſe. Aber geſezt, wir waͤ-
ren ſo gute Schoͤpfer, daß wir wirklich neue in-
S 4
[280]Einige Gedanken
dividuelle Naturen hervorbringen, und ſie hin-
laͤnglich abwechſeln koͤnnten: was koͤnnen uns
alle dieſe Weſen angehen, die wir niemals um
uns herum geſehen, mit denen wir niemals in ir-
gend einem Verhaͤltniſſe geſtanden haben, und
von denen wir wiſſen, daß wir nichts weder zu
hoffen noch zu fuͤrchten haben? — Wenn uns
dieſe Goͤtter-Zauberer-Feyen- und Ritterwelt jetzo
noch gefallen ſoll: ſo muß es entweder dadurch
geſchehen, daß unter dieſen fremden Namen wirk-
liche Menſchen aufgefuͤhrt werden, oder daß ſie
doch zuweilen wie die uns bekannten Dinge wir-
ken und leiden; oder es muͤſſen Anſpielungen, es
muß Scherz, Satyre, mit einem Worte eine Art
von verborgenem Sinne ſeyn, der unter dieſen
Bildern hervorleuchtet. Dieſe Dinge und ihre
Begebenheiten muͤſſen nur als das Mittel ge-
braucht werden, durch welches andere, die uns
eigentlich intereſſiren, ins Auge fallen ſollen.
Aus dieſer Regel folgt, 2) daß uns nichts
mehr intereſſiren kann, als Schilderungen des
Menſchen, ſeiner Sitten und ſeiner Vorfaͤlle. —
[281]uͤber das Intereſſirende.
Denn mit dem Menſchen haben wir doch von dem
erſten Augenblicke unſers Bewußtſeyns an am
meiſten zu thun, mit ihm verbinden uns unſere
Beduͤrfniſſe am genaueſten, auf ihn macht uns
unſere Natur am oͤfterſten aufmerkſam. Geſchaͤfte
und Vergnuͤgungen, alles, wodurch wir Begriffe
bekommen oder gewiſſe Neigungen annehmen, be-
ziehen ſich nur auf Menſchen, oder werden mit
ihnen gemeinſchaftlich unternommen und genoſ-
ſen. Alſo muͤſſen von keiner Sache in der Natur
ſo viele Elemente von Ideen bey uns vorhanden,
auf keine muß unſre Neugierde ſo ſehr gerichtet
ſeyn, zu keiner Erkenntniß muß ſo viel Anlage
und ſo viel Beduͤrfniß in uns liegen, als zu der
Kenntniß des Menſchen. — Man weiſe uns den
Menſchen, den geringen wie den hohen, in außer-
ordentlichen oder in alltaͤglichen Vorfaͤllen; aber
man weiſe ihn uns ſo, wie wir ihn eigentlich ken-
nen wollen, als einen denkenden, empfindenden
Menſchen; man finde die wahren Worte, die ihm
ſeine Situation eingeben, die eigentlichen Hand-
lungen, zu denen ihn ſein Charakter treiben muß:
S 5
[282]Einige Gedanken
und unſere ganze Seele wird bey dem Anblicke in
eine Geſchaͤftigkeit kommen, die ſie an nichts wei-
ter denken laͤßt; der ganze Vorrath ihrer Ideen
wird ſich, ſo zu ſagen, in Bewegung ſetzen, und
das ganze Syſtem ihrer Empfindungen wird er-
ſchuͤttert werden. Mit dieſer Saite iſt unſere
ganze Seele harmoniſch geſtimmt. Alles, was
wir wiſſen, alles, was wir wollen, hat irgend
eine augenſcheinliche oder geheime Beziehung auf
eine ſolche Schilderung. — Wenn die Erſcheinung
nicht ſo gewoͤhnlich waͤre, ſo wuͤrde es uns wun-
derbar vorkommen muͤſſen, daß der gemeinſte elen-
deſte Kopf unter den Zuſchauern einer Minna,
der, wenn er einen Wirth, einen Major Tellheim,
einen Wachtmeiſter wie Paul Werner, ſelbſt reden
laſſen ſollte, nicht ein Wort wuͤrde zu finden wiſ-
ſen, wodurch ſich dieſe Staͤnde oder dieſe Charak-
tere unterſchieden, doch, wenn dieſe Sprache von
dem Manne von Genie gefunden iſt, ſie ſogleich
fuͤr die rechte eigentliche erkennt, und ihre Rich-
tigkeit gleichſam durch ſeine eignen Erinnerungen
beſtaͤtigt. — Wie iſt dieß anders moͤglich, als
[283]uͤber das Intereſſirende.
daß auch der gemeinſte Mann Leute von dieſen
verſchiedenen Staͤnden und Sitten im wirklichen
Leben geſehen, daß er die Unterſchiede ihrer Spra-
che und ihres Betragens damals empfunden, und
ſeit der Zeit in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufbehalten
hat, aber ſo verworren unter einem Haufen ſtaͤr-
kerer Ideen, die zugleich in die Seele kamen, ſo
verdeckt von der Reihe derer, die darauf folgten,
daß ſeine eigne Kraft nun nicht mehr zureicht, ſie
wieder ans Licht zu ziehen? Aber dieſe Gegenſtaͤn-
de duͤrfen ihm nur wieder vorkommen, beſonders
ſo rein, ſo von heterogenen Dingen abgeſondert,
ſo zuſammengedraͤngt, wie ſie ihm ein guter Dich-
ter zeigt: dann finden ſich die Abdruͤcke, die da-
von in ſeiner Seele vorhanden ſind, augenblicklich
herzu; er druͤckt, ſo zu ſagen, den alten Stempel
wieder darauf, er findet ihn genau paſſend, und
eben dieſe Operation, die ſeinem eignen Geiſte zu-
gehoͤret, iſt das, was ihn bey einer ſolchen Scene
thaͤtig und aufmerkſam erhaͤlt, mit einem Worte,
was ihn intereſſirt.
[284]Einige Gedanken
Unter dieſen Gemaͤlden von Menſchen nun
wird uns 3) das Gemaͤlde ſolcher Menſchen am
ſtaͤrkſten intereſſiren, die am meiſten unſers glei-
chen ſind, die eine Denkungsart, eine Sprache
und Sitten wie die unſrige haben, und deren Be-
gebenheiten und Handlungen denen gleichkommen,
aus denen der Lauf unſers eignen Lebens beſteht,
mit einem Worte, das Gemaͤlde unſrer Zeit und
unſrer Nation. — Jeder Menſch hat um ſich
herum ein kleines Syſtem. Er ſelbſt iſt der Mit-
telpunkt deſſelben; die Glieder ſeiner Familie, die
Einwohner ſeiner Stadt, die Leute, mit denen er
alle Tage umgeht, ziehen die naͤchſten Kreiſe um
dieſen Mittelpunkt; Reiſen, Geſchaͤfte, die ver-
ſchiedenen Veraͤnderungen ſeines Zuſtandes, er-
weitern dieſelbe. Innerhalb dieſes Syſtems ſieht
der Menſch alles mit ſeinen eignen Augen, jeder
Punkt der Peripherie haͤngt durch irgend einen
Strahl mit dem Mittelpunkte zuſammen. Ge-
ſchichte und Reiſebeſchreibungen koͤnnen ihm noch
tauſend andre Syſteme außer dem ſeinigen be-
kannt machen; aber dieſe alle ſieht er nur im
[285]uͤber das Intereſſirende.
Profil, beruͤhrt ſie gleichſam nur durch einige we-
nige Tangenten. Und ſo wie auch dieſe weiter
von ſeinem Standorte wegkommen, ſo wird ihr
Anblick immer einſeitiger, mangelhafter, dunkler.
— In der That, wir kennen nur diejenige Le-
bensart, diejenige Verfaſſung der Menſchen recht,
die auch zugleich unſere eigne iſt. Alle uͤbrigen
Zuſtaͤnde des menſchlichen Geſchlechts erklaͤren
wir uns immer nur durch die Vergleichungen, die
wir zwiſchen denſelben und dem gegenwaͤrtigen
anſtellen. Wo dieſe Aehnlichkeiten uns verlaſſen
oder betruͤgen, da ſind unſre Vorſtellungen von
dieſen Zuſtaͤnden dunkel oder falſch. Wo die
menſchliche Geſtalt anfaͤngt ſehr von der unſrigen
abzugehen, da ſehen wir die Menſchen fuͤr eine
Art von Ungeheuern an, und endlich ſtreiten wir
wohl gar daruͤber, ob es Menſchen oder Affen
ſind. Und wo der menſchliche Geiſt, ſeine Ideen,
Geſinnungen, Handlungen, gar keine Gleichfoͤr-
migkeit mehr mit den unſrigen haben, da verliert
ſich das Bewußtſeyn von dem, was ein ſolcher
Geiſt ſeyn mag, und das ſympathetiſche Gefuͤhl
[286]Einige Gedanken
von dem, was in demſelben vorgeht. — Ueber-
dieß, die Nachrichten, die uns alte oder entfernte
Menſchen bekannt machen ſollen, wie weit koͤnnen
dieſe wohl reichen? Die Griechen und Roͤmer ſind
gewiß die beiden Nationen, die wir aus dem Al-
terthume am beſten kennen. Und doch, wie weit
iſt der Begriff, den wir von der Verfaſſung und
der Lebensart der Einwohner zu Rom und zu
Athen haben, von einem ſinnlichen Anſchauen
unterſchieden? Wie viele Luͤcken ſind nicht in den
vollſtaͤndigſten Nachrichten, wie viel Umſtaͤnde,
die kaum unſre Vernunft mit einander vereinigen
kann, und aus denen noch weniger unſre Einbil-
dungskraft ein Ganzes zu machen weiß? Es ſind
immer nur einige wenige Beſtandtheile aus der
unendlichen Zuſammenſetzung der damaligen Na-
tur, nur einige zerrißne Glieder aus der Kette ih-
rer Veraͤnderungen. Wir zwingen dieſe Theile
zuſammen, wir haͤngen dieſe Glieder, ſo gut wir
koͤnnen, an einander; aber wir fuͤhlen doch, daß
wir nicht die wahre Geſtalt, nicht den ganzen
Koͤrper der Natur wieder herausbringen. — Wie
[287]uͤber das Intereſſirende.
viel unmoͤglicher alſo muß es nicht ſeyn, ein rich-
tiges Gemaͤlde von dem geſammten Zuſtande eines
Volks oder eines Zeitalters auf einzelne Stellen
von Schriftſtellern zu gruͤnden, die davon im
Vorbeygehen geredet haben.
Es ſind ſeit einiger Zeit unter uns die Bar-
den- und Skaldengeſaͤnge aufgekommen. Wenn
man damit nichts weiter zur Abſicht hat, als was
Kleiſt bey ſeinem Liede eines Lapplaͤnders, und
Gray bey ſeiner Herabkunft des Odins zur Abſicht
hatte, uns auf eine lebhaftere Art, als durch die
bloße Erzaͤhlung geſchehen kann, das Eigenthuͤm-
liche und Sonderbare der Lebensart, der Sitten
und der Dichtkunſt eines merkwuͤrdigen Volks zu
zeigen: ſo iſt die Wahl unſrer Bardenſaͤnger die
gluͤcklichſte, weil uns dieſes Volkes Eigenthuͤm-
lichkeiten am erheblichſten vorkommen muͤſſen, da
wir uns fuͤr deſſelben Nachkommen halten koͤn-
nen. Aber wollte man ſo weit gehen, daß man
die wahre deutſche Poeſie dadurch erſt wieder auf-
zuwecken glaubte, daß man dieß als die einzigen
Originalgedichte, und alles Uebrige als franzoͤ-
[288]Einige Gedanken
ſiſche oder engliſche Nachahmungen anſaͤhe: ſo
geſtehen wir aufrichtig, daß es uns um unſer
Jahrhundert leid waͤre. So viel Muͤhe alſo haͤt-
ten wir uns um Kultur und Sitten und Wiſſen-
ſchaften gegeben, damit wir uns in denjenigen
Werken, die der Nation vor allen uͤbrigen eigen
ſeyn ſollten, wieder in ein rauhes, barbariſches,
unwiſſendes Jahrhundert zuruͤckſezten, unſere in
etwas gebildete Sprache wieder regellos machten,
unſere kaum gebaͤndigte Phantaſie wieder ihrem
wilden Laufe uͤberließen? Und wenn wir uns
noch in dieſes Jahrhundert zuruͤckſetzen koͤnnten;
wenn uns noch der Dichter dieſe wilde Natur und
dieſe rauhen Menſchen ſo zeigen koͤnnte, wie ſie
wirklich geweſen ſind! — Aber dazu weiß er
ſelbſt lange nicht genug von ihnen. Einige we-
nige, hier und da aufgeſammlete, halb wahre
und halb falſche Nachrichten, groͤßtentheils aus
roͤmiſchen Schriftſtellern, und einige Fragmente
aus Gedichten benachbarter barbariſcher Natio-
nen, ſind die ganzen Quellen, woraus wir unſre
Kenntniß von dieſen unſern Vorfahren ſchoͤpfen.
[289]uͤber das Intereſſirende.
Einige Namen ihrer Gottheiten und Geiſter, ei-
nige Gebraͤuche ihrer Religion, einige wenige von
ihren politiſchen und haͤuslichen Einrichtungen,
ihre Tapferkeit, ihr Haß gegen die Roͤmer, machen
den ganzen Stoff aus, der zu der Schilderung
ihrer Sitten und ihres Zuſtandes verbraucht wird.
Daher koͤmmt es dann auch, daß der Grund des
Gemaͤldes modern oder eine bloße Phantaſie iſt,
und daß nur hin und wieder die etlichen wenigen
Farben des Alterthums reichlich aufgetragen wor-
den, uns zu erinnern, was der Dichter hat vor-
ſtellen wollen. — Durch ſolche Schilderungen
aber, die der Dichter bloß nach ſeinen Einbildun-
gen machen muß, koͤmmt er von ſeinem eigentli-
chen Hauptgeſchaͤfte, der Beobachtung der wirkli-
chen Welt und der gegenwaͤrtigen Menſchen, ab.
Die Empfindungen und Leidenſchaften, die ſolche
Gedichte ausdruͤcken, ſind doch niemals des Dich-
ters eigne. Es iſt eine Maske, die er traͤgt, bey
der er in der That einiges Verdienſt hat, wenn er
die Rolle gut zu ſpielen weiß, zu der er ſich durch
ſeine Maske anheiſchig macht. aber es iſt doch
T
[290]Einige Gedanken
nur eine Maske, und wer immer vermummt geht,
muß wahrhaftig ein haͤßliches Geſicht haben. —
Wir kennen allerdings einige ſehr ſchaͤtzbare Stuͤcke
dieſer Art. Wir verlangen auch nicht dem Genie
irgend eines Dichters Schranken zu ſetzen. Aber
wir wuͤnſchten doch unſre beſten Genies mit dem
beſchaͤftigt zu ſehen, was unſerm Zeitalter und un-
ſerer Nation am wichtigſten und am vortheilhaf-
teſten ſeyn muß.
Aus eben demſelbigen Grunde koͤnnen wir es
nicht begreifen, wie es immer ein Kunſtrichter dem
andern hat nachſprechen koͤnnen, daß Koͤnige und
Fuͤrſten zur Tragoͤdie nothwendig ſind, weil nur
deren ihre Schickſale uns recht ſtark intereſſiren
koͤnnten. Auch Hurd, der einſichtsvolle Hurd,
klagt bitterlich daruͤber *), daß die edelſte Gat-
tung des Drama unter den Neuern beynahe ver-
loren ſey, weil ſie ſich auch durch das Ungluͤck von
Privatperſonen wollen ruͤhren laſſen. Aber wenn
nur ſeine Gruͤnde eben ſo ſtark waͤren, als ſeine
[291]uͤber das Intereſſirende.
Klagen ernſtlich ſind! Es ſind dieſe beide: 1)
Die Schickſale der Fuͤrſten haben in der Wirklich-
keit oder in unſerer Einbildung einen Einfluß uͤber
ganze Nationen; alſo muͤſſen ſie uns ſtaͤrker ruͤh-
ren. 2) Die Perſonen der Fuͤrſten haben in un-
ſrer Idee eine groͤßere Wuͤrde; alſo muß uns ihr
Ungluͤck mehr in Erſtaunen ſetzen. — Wenn uns
recht iſt, ſo haben wir dieſe Gruͤnde ſchon oft ge-
hoͤrt, und wohl noch ſtaͤrkere, als dieſe. Aber
ſo oft wir es verſuchten, uns dadurch zu uͤberzeu-
gen, ſo oft ſchien uns unſere Empfindung zu ſa-
gen: Es iſt falſch, daß wir an das Volk denken,
wenn wir einen Koͤnig auf der Buͤhne ſehen. Nur
ſelten geht die Taͤuſchung ſo weit, daß wir wirk-
lich einen Fuͤrſten zu ſehen glauben, und niemals
ſo weit, daß wir auch das Volk fuͤr wirklich hiel-
ten, welches in ſeinem Titel ſteht. Es iſt genug
gefodert, wenn wir uͤber das Ungluͤck des Schau-
ſpielers, der den Koͤnig macht, als uͤber ein wirk-
liches geruͤhrt werden ſollten: aber es iſt eine Chi-
maͤre, wenn man ſich einbildet, daß wir auch noch
mit ſeinen unſichtbaren Unterthanen Mitleiden ha-
T 2
[292]Einige Gedanken
ben ſollen, von welchen wir gar zu gewiß wiſſen,
daß ſie nirgends vorhanden ſind. — Es giebt
viele aͤhnliche Philoſophie uͤber das Theater, und
im Vorbeygehn geſagt, uͤber den Menſchen uͤber-
haupt, die als eine Reihe von Begriffen ganz rich-
tig iſt; nur daß ſich die Gegenſtaͤnde zu dieſen
Begriffen gar nicht in der Natur finden. — Ue-
berdieß wie viel ſind nicht im Leben der Koͤnige
Privathandlungen; Begebenheiten, die in einem
Buͤrgerhauſe wie in einem Palaſte vorgehen koͤn-
nen; und ſind nicht die meiſten Subjekte unſrer
und der alten heroiſchen Trauerſpiele von der Art?
Was ſoll alſo hier der Name des Fuͤrſten thun,
wenn er nur als Menſch handelt oder leidet?
Aber, die groͤßre Wuͤrde der Koͤnige und ihre Hand-
lungen? — In der That, bey dem aufgeklaͤrten
edlern Theile der Zuſchauer exiſtirt dieſe Idee von
Wuͤrde gar nicht; und dieſen Theil wird doch wohl
der Dichter am meiſten intereſſiren wollen. —
Und geſezt, wir haͤtten wirklich einen ſo einge-
ſchraͤnkten Kopf, oder eine ſo niedrige Seele, daß
uns der Name Fuͤrſt, Koͤnig, auch auf der Buͤhne
[293]uͤber das Intereſſirende.
unſrer natuͤrlichen Gleichheit vergeſſen ließe: wo-
zu wuͤrde dieß anders dienen, als uns gegen das
Schickſal dieſer hoͤhern Weſen gleichguͤltiger zu
machen? Ja eben dieß, daß der Dichter ſich ver-
bunden haͤlt, Koͤnige und Fuͤrſten die hoͤchſte
Sprache der Poeſie reden zu laſſen, eine Sprache,
die ſehr einfoͤrmig iſt, und die meiſten Verſchie-
denheiten der Charaktere und der Denkungsarten
unter einem immer gleichen Pompe verbirgt; eben
dieß, daß man den hoͤhern Stand nicht anders als
durch ein gewiſſes Gepraͤnge kenntlich zu machen
weiß, welches oft dem natuͤrlichen Ausdrucke der
Leidenſchaft ſchadet: eben dieß iſt eine Urſache
mehr, warum uns das heroiſche Trauerſpiel we-
niger intereſſant ſeyn muß, als das buͤrgerliche.
Auch die Koͤnige muͤſſen erſt wieder Menſchen wer-
den, wie wir, wenn ſie uns durch ihre Schickſale
ruͤhren ſollen.
Weil alſo, wenn die Menſchen, die uns vor-
geſtellt werden, nur kenntliche, nur in ihrer Art
merkwuͤrdige Menſchen ſind, es nicht der Hoheit
des Standes und der politiſchen Wichtigkeit der
T 3
[294]Einige Gedanken
Begebenheiten braucht, um uns zu intereſſiren:
ſo werden wir natuͤrlicher Weiſe darauf geleitet,
daß an der Bearbeitung der Charaktere und der
Vorfaͤlle am meiſten gelegen iſt.
Diejenige Bearbeitung, haben wir geſagt,
macht uns die dichteriſchen Vorſtellungen einer
Sache intereſſant, durch welche unſre eignen dun-
keln Ideen von derſelben getreu wieder erweckt,
aber zugleich aufgeklaͤrt oder erweitert werden.
Aufgeklaͤrt werden ſie, 1) indem wir das, was
wir bloß in beſondern Faͤllen zu empfinden wuß-
ten, allgemein denken lernen, und die Wahrheit,
die in unſern Erfahrungen unter vielem nicht dazu
gehoͤrigen Stoffe verborgen lag, rein und abge-
ſondert unſerm Verſtande dargeſtellt ſehen; dieß
macht das Intereſſe, welches Sentenzen, und
was man uͤberhaupt Philoſophie in einem Ge-
dichte nennt, am rechten Orte und auf die rechte
Weiſe gebraucht, wirken koͤnnen; 2) indem das,
was wir bloß mit Woͤrtern und in einem abſtrak-
ten Satze gefaßt hatten, in einem einzelnen Falle
[295]uͤber das Intereſſirende.
auf einmal anſchauend gemacht wird; dieß iſt das
Intereſſe der poetiſchen Schilderung ſelbſt.
Erweitert werden unſre Begriffe, indem uns
entweder von den Dingen ſolche Theile und Ei-
genſchaften gezeigt werden, die wir ſelbſt gar nicht
bemerkt hatten, die wir aber, fogleich als ſie uns
bekannt werden, der Sache gemaͤß und mit allen
ihren uͤbrigen Theilen und Eigenſchaften uͤberein-
ſtimmend finden; oder indem uns die feinern
Zuͤge, die einfachern Elemente, die innern Kraͤfte
der Dinge, die in unſerm eignen Begriffe zwar la-
gen, aber von uns nicht unterſchieden, nicht aus
einander gebracht werden konnten, entdeckt und
kenntlich gemacht werden. Wenn wir uns unſre
Begriffe von den Dingen von der wirklichen Welt
abſtrahiren wollen, ſo muͤſſen wir ſehr aufmerkſam
ſeyn, um die Sache, die wir beobachten, nicht
unter der Menge der andern, die mit ihr zugleich
da ſind, zu verlieren; um uns nicht durch den
ſchnellen Fluß der aͤußern Veraͤnderungen und un-
ſrer eignen Begierden von ihr eher wegtreiben zu
laſſen, ehe wir noch ihre Geſtalt gefaßt haben.
T 4
[296]Einige Gedanken
Ueberdieß ſind es nur immer Stuͤcke von Begrif-
fen, die wir auf dieſe Weiſe jedesmal erhalten.
Die Augenblicke, wo wir aus den Geſpraͤchen oder
den Handlungen der Menſchen, mit welchen wir
umgehen, etwas Erhebliches von dem Menſchen
uͤberhaupt lernen koͤnnten, ſind ſelten. Wir muͤſ-
ſen unſer Bischen Weisheit daruͤber muͤhſam zu-
ſammenſparen, und bekommen doch oft nichts
Brauchbares, nichts recht Ganzes. — Vom Dich-
ter erwarten wir aber, daß er dieſe Beobachtun-
gen beſſer und vollſtaͤndiger zu machen Gelegenheit
gehabt habe; von ihm fodern wir, daß er ſie uns
auf einmal und in ganzen Haufen uͤberliefern ſoll:
nicht bloß, indem er ſeinen Perſonen die Reflexio-
nen ſelbſt in den Mund legt, die er bey dieſer, bey
jener Gelegenheit mag angeſtellt haben, und wor-
aus ſeine Kenntniß nach und nach erwachſen iſt;
ſondern vielmehr, indem er ſeine Perſonen ſo han-
deln, ſo reden laͤßt, daß es uns leicht wird, aus
ihnen ſelbſt dieſe Wahrheiten zu abſtrahiren. Er
haͤlt uns, ſo wie die Natur, nur den Stoff zu un-
ſern Kenntniſſen vor; aber die Natur einen rohen,
[297]uͤber das Intereſſirende.
er einen zugearbeiteten Stoff; bey ihm koͤmmt
das Individuelle ſchon dem Allgemeinen etwas
naͤher; der Verſtand findet nicht mehr ſo viel weg-
zulaſſen, ſo viel zuſammen zu ſuchen. Im Bild-
niſſe laſſen ſich die Umriſſe, die die Geſtalt beſtim-
men, leichter als in dem Geſichte der Perſon ſelbſt
unterſcheiden.
Was die Sentenzen betrift, ſo ſind dieſelben
in der neuern Kritik ausnehmend verſchrieen, und
man hat Recht gehabt ſie zu verſchreyen, wenn
man darunter entweder alltaͤgliche und ſo zu ſagen
ſchon in gewiſſe Formulare gebrachte Wahrheiten
verſteht; oder wenn uͤberhaupt da allgemeine ab-
ſtrakte Urtheile ſind, wo lauter partikulaͤre Ideen,
ſolche, die ſich bloß auf die Umſtaͤnde und das Ge-
ſchaͤffte des Redenden beziehen, erfodert wurden.
Aber, wie es in der Kritik und in der Moral oft
gegangen iſt, man hat dieſen Fehler eben mit deſto
mehr Hitze verfolgt, je laͤnger man ihn fuͤr ſchoͤn
gehalten hatte. Nichts iſt in der That unertraͤg-
licher, als wenn in einem Gedichte, beſonders in
einem dramatiſchen Gedichte, (denn aus dieſer
T 5
[298]Einige Gedanken
Gattung, als der intereſſanteſten unter allen, laſ-
ſen ſich die Regeln und Fehler in dieſer Art am
leichteſten abſtrahiren) der Dichter lehret, anſtatt
daß die Perſonen ſprechen ſollen. Nichts ſtoͤret
die Taͤuſchung mehr, als wenn wir anſtatt ſolcher
Gedanken, die bloß aus der Situation und dem
Charakter des Redenden erwachſen konnten, dieje-
nigen Betrachtungen hoͤren, die einem wohlbele-
ſenen Menſchen bey Gelegenheit dieſer Situation
und dieſes Charakters einfallen koͤnnen. — Aber
nichts iſt ergoͤtzender und anziehender, als einen
denkenden Mann in wichtigen Umſtaͤnden ſeines
Lebens ſeine Begriffe ſowohl als ſeine Empfindun-
gen entwickeln zu ſehen; nichts iſt intereſſanter,
als dieſen Streit der Vernunft mit den Leiden-
ſchaften zu ſehen, ich meyne zu ſehen, wie durch
die allgemeinen Begriffe, Grundſaͤtze, Maximen,
die eine Perſon in ihre gegenwaͤrtige Lage mit-
bringt, die beſondern Eindruͤcke, welche dieſelbe
von den Vorfaͤllen erhaͤlt, eingeſchraͤnkt werden,
und wie hinwiederum die neuen Erfahrungen, die
ſie jezt macht, auf dieſe alten Ideen zuruͤckwirken,
[299]uͤber das Intereſſirende.
ſie beſtaͤtigen, zweiſelhaft machen, oder abaͤndern;
nichts iſt lehrreicher, als mitten in dem Laufe der
Begebenheit und der Leidenſchaft, die ununterbro-
chen fortgeht, doch zugleich diejenige ſtille unmerk-
liche Arbeit des Verſtandes zu ſehen, durch welche
jeder etwas vollkommnere Menſch auch aus den
unruhigſten Scenen ſeines Lebens Nahrung von
Wahrheit und Kenntniß herauszieht.
Man ſieht wohl, daß, was man eigentlich
Sentenzen heißt, nur ein Theil der Sache iſt, wo-
von ich rede. Dieſe eigentliche Sentenzen muß-
ten freylich zu der Zeit ein groͤßer Intereſſe haben,
als die Zahl allgemein gedachter, allgemein aus-
gedruͤckter Wahrheiten noch geringer, als die
Sprache noch nicht an den Ausdruck ſolcher Wahr-
heiten gewoͤhnt, und das Gedaͤchtniß der Men-
ſchen weniger mit ſolchen Grundſaͤtzen und Maxi-
men angefuͤllt war. Man weiß, daß im Anfange
der Philoſophie einige ſolche Sentenzen dem Erfin-
der den Namen eines Weiſen erwerben konnten.
In den Trauerſpielen der Griechen, beſonders des
Euripides, finden wir ſie haͤufiger, als wir ſie in
[300]Einige Gedanken
unſern neuern Stuͤcken wuͤrden vertragen koͤnnen.
An ihre Stelle iſt eine gewiſſe Metaphyſik, eine
Zergliederung der Empfindungen und Leidenſchaf-
ten getreten. Unſre Dichter laſſen ihre Perſonen
uͤber ihr eigen Gefuͤhl weit mehr raͤſonniren, als
die Alten gethan haben. — Unſtreitig iſt es fuͤr
unſre Wißbegierde eines der empfindlichſten Ver-
gnuͤgen, wenn man uns unſre Erfahrungen gene-
raliſiren lehrt, wenn man unſerm Gefuͤhle Worte
verſchafft, und der Idee ſo zu ſagen aus ihrer
Huͤlſe heraushilft. Es wird alſo faſt niemals
fehlen, daß bey Leuten, deren Kopf nicht ſchon
ſehr bereichert und deren Geſchmack nicht ſehr fein
iſt, eine jede Sentenz, wenn ſie auch noch ſo ſehr
am unrechten Orte ſteht, nicht eine Art von Be-
wunderung erregen ſollte. Ein Stuͤck, das wohl
verſificirt und mit ſolchen Sentenzen angefuͤllt iſt,
wird, bey aller kunſtrichterlichen Einſicht des fran-
zoͤſiſchen Parterre, doch gemeiniglich bey der erſten
Auffuͤhrung von ihm beklatſcht. Nur den Mann
wird ein ſolches Stuͤck beleidigen, bey dem auf der
einen Seite das Vergnuͤgen neuerworbener Kennt-
[301]uͤber das Intereſſirende.
niſſe wegfaͤllt, weil ihm die meiſten ſolcher Wahr-
heiten ſchon etwas Bekanntes und Gelaͤufiges ſind,
und der auf der andern das Mißvergnuͤgen geſtoͤr-
ter Empfindungen fuͤhlet, weil er die Unſchicklich-
keit dieſer Lehrſpruͤche, bey den Umſtaͤnden deſſen,
der ſie ſagt, bemerkt.
Wenn alſo der Dichter dieſes Intereſſe mit
dem weſentlichern richtig geſchilderter Charaktere
und Handlungen vereinigen will: ſo muß er ſol-
che Charaktere, ſolche Situationen ſuchen, deren
Entwickelung es mit ſich bringt, daß die Perſonen
mehr als andre uͤber ihre Begebenheiten denken,
und dieſe Gedanken freyer als andre ausdruͤcken.
Dieß iſt eben der Vortheil der wahren launichten
Charaktere.
Das Wort Laune ſoll theils diejenige Anlage
des Kopfs anzeigen, durch die ein Menſch alle
Sachen von einer etwas ſonderbaren Seite an-
ſieht, von allen auf eine etwas ungewoͤhnliche
Art geruͤhrt wird; theils diejenige Gemuͤthsart,
in der er das, was er denkt, oder wozu er Luſt
[...] was andre weder ſagen noch thun wuͤr-
[302]Einige Gedanken
den, weil ſie ſich von der Meynung der uͤbrigen
oder von der Gewohnheit einſchraͤnken laſſen, ohne
Zuruͤckhaltung ſagt und thut. — Andre Charak-
tere verſchließen ihre Betrachtungen in ſich, oder
richten ſie bloß nach den Abſichten ein, die ſie bey
ihrer Rede haben, oder nach den Geſinnungen der
Perſonen, mit denen ſie reden. Der launichte
Charakter oͤfnet ſo zu ſagen die Seele; er treibt
jeden Keim von Gedanken gleich ſo weit heraus,
daß er geſagt werden muß; und laͤßt uns alſo
mehr von der geheimen Philoſophie des Menſchen
erfahren, als irgend ein andrer. Wenn dieſe
Laune bey Leuten von gemeiner Seele vorkoͤmmt,
die eben nichts als etwas Alltaͤgliches, Niedriges,
Abgeſchmacktes bey den Sachen denken, ſo iſt ſie
unertraͤglich. Fuͤr ſolche Menſchen iſt die Poli-
teſſe und der Zwang der Gewohnheit ganz durch-
aus nothwendig, wenn wir ſie nicht verachten
oder haſſen ſollen, ſo wie haͤßliche Koͤrper noth-
wendig bekleidet ſeyn muͤſſen. — Aber iſt es ein
faͤhiger Kopf und ein edles empfindendes Herz,
das ſich ſo ganz ſeinen eignen Eingebungen uͤber-
[303]uͤber das Intereſſirende.
laͤßt: ſo iſt uns in der That ſein Umgang lehrrei-
cher und intereſſanter, als wenn ein eben ſolcher
Kopf und ein ſolches Herz die Maske des gemeinen
Wohlſtandes traͤgt, und, um andern Menſchen
aͤhnlicher zu ſcheinen, den freyen Ausbruch ſeiner
Gedanken und Geſinnungen hindert.
Von derjenigen Aufklaͤrung, welche geſchieht,
wenn allgemeine Begriffe anſchauend gemacht wer-
den, duͤrfen wir nichts mehr hinzuſetzen, da dieß
eigentlich das Hauptgeſchaͤfte des Dichters iſt. —
Das Individuelle, das Beſondre, iſt an und fuͤr
ſich, wenn das Uebrige gleich iſt, allemal intereſ-
ſanter als das Allgemeine. Denn eben weil je-
nes durch die Sinne und die Einbildungskraft,
bey denen wir uns leidend verhalten, dieſes durch
den Verſtand erkannt wird, bey welchem wir ſelbſt
thaͤtig ſeyn muͤſſen: ſo iſt die Aufmerkſamkeit bey
jenem immer weniger vorſezlich und weniger muͤh-
ſam als bey dieſem, und dieß war eben das Kenn-
zeichen des Intereſſirenden.
Man weiß, was wohlgewaͤhlte Beyſpiele auch
tiefſinnigen Unterſuchungen fuͤr ein Intereſſe ge-
[304]Einige Gedanken
ben koͤnnen: weil ſie ſo zu ſagen alle die von ein-
ander gerißnen Theile der Sache, die uns das
Raͤſonnement einzeln und nach und nach gewieſen
hatte, wieder zuſammenſetzen, und uns den gan-
zen Koͤrper auf einmal uͤberſehen laſſen. Solche
Beyſpiele nun, fuͤr die meiſten, fuͤr die brauchbar-
ſten unſrer allgemeinen Begriffe, ſoll uns der Dich-
ter durch ſeine Nachahmungen geben; und eben
dadurch werden dieſelben einer moraliſchen Abſicht
faͤhig, weil ſie alle die Grundſaͤtze der Tugend und
alle die Regeln der Klugheit, die in unſerm Ge-
daͤchtniſſe todt liegen, gerade auf diejenige Art uns
eingedenk machen koͤnnen, auf welche allein ſie ei-
nen Einfluß auf unſer Verhalten haben. Eine
Poeſie, die dieſen Endzweck nicht hat, die keiner
wichtigen Lehre, keinem nuͤzlichen Begriffe Leben
und anſchauende Klarheit verſchafft, iſt nicht nur
ein bloßes Spiel, und ein ſehr koſtbares zeitver-
derbendes Spiel, ſondern es iſt auch groͤßtentheils
ein mattes langweiliges Vergnuͤgen.
Nur davon muͤſſen wir noch einige Worte ſa-
gen, daß die Schilderungen des Dichters unſere
[305]uͤber das Intereſſirende.
Begriffe von den Dingen auch erweitern muͤſſen,
wenn ſie intereſſiren ſollen. Nicht was jeder,
auch bey einem fluͤchtigen zerſtreuten Anſchauen
der Sache, an ihr findet, ſondern was nur der
tiefſehende Beobachter bey einer langen aufmerk-
ſamen Betrachtung derſelben entdecken konnte, das
wollen wir in dem Gemaͤlde des Dichters finden.
Jeder Charakter hat gewiſſe Zuͤge, die ſo auf der
Oberflaͤche liegen, daß ſie jedermann und beym er-
ſten Anblicke in die Augen fallen. Dem erſten
Dichter konnten dieſe Zuͤge genug ſeyn; und er
hatte immer Ruhm davon, nicht eben daß er ſie
entdeckte, aber daß er ſie auszudruͤcken wußte.
Aber nun, nachdem der Geizige, der Eiferſuͤchtige,
der Verliebte, von Dichtern und Rednern vielleicht
einige hundertmal ſind geſchildert, und jene Zuͤge
von den meiſten mit den dazu einmal gewidmeten
Ausdruͤcken wiederholt worden; nachdem faſt je-
dem nicht ganz unwiſſenden Menſchen eine Menge
ſolcher Zuͤge aus ſeiner Lektuͤre von Romanen und
Komoͤdien in Gedanken ſchwebt: ſo kann es wohl
kein großes Verdienſt mehr fuͤr den Dichter, kein
U
[306]Einige Gedanken
großes Vergnuͤgen fuͤr den Leſer ſeyn, wenn nur
dieſe alten Bilder und Redensarten auf eine neue
Art wieder zuſammengeſezt werden. Und doch iſt
in der That manches unſrer neuen Gedichte von
dieſer Art. Wir wollen freylich die Dinge, die
Menſchen ſehen, die wir ſehen koͤnnen, aber wir
wollen nicht das Gemeine, das Alltaͤgliche an ih-
nen ſehen.
Dieſes Gemeine in den Charaktern und Lei-
denſchaften zu vermeiden, hat man zween Wege:
entweder ſie ſtark, oder ſie fein zu ſchildern. Ent-
weder den hoͤchſten Grad der Leidenſchaft, die ge-
waltſamſten Ausbruͤche eines Charakters, die hef-
tigſten Wirkungen einer Situation zu zeigen, und
zwar die bekannten gewoͤhnlichen Zuͤge der Sache,
aber in einem ungewoͤhnlichen Grade vorzuſtellen;
dieß iſt am meiſten das Werk des Trauerſpiels,
beſonders des Trauerſpiels in Verſen bisher ge-
weſen: oder die Sache durch gemaͤßigte, aber un-
bemerktere geheimere Zuͤge zu ſchildern; die un-
merklichern Spiele und Uebergaͤnge der Leiden-
ſchaft aus dem Grunde der Seele hervorzuheben:
[307]uͤber das Intereſſirende.
die feinern Miſchungen zu zeigen, durch welche
derſelbe Hauptcharakter in verſchiedenen Menſchen
mannichfaltig abwechſeln kann; die Situation
nach ihren kleinſten Wirkungen auf die Perſon, die
ſich darinnen befindet, vorzuſtellen; dieß ſollte
das Werk des buͤrgerlichen Trauerſpiels, der ho-
hen Komoͤdie und aller der dramatiſchen Stuͤcke
ſeyn, wo die Proſe dem Dichter mehr Freyheit und
eine genauere Aehnlichkeit mit dem natuͤrlichen
Ausdrucke erlaubt. — Obgleich beide Arten, die
dichteriſche Vorſtellung der Sache uͤber die gemei-
nen Vorſtellungen zu erheben, ihren Werth ha-
ben; obgleich zu jeder vorzuͤgliche Faͤhigkeiten des
Geiſtes noͤthig ſind: ſo geſtehen wir doch, daß wir
die leztere Art fuͤr die ſchwerere und fuͤr die inte-
reſſantere halten; daß es nach unſerer Meynung
mehr Kunſt koſtet, alle Schattirungen einer ruhi-
gen Zuneigung, als einige wenige ſtarke Farben
einer raſenden Liebe zu treffen; daß es mehr Ver-
gnuͤgen macht, den ganzen Zuſtand der Seele bey
einem Hausvater zu ſehen, der von einer uͤber-
eilten Liebe ſeines Sohns, der Herrſchſucht ſeines
U 2
[308]Einige Gedanken
Bruders und der Zuruͤckhaltung ſeiner Tochter
beunruhigt wird, als die etlichen gewaltſamen
Erſchuͤtterungen in der Seele eines Koͤnigs, der
ſeinen Vater ermordet und ſeine Mutter geheura-
thet hat.
Durch die bloßen Ideen, haben wir geſagt,
kann uns ein Werk intereſſiren, entweder inſofern
es unſere Wißbegierde befriedigt; und zu dem
Ende wird es uns begreifliche, fuͤr uns wichtige,
von uns ſchon gewuͤnſchte Kenntniſſe verſchaffen
muͤſſen; davon haben wir bisher geredet: oder
inſofern es unſere denkende Kraft in Thaͤtigkeit
ſezt; und zu dem Ende wird es eine Reihe ſchnell
fortgehender, richtig zuſammenhaͤngender, hell
und kraͤftig ausgedruͤckter Ideen enthalten muͤſ-
ſen.
Auch ein Geſpraͤch von ganz unerheblichem
Inhalte, aber ein feuriges muntres Geſpraͤch, wo
das an Lebhaftigkeit erſezt wird, was am innern
Werthe des Geſagten abgeht, kann doch immer
noch ſehr unterhaltend fuͤr die ſeyn, welche es fuͤh-
ren, und ſogar angenehm fuͤr die, welche es an-
[309]uͤber das Intereſſirende.
hoͤren. Um deswillen macht das Streiten alle-
mal das Geſpraͤch intereſſanter; und durch Zaͤn-
kereyen iſt man immer ſicher, die Aufmerkſamkeit
der Umſtehenden zu erregen. Bey jedem Streite
entwickeln ſich, durch Huͤlfe der Leidenſchaft, wel-
che ſich darein miſcht, die Begriffe ſchneller, die
Worte rollen leichter fort, Gedanken und Aus-
druͤcke ſind ungeſuchter und kraͤftiger. Ueberdieß
wird der Zuhoͤrer durch den ſchnellen und wieder-
holten Uebergang von der einen Partey zur entge-
gengeſezten, durch den Kontraſt der beiderſeitigen
Meynungen und Geſinnungen, durch die immer
vom neuen erregte und immer befriedigte Erwar-
tung der Antworten und Gegenantworten, noch
mehr beſchaͤftigt.
Dieſe Gattung des Intereſſe iſt in vielen Ar-
ten der kleinern Gedichte die einzige, deren ſie faͤ-
hig ſind, und ſie iſt allen Arten nothwendig. —
Der Lehrdichter mag noch ſo große und noch ſo
neue Wahrheiten, der dramatiſche Schriftſteller
mag noch ſo ruͤhrende Situationen und noch ſo
einnehmende Charaktere gefunden haben; wenn
U 3
[310]Einige Gedanken
nicht beide das, was ſie uns zu ſagen haben, mit
einer gewiſſen Geſchwindigkeit und in einer unun-
terbrochenen Reihe in unſre Seele bringen, wenn
ſie nicht Stoß auf Stoß folgen laſſen, und die
meiſten Ideen in der kuͤrzeſten Zeit erwecken koͤnnen,
ſo werden ſie uns doch nicht intereſſiren.
Man ſieht, daß es hierbey vornehmlich auf
den Styl ankoͤmmt, obgleich Gedanke und Aus-
druck mit einander ſo zuſammenhaͤngen, daß es
unmoͤglich iſt, anders ſich koͤrnicht, mit Waͤrme
oder Genauigkeit auszudruͤcken, als wenn man
auch eben ſo denkt. Aber ſo viel iſt doch gewiß,
daß diejenige Ausbildung der Ideen, durch welche
ſie zuſammengedraͤngt, vollkommen gemacht, und
zu einem geſchwinden und doch immer richtigen
Fortgange geſchickt gemacht werden, mit der Ar-
beit ſie gut auszudruͤcken einerley, oder doch fuͤr
uns nicht zu unterſcheiden ſey. Die Erfahrung
lehret, wie ſehr unaͤhnlich die Urtheile der Natio-
nalen und der Auslaͤnder uͤber ein Werk, das jene
im Original und dieſe in der Ueberſetzung kennen,
ausfallen; daß Schoͤnaich dem Englaͤnder ganz
[311]uͤber das Intereſſirende.
ertraͤglich, und Geßner ihm ſtuff ſcheinen koͤnne.
So ſehr haͤngt der Eindruck der Sachen von dem
Eindrucke der Schreibart ab, in der ſie geſagt
werden. In ihr liegen die Fehler, die uns am
erſten und am meiſten beleidigen, und von ihr
kommen die Schoͤnheiten, die uns allenthalben
durchs ganze Werk reizen. Ein vernachlaͤßigter
Ausdruck zieht uͤber das beſte Werk einen Flor, der
die Schoͤnheiten deſſelben einem gemeinen Auge
ganz unſichtbar, und auch einem ſcharfen und ge-
uͤbten unkenntlich macht. Duͤrfen wir uns nun
wohl noch wundern, warum der große Haufe un-
ſrer Nation ſich ſo wenig fuͤr unſre guten Koͤpfe
und Schriften intereſſirt, da unter dieſen guten
Koͤpfen ſo viele ſind, die ihre Gedanken nur halb
auszudruͤcken wiſſen; da die Kunſt zu ſchreiben,
die bey den Franzoſen und Englaͤndern auch man-
cher mittelmaͤßiger und ſchlechter Schriftſteller be-
ſizt, bey uns nicht einmal allen unſern guten
Schriftſtellern eigen iſt; da die meiſten unſrer
Leute von Genie entweder dieſſeits der Vollkom-
menheit in Abſicht der Schreibart ſtehen bleiben,
U 4
[312]Einige Gedanken uͤber ꝛc.
oder ſchon uͤber dieſelbe hinaus ſind, entweder die
in unſrer Sprache liegende Schoͤnheit und Kraft
des Ausdrucks vernachlaͤßigen, oder in dieſelbe
fremde Schoͤnheiten und eine ihr unnatuͤrliche
Staͤrke bringen wollen?
So viel von dem Intereſſe, das aus Vorſtel-
lungen entſpringt: in dem folgenden Theile wer-
den wir von dem Intereſſe reden, das aus Em-
pfindung und Leidenſchaft entſteht.
[313]
Einige Gedanken
uͤber
das Intereſſirende.
Zweyter Theil.
- Aus dem zwoͤlften Bande der Neuen Bibliothek der
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
Ohnerachtet das Intereſſe, welches aus Lei-
denſchaften entſteht, (der Gegenſtand un-
ſrer noch uͤbrigen Arbeit) von dem Intereſſe,
welches aus Vorſtellungen entſpringt, nicht voll-
kommen getrennt werden kann, weil dieſe leztern
nur inſofern wichtig und reizend fuͤr die Aufmerk-
ſamkeit werden, als ſie etwas in ſich enthalten,
was die Leidenſchaften aufbringt, oder ihnen
ſchmeichelt: ſo ſcheint doch dieſe Abtheilung, wel-
che wir zum Grunde uuſers Plans gelegt haben,
U 5
[314]Einige Gedanken
ſo richtig zu ſeyn, als irgend eine Theilung zwi-
ſchen den Veraͤnderungen der menſchlichen Seele
ſeyn kann. Denn wenn es erlaubt iſt, uͤberhaupt
Verſtand und Herz von einander zu unterſcheiden,
obgleich weder Vernunft noch Einbildungskraft
lange geſchaͤftig ſeyn kann, ohne das Herz daran
Theil nehmen zu laſſen, ſo iſt es auch erlaubt,
den Antheil, den wir an den Aeußerungen des
Verſtandes eines andern, von dem, den wir an
den Ausbruͤchen ſeines Herzens nehmen, abzu-
ſondern; oder mit andern Worten, das Intereſſe,
welches Raͤſonnements oder Schilderungen, und
das, welches Gemuͤthsbewegungen oder Schick-
ſale erregen, zu unterſcheiden.
Vielleicht wuͤrden wir die Wahrheit, die wir
bey unſrer Eintheilung im Sinne hatten, noch
beſſer ausgedruͤckt haben, wenn wir ſo geſagt
haͤtten: Der Zuſtand eines Menſchen, der von
etwas intereſſirt wird, iſt ein vollkommneres Wa-
chen, ein hoͤherer Grad von Leben. Er wird alſo
darinnen beſtehen, daß wir uns ſelbſt lebhafter
empfinden, daß wir mehr Begierden und Erwar-
[315]uͤber das Intereſſirende.
tungen haben, als gewoͤhnlich. Aber was fuͤr
Begierden; und wornach? Entweder nach ge-
wiſſen Veraͤnderungen der Umſtaͤnde, die uns in
der Wirklichkeit oder in der Vorſtellung gegen-
waͤrtig ſind; oder nach gewiſſen Veraͤnderungen
unſrer Gedanken ſelbſt. Eine Sache intereſſirt
uns, entweder weil ſie zu unſrer eignen Vollkom-
menheit etwas beytraͤgt; dieß war das Intereſſe,
welches die Deutlichkeit, die Menge der Vor-
ſtellungen hervorbringt; oder weil ſie etwas in
unſern Umſtaͤnden verbeſſert. Von dieſer leztern
Art des Intereſſe wollen wir jezt reden.
Zuerſt bemerken wir, daß das Intereſſirende
in den Begebenheiten immer etwas kuͤnftiges iſt:
eine Gefahr, die uns nahe koͤmmt, eine Freude,
die wir erwarten. Wenn der Vater, der ſeinen
Sohn an einem fremden Orte aufzuſuchen gereiſt
war, ihn todt findet, ſo iſt er aufs lebhafte ge-
ruͤhrt; er iſt inſofern beſchaͤftigt, aber er iſt nicht
intereſſirt. Wenn eben dieſer Vater, bey der An-
kunft in die fremde Stadt, von einem Juͤnglinge,
der ſeinem Sohn aͤhnlich iſt, und der eben begra-
[316]Einige Gedanken
ben werden ſoll, reden hoͤrt: dann wird er im
hoͤchſten Grade intereſſirt.
Zweytens in dieſer Zukunft muß noch einige
Dunkelheit ſeyn. Es iſt eine ungewiſſe Erwar-
tung, mit Begierde oder Abſcheu verbunden. So-
bald ein guter oder ſchlimmer Ausgang gewiß iſt,
ſobald iſt die Beſchaͤftigung der Seele, die Un-
ruhe nicht mehr ſo groß. Man ſage dem Spieler
voraus, daß er gewinnen wird, ſo mag er ſich
mehr freuen, aber ſeine Seele wird weniger thaͤ-
tig ſeyn. Und warum dies? Die Thaͤtigkeit der
Seele beſteht in der Begierde, und die Begierde
hoͤrt auf, wenn die Sache erreicht iſt. Er-
reicht iſt aber auch die Zukunft, ſobald ſie gewiß
wird.
Drittens: So viel es alſo in unſern Umſtaͤn-
den Veraͤnderungen zum Beſſern oder zum
Schlechtern geben kann, große oder kleine: auf
ſo vielfache Weiſe koͤnnen wir intereſſirt werden.
In dem Laufe jedes Tages kommen auch dem ein-
gezogenſten, ruhigſten Menſchen tauſend kleine
angenehme Vorfaͤlle vor, deren Erwartung zu ge-
[317]uͤber das Intereſſirende.
wiſſen Stunden und Augenblicken ihm mehr Leb-
haftigkeit giebt. Bey jedem Menſchen giebt es
ſolche kleine Dunkelheiten der naͤchſten Zukunft,
durch welche er in einige Unruhe und in eine ſtaͤr-
kere Bewegung geſezt wird.
Auf dieſe Weiſe alſo intereſſirt uns nun unſer
eigen Leben. Aber wie kann dieſe Hofnung und
Furcht entſtehen, ohne daß in unſern Umſtaͤnden
ſich etwas aͤndert?
Uns duͤnkt, es giebt eine dreyfache Art, die
Leidenſchaften hervorzubringen, ohne die Umſtaͤnde
des Menſchen zu aͤndern: die eine wuͤrde ich gern
die muſikaliſche, die andere die maleriſche, die
dritte die dichteriſche Art heißen, nicht, als wenn
nicht eine jede Kunſt mehr als ein Mittel haͤtte zu
ruͤhren, ſondern weil ſich bey jeder Eine Art be-
ſonders merklich zeigt.
Entweder wird die Leidenſchaft in der Seele
hervorgebracht, indem der Koͤrper auf den Ton
dieſer Leidenſchaft geſtimmt wird. Das geſchieht
durch die Muſik. Wenn man ſagt, ſie ahmt die
Leidenſchaften nach, ſo will man oft weiter nichts
[318]Einige Gedanken
als ſo viel ſagen: von einer gewiſſen Spannung
der Nerven wird jede Leidenſchaft begleitet; iſt
dieſe Spannung da, ſo entſteht dieſe Leidenſchaft,
oder die Seele braucht nur noch eine kleine Ver-
anlaſſung dazu. Toͤne, die eigentlich nur eine
Erſchuͤtterung des Gehoͤrnervens wirken, haben
doch einen unſtreitigen Einfluß auf den ganzen
Koͤrper. Die Erfahrung hat uns gelehrt, welche
Toͤne die Nerven ſchlaff und dadurch die Seele
ſchwermuͤthig machen, oder welche ſie anſpannen
und dadurch die Seele erheben. Der Komponiſt
ſezt dieſe Toͤne zuſammen, und erweckt dieſe Lei-
denſchaften. So viel iſt wenigſtens ausge-
macht, daß die meiſte Inſtrumentalmuſik, außer
dem Vergnuͤgen an Wohlklang und Rhythmus,
weiter keine Wirkung auf die Seele thut, als
durch die Verfaſſung, in die ſie den Koͤrper
ſezt.
Oder die Leidenſchaft wird erregt durch das
Anſchauen einer Begebenheit, die einen andern
in Leidenſchaft ſezt, und an der wir durch Sym-
pathie Theil nehmen. Dieſe Art, Leidenſchaf-
[319]uͤber das Intereſſirende.
ten zu erwecken, hat die Malerey mit der Poe-
ſie gemein, aber die Malerey hat gar keine an-
dere.
Die Poeſie hat noch eine zweyte. Naͤmlich,
es entſtehen Leidenſchaften, wenn uns die Empfin-
dungen oder die Ideen eines andern lebhafter an
unſre Umſtaͤnde und Empfindungen aͤhnlicher Art
erinnern, und alſo, ſo zu ſagen, ein vergangnes
Intereſſe wieder aufwecken.
Wir werden uns bloß auf die beiden leztern
Arten, die Leidenſchaften zu erregen, einſchraͤnken.
Fuͤr die Dichter und die Schriftſteller uͤberhaupt
iſt dieſe Unterſuchung beſtimmt. Gemaͤlde und
Muſik koͤnnen uns ergoͤtzen, koͤnnen uns ruͤhren;
aber im eigentlichen Verſtande intereſſiren koͤnnen
uns nur die redenden Kuͤnſte.
Noch einmal alſo, dieſe Kuͤnſte erwecken Lei-
denſchaften, 1) indem ſie Begebenheiten uns dar-
ſtellen, an denen wir Antheil nehmen, 2) indem
ſie Empfindungen uns vorlegen, die uns unſrer
eigenen eingedenk machen. Man ſieht leicht, daß
das Drama, die Epopee, alle die Theile der Dicht-
[320]Einige Gedanken
kunſt, welche Begebenheiten erzaͤhlen oder nachah-
men, Leidenſchaften auf die erſte Art erwecken; die
Ode, die Elegie hingegen, alle die Gattungen,
welche bloß den Gemuͤthszuſtand des Dichters
ſchildern, auf die zweyte.
Dieſe Materie iſt von unendlichem Umfange;
wir muͤſſen ſie in engere Graͤnzen einſchließen,
wenn wir ihrer maͤchtig werden wollen.
An welchen Leidenſchaften nehmen wir vor-
nehmlich Theil? Auf welche Weiſe muͤſſen ſie ge-
ſchildert werden, damit dieſe Theilnehmung be-
foͤrdert werde? und welches iſt die nuͤzlichſte Art
der Leidenſchaften, die der Dichter erwecken
kann?
Um zu wiſſen, welche Leidenſchaften und Em-
pfindungen am meiſten intereſſiren, haben wir
zween Wege; entweder die menſchliche Natur zu
fragen, oder die Praxin der Dichter.
Die Natur ſagt uns- Wir nehmen an den
Leidenſchaften, von welchen wir andre bewegt ſe-
hen, Theil, entweder wenn wir uns genau in
ihre Umſtaͤnde zu verſetzen, und die Wirkung der-
[321]uͤber das Intereſſirende.
ſelben auf die Seele uns vorzuſtellen wiſſen; oder
wenn wir zwiſchen dieſen Umſtaͤnden und unſern
eignen eine gewiſſe Verbindung fehen.
Wir glauben, es giebt eine dreyfache Sym-
pathie. Eine, die bloß im Koͤrper ihren Grund
hat; unſre Werkzeuge gerathen bey gewaltſamen
Bewegungen aͤhnlicher Werkzeuge in eine aͤhnliche
Bewegung; ſo fuͤhlen wir das Geſchrey eines
Menſchen, der auf der Tortur liegt. Eine
zwote, die in den Vorſtellungen der Seele ihren
Grund hat; unſre Einbildungskraft giebt uns
die Rolle der leidenden Perſon, und wir bilden
alſo auch alle ihre Empfindungen nach. Eine
dritte, die in den moraliſchen Empfindungen ih-
ren Grund hat; wir erzuͤrnen uns uͤber ein au-
genſcheinliches Unrecht, das Jemanden geſchieht,
mehr, als wir mit dem ihm zugefuͤgten Uebel Mit-
leiden haben wuͤrden, wenn es ein bloßer Zufall
waͤre.
Die erſte Art der Sympathie findet nur bey
dem Schmerze, nicht bey dem Vergnuͤgen ſtatt.
Denn die Erſchuͤtterungen muͤſſen gewaltſam ſeyn,
X
[322]Einige Gedanken
die eine harmoniſche Erſchuͤtterung unſrer Nerven
hervorbringen ſollen; und die Erſchuͤtterungen
des Vergnuͤgens ſind ſanft. Um deswillen alſo
iſt koͤrperlicher Schmerz kein ſchicklicher Stoff fuͤr
den Dichter. Um deswillen ſoll Medea ihre Kin-
der nicht auf dem Theater umbringen, und
Atreus nicht ſeines Bruders Kinder vor den Au-
gen der Zuſchauer auftragen. Die Leidenſchaf-
ten, die uns von andern durch unſern Koͤrper
mitgetheilt werden; auch die, wo ſich nur unſe-
re koͤrperliche Sympathie ſehr mit hineinmiſcht,
ſind immer unangenehme verdruͤßliche Leiden-
ſchaften; ſie erlauben ſelten eine Miſchung von
Vergnuͤgen, und ſie erregen keinen Wohlgefallen
uͤber uns ſelbſt und unſre Empfindlichkeit.
Die zwote Art der Sympathie, die, welche
aus der Einbildungskraft und dem Verſetzen in
des andern Umſtaͤnde entſpringt, muß ebenfalls
bey dem Leiden merklicher, als bey jeder andern
Art der Empfindungen ſeyn. Denn, warum
haͤtte man faſt in allen Sprachen alle an-
dre Arten von Sympathie unbenannt gelaſſen,
[323]uͤber das Intereſſirende.
und dem Mitleiden allein einen Namen gege-
ben?
Wir ſehen demunerachtet augenſcheinlich,
daß wir an der Froͤhlichkeit eben ſowohl Theil
nehmen koͤnnen, als an der Betruͤbniß.
Alle Leidenſchaften laſſen ſich in ſolche theilen,
die aus dem Widerſtande gegen das Uebel und
den Schmerz, und in ſolche, die aus der Nei-
gug gegen das Gute und das Vergnuͤgen entſte-
hen. Jede Gattung theilt ſich wieder, nach
dem die Leidenſchaft die Seele erhebt oder nieder-
ſchlaͤgt. Es giebt einen Widerwillen gegen das
Uebel, der zum Widerſtande fuͤhrt, der mit einer
Art von Aufwallung der Lebensgeiſter verbunden
iſt, der muthig und beynahe verwegen macht,
das iſt die zornartige Unluſt. Es giebt einen
andern, der zur Muthloſigkeit fuͤhrt, der mit ei-
ner Unterdruͤckung der Lebensgeiſter verbunden
iſt, der ſchwermuͤthig und verzweifelnd macht,
das iſt die Betruͤbniß. Eben ſo giebt es eine
Freude, die ſtolz macht, die Zuverſicht und weit
ausſehende Entwuͤrfe einfloͤßt; und eine andre,
X 2
[324]Einige Gedanken
die weichlich macht, die in dem Schatten der Ru-
he und bey dem Genuſſe einſchlaͤfert.
Noch iſt der Charakter der Leidenſchaften an-
ders, wenn bloß das Gute oder Boͤſe erwartet
wird, und anders wenn es nun koͤmmt.
Allgemeine Regeln zu geben, welche Leiden-
ſchaften ſich am leichteſten mittheilen laſſen, mag
vielleicht ſehr mißlich ſeyn; aber jeder darf ſeine
Erfahrungen anfuͤhren, und der Leſer hat immer
Vortheil, wenn er ſie mit ſeinen eignen vergleicht.
Uns alſo ſcheint es 1) daß, inſofern die
Sympathie von den Vorſtellungen der Seele her-
koͤmmt, koͤrperlicher Schmerz und Luſt am wenig-
ſten Theilnehmung veranlaſſen. Vorſtellen koͤn-
nen wir ſie uns wenig, wenn nicht der Koͤrper
hilft. Daher diejenigen, die von einem ſo feſten
Baue des Koͤrper und ſo abgehaͤrteten Fibern
ſind, daß von hieraus der Zugang zur Seele
verſchloſſen iſt, geſezt auch, daß ſie das fuͤhlbar-
ſte Herz haben, doch bey den koͤrperlichen Leiden
andrer, wenn nicht moraliſche dazu kommen,
wenig empfinden. Das Ungluͤck, woran wir
[325]uͤber das Intereſſirende.
durch die Imagination Theil nehmen ſollen, muß
auch von der Imagination herkommen; die Vor-
ſtellungen, welche ſich der Leidende von den Din-
gen macht, nicht die Bewegungen des Koͤrpers,
welche er fuͤhlt, muͤſſen die Quelle ſeines Un-
gluͤcks ſeyn.
2) Am Leiden koͤnnen wir uͤberhaupt mehr
Theil nehmen, als am Vergnuͤgen; es ſey nun,
weil der Schmerz immer die heftigſte Empfindung
iſt, und alſo auch mit mehr Gewalt auf den Zu-
ſchauer wirkt, oder weil wir dem Froͤhlichen und
Gluͤcklichen nichts helfen koͤnnen, da hingegen
die Noth andrer unſern Beyſtand und alſo
unſre Thaͤtigkeit auffordert. Daher koͤmmt es
alſo auch, daß nur das Trauerſpiel eigentliche
Leidenſchaft erregt, die Komoͤdie aber mehr bloß
durch die Vorſtellungen intereßirt.
3) An dem weichlichen Vergnuͤgen, das in
dem bloßen Genuſſe beſteht, bey dem die Kraͤfte
des Geiſtes mehr hinſinken, als empor ſtreben,
koͤnnen wir am wenigſten Theil nehmen, wenn
wir nicht ſelbſt in einem aͤhnlichen Zuſtande ſind,
X 3
[326]Einige Gedanken
oder uns deſſelben erinnern. Aber davon iſt
jezt die Rede nicht. Dieſe Maler der Wolluſt
alſo, auch der feinern geſitteten Wolluſt, errei-
chen doch ihren Zweck, geſezt er waͤre auch der
edelſte, am wenigſten. Es iſt umſonſt, ſeine
Seele in einen Zuſtand, der ganz leidend iſt,
worinn ſie nichts wirkt, ſondern bloß Eindruͤcke
andrer Dinge empfaͤngt, freywillig zu verſetzen.
Nur die Freude, die geſchaͤftig, behende, mit
Unternehmungen ſchwanger, voll großer Hof-
nungen iſt; dieſe nur koͤnnen wir bey uns ſelbſt,
ohne ſie zu fuͤhlen, nachmachen: denn unſre
Kraͤfte zu Handlungen zu erwecken, haben wir
die Gewalt; aber Eindruͤcke hervorzubringen,
wenn die Gegenſtaͤnde nicht da ſind, haben wir
keine. Was die verſchiedene Arten der Unluſt
anbetrifft, ſo koͤmmt viel auf den Charakter des
Zuſchauers an. Ein maͤnnlicher Geiſt wird
mehr Antheil an dem Zorne, und ein weiblicher
mehr Antheil an der Betruͤbniß nehmen. Jenes
ſcheint der Fall bey den Alten geweſen zu ſeyn:
deswegen konnten ſie auch ſo ſchreckliche Ge-
[327]uͤber das Intereſſirende.
ſchichte, ſo graͤßliche Ausbruͤche der Wuth ver-
tragen, ſie ſahen lieber eine Medea, die, wenn
gleich durch Grauſamkeiten, ſich uͤber ihr Un-
gluͤck erhebt, als eine Niobe, die weinend unter
demſelben zu Boden ſinkt. Dieſes ſcheint der
Fall bey uns zu ſeyn; wir wollen mehr wehmuͤ-
thige als ſtarke Empfindungen ſehen; ein Fei-
ger, der aber ſonſt ein guter Mann und un-
gluͤcklich iſt, findet mehr Mitleiden, als ein
Tapferer, der durch das Ungluͤck wild und un-
baͤndig worden. Dieß koͤmmt alſo daher, weil
der maͤnnliche Geiſt die muthige Widerſetzung
des Zornigen billiget, und die Ohnmacht des
Niedergeſchlagenen verachtet; der weibliche Cha-
rakter hingegen den Ungeſtuͤm des Zorns ſcheuet,
und hingegen das Sanfte der Betruͤbniß gut
heißt. Dieß haͤngt alſo mit der Sympathie der
moraliſchen Empfindungen zuſammen, und da-
von werden wir gleich reden.
4) An allen gluͤcklichen und ungluͤcklichen
Vorfaͤllen andrer Menſchen koͤnnen wir mehr An-
theil nehmen, wann ſie erwartet werden, als
X 4
[328]Einige Gedanken
wenn ſie gegenwaͤrtig ſind. Um deswillen ſchließt
ſich das Trauerſpiel, ſobald der ungluͤckliche
Streich vollbracht iſt. Den Hofnungen zweyer
Liebenden, die ſich durch allerhand Schwierigkei-
ten aufgehalten ſehen, koͤnnen wir mit Vergnuͤ-
gen zuſehen; aber wann ſie nun verlobt ſind,
ſo gehen wir davon. Die Urſache liegt in dem,
was wir ſchon geſagt haben. Nur an der Be-
gierde oder dem Abſcheue nehmen wir eigentlich
Theil, nicht an dem Genuſſe und dem Leiden;
jenes ſind Handlungen, dieß ſind Empfindun-
gen; dort wirken wir ſelbſt, hier die Dinge.
Wo ſich nun bey den Perſonen, welche es ei-
gentlich gilt, Hofnung in Luſt verwandelt, da
hoͤrt ihr Beſtreben und alſo unſre Mitwirkung
auf. Bey dem Schmerze iſt es etwas anders;
weil kein Schmerz ohne Furcht, obgleich Luſt oh-
ne Hofnung ſeyn kann. Bey dem Genuſſe ver-
liert ſich die Begierde, und alſo auch die Theil-
nehmung. Bey dem Schmerze verliert ſich nicht
die Verabſcheuung; die Beſtrebung das Uebel
wegzuſchaffen bleibt, und dieſes Beſtreben thei-
len wir mit dem Leidenden.
[329]uͤber das Intereſſirende.
Was die moraliſche Sympathie betrift, ſo
richtet ſich dieſe nach zwo Sachen; nach dem
Charakter der Perſon, und nach dem Charakter
der Leidenſchaft, an welcher wir Theil nehmen
ſollen. Die Perſon muͤſſen wir lieben oder hoch-
achten; die Leidenſchaft muͤſſen wir in gewiſſem
Grade billigen. 1) Liebe und Hochachtung
gruͤnden ſich auf moraliſche Vollkommenheit, die
wir einem Menſchen zuſchreiben. Aber Hoch-
achtung geht auf die moraliſche Vollkommenheit
bloß an ſich betrachtet, Liebe auf dieſelbe als
eine Quelle des Vergnuͤgens oder des Nutzens
fuͤr uns. Alle Umſtaͤnde einer Perſon, gegen
welche wir eine dieſer beyden Geſinnungen ha-
ben, ruͤhren uns mehr, alle ihre Empfindungen
nehmen wir leichter an; einmal, weil wir dieſe
Umſtaͤnde mehr mit den unſrigen verbinden, zum
andern, weil wir dieſe Empfindungen fuͤr etwas
vollkommners und nachahmungswuͤrdigers hal-
ten.
2. Beſonders muͤſſen wir die Leidenſchaft,
welche Sympathie erregen ſoll, fuͤr erlaubt oder
X 5
[330]Einige Gedanken
fuͤr loͤblich, und den Grad derſelben fuͤr billig
und der Urſache gemaͤß anſehen. Die Stoiker
ſagten, unſre eigne Leidenſchaften bekaͤmen da-
durch ihre groͤßte Staͤrke, weil wir aus Irrthum
es fuͤr recht hielten, ſie zu haben. Wir wollen
jezt nicht unterſuchen, wie weit dieſes wahr ſey;
aber ſo yiel iſt gewiß, daß jede Leidenſchaft ge-
ſchwinder entſteht, und auf eine groͤßere Hoͤhe
ſteigt, wenn wir durch den Gedanken von Un-
rechtmaͤßigkeir oder von Thorheit nicht zuruͤck
gehalten werden. Der freywillige Entſchluß der
Seele geſellt ſich bey Leidenſchaften, die wir bil-
ligen, zu dem unfreywilligen Eindrucke der Ge-
genſtaͤnde; und dieſe vereinigte Kraft unſrer ſelbſt
und des Dinges macht alſo die Wirkung groͤßer.
So wie in den Begriffen von der Moralitaͤt
etwas Feſtes und Unwandelbares, und etwas
Veraͤnderliches und Willkuͤhrliches iſt; ſo werden
auch die Leidenſchaften, welche man billiget, zum
Theil bey allen Menſchen dieſelben, zum Theil
durch die Verſchiedenheit der Sitten und der Ge-
ſeze verſchieden ſeyn.
[331]uͤber das Intereſſirende.
Allgemein wird es ſeyn, daß eine Leiden-
ſchaft, die auf Wohlwollen gegruͤndet iſt, mehr
Theilnehmung erregt, als eine, welche aus Haß
entſteht; die Elektra floͤßt uns bey weitem nicht
ſo ſehr ihren Haß gegen ihre Mutter ein, als ſie
uns ihre Liebe zu ihrem Bruder einfloͤßt. Allge-
mein wird es ſeyn, daß eine Leidenſchaft, die
ein Menſch bloß wegen ſeiner eignen gluͤcklichen
oder ungluͤcklichen Veraͤnderungen empfindet,
weniger Theilnehmung erregt, als die, welche er
uͤber das Schickſal andrer, die unter ihm ſtehen,
oder fuͤr welche er zu ſorgen hat, empfindet. Ein
Vater, der ſeine ungluͤcklichen Kinder, ein Buͤr-
ger, der ſein Land beweint, fodert mehr Mitleid,
als ein Menſch, der ſeine eigne Armuth oder ſei-
ne Krankheit beklagt. Allgemein wird es ſeyn,
daß Zorn nur bey einem durch Ungerechtigkeit
erlittnen Ungluͤcke gebilliget und mit empfunden
wird.
Aber verſchieden werden die Meynungen
uͤber die Groͤße der Beleidigungen ſeyn, und
uͤber die Haͤrte der Ahndung, die bey jeder Belei-
[332]Einige Gedanken
digung erlaubt iſt. Eine empfangne Ohrfeige er-
regt den ganzen Tumult in dem Cid, und dieſer
Tumult ſcheint den Zuſchauern nicht uͤbertrieben.
Die Rache der Elektra iſt grauſam; aber die Er-
mordung eines Vaters ſchien ſie den Griechen zu
rechtfertigen. Verſchieden werden ſie ſeyn uͤber
den Werth der Tugenden, die ſich in den ver-
ſchiedenen Leidenſchaften aͤußern. Jede Art der
Faͤhigkeiten und Tugenden, die Tapferkeit, die
Maͤßigkeit, die Menſchenliebe, hat ihre Epoche in
der menſchlichen Geſellſchaft; vielleicht hat es
noch keinen Zeitpunkt gegeben, wo alle Tugenden
auf gleiche Art waͤren geſchaͤzt worden. Zu der
einen Zeit wird man geneigt ſeyn, auch Hand-
lungen der Ungerechtigkeit und Grauſamkeit zu
entſchuldigen, wenn ſie nur mit Entſchloſſenheit
unternommen und mit Muth ausgefuͤhrt wor-
den; zu einer andern wird man auch weibiſches
taͤndelndes Weſen vertragen koͤnnen, wenn es
nur mit Feinheit der Sitten und Gutherzigkeit
verbunden iſt.
So viel ſagte uns die Natur des Menſchen;
was ſagt uns nun die Praxis der Dichter?
[333]uͤber das Intereſſirende.
Wenn man die alten und neuen Trauerſpie-
le in ſeinen Gedanken durchlaͤuft, ſo wird man,
glauben wir, zwo Leidenſchaften am oͤfterſten in
ihnen vorkommen ſehen: Rachſucht und Liebe.
Rache, oder die Ahndung einer empfangnen Be-
leidigung, iſt oft der Stoff des heroiſchen Trauer-
ſpiels, und iſt den Dichtern am meiſten eigen,
welche nach Erhabenheit ſtreben; Liebe iſt gemei-
niglich der Stoff des wehmuͤthigen Trauer-
ſpiels, und iſt die Lieblingsmaterie der Dich-
ter, welche mehr Empfindlichkeit des Herzens
haben.
Dieſe Einfoͤrmigkeit wird uns weniger be-
fremden, wenn wir bedenken, daß es nur zwo
Leidenſchaften zu ſchildern geben kann, ſolche, die
aus der Freude und dem Wohlgefallen, und ſol-
che, welche aus dem Mißfallen entſtehen. Ruͤhrt
nun dieſe Freude oder dieſer Verdruß von den
menſchlichen Handlungen her, ſind es die geſell-
ſchaftlichen Verhaͤltniſſe, durch welche dieſe Lei-
denſchaften erregt werden, ſo werden ſie faſt al-
lemal in Liebe oder in Zorn ausſchlagen.
[334]Einige Gedanken
Aber warum iſt unter allen Arten der Zunei-
gung, die Liebe der Geſchlechter vorgezogen wor-
den?
Deswegen, weil 1) dieſe Leidenſchaft allge-
meiner iſt; ſie gruͤndet ſich auf einen Naturtrieb,
ſie erinnert an eines der ſtaͤrkſten ſinnlichen Ver-
gnuͤgungen; die Sympathie kann alſo allgemein
ſeyn. Die vaͤterliche, die freundſchaftliche, die
Vaterlandsliebe hingegen, ſind nur gewiſſen Per-
ſonen eigen, ſie ſind mehr Tugenden, als wirk-
liche Leidenſchaften; nur derjenige kann ſtark
daran Theil nehmen, der ſelbſt faͤhig iſt ſie zu
fuͤhlen. 2) Weil dieſe Leidenſchaft am meiſten
Verwickelungen und Abentheuer hervorbringt,
und alſo der beſte Stoff zu einer Fabel iſt. Da
ſie ſich mit dem Intereſſe der Familien durch-
kreuzt, ſo [findet] ſie mehr Schwierigkeiten und
Widerſtand zu uͤberwinden; da ſie ausſchließend
iſt, ſo hat ſie mit Nebenbuhlern zu kaͤmpfen; da
ſie, durch die Unaufloͤßlichkeit der Ehe, den le-
benslangen Zuſtand zwoer Menſchen beſtimmt,
ſo macht ſie auf gewiſſe Weiſe die Entſcheidung
[335]uͤber das Intereſſirende.
ihres Schickſals aus; da ſie endlich geſchwinder
auf ihre Befriedigung dringt als jede andre Lei-
denſchaft, ſo bringt ſie in der kuͤrzeſten Zeit die
wichtigſte Begebenheit des menſchlichen Lebens
zu Stande, wodurch ſie einer dramatiſchen Be-
handlung am meiſten faͤhig wird. 3) Weil ſie
die am meiſten poetiſche Leidenſchaft iſt: ſie be-
lebt die Einbildungskraft, weil ſie zum Theil koͤr-
perlich iſt, und den Lauf der Saͤfte beſchleunigt;
ſie iſt in ihrer vollen Staͤrke zu der Zeit des Le-
bens, wo die Seele am meiſten wach, und die
Nerven am gefuͤhlvollſten ſind; ſie vermiſcht ſich
mit vielen andern Empfindungen, weckt jede
ſchlafende Leidenſchaft auf, und faͤrbt jede Idee,
jede Handlung mit ihrer eignen Farbe. Die Lie-
be hat die Poeſie hervorgebracht, und es iſt nicht
bloße Nachahmung, ſondern es iſt Natur, daß
die Liebe und ihre Abentheuer oͤfter als jeder an-
dre Umſtand des menſchlichen Lebens von der
Dichtkunſt ſind beſungen worden.
Aber warum haben die Alten ſo wenig Liebe
in ihren Stuͤcken? Man irret ſich. Liebe iſt in
[336]Einige Gedanken
ihren Stuͤcken genug, aber nur nicht die Ge-
ſchichte des Verliebens. Wenn wir die tragi-
ſchen Begebenheiten der griechiſchen Buͤhne be-
trachten, ſo finden wir, daß die Liebe viele der-
ſelben veranlaßt und ſich faſt in alle gemiſcht
hat. Was ſtuͤrzt den Agamemnon, was zerruͤt-
tet die Haͤuſer des Atreus, des Jaſons, des
Theſeus, als die Liebe? Was iſt es dann, das
uns die griechiſchen Dichter in der Klytaͤmneſtra,
in der Medea, in der Phaͤdra ſchildern, als die
Wirkungen der Liebe? Freylich der ausſchwei-
fenden, der ehebrecheriſchen, der ſchaͤndlichen
Liebe. Aber ſie haben auch in der Alceſtis das
Gemaͤlde ehelicher Treue aufgeſtellt. Die Neuern
haben alſo nicht die Liebe zuerſt aufs Theater ge-
bracht; aber ſie haben ſie auf eine neue Weiſe
behandelt, einen andern Zeitpunkt derſelben, ſo
zu ſagen, gewaͤhlt. Die Griechen ſchildern mehr
die eheliche Liebe, es ſey in ihrer Ausſchweifung
und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit
und Reinigkeit; die Eiferſucht einer beleidigten
Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn iſt der
[337]uͤber das Intereſſirende.
Stoff ihres Gemaͤldes: unſre Dichter hingegen
ſchildern mehr den Roman vor der Ehe, die
Zaͤrtlichkeit des Liebhabers, oder die Eiferſucht
der Braut.
Und ſo bringen es die Sitten der Griechen
und die unſrigen mit ſich. Bey den Griechen
gab es keinen ſolchen Roman. Ihre Toͤchter
blieben in dem innerſten Theile des Hauſes, den
Augen aller Mannsperſonen, ſelbſt ihres Lieb-
habers verborgen, bis er ihnen als Gemahl zu-
gefuͤhrt wurde. Eher trat das weibliche Ge-
ſchlecht nicht auf dem Theater der Welt auf, als
bis es verheurathet war; und auch dann waren
die Beſten, die Tugendhafteſten, am wenigſten
ſichtbar.
Was alſo in der menſchlichen Natur liegt,
daß die Liebe eine allgemeine und poetiſche Leiden-
ſchaft iſt, daß ſie am Elende und Gluͤckſeligkeit
der Menſchen und der Familien ſehr vielen Theil
hat: das hat Griechen und Franzoſen und Deut-
ſche auf gleiche Weiſe dahin gebracht, die Liebe
in ihre Stuͤcke zu bringen, es ſey als eine un-
Y
[338]Einige Gedanken
ſichtbare Triebfeder der Handlung, oder als
das ſichtbare Original des Gemaͤldes. Was
aber bloß in den Sitten unſrer Zeit liegt, daß
beyde Geſchlechter auch vor der Ehe freyer mit
einander umgehen koͤnnen; daß der Juͤngling
und die Braut auf gleiche Weiſe ihre Neigung
geſtehen duͤrfen; daß es einen ſo haͤufigen Kampf
der Leidenſchaft der jungen Perſonen mit dem
Intereſſe der Alten und ihrer Familien giebt;
daß dieſer Streit von beyden Seiten durch ge-
genſeitig gemachte Entwuͤrfe gefuͤhrt wird, wor-
aus eigentlich die Intrigue entſteht: dieß hat
auch unſerm Theater und unſern Romanen eine
beſondre Art von Liebeshaͤndeln gegeben, von
denen die Alten wenig wußten.
Eine Leidenſchaft giebt es, in welcher ſich
dieſe beiden, Liebe und Zorn, mit einander ver-
einigen; keine iſt auch deswegen oͤfter geſchildert
worden, in keiner haben die Dichter ein groͤßer
Feld gefunden, ihre Einſicht in die Fuͤhrung der
Leidenſchaften zu zeigen. Dieſe Leidenſchaft iſt
die Eiferſucht. Die Medea, der Othello und
[339]uͤber das Intereſſirende.
die Zaire, drey Hauptſtuͤcke dreyer beruͤhmten
Nationen, haben die Eiferſucht zum Stoff.
In der That wird kaum irgend eine Leiden,
ſchaft ſo viel andre Leidenſchaften in ſich ſchlieſ-
ſen, kaum eine ſo mannichfaltige Bewegung
des Gemuͤths erregen. Wer den Eiferſuͤchtigen
ſchildern will, der muß die Liebe und den Haß,
die Freude und die Traurigkeit, die Hoffnung
und die Furcht ſchildern. Ueberdieß kann man
der Entſtehung dieſer Leidenſchaft mehr als ir-
gend einer andern nachſpuͤren. Andre Leiden-
ſchaften entſtehen entweder zu langſam oder zu
ſchnell, um aus ihrem Urſprunge ihre Natur
kennen zu lernen. Eine einzige Beleidigung kann
das Gemuͤth in Zorn bringen; die Vorſtellungen
folgen hier mit ſolcher Geſchwindigkeit auf ein-
ander, das Blut und die Lebensgeiſter brauſen
ſo ſchnell auf, daß es dem Menſchen ſelbſt nicht
moͤglich iſt, den Gang der Leidenſchaften zu ent-
wickeln. Die Liebe, wenn ſie ganz ſinnlich iſt,
entſteht eben ſo ſchnell und oft bey dem erſten
Anblicke. Iſt ſie hingegen moraliſch, ſo waͤchſt
Y 2
[340]Einige Gedanken
ſie unmerklich; es iſt unmoͤglich, den Zeitpunkt
zu beſtimmen, wo Gleichguͤltigkeit in Neigung,
und Neigung in Zaͤrtlichkeit uͤbergiengen. Bey
der Eiferſucht hingegen iſt der Zuſtand, aus wel-
chem die Leidenſchaft gleichſam ausgeht, ſchon ein
an ſich merklicher Zuſtand, deſſen Abaͤnderungen
ſich wohl wahrnehmen laſſen. Wenn ein Menſch,
welcher liebt, und heftig liebt, anfangen ſoll zu
haſſen: ſo muß der Uebergang deutlich ſeyn. Die
Ideen, welche ſeine erſte Leidenſchaft beſtritten
und beſiegt haben, muͤſſen oͤftere Anfaͤlle auf die-
ſelbe gethan haben; es muß ein Kampf vorge-
gangen ſeyn, mit einem Worte, der Menſch, der
eiferſuͤchtig wird, iſt ſelbſt geſchaͤftig, ſeinen Arg-
wohn zu ſtaͤrken oder zu beſiegen, er weiß alſo und
kann angeben, was in ihm vorgeht.
Und dieß bringt uns auf eine andre Bemer-
kung, die man bey der Leſung der Dichter machen
kann, daß nichts ſo ſehr intereſſirt, als der Streit
mehrerer Leidenſchaften.
Wir haben ſchon angemerkt, daß nicht ſowohl
die Empfindung, die leidende Veraͤnderung des
[341]uͤber das Intereſſirende.
Geiſtes, die bey der Leidenſchaft zum Grunde
liegt, als die Thaͤtigkeit, die wirkſamen Beſtre-
bungen der Seele, durch welche ſich die Leiden-
ſchaft aͤußert, dasjenige ſey, woran wir Theil neh-
men. Iſt nun nur Eine unbeſtrittene Leidenſchaft
in der Seele, ſo kehrt ſie ihre ganze Wirkſamkeit
nach außen, ſie geht bloß mit der Unternehmung,
mit der aͤußern Handlung um, die zu ihrer Be-
friedigung abzielt; die innere Wirkſamkeit des Gei-
ſtes ſelbſt, die, welche eigentlich durch die Rede
geſchildert werden kann, iſt nur geringe. Wenn
aber mehrere Begierden vorhanden ſind: ſo arbei-
tet die Seele innerlich, eine Entſcheidung des
Streits, oder ein Gleichgewicht zu finden; und
dieſe Arbeit iſt es, welche eigentlich Worte malen
koͤnnen.
Ein Menſch, der einen andern vollkommen
und durchaus haßt, iſt auf gewiſſe Weiſe ruhig,
weil er einmal entſchloſſen iſt, und einen einfachen
Entwurf verfolgt; die Ideen, die zu jeder Leiden-
ſchaft gehoͤren, ſo wie ſie ſich mehr feſtſetzen, wer-
den dunkler. Wenn er aber eben die Perſon
Y 3
[342]Einige Gedanken
liebt, uͤber deren Beleidigung er ergrimmt: dann
iſt das Gemuͤth im Aufruhr; die Ideen des Haſſes
ſind neu, und alſo lebhaft und deutlich, die Ideen
der Liebe ſind im Beſitze der Seele, und leiſten
alſo muthigen Widerſtand, der ſie hinwiederum
klaͤrer und lebendiger macht. Mit einem Worte,
der Widerſpruch der Ideen und der Begierden,
das iſt der Zuſtand, wo der Menſch ſeiner ſelbſt
am beſten bewußt iſt, und wo er am meiſten ſei-
ne Vorſtellungen und Neigungen ausdruͤcken
kann.
Ueberdieß iſt die Erwartung, die zum Inter-
eſſirenden nothwendig iſt, bey dem Streite zweyer
Leidenſchaften groͤßer als bey Einer. Was der
Menſch thun wird, der bloß liebt oder bloß haßt,
das iſt ausgemacht; die Wahl kann nur zwiſchen
den Arten der Befriedigung ſeyn, und dieß erregt
die Neubegierde nicht ſo ſtark, weil es nichts iſt,
was die Natur des Menſchen ſelbſt ſo ſehr an-
gienge. Aber wozu ſich der Sohn noch entſchlieſ-
ſen wird, der ſeinen eignen Vater an dem Vater
einer Celiebten raͤchen ſoll; was die muͤtterliche
[343]uͤber das Intereſſirende.
Liebe einer heftigen und gegen ihren Gemahl wuͤ-
tenden Frau thun wird; das ſind wir hoͤchſt be-
gierig zu wiſſen, und ſind ſehr zweifelhaft, es vor-
aus zu ſagen.
Dieſer Streit der Leidenſchaften iſt auf mehr
als eine Art moͤglich.
Der erſte iſt zwiſchen einer alten eingewur-
zelten Neigung, und einer neuentſtehenden Leiden-
ſchaft, durch welche ſie beſiegt werden ſoll. Dieß
iſt der Fall bey der Eiferſucht. Dieſe Art des
Streites iſt zu einer Schilderung, zu einer Ent-
wickelung der Leidenſchaft am vortheilhafteſten.
Die Entſtehung iſt es, welche uns die Natur der
Leidenſchaft am beſten erklaͤrt. Und wo koͤnnen
wir dieſer Entſtehung zuſehen, als wo der Zeit-
punkt, wo ſie anfaͤngt, merklich iſt; und wo kann
er merklich ſeyn, als wo er von dem vorhergehen-
den Zuſtande der Seele ſehr abſticht? Ueberdieß
findet ſich der Vortheil, den der Streit der Leiden-
ſchaften dem Dichter leiſtet, daß er die ſtummen
beredt macht, bey keinem Streite mehr, als wo
eine einmal feſte Ueberzeugung beſtritten, und eine
Y 4
[344]Einige Gedanken
ſchon zur Gewohnheit gewordene Zuneigung an-
gegriffen wird.
Eine andre Art des Streits, der viel Unruhe
und Erwartung erregt, aber weniger den Charak-
ter entwickelt, iſt der, wenn eine neue und zufaͤl-
lig entſtandne Begierde, einer alten Leidenſchaft,
bey der Wiedererkennung des Gegenſtandes, oder
bey einer beſſern Belehrung, Platz macht. Dieß
iſt der Fall bey der Iphigenia von Taucis und
bey der Merope. Hier iſt es nicht ſowohl ein
Streit, als eine ploͤzliche Umkehrung der Geſin-
nungen. Das Intereſſe entſpringt nicht ſowohl,
weil man in den Zuſtand der Perſon tief ein-
dringt, und ſich alſo dadurch die Geſinnungen
ſehr zu eigen machen kann; ſondern weil man
ſelbſt durch den Widerſpruch unruhig wird, der
ſich zwiſchen der jetzigen Bewegung der Perſon und
ihren wirklichen Geſinnungen und Verhaͤltniſſen
findet. Geſchieht nun die Entdeckung; ſo iſt bey
der Perſon ſelbſt zwar kein eigentlicher Streit, die
alte Leidenſchaft nimmt ungehindert Platz: aber
ſie aͤußert ihre Gewalt weit ſtaͤrker; ſie iſt mit ei-
[345]uͤber das Intereſſirende.
nem Grade von Schrecken verbunden, und hat
alſo noch eine Miſchung von der Leidenſchaft, aus
welcher ſie entſtanden war. Faͤlle dieſer Art wer-
den auf dem Theater oͤfter als im menſchlichen
Leben vorkommen, denn ſie fordern immer eine
wunderbare Verwickelung, um dem Menſchen
den wahren Gegenſtand ſeiner Liebe oder ſeines
Haſſes zu verbergen, oder um ihn auf eine Zeit-
lang wider ſeine wirklichen Geſinnungen handeln
zu laſſen.
Ein dritter Streit iſt zwiſchen zwo Leiden-
ſchaften, welche ſich zwar einander nicht aufheben,
welche nicht einander entgegenſtehen, aber die doch
entgegenſtehende Maaßregeln und eine doppelte
Auffuͤhrung brauchen.
Wenn ein Menſch zwo Perſonen liebt, wel-
che einander haſſen; wenn er die Gunſt zwoer
Perſonen ſucht, die entgegenſtehende Unterneh-
mungen haben, an welchen ſie ihn wollen Theil
nehmen laſſen, wenn er in zweyfachen Verbindun-
gen iſt, die ihm beide theuer ſind, und ihm
alſo entgegenſtehende Pflichten auflegen: dann
Y 5
[346]Einige Gedanken
iſt er in einer wichtigen Situation. Das iſt der
Fall bey Germeuil im Hausvater, ſo iſt Neopto-
lem im Philoktet, der gern den kranken Helden
retten, und doch ſeinem gegebenen Worte treu
ſeyn wollte. Man ſieht leicht, warum man ſich
fuͤr einen ſolchen Menſchen intereſſirt. Die Un-
ruhe iſt vielleicht unter allen Bewegungen der
Seele diejenige, welche ſich am leichteſten mit-
theilt; und eine ſolche Lage der Umſtaͤnde bringt
Unruhe hervor. Ueberdieß iſt man begierig, die
Entſcheidung zu wiſſen; man findet die Aufgabe
verwickelt, und man wuͤnſchet ſie aufgeloͤſt zu
ſehen.
Eine ſolche Situation kann aber eben ſowohl
laͤcherlich als ruͤhrend werden, nach dem Charak-
ter der Perſon, welche ſich in derſelben befindet.
Bey einem ſchwachen Geiſte, oder wenn die Par-
teyen, unter welchen zu waͤhlen iſt, nicht erheb-
lich ſind; ſo artet dieſe Unruhe in eine kindiſche
Unentſchloſſenheit und Verlegenheit aus, die alle-
mal laͤcherlich iſt. Man wird ſich erinnern, in
ſehr viel Komoͤdien ſolche Scenen geſehen zu ha-
[347]uͤber das Intereſſirende.
ben, wo ein alberner Menſch durch ſeine Verle-
genheit die Zuſchauer erluſtiget. Bey einem ed-
len und großen Charakter hingegen, und wenn die
Vorfaͤlle wichtig ſind, und die Wahl einen groſ-
ſen Ausſchlag giebt: dann wird dieſe Unruhe ruͤh-
rend.
Wir koͤnnten hier den Streit zwiſchen Leiden-
ſchaft und Vernunft, als eine beſondre Gattung
hinzufuͤgen, wenn er ſich nicht auf gewiſſe Weiſe
uͤber alle die vorigen Arten erſtreckte.
Naͤmlich, was wir eigentlich Leidenſchaft nen-
nen, iſt eine ſinnliche Begierde, die vom Koͤrper
herruͤhrt, die durch den Lauf der Saͤfte und die
Bewegung der Lebensgeiſter unterſtuͤzt wird. Ver-
nunft iſt der Geiſt, inſofern er aus ſich ſelbſt und
abgezogen vom Koͤrper wirkt und handelt. So-
bald alſo nur der Menſch ſelbſt thaͤtig iſt, und ſo
weit er es iſt, da und ſo weit wirkt ſeine Vernunft.
Aber jeder Streit der Leidenſchaften macht den
Menſchen ſelbſt thaͤtig; alſo erweckt jeder Streit
der Leidenſchaft die Vernunft.
[348]Einige Gedanken
Im Grunde war dieß eben der Vortheil, den
wir von dieſem Streite ziehen konnten. Eine
einfache ſinnliche Leidenſchaft kann thieriſch ſeyn,
und iſt es immer mehr oder weniger; eine zwie-
fache entgegengeſezte muß auf gewiſſe Weiſe ver-
nuͤnftig werden, (oder der Menſch iſt verloren,)
durch die Arbeit, die die Seele ſelbſt dabey an-
wenden muß, ſie aus einander oder in Vereini-
gung zu bringen. In dem erſten Falle denkt der
Menſch wenig. Es iſt bloßes dunkles Gefuͤhl
bey ihm: und wer will dieſes dunkle Gefuͤhl
ſchildern? wer will ſich darein verſezen? In dem
andern denkt er nothwendig Etwas, ſeine Em-
pfindungen, die bloße Eindruͤcke waren, welche
auf die Seele geſchahen, muͤſſen nun von ihr be-
arbeitet, geaͤndert, und ſo zu ſagen in die Form
gebracht werden, daß ſie bey einander Platz ha-
ben. Dieſe Ideen zu beſchreiben, dazu iſt die
Sprache gemacht, das kann allein der Vorſatz
des Dichters oder Redners ſeyn.
Es giebt demungeachtet noch eine reinere
oder hoͤhere Vernunft, als die, welche bloß aus
[349]uͤber das Intereſſirende.
dem Zuſammenſtoße der Leidenſchaften zum Vor-
ſchein koͤmmt. Wir wollen ſagen, es giebt auch
Begierden, die ihren erſten Urſprung in dem
Geiſte und ſeinen eignen Vollkommenheiten ha-
ben. Dieſe Begierden machen den Grund der
Tugend aus. Sie ſind gleichfoͤrmig und
ruhig, und geben alſo zu keinen gewaltſamen
Aeußerungen, aber wohl zu einer lebhaf-
ten Thaͤtigkeit Anlaß, wenn die Seele dieſe ihre
eigenthuͤmlichen Begriffe, dieſe ihr am meiſten
zugehoͤrenden Neigungen bey dem Sturme der
koͤrperlichen Begierden und der gewaltſamen Be-
wegung der Lebensgeiſter zu erhalten ſucht. Dieß
iſt, glauben wir, ein aͤußerſt intereſſanter An-
blick, der vielleicht nicht ſo oft recht geſchildert
worden iſt, weil nur die beſten und vortreflich-
ſten Maͤnner in ſich ſelbſt das Original zu einer
ſolchen Schilderung finden koͤnnen. Dieß iſt der
Kampf des weiſen Mannes mit dem Ungluͤcke,
und oft auch mit dem Gluͤcke, welchen die Goͤt-
ter ſelbſt, wie Seneka ſagt, mit Vergnuͤgen an-
ſchauen.
[350]Einige Gedanken
Mit dieſem Streite der Leidenſchaften, von
welchem bisher geredet worden iſt, haben zween
Faͤlle etwas aͤhnliches, die nach Theorie und Er-
fahrung vorzuͤglich intereſſant ſind. Des erſten
gedenkt ſchon Ariſtoteles in ſeiner Rhetorik. Das
Mitleiden, ſagt er, wird ſtaͤrker rege, wenn nach
Vollbringung des Streichs, der das Schickſal
des Helden entſcheidet, nun ein Umſtand ſich er-
eignet oder bekannt wird, der ihn wuͤrde gerettet
haben, wenn er nicht ſchon das aͤußerſte erlitten
haͤtte. Was macht Clariſſens Tod trauriger,
als die Ankunft der Norton, die ihr die Verge-
bung von ihren Eltern bringt? Was iſt ſchreck-
licher als die Situation des Romeo, der ſeine
Geliebte wieder aufleben ſieht, da er das Gift
ſchon getrunken hat? Dieſe Beyſpiele zeigen zu-
gleich die Verſchiedenheit, die hierbey noch ſtatt
findet. Iſt die Perſon ſelbſt, wie Romeo, noch
am Leben und gegenwaͤrtig, ſieht ſie ſelbſt den
gluͤcklichen alles aͤndernden Vorfall, und iſt doch
verloren: ſo iſt die Situation ſchrecklich. Iſt
die Perſon, wie Clariſſe, ſchon todt, und iſt es
[351]uͤber das Intereſſirende.
nur der Leſer, der das Ungluͤck, welches ſie er-
litten hat, mit dem Gluͤcke, was ihr bevorſtund
vergleicht: ſo iſt die Situation wehmuͤthig.
Im erſten Falle wird das Leiden des Helden
ſelbſt vergroͤßert; im zweyten wird nur die Vor-
ſtellung dieſes Leidens bey dem Zuſchauer leb-
hafter.
Ein zweyter Fall, wo nicht ein eigentlicher
Streit der Leidenſchaften, aber doch ein gewiſſer
Widerſpruch in den Begebenheiten und Gemuͤths-
bewegungen das Intereſſe vermehrt, iſt der Fall
des Oedips, der gerade durch die Mittel, welche
er anwendet, ſich zu retten, ſein Ungluͤck be-
ſchleunigt, gerade durch die Nachrichten, welche
ihm einen Zuwachs von Gluͤckſeligkeit verſpre-
chen, ſeines Ungluͤcks gewiß wird. Derſelbe
Bote, welcher ihm die Krone von Korinth an-
bietet, beweiſt es ihm, daß er Lajus und Joka-
ſtens Sohn ſey. Aber woher entſteht hier das
groͤßere Intereſſe? Aus der naͤmlichen Urſache,
als im vorigen Falle, aus dem groͤßern Aufruhre
in dem Gemuͤthe des Leidenden. Dort war es
[352]Einige Gedanken
das nahe Bild der Gluͤckſeligkeit, welches das
Gemaͤlde des Ungluͤcks noch ſchwaͤrzer machte;
die Begierden entbrannten zu eben der Zeit hefti-
ger, da ſie ihren Gegenſtand unwiederbringlich
verloren ſahen: hier giebt die Gewalt, mit wel-
cher der Menſch ſeinem Ungluͤck entgegengearbei-
tet hat, und die gegen ihn ſelbſt gekehrt wird,
auch dem darauf folgenden Schmerz eine groͤßre
Heftigkeit. Ein lange zuvorgeſehenes Ungluͤck,
zu deſſen Abwendung man nichts gethan hat
und nichts hat thun koͤnnen, kann ſehr ſchmerz-
lich ſeyn, aber zu gewaltſamen Entſchluͤſſen wird
es ſelten bringen; das Gemuͤth bleibt in ſeiner
Lage, obgleich dieſe Lage traurig iſt. Aber wann
der Menſch ſchon vorher, und mit einiger Hoff-
nung, nach einem Ziele gerungen, wann er Vor-
kehrungen gegen das Ungluͤck gemacht, Helfer
herbeygerufen, alle ſeine Einſichten und ſeine
Kraͤfte aufgeboten hat: dann iſt ſchon ohnedieß
die Seele in einer lebhaften Bewegung; und
wann alſo mitten in dieſem Sturme ein ungluͤck-
licher Streich ſeine Bemuͤhungen vernichtet, dann
[353]uͤber das Intereſſirende.
kehrt ſich eben die Kraft der Seele, welche ſchon
in Thaͤtigkeit war, gegen ſich ſelbſt; er wird un-
willig und aufgebracht uͤber ſein Schickſal.
Man ſieht leicht, daß auch Fabeln von die-
ſer Art kuͤnſtlich ſeyn muͤſſen. Und ohne das
Syſtem eines blinden Schickſals, welches in der
alten Tragoͤdie ſo ſehr herrſcht, wird es kaum
moͤglich ſeyn, viele derſelben zu Stande zu brin-
gen. In der That miſcht ſich dieſes Schickſal
in die meiſten ihrer Stuͤcke. Oedip wird durch
einen Orakelſpruch zum Vatermoͤrder, Phaͤdra
wird von der Venus in ihren Stiefſohn verliebt
gemacht, und Oreſt bringt ſeine Mutter auf den
Befehl des Apollo um, der ihn doch dafuͤr durch
die Furien ſtrafen laͤßt.
Dieſes Syſtem iſt das Syſtem der meiſten
noch rohen unerleuchteten Voͤlker. Und darum
ſind auch nur in den aͤlteſten Epochen die Ge-
ſchichten haͤufig, wo ein Menſch alles thut, ei-
nem geweiſſagtem Schickſale zu entgehen, und
gerade dadurch ſich in dieſes Schickſal verwickelt.
Fuͤr uns, die wir dieſe Ideen nicht annehmen,
Z
[354]Einige Gedanken
koͤnnen ſolche Verwickelungen nicht anders als
unwahrſcheinlich und unnatuͤrlich ſcheinen; und
wenn ſie auch dieß nicht waͤren, ſo wuͤrden ſie
das groͤßte Intereſſe fuͤr einen feinern und geſit-
teten Zuſchauer, die Theilnehmung an der Mo-
ralitaͤt der Handlungen, aufheben.
Noch zu einer Erklaͤrung muͤſſen wir dieſe
Anmerkungen uͤber den Streit der Leidenſchaften
anwenden.
Was iſt wohl das, was die Kunſtrichter
eine Situation nennen? Es iſt eine Zuſammen-
kunft ſolcher Umſtaͤnde und Begebenheiten, durch
welche die Empfindungen oder Leidenſchaften der
handelnden Perſon, in Wirkſamkeit geſezt und
genoͤthigt werden, in Entſchluͤſſen und Hand-
lungen auszubrechen. Aber wodurch werden ſie
in dieſe Wirkſamkeit geſezt? Gemeiniglich durch
einen ſolchen Streit, als wir bisher betrachtet
haben.
So wie wir in der Koͤrperwelt die Kraͤfte
nur nach dem Widerſtande meſſen, den ſie uͤber-
winden, ſo meſſen wir in der moraliſchen Welt,
[355]uͤber das Intereſſirende.
die Staͤrke der Neigungen oder Empfindungen,
nur nach den gegenſeitigen Eindruͤcken oder Be-
gierden, uͤber welche ſie die Oberhand behalten.
Der Hausvater konnte ſeinen Sohn und ſeine
Tochter lieben, ſo ſtark er immer wollte; daß er
ihn liebte, das konnte bekannt ſeyn, aber wie
innigſt ſeine Zaͤrtlichkeit ſey, wie weit er andre
Vaͤter darinn uͤbertreffe, das konnte man erſt
ſehen, da ſein Sohn ausſchweifend und ſeine
Tochter zuruͤckhaltend wurde.
Diderot redet von nichts anders, als ei-
nem ſolchen Streite, wann er den Kontraſt zwi-
ſchen dem Charakter und den Umſtaͤnden ſo ſehr
empfiehlt. Was iſt denn der Charakter? Es
ſind diejenigen Neigungen und Abneigungen, die
ebenfalls bey gewiſſen Vorfaͤllen und Gelegenhei-
ten entſtanden ſind, aber die ſich nun einmal
feſtgeſezt haben, die fortdauernd ſind. Was
ſind die Umſtaͤnde? Es ſind die jezt vorfallenden
Begebenheiten, welche Gelegenheit zu neuen Em-
pfindungen und Geſinnungen geben. Was wird
alſo der Mann ſeyn, deſſen Charakter mit ſeinen
Z 2
[356]Einige Gedanken
Umſtaͤnden im Streite ſtehn? Es wird ein Mann
ſeyn, welcher die Gewohnheit hat eine Perſon
zu lieben, und welcher jezt eben Veranlaſſung
bekoͤmmt ſie zu haſſen; es wird einer ſeyn, der
fuͤr beſtaͤndig eine Perſon ſehr verehrt, und fuͤr
jezt veranlaßt iſt, ſie zu beſchimpfen. Alſo iſt
im Grunde dieſer Streit zwiſchen Charakter und
Umſtaͤnden, immer ein Streit zwiſchen Neigun-
gen und Neigungen; zwiſchen einer Leidenſchaft
und der andern. Nur daß die eine Neigung
ſchon laͤngſt iſt erregt worden, und ſeit der Zeit
fortgedauert hat; die andre erſt jezt erregt wird
und groͤſtentheils voruͤbergehend iſt.
Wir empfinden demungeachtet noch hierbey
eine Verſchiedenheit. Eine Leidenſchaft kann ei-
ner andern auf eine doppelte Art zuwider ſeyn:
einmal, wie ſich Haß und Liebe gegen dieſelbe
Perſon zuwider iſt, ſo iſt es bey der Eiferſucht;
das andremal, wie der Geitz und die Liebe zu ei-
nem armen Maͤdchen, ſo iſt es beym Harpagon.
Man ſieht naͤmlich, im erſten Falle iſt der Streit
eigentlich zwiſchen den Begierden ſelbſt, man
[357]uͤber das Intereſſirende.
muß durchaus eine Wahl treffen; eine Neigung
muß aufgeopfert werden. Im andern Falle koͤn-
nen beide Leidenſchaften bey einander beſtehen,
und dauern auch zugleich fort; aber der Streit
iſt zwiſchen den Grundſaͤzen, Meynungen und
Arten zu handeln, zu welchen dieſe Leidenſchaf-
ten Anlaß geben. Als Geitzhals muß er eine
Heirath ohne Mitgift fuͤr unvernuͤnftig halten:
und als Verliebter muß er ſie jezt billigen. Viel-
leicht iſt die Entſcheidung zu gewagt: aber uns
duͤnkt, daß nur der erſte Streit eigentlich ruͤh-
rend ſey, und fuͤr die Tragoͤdie und das In-
tereſſe durch Empfindung gehoͤre; der andre hin-
gegen leichter komiſch werde, und mehr bloß
durch die Entwickelung des Charakters intereßire.
Das erſte bringt Unruhe, ploͤzliche Uebergaͤnge,
gewaltſame Entſchluͤſſe und zulezt Reue hervor;
das andre hingegen faſt immer nur Verlegenheit,
und gewiſſe Widerſpruͤche im Betragen und Re-
den, die laͤcherlich werden.
Noch muͤſſen wir einer Leidenſchaft gedenken,
die eine Art des Zorns zu ſeyn ſcheint, und die
Z 3
[358]Einige Gedanken
von den Dichtern vorzuͤglich oft iſt gebraucht
worden, das Schrecken oder Mitleiden zu ver-
mehren: das iſt der Unwille wider ſich ſelbſt;
die Reue. Warum iſt es ruͤhrend, wenn Oros-
mann befiehlt, daß Zaire, die er umgebracht
hat, vor ihn ſoll gebracht werden; warum iſt es
ſo ſchrecklich, wenn die Moͤrderin des Koͤnigs in
Makbeth, ihre blutigen Haͤnde waͤſcht, und die
Flecken nicht wegnehmen kann? Deswegen glau-
be ich, weil ſich alsdann zwo der unangenehm-
ſten Leidenſchaften, die ſonſt faſt immer getrennt
ſind, mit einander vereinigen, Traurigkeit und
Zorn; weil die Reue gemeiniglich den Menſchen
veranlaßt, ſich mitten im Elende den gluͤcklichen
Zuſtand lebhaft vorzuſtellen, in welchem er ohne
ſeine Vergehung ſeyn werde, und dieſe Vorſtel-
lung das Ruͤhrendſte des Elends iſt; weil end-
lich unter allen Schmerzen dieſer am meiſten aus
dem moraliſchen Theile des Menſchen, aus dem
Innerſten ſeines Geiſtes ſelbſt entſpringt. Jeder
andrer Verdruß, jede andre Betruͤbniß koͤmmt
vom Koͤrper, oder von Dingen außer uns
[359]uͤber das Intereſſirende.
her; die Reue iſt der Unmuth eines Geiſtes uͤber
ſich ſelbſt. Und ſo wie in der wirklichen Welt,
dieſer Unmuth der bitterſte Schmerz, und der
Stachel beynahe aller andrer Leiden iſt, in welche
er ſich ſo oft miſcht; ſo iſt er auch in der poeti-
ſchen Welt das Huͤlfsmittel, unſre Theilneh-
mung an fremden Leiden ſtaͤrker und tiefer zu
machen.
Was wollen wir denn nun mit allen dieſem?
wollen wir den Dichter einſchraͤnken? wollen wir
ihn noͤthigen, gerade nur dieſe und keine andre
Begebenheiten zu bearbeiten?
Nein, wir wollen ihn freyer machen; wir
wollen ihm ſagen, daß jede Begebenheit man-
nichfaltige Eindruͤcke machen, mannichfaltige
Neigungen erregen koͤnne, nach dem Charakter
der Perſon, die er in die Begebenheit ſetzet; und
daß es alſo immer in ſeiner Gewalt ſtehe, Cha-
rakter und Begebenheit ſo gegen einander abzu-
meſſen, daß daraus wichtige und intereſſante
Empfindungen und Leidenſchaften entſpringen.
Wir wollen ihn lehren, daß wir nicht an den
Z 4
[360]Einige Gedanken
Vorfaͤllen und Veraͤnderungen ſelbſt, ſondern
nur an den Geſinnungen oder den Begierden
unſrer Nebenmenſchen Theil nehmen, die durch
ſolche Vorfaͤlle erregt oder aufgebracht werden;
und daß es alſo mehr von ſeinen Perſonen, daß
heißt im Grunde mehr von ihm ſelbſt, von ſei-
ner eignen Art zu denken und zu empfinden, als
von dem Stoff abhaͤnge, ob er intereſſant ſeyn
ſoll oder nicht.
Es giebt eine Verſchiedenheit der Leiden-
ſchaft, nach dem ſie aus dieſem oder jenem Vor-
falle entſpringt, und nur unter gewiſſen Umſtaͤn-
den moͤglich iſt: ſo hat jeder Stand, jede Le-
bensart, jede Verfaſſung des Menſchen ihre
eigne Leidenſchaften. Es giebt eine andre Ver-
ſchiedenheit, die bey den naͤmlichen Vorfaͤllen
ſtatt findet, nach der verſchiednen Seite, von
welcher dieſelben betrachtet und empfunden wer-
den; ſo kann dasjenige bey dem einen Zorn erre-
gen, was den andern niederſchlaͤgt. Die erſte
Verſchiedenheit iſt lange Zeit her, und zum Theil
noch, fuͤr die wichtigſte gehalten, wenigſtens
[361]uͤber das Intereſſirende.
ſind die meiſten Regeln daruͤber gegeben worden;
man hat nur einem gewiſſen Stande, einer ge-
wiſſen Art von Umſtaͤnden und Vorfaͤllen, in
Griechenland ſogar nur gewiſſen Familien und
Geſchichten, erlaubet zu ruͤhren; und das ganze
uͤbrige menſchliche Leben iſt bloß dem Laͤcher-
lichen Preis gegeben worden. Dieſe Schranken
muͤſſen wir jezt niederreiſſen, da wir anfangen,
die Menſchheit ſelbſt zu ſchaͤtzen, was ſie werth
iſt. Aber die andre Verſchiedenheit, die Ver-
ſchiedenheit der Eindruͤcke, welche dieſelbe Bege-
benheit auf verſchiedne Gemuͤther macht; und
welche Eiudruͤcke es eigentlich ſind, an welchen
der Zuſchauer Theil nimmt, und an welchen er
am meiſten Theil nimmt: das iſt zwar von gu-
ten Dichtern nicht aus der Acht gelaſſen, aber
von den Kunſtrichtern weniger bearbeitet wor-
den. Und hier nun, glauben wir, koͤnnen wir,
zu folge der obigen Erfahrungen und Schluͤſſe,
folgende Regeln feſtſezen.
1) Alle moraliſche Vergnuͤgungen und Lei-
den laſſen ſich leichter mittheilen, und werden
Z 5
[362]Einige Gedanken
ſtaͤrker mit empfunden, als die phyſiſchen. Un-
ter den phyſiſchen verſtehen wir diejenigen, wel-
che aus Veraͤnderungen der aͤußern Umſtaͤnde der
Perſon entſtehen; die, welche ſich [auf] die Be-
gierde nach Leben, Geſundheit, Rang, Vermoͤ-
gen und koͤrperlichem Vergnuͤgen gruͤnden. Mo-
raliſch aber nennen wir denjenigen Theil der
Gluͤckſeligkeit oder des Elends, welcher aus Ver-
aͤnderungen des innern Zuſtandes der Seele
ſelbſt entſpringt; denjenigen, welcher ſich auf
die Liebe des Menſchen zu ſeiner eignen Vollkom-
menheit, oder auf ſeine Zuneigung zu andern
moraliſchen Weſen gruͤndet. Es iſt ein Gluͤck
zu lieben, oder geliebt zu werden, es iſt ein
Elend, zu haſſen oder gehaßt zu ſeyn; es iſt ein
Gluͤck bey ſich ſelbſt ruhig und mit ſich zufrieden,
es iſt ein Ungluͤck uͤber ſich mißvergnuͤgt und
mit ſeinen Handlungen unzufrieden zu ſeyn. Der
Menſch alſo, welcher einen Freund verliert; der,
welchen ſeine Mitbuͤrger anfangen zu haſſen; der
das haſſen muß, was er zuvor geliebt hat; der
nicht mehr das hochachten kann, was er noch
[363]uͤber das Intereſſirende.
jezt liebt; der Menſch, welcher gezwungen wird,
von ſich ſelbſt ein nachtheiliges Urtheil zu faͤllen;
der Beſchaͤftigungen, an denen er ſonſt Vergnuͤ-
gungen fand, weil er ſie billigte, aufgeben muß,
weil er ſie jezt mißbilligt und verwirft: dieſer
Menſch iſt auf eine moraliſche Weiſe ungluͤcklich.
Man ſieht leicht, daß hier nicht von einer beſon-
dern Art der Ungluͤcksfaͤlle, ſondern von einer
beſondern Art der Eindruͤcke die Rede ſey, wel-
che jeder Ungluͤcksfall machen kann. Alle merk-
liche Veraͤnderungen des Gluͤcks werden zugleich
unſre Geſinnungen gegen gewiſſe Perſonen, oder
dieſer ihre gegen uns aͤndern; bey allen Vorfaͤl-
len wird unſer moraliſcher Zuſtand mit beruͤhrt
werden. Es koͤmmt nur darauf an, daß der
Dichter dieſen Geſichtspunkt faſſe, daß er ihn
fuͤr den wichtigſten halte, daß er ſelbſt in ſeiner
Perſon mehr von Freundſchaft und Ruhe des
Geiſtes, als von Reichthum und Wohlſtand ge-
ruͤhrt werde.
2) Der Dichter zeige uns mehr die Theilneh-
mung der andern Perſonen an dem Schickſale
[364]Einige Gedanken
der Hauptperſon, als dieſer ihr Ungluͤck ſelbſt.
Mit nichts koͤnnen wir beſſer ſympathiſiren, als
mit der Sympathie ſelbſt; keine Leidenſchaft
pflanzt ſich leichter fort, als die man ſelbſt durch
Mittheilung bekommen hatte. Einen Menſchen
ermordet zu ſehen, iſt ein mehr graͤßlicher als
ruͤhrender Anblick: aber eine troſtloſe Wittwe
uͤber die Leiche hingebuͤckt, verwaiſte Kinder um
dieſelbe herumſtehen zu ſehen, das iſt ruͤhrend.
Einen Mann koͤnnen wir vielleicht ruhig ins Ge-
faͤngniß ſchleppen ſehen; aber wir werden be-
wegt, wenn ſeine Familie hinter ihm her folgt,
und den Kerkermeiſter um Mitleiden und Gelin-
digkeit anfleht. So iſt es in der wirklichen
Welt; ſo finden wir es auch auf der Buͤhne.
Nicht der Fall des Helden, ſondern die vielfa-
chen Bewegungen, die dieſer Fall bey den Um-
ſtehenden erregt, das iſt es, woran wir Theil
nehmen. So ruͤhrt auch der Maler oft mehr
durch Affekten, die er auf den Geſichtern der
Umſtehenden ausdruͤckt, als durch die Haupt-
handlung ſelbſt.
[365]uͤber das Intereſſirende.
Die Geſchichte des Geſchmacks beſtaͤtigt dieſe
Anmerkung. Vor rohen Zuſchauern bringt man
alles, was auf dem Theater iſt, um; das heißt,
man will, daß alle Perſonen durch ihr eigen Un-
gluͤck, keine bloß durch ihre Theilnehmung an ei-
nem fremden Ungluͤck, die Zuſchauer ruͤhre. Aber
was iſt der Erfolg? Die Zuruͤſtungen der Exeku-
tion vergnuͤgen dieſe rohen Zuſchauer mehr, als
die Todesfaͤlle ſelbſt ſie ruͤhren. In einem aufge-
klaͤrten und geſchmackvollen Jahrhunderte laͤßt
der Dichter nur Einen ſterben, nur Einer wird
wirklich und perſoͤnlich ungluͤcklich. Aber die-
ſer Eine iſt ein Vater, er iſt ein Gemahl, ein
Hausherr, ein Koͤnig, eine Stuͤtze verlaſſener Ar-
men. Aller dieſer ihre Empfindungen ſind ſo
viel reflektirte Stralen, die ein gemaͤßigteres, aber
ein lieblicheres Licht geben, als die Stralen, wel-
che unmittelbar von dem Gegenſtande ſelbſt aus-
laufen.
3) Das Leiden des Verluſtes iſt ruͤhrender
als das Leiden des Schmerzens. Naͤmlich daran
liegt alles, daß der Zuſchauer von dem Zuſtande,
[366]Einige Gedanken
an dem er Theil nehmen ſoll, ſich ein vollſtaͤndi-
ges Bild machen koͤnne; daß ihm Ideen genug
gegeben werden, um ſeine Einbildungskraft ſelbſt
in Wirkſamkeit zu ſetzen, ſich dieſen Zuſtand vor-
zuſtellen. Aber von welcher Art des Leidens laſ-
ſen ſich die meiſten Ideen geben? oder vielmehr,
auf welche Art bricht jeder Schmerz, der an und
fuͤr ſich ein ſtummes unerklaͤrliches Gefuͤhl iſt, in
Gedanken und Worte aus? Faſt immer durch eine
Vergleichung ſeines jetzigen Zuſtandes mit dem
vergangnen. Der Kranke denkt an die Tage der
Geſundheit, der Arme ſtellt ſich den Wohlſtand
eines andern, oder ſeinen ehemaligen Wohlſtand
vor; der, welcher den Tod eines Freundes be-
trauert, erinnert ſich ſeines Umgangs. Was
ruͤhrt im Kaufmann von London am meiſten?
daß er hingerichtet wird? Nein; daß er alle die
Anſtalten erfaͤhrt, die zu ſeiner Gluͤckſeligkeit
waren gemacht worden, und die nun vergeblich
ſind.
Auch darauf, finden wir, werden die Dich-
ter von ſelbſt geleitet, ſobald der Geſchmack einer
[367]uͤber das Intereſſirende.
Nation waͤchſt. Was ſind in Zeiten der Barba-
rey die Gedichte und Erzaͤhlungen, durch welche
man ruͤhren will, was ſind jezt noch die Gedichte
und Erzaͤhlungen, die man fuͤr den Poͤbel macht?
Bloße ſimple Mordgeſchichte. Man haͤuft Un-
gluͤcksfaͤlle auf Ungluͤcksfaͤlle: und wenn man den
Eindruck noch durch etwas verſtaͤrken will; ſo iſt
es durch das Wunderbare der Vorfaͤlle. In un-
ſern beſten Tragoͤdien und Romanen hingegen,
wenn der Held ungluͤcklich werden ſoll, ſehen wir
doch das Gemaͤlde ſeiner Gluͤckſeligkeit einen we-
ſentlichen und wichtigen Theil ausmachen. Soll
eine Familie zerruͤttet werden: man fuͤhrt uns erſt
in dieſelbe ein, da ſie noch einig und gluͤcklich iſt;
oder man macht uns doch mit dieſem Zuſtande be-
kannt. Sollen einem Vater ſeine Kinder unge-
horſam, ſoll einem Liebhaber ſeine Geliebte untren
werden: man lehrt uns erſt, was es heiſſe, ein
Vater guter Kinder, und der Treue ſeiner Gelieb-
ten verſichert zu ſeyn.
4) Alle Leidenſchaften, oder vielmehr dieje-
nige Art jeder Leidenſchaft, bey welcher eine Thaͤ-
[368]Einige Gedanken
tigkeit der Seele, entweder zu Hervorbringung
von Gedanken, oder zu gewiſſen Beſtrebungen
und Entwuͤrfen vorkoͤmmt, ſind geſchickter nach-
geahmt und mitgetheilt zu werden, als die, welche
der Seele alle Kraft nehmen. Was iſt je in der
Poeſie ſchwerer geweſen, als bloße reine Trau-
rigkeit? Man ſchließt deswegen ſo bald als moͤg-
lich, wenn man ſieht, daß die Perſonen nichts
mehr uͤbrig haben, als zu klagen. Die Liebe
ſelbſt, dieſe ſo poetiſche Leidenſchaft, hoͤrt auf es
zu ſeyn, wenn ſie am meiſten bloß Liebe iſt; und
eine Scene, wo Liebhaber und Geliebte, ihrer ge-
genſeitigen Zuneigung ſchon gewiß, und von der
Einwilligung ihrer Verwandten verſichert, doch
noch mit einander heftig verliebt und intereſſant
reden ſollen, iſt eine erſchreckliche ſchwere Scene.
Warum das? Weil, wie wir ſchon geſagt haben,
wir uns mehr mit den Wirkungen und Handlun-
gen eines durch Leidenſchaften aufgebrachten Ge-
muͤths, als mit ſeinen Empfindungen vereinigen.
Wo Eifer etwas durchzutreiben, oder Behutſam-
keit etwas zu vermeiden vorkoͤmmt; wo Schwie-
[369]uͤber das Intereſſirende.
rigkeiten zu uͤberwinden, Anſtalten zu machen, Un-
ternehmungen und Erwartungen ſind: da wird
es erſt dem Dichter ſelbſt, und dann auch dem
Zuſchauer leichter, an die Stelle der Perſon zu
treten. Aber wo nun die Leidenſchaft ruhig bloß
ihrer ſelbſt genießt; wo ſie nichts mehr zu wuͤnſchen
noch zu fuͤrchten hat: da ſinkt der Flug des Dich-
ters; ſeine Begeiſterung wird matt, und mit ihm
erkaltet der Leſer.
Auf eine doppelte Art aber koͤnnen Leiden-
ſchaften wirkſam ſeyn, entweder indem ſie zu Ge-
danken Anlaß geben, oder indem ſie Unterneh-
mungen und neue Begierden erzeugen. Iſt die
Leidenſchaft von der Art der ſtummen, ſo muß ſie
unternehmend ſeyn; iſt ſie gelaſſen, ſo muß ſie
beredt ſeyn: der Schmerz auf dem Theater iſt ent-
weder Wehmuth oder Verzweiflung.
Aus dieſer Regel haben einige neuere Kunſt-
richter geſchloſſen, daß die ganz vollkommnen Cha-
raktere in der Dichtkunſt nicht intereſſant ſeyn koͤn-
nen, weil ſie nicht thaͤtig genug ſind. Aber iſt
dieſe Entſcheidung wohl richtig?
A a
[370]Einige Gedanken
Erſtlich muß man unter dem vollkommnen
Manne nicht den Menſchen verſtehen, der alle Ge-
ſchicklichkeiten und Wiſſenſchaften beſizt, ſo wie
Grandiſon zuweilen beſchrieben wird. Eine ſolche
Schilderung kann froſtig werden. Einmal, weil
ſie falſch und unnatuͤrlich iſt: denn einen ganz
tugendhaſten Menſchen kann es wohl geben, we-
nigſtens iſt das Ideal der moraliſchen Vollkom-
menheit kein Hirngeſpinſt, es iſt vielleicht die rein-
ſte, die unverfaͤlſchteſte Natur; aber einen Men-
ſchen, der bey der groͤßten Gelehrſamkeit, dem
feinſten Witze, auch der artigſte Hofmann, der
tapferſte Soldat, ein guter Fechter, Reiter und
Taͤnzer ſey, den kann es nicht geben, weil dieſe
Geſchichkeiten Uebungen erfordern, wovon die
eine die andre aufhebt. Zweytens, weil in ei-
ner ſolchen Schilderung immer Kleinigkeiten zu
viel Werth gegeben wird, auch wenn es der Dich-
ter nicht will.
Zweytens muß man unter dem vollkomme-
nen Charakter nicht nothwendig einen Catonſchen
Charakter verſtehen; wenn man den Cato ſo an-
[371]uͤber das Intereſſirende.
nimmt, wie Addiſon und die meiſten ihn ſchildern.
Seine Tugend iſt zu einſeitig; Muth und Ent-
ſchloſſenheit ſchimmert unter den uͤbrigen zu ſehr
hervor; ſein Wohlwollen iſt zu allgemein und zu
kalt: uͤberdieß thut er alles, was er thut, mit
einem gewiſſen Prunk. Der Charakter des So-
krates iſt nicht weniger vollkommen: aber ſeine
Schilderung wuͤrde weit intereſſanter ſeyn. Er
war auch ſtandhaft und beherzt, wenn es irgend
einer war: aber er trozte nicht der Gefahr oder
den Schwierigkeiten; er uͤberwand ſie, indem er
ſich unter ihnen zu beugen ſchien. Seine Men-
ſchenliebe iſt eben ſo rein, und von eben ſo großem
Umfange: aber ſie kann ſich bey einzelnen Perſo-
nen bis zur Zaͤrtlichkeit erwaͤrmen; er wird wech-
ſelsweiſe der Vater, der Bruder, der Freund, der
Geſpiele der Alten und der Kinder, mit denen er
ſpricht. Endlich iſt er in ſeinem Thun und Reden
einfaͤltig und gemein; in dem Innerſten ſeines
Geiſtes iſt der große und der außerordentliche
Menſch, auf der Oberflaͤche ſieht man nur den ge-
woͤhnlichen guten Mann.
A a 2
[372]Einige Gedanken
Dieß alſo abgeſondert: ſollte wirklich der
unvollkommne Menſch in ſeinem Bildniſſe uns ge-
fallen und an ſich ziehen; und der vollkommenſte
beſte Menſch ſollte uns langweilig ſeyn? Einzelne
Stralen der Tugend ſollten einen Charakter er-
waͤrmen, und das volle Feuer derſelben ſollte ihn
kalt machen?
Wir fuͤrchten uns vor einer Entſcheidung [...]
aber wir wuͤnſchten nur einige Data dazu zu
ſammlen, damit andre beſſer als wir entſcheiden
koͤnnten.
Von der einen Seite ſcheint es wahr, was
Diderot ſagt, daß der Lorber des Apollo durch
Blut befruchtet werden muͤſſe; daß faſt alle be-
traͤchtliche Ungluͤcksfaͤlle durch Verbrechen geſche-
hen; und daß in einer Welt voll tugendhafter
Menſchen keine tragiſche Begebenheiten mehr moͤg-
lich waͤren. Es ſcheint wahr, daß das Ungluͤck
nicht eher recht ruͤhrend wird, als wenn es ſich
ein ſonſt guter und von uns geliebter Mann durch
irgend einen Fehler ſelbſt zugezogen hat; es ſcheint
endlich wahr, daß eine gewiſſe Ausſchweifung und
[373]uͤber das Intereſſirende.
Schwaͤrmerey jeder Leidenſchaft, die ohne mora-
liſche Unordnung nicht moͤglich iſt, der beſte poe-
tiſche Stoff ſey.
Und doch ſehen wir auf der andern Seite,
daß wir den Mann, an deſſen Begebenheiten wir
Theil nehmen ſollen, lieben oder achten muͤſſen,
und daß ſich dieſe Liebe oder Achtung auf irgend
eine in ſeinem Charakter hervorleuchtende Tugend
gruͤndet; wir ſehen, daß verwickelte Ungluͤcks-
faͤlle bloß dadurch intereſſiren, weil wir eines wei-
ſen Mannes Entſchluͤſſe dabey ſehen wollen; wir
ſehen, daß nicht die Begebenheit intereſſirt, ſon-
dern der Charakter, und zwar gewiſſe Vollkom-
menheiten des Charakters, die durch die Begeben-
heit ſo zu ſagen aufgefodert und in volle Wirk-
ſamkeit geſezt worden: auch bey der Bosheit iſt
es der Muth, bey dem Betruge die Klugheit, wel-
che uns die Unterhaltung gewaͤhret.
Des Dichters Geſchaͤfte iſt freylich, die Na-
tur in aller ihrer Mannichfaltigkeit zu ſchildern;
und wenn die Natur mehr mittelmaͤßig gute als
vollkommene Menſchen hervorbringt; ſo wuͤrde
A a 3
[374]Einige Gedanken
ſein Gemaͤlde nicht treu und alſo auch nicht lehr-
reich ſeyn, wenn er uns ſehr oft fehlerloſe Men-
ſchen vorſtellen wollte. Ueberdieß wird er, wenn
er vollkommne Menſchen ſchildert, oft bloß nach
ſeiner Einbildungskraft, und nach ſeiner Idee
von Tugend ſchildern muͤſſen; und dieſe Idee
kann falſch oder mangelhaft ſeyn, dieſer Imagi-
nation kann es an Uebereinſtimmung der Theile
und richtiger Zuſammenſetzung fehlen; wenn er
aber fehlerhafte Menſchen ſchildert, ſo kann er
nach der Natur kopiren; und dieſe wird ihn we-
niger irre fuͤhren, oder er wird ſeine Irrthuͤmer
leichter einſehen lernen. Eben deswegen moͤgen
vielleicht vollkommne Charaktere weniger abwech-
ſelnd ſeyn. Nicht, als wenn es nicht in der Voll-
kommenheit eine Manunichfaltigkeit geben koͤnnte:
ſondern weil uns dieſe Mannichfaltigkeit weniger
bekannt iſt; da wir hingegen die Abwechſelungen
der Laſter oder der Thorheiten vor uns ſehen.
Das Bild von Vollkommenheit, auch des Einzel-
nen, hat immer einen Hang zu einem bloß allge-
meinen generiſchen Begriffe; wir wiſſen nicht, daß
[375]uͤber das Intereſſirende.
eder Menſch einer hoͤchſten Vollkommenheit faͤhig
iſt, die nur ſeine Vollkommenheit ſeyn wuͤrde; ſon-
dern wir wiſſen nur von einer hoͤchſten Vollkom-
menheit der ganzen Gattung. Unſre Moral ſelbſt
leidet noch von dieſer Unzulaͤnglichkeit unſrer Ein-
ſicht, weil ſie ſich ebenfalls die gemeinſchaftliche
Natur als das Muſter aller einzelnen Naturen
vorſtellen, und es alſo jedem Menſchen uͤberlaſſen
muß, die beſtimmtere Art der ihm eignen Voll-
kommenheit beſſer zu empfinden, als ſie ſie ihm
erklaͤren kann.
Es iſt alſo allerdings wahr, daß der Dichter
weniger darauf arbeiten muß, ſeinen Charakteren
die hoͤchſte moraliſche Groͤße, als vielmehr ihnen mo-
raliſche Richtigkeit und Verhaͤltniß zu geben; iſt er
ſelbſt nicht ein ſehr großer Mann, ſo wird er zu
der Bildung eines ſolchen Charakters ſeinen Geiſt
auf eine gewaltſame Weiſe anſtrengen muͤſſen, und
er wird nicht einen großen Mann, ſondern einen
großen Rieſen hervorbringen. Es iſt wahr, daß
der Dichter uns oͤfter das Spiel von Eitelkeit
und Verſtand, die Miſchung von Thorheit und
A a 4
[376]Einige Gedanken
Weisheit, als die einfoͤrmige ungehinderte Wirk-
ſamkeit der Tugend wird vorſtellen muͤſſen; denn
daran iſt uns am meiſten gelegen, die Geſchichte
der wirklichen Welt aus ihm, in ihren innern und
feinern Theilen, zu lernen.
Aber dann ſehen wir doch auch nicht,
warum es dem wahrhaftig großen Geiſte, der
ſich ſelbſt der Vollkommenheit naͤhert, der
das Auge gehabt hat, ſie bey andern ſtuͤckweiſe
aufzuſammeln, oder das Gluͤck, ſie im Gan-
zen in einem groͤßern Beyſpiele vor ſich zu ſe-
hen; dem Manne, deſſen Imagination weit
genug iſt, die Zuͤge der moraliſchen Bildung
zu vergroͤßern, ohne ſie zu verſtellen, und
welcher Einſicht genug hat, die allgemeine Idee
von Vollkommenheit mit den Eigenthuͤmlichkeiten
eines beſondern Charakters zu vergeſellſchaften:
wir ſehen nicht ein, warum es ihm nicht er-
laubt ſeyn ſollte, dieſes Ideal von Vollkommen-
heit, fuͤr welches ſein Herz am meiſten erwaͤrmt
iſt, zu ſchildern; oder warum dieſe Schilderung
[377]uͤber das Intereſſirende.
kalt werden ſollte? Giebt es denn keine lebhafte
Aeußerung des Geiſtes, als die Leidenſchaft?
Giebt es keine muthige Widerſetzung, als den
Zorn, keine innige Zuneigung, als eine weibi-
ſche Zaͤrtlichkeit? Oder muß der große Mann
allemal mit Pomp und einer gewiſſen Zuruͤſtung
reden und handeln; und giebt es nicht bey
dem hoͤchſten Verſtande eine Leichtigkeit und Ge-
meinheit des Ausdrucks, die allen verſtaͤndlich
iſt, und bey der hoͤchſten Tugend ein einfaches
und ungekuͤnſteltes Betragen, welches alle ein-
nimmt?
Der Dichter ſchoͤpfe nur die Ideen der
Vollkommenheit in ſich felbſt, er ſchildere ſie
nur nicht nach angenommenen Begriffen oder
Muſtern; er ſuche nicht dieſe Hoheit in den
Worten und in der Pracht der Rede; er neh-
me ſich nicht vor, einen Cato, einen Roͤmer,
ſondern einen großen Mann zu ſchildern; er
folge nicht den Meynungen der Geſchicht-
ſchreiber und der Kunſtrichter, ſondern ſeinen
A a 5
[378]Einige Gedanken
Empfindungen von Vollkommenheit: und dann
wird er, wenn wirklich in ſeiner Imagination
dieſes Bild liegt, wenn er ſchon dem Ziele nahe
genug iſt, um es im Geſichte zu haben, uns ge-
wiß das intereſſanteſte Gemaͤlde geben, das aus
der Feder eines Dichters fließen kann.
[379]
Anhang.
Geſchrieben im Jahre 1779.*)
Ohne Zweifel iſt die Schwierigkeit, einen feh-
lerhaften Plan auszufuͤhren, die Urſache
geweſen, warum dieſe Abhandlung damals un-
vollendet blieb, als ich ſie zuerſt ſchrieb. Dieſe
Schwierigkeit iſt jezt noch groͤßer geworden, da
die Laͤnge der Zeit, und die Entfernung von Un-
terſuchungen dieſer Art, alle die Begriffe bey mir
ausgeloͤſcht habey, mit denen ich die noch’fehlen-
den Theile auszufuͤhren gedachte. Ich hatte
naͤmlich drey Punkte uͤber das Intereſſe, das aus
Leidenſchaften entſteht, auszufuͤhren uͤbernom-
[380]Einige Gedanken
men: 1) Welches ſind die Leidenſchaften, an wel-
chen wir in der poetiſchen Schilderung am mei-
ſten Theil nehmen? Dieſe Frage iſt in dem zwey-
ten Stuͤcke der alten Abhandlung beantwortet.
2) Auf welche Art muͤſſen ſie geſchildert werden,
wenn ſie intereſſiren ſollen? 3) Fuͤr welche Lei-
denſchaften iſt es am nuͤzlichſten, die Menſchen
zu intereſſiren? Dieſe beiden Fragen ſind noch
zu beantworten uͤbrig. Aber die leztere gehoͤret
zur Unterſuchung der Natur des Intereſſirenden
gar nicht, und die erſte hat groͤßtentheils ſchon die
Beantwortung erhalten, deren ſie faͤhig iſt.
Denn, indem geſagt worden: daß die Lei-
denſchaften des Schmerzes mehr als die Leiden-
ſchaften des Vergnuͤgens; die aus moraliſchen
Urſachen entſtehenden mehr als die aus koͤrperli-
chen; die thaͤtigen mehr als die bloß duldenden;
die durch Sympathie mehr als die durch eigene
Eindruͤcke empfundnen intereſſiren: indem geſagt
worden, daß die Unruhe der Erwartung mehr Ein-
druck mache, als der Schmerz der Entſcheidung;
daß die Liebe gegen die Perſon, eine gewiſſe Billi-
[381]uͤber das Intereſſirende.
gung der Leidenſchaft, unſre Sympathie verſtaͤrke;
daß der Streit der Leidenſchaften am lebhafteſten
ruͤhre: ſind nicht eben dadurch die Mittel ange-
geben worden, wie Leidenſchaften geſchildert wer-
den muͤſſen, wenn ſie den Leſer oder Zuſchauer zur
Theilnehmung bewegen ſollen?
Naͤmlich jede Leidenſchaft iſt ein Zuſammen-
geſeztes aus vielen; jede hat vielerley Seiten
und Ausſichten. Jeder Schlag, der auf die
Seele geſchieht, zerruͤttet nicht bloß den Ort, wo
er hintrift, ſondern erſchuͤttert zugleich alle andre
empfindliche Stellen ihres Syſtems. Die Lei-
denſchaft iſt ein Feuer, deſſen Glanz und Waͤrme,
von hundert Seiten gebrochen und zuruͤckprallend,
ſich mit der Hauptflamme vereiniget. Was kann
man alſo anders thun, um die Frage zu beant-
worten: wie ſind Leidenſchaften zu ſchildern? als
daß man die Zergliederung derſelben anſtellt; daß
man die mittelbaren Wirkungen derſelben auf-
ſucht; und daß man anzeigt, welche Elemente der
Leidenſchaft, welche Art ihrer Wirkungen ſich in
der Nachahmung durch Worte am beſten aus-
[382]Einige Gedanken
nehmen, am klaͤrſten dargeſtellt werden koͤnnen,
und am kraͤftigſten wirken?
So ſind z. B. koͤrperliche und geiſtige Ver-
gnuͤgen und Schmerzen mit einander vermiſcht.
Die Ausſicht auf Wohlſtand und Ehre miſcht ſich
in die Unternehmungen unſrer reinſten Menſchen-
liebe. Das zaͤrtlichſte Bedauren geliebter Freun-
de hat zugleich den Schmerz uͤber entſtandene
aͤußere Unbequemlichkeiten oder verlorne Vortheile
zum Grunde. Aber auch keine Begierde iſt ſo koͤr-
perlich, daß nicht moraliſche Freuden und
Schmerzen, Liebe und Haß, Reue oder Wohlge-
fallen mit uns ſelbſt, Scham oder Stolz ſich dar-
ein miſchen. Wenn der Dichter alſo angewieſen
wird, in jeder Leidenſchaft die moraliſche Seite
aufzuſuchen; uns in den Schickſalen ſeiner Per-
ſonen vornehmlich die Wirkungen zu zeigen, die
dieſelben auf ihr Herz, ihre Geſinnungen, ihre
Denkungsart thun: ſo iſt die Methode der Schil-
derung ſo weit beſtimmt, als es durch Regeln ge-
ſchehen kann. Ferner: Einerley Begebenheit
kann entweder auf viele Perſonen durch Sympa-
[383]uͤber das Intereſſirende.
thie Einfluß haben, oder ſie kann nur eine einzi-
ge Perſon betreffen. Dieſelbe Art von Affekt kann
aus verſchiedenen Bewegungsgruͤnden entſtehn,
und bald Billigung oder Verzeihung, bald Miß-
billigung oder Abſcheu erhalten. Endlich, ſo
wie wenige Leidenſchaften in der Seele maͤchtig
werden, ohne durch andre verſtaͤrkt worden zu
ſeyn, ſo werden auch wenige eine Zeit lang in
der Seele fortdauern, ohne von entgegenſtehen-
den beſtritten zu werden. Indem man alſo ſagt:
der Dichter muß die Begebenheiten ſo anlegen,
die Charaktere der Perſonen ſo beſtimmen, daß
die Entſtehung der Leidenſchaften die er ihnen
beylegt, dem Leſer begreiflich ſey, und eben des-
wegen von ihm in gewiſſem Grade genehm ge-
halten werde: indem man ſagt, der Dichter muß
in jeder Leidenſchaft vornemlich den Streit ſchil-
dern, den ſie erregt: ſo hat man zugleich angege-
ben, wie er Leidenſchaften intereſſant machen
muͤſſe.
Alles uͤbrige, was ſich unter der Frage
Wie? begreifen laͤßt, iſt das Werk des Genies,
[384]Einige Gedanken
nicht der Regeln. Es enthaͤlt freylich weit mehr,
als daruͤber geſagt worden iſt, weit mehr als
daruͤber geſagt werden kann. Und eben deßwe-
gen ſind alle Unterſuchungen dieſer Art fuͤr den
Dichter unnuͤtz; und nur eigentlich dem Leſer
derſelben brauchbar, der ſeinen Geſchmack bil-
den, oder dem Moraliſten, der aus dem Bilde
den Menſchen ſelbſt kennen lernen will. Denn,
derjenige, deſſen Geiſteskraͤfte zur Erfindung der
beſonderſten Methode zureichen, die der Stoff
und das Werk erfodern, welches er vorhat, der,
deſſen Einbildungskraft ihm die einzelnen Worte
der Leidenſchaft, ihren Gang, ihre Ansbruͤche,
gerade in der einzigen Begebenheit weiſen, die er
bearbeitet: der wird auch durch eben dieſe Staͤrke
ſeines Geiſtes die allgemeinen Regeln finden, oder
ſie, ohne ſie zu wiſſen, beobachten, die der Phi-
loſoph ihm vorſchreiben kann. Dieſe Betrach-
tung ſollte die aeſthetiſchen Schriftſteller vor ge-
wiſſen allzu ſpeciellen und ins Kleine gehenden
Unterſuchungen bewahren, dieweil ſie dem Dich-
ter entbehrlich und zur Erkenntniß der Natur
[385]uͤber das Intereſſirende.
nicht erheblich genug ſind, eigentlich keiner Art
von Leſern nutzen, und nur zu einem leeren Ge-
praͤnge des Scharfſinns dienen. Ein Fehler,
vor dem ich mich ſelbſt vielleicht in dieſer Ab-
handlung nicht genugſam gehuͤtet habe.
Alles was man, außer der genauern Beſtim-
mung der Wahl der einzelnen Theile oder der
verſchiedenen Anſichten und Aeußerungen der
Leidenſchaften, von der Art ihrer Schilderung
ſagen kann, laͤßt ſich in die zwey Woͤrter zuſam-
menſaſſen: Wahr und natuͤrlich. Wahr be-
zieht ſich auf die Zuͤge des Gemaͤldes, es muß
aͤhnlich ſeyn: Natuͤrlich bezieht ſich auf die
Staͤrke des Kolorits: es muß nicht uͤbertrieben
ſeyn. Jenes iſt das Werk des Genies: es muß
ſich zu einem ſo hellen Anſchauen der Sache er-
heben koͤnnen, daß es die wahre Geſtalt derſel-
ben trift; dieß iſt das Werk des Geſchmacks; er
muß in dem Ausmalen des geiſtigen Bildes eine
gewiſſe Maͤßigung beobachten.
Wenn der Sprachgebrauch den Unterſchied
zwiſchen dieſen beyden Woͤrtern nicht vollkom-
B b
[386]Einige Gedanken
men rechtfectigt: ſo erkennt wenigſtens die ge-
ſunde Vernunft den Unterſchied, den wir zwi-
ſchen den beiden Begriffen gemacht haben. Es
iſt gewiß, dgß der Zeitpunkt, in welchem der
Dichter erfindet, und ſeinen Gegenſtand geiſtig
anſchaut, nicht derjenige iſt, wo er ſich hinſezt
und ſeine Verſe ausarbeitet. Es iſt gewiß, daß
jener Aktus in aller ſeiner Vollkommenheit vor-
gegangen ſeyn, und daß dieſer zweyte jene Voll-
kommenheit wieder verdunkeln oder zerſtoͤren
kann; daß der Dichter, indem er ſich zur aͤußern
Darſtellung ſeines innern Bilders wendet, wenn
er die Woͤrter, den Reim, das Sylbenmaaß
ſucht, das Wahre entweder zu kalt oder zu kuͤhn,
zu fluͤchtig oder zu umſtaͤndlich ſagen koͤnne.
Das Wahre iſt allen Epochen der Dichtkunſt
gemein. Zu jeder Zeit hat es große Geiſter ge-
geben, die die Natur kennen und fuͤhlen. Das
Natuͤrliche unterſcheidet ſie. In den aͤlteſten
Zeiten bleibt in der Schilderung der Leidenſchaf-
ten der Ausdruck etwas zuruͤck. Er iſt matt,
kurz, voruͤbereilend. In den Zeiten der bluͤ-
[387]uͤber das Intereſſirende.
henden Wiſſenſchaften und der verfeinerten Sit-
ten bekoͤmmt er mehr Leben, mehr Umſtaͤndlich-
keit: aber er bleibt noch beſcheiden, und concis;
in dem dritten Zeitraum wird er kuͤhn und uͤber-
trieben. Die Erſcheinungen der Leidenſchaft
werden zu weitlaͤuftig ausgemahlt, werden mit
zu hellen Farben erleuchtet. Homer, Virgil,
Lukan, koͤnnen die drey Muſter von dieſen Zeit-
altern ſeyn. Es iſt der Erfahrung gemaͤß, daß
das ſtaͤrkſte Intereſſe nur da ſtatt findet, wo
Wahrheit und Maͤßigung ſich mit einander verei-
nigen. Die dunkle Daͤmmerung des Morgens,
oder eines truͤben Tages, kann die Gegenſtaͤnde
richtig zeigen, aber es erhellt und belebt ſie nicht
genug, das Gemuͤth bleibt traͤge, indem es ſie
anſieht, und bekoͤmmt alſo weder klare Vorſtel-
lungen, noch merkliches Vergnuͤgen. Das helle
Licht des Mittags im Sommer macht die Ge-
genſtaͤnde glaͤnzend: aber es blendet, es ermattet;
es macht, daß wir die Augen von den Dingen
abkehren. Aber das ſanfte Licht des Abends
oder eines ſchoͤnen Herbſttages macht eigentlich
B b 2
[388]Einige Gedanken
die Gegend intereſſant. Das Auge wird erquickt,
geſtaͤrkt, indem es zugleich auf die Gegenſtaͤnde
hingezogen wird; das Gemuͤth bekoͤmmt lebhafte
Ideen, und bleibt doch in ſeiner Ruhe; wir ſe-
hen die Natur am meiſten natuͤrlich, weil we-
der Theile derſelben uns entwiſchen, noch ein
fremder Schimmer ſie entſtellt.
Dichter haben zu allen Zeiten noch beſondre
Methoden gewaͤhlt, die Leidenſchaften ihrer Per-
ſonen intereſſanter zu machen, indem ſie ſie ent-
weder mit einem beſonders ſchwaͤrmeriſchen und
fantaſiereichen Charakter verbunden, oder ſie
zu einem ſo hohen Grade getrieben haben, daß
ſie den Gebrauch der Vernunft voͤllig aufheben.
Die Heftigkeit der Leidenſchaften durch Wahnwitz
oder Raſerey zu ſchildern, in welche ſie bey
ſchwachen oder bey ungeſtuͤmen Temperamenten
ausarten, iſt mit dem Urſprunge der tragiſchen
Muſe gleich alt. Die Griechen hatten ihren
Ajax, ihre Hekuba, ihren Oreſtes; Schakeſpear
und Garrick ſind beide durch den Koͤnig Lear be-
ruͤhmt worden. Die ſchoͤnſten Scenen im Mak-
[389]uͤber das Intereſſirende.
beth ſind die, wo Gewiſſensbiſſe und Furcht ihm
und ſeiner am Koͤnigsmorde mitſchuldigen Fran
die Schreckenbilder ihrer Einbildungskraft als
wirkliche Geſtalten aufdringen. Die ſchwaͤr-
mende Clementine im Grandiſon, die ſchwaͤrmen-
de Julie im Romeo machen, jene den Roman,
dieſe das Trauerſpiel intereſſant. Dieſe ſo gluͤck-
lichen Beyſpiele haben viele Nachahmer gefunden.
Es iſt wahr, die Heftigkeit der Leidenſchaf-
ten faͤllt nie mehr in die Augen als wenn ſie das
Gemuͤth verruͤcken. Die Unordnung der Be-
griffe, der ſchnelle Uebergang von einem Gegen-
ſtande zum andern; die beſtaͤndige Ruͤckkehr ſelbſt
von den entfernteſten oder gleichguͤltigſten Din-
gen auf die Urſache der Leidenſchaft; die Erhoͤ-
hung der Imagination, die alle Begriffe in ſinn-
liche Geſtalten kleidet, und dieſe kuͤhn und mit
einer gewiſſen reiſſenden Geſchwindigkeit ſchildert;
alle die Symptome, die die Leidenſchaften zu ei-
nem poetiſchen Stoffe machen, ſind in dem Zu-
ſtande des Wahnwitzes noch in einem hoͤhern
Grade vorhanden. Zweytens. Dieſer Zuſtand
B b 3
[390]Einige Gedanken
iſt an und fuͤr ſich einer der traurigſten, die der
Menſchheit wiederfahren koͤnnen. Wenn er
wahr iſt, oder bis zu einer Art von Taͤuſchung
nachgeahmt werden kann: ſo findet er bey jedem
nicht ganz rohen oder verworfnen Menſchen Mit-
leiden; und wenn er eine Perſon trift, die we-
gen ihres vorzuͤglichen Verſtandes ſchaͤzbar, und
wegen ihrer anſtaͤndigen Auffuͤhrung liebenswuͤr-
dig war, ſo zerreißt er die Seele.
Ferner, ſo wie im Weine, ſo auch im Wahn-
witz iſt oft die Wahrheit. Was der Menſch
ſonſt verbirgt, das entdeckt er alsdann. Er
handelt nicht mehr nach Abſichten, ſondern nach
Eingebungen. Eine edle Seele zeigt ſich als-
dann noch gut, und erweckt noch mehr Mitlei-
den. Was Plato von den Traͤumen ſagt, das
gilt auch von dieſem ungluͤcklichen Zuſtande, wo
der Menſch wachend traͤumt. Die Einbildun-
gen des Verruͤckten richten ſich nach dem Cha-
rakter, den er bey geſundem Verſtande gehabt
hat, und ſchildern denſelben.
Unterdeſſen, ſo wie alle Kunſtgriffe, die
nicht in der Natur der Sache ſelbſt liegen, nur
[391]uͤber das Intereſſirende.
wenigemale gebraucht werden muͤſſen, wenn ſie
nicht ihre Kraft verlieren ſollen: ſo iſt es auch
mit dieſer Art von poetiſchem Kunſtgriffe beſchaf-
ſen. Wohl gebraucht verfuͤhrt er die Seele das
erſtemal ganz; er entzuͤckt, er bezaubert. So iſt
es mir mit der Clementine, mit der Julie gegangen.
Oefterer wiederholt, wird er, wenn er auch in aller
Vollkommenheit angewandt wird, ſtumpf und
unkraͤftig. Beſonders aber kann nichts leichter
uͤbertrieben werden, als ein ſolches Gemaͤlde;
nichts leichter verfehlt, als die Abſicht deſſelben.
Zuerſt iſt es ausgemacht, daß es immer am
leichteſten iſt, die Extremen zu ſchildern. Man
braucht keine Wahl mehr, wenn man alles aufs
aͤußerſte treiben darf. So iſt es ſchon bey der
groͤßten Hitze der Leidenſchaften, auch wenn ſie
den Menſchen noch bey dem Gebrauche ſeiner
Vernunft laͤßt. Es gehoͤrt zu eben der Maͤßi-
gung, von der ich oben geredet habe, daß die
poetiſche Schilderung innerhalb der mittlern
Grade der Leidenſchaften ſtehen bleibe, wo die
groͤßte Mannichfaltigkeit, die meiſten feinen
B b 4
[392]Einige Gedanken
Schattirungen, die groͤßte Vermiſchung mit
verwandten, der meiſte Streit mit entgegenſte-
henden Begierden ſtatt findet. Nichts graͤnzt
naͤher an Schwulſt, oder kann leichter dazu ver-
fuͤhren, als die Sprache der alleraͤußerſten Lei-
denſchaft; und nichts iſt kaͤlter und weniger in-
tereſſant als Schwulſt. Eben der Mangel der
Urtheilskraft und des Geſchmacks, der die roͤ-
miſchen Dichter des ſchlechtern Zeitalters verlei-
tet hat, erhabne Gedanken durch den Ausdruck
ſchwuͤlſtig, oder feine ſpitzfuͤndig zu machen: eben
der hat ſie auch dazu gebracht, jeden Zorn in
Wuth, jede Liebe in ſchmelzende Zaͤrtlichkeit oder
tobende Begierde, den Stolz in unmenſchliches
Aufblaͤhen, und den Muth der Tugend in Goͤt-
tergroͤße zu verwandeln.
Aber noch weit weniger genaue Richtigkeit,
weniger beſtimmte Wahrheit iſt da noͤthig, wo
Perſonen auftreten, die ihres Verſtandes beraubt
ſind. Der Abwege von der Vernunft ſind un-
zaͤhlige; der Weg der Vernunft, oder einer der
Vernunft untergeordneten Leidenſchaft iſt jedes-
[393]uͤber das Intereſſirende.
mal nur ein einziger. Alles was nur nicht rich-
tig, nicht zuſammenhaͤngend, nicht zur Sache
gehoͤrig iſt, iſt hinlaͤnglich den Zuſtand des
Wahnwitzes zu ſchildern. Aber das Gemaͤlde
einer von Leidenſchaften beſtrittnen Vernunft er-
fodert Zuͤge, die mit dem Charakter, den Faͤ-
higkeiten, der Lage der Perſon genau uͤberein-
ſtimmen. Es iſt fuͤr den Dichter weit leichter,
ſeine Einbildungskraft ſchwaͤrmen zu laſſen, als
ſie zu gleicher Zeit zu erhoͤhen und zu fixiren.
Und obgleich auch das verwirrte Gemuͤth ſeine
Geſeze hat, wornach es handelt und denkt, ſo
ſind doch dieſe Geſeze weit weniger ausgemacht,
weit weniger bekannt. Der Dichter arbeitet
nach einem unbeſtimmtern Modell, der Zuhoͤrer
urtheilt nach einer unſichern Regel.
Ueberdieſes kann dieſer Gemuͤthszuſtand nur
unter viel Einſchraͤnkungen den Zuhoͤrer ruͤhren.
1) Soll die Abweſenheit der Vernunft nur Mit-
leiden uud Jammer erwecken: ſo muß bey der
Gegenwart derſelben uns die Perſon Hochach-
tung eingefloͤßt haben. In einem ganz neuen
B b 5
[394]Einige Gedanken
Stuͤcke *) wird eine der Hauptperſonen gleich
vom Anfange an als melankoliſch, und bey
heftigen Anfaͤllen als raſend vorgeſtellt. 2) Die
Urſache muß nicht nur wichtig genug ſeyn, um
eine ſolche gaͤnzliche Zerruͤttung der Werkzeuge
des Gemuͤths hervorzubringen, ſondern ſie muß
auch von der Art ſeyn, aus welcher, nach der
Erfahrung, eine ſolche Veraͤnderung zu entſte-
hen pflegt. Es giebt ſehr große Ungluͤcksfaͤlle,
heftige Leidenſchaften, tiefer Gemuͤthskummer,
die doch niemals die Vernunft angreifen, oder
die Werkzeuge derſelben in Unordnung bringen.
Andre Leidenſchaften hingegen, dem Anſcheine
nach weniger ſtark, haben oft dieſe ungluͤckliche
Wirkung gethan. Die Liebe ſteht in dieſer Liſte
der Zerſtoͤrerinnen der menſchlichen Vernunft
oben an. Ihre aͤußerſte Heftigkeit, oder ihre
fehlgeſchlagnen Erwartungen, haben mehr Wahu-
witzige gemacht, als alle andre Affekten zuſam-
mengenommen. Die Reue uͤber einen Koͤnigs-
mord, und bie Furcht vor den Folgen, kann
[395]uͤber das Intereſſirende.
machen, daß die Haͤnde dem Moͤrder blutig er-
ſcheinen. Aber es ſcheint mir weniger natuͤrlich,
daß ein alter Mann, ein Koͤnig, durch die Un-
dankbarkeit ſeiner Toͤchter koͤnne raſend gemacht
werden. 3) Es muß mehr Schwaͤrmerey als
Wahnwitz ſeyn. Raſerey oder Narrheit ſind
nach meinem Gefuͤhl immer, jene ſchrecklich, dieſe
laͤcherlich, und koͤnnen niemals anders als be-
leidigen oder Verachtung erregen anſtatt zu ruͤh-
ren. 4) Die Anfaͤlle muͤſſen nur kurz und ab-
wechſelnd ſeyn. Scenen dieſer Art moͤgen noch
ſo gut gearbeitet ſeyn, wenn ſie lange dauren,
ſo werden ſie eckelhaft. In dem vorgedachten
Stuͤcke, erſcheint eine Mutter gleich vom Anfan-
ge an melankoliſch, hat wiederholte Anfaͤlle
von Raſerey, und ſtirbt an den Folgen derſelben.
Die Tochter wird nach dem Tode der Mutter
ebenfalls unſinnig, ſpielt die naͤmliche Rolle zum
zweytenmale, und ſtirbt auf eine aͤhnliche Art.
Ich habe nie ein Stuͤck geſehn, wo, bey ſo vielen
Anlagen zur Ruͤhrung, ich ſo viel gelitten, ich
ſo aͤngſtlich gewuͤnſcht haͤtte, von der Quaal des
[396]Einige Gedanken
Zuſchauens ſolcher Auftritte befreyt zu werden.
So leicht iſt es in die aͤußerſten Fehler zu fallen,
wenn man das Ruͤhrende durch außerweſentliche
Mittel verſtaͤrken will.
Das wahrhaft große und maͤnnliche Genie
zeigt ſich am meiſten, wenn es die Natur in ih-
rer Reinigkeit und Geſundheit ſchildert. Die
Leidenſchaft iſt in dem Gemaͤlde der Seele, was
die Bewegung in der Schilderung der Koͤrper.
Ohne ſie koͤnnen wir nicht die Kraͤfte gewahr
werden, die in beiden verborgen liegen. Aber
ſie werden dazu unnuͤtz, wenn ſie bis zur voͤlli-
gen Zerſtoͤrung derjenigen Charaktere und Ge-
ſtalten anwachſen, die wir eben durch ſie genauer
und lebhafter ſehen wollen.
Anſtatt Vorſchriften und Grundſaͤtze dieſer
Art noch mehr zu haͤufen, wollen wir einen der
beruͤhmteſten leidenſchaftlichen Auftritte, den Tod
der Dido im vierten Buche der Aeneis, unterſuchen,
und diejenigen Umſtaͤnde bemerken, die in dem-
ſelben vorzuͤglich intereſſant ſcheinen.
[397]uͤber das Intereſſirende.
Wenn Virgil, uns fuͤr die Liebe der Dido
intereſſiren wollte, ſo mußte er machen, daß wir
dieſelbe in einem gewiſſen Grade billigen: wenn
er wollte, daß wir an ihrem Ungluͤcke Theil naͤh-
men, ſo mußte er machen, daß wir ſie ſelbſt
hochachten.
Eine ſo heftige Leidenſchaft, ſo ploͤzlich ent-
ſtanden, und bis auf die Hoͤhe getrieben, wo
ſie zur Verzweiflung fuͤhrt, iſt allemal ein Fleck in
dem Charakter. Sie mußte alſo ſtarke Urſachen
haben. Aeneas mußte ſehr liebenswuͤrdig ſeyn.
So hat ihn auch Virgil geſchildert. Sanft-
muth, Froͤmmigkeit, Zaͤrtlichkeit gegen die Sei-
nen, mit Muth verbunden, machen den Cha-
rakter des Aeneas aus; Eigenſchaften die dem
weiblichen Geſchlechte vorzuͤglich gefallen. Ae-
neas war ſchoͤn. Aber Venus erhoͤhte noch, als
ſie ihn zur Dido einfuͤhrte, ſeine natuͤrliche Bil-
dung, durch wunderbar uͤber ſeine Geſtalt und
ſein Betragen ausgegoßne Reize.
— — namque ipſa decoram I, 593.
Caeſariem nato genetrix, lumenque juuentae
Purpureum et laetos oculis adflarat honores.
[398]Einige Gedanken
Dieſe Eigenſchaften, die im Aeneas ſelbſt lie-
gen, laͤßt der Dichter nicht allein wirken. Die
Liebe der Dido iſt ein unmittelbares Werk des
Amors, der ſich unter der Geſtalt des Aſcanius
zu ihr einfuͤhren laͤßt.
Virgil, der ſonſt weit moraliſcher iſt, als
ſeine Vorgaͤnger, bleibt doch hier dem Syſtem
getreu, das in der ganzen fabelhaften Geſchichte
und in allem poetiſchen Stoffe der Alten herrſcht,
nach welchem Menſchen von der Gottheit unwi-
derſtehlich zu Handlungen getrieben werden, wo-
fuͤr ſie doch in der Folge als fuͤr freywillige leiden
muͤſſen. Dieſes Syſtem, das die Alten nicht be-
leidigte, weil ſie bloß die Macht der Gottheit
verherrlichen wollten, iſt unſrer Empfindung zu-
wider, weil wir die Gottheit vornaͤmlich durch
Gerechtigkeit erhoͤht wiſſen wollen. Das In-
tereſſe ganzer Geſchichte wird dadurch unſtreitig
fuͤr uns geſtoͤrt; das Intereſſe einzelner Scenen,
weniger. Es ſcheint zwar die ſtufenweiſe Ent-
wickelung der Leidenſchaft wegzufallen, wenn
eine Gottheit ſie einpflanzt: aber bey den gu-
[399]uͤber das Intereſſirende.
ten Dichtern des Alterthums uͤberwindet die Na-
tur das Syſtem. Sie nehmen an, daß die Lei-
denſchaft durch ein Wunder erſchaffen wird, und
laſſen ſie doch ſo allmaͤhlig wachſen, als wenn
ſie aus natuͤrlichen Urſachen entſtanden waͤre.
Virgil hat noch mehr fuͤr die Dido gethan,
um uns durch ihre Geſtalt und ihren Charakter
einzunehmen, als ſelbſt fuͤr ſeinen Held.
Ihre Geſtalt iſt in den ſchoͤnſten Verſen des
erſten Buchs beſchrieben.
ma Dido
Inceſſit, magna iuuenum ſtipante caterua.
Qualis in Eurotae ripis, aut per iuga Cynthi
Exercet Diana choros; quam mille ſecutae
Hinc atque hinc glomerantur Oreades, illa
pharetram
Fert humero, gradiensque deas ſupereminer
omnes:
Latonae tacitum pertentant gaudia pectus.
Talis erat Dido.’
Oder vielmehr ihre Schoͤnheit wird nicht be-
ſchrieben; aber wir bekommen durch dieſe Verſe
[400]Einige Gedanken
den Eindruck von einer großen hohen edeln Ge-
ſtalt, welche Ehrfurcht erweckt.
So wie Sanftmuth bey einem tapfern Man-
ne, ſo iſt Wuͤrde bey einer ſchoͤnen Frau, das
was uns am meiſten feſſelt.
Der Charakter ihrer Geſtalt iſt auch der Cha-
rakter aller ihrer Reden und Handlungen.
Wir finden ſie zuerſt beſchaͤftigt mit Gruͤn-
dung ihres neuen Staats, Gebaͤude aufzufuͤh-
ren, Geſeze zu geben, Recht zu ſprechen.
Ihre erſte Rede an die geretteten Trojaner
iſt voller Wuͤrde, Sie zeigt Muth und Vorſich-
tigkeit gegen die Fremden, die an ihren Ufern
landen wollten, in der Abſicht zu ſchaden.
Moliri et late fines cuſtode tueri.’
Dieß hatte die Anſtalten hervorgebracht, uͤber
welche die Trojaner ſich beklagen. Sie zeigt
Großmuth und Gaſtfreyheit gegen die Ungluͤck-
lichen, die durch das Schickſal auf ihr Ufer aus-
geworfen werden.
[401]uͤber das Intereſſirende.
Was ſie den Gefaͤhrten des Aeneas ſagt,
hat nur den Ausdruck von Menſchenliebe, mit
einer gewiſſen Hoheit verbunden.
etc. I, 562.’
Was ſie dem Aeneas ſelbſt ſagt, hat ſchon mehr
die Sprache des Herzens, es zeigt von Freund-
ſchaft und Hochachtung.
Inſequitur.’
Sie erinnert ſich ihrer alten Bekanntſchaft mit
den Trojanen.
nire etc. 619.’
Sie gedenkt endlich, welches ſchon eine gewiſſe
Vertraulichkeit vorausſezt ihres eignen Ungluͤcks.
Der Eindruck, den Aeneas auf ſie macht,
findet in ihrem Herzen einen Widerſtand, aus
welchem natuͤrlicher Weiſe Streit, und aus dem
C c
[402]Einige Gedanken
Streit groͤßeres Intereſſe entſtehen muß. Die-
ſer Widerſtand liegt in der Liebe zu ihrem ver-
ſtorbnen Gemahl, geſtaͤrkt durch die Gefahren,
die ſein Tod ihr zugezogen, durch die Unterneh-
mungen zu denen er ſie veranlaſſet hat; in dem
oͤffentlich erklaͤrten Entſchluſſe, nie eines andern
zu ſeyn; endlich in der Wuͤrde einer Regentinn
und Geſezgeberinn ſelbſt. Der Schatten ihres
Gemahls wird durch die entſtehende Neigung be-
leidigt; ihr Anſehn wuͤrde durch den gebrochnen
Eid leiden, wenn ſie dieſer Neigung nachgaͤbe.
So iſt das Herz beſchaffen, das ſie ihrer
Schweſter Anna, nach einer ſchlafloſen, in ver-
liebter Unruhe und Kampf zugebrachten Nacht
eroͤfnet.
terrent!’
Alles was ſie hier ſagt, iſt das erſte, natuͤrlich-
ſte, was ein von einer entſtehenden Liebe beun-
ruhigtes Weib ſagen kann, wenn ſie eine Freun-
dinn hat, vor der ſie ihr ganzes Herz ausſchuͤttet.
[403]uͤber das Intereſſireude.
„Was fuͤr ein Mann iſt dieſer Fremdling!
„Wie ſchoͤn, wie tapfer, wie edel! Es iſt nicht
„moͤglich ſeine hohe Abkunft zu verkennen. Und
„was fuͤr Thaten er gethan, was fuͤr Gefahren
„er ausgeſtanden hat! Ja wenn ich nach dem
„Sichaͤus noch einen andern lieben koͤnnte, ſo
„wuͤrde es dieſer geweſen ſeyn. Aber lieber
„wollte ich ſterben, ehe ich die Treue gegen die-
„ſen Gemahl verlezte.“
Dieſe ganz einfaͤltigen aber wahren Gedan-
ken haben im Virgil, durch die Wahl der Woͤr-
ter und ihre Stellung, eine poetiſche Wuͤrde be-
kommen, ohne etwas von ihrem Natuͤrlichen zu
verlieren.
Zuerſt redet ſie von ihrer Liebe nur noch
als von einer ungewiſſen, einer moͤglichen Nei-
gung.
Einen Augenblick drauf, geht ſie einen Schritt
weiter. Sie geſteht ein, daß ſie den Aeneas
wirklich liebt.
C c 2
[404]Einige Gedanken
Impulit. Agnoſco veteris veſtigia flammae.’
Aber nichts verraͤth ihre Leidenſchaft mehr, als
die Heftigkeit und Staͤrke des Ausdrucks mit
welcher ſie ſchwoͤrt, derſelben nicht nachzugeben.
Vel pater omnipotens adigat me fulmine ad
umbras,
Ante, Pudor, quam te violo, aut tua iura
reſoluo.’
Anna, die Schweſter der Dido, die, wenn
ſie auch nicht ganz ein Geſchoͤpf des Dichters
war, doch mehr von ſeiner Willkuͤhr abhieng,
weil er durch keine ſehr bekannte Tradition ein-
geſchraͤnkt wurde, konnte entweder ſich dieſer
Leidenſchaft widerſetzen, oder ihr ſchmeicheln.
Das erſte, duͤnkt mich, wuͤrde im Drama ein
lebhafter Intereſſe gegeben haben, wo die Ge-
ſchichte der Leidenſchaft ſelbſt der Hauptgegen-
ſtand waͤre. Der Dichter hat das zweyte beliebt.
Ohne Zweifel, weil er in einer bloßen Epiſode
ſeines Werks die Leidenſchaft ſchneller ihrer Ka-
[405]uͤber das Intereſſirende.
taſtrophe zueilen laſſen mußte, zu welchem Ende
es noͤthig war, den innern Kampf der Dido ab-
zukuͤrzen, und ihren Ehrgeitz und ihre Scham-
haftigkeit geſchwind zu uͤberwinden.
Anna billigt alſo die Neigung der Dido ganz,
hebt alle Bedenklichkeiten, findet in der Ankunft
der Trojaner eine beſondre Fuͤhrung der Goͤtter,
und in der Verbindung mit dem Aeneas die Aus-
ſicht auf kuͤnftige Sicherheit und Groͤße ihres
Staats.
Dieſe Gruͤnde ſind kurz, deutlich, gedraͤngt,
und mit maͤßigem Affekt ausgefuͤhrt. Die Re-
den der Anna werden nur durch dieſe Art der
Beredſamkeit intereſſant.
Es iſt oben geſagt worden, daß unſer Mit-
leid mit dem Ungluͤck eines andern noch lebhaf-
ter wird, wenn er durch eben den Umſtand in
daſſelbe geraͤth, der in ihm wahrſcheinliche Hof-
nungen von Groͤße und Gluͤckſeligkeit erweckte.
Von dieſer Seite betrachtet, tragen die ermun-
ternden Vorſtellungen der Anna etwas dazu bey,
die Empfindung der folgenden traurigen Auftrit-
C c 3
[406]Einige Gedanken
te zu ſchaͤrfen. Wenn der Leſer ſich an die Stelle
der Dido ſtellt, ſo erhebt ſich ſein Herz uͤber der
wahrſcheinlichen und nahen Ausſicht, alle ihre
Wuͤnſche auf einmal erfuͤllt, ihren Staat groͤßer
und ihre Leidenſchaft befriedigt zu ſehn. Deſto
ſtaͤrker wird es durch den Kontraſt des Ausgangs
geruͤhrt.
Dido wurde wenigſtens von den Vorſtellun-
gen ihrer Schweſter auf dieſe Art getaͤuſcht.
Spemque dedit dubiae menti, ſoluitque pu-
dorem.’
Die Phaͤnomene der ſchon herrſchenden Liebe be-
ruͤhrt Virgil mit der ihm eignen Weisheit, nur
kurz; mahlt ſie nicht aus, ſondern bezeichnet ſie
nur durch einige allgemeine ſtarke Zuͤge.
Das Vergnuͤgen, mit welchem ſie den fol-
genden Tag den Aeneas in ihrer neuen Stadt
herumfuͤhrt; die Verwirrung die ſie uͤberfaͤllt, ſo
oft ſie mit ihm ſpricht; der Eifer mit welchem ſie
ſich die Schickſale von Troja zum zweytenmale
erzaͤhlen laͤßt; die Liebkoſungen gegen den Aſca-
[407]uͤber das Intereſſirende.
nius; ihre ſchlafloſe Naͤchte; ihre ploͤzliche Gleich-
guͤltigkeit gegen alle ihre liebſten Geſchaͤfte, gegen
ihre wichtigſten Angelegenheiten, dieß ſind die
Zuͤge durch welche er das verliebte Herz der Dido
ſchildert.
Juno und Venus kommen uͤberein, den Ae-
neas und die Dido bey Gelegenheit einer Jagd,
in eine Hoͤle zu bringen, um ihrer Flamme zu
vollem Ausbruche zu verhelfen.
Die Schutzgoͤttin der Dido ſcheint in dieſem
Geſpraͤch das Herz des Leſers auf ſeiner Seite zu
haben, wie Dido ſelbſt in der ganzen Geſchichte.
Sie verlangt nicht mehr den Untergang ihres
Feindes, ſie wuͤnſcht nur die Erhaltung, die
Gluͤckſeligkeit ihres Lieblings.
Die Anſtalten der Jagd, und das Gemaͤlde
derſelben, iſt eine kurze Zerſtreuung von den lei-
denſchaftlichen Scenen, die weder lang noch
ununterbrochen ſeyn duͤrfen, wenn ſie nicht den
Dichter und den Leſer erſchoͤpfen ſollen.
Das Intereſſe der Erwartung iſt nirgends
groͤßer als in dieſem Zeitpunkte. Der Leſer kennt
C c 4
[408]Einige Gedanken
nun die Heftigkeit der Leidenſchaft der Dido. Er
ſieht die fuͤrchterliche Verſuchung zum voraus.
Er ahndet etwas ſchlimmes, da er auf der einen
Seite die unwiderruflichen Schluͤſſe des Schick-
ſals uͤber den kuͤnftigen Sitz des Aeneas weiß,
und auf der andern Seite vorausſieht, daß nur
ein eheliches Band und ein beſtaͤndiger Aufent-
halt des Aeneas zu Carthago die Ehre der Dido
retten, oder ihre Leidenſchaft beſaͤnftigen koͤnne.
Die Scene der Hoͤle wird vom Virgil mit
der feinſten Sittſamkeit beruͤhrt. Er macht ſie
nur fuͤrchterlich durch die Ungluͤckweiſſagenden
Meteoren die vorhergehn;
Connubiis, ſummoque ulularunt vertice
Nymphae.’
und er laͤßt ihre Natur errathen, durch die Fol-
gen die ſie hat.
Nec iam furtiuum Dido meditatur amorem;
Coniugium vocat: hoc praetexit nomine cul-
pam.’
[409]uͤber das Intereſſirende.
Sobald Dido der Verſuchung untergelegen, ſo-
bald iſt auch ihre Schamhaftigkeit uͤberwunden.
Durch den Genuß wird die Liebe auch des an-
dern Geſchlechts dreiſter, beſonders bey einer
Perſon, die Macht und Anſehn beſizt. Dido
geſteht die ihrige oͤffentlich; und ſucht durch die
Hofnung und das Vorgeben der Ehe, ihre ſtraf-
bare Schwachheit vor ſich und vor ihrem Volke
zu beſchoͤnigen.
Es iſt zweifelhaft, aus welcher Urſache Vir-
gil hier den Jarbas [auftreten] laͤßt; einen ehedem
von Dido verſchmaͤhten Afrikaniſchen Fuͤrſten,
der, da er jezt erfaͤhrt, daß ſie ſich einem Fremd-
linge Preiß giebt, von Eiferſucht entbrannt, den
Jupiter, deſſen Gottesdienſt er in ſeinem Lande
eingefuͤhrt hatte, um Rache anfleht.
Geſchieht es bloß, um die Haupthandlung,
durch das Bild der Fama (V. 174—197) und
der Eiferſucht zu unterbrechen?
Oder geſchieht es, um dem Leſer, der zu
partheyiſch fuͤr Dido eingenommen iſt, und eben
deßwegen den Held des Dichters weniger liebt,
C c 5
[410]Einige Gedanken
gegenſeitige Eindruͤcke beyzubringen, und ihm
zu zeigen, daß Dido eben ſo ungerecht gehandelt
habe, als ihr jetzo begegnet wird?
Oder hat Virgil dadurch bloß einen kuͤrzern
Weg zur Entwicklung der Geſchichte finden wol-
len, indem Jupiter, dieß Verlangen ſeines An-
beters zu erhoͤren, den Merkurius zum Aeneas
abſendet, ihm die Abfahrt von Carthago befeh-
len zu laſſen?
Aeneas folgt dieſem Befehl ohne Wider-
ſpruch.
Er hat nicht mit ſich zu kaͤmpfen. Sein Ent-
ſchluß iſt gleich gefaßt; aber er iſt doch wegen
des Schickſals der Dido nicht ohne Unruhe.
tem
Audeat adfatu, quae prima exordia ſumat.’
Er traͤgt es ſeinen Gefaͤhrten auf, fuͤr die Aus-
ruͤſtung der Flotte zu forgen. Er ſelbſt nimmt es
uͤber ſich, dieſe Nachricht der Dido zu der gele-
[411]uͤber das Intereſſirende.
genſten Zeit, und mit der groͤßten Schonung
beyzubringen.
Tempora, quis rebus dexter modus.’
Aeneas iſt alſo nicht ganz unzaͤrtlich. Aber er
iſt doch fuͤr unſre Empfindung fuͤr unſre Sitten
zu kalt. Ohnezweifel hat das Alterthum, das
in Muth und Entſchloſſenheit faſt alle Tugenden
der Maͤnner ſezte, und das die Liebe fuͤr eine
ſchaͤndlichere Schwachheit derſelben anſah als
wir, anders davon geurtheilt. Davon aber
bin ich noch nicht uͤberzeugt, daß Aeneas nicht
fuͤr alle Zeitalter intereſſanter geworden waͤre,
wenn bey ihm, wo nicht Liebe, doch Dankbar-
keit mit der Pflicht des Gehorſams gekaͤmpft
haͤtte.
Dido erfaͤhrt die Anſtalten zur Abreiſe, ehe
ſie noch Aeneas ihr entdeckt.
Die Vorwuͤrfe in die ſie ausbricht, da ſie ihn
ſieht, (V. 305 — 330) die kalte und bloß ver-
[412]Einige Gedanken
nuͤnftige Antwort deſſelben (V. 333 — 361)
und die noch heftigern Ausbruͤche des Zorns
und der beleidigten Liebe bey der Dido (365 —
387) gehoͤren unter die ſchoͤnſten Stellen dieſes
Buchs.
In allen Reden der Leidenſchaft ſind in der
That diejenigen am intereſſanteſten, die zugleich
eine moraliſche Empfindung ausdruͤcken. Wenn
Dido dem Aeneas vorwirft, was ſie alles um
ſeinetwillen aufgeopfert habe, ſo faͤllt mir nichts
mehr auf als der Vers:
— — te propter eundem
Exſtinctus pudor, et qua ſola ſidera adibam,
Fama prior.
Wenn Aeneas ſich rechtfertigt: ſo macht keine
ſeiner Vorſtellungen mehr Eindruck bey mir, als
die Sehnſucht nach ſeinem alten Troja und
nach den Ueberreſten der Seinigen. Da das
Schickſal zu dieſen zuruͤckzukehren ihm nicht er-
laubt, wie viel weniger wird es ihm vergoͤnnen
in Afrika zu bleiben?
[413]uͤber das Intereſſirende.
Auſpiciis, et ſponte mea componere curas;
Vrbem Troianam primum, dulcesque meorum
Reliquias colerem.’
Aber es iſt gewiß, daß Dido, im ganzen
genommen, weit intereſſanter ſpricht, weil ſie
mehr geruͤhrt iſt.
Virgil iſt der Natur getreu, wenn er den
Zorn und die Leidenſchaft der Dido durch die
kalte Vertheidigung des Aeneas noch anwachſen
laͤßt.
Num lacrimas victus dedit, aut miſeratus
amantem eſt?’
Vorher hatte ſie nur die Rechte der Liebe fuͤr
ſich angefuͤhrt, jezt ruͤckt ſie ihm ihre Wohltha-
ten vor.
Excepi, et regni demens in parte locaui.’
Vorher hatte ſie ſich nur uͤber ihr Ungluͤck be-
klagt, jezt will ſie das ſeinige.
[414]Einige Gedanken
Audiam, et haec manes veniet mihi fama ſub
imos.’
Erſchoͤpft von Liebe und Zorn, verliert Dido
das Bewußtſeyn, ſobald mit der Gegenwart des
Aeneas, dieſe heftige Aufwallung aufhoͤrt.
An dieſem einzigen Orte ſcheint Aeneas er-
weicht. Sie verließ ihn ploͤzlich, da er eben
noch viel zu ſagen wuͤnſchte, und nicht Worte
finden konnte:
parantem
Dicere.’
Der Poet ſagt ſogar ausdruͤcklich, daß er
ſelbſt die Unruhe der Liebe gefuͤhlt habe.
Solando cupit, et dictis auertere curas,
Multa gemens, magnoque animum labefactus
amore.’
Aber ſein Vorſatz iſt deßwegen nicht erſchuͤt-
tert. Die Anſtalten zur Abreiſe werden verdop-
pelt.
[415]uͤber das Intereſſirende.
Dido wendet ſich an ihre Schweſter.
„Nie-
„mand, ſagt ſie, kann dieſen Mann beſſer be-
„handeln als du, keines Menſchen Worte ma-
„chen bey ihm mehr Eindruck.“
Man wuͤnſchte, daß eine Perſon, die beiden
Verliebten ſo wichtig iſt, haͤtte mehr auftreten,
ſich haͤtte thaͤtiger heweiſen koͤnnen.
So lange Dido den Aeneas vor ſich ſah: ſo
lange hatte der Unwille uͤber die Liebe die Ober-
hand. Sie wollte, daß er reiſen ſollte:
I, ſequere Italiam ventis, pete regna per
undas.’
Jezt, nachdem ſie wieder mit ſich allein iſt
ihre Lebensgeiſter ſich beſaͤnftiget haben, be-
koͤmmt die Zaͤrtlichkeit uͤber den Zorn ihr altes
Uebergewicht. Sie will ihn nicht mehr weglaſ-
ſen. Sie bittet ihre Anna, den Aeneas nur da-
hin zu bringen, daß er ihr eine kurze Friſt ver-
willige, daß er den Winter bey ihr abwarte,
um ſich nicht ſelbſt in Gefahr zu ſetzen.
rentes.’
[416]Einige Gedanken
Es liegt etwas ruͤhrendes in dieſer Beſorgniß
fuͤr die Sicherheit eines Ungetreuen.
Anna erfuͤllt ihren Auftrag, aber ohne Er-
folg.
aures.’
Stoiſche Standhaftigkeit bey einem empfind-
lichen Herzen wird durch folgenden Vers ſchoͤn
gezeichnet:
inanes.’
Die Unbeweglichkeit des Aeneas, ſchreckliche An-
zeichen bey ihrem Opfer, und die Stimme ihres
Gemahls, die ſie aus ſeinem ſacrario hoͤrt,
bringen endlich die Dido zu dem Entſchluß zu
ſterben.
Sie zeigt nun ihrer Schweſter Anna ein hei-
keres Geſicht; und giebt vor, ſie habe einen
Weg gefunden, durch magiſche Kuͤnſte Aeneas
Liebe, oder ihre Ruhe zu bewirken.
Die fuͤrchterlichen Anſtalten, das Geheim-
nißvolle, und das Wunderbare der Zauberey,
[417]uͤber das Intereſſirende.
haben ſie, ſo lange der Glaube an dieſelbe noch
vorhanden war, zu einem ſehr poetiſchen Stoffe
gemacht. In ſehr viele alte Fabeln iſt derſelbe
verwebt, wie in die Geſchichte der Medea, in
andre iſt er mit Kunſt hineingebracht worden.
Kein Dichter iſt in der Beſchreibung derſelben
weitlaͤuftiger, als Lukan, wo er die Theſſaliſche
Hexe dem Sohne des Pompejus den Ausgang
der Pharſaliſchen Schlacht durch einen wieder-
gebrachten Todten vorherſagen laͤßt. Aber auch
Virgil, der ſolcher Huͤlfsmittel des Schreckens
am wenigſten noͤthig hatte, der im Stande war,
eine Situation durch die Geſinnungen und die
Gedanken der Perſonen ſelbſt ruͤhrend zu machen,
die ſich in derſelben befinden; Virgil, der ſeine
Dido deswegen erſt bey den Roͤmern entſchuldigen
mußte *), die wie alle aberglaͤubiſche Voͤlker, die
magiſchen Kuͤnſte zugleich glaubten und verab-
ſcheuten: Virgil hat doch ein ſolches magiſches
Opfer mit allem Pomp der Poeſie beſchrieben;
D d
[418]Einige Gedanken
und er enthaͤlt ſich nicht, die ungereimten und
aberglaͤubiſchen Mittel anzufuͤhren, durch welche
man glaubte die Liebe erzwingen zu koͤnnen. Ei-
nen Umſtand hat Virgil dadurch erhalten, der
wirklich den lezten Auftritt, den Tod der Dido,
noch ruͤhrender macht. Es gehoͤrte zu den Zu-
bereitungen des magiſchen Opfers, daß ein Schei-
terhaufen errichtet, mit Cypreſſen umkraͤnzt, und
mit den Waffen, den Geſchenken des Aeneas, und
mit ihrem unaͤchten hochzeitlichen Bette belegt
werden mußte. Unter dieſen entleibt ſich Dido.
Der Schauplatz ihres Todes konnte auf keine Art
geſchmuͤckt werden, die zur Verſtaͤrkung des Ein-
drucks mehr beygetragen haͤtte.
Es folgt die letzte Nacht, in welcher das Ge-
muͤth der Dido, von Liebe, Rache und dem Ge-
danken des nahen Todes beunruhiget, in dem
groͤßten Anfruhr iſt.
„Was ſoll ich thun? Soll ich die ehemals
„verſchmaͤhten Freyer wieder aufſuchen? —
„Oder wie? wenn ich ſelbſt mit den Trojanern
„gienge? Mit den Trojanern? Vielleicht, weil
[419]uͤber das Intereſſirende.
„ich ihnen Gutes gethan habe? — Als wenn
„ſie etwas von Dankbarkeit wuͤßten. — Nein,
„ſie werden mich nicht in ihre Schiffe aufnehmen;
„oder ſollten ſie, ſo werden ſie mich als ihre
„Sklavinn behandeln. — Und wie ſollt’ ich ge-
„hen? Allein, oder mit meinem Volke? O Schwe-
„ſter, du biſt an meinem Ungluͤcke ſchuld! Warum
„blieb ich doch nicht meinem erſten Gemahle ge-
„treu? ſo haͤtt’ ich nichts von dieſen Qualen em-
„pfunden.“
Dieſe Gedanken ſo einfaͤltig, ſo ohne das
Feuer des Ausdrucks und der Poeſie vorgetragen,
zeigen doch ſchon ihre Wahrheit, ihre Schicklich-
keit zu den Umſtaͤnden. Was fuͤr Eindruck muͤſ-
ſen ſie nicht alsdann machen, wenn ſie in virgi-
lianiſche Verſe eingekleidet ſind?
Aeneas, durch eine neue Botſchaft des Mer-
kurs aus dem Schlafe geweckt, ſegelt noch in die-
ſer Nacht mit der groͤßten Eile ab.
Dido ſieht des Morgens aus ihrer Burg die
Ufer und den Hafen leer. Ihr Affekt koͤmmt aufs
Aeußerſte.
D d 2
[420]Einige Gedanken
„Alles ſoll dem Fluͤchtlinge nach. — Aber
„es iſt zu ſpaͤt. — Fruͤher haͤtte ich ihn beſtra-
„fen ſollen! — Nein, das kann der zaͤrtliche
„Sohn nicht ſeyn, der ſeinen alten Vater aus
„dem Feuer trug. — O wenn ich doch ihn, ſein
„ganzes Heer, ſeinen Sohn, und mich ſelbſt mit
„ihnen haͤtte in den Untergang ſtuͤrzen koͤnnen!“
Jener Gedanke und dieſe Empfindung haben et-
was mehr Auffallendes, als die uͤbrigen Theile
dieſer Rede, weil ſie eine mehr einleuchtende Wahr-
heit haben. Ein empfindliches Herz, das Va-
terliebe kennt, kann gegen die Liebe einer andern
Art nicht ganz fuͤhllos ſeyn. Der Zorn, der aus
Liebe entſteht, wuͤtet gegen ſich ſelbſt immer zu-
gleich mit, indem er ſich gegen den Beleidiger
auslaͤßt.
Es folgen Verwuͤnſchungen gegen den Ae-
neas, die zugleich Prophezeihungen von Vorfaͤllen
enthalten, die dieſem wirklich in Italien begegnen;
und der lezte Befehl an ihr Volk, die Roͤmer ewig
zu haſſen.
[421]uͤber das Intereſſirende.
Der lezte Auftritt dieſes Trauerſpiels iſt der
ausgearbeitetſte unter allen, und er iſt es vielleicht
vorzuͤglich, der dem ganzen Buche ſeinen Ruhm
verſchafft hat.
Dido, in dem Augenblicke, da ſie ſterben
will, iſt nicht mehr in Wut — dieß wuͤrde den
Leſer nicht geruͤhrt, ſondern beleidigt haben. Sie
iſt bey dem Anblicke der Waffen und aller Denk-
maͤler des Aeneas und ihrer Liebe, die auf dem
Scheiterhaufen liegen, nur geruͤhrt, nur weh-
muͤthig.
Sie ſchiebt die Urſache ihres Ungluͤcks mehr auf
das Schickſal, als auf ihren Geliebten:
Dann wird ſie groß. Sie ſieht in ſich nicht
mehr die ſchwache verliebte Dido, nicht die ver-
achtete und verzweifelnde Geliebte: ſondern die
Koͤniginn, die Stifterinn eines neuen Staates,
die gluͤckliche Raͤcherinn des Todes ihres Ge-
mahls:
D d 3
[422]Einige Gedanken
Vrbem praeclaram ſtatui: mea moenia vidi:
Vlta virum.’
In allem war ſie gluͤcklich und groß, bis auf den
Augenblick, da die Trojaner landeten:
Nunquam Dardaniae tetigiſſent noſtra ca-
rinae!’
Sie verbirgt ihr Geſicht in das Bette, den Zeu-
gen ihrer Luſt, und die Quelle ihres Ungluͤcks;
eine neue, aber nicht ſo heftige Auſwallung ihres
Unwillens und ihres Schmerzes beſchließt ihren
Kampf: —
„Wie? ungerochen ſoll ich ſterben?
„— Ja! auch ſo iſt es beſſer zu ſterben. Der
„Grauſame mag die Flamme meines Scheiterhau-
„fens ſehen, und dieſes Vorbedeutungszeichen auf
„ſeine Reiſe mitnehmen.“
Virgil haͤlt ſich bey ihrer Entleibung nicht
auf. Alles, was bloß ſinnlich iſt, muß in einer
Scene, die das Herz ruͤhren ſoll, nur kurz be-
ruͤhrt werden.
[423]uͤber das Intereſſirende.
Das Geruͤcht von ihrem Tode erſchallt bald
durch die ganze Stadt. Anna laͤuft herzu, und
findet ihre Schweſter ſterbend.
Ich halte mich bey ihren Klagen nicht auf.
Sie ſcheinen mir etwas kalt, wie die ganze Rolle
dieſer Perſon.
Aber warum ruͤhren dieſe drey lezten Zeilen
ſo ſehr?
vit,
Ter reuoluta toro eſt, oculisque errantibus
alto
Quaeſiuit coelo lucem, ingemuitque re-
perta.’
Anna haͤngt uͤber der Dido, und will ihren
lezten Hauch auffangen. Sie ſucht ſie in ihren
Armen zu erwaͤrmen. Dieſe Bemuͤhung, die Liebe
der Dido zu ihrer Schweſter, die Begierde ihr
noch etwas zu ſagen, bringt die ſchon Sterbende
wieder zu ſich.
Der erſte Theil der obigen Stelle enthaͤlt nur
das Bild einer koͤrperlichen Aktion; aber ſie iſt ſo
D d 4
[424]Einige Gedanken
kurz und ſo gut gemalt. Das Anſtrengen der
lezten Kraͤfte einer Sterbenden, ſich in die Hoͤhe
zu richten, und das Zuruͤckſinken der Ohnmacht,
wird unſrer Einbildungskraft durch die wenigen
Worte auffallend deutlich.
Der zweyte Theil enthaͤlt ein moraliſches Ge-
maͤlde von dem groͤßten Ausdrucke, und ſo ein-
faͤltig, in anderthalb kurze Zeilen eingeſchloſſen.
Dido koͤmmt zu einem halben Bewußtſeyn,
oͤfnet die Augen, hat ſie ſtarr gen Himmel gerich-
tet; aber ſieht kein Licht mehr. Ein dunkler Ein-
druck von Aengſtlichkeit uͤber die ungewohnte Fin-
ſterniß an dem Orte, der ſonſt der Sitz und die
Quelle des Lichts war, macht, daß ſie die Augen
halb willkuͤhrlich, halb durch eine mechaniſche
Bewegung, hin und her kehrt, um irgend einen
Ausgang ins Freye zu ſuchen, um dem vermeyn-
ten Hinderniſſe auszuweichen, das die gewuͤnſch-
ten Stralen auffaͤngt. Jezt koͤmmt die Ster-
bende zu einem vollern Bewußtſeyn: ihre Augen
werden von den Lichtſtralen geruͤhrt, ſie fuͤhlt ihr
[425]uͤber das Intereſſirende.
Daſeyn wieder; und ein tiefer Seufzer iſt der ein-
zige Ausdruck dieſes Gefuͤhls.
Was ruͤhrt an dieſem Gemaͤlde? Erſtlich, es
ſcheint ſo wahr. Wenn dieß nicht die Empfin-
dungen von Sterbenden ſind: ſo ſind es doch
genau die Empfindungen, die wir Sterbenden
zuſchreiben. Der Dichter hat genau das Ideal
getroffen, das wir von dieſer intereſſanten Scene
des menſchlichen Lebens mit uns herumtragen,
wenn er auch nicht den Gegenſtand ſelbſt getrof-
fen haͤtte.
Zweytens, ohne auf die Richtigkeit der Schil-
derung zu ſehen: was kann ruͤhrender ſeyn, als
ein Menſch, der leidet, der ſchon anfieng in dem
Schlummer des Todes das Bewußtſeyn ſeiner
ſelbſt und mit demſelben ſeiner Noth und ſeines
Schmerzes zu verlieren, und der nun wieder er-
wacht, ſich und alles ſein Elend wieder fuͤhlt, und
das zuruͤckkehrende Leben beſeufzt.
Was iſt ruͤhrender, als dieſer Streit der
menſchlichen Natur zwiſchen der Furcht vor dem
Tode, welche macht, daß der Sterbende das Licht
D d 5
[426]Einige Gedanken
wuͤnſcht und ſucht, und zwiſchen dem Jammer
des Lebens, der ihm Seufzer auspreßt, wenn er
das Licht gefunden hat.
Zwo allgemeine Folgerungen will ich aus die-
ſer vielleicht zu weitlaͤuftigen Zergliederung des
virgilianiſchen Gemaͤldes ziehen.
Erſtlich: Wo viel Intereſſe in den Reden
der Leidenſchaft ſeyn ſoll, da muß Abwechſelung,
Streit und Verbindung mehrerer Leidenſchaften
ſeyn. Der ſchnelle Uebergang vom Zorne zur
Zaͤrtlichkeit, von der Reue zum Stolze, macht die
Reden der Dido vorzuͤglich intereſſant. Man
laſſe eine von dieſen allein herrſchen: und die in-
tereſſante Sprache derſelben wird viel ſchwerer
zu finden, wird viel kuͤrzer auszuhalten ſeyn. Ae-
neas, Anna, alle ſind, mit ihr verglichen, lang-
weilig. Ihre Reden ſind mehr beredt als ruͤh-
rend, weil ihre Geſinnungen einfach ſind.
Zum zweyten: Das vornehmſte Intereſſe der
Dichtkunſt, beſonders der epiſchen Dichtkunſt, iſt,
Wahrheit und Natur in poetiſchem Schmucke zu
ſehen, natuͤrliche Gedanken in ſchoͤnen Verſen. [427]
uͤber das Intereſſirende.
Da dieſer Schmuck ſo leicht der Wahrheit Ein-
trag thut, ſo empfinden wir die uͤberwundene
Schwierigkeit, wenn beide gluͤcklich vereinigt ſind,
und genießen das Vergnuͤgen der Kunſt. Da
uns oft die Wuͤrde des Ausdrucks auf gemeine
Wahrheit erſt aufmerkſam machen muß: ſo wer-
den wir im Bilde gewahr, was uns im Original
entwiſchte, und genießen alſo das Vergnuͤgen an
der Natur.
Den lezten Punkt des alten Plans, welche
Leidenſchaften zu erwecken am nuͤzlichſten ſeyn,
halte ich fuͤr unnoͤthig zu beruͤhren. Jede wohl-
getroffene Schilderung hat den Nutzen, daß ſie
uns den Menſchen kennen lehrt. Seine Leiden-
ſchaften wechſeln zwar in den verſchiedenen Zeit-
punkten vielleicht eben ſo ab, wie ſeine Krankhei-
ten, und es ſcheint alſo am nuͤzlichſten zu ſeyn,
jedesmal diejenigen zur oͤffentlichen Belehrung
oder Warnung im Bilde auszuſtellen, zu denen
die Verſuchungen am groͤßten, oder deren ſchlim-
me Folgen die ausgebreitetſten ſind. Allein, nach
der Wahrheit und der Erfahrung, nuͤzt die Poeſie
[428]Einige Gedanken
nicht ſowohl unmittelbar durch den Gegenſtand,
den ſie ſchildert, als mittelbar durch die Wahr-
heiten, die ſie beyher lehrt, oder durch die Mu-
ſter des Schoͤnen, die ſie dem Geiſte vorhaͤlt.
Dieſen Nutzen befoͤrdert ſie, welche Art von Lei-
denſchaften ſie auch zu ſchildern vornehme, wenn
ſie nur die wahre Natur derſelben trift.
Anſtatt dieſer beſondern Unterſuchung, zu der
ich mich anheiſchig gemacht hatte, will ich noch
einige allgemeine Luͤcken der obigen Abhandlung
ausfuͤllen, oder einige Fehler verbeſſern.
Nach meiner jetzigen Einſicht iſt uͤberhaupt
die Materie von Erweckung der Leidenſchaften fuͤr
den Zweck des Ganzen zu weitlaͤuftig abgehandelt
worden. Intereſſiren und ruͤhren graͤnzt in ei-
nem Punkte an einander: aber es iſt nicht einer-
ley. Das eine geht auf das Ganze eines Werks,
das andre auf einzelne Scenen deſſelben: das
eine iſt eine Aufbietung unſers Verſtandes; das
andre eine Erweichung des Herzens: das eine la-
det zum Leſen oder Anhoͤren einer Geſchichte ein;
[429]uͤber das Intereſſirende.
das andre giebt wirklich den Genuß, wozu wir
eingeladen ſind.
Neugierde, Liebe und Vortheil ſind die drey
Triebfedern, die uns fuͤr etwas intereſſiren. Be-
gebenheiten, Perſonen und Wahrheiten ſind die
Gegenſtaͤnde, fuͤr welche wir intereſſirt werden
koͤnnen. Neugierde intereſſirt uns hauptſaͤchlich
fuͤr Begebenheiten, und wird erhalten durch die
Verwickelung; Liebe intereſſirt uns fuͤr Perſonen
und wird erweckt durch ihre Chataktere.
Unſer Vortheil koͤmmt bey der Poeſie in keine
oder nur in eine entfernte Betrachtung.
Der Artikel von der Verwickelung iſt oben
ausgelaſſen worden. Ich will noch einige Worte
daruͤber hinzufuͤgen:
1) Iſt die Verwickelung zum Intereſſe einer
poetiſchen Erzaͤhlung nothwendig? Kann insbe-
ſondere ein dramatiſches Stuͤck ohne dieſelbe ſehr
intereſſant ſeyn?
Ich bin ehedem dieſer Meynung geweſen.
Ich habe geglaubt, daß die Intrigue mehr zu
dem Vergnuͤgen eines rohen geſchmackloſen Han-
[430]Einige Gedanken
fens, als gebildeter denkender Zuhoͤrer beytrage;
daß eine Gallerie von Gemaͤlden aus dem menſch-
lichen Leben, wohlgetroffen und auf irgend eine
Art mit einander verbunden, uns hinlaͤnglich an
ſich ziehen koͤnne; daß endlich die ſogenannten
Hiſtorys des engliſchen Theaters der mittlern Zeit
nur beſſer behandelt werden duͤrften, um noch
jezt intereſſant zu werden.
Ich aͤndre jezt dieſe Meynung. Wenn ich
auf die Denkungsart des groͤßten Theils der
Menſchen ſehe, fuͤr welche doch die Poeſie, und
beſonders die theatraliſche, beſtimmt iſt; wenn
ich auf meine eigne in den Zeiten ſehe, wo ich mich
erholen will, und dieſe Zeiten ſoll das Theater
eigentlich ausfuͤllen: ſo werde ich gewahr, daß
die unterhaltene und befriedigte Neugier, das
Wohlgefallen an einer wunderbaren und doch
natuͤrlichen Begebenheit, die Erwartung, in die
wir wegen des Erfolgs geſezt werden, die Grund-
lage von dem Vergnuͤgen ausmache, das wir
waͤhrend der Anhoͤrung des Stuͤcks genießen, und
daß das Vergnuͤgen der Ruͤhrung und des Un-
[431]uͤber das Intereſſirende.
terrichts nur einzelne Theile der Zeit ausfuͤlle, die
wir zu dieſer Erluſtigung beſtimmen.
Wißbegierde und Neugierde iſt im Grunde
Eins. Jene geht aufs Allgemeine, dieſe aufs
Beſondre; jene auf Wahrheiten, dieſe auf Fakta.
Eine kann alſo die andre erklaͤren. In beiden
Faͤllen entſteht der Reiz aus der Schwierigkeit,
die Befriedigung aus der Aufloͤſung.
Was thut die populaͤre Beredſamkeit, um
allgemeine Materien intereſſant vorzutragen?
Außer der Klarheit, der Ordnung im Vortrage,
von welcher im Anfange dieſer Abhandlung gere-
det worden, und welche macht, daß der Leſer ohne
Muͤhe und in der kuͤrzeſten Zeit die Begriffe faßt,
die der Schriftſteller gehabt hat, bleibt in der
Methode nichts uͤbrig, als eine Art von Ver-
wickelung und Aufloͤſung, durch die eine Unter-
ſuchung Leben erhaͤlt. Der Schriftſteller muß zu-
erſt die Schwierigkeiten zeigen, ſie in ihrem groͤß-
ten Lichte darſtellen, und dann dieſe heben.
Der vorzuͤgliche Reiz, den die Mathematik
fuͤr ihre Kenner hat, ruͤhrt vornehmlich davon
[432]Einige Gedanken
her, daß in ihr mehr, als in andern ſpekulativen
Wiſſenſchaften, Aufgabe und Aufloͤſung, die
Schwierigkeit und die Hebung derſelben, ſich deut-
lich von einander unterſcheiden.
2. Aber worinne beſteht die Verwickelung?
Die Ueberwindung großer Schwierigkeiten iſt es
allemal, was den großen oder den merkwuͤrdigen
Mann zeigt. Dieſe muͤſſen alſo in jeder Bege-
benheit vorkommen, welche intereſſiren ſoll. Aus
dieſen entſteht die eigentliche Verwickelung, ſobald
dieſelben, in einen kleinen Zeitraum zuſammenge-
draͤngt, ſich ſchnell wieder aufloͤſen ſollen. Da-
her finden wir in der Epopee, wo die Erzaͤhlung
Zeit und Raum hat, zwar allemal große Hinder-
niſſe, widrige Zufaͤlle, feindliche Anſchlaͤge, Ge-
fahren, die den Muth oder die Weisheit des Hel-
den aufbieten: aber weil dieſe Schwierigkeiten
ſich nicht auf Einen Punkt vereinigen, weil ſie
nicht auf einmal ſich verlieren: ſo iſt Verwicke-
lung, Intrigue im engern Verſtande, nicht die-
ſem Gedicht eigen. Auf dem Theater iſt die Zeit
durch die Dauer der Vorſtellung eingeſchraͤnkt.
[433]uͤber das Intereſſirende.
Die Zufaͤlle, deren nicht viele ſeyn koͤnnen, muͤſ-
ſen ſich mehr zuſammendraͤngen; der Knoten muß
alſo verwickelter werden, die Schlingen deſſelben
durchkreuzen ſich mehr.
Die Vollkommenheit liegt auch hier in der
Mitte. Eine Verwickelung, wo die Zufaͤlle zu
ſehr gehaͤuft, zu kuͤnſtlich durch einander ver-
ſchlungen werden, iſt ſchwer zu faſſen, wird un-
wahrſcheinlich, und verwirrt, anſtatt zu intereſ-
ſiren. Eine allzueinfache Handlung, wo jede
Urſache ihre gewoͤhnliche vorhergeſehene Wirkung
thut, und durch keine entgegenwirkende in dem
Laufe ihrer Erfolge aufgehalten wird, kann zwar
durch das Sittliche der Charaktere und die Wahr-
heit des Dialogs belebt werden, aber doch nie
ein ſtarkes Intereſſe, beſonders in einem laͤngern
Werke, hervorbringen.
Die Einheit des Intereſſe, die alte und oft
wiederholte Vorſchrift der Kunſtrichter, iſt um
zweyer Urſachen wegen nothwendig. Unſere
Schwachheit iſt die eine. Wir koͤnnen nicht viel
Sachen auf einmal faſſen, wir koͤnnen nicht an
E e
[434]Einige Gedanken
vieler Menſchen Schickſale zu gleicher Zeit Theil
nehmen. Es gehoͤrt eine gewiſſe Beſchaͤftigung
des Gemuͤths dazu, ſich in eines andern Stelle
zu verſetzen; und dieſe kann man nur auf Einen
Gegenſtand auf einmal verwenden.
Die Nothwendigkeit einer Verwickelung iſt
die zweyte. Wenn die Handlungen, die Bege-
benheiten zwoer Perſonen zu gleicher Zeit neben
einander fortlaufen: ſo wird entweder keine ver-
wickelt ſeyn koͤnnen, und alsdann wird unſere
Aufmerkſamkeit von keiner gereizt; oder ſie ſind
es beide, und alsdann wird ſie ermuͤdet. Es
iſt ſeltſam, daß die Art der Imagination, die zu
Erfindung wunderbarer Verwickelungen gehoͤrt,
die, welche den poetiſchen Stoff ſchaft, in ver-
feinerten Zeiten weniger gemein iſt, als in rohen,
und daß daher die Dichter des erſtern Zeitraums
oft genoͤthigt ſind, ihren Stoff aus den Erfin-
dungen des leztern zu nehmen, und ſich lieber
bemuͤhen, ihn von den Ungereimtheiten zu ſaͤu-
bern, die ihm ankleben, als ihn durch ganz neue
Erfindungen zu erſetzen. Die Dichter des er-
[435]uͤber das Intereſſirende.
leuchteten Griechenlands nahmen alle ihre Sub-
jekte aus der Mythologie; und noch bis auf die
ſpaͤteſte Zeit arbeitete der Witz und der Scharf-
ſinn ihrer beſten Koͤpfe, die Geſchichten zu ver-
ſchoͤnern, die die wilde Einbildungskraft ihrer
Vorfahren erfunden hatte. Die neuern Dichter
haben die Romane und die Schauſpiele der mitt-
lern Zeiten auf gleiche Weiſe benutzt.
Iſt es, daß die Einbildungskraft ganz zuͤ-
gellos, an keine Regeln gebunden ſeyn will,
wenn ſie eigentlich erfindet, und daß, um ſich
an Richtigkeit und Ordnung zu binden, ſie ſchon
einen Plan, wenn auch nur einen Chaotiſchen,
vor ſich haben muß?
Es giebt eine Neubegierde, unbekannte ſelt-
ſame Dinge zu erfahren. Es giebt eine andre,
bekannte Dinge erklaͤrt, mit unbekannten oder
großen in Verbindung geſezt zu ſehen, oder ih-
ren Urſprung zu erfahren. Dieſer Art des In-
tereſſes haben ſich die alten Dichter, und vor-
zuͤglich Virgil bedient, indem ſie faſt alle Perſo-
nen, die ſie auffuͤhren, aus der Fabel und Tradi-
E e 2
[436]Einige Gedanken
tion hernehmen und mit der bekannten Ge-
ſchichte in Verbindung bringen, indem ſie lauter
ſolcher Begebenheiten erwaͤhnen, die auf die Er-
bauung bekannter Staͤdte und den Urſprung
großer hiſtoriſcher Erfolge eine Beziehung haben.
An keinem Orte landet Aeneas, wo nicht Staͤd-
te oder Gegenden, von ihm und ſeinen Begleitern
benannt, noch zu Virgils Zeiten vorhanden wa-
ren; er thut keinen Schritt, der nicht Spuren
und Denkmaͤler zuruͤck laͤßt, die noch die Leſer
Virgils erkennen konnten. Die ganze Liebesge-
ſchichte der Dido iſt zugleich die Veranlaſſung
des Streits zwiſchen Rom und Carthago.
Aus eben dem Grunde iſt das Intereſſe zu
erklaͤren, das wir an Nachahmungen nehmen;
ein Intereſſe, das von den alten Dichtern mit
Vorſatz und offenbar geſucht worden, anſtatt
von ihnen vermieden oder verſteckt zu werden.
Die griechiſchen Dichter giengen gefliſſentlich auf
den Fußſtapfen des Homers; die Roͤmiſchen ge-
fliſſentlich auf den Fußſtapfen der Griechen. —
Es iſt allerdings ein Vergnuͤgen, eine alte Ge-
[437]uͤber das Intereſſirende.
ſchichte wieder verjuͤngt zu ſehen; Zuͤge aus ei-
nem verehrten alten Schriftſteller in einem unge-
wohnten Glanze wiederzufinden; und ihnen viel-
leicht zum erſtenmale aus Empfindung den Bey-
fall zu ſchenken, den wir ihnen bisher nur des
Anſehns und des Alterthums wegen vergoͤnnt
hatten.
So wie die alten Dichter von Seiten des
Reichthums und der Mannichfaltigkeit des
Stoffs, unter dem ſie zu waͤhlen hatten, einge-
ſchraͤnkter waren als die unſrigen, indem ihnen
ſo viel Jahrhunderte von Geſchichten, merkwuͤr-
digen Perſonen und Kenntniſſen fehlten: ſo wa-
ren ſie auf der andern Seite beguͤnſtigt durch die
allgemeinere Bekanntſchaft, in welcher die gerin-
gere Anzahl von Perſonen, Begebenheiten und
Schriften ſtand, aus welchen ſie den Stoff oder
wenigſtens den Schmuck ihrer Gedichte hernah-
men. Ihre Schilderungen hatten nicht immer
das Verdienſt der Neuheit, aber ſie hatten das
Verdienſt, geſchwinder verſtanden und durch-
gaͤngiger gefuͤhlt zu werden. Perſonen, Oerter,
E e 3
[438]Einige Gedanken
Fluͤſſe, nichts war den Leſern ganz fremde.
Selbſt ihre Anſpielungen giengen weniger verlo-
ren. Die naͤmliche Art der Neubegierde, die
das Bekannte ſo gerne unter fremden Gegenſtaͤn-
den wieder findet, macht auch in den Epiſchen
Gedichten, die Vorherſagungen ſolcher Begeben-
heiten, die zu oder kurz vor den Zeiten des Dich-
ters und ſeiner Leſer vorgegangen, ſo intereſſant.
Alle Dichter, die nach dem Virgil gekommen ſind,
haben ſich der fruchtbaren Materie bemaͤchtigt,
die ihnen dieſer, nach dem Homer, in Aeneas
Hinabfahrt in den Orkus angezeigt hatte. Alle
haben auf eine oder die andre Weiſe, mit mehr
oder weniger Schicklichkeit, die Geſchichte ihrer
Zeit und ihrer Nation weiſſagen laſſen.
Ich beſchließe dieſe Zuſaͤtze mit der Bemer-
kung eines Maasſtabes, wornach der Schrift-
ſteller zum voraus muthmaßen kann, welcher
Theil ſeines Werks ſeine Leſer am meiſten intereſ-
ſiren wird. Grade derjenige, der ihn ſelbſt, da
er ſchrieb, am meiſten intereſſirt hat; bey dem
er die meiſte Luſt, die groͤßte Leichtigkeit, und
[439]uͤber das Intereſſirende.
das vollſte Gnuͤge fand. Gedanken, die andern
lebhaft werden ſollen, muͤſſen ſich uns, zu der
Zeit, da wir ſie hervorbrachten, mit vorzuͤglicher
Klarheit dargeſtellt haben. Und wenn die Hel-
ligkeit der Begriffe den Leſer vergnuͤgen ſoll, bey
dem ſie doch durch die Verſchiedenheit ſeiner
Denkungsart etwas verdunkelt wird, wie ſollte
ſie den Schriftſteller gleichguͤltig gelaſſen haben,
bey dem ſie in ihrem erſten Lichte ſtrahlt! Wenn
Begebenheiten zeitvertreibend oder ruͤhrend ſind
fuͤr diejenigen, die ſie ſtuͤckweiſe und nach und
nach erfahren, wie vielmehr muͤſſen ſie denjeni-
gen ergoͤzt oder geruͤhrt haben, der ſie auf ein-
mal uͤberſah, und ihre Theile ſelbſt ausbildete!
Die Aufmerkſamkeit des Scribenten iſt alle-
mal groͤßer, als die Aufmerkſamkeit auch des be-
ſten Leſers. Was dieſer nicht entwiſchen und
doch nicht anſtrengen ſoll, muß alſo jene noch
weit ſtaͤrker und mit groͤßrer Leichtigkeit gefeſ-
felt haben.
[440]Ueber den Einfluß einiger
Ueber den Einfluß einiger beſondern Um-
ſtaͤnde auf die Bildung unſerer Spra-
che und Litteratur.
Eine Vorleſung.
ſchoͤnen Wiſſenſchaften und der freyen Kuͤnſte.
Wann wir die Faͤhigkeiten eines Menſchen
kennen, um zu wiſſeu, was er thun
kann, und ſeine beſondern Umſtaͤnde, um zu
wiſſen, was er zu thun Gelegenheit und Bewe-
gungsgruͤnde gehabt: ſo koͤnnen wir ungefaͤhr
vorausſehen, welche Werke er unternehmen wird;
wenigſtens koͤnnen wir diejenigen, die er bereits
geliefert hat, uns erklaͤren. Eben ſo, wie mit
einzelnen Menſchen, verhaͤlt es ſich auch mit
ganzen Nationen. Was man die Litteratur ei-
[441]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
nes Volks nennt, iſt der Inbegriff der Werke,
die es in ſeiner eigenen Sprache beſizt: und die
Geſtalt derſelben haͤngt theils von dem Eigen-
thuͤmlichen in dem Geiſte der Nation, theils von
den beſondern Umſtaͤnden ab, durch welche die-
ſer Geiſt ſeine Richtung gegen gewiſſe Gegenſtaͤn-
de, und mehr Huͤlfsmittel zu der einen als zu
der andern Gattung erhalten. Das Eigen-
thuͤmliche in dem Geiſte der Nation ſelbſt iſt aus-
nehmend verborgen; es iſt ſchwer, das Gemein-
ſchaftliche in der Denkungsart eines Volks aus
einer ſo unendlichen Menge von einzelnen Ver-
ſchiedenheiten herauszubringen: und da man
nur immer eine ſehr kleine Anzahl von Faͤllen
vor ſich hat, ſo kann man faſt nie einen allge-
meinen Schluß machen, der nicht durch gegen-
ſeitige Beyſpiele wankend wuͤrde. Die beſon-
dern Umſtaͤnde aber, unter welchen die Aufklaͤ-
rung eines Volks ſich angefangen, liegen mehr
vor Augen, und laſſen ſich mehr außer Streit
ſetzen: oder wann auch hier eine ſo vielfaͤltige
Verbindung mannichfach wirkender Urſachen ſtatt
E e 5
[442]Ueber den Einfluß einiger
faͤnde, daß die Geſchichte ſie nicht alle angeben,
noch die Philoſophie ſie alle errathen koͤnnte; ſo
giebt es doch darunter einige ſo merkliche und ſo
maͤchtige, daß ſich ihr Einfluß weder verkennen,
noch auch unrecht verſtehen laͤßt.
Sie ſehen leicht, meine Herren, daß dieſe
Umſtaͤnde von doppelter Art ſind; daß ſie ent-
weder außer der Nation, von der die Rede iſt,
oder in ihrer eigenen innerlichen Verfaſſung lie-
gen. Zu jenen gehoͤrt vornehmlich die Zeit, in
der eine Nation an Wiſſenſchaft uͤberhaupt, und
beſonders an ihrer eigenen Sprache, Geſchmack
gewinnt, und dann die Beſchaffenheit der Litte-
ratur bey andern Nationen, die vor ihr aufge-
klaͤrt wurden, und ihr Licht ihr mittheilten.
Was war es fuͤr ein Zeitpunkt, wo die Bar-
barey ſich zuerſt in Deutſchland zu zerſtreuen an-
fieng? Ein ſpaͤterer allerdings, als bey den mit-
taͤglichen und weſtlichen Voͤlkern. Italien iſt
das erſte und faſt das einzige Land, das zu eben
der Zeit, wo es die Meiſterſtuͤcke der alten Spra-
chen mit Muͤhe wieder kennen lernte, zugleich
[443]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
Meiſterſtuͤcke in ſeiner eigenen ſchuf. Das Licht,
das dort aufgegangen war, kam in nicht gar
langer Zeit darauf auch zu uns; aber es war ein
fremdes Feuer, das uns nur erleuchtete, ohne
zugleich unſer eigenes anzuzuͤnden. Wir laſen
und lernten, ja wir ſchrieben ſo gar lateiniſch
und griechiſch; viele gut, einige ſo gar vortref-
lich: aber doch konnte das noch lange keine Lit-
teratur geben, keine uns eigene Litteratur, die
ein treues Gemaͤlde unſers beſondern Geiſtes,
unſerer unterſcheidenden Denkungsart geweſen
waͤre. Die Gelehrten machten in dieſem Jahr-
hunderte gleichſam eine eigene, unter die andern
zerſtreute Nation aus, die allenthalben ungefaͤhr
dieſelbige Denkungsart, denſelbigen Ton hatte:
und zwar deswegen, weil ſie durchgaͤngig auf
einerley Art war gebildet worden. Da ſie ihre
eigene, dem uͤbrigen Theil des Volks unver-
ſtaͤndliche Sprache redeten und ſchrieben; ſo hat-
ten ſie zwar unter ſich ſelbſt eine naͤhere, mehr
unmittelbare Gemeinſchaft, als die Gelehrten
unſers Jahrhunderts: aber auf die Uebrigen der
[444]Ueber den Einfluß einiger
Nation hatten ſie wenig Einfluß; auch nahmen
ſie eben ſo wenig von der beſondern Denkungs-
art derſelben und der eigenthuͤmlichen Wendung
ihres Geiſtes an. Denn ſie ſchrieben nicht al-
lein, ſondern ſie faßten auch ihre Ideen in einer
fremden Sprache.
Was damals Luther fuͤr die deutſche Spra-
che gethan hat, darf ich Ihnen, meine Herren,
nicht ſagen. Es iſt wahr, ſeine Sorgfalt, ſei-
ne Richtigkeit im Ausdrucke, ſeine Genauigkeit
in der Wortfuͤgung haben unſre Grammatik und
unſer Woͤrterbuch in einer groͤßern Reinigkeit er-
halten, vielleicht auch vollſtaͤndiger gemacht, als
es ohne ihn wuͤrde geſchehen ſeyn: aber bey alle
dem haben doch ſeine Werke unſre Litteratur nicht
angefangen; ſie haben es uns nicht leichter ge-
macht, Werke der Gelehrſamkeit oder Schriften
zum Vergnuͤgen in unſerer Sprache zu liefern.
Wer dieſe hervorbringen wollte, hatte noch alles
zu thun; er mußte noch ſelbſt die Ausdruͤcke,
die Wendungen, die Zierrathen aus dem zer-
ſtreuten Reichthume der Sprache zuſammenleſen;
[445]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
mußte noch ſelbſt unbeſtimmte Woͤrter beſtimmen,
oder wenn er fuͤr ſeine Ideen gar keines hatte,
bald durch Zuſammenſetzung und Abaͤnderung
neue finden, bald ſich dadurch helfen, daß er
fremde entlehnte; mußte noch ſelbſt neue Verbin-
dungen, neue Wendungen wagen, wo die Spra-
che zu ungelenk war: kurz, er mußte ſich ſeinen
Styl noch erſchaffen. — Doch war das nach-
folgende Jahrhundert in aller Abſicht weit dunk-
ler und barbariſcher, als das, worinn Luther
lebte. Man vergaß ſein Bischen aͤchtes altes
Latein uͤber den Zaͤnkereyen, zu welchen ſich eine
verderbte, mit ſpitzfuͤndigen Begriffen uͤberladene
Latinitaͤt am beſten ſchickte; und deutſch lernte
man auch nicht. Mit einem Worte: man hatte
eigentlich gar keine Sprache.
In dieſer Zwiſchenzeit, am Ende des vori-
gen Jahrhunderts, machten unſre weſtlichen
Nachbarn, die Franzoſen, auf einmal ein ge-
waltiges Aufſehen. Sie eroberten und ſchrie-
ben: und wer durch die Pracht des Koͤnigs und
den Muth der Truppen auf die Nation war auf-
[446]Ueber den Einfluß einiger
merkſam gemacht worden, der fand, wenn er
naͤher mit ihr bekannt ward, Schriftſteller und
Kuͤnſtler, die Hochachtung und Bewunderung
verdienten. Die Veraͤnderung war ſo ploͤzlich,
ſo groß, daß ſie nothwendig ſo wohl die Fran-
zoſen ſelbſt, als auch ihre Nachbarn in eine Art
von Betaͤubung ſetzen mußte, in welcher beide
nicht wußten, was ſie von ſich und was ſie von
den andern zu halten haͤtten. Jene glaubten
getroſt, daß ſie die erſte Nation auf der Welt
waͤren, und in der That hatten ſie einigen An-
ſpruch auf dieſen Namen.
Die deutſche Nation war damals noch ein
ſo zuſammengeſeztes, ungleichartiges Ganze, daß
das Urtheil uͤber jene ſehr verſchieden ausfiel.
Alle, die durch ihren Rang oder ihre Theilneh-
mung an den oͤffentlichen Staatsgeſchaͤften den
Glanz dieſes erobernden und witzigen Volks mehr
in die Naͤhe ſahen, und ihn mit der traurigen
Dunkelheit ihrer eigenen Nation verglichen, wel-
che nichts als Schulgelehrte aufweiſen konnte;
die alle beeiferten ſich, an dieſem Glanze Theil
[447]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
zu nehmen, ſuchten ſich, ſo viel als moͤglich,
dieſer fremden Nation einzuverleiben, ſich von
ihrer eigenen durch Sprache und Sitten zu un-
terſcheiden: und ſo waren ſie herzlich zufrieden,
daß die Deutſchen von den Franzoſen verachtet
wurden, weil ſie ſelbſt glaubten, halbe Franze-
ſen zu ſeyn. — Unſre Gelehrten hingegen, die
dem Spiel ſehr in der Ferne zuſahn, ließen ſich
noch wenig durch dieſe Verachtung der Fremden
und ihrer eigenen Landsleute ruͤhren, oder ſie
troͤſteten ſich durch eine gegenſeitige innige Ver-
achtung der elenden Taͤndeleyen eines Volks, bey
welchem, nach ihrer Meynung, die wahre Ge-
lehrſamkeit auszuſterben anfing. Von dieſer
Seite alſo war es nicht zu hoffen, daß Ehrgeiz
und Eiferſucht ſehr rege werden und deutſche
Schriftſteller mit den franzoͤſiſchen um den Preis
kaͤmpfen ſollten. Unterdeſſen verbreitete ſich der
Geſchmack an dem Auslaͤndiſchen in Sprache,
Sitten und Schriften von den Großen bis zum
wohlhabenden Buͤrger, und endlich bis zu der
Klaſſe von Leuten, die zwiſchen den Gelehrten
[448]Ueber den Einfluß einiger
und dem Weltmanne in der Mitte ſtehen. Be-
gierde, den Großen zu gefallen und ſein Gluͤck
zu machen, Theilnehmung an ihrer Arbeit in ge-
lehrten Bedienungen, Ehrgeiz, ihres Umganges
gewuͤrdiget zu werden, Handel mit den Franzo-
ſen, die die nuͤtzlichen Kuͤnſte zugleich mit den an-
genehmen und ſchoͤnen zur Vollkommenheit brach-
ten: alles das trug zu der allgemeinen Ausbrei-
tung dieſes fremden Geſchmacks bey. Nun
dachten endlich auch wir Deutſchen daran, daß
wir eine Sprache haͤtten, die ſich ſchreiben ließe;
aber da wir hieran nicht eher dachten, als bis
wir ſchon von den Schoͤnheiten einer fremden
Sprache geruͤhrt, ſchon von der Politur fremder
Schriftſteller eingenommen waren, ſo konnte es
gar nicht anders ſeyn, wir mußten ihnen nach-
ahmen, auch ohne die Abſicht zu haben. Laſſen
Sie uns doch ſehen, meine Herren, wie weit
ungefaͤhr dieſe Nachahmung ſich erſtreckt hat.
Man muß hier die Geſtalt unſrer Wiſſen-
ſchaften und den Charakter unſrer jetzigen
Schriftſtellerſprache wohl unterſcheiden. In
[449]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
jenen ſteckt, wenn ich ſo reden darf, mehr latei-
niſcher Geiſt, in dieſer hingegen mehr franzoͤſi-
ſcher und engliſcher. Beide zuſammen machen
eine Miſchung, die, wenn man ſie recht aus ein-
ander ſcheiden koͤnnte, den Zuſtand unſrer
Koͤpfe und unſrer Schriften am beſten erklaͤren
wuͤrde.
Wiſſenſchaften und Philoſophie fiengen nicht
erſt da bey uns an, wo wir anfiengen, deutſche
Schriftſteller zu haben. Wir hatten ſchon einen
großen Vorrath von Gelehrſamkeit, und zur
Philoſophie hatten wir viele und uns eigene An-
lage. — Den Stoff dazu hatten wir, wie alle
europaͤiſche Nationen, von den Alten, theils
unmittelbar durch ihre eigene Werke, theils mit-
telbar durch die unreinen Kanaͤle der neuern
ſcholaſtiſchen Theologie und Philoſophie bekom-
men. Sokrates, Ariſtoteles und Cicero,
ſammt dem guten Thomas Magiſter, haben
vielleicht auf die Art und Weiſe, wie wir die
Wiſſenſchaften lehren, auf die Abtheilung und
Hauptoͤrter unſerer Syſteme, auf die Fragen, die
F f
[450]Ueber den Einfluß einiger
wir vorzuͤglich unterſuchen, die Schwierigkeiten,
die wir aufloͤſen, und die Streitigkeiten, die ſich
immer von neuem bey uns entſpinnen, weit mehr
Einfluß, als wir uns vorſtellen moͤgen.
Aber nun unſre eigene Sprache. Die Un-
terſcheidung deſſen, was in ihr ſchoͤn, edel, an-
ſtaͤndig ſeyn ſollte, die Beeiferung, ſich uͤber al-
lerhand Arten von Gegenſtaͤnden in ihr auszu-
druͤcken, und gut auszudruͤcken; dieſe hat ſich
erſt angefangen, als ſich das jetzige Jahrhundert
anfing. Und woher haben wir da unſre Regeln
und unſre Muſter genommen? — Die alten
Sprachen ſind von der unſrigen zu entfernt, als
daß ſie viel zu ihrer Ausbildung beytragen koͤnn-
ten: uͤberdieß ſind die, welche deutſch ſchreiben,
und gut zu ſchreiben ſich Muͤhe geben, gerade
nicht die groͤßten Kenner der alten Sprachen.
Es war alſo ganz natuͤrlich, daß die ſchon ver-
feinerte Sprache unſrer Nachbarn, die wir alle
eher gelernet hatten, ehe wir in der unſrigen
arbeiteten, und deren eingebildete oder wahre
Vortreflichkeit uns zuerſt gereizt hatte, auf eine
[451]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
Verbeſſerung unſerer eigenen zu denken; daß, ſa-
ge ich, dieſe unſern Ausdruck oft ohne unſern
Vorſatz bildete und beſtimmte. Das Franzoͤſi-
ſche kam zuerſt; das Engliſche folgte. Man
merkt den Uebergang von jenem zu dieſem gar
deutlich in unſern Schriftſtellern. Unſer Styl
iſt in der neueſten Zeit gedrungener, koͤrnichter,
reicher geworden, aber auch oft gewagter und
zuweilen ausſchweifender. Man druͤckt ſeine
Gedanken vielleicht freyer und eigenthuͤmlicher
aus, und bey guten Koͤpfen gewinnt der Leſer
dabey allemal: aber man verzeiht ſich auch ſelt-
ſame Zuſammenſetzungen von Woͤrtern, unge-
woͤhnliche Redensarten, und das artet dann bey
ſchlechten Schriftſtellern ſehr oft ins Sinnloſe
und Abentheuerliche aus. Kurz, dieſe Art von
Freyheit hat, ſo wie jede andere, ihren Vortheil
und ihren Nachtheil. Die guten Schriftſteller
werden dadurch vortreflich und die mittelmaͤßigen
elend.
Vielleicht, meine Herren, halten Sie es der
Muͤhe werth, daß ich von dem Einfluſſe dieſer
F f 2
[452]Ueber den Einfluß einiger
fremden Litteratur auf die unſrige noch etwas
genauer rede, und zwar beſonders, inſofern er
ſich auf die Sprache erſtreckt hat.
Eine ſich bildende Sprache nimmt von einer
andern entweder einzelne Woͤrter, oder Wendun-
gen, oder eine gewiſſe allgemeine Farbe an, die
ſich eher empfinden, als deutlich erklaͤren laͤßt.
Einzelne Woͤrter kann eine Sprache, wie die un-
ſrige, eigentlich von keiner fremden borgen, die
gar nicht mit ihr verwandt iſt, die ihren Woͤr-
tern ganz andre Endungen giebt, ſie mit ganz
andern Toͤnen ausſpricht, ſie nach ganz andern
Geſetzen abaͤndert. Und doch hat ſie dergleichen
nicht wenige aus der franzoͤſiſchen und engliſchen
heruͤbergenommen; oft, weil ſie wirklich zu arm
war, noch oͤfter aber, weil die Schriftſteller ih-
ren ganzen Reichthum nicht kannten, oder aus
Traͤgheit nicht erſt lange durchſuchen wollten.
Armuth iſt es in einem doppelten Falle: einmal,
wenn fuͤr die Sachen, die wir ſagen wollen,
ganz und gar keine Woͤrter in der Sprache vor-
handen ſind, entweder weil die Sache bey der
[453]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
erſten Bildung der Sprache noch gar nicht da,
oder weil ſie der Nation noch nicht bekannt war;
und dieſer Fall koͤmmt in allen Sprachen vor,
wo ſich jeder, der von unbekannten Dingen zum
erſtenmal ſpricht, des Rechts bedient, ein neues
auslaͤndiſches Wort zu brauchen: zweytens,
wenn zwar die Sprache ein Wort hat, die Sache
im Ganzen auszudruͤcken, aber keins, das edel
und zu dem jeztgewaͤhlten Tone der Schreibart
paſſend waͤre, oder keins, das zugleich alle Ne-
benbegriffe ausdruͤckte, die wir eben jezt zu unſe-
rer beſondern Abſicht glauben noͤthig zu haben.
Dieſes leztere iſt es, was ſo viel fremde Woͤrter
auch in unſre guten Schriftſteller gebracht hat.
In der That muß der Fall bey einem guten
Schriftſteller oͤfter vorkommen, weil bey dieſem
immer die Ideen genauer beſtimmt ſind, und er
mehr auf die kleinen Schattirungen Acht hat,
die ganz gleichſcheinende Woͤrter noch unterſchei-
den. Schreibt er beſonders uͤber eine Materie,
worinn die Auslaͤnder viel gearbeitet und viel
von ihm ſind geleſen worden; ſo wird ſich ihm
F f 3
[454]Ueber den Einfluß einiger
mancher Begriff gar unter keinem andern Worte,
als unter dem fremden darbieten; mancher wird
ihm nicht genau und ſtark genug geſagt ſcheinen,
ſo bald er nicht mit eben demjenigen Worte ge-
ſagt wird, womit er zuerſt ihn bekommen hat.
Oft iſt es bloße Einbildung, wenn uns das
nicht mehr vollguͤltig duͤnkt, was durch den lan-
gen Gebrauch unſcheinbar geworden, obgleich
das Fremde und Neugepraͤgte in der That von
keinem groͤßern innern Gehalte iſt. Oft aber iſt
es wahre Empfindung, und dann iſt deſſen Ohr
nicht ſo wohl zaͤrtlich, als verzaͤrtelt, der weni-
ger ein fremdes Wort, als eine halbgeſagte,
uͤbel paſſende Idee dulden kann, weniger von der
feinen Richtigkeit in den Gedanken, als von ei-
ner pedantiſchen Reinigkeit der Sprache geruͤhrt
wird.
Eine Sprache, wenn ſie fuͤr alle Klaſſen von
Werken bequem ſeyn ſoll, muß einerley Sache
auf mehr als einerley Art, nach den verſchiednen
Gattungen der Materie und den verſchiedenen
Abſichten des Schriftſtellers, ausdruͤcken koͤnnen.
[455]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
In dieſen Gattungen der Schreibart giebt es un-
zaͤhlige mittlere Stufen: doch laſſen ſie ſich uͤber-
haupt auf dreye bringen. Dieſe ſind die eigent-
lich poetiſche und maleriſche, die populaͤre und
dialogiſche, und die didaktiſche.
Sehen wir unſere Sprache an, ſo finden wir
ſie an Woͤrtern der erſten Art reicher, als viel-
leicht irgend eine andre. Namen, die die Dinge
oder die Veraͤnderungen von ihrer ſinnlichſten
Seite vorſtellen, die ſo zu ſagen, nur die ſicht-
bare Erſcheinung der Sache, nicht ihre innre Na-
tur ausdruͤcken, ſolche Namen haben wir in Men-
ge: und oft ſind wir auch im Stande, neue zu
machen, ohne daß wir der Sprache Gewalt thaͤ-
ten. Dieſen Reichthum unſrer Sprache hat wohl
niemand beſſer gekannt, beſſer genuzt, als Klop-
ſtock und Geßner, obgleich in zwo ganz verſchie-
denen Arten. Wie weit hier die franzoͤſiſche hin-
ter der unſrigen bleibe, das zeigen ihre eigenen
Originalwerke, die immer, ſo bald es auf Schil-
derung der ſichtbaren Natur ankoͤmmt, zu allge-
mein ſind, und der Imagination das Bild mit
F f 4
[456]Ueber den Einfluß einiger
zu wenig Beſtimmung, zu wenig Lebhaftigkeit
vormalen; noch mehr aber zeigen es ihre Ueber-
ſetzungen unſrer deutſchen Dichter, beſonders der
beiden, die wir oben genannt haben. Klopſtock
verliert im Franzoͤſiſchen ganz unendlich. Tau-
ſend im Deutſchen genau beſtimmte Woͤrter wer-
den dort zu allgemeinen, denen die bedeutungs-
volle Nuͤance fehlt; eine unzaͤhliche Menge der
maleriſchſten, ausdruckvollſten Beiwoͤrter, die
aus der ſchwachen dunklen Ferne dem Auge der
Imagination das Bild naͤher und in die rechte
Lage ruͤckten, geht zum Theil ganz verloren, zum
Theil werden ſie durch ſolche erſezt, die weit ab-
ſtrakter und eben deswegen weit leerer ſind, zum
Theil werden ſie mit einem Schwalle von Woͤr-
tern umſchrieben, worunter die ganze Idee er-
ſtickt. Oder wenn man die Ueberſetzung der Meſ-
ſiade fuͤr zu unvollkommen haͤlt, um ſie bey der
Vergleichung zum Grunde zu legen; ſo vergleiche
man die Ueberſetzung Geßners, die von ſo aus-
gemachter und vorzuͤglicher Guͤte iſt, mit dem
Originale.
[457]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
Was Woͤrter im geſellſchaftlichen Style be-
trift, ſo wie er im Luſtſpiele, in der Erzaͤhlung,
in andern zur Ergoͤtzung geſchriebenen Werken
vorkoͤmmt, ſo moͤchten wir ſie in hinlaͤnglicher
Anzahl haben; nur daß die Grenze zwiſchen dem
Niedrigen, dem Komiſchen, dem Vertraulichen
u. ſ. w. weniger genau beſtimmt iſt, oder oft
das alte ſehr ausdruͤckende Wort veraͤchtlich und
poͤbelhaſt geworden, ohne daß ein andres an ſei-
ne Stelle gekommen. Bey einigen ſolcher Woͤr-
ter iſt alle Rettung verloren; beſonders wenn
man ſich einmal bey ihnen an gewiſſe unanſtaͤndi-
ge oder ekelhafte Nebenbegriffe gewoͤhnt hat: bey
andern iſt die Rettung noch moͤglich, wenn ſich
ihrer ein Schriftſteller vom erſten Range annimmt.
Ein Mann, von dem ſchon die ganze Nation
uͤberzeugt iſt, daß er mit der feinſten Auswahl
und ſorgfaͤltigſten Ueberlegung ſchreibt; wenn ſo
ein Mann ein mit Unrecht verachtetes Wort wie-
der gebraucht: ſo wird man vielleicht in dem er-
ſten Augenblicke anſtoßen; aber bald wird man
auf Gruͤnde zu ſeiner Entſchuldigung denken;
F f 5
[458]Ueber den Einfluß einiger
man wird das Wort an Stellen hingeſezt finden,
wo es ſo eigenthuͤmlich und paſſend iſt, daß man
es fuͤr unentbehrlich halten muß; von dem An-
ſehen dieſes Mannes unterſtuͤzt, werden es an-
dre Schriftſteller ihm nachgebrauchen, und bald
werden wir eben ſo gewohnt ſeyn, es zu hoͤren,
als ob wir uns niemals davon entwoͤhnt haͤtten.
Auf dieſe Art hat uns Ramler und Leßing ſchon
manches Wort, manchen Ausdruck gerettet, und
andre Schriftſteller von gleichem Anſehen, wie ſie,
ſollten es auch thun. Die meiſte Unbequemlich-
keit findet man, wenn man Geſpraͤche ſchreibt.
Man moͤchte ſo gerne die Sprache rein erhalten,
ſo gerne alles das deutſch ſagen, was wirklich
deutſch geſagt werden kann; und doch moͤchte
man auch der Nachahmung das voͤllige Anſehen
der Natur geben; man moͤchte gerne die Redens-
arten beybehalten, wie ſie im Geſpraͤche wirklich
gehoͤrt werden. Wie will man aber beide End-
zwecke vereinigen, wann ſich von den ungluͤck-
lichen Zeiten her, wo man weder Franzoͤſiſch
noch Deutſch, ſondern ein Gemengſel von beiden
[459]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
Sprachen redete, noch eine ſo große Menge frem-
der Woͤrter und Redensarten, beſonders unter den
Vornehmen, erhalten hat, wofuͤr ſchlechterdings
kein gleichgeltender deutſcher Ausdruck da iſt, der
gemein und gebraͤuchlich waͤre? Dieſe Unart hat
indeſſen an den meiſten Orten ſchon ziemlich nach-
gelaſſen; man bedienet ſich ſchon weit mehr, als
vordem, der Ausdruͤcke der Mutterſprache: und
wo dieſe noch nicht gewoͤhnlich ſind, da hat der
Schriftſteller das Recht, ſie gewoͤhnlich zu machen.
Er bildet, wenn er nur ſonſt vortreflich iſt, die
Sprache des Umgangs, wie die Sprache der Buͤ-
cher; und ſchreibt der Nation vor, wie ſie reden
ſoll, wenn er ihr nicht nachſchreiben kann, wie ſie
wirklich redet.
Wenn es den Deutſchen in irgend einer
Gattung der Schreibart an Woͤrtern fehlt, ſo
fehlt es ihnen in der didaktiſchen Gattung.
Daher koͤmmt es, daß unſre Philoſophen, oder
die, welche auch in Werken anderer Art gerne
philoſophiren, entweder immer in Metaphern
ſchreiben, oder eine Menge fremder Woͤrter
[460]Ueber den Einfluß einiger
gebrauchen. Hier nun hat die franzoͤſiſche
und engliſche Sprache einen augenſcheinlichen
Vorzug. Da unſere Wiſſenſchaften, wie ich
bereits geſagt habe, von den Lateinern zu uns
gekommen ſind, oder uns durch lateiniſch ge-
ſchriebene Buͤcher ſind uͤberliefert worden; ſo
ſind die meiſten Woͤrter, die wir in den ab-
ſtrakten Theilen der Wiſſenſchaften noͤthig ha-
ben, lateiniſch. Dieſe haben nun natuͤrlicher
Weiſe in Sprachen, die von der lateiniſchen
abſtammten, leicht koͤnnen aufgenommen wer-
den: und die Franzoſen, die ſonſt fuͤr die Rei-
nigkeit ihrer Sprache ſo ſehr beſorgt ſind, neh-
men in dieſer Art alle Tage noch mehr auf.
Wir, die wir eine eigne Stammſprache ha-
ben, konnten dieſe Woͤrter durchaus nicht in
deutſche verwandeln. Wir mußten alſo deut-
ſche ſuchen oder machen, die mit jenen einer-
ley Ideen bezeichnen ſollten. So haben wir
uns freylich zu helfen geſucht: aber wer in dieſer
Gattung ſchreibt, und noch mehr, wer darinne
uͤberſezt, der wird finden, daß fuͤr eine Menge
[461]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
von Begriffen immer nur Ein Wort vorhanden
iſt, wo die philoſophiſche Genauigkeit deren meh-
rere verlangt, und unſre Nachbarn auch wirklich
deren mehrere haben.
Dieß, meine Herren, ſey genug von den ein-
zelnen Woͤrtern geſagt. Das Zweyte, was eine
Sprache von der andern entlehnen kann, ſind
Redensarten, gewiſſe Verbindungen von Woͤrtern,
die ſchon ganze vollſtaͤndige Gedanken bezeichnen;
gewiſſe eigene Wendungen und Uebergaͤnge. Und
hier iſt es nun, wo unſre Sprache unſtreitig ſehr
viel von ihren Nachbarinnen angenommen hat,
und auch kuͤnftig noch annehmen wird, ſo wie
wir uns mit neuen Nationen bekannt machen,
oder neue Buͤcher leſen und bewundern werden.
Wie weit darinne der Gebrauch gehe, und wo der
Mißbrauch anfange; das iſt auch hier, wie in
allen andern Dingen, unendlich ſchwer zu beſtim-
men. Zum Ungluͤcke hilft das Eifern ſehr we-
nig, wenn auch der Mißbrauch augenſcheinlich
waͤre. Die Sprachen haben ihre Revolutionen,
wie die Voͤlker, die ſie reden; und dieſe Revolu-
[462]Ueber den Einfluß einiger
tionen moͤgen nun zur Verbeſſerung oder Ver-
ſchlimmerung gereichen, ſo werden ſie demjenigen
allemal Verderbniſſe ſcheinen, der an die Neue-
rungen noch nicht gewoͤhnt iſt. Freylich wuͤrde
unſre Sprache ganz anders ſeyn, wenn unſre
Nation, als die erſte an Kultur und Kuͤnſten,
alles das aus ſich ſelbſt hervorgebracht haͤtte,
was ihr jezt von andern iſt uͤberliefert worden
anders wuͤrde ſie ſeyn, wenn die Griechen und
Roͤmer ſo unſre Nachbarn waͤren, wie jezt die
Franzoſen und Englaͤnder; anders endlich, wenn
die ſprachverwandten nordiſchen Nationen ent-
weder vor uns oder mit uns zu gleicher Zeit durch
ihre Schriftſteller Aufſehen gemacht haͤtten. Viel-
leicht, wenn bey der Sache ja etwas zu bedauern
iſt, ſo iſt es dieß, daß wir gerade am meiſten mit
Voͤlkern in Verbindung geſtanden, deren Sprache
ſo wenig mit der unſrigen gemein hat, und uns
niemals um diejenigen bekuͤmmert haben, die un-
ſre eigne aͤlteſte Sprache oder einen Dialekt der-
ſelben reden.
[463]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
Unter der Menge beſonderer Anmerkungen,
die ich machen koͤnnte, will ich nur eine einzige
machen, die mir vorzuͤglich wichtig ſcheint. Die
franzoͤſiſche Sprache gebraucht lange nicht
ſo viel Verbindungswoͤrter, als die unſrige; ſie
bringt die Ideen in keinen ſo genauen Zuſammen-
hang, als die unſrige. Dadurch hat ſie eine
abgeriſſene ſentenzioͤſe Schreibart veranlaßt, wor-
inne man Satz auf Satz einzeln hinwirft, und
es dem Leſer ſelbſt uͤberlaͤßt, ſich die Verbindung
hinzu zu denken. Wenn der Mann, der ſo ſchreibt,
in der That ein buͤndiger Kopf iſt, der ſich an
eine ſtrenge und genaue Ordnung ſeiner Gedan-
ken gewoͤhnt hat, ſo mag fuͤr einen auch denken-
den Kopf in einer ſolchen Schreibart viel leichte
und ſchmeichelhafte Beſchaͤftigung, und mithin
viel Reizendes ſeyn. Aber ſobald ſich ihrer ein
nicht ſo buͤndiger Schriftſteller bedient, ſo leitet
ſie ihn ohne Unterlaß von dem geraden Wege ſei-
ner Ideen ab; ſie fuͤhrt ihn in Verſuchung, Saͤtze
zuſammenzuhaͤufen, die keine richtige Folge ma-
chen: und dann verliert ſich der Schriftſteller oft
[464]Ueber den Einfluß einiger
voͤllig von ſeinem Ziele, ſcheint uns die ſcharf-
ſinnigſten Sachen zu ſagen, und ſagt uns im
Grunde ſo viel als nichts. Die ſo geſchriebenen
ſchlechten Buͤcher ſollten gar nicht uͤberſezt wer-
den; die ſo geſchriebenen guten Buͤcher ſollte der
Ueberſetzer eben dadurch am meiſten verdeutſchen,
daß er die wirklich vorhandene Verbindung der
Ideen ſo viel als moͤglich angaͤbe; und keiner
unſrer Originalautoren ſollte der Sprache Gewalt
thun, um ſie eben ſo zerriſſen und unzuſammen-
haͤngend in ihren Gliedern zu machen, als die
franzoͤſiſche es geworden iſt. Nichts iſt einem
guten Werke ſo weſentlich, als ein richtiger Gang
und eine genaue Verbindung der Gedanken; und
nichts an einer Sprache ſo ſchaͤzbar, als wenn ſie
durch ihr Genie dieſen richtigen Gang und dieſe
genaue Verbindung beguͤnſtiget.
Sie ſehen, meine Herren, daß meine Mate-
rie kaum angefangen, und nichts weniger als er-
ſchoͤpft iſt; ich kann Ihnen daher aus den uͤbri-
gen Theilen nur einige zerſtreute Gedanken vorle-
[465]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
gen, deren Ausfuͤhrung ich mir aufs Kuͤnftige
vorbehalte.
Die Provinz, in welcher die guten Schrift-
ſteller zuerſt zum Vorſcheine gekommen ſind, und
der Dialekt dieſer Provinz muß nothwendig mit
in Betrachtung gezogen werden, wenn man wiſ-
ſen will, warum unſre Denkungsart und unſre
Sprache gerade dieſen und keinen andern
Schwung genommen haben? Waͤre die Dicht-
kunſt in Schwaben, wo ſie aufzubluͤhen anfieng,
zur voͤlligen Reife gediehen, ſo wuͤrde ſich unſer
Geſchmack ganz anders gewoͤhnt haben; wir
wuͤrden uns unſtreitig von dem, was gut deutſch
heißt, von dem, was in den Ausdruͤcken edel
oder laͤcherlich ſeyn ſoll, ganz andre Begriffe ma-
chen, als jezt. — Alle Sprachen, die in groſ-
ſen Reichen geſprochen werden, muͤſſen Dialekte
haben; aber nicht bey allen haben dieſe Dialekte
gleiche Wirkung. Wenn jedermann, oder wenn
wenigſtens der Mann von Erziehung die Haupt-
dialekte ſeines Landes verſteht, wie das in Grie-
chenland war, und noch jezt in Italien iſt; wenn
G g
[466]Ueber den Einfluß einiger
nicht jede Provinz den Dialekt der andern durch-
aus und abſolut laͤcherlich findet; wenn der Athe-
nienſer, ſeines feinen und verwoͤhnten Ohrs un-
geachtet, doch die Delikateſſe und den Wohl-
klang des ioniſchen Herodots nicht verkennt: ſo
kann davon die Dichtkunſt und Beredſamkeit
Vortheil ziehen. Uns aber, bey denen jene Be-
dingungen nicht ſtatt finden, wuͤrde ein Dich-
ter, wie Homer, der die verſchiedenen Dialekte
unſers Landes vereinigen wollte, nicht anders als
abentheuerlich und abgeſchmackt ſcheinen.
Ueber den Mangel einer allgemeinen Haupt-
ſtadt iſt ſchon vielfaͤltig geklagt worden. Halb
iſt dieſe Klage gerecht, und halb iſt ſie unge-
recht. Auf die Kuͤnſte hat freylich eine allge-
meine Hauptſtadt einen ſehr großen Einfluß;
denn nur durch die gegenſeitige Mittheilung der
Einſichten und Erfindungen, und durch den
Ehrgeiz, den die Nebenbuhlſchaft erregt, koͤnnen
die Menſchen ihre Werke zur Vollkommenheit
bringen; und bey den Kuͤnſten findet dieſe Mit-
theilung anders nicht ſtatt, als durch die Ge-
[467]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
genwart und den Anblick. Zur Kultur der ſchoͤ-
nen Wiſſenſchaften iſt es in gewiſſer Abſicht
nuͤtzlich, daß die Schriftſteller beyſammen woh-
nen, ſich ihre Gedanken und Entwuͤrfe muͤndlich
mittheilen, einer des andern Rath hoͤren, einer
den andern entflammen und aufmuntern; aber
ſo nothwendig iſt es bey weitem nicht, als bey
den Kuͤnſten. Es giebt hier ſchon Wege, wo-
durch ſich Kenntniſſe und Geſchmack auch in
entfernte Gegenden verbreiten koͤnnen. Ja,
vielleicht beſaͤßen wir einige unſrer ſchoͤnſten
Werke nicht, die ſich durch den originellen Cha-
rakter der einfaͤltigſten und liebenswuͤrdigſten
Natur empfehlen, wenn unſere Schriftſteller nur
dem uͤppigen Publikum einer allgemeinen Haupt-
ſtadt haͤtten gefallen wollen, und der gekuͤnſtelte
Ton der vornehmen Welt einmal Mode gewor-
den waͤre. — Wer am meiſten Recht hat, uͤber
den Mangel einer Hauptſtadt zu klagen, das iſt
der theatraliſche Dichter. Denn dieſer vermißt
damit ein gebildetes, beſtimmtes, uͤberall bekann-
tes Publikum, deſſen Sitten er kopiren und das
G g 2
[468]Ueber den Einfluß einiger
ihn hinlaͤnglich belohnen koͤnnte; er vermißt eine
Buͤhne, die reich genug waͤre, alle guten Schau-
ſpieler der Nation an ſich zu ziehen, und eben da-
durch vollkommen genug, ihn uͤber das Praktiſche
ſeiner Kunſt zu belehren, und ihm Muth zur Ue-
berwindung ihrer unzaͤhligen Schwierigkeiten zu
geben.
Es ſcheint, als wenn es unſern Schrift-
ſtellern bisher noch an der Beharrlichkeit gefehlt
haͤtte, lange Zeit an einem Werke im Verbor-
genen zu arbeiten, und viele Jahre lang einen
weitlaͤuftigen Plan zu verfolgen, ohne die Frucht
des Ruhms von der Bekanntmachung deſſelben
zu genießen. Und doch ſind die Werke der
Monteſquieu und der Ferguſon nur auf dieſe
Weiſe entſtanden. Eine Haupturſache davon
iſt wohl die, daß bey den meiſten unſrer jungen
Koͤpfe der Ruf, den ſie als Schriftſteller ſuchen,
bloß das Mittel ſeyn ſoll, ihr Gluͤck zu ma-
chen. Freylich koͤnnen ſie alsdann nicht genug
eilen, dieſen Ruf zu erhalten; und es waͤre ſehr
[469]Umſtaͤnde auf die Bildung ꝛc.
unnatuͤrlich, wenn ſie nicht mit einer kleinern
Vollkommenheit ihrer Werke zufrieden waͤren, wo-
fern dieſelben nur gut genug ſind, Leute, die ihre
Umſtaͤnde verbeſſern koͤnnen, auf ſie aufmerkſam
zu machen.
Man klagt daruͤber, daß unſre Großen un-
ſere Buͤcher nicht leſen, und man hat Recht,
daruͤber zu klagen. Aber auch dieß haͤngt ſo
natuͤrlich mit den Umſtaͤnden unſerer Nation
und ſelbſt mit der Beſchaffenheit unſerer Lit-
teratur zuſammen, daß man ſich wenigſtens
nicht wundern darf, wenn man auch klagt.
Keine Werke der Philoſophie erlauben mehr Er-
habenheit im Ausdrucke, mit mehr Scharſſinn
in der Unterſuchung verbunden, als die, welche
von Verwaltung der Staaten handeln. Keine
ziehen die Aufmerkſamkeit der Staatsmaͤnner
und der Großen mehr auf ſich. Wir haben bis-
her noch kein einziges Werk dieſer Art, das wir
den Schriften unſrer Nachbarn an die Seite ſetzen
koͤnnten. — Wenn es uns gelaͤnge, unſern Fuͤr-
G g 3
[470]Ueber den Einfluß einiger ꝛc.
ſten einen deutſchen Monteſquieu in die Haͤnde
zu geben, vielleicht wuͤrden ſie dann auch unſre
Klopſtocke und Geßner und Leſſinge und Mo-
ſes leſen.
Ende.
Appendix A Druckfehler.
- S. 313. S. 8. ſtatt zwoͤlften iſt zu leſen: drey-
zehnten.
[][]
denen Gattungen des Drama.
Abhandlung ohne Zuſaͤtze und ohne Verbeſſerungen
herauszugeben, ſo habe ich es doch meiner Achtung
fuͤr das Publikum gemaͤß gehalten, einen Verſuch
zu machen, in wie weit ich mich wegen des unaus-
gefuͤhrten Plans der gegenwaͤrtigen Abhandlung
rechtfertigen, oder denſelben ergaͤnzen koͤnne.
Dulce caput, magicas inuitam accingier artes.
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Garve, Christian. Sammlung einiger Abhandlungen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bk2p.0