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Anatoliſche Fragmente.
Mit einem Vorwort
von
Friedrich von Hellwald.
Hermann Coſtenoble.
1878.
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Vorwort.
Wie ſtaunenswerth auch die Rüſtigkeit ſein mag, mit welcher
in den letzten Decennien die geographiſchen Forſchungen fort-
geſchritten, derjenige, welcher ſich in das Studium der Erdkunde
verſenkt, wird nur zu bald gewahr, wie ſpärlich oft noch das
Material über einzelne Planeteſtellen fließt, wie viele Orte, ja
ganze Regionen es gibt, die noch niemals der Fuß eines gebil-
deten Europäers betreten hat. Geradezu überraſchend mag es
erſcheinen, daß ſolche gar nicht oder nur ſehr oberflächlich ge-
kannte Gebiete mitunter hart an der Schwelle dicht bewohnter
und oft durchſtreifter Länder, ja in der nächſten Nähe der
europäiſchen Culturſtaaten liegen. Nirgends iſt dies mehr der
Fall, als in jenen Länderſtrichen, welche wir kurzweg als den
„Orient“ zu bezeichnen pflegen und worunter man die europäiſche
Balkan-Halbinſel und ganz Vorder-Aſien, d. h. Klein-Aſien mit
den ſyriſchen Geſtaden bis an die Hochſtufen Perſiens verſteht.
Noch ſind es nur wenige Jahre her, daß das heute viel genannte
Bulgarien ſo gut wie völlig unbekannt geweſen und kaum fünf-
zehn deutſche Meilen von den ſchwarzgelben Grenzpfählen eine
wahre terra incognita ſich ausbreitete, von welcher die Ausdauer
eines öſterreichiſchen Forſchers erſt kurz vor Ausbruch des jüngſten
türkiſch-ruſſiſchen Krieges den Schleier hinweggezogen hat. Bis
dahin wußte man über einzelne Theile Afrikas thatſächlich
genaueren Beſcheid, als über das uns doch ſo nahe gelegene
Innere des osmaniſchen Reiches.
Die Regionen, in welche der durch frühere Arbeiten ſchon
vortheilhaft bekannte Verfaſſer des vorliegenden Buches den Leſer
hauptſächlich führt, ſind nun zwar nicht eine terra incognita in
dem Sinne, daß ſie niemals beſucht und unterſucht worden
wären; vielmehr haben verſchiedene, freilich nicht all zu viele
[VIII] Reiſende, Engländer und Andere, Armenien und Kurdiſtan
wenigſtens theilweiſe durchwandert und die Ergebniſſe ihrer
Beobachtungen in einzelnen Reiſewerken niedergelegt. Armenien
ſelbſt iſt bis zur Stunde politiſch unter drei Mächte, Rußland,
Perſien und die Türkei, vertheilt, und das den Ruſſen gehörige
Stück iſt längſt, ſo gut es die Verhältniſſe geſtatteten, von ihnen
dem Verkehre zugänglich gemacht und großentheils wiſſenſchaftlich
durchforſcht worden. Immerhin iſt unſere Kenntniß jenes im
gegenwärtigen Augenblicke ſo wichtig in den Vordergrund treten-
den Theiles Aſiens, beſonders der nichtruſſiſchen Gebiete und
namentlich Kurdiſtan, eine überaus kärgliche und muß die
Erdkunde dankbar jede Gabe empfangen, welche den Umfang
unſeres Wiſſens nach dieſer Richtung erweitert. Noch immer
entbehren wir in der Literatur aller Sprachen eines Buches,
welches in zuſammenhängender Weiſe und auf Grund eigener
Anſchauung ein Geſammtbild jenes Landes vor Augen bringt,
weitere Kreiſe mit Natur und Sitte in Armenien vertraut
machen kann. Der Verfaſſer dieſer Schrift hat ſich nun bemüht,
dieſer Aufgabe gerecht zu werden, indem er mit den Reſultaten
ſeiner eigenen Unterſuchungen eine genaue Kenntniß der bisher
über Armenien erſchienenen Literatur verbindet und in an-
ſpruchsloſer Weiſe, geſchmackvoller Darlegung und fern von
jedem gelehrten Scheine zu ſchildern verſteht. Fachmänner werden
die auf ältere Arbeiten verweiſenden Noten gewiß dankbarſt auf-
nehmen und darin die Mittel zu weiterer Vertiefung in dieſes
Thema finden.
Im Hinblicke auf eine ſo bewegte Zeitgeſchichte, wie die
heutige es iſt, wird auch der Politiker gern nach einer Arbeit
greifen, welche ihn über den Werth des ſtreitigen Gebietes zu
orientiren im Stande iſt. Manche Vorurtheile wird er darin
zerſtreut, manchen Irrthum berichtigt finden und ſchließlich wohl
Niemand das Buch ohne Nutzen aus der Hand legen.
Cannſtatt, im April 1878.
Friedrich von Hellwald.
[[IX]]
Inhalt.
- Seite
- Einleitende Bemerkungen IX
- I.Im Ararat-Gebiet.
Rundblick vom Ararat. — Bajazid. — Bis Kars. — Ar-
meniſche Culturſtätten. — Zur Völkerſtellung der Armenier.
— Der Patriarchenſitz Etſchmiatſin 1 - II.Hoch-Armenien.
Von Kars nach Erzerum. — Die armeniſche Capitale und
ihre geſchichtliche Vergangenheit. — Die Plaſtik Hoch-Ar-
meniens. — Erzingian und der „heilige Berg“. — Die
ältere Literatur der Armenier 43 - III.Das pontiſch-armeniſche Geſtadeland.
Trapezunt, die Türkenſtadt. — Hiſtoriſche Reminiscenzen. —
Das Gartenland „Dſchanik“. — Zur Kaukaſiſchen Emigration.
— Griechiſche Küſtengaue. — Laziſtan und das Volk der
Lazen 69 - IV.Van und die Kurden.
Im armeniſchen Kaſchmir. — Die Stadt Van und ihre Denk-
male. — Hakkiari, der Neſtorianer-Diſtrict. — Die Kurden
und ihre geographiſche Verbreitung 93 - V.Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Klein-Armenien. — Das Halysplateau mit Siwas. — Das
plaſtiſche Total-Bild Armeniens. — Die Hochſteppen. — Die
Eufrat-Katarakte. — Armeniens culturhiſtoriſche Stellung zu
Aſien. — Das armeniſche Volk der Gegenwart und ſein bis-
heriges Verhältniß zur entſprechenden Race 115 - Anhang: Anatoliſche Fragmente.
Die Stammheimat der Osmanen. — Hellespont und Ilion.
— Smyrna. — Zwiſchen Taurus und Halys. — Die Garten-
ſtadt Amaſia. — Sinope, ein Culturbild. — Allgemeines über
Anatolien 145
[[X]][[XI]]
Einleitende Bemerkungen.
Rußland und England in Vorder-Aſien. — Der ruſſiſch-türkiſche Krieg
in Armenien. — Die Territorial-Veränderungen durch den Frieden
von San Stefano (3. März 1878).
Alle Welt ſpricht ſeit vielen Luſtren von der in ihren Con-
ſequenzen unberechenbaren Rivalität der Ruſſen und Engländer
in Central-Aſien. Die Geneſis der gegenſeitigen Machtbeſtre-
bungen der beiden Rivalen hierſelbſt iſt zur Genüge bekannt,
aus Zeitungsberichten und Parlamentsreden, aus politiſchen Ab-
handlungen und dickleibigen Reiſeberichten ſowohl ruſſiſcher, als
engliſcher Schriftſteller. Mag es nun mit den theoretiſchen
Calculs eines Zuſammenſtoßes der beiden Coloſſe an dem rieſigen
Grenzwall des Himalaya-Syſtems und den dazu gehörigen Hoch-
ländern von Badaghſchan und der Pamyr wie immer beſtellt
ſein, ſoviel ſteht feſt, daß die Natur in dieſer grandioſen Gebirgs-
welt, dem „Dache der Welt“, wie Fedtſchenko ſie nennt, Factoren
in Mitleidenſchaft zieht, welche die ſogenannte „central-aſiatiſche
Frage“ einer definitiven Löſung nicht gar ſo bald entgegenführen
werden. Die Machtbeſtrebungen beider Staaten collidiren indeß
nicht in Central-Aſien allein; an der ganzen Längenachſe des
aſiatiſchen Continents, vom Cap Baba-Kaleſſi unweit Trojas bis
zu den Geſtaden des ochotzkiſchen Meeres, gibt es nahezu aller-
orts Territorien, wo die vielbeſprochene Rivalität einen mehr
oder minder ſcharfen Ausdruck erhält. So documentirt ſich denn
auch in Vorder-Aſien allenthalben der Anglo-ruſſiſche Antago-
nismus, und es dürfte unſeres Erachtens am Platze ſein, einem
Buche, das ſich mit einem ſo wichtigen, in politiſcher, wie in
[XII]Einleitende Bemerkungen.
geographiſcher Beziehung wichtigen Lande, wie Armenien, be-
ſchäftigt, ein Capitel politiſchen und zeitgeſchichtlichen Inhaltes
voranzuſetzen …
Mit Rußlands Verlegung ſeiner Grenzpfähle bis zum Großen
Ararat nach den perſiſchen und ruſſiſch-türkiſchen Kriegen 1826
bis 1829, d. h. nach den Friedensſchlüſſen von Turkmantſchai
und Adrianopel, ſchien England des müßgen Zuſehens gegenüber
den ſtetig ſtattfindenden Machtverſchiebungen an der Schwelle
Irans überdrüſſig. Eine politiſche Preſſion auf die Verhältniſſe
ſchien freilich nicht gut möglich, und ſo bediente man ſich an-
fänglich engliſcherſeits anderer Mittel. Der Beſuch engliſcher
Miſſionäre nahm um dieſe Zeit in Vorder-Aſien erheblich zu,
namentlich in den öſtlichen und centralen tauriſchen Diſtricten,
alſo an der eigentlichen geographiſchen Schranke zwiſchen einer
allfälligen ruſſiſchen und engliſchen Macht- und Intereſſen-Sphäre.
Leider ſind über dieſe Anfänge brittiſchen Einfluſſes nur Er-
innerungen zurückgeblieben, welche das allerungünſtigſte Licht
auf die engliſche Proſelytenmacherei werfen. So hatten beiſpiels-
weiſe die Kurden des Neſtorianer-Diſtrictes von Hakkiari eine
für jene Naturſöhne höchſt außergewöhnliche Hochachtung vor
dem Wirken der amerikaniſchen Miſſionsbrüder erlangt, wie es
vor einigen Decennien und gerade nach dem erſten ſiegreichen
Feldzuge der Ruſſen in Armenien (1829) blühte. Dagegen
wußten die engliſch-hochkirchlichen Miſſionäre nichts beſſeres zu
thun, als die Kurden, welche doch unter Umſtänden ſehr fanatiſche
Mohammedaner zu ſein vermögen, gegen die Amerikaner und
ihre neſtorianiſchen Schutzbefohlenen aufzuhetzen, und ſo jenes
Blutbad hervorzurufen, das weit erſchütternder war als die
Maronitenſchlächterei im Jahre 1860, wobei die Engländer be-
kanntlich gleichfalls ihre Hände im Spiele hatten. Das Haupt
der damaligen hochkirchlich-biſchöflichen Propagandiſten in Hakkiari
aber war ſo naiv, oder übelwollend, daß es nach der entſetzlichen
Kataſtrophe von Aſchitah das Handeln des blutdürſtigen Bedr
Khan noch zu entſchuldigen wagte. „Wie myſteriös“, ruft Hr.
Badger (The Nestorians, I, 301) aus, „waren die Wege des
Allmächtigen, indem er zuließ, daß die ungläubigen Kurden ſo
viele Tauſend Anhänger Chriſti ſchlachteten! Wir dürfen gleich-
wohl nicht zweifeln, daß Gott ein erhabenes Ziel bei dieſer Zu-
[XIII]Rußland und England in Vorder-Aſien.
laſſung hatte …“ Das war der ſeinerzeitige Repräſentant des
engliſchen Einfluſſes in Kurdiſtan; er hatte es auch dahin ge-
bracht, daß der nach Perſien (Urumia) exilirte Neſtorianer-Pa-
triarch Mar Schimun alle neſtorianiſchen Anhänger der ameri-
kaniſchen (nicht biſchöflichen) Kirche verfluchte, den moslemiſchen
Pöbel gegen dieſelben und die proteſtantiſchen Miſſionäre auf-
hetzte und ſo zu Blutſcenen Anlaß gab, die erſt durch das Ein-
ſchreiten der — perſiſchen Regierung ihr Ende fanden.
Nach dieſen wenig erfreulichen Reſultaten griff man eng-
liſcherſeits zu anderen Mitteln, und zwar zu ſolchen handels-
politiſcher Natur. Die Schlachtfelder in Armenien waren von
dem vergoſſenen Blute (1829) kaum erſt trocken geworden, als
die brittiſche Regierung mehrere Expeditionen mit handelspolitiſchen
Miſſionen nach den Ländern des Eufrat und Tigris entſandte.
Oberſt Chesney wandte ſich dem Eufrat zu, Ainsworth dem
Tigris. Der im Grunde doch nur höchſt problematiſchen Frage
der Beſchiffung des Eufrat mit Dampfern, wie ſie der engliſche
Oberſt aufwarf, folgte bald deſſen, rein nur akademiſchen Werth
beanſpruchendes Project einer directen Schienenverbindung des
ſyriſchen Geſtades mit dem Perſiſchen Golfe durch eine dem
Eufrat-Thale entlang laufende Bahnlinie. Die Projecte an ſich
waren aber nicht das Schwerwiegende an der Frage, ſondern
die damit verbundene handelspolitiſche Tendenz, den perſiſch-kur-
diſchen Export, welchen die Ruſſen mit viel Umſicht und Energie
in der kürzeſten Zeit an ſich zu reißen wußten, über den Per-
ſiſchen Golf abzulenken. Seit vierzig Jahren nun macht Eng-
land in dieſer Richtung ganz außerordentliche Anſtrengungen,
und man kann ſagen, daß es an der Themſe keine politiſche oder
national-ökonomiſche Capacität gibt, die ſich mit dieſer Frage
nicht eingehend beſchäftigt und ſie als mit den vitalſten Intereſſen
des Inſelreiches gleichbedeutend erachtet hätte. Alle Projecte,
welche ſich mit einer Paralyſirung der ruſſiſchen commerziellen
Präponderanz in Vorder-Aſien beſchäftigen, ſind derart angelegt,
daß ſie die Wechſelwirkung zwiſchen dem Emporium Conſtan-
tinopel und dem Perſiſchen Golfe in irgend einer Art zum Aus-
drucke bringen.
Sehr eingehend hat ſich neuerdings ein Parlamentsausſchuß
mit dieſer Frage befaßt, der im Jahre 1872 die Angelegenheit
[XIV]Einleitende Bemerkungen.
einer Sicherung des Eufrat-Thales in Erwägung zog (unter dem
Vorſitze des jetzigen Schatzkanzlers Sir Stafford Northcote), und
ſich dahin ſchlüſſig gemacht: daß die politiſchen, wie die Handels-
vortheile, welche die Sicherung jener Straße gewähren, zu jeder
Zeit beträchtlich und unter möglichen Verhältniſſen außerordentlich
groß ſein würden. In der Denkſchrift ſelbſt (Report from the
Select Committee on Euphrates Valley Railway etc. …)
wurden drei Varianten eines Schienenweges durch Vorder-Aſien
nach Indien discutirt, und zwar: erſtens, von einem nordſyriſchen
Küſtenpunkt aus (Suwedje oder Skanderun) über Aleppo zum
Eufrat und dieſem thalab folgend bis zum Perſiſchen Meerbuſen;
zweitens, von denſelben Ausgangspunkten ab durchs meſopotamiſche
Binnenland, alſo entweder am linken Eufrat- oder rechten Tigris-
Ufer, mit dem gleichen Endpunkt (Kuweit, Korna oder Basra);
drittens endlich, eine Linie über Djarbekr und Moſſul, alſo
längs der Südgrenze Kurdiſtans nach Bagdad und weiter zum
Perſiſchen Golfe. Für das erſte Project wurde überdies auch
noch die Wahl des Küſtenpunktes Tripolis (Tarabulus) in Mittel-
Syrien anempfohlen, wodurch eine große Strecke der Eufrat-Bahn
in die ſyriſch-eufratenſiſche Wüſte (Palmyra-Deïr) fallen würde.
Auch gibt es ein Project (durch den Aſſyriologen und Präſi-
denten der Londoner „Geogr. Soc.“, Sir Henry Rawlinſon ver-
treten), nach welchem die Bahn von Scutari ab ganz Klein-
Aſien und Armenien, weiterhin Perſien und Afghaniſtan durch-
ſchneiden ſoll, um entweder bei Peſchawer oder Schikarpur ans
indiſche Netz anzuſchließen. Hiebei handelt es ſich ſelbſtverſtändlich
keineswegs um ein ruſſiſches Armenien, wie überhaupt alle Pro-
jecte ſich möglichſt fern von den ruſſiſchen Reichsgrenzen halten.
Die Vorzüge nun, welche die Eufratbahn der Theorie nach auf-
wies, wurden in der Praxis ſtark paralyſirt. Von Tripolis di
Siria bis Bagdad allein beträgt dieſe Linie nicht weniger als
1200 Kilometer, längs der es keine Städte, keine Hilfsquellen,
kein Holz und in den Wüſtenſtrecken ſelbſtverſtändlich auch kein
Waſſer gibt. Daß bei ſolch ungünſtigen Vorbedingungen das
Comité die Koſten des Baues der Eufratbahn auf nur zehn
Millionen Pfund Sterling veranſchlagte, iſt eine Illuſion; der
Bau würde mindeſtens die doppelte Summe beanſpruchen. Außer-
dem iſt die Bahn auch techniſch kaum ausführbar, da der Strom
[XV]Rußland und England in Vorder-Aſien.
zahlloſe mächtige Curven beſchreibt, denen die Linie nicht folgen
darf, ſoll ſie nicht die Zahl der Kilometer unverhältnißmäßig
erhöhen; den Curven aber auszuweichen, d. h., zahlloſe Brücken
anzulegen und die vorliegenden Ufervorſprünge zu tunneliren
— das allein ſchon würde das Unternehmen derart vertheuern,
daß es auf ein Jahrhundert hinaus unrentabel bliebe. Das
fragliche Comité ſelbſt hat ſeiner Zeit wohl gewiſſe Vorzüge
dieſer Linie, wie bereits oben angedeutet, anerkannt, konnte aber
über die praktiſche Seite dieſer Frage nicht ſchlüſſig werden.
Wie die Dinge ſtehen, wird die ſogenannte „Eufrat-Bahn“ augen-
ſcheinlich niemals, oder doch nur in ſehr ferner, unbeſtimmbarer
Zeit, zu Stande kommen, wohl aber eine „Tigris-Bahn“, die,
von einem nordſyriſchen Hafen abgehend, durch das fruchtbare
Hoch-Meſopotamien, alſo an der kurdiſch-meſopotamiſchen Grenze,
und im weiteren Verlaufe längs der perſiſchen Grenze nach
Bagdad und dem Perſiſchen Meerbuſen führen würde. Die
eventuelle engliſche Intereſſenſphäre rückt demnach um ein be-
deutendes Stück weiter nach Norden, bis an die Marken Kur-
diſtans hinauf, das heißt, das Gegengewicht muß an einem Punkte
geſucht werden, deſſen Ingerenz bis zu der genannten Grenze
reicht. Daß ein ſolches Gegengewicht nur durch eine unge-
ſchmälerte Machtſtellung am Perſermeere, niemals aber in dem
ſo entlegenen und außer aller Communication mit den britiſchen
Beſitzungen ſtehenden Tigris-Thale zu ſuchen ſei, liegt auf der
Hand. Hiebei erwächſt freilich die moraliſche Schwierigkeit, daß
eine Machtſtellung Englands am Perſiſchen Golf ſo ziemlich
gleichbedeutend mit dem Beſitze der dortigen Küſtenländer und,
wenn nicht aller, ſo doch der türkiſchen Provinz Irak Araki
(Bagdad) und des perſiſchen Küſtenſtriches von Suſiſtan iſt.
Gegen die unleugbaren Fortſchritte Englands am Schat-el-
Arab ſcheint Rußland in irgend einer Art Perſien entgegenge-
ſchoben zu haben. Engliſcher Einfluß iſt in Perſien ſchon ſeit
geraumer Zeit gebrochen; er erhielt den letzten Stoß, als es
verſchiedenen Intriguen gelungen war, Hrn. v. Reuter ſammt
ſeiner theuer erkauften Eiſenbahnconceſſion aus dem Lande zu
drängen und ſomit jeder indirecten engliſchen Speculation die
Spitze abzubrechen. Wenn der Nachfolger im Beſitze jenes
Danaer-Geſchenkes, General Falkenhagen, ſeiner kurzen Errungen-
[XVI]Einleitende Bemerkungen.
ſchaft nicht froh werden konnte, zunächſt aus Mangel an Capital,
ſo ſtand hinter ihm dennoch die ruſſiſche Regierung, wobei
allerdings keine ſolidariſche Verpflichtung behufs Realiſirung des
Unternehmens vorlag. Zweifellos iſt es, daß der Beherrſcher
des Sonnenreiches, dem „Punkte, zu dem die Welt ſich neigt“,
im ruſſiſchen Sinne handelte und ſich überhaupt an den nor-
diſchen Nachbar enger anſchloß. Gleichzeitig ereigneten ſich bald
hierauf jene großen Kataſtrophen zu Conſtantinopel (1876),
welche dem türkiſch-ſerbiſchen und türkiſch-ruſſiſchen Kriege voran-
gingen, und ein königlicher Prinz aus dem Geſchlechte der Kad-
ſcharen (man ſagt der Thronfolger), fand ſich veranlaßt, den
verwegenen Ausſpruch zu thun: daß er alle osmaniſchen Fa-
milienglieder, falls er die Macht hiezu beſäße, in Conſtantinopel
— aufknüpfen würde. Das war eine ſehr deutliche Sprache,
und ihr gegenüber nahmen ſich die Freundſchaftsverſicherungen
zwiſchen Schah und Chalifen zum mindeſten ſehr draſtiſch aus.
Die Sympathien der ſchiitiſchen Perſer zu den ſunnitiſchen Türken
waren nie abſonderlich warme; ganz und gar unerträglich aber
iſt erſteren der Gedanke, die Paſſionsſtätten ihres Glaubens,
welche am fernen Eufrat-Geſtade liegen, in türkiſchen Händen zu
wiſſen. Dort ruhen in ſumpfiger oder wüſter Niederung, in-
mitten eines höchſt unſicheren Beduinen-Territoriums, die größten
ſchiitiſchen Märtyrer, Ali zu Nedſchef und ſein Sohn Hoſſein zu
Kerbela. Alljährlich ziehen die ſogenannten Todtenkarawanen
mit ihren peſthauchenden Särgen vom iraniſchen Hochlande in
die meſopotamiſche Niederung hinab, denn es iſt für Perſer ſehr
erſprießlich in Nachbarſchaft jener Heiligen zu ruhen. Die Be-
duinen aber ſind da ganz anderer Meinung und ſo wiederholen
ſich ihre räuberiſchen Ueberfälle auf die, im Grunde ſehr ſanitäts-
widrigen Leichenkarawanen, immer wieder, zum Theile aus Glau-
benshaß, anderntheils der Schätze halber, welche die Verwandten
der reichen Todten als Geſchenke für die Grabmoſcheen mit ſich
führen. Aus dieſem Anlaß iſt der perſiſch-türkiſche Antagonismus
uralt, und es iſt bekannt, daß noch in den erſten Jahrzehnten
unſeres Jahrhunderts Perſien die gewaltigſten Anſtrengungen
machte, um wieder in den Beſitz von Bagdad zu gelangen, über
welche Stadt jener Pilgerweg weiterhin zum Eufrat-Geſtade bei
Hilleh führt. Dieſe Beſtrebung iſt auch die Lieblingsidee des
[XVII]Rußland und England in Vorder-Aſien.
jetzigen Schah geblieben, und er ſetzte auf ihre Verwirklichung
ſehr viel Hoffnung, — da ſchob England auch hier ganz uner-
wartet dem, von Rußland begreiflicherweiſe ſehr warm unter-
ſtützten Plane, einen Riegel vor; es faßte in dem elenden Dorfe
Mohammereh, an der Mündung des Schatt-el-Arab, Fuß, um
ſich hier in Zukunft ſein meſopotamiſches Singapur zu gründen.
Einen noch viel entſchiedeneren Einfluß wußte ſich England
im öſtlichen Arabien zu ſichern, wo namentlich die turbulenten
politiſchen Ereigniſſe im Sultanat von Maskat die brittiſche
Intervention geradezu herausforderten. Zum Verſtändniſſe der
heutigen Lage daſelbſt müſſen wir indeſſen die Geſchichte Omans
in aller Kürze vorbringen. Die eigentlichen Wirren in dieſem
Sultanat datiren ſeit der unglücklichen Entſchließung des Sultans
Sayid Said (geſt. 1856): ſein Reich in Aſien und Afrika in
zwei Theile, wie ſie die Natur allerdings begünſtigte, zu trennen
und ſo aus einem Staate zwei zu ſchaffen. Es erhielt Said
Medſchid die Territorien an der oſtafrikaniſchen Küſte mit San-
ſibar, und Said Tsueni das Sultanat von Oman, mit der
Hauptſtadt Maskat. Bald nach dem Regierungsantritte Tsuenis
entſpann ſich in Oman ein Bruderzwiſt, hervorgerufen durch ein
geradezu uſurpatoriſches Auftreten Saids Achmeds, des dritten
Sohnes Sayid Saids. In ſeiner Bedrängniß rief der Regent
die Wahabiten, die Hochländler von Nedſched, zu Hilfe, ſchlug mit
dieſen ſeinen Bruder Achmed und warf ihn ins Gefängniß, wo
er wahrſcheinlich eines gewaltſamen Todes ſtarb, denn es hat
ſeitdem von ihm nichts mehr verlautet. Wir wollen nun noch
hinzuſetzen, daß bereits der Vater Tsuenis, als ganz unmündiger
Knabe noch, ſeinen eigenen Oheim, den Sultan Bedr, auf ſeinem
Schloſſe zu Burka ermordet hatte, und ſomit ſich und ſeine
Nachkommen der in Arabien noch mit voller Intenſität graſſirenden
Blutrache überlieferte. Das Familien-Drama ſollte auch in der
That nicht zu lange auf ſich warten laſſen. Unter den unab-
hängigen Beduinen im Innern des Landes lebte ein Enkel Bedrs,
Azran Ibn Ghais, der den eigenen Sohn des omanitiſchen Sul-
tans für eine Verſchwörung gegen dieſen und ſein Regiment
gewann, und ſo wurde Tsueni (im Sommer 1867) durch ſeinen
eigenen Sohn im Schloſſe Burka hinterliſtig ermordet. Dieſe
blutige That hat dem jungen Said Salem ſchlechte Früchte
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. II
[XVIII]Einleitende Bemerkungen.
getragen. Er lebte ſpäter vergeſſen und verſchollen auf einer
Inſel des Perſermeeres, nachdem er nach kaum zweijähriger Re-
gierung aus Maskat entfliehen mußte, um Schlimmerem zu ent-
gehen. Aus dieſem Verſchwinden des jungen Sultans wollte der
ſchon erwähnte Enkel Sayid Saids ſeinen Vortheil ziehen, und
ſo zog eines Tages Ibn Ghais mit ſeinen Nomaden-Horden und
Wüſten-Räubern in Maskat ein, um ſich des Thrones zu be-
mächtigen. — Bis hieher hatte England vom benachbarten Indien
aus ſtets den ſtummen, aber gleichwohl ſehr aufmerkſamen Beob-
achter abgegeben. Die turbulenten Ereigniſſe lagen ganz in
ſeinem Intereſſe, und es handelte ſich nur um den richtigen Zeit-
punkt zum Einſchreiten, der auch hereinbrach, als Ghais in ſeiner
tyranniſch-despotiſchen Art den engliſchen Conſul von Maskat
ſehr „von oben herab“ behandelte, ja, ſich nachgerade ſeiner ent-
ledigen wollte, um der ihm unbequemen, argusäugigen Controle
zu entgehen. Sein Schickſal war indeß in Bombay bereits
vorgezeichnet, wo der jüngſte Sohn Sayid Saids — Said Turki
für den Thron von Maskat präparirt wurde. Im Spätſommer
1870 eroberte Turki mit brittiſchem Gelde und brittiſchen Waffen
Maskat, und nachdem Ibn Ghais im Kampfe gefallen war,
beſtieg er den Thron ſeiner Väter als — Vaſall Englands.
Lange ſcheint indeß die Herrlichkeit Turkis nicht gedauert zu haben,
denn neuerdings (1877) trafen Nachrichten aus Maskat ein,
welche ein getreues Abbild der früheren Zuſtände liefern. Im
abgelaufenen Jahre empörten ſich nämlich die Bewohner Maskats,
angeblich wegen zu hohen Steuerdrucks und verjagten ihren
Sultan Abdul Aziz. Aus einem Verſtecke im nahen Küſtenge-
birge ſetzte ſich dieſer in Verbindung mit der Regierung in Cal-
cutta, die auch ſofort das Kriegsſchiff „Teazer“ nach Maskat
abſegeln ließ, um den Sultan wieder einzuſetzen. Während dieſer
Zeit herrſchte in der Reſidenzſtadt der größte Terrorismus und
die dortigen engliſchen Unterthanen flüchteten mit ihren Familien
theils nach Kuratſchi, theils nach Bombay. Zwölf Tage nach
der Flucht des Sultans erſchien nun das erwähnte Kriegsſchiff
und ſtellte die alte Ordnung (nach vorangegangener Drohung,
die Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln) wieder her.
Das Ende vom Liede wird aber binnen Kurzem auch hier eine
— engliſche Annexion ſein.
[XIX]Rußland und England in Vorder-Aſien.
So ſehen wir unleugbar das mälige Anwachſen der brittiſchen
Herrſchaft am Perſermeere. Welcher Contact aber liegt nun
zwiſchen den Territorien daſelbſt und den elenden Hochſteppen
Armeniens oder den verwahrloſten pontiſchen Küſtenſtädten?
Wir haben darüber aus dem Munde der engliſchen Staatsmänner
nie etwas Poſitives erfahren, weil der fragliche Contact gar
nicht exiſtirt. Englands Intereſſen-Linien laufen ſchon ſeit Jahr-
zehnten von den Delta-Marſchen des Nil und der ſyriſchen Küſte
nach dem Perſiſchen Golfe, beziehungsweiſe nach Indien, während
jene Rußlands identiſch ſein dürften mit den alten Handelswegen
vom Pontus durch Armenien nach Nord-Perſien. Beide Linien-
Zonen, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, laufen zu einander
parallel, aber auch nur der Theorie nach; in Wahrheit liegt
zwiſchen dieſer beiderſeitigen Intereſſen-Sphäre ein ganzes Reich
— Türkiſch-Aſien — und der Maſſenumſatz zweier ganz ver-
ſchiedener Welthälften, der nördlichen und der ſüdlichen. Die
eingebildete Gefahr, daß durch den ruſſiſchen Beſitz der Eufrat-
quellen Englands Machteinfluß in Vorder-Aſien lahmgelegt werden
könnte, iſt ſomit nicht einmal eine geographiſch ſtichhaltige, ge-
ſchweige eine greifbar politiſche oder commerzielle. Wenn indeß
die Engländer glauben, daß in letzterer Beziehung die Ruſſen in
Armenien dennoch ein ſchwerwiegender Factor ſeien, ſo wäre
dagegen nur einzuwenden, daß über Erzerum und Armenien
überhaupt der engliſche Handel von und nach Indien gleich Null
iſt, daß von den durchſchnittlich 300 Poſt- und Waaren-Dampfern,
welche jährlich den Hafen von Trapezunt anlaufen, nur fünf
engliſcher Flagge und ein ganzes Drittel ruſſiſcher Flagge ſind,
und daß unter den 1000 Transport-Dampfern, welche jahrein
und jahraus nach und von den Seeplätzen Keraſunt, Ineboli und
Samſun an der Pontusküſte verkehren, nach dem letzten ſtatiſtiſchen
Ausweis (1876) nur — ſieben engliſcher Flagge waren. Unter
ſolchen Umſtänden vermag man durchaus nicht die Logik heraus-
zufinden, nach der man in England Intereſſen bedroht ſehen
will, die thatſächlich, wenigſtens in commerzieller Beziehung gar
nicht exiſtiren.
Hiebei geht die öffentliche Meinung in England auch in
anderer Beziehung zu weit, namentlich wenn ſie — wie un-
mittelbar nach Schluß des ruſſiſch-türkiſchen Krieges — in Bezug
[XX]Einleitende Bemerkungen.
auf die ruſſiſche Territorial-Erwerbung in Armenien das alte
Geſpenſt herannahender Gefahr für Indien citirt. So ſchrieb
damals der türkenfreundliche „Daily-Telegraph“, daß durch die
Erfolge Rußlands nicht nur die Geſchicke der Türkei, ſondern
auch jene — Englands entſchieden werden würden. Die Frage
ſei von gleich ernſter Bedeutung für die Engländer, wie für die
Türken; die Eroberung Armeniens wurde ausdrücklich unter-
nommen, um Großbritannien entſchieden Nachtheil zuzufügen,
während der Durſt Rußlands nach Gebietsvergrößerung nur in
zweite Linie zu ſtellen komme. Das Blatt betonte ferner, daß
eine Machterweiterung Rußlands ſüdlich des Kaukaſus von der
größtmöglichſten Rückwirkung auf den mohammedaniſchen Oſten
ſein würde, und einen Einfluß geltend machen müßte, der den
britiſchen vollends in den Hintergrund drängen dürfte … Es
fällt ſchwer, von der Expanſionskraft Rußlands ſo vollſtändig
überzeugt zu ſein, um derlei Bilder zu entrollen, und zu glauben,
daß die Koſaken, auf Grund des Erfolges in Armenien, mit der
Zeit ganz Aſien überſchwemmen, Indien, Syrien und Egypten
verſchlingen und zuletzt an den Nilquellen Halt machen würden.
Und dennoch konnte dieſe abenteuerliche Perſpective bis auf den
Tag bei den Engländern eine Rolle ſpielen. Man hat auch
nicht verabſäumt zu erklären, daß Rußland, einmal im Beſitze
von Kars und Batum, nicht blos das Eufratthal beherrſchen
würde, ſondern ſich auch jederzeit Syriens bemächtigen könnte,
da die Pforte, durch die unerhörten Anſtrengungen zu Tode
erſchöpft, fortan in Rußlands Händen ſein würde, und da für
die Beſetzung Syriens ſich leicht ein frommer Vorwand in der
angeblichen Befreiung der heiligen Stätten aus der Gewalt der
Ungläubigen finden ließe. Herr Bright habe bereits einen
ſolchen Kreuzzug als hochverdienſtliches Werk geprieſen, und alle
Vorkämpfer des Chriſtenthums in England, die ganze Partei
der Ritualiſten würde Rußland Beifall zujauchzen. Syrien aber
ſei die Pforte Egyptens und des Suez-Canals … Iſt das
nicht der ſchönſte Weg über Aden und Sanſibar zur Cap-Colonie,
ja, zum Südpol? Nach dieſen Politikern bedroht aber ein Groß-
Armenien unter ruſſiſcher Herrſchaft nicht blos Syrien und
Egypten, ſondern auch das Eufratthal und mithin den wich-
tigſten Ueberlandweg nach Indien. Von einer ſolchen kann aber
[XXI]Der ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.
hier nicht die Rede ſein, will man ſich etwa nicht an das bekannte
Sprichwort halten, daß alle Wege nach Rom — folglich auch
nach Calcutta — führen. Es iſt ganz unbegründet von einer
Beherrſchung des Eufratthales zu ſprechen, ſobald Rußland ſich
nur im Beſitze des ganz unbedeutenden Oberlaufes dieſes Fluſſes
befindet. Es wäre etwas ganz Aehnliches, wenn man annehmen
wollte, daß Württemberg, oder Süddeutſchland, oder Deutſchland
überhaupt, im Beſitze des Oberlaufes der Donau, eine abſolute
Herrſchaft über den Strom ausübe. Alles in Allem, der ruſſiſche
Beſitz der Grenzprovinz in Armenien kann noch lange nicht
maßgebend für eine Bedrohung des Ueberlandweges nach Indien
ſein. Ganz Perſien und Afghaniſtan, in gewiſſem Sinne auch
Kurdiſtan, liegen dazwiſchen, und erſt demjenigen werden ſich
die Pforten nach dem Pendſchab öffnen, der Herr des Iraniſchen
Hochlandes ſein wird …
Gehen wir nun zu den letzten kriegeriſchen Ereigniſſen in
Armenien ſelbſt über. Es kann hier nicht die Abſicht vorliegen,
eine erſchöpfende Geſchichte des ruſſiſch-türkiſchen Feldzuges auf
dem aſiatiſchen Kriegsſchauplatze zu liefern, aber eine chrono-
logiſche Aneinanderreihung der entſcheidenden und hauptſächlichen
Momente in dieſer Action würde gleichwohl ſich in den Rahmen
dieſer Schrift einfügen laſſen … Gleichzeitig mit den erſten
Colonnen der europäiſchen Armee, rückten nach erfolgter Kriegs-
erklärung (24. April 1877) auch in Armenien die ruſſiſchen Ab-
theilungen über die Grenze. Die Armee hierſelbſt, unter Com-
mando des General-Lieutenants Loris-Melikoff geſtellt, wurde
auf etwa 115,000 Mann Infanterie, 26,000 Pferde und 370
Geſchütze, darunter 64 ſchwere Belagerungsgeſchütze, berechnet und
beſtand aus dem Hauptcorps oder dem „Detachement von
Alexandrapol“, aus dem rechten Flügel oder dem „Detachement
von Ardaghan“ und ſchließlich aus dem linken Flügel, oder dem
„Detachement von Eriwan“. Ein beſondern Corps, das ſich ſüd-
wärts des Rion echelonnirt hatte, ſollte gegen Batum vordringen,
um nach geglückter Action wahrſcheinlich durch das Thal des
Tſchuruk mit den übrigen Colonnen gegen Erzerum vorzurücken.
Die ſtrategiſche und geographiſche Situation lag ſo, daß, bei
Annahme eines allſeitigen Gelingens der Operationen, alle De-
tachements in Erzerum, der armeniſchen Capitale, eintreffen
[XXII]Einleitende Bemerkungen.
ſollten. Im Allgemeinen befanden ſich die türkiſchen Streitkräfte,
unter Commando des Muſchirs Achmet Mukhtar geſtellt, zu
Beginn des Krieges nicht in der Lage, dem Gegner erheblichen
Widerſtand zu leiſten. Es waren meiſt nur Irreguläre, Kurden,
Tſcherkeſſen, ja ſelbſt Araber, welche unter die Fahnen des tür-
kiſchen Generals geeilt waren, während die eigentliche reguläre
Feldarmee eine ſehr beſcheidene Ziffer repräſentirte. So gelang
die erſte ruſſiſche Invaſion ſpielend. Bereits eine Woche nach
erfolgter Kriegserklärung zog General Tergukaſſoff an der Spitze
des Detachements von Eriwan in Bajazid ein und in den erſten
Tagen des Mai erſchien die Hauptcolonne vor Kars, wo ſie,
ohne eine Cernirung zu bewirken, einige Zeit liegen blieb, indeß
Seiten-Colonnen gegen den Araxes ſtreiften, wobei das Städtchen
Kagisman am 9. Mai den Ruſſen in die Hände fiel. Tergu-
kaſſoff war wenige Tage ſpäter in Djadin eingetroffen und am
17. Mai gelang es dem General Komarow, nach kurzem aber
hartnäckigem Kampfe ſich der Feſtung Ardaghan zu bemächtigen,
wobei zwei Paſchas, 7600 Mann in Gefangenſchaft geriethen
und 96 Kanonen, 2000 Zelte und 7000 Gewehre erbeutet
wurden. Unterdeſſen erging es den Ruſſen an den Pontusküſten
minder gut. Die reſpectable türkiſche Panzerflotte hatte nicht nur
einzelne ruſſiſche Häfen blokirt, ſondern auch zahlreiche Truppen
in Batum ans Land geſetzt, die nicht nur gleich im Anfange
einen jeden Offenſiv-Verſuch des Rioncorps vereitelten, ſondern
auch ſpäterhin, für die ganze Dauer des Krieges, daſſelbe zur
Unthätigkeit verurtheilten. Gleichzeitig war Fazly Paſcha mit
einem Expeditionscorps, nachdem vorher von einer Escadre
Suchum-Kaleh an der Küſte Abchaſiens zuſammengeſchoſſen ward,
daſelbſt gelandet, um den Kaukaſus zu inſurgiren. Die Abſicht
ſchien Anfangs von Erfolg gekrönt werden zu wollen, denn die
aufſtändiſche Bewegung pulſte bis tief ins Binnenland hinein
und bald erhoben ſich auch einzelne Stämme in der Tſchetſchna
und im Dagheſtan, aufgemuntert durch das Erſcheinen eines
Sohnes Schamyls und haranguirt durch eine Proclamation
Sultan Abdul Hamids, die an den Opfermuth der „bedrückten
Glaubensbrüder“ appellirte. Die Ruſſen wurden indeß der Be-
wegung bald Meiſter und wenn es auch hin und wieder zu
blutigen Zuſammenſtößen kam, ſo waren gleichwohl die Mittel
[XXIII]Der ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.
der Aufſtändiſchen nicht darnach, ſie zu Herren der Situation zu
machen. Vollends belanglos blieben die Leiſtungen Fazly Paſchas,
der ſich in den Küſtenſtrichen mit kleinen ruſſiſchen Abtheilungen
herumſchlug und zwar mit ziemlich wechſelndem Erfolge.
In der zweiten Hälfte des Mai war Loris-Melikoff mit
dem Centrum der armeniſchen Invaſions-Armee vor Kars ange-
langt und zwiſchen dem 20. und 24. ſchritt man zum erſten-
male zu einer heftigeren Beſchießung des Platzes. An eine ernſt-
liche Action gegen Kars dachte man aber umſo weniger, als man die
Gelegenheit nicht verſäumen wollte, dem, im vollen Rückzuge auf
Erzerum ſich befindlichen Mukhtar Paſcha nachzurücken, um ihm
geeigneten Orts eine Schlacht anzubieten. Auf dieſem Vormarſche
wurde das Soghanly-Gebirge (Mitte Juni) nahezu anſtandslos
überſchritten, nachdem es vorher noch gelang, die tſcherkeſſiſche
Reiterei unter Muſſa Paſcha durch einen nächtlichen Ueberfall
bei Begli-Achmed nahezu ganz zu vernichten. Mit dem Erſcheinen
der Hauptcolonne jenſeit des Soghanly-Gebirges waren auch die
Seiten-Detachements in unmittelbarer Nähe eingetroffen, jenes
von Ardaghan bei Olti (am 8. Juni), das Detachement Tergu-
kaſſoffs bei Seidekhan, wo es alsbald in heftige Gefechte mit dem
rechten Flügel der Truppen Mukhtars verwickelt ward. Der
türkiſche Marſchall ſelbſt hatte, augenſcheinlich nach den Dispo-
ſitionen ſeines Generalſtabschefs Feizi Paſcha (einem ungariſchen
Emigranten Namens Kollmann), eine ſehr vortheilhafte Stellung
bei Zewin, in den weſtlichen Vorbergen des Soghanly, genommen
und von dieſer Central-Poſition aus Offenſivſtöße gewagt, die
allenthalben gelangen. Schon am 14. Juni beſetzten die Türken
das verlorene Olti wieder, mußten aber das obere Murad-Becken
nach einem verlorenen Treffen bei Sedekchan und Deli-Baba
vollſtändig räumen und Anlehnung an den Araxes-Ufern zunächſt
Choraſſan und Köprüköi ſuchen. Am 25. endlich ſchritt Loris-
Melikoff, nachdem kurz zuvor Großfürſt Michael auf dem Kriegs-
ſchauplatze erſchienen war, zum allgemeinen Angriff auf die Po-
ſition von Zewin, wurde jedoch geſchlagen. Mit einem Verluſte
von 4000 Mann erfolgte deſſen Rückzug über das Soghanly-
Gebirge in der Richtung auf Kars.
Wochen vergingen ſeit dieſer Kataſtrophe, ohne daß es auf
dem armeniſchen Kriegsſchauplatze zu ernſtlichen Zwiſchenfällen
[XXIV]Einleitende Bemerkungen.
gekommen wäre. Bei der notoriſchen türkiſchen Nachläſſigkeit
und Sorgloſigkeit gewannen die Ruſſen Zeit, erhebliche Ver-
ſtärkungen nach dem Arpatſchai zu dirigiren, was ihnen umſo
leichter wurde, als bereits Anfangs Auguſt türkiſcherſeits die
weitere Invaſion Abchaſiens aufgegeben wurde und die Ein-
ſchiffung der dortigen Truppen und Abchafen am 8. deſſelben
Monats ihren Abſchluß erreicht hatte. Gleichwohl blieb die
ruſſiſche Actions-Armee auch fernerhin vollkommen inoffenſiv und
am 10. Auguſt überſchritten die erſten fliegenden Detachements
der Türken die Ararat-Kette und erſchienen ſo auf ruſſiſchem
Gebiete. General Tergukaſſoff befand ſich um dieſe Zeit nächſt
Igdyr vorwärts des Araxes, ohne ſich ernſtlich mit ſeinem Gegner
Ismail Kurd Paſcha einzulaſſen, der auch Bajazid wieder beſetzt
hatte und die in der Citadelle zurückgebliebene ruſſiſche Beſatzung
ernſtlich bedrängte; anders am Arpatſchai, wo Mukhtar Paſcha
am 23. Auguſt die Offenſive ergriff und den Ruſſen bei Ge-
dikler in der Ebene öſtlich von Kars einen empfindlichen Schlag
beibrachte. Dieſer Sieg trug dem türkiſchen Marſchall von
Seiten des Sultans ein Beglückwünſchungstelegramm ein. Zwei
Tage ſpäter gewannen die Türken auch die günſtige Poſition am
Kyzil-Tepe und verdrängten ſo ihre Gegner vollends aus dem
Bereiche jener dominirenden Höhen, die ſich im Bogen zwiſchen
Kars und Ani (am Arpatſchai) legen. Die Ruſſen verhielten
ſich von da ab wieder vollends in der Defenſive, indem ſie ſich
in der Poſition von Kurukdere concentrirten und die ſo drin-
genden Verſtärkungen abwarteten, die, in Anbetracht der unge-
heueren Entfernungen, noch immer nicht eingetroffen waren.
So verging der ganze September in gegenſeitiger Unthätigkeit.
Am 2. October begann aber eine Reihe von Kämpfen, die nach
der Hartnäckigkeit, mit der ſie beiderſeits ſtattfanden, und nach der
Zahl der hiebei aufgewendeten Streitkräfte, nothgedrungen zu
einer Entſcheidung führen mußten. Eine ſolche war aber bei der
vorgeſchrittenen Jahreszeit doppelt geboten. Die erſten dieſer
Kämpfe fielen zwiſchen den 2. und 4. October, wo mit wech-
ſelndem Glücke um einzelne Poſitionen des Aladſcha-Gebirges
geſtritten wurde. Die Ruſſen hatten den großen Jaghni-Hügel
bereits genommen, als ſie ſich, angeblich wegen Waſſermangels,
wieder zurückzogen. Auch am 10. gelang es Mukhtar Paſcha
[XXV]Der ruſſiſch-türkiſche Krieg in Armenien.
noch einmal ſiegreich zu bleiben — was ihm von Seite des
Sultans den Titel eines Ghazi oder „Siegreichen“ eintrug —
dann ſchlug aber das Kriegsglück um und am 15. und 16. gelang
es den vereinigten Streitkräften der Generale Heymann und
Loris-Melikoff, die feindlichen Stellungen auf den Aladſcha-Höhen
zu durchbrechen, einen großen Theil der Armee Mukhtars ge-
fangen zu nehmen, den Reſt aber nach Kars hineinzuwerfen.
Dieſe ſiegreiche Schlacht der Ruſſen koſtete ihren Gegnern ſieben
Paſchas und 12,000 Mann als Gefangene, dann 84 Geſchütze,
4000 Zelte und 10,000 Gewehre, welche dem Sieger als Beute
zufielen.
Die Folgen dieſes entſcheidenden Schlages zeigten ſich ſehr
bald. Zunächſt räumte Ismail Paſcha ſchleunigſt das ruſſiſche
Gebiet, da eine von Kars gegen das obere Murad-Becken diri-
girte Colonne ſeine Rückzugslinie bedrohte. Mukhtar beließ den
Reſt ſeiner Feldarmee in Kars, das er zu halten hoffte, und
nahm ſeinen fluchtartigen Rückzug mit nur wenigen Abtheilungen
über das Soghanly-Gebirge ins obere Araxes-Becken, um Erzerum
zu decken. Nach mittlerweile erfolgter Vereinigung mit Ismail
Paſcha war er in der Lage, eine zuwartende Haltung auf den
Höhen oſtwärts Erzerums einzunehmen, wo er jedoch ſchon am
6. November von den Ruſſen, die mit einem Theile ihrer Truppen
Kars cernirt hatten, mit dem Reſte aber unausgeſetzt vorrückten,
angegriffen, delogirt und bis unter die Kanonen der Außen-
werke Erzerums verfolgt wurde. Trotz des nunmehrigen raſchen
Ganges der Operationen ſetzte man türkiſcherſeits gleichwohl noch
berechtigte Hoffnung in den Waffenplatz Kars, der ſeit dem letzten
Kriege mit einem Kranze ſteingebauter und caſemattirter Forts
umgeben ward. Es kam indeß anders. Kars fiel nur einen Monat
nach der Schlacht am Aladſcha, am 18. November durch nächt-
lichen Sturm. Man konnte im Anfange zu dieſem überraſchenden
Erfolge im Abendlande keine ſtichhaltige Erklärung finden, doch
ſtellte es ſich ſpäter heraus, daß gerade diejenigen Werke, welche
der offenen Stadt im Süden vorlagen, ſich keineswegs in jenem
hohen Grade von Vertheidigungsfähigkeit befanden, als man
allgemein angenommen hatte. Auch die Verkettung von allerlei
Zwiſchenfällen beſchleunigte die Kataſtrophe. So waren ruſſiſche
Abtheilungen, einmal im Beſitze der Stadt, aus dieſer von rückwärts
II*
[XXVI]Einleitende Bemerkungen.
in die großen Forts im Nordoſten — die überdies durch die
Bürgermiliz vertheidigt wurden — eingedrungen, und zwar ohne
beſonders hartnäckigen Kampf. Als dann früh Morgens die
eigentliche Beſatzungstruppe jenſeit des Fluſſes und innerhalb
eines ganzen Kranzes ſtarker Forts die ruſſiſchen Flaggen auf
den Wällen der öſtlichen Fortificationen erblickte, hielt ſie die
Capitulation für perfect und räumte ohne Kampf ihre Poſitionen.
Später über den Irrthum aufgeklärt, machte ſie allerdings den
Verſuch durchzubrechen, woran ſie jedoch von den übrigen ruſſiſchen
Cernirungs-Abtheilungen verhindert wurde. Der türkiſche Verluſt
in dieſer Affaire betrug vier Paſchas, 22,000 Mann an Gefangenen,
dann 350 Geſchütze, 6000 Zelte und 18,000 Gewehre. Die
Ruſſen büßten bei dem Sturme 2700, die Türken 5000 Mann
an Todten und Verwundeten ein.
Der mit gewohnter Strenge hereingebrochene Winter hatte
alle Operationen zum Stillſtande gebracht. Die Türken ſchickten
ſich an, Erzerum zu vertheidigen, und wieſen auch mehrere An-
griffe auf die Außenwerke der Feſtung ab, im Uebrigen aber be-
ſchränkten ſich die Ruſſen mehr auf eine Beobachtung des Platzes,
ſowie auf eine mälige Cernirung deſſelben, da ſie ohne ſchwere
Belagerungsgeſchütze an einen gewaltſamen Angriff nicht denken
konnten. Dieſe aber mitten im Winter über die verſchneiten
Gebirge und Päſſe zu ſchaffen, erwies ſich nur zu bald als eine
abſolute Unmöglichkeit. Die unerwarteten Erfolge der Ruſſen
auf dem europäiſchen Kriegsſchauplatze, die mehrfachen Balkan-
Uebergänge trotz Eis und Schnee, der Einzug der Armee des
Großfürſten Nicolaus in Adrianopel und die Offenſive eines
Theiles derſelben mitten im Winter gegen Conſtantinopel, waren
auch für den Verlauf des Feldzuges in Armenien von Ent-
ſcheidung. Am 1. Februar trat ein einmonatlicher Waffenſtill-
ſtand in Europa und Aſien in Kraft und am 3. März (n. St.)
ward der ruſſiſch-türkiſche Friedensvertrag zu San Stefano bei
Conſtantinopel unterzeichnet.
Nach Artikel XIX (Alinea b) dieſes Vertrages erfolgte eine
Abtretung armeniſcher Gebietstheile an Rußland, die wie folgt
umſchrieben wurden: Die neue Grenzlinie läuft, die Küſte des
Schwarzen Meeres verlaſſend, dem Kamm der Berge entlang,
welche die Zuflüſſe des Fluſſes Choppa von jenen des Tſchuruk
[XXVII]Territorial-Veränderung durch den Friedenstractat.
trennen, und der Kette der Berge im Süden der Stadt Artwin
bis zum Fluſſe Tſchuruk bei den Dörfern Allat und Behagſcht;
von da geht die Grenze über die Gipfel der Berge Derwenik-
Gheki, Hortſchezor, über den Kamm, welcher die Waſſerſcheide
zwiſchen den Zuflüſſen des Torthum Tſchai und Tſchuruk bildet,
und über die Höhen bei Jali-Vihim, um beim Dorfe Vihim
Kiliſſa am Torthum Tſchai zu enden; von da folgt ſie der Kette
Sivri-Dagh bis zur Höhe des Kammes, geht am Dorfe Noriman
ſüdwärts vorüber und läuft ſüdoſtwärts auf Zewin zu, wo ſie
ſich im Weſten der Straße, die nach Choraſſan zieht, ziemlich
parallel hält und endlich über den Soghanly bis zum Dorfe
Gilitſchman zieht. Weiter überſetzt ſie den Scharian-Dagh und
weiters den Murad zehn Werſt unterhalb Hamur, um von da,
entlang den Kämmen des Ala-, Hori- und Tandurek, ſüdwärts an
Bajazid vorüberzuziehen und zuletzt auf die alte türkiſch-perſiſche
Grenze ſüdlich des Sees Kazli-Göl zu ſtoßen.
Nach dieſer Grenz-Umſchreibung erwächſt dem ruſſiſchen
Reiche ein ungefährer Gebietszuwachs von 650 Quadrat-Meilen,
mit annähernd 300,000 Einwohnern. Statiſtiſche Details ſind
derzeit noch völlig unbeſtimmbar, da ſelbſt die alten Daten des
officiellen Staats-Kalenders kaum verläßlich ſein dürften.
Andere Artikel des Friedensvertrages, welche ſich ſpeciell
auf Armenien beziehen, ſind:
Artikel XVI: Da die Räumung der von den ruſſiſchen
Truppen in Armenien beſetzten Territorien, welche an die Türkei
zurückfallen, Anlaß zu Conflicten und für die guten Beziehungen
der beiden Länder gefährlichen Verwickelungen geben könnte, ſo
verpflichtet ſich die Pforte, ohne Aufſchub die Verbeſſerungen und
die von den Localbedürfniſſen in den von Armeniern bewohnten
Provinzen geforderten Reformen durchzuführen und die Sicher-
heit der Armenier gegen die Kurden und Tſcherkeſſen zu
garantiren.
Artikel XVIII: Die Hohe Pforte wird die von den Com-
miſſären der vermittelnden Mächte bezüglich des Beſitzes der
Stadt Khotur ausgeſprochene Meinung in ernſte Erwägung
ziehen und verpflichtet ſich, die Arbeiten behufs Beſtimmung der
türkiſch-perſiſchen Grenze ausführen zu laſſen.
[XXVIII]Einleitende Bemerkungen.
Artikel XIX, der die neuen armeniſchen Grenzen feſtſtellt,
enthält auch die entſprechenden Beſtimmungen, wonach dieſe
Gebiets-Abtretung als Aequivalent der Summe von einer
Milliarde und hundert Millionen Rubel der Kriegs-
entſchädigung (von 1410 Millionen Rubel) betrachtet wird.
Artikel XXV handelt von der ſtattzufindenden Räumung
des türkiſchen Gebietes in Aſien durch die ruſſiſchen Truppen,
innerhalb ſechs Monaten, vom Tage des definitiven Friedens-
ſchluſſes gerechnet …
[[1]]
I.
Im Ararat-Gebiet.
Rundblick vom Ararat. — Bajazid. — Bis Kars. — Armeniſche Cultur-
ſtätten. — Zur Völkerſtellung der Armenier. — Der Patriarchenſitz
Etſchmiadſin.
Am Südhange des ſogenannten kleinen Kaukaſus, welcher
die Kur- und Rion-Landſchaften vom großen Aras-Becken abtrennt,
breitet ſich unweit Eriwans, dem bisherigen Hauptſitze der
ruſſiſchen Herrſchaft in Armenien, eine großartig ſchöne Ebene
zu beiden Seiten des Fluſſes Araxes oder Aras aus. Berg-
rieſen, wie wir ſie in Europa nur auf ungeheueren Räumen ver-
theilt finden, liegen hier knapp nebeneinander und beſäumen
nahezu kreisartig das blüthenbeſäete und von Kornfeldern wogende
Tiefland: im Norden der gewaltige Alagiös (12,000'), im Oſten
der Uetſchtepe (11,000'), im Weſten der Kotur (8000') und im
Süden das Doppelhaupt der erloſchenen Vulkangruppe der beiden
Ararat, deſſen weſtlicher Kegel mit ſeiner 15,800 Fuß hohen
Schneehaube weit in die großartige Gebirgslandſchaft hinaus
lugt. Wie der Sinai im Südweſten des aſiatiſchen Continents,
ſo iſt auch der Ararat hier auf der Grenzſcheide zwiſchen Iran
und Vorder-Aſien ein Markſtein der Menſchen- und Cultur-
geſchichte, ein Hochaltar der Welt … Von Eriwan, das an
ſeinen Bergabhängen maleriſch ſituirt iſt, geht der Weg dahin in
nahezu ſüdlicher Richtung, mitten durch die reichen Fluren des
Aras hindurch, bis mit dem Betreten der erſten Stufen des
Gebirgsmaſſivs eine andere Welt dem Wanderer ſich erſchließt.
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 1
[2]Im Ararat-Gebiet.
Die Culturen verſchwinden mehr und mehr, einzelne Bäume
nur kleben hin und wieder an den Felsabſtürzen und zwiſchen
den rieſigen Trachytblöcken ſprießt ſpärliches Gras. Allenthalben
iſt hier der Boden ſchlackig von uralten geſtockten Lavamaſſen.
Hoch oben in unendlicher Bläue glitzern die Eis- und Schnee-
zinnen der beiden Rieſengipfel und die Senkung zwiſchen beiden
wird wohl ein Paß genannt, doch wird er von Reiſenden nie
betreten. In dieſem Einſchnitte liegt auch das, in Folge des
letzten großen Erdbebens verſchüttete Kloſter St. Jacob 1. Anders
verhält es ſich aber mit jenem Paß-Einſchnitte, der ſich über
eine deutſche Meile lang zwiſchen dem großen Ararat und dem
Pambuſch von Norden nach Süden zieht. Die Sattelhöhe dürfte
hier kaum 6000 Fuß überſteigen und der ſonſt ſo gefürchteten
Riſſe und Spalten gibt es hier verhältnißmäßig wenige. Immer-
hin bleibt eine Paſſage an dieſer Stelle ein kühner Zug, doch
nicht ohne höhere Reize, im Angeſicht des mächtigen Kegels,
deſſen Scheitel unter ewigem Schnee und Eis begraben liegt.
Die Nordſeite dieſes Kegels, alſo jene, welche in die Araxes-
Ebene und gegen Eriwan hinblickt, war einſt der Schauplatz
einer ganz wunderlichen Miſſion. Eine Anzahl Bergſteiger mit
ſchwerer Laſt hatte ſich manchen Tag abgemüht, die Höhe des
Bergrieſen zu gewinnen. Wiederholt mußte der Verſuch eines
weiteren Emporkletterns eingeſtellt werden, aber die Kräfte wollten
nicht erlahmen und nach gefahrvollem Nachtlager auf dieſer oder
jener Felsplatte, umgeben von gewaltigen Schneemaſſen, Eis-
und Felsblöcken, ging es immer wieder von Friſchem an die
Arbeit. Endlich ward die Höhe unter entſetzlichem Schneegeſtöber
gewonnen und die mitgebrachte Bürde ihrer Beſtimmung zuge-
führt. Es war ein rieſiges ſchwarzes Kreuz, das ſo aufgerichtet
wurde, daß es durch die dahinterliegende weiße Schneewand ge-
hoben, vom Kloſter Etſchmiadſin oder von Eriwan aus geſehen
werden konnte. In ein zwei Fuß tief ins Eis eingehauenes
Loch wurde daſſelbe eingefügt, mit Eisſtücken befeſtigt, mit Schnee
ummauert. Die daran befeſtigte Bleiplatte enthielt die Inſchrift:
[3]Der Ararat.
„Auf Kaiſer Nicolaus’ Befehl errichtet 1829.“ Nach der da-
maligen Barometer-Ableſung ſtand das Kreuz 15,138 P. Fuß
hoch, alſo vierthalbhundert Fuß über der Montblanc-Spitze1.
Der Gipfel des Ararat, auf welchem nach der bibliſchen
Tradition die Arche Noahs ſitzen blieb, iſt mäßig gewölbt, mit
einem Umfange von ungefähr 200 Schritt. Der Abfall iſt be-
ſonders gegen Süd- und Nordoſt ſteil. Von dieſer Höhe, der
ewigen Eiskrone des Altvaters aller Berge der Welt, mag man
wohl die großartigſte aller Fernſichten genießen. Die ganze
weitläufige Araxes-Ebene liegt dem Beobachter zu Füßen, Eriwan,
Sardarabad und andere Niederlaſſungen kaum mehr dem unbe-
waffneten Auge erkennbar. Im Süden treten die niederen Berge
Bajazids, die Stadt ſelbſt und ihre Ebene in den Blick und hieran
ſchließen mehr oder minder regellos eine erkleckliche Zahl be-
deutender Kegelſpitzen, Vulkanen nicht unähnlich, durch tiefe
Thalfurchen oder Sättel von einander getrennt. Weit im Nord-
weſten prangt die, lang als unerſteigbar gegoltene Felſenkrone des
Alagiöz, im Nordoſten blitzt ein großer Theil des Spiegels des
beinahe 6000 Fuß hoch liegenden Goktſcha-Sees auf, und im
blaſſen Schimmer ſind ſogar noch die dahinter liegenden Rand-
ketten wahrzunehmen. Unmittelbar im Oſten blickt man auf den
Scheitel des kleinen Ararat hinab; keine Flache Höhe, wie die
ſeines größeren Zwillingsbruders, ſondern an den Rändern und
in der Mitte mit kleinen Felskegeln und Blöcken verſehen2.
Wir ſteigen nun die Südſeite des Gebirgswalles hinab, an
welchem der braune Häuſerknäuel von Bajazid ſeine Ausdehnung
nimmt. Es ſind noch keine ſechzig Jahre her, daß hier der
Centralſitz aller jener unbotmäßigen kurdiſchen Elemente war,
durch welche die Grenzterritorien zwiſchen Perſien und der Türkei
1*
[4]Im Ararat-Gebiet.
berüchtigt wurden, und ebenſo lange iſt es, daß die verrufene
Stadt Bajazid von ſich zum erſtenmale reden machte. Die Ge-
ſchichte, die ſich hieran knüpft, klingt ziemlich romantiſch, aber
derlei war damals im Oriente immerhin möglich, zumal bei
Völkern, die noch heute keiner eigentlichen Autorität unterſtehen
und in jedem Thale, auf jeder Gebirgszinne und in jedem hoch-
ländiſchen Schlupfwinkel auf eigene Fauſt ſchalten. Napoleon I.,
der bekanntlich von langer Hand den Feldzug gegen Rußland
geplant hatte, um durch einen alexandriniſchen Zug, bis tief in
die ſarmatiſchen Steppen hinein, ſeinem Kriegsruhme erhöhteren
Glanz zuzuführen, war unausgeſetzt bemüht, zwiſchen Rußland
und dem, damals allerdings noch etwas kriegeriſcheren Perſien
politiſche Complicationen herbeizuführen, um einen Theil des
feindlichen Heeres anderweitig zu beſchäftigen und daraus Vor-
theile zu ziehen. Zu derartigen politiſchen Verſchwörungen über
die Köpfe der geſammten damaligen officiellen Welt hinweg, be-
durfte es nun auch der entſprechenden Miſſionen und mit einer
derſelben war Jaubert betraut, welcher als geheimer Geſchäfts-
führer über Conſtantinopel und Erzerum unbehelligt bis Diadin,
nur eine Tagreiſe vor Bajazid, gereiſt war. Der ſchlechte Ruf
des damaligen Kurdenchefs, Mahmud, bewog ihn, der Stadt
ſelbſt auszuweichen, aber nur zwei Meilen ſüdlich von ihr ward
der Reiſende ſammt ſeiner militäriſchen Escorte, die aus ver-
kleideten Franzoſen beſtand, durch den Verrath eines anderen
Häuptlings aufgehoben und vor Mahmud geſchleppt1. Obgleich
dieſer kurdiſche Winkel-Despot auf ſeinem Raubneſte, der Citadelle
von Bajazid, den halb unabhängigen Vaſallen der Pforte ſpielte,
ſo fand er ſich dennoch veranlaßt, Jaubert und ſeine Genoſſen
dem perſiſchen Statthalter von Eriwan auszuliefern, was aller-
dings im Intereſſe des Gefangenen gelegen geweſen wäre. Die
Auslieferung wurde aber nur fingirt und kaum am Fuße des
Ararat angelangt, wurden die Fremden überfallen, geknebelt und
mit verbundenen Augen zurück nach Bajazid escortirt. Während
man die Bedauernswerthen verſicherte, daß ſie nur vorſichts-
halber auf dieſe Art weiter nach Eriwan transportirt würden,
um das zu durchreiſende Land ihren Blicken zu entziehen, wan-
[5]Belul von Bajazid.
derten ſie in ihr altes Gefängniß zurück, den ſchwerſten Leiden
ausgeſetzt … Nun kommt die Romantik des ganzen Zwiſchen-
falls. Die ewige Geißel dieſer Länder, die auch heute wieder
über ſie hereingebrochen iſt, die Peſt, brach plötzlich aus und
holte unter ſeinen Opfern auch den Winkeltyrannen Mahmud.
Sein Nachfolger hatte die „Franken“ bereits zum Tode ver-
urtheilt, aber ehe noch die Execution vollzogen war, wurde auch
er von der Seuche hinweggerafft und der Bruder Mahmuds
zum Stammchef ausgerufen. Mittlerweile aber mußte es irgend
einer der Gefangenen der Frau des Kerkermeiſters angethan
haben, denn ſie benutzte die allgemeine Verwirrung, um ein ge-
heimes Schreiben an den Statthalter von Eriwan gelangen zu
laſſen, der auch ſofort die Auslieferung der gefangenen Europäer
verlangte. So langten Jaubert und ſeine Genoſſen nach vierzig-
tägiger Haft, in ewig banger Sorge zwiſchen Tod und Leben,
in Trapezunt ein, wo ihre geſcheiterte Miſſion ihr Ende fand.
Auch ſpäter blieben die Zuſtände in dieſem Räuberlande
dieſelben, namentlich unter Belul, dem Sohne Mahmuds. Von
dieſem rührt auch das Schloß auf der Felshöhe von Bajazid
her, der Stammſitz der Kurdenchefs des Territoriums ſüdlich vom
Ararat. Daß im Oriente unter dem despotiſchen Drucke einzelner
Emporkömmlinge die Bevölkerungen immer den gleichen Leiden
ausgeſetzt ſind, ſei es nun die rechtmäßige Staatsgewalt oder die
autoritative Anmaßung irgend eines Winkel-Urſurpators, beweiſen
ſchon die Zuſtände, in welchem ſich die Kurden unter Mahmuds
Herrſchaft befanden. Sie, die in der Regel ſich keinem Zwange
fügen und nur ihren wilden Inſtincten folgen, zumal dem Triebe
der perſönlichen Freiheit, verrichteten ihrem Haupte Frohndienſte,
wie nie früher und nie ſpäter irgend einer Behörde oder einem
ihrer Chefs. Mahmud hatte ſein früheres Schloß, das auf der
anderen Seite der Stadt gelegen war, halb in Grotten verſteckt
und voll weitläufiger Magazine, verlaſſen, und durch die Hände
ſeiner Leute ein neues, prächtigeres auf der Felshöhe gegenüber
dem Gefängniſſe aufführen laſſen1.
In Gold und bunten Arabesken ſchimmerte das Gemach,
[6]Im Ararat-Gebiet.
durch deſſen Fenſter der Blick eine der pittoreskeſten Landſchaften
Armeniens umfaſſen konnte. Arkaden und ſchattige Lauſch-
plätzchen in dem weitläufigen Hofe geſtalteten dieſen Raubhorſt
geradezu zu einem Mußeſitze. Das Harem des Schloſſes com-
municirte mit dem nebenangelegenen Gefängniſſe und ſo iſt für
Romanbefliſſene der rothe Faden zur wunderbaren Rettung
Jauberts und ſeiner Genoſſen gegeben. Der Palaſt dominirt
ſelbſtverſtändlich die Stadt, da die umliegenden Höhen aber auch
dieſen beherrſchen, ſo fiel es ſowohl im Jahre 1828, wie im
letzten Kriege den Ruſſen nicht ſchwer, die ganze Poſition nach
kurzem Kampfe in ihre Hände zu bekommen. Belul, der 1828
als türkiſcher Paſcha und Halb-Vaſall der Pforte in Bajazid
regierte, floh in die ſüdlichen Berge mit einem großen Theile der
Stadtbewohner, und was damals noch in den elenden Hütten
zurückblieb, erlag der Peſt, welche in dem Räuberneſte furchtbar
aufräumte. So verfiel der Platz, umſomehr, als mit dem Ueber-
gang des Bezirkes von Eriwan an die Ruſſen, der Verkehr nach
dieſem Theile Armeniens den kurdiſchen Nomaden gänzlich unter-
bunden war und Perſien nach ſeiner Niederwerfung durch Pas-
kiewitſch nicht daran denken konnte, der kurdiſchen Räuberromantik
irgendwie Vorſchub zu leiſten1. Später wanderten auch die
Armenier aus und was in den ſchmutzigen Behauſungen zwiſchen
Schutt und Gräbern zurückblieb, war ein rohes, bösartiges Ge-
ſindel, eine wahre Stammcolonie berüchtigter Meuchelmörder und
Wegelagerer.
Die Ebene von Bajazid iſt ein gutes Concentrirungsfeld im
militäriſchen Sinne. Ueber drei Meilen breit nimmt ſie nord-
wärts gegen den Ararat ihre Ausdehnung, deſſen Doppelhaupt,
vollkommen abgetrennt von allen übrigen Gebirgen, auf ſie
hinabblickt. Allenthalben iſt dieſe platte Niederung von Lava-
kegeln und Trachytklippen durchſetzt2, ein ſprechendes Zeugniß
von dem vulkaniſchen Charakter der ganzen Gegend, der ſich auch
wiederholt durch furchtbare Erderſchütterungen darthat. Rechnet
man zu den zeitweiligen Schrecken dieſer Erſcheinungen noch das
rauhe Klima, den einer Seehöhe von 6000 Fuß entſprechenden,
[7]Umgebung von Bajazid. — Die Bajazider Kurden-Tribus.
nahezu ſechsmonatlichen Winter mit Schneeſtürmen, Froſt und
Unbilden aller Art, ſo erſcheint uns dies Territorium würdig
der Bewohner, die es noch erbärmlicher machen, als es ohnedies
von Natur aus iſt … Trotz all dieſer Thatſachen beſitzt Bajazid
dennoch einen hervorragenden militäriſchen Werth, der nur
Strategen vom Schlage der türkiſchen Generale nicht klar zu
werden vermochte. Das Thal von Bajazid iſt das einzige,
welches, neben ſeiner natürlichen Communication mit Erzerum
— ein Handelsweg, der ſeit Jahrhunderten beſteht — auch mit
dem Seebecken von Van und der Quellregion des Tigris in
Verbindung ſteht, und zwar durch eine ganz leidliche Communi-
cation. Kein geringeres Volk wie die Römer hat dieſe Thatſache
zuerſt erkannt und von ihr auch den beſtmöglichſten Gebrauch
gemacht. Tacitus nennt dieſes Territorium, durch das das
Römerheer des Corbuls nach Artaxata marſchirte, Taurantium,
„das Land des Taurus-Einganges“1, eine Bezeichnung, die zur
Genüge auf die ſtrategiſche Bedeutung deſſelben hinweiſt. Ein
weiterer Vortheil für die Kriegführung in dieſem Gebiete iſt der
von altersher bekannte Reichthum an Heerden. Ueberall auf
den prächtigen Weideſtrecken des öſtlichen Murad-Beckens trifft
man auf Lämmer- und Ziegenrudel, die oft nach Tauſenden
von Stücken zählen. Freilich erforderte deren ungeſtörter Beſitz
bisher, ſelbſt in den Zeiten des tiefſten Friedens, einen ganz an-
ſehnlichen Apparat lebenden Schutzes, denn bei der Gewaltthätig-
keit der Gebirgsbewohner bedarf ſozuſagen jedes Thier ſeinen
eigenen Wächter, und Niemand, ſei er nun Freund oder Feind
ſeines Nachbars, konnte ſeiner Habe froh werden.
Was die Kurdenſtämme weſtwärts von Bajazid anbetrifft,
ſo ſind es ſammt und ſonders ſolche, welche ſeit jeher mit der
Pforte in Streit und Hader lagen. Die richtige Politik gegen
dieſe unzuverläſſigen Grenzhorden hat indeß nur Rußland zu ver-
folgen gewußt2. — Es iſt aus verſchiedenen Epiſoden der letzten
ruſſiſch-türkiſchen Kriege hinlänglich erwieſen, wieviel Anſtrengung
es ſich die Gouverneure des Kaukaſus koſten ließen, um in irgend
[8]Im Ararat-Gebiet.
einer Art die Kurden an der Grenze zu gewinnen, eine Politik,
die durch den Umſtand weſentlich unterſtützt wurde, als dies
wilde Nomadenvolk weder von den Perſern, noch von den Türken
jene Behandlung erfuhr, die es gefügiger hätte machen können.
Als die Pforte vor circa drei Jahrzehnten gar den groben Fehler
beging, den Stammhäuptling von Rowandiz bei ſeiner Rückkehr
von Conſtantinopel meuchlings ermorden zu laſſen, hatte ſie die letzte
Sympathie der Bergvölker verwirkt und dieſe begannen ſolche, zu-
mal an der Grenze von Rußland, demonſtrativ für letzteres — ob auch
aufrichtig, bleibt dahingeſtellt — zur Schau zu tragen. Auf dieſe
ſpontane Annäherung hin erklärte Rußland, es wäre ganz geneigt,
den Grenzübertritt verſchiedener Stämme zu bewilligen mit dem
weiteren Vorrecht für die Emigranten, nach Bedarf ihre Weide-
plätze in der Heimat von Zeit zu Zeit wieder aufſuchen zu dürfen,
wobei ſie — ſelbſt auf türkiſchem Gebiete (!) — unter ruſſiſchem
Schutze verbleiben ſollten. Die Natur des Nomadenlebens —
machte man ruſſiſcherſeits den Kurdenchefs begreiflich — ließe
ein derartiges Abkommen notywendig erſcheinen, im Grunde aber
war es nur ein Mittel mehr, die türkiſche Autorität, oder beſſer:
den blaſſen Schatten derſelben vollends zu untergraben. Kurz
vor Ausbruch des letzten Krieges hat die Pforte immerhin einige
Anſtrengungen gemacht, dieſes abnorme Verhältniß einigermaßen
zu paralyſiren und ſo kam es auch, daß einige Stämme bot-
mäßiger wurden und in den Schooß der türkiſchen Autorität
zurückkehrten, wie beiſpielsweiſe der kriegeriſche Stamm der Gilalis
(auch Selanlis) …
Wir gelangen in ſein Gebiet, wenn wir Bajazid weſtwärts
verlaſſen. Der Weg geht mitten zwiſchen zwei gewaltigen Ge-
birgsmauern hindurch, im Norden iſt es die Gebirgskette, welche
unter verſchiedenen Namen vom Ararat aus durch zwei Längen-
grade den öſtlichen Eufratlauf (Murad) begrenzt, im Süden ſind
es die Randketten des Hochbeckens von Van, gleichfalls die Schlupf-
winkel berüchtigter Kurdenſtämme, welche es lieben durch das Einfalls-
thor zwiſchen dem 10,000' hohen Aladagh u. 11,000' hohen Chori die
Niederung am Van-See heimzuſuchen, zumal die armeniſchen Dörfer.
So ſpielt in dieſem großartigen Gebirgslabyrinthe die ewig blutige
Fehde die Hauptrolle im Daſein. Wie das Raubwild des Hoch-
gebirges wechſeln die Nomaden ihr Operationsgebiet dies- und
[9]Von Bajazid nach Kars. — Kars.
jenſeits nahezu unzugänglicher Päſſe, indem ſie bald der Schrecken
des einen, bald des andern Thales ſind … Auf unſerem weiteren
Wege zwiſchen dieſen Gebirgsmauern gelangen wir bald in das
Quellbecken des öſtlichen Eufrat. In den ausgedehnten Thal-
landſchaften, in welchen meiſt üppige Weiden 1 die vielen Dörfer
umgeben, rieſeln zahlloſe Bäche, die Abflüſſe der Schneehöhen
und an dieſen kryſtallenen Wäſſern iſt gute Raſt für ſonſt ruhe-
loſe Nomaden. Auch iſt nicht zu vergeſſen, daß mitten die
buntſcheckige Niederlaſſung hindurch die Karawanenſtraße führt,
auf der alljährlich einigemale zwiſchen Trapezunt und Tabris,
dem perſiſchen Handelsemporium in Azerbeidſchan reichbeladene
Karawanen verkehrten, für die lüſternen Bergvölker ein weiterer
Anlaß, dieſe Niederung als ein kleines Eldorado zu betrachten.
Wenn wir uns aus dem Centrum dieſes Beckens genau
nach Norden wenden, ſo liegt jene obenerwähnte Gebirgsmauer
noch immer vor uns; aber zwiſchen den Schneewipfeln iſt eine
Einſenkung bemerkbar, ein Paß, Namens Schachjol, das iſt: der
„Königsweg“, ſomit aller Wahrſcheinlichkeit nach eine jener ur-
alten Communicationen, welche ſchon zur Zeit der aſſyriſchen
Weltherrſchaft ganz Vorder- und Mittelaſien, vom Aegäiſchen
Meere bis zum Indus, vom Pontus bis zum Perſer-Meere
durchzogen. Heute führt da hinauf kein Königsweg mehr, ſondern
ein elender Saumweg, über gewaltige Felsblöcke, an ſchauerlichen
Abgründen vorüber, oder in pfadloſer Waldesnacht2. Nur hin
und wieder überſetzt man Alpentriften, auf denen ein verdächtiges
Kurdenpiquet lagert. In ſolchem Falle trat in der, ohnedies
genug beſchwerlichen Reiſe immer eine ſehr unwillkommene Pauſe
ein. Die kleine Karawane hilt jäh in ihrem Ritte inne, die
Kurden ſchwangen ſich in die Sättel und kreuzten ihre Lanzen in
regelloſem Haufen. Nur wenn die Escortemannſchaft ſich in der
Ueberzahl befand, war es möglich, unbeläſtigt dieſe Alpentriften,
auf denen ſich die Natur ſo wunderbar großartig, die Menſchen
ſo elend verkommen präſentiren, zu kreuzen, ſonſt ſetzte es blutige
Köpfe ab, oder noch mehr, wovon ſchon die Gebeine von Menſchen
[10]Im Ararat-Gebiet.
und Pferden ſprachen, welche in den Schluchten bleichten. Wer
dieſe Höllenpforte einmal hinter ſich hat, genießt plötzlich eines
der impoſanteſten Panoramen Armeniens. Vor dem Reiſenden,
gerade nach Norden hin, liegt die ganze gewaltige Plateau-Maſſe
Central-Armeniens, eine baumloſe Hochebene, von Hügelzügen
oder einzelnen Kegeln unterbrochen; um dieſe ſelbſt, im Kreiſe,
ein ſteinernes Meer von Bergmaſſen, Längsketten, Zacken, Domen,
dazwiſchen wieder coloſſale Pforten — die Thaleinſchnitte des
Tſchuruk, Kur, Aras und Arpatſchai. — Von dieſem Ausſichts-
punkte müßte ein ſcharf bewaffnetes Auge ſowohl Kars, als
Alexandrapol, das erſte genau im Norden, das letztere im Nord-
oſten bemerken. Keine vorliegenden Höhen verſperren die weit-
läufige Perſpective, nur die grauen Dünſte des nördlichen Plateau-
randes könnten die Caſtellzinne des alten Türken-Bollwerkes
oder die Wälle der Alexandra-Stadt umſchleiern. Unmittelbar
zu Füßen erſcheint Alles todt und öde. Kein Fluß, oder Bach,
der nahe vorbeiziehende Aras ausgenommen, ſchimmert aus dem
einförmigen Steppenbilde und ſelbſt von den Ortſchaften iſt ihr
Umfang und ihre Anlage nicht leicht auszunehmen. Wenn wir
dann jene baumloſe Hochplatte betreten, ſo wird es uns allerdings
klar, daß die betreffenden Niederlaſſungen nicht ſo leicht entdeckt
werden konnten, denn der Armenier liebt es, ſich in die Erde
einzugraben, oder vielmehr, er iſt es aus Mangel an Bauholz
gezwungen zu thun. Dies Bild begleitet uns, bis plötzlich vor
uns das Felſendefilé des Karsfluſſes mit ſeinen, von Forts ge-
krönten Gipfeln und Stufen ſich öffnet und der Blick auf die
Terraſſen des vielgenannten Kars fällt.
Das geſunkene türkiſche Bollwerk hat eine lange, weit in
vorosmaniſche Epochen hineinreichende Geſchichte. Die Stadt
Kars wird bereits bei den älteſten armeniſchen Schriftſtellern
genannt, ſie ſcheint aber erſt unter den Byzantinern ihren heutigen
Namen erhalten zu haben, und ſie galt bei denſelben als eine
der Capitalen Armeniens, die ſie auch thatſächlich war, da die
bagratidiſche Dynaſtie, bekanntlich eines der älteſten chriſtlichen
Königsgeſchlechter, durch nahezu ein halbes Jahrhundert in der
düſteren Terraſſenſtadt von „Armenia magna“ reſidirte. Unter
dem letzten ſelbſtſtändigen Beherrſcher des Königreichs Kars, Kakig II.,
kam die Stadt und das Reich in der zweiten Hälfte des elften
[11]Kars.
Jahrhunderts an die Byzantiner1, von wo ab die Quellen eine
große Lücke in Bezug auf die weiteren Schickſale und Ereigniſſe,
welche mit Kars verflochten ſein dürften, fühlen laſſen. Die
Seldſchuken, welche bekanntlich allenthalben die byzantiniſche
Erbſchaft antraten, waren auch in den Beſitz dieſes Grenzboll-
werkes gegen die Perſer und Georgier getreten, doch wahrſcheinlich
nicht für lange Zeit, da die allgemeine Mongolenfluth auch die
einſamen, wenig fruchtbaren Tafelländer Armeniens nicht ver-
ſchonte und ihre neue Herrſchaft mit Feuer und Schwert zur
Geltung brachte. Schließlich fiel die Stadt in die Hände der
Osmanen, ſeit welcher Zeit ſie erſt ihre Bedeutung als Grenz-
bollwerk erlangte, da Sultan Murad III. es war, der vor etwa
drei Jahrhunderten (1579) die erſten Befeſtigungen anlegen ließ 2,
Befeſtigungen, die ſich in ihrer urſprünglichen Form und Stärke
bis auf den Tag erhalten hatten. Es iſt dies zunächſt das domi-
nirende Caſtell im Norden der Stadt, über hoher Uferſtufe des
Karsfluſſes dräuend, mit einfacher Umwallung gegen die ſturm-
freie nördliche und nordweſtliche Seite und mit doppelter gegen
die zugänglicheren Abdachungen nach Süd und Südoſt. An
dieſen Abdachungen liegt auch die alte, man darf in Betracht
ihrer Antecedentien wohl ſagen, klaſſiſche Stadt, in kurzen, ſteilen
Terraſſen erbaut, meiſt aus ſehr hohen, mehrſtöckigen Häuſern
beſtehend, die von der Ferne geſehen, eines der pittoreskeſten
Städtebilder präſentiren. In der Nähe iſt es freilich anders und
dieſelben luftigen Steinbauten, meiſt aus dunklem, düſterem Baſalt,
begrenzen die denkbar ſchmalſten Straßen, wahre Cloaken, in
denen ſich Bewohner und Hausthiere, die ſchakalartigen Straßen-
köter nicht ausgenommen, chaotiſch herumtummeln. Es ſcheint
in Kars nicht immer ſo geweſen zu ſein, denn wir beſitzen orien-
taliſche Reiſeberichte, welche Wunderbares genug von der mäch-
tigen Grenzſtadt zu berichten wiſſen, und die vielfach die Sorge
der Sultane hervorheben, welche dieſe für Kars an den Tag
legten. Das eigentliche Hinderniß, daß Kars niemals zu einer
wahren und dauernden Blüthe ſich emporſchwingen konnte, mag
eben darin liegen, daß es als Grenzbollwerk ſeit jeher den an-
[12]Im Ararat-Gebiet.
ſtürmenden Feinden des Oſtens, zumal den Perſern und Georgiern,
ſpäter den Ruſſen ausgeſetzt war, und denen ein Emporkommen
des Platzes begreiflicherweiſe nicht erwünſcht ſein konnte. Aber
die eigentlichen alten Befeſtigungen ſind hiebei nie vollkommen
zerſtört worden und die Murad’ſche Citadelle, ſowie die ſieben
Bollwerke der „ſieben anatoliſchen Beglerbegs“, welche nach
orientaliſchen Autoren jene nach einander errichteten, haben ſich
bis auf unſere Tage erhalten. Unter den „ſieben Bollwerken“
dürften indeß nur die baſtionartigen Thurmbauten der Enceinte
und Verſtärkungen der Citadelle gemeint ſein, keineswegs aber
iſolirte Außenwerke, deren es bekanntlich in dem vorletzten ruſſiſch-
türkiſchen Kriege eine hinreichende Anzahl gab. Die meiſten der
ſtarken Forts und detachirten Werke, welche im diesmaligen
Kriege ſozuſagen durch Handſtreich dem Eroberer in die Hände
fielen, verdankten ihr Entſtehen erſt der Zeit nach dem Krimkriege,
nachdem man infolge der zweimaligen Einnahme des Bollwerkes
durch die Ruſſen (1828 und 1855) eingeſehen hatte, daß die
alten Schutzmittel unzulänglich ſeien 1.
Was Kars als Stadt beſonders werthvoll macht, das iſt
ſeine günſtige Lage zwiſchen Armenien, Transkaukaſien, Kurdiſtan,
Pontus und Perſien, ein wahrer Handelsknotenpunkt, was zu
erkennen bisher freilich nicht Sache der Pforte war, die bekannt-
lich wenig oder gar keine Thätigkeit auf Intereſſengebieten zu
entwickeln beliebt, die mit der inneren Kräftigung eines Staates
identiſch zu ſein pflegen. Dennoch war Kars auch in den letzten
ruhigen Zeiten ein kleines Schacherbabel des Oſtens, nach welchem
die vielſprachigen Bewohner vom Kaukaſus bis zum Van-See
und von Anatolien bis Khoraſſan, dem „Lande der Sonne“, ihre
geriebenſten Repräſentanten ſendeten. Auch das Land iſt frucht-
barer als ſonſtige Striche Armeniens; ſchwarze Acker-Erde bedeckt
ſelbſt noch die unteren Stufen der die Plateaux begrenzenden
Berge und Kettenzüge, und das Klima zählt, trotz ſeiner conti-
nentalen Extreme, dennoch zu den gemäßigteren der armeniſchen
Hochzonen. Dem Sommer, der Temperatur-Maxima von 35 bis
40 Grad C. aufzuweiſen pflegt, folgt ein verhältnißmäßig längerer
Herbſt und erſt Mitte November fällt Schnee, der im Verlaufe
[13]Kars.
des Winters dann allerdings ausgiebig genug, bei Temperatur-
Minima von 20 Grad C. unter Null, den Boden zu bedecken
pflegt1. Aber es fehlen dem Karſer Plateau die vielartigen en-
demiſchen Krankheiten, welche die, geographiſch viel günſtiger ge-
legenen Nachbargebiete heimzuſuchen pflegen, und ſelbſt die Epi-
demien ſtreifen nur ſelten die einſame Hochlandsſtadt. Gleichwohl
iſt das Land um Kars äußerſt dünn bevölkert und es ſoll nach
einem ruſſiſchen Berichte auf einer Fläche von mehr als 5000
Quadrat-Werſt keine 300 Dörfer geben, oder 16 Quadrat-
Werſt auf ein Dorf (circa 30,000 Einwohner, Kars inbegriffen, für
das ganze Land). Aber ſelbſt die wenig vorhandenen Dörfer
ſind für das Auge des Beobachters — wie ſchon oben erwähnt
— nicht eigentlich ſichtbar und nur die ſteinernen Stirnfronten
der Erdlöcher treten an Terrain-Anſchwellungen zu Tage. In
dieſen Troglodyten-Löchern hauſen Menſchen und Thiere in
brüderlicher Gemeinſchaft, und nur eine dünne Matte, oder ein
defecter kurdiſcher Teppich, ſowie eine kleine Erhöhung des Hütten-
bodens trennt die erſteren von den letzteren2. Licht vermag nur
durch die Thüre einzudringen, welche übrigens ſtark genug her-
geſtellt iſt, um auch den zeitweiiigen Angriffen der kurdiſchen
Räuber widerſtehen zu können. Daß die einzelnen Vorſtädte
von Kars gleichfalls über eine bedeutende Zahl derartiger erbärm-
licher Wohnſtätten verfügen, geht aus verſchiedenen Andeutungen
von Reiſenden und Berichterſtattern hervor … 3
[14]Im Ararat-Gebiet.
In den letzten hundertfünfzig Jahren hat Kars ſünf Be-
lagerungen erlebt, darunter zwei mit ſiegreichem Ausgange, und
zwar 1735 gegen Nadir Schah von Perſien, der mit 100,000
Mann und einem erdrückenden Artillerie-Park vor der Feſtung
erſchienen war 1, und dann im Jahre 1807, als die ruſſiſchen
Streitkräfte gelegentlich des perſiſchen Krieges einen Handſtreich
auf die Feſtung verſuchten. Dafür iſt ſie in den drei folgenden
Belagerungen unterlegen, und zwar 1828 nach kaum vier Tagen,
1855 nach einer regelrechten ſechsmonatlichen Belagerung und
neueſtens durch Sturm und Handſtreich zugleich, deren Details
bereits in den „Einleitenden Bemerkungen“ berührt wurden.
Als die Ruſſen unter Marſchall Paskiewitſch-Eriwanski vor Kars
erſchienen, befand ſich daſſelbe in nahezu gleichem Zuſtande, wie
hundert Jahre vorher unter Nadir Schah. Von Außenwerken
gab es auch nicht eine Spur, und ſo mußte es den Angreifern
ein Leichtes ſein, ſich in unmittelbarer Nähe des Platzes, auf
dem dominirenden linken Ufer des Karsfluſſes, der Citadelle gegen-
über feſtzuſetzen (zwiſchen dem heutigen Werke Veli-Paſcha-Tabia
und der Vorſtadt Temur-Paſcha) und den eigentlichen Haupt-
angriff von Süden her kräftigſt zu unterſtützen. Die Angreifer
hatten ſich eheſtens in der, hart an die Feſtung im Süden an-
ſchließende Vorſtadt Orta-Kapu feſtgeſetzt, ſodann Breſche in die
alte Wallmauer gelegt und in der Feſtung ſelbſt eingeniſtet.
Auf die Citadelle beſchränkt, willigte der Kommandant äußerſt
vorſchnell in die ruſſiſcherſeits von ihm verlangte Kapitulation
ein, die auch am 23. Juni, olſo nur acht Tage nach Ueberſchrei-
tung des Arpatſchai erfolgte, in dem Augenblicke, als das Entſatz-
heer des Kioſſa Mehemet Paſcha in der Ebene von Kars in
Sicht kam. Die ganze Garniſon, bei 10,000 Mann, nebſt 150
Stück ſchweren Geſchützes fielen in die Hände des Siegers2.
Im Jahre 1855 ſpielten ſich die Ereigniſſe ſchon weſentlich
anders ab, ja ſie beſitzen eine gewiſſe Aehnlichkeit mit denen des
letzten Krieges. Der Cernirung und Belagerung von Kars ging
damals die mörderiſche Schlacht von Kurukdara voran, die ſich
[15]Kars.
ſo ziemlich auf derſelben Stelle abſpielte, wie die letzten Kämpfe
zwiſchen Kars und dem Arpatſchai. General Bebutoff hatte kurz
vorher ein ſtarkes Detachement gegen Bajazid detachirt, um dieſen
Platz in ſeine Hände zu bekommen, was auch eheſtens gelang,
und nun dirigirte er daſſelbe, gleichſam im Rücken Zariffi Paſchas,
gegen die Aladſcha-Höhen, um den Türken den Rückzug nach
Kars zu verlegen. Der türkiſche Armee-Commandant bekam von
dieſem Manöver rechtzeitig Wind und beſchloß den ſofortigen
Angriff gegen Bebutoffs ſchwaches Armeecorps, doch verſtrichen,
in Folge kindiſcher Bedenken von Seite Zariffis, dennoch drei
Tage und als er dann die Ruſſen attakirte, fand er dieſelben
vollkommen bereit und an günſtigen Stellungen poſtirt. Am 6.
Auguſt 1854 ward die türkiſche Armee vor Kars, in deren Ober-
leitung dieſelbe Zerfahrenheit, wie neueſtens unter Mukhtar Paſcha,
geherrſcht zu haben ſcheint, geſchlagen, total zerſprengt und ſo-
gleich nach Kars hineingeworfen. Aber erſt neun Monate ſpäter (!),
im Juni 1855, ſchritten die Ruſſen zu einer regelrechten Bela-
gerung, während welcher ſich die Garniſon, unter Commando
des engliſchen General Williams, ein volles halbes Jahr hielt,
um ſchließlich, wie es hieß, durch Hunger getrieben, die Thore
des Bollwerkes dem General Murawieff zu öffnen. Die Bela-
gerer waren hiebei 30,000 Mann ſtark1.
Nimmt man von Kars die Wegrichtung gegen Alexandrapol2,
ſo haben wir die Baſaltterraſſen des Aladſcha-Gebirges zu kreuzen,
[16]Im Ararat-Gebiet.
welche ſüdoſtwärts in eine ganz baumloſe, wellige gegen Oſten
mälig anſteigende Ebene übergehen. Bei Hadſchi-Weli-Köi, wo
die Ruinen eines alten Caſtells ſich zwiſchen Reihen von Baſalt-
ſäulen erheben, gewinnt das Land gegen den Arpatſchai zu einen
mehr freundlichen, belebten Charakter. Hier bietet ſich von dieſer
Seite dem Kommenden zum erſtenmale der Fernblick auf den
gewaltigen Schneewipfel des Ararat, der ſich ſcheinbar ganz iſolirt
mehrere tauſend Fuß über alle anderen Gipfel erhebt, die auf
allen Seiten meiſt mit vulkaniſchen Kegelformen emporſtarren.
Um Alexandrapol ſelbſt ſtreichen nur niedere Bergrücken, das
Land hat, wie der gegenüberliegende Strich Armeniens, ausge-
ſprochenen Plateaucharakter. Im Oſten ſteigt mit gigantiſchen
Formen der Kegelberg Alagiös (bei 13,000 Fuß), welcher oſtwärts
das Gebiet von Schuragel abgrenzt, empor.
Das wichtigſte Object an dem Unterlaufe des Arpatſchai
iſt Ani.
In einem älteren Buche1 lieſt man phantaſtiſche Be-
ſchreibungen dieſer Ruinenſtadt. Tempelbauten mit grandioſen
Colonnaden, kühngewölbten Kuppeln und monumentalen Treppen;
dann weitläufige Paläſte mit natürlichem Mauermoſaik aus
gelben, ſchwarzen und rothen Steinen, Thürmen, welche die
Dächergiebel überragen und dunkle Thorwarten, auf hohen über-
hängenden Klippen aufgeführt und in dem vorbeitobenden Fluſſe
ſich ſpiegelnd: Alles wie durch Zauberſpruch entſtanden auf
völlig iſolirtem Felsſchemel in einem ſtillen Winkel Armeniens.
Das Wunderbare an dieſer Ruinenſtadt, welche zwar einer Reihe
ſchwerer Schläge erlegen iſt, der Hauptſache nach aber durch
eines jener furchtbaren Erdbeben zerſtört wurde, die noch heute
den Araratbezirk heimſuchen, iſt, daß ihr Totalanblick auch in
ihren jetzigen Fragmenten noch vor dem Beſchauer das Bild
einer, im Zauberbanne liegenden Stadt erſtehen läßt … Bei
unſerer Annäherung von Nordoſten her vermag man ſchon von
Weitem das Rauſchen des Arpatſchai zu vernehmen, indeß ſein
Gewäſſer dem Auge, ſelbſt noch in nächſter Nähe völlig verborgen
bleibt, denn tief liegt das Rinnſal zwiſchen kantigen Baſaltufern
und geradlinigen Stufen gelblichten Sandſteins, auf denen Lava-
[17]Die Ruinen von Ani.
blöcke auflagern. Das erſte, was der Wanderer erblickt, iſt die
empordräuende Stadtumwallung, welche über die tiefe Kluft des
Arpatſchai ins Land lugt. Dort erheben ſich, noch in ihren
Ruinen impoſante Thorthürme1, von deren Zinnen einſt der
Ausblick über die Culturflächen der weſtlichen Alagiös-Ab-
dachungen wohl noch ein lohnender geweſen ſein mochte, bis die
mongoliſchen Horden das Land mit Feuer und Schwert ver-
wüſteten und der rohe Tſchamar-Khan in die bagratidiſchen
Paläſte drang, um in ihnen ein grauſiges Blutbad anzurichten.
Von jenen Paläſten erhebt ſich einer, noch allenthalben in ſeinen
hauptſächlichſten Conſtructionsgliedern erhalten, ganz im Weſten
der Stadt, auf dominirender Felskante, die in einen natürlichen
Felsgraben abtaucht2. Anis Ruinen erheben ſich nämlich auf
einer felſigen Halbinſel, mit der Längenachſe nach Nord-Süd, im
Oſten durch den Arpatſchai, im Weſten durch ein trockenes Felſen-
thal begrenzt. Nur im Norden war die Stadt von Natur aus
ungeſchützt (wie Conſtantinopel im Weſten) und dort hatte man
eine gewaltige doppelte Wallmauer mit flankirenden Rundthürmen
gezogen, um ſich eines jeden Landangriffes zu erwehren.
Wie Ani’s Ruinen ſich heute dem Beobachter darbieten, ſo
waren ſie es ſchon vor fünf Jahrhunderten. Sie gleichen mehr einer
verlaſſenen, denn einer vollſtändig zerſtörten Stadt, und während
ringsum auf dem öden Plateau die Bewohner in elenden Erd-
löchern hauſen, iſt anderſeits der Anblick der einſtigen armeniſchen
Prachtbauten auch heute noch geeignet, Bewunderung für ein
Geſchlecht hervorzurufen, das nicht nur vom Zauber der älteſten
menſchlichen Traditionen umwoben iſt, ſondern auch ſonſt im
Verlaufe der Jahrhunderte einen Wall gegen aſiatiſche Barbarei
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 2
[18]Im Ararat-Gebiet.
bildete. Man wandelt heute noch in Ani in förmlichen Gaſſen,
ſtößt hier auf die grandioſe Façade eines Palaſtes, buntſcheckig
aus ſchwarzen, rothen und gelben Quadern aufgeführt, dort auf
das klaffende Portal eines Domes, durch deſſen zuſammen-
geſtürzte Kuppel das Tageslicht hereinlugt. Aber auch vollſtändig
erhaltene Kuppelbauten gibt es, und ſie dienten bisher den kur-
diſchen Hirten und ihren Heerden zum Schlupfwinkel, wenn die
Sonne des armeniſchen Sommers die Hochſteppen ungaſtlich
machte1. Selbſt der Thorweg im öſtlichen Walle exiſtirt noch,
aber bisher ſind durch denſelben nicht viele Forſcher eingezogen,
um etwa aus der lapidaren Geſchwätzigkeit der Armenier, welche
ſich, wie bei den Aſſyriern durch zahlreiche Mauer-Inſcriptionen
kundgibt, manches hiſtoriſche Geheimniß, das noch ein dichter
Schleier umgibt, zu erforſchen … Ani war unter der Reihe
armeniſcher Königsreſidenzen, die ſich alleſammt auf dem be-
ſchränkten Territorium zwiſchen dem Unterlaufe des Arpatſchai
und des benachbarten Fluſſes erheben, die letzte. Zur Zeit des
Bagratidenkönigs Aſchad I. war an ihrer Stelle nur eine Art
Caſtell, behufs Aufbewahrung der Kronſchätze2 und ihrer Siche-
rung gegen die Araber, welche bekanntlich gegen Ende des achten
Jahrhunderts bis tief nach Armenien eingedrungen waren. Ein
Aſchad, der dritte ſeines Namens, war es auch, der hieher de-
finitiv ſeine Reſidenz verlegte und der Stadt jene Ausdehnung
verlieh, wie ſie heute noch in ihren Ruinen zu verfolgen iſt.
Sie blieb es bis um die Mitte des elften Jahrhunderts, wo der
[19]Die Ruinen von Ani.
letzte Bagratidenkönig Kakig II. den Waffen des byzantiniſchen
Kaiſers Conſtantinus Monomachos unterlag und Ani, ſowie die
befeſtigte Grenze, welche durch den Arpatſchai markirt war, zur
Schutzwehr gegen das von Oſten vordringende Türkenthum
wurde. Der kleine Grenzfluß hatte demnach ſchon vor mehr als
neun Jahrhunderten eine ähnliche Rolle geſpielt wie neueſter
Zeit, aber die Byzantiner waren keine Zerſtörer und wie Ani
nichts von ſeinem Glanze einbüßte, ſo blieb auch das umliegende
Land in voller Blüthe, bis die Reiter des Seldſchukiden Alp-
Arzlan durch die bagratidiſchen Tempelhallen ritten und auf den
Hochaltären der Patriarchendome ihre Roſſe fütterten. Dieſe
Kataſtrophe trat nach kaum zwanzigjähriger Occupation Anis
durch die Byzantiner ein. Aber auch den Seldſchukiden ſollte
das armeniſche Emporium noch einmal abgenommen werden, und
zwar ſechzig Jahre ſpäter (1124) durch den georgiſchen König
David, der es an ſich riß und ſo unter chriſtliche, wenn auch
nicht armeniſche Herrſchaft brachte. Er hatte Abulſevar ſeiner
Satrapie entſetzt und mit ſich nach Georgien fortgeſchleppt, dafür
wälzte bald hierauf Pchadlun, der Sohn des Gefangenen, ſeine
Schaaren aus Choraſſan nach dem Arpatſchai und nach zwei-
jähriger Belagerung zog er in Ani ein — ohne der Stadt etwas
anzuthun. Die Geſchichte der Seldſchukiden gibt widerholt Be-
weiſe derartiger Großmuth und Toleranz und man braucht nur
den Namen eines Melek-Schah zu nennen, um ſich des gewal-
tigen Unterſchiedes zwiſchen dieſer erſten Turk-Dynaſtie und ihren
Nachfolgern bewußt zu werden. Dafür kam bald darauf das
furchtbare Gewitter der Mongolen-Invaſion, die zwei Drittel der
Bewohnerſchaft Anis unters Meſſer brachte1, und zu Anfang
2*
[20]Im Ararat-Gebiet.
des vierzehnten Jahrhunderts legte ein furchtbares Erdbeben die
Stadt in Trümmer. Seitdem hat keine Hand mehr an dieſe
armeniſche Culturſtätte gerührt und gleichwie in einem oberirdi-
ſchen Pompeji vermag heute der Wanderer durch die verödeten
Gaſſen zu ſchreiten, die Palaſthallen zu bewundern und ſich an
dem kunſtvollen Moſaik-Getäfel zu erquicken, das, trotz der viel
hundertjährigen Wetterunbilden, noch immer mit ſeltener Pracht
von den Wänden der bagratidiſchen Herrſcherſitze herabflimmert …
Durch alle dieſe Räume heult heute der Sturm, der von den
Schneewipfeln des Ararat niederbrauſt; nur wenige Menſchen
haben ſich in den Ruinen eingeniſtet und ihre primitiven Stein-
hütten — inmitten der früheren Pracht — liegen in den Fels-
ſpalten im Weſten des Ruinenfeldes, wo dieſes in die erwähnte
trockene Felsſchlucht abtaucht. Die, Katakomben nicht unähnlichen
Grabhöhlen aber (noch immer geſchmückt mit Säulenſchäften und
ſtylvoller Portal-Ornamentik an ihren Eingängen)1 ſind den
kurdiſchen Wegelagerern willkommene Schlupfwinkel.
Auf der nur ſechs Meilen langen Strecke von Ani bis zur
Einmündung des Arpatſchai in den Aras, unweit des heutigen
Hadji-Bairamli (deſſen platte Steindächer aus Gärten von Wall-
nuß- und Mandelbäumen hervorlugen)2, hätten wir über nicht
weniger als drei andere armeniſche Cultur-Emporien zu berichten.
Vor Allem hätten wir der Götterſtadt Pankaran zu gedenken, in
der ſich das heidniſch-armeniſche Pantheon für Götterſtatuen
befand. Ihre Lage iſt bisher nicht ganz ſichergeſtellt, doch glaubt
man, ſie an den Arpatſchai verlegen zu müſſen, und zwar dort,
wo der Bergfluß Akhur in dieſen mündet, alſo unweit der
1
[21]König Erowant II. Reſidenzen.
wilden Engſchlucht, wo heute das Kloſter Kotſchiran liegt1. Von
der Felszunge, wo der Arpatſchai mit wildem Gebrauſe in den
ruhigeren, ſilberglänzenden Araxes mündet, dräut ein längſt ver-
laſſenes und vergeſſenes Gemäuer in die romantiſchen Thal-
ſchluchten hinab. Es iſt König Erowants II. Burg2 und ſeine
Reſidenz (die dritte, die dieſer armeniſche Trajan erbaute), das
einſt weit berühmte Erowantagerd lag nicht weit hievon, mit
ſeinem Schmucke von Paläſten und Mauſoleen. Die Völker-
ſtürme und Erdbeben haben hier der Nachwelt nur ſpärliche Er-
innerungen gelaſſen, und nur die ſchwarzen Grabſteine aus hartem
Lavageſtein ſind als ſinnige Ueberreſte an der Stelle der einſtigen
Pracht zurückgeblieben. Gleich einſam und öde iſt’s auf der Fels-
kuppe von Erowantaſchad, welche ſich gerade gegenüber der
eben beſchriebenen Localität, am linken Ufer des Fluſſes erhebt.
Es iſt die vierte in der Reihe der Reſidenzen am unteren Arpa-
tſchai. Erowant, der Uſurpator aus arſacidiſchem Königsgeſchlechte,
der Sanadrugs Herrſchaft über Armenien und Edeſſa in Trümmer
geſchlagen hatte, erbaute ſie als ſeine zweite Reſidenz, nachdem
er ſich in dem älteren Armavir (am Araxes ſüdlich von Etſch-
miadſin) nicht mehr behaglich fühlte. Mit dieſem bauluſtigen
Beherrſcher Armeniens berühren wir eine der intereſſanteſten
Geſchichtsepochen des Landes. Sanadrug, den Erowant nicht
nur aus dem Felde geſchlagen, ſondern ihn auch mit ſeinem
ganzen Hofſtaate hinrichten hatte laſſen, beſaß einen Sohn
Namens Ardaſches, der jenem Blutbade entronnen war und bei
den Parthern Schutz gefunden hatte. Er war während der
langen Regierungszeit Erowant II. herangewachſen, hatte den
Beiſtand der parthiſchen Könige gewonnen und den Thronräuber
unter den Mauern ſeiner eigenen Reſidenz geſchlagen3.
[22]Im Ararat-Gebiet.
Im Verfolge unſerer Tour thalab des Araxes ſtoßen wir
in wildem Stromdefilé auf die altarmeniſche Feſte Kara-Kaleh
(Schwarzburg); ſie iſt nahezu ganz iſolirt auf ſchwarzem Lava-
felſen, unter ſich den toſenden Strom und gegenüber am rechten
Ufer eine zweite, ſcheinbar noch immer vertheidigungsfähige
Zwingburg, Surmanly. Zwei Seiten der erſteren Burg ſind
durch tiefe Spalten in der Lavamaſſe natürlich vertheidigt, die
dritte iſt es durch den vorüberfließenden Araxes; es bleibt alſo
nur die nördliche Landſeite übrig, auf der ehemals ein mehr-
facher Kranz von Mauern und Thürmen ſich erhob1. Die
Neubauten ſind meiſt aus ſchwarzen Lavaſtücken erbaut und vor
der Citadelle liegt ein Friedhof voll Grabmäler verſchiedener
Nationen, darunter ſolche mit perſiſchen und tartariſchen In-
ſcriptionen und Sculpturen von Widderfiguren, die man früher
blos für Bezeichnungen armeniſcher Grabſtätten gehalten hatte.
Am Nordfuße des Lavaſtromes, der die Citadelle und die Ortſchaft
trägt, fließt der Araxes vorüber, an deſſen Süd-Ufer liegt jedoch
eine kleine Ufer-Ebene, auf welcher einſt die untere Stadt mit
ihren Gärten lag, die aber gegenwärtig ganz verlaſſen iſt. Auch
Reſte einer alten Brücke ſollen noch zu erkennen ſein (wie bei
Ani)2 . . Zwiſchen Kara-Kaleh und Igdyr, einem im letzten
Feldzuge vielgenannten Orte und Concentrirungsplatz des Detache-
ments Tergukaſſoffs, nimmt mälig die große Araxes-Ebene, die
wir gleich Anfangs unſerer Tour durchwandert hatten, ihre Aus-
dehnung. Sie iſt nur wenige Fuß über den Spiegel des Fluſſes
erhoben, faſt ohne Steine und von zahlreichen Canälen durch-
3
[23]Die Araxes-Ebene. — Zur Völkerſtellung der Armenier.
ädert. Nur wenige Meilen ſüdöſtlich von Igdyr liegt am Nord-
fuße des Ararat ein Dörfchen im einſamen Thälchen, Agurie.
Ein kleines Gewäſſer beſpült gewaltige Lavamaſſen, thalab be-
ſäumen es dichte Schilfwälder und höher die Ufer hinan fette
Weideplätze, der Lieblingsaufenthalt jener kurdiſch-perſiſch-arme-
niſchen Miſchrace, die hier unter ruſſiſchem Einfluſſe ſich mälig
zur Lebensweiſe der Halb-Nomaden emporgeſchwungen hat. Jenes
Dörfchen Agurie iſt aber nach armeniſcher Tradition der Ort,
wo Altvater Noah nach ſeiner wunderbaren Rettung den Altar
zum Dankopfer errichtete1. Die rieſigen Schneewipfel der beiden
Ararat im Rücken, vorn im äußerſten Norden die herrlichen Ge-
birgsringe der Eriwanſchen Randketten und dazwiſchen die weit-
läufige ſchimmernde Araxes-Ebene: die Situation iſt zum mindeſten
erhebend genug, um obiger Tradition Vorſchub zu leiſten.
Schon in Pakaran am Arpatſchai hatten wir jenen claſſiſchen
Boden betreten, auf dem ſich die legendenreiche Vor- und Ur-
geſchichte Armeniens abſpielt. Es iſt daher an der Zeit, uns
mit dem Volke der Armenier ſelbſt zu beſchäftigen und deſſen
ethniſche Entwickelung in knapper Form darzuſtellen … Die
Uranfänge der Armenier verdämmern in blaſſen Mythen, wie
die der meiſten übrigen aſiatiſchen Culturvölker. Aber während
ſich die vorgeſchichtliche Zeit der Aſſyrier und Iranier und jene
Turans in unermeßlichen, fabelhaften Zeiträumen bewegt, in
denen unſere Vorſtellungen von greifbaren, räumlichen Verhält-
niſſen in Nichts zerfließen2, wurzelt der armeniſche Stamm-
[24]Im Ararat-Gebiet.
baum in der erſten Epoche der Menſchengeſchichte überhaupt.
Haik, der Stammvater des erſten armeniſchen Titanen-Ge-
ſchlechtes, ſoll nämlich nach der älteſten Tradition ein Enkel
Japhets geweſen ſein1. Nach dieſem Haik benannten die Ar-
menier ihr Land, Haiasdan, während ſie die Nachkommen des-
ſelben als Haigasan, „Abkömmlinge des Haik“, bezeichnen, indeß,
ſelbſt im Vulgär-Armeniſchen das alleinſtehende Wort „Haik“
noch heute den geographiſchen Begriff von Armenien deckt.
(z. B. in Partsr Haik = Hoch-Armenien, das Land zwiſchen
Oſt-Armenien und Erzingian.) Nachdem Haik in die baby-
loniſche Niederung hinabgeſtiegen war und daſelbſt den König
Belus erſchlagen hatte, zog er mit ſeinem Geſchlechte, dreihundert
gigantiſche Männer, wieder heimwärts und nahm ſeinen Sitz dieſſeits
des Ararat, im Gau Daron, den die Forſchung nach vielen Um-
ſchweifen in dem heutigen Murad-Becken zwiſchen Chamur und Muſch
wiedererkannt hat. Thatſächlich gibt es daſelbſt noch heute einen
Ort Haik. Es war Xenophon, der auf ſeinem glorreichen Rück-
zuge durch das Land der Kharduchen zuerſt das heutige mittlere
Murad-Becken betrat und ſo zuerſt Kunde brachte von dem
eigentlichen Stammlande der Armenier, die er aber keineswegs
ſo nennt, ebenſo wenig wie vorher Herodot, der nur vom „Volke“
aus dem Quelllande des Euphrat und ſeinen Handelsbeziehungen
mit Bagdad berichtet. Wunderbarer Weiſe iſt uns dieſer hoch-
intereſſante, claſſiſche Boden im Laufe der Jahrtauſende voll-
kommen verloren gegangen und erſt einem Reiſenden unſeres
Jahrhunderts2 war es vorbehalten, die Murad-Quelle und ſo-
mit ſein ganzes Quellgebiet förmlich zu entdecken. Seitdem
2
[25]Haik und Armenac.
hat ſich unſere Kenntniß von demſelben topographiſch nicht
weſentlich erweitert, aber es wurde im Verlaufe des nächſten
halben Jahrhunderts, alſo bis in unſere Zeit hinein, die Iden-
tität verſchiedener Localitäten der erſten armeniſchen Entwickelungs-
Epoche mit den heutigen topographiſchen Oertlichkeiten conſtatirt
und ſo die Handhabe zu tiefgreifenden Unterſuchungen gegeben.
Erſt Armenac, der Enkel Haiks, ergriff den Wanderſtab und
ſtieg mit ſeinem ganzen Geſchlechte über das „nordöſtlich vor-
liegende Gebirge“ in eine Ebene hinab, „welche auf allen Seiten
von hohen Gebirgen umgeben war, im Süden aber grüßte ihn
(Armenac) mit ſchneeweißem Scheitel ein Altvater zwiſchen Jüng-
lingen“1. Daß es ſich hier um den Ararat handelte, beziehungs-
weiſe um die Ebene des Araxes, erſcheint völlig zweifellos, aber
Namen hatte damals weder jener, noch dieſe. Armenac ſelbſt
gründete am Fuße eines mehr nördlich liegenden Berges eine
Niederlaſſung, die er nach ſeinem Sohne Araghaz nannte, wie
der gewaltige erloſchene Vulkan zwiſchen Eriwan und Alexandrapol
noch heute heißt. Auch die übrigen Söhne des Armenac, des
zweiten Stammvaters der Armenier, gaben Städten, Flüſſen und
Landſtrichen ihre Namen, und allenthalben haben ſich dieſe bis
auf unſere Tage erhalten. Der zweite Sohn, Armavir, gründete
ſeine Stadt2 am „großen Fluſſe“, welcher die Ebene zwiſchen
den ſüdlichen und nördlichen Bergen durchſtrömte. Dieſer Fluß
aber ward nach Armavirs Sohn, Eraſt, Eraſches (Araxes) be-
nannt, und er hat dieſen Namen bei den Armeniern bis auf den
Tag beibehalten3 … Aus dieſen kurzen Andeutungen geht
[26]Im Ararat-Gebiet.
hervor, daß die Armenier ein Glied jener Völkergruppe waren,
welche ſeit dem hiſtoriſchen Beginne der Menſchengeſchichte die
Ländermaſſen einnahmen, die wir geographiſch Weſt-Aſien nennen,
alſo den engeren Complex zwiſchen dem Schwarzen Meere und
dem indiſchen Ocean einerſeits und dem Kaukaſus und den tau-
riſchen Pforten in Khoraſſan anderſeits. Dieſe Völker, Aſſyrier,
Chaldäer, Meder, Perſer, Armenier und Kharduchen (Kurden),
ſpäterhin Parther und Saſſaniden, waren ſich innig verwandt
durch Sprache und Religion und repräſentiren ihrer ethnolo-
giſchen Stellung nach die ariſch-iraniſche Völkergruppe, wodurch
die iraniſche Abſtammung der Armenier, die übrigens niemals
ernſtlich bezweifelt wurde, zur Evidenz feſtgeſtellt erſcheint. Be-
denklich wäre es nur, daß gerade Armenien, an der Peripherie
des oben beſchriebenen Ländergebietes gelegen, die Nachbarſchaft
anderer Völker, zumal gegen Norden hin, in Verbindung mit
den ſkythiſchen Stämmen jenſeits des Kaukaſus, empfindlich fühlen
und ſo die Reinheit des Blutes ſeiner Bewohner beeinträchtigt
hätte werden können, eine Annahme, die ſich inſofern als unbe-
gründet erweiſt, als die Urgeſchichte der Armenier eigentlich
identiſch mit jener Aſſyriens iſt. Von den obgenannten Völkern
haben mehrere eine mehr oder minder längere Rolle geſpielt,
ihre Nachbarn zeitweilig unterdrückt und auf ihre Koſten eine
glänzende Weltherrſchaft geführt (wie die Aſſyrier und Perſer),
niemals aber die Armenier, welche ſelbſt unter ihrer jüngeren,
ſelbſtändigen Königen im Grunde doch nur in einem ſehr ab-
hängigen Vaſallen-Verhältniſſe zu den Neu-Perſern ſtanden. Auch
die Kurden (Kharduchen) haben ſich, wie wir noch ſpäter ſehen
werden, niemals ein einheitliches, feſtes Staatengebilde zu ſchaffen
gewußt, eine Eigenthümlichkeit, die auffallend genug ſich auch
heute noch in dem Stammes-Antagonismus der kurdiſchen Berg-
völker manifeſtirt …
[27]Aſſyrier in Armenien.
Zur Zeit des zweiten aſſyriſchen Weltreiches (1244 bis
725 v. Chr.) waren die Armenier politiſch bereits vollkommen
in demſelben aufgegangen1. Doch ſollte ein eigentliches Ein-
ſtrömen aſſyriſcher Elemente viel ſpäter, nämlich erſt unter
Sanherib, alſo bereits zur Zeit der Spaltung des früheren
Weltreiches in ein aſſyriſch-iraniſches Doppelreich, ſtattfinden.
Als nämlich Sanherib nach ſeiner vergeblichen Belagerung
Jeruſalems in Niniveh einzog, wurde er von ſeinen beiden
Söhnen im Tempel des Götzen Nisrochs ermordet, worauf dieſe,
Adramelech und Sarezer, in das „Land Ararat“ flüchteten2.
Daß ihr unmittelbarer Anhang mitemigrirte, ſcheint aus dem
Verlaufe der nächſten Ereigniſſe unzweifelhaft hervorzugehen,
denn die beiden Prinzen allein hätten ſich unmöglich ſo raſch
und ſicher in dem, ihnen vom armeniſchen Könige angewieſenen
Ländereien (Daron) zu inſtalliren vermocht, wenn nicht ſofort
aſſyriſche Elemente zur Hand geweſen wären. Beide Prinzen
waren die Begründer der aſſyriſch-armeniſchen Familiengeſchlechter
der Saſſunier und Arzdrunier, die ſogar häufig den Eigennamen
„Sanherib“ beibehielten. Beſonders hervorgethan haben ſich im
Verlaufe der Zeit die Arzdrunier, die „Adlerträger“ am Hofe
der armeniſchen Könige und nachmalige Begründer eines Königs-
geſchlechtes von Van, aus dem wunderlicher Weiſe auch ein
byzantiniſcher Kaiſer (Leo V.) hervorging. In den diesbezüg-
lichen Geſchichtsquellen iſt freilich immer nur von dem „Armeniſchen
Abkömmling“ die Rede, aber nicht nur in Leo, auch in Baſilius I.
und in ſeinem Enkel Conſtantinus „Porphyrogeneta“ floß un-
zweifelhaft aſſyriſches Blut3. Später gewannen die Enkel der
[28]Im Ararat-Gebiet.
einſtigen aſſyriſchen Emigranten ſtets mehr an Würde und Macht
und ſie waren thatſächlich die Beherrſcher des ganzen Länder-
ſtriches am oberen Tigris von Amid (Diarbekr) bis öſtlich über
Van hinaus, eine Länderzone, die ſich geographiſch und politiſch
zwiſchen Aſſyrien und Armenien lagerte.
Unter Nebucadnezar fand ein zweites hochwichtiges Ein-
ſtrömen fremder Bevölkerungs-Elemente nach Armenien ſtatt.
Die furchtbare Niederlage, welche der Feldherr Chiniladans,
Holofernes, in Paläſtina erlitten hatte, beziehungsweiſe die Auf-
löſung des aſſyriſchen Heeres durch ſeines Feldherrn tragiſches
Ende (durch Judith), ſcheint die nächſten Könige nicht behindert
zu haben, hebräiſche Gefangene in den armeniſchen Bergen zu
coloniſiren. Die Colonien gediehen augenſcheinlich auch ziemlich
raſch, doch war von einem Anwachſen derſelben zu einer gewiſſen
Suprematie, wie bei den Ardzruniern, lange nicht die Rede, bis
endlich ein gewiſſer Schambad auftrat und der Gründer eines
berühmten Stammes, der Bazradunier (oder Bagradunier) ward,
eines Stammes, der unter der Namensform Bagratiden ein alt-
berühmtes chriſtliches Königsgeſchlecht hervorbrachte, deren letzte
(georgiſche) Sproſſen noch heute in Rußland exiſtiren. Es iſt
wunderlich genug, daß es gerade ein „jüdiſcher Edelmann“ ſein
mußte, dem es vorbehalten war, eine Dynaſtie zu gründen, die
durch ein Jahrtauſend den Schirm der Chriſtenheit im Oſten
abgab1. Die Bagratiden traten mit ihrem ſehr zahlreichen
(chriſtlichen) Anhange bald die armeniſche Herrſchaft an, indem
ſie dieſelbe von ihrem urſprünglichen Stammſitze Daron über
Paſſin (obere Araxes-Gegend), Kars und ſpäter bis Georgien
ausdehnten und unter Aſchad II. endlich auch von den arabiſchen
3
[29]Die Bagratiden.
Chalifen als berechtigte Dynaſtie anerkannt wurden. Das merk-
würdige Eingreifen der Bagratiden in die politiſchen Schickſale
Armeniens, ein Eingreifen, das augenſcheinlich nur ſehr langſam
und durch geiſtige Suprematie, aber keineswegs gewaltſam ſtatt-
fand, gibt uns den beſten Beweis, wie wenig inneres Bewußt-
ſein zum Herrſchen und Beherrſchen den eigentlichen Armeniern
eigen war und wie ſie ſpäter dies geradezu fremden Dynaſtien
überließen; gerade ſo, wie ſie anfänglich keinerlei Miene machten,
ſich der aſſyriſchen Präponderanz zu erwehren, wie etwa die
Meder, die Zertrümmerer des zweiten aſſyriſchen Weltreiches …
In Armenien herrſchten die Bagratiden, wie bereits oben
erwähnt wurde, bis ums Jahr 1030 nach Chr., d. i. bis zur
Aufhebung des Königreichs Kars unter Kakig II. durch die
Byzantiner1. Aber durch Verwandtſchaft an Georgien gefeſſelt,
verging ein nur unbedeutender Zeitraum, und wieder traten die
Bagratiden als ruhmreiche Könige und Eroberer während der
nächſten Jahrhunderte auf, bis endlich im Jahre 1802, durch
Uebergang Georgiens, Kahetiens und Imeretiens in den Beſitz
der Ruſſen, die nahezu zwölfhundertjährige Dynaſtie zu herrſchen
aufgehört hatte2. Es iſt ſehr wahrſcheinlich, daß die Bagratiden,
als ſie zu Macht und Anſehen gelangt waren, eingedenk ihrer
eigentlichen Abſtammung, ſelbſt als chriſtliche Machthaber den
Israeliten ſtets ſehr zugeneigt waren und jeder Coloniſation der-
ſelben auf armeniſchen Territorien beſtmöglichſt Vorſchub leiſteten3.
[30]Im Ararat-Gebiet.
Von Tigranes, einem Vorgänger der Bagratiden, dem Gründer
der einſt blühenden Reſidenz Tigranokerta, und Zeitgenoſſen des
Pompejus, iſt dies zum Mindeſten erwieſen, da er als Beſieger
Paläſtinas ſeinen Herrſcherſitz, wenn ſchon nicht anders, zwangs-
weiſe coloniſirte, wie er ja auch mit den Kappadociern ähnlich
verfuhr1.
Nicht minder intereſſant, als das Einſtrömen aſſyriſcher und
hebräiſcher Elemente in Armenien, iſt das eines anderen Volkes,
welches die Ethnologie mit dem Namen Mamigonier belegt. Nach
den armeniſchen Annaliſten ereignete es ſich zur Zeit der Herrſchaft
des zweiten Saſſanidenkönigs, Sapor I. (oder Schahpur), alſo
zwiſchen 240—271 n. Chr., daß ein Prinz aus Dſchenasdan
(Tſchin oder China) mit all’ ſeinem Anhange den Anſchlägen
auf ſein Leben von Seite ſeines Oheims Arpag-Pagur durch die
Flucht entging und ſich mit ſeinen Getreuen, wie es kurz vorher
die Orpelier in Georgien gethan2, in Armenien anſiedelte. Daß
wir es hier nicht mit eigentlichen Chineſen, wohl aber mit Be-
wohnern des heutigen Turkiſtans zu thun haben, geht ſchon
daraus hervor, daß der armeniſche Annaliſt die Eigenſchaften
der Mamigonier als überaus vortheilhafte bezeichnet und ihren
regen Verkehr mit den Bewohnern Irans und Arabiens hervor-
hebt, ein Verkehr, der zwiſchen dieſen und den eigentlichen
Chineſen niemals beſtanden hat. Auch andere, viel näher liegende
Thatſachen weiſen darauf hin, daß es ſich unmöglich um eigent-
liche Chineſen oder Stämme mongoliſcher Race überhaupt, handeln
könne, die erſt viel ſpäter und da unter ganz anderen Umſtänden
mit dem Weſten in Verbindung traten. Zudem ſpricht auch ein
3
[31]Die Mamigonier.
anderer armeniſcher Chroniſt — Vakſtang — ſtets von Turaniern,
wenn er der Mamigonier gedenkt … Waren nun dieſe auch
Turanier im ethnologiſchen Sinne, nämlich Zugehörige zu jener
anderen großen Völkergruppe, welche man im Gegenſatze zu den
Iraniern ſo benannte, und die man heute mit dem Collectiv der
ural-altaiſchen Völker belegt? Wir haben Gründe dies entſchieden
zu bezweifeln. Aus den Schilderungen alter Chroniſten geht
überzeugend genug hervor, daß die Mamigonier ein den Perſern
und Armeniern verwandtes, ſomit ariſches Volk waren, und wir
vermögen dies um ſo weniger zu bezweifeln, als ariſche Elemente
ſich auch heute noch allenthalben unter den turkiſtaniſchen Völker-
ſchaften zerſtreut vorfinden1 … In welchem Grade ſich die
Mamigonier in ihrer neuen Heimat ſpäterhin vermehrt hatten,
[32]Im Ararat-Gebiet.
iſt nicht genau bekannt, doch ſcheinen ſie etwa um die Mitte des
dritten Jahrhunderts n. Chr. immerhin zahlreich genug geweſen
zu ſein, denn als zu dieſer Zeit der armeniſche König Tiridates II.
durch den Beiſtand der Römer den Thron ſeiner Väter den
Saſſaniden wieder abnahm, ſchlug ſich Mamkon auf die Seite
des Königs, wofür er als erblichen Sitz für ſich und ſeine An-
hänger daſſelbe Daron erhielt, in welchem ſich bekanntlich die
Enkel Haiks und ſpäter die Nachkommen Sarezers und Scham-
bads (die erſten Ardzrunier und Bagratiden) niedergelaſſen hatten1.
Später thaten ſich die Mamigonier ſtets mehr durch Treue, Tapfer-
keit und andere Tugenden hervor, wodurch ſie zu einer feſten
Stütze des immerdar bedrohten armeniſchen Reiches wurden. Die
letzte Erwähnung von ihnen geſchieht im neunten Jahrhundert
und zwar in byzantiniſchen Chroniken. Bemerkenswerth iſt, daß
der bekannte moderne Geograph der Armenier, Indſchidſchean,
in dem Kurdenſtamme Manekzier die letzten Reſte der Mami-
gonier erblicken will2, wodurch dieſer ariſche Stamm wieder
nur in einem anderen ariſchen Stamm aufgegangen wäre …
In der älteren Völker-Bewegung Armeniens ſollen auch die
Bulgaren eine Rolle geſpielt haben. Die Annahme iſt ziemlich
veraltet; gleichwohl bekennt ſich noch der Gelehrte Carl Ritter3
zu ihr, indem er in dem Namen Wunt (Went), den der Führer
der angeblichen Bulgaren geführt haben ſoll, einen Anklang an
Wenden (Winden) findet und darin einen Beleg für die „ſlaviſche“
Einwanderung in Armenien erblickt. Das klingt freilich wunder-
lich genug vom Standpunkte der modernen Forſchung, die in
den Bulgaren bei ihrem erſten hiſtoriſchen Auftreten bekanntlich
nichts weniger als Slaven, ſondern einen finniſch-ugriſchen Stamm
erkennt. Da die Skythen bekanntlich wiederholt über den Kau-
kaſus geſtiegen ſind und den vorder-aſiatiſchen Herrſchern ver-
ſchiedener Epochen zu ſchaffen machten, ſo dürfte es ſich wohl
um ſolche Elemente in Bezug auf Armenien handeln; von einem
Einfluſſe derſelben auf die ethniſche Entwickelung der Armenier
kann aber unter ſolchen Umſtänden ſelbſtverſtändlich keine Rede
[33]Zur jüngeren Völkerbewegung.
ſein1 … Die ſpätere Völkerbewegung zur Zeit der Seldſchuken,
Mongolen, Osmanen und Tartaren dürfte kaum weſentlich die
armeniſche Population durchſetzt haben, wenngleich die Eigen-
thümlichkeit derſelben, Fremdes ſich zu aſſimiliren und die eigene
Individualität ausländiſchen Einflüſſen gegenüber wenig zu
wahren, in Bezug auf das Osmanenthum nicht ohne Conſequenzen
geblieben ſein dürfte. Dies alterirt aber ſelbſtverſtändlich nicht
im Geringſten die Thatſache, daß die Armenier ariſchen Stammes
ſind und in den erſten Stadien ihrer ethniſchen Entwickelung
ſtets nur mit ihnen verwandten Stämmen Blutmiſchungen er-
fuhren. Für die ariſche Abſtammung der Armenier ſpricht über-
dies auch ihre Sprache2.
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 3
[34]Im Ararat-Gebiet.
Zunächſt bewegen ſich alle alt-armeniſchen Sagen im gleichen
Rahmen, wie die Helden des perſiſchen Königsbuches, wodurch
die geiſtige Verwandtſchaft der Armenier mit den Iraniern als
thatſächlich hingeſtellt erſcheint1. Der grammatikaliſche Bau der
„claſſiſchen“ armeniſchen Sprache, oder des Haikaniſchen, wohl
zu unterſcheiden von dem ſogenannten Vulgär-Armeniſchen, welches
die heutigen Bewohner Armeniens ſprechen und das mit zahl-
reichen türkiſchen und neu-perſiſchen Worten untermiſcht in zwei
Haupt-Dialekte, dem weſtlichen und öſtlichen, zerfällt2, iſt der-
ſelbe, welcher den alten ariſchen (indo-germaniſchen) Sprachen
eigen iſt. Namentlich die einſilbigen Wortwurzeln deuten darauf
hin, daß der Semitismus das Haikaniſche niemals ummodelte,
trotz des langjährigen Verkehrs der Armenier mit den Aſſyriern
und den eingewanderten coloniſirten Hebräern. Da das Haikaniſche
überdies als eine Art todte Sprache zu betrachten iſt, da mit
dem Ende der claſſiſchen Literatur (um die Mitte des XIV. Jahr-
hunderts) das Rein-Armeniſche nur mehr in den Klöſtern ſeine
Pflege fand, ſo war den Sprachforſchern, an der Hand der
Ueberlieferungen und Mittheilungen der gelehrten Mechitariſten,
die beſte Gelegenheit gegeben, den ariſchen Urſprung des Arme-
niſchen endgiltig zu beweiſen, trotz einiger Widerſacher, die,
wunderlich genug, aus manchen tartariſchen Elementen derſelben,
wobei ſie ſich aber nur an das Neu-Armeniſche hielten, eine
Verwandtſchaft mit dem Türkiſch-Tartariſchen herausfinden wollten.
Bekanntlich verfügt auch das Neu-Perſiſche über einen ganz an-
nehmbaren Wortſchatz aus dem Türkiſchen und Arabiſchen, es
würde aber hiebei gleichwohl Niemandem einfallen, die perſiſche
Sprache anderswohin zu rangiren, als unter die ariſchen Sprachen,
unter die ſie, wie männiglich bekannt, gehört. Im Haikaniſchen
finden ſich aber überdies alle jene Worte vor, ſtatt deren heute
türkiſche im Gange ſind, ein Beweis mehr, daß die betreffenden
[35]Die armeniſche Sprache. — Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.
Einwendungen vollends bedeutungslos ſind. Auch hat man ſich daran
gehalten, daß im Van-Lande armeniſche Texte in Keil-Inſchriften
entdeckt wurden. An dieſer Thatſache iſt nichts zu bemäkeln,
doch darf nicht vergeſſen werden, daß erſt Mesrop (im 5. Jahr-
hundert) ein eigenes armeniſches Alphabet conſtruirte und bis
dahin die Alphabete anderer Nachbarvölker, der Aſſyrier und
Perſer, ja ſelbſt jenes der Griechen, in Uebung waren …
Ehe wir das Ararat-Gebiet verlaſſen, haben wir noch einer
Localität zu gedenken, die uns urplötzlich aus der claſſiſchen
Vorepoche Armeniens in die chriſtlich-mittelalterliche und moderne
verſetzt. Es iſt dies der Patriarchenſitz zu Etſchmiadſin. Vom
oberen Stadttheile Eriwans erblickt man genau im Weſten, in
einer Entfernung von etwa vier Meilen, drei eigenthümlich ge-
formte Kirchenbauten, welche aus der ſchimmernden Araxes-Ebene
emportauchen. Die Silhouetten dieſer drei rieſigen Markſteine
auf dem geradlinigen Karawanenwege nach Sardarabad und
weiter nach Alexandrapol gleichen, namentlich bei der nicht un-
bedeutenden Entfernung, eher egyptiſchen Pyramiden, als chriſt-
lichen Tempeln, die ſie thatſächlich vorſtellen. An Ort und Stelle
angelangt, ändert ſich freilich das Bild, ſobald man der hohen,
im Quadrat gezogenen Umfaſſungsmauern des einen dieſer Tempel,
dann der Annexe und Zubauten anſichtig wird und ſchließlich
den Blick die, aus wunderlichen Styl-Motiven zuſammengeſetzte
Tempel-Façade hinan bis zur altehrwürdigen Kuppel ſchweifen
läßt … Es iſt der Patriarchendom von Etſchmiadſin, der religiös-
politiſche Mittelpunkt Armeniens. Schon mit ſeiner Gründung
fallen Ereigniſſe zuſammen, die im unmittelbaren Contacte mit
den großen Bewegungen zur Zeit der Partherherrſchaft und ihrer
Gegner, der Saſſaniden, ſtehen. Von weit höherem Zauber iſt
der Ort freilich noch für den orthodoxen Armenier, in deſſen
Seele die Legende von der Erſcheinung des „einigen Sohnes“
nachſchimmert, die einſt der armeniſche Apoſtel und Bekehrer,
Gregorios Illuminator, auf der Stelle des heutigen Tempels
hatte. Die Kämpfe im Orient, welche der Mehrzahl nach doch
nur Glaubenskämpfe oder Racenkriege, ſelten aber rein politiſche
Fehden ſind, haben ja mit der Zeit bei den meiſten öſtlichen
Völkern ihr politiſches Bewußtſein in dem weit mächtigeren
religiöſen aufgehen laſſen, und ſo glänzen in den Annalen
3*
[36]Im Ararat-Gebiet.
Etſchmiadſins vor Allem die religiöſen und rein kirchlichen Tra-
ditionen.
Als Rußland in Folge des Friedens von Turkmantſchai (1827)
in den Beſitz des Khanats Eriwan trat und ſo ſich die Provinz
Ruſſiſch-Armenien ſchuf, war es ihm vielleicht ebenſoſehr um den
Beſitz des im Uebrigen nicht abſonderlich großen Landſtriches zu
thun, als um den Patriarchenſitz Etſchmiadſin, dem eigentlichen
geiſtigen Machtcentrum Groß-Armeniens. Unmittelbar nach dem
Concile vor Khalkedon (dem heutigen Kadiköi bei Conſtantinopel),
durch welches in der armeniſchen Kirche das bekannte Schisma
platzgriff, erwählen die papiſtiſchen Armenier das ferne Sis bei
Tarſus (in Cilicien) zu ihrem Patriarchenſitze, indeß der grego-
rianiſche Katholikus, einfach nur auf die Sublimität des Ortes
„Etſchmiadſin“ (i. e.: Descensus) ſich ſtützend, ſeine Herrſchaft hier
zu begründen ſtrebte1. Rußland rechnete demnach hier nicht blos
auf das Alter einer mächtig eingewurzelten Tradition, ſondern
auch, und das vielleicht in weit höherem Grade, auf die unge-
ſchwächte Anziehungskraft, die der Patriarchenſitz unter allen
Umſtänden auf die Gläubigen in den türkiſchen Gebieten ausüben
mußte. Etſchmiadſin iſt und war ja immer ein religiöſer Mittel-
punkt, ein Hort des Glaubens (wie das päpſtliche Rom), das
Heim asketiſchen Mönchthums und ſtumpfſinniger Abgötterei, das
Wanderziel zahlloſer Ekſtatiker durch alle Jahrhunderte2. Auf
die urſprüngliche Bedrückung von Seite andersgläubiger Be-
herrſcher folgte eine Periode des Glanzes. Der Patriarch reſidirte
in ſeinem ummauerten Kloſter, wie jeder andere morgenländiſche
Autokrat, mitunter nicht ohne despotiſche Härte, immer aber mit
[37]Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.
dem Bewußtſein und der Macht eines unfehlbaren Ausübers göttlichen
Rechtes und göttlichen Willens. In jener Zeit, die noch in die
letzten abgelaufenen Jahrzehnte fällt, hatte ein Beſuch des arme-
niſchen Kirchenhauptes ſtets das Gepräge einer officiellen Audienz,
wobei jener, auf ſeinem ſchimmernden Throne ſitzend, von zahl-
loſen aſſiſtirenden Episkopen und Mönchen, die vor ihm das
Kniee beugten, umgeben war1.
An Etſchmiadſin und St. Gregorios, der in hohem Greiſenalter
in Erzingian (weſtwärts von Erzerum in Hoch-Armenien) ſtarb und
dortſelbſt auch ſein Grab gefunden hatte (in einer der natürlichen
Katakomben des Sepuh-Berges), knüpfte ſich eine der bewegteſten
Epochen der Geſchichte Armeniens. Als die Parthermacht in
Vorder-Aſien gebrochen war und eine neue Dynaſtie ſich des per-
ſiſchen Thrones bemächtigt hatte, tauchte in Armenien plötzlich
ein thatendurſtiger Arſaciden-Sprößling, Prinz Khosrew, auf,
der ſofort gegen den Stifter der neuen Saſſaniden-Dynaſtie,
Ardeſchir-Babakhan, ins Feld rückte. Es war das letzte Auf-
flackern der alt-armeniſchen Unabhängigkeit. Leider ward der
Untergang des Arſaciden-Hauſes durch einen ganz gewöhnlichen
Meuchelmord ſehr unrühmlich herbeigeführt, denn Anag, ein an-
derer Arſacidenprinz und Schützling Ardeſchirs, trat als Partei-
gänger für die Saſſaniden auf und half mit dieſen das frühere
Königshaus ausrotten, ohne zu bedenken, daß er in ſeinem eigenen
Fleiſch und Blute wühlte2. Aus dieſem allgemeinen Blutbade
vermochten die armeniſchen Parteigänger nur die beiden Kinder
Khosrews, Tiridat und ſeine Schweſter Khosrewi-Tukht (wörtlich:
Khosrews Tochter) zu retten, welche ſo raſch wie möglich nach
Rom gebracht wurden. Dreißig Jahre währte der Aufenthalt
Tiridats in der Weltſtadt am Tiber, dann kehrte er, wie ſchon
oben berichtet wurde, nicht unerheblich von Seite der Römer
unterſtützt, in ſeine Heimat zurück, um die Saſſaniden zu ver-
treiben und den Thron ſeiner Väter wieder in Beſitz zu nehmen.
Erſt von Dertad-Medz (das iſt Tiridates II.) werden größere
Thaten gemeldet und in der armeniſchen Geſchichte wird ſeiner
[38]Im Ararat-Gebiet.
immer nur rühmlichſt Erwähnung gethan1. Er brach zunächſt
die Fremdherrſchaft im ſüdlichen Armenien, indem er die dort
regierenden Statthalter zu einer gemeinſamen Action gegen den
Saſſaniden-König Schahpur II. gewann. Später brachte er,
nach einem Beſuche in Rom, römiſche Hilfstruppen, mittels derer
er bald ganz Armenien an ſich riß, die Einfälle der Kaukaſus-
Völker zurückwies und ſchließlich ſelbſt in perſiſches Gebiet ein-
brach. So waren die Thaten dieſes Königs, der an der Schwelle
des heidniſchen und chriſtlichen Armeniens ſtand, ohne Zweifel
ſehr bedeutende. Einer der intereſſanteſten Zwiſchenfälle ſpielte
ſich aber gegen Schluß der Regierungszeit Tiridates II. ab …
Wir haben oben des Apoſtaten Anag gedacht, deſſen Beihilfe
Ardeſchir ſo ziemlich alle Erfolge in Armenien zu verdanken hatte.
Leider ſollte dieſer Arſacidenprinz der Früchte ſeines Verrathes
nicht theilhaftig werden, denn er wurde nach gut altaſiatiſcher
Sitte unmittelbar nach Ausrottung der armeniſchen Dynaſtie
gleichfalls mit ſeinem Anhange niedergemacht. Wie dort bei
Khosrew, war es auch hier, daß ein Sohn dem Maſſacre ent-
ging. Er ward nach Cäſarea in Cappadocien gebracht und unter
Chriſten auferzogen. Dieſer Sprößling Anags war nun Niemand
geringerer als — Gregorios, der nachmalige armeniſche Apoſtel
und Bekehrer des Tiridates, dem größten heidniſchen und erſten
chriſtlichen Könige der Armenier. So raſch und leicht ſollte indeß
dem Apoſtel die Aufgabe keineswegs gemacht werden, das ſcheint
durch geſchichtliche Belege erwieſen; die Legende hat freilich des
Wunderlichen und Wunderbaren genug hinzugefügt, und noch
heute zeigt man zu Khorwirab in der Araxes-Ebene einen trockenen
Brunnen, in welchem Gregorios über 13 Jahre geſchmachtet
haben ſoll2. Tiridates, der durch ſeinen langen Aufenthalt in
Rom und durch ſeine unausgeſetzten Verbindungen mit dem Welt-
reiche ganz naturaliſirter Römer geworden war, that es dem er-
lauchten Cäſaren auch im Punkte der Grauſamkeiten gegen Anders-
gläubige, namentlich gegen Chriſten, in allen Stücken nach. Da-
mals wüthete am Tiber eben der größte Chriſtenfreſſer aller
[39]Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.
Zeiten, Diocletian, und um einem barbariſchen Schickſale zu
entgehen, flüchtete eine Jungfrau aus prinzlichem Geblüte, Hrip-
ſime, aus Latium nach Armenien, dem damaligen Horte der
Chriſtenheit1. Es galt dies ſelbſtverſtändlich nur vom weſtlichen,
von Tiridates’ Herrſchaft wenig fühlenden Theile des Landes
(Klein-Armenien oder Sebaſta — Siwas — und Cappadocien).
Hripſime ſuchte aber unvorſichtiger Weiſe ihr Aſyl in der heid-
niſchen Stadt Vagharſchabad, die ſich auf derſelben Stelle befand,
auf der ſich heute Etſchmiadſin erhebt. Als ſie eines Tages ihre
Bekehrungsverſuche auch auf den König erſtreckte, wurde ſie mit
ſammt ihren Gefährtinnen ergriffen und geſteinigt. Es war die
letzte chriſtenfeindliche That Tiridates’; kurz nach dem Martyrium
der Römerin ließ er ſich durch Gregorios, dem Sohne Anags,
des verruchten Mörders von Tiridates Vater Khosrew, bekehren,
und er empfing mit ſeinem ganzen Heere in Alaſchgerd, dem
heutigen Toprak-Kaleh, die Taufe2. Die erſte Gründung Tiri-
dates’, der nun den lateiniſirten Namen ablegte und den arme-
niſchen (Dertad-Medz) annahm, war die Kirche von Surp-Ohannes,
dem heutigen Utſch-Kiliſſa zwiſchen Diadin und Karakiliſſa3.
Dieſe Gründung fällt in das Jahr 306, alſo in dieſelbe Zeit,
wie jene Etſchmiadſins, das Dertad damals freilich in ganz anderer
Geſtalt, als es ſich heute dem Beſucher darſtellt, dem erſten
Biſchofe und Patriarchen von Armenien, Gregorios Illuminator,
erbauen ließ und zum Sitze anwies.
Als Dertad ſein ruhmreiches Leben abgeſchloſſen hatte, wurde
die armeniſche Königsreſidenz von Vagharſchabad4 nach Ani
[40]Im Ararat-Gebiet.
verlegt und der Sitz des Patriarchen hundert Jahre nach Gregors
Tod von Etſchmiadſin nach Towin1 bei Artaxata (drei Meilen
ſüdöſtlich von Eriwan), wo die altersgraue Silhouette noch heute
von mäßig hohem Berghange in das fruchtbare Araxesthal hinab-
blickt. Hier verblieben die armeniſchen Patriarchen bis ins achte
Jahrhundert hinein, wo die Epoche ihrer ſchwerſten Bedrängniß
hereinbrach und nahezu bis zum Ausgange des Mittelalters währte.
Zur Zeit als der Seldſchukide Alp-Arzlan dem armeniſchen
Reiche ein Ende gemacht hatte, befand ſich der Patriarchenſitz
wieder in Etſchmiadſin, wo über den heiligen Stätten ſich im
Laufe der Zeit ſtets größere Zu- und Neubauten erhoben. Neben
der Urkirche, die dem Nationalpatron geweiht iſt, erhebt ſich
auf der Stätte der einſtigen Arſaciden-Capitale die Kirche Hrip-
ſime, ein Denkmal an das Martyrium der römiſchen Chriſtinnen,
zu welchem Dertad, zur Sühne, ſelbſt den Grundſtein legte; die
dritte heilige Stätte iſt das Kloſter Gaiane2 … Umſchimmert
von einer ſchweren Menge hochgehaltener Traditionen, die ab
und zu in legendaren Kundgebungen verdämmern und ſo den Reiz
des Glaubenshortes nur noch erhöhen, bietet Etſchmiadſin heute
zwar nicht mehr das poetiſche Bild eines den Stürmen der Zeit
und feindlichen Barbaren trotzenden Aſyls, auch nicht das eines
außergewöhnlichen Glanzes, wie noch vor wenigen Decennien,
ſondern es bildet vielmehr den religiös-politiſchen Central- und
Kryſtalliſationspunkt Armeniens. Daß demjenigen, der die Ober-
hoheitsrechte über Etſchmiadſin ausübt, auch die kirchliche Supre-
matie und die politiſche Sympathie in ganz Armenien geſichert
ſei, hat Rußland weit raſcher noch begriffen, als der kluge Schah
Abbas, der den Mönchsſitz bei Eriwan mit allen denkbaren Vor-
rechten ausſtattete und ſogar jeden ſeiner Verfolger, der ſie
künftighin ſchmälern wollte, mit Fluch bedrohte.
Wie der Tempel des heiligen Gregorios heute zu Etſchmiadſin
daſteht, läßt er kaum mehr ſein Alter in architektoniſcher Hin-
4
[41]Etſchmiadſin, der Patriarchenſitz.
ſicht erkennen. Nur der Grundplan erinnert an den griechiſchen
Bauſtyl und hiemit iſt auch der Fühlungspunkt mit dem Gründer,
König Tiridates II., gefunden, der in ſeiner Bauluſt nur antike
Formen, wie er ſie in Rom und in Griechenland kennen gelernt
hatte, zur Geltung kommen laſſen wollte. Die Hauptmaſſe der
Kirche iſt übrigens vollkommen armeniſchen Styls, nebenbei
mit Vorſprüngen, Hallen und Thürmen in unregelmäßiger An-
ordnung verſehen; eine Art der Schmälerung des urſprünglichen
Styltypus, die man auch an der Aja Sofia zu ſtudiren, oder
beſſer: zu beklagen Gelegenheit findet. Ueber der Herzmitte des
gleicharmigen Kreuzes, das nach vier Weltrichtungen ebenſoviele
Schiffe bildet, ruht auf vier gewaltigen Pfeilern die uralte Kuppel.
Unter dieſer erhebt ſich der Hauptaltar mit Alabaſterſäulen aus
Tabris, wunderbar hervorleuchtend aus dem matthellen Raume,
den die gewaltigen Porphyrwände einſchließen1. In dem über-
mäßigen Detail aller äußeren und inneren architektoniſchen Aus-
ſchmückungen, Zuthaten und Ornamenten iſt immerhin das typiſche
Gepräge des armeniſchen Bauſtyles gewahrt, wenngleich dieſelben
aus den verſchiedenſten Epochen herrühren. Nur ein Denkmal,
dieſem Lande völlig fremden Bauſtyles, hat ſich in ſpärlichen,
immerhin aber noch genug intereſſanten Reſten erhalten, der
joniſche Prachtpalaſt2, den Tiridates für ſeine Schweſter zu
Kharnei (etwas über zwei Meilen ſüdöſtlich von Eriwan) erbauen
hat laſſen. Dort erheben ſich die Trümmer des, durch eines der
furchtbaren Erdbeben, welche früher häufig den Ararat-Bezirk
heimſuchten, zerſtörten Baues an den Steilhängen einer kleinen
Schlucht, am Fuße des bei 12,000 Fuß hohen Ala-Dagh. Die
Perſer nennen die Ruine auch heute noch Takth Dertad („Thron
des Dertad“), ein Beweis, wie mächtig auch bei den anders-
gläubigen Nachbarvölkern die alt-armeniſchen Geſchehniſſe nach-
geklungen haben.
Um Etſchmiadſin ſelbſt breitet ſich ein Theil jenes frucht-
reichen Tafellandes, das der Araxes durchſtrömt. In dem alt-
ehrwürdigen Kloſtergarten ſtehen auch die unförmlichen Sarko-
[42]Im Ararat-Gebiet.
phage zahlreicher Patriarchen, die in den Jahrhunderten der Be-
drängniß von dieſer öſtlichſten Warte des Chriſtenthums aus,
die Horden der aſiatiſchen Eroberer vorüberſtürmen ſahen. Min-
der intereſſant ſind die beiden anderen Tempel, Sancta Gaiane
und Hripſime, von denen der erſtere die leere Gruft der Mär-
tyrin enthält. In dem nahen Dorfe Vagharſchabad hat ſich,
wie man ſieht, der Name der alten Capitale erhalten, aber der
Ort iſt heute durch nichts anderes berühmt, als durch den vor-
züglichen Wein, der auf den ſüdwärts gekehrten Gebirgsterraſſen
gedeiht. Dieſer Theil Armeniens war eben immerdar, ſelbſt
unter der Herrſchaft der Perſer, die ja durch Hafiz das mos-
lemiſche Gebot der Enthaltſamkeit einigermaßen zu umgehen gelernt
hatten, ein hervorragendes Weinland, und die Armenier von
Naſchitſchewan ſind beiſpielsweiſe nicht wenig von der vermeint-
lichen Thatſache erbaut, daß ſie in dieſelbe Erde ihre Reben
pflanzen, die ſchon dem Altvater Noah das köſtliche Gewächs
gedeihen ließ. Der gute Tropfen, die altersgrauen Kirchen-
bauten von Etſchmiatſin und einige hundert alte Manuſcripte in
Mesrops hieroglyphenartiger Schrift, welche in der Kloſterbiblio-
thek gehütet werden, ſcheinen ſonach das einzige Erbe zu ſein,
das Alt-Armenien dem lebenden Geſchlechte hinterlaſſen hat.
[[43]]
II.
Hoch-Armenien.
Von Kars nach Erzerum. — Die armeniſche Capitale und ihre geſchicht-
liche Vergangenheit. — Die Plaſtik Hoch-Armeniens. — Erzingian
und der „heilige Berg“. — Die ältere Literatur der Armenier.
Vom Caſtellberge der Feſtung Kars fällt der Blick mit der
Ausſchau gegen Süden vorerſt auf das armeniſche Viertel. In
den vorangegangenen Kriegen durch die ruſſiſchen Sturmangriffe
am meiſten hergenommen, lag es ſeit Jahrzehnten nahezu voll-
ſtändig in Ruinen und nur die Hauptrichtung des winkeligen
Gaſſennetzes iſt hin und wieder durch ein renovirtes, aus dunklen
Baſaltblöcken aufgeführtes Haus markirt. Ueber die baufällige
Brücke und durch die elend gepflaſterten, furchtbar engen Straßen
ziehen noch immer die Karawanen weſtwärts nach Erzerum.
Mit einem letzten Blick auf die kahlen nordwärts vorliegenden
Höhen verläßt der Wanderer die einſt ſo blühende Ebene, denn
bald nimmt ihn das enge, vielfach gewundene Felsdefilé auf,
welches der Fluß von Kars durch die quervorliegende Gebirgs-
kette geriſſen. Dieſe Felſenpforte wurde bisher noch immer von
den Eroberern des Oſtens zu ihrem weiteren Vordringen benützt;
ſie iſt auch nur eine Stunde lang, und jenſeits nimmt das ſo-
genannte mittlere Karsbecken ſeine Ausdehnung. Von den nörd-
lichen Vorhöhen iſt der Blick da hinab immerhin lohnend, wenn-
gleich die einſtige Ueppigkeit und Wohlhabenheit1 der Ebene
[44]Hoch-Armenien.
nur mehr wie eine Fabel klingt und das Auge mehr Ruinen
wie Wohnſtätten wahrnimmt. Das Charakteriſtiſche der arme-
niſchen Tafelländer, die Baumloſigkeit, wird im Uebrigen hier
einigermaßen durch die grünen Matten paralyſirt, die ſich allent-
halben die Lehnen hinanziehen, aber wo der Fels zu Tage tritt,
iſt er ſtets verwitterter Säulenbaſalt, der hin und wieder den
graſigen Boden durchſetzt, bis mit dem Vordringen in das Quell-
becken des Kars-Fluſſes auch hier wieder die Großartigkeit der
armeniſchen Gebirgsnatur in ihre Rechte tritt. Schon die vielen
ſeitlichen Einblicke in die Schluchten, aus denen Nebenbäche in
ſprudelnden Cascaden dem Fluſſe zuſtrömen, ermangeln nicht
einigen Reizes, bald aber geht es die Vorhöhen des Soghanly-
Gebirges hinan, und zwiſchen den engen, immer gewaltiger himmel-
wärts ſtrebenden Baſaltwänden donnern die Echos des nieder-
toſenden Bergwaſſers.
Das iſt das eigentliche Defilé des Karsfluſſes den Soghanly
hinan. Ab und zu dräuet ein altes Gemäuer, die Reſte einer
längſt verfallenen Burg auf hoher Felsſtirne, umrahmt von
Pinienhainen1, ſonſt iſts ſtille in dieſer Gebirgswildniß, wenn
gerade keine kurdiſchen Wegelagerer an der Karawanenſtraße
liegen. Der vielhundertjährige Verkehr auf dieſem Wege zwiſchen
dem öſtlichen Armenien und den weſtlichen Eufratländern hat es
nicht dazu gebracht, auch nur den blaſſen Schatten irgend eines
Culturanlaufes zu ſchaffen, ja es muß nachgerade überraſchen,
daß die ſinnloſe türkiſche Wirthſchaft2 wenigſtens dieſe Höhen
nicht ganz ihres Baumſchmuckes beraubt hat und das Auge ſich
an Pinienkronen und anderem Nadelholz zu laben vermag. So
wird der Rundblick mit dem weiteren Anſtieg auch begreiflicher-
weiſe von Schritt zu Schritt romantiſcher. Der gewundene
Pfad hebt ſich mehr und mehr aus der anfänglich tief einge-
ſchnittenen Thalſchlucht; ausgedehnte Hochmatten unterbrechen
die Beſtände und von dem breiten Rücken des Soghanly-Gebirges,
der der Hauptſache nach in nördlicher Richtung verläuft, fällt
der Blick in die Thalſchluchten von Meſchingert, an denen vorbei
ſich im weitläufigen Becken der Araxes windet. Auch auf dieſer
[45]Von Kars nach Erzerum.
Seite ſind die Schneeberge, welche auf allen Seiten das groß-
artige Panorama umſchließen, die Schlupfwinkel berüchtigter
Kurdentribus, und ihre Thaten haben dem finſteren Baſaltſockel,
der in die enge Schlucht von Meſchingert hinabblickt, den Namen
„Blutberg“ verſchafft. Weit berüchtigter waren ſie noch höher,
am Wurzelſtocke des Soghanly. Dort führt ein zweiter Paßweg
längs der terraſſenartig anſteigenden Randketten des Tſchoruk-
Syſtems, jede Terraſſe mehr oder minder dicht bewaldet und
ſcheinbar getragen von zutageliegenden gewaltigen Baſaltſäulen,
welche aus den auſſtarrenden Felswänden hervorwachſen. Auf
dieſer Scheitelhöhe des Gebirges liegt Bardez, mitten in einem
natürlichen Säulenwalde, ein Naturwunder, das zu ſehen bisher.
nur einzelnen Forſchungsreiſenden vergönnt war1. Der Gebirgs-
wall, welcher nordwärts vorliegt, überbietet ſelbſt im Vergleiche
zu den übrigen armeniſchen Hochlandſchaften, Alles an urſprüng-
licher Wildheit und Großartigkeit. Es bedarf mehrerer Tagreiſen,
um ihn zu überſchreiten und thalab des Bardez-Fluſſes in die
Tſchoruk-Landſchaften bei Petrakretz zu gelangen. Der Weg aber,
an dem wir feſthalten wollen, führt ſüdwärts über ausgebreitete
Alpentriften, im Frühling geſchmückt mit dem ſchönſten Blüthen-
flor, dann durch eine ſchroffe Schlucht in ſüdweſtlicher Richtung,
an einer verfallenen Burg vorüber bis Choraſſan, wo jener andere
Weg über Meſchingert und an dem „Blutberg“ vorbei einmündet.
Jene verfallene Burg — Kör-Oghlu-Kaleſſi — war einſt der Sitz
des berüchtigtſten aller kurdiſchen Räuber-Chefs, des Kör-Oghlus,
des Rinaldini Armeniens, von deſſen angeblichen Heldenthaten
noch heute Jedermann zwiſchen Erzerum und Tabris zu berichten
weiß. Das Merkwürdige hiebei iſt, daß Kör-Oghlu nicht ohne
dichteriſches Talent war und all’ die verſchiedenen Rhapſodien
eines verwegenen Räuberlebens ihn zum Verfaſſer haben2.
Mit dem Eintritte in das Aras-Becken erhält die Landſchaft
bald wieder ihr früheres einförmiges Gepräge. Die ebenen
Graſungen nehmen überhand in dem Maße, als die Beſtände
abnehmen und dies namentlich von dem Dorfe Köprüköj (Brücken-
dorf) ab. Der Ort iſt weniger ſeiner ſiebenbogigen Brücke halber,
[46]Hoch-Armenien.
welche hier den ziemlich breiten Araxes überſpannt1, erwähnens-
werth, als vielmehr in Rückſicht ſeiner Lage an zwei ſehr wich-
tigen Communicationen. Von hier führt nämlich der einzige
practicable Weg über die Randketten des öſtlichen Eufratbeckens
an Toprak-Kaleh vorüber nach Bajazid2, und ſchon einmal
haben ſich hier die ruſſiſchen Colonnen (1828), welche auf ihren
concentriſchen Angriffslinien ins Herz Armeniens, Erzerum, ein-
drangen, vereinigt, um die letzte Schranke deſſelben, das relativ
nur 800 Fuß hohe Dewe-Bojun-Gebirge im Weſten zu über-
ſchreiten.
Wir gelangen dahin, wenn wir die Wanderung thalaufwärts
des Araxes verfolgen. Unmittelbar hinter Köprüköj taucht der
Blick ſüdwärts in die raſch anſteigende felſige Thalſchlucht, in
die der eigentliche Quellarm des Fluſſes niederbrauſt. Die rie-
ſigen Gipfel-Höhen des „Tauſend-Seen-Gebirges“, das noch kein
Europäer erklommen, bergen ſeine Quellen. Nach dieſer Richtung
erblickt man auch einen ſchwach markirten Paßeinſchnitt in der,
nahezu 21 Meilen langen, ungegliederten Gebirgsmauer, die
einzig mögliche Paſſage zwiſchen dem Araxes- und Van-Becken.
Es ſoll dies jener Paß ſein, den Xenophon und ſeine 10,000
[47]Von Kars nach Erzerum.
Griechen überſchritten, wodurch ſie, aus dem Kharduchenlande
kommend, in jenes der Phaſianen (heute Paſin, ſüdlich vom
Araxes) gelangten1. Hat man einmal dies Gebiet hinter ſich,
ſo geht es über graſige Ebenen weiter, an einzelnen armſeligen
Dörfern — einſt armeniſch, zuletzt kurdiſch — zwiſchen Roſen-
hecken vorüber, bis die altersgraue Silhouette einer Fortification
in Sicht gelangt. Es iſt das Caſtell von Haſſan-Kaleh, dem
einſtigen Schlüſſel von Erzerum.
Außer Zwergweiden unterbricht kein Baum und kein Ge-
ſträuch die weiten graſigen Ebenen um die alte „Genueſen-Veſte“,
als welche die Burg Haſſans angeſehen wird. Solcher Dſchiniwiz-
Khaleſſilar, Burgen der Genueſen, gibt es Hunderte an der
Pontusküſte, im Innern Anatoliens und Armeniens, wenngleich
in Wirklichkeit nur die wenigſten von dem einſtigen weitberühmten
Handelsvolke Liguriens herrühren, aber die osmaniſche Tradition
will es nun einmal ſo, trotz der innern ſchwachen Logik in der
Annahme, daß die ſeefahrenden Genueſen im Innern Vorder-
Aſiens mauerumgürtete Colonialſtätten beſeſſen haben ſollen2.
Einſt war Haſſan-Kaleh der Sitz der Begler-Begs von Anatolien3,
ein Beweis, daß die Stadt, die heute vollends bedeutungslos iſt,
noch zur Zeit der Türkenherrſchaft mindeſtens gleichen Rang mit
Erzerum hatte. Das alte Caſtell liegt auf einem Sporn eines,
vom Hauptzuge des Karatſchli iſolirten Gebirgsriegels 1600
Fuß hoch über der Ebene und der, von verfallenen Wallmauern
umzogenen Stadt. Dieſe ſelbſt ſtößt mit ihren beiden Enden an
die Felsſtirne, auf deren Höhe die Burg Haſſans thront. Dieſe
ſelbſt bildet, im Norden von grünen Weidehöhen umgeben, ein
Rechteck mit Seiten zu 150 und 50 Metern, doppelter Um-
mauerung und Thürmen, denen die kleine, amphitheatraliſch ge-
legene Stadt, aus Stein oder Backſtein erbaut, mit Holzbalkons,
gegen Süden vorliegt. Die Feſte wird mit ihren ſenkrechten
Abſtürzen durch hohe Bergrücken gedeckt, aber leider auch durch
[48]Hoch-Armenien.
dieſe dominirt, wodurch ihre, die Stadt beherrſchende Lage einiger-
maßen paralyſirt wird … Im ruſſiſch-türkiſchen Kriege 1828
bis 1829 hatten die Türken Haſſan-Kaleh ganz unbeſetzt gelaſſen,
und ſo ging der Platz am 23. Juni 1829 ohne Schwertſtreich
in den Beſitz der Ruſſen über, die ſich ſogleich in dieſem wichtigſten
Punkte der Erzerum-Bajazider Straße feſtſetzten und Anſtalten
trafen, ſeine Widerſtandskraft zu erhöhen1. Als ſpäter dann
die Ruſſen bei ihrem Abzuge aus Armenien die Befeſtigungen
ſprengten und zum großen Theile zerſtörten, ſcheint man tür-
kiſcherſeits keine Anſtalten mehr getroffen zu haben, ſie wieder in
einen beſſeren Zuſtand zu verſetzen, denn allenthalben wurde
Haſſan-Kaleh von den jüngſten Reiſenden nur ſeiner maleriſchen
Verwahrloſung halber geprieſen, welche wohl den ſymmetrie- und
ordnungsfeindlichen Touriſten, keineswegs aber den Militär zu
entzücken vermag. Die armeniſchen Bewohner des Paſin emi-
grirten nach den letzten Kriegen allenthalben auf ruſſiſches Gebiet,
da ſie, in Folge der zeitweiligen Occupation der Ruſſen, die
Revanche von Seite ihrer Bedrücker zu fürchten begannen, und
und ſo wurde nahezu die Hälfte der Dörfer um Haſſan-Kaleh
derart entvölkert, daß ſeitdem nur Ruinen die weitläufige Ebene
bedeckten und die Productionskraft des ertragsreichen Landes
vollends erlahmte.
Nur etwas über zwei Meilen weiter weſtlich zieht in nord-
ſüdlicher Richtung der Dewe-Bojun (Kameelhals) die Waſſer-
ſcheide zwiſchen Eufrat und Aras, und von ſeiner baumloſen Höhe,
die, wie ſchon oben erwähnt, das 5700 Fuß hoch liegende Erzerum
nur um 800 Fuß überragt, öffnet ſich der Ausblick in das jen-
ſeitige weitläufige Becken der armeniſchen Hauptſtadt … Das
heutige Erzerum iſt eine armſelige, ſehr heruntergekommene Stadt
von höchſtens 30,000 Einwohnern. Sie hat einſt Hunderttauſende
gehabt und war noch unter osmaniſcher Herrſchaft ein berühmtes
Grenzemporium gegen das perſiſche Nachbarreich2. Die platt-
dachigen Häuſer, welche äußerſt ſchmale und ſchmutzige Gaſſen
bilden, gruppiren ſich auf einer nahezu elliptiſchen Fläche, in deren
Mitte auf mäßig hohem Hügel das Caſtell liegt. Nur ein Gebäude,
[49]Erzerum, die armeniſche Capitale.
eine uralte Medreſſe aus des Seldſchukiden Melik Schahs Zeit,
blieb bis in die jüngſte Zeit bemerkenswerth1, alle übrigen
nehmen ſich verödet, ruinenhaft aus, mit niederen Thüren und
Fenſtern, die Gewehrſchießſcharten nicht unähnlich ſind. Liegt
nun vollends der Schnee des Winters, der in dieſer etwas
zweifelhaft paradieſiſchen Gegend volle ſechs Monate dauert, auf
der Stadt, ſo iſt alles Leben erſtorben und ſelbſt die unmittel-
baren Nachbaren ſehen ſich nur nach vielen Wochen wieder ein-
mal. Dies gilt namentlich von den Dorfbewohnern, die ſich
wie die übrigen Land-Armenier, mitunter auch die Türken und
Kurden nicht ausgenommen, in die Erde eingraben und ihre reiz-
loſe Exiſtenz in familiärer Gemeinſchaft mit den Hausthieren
verbringen. Da auf dreißig Stunden im Umkreiſe kein Wald
zu finden iſt und getrockneter Miſt ſomit ausſchließlich als Brenn-
material dienen muß, ſo findet man dieſe über alle demokratiſchen
Begriffe gehende Gemeinſchaft und Gleichheit immerhin begreiflich,
aber es wird auch dem Reiſenden zugemuthet, ſobald er nur
ſeinen Fuß in eines dieſer Troglodytenneſter geſetzt hat, denſelben
Raum mit ſeinem Gaſtwirthe zu theilen. Dagegen ſich zu wehren,
wäre wohl eine ſehr grobe Verletzung der Gaſtfreundſchaft. Die
Wohnung des biederen Erzerumer Landmannes iſt eigentlich nichts
anderes als ein — Stall, und dazu noch ein unterirdiſcher. Licht und
Luft ſind hier unbekannte Elemente, Alles athmet den warmen
Dunſt, welchen das Vieh transpirirt, und die kleineren Geſchöpfe,
wie Schweinchen und Lämmer, genießen überdies eine Art Haus-
recht, denn ſie machen ſich in jedem Winkel der Behauſung zu
ſchaffen und beſchnüffeln gelegentlich wohl auch den armen Gaſt,
dem ſein Wirth Audienz ertheilt hat. Der Raum, in dem derlei
ceremoniöſen Zwiſchenfälle ſtattzufinden pflegen, iſt von der eigent-
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 4
[50]Hoch-Armenien.
lichen Stallung durch einen fadenſcheinigen Kurdenteppich ge-
ſchieden. Mobiliar iſt keines vorhanden; die Sitzung findet auf
einer Art „Minde“ (Matratze) ſtatt, kaum eine Spanne über
dem Boden erhöht, über welchem an der Wand des Hausherren
Stolz, ſeine Sättel, Waffen und Geräthe aller Art Parade
machen1.
Daß bei ſo trauriger phyſiſcher Exiſtenz auch der moraliſche
und intellectuelle Werth der Bewohner nicht all zu hoch anzu-
ſchlagen iſt, bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung; die tür-
kiſche Wirthſchaft hat aber auch hier Alles noch weit ſchlimmer
geſtaltet, als es von Haus aus ohnedies war. Das Loos der
Armenier war niemals ein beſſeres, als das der übrigen chriſt-
lichen Völker in der Türkei2. Neueſter Zeit haben es indeß
die ruſſiſch-türkiſchen Kriege mit ſich gebracht, daß ein großer
Theil der Armenier nach den ruſſiſchen Territorien emigrirte und
ſo Armenien ſelbſt allerdings empfindlich entvölkert wurde. Im
Grunde war auch das Verbleiben der Armenier in dem bisherigen
türkiſchen Theile ihres Stammlandes kaum mehr möglich, erwägt
man, wie beiſpiellos raſch der einſt blühende Wohlſtand des
Landes unter der ſchrankenloſen Gewaltherrſchaft des Türkenthums
zu Grunde ging.
Im Allgemeinen hatten die Armenier ein ähnliches Schickſal
wie die Hebräer, und die Zeit hat ſie zum mindeſten über einen
großen Theil der alten Welt hin zerſtreut3. Als ſpäterhin
das blühende Ani in die Gewalt des Seldſchukiden Alp
Arzlan fiel, wurde der noch vorhandene Reſt der Bewohner,
die des ganzen umliegenden Landes mit einbegriffen, nach
dem nördlichen Perſien abgeführt, um dort coloniſirt zu
werden. Damals hatte eine allgemeine Emigration nach den
[51]Erzerum, die armeniſche Capitale.
Pontusgeſtaden, in die byzantiniſchen Provinzen und ſogar nach
der Krim ſtattgefunden, während gleichzeitig unter dem Schutze
der ruſſiſchen Regierung am Don und an der Wolga armeniſche
Colonien erſtanden, die bei dem thätigen, umſichtigen Weſen
dieſes Volkes noch heute prosperiren. In Folge der Tartaren-
Invaſion fand eine noch intenſivere Emigration, hauptſächlich
nach Trapezunt und Aſtrachan ſtatt. Aus dieſen Gründen kann
es heute nicht mehr befremden, in den Donau-Gegenden, in Süd-
Rußland, ja ſelbſt in Polen und Galizien ſo zahlreiche armeniſche
Elemente zu treffen. In den folgenden Jahrhunderten hat dieſe
Emigration conſtant angehalten1, ihren Höhepunkt aber erreichte
ſie mit dem Erſcheinen der Ruſſen jenſeits des Kaukaſus, zumal
nach den erſten perſiſchen Kriegen. Nur durch die ausgiebige
Unterſtützung der perſiſchen Armenier gelang es den damaligen
ruſſiſchen Generalen ſo beiſpiellos raſche Erfolge zu erzielen,
und wie bekannt, war es armeniſche Hilfe, welche Eriwan ſo
ſchnell in die Hände der Ruſſen brachte. Man hat des öftern
den Vorwurf gegen Rußland erhoben, daß es bei der ſpäteren
Auswanderung einen gewiſſen Zwang ausgeübt hätte, was ſchon
aus dem einfachen Grunde nicht einleuchten will, als viele der
Emigranten, welche ihre etwas weitgehenden Hoffnungen nicht
erfüllt ſahen, ihre Stammſitze wieder aufſuchten, was ſie in den
Augen der ruſſiſchen Regierung begreiflicher Weiſe als Landes-
verräther erſcheinen laſſen mußte. Dieſe Emigration erſtreckte ſich
weiter auch nur auf die nichtunirten, alſo eigentlich nationalen
Armenier, nicht aber auf die katholiſchen, von denen wir heute
eine ſo bedeutende Colonie in Conſtantinopel und in anderen
levantiniſchen Häfen finden. Die Pforte hatte hiebei die große
Unklugheit begangen, mit dem orthodoxen armeniſchen Patriarchat
durch Dick und Dünn zu gehen und die katholiſchen Armenier
4*
[52]Hoch-Armenien.
über Gebühr zu verfolgen. Der uralte Antagonismus zwiſchen
Katholiken und Griechen war hiemit vollends entfeſſelt und als
nun gar auch amerikaniſche Miſſionäre unter den Gregorianern
Propaganda zu machen begannen, fanden die Leiden der Schisma-
tiker kein Ende. Sir Stratford Canning bewies der Pforte, daß
es ja in ihrem Intereſſe liegen müſſe, wenn die armeniſche Be-
völkerung durch derlei rituelle Fragen geſpalten und ſomit ohn-
mächtig gemacht werde1; aber mit dieſer Wahrheit hatte der
engliſche Staatsmann eine ſo ziemlich entgegengeſetzte Wirkung
erzielt und wie nie zuvor wurde es den Armeniern klar, daß
nur die Betonung ihrer Nationalität, nicht aber jene ihrer
rituellen Divergenzen, ſie einer beſſern Zukunft entgegenführen
könnte …
Wenn je eine Stadt unverdienter Weiſe den Rang einer
Provinzial-Hauptſtadt, ja eines ganzen, weit ausgedehnten und
an hiſtoriſchen Erinnerungen überreichen Landes erhalten hat, ſo
iſt dies mit der armeniſchen Capitale der Fall. Im eigentlichen
Groß- oder Hoch-Armenien (Arm.: Partsr Haik) gibt es über-
haupt nur zwei größere Plätze von einer bedeutenderen Ver-
gangenheit, das öſtliche Erzerum und das weſtliche Erzingian.
Von dieſen beiden Emporien, die in nur geringer Entfernung
von einander an den „Ufern des heiligen, befruchtenden Stromes“,
des Ewfrat oder Eprat der älteſten Geſchichtstradition, erſtanden
und blühten, iſt Erzingian im armeniſchen Sinne die weitaus
nationalere, der Urſitz des älteſten armeniſchen Göttercultes und
ſpäterhin der Ausgangspunkt jenes chriſtlichen Miſſionswerkes,
das zu ſeinem Träger den, geradezu göttlich verehrten armeniſchen
National-Patron Gregorios Illuminator hatte. Dieſer ſchon an
ſich maßgebenden Thatſache gegenüber erſcheint die ältere wie
jüngere Stadtchronik Erzerums dürre und inhaltslos, als wären
keine zwei Jahrtauſende an der einſamen Plateauſtadt, ſondern
nur wenige Decennien vorübergegangen. Zur Zeit der Blüthe
des bagratidiſchen Königthums und vorher noch ſcheint Garin,
wie das damalige Erzerum bis zum Ausgang des 5. Jahr-
hunderts (u. Z.) hieß, nicht die geringſte Rolle geſpielt zu haben;
es geſchieht zum mindeſten von dieſer Capitale unweit der
[53]Zur Geſchichte Erzerums.
Eufratquelle in den vergilbteſten armeniſchen Traditionen keinerlei
Erwähnung, bis die römiſchen Geſchichtsſchreiber, zumal Dio
Caſſius1, von ihr die erſte Kunde brachten. Es war indeß eine
Nachricht, die für das damalige Emporium mit einer Kataſtrophe
gleichbedeutend war. Schon unter Kaiſer Nero wurde der
Parther-Prinz Dertad (Tiridates) von Rom aus zum Könige
von Armenien, oder richtiger zum Vaſallen Roms ausgerufen,
was in der Folge unter den Parthern viel böſes Blut machte,
und ſchließlich unter Trajans Regierung zu einer Art Auf-
forderung von Seiten des regierenden parthiſchen Großkönigs
an den Beherrſcher Armeniens führte, ſeine Truppen außer Land
zu bringen und dieſes ihm zu überlaſſen. Das aber konnte
Trajan nicht dulden und ſo kam es zum Kriege, der unter den
Mauern von Garin (Erzerum) ſein Ende fand. Schon während
des Herannahens der Römer entſendete Khosroes, der allen
Grund hatte, Trajans Legionen zu fürchten, Boten dem römiſchen
Kaiſer entgegen, von denen indeß dieſer ſich nicht beſchwatzen
ließ, trotz der überbrachten Verſicherung, Prinz Parthamaſiris
werde als treuer Anhänger Roms Armenien im Sinne und
nach Wunſch des mächtigen Schutzherrn regieren.
Trajans Legionen erſchienen im Quellbereiche des Eufrat
innerhalb der Jahre 114—117 (n. Chr.). Auf ihrem Zuge von
Antiochia längs des Eufrat herauf ergaben ſich ſämmtliche feſte
Plätze, ohne vorhergegangene Belagerung, wie Dio Caſſius ver-
ſichert, und unverſehens tauchte der glückliche Eroberer nördlich
der, als unpaſſirbar gehaltenen Eufratpäſſe zwiſchen Melitene
(Malatia) und Erzingian auf, die noch heute das weitaus Groß-
artigſte ſind, was Hoch-Armenien an Naturwundern beſitzt. Der
Ort, wo Trajan ſein Lager aufſchlug, hat ſich ſogar dem Namen
nach bis auf den Tag erhalten. Es war Elegia, heute Ilidja2
(auch Eleja), drei Stunden weſtlich vom heutigen Erzerum in
ſumpfiger Niederung und an einer antiken Bogenbrücke gelegen,
die daſelbſt den Eufrat überſetzt … Alsbald hatte Trajan
[54]Hoch-Armenien.
den, von den Parthern eingeſetzten König von Armenien, Partha-
maſiris, vor ſich geladen, oder beſſer: befohlen. Der König er-
ſchien und wie einſt Tiridates vor Nero, ſo legte auch er ſeine
Tiara auf die Stufe des Trajaniſchen Thrones, in der Hoffnung,
dieſelbe aus des Siegers Hand wieder zurückzuerhalten. Es
kam indeß anders. Vielleicht wäre Trajan geneigt geweſen,
Gnade und Großmuth zu üben, als aber Parthamaſiris ſeine
Huldigung, oder eigentlich ſeine Demüthigung begangen hatte,
brach das verſammelte Römerheer in einen frenetiſchen Freuden-
jubel aus, worauf der Entkrönte entſetzt die Flucht ergriff. Ein-
gebracht und vor Trajan geführt, beſchwerte er ſich, daß man
ihn, der ſich freiwillig dem Sieger geſtellt, um aus deſſen Händen
die Krone Armeniens zu empfangen, als Gefangenen behandle,
worauf Trajan zur Antwort gab, daß er keineswegs die Abſicht
habe, dieſe Krone irgend Jemandem zu verleihen, ſondern ſich be-
ſtimmt fühle, Armenien in eine Provinz des römiſchen Reiches
zu verwandeln. Der argenttäuſchte Parthamaſiris, empört über
dieſen Entſchluß, ergriff die Waffen, ward jedoch ſchon im erſten
Gefechte erſchlagen.
Dieſer Act iſt zweifellos der intereſſanteſte aus der Geſchichte
Erzerums, beziehungsweiſe Garins, der Stadt und dem Emporium,
das vorher an der Stelle des nachmaligen „Arzen-er-Rum“ der
Araber (daher der heutige Name) geſtanden. Als die Araber
in Hoch-Armenien erſchienen, gab es freilich keine Römer mehr,
aber es iſt ja allgemein bekannt, daß die Bezeichnung „Rum“
auch auf das byzantiniſche Reich überging, und die Stadt Arzen
ſomit eine byzantiniſche Gründung war. Es gab übrigens zwei
Städte dieſes Namens, eine weſtliche, deren Lage heute nicht
mehr genau bekannt iſt (Erzingian?) und eine öſtliche, das
römiſche Grenzemporium, von den Arabern zum Unterſchiede das
„Arzen der Römer“ genannt, das unter byzantiniſcher Herrſchaft
bis um die Mitte des 11. Jahrhunderts blühte.
Mit dem Einbruche der Seldſchuken unter Alp-Arzlan kam
das erſte Unwetter über das Theodoſiopolis der Byzantiner1.
Manches Stück der altehrwürdigen Wallmauern, welche zum
Theile heute noch in nahezu elliptiſcher Form die Stadt umziehen
[55]Zur Geſchichte Erzerums.
und von plumpen Thürmen flankirt werden, waren ſchon damals
der Schutz der noch immer blühenden gewerbs- und handels-
thätigen Capitale Armeniens. Sie haben den Seldſchukenhorden
nicht widerſtanden. Ueber 150,000 Einwohner wurden theils
niedergemacht, theils verſprengt, oder zwangsweiſe in Nordperſien
und am Araxes coloniſirt, und die Stadt ſelbſt fiel in Ruinen.
Bald hierauf (1247) rückten die Mongolen vor die Stadt und
verlangten bedingungsloſe Unterwerfung; als aber dieſelbe ver-
weigert wurde, erfolgte zum zweitenmale innerhalb zwei Jahr-
hunderten deren Erſtürmung und totale Zerſtörung, verbunden
mit den furchtbarſten Gräuelthaten gegen die Bewohnerſchaft,
gleichviel ob Chriſt oder Mohammedaner … Bei dieſer Ge-
legenheit ſollen Tauſende der werthvollſten Manuſcripte zu Grunde
gegangen ſein, um ſo bedauerlicher, als die armeniſchen Geſchichts-
und Cultur-Traditionen bekanntlich an arger Lückenhaftigkeit
leiden. Da indeß die Mongolen, wie ſchon einmal bemerkt, dem
Chriſtenthume im Allgemeinen minder feindlich entgegentraten,
als ſonſtige aſiatiſche Horden, ſo erfolgte kurz nach der Er-
ſtürmung Erzerums die Einſetzung eines Biſchofs und der
Wiederaufbau der Stadt, die damals zu einer kurzen Blüthe-
epoche ſich aufſchwang, bis die Roßſchweife in ihr Einzug hielten
und der unhemmbare Niedergang begann. Gegen die Mitte des
vorigen Jahrhunderts (1735) verheerte ſie noch einmal ein Welt-
ſtürmer, Nadir Schah1, und vor 49 Jahren zogen die Ruſſen
[56]Hoch-Armenien.
unter Paskiewitſch-Eriwanski in Erzerum, dem alten Zankapfel
zwiſchen den Tigris- und Araxes-Ländern, ein.
Und die heutige Capitale, beſitzt ſie mehr, als ein hiſtoriſches
Intereſſe? Wohl wird ſie der Schlüſſel zu Anatolien genannt
und ihre geographiſche Lage iſt in der That derart, daß mit
ihrem Beſitze eine gewiſſe politiſche Machtſtellung, zwiſchen
Transkaukaſien, Pontus, Kurdiſtan und Anatolien, von nicht blos
akademiſchen Werthe zu ſein vermag, doch ſind die räumlichen
Verhältniſſe zwiſchen Erzerum und den Nachbar-Provinzen, zumal
den weſtlichen und ſüdlichen derart, daß dieſe geographiſch-politiſche
Präponderanz immerhin ſtark zu palaryſiren wäre, ſobald den
fraglichen Provinzen eigene Kraft und fremder (osmaniſcher)
Schutz innewohnten … Als Stadt iſt Erzerum niemals früher
ſo jämmerlich herabgekommen, als wie unter den Osmanen.
Abgeſehen von der allgemeinen Verwahrloſung des Platzes, ward
durch ein ungerechtes Gewaltregiment auch das gewerbliche1 und
ſocial freiere Leben im Laufe der Zeit vollends abgetödtet.
Würde nicht einer der älteſten und noch heute, ob Mangels an
jeder anderen Communication, ſtark frequentirter Handelsweg,
von der pontiſchen Küſtenſtadt Trapezunt durch die Capitale
Armeniens nach Perſien u. ſ. w., gezogen ſein, ſo würde man
heute dieſelbe kaum mehr dem Namen nach kennen, wie ſo viele
andere einſtigen Emporien im Innern Anatoliens, die man bei
uns heute nicht mehr kennt.
Erzerum hat auch ein altes Caſtell, das die Türken Itſch-
Kaleh (das „innere Schloß“) nennen, in welchem einſt die
Beglerbegs von Anatolien im Namen des Padiſchah Goldmünzen
prägen ließen und die Tſchorbaſchis von 15,000 Janitſcharen,
die jahrein und jahraus in Erzerum lagen, ein- und ausgingen,
1
[57]Erzerums alte Baureſte. — Hoch-Armenien.
— ihren Tribut abzuliefern. Das klingt wunderlich genug, iſt
aber eine Thatſache. Jedermann, der Janitſchar werden wollte,
hatte eine gewiſſe, vorher vom Beglerbeg normirte Summe dem
Stellvertreter des Padiſchah abzuliefern, wonach es ihm unbe-
nommen blieb, ſich ſeine Einkünfte auf immer welche Art, durch
Erpreſſung, willkürlichen Steuerzwang, oder ganz gemeinen Raub
zu verſchaffen1 … Das Caſtell ſcheint indeß gleichfalls römiſchen
Urſprungs zu ſein, ſowie das Zeughaus zunächſt des Tabriſer
Thores, an dem noch vor fünfzig Jahren römiſche Wappen zu
ſehen waren2. Dafür ſind die chriſtlichen Kirchen meiſt aus
Holz3, die Moſcheen verwahrloſt und äußerlich voll Unrath,
ſowie die zahlreichen Gaſſen, in denen die Jauche in Folge des
geringen Gefälles derſelben, bis auf die, Miasmen ausathmenden
Rückſtände, erſt nach vielen Tagen verdunſtet. Daß es an
Tauſenden der ſchakalartigen herrenloſer Straßenköter allezeit
nicht fehlte, iſt für eine türkiſche Stadt ſelbſtverſtändlich.
Wir wollen nun einen Blick auf das Geſammtbild Hoch-
Armeniens werfen. Der ausgeſprochene Charakter eines Plateau-
Landes, den Oſt-Armenien zwiſchen Erzerum und Eriwan trotz
der Thaleinſchnitte des Aras und Kur beſitzt, fällt in Weſt-
Armenien ziemlich außer Betracht. Dort gibt es überall lange
[58]Hoch-Armenien.
Kettenzüge, welche die Tafelländer von Tſchildir, Schuragel
(Kars) und Tſchaldiran (Kagisman) durchſetzen, nackt und öde,
wie veritable Mondgebirge, hier compacte Maſſen, reich gegliedert
von den zahlloſen Waſſeradern, die dem Mutterſtrom des Eufrat
zuſtrömen; dort weitläufige Hochſteppen mit halb in der Erde
vergrabenen Ortſchaften, hier luftige Terraſſenſtädte, welche die
Steillehnen der wohlbebauten Thäler hinanklettern, oft in ent-
zückender Gartenpracht begraben. Vegetationsreich iſt auch Hoch-
Armenien kaum zu nennen, dafür ſprechen die vielartigen vul-
kaniſchen Gebilde und die breitrückigen Erhebungsmaſſen zu beiden
Seiten des Eufrat, auf denen es wohl ab und zu empfindlich
an Waſſer mangelt. Die Kurden, das einzige Nomadenvolk
Armeniens, das der graſigen Ebenen und Sommerweiden gar
ſehr bedarf, meiden in Folge deſſen die weſt-armeniſche Alpen-
welt und ziehen die weitläufigen Becken des Araxes und Murad
den ſchluchtartigen Thaleinſchnitten, in denen ackerbauende Ar-
menier und Türken den Boden urbar gemacht haben, allenthalben
vor. Nur die Duſchik-Kurden im gleichnamigen Gebirge von
Erzingian haben von Anbeginn her ihre hochgelegenen Wohnſitze
nicht verlaſſen1, und es hat demnach den Anſchein, daß ſie dort-
ſelbſt der Weiden- und Lagerplätze nicht entbehren, eine Ver-
muthung, die noch von keinem Reiſenden irgend einer Nation
erhärtet wurde, denn ihr Land iſt bisher, wie ſo manches zwiſchen
den Oberläufen der Zwillingsſtröme, unbeſucht geblieben. Auch
räumlich hält Oſt-Armenien mit Weſt-Armenien keinen Vergleich
aus. Die Erhebungsmaſſe zwiſchen dem Frat und Murad iſt
allein ſo groß, wie das ganze Araxesgebiet bis Eriwan und an
die Quellen des Kur.
Von Erzerum führen verſchiedene Communicationslinien
radialartig in weſtlicher, nordweſtlicher und ſüdweſtlicher Richtung.
Die letztere iſt eine Gebirgsſtraße beſchwerlicher Art. Sie über-
ſetzt anfänglich den Palantüken-Dagh ſüdlich der armeniſchen
Capitale, lenkt in das Thal des Kara-Su ein, um hierauf das
Duſchik-Gebirge ſeiner ganzen Breite nach zu überqueren (16
Meilen) und in Palu den Murad zu erreichen. Karawanen
legten ſie bisher nur ſehr ungern zurück, da von den kurdiſchen
[59]Hoch-Armenien. — Erzingian.
Horden, die ſie umlauern, begreiflicherweiſe nichts Gutes zu
erwarten iſt. Von Palu führt die Straße weiter durch einen
romantiſchen Theil von Kurdiſtan, um ſchließlich Djarbekr zu
erreichen. Die mittlere Hauptcommunication iſt die große Han-
dels- und Karawanenſtraße nach Conſtantinopel, mit den Zwiſchen-
ſtationen Siwas, Amaſia, Yüzgat, Angora und Ismit. Sie iſt
150 deutſche Meilen lang und identiſch mit der Richtung aller
Kriegs- und Eroberungszüge der Vergangenheit. Bei Karakulak,
der Paßſperre am Eufrat, 16 Meilen weſtlich von Erzerum,
dürfte, meiner Anſicht nach, die Stelle zu ſuchen ſein, wo Su-
leiman, der Turk-Fürſt ertrank, worauf Ertogrul, der Vater
Osmans, ſeine Wanderung weiter nach Inner-Anatolien antrat1.
Auch die Seldſchuken und ſpäter die Mongolen und Tartaren
haben dieſen Weg zurückgelegt, niemals aber die Ruſſen, welche
im Jahre 1829 auf der, weiter nördlich gegen Trapezunt einer-
ſeits und Tripoli anderſeits ziehenden Karawanenſtraße bis Bai-
burt und in die Nähe von Gümüſch-Chana vorrückten2.
Von Erzerum ſind 25 Meilen nach Erzingian, welche auf
einer viel frequentirten Karawanenſtraße zurückgelegt werden.
Sie führt von der armeniſchen Capitale anfänglich durch die
ſumpfige Niederung von Ilidja, weiter durch das romantiſche
Flußdefilé von Moſch und ſchließlich durch die Ebene Terdjan,
wo hinter Erzingian das fünf Stunden lange Gebirgsthor der
Duſchik-Kette ſich erſtreckt, zu beiden Seiten begleitet von coloſſalen
Felswänden und natürlichen Couliſſen, zwiſchen denen der Eufrat
nach Egin vorwärts brauſt … Iſt Erzerum das politiſche
und hiſtoriſche Centrum Armeniens, ſo iſt Erzingian der Urſitz
armeniſchen Religions-Cultes, in heidniſchem und chriſtlichem
Gewande. Im Allgemeinen hat die Stadt in politiſcher Be-
ziehung ſo ziemlich das Schickſal der Hauptſtadt getheilt. Zur
Zeit Temurs befand ſich die Stadt unter der Herrſchaft eines
Mongolenfürſten aus der Dynaſtie vom „Schwarzen Hammel“
(Kara-Kujunli), Namens Juſſuf, der ſich nach Einbruch der Tar-
taren in Armenien zu Sultan Bajazid geflüchtet hatte. Die
[60]Hoch-Armenien.
Folge dieſer Flucht war die totale Zerſtörung Erzingians durch
den brutalen Weltſtürmer, eine Zerſtörung, die wahrſcheinlich auch
im anderen Falle erfolgt wäre. Die Stadt dürfte das zweite
Arzen der arabiſchen Chroniſten (zum Unterſchiede von Erzerum—
Arzen-er-Rum) ſein. Aus ihr ging der armeniſche Prophet,
„Gregor der Erleuchtete“, hervor, der Bekehrer Dertads, des erſten
chriſtlichen Königs der Armenier und Schützling Roms. Die
Natur ſcheint hier wie geſchaffen, um Männer von großem Fluge
und ſtarker Willenskraft bei idealen Strebungen hervorzurufen.
Wie an keinem andern Orte Armeniens haben in dieſen wild-
ſchauerlichen Eufratpäſſen Erdbeben gewüthet1. Die ganze Berg-
maſſe des Sepuh, der ſich aus der Thalebene von Erzingian am
rechten Frat-Ufer aufbaut, ward wiederholt in ſeinen innerſten
Grundfeſten erſchüttert, Kämme brachen wie Glas entzwei und
Schlünde thaten ſich auf, an denen nun die Wege nach den
armeniſchen Sanctuarien ziehen. Keine Vegetation mildert hier
oben das furchtbar verzerrte und ſtarre Bild übereinander ge-
thürmter Steinmaſſen. Nur einzelne Zwergfichten hängen an
abgeſtürzten Blöcken und über todbringenden Abgründen kreiſen
die Adler2. So geht es einen vollen Tagmarſch in die Dante’ſche
Wildniß hinein, die ſelbſt die räuberiſchen Duſchik-Kurden meiden.
Hier wäre aber auch in der That nichts zu holen. Drei einſame
Klöſter, vertheidigungsfähigen Burgen gleich, liegen in den ver-
borgenen Schlupfwinkeln, in die weder der Arm der Barbarei,
noch der Strahl der Civiliſation dringt. Die Mönche, welche
in den Klöſtern hauſen und die Erinnerung an Gregorios in
ſtumpfem Asketismus bewahren, ſind roh und unwiſſend, des
Leſens und Schreibens unkundig. Sie vernehmen ihr ganzes
Leben nichts, als das Rauſchen der Bergwäſſer, Adlerrufe und
zu Zeiten das unterirdiſche Donnergepolter, das über die „Höhen
Dertads“ bis zum Eufratgeſtade hin dumpf ausgrollt. Einſt
ſtanden hier die Altäre der armeniſchen Artemis (Anahid)3
und das Götzenbild des chaldäiſchen Barſchamin4 (Bar Schemſche
[61]Zur älteren Literatur der Armenier.
— Sohn der Sonne, noch zuletzt bei den Sabiern in Haran
hoch in Ehren gehalten)1, die Gregor zertrümmerte und zu
Cultusſtätten des alleinigen Gottes einweihte2. In den Berg-
grotten finden ſich auch natürliche Galerien, die Grüfte arme-
niſcher Könige3, deren erlauchte Cadaver die Stürme der Zeit
(wie jene der helleno-pontiſchen Dynaſtie zu Amaſia)4 in alle
Winde gefegt hatten. —
Mit Abſchluß unſeres Ueberblickes auf Hoch-Armenien er-
ſcheint es wohl auch geboten, der älteren literariſchen Bewegung
unter den erſten chriſtlichen Armeniern zu gedenken, in welcher
ſich deren geſammtes geiſtiges Leben und ihre bedeutſamſten Cul-
tur-Anläufe wiederſpiegeln. Die Berührung dieſes culturgeſchicht-
lichen Momentes drängt ſich um ſo gebieteriſcher auf, als das
Wiederbekanntwerden deſſelben nur wenige Jahrzehnte alt iſt,
trotz des bereits mehr als anderthalb Jahrhunderte alten Auf-
tauchen Mechitars, des Neubegründers armeniſcher Literar- und
[62]Hoch-Armenien.
Geſchichtsforſchung. Im Allgemeinen blühte das armeniſche
Geiſtesleben nur kurze Zeit, wenige Jahrhunderte, was wohl
zunächſt auf die kurze politiſche Selbſtſtändigkeit des Landes
zurückzuführen ſein dürfte; die andersgläubigen Nachbarreiche,
welche meiſt zu unumſchränkter Macht gelangt waren, hatten eben
keinerlei Intereſſe an einer Culturarbeit, die vorherrſchend aus
dem religiöſen Leben der Armenier emanirte, wodurch beſonders
die blinde Verfolgungswuth der Saſſaniden in verderblichem
Grade herausgefordert wurde. Mit dem Bekehrerwerk Gregors
nahm auch die geiſtige Thätigkeit im Lande ihren Anfang. König
Tiridates (286—342), deſſen römiſche Antecedentien einen ge-
wiſſen Grad von Bildungsdrang vorausſetzen laſſen mußten, war
auch thatſächlich der Ausgangspunkt geiſtigen Lebens, indem er
zunächſt dem an ſeinen Hof berufenen Griechen Agathangelus
den Auftrag gab, jene Annalen der armeniſchen Geſchichte zu
ſchreiben, welche den Zeitraum vom erſten Einfalle Ardeſchir
Babakhans, des Saſſaniden, bis zum Uebertritte des armeniſchen
Volkes, alſo bis zum Höhepunkte der Herrſchaft Tiridates um-
faßte1. Dieſes Werk blieb geraume Zeit die Quelle aller fol-
genden Anläufe zu neuen derartigen hiſtoriſchen Arbeiten. Da
erſt etwa hundert Jahre ſpäter Mesrop das armeniſche Alphabet
conſtruirte2 ſo ward Agathangelus’ Werk offenbar zuerſt in
griechiſcher Sprache, und erſt ſpäter in armeniſcher Sprache abge-
faßt, mit Benutzung der damals in Armenien üblichen perſiſchen
Schriftzeichen. Mit der Begründung einer eigenen Schrift war
der nationalen Literatur aber erſt ſo recht Bahn gebrochen.
Schon ein Schüler Mesrops, Gorioun, verfaßte eine armeniſche
Geſchichte, während jener dem bisherigen Uebelſtande, daß ſämmt-
liche Gebete und Kirchenſchriften nicht nur in einer, dem Volke
unleſerlichen Schrift, ſondern häufig ſogar in fremden Sprachen
(meiſt dem Syriſchen) abgefaßt waren, durch Verfaſſung von
Original-Arbeiten vorbeugte. Es war ein hohes Glück, für
die literariſchen Denkmäler Armeniens, ja für ſein ganzes origi-
nelles Geiſtesleben, daß Mesrop in dieſer Richtung bahnbrechend
auftrat, denn im andern Falle wäre jeder Beleg für die geiſtige
[63]Zur älteren Literatur der Armenier.
Individualität, ja ſelbſt für die ethniſche, wie bei ſo manchem
Volke Aſiens ſpurlos verwiſcht und die armeniſche Sprache, zu-
mal das Claſſiſch-haikaniſche der Forſchung auf immerdar ent-
zogen worden. Dieſe Thatſache allein würde aber nicht genügt
haben, wenn dieſe jungen Triebe nicht in einer anderen, bedeu-
tenden Perſönlichkeit Wurzeln gefaßt hätten, in jener des weit-
aus begabteſten und gebildetſten aller alt-armeniſchen Literaten
Moſes, nach ſeinem Geburtsorte „Chorene“ im Gaue Daron am
Muradfluſſe ſo genannt. Moſes fand bei Beginn ſeiner Thätig-
keit, die ein volles Jahrhundert umfaßte (er lebte 120 Jahre,
370—490 n. Ch.), nur alte Volks- und Heldengeſänge1 vor, die
er zum Theile ſelbſt noch augenſcheinlich von herumziehenden
Rhapſoden, zum Klange primitiver Inſtrumente executiren hörte
und die ihrem Inhalte nach, wohl noch Anklänge an die irani-
ſchen Heldenſagen, wie ſie ſpäter Firduſi niederſchrieb und poetiſch
erweiterte, geweſen ſein mochten und ſomit ſich in heidniſch-
heroiſchen Vorſtellungen der Vorzeit bewegten. Wir haben ſchon
oben darauf hingewieſen, daß dieſe geiſtige Verwandtſchaft des
armeniſchen Volkes mit den Iraniern nicht vollends bedeutungslos
in Bezug auf die tiefere ethniſche Verwandtſchaft zu ſein vermag,
da am Ende die gleichen uralten Sagenbilder, bei der räumlich
geringen Entfernung der beiden Völker, in einer gemeinſamen
ethnologiſchen Vergangenheit und Abſtammung wurzeln müſſen.
[64]Hoch-Armenien.
Alle dieſe Geſänge und ſelbſt die ſpäteren Lieder noch1, waren
der metriſchen Form nach immer noch ſehr unvollkommen, und
es bedurfte erſt der Vermittlung der Araber, um hierin zu
größerer Entwickelung und Vollendung zu gelangen. Um die
Mitte des 11. Jahrhunderts zeichnete ſich beſonders der Parther-
Prinz Gregor Magiſtros durch eine in Verſen abgefaßte Ueber-
ſetzung des neuen Teſtaments aus, welches Werk er in nur drei
Tagen (mit 1000 Zeilen Umfang) verfaßt haben ſoll2. Es war
das Signal zu einer Art dichteriſchen Wettkampfes, obgleich
Gregors Stärke nicht die Poeſie, ſondern die Wiſſenſchaft, zumal
die Mathematik war, in der er ſich durch Ueberſetzung griechiſcher
Fachwerke den Culturträgern ſeines Volkes hochgradig nützlich
erwies. Die ſchöne Literatur blieb gleichwohl der beliebteſte
Tummelplatz, auf dem ein Salum, Aharan und der bedeutendere
Narſes, genannt der Clajenſer (aus Rum-Kaleh in Nord-Syrien),
nach einander auftraten. Letzterer hat den Untergang, beziehungs-
weiſe den Verluſt Edeſſas (1144) in einem prächtigen Poëm be-
trauert, das die Kloſterbrüder von Etſchmiadſin noch heute ſorg-
fältig hüten3.
Productiv waren indeß die erſten armeniſchen Schriftſteller
gleichwohl nur in ſehr beſcheidenem Grade. Es fehlte dem Volke,
wie ja leicht erklärlich, an der nothwendigen intellectuellen Durch-
bildung und von der Barbarei bis zum vollpulſenden Cultur-
leben iſt’s eben mehr, als blos ein Schritt. So begnügte man
ſich anfänglich mit der Uebertragung der verſchiedenartigſten
Werke aus den Literaturen der meiſten Völker und erſcheinen in
dieſer Richtung namentlich die Leiſtungen Moſes von Chorene
von hervorragender Bedeutung. Seine umfaſſenden Reiſen, ſein
Aufenthalt in Conſtantinopel, Athen und Rom, ſeine Sprach-,
Länder- und Völkerkenntniſſe berechtigten ihn vollends in Arme-
nien eine Ueberſetzungs-Literatur zu ſchaffen, deren Verbreitung
und deren Eingreifen in das religiös-politiſche und ſociale Leben
gerade in einer Zeit platzgriff, wo ſich Europa in tiefſter Bar-
barei befand, und der Glanz der römiſchen Weltherrſchaft durch
[65]Zur älteren Literatur der Armenier.
die Völkerwanderung eben vom Erdboden hinweggefegt wurde.
Nebſt verſchiedenen Original-Gedichten, dann der Ueberſetzung der
Chronik des Euſebius, iſt Moſes’ bedeutendſtes Werk wohl ſeine auf
Geheiß des Bagratiden Iſaak verfaßte „Geſchichte Armeniens“.
Von den Uranfängen der armeniſchen Traditionen, der Wanderung
Haiks1 und ſeiner Enkel, geht der Annaliſt auf die hiſtoriſchen
Epochen, zumal auf die, mit Armenien ſo eng verflochtene Arſa-
ciden-Herrſchaft über, wobei er bereits die Aufzeichnungen Aga-
thangelus’, die Zeitgeſchichte Tiridates’ und Gregors erweiterte,
und die reichen hiſtoriſchen Schätze der Bibliothek zu Edeſſa aus-
beutet2. Ohne dies Compendium, das im Laufe der Zeit
freilich in Copien mancherlei Verſtümmelungen und Lücken erfahren
mußte, wäre es unſerer Forſchung, zumal aber den armeniſchen
Conſervatoren ihrer Literatur ſelbſt vollends unmöglich geweſen,
auch nur den kleinſten Einblick in die geiſtige Vergangenheit des
Volkes zu gewinnen. Eine armeniſche Specialgeſchichte von voll-
kommen nationalem Gepräge gibt und gab es nun freilich nie-
mals, die fraglichen Werke mögen aber immerhin koſtbar genug
erſcheinen, um gewiſſe Lücken im Zuſammenhange der Ereigniſſe
im nordöſtlichen Vorder-Aſien leidlich auszufüllen.
Von geringerer Bedeutung iſt Moſes’ armeniſche Geographie,
die übrigens ihn nicht in ihrem vollen Umfange zum Verfaſſer
hat. Hatte nämlich ſchon deſſen armeniſche Geſchichte mancherlei
Verſtümmelungen erfahren, ſo gilt dies in Bezug auf das zweite
fragliche Werk inſoferne in noch höherem Maße, als es in dem-
ſelben Abſchnitte gibt, die wohl nur Ueberſetzungen der allge-
meinen Geographie des Papus von Alexandria ſein dürften und
nur durch weitläufige Zuſätze, die engere armeniſche Heimat
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 5
[66]Hoch-Armenien.
betreffend, von Moſes ergänzt wurden. Hin und wieder ward gar
Moſes’ Verfaſſerſchaft geleugnet1, und Thatſache iſt es auch, daß
ſich in dem fraglichen Werke Andeutungen und Ausſprüche fanden,
die gegenüber dem angeblichen Verfaſſer in einem ausgeſprochenen
anachroniſtiſchen Verhältniſſe ſtehen2.
Repräſentiren Salum, Aharon und zum Theile auch Gregor
Magiſtros die ſchöne, Moſes, Agathangelus die hiſtoriſch-wiſſen-
ſchaftliche Literatur, ſo iſt David der bedeutſamſte Vertreter auf
dem Gebiete der Philoſophie. Auch dieſer Claſſiker der arme-
niſchen Ueberſetzerperiode hat ſeine Vorbildung meiſt außerhalb
ſeiner Heimat, zumal in Alexandria und Conſtantinopel erhalten
und anfänglich nur durch Uebertragungen auf die geiſtige Ent-
wickelung ſeines Volkes eingewirkt. Die berühmteſte dieſer Ueber-
tragungen iſt jene der Ariſtoteliſchen Schriften. Dies claſſiſche
Bildungsferment ſcheint nun freilich im Mutterlande Davids
nicht jenen intenſiven Erfolg gehabt zu haben, der ſeinen Aus-
druck in einer vollkommenen Durchgeiſtigung der geſammten nach-
maligen literariſchen und wiſſenſchaftlichen Thätigkeit gefunden
haben würde. Der Ariſtoteliſche Geiſt hatte keineswegs das
armeniſche Volk, ja nicht einmal den gebildeteren Theil deſſelben
durchtränkt. Verkörpert in einer einzigen Perſon, eben in jener
des Ueberſetzers, erſcheint das armeniſche Werk des griechiſchen
Philoſophen als geiſtiger Denkſtein im Geiſtesleben der Armenier,
weiter nichts. Viel größeres Aufſehen machten und mehr dem
Ideenkreiſe der damaligen Zeit ſich anſchmiegend waren Davids
Original-Arbeiten, zumal deſſen Schrift über das „Kreuz der
Neſtorianer“3, in der er mehr theologiſche Fragen behandelte
und durch ſeine ſtrenge Orthodoxie dem allgemeinen Verſtändniſſe,
in Folge des damals noch unmittelbarer wirkenden Abfalles des
Patriarchen Neſtorius4, näher ſtand, als durch ſeine Meiſterüber-
[67]Zur älteren Literatur der Armenier.
tragung des Ariſtoteles. Aller Einfluß aber, der ſich im Bildungs-
gange des armeniſchen Volkes fühlbar machte, ging indeß nicht
nur von den Griechen, ſondern auch von andern Nachbar-Völkern
aus, denn wie es an dem armeniſchen Volke charakteriſtiſch war,
ſich fremde ethniſche Elemente zu aſſimiliren, ſo war auch in
geiſtiger Beziehung dieſe Fähigkeit, oder wenn man es haben
will, Fehler, ziemlich groß. Der Einfluß ſyriſcher Literatur
erſcheint vollends feſtgeſtellt. Die Biſchöfe im Gebiete zwiſchen
Eufrat und Tigris, das an Hoch-Meſopotamien grenzte, waren
eben Syrer, die Kirchenſprache in Folge deſſen das Syriſche und
die Rückwirkung dieſes Zuſtandes auf Groß-Armenien ſo bedeu-
tend, daß eine Zeit hindurch ſyriſche Episkopen ſogar nach dem
armeniſchen Patriarchate ſtrebten. Noch viel bedeutender war
die Ingerenz des neu-perſiſchen Zoroaſter-Cultes. Schahpur II.,
ſchon oben mehrmals genannt, war bemüht mit Feuer und
Schwert die alte Lehre in Armenien zu verbreiten und das pro-
bate Mittel, Apoſtaten durch Verſprechungen zu gewinnen, brachte
viele der armeniſchen Fürſtengeſchlechter zum Abfalle1. War es
nun auch völlig undenkbar, daß eine derartige Gewaltherrſchaft
die Geiſtesrichtung und die hiemit verbundene Production in ein
anderes Fahrwaſſer drängte, ſo war ſie dennoch im negativen
Sinne ſchon deshalb entſcheidend, als es ſich nicht blos um die
Knebelung der Geiſter und um die Ausrottung eines verhaßten
Religionsbekenntniſſes allein handelte. Auch die ſchriftlichen
Denkmäler, die Bibliotheken und jedes Buch, deſſen man habhaft
werden konnte, wurden der Vernichtung geweiht2. Daß ähn-
liche Stürme auch ſpäter über die ſorgſam gehüteten geiſtigen
Schätze hereinbrachen, hängt mit den hiſtoriſchen Drangſalen des
4
5*
[68]Hoch-Armenien.
Landes und ſeines Volkes eng zuſammen. Aber ſelbſt das
Gerettete würde uns kaum je bekannt geworden ſein, hätte es
nicht der gelehrte und patriotiſche Mechitar und nach ihm die
von demſelben geſtiftete und nach ihm benannte Congregation
wieder an das Tageslicht gebracht.
Das ſegensreiche Wirken dieſes katholiſch-armeniſchen Ordens
iſt allenthalben bekannt. Im Heimatlande durch das orthodoxe
Armenierthum in ſeiner Exiſtenz bedroht, oder doch gehemmt,
ſich frei dem Studium der alt-armeniſchen Literatur hinzugeben,
geſtört, überſiedelte die Congregation, nachdem ſie 1712 durch
Papſt Clemens XI., ihre, dem Benedictiner-Orden abgelauſchten
Statuten beſtätigt erhielten, nach Morea und als dieſes den
Türken zufiel nach Venedig, wo ihr die Republik die maleriſch
und einſam gelegene Inſel S. Lazaro als buen retiro anwies.
Mechitar ſelbſt hatte nur ein Lexikon des Haikaniſchen und der
armeniſchen Vulgärſprache verfaßt, bald hierauf aber begann die
reiche Ausbeute, Drucklegung und Verbreitung der claſſiſchen
Schriften und die Publication zahlreicher anderer ſpecifiſch orien-
taliſcher Sprachſtudien, hiſtoriſcher und wiſſenſchaftlicher Werke,
die alle wieder durch deutſche1 und franzöſiſche, ſowie durch
andere europäiſche Philologen dem Fachpublicum des Abend-
landes vermittelt wurden. Vollends zu einem großen hiſtoriſch-
geographiſchen Sammelwerke, jedoch nur in den heimiſchen Quellen
wurzelnd, hat neueſtens der Mechitariſt Paul Lucas Indſchidſchean
das reichhaltige literariſche Material copilirt (neben einer Erd-
beſchreibung in 12 Bänden, von der übrigens im Manuſcripte
Einiges verloren ging) und ſo das Studium des Quellenſchatzes
weſentlich erleichtert …2
[[69]]
III.
Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Trapezunt (Tarabozan), die Türkenſtadt. — Hiſtoriſche Reminiscenzen. —
Das Gartenland „Dſchanik“. — Zur kaukaſiſchen Emigration. —
Griechiſche Küſtengaue. — Laziſtan und das Volk der Lazen. —
Als die Xenophontiſchen Krieger auf ihrem Marſche aus
dem Innern Armeniens von der Höhe des Küſtengebirges zum
erſtenmale die Spiegelfläche des Pontus erblickten, da brachen
ſie in den begeiſterten Jubelruf: „Thalatta, Thalatta!“ aus1. Der
Anblick des pontiſchen Küſtenſtriches mit dem modernen Trebiſonde
iſt wol auch heute noch entzückend, ein wahres Paradieſeslabſal
für das, von den ſterilen Hochlandſchaften Armeniens ermüdete
Auge. Die eigenthümliche Configuration der aufſteigenden Küſten-
ſtufen mit den uralten Stadttheilen zu oberſt, knapp am Gebirge, ge-
bannt in einen Kranz verwitterter Mauern mit verfallenen
Thürmen und zwiſchen maleriſch verwilderten Felsſchluchten
gelegen; die weitläufige Hafenſtufe mit der, im Gartengrün be-
grabenen heutigen Uferſtadt, der ſchimmernde Küſtenſtreif und
dahinter das hellblaue Meer, — das Alles ſind Detailbilder,
die den Geſammtanblick zu einem wunderbar harmoniſchen geſtalten
und ſo manche bewährte Feder von Orientpilgern zu mehr oder
minder gelungenen Schilderungen verleitet haben2. In der
[70]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Nähe ändert ſich freilich ſo Manches zu Ungunſten des hiſtoriſch
ſo bedeutſamen und geographiſch nicht minder wichtigen Punktes
am armeniſch-pontiſchen Geſtade. Mit dem Einzuge durch die
alten Thore, über hochſpannende Brücken, bis zu deren Rand
die aus den Felsgräben heraufwuchernde Vegetation reicht, werden
enge, winkelige Gaſſen, durch fenſterloſe Lehmmauern markirt,
betreten und nur hin und wieder öffnen ſich durch die Haus-
pforten ſeitliche Einblicke in die gartenähnlichen Höfe, mit ihren
Lauſchplätzchen, Brunnenbaſſins und dem Wein- und Epheugeranke
an den Wänden … Trapezunts Lage auf einem natürlichen,
in Terraſſen anſteigenden Felsſchemel an der Pontusküſte war
immerdar eine berühmte. Daß der Ort trotzdem eine nur wenig
bewegte und keineswegs ſtürmiſche Vergangenheit hat, mag wohl
aus der vom großen Weltgetriebe abſeits gedrängten localen
Entwickelung in ſtaatlicher und hin und wieder in cultureller
Beziehung entſpringen. Im Rahmen unſerer Abhandlung erſcheint
uns Trapezunt indeß nur von jenem Zeitpunkte ab beachtenswerth,
wo das Schickſal dieſer Stadt durch die Invaſion der Osmanen
auf viele Jahrhunderte hinaus entſchieden wurde, ein Schickſal,
das mit dem gänzlichen Verfalle der einſt ſo blühenden und
glänzenden Comnenen-Reſidenz gleichbedeutend iſt1.
Die Gründung des Trapezuntiſchen Kaiſerthums durch den
Comnenen Alexis I. iſt zur Genüge bekannt2. In Folge der
in Byzanz ausgebrochenen Palaſtrevolutionen und des hiebei
ſtattgehabten Einſchreitens der Kreuzfahrerheere, als vierjähriger
Thronerbe flüchtig, verblieb Alexis bis zu ſeiner Volljährigkeit
unter dem Schutze der letzten Comnenen-Sprößlinge in Colchis,
worauf die Gründung des neuen Kaiſerthums, (in der beiläufigen
räumlichen Ausdehnung der bisherigen türkiſchen Statthalterſchaft)
erfolgte, vom colchiſchen Geſtade bis Sinope einerſeits und bis zu dem
pontiſch-armeniſchen Küſtengebirge anderſeits, alſo eine Gebiets-
Ausdehnung, die mit dem Begriffe eines Kaiſerthums wohl kaum
in Einklang zu bringen war, zumal in der offenſiven Machtfrage.
Auch ſonſt waren mit dem byzantiniſchen Sprößling alle Ge-
brechen des eigentlichen Mutterſtaates auf das neugegründete
[71]Trapezunt. Hiſtoriſche Reminiscenzen.
Reich übergegangen und wie zu Conſtantinopel, ſo war auch zu
Trapezunt nach dem Erſtarken des Osmanenthums an eine
längere Behauptung der Herrſchaft nicht zu denken. Dieſelbe
hohle Aeußerlichkeit, auf falſchem Glanze fußend, dieſelbe innere
Corruption, Weichlichkeit und Sittenloſigkeit, die das ohnedies
zerbröckelte byzantiniſche Reich zerfraß1, fanden ihre ſchädlichen
Ableger auch am Hofe der Comnenen und ſo mochte das Trape-
zuntiſche Kaiſerthum ſein Verderben wol unabwendbar ſchon
vom Anbeginne her in ſich getragen haben. Thatſächlich ver-
dankte es auch nur ſeinen verſchiedenartigen, guten Beziehungen
mit den entfernteren Reichen, die einen unleugbaren Machteinfluß
ausübten, wie mit den benachbarten Grenzvölkern, darunter den
Armeniern und Perſern, ſeine Exiſtenz, ſowie der komneniſche
Kaiſerhof nicht verabſäumte, ſeine als Schönheiten erſten Ranges
geltenden Prinzeſſinnen2 an Fürſten des verſchiedenartigſten
Calibers zu verehelichen. Selbſt ein Turkmenen-Fürſt — Uzun
Haſſan, der „lange Haſſan“ — führte eine ſolche Trapezuntiſche
Schönheit heim und bei dem wenig kriegeriſchen Charakter der
Bewohner drehte ſich auch der höfiſche Zeitvertreib, namentlich
der der fremdländiſchen Gäſte, hauptſächlich um romantiſches
Minnewerben und Liebeslegenden aller Art3. Das konnten nun
keineswegs die inneren Bedingungen zu einer erſprießlichen Fort-
exiſtenz ſein. Zwar der Trapezuntiſche Handel beherrſchte den
geſammten materiellen Austauſch zwiſchen den nördlichen Ufer-
ſtaaten und Armenien, Perſien, ja ſelbſt nach entlegeneren Ländern4
und dieſelbe Handelsſtraße, welche noch heute die armeniſchen
Plateaus und das nördliche Iran durchzieht, war bereits damals
die ungleich frequentirteſte in der ganzen nördlichen Länderzone
von Weſt-Aſien. Aber das belebende Element dieſer Handelsbewe-
gung waren keine Griechen, keine Trapezuntier, ſondern Venetianer
und Genueſen, namentlich aber letztere, die zu den armeniſchen
Königen ſogar in ein ſchutzherrliches Verhältniß traten, um auf
[72]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
ihrem Handelswege durch das fremde Land nicht bar aller Ga-
rantien operiren zu müſſen1. Sie waren es auch, die Luxus
und Reichthum ins Land brachten und im Verein mit dem
üppigen Hofe den Kaiſerſitz mit ſeiner romantiſchen Umgebung
in ein wahrhaftiges Paradies verwandelten. Dort, wo ſich heute
öde Plätze mit Ruinen dehnen, zu Häupten der eigentlichen
Caſtellſtadt, ſtand der eigentliche Kaiſerhof. Von ſeinen Marmor-
terraſſen und Balconen aus war die Herrlichkeit der Comnenen
nach allen Richtungen hin zu überblicken. Durch die Marmorſäle
ſtrich die aromatiſche Luft der zahlloſen Blüthengärten und an
dem ſpiegelglatten Wandgetäfel der Gallerien ſpielte das Sonnen-
licht über blendende Farbenpracht. Und zunächſt zu Füßen,
welch impoſanter Bau waren dieſe maſſiven, gewaltigen Mauern,
dieſe Thürme und verborgenen Treppenfluchten von Doppelthoren
verdeckt, und die felſigen Abgründe im Oſten und Weſten der
oberen Caſtellſtadt! Sie ſchienen für die Ewigkeit gebaut, aber
es war eine feige Bewohnerſchaft, die ſie eventuell zu vertheidigen
hatte und als das osmaniſche Unwetter über das Eldorado
neu-griechiſchen Glanzes dahin fuhr, war’s mit dem erſten Wetter-
ſtrahle vorüber. Wie die Stätte in Uhlands Ballade muthet
heute der verödete Ort einſtiger Pracht an. Zwar die Blüthen-
gärten ſtehen noch und tauſendfältige Frucht entſproßt dieſem
Boden, den ſelbſt die Hufe der Türkenroſſe nicht zu vernichten
vermochten, aber was aus dem urwaldähnlichen Geranke hervorlugt
iſt altersgraues löcheriges Gemäuer und was ſich hoch in den
Lüften im Sonnengolde badet und über die dunkelgrünen Kronen
in die Felsabgründe blickt, ſind morſche krenellirte Mauern in
denkbarſter Verwahrloſung2. In der Tiefe liegen noch ruinen-
ähnliche Bauten, wie fern im Weſten die einſtige Hagia Sofia
(jetzt zum Theil in eine Moſchee umgewandelt), und die hohe
Uferſtufe iſt nach wie vor mit den luftigen Riegel- und Balken-
häuſern beſäumet, in denen einſt Perſer, Indier, Armenier und
[73]Trapezunt.
Turkmenen ihre Producte und Reichthümer aufſpeicherten, um
ſie durch die genueſiſchen Handelshäuſer nach Weſten und Norden
hin befördern zu laſſen. An dieſem lieblichen Ufer dehnen ſich
auch noch die Weingärten und Obſthaine, von denen die älteren
Chroniſten ſchwärmten1, Myrthen und Lorbeer ſind geblieben
und im Frühjahre duften die Citronenblüthen und klagen die
Nachtigallen im Roſengebüſch.
Wie zu Conſtantinopel, ſo hatte auch in Trapezunt der
Eroberer Mohammed II. ein furchtbares Blutgericht gehalten.
Der letzte Comnene David und ſeine ganze Familie wurden
nach dem Bosporus geſchleppt und dort in den Kerkern hinge-
richtet. Dann ward mit der ſyſtematiſchen Ausrottung des grie-
chiſchen Elementes begonnen, zuerſt in den oberen Sphären,
dann bis in die unterſten Schichten hinab, unerbittlich und bar-
bariſch, wie dies ſchon in der Art der Enkel Murad II. und
Bajazid I. lag2. Selbſt die einfachen, wenn reichen, Landbeſitzer
wurden von Haus und Hof gejagt und irgend ein lohnbedürf-
tiger Osmane, zumal wenn er einen militäriſchen Grad einnahm,
in deſſen Beſitz eingeſetzt3. Dabei ſcheint derſelbe Barbar,
Mohammed II., der gelegentlich der wildbeſtialiſchen Orgien, die
die rohe osmaniſche Soldateska in der Hagia Sofia zu Conſtan-
tinopel beging, noch immer Kunſtſinn genug an den Tag legte,
daß er den Zerſtörer des Bodenmoſaiks mit ſeiner Axt nieder-
hieb, auch in Trapezunt durch den natürlichen Zauber des Land-
ſchaftsbildes gefangen genommen worden zu ſein. Wenigſtens
heißt es, daß er den ganzen Winter, der auf die Eroberung und
Einverleibung von Stadt und Land ins osmaniſche Geſammtreich
folgte, in der pontiſchen Küſtenſtadt verblieb und ſie ſpäterhin
dem erſtgeborenen Prinzen als Regierungsſitz anwies, eine Ein-
richtung, die auch ſpäter geraume Zeit in Uebung verblieb.
Wichtiger iſt, daß die nachmaligen Sultane von Trapezunt aus
ihre Eroberungen über die kaukaſiſchen Länder ausdehnten und
[74]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
den perſiſch-armeniſchen Handelsverkehr unterbanden. Mit dem
Beſitze von Conſtantinopel im Weſten und Trapezunt im Oſten
ward Mohammed II. ſo recht zum erſten großen Beherrſcher
jenes Reichscomplexes, der bis in die neueſte Zeit hinein identiſch
mit der Machtgrenze des Osmanenthums in Europa und Aſien
blieb. Erſt mit dem Vorrücken der Ruſſen über den Kaukaſus
zu Beginn unſeres Jahrhunderts begann das ſtückweiſe Abbröckeln
jenes Territorial-Beſitzes, durch den die Sultane zu unum-
ſchränkten Herrſchern an der Schwelle zwiſchen Iran, Kaukaſus
und Vorder-Aſien wurden.
Daß Trapezunt im Laufe der Jahrhunderte immer mehr
zu Grunde ging, kann bei der bekannten Art gouvernementalen
Verfahrens in allen Regierungs- und Verwaltungsfragen kaum
befremden. Selbſt die ſeit 1836 auf dem Schwarzen Meere ins
Leben gerufene Dampfſchifffahrt hat dem allgemeinen Niedergange
nicht zu ſteuern vermocht, denn die verſchiedenartigſten Vexationen
und die denkbar unvernünftigſte Zolladminiſtration hemmen jeden
geſunden Handelsverkehr1. Zudem hat die Pforte in den be-
nachbarten Gebieten — in Laziſtan und im Dſchanik — ſo un-
glaublich dies klingen mag, thatſächlich erſt in den letzten Jahr-
zehnten, ſeit Mahmud II. energiſchem Regimente, autoritativ
Fuß gefaßt. Inwieweit dies von der weſtpontiſchen Küſtenprovinz,
dem Gartenlande „Oſchanik“ (dem Lande der Tzanen)2, gilt, mag
um ſo mittheilenswerther ſein, als die dortigen Verhältniſſe
damals innig mit dem Schickſale der beklagenswerthen armeniſchen
Provinz verknüpft waren. Vor noch kaum vierzig Jahren lag
das Dſchanik noch vollkommen außer der Machtſphäre der Pforte.
Die Unwegſamkeit des Gebietes, der geringe Verkehr und die
urwaldähnliche Vegetation, welche ſich über die meiſt ſteilen
Küſtenberge (mit romantiſchen, verſteckten Schluchten) breitete,
ſowie die geringe Productivität des Bodens (trotz des natürlichen
Reichthums an Baumfrüchten) machten die benachbarten Gouver-
neure keineswegs lüſtern. Gleichwohl tauchte um dieſe Zeit in
der pontiſchen Küſtenprovinz ein einheimiſcher Feudalherr (Dere-
[75]Das Gartenland „Dſchanik“.
Bey, d. i.: Thalfürſt) auf, der als Repräſentant der Regierung
zwar Steuer einheben konnte und mußte, um den regelmäßigen
Provinz-Tribut an die Hohe Pforte abführen zu können, im
übrigen aber mit wahrhaft patriarchaliſcher Urwüchſigkeit ſein
Territorium verwaltete. Es war der mehr und mehr wachſende
Machteinfluß dieſes Feudalherrn und Gouverneurs, Tahir Paſcha,
der den viel mächtigeren, aber ungleich grauſameren Gouverneur
Armeniens, Juſſuff Paſcha, reizte, und einen unbegrenzten Neid
in ihm erwachen ließ. Da die Pforte Willens war, Tahirs
Regiment bis zu den laziſchen Bergen auszudehnen, um die ge-
fährliche Nachbarſchaft dieſes öſtlichen Grenzvolkes, auf das wir
weiter unten noch zurückkommen werden, unſchädlich zu machen,
beeilte ſich der Erzerumer Gouverneur ſeinen Bruder Osman,
gleich Juſſuff ein Vampyr der verächtlichſten Sorte, in Trapezunt
einzuſetzen und ſo, ganz den Intentionen der Regierung zuwider,
die Autorität Tahirs zu beſchränken. Was konnten für den
ſelbſtſüchtigen Gouverneur Armeniens die Verfügungen der Pforte
bedeuten, ihm, der wie ein Halb-Souverän in den verarmten
und ausgepreßten Gauen zwiſchen Pontus und Kurdiſtan hauſte?
Juſſuff wußte die Sache aber noch viel klüger anzufaſſen und
ehe er zu directen Eigenmächtigkeiten und Gewaltacten ſchritt,
denuncirte er ſeinen Nachbar Tahir in Conſtantinopel als einen
offenen Rebellen und daraufhin erhielt jener die entſprechenden Voll-
machten einzuſchreiten. Zwar war der Strauß kein leichter und
die flinken unnahbaren Bergjäger des Dſchanik trotzten ſelbſt
den 20,000 Mann, die gleich einer plündernden und mordenden
Horde von den armeniſchen Tafelländern ins Geſtadeland einge-
brochen waren, am Ende aber blieb dennoch der größte Theil
der Provinz den Juſſuff’ſchen Mordgeſellen zugänglich und die
unerhörteſten Grauſamkeiten wurden auf Rechnung der officiellen
Regierung in einer ihrer ruhigſten Provinzen begangen1.
Juſſuff, der Armenien zu Grunde gerichtet hatte durch
offenen Raub, nichtswürdige Erpreſſung und andere unerhörte
despotiſche Acte, ward ſomit auch zum Vernichter der Erwerbs-
quellen eines ganzen Volkes, das ſich nur des einen Verbrechens
ſchuldig gemacht hatte, ſeinem Gouverneur und Feudalherrn treu
[76]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
geblieben zu ſein. Daß bald hierauf Osman Paſcha, der die
vernichtete Provinz übernahm, ein Winkel-Despot noch ſchlimmerer
Sorte wurde, als ſein ehrenwerther Mentor, kann nimmer be-
fremden. Da aber all dieſes Gelichter auch die Pforte betrog
und nur verſchwindende Bruchtheile jener Summen als Tribut
einſandte, die ſie dem rechtloſen Volke abgenommen hatten, ſo
muß man in der That ſtaunen, daß all dieſe geſegneten Länder-
ſtriche nicht vollends in Verwilderung und Barbarei ſanken.
Man glaube indeß ja nicht, daß die Chriſten allein in dieſer
Hölle auf Erden ſchmachteten; es traf auch die Moslims und
erſtere waren nur inſofern noch ſchlimmer daran, als ſie neben
dem Drucke von oben auch noch der Verachtung ihrer anders-
gläubigen Mitbürger, wenn dieſer Ausdruck erlaubt iſt, ausgeſetzt
waren1. Es iſt im Uebrigen ein Irrthum, wenn hin und wieder
Stimmen laut werden, welche die Aufhebung der früheren Feudal-
herrſchaft, als die dem Lande entſprechendſte, beklagen. Als
Sultan Mahmud II. dies that, da war es nur ſeine Abſicht,
die ungebundene Machtſtellung der autochthonen Provinz-Gou-
verneure zu brechen und ſich eine gefügigere Büreaukratie zu
[77]Die kaukaſiſche Emigration.
ſchaffen. Er befreite aber auch die Provinz-Bevölkerung, ohne
es direct beabſichtigt zu haben, von dem Jammer ewiger Fehden
zwiſchen den einzelnen Gouverneuren ſelbſt, unter welchen die
Länder und Völker ebenſo wenig gedeihen konnten, als wie unter
der ſpäteren bis auf unſere Tage ſich erhaltenen Paſcha-Wirtſchaft,
die unter officiellem Deckmantel ihre Schandthaten großzieht.
Mit Trapezunt iſt noch ein anderes beſonderes Capitel der
orientaliſchen Völkerſchickſale verknüpft: die kaukaſiſche Emi-
gration … Die Völker des Oſtens erfreuen ſich bei uns un-
leugbarer Popularität. An den Boden, den ſie einnehmen,
knüpfen wir in der Regel Vorſtellungen von urwüchſiger Romantik,
die angeblich in unſeren von der Natur beleckten Heimatländern
nicht ihres Gleichen findet; die einſamen Niederlaſſungen laſſen
an patriarchaliſcher Idyllität nichts zu wünſchen übrig, und die
Söhne dieſer Länder und Städte ſind die typiſcheſten Repräſen-
tanten zahlreicher, von anheimelnder Naivetät beherrſchten Familien-
Gemeinſchaften. Von der zweifelhaft edlen Beduinen-Romantik,
die durch erfindungsreiche optimiſtiſche Reiſebriefſteller im abend-
ländiſchen Publicum durch Jahrzehnte eine nie verdiente Beachtung
und Sympathie zu erlangen wußte, ſei hier gar nicht die Rede.
Selbſt der gelehrte Layard hat hierin mancherlei verbrochen
und ſo wahr und getreu und farbenprächtig ſeine Schilderungen
des ninivitiſchen Frühlings ſind1, ſo romanhaft und unwahr
nehmen ſich in Wirklichkeit ſeine in die köſtlichen Bilder hinein-
gewobenen Staffagen aus. Daß die richtigen und ächten Beduinen
das denkbar bettelhafteſte und treuloſeſte Geſindel von der Welt
ſind, hat man mit der Zeit zu erfahren vollauf Gelegenheit
gehabt; Chateaubriands Nachtreter ſind allmälig außer Cours
gebracht worden und heute glaubt Niemand mehr an den Liebes-
zauber in chaldäiſchen Oaſennächten, oder an die ſentimentalen
Scheikstöchter, die gleich überirdiſchen Weſen in der Blüthen-
und Gartenwildniß dem Weltgetriebe entlegenen Santonscapellen
wandeln ſollen2 … Viel hartnäckiger hat man in dem mit
[78]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
der nackten, einfachen Thatſache nimmer zufriedenen deutſchen
Leſepublicum an der Romantik des Völkerlebens im Kaukaſus
feſtgehalten. Neben der räumlichen Entfernung, welche, wie be-
kannt, gleich großen Zeitabſtänden am beſten geeignet iſt, Länder,
Völker und Ereigniſſe in milderem Lichte, mitunter auch poetiſch
verklärt erſcheinen zu laſſen, ſcheint uns an der optimiſtiſchen
Auffaſſung der kaukaſiſchen Völker Niemand geringerer die Schuld
zu tragen, als Rußlands größter Dichter — Alexander Puſchkin.
Jeder halbwegs Beleſene kennt bei uns die prächtigen, von einer
unvergleichlichen Schwermuth getragenen Bilder, die er in ſeinem
epiſchen Gedichte „Der Gefangene im Kaukaſus“ uns vorführt.
Abgeſehen von der energiſchen Malerei, die ſich in der Localität
dieſes herrlichen Poëms entfaltet, gibt es wenige Dichter, die
mit dem Aufwande aller Seelenqualen den Kampf im Empfin-
dungsleben ſo ſchmerzhaft zerfaſernd dargethan haben, als Puſchkin
in den Schilderungen der Erlebniſſe des gefangenen Ruſſen im
Kaukaſus. Und um die Gefühlsſeligkeit zwiſchen dem geächteten
Fremden und dem cirkaſſiſchen Mädchen ſchlingt eine romantiſche
herrliche Welt, die Firnkette des Kaukaſus, der blaßblaue Zahn
des Elbrus mit der blinkenden Eiskrone, den ſchützenden Gürtel,
damit das Lied des Leides nicht darüber hinausfliege, die Luft
glücklicherer Zonen zu durchſchauern1.
Das iſt Alles Dunſt und Täuſchung geworden, ſeitdem die
für ſubjective Empfindungen weit weniger empfänglichen Forſchungs-
reiſenden die einſamen Thäler des kaukaſiſchen Iſthmus durch-
2
[79]Die kaukaſiſche Emigration.
wandert haben, und uns klar und überzeugend vordemonſtrirten,
daß alle poetiſchen Emanationen früherer Reiſender eitel Humbug
ſeien. Es iſt nicht zu leugnen, daß einzelnen Bergvölkern des
Kaukaſus Mancherlei anhaftet, ſei’s nun in rein ethniſcher Be-
ziehung, oder in religiös-ſozialer, was unſer Intereſſe für ſie
wärmer zu geſtalten vermag; aber ſogenannte „intereſſante
Völker“ gibt es ja nach dem bekannten diplomatiſchen Schlag-
worte auch in der europäiſchen Türkei, in Anatolien und im
Taurus, abgeſehen von der Legion culturbedürftiger Völker,
welche über die ganze Erdkugel verbreitet ſind. Die Erfahrungen,
welche zunächſt Rußland mit den kaukaſiſchen Bergvölkern gemacht
hat, ſind hier viel maßgebender. Bis ins Jahr 1864 hinein
haben ſie mit den unbotmäßigen Stämmen der Höhen und der
Thäler einen Kampf geführt, der es nicht auf die Vernichtung
der Exiſtenz des Gegners abgeſehen hatte, ſondern auf die Schaffung
normaler, geordneter Zuſtände1. Die Freiheit, welche die Tſcher-
keſſen, Tſchetſchenzen und Abchaſen meinten, war immerdar die
1
[80]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Freiheit in jeder Art von Zügelloſigkeit. Daß derjenige der
Freieſte ſei, welcher dem Geſetze ſich zu unterordnen verſtehe,
konnte für die Helden Dagheſtans und der Kabarda wohl nur
ein unverſtändliches Theorem bleiben, abgeſehen davon, daß ſelbſt
die einzelnen Autonomien nichts von dem beſaßen, was man
gemeinhin unter bürgerlicher Freiheit verſteht. Thatſächlich
kämpften die kaukaſiſchen Bergvölker durch Jahrzehnte um eine
Unabhängigkeit, die ſie ihrer innerſten Organiſation nach niemals
beſaßen. Wo es in der Bergwildniß noch einen Clan gab, der
von ruſſiſchen Soldaten nicht bezwungen war, da herrſchte der
„Pſech“, der Fürſt, unumſchränkt und despotiſch wie kein Winkel-
tyrann in den centralaſiatiſchen Khanaten. Die Leibeigenſchaft
der untern Claſſe war eine ſo drückende1, wie niemals zuvor
in dem benachbarten Rußland, und wenn dennoch die Bergvölker
gegen den fremden Eindringling ihren Boden mit ſeltenem Helden-
muthe vertheidigten, ſo war’s einerſeits wilder Trotz, anderſeits
der Hang zu geſetzloſen Zuſtänden und drittens die leidenſchaft-
liche Neigung zum Kampfe. Wie wenig Rußland ſelbſt willens
war, ſich der beiſpiellos verwilderten Bergſtämme anzunehmen,
beweiſt ſchon nachfolgende Thatſache in hinlänglichem Maße.
Als im Jahre 1864 Großfürſt Michael die letzten Tſcherkeſſen-
ſtämme im weſtlichen Kaukaſus niedergeworfen hatte, ſtellte es
die Regierung denſelben frei, ſich entweder den ruſſiſchen
Geſetzen zu fügen oder das Land und das Geſammtreich zu ver-
laſſen. Damals leiſteten nahezu 300,000 Tſcherkeſſen, Abchaſen
und Kabardiner der letzteren Aufforderung Folge, indem gleich-
zeitig die türkiſche Regierung ſich bereit erklärte, die Emigranten
gaſtfreundlich aufzunehmen. Daß das ruſſiſche Geſetz noch immer
beſſer war, als die Hospitalität der rechtgläubigen Brüder in
der Türkei, ſollten die damaligen Emigranten nur zu bald er-
fahren. Die zahlloſen Dampfer, welche wunderlicher Weiſe die
ruſſiſche Regierung ſelbſt beigeſtellt hatte, ſetzten binnen wenigen
Wochen die Emigranten an der türkiſchen Pontusküſte ab, und
zwar zuerſt in Trapezunt. Hier ward ihr Erſcheinen bald zu
einer furchtbaren Invaſion. Gleich rieſigen Heuſchreckenſchwärmen
occupirten ſie proviſoriſch alles Land umher, nur nothdürftig
[81]Die kaukaſiſche Emigration.
bekleidet und ohne alle Proviantvorräthe, Anfangs vom Bettel,
ſpäter von Diebſtahl und Raub lebend. Hunderttauſend Flüchtlinge
hatten bereits die Blüthengeſtade von Dſchanik zertreten und
immer noch hielten die plumpen ruſſiſchen Transportſchiffe an
den Küſtenpunkten, um neue zahlloſe Candidaten des Hungers
ans Land zu ſetzen. Da ſie ihre eigenen Kinder nicht verzehren
konnten, ſo ward bald die Stadt Trapezunt ſelbſt, ſowie auch
das benachbarte Samſun und Kheraſunt vor den gefährlichen,
in jeder Richtung elend herabgekommenen Maſſen nicht ſicher.
Das war der erſte Gruß der von der Pforte pomphaft an-
gekündigten Gaſtfreundſchaft. Der ehrenwerthe Gouverneur von
Trapezunt ſchloß ſich im ſogenannten Caſtell ein und ließ zu
ſeiner perſönlichen Sicherheit ein altes roſtiges Kanonenrohr, das
ſeit Paskiewitſchs Zeiten im Schloßhofe lag, aus dem Sande
hervorſcharren und in eine zur Breſche gewordene Schießſcharte
einſtellen, um eventuellenfalls Feuer auf ſeine Schutzbefohlenen
zu geben. Im Grunde war es dem Manne auch ganz und gar
nicht zu verargen, daß er ſo handelte. Es war die Pflicht der
Pforte, ſofort Anſtalten für die erſte Verpflegung der Emigranten
zu treffen und deren Weiterbeförderung ſo ſchleunig wie möglich
anzuordnen, um Maſſenanhäufungen vorzubeugen. Aber die
ruſſiſchen Dampfer waren ſchneller als die Dispoſitionen der
Stambuler Regierung … „Jawasch dostler jardümüziz
Allahdan gelur“1, riefen die Sykophanten am goldenen Horn.
Aber auch Allah ſcheint ſich mit ſeiner Hilfe nicht zu ſehr beeilt
zu haben, denn eines ſchönen Tages begann der Hungertyphus
ſeine erſten Opfer zu holen und in wenigen Tagen nahm derſelbe
derartige Dimenſionen an, daß an einzelnen Tagen oft 400—500
der bedauernswerthen Emigranten demſelben erlagen. Die Emi-
gration hatte im Frühjahre begonnen, im Herbſte deſſelben Jahres
war ein Drittel, ſage ein Drittel, oder in Ziffern: 100,000
Perſonen derſelben in den ſchattigen Thälern des Dſchanik zur
ewigen Ruhe beſtattet. Mit Hunderttauſend buchſtäblich Ver-
hungerten hatte die Pforte das Freundſchaftsbündniß mit den
Heimatloſen beſiegelt. Es war eine bittere Erfahrung für die
rechtgläubigen Brüder, aber ſie verzweifelten nicht. Waren ſie
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 6
[82]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
doch den Klauen der Moskowiter entronnen, und ſollten ſie ja
nunmehr, nachdem ein Drittel von ihnen ausgerungen hatte,
in die europäiſche Türkei, nach Frengiſtan, wo Alles eitel Gold
iſt und Honig und Milch in den Bächen fließt, überführt werden.
War das eine bittere Enttäuſchung, als die Donaudampfer der
damals eben im Entſtehen begriffenen ottomaniſchen Flußſchifffahrt
die freien Söhne des Kaukaſus an den nackten, mageren Geſtaden
Bulgariens abſetzten! Keine Schluchten, keine Gebirgswildniß,
nicht einmal Schlupfwinkel zur Bergung geraubten Gutes —
nichts als plattes Land und eine feige Bewohnerſchaft, die nicht
einmal geſonnen ſchien, mit den fremden Männern die Klingen
zu kreuzen1. Gleichwohl ſtießen aber die zerlumpten und ver-
hungerten „Edlen“, die ihren Schutzbefohlenen gegenüber in puncto
der Bedrückung den Ruſſen nicht im Mindeſten nachſtanden, die roſtig
gewordenen Schwerter in den Boden, mit welcher Ceremonie ſich
die Tſcherkeſſen nach altem Brauche als Herren des neuen Landes
erklärten. Damit war der Anfang zu der alten Wirthſchaft ge-
macht und wo eine Colonie entſtand — die ſich übrigens nur
durch Schmutz und Armſeligkeit hervorthun konnte2 — da gab
es auch wieder, wie vorher in den cirkaſſiſchen Bergen, Herren
und Leibeigene, und da keiner von beiden arbeitete, kamen die
weiteren Tſcherkeſſen-Tugenden, das Rauben und Plündern ſofort
in Uebung. Nur mit dem Mädchenhandel ging es nunmehr
raſch herab, da es an tauglichem Nachwuchs gebrach und der
mittlerweile in Schwung gekommene bulgariſche Mädchenraub
[83]Die kaukaſiſche Emigration.
ſich als wenig lucrativ erwies. Wenn man einen georgiſchen
Dolch liebt, ſo kauft man kein tartariſches Krautmeſſer, dachten
die Agenten und wieſen die tſcherkeſſiſchen Biedermänner mit
ihrer weinenden und zappelnden Waare ab.
In jüngſter Zeit haben ſich um Trapezunt abermals Scenen
aus dem kaukaſiſchen Emigranten-Elend abgeſpielt, die nur inſo-
fern von ihrer traurigen Härte verloren, als der Jammer eines
ohnedies genug barbariſchen Krieges dieſe Scenen überſehen ließ.
Nach der verunglückten Fazly’ſchen Expedition über Suchum-
Kale hinaus, haben bei 36,000 Kaukaſier, meiſt Abchaſen ihre
Heimat freiwillig verlaſſen, um unter dem Schirm und Schutz
des Padiſchah auf fremder Erde eine neue Exiſtenz zu finden.
Daß dieſe Erde, die Türkei, im Großen und Ganzen genommen,
diesmal ſo wenig gaſtlich war, wie vor zwölf und dreizehn
Jahren, ging aus mancher Nachricht von der Pontusküſte hervor.
Hauptſächlich aber war es wieder Trapezunt, wo die Emigranten
in hellen Haufen anlangten, aber die Männer fanden diesmal
wenigſtens ſofort ihr Brod, indem ſie in den Kampf zogen, der
für ſie immerdar ein Raubkrieg war und iſt. Die Pforte, welche
ihren braven Nizams ſeit Jahr und Tag den Sold ſchuldig blieb,
dafür aber dickbäuchigen Inhabern von Sinecuren in Stambul
Gehalte bis zu 60,000 Piaſtern oder 6000 Gulden pro Monat (!)
auszahlte, hatte für die Abchaſen ſelbſtverſtändlich kein Geld.
Sie war daher indirecte gezwungen, gegenüber den tſcherkeſſiſchen
Brandſchatzungen einfach ein Auge zuzudrücken, indeß ſie ſich
officiell in den Harniſch warf und angab, daß ſie dieſer Räuber-
romantik zu jeder Zeit energiſch zu ſteuern bemüht war. Den
Weibern und Kindern war aber nicht einmal mit dem Kriege
gedient und ſie waren es, die, halb nackt und hilflos, ohne Heim
und Beſitz, in den — Blüthengärten von Dſchanik ein ähnliches
Loos fanden, wie es vor einem Dutzend Jahren ihre zuerſt emi-
grirten Landsleute gefunden hatten1. —
6*
[84]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Nach dieſem Intermezzo wollen wir uns nun wieder dem
pontiſchen Küſtenlande zuwenden. Um den richtigen Ueberblick
über die politiſchen und ſocialen Zuſtände der öſtlich liegenden
Gebirgswelt und deren geographiſche Bedingungen kennen zu
lernen, bedarf es zunächſt einer knappen Situationsſkizze von
Trapezunt ab bis über Batum hinaus, wo die impoſanten und
urwüchſigen Gebirgsformen mälig zuſammenſchrumpfen, um durch
die Sumpf- und Dünenſtriche des cholchiſchen Küſtengebietes und
ſpäter durch die urwaldartige Vegetationszone im mingreliſchen
Tieflande erſetzt zu werden. Das fragliche Küſtengebirge von
den Thoren Trapezunts bis zu ſeiner natürlichen öſtlichen Ab-
grenzung am Tſchoruk-Fluſſe, iſt von den allgemeinen Zeitläufen,
von den politiſchen oder civiliſatoriſchen Umwandlungen oder
Entwicklungsſtufen der Nachbargebiete in einer Weiſe iſolirt ge-
blieben, wie kein zweites Territorium in Vorder-Aſien. Schon
die Lage deſſelben abſeits irgend einer hervorragenden Völker-
ſtraße, an der Peripherie mächtiger Weltreiche, deren Grenz-
marke ſie unter den bunteſten Wandlungen der politiſchen Machtver-
hältniſſe in Vorder-Aſien ſeit zwei Jahrtauſenden geblieben,
mußte genügen, um den Bewohnern dieſer abgelegenen Gebirgs-
gaue eine gewiſſe Selbſtſtändigkeit, ja Unabhängigkeit zu ver-
ſchaffen. So war es, als Xenophon mit ſeinen Zehntauſend über
die Päſſe des pontiſchen Küſtengebirges nach Trapezunt herabzog,
und das gleiche Verhältniß blieb, als ſpäter Trajan ſeine Ca-
ſtelle an dieſem Geſtade errichtete, und Juſtinian Anſtrengungen
machte, Herr der Gebirgsvölker zu werden. Bekannter als jeder
andere Zwiſchenfall ſind die blutigen Reibereien in den laziſchen
Hochbergen aus der Zeit Mithridates d. Gr., und dieſer unbän-
dige Unabhängigkeitsdrang iſt den Völkern bis in unſere Tage
hinein geblieben. Zahlreiche Rebellionen füllen die moderne Ge-
ſchichte dieſer Küſtengaue aus und ſelbſt die culturvermittelnde
1
[85]Die oſt-pontiſchen Küſtengaue.
Dampfſchifffahrt hat in den Zuſtänden derſelben nichts geändert.
Es würde in der That auch ſchwer fallen, an den ſtürmiſchen
Klippen-Ufern des Geſtadelandes auch nur die allerbeſcheidenſten
localen Bedingungen zu einem Contacte mit der Außenwelt aus-
findig zu machen; die mächtigen Gebirgscouliſſen, welche ſich ſüd-
wärts immer großartiger entwickeln, fallen mit ihren Felsſtirnen
mitunter ſteil, von der See ganz und gar unnahbar, zum Geſtade
ab und nur die Mündungsſtellen der zahlreichen aber torrenten-
artigen Küſtenflüßchen laſſen in der natürlichen ſteinernen Schranke
Einfallsthore offen. Daß dieſen nicht die Bedingung innewohnen
kann, den Verkehr zwiſchen dem Landes-Innern und der Außen-
welt durch eventuelle Schifffahrtslinien zu vermitteln, erſcheint
mehr als klar.
Von dem geſammten Küſtengebiete zwiſchen dem Dendermen-
Su bei Trapezunt und Tſchoruk-Tſchai dürfte nur ein Bruch-
theil, der nicht ganz die Hälfte repräſentirt, zum eigentlichen
Laziſtan zu ſchlagen ſein, bewohnt von jenem oben genannten
wilden, räuberiſchen, der Blutrache wie der Fehde gleich leiden-
ſchaftlich ergebenen Volke der Lazen. Ihre Gaue liegen ganz
im Oſten des Küſtengebirges, wo es ſeinen eigentlichen alpinen
Charakter annimmt und zwiſchen gewaltigen Bergwipfeln, die die
Schneegrenze erreichen, wunderbar üppige Waldlandſchaften und
unnahbare Hochtriften entfaltet. Dort liegen die Gehöfte der
Bergbewohner, ſtarke Riegelbauten mit Spitzdächern, hin und
wieder die Schindel-Eindachung auch mit ſchweren Steinen be-
ſchwert, ganz wie im Berner Oberland, oder in anderen Alpen-
ſtrichen des Weſtens. Bevor wir in dieſe ſelten betretenen Ge-
birgsgaue eintreten, bedarf es wohl der topographiſchen Ver-
mittlung von Weſten her, wo das Küſtengebiet mälig in jenes
Geſtadeland übergeht, und das im Laufe der Jahrhunderte un-
gleich mehr mit der Außenwelt in Verbindung geſtanden hat. Es
iſt der Strich von Trapezunt über Tripoli, Kheraſunt und Sam-
ſun nach Sinope. Die griechiſche Herrſchaft der Comnenen iſt,
wie wir geſehen haben, keineswegs ohne Einfluß auf die nach-
barlichen Gaue Laziſtans geblieben, und noch heute reicht das
griechiſche Bevölkerungselement weit gegen Oſten hin. Dieſe
Griechen haben ſeinerzeit den osmaniſchen Eroberern zäheſten
Widerſtand geleiſtet, aber auf die Dauer gelang es den fremden
[86]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Machthabern dennoch allenthalben der weſtlichen Gaue Herr zu
werden, und im 17. Jahrhunderte begannen die hartbedrängten
Chriſten zum Islam überzutreten, um der intoleranten Verfol-
gung einerſeits und dem unerhörten Steuerdruck anderſeits zu
entgehen1.
Das Merkwürdige hiebei iſt nun die Thatſache, daß ein
eigentlicher Glaubenswechſel keineswegs ſtattgefunden hat, ſon-
dern daß dieſe pontiſchen Griechen nur äußerlich der Form
der moslemiſchen Rechtgläubigkeit ſich unterwarfen, und ihren
Islamismus einzig nur auf den Schein beſchränkten. Sie kennen
weder den Koran noch haben ſie die Beſchneidung, ja es wird
behauptet, daß ſie ganz und gar ein Doppel-Leben führen —
ein griechiſches und ein türkiſches. Oeffentlich ſprächen ſie das
Idiom ihrer nominellen Herren, insgeheim aber griechiſch. Jeder
habe zwei Namen, derſelbe, der am Morgen im weißen oder
grünen Kopfbund ſich Ahmed oder Selim nenne, vereine ſich
Abends mit ſeinen Glaubensgenoſſen in einer verborgenen Hütte
oder Grotte unter Leitung eines Papas, um die Bräuche der
chriſtlichen Kirche zu feiern — deſſelben Papas, der einige Stun-
den früher ſeinen Dienſt als Mollah that — dann hießen ſie
Georg, Simeon, Peter u. ſ. w.2. Es wird ſich mit den Gebirgs-
bewohnern wahrſcheinlich ähnlich verhalten, wie mit den arg-
bedrängten kurdiſchen Secten im nördlichen Meſopotamien und Thei-
len von Süd-Kurdiſtan, die gleichfalls häufig nur äußerlich Moslems
ſind, ſonſt aber in allen Stücken ihren Glaubensregeln und Ge-
bräuchen nachgehen. Weſtwärts von Trapezunt gibt es fünf
Gaue mit Krypto-Chriſten: Jomura, Sürmeneh, Of, Rizeh und
Hemſchin3. Alle ſind von der Küſte her nur ſchwer zugänglich;
aber auch im Innern ſind die Straßen höchſt mangelhaft und
geſchloſſene Ortſchaften gehören zu den Seltenheiten. Die Holz-
hütten mit ihren beſchwerten Schindeldächern liegen zerſtreut,
meiſt auf Felsklippen4 und werden nur im Winter bewohnt; im
[87]Die oſt-pontiſchen Küſtengaue.
Sommer zieht Alles auf die Alpen und nur am Karawanenwege
finden ſich Leute ein, um den vorüberziehenden Händlern ihre
Erzeugniſſe, meiſt aber nur Rohproducte, darunter vorzügliche
Butter und Käſearten, anzubieten. Am einſamſten ſind die Gaue
von Of und Rizeh, mit dunklen Waldgebirgen im Innern und
verſteckten Dörfern, welche unter den mächtigſten Kronen von
Eſchen, Buchen, Buxbaum, Nußbäumen und Caſtanien wie be-
graben liegen. Beſonders maleriſch und zugleich intereſſant iſt
das Städtchen Of, deſſen geiſtig regſame Bevölkerung den Ruf
genießt, die gelehrteſten Ulemas und Rechtskundigen in Conſtan-
tinopel ihre Landsleute nennen zu können1. Der freie, unab-
hängige Sinn dieſes Volkes, verbunden mit Rohheit, aber auch
ſtrengen Sitten, Mäßigkeit und Klugheit, machte es bisher ſtets
zu den hartnäckigſten Gegnern ihrer nominellen Beherrſcher, an
denen ſie ſich durch Raubzüge und Ueberfälle rächen für die Ver-
ſuche gewaltſamer Unterwerfung, die nur einmal in früheren
Jahrzehnten (unter Abdullah Paſcha von Trapezunt) einiger-
maßen gelungen iſt. Zur Verhinderung einer dauernden tür-
kiſchen Occupation hat bisher wohl auch in hohem Grade die
Natur des Berglandes beigetragen und die Türken ſelbſt nennen
es nie anders als Tſchengelistan, d. i.: „Das Land der Widerhaken“.
Nicht minder maleriſch und in Bezug auf ſeine Vergangen-
heit intereſſant iſt die Hauptſtadt des nächſten Gaues, Rizeh.
Zu beiden Seiten des ausmündenden kryſtallhellen Bergflüßchens
zieht ſich, von der ſchmalen Küſtenfläche in halbmondförmigen
Etagen die buſchigen Hänge hinan, das anmuthige Städtchen,
die einſtige römiſche Grenzfeſtung gegen die Lazen. Die Natur
entfaltet ſich von hier ab bereits mit weit größerer Ueppigkeit,
auch die Gebirge ſteigen immer ſteiler hinan und in die wald-
dunklen Schluchten, welche ſich gegen den öſtlichen Nachbar-Gau
von Hemſchin ſenken, blicken bereits die Schneehauben des
Katſchghar-Gebirges. Allenthalben ſind die natürlichen Porphyr-
hügel, welche aus dem friſchen Gartengrün des Geſtadelandes
hervortauchen, mit Burgruinen geſchmückt2, wie die türkiſche Tra-
dition ſagt, jene genuäſiſche Schlöſſer (Dſchiniwiz-Hiſſarlar).
[88]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
In der Nähe Rizehs liegt auch das Stammſchloß der einſt be-
rüchtigten und mächtigen Gauherren Tuzdſchi-Oghlu, d. i.:
„Salzhändler-Söhne“, deren letzter vor einigen Jahrzehnten von
der Pforte beſiegt und ſein Beſitz unter türkiſche Verwaltung
geſtellt wurde. Im Nachbar-Gau Hemſchin iſt die griechiſche
Population bereits von Lazen durchſetzt. Wir betreten mit ihm
die eigentliche pontiſch-laziſche Alpenwelt mit ihrer grandioſen
Einförmigkeit und Unwegſamkeit. Ueberall Schneehauben und
Eisfelder, rieſige Bergkegel und dräuende Felswände neben Ab-
gründen, an denen vorüber die Saumſteige nach den hohen Alpen-
triften des Hinterlandes führen.
An der Küſte beginnt das eigentliche Laziſtan bei dem ge-
waltigen Vorgebirge Kemer-Burun, vier Meilen öſtlich von Rizeh.
Von hier bis zum Cap Jaroz-Burun thürmt ſich eine einzige
ſtarre Felsmauer aus den Fluthen empor und ihr öſtliches Ende
iſt abermals von einer maleriſch-düſteren Ruine eines ehemaligen
Gauherrn überragt. Die Lazen ſelbſt, welche meiſt in den wil-
deſten und undurchdringlichſten Fels- und Gebirgsſchluchten woh-
nen, laſſen ſich auch mit Vorliebe an der Küſte nieder, und haben
ihre trefflichen Eigenſchaften im Seedienſte die Pforte beſonders
neueſter Zeit vielfach veranlaßt, ihr Matroſenmaterial für die
Kriegsmarine dem laziſchen Küſtenſtriche bis Batum zu ent-
nehmen. Ueberdies ſind die Lazen vorzügliche Eclaireurs und
wie alle mohammedaniſchen Bergbewohner bis zur äußerſten
Verwegenheit tapfer. Die Ruhe iſt ihnen verhaßt, dafür aber
der Kampf ihre Sehnſucht und nichts reizt ſie mehr, als die
Gefahr, in die ſie ſich mit echt orientaliſcher Todesverachtung
bei jeder Gelegenheit ſtürzen. Dieſe Raufluſt iſt nun allerdings
der nächſte Anlaß zu ewigen Stammes-, ja Familien-Reibereien
und in ihrem Gefolge graſſirt die Blutrache in einem Grade,
der nur ſchädigend auf ihre eigene innere Kraft reagiren muß.
Nur wenige Lazen ſind Ackerbauer; die Viehzucht ziehen ſie vor,
ebenſo die Fiſchzucht und die Jagd, die am pontiſchen Geſtade,
beziehungsweiſe auf den Alpentriften des Hinterlandes beiderſeits
äußerſt ergiebig ſein ſoll. Im Uebrigen haben die Lazen neben
ihren ſchätzenswerthen Eigenſchaften auch noch ſolche, welche ihnen
keineswegs abſonderliche Sympathie einzutragen vermögen. Sie
ſind nämlich ein hochgradig diebiſches, treuloſes und in Folge
[89]Die Lazen. Batum.
deſſen unverläßliches Geſindel1, und zu jeder Schandthat bereit,
wenn ſie entſprechend bezahlt werden, Eigenſchaften, die ſie mit
ihren „ariſchen Brüdern“, den Kurden, ſo ziemlich in eine Kate-
gorie ſtellen laſſen2.
Wenden wir uns nun dem Mündungsgebiete des Tſchoruk-
Su und der laziſchen Hauptſtadt Batum zu. Nur zwei Meilen
ſüdlich des Forts St. Nikolaj ſchleicht ein unanſehnliches Flüß-
chen dem ſchwarzen Meere zu. Sein Name iſt Tſcholoch-Su,
d. i.: „Faulfluß“, und wie ſein trübes, ſtinkendes Waſſer, ſo iſt
auch die Gegend ringsum ein troſtloſes Fieberland, das die Be-
wohner meiden, zumal im Sommer, wo die naheliegenden Berge
eine willkommene Zufluchtsſtätte abgeben. Das kann unmöglich
immer ſo geweſen ſein, da es uns bekannt iſt, wie ſehr das
kleine Gurien unter ſeinen einheimiſchen Königen, die langjährige
Feudalswirthſchaft abgerechnet, prosperirte3. Die gegenwärtige
klimatiſche Calamität erhält indeß gegen den cholchiſchen Küſten-
ſtrich hin noch weit prägnanteren Ausdruck. Mitten aus tödt-
lichem Sumpfe ragen die Palliſſaden des Forts St. Nicolaj,
und was in dieſer leibhaften Gruft Jahr und Tag waltet, trägt
den Stempel der Verweſung, des langſamen Dahinſiechens nach-
gerade auf der Stirne. Nur die in Rußland mit beiſpielloſer
Strenge gehandhabte Grenzbewachung konnte die Militärleitung
beſtimmt haben, auch in dieſem traurigen Exile einen Militär-
poſten zu unterhalten; der lesghiſchen und adjariſchen Mädchen-
händler halber mußte eine ausdauernde und opferwillige Gar-
[90]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
niſon auf dieſer Jammerſtätte ihrem Verderben geweiht werden …
Der Wanderer, welcher die Sumpf- und Dünenküſte des alten
Kolchis von dem heutigen Poti ab durchwandert hat, ſtieß ſomit
an dem alten Grenzſtriche vorerſt nur auf Gräber, von denen
einige Hügel ſtets friſch aufgeworfen ſind; erſt ſpäter begegnete
er den bleichen, fieberäugigen Wachleuten und er ward ſie nicht
los, auch wenn er bereits den pfützenhaften Tſcholoch überſchritten
hatte, dort, wo ſich das frühere türkiſche Fort Kindriſchi erhob,
in gleich troſtloſer Gegend. Auf niederem Hügel liegt da eine
verfallene guriſche Burg, die Brutſtätte giftigen Gewürms und
auf den feuchten Blöcken ſonnen ſich Salamander und Molche.
Die Gebirgslehnen hinan wird es allerdings beſſer. Auch dort
liegt hin und wieder das Fragment einer Burg, aber die dunkle
Silhouette derſelben erſcheint hier von dem ungetrübten Sonnen-
blicke heiter verklärt und aus dem uralten Gefüge wuchern
Stechpalmen, während die Höhen blühender Rhododendron ſchmückt1.
Da hinauf geht es immer tiefer ins Gebirge, bis ſich nach
Paſſirung eines niedern Sattels zwiſchen dem Kolowa und
Perenga-Gebirge der Blick in die jenſeitigen Keſſellandſchaften
ſenkt, dem Stammlande der kriegeriſchen Adjaren. Sie waren
früher die berüchtigtſten Mädchenhändler, namentlich zu jener Zeit
da Achalzich noch in türkiſchen Händen ſich befand und keine
Autorität dem entwürdigenden Schacher Schranken ſetzte. Weidlich
unterſtützt wurde dieſes wilde Bergvolk von den weit hinten im
Kaukaſus wohnenden Lesghiern, welche trotz der Anweſenheit der
Ruſſen in Georgien noch immer ihre Schleichwege den Koſaken
unentdeckt zu halten wußten. Man nannte dies weitläufige Netz
von Schmugglerwegen die „Lesghiſchen Straßen“ und ſie zogen
mitunter mitten durch ruſſiſches Territorium hindurch2. Heute
hat ſich das freilich geändert, aber ſelbſt in jüngſter Zeit gab es
noch immer Waare genug, da weder die Georgierinnen noch die
andern Mädchen der kaukaſiſchen Berge in ihrer Exportation nach
Stambul ein ſo namenloſes Unglück erblickten, als man im
Abendlande gemeinhin annimmt3. Es iſt allgemein bekannt, daß
ſogar die georgiſchen Mütter ihren Töchtern Tag für Tag die
[91]Die Umgebung Batums. — Batum.
glänzendſten Ausſichten auf dieſem Lebenswege einſchwatzen, und
thatſächlich waren dieſe Schönen auch ſtets die größten Intri-
guantinnen in den ſultaniſchen Harems am Bospor.
Wir wollen indeß nicht in das Land der Adjaren eindringen,
ſondern ſetzen unſeren Weg ſüdwärts von Kindriſchi fort. Die
Landſchaft wird bald coupirter, hin und wieder ſetzt auch einige
Vegetation an, die ſich freilich kaum über ſtachliges Strauchwerk
erhebt, aber für den, der die Todesſtätten am Tſcholoch und um
St. Nicolaj geſehen, bildet ſie immerhin eine angenehme Unter-
brechung in der unheimlichen Oede. So geht es fünf bis ſechs
Stunden fort, bis nach Paſſirung der muthmaßlichen Stelle. des
alten Petra plötzlich eine weitläufige Ebene den Wanderer auf-
nimmt. Das iſt die Ebene von Kahaber, zum Theile ſpärliches
Culturland, anderntheils graſige Niederung, weit im Hinter-
grunde von abſtürzenden Gebirgszinnen — des früher durch-
wanderten Lazenlandes — begrenzt, deren höchſte Häupter bereits
in das wildromantiſche Wald- und Felſenthal des großen Tſchu-
rukfluſſes hinabſehen … Am Küſtenrande dieſer Ebene liegt
an geräumiger, tiefer Bucht das vielgenannte Batum.
Begehrenswerth iſt der Punkt von maritimen Geſichtspunkten
allerdings im hohen Grade, aber ſonſt trifft man hier auch nicht
das Geringſte, was dem Orte in irgend einer Richtung zu gute
geſchrieben werden könnte. In den elenden Baracken wohnen
keine tauſend Menſchen, will man die flottante Bevölkerung ab-
rechnen, die allerdings nicht unbedeutend iſt, denn Batum iſt der
Abzugscanal all’ jener, wenn auch nicht ſehr gewichtigen Handels-
Intereſſen, welche die dahinter liegenden Bergvölker vertreten.
Batum hat weitaus den beſten Hafen auf der ganzen Küſten-
ausdehnung von Sinope über Trapezunt und Poti bis zur Krim
hinauf. Der Ort ſelbſt beſitzt etwa 200 Holzhäuſer, meiſt Kauf-
buden, die bisher nahezu während des ganzen Jahres geſchloſſen
und von ihren Beſitzern verlaſſen waren, da es nur an den all-
jährlichen Bazartagen etwas umzuſetzen gab. Dann wurde es
allerdings lebendig in dem kleinen ſchmutzigen Orte und das
Völkergemiſch von Tſcherkeſſen, Lesghiern, Georgiern, Armeniern,
Lazen, Kurden und Türken mag nicht ohne orientaliſch feſſelnden
Anſtrich geweſen ſein. Dafür aber ſah es die übrige Zeit troſt-
los im Deltalande des Tſchuruk aus. Wenn im Frühjahre der
[92]Das pontiſch-armeniſche Geſtade-Land.
Schnee im armeniſchen Hochlande ſchmilzt, wird das genannte
Gewäſſer zur wilden Torrente und die Fluthen ſtürzen ſich über
die, weit über eine Quadratmeile große Ebene, wo dann nur
hin und wieder laziſche Hütten aus dem Dickichte tauchen.
Wilde Eber und Büffelheerden tummeln ſich in den Sümpfen
und die Fieberluft brütet monatelang über dem ausgeſtorbenen
Gefilde … Beſſer ſteht es im Allgemeinen mit dem unmittel-
bar am Tſchuruk gelegenen Städtchen Günieh mit ſeiner altehr-
würdigen Burg1. Die Laziſchen Berge ſind von hier nur mehr
eine Meile entfernt, und auf den Höhen, wo der lichtgrüne Bux-
baum ſchattet, mag die Exiſtenz wohl noch in beſcheidenem Grade
erträglich ſein. Gegen Süden nimmt überdies die Ebene ſehr
raſch ab und vier Meilen von Batum entfernt ſchließen die
adjariſchen und laziſchen Berge hart aneinander, ſo daß nur
Raum für den dahintoſenden Gebirgsſtrom bleibt. Wer ſeinen
Fuß nach dieſer Richtung ſetzt, um etwa Erzerum zu erreichen,
oder überhaupt nach Süden vorzudringen, dem wird die Route
fürwahr nicht leicht gemacht. Sechzehn volle Reiſeſtunden geht
es durch ein unwirthliches, großartiges Defilé, an zerſtörten
Burgen und laziſchen Felſenneſtern vorüber, um nur bis Artwin,
dem Hauptorte dieſes Gebietes zu gelangen. Hier aber entfaltet
ſich ein eigenthümliches Bild inmitten der morgenländiſchen Welt.
Ueber eine halbe Stunde dem Gebirgshange entlang liegen die
blockhausartigen Hütten mit ihren Schindeldächern, wie in den
Alpenländern mit großen Steinen beſchwert. Ueberall Gärten,
Buchen, Eichen, europäiſche Obſtbäume und chriſtliche Kirchen,
ein wahres Aſyl in der laziſch-adjariſchen Bergwildniß. Südlich
hievon wird es freilich raſch wieder anders; die laziſchen Schmutz-
buden begleiten noch geraume Zeit den Fluß, um ſpäter durch
kurdiſche erſetzt zu werden, denn wir nähern uns auf dieſem
Wege mälig der armeniſchen Capitale. Von der Höhe der Eufrat-
quelle, welche bei dem armeniſchen Kloſter Kizil-Kiliſſe 6000 Fuß
hoch dem Boden entquillt, blickt man plötzlich auf die weitläufige
Hochebene von Erzerum hinab, mit ihren Troglodyten-Dörfern,
den weidenden Heerden inmitten der graſigen Ebene und den
düſteren, ruinenhaften Quartieren der Capitale …
[[93]]
IV.
Van und die Kurden.
Im armeniſchen Kaſchmir. — Die Stadt Van und ihre Denkmäler. —
Hakkiari, der Neſtorianer-Diſtrict. — Die Kurden und ihre geo-
graphiſche Verbreitung.
Von Erzerum, dem großen Handelscentrum Armeniens
laufen die Hauptverkehrsadern radienartig nach allen Richtungen.
Im Ganzen ſind es vier, wovon zwei bedeutende Sattelhöhen des
oberen Eufratbeckens überſchreiten, andere zwei den Flußläufen
des Eufrat und Araxes folgen. Von Trapezunt herüber zieht
die neue pontiſch-armeniſche Handelsſtraße, neu in ihrer techniſchen
Anlage1, aber uralt ihrer Richtung nach, und ſie ſchneidet
wenige Meilen vor Erzerum den hohen Gebirgsring des Kop-
und Gök-Daghs (10,000 Fuß). In ihrer Fortſetzung als Kara-
wanenweg zieht ſie oſtwärts durch das von uns bereits berührte
obere Araxes-Becken (Paſin), um ſpäter durch den Paß von
Kara-Derbent in das Muradthal einzutreten und über Bajazid
perſiſches Gebiet zu erreichen. Der zweite große Handelsweg
zieht in gerader Linie weſtwärts, Anfangs dem Eufrat entlang,
ſpäter über mehr oder weniger hohe Waſſerſcheiden auf die
Plateaux-Landſchaften des öſtlichen Anatolien, um Sivas als
[94]Van und die Kurden.
erſten größeren Stapelplatz zu gewinnen. Die letzte Communi-
cation endlich, jene nach Süd-Oſten, nach dem großen Van-
Becken, bringt uns vorerſt über den inneren Gebirgsring Erze-
rums (Palantüken- und Schoghalar-Dagh) in den Thalkeſſel
Thekman und dann über das höchſte innerarmeniſche Kettengegirge,
nach deſſen Paſſirung oſtwärts des „Tauſend-Seen-Gebirges“1,
unſer Fuß bereits die Quellregion des öſtlichen Eufrat (Murad)
betritt. Wir erreichen dieſes Thalgebiet nach einem langen und
beſchwerlichen Marſche längs jähen und tiefen Schluchten. Die
Thäler ſind wenig bevölkert, die Berglehnen nur ſpärlich bewaldet
und eiſige Winde von den rieſigen Schneewipfeln ringsum über-
ſtreichen die öden Landſchaften — einſt das claſſiſche Daron —
oft ſechs und ſieben Monate im Jahre. Die Bevölkerung iſt
eine kurdiſch-armeniſche, wobei das armeniſche Element überwiegen
dürfte, aber die Armenier haben ſich durch langjährige Verge-
waltigung und durch die unnatürliche Präponderanz ihrer kur-
diſchen Mitbewohner ihre ethniſche Individualität vollends ver-
wiſchen laſſen und heute würde man in den kurdiſch gekleideten
und kurdiſch ſprechenden Armeniern kaum mehr Chriſten erblicken.
Sie haben im ganzen fraglichen Gau keine Kirchen, wohl aber
Prieſter, die, unwiſſend und roh, auf gleich niederer Culturſtufe
mit ihren Schutzbefohlenen ſtehen. Und doch iſt gerade dieſer
Theil von Armenien ein Boden, von dem einſt die alte armeniſche
Cultur ausging, die Colonialſtätte der aus Aſſyrien nach Sanheribs
Ermordung emigrirten Anhänger Sarezers und Adramelechs und
ſpäter der Regierungsſitz der den Armeniern ergebenen mami-
goniſchen Palladine. In der völlig verſchollenen Stadt Chorene,
die muthmaßlich unweit des heutigen Melasgerd — einer kleinen
Stadt öſtlich des Murad gelegen mit Mauern und dominirender
Citadelle — ſich befunden haben mochte, ward Moſes, der größte
und für die Forſchung wichtigſte Annaliſt Armeniens geboren.
[95]Das armeniſche Kaſchmir (Daron). Muſch.
Heute iſt, wie ſchon erwähnt, jede Spur dieſer claſſiſchen Er-
innerungen im Volke verwiſcht und die kurdiſche Räuberromantik
mit ihren legendaren Kundgebungen hat die Heldengeſchichten
des iraniſchen Königsbuches, die ſich ſeinerzeit auch ins Armeniſche
eingeſchmuggelt hatten, verdrängt.
Nach dem Ueberſchreiten des Tſchakhma-Dagh öffnet ſich
plötzlich das Bild nach dem wärmeren Süden, in deſſen ſcheinbar
unendlicher Ferne die phantaſtiſch geformten Kammrücken und
Schneewipfel des kurdiſchen Taurus in Sicht gelangen. Saftige
Weiden breiten ſich ringsum mit den zahlloſen Heerden und
den ſchwarzen Kegelzelten der kurdiſchen Nomaden1. Um aber
in das unmittelbare Eufratbecken zu gelangen, bedarf es noch
eines verwegenen Rittes mitten durch Diſtricte räuberiſcher Berg-
bewohner und auch jenes unvergleichliche Panorama entzieht ſich
unſeren Blicken, um erſt ſpäter wieder genoſſen zu werden, wenn
unſer Weg uns durch die wilde Eufratſchlucht am Schereftin-
Gebirge in die große Ebene von Muſch verſetzt. Abermals
ſchließt der ſchneebedeckte Tauruszug das lachende Bild im Süden
ab. Licht und Luft weben über den unüberſehbaren Plan farb-
matte Schleier und durch dieſelben ſchimmern die zahlloſen Dörfer
der Armenier aus ihrem Gartengrün oder aus den weiten Matten
und Feldern. Es iſt das armeniſche Kaſchmir, in das wir hinab-
blicken. Rings hat ſich die Gebirgsnatur in großartiger Mannig-
faltigkeit entwickelt und die Rieſenhäupter des Thalbeckens blicken
hier ebenſo in die Obſt- und Blüthengärten nieder, wie jene ge-
waltigeren Schneewipfel des Himalaya in die Ebene des Tſchelem
(Thalum) und des Wollar-Sees. In Muſch ſelbſt erleidet dies
Bild nun allerdings einigen Abbruch. Die Stadt liegt zum Theil auf
einem Hügel, unmittelbar am Nordfuße des kurdiſchen Taurus,
zum Theil in einer engen Schlucht, und ſo lachend die Ebene
ringsum iſt, ſo elend nehmen ſich die ſchmutzigen, winkeligen Gaſſen
und die baufälligen Häuſer des Ortes aus, der im Uebrigen
nicht ganz ohne Gewerbfleiß iſt. Der Weinſtock, der hier gedeiht,
iſt derſelbe, welcher Xenophons Lob geerntet hat, als er nach
dem beſchwerlichen Rückzuge durch das Karduchengebirge ſeinen
[96]Van und die Kurden.
Kriegern in dieſem kleinen Paradieſe einige Raſttage geſtattete1.
Nach neueren Reiſenden ſoll indeß der hieſige Wein unſchmackhaft
ſein. Geſchätzter iſt heute noch die Tabakpflanze, die an den
feuchten Ufern des Kara-Su, einem Nebenfluſſe des Eufrat, gedeiht
und deren Blätter ſogar bis Conſtantinopel verſendet werden
ſollen. Maleriſcher, als die Stadt ſelbſt liegen einzelne alte
Kurdenburgen, früher die Wohnſitze einheimiſcher Feudalherren,
heute von den Unter-Statthaltern der Pforte als Amtsſitze
benutzt …2
Wenn wir unſeren Weg gerade nach Oſten verfolgen würden,
ſo träfen wir das Ende der Ebene dort, wo ſich der gewaltige
Nimrod-Dagh (10,000 Fuß) quer vorlegt. Von ſeinen Schnee-
wipfeln fallen die Oſtlehnen unmittelbar zum Van-See ab, deſſen
dunkelblaue Fläche nach allen Richtungen hin die Bergrieſen
ſeiner Ufer-Umrahmung widerſpiegelt. Wir folgen indeß dem
herkömmlichen Karawanenwege, der uns, nach Ueberſetzung einer
ziemlich hohen Waſſerſcheide in die Gebirgsſchlucht bringt, in
welcher die Kurdenſtadt Bitlis liegt. Sie iſt winkelig, wie die
meiſten ihrer Art, doch gibt es hier meiſtens ſolide ſteinerne
Häuſer und die Straßen ſind gepflaſtert. Auch eine alte Burg3
[97]Bitlis. Karawanenſtraße am See-Ufer. — Alter der Stadt Van.
erhebt ſich auf der ſteilen Thalwand, wie überhaupt die ganze
Niederlaſſung das vollkommene Bild einer kurdiſchen Bergſtadt
abgibt. Von hier iſt der Van-See nur wenige Meilen entfernt
und man gelangt dorthin, wenn man nordwärts die niedere,
von Moorboden gebildete Waſſerſcheide — Bitlis liegt bereits
im Tigris-Gebiet — überſchreitet, wo dann, im äußerſten Weſt-
winkel des Binnenſees, das Städtchen Tadman mit ſeiner impo-
ſanten Burgruine in Sicht tritt. Von hier führt der gewöhnliche
Karawanenweg längs des Südgeſtades, zum Theile an felſigen
Ufern oder ſanfteren, mit Zwergeichen und Haſelſträuchern be-
wachſenen Lehnen, oder durch reizende Ebenen, von den nieder-
ſtrömenden Gebirgsbächen durchädert. Auf dieſem Wege gewahrt
man auch von der ehemaligen Kurdenfeſte Paghwanz das eigen-
thümlich gelegene Kloſter Agthamar, das ſich auf felſigem Eilande
unmittelbar aus den dunkelgrünen Fluthen des Sees erhebt.
Ebenſo merkwürdig iſt die Ruinenmaſſe von Vaſtan, die auf
ſandiges Geſtade hinabblickt, einſt der Sitz mächtiger armeniſcher
Könige1. Von hier tritt der Karawanenweg auf das Oſtufer
des Sees über und nach mehrſtündigem Ritte durch die frucht-
bare Geſtade-Ebene tritt plötzlich die Stadt Van, ganz im Hinter-
grunde einer lieblichen Bucht, mit ihren üppigen Gärten und
dem ſtattlichen Caſtell in Sicht.
Das Alter der Stadt Van ſoll ein ſehr reſpectables ſein
und ſpricht eine armeniſche Tradition von einer Gründung durch
die Königin Semiramis, wodurch auch der alt-armeniſche Name
Schemiram-Gerd, „Stadt der Semiramis“, ſeine Erklärung findet.
Iſt nun Van, das dieſen Namen erſt von einem armeniſchen
Könige erhalten hat, wirklich eine Gründung der Semiramis?
Nach den Reſultaten der letzten Forſchungen und Unterſuchungen2
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 7
[98]Van und die Kurden.
iſt es zunächſt feſtgeſtellt, daß in der aſſyriſchen Geſchichte in
zwei ziemlich weit von einander abſtehenden Epochen der Name
einer Königin Semiramis auftaucht. Moſes von Chorene erzählt
nämlich nach und mit verſchiedenen Schriftſtellern, Ninos ſei
nicht, wie Kteſias es darſtellt, ruhig im Genuſſe der Herrſchaft
geſtorben, ſondern von ſeinem Weibe (Semiramis) geſtürzt und
vertrieben worden. Die neueren Orientaliſten haben nun con-
ſtatirt, daß dies einfach eine Verwechslung des großen Ninos
mit dem elenden Ninos II., mit dem die Dynaſtie Kavus aus-
ſtarb, ſowie der großen Semiramis des Kteſias mit der ſpäteren
Herrſcherin gleichen Namens, von der Herodot berichtet, ſei. Die
Regierungszeit der beiden genannten aſſyriſchen Könige und ihrer
Gattinnen liegt aber mindeſtens tauſend Jahre auseinander1, was
für das Alter der Stadt Van, die durch ihren armeniſchen
Namen auf die Gründerin hindeutet, einen ſehr erheblichen Aus-
fall gibt. Von dem muthmaßlich ſehr hohen Alter der Stadt
ſpricht auch der Umſtand, daß ſie ſchon zur Zeit Alexanders
vollends dem Verfalle preisgegeben war. Damals wurde ſie
von dem armeniſchen Könige Van wieder erbaut, eine Nengründung,
die auch noch unter den Arſaciden platzgriff, ſo unter dem Könige
Valarſaces, dem zweiten Beherrſcher Armeniens aus dieſem Ge-
ſchlechte. Trotz ihrer ſtillen Abgelegenheit in der großen Plateau-
ſenkung zwiſchen dem Taurusſyſtem und dem armeniſchen Hoch-
lande ſind dieſer hochintereſſanten Stadt ſchwere Prüfungen
keineswegs erſpart geblieben. Die Seldſchuken traten bald in
ihren Beſitz, ohne ihr etwas anzuthun, was von den Tartaren
nicht behauptet werden kann, die unter dem berüchtigten Völker-
mörder Temur Lenk nach hergebrachter Gewohnheit in die Stadt
eindrangen, ſie plünderten und vernichteten. Beſſer ſind im
Ganzen die Perſer und Turkmenen mit Van verfahren. Im
Jahre 1533, alſo beinahe hundert Jahre nach der Eroberung
[99]Das heutige Van. Culturdenkmale.
Conſtantinopels durch Mohammed II., ging ſie in den Beſitz der
Osmanen über, freilich im Laufe der Zeit häufig nur nominell, denn
nirgends in Türkiſch-Aſien haben die kurdiſchen Unabhängigkeits-
gelüſte ſo reiche Blüthen getrieben, als wie auf dieſer Terra in-
cognita. Sehr unbotmäßige Stämme ſind es auch heute noch,
deren Territorien einen gefürchteten Cordon um die einſame Hoch-
landsſtadt ziehen. Wir haben da die Heideranly-Kurden, welche
nordwärts des Sees, vom 12,000 Fuß hohen Sipan-Dagh, dem
impoſanteſten Schneewipfel des Landes gegen die Murad-Quelle
hin ihre Weideplätze einnehmen, dann die Schamseddinly, öſtlich
des Sees, und die Hertoſchi (im Lande der alten Karduchen, das
Xenophon durchzog) im Südoſten, bereits in der alpinen Quell-
region des öſtlichen Tigris und des Zarbſtromes.
Die heutige Stadt Van, eine ſchmutzige, regelloſe, den Cha-
rakter der Aermlichkeit und Verwahrloſung tragende Häuſer-
anhäufung, liegt drei viertel Stunden vom Oſtufer des Sees
entfernt. Sie iſt mit einer doppelten Mauer mit Zinnen und
flankirenden Thürmen umzogen und lehnt ſich im Oſten an einen
vollkommen iſolirt aus der Ebene herausragenden länglichen Fels-
rücken, dem Träger jener altberühmten aſſyriſchen Ruinen, deren Er-
forſchung vor nun bald fünfzig Jahren dem deutſchen Gelehrten
Schulz das Leben gekoſtet hat 1. Von der Höhe dieſer aſſyriſchen
Akropolis aus dürfte indeß der Beſchauer des weitläufigen Bildes
der Stadtanlage von Van immerhin noch einigen Reiz abzugewinnen
7*
[100]Van und die Kurden.
vermögen. So elend winkelig und im hohen Grade unwohnlich
die Niederlaſſung ſelbſt iſt, ſo anmuthig nimmt ſich die unmittel-
bare Umgebung derſelben aus.
Van liegt mitten im Gartengrün und ſo präſentirt es ſich
auch jenem Reiſenden, der von Weſten — alſo dem gewöhnlichen
Reiſewege der Europäer — längs des See-Ufers der Stadt ſich
nähert. Jede ordentliche Haushaltung iſt im Beſitze eines Hauſes
in der Stadt und eines Landhauſes mit den entſprechenden
Gärten im Weichbilde derſelben. Dieſen unbefeſtigten Theil ihres
Wohnſitzes nennen ſie „Baglar“, d. i.: die Gärten und unterſcheiden
ihn ſcharf von der eigentlichen Stadt, „Van Schehri“. In dieſe
Gärten ziehen alle Einwohner zur Sommerszeit, alle Hauptwege
darin ſind mit ſchmucken Häuſern beſetzt, aber auch jedes derar-
tige Tusculum von hohen Lehmmauern umzogen, ſo daß man
in der Nähe nur dieſe, aus der Ferne, ſobald man in der Ebene
verbleibt, nur die Baumkronen, namentlich ſchöne und zahlreiche
Silberpappeln gewahrt. Im Ganzen zieht ſich dieſe grüne Inſel
bis zum Seegeſtade, an dem, Kähne ausgenommen, von Reiſenden
aus den verſchiedenen Decennien auch nicht ein Schiff, dem man
ſich zu einer längeren Fahrt anvertrauen könnte, angetroffen
wurde. Der See, der einen bedeutenden Salzgehalt hat, iſt tief-
blau, an den Rändern, namentlich im Norden und Weſten, durch
Abſpiegelung gewaltiger Schneehäupter etwas nüancirter in der
Grundfarbe, ſonſt aber ziemlich reizlos, da er keine eigentlichen
Uferortſchaften beſitzt 1. Im Süden des Van-Beckens liegen die
früheren Schlupfwinkel des einſt weit berühmten Kurdenfürſten
Mahmud Khan. Wir haben gelegentlich unſerer Beſchreibung
von Bajazid des Winkeldespoten Belul-Kurd gedacht 2. Sein
Rivale jenſeits des Ala-Gebirges war nun dieſer Mahmud Khan.
Wie kein Zweiter in dieſen verrufenen Gauen hat er dazu bei-
getragen, Wohlſtand, Sitte und Ordnung zu untergraben und
die ſpärliche Cultur auf Jahrzehnte hinaus zu erſticken. Im
Laufe ſeiner Herrſchaft hatte er bei hundert, meiſt armeniſche
Ortſchaften unter ſeine Botmäßigkeit gebracht, und ſeine ange-
maßten Souveränitätsrechte auszunützen gewußt, wie kaum der
[101]Zuſtände im Territorium von Van. Die Neſtorianer.
allmächtige „Padiſchah in Rum“, wie die Bergvölker dort zu
ſagen pflegen. Aber auch Mahmuds Macht wurde von den
Türken gebrochen, freilich ohne jedwede gute Conſequenz für
die Bewohner, die mit dem gleich gewaltthätigen „Befreier“ vor-
lieb nehmen mußten. Ja, die Bergvölker ſelbſt haben durch
die Berührung mit dem officiellen Osmanenthum ſittlich nur
verloren und an ihren meiſt naiven Charaktereigenſchaften allent-
halben dann Schaden genommen, wenn ſie mit der bekanntlich
ziemlich nichtsnutzigen Provinz-Bureaukratie in längeren Verkehr
geriethen. Eine Verwaltung, die ihre illegalen Maßnahmen in
tauſend Kleinigkeiten documentirte, konnte das Selbſtgefühl der Berg-
völker, unbeſchadet ihrer eigenen mangelhaften Vorſtellung von den
Begriffen Mein und Dein, nur beleidigen, und wo ſie ſich den Nach-
ſtellungen und Bedrückungen der Behörden nicht entziehen konnten,
wurden ſie Heuchler, Meineidige, raffinirte Diebe und Wegelagerer.
Am ſchlimmſten haben ſich dieſe Verhältniſſe im Neſtorianer-
Diſtricte von Hakkari (oder Hakhiari), in der Quellregion des
großen Zarb geſtaltet. Das Gebiet wird durch den Gebirgsſtock
des Djebel Djudi, der ſich zwiſchen dem genannten Strom und
den Tigris aufbaut, weſtwärts begrenzt und reicht gegen Oſten
bis zur perſiſchen Grenze. Dies iſt die locale Abgrenzung auf
türkiſchem Gebiete, Neſtorianer wohnen aber auch im nordweſtlichen
Perſien, namentlich um Urumiah und verſprengte Gemeinden
findet man ſelbſt im nördlichen Meſopotamien (bei Feyſchhabur
und am Südhange des Tſchaspi-Gebirges), ihrem einſtigen Haupt-
ſitze, aus welchem ſie die Völkerſtürme des Mittelalters bald
verdrängt hatten 1. Es iſt bisher nur wenigen Reiſenden gelungen,
ihre heutige Heimat zu durchforſchen, wozu der Grund ebenſo ſehr
in der Unzugänglichkeit der meiſten entlegenen Gebiete des Alpen-
landes zu ſuchen iſt, wie in der Wildheit der Bewohner, an
welchem Renommé die chriſtlichen Neſtorianer und mohamme-
daniſchen Kurden ziemlich gleichen Antheil haben mögen. Die
einzige Paſſage iſt überdies nur das Thal des Zarb, das die
Hauptmaſſe des Alpenlandes gliedert. Zu beiden Seiten des-
ſelben liegen die gefährlichen Schlupfwinkel der Leihun-Kurden
und dieſer wilde Stamm war es, der einen Bedr-Khan hervor-
[102]Van und die Kurden.
bringen konnte, den berüchtigtſten Chriſtenſchlächter aus den
Vierziger Jahren. Als damals das ganze Gebiet vom furcht-
baren Religionskriege widerhallte, glaubte die Pforte einſchreiten
zu müſſen, aber ſie gab im Ganzen genommen nur den müßigen
Zuſchauer ab und mochte ihr ſtilles Gefallen daran finden, die
wilden Bergſtämme, ob nun dieſes oder jenes Glaubens, ſich
gegenſeitig vernichten zu ſehen. Daß ihre Sympathie, namentlich
die der türkiſchen Truppen-Commandanten, mehr auf Seite der
Kurden ſtand, liegt in der Natur der Sache und ſo fanden dieſe
freie Hand, ihrem uralten Haſſe die Zügel ſchießen zu laſſen
und unter den Neſtorianern aufzuräumen 1. Das Verhältniß
zwiſchen den beiden Bergvölkern war indeß nicht immer ein aus-
geſprochen feindliches, ja hin und wieder, namentlich zur Zeit
der Aufhebung des Feudalweſens unter Sultan Mahmud II.,
mit welcher Reform-Action bekanntlich die Macht der Dere-
Beys (Thalfürſten) gebrochen werden ſollte, ſchwand jeder Anta-
gonismus unter ihnen und ſie wehrten mit vereinter Kraft die
Invaſionsbeſtrebungen der Pforte ab. An dieſe einſtige Brüder-
lichkeit mochte ſich aber Bedr-Khan nicht mehr erinnert haben.
[103]Chriſtenmaſſacre. Bedr-Kahn und Nur-Allah. Allgemeine Armuth.
Die Fehden ſind indeß auch heute noch häufig, namentlich im
Gebiete von Tijari, wo zwiſchen Schneewipfeln in waſſerreichen
Thälern die Steinhütten der Neſtorianer unter gewaltigen Nuß-
bäumen liegen 1. Weiter nordwärts, im Gebiete von Djulamerk,
hatte Nur-Allah die Maſſacres arrangirt, er wurde aber ſpäter,
als er ſich auch den intervenirenden Truppen widerſetzte, gefangen
und ins Exil nach Kandia geſchickt 2. Daß heute die Dinge in
dieſem ſo entlegenen Winkel von Türkiſch-Aſien anders, d. h. für
die Chriſten beſſer ſtehen, wird wohl Niemand vorauszuſetzen wagen,
der das ungebundene Schalten der öſtlichen Bergvölker kennt 3. Welch
ſchöne Aufgabe für jene ferne Zukunft, der es vorbehalten iſt, auch
unter dieſe Völker einſt Cultur und Geſittung zu tragen 4!
Aber ſelbſt im tiefſten Frieden kann Van und ſein Terri-
torium bei all’ ſeiner Fruchtbarkeit und Lieblichkeit die ohnedies
dünn genug geſäete Bevölkerung nicht ernähren. Jeder Beſucher
Conſtantinopels wird ſich der ſtämmigen, ſchwarzäugigen Geſtalten
erinnern, die allerorts daſelbſt an den Straßenecken lungern und
zum Laſtentragen ſich verdingen. Es ſind die bekannten „Hamals“,
die bei einer fabelhaften Genügſamkeit (Mokka, Brod und Hülſen-
früchten) einzeln Laſten befördern, die bei uns mindeſtens nur
durch drei ſtarke Träger von der Stelle geſchafft werden könnten.
Dieſer Leute Heimat iſt meiſt im Becken von Van zu ſuchen.
Es ſollen ihrer oft 30 bis 50,000 in der Fremde ihr Brod
ſuchen und der zehnte Theil derſelben kehrt jährlich mit ſeinen
kleinen Erſparniſſen zu ſeiner Familie zurück. Ob ſie die letzteren ſo
finden, wie ſie dieſelben verließen, iſt immerhin zu bezweifeln;
[104]Van und die Kurden.
ſehr freudvoll iſt aber auch die Rückkehr den aus Arbeitsnoth Emi-
grirten nicht gemacht, denn es braucht nur irgend ein verlotterter
Beamte davon Wind zu bekommen und den armen Teufeln wird
das Erſparniß ſchonungslos confiscirt oder ſonſtwie erpreßt, die
Mittel hiezu kennt man ja.
Es iſt eine eigenthümliche Erſcheinung, daß gerade die Türken,
die für den allgemeinen Fortſchritt und die culturelle Entwickelung
der von ihnen beherrſchten Völker doch wahrlich nichts gethan,
ja derſelben noch immerdar feindlich entgegengetreten ſind, nicht
wenig ſtolz auf ihre heutige Lehmhüttenſtadt Van ſind. Sie
ſind ſtolz, eine Localität inne zu haben, deren Geſchichte ſo tief
in das altersgraue Sagenthum hineinreicht, ohne zu bedenken,
daß ſie mit derſelben ganz und gar nichts zu ſchaffen haben.
Daß dieſes Bewußtſein einen möglichſt verkehrten und unpaſſen-
den Ausdruck erhält, leuchtet ſchon daraus ein, daß von Seite
der Türken eigentlich nur myſtiſche Traditionen in Curs geblieben
ſind, gemengt mit blödſinnigem Aberglauben, in deſſen Kund-
gebungen der eigentliche antike Zauber des Platzes vollends ver-
loren geht. Für ſie ſind all’ die ſtummen Zeugen eines glanz-
vollen Vorlebens, die gewaltigen Felsbauten, Tempel, Grotten
und baulichen Reſte nur der Ort, unter dem in des Bodens
Tiefe fabelhafte Schätze ſchlummern, die ſie früher oder ſpäter
heben werden. Daß unter der Erde nichts, oder nur ſehr wenig,
an den Bauten ſelbſt aber ſehr viel zu ſuchen, oder doch zu
ſehen und zu lernen iſt, hat den moslemiſchen Geiſterſehern
bisher freilich nicht einleuchten wollen, und ſo haben ſie in den
alten aſſyriſchen Ruinen weidlich umhergewühlt, zerſchlagen, zer-
hackt und überhaupt, wo es nur einigermaßen möglich war, das
Unterſte zu oberſt gekehrt. Nur auf den Gipfeln der Monu-
mente, an den unzugänglichen Felswänden und Platten haben
ſich die Keil-Inſchriften zu erhalten gewußt, auf deren Löſung
die autochthonen Cultur-Fanatiker umſomehr bedacht waren, als
ſie darin den Schlüſſel zu den Lagerorten der vermeintlichen
Schätze zu erlangen wähnten. Wenn es demnach hin und wieder
in der Fachwelt Wunder nahm, daß in Van den Beſtrebungen
der Forſcher, deren Zahl übrigens eine ſehr geringe iſt, ſo wenig
Hinderniſſe bereitet wurden, ſo mag dies dahin erklärt werden,
daß die mächtigen, aber etwas querköpfigen Honoratioren der
[105]Die Türken in Van. Aberglaube. — Keil-Inſchriften.
Stadt der Semiramis durch fremde Hilfe in den Beſitz der ver-
grabenen Reichthümer zu gelangen hofften 1 … Das iſt Alles.
Ihren blödſinnigen Aberglauben nennen ſie Pietät für das ein-
ſtige Emporium, ihre Gewaltthätigkeit ein gutes Regiment, ihre
armſeligen Gärten ein Paradies. Oft hauſt die nichtsnutzige
Provinz-Bureaukratie in den Dörfern des flachen Landes, und
iſt ſie abgezogen, ſo kommen die Kurden von ihren Weiden herab
und halten Nachleſe bei jammernden Weibern und zerknirſchten
Männern. Und alle dieſe Zeichen geſchehen im Angeſichte eines
großartigen Culturdenkmales, auf deſſen ſteinernen Stirnen eine
geheimnißvolle Schrift von verſchollenem Glanze Kunde gibt.
Wie auf dem Bagiſtan bei Ekbatana Darius auf 2000 Fuß
hoher Felswand in den drei Sprachen ſeines Reiches (ariſch,
turaniſch, ſemitiſch) die Geſchichte aller Empörungen, die er nieder-
ſchlug, einmeißeln ließ 2, ſo hat zu Van Xerxes, ſein großer Sohn,
den Ruhm ſeiner Herrſchaft zu verewigen getrachtet. Und die
heutigen Volksbeglücker blicken ſtumpfſinnig da hinauf und wähnen
Kunde zu erhalten von verborgenen Schätzen, indeß in unver-
wüſtlichen Schriftzeichen eine hiſtoriſche Kundgebung, von deren
Bedeutung ſie keine blaſſe Ahnung haben, ihnen entgegenleuchtet …
An den Grenzen Kurdiſtans angelangt, ergibt ſich nunmehr
[106]Van und die Kurden.
wohl die Nothwendigkeit einer Ueberſicht von dem Kurdenvolke,
deſſen Schickſale allenthalben mit jenen der Armenier im Laufe
der Jahrhunderte verflochten waren. Die Ethnologie nennt die
Kurden ein autochthones Volk des Zagros-Syſtemes, alſo jener
unwirthlichen, großartigen Gebirgs-Territorien zwiſchen dem weſt-
lichen Eufrat und dem iraniſchen Hochlande, die ſie heute noch
innehaben. Ob jene wilden, unbezwingbaren Bergvölker, mit
denen bereits die erſten aſſyriſchen Dynaſtien vollauf zu thun
hatten, Kurden geweſen ſind, oder nur deren Vorläufer, muß ſo
lange eine offene Frage bleiben, bis eine andere Quelle, als die
des Herodot ausfindig gemacht wird, der allerdings für die
erſtere Nachricht einzutreten ſich geneigt zeigt. Es dürfte indeß
für unſeren Zweck genügen, die Kurdengeſchichte von jenem Zeit-
punkte ab näher zu betrachten, wo ſie in die erſten Beziehungen
zu den türkiſchen Völkern trat … Um das Jahr 1000 er-
ſtürmte der Kurdenfürſt Merwan die finſtere Baſaltſtadt Djar-
bekr am oberen Tigris, die bis dahin arabiſches Beſitzthum ge-
weſen 1. Es war zu einer Zeit, in welcher das Chalifat bereits
arg an innerer Zerrüttung litt und die an deſſen Peripherie ge-
legenen Provinzen ſich mälig vom Stammlande abzubröckeln
begannen. Merwan war der Begründer einer ihrerzeit berühm-
ten Kurdendynaſtie, der Merwaniden, die hundert Jahre lang
in den Hochlandſchaften des Eufrat und Tigris herrſchte und
mit ihren Schaaren weit und breit Schrecken verbreitete. Aber
das angeſtammte Gebrechen des geſammten Kurdenvolkes, ſeine
Zerſplitterung in zahlreiche Winkeldespotien und ſeine unglückliche,
arge Uneinigkeit, ward bereits damals, in der Zeit des Glanzes,
dem Bergvolke zum Verderben, und ſo konnte es den damals
noch ſehr kriegeriſchen Turkmenen Vorder-Aſiens unter Ortok
nicht ſchwer fallen, ſich der Kurden-Metropole Diarbekr zu be-
mächtigen 2. Der Verluſt dieſer Stadt allein genügte, um das
geſammte damalige Kurdenthum unrettbar zu discreditiren. Um
das altersgraue Kara-Amid — wie die Türken heute noch Diar-
2
[107]Zur älteren Kurdengeſchichte. — Diarbekr. Selim I.
bekr nennen — woben nämlich Tradition und Legende Wunder-
bares und Geheimnißvolles in Hülle und Fülle, und obgleich
kurz vorher Merwan die feſte Stadt den Arabern weggenommen
hatte, ſo galt ſie dennoch als die widerſtandskräftigſte des ganzen
mohammedaniſchen Orients, wenn nicht gar als uneinnehmbar.
Man ſchrieb ihr ein Alter von 4000 Jahren zu und die confuſe
orientaliſche Geſchichtsſchreibung hat es glücklich dahin gebracht,
daß wir heute völlig unorientirt über die Zeit der Gründung
ſind, da ſeitdem beharrlich an der gänzlich unverbürgten Sage
feſtgehalten wurde, wie ſie die Perſer colportiren, nämlich an der
Gründung durch die Fürſtentochter Amid 1. Den Namen Diar-
bekr (Land des Bekr) hat ſie erſt von den Arabern bekommen 2.
Noch heute iſt der Anblick der Stadt impoſant, wenngleich nicht
ohne düſteren Eindruck. Die gewaltigen Baſaltmauern der
Feſtung und ihre viereckigen Thürme thronen muthmaßlich ſeit
ihrer erſten Anlage noch immer unzerſtört auf hoher Uferſtufe,
an der der pfeilſchnelle Tigris vorüberſtrömt. Die Mauern ſind
aus rieſigen Quaderblöcken aufgeführt 3. Temur, der auf ſeinem
Zuge kurz vorher die Wälle von Bagdad in Trümmer gelegt
hatte und dem die Thore Moſuls freiwillig ſich öffneten, nahm
auch Diarbekr mit Sturm, indem er die oberſte Quaderlage ein-
reißen ließ, was kaum für eine energiſche Vertheidigung der
Stadt ſpricht, die damals noch die Turkmenen-Dynaſtie der Orto-
kiden in Händen hatte. Der häufige Beſitzwechſel der Stadt
kann uns indeß nicht weiter beſchäftigen, für uns genügt, daß
die Stadt bereits ſeit dem Jahre 1085 nicht mehr kurdiſch war,
daß ſie aber 1515 den Perſern durch den Eroberer Syriens und
Egyptens, Selim I., den die Geſchichte berechtigterweiſe den
[108]Van und die Kurden.
„Grauſamen“ 1 nennt, entriſſen ward, wodurch die Kurden
dauernd mit den Türken in Contact geriethen. Das Jahr 1515
bezeichnet den vollkommenen Wendepunkt in der Geſchichte der
Kurden 2. Edris, Hiſtoriograph am Hofe Selims, ſelbſt Kurde
von Geburt, erzählt ſehr umſtändlich, wie und mit welchen
Mitteln an die Neugeſtaltung Kurdiſtans geſchritten ward, eine
politiſche Neugeſtaltung, die, ſoweit ſie die Territorial-Eintheilung
betrifft, nahezu unverändert bis in unſere Tage hinein gedauert
hat, wie ja die ottomaniſche Regierung wunderlicherweiſe noch
heute an der politiſchen Diſtricts- und Provinzeintheilung Syriens
feſthält, die Selim vor mehr als dreihundert Jahren geſchaffen.
Die Türken fanden im damaligen Kurdiſtan nahezu ebenſoviele
Herren als Schlöſſer, deren Beſitzthum zum Theile erobert, zum
Theile abgelöſt wurde, während verſchiedene Gaue mit Erfolg
der Invaſion trotzten. In Folge deſſen griff eine Art Dreitheilung
im Verhältniſſe der Kurden zu der Pforte Platz, indem die be-
zwungenen Gaue dem Geſammtreiche mit türkiſcher Verwaltung
einverleibt wurden, die abgelöſten unter kurdiſchen Chefs gewiſſe
Privilegien behielten, während die unbezwungenen Territorien
die Unabhängigkeit in Form eines erblichen Beſitzrechtes in der
betreffenden Fürſtenfamilie zugeſichert erhielten 3. Das Gebiet
der letzteren umfaßte die impoſante Hochlandsmaſſe zwiſchen den
[109]Kurden-Rebellionen.
beiden Tigris-Quellarmen im Hauptzuge des kurdiſchen Taurus,
wodurch das eigentliche independente Kurdenthum ſeit Selims
Zeit mehr gegen Oſten abgedrängt wurde, wo es noch heute ſo
ziemlich auf eigene Fauſt ſchaltet.
Die heutige typiſche Kurdencapitale iſt die Stadt Bitlis am
öſtlichen Tigris, wie ſchon oben erwähnt, während der letzten
großen Kurden-Rebellionen deren politiſcher Mittelpunkt. Wenn
wir hiebei von den „letzten“ Kurdenkriegen ſprechen, ſo bezieht
ſich dies blos auf das diesbezügliche hiſtoriſche Quellenmaterial 1,
denn Kurden-Rebellionen, ſowie blutige Fehden zwiſchen den
Bergbewohnern und ihren andersgläubigen Nachbarvölkern, wie
Armenier, Neſtorianer, Chaldäer und Jacobiten, haben ſich immer
wiederholt, ſozuſagen von Jahr zu Jahr, doch verhielt ſich die
türkiſche Berichterſtattung bei ſolch unwillkommenen inneren
Zwiſchenfällen gegenüber der Außenwelt, zumal der europäiſchen,
begreiflicherweiſe ſehr reſervirt. Wenn auch Hafiz Paſcha von
Diarbekr ſich rühmen konnte, in der urwüchſigen Landſchaft
Bohtan ſämmtliche kurdiſche Raubneſter dem Erd-, oder beſſer
dem Felsboden gleichgemacht zu haben, ſo bleibt es für die
eigentlichen Erfolge der Türken bezeichnend genug, daß die zwangs-
weiſe aſſentirten Kurdenbataillone im türkiſchen Lager durch die
regulären Truppen ſchärfer bewacht werden mußten, als der
Feind in den Bergen. Bei der erſten Gelegenheit riſſen ſie zu
Tauſenden aus und Nachts waren die Lagerwachen gezwungen,
ſtatt Front gegen den Feind, Front gegen ihre kurdiſchen Kampf-
genoſſen zu machen, um ſie ſelbſt im Lager ſcharf im Auge zu
behalten. Die Regierung war ſeitdem, da ſie in dieſer Frage
nun einmal völlig impotent iſt, klug genug, die Kurden-Con-
ſcription, wo es nur immer anging, fallen zu laſſen, und die
Steuern werden unſere „ariſchen Brüder“, ſoweit es ſich um die
Bergdiſtricte handelt, ſchwerlich ſtark drücken. Mit den Thal-
kurden verhält ſich dies etwas anders. Sie ſind, wie jedes andere
Volk des osmaniſchen Reiches, ſeit jeher den brutalen Erpreſſungen
der Provinz-Bureaukratie ausgeſetzt geweſen, die ſich überall dort
die fetteſten Biſſen nahm (und nimmt), wo der Kurde zum
Spaten griff und dem productiven Boden die koſtbare Ernte
[110]Van und die Kurden.
abrang. Was dann noch erübrigte, das zerſtampften die Araber
der nord-meſopotamiſchen Wanderſtämme, die, gleich der Meerfluth,
ſoweit nordwärts vordringen, als ebenes Land ſich ihnen dar-
bietet. So ſind die kurdiſchen Thal-Coloniſten wieder in ihre
Berge getrieben worden und wo die rentable Arbeit nicht ge-
deihen will, da erſetzt das Raubhandwerk die mangelnden Exiſtenz-
mittel … So liegen beiſpielsweiſe an der Südgrenze Kurdi-
ſtans die letzten Kurdendörfer noch immer auf ſteilen Berghängen.
Da hinauf wagt ſich der Beduine nicht, während in der Ebene
der Kurde des Nomaden flinkes Roß fürchtet.
Die geographiſche Ausbreitung der Kurden iſt wiederholt
eingehend unterſucht worden, doch iſt man zur Ueberzeugung
gekommen, daß die Kurden und Kurdiſtan geographiſch nicht
einen und denſelben Begriff decken, indem man unter dem letzteren
das Gebirgsterritorium zwiſchen den Quell-Läufen des Eufrat
und Tigris, des Aras, der beiden Zarb-Flüſſe und des perſiſchen
Kyzil-Uzen verſteht, während Kurdenſtämme ſehr weitläufige
Länderſtriche innehaben, die außerhalb obiger Umgrenzung liegen.
Im Allgemeinen werden ſie in öſtliche und weſtliche Kurden ein-
getheilt; das Gebiet der erſteren, zu beiden Seiten der türkiſch-
perſiſchen Grenze gilt als die Urheimat der Kurden überhaupt 1.
und thatſächlich hat das Volk dortſelbſt nicht nur ſeine typiſchen,
ſondern auch ſeine ſocialen Eigenthümlichkeiten conſervirt, von
denen die Clan-Organiſation und das Kaſtenweſen die intereſſan-
teſten ſind. Die nationale Sprache iſt freilich auch hier vollends
in ein türkiſch-kurdiſch-perſiſches Kauderwelſch aufgegangen.
Das hohe, rauhe Ardelan wird gemeinhin als der eigentliche
Urſitz der Kurden angeſehen. In Senna, der Hauptſtadt der
genannten perſiſchen Grenzprovinz, iſt der Sitz der „Guran“ oder
Bauernkaſte, in dem türkiſchen Suleimanjeh jener der „Kermani“,
oder der herrſchenden Kriegerkaſte (des Adels). Nur dieſe nennen
ſich Kurd oder Karduch; der Bauer, ſei er nun ſeßhaft oder
Nomade, hat kein Anrecht auf dieſe Benennung, die ſomit ein
Titel iſt. Man trifft deshalb auch häufig, daß türkiſche Würden-
träger, welche geborene Kurden ſind, dem officiellen Titel ihren
nationalen vorſetzen, wie beiſpielsweiſe Ismael Kurd Paſcha,
[111]Gurani und Kermani.
dem bekannten General der kurdiſchen Irregulären während des
letzten Krieges. Was die räumliche Ausdehnung der Kurden
gegen Weſten anbelangt, ſo reichen ſie tief nach Klein-Aſien und
Klein-Armenien hinein, hierſelbſt etwa bis Siwas, ja bis in die
Pontusgegenden, dort thalab des Kyzil-Yrmak (Halys) bis über
Kaiſarieh hinaus, ja bis zu den großen Salzſeen Centro-Ana-
toliens. Die Nordgrenze der Kurdenverbreitung dürften die
Thäler des weſtlichen Eufrat und des Araxes ſein; oſtwärts
greifen ſie ſtark über die perſiſche Grenze hinaus und ſind be-
ſonders dicht in Ardelan und Tſchaldiran. Im äußerſten Süden
dürften ſie bis zum oberen Diala, der unterhalb Bagdad in den
Tigris mündet, reichen. Der auf dieſe Art begrenzte Länder-
complex umfaßt mindeſtens 4000 Quadrat-Meilen, doch ſind die
Kurden nur in Central-Kurdiſtan das dominirende Element, ſowie
in Theilen Oſt-Kurdiſtans, in allen übrigen Strichen durchſetzen
ſie nur die dortige Population, welche entweder die armeniſche,
türkiſche, turkmeniſche oder perſiſche iſt. Die Populationsziffer der
Kurden iſt bei den gegebenen Umſtänden ſelbſtverſtändlich gänzlich
unbeſtimmbar, doch werden die türkiſchen Kurden, welche die Haupt-
maſſe bilden, auf rund eine Million geſchätzt 1. Mit den perſiſchen
und ruſſiſchen Kurden dürfte ihre Zahl bei 1 ½ Millionen erreichen.
So weit wäre das Hauptſächlichſte über die Kurden in
geographiſcher Hinſicht erſchöpft. Nicht minder intereſſant dünken
uns aber die religiös-politiſchen Beziehungen und Divergenzen
zwiſchen einzelnen größeren Stämmen oder Glaubensgemein-
ſchaften, denn die Kurden ſind beileibe nicht ſammt und ſonders
Mohammedaner. Zunächſt gehört ein ganz reſpectabler Procent-
ſatz derſelben der im Oriente weit und breit als „Teufelsanbeter“
[112]Van und die Kurden.
verrufenen Secte der Jeziden 1 an, deren Hauptſitz einſt das ein-
ſame Wüſtengebirge von Sindjar 2, weſtlich von Moſul, war, wo
ſie in ihren unzugänglichen Höhlen das letztemal in den dreißiger
Jahren durch Reſchid Paſcha à la Peliſſier ausgeräuchert wurden.
Die Jeziden glauben wie alle Ultra-Schiiten an die Incarnation
der Gottheit in einem Propheten und in dieſem Sinne iſt ihr
hochgehaltener Nationalpatron Scheich Adi ebenſo ſehr ein Werk-
zeug Gottes als Gott ſelbſt. Der Glaube an die Rehabilitirung
des „gefallenen Engels“ ſpielt bei ihnen nur eine untergeordnete
Rolle, doch hat ihnen gerade dies die Bezeichnung von „Teufels-
anbetern“ und damit auch den Haß und die Verfolgungswuth
der Nachbarvölker, vor Allem der Mohammedaner, zugezogen.
Dies verſchlägt aber keineswegs, daß die Jeziden — die Sind-
jarlis ausgenommen — von allen Kurden die weitaus zugäng-
lichſten, toleranteſten, fleißigſten und friedlichſten ſind. Bekannt
ſind ihre Feſte zu Ehren Scheich Adi’s in dem quellen- und
baumreichen Thal gleichen Namens unweit von Amadia. In
weißen fliegenden Gewändern und ſchwarzem Kopfbund zum
melodiſchen Tone der Rohrflöten führen ſie dortſelbſt unter den
uralten Nußbäumen und Platanen bei nächtlichem Fackelſchein
und dem Jubelgeſchrei der Weiber: „Tahlil! Tahlil!“ ihre reli-
giöſen Tänze auf 3 … Die ihnen hiebei nachgeſagten geſchlecht-
[113]Jezidenſchlächtereien im Sindjargebirge. — Ali Ilahi.
lichen Orgien ſollen Verleumdung ſein 1. Von den libaneſiſchen
Secten (Druſen, Naſarier, Ismaelier) iſt dergleichen bekannt,
unter den Kurden ſoll aber dieſer Vorwurf nicht die Jeziden,
ſondern die ſogenannten Kyzilbaſchs oder „Rothköpfe,“ die räube-
riſchſten des ganzen Kurdiſtans, treffen. Ihre Wohnſitze ſind die
Hochzinnen des „Tauſend Seen-Gebirges“ (Bingöl-Dagh) ſüdlich
von Erzerum. Daß dieſe Secten ſpeciell die Jeziden von den
Moslems mit grimmigem Haſſe verfolgt werden, rührt daher,
daß ſie keine geſchriebenen, religiöſen Ueberlieferungen beſitzen,
alſo, wie Mohammed ſich im Koran ausdrückt, keine „Schrift-
beſitzer“ ſind. Es würde zu weit führen, all’ jene Jeziden-
Schlächtereien, welche die Pforte am Gewiſſen hat, hier einge-
hender zu behandeln, bedauerlich bleibt es aber auf alle Fälle,
daß gerade der brauchbarſte Theil der kurdiſchen Bevölkerung
auf Schritt und Tritt verfolgt und ausgerottet wird. Eine Zeit
lang wurde namentlich von Seite der Türken unter officiellem
Schutze der Raub jezidiſcher Frauen ſchwunghaft betrieben; da aber
am Stambuler Markt für die „Teufelsanbeterinnen“ nur ſchwache
Nachfrage war, ging der ſaubere Geſchäftsbetrieb wieder ein.
Die Jeziden wohnen am dichteſten im Berglande von Ama-
dia, halbwegs zwiſchen Moſul und dem Alpenlande der Ne-
ſtorianer, wo ſich in der Nachbarſchaft der Schneewipfel des
Djulamerk-Stockes Dutzende kurdiſcher Raubburgen, der Beſitz
moslemiſcher Kurdenbeys, erheben … Ueber die Zuſtände da-
ſelbſt — Hakkiari — haben wir bereits berichtet. Von dort iſt
die perſiſche Grenze nur wenige Tagreiſen entfernt und mit
ihrem Ueberſchreiten gelangen wir in das Gebiet der wildeſten
und unbändigſten aller Kurdenſtämme, oder beſſer: mit den Kur-
den eng verwandter Bergvölker, in jenes der Luren und Buch-
thiaren. Sie hauſen in ihren Gebirgsſchlupfwinkeln halb nackt
wie Troglodyten und verwehren Jedermann den Zutritt. Unter
ſolchen Umſtänden iſt es mit unſerer Kenntniß über dieſe kur-
diſchen Zweigfamilien ſelbſtverſtändlich ſehr ſchlecht beſtellt. Ueber
die angrenzenden Ardelan-Kurden hinaus treffen wir bei Kir-
manſchah auf die Secte der „Ali Ilahi“. Ihr Hauptſitz iſt
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 8
[114]Van und die Kurden.
Kerind, jenſeits der berühmten „Zagrospforten“, durch die einſt
Alexander hindurchzog. Dort wird Gott in täglichen Gebeten
und Fluchen aufgefordert, alle Moslems mit Hilfe Benjamins,
des Sohnes Jacobs, zu vertilgen. Der Teufelscult erſcheint bei
ihnen viel ſchärfer ausgeprägt als bei den Jeziden, denn ſie
halten den Satan als Weltſchöpfer. Dieſe Secte wird ſogar
noch bei Suſa, alſo unweit des perſiſchen Golfes, mitten unter
Arabern getroffen. An dieſer Völkerſcheide aber findet unſere
Abhandlung naturgemäß ihren Abſchluß 1. —
[[115]]
V.
Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Klein-Armenien. — Das Halysplateau mit Siwas. — Das plaſtiſche Total-
Bild Armeniens. — Die Hochſteppen. — Die Eufrat-Katarakte. —
Armeniens culturhiſtoriſche Stellung zu Aſien. — Das armeniſche
Volk der Gegenwart und ſein bisheriges Verhältniß zur herrſchenden
Race.
Von Erzingian ſtrömt der Eufrat noch nahezu zwanzig
Meilen in ausgeſprochen weſtlicher Richtung, bis Egin, von wo
er dann, die großen Krümmungen innerhalb der Kataraktenſtrecke ab-
gerechnet, bis tief in die weſt-meſopotamiſche Grenzmark hinein
ſeine ſüdliche Direction beibehält, um ſchließlich ſüdoſtwärts dem
Perſermeere zuzuſtrömen. Das Land nördlich jener Theilſtrecke
zwiſchen Erzingian und Egin iſt wol geographiſch, wie ethnographiſch
noch zu Armenien zu rechnen. Wir wollen den hiſtoriſchen Factor
gar nicht in Betracht ziehen, daß ſeit dem Kriegsſturme, der die
erſten Seldſchukiden in die Gaue des öſtlichen Armenien getragen,
zumal nach Vaspurakan (am Van-See), wo das Königsgeſchlecht
der Orpelier den erſten Anprall auszuhalten hatte, ein großer
Theil der dortigen armeniſchen Bewohnerſchaft Schutz bei den
Byzantinern ſuchte und ihn auch in ihren Grenzterritorien am
oberen Halys fand 1. Für uns genügt, die geographiſche Situation
im Auge zu behalten und die hieraus entſpringende Zuſammen-
8*
[116]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
gehörigkeit klar zu machen … Wir haben oben (im zweiten
Abſchnitte) der großen Communicationen aus dem Centrum Ar-
meniens (Erzerum) nach Weſten und der Paß-Paſſage von Kara-
kulak (bei der ſogenannten „Teufelsſchlucht“) gedacht, die den
allgemeinen Verkehr zwiſchen der Ebene Terdjan und den weſt-
wärts ſich dehnenden Gebirgslandſchaften vermittelt. Dieſe ſelbſt
ſind nur eine Fortſetzung des mächtigen Kop-Dagh (10,000 Fuß),
der ſich zwiſchen dem obern Eufratthal und dem Quellfluſſe des
Tſchoruk quer vorlegt und von einem uralten Handelswege, dem
pontiſch-armeniſch-perſiſchen überſetzt wird. Im Anſchluß hieran
über Karakulak nach der vulkaniſchen Erhebungsmaſſe des Sepuh
oder „heiligen Berges“ bei Erzingian einerſeits, ſowie anderſeits
um die Quellregion des Kelkit-Tſchai, der weſtwärts über Nikſar
dem Meere zuſtrömt, indem er ſich vorher noch mit dem Iris
vereinigt, breiten ſich noch immer Gebirgszüge, kleinere Zwiſchen-
plateaux, ſowie Längenthäler, deren orographiſcher Zuſammenhang
mit den öſtlichen armeniſchen Gebirgszügen ſich unverkennbar dar-
thut. Erſt in der Meridianrichtung von Egin, im Plateaulande
Gerdſchanis treten oſtwärts relativ niedere Randgebirge heran,
die bereits einen anderen orographiſchen Typus aufweiſen. Es
ſind jene ringartig aneinander gruppirten Gebirgseinfaſſungen
welche den oberſten Lauf des Halys im Norden, Oſten und
Süden umklammern und gleichzeitig das weitläufige Plateau be-
grenzen, in deſſen beiläufiger Mitte die Hochlandsſtadt Siwas
gelegen iſt.
Dieſes Territorium iſt ſo recht die Grenzmark zwiſchen
Armenien und Anatolien und bevor wir das Totalgemälde des
erſteren vorführen, mag es immerhin am Platze ſein, einige Zeit
bei der letzten größeren Stadt der Armenier zu verweilen, die
ihnen ein Hort in der Zeit ſeldſchukidiſcher Bedrängniß war.
Von Dauer konnte dieſe Zwiſchenzeit freilich nicht ſein, angeſichts
der rapiden Sturmfluth, die, in Geſtalt der Reiterſchaaren Alp
Arzlans nach ihrem Zerſtörungswerk im Oſten, unbehindert ſich
nach Weſten wälzte. Zudem bot das Land, wie auch heute noch,
nur geringe Hilfsquellen und die weiten baumloſen Steppenland-
ſchaften ſchienen ſo ganz geſchaffen, barbariſchen Horden zum
Tummelplatze zu dienen. Wer demnach heute jene graſigen Ebenen
betritt, begegnet überall nur troſtloſer Oede und Abgeſtorbenheit,
[117]Klein-Armenien.
die ſich unabſehbar die Halys-Ufer entlang breitet. Zwar die
nordweſtlich vorliegenden Randgebirge beſitzen auch heute noch
ihren ſporadiſchen Baumſchmuck und zu Siwas ſelbſt unterbrechen
herrliche Baumgruppen (gewaltige Platanen und Pappeln) das
platte Land, ſonſt aber gibts hier nur fette Weiden, Lieblings-
plätze der wandernden Turkmenen und Kurden oder die Felder-
gürtel, welche die Stadtbewohner ſelbſt cultiviren 1. Vollends
aber erſtirbt im Südweſten, wo das zackige Karabel-Gebirge das
Plateauland begrenzt, die organiſche Natur. Eine einzige Paß-
ſcharte führt dort hinauf, ein prächtiges Ausfallsthor der räube-
riſchen Kurden, für die es blos der Witterung den Halys entlang
ziehender Karawanen bedarf, um gleich Hornißſchwärmen aus
dem Schlupfwinkel auf die ohnedies immerdar beſorgten Reiſen-
den hervorzubrechen. Dafür aber iſt das Land auch ſo dicht bewohnt,
daß man auf der dreißig deutſche Meilen langen Strecke zwiſchen
Tokat und Haſſan-Tſchelebi nur ſechs Dörfer zählt.
Eine beſonders glanzvolle Vergangenheit hat Siwas wohl
nicht gehabt. Aber ſelbſt die kurze Zeit eines verhältnißmäßig
annehmbaren Wohlſtandes fand ein definitives Ende, als der
Weltſtürmer Temur Lenk auch hier ſeine brutale Vernichtungswuth
zu bethätigen für nöthig fand. Noch ſtehen die Mauertrümmer
jener Wälle, welche nur wenige Tage den Sturmböcken des
Feindes widerſtehen konnten, trotz ihrer angeblich ſo formidablen
Stärke, die orientaliſche Chroniſten mit Vorliebe ins Detail
ausmalen 2. Um ſo gräßlicher aber mußte die Bewohnerſchaft
ihren kurzathmigen Widerſtand ſühnen. Die moslemiſchen Be-
wohner fanden zwar Gnade vor dem gottgeliebten Menſchen-
vernichter, dafür aber ließ er ſämmtliche armeniſche Chriſten
zuſammenhauen und viele Tauſende von ihnen in tiefe Brun-
nen werfen und dieſe ſodann verſchütten. Ein einſamer
[118]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Friedhof wird noch immer als die Stelle bezeichnet, wo ganze
Schaaren von Kindern durch Temurs Reiterei in den Boden
geſtampft wurden 1. Welch ungeheueren Rückſchlag all’ dieſe
ungeheuerlichen Schandthaten auf Land und Volk ausüben mußten,
iſt um ſo leichter zu begreifen, wenn man erwägt, daß gerade
der rührigſte, intelligenteſte Theil der Bewohnerſchaft, die Ar-
menier, nahezu ausgerottet wurden, indeß die Moslims, unein-
gedenk der mit knapper Noth erlangten Schonung, das Werk
der Verfolgung und Bedrückung des elenden chriſtlichen Reſtes
mit viel Behagen fortgeſetzt zu haben ſcheinen. Es wäre ja im
Gegenfalle nimmer zu begreifen, weshalb Siwas, das ja durch
ſeine geographiſche Lage und am Kreuzungspunkte zweier großer
Handelswege alle Bedingungen zur Prosperität hatte, aus ſeiner
Verſumpfung und Armuth ſich niemals aufzurütteln wußte.
Das einzige ältere Bauwerk, das ſich in der Stadt erhalten hat,
iſt die ſteinerne Bogenbrücke aus der Zeit des armeniſchen Königs
Senekherim, dem Orpelier, datirt alſo aus der Zeit der Emi-
gration dieſes Geſchlechtes aus Vaspurakhan nach Klein-Armenien
oder dem oberen Halys-Plateau. Alles Uebrige iſt entweder
Ruine oder unanſehnlicher Holzbau, will man die viel älteren
Ornamentplatten und ſonſtigen architektoniſchen Schmuck, der in
einzelnen Moſcheen und Kirchen verbaut iſt, nicht gelten laſſen 2.
Wenn nun vollends der hier in der Regel äußerſt ſtrenge Winter
die einſame Plateauſtadt heimſucht, ſo liegt ſie während vieler
Monate hindurch in mannshohen Schnee vergraben, und der
Nachbar muß ſich zum Nachbar mühſam den Weg durch die
Niederſchlagsmaſſe bahnen 3. Hiezu kommt noch, daß die Re-
gierung in dieſem Lande, in Nachbarſchaft des unwirthlichen
Anti-Taurus, niemals eine entſcheidende Autorität beſaß. Wer
auch in aller Welt würde Luſt verſpüren, ſich mit den Afſcharen,
[119]Siwas. — Das plaſtiſche Totalbild Armeniens.
die alljährlich zur Sommerszeit nordwärts ausſchwärmen 1, nach-
dem ſie während des Winters die immergrünen Haine Ciliciens durch
ſtreift haben, ſich anders abzufinden, als hin und wieder ihr
Wohlwollen zu erkaufen? Der Staat hat freilich keine Gelder
für derlei bedenkliche Subſidien-Bewerber, und der Gouverneur
ganz ſicher auch nicht, aber es bedarf nur mehrerer blutiger
Anläſſe, um den zumeiſt bedrängten Bewohnern des Flachlandes
plauſibel zu machen, daß es nur einer momentanen Steuer-
erhöhung bedürfe, um das Uebel in Form einer Loskaufsſumme
zu bannen. Gleichwol iſt das Mittel kein radicales und die ganze
obere Halysgegend iſt heute, wie vordem, in der Gewalt der
kriegeriſchen Afſcharen. Sie ſchwärmen weſtwärts ſogar bis zum
Rieſenkegel Argäus, dort, wo ſich das weitläufige Kaiſarie (das
altberühmte Cäſarea) mit ſeinen Kuppeln und weißen Minarets
wie ein großartiges Oaſenbild von der dunklen Waldtapete da-
hinter, die ſich den erloſchenen Vulkan hinanzieht, abhebt 2.
Nachdem wir mit Klein-Armenien und Siwas unſere Wan-
derungen durch die einzelnen Gaue des Geſammt-Gebietes beendet
finden, drängt ſich die Nothwendigkeit in den Vordergrund, neben
den vielartigen Detailbildern, welche meiſt in culturgeſchichtlicher
und hiſtoriſcher und wohl nicht zuletzt in allgemein touriſtiſcher
Richtung ausgeſponnen wurden, von der totalen, ſo hochintereſſanten
Ländermaſſe ein anſchauliches Gemälde zu gewinnen. Wir denken
uns zu dieſem Ende in den nordweſtlichſten Winkel des iraniſchen
Hochlandes verſetzt, eröffnen unſeren vorerſt rein orographiſchen
Rundblick auf das bisherige ruſſiſche Armenien, d. i.: die mittlere
Araxes-Ebene mit der doppelten Maſſen-Erhebung des Ararat
und der Gruppe vom Goktſcha-See und ſchließen hieran das
centrale Plateau Hoch-Armeniens mit den nördlichen, ſüdlichen
und weſtlichen Vorlagen, Abfällen, Randgebirgen und den zahl-
reichen Uebergangsformen. Vom Tafellande Azerbeidſchan baut
ſich die Hochlandsmaſſe nordweſtwärts, ſozuſagen von den beiden
rieſigen Kegelbergen Sawalan (12,200 Fuß) und Sahand (8000
Fuß), nach einer weitläufigen Unterbrechung im unteren Araxes-
Thale, jenſeits dieſes Stromes noch einmal zu impoſanter Höhe
[120]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
empor. Es iſt das eompacte Karabagh-Gebirge, das gleichſam
mit rieſigen Armen in nordweſtlicher Fortſetzung den 6340 Fuß
hohen Goktſchai-See (Sawanga) auf zwei Seiten umklammert.
Der zwiſchen Eriwan und dem See ſtreichende Arm, der Akman-
gan, erſcheint nur als eine einzige Reihe erloſchener Vulkane,
deren nordöſtliche Baſis, wie die aller übrigen Ringgebirge dieſer
Seeregion, mit ſchroffen Couliſſen zum dunklen, ſchäumenden
Sawanga abfällt. Alle dieſe Höhen ſind kahl und der vulka-
niſche Urſprung ihr ganz beſonderes Merkmal 1. In noch weiterer
nordweſtlicher Fortſetzung geht dieſe orographiſche Gruppe immer
mehr und mehr in das eigentliche armeniſche Randgebirge über
und fällt ſchließlich in geſtreckten Stufen zur transkaukaſiſchen
Tiefebene einerſeits, und zum gruſiniſchen Iſthmus anderſeits ab.
Getrennt von dieſer Erhebungsmaſſe durch die große Araxes-
Ebene von Eriwan, wohl aber mit dem Tafellande von Azer-
beidſchan durch einen längs des rechten Araxes-Ufers ſtreichenden
Gebirgszug, der allerdings vielfache Unterbrechungen erfährt, ver-
bunden, nimmt in mehr weſtlicher Richtung eine zweite Erhebungs-
maſſe ihre Ausdehnung, jene des Van-Beckens, in deſſen tiefſter
Depreſſion der gleichnamige mächtige Salzſee (5000 Fuß hoch)
[121]Das plaſtiſche Totalbild Armeniens.
liegt. Zwar beſitzt dieſer orographiſche Abſchnitt mehr den all-
gemeinen Plateau-Charakter und die eigentlichen Culminations-
punkte liegen allenthalben in jenen Randketten, welche den Quell-
arm des öſtlichen Eufrat von der Seeregion abtrennen, jener geht
aber ſpäter, dort, wo ſich der Murad-Fluß nach einem ſehr trägen
Laufe und nach Aufnahme zahlreicher Quellbäche durch den ſüdlich
quer vorliegenden Damm ſeinen Weg bahnt, in jenes Gebirgs-
maſſiv über, das, zwiſchen den beiden Eufrat-Armen ſtreichend,
im Süden von Erzerum die größte Culmination erreicht. Bevor
wir noch dahin gelangen, liegt auf unſerem Wege eine dritte,
von dieſen beiden Abſchnitten völlig abgetrennte, räumlich zwar
unbedeutende Gruppe, jene des Ararat mit ihrem ſchnee- und
eisbedeckten Doppelhaupte und ſeiner Gletſchermaſſe 1. Wir haben
ſchon im erſten Abſchnitte auf ſeiner Scheitelhöhe verweilt und
haben zu dem dort Angeführten wenig hinzuzuſetzen. Als der
eigentliche centrale Kern von Geſammt-Armenien, geſtattet ein
Rundblick von ſeiner Höhe ſowohl ein volles Umfaſſen der
Goktſchai-Gruppe, wie jener anderen, die mit ihren zahlreichen
Kegelbergen den oberſten Lauf des Murad begleitet und über
deren Schultern hinweg wohl noch in dämmeriger Ferne ein
anderer rieſiger Kegelberg zu erblicken ſein dürfte, der am Nord-
rande des Van-Sees gelegene Sipan-Dagh. Die weſtwärts
ziehenden Anſchlußketten vom Pambuſch ab können kaum zu einer
eigenen Gruppe qualificirt werden. Sie legen ſich mit ſehr ſteilen
und kantigen Rücken und durch nur wenige Paßſcharten gegliedert
zwiſchen die Flußläufe des Araxes und Murad und gehen ſpäter,
nachdem die hauptſächlichſten Karawanenwege ſie allenthalben
nord- und weſtwärts überquert haben, in der gemeinſamen Quell-
region der beiden Eufrat und Araxes, in den weſtlichen Hauptſtock
jener ſüdlichen Erhebungsmaſſe über. Es ſind die bereits oben
erwähnten Höhen des „Tauſend-Seen-Gebirges“ (Bingöl-Dagh),
durch ſüdwärts, gegen Palu und Charput ſtreichende Quer-
thäler, von dem nahezu zwanzig Meilen langen, völlig un-
gegliederten Gebirgsmaſſiv des Muſſur-Dagh (bei 8000 Fuß hoch)
abgetrennt.
[122]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Das Charakteriſtiſche an allen dieſen Gebirgen iſt die Wald-
armuth. Nur geringfügige Beſtände erhalten ſich in einer Höhe
von 5—8000 Fuß über dem Meere 1. Dafür ſind aber die
Thäler fruchtbar und allenthalben mit Baum-Culturen geſchmückt,
wo es der Boden zuläßt 2. Die Waldbäume, welche dennoch vor-
kommen, ſind die Buche und die Eiche, ſeltener Ahorn, Birke
und Fichte. Der Weinſtock gedeiht in manchen Gegenden, be-
ſonders in der mittleren Araxes-Ebene (bei Nachitſchewan), am
Van-See bei Muſch, bei Erzingian u. ſ. w. Das Obſt iſt ein
Hauptproduct des Landes, doch kommen eigentliche Südfrüchte
nicht vor. Von den Feldfrüchten werden Weizen, Korn, Mais,
Hirſe, Sorgo, Bohnen und etwas Reis gebaut, beſonders die
erſteren Sorten in der Ebene am oberen Eufrat. Ebendort,
ſowie in einigen anderen Gegenden dieſes Gebietes, wird der
Maulbeerbaum gepflegt, im Süden die Baumwollſtaude und
bei Muſch und Bitlis auch der Tabak gebaut 3.
Wir begeben uns nun von dieſer orographiſchen Zone auf
das linke Ufer des Araxes, wo wir zunächſt das Karſer Plateau,
ſpäter jenes von Tſchaldyr und Ardaghan betreten. Die Rand-
und Kettengebirge ſind hier nirgends mehr maſſig und ſelbſt die
orographiſche Begrenzungslinie, die, um das Quellgebiet des Kur
herum, in großem weſtlichen Bogen in das Achalzicho-Imere-
tiniſche Scheidegebirge übergeht, dürfte kaum Anſpruch auf Be-
deutung erheben. Im Weſten iſt dieſe Zone, welche gleich jener
ſüdlichen bis Erzerum reicht, durch die große Thalſenkung des
Tſchuruk-Fluſſes begrenzt und jenſeits nehmen die Kettenzüge
des pontiſchen Hinterlandes, ein, nur einmal in ſeiner Längen-
mitte unterbrochener (bei Gümüſch-Chana durch den Charſchut-Fluß)
mächtiger Gebirgswall mit einer Total-Entwickelung von nahezu
50 deutſchen Meilen ihren Anfang. Freilich ſind hiebei auch die
[123]Das plaſtiſche Totalbild Armeniens. — Die Hoch-Steppen.
anatoliſchen Randketten Tſchamly-Bol-, Iyldiz- und Köſch-Dagh
inbegriffen, jene ſtufenförmige Erhebung, die ſo glücklich mit
einem dreifachen Feſtungsglacis verglichen worden iſt 1. Der
Waldreichthum dieſer Gebirge iſt namentlich in den öſtlichen
Gliedern groß und beſteht beſonders in Buchen, Fichten und
Ulmen. Ganz unvergleichlich anders entfaltet ſich aber die Natur
am Nordhange der pontiſch-armeniſchen Küſten- und Randgebirge,
deren gewaltige Gipfel ſtellenweiſe noch immer eine impoſante
Höhe erreichen. Wir haben der geographiſchen Situation hier-
ſelbſt in unſerem Abſchnitte über Laziſtan gedacht und haben
nun nur noch hinzuzuſetzen, daß der Waldreichthum ein ſehr be-
deutender, von Forſtcultur aber keine Rede iſt. Ja viele Wälder
ſind mit der Zeit vollends vernichtet worden 2. Neben den vor-
herrſchenden Eichen und Fichten gibt es hier auch Bux- und
Lorbeerbäume, Nuß-, Feigen- und überhaupt Obſtbäume; Citronen,
Granaten gedeihen allenthalben, beſonders aber Pfirſiche, Kirſchen
und Haſelnüſſe, ſowie die pontiſche Rebe, welche baumartig empor-
wächſt, oder als Rieſen-Liane die höchſten Stämme ſich hinan-
windet, um hoch in den Lüften zu zeitigen 3. Aber ſchon mit
dem Eintritte und Verfolge des Tſchuruk-Thales iſts mit dieſer
Pracht jählings vorüber und nur wenige Meilen von der Küſte,
ſüdlich der Gebirgs-Scheidewand, liegen die erſten waldarmen
Hochlandſchaften, nur in den Thalmulden oaſenartig durch be-
ſcheidene Gartencultur belebt.
Einer ganz beſonderen Erwähnung bedürfen die armeniſchen
Hoch-Steppen, die auf den Plateauxflächen begreiflicherweiſe mit-
unter ſehr bedeutende Strecken einnehmen. Der Begriff der
Steppe war lange ein undefinirter, d. h., man konnte weder in
[124]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Bezug auf die Niveau-Verhältniſſe eines von allem Baumwuchſe
entblößten Landes, noch auf Grund pflanzengeographiſcher Mo-
mente mit der eigentlichen Fixirung des fraglichen Begriffswortes
fertig werden. Daß die Steppe, ja ſelbſt die Wüſte, nur ein
ökonomiſcher und kein geographiſcher Begriff ſei, mußte ſich gar
bald aus verſchiedenen experimentellen Thatſachen herausſtellen,
wie es ja auch erwieſen iſt, daß die öden Steppenſtrecken des
heutigen Meſopotamien doch erſt eine Errungenſchaft der letzten
Jahrhunderte ſeien, indem wilde Verwahrloſung dort überhand
nahm, wo vorher unter dem Einfluſſe des belebenden feuchten
Elementes die üppigſten Culturoaſen beſtanden hatten 1. Auch iſt
mit der Steppe ſowenig, wie mit der Wüſte, ein plattes Stück
Land gemeint, in welchem es keinerlei Niveau-Unterſchiede gibt.
Im Weſentlichen ſind die Steppen des Tieflandes wohl mehr oder
weniger eben, häufig aber breitet ſich die ſchwarzerdige Steppen-
decke mit ihrer ganz eigenthümlichen organiſchen Welt über weite,
undulirte Strecken, wobei freilich jene eigenthümliche, ſcheinbar
unbegrenzte Scenerie verloren geht, — jene der unendlichen Ein-
förmigkeit, voll ergreifender poetiſcher Effecte 2. Die armeniſchen
Steppen haben zudem eine ſehr bedeutende Elevation, und ſo
wird es häufig ſchwer, die Grenze zu beſtimmen, wo die eigent-
liche Grasſteppe aufhört und die Alpentrift beginnt. Die bedeu-
tendſten jener Gattung ſind die ausgedehnten Grasplateaux zu
[125]Die Hoch-Steppen. — Der hohe Taurus.
beiden Seiten des oberen Muradlaufes, die Steppe Torly im
Süden des erſten Murad-Durchbruches; die Steppe Karajazy zur
Seite des Paſſin-Fluſſes, namentlich aber die weiten, von No-
maden-Tribus wimmelnden Hochflächen öſtlich des Van-Sees.
Hoch-Armenien iſt arm an Steppenſtrecken. Der Eufrat hat dort
ein tiefes Rinnſal in die Erhebungsmaſſe eingeſchnitten und da-
durch der regelmäßigen Thalbildung Vorſchub geleiſtet, wodurch
auch Vegetation und Klima ganz anders geartet ſind, als auf
der Scheitelhöhe Oſt-Armeniens. Wohl ſind auch hier die flachen
Hoch-Terraſſen (bis 7000 Fuß) nicht ohne graſige Strecken,
aber ſie tragen allenthalben den Typus der Alpentriften des
Abendlandes und die Nomaden legen dieſen ihren Lieblingsplätzen
während der heißen Sommer, den Namen „Jaila“ bei.
Die orographiſche Grenze Armeniens im Süden iſt der große
Tauruszug, der in ſeiner Fortſetzung von Cilicien her vorerſt
eine gewaltige Plateaumaſſe zwiſchen den Anti-Taurus (der
eigentlich nur ein Glied des Taurus iſt) und dem oberen Eufrat
einſchiebt, um nach dem zwanzig Meilen langen Strom-Durch-
bruche zwiſchen Malatia und Samoſat im großen Bogen gegen
Oſten fortzuſtreichen. In dieſem Sinne iſt er das eigentliche
Randgebirge des untern Murad und auf ſeiner Scheitelhöhe
liegen die beiden Tigrisquellen, die eine im Weſten, die zweite
im Oſten. Dieſer Tauruszug, der Grenzwall zwiſchen Armenien
und Kurdiſtan iſt in ſeiner Totalität zwar wenig gegliedert, ohne
eigentliche große Querthäler, um ſo reicher aber entfaltet er
wahre Naturwunder in zahlloſen Detailbildern, in ſeinem Wechſel
von Fels und Wald, von weichgeformten Thalmulden und düſter-
wilden Hochzinnen, voll ſchauerlicher Abgründe und unzugäng-
licher Schlupfwinkel. Ein ſolcher Detail-Abſchnitt iſt der be-
rüchtigte Charſan-Dagh, der Schauplatz wiederholter blutiger
Kurden-Rebellionen. Aber auch in den übrigen Gebirgsſtrichen
mangelt es nicht an natürlichen Schutzwällen, hinter denen einſt die
freien Clane Schutz ſuchten, als die osmaniſchen Eroberer den
Sonderſtrebungen der Bergſtämme entgegentraten und denſelben
überraſchend ſchnell ein Ende bereiteten. Dabei liegen die üppigſten
Weiden, wahre Paradieſe für die Nomaden-Tribus unter den
Felsſtirnen des Hauptkammes und von Thal zu Thal ziehen ſich
die fruchtbaren Culturſtreifen der friedlicheren Ackerbauer. Be-
[126]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
ſonders reich aber iſt dieſes Gebiet an Mineralſchätzen, namentlich
an Kupfer, wovon das Bergwerk von Arghana jährlich über
1,000,000 Okka (à 2¼ Pfd.) liefern ſoll 1, dann an Silber,
Blei und Eiſen und wahrſcheinlich auch an Steinkohlen. Die
Berge ſind häufig mit dichten Eichenwaldungen bedeckt, und in
der Ebene zählt die Pyramidenpappel zu dem gewöhnlichſten
Nutzholze. Tiefer hinab herrſcht der Oelbaum, daneben der
Maulbeer-, der Granat- und der Feigenbaum, endlich die Dattel-
palme 2. Mit dieſen Repräſentanten haben wir aber die natür-
liche Grenzſcheide bereits weit überſchritten und hiebei viel raſcher
die eigentliche vorder-aſiatiſche Culturzone erreicht, als wir es
vom weſtlichſten Ende Armeniens aus vermöchten. Hier ſchließen
zu beiden Seiten des Halys noch ungeheuere Strecken mit vor-
herrſchendem Steppencharakter an die Grenzmark von Siwas an
und ſelbſt im Stromgebiete des Sangarius (Sakaria), alſo in der
centralen Plateau-Senkung Anatoliens, würden wir noch keinen
Unterſchied im Typus der Vegetation, des Landes und der Men-
ſchen finden. Anders an der kurdiſchen Land- und Völkerſcheide.
Aus dem oberen Murad-Becken hebt ſich das Land unmittelbar
zum Hochwalle des Taurus empor, dann fällt es faſt ſtufenförmig
zum meſopotamiſchen Tieflande hinab, alſo zur ſubtropiſchen
Culturzone, wie anderſeits von den Schneehöhen des pontiſchen
Küſtengebirges zum trapezuntiſch-colchiſchen Gartenland und ſeinen
Waldthälern. Hier herrſcht die kaspiſche Rieſenrebe, der gewaltige
Waldbaum und das mörderiſche Schlinggewächs, dort der Baum
Arabiens, die Palme, „welche ihren Fuß in Feuchtigkeit, ihr Haupt
in Sonnenglut badet“ 3.
Großartiger als alles Uebrige iſt im kurdiſch-armeniſchen
Taurus jener gewaltige Eufratdurchbruch, den man gemeinhin die
„Kataraktenſtrecke“ nennt. Sie iſt in ihrem wildeſten Theile
zwanzig Meilen lang und wird die Zahl ihrer Stromſchnellen
innerhalb dieſer verhältnißmäßig kurzen Strecke mit nicht weniger
als Dreihundert angegeben. Schon oberhalb Malatia, dort, wo
der Murad nach einem langwierigen Laufe durch gleichfalls
[127]Die Eufrat-Katarakte.
mächtige Waſſerthore in den Eufrat ſich ergießt, windet ſich dieſer
zwiſchen ſchroff emporragenden Uferbergen. Aber die Communi-
cation iſt hier zwiſchen beiden Uferlandſchaften noch immer möglich
und über Kheban-Maden, in der Mitte der Stromenge gelegen,
führt in die Erzgebirge von Charput ſogar ein leidlicher Weg.
Ganz anders unterhalb Malatia, von wo ab eine Strompartie
ſich entfaltet, die wol ihres Gleichen ſucht. Die ſchwarzen Baſalt-
wände reichen viele hundert Fuß in ſenkrechtem Anſtiege über
das ziſchende Gewäſſer, das entweder donnernd über die Fels-
barren ſtürzt oder als ſchäumende Wirbel die Klippenblöcke umtoſt.
Die ſeitlichen Einblicke in einzelne Bergſchluchten ſind nicht von
Belang. Erwähnenswerther mag ſein, daß es gerade dieſe
Schluchten ſind, welche während der Regenzeit die Felſenbarren
zum Strome befördern und jene gefährlichen Hinderniſſe erzeugen.
Hiebei bildet der Eufrat unzählige, ſcharfe Curven und nach jeder
Wendung, nach jedem kaum vorübergegangenen Waſſerſturze,
ſchlägt bereits das ferne Gebrauſe eines anderen Kataraktes ans
betäubte Ohr. Hiebei werden die ſenkrechten Felswände immer
höher und dunkler Baſalt wechſelt mit den phantaſtiſchen Formen
des Sandſteines, oder es dräuen zerriſſene Kalkböſchungen in die
Tiefe. Aber ſelbſt dieſe wilde Waſſerwildniß, die kein Kahn durch-
zieht und in der jeder Verkehr erſtirbt, iſt nicht ohne romantiſche
Belebung. Hoch in den Lüften, dort, wo die Uferfelſen kantig
ins Hinterland zurücktreten, kleben die Niederlaſſungen einzelner
Kurdentribus, inmitten ſpärlicher Vegetation, wahre Schwalben-
neſter, von Menſchenhand auf den gefährlichen Auslug gepflanzt.
Hier mögen die freiheitsluſtigen Hochländer wol ſicher vor den
Nachſtellungen der Türken ſein. Anderſeits ſind die Bewohner
dieſer Wildniß freilich mehr, als irgend einer ihrer Bruderſtämme
auf der Hände Fleiß angewieſen, denn der Boden mag hier mit
ſeinen Gaben wol kargen und die abgelegene Localität bietet
wenig Gelegenheit zu Tauſch und Handel.
Die Kataraktenſtrecke reicht eigentlich nur bis Gerger, einer
uralten Bergpoſition, wo der eingeengte Strom mehr und mehr
ſeiner Feſſeln ledig wird und im breiteren Rinnſal die ſyriſch-
meſopotamiſche Hochſtufe durchſtrömt. Am wildeſten und roman-
tiſchſten iſt die Strompartie in der Längenmitte des Defilés, bei
Telek, dort wo der Strom nach hartem Kampfe mit dem ehernen
[128]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
Gefüge des Maſſengebirges nach und nach eine nahezu nord-
öſtliche Direction angenommen hat, die freilich bald wieder in
eine ſüdweſtliche ändert. Erwähnenswerth iſt dieſer Punkt auch
deshalb noch, weil von hier nur wenige Stunden landeinwärts
und zwar gegen Nordoſten der kleine Hochlandsſee liegt, aus dem
der weſtliche Tigris entſtrömt. Der Eufrat hat bis hierher, an
der Geburtsſtelle ſeines Zwillingsbruders, bereits eine Ent-
wickelung (von Erzerum ab) von mehr als achtzig Meilen erreicht.
Während aber dieſer ſüdweſtwärts abfließt, zieht jener in nahezu
öſtlicher Richtung, und die wenigen Stunden Landes, das Tigris
und Eufrat im Defilé der Katarakte von einander trennt, ver-
hindern es nicht, daß beide Ströme erſt dann, nachdem ſie ganz
Kurdiſtan und Meſopotamien umſtrömt haben, erſt zehn Meilen
oberhalb des Perſiſchen Golfes ihre Vereinigung bewirken.
Die Kataraktenſtrecke des Eufrat iſt, wie ſelbſtverſtändlich,
unſchiffbar. Während der letzten großen Kurdenkriege zu Ende
der dreißiger Jahre, mit denen auch Hafis Paſchas Feldzüge
gegen Ibrahim von Egypten verbunden waren, wurde im türki-
ſchen Hauptquartier zu Malatia die Beſchiffung der Strecke an-
geregt, und zwar zunächſt auf Grund der dringenden Noth-
wendigkeit, die Bedürfniſſe der Operationsarmee raſcher als auf dem
langwierigen Landwege zu befördern. Niemand wollte ſich zu
der gefährlichen Probefahrt finden und ſo entſchloß ſich der
damalige preußiſche Hauptmann v. Moltke, der, wie ſchon oben
erwähnt, dem Hauptquartier zugetheilt war, zu dieſem Wagniß
und ihm erſt verdanken wir die genauere Kenntniß der groß-
artigen Strompartie 1. Die Fahrt, welche das erſte Mal bei
Niederwaſſer durchgeführt wurde, ging nur ſchlecht von Statten.
Mancher Katarakt konnte nicht anders paſſirt werden, als durch
den Landtransport des zerlegten Schlauchfloſſes. Nicht viel beſſer
ging es das zweite Mal, als der Strom in Folge ſtarker Regen-
güſſe hoch angeſchwollen war. Die Annahme, daß bei hohem
Waſſerſtande die Felsbarren leichter zu paſſiren ſein würden,
ſollte ſich nicht realiſiren, denn nun waren die Katarakte wahre
Waſſerfälle und mehr als einmal verſank das unſichere Floß in
den Sturzwellen oder unter den kreiſenden Wogen der verderb-
[129]Urumijah. — Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.
lichen Wirbel. Es war ein Act ſeltener Kühnheit, einem wilden
Strom-Ungethüme durch eine wiederholte derartige Fahrt ſeine
Geheimniſſe und Schrecken abzulauſchen, würdig der Jugend eines
Mannes, dem ſpäterhin die Lorbern höchſten Ruhmes zu Theil
werden ſollten.
Auch der Tigris beſitzt, und zwar unterhalb der Vereinigung
ſeiner beiden Quellflüſſe ein derartiges Stromdefilé. Es iſt aber
minder großartig, ohne eigentliche Katarakte und von geringerer
Längenausdehnung. Auch iſt es, obgleich Xenophon es auf ſeinem
Rückzuge nicht zu forciren wagte, von türkiſchen Expeditions-
colonnen wiederholt zurückgelegt worden. Von dieſem Defilé
oſtwärts gewinnt auch das Taurusſyſtem an Maſſigkeit, indem
es zwiſchen dem Van-See und dem raſch ſüdoſtwärts abfallenden
Tigris weitläufige, wilde Alpenländer breitet, jenes von Hakiari
und Rowandiz. An der türkiſch-perſiſchen Grenze tritt dieſe
orographiſche Gruppe mit dem Hochlande von Azerbedjan, von
wo aus wir unſeren Rundblick auf die armeniſchen Hochländer
eröffnet hatten, in Verbindung 1.
So hätten wir die geographiſche Situation in großen Zügen
erſchöpft und einen plaſtiſchen Ueberblick über jene Ländermaſſe
gewonnen, deſſen hiſtoriſche und culturgeſchichtliche Bedeutung
erſt recht zum Ausdrucke gelangt, wenn wir ſie in ihrem natür-
lichen Zuſammenhange mit dem aſiatiſchen Continente, zumal mit
dem iraniſchen Hochlande, und weiter in ihrer Fortſetzung zur
anatoliſchen Halbinſel betrachten. Es iſt eine, von Geographen
vielfach hervorgehobene Eigenthümlichkeit, daß gewiſſe Haupt-
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 9
[130]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
formen der Bodenplaſtik auf der größeren Weſthälfte des aſiati-
ſchen Continents eine mehrfache Wiederholung finden. Es ſind
in ihrer Continuität von ſtets kleiner werdender räumlicher
Ausdehnung die großen Erhebungsmaſſen von Central-Aſien,
Oſt-Iran und Armenien, an welche weitläufige Plateauländer
anſchließen, im Oſten die turkeſtaniſchen, in der Mitte das ira-
niſche Hochland im engeren Sinne, oder Perſien, im Weſten endlich
Klein-Aſien. Wie die betreffenden Gebirgsmaſſen, ſo ſind auch
die dazu gehörigen Tafelländer von conſtant abnehmender räum-
licher Ausdehnung. Während nämlich Central-Aſien, ohne die
geographiſche Abgrenzung hiebei näher zu bezeichnen, nahezu
einen Flächenraum von Hunderttauſend Quadratmeilen einnimmt,
ſchrumpft das iraniſche Hochland bereits auf die Hälfte dieſes
Raumes zuſammen und repräſentirt das, von maritimen Rand-
gebirgen geſtützte anatoliſche Plateauland nur mehr einen
Bruchtheil deſſelben. In Central-Aſien die höchſten Culmina-
tionspunkte der Welt, in Iran noch immer die bis 18,000 Fuß
und darüber culminirenden Punkte des Hindu-Kuh 1 und Su-
leiman-Kuh; im Weſten endlich die armeniſchen Hochberge mit
ihren impoſanteſten Repräſentanten, dem Ararat und den übrigen
großen Kegeln längſt erloſchener Vulkane. Dieſe unverkennbaren
äußeren Merkmale der geographiſchen Zuſammengehörigkeit eines
großen Theiles von Aſien finden aber einige Modificationen,
wenn man den Blick von ſeiner localen Bedeutung abwendet und
andere Momente in Betracht zieht. Der Grundſatz, daß große
Ströme die wahren Culturvermittler ſeien, während Gebirge, je
[131]Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.
nach dem Grade ihrer Mächtigkeit als die eigentlichen Völker-
ſcheiden und Grenzmarken ureigener Culturtypen zu betrachten
wären, dieſer Grundſatz liefert die intereſſanteſten Beweispunkte
zu der mehr oder minder eigenartigen Entwickelung der fraglichen
Ländergruppen. Das continentale Central-Aſien mit ſeinen zahl-
reichen trennenden Gebirgsſchranken konnte die geringſten natür-
lichen Culturbedingungen darbieten. Einerſeits von der tropiſchen
Welt Indiens durch die Schnee- und Eiskette des Himalaya,
und die grandioſe Plateaumaſſe der „Pamir“ nahezu unüber-
windlich getrennt, desgleichen im Oſten, trotz ganzer Länder, die
in ein partielles Depreſſionsgebiet fallen, noch immer räumlich
von Oſt-Aſien abſtehend, fand es im Norden dort eine natürliche
Begrenzung, wo das Culturland in die Steppen- und Wüſten-
gebiete der aralo-kaspiſchen Niederung überging. Nur die beiden
Lebensadern Turans im engeren Sinne, der Oxus und Jaxartes,
verhalfen den Ländern an der Nordabdachung dieſer Erhebungs-
maſſe eine vorübergehende Cultur, die, eigenartig wie ſie von
Anbeginn her war, auch heute noch ihr typiſches Gepräge in
ſeinen modernen moslemiſchen Repräſentanten beibehalten hat.
Selbſt der Islam iſt hier nur loſe mit den Ländern- und Völ-
kern Weſt- und Vorder-Aſiens im Contacte, wobei freilich neben
den plaſtiſchen Verhältniſſen auch der viel entſcheidendere Umſtand
ſeinen Ausſchlag geben mag, daß das ſchiitiſche Perſien ſich
trennend zwiſchen beide großen Hälften der ſunnitiſchen Mo-
hammedaner im Oſten und im Weſten legt. In dieſer Abge-
trenntheit konnte die moslemiſche Weltbeglückungstheorie länger,
als irgendwo auf aſiatiſchem Boden, ihre finſteren Fanatiker
finden 1.
In ganz anderer Art präſentirt ſich das geographiſch-oro-
9*
[132]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
graphiſche Mittelglied Iran. Der ausgeſprochene Plateau-Cha-
rakter mit ſeinen mehr oder minder gewaltigen Randgebirgen und
den, im Innern regellos aneinanderſchließenden Gebirgsgliedern,
geſtattete keine ausgedehnten Thalbildungen und ſomit fehlen hier
große Flußläufe. Nur gegen Oſten, in Afghaniſtan, öffnet ſich
ein kurzer aber impoſanter Thalweg, jener von Kabul, der die
Verbindung mit Indien vermittelt. Er iſt aber von mehr localer
Bedeutung und der eigentliche Lebensnerv als Verkehrsader war
immerdar die große Ueberlandroute, die Königsſtraße, welche vom
Industhale aus das ganze iraniſche Tafelland nach Weſten hin
durchzog. Trotz dem Mangel culturvermittelnder Ströme war
aber dem Lande eine andere Bedingung zur Vermeidung abſoluter
Excluſivität gegeben, ſeine maritime Begrenzung im Süden
Zwar die Sandwüſten Gedroſiens und das felſige Litorale von
Mekran waren nicht darnach, dieſem natürlichen Vortheile auch
wirklichen praktiſchen Werth zu verleihen, aber der vermittelnde
Küſtenſtrich lag mehr im Weſten, am Perſermeer, zu dem hinab
auch einzelne Binnenſtröme, ſo der zum Theile ſchiffbare Kharun,
ihren Lauf ſuchen 1. Nahezu an derſelben Stelle, und zwar zuletzt
zu einer großen Waſſerader vereint, ergießen ſich aber die beiden
großen Ströme Vorder-Aſiens, der Eufrat und Tigris, die eigent-
lichen und wahren Vermittler zwiſchen der ſonnigen, tropiſchen,
arabiſch-meſopotamiſchen Culturwelt und den rauheren Hochlän-
dern des Nordens (Armenien). Daß Meſopotamien und Iran
auch ſonſt ganz andere Exiſtenzbedingungen beſaßen, daß ferner
die von der Natur nur unvollkommenen von einander getrennten
Völkerſchaften, durch das Bedürfniß gegenſeitigen Erſetzens, oder
Tauſches ihrer materiellen Mittel, häufiger in Contact geriethen
[133]Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.
und dadurch zumeiſt auch politiſch von einander in Abhängigkeit
waren, beweiſt nur, daß gerade die Vielartigkeit aller natürlichen
Lebens-Aeußerungen, gemeinſame Bedürfniſſe bei Verſchiedenheit
der Landes-Erzeugniſſe und Bodenproducte, die wahren und
eigentlichen Ebner und Beſeitiger ethnologiſcher Grenzen waren,
ſo lange noch Ruhmesdurſt und Sucht nach Glanz und Reich-
thum die großen Herrſcher der älteſten Vorzeit zu ihren Er-
oberungen trieb. Das tropiſche Meſopotamien mit ſeinen Palmen-
hainen, ſeinen perſiſchen Perlenfiſchern und den Gewürzen Ara-
biens, neben dem rauhen Iran, wo mehr der Hände Fleiß
Schätze ſchaffen mußte, ſowie neben dem metallreichen Armenien
und ſeinem Ueberfluſſe an Vieh und nordiſchen Sclaven; waren,
trotz ihres verſchiedenartigen Naturtypus, immerdar auf einander
angewieſen. Sogar das entlegenere Kleinaſien, mit ſeinen mehr
europäiſchen Producten und ſeinen, durch eine andere Klimatik
bedingten Bedürfniſſen, ward bald nur ein Glied der großen
weſtaſiatiſchen Völker-Heimſtätten. Von Babel herauf zog Aſſur
und gründete am oberen Tigris, hart am Fuße der kurdiſchen
Alpenwelt und am Eingange jener nach Norden zu immer im-
poſanter ſich aufbauenden armeniſchen Erhebungsmaſſe, das glanz-
volle Niniveh, die Beherrſcherin von ganz Vorder-Aſien. Nur
eine Stadt, an einem großen verbindenden Strome gelegen,
anderſeits von allen Seiten auf großen Verkehrswegen zugänglich,
konnte in dieſen ſo verſchiedenartig geſtalteten Ländern einen
verläßlichen und brauchbaren Herrſcherſitz abgeben. Auch das
turaniſche Bactra und das iraniſche Rhages beſaßen ähnliche
Vorbedingungen. Da aber die große Verbindungslinie vom weſt-
lichſten Geſtade, von Sardes und Gordium bis zum Industhal
hinab, mehrere derartige Machtcentren berührte, ſo war eine
Weltherrſchaft in dieſem weitläufigen Ländergebiete nur vorüber-
gehend denkbar. Sie hat gleichwol viermal beſtanden: unter
Ninos und Semiramis, unter Kyrus, dann im Anfang des
ſiebenten Jahrhundertes unſerer Zeitrechnung unter Chosru Parwis 1
[134]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
und ſchließlich ein Jahrhundert ſpäter unter den abbaſſidiſchen
Chalifen. Alle dieſe Reiche mit einziger Ausnahme des erſten
perſiſchen hatten ihren Hauptſitz in der herrlichen Stromebene,
welche das Herz Weſt-Aſiens mit ſeinen Schlagadern ausmacht.
Dort lag die Urahnin aller Städte, Babylon, und in ſeiner
Nähe erhob ſich ſpäter das parthiſche und ſaſſanidiſche Kteſiphon 1
und das arabiſch-moslemiſche Bagdad.
Die geſchichtliche und culturhiſtoriſche Stellung Armeniens
ergibt ſich unmittelbar aus dieſen geographiſchen Verhältniſſen;
alle Einwirkungen und aller Einfluß kam entweder von Süden,
oder von Oſten, als letztes Glied der Erhebungsmaſſe Mittel-
aſiens. Die Aſſyrier hatten gar bald durch die großen Fluß-
thäler den Weg ins rauhere armeniſche Hochland gefunden, vor-
erſt ins Becken von Van, ſpäter darüber hinaus, wodurch dies
Territorium eheſtens in das Verhältniß eines Vaſallenſtaates
zum großen Weltreiche trat. Die Plaſtik des Landes, ſowie ſeine
verhältnißmäßig geringeren Hilfsquellen waren gleichwohl Anlaß,
daß die Machtbeſtrebungen Aſſyriens ſich weniger gegen Norden
hin bethätigten, als vielmehr gegen Nordweſten, in der Richtung
über Nordſyrien zum großen Tauruszuge, hinter deſſen Päſſen
das weitläufige anatoliſche Binnenland mit ſeinen ſelbſtſtändigen
Reichen und ſeiner größeren Zugänglichkeit, in Folge der ſüd-
lichen und weſtlichen maritimen Begrenzung, die ninivitiſchen
1
[135]Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.
Eroberer anlockte 1. So fiel alles anatoliſche Land bis zum
Halys dem Weltreiche zu, Armenien mit einbegriffen, doch ver-
hältnißmäßig weniger durch die folgenden Ereigniſſe berührt.
Die Lostrennung Mediens von Aſſyrien berührte ſelbſtverſtändlich
auch das armeniſche Hochland und verſchaffte ihm eine neue
politiſche Bedeutung, die freilich nicht von beſonderer Dauer ſein
konnte, wenn man berückſichtigt, wie raſch aus den Trümmern
des aſſyriſchen Weltreiches das perſiſche emporgewachſen war,
und mit ihm der abermalige Machteinfluß von Oſten her. Ar-
menien wurde dadurch wieder auf lange Zeit den unmittelbarſten
aſiatiſchen Einflüſſen ausgeſetzt, ſowie ſpäter den neuperſiſchen
und arabiſchen, alſo ſtets in einer Richtung, die entweder von
Süden, aus den meſopotamiſchen Tiefländern, oder von Oſten,
von den herrſchenden Völkern Mittel-Aſiens kam.
Gegenüber dieſen hiſtoriſchen Thatſachen iſt es intereſſant
genug, daß Armenien von den Pontusgeſtaden, von welchen es
nur durch eine hohe wilde Gebirgsſchranke getrennt war, auch
ſonſt völlig abgeſchieden blieb. Man ſollte glauben, daß die
Nähe des Meeres, welches bereits in den älteſten Zeiten von
griechiſchen Schiffern befahren wurde, und auf Grund des ſich
hieraus ergebenden Contactes mit den pontiſch-ſkythiſchen und
pontiſch-oſteuropäiſchen Uferländern, am eheſten geeignet geweſen
wäre, von hoher bedeutender Einwirkung auf die Entwickelung
des Hochlandes zu werden. Dieſe Einwirkungen waren aber
geraume Zeit nicht im Geringſten vorhanden. Während die
anatoliſche Halbinſel durch ihre dreifache Waſſergrenze mit den
oſteuropäiſchen Völkern im Norden, mit den Hellenen im Weſten
und ſchließlich mit der phönikiſch-egyptiſchen Culturwelt im Süden
in unmittelbaren Verkehr ſchon in älteſten Zeiten gerieth und
dadurch die geſammte künftige Entwickelung des Halbinſellandes
ihr eigenthümliches Gepräge, ihren Culturtypus erhielt, blieb
Armenien unberührt von dieſem befruchtenden Einfluß. Die
helleniſchen Seefahrer waren wohl wiederholt bis zu den chol-
chiſchen Küſten vorgedrungen, die eigentlichen großen Handels-
colonien lagen aber viel weiter im Weſten, wie zu Heraklea,
Sinope, Amiſus und zuletzt wohl auch zu Trapezus, dem eigent-
[136]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
lichen vermittelnden Küſtenpunkte zwiſchen dem Hochlande und
den entlegeneren Geſtadeländern. Der Grund dieſer ſtarren,
weder durch Handels-Intenſität noch durch andere Momente
zu brechenden Excluſivität iſt abermals auf den Abgang aller
Thalwege und Ströme zurückzuführen. Die ungegliederte Gebirgs-
wand zwiſchen Pontus und Armenien war zu einem lebhafteren
Verkehre nicht geſchaffen. Selbſt die großen aſiatiſchen Eroberer
zogen, wenn ſie verheerend ins Hochland einbrachen, an jener
Schranke vorüber, um auf bequemeren Pfaden ins anatoliſche
Binnenland einzubrechen und von dort die glänzenden Cultur-
ſtätten am joniſchen, bithyniſchen, lyciſchen und cilyciſchen Geſtade
zu erreichen. Auch ſchalteten in jenen Bergwildniſſen rohe, barbariſche
Völker, die ihren Unabhängigkeitsdrang und ihre Unzugänglichkeit
bis auf den Tag zu erhalten wußten, und deren magere, wohl
auch von urwaldähnlicher Vegetation geſchützten Gaue weniger
als irgend ein anderer Strich in Vorder-Aſien den Ruhmesdurſt
oder die Begier nach Beſitz lockten. Ja ſelbſt an der Küſte blieb
der Verkehr ein ſo ſchwieriger und ſo unlohnender, daß nur
die außergewöhnlich günſtige Lage des trapezuntiſchen Küſten-
ſchemels und die durch dieſe Lage gewiſſermaßen bedingte Herr-
ſchaft über den öſtlichen Pontus, die Mileſier Sinopes beſtimmt
haben mochten, eine Tochter-Colonie an jener Stelle zu gründen,
wo nachmals ein byzantiniſches Schattenreich erſtehen ſollte. Noch
in unſeren Tagen iſt dieſer öſtliche Theil der Pontusküſte, wie
wir bereits geſehen haben (S. den dritten Abſchnitt), durch ſeine
Vernachläſſigung ein getreues Abbild jener Zuſtände, wie ſie in
älteſter Zeit — freilich in noch höherem Grade — geherrſcht
haben mochten. Die ſteile, wildromantiſche Küſtenwand iſt ſo
viel wie gar nicht gegliedert. Die kurzen, torrentenartigen Berg-
ſtröme, welche zum Meere ſich ergießen, verhindern allenthalben
den transverſalen Verkehr, der nach dem Hinterlande bislang
nur von jenen Seepunkten aus vermittelt wurde, die in der
Mündungs-Nähe der großen Flüſſe (Halys und Iris), wie
Sinope und Amiſus (Samſun) lagen. Den größten Theil des
Jahres herrſchen die Nord- und Oſtwinde am Pontus vor.
Coloſſale Wolkenmaſſen, die über das düſtere Meer einen unheim-
lichen Schatten werfen, treiben über die ſturmgepeitſchte Fläche
bis zur hohen pontiſch-anatoliſchen Gebirgsſchranke, wo ſie ſich
[137]Armeniens culturhiſtoriſche Stellung.
ſtauen und als ergiebigſter Niederſchlag zur Erde fallen. Daher
die reiche Pflanzenfülle, die dichten Wälder und die herrlichen
Gärten des Dſchanik und der trapezuntiſchen Landſchaft; daher
aber auch die verheerenden Bergſtröme, die in Folge ihres kurzen
Laufes mit um ſo größerer Wucht zur See abſtürzen, Brücken
und Wege vernichtend. Bei der oftmaligen, ja conſtanten Wieder-
holung von derlei Elementar-Ereigniſſen, kann ſelbſtverſtändlich
auch der allerlocalſte Verkehr ſtets nur ein problematiſcher
ſein. Aber auch die Küſte bietet und bot niemals Schutz und
zur Zeit, als die kühnen griechiſchen Segler den öſtlichen Pontus
kreuzten, konnte die Schiffer wohl das abenteuerliche ſolcher Fahrten
reizen, nimmer aber irgend ein materieller Gewinn, oder prak-
tiſcher Nutzen, der am Ende dem Verkehre Leben verliehen hätte.
Daher die Abgeſchloſſenheit Armeniens durch viele Jahrtauſende
von der pontiſchen Geſtadewelt. Erſt mit der Gründung Tra-
pezunts belebte ſich jener beſchwerliche Handelsweg, der von
dieſer Stadt zur armeniſchen Capitale Erzerum heraufzog und
deſſen Zuſtand heute noch derſelbe iſt, wie vor Jahrhunderten.
Die einzigen Einwirkungen, die von Weſten her Armenien treffen
ſollten, waren die byzantiniſchen. Sie blieben aber belanglos
und nach kurzer Unterbrechung waren es wieder eine Reihe öſt-
licher Völker, zuletzt die Türken, welche ihren Machteinfluß im
Hochlande geltend machten, und wie die Dinge heute ſtehen,
iſt der Beſitz dieſes Landes abermals einem öſtlichen Eroberer
geſichert, der im Laufe unſeres Jahrhunderts Stück für Stück
von demſelben losgeriſſen und nunmehr ſeine Grenzpfähle bereits
bis zu den Eufratquellen vorgeſchoben hat. In allen dieſen
Stürmen aber hat das armeniſche Volk ſeine Individualität ge-
wahrt und ſeine culturgeſchichtliche Bedeutung als ariſcher Stamm
inmitten der Sturmfluth zumeiſt fremder Racen unverkennbar
zum Ausdruck gebracht.
Zuletzt hat ſich dieſes ethniſche Moment allerdings dadurch
modificiren müſſen, daß der osmaniſche Einfluß in ſocialer Be-
ziehung beim armeniſchen Volke mit der Zeit derartige Fortſchritte
zu machen wußte, um hier etwaige Gegenſätze vollends zu ebnen.
Wie nirgends auf türkiſchem Reichsboden, haben ſich die chriſtlichen
Armenier ihren Bedrückern zu unterordnen verſtanden und dadurch mit
dieſen ein leidliches Auskommen gefunden. Hiebei iſt dieſes Ver-
[138]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
hältniß der Unterwürfigkeit freilich nur ein äußeres und im Innern
verachtet der Armenier, wie irgend ein anderer chriſtlicher Unter-
than der Pforte die Herren des Landes, ohne auch nur im
Entfernteſten daran zu denken, dieſe Stimmung laut hervorzukehren.
Dazu fehlt ihm der kriegeriſche Muth, der gerade bei dieſem Volke
niemals zum Ausdruck gekommen iſt. Wir haben im Verlaufe
unſerer Unterſuchungen und Schilderungen geſehen, wie wenig
inneres, politiſches Bewußtſein dem durch die natürliche Be-
ſchaffenheit ſeiner Heimat zu einer gewiſſen Unabhängigkeit prä-
deſtinirten Bergvolke von Anbeginn her eigen war und wie ſelten
die nationale Kraft aufgewendet wurde, um ſelbſt die ſchmählichſte
Sklaverei zu brechen. Die erſten aſiatiſchen Gewalthaber haben
es ſpielend unter ihre Herrſchaft gebracht, ſpäter zerſtampften
barbariſche Horden ſeine Fluren, ſie zerſtörten ſeine Städte und
ſchlugen die Bewohner ſelbſt in Ketten. Wozu die früheren Ar-
menier noch einige Energie aufzubieten für nöthig fanden, das
war ihr junger Glaube zu Anfang der erſten Jahrhunderte; aber
dieſer Opfermuth dürfte kaum auf Rechnung des Volkes ſelbſt,
denn vielmehr auf den fanatiſchen Zug des chriſtlichen Martyriums
zu ſetzen ſein, zudem die Religion des Nazareners in der Perſon
ſchwärmeriſcher Leidensapoſtel hinneigte. Dieſer Umſtand iſt
gleichwohl von Bedeutung, denn er hat ſpäterhin die compacte
Maſſe des armeniſchen Volkes jener Religion erhalten, der die
abendländiſchen Völker ihre jetzige hohe Geſittung und Cultur
zu verdanken haben. Als chriſtliche Etappe zwiſchen Orient und
Occident wird Armenien zunächſt demjenigen Eroberer zugute
kommen, an den es durch die Bande des gleichen Glaubensbekennt-
niſſes naturgemäß gebunden iſt, das iſt: Rußland.
Durch die ſociale Präponderanz der osmaniſchen Race hat
in Armenien namentlich die Stellung der Frau arg gelitten 1.
Das innerſte Familienleben ruht zwar auf einer unvergleichlich
[139]Das armeniſche Volk der Gegenwart.
ſittlich höheren Baſis, als beim Türken, dafür aber dürfte die
ſociale Lebensſtellung der Armenierin ſich nur unweſentlich von
jener der in früherer Zeit im Abendlande von der zarteren Hälfte
der Menſchheit ſo ſehr beneideten Haremsſchönen unterſcheiden.
Sie dürfen nämlich, gleich dieſen, niemals an den öffentlichen
Angelegenheiten ihrer Gatten ſich betheiligen, ja es iſt ihnen nicht
einmal geſtattet, bei den Mahlzeiten des Lebensgefährten an dem-
ſelben Tiſche Platz zu nehmen.
Vollends nicht vorhanden iſt die Armenierin für den Fremden.
Sind Gäſte im Hauſe, ſo ziehen ſich die weiblichen Familien-
glieder in eine Art Haremsloge (gleich dieſen mit vergitterten
Fenſtern) zurück, von wo aus ſie das muntere Treiben derſelben
ungeſtört beobachten können, ohne ſelbſt geſehen zu werden. Daß
die Armenierin ihre Zurückſetzung kaum fühlt, läßt ſich bei dem
geringen Bildungsgrade der orientaliſchen Chriſtinnen unſchwer
begreifen. Da aber der reiche Armenier nur Sinn und Intereſſe
für den Beſitz und deſſen Vergrößerung hat, und die Ehen über-
dies Familiengeſchäfte ſind, ſo iſt auch ſonſt nur in den ſeltenſten
Fällen von einer beſonderen Neigung der Gatten zu einander
die Rede. In dieſer Richtung ſteht der einfache, biedere Land-
türke, dem die Geldſpeculation und der Dämon der Gewinnſucht
zumeiſt fremd ſind, und deſſen Mittel ihm nicht den Luxus
mehrerer Frauen geſtatten, unzweifelhaft um eine Stufe höher,
als ſein chriſtlicher Mitbewohner. Wenn ſich bei jenem das
eheliche Band auch nicht zu einem höheren, idealeren Leben
knüpft, ſo zieht anderſeits die mehr ſinnliche Natur des Türken
die Nothwendigkeit, oder beſſer die Conſequenz, einer größeren
Zuneigung, oder gar Unterordnung gegenüber der Gattin nach
ſich, von der der berechnende, kaltnüchterne Armenier keine Ahnung
hat. Nur durch dieſen Beſitz hat er aber eine gewiſſe Verſtän-
digung mit dem Bedrücker erzielt, denn armeniſches Geld war
zu Zeiten ſelbſt den osmaniſchen Sultanen niemals verabſcheuungs-
werth 1. Anderſeits iſt nicht zu leugnen, daß es nicht immer die
[140]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
gemeine Uebervortheilung, oder gar der offene Betrug waren,
welche den Armeniern zu ihren Reichthümern verhalfen. Rührigkeit
mit einer, nicht ſelten in abſcheulichſten Geiz übergehenden Spar-
ſamkeit hoben ſie von Stufe zu Stufe, zumal außerhalb des
Mutterlandes, wo der armeniſche Geſchäftsgeiſt gegenüber anderen
Völkern beſſer zur Geltung kommen mußte 1.
Der Dämon des Goldes füllt freilich auch alle Träume
der Armenierin aus, und es iſt in türkiſchen Ländern eine bekannte
Thatſache, wie weit ſich in dieſer Richtung ehrloſe Mütter ver-
irren und mehr noch als die griechiſchen Matronen die Reize
ihrer Töchter zu einer abſcheulichen Privatſpeculation mißbrauchen.
Das macht Alles, wie geſagt, die mangelhafte Erziehung, die
geringe Werthſchätzung des Weibes im Allgemeinen, und der
fühlbare Bildungsmangel unter dem männlichen Theile der
Bevölkerung 2.
[141]Kirchen-Angelegenheiten.
Ein nicht viel beſſeres Bild liefern die armeniſchen Kirchen-
Angelegenheiten. Die ſeit dem Conzil von Khalcedon (491) ein-
getretene Spaltung zwiſchen den mit Rom unirten Armeniern
und der eigentlichen armeniſchen Nationalkirche iſt eigentlich nur
in ihrer hauptſächlichen antagoniſtiſchen Kundgebungen bekannt
geworden, weniger aber kennt man die zahlreichen inneren Motive,
welche durch Jahrhunderte dem ſtillen Kampf Nahrung ver-
ſchafften und namentlich zur Zeit totaler Ohnmacht auf Seite
des Katholikos von Etſchmiadſin die armeniſchen hierarchiſchen
Zuſtände in vollends troſtloſe verwandelt hatten. Zwar der
Patriarch, welcher jeweilig in Etſchmiadſin reſidirte, war ſich in
der Regel ſeiner imaginären Herrſchaft über die große gläubige
Heerde von den Ufern des Ganges bis zu den nordweſtlichen
Pontusküſten nur zu bewußt, aber die Würde und die Macht
eines derartigen Großhirten muß denn doch ſehr fadenſcheinig geweſen
ſein, wenn es hin und wieder ehrgeizigen Episcopen gelang, ſich ohne
beſondere Kraftanſtrengung zu ähnlich ſublimer Höhe der indirecten
Herrſchaft emporzuſchwingen. So entſtand zunächſt eine Art Gegen-
Patriarchat auf der Inſel Aghthamar im Van-See, ſpäter ein ähnliches
zu Sis, zu Jeruſalem und Conſtantinopel, lauter Uſurpationen im
Kleinen, die unmöglich zur Kräftigung der Nationalkirche bei-
tragen konnten 1. Zur Zeit der furchtbarſten inneren kirchlichen
Spaltungen im 17. und 18. Jahrhundert ſchien demnach für
die Jeſuiten-Miſſionen, die ſich im perſiſchen Armenien nieder-
2
[142]Ueberblick auf Geſammt-Armenien.
gelaſſen hatten, um die Schismatiker in den Schooß der römiſchen
Kirche zu führen, das Terrain beſtens geebnet. Ja es fand ſich
ſogar hin und wieder ein toleranter Katholikos, der ſich den
Propagandiſten gegenüber äußerſt entgegenkommend verhielt;
doch waren dies nur vorübergehende Erſcheinungen und der
Hauptſache nach blieb der Miſſionszweck, trotz der ausgiebigen
Unterſtützung von Seite der perſiſchen Machthaber, unrealiſirt.
In neuerer Zeit ſollte ſich aber die Situation weſentlich ver-
ſchlimmern. Abgeſehen von der Verfolgungswuth, welche ſelbſt
die für die armeniſche Literatur ſo hochverdienten Mechitariſten
traf, wurden es im Verlaufe der Zeit namentlich die Hetzereien
und Gehäſſigkeiten der Conſtantinopler Patriarchen, welche die
katholiſchen Armenier nur zu bald der brutalſten türkiſchen Gewalt
ausſetzen ſollten. Daß die Mittel und Wege hiezu noch abſcheu-
licher und unwürdiger waren, als das gewöhnliche Treiben der
national-armeniſchen Hierarchie, läßt ſich leicht denken. Entgegen
dem ſegensreichen Wirken der Mechitariſten-Congregation verblieben
die Prieſter und Mönche der nicht-unirten Kirche in ihrer ange-
ſtammten Rohheit verſunken, in ihrem ſtumpfſinnigen Zelotismus,
an dem gleichwol ſelbſt noch Kundgebungen vorchriſtlicher Ante-
cedentien anhaften konnten, ohne die orthodoxe Rechtgläubigkeit
zu beleidigen oder in ihrer Glaubensſeligkeit zu beirren. Bei
ſolchen Vorbedingungen konnte man füglich auch von den Patriarchen
keine beſonderen Thaten erwarten, und die Acte der Vergewalti-
gung mit Hilfe der ottomaniſchen Regierung wurden immer
zahlreicher. So konnte es kommen, daß im Jahre 1828 der
Patriarch von Conſtantinopel durch Beſtechung der Behörde die
Ausweiſung von nicht weniger als 12,000 katholiſchen Armeniern
durchſetzte, welche, aus der Umgebung von Angora ſtammend,
mitten im ſtrengſten Winter (Januar) mit Greiſen, Kranken,
Wöchnerinnen und Kindern dahin zurückkehren mußten. Welches
Elend eine ſolche unbefugte drakoniſche Maßregel im Gefolge
haben mußte, braucht nicht beſonders angeführt zu werden;
vollends dem Bildungsgrade und dem chriſtlichen Humanitäts-
gefühle dieſes Wütherichs entſprechend waren aber die Motive
zu dieſem brutalen Acte, der nebenher auch einen Anhaltspunkt
liefert, wie ſehr die orientaliſche Chriſtenheit bemüht iſt, die
letzte Regung von Achtung unter den Mohammedanern zu
[143]Verfolgung der katholiſchen Armenier.
erſticken 1. Ein ähnliches Feld ultramontaner Thätigkeit erſchloß
ſich neueſtens durch die Spaltung der papiſtiſchen Armenier auf
Grund des römiſchen Unfehlbarkeits-Dogmas (Haſſuniſten und
Anti-Haſſuniſten), doch blieben die betreffenden inneren kirch-
lichen Reibereien zu belanglos, um Licht oder Schatten auf das
eben entrollte Bild in ausgiebiger Weiſe zu werfen.
[[144]][[145]]
Anhang.
Anatoliſche Fragmente.
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 10
[[146]][[147]]
Die Stammheimat der Osmanen. — Hellespont und Ilion. — Smyrna. —
Zwiſchen Taurus und Halys. — Die Gartenſtadt Amaſia. — Sinope,
ein Culturbild. — Allgemeines über Anatolien.
Es ſind keine fünfzig Jahre her, daß die Wiege des Os-
manenthums im weſtlichen Centrum Kleinaſiens von europäiſchen
Reiſenden zuerſt durchforſcht wurde 1, und dennoch erſcheint nun-
mehr ein Ausflug in jenes ſelten betretene Gebiet nichts weniger
als ein kühnes Wagniß. Schon heute pflegen die Beſucher
Stambuls, die es nicht blos bei einem Spaziergange durch und
um die Chalifenſtadt bewenden laſſen wollen, die „ottomaniſche
Staatsbahn“ Scutari-Ismid, welche ſeinerzeit Edhem Paſcha auf
ziemlich krummem Wege zu Stande gebracht hatte, zu benützen,
um ſich an Bithyniens Landſchaften zu ergötzen. Von Ismid ab
befindet man ſich aber innerhalb weniger Reittage, nach Paſſirung
einiger romantiſcher Thalpartien des Sakaria (Sangarius) auf
den erſten baumloſen Steppen zwiſchen Bruſſa und Angora.
Und ſo wollen wir hier gleich verbleiben und einen Blick auf
das fragliche Territorium werfen … Der Weideboden, der ſich
unabſehbar zu beiden Seiten des dahinſchleichenden Sakaria
dehnt, iſt für Nomaden einladend genug. Leider vermag hier
der Winter ſehr ſtrenge zu ſein, und wie die abgelaufenen Jahre
bewieſen haben, erwachſen aus einem ſolchen mitunter ſehr be-
denkliche Conſequenzen für das Wohl und Wehe der im Allge-
meinen ziemlich armen Bewohner 2. Für die turkmeniſchen
Nomaden bleibt indeß das Sakariathal nur eine Art Winter-
10*
[148]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Territorium. Im Sommer ziehen ſie ſüdwärts, d. h. die flachen,
weitläufigen Terraſſen hinan, die gegen das Quellgebiet des ge-
nannten Fluſſes anſteigen. Dort liegen die ſpärlichen Ortſchaften
bereits über tauſend Meter hoch, der Boden iſt wellig, hin und
wieder ragt ein runder Hügel über die Grasſteppe, meiſtentheils
aber iſt die Ebene von Felsrippen oder ganzen Felsmauern
unterbrochen, während dazwiſchen Baum-Oaſen von Fichten und
Föhren ſich breiten 1. Meilenweit gibt es hier keine eigentlichen
Niederlaſſungen und die Ruhe des Grabes wird durch nichts
unterbrochen, als durch das Gekreiſch der Raubvögel, welche in
den Felslöchern niſten. Dieſe ſind indeß keine natürlichen; der
erſte Blick würde ſelbſt den in archäologiſchen Dingen ſich als
Laie fühlenden die Ueberzeugung aufdrängen, daß hier einſt ein
Volk gehauſt haben müſſe, ſeßhaft und vom Segen des Landes
befriedigt und gewiß ganz anders in ſeinen Bedürfniſſen und
Lebensbeziehungen organiſirt, wie die heutigen türkiſchen Nomaden.
In der That, dieſer Boden iſt uralt in hiſtoriſcher Hinſicht. Kein
geringeres Volk als die Phrygier, welches die griechiſchen Schrift-
ſteller „Barbaren“ 2 nannten, haben hier ihrer Cultur, ihrer
ſtaatlichen Ordnung und ihren hochentwickelten bürgerlichen Ein-
richtungen gelebt und jene Felshöhlen gehören den Sepulcral-
kammern ihrer Nekropolen an. Was nun dem Lande in unſern
Tagen ſeinen unbeſtreitbaren Reiz aufprägt, liegt darin, daß der
an griechiſchen Monumenten ſo reiche Boden Kleinaſiens viel
ältere, geradezu aus fabelhafter Zeit ſtammende Denkmäler auf-
weiſt, und unter dieſen nehmen die phrygiſchen Königsgräber
zwiſchen den heutigen elenden Turkmenen-Dörfern Sidi Ghazi
und Daghanly, im Weſten des altberühmten Kjutachia vielleicht
die erſte Stelle ein. Das ausgebreitete Territorium am mittleren
Sangarius, über das heute der Blick ſchweift, weiſt dem entgegen
nichts von einer längſtverſchollenen Cultur auf; ringsum Alles
todt und ausgeſtorben, auf den Grasflächen die hellen Flecken
[149]Phrygiſche Landſchaften. — Sidi Ghazi.
immenſer Heerden, in der Ferne die kahlen Gebirgsrücken oder
ſpärliche Wälder, die über unbewohnte Lehen ſchatten. In dieſer
Ebene lag einſt das berühmte Gordium und wohnte das reich-
begabte Volk der Phrygier, von deren Geſchichte, Sprache und
Schrift noch kein Gelehrter der Welt den Schleier der Ver-
gangenheit weggezogen hat 1.
Die, verwahrloſten turkmeniſchen Hirten als Wohnung
dienenden Felslöcher auf dem Plateau gewinnen erſt bei dem
genannten Dorfe Sidi Ghazi an archäologiſchem Intereſſe. Ob-
gleich der Seldſchukide Alaeddin dem Nomadenhäuptling Ertho-
grul den Bezirk von Sögud (etwas nördlicher gelegen) als Lehen
angewieſen hatte, um ſeinen ſtarken Arm gegen das benachbarte
byzantiniſche Reich zu gebrauchen, ſo iſt doch nur das Terri-
torium zwiſchen Kjutachia und Angora (Engurieh) als die zweite
Heimat des fraglichen Stammes und als die Wiege der Osma-
niden zu betrachten. In der Mitte dieſer Zone liegt das
Plateau von Sidi Ghazi. Dieſer Ort ſteht heute noch, nicht
der Midas’ſchen Nekropole 2 halber, ſondern als Ruheſtätte eines
moslemiſchen Nationalheiligen, bei den Türken in hohem Anſehen.
Schmuckloſe Santonsgräber bedecken den weitläufigen Raum und
in einer uralten baufälligen Moſchee ſuchen kranke Gläubige
Troſt und Geneſung. Der große Todte, dem ſo bedeutender
Einfluß auf körperliche Gebreſte zugemuthet wird, war eigentlich
[150]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ein arabiſcher Held, Seid el Bathal el Ghazi (d. h.: Held
Bathal der Sieger), der hier in einer Schlacht als Vorkämpfer
des Propheten zur Zeit Harun-er-Reſchids für ſeinen Glauben
fiel 1. Kein rechtgläubiger Reiſender, welcher dieſe Plateauhöhe,
etwa auf ſeinem Wege von Eskiſchehr nach Afium-Karahiſſar
kreuzt, verabſäumt, in dem kühlen Raume vorzuſprechen, und iſt
er gar ein Leidender, ſo hängt er das Kleidungsſtück, das gerade
den kranken Körpertheil deckt, an die Grabſtakete oder auf die
Zweige der benachbarten Bäume, denn hier iſt ſelbſt die Luft
von unſichtbaren Heilkräften durchweht. Im Winter gibts aber
hier oben böſe Tage. Die turkmeniſchen Hirten ſind längſt nach
den Uferbezirken des Sakaria abgezogen und Tagreiſen lang
ſtößt man in den weiten Steppen auf kein Dorf, kein Obdach.
Furchtbare Stürme hauſen in der Einöde und der lockere Schnee
thürmt ſich klafterhoch zu verderblichen Wehen. Von der Plateau-
höhe Sidi Ghazis ſteigen wir nach Karahiſſar, dem alten Synada,
hinab, indem wir, nach Paſſirung der einſamen Mauſoleen der
Könige Gordius und Midas, bei Bejad abermals auf Reſte
uralter Niederlaſſungen ſtoßen. Diesmal ſind es Troglodyten-
Wohnungen 2, roh in den Felſen gehauene Höhlen, wo die Ur-
einwohner Phrygiens in einer Art adamitiſchem Zuſtande gehauſt,
was aber nicht verſchlägt, daß die armſeligen Nomaden dieſer
Gegend dieſe Löcher als wahre Paläſte anſehen. Soweit konnte
der Glanz eines Reiches verſchollen gehen, daß die heutigen
Bewohner deſſelben in Einrichtungen eine Befriedigung erblicken,
die bereits vor fünfundzwanzig Jahrhunderten die Phrygier des
Gordius und Midas als Ueberreſte einer barbariſchen Zeit an-
geſehen haben mochten. Wir werden indeß weiter unten ſehen,
daß es ſelbſt unter osmaniſcher Herrſchaft in dieſem Gebiete,
ihrer Wiege, glanzvollere Tage gegeben hat, ein Grund mehr,
deren Niedergang zu documentiren.
Mit dem Betreten Afium-Karahiſſars befinden wir uns in
einem jener großen Becken, welche die inneranatoliſchen, über
ſiebenhundert Quadratmeilen großen Plateaulandſchaften aus-
zeichnen. Die Stadt war unter den Seldſchuken ein glanzvoller
[151]Ueber Karahiſſar nach Kjutachia.
Ort, und zwar zur ſelben Zeit, als es einem Melikſchah möglich
war, den Fährmann am Oxus in Central-Aſien mit einer An-
weiſung auf den Schatz von Antiochien, alſo einer Stadt, die
400 Meilen entfernt lag, bezahlt zu machen, ohne daß es dem
Schiffer zum Nachtheile gereicht hätte 1. Wie merkwürdig das
klingt, wenn man ſich die heutige ungeheuerliche Corruption und
Nichtswürdigkeit der türkiſchen Beamten vor Augen hält! Nach
Karahiſſar ſind indeß die Osmanen ziemlich ſpät gekommen.
Die Stadt lag ſo nahezu an der Peripherie des engeren Terri-
toriums von Iconium, deſſen ausgedehnte, mit gewaltigen Quader-
mauern und zahlreichen Thürmen verſehene Hauptſtadt das
heutige Konja war 2. Die Ebene, welche ſich heute um Karahiſſar
breitet, iſt öde und ſumpfig, rieſige Trachytkegel durchbrechen ſie
und auf einem ſolchen erhebt ſich auch ein uralter, aus den
ſchwarzen Trachytblöcken hergeſtellter Bau. Auch die Stadt iſt
ganz aus dieſem ſchwarzen Material aufgeführt, obgleich ſich in
dem naheliegenden Synada von altersher berühmte Marmor-
brüche befinden. Aber es wäre für türkiſche und turkmeniſche
Baumeiſter und Maurer zuviel verlangt, wollte man ihnen zu-
muthen, anderes Material zu verwenden, als jenes, über das
[152]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſie gerade ſtolpern … So kehren wir dieſem unheimlichen
Orte den Rücken und wandern mitten zwiſchen blühenden Mohn-
feldern, welche das geſchätzteſte Opium Kleinaſiens liefern 1, hin-
durch gegen Norden zurück, um in Kjutachia, dem einſtigen Sitze
des Beglerbegs von Anatolien und ſomit die Hauptſtadt des
Landes, zu raſten. Die Stadt iſt das uralte phrygiſche Cotyaïum,
die Heimat des Fabuliſten Aeſop. In osmaniſchen Beſitz iſt
ſie trotz ihrer Lage inmitten des Nomaden-Territoriums ziemlich
ſpät, nämlich erſt unter Bajazid I. getreten, der unverſehens vor
derſelben erſchien und den ſeldſchukidiſchen Statthalter abſetzte.
Noch zu Niebuhrs Zeit (1766) zählte Kjutachia über 11,000
Häuſer 2; in den dreißiger Jahren unſeres Jahrhunderts war die
Zahl derſelben bereits auf ein Dritttheil zuſammengeſchmolzen
und die altberühmte Burg nahezu verfallen. Heute iſt dieſe
einſt vielgenannte Stadt, in der es noch unter türkiſcher Herrſchaft
Paläſte, Springbrunnen, Gärten und Heilquellen gab, ein elendes
Neſt mit einer ſehr fanatiſchen moslemiſchen Bevölkerung und
die elende Paſchawirthſchaft trägt weſentlich dazu bei, Alles in
die größte Verwahrloſung übergehen zu laſſen. Als Ibrahim
Paſcha von Egypten, der Eroberer Syriens über die kilikiſchen
Päſſe gedrungen war, um mit ſeinen Truppen Kleinaſien zu
überſchwemmen, ſchlug er nach der Schlacht von Konja (weiter
im Süden), wo er Sieger blieb, ſein Hauptquartier in Kjutuchia
auf. Reiſende, die kurz vorher hier geweſen waren, konnten noch
Augenzeugen ſein, wie wenig Geſchmack im Allgemeinen die
Rechtgläubigen den Kriegen der hohen Pforte entgegenzubringen
vermochten. Nachdem die Aſſentcommiſſionen ſich anfänglich
an den Wortlaut des Recrutirungsgeſetzes hielten und nur „bart-
loſe“ Leute, d. h.: die jungen, zwiſchen dem 14. und 20. Lebens-
jahre abſtellten, gingen ſie ſpäter in ihren Maßnahmen auch auf
die „Sakali“, d. i. die „Bärtigen“, über. Da dies nun nicht
ſo leicht anging, wurde die Aushebung gewaltſam durchgeführt
und Trupps von mehreren Hundert Mann zuſammengetrieben,
aneinander gefeſſelt und mit — Halseiſen abgeführt 3. So geſchah
[153]Kjutachia.
es nach dem Berichte eines Augenzeugen in einer Zeit, wo es
der Türkei benommmen war, in Anbetracht des moslemiſchen
Feindes Ibrahim und ſeiner Egypter, den religiöſen Fanatismus
zu ſchüren. Es bleibt der eigentliche und wahre Maßſtab zur
Beurtheilung des türkiſchen Patriotismus, denn mit dem ewigen
Schlagworte, der Glaube ſei bedroht, läßt man im Oriente ganz
andere Inſtincte erwachen, als jene warmer Vaterlandsliebe und
Anhänglichkeit an die herrſchende Dynaſtie.
Vom alten Caſtellberge Kjutachias wollen wir noch einmal
die eigenthümliche Landſchaft Central-Phrygiens überblicken und
dann nordwärts in das Territorium des erſten osmaniſchen
Sultanats niederſteigen. Die Stadt mit ihren winkeligen Gaſſen
und elenden Holzhäuſern liegt in einer ziemlich weitläufigen
Ebene, die der antike Tymbres, der heutige Purſak durchſtrömt.
Das Thal iſt ſtellenweiſe ſumpfig, gegen Süden wird es enger
und nach dieſer Seite führt der uralte Verkehrsweg, den auch
die Kreuzfahrer mehrfach eingeſchlagen, durch Geröllſchluchten
nach Afium-Karahiſſar. Gegen Oſten ſteigen mäßig die endloſen
Plateaux-Landſchaften von Sidi Ghazi an, im Sommer der
Tummelplatz zahlloſer Heerden der Turkmenen; weſtwärts um-
rahmen kahle, niedere Höhenrücken mit ſpärlichen Ortſchaften
das Bild und im Südweſten die impoſante Gebirgsmauer des
Murad-Dagh 1. Es iſt der eigentliche Knotenpunkt der vorder-
anatoliſchen Gebirgsſyſteme und ſomit die Quellregion aller
großen Flußläufe dieſes Gebietes, die meiſt Namen von gut
hiſtoriſchem Klange führen, wie: Mäander, Hermos, Rhindacus
und Tymbres, heute freilich erſetzt durch die weniger gekannten
türkiſchen Benennungen: Menderez, Gedis, Adirnas und Pur-
ſak … Nach dieſem, im Ganzen wenig lohnenden Rundblick
folgen wir dem Laufe des Kjutachia-Fluſſes zum Ruinenfelde
Dorylaïums, von dem heute, einige niedere Erdwälle ausgenommen,
3
[154]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
nichts mehr zu ſehen iſt. Die Stadt an ihrer Stelle, Eskiſchehr,
welche ſehr bald osmaniſches Beſitzthum geworden ſein dürfte,
mag zweifellos ſchönere Tage geſehen haben, auf die ſchon die
Brückenruinen und andere Fragmente hinweiſen. Die Gegend
iſt aber ziemlich öde, im Weſten kahle baſaltiſche Berge mit
ſpärlichen Baumgruppen, tiefer im Sakaria-Thale weite Sumpf-
flächen mit zahlreichem Vogelwild, oſtwärts die bereits oben er-
wähnten endloſen Grasflächen, das Schlachtfeld, auf dem Gottfried
von Bouillon ſeinen erſten Sieg über die Seldſchuken errang 1.
Anderthalb Jahrhunderte ſpäter ſollte es Conrad allerdings
anders ergehen und ſein Heer wurde hier vernichtet, (vermuthlich
im Defilé von Lefkeh), wie ja ſo manches andere der Kreuz-
fahrer im Innern Kleinaſiens ſpurlos verſchwand 2.
Bei Eskiſchehr betreten wir die eigentliche Wiege der Os-
maniden. Alaeddin belehnte Erthogrul mit der Grenzmark,
nahezu zur ſelben Zeit, als die europäiſche Oſtmark in den Be-
ſitz der Habsburger überging. Der Ort, welcher dieſem Grenz-
ſultanat den Namen gab, iſt Inöngü 3, ein elendes Dorf, nicht
ganz fünf Meilen weſtlich von Eskiſchehr in einer kleinen Ebene
gelegen. Nackte Felsklippen mit Sepulcralkammern verſehen,
umziehen die armſelige Niederlaſſung. In den Felslöchern niſten
Adler und die verfallenen Thürme und Baſtionen einer einſtigen
Befeſtigung dienen den Schakalen zum Schlupfwinkel. Von
dieſen Ruinen aus vermag man bereits ziemlich deutlich die
Schneewipfel des bithyniſchen Olymp wahrzunehmen und den
hohen Kammzug des Keſchiſch-Gebirges, das, gegen Oſten mälig
abfallend, auch ſeinen Pflanzenſchmuck, ſeine Waldbäume und
quellenreichen Thäler verliert. Ja zwiſchen Inöngü und Sögud,
ein Weg, den wir auf unſerer weiteren Wanderung nunmehr
betreten, iſt der Boden bereits durchweg vulkaniſch, von Baſalt-
gängen und Lavazügen durchſetzt und aus den bunten Schlacken
der letzteren ſind auch die meiſten Häuſer des Städtchens Sögud
erbaut. Die Landſchaft iſt im Ganzen unintereſſant, ausge-
nommen die Felſenhöhen und Marmorklippen der Nachbarſchaft,
[155]Osmans Grabſtätte.
zumal im Thälchen von Biledſchik 1, in dem wir auf unſerer
Wanderung unverſehens auf das Grab Osmans, des Gründers
der gleichnamigen Dynaſtie ſtoßen. Es liegt am Ende des Thales
und wird ſchon aus der Ferne erblickt, wenn man von Lefkeh
herüberkömmt. Dem Styl und Ausſehen nach erinnert das
Denkmal an die gewöhnlichen Sultansgräber in Conſtantinopel 2.
Auch die Cypreſſen und immergrünes Buſchwerk fehlt dem ſtillen
Todtenaſyle nicht, in welchem die Gebeine Osmans und ſeines
Vaters Erthogrul nebeneinander ruhen. Neueſter Zeit wollte
man auch von einem Grabe Osmans zu Bruſſa wiſſen, that-
ſächlich wird aber dieſes von den Türken ſelbſt nur als ein
Denkmal angeſehen.
[156]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Indem wir durch die Schlucht des Kara-Su, der bei Bi-
ledſchik vorbeiſtrömt, unſere Route nach Wezierhan fortſetzen,
gelangen wir bald thalabwärts des Sakariah nach Lefkeh und
von dort in die Ebene des einſt weitberühmten Nicäa.
Wie nicht bald an einem Orte Kleinaſiens manifeſtirt ſich
hier die beiſpiellos raſch Entartung des osmaniſchen Volkes.
Unweit der Stelle der einſt ſo glanzreichen Stadt des Antigonus
liegt heute ein elendes Dorf von etlichen Dutzend ineinandergehäuften
Holzhäuſern, während das Ruinenfeld mit ſeinen gewaltigen
Mauern, Thoren und Thürmen etwas abſeits ſituirt iſt …
Isnik iſt der türkiſche Name dieſes traurigen Denkmales an
eine große Vergangenheit. Wer zwiſchen dem Immergrün, den
Platanen und Cypreſſen des bithyniſchen Geſtadelandes wandelt
und ſich beim Anblicke der Trümmer vielleicht in die Zeit der
Kirchenverſammlungen verſetzt denkt, wo ein Conſtantin, den
man ungerechterweiſe den „Großen“ nennt, den erſten Impuls
zum chriſtlichen Zelotismus gab, dem werden hier noch ganz
andere Dinge in den Sinn kommen. Nicäa, oder eigentlich
„Isnik“, iſt keine byzantiniſche Ruinenſtadt allein; im Innern
derſelben gewahrt man allenthalben die Fragmente weitläufiger
Bazars und Moſcheen, ein Beweis, daß einſt auch das osmaniſche
2
[157]Die Ruinenſtätte von Nicäa.
Nicäa unter dem Scepter ſeines Eroberers Orchan geblüht und
der Stolz des Landes war 1. Die Geſchichte, namentlich die
osmaniſche Culturgeſchichte, welche einen Sinan kennt, hat längſt
dargethan, daß die osmaniſche Race von Anbeginn her nicht
dazu verdammt war, die Kunſtſchöpfungen anderer Völker der
Zerſtörung preiszugeben, ja, daß dieſer Zerſtörungstrieb ganz
und gar nicht im Weſen der türkiſchen Race begründet war,
wie die bauluſtige und kunſtliebende Zeit der Seldſchukiden zur
Genüge beweiſt 2. Wenn nun die heutigen Osmanen dennoch
ihre einſtigen Emporien, und zwar gerade diejenigen, die beſtimmt
waren, ein Denkmal ihrer früheren Macht abzugeben, dem gänz-
lichen Verfalle preisgeben, ſo iſt der Beweis ſo ziemlich erbracht,
daß dieſem ſo raſch entarteten Volke keine moraliſche Kraft
mehr innewohnt, vergangenen Ruhm ſich zu vergegenwärtigen
und mit der Erinnerung an denſelben den fühlbaren Niedergang
ſeiner Herrſchaft aufzuhalten. Wenn unter unſeren Politikern
noch eine Meinungsverſchiedenheit über die Exiſtenzberechtigung
der Osmanen-Dynaſtie herrſcht, ſo findet dies ſeine folgerichtige
Erklärung in den Kämpfen der Parteileidenſchaften und in den
kühlen diplomatiſchen Doctrinen, in denen maßgebende Nationen
ihren ſpeciellen Standpunkt vertreten. Gegen ein derartiges poli-
tiſches Farbenſpiel haben wir nichts einzuwenden, denn es wird
von einer mehr oder minder mächtigen Intereſſenpolitik beſtimmt;
aber das ändert ſich ganz gewaltig, wenn wir uns auf rein hiſto-
riſchen, oder civiliſatoriſchen Standpunkt ſtellen. Unſer Urtheil
wird hiebei weder von engliſchen Panzercoloſſen, noch von ruſſiſchen
Koſaken-Regimentern getrübt, wir vermögen zu ahnen, was einſt
war und nicht mehr iſt, unſer Fuß betritt auf jeder Meile
Ruinenſtätten einſtigen osmaniſchen Glanzes und es iſt keine
[158]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
bloße akademiſche Jeremiade, wenn wir der zerſtörten griechiſchen
Kunſtſchöpfungen gedenken, ſondern eine verzweifelte Logik, da
neben den byzantiniſchen und alt-helleniſchen Trümmern eben
auch jene der Osmanen früherer Jahrhunderte liegen. Auf
dieſem Volke laſtet ſomit nur mehr der Fluch, nicht nur fremde
Culturdenkmale von den Territorien, die es ſeit ſechs Jahrhun-
derten inne hat, ſpurlos verſchwinden gemacht, ſondern ſeine
eigenen Werke dem Verfalle überliefert zu haben, um kommenden
Geſchlechtern jede Erinnerung an das „Einſt“ zu benehmen.
Gegen derartige Thatſachen, die ſich dem ernſten Forſcher und
dem vorurtheilsfreien Reiſenden in der Türkei, namentlich in der
aſiatiſchen, allerorts aufdrängen, nützt aber am Ende weder ein Con-
ferenz-Protokoll, noch eine geiſtreichthuende politiſche Doctrin,
die ſich nur darin gefällt, ſich in ihren eigenen Phraſen zu
ſpiegeln …
Auch weiterhin auf unſerer Wanderung längs der bithy-
niſchen Küſte würden wir überall nur auf die Spuren craſſeſter
Barbarei und Verwahrloſung der eigenen hiſtoriſchen Denkmale
ſtoßen, ſo zu Bruſſa, der Moſcheen-geſchmückten Stadt, am
Nordhange des Olymp, begraben im Grün der Kaſtanien und
Cypreſſen. Hier ſind ſelbſt die Prachtdome der erſten glorreichen
Sultane dem Einſturz nahe, während viele Dutzende von
Moſcheen heute vollends nur mehr Schutthaufen repräſentiren.
Dafür aber gewahrt das Auge auch hier hin und wieder ſeld-
ſchukidiſchem Architekturſchmuck, wie an der Moſchee Mohammed I.,
mit der prächtigen Marmorterraſſe und dem bunten Getäfel an
der Außenſeite 1, ein wahres Meiſterwerk orientaliſcher Kunſt 2.
Aber auch Bruſſa iſt nur eine Oaſe. Weiterhin am Mamara-
Geſtade ſtoßen wir auf den Hafenort Mudania, mit ſeinen mo-
dernen Eiſenbahnbauten weiter Muhalitſch, einſt ein vielgenannter
Verbannungsort der katholiſchen Albaneſen, wo ſich ſchon vor
dreißig Jahren ähnliche Jammerbilder abſpielten 3, gleich jenen,
an welchen die letztjährigen Orientereigniſſe ſo reich waren. Das
Meer erlöſt uns vor weiteren ähnlichen Eindrücken und weſt-
[159]Hellespont und Ilion.
wärts ſegelnd nähern wir uns einer anderen, claſſiſch berühmten
Landſchaft, dem Hellespont, mit ſeinen hochintereſſanten Ufer-
Oertlichkeiten …
Seitdem der mythiſche Dardanos, der Vater Ilos, des
Städtegründers, an der aſiatiſchen Küſte des „raſchfluthenden“
Hellespont ſeine feſte Burg angeblich gegründet hat, ſind an den
Ufern dieſer Waſſerſtraße zwiſchen den beiden Schauplätzen alter
und moderner Cultur unzählige Heere vorübergezogen. Es iſt
der Eindruck des ewigen Krieges, der Rivalität zwiſchen der
öſtlichen und weſtlichen Erdhälfte, der ſich ſelbſt dem friedlichſten
Wanderer aufdrängt, wenn er zwiſchen den grünen Ufern hinab-
fährt, der ägäiſchen See zu, dem älteſten Tummelplatze des
claſſiſchen Hellenismus. Jeder verwitterte Fels, jeder Küſten-
vorſprung, eine uralte Ruine hier, eine andere dort, Alles mahnt
an den tauſendjährigen Wechſel in der Völkerbewegung, an das
Auffluthen und Niederrauſchen weltzerſchmetternder Mächte, an
das Erblühen und Verſinken einzelner Cultur-Epochen. Vor
Dardanos noch, der ſich auf Grund der modernen Forſchung
keineswegs als Urtypus eines claſſiſchen Heros ausnimmt, ſon-
dern ſich in eine ſimple Titulatur verwandelt 1, mögen die
Aſſyrier an dieſen Geſtaden erſchienen ſein, um ihren Statt-
halter, oder „Tartan“ der äußerſten Weſtprovinz ihres Welt-
reiches einzuſetzen 2 … Von dem Punkte, wo der ſogenannte
Dardanos ſeine Uferwarte errichtet haben ſoll und der heute
nur mehr durch einen unförmigen Ruinenhügel bezeichnet wird,
iſts nur wenige Tauſend Fuß bis zur modernen Türkenfeſte
„Sultanie“, oder Tſchanak-Kaleſſi (das Töpferſchloß), auf die,
mehr noch als Alt-Englands Forſcher, ſeine Staatsmänner eifer-
[160]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſüchtige Blicke werfen, um den an Claſſicität Nichts zu wünſchen
übrig laſſenden Schlüſſel zur Weltſtadt Conſtantinopel ja nicht
in unberufene Hände gerathen zu laſſen.
Die Erinnerung braucht indeß nicht blos an dieſem Objecte
zu zehren; ſie findet eine ganze Reihe anderer, die jeden Gebil-
deten, ſei er nun Staatsmann oder Hiſtoriker, Dichter oder
Cultur-Apoſtel, ja ſelbſt nur einfacher Touriſt, in ungewöhnlichem
Grade feſſeln müſſen. Am Hellespont wurde die Geſchichte von
vier Jahrtauſenden geknüpft. Ein Compendium derſelben liegt
vor den Blicken des denkenden Beobachters in ehernen Zeichen
aufgeſchlagen und die Phantaſie lieſt ja ſo wunderbar raſch; ſie
erſchöpft das ganze Material in wenigen Stunden herrlicher
Meerfahrt … Beim Herannähern durch die Marmara-See
treten die ſüdlichen Uferlandſchaften des räumlich unbedeutenden
Binnenmeeres mehr und mehr in den Geſichtskreis, ein letzter
Blick noch auf den bithyniſchen Olymp, der zwiſchen den
Marmara-Inſeln herüberlugt, dann taucht linker Hand eine
bunte Häuſermaſſe aus den Goldnebeln, das weitläufige
Gallipoli, der erſte Markſtein des Osmanenthums in Europa.
Das Städtchen liegt auf einer ſchmalen Landzunge, die mit dem
Feſtlande zwei kleine Buchten bildet, in der Regel der Sammel-
punkt der zahlreichen kleineren Segler, welche zu vielen Tauſenden
jahrein und jahraus die Meeresſtraße paſſiren. Ein uralter
Thurm, das Werk Bajazids 1, und einige verfallene Erdſchanzen
aus der Zeit des Krimkrieges waren noch kurz vor Ausbruch
der letzten Orientwirren die einzigen fortificatoriſchen Objecte.
Die Stelle, wo Orchans Sohn, Suleiman, in dem neuen Welt-
theil zuerſt Fuß faßte, liegt übrigens nicht bei Gallipoli ſelbſt,
[161]Hellespont und Ilion.
ſondern etwas ſüdlicher. Bevor man noch dahin gelangt, grüßen
von der aſiatiſchen Uferſeite die Häuſergruppen des einſt be-
rühmten Lapſaki herüber, hinter deſſen Uferhöhen der Granikus
in einſamem Thale nordwärts abfließt. Dicht bei Gallipoli
mündet noch ein zweites claſſiſches Flüßchen, der Aegospotamos,
an deſſen Mündungsſtelle einſt der Spartaner Lyſander durch
ſeinen Seeſieg dem peloponneſiſchen Kriege ein Ende machte.
Die aſiatiſche Uferſeite wird im Verlaufe der weiteren Fahrt
immer maleriſcher. Wohl hält die Seeſtraße der Dardanellen
nicht im Entfernteſten einen Vergleich mit dem Bosporus aus,
die ſtumme Sprache der Geſchichte iſt aber am Ende ein Genuß,
den auf die Dauer ſelbſt die reizendſte Landſchaft nicht zu bieten
vermag. So taucht denn auch bald die düſtergraue Silhouette
jenes Thurm-Baſamentes auf, der die Stätte bezeichnet, wo die
erſte osmaniſche Schaar vom aſiatiſchen Feſtlande herüber-
gekommen war, und auf den Zinnen des damaligen Choridokaſtron
die Osmanen-Standarte aufgepflanzt hatte. Wir befinden uns
hier dicht vor dem eigentlichen Seepaſſe, den öde Steilküſten
mit Geröllbarren und ſandigen Uferſtrichen bezeichnen. Auf
einer Anhöhe droht eine türkiſche Strandbatterie — Nagara
Burun — und einzelne Pinien ſchatten auf Stein- und Fels-
trümmer herab, an deren Stelle wohl einſt das liebliche Abydos
geſtanden haben mag, verklärt von Schillers Liebesballade von
„Hero und Leander“ und ein Object der intenſivſten britiſchen
Neugierde, denn es iſt hier jene Stelle des Hellespont, wo Lord
Byron ſeine bedenkliche Schwimmtour zum Beſten gab. Wer in
der Geſchichte ein wenig zurückblättert, dem drängen ſich beim
Anblicke der ziemlich reizloſen Meeres-Ufer noch zwei andere,
viel bedeutſamere und zwar hiſtoriſche Ereigniſſe auf. Auf der
Höhe, wo ſich heute die genannte türkiſche Strandbatterie be-
findet, dürfte Xerxes’ Prachtzelt geſtanden haben, als ſeine
Brückenſchläger vergeblich das Rieſenwerk zu vollbringen trach-
teten. Trotz der dem Meere hiebei gewordenen Züchtigung —
durch peitſchen mittelſt Ketten — iſt das Element in dritthalb
Jahrtauſenden nicht zahmer geworden, und mächtig ſtrömt es
um das ſteile Vorgebirge durch die ſcharf nach Süden abſchwen-
kende Enge. In dieſem Bereiche dürfte auch die Uebergangs-
ſtelle von Alexanders Heer unter Parmenions Führung zu ſuchen
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 11
[162]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſein, während der jugendliche Eroberer mittelſt Kahn die ſüdlichen
Geſtade aufſuchte, um auf Ilions geweihtem Boden den zu be-
zwingenden Welttheil zu betreten.
Gleich unterhalb Nagara-Burun beginnen die eigentlichen
Befeſtigungen der Dardanellen, auf aſiatiſcher Uferſeite die Batterie
Köſch-Burun Tabia; dieſſeits weiter Tſcham-Burun Tabia und
Kilid Bahr, jenſeits das größte der Dardanellenforts, Sultanie,
das mit ſeinen plumpen Rundthürmen und weißen Terraſſen-
mauern wie aus dem Meere emporzutauchen ſcheint. Impoſant
nehmen ſich dieſe Befeſtigungen keineswegs aus, die ſeit ihrer
Erbauung durch Mohammed IV. bis in die neueſte Zeit hinein
kaum eine gründliche Reſtauration erfahren haben mögen und in
denen ſich noch vor Kurzem die älteſten und wunderlichſten
Geſchützmonſtren und ganze Magazine mit — Steinprojectilen, wie
ſie bei der Belagerung von Conſtantinopel, alſo vor mehr als
vierhundert Jahren, in Verwendung waren, befanden.
Von Tſchanak-Kaleſſi ab erweitert ſich der Hellespont ſehr
bedeutend, auch werden die Uferpartien allenthalben reizlos, und
ſo benützt, wer nur einige Zeit hiezu disponibel hat, von dem
mehrgenannten Dardanellenſchloſſe, den Landweg bis zur tro-
janiſchen Landſchaft hinab. Schon der Beſuch von Mſtr. Cal-
vert, dem amerikaniſchen Conſul und Eigenthümer der weitaus
werthvollſten ilienſiſchen Antiquitäten-Sammlung, iſt belehrend
genug, und mit der nothwendigen Bereicherung ausgeſtattet, ver-
läßt der Wanderer auf ſeinem Grauthiere oder auf bedenklich
abſtrapazirten Klepper die Dampfſchiffſtation, um nach Süden
aufzubrechen. Nur der ferne Ida lugt in die Vor-Landſchaft
herein und unmittelbar vor uns liegt die compacte Maſſe eines
auf ſteilem Grat — dem Skäiſchen Vorgebirge — aufgeführten
Dorfes. Der Führer ſagt uns, daß von der vorliegenden Höhe
der Ausblick ein umfaſſender ſei, und ſo erſcheint es begreiflich,
wenn man den Gang ſeines Reitthieres beflügelt, denn jener um-
faſſende Ausblick kann füglich nichts anderes in ſich begreifen,
als die trojaniſche Ebene ſelbſt. Und ſo iſt es. Noch ein letztes
Emporklettern zu dem Dorfe Renkiöj mit ſeinen niederen, flach-
dachigen Steinhäuſern und — zu unſeren Füßen liegt die durch
die Poeſie geheiligte Stätte, deren erſter Eindruck für Jedermann
unvergeßlich bleiben wird. An ſich iſt die weitläufige Niederung
[163]Hellespont und Ilion.
ziemlich reizlos, d. h. ſie enthält nichts, was ſonſt der verwöhnte
Erdenwaller von einem Landſchaftsbilde verlangt, aber ſchon der
Blick auf den aufblitzenden Skamander, der wie ein heller Silber-
faden durch die hellgrüne Ebene zieht, mag den ureigenen Zauber
dieſes Gefildes zum Bewußtſein bringen, an der Küſte aber,
unweit des Dardanellenforts Kum-Kaleh, iſt der Boden vollends
dürre, ſandig und ohne geringſten Pflanzenſchmuck. Dieſer Strich
iſt, nebenher bemerkt, nicht einmal claſſiſches Terrain, denn die
Wiſſenſchaft iſt nun einmal in ähnlichen Dingen ſehr unerbittlich
und diesbezügliche Unterſuchungen haben ungemein überzeugend
feſtgeſtellt, daß es einerſeits den Anſchwemmungen des Skaman-
ders 1, anderſeits dem ſäculären Emporſteigen der Küſte ſein
Daſein verdankt, und ſomit von Danaern und Ilienſern niemals
betreten werden konnte. Dieſe Thatſache macht es auch erklär-
lich, weshalb Homer ſein Troja ſo nahe dem Meere gelegen ſein
läßt, ein topographiſcher Wink, der ohne jene Aufklärung nimmer
einleuchten würde.
Steigen wir nun von jener Warte hinab, um das Gefilde
ſelbſt zu durchwandern. Schon von der Höhe aus ſind uns in
ſüdweſtlicher Richtung zwei gewaltige, vollkommen iſolirt aus den
grünenden Feldern emportauchende Hügel aufgefallen. Wir er-
reichen ſie nach kurzem Ritte zwiſchen den weidenden Büffel-
heerden hindurch und ſtehen ſo unverwandt vor den zwei älteſten
Denkmälern ilienſiſcher Geſchichte, vor den Gräbern Achilleus’
und Patroklus’. Einſam iſt’s ringsum und nur beſcheidene
Blümchen ſprießen auf der Trift, die ſeinerzeit Alexander d. Gr.
mit ſilberſtrahlender Rüſtung betreten, um die Ruheſtätte ſeines
gefeierten Vorbildes zu ſchmücken 2. Seit jener Zeit haben zahl-
loſe Völkerſchaaren das Skamanderthal durchzogen und ſie
11*
[164]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſchenkten auch den verſchollenen Heldengräbern ihre Aufmerkſam-
keit, allerdings in anderem Sinne, denn ihre Habſucht ließ ſie
hier Schätze vermuthen, und ſo verwüſteten ſie die Grabkammern
und zerſtörten zum Theile die kegelartigen Hügel … Einförmig
rauſcht hier der Skamander und die Ruhe des Grabes wird nur
durch den Ton der Hirtenflöte unterbrochen. Hohe Pappeln und
Tamarisken werfen ihre Schatten über Melonengärten und
wohlgepflegte Felder, aus denen das Blumen-Stiefkind, die
Kornblume, hervorlugt. In der Höhe lockt der Thurmfalke und
über die altehrwürdigen Scheitel der Grabhügel huſcht die flug-
ſchnelle Schwalbe oder flattert der kosmopolitiſche Spatz …
Mit dieſem anheimelnden Bilde verlaſſen wir die blumenge-
ſchmückten Ufer und wenden uns über welligen Weideboden in ſüd-
licher Richtung, von wo bald ein weithin ſchimmerndes Minaret
ſichtbar wird. Es iſt jenes von Bunarbaſchi, dem elenden tür-
kiſchen Lehmhüttendorfe, dem bislang die, gewiß nicht hoch genug
anzuſchlagende Ehre zu Theil ward, die Stelle des einſtigen
Troja eingenommen zu haben. Indeß mag man das Dorf ge-
troſt bei Seite liegen laſſen, denn nirgends bietet das trojiſche
Gefilde ſo reichen Vegetationsſchmuck, wie in und um Bunar-
baſchi, dem feuchten, kühlen Quellenorte. An allen Ecken und
Enden plätſcherts und gurgelts; üppiges Schlinggewächs ſpannt
ſich gleich hängenden Gärten über kryſtallhelle Bäche und hoch
im Gezweige der Platanen girren die Turteltauben. Wo man
früher (vor Schliemann) das Grab des Aeſyetes 1 vermuthete,
breiten ſich lichtgrüne Olivenbüſche. Von der hohen Lauerwarte,
daſelbſt aber ſpähten die Trojer ins ferne Blachfeld, um jede
Bewegung der Griechen zu überwachen und ſie nach dem Burg-
felſen von Pergamos, Priamos’ Feſte, zu rapportiren. Das ſoll
nun heute freilich nur eine Illuſion, eine poetiſche Täuſchung
ſein, da Schliemann bekanntlich Bunarbaſchi gar nicht als die
Stätte des alten Troja anerkennt, ſomit auch Priamos’ Feſte
nicht auf dem Bali-Dagh, der eine halbe Stunde ſüdöſtlich des
Dorfes ſtreicht, gelegen ſein konnte. Und wie wunderbar iſt doch
die Poſition auf dieſem Bergeshaupte mit ſeinen, nach drei Seiten
hin abfallenden Steilhängen, den rauſchenden Skamnader zu
[165]Hellespont und Ilion.
Füßen und im Süden die Thalebene des Ida, der ſich dorthin
in großen, üppig bewachſenen Stufen hinabſenkt! Und da ſind
auch die Schluchten und Abgründe, das Buſchwerk und die
Schlinggewächſe, von denen der Dichter gelegentlich des Wett-
laufes zwiſchen Achill und Hector ſpricht und weſtwärts erblickt
man den Höhenrücken von Tenedos, hinter welcher Inſel die
Griechen mit ihren Schiffen verborgen lagen. Schwer wird es,
ſich von dieſem Bilde loszureißen, und noch ſchwerer, Localitäten,
mit denen wir die Iliade innig verwoben wähnten, durch den
Machtſpruch der Forſchung dieſes Zaubers ſchonungslos ent-
kleidet zu ſehen 1.
Drüben, jenſeit des Skamanders, und zwar in nördlicher
Richtung, befindet ſich auf flacher Höhe die Stätte von Hiſſarlik
— Schliemanns Ilion. Um dahin zu gelangen, muß der Rück-
weg nach Bunarbaſchi genommen werden und ſo vermag das
trunkene Auge ſich noch einmal in die erhebenden landſchaftlichen
Reize zu verſenken. Rauſchend durchſtrömt der Skamander das
Gefilde, ſeine Ufer beſchattet von einzelnen Kronen; weit im
Südoſten das Waldesdunkel des Götterberges, von deſſen Scheitel
der „himmelentſproſſene“ Fluß in Silbercascaden niederſtürzt.
Hiezu ein Blick auf den tiefblauen Spiegel des Aegäiſchen Meeres,
unterbrochen von den dunklen Inſelrücken Imbros und Samo-
thrake, bis er zuletzt auf dem goldſtrahlenden Athos haftet, der,
von der Gloriole der Abenddämmerung umwoben, gleich einem
feenhaften Luftgebilde in den Purpurtönen der Ferne ver-
ſchwimmt …
Welcher Gegenſatz nun auf der Stätte von Hiſſarlik! Tiefſte
Stille, eine wahrhaftige Kirchhofsruhe gegenüber jenem vollpul-
ſenden Leben der Natur zu Bunarbaſchi. Allenthalben ſtößt der
Fuß des Wanderers auf die ruinenhaften Reſte türkiſcher Dörfer
und auf verwahrloſte mohammedaniſche Friedhöfe mit ihren ver-
[166]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
fallenen Einfriedungen und den überwucherten Grabmonumenten.
Unter dieſer, ſo vielfach mit baulichen Fragmenten überſäeten
Erddecke vermuthete Schliemann die Reſte Ilions und nach lang-
wieriger aufreibender Arbeit legte er gewaltige Subſtructions-
mauern bloß, die er der Feſte Priamos zuſchrieb und ſomit jene
weitreichende Umwälzung in der trojaniſchen Topographie hervor-
rief, die noch immer unſere Helleniſten vollauf beſchäftigt. Mag
es damit nun wie immer beſtellt ſein, zweifellos bleibt es, daß
die Funde aus dem Innern dieſes Bodens, das höchſte cultur-
geſchichtliche Intereſſe beanſpruchen und für die ilienſiſche und
alt-helleniſche Kunſt- und Religionsgeſchichte von unberechenbarem
Werthe ſind 1 … Neben der Abgeſtorbenheit und Oede auf
Hiſſarlik iſt auch der Ausblick von hier keineswegs ein lohnender.
Das Meer iſt verdeckt durch die vorliegenden niederen Uferhöhen
und die waldigen Bergſtufen im obern Skamanderthal nicht zu
überblicken. Vollends abgeſchloſſen iſt das Bild gegen Süd-
weſten, über die Minaretſpitze von Bunarbaſchi hinweg, wo der
Bali-Dagh die Inſel Tenedos und die vor ihr liegenden Küſten-
Einfaſſungen der hiſtoriſch gewordenen Beſika-Bai maskirt. In
der Mittagshitze eines morgenländiſchen Sommertages kann ein
längerer Aufenthalt auf der Plateauhöhe von Hiſſarlik ſomit ſehr
unbehaglich werden, trotz der Nähe des Skamanders, der zwiſchen
Pappeln und Tamarisken dem nahen Meere zuſchlängelt. Man
ſollte indeß kaum glauben, daß dieſe friedliche Landſchaft irgendwie
geeignet ſein könnte, ein anderes, als blos hiſtoriſches oder cultur-
geſchichtliches Intereſſe zu beanſpruchen. Und dennoch iſt es ſo,
wie wir ſchon oben zu bemerken Gelegenheit fanden. Auch vom
trojaniſchen Gefilde weſtwärts iſt es nicht ſehr weit bis zu den
nächſten greifbaren Zeichen der Zeit, bis zu den ſüdlichſten Dar-
danellenforts nämlich, von denen das einſam liegende „Sand-
ſchloß“ (Kum-Kaleh) die aſiatiſche Küſte, das Fort Sedil-Bahr
aber die europäiſche Seite ſchützt. Der Reiſende, der ſich zu
Schiff vom Aegäiſchen Meere her der vielbegehrten und neueſtens
wieder vielgenannten Meeresſtraße nähert, ſieht Anfangs nichts,
als unförmliche Erhöhungen und hin und wieder graues Mauer-
werk. Er würde kaum ahnen, daß nach mehrſtündiger über-
[167]Hellespont und Ilion. — Smyrna.
ſtandener Fahrt durch dieſen Sund, Hundert und mehr Feuer-
ſchlünde aus den verſchiedenen Werken auf ihn herabgeblickt
hatten … Es iſt eben die Schwelle, wo ſich nach des Dichters
Wort Aſien von Europa riß …
Auf unſerem Wege längs des ägäiſchen Geſtades nach
Smyrna, der gleich altberühmten Localität, gäbe es wohl manche
Station für die in claſſiſchen Erinnerungen ſchwelgende Phan-
taſie, aber ſie alle zu befriedigen würde zu weit führen. So
blicken wir auch nur von Weitem auf die Waldberge von Lesbos,
der Heimat Alcäus’ und der Sappho, Arions und Phanias; auf
die großartigen Trümmer von Pergamos mit den Ruinen eines
Palaſtes (muthmaßlich aus der Zeit der unabhängigen Attaliden)
und den türkiſchen Schmutzhütten inmitten der Marmorpracht 1.
Dann öffnet ſich ein weitläufiger Golf, zum Theile von Bergen,
anderntheils von Ebenen umzogen, in deſſen Hintergrund Smyrna,
die natürliche moderne Hauptſtadt Anatoliens und drittgrößte
des türkiſchen Reiches liegt.
Unter den levantiniſchen Küſtenſtätten hat Smyrna, einſt
die „Perle Joniens“, noch lange nicht die Würdigung gefunden,
die das „öſtliche Neapel“ zweifellos verdient. So kennt und
liebt man das neue Athen des Namens und der Localität halber,
obgleich die neu-helleniſche Capitale mit dem einſtigen attiſchen
Emporium nichts zu ſchaffen hat; man bewundert unterwegs die
aufklimmenden Häuſer-Terraſſen Syras, wenn der Poſtdampfer
einige Stunden im geräumigen Hafenbecken vor Anker liegt;
man ſchwärmt vom ſchimmernden Beirut, in deſſen Tropengärten
die Schneewipfel des Libanon niederblicken, aber man weiß in
der Regel wenig Feſſelndes über Smyrna zu berichten. Und
dennoch hat dieſe Stadt ihre landſchaftlichen Reize, die im unge-
trübten Vollgenuſſe weſentlich dadurch gehoben werden, daß mit
denſelben hiſtoriſche Erinnerungen verwoben ſind, die in die
dunkelſte Vorzeit hineinreichen 2. Schon im homeriſchen Alter-
[168]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
thume blühte an der Bucht, deſſen liebliches Südgeſtade heute ein
Chaos mehr oder weniger wüſter Niederlaſſungen umſäumt, ein
griechiſches Cultur-Emporium, und jener Ahn der Rhapſoden
verherrlichte in unmittelbarer Nähe der Stadt die Helden der
Iliade, an der ſich alle Geſchlechter ſeit nun ſchon drei Jahr-
tauſenden laben 1. So heißt es wenigſtens in der Tradition und
die Localität, wo der halb mythiſche Homer unter den Sterb-
lichen gewandelt, ſoll das liebliche Thälchen ſein, das der Meles
von Süd nach Norden durchfließt. Der Anblick deſſelben, zumal
im Dämmerlichte des Abends, wenn Alles ringsum wie von
mattblauen Schleiern umwoben erſcheint, mag wohl geeignet
ſein, uns unbewußt einem verſchollenen Völkertraume näher zu
rücken …
Dieſer Anblick kann von keiner Seite Smyrnas beſſer ge-
noſſen werden, als von der Höhe oder den üppigen Hängen des
Berges Pagos, der ſich im Süden der Stadt wie eine Couliſſe
vorlegt. Auch ſein Gipfel trägt die Spuren uralter Anſiedlung,
cyklopenartige Fundamente und altes Gemäuer, das in ſeinem
heutigen baufälligen Zuſtande eine Moſcheeruine umſchließt. Wer
daher Smyrnas magiſchen Total-Anblick ungeſchmälert genießen
und ſich den unleugbaren Zauber einer orientaliſchen Landſchaft
nicht durch die ſchmutzigen, abſtoßenden Details des täglichen
Lebens und Webens ſchmälern laſſen will, der trachte bei Zeiten
dem dunſtigen Gaſſengewirre zu entrinnen, um jene Bergeshöhe
zu gewinnen. Der erſte Ausblick wird genügen, um ſofort in
uns das Bewußtſein zu erhärten, daß, Conſtantinopel ausge-
nommen, keine Küſtenſtadt der Levante ſich rühmen kann, auch
nur annähernd ein ſo prächtiges Bild zu präſentiren, wie die
heutige Metropole Klein-Aſiens … Weit nach Süden hin
zieht ſich die Thalſpalte des Meles, hin und wieder beſäumt von
ſchwärzlichen Cypreſſen und Olivengebüſch. Man könnte die
ſtille Landſchaft mit ihren unvergleichlichen Tinten und ſpärlichen
2
[169]Smyrna.
Wohnſtätten ein Aſyl nennen, ſo wunderbar friedlich muthet ſie
an, aber neben dem Silberbande des Flüßchens erblicken wir die
ſchwarze Spur eines — modernen Schienenweges und das Pol-
tern der Locomotive rüttelt uns nun auch hier unbarmherzig
aus unſeren claſſiſchen Träumereien auf, wie auf der athenien-
ſiſchen Akropole oder auf dem Kairenſer Mokhattam. Es iſt die
Bahn, die von Smyrna nach Aidin, ins Thal des Mäander
führt, die älteſte auf vorder-aſiatiſchem Boden, denn ſie wurde
bereits 1857 dem Verkehr übergeben, alſo kurz nachher, als die
Eiſenbahn-Aera in Indien inaugurirt ward 1. Ein ſchriller Pfiff
verſcheucht uns den Schatten Homers, und wir ſehen wieder
den ſilbernen Meles, die Cypreſſen und Olivenkronen, das
ſchmucke Dörfchen Budſcha und rechter Hand, alſo gegen Weſten
hin, die eigenthümlich geformten Doppel-Kuppen des Berges
„due fratelli“.
Weſentlich anderer Natur iſt das Bild im Norden und
Weſten. Man braucht ſich ſozuſagen nur um ſeine eigene Achſe
zu drehen, um eine totale Veränderung des Geſichtskreiſes herbei-
zuführen. Es iſt der breite Golf, der ſich zu unſeren Füßen
dehnt, nicht ſo großartig, wie jener Neapels, zumal wegen ſeines
allenthalben öden Nordufers, aber immerhin mit ihm vergleich-
bar, zumal nach der Nordoſt-Seite hin, wo der höchſte Berg des
Smyrnaer Rayons, der Sipylos mit ſeinen Dörfern und Villen,
Waldparcellen und üppigen Gärten eine äußerſt belebte Geſtade-
zone im Hintergrunde abſchließt. Wie alſo gegen Oſten der
tiefblaue Golf mit ſeiner geradezu permanent vor Anker liegenden
Handels- und Kriegsflotte aller abendländiſchen Seemächte wohl-
thuend die abwechslungsreichen landſchaftlichen Linien unterbricht,
[170]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſo anziehend erſcheint für das nimmerſatte Auge das niedere Ge-
ſtade jenſeit des Hafens. Es ſind die Ruinen eines Kloſters,
die zuerſt in die Perſpective treten, dann einzelne Bauten für den
Schiffsverkehr, dahinter, in großem Bogen um den Sipylos vor-
beiziehend, ein zweiter Schienenweg, jener von Smyrna nach
Maniſſa (Magneſia) und Sart (Sardes), und an den Berg-
abhängen, gleich leuchtenden Blüthen in einen bunten Teppich
gewoben, die Villen und Landhäuschen, einzelne Ortſchaften und
Ruinen zwiſchen Gärten, in denen alle ſubtropiſchen Pflanzen
ihre Repräſentanten haben. Beſonders reizend liegt die Partie
hinter Burnabat, dann das kleine Delta-Gebiet des Meles
zwiſchen Kalkar-Bunar und der bekannten von Malern vielfach
dargeſtellten „Karawanen-Brücke“. Wir dürfen aber über dieſe
nebenſächlichen Detailbilder der weiten Umgebung nicht auf die
Hauptſache, nämlich auf die Stadt ſelbſt, einzugehen vergeſſen. Sie
liegt unmittelbar zu unſeren Füßen, ja die Häuſer des Türkenviertels
ſcheinen zu uns heraufklettern zu wollen, ſo ſehr ballen ſie ſich
zu engen, dunſtigen und beiſpiellos ſchmutzigen Quartieren in der
nächſten Nähe unſeres Standpunktes zuſammen. Schon ein Blick
von hier oben vermag uns über die großen Bevölkerungsgruppen
der Stadt und ihre Stadtviertel eine ziemlich genaue Orientirung
zu verſchaffen.
Das bunte Chaos von baufälligen Holzhäuſern, mit den
weitausladenden Altanen in unſerer Nachbarſchaft, die gegen den
Meles zu liegenden Friedhöfe mit den dunklen Cypreſſen, und
die ſtille Geſchäftsloſigkeit in allen zu überblickenden Gaſſen, das
kann nur das Türkenquartier ſein. Und ſo iſt es. Ueber die
zahlreichen Moſcheen-Minarets hinweg trifft unſer Blick den
nächſten größern, marcanter hervortretenden Stadt-Complex, in
welchem ſchon mehr Leben pulſirt, Frauen nicht mehr ſcheu und
ängſtlich hinter mit Holzgeflecht verſponnenen Fenſtern in die
ſtille Landſchaft hinausbrüten und Kinder weniger aufſichtslos
in den Straßen und Höfen herumlungern. Es ſind die Quar-
tiere der Griechen, Armenier und Juden … Die eigentliche
Pulsader Smyrnas iſt aber das „Frankenquartier“. Eine einzige,
ſcheinbar endloſe Gaſſe ſchneidet es der Länge nach. Mit ihr
parallel zieht der Quai, zum Theile wohlgepflaſtert, anderntheils
entweder bloßer Schuttweg oder martervolle Pflaſterſtraße von
[171]Smyrna.
kopfgroßen Klaubſteinen und dazwiſchen ebenſo großen Löchern.
An und auf dieſem Quai nun entfaltet ſich das eigentliche Leben
Smyrnas, das Leben nach unſeren modernen Culturbegriffen
nämlich, das wir nach der Menge faſhionabler Genüſſe, oder
wenigſtens nach dem Vorhandenſein ihrer Repräſentanten, taxiren.
Das typiſche Weſen der autochthonen Bevölkerung und die Kund-
gebungen ihrer originellen Lebensbeziehungen vermag man auch
in Smyrna, wie in allen orientaliſchen Städten, nur in den
Wohnungen und Quartieren derſelben erſprießlich zu belauſchen.
Ob dies Studium ſpeciell hier für denjenigen beſonderen
Nutzen zu haben vermag, der beiſpielsweiſe Conſtantinopel ge-
ſehen und durchlebt hat, will ich dahin geſtellt ſein laſſen; immer-
hin aber finden ſich auch hier intereſſante Momente aus dem
Volksleben. Im Uebrigen aber iſt das türkiſche Volk, da haupt-
ſächlich nur die Griechen mit dem Handel ſich beſchäftigen, arm
und ſollen Fälle nicht ſelten ſein, daß Leute auf offener Straße
vor Hunger ſterben 1.
Wir wenden uns vorerſt nach der neuen Quai-Straße.
Wer auf der großen Stambuler Brücke geſtanden und die Re-
präſentanten ſo vieler Völker der alten Welt in mehr oder minder
geſchäftlicher Eile an ſich vorüberwandeln geſehen hat, den wird
das Smyrnaer Quai-Bild ziemlich kühl laſſen. Auf der Waſſer-
ſeite ſelbſt ſtehen die Häuſer noch ſtellenweiſe dicht zuſammen-
gedrängt, ja viele ſchweben, auf Piloten erbaut, über den Waſſern
des Hafens, und während unter den Füßen ehrſamer Moslims
die ſchwachen Wellen des Meeres plätſchern, ſtreift durch den
luftigen Holzbau der kühle Weſtwind, ein wahres Labſal für die
ſchlafmüden Korangelehrten, die hier mit Vorliebe in ein weſen-
loſes Nichts hinausbrüten … Eine Gedankenloſigkeit bei wachem
Geiſte erſcheint uns nachgerade als ein Problem; für den Orien-
talen und ſpeciell wieder für den Türken iſt ſie ein vielbegehrtes
Glück, dem er nahezu die ganze Tageszeit über obliegt, während
er die Arbeit den übrigen zweibeinigen Geſchöpfen, das Regieren
dem lieben Herrgott überläßt. Welche Ausſicht eine Wieder-
geburt des osmaniſchen Reiches im Sinne einer abendländiſchen
politiſchen Freiheit unter dieſem Geſichtspunkte von vornher
[172]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
hatte, iſt unſchwer zu begreifen. Die Theoremen eines modernen
Staatslebens würden weniger an der Unehrlichkeit der Bureau-
kratie, an der Unfähigkeit der Reichsvertreter und am Fanatismus
der Prieſterkaſte ſcheitern, als vielmehr an der beiſpielloſen Träg-
heit der Individuen und der daraus entſpringenden Gleichgiltig-
keit gegen Alles, was den Kreis ihrer angeerbten täglichen Be-
dürfniſſe überſchreitet 1. Als einſt dieſe Koſtgänger Allahs in
einer ſolchen pilotirten Kaffeebude Licht, Luft und Meer genoſſen,
brach das Gebälke unter ihren Füßen und ſie fanden hart am
Ufer ihren Tod in den Wellen und unter den Holztrümmern.
Der Fall machte einige Zeit von ſich reden, dann ward er ver-
geſſen und heute ſitzen andere derartige Koſtgänger in einer
anderen ähnlichen baufälligen Bude, an ſie gefeſſelt durch die
ſtarke Regel der Gewohnheit, gegen die ſie in ihrem eiſernen
Conſervatismus nicht anzukämpfen vermögen. Aus dieſer Apathie
der ſmyrniotiſchen Moslims erwächſt indeß ein Vortheil, nämlich
der ihrer verhältnißmäßig großen Toleranz 2. Während alle
größeren Städte des Reiches, Erzerum, Trapezunt, Bruſſa, Aleppo,
Damascus und ſelbſt das ferne Bagdad, wiederholt Schauplätze
furchtbarer Exceſſe waren, erinnert man ſich an derlei in Smyrna
ſeit Menſchengedenken nicht mehr. Auch die neueſtens gemeldeten
Tumulte, welche die anatoliſchen Baſchi-Bozuks — wohl die
[173]Smyrna.
wildeſten des ganzen Reiches 1 — dortſelbſt angerichtet haben,
ſollen nachträglich auf ein ſehr beſcheidenes Maß herabgedrückt
worden ſein 2. Dieſe Toleranz iſt gewiſſermaßen hiſtoriſch. Wie
[174]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
die osmaniſchen Chroniken erzählen, gab es in den erſten Jahr-
hunderten der türkiſchen Herrſchaft ein ziemlich freiſinniges
Element unter den Rechtgläubigen, und zwar waren dies, wie
man am allerwenigſten erwarten ſollte, die Derwiſche. Klein-
Aſien war der Schauplatz ihres erſten Aufſtandes noch vor dem
Falle Conſtantinopels. Ihre Dogmen waren: religiöſe Gemein-
ſchaft, alſo Anſchluß an die Chriſten, bürgerliche und politiſche Frei-
heit, Ausmerzung gewiſſer Faſtengebote aus dem Koran, u. dgl. m.
Die bewaffnete Macht intervenirte und der Anführer der
Empörer wurde gefangen nach Smyrna gebracht, auf ein
Brett genagelt und durch die Straßen der Stadt geſchleppt.
Während das Volk dies ſchreckliche Schauſpiel bejohlte, ſtürzten
ſich die Schüler Muſtafas in ihre Dolche, mit dem Rufe: „O,
Prophet, nimm uns auf in dein Reich 1!“
Der Lieblingsaufenthalt der mohammedaniſchen Smyrnioten
ſind indeß weniger der Quai, als vielmehr die Gärten längs
des Meles. Kaffeebuden erheben ſich dort unter mächtigen Pla-
tanen, der Mandel- und Citronenbaum fächelt den Sinnen Wohl-
gerüche zu und das Auge weilt gerne an den fernen Hängen
von Bunarbaſchi, dem Ideal eines orientaliſchen Lauſch- und
Ruheplätzchens. In Bunarbaſchi, deſſen Name ſchon auf Quellen
und erquickende Bachcascaden hinweiſt, wird füglich den ganzen
Tag über nichts Anderes gethan, als gefaulenzt. Die mächtigen
Platanen und Cypreſſen, die ſich dort erheben, ſind buchſtäblich
von rieſelnden Gewäſſern eingeſchloſſen, von allen Seiten her
gurgelt und rauſcht es und unter den weithin ſchattenden Rieſen-
kronen ſitzen in patriarchaliſcher Genügſamkeit die ſilberbärtigen
Rechtgläubigen, eher Marmorbildern, als wie Menſchen gleich.
Nichts vermag dieſe zweifelhaft Glücklichen in ihrer Behaglichkeit
zu ſtören. Der Ganz der Weltgeſchichte iſt ihnen entrückt, ſie
wiſſen nichts von Culturarbeit und geiſtigem Ringen, nur die
2
[175]Smyrna.
Sonne leuchtet ihrem Lebenspfade, und wenn die Abenddämme-
rung durch die blutrothen Granatbaumblüthen bricht, oder die
dichten Oleanderkronen in duftigem Blaßroth erglühen macht,
erzählt Einer oder der Andere von vergangenen Tagen, oder
von Hedjas’ glühendem Boden, wo das Heiligthum ihres Glau-
bens, die Kaaba, von Tauſenden von Engeln bewacht wird.
Ja, beim Gemurmel der zahlreichen Quellen ringsum, vermiſſen
ſie nicht einmal den Wunderbrunnen Zemzem 1.
Da wir nun ſchon einmal bei Bunarbaſchi ſind, ſo wollen
wir auch einen Blick auf das näher zu Smyrna liegende Bur-
nabat werfen. Wie jenes ſo ganz das Gepräge eines ächten
morgenländiſchen Aſyls trägt, iſt dieſes nichts anderes, als eine
verzweifelt ſymmetriſche Aneinanderreihung moderner Bauten, in-
mitten der weiten, ſonnigen aber reizloſen Ebene. Hier liegen
die „Sommerfriſchen“ der Europäer. Wohl gibt es Matten
ringsum, auf denen vereinzelte Baumgruppen die ermüdende
Einförmigkeit unterbrechen, ja, ſogar Gärtchen hinter den ſchmuck-
loſen, europäiſch nüchternen Gebäudefaçaden, aber dies Alles hat
einen nur zweifelhaften Werth. Zudem liegt Burnabat an der
Karawanenſtraße nach Maniſſa und der aufgewirbelte Staub
von Tauſenden von Tragthieren, darunter namentlich viel Ka-
meelen, kann unmöglich zur Annehmlichkeit des Ortes beitragen.
Auch die Ebene ringsum iſt eigentlich nur ein Tummelplatz zahl-
loſer Pferde-, Büffel- und Kameelheerden … An derſelben
Stelle, wo einſt die blühenden joniſchen Niederlaſſungen ſtanden,
findet man heute meiſt nur einſchichtige Häuſer. Und dennoch
iſt dieſe Ebene nicht ohne Eindruck. Mit ihrer maleriſchen Um-
rahmung von kahlen Bergeshäuptern und dem tiefblauen Golf
im Weſten, iſt ſie großartiger, als irgend ein Territorium um
Conſtantinopel. Der Geiſt vermag hier nicht müßig zu ver-
bleiben, wo ihn ſo zahlreiche Reminiscenzen in die Vergangen-
heit zurückführen. Aſſyrier, Jonier, Lydier, Macedonier, Römer,
Byzantiner, Osmanen und Tartaren haben dieſe Stätte bewohnt
[176]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
oder doch heimgeſucht. Vom uralten, ſogenannten Seſoſtris-
Bilde 1 auf der Felswand bei Nimfi, bis zum Kegelzelte des
heutigen Juruken, vermag man mehr oder weniger, all’ die viel
tauſendjährigen Geſchichtsepochen hier zu verfolgen, eine Fülle
von hiſtoriſchen Reminiscenzen, deren ſich ſelbſt die „Weltſtadt“
am Bospor nicht rühmen kann.
Indem wir wieder zu den Ufern des Meles zurückkehren,
wollen wir noch einen Blick in das „Frankenquartier“ werfen.
Wir überſchreiten das kleine Flüßchen auf der vielgenannten
Karawanenbrücke, zu deren beiden Seiten wir das regſte orien-
taliſche Treiben beobachten können, und lenken in die „Rue
franque“ ein. Der Unterſchied zwiſchen ihren Bauten und den
des übrigen Smyrna iſt ein ganz gewaltiger. Sie ſind zwar
keineswegs impoſant, ja in der Front eigentlich unanſehnlich und
von kahler Architektur, aber die allerorts herrſchende Sauberkeit,
der friſche, blendend weiße Kalkanwurf und die zierlichen Bal-
cons, von ſchlanken Eiſenſäulen getragen, laſſen unverzüglich
erkennen, daß hier ein ganz anderer, vorwärtsſtrebender Geiſt
waltet. Eine Merkwürdigkeit der Smyrnaer Franken- und
Griechenhäuſer ſind die tiefen Hausfluren vom Hauptportale aus,
wodurch die meiſten Wohnräume nicht gegen die Straße, ſondern
zu beiden Seiten der Flur nach den Gärten, die zu den Häuſern
gehören, zu liegen kommen. Dieſe Fluren an ſich ſind aber
nicht öde, oder unbenützt, ſie dienen vielmehr zum zeitweiligen
Aufenthalt der Familien während der heißen Tagesſtunden, und
um dieſen Aufenthalt zu verangenehmern, ſind die Wände mit
Blumen und Schlinggewächſen geſchmückt und an ihnen ſtehen
elegante Möbel, Ruhebänke, ja ſelbſt Leſe- und Arbeitstiſchen umher 2.
[177]Smyrna.
Nach dieſer allgemeinen Schilderung erübrigt uns noch, auch
einige geographiſche Daten mitzutheilen. An der Weſtküſte Klein-
Aſiens, ſo reich gegliedert ſie iſt, erſcheint gerade Smyrna mit
ſeiner centralen Lage zu derſelben und ſeinem geräumigen Golfe
von Natur aus zum bedeutendſten Punkte nicht nur des ana-
toliſchen Küſtenlandes, ſondern der ganzen „Levante“ gewiſſer-
maßen prädeſtinirt. Heute geht der größte Theil des vorder-
aſiatiſchen Exportes 1 nach dieſem bedeutenden Hafenplatz, der
nach den neueſten Angaben bei 150,000 Einwohner zählt 2. Die
langen Kameel-Karawanen, welche im öſtlichen Weichbilde der
Stadt und am Meles zu halten pflegen, kommen in ebenſo be-
deutender Zahl aus der ſüdlichen und nördlichen Provinz, wie
aus den Steppen-Territorien Centro-Anatoliens. Hier ſind das
2
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 12
[178]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
altberühmte ſeldſchukidiſche Konja, Karahiſſar und Kutahia die
Sammelpunkte für die großen Karawanen. Ganze Zeltſtädte
bevölkern die Treiber, Kaufleute und Escorte-Soldaten bei den
genannten Städten, bis der Tag des Aufbruches hereinbricht
und die ausgedehnten Züge in wochenlangen Märſchen das
Handels-Emporium im Weſten erreichen. In der Regel iſt ein
williges Grauthier der eigentliche Führer der ganzen Karawane
und die Kameele ſchreiten gravitätiſch mit ihren ſchweren Laſten
(oft ſechs Centner), eines hinter dem andern, durch Stricke an-
einander gekoppelt, die beſchwerlichen Pfade entlang. Dieſe Pfade
ſpotten mitunter freilich jeder Beſchreibung und machen den
Verkehr ungemein ſchwierig 1. Päſſe, die ſeit Jahrtauſenden dem
allgemeinen Verkehr dienen, die ganze Völkerſchaften paſſirt und
durch die ſich noch heute jährlich die Pilgerſchaaren drängen,
welche Syrien und ſpäter das gelobte Mekka erreichen wollen,
werden hiebei oft mit großen Mühſalen überſchritten, bis ſich die
lieblichen Thäler des Hermos und Mäander dem Reiſenden
öffnen. Da gibt es dann gute Raſt unter uralten Platanen,
Nußbäumen oder im Schatten gewaltiger Feigenbäume, deren
erquickende Früchte die Müden erlaben. Prächtiger Weideboden
bedeckt dieſe Thäler, die auf Schritt und Tritt an eine große
Vergangenheit mahnen. Die Vegetation iſt die üppigſte in ganz
[179]Smyrna.
Klein-Aſien: Feigen, Myrthen, Lorbeer, Orangen, Brodfrucht-
bäume, ganze Olivenwälder, Baumwollſtauden, dazu ein tro-
piſcher Blüthenflor in den Gärten, Eichen- und Buchenwälder
an den Bergesabdachungen. Nur gegen die Küſte hin werden
die Berge kahler und ſchon in der hyrkaniſchen Ebene bei Ma-
gneſia, dem heutigen Maniſſa, hören ſie ganz auf1. Auch die
unmittelbare Umgebung Smyrnas leidet, wie ſchon erwähnt, an
dieſer Baumloſigkeit2. Was in Zukunft für dieſe bedeutende
Handelsſtadt in hohem Grade bedenklich werden könnte, iſt, daß
unmittelbar an der Hafeneinfahrt der Gedisfluß (Hermos) ins
Meer mündet und durch ſeine gewaltigen Schlammbildungen den
eigentlichen Schiffahrt-Canal mehr und mehr einengt3. Die
Schiffe ſind in Folge deſſen gezwungen, von der Rhede von
Vurla ab, welche noch dem eigentlichen Golfe angehört, möglichſt
knapp an der Südküſte des Hafens, bei der ſogenannten Quaran-
täne-Bucht vorüber zu ſteuern, um nicht auf den Grund zu ge-
rathen. Im Sommer liegt das ziemlich weitläufige Delta-Land
des Hermos vollends trocken und der Fluß ſelbſt gleicht dann
nur mehr einem kleinen Bächlein, das dem Golfe zuſtrömt.
Man ſcheint neueſter Zeit Anſtalten getroffen zu haben, um der
bedenklichen Eventualität einer bald möglichen gänzlichen Unnah-
barkeit des Smyrnaer Hafens mit aller Energie zu begegnen.
Freilich wird hiezu wieder ausländiſches Capital vonnöthen ſein,
denn nach der jüngſten Erſchöpfung wird ſich die Türkei zu derlei
Koſten kaum bereit finden …
12*
[180]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Der Orient hat bekanntlich das Größtmöglichſte in der Ver-
himmlung des Menſchen geleiſtet. Während das Chriſtenthum
in der Perſon ſeiner oberſten Schutzherren — unbeſchadet ver-
ſchiedener ritueller Opponenten — der römiſchen Päpſte, Gläu-
bige, welche ihr Wohlgefallen ernteten, einfach nur canoniſirte,
konnte bei den Orientalen, zumal bei den Osmanen, die ver-
meintliche Göttlichkeit des einen oder anderen Sterblichen von
der größten politiſchen Tragweite werden. Es erſcheint dies er-
klärlich, wenn man berückſichtigt, wie ſehr ſich bei den mos-
lemiſchen Völkern Religion und Politik decken. Patriotismus
iſt im türkiſchen Sinne vielleicht heute noch undefinirbar und die
angebliche Vaterlandsliebe iſt eigentlich nichts anderes, als eine
religiöſe Glaubenstreue. Darum hatte dieſes Volk auch ſeit
jeher keinerlei Sinn für ſeine großen hiſtoriſchen Perſönlichkeiten,
für ſeine Staatsmänner und Regenten, und jedes Andenken an
ſie würde mit der Zeit geſchwunden ſein, hätte es nicht jederzeit
wohlbeſtallte kaiſerlich ottomaniſche Reichshiſtoriographen, wie
Lufti, Eſſad u. A. gegeben, die gegen ein anſtändiges Jahres-
ſalair für die Unſterblichkeit der großen Patrioten der Türkei
Sorge trugen. Um ſo größere Aufmerkſamkeit widmen die Os-
manen jenen gottgeliebten Männern, die man am treffendſten
mit dem Namen „Nationalheilige“ belegen könnte und deren
Verdienſt um die Machtentfaltung der Türkenherrſchaft von den
Rechtgläubigen dankbarſt anerkannt wird. Von dieſen ſind ihnen
namentlich zwei unvergeßlich: Dſchelaleddin Rumi1 und Hadſchi
Begtaſch, Zeitgenoſſen der erſten Osmanen-Sultane und ſomit
gewiſſermaßen Mitbegründer der Dynaſtie, der ſie durch ihre
Gottähnlichkeit auf ihrem erſten Lebenswege leuchteten.
[181]Konja, die Seldſchukidenreſidenz.
Die Grabſtätten beider heiligen Männer haben bei den
Osmanen ihre alte Anziehungskraft bis auf den Tag behalten.
Sie ſind hochgehaltene Wallfahrtsorte und es bleibt in den
Augen der ſtrenggläubigen Türken immer noch ein verdienſt-
liches Werk, dahin zu pilgern. In der Regel benützen die, min-
der mit Glückesgütern bedachten Gläubigen ihre Mekka-Wallfahrt
durch einen Theil Klein-Aſiens, um wenigſtens in der Grab-
moſchee Dſchelaleddins in Konja vorzuſprechen, was freilich nur
von jenen Pilgern gilt, denen die Stadt überhaupt am Wege
liegt … Und dieſer Weg führt über Ismid oder Bruſſa am
Marmara-Meer, durch jene Landſchaften, die wir oben geſchildert,
bis Karahiſſar. Von hier geht es längs der Oſthänge wald-
loſer Höhen und am Saume der großen inner-anatoliſchen Salz-
ſteppe mehrere Tagreiſen landeinwärts, bis, bereits ganz in der
baumloſen Plateau-Ebene gelegen, die Stadt Konja auftaucht.
Nur türkiſchen Pilgern vermag dieſe elende Anhäufung von
baufälligen Wohnſtätten einen beſonderen Eindruck zu machen,
einem Europäer kann ſie nur die ärgſte Enttäuſchung bereiten.
Bei ihrem Anblicke aber werden die Pilger lebhafter, eine freudige
Bewegung geht durch ihre Reihen und wer Dſchelaleddins Hymnen
nicht kennt, recitirt wenigſtens Koranſuren, während die mit-
ziehenden Drehderwiſche ſich leichtbegreiflicher Weiſe dem tollſten
Taumel hingeben. So geht es fort durch das Weichbild der
Stadt und dann durch die engen, winkeligen, von Holz- und
Lehmhäuſern gebildeten Gaſſen zur Grabmoſchee des Heiligen,
ein Werk Selim I. Trotz aller Sublimität des Ortes dürfte
indeß die unmittelbar hier anſtoßende große Herberge des Der-
wiſch-Ordens von nicht geringerer Anziehungskraft ſein, wenn-
1
[182]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
gleich die Gaſtfreundſchaft ſich hier gerne gut bezahlt macht und
dem heiligen Zwecke des Beſuches nicht ganz das erwünſchte
Verſtändniß entgegenbringt1. Das Innere der Grabmoſchee wird
derartig heilig gehalten, daß ſich kein Ungläubiger nur in deſſen
Nähe wagen, geſchweige in daſſelbe eintreten darf2. Unter acht-
eckiger Pyramidal-Bedachung des Grabraumes ſteht der reich-
geſchmückte Sarkophag, umgeben von einem ſilbernen Gitter und
mäßig erhellt durch ſilberne Ampeln. Die Beſchränktheit des
Raumes ruft alsbald unter den Pilgern ein wüſtes Lärmen und
Drängen hervor, es regnet Flüche und Scheltworte, denen wohl
auch mitunter veritable Prügel nachfolgen, alles in getreueſter
Copie zu jenen berüchtigten Auftritten in Mekka, denen übrigens,
wenn wir aufrichtig ſein wollen, auch die Balgereien in der
Jeruſalemer Grabkirche würdig an die Seite geſtellt werden
können3. Der Zelotismus treibt eben überall die gleichen ſchönen
Blüthen, doch erſcheint er im Oriente ſelbſtverſtändlich bedeut-
ſamer, da er ja die Maſſen beherrſcht und durch die, nur ſpärlich
platzgreifende Aufklärung nicht jenen wohlthuenden Regulator
findet, wie im Abendlande.
Dſchelaleddins Heim hat heute für uns leider nur mehr
einen hiſtoriſchen Werth. Einſt war es anders, denn Konja war
ja die Reſidenz der kunſtliebenden Seldſchuken-Sultane, von
denen namentlich ihr letzter, Alaeddin Keikobad, ſein Andenken in
allerhand, nun freilich in Ruinen liegenden Bauten erhalten hat.
Der ganze Platz um Konja iſt heute ein ausgedehntes Ruinen-
Territorium. Allenthalben noch ſieht man die alten Stadt-
umwallungen, welche annähernd einen Maßſtab für die einſtige
[183]Zwiſchen Taurus und Halys.
Ausdehnung der Reſidenz abgeben, Werke aus gewaltigen Blöcken
und Quadern, mit vorſpringenden Thürmen in kurzen Zwiſchen-
räumen. Selbſt die Schulräume, wie beiſpielsweiſe die ſoge-
nannte „blaue Medreſſe“1, ſind noch zum Theile erhalten und
zeigen in ihrem Innern durch eine geradezu frappirende Mannig-
faltigkeit in der Ornamentalkunſt den früheren guten Geſchmack
der Türken, von dem ſpeciell auf die Osmanen ziemlich wenig
übergegangen iſt. Ja ein ſteifleinerner Stambuler Bureaukrat
hat es vielmehr für zweckmäßig befunden, den alten Seldſchuken-
palaſt — innerhalb der Stadt — als Steinbruch zu behandeln und
ihn aller ſeiner Metallbeſchläge zu berauben2. (Aehnliche. Wirth-
ſchaft konnte man noch vor Kurzem in den Ruinenräumen des
alten Sultanpalaſtes zu Adrianopel beobachten.) Auch mit der
Hofmoſchee Alaeddins iſt man neueſter Zeit ſehr übel verfahren
und man hat aus ihr, für den türkiſchen Zelotismus jedenfalls
arg genug, ein Montour-Depot für die Garniſon gemacht. Aber
ſelbſt an dieſer halben Ruine iſt alles feſſelnd, die bunt geſchmückte
Façade ſowohl, wie die vielfarbigen Fayencen an den Minaret-
reſten. Das Fayence-Moſaik ſcheint unter den Seldſchukiden
überhaupt eine große Rolle geſpielt zu haben, und iſt auch ſpäter-
hin von den Osmanen mit vieler Vorliebe angewendet worden
(wie im Adrianopler Palaſt), denn zu Konja zeigen die halb-
wegs erhaltenen Räumlichkeiten allenthalben die reichſte kunſt-
vollſte Verſchwendung in demſelben. Ganze Wände ſchimmern
in Blau und Grün von weißen Koranſprüchen ohne Zahl durch-
ädert, im Ganzen von der harmoniſcheſten Wirkung3. Dieſe
koſtbaren Reſte ſchwinden aber, wie ſchon angedeutet, unter der
türkiſchen Wirthſchaft mehr und mehr, und über kurz oder lang
wird ſie auch hier jedes Andenken an die früheren, glanzvolleren
Tage ſpurlos verwiſchen und nur Ruinen und Lehmhütten zurück-
laſſen. Die Stadt iſt ja ohnedies bereits zu einem großen Dorfe
herabgeſunken und ſtünde hier nicht jener mächtige national-
religiöſe Magnet, Dſchelaleddins Mauſoleum, ſie wäre heute kaum
mehr denn eine Steppenſtation auf dem Wege über den ciliciſchen
Taurus.
[184]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Wir verlaſſen die Pilgerkarawane, welche mit Lobhymnen
auf Allah und Dſchelaleddin ſich gegen die „ciliciſche Pforte“
wendet, um ihre langwierige Reiſe fortzuſetzen. Vielleicht finden
ſich einige Gläubige, welche zu Nigde (bereits ganz im Gebirge
gelegen) dem Mauſoleum1 einer Tochter Achmed I., die hier auf
ihrer Reiſe nach Mekka ſtarb und beigeſetzt wurde, einen flüchtigen
Beſuch abſtatten. Wir aber verbleiben im Innern Klein-Aſiens
und wandern oſtwärts der Grabſtätte Hadſchi Begtaſch’s jenſeits
des Halys zu. Wenn das Steppengebiet gerade nicht von
raubſüchtigen Kurden durchſtreift wird, ſo mag die Reiſe dahin
noch angehen, trotz der glühenden Hitze während des Sommers,
oder der Gefahren der winterlichen Schneeſtürme. Im andern
Falle aber mag ſich die Karawane glücklich ſchätzen, wenn ſie
unbeläſtigt in dem kleinen Städtchen Akſerai, am Nordfuße
des erloſchenen Vulkans Haſſan Dagh und unweit des großen
Salzſees eintrifft. Von hier geht es dann weiter durch ein
freundliches Thal voll Obſtgärten, ſpäter aber wieder durch
öde Diſtricte mit Lava- und Baſaltgängen, Tuff- und Bim-
ſteinbildungen aller Art2, bis das Plateau von Newſchehr
erreicht iſt. Wer dieſes, ſowohl geologiſch wie hiſtoriſch
ſo räthſelhafte Gebiet zum erſtenmale überblickt, der kann
ſich des Gefühles ſchwer erwehren, als hätten hier Dä-
monen einen phantaſtiſchen, nun zu Stein gewordenen Spuk
getrieben; ſo weit das Auge reicht erheben ſich Tauſende von
kirchthurmhohen Felskegeln über die vollkommen platte, mit
Bimsſteinſand und Trachytblöcken überſäete Ebene. Wenig
Reiſende unſerer Zeit haben ſich mit dieſem Naturwunder des
Nähern beſchäftigt. Es iſt eine ganze Troglodytenſtadt, nicht
nach jener armſeligen Vorſtellung, wie ſie uns bereits geſchildert,
ſondern geradezu großartig in ihrer Geſammtanlage und intereſſant
in jedem Detail. Sämmtliche Felskegel ſind innen ausgehöhlt,
was bei der weichen Bimsſteinmaſſe wohl nicht ſchwer ausführbar
war, ja, es liegt ſogar die Vermuthung nahe, daß gerade dieſer
Umſtand die hieſigen Urſaſſen zur Errichtung ſolcher Behauſungen
[185]Troglodyten-Landſchaften.
beſtimmte. Sie alle zeigen große Wohnräume mit Kammern
und Niſchen, manche beſitzen mehrere Etagen, Treppen und Ga-
lerien und an den Portalen allerlei Säulenſchmuck, der fern an
den doriſchen Styl erinnert1. Das können keine primitiven
Höhlenbewohner geweſen ſein, es war vielmehr ein Volk von
Baumeiſtern, die in ihren Werken der Nachwelt ein monumentales
Andenken hinterlaſſen haben, deſſen Enträthſelung bisher noch
nicht gelingen wollte. Wer würde ſich aber auch ſo leicht be-
ſtimmen laſſen, nach dieſem weltentlegenen Winkel zu pilgern,
rings umrahmt von ſalziger Steppe oder gypſigen Hügeln oder
den geſtockten großartigen Lava- und Baſaltmaſſen, welche Tag-
reiſen weit die Baſis-Region des Argäus2, des gewaltigſten aller
[186]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
erloſchenen Vulkane Kleinaſiens, bedecken. Dieſer Bergrieſe erhebt
ſich mit ſeiner Schneehaube als einziger, regelmäßiger Kegel in
die klare Bläue des anatoliſchen Himmels empor.
Von Newſchehr iſts übrigens nur ein Katzenſprung zum
hochgehaltenen Wallfahrtsorte Hadſchi-Begtaſch. Keine Cultur,
kein Leben regt ſich in dieſer traurigen Wüſte. Der wellenförmige
Weideboden nimmt eine ſcheinbar endloſe Ausdehnung gegen
Oſten, nur hin und wieder unterbrochen von den ſchwarzen
Kegelzelten der Kurden, welche in der Nähe des Wallfahrtsortes
gute Beute wittern. Um ſo großartiger iſt der Rundblick nach
Süden hin. In ſtiller Majeſtät treten da vorerſt aus der weiten
Plateau-Landſchaft die Kegelberge Argäus und Haſſan Dagh in
den Blick, hin und wieder umkränzt von üppigen Gärten; dahinter
wieder ſtreckenweiſe baumloſe Ebene, die im äußerſten Hintergrunde
durch den verſchwimmenden Gebirgswall des Taurus und Anti-
Taurus ihren Abſchluß findet. Ein gut bewaffnetes Auge würde
auch in gerade ſüdlicher Richtung eine gewaltige Unterbrechung
der Gebirgsmaſſe, eine großartige Kluft in ihr erblicken. Es
iſt der einzige wegſamen Paß im ſüdöſtlichen Taurus, die ſoge-
nannte „eiliciſche Pforte“, ein ſtummer Zeuge der welterſchütterndſten
Völkerzüge aller Jahrtauſende. Durch ihn zogen bereits die
Aſſyrier hinauf, als ſie jenſeits am mittelländiſchen Geſtade Thar-
ſus gegründet hatten; Alexanders Heer ſtieg dort zum Cydnus
und Iſſus hinab, die Schaaren der Saracenen und Seldſchuken
in entgegengeſetzter Richtung, nach jenem Gebiete herauf, das
wir ſoeben durchwandert haben. Auch die Mongolen und Tar-
taren, ſowie die Kreuzfahrer haben immer nur dieſen Paß benützt.
Zuletzt war es das Heer Ibrahim Paſchas, das hier ſeinen
Weg nach Konja und Kjutachia fand. Es iſt derſelbe Weg, den
2
[187]Hadſchi-Begtaſch.
die Geſchichte des Türkenthums genommen1. Bei dieſem erhe-
benden, tauſend Gedanken über die vielartigen Völkerſchickſale
hervorrufenden Anblicke ſchrumpft jener des nordwärts gelegenen
Diſtrictes von Begtaſch in ſeine ganze moderne türkiſche Jämmer-
lichkeit zuſammen.
In einer Mulde des weiten Hochfeldes liegt das Dorf,
welches den größten Nationalheiligen der Türken hervorgebracht
hat, und in welchem er unter baufälligem Kuppeldache ſchlummert2.
Der fromme Begtaſch hatte bekanntlich unter Orchans Regierung,
dem zweiten Osmaniden, den Impuls zur Gründung der Jani-
tſcharen gegeben, wozu geraubte Chriſtenknaben das Material
liefern mußten. Er war aber gleichzeitig der Begründer des
gleichnamigen Derwiſch-Ordens, der ſpäterhin, wie die Jani-
tſcharen ſelbſt, eine ungeheuer Präponderanz im Reiche gewann
und deſſen Macht gleichzeitig mit der Vernichtung der türkiſchen
Prätorianer unter Sultan Mahmud II. (1826) auf immer ge-
brochen wurde. So glaubte man wenigſtens zu Stambul, aber
während die Janitſcharen bis auf Wenige thatſächlich vernichtet
wurden, beſtanden und — beſtehen die Begtaſchis im Geheimen
fort, denn wie früher, ſo iſt auch heute noch jeder Türke, dem
es beliebt, Begtaſchi, wie bei uns Jedermann Freimaurer ſein
kann. Es mag als bezeichnend gelten, daß der Großvezier Seida,
dem Sultan Mahmud den Auftrag zur Verfolgung der Begtaſchis
und Schließung ihrer Ordenshäuſer gegeben, — ſelbſt ein Mit-
glied des Ordens war. Gleichwohl wurden die Angehörigen des-
[188]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſelben ziemlich energiſch verfolgt, aber weniger um dem Befehle
des Sultans nachzukommen, ſondern vielmehr zur Befriedigung
perſönlicher Rachegelüſte. Wer ſich irgend einer unliebſamen
Perſönlichkeit entledigen wollte, denuncirte ſie entſprechenden Orts
als Mitglied des aufgehobenen Ordens, worauf ſofort die Ver-
bannung des Denuncirten oder gar ſeine Hinrichtung ſtattfand,
ohne viel nachzuforſchen, ob er auch der Anklage ſchuldig ſei.
Derartige nichtswürdige Mittel wurden bekanntlich ſogar noch
unter Mahmud Neddims erſter Großvezierats-Epoche in Anwen-
dung gebracht, alſo vor wenigen Jahren erſt …
Mit dieſen wenig erbaulichen Erinnerungen an den hochge-
haltenen aber vollkommen verwahrloſten Wallfahrtsort Hadſchi
Begtaſch lenken wir unſere Schritte nordwärts über das nahe
Plateau von Bozuk. Es iſt ein öder, weitläufiger Tummelplatz
kurdiſcher Nomaden. Alle jene Stämme, welche das kurdiſche
Mutterland ausgeſtoßen1, die eigentlichen zielloſen Wanderhorden,
ſuchen es jahrein und jahraus heim und von ihren wilden In-
ſtincten, die ſich namentlich in der Mißachtung fremden Eigen-
thums ausprägen, haben die Bewohner, ob nun Chriſt oder
Moslim, in gleichem Maße zu leiden. Auch hier war es in
früheren Zeiten anders, als noch die einheimiſchen Feudalherren
das Land verwalteten und unter dem milden Regimente eines
[189]Antike Denkmäler zu Boghasköj.
Tſchapan Oghlu Gewerbe und Production in niegeahntem Grade
aufblühten1. Selbſt unter den erſten Nachfolgern der Regierung
war es noch anders, damals, als der energiſche Izzet Paſcha
auf allen Wegen die Symbole ſeiner Macht, den Pfahl, errichten
hatte laſſen, vor dem ſich ſelbſt das ungebundene Geſindel des
Anti-Taurus, die Kurden und Afſcharen, ſcheu in ihre Schlupf-
winkel verkrochen2. Die Sitten waren damals ſo patriarchaliſch,
daß ſelbſt europäiſche Reiſende nur angenehme Erfahrungen
machten, und zwar in demſelben Lande, das heute nur mehr mit
Lebensgefahr betreten werden könnte. Es iſt ein Theil des alten
Kappadokien, mit ſeinen geheimnißvollen Ruinenreſten zu Boghasköi
und den abenteuerlichen Felsſculpturen daſelbſt, die in der Zeit
der neuen Zuſtände keine europäiſchen Forſcher mehr angelockt
haben3. Beſſer im Allgemeinen iſt es mit der benachbarten
Pontusprovinz beſtellt, wo ſich zwiſchen mäßig bewaldeten Höhen
weite Thäler, jene des Irſchil Irmak und ſeiner Zuflüſſe, dehnen
mit Ortſchaften, wie Nikſar, Tokat, Merſiwan und vor Allem
Amaſia, prächtige Oaſen in der üppigen Vegetationsfülle ihrer
natürlichen Gartenlandſchaften wie begraben. Die Segnungen
[190]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
der heutigen Verwaltung dürften es indeß kaum ſein, die dieſes
Gebiet nach vielfacher Verwüſtung wieder einiger Cultur und
Blüthe zuführten. Ja zum Theile iſt es das Volk ſelbſt, welches
nach den letzten Erfahrungen in Betreff der europäiſchen Neue-
rungen für dieſe begreiflicherweiſe nur wenig erbaut ſein konnte,
das ſich gegenüber fremden Bemühungen, Cultur und Ge-
ſittung in dieſe Länder zu tragen verwahrte, wie beiſpielsweiſe die
Bewohner der Stadt Amaſia, der wir uns nun auf unſerem Wege
bis zur uralten Culturſtätte am Pontus, Sinope, zuwenden.
Bislang war Amaſia nur dadurch berühmt, die Geburtsſtadt
Strabos zu ſein1. Die uralte helleno-pontiſche Binnenſtadt iſt
freilich, bis auf den Namen, den wunderſamer Weiſe die vielen
Völkerſtürme nicht verwiſchen konnten, nahezu ſpurlos vom Erd-
boden verſchwunden, ausgenommen eine als antik geltende Quader-
Brücke, welche heute die zu beiden Seiten des Fluſſes gelegenen
Stadttheile mit einander verbindet, und dann die alte Königs-
nekropole zu Häupten des abenteuerlich geformten Caſtells, gleich-
falls ein Bau, der in ferne ſagenhafte Zeit fällt. Wie viele
gibt es aber unter uns Abendländern, die dieſen jahrhundert-
jährigen Tummelplatz der Völker auch nur dem Namen nach
kennen, trotzdem ſie der Schauplatz eines vermeintlich türkiſchen
National-Epos iſt? Erſt neueſter Zeit wurde Amaſia des
öftern genannt und wie ſo oft, hat auch diesmal ein ziemlich
obſcurer Ort dadurch einigen Glanz bekommen, daß er der Ge-
burtsſtadt eines Tageshelden galt; diesfalls des Vertheidigers von
Plewna, Osman Paſcha. Gleichwohl wäre es eine arge Illuſion,
ſich durch dieſe Thatſache irgendwie enthuſiasmiren zu laſſen, denn
ſoviel uns heute bekannt iſt, genießt Amaſia, welches noch die
orientaliſchen Schriftſteller des Mittelalters die „Stadt der
Philoſophen“ nennen, gleich Kutachia, den Ruf, eine der gefähr-
lichſten Brutſtätten moslemiſchen Fanatismus zu ſein. Als ſich
vor mehreren Jahren eine ſchweizeriſche Firma in der Stadt
etablirte, um die altberühmte Seideninduſtrie, die ſeinerzeit in
Kleinaſien unerreicht daſtand, wiederzubeleben, betrieb man ſelbſtver-
ſtändlich auch die Tödtung der Cocons rationeller, als es bisher
[191]Amaſia, die Gartenſtadt.
in dem ehrwürdigen Neſte üblich war, nämlich mittelſt Dampf.
Da erhob ſich denn ein gewaltiger Sturm der Ulemas in Stam-
bul, welche von den Geſinnungstüchtigen Amaſias aufgereizt
wurden, gegen „ſolche Eingriffe in die Ordnung Gottes“, und
wollte das fremdländiſche Unternehmen nicht ſogleich zu Beginn
Schiffbruch leiden, ſo war man gezwungen, ſich der einheimiſchen
Weisheit zu fügen. Es erfolgte nach wie vor die Tödtung der
Cocons in der Sonnenhitze, alſo durch mehrtägige Qual, anſtatt
binnen wenigen Minuten durch heißen Dampf1.
Trotz ſolcher Intoleranz und fabelhafter Beſchränktheit ſind
die guten Pfahlbürger Amaſias nicht wenig ſtolz auf die ge-
ſchichtliche Vergangenheit ihrer Stadt, die freilich, wie ſo häufig
im Oriente, mit den islamitiſchen Uranfängen verflochten wird2,
ohne daß ſie mit denſelben thatſächlich etwas zu ſchaffen hätte.
Selbſt ohne jedwede Cultur und nur fictiven, meiſt fabelhaften
Glanzepochen früherer Tage lebend, haben verſchiedene moslemiſche
Schriftſteller und darunter oft die beſten, verläßlichſten, nicht er-
mangelt, die ehrwürdigen Königsdenkmäler des einſtigen pontiſchen
Reiches mit nationalen Sagen zu umranken, geſchichtliche That-
ſachen zu verfälſchen und ſo hiſtoriſche Momente ins Osmanenthum
hinein zu ſpintiſiren, die mit demſelben ſo wenig zu ſchaffen
haben, wie etwa die babyloniſch-ninivitiſchen Denkmäler mit dem
ſpäteren abbaſſidiſchen Khalifate. Aber ſelbſt in Bezug auf die
ſagenhafte Vorgeſchichte Amaſias irrten die ehrenwerthen Herren
von der Damascener und Bagdader Facultät gar ſehr. Sie
laſſen, dem perſiſchen Heldenbuche ganz zuwider, Isfendiar, den
Heros von Iran und ſpeciell von Biſutun ohne beſondere
Scrupeln ſeine Heldenthaten im Thale des Iris ausführen, und
ſind nur in dem einen Punkte im Unklaren geblieben, ob die
alten Burgtrümmer von dieſem oder von dem iraniſchen
Ferhad herrühren3. Daß an den Coloſſal-Niſchen der pontiſchen
[192]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Königsgräber, welche die alte Burg dominiren, griechiſche In-
ſchriften angebracht ſind, welche ſtärkere Philologen, als Türken
in der Regel ſind, auf die richtige und einzige Provenienz der
antiken Bauten führen hätte können, ſei nur ſo nebenher bemerkt.
Im türkiſchen Oriente weiß man indeß nichts von derlei Ante-
cedentien der einſtigen pontiſchen Metropolis, und jeder Kameel-
junge des anatoliſchen Tafellandes labt ſich an den phantaſtiſchen
Geſchehniſſen, mit denen Ferhads Name verknüpft iſt … Heute
ſtrömt der „grüne Fluß“ unmittelbar nördlich von Amaſia durch
ein wildromantiſches Felſen-Defilé1, in das man, für türkiſche
Zuſtände überraſchend genug, einen Felſenſteig hauen ließ, um
Zutritt zu der Stadt zu erlangen. Dieſes großartige Defilé iſt
aber kein Werk der Eroſion des Iris, wie bei uns jeder Schul-
junge erkennen würde, ſondern ein Werk Ferhads, der die Berge
um Amaſia wie Wachs auseinander ſchnitt und die Gewäſſer
nach den Gartenanlagen ſeiner geliebten Schirin leitete. Dort
wandelte die halb überirdiſche Schönheit, wie ſie kaum das ver-
klärte Auge des Seligen im vierten Himmel, dem Aufenthalts-
orte der ſchönſten Weiber, zu ſchauen gewohnt iſt, unter ihren
dienſtbaren Rieſen, die auf den Befehl ihres Gebieters in groß-
artigen Kunſtbauten, Aquäducten, Milchſtröme nach den Meiereien
der Geliebten fließen ließen. Dieſe Kunſtbauten ſind in im-
poſanten Fragmenten auch heute noch zu ſehen, aber ſie mochten
wohl einem praktiſcheren Verdienſte gedient haben, als jenes iſt,
von dem die moslemiſche Fabel berichtet. Für die Nomaden-
natur der Osmanen, die ſelbſt heute noch ihre Behauſungen zu
möglichſt luftigen, paſſageren geſtalten, und ſo eine rieſige Holz-
barackenſtadt zuſammengebracht haben, welche man Stambul nennt,
mag es allerdings unfaßlich erſcheinen, daß ſo gewaltige Bauten,
wie die Waſſerleitungen von Amaſia, von den Händen gewöhn-
licher Menſchen herrühren.
Werfen wir nun einen Blick auf die Geburtsſtätte Strabos,
und — Osman Paſchas. Zwiſchen engen Felswänden gebettet,
breiten ſich die weitläufigen Häuſergruppen des Iris-Stromes,
zum Theile an den hohen Ufern deſſelben, anderntheils terraſſen-
[193]Amaſia.
artig an den felſigen Abſatzformen des natürlichen Gebirgskeſſels.
Im Frühjahre oder Sommer, wenn die Gärten im Blüthen- oder
Blätterſchmucke ſtehen und ſo die wüſten Häuſeranhäufungen
wohlthuend unterbrechen, iſt das Bild dieſer intereſſanten Stadt
noch ein allenthalben erquickendes1. Anders aber zur Winterszeit,
wenn die platten Lehmdächer aufgeweicht werden und die ganze
Häuſermaſſe nur mehr einer Kothlache gleicht. Einſt ſtanden an
denſelben Stellen weitläufige Paläſte griechiſcher Großen, präch-
tige Kirchen, alle Bauten unterbrochen von weitläufigen Plätzen.
Einzelne Reſte von Prachtbauten, die aus moslemiſcher Zeit
datiren, ſind hier wohl auch zu treffen, aber im Grunde wurde
nur das vorhandene Baumaterial verwendet und aus den antiken,
ſtylvollen Architekturen wurden wunderlich verquickte Zwitter-
geſchöpfe, an denen Kunſt und Barbarei in gleichem Maße zum
Ausdrucke kamen. Aber ſelbſt dieſe Bauten einer jüngeren Zeit,
darunter Paläſte verſchiedener Sultane2, ſind ſoviel wie zerſtört
und nur der „Kizlar-Serai“, oder Frauenpalaſt, zu erkennen, ſo-
genannt, weil ſeinerzeit die Einkünfte der Stadt und ihres Terri-
toriums für die Privatſchatulle der erſten Sultanin beſtimmt
waren. Ueber alles erhaben präſentiren ſich aber die Fragmente
des uralten Caſtells, der einſtigen Reſidenz Isfendiars und ſpäter
jene Ferhads3. Daß der perſiſche Nationalheros früher als der
osmaniſche in Amaſia geherrſcht, gäbe übrigens den beſten Anlaß,
der Logik der morgenländiſchen Schriftſteller einen kleinen Stoß
zu verſetzen, da in unſerem Falle der ältere Isfendiar nicht in einer
Burg reſidirt haben konnte, die der jüngere Ferhad erbaut haben
ſollte. Gerne glauben wollen wir aber, daß Bajazid Ilderim,
die erſte hiſtoriſche Perſönlichkeit, die nach osmaniſchen Geſchichts-
ſchreibern mit Amaſia in Verbindung gebracht wird, mit Vorliebe
in der Irisſtadt ſich aufhielt, während es anderſeits erwieſen iſt,
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 13
[194]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
daß weder die große Steinbrücke, noch die vielgerühmte Moſchee
ſeine Schöpfungen, ſondern nur Reſtaurirungen der vorhanden
geweſenen Antiken ſind. Ueber dieſelben Bogen, die ſich heute
wie vor zwei Jahrtauſenden von einem Ufer zum andern ſpannen,
wanderte ſchon Strabo1, freilich im zarteſten Alter, wo ihn die
Stoa noch nicht den Ihrigen nannte, und wandelte ſpäter ein
anderer Stoiker — Osman, der neue Ferhad von Plewna. Auf
der Felſenhöhe aber, die auf das Häuſergewirre niederdräut,
ſaß vor Zeiten, wann, iſt uns die moslemiſche Literaturgeſchichte
ſchuldig geblieben, Mihri, die osmaniſche Sappho, in heißer aber
unglücklicher Liebe zu einem Treuloſen entbrannt. Wie die fabel-
hafte Schirin, ſo war auch die, augenſcheinlich hiſtoriſche, Mihri
eine unvergleichliche Schönheit. Den Beleg hiezu mag übrigens
die Thatſache liefern, daß Amaſia noch heute als die Stadt der
ſchönſten anatoliſchen Frauen gilt, und eine türkiſche Redensart
in dieſem Sinne im heutigen bürgerlichen Leben allerorts im
Gebrauch iſt. Amaſia beſitzt aber noch einen andern Schatz,
das beſte und ſchönſte Obſt in allen Gauen und Provinzen dies-
ſeits des Taurus. Allein an vierzig Arten Birnen gedeihen in
dem ſonnigen Thale, das eines der mildeſten Kleinaſiens iſt, und
die Aepfel ſind die berühmteſten des ganzen osmaniſchen Reiches
und ſo finden ſie ihren Weg bis auf die Tafel des Padiſchah zu
Stambul.
Von den eigentlichen osmaniſchen Geſchichtstraditionen dürften
diejenigen die traurigſten ſein, welche Bajazid und ſeinen Be-
zwinger Temur Lenk betreffen. Bajazid hatte ſich mit Vorliebe
in Amaſia aufgehalten und wäre er in ihrer feſten Burg ver-
blieben, als der Völkermörder Temur mit ſeinen Tartaren über
die Taurus-Päſſe aus dem bezwungenen Meſopotamien hervor-
brach, ſo wäre ſein Schickſal ein anderes geworden, als jenes,
das ihm die Entſcheidungsſchlacht bei Angora brachte. Er war
von Amaſia bis Angora hinter den Halys geeilt, um ſein Heer
zu ſammeln und in Schlachtordnung zu bringen. Temur mar-
ſchirte an Amaſia vorüber, um ſich mit ganzer Kraft auf ſeinen
Gegner zu werfen, den er bekanntlich in mörderiſcher Schlacht
[195]Amaſia.
bezwang und zu ſeinem Gefangenen machte1. In einem großen
Käfig verwahrt mußte es der ſtolze Beherrſcher aller Gläubigen
und Sieger über die vereinigten fränkiſchen Heere bei Nikopoli
erleben, wie man ihn vor Amaſia brachte und unter ſeinen Augen
die ungeheuerlichſten Grauſamkeiten beging. Als ſich Amaſia
nämlich durch mehrere Monate hielt, ließ er alles Landvolk, ob
Chriſt oder Türke, zuſammenfangen und es in die Ciſternen des
Ferhadberges werfen; in dem nahen Siwas aber, wo die ge-
ängſtete Bevölkerung dem Weltſtürmer einige Tauſend Kinder
mit aufgeſchlagenen Koran-Exemplaren auf den unſchuldigen
Köpfen entgegenſendete, ließ Temur die heiligen Bücher in aller
Ehrfurcht von den entblößten Häuptern der Kleinen entfernen,
dieſe ſelbſt aber, als angebliche Frucht der Sünde, des Ehebruchs
und der Blutſchande, von ſeiner Cavallerie in den Boden ſtampfen2
Dem gefangenen Sultan aber brach ob ſolcher Gräuel das Herz
und er verſchied, anſtatt auf dem Throne Osmans, in ſeinem —
eiſernen Käfig … In der Umgebung von Amaſia ſiedelten
aber damals auch zahlreiche Mongolenſtämme, es heißt bei fünfzig
unabhängige Horden, die ſeit Hulagus Zeiten zurückgeblieben
waren. Sie ließ Temur, aus Rache für die Unbezwingbarkeit
der Stadt in die Gefangenſchaft fortſchleppen, um ſie ſpäter
öſtlich des Caspi-Meeres anzuſiedeln3.
Alle dieſe Ereigniſſe haben dem uralten Trutzbau von Amaſia
nichts anzuhaben vermocht. Wer heute die Felſenhöhe des Ferhad-
berges im Süden der Stadt erklettert, der gewahrt die coloſſalen
Grabkammern der pontiſchen Könige unverletzt, als ſeien ſie vor
etlichen Monaten und nicht vor zwei Jahrtauſenden und darüber
13*
[196]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
aus dem natürlichen Felsgeſtein gemeißelt worden1. Aber nicht
die gigantiſchen Niſchen allein, fünf oder ſechs an der Zahl, der
Ruheplatz einer ganzen Dynaſtie, wurden dem lebendigen Fels
abgerungen; in jeder dieſer durch den Meißel entſtandenen Grotten
ward über deren Sohle noch ein gewaltiger Felswürfel belaſſen,
kunſtvoll behauen und innen ausgehölt, behufs Aufnahme eines
Sarkophages. Dieſe letzteren ſind zu unbekannter Zeit ver-
ſchwunden; im Volksmunde aber gelten, trotz der griechiſchen
Inſchriften, welche das Geheimniß der Grotten entſiegeln, dieſe
als einſtige Grabkammern der Rieſen Ferhads.
Es war ein Oeſterreicher, der zuerſt Kunde von Amaſia,
der Gartenſtadt brachte. Unter der Regierung Ferdinand I. gab
es in Bezug auf Siebenbürgen allerlei Streitigkeiten mit den
Paſchas Suleiman I. Dieſe zu ſchlichten, entſendete der Kaiſer
den Geſandten Busbek nach Conſtantinopel, wo er jedoch den
Sultan nicht antraf, da dieſer kurz vorher mit ſeinem ganzen
Hofſtaate nach Amaſia überſiedelt war, um den Friedensſchluß
mit dem Schah von Perſien feſtlich und mit allem Pomp zu
begehen. Busbeck war demnach gezwungen, ſich von Conſtanti-
nopel aus über Land, und zwar mit der Zwiſchenſtation Angora,
nach dem augenblicklichen Hoflager Suleimans zu begeben, und
er war ſomit einer der erſten Europäer, der Klein-Aſien nahezu
ſeiner ganzen Länge nach gekreuzt hatte. (Im Jahre 1515.) Die
Aufzeichnungen des Diplomaten, deren Originale in irgend einem
Staatsarchive modern mögen, ſind intereſſant genug, im Ganzen
aber erſtreckt ſich ſeine Bewunderung weniger auf die Alterthümer
Amaſias, als vielmehr auf den feenhaften Pomp, die rauſchenden
Feierlichkeiten und die glänzenden Coſtüme am großherrlichen
Hoflager ſelbſt. Drei Monate verweilte Busbeck am Hoflager
Suleimans zu Amaſia, dann kehrte er, anſtatt des erwünſchten
Friedens, blos die Einwilligung zu einem ſechsmonatlichen Waffen-
ſtillſtand mitbringend in ſeine Heimat zurück, Wunderdinge be-
richtend von ſeiner großen Reiſe ins Herz Anatoliens. Seitdem
haben ſich die Zeiten freilich geändert und Anfang der ſiebziger
[197]Sinope, ein Culturbild.
Jahre wurde von der pontiſchen Küſtenſtadt Samſun her, im
Thale des Yeſchil-Irmak, von europäiſchen Ingenieuren fleißig
nivellirt und Amaſia zur Hauptſtation eines, vorläufig allerdings
erſt im Projecte gediehenen Schienenweges auserwählt …
Wir müſſen, um unſere anatoliſchen Schilderungen ent-
ſprechend abzuſchließen, noch einmal zur pontiſchen Küſte hinab-
ſteigen, von deren mehr öſtlichen Strichen bereits umſtändlich die
Rede war1. Thalab des Iris und Halys würden wir hiebei
nur wenig intereſſante Landſchaften berühren: Dort ein ziemlich
ödes Defilé bis zur weitläufigen Delta-Landſchaft bei Perſchembe;
hier zwar vorerſt ein breites Thal mit Waldanſätzen an den
Lehnen, ſpäter aber einen ſumpfigen Geſtadebezirk mit der herab-
gekommenen Stadt Bafra, unweit der Halys-Mündung und
ſeinen brakiſchen Strandſeen. Anders, wenn man längs der
anatoliſchen Pontusküſte gegen Oſten ſteuert, und ſo in ihrer
beiläufigen Längenmitte auf den nördlichſten Punkt der klein-
aſiatiſchen Halbinſel, auf das Vorgebirge Indſche-Burun, d. i.:
das „Feigen-Cap“, ſtößt. Wie alle paphlagoniſchen Uferland-
ſchaften ſtürzt es ſteil und jäh in die tieffarbene Meerfluth, die
weithin das öde Geſtade beſpült. Aber nur wenig Tauſend Meter
oſtwärts tritt die Küſte wieder ſüdwärts zurück, indem die große
Einbuchtung vor dem Halys-Delta nochmals eine Unterbrechung
findet, durch eine langgeſtreckte Halbinſel mit aufſtarrendem,
maſſigem Vorgebirge und niederem, ſandigen Iſthmus. Auf dem
letzteren, im Norden und Süden vom Meere beſpült, liegt heute
eine unbedeutende Küſtenſtadt, Sinub, das einſtige glanzreiche
Sinope, die Heimat des Cynikers Diogenes und die Reſidenz
des gewaltigſten Herrſchers vor der politiſchen Neugeſtaltung
Vorder-Aſiens durch die Machterweiterung Roms, jene Mithri-
dates Eupator VI., den die Geſchichte den „Großen“ nennt. Es
heißt, daß dieſer bedeutende, am Ausgange des Jahrtauſendes
n. Chr. ſtehende Beherrſcher des pontiſchen Reiches in Sinope
ſeine letzte Ruheſtätte gefunden habe und eine Wiederauffindung
derſelben wohl noch denkbar ſei. Ob damit der Geſchichts-
forſchung ein beſonderer Nutzen erwachſen könnte, vermögen wir
nicht zu beurtheilen, intereſſant aber bliebe es auf alle Fälle,
[198]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
noch einmal den claſſiſchen Schutt dieſer älteſten mileſiſchen
Pflanzſtätte am rauhen Pontusgeſtade durchzuwühlen, um jenes
Culturgemälde zu vervollſtändigen, das uns, im Hinblicke auf
den heutigen troſtloſen Zuſtand der türkiſchen Hafenſtadt, ſo eigen-
thümlich erhebend anmuthet. Bis zu den eigentlichen Uran-
fängen der Exiſtenz Sinopes, das bereits vor dritthalb Jahr-
tauſenden den Umſatz und den Austauſch der Producte menſch-
lichen Fleißes zwiſchen den ägäiſchen und pontiſchen Uferſtaaten
einerſeits und den aſſyriſch-indiſchen Reichen anderſeits vermittelte,
vorzudringen, wäre an der Hand topographiſcher Thatſachen
allerdings nicht mehr denkbar. Der Küſtenplatz hat derart gründ-
liche Umgeſtaltungen und Zerſtörungen erfahren, daß ſelbſt von
einer Belebung mileſiſcher oder zum mindeſten ſpät-griechiſcher
Reminiscenzen allenthalben ſelbſt die dürftigſten archäologiſchen
und ſonſtigen Anhaltspunkte mangeln; daß einzelne Baureſte
aus mithridatiſcher Zeit herrühren, erſcheint unzweifelhaft, das
meiſte aber iſt byzantiniſchen oder genueſiſchen Urſprunges. Unter
ſolchen Umſtänden könnten ſich Unterſuchungen in Bezug auf
die älteſte Geſchichte der aſſyriſchen Colonie-Stadt am Pontns
nur in jene Sagenbilder verflüchtigen, die in Firduſis Schah-
Nahmeh den Grundton zu jenem großartigen Culturgemälde
liefern, das identiſch iſt mit den erſten großen, zum Theile hiſto-
riſchen, anderntheils mythiſchen Völkerbewegungen Weſt-Aſiens.
Daß die Geſchichte der Pontus-Länder mit dem zweiten
großen aſſyriſchen Weltreiche im unmittelbaren Contacte ſtehe,
iſt ſo ziemlich erwieſen1. Feridun hatte das letztere begründet
und ſeinen weitläufigen Länderbeſitz, der von den Schneezinnen
des Himalaya bis in die lybiſche Wüſte und vom Kaukaſus bis
tief nach Hoch-Arabien hineinreichte, unter ſeine drei Söhne
Selm, Tur und Iredſch getheilt. Das Brüdererbe ſollte ſchlechte
Früchte tragen. Selm, der Beherrſcher am „weſtlichen Gewäſſer“
(Klein-Aſien, Syrien und Aegypten unter dem Collectiv Chawer)
und Tur, der Fürſt des nach ihm ſo benannten „Turan“,
nährten gegenüber ihrem vermeintlich bevorzugten dritten Bruder,
Iredſch, dem Gebieter in Iran, den Bruderzwiſt, der, kurz berichtet,
mit der Ermordung des ſanftmüthigen Iredſch endete. Für
[199]Sinope, ein Culturbild.
Feriduns Rachegelüſte gab es nur ſchmale Hoffnungen. Eine
ſeiner Sclavinnen bot Ausſicht auf einen Erben, aber dieſe gebar
— eine Tochter, und erſt dieſe, mittlerweile zur Vollreife ge-
langt und mit einem Verwandten Feriduns — Peſchenk — ver-
mählt, beſchenkte den betrübten Vater mit einem Enkel, Minotſcher
(Chala, Ninos), der, zum Jünglinge erwachſen, das Rächeramt
übernahm. Er conſolidirte wieder die aſſyriſche Weltherrſchaft,
indem er Tur und Selm bekriegte, ihre Länder mit Iran ver-
einigte, und ſo der eigentliche Begründer des zweiten weſt-aſia-
tiſchen Weltreiches wurde1.
Das wären ſo in großen knappen Zügen die mythiſchen
Vorfallenheiten, deren Erwähnung zum unmittelbaren Verſtänd-
niſſe des Folgenden nothwendig erſcheint. Minotſcher vertheilte
nämlich nach Selms Tode Klein-Aſien unter deſſen Söhne,
d. h.: unter eingeborene kleinaſiatiſche Fürſten, denen erwieſener-
maßen ebenſoſehr die Gründung Ilions, wie jene Sinopes zufällt.
Von Sanopa einer Amazone, nach Anderen von der Nymphe
Sinope, ſoll ſie ihren Namen erhalten haben und ſie iſt ſomit
neben dem iraniſchen Balch oder Bactra eine der älteſten Pflanz-
ſtätten weſtaſiatiſcher Cultur, wie dieſes ein Mittelpunkt des
uralten Lichtcultes2 und ein großes Handels-Emporium durch
alle Jahrtauſende, d. h.: bis zum Eintreffen türkiſch-tartariſcher
Völker, die eine glanzvolle Vergangenheit mit einem Schlage er-
löſchen machten. Es erſcheint erſprießlich, auf dieſe Thatſache
hinzuweiſen, zumal heute, wo über die Culturfähigkeit der Os-
manen ſo viel gefaſelt wird und hervorragende Gelehrte ſich
bemüßigt finden, für dieſelbe eine Lanze zu brechen. Es wäre
überflüſſig, diesfalls allein nur auf Sinope hinzuweiſen, wo es
zahlloſe Objecte der Geſchichte auf vorderaſiatiſchem Gebiete gibt,
die dem unerbittlichen Schickſale des Verderbens und Verkommens
entgegeneilten, ſeitdem jene Race über die uralten Culturländer
hereingefluthet iſt, deren Geſchäft die Zerſtörung des Beſtehenden
[200]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
war, ohne hiefür etwas Anderes zu bieten, als den vorüber-
gehenden Glanz der Waffenherrſchaft. Zwar die natürlichen
Bedingungen der Exiſtenz vermochte ſelbſt ein ſo rohes Volk wie
die Osmanen nicht vollends zu verwiſchen, und wenn auch heute
Sinope nur mehr ein elendes Fiſcherſtädtchen, ohne Handel und
Gewerbfleiß iſt, ſo hat dennoch der uralte Handelsweg von dieſem
Geſtade nach dem näheren und ferneren Oriente ſozuſagen bis
in unſere Tage hinein ſeine ſichtbaren Spuren hinterlaſſen. Der
jetzige troſtloſe Zuſtand des Platzes datirt erſt aus jener Zeit,
wo die fataliſtiſche Beſchaulichkeit der Osmanen an Stelle ihrer
früheren Thatkraft trat und ſelbſt die Initiative einzelner rühriger
Bevölkerungselemente in dem Sumpfe von Vergewaltigung,
Rechtloſigkeit und allgemeiner Corruption unterging.
Und wie bietet ſich dies vielgefeierte Bild dem heutigen
Beobachter? Vom anatoliſchen Feſtlande dehnt ſich oſtwärts
einige Stunden lang eine ſchmale, nur an ihrem Meeresende
maſſig emporſteigende Halbinſel, die an ihrer ſchmalſten Stelle
nur etwa 1200 Fuß breit iſt. Die Stadt ſelbſt liegt an dieſem
räumlich ſo beengten Iſthmus, wodurch er durch die Ortsanlage
gänzlich verbaut erſcheint, von Meer zu Meer durch älteres und
neueres Mauerwerk1 abgegrenzt iſt und dem Seeplatze zwei
Häfen, den einen im Norden der Halbinſel, den anderen im
Süden von ihr, darbietet. Manches Mauerſtück ruht noch auf
ſeinen ſubterranen Traggalerien, welche die Römer des lockeren
Dünenſandes halber anzulegen für nöthig fanden, andere, mo-
derne Schutzbauten, darunter die polygonalen genueſiſchen Thürme,
welche vom Anbeginne her des ſoliden Fundamentes entbehrten,
haben ſich mit der Zeit zur Seite geneigt und drohen ſeit Jahr-
hunderten mit dem Einſturze — ohne zu ſtürzen2. In Sinope gibt
[201]Sinope, ein Culturbild.
es aber noch Schlimmeres, als die ſchiefen Thürme. Bekanntlich
haben die Ruſſen am 30. November 1853 mit überlegenen,
meiſt aus großen Linienſchiffen beſtehendem Flottenmaterial das
hier ankernde türkiſche Geſchwader angegriffen und gänzlich ver-
nichtet. Noch ragen hin und wieder die Maſtſpitzen der geſunkenen
Wracks aus der Meerfluth. Bei dieſem Seekampfe kam aber
auch die Stadt ſelbſt übel weg und die weſtlichere Hälfte ſank
nahezu ganz in Trümmer1. Man hat an dieſen Ruinen, wie
es in der Türkei ja üblich iſt, bisher nicht gerührt, wahrſcheinlich
in der Erwartung, daß auf Zauberwort irgend eines anderen
Ferhad aus ihnen neue Paläſte erſtehen würden, eine Hoffnung,
die allerdings einen problematiſcheren Werth hat, als ihn etwa
ſelbſt die ſchlechteſte türkiſche Bau-Commiſſion bieten würde. Ja,
noch mehr, der Hafen von Sinope iſt nach jenem von Balaclava
in der Krim der beſte des Schwarzen Meeres; gleichwohl hat
man die ſeit Jahrhunderten eingeſtürzten Moli im Süden der
Stadt, deren Linie nur wenige Meter unter dem Waſſerſpiegel noch
zu verfolgen iſt, bis auf den Tag nicht entfernt, ſo daß Schiffe
von größerem Tiefgange ſich der Stadt gar nicht nähern können.
Es war ſomit begreiflich, daß der Handel, der bei allen gege-
benen natürlichen Bedingungen gegen derlei Thatſachen nicht
anzukämpfen vermochte, am Ende gezwungen war, andere Linien
zu nehmen, und ſo blühte ſeit dem Beſtehen der Dampfſchiffahrt
auf dem Pontus das benachbarte Samſun2 raſch und ſichtlich
2
[202]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
auf, und von hier nahm der Binnenverkehr jene Richtung, nach
welcher er durch zwei Jahrtauſende durch Sinope vermittelt
worden iſt. Seitdem ſpielte der Hafenplatz nur mehr eine Rolle
im Küſtenhandel und weiters als Schiffswerfte, wozu es durch
den bedeutenden Waldreichthum des Hinterlandes prädeſtinirt
war. Anderſeits hat freilich auch hier die türkiſche Admini-
ſtration genug der Ungeheuerlichkeiten begangen1.
Der Gewohnheit gemäß, daß nur türkiſche Bewohner inner-
halb von Stadtbefeſtigungen ſich anzuſiedeln berechtigt ſeien, hat
auch in Sinope Geltung gefunden, und ſo umſchließen die innerſten
Caſtellmauern nur türkiſche Wohnſtätten. Ein Vortheil mag dies
heute, wo eine Bedrohung durch äußere Feinde nahezu aus-
geſchloſſen iſt, freilich nicht mehr ſein, denn iſt ſchon an ſich die
Stadt eine der winkeligſten und ſchmutzigſten der ganzen Pontus-
küſte, ſo treten dieſe Uebelſtände in erhöhtem Maße bei einem
winzigen Stadtviertel hervor, das zwiſchen hohen Wallmauern
2
[203]Sinope, ein Culturbild.
wie eingezwängt erſcheint1. Frei, luftiger iſt das öſtlich liegende
Griechen- und überhaupt Chriſten-Quartier. Von dort geht es
auch auf leidlichem Felspfade zu einer friſchen Quelle und weiter
hinauf zur Höhenplatte des öſtlichen Endes der Sinopiſchen
Halbinſel, wo ſich noch fortificatoriſche Ueberreſte aus früherer
Zeit vorfinden. Der Blick von hier auf die tief unten den
ganzen ſchmalen Iſthmus einnehmende Stadt mit ihren Ruinen-
plätzen und der chaotiſchen Anhäufung von Holzhäuſern, Thürmen
und Thurmruinen, ſowie mehr oder minder verwahrloſten Wall-
zügen iſt maleriſch genug; gleichwohl mag es aber nicht im
Entfernteſten darnach ſein, unſere Phantaſie zu entſchädigen, die
ſich das Bild vergangener Jahrhunderte vorzaubert. Damals,
noch zur Zeit der Römer, hatte Sinope ſeine Plätze und Paläſte,
ſeine Agora, Gymnaſien, Märkte und Säulenhallen, wie es
gleichfalls noch unter den Comnenen anſehnliche Bauten und eine,
wenn gerade nicht üppige, ſo doch anmuthige Umgebung beſaß.
Die mithridatiſchen Kriege brachten aber der Stadt den erſten
Vernichtungsſtoß bei. Der große König war längſt entflohen,
als Sinope in die Hände der Römer fiel, und als ſieben Jahre
ſpäter deſſen Sohn Pharnakes II. vollends auf Seite Pompejus’
trat, nahm ſich der pontiſche Löwe das Leben. Als Römerſtadt,
und zwar ſpeciell als Colonia Julia felix hat Sinope, wie leicht
begreiflich, noch einige Zeit hindurch geblüht, ebenſo unter den
Byzantinern, und reicht das Ende allen Glanzes bis in die Zeit
des Trapezuntiſchen Kaiſerthums hinein, wo Sinope endlich, nach
bereits dreihundertjähriger Anweſenheit der Seldſchukiden in
Klein-Aſien, dieſen zufiel. Von nun ab ward die Stadt zum wahren
Vorpoſten des Piratenſtaates Kaſtamuni2. Daß letzterer immer-
[204]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
hin einige Zeit beſtehen konnte, beweiſt, wie es ja auch durch
Chroniken1 erwieſen iſt, wie lebhaft ſelbſt in dieſer Zeit des
Niederganges die Handelsbewegung, zumal die Schiffahrt von
und zu dem Seeſtapelplatze geweſen ſein mußte, um den Piraten-
Emiren zu ihrer Wohlhabenheit zu verhelfen. Selbſt Temurs
Hof-Hiſtoriographen konnten noch die öſtliche Halbinſel, jenes
Vorgebirge, auf deſſen Grashöhen heute Kameele und Pferde
weiden — bei den Türken Boz-Tepe — eine „Inſel der Seligen“
nennen, und ihre Federn in üppigen Beſchreibungen von Garten-
pracht und Wildreichthum ſchwelgen laſſen2.
Seitdem die ſeldſchukidiſchen Nomaden das anatoliſche Land
occupirt hatten, wurde Sinopes Pulsſchlag matter3. Die ver-
einzelten Kunſt-Anläufe einiger Seldſchukiden genügten nicht, um
ihnen allgemeine Bedeutung zu geben. Als nun gar an Stelle
der alten Marmorpaläſte das luftige Zelt des osmaniſchen
2
[205]Sinope, ein Culturbild.
Hirtenhauſes trat und die ſeidenhaarigen Ziegenrudel mit dem
wandernden Turkſtamme aus Oxiana nach Kappadokien und
Paphlagonien eingebrochen waren1 und die weiten Steppen am
Halys abzuweiden begannen, da war freilich keine Rede mehr
von Indiens Schätzen und Perſiens prächtigen Erzeugniſſen, und
ſtatt der tauſend Kiele der früheren pontiſchen Handelsflotte
harrten die ſchweren Raubſchiffe der Piraten-Emire von Kaſta-
muni auf die Fahrzeuge der Bosporanen und Genueſen, die noch
den Verkehr zwiſchen den Pontus- und Mittelmeer-Ländern in
Athem erhielten. Die Bergwerke im Nachbardiſtricte Dſchanik,
dem einſtigen Lande der Chalyber, geriethen in Verfall, und
keine rührigen Hände ſchmiedeten mehr den einſt weitberühmten
ſinopiſchen Stahl … Die letzte Nachleſe in Sinope haben
unter der Regierung Murad IV. (1614) die Saporogiſchen Ko-
ſaken gehalten, deren kühne Seezüge mittelſt ganz unbedeutender
Boote in der Geſchichte der Pontusländer ganz vereinzelt daſtehen.
Daß es ihnen möglich war, die ſtarkbefeſtigte Stadt, nachdem ſie
von der Krim aus den Pontus überquert hatten, anzugreifen,
in Brand zu ſtecken und mit reicher Beute die azow’ſchen Geſtade
wieder zu erreichen, ſtellt ſelbſt jene anderen Raubzüge bis zu den
Bospor-Ufern vollends in den Schatten. Gewöhnlich nahmen
dieſe Koſakenzüge, von denen die anatoliſchen Pontusgeſtade viel
[206]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
zu leiden hatten, folgenden Verlauf: Den Dnjeper hinab ſchwammen
die leichten Boote aus Flechtwerk vorerſt bis in die Nähe der
Schilfwälder an der Liman-Mündung bei Kinburun. Hier hielten
die Türken, die damaligen Herren der tauriſch-beſſarabiſchen
Küſten die Wacht, indem ſie nebenbei auch den Strom durch
eine Kette geſperrt hatten. Zu nächtlicher Zeit ließen nun die
Koſaken abſichtlich große Baumſtämme gegen die Sperre treiben,
um die Poſten zu allarmiren und ihr Feuer auf die vermeint-
lichen Angriffskähne zu lenken, während die Boote ſelbſt nach
abgelaufenem Spectakel geräuſchlos das Hinderniß zu überſetzen
trachteten, was ihnen auch zumeiſt gelang, worauf ſie auf das
offene Meer trieben. Ihr nächſtes Invaſionsgebiet bildeten zu-
meiſt die Küſten der Krim, längs der ſie das Azowſche Meer zu
gewinnen trachteten, um aufwärts des Don und durch deſſen
rechten Nebenflüſſe ſich ihrer Heimat wieder zu nähern, die ſie
zuletzt nur durch kurze Landrouten — die Boote gleichfalls mit-
ſchleppend — erreichen konnten1. Zu den kühnſten Leiſtungen
gehörten aber, wie ſchon erwähnt, die gefährlichen Boot-Aus-
flüge bis zu den anatoliſchen Küſten, angelockt durch die Reich-
thümer der alten Emporien, in denen es auch zur Zeit osma-
niſchen Glanzes immerhin noch Einiges zu holen gab2. Heute
iſt dies freilich anders, und das türkiſche Sinope zu beſuchen,
[207]Die culturgeſchichtliche Bedeutung Weſt-Klein-Aſiens.
fanden bisher nicht einmal die biederen Tſcherkeſſen, welche ehe-
dem namentlich im Vilayete Kaſtamuni zahlreich coloniſirt wurden,
für rentabel . . . .
Nach unſerer Umſchau am paphlagoniſchen Geſtade hätten
wir ſo ziemlich die intereſſanteſten Localitäten und Landſtriche
Anatoliens erſchöpft, allerdings nur im Rahmen unſerer allge-
mein gehaltenen Schilderungen, von denen tiefer reichende hiſto-
riſche Mittheilungen, oder die Ausführungen anderer wiſſen-
ſchaftlicher Momente, von vornher ausgeſchloſſen ſein mußten.
Der Boden aber, auf welchem wir unſere verſchiedenen Kreuz-
und Querzüge vollführten, tritt heute mehr denn je in den Vorder-
grund, denn ſeit der Umgeſtaltung der politiſchen Verhältniſſe
in dem europäiſchen Theile des ottomaniſchen Reiches richtet ſich
naturgemäß unſere Aufmerkſamkeit auf jenes Ländergebiet, aus
dem das Osmanenthum hervorgegangen iſt, von dem aus es
mächtig emporwuchs und eine Reihe von Eroberern hervorbrachte,
die durch viele Jahrhunderte dem geſammten abendländiſchen
civiliſatoriſchen Entwicklungsdrange einen ſtarken Damm entgegen-
geſetzt hatten. Bedeutſamer noch, als der bloßen Thatſache
wegen, daß Anatolien neuerdings die Geburtsſtätte eines Macht-
factors geworden war, erſcheint uns dies Land durch ſeine geo-
graphiſche Lage zum europäiſchen Welttheile, und ſeine ununter-
brochenen viel tauſendjährigen Beziehungen zu demſelben. Während
das ſyriſche Geſtadeland, gleichfalls von hoher hiſtoriſcher und
culturgeſchichtlicher Bedeutung für die abendländiſchen Ent-
wickelungsſtadien aller Zeiten, räumlich durch die öſtliche Hälfte
des Mittelmeeres noch immer erheblich von den continentalen
Berührungspunkten Europas, von ſeinen ſüdlichen Halbinſel-
Reichen nämlich, abliegt, ſpringt Klein-Aſien weit gegen die
griechiſchen Geſtade aus. Und hiebei iſt das Geſtade dieſes
Landes keine ungegliedert ſtarre Küſtenwand, wie im Süden, wo
es nicht nur in ſeinem Naturtypus — hohe Ufergebirge, ſtellen-
weiſe im Schnee vergraben und ohne große Querthäler — dem
ſyriſchen Küſtenlande ähnelt, ſondern auch in klimatiſcher und
cultureller Beziehung, zumal in Bezug auf ſeine Vegetations-
verhältniſſe. Das ägäiſche Geſtade Klein-Aſiens iſt ein reich
gegliedertes, voll geſicherter Ankerplätze, tief ins Land einſchnei-
dender Golfe, einſt von einem Kranze üppig beſtandener Ufer-
[208]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
berge eingerahmt, und — was mehr als alles Uebrige bedeutet —
im unmittelbaren Contacte mit zahlreichen Inſeln und Eilanden,
die wahren geiſtigen und materiellen Etappen von Griechenland
nach Anatolien und umgekehrt. Welche Vergangenheit, voll er-
hebender Züge in civiliſatoriſcher Beziehung, iſt mit dieſem ge-
ſegneten Geſtade verknüpft, und welch ſtarrer Stillſtand ſeit
jenen Jahrhunderten, da der bleiche Glanz des Halbmondes nur
mehr Ruinen und ſpärliche Reſte einſtiger Cultur umflimmerte!
Was iſt aus all jenen Emporien, Pergamos, Smyrna, Epheſus,
Milet und Halikarnaß geworden, aus den Paradieſen Lydiens,
dem Reichthume Kariens und dem Handel Myſiens? Und gerade
deshalb, weil der Contact zwiſchen dem ſüdöſtlichſten Europa und
dem weſtlichſten Klein-Aſien, dieſer natürlichen Brücke zwiſchen
Europa und Aſien, immer beſtanden hat, und mit der Zeit beide
Erdtheile (mit der dazwiſchen liegenden, reichbedachten Inſelwelt)
ein unleugbares gemeinſames typiſches Gepräge erhalten hatten
und daſſelbe durch Jahrtauſende conſervirten, eben deshalb iſt
gerade Klein-Aſien, und zwar an ſeinem weſtlichſten Ende, das
nächſte Object, an dem ſich die civiliſatoriſchen Aufgaben des
Abendlandes in Bälde erproben werden müſſen. Man nennt
zwar Anatolien die eigentliche Heimat der Osmanen, aber dies
iſt nur eine relative Wahrheit, denn von dieſem Boden aus ſind
die Osmanen allerdings als herrſchendes Volk hervorgegangen,
aber ihre Heimat iſt er ebenſo wenig, wie irgend eines der
übrigen vorder-aſiatiſchen Territorien, über die einſt die Fluth
der ural-altaiſchen Volksſtämme hereingebrochen war. Aelter,
als die wenig erfreulichen turko-tartariſchen Reminiscenzen, ſind
die helleniſchen und die bedeutſamen Beziehungen der älteren
autochthonen Volksſtämme, die ſeinerzeit zwiſchen ſemitiſcher und
helleniſcher Cultur ein Mittelglied, eine Art Brücke gebildet
hatten. Das iſt nun freilich lange her, aber die Wiedergeburt
von der Natur ſo reich bedachter Länder kann nur eine Frage
der Zeit, oder beſſer, die eines anderen Regimentes ſein. Die
Osmanen mögen immerhin Anatolien als ihre eigentliche Heimat
betrachten, jene Geſtadegebiete, die dem europäiſchen Welttheile
zugekehrt ſind, werden aber ſicherlich in nicht zu ferner Zeit der
abendländiſchen Cultur wieder gewonnen werden, ſei’s nun unter
Mithilfe der Osmanen oder ohne dieſelbe. Das rauhere, tiefer
[209]Die Bodenplaſtik Anatoliens.
im Innern liegende Plateauland mit ſeinen unermeßlichen Weiden,
das iſt die eigentliche Wiege der Osmaniden. Dort mögen ſie
ſchalten, wie ſie es bisher gewöhnt waren, oder ſich dem allge-
meinen Fortſchritte anſchließen, um einen Antheil an der Wieder-
geburt der alten Culturſtriche am ägäiſchen Geſtade zu nehmen,
ſoweit es in ihrer Macht ſteht und in ihrem Willen liegt …
Nach dieſen allgemeinen Vorbemerkungen wollen wir uns
nun ein wenig mit der Geographie des Landes beſchäftigen,
indem wir vorerſt mit den Details der plaſtiſchen Gliederung
Anatoliens beginnen.
Südlich des Germejli-Tſchai, einem Nebenfluſſe des Jeſchil-
Irmak (Iris), ſchließen der 7500 Fuß hohe Köſch-Dagh, der
Jildiz- und Tſchamlibel-Dagh die öſtliche pontiſch-armeniſche
Küſtenregion ab und von Siwas über Angora hinaus nimmt
ein nahezu ganz baumloſes, im Mittel 3000 Fuß hohes Plateau
ſeine Ausdehnung, vom Kyzil-Irmak (Halys) und deſſen Neben-
flüſſen durchſchnitten. Es iſt dies das nördliche anatoliſche
Binnenland von Bozuk, das an ſeinem ſüdweſtlichen Rande in
die Salzſteppe von Konja übergeht und bei Angora in die durch-
ſchnittlich kaum 2500 Fuß hohen Flußlandſchaften des Sakaria
abfällt. Das Tafelland von Bozuk nimmt ſüdwärts ſeine Aus-
dehnung noch über den Kyzil-Irmak hinaus, bis an den Anti-
Taurus, wo bei Kaiſarieh der erloſchene Vulkan Erdſchiſch-Dagh
(Argäus, bei 13,000 Fuß hoch) als vollkommen iſolirter Berg-
rieſe aus der baumloſen Ebene emporſteigt. Es umfaßt circa
500 Quadrat-Meilen und iſt faſt ausſchließlich gypſiger Steppen-
boden, ſporadiſch mit Wachholdergeſtrüpp bewachſen. Im Süd-
weſten Kaiſariehs ſchließt das nördliche anatoliſche Binnenland
an das Plateau von Karamanien (3000 Fuß) an, eine gleichfalls
vegetationsarme Ebene mit keſſelartigen Einſenkungen, in welchen
die Seen von Beiſchehr, Ilgun, Akſchehr und Eber liegen, nicht
zu vergeſſen den großen Salzſee Tüz-Tſchölü (2500 Fuß) bei
Akſerai. Begrenzt wird das ſüdliche anatoliſche Binnenland vom
ciliciſchen Taurus, dann vom Erdſchiſch-Dagh, Kodſcha-, Karadja-
und Sultan-Dagh. In der Baſaltregion von Karahiſſar erhebt
ſich der Emir-Dagh mit den Quellen des Sakaria, Said und
Purſak, Flüſſe, die insgeſammt mit ihren ſehr gewundenen Läufen
die nördliche Senkung durchſtrömen. Die Region des Sakaria,
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 14
[210]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
ſtrenggenommen noch zum anatoliſchen Binnenlande gehörend,
beſitzt größtentheils noch Steppen-Charakter (Haimane), ſie geht
aber nord- und weſtwärts in ein niederes Kettengebirgsland über
mit weiten, waldigen Strecken, während die übrigen, ſtufenförmig
abfallenden Landſtriche jenen Weideboden beſitzen, auf dem die
ſeidenhaarige Angora-Ziege und das fettſchwänzige Schaf ge-
züchtet wird. Inner-Anatolien ſchließt weſtwärts am Dumandſchy-
Dagh und am Fluſſe Gök-Su ab, im Norden am Iſchik- und
Ala-Dagh (7500 Fuß), im Südweſten am Murad- und Emir-
Dagh. Von den jenſeitigen Lehnen des nördlichen Randgebirges,
das ſich in die Ketten von Karmaly, Tſchyla, Kuſch und Ilkas
(6700 Fuß) gliedert, entwickelt ſich das weſtliche pontiſche Küſten-
land zwiſchen den Mündungen der Flüſſe Sakaria und Kyzil-
Irmak. Weiter wird dieſe Region noch vom Filias-Tſchai,
dann vom Gök-Irmak und Deverek-Tſchai, zwei Nebenflüſſen
des Kyzil-Irmak, durchſchnitten und bildet der Hauptſache nach
ein vielartig configurirtes Gebirgsland, durchſchnittlich 4500 Fuß
hoch, mit reichen Waldungen, zumal am Tſchyla-, Ilkas- und
Arud-Dagh. Die Waldcomplexe (officiell 200 an der Zahl)
nehmen allein in den Bezirken von Safranboly und Eradſch ein
Territorium von 560 Quadrat-Meilen ein1. Die Küſtengebirge
von Erekli enthalten großartige Kohlenflötze2, wie überhaupt
dieſer Landſtrich (Vilayet Kaſtamuni) einer der reichſten Klein-
Aſiens iſt.
Als Marmara-Gebiet, mit dem der nordweſtlichſte Theil
Klein-Aſiens erreicht iſt, ſollten ſtreng genommen nur jene Küſten-
landſchaften bezeichnet werden, welche ihre Ausdehnung von
Scutari über Ismid, Gemlik, Mudania und Panormo gegen den
Hellespont hin nehmen, doch möchten wir diesfalls den bithy-
[211]Die Bodenplaſtik Anatoliens.
niſchen Gebirgsſtock bei Bruſſa mit dem Hinterlande Huda-
wendkjar und die bei den Halbinſeln Kodja-Ili und Bigha ge-
meint wiſſen. Demgemäß iſt dieſe Region ein Bergland mit
kleinen Küſtenebenen, durchzogen vom Suſurlu und ſeinem Neben-
fluſſe Adyrnas, vom Gök-Su im Oſten, Kodja-Tſchai (Granikus)
und Menderez (Skamander) im Weſten. Der Keſchiſch-Dagh
(Olymp)1 erreicht nicht ganz 6300 Fuß, weiter ſüdlich ſteigen
jedoch die Gebirge terraſſenartig an, bedeckt mit Urwäldern
(Aha-Dagh); ſüdweſtlich von Kutahija findet dieſes Gebiet am
7200 Fuß hohen Ak-Dagh ſeine natürliche Begrenzung. Hier,
ſowie am benachbarten Demirdſchi (2800 Fuß) befinden ſich die
Quellen des Suſurlu-Tſchai. Ueber die Ketten des Uzun Jaila-
Dagh und Madara-Dagh (3800 und ? Fuß) fällt das Gebirgs-
land von Chodawendkjar in die Halbinſel Bigha mit ihren be-
waldeten Mittelgebirgsketten Abdal-Dagh, Tſchatal- und Kara-
Dagh ab. Der Kas-Dagh (Ida)2 beſitzt einen Nadelwald von
14*
[212]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
60 Quadrat-Meilen Flächeninhalt und ſein ſüdweſtlicher Aus-
läufer, der bei Baba-Kaleſſi als ein kleines Vorgebirge ins Aegäiſche
Meer ausſpringt, markirt den weſtlichſten Punkt des aſiatiſchen
Welttheiles.
Wenn man der orographiſchen Configuration Vorder-Klein-
Aſiens, anſtatt gegen das Marmara-Geſtade hin, von Kara-
manien und der inner-anatoliſchen Salzſteppe aus, unmittelbar
weſtwärts folgt, ſo trifft man jenſeits von Karahiſſar auf
mehrere große Parallel-Thäler, die gegen das Aegäiſche Meer
hin ausmünden. Dieſe Thäler ſind durchſtrömt von den Flüſſen
Sarabat-Tſchai, Kutſchuk-Menderez, Bujuk-Menderez, und die
zwiſchen dieſe Waſſeradern ſich ſchiebenden Gebirge fallen ſtufen-
förmig zur Weſtküſte Klein-Aſiens ab. Die wenigſten dieſer
Terraſſenketten überſchreiten die durchſchnittliche Meereshöhe von
4500 Fuß. Im Südoſten aber, wo das ägäiſche Küſtengebiet
in den piſidiſchen Taurus übergeht, baut ſich ein anſehnliches
Bergland mit verworrenen Keſſelthälern auf, und zwar von den
Quellen des Menderez bis zu den Hochlandsbergen der lyciſchen
Küſte. Hier aber beginnt der eigentliche Tauruszug mit ſeinen
großartigen Keſſelthal-Formen bei Elmaly und ſeinen, bei
10,000 Fuß hohen Schneeſpitzen, rings im Kreiſe um den ein-
ſamen Alpenlandſchaften. Auch die Küſte von Adalia und Itſch-
Ili, letztere bereits dem ciliciſchen Taurus angehörend, iſt durch-
wegs ſteil, nur durch die Rinnſale kleiner Küſtenbäche gegliedert,
bis zum Gök-Su (Calycadnus), von wo ab zuerſt ein ſchmales
und bei Adana ein ziemlich breites, ebenes Küſtenland ſeine Aus-
dehnung nimmt. Der ciliciſche Taurus culminirt in der Met-
deſis-Spitze des Bulgar-Dagh (10,500 Fuß) und im Ala-Dagh
bei Nigde (über 9000 Fuß); die ſüdliche Begrenzungskette Kara-
maniens, als Vorſtufe des ciliciſchen Taurus, erhebt ſich im
Kara-Dagh bis zu 7200 Fuß, im Karadſcha-Dagh bis zu
6000 Fuß. Im Allgemeinen gibt es in Klein-Aſien, einzelne
Strecken des Anti-Taurus und das Hochland von Malatia etwa
2
[213]Die Bodenplaſtik Anatoliens.
ausgenommen, kein Gebiet, das ſo wenig bekannt und in neueſter
Zeit ſo wenig durchforſcht wäre, wie die mediterraneiſchen Taurus-
Ketten. Zumal die lyciſche Gruppe mit ihren impoſanten Rand-
ketten, verworrenen Thälern und unwirthlichen Alpenlandſchaften
iſt ſeit geraumer Zeit keiner Beachtung mehr gewürdigt worden,
und da dieſelbe, ſowie einzelne Gebiete von Itſch-Ili und Adalia
auch heute noch abſeits des Weltverkehrs liegen, kann wohl an-
genommen werden, daß in nächſter Zukunft ſchwerlich irgend-
welche Intereſſen ſo intenſiv nach dieſer Region gravitiren würden,
um ſie uns wirthſchaftlich und wiſſenſchaftlich näher zu rücken.
In den waldigen Schluchten bis zu 3000 Fuß Höhe hat ſich
hier ſogar noch der Leopard erhalten1 und mancher Pfad ver-
liert ſich in tiefſter, urwaldartiger Wildniß.
Im Anſchluſſe an den ciliciſchen Taurus erhebt ſich zwiſchen
dem oberen Eufrat, dem Karabel-Dagh (6400 Fuß) und Anti-
Taurus ein anſehnliches Hochland — das tauriſche — begrenzt
von den größeren Ketten Binbogas-Dagh (das Gebirge der
„tauſend Thore“), Aſchyr und Kanly-Dagh, über das uns ebenſo
wenig neuere Daten vorliegen, wie über die vorerwähnten
Gruppen2. Auf dieſem Tafellande ragen noch einzelne Gebirgs-
züge, wie der Kermes-Dagh (9700 Fuß) und der Tſchorſch-Dagh
(7300 Fuß) weit über das Durchſchnitts-Niveau der geſammten
Erhebungsmaſſe, aber zwiſchen den Flüſſen Samantia, Saran
und Dſchechan mit ſeinen Quellflüſſen Ak- und Chorna-Su
fallen die Gebirgsglieder ſehr raſch ſtufenförmig ab, zumal gegen
Meraſch und nach den oberen Eufratgegenden, wo ſie die oben
beſchriebene3 Kataraktenſtrecke des Stromes begleiten.
Entſprechend der vielartigen orographiſchen Configuration
des Landes iſt auch deſſen Klima, oder ſind vielmehr deſſen
klimatiſche Zonen, denn nur dieſe ſind hier maßgebend in Bezug
[214]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
auf die Entwickelung der organiſchen Welt und die Exiſtenz-
bedingungen der Bewohner. Im Ganzen erſcheint eine Ein-
theilung Anatoliens in vier klimatologiſche und pflanzengeo-
graphiſche Zonen am paſſendſten und zwar: in das anatoliſche
Binnen- oder Steppengebiet, in das pontiſche Waldgebiet, ägäiſche
und tauriſche Küſtengebiet. Während auf den Steppenflächen
des inneren Hochlandes das Klima ſeine größten Extreme erreicht
und auf lange, ſtrenge Winter mit reichlichem Schneefalle drückend
heiße Sommer ohne alle Niederſchläge folgen, herrſcht in den
weſtlichen Geſtadegebieten ein, durchſchnittlich dem gegenüber-
liegenden griechiſchen Feſtlande entſprechendes Verhältniß zwiſchen
den einzelnen Jahreszeiten. Schnee fällt hier äußerſt ſelten1,
deſto häufiger und ausgiebiger aber in den öſtlichen Gebirgen,
auf denen er bis tief ins Frühjahr hinein liegen bleibt. In
Folge der ausgiebigen Winterregen (December bis März) ent-
wickelt ſich an den Geſtaden und in den großen Längenthälern
eine äußerſt mannigfache Pflanzenwelt, in der ſelbſt die Palme
nicht fehlt. Vorherrſchend ſind der Feigen- und Olivenbaum,
dann Orangen, Citronen und Mandeln, in herrlichſter Ent-
wickelung in den zahlreichen Gärten, ferner ganze Haine von
Quitten, Aprikoſen und Pflaumen, und an den Berghängen
Buchen- und Eichenbeſtände neben der ernſten Cypreſſe und den
wildwachſenden Nuß- und Kaſtanien-Bäumen. Welch fühlbarer
Unterſchied liegt zwiſchen dem milden Klima Smyrnas und der
demſelben entſprechenden Vegetation, gegenüber dem räumlich nur
wenig entfernteren anatoliſchen Binnenlande! Noch in den oberen
Thälern des Hermus und Mäander die prächtigſten Gärten,
Baumwollſtauden und herrliche Gruppen von Platanen; darüber
hinaus, längs der inneren Lehnen der Randketten, das mälige
Schwinden der Beſtände, üppig wuchernde Strauchvegetation,
die ſich alsbald auf den ſaftigen Weiden der erſten Plateauſtufen
nurmehr zu inſelartigen Gebüſchgruppen zuſammendrängt, und
noch weiter draußen, im ebenen Lande, kümmerliche Stauden und
Steppenpflanzen. Dieſſeits der Gebirge die aromatiſchen Düfte
der Mandel und Citrone, jenſeits der trockene Steppenwind, im
Winter die mächtige Schneedecke umwühlend, im Sommer ge-
[215]Klima. Vegetationsverhältniſſe.
ſchwängert von den unzähligen Staubatomen, die er den Wüſten-
ſtrecken um den großen Salzſee Tuz-Tſchölü entführt. Aber
auch in anderer Hinſicht prägt ſich dieſer große Contraſt aus;
ſo in dem Bilde der einzelnen Städte: dort ſind es im Garten-
grün begrabene Aſyle, beſtehend aus luftigen, buntbemalten Holz-
häuſern, die hohen Steinbauten mit weit ausladenden Altanen,
von Schlinggewächſen umrankt und in den Höfen plätſchernde
Fontainen; hier unfreundliche, lehmgebaute, mit Ruinen unter-
mengte Behauſungen, einſt glanzreiche Emporien, jetzt verkommene
Provinzſtädte ohne alle Bedeutung. Während im Geſtadeland
die Locomotive die fruchtreichen Ebenen durchfurcht, ziehen auf
den Tafelländern noch immer die, an Tauſend und mehr Laſt-
thiere zählenden Karawanen, auf denſelben breit ausgetretenen
Pfaden, wie vor Jahrtauſenden. Dort ſchimmern aus dem
Gartengrün die weißen Minarets der Ortſchaften oder die Silber-
fäden zahlreicher befruchtender Bäche; hier iſt die weite dunſtige
Ebene nur von den Heerden turkmeniſcher Hirten unterbrochen
und, wo eine Quelle rieſelt, erheben ſich die Kegelzelte der noma-
diſirenden Juruken. Das Geſtadegebiet beſitzt aber neben ſeinen
Naturreichthümern auch eine zum großen Theile rege, thätige
Bevölkerung; Induſtrie-Zweige entwickeln ſich ſo gut es unter
der ottomaniſchen Mißwirthſchaft möglich iſt und der europäiſche
Handel pulſt bis in die entlegenſte Hütte des weſt-anatoliſchen
Teppichwebers hinein1. Solche Cultur-Kundgebungen ſind dem
Binnenlande fremd, denn bis wohin das kurdiſche Raubweſen
[216]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
dringt und wo die ottomaniſche Provinz-Bureaukratie, uncon-
trolirt von den wachſamen Augen europäiſcher Conſuln, die
elenden Bewohner für ihre, der Herren, Taſchen arbeiten läßt
und ein Uebriges dazu erpreßt, iſt ein Aufſchwung in irgend
einer Richtung ganz und gar undenkbar.
Nicht minder ſchroff ſind die Contraſte zwiſchen dem ana-
toliſchen Binnenlande und den nördlichen Pontusgeſtaden einer-
ſeits und zwiſchen jenem und der tauriſchen Mittelmeerküſte
anderſeits. Dort ausgedehnte Waldſtrecken, üppige Gärten und
auf den Uferhöhen Cypreſſen und Pinien; hier ein mehr kahler,
heißer Küſtenſtrich, mit ſeinem immergrünen Olivenkranze, ſeinen
Myrthen- und Lorbeerhainen, nicht zu vergeſſen die Palme, deren
Krone in mehr oder minder dichten Gruppen am heißen Geſtade
ſchattet. Zwar iſt auch der Taurus waldreich, zumal in den
höher gelegenen Thalſchluchten und ihren ausgedehnten Lehnen1,
jene inneren Gebirgswinkel liegen aber bereits in der nächſt
höheren Region im Sinne der verticalen Gliederung und Ver-
breitung. Im Allgemeinen gleichen Klimatik und Vegetations-
verhältniſſe in der weſtlichen Hälfte der anatoliſchen Pontusküſte
mehr jenen des ſüdöſtlichen Europa, während der Naturtypus
am tauriſchen Geſtade auffallend demjenigen des benachbarten
Syrien ſich nähert, mit dem es auch den gleichen maritimen
Einflüſſen ausgeſetzt iſt. Als Bindeglied zwiſchen beiden figurirt
die Inſel Cypern, die trotz ihrer ſüdlichen Lage und trotz ihres
milden Seeklimas auf der Scheitelhöhe ihrer größten Boden-
Anſchwellung — dem Olymp oder Troodos — den Schmuck
der Schneekrone bis tief ins Frühjahr hinein behält. Dafür
ſind die Strecken des Tieflandes und die zumeiſt felſigen Geſtade,
wie die meiſten levantiniſchen Landſchaften baumlos, und dürre,
ſoweit es an dem belebenden Elemente, dem Waſſer, gebricht,
während an den, von den Höhen niederrieſelnden Bächen ſchmucke
Dörfer förmlich verborgen in üppigſter Gartenwildniß liegen.
So namentlich am Südhange des nördlichen Küſtengebirges, das
nordwärts von Levkoſia, der Hauptſtadt der Inſel, ſtreicht.
Zur Seite dieſes Gebirges ſtrömt der Pedias, Anfangs durch
Culturen, ſpäter durch Steppenland und zuletzt zwiſchen Sumpf-
[217]Cypern. Die Völker Anatoliens. Griechen.
ſtrecken der Oſtküſte zu, die er zwiſchen den Ruinen der alten
Stadt Salamis und Famagoſta erreicht1.
Zum Schluſſe unſerer Schilderungen erſcheint es am Platze
auch Einiges über die allgemeine Lage der Bewohner und ihre
nationalen Beſtrebungen vorzubringen, und zwar hauptſächlich
mit Berückſichtigung des Verhältniſſes zwiſchen der herrſchenden
Race, den Türken, und der chriſtlichen Raja. Dieſe iſt hier
wohl vorherrſchend das griechiſche Element. Zwar bei Ismid
am innerſten Golfende der Marmara-See und um Angora finden
ſich noch immer zahlreiche armeniſche Colonien, das ganze nörd-
liche Geſtade aber, namentlich aber das weſtliche, jenem ureigenen
[218]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Boden des Hellenenthums, vom Hellespont bis zur Feſtlands-
küſte der Inſel Rhodos1 nehmen die Griechen in mehr oder
minder compacten Maſſen ein2. Sie ſind, obgleich nur halb ſo
zahlreich als ihre mohammedaniſchen Mitbewohner, dennoch der-
jenige Theil der Bevölkerung, durch den alles geſchäftliche Leben
vermittelt wird, in deſſen Händen hauptſächlich der Handel liegt,
dem aber auch das Gewerbe nicht fremd iſt, obwohl der nationale
Zug der Griechen nicht eigentlich die ſtille, emſige, wo es noth-
wendig wird, anſtrengende Arbeit iſt, denn vielmehr die, auf
raſchen und leichten Gewinn abzielende Geſchäftsſpeculation. In
dieſem Punkte gleichen ſich die Griechen und Armenier weſentlich;
aber es iſt doch ein Anderes, wenn der armeniſche Krämer die
ihm zugeſchmuggelte ſchlechte Waare um hohe Preiſe veräußert
und ſo den Betrug mit Betrug vergilt, während der griechiſche
Tauſchhändler und Detailiſt ſeinen Calcul nach der jeweilig beſten
Conjunctur ſtellt. Hiebei iſt der allgemeine Bildungsdrang bei
den Griechen ein unvergleichlich höherer, als bei den Armeniern.
Das regere, ja, durch die letzten Unabhängigkeitskriege zum Lebens-
nerv gewordene nationale Bewußtſein, mag als beſſerer Anſporn
zu fortſchrittlicher Entwickelung gelten und thatſächlich hat ſich
der Bildungsdrang, der geraume Zeit nur die Träger des
[219]Griechen.
gelehrten Hellenismus beſeelte, neuerdings in rapideſter Art auch
den unteren Claſſen mitgetheilt. In den Küſtenſtädten, wo der
Contact mit der Außenwelt, zumal mit Europa ein jederzeit leb-
hafter war, ſind die einzelnen Humanitäts- und Bildungsanſtalten
eheſtens gediehen; anders aber im Innern Anatoliens, wo das
althergebrachte ottomaniſche Bedrückungsſyſtem auf der griechiſchen
Raja allezeit furchtbar gelaſtet hat1. Es bedarf aber hier gleich-
wohl nur eines Aufrufes von Seite einer griechiſchen Nota-
bilität, um die Bewohnerſchaft zu freiwilligen Opfern für irgend
ein gemeinnütziges Unternehmen zu gewinnen. Bedauerlich iſt
nur eines, die, bei orientaliſchen Völkern viel beobachtete That-
ſache — und je höher ihre intellectuellen Anlagen, deſto ſchärfer
tritt ſie hervor — daß die abendländiſchen Civiliſationsbe-
ſtrebungen meiſt falſch aufgefaßt werden und der Geiſt einer
höheren Cultur von nichtsſagenden, hohlen Aeußerlichkeiten er-
tödtet wird. Dies gilt, mehr noch als von den eigentlichen,
nationalen Griechen, von jener europäiſch-griechiſchen Miſchlings-
race, deren Strebungen vollends nur in einem leeren Formen-
weſen zum Ausdrucke gelangen2. Dann hat der Grieche auch
wenig Anlage zur Unterordnung, zu jener unerläßlichen Disciplin,
auf deren innerſtem Weſen das ſtaatliche Gemeinweſen baſirt.
Daß ſich im Gefolge des regen Speculationsgeiſtes auch all die
unvermeidlichen häßlichen Eigenſchaften von Egoismus, Gewiſſen-
loſigkeit und Corruption überhaupt befinden, muß wohl einleuchten,
erwägt man, wie die angeborene Schlauheit und Findigkeit der
anatoliſchen Griechen durch das ſchlechte türkiſche Verwaltungs-
und Regierungsſyſtem geradezu auf eine Bahn gelenkt wurden,
auf der dieſe Eigenſchaften nur in unerſprießlicher Weiſe zum
Ausdrucke gelangen müſſen. Die Türken ſind hiemit freilich
wenig einverſtanden und wo ſie mit den Griechen in ununter-
[220]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
brochenem Verkehre ſtehen, da werden ſie eheſtens von allen
Unternehmungen verdrängt, zumal auf den Inſeln, wo heute das
türkiſche Element kaum mehr erwähnenswerth iſt1.
Das griechiſche Uebergewicht herrſcht aber ſelbſtverſtändlich
nur an den Küſtenſtrecken und in einzelnen Strichen des Inneren,
die von der Küſte nicht zu ſehr entlegen ſind. Südlich und
öſtlich von der Provinz Smyrna hören, bis auf einzelne Colonien,
die Griechen auf2 und an ihre Stelle treten die compacten Maſſen
der Türken, die in Anatolien den Stock der Bevölkerung bilden.
Auf ſie vermag ſich bis auf weiteres noch die Osmaniden-Herr-
ſchaft zu ſtützen, denn wenn auch das dynaſtiſche Gefühl bei den
moslemiſchen Binnenländlern nicht ſo ausgeprägt iſt, als man
im Abendlande gemeinhin annimmt, ſo ſind ihre bürgerlichen und
militäriſchen Tugenden immerhin darnach, daß man die ana-
toliſchen Türken als ein ſchätzenswerthes Material betrachten
kann. Die windigen Stambuler Effendis denken hiebei freilich
anders, und wenn ſie der kernigen Geſtalten auch ſehr bedürfen,
um deren Knochen für die verfahrene Serailpolitik zu Markte
zu tragen, ſo ſpötteln ſie dennoch daheim über die rauhen und
rohen Naturſöhne3. Dafür aber haben dieſe ſelben Spötter, die
nicht einmal ihr Blut zu achten und zu ſchätzen verſtehen, auch
dieſes, ihr eigenes Volk ſo gut zu Grunde gerichtet, wie irgend
wo im Reiche die verachtete chriſtliche Raja, und daß dem ſo iſt,
das hat ſich in mancher öffentlichen Kundgebung in den untern
Schichten des türkiſchen Volkes während der letzten bewegten
Jahre klar und überzeugend dargethan.
Auch in anderer Hinſicht laſtet nur auf den Regierungs-
organen die Schuld an all’ den jämmerlichen Zuſtänden, wie ſie
in Anatolien zum Ausdrucke gelangen. So iſt beiſpielsweiſe im
ganzen Lande nirgends von einem rationellen Volksſchulweſen
die Rede, begreiflicherweiſe, da die betreffenden Schulbehörden
— wenn ſie überhaupt amtiren — in Stambul etwas anderes
zu thun haben, als ſich mit der Organiſation des, für die Er-
ziehung des Volkes ſo nothwendigen Primär-Unterrichts zu
[221]Die anatoliſchen Türken.
befaſſen. Daß nebenher auch das türkiſch-moslemiſche Familien-
leben, und die in demſelben zu Tage tretende Unnatur ſeinen
erheblichen Antheil an dieſem Mißſtande haben muß, leuchtet ſo
ziemlich ein1. Hiebei dürfte aber nicht blos der mangelhafte
Wille auf Seite der leitenden Perſönlichkeiten, derlei Uebelſtänden
abzuhelfen, ſtörend dazwiſchen treten, ſondern auch der Dünkel
und die Ignoranz der zur geiſtigen Befruchtung ſich berufen
fühlenden Effendi-Literaten, die bei ihrem maßloſen Selbſtbe-
wußtſein gleichwohl nur Carricaturen auf dem Gebiete der
geiſtigen Production abgeben2. Es iſt ſonach nicht blos die all-
gemeine Volksbildung, die ſo ſehr im Argen liegt, ſondern auch
die höhere, wiſſenſchaftliche Erziehung in jenen Kreiſen, die durch
Einfluß und Stellung zunächſt in dieſe Frage thätigſt einzugreifen
vermöchten. Daß das Volk den Abgang dieſes Einfluſſes fühlt
und zu gelegener Zeit auch nicht verabſäumte, ſeinen Tadel laut
werden zu laſſen, haben wir in jüngſter Zeit wiederholt erlebt,
zumal durch die unerwartet ſchroffe oppoſitionelle Haltung einer
großen Zahl der türkiſchen und arabiſchen Volksvertreter im
[222]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Stambuler Parlament1. Was thut aber die Regierung? Sie
hat einfach taube Ohren gegenüber derlei Kundgebungen und
betrachtet die Deputirten-Verſammlung als einen Zeitvertreib
ganz äußerlicher Natur, den man geeigneten Momentes gewaltſam
zum Abſchluß bringt, die Bude ſperrt und die oratoriſchen
Kampfhähne zwangsweiſe in die Heimat abſchiebt.
Neben den Türken bilden in Anatolien auch einzelne Turk-
menen-Stämme, wie die Yuruken (Nomaden) und die wilden,
kriegeriſchen Afſcharen im Anti-Taurus einen Theil der mos-
lemiſchen Bevölkerung. Beider iſt bereits in den vorangegangenen
Capiteln gedacht worden, und dürfte über dieſe Stämme kaum
noch Erhebliches nachzutragen ſein. Zu unterſcheiden iſt wohl,
daß die Yuruken im Allgemeinen dem Lande ſehr von Nutzen
ſind, durch die ausgebreitete und rationelle Viehzucht, die ſie be-
treiben, was von den Afſcharen, einer großartigen Räubergeſell-
ſchaft, eben nicht behauptet werden kann. Jene nehmen die
hohen weitläufigen und graſigen Tafelebenen ein, wo ſie in
patriarchaliſchen Verhältniſſen leben und nur äußerlich ihr mos-
lemiſches Glaubensbekenntniß bethätigen, während ſie im Grunde
nahezu religionslos ſind. Die Afſcharen hingegen ſind fanatiſche
Mohammedaner, was ſie aber keineswegs verhindert, die tür-
kiſchen Bauern und Behörden, wo ſich nur immer Gelegenheit
ergibt, zu verfolgen und zu brandſchatzen, wie ſie überhaupt die
osmaniſche Autorität und Alles, was drum und dran hängt,
grimmig haſſen. Hiebei erſcheint ihre Beuteluſt mehr ein Kampf
ums Daſein, während die Yuruken durch ihre Heerden und durch
[223]Yuruken. Afſcharen. Kurden.
das aus denſelben erwachſende Erträgniß oft wohlhabender als
der ſeßhafte türkiſche Bauer ſind. Selbſt Fremde, die in ihr
Gebiet eindringen, betrachten die Afſcharen als ihre Feinde und
überwindet einmal ein Reiſender die unleugbaren Gefahren eines
ſolchen Beſuches und vermag ſich derſelbe mit einem der mäch-
tigen Stammhäuptlinge in freundſchaftlicher Weiſe auseinander-
zuſetzen, dann wird dieſer gleichwohl darauf beſtehen, daß der tür-
kiſche Zaptie (Gensdarm) ſich ſofort außer Land begebe, „da
hier der türkiſche Sultan doch nur Dreck iſt“ (bok dyr)1.
Während nun dieſe Gebirgsſtämme, in ihrem unleugbaren Frei-
heitsdrange, der Pforte und ihren Unterthanen zwar allenthalben
bis zum Ueberdruſſe läſtig werden, ſo beſchränken ſich deren
Gewaltthätigkeiten dennoch mehr auf die Grenzſtriche ihres eigenen
Gebietes … Ganz anders aber verhält es ſich mit den kur-
diſchen Nomaden Anatoliens. Es ſind jene Stämme, welche zum
Theile aus eigenem Wandertrieb, zum Theile in Folge der
wachſenden politiſchen und militäriſchen Machtentfaltung der
Pforte und ſchließlich in Folge eines conſtanten Druckes der an-
wohnenden turkmeniſchen Bevölkerung, ihre Stammheimat zwiſchen
den Zwillingsſtrömen dauernd verlaſſen haben und in die ana-
toliſchen Nachbarprovinzen als eine Art Völker-Geißel eingebrochen
ſind. Zahlreich dürften nun gerade dieſe Stämme nicht ſein,
aber ſie ſind zweifellos die entartetſten, ſelbſt in ihren hervor-
ragenden Tribus-Scheichs in nichts an die ſtolze, ſelbſtbewußte
Art der heimatlichen Hochlandsclane erinnernd. Ihr angeborenes,
mit großer Virtuoſität betriebenes Handwerk iſt der Raub, der
meiſt noch durch Mord und Todtſchlag befleckt zu ſein pflegt.
Obgleich Mohammedaner, ſind ſie dennoch den türkiſchen Glau-
bensbrüdern ſpinnefeind, und zwar nicht ſo ſehr aus religiöſen
oder nationalen Gründen, denn vielmehr aus — ſocialen. Der
feſte Beſitz, die Frucht mühevoller Arbeit, fremdes Eigenthum,
ja ſelbſt das Korn im Felde und die Frucht am Baume reizen
ihre Inſtincte, die eine communiſtiſche Färbung der bedenklichſten
Art haben. Dieſe Stämme, die weder ein nationales Bewußt-
ſein wie die Oſt-Kurden, noch ein politiſches wie die Weſt-Kurden
beſitzen, ſind die wahren Auswürflinge des Kurdenthums, vom
[224]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Erwerbe Anderer lebend, den ſie ſich durch Straßenraub und
Raubmord allenthalben zu verſchaffen wiſſen1.
Am Schluſſe unſerer allgemeinen Schilderung Anatoliens
angelangt, möchten wir noch jener Stimmung gedenken, die ſich
ſeit den letzten ſchweren Ereigniſſen der Regierung und des
Volkes bemächtigt hat. Die hiebei ſtattgehabten Wandlungen
gehören wohl mehr der Special- und Zeitgeſchichte an und ent-
behren eines eigentlichen Intereſſes, umſomehr als die Stam-
buler Hof- und Serail-Clique ihr geradezu ekelerregendes Treiben
auch dann nicht einſtellte, als die Sache der Pforte durch die
Vernichtung ihrer ganzen Armee im Balkankriege bereits eine
verlorene war. In der Zeit der größten Bedrängniß zeigte ſich
indeß das Türkenthum in ſeinem ureigenen Lichte. Bewährt
haben ſich nur die braven Nizam-Regimenter, jenes ausgezeichnete
Soldatenmaterial, das gewiſſermaßen den geſundeſten Kern des
Volkes repräſentirt und neben ſeine allgemeinen guten Eigen-
ſchaften noch die der wahren Soldaten-Tugenden geſellte. Um ſo
unfähiger erwieſen ſich die verſchiedenen Generale, die gleichwohl
zu Zeiten im Geruche beſonderer Genialität ſtanden, oder gar
wie Mukhtar, dieſem Schlachten-Erfinder und Berichterſtatter von
Actionen, die nie vorgefallen waren, vom Sultan durch den
pompöſen Titel eines „Ghazi“ oder Siegreichen ausgezeichnet
wurden. In Stambul herrſchte indeß die Effendi-Wirthſchaft
ungebrochen fort, und was ſlchimmer iſt, die verſchiedenen Hiobs-
poſten von den Schlachtfeldern machten auf die unpatriotiſchen
Sykophanten augenſcheinlich nicht den geringſten Eindruck.
Während die ottomaniſchen Kerntruppen verbluteten oder vor
Schnee, Kälte und Hunger bataillonsweiſe zu Grunde gingen,
beluſtigten ſich jene in ihren Reſidenz-Konaks und gaben ſelbſt
[225]Zur Lage ſeit dem Kriege.
ſpäter noch müßige, herzloſe Zuſchauer ab, als bereits Schaaren
moslemiſcher Emigranten, die die Colonnen des Eroberers vor
ſich hergetrieben, die einzelnen Viertel Conſtantinopels überfüllten.
Aber auch die Behörden ſollten ſich in dieſen ſchweren Tagen
in ihrer Art erproben, als zum Elende des Krieges auch noch
die verheerender Epidemien hinzukamen. Der Geſundheitsrath
und die Tagespreſſe drangen mit allem Nachdrucke darauf, daß
zur Verhütung des Schlimmſten die Behörden die entſprechenden
Maßregeln ergreifen möchten; aber die Municipalität der Reſi-
denz ließ ſich in ihrer olympiſchen Ruhe nicht ſtören und die
Polizei hatte wichtigere Dinge zu thun. Durch eine zwei Spalten
lange Verordnung ſchärfte ſie den Gläubigen ein, das Gebet in
den Moſcheen zu den kanoniſchen fünf Zeiten nicht zu verſäumen
und nicht in den Kaffeehäuſern ſich während der Gebetszeit mit
„Trictrac“ und Kartenſpiel zu amüſiren; den Weibern ward es
unterſagt, Schleier von ſehr feinem und durchſichtigem Stoffe zu
tragen; ſie ſollten künftighin ihre Schleier aus dem Stoffe von
Nr. 20 bis 26 anfertigen, und bei ihren Feredſches (Ueberwürfen)
ſich keiner koſtbaren Stoffe bedienen; ebenſo ward es ihnen
unterſagt, in die Verkaufsläden einzutreten und ſich dort zu ſetzen
oder mit Männern zu unterhalten: und das Alles in einer Zeit,
als der Feind einen Erfolg nach dem anderen errang1.
Schweiger-Lerchenfeld, Freih. von, Armenien. 15
[226]Anhang. Anatoliſche Fragmente.
Aber die Erkenntniß der wahren Sachlage ſollte nicht lange
auf ſich warten laſſen und als zu San-Stefano der verhängniß-
volle Friede unterzeichnet war, erging ſich ein gut conſervatives
Stambuler Zeitungsblatt (Das „Baſſiret“) in nachfolgenden Aus-
einanderſetzungen und Bekenntniſſen: Die Geſchichte beweiſt, daß
die vom Kriegsglück nicht begünſtigten Nationen durch ihr Unglück
zur Selbſterkenntniß und zum Nachdenken gelangten. Sprechen
wir unſere Gedanken offen aus: Wir ſind beſiegt. Was aber
die wahre Urſache des Krieges war, und warum wir beſiegt
wurden, und weshalb die Niederlagen auf die osmaniſche Na-
tion einen ſo tiefen Eindruck machten: alles dies wußten wir
nicht und gaben uns auch keine Mühe, es zu ergründen, bevor
wir beſiegt waren. Jetzt ſehen wir es, und dies Erwachen
müſſen wir als einen großen Erfolg anſehen und daraus Nutzen
ziehen. Es wurde viel in den Zeitungen über die „Orient-
Frage“ und die damit in Verbindung ſtehende „Verbeſſerung des
Looſes der Chriſten“ geſchrieben, aber unſere Nation hielt die-
ſelben für alte Weibermärchen. Die Artikel, welche die Noth-
wendigkeit der Reformen betrafen, wurden wie Romane im Genre
von Leila und Medjun behandelt und man hielt es nicht der
Mühe werth ſie zu leſen. Die Urſache, welche unſere Augen
gegenüber dieſen Thatſachen blind machte, war aber die Un-
wiſſenheit, und dieſe iſt auch jetzt, nach den Ereigniſſen noch nicht
vollends aus unſerer Mitte verbannt. Unſere Lage gleicht nun-
mehr der eines Menſchen, der in einem langen Schlafe gelegen,
und auf die Theilnahmsloſigkeit folgte Verwirrung. Daß die
Unkenntniß aller Verhältniſſe an unſerem Unglücke die Haupt-
ſchuld trägt, läßt ſich leicht beweiſen, denn ihre Spuren ſind es,
die den Weg vom Gipfelpunkte unſeres Glücks bis zum Rande
des Verderbens bezeichnen. Hiezu kommt noch Aemterjagd, Be-
ſtechung, Egoismus, unzeitige Härte oder Milde, zweckloſe Gut-
müthigkeit, Verachtung jedweden anderen Erwerbes, der nicht
direct auf den Staatsſchatz abzielte, Abneigung gegen Handel,
Ackerbau und ähnliche Erwerbsthätigkeit. Seit den zweihundert
Jahren des Verfalls ſind durch unſere Unwiſſenheit Erſcheinungen
zu Tage getreten, wie ſie kein vernünftiger Menſch erwarten
würde. Da haben wir beiſpielsweiſe einen Kaufmann, der Kaffee
nach — Jemen ſchickt; einen Bevollmächtigten, welcher nicht
[227]Ein osmaniſcher Mahnruf.
Hunderttauſende von Millionen unterſcheiden kann; einen Bureau-
chef, welcher die Grenzen von Bosnien im Hypothekenregiſter
nachſucht; einen Corpscommandanten, der den Rath gibt, Truppen
nach Kreta zu Lande zu ſchicken: kurz alle Komödien, welche
die Unwiſſenheit überhaupt hervorbringt. Aber durch dieſe ſelbſt
ſind wir in der Welt Gegenſtand des Spottes und Gelächters
geworden und es erſcheint an der Zeit mit dem Syſtem der
Fahrläſſigkeit zu brechen, ſoll unſer Blick überhaupt noch von
einem Hoffnungsſtrahle für die Zukunft aufleuchten.
Eine ſolche Sprache von Seite türkiſcher Tagesſchriftſteller
wäre noch vor Jahr und Tag eine undenkbare geweſen. Es iſt
nur zu bedauern, daß Völker, wie Individuen, zumeiſt viel
zu ſpät des Irrpfades gewahr werden, auf dem ſie zeitlebens
gewandelt . . . .
[][][][]
hafte König Artawaſt II. (reg. 129—136 n. Chr.) durch den ſich öffnenden
Boden verſchlungen, was wohl auf ein Naturereigniß zurückzuführen ſein
dürfte. (Vgl. Hermann, „Das ruſſiſche Armenien“, 15.)
ſich auch auf der des kleinen Ararat eine Anzahl moslemiſcher Grabſtätten,
denn möglichſt hoch begraben zu werden, war und iſt im mohammedaniſchen
Oriente allezeit ein brennender Wunſch. Auf einer der Grabplatten auf
der Scheitelhöhe des kleinen Ararat iſt zu leſen: „Mein Gott, deine Gnade
ſei über Mohammed. Der Gründer dieſes Grabes, Osman, hat’s ge-
ſchrieben im Monat Schewal des Jahres 650 (nach kurdiſcher Zeitrechnung;
1292 n. Chr.).“ — Bei Ritter, „Erdkunde“, X.)
l. c. 420 u. ff.
Länder“, 237.
hütten wird niemals gereinigt. Dort leben, lieben und gebären die Katzen;
dort erblicken Milliarden Flöhe das Licht der Welt und finden die ewige
Ruhe; dort träumen Billionen Wanzen des Lebens ſeligen Traum. Und
Nachts marſchiren ſie auf, zahlreicher denn die Streiter Sanheribs, und
peinigen ihren Erbfeind, den Menſchen, bis zum Wahnſinn. Die Orien-
talen wiſſen ſich täglich einige Minuten Ruhe zu verſchaffen. Die Fladen,
welche als Serviette und Brod dienen, werden in großen, in die Erde
gegrabenen Töpfen bereitet; ſobald ſie gar ſind, entkleiden ſich alle Mit-
glieder ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts und ſchütteln ihre
Kleidungsſtücke über dem Topfe, ſo daß das betäubte Ungeziefer hinein-
fällt, kniſternd verbrennt, um in Kohlenform in dem nächſttägigen Fladen
gegeſſen zu werden (Brief in der „Allg. Zeitg.“, 1877, Nr. 242).
(Ueberſ.)
rende; der Platz war wie geſchaffen zur Anlage eines großen Grenz-
Waffenplatzes. Seine Herſtellung hat den Ruſſen aber auch Geld genug
gekoſtet. Es iſt übrigens nicht die Stadt ſelbſt, welche befeſtigt iſt, ſondern
der an ihr vorüberziehende Grenzſtrich, welcher namentlich gegen Nord-
weſten mit mehreren permanenten Werken verſehen iſt, abgeſehen von den
fortificirten Lagerplätzen und den großen Magazinen. Der centrale Kern
dieſer Fortificationen, in deren Nähe bald eine kleine Stadt entſtand, die
mit dem früheren Neſte Gümri zu einer einzigen verſchmolz, erhielt von
Kaiſer Nicolaus zu Ehren ſeiner Gemahlin den Namen Alexandrapol (nicht
Alexandropol, wie man vielfach lieſt). Der Arpatſchai fließt bei der
Feſtung durch üppig grüne Wieſen und Matten und erſt einen Kilometer
weiter öſtlich ſteigen die Ufer zum dominirenden Plateau empor, auf dem
die Befeſtigungen errichtet ſind.
beiden Thore durch herabgeſtürzte Steinmaſſen derart verrammelt, daß es
nicht paſſirt werden konnte. Mit Durchſchreitung des Oſtthores paſſirte
man gleichzeitig die Doppelmauer der Umwallung, von denen an der
inneren zahlreiche armeniſche Inſcriptionen angebracht waren. Ein Fran-
zoſe (Boré) will dieſe während eines ſiebentägigen Aufenthaltes zwar ent-
ziffert und der Academie des Inscriptions überſendet haben, doch ſind
dieſelben in Verluſt gerathen. Die Wahrheit dieſer Thatſache wurde im
Uebrigen von Gelehrten vielfach bezweifelt.
zum Unterſchiede von den andern derartigen Bauten, die Patriarchalkirche
oder den großen Dom nennen könnte. Sie liegt faſt im Süd des Thor-
weges in Geſtalt eines lateiniſchen Kreuzes und war noch vor einiger
Zeit gut erhalten. Das Dach iſt zugeſpitzt, mit großen Steinplatten ge-
deckt, von Bogen getragen, die noch allenthalben erhalten daſtehen. Von
den zwanzig größeren Bauwerken im Inneren verdienen auch zwei
prächtige octogonale Thürme hervorgehoben zu werden, an deren einen
eine Moſchee, die gleichfalls in Trümmern liegt, angebaut wurde. Das
Innere der erwähnten Kirche beſteht aus einem Hauptſchiffe und zwei
Nebenflügeln. Der Styl hat altſaraceniſchen Charakter, mit Anklängen
an byzantiniſche Formen. Die runden Gewölbbogen erheben ſich auf
ſchlanken Pfeilern. (Ritter, a. a. O. X.)
Weltſtürmer mitunter Städte und Einwohner geſchont, wie beiſpielsweiſe
ſelbſt der wüthende Hulagu-Khan, der in dem eroberten Bagdad den Be-
fehl gab, an der brennenden Stadt ſo viel als möglich zu retten. Noch
weit beſſeres Beiſpiel haben Hulagu’s Nachfolger oder die „Ilkhane“ ge-
geben, zumal Arghuns Sohn Gaſan, dem der Ruhm gebührt, geſetzliche
und civiliſirte Zuſtände geſchaffen zu haben, wie nach ihm keine zweite
Dynaſtie mehr, die das Erbe des Chalifats antrat. Der kleine, häßliche
mongoliſche Prinz, der ſich Gaſan nannte, hatte überdies auch eine hiſto-
riſch erwieſene Schwäche für — das Chriſtenthum. Wie die letzten frei-
hin und wieder einer ſogar die Göttlichkeit des Korans leugnete, durch
ihre in der Geſchichte des Islams geradezu beiſpiellos daſtehende Toleranz,
das orthodoxe moslemiſche Gebäude bedenklich erſchütterten, ſo lag ſpäter
unter den Ilkhanen ſogar die Gefahr nahe, daß das geſammte Mongolen-
thum — chriſtlich werden konnte. Nur politiſche Bedenken hielten Gaſan
von dieſem Schritte ab. Mekka war gerettet und die beturbante Recht-
gläubigkeit hatte nimmer zu befürchten, daß an die Stelle der Kaaba eine
Prachtkathedrale treten würde. (Vgl. Malcolm, „Geſchichte von Perſien“, I.
l’Arménie“, I, 297.
königlich zu belohnen, namentlich den Bagratiden Sempad, den er zu
ſeinem Kronfeldherrn (Sbarabied) machte. Unter ihm erſtand auch wieder.
die ältere Arſaciden-Reſidenz Ardaſchat (Artaxata), welche unter Corbulo
durch Kaiſer Neros Legionen zerſtört worden war. Aus ſämmtlichen Re-
ſidenzen Erowant II. wurden die Schätze, namentlich aber die zahlreichen
Araxes liegt das Dorf Kulpi, weit in Armenien, ja in ganz Trans-
kaukaſien berühmt durch ſeine uralten Steinſalzwerke. Das Dorf iſt amphi-
theaterartig an eine nackte. Felswand angebaut, in der Mitte deſſelben eine
kleine Kirche mit plattem Dache. Die übrigen Häuſer ſind ſo dicht an
einander gebaut, daß die Bewohner bei ſchlechtem Wetter, wo die engen
Gaſſen durch den aufgeweichten Salzmergel unpaſſirbar ſind, über die
Häuſerdächer hin von einem Ende des Dorfes zum andern verkehren.
(Dubois, a. a. O.) Auch bei Radde, „Vier Vorträge ü. d. Kaukaſus“, 47.
Hainen geſchmückt, zu neuem Glanze erhob. (Moſ. v. Chorene bei Ritter,
„Erdkunde“, X, 454.)
Lavablöcken erbaute Kirche, die mindeſtens 1000 Jahre alt ſein dürfte, wie
allenthalben aus den umherliegenden Grabſteinen hervorgeht. Im Innern
befindet ſich auf einem Pfeiler eine Inſchrift Kakig I. (989 König von
Armenien), ein Sohn Aſchad III., der dem Dorfe verſchiedene Privilegien
ſicherte, an die ſich freilich die Zeitläufe nicht kehrten. Gleichwohl zeichnet
auch heute noch die Bewohner Aguries ein gewiſſer Stolz aus, den ihnen
die Heiligkeit der Stätte des einſtigen Verſöhnungsopfers einimpft. (Vgl.
Parrot, „Reiſe ꝛc.“, I, 219; Dubois, Voy., III.)
Syſtem ungeheuerer Perioden. Jeder Fixſtern regierte den Himmel tauſend
Jahre allein und dann weitere 1000 Jahre mit einem anderen Fixſterne,
der gewiſſermaßen die Stelle eines Veziers vertrat. Nach 1000 Jahren
dankte er dieſen ab und regierte mit einem zweiten, dann mit einem
vor. Nach dem 1. Buche Moſe (10, 2—4) hießen die Enkel Japhets (nach
den beiden Söhnen Gomers und Jawans) Askenas, Riphat, Thogarma,
Eliſa, Tharſchiſch, Hittim und Dodanim.
er alle Fixſterne zu ſolchen Mitregenten gehabt, ſo trat er ſodann die
Herrſchaft an denjenigen ab, der zuerſt ſein Mitregent war, wonach ſich
die Epochen von 1000 zu 1000 Jahren wiederholten, bis zum letzten Fix-
ſterne: eine überwältigende Vorſtellung von unbegreifbaren, unendlichen
Zeiträumen. (Vgl. J. Kruger, „Geſchichte der Aſſyrier und Iranier“, 65.)
und das älteſte heidniſche Götter-Pantheon beſaß, lag ſchon zur Zeit
Arſchaks II. (363—381 n. Chr.) vollends in Trümmern. Seit Einführung
des Chriſtenthums mußte ſie wohl ihre ganze frühere Bedeutung verlieren
und ſo erſcheint es erklärlich, daß die Forſcher der Neuzeit nicht einmal
mehr ihre Lage präciſe anzugeben im Stande waren. Am Fuße einer Akro-
pole lag die weitberühmte Stadt, von der neueſtens nur mehr einige
Mauerreſte zu ſehen ſind. (Vgl. Dubois, Voy. III, a. a. O.)
haben wir, wenn auch keinen hiſtoriſchen, ſo doch legendaren Anhaltspunkt.
Araï, das iſt „der Schöne“, war am Fuße des Rieſenberges der aſſyriſchen
Schemiram (Semiramis) erlegen. Die Gegend hieß ſeitdem nur mehr
auf das Ereigniß, als wie auf die Localität. Auf alle Fälle ging die
Benennung, welche doch nur der Ebene (bei dem heutigen Igdyr), wo jene
Schlacht ſtattgefunden hatte, gelten konnte, erſt viel ſpäter auf die beiden
Bergrieſen über. (Indſchidſchean, a. a. O.; Hermann, „Das ruſſiſche Ar-
menien“, Ritter, „Erdkunde“ X, ꝛc. ..)
armeniſchen Königsliſte erſcheint, darf uns nicht wundern, weil Diodor
ausdrücklich meldet, nach Ninivehs Untergang habe er über ganz Aſien
(ſoll heißen Vorder-Aſien) geherrſcht. Zudem iſt nach Moſ. v. Chorene die
alte Königsgeſchichte der Armenier aus aſſyriſchen Annalen geſchöpft, ſo-
mit mit der Aſſyriens in mancher Hinſicht identiſch. (Vgl. J. Kruger,
a. a. O., 113.)
herſtellung der alten byzantiniſchen Reichsgrenzen in Thrakien nach Unter-
gang des oſtbulgariſchen Reiches (970 n. Chr.) war es nicht ſo ſehr das
helleniſche Element, welches den Auſſchwung herbeiführte, ſondern das
und führten ihren Stammbaum bis auf David zurück, augenſcheinlich mit
mehr Berechtigung als die bekannten Montgomerys in Frankreich. (K. Koch,
„Kaukaſiſche Länder“, 74.)
Oſtbulgariens, war ein Armenier, ebenſo die vorzüglichſten Feldherren und
der Kern der Armee Baſilius II. Zur Befeſtigung des neueroberten Phi-
lippopolis ſiedelte Tzimiſches, wie einſt Conſtantin V., zahlreiche Armenier
in der Umgebung an. (C. J. Jirecek, „Die Heerſtraße von Belgrad nach
Conſtantinopel“, 79.)
p. XI., bei Ritter a. a. O.
einander. Einige ſind ihres Lobes voll (vgl. O. Spencer, „Journey trough
Tsherkessia etc.“), während Andere wieder (wie K. Koch, „Die kaukaſiſchen
Länder“, 8) es als eine Wohlthat bezeichnen, daß Rußland unter den ver-
ſchiedenen transkaukaſiſchen Duodez-Herrſchern aufgeräumt und ſo uralte
Fehden erſtickt hat. Es gilt dies namentlich von den letzten Königen Min-
greliens, den „Dadians“, den nahen Verwandten des abhaſiſchen Ge-
ſchlechtes der Serwaſchidſes. Jene gelangten indeß erſt im vorigen Jahr-
hundert zur Regierung, während die älteren Dadians, von den Türken
vertrieben, in Rußland Zuflucht erhielten und den Namen Dadianoff an-
nahmen (K. Koch, a. a. O., 74 u. ff.).
Chriſtenverfolgungen in Armenien, ſoll es allein in der Stadt Erowantaſchad
ließen ſich ſpäter auch in Armenien nieder, wo ſie durch Ehen mit den
Bagratiden verwandt wurden. Im Uebrigen aber waren ſie für Georgien
das, was die Mamigonier für Armenien waren, Heerführer und Palladine.
(Vgl. St. Martin, „Mémoire sur l’Arménie“, II, 57 u. ff.)
Ebenſo zu Van 10,000, zu Nakhitſchevan 16,000, in Artaxata 9000 …
Bei 70,000 Familien wurden damals zwangsweiſe um Nakhitſchevan an-
geſiedelt (vgl. die Chronik Fauſtus von Byzanz bei St. Martin, „Histoire
des révolut. de l’Arm. etc.“)
Turkeſtans“, Oeſterr. Monatsſchr. f. d. Orient, II, 7). Im Jahre 1857
hatten die Brüder Schlagintweit, unmittelbar nach ihrer Rückkehr aus
Central-Aſien, ihre Ueberzeugung ausgeſprochen, daß die Bewohner Oſt-
Turkeſtans tartariſirte Arier ſeien. Es wären alſo nicht nur, wie un-
zweifelhaft, die heute perſiſch redenden Tadſchiks, ſondern auch die der-
malen türkiſch ſprechenden Stämme Oſt-Turkeſtans ariſchen Urſprungs.
Mit andern Worten, die Urbevölkerung wäre die ariſche und nicht die
türkiſche (turaniſche) geweſen. Dieſe Meinung hat auch durch die Beob-
achtungen Robert Schaws an hoher Wahrſcheinlichkeit gewonnen. Die
meiſten Tadſchiks trifft man unter den Kaufleuten (alſo wie zur Zeit der
Mamigonier); ſie ſtammen aus Andiſchan, oder ſind Emigranten aus Badagh-
ſchan, Afghaniſtan und andern benachbarten Ländern. (F. v. Hellwald,
„Central-Aſien“, 190.) — Gleiches behauptet J. Kruger („Geſchichte der
Aſſyrier und Iranier“, 188 u. ff.). Nach ihm war der herrſchende Stamm
in Turan zur Zeit des großen Bruderkampfes entſchieden ariſcher Herkunft.
Der Name „Turan“ will hiebei nichts bedeuten, denn nach dem perſiſchen
Königsbuche des Firduſi erhielt das Land jenſeit der Grenzen Irans erſt
jenen Namen von Feriduns zweitem Sohne Tur. Später gab es zwiſchen
den Turaniern und Iraniern ſtets furchtbare Rachekriege, welche der Be-
gründer des zweiten aſſyriſchen Weltreiches Minotſcher (Chala, Ninos) im
13. Jahrhunderte v. Chr. inaugurirt hatte. Er ſchlug hiebei denſelben
Weg ein, den Alexander d. Gr. tauſend Jahre ſpäter benützte, um Darius
in ſeinem letzten Verſtecke aufzuſuchen. Unter den Mauern von Balkh kam
es zu jener großen Entſcheidungsſchlacht, durch welche den Iraniern die
Weltherrſchaft zufiel und Turan nur eine Provinz des aſſyriſchen Welt-
reiches ward. Tur war im Kampfe gefallen und ſein Sohn Dewſchin
leiſtete als Vaſall dem Minotſcher den Eid der Treue.
fallende Verkehr (die erſten Bulgaren-Einwanderungen ſollen unter Ar-
ſaces I., alſo vor Ablauf des zweiten Jahrhunderts v. Chr. ſtattgefunden
haben) der Wolga-Bulgaren mit den Bagdader Khalifen. Es war ein
langjähriger, geiſtig-religiöſer Verkehr, doch keine Begegnung der Maſſen.
Daß dieſer Verkehr über Armenien ging, liegt in der geographiſchen
Situation. Ein Sohn des Königs Almus wallfahrtete ſogar über Bagdad
nach Mekka, und die ganze Cultur des Bulgarenreiches an der Wolga
nahm einen orientaliſchen Charakter an, wie auch ein Geſchichtsſchreiber
in demſelben auftauchte, der in arabiſcher Sprache eine Geſchichte der
Bulgaren geſchrieben hatte, die leider verloren ging. (R. Rösler, „Romä-
niſche Studien“, 245 u. ff.) Bei Annahme eines zeitweiligen Einſtrömens
ſkythiſcher Elemente in Armenien iſt es überdies fraglich, ob es wirkliche
Bulgaren, oder chazariſche Tulas und Lugar, oder Burdas, die Ibn Daſta
(Rösler, ebenda, 359) als die, nördlich des Kaukaſus wohnenden Völker
angibt, waren, die mit den Armeniern in Berührung kamen.
diegenere und werthvolle Literatur. Die bedeutendſten Arbeiten hierin
ſind: Petermann, „grammatica linguae armeniacae“, Patkanoff, „Recher-
ches s. l. format. d. l. langue arménienne“, Bötticher, „Vergleichung der
armeniſchen Conſonanten mit denen des Sanskrit“, dann Abhandlungen
von Lagarde, F. Müller, F. Windiſchmann, Schröder u. A. Die arme-
niſche Sprache beſteht (P. de Lagarde, „Armeniſche Studien“, 208) aus
drei Beſtandtheilen, dem Haikaniſchen, dem Arſacidiſchen (Pahlâwi) und
dem Saſſanidiſchen. Die letzteren zwei ſind ſelbſtverſtändlich iraniſchen
Charakters, aber auch das Haikaniſche gehört der Sprachenfamilie an,
deren älteſter Vertreter das Zend iſt. Entſchieden iraniſch in ſeine Laut-
lehre, hängt es in ſeinem Wörterbuche mit den Dialekten Griechenlands
und dem Slaviſchen zuſammen. Feſtzuſtellen, wie weit dies auch in der
Grammatik ſtattfindet, muß weiterer Unterſuchung vorbehalten bleiben.
im Gebiete von Eriwan geſprochen wird, der weitaus reinere; der andere
(im Weſten) aber voll fremder, namentlich türkiſcher Wörter. Am reinſten
ſoll indeß das alte Haikiſche von den armeniſchen Coloniſten in Aſtrachan
geſprochen werden. Die Sprache der armeniſchen Bewohner am unteren
Araxes aber ſoll ein vollkommenes Kauderwälſch ſein.
vorigen Jahrhunderts wenig erfreuliche. Die regierenden Patriarchen
waren voll Neid, falſchem Ehrgeiz und Habſucht und miſchten ſich mit
ihren Episkopen allenthalben in die weltlichen Händel des benachbarten
türkiſchen und des eigenen, damals noch perſiſchen Reiches. Auch blieb
der Einfluß derſelben auf die armeniſchen Bewohner, die in Armuth und
Unwiſſenheit verkommen waren, ein vollends unbedeutender. Für die
Rohheit der damaligen Sitten ſpricht überdies der Umſtand, daß man
Gäſte nicht beſſer, als durch kirchlich eingeweihte Stiergefechte zu ehren
wußte. (Vgl. Tavernier, Six Voy. etc., und Chardin, Voy. en Perse, bei
Ritter, Erdk. X, 517.)
treten der oben erwähnten Mamigonier.
Nebad, der von mancher Seite als mit dem Maſius oder Ararat identiſch
angeſehen wird. (Vgl. St. Martin, a. a. O.)
die einer verderbten Zoroaſterlehre dienten, im großartigſten Style in
Angriff genommen wurde, dafür dürfte Gregorios’ Uebereifer allenthalben
Sorge getragen haben. Es waren dies die Tempel des Aramadz (Ormudz),
der Anahid (Artemis) und der Mihr; dann die der ſarmatiſch-nordiſchen
Gottheiten Parſham und Nanu, welche in den armeniſchen Götterhimmel
hereinragen, und ſchließlich die Cultusſtätten des indiſchen Gottes Keſane.
Vardſche gegründet, hat ſie gleichwohl erſt unter Vagharſch oder Valar-
Sie blieb bis unter Arſaces III. (um 354 n. Chr.) Reſidenz der Könige
aus dieſem Hauſe, worauf ſie der Zerſtörungswuth des Saſſaniden Schah-
pur II. zum Opfer fiel.
„Reiſen“, I, 87.
ſich weſtlich des größeren armeniſchen Dorfes Mulla-Suleiman in zwei
Gebirgswege gabelt. Der ſüdliche, identiſch mit dem herkömmlichen, uralten
Karawanenweg Erzerum-Bajazid-Tabris zieht über Daghar durch das
wildromantiſche Felſenthor von Kara-Derbend, ein Defilé von gewaltigen
Baſaltwänden und Klippen gebildet, dann weiter über graſige Lehnen der
ſüdlichen Araxes-Thalſeite nach Köprüköj, dem oben genannten Vereinigungs-
punkte mit der Karſer Straße. Der zweite Paßweg ſetzt nur drei Stunden
nördlich von Kara-Derbend über das Köſch-Gebirge und iſt weitaus be-
ſchwerlicher. Auf ſeiner kahlen Scheitelhöhe, zu der man durch unwegſame
Geröllſchluchten gelangt, liegt noch bis Ende Juni der Schnee und ſelbſt
auf den jenſeitigen Lehnen — ſaftige Weiden mit ſpärlicher Baum-Vege-
tation — beginnt erſt im Juni das Frühjahr und knospen erſt in dieſem
Monat die Weiden und Platanen, welche bei dem Dorfe Deli-Baba ange-
troffen werden. Im Allgemeinen ſind beide Paßpaſſagen nur elende
Saumwege, der ſüdliche, durch das Felſenthor Kara-Derbend, aber immer-
hin für Laſtthiere gangbar, nicht aber für Fuhrwerke und ſei es auch der
elendeſte Karren. (Vgl. J. Brant, Journey etc., — dann auch bei Eli
Smith, Miss. res.)
dennoch nicht umhin, andere, als Genueſen-Bauten geltende Denkmale für
ſaraceniſche zu halten, wie zu Baiburt, Ispir u. a. O. (Vgl. deſſen „Asia
minor“ I, 185.)
Theile eingeſtürzt. Sie iſt im Jahre 935 n. Chr. erbaut; auf einem
Minaret befindet ſich eine Inſchrift, die folgendermaßen lautet: „Der
Gottesdiener-Sitz iſt hier zu ſchauen; in der Zeit des Khalifats Sultan
Malek-Khans, deſſen Geburt Gott ewig dauernd mache, war es, während
ich aus Chorasmien einen Zug nach der Stadt Rum (daher Arzrum oder
Erzerum) machte, daß in der Zeit, als ich dieſe Gegend erreichte, ich den
allergenehmſten Ruheort hatte, daraus kam mir die Luſt, irgend ein Ge-
bäude zu errichten ꝛc. ..“ (Karl Koch, „Wanderungen im Orient“, II, 283.)
werden ſollte, berief der Paſcha von Erzerum die armeniſchen Erzbiſchöfe
zu ſich, um ihnen das Actenſtück mit der Bemerkung zu überreichen, daß
ſie im Falle einer Publicirung deſſelben für ihre Köpfe beſorgt ſein
müßten. (Vgl. Tſchichatſcheff, „Lettres sur la Turquie“, 63.) Dafür be-
hob derſelbe Paſcha allein an ungeſetzlichen Steuergebühren die enorme
Summe von 800,000 Franken jährlich. (A. a. O., 55.)
Ispahan durch Schah Abbas den Großen, der 1605 die geſammte
Bewohnerſchaft von Dſchulfa am Araxes fortſchleppen ließ. Viele gingen
zu Grunde, andere ſind reich geworden, verloren aber ihre Habe, als der
Afghanenfürſt Mahmud (1721) Ispahan eroberte. Am Caspi-Meer
gingen aber noch unter Abbas’ Regierung von 7000 Coloniſten bis auf
300 Elende, die Bewilligung zur Rückkehr in ihre Heimat erhalten hatten,
alle zu Grunde. (Braun, „Gemälde“, 239.)
namigen Ort bei Melitene für die fragliche Localität dieſes Zwiſchenfalles,
was ſchon Ritter (Erdkunde, 10) beſtritten hatte.
Race, wie die damaligen Perſer, unwiderſtehlich. Bezeichnend für ſeine
Denkungsart iſt folgender, als hiſtoriſch verbürgter Zwiſchenfall. Als er
den perſiſchen Thron beſtiegen hatte, berief er ſofort die Geiſtlichkeit (die
ſchiitiſche natürlich), von der er (als Sunite) nichts Gutes erwartete, und
befrug ſie, was mit den reichen Landeseinkünften geſchehe. Die Antwort
war: zum Unterhalte der Prieſter, der Collegien und Moſcheen, in welch
letzteren unausgeſetzt für das Wohl der iraniſchen Herrſcher gebetet werde.
Hierauf erwiederte Nadir Schah: „Euere Gebete ſind offenbar dem All-
mächtigen nicht angenehm, denn das Reich befand ſich ſtets im größten
Verfall, wenn euer Stand am meiſten begünſtigt wurde. Es iſt vom
Untergange durch meine tapferen Krieger errettet worden und von nun
an ſoll nur zu deren Unterhalt euer Reichthum verwendet werden.“
(Vgl. Malcolm, „Geſchichte von Perſien“, II, 16; bei Braun, a. a. O., 248.)
Nadir war bis tief nach Indien vorgedrungen und hatte aus Delhi den
welche im ganzen Oriente Abſatz und ihren Weg ſelbſt nach Perſien und
Indien fanden. Noch vor hundert Jahren widerhallte die ganze Stadt
von dem Gehämmer der Keſſelſchmiede, eine Muſik, von der ſich das os-
maniſche Ohr längſt entwöhnt hat.
Stambul) mit ſich fortgeſchleppt. Er wurde ſchließlich von einem ſeiner
Offiziere in ſeinem eigenen Zelte (in Sedjeſtan) ermordet, als man erfuhr,
er wolle alle Perſer in ſeinem Heere umbringen laſſen.
ſchienene Vilajets-Amtsblatt „Emwarie-Scharkie“ (Licht des Oſtens) ver-
ſprochen, die Namen aller derjenigen mit goldenen Lettern zu veröffent-
lichen, welche ſich beeilen würden (kurz vor dem letzten Kriege) in die
Reihen der Vaterlandsvertheidiger zu eilen. Als auf Grund dieſer ſpon-
tanen Kundgebung bald hierauf das Stambuler Kriegsminiſterium den
Ankauf von Pferden telegraphiſch anordnete, beeilte ſich der Gouverneur
(Ismail Paſcha) auf eigene Fauſt nach Conſtantinopel zurückzumelden,
daß die Einwohner ſeines Vilajets kein Geld annehmen, ſondern aus
Patriotismus alle ihre Pferde der Regierung zur Verfügung ſtellen …
In der That confiscirte (!) Ismail Paſcha die entſprechende Anzahl von
Pferden, ohne einen Para hierfür auszugeben. Dafür heimſte er Beglück-
wünſchungen und Auszeichnungen von Stambul in reichlichem Maße ein.
(„Allg. Ztg.“, Nr. 61, 1877.) Das war eben wieder eine ganz eigene
Art von Vergewaltigung, ändert aber am Weſen der Sache nichts.
„Asia minor“, I, 178.
a. a. O.
chaldäiſche Heidenthum bis tief in mohammedaniſche Zeit erhalten hat —
nicht unbewußt, wie bei armen Gebirgsbewohnern, ſondern geſtützt auf
alle wirkliche und vermeintliche Wiſſenſchaft des Alterthums. Als der
Chalif Mamun (im Jahre 830) nach Haran kam und die Bewohner ihm
entgegenzogen, fiel ihm an einigen derſelben eine fremdartige Tracht und
das lange Haar auf. Auf ſeine Frage, ob ſie Chriſten, Juden, Mager,
oder irgend welche „Schriftbeſitzer“ ſeien, erfolgte keine genügende Antwort.
„Ihr ſeid alſo Götzendiener,“ fuhr er fort, „euer Blut zu vergießen iſt
erlaubt und euch gebührt kein Schutz.“ „Wir wollen Schutzgeld zahlen.“
„Schutzgeld“, erwiederte er, „wird nur von denjenigen nicht islamitiſchen
Religionsverwandten angenommen, deren Gott, der Erhabene, in ſeiner
heiligen Schrift gedenkt, die ſelbſt eine heilige Schrift beſitzen und mit
denen die Moslime darauf hin einen Friedensvertrag geſchloſſen.“ Da
Mamun indeß noch vor der zur Bekehrung gegebenen Bedenkzeit zu
Tharſus ſtarb, ſo blieb es mit den Haraniern beim Alten. Ihr letzter
Tempel auf dem Burghügel von Haran (inmitten von Mauerſpuren,
Caſtellruinen und Schuttbergen) wurde erſt von den Tartaren zerſtört.
(Braun, „Gemälde“, 172.)
Verthanes, St. Huscon, dann der Königin Ashſchem, der Chosrewi-tucht,
d. i. die Schweſter Tiridates’ und des Königs Tiridat ſelbſt. (Vgl. In-
dſchidſchean, nach Kiepert a. a. O.)
Geburt Wahagn’s betreffend, lautet etwa wie folgt: „In Geburtsſchmerzen
lag der Himmel, in Geburtsſchmerzen die Erde; in Geburtsſchmerzen lag
das purpurne Meer und lag das röthliche Schilfrohr im Meere. Aus
des Rohres Munde kam Rauch empor, aus des Rohres Munde kam
Flamme empor, und aus der Flamme entſtieg eilends der blonde Jüng-
ling. Feuer hatte er an den Haaren und Flammen hatte er im Barte,
und die Augen und die Ohren waren Sonnen.“ (Vgl. Neumann, a. a. O.)
Derlei Heldengeſänge wurden in Armenien an gewiſſen Feſttagen geſungen
und man bringt ſie, augenſcheinlich nicht ohne einige Berechtigung, mit
den alt-perſiſchen Zohak-Todtenfeiern am Demavend (bei Teheran) in Ver-
bindung. Von Zohak, dem böſen Principe (aber nicht in ſeiner vollſten
Bedeutung), abzuſtammen, rühmten ſich bekanntlich nicht nur mythiſche
Dynaſtien, ſondern auch der Meder Dejokes und häufiger noch die
Herrſcherfamilien Kabuls, dieſer Stadt, in welche der Satan bei ſeinem
Sturze mitten hineingefallen. (Vgl. Braun, „Naturgeſchichte d. Sage“, I, 132.)
der Armenier bezieht … „Als die Menſchen jenes himmelſtürmende Bau-
werk (von Babel) zu errichten ſtrebten, wurden dem am Frevel mit-
betheiligten Stammvater der Armenier, Haik, zur Strafe „unerhörte Laute“
in ſeine Sprache geworfen.“ Da das Armeniſche noch heute an ſolchen
Lauten keinen Mangel hat (ſchon Mesrop mühte ſich mit verſchiedenen
Lautzeichen ſeines Alphabetes ab), ſo ſteht es feſt, daß das Armeniſche
gleichaltrig mit dem babyloniſchen Thurmbaue ſei. (Nach Schröder bei
Lagarde, „Armeniſche Studien“, 191.)
Euklids Geometrie von Gregor Mag.; Abhandlungen Platos von dem-
ſelben; dann Ueberſetzungen der hiſtoriſchen Bibliothek des Diodor von
Sicilien, die Werke von Kallimachos, Adronicus, Olympiodor, wahrſchein-
lich auch die Schriften Hyppokrates’ und die Homeriſchen Epopöen.
daß er die zwei Naturen in Chriſto zu ſcharf trenne, das Wort nur
„Wohnung nehmen“ laſſe im Menſchen Jeſus, nichts von einer „Gottes-
gebärerin“, von einem Leiden des Logos wiſſen wolle. Unter thätlicher
Mitwirkung jenes Heiligen (mittelſt Fußtritten ꝛc.) wurde Neſtorius ver-
dammt und abgeſetzt. Sein Anhang erhielt ſich aber, zumal durch die
Schule von Edeſſa und hatte durch den älteren Islam nichts zu leiden.
(Note bei Braun, a. a. O., 183.)
Werk philologiſchen Inhalts ſind die 1877 erſchienenen „Armeniſchen
Studien“ von P. de Lagarde (Göttingen), ein Verzeichniß derjenigen
armeniſchen Vocabeln, welche man durch Vergleichung mit Wörtern anderer
Sprachen wirklich erklärt oder zu erklären verſucht hat (2413 an der Zahl),
nebſt abhandelndem Texte.
en Arménie“; P. v. Tſchichatſcheff, „Asie Mineure“; Koch, „Wanderungen
im Orient“ ꝛc. — Anſichten: „Le Tour du Monde“, 1875.
Mordtmann, „Belag. und Erob. Conſtantinopels“, p. 106 u. ff.
noch bis auf den Tag erhalten haben ſollen (Beiburt, Haſſankaleh ꝛc.), bei
W. Hamilton, „Asia minor“, I, 185; J. Brant, Journey etc. … bei
Ritter, 18, ꝛc.
bergs „Dſchihan Numa“, ꝛc.
Zinkeiſen, „Geſch. d. osmaniſchen Reiches in Europa“, I.
Orient“, II, 29.)
famie Chriſt zu ſein. Das Chriſtenthum iſt hier ſo vollſtändig beſiegt und
geknickt, daß an ein Wiederaufleben von innen heraus unter keinerlei
Umſtänden zu denken iſt. Es iſt die Religion der Vorſtädte und ſchmutzigen
ſchlechten Winkel, während alles Volk in der Citadelle (von Trapezunt) in
den höher und zierlich gelegenen Stadttheilen und auf den Landſitzen
türkiſch redet und den Islam bekennt. Zu dieſen Privilegien der Ehren-
haftigkeit, des Reichthums und der Macht geſellt ſich in Anatolien auch
noch das numeriſche Uebergewicht der Mohammedaner, ſo daß den Chriſten
ſelbſt die Hoffnung zur Freiheit entſchwunden und die Rache allein im
Herzen geblieben iſt. Wer die Rache am Geſchlechte Osman vollzieht, iſt
der legitime, von Gott ſelbſt auserwählte Herr dieſes Himmelsſtriches.
Einer Zeit, wie der unſrigen (1840) muß die Staatsklugheit, mit welcher
das aller Verbeſſerung feindſelige Volk der Türken ſeiner Herrſchaft eine
ſo dauerhafte Grundlage zu geben vermochte, als ein höchlich zu beachten-
des und beſonders reſpectables Phänomen erſcheinen. (Fallmerayer,
„Fragmente aus dem Orient“, 168.) Aber dieſe Herrſchaft muß denn doch
nur ein Schein geweſen ſein, wenn der Fragmentiſt an anderer Stelle
(S. 216) den türkiſchen Großen die Worte in den Mund legt: „Wären
die Chriſten nicht eine hündiſche, weinberauſchte Rotte erbärmlicher Wichte,
ſie hätten uns ſchon lange aus Europa hinausgepeitſcht.“
prächtige Cultur-Roman C. v. Vincentis, „Die Tempelſtürmer Hocharabiens“,
der jene religiös-reformatoriſche Bewegung zum hiſtoriſchen Grundthema
vom arabiſchen Hochlande ausging und von ihren puritaniſchen Leitern
den greifbarſten Ausdruck durch die fanatiſche Wuth in der Zerſtörung
aller Prachtbauten des ſunitiſchen und ſchiitiſchen Islams fand. Die auf-
fallend herrlichen Detailbilder in dieſem Culturgemälde ſollen hier offenbar
nur den Ereigniſſen ſelbſt das nöthige Relief geben.
Conſequenz. Anſtatt die Eingeborenen mit Civiliſations-Experimenten zu
quälen, was dem Aſiaten ebenſo unerträglich wäre, als wenn man ihn
zwingen wollte, ſeine kleidſame Tracht abzulegen und ſich in europäiſche
Kleider zu ſtecken, ſchonte man ſorgfältig die Landesſitten und Gebräuche.
Anſtatt unklaren Schlagworten des Tages zu huldigen und ſich etwa damit
befaſſen zu wollen, die Civiliſation nach Oſten zu tragen, beſchränkte ſich
die Landesregierung darauf, Zucht und Ordnung zu halten. Den ein-
zelnen Stämmen blieben ihre alten Gewohnheiten und Lebensformen ge-
wahrt und die Adminiſtration lag allezeit zumeiſt in den Händen der
Eingeborenen. Zugleich aber, und das iſt das Wichtigſte, verfolgte die
Regierung den religiöſen Ueberzeugungen gegenüber ſtrengſte Neutralität
und läßt Jedermann nach ſeiner Art ſelig werden. Es iſt alſo durchaus
falſch, daß der ruſſiſche Gewinn in Kaukaſien nur eine beiſpielloſe Ver-
wüſtung nationalen Lebens ſei. (F. von Hellwald, „Die Erde und ihre
Völker“, II, 401.)
(Ueberſ. v. A. Seubert, a. a. O., 30.)
ſei“, den Bulgaren einfach ein Theil ihrer Grundſtücke weggenommen und
die Anſiedlung der Tſcherkeſſen noch dadurch erleichtert, daß man die Bul-
garen zwang, ihnen beim Aufbauen der Hütten behilflich zu ſein. Theil-
weiſe hatte man die Bulgaren ſogar aus ihren eigenen Häuſern an die Luft
geſetzt, um den angekommenen Tſcherkeſſen während der Zeit des Hüttenbaues
ein Aſyl zu geben, während man ſich um die einſtweilen obdachloſen Bul-
garen wenig beunruhigte. So fand man ſpäterhin die Colonien jener
kaukaſiſchen Einwanderer, von der ſerbiſchen Grenze angefangen bis nach
Schumla und Adrianopel, theils unter den ſtolzen Namen glorreicher
Sultane, als Medſchidieh, Osmanieh, Mahmudieh, Orchanjeh u. ſ. w.,
theils unter der einfachen Benennung Tſcherkeßköj — Tſcherkeſſendorf.
(v. Berg, a. a. O.)
Vicekönig von Egypten diesmal eine große Zahl von Emigranten zur
Coloniſirung des Nilthales herbeigezogen habe und daß eine oder zwei
Schiffsladungen dieſelben auch thatſächlich am Geſtade des Pharaonenlandes
abgeſetzt hätten. Es iſt nicht bekannt geworden, was an dieſer Nachricht
Wahres ſei; ein Glück für die armen Fellahs, die ohnedies den ungeheuer-
ihrer zügelloſen Barbarei wohl kaum geweſen. Daß der kaukaſiſche Aelpler
überdies in den Marſchen des Nildeltas eine ziemlich wunderliche Staffage
abgegeben hätte, wollen wir nur nebenher bemerken; viel draſtiſcher würde
ſich die Thatſache ausgenommen haben, dieſe, jeder Civiliſation unzugäng-
lichen Gurgelabſchneider im Schatten der Memnonsſtatuen und unter den
Sycomoren von Fayum auf uraltem Culturmoder wandeln zu ſehen.
Orient“, I, dann Flandin, „Voyage en Perse“, I.
a. a. O.).
Arnauten, mohammedaniſchen Kretenſern u. a. ehemals chriſtlichen Völkern,
die zum Islam übertraten, ſind auch die Lazen die erbittertſten Feinde
ihrer früheren Glaubensgenoſſen, und dieſer fanatiſche Haß trägt weſent-
lich dazu bei, daß Europäer auf das bedenkliche Vergnügen einer Durch-
forſchung Laziſtans verzichten, ſo intereſſant es wäre, endlich umfaſſendere
Aufklärungen über daſſelbe zu erhalten. Die Sprache der Lazen iſt nach
Dr. Roſen, der den erſten Andeutungen Klaproths (Asia polyglotta) gefolgt
iſt, ein Dialekt des georgiſchen Sprachſtammes, alſo das „Kartli“, welches
die ſogenannten „cartaliniſchen“ Völker des transkaukaſiſchen Tieflandes und
einzelne Bergvölker (wie die Swanen) ſprechen.
begriffen iſt, und trotz der verausgabten Millionen, nie weiter, als bis zur
Länge eines Flintenſchuſſes gebracht. (Der anonyme Autor in „Stambul
und das mod. Türkenthum“, I, 37.)
das ganze Van-Becken, den oberen Murad-Lauf, die Erzerumer Land-
ſchaften und ſelbſt bis zur Ebene von Diarbekr hinab, ſoll nach den
Verſicherungen einzelner Reiſender an Großartigkeit jedes Panorama in
den Alpen, Apenninen, Pyrenäen und im Balkan weitaus überbieten.
(Vgl. J. M. Kinneier, „Journey through Asia minor“ und bei Jaubert,
Voy. en Arménie . . a. a. O.)
„Vierzig Stufen“ — Keuch Vedavend — dreizehn Jahrhunderte alt ſein
ſoll. In ihrem Beſitze befindet ſich auch ein uraltes Pergament, das neue
Teſtament enthaltend, in allerlei Lumpen gehüllt, ohne aber augenſchein-
lich je geleſen zu werden, nicht einmal von den Prieſtern. (Southgate, bei
Ritter, „Erdkunde“, X, 677.) Die Kurden bewohnen nicht ſelbſt die
Stadt, drängen ſich aber mit Vorliebe, nachdem ſie die warme Jahreszeit
hindurch die Landſchaften ringsum heimgeſucht haben, in dieſelbe, um
gegen eine Taxe, „Kiſchlak Para“, zum Leidweſen der Bewohner Winter-
quartiere zu beziehen. Immer bewaffnet, mit Speer, Flinte und rundem
Schild, ſind ſie ſehr unwillkommene Gäſte.
ſehener Bau. Bitlis war während der großen Kurden-Rebellionen der
politiſche Mittelpunkt der Bewegung, bis Hafiz Paſcha von Diarbekr in
jenen Gebirgsgauen gründlich aufgeräumt hatte. Die Stadt ſteht überdies
auch in hohem Anſehen bei den Osmanen, welche deren Alter bis auf
Isfendiar oder Dulkarmenien zurückführen, eine Annahme, die wir auch
anderwärts in Türkiſch-Aſien, ſo zu Amaſia, wiederkehren ſehen. (Siehe
Anhang unter „Amaſia“.
block von 14 Fuß Höhe, Kiziltaſch genannt, den die Kurden als den Ver-
ſchlußſtein einer unterirdiſchen Schatzhöhle betrachten. Den räthſelhaften
Schatz ſelbſt benennen ſie nach der Semiramis (Mali Schemiram), wie
ja dieſe fabelhafte aſſyriſche Herrſcherin neben Nimrud allenthalben im
heutigen Kurdiſtan und ſüdlichen Armenien in Legenden und Traditionen
fortlebt. (Vgl. Schulz, „Mémoire sur le lac de Van etc.“, a. a. O.)
Ueber Vaſtan bei J. Brant, „Notes of a journey through a part of
Koordistan.“
bius regierte die jüngere Semiramis 17 Jahre (bis 768 v. Chr.), was
auch aus einem monumentalen Zeugniſſe im brittiſchen Muſeum, auf das
ſich Rawlinſon (im „Athenaeum“, Nr. 1381) beruft, unzweifelhaft hervor-
geht. Das fragliche Monument iſt eine gut erhaltene Statue des Gottes
Nebo aus Chala (Ninive) mit einer Inſchrift, nach der der Künſtler ſie ſeinem
Könige Phallukha (Ninos II.), und deſſen Gattin Samnuramit widmet.
vieler Mühe hat man ins Geſtein Treppen gehauen. Die Gemächer ſind
ſämmtlich in die Felsmaſſe eingehauen, enthalten aber im Inneren keiner-
lei Ornamente, wohl aber bemerkt man deren außerhalb. Von den drei
Terraſſen des Felsſockels führt die unterſte den Namen Khorkhor und hat
fünf größere oder kleinere Grotten-Gemächer. Den oberſten Theil nimmt
das eigentliche Schloß (Itſch-Kaleh, d. i. die „innere Burg“) ein und
zeichnet ſich beſonders durch ein Gemach von coloſſalen Dimenſionen aus.
Außerhalb der Mauern gelangt man durch eine Galerie auf ein künſtlich
der Felsmaſſe abgerungenes Plateau von 64 Fuß Länge und 18 Fuß
Breite. Nebenan geſtattet ein gewaltiges Portal Eintritt in einen, eben-
falls in den Felſen gehauenen Raum mit Wand-, Decken- und Boden-
Polituren von unnachahmlich vollendeter Arbeit, wahrſcheinlich eine Todten-
kammer. Namentlich hier ſind die nackten, äußeren Felswände mit zahl-
reichen Inſchriften bedeckt. (Schulz, Mémoire sur le lac de Van etc. . .
a. a. O. — K. Koch, „Die kaukaſiſchen Länder“, 175.)
vertheidigten tapfer ihre Päſſe. Zu Dſchumba am Zarbſtrome (der ſich
tief durch dieſe ganze Alpenmaſſe durchwindet, nur überſpannt von einigen
Brücken aus ſchwankem Flechtwerk) wurde der Bürgermeiſter (Malek)
Ismael mit zerſchoſſenem Schenkelbein vor den Wütherich geführt und als
er zuſammenbrach, rief der Kurde: „Warum ſetzt ſich der Ungläubige vor
mir nieder und wer iſt dieſer Hund, der es gewagt hat, das Blut wahrer
Gläubigen zu vergießen?“ — „O mir!“ erwiderte Malek Ismael, „dieſer
Arm hat nahezu zwanzig Kurden das Leben genommen und hätte Gott
mir das meine erhalten, wären noch ebenſoviel durch ihn gefallen! …“
Auf einen Wink Bedr-Khans ſchleppte man den Gefangenen an den Strom
und ſchnitt ihm den Kopf über dem Waſſer ab. Auch um einen Wort-
bruch mehr oder weniger kam es dieſem Rechtgläubigen und ſeinen Dienern
nicht an. Auf einer faſt unzugänglichen Bergplatte hatte der Kurde Zeiner
Beg einer daſelbſt zuſammengetriebenen Volksmenge auf den Koran ge-
ſchworen, ſie ſchonen zu wollen, wenn man die Waffen ausliefere. Kaum
aber war dies geſchehen, als die Metzelei begann. (Ganz wie im nörd-
lichen Thrakien im Bulgaren-Aufſtande 1876.) Zuletzt des Mordens müde,
zwangen die Kurden, tief im Blute ſtehend und mit dem Dolche in der
Hand, Alles was noch übrig war in den Abgrund zu ſpringen. (Layard,
Niniveh and ist Remains, I, 188, 209; bei J. Braun, „Gemälde ꝛc.“)
der armeniſche Biſchof von Muſch dem Patriarchen darüber Bericht er-
ſtattete, daß einige ſchlechte Individuen in die armeniſche Kirche dortſelbſt
eingedrungen ſeien und, einen Hund dem Prieſter in die Arme legend,
gefordert hätten, er ſolle ihn taufen. (Aug. „Allg. Ztg.“, Nr. 73, 1877.)
und zwar am compacteſten im Diſtricte von Djulamerk. Die Gemeinden
Dez, Baz, Dſchelo, Zeon, Tyari, Beitul-Schebab, Tſchall und Tohub zählen
zuſammen an 14,000 Häuſer, von denen drei Viertheile den Chriſten an-
gehören. (v. Zwiedinet, „Hiſtoriſch-geographiſche Notizen über den Neſtorianer-
Diſtrict Hakkiari“; Mitth. d. kk. geogr. Geſellſchaft, Wien, 1876. S. 82 u. ff.)
Thores, alſo im Oſten der Stadt. Der Volkswahn verlegt dahin Gold-
ſchätze, die unter einem „Khazane Kapuſſi“ (Thor zum Schatzhauſe) liegen
ſollen, deſſen eiſernes Gitter den Eingang zum Theſauros hindere. Zwei
Männer mit Flammenſchwertern bewachen den Eingang; jede Nacht lagere
ſich eine große Schlange vor dem Talisman (der Inſcription), ziehe ſich
aber bei Sonnenaufgang durch ein Loch zur Rechten in das Innere der
Grotte zurück … Weiters ſoll unter dem, nur eine Stunde im Oſten
der Stadt ſich erhebenden Hügel Zemzen-Tepe eine Stadt der Divs
(Geſpenſter) vergraben liegen. Nur zwei Mittel ſoll es geben, ſie zu er-
reichen: wenn man den Talisman entziffert, oder den ſiebenten Tag nach
Oſtern, oder das Johannisfeſt abwartet, weil ſich die Felspforten an dieſen
Tagen auf kurze Zeit von ſelbſt öffnen. Im Innern des Berges läßt der
verzauberte Hahn ſein Geſchrei ertönen. (Vgl. Schulz, Mémoire etc. . . a. a. O.)
Politur, noch vollkommen lesbar. Mitten zwiſchen den Inſchriftencolonnen
ſieht man den König ſelbſt, wie er den Fuß auf den Leib eines am Boden
liegenden Rebellen ſetzt, und neun andere, von Hals zu Hals gefeſſelt,
ſtehen gebeugt, mit zurückgebundenen Händen, vor ihm. Darüber ſchwebt,
heit. Das Ganze mag wohl das großartigſte hiſtoriſche Denkmal der
Welt ſein. (J. Braun, „Hiſtoriſche Landſchaften“, 269.)
vätern in ebenſoviele Theile oder Landſchaften (Diar). Dieſe drei waren
die beiden Söhne Neſars, die Rebia und Maſar hießen, und Bekr, dem
Sohne Wails. Bekr ließ ſich im nördlichſten Theile Meſopotamiens nieder,
dem Gebirgslande, das nach ihm den Namen erhielt. (Vgl. Hammer-
Purgſtall, „Geſch. d. osm. Reiches“, II, 455 u. ff.)
Gebiete des Eufrat und Tigris ꝛc.“, Petermanns Mittheilungen, Ergänzhft.
Nr. 45, S. 20, 21.
religiöſer Zerknirſchungswuth die brutalſte Gemüthsverhärtung gegen die
Mitmenſchen ſich vereinigen kann. Er, der in Klein-Aſien 40,000 Schiiten
umbringen oder ins Gefängniß werfen ließ, wagte nicht einen der in der
Moſchee zu Damaskus lagernden Heiligen Scheichs zuerſt anzureden (Vgl.
Jouannin, „Turquie“, 114); er, der zu Cairo alle Mameluken (viele
Hunderte) köpfen ließ, die auf ſein Amneſtie-Verſprechen ſich geſtellt hatten,
ließ in der Asharmoſchee die Teppiche aus Demuth wegnehmen, ſchlug die
Platten mit ſeiner Stirne und netzte ſie mit Thränen. Am Libanonfelſen,
auf der Küſte bei Beirut, wo Ramſes-Seſoſtris und Sanherib ſich einge-
ſchrieben, durfte auch Selim ſeine Denktafel hinterlaſſen. (Bei Braun,
„Gem. d. m. Welt“, 389).
Höſſn Keif (das Schloß der guten Laune), deſſen Erbherr Chalil, der
Ejubide und Schwager Schah Ismails, der letzte Sproſſe jenes Kurden-
geſchlechtes war, aus dem Sultan Saladin hervorgegangen war. (Hammer-
Purgſtall, a. a. O., II, 459.)
255—266, 271—287.
kunde“, XI, 141.)
über die Kurdenpopulation innerhalb der türkiſchen Reichsgrenzen finden
ſich in dem Stambuler officiellen Staats-Kalender (Salnamé), die jedoch
keineswegs verläßlich ſind. Der engliſche Conſul Taylor beziffert die in
Armenien wohnenden Kurden auf 544,000, von denen 357,000 Moham-
medaner, der Reſt Sectirer ſind; im Vilajete Diarbekr belaufen ſich, nach
demſelben Berichterſtatter, die Kurden auf 540,000, wodurch beide Länder
zuſammen allein für ſich ſchon die Million überſchreiten würden, die übrigen
Kurdenſtämme aus den Provinzen Sivas, Angora, Konja, Adana, Aleppo
und Bagdad ungerechnet. (Vgl. Helle, „Die Völker des osmaniſchen
Reiches“, 97 u. 99.)
Babylon“, 94; bei Braun ꝛc.)
einer anderen Bevölkerungsmaſſe (der arabiſchen) war zweifellos der erſte
Zufluchtsort der Jeziden, und ſo ward es mit der Zeit kurdiſch, obgleich
nicht nur jezidiſche Kurden allein daſelbſt eine Heimſtätte fanden. Von
den fünf Hauptſtämmen der Kabarieh, Schehanieh, Dſchenudſcheh, Cham-
kieh und Denädi ſind die erſten zwei moslemiſch, die übrigen jezidiſch.
Die Jeziden-Stämme aber waren es, welche viele Jahrzehnte hindurch die
Karawanenwege zwiſchen Moſul und Niſibin, denen zur Seite das Sindjar-
Gebirge liegt, hochgradig unſicher machten, und ſo entſchloß ſich — 1837
— Reſchid Paſcha zu ihrer Züchtigung auszuziehen. Die Strafe war
eine beiſpiellos harte, aber zum Theil eine wohlverdiente. Die Jeziden
hatten ihre weißen Steinhütten (von prachtvollen Feigengärten umgeben)
verlaſſen und waren in die Höhlen des Gebirges geflüchtet, wo ſie den
Türken einen blutigen Empfang bereiteten. Nach ihrer Bezwingung
flüchtete ein großer Theil nach der Oaſe el Hadr (die antike Hatra) im
Südoſten zu den ihnen befreundeten Schamar-Beduinen.
bei Petermann, „Reiſen“, II, 331.)
ſo hat vorerſt Rußland ſeine alte Politik neuerdings befolgt, wie voraus-
zuſetzen war, zu ſeinem abermaligen Schaden. (Vgl. Oben, S. 6.) Scheich
Huſſein Bey, ein Abkömmling der perſiſchen Sofi-Dynaſtie, deſſen Vor-
fahren vor 200 Jahren aus Perſien ausgewandert waren und ſich in der
Nähe von Erzingian niederließen, um ſeitdem als Häuptlinge eine völlig
unabhängige Stellung zu behaupten, kam drei Monate vor der ruſſiſchen
Kriegserklärung nach Erzerum und verſprach dem damaligen Gouverneur,
Samih Paſcha, 10,000 Mann kurdiſcher Cavallerie. Unter dieſem Vor-
wande rüſtete er ſeine Truppen aus, kaum aber war die Nachricht vom
Fall Ardaghans bekannt, als er ſich an der Spitze ſeiner 10,000 Kurden
für völlig unabhängig erklärte. Nun machte man ruſſiſcherſeits — ſo hieß
es in eingeweihten Kreiſen — alle erdenklichen Anſtrengungen, um neben
anderen Stämmen auch die des Scheich Huſſein für die Sache der Ruſſen
zu gewinnen, und thatſächlich beſetzte auch der Kurden-Häuptling Gheko
den Engpaß von Dſchibidſchi-Boghas weſtwärts von Erzerum. Aber auf
General Heymanns Rath — ſo hieß es weiter — wurden den neuen
Waffenbrüdern die nöthigen Subſidien vorbehalten, und ſo fielen ſie wieder
ab. Im Monat Juli (1877) ließ General Loris-Melikoff ein Urtheil des
Kriegsgerichtes vollſtrecken, wodurch Ejub-Aga, der Sohn des Chefs der
Kurden, welche unter ruſſiſcher Herrſchaft ſtehen, und 21 Mitglieder der
angeſehenſten kurdiſchen Familien kurzweg gehenkt wurden. Man ſagte,
daß Ejubs Treuloſigkeit hauptſächlich Schuld an der damaligen rückgängigen
Bewegung der Ruſſen ſeit der Schlacht von Zewin war … Andererſeits
ſcheint auch die Pforte wenig Glück mit den Kurden gehabt zu haben.
Scheich Ubeidullah hatte zwar geſchworen, 50,000 Reiter ins Feld zu
ſtellen, aber er brachte keine 3000 zuſammen. Desgleichen verließen Mitte
Auguſt (d. J.) 5000 Kurden das Corps Ismail Paſchas, um die bei Van
gelegenen, vom perſiſchen Kurden-Chef Ali Khan angegriffenen heimat-
lichen Ortſchaften zu vertheidigen. Auch die Berg-Kurden von Buhtan
revoltirten um dieſe Zeit, wurden aber bald zu Paaren getrieben. Die
Oſt-Kurden hingegen verhielten ſich zu allen Ereigniſſen völlig theilnahmlos.
J. Brant, „Jvurney l. c. ꝛc.“ bei Ritter, a. a. O.
dieſem hatten die Mauern eine Höhe von 20 Ellen, bei einer Dicke von
10 Ellen, die gegen die Zinnen bis auf 6 Ellen abnahm. Jeder einzelne
Quader war ein coloſſaler Block; die ſieben Thore waren durch ſtarke
eiſerne Thüren verſperrt, u. ſ. w.
10,000 Kinder aus der Welt ſchaffen. Die große Moſchee, welche dem
Kadi als Zufluchtsort angewieſen wurde, füllte ſich nach und nach mit
30,000 Flüchtlingen. Sie wurde, als Niemand mehr darin Aufnahme
finden konnte, von den Tartaren mit Holz zugebaut und den Flammen
übergeben. (Braun, a. a. O., 127.)
allen vier Hauptrichtungen, welche er bei den im ganzen Kaukaſus, Ar-
menien und Nordperſien geodätiſch orientirten Gebirgserhebungen ermittelte.
Im großen Kaukaſus betheiligten ſich vornehmlich nur zwei dieſer Er-
hebungsrichtungen, die O.-W. und die SO.-NW., deren Schneidungswinkel
im Mittel zu 25° ſich erweiſt. Dieſe beiden vorwaltenden Richtungen der
Hebungen bedingten zunächſt die mächtig in die Länge gezogene Geſammt-
form des großen Kaukaſus. In Armenien und Nordperſien macht ſich
gleichzeitig mit dem Wachſen des Schneidungswinkels der erwähnten Rich-
tungen bis auf 32° der Eingriff vulkaniſcher Axen S.-N. und SW.-NO.
geltend, welche, wie jene bei den erſteren, gekrönt ſind durch die in gereihter
Anordnung aufgeſetzten Eruptionskegel. (Radde, „Vier Vorträge über
den Kaukaſus“ in Petermanns geographiſchen Mittheilungen, Ergänzungs-
heft Nr. 36, 12.) —
Am Ararat gelangt die vulkaniſche Thätigkeit ganz eigenthümlich zum
Ausdrucke. Zunächſt ſtauten ſich die Lavawellen gegen die Tertiärbank
im flachen Araxesthale und erſtarrten zu einem faſt ſchwarzen Klippen-
meere. Von dieſer ſeiner Baſis baute ſich aber der regelmäßige Kegelcoloß
zum Himmelsgewölbe auf.
den Kalim dem Vater ſeiner Braut und der reiche Armenier am Araxes
zählt nach Tauſenden die Pappelſtämme, welche den Canälen entlang in
mehreren Reihen nebeneinander gepflanzt werden und die bei raſchem
Wuchſe ſchon im achten Jahre einzeln den Werth von drei bis vier Rubeln
repräſentiren (Ebd.)
O., 20.)
Bei Trapezunt iſt die Rebe zwar noch klein und durch das Meſſer
gezähmt, auf den Höhen aber entwächſt ſie aller Zucht. Mit kleinbeerigen
Trauben kriecht ſie über Felſen, ſchwingt ſich über den Erdſpalt und
wuchert unbändigen Triebes noch mitten im Dornbuſch. Aber ſie buhlt
umſonſt; Niemand ſtreckt bei dem Ueberfluß die Hand nach ihren ſüßen
Früchten aus. (Fallmerayer, „Fragmente aus d. Orient“, 94.)
rennen, kommen ſie vom Blumenſtaub gelb gefärbt zurück. (Layard,
„Niniveh and its Rem., I, 78“.) Da die Canäle aber aufgehört haben
ihren Dienſt zu thun, wird im Sommer eine brennende Wüſte daraus
und ſtatt der Millionen, die einſt hier lebten, trifft man hin und wieder
ein Dorf mit einigen hundert diebiſchen Arabern, Türken und Kurden.
(Bei Braun, „Gemälde ꝛc.“, 187.)
gepeitſcht, die ſpirigen abgebrochenen Pflanzenleichen dahinjagen. Dann
rollen ſie ſich zu mächtigen Kugelformen zuſammen, hüpfen und ſpringen
in kurzen und großen Abſätzen über die ſchwarze Erde, welche durch die
Sonnenhitze in unzählige Riſſe barſt. Es iſt ein wahrer Hexentanz.
Nicht im unheimlichen Dunkel der Waldeinſamkeit, am Unkenteiche, nicht
im Felſenreiche des Brockens ſpielt das großartige Naturballet. Das iſt
Alles viel zu eng. Die unendliche Steppe lieh den Boden und der uner-
meßliche Himmel wurde zur beweglichen Couliſſe. (Radde, a. a. O., 29,)
Die Stadt iſt einer der Hauptſitze der neſtorianiſchen Chriſten, doch haben
verſchiedene Miſſionsanſtalten mit der Zeit erhebliche Fortſchritte in ihrem
vermeintlichen Bekehrerwerke gemacht. Am meiſten geeignet zu dieſem
Berufe ſollen die amerikaniſchen Miſſionäre ſein; ſie ſind in der Regel
nicht nur kenntnißreich, ſondern beſitzen auch eine auffallend geſunde Leibes-
conſtitution, zwei durchaus nothwendige Eigenſchaften, um unter Aſiaten
zu leben. Einen Hauptvortheil haben ſie dadurch voraus, daß ſie bei der
Bekehrung nicht gleich mit der Bibel und mit den Glaubensſätzen beginnen,
ſondern den Leuten, die an ihrem Unterrichte theilnehmen, erſt ſoviel
Bildung und Kenntniſſe beizubringen juchen, daß ſie im Stande ſind, die
chriſtliche Religion ihrem ganzen Weſen nach zu erfaſſen. (Wilbraham,
bei Koch, „Kaukaſ. Länd.“, 185.)
Völker aus dem rauhen Norden über den Paropamiſus (Hindu-Kuh) ge-
ſtiegen, um ſich verheerend über die Fluren Indiens zu wälzen, für eine
Zeit zu den Trägern der Cultur emporzuſchwingen und ſpäter von anderen
nachdrängenden Völkern erdrückt zu werden. Durch Jahrhunderte ver-
mittelten die Straßenzüge über den Hindu-Kuh faſt ausſchließlich den
oſt-weſtlichen Handelsverkehr zwiſchen den Völkern am Ganges und Indus
und jenen am Eufrat und Tigris, und ſelbſt in der neueſten Geſchichte
ſind die Bamian- und Cheuber-Päſſe zwiſchen Balch, Khabul und Peſchawer
vielgenannte Schauplätze der kriegeriſchen Ereigniſſe zwiſchen den Englän-
dern und den wilden, tapferen Bergvölkern Afghaniſtans. (v. Hochſtetter,
„Aſien ꝛc.“, 9 u. ff.
lahrtheit. In den zahlreichen Medreſſen dieſer Stadt wuchert die zweifel-
haft werthvolle religiöſe Gelehrſamkeit wild und mancher der Gottbe-
gnadeten hat es ſo weit gebracht, daß er ſelbſt „während des Schnarchens
nur an Gott und die Unſterblichkeit der Seele denkt“. Religiöſe Stimmung
herrſcht auch an den Erholungsplätzen, z. B. an einem großen mit Stufen
umgebenen Teichſpiegel, der auf drei Seiten Ulmen und Theebuden (auch
Einladung zu unnatürlichem Laſter), auf der vierten eine Moſchee hat.
(Vámbéry, „Reiſe in Mittelaſien“; v. Hellwald „Centralaſien“, 374.)
Das Land fällt ſtufenförmig ab, jede Stufenfläche von einer gewaltigen
Gebirgskette getragen. Nur ſteile Zickzackpfade an himmelhohen Felſen
und über entſprechend tiefen Abgründen führen hindurch und hinüber
auf eine erſte Stufe, wo immer noch Palmen ſtehen (bei den Ruinen aus
der Saſſanidenzeit zu Kazerun, Schahpur ꝛc.). Abermals folgen Gebirgs-
pfeiler mit einem Paß, wo man hinter ſeinem Maulthiere klettern muß,
und ein zweiter noch höherer, bevor die Thalſtufe von Schiras ſich auf-
thut. Noch eine Stufe höher liegt Perſepolis; höher hinauf hört auch der
Anbau auf und findet nur noch Heerdentrieb ſtatt. (Vgl. Braun, „Hi-
ſtoriſche Landſchaften“, 263.)
eigentlich von ſeinem viel bedeutenderen Großvater Nuſchirwan angebahnt
wurde. Mohammed ſelber ſoll ſich glücklich geſchätzt haben, daß er ge-
boren wurde, als ein ſo großer König auf dem Throne ſaß. In der
biſchen Eroberer (Saad Ibn Abu Wakkaß) angeblich Schätze von ganz unglaub-
lichem Werthe. Neben dem berühmten Throne war es namentlich ein
coloſſaler Teppich mit buntſchimmerndem Saum, das Paradies vorſtellend,
mit Blumen von Edelſteinen und goldenem Laubwerk. Man hatte das
koſtbare Beuteſtück für Omar, den Chalifen, beſtimmt, dieſer aber, im
Glauben, nicht Alles für ſich allein behalten zu ſollen, zerſchnitt den
Teppich eigenhändig um die einzelnen Stücke zu Medina unter die Parti-
ſanen des Islams zu vertheilen. Alis Theil ſoll hiebei noch immer
10,000 Silberſtücke werth geweſen ſein (Vgl. Weil, „Geſchichte der Chalifen“,
I, a. a. O.)
blühen und gedeihen kann, auch ohne chriſtlich oder mohammedaniſch zu
ſein. Als Nuſchirwan einſt krank war, heißt es, und eine Arznei aus
zerſtampften Ziegelſteinen eines zerſtörten Dorfes ſeines Reiches ihm ver-
ordnet wurde, kamen die ausgeſandten Boten unverrichteter Sache wieder,
denn es gab kein zerſtörtes Dorf im damaligen Saſſanidenreiche.
ihm und den übrigen Fremden, eine Verkehrsart, die ſich um ſo leichter
geſtaltet, als die Armenier (namentlich in den übrigen Provinzen) die
türkiſche Sprache bis zum Vergeſſen ihrer eigenen angenommen haben.
Aber auch mehrere andere Idiome noch werden von der Mehrzahl der
Armenier erlernt, da ſich mit ihrer Mutterſprache faſt nie Jemand beſchäftigt.
(v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 50.)
den Augen der türkiſchen Gewalthaber als reich zu gelten, beweiſen zahl-
reiche barbariſche Acte gegenüber den Beſitzenden. Wenn irgend einem
Sultane nach dem Gelde dieſes oder jenes reichen Armeniers gelüſtete, ſo
wo die Afghanen, nach Uebergabe der Stadt durch den feigen Schah Huſſein,
eine ſehr bedeutende Beute an koſtbaren Schätzen machten, die für die
Betroffenen freilich leichter zu verſchmerzen geweſen wären, als die 60
ſchönſten Jungfrauen, die ſie dem brutalen Sieger ausliefern mußten. (Ver-
gleiche Malcolm, „Geſch. v. Perſien,“ I, 437.)
bungen der armeniſchen Colonie zu Smyrna und die geiſtige Bewegung
welche ſich neuerdings unter den Armeniern Conſtantinopels geltend macht.
Dort hat der Gedanke, das nationale Element der Erziehung zu heben
und zu fördern, beſonders in der jüngeren Generation, kräftige Anregung
dieſer Opfer der Habſucht lieſt man aber zu Stambul heute noch die er-
baulichſten Dinge, wie: „Hier ruhen die ſterblichen Ueberreſte von Erganyan
Aretin, Banquier der hohen Pforte. Seine Tugenden waren ſtrahlend
wie Gold; ſeine Mildthätigkeit fand keine Grenzen und ſein Wort war
unverletzlich. Er verabſchiedete ſich von ſeinen Getreuen und Lieben am
7. Juli 1795, vertrauend auf Gottes Gnade und die Hand ſegnend, die
ihm das Paradies erſchloß.“ Da darüber das Bild eines Enthaupteten
dargeſtellt iſt, ſo wird man begreifen, wie wenig dieſe Beförderung in die
Herrlichkeiten des Jenſeits im Geſchmacke des Juſtificirten geweſen ſein
mag. Auf der Ruheſtätte eines gewiſſen Azmavorian (im Friedhofe zu
Pera) iſt das Bild eines Gehängten angebracht, mit der ſchönen Unterſchrift:
„Engel ſtreckten nach ihm ihre Hände, als der kaiſerliche Wille ſeine Func-
tionen (als Director der Münze) für beendet erklärte.“ (White, „Three
years in Constantinople“, I, 104 u. ff.)
deſſen Beſitze ſich die beneidetſte Reliquie, die „rechte Hand“ St. Gregors
befand. Sie hat in der erſten Zeit die wunderbarſten Wanderungen ge-
macht: von Etſchmiadſin nach Aghthamar, von da nach Rumkaleh und
Sis, dann mit den Kriegszerſtörungen in Cilicien nach Egypten, endlich
im 15. Jahrhundert abermals nach Etſchmiadſin und Aghthamar, ſchließlich
durch Schah Abbas nach Neu-Dſchulfa (bei Ispahan), bis ſie zuletzt wieder
dauernd nach Etſchmiadſin kam. Daß ſich die Streitigkeiten der armeniſchen
Patriarchate durch Jahrhunderte um dieſe vermeintliche „rechte Hand“
Gregors drehen konnten, iſt bezeichnend genug für die Ignoranz und un-
chriſtliche Abgötterei der armeniſchen Hierarchie…
iſt gewiß ein erfreuliches Zeichen, wie ſehr man den entwickelten und
gehobenen Schulunterricht zu würdigen weiß. (Vergl. C. v. Scherzer,
„Smyrna“, 68.)
Effendi klarlegen zu müſſen, daß die Erleichterungen des Papſtes (dieſes
„Schweines“) gegenüber dem armeniſchen Ritus zunächſt eine für das
ottomaniſche Reich ſtaatsgefährliche Conſequenz nach ſich ziehen müßten,
da die katholiſchen Regierungen des Abendlandes, durch die Vergrößerung
und Vermehrung katholiſcher Unterthanen der Pforte, bei geeigneten An-
läſſen auch deren Intervention leichter herbeiführen könnten. Gleichwol
ſollte der Patriarch eine arge Enttäuſchung erleben, als er aus der Aus-
weiſung der katholiſchen Armenier Gewinn ziehen wollte. Chosrew Paſcha
ließ ihn nämlich zu ſich beſcheiden, um ihm zu bedeuten, daß, wenn der
Pforte an der Bekehrung der Katholiken gelegen wäre, ſie ſelbe zum Is-
lam übertreten ließe, nicht aber „von einer ſchlechten Religion zu einer
ebenſo ſchlechten“. (Vgl. Roſen, „Geſch. d. Türkei“ I, 59 u. ff.)
wie Eskiſchehr, Siwrihiſſar, Sögüd, Beibazar u. A., Niederlaſſungen, die
dem Reiſenden ſchon dadurch eine Erquickung bieten, daß ſie wie unver-
hofft aus ihrem Gartengrün hervortauchen.
mit ihren orgiaſtiſchen Cultusſitten zur Ehre der Göttermutter Kybele, iſt
uns gänzlich unbekannt geblieben. Auf der Burg von Gordium ſtand
der bekannte alterthümlich rohe Wagen der phrygiſchen Urkönige, Joch
und Deichſel ſo kunſtvoll durch ein Band aus Baumbaſt miteinander ver-
bunden, daß Alexander der Große, wie die Mythe geht, keine andere
Löſung fand, als den Knoten mit dem Schwerte entzwei zu hauen.
(J. Braun, „Hiſtoriſche Landſchaften“, 197.)
menten und einer coloſſalen Niſche, in der ganz unten die Oeffnungen zu
den Grabkammern liegen. Dieſer Eingang war vermuthlich einſt durch
einen Felsblock geſchloſſen, iſt aber heute nicht mehr vorhanden. Die In-
ſchriften im Innern, welche mitunter ganz eigenthümliche, ungekannte
Charaktere enthalten, ſind durch Verwitterung des Geſteins unleſerlich
geworden (ſtellenweiſe von turkmeniſchen Hirten auch übertüncht), Pilaſter,
Voluten und andere architektoniſche Details aber noch allenthalben er-
halten. (Vgl. Texier, „Asie Mineure“, pl. 56, ꝛc.)
Höhepunkt und die Blütheepoche der Türkenherrſchaft in Aſien. Der
Wezier Nizam Almulk war die Seele all’ jener ſtaatlichen Einrichtungen
und bürgerlichen Schöpfungen, wie ſie der mohammedaniſche Orient höchſtens
noch unter den Chalifen gekannt. Im Uebrigen gab es zwei ſeldſchukidiſche
Herrſcherfamilien, von denen die öſtliche, das iſt jene, welche das Bagdader
Chalifat inne hatte, bereits 1258 durch die Mongolen unter Hulagu
Khan, Dſchengiskhans Enkel, ihr Ende fand. Ueber den Gründer dieſer
Dynaſtie gehen die Meinungen ein wenig auseinander, indem die Einen
denſelben (Seldjuk) als einen Statthalter des Fürſten von Khoraſſan, die
Andern ihn als das mächtige, allvermögende Haupt eines ſelbſtſtändigen
Tribus bezeichnen (Vgl. J. David „Syrie Moderne“, p. 216), vor dem
ſelbſt die Herrſcher am Oxus und Indus gelinden Reſpect hatten. Bereits
Alp-Arzlan begann ſeine Herrſchaft damit, daß er an ſeinem Hofe Poeten.
Philoſophen und alle Männer von Geiſt und Wiſſen verſammelte, ohne
deshalb von ſeinem Kriegsruhme und ſeinen Feldherrngaben etwas einzu-
büßen. Derlei war immerdar möglich, wo ehrliche und kräftige Beſtre-
bungen über die Corruption den Sieg davon trugen, und auch die Os-
maniden haben dies bewieſen, freilich durch nur ſehr kurze Zeit.
hier und in der Provinz ausgehobenen Recruten wird ganz Aehnliches
Exiſtenz vergeſſen zu machen, genießt der aſiatiſche Soldat nach Kräften
das verderbliche Haſchiſch oder Opium. Beinahe jeder der Soldaten, die
in den letzten Krieg zogen und von Anatolien kamen, führte eine ziemliche
Quantität dieſer Betäubungsmittel mit ſich. („Allgemeine Zeitung“ 1877,
Nr. 61).
die erſten energiſchen Feindſeligkeiten der Osmanen gegen das byzantiniſche
Reich begannen (1298). Vgl. W. Ainsworth, „Trav. and Res.“ II, 54.
tigen“, ein herrliches Bauwerk ſaraceniſchen Styles. Stolz, wie ſein
Leben und Wirken, mahnt auch dies Monument an den verſchollenen
Glanz des ruhmreichſten aller Sultane. Neben dieſer Grabſtätte iſt zu-
nächſt jene Mohammeds II. hervorzuheben, eigentlich ein ganzes Gebäude,
von den größten Dimenſionen. Nicht weit hievon mahnen uns allerlei
Attribute und zierliche Embleme an ein erlauchtes Frauengrab. Hier
ruht Ailima, eine jener ſeltenen Zauber-Erſcheinungen des Oſtens; ſie war
die Gattin Murads II. Die in zahlreichen nationalen Poeſien fortlebende
Sultanin ſoll ein Wunder an Schönheit und Gelehrſamkeit geweſen ſein,
da aber der zierliche Käfig, der das weibliche Kleinod einſchließt, ſtumm
iſt, ſo mag man den unterſchiedlichen Panegyrikern nach Gutdünken Glauben
ſchenken. Neben der Moſchee Bajazids II. liegt eine zweite, in den Tra-
ditionen der Türken hochgeehrte und vielgefeierte Frau, die Mutter des
genannten Sultans, Gül-Bahar, d. i.: „Frühlingsroſe“. Selim I., der
Eroberer Syriens und Egyptens, der die Janitſcharen zuerſt über den
Taurus nach den geſegneten Gebieten Meſopotamiens geführt und nach
einem unvergleichlichen Eroberungszuge bis an die Marken des „ſchwarzen
Continentes“ gelangte, dieſer grauſame, aber tapfere Beherrſcher der Os-
manen fand ſeine Ruheſtätte neben der Moſchee, der er als ihr Gründer
ſeinen Namen gegeben. Unter dem geſchweiften Dache, über das ſich
Platanenkronen beugen, ruht er allein — wie er im Leben allein ohne
Freunde geſtanden … Im maſſiven und geräumigen Mauſoleum der
Moſchee Achmed I. finden wir eine ganze Reihe prächtiger Marmor-
Sarkophage. Hier ruht Osman II., der von den Janitſcharen erdroſſelt
wurde, und Murad IV., der 1640 eines natürlichen Todes ſtarb; ferner
älteren Bruder (Osman II.), der andere von ſeinem jüngeren Bruder
Muſtafa umgebracht wurde. Auch in der Aja-Sofia wuchern nur düſtere
Erinnerungen. Dort haben ſich mit der Zeit zum ewigen Schlafe die
erbittertſten Feinde zuſammengefunden. Selim II. ruht neben Nur-Banu
der Frau ſeines Sohnes Murad. Nebenan ſchlummern ſiebenzehn
Brüder, die Mahommed III., in der ſteten Furcht von ihnen verdrängt
und ſeines Thrones beraubt zu werden, grauſam hinwürgen ließ. Nicht
weit von dieſem unheimlichen Denkmale morgenländiſcher Deſpotenwirthſchaf,
liegt das Marmor-Mauſoleum Muſtafa I. Unter ſeinem Kuppeldache
ruhen Vater und Sohn, die beide eines gewaltſamen Todes ſtarben. Nicht
weit von der Ruheſtätte des unglücklichen Selim III., ſtoßen wir auf jene
Mahmuds II., der jüngſten von allen. Es iſt ganz aus weißem Marmor
und das Innere erhält Licht durch ſieben große, mit vergoldeten Gittern
geſchloſſene Fenſter. Das Innere iſt — mit Sophas, Armſeſſeln, ſeidenen
Draperien, ja ſogar mit Uhren ausgeſchmückt, ſo daß man glaubt, ſich in
einem Salon, nicht aber in einer Gruft zu befinden. Auf dem gewaltigen
Sarkophage ruht das mit einer Feder geſchmückte Fez des Sultans.
und Bibelverſe an den Wänden der Kirchen, um darauf zu ſchreiben, daß
es nur einen Gott und ſeinen Propheten Mohammed gebe, im Uebrigen
aber war Orchan großmüthig gegen die Beſiegten, überaus wohlthätig
gegen die Armen und gründete eben hier außer einer Studienanſtalt auch
ein Armenhaus, worin er zur Eröffnung ſelber die Lampen anzündete und
die Speiſen vertheilte (Nach Jouannin, „Turquie“, bei Braun, a. a. O. 373).
Vgl. J. David, „Syrie moderne“, 355 u. ff.
from the Inscriptions, was merely the common title of the commander
of the Assyrian armies.
Kuh mit der Weiſung, wo ſich dieſelbe niederlege, eine Stadt zu gründen.
Ilos befolgte dies. Die Kuh ging vor ihm her und legte ſich endlich in
Troas nieder. An dieſer Stelle nun legte er eine Stadt an, welche er
nach ſich, d. h. nach dem aſſyriſchen Gotte Il, Ilion benannte. Wir haben
alſo hier eine ausdrückliche Ueberlieferung in der griechiſchen Sage ſelbſt
von aſſyriſcher Gründung. (J. Kruger, „Geſch. der Aſſyrier und Ira-
nier“, 210.)
polis eine höchſt wichtige militäriſche Etappe auf dem Wege von der
früheren Reſidenz nach Adrianopel erblickt. Um ſo blinder verhielt ſich
dem Verluſte dieſes Hafen- und Sperrpunktes gegenüber Joannes Paläo-
logos, welcher der Meinung war, „einen Schweineſtall“ verloren zu haben,
an deſſen Beſitz nichts gelegen ſei. Thatſächlich aber ſtand dem damaligen
Osman mit der Eroberung des von Seite der Byzantiner mit ſo großer
Geringſchätzung behandelten Platzes ganz Thrakien offen und wie die Ge-
ſchichte lehrt, fand Murad I. auf ſeinem Zuge nach Adrianopel kein Hin-
derniß mehr, das ſeiner Eroberung hätte Schranken ſetzen können.
Umzug, aber, wie die Sitte erforderte, ohne Waffen, und erklärte laut,
wie er dieſen Achilleus um ſeinen Freund im Leben und den Herold
(Homer) beneide, den er im Tod gefunden. Alexander aber mußte ſich
mit einem Chörilos begnügen, dem er Goldſtücke für gute Verſe, Ohrfeigen
für ſchlechte gab und den er verſicherte, er möchte lieber der Therſites
Homers, als der Achill des Chörilos ſein. (J. Braun, „Hiſtoriſche Land-
ſchaften“, 184.)
forſcher, wie Welcker, Curtius u. A. halten noch immer zur alten Anſicht.
(Vgl. Gelzer, „Eine Wanderung nach Troja“, 19. — Hertel, „Troja und
Ithaka“, a. a. O. „Wiener Abendpoſt“ Nr. 65, 1877.) Ueber die Iden-
tität der Oertlichkeit von Ilion und Neu-Ilion, bei J. Braun, „Geſchichte
der Kunſt“, II, 206.
Folge eines Traumgeſichtes, am Fuße des Berges Pagos für deren
Wiederaufbau erwählte, nachdem die urſprünglich auf der nordöſtlichen
Seite der Bucht gelegene und der Sage nach von einer Amazone ge-
gründete, durch Alyattes, dem Könige der Lydier, aber zerſtört worden
gelebt hatten. Gräber, dem alten Smyrna (türkiſch: Ismir) angehörend,
darunter das ſogenannte Grab des Tantalus, finden ſich noch am Süd-
abhange der Vorberge des Ismanlar-Dagh. Die Ausführung von Alexanders
Plan wurde erſt von Antigonus begonnen und durch Lyſimachos voll-
endet. (J. Seiff, „Reiſen i. d. aſiat. Türkei“, 350.)
bei Epheſos über die Waſſerſcheide, um den Mäander hinauf bis Aidin
weiter zu gehen. Dieſelbe hat eine Länge von 82¼ engliſche Meilen und
wurde von Engländern mit engliſchem Geld, und zwar dermaßen koſt-
ſpielig gebaut, daß das Unternehmen, trotz des beträchtlichen Verkehrs
bisher nicht einmal noch die Zinſen zu decken vermochte. Die türkiſche
Regierung, welche eine jährliche Minimal-Einnahme von 120,000 Pfd.
Sterl. (6 % des Anlage-Capitals) garantirte, iſt daher genöthigt, jährlich
einen ſehr bedeutenden Zuſchuß, nämlich mehr als 92,000 Pfd. Sterl. zu
leiſten. (C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 85.)
Literaturblüthe herniederſteigen möchte, er würde ſein Antlitz vor tief
innerlichem Schmerze verhüllen, ob des verkommenen intellectuellen Zu-
ſtandes, in welchem ſich jetzt die Nachfolger des Propheten zum großen
Theile befinden. Das, was den Blutumlauf des ſtaatlichen und geſell-
ſchaftlichen Organismus friſch, geſund und unverdorben erhält, ein ratio-
nelles Unterrichts- und Erziehungsſyſtem, iſt da kaum dem Namen nach
bekannt. Wohl fehlt es nicht an geſetzlichen, das öffentliche Schulweſen
regelnden Anordnungen, auch nicht an vereinzelten Verſuchen, dem auf-
leuchtenden Bildungsbedürfniſſe beſonders in den höheren Volksſchichten
entgegenzukommen; aber bei den eigenthümlichen Geſichtspunkten in
Vorausſetzungen, auf welchen alles Denken und Empfinden der Moslims
beruht, bei der Abweſenheit alles deſſen, was zur ſittlichen Aufrichtung
und innern Feſtigung des Familienlebens unabweislich erſcheint, muß
jeder noch ſo wohlgemeinte Anlauf auf dem Unterrichtsfelde jede reale Be-
deutung verlieren. (C. v. Scherzer, „Smyrna ꝛc.“, 62 u. ff.)
legenſten Schlupfwinkeln des Baba- und Khonas-Dagh, welche Gebirge
mit ihren gigantiſchen Felszacken, Wänden und gewaltigen Terraſſen, ein-
ſame Thäler ohne alle Wohnſtätten oder Cultur umklammern. Dorthin
flüchten ſich die Geächteten des Tieflandes (um Aidin), wenn ſie die
Steuerexecutoren erſchlagen oder den officiellen Vertretern gründlich den
Text geleſen haben. Die Hochpäſſe, welche ſie umlauern, wie den Kazik-
Belli-Paß im Khonasgebirge, wo jedes Ausweichen, jeder Fluchtverſuch
eine abſolute Unmöglichkeit iſt, werden nur ſelten von größeren Kara-
wanen gekreuzt. Um ſo ſicherer aber geht irgend ein officieller Reiſender,
ein Paſcha, oder Kaimakam, oder Muteſacif ſeinem Verderben entgegen,
wenn er die durch die Zeibeks verlegten Gebirgswege einſchlägt. Auch in
die impoſanten, meiſt auf hohen Plateaux gelegenen antiken Ruinenſtätten,
wie in jenen von Laodicea (Denislü), Hierapolis (Pambuk-Baba) und
Gair, haben ſie ſich eingeniſtet und mancher Europäer, den die pittoresken
Felsterraſſen mit ihrer vielfarbigen und vielformigen Geſteinsgeſtaltung
zum näheren Beſuche einluden, hat die wüſten Geſellen, noch ehe er die
eigentlichen Ruinen-Territorien betrat, angetroffen … Während des
letzten Krieges vernahm man das erſtemal wieder Umſtändliches von den
Zeibeks. Sie präſentirten ſich als hochgewachſene, äußerſt muskulöſe Ge-
ſtalten, die Geſichter hart und wettergebräunt, der Blick herausfordernd
und Unheil verkündend. Den Kopf umgibt ein rieſiger Bund, bizarr
überwuchert von jedem erdenklichen Tand, flatternden Franzen, Blech-
guirlanden, Amulettenkram u. dgl. m.; die Bruſt eingeengt in ein hartes
Lederwams, über das ein breiter Shawlgürtel gewickelt iſt. Das Bein-
kleid iſt weniger faltig, als es in der Regel bei den Osmanlis zu ſein
pflegt, die Unterſchenkel nackt, an den Füßen einfache Sandalen. Denkt
man ſich hiezu ein ganzes Arſenal von Waffen, die in dem hochaufge-
bauſchten Gürtel Platz finden, ſo hat man das vollendete Bild eines
Zeibeks, der indeß, ſeinem ganzen Habitus nach, ebenſoſehr einen tune-
ſiſchen Feuerfreſſer oder einen Schlangenvertilger aus dem Pundſchab dar-
ſtellen könnte. Wild und unſchön iſt der Tanz der Zeibeks, mit den ge-
zückten Jatagans, und ihr Geſang, rauhe Kehllaute, die dumpf hervor-
gekeucht werden und ſchließlich in ein raubthierartiges Gebrülle ausarten.
Wild und phantaſtiſch iſt jede Attitude, das eigenthümliche Schaukeln des
Kopfes, um den ganzen flatternden Plunder am Turban in wirre Be-
wegung zu verſetzen.
im Chriſtenquartier mit ihren Jatagans zu attakiren. Elf Verwundungen
ſind vorgekommen, doch waren die meiſten ganz leicht. Wenn es der Inter-
vention der Conſuln auch gelang, ſie erſt entwaffnet und dann, raſcher
grimmige alte Churſchid Paſcha, der das Chriſtenmaſſacre nächſt Beirut be-
fehligt haben ſoll, nur die Achſeln gezuckt und bedauert hat, daß man
dem armen Kanonenfutter ſo bald ſein kleines Vergnügen nahm. Hatte
man doch im Konak eine Mitrailleuſe vor jeder Thüre und war daher
ſicher. („Allg. Ztg.“, 1877, Nr. 11.)
brauchen, wie die pflichteifrigen Pilger im Moſcheehofe zu Mekka, denen
oft, ob zu großer Armuth, ſelbſt ein Labetrunk aus dem Wunderquell ein
unerſchwinglicher Luxus bleibt. (Vgl. v. Maltzan, „Meine Wallfahrt nach
Mekka“, II, 28, 101.)
anderen, nicht egyptiſchen Herrſcher vorſtellen. (Buſch, „Türkei“, 131.)
Es iſt eine in Relief ausgeführte Kriegergeſtalt, die von einem Rahmen
umgeben iſt. Herodot, der dieſelbe zuerſt für einen Seſoſtris ausgab, ſagt,
es ſei ein Mann, fünf Spannen hoch, den Speer in der Rechten, den
Bogen in der Linken, in egyptiſcher Rüſtung, — eine Beſchreibung, die
inſoferne unrichtig iſt, als die Figur den Bogen in der Rechten und den
Speer in der Linken hält. (A. a. O. — Abbildung bei Ritter, „Erdkunde“,
18, Tafel III.)
beobachten will, der vermag dies unbehindert von der Straße aus zu thun.
Türkei“, 351) bei 170,000, nach Buſch („Türkei“, 129) gar 180,000 Seelen.
geſellſchaft. Die Mädchen und die jungen Frauen aber, denen es daran
gelegen iſt, einen möglichſt anheimelnden, beſtrickenden Anblick ihren männ-
lichen Bekannten zu bereiten, nehmen nicht ſelten zwiſchen groß doldigen
Blumen, Mandelblüthen und Oleanderzweigen an den Fenſtern der Gaſſen-
front ihren Standpunkt ein, an denen in der Regel auch jene erotiſchen
Kleinigkeiten abgekartet zu werden pflegen, die nun einmal jedem Pflaſter-
treter oder modernen Troubadour ein Lebensbedürfniß ſind. Bedenkt man
nun, daß beiſpielsweiſe die griechiſchen Smyrniotinnen ſchön ſind, ja, daß
ſie im Rufe ganz außergewöhnlicher Anmuth ſtehen — welch letzteres man
von Griechinnen in der Regel gerade nicht behaupten kann — ſo wird es
halbwegs begreiflich, wie der nüchternſte Touriſt, ja ſelbſt der junge Ge-
lehrte, dem Smyrna nur eine Etappe iſt und den ſein Trachten und
Sinnen mehr nach Epheſus, Milet, Halikarnaß, Magneſia und Sardes
zieht, momentan von der Macht irdiſchen Zaubers ergriffen zu werden
vermag. Aber wie die Perotin, Syriotin und Athenienſerin, iſt auch die
Griechin Smyrnas nur eine Lilie auf dem Felde, die weder ſpinnt noch
ſonſt arbeitet, und doch vom Herrn mit allem Schönen bedacht worden iſt.
Indeß haben ſie hier mit der griechiſch-orientaliſchen Sitte des „Spazieren-
ſitzens“ bereits halb und halb gebrochen, und was ſich durch körperliche
Schönheit oder Toilettenreichthum vortheilhaft hervorzuthun vermag, be-
wegt ſich zur Promenadeſtunde, gleich den Damen der vornehmen euro-
päiſchen Coloniſten, auf dem Quai, wo es an ſchönen Abenden auf- und
niederfluthet, wie vor dem königlichen Schloſſe oder in der Hermes-Straße
zu Athen, oder — der „grande rue de Pera“ in Conſtantinopel …
ſich letzterer Zeit auch in osmaniſchen Kreiſen bewußt geworden zu ſein,
denn er kam in der erſten ottomaniſchen Parlaments-Seſſion zur
Sprache. Der Deputirte für Aleppo, Manuk Effendi erklärte nämlich, daß
die vielgerühmte Ergiebigkeit und Fruchtbarkeit des aſiatiſchen Bodens
ſo lange nutzlos bleiben müßten, bis man dem Lande beſſere Wege ver-
ſchaffen würde. In Anatolien gäbe es Strecken, wo zwiſchen den größten
Städten nicht einmal eine Chauſſee exiſtirt, ſo daß die Producenten ihre
Producte nicht auf Fuhrwerken, oder mit Pferden transportiren können;
die Producte verfaulen in den Scheunen und die Eigenthümer geriethen
in Schulden. Auf dieſe Verhältniſſe habe man (höheren Orts) — meinte
der Redner weiter — gar kein Augenmerk gehabt, ſo daß der Ackerbau
und der Handel zu Grunde gingen und der erwartete Wohlſtand in Ar-
muth und Dürftigkeit umſchlug. In derſelben Sitzung wurde eine Reſo-
lution eingebracht, behufs Ergreifung von Maßregeln zur Beſeitigung
dieſer Uebelſtände, bis aber dies Alles Früchte tragen wird, dürften ſich
noch viele Kameele auf den alten Wegen — die Beine brechen. (Vgl.
„Allg. Ztg“, 1877, Nr. 112.)
gleichfalls öder, menſchenleerer Gegend. Die alte Burg, welche ſeinerzeit
Alexander d. Gr. ohne Schwertſtreich den Perſern abnahm, wird theilweis
nur noch durch altes Gemäuer zuſammengehalten und iſt ſchwer zu er-
klettern. Von oben ſieht man nordwärts über das öde, verſumpfte und
verpeſtete Feld, das einſt die „goldene“ Sardes trug, und in der Ferne
noch den Spiegel des gygäiſchen Sees mit der Reihe der lydiſchen Königs-
gräber, jener ganz ungeheueren Grabhügel an ſeinem Rande. Im Rücken
haben wir das gewaltige Tmolus-Gebirge mit ſeinen Schneekuppen. Zu-
nächſt unten zur Linken windet ſich der einſt goldführende Paktolus und
erheben ſich an ſeinem Ufer noch zwei gewaltige Säulen aus dem Trümmer-
ſturz des Cybele-Tempels. (J. Braun, „Hiſtoriſche Landſchaften“, 187 u. ff.
— Vgl. auch Strauß, „Länder und Stätten d. hl. Schrift“, 406 u. ff.)
Verkörperungen jener pantheiſtiſchen Naturreligion, welche ſich zum ſoge-
nannten „Sufismus“ ausbildete, und namentlich in Perſien mit der Zeit
die weiteſte Verbreitung erlangte. Die Anhänger dieſer Lehre erklärten
und erklären, daß Gott in jedem Dinge ſei, und daß jedes Ding, wenn
es die Göttlichkeit in ſich aufgenommen, wieder zu Gott zurückkehren könne.
Die elementare Macht, mit der ſich dieſe Schwärmer den engen Schranken
der Dogmatik zu entringen trachteten, blieb trotz der blutigſten Verfol-
gungen, ſieghaft über die Maſſen, zumal durch angebliche Wunder, welche
einzelne Märtyrer des Sufismus in Perſien zum Beſten gaben. So
in den Händen, unter ſeinen Genoſſen weiter. (Malcolm, „Geſchichte von
Perſien“, II.) Unter den türkiſchen Völkern blieb der Sufismus indeß
von völlig untergeordneter Bedeutung; um ſo feſtern Fuß faßte er aber
unter den Schiiten und Arabern, unter welch letzteren ein gewiſſer Sohra-
vady den bedeutendſten Anhang gewann, ſchließlich aber durch Inter-
vention der orthodoxen Geiſtlichkeit, auf Befehl des „freiſinnigen“ Saladin
zu Aleppo hingerichtet wurde. (Vgl. v. Kremer, „Geſch. d. herrſchenden
Ideen d. Islam“; dann über die verwandte Secte der Babis, bei Vám-
béry, „Wanderungen in Perſien“; Polak, „Perſien“ I, u. ſ. w.)
Mekkaner ihr Profitchen nachrechnen und bei geſchloſſenen Kaufläden ihren
häuslichen Unterhaltungen nachgehen, wobei die verſchiedenartigſten Er-
zählungen, wie man die dummen Pilger geprellt hat, das Hauptthema
des Geſprächsſtoffes bilden (Vgl. Braun, „Gemälde ꝛc.“, 453.)
chiſchen Geiſtlichkeit, welche immer noch alljährlich aus einem Loch der
Grabescapelle zu beſtimmter Stunde die von ihrer gläubigen Heerde er-
ſehnte Wunderflamme hervorbrechen läßt, worauf in der Regel jene
Schlägerei ſtattfindet, die erſt durch das Dazwiſchenfahren der türkiſchen Ge-
wehrkolben ihr Ende findet.
köpfigen Vogelgeſtalten.)
ſteigender Kathedralen mit unzähligen Thurmſpitzen; die Schattenkegel er-
ſcheinen hinter einander wie lange Proceſſionen rieſiger Mönche durch ein
unabſehbares Labyrinth, in dem kein Baum, kein Buſch, kein Grashalm
wahrzunehmen iſt. Der Boden kracht unter dem Tritt der Pferde im
Bimsſtein, wie im Schnee; und doch herrſcht hier ein heller reiner Himmel
vor und die blendenden Reflexe verurſachen dem Auge des Beobachters
empfindlichen Schmerz. Die Grotten zeigen aber überdies, namentlich
dort, wo ſie an der großen Landſtraße gelegen ſind, vielfache Zerſtörungen
durch barbariſche Ueberfälle. An der Decke einer der zahlreichen Capellen
ſieht man noch eine coloſſale Chriſtusgeſtalt auf dem Thron ſitzend, in
einer zweiten die Coloſſal-Büſte des Heilandes, an der Wand die Jung-
frau mit dem Chriſtuskinde und andere bildliche Darſtellungen, meiſt
ſehr primitiv und bizarr ausgeführt. (Nach Texier, a. a. O. bei Ritter, XVIII.)
Es hat demnach den Anſchein, daß die cappadociſchen Chriſten, bei denen
wie wir oben geſehen haben, auch Gregorios Illuminator Schutz fand
und ſeine religiöſe Erziehung erhielt, die zweiten Bewohner dieſer hoch-
intereſſanten Troglodyten-Landſchaften waren, während über die eigent-
lichen Schöpfer dieſer ſubterranen Stadt nach wie vor das tiefſte Dunkel
herrſcht. (Ueber die benachbarten Grottendörfer ſiehe auch Hamilton,
II, 254 u. ff.)
des amerikaniſchen Arztes und Miſſionärs Nathan Gridley, welcher am
28. September 1827 durch eine forcirte Erſteigung des Rieſenberges ſich
den Tod zuzog. Auf ſeine rieſige Körperkraft vertrauend, entſchloß er ſich,
direct zu Fuße, wie er ſtets ſich zu bewegen pflegte, als erſter Pionnier
der Neuzeit die Höhe des Vulkankegels zu erklimmen. Er war Anfangs
von vier Griechen begleitet, die bald aus Erſchöpfung liegen blieben; ihres
warnenden Zurufes ungeachtet, ſetzte er die Erſteigung fort, bis auch er
ſich mühſam nach Ewerek zurückzuſchleppen, worauf man ihn in ſein Haus
zu Endirlük begleitete, wo er ſchon nach 3 Tagen den Folgen der An-
ſtrengung erlag … Am Nord- und Oſtfuße des Argäus liegen allent-
halben die ſchönen Häuſer und Gärten der armeniſchen Bewohner aus
der Umgebung von Kaiſarie. Die Turkmenen ſind friedlich; gleichwohl
plündern die kriegeriſchen Afſcharen von den öſtlichen Bergen aus häufig
alle Dörfer bis zu den Thoren der Stadt. (Vgl. P. v. Tſchichatſcheff,
„Routen in Klein-Aſien“, Pet. Ergänzghft. Nr. 20, S. 12 u. 38.)
ſeiner Bewohner und ſeinen gänzlichen Verfall zu der Bemerkung Gelegen-
heit, daß nicht der gewöhnliche gouvernementale Druck und die Steuer-
Vexationen einzig und allein die Haupturſache an dem grenzenloſen Zer-
falle alles Beſtehenden im Osmanenreiche ſein können. Dem Heiligthume
verdanken die Bewohner von Begtaſch, daß ſie keine Taxen an die Regie-
rung abzugeben brauchen und daß ein großer Theil des Erlöſes aus den
Salzgruben von Tuzköj ihnen zufällt. Ungeachtet dieſer Einkünfte zerfällt
das Grabmal des Patrons mehr und mehr, da ſeine Anbeter, ſtolz au
den Glanz deſſelben, lieber im Schatten der Bäume lagern und ihren
Tabak in Unthätigkeit ſchmauchen, anſtatt ſich einer einträglichen Arbeit
hinzugeben. (Vgl. Ritter, a. a. O. — Otter, „Voy. II, etc.“)
und ausgeſchiedenen unedlen Stämme heute zu den berüchtigtſten Wege-
lagerern und Wüſtenräubern zwiſchen Syrien und Eufrat zählen. Aus
der Einfachheit und Magerkeit ihres Lebens auf Reinheit der Sitten zu
ſchließen, wäre ein unverzeihlicher Irrthum. Sie leben ſtatt in Vielweiberei,
ſo ziemlich in Weibergemeinſchaft, und geſtehen ſelbſt: „Hunde ſind beſſer,
als wir.“ Auch wäre es eine große Täuſchung, die Eigenſchaften, welche
ſie an ihren Wüſtenidealen (Antar, der Tapfere, Hatim, der Gaſtfreund-
liche und Laila, die Liebreizende) preiſen, bei ihnen ſelbſt vorauszuſetzen.
Der Gaſt, gegen welchen man im eigenen Zelt für die Nacht alle Pflichten
der Gaſtfreundſchaft erfüllt hat, kann am Morgen, einige Stunden weiter-
hin, von ſeinem Wirth geplündert werden. Beduiniſche Tapferkeit iſt ſo
zweifelhaft, wie die eines Raubthieres. (Nach Palgrave, „A years jour-
ney thr. Central- and Eastern-Arabia“, und Burton, „Pilgrimage etc.“,
bei Braun, a. a. O., 190.) Epiſoden, wie das Auftauchen der Kurden-
Amazone „Fatma“ im letzten Kriege, zählen auch in Kurdiſtan heute wohl
nur mehr zu den Seltenheiten. Im Uebrigen ſind die kurdiſchen Strauch-
ritter nur nach dem Maße ihrer arabiſchen Doppelgänger zu meſſen.
deſſen Conſuln und Emiſſäre bei ihm ſtets die freundlichſte Aufnahme
fanden. Daß er die unter ſeinem Regimente ſo blühende Stadt Jüsgat
(mit vielen armeniſchen Coloniſten) eigentlich erſt von einem elenden Dorfe
zu einer ſolchen erhob, wollen wir nur nebenher bemerken. Biel bedeut-
ſamer erſcheint die Thatſache, daß Tſchapan Oghlus Gerechtigkeitsgefühl,
Hospitalität und große Toleranz das Wunder bewirkten, daß viele der
ſeinerzeit hier internirten ruſſiſchen Gefangenen ihren Glauben abſchworen
und ſich im Orte coloniſirten. (Vgl. W. M. Leake, „Journal of a Tour
in Asia Minor“, bei Ritter a. a. O., 18.)
mit theilweiſe erhaltenen Gemächern und von Mauern und Thürmen um-
geben. (Grundplan bei W. Hamilton, „Asia Minor“, Nr. 11.) Noch viel
bedeutſamer ſind die Felsſculpturen des ſogenannten Jazili-Kaia oder „be-
ſchriebenen Steins“, die einen Blick in eine ferne, räthſelhafte Vorzeit ge-
ſtatten, die weit über die Epoche der Griechen und Römer hinausreicht.
Die Relief-Darſtellungen haben auch nichts mit ähnlichen Werken der
Aſſyrier gemein, obgleich ihr Alter, wenn nicht noch höher hinauf, min-
deſtens in die Zeit der zweiten aſſyriſchen Weltherrſchaft reichen dürfte.
(Vgl. Texier, „Asie Mineure“, I, 214 u. ff.)
Amaſias Seideninduſtrie hat ſich der Baſeler Kaufmann Krug gemacht,
(Vgl. P. v. Tſchichatſcheff, „Routen, ꝛc.“, 12.)
fällige Bemerkungen bei Braun, „Hiſtoriſche Landſchaften“, a. a. O.
Ueberſetzung, II.
und Egin (in Hoch-Armenien bei Erzingian) die beiden ſchönſten Städte
in Bezug auf ihre Lage, die er in Vorder-Aſien geſehen. Amaſia ſei
hiebei ſeltſamer und merkwürdiger, Egin aber gewaltiger, in Folge ſeiner
Felſenumrahmung und des Eufratſtromes.
reſtaurirt.
mit Ehrerbietung auf, konnte aber doch nicht umhin zu lachen. „Warum?“
fragte Bajazid. „Weil Gott die Herrſchaft der Welt einem Lahmen, wie
ich, und einem Gichtbrüchigen, wie du, anvertraut hat; es ſcheint, daß er
nicht viel Werth auf dieſe ſeine Welt ſetzt.“ Nach Jouannin, „Turquie“,
bei Braun, a. a. O. 376.) Gleichwohl ſahen die Hoftheologen dieſen „Lahmen“
ſtets von überirdiſcher Gloriole umfloſſen, die ſich in Form eines Regen-
bogens vom Prophetengrabe zu Medina bis zum Haupte des Weltbe-
zwingers ſpannte. (Nach d’Ohſſon, I, 204, bei Braun, ebd.)
auch bei W. Ouſeley, „Trav., III“, und bei v. Moltke, „Briefe ꝛc.“ 202—205
(„Die Felſenkammern in Amaſia“).
Schriften“, I; gegentheilige Behauptungen über das hohe Alter der Licht-
religion Zarathuſtras (Zoroaſters) bei Dunker, „Geſchichte d. Alterth.“,
II, 315, und Kleuker, „Leben Zoroaſters“, III ꝛc.
Tſchichatſcheff, „Asie Mineure“, (Tafel 22 des Atlas).
und die biedere Rechtgläubigkeit iſt beſtmöglichſt beſtrebt, wo es nur immer
angeht, ihre Faulheit durch traditionelle Fabeln wettzumachen. Nicht
das mangelhafte Fundament bringt Thürme und Minarets zum Wanken,
ſondern ganz andere, göttliche Umſtände. So hat beiſpielsweiſe Moſul
am Tigris ſein ſchiefgeneigtes Minaret und um es nicht abtragen zu
müſſen, geht ſeit Jahrhunderten die Mär, es habe ſich ſeinerzeit geneigt,
die Wahrheit, und zwar mit gutem Grunde; denn das Unglück der tür-
ktſchen Flotte iſt von Niemandem mehr verſchuldet worden, als von den
angeblichen Buſenfreunden der Pforte, und während man in den ruſſiſchen
Kirchen das Tedeum anſtimmte, hatte Niemand mehr Urſache ſich zu freuen,
als eben Rußlands Gegner, die darüber ſcheinbar jammerten. In der
That lag es ganz im Geiſte Palmerſton’ſcher Alliancepolitik, ſich von Ruß-
land den Dienſt erweiſen zu laſſen, die brauchbarſten Schiffe der Türken
und deren beſte Seeleute in die Luft zu ſprengen, wobei man wohl nur
bedauerte, daß die ruſſiſche Flotte nicht auch Löcher in den Leib bekommen
hatte. (Vgl. J. Heller, „Memoiren des Baron Bruck“, 139.)
oberhalb des winkeligen Türkenquartiers, mit ſeinem alten Caſtell und
auf. Daß Mohammed niemals in Moſul geweſen, braucht wohl nicht be-
ſonders bemerkt zu werden.
Regie einführte und ein aus mehr als hundert Paragraphen beſtehendes
Reglement über den Tabaksbau mit Bedrohung ſchwerer Strafen gegen
Contravenienten erließ, fand der Steuerbeamte von Sinope es für ange-
zeigt, dieſes Reglement einfach zu verheimlichen, wodurch er nachher bei
den Tabakbauern eine ganz erkleckliche Summe von Strafgeldern einzu-
treiben vermochte, deren Ablieferung ihn zu einem Manne nach dem
Herzen der Regierung machte. Aber die Folgen zeigten ſich auch ſogleich;
der Diſtrict, der bis dahin über 4½ Mill. Kilo Tabak erzeugte, producirte im
folgenden Jahre nur mehr 40,000 Kilo, veranlaßte alſo einen coloſſalen
Ausfall in den Staatseinkünften des Diſtrictes und ſo mußte der heim-
tückiſche Steuerbeamte abgeſetzt werden. Seine Nachfolger ſollen die Lage
wieder gebeſſert haben. („Allg. Zeitg.“, 1877.)
mileſiſchen Colonieſtadt Amiſos. Noch ſtößt man im Nordweſten allent-
halben auf Mauertrümmer und verbaute Terraſſen, alles von urwald-
artigem Dickicht, Dornen und Schlinggewächſen umrankt. Hier ſoll die
Reſidenz Eupatoria des Königs Mithridates geſtanden haben, doch iſt die
Lage keineswegs ſicher geſtellt. Der alte Hafen von Amiſos liegt heute
trocken und iſt mit Feldfrüchten bewachſen (wie jener von Milet, vgl.
Braun, „Hiſtoriſche Landſchaften“, 190); ſichtbar aber iſt noch der ins
Meer geſunkene große Hafendamm, den man, wie jenen von Sinope, unter
dem Waſſerſpiegel verfolgen kann. Amiſos hat weder den Glanz, noch
die Unglücksfälle von Sinope erlebt.
Auch dieſe Stadt, nach ihrer Bezwingung durch Sultan Bajazid noch
einige Zeit vorübergehend die Reſidenz des Vaſallen Suleiman, iſt nun
vollends heruntergekommen. In enger Thalſchlucht gelegen (mit domi-
nirender Caſtellruine zu oberſt), ſind die Bewohner nicht nur ſehr un-
günſtigen klimatiſchen Einflüſſen ausgeſetzt, ſondern ſie thun ein Uebriges,
daß ſie den kleinen Bach, der die Stadt durchfließt, mit ſtinkendem Unrath
und Thiercadavern Tag für Tag anfüllen, und dadurch die Inclination
des Ortes zu Epidemien nach Kräften befördern. Und wie leicht wären
Es gab alſo zur Zeit der Timuriden, ſowie auch vor dem Falle Con-
ſtantinopels, an Stelle der heutigen Oede noch immer einen prächtigen
Park, der bis auf den letzten Cypreſſenzweig verſchwunden iſt. Nur in
der Nähe der Stadtmauern ragen noch einige altehrwürdige Exemplare
in die Höhe. Für den Charakter des unter der Osmanenherrſchaft ſtatt-
gefundenen Wechſels iſt es übrigens bezeichnend, wenn der Wander-Ge-
lehrte Ewlia Effendi (Hammer-Purgſtall’ſche engliſche Ueberſetzung, II,
a. a. O.) gelegentlich ſeines Beſuches der Stadt (1648) an ihr hauptſächlich
nur zu rühmen weiß, daß ſie an zwei Tauſend Mädchen und Knaben
beſäße, die — den Koran auswendig herzuſagen vermögen. Das Schwer-
gewicht ſcheint bei dieſem frommen Manne, der ſich auf ſeiner Tour durch
das türkiſche Reich hauptſächlich mit der Conſtatirung der jugendlichen
Gedächtnißkräfte in Sachen teologiſch-literarifcher Reception beſchäftigt zu
haben ſcheint, weit mehr in Koran-Exegeſis und dogmatiſcher Grübelei
gelegen zu ſein, als in der Nachahmung früherer Gelehrſamkeit, als deren
eine Pflanzſtätte am Pontus Sinope war. Das Herplappern der mehr
oder minder an innerer Logik krankenden Suren des heiligen Buches
bildete aber gewiß einen nur ſchwachen Erſatz für die einſtigen Beziehungen
der ſyriſchen und mileſiſchen Sinoper zu den großen Culturſtätten des
Oſtens.
Thales mit ſeinen netten Dörfern und zahlreichen Gartenanlagen. (Vgl.
W. Ainsworth, „Trav. and Res.“, I, 48.
Die Zucht dieſer Ziege, welche bei uns unter dem Namen „Angora-
Ziege“ bekannt iſt, bildet auch heute noch eine Haupt-Erwerbsquelle der
Steppen-Bevölkerung am oberen Sakaria. Letztere iſt der urwüchſige ar-
cadiſche Hirtenſtamm geblieben, von den alten Zeiten Galatiens an bis
auf den Tag. Die Kleidung des Hirten beſchränkt ſich zumeiſt nur auf
ein doppeltes Ziegenfell, das, an den Seiten zuſammengenäht, ein Loch
zum Durchſtecken des Kopfes frei läßt. Auch der gekrümmte Hirtenſtab
(pedum) iſt noch in Gebrauch, ſowie die Lederſandale, wie überhaupt die
Ziege, je nach der Art ihrer Ausnützung, alle Bedürfniſſe des central-
anatoliſchen Hirten deckt. Die Zucht, früher von ganz beſonderer Wich-
tigkeit (vgl. v. Tſchichatſcheff, „Asie Mineure“, II, 689 u. ff.) iſt ſchon
ſeit einer Reihe von Jahren bedenklich zurückgegangen. Vollends hat ſie
ihr Ruin in den Hungerjahren 1875 und 1876 betroffen, zumal durch die
geringe Fürſorge der ottomaniſchen Regierung in dieſer Zeit furchtbaren
Elends. (Vgl. den anonymen Autor von „Stambul und das moderne Türken-
thum“, II, a. a. O.)
Bedeutung ſowohl der Saporoger, als auch der ukrainiſchen Koſaken.
Mazeppa, den zu verherrlichen, es der Dichtkunſt und Malerei der Neuzeit
in ſo unverdienter Weiſe gefallen hat, trug weſentlich zu dem Untergang
bei. Die durch ihn heraufbeſchworenen Unruhen und Empörungen be-
wirkten, daß Peter d. Gr. auf die Saporoger im höchſten Grade erbittert
und auch gegen die ukrainiſchen Koſaken mißtrauiſch wurde. Verfolgt von
unnachſichtlicher Strenge, gründeten diejenigen Saporoger, welche ſich noch
retten konnten, ganz am untern Dnjeper (am Bache Kamenka) eine neue
Setſch. Als im Jahre 1710 gelegentlich des Türkenkrieges auch dieſe
Niederlaſſung von den Ruſſen zerſtört wurde, wies ihnen der Khan in der
Nähe von Aleſchki (in gleicher Höhe von Perekop) abermals eine neue
Setſch an; ſie mußten von nun an unfreiwillige Unterthanen der Tar-
taren und Türken abgeben, bis ſie letzteren durch die Capitulation am
Pruth vollends überlaſſen wurden. (Vgl. A. Springer, „Die Koſaken“,
11 u. ff.)
äußerſt geringe und es wird überdies der unverantwortlichſte Raubbau
betrieben. Auf Grund eines Teskere, den man ſich bisher beim Marine-
Departement leicht verſchaffen konnte (mit Nachhilfe des Baſchiks) erhielt
und erhält man das Recht, Kohle zu ſuchen und beim eventuellen Fund
die Ausbeute auf Rechnung der Regierung zu bewerkſtelligen. (v. Hoch-
ſtetter, „Aſien ꝛc.“, 153. Ausführliches bei v. Schwegel, „Volkswirthſch.
Studien über Conſtantinopel ꝛc.“, 337.)
Schauplatz jener intereſſanten Kämpfe, die zwiſchen den in Klein-Aſien
eingebrochenen Gallierſtämmen und den Römern unter Conſul Manlius
ausgefochten wurden. (Vgl. Livius XXXVIII.) Es war der Stamm der
Toliſtobojer, der die rauhen Höhen beſetzt hielt und ihre Gipfel durch roh-
aufgeführtes Mauerwerk und Felsblöcke zu ſchützen trachtete. Die Gallier
waren der Meinung, daß ihre Feinde es nimmer wagen würden, dieſe
Stellungen anzugreifen, aber nach vorangegangener Recognoscirung der
Felsburg ſchritten die Leichtbewaffneten zu ihrer Erſtürmung, voran die
kretenſiſchen Bogenſchützen und die thrakiſchen Schleuderer. Die wilden
Gallier warfen ſich zwar (mit nackten Leibern, da ſie im Kampfe die
Oberkleider weglegten) den Angreifern entgegen, aber die kampfgeübten
römiſchen Truppen brachten ihnen gleichwohl eine Niederlage bei, die mit
ihrer totalen Niederwerfung gleichbedeutend war. Dieſer blutige Ent-
ſcheidungskampf iſt im Uebrigen das einzige kriegeriſche Ereigniß von Be-
lang, das ſich an das Olympos-Gebirge knüpft.
Höhe man wohl eine der großartigſten Fernſichten auf orientaliſchem
Boden genießt. Der Anſtieg erfolgt durch bebautes Land, dann durch
Wald, zuletzt (im Winter und Frühling) über Schnee und Eis. In der
Waldregion gibt es noch Schwarzwild, höher hinauf aber wird es ſtille
und öde. Der Berg hat vier Gipfel, von denen immer einer etwas höher
als der andere iſt. Von dem höchſten aber (7000 Fuß) überblickt man
einen großen Theil von Rumelien und Anatolien, das ganze Marmara-
Meer bis nach Conſtantinopel hin und eine Menge von den Sporaden,
ganz Myſien und Bithynien und den größten Theil des ſüdlichen Thrakien
und Makedonien — in der That ein Panorama, das ſeines Gleichen ſucht!
(Buſch, „Türkei“, 139.)
Afſcharen-Gebietes. Dieſes Volk zeichnet ſich ebenſoſehr durch einen unver-
kennbaren Ausdruck von Stolz und Härte in den Geſichtszügen aus, wie
durch körperliche Schönheit, beſonders das ſtets unverſchleiert gehende und
durchaus keine Scheu verrathende weibliche Geſchlecht. (Vgl. v. Tſchichatſcheff,
„Routen in Klein-Aſien“, 33.)
unſchuldig und wenn jemals ein europäiſches Angebot erfolgte, z. B.
die Entſumpfung der myſiſchen Ebene, etwa gegen das Recht zehnjähriger
Benutzung, dann ward es einfach unter den Divan gelegt. (Zeitſchr. für
allg. Erdk. XV.) Lieber hat man die Juruken, welche ſich bemühen, alle
Wälder niederzubrennen, damit aus der Aſche Futter für ihre Heerden
wachſe. (Bei Braun, a. a. O., 381.) Hiebei iſt freilich zu bemerken, daß
auch der einheimiſche Unternehmungsgeiſt nicht beſſer wegkommt und ſchon
die erſten Sitzungen der Stambuler Deputirten-Kammer brachten eine
Menge von Thatſachen ans Tageslicht, die eclatant bewieſen, daß man
im Schooße der Miniſterien und des hochweiſen Staatsrathes niemals
ernſtlich Willens war, die betreffenden Conceſſionäre und Petenten —
trotz der von dieſen aufgewandten Summen zu Beſtechungen ꝛc. — an ihr
Ziel gelangen zu laſſen.
Inſel-Juwel des öſtlichen Mittelmeeres ſeinem completen Ruin nicht ent-
gangen. Die Ebene des Pedias, welche im Alterthum ein einziger Wald
war, beſitzt heute kaum einige Sträucher und wegen barbariſcher Ent-
holzung der Olympus-Hänge verſiegen nunmehr auch die wenigen Bäche,
denen die jetzige Vegetation ihr Daſein verdankt. Dabei kommt hin und
wieder ein genialer Gouverneur auf den Einfall, im Flachlande arteſiſche
Brunnen zu graben, oder etwa die drakoniſche Maßregel zu ergreifen,
jeder erwachſene männliche Bewohner der Inſel habe binnen Jahresfriſt
einen Baum zu pflanzen. (Vgl. Seiff, „Reiſen ꝛc.“ 83.) Vollends ein
Bild der Verwahrloſung liefern die einzelnen Städte, einſt die prächtigen
Heimſtätten der Könige aus dem Hauſe Luſignan, ſo im Norden das
mauernumgürtete Lewkoſia mit ſeinen altehrwürdigen gothiſchen Domen,
auf deren Thürmen ſeit drei Jahrhunderten das moslemiſche Glaubens-
ſymbol blinkt. Nur die zahlreichen Palmenkronen beleben hier das ſtarre
Städtebild. Sie beſchatten die alten, venetianiſchen Feſtungswerke und
ſtehen auch noch vor den dunklen Thorwarten, an denen zahlloſe Krüppel
und Ausſätzige, denen der Eintritt in die Stadt verwehrt iſt, herum-
lungern. (Seiff, a. a. O., 90.) Beſonders düſtere Erinnerungen knüpfen
ſich an die öſtliche Küſtenſtadt Famagoſta, dem letzten Platze, der von
Selim II. den Venetianern entriſſen wurde. Als man dem heldenmüthigen
Vertheidiger Nobile Bagradino, trotz der ihm zugeſagten ehrenhaften
Capitulationsbedingungen, gefangen und verſtümmelt hatte, rief ihm Mu-
ſtafa zu, er ſolle doch nun ſeinen Chriſtus anrufen, damit er ihm zu Hilfe
komme. Dann ward der Unerſchrockene lebendig geſchunden und die aus-
geſtopfte Haut in Stambul öffentlich ausgeſtellt … In die alten, ver-
fallenen Paläſte ſind ſpäter die Türken untergekrochen und darin ver-
blieben, ohne einen Stein zu verrücken. (Vgl. Petermann, „Reiſen im
Orient“, I, 360.) Leben und natürliche Friſche herrſcht nur dort (auf den
Olympus-Höhen), wohin der Fuß der officiellen Landesbeglücker ſeltener
gelangt (Unger und Kotſchy, „Die Inſel Cypern“, 1865.) ꝛc. . .
in die troſtloſeſten Verhältniſſe gerathen. Was ſich nothdürftig durch
manches Jahrhundert erhalten, die alterthümlichen, bürgerlichen Häuſer
der „Ritterſtraße“, der ſchöne gothiſche Thorbogen und andere Bauten
ſind in Folge einer furchtbaren Pulverexploſion im Jahre 1857 nahezu
in Ruinen verwandelt worden. Das Innere der Stadt kann unter ſolchen
Umſtänden ſelbſtverſtändlich nur den Eindruck der Verödung und Ver-
armung machen. Dafür herrſcht im alten Palaſte des Großmeiſters ein
habſüchtiger Paſcha, der nach ſeinem Gutdünken wirthſchaftet und die
letzten Culturſtrecken dem Anbaue entzieht. Selbſt der Handel dieſer zum
levantiniſchen Seeverkehr ſo günſtig ſituirten Inſel iſt nunmehr ein völlig
belangloſer.
(1869) als griechiſche Territorien bezeichneten Landſtriche (im Vilayete
Aidin — Smyrna — nur etwa 40 Quadrat-Meilen gegenüber 940 Qua-
drat-Meilen des Geſammt-Territoriums) ſind nicht zutreffend, da die
griechiſche Population an Zahl noch immer halb ſo mächtig iſt, als die
mohammedaniſche, nämlich 300,000 gegen 600,000 Seelen. (Vgl. v. Scherzer,
„Smyrna“ 47, und Helle, „Die Völker d. osm. Reiches“, 73.)
Griechen mit der Zeit vollends verwilderten und immer bis an die Zähne
bewaffnet ſind. Sie zahlen keine Abgaben und erkennen blos die Ober-
herrlichkeit des Afſcharen-Häuptlings an, den ſie in ſeinen Unternehmungen
gegen die türkiſchen Bauern gegen Antheil an der Beute unterſtützen.
Selbſt ihre Prieſter, mit dem Kreuze auf der Bruſt, nehmen an dieſen
Raubzügen Theil. (v. Tſchichatſcheff, „Routen ꝛc.“, 14.)
beſtellt. Von einer Bändigung des Eigenwillens iſt nie die Rede, im
Gegentheile, der Wille des Kindes iſt unter allen Umſtänden Geſetz für
ſeine Eltern und Diener, und wenn ein Europäer als Zeuge der täglich
vorkommenden Auftritte dem Vater hierüber ſeine Bemerkungen macht, ſo
heißt es: „Ne japaim? Tschodschuk istijor; jazykdyr“ — „Was ſoll
ich machen? Das Kind will es ſo haben, es wäre doch ſchade.“ (Der
anonyme Autor von „Stambul u. d. mod. Türkenthum“, I, 131.)
Schefket Effendi, eine Geſchichte Trapezunts (Tarabozan Tarihi) publicirt,
in der folgender Blödſinn zu leſen iſt. Der Verfaſſer kennt nämlich die
Ableitung des Namens Trapezunt von der Geſtalt der älteſten Stadt,
behauptet aber, dieſe Ableitung ſei irrig; der Name rühre vielmehr davon
her, daß am Strande runde Steine in Tiſchform vorkämen, was eben den
Namen veranlaßt habe. Andere, fährt er fort, behaupten, es habe dort
einſt ein Mann geherrſcht, der in ſeinen Händen eine ſolche Stärke hatte,
daß er die Tugra (Namenszug des Sultans) auf den türkiſchen Münzen
mit den Fingern zerſtören konnte, weshalb man ihn „Tugra-Bozan“ (den
Tugra-Zerſtörer) nannte, woraus Tarabozan ward, welchen Namen man
ſpäter auf die Stadt übertrug. (A. D. Mordtmann in der „Allg. Ztg.“,
Nr. 5 (Beil.), 1878.) Solche Gelehrſamkeit iſt bezeichnend für das Ka-
liber der türkiſchen „Ritter vom Geiſte“ und ihren Culturberuf nach
unten.
Achmed, in einer Sitzung: Wollte man in unſerer Provinz eine Gemeinde
bilden, ſo würde man keine Leute finden, welche leſen und ſchreiben können;
höchſtens der Imam könne ſchreiben, wenn aber ſeine Tinte getrocknet iſt,
ſo ſei ſie nicht mehr zu leſen. — Salim Effendi (Kaſtamuni): In der Ge-
meinde fänden ſich wohl Leute, welche leſen und ſchreiben können, aber
man müſſe ſie zu ihren Functionen beſolden; Daniel Effendi (Erzerum):
Bis jetzt iſt in jedem Dorfe ein Rath der Alten, da aber Niemand be-
ſoldet iſt, ſo verſammeln ſie ſich nie und laſſen die Geſchäfte liegen. Der
erſte Redner geſteht auch, daß es in ſeiner Provinz Dorfſchulzen (Mukh-
tars) gebe, die nicht leſen und ſchreiben könnten und in Folge deſſen von
den Caſſenbeamten betrogen würden; u. dgl. erbauliche Dinge mehr. (Vgl.
„Allg. Ztg.“, Nr. 98, 1877.)
tolien die ſogenannten „Rothköpfe“, eine Secte, der wir ſchon in den
oberen Eufratgegenden begegnet ſind. Ihre religiöſe Zuſammengehörigkeit
mit den Jeziden, Naſariern, Ismaeliern und Anderen karmathiſchen Secten
iſt erwieſen, desgleichen ihre ethniſche Stellung (ſie ſind allenthalben
Kurden). Im oben erwähnten Gebietstheile Anatoliens wohnen ſie be-
ſonders dicht zwiſchen Amaſia und Tokat und weiterhin im Oſten in den
Ebenen Kaz-Owa und Ard-Owa. (Vgl. v. Lennep, „Travels etc. in Asia
minor“ (1870), a. a. O.)
gegenüber apathiſch verblieben, entſprach ganz der Tradition. Noch vor
wenigen Decennien erklärte das Corps der Ulema gelegentlich des Aus-
bruches der Peſt, „dieſes Zorngericht Gottes“, jede Vorſichtsmaßregel gegen
dieſelbe für ſündhaft und verwerflich, „indem nur aufrichtige Buße wegen
der Neuerungen (!) und Rückkehr zu den früheren Zuſtänden dem Volke
der Osmanen die Gnade des Allmächtigen wieder gewinnen könne.“ Dem-
gemäß erließ der Sultan die Bekanntmachung: „Daß der in der Peſt ſich
kundgebende göttliche Unwillen nur in der Unterlaſſung des fünfmaligen
täglichen Gebetes ſeinen Grund habe, und daß hinfort Jeder, der zur
Gebetzeit, anſtatt in der Moſchee zu erſcheinen, auf der Straße betroffen
wird, durch die Baſtonade an ſeine Glaubenspflichten erinnert werden
ſolle.“ Der damals gefürchtete Polizeiminiſter Chosrew Paſcha verab-
ſäumte denn auch nicht, in einer eigenen Verordnung hinzuzuſetzen, daß
ſelbſt ein unziemendes Verhalten in der Moſchee (plaudern, herumſchlen-
dern oder mit dem Roſenkranze tändeln) den Uebertretenden Baſtonaden-
Tractaments eintragen ſoll, „daß ihnen die Nägel von den Zehen ſpringen
würden.“ (Vgl. Roſen, „Geſchichte der Türkei“ I, 237, 253 ꝛc.)
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Armenien. Armenien. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bk20.0