DER DEUTSCHEN
INTELLIGENZ
1‧9‧1‧9
Alle Rechte, insbesondere der Uebersetzung, vorbehalten.
Copyright by „Der Freie Verlag“ / Bern, Falkenplatz 22.
DEN FÜHRERN
DER MORALISCHEN REVOLUTION
GEWIDMET
„Man muss gar mächtig Achtung haben
auf die neue Bewegung der jetzigen Welt.
Die alten Anschläge werden es ganz und
gar nicht mehr tun, denn es ist eitel
Schaum, wie der Prophet saget.“
VORWORT
Wenn man will, ist der Sinn dieses Buches, dass es
die während des vierjährigen Krieges gegen die Regie-
rungen der Mittelmächte erhobene Schuldfrage systematisch
ausdehnt auf die Ideologie der Klassen und Kasten, die
diese Regierungen möglich machten und stützten. Die deut-
sche Staatsidee hat den deutschen Gedanken vernichtet. Die
deutsche Staatsidee ist es, die ich mit diesem Buch treffen
will. Um sie in all ihrer Macht und volkswidrigen Tradition
darzutun, musste ich sie historisch entwickeln und Gesichts-
punkte aufstellen für die Kritik ihrer hervorragendsten Re-
präsentanten.
Die Frage nach den Gründen unserer Isolation be-
schäftigte mich vorzüglich seit Herbst 1914. Ich bemühte
mich, die Prinzipien ausfindig zu machen, mit denen das
Deutschtum der ganzen Welt sich entgegensetzte. Es ist
wohl möglich, dass mein Bestreben, noch die letzten und
heimlichsten Schlupfwinkel dieser Isolation aufzudecken, bis
zur Härte und Bitterkeit ging; doch lag es mir fern, ein
Pamphlet zu schreiben. Ich fand und suchte zu dokumen-
tieren: Eine Konspiration der protestantischen mit der
jüdischen Theologie (seit Luther) und eine Konspiration
beider mit dem preussischen Gewaltsstaat (seit Hegel), die
nicht nur die Unterwerfung Europas und die Weltherr-
schaft erstrebte, sondern die gleichzeitig ausging auf die
universale Zerstörung von Religion und Moral. Diese
Konspiration ist tiefer und stärker verwurzelt, als man
gemeinhin glaubt; ihre Unterschätzung aber liegt weder im
Interesse der Menschheit, noch im Interesse des deutschen
Volkes.
[VI]
Es ist meine feste Ueberzeugung, dass der Sturz der
preussisch-deutschen Willkürherrschaft, wie ihn Präsident
Wilson in seiner berühmten Rede auf Mount Vernon po-
stulierte, nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren
deutschen Attentat — das ja nicht nur in kriegerischen
Aktionen zu bestehen braucht — zu schützen. Es ist für
den in Aussicht genommenen Völkerbund von der höchsten
Wichtigkeit, sich die historische Stärke der vereitelten deut-
schen Intrige, die moralische Erschöpfung eines Volkes,
das tausend Jahre unter der furchtbarsten Theokratie ge-
litten hat, vor Augen zu halten, wenn Heil und Versöh-
nung wirklich erfolgen und auch garantiert sein sollen.
Um die deutsche Denkart in ihrem ganzen Relief her-
vortreten zu lassen, suchte ich das Gegenbild aufzustellen,
das kein anderes sein konnte, als ein konsequent christliches,
wie es im Bewusstsein führender europäischer Geister seit
hundert Jahren zu einer universalen Renaissance strebt. Und
da ich den religiösen Despotismus für das Grab des deut-
schen Gedankens hielt, versuchte ich, das neue Ideal aus-
serhalb des Staates und der historischen Kirche in einer
neuen Internationale der religiösen Intelligenz zu begründen.
Es kennzeichnet die Freiheit, dass sie so wenig verwirk-
licht werden kann, wie Gott zu verwirklichen ist. Es gibt
keinen Gott ausser in der Freiheit, wie es keine Freiheit
gibt ausser in Gott.
Hugo Ball
INHALT
- EINLEITUNG.
- Von den Prinzipien einer intellektuellen Partei:
Freiheit und Heiligung 1-13 - ERSTES KAPITEL.
- Thomas Münzer gegen Martin Luther 14-51
- ZWEITES KAPITEL.
- Die protestantische Philosophie und die Freiheits-
begriffe der französischen Revolution 52-124 - DRITTES KAPITEL.
- Franz von Baader und die christliche Renais-
sance in Frankreich und Russland 125-171 - VIERTES KAPITEL.
- Die deutsch-jüdische Konspiration zur Zerstörung
der Moral 172-236 - ANMERKUNGEN 239-322
EINLEITUNG
1.
Jemand hat die Deutschen das protestierende Volk ge-
nannt, ohne dass doch ersichtlich sei, wofür sie protestierten;
und obwohl Dostojewsky ein Russe war, glaubte er keines-
wegs an eine mystische deutsche Sendung, die sich irgendwann
im Laufe der Jahrhunderte einmal offenbaren werde. Ein anderer
aber, der sich sein Leben lang bemüht hatte, den Deutschen
Tiefe, Tragik und Sinn zu substituieren, Friedrich Nietzsche,
verlor zuletzt die Geduld und rief (in „Ecce homo“) aus:
„Alle grossen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben
sie auf dem Gewissen“! Und er versuchte nachzuweisen,
wie die Deutschen an allen entscheidenden Wendepunkten
der europäischen Geschichte aus Feigheit vor der Realität,
aus einer bei ihnen Instinkt gewordenen Unwahrhaftigkeit,
aus „Idealismus“ Europa um die Ernte und den Sinn ge-
bracht hätten.
Sie protestierten, sie erfanden jene „sittliche Weltord-
nung“, von der sie behaupten, dass sie von ihnen bewahrt
und gerettet werden müsse; sie nannten sich das auser-
wählte, das Gottesvolk, ohne doch sagen zu können, wes-
halb sie es seien; sie verdrehten die Werte, suchten ihren
Stolz im Widerspruch und spielten einen Heroismus aus,
vor dessen hochtrabender und auf Schrauben ruhender Pose
die übrige Welt in Gelächter ausbrach. Sie rühmten alle ihre
Schwächen, ja ihre Laster und Verbrechen als Vorzüge und
Tugenden und travestierten damit die Moralität der andern,
denen sie sich überlegen fühlten. Sie fanden nie die freund-
liche, höfliche Einstellung zu den Dingen, sie identifizierten
sich nicht mit den eignen Gedanken. Jedes Rütteln an ihrer
[2]
gewundenen Steifheit nahmen sie als Herausforderung, als
eine persönliche Beleidigung. Sie verstanden es nie, sich
verführen zu lassen, Werbungen zu erwidern. Finster und
verschlossen blieben sie aufgerichtet als eine drohende Kon-
struktion. Enthusiasmus und Liebe beantworteten sie mit
Polizeimassnahmen und Rüstungsfieber. Das Momento mori
des Mittelalters und die daher rührende Gewissenspathologie
hatten es ihnen angetan. Als die geborenen Schwarzseher
wandelten sie; die schwärzesten Mönche haben sie hervor
gebracht: jenen Berthold, der das Schiesspulver erfand, und
jenen Martin, Knecht Gottes, der das frohmütige Kuschen
einführte und die Pedanterie eines darüber keineswegs völlig
beruhigten Gewissens. Nie verliebte man sich in andere
Nationen, stets fühlte man sich als Richter, Rächer und Vor-
mund. Sie misstrauten aus Prinzip, denn man kann nicht
wissen, was einem passiert; die Welt ist bösartig, ausschwei-
fend, räuberisch. Es ist angebracht, stets die Stirne zu run-
zeln, mit geladenem Revolver zu gehen, stechende Blicke
um sich zu werfen, die Brust in Positur zu halten und
mit verbissenen Nussknackerkiefern den Muskel spielen zu
lassen. Ein Barockvolk kat exochen, Kopf und Körper ein
Hirn- und ein Muskelkrampf; ein drohendes Drahtgespenst
mit Allongeperrücke, jedoch keine Menschheit. Nie traten
epochale Entspannungen ein.
2.
Was man die deutsche Mentalität nennt, hat sich be-
rüchtigt gemacht und ist trauriges Zeugnis der Prinzipien-
und Herzlosigkeit, des Mangels an Logik und Präzision, vor
allem aber an instinktiver Moral. 1914: kaum eine offizielle
Persönlichkeit, die sich nicht kompromittierte. Pastoren und
Dichter, Staatsleute und Gelehrte wetteiferten, einen mög-
lichst niedrigen Begriff von der Nation zu verbreiten. Eine
Vermengung von Interesse und Wert, von Befehl und Idee
[3]
trat zutage, die Potsdam mit Weimar und Weimar mit
Potsdam in rührender Hysterie zu entschuldigen suchte.
Das ewig Papierene wurde Ereignis. Dreiundneunzig In-
tellektuelle bewiesen durch ein bombastisches Manifest, dass
sie als Intellektuelle nicht mehr zu zählen sind. Die
„Hannele“-Dichter kamen an den Tag und in die Hetz-
presse. „So wie des Deutschen Vogel, der Aar, hoch über
allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutsche sich
erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt und das
er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt“ 1). Mentalitätler
aller Gauen bemühten sich, der Weltlage gerecht zu werden.
Leider, die Weltlage bekam ihnen schlecht. Nur mit ver-
renkten Knochen und verdrehten Augen standen sie auf
vom Prokrustesbett. Philistin- und Papierexistenzen gingen
zu Dutzenden auf in Rauch und grotesker Spirale. Ich will
hier nicht mit Zitaten aufwarten, die jedermann im Notiz-
buch trägt. Es ist nicht die Zeit mehr, die Zeit auszu-
schneiden. Wir wissen Bescheid. Es ist an der Zeit, Kon-
sequenzen zu ziehen. Wen überrascht es noch, dass die
Pastoren dem Blutrausch verfielen? Tanzten sie nicht von
je um die Golgathastätten, auf denen die Menschheit ge-
opfert wurde? Wen überrascht es noch, dass der deutsche
Gelehrte in seinem Dünkel und Grössenwahn sich gedrun-
gen fühlte, auch dort zu votieren, wo er nichts mehr ver-
stand? Wenn man über die Balkanvölker zu sagen weiss,
dass dort vor Zeiten Poseidon als Hengst und Bacchus als
Bock spazierten 2): löst man damit die serbische Frage?
Dies Buch handelt von der deutschen Intelligenz, nicht
von der deutschen Schildbürgerei. Es kann mir nicht daran
gelegen sein, alle Entgleisungen, Ueberhebungen und
Lächerlichkeiten meiner Landsleute aufzuzählen. Gewiss,
deren Charakterologie wäre ein dankbares Thema. Auch
die All- und Eintäglichkeit hat ihren geistigen Kontrapunkt.
Karl Kraus, der apokalyptische Feind der „Journaille“ hat
ihn bewältigt 3). Man lese, ist man Oesterreicher oder
[4] Deutscher, seine Werke, lache, weine oder schäme sich.
Ich fühle in meinem Thema keinerlei Anlass, mich lustig
zu machen. Die Ironie der Ereignisse erfordert dringlichere
und produktivere Methoden als das Pamphlet. Uns ist die
Aufgabe gestellt, zu untersuchen, ob der deutsche Geist
auf Befreiung oder aufs Gegenteil drang. Die Methoden
zu zeigen, die er befolgte und die Resultate, die zu ver-
zeichnen sind.
3.
Der deutsche Geist, die deutsche Intelligenz: unter
Franzosen und selbst unter Deutschen wird man lächeln.
Gibt es das? Ist es kein Widerspruch in adjecto? Und
doch gilt es, hier ernst zu bleiben. Was ist die Intelligenz
eines Landes? Die geistige Elite, jene seltenen und wenigen
Menschen, die ihre Erlebnisse und deren Resultate kom-
munizieren zum Zweck einer höheren Vernunft. Jene geistige
Gesellschaft oder Partei, deren höhere Vernünftigkeit sie
veranlasst, ihre Kenntnisse, Gedanken und Erfahrungen dem
Volksganzen zuzuwenden, aus dem sie kommen; jene in-
tellektuelle Verzweigung, die in ihren bewusstesten und
höchsten Vertretern nach geheimen umfassenden Gedanken
lebt und handelt; in aller Oeffentlichkeit der Presse,
der Strasse oder des Parlaments sich dokumentiert und
der Menschheit Ziele setzt, Wege zeigt, Hindernisse hin-
wegräumt in Voraussicht des Tages, da alle vernünftigen
Wesen nach dem Worte des Origines in einem Gesetze
vereinigt werden.
Was unterscheidet die grosse Menge des Landes von
seiner Intelligenz? Der Mangel an Ueberzeugung, an Sach-
lichkeit, an historisch bedingten Zielen und wohl an Ver-
antwortung. Vor allem aber der Ausschluss aus jener
gütigen Konspiration der Geister, die ich die Kirche der
Intelligenz nennen möchte, jener Gemeinschaft der Auser-
[5] wählten, die zugleich Freiheit und Heiligung in sich tragen;
die den Kanon der Menschheit und Menschlichkeit auf-
rechterhalten und über Jahrhunderte weg zwischen Schi-
mären, Tierleibern, Fratzen und Höllenspuk das Urbild des
Schöpfers wahren.
Die Mentalität der Menge: das ist eine Summe von
Ziel- und Rastlosigkeit, von Verzweiflung und kleiner
Kurage, von Opportunismus und Weichlichkeit, von ver-
kappter Sentimentalität und überhobener Arroganz. Die
Mentalität der Menge: das ist ihr schlechtes Gewissen,
das sind ihre Fälscher und Wortverdreher, ihre „jahraus
jahrein galoppierenden Federn“ und Denunzianten, ihre
Spitzel und Rabulisten, ihre Grossmäuler, Demagogen und
Faselhänse. Ein heilloses Konzert! Eine Orgie seltsamer
Verzerrung! Wehe dem Land, wo solche Mentalität den Geist
überschreit, aber dreimal wehe dem Land, wo sie allein
nur herrscht und sich selbst für den Geist hält. Verhärtung,
Zerrissenheit, Korruption verhindern das Mass und die
Norm; Tobsucht und Wut sind Trumpf. Solch Land ist
verloren und weiss es nicht.
4.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Intelligenz ist es,
den Blick der Nation dorthin zu lenken, wo die grossen
Ideen herkommen; Raum zu schaffen für diese Ideen und
dem Lauf der Geschichte mit tausend offenen Sinnen knapp
auf den Fersen zu folgen. Die Geister, die Deutschland zu
bilden versprachen, jene Musiker der Kriterien und Masstäbe,
die in Philosophien wie in Partituren zu lesen verstanden, sind
nicht Legion. Sie fanden ihre Aufgabe erschwert. Sie fanden sich
von Anfang an in einer Umgebung, die ihre Aufgabe nicht
stützte, sondern ihr höhnisch und krass widersprach, ja sie un-
möglich machte. Die Idee des Imperium Romanum, die das
ganze Mittelalter erfüllte, Verbindung und Widerstreit zwischen
[6] Kaiser und Papst, liess Deutschland als Vormacht der Welt
erscheinen. Das heilige römische Reich deutscher Nation
und die Heraldik gotischer Kaiser prägten dem Volk ein
Bewusstsein ein, das im Waffenklirren, im Richteramt, im
Henken, Zerschmettern und in der Gewalt einen Gottes-
dienst und die Mission sah. Kein entscheidendes nationales
Erlebnis hat diese Meinung hinweggefegt: weder die Re-
formation, noch die grosse französische Revolution. Deutsch-
land empfindet noch heute sich als den „Genius des Krie-
ges“ und zugleich als „moralisches Herz“ der Welt 4), und
war doch und blieb so lange grobknochiger Henker, be-
trunkener Vasall, hartmäuliger Landsknecht der Päpste. Da-
mals redeten Priester ihm ein, kleines Gehirn sei Soldaten-
tugend. Jenes egozentrische Delirium voll Arroganz und
Bramabarsierens, das in den Schriften der Treitschke und
Chamberlain auferstand — in den Kaisern des Mittelalters
fand es sein erstes Symbol.
Die Geister, die Deutschland zu bilden versprachen,
kamen sehr spät. Italien, Spanien, Frankreich hatten längst
eine reiche Kultur. Deutschland war ungebrochen ein krüdes
Barbarenvolk, dem Trunke ergeben, verroht und verblödet
durch Kreuzzüge und endlosen Waffendienst, versklavt und
verhärtet durch Junker und Pfaffen. Shakespeares Komödien
schildern den Deutschen als einen Rüpel und Trunkenbold.
Léon Bloy zitiert für die historische deutsche Verrohung
und Korruption sogar Luther 5). Die grosse Bewegung der
Aufklärung brach hier nicht durch. Die Vox humana der
Nachbarländer fand nur den spärlichsten Nachklang. Heute
noch fehlt uns das Menschheitsgewissen. Heute noch schwan-
ken die Geister und schwankt die Nation im Widerspruch
zwischen Kulturbegriffen. Religiöse, moralische, ästhetische
und politische Nenner wurden zur Geltung gebracht, doch
keinem gelang es, die Einheit zu schaffen und alle bekämpf-
ten sich. Noch in unseren Tagen versuchte das kaiserlich-
päpstliche Universalreich neu aufzuerstehen, und nur die
[7] Kriegsschuld, zu der das Uebergewicht einer gewalttätig-
verschlagenen Kaste führte, verspricht, die gefährlichen
Atavismen hinwegzuräumen. Die Einordnung Deutschlands
in eine Liga der europäischen Völker ist eine unabweisbare
Forderung. Mit stürmischem Nachdruck muss sie erhoben
werden. Wozu die Nation selbst zu träge und ihre Geister
nicht stark genug waren: die Isolation zu sprengen, in die
sich Deutschland drohend und eigensinnig begab: heute
müssen die Nachbarvölker erzwingen, dass der veraltete
Unfug des Waffenspektakels für alle Zeiten beseitigt werde.
Die Einreihung Deutschlands! Hier zeigt sich endlich die
Einheitsidee, die Heilung, Grösse und Demut verbürgt. Das
deutsche Volk soll die Augen öffnen. Sein Vorteil wird
sein, dass es mit Schmerzen, Unglück und Opfern geschla-
gen wird. So wird es die Kraft in sich finden, zu fallen
und aufzuerstehen. Wir verlangen die Demokratie. Der
politische Geist ist der ordnende Geist. Keine Phrasen und
Umschweife sollen mehr gelten. Deutschland ist schuldig
und muss seine Schuld bekennen, soll sich der Aufbau
Europas vollziehen. Die Proklamation neuer Menschen- und
Nationalitätenrechte beendet den Krieg. Nicht mehr um Me-
taphysik — es handelt sich um die Erde und wie man sie
einrichten soll, um zusammen leben zu können. In den
Köpfen der Staatsmänner, wenn sie auch nicht das letzte
Wort haben werden, lebt schon der Grundriss, auf dem
sich das neue Gebäude der Menschheit erheben soll. Was
bisher Fragment war und nur in wenigen Köpfen utopischen
Ausdruck fand, wird gebunden werden und sich organisch
entfalten. Mit Tod, Bankerott und Verderben rückt für Deutsch-
land das erste politische Freiheitserlebnis umfassenden Sinnes
heran, seit die christliche Korporationsidee Europa verloren
ging. Sind aber erst die Wände gefallen, die heute das deutsche
Volk noch im Ghetto halten, hat die Nation erst in einem
elementaren Ausbruch von Enthusiasmus die Ketten zer-
rissen, die heute noch ihre Menschlichkeit lähmen, so wer-
[8] den sich auch die Geister finden, die ihr den Weg zeigen
zu jenen Grosstaten der Menschheit, mit denen man heute
in Deutschland prahlt, ohne zu wissen, worin sie bestehen.
Dann wird sich das Mass ergeben des Wissens, worin
man stolz sein darf und wo man sich schämen muss.
5.
Man sieht: hier wird verneint, dass es eine deutsche
Intelligenz schon gab, ja geben konnte. Es gab Fragmente,
Ansätze, Versuche, aber keine Durchdringung und Auf-
hellung der Nation. Auch Deutschland hatte seine grossen
Männer. Aber der Widerspruch, in dem sie zur Gesamt-
heit standen und jene mit sich selbst unzufriedene Selbst-
zufriedenheit, die das Volk charakterisiert, verwandelte in
diesen Männern die Liebe zu Hass, die Freude in Ver-
zweiflung. Von Banausentum, Intrigen und Pedanterie ein-
gekreist, sahen sie ihre besten Entwürfe verkümmern. Von
keiner begeisternden Welle getragen, wurde ihr Schaffen
ihnen zur Qual, ihr Leben zum Leidensweg, und wenn sie
die Aussichtslosigkeit erkannten, war es zu spät.
Thomas Münzer Archifanatikus: eine ganze Hierarchie
des Leidens trug er in sich. Er ist verschollen in diesem Volk,
sein Name ist kaum bekannt. Hölderlin klagt: „Barbaren von
alters her, durch Fleiss und Wissenschaft und selbst durch
Religion barbarischer geworden, tief unfähig jeden gött-
lichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der
heiligen Grazien, in jedem Grad der Uebertreibung und
der Aermlichkeit beleidigend für jede gut geartete Seele,
dumpf und harmonienlos wie die Scherben eines wegge-
worfenen Gefässes: — das, mein Bellarmin, waren meine
Tröster“ 6). Von Goethe kam jenes resignierte Wort:
„Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit
einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können
noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren
[9] Landsleuten soviel Geist und höhere Kultur eindringe und
allgemein werde, dass man von ihnen wird sagen können,
es sei lange her, dass sie Barbaren gewesen“ 7). Von Goethe
jener verzweifelte Spruch, das sauve qui peut, das er achsel-
zuckend der geistigen Partei seiner Zeit zurief:
Behauptet hat er sich, versteift in diesem Volk. Magister
sezierten ihn, Philologen wie Blutegel setzen sich an. Po-
pularität aber erlangte er noch heute nicht. In seinen
wichtigsten und sublimsten Entscheidungen stiess er auf
Harthörigkeit, blieb er ein Missverständnis und Wunder 8).
Heinrich Heine floh entsetzt nach Paris. Die Goncourts
behaupteten, dass er mit zwei anderen Nichtparisern die
Quintessenz des Pariser Geistes darstellte; in Deutschland
aber wird er noch heute malträtiert 9). Friedrich Nietzsche
hat den Deutschen die schlimmsten Dinge nachgesagt,
die man einer Nation nachsagen kann; er fand: „Die Deut-
schen sind in die Geschichte der Erkenntnis mit lauter
zweideutigen Namen eingeschrieben, sie haben immer nur
unbewusste Falschmünzer hervorgebracht 10)“. „Psychologie“,
fährt er fort, „ist beinahe der Masstab der Reinlichkeit
oder Unreinlichkeit einer Rasse. Und wenn man nicht ein-
mal reinlich ist, wie sollte man Tiefe haben? Man kommt
beim Deutschen, beinahe wie beim Weibe, niemals auf den
Grund, er hat keinen; das ist alles. Aber damit ist man
noch nicht einmal flach. Das, was in Deutschland „tief“ heisst,
ist genau die Instinkt-Unsauberkeit gegen sich, von der ich
eben rede: man will über sich nicht im klaren sein“. Und
doch hatte auch er begonnen voller Hoffnung auf eine
geistige Einheit, auf ein heroisch deutsches Ideal, das der
Hort alles höheren Europäertums werden könne 11). Die
Nation zwang ihn zum Ressentiment, zur Germanophobie.
[10] Am Ende seiner Laufbahn bedauerte er, nicht französisch
geschrieben zu haben und wollte als Pole gestorben sein.
Man lese jene erschütternde, kurz vor seinem Zusammen-
bruch geschriebene Abrechnung mit der deutschen Mentali-
tät, „Ecce homo“, um zu ermessen, wie hier ein deliziöser
und hochgespannter Wille an der historischen Mesquinerie,
der platten Denkwirtschaft und faulen Gemütlichkeit seiner
Nation sich gescheitert fühlte. Man vernehme auch Schopen-
hauers Testament, das also lautet: „Sollte ich unvermutet
sterben und man in Verlegenheit kommen, was mein po-
litisches Testament sei, so sage ich, dass ich mich schäme,
ein Deutscher zu sein und mich darin auch mit all den
wahrhaft Grossen, die unter dies Volk verschlagen wurden,
eins weiss“.
Ich habe die besten Namen der Nation genannt, und
man kann nahezu an der Heftigkeit ihrer Verzweiflung die
Höhe ihrer ursprünglichen Intention ermessen. Sie fühlten
sich auf verlorenem Posten, und je später sie es einsahen,
desto blutiger lehnten sie die Gemeinschaft ab. Man könnte
versucht sein, Heinrich Mann zuzustimmen, der als Motto
über seinen durch den Krieg abgebrochenen Roman „Der
Untertan“ die tristen Worte schrieb: „Dies Volk ist hoff-
nungslos“. Wenn sich die stärksten und menschlichsten
Geister gegen ihr Volk erklärten: Was bleibt zu tun? In Böotien
baut man Kartoffeln, Tragödien schreibt man in Athen.
Wo fand sich in Deutschland jene vergötternde Begeiste-
rung, jene Zärtlichkeit, mit der französischen Geister Frankreich
Notre Dame und La douce France nannten 12)? Charles
Maurras schlug vor, Frankreich als Göttin zu verehren und
Léon Bloy, einer der heftigsten Pamphletisten, die Frank-
reich erlebte, noch er fühlte das Recht zu schreiben: „La
France est tellement le premier des peuples que tous les
autres, quels qu'ils soient, doivent s'estimer honorablement
partagés quand ils sont admis à manger le pain de ses
chiens 13)“. In keinem andern Volk hat der esprit religieux
[11] solche Höhen und Tiefen erreicht wie im Frankreich der
letzten fünzig Jahre. Die Kirche der Intelligenz: hier wurde
ihr Grundstein gelegt. Geister wie Renan, Baudelaire,
Erneste Hello, Barbey d'Aurevilly, Léon Bloy, Charles
Péguy haben wie in einer Vorahnung furchtbarer und ver-
worrener Jahrhunderte den limbus patrum geschaffen, der
den gott- und geistlosen Animalismus unserer Zeit richtet
und die trostlose rationalistische Verflachung eines Jour-
nalisten- und Diplomatenzeitalters belächelt. Als Kirchen-
väter des kommenden Europa zogen sie die letzten,
sublimsten, sakramentalen Konsequenzen aus Mittelalter und
Christentum, wurden sie Angelpunkt und Mass einer neuen
Welt. Das Gewissen nicht nur Frankreichs sprach in ihren
Schriften, die eine Apologie immer wieder desselben Themas
sind: Pietas et paupertas sancta. „Unsere Gegner von
damals“, schrieb Charles Péguy, „führten die Sprache der
Staatsräson, die Sprache des zeitlichen Wohls eines Volkes
und einer Rasse. Wir Franzosen, getragen von einer tief
christlichen Bewegung, von einem revolutionären und in
seiner Gesamtheit doch traditionellen Gedanken der Ver-
christlichung, erreichten die Höhe der Passion in der Sorge
um das ewige Heil unseres Volkes. Wir wollten nicht, dass
Frankreich im Zustande der Todsünde dastehe“. Und Romain
Rolland, der diesem Worte ein unerbittlicher Wächter hätte
bleiben sollen, statt zwischen seiner Märtyrernation und einem
infernalischen Deutschland samaritanische Vermittlungs-
versuche zu unternehmen. Romain Rolland fügt hinzu:
„Vernehmet einen Heroen des französischen Gewissens,
Schriftsteller, die ihr über dem Gewissen Deutschlands zu
wachen habt 14)“.
Wo fand man in Deutschland jenen Geist der Freiheit,
der das Gewissen des russischen Volkes seit 1825 in hef-
tigen Wehen geschüttelt hat? Jenes kraftvolle Bewusstsein
künftiger Grösse, das in weniger als hundert Jahren ein
durch seine Sprache und Einrichtungen tief vom euro-
[12] päischen Leben getrenntes Volk an die Spitze des verwirrt
und erstaunt nach Osten aufschauenden Europa stellen will
trotz Bolschewikentum und jüdischem Revancheterror? Wo
fand sich in Deutschland jener phantastische Opfermut, der
in der Geschichte der russischen Revolution seit hundert
Jahren Grosstaten wie Sterne aufblühen und in den Ge-
fängnissen, Festungen und Füssiladen Sibiriens lautlos und
glühend versinken liess? Jener Mut zur Fronde, jener Fa-
natismus geistiger Interessen und Kommunion, jener prak-
tische Ernst und jene Versatilität der politischen Methode,
die Russland zur Grossmacht der Freiheit erheben? Von
den Dekabristen Pestel, Muravjew und Rylejew angefangen
bis zu europäischen Geistern wie Herzen, Bakunin und
Ogarjow; von Konspiratoren wie Tschernischewsky,
Serno-Solovjewitsch und Netschajew bis zu Krapotkin,
Tolstoi und Lenin: welche Unsumme politischer Energie,
nationalen Gewissens und bis zum Wahnsinn gehender
Hingabe an die Idee der Geringsten und der Ver-
lorensten unter den Menschen! Hat das deutsche Volk jede
Besinnung verloren? Fühlt es sich wirklich nur noch be-
rufen, alles Grosse zu vernichten und zu bekämpfen, statt
in Scheu und Demut die Waffen wegzuwerfen und die
Hände auszustrecken?
6.
Freiheit und Heiligung: das sind die beiden Ideen,
die heute die Welt bewegen. Nicht jenes Freiheitsbestreben
preussischer Fürsten und ungarischer Magnaten, das darin
besteht, jede Willkür für sich zu fordern und nicht kon-
trolliert zu sein. Nicht jene Heiligung, die durch Verschlucken
von Hostien, Zitieren von Bibelsprüchen und Glaube an
einen gestorbenen Gott der einfachsten Menschenpflicht sich
enthoben glaubt; auch jene „Heiligung“ nicht, die da sagt:
„Es ist die lichteste Eigenart unseres deutschen Denkens,
[13] dass wir die Vereinigung mit der Gottheit schon auf Erden
vollziehen“, um dann hinzuzufügen: „Wir sind ein Volk
von Kriegern. Militarismus ist der zum kriegerischen Geist
hinaufgesteigerte heldische Geist. Es ist Potsdam und Weimar
in höchster Vereinigung. Es ist „Faust“ und „Zarathustra“
und Beethoven-Partitur in den Schützengräben“ 15). Oh
diese Herren Sombart, wie wenig ahnen sie von der Ver-
einigung mit der Gottheit!
Freiheit und Heiligung: das heisst Opfer und noch
einmal Opfer, Opfer an Gut, und wenn es sein muss, an
Blut, aber in einer anderen Sphäre, auf einer anderen Bühne
als auf dem wackelnden heutigen Kriegstheater! Als Michael
Bakunin nach zehnjähriger Kerkerhaft und Verbannung mit
krummem Rücken, ohne Zähne, herzkrank und grau, als
Fünfzigjähriger auf dem Friedens- und Freiheitskongresse
in Bern erschien, umringten ihn seine Freunde aus den
achtundvierziger Jahren, und man bestürmte ihn, die Me-
moiren seiner Konspirationen und Strassenkämpfe, seiner
Todesurteile, Verbannung und Flucht zu schreiben. „Il
faudrait parler de moi-même!“, sagte er. Er fand, es gäbe
wichtigere Dinge zu tun, als von der eigenen Person zu
sprechen. Und von Léon Bloy rührt das tief verlorene,
vielleicht religiöseste Wort unserer Zeit her: „Qui sait, après
tout, si la forme la plus active de l'adoration n'est pas le
blasphème par amour, qui serait la prière de l'abandonné?“
Versteht man danach, was Freiheit und Heiligung ist?
ERSTES KAPITEL
1.
Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter
dem Schlagwort Pangermanismus vereinigten Tendenzen zu
jener furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und
verspürt, so muss man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter.
In dem mittelalterlichen Kampf um die Suprematie zwischen
geistlicher und weltlicher Macht, zwischen einer geistigen
Oberleitung durch den Papst und der tobsüchtigen Wild-
heit barbarischer Könige spielten sich die ersten Entschei-
dungen europäischer Geschichte ab. Als Otto I. sich im
Jahre 962 vom Papste die Kaiserkrone erzwang, entstand
das „Heilige römische Reich deutscher Nation“. Unter
Otto III. gab es bereits einen deutschen Papst, kaum dass
es ein deutsches Volk gab. Es folgten die Kreuzzüge, in
denen die Päpste der übermütigen Barbarenkraft und den
verheerenden Einfällen deutscher Könige nach Italien eine
phantastische Ablenkung schufen. Es folgte die Unterwerfung
des geschwächten Staates unter die Kirche durch Gregor VII.
Der päpstlich-kaiserliche Universalstaat des Mittelalters
leitete eine innige Verbindung der deutschen Völkerschaften
mit dem zivilisiertesten Lande der damaligen Welt, Italien,
ein, und wenn die gewaltsamen deutschen Könige auch,
sobald sie den Segen empfangen hatten, nur Richtschwert
und Vollstrecker des römischen Willens geworden waren,
so verlieh ihnen diese Weihe doch die „Kulturmission“,
Mehrer des Kirchengebiets und Verbreiter des Evangeliums
zu sein, und damit jene heraldische Attitüde einer von
Reichstrompetern begleiteten theologischen Majestät, der die
buntbäurische Phantasie des deutschen Volkes noch heute
[15] nicht gewachsen ist. Jahrhunderte lang verbreitete das Schwert
der Kaiser den Christenglauben, wie es unter Muhamed den
Islam verbreitet hat. Und nicht erst heute, sondern schon
zu Gutenbergs Zeiten findet sich in der Presse die op-
timistische Ueberzeugung, die deutsche Nation sei von Gott
bevorzugt und von der Vorsehung auserwählt 1). Sie war
aber nur von den Kardinälen auserwählt und vom Papste
bevorzugt. Die deutschen Könige hatten sich ihre Stellung
durch Bluttat und Gewalt ertrotzt. Ihre Kulturleistungen blieben
weit hinter dem zurück, was gleichzeitig Arabien, Spanien
und Italien in Kunst, Literatur und Wissenschaft leisteten.
Noch heute sehen unsere deutschen Schulräte, Ge-
schichtschreiber und Pädagogen nicht ein, dass keine
Veranlassung vorliegt, auf diese Tradition besonders stolz
zu sein. Deutschland war keineswegs das „moralische Herz
der Welt“, wie Herr Scheler glauben machen will. Die
Moralität war in Deutschland, von vereinzelten Mystikern und
Troubadouren abgesehen, unausgebildet, abseitig und grob.
Das Land war Rüstkammer und Arsenal für die weltlichen
Ziele des Papsttums. In solchen Ländern ist wenig Raum
für die Ausbildung verfeinerter Sitte. Profoss und Schrecken
brachten den Päpsten die Barbarossas, Ottos und Fried-
richs. Wen deshalb der Papst zum Kaiser salbte, dem
legte er damit die Verpflichtung auf, dass solch „aposto-
lische Majestät“ — noch heute trägt der Kaiser von Oester-
reich den Titel — den gewaltigen europäischen Kirchen-
staat vergrössere oder verteidige, auf welche Art immer es
geschehe.
Das „Heilige römische Reich deutscher Nation“ wurde
von Luther zerstört. Luthers robust gewaltige Persönlich-
keit ist geschichtlich nur zu verstehen, wenn man den
Kampf zwischen Kaiser und Papst sich vergegenwärtigt.
Luther trennte Deutschland von Rom und schuf damit
die Voraussetzung für die Unabhängigkeit des heutigen deut-
schen Feudalismus. Er lieferte den deutschen Fürsten und
[16] Reichsherolden wie Treitschke und Chamberlain die Ideolo-
gie für jene egozentrische Selbstüberhebung, die sich in
den Köpfen alldeutscher Generäle und Subalternpropa-
gandisten zu einem Delirium ausgewachsen hat. Von den
Zeiten der Reformation an gelang es den Päpsten nicht
mehr, die deutsche Macht unter eine geistige Obhut zu
beugen. Luther wurde ein Angelpunkt der Geschichte.
Von Luther an beginnt sich ein neuer Universalstaat
vorzubereiten, in dessen Zentrum nicht mehr die ganz
klerikale, sondern die ganz profane Gewalt steht. In den
grossen Bauernkriegen von 1524/25 handelte es sich darum,
ob die uralte Feudaltradition Deutschlands gebrochen werden
könne oder nicht. Jene deutsche Revolution (wichtiger heute
als die Reformen, in denen sie erstickt wurde) missglückte.
Der Feudalismus erhob sich gestärkt. Im Aufkommen der
Hohenzollern verjüngte er sich. Das Aufkommen der Hohen-
zollern brachte den Konkurrenzkampf mit Habsburg, dem
letzten Rudiment des mittelalterlichen Systems. Dazumal
gingen die geistlichen und weltlichen Methoden der
Universalstaats-Politik und -Diplomatie von Wien in die
preussischen Kabinette über. Und heute erleben wir, wie
derselbe auf die Besitzlosen, das Proletariat, gegründete
Universalstaat des Mittelalters von Berlin aus wiederaufzu-
stehen bemüht ist 2).
Jetzt ist es umgekehrt. Das kaiserliche Regime sucht
den Papst (und die Freiheitsideologie, die geistige Macht)
zu benützen, wie im Mittelalter der Papst den Kaiser aus-
spielte. Steuerte Habsburg die diplomatischen Methoden bei,
so Robespierre die staatlichen und Napoleon die militä-
rischen. Eine satanische Macht regiert heute Deutschland
und sucht sich von dort aus die Welt zu unterwerfen. Das
Mittel ist Zweck geworden. Die Profanität triumphiert, und
eine Entwertung aller Werte findet statt, die niemals ihres-
gleichen sah.
Als Dante seine Schrift „De monarchia“ schrieb, liess
[17] er sich kaum träumen, dass er die Hölle selbst damit be-
günstigte. Gott ist Werkzeug der Monarchie geworden.
Moral und Religion sind der omnipotenten Staatsgewalt
untergeordnet. Und die Folge dieser Perversion der Moral-
begriffe ist, dass man die teuflischsten Dinge im Namen
Gottes verherrlicht, ohne jegliches Gefühl und Gewissen
für die Inferiorität dieses Evangeliums der reinen Kraft
und Gewalt.
Jede Art Mystik, jede Art Religion, jede Regung des
Seelenlebens und der menschlichen Sehnsucht, alles, was
dem Menschen heilig ist, wird von diesem System in raffi-
niertester Weise benützt, um den Menschen zu fassen und
gefügig zu machen. An die Stelle des Ablasses ist der
Aderlass getreten. An die Stelle der Ohrenbeichte die
Detektivpolizei. Die grossen moralischen Werte der Mensch-
heit (Seele, Friede, Vertrauen; Achtung, Freiheit und Glau-
ben) werden nach dem Erfolg berechnet und als Mittel zur
Erreichung von Zwecken ausgespielt, die der traditionellen
Bedeutung dieser Worte entgegengesetzt sind. Das klerikale
Collegium de propaganda fide ist ersetzt von einem jour-
nalistischen de propagando bello, und die Freude und der
Stolz, mit denen man diesem verwerflichen System dient,
geben die Beleuchtung zu einem infernalischen Totentanz,
in dem die Reste deutschen Wesens in Verwesung übergehen.
2.
Wir, die wir dieses System bekämpfen, sind gezwungen,
seine Heroen zu revidieren. Mit nationalen Vorurteilen muss
aufgeräumt werden wie mit individuellen. Es geht nicht an,
dass noch heutzutage ein Sozialist von der Bedeutung
Camille Huysmans von Deutschland als der „généreuse
Allemagne de Luther“ spricht 3). Luthers Deutschland war
nichts weniger als generös. August Bebel hat in seinem
„Bauernkrieg“ ein Bild des damaligen Deutschland entworfen;
2
[18] das Werk kann nicht nachdrücklich genug empfohlen
werden 4). 1517 wurden durch die Tat eines politisch
und geistig gleich unvollendeten Mönchs Europa und die
christliche Kultureinheit zerrissen, und dieser Luther gilt
heute der grossdeutschen Feudalpolitik als erster europä-
ischer Exponent ihres ‚divide et impera‘ 5). Heute, vier Jahr-
hunderte später, hiesse es Europa nur dürftig zusammen-
flicken, wollte man den Glauben an die offiziellen Heroen
und Propheten bestehen lassen.
Der Ideenstreit um eine neue Menschheit ist entbrannt,
und in der Lösung der Menschheitsfrage wird auch die
politische beschlossen liegen.
Die mittelalterlichen Probleme sind noch heute nicht
ausgetragen. Noch fehlt Europa eine neue Hierarchie, eine
Hierarchie von Geistern, fähig und stark genug, jene mittel-
alterliche geistliche Hierarchie zu ersetzen; eine Rangleiter
der Leistungen und Vermögen, sowohl zwischen den
Völkern wie zwischen den Individuen; eine unsichtbar
abgestufte geistige und moralische Gesellschaft, fähig, wieder
die Oberhand zu erlangen über den Satanismus der in
rudimentären Einrichtungen und Formeln vereinigten Pro-
fanität, die heute ihre entsetzliche Todesorgie feiert. Dann
erst wird das Mittelalter überwunden sein.
Uns Deutsche führt die Beteiligung an dieser Aufgabe,
der eine Elite hervorragender Männer des letzten Jahr-
hunderts gedient hat, tief bis ins Mittelalter und in die Zeit
Luthers zurück. Die Revision unserer intellektuellen Ge-
schichte soll uns neue Impulse geben, und manches wird
fallen müssen, an das wir glaubten und glauben gemacht
wurden.
Ein neues Gut und Böse. Neue Gewissenskämpfe.
Göttlich und Teuflisch nicht mehr klerikales Symbol, doch
deshalb beileibe nicht Hohn und Verachtung. Die Aufgabe
aber dieser Hierarchie aller gutgesinnten Geister und Werke
soll sein: eine Syntax der neuen Gottes- und Menschen-
[19] rechte. Keine Civitas dei ohne eine Civitas hominum! Die
neue Gemeinschaft soll dienen der Verbreitung eines Reichs
aller Menschen, die eines guten Willens sind.
Wenn das Wort von der deutschen Universalität wahr
ist, so mögen die Deutschen herauskommen aus ihrem
politischen Ghetto, um zu zeigen, was sie zu sagen haben.
Nicht aber mit der Trägheit prügelnder Waffen, sondern
mit der Energie klarer Gedanken. Nicht auf das Verant-
wortungsgefühl gegenüber der Menschheit kommt es an,
wie Prinz Max von Baden zu glauben scheint 6), sondern
auf die Verantwortung mit und inmitten der Menschheit.
Der Uebermensch muss dem Mitmenschen weichen. Nicht
Leiden schaffen, sondern Leiden beheben. Nur so besteht
die Hoffnung, dass das automatisch eingetretene Schicksal
einer automatisch gewordenen Welt, der Selbstbestimmung
des Einzelnen und damit der Freiheit weicht.
3.
Die konsistorialrätliche deutsche Reichsgeschichts-
schreibung hat verhindert, gerade über Luther nachzudenken,
und das beweist, wie notwendig es ist. Damals zu Luthers
Zeit, fand jenes Bündnis der deutschen Bourgeoisie mit
dem Feudalismus statt, das alle europäischen Revolutionen
überdauerte und heute Europa zu knebeln und niederzuwerfen
gewillt ist. Luther war dieses Bündnisses Prophet und
Herold. Durch seine Stellungnahme im Ablassstreit hat er
die Landstände, Fürsten und Magistrate brüderlich verbunden.
Indem er das Gewissen in den Schutz weltlicher Fürsten
stellte, half er jenen Staats-Pharisäismus schaffen, für den
das Gottesgnadentum, die gottgewollte Abhängigkeit und
die Phrase vom „praktischen Christentum“ gleicherweise
Symbole sind. Durch sein despotisches Auftreten in den
Bauernkriegen aber verriet er die Sache des Volkes an den
Beamtenstaat.
[20]
Die Tat Luthers soll keineswegs verkleinert oder verun-
glimpft werden. Vom alldeutschen Standpunkt aus muss man
sie vergöttern, gewiss. Vom Standpunkt der Demokratie aus
muss man sie verwerfen. Wer gegen die heutige Tyrannei
protestiert wie Luther vor 400 Jahren als Mönch protestierte,
hat das Recht, sich auf ihn zu berufen. Auch soll den Evange-
lischen nicht ihr Heiliger genommen werden, obgleich dieser
Heilige von Heiligen nichts wissen wollte. „Dem Doctor
Luther zulieb“, sagt Naumann, „ist das Jesuskindlein geboren
worden. Der Papst hatte nur einen Schatten davon“ 7). Sei's
drum. Solche Verehrung lassen wir gelten. Jener Luther, der
herzinnige Brieflin an seinen Sohn Hänsigen schrieb; der
die Bibel übersetzte und die Bannbulle verbrannte, bleibt
ewiges Gedächtnis; dem protestantischen Handwerker und
Bauern ein Vorbild des guten Familienvaters, wie Josef von
Nazareth dem katholischen. Ein anderer Luther aber ist es,
den das Wischi-Waschi alldeutschen Geredes und Geschreibes
zu Demagogiezwecken ausspielt. Ein anderer Luther, der
„aus der Polyphonie heraus den tönenden Weg gebahnt“
haben soll „für ein Volk, das Genies gebären wird“ 8).
Nun stehen wir nicht gerade auf dem Standpunkt des
Novalis, der da schrieb: „Es waren schöne glänzende Zeiten,
wo Europa ein christliches Land war, eine Christenheit diesen
menschlich gestalteten Erdteil bewohnte“ 9). Wir sind keine
katholischen Romantiker, Lobredner der Vergangenheit auf
Kosten der Zukunft und Gegenwart. Nicht deshalb sind
wir Antilutheraner, weil wir mit Theodor Lessing glauben:
„Nur solange die grosse Weltidee des Katholizismus eine
gemeinsame Atemluft für Europa schuf, blühte einfältige
Schönheit aus nüchternem Alltag“ 10). Nicht einer katholischen
Renaissance reden wir das Wort, deren obskure Propaganda
„das schöne Werk des Mittelalters“ wieder herzustellen
hofft oder verzweifelt „durch einen Sieg des geeinigten
deutschen und christlich-europäischen Geistes über die
abgefallene Welt ringsum“, wie Herr Scheler 11). Wenn wir
[21] die Reformation, Luther und den Protestantismus bekämpfen,
geschieht es, weil wir in ihnen die Hauptbollwerke einer
nationalen Isolation erblicken, die fallen muss, soll die
einige Menschheit erstehen. Wir glauben auch nicht, dass
es notwendig ist, „der europäischen Entartung Heilmittel
aus der Welt der Upanishads und des Buddha“ 12) zuzuführen.
Das würde, wie die Dinge in Deutschland heute beschaffen
sind, nur die Gelehrsamkeit mehren, die Energie aber
schwächen. Gedacht und geschrieben ist längst genug. Wir
brauchen nur die Essenz zu ziehen aus dem Vorhandenen;
denn es gilt von den Deutschen noch heute, was Bakunin
1840 über sie aus Berlin an Herzen schrieb: „wäre der
zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewusstseins ins Leben
übergangen, so wären sie herrliche Leute“ 13).
Graben wir unsere Bibliotheken aus! Verbrennen wir
alles Ueberflüssige, statt neue „Heilmittel“ zu suchen! Ein
neuer Gewissensstrom komme über Deutschland. Wieder-
erwägung nicht nur politischer Fragen, sondern auch der
Leistungen und Entscheidungen deutscher Geistesheroen,
gemessen an den Forderungen des heutigen Europa.
4.
Man hat Luther den ersten grossen Durchbrecher des
mittelalterlichen Systems genannt, und gewiss mit Recht,
wenn man damit das religiöse System meinte. Die 95 Thesen,
die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg nagelte,
handelten von der „freien Gnade“, und der Ablassstreit, der
daraus entstand, entwickelte sich rapid zum Kampf um das
Recht des Papstes. „Wenn die Gnade Gottes frei wirkte“, sagt
Naumann 14), „hörte alle Zentralverwaltung der Heiligtümer
auf“. Und sie hörte in der Tat auf. Freie Gnade hiess
freies Gewissen, hiess über Seligkeit, Recht und Unrecht, Dies-
seits und Jenseits, von nun an selbständig denken zu dürfen.
Freiheit eines Christenmenschen: das bedeutete, dass das
[22] bürgerliche Individuum gewillt war, von nun an die Ent-
scheidung über letzte Fragen des Daseins auf sein eigenes
Gewissen zu nehmen. Es wäre zu wünschen, dass wir in
diesem Punkte noch heut Lutheraner wären.
Das Religionssystem, das Luther durchbrach, war der
Kollektivbegriff in Glaubensdingen, war die Zentralverwaltung
der Gewissensfragen, nicht nur der Heiligtümer; war der
religiöse Militarismus, der Disziplinarkomplex. Der Einzelne
wagte es, den Gehorsam zu verweigern aus Gründen seines
persönlichen Seelenheils. Davon allerdings ist in Naumanns
sanftmütiger Schrift nicht die Rede. Die demokratische
Gewissheit, mit der Luther auftrat, tritt klar zutage, wenn
man das tolle Selbstgefühl achtet, mit dem er zunächst
alle Seelenkämpfe, alle metaphysische Sorge um Gedeih und
Verderb, und die ganze Last der vielfältigen, haarspalte-
rischen religiösen Probleme seiner Zeit auf die Schultern
des Einzelnen legte. Die ganze Sündenlast des Jahrhunderts
trug nun das Individuum, aber auch aller Seelen Seligkeit
leuchtete aus seinen verzückten Augen. „Der Papst“, sagte
Luther in den Schmalkaldischen Artikeln, „will nicht lassen
glauben, sondern spricht, man solle ihm gehorsam sein; das
wollen wir aber nicht tun oder darüber sterben in Gottes
Namen“. Wo hat gegen die Zensur und den Belagerungs-
zustand des heutigen Diziplinarsystems jemand solche Worte
gewagt? Ist die Propaganda für die Kriegsanleihe so sehr
verschieden vom mittelalterlichen Ablasshandel? Ist ein so
grosser Unterschied zwischen den Pfaffen des alten und
den Professoren des neuen Systems, zwischen den Tetzel
und Sombart? Herr Naumann mag antworten darauf. Der
Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio, zwischen der
äusseren und der inneren Autorität, den der Luther von
1517 aufstellte — wo ist er geblieben? In Russland wurde
er wiedergeboren, in Deutschland aber ist er nicht mehr
zu finden.
Den nötigen Unterschied zwischen Gesetz und Evangelio
[23]
statuiert zu haben, hat Luther sich selbst gerühmt. Noch
1534: „Ich muss immer solchen Unterschied der zwei
Rechte einbläuen und einkäuen, eintreiben und einkeilen,
obs wohl so oft, dass es verdriesslich ist, geschrieben und
gesagt worden. Denn der leidige Teufel hört nicht auf,
diese zwei Reiche in einander zu kochen und zu brauen.
Die weltlichen Herren wollen immer Christum lehren
und meistern, wie er seine Kirche und geistlich Regiment
soll führen. So wollen die falschen Pfaffen immer lehren und
meistern, wie man solle das weltliche Regiment ordnen. 15)“
Deutlicher konnte die Trennung zwischen Staat und Kirche
nicht formuliert werden, und doch haben wir sie heute
noch nicht.
Aber Luther rühmte sich auch, „seit der Apostel Tage
habe kein Doctor noch Skribent, kein Theologus noch Jurist,
so herrlich und klärlich die Gewissen der weltlichen Stände
bestätigt“ 16). Als er auftrat, habe niemand etwas von der
weltlichen Obrigkeit gewusst, woher sie käme, was ihr Amt
und Werk sei und wie sie Gott dienen solle. Und diese
letztere Aeusserung gibt die Bestätigung, welche furchtbare,
dem Mittelalter unbekannte Macht er dem Staate verlieh.
Marsiglio von Padua und Macchiavell hatten dem Staate
lange vorher seine eigenen Aufgaben zugewiesen. Die
Gelehrten aber hatten die Obrigkeit für etwas Heidnisches,
Ungöttliches gehalten, hatten sie als einen für die Seligkeit
gefährlichen Stand bezeichnet. Luther als Erster nahm,
gestützt auf die Bibel, den göttlichen Ursprung nun auch
für die staatliche Obrigkeit in Anspruch. Damit war, als
die Landesgewalten erst begannen, sich mit den Spolien
der Kirche zu bereichern, die staatliche Omnipotenz garan-
tiert: Luther erwies sich nach seinen eigenen Worten als
„falschen Pfaffen“, der lehrte und meisterte, „wie man solle
das weltlich Regiment ordnen“. Er gab dem Staate eine
nie geahnte „Gewissensfreiheit“ und Macht, und erklärte
doch zugleich das Desinteressement des religiösen Individuums
[24] an der Ordnung der Staatsaffären. Alle Weltfremdheit
deutscher Dichter, Gelehrter und Philosophen hat hier
ihren Ursprung. Die verächtliche Geringschätzung, mit der
noch heute der feudale deutsche Staatsmann auf die Vertreter
der Intelligenz seines Landes herabsieht, die ihn doch über-
wachen müssten, — auch sie geht auf Luther zurück. Die
Naivität eines zweideutigen Doctoren der Theologie lieferte
das Volk zu endloser Massregelung auf Treu und Glauben
seinen Junkern, Beamten und Fürsten aus. Und die politisch-
soziale Unproduktivität aller deutschen Geistestaten bis auf
die heutige Zeit wurde höchste Verpflichtung.
Der Weimarer Kanzler Müller erzählt, Napoleon habe
1813 auf einem Ritt nach Eckardsberge geäussert: „Karl
der Fünfte würde klug getan haben, sich an die Spitze
der Reformation zu stellen; nach der damaligen Stimmung
würde es ihm leicht geworden sein, dadurch zur unum-
schränkten Herrschaft über ganz Deutschland zu gelangen“ 17).
Gewiss, das lag nahe. Man darf aber aus diesen Worten
nicht schliessen, dass das Haus Habsburg nicht zu Luthers
Lebzeiten schon sein Wirken sehr aufmerksam verfolgte
und wenigstens auszubeuten gedachte. Jovial richtete Kaiser
Max, der Vorgänger Karls V., an den kursächsischen Rat
Degenhardt Pfeffinger die Gelegenheitsfrage: „Was macht
euer Mönch zu Wittenberg? Seine Sätze sind traun nicht
zu verachten“. Und er gab den Rat, „man solle den Mönch
fleissig bewahren, denn es könne sich zutragen, dass man
seiner bedürfe“ 18). Luther wurde zum Propagandisten der
unabhängigen Fürstengewalt und wenn die damaligen Kaiser
nach Bahrs Wort „die grosse Tat verschmähten“, so ver-
schmähte man sie doch 1871 nicht, als die Zeiten reif
geworden; der Protestantismus wurde Geschäftsträger für
die diplomatischen Beziehungen preussischer Kaiser zum
lieben Gott. Die Polyphonie aber, aus der heraus Luther
den „tönenden Weg bahnte für ein Volk, das Genies
gebären wird“, wurde eine Polyphonie der moralischen
[25] Zwei- und Vieldeutigkeiten. Nicht nur die Obrigkeit hat
er bestätigt — „wenn die Obrigkeit sagt, zwei und fünf sind
acht, so musst Du's glauben wider dein Wissen und
Fühlen“ 19) —, auch den Krieg sanktionierte er. In einer
Untersuchung „ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein
können?“ finden sich die schlimmen Sätze: „Dass man
viel darüber schreibt und sagt, welch eine grosse Plage
der Krieg sei, das ist alles wahr... So muss man auch
das Kriegs- und Schwertamt, wenn es so würgt und greulich
tut, mit männlichen Augen ansehen. Dann wird es von selbst
beweisen, dass es ein an sich göttliches Amt ist, der Welt
so nötig und nützlich wie Essen und Trinken oder sonst
ein andres Werk“ 20).
5.
Die eigentliche Tat Luthers war eine mönchische
Busslehrenrevolte. Nietzsche hat ihn den „unmöglichen
Mönch“ genannt. Luthers jähes und heissblütiges Naturell
geriet im Verzweiflungskampf gegen die fleischlichen und
geistigen Anfechtungen des Teufels auf den Ausweg, die
Notwendigkeit einer unerfüllbaren Klosterdisziplin prinzipiell
in Zweifel zu ziehen. Vergebliches Wüten gegen sein
Temperament und die Ordensregel brachten ihn dazu, die
Mönchskutte abzuwerfen und auf die Heilaussichten einer
vollendeten Kasteiung zu verzichten. Er brach das Ordens-
gelübde und vertrat von nun an die Anschauung, man
brauche nicht Mönch oder Nonne zu sein, um selig zu
werden. Die Zelle war ein Gefängnis für ihn, die Busslehre
eine Tortur.
Als er aus der Kutte sprang, unternahm er mit Ungestüm
den Versuch, eine Rechtfertigung seiner Handlungsweise
zu finden und fand sie, wie er glaubte, im Glauben, dass
der Glaube rechtfertige. Die Bibel allein ist Gottes Gebot.
Vom Mönchswesen enthielt sie kein Wort. Christus am Kreuz
[26] starb für die Sünden der Welt und jedes Einzelnen. Das
Eingeständnis der Sünde genügt. Es erwirkt dem Menschen
die Gnade. Wer seine Sünden bekennt, kann und wird erlöst
werden, gleichviel ob Laie oder Adept. Christi Kreuzestod
und unendliches Opfer enthält die Versöhnung des von
der Menschheit beleidigten Gottes.
Luthers Rechtfertigungslehre hatte für ihn den privaten
Sinn einer Rechtfertigung seiner Handlungsweise, als er
sein Mönchsgelübde brach. In diesem Versuch, sich zu
rechtfertigen, lag aber zugleich eine Rache an der Institution,
der er entfloh, weil er ihr nicht gewachsen war.
‚Man braucht nicht Mönch oder Nonne zu sein, um
selig zu werden.‘ Das brauchte man gewiss nicht, sonst
hätte der Laie ja nicht selig werden können. Aber das
Klosterwesen und Zuchtideal, das Luther damit der Missach-
tung preisgab, hatte nicht nur den Sinn, Schauplatz von Buss-
übungen zu sein zur Erlangung der Seligkeit, grenzenloser
Demut und göttlicher Vergebung. Die Mönchsorden enthielten
die Geheimlehren des Christentums. Die geistlichen Uebungen
der Mönche zielten ab auf ein Freimachen aller geistigen
und wundertätigen Kräfte der menschlichen Natur. Gross-
siegelbewahrer der Mysterien von der Selbstaufopferung,
von der unio mystica mit der Gottheit, von der sinnlichen
und moralischen Ideologie des Abendlandes waren die
Mönche. Die körperliche Disziplin war nicht nur Vorbereitung
für den Zustand der Gnade und Erlösung, sondern Vorstufe
einer Disziplin des Geistes, einer Ars magna der seelischen
Sensationen, die den Triumph des inneren Lebens über
die Körperfesseln und allen Zwang der Kausalität bezweckte.
Das Vorbild Christi machte die Mönche zu Begründern
einer hohen Schule in spiritualibus, deren eminente Be-
deutsamkeit noch für uns Heutige nicht erloschen ist.
René Schickele hat in einem eindringlichen Essay
„Lehrmeister wider Willen: Loyola“ 21) die Bezüge nach-
gewiesen, die die spanische Mönchsdisziplin noch mit der
[27] heutigen Intelligenz verbinden. Das heroische Demutsideal
eines heiligen Franziskus, eines heiligen Dominicus, das
langsam in Qualen und Demütigungen zur eigenen Gottes-
nähe und damit zur Ueberwindung des doktrinären Katholizis-
mus führte, — wie sehr unterschied es sich von der platten
und materiellen Weltfreudigkeit Luthers! „Für uns bleiben“,
schreibt Schickele, „ihre Werke Dokumente der eigenen
Disziplin, Beispiele, wie man schmiegsam, empfindlich und
doch gefasst wird, und auch dann, wenn ihr Egoismus in
die Gewalttätigkeit einer moralischen Mission ausläuft, sehen
wir nur ihren eigenen inneren Kampf. Unser Gefühl
verwandelt die Glaubenskämpfe in Kämpfe um die äussere
Freiheit des Menschen, und die religiöse Meditation wird,
während wir uns einer Disziplin unterwerfen, zur Kultur der
inneren ewigen Schönheit“.
Die spirituelle und spekulative Macht des Papst-
tums war nicht damit überwunden, dass ein hartmäuliger
deutscher Augustinermönch den Papst „des Teufels Saw“
nannte. Die Hierarchie als Kategorie der Geister war damit
nicht aufgehoben. Was wusste ein diabolischer Mönch
von den göttlichen Abenteuern des Lebens, jenem passiven
Fanatismus, auf den die strenge katholische Mystik hinauslief!
Was von der in glühender Askese erlangten Souveränität
einer heiligen Therese oder eines Ortiz, der seiner Freundin
Hernandez gottverschwärmt zu sagen wagen durfte, sie sei
zu einer solchen Vollkommenheit gelangt, dass sie eine
minderwertige Angelegenheit wie die Keuschheit sei, nicht
mehr zu beachten brauche! Die Gottbesessenheit solchen
Mittelalters hatte das System des offiziellen Katholizismus eben-
falls durchbrochen, wenn auch auf eine Weise, die dem treu-
herzigen Bruder Martin zeitlebens fremd blieb. In unendlichen
Seelenkämpfen erfuhren jene Asketen die Auflösung der
Religion in ihre Urelemente, in Tränen und Trauer, er-
fuhren sie die Sinnlosigkeit des Daseins, den irren Schrei
menschlicher Qual und Vernichtung. In Franz von Assisi,
[28] dem reinsten Geiste des Abendlandes, erwuchs aller Spi-
ritualität und wiedergewonnenen Lebensinbrunst ein göttliches
Zeichen.
Luthers Protest war der Protest des „gesunden Menschen-
verstandes“, dieses ach so zweifelhaften philosophischen
Arguments. Eine Intelligenzfeindlichkeit prägt sich aus in
seinem Verrat der mönchischen Sache. Ich kenne die
Regeln des damaligen Augustinerordens nicht; aber der
Kirchenvater, auf dessen Namen der Orden getauft ist,
war der Herrischsten einer im Dienste der Kirche. Er
war kein Befürworter der Gnade. Er hat das System
intolerantester Orthodoxie begründet. Die Spitzfindigkeit
der persischen Metaphysik, die schwindelnden Fragen nach
dem Ursprung des Bösen und dem Wesen der Seele, die
er vergebens zu ergründen suchte, gaben ihm, nach Lecky,
„einen Sinn für das Dunkel, das uns umgibt, das jeden
Teil seiner Lehre färbte“. Als Feind des Zweifels schrak er
vor keiner noch so erbitterten Folgerung zurück; „er schien
sich zu freuen, die menschlichen Triebe in den Staub zu
treten und die Menschen zur unterwürfigen Annahme der
empörendsten Grundsätze zu gewöhnen“ 22). Etwas von
diesem Geiste muss bei aller Entartung des damaligen
Mönchswesens auch im deutschen Augustinerorden weiter-
gelebt haben. Luther aber wich dem Wege strenger Observanz,
auf dem die spanischen und italienischen Mönche zu
unerhörter Geistigkeit gelangten, aus. Er warf beiseite, was
er nicht durchdringen konnte. Er überwand die Kategorie
nicht in sich selbst. Die Disziplin stiess ihn ab, weil er ihr
nicht gewachsen war 23).
Die Religion hausbackenen Bürgertums, die Religion
der „tätigen Beflissenheit“, in der Luther mit profanem
Ungestüm sich billigen Ersatz schuf, hatte zur Voraus-
setzung den Opportunismus; den Billigkeitsstandpunkt seinen
natürlichen Bedürfnissen gegenüber. Seine zu Behäbigkeit
und zu Genuss geneigte räsonnable Einstellung konnte sich
[29] einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle
Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose
Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance
geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen
Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen
Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen
gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten.
Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische
Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompass
in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte.
Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen
das Ueberhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in
Deutschland, trotzdem man ihm huldigte 24).
Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich
sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu
lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor
Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und
sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des
Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogen-
heit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der
Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Be-
gehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle
Deutschland ist; jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine
klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken
zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Er-
laubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine
Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit
mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem „Hunger-
pastor“ gekennzeichnet hat: „Mit dem Hunger nach der
Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn
früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt,
erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so
angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt
so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche
schiebt“.
6.
Vorausgesetzt, dass die Bibel ein Buch ist wie alle
andern, das ehrwürdigste Buch, aber ein Buch unter Büchern:
haben dann nicht am Ende die Philologen mehr Veran-
lassung, Luther dankbar zu sein, als jene Geister, denen
die Emanzipation am Herzen lag? Ist die Freiheit eines
Christenmenschen vielleicht identisch mit der Freiheit, die
Bibel lesen und sie nach eigenem Gutdünken sich auslegen
zu dürfen? Ist der protestantische Bibelglauben unter Philo-
logen ein religiöses Missverständnis? Luther als rector
magnificentissimus der philologischen Fakultät seines Volkes,
und der Protestantismus eine Philologenbewegung — wird
man sich entschliessen, diesen Vorschlag anzunehmen? Herr
Professor Naumann, der eine gute Wetterfahne ist, hat sich
bereits entschlossen und spricht nur noch von „Professor
Luther“. Die Gelehrtenrepublik sieht in dem Mönch ihren
Stifter. Er war der Patriarch aller Schriftgelehrten oder
Philologen der Nation 25).
Luthers Glaube an das Geschriebene war unendlich.
Den Papst verwarf er, weil er in der Bibel nicht vorkam.
Die Mönche und Nonnen ebendeshalb. Den Kaiser aber,
und die Obrigkeit und den Krieg nicht, denn sie standen
drin. Kann man sich einen abergläubischeren Text-Fetischis-
mus oder wenn man will, eine liebevollere Hingabe denken?
Nie ist ein Buch seit Luthers Zeiten so gelesen worden
wie die Bibel. Sie gehörte von nun an dem Volke. In einer
Ueberschwemmung von gottesgelahrten Wortklaubereien,
Dissertationen, Kommentaren und Traktaten erhob sich die
von mehr als einem Standpunkte aus tief bedauerliche Tat-
sache, dass die Nation auf ein philologisches Pfaffenmanöver
einging und sich von nun an an die Bücher halten wollte,
statt an das Leben. Von einer Sensation sagt man in Deutsch-
land: sie macht „Aufsehen“. Da sieht man, wie sie alle
ängstlich schwitzend mit den Nasen in den Büchern stecken.
[31] Den einfachen Mann überkamen die krausesten Probleme,
denen er nur mit Stirnrunzeln und Verbitterung sich unter-
zog. Und da Luther gleichzeitig die ganze theologische
Tradition der Klöster in den Alltag warf, wurde das ganze
Volk von unverdaulichem Wust überschwemmt, ein einzig
Volk von Gottesgelahrten. „Es wird gelehrt“, „Es wird
gelehrt“, beginnen die einzelnen von Melanchthon redigierten
Schmalkaldischen Artikel 26). Und es wurde gelehrt, das
ganze Volk, jeder Einzelne wurde gelehrt. „Der deutsche
Freiheitsbegriff, gleichsam eine Schöpfung der Gelehrsam-
keit“, gesteht sogar Rathenau 27). Wann wird man endlich
Reinlichkeit einführen in kategoriellen Dingen? Der Pro-
testantismus ist eine Philologie, keine Religion. Luthers
Revolte sagte zum Papst: Wir glauben dir nicht mehr.
Wir wollen das Dokument einsehen. Wir glauben nur an
das Dokument 28). Liegt darin aber etwas schöpferisch
Neues, eine neue Religion? Dann wäre heute eine neue
Religion, vom Papst in Berlin die Dokumente zum Welt-
krieg zu fordern und auf der Uebersetzung der ausländischen
Dokumente zu bestehen, die sich damit beschäftigen. Gibt
es noch Protestanten? Wo bleibt die Gewissensfrage? Auch
die Bibel ist ein Fetzen Papier, wenn man will. Internationale
Verträge sind heute wichtiger geworden als die Bibel. Wenn
man solche Verträge zerreisst, kostet es mehr Blut, als
zwanzig Herrgötter vergeben können. An die Schuldfrage
sollt ihr euch halten. Um die Schriftmoral braucht euch
nicht bange zu sein. Ein neues Europa ist die Moral.
Um die Kulturbasis ging in Europa damals der Streit.
Dies wieder war eine pädagogische Frage. Arabische, grie-
chische und jüdische Bildungselemente kämpften um den
Vorrang. Die italienische und französische Renaissance
entschied sich für den Hellenismus und brachte dadurch
Europa eine Lichtflut von Aufhellung, Aufklärung. Luther
und die Deutschen entschieden sich für die Bibel und damit
für die jüdische Tradition. Dies bedeutete unendliches
[32] Dunkel, eine Vergiftung mit Theologie für das ganze Volk,
schlimmer als sie unter den Päpsten gewesen war, denn
nun wurde ausdrücklich jedes einzelne Individuum Theologe.
Damit war ein jüdisch-deutscher Geheimbund gegründet,
dessen Band die gemeinsame Theologie, dessen Ausdruck
der heutige Kriegswucher ist 29). Die Reformation soll dem
ganzen Erdteil einen neuen Ernst in Religionsfragen auf-
erlegt haben. Sie legte ihm aber nur einen neuen Ernst
im Bücherlesen und eine vergröberte Priesterschaft auf.
Was bedeutet uns heute die Bibel? Noch Zimmermann
nennt sie die „heiligste Verfassungsurkunde der Mensch-
heit“ 30). Doch muss man nicht unterscheiden? Das alte
Testament ist despotisch, das neue republikanisch. Die Er-
klärung der Menschenrechte durch die französische Revo-
lution hat uns zu dieser Entdeckung verholfen. Gott offen-
bart sich nicht mehr. Der Mensch offenbart sich. Nau-
mann, derselbe Naumann, der sich noch 1918 in Deutsch-
land so wohl fühlte, dass er vorschlug, einen „gemein-
samen deutschen Freiheitston“ einzuführen 31), nennt nun
die Bibel sogar die „Magna carta der Freiheiten“ 32). Wie
ist das möglich? Er leidet an jener Verwirrung von Des-
potismus und Evangelium, von altem und neuem Testament,
an dem seit Luther ganz Deutschland erkrankte. Denn man
könnte eben so gut den Nachweis erbringen, dass der teuf-
lische Einfall ich weiss nicht welches jüdischen Theologen,
das alte und das neue Testament buchbinderisch in Zu-
sammenhang zu bringen, dazu führte, aus der Bibel eine
Magna carta der Unfreiheiten und Zweideutigkeiten zu
machen, die eine tausendjährige Sonnenfinsternis über Europa
verhängten. Nicht nur das alte Testament, — auch die
Erlösungslehre ist uns fremd geworden. Wenn wir uns
nicht selbst erlösen, werden wir zugrunde gehen. Die
Gnade ist sinnlos geworden. Denn für die Verbrechen,
die wir begangen haben und täglich begehen, kann es
keine Gnade geben, ohne dass Gott aufhört zu bestehen.
[33]
Die rührende Legende aber von einem Genie der Demut und
Liebe, das man gekreuzigt hat, — wer versteht sie heute
noch? Der mehr oder weniger feiste Bürger — glaubt er
und will er denn glauben, dass er erlöst werden kann?
Wer soll erlösen? Von welchem Uebel? Wozu schleppt
man die Bibeln herum? Die heutige Reformation handelt
von Kriegsschuld und Kriegsursachen 33).
Eine der schlimmsten Ursachen des Weltkrieges war
die Reformation des 16. Jahrhunderts. Das Zurückgreifen
aber auf das paulinische Christentum war das Allerschlimmste.
Paulus, der von der Obrigkeit sagte, ein jeglicher habe ihr
„untertan“ zu sein „mit Zittern und Beben“; Paulus, der
„Journalist Christi“, wie Hatvany ihn nennt; Paulus, der
jene jüdische Legende vom erlösenden Genie der Demut
als erster durch Theologenbeiwerk übertrieb und veränderte,
er scheint auch jenen Versöhnungsfrieden zwischen altem
und neuem Testament, zwischen einem Richtergott und
seinem rebellischen Sohne, eingeführt zu haben, indem er
Unversöhnliches vereinte und den rebellischen Christen,
vom Schinder gekreuzigt, dem alten Judengott unterwarf.
Es würde zu weit führen, hier den Nachweis zu liefern.
Man lese aber die Psychologie des Rabbi Paulus nach, die
Nietzsche in der „Morgenröte“ gegeben hat 34). Von Paulus
leitete Luther den jüdischen Defaitismus der Moral ab,
„christlich Recht sei nicht, sich sträuben wider Unrecht
sondern dahin zu geben Leib und Gut, dass es raube, wer
da raube. Leiden, Leiden, Kreuz, Kreuz sei des Christen
Recht.“
Und die Lehre vom göttlichen Individuum? Glauben
wir noch, dass der Einzelne uns zu erlösen vermag? Sind
wir nicht im Begriffe, zu brechen mit einem bequemen Genie-
kult, der alle Kräfte des Volkes aufsaugt und jeden, der kein
Genie ist, der eigenen Trägheit überlässt, weil ja der andere,
das Genie, es für ihn tut oder getan hat? Die abgöttische
Verehrung, die den Verstand der Nation aufzehrt, heisse
3
[34] der Halbgott Wagner, Bismarck oder Hindenburg — ist sie
nicht eine Nachwirkung des Erlösergedankens? Jedes einzelne
Glied der Gesellschaft muss beurteilen können, worum es
sich handelt. Gebrochen muss werden mit jeder Art Er-
lösungssystem, zeige es sich in der Geheim-Philosophie,
der Geheim-Musik, der Geheim-Dichtung oder der Geheim-
Diplomatie. Alles das sind Rudimente eines mysteriösen
Erlösungsgedankens und Erlöseraberglaubens, der Fiasko
gemacht hat, in Deutschland mehr als anderswo 35). Wenn
etwas recht geheimnisvoll geschieht, muss es deshalb schon
göttlich sein? Erlösen wir uns von den Erlösern!
„Eure Werke taugen nichts“, sagte Luther zu einem
versunkenen, mittelalterlich mystischen Volk, und verschrieb
sich dem orientalischen Geiste der Bibel. Wo blieb da
die „teutsche Nation“, die sonst doch so antisemitisch ist?
Wo bleiben die Zionisten, die ihr mosaisch Gesetz re-
klamieren? Kulturbasis ist heute das Neue Testament seit
seinem Beginn, der Bergpredigt; denn es handelt sich um
Europa 36).
Hierfür lassen sich von Luthers philologischer Tätigkeit
folgende Maximen ableiten:
Als deutscher Prophet muss man laut schreien und
deutlich reden. Denn das Volk ist schwerhörig. Unendliche
Wiederholungen weniger Gedanken verfehlen schliesslich
ihre Wirkung nicht.
Man muss Uebersetzungen herstellen von Büchern, die
wichtig sind, und sie dem Volke geben. Eine Geheimliteratur
gibt es nicht mehr.
Man soll genau und wenig lesen; ein Buch aber, das
einem zusagt, wie ein Heiligtum bewahren.
Ueber ein wichtiges Buch kann nicht genug geschrieben,
gepredigt, disputiert und gesprochen werden.
Man soll sich an das erlösende Wort halten und
darauf sehen, dass ihm erlösende Taten folgen.
Die Bevormundung ist Büchern gegenüber, die Doku-
[35] mente sind, abzuschaffen. Die Zentralisation dieser Heilig-
tümer in den Händen einer lügnerischen Propaganda ist
aufzuheben.
7.
Zu Hause wie im Ausland hat man nie gebührende
Aufmerksamkeit der Tatsache geschenkt, dass es einmal eine
deutsche Revolution gegeben hat. Die grossen Bauernaufstände
1524/25, deren Niedermetzelung ein peinliches Kapitel für
die offizielle Geschichtsschreibung im allgemeinen und für
die lutheranische im besonderen ist, waren der Ausbruch
einer zugleich religiösen und politischen Bewegung, die
sich von der Normandie über Jütland, Thüringen, Franken,
bis nach Ungarn erstreckte.
In deutschen Schulbüchern wird man wenig darüber
finden, und doch waren diese Bauernaufstände eine der
mächtigsten und blutigsten Rebellionen gegen Adel und Geist-
lichkeit, die Europa erlebte 37). Die lutheranische Geschichts-
schreibung hatte zwiefachen Grund, über dieses Kapitel
weitgeistig wegzugehen. Die Stellung Luthers zu diesen
universalen Volksaufständen war eine so despotisch reaktionäre,
jeglichem Evangelium, jeglicher Bergpredigt so widerspre-
chend, dass das Ansehen des Reformators ernstlich gefährdet
erscheinen musste, wenn die Bedeutung jener Ereignisse in
ihr wahres Licht gerückt wurde. Sodann war nicht nur für
den Stifter, sondern für den religiösen Wert des Protestantismus
selbst zu fürchten, wenn sich ergab, dass jene Zeiten zwar
die Freiheit eines Christenmenschen im kirchlichen Sinne
gefordert, im politischen sie aber desto brutaler abgelehnt
hatten. „Selbst diejenigen Bearbeiter der Einzelpartien“,
schreibt der klassische Geschichtsschreiber der Bauernkriege,
Zimmermann, „die eine freiere Gesinnung hinzubrachten,
behandelten ihren Gegenstand fast zaghaft, ohne das Wesen
desselben, die grossen Sünden der Herrschenden und das
[36] aus tausend Wunden blutende Herz des zur Verzweiflung
getriebenen Volkes nackt aufzudecken“.
So verfiel man auf den Kniff, immer nur von der
Reformation, nie aber von der Revolution zu sprechen,
die jener Zeit ihr Gepräge gab; und auf den weiteren
Kniff, Luthers Stellungnahme in den Bauernkriegen, zwar
als einen dunklen Punkt in seinem Leben, im ganzen
aber als eine untergeordnete Episode darzustellen, während
seine ablehnende Haltung 1525 tatsächlich die Revolution
zum Scheitern brachte und die von ihm selbst ermutigten
politischen Rebellen im Stiche liess 38). Es kann nicht
nachdrücklich genug betont werden, dass damals das ganze
deutsche Volk, von Wut und Empörung gegen Pfaffen,
Gelehrte und Junker gleicherweise getrieben, nicht nur
den Klerus, sondern den Raubbau der Theokratie ab-
zuschütteln gewillt war. Es kann nicht laut genug aus-
gesprochen werden, dass Luther es war, der verhinderte,
dass Deutschland damals an die Spitze der freiheitlichen
Zivilisation trat und als Land einer evangelischen Republik
der Vorläufer Frankreichs wurde. Ein abergläubischer Mönch,
ohne Sinn für die tiefere Not seines Volkes, aufbrausend,
dogmatisch und ein Despot, als die Zeit von ihm die
Konsequenz seiner Lehre verlangte, dieser Mönch hat
verhindert, dass Deutschland heute statt eines feudal zen-
tralistischen Militärstaats eine freie Föderation evangelischer
Stämme und Städte darstellt, im Sinne der christlichen
Korporationsidee.
Die Bauernkriege erstreckten sich über fast ganz Europa.
Nicht plötzlich, sondern wohl vorbereitet brachen sie aus.
Ihre Geschichtsschreiber haben den furchtbaren Druck und
die Ausbeutung aufgezeigt, mit denen das päpstlich-kaiserliche
Doppelregime die Bauern nach einer Methode ruinierte, der
nur das heutige Doppelregime Hohenzollern-Habsburg etwas
gleich Schändliches und Raffiniertes an die Seite zu stellen
hat. Astrologen und Propheten hatten den Sturz der
[37] weltlichen und geistlichen Obrigkeit in Aussicht gestellt
und geweissagt. Die Renaissance gab den Anstoss.
Arnold von Brescia starb den Feuertod am Kreuze,
weil er die innere Verwesung der Kirche und die Lehre von
der Freiheit und Souveränität des Volkes verkündet hatte. In
Frankreich lehrte Abälard: „Man kann nichts glauben, was
man nicht zuvor vernünftig begriffen hat und es ist lächerlich,
andern zu predigen, was man weder selbst, noch der, dem
man predigt, vernünftig begreifen kann“. In England der
Franziskanermönch John Ball: „Jetzt oder nie muss etwas
geschehen, wir müssen allesamt von dem jungen König
Freiheit fordern. Gibt er sie nicht, uns selbst helfen“. Es
war die Zeit, da die flämischen Steuereinnehmer den heran-
wachsenden Mädchen die Röcke aufhoben, um zu sehen,
ob sie nicht mannbar und steuerpflichtig wären. Räuber-
banden von Juden und Junkern durchzogen das Land. Eine
Schweizer Chronik schreibt: „Die Tyrannei ist so gewaltig,
dass auch die Propheten und Prediger zustimmen oder
schweigen“. Eine Souveränität des Unsinns und des allmäch-
tigen Elends herrschte. Das Volk war betäubt und ohnmächtig
von Weihrauch wie heute vom Pulverdampf.
In Deutschland aber trat ein Genie des Gedankens
und der Tat auf, das den Ruhm Luthers verdunkeln wird.
Kein Mönch, — ein Magister artium versuchte, die Kämpfe
seiner Nation aus deren innerstem Wesen im Geiste der
Mystik zu leiten. Und so sehr überragte dieser Mann seine
furchtsame Zeit, dass er den Himmel zerbrach, Gott,
Christentum, Bibel und Theologie neuartig zu deuten
verstand und die Heiden und Türken brüderlich grüsste:
er litt am Geiste und an der Nation.
8.
Thomas Münzer gehört zu jener Ordnung von Geistern,
denen nach einem Wort René Schickeles „ihre mystischen
[38] und rationalistischen Antriebe gleich teuer sind in der
Hoffnung, dass beide eine höhere und wollüstig zusammen-
gesetzte Einheit des Gefühlslebens, die bunte Schönheit
und den verhaltenen Wohlklang des inneren Lebens herbei-
führen werden. Zur Tat fühlen sich diese Ideologen mit
Schmerzen hingezogen; ohne Erfüllung laufen sie Gefahr,
zu zerfallen oder wie Orpheus in Stücke zerrissen zu werden.
Die Tat bestätigt sie, denn sie sind von Natur haltlos“ 39).
Thomas Münzer Stolbergensis wurde der Führer der
deutschen Bauernrevolution von 1525. Nie hat ein sublimerer,
nie ein reinerer Geist eine Revolution geleitet. Lassen wir
uns von einer jahrhundertelangen Lutherpropaganda den
Blick nicht mehr trüben! An der Spitze der Nation steht
derjenige, der ihre besten Kräfte zum Ausdruck bringt. An
der Spitze der Nation stand beim ersten Eintreten deutschen
Geistes in die Geschichte der Neuzeit ein Mann, der Prophet
und Heiliger, Philosoph und Revolutionär in einem war.
Eine Franziskusnatur, die sich in die weltlichen Händel
warf, als die offiziellen Vertreter des Volkes versagten;
nicht eher, dann aber mit unerbittlicher Energie.
Alle grossen Katholiken waren Mystiker. Sie säkularisierten
die Transzendenz der Kirche, um sie dem Leben zuzuwenden:
Pascal und Baader. Was ist Geist? Gewissen, auf die Kultur
angewandt. Was ist Kultur? Eintreten für die Aermsten und
Geringsten, als solle aus ihnen das Höchste und aller Himmel
sich gebären. Der Geist der Musik und ihre Ordnung, ins
Irdische übersetzt: das ist die Aktion solcher Männer. Die
gotische Ordnung der Dinge bringt die weltliche ins Wanken,
wirft sie um und lässt eine neue Kausalität erstehen, die über
die Gegenwart lächelt und ferne Jahrhunderte grüsst. Die
gotische Ordnung der Dinge, die ihre Parodie bekämpft in der
politischen, und ihre Afterparodie in der polizeilichen. Was
sagen Eigenschaften wie Kühnheit, Kindlichkeit und Phantastik
aus über solche Geister? Ihre tiefe Symmetrie, das, was
Walter von der Vogelweide „die maasse“ nennt, sieht sich
[39] im Widerspruch mit dem bestehenden Irrwisch; das ist
ihr Leiden, ihr Witz, ihre Tragik. Sie treten hervor, und
alle Pseudologie ist gerichtet. Franz von Baader und Schopen-
hauer waren von dieser Art. Ganze Generationen von Dunkel-
männern sind nötig, um dem panischen Schreck zu begegnen,
der sich des Alltags bemächtigt. Die Tragik liegt nicht im
persönlichen Schicksal derer, die das Erlebnis bringen,
sondern im plötzlichen Aufleuchten einer Vernunft, die
von sich selber am tiefsten erschüttert ist. Die kathedralische
Ordnung der Dinge verlangt ans Licht. Pessimismus ist nur
ein Wort für den Zwiespalt des Möglichen mit dem Er-
schauten. Prophet sein heisst um den Grundriss wissen,
den kommende Völker zum Dombau vollenden.
Münzer war ein Prophet. Ganz Russland nahm er
voraus und die Aufklärung, die er geheiligt hat vor ihrem
Erstehen. Er hatte keinen glücklichen Biographen. Melanch-
thon, der Freund Luthers, sinistrer Verfasser der Augs-
burgischen Konfession, der bald zwei, bald sieben, bald
neun Sakramente annahm, war nicht geboren, das Leben
dieses Mannes zu erfassen, in dem sich ein glühender
Phantasieschwung paarte mit eiserner Energie, unbändige
Freiheitslust mit demütigster Liebe zur leidenden Kreatur.
Noch fand sich niemand, der alle Aeusserungen, Briefe
und Schriften Münzers vorurteilslos gesammelt hat in
Archiven und Urkunden seiner Zeit. Gleichwohl ist so viel
überliefert, dass wir ein Bild haben seiner Persönlichkeit.
Das Studium der Bibel, mystischer und apokalyptischer
Schriften erzog ihn. Er soll keine profanen Bücher gelesen
haben mit Ausnahme der Schriften Luthers. Als seinen
Lehrer nennt er den calabresischen Abt Joachim, einen
Propheten des 12. Jahrhunderts, der da lehrte, „es werde
das Zeitalter des Geistes kommen und mit ihm die Liebe,
die Freude und die Freiheit. Alle Buchstabengelehrsamkeit
werde untergehen und der Geist frei hervortreten aus der
Hülle des Buchstabens. Das Evangelium des Buchstabens
[40] sei etwas Zeitliches, seine Form etwas Vergängliches, Vorüber-
gehendes; das Evangelium des Geistes sei das ewige
Evangelium. Dann werde eine Gemeinschaft von Brüdern
auf Erden sein, von Spiritualen, Söhnen des Geistes.
Nach ihrem Geiste sei das lebendige Wasser jene Schrift,
die nicht mit Tinte und Feder auf Papier geschrieben worden,
sondern durch die Kraft des heiligen Geistes in das Buch
des menschlichen Herzens. Wenn aber die Erhabenheit
der himmlischen Dinge sich offenbare, werde alle irdische
Hoheit zu schanden werden“ 40). Einfluss auf Münzers
Entwicklung hatte gewiss auch die Libertinagetradition der
Dombauhütten. Und seinen Enthusiasmus nährten jene
politischen Schwärmer von Zwickau, unter denen Niklas
Storch eine besondere Stellung einnahm. Niklas Storch
betrachtete die Errichtung des 1000jährigen Reiches als
seine ihm vom Himmel gewordene Aufgabe. Er predigte
von der nahen Verwüstung der Welt und von einem
eintretenden Strafgericht, das alle Unfrommen, Gottlosen
austilgen, die Welt mit Blut reinigen und nur die Guten
übrig lassen werde 41). „Es schien fast“, sagt Ranke, „als
wollten sie selbst das Werk einer gewaltsamen Umkehr
beginnen“.
Münzer verwarf die Gottesgelehrsamkeit. „Was Bibel,
Bubel, Babel“, rief er aus, „man muss auf einen Winkel
kriechen und mit Gott reden“ 42). Er betonte die unmittelbare
Gemeinschaft mit Gott, der sich kundgebe in Erscheinungen,
Träumen und Offenbarungen. Kirche und Staat sollten im
Reiche der Freien und Heiligen ganz aufgehen und das
wahre Priestertum, das des ganzen Menschengeschlechts,
anheben.
Er entwirft die Methodik einer noch heute modernen
geistigen Disziplin: Aufgabe alles Tuns sei, nach Verzicht
auf alle Lüste und Vergnügungen, durch Einsamkeit und
Zerknirschung, innige Betrachtung, sich Rechenschaft über
den Grund seines Glaubens zu geben. Dem zerquälten und
[41] zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit,
Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie
Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf
Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus
dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine
ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes
gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und
von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf
Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich
werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung
jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. „Der
Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schrift-
gelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben“. Jeglicher
Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den
Glauben haben 43).
Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote
Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die
Lehre der Päpste. „Des Ziels wird weit gefehlt, so man
predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke“.
Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei
in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen
Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere
Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder
Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen
Geist, das heisst Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man
dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan
haben. Solches Wollen sei der Glaube 44).
Er verwirft die „wollüstige Lehre“, dass Christus für
alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die
Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus
sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer.
Münzer ass „die Herrgötter“, wie er die Hostien nannte, un-
geweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm
schrieb: „Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et
obsecro, quod blasphemia est in Christum cruzifixum“ 45).
[42]
Eine Blasphemie gegen den gekreuzigten Christus?
Münzer mag gelächelt haben, als er den Brief las. Ihm
war Christus „Vorbild des höchsten Leidens, wo der
Mensch erkennt, dass er ein Sohn Gottes ist“. Christus
sei „der oberste unter den Söhnen Gottes“ und „sofern
der Mensch in die Empfindlichkeit göttlichen Willens
kommt, ist es nimmermehr möglich, dass er wahrhaftig
wieder an den Vater, an den Sohn oder heiligen Geist
glaube“ 46).
Mir sind keine tieferen und freieren Sätze über
Christentum, Leiden und Gottesglaube bekannt. Diese
Sätze Münzers enthalten mehr als eine Philosophie der
Qual und Verzweiflung, sie enthalten eine hierarchische
Ordnung der Geister nach Massgabe ihrer Leidensfähigkeit.
Sie bedeuten die Ueberwindung des ganzen Mittelalters
und sind der höchsten Spiritualität Europas verwandt.
Mit Tolstoi verbindet ihn sein religiöser Anarchismus, mit
Mazzini das „dio e popolo“, mit Jules Vallès der Konfödera-
tion der Schmerzen, mit Erneste Hello die Heiligenlehre.
Wie stellte sich Luther zu diesen Sätzen seines Zeit-
genossen? Sie erschienen ihm als „eitel mutwillige Frevel-
artikel“, „als ein seltsames Gespenst des Teufels“. An Spalatin
schrieb er, Münzer bediene sich „solch ungewöhnlicher
und der heiligen Schrift widersprechender Worte und Reden,
dass man ihn für einen sinnlosen, betrunkenen Mann halten
könne“ 47).
Am 13. Juli 1523 sieht Münzer sich genötigt, an den
Herzog Johann zu schreiben: „Wollt ihrs haben, ich soll
vor denen von Wittenberg verhört werden, so bin ich nicht
geständig. Ich will die Römer, Türken, die Heiden dabei
haben. Denn ich spreche an, ich tadle die unverständige
Christenheit zu Boden. Ich weiss meinen Glauben zu
verantworten. Wollt ihr darauf meine Bücher erscheinen
lassen, so sehe ichs gern. Wo aber nicht, so will ichs dem
Willen Gottes befehlen. Ich will euch getreulich alle meine
[43]
Bücher zu verlesen geben“ 48). Luther hatte in einem Send-
schreiben an die Fürsten von Sachsen die Landesherren
aufgefordert, dass sie „mit Ernst sollten zu solchem Stürmen
und Schwärmen tun, auf dass allein mit dem Wort Gottes
in diesen Sachen gehandelt und Ursach des Aufruhrs
verhütet werde“. Denn: „Es seien nicht Christen, die über
das Wort auch mit Fäusten dran wöllen und nicht vielmehr
alles zu leiden bereit sind, wenn sie sich gleich zehn
heiliger Geist voll und abervoll rühmten“ 49). Nur durch
Flucht kam Münzer seiner Verhaftung zuvor.
9.
Und es muss gesprochen werden von den Bauernkriegen
selbst. Wenn der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes
zu realisieren, nach Friedrich Schlegel „der elastische Punkt
der progressiven Bildung und der Anfang der modernen
Geschichte“ ist, Enthusiasmus aber „das lichte Chaos von
göttlichen Gedanken und Gefühlen“ 50), so steht Thomas
Münzer am Beginne einer Entwicklung, die heute keineswegs
abgelaufen ist, sondern deren Faden wir verloren haben.
Wem sind wir verantwortlich? Einem Willkür-Regiment
oder der Menschheit? Einer mörderischen Obrigkeit oder der
Verbrüderung, Solidarität, Grösse und Würde des Daseins?
Abt Joachims revolutionäre Idee wurde in Thomas
Münzer zur revolutionären Tat. Luthers Denunziation der
Schwarm- und Sturmgeister war eine Ablehnung des
Enthusiasmus. Er gestand ihnen Geist zu, aber er sah keine
göttlichen, sondern satanische Kräfte in ihnen.
„Wir kranken daran, nicht von Grund aus krank sein
zu können. Wir können zu wenig Leid empfinden.“ In
diesem Ausspruch eines heutigen Deutschen 51) hat man die
ganze Ursache der deutschen Barbarei. Denn was ist
barbarisch, wenn nicht die Unfähigkeit, leiden und mitleiden
zu können? Und was ist satanisch, wenn nicht der Wille,
[44] die Qual zu vermehren, statt sie zu beheben? Satanische
Kräfte sind dort am Werk, wo die natürlichen Fesseln des
Menschen durch äussere Auflegung noch vervielfacht werden.
Satanische Kräfte dort, wo die Qual, mit der jeder geboren
wird, durch das Dasein verdoppelt wird, statt erleichtert zu
werden. Die Pseudologie von Gesetz und von Dogma,
Erfindung von Herrschern und Theologen, hat sich geeinigt,
satanisch zu nennen, was ihrer Usurpation widerspricht. Das
Leben hat keinen andern Sinn als die Freiheit. Die äussere
Freiheit ist nur die logische Konsequenz der inneren; beide
zusammen aber sind unerlässlich, weil sie allein jene nach
Goethe wesentlichste Bedingung der Unsterblichkeit erfüllen,
„dass der ganze Mensch aus sich heraustrete ans Licht“.
Moral ist Libertinage, gefesselt durch Armut und Mitleid.
In einer finsteren Zeit die Vernunft einsam am Werke
zu sehen, gewährt ein tröstliches Schauspiel. Von 1523 an
trat Münzer systematisch hervor. Seit 1524 richtete er
heftige Angriffe gegen Luther. Den „wittenbergischen Papst“,
der seine politische Indulgenz religiös maskierte, hielt er für
bei weitem gefährlicher als den römischen. Im Frühjahr
1524 richtete er einen Brief an Melanchthon des Inhalts,
Melanchthon und Luther missverstünden die werdende neue
Kirche durch ihren Buchstabendienst 52): „Ihr zarten Schrift-
gelehrten, seid nicht unwillig, ich kann es nicht anders
machen“. Er erkauft sich von ihrem Hasse die Freiheit,
handeln zu dürfen; er spricht von „den grossen Hansen,
die Gott also lächerlich zum gemalten Männlein gemacht
haben“. Sein Stil wird agitatorisch und emotionell. Die
hellen Posaunen will er „mit einem neuen Klang füllen“.
„Die ganze Welt muss einen grossen Stoss aushalten; es
wird ein solch Spiel angehen, dass die Gottlosen vom
Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden“ 53). „Man
muss gar mächtig Achtung haben auf die neue Bewegung
der jetzigen Welt. Die alten Anschläge werden es ganz
und gar nicht mehr tun, denn es ist eitel Schaum, wie
[45] der Prophet saget. Wer da nun wider den Türken fechten
will, der darf nicht fern ziehen, er ist im Lande. Wer aber
ein Stein der neuen Kirche sein will, der wage seinen Hals,
sonst wird er durch die Bauleute verworfen werden“.
Er beruft sich auf Lukas 19, 27: „Nehmet meine
Feinde und würget sie vor meinen Augen“. Er verwirft das
Christuswort „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist,“
und hält sich an das alte Testament: Fürsten gemordet
auf Prophetengeheiss, im Namen Gottes verworfen; Haus
und Kind derselben erwürgt bis auf den letzten geflüchteten
Sprössling.
Gebet dem Volke, was des Volkes ist, das ist die
Losung. Denn Christus hat in der Hauptsache gelehrt: alle
Menschen sind Kinder eines Vaters, Brüder, unter sich selbst
gleich. Von der Rechtmässigkeit der geistlichen Fürstengewalt
stand nichts in der Bibel, von der weltlichen aber auch
nicht. „Gott hat die Herren und Fürsten in seinem Grimm
der Welt gegeben und er will sie in der Erbitterung wieder
wegtun. Darum dass der Mensch zu der Kreatur gefallen
ist, ist's über die Massen billig gewesen, dass er die Kreatur
auch mehr denn Gott muss fürchten“. „Die Fürsten sind
um der henkerischen Furcht willen. Sie sind nichts anderes
denn Henker und Büttel, das ist ihr ganzes Handwerk“.
„Wenn nun die Wüteriche (der Bürokratie) wollen vorgeben,
ihr sollt euren Fürsten und Herren gehorsam sein, so habt
ihr zu antworten: ein Fürst und Landesherr ist über zeitliche
Güter gestellt zu regieren und seine Gewalt erstreckt sich
auch nicht weiter“ 54).
Das bedeutete auch die Trennung von Staat und Kirche,
aber jedenfalls die Unterordnung der Fürsten unter die geistige
Macht. An seine Landesfürsten wandte er sich: „Ihr aller-
teuersten und liebsten Regenten, lernt euer Urteil recht aus
dem Munde Gottes und lasst euch von euren heuchlerischen
Pfaffen nicht verführen und mit gedichteter Geduld und
Güte aufhalten“ 55). An Luther aber folgendermassen: „Warum
[46] heisst du sie durchlauchtige Fürsten? Ist doch ihr Titel
nicht ihr, gebührt er doch Christus. Warum heisst du sie
Hochgeborene? Ich meinte, du wärest ein Christ; so bist
du ein Erzheide“ 56). „Sieh zu, die Grundsuppe des Wuchers,
der Dieberei und Rauberei sind unsere Fürsten und Herren.
Nehmen alle Kreaturen zu Eigentum: die Fische im Wasser,
die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden, muss alles
ihr sein. Danach lassen sie dann Gottes Gebot ausgehen
unter die Armen und sprechen: Gott hat geboten, du sollst
nicht stehlen. Es dient aber ihnen nicht. So sie nun alle
Menschen verursachen, den armen Ackersmann und Hand-
werksmann und alles, was da lebt, zu schinden und schaben.
So er sich dann vergreift an dem Allergeringsten, so muss
er henken“ 57).
1524 brach in Süddeutschland der Bauernkrieg aus.
Münzer forderte zur Selbsthilfe auf. „Die Gewalt der Fürsten
hat ein Ende, sie wird in kurzer Zeit dem gemeinen Volke
gegeben werden!“ Wie anders klingen diese Worte, als
Luthers Lehre von der Christlichkeit der Knechtschaft!
Münzer: „Es wird kein Bedenken oder Spiegelfechten
helfen. Die Wahrheit muss hervor. Die Leute sind hungrig,
sie müssen und wollen essen“ 58).
Luther: „Man soll sie zerschmeissen, würgen und
stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man
einen tollen Hund totschlagen muss“ 59).
Münzer: „Ach Gott, die Bauern sind arme Leute. Sie
haben ihr Leben mit der Nahrung zugebracht, auf dass sie
den Tyrannen den Hals gefüllt“ 60).
Und Luther, derselbe Luther, von dem seine Scheherazade
Ricarda Huch sagt, dass er Poesie sprach, wenn er den
Mund auftat 61): „Cibus, onus et virga asino. Der gemeine
Mann muss mit Bürden beladen sein, sonst wird er zu
mutwillig“ 62).
Auf eine wiederholte Denunziation hin floh Münzer
nach Nürnberg. Der Nürnberger Magistrat konfiszierte sein
[47] Pamphlet „Wider das sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“,
in dem Münzer vor dem Jahrhundert und der Menschheit
den Kampf aufnahm:
„Noch bist du verblendet und willst doch der Welt
Blindenleiter sein? Du hast die Christenheit aus deinem
Augustinus mit einem falschen Glauben verwirrt und kannst
sie, da die Not angeht, nicht berichtigen. Darum heuchelst
du den Fürsten. Du meinst aber, es sei gut geworden, da
du einen grossen Namen überkommen hast. Du hast gestärkt
die Gewalt der gottlosen Bösewichter, auf dass sie ja auf ihrem
alten Wege blieben. Darum wird dirs gehen wie einem
gefangenen Fuchs. Das Volk wird frei werden und Gott
allein wird Herr darüber sein“ 63).
Die Wiedertäufer und Schwärmer wurden seine Kons-
piratoren und Emissäre. Schon als fünfzehnjähriger Knabe
hatte Münzer sich beteiligt an einer Verschwörung gegen
den Erzbischof Ernst von Magdeburg. Jetzt gründete er den
Altstedter Bund, den Mansfelder Bergarbeiterbund: Zins-
verweigerung und Aufstand. Am 15. Juli 1525 berichtet
er von „mehr als dreissig Anschlägen und Bündnissen der
Auserwählten“. „In allen Ländern will ich das Spiel machen;
kurzum, wir müssen ausbaden, wir sind eingesessen. Lasst
euch das Herz nicht entsinken, wie es den Tyrannen allen
entfallen ist. Es ist das rechte Urteil Gottes, dass sie so
ganz jämmerlich verstockt sind; denn Gott will sie mit
der Wurzel ausraufen“. ‚Thomas Münzer mit dem Hammer‘
nennt er sich. Im Barfüsserkloster lässt er Geschütze schweren
Kalibers giessen. Eine weisse Fahne führt er ins Feld, darin
ein Regenbogen steht. Nach Luther aber warf man mit
Steinen, als er in Orlamünde sich sehen liess.
In wilden Blutbädern wurden die skorbutmäuligen
ausgehungerten Bauern-Proletarier niedergemetzelt. Die Berg-
predigt, das Evangelium der Armen, erfuhr eine blutige
Abfuhr. „«Omnia sunt communia» ist ihr Artikel ge-
wesen“, berichtet Melanchthon 64). Auf der Folter gestand
[48] Münzer, die Empörung habe er gemacht, „damit die
Christenheit solle alle gleich werden“.
1525 blutete das Volk, 1790 in Frankreich die Aristokratie.
Wann wird sich Deutschland mit Frankreich verbünden?
Siebenundzwanzigjährig starb
THOMAS MUNZER
STOLBERGENSIS PASTOR ALSTEDT
ARCHIFANATICUS PATRONUS ET CAPITANEUS
SEDITIOSORUM RUSTICORUM
DECOLLATUS
Wann wird ihm Deutschland, wann wird ihm Europa
ein Denkmal setzen?
10.
Luthers Tat emanzipierte die Nation von der Bevor-
mundung eines europäischen Dogmas. Aber er übergab
damit die Nation ihrer eigenen Verantwortung zu einer Zeit,
in der sie dazu, wenn historische Folgen Beweis sein können,
noch nicht reif war. Der Eigensinn Luthers, die Bibel selbst
auslegen zu wollen, missglückte erbärmlich. Seine An-
massung, die europäischen Gewissenskämpfe für sein Volk
selbständig zu entscheiden, unter Missachtung einer hoch-
weisen Tradition und einer illustren Reihe von Kirchenvätern,
Konzilien, Päpsten und Philosophen, führte zu einer
Begünstigung der gemeinen Gewalt und einem Primat
dieser Gewalt über die Idee; führte zu einer ärgeren
Knechtschaft, zu einer schlimmern und verderblicheren
Tyrannei, als die der dogmatischen Kirche in ihren in-
tolerantesten Zeiten gewesen war 65). Luther nahm den Feudal-
herren die Fesseln ab, die Karl der Grosse den Sachsenfürsten
glücklich auferlegt hatte. Aus der deutschen Reformation
wurde ein Rückfall ins Heidentum. Und hier spreche die
Meinung eines Franzosen 66): „Ohne Zweifel gab es Miss-
[49] bräuche in der Kirche: die Simonie, den Ablassverkauf. Das
gibt es aber in der Laienregierung auch: Panamaskandale,
Ordensschacher. Ein tüchtiger Papst hätte genügt, diese
bedauerlichen Inkorrektheiten abzuschaffen. Luther und
Calvin, ein Mönch und ein Pfarrer, entsetzliche Menschen,
haben mit ihrem Protest nicht gegen die Missbräuche,
sondern gegen die Kirche selbst, die Reformation gebracht,
und das bedeutete: die Jesuiten, eine Verschärfung des
Dogmas und für lange Zeit eine katholische Intoleranz,
die derjenigen der Reformierten nichts nachgab.“
Führte aber Calvin die Reform in den Staat, so
spielte Luther der Despotie ein Volk in die Hände, das
keineswegs aller Segnungen und Weihen, die die Kirche zu
vergeben hatte, bereits teilhaftig geworden war 67). Zu spät
erriet das übrige Europa, was Luthers Stellungnahme im
Kampf zwischen Papst und Kaiser bedeutete. Luther kon-
servierte die Feudalität, indem er geistige Waffen an sie
verriet, mit denen sie heute einen der zynischsten Kämpfe
führt, die je eine Welt sah. Luther verhinderte ein grosses
reales Freiheitserlebnis von der Art der englischen und
französischen Revolution und trägt so die Schuld, dass es in
Deutschland noch heute nicht ein nach aussen wirkendes poli-
tisches Gewissen gibt. Luthers eigentliche Schöpfung ist „der
Gott der Ordnung, der die Obrigkeit eingesetzt hat“; ist die
Heiligung des Staates durch die Christlichkeit der Knecht-
schaft. Damit verlieh er Regenten und Oberfeuerwerkern
das gute Gewissen, machte er die Deutschen zum geflissent-
lich reaktionären Volk, zu Hütern der „sittlichen Welt-
ordnung“ aus Gründen der Theokratie, zu Bekämpfern
jeglicher Freiheitsregung aus Gründen eines verruchten,
scheelsüchtigen „Gottesbefehls“. Res publica wurde Polizei-
staat, Aufsichtsstaat, dessen Sendung es ist, vom Nordkap
bis Bagdad, von Finnland bis Spanien unter Berufung auf
Bibel, Jehova und Jesus zu strafen, zu richten und aufzu-
henken. Der moralische Liberalismus, den Luther schuf,
4
[50] wurde zur Farce der Freiheit und eine Ermutigung zum
Genuss unter staatlichem Protektorat.
Doch der Staat um des Staates willen besteht nur aus
Verderbnis, sei es Verderben oder Verdorbenheit seiner
Bürger. Ein vergötterter Mönch hat seine Nation in finsterste
Zeiten zurückgeworfen, hat das Streben aller Nationen um
ihre Befreiung zur einzigen Demokratie verzögert und
niedergerissen; hat den Grundstein einer Immoralität gelegt,
die 1914 zur Kriegserklärung Englands und damit zum
Weltkrieg führte 68).
Man legt Luther zur Last, er habe durch einen neuen
Ernst in Glaubensdingen die schöne Renaissance zerstört,
die dekorative Renaissance verhindert. Aber Ideen lassen
sich nicht zerstören, sie kehren zurück; das Wort Renaissance
beweist es gerade. Luther hat Dinge verbrochen, die schlimmer
sind. Er hat Gott verraten an die Gewalt. Er schuf eine
Religion für den Heeresgebrauch. Er hat den Krieg ermutigt
um des Krieges willen, aus „Gläubigkeit“. Eine Ueberlast
individuellen „Gewissens“, das keine Ablenkung fand in den
Staat, liess die ganze Nation erkranken an Schwermut und
Hypochondrie. Feierlich wurde sie, grillenhaft, launisch und
missvergnügt. Jene „mit sich selbst unzufriedene Selbst-
zufriedenheit“, von der Bakunin spricht, Kritteln und Nörgeln
und geistige Impotenz, wurden das Signum des Deutschen;
eine linkische Aermlichkeit, die ihn unmöglich machte.
Goethe bemerkt noch bei Klopstock, dass grosse Menschen
ohne würdigen und breiten Wirkungskreis sich in Seltsam-
keiten entladen. „So aber“, fügt Nietzsche hinzu, „verzehrt
sich unser ganzes Volk in Seltsamkeiten“. Der rebellisch
gebliebene Geist des übrigen Europa trat in Widerspruch
zu den deutschen Institutionen, zu jenem feudalen Ethos
des Heerwesens, der Vorrechts-Diplomatie, dem Gewissens-
Militarismus.
Wie durch ein Wunder von Sinn erstand Luther ein
Richter in seiner eigenen Zeit. Die Ehre der Nation kann
[51] gerettet werden, wenn sie sich heute entschliesst, jenes
Zeitalter umzutaufen auf den Namen der grossen Revolution
von 1525 und damit den Willen ausdrückt, die Superiorität
des religiösen über den profanen Geist, das Recht der
Zivil- über die Militärgewalt, des roten über das blaue
Blut aufzustellen.
Zimmermann hat die Wirkung beschrieben, die Münzers
Name allein, auf Luther und auf das trefflich' Organon
Lutheri, Melanchthon, ausübte: „Wo sie seinen Namen
schreiben, ist ihnen, als ob er herein, als ob er vor sie treten
könne, während sie ihn nennen, während sie von ihm
schreiben. Auf fast allen Zeilen und Reden Beider über
Münzer liegt es unverkennbar wie eine Belastung, wie ein Alp,
wie ein innerlicher Schauer, ob man's reden oder schreiben
dürfe, ohne dass der an die Wand gemalte Geist erscheine.“
Etwas von diesem Schauer, von diesem Alp, scheint sich
heute in Deutschland wieder zu regen. Die Geister erscheinen,
die Toten erwachen. Die Idee meldet sich an wie Bancos
Geist: Civitas pauperrimi et sanctissimi hominis. Werden die
Bancos oder die Macbeths siegen?
ZWEITES KAPITEL
1.
Eine feste Burg ist unser Protestantismus: das ist von
nun an das nationale Motto, an dem die Geister scheitern.
Eine pseudologische Bussdoktrin grassiert. Eine Selbst-
verfinsterung, die für tiefe Verworfenheit hält, was den
Wohlstand der Sinne fördert, — pervertiert die Instinkte,
verdirbt den freien Blick, die spontane Erkenntnis von Gut
und Böse, die Einsicht ins Equilibre der angeborenen sittlichen
Kräfte 1). Die Nation hat längst das Lachen verlernt. Grabes-
oden und Nekrologien, Busstagsmusik, Choräle, Kantaten
bekämpfen den leidigen Teufel der „Sünde“ und Sinnlichkeit,
und die betrübten Lebensläufe der deutschen Musikanten,
die Matthisons „Ehrenpforte“ uns überliefert hat, zeugen
von den Kümmerlichkeiten und Nachwehen des dreissig-
jährigen Krieges. „Man will wissen“, sagt Lichtenberg, „dass
im ganzen Lande seit fünfhundert Jahren niemand vor
Freuden gestorben wäre.“ 2)
Der Pietismus regiert, der Kanzelredner, die Salbaderei.
Der Pietismus leitet die protestantische Orthodoxie hinüber
in protestantische Aufklärung. Philipp Jacob Spener, der
Grossvater des Pietismus, hat aus Erbaulichkeitsgründen
eine Abneigung gegen das streng wissenschaftliche Denken.
August Hermann Francke ist im Unterschied von Spener
ein „Herren- und Tatenmensch“, rücksichtslos als Agitator,
unverträglich als Kollege, unversöhnlich als Feind, herrsch-
süchtig als Organisator. Ein pietistischer Uebermensch, so
schildert ihn sein Chronist. Es ist die Zeit der Bibelkränzchen
und Senfkornorden, des philadelphischen Konventikelwesens.
Die Bibel gilt als vollendetes System der Weissagung und
[53]
im Jahre 1836 soll die Welt untergehen. Was kann auch
Besseres geschehen? Niemand lacht diese Leute aus; kein
Scarron schreibt ihren Roman, kein Voltaire rettet für
Deutschland ein Echo des Lachens französischer Höfe. In
der Wissenschaft wird mit Rabbinerverstand um die theo-
logische Intelligenz gestritten 3).
Die kommerziellen Klassen hatten die Aufklärung in
die grossen Hafen- und Handelsstädte Europas gebracht
und mit ihr die Toleranz. Man tolerierte die reisenden
Juden und tolerierte die Refugiés aus den Glaubenskämpfen,
weil sie Geld und Beziehungen brachten. Bayle wie Mon-
taigne und Descartes waren toleriert, weil sie Rationalisten
waren und Rationalisten waren sie, weil sie zweifelten. Das
ist die Philosophie des frühen Frankreich. Descartes in
Sonderheit machte der Scholastik den Kampf und entwickelte
das ganze Wissen aus dem Bewusstsein. Sein cogito ergo
sum wurde der egoistische Leitsatz des philosophischen
Individualismus, der in Deutschland schliesslich zum Gelehr-
tenabsolutismus führte und wenn auch ein so heller und
vernünftiger Kopf wie Lichtenberg dem entgegenhielt:
„es denkt, es blitzt“ 4), so vermochte das doch nicht zu
verhindern, dass der Individualismus, gestützt auf Luthers
obstinate Widersetzlichkeit die Ideen nur aus dem „Ich“
auch dann noch holte, als die französische Revolution
längst mit Riesenlettern an den europäischen Himmel das
Wort „Brüderlichkeit“ geschrieben hatte. (Siehe Fichte, das
grosse Ich von Osmannstedt, wie Schiller ihn nannte).
Kam der Zweifel aus Frankreich, so kam die neue
Moral aus England. Prof. Borgese bemerkt sehr richtig,
man könne des Pangermanisten Paul Rohrbach ‚Deutsche
Idee in der Welt‘ ruhig umändern in ‚die englische Idee
in Deutschland‘ 5) und Prof. Nicolai hat in seinem viel-
berühmten Buche „Die Biologie des Krieges“ neuerdings
darauf hingewiesen, in wievielen Hauptpunkten Kant und die
Deutschen von der englischen Moral beeinflusst wurden,
[54] in wievielen andern sie sich ihr leider entzogen 6). Man könnte
aber noch weitergehen. Nicht nur direkt war Kant von
Locke und Hume geführt; auf dem Wege über Rousseau,
der die Idee seines Gesellschaftsvertrages England verdankt,
berührten ihn auch die Ideen Sidneys. Und nächst Kant
sind die beiden grössten deutschen Philosophen jener Zeit
in die englische Schule gegangen: Franz von Baader, die
flammende Pyramide der deutschen Philosophie, und Georg
Christoph Lichtenberg, ihr einziger Humorist. Beide verlebten
wichtigste Jahre ihrer intellektuellen Entwicklung in Eng-
land7). Die aber zuerst eine neue Wirklichkeit aufzubauen
versuchten nach dem moralischen Chaos, in dem Ludwig
XIV. die Welt hinterliess, waren Franzosen: Rousseau und
Voltaire.
In Deutschland wurde noch um die theologische
Metaphysik gestritten zu einem Zeitpunkt, da englische
Philosophen schon alle Moral aus den Leistungen und
Taten ableiteten, die die Gesellschaft fördern 8); als in Frank-
reich Rousseau die gütigen Instinkte zu erlösen und Voltaire
den religiösen Fanatismus zu bezwingen versuchten. Nicolai
zeigte an einem fiktiven Gespräch zwischen dem englischen
Botschafter Goschen und dem deutschen Reichskanzler
Bethmann-Hollweg, wie 1914 sich englische „Nützlichkeits-
philosophie“ und wie sich der „kategorische Imperativ“
bewährten 9): Der deutsche Generalstab brach die belgische
Neutralität, das englische Volk aber fühlte sich zum Schutz
eines Vertrages verpflichtet, der Belgiens Neutralität garan-
tierte. Die Barockkonstruktionen weltfremder deutscher
Universitätsprofessoren hielten nicht stand. Sie hatten das
Volk nicht erreicht, das von Pfaffen und Fürsten zerschmettert
war. Das moralische Gesetz in der Brust, das sich dem
Sternenhimmel verwandt fühlte, vergass seine nächste Um-
gebung, und die „moralische Weltordnung“, auf die der
deutsche Professor so stolz ist, existierte nur für ihn.
Kants Leistung ist gross und unsterblich. Er hat nicht
[55] Gott geköpft, wie Heine voreilig meinte 10), wohl aber den
Pietismus. Er verwies die Mystifikation aus dem Reich der
Vernunft, und wenn einer seiner frühesten Biographen 11)
auch meint, Kant habe die jungen Theologen gelehrt, der
„falschen, windigen, viel prahlenden und nichts fruchtenden
Aufklärung“ auszuweichen 12), (indem er jene Trennung
zwischen Jenseits und Diesseits in der Metaphysik vornahm),
so blieb das doch ein Irrtum. Gleichwohl war Kant auch
nicht der Scharfrichter, den Heine hinter ihm vermutete.
Seine Strenge traf mehr die Methode als ihren Gegenstand.
Er verflüchtigte Gott zur Idee, und Atheisten wie Hegel,
Schopenhauer und Nietzsche konnten sich ebenso gut auf
ihn berufen, wie die Theologie, die Kant in der „Kritik
der reinen Vernunft“ erst entthronte, in der „Kritik der
praktischen Vernunft“ aber nach ihrer Degradierung und
Scheidung von den Wissenschaften wieder einsetzte.
Die Auffassung Borowskys, der zu den ältesten akade-
mischen Schülern Kants gehörte, beweist immerhin die
Vieldeutigkeit sogar unserer anerkanntesten Philosophie. Man
würde die deutsche Philosophie in ihren Vorzügen und
Schwächen ganz falsch bewerten, wollte man nicht beachten,
aus welchen politischen Zuständen sie geboren ist. Wenn
Fichte noch 1799 schreiben konnte 13): „Vom Departement
der Wissenschaften zu Dresden ist bekannt gemacht worden,
dass keiner, der sich auf die neue Philosophie lege, befördert
werde, oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In
der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüller'sche
Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist
neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von
neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden.
Das wird weitergehen und sich verbreiten“, — wie mag
es dann erst unter den preussischen Soldatenkönigen mit
der Lehrfreiheit bestellt gewesen sein? In Preussen, von
dem Winckelmann 1763 schrieb: „Es schauert mich die
Haut vom Wirbel bis zur Zehe, wenn ich an den preussi-
[56] schen Despotismus und den Schinder der Völker denke,
welcher das von Natur selbst vermaledeite und mit lybischem
Sand bedeckte Land zum Abscheu der Menschen machen
und mit ewigem Fluch beladen wird?“14) In Preussen, wo
Christian Wolff bei Strafe des Stranges die Universität Halle
verlassen musste, weil er in Friedrich Wilhelms Deserteur-
skandale eingegriffen haben sollte! Die Uebereinstimmung
mit Luthers Kleinem Katechismus war erstes Gebot, gemäss
jenen Artikeln der Augsburgischen Konfession, nach denen
der Landesfürst die höchste geistliche Würde bekleidete, und
der Professor hatte als Werkzeug und Diener des Fürsten
das Amt, dessen Autorität zu erhärten und seine glorreiche
Allmacht zu fördern. Man ermesse darnach, was die Mensch-
heit von den protestantischen Universitäten Deutschlands seit
1530 zu erwarten hatte. Nur die allergründlichste Reform
des ganzen Bildungswesens in Deutschland wird den zwei-
deutigen Pharisäismus aufheben können, der jahrhunderte-
lang ex officio gezüchtet wurde 15). Jede Freiheitsregung
musste als Kontrebande auf Schleichwegen der Dialektik
befördert werden, und die Vorsicht gebot, zu Methoden
zu greifen, die jederzeit eine Hintertür offen liessen; vor-
ausgesetzt, dass der Professor wirklich den ernstlichen Willen
hatte, der Wahrheit zuliebe seinen Treuspruch zu brechen
und nicht vorzog, die Neuerungen der Zeit mit dem Dogma
des Absolutismus in sophistische Uebereinstimmung zu
bringen.
Was bedeutet es also, wenn schon Borowsky sagt,
dass Kants „Moral besonders nicht im Widerspruch mit
der christlichen Sittenlehre stehe“? Von den Beziehungen
des kategorischen Imperativs und des Kant'schen Persönlich-
keitsbegriffs zur Soldatendressur Friedrich Wilhelms I. soll
noch die Rede sein. Aber auch die berühmte Kant'sche
Sozialmaxime: „Handle so, dass die Maxime deines Wollens
zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könne“ — verleugnet sie den lutheranischen Staatsbegriff?
[57] Enthält sie nicht eine kategorische Warnung an alle Unter-
tanen? Ist sie nicht eine Maxime der Zwangserziehung?
Was hat die preussische Gesetzgebung mit der Bergpredigt
gemein? Birgt sich hinter der Kant'schen Moralmaxime nicht
ebenso Friedrich Wilhelms Knutenregiment wie Friedrichs
Pflichtideal im kategorischen Imperativ? Noch heute steht
unsere ganze Gesetzgebung im Widerspruch mit der ur-
sprünglichen christlichen Sittenlehre. Damals aber? Was
verstand man in Preussen unter christlicher Sittenlehre,
wenn nicht den strengsten Staatslutheranismus? Jener Im-
manuel Kant aber, der so wenig Bonhommie zeigte, dass
er sich eine andere Wohnung suchte, als seines Nachbars
allzu laut krähender Hahn sich nicht beschwichtigen liess16);
jener Kant, der so unnachsichtlich zur Polizei ging, um
auf Abstellung des Singens im Gefängnis zu dringen, weil
es ihn bei der Arbeit an seinen Moralgesetzen störte 17),
— er wollte seine Maximen nicht nur zum allgemeinen
Gesetz, sondern sogar zum allgemeinen Naturgesetz erhoben
wissen18)! So zeigen sich auch persönlich bei ihm Züge
von Despotismus, und das Ausdenken allgemein verbindlicher
Sätze, wenn es von einem hagestolzen und vereinsamten
Manne kommt, kann wohl gar zu nichts anderem führen 19).
Es ist nicht erforderlich, hier auf die gefährliche
Separation einzugehen, die Kant zwischen Intellekt und
Moral, zwischen geistiger Persönlichkeit und sozialem Wirken
statuierte, indem er das Einheitsgewissen zersprengte und
jene beiden von einander untrennbaren Gewissenskräfte,
Verstand und Gefühl gesondert abzuleiten versuchte. Kein
Geringerer als der Kardinal Mercier hat in einer langjährigen
Aktion, und neuerdings in einem hervorragenden Buche,
das die hohe religiöse Lehre des Thomas von Aquin zu
neuen Triumphen führt, den Kantianismus als das nach-
gewiesen, was er ist, als eine Doktrin, die die Grundlagen
der moralischen Ordnung kompromittierte 20). Im Geiste
unseres grossen Franz von Baader bestätigte er die innerste
[58] Antichristlichkeit der kantischen Philosophie. „Satan trennt,
Christus vereint“, sagt Baader. So aber trennte der ganze
von Moral und Sozietät absehende Kult der Experimental-
wissenschaft, deren vergötterte Methode die Verstandesanalyse
und deren Folge die Zersetzung ist. In Deutschland wütete
die „objektive Wissenschaft“ zumeist. Man hatte am meisten
Ursache, Moral und Sozietät ungepflügt auf sich beruhen zu
lassen. Hier war die abstrakte Wissensdoktrin zu hause, und das
Land der höchst entwickelten Erkenntnistheorie und Technik
schlug den Record der Immoralität, als die Zeiten reif
geworden waren. Nirgends so schlimm als in Deutschland
zeigte sich der Verlust des Einklangs zwischen Intellekt
und sozialem Empfinden, zwischen menschlicher und
theoretischer Kritik. Der Intellektuelle aus Métier, der
fachgelehrte Teufel, dies Nonplusultra einer deutschen
„Kultur“, die sich berüchtigt machte, ohne die Wurzel
ihrer Abscheulichkeit auch nur zu ahnen, — von Kants „Kritik
der reinen Vernunft“ sind sie entsprungen.
Unter Kant wird der gereizte Verstand zur Geheimpolizei
gegen Gott, das Genie und alles naive Geschehen. Die
Philosophie wollte Dinge wissen und besitzen, die ihr
ewig versagt bleiben werden. „Die Philosophie ist nur eine
Methode“, sagt Barbey d'Aurevilly 21). Der Katheder ward
zum Berg Sinai, wo Gott sich unterhielt mit dem Herrn
Professor. Kanonische Buchweisheit verbreitete das Vorurteil,
dass nur der Gelehrte, nicht aber auch der Bauer philo-
sophieren könne. Man stelle Kant neben einen russischen
Muschik ins freie Licht und sehe zu, wer Recht behält;
welcher von beiden dem Sittengesetz und dem Sternenhimmel
nähersteht.
Der Rationalismus hatte, als Kant auftrat, bereits eine
Tradition. Locke, Hume, Spinoza hatten tiefgründige Unter-
suchungen über die Vervollkommnung des Verstandes
angestellt, ohne dass es geglückt war, eine Moral auf
Verstandesprinzipien zu gründen. Die Titel von Kants Haupt-
[59] werken verführten dazu, den Verstand mit der Vernunft
zu verwechseln, oder, wie Baader sagte, den Logos mit der
Logik. Die Verstandeskultur, nicht die Vernunft feierte in
Kants Schriften ihren Triumph. Verstandestaten waren es,
wenn Kant in der „Kritik der reinen Vernunft“ das „Ding
an sich“ in gepflegtem Kanzleistil abzog von der sichtbaren
Welt; wenn er für alle Zeiten den Unterschied zwischen
innerer und äusserer Macht nachdrücklichst betonte und
damit aller neudeutschen Barbarei das Urteil sprach. Eine
Verstandestat war jene sozusagen philologisch saubere
Sittlichkeit, die rigoroses Ideal und Tyrannei eines Volkes
von Magistern wurde. Und gleichwohl: selbst dieser knöcherne
Rationalist, der von der Astronomie und den Sternen so
vorsichtig herkam, dass er die Wirklichkeit eine „Welt der
Erscheinungen“ nannte und sie in sträflicher Ferne für
illusorisch erklärte — blieb nicht auch er ein Mystiker?
Sind die zwölf Kategorien, mit denen er sich umgab, so
sehr verschieden von den zwölf Aposteln Jesu nnd des
Niklas Storch? Und die drei apriorischen Vernunftsfunktionen,
künden sie nicht wider Willen die scholastische Trinität
Vater, Sohn und Heiliger Geist?
Kants Protestantismus verleugnet sich nicht. Bei Ab-
fassung der „Religion innerhalb der Grenzen der reinen
Vernunft“ lag bezeugtermassen ein Katechismus auf seinem
Schreibtisch, und auf den lutheranischen Katechismus
machte er die Probe 22). Bei Erscheinen dieses Buches aber
geriet der Verfasser in Widerspruch mit dem preussischen
Kabinett. Das erste Stück des Buches, die Abhandlung
„Vom radikalen Bösen“ (1792), die man auf die ultra-
revolutionären französischen Hébertisten beziehen konnte,
erlangte noch das Imprimatur, mit dem bedenklichen
Zusatze: „weil doch nur tiefdenkende Gelehrte die Kant'schen
Schriften lesen 23)“. Dem zweiten Stück aber, „Vom Kampf
des guten Prinzips mit dem Bösen um die Herrschaft über
den Menschen“, wurde von zwei Zensoren zugleich das
[60] Imprimatur verweigert. Durch Kabinettsordre vom Oktober
1794 erhielt der Verfasser einen Verweis wegen „Entstellung
und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren
der Heiligen Schrift und des Christentums“, und den
theologischen und philosophischen Dozenten der Königs-
berger Universität wurde untersagt, über Kants Werke
Vorlesungen zu halten.
Die intelligible Freiheit war in Widerspruch geraten mit
der Zeit, der wir alle untertan sind. Zwischen Idee und
Erfahrung zeigte sich eine Kluft. Wie stellte sich Kant dazu?
Es gab Friedrich Wilhelm II. das schriftliche Versprechen,
„sich aller öffentlichen Vorträge, die christliche Religion
betreffend, in Vorlesungen und Schriften als Sr. Majestät
getreuester Untertan, zu enthalten“. In seinem Nachlass fand
man einen Zettel des Inhalts: „Widerruf und Verleugnung
seiner inneren Ueberzeugung ist niederträchtig; aber Schweigen
in einem Fall wie dem gegenwärtigen ist Untertanspflicht.“
Das war als Ueberbrückung der Idee mit der Erfahrungs-
welt zweifellos praktische Vernunft. Die intelligible Freiheit
blieb intakt. Praktische Vernunft dieser Art aber wurde in
Preussen vom Könige doziert.
Man hat Kant einen „Alleszermalmer“ genannt (Moses
Mendelsohn). Man nannte auch Beethoven so (Richard Wag-
ner). Man nennt heute Hindenburg so. Aber man sollte ein-
sehen, dass nicht im Zermalmen sich Stärke verrät, sondern
im Lösen und Freimachen, im Gleichgewicht. Eine Kraft,
der ihre Umgebung nicht das Gleichgewicht zu bieten ver-
mag, ist eine verderbliche Kraft; ihre Intentionen mögen
edel und human sein. Die Ueberernährung mit Erkenntnis-
theorie seit Kant verstrickte die ganze Nation in abstrakte
Spekulationen von äusserster Schädlichkeit für die gesunde
Verdauung der Köpfe. Man höre eine deutsche Vorlesung
über Logik, blättere in den erkenntnistheoretischen Klitte-
rungen unserer unaussterblichen patentierten Philosophie-
beamten oder versuche zu lesen ein Buch wie des Aktien-
[61] evangelisten Rathenau „Mechanik des Geistes“ („Ethik der
Seele“, „Aesthetik der Seele“, „Pragmatik der Seele“), um
einen Begriff zu bekommen, welche herkulischen Anstren-
gungen noch heute unternommen werden, spitzfindigen Ballast
zu wälzen, Gedanken vorzutäuschen, wo nichts oder wenig
zu sagen ist, und Gesinnungen zu verbergen hinter süss-
reicher Weitschweifigkeit.
Ein Bayle wäre der Nation vorteilhafter gewesen. Ein
wundervoller Jongleur und Equilibrist in moralibus; ein
Geist, in dem das Für und Wider nicht nur seiner Nation,
sondern Europas hätte zur Ansicht kommen können; ein
Wörterbuch, eine Syntax der Möglichkeiten; ein Dialektiker
aller Fähigkeiten und klarer Spiegel der Irrtümer seiner Zeit,
statt eines Despoten abgezogener Moralansichten und ano-
nymer Verpflichtung. Ich stimme Rudolf Kassner zu, wenn
er sagt: „Es scheint, als hätten im Abendland immer nur
einige Köpfe, Philosophen, historische Persönlichkeiten, und
als hätte in Indien die Seele selbst gedacht; .. als wären
ihre Gedanken zu anspruchsvoll, immer zu viel oder zu wenig,
anarchisch oder tyrannisch, „Hintergedanken“, ein Umweg,
parvenu; als dächten sie, weil sie nicht liebten“24).
2.
Von Treitschke stammt die Behauptung, unsere klas-
sische Literatur sei vielseitiger, kühner, menschlich freier als
die der Nachbarvölker 25). Derselbe Treitschke weiss aber
sehr wohl, dass noch in den Zeiten des dreissigjährigen
Krieges „der Auswurf aller Völker auf deutscher Erde
hauste“; er weiss, dass im dreissigjährigen Kriege das Reich
„freiwillig aus dem Kreis der grossen Mächte schied“; dass
dieser Krieg „zwei Drittel der Nation“ hinwegraffte, und
dass „das verwilderte Geschlecht, das noch in Schmutz und
Armut ein gedrücktes Leben führte“, „nichts mehr von der
alten Grossheit des deutschen Charakters, nichts mehr von
[62] dem freimütig heiteren Heldentum der Väter“ zeigte26). Er
spricht von den „heldenhaften Klängen lutherischer Lieder“,
von einer „verarmten, mit fremden Flittern aufgeputzten
Sprache“ und von der „rettungslosen Fäulnis des heiligen
Reichs“. Wie ist es möglich, in einem solchen Lande inner-
halb hundertfünfzig Jahren die vielseitigste, kühnste und
menschlich freieste Literatur zu schaffen? Man kennt die
Terminologie, mit der Treitschke das Wunder erklärt: Die
Glaubensfreiheit und der preussische Staat haben es voll-
bracht. Die eine, indem sie dem nach Treitschkes Worten
„verwilderten Geschlecht“ den Glauben an sich selbst zurück-
gab (!). Der andere, indem er die Deutschen „zwang, wieder
an das Wunder des Heldentums zu glauben“.
Zugunsten meiner Nation muss ich annehmen, dass
Treitschke deren Verwilderung übertrieben hat, um das Werk
seiner preussischen Majestäten, Friedrichs II. besonders, in
desto helleres Licht zu setzen. Es könnte jemand auf den
Gedanken kommen, gründlicher noch, als es bereits ge-
schehen ist, die Auswirkungen des dreissigjährigen Krieges
in unserer klassischen Literatur nachzuweisen, und der von
Treitschke behauptete Vorrang möchte einen allzu empfind-
lichen Stoss erleiden 27). Die krüde Monstrosität der „Räuber“,
das Faustrecht und die Betonung der Kraftworte im „Götz“,
die wilde Jagd nach Lebensgenuss im „Faust“ und der
übertriebene Erziehungskult bei Fichte sind nur allzu deut-
liche Nachklänge einer sowohl moralischen wie geistigen
Katastrophe, und wenn jene Epoche auch Grosses geleistet
hat, um die Schäden zu reparieren, so leistete sie Unsterb-
liches doch nur in der Virtuosität, über den eigentlichen
Jammer und Sachverhalt hinwegzutäuschen durch klassizistische
Dekoration, vorzeitige und unvolkstümliche Harmonisierung,
durch Optimismus und Flucht an die Höfe. Hier genüge
die Feststellung: eine der Hauptursachen der masslosen
Ueberschätzung, die die Deutschen ihren Herder, Schiller,
Fichte, Hegel angedeihen liessen, war der nationale Stolz,
[63] eben aus dem Nichts heraus zu Anfängen gekommen zu
sein, die im Laufe des 19. Jahrhunderts engbrüstige Grund-
lage der Bildung wurden, die aber im begonnenen 20. Jahr-
hundert, als dem Jahrhundert der Beseitigung überspannter
Nationalismen und einer neuen politischen Moral, für den
Neuaufbau nicht mehr genügen.
Einer der frühesten Scholastiker, Hrabanus Maurus,
sagt in seinem Werk „De nihilo et tenebris“, das Nicht-
sein sei etwas so Erbärmliches, Oedes und Hässliches, dass
nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand ver-
gossen werden könnten. So mögen unsere Urgrossväter
empfunden haben, als sie nach dem Unglück des dreissig-
jährigen Krieges mühselig die Elemente zusammensuchten,
die eine Regeneration ermöglichten. So mögen sie gedacht
haben, als sie, beim Aufbau eines neuen Deutschland, Preussens
despotisch-macchiavellistische Hilfe nicht verschmähten. Wir
heute aber, nachdem die Nation so schief und auf unmora-
lischer Basis errichtet war: Sind wir denn, wenn wir nicht
mit den andern sind? Und gibt es wohl etwas Erbärm-
licheres, Oederes und Hässlicheres als einen irreligiösen
und immoralischen Nationalismus? Luther hat solchen Natio-
nalismus geschaffen; die egozentrische Philosophie, der
„Idealismus“ Fichtes, hat ihn sanktioniert und befestigt 28);
der deutsche Generalstab aber suchte ihn 1914 als seiner
Weisheit letzten Schluss zur Weltherrschaft zu bringen. Die
Vaterländelei, über die Goethe sich lustig machte, verwüstet
heute in Deutschlands Namen Europa und droht bereits
mit dem nächsten Krieg; denn: „dieser Krieg, wie er auch
ausgehen mag, wird keiner einzigen Macht ihre letzten
Wünsche stillen, ja nicht einmal einer einzigen ihre Opfer
voll ersetzen. Wohl aber werden zu den alten Hassgefühlen
neue, durch Schuldfragen geschärfte, erwachsen. Der Natio-
nalismus erwacht nicht nur neu auf politischem, sondern
vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet“ 29).
Wäre dieser Satz richtig, so müsste man an der Zu-
[64] kunft der Menschheit verzweifeln. Die Symbolik der Schuld-
frage und die Prüfung auf letzte Eigenschaften werden
jedoch hoffentlich Kriegsursachen ein für allemal aus der
Welt schaffen, und keine der geringsten Kriegsursachen war
ein staatlich und pseudoreligiös betriebener Nationalismus,
der im Zeichen der ursprünglichen christlichen Idee und
eines freien Europa zu verwerfen ist. Individuen und Na-
tionen mögen das äusserste Recht auf Selbstbestimmung
geniessen, doch nur in der Gemeinschaft, weil sie nur so
das Höchste leisten können, das mit ihnen geboren ist. Keines-
wegs haben sie das Recht, andere Individuen und Nationen
zu vergewaltigen oder zu betrügen und damit die Entfaltung
der Gesamtheit zu missachten, die allein das Höchste mög-
lich macht und dessen Massstab ist.
Ich wünschte, deutsche Rektoren, Schulräte und Kon-
sistorien zu Lesern zu haben, wenn ich behaupte: der Glaube
an die Ueberlegenheit unserer Klassiker ist ein protestantisches
Vorurteil. Wenn ich protestantisch sage, meine ich irreligiös
und habe im vorhergehenden Kapitel auseinandergesetzt,
weshalb ich das meine 30).
Die Herkunft der idealistischen Philosophie aus dem
Protestantismus wird man nicht bestreiten. „Die wirksamste
Literatur der neueren Geschichte“, gesteht Treitschke, „ist prote-
stantisch von Grund aus“ 31), und Heinrich Heine bestätigt
in seiner gegen Metternich und Frau von Staël gerichteten
„Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“
ausdrücklich, dass „aus dem Protestantismus die deutsche
Philosophie hervorging“ 32). Klopstock und Lessing, Wieland
und Herder, Goethe und Schiller, Kant und Fichte, alle, die
den deutschen Namen exaltierten, nahmen ihren Ursprung
aus den Bildungsanstalten, die das Luthertum geschaffen
und mit seiner Gesinnung erfüllt hatte. Ja Gustav Freytag
behauptet, in Deutschland sei seit der Reformation selten
ein bedeutender Mann aufgetreten, der unter seine Vor-
fahren nicht einen Geistlichen zählte. Lessing und Schelling,
[65] Fechner und Wundt, Mommsen und Lamprecht, Harnack
und Nietzsche: Pastorensöhne. Achtzehntausend evangelische
Pfarrhäuser gibt es noch heute in Deutschland. Sie haben
ein halbes oder ganzes Armeekorps gestellt, ohne dass man
sich geschämt hat, es anzurechnen 33).
Gewiss gab es wackere und tüchtige Männer unter den
protestantischen und evangelischen Pastores! Wären sie
nur evangelisch geblieben! Gewiss förderte das deutsche
Pfarrhaus den Aufschwung der Wissenschaften und Künste.
Grundlage dieses Pfarrhauses aber war das Sechskindersystem
und die Bequemlichkeit auf halber Treppe; der selige Zu-
stand mit Spartel und Rente; die mit Kohl und Karnickel
begnadete Diesseitigkeit, an der der Ideensturm scheiterte.
Luthers Auslegung der vierten Bitte: — zum täglichen
Brot rechnete er nicht nur Essen und Trinken, sondern
auch Haus und Hof, Aecker, Vieh, Geld und Gut, fromm
Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und
getreue Oberherren, gut Regiment u. s. w. 34) — ist die
Apologie der deutschen Gesässigkeit und diese Bassesse
einer Bitte an Gott, dieses plumpe und materielle Ansinnen
wurde Mass der Nation und Basis der Geister.
„Eine landwirtschaftliche Existenz kapitalisiert ihren
Jahresumsatz zu einer religiös-politischen Anschauung“,
spottet Rathenau, und gewiss mit Recht. Doch wenn er
damit sagen will, dass Interessen den Glauben schaffen,
so ist dies gleichwohl nicht schlimmer, als wenn der Glaube
Interessen schafft. Denn nur Marx, der ebenfalls Theologen-
geschlechtern entstammte und Hegelianer obendrein war,
konnte das Wort prägen von der „Idee, die sich immer
blamierte, soweit sie von den Interessen unterschieden war“.
Die Idee blamiert sich aber nicht, sondern die irreligiöse
Philosophie und die Hegelei blamieren sich, was ein anderes
Wort des schon zitierten Herrn Rathenau bestätigt: „Pflicht-
getreu und bekümmert machte immer erneut die deutsche
Philosophie sich ans Werk, die zerrinnenden Fäden zu
5
[66] sammeln, ewige Richtungen, Gesetze, Imperative zu ersinnen.
Vergeblich! Jede kritische Frage hatte sie sich gestellt, an
Begriffen und Welt, an Gott und Dasein zweifeln gelernt,
und dennoch war sie aus reiner Vernunft an der einfachsten
Vorfrage blind vorüber geschritten: ob nämlich der denkende,
messende, vergleichende Intellekt, die Kunst des Einmaleins
und des Warum die einzige, dem ewigen Geiste verliehene
Kraft sei und bleibe, um Menschengöttliches zu durchdringen.
Sie blieb Intellektualphilosophie“ 35).
Die Pseudologia phantastica, die man auf den Namen
Kritizismus getauft hat, wurde von der lutheranischen
Orthodoxie so unerbittlich gegängelt, dass sie im wichtigsten
Stadium der intellektuellen Entwicklung Europas, vor
Ausbruch der französischen Revolution, jeden Sinn für
wahrhaft produktive Kritik und ideelles Eingreifen in die
Ereignisse verloren hatte. „Herr Pastor“, rief Lessing gereizt,
„wenn Sie es dahin bringen, dass unsere lutherischen
Pastores unsere Päpste werden; — dass diese uns vorschreiben
können, wo wir aufhören sollen, in der Schrift zu forschen;
— dass diese unserem Forschen Schranken setzen dürfen:
so bin ich der Erste, der die Päpstchen wieder mit dem
Papste vertauscht“ 36).
Das ist es: man hatte den Papst mit den Päpstchen
vertauscht, man hatte den grossen Blick, die all-einige
Tradition und Universalität des Mittelalters verloren. Man
war: protestantisch geworden, das heisst national und
beschränkt. Den Kritizisten fiel es nicht ein, Luther zu
analysieren, statt mit den Pastores zu raufen; sich an die
Sachen zu halten, statt an die Begriffe. Die wilde Weisheit
der Scholastik blieb verschollen. Die guten Werke und
eine hohe philosophische Tradition waren von demselben
Luther verworfen, dessen schmähliche Autorität vom wieder
auflebenden Kreuzzüglergeiste alles heute zu fürchten hat.
In unfruchtbarem Streit zwischen Glauben und Wissen,
zwischen Katholik und Protestant verzehrten sich die Geister,
[67] und selbst Goethe, dem eine „neudeutsche religiös-patrio-
tische Kunst“ und der „ganz wahnsinnige, protestantisch-
katholische, poetisch-christliche Obskurantismus“ zuwider
waren 37); Goethe, der doch selbst von Protesten getragen,
sich zu Cellini und der italienischen Renaissance bekannte,
— selbst er brachte den Optimismus nicht auf, zu glauben,
dass hier in absehbarer Zeit etwas könne geändert werden 38).
Frankreich und Belgien blieb es vorbehalten, in den sakra-
mentalen Werken der Barbey d'Aurevilly, Erneste Hello,
Léon Bloy und Cardinal Mercier die Renaissance der
Scholastik zu vollziehen und dem protestantischen Zeitalter
das Grab zu schaufeln 39).
3.
Ein Herr Hoffmann (Berlin-Friedenau, im Februar 1915)
spricht von einem „heroisch-tragischen Sinn des deutschen
Humanitätsideals“. Ich habe das Büchlein, zu dem er die
Vorrede schrieb, bereits erwähnt. Es heisst „Der deutsche
Mensch. Bekenntnisse und Forderungen unserer Klassiker“
und ist für die Feldpost bestimmt 40). „Die sittliche Freiheit“,
spricht Herr Hoffmann, „bedeutet eine Beherrschung des
vorgefundenen und vorhandenen, des sinnlichen Seins“.
Nun weiss man zwar, was Pfarrerssöhne unter Beherr-
schung des sinnlichen Seins verstehen, und es bedürfte keiner
weiteren „idealistischen“ Philosophie. Doch der heroisch-
tragische Sinn des deutschen Humanitätsideals, mit dem man
versucht, unseren Soldaten die Köpfe zu benebeln, hat seine
politischen Hintergedanken. Diese offenbaren sich etwas deut-
licher in einem zweiten Bändchen derselben Bücherei, „Der
deutsche Glaube. Religiöse Bekenntnisse aus Vergangenheit
und Gegenwart“, das ich ebenfalls zitierte, sowie in einem
dritten und vierten, „Deutsches Volkstum“ und „Deutsche Poli-
tik“, von denen das letztere ausschliesslich Herrn von Treitschke
[68] gewidmet ist. So verlohnt es sich schon, auf den heroisch-
tragischen Sinn näher einzugehen.
Die Sammlung macht dem Verlag Diederichs nicht
allzuviel Ehre. Denn abgesehen davon, dass es einer
Fälschung gleichkommt, Aeusserungen von Kant und
Herder über die Franzosen und Engländer von 1780 heute der
Feldpost zu übergeben, so geht es nicht an, den deutschen
„Idealismus“ zum Deckmantel einer hinreichend kompro-
mittierten Politik zu machen, ohne diesen Idealismus und
das religiöse Ideal der Nation mit zu kompromittieren. Auch
lässt sich aus der rhetorischen Zweideutigkeit unserer
„klassischen“ Philosophie ebensowohl die Verneinung wie
die Bejahung von dem predigen, was diese Bücherei be-
zweckt, und so hätte sich ein so namhafter Verlag wie
Diederichs, in dem sich gestern noch die vorzüglichsten
pädagogischen Tendenzen Deutschlands spiegelten, die Teil-
nahme am physikalischen Gelegenheitsheroismus versagen
sollen.
Der Sinn des deutschen Humanitätsideals ist weder
heroisch noch tragisch. Voraussetzung solcher Eigenschaften
sind Verhältnisse der inneren oder äusseren Politik, die den
Widerstreit des reinen Individuums nicht lächerlich erscheinen
lassen. Der ganze Aspekt der damaligen deutschen Geschichte
aber: Tausendherrenländchenwesen in Beschluss und Aus-
führung, Krähwinkelei in Gesellschaft und Phantasie, Zer-
rissenheit in jeglichem Betracht — wie sollten Tragik und
Heroismus daraus entstehen? Heroisch und tragisch war die
Situation einiger weniger Köpfe, die von ihrem Humanitäts-
ideal desto weniger sprachen, je klarer sie sahen, je tiefer
sie litten, je mehr ihre schadenfrohe und klägliche Zeit sie
damit in die Enge trieb. Lessing wäre zu nennen und Lichten-
berg, Friedrich August Wolf und Johann Wolfgang von
Goethe.
Mit Mühe behauptete sich Aufklärung gegen Theologen-
tyrannei. Und als die Aufklärung siegte: Kants Kritizismus
[69] verdarb die Literatur; Schiller und Kleist wurden seine Opfer 41).
Der Gegensatz zwischen Instinkt und Konstruktion, zwischen
Zweck und Gefühl, das Misstrauen gegen jede geniale
Aeusserung lähmten den Enthusiasmus, massregelten die
Empfindung. Die rückständigen Liebesbegriffe des Pfarrhauses
und die gedrillte Schulfuchserei einer beaufsichtigenden
Gelehrtenrepublik machten aus einem „brav Kerl, dem was
Rechts aus den Augen leuchtet“ 42) einen Traktätchenverfasser,
der Gift und Galle spie, wenn man ihn reizte, in Filz-
pantoffeln seine Hämorrhoiden pflegte und artig ersonnene
Weltordnungen mit kitzlicher Knifflichkeit appretierte.
Ist es Heroismus, wenn Schiller aus einem Entwurf, den
er privatim der „Schamhaftigkeit der Dichter“ zu widmen
gedachte, für eine hochgelahrte und pastorale Oeffentlichkeit
eine Abhandlung machte, der er den stelzenden Titel
„Ueber die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts“
gab? Ist der Sinn des Humanitätsideals tragisch, weil
Goethe und Schiller sich verabredeten, Trauerspiele zu
schreiben? Goethe lehnte nur deshalb ab, Lustspiele zu
machen, „weil wir“, wie er sagte, „kein gesellschaftliches
Leben haben“ 43). Das Barockpathos, das Schiller seinen
Helden und Versen verlieh 44), war weniger mutig als die
frondierende Natürlichkeit, die Goethe hinter dem Gemeinde-
ratstitel behauptete 45).
Charakter haben zu müssen im Sinne der theologisch-
gelehrten Zeitkonvenienz war das Verhängnis der Geister,
wie heute Verhängnis ist, Charakter haben zu müssen im
Sinne der Staatspropaganda und des perfekten Durchhalte-
systems. Das Unglück Werthers und der Romantiker —
worin bestand es, wenn nicht in der geistigen Refraktion,
in der Unfähigkeit, den gewünschten „Charakter“ liefern zu
können vor Reizbarkeit, Schwäche und Ueberschwang?
Herder schreibt 1795 an die Gräfin Baudissin über „Wilhelm
Meisters Lehrjahre“: „Ich kann weder in der Kunst noch
im Leben vertragen, dass dem, was man Talent nennt,
[70] wirkliche, insonderheit moralische Existenz aufgeopfert werde.
Die Mariannen und Philinen, diese ganze Wirtschaft, ist mir
verhasst“ 46). Klopstock 1776 an Goethe direkt, als dieser
lustige Gesellschaft lustig geniesst, „dass er sich an dem
Herzoge, seinem Freunde, seiner Gemahlin, seiner Mutter,
dem ganzen Lande und der ganzen Gelehrtenrepublik ver-
sündige, weil kein Fürst künftig einen Dichter zu seiner
Gesellschaft wählen werde“ 47). Und sogar Schiller an Körner
(12. August 1787): „Goethes Geist ... eine stolze philo-
sophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung,
mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an
die Natur und einer Resignation in seine fünf Sinne; kurz
eine gewisse künstliche Einfalt der Vernunft. Die Idee kann
ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel über-
treiben 48). Goethe „hasst mit Eifer Mystik, Geschraubtheit,
Verworrenheit“, alle Verzwecklichung, alle Bombastik. Ver-
gebens macht Körner darauf aufmerksam, dass Goethes
Hauptcharaktere „nicht durch konventionellen Heroismus,
sondern durch Menschlichkeit interessieren“. (1788) 49) Der
ganze Adel und halb Deutschland ist in Aufregung, weil
Goethe „die Würde“ verletzt.
Und das ist es: es gibt eine Würdepartei. Ihre Expo-
nenten sind Lessing und Kant. Sie werden in Bewegung
gesetzt in dringenden Fällen, etwa wenn Goethe sich heraus-
nimmt, in bissigen Xenien zu äussern, das Kreuz sei ihm
fatal wie „Wanzen, Knoblauch und Tobak“. Ihre auswärtigen
Korrespondenten sind Lavater und Pestalozzi. Ihre Habitués
Klopstock, Herder, Fichte und Schelling 50).
Eine intellektuelle Partei sozusagen. Man hat sich recht
und schlecht geeinigt auf das Humanitätsideal. Herder, den
Goethe als „Generalsuperintendenten und Oberhofprediger“
nach Weimar berufen hat, findet: „Die Religiosität ist die
höchste Humanität des Menschen und man verwundere sich
nicht, dass ich sie hierher rechne“ 51). Aber um sich wohl zu
wundern, muss man wissen, was man unter Religiosität und
[71] Humanität damals verstand. In Deutschland bedeuten die
Worte nicht dasselbe wie anderswo. Die Religiosität des
sächsischen Oberhofpredigers Herder war naturgemäss der
Staatslutheranismus, die Humanität eine Art Verschwisterung
von Toleranz und Aufklärung, die man als eine schöngeistige
Pose in ernsthaften Fällen ohne gar grosse Bedenken auch
fallen lassen konnte. Man vernehme Fichte hierüber: „Diese
Zeitphilosophie war ... gar flach, kränklich und armselig
geworden, darbietend als ihr höchstes Gut eine gewisse
Humanität, Liberalität und Popularität ... Seit der französischen
Revolution sind die Lehren vom Menschenrechte und von der
Freiheit und ursprünglichen Gleichheit aller ... auch von
einigen der Unseren in der Hitze des Streites mit einem zu
grossen Akzente (!) behandelt worden“ 52). Nur die abstrakte
Diktion der deutschen Begriffsphilosophie verhinderte, dass
man im Ausland die Rhetorik der klassischen Humanität nicht
früher durchschaute. Das Humanitätsideal war sehr theoretisch,
und gerade aus Fichtes Worten ersieht man, welche Schwen-
kung die hohen Begriffe von Freiheit, Menschheit und Recht
machten, als die Revolution sie aus der Theorie in die Praxis
zu übersetzen begann 53).
Beherrschung des vorgefundenen und vorhandenen
sinnlichen Seins! Man vergleiche damit, wie die französischen
Moralisten von Montaigne und Vauvenargues bis Laroche-
foucauld und Chamfort die vorhandenen Sinne und Interessen
durchdrangen und sublimierten! In Frankreich wird Huma-
nität das Wissen um Leib und Seele; in Deutschland zeigt
sich gelahrter Zirkel Importhumanismus. In Deutschland „das
Leben als Tat“, in Frankreich „die Tat als das Leben“. Der
„süsse mystische Opiumtraum unverstandener (!) Ideen und
Gefühle“, von dem Herder an Hamann schreibt 54), kapituliert
gar rasch, wenn Herrscher, Interesse und Lage gebieten.
Hier ist es am Platze, von der deutschen Universalität
zu sprechen. Zu Zeiten der Würdepartei bestand auch die
Universalität nur im Beherrschen des vorgefundenen und vor-
[72] handenen sinnlichen Seins. Die Wissensgebiete dehnten sich
aus, schwollen an mit tausend Polypenarmen, aber nur des-
halb, weil man rascher rezipierte, als man in Leben und
Blut umsetzte. Universalität wurde Vielseitigkeit aus Mangel
an Standpunkt und Ueberzeugung, an Einheit und Filiation.
Vergebens suchten die Geister zur Kirche zurück. Das
Völkergesetz und Völkergewissen, das universale Bekenntnis
Europas zum Demuts- und Hilfsideal war von Luther zer-
stört, und kein Ersatz war vorhanden. Rührend erscheint die
Bemühung der Jugend, hier überbrücken zu wollen. Da
Religion und Moral widerstreiten, versucht man's poetisch
im schönen Schein. „Die berüchtigte deutsche Nachahmungs-
sucht“, schreibt Friedrich Schlegel, „mag hie und da wirklich
den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken
pflegt. Im ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt
der ästhetischen Bildung. Die sogenannte Charakterlosigkeit
der Deutschen ist also dem manirierten Charakter anderer
Nationen weit vorzuziehen“ 55). In ähnlichem Sinne äussert
sich Wilhelm von Humboldt. Ist aber diese Art Universalität
nicht ein Täuschungsversuch, eine Ausflucht, ein glänzendes
Elend und Desperation? 56) Gerade die Führer der Nation
beweisen es. Goethe sowohl wie Kant und Nietzsche litten
daran, keine klare Gewissensform ihrer Tugenden finden zu
können; selbst die Genies blieben déraciné, und sie haben
durch Monstrosität, Dialektik und Vielgliedrigkeit nicht ersetzt,
was ihnen an straffer Einwirkung auf die Nation und die
christliche Basis verloren ging.
Der Mangel an Ueberblick über das Angehäufte, dem
Lehrer und Schüler verfielen, und die Gier nach stets neuer
Materie führten zu Indigestion in Gedanke und Literatur,
und noch heute will niemand einsehen, dass die Sublimie-
rung weniger Urphänome weiterbringt als das faustische
Taumeln von Wunsch zu Genuss. Macht, Dämonie wurden
des Deutschen Ersatz für die Grösse, sein nihilistisches
Credo, recht eigentlich Quell aller Uebel. Er muss zwischen
[73]
Himmel und Hölle über den Blocksberg geritten sein, ehe
er einsieht, dass es vernünftiger ist, Dämme zu bauen als
sich in Liebe und Krieg, Metaphysik und Kommerz vollbärtig
auszuleben. „Faust“ aber ist eine Persiflage; die Persiflage
auf den Universalitätsprofessor. Er hat viel studiert, er ist
Doctor von vier Fakultäten. Er kennt alles aus Büchern,
vom Hörensagen. Der Teufel flüstert ihm Cochonnerien
ins Ohr. Er macht einem Mädel ein Kind, führt griechische
Tragödien auf und kommt in den Himmel, (nicht ohne
vorher den Teufel betrogen zu haben). Das alles mit Tiefsinn
und Gottvertrauen.
Ist die deutsche Humanität am Ende identisch mit
der „moralischen Weltordnung“? Und die moralische Welt-
ordnung mit der lutheranischen Orthodoxie? Seltsam! Die
Deutschen glauben an solche Weltordnung nur, wenn sie
von ihnen kommt. Wenn Präsident Wilson sie vorschlägt,
lehnen sie ab. Gibt es das aber, eine moralische Weltordnung,
und ist nicht gerade Voraussetzung jeder heroischen Moral
eine immoralische Weltordnung? „Es ist gar nicht zweifelhaft“,
sagt Fichte, „sondern das Gewisseste, was es gibt, ja der
Grund aller andern Gewissheit, das einzige absolut giltige
Objektive, dass es eine moralische Weltordnung gibt“ 57).
Und Schelling erklärt uns, warum und wieso: „Die ganze
Welt ist mein moralisches Eigentum“ und: „Mannigfache
Erfahrungen in der moralischen Welt lehren mich, dass
ich in einem Reich moralischer Wesen bin“ 58). Das ist
ja vortrefflich. Was bleibt da zu wünschen übrig? Eine
Welt moralischer Biedermänner, die nicht den geringsten
Zweifel haben, dass ihre Konspiration mit dem Absolutismus
eine moralische Weltordnung ergibt, und die nur eine Sorge
quält: auf welche schickliche Weise man das „radikal Böse“,
das natürlich von den Andern, den rebellischen Untertanen
kommt, in die moralische Weltordnung einordnen könne 59).
Kann man sich einen trostloseren Hochmut denken, ein
fahrlässigeres und inhumaneres Verzichtleisten auf jede Moral-
[74] kritik? Oder ist man moralisch, wenn man den Leitzordner
handhabt? Die moralische Weltordnung Fichtes ist ein
germanisch-professoraler Leitzordner „Universum“ mit meta-
physischen Wänden. Hat man ihn einmal erfunden, so ist
alle Moral (die von oben kommt) fertig. „Freiheit ist des
Zwanges Zweck“. Klappe auf, klappe zu, dialektischer
Schwindel. Sansculotten und Bolschewiken, Robespierres,
Marats und Lenins sind störend und fernzuhalten.
Fichte wurde der Grossahne Chamberlains als einer der
Eifrigsten, die sich um Exaltierung des „deutschen Gedankens“
bemühten. Ach, dass er die Freiheit verwechselte mit der
erlaubten, der „intelligiblen“ Freiheit auf Widerruf und auf
Kündigung! „Alle, die entweder selbst schöpferisch und
hervorbringend das Neue leben oder die, falls ihnen dies
nicht zuteil geworden wäre, das Nichtige wenigstens ent-
schieden fallen lassen und aufmerkend dastehen, ob irgendwo
der Fluss ursprünglichen Lebens sie ergreifen werde, oder
die, falls sie auch nicht so weit wären, die Freiheit wenigstens
ahnen und sie nicht hassen oder vor ihr erschrecken, sondern
sie lieben: alle diese sind ursprüngliche Menschen, sie sind,
wenn sie als ein Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk
schlechtweg, Deutsche“ 60). Eine schlichte Formel geistiger
Annexion! Und doch hatte gerade Fichte einmal (1799)
Veranlassung gehabt, Worte zu schreiben, die heute wieder
sehr aktuell geworden sind: „Es ist nichts gewisser als
das Gewisseste: dass, wenn nicht die Franzosen die un-
geheuerste Uebermacht erringen und in Deutschland, wenigs-
tens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung
durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch
mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien
Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird“ 61).
Wie stellte sich Fichte die Freiheit vor? Trotz seiner
Erfahrungen von 1799 empfahl er nach der Niederlage
von Jena, die Jugend dem Staate anzuvertrauen, und dem
Staate empfahl er, nach Pestalozzis Methode pestalozzianische
[75] Lehrer für die Erziehung dieser Jugend heranzubilden.
Eine echt fichtige Freiheitsformel: von schlechtem Gedächtnis
diktiert und unverwüstlichem Optimismus. Ein Glück, dass
der preussische Staat ihn nicht verstand. Die Folge wäre
gewesen: eine Art pietistischer Jesuitenschule unter landes-
herrlichem Protektorat. Nein, Fichte war kein überwältigender
Geist, aber ein Prophet 62). „Endlich“ sagte er, „und wo
ist denn das Ende? — endlich muss doch alles einlaufen
in den sicheren Hafen der ewigen Ruhe und Seligkeit;
endlich einmal muss doch heraustreten das göttliche Reich
und seine Gewalt und seine Kraft und seine Herrlichkeit“ 63).
Es ist herausgetreten.
4.
Am 17.Juni 1789 brach in Frankreich die Revolution
aus. Assez de la mémaphysique! Frankreich wollte wissen,
wie es um den Menschen bestellt sei. Die Philosophie
Europas kam an den Tag. Die französische Nation wollte
wissen, was man wollen darf, sollte auch Blut, sehr viel
Blut dabei fliessen. Atheismus und Unvernunft offenbarten
sich, alles Entsetzen und alles Entzücken.
Nous voulons la bastille! Die mittelalterlichen Mauern
barsten und fielen krachend zusammen. Besitzergreifung
des Rechts im Namen der Menschheit. „Wollt ihr grün,
die Farbe der Hoffnung, oder rot, die Farbe des Cincinnatus-
orden?“, rief Camille Desmoulins, die Pistole in der Hand,
von einem Tisch auf der Strasse. „Grün, grün“, klatschte
begeistert die Menge. Der Redner springt vom Tisch, steckt
ein Baumblatt an seinen Hut; alle Kastanienbäume im
Palais werden entlaubt und im Zuge, tanzend und hüte-
schwenkend, begibt sich die Menge zum Bildhauer Curtius.
Wer was zu sagen hatte, kam auf die Strasse. Wer
nicht auf die Strasse kam, war ein Tropf. Sub spezie tem-
poris werden die Philosophien behandelt. Ewige Dinge
[76] geschehen, weil keiner mehr an die Ewigkeit denkt. „Was
das Wort Majestät betrifft“, sagt Guadet, „so darf man es
ferner nur noch verwenden, wenn man von Gott und vom
Volke spricht“.
Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit:
die himmlischen Worte überstürzten einander. Enthusiasmus
und Freude erheben auf Riesenschultern Paris zur Haupt-
stadt der Welt. Papst, Henker und Thron versinken im
Dunkel. Denn siehe: euch wurde der Mitmensch geboren.
„La vertu est un enthusiasme“: Nichts mehr von leidendem
Glauben, nichts mehr von Dogmen. Das Dogma ist tot;
tot der pedantische Gott, der überm Sinai Dogmen erdacht
hat. Mensch sein heisst tanzen und jubeln können: alle
Geisteskräfte zugleich entströmen dem Körper.
Die Carmagnole heult und die Marseillaise grollt.
Brennende Köpfe, schäumende Lippen. „Das Vaterland ist
in Gefahr“, sagt Brisson, „nicht weil es an Truppen fehlt,
nein, weil man seine Kräfte gelähmt hat. Und wer hat sie
gelähmt? Ein einziger Mann, gerade der, den die Verfassung
zu ihrem Haupte und den treulose Ratgeber zu ihrem Feinde
gemacht haben. Man sagt euch, fürchtet die Könige von
Ungarn und Preussen, und ich sage, die Hauptmacht dieser
Könige ist am Hofe, und da müssen wir sie zuerst besiegen.
Man sagt euch, schlagt auf die widerspenstigen Priester im
ganzen Königreiche, und ich sage, schlagt auf den Hof
der Tuillerien, und ihr schlagt jene Priester mit einem ein-
zigen Schlage. Man sagt euch, verfolgt alle Ränkeschmiede,
alle Meuterer, alle Verschwörer; ich sage, diese verschwinden
alle, wenn ihr auf das Kabinett der Tuillerien schlagt;
denn dies Kabinett ist der Mittelpunkt, wo alle Fäden zu-
sammenlaufen, wo alle Anschläge angezettelt werden, von
wo jeder erste Anstoss kommt. Die Nation ist der Spielball
dieses Kabinetts. Das ist das Geheimnis unserer Lage. Das
ist die Quelle des Uebels. Das ist die Stelle, wo abgeholfen
werden muss“ 64).
[77]
Aha, sagte das Volk, das Kabinett, das königliche Kabi-
nett; und wir dachten, die Zentrumspartei! Aha, sagte das
Volk, die Dunkelmänner, die die Befehle ausgeben, die Mi-
nister und Junker! Heraus damit, ans Licht mit ihnen! Man
setze dem König die rote Mütze auf, man schleppe ihn vor
den Konvent! Er soll Rechenschaft geben. Seine Ratgeber
— wer sind sie? Nicht dem Zivilkabinett, nur uns selber
gehorchen wir. Neue Verfassung, neue Justiz! Wir wollen
Vergeltung, man hat uns betrogen! Kein Volk, auch das
gutmütigste nicht, lässt sich zum Narren halten!
Sie sind betrunken von Wut, wie wir Deutsche es wären,
wenn wir dahinterkämen, dass wir betrogen und Narren
sind. Sich selbst erlösen will die stolze französische Seele,
denn die Zeiten sind heillos, kein Heiland hilft. „Sagen wir
Europa“, ruft Isnard von der Rednertribüne, „dass alle Kämpfe,
die die Völker auf Befehl von Despoten ausfechten, den
Streichen gleichkommen, die sich zwei Freunde, durch einen
treulosen Anstifter aufgereizt, in der Dunkelheit versetzen.
Wenn die Tageshelle anbricht, werfen sie die Waffen weg,
umarmen sich und züchtigen den, der sie betrog; ebenso
werden die Völker sich im Angesicht der entthronten Tyrannen,
der getrösteten Erde und des erfreuten Himmels umarmen,
wenn im Augenblick, wo die feindlichen Heere mit den unsern
kämpfen, das Licht der Philosophie ihre Augen trifft“ 65).
Ja, die französische Revolution war praktische Philo-
sophie. Zwei mächtige Schriftsteller hatten sie vorbereitet:
Voltaire und Rousseau. Voltaire, das höchste Beispiel des
écrivain: Die Einleitung durch den Eclat war das Geheim-
nis seines Erfolges. Das Publikum und die Parteien nahmen
Stellung in wilden Debatten, eh' noch das Werk da war.
Der Entwurf schon war Auseinandersetzung mit allen Ein-
wänden, Drohungen, Hoffnungen; Angst und Entzücken des
Publikums. Nur in Frankreich ist so etwas möglich. Intrigen,
Wetten, Duelle gingen der Publikation voraus. Das Erscheinen
des Buches: nur noch Bestätigung, Urteil und Richtspruch.
[78] Rousseau: der Gesetzgeber der neuen Moral. Goethe lebte
nach seinen Maximen; die Literatur halb Europas von seinem
Ruhm. Der „Contrat social“ wurde die Bergpredigt ver-
jüngter Völker. Korsen und Polen erbaten sich Verfassungen
von ihm. Die Revolution aber machte die Probe aufs Exempel;
die Revolution, dieser Brennpunkt aller Geistesgegenwart
eines Volkes. Wo ist Charakter? Wo jeder sagt, was er
denkt, und der Augenblick über das Wort entscheidet.
Einen ungeheuren Verbrauch von Philosophien zeigt
der französische Volksaufstand. Kritik des Systems und aller
Systeme, lautet die Losung. Die Ideologien, von denen Na-
poleon sprach, als er nach Deutschland kam, und die gotischen
Vorurteile, von denen er sprach, als er im Marcolini-Palais
scheiternd vor Metternich stand, diese Vorurteile und Ideo-
logien hat die französische Revolution zerstört. Von nun
an interessierte nicht mehr die Prätention, sondern das
Herz, das dahinter schlug. Scheingrössen verschwanden.
Die Verfassung von 1793 setzte die Herrschaft der
Menge fest. Die Masse ist Quell der Gewalt und auch Quell
ihrer Ausübung. „Je mehr der Staatskörper schwitzt“, ruft
Collot-Herbois, „desto gesünder wird er“. Der Staatskörper
schwitzte aber Blut, nicht Limonade. Männer wie Danton:
ihre Partei ging ihnen über Rücksicht, Gesetz, über Mensch-
lichkeit. Um der Sache des Menschen willen. Die Gedanken
wurden locker, die Köpfe sassen nicht fest mehr zwischen
den Schultern. Von Saint-Just höhnte Desmoulins, dass er
seinen Kopf „wie das heilige Sakrament mit Ehrfurcht auf
seinen Schultern trage“. Man hat die Guillotinagen der Re-
volution verflucht, aber man hat darüber die Feste des
Genies und der Tugend vergessen und jenes berauschte Wort
Robespierres: „Volk, überlassen wir uns heute dem Entzücken
einer reinen Freude! Morgen bekämpfen wir aufs neue die
Laster und die Tyrannen“.
„Eine Revolution ist die Wirkung der verschiedenen
Systeme, die das Jahrhundert, in dem sie entstanden ist, in
[79] Bewegung gesetzt haben“, sagt Mignet 66). Nun, das Jahr-
hundert war das der Aufklärung und der Humanität, und
die Guillotine war die Probe aufs Exempel. Was würde in
Deutschland wohl übrig bleiben, wenn erst die Phrasen
verschwänden? Die Revolution war elementarer Ausbruch des
Widerwillens gegen Rechthaberei und Bevormundung, gegen
Doktrin und Scholastik 67). Ihr blasphemisches Schlachten
war eine Form von Sichausleben lange vor Nietzsche.
Doch schon auch Wendepunkt. Eine universale Tat war
geschehen; jetzt konnte von vorne begonnen werden. Frank-
reich hatte mit Ernst gesprochen. England, Italien, Russland
nahmen das Wort auf. Die Vernunft war vergöttert und ein-
gesetzt, dem Menschenherzen war Raum geschaffen. Es war
doch einmal. Nun konnte die Heiligung wieder beginnen.
Europa sah Freiheit, restlose Freiheit, das Letzte nach aussen
gekehrt, das Himmlische und das Verruchte. An alle Nationen
der Welt ging die Aufforderung, für die Demokratie zu
werben. Ein apostolisches Tuch reiner und unreiner Tiere:
so stürmte die Trikolore.
Was haben die Deutschen getan, diesen beträchtlichen
Dingen gerecht zu werden? Die Bibel- und Professoren-
kränzchen? Der Superintendant und der Geheimrat, der Pro-
fessor und der Assessor? Wollen sie immer noch etwas
besonderes sein, immer sich noch vor der Welt verschliessen?
Alle scheint das Ereignis überrascht zu haben. Die
Philosophen pflegten nach England zu reisen, die Künstler
nach Italien. Niemand nach Paris. Der einzige Humboldt
nahm teil an einigen Sitzungen der Nationalversammlung
à titre d'espion, muss man gestehen, denn er ging dann
in preussische Dienste und sass auch im Wiener Kongress.
Die Chefs der intellektuellen Partei kannten die grosse
Revolution nur von Hörensagen. Voltaire hatte die Geister
beschäftigt, Rousseau die Gemüter. Aber wenn Friedrich II.
die Enzyklopädisten zu sich berief, — wer traf sonst noch
mit ihnen zusammen? 1785 begannen Preussens Geheim-
[80] verhandlungen für das Zustandekommen des „Fürstenbunds“
(Programm: Sicherheit und Ehre der Kronen).
Auch Karl August von Weimar fand sich hineingezogen,
und da er den Ehrgeiz zeigte, in der grossen Politik eine
Rolle zu spielen, sah Goethe seine künstlerischen Hoffnungen
vereitelt. Im zimtbraunen Bratenrock, chapeau bas, Degen
an der Seite, komplimentierend wie der steifste Hofjunker,
erscheint Johann Wolfgang 1789 in Mainz. „An Begeisterung
für ein hohes Ideal glaube ich in Goethe nicht mehr“,
schreibt Huber an Körner. Und als derselbe Goethe 1792
zur verbündeten Armee nach Frankreich geht — er liess
gerade sein Wohnhaus herrschaftlich umbauen — wird er
geschildert: „Proportioniert dick, breitschulterig. Gesicht voll,
mit ziemlich hängenden Backen“ 68).
Kant schrieb eine Abhandlung über das „Radikal Böse“
(1792), offenbar gegen die Hébertisten, und veröffentlichte,
erst als die Revolution Europa bedrohte, 1796 seinen
Entwurf „Zum ewigen Frieden“. 1790 hatte er den Krieg
noch eine „erhabene“ Erscheinung genannt 69). Nach Kants
vorsichtiger Terminologie soll damit eine „über Menschen-
macht“ erhabene Erscheinung gemeint sein, aber was will
man? Selbst ein so witziger Kopf wie Herr Scheler hat das
Wort missverstanden 70).
In seinem Friedensentwurf bezeichnete Kant als Vor-
aussetzung des „ewigen Friedens“ die republikanische Ver-
fassung, und an anderer Stelle seiner Schriften sprach er
sogar, wie die „Frankfurter Zeitung“ nach hundertdreissig
Jahren glückstrahlend entdeckt hat, vom parlamentarischen
System. Man könnte demnach nicht sagen, Kant sei den
Ereignissen taub gegenübergestanden, wenn Fichte nicht
darüber belehrte, was man zu damaliger Zeit in der Ge-
lehrtenrepublik unter Republik verstand 71). A priori — das
ist's, apriori — bestritt Kant die Möglichkeit einer Landung
Bonapartes in Ägypten; selbst dann noch, als die Zeitungen
sie längst schon als glücklich beendet meldeten 72). Von den
[81] Franzosen im Ganzen aber schrieb er: „Die Kehrseite der
Münze ist die nicht genugsam durch überlegte Grundsätze
gezügelte Lebhaftigkeit, und bei hellsehender Vernunft ein
Leichtsinn, gewisse Formen, bloss weil sie alt oder auch nur
übermässig gepriesen worden, wenn man sich gleich dabei
wohl befunden hat, nicht lange bestehen zu lassen, und ein
ansteckender Freiheitsgeist ...“ 73).
Auch Fichte bemühte sich um die junge französische
Republik; indem er den Sicherheitsstandpunkt geltend
machte. „Der Hauptgrundsatz jeder Staatslehre, die sich
selbst versteht, ist enthalten in folgenden Worten Mac-
chiavells: Jedweder, der eine Republik (oder überhaupt einen
Staat) errichtet und demselben Gesetze gibt, muss voraus-
setzen, dass alle Menschen bösartig sind, und dass ohne
alle Ausnahme sie alsbald ihre innere Bösartigkeit auslassen
werden, sobald sie dazu eine sichere Gelegenheit finden“ 74).
(Die Professoren also auch?) Was die Freiheit betrifft, so
findet sie Fichte am besten garantiert „im Gesetz“ und
„nur von den Deutschen, die seit Jahrtausenden für diesen
grossen Zweck da sind und ihm langsam entgegenreifen; ..
ein anderes Element für diese Entwicklung ist in der
Menschheit nicht da“ 75).
Wilhelm von Humboldt, gebürtig zu Potsdam, eilte
auf die Kunde von der französischen Revolution nach Paris.
In seiner Schrift „Ueber die Grenze der Wirksamkeit des
Staates“ verarbeitete er in preussischem Sinne den Rousseau-
schen Satz, dass das demokratische Massenrecht den einzelnen
Menschen auch „zwingen könne, frei zu sein“ 76); indem
er nämlich, wie Herr Moeller van den Bruck mitteilt,
„die sittliche Freiheit“ heranzog, die er als Kantianer mit-
brachte, und von der Rousseau gesagt hatte, dass sie
nicht zu den Aufgaben seiner Arbeit gehöre 77).
Die deutschen Bearbeitungen Rousseaus sind interessant.
Sie lassen die philosophische Mystifikation auf der Tat
ertappen. Rousseau setzte an den Anfang seines „Contrat
6
[82] social“ den wohlbedachten revolutionären Satz: „Der Mensch
ist frei geboren und ist doch überall in Banden“. Schiller
machte daraus nach Kants intelligiblem Muster: „Der Mensch
ist frei geschaffen, ist frei und würd' er in Ketten geboren“.
„Und diese Freiheit“ (in Ketten geboren!), sagt nun Moeller
van den Bruck, „war es, die Humboldt gegen den Staat
sicher zu stellen suchte“. Später erst, auf dem Wiener Kongress,
„wo ihm nicht Hardenberg, nicht Metternich, nicht Talleyrand
an Bildung, geschweige denn an Bedeutung gewachsen
waren“; als Preussen „gezwungen war, das Schwergewicht
von den Forderungen des Individuums und der Freiheit
ganz auf die des Staates und des Zwanges zu verlegen“
bekannte Humboldt vor der Wirklichkeit, dass „Sicherheit
des Ganzen wichtiger ist als Freiheit des Einzelnen“. Auf
den Vorschlag Talleyrands, man möge den Kongress im
Namen des öffentlichen Rechts eröffnen, antwortete Humboldt:
„Was soll hier das öffentliche Recht“? 78) Da hat man die
ganze Entwicklung: von Königsberg über Jena nach Wien.
Der einzige Lichtenberg scheint Frankreich besser
verstanden zu haben. In seinen „Politischen Bemerkungen“
finden sich Sätze, die noch heute gelten und seine volle
Aufmerksamkeit und Sympathie für die Revolution, aber
auch seine Besorgnis nicht verhehlen. „Die Lüftung der
Nation kommt mir zur Aufklärung derselben unumgänglich
nötig vor. Ich sehe darin nichts so sehr arges, dass man
in Frankreich der christlichen Religion entsagt hat. Wie, wenn
das Volk nun ohne allen äusseren Zwang in ihren Schoss
zurückkehrt? Vielleicht war es nötig, sie einmal ganz aufzu-
heben, um sie gereinigt wieder einzuführen“ 79). Oder: „Das
Traurigste, was die französische Revolution für uns bewirkt hat,
ist unstreitig das, dass man jede vernünftige und von Gott
und rechtswegen zu verlangende Forderung als einen Keim
von Empörung ansehen wird“ 80). Und 1796: „Wir wollen
nun sehen, was aus der französischen Republik wird, wenn
die Gesetze ausgeschlafen haben“ 81). Das ist der ganze
[83] liebe kluge Lichtenberg, der klüger war als alle die Häupter
der Würdepartei zusammengenommen.
Denn was geschah? Nach der Maxime ‚Fürchte deinen
Nächsten wie dich selbst‘ wurden die freiheitlichen Ideen
der Revolution von den deutschen Regierungen unter
Zuhilfenahme ihrer Hof-, Staats- und Plaisirhumanisten ins
Unverbindliche abreagiert 82). Die Regierungen liessen die
„intelligible Freiheit“, um die sie sich nur so lange nicht
kümmerten, als die Herren Philosophen und Gelehrten
keine praktische Konsequenz daraus zogen, summa cum
laude als nationale Spezialität dozieren, und die sogenannten
Freiheitskriege (preussisch protegierte Franktireuraufstände)
erlaubten der düpierten Nation ihren Hass gegen den
Fortschritt und ihren Aerger über versäumte Gelegenheiten
sogar auf den Namen Heroismus zu taufen. Eine Konspiration
gegen den Fortschritt war es, was Deutschland mit Preussen
liierte.
5.
Man kann die Erniedrigung, die das preussische Pflicht-
ideal postuliert, und die Depravation, zu der es notwendig
führen muss, nicht verstehen, wenn man seine Entwicklung
nicht kennt. Dem preussischen Pflichtideal liegt noch heute
eine Art stillschweigenden Vertragsverhältnisses zugrunde
zwischen dem Fürsten und seinem Untertanen. Der Untertan
verpflichtet sich, zu „dienen“, der Fürst erzieht ihn und
„schützt“ ihn dafür. Ueberall, wo es Patriarchen und Fürsten
gibt, hat es einen ähnlichen Vertrag gegeben. In Preussen
aber kam dazu folgendes: Das Elend des dreissigjährigen
Krieges hatte vom Abschaum aller Völker Söldnerhorden
hinterlassen, die herrenlos und marode, raubend und wohl
auch mordend, das Land durchstreiften. Notgedrungen
vielleicht, vielleicht aus Frömmigkeit — Armenwesen und
Polizei gehen in protestantischen Staaten ja Hand in Hand —
[84] schuf Friedrich Wilhelm, der Grosse Kurfürst, den miles
perpetuus, das stehende Heer. Die Horde fand jetzt ein
Unterkommen. Pflicht aber wurde „verdammte Pflicht
und Schuldigkeit“, aus billiger Anerkennung der kurfürst-
lichen Güte.
Der miles perpetuus ist ein tief verworfenes Geschöpf;
er kann seinem Herrgott danken, dass der Kurfürst ihn
nicht aufknüpft, sondern ihn zu lebenslänglichem „Dienst“
begnadigt. Der Kurfürst freilich ist kein gar gelinder Herr.
Aufs Strengste geht er gegen Insubordination, Raufen und
Balgen seiner Offiziere vor: Duellanten und Sekundanten
bestraft er mit dem Tode. Durch hinreichenden und „regel-
mässig ausgezahlten“ Sold indessen fesselt er Mannschaft
und Offiziere an sich. Auch durch die Macht seiner
„christlichen“ Persönlichkeit.
Der preussische Militarismus in seinen Grundlagen ist
eine Institution „praktischen Christentums“. Das ist hinreichend
ersichtlich. Die von Gott eingesetzte Obrigkeit begnadigt
den Sünder. Es ist ein religiöser Militarismus. Bei einer
Exaltierung des Bussbegriffes liesse sich daraus ein preussischer
Militärkatholizismus abstrahieren. Soweit sind wir noch nicht
gekommen, weil es an produktiven Köpfen fehlt. Aber wenn
Herr Scheler sich einmal damit beschäftigen wollte, liesse
sich denken, dass man Katholizismus in diesem Punkte
sogar mit Preussentum vereinigen kann. Dann würde es
Freiwillige geben aus Dandysmus.
Die „verdammte“ Pflicht und Schuldigkeit besagt, dass
es hier eine Hölle gab ohne Entrinnen. Das Exerzieren des
miles perpetuus und die Exerzitien der Jesuiten treffen sich
in punkto menschlicher Erbärmlichkeit, Nullität und Zer-
knirschung. Kaserne, Kloster und Zuchthaus wetteifern in
Pauperismus, schlechter Kost und Verachtung des mensch-
lichen Stolzes. Die militärischen „Generales Observations“
jenes Soldatennarren Friedrich Wilhelm I. und die „Geist-
lichen Bussübungen“ des Ignatius Loyola berühren einander
[85] im Paragraphen. Artikel I: „Es muss zuvorderst wohl dar-
auff gesehen werden, dass, so offt ein Kerl im Gewehr, und
absonderlich auf dem Exerzier-Platze ist, sich bon-air gebe,
nemlich den Kopf, Leib und Füsse recht und ungezwungen
halte, und den Bauch einziehe“. Artikel VII: „Das erste im
Exerciren muss seyn, einen Kerl zu dressieren, und ihm das
air von einem Soldaten beyzubringen, dass der Bauer heraus
kommt“. Oder Art. II für die Offiziere: „Weilen ein Kerl,
welcher nicht GOTT fürchtet, auch schwerlich seinem Herrn
treu dienen, und seinen Vorgesetzten rechten Gehorsam leisten
wird; Als sollen die Officiers den Soldaten wohl einschärfen,
eines Christlichen und ehrbahren Wandels sich zu befleissigen“;
Weshalb die Officiers, wenn sie von eines Soldaten gottlosem
Leben in Erfahrung kommen, selbigen vermahnen, und wenn
er sich nicht bessert, den Kerl zum Priester schicken müssen“.
So im „Reglement, Vor die Königl. Preussische Infanterie“,
Potsdam, den 1. Martii 1726 83). Das Reglement ist beeinflusst
vom Kriegsreglement des Spaniers Della Sala ed Abarca
(1681), das auf Befehl des Königs ins Deutsche übersetzt
wurde und mit geringen Aenderungen auch an Friedrich den
Grossen überging. Von letzterem aber stammt jenes Wort,
das die Herkunft des preussischen Soldaten noch deutlich
erkennen lässt: „Kann ein Fürst, der seine Truppen in blaues
Tuch kleidet, und ihnen Hüte mit weissen Schnüren gibt,
der sie sich kehren lässt rechtsum und linksum, sie ehren-
halber einen Feldzug tun lassen, ohne den Ehrentitel eines
Anführers von Taugenichtsen zu verdienen, die nur aus Not
gedungene Henker werden, um das ehrbare Handwerk von
Strassenräubern zu treiben?“ 84)
Man sieht: die preussische Armee regt zum Philoso-
phieren an, und es ist kein Scherz, wenn ich sage, der
preussische Militarismus beruht auf „Religionsphilosophie“.
Er ist spanisch nach seiner Herkunft, Zuchtrute und Geissel,
und wird nur überwunden werden von einer geistigen Dis-
ziplin, die sich an jesuitischen Vorbildern schulte 85). Die
[86] preussische Armee in ihrem Ursprung ist ein Verbrecher-
institut, dem die Gnade des Fürsten zuteil geworden ist,
und noch die Fuchtel heutiger Offiziere und Unteroffiziere,
Kasematten- und Kasernendrill, der die absolute Inferiorität
des ihnen ausgelieferten „Menschenmaterials“ statuiert, zeigt
Parallelen mit dem Gefängniswesen, die Gegenstand theo-
logischer Dissertationen sein könnten.
Die Rache ist Ausgangspunkt einer brandenburgischen
Hausphilosophie, der auch Kants Rigorismus sich nicht zu
entziehen vermochte und der keine strengere Natur ihr
spekulatives Interesse versagt. Die Subordination des Indivi-
duums, wie das preussische System sie verlangt, begann
sogar die römische Kirche zu interessieren und die verwöhn-
testen Geister fallen uns ab, wenn wir der Satansschule uns
nicht gewachsen zeigen. Was ist es anders als Mathematik,
wenn Friedrich Wilhelm I. vor dem dröhnenden Gleichschritt
der „langen Kerle“, vor den unerhört genauen Bewegungen
der Körper und Linien Wirbelkrämpfe bekommt? „Enfin,
ein Regiment ist die Braut, darumb man tanzet“ 86). Der
Kantonist war zu lebenslänglichem Dienst verpflichtet. Uner-
bittlich regierte der Stock 87). Ist es ein Zufall, dass Kant
schrieb, „wir stehen unter einer Disziplin der Vernunft. Pflicht
und Schuldigkeit sind die Benennungen, die wir allein unserem
Verhältnisse zum moralischen Gesetze geben müssen“? 88)
War nicht auch er fasziniert? Hat er das Regiment Friedrich
Wilhelms nicht gut beschrieben, als sein gelehriger Schüler?
„Pflicht, du erhabener grosser Name, der du nichts Be-
liebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dir fassest,
sondern Unterwerfung verlangst .. “! Und liegen nicht hier,
im devotesten Byzantinismus, auch die Gründe beschlossen,
die Katholiken, Polen und Spanier heute zu Kant und zu
Preussen führen?
Kant suchte die Wurzel einer „edlen Abkunft“ dieser
„Pflicht“. Er fühlte als Preusse und Mensch sich verpflichtet,
der teuflischen Wirklichkeit eine göttliche Wurzel zu suchen.
[87] Und er fand diese Wurzel, die „Würde“, in der freiwilligen
Zustimmung zu Gebot und Befehl: in der Antizipation des
Befehls, und er nannte sie „kategorischer Imperativ“ im
Namen der „Persönlichkeit“. Ist ein Satz wie der folgende
zu verstehen ohne diese Prämissen? Kant schreibt: „Hält
nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke
des Lebens (dem Militärdienst), das er vermeiden konnte,
wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können,
noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in
seiner Person doch in ihre Würde erhalten und geehrt
habe: dass er sich nicht vor sich selbst zu schämen und
den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache
habe“? 89) Hält man Kant noch immer für den weltabge-
wandten Stubengelehrten? War er nicht vielmehr halb
Opfer, halb Helfer? War das Substrat seiner abstrakt-
anonymen Sätze nicht Friedrich Wilhelms Knutensystem?
Glaubt man, ohne Grund sei er für die Chamberlain und
Konsorten „die Braut, darumb man tanzet“? Er hat dem
preussischen Untertanen, wenn auch mit Skrupel und
Vorsicht, das gute Gewissen gegeben, sich knuten und
knebeln zu lassen. Er war der zweite Deutsche nach Luther,
der das Gewissen verriet; so sublim und abstrakt und so
dunkel, dass es gewitzigter Sinne bedarf, hier noch die
Urschrift zu lesen. Kant hob die preussische Knutung zur
Metaphysik 90).
Verbunden mit dem Erniedrigungsideal, das zum
Zynismus führen musste und auch führte, war die branden-
burgische Tradition des „Sich-formidabel-machens“. Der
Grosse Kurfürst schreibt: „Unsere Voreltern seind der
ganzen Welt formidable gewesen und, wenn sie sich nur
gerühret, hat alles gezittert“ 91). Der Satz wird Haustradition.
Friedrich Wilhelm I. legt seinem Nachfolger ans Herz:
„Mein successor muss sich bearbeiten, dass aus all seinen
Provinzen und in spezie Preussen die vom Adel und
Grafen in die Armee amploiren und die Kinder in die
[88] Cadets gesetzt werden; ist formidabel für seinen Dienst
und Armee, und ruhiger in seinem Lande. Die Seligkeit
ist für Gott; alles andere aber muss mein sein“ 92). Und
Friedrich der Grosse in seinem „Militärischen Testament“
von 1768: „Der Krieg ist gut, wenn man ihn unternimmt,
um das Ansehen des Staates aufrechtzuerhalten. Keine Kunst
ist schöner, keine nützlicher als die Kriegskunst“ 93).
Aber noch eine andere Tradition bildet sich: die des
preussischen Generalstabs. Unter dem Grossen Kurfürsten
raufte und balgte man sich noch. „So sollen vor allen
Dingen Uns als dem Haupte, die Hohen und anderen
Officirer, Reuter und Knechte, auch insgemein alle und
jede, so in unsern Diensten, und sich bey der Armee auf-
halten, getrew, hold, gehorsam und gewärtig sein“ 94). Unter
Friedrich Wilhelm I. verlangt das Offiziersreglement, dass
in den Regimentslisten geführt werden soll: „ob der Officier
ein Säuffer ist, ob er guten Verstand und einen offenen
Kopff hat, oder ob er dumm ist“ 95). Friedrich II. entfernt
dann die bürgerlichen Offiziere, und in den adligen Offiziers-
korps entsteht ein Junkersinn, der, nach Treitschke, „dem
Volke noch unleidlicher wurde als die ungeschlachte Roheit
früherer Zeiten“. Der „Point d'honneur“ wurde eingeführt.
Von einem General erfordert man, „dass er dissimulé sein
und zugleich naturel scheinen soll, gelinde und strenge,
beständig misstrauisch und jederzeit tranquille, der aus
humanité seiner Soldaten schonet, zuweilen aber mit deren
Blut verschwenderisch ist“ 96).
Nach dem Zusammenbruch der Armee bei Jena und
Auerstädt werden Scharnhorst, Gneisenau, Grolman und
Boyen ihre Reorganisatoren. Es beginnt die „idealistische“
Tradition des Generalstabs. „Es steht dieser Bund der
Viere“, sagt der Konzipient der Dokumente, die ich hier
anführe, „in der Tat so erhaben da, dass die Geschichte
seit den Reformatoren des 16. Jahrhunderts nichts dem
Aehnliches aufzuweisen hat“ 97); und das ist gewiss auch die
[89] Ueberzeugung der Lehrer in den Kadettenschulen. Nimmt
man aber für Grolman und Boyen die Namen der Blücher
und Clausewitz, die heute noch leben und in aller Munde
sind, so wird von den vier Haupthelden des damaligen
preussischen Heeres berichtet, dass sie in ärmlichen Verhält-
nissen, ohne regelmässigen Unterricht aufgewachsen sind.
Das mag für „idealistische“ Offiziere nicht ausschlaggebend
sein, aber charakteristisch ist es.
Gleich Scharnhorst. „Sein Vater war hannoverischer
Dragonerwachtmeister gewesen. Er wuchs arm und ohne
Unterricht auf“ 98). Seine idée fixe war die Nationalmiliz,
um die er die französische Revolution beneidete. Seine Re-
formen hatten stets den „Krieg um die Freiheit“ vor Augen.
Die ganze Masse des Volkes bewaffnet, das war sein Traum.
Wie konnte man sich dann formidabel machen! Er hasste
die Franzosen. Weshalb wohl? Von Scharnhorst kam der
Satz: „Hat die Vorsehung irgend eine neuere Einrichtung
dem Menschen unmittelbar eingegeben, so ist es die Diszi-
plin der stehenden Armee“ 99). Da Scharnhorst aber gleich-
zeitig für die allgemeine Wehrpflicht agitierte, ergibt sich
als sein Ideal: der altpreussische miles perpetuus, der Sträf-
ling, in nationaler Anwendung.
Gneisenau genoss „den geistig dürftigen abergläubischen
Unterricht von Jesuiten und Franziskanern“ 100). In der franzö-
sischen Revolution sah er entzückt „die Entfesselung bisher
gebundener Volkskräfte“. Er war überzeugt, dass die allge-
meine Wehrpflicht und die Teilnahme des Volkes am poli-
tischen Leben sich „als selbstverständlich ergänzen würden“,
und trat, selbst gegen die Ansicht des Freiherrn von Stein,
für die Abschaffung der Prügelstrafe ein, was er poetisch
„Freiheit des Rückens“ nannte 101). „Religion, Gebet, Liebe zum
Regenten“, schrieb er in einer Denkschrift an den König,
„sind nichts anderes als Poesie. Auf Poesie ist die Sicherheit
der Throne gegründet 102).
Auch den Gebhard Leberecht von Blücher begleitet die
[90] stereotype Formel: „der Knabe wuchs ohne jeden Unterricht
auf“ 103). Lockeres Leben mit Jagd, Wein, Weib, Spiel und
Raufhändeln, so lautet sein Leumundszeugnis. An Gneisenau
schreibt er: „Grüssen Sie meinen Freund Scharnhorst und
sagen ihm, dass ich es ihm an's Herz lege, vor eine National-
Armee zu sorgen“ (1807). An Scharnhorst: „Ich kan alle-
weile nich still sitzen und nich die zene zusammen Beissen
wen ess Sich um dass Vatterlandt und die freyheit Handelln
duht. lasst das lausse und sch .. Zeugh von denen Diploh-
mahtiker zu Allen teuffeln faren; warum soll nich alles Auff-
sitzen und loss auff die frantzossen wie das Heyllige donner-
wetther... dahrum so sag Ich, marrsch und auff und mitt
den Degen den feindt in die ribben“ 104).
Clausewitz hatte, wie Gneisenau, Scharnhorst und
Blücher, eine mangelhafte Schulbildung 105). Seine „Bekennt-
nisse“ geschrieben 1812, veröffentlicht 1867, bestätigen die
Tatsache, dass sein Grossvater Theologieprofessor gewesen.
Im übrigen sind sie ebenso langweilig wie anspruchsvoll.
Nicht mit ihnen ist Clausewitz weltberüchtigt geworden.
Er wurde es mit seinem Werk „Vom Kriege“, zu dem
Generalfeldmarschall Graf Schlieffen, Chef des Generalstabs
der Armee, eine Einleitung geschrieben hat. Ich kann es
mir nicht versagen, wenigstens einen Satz dieser Einleitung
zu zitieren. Er lautet: „Der dauernde Wert des Werkes
liegt neben seinem hohen ethischen und psychologischen
Gehalt in der nachdrücklichen Betonung des Vernichtungs-
gedankens“ 106).
Ethischer Wert und Vernichtungsgedanke? Clausewitz
hat viel meditiert über jenen Augenblick, in dem das
Gewissen des Soldaten mit seinem blutigen Handwerk in
Widerspruch gerät. Er ist der Jesuit unter den Pastorensöhnen,
die den Krieg heilig sprachen und ihren entsetzlichen
Zynismus mit Argumenten noch zu decken suchten. Er
kommt in einem Kauderwelsch, das Kantische Aspirationen
hat, zu dem Resultat, dass die Entschlossenheit, das Gegen-
[91] gewicht gegen den Skrupel, „nichts anderes ist als das
Gefühl der Menschenwürde; dieser edelste Stolz, dieses
innerste Seelenbedürfnis: überall als ein mit Einsicht und
Verstand begabtes Wesen zu wirken. Wir würden darum
sagen: ein starkes Gemüt ist ein solches, welches auch bei
den heftigsten Regungen nicht aus dem Gleichgewicht
kommt“ 107).
Die Welt weiss heute, dass das Drängen des General-
stabschefs Moltke bei jener denkwürdigen Versammlung
in Potsdam es war, das zur Auslösung des Weltkrieges
führte. Noch Bismarck hatte die Kraft, dem Generalstab,
vertreten durch jenen ersten Moltke, ein Paroli zu bieten 108).
Heute gibt es keine Bismarcks mehr. 1914 erlag die
Diplomatie der Militärgewalt. Der Generalstab, der den
Krieg begonnen hat, sucht ihn seit vier Jahren vergebens
auch zu gewinnen; weil er infolge seiner Kriegsschuld
gehalten ist, lorbeerbekränzt zurückzukommen. Er braucht
dazu Soldaten, immer mehr Soldaten, also annektiert er
Gebiet. Das ist das Geheimnis preussischer Politik.
Seit Clausewitz wird auch die deutsche Moral vom
Generalstab gemacht. Wird die Nation das noch lange
mitansehen? Sind wir so tief gesunken, dass wir kein
Gefühl mehr haben für dialektische Ungeheuer; dass es
nicht Offiziere mehr gibt, deren Ehre hier schaudert? Der
Staat ist ein praktisches, also inferiores Institut. Der General-
stab aber ist eine unerbetene, nihilistische Philosophie.
Wird niemand mehr schamrot, wenn ich sage, dass
diese Sätze im Ausland gelesen werden? Die Souveränität
des Staates über den Menschen und Bürger ist soweit gediehen,
dass heute ein Stand, dessen Vorname Rüpel gewesen,
der Nation Gesittung dozieren darf 109)? Ist es dahin ge-
kommen, dass Beamte, die ihre Pflicht tun, weil ihre
untergeordneten Fähigkeiten darin ihre Rechtfertigung finden,
sich anmassen, Religion und Philosophie zu traktieren? Ist
es dahin gekommen, dass Priester, Künstler und Philosoph
[92] zittern müssen vor jedem Lümmel von Subalternoffizier oder
Schreiberbeamten, der sich als eines ebenso formidablen wie
majestätischen Systems geruhsame Stütze empfindet? Und
ein Volk, in dem das tagtäglich geschieht und zum Codex
geworden ist, nennt sich ein Volk der Dichter und Denker!
6.
Die innere Verwahrlosung des Reiches unter den
Habsburgischen Kaisern erklärt das Aufkommen Preussens
und die Sympathieallianz, die zwischen den preussischen
Despoten und dem deutschen Volke zustande kam. Dass
zwei so entgegengesetzte Dinge wie die romantische
Schlafmützenherrlichkeit des vornapoleonischen Deutschland
und das agile Stockregiment preussischer Militärautokraten sich
dennoch am Ende vereinigen konnten, mag eine Ahnung
davon geben, wie unerträglich die Verschlampung der Rechts-
und Sicherheitsverhältnisse, wie unbequem das Durchein-
ander erstorbener Institutionen im heiligen römischen Reiche
schliesslich geworden war. Jemand bemerkte sehr richtig,
nicht darauf komme es an, dass die Sonne über einem Reiche
nicht untergehe, sondern, was sie auf ihrem Laufe zu sehen
bekomme. Im habsburgischen Weltreich bekam sie zu sehen:
Türkenkriege und Rassen-Massaker im Osten, Inquisition
und Geusenverfolgung im Westen, Konfessionskriege bis
zur völligen Erschöpfung mit Raub, Mord und Brandstiftung
in der Mitte.
Den apostolischen Majestäten auf dem Habsburger Throne
fehlte das neue Motiv und die zentralisierende Kraft. Welt-
flucht und Kreuzzügler-Epigonentum, totes katholisches
Dogma und Jesuitenbarock waren den gierigen Anfor-
derungen eines zusammengeheirateten Weltreiches und einer
neuen Zeit nicht mehr gewachsen. 1648 musste die Unab-
hängigkeit der Niederlande, 1763 die Grossmacht Preussens
mitten im Reiche, anerkannt werden. Auch die ungarischen
[93] Magnaten, die man so wenig zu bändigen wusste, wie die
Geusen und Preussen, wurden aufdringlicher und kecker,
bis es ihnen im 19. Jahrhundert infolge des Bündnisses mit
Bismarck gelang, die halbe Politik der Donaumonarchie in
ihre Hände zu bekommen.
Der Aufschwung der positiv immer aufs Nächste ge-
richteten preussischen Fürsten ging parallel mit dem Zerfall
der habsburgischen Hausmacht, und in demselben Grade,
in dem diese an moralischem Einfluss verlor, wandten die
deutschen Sympathien sich Preussen zu, das an Verschlagen-
heit, Brutalität und Sophistik dem Oesterreichertum zwar
nichts nachgab, es an Erfolg aber übertraf.
Ein Bismarckwort lautet: „Preussen ist völlig isoliert.
Der einzige Alliierte, wenn es ihn richtig zu behandeln weiss,
ist das deutsche Volk“. Schon der grosse Kurfürst machte
diese Erfahrung, 1675, als er im pfälzischen Erbfolgekrieg
gegen Ludwig XIV. die Partei des Kaisers nahm und von
diesem im Stich gelassen, sich plötzlich Frankreich und
Schweden zugleich gegenüber sah. Damals richtete er jenen
Aufruf an Deutschland 110), in dem er sich auf die „formi-
dable Tradition unserer Altvordern“ berief, einen Zusammen-
schluss der deutschen Stämme forderte und damit eigentlich
einen Akt der Rebellion gegen den Kaiser beging. „Nostris
ex ossibus ultor“, verwünschte er Oesterreich, als Ludwig
XIV. ihn zum Separatfrieden von St. Germain en Laye
zwang. Und ähnlich deutete Friedrich Wilhelm I., als
Karl VI. ihm, wider die Abmachungen der pragmatischen
Sanktion, die Erbfolge in Berg unterschlug, auf seinen
Sohn Friedrich: „Da steht einer, der mich rächen wird“!
Friedrich II. ist jener preussische König, dem es zum
ersten Male gelang, sich im Kampfe gegen das katholische
Oesterreich die Sympathien Deutschlands zu erringen; des
protestantischen nördlichen Deutschland, wohlverstanden.
Und man würde fehl gehen, wenn man die preussische
Politik von 1648 an nicht in dem Sinne verstünde, in dem
[94] sie einzig verstanden werden darf: als Ausdruck des höfi-
schen Macchiavellismus und einer lutheranischen Pseudo-
moral. Der Fürstenbund, den Friedrich 1785 gründete, ist
der Vorläufer jenes zweiten deutschen Fürstenbundes, den
Bismarck 1871 gründlicher und umfassender, aber ganz im
Sinne der alten preussischen Einigungsidee des grossen
Kurfürsten und des grossen Fritzen, errichtete. Ausschlag-
gebend waren das eine wie das andere Mal nicht die In-
teressen und das Wohl der Völker, sondern „die Ehre und
die Sicherheit“ der Kronen.
In Friedrich II. fanden die Hohenzollern den Promp-
testen ihrer Tradition; auch den Witzigsten, wenn man als
Witz gelten lässt, was aus der Lust am Düpieren und aus
sarkastischer Frivolität entsprang. Vor allem den Promptesten;
von aussergewöhnlicher Schlagkraft war er, von einer ver-
blüffenden Selbständigkeit.
Seine Schlachten sind keine Meisterwerke der Kriegs-
kunst. Napoleon hat sich moquiert darüber 111). Er schlug,
wie es traf, ohne viel Federlesens. Und er fand seinen
Meister und erhielt Schläge, ebenfalls ohne viel Federlesens.
Seine Philosophie bestand in einem agaçanten Zynismus,
der heftig bereit war, Talente und menschliche Einsicht,
selbst wenn sie zur Tiefe von Ueberzeugungen drangen,
ohne viele Skrupel „dem Ruhme“ zu opfern 112). Ja, fast
scheint seine ganze Melancholie und sein einsames Flöten-
blasen von dem Erlebnisse herzurühren, dass der Genius,
der ihn „wider Willen“ begeisterte, mit dem preussischen
Prügelmeister in unauflösbaren Widerspruch geriet.
Was ihn auszeichnete, war seine Zähigkeit, eine Elastizität,
die mit unfehlbarer Pünktlichkeit da war, gewärtig war, ein-
griff und ausbog. Nicht der „Philosoph“ von Sanssouci,
nicht der Stratege, noch der Poet, der Vernunft in gereimten
Kolonnen bezaubert marschieren liess: — der Draufgänger
und Tausendsassa war es, der die Deutschen zwang,
„wieder an das Wunder des Heldentums zu glauben“.
[95] Endlich einer, der etwas tat, gleichviel mit welchem Erfolg;
der seinen Kopf bei den Augen hatte. Endlich einer, der
aufzuräumen gewillt war mit Schlendrian, Phrase, Bombast
und Faszikel. Endlich ein Tiger, wenn er auch peitschte
und Zähne zeigte. Ein Temperament, nach Pedanten und
Tölpeln, Adepten und Träumern.
Noch Lessing spricht von den Preussen zuweilen wie
von einem halbwilden Volke, doch stellt er verwundert
fest, denen sei „der Heldenmut so angeboren wie den
Spartanern“. Die Schlacht bei Rossbach gewann die schon
vorher „fritzisch Gesinnten“ wie Goethe. Und wenn es
nach Treitschke den Helden des deutschen Gedankens auch
lange Zeit noch schwer fiel, „den einzig lebenskräftigen
Staat unseres Volkes zu verstehen“ 113), so trat doch in
Friedrich die „uralte Waffenherrlichkeit der deutschen Nation“
wieder zutage, und der „Idealismus“ tat das Seine, den
Gegensatz allgemach auszugleichen. Den Abfall der prote-
stantisch feudalen Niederlande vom Reich hatten Goethe und
Schiller mit Versen und Prosa freudig gefeiert. Die Rebellion
Preussens im Norden, Friedrichs II. Vasallenaufstand 114)
entsprach ihrem Liberalismus nicht ganz, doch galt es,
sich abzufinden 115).
Was waren die Gründe, die unsere Urgrossväter jen-
seits des Maines, wenn auch mit Sträuben und Zagen, zu
preussischen Royalisten machten? Das heilige römische
Reich lag in Agonie und bestand eigentlich schon seit
Luther nicht mehr. Die Gelehrtenrepublik bot gewisse
Unabhängigkeitsgarantien, wenn auch sehr provisorischer
Art. Man spintisierte nach Lust und Belieben; jeder für
sich, Gott für uns alle. Keine Aufwiegelei, keine Sentiments
für die „Canaille“, alles in Ruhe und Frieden! Von der
Sympathie bis zur Einführung preussischer Korporalstöcke
im Reich ist ein gutes Stück Weg. Dann würde auch Oester-
reich wohl noch zu reden haben.
Eines aber verband Dichter, Denker und preussische
[96] Herrscher, und das konnte schon damals bedenklich scheinen:
die protestantische Ideologie. Als Friedrich entdeckte: „Ich
bin gewissermassen der Papst der Lutheraner und das
kirchliche Oberhaupt der Reformierten“ 116), da stand im
Grunde auch der Durchführung seiner deutschen Aspirationen
nichts mehr im Wege. Kants Philosophie gewann Schiller,
Wilhelm von Humboldt und Kleist, die protestantische
Staatsidee Fichte und Hegel. Der siebenjährige Krieg hatte
Goethe gewonnen. Raubkrieg hin, Raubkrieg her: die
Nation, von Klassizismus und Lutheranismus zugleich ver-
dorben, gewann einen dankbaren Stoff zur Poetisierung.
„Da griff ich ungestüm die goldenen Harfe, darein zu
stürmen Friedrichs Lob“ 117). Hatte Friedrich nicht Gedanken-
freiheit gegeben? Das verband Schiller (siehe Marquis Posa).
Hatte er nicht den „grossen praktischen Verstand“, den
Goethe an den Engländern lobte? Und wenn Friedrich
auch französisch schrieb und sich mit Voltaire und den
Enzyklopädisten besser verstand als mit Weimar und Jena:
wo sonst als bei Preussen und seinem Heer war Rettung
vor dem radikal Bösen der schrecklichen Ungeheuer-Revolte
von Paris?
Der Jammer und die Misere, worin die habsburgische
Theokratie, aufgebaut auf einem toten Gotte, Deutschland
konservierte, lassen den Entschluss begreiflich erscheinen,
den unsere Altvordern fassten. Sie konnten nicht ahnen,
was folgen würde. Heute aber, da wir die Ungeheuer in
unserer Mitte haben, da Preussen sinnlos und eine Land-
plage geworden ist, — was hindert uns noch, der Sol-
dateska den Abschied, der Republik aber ihren Advent zu
bereiten?
Als Herrscher war Friedrich nicht ohne Bedenken.
Der Einfluss der Henriade ging tiefer, als er sich eingestand.
„Die Gier nach immer mehr“, schrieb er im Antimacchiavell,
„ist nur das Merkmal ganz niedrig gearteter Seelen“. Und:
„Ein Verlangen, sich vom Raub des Nächsten zu vergrössern,
[97] wird im Herzen jedes anständigen Menschen, der Wert
auf die Achtung der Welt legt, nicht so leicht Eingang
finden“. Und: „Ein Missetäter braucht nur erlauchter Her-
kunft zu sein, um auf den Beifall der meisten Menschen
zählen zu können“ 118).
Man hält in Deutschland noch heute für Philosophie
die Ansicht, dass das „wirkliche“ Leben solch knäbische
Idealismen spielend beseitigt. Und doch ist gerade diese
Ueberzeugung eine moralische Fahnenflucht, liegt gerade
in dieser Ansicht das unheroische Faktum unserer Denkart.
Der König wusste das wohl. Sein Zynismus zeigte sich
darin, dass er die wahren Aufgaben des Herrschers begriff
und verriet und noch Philosophie daraus machte.
Sobald sich eine Gelegenheit bot, fiel er über Schlesien
her. Wobei wiederum zu bemerken wäre (siehe Masaryk),
dass eine Revolte nur dann kein Verrat ist, wenn sie von
menschlichem Mitleid getragen auf Notdurft und Rechten
basiert und von kollektivem Gewissen getragen, nach mehr-
fach vergeblicher Anmeldung ihrer Rechte zum Aufstand
gezwungen ist.
1741 bekennt der König 119): „Der Ruhm der preus-
sischen Waffen und die Ehre des Hauses bestimmen mein
Handeln und werden mich bis in den Tod leiten“. Was
kümmert uns aber der Ehrgeiz eines Fürsten und die
Machtlust der preussischen Waffen? Uns ist die Wohlfahrt
des Volkes vertraut. Und wenn er behauptet: „Der preussische
König muss den Krieg unbedingt zu seinem Hauptstudium
machen und den Eifer derjenigen anfeuern, die den edlen
und gefährlichen Waffenruf ergriffen haben“ 120) — was
schiert uns die preussische Hauspolitik? Ist es Grösse,
den Krieg, ein satanisches Handwerk, zu pflegen? Aus dem
Lamm ein reissender Wolf, über Nacht. Unter Deutschen
ist das nicht überraschend. Thomas Mann, der im Früh-
jahr 1914 noch begeisterte Worte für ein demütig Weih-
nachtsstück Paul Claudels, „Die Verkündigung“, fand,
7
[98] ist ebenfalls aus einem Lamm ein Wolf geworden, und da
er demnach eine Friedrich-Natur ist, mag sein Buch über
den preussischen König 121) mancherlei Aufschlüsse bieten.
Ein Kuriosum ereignet sich: Preussen verteidigt die
„Freiheit Europas“! Friedrich behauptet, „die Sache des
Protestantismus und der deutschen Freiheit vor den Unter-
drückungsgelüsten des Wiener Hofes zu schirmen“ 122)! In
wiederholten Denkschriften an den englischen Hof wirft
er sogar die Frage auf: „Ob Deutschland und der Prote-
stantismus weiter bestehen werden? Ob das Menschen-
geschlecht den Gedanken der Freiheit behalten wird“ 123)?
Es ist die Antizipation des famosen „Kulturkampfes“, den
Bismarck später führt. Er hat jetzt entdeckt, dass er „gewisser-
massen Papst der Lutheraner und geistiges Oberhaupt der
Reformierten“ ist, und schickt französische Jesuiten nach
Schlesien, um die österreichischen Jesuiten zu bekämpfen 124).
Eine früheste Probe „praktischen Christentums“! Und da
er nicht nur Apologet, sondern auch Philosoph ist, bemüht
er den Herzog von Choiseul, den Grafen von Struensee
und Sokrates zu einem „Totengespräch“, um sich aphoristisch
einer Weisheit zu begeben, die ebenfalls preussischer Tra-
dition Ehre macht: „Staatsstreiche sind keine Verbrechen,
und alles, was Ruhm bringt, ist gross“ 125).
Im Jahre 1780 aber erscheint bei I. G. Decker in
Berlin ein Pamphlet „De la litérature allemande“, das nur
Mehring meines Wissens genügend würdigte 126), und das
doch verderblichste Folgen hatte. Friedrichs offensichtliche
Absicht war, ehe er zur Gründung des Fürstenbunds schritt,
der vorlauten Literatur der Stürmer und Dränger gewaltig
über den Mund zu fahren. Goethes „Goetz“, „Stella“ und
„Werther“ lagen vor. Schillers „Räuber“, Lessings „Miss
Sarah Sampson“ waren erschienen und wirkten für ein
selbstbewusstes Bürgertum. Das konnte gefährlich werden.
Dem musste begegnet werden.
Friedrichs Pamphlet hatte Prinzipien und eine Geschmak.
[99] Es kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die jungen
teutschen Originalgenies gemessen an Bossuet, Fenélon,
Pascal und Bayle! Von jetzt an war es geoffenbart, dass
Preussen auch ideell an der Spitze marschierte. Es bedarf
keiner Zitate. Das Pamphlet, energisch stilisiert und von
grossen Gesichtspunkten aus alfresco diktiert, bannte die
spärlichen Koryphäen der Heimatkunst und unterwarf sie
sich wie die Schlange den Vogel. Die Frau Rat war ausser
sich, und Wolfgang dachte an eine Erwiderung. Aber der
Hof von Gotha winkte ab, und der Druck unterblieb.
Herder fasste den Entschluss, sein früher erschienenes Frag-
ment „Ueber die neuere deutsche Literatur“ gründlich zu
revidieren und tat es auch. Wieland schrieb im „Teut-
schen Merkur“: „Seit vielen Jahren waren wir gewiss, dass
der erhabene Verfasser niemals an unserer Literatur einigen
Anteil genommen habe. Wir sehen, dass er sich in vorigen
Zeiten mit ihr beschäftigt und die besten Gesinnungen für
sie hegt, auch noch das Beste für sie zu hoffen und zu
wünschen geneigt ist“. Klopstock, der sich am heftigsten
mitgenommen fühlte, machte seinem Grimm in einer ganzen
Reihe bombastischer Oden Luft 127).
Der König hatte bewiesen, dass er nicht nur in den
Bataille zu fechten verstand, sondern auch dero deutschen
Intelligenz Meister war. Der König gab klärlich kund und
zu wissen, die Zeiten seien vorbei, da man barbarisch in
Preussen die Evangelisten erschlug 128).
Man hätte seinen Anregungen folgen sollen. Sie waren
geeignet, mancherlei Abhilfe und Freiheit zu schaffen. Unter
königlichem Protektorat eine französische Uebersetzungsge-
sellschaft, wie Nowikow und Katharina sie in Russland
hatten 129), tat der Nation dringlicher not als ein Weimarer
Amateurtheater. Man hätte dem Könige vorschlagen sollen,
all jene französischen Klassiker zu übersetzen, die er empfahl.
Es wäre ein unvergängliches Werk geworden. Man tat es
nicht. Man hätte die französische Revolution besser verstanden
[100] bei ihrem Ausbruch und, wer weiss, sich vielleicht Napoleon
und die Freiheitskriege erspart, nebst der Abhänigkeit von
Preussen, die diese Freiheitskriege im Gefolge hatten. Man
tat es nicht. Man vergötterte mehr als je den, der sich als
„doppelten“ Helden erwiesen hatte. Man gab ihm das
Recht, zu glauben, was er vorausgesetzt hatte: auch die
intellektuelle Partei ist inferior, ein miles perpetuus so-
zusagen.
Dann folgte der Fürstenbund. Er wurde der erste
Schritt zur Errichtung des preussischen Reiches deutscher
Nation. Die protestantische Intelligenz war gebändigt, bevor
sie noch recht begriff, um was es sich handelte.
7.
Aber Rousseau hat Frankreich revoltiert. Er hat Russland
revoltiert. Er wird eines Tags auch Deutschland revoltieren.
Der Mensch ist keine Maschine: — Rückkehr zur Natur.
Der Mensch ist kein Teufel: — Rückkehr zum Christentum.
Der Mensch ist kein Höhlenbewohner: — Rückkehr zur
Heimat. Das Paradies ging verloren. Alle sind schuldig
und Ungeheuer des Alltags. Alle sind mit der Erbsünde
der Gewohnheit beladen, Abtrünnige ihrer Kindheit. Alle
gehorchen, weil jeder gehorcht. Doch die Seele ist nicht
von Natur eine Preussin; der Mensch ist kein Brudermörder.
Aufhebung aller heutigen Normen, Gesetze, Sitten, Bildungen,
Einbildungen und Einrichtungen. Unio mystica mit Gott
und der Menschheit.
In Frankreich genügte der Urteilsspruch über eine
unmöglich gewordene Welt, und man schritt zur Tat. Die
Guillotine wurde zum Messer, mit dem man die neue
Menschheit aus dem Leib einer Kokotte schnitt.
In Deutschland führte Rousseaus Philosophie zu jener
magischen Flucht von Idealisten, die man Romantik nennt.
Das deutsche Ideal war einst kontemplativ, nicht angriffslustig,
[101] transzendental, nicht fridrizianisch, und wenn unsere Altvordern
einst wirklich „der ganzen Welt formidabel“ waren, so
hatte die Kirche doch viel getan, sie auf den inneren Kreuzzug
zu weisen, mit heller Phantastik, mit Leid- und Triumphmusik,
den Tod auf den Fersen, den Teufel im Nacken, doch immer
die Stirne vom Credo trunken: Verbrüderte Schwärmer.
In Deutschland wurde der ungestüme Gedanke Rousseaus
zu Sehnsucht und Melancholie, zu Geniekult und einer
Musik „aus Heimweh, aus Herweh, aus Hinwegweh“, wie
Theodor Däubler sagt 130). Die Romantiker flohen, weil sie
gegen die Brutalität der Umgebung nicht aufkommen konnten,
nicht aufkommen wollten. Der Alltag war ihnen zu eng,
missbraucht; die Kette nicht mehr zu durchbrechen 131).
Abdankung, Flucht und Verzicht: so dokumentierten sie
sich in Schriften und Uebersetzungen, deren Sinn ihnen
Spiritualismus blieb, uns aber mit einem Geiste erfüllt,
vor dem die Wirklichkeit weichen muss. Wir sind nicht
Romantiker mehr; wir sind Futuristen.
„Die romantische Poesie ist eine Universalpoesie“, ver-
kündet Friedrich Schlegel, „sie will und soll Poesie und
Prosa, Genialität und Kritik bald mischen, bald verschmelzen,
die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die
Gesellschaft poetisch machen; Bildungsstoff jeder Art durch
Humor beseelen. Die romantische Poesie ist unter den
Künsten, was der Witz in der Philosophie und Gesellig-
keit, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben sind“ 132).
„Transzendentale Bouffonnerie“ nennt er „im Innern die
Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Be-
dingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend
und Genialität“ 133). Poesie ist ihm „allein unendlich, weil
sie allein frei ist und das als erstes Gesetz anerkennt, dass
die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“ 134).
Das sind freie und grosse Formeln. Goethe hatte die
„dämonische Natur“ wieder entdeckt und den Abgrund des
Strebens: Faust und den Blocksberg. Er hatte entdeckt den
[102] Naturbegriff des Genies: das Inkommensurable der Kunst 135).
Im Attachement an die Natur der fünf Sinne fand er die
physischen und sittlichen Urphänomene und deren Durch-
dringung; fand er das Licht und die Farbenlehre und jene
unio mystica mit der Sonne, die sich in seinem Todeswort
ausprägt: Mehr Licht.
Von hier kam die Romantik. Ein hieratisches Pandä-
monium von Liebe, Verehrung und Brüderbewusstsein. Zur
Dombauhütte des dritten Reiches ward die Romantik. Von
heiligem Geiste erfüllt schrieb Novalis den „Ofterdingen“,
schrieb Beethoven den Satz: „Mir ist das geistige Reich
die oberste aller geistlichen und weltlichen Monarchien“ 136)
und an Cherubini das jubelnde Wort: „L'art unit tout
le monde“ 137). Seine völkerverbindenden Rhythmen schwingen
sich auf gegen Gott zum Streit für die Verwahrlosten, Armen.
Gegen Gestirne und Schicksal tagt in extatischem Drängen
die christliche Revolution. Gut ist der Mensch, trotz allem.
Beethoven fordert das Paradies zurück für die Aermsten, an
denen gesündigt ist 138).
Novalis enthält eine ganze Renaissance des Christentums.
1799 erscheint im „Athenäum“ der Brüder Schlegel sein
Essay „Die Christenheit oder Europa“. Er weiss: „Luther
behandelte das Christentum willkürlich, verkannte seinen
Geist und führte einen anderen Buchstaben und eine andere
Religion ein. Höchst merkwürdig ist diese Geschichte des
modernen Unglaubens und gibt den Schlüssel zu allen un-
geheuren Phänomen der neueren Zeit. Wie, wem auch hier
wie in den Wissenschaften eine nähere und mannigfaltigere
Konnexion und Berührung der europäischen Staaten ...
eine neue Regung des bisher schlummernden Europa ins
Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte?“ 139).
Eine Extase sublimierter Leidensfreude ist seine Religion.
Er liest „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und findet verstimmt
das Vorbild Voltaires. „Es ist ein Candide, gegen die Poesie
gerichtet“, schreibt er, „ein nobilitierter Roman. Das Wunder-
[103]
bare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei
behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des
Buches“ 140). Er selbst fordert vom Kunstwerk, dass es das
Wunderbare wie ein Gewöhnliches, Gemeines vorstelle;
und das fordert er sogar vom Leben 141). Er sieht in der
Natur dieselben Wunderkräfte kreisen wie im Menschengeist;
sieht sein Leben und seine Geliebte wie Blume und Blatt
auf dem selben Stengel. Die Welt malt sich mystisch und
grün in seinem Blute. Tier, Mensch und Strauch werden
ein Reich. Und von Franziskus trennen ihn nur Trauer und
italienische Sonne und Bläue. Resignation ist sein Leiden
und Mitleiden mit Blumen, mit Gott und mit Sophie Kühn,
einem sterbenden Mädchen. Er liebt sie, weil sie das Jen-
seits berührt. Einen Satz aber schreibt er, der alle Romantik
überwindet und tief in die Zukunft weist: „Sollen wir Gott
lieben, so muss er hilfsbedürftig sein“ 142).
Ueber Friedrich Hölderlin hat Gustav Landauer so
eindringlich geschrieben, dass Hölderlin jetzt erst entdeckt
worden ist 143). Er suchte die Einheit der Nation zugleich in
der Demut und im dithyrambischen Geist der Gemeinde. Er litt
unsäglich am Treiben der Zeit. Er wusste um eine frei
schwingende Verfassung der Dinge wie keiner von allen,
die nach ihm kamen. Seine Hymnen sind ein zärtlich
abgewogenes Gesetzbuch liebender Leidenschaften. Aufruhr
und Erwartung, mit denen die französische Revolution ihn
bestürmte, lassen ihn fragen: Sind wir zurückgeblieben,
fehlen uns Talent, Tatkraft und Initiative oder sind gerade
wir Säumigen zu besonderer Aufgabe bewahrt? Und seine
Antwort lautet: „Oh ihr Guten! Wir sind tatenarm und
gedankenvoll“ 144). Doch im „Hyperion“ klagt er an: „Die
Tugenden der Deutschen sind ein glänzend Uebel und
nichts weiter; denn Notwerk sind sie nur, aus feiger Angst
mit Sklavenmühe dem wüsten Herzen abgedrungen, und
lassen trostlos jede reine Seele, die verwöhnt vom heiligen
Zusammenklang in edleren Naturen, den Misslaut nicht
[104] erträgt, der schreiend ist in all der toten Ordnung dieser
Menschen. Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was sie nicht
entheiligt, was nicht zum ärmlichen Befehl herabgewürdigt
ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlich
rein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden
Barbaren wie man so ein Handwerk treibt und können es
nicht anders; denn wo einmal ein menschlich Wesen ab-
gerichtet ist, da dient es seinem Zweck. Doch du wirst
richten, heilige Natur! Denn wenn sie nur bescheiden wären,
diese Menschen, zum Gesetze sich nicht machten für die
Bessern unter ihnen! Wenn sie nur nicht lästerten, was
sie nicht sind; und möchten sie doch lästern, wenn sie nur
das Göttliche nicht höhnten!“ 145) Erbsünde der Deutschen
aber ist ihm wie Friedrich Schlegel „die gänzliche Trennung
und Vereinzelung der menschlichen Kräfte“ 146).
Und noch eines Romantikers sei hier gedacht: Georg
Büchners. Er gründet einen revolutionären „Verein für
Menschenrechte“. Welcher Deutsche wird nicht lächeln?
Aus der vita contemplativa stürzt er sich in die Politik
„wie in einen Ausweg aus geistigen Nöten und Schmerzen“.
Die Polizei verjagt ihn nach Strassburg. „Dantons Tod“
entsteht, während die Polizei unten auf ihn wartet. Die
Polizei zwingt ihn, seine rebellischen Neigungen in Literatur
niederzulegen. Nicht die Dogmen von 1789 trägt er vor —
was kümmert ihn Parteiskandal! —, sondern sein leidendes
Menschenherz, einen von tiefster Trauer durchtränkten
Fatalismus 147). „Die Schöpfung ist eine Wunde, wir sind
Gottes Blutstropfen“. Und inbrünstig ruft er uns heutiger
Jugend zu: „Die Welt ist das Chaos, das Nichts, — der
zu gebärende Weltgott“. In Giessen ist es, wo er „in tiefe
Schwermut verfallen sich schämt, ein Knecht mit Knechten
zu sein, einen Kirchendiener-Aristokratismus zu Gefallen“ 148).
Eine Poesie der Heiligen und des Genies wollen diese
deutschesten Geister erheben zur Weltreligion 149). In ihr
sehen sie die Einheit aller Kreatur, ja aller organischen
[105] Schöpfung 150); in ihr, die die Zukunft vorwegnimmt, sehen
sie Gott. Was sie bewegt, ist lebendiger Enthusiasmus fürs
Gute. Gottes Gang in die Natur und Sehnsucht aller Kreatur
zu Gott zurück, ist ihnen himmlische Vernunft.
Borgese warnt Franzosen und Italiener, in den deutschen
Atheisten und Naturalisten des 19. Jahrhunderts Gesinnungs-
alliierte zu suchen. „Wer die christliche Moral als eine
Zufluchtsstätte alter Vorurteile betrachtet, kämpft gesinnungs-
mässig auf Seiten der Deutschen“ 151). Ich kämpfe nicht
„auf Seiten der Deutschen“, ich stimme ihm bei, und das
zwingt mich, Heinrich Heine anzugreifen.
Heine hatte das Pech, sich gründlich über den Prote-
stantismus und über die deutsche Philosophie zu täuschen.
Er hielt Luther für den „grössten und deutschesten Mann“ 152).
Er beging die betrübliche Pläsanterie, von einem „Marquis
von Brandenburg“ zu sprechen, der „Denkfreiheit“ gegeben
habe; er hielt Kant und Fichte für Rebellen, was leider
nicht zutraf, und nannte den preussischen Apologeten des
Credo quia absurdum, Herrn Hegel, „den grossen Hegel,
den grössten Philosophen, den Deutschland seit Leibnitz
erzeugt hat“ 153). Dagegen pamphletierte er gegen die Ro-
mantik, die er für Obskurantismus hielt, weil sie von Preussen
nach Wien und nach Rom floh und Metternichs Anteil fand,
weil sie von der preussischen Denkfreiheit nicht viel hielt
und von den übrigen protestantischen Freiheiten auch nicht
viel. 1852 aber, nachdem die Schriften und Tagebücher
Baaders neu erschienen waren, widerrief er, und er mag
eingesehen haben, welches Unheil ihm seine Avancen ver-
dankte 154). Sein Buch gegen die Romantik widerrief er in-
dessen nicht. Die Schwächen dieser Bewegung hielt er nur
allzu bereitwillig für ihr Wesen, und statt die Institutionen
anzugreifen, die diese Schwächen verschuldeten, trat er mit
geistreich verschlossenen Augen als skeptischer Nationalist
und Gourmand auf die Seite derer, die Purpurmäntel und
Braten verteilen 155).
[106]
Seltsamer Fall! Ein französischer Irredentist aus Düssel-
dorf verleumdet die Blüte des Enthusiasmus und der Extase,
die einzige christliche Literatur, die Deutschland besitzt!
Denn was verbindet uns mit den Völkern, wenn nicht die
christliche Spiritualität der Romantik? Franz von Baader,
der Montblanc dieser Richtung — schuf er nicht tiefe Ver-
bindungen mit dem orthodoxen Geist Russlands? 156) Mit
dem Italien des Franz von Assisi und der ganzen frühgotischen
Tradition? Mit der inspiration douloureuse des Pascal und
dem Thomismus des Cardinal Mercier? 157) Hat er in seinen
Tagebüchern nicht sanft und gewaltig die Irreligiosität der
pantheistischen deutschen Philosophie aufgedeckt 158) und
den ewigen Hader zwischen katholisch und protestantisch
zu tilgen versucht in einem grosszügigen Reformvorschlag? 159)
Sprechen nicht Münzer und Jacob Böhme zugleich aus
ihm, wenn er sagt: „Man muss zeigen, dass Könige,
Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre sind“? 160) Wenn
er Kant und Hegel, den Häuptern der Erkenntnistheorie,
beweist, dass sie die Logik mit dem Logos verwechselt
haben? Wenn er zu Schelling spricht: „Du redest von einer
Offenbarung Gottes durch Naturgesetze für jedes einzelne
Wesen in dem grossen All, und von einer menschlichen
Offenbarung an Menschen magst du nichts hören? Für das
Menschliche in Gott hast du keinen Sinn, so wenig als du
einen solchen für das wahrhaft Göttliche im Menschen hast.
Wissen willst du? Nun so wisse, dass dir deine Vernunft
ausser den sinnlichen Erfahrungen weiter nichts taugt, als
dich in dem heillosen dialektischen Schattenspiele herum-
zujagen, und dass es also wohl sehr vernünftig, grösste,
reinste Vernunft ist, da zu glauben, wo du nie wissen
kannst“ 161).
Zugegeben: die Schauer-, Ritter- und Pomp-Romantik
und auch noch die Heroldsbläserei Wagner'scher Ouvertüren
haben die deutsche Reichsgründung eröffnet. Und Friedrich
Schlegel wurde, als er zu Jahren kam, Ritter des päpstlichen
[107] Christusordens. Aber neben den Obskuranten, die in Abhän-
gigkeit gerieten, — gab es nicht reine begeisterte unabhängige
Mystiker, die uns den Blick rein hielten für das, was wir
wollen müssen: eine ecclesia militans, deren Hauptstadt
Paris ist; deren Väter Pascal, Münzer und Tschaadajew
heissen: deren Gott in der Zukunft wartet und erkämpft
werden muss; deren Reich nicht von dieser Welt, sondern
von einer neuen ist, die wir schaffen und nur in der Un-
endlichkeit erreichen werden?
Gewiss: Trägheit und Laster um ihrer selbst willen,
Askese und Weltflucht, wie die Romantik in ihrer Entartung
sie zeigt, sind nicht Heiligtümer; sie sind Verzweiflung;
Nachwirkungen des furchtbar paulinischen Dogmas: Gott
ist tot, Gott ist am Kreuze gestorben. Und auch das Motto
einer heutigen Romantik: die Kirche hat einen guten Magen,
sie kann selbst Aas und Verwesung vertragen, gilt nicht für
die neue Kirche, die streitende Demokratie. Wir sind keine
skeptischen Hamlets mehr, keine schlechten Pauliner. Wir
sind eine Conspiration in Christo 162). Wenn Heine sagt:
„Die neufranzösischen Romantiker sind Dilettanten des
Christentums, sie schwärmen für die Kirche, ohne ihrer
Symbolik gehorsam anzuhängen; sie sind catholiques mar-
rons“, so geben wir ihm recht. Wir sind keine Pro-
katholiken nach René Gillouins glücklicher Prägung in
einem Aufsatz über das Prokatholikentum der Lemaître,
Maurras und Barrès 163). Und wenn Heine von der Staël sagt:
„Sie spricht von unserer Ehrlichkeit und unserer Tugend
und unserer Geistesbildung — sie hat unsere Zuchthäuser,
unsere Bordelle und unsere Kasernen nicht gesehen 164), so
war es gewiss artig, ihr den Krieg zu machen, wenn er
sich auch in der Waffe vergriff.
Wir glauben an Don Quixote und an das Phantastischste
aller Leben. Wir glauben daran, dass die Ketten fallen und
dass es keine Galeeren mehr gibt. So sehr sind wir bereit,
Opfer zu bringen, dass Kants Pflichtideal uns als moralischer
[108] Dilettantismus erscheint. Wir glauben nicht an die sichtbare
Kirche, aber an eine unsichtbare und wer in ihr kämpfen
will, ist ihr Glied. Wir glauben an eine heilige christliche
Revolution und an die unio mystica der befreiten Welt.
Wir glauben an die küssende Verbrüderung von Mensch,
Tier und Pflanze; an den Boden, auf dem wir stehen und
an die Sonne, die über ihm scheint. Wir glauben an einen
unendlichen Jubel der Menschheit. Wie sagt Jan van Ruys-
broek im „Buch der zwölf Beghinnen“.
‘Verschmelzen mit der Liebe Angesichte
Und ganz von Liebe trunken sein
Ist selige Weise.’ ()
Die Romantik durchbrach in Deutschland die Tradition
von 1517. Das ist ihre Tat. Sie stellte die Verbindung
wieder her mit der alten Spiritualität Europas. Sie versuchte
eine Kritik des Protestantismus und wies über den Konfes-
sionsstreit hinaus. Sie ist mächtig genug, Deutschland eine
Renaissance des Christentums zu bringen, wenn man nur
wollen wird. Der Heilige und das Genie dürfen nicht ein-
sam und Zufall bleiben. Mögen sie vorstellig werden wie
das Gewöhnliche und das Gemeine. Aller Heiligen ist das
christlichste Fest.
8.
Die Gründung der Berliner Universität nach dem Plane
Wilhelm von Humboldts (1810) war eine jener kontre-
revolutionären Massnahmen, über die Metternich und Hum-
boldt sich einig waren und die fünf Jahre später gegen die
«aufgeregten Stände» ihren Triumph feierten auf dem Wiener
Kongress.
Man hat die Verdienste Humboldts um die Reaktion
bislang unterschätzt. Herr Moeller van den Bruck unter-
nahm es, sie ins gebührende Licht zu setzen. Humboldts
«Idealstaat», theoretisch ein Versuch, die „moralische Welt-
[109] ordnung“ in Preussen anzusiedeln, erwies sich in der Praxis
als ein Zwangs- und Sicherheitsinstitut, „in dem das Volk
der Deutschen nach aussen seine Sicherheit und nach innen
seine Freiheiten bekommen hatte“, unter denen nach Herrn
Moeller „die Sicherheit vor Gemeinplätzen und die Freiheit
von Schlagwörtern am selbstverständlichsten, aber auch am
dringlichsten zu sein pflegt“ 165); ein Staatsinstitut also, dessen
Grundsatz in jener uns unlängst beschiedenen Ballin'schen
Formel „Maulhalten und Durchhalten“ gipfelte.
Humboldts Idee einer Berliner Universität erscheint mir
als reaktionärer Entwurf bedeutender. Man bedenke: der
König von Preussen Rector magnificentissimus der Univer-
sität seiner Residenzstadt! Rector magnificentissimus war
vor der Reformation der Papst, nach der Reformation aber
der protestantische Landesfürst! Da der König von Preussen
zugleich das Summepiskopat seiner Landeskirche innehatte
und absoluter Soldatenkönig war, so ergab sich für die
neue Residenzhochschule ein religiöses Militärprotektorat,
das alle Anlagen zeigte, die päpstliche Despotie des Mittel-
alters in furchtbarer Weise abzulösen, wenn nur ein ge-
schickter Interpret sich fand. Und dieser liess denn auch
nicht lange auf sich warten.
1818 kam Georg Wilhelm Friedrich Hegel nach Berlin,
und ihm ist es zu danken, dass Preussen Basis eines neuen
Strebens nach dem Universalstaat wurde, einem Universal-
staate, worin die irdischen Interessen die himmlischen ab-
lösten, Berlin einen zynischen Ersatz bot für Rom, und
ein allmächtiger Beamtenklerus für die Geistlichkeit; worin
unter dem Namen der Staatspragmatik eine neue Scholastik
aufkam und der preussische König mit Hilfe seiner Ge-
heimräte und Professoren die verworfene Sträflingswelt
seiner Untertanen regierte als höchste geistliche und welt-
liche Macht.
Hegel war als Privatmann ein ziemlich lächerlicher
Kleinbürger aus Schwaben. Auf dem Tübinger Stift war
[110] er „schulmässig zum Theologen gebildet“ 166). In Heidel-
berg, Nürnberg und Jena hatte er doziert als Professor und
Rektor. Es war die Zeit, da poetische Exaltationen und
Uebertreibungen sogar den Philister ergriffen. „Als wir
noch im Leibe vor einander wallten“, schrieb man sich in
Briefen 167), und wenn einer das namenlose Glück erlebte,
Napoleon Bonaparte zu Gesicht zu bekommen, so nannte
er ihn wie Goethe „die sichtbar gewordene Idee des
Höchsten“ oder wie Hegel „die Weltseele zu Pferd“ 168).
Schon in seiner Habilitationsschrift vom 27. August
1901 stellt Hegel den Satz auf „Principium scientiae mo-
ralis est reverentia fato habenda“ 169), und sein Biograph er-
zählt, dass es des grossen Hegel Ehrgeiz war, „gleichsam
der Macchiavell Deutschlands zu werden“ 170). Die Gesund-
heit eines Staates offenbare sich, sagte Hegel und noch
im Jahre 1917 musste Prof. Nicolai den Satz widerlegen,
„nicht sowohl in der Ruhe des Friedens, als in der Be-
wegung des Krieges“ 171). Jeder Fürst sei der „geborene
General seines Truppenkontingents“. Und — das ist ja
ein kausaler Zusammenhang — den Protestantismus erhob
er mit Begeisterung „als den Wiederhersteller der Gewissen-
haftigkeit und Gewissensfreiheit, der Einheit des Göttlichen
und Menschlichen, wie sich dies besonders auch darin
ausdrücke, dass der Fürst eines protestantischen Staates zu-
gleich der oberste Bischof seiner Kirche sei“ 172). Mit Nach-
druck verwarf Hegel „den unseligen Irrtum, dass man einen
Staat wähne gründlich konstituieren zu können, ohne den Glau-
ben an Gott als das innerste Prinzip alles Denkens, Tuns und
Lassens“ aufzustellen, und ohne die geringste Skepsis identifi-
ziert er Protestantismus und Christentum als die natürlichste
Sache von der Welt, obgleich gerade seine Form von Protestan-
tismus dem Seelenheile des Nächsten und der Bergpredigt
widerspricht, und keineswegs der Menschheit, sondern in erster
Linie dem übergeordneten Prinzip eines heidnischen Aufsichts-
staates und der erfolgreichsten Dynastie verantwortlich ist 173).
[111]
In Hegels Berliner Antrittsrede finden sich bereits alle
pomphaften Wendungen, die der spätere Hegelianismus über
den Zusammenhang der Hegel'schen Philosophie mit der
„welthistorischen“ Bestimmung des preussischen Staates
geltend zu machen pflegte. Die Berliner Universität ist ihm
die „Universität des Mittelpunktes“, die „auch der Mittel-
punkt aller Geistesbildung und aller Wissenschaft“ werden
muss 174). Die Deutschen preist er wie bereits in einer Heidel-
berger Rede „als das auserwählte Volk Gottes in der Philo-
sophie“ 175). Seine erste Tat aber ist die Wiederverdunke-
lung der Kantischen Errungenschaften, indem er nämlich
von Kants Trennung zwischen Obskurantismus und reiner
Vernunft sagte: „Zuletzt hat die sogenannte kritische Phi-
losophie dem Nichtwissen des Ewigen und Göttlichen ein
gutes Gewissen gemacht, indem sie versichert, bewiesen zu
haben, dass vom Ewigen und Göttlichen nichts gewusst
werden könne. Diese vermeinte Kenntnis hat sich sogar
den Namen Philosophie angemasst“ 176). Hegel seinerseits
glaubte die absolute Kenntnis vom Ewigen und Göttlichen
zu haben. Er versprach eine Philosophie, die „Gehalt“
haben werde und rief dazu die Jugend auf, die noch un-
befangen sei „vom negativen Geiste der Eitelkeit, von dem
Gehaltlosen eines bloss kritischen Bemühens“. Wie Hegel
sich indessen diesen „Gehalt“ in Wirklichkeit dachte, das
ergab sich bei Gelegenheit seiner Festrede zur Feier der
Augsburgischen Konfession im Jahre 1830.
Die Augsburgische Konfession ist das vornehmste sym-
bolische Buch der Lutheraner, das Hauptdokument des
preussisch-deutschen Byzantinismus. Nur mit ihrer völligen
Aufhebung kann Deutschland dem Christentum wieder-
gewonnen werden. Hegel nannte die Augustana, ohne auf
den Kardinalpunkt näher einzugehen, die „Magna carta des
Protestantismus (des sola fides justificat wegen). Er schilderte
— was schilderte er wohl? „die Verderbtheit der Kirche durch
den papistischen Katholizismus, schilderte die Tyrannei, mit
[112] welcher die Kirche alle Selbständigkeit der Wissenschaft
darniedergehalten habe. Er schilderte die Verunsittlichung
des Lebens durch die Zerstörung der Familie mittelst des
Zölibats, durch die Zerstörung des werktätigen Fleisses
mittels der Vergötterung der Armut und Faulheit und stu-
piden Werkheiligkeit, durch die Zerstörung der Gewissen-
haftigkeit mittelst eines stumpfen unmündigen Gehorsams,
der in seiner Gedankenlosigkeit die Verantwortung für sein
Tun den Priestern überlässt, endlich durch die Zerstörung
des Staates infolge Nichtanerkennung der wahren fürstlichen
Suveränität“ 177). Kurz er schilderte all' das, das wir heute
als Folge der Augsburgischen Konfession und der prote-
stantischen Kirchengründung dem Staatslutheranismus vor-
zuwerfen haben: die Verderbtheit der Kirche (durch Abhängig-
keit von der Fürstengewalt), die Sklaverei der Wissenschaft
(durch Abhängigkeit von der Fürstengewalt), die Verunsitt-
lichung des Lebens (durch einen unbedenklichen Positivismus),
die Zerstörung der Familie (durch Kriege und Deportationen),
die Zerstörung des werktätigen Lebens (durch Monopole
und Privilegien), die Vergötterung der Armut (durch
defaitistische Propaganda im Ausland), die Zerstörung der
Gewissenhaftigkeit (durch politische Entmündung).
Der Senat machte bei Gelegenheit dieser Feier auf den
Mangel einer Universitätskirche für Berlin aufmerksam (trotz
Kant) und Hegel, der inzwischen Rektor geworden war,
nahm sich der Sache „aus allen Kräften“ an, indem er darauf
drang, man möge wenigstens „vorerst einen Betsaal bewilligen“,
wenn noch keine Kirche gebaut werden könne. Eine besondere
Kirche gehöre „schon zum Anstand einer Universität“. Nach-
dem selbe (die Universität) „auf eine Anzahl von 1800
Studierenden angewachsen sei, bilde sie mit den Familien
der über 100 sich belaufenden Dozenten eine nicht unan-
sehnliche Gemeinde178). Hegel als Rektor und der Landes-
fürst als Rector magnificentissimus verhielten sich auf der
theologischen Linie zu einander wie der Prediger zum Bischof.
[113]
Die Philosophie Hegels läuft hinaus auf eine Erweite-
rung des protestantischen Gedankens und des absolutistischen
Bewusstseins, nicht aber der Wahrheit und Erkenntnis.
Jener Satz Hegels aus seiner Vorrede zur Rechtsphilosophie:
„Was vernünftig ist, das ist wirklich und was wirklich ist,
das ist vernünftig“, mag einmal eine Tat gewesen sein, als
Anerkennung der Wirklichkeit gegenüber der doktrinären
Verdächtigung und Verfluchung aller Realität im heiligen
römischen Reich. Eine Erkenntnis aber enthielt er nie, und er
konnte auch in all seiner summarischen Anerkennung des
Verruchten wie des Verklärten nur innerhalb eines Systems
aufrechterhalten werden, das sich im Balancement von Ab-
straktionen und Begriffen intellektualiter begnügte. Jener
andere Hauptsatz Hegels aber, „der einzige Gedanke, den
die Philosophie mitbringt“, der einfache Gedanke der Ver-
nunft, „dass die Vernunft die Welt beherrsche, dass es also
auch in der Weltgeschichte vernünftig zugegangen sei“ 179):
ist nicht auch dieser Satz eine Unwahrheit, eine so hand-
greifliche moralische Kapitulation, dass nur ein in theolo-
gischen Dingen kritikloses Volk den hinterhältigen Glauben
an die Absurdität übersehen konnte, der sich hier verbarg? 180)
Die Hegel'sche Rechts- und Geschichtsphilosophie zu-
sammen hatten nur die Bestimmung, eine Art Beweisführung
für des Autors im protestantischen Dogma befangene Ueber-
zeugung zu liefern, dass „die preussische Monarchie das
Ideal eines politischen Organismus“ sei 181). Denn ebenso
wie Bismarck später an den „grossen Entwicklungsprozess“
glaubte, „in welchem Moses, die christliche Offenbarung und
die Reformation als Etappen erscheinen“, so glaubte Hegel
in seiner „Philosophie des Rechts“ an den „germanischen
Geist“ als den „Geist der neuen Welt“ und an einen „Trieb
der Perfektibilität“ 182). Wie argumentierte er doch? „Die
dritte Periode der germanischen Welt geht von der Refor-
mation bis auf unsere Zeiten. Das Prinzip des freien Geistes
ist hier zum Panier der Welt gemacht und an diesem Prin-
8
[114] zipe entwickeln sich die allgemeinen Grundsätze der Ver-
nunft“ 183). „Was die Gesinnung betrifft, so ist es schon gesagt
worden, dass durch die protestantische Kirche die Versöhnung
der Religion mit dem Rechte zustande gekommen ist“. Und
als Folge: „es gibt kein heiliges, kein religiöses Gewissen,
das vom weltlichen Rechte getrennt oder ihm gar entgegen-
gesetzt wäre“ 184). Das aber hiess im Zusammenhang des
Hegel'schen Systems: es gibt kein heiliges, kein religiöses
Gewissen ausserhalb oder gar gegen den protestantischen
Absolutismus. Und doch schrieb dieser fürchterliche Jesuit
den Satz: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Be-
wusstsein der Freiheit“.
Wie erklärt sich solche alleruntertänigste Devotion?
Dass Preussen „das absolute Ideal“ sei, dachte sich Hegel
schon bei seiner Berufung. Eine Anstellung an der Berliner
Universität war schon in Heidelberg sein höchster Traum.
Was ihn nach Preussen zog, war es am Ende wohl Preussens
„Gehalt“? Wie hätte diese Monarchie die Universität Berlin
gründen und so reichlich dotieren können, wenn Preussen
nicht alle andern Staaten übertraf? 185) Wie hätte sie ihn, Hegel,
den armen Schlucker, dem Goethe nach Jena Beigefügtes
im Brief zukommen liess, weil man von den sächsischen
Kollegiengeldern nicht leben konnte 186), dorthin berufen?
Aber dann stimmte es auch überein mit Hegels „Speku-
lation“ und schulmässiger Theologie. Und es kam nur darauf
an, den „Idealstaat“ Humboldts möglichst zu überbieten.
Das war man der Berufung und dem Landesfürsten schuldig.
Also griff Hegel zur „Weltseele“ und liess sie sich
mittels These, Antithese und Synthese zum Selbstbewusstsein
des preussischen Untertanen und Staates hinaufentwickeln.
Das war für die Weltseele ein anstrengender Prozess und
für den Herrn Professor auch, und der Vorgang wurde
etwas dunkel, aber desto verdienstlicher das Resultat für
den Impressario. Und was Hegel ebenfalls schon vorher
wusste: dass nämlich alles, was kontrerevolutionär ist, auch
[115] vernünftig ist, also auch die allgemeine Wehrpflicht, mit
der Friedrich Wilhelm III. nach den „Freiheitskriegen“ sein
Volk beglückte (1814), — auch das deduzierte er von der
Idee, ohne sich seiner französischen Sympathien vom Jahre
1806 zu erinnern, und deduzierte von ihr das Erbkönig-
tum, die Majorate und das Zweikammersystem. Und so
wurde der deutsche „Idealismus“ zu jenem Geheimkabinett,
auf dessen Dach die Flagge der Vernunft und Aufklärung
wehte, während im Innern ein Mystagoge seiner Nation
eine Chloroformmaske übers Gesicht warf, und das betäubte
Objekt dem Sadismus der Herrscher auslieferte.
Die ganze Weltgeschichte setzte Hegel in Bewegung,
um Preussen als Taube daraus hervorzuzaubern. Eine solch
abergläubische Wichtigkeit hatte niemand vor ihm dieser
Monarchie beigemessen. Die instinktive Ahnung der Ab-
surdität seines Systems war die Ursache von Hegels
europäischem Erfolg, die Charlatanerie und Dreistigkeit
dieses Systems aber war es, was Schopenhauern rasend
machte 187).
9.
Zweierlei Rebellionen sind möglich. Eine Rebellion
gegen die natürlichen Grundlagen der Gesellschaft und
des Gewissens. Sie ist töricht und verbrecherisch. Und eine
Rebellion für diese Grundlagen, aus universalem Gewissen.
Sie fördert die Freiheit, die nichts anderes ist als der
Höchstertrag allerlösender Leistung.
Unbegreiflich, wie man Hegel für einen Rebellen im
Sinne der Freiheit halten konnte. Man erinnert sich Heines
optimistischer Prophezeiung: „Unsere philosophische Revolu-
tion ist beendet. Hegel hat ihren grossen Kreis beschlossen ...
Lächelt nicht über meinen Rat, über den Rat eines Träumers,
der euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen
warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche
[116] der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im
Gebiete des Geistes stattgefunden ...“ 188). Unbegreiflich,
wie man den Protestantismus als Prinzip der deutschen
Philosophie und Entwicklung erkennen und trotzdem eine
„Revolution“, ausgehend von den Professoren dieses Prinzips,
erwarten konnte. Ich stimme der Meinung des französischen
Historikers Théodore Duret zu, der in einer Enquête über
die Möglichkeit einer Revolution in Deutschland die skep-
tischen Sätze schrieb: „L'idée de révolution, d'un changement
profond à réaliser brusquement, n'a pu naître et se déve-
lopper que dans un pays latin, idéaliste et catholique comme
la France. Elle est restée sans prise réelle et le restera
toujours, sur des pays germaniques, positifs et protestants,
comme l'Allemagne et l'Angleterre“ 189).
Der lutheranische Protestantismus ganz besonders setzt das
materielle Wohl über alles persönliche Opfer, den Egoismus
über alle Ziele der Gesamtheit. Die Carbocherie und der
Eigensinn, aus denen er entspringt, verhindern jede Solidarität
in Gewissensfragen und schliessen jene sublime Reizbarkeit in
Fragen der moralischen und politischen Freiheit aus, die letzten
Endes ihren Ursprung im Selbstbewusstsein kollektiv ent-
wickelter Generationen hat. Vom Kollektivbewusstsein allein
wird die Ueberhebung von Individuen oder Klassen als
unerträgliche Vergewaltigung des sozialen Moralbegriffes
empfunden und gerichtet werden können. Das Kollektiv-
bewusstsein ist die Voraussetzung jeder produktiven Rebellion.
Die Deutschen rebellierten immer nur gegen das
Gewissen, gegen die Grundlagen der Moral und der Gesell-
schaft, ob sie Luther, Kant, Marx oder Hegel hiessen. Der
Protestantismus von Individuen, Klassen oder Völkern
kommt heute der Vergewaltigung der übrigen Gesellschaft
von Individuen, Klassen oder Völkern gleich, aus denen
er entsprang und sich isolierte. Nicht einmal eine soziale
und politische, geschweige denn eine moralische Revolution,
ist heute in Deutschland möglich ohne einen tiefen Um-
[117] schwung im religiösen Ideal. Die Umwelt ist es, die re-
belliert, die unterdrückte Tradition der vorreformatorischen
christlichen Idee, und diesen mächtigen Faktoren wird das
unterdrückende Individuum, heute das ganze protestantische
Deutschland, auf die Dauer nicht gewachsen sein. Der
deutsche Protestantismus war die Kontrerevolution gegen die
christlich-kommunistischen Bauernaufstände des Mittelalters.
Hegels Rebellion gegen Gott hatte durchaus keine
synthetischen, wohl aber zerstörende, nihilistische Motive.
Man konnte Preussen nicht gut von Gott ableiten. Das
sah selbst Hegel ein; ebenso wie Kant, der an Gott wohl
nur deshalb nicht mehr glaubte, weil er die preussische
Wirklichkeit und Friedrich Wilhelm I. noch kannte und
sich schämte. Also musste man Gott von Preussen ableiten
oder ihn ganz beiseite lassen und einen Ersatz für ihn
suchen. Kant fand das „Ding an sich“, Hegel die „Weltseele“.
Hegels Weltseele war ein immerhin respektables Objekt.
Kein preussischer Regent konnte sich beklagen, mit ihr in
intime Beziehungen gesetzt zu werden. Oder ist eine Welt-
seele weniger erhaben als ein theistischer Gott? Was Gott
an Charakter voraushat, ersetzte die Weltseele gewissermassen
an Breite. Die Erhabenheit Gottes sowohl wie der Weltseele
lag ja nur in dem mystifikatorischen „Gehalt“, den beide
zu liefern hatten.
In der „Weltseele“ war ein Gott-Ersatzmittel gefunden von
erklecklicher Würde. Hegel setzte seine Weltseele bei Adam
und Eva in eine Art Krankenfahrstuhl, gab ihr These und Anti-
these als zwei Hebel in die Hände und liess sie in der Synthese
sich fortbewegen. Er nannte das die „Fortbewegung der reinen
Vernunft vom An-sich durch das Für-sich zum An-und-für-sich“.
Den zurückgelegten Weg nannte er Prozess oder Fortschritt.
Nach Verlauf von einigen tausend Jahren kam die Weltseele in
Berlin an und die Studenten jubelten ihr zu, als sie im König-
lichen Palais abstieg. Herrn Professor Hegel aber, als dem Er-
finder dieser Maschine, brachten die Studenten einen Fackelzug.
[118]
Die Sache ist nicht so spassig, wie sie klingt. Denn
abgesehen davon, dass nun jedermann eine solche dialek-
tische Maschine erfinden wollte, — man nannte das ein
System, — so hatte Hegels Weltseele den Berlinern und ihrem
König von der Reise auch etwas mitgebracht. Das war das
„Inventar“ der Weltseele: eine Art Rangordnung und Tabelle
der Staatswissenschaften, ein utilitarischer Stammbaum der
Fakultäten und Disziplinen. Vergebens wies Baader darauf
hin, dass der göttliche und der menschliche Denkprozess,
die Metaphysik und die Logik, nicht identifiziert werden
dürften 190); zeigte er auf die Servilisten, Pietisten und
Rationalisten, die einen Gegensatz zwischen Wissen und
Glauben aus dem Zweifel „per generationem aequivocam“
entstehen liessen; vergebens schrieb er in einem Briefe
vom 30. September 1830 an Hegel selbst: „Der Teufel
ist überall los, und weil sie die Idee in ihrer himmlischen
Gestalt verachteten, müssen sie nun vor ihrer höllischen
Karikatur erzittern“ 191). Da der preussische Staat einmal
der Gipfel der Weltgeschichte war und sich noch weiter
darin entwickeln konnte gemäss jenem Trieb zur Perfek-
tibilität, der später in der Sozialdemokratie zur Perfektibilität
der Konservenbüchsen, Kinderwägen und Sodaflaschen
wurde, so gab es in der Folge keine Wissenschaft mehr
ausser an ihm, durch ihn und für ihn. Gehalt der Staats-
wissenschaft aber wurde die antichristliche Plattitüde.
Und was wurde aus der Gelehrtenrepublik? Sie wurde
nach und nach abgelöst von jener unversorgten und instinkt-
lahmen Beamtenhierarchie, die nach Auflösung des „heiligen
römischen Reichs“ mit ihrer ganzen seelischen Popen- und
Bonzenträgheit von Oesterreich überging an Preussen.
Erster und mächtigster Agitator hierfür war Hegel der
Beamte; Demiurg und Operateur der Weltseele zu Berlin. Mit
seinen „intrikaten Floskeln“, wie Schopenhauer schimpfte,
lähmte Hegel die Temperamente, indem er sie in Weltprozesse
verwickelte, erstickte er 1848 den Volksunwillen in Phrasen
[119] und Räsonnement. Mit der Theorie von der „selbsttätigen
Entwicklung“ aber beschwichtigte er sogar das neue Ereignis
des 19. Jahrhunderts, das revolutionäre Proletariat. „Selbsttätige
Entwicklung“, das war so bequem und verlangte keine
Frondierung! Einer verlässt sich auf den andern. Alle
erwarten's vom Ganzen, keiner von sich. Indem Hegel nichts
vernünftiger erscheinen liess als das ganz und gar Absurde,
zog er die von Frankreich ermunterten „Jungdeutschen“ in
ein pragmatisches Verhältnis zu demselben Staate, der diese
Jugend, wo er ihrer habhaft werden konnte, wie Kriminelle
in seine „Erziehungsanstalt“, die Armee abschob. Das alles
aber mit dem dünkelhaften Selbstbewusstsein eines weltseelen-
vergnügten Kathederheldentums, dessen Ja- und Amen-
sagender Opportunismus für Pedelle leichter zu durchschauen
war als für biderbe Hörer.
10.
Und hier ergibt sich das Problem der deutschen Uni-
versität und Staatspragmatik, dessen wahrhaft regenerative
Lösung den völligen Zusammenbruch des jetzigen Reichs-
systems, den demokratischen Völkerbund und einen beratenden
Kongress der intellektuellen Partei aller Länder voraussetzt.
Nur eine grosszügig eingeleitete Restituierung der
ursprünglichen evangelischen Tradition, eine durchgreifende
Internationalisierung der Lehrstühle und der lebhafteste Aus-
tausch wissenschaftlicher Autoritäten aller Länder würde den
Begriff der Universität überhaupt und das Wiederaufblühen
der moralischen und wissenschaftlichen Bildungsanstalten
Deutschlands im besonderen garantieren 192). Die jahrhunderte-
lange Abhängigkeit unserer Universitäten von absolutistischen
barbarischen Höfen, Abhängigkeit zuletzt von einer Militär-
despotie, der alle speichelleckend sich boten, hat in deut-
schen Köpfen zu einer Konfusion der religiösen und frei-
heitlichen Ueberzeugungen geführt, von der nur derjenige
[120] sich einen Begriff bilden kann, der Religion und Freiheit
in der offiziellen und inoffiziellen Literatur vergebens ge-
sucht hat. Die intellektuelle Erkrankung der Nation, die
daraus resultierte, — nur durch einen gemeinsamen Auf-
wand heilsamer Kräfte aller übrigen Völker ist sie zu be-
heben. Die Berliner Universität insbesondere wurde zum
Schröpfkopf unserer moralischen und kulturellen Kräfte,
und wir gehen in Siechtum und Weltverpestung zugrunde,
wenn wir die Hilfe nicht finden, diese Bastillen und Lügen-
buden zu stürmen.
Unsere wissenschaftlichen Entdeckungen, soweit sie nicht
im Materialismus beschlossen lagen, waren nie sonderlich
neu. „Die Deutschen mögen sagen was sie wollen“, weiss
schon Lichtenberg, „so kann nicht geleugnet werden, dass
unsere Gelehrsamkeit mehr darin besteht, recht gut inne
zu haben, was zu einer Wissenschaft gehört, und zumal
deutlich angeben zu können, was dieser und jener darin
getan hat, als selbst auf Erweiterung zu denken. Selbst
unter unsern grössten Schriftstellern gibt es welche, die
eigentlich nur das, was man schon wusste, gut geordnet
wieder drucken lassen“ 193). Unter Hegel wurden die Wissen-
schaften, die in früherer Zeit einmal dem Himmelreich
dienten, „vernünftig“, die Weltgeschichte vernünftig, die
Vernunft selber vernünftig, und man kann ruhig für vernünftig
jeweilen preussisch-protestantisch setzen. Der germanisch-
protestantische Vernunftstaat (oder die Destruktion der abend-
ländischen Moral) wurde der Wissenschaften höchstes Prinzip,
und was für eine jämmerliche Freiheit dabei übrig blieb,
weiss jeder, der die Sophistik heutiger Berliner Philosophen
und Philologen nicht für Tiefsinn hält, das Schicksal eines
wahrhaft freien Gelehrten aber wie des Berliner Biologen
G. F. Nicolai für ein Symptom.
Vernunft in die Geschichte tragen, dieses höchste Ziel
jeden Denkens im grossen Stil, — kann es darin bestehen,
dass man die Vernunft aus den Tatsachen ableitet und
[121] dadurch die Weltgeschichte und alles individuelle Streben
zum Stillstand bringt? Hegel wusste: „Die Idee der Freiheit
ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach
welchem das Individuum als solches einen unendlichen
Wert hat“; wusste, „dass der Mensch an sich zur höchsten
Freiheit bestimmt ist“ 194). Was machte er daraus? Er fand,
die Freiheit sei „zunächst nur ein Begriff, Prinzip des Geistes
und Herzens“, der „sich zur Gegenständlichkeit zu ent-
wickeln bestimmt“ sei, „zur rechtlichen, sittlichen und
religiösen wie wissenschaftlichen Wirklichkeit“. Auf diesem
Wege kam er zu seiner positiven Rechtsphilosophie und
endete mit dem schönen Satze: „Die Strafgerechtigkeit
der Regierung, ihre Rechte der Verwaltung usw. sind zu-
gleich Pflichten derselben, zu strafen, zu verwalten usw.,
wie die Leistungen der Staatsangehörigen an Abgaben,
Kriegsdiensten usw. Pflichten sind. Wesentlich gilt es, dass,
wer keine Rechte hat, keine Pflichten hat, und umgekehrt“ 195).
Hegels philosophische Methode bestand eben nur darin,
die theologischen und staatlichen Grundbegriffe in ihrem
beim bestehenden Regime beliebten Werte anzuerkennen
und sie durch entsprechende Paraphrasierung systematisch
miteinander in Beziehung zu setzen.
Jede wahrhaft selbstbewusste Stellungnahme zur be-
stehenden Welt ist aber notwendig eine Revolte und nur
die Rebellion gegen das Bestehende, die Revolte der Ver-
nunft gegen das Erreichte, das immer unzulänglich ist und
sein muss, weil das Ideal nicht realisierbar ist, darf sich
das Recht zumessen, Vernunft in die Geschichte zu tragen.
Das aber heisst die Geschichte revidieren, denn eine Ver-
nunft der Geschichte oder des Weltprozesses an sich gibt
es nicht. Wir, die wir heute leben und zu sagen haben,
wie wir leben wollen, existieren nur, indem wir uns zur
Geltung bringen, indem wir Rebellen sind gegen die Un-
vernunft, die die Geschichte uns überliefert hat, und Be-
fürworter jener wenigen Momente von Vernunft, die wir
[122] als uns verwandt empfinden. Es gibt keine Pragmatik,
keine Idee und Entwicklung, die der Wille einer Persön-
lichkeit nicht durchbrechen kann, es gibt keine „Zwangs-
läufigkeiten“; Mensch sein, heisst der Natur überlegen sein,
alles andere ist Aberglaube. Wir sind zwar überall in
Banden, aber freigeboren nach Rousseaus Wort, und es ist
nur Kleinmut, Ausflucht und erbärmliche Feigheit, Staats-
pfaffen, Magistern und Entwicklungstheologen mehr zu
glauben als dem Genie. Die Geschichte „entwickelt“ sich
nicht „zu immer höheren Formen“, sie tut's nicht „von selbst“.
Der preussische Staat hat ein Blutbad angerichtet in der
Welt und vorher die Grundlagen des Gewissens zu unter-
graben versucht. Die Menschheit stirbt und verwest, wenn
wir ihr nicht zur Hilfe kommen. An diesem Werke der
freien Vernunft soll auch der Geringste unter uns mitarbeiten,
denn für sein Recht, für seine Liebe, für seine Vernunft
kämpfen wir. Und wir kämpfen dafür, weil unsere eigene
Vernunft Einbusse erleidet, so lange nicht der Geringste,
Gedrückteste und Verlorenste der menschlichen Gesellschaft
in Stand gesetzt ist, sein eigenes Wort zu sagen, das viel-
leicht die Erlösung für Alle enthält. Es gibt keinen Menschen,
der alles allein weiss, und es gäbe keinen Staat, der sich
anmasste, alles allein und am besten zu wissen, wenn die
Gelehrten uns nicht verraten hätten und jeder von uns
seine Meinung offen zur Geltung brächte. Die Trägheit
ist die einzige Todsünde des Menschen, und alles Unglück
und Elend, das uns verdirbt, kommt nur von ihr.
„Wenn Deutschland nicht der Ort ist“, sagt der Staats-
mogul Rathenau, „wo alle Pragmatik als Willensübertragung
transzendent ethischer Wertung und nur als diese betrachtet
werden muss, so haben wir uns über die deutsche Sendung
getäuscht“ 196). Wer sind diese „Wir“ und wer lacht da
nicht? Was die „transzendent ethische Wertung“ ist, von
der Herr Rathenau spricht, habe ich gezeigt in den Ab-
schnitten über Luther, Kant, Fichte, und hier über Hegel.
[123] Dass sie der Pragmatik Deutschlands, den „Zwangsläufig-
keiten“, unter denen heute das Volk verblutet, ihre Bestätigung
und ihren diabolischen Segen verliehen hat, ist erwiesen.
Wozu noch Worte verlieren? Es liegt an uns allen, diese
Pragmatik, diese Zwangsläufigkeiten zu durchbrechen und
zu beweisen, dass Deutschland nicht der Ort ist, wo sich
arrivierte Rathenaus über ihre Sendung nicht täuschen.
Derselbe Herr bemüht sich an anderer Stelle die „germa-
nischen Herren des Abendlandes“ von der Beihilfe zur
heutigen Pragmatik freizusprechen 197) und führt als Beweis
an, dass ein holsteinischer Kramladen „sachlicher, zweckfreier
und ungeschäftlicher geleitet wird als eine amerikanische
Kirche“. Aber gilt das auch für die A. E. G. und den
preussischen Generalstab? Oder für jene anderen 50 Gesell-
schaften, deren spiritus rector gerade Herr Rathenau ist? Man
lasse die transzendent ethische Wertung beiseite, wenn man
für einen Räuberstaat Rohstoffe ordnet und man spreche nicht
von der intelligiblen Freiheit, wenn man mit Aktien handelt.
Die deutschen Universitäten haben das Volk entmündigt,
haben jede Wissenschaft, die nicht auf den Krieg, den
Staat und den Patriotismus abzielte, die nicht die Köpfe
verwirrte, sie isolierte und unfruchtbar machte, entstellt,
unterdrückt, oder gegen das Wohl des Volkes benutzt. Die
Erziehung der Jugend in der feudalen Tradition, in der
Kaserne und auf der militarisierten Universität hat das
Freiheitsgefühl vollends verkümmern und aussterben lassen.
Es gibt keine Wissenschaft mehr, die der Freiheit dient,
es gibt nur noch liberalistisch verbrämte Staatswissenschaft.
Was aber ist der Staat, von dem seine Lobredner
sagen, dass sich in ihm der religiöse Fortschritt mit dem
wissenschaftlichen und ökonomischen Fortschritt deckt; der
Staat, für dessen Bedienung Herr Rathenau ein „Gemeinschafts-
gefühl handfester Menschen“ empfiehlt 198), nachdem er von
Platos, Lionardos und Goethes Eindringen in die „hand-
feste Welt der Dinge“ gesprochen hat?
[124]
Der Staat ist ein praktisches, also minderwertiges In-
stitut. Er ist bestenfalls eine Nützlichkeitseinrichtung und
kann nur das sein, weil er stets den Interessen von Individuen,
Fürsten, Klassen oder Parteien zugute kommt. Er ist gottlos
und unchristlich, weil er nur materiell nützlich ist. Der Fort-
schritt, den der Staat protegiert, ist bestenfalls eine Art
Aufkläricht, das zu beweisen bezweckt, es gebe keinen Gott,
um desto gewisser die Freiheit knebeln zu können. Die
Freiheit ohne Religion ist aber undenkbar.
Die Verstandesphilosophie hat den Staat als höchstes
Prinzip aufgestellt. Das höchste Prinzip ist aber nicht der
Staat, sondern jene Freiheit des Individuums und der
Gesamtheit, der die Wissenschaft und der Staat zu dienen
haben. Diese Freiheit allein verbürgt, dass Gott eines Tags
zur Erde herniedersteigt, weil wir ihn zwingen dazu durch
Reinheit und Güte.
Und das ist die Aufgabe einer Neuordnung, dass der
Staat von uns überwältigt wird; dass er nichts anderes
mehr als ein Ordner ist in unserer Hand; dass die
Universitäten unsere Sache, die Sache des Volkes, der
Freiheit und Gottes führen, nicht die eines Fürsten, des
Staates und seiner Bedienten 199). Wo finden wir aber das
Beispiel und die Taten, die uns zu solchem Berufe stärken,
läutern und führen? „Die heilige Geschichte ist es allein“,
sagt Franz von Baader, „die uns solche Fakta rein und
unverfälscht aufbewahrt, und die darauf gebaute heilige
Physik (nicht die Kriegschemie) bleibt auch immer die
schönste, humanste, unseren beschränkten Kräften an-
gemessenste Theorie und Philosophie darüber“ 200).
DRITTES KAPITEL
1.
Wir sollten in unseren Reden und Schriften zurück-
kehren zur Simplizität unserer Vorfahren, jener himmlischen
Chronisten des Wahren und Falschen, die über die Beweg-
gründe ihres mit Fleiss und Geduld stilisierten Bemühens
keinen Zweifel aufkommen liessen; deren bona voluntas,
ins Werk gesetzt für Menschen, die eine bona fides ihnen
entgegenbrachten, jene dreifache Frucht trug, die die Sache,
den Autor und sein Publikum gleichzeitig förderte. Eure
Rede sei Ja ja, Nein nein, alle Sophistik aber sei euch
Ausflucht, Schwäche und Blendwerk. In einer Zeit, die wie
vielleicht keine vorher, aus der Ideologie demagogisches
Werkzeug macht; in der jede politische, soziale und religiöse
Aeusserung der Eitelkeit und dem Interesse von Personen,
Gesellschaften und Klassen zum Opfer fällt, — kann die
Autorität des geschriebenen und gesprochenen Wortes anders
wiederhergestellt werden, als durch die äusserste Aufrichtigkeit?
Von der Ansprache eines apokalyptischen Herrn von
Hohenzollern bis hinab zur Zeitungsannonce: welche Selbst-
sicherheit im Irreführen und Ueberlisten! Welcher Mangel
an Redlichkeit, welch verschlagener Sinn im Missbrauch
naiven Vertrauens! Wessen Motive sind noch identisch mit
dem Wort, das er schreibt oder spricht? Wer besitzt noch
den Mut, einzustehen für seine Erlebnisse, sein Tun und
seine Ueberzeugung? Das grosse Abdanken zum „Besten“
des Vaterlands und der persönlichen Wohlfahrt — grassiert
es nicht schlimmer als eine Seuche? Und ist es weniger
verächtlich, weil heute mehr auf dem Spiele steht, weil
die Gefahr grösser ist?
[126]
Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne,
Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden
Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichen-
haufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden
in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse
und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder,
den Streit in die Heimat zu tragen statt in das „Feindes-
land“? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der
Wahrheit und Gerechtigkeit?
Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung;
von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt
des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch
sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von
1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach:
„Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde
und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur
einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk,
durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt.
Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole,
das menschliche Geschlecht ist Gott, — le Peuple Dieu“! 1)
Darüber lässt sich sprechen. Er träumte von einer Liga
aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er
schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr „Français“,
sondern „Universel“ zu nennen, und er war nicht einmal
ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jacobinerklubs.
Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen,
höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft,
dass der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen
Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts
an der Tatsache, dass im Paris von 1793 vielleicht niemand
die Universalität der grossen französischen Revolution stärker
geahnt und empfunden hat als er.
Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind
die Exegese der grossen französischen Revolution von
1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten
[127] der Renaissance und der Aufklärung eine Despotenfreiheit
war, erhielt eine christlich-restaurative Wendung durch die
ihm beigegebenen Begriffe der Gleichheit und Brüderlich-
keit, und wenn auch alle die weltbeglückenden Ideen und
Systeme, alle die Konspirationen der Dekabristen und Anar-
chisten, alle die utopischen Bemühungen christlicher Apo-
logeten und sozialer Emanzipatoren sich widerspruchsvoll
und im Kampfe gegeneinander erwiesen, so wurden doch
unverlierbarer Besitz: die Menschenrechte, die Rechte der
Masse und jedes ihrer Individuen, die Rechte der Nation;
und wurde Gewissensurgrund einer neuen Menschheit die
Abschaffung aller knebelnden, hemmenden, despotischen
Gewalten.
Wir Deutschen am wenigsten haben Veranlassung, uns
verwirren zu lassen von Rabulisten der Reaktion, die mit
der Karikatur die Idee widerlegen möchten, indem sie uns
sagen, dass „Freiheiten nicht die Freiheit bedeuten“, „dass
Freiheiten nicht einmal Freiheiten sind, sondern nur poli-
zierte Interessen“ und die uns für die politische Freiheit
die „innere civitas dei“ als Ersatz anbieten 2). Wir wissen,
dass die Klassenpolitik die Brüderlichkeit nicht förderte,
sondern verkümmern liess in den Vereinsbruder, den Kegel-
bruder, den Parteibruder oder das Genossentum wirtschaft-
licher Interessentengruppen. Wir wissen, dass die Brüder-
lichkeit „unmenschlich“ wurde, indem sie sich partikularisierte
in Zirkeln, Verbänden, Parteien. Aber das spricht nur gegen
die Art der Verwirklichung, nicht gegen das Prinzip; nicht
gegen die restlose Parteinahme, noch gegen den „unab-
lässigen Kampf für die Befreiung von Armen und Köpfen
zur glückhaften Anschauung und zur Betätigung der Güte“,
wovon in früheren Zeiten René Schickele einmal sprach 3).
Die Herren Naumann, Sombart, Scheler und Rathenau
wissen viel Materielles und Unbrauchbares von der fran-
zösischen Revolution zu erzählen 4). Vom Ideensturm haben
sie nichts gefühlt. Es wäre ja auch verwunderlich.
[128]
Die neue Demokratie, an die wir glauben, und um
deren Prinzipien heute die Welt kämpft, ist nicht in der
Ansicht beschlossen, dass die „Freiheit in Gott“ gleichzeitig
bestehen kann mit der Unfreiheit im Gesetz, der Vergewal-
tigung im Staat und der Tyrannei im Absolutismus; nicht
darin beschlossen, dass ein parlamentarisches System in
Deutschland nach dem Muster der westlichen Demokratien
die Lösung aller Konflikte bringt, die Deutschland heute
trennen von der Welt. Es ist schlimmste deutsche Tradi-
tion, auf die politische Freiheit zu verzichten unter Hinweis
auf die berühmte intelligible „Freiheit in Gott“, und die
Revolution von 1793 zu verwerfen, weil sie zur Zeit ihres
Ausbruchs „die Religion abschaffte“. Aber ebenso unsinnig
wäre es, den heutigen deutschen Regierungs-Satanismus
ohne die Freiheit in Gott bekämpfen zu wollen mit den
demokratisch-liberalistischen Tendenzen, die in England,
Frankreich, Amerika und Italien politische Errungenschaft
geworden sind. Das kaiserliche Deutschland repräsentiert
heute die ungeheuerlichste Akkumulation der reaktionären
Methoden dreier Kaiserreiche und des Papsttums, und die
Bekämpfung dieses antichristlichen Bollwerks, dessen Zen-
trale Berlin ist, führt notwendigerweise zu einer Prüfung
gerade der revolutionärsten Gedanken des vorigen Jahr-
hunderts auf ihren Freiheitsgehalt. So nur bieten sich Hebel,
die es ermöglichen, jene satanische Residenz aus den Angeln
zu heben.
Frankreich hat den Gedanken des Kommunismus
wiedergefunden, der seit den Tagen der Taboriten und
Thomas Münzers verloren war. Babeuf hiess sein Entdecker,
und auf dem Wege der Konspirationen Buonarottis kam
er zu Weitling, der in der Schweiz ihn zum erstenmal
offen wieder verkündigte. Brissot sprach bereits 1780 da-
von, dass Eigentum Diebstahl sei. In der erhabenen
Gestalt Proudhons führte ein ebenso kühner wie weiser
Idealismus zur Kritik des Eigentums und zur Anarchie,
[129] dem Verzicht auf den Staat. Karl Marx, ein Schüler Proud-
hons und Hegels, fand die Prinzipien einer neuen (prole-
tarischen und materiellen) Geschichtsbetrachtung. Michael
Bakunin und sein grosser russischer Lehrer, der Dekabrist
Pestel, stellten den Föderalismus und die Dezentralisation
der Staaten für die Neuordnung der slavischen Welt und
Europas auf. Mazzini aber und Lammenais, Weitling und
Tolstoi versuchten die Freiheit unabhängig von der Kirche
zu heiligen und schufen so, Thomas Münzer grüssend, den
Begriff des christlichen Anarchisten, Demokraten, Republi-
kaners und Revolutionärs.
Die Resultante aller dieser Prinzipien muss in unseren
Köpfen und Händen neues Leben gewinnen, wenn wir das
heutige deutsche Staatssystem nicht nur beschimpfen, son-
dern treffen und auflösen wollen. Enthusiastisch zu jedem
Opfer bereit muss die deutsche Jugend sich verbünden mit
dem Freiheitsgeist aller uns fürchtenden Völker, wenn sie
nicht an der Zukunft ihrer Nation verzweifelnd, den Kampf
aufgeben und sich zynisch verkriechen will. Rücksichtslos
gilt es, die ganze Erbärmlichkeit des sogenannten deutschen
Geisteslebens aufzudecken, und erst wenn wir dahinter-
gekommen sind, wie viel hier gesündigt, versäumt und
getäuscht worden ist; wenn Männer unter uns selbst den
Mut finden, einzugestehen, dass wir in Sachen der Mensch-
heit und Menschlichkeit die hinterhältigste, feigste und be-
quemste Nation der Welt gewesen sind, erst dann werden
wir festen und sicheren Boden finden, an der Gerechtigkeit
mitzubauen und uns dem Sumpf zu entwinden, wo man
noch immer verkappte Servilität für Finesse und Tiefsinn
hält, Religion, Kunst und Philosophie aber für eine Maske
vor dem Tiergesicht.
Voraussetzung dieses Buches ist: dass das neudeutsche
Regime, das mit gesegnetem Appetit heute Belgier und
Franzosen, Italiener und Russen verschlingt; das allen
Ernstes sich damit beschäftigt zeigt, den mittelalterlich-
9
[130] konföderierten Universalstaat der Hohenstaufen wieder er-
stehen zu lassen, stürzen muss, sei es durch eine Niederlage
seiner Waffen, den Zusammenbruch seiner Wirtschaft oder
die vereinte geistige Arbeit seiner Revolutionäre. Dieser
Popanzen- und Götzenstaat, der die Zentralisation aller
Kräfte eines grossen, arbeitssamen Volkes und seiner
mörderischen Bundesgenossen darstellt; dieser Staat, den
der fahrlässige Optimismus oder Ehrgeiz seiner verant-
wortlichen Geistesgrössen mitbegründen half; der jegliche
oppositionelle Bestrebung aufzusaugen oder unschädlich zu
machen verstand; dieser Staat, der hervorgegangen aus einem
pietistischen Zwangsmilitarismus und einer despotischen
Strafanstalt, nicht nur der eigenen Nation, sondern der
Welt gegenüber sich zum moralischen Richter und Gesetz
aufwarf, während er selbst sich herausnahm, Völkerrechte
und Neutralitäten zu brechen, Krieg zu verhängen und
Länderraub zu treiben; dieser Staat muss gerichtet und
niedergeworfen werden, wenn es Garantien geben soll
für den Wiederaufbau der Menschheit, für eine Weltrepublik,
für die Friedensarbeit zum Heil der betroffenen Völker.
An die Attilla-Pose seines Herrschers, an die Säbelpolitik
seiner Berater klammern sich alle lichtscheuen und zynischen
Elemente der Welt, alle geheimen Grossspekulanten und
Obskuranten, nebst der jesuitischen Krebsgängerei kirch-
licher Hofpolitik. Diese Gewalt wird und muss fallen,
früher oder später, und die Aufgabe der verantwortlichen
Intelligenz wird es sein, zu verhindern, dass innerhalb der
prinzipienlosen Nation eine Schlächterei dann anhebt, die
alle Entsetzlichkeiten des Krieges überbietet. Kein einzelner
Charakter wird rein und gross genug sein, der zerstörenden
Gewalt standzuhalten, die dann im eigenen Lande wüten
wird, wie sie im fremden Land wütete. Kein einzelner
wird, von welch mächtiger Konstitution seine moralischen
und physischen Kräfte sein mögen, den Aufgaben und dem
Jubel gewachsen sein, die dann aufs neue die Welt er-
[131] schüttern. Das alles aber ist unausbleiblich, wenn das
menschliche Dasein auf dieser Erde nicht zum Gespött
der Tiere werden soll.
Und so gilt es: ein höchstes Prinzip der Freiheit zu
suchen und aufzustellen, als hänge von uns das künftige
Heil der Menschheit ab, wie wir sie in Elend, Trauer und
Schutt gestürzt haben. So gilt es, die Konsequenzen dessen
zu ziehen, was jeder unter uns weiss und empfindet. So
gilt es, innerhalb unserer Nation im Vertrauen auf die
Garantien, die eine erlöste Welt nicht verweigern wird,
die grosse Scheidung vorzunehmen zwischen den über-
hündischen Sadisten, die am Werke sind, uns zu verderben,
und den übermenschlichen Leiden derer, die seit nunmehr
vier Jahren getäuscht und betrogen die „Ehre“ der Nation
verteidigen. Wir haben keine Feinde ausser im eigenen
Lande. Wir haben keine Hoffnung ausser jenseits der
Schützengräben. Im Jahre 1842 veröffentlichte Michael Bakunin
in Ruges „Deutschen Jahrbüchern“ einen Aufsatz, betitelt
„Die Reaktion in Deutschland“. Der Schlusspassus lautete:
„Lasset uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur
deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche
und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. Die Lust der
Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“.
2.
Die Geschichte der christlichen Idee im 19. Jahrhundert
müsste geschrieben sein, sollte die Isolation evident er-
scheinen, in die sich Deutschland, angeregt durch Friedrich
und Napoleon, durch Hegels Wirklichkeitsphilosophie und
Bismarcks Blut- und Eisenpolitik begab. Der Sizilianer Bor-
gese hat das neue Ideal einer Ecclesia militans beschrieben,
das mehr und mehr in das Gewissen der heute gegen
Deutschland verbündeten Heere und Philosophien übergeht.
„Un chant s'élève, inconscient de lui-même, comme ce
[132] discours de Malines (du Cardinal Mercier). Il est ardent
comme le langage de Saint-Paul, pur comme celui de Pascal;
il est sublime et modeste, sacré et profane, orthodoxe et
rationnel, pieux et héroïque, européen et universel, aussi bon
pour la béguine de Bruges que pour l'esprit cultivé“ 5). Die
Geister, die im 20. Jahrhundert gegen einander streiten,
heissen Napoleon und Christus, und der Napoleonismus
als Leitmotiv bezeichnet die intellektuelle Entwicklung
Deutschlands. „Mehr noch als das Europa von 1800 bis
1801, das im Sieger von Marengo den Muhamed einer
neuen Epoche sah, den Vorläufer eines neuen Glaubens,
studiert das heutige Deutschland den „Napoleonismus“ in
den Werken Treitschkes und Nietzsches. Der Korse hat
den Galiläer besiegt“ 6).
Wogegen nachzuweisen ist, dass Russland, Frankreich
und Italien, ja auch England und Amerika in ihren Quäkern
und Pazifisten, indem sie die Emanzipation des Christen-
tums aus der Orthodoxie vollzogen und das christliche
Ideal in einem von Kirche und Dogma unabhängigen
Sinne restituierten, sich tiefer von Deutschland trennten,
als alle nationalen und politischen Unterschiede die Völker
je trennen konnten.
Borgese wies auf den Nutzen hin, den in diesem
Sinne noch heute die Lektüre von Tolstois „Krieg und
Frieden“ bietet. „Man sieht darin“, schreibt er, „wie ein
Russe, der weder Konstrukteur eitler Ideensysteme, noch
Chauvinist und Nationalist war, die Mission des russischen
Volkes während der napoleonischen Kriege auffasst, ins-
besondere während des Krieges von 1812, der das Scheitern
des vielbewunderten Antichrist brachte“. Anna Pawlowna
nennt Bonaparte von der ersten Seite des Buches an einen
Antichristen. „Seht diese heidnischen Bestien!“ schreit die
wütende Menge, als die Franzosen Moskau räumen und
sich an einem Leichnam vergreifen. Dem Idol der Gewalt
und Energie in der Gestalt Napoleons stellt Tolstoi seinen
[133] Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauern-
märtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen
dem christlichen Ideal dem napoleonischen Natur-Götzen-
tum dar 7).
Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie
(Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den
russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im
Gegenteil: Trauer und Klage, dass das entsetzliche Tier im
Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der
Kraft- und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in
Deutschland an Einfluss gewann, als sie anderwärts bereits
in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal über-
wunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahr-
hunderts nicht bestechen 8), und es ist bezeichnend genug,
dass die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vor-
kämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewsky, Stra-
chow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter
aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die „euro-
päische Kultur“ verdächtigte 9).
Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristen-
tum nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Die
Raskolniken predigten, dass die orthodoxe Autokratie
religiös unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die
russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten.
Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen
Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und
Rylejew (1825) enthielt den Passus: „Was befiehlt nun
Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen
Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich
gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu
schwören, dass es nur einen König auf Erden und im
Himmel gibt, Jesum Christum“ 10).
Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die grösste
Sünde. „Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich
unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangen-
[134] heit entreissen wird und unserer Brust ein mächtiger Schrei
der Reue und des Schmerzes entfährt“ 11). Er war über-
zeugt, dass das Heil Russlands weder in der Orthodoxie
noch im Katholizismus, sondern in einer neuen, noch
unbekannten Offenbarung neuer sozial-religiöser Grund-
lagen für die Kirche, für das Reich Gottes auf Erden zu
suchen sei, die in der Lehre Christi wohl enthalten, aber
von den Menschen noch nicht erfasst worden seien.
Tschaadajew, den Schelling für den „geistreichsten Mann
in Russland“ hielt, wurde durch kaiserlichen Erlass für ver-
rückt erklärt, aber in seinem Werke „Nekropolis“ begrub
er das ganze orthodoxe und autokratische Russland als in
einer Totenstadt.
Dostojewsky in seinen Romanen gibt die genialste
und gewaltigste Auseinandersetzung des Christentums mit
dem Antichristentum. Der Marburger Professor Hermann
Cohen, bekannt durch sein Eintreten für eine jüdische
Universität in Deutschland, meinte zwar, erst dann werde
„unser Sieg allmählich ein vollständiger werden“, wenn wir
„alle diese falschen Literaturgrössen der Ausländerei in ihrer
Differenz von uns erkannt und überwunden haben werden“ 12),
und Julius Bab, ein kleinlauterer Literator, hat sich sogar
bereitgefunden, die ganze Gottverschwärmtheit des hierati-
schen Russland als eine romantische Angelegenheit auf die
Indifferenzseite zu schieben, unseren „Realisten“ und Ratio-
nalisten zuliebe 13). Daraus ergibt sich aber nur, dass es
eine bedenkliche Sache ist, die Literatur für die Folge den
Herren Bab, und die Philosophie den Herren Cohen zu
überlassen.
Dostojewskys Hauptgestalten von Raskolnikow bis Kara-
masow sind so real und unromantisch, als man sich denken
kann; politische oder religiöse Rebellen, napoleonide Ver-
brecher und Atheisten von gestern, von heute und morgen.
„Die Empörung gegen die menschliche Ordnung ruft in ihnen
auch eine Empörung gegen die göttliche Ordnung hervor“,
[135] sagt Mereschkowsky. „Der Hass gegen Religion und Christen-
tum, gegen den Heiland wird nicht nur verneint, er führt
ihn auch als der Versucher selbst bis zur Bejahung der
Antireligion und des Antichristentums“. Am Ende aber
hält er Russland für den „Besessenen, der von Christus
geheilt ist“ und die atheistischen Revolutionäre für jene
„vom Teufel besessenen Schweine, die in den Abgrund
stürzen“. Seine Flucht in die Orthodoxie ist sein vorletztes
Wort, sein letztes Wort aber die Erklärung dieser Flucht,
eine Tagebuchnotiz, ehe er am 1. März 1881 starb. „Es
naht das Ende der Welt, der Antichrist kommt“. Und
ebenso sein Schüler Solowjew, der jenes Sterbewort in
seiner „Geschichte des Antichrist“ wiederholt; Solowjew,
dessen Lehre darin besteht, dass die orthodoxe Autokratie,
und nicht nur für die russische gilt das, sondern für die
protestantisch-preussische noch viel mehr, einer der grössten
weltgeschichtlichen Wege zum Reiche des apokalyptischen
Tieres ist 14).
In Italien wurde der Kampf gegen Papst- und König-
tum vom asketischen Geiste Giuseppe Mazzinis geführt.
Die mit Garibaldis Waffenhilfe erzwungene Flucht des
Papstes 1848 nach Gaëta war Mazzinis Werk, der als Prä-
sident der römischen Republik die theologisch gestützte
Autokratie im Bewusstsein des italienischen Volkes ein für
allemal erschütterte. Mazzinis Idee eines unabhängigen
Christentums und der religiösen Demokratie war in edelstem
Fanatismus unerbittlich und streng. In seinem Hauptwerk
„I doveri dell' uomo“ bekämpfte er die aufgeklärte Vernunft-
moral der französischen Revolution, wie er im Kampfe
gegen die atheistische und materialistische Arbeiter-Interna-
tionale und ihr Genuss-Philisterium, im Sinne Tolstois und
Dostojewskys das „höchste Glück im Opfer“ forderte 15).
Wie Mazzini sich gegen das Papsttum in Italien und
den Atheismus des 19. Jahrhunderts gleichzeitig wandte, so
wandte er sich, eine der suggestivsten und brennendsten
[136] Gestalten seiner Zeit, gegen die „Apostolische Majestät“ auf
dem habsburgischen Throne — „mein gefährlichster Feind“,
sagte Metternich von ihm — und so hätte er sich, wäre er 1871
noch jung genug gewesen, auch gegen den protestantischen
Papst zu Berlin gewandt. Die Menschenpflichten gegenüber
den Menschenrechten hat niemand beredter und grossartiger
gefordert als er, und geriet er damit auch, wie Dostojewsky
und Tschaadajew, in eine fatale Allianz mit der „schwarzen
Seelenpolizei“, so musste sein mächtigster Gegner, Michael
Bakunin, doch anerkennen, dass er der „Grossiegelbewahrer
des religiösen, metaphysischen und politischen Idealismus“
blieb 16).
Im christlichen Streite wider die Theokratie fühlte
Mazzini, „dass Italien bei seinem Auferstehen der Beginn
eines neuen Lebens, der Beginn einer neuen gewaltigen
Einheit für die europäischen Nationen sein werde“;
empfand er, „dass in Europa eine Leere bestand, dass die
Autorität, die wahre, die gute und heilige Autorität, in
deren Erforschung doch immer das Geheimnis unseres
Lebens liegt, ob wir es uns zugestehen oder nicht, von
all denen unvernünftig verneint wird, die mit ihr ein Ge-
spenst verwechseln, eine lügnerische Autorität, indem sie
glauben, Gott zu leugnen, wenn sie nur die Götzen
leugnen“ 17). Er spricht von den Päpsten, „die einst so
heilig waren, als sie heute verrucht sind“; und von den
Revolutionen sagte er: „man muss sie mit Bildung vor-
bereiten; sie reifen mit der Vorsicht, vollziehen sich mit
der Kraft und heiligen sich, indem man sie zum allge-
meinen Guten leitet“. „Meine jungen Mitbrüder“, spricht
er uns heutigen Republikanern zu, wie er zur Zeit Jung-
deutschlands unseren Vätern zusprach, „fasset Mut und seid
gross! Vertrauet auf Gott, auf euer Recht und auf uns!
Erhebet diesen Ruf und vorwärts! Die Ereignisse werden
uns zeigen, ob wir uns täuschten, wenn wir ausrufen: die
Zukunft gehört uns“ 18). Und an die Dichter des 19. Jahr-
[137] hunderts (1832): „Die individuelle Welt, die Welt des Mittel-
alters, ist vergangen. Die soziale Welt, die neue Zeit beginnt.
Wer wird nach Napoleon den europäischen Despotismus
versuchen; die Völker mit Eroberung beherrschen, den
Gedanken der Kultur mit seinem eigenen ersetzen können?
Eine Weltrepublik ist notwendig, und eine Weltrepublik
wird sein“! 19)
Italien ist das klassische Land der politischen und
religiösen Konspiration. Wo gab es ausser in Russland
eine ähnliche Macht gegen die Theokratie und ihre Jesuiten,
wie im Italien der Carbonari und der Freimaurerorden?
Wer kann es wissen, ob nicht in unseren Tagen noch der
Palazzo Giustiniani in Rom triumphiert über den Vatikan;
die Menschheit und Menschlichkeit über den theologischen
Cäsar des Abendlandes, wie sie in Russland triumphierte
über den Cäsar des Orients? Das Papsttum beseitigt zu
haben, die letzte regenerative Stütze der Kaiserthrone von
Habsburg und Hohenzollern, mag einst der unsterbliche
Ruhm Italiens sein!
3.
Es ist interessant genug, nach einem Kampf gegen
die religiöse Despotie in den deutschen Ländern zu
fragen. Das Problem ist hier kaum bewusst. Es gibt eine
„Apostolische Majestät“ deutscher Zunge zu Wien und
einen protestantischen „Summus Episkopus“ zu Berlin,
ausserdem aber eine Entente théologique beider theokra-
tischer Systeme mit der päpstlichen Kurie zu Rom. Diese
furchtbare und gewaltige doktrinäre Macht antichristlicher
Tendenz ist gerade infolge ihrer Dreifaltigkeit und einer
mitunter verfeindeten, dann wieder verbündeten jesuitischen
Politik schwer zu fassen; es scheint, dass sie nur durch
den universalen bewaffneten Aufstand im Bündnis mit
der interessierten Intelligenz aller christlichen Völker, den
[138] Kreuzzug, zu Bewusstsein gebracht und gebrochen werden
kann.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten von
Napoleon I. angeregt, zwei sehr kühne Temperamente,
Friedrich Nietzsche und Michael Bakunin, gegen sie auf 20).
Friedrich Nietzsche geleitet vom individualistischen Renais-
sance-Ideal; Michael Bakunin als Bannerträger der Revolution,
der Masse, der kollektivistischen Sozietät. Nietzsches Irrtum
war, dass er glaubte, den Kampf gegen die Theologie exaltieren
zu müssen zum Kampf gegen das Christentum selbst. So
geriet er in Feindschaft mit dem italienischen, russischen und
französischen Geiste 21). Und ebenso setzte Bakunin sich
in Widerspruch mit der gesamten christlichen Intelligenz 22),
indem er seinen Sturmlauf gegen den theologischen Staat
ausdehnte auf die Gottesidee und den Idealismus 23). Beide
suchten die lügnerische Autorität samt der heiligen auszu-
rotten und trieben, indem sie nicht nur die Götzen, sondern
auch die Götter bekämpften, dem Abgrund zu.
In keinem anderen Volke hätte Nietzsche die schlimmen
Folgen gehabt, die er in Deutschland haben musste, wenn
er die Moralität auflöste, den Staat aber bestehen liess. Als
echter Pastorensohn lutheranischer Abkunft mehrte er durch
sein Wüten gegen die Prinzipien statt gegen den Missbrauch,
die moralische Verwirrung und damit wider Erwarten die
Staatsomnipotenz 24). Und auch Bakunins konsequenter
Atheismus führte, wenngleich er ein neues Solidaritätsideal
auf der entstaatlichten und enttheologisierten Erde errichten
wollte, am Ende zur Stärkung des rationalistischen Staats-
und Gewaltblocks. Die wirre Donquichotterie seines aben-
teuerlichen Lebens, seine russische Seele und die apostolische
Auffassung seiner Mission widersprechen an mehr als einer
Stelle seiner Briefe und Schriften dem Wortlaut seiner Texte.
Seine erbitterten Angriffe auf die Theokratie aber blieben
infolge einer von deutschen Sozialpatrioten grosszügig in-
szenierten Verleumdungs- und Unterdrückungskampagne 25),
[139] gerade dort unbekannt, wo sie hätten wirken sollen, in
Deutschland, und so kann man auch von Bakunins Atheismus
sagen, dass er nur dem Pangermanismus zustatten kam,
indem er nämlich durch Marx auf die romanische Inter-
nationale und Russland lokalisiert blieb, und dort zur
Schwächung der Resistenz beitrug 26). Die Voltaire'sche
Geissel schwang in Deutschland erst Nietzsche. Die Origi-
nalität der von ihm vorgebrachten Argumente verblasst
jedoch bedenklich nach der Lektüre von Bakunins Schriften
„Antithéologisme“ (1867) und „Dieu et l'état“ (1871), deren
letztere, publiziert 1882 von Cafiero und Elisée Reclus,
Nietzsche vielleicht sogar vorlag 27). Beide Schriften gingen
hervor aus der toskanischen Freimaurerei, mit der Bakunin
durch ihren Grossmeister Dolfi in Verbindung trat 28).
An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist es
allein die einsam überragende Persönlichkeit Franz von
Baaders, die in Deutschland bewusst und mit mächtigen
Argumenten für das Christentum und die Einheit des Gött-
lichen eintritt gegen die antichristlichen Philosophien. „Ἐν
῾Χριστῶ εἰσι πάντεϛ οἱ δησαυροὶτῆϛ σορίαϛ καὶτῆϛ γνώσεωϛ
ὰπόκρυφοι“: mit diesem Satze der philosophia occulta
kämpft er gegen die pantheistischen und rationalistischen
Allerweltshumanisten und Schwärmer; gegen Kant, Hegel
gleicherweise wie gegen Schelling, dessen Naturphilosophie
ihm nur ein „Ragout mit allerhand, auch christlichen
Ingredienzien“ ist.
Jenseits von Systemkonstruktion und patentiertem Sitten-
kodex stellt er eine unabhängige christliche Moral als
„höhere Physik des Geistes“ auf. „Aller Missbrauch der
Kraft“, schreibt er in seinen Tagebüchern, „alle Usurpation
muss schlechterdings aufhören. Sie muss in Trümmer
gehen oder eine neue Organisation empfangen. Die meisten
Menschen seufzen durch unsere widersinnige Politik unter
diesem elenden Selbstbetruge und schrumpfen zu kümmer-
lichen Tieren ein“. „Die gütige Natur oder vielmehr
[140] Gott hat jedem Menschen ein Ideal, Vorbild von Güte
und Grösse eingegraben, dem er sein ganzes Leben durch
nachleben und sich ihm nachbilden soll, das sich aber in
dem Verhältnisse, in dem er sich ihm nähert, erweitert und
vergrössert: denn wer hienieden hat wohl sich selbst er-
reicht“ 29)? Er glaubt, „dass das sicherste Verhinderungsmittel
alles Bösen nicht die Steinernen Tafeln allein, sondern ein
lebendiger Enthusiasmus fürs Gute ist“. Er lebt nach der
Maxime „wo immer ein Wesen meiner Art sich mir nähert,
erkenne ich dasselbe Prinzip in ihm, dieselbe Natur; und
die (erkannte) Vernunftsympathie (und keine bloss gefühlte)
sei das Schibboleth, an dem sich Menschen und Menschen
unter den übrigen Naturwesen suchen, finden, erkennen,
vereinen und lieben“ 30).
So kommt er zu seinem Fahneneid auf die Wahrheit,
„fernher den Gedanken des Allmächtigen nachzudenken,
mich seiner, der himmlischen Vernunft, zu fügen“ 31). Und
so türmen sich in einem Impetus philosophicus für das
Weihnachtsfest die herrlichen Sätze: „Was zanken doch
unsere grossen Chaldäer, Sternseher, Wahrsager und Zeichen-
deuter um diesen göttlichen Friedensfürsten, den sie doch
nicht haben. Er ist zu Bethlehem und nicht zu Babel“, er
ist „im zerknirschten, demütigen Geist und zerbrochenen
Herzen, nicht aber in ihrem Gehirn, Büchern und hohen
Schulen“ 32).
Tiefe Heiligkeit verbindet ihn mit Thomas von Aquin
und Franziskus, mit den grossen Mystikern des Mittelalters
und Jakob Böhme. Aber auch mit Pascal und d'Aurevilly
und den Slavophilen Samarin und Chomjakow 33). Er ist
der einzige christliche Philosoph grossen Stiles, den Deutsch-
land gehabt hat, doch ersetzt er — die Neuausgabe seiner
Schriften wird es zeigen —, ganze Schulen und Genera-
tionen. Er kann, wenn nur die Jugend ihn verstehen will,
zum Magnetberg werden, der einem ganzen Volke das
Eisen aus den Händen windet. In Gott sah er die Ursozietät.
[141] Er verwarf — unter Deutschen ein Unikum — weder die
Tradition noch die Schrift, weder die guten Werke noch
den Glauben.
Die Denkkräfte sind nicht das Letzte, was wir heiligen
müssen. Die zentrifugale Richtung der ganzen modernen,
von Gott abgekehrten Philosophie, den Abfall der Geister,
hat niemand so klar erkannt und umfassend bezeichnet wie
Baader. „Liebe“, heisst sein schönstes Wort, „ist das allge-
meine Band, das alle Wesen im Universum an und inein-
ander bindet und verwebt. Ohne Affinität kein Ganzes,
keine Welt, nicht einmal denkbar; unser Erdball ein wüstes,
ewig totes Chaos“. „Satan trennt“, schreibt er anderswo,
„er ist Mörder von Anfang. Christus trennt, um zu ver-
einen“; und ein Wahn ist es ihm, „dass man das Christen-
tum aufgeben müsse, um die intellektuelle und soziale
Freiheit zu gewinnen, oder letztere aufgeben, um das
Christentum aufrecht zu erhalten“ 34). Gegen den Klerus
aber sind heftigere Worte nie geschrieben worden als die
folgenden: „Auch in deiner Bude war ich, du Priester, der
du die Schriften zwar noch hast, aber sie sind dir nur ein
siebenfach verschlossen Schloss und den Schlüssel dazu
hast du verloren. Mit elendem Sklavensinn klebst du am
Buchstaben! Dein Abgott ist eine Mumie, woran nur noch
die Form gut ist. Also diese und jene, und alle öffentlichen
Buden des Marktes der grossen Babel sind leer und dar-
innen ist weiter nichts als Theer und Schmiere zu holen,
die Schnellfahrt jüngster Literatur zu befördern!“ 35)
Das war Baader. Wo aber sind seine Nachfolger?
Wer ausser ihm und den grossen Mystikern und Musikern
hat sonst noch in Deutschland eine Apologie Christi ge-
schrieben und den Antichristen bekämpft? Auch Hegel
glaubte, eine Theodizee geschrieben zu haben in Ueber-
einstimmung mit dem Christentum. Er war aber nur in
Uebereinstimmung mit dem Protestantismus und dem ab-
solutistischen Preussentum. Durch die Staats- und Rechts-
[142] lehre seiner platten Servilität war er Lutheraner und Napo-
leonist, ohne Ahnung des Göttlichen, das er verhöhnte.
Macchiavellisten wurden sie alle. Friedrich II. war
Macchiavellist, und Fichte „legte sich auf das Studium
Macchiavells“ 36). Hegel wollte „gleichsam der Macchiavell
Deutschlands“ werden. Treitschke und Bismarck haben den
Macchiavellismus „erweitert“. Nietzsche war Macchiavellist,
und Macchiavellist ist heute Herr Rathenau. Oberster
Grundsatz ist der individuelle und Staatsvorteil als Direk-
tive der Moral. Das Philosophie- und Kulturideal hält
zum Staate, indem es eine Idee als Abstraktum aufstellt
oder verhängt und Subordination verlangt. Der Staat wird
auf der lüsternen Willfährigkeit der Untertanen errichtet.
Der Wille zur Macht, der im Grunde nur identisch mit
der Ohnmacht ist, bedient sich der Lüge, der Hinterlist
und jeder Methode der Treulosigkeit, um zu Erfolg und
zum Ziel zu gelangen. Das ist die macchiavellistische Kon-
spiration der preussisch-deutschen Philosophie von Kant
bis zu Nietzsche. Alle zusammen aber sind theoretische
Epigonen der Renaissance, jener Epoche glanzvollen Rück-
falls ins Heidentum; alle zusammen arbeiten sie der
Despotie in die Hände, begünstigen sie das Reich des
verschlagenen apokalyptischen Tieres, mögen sie im Wappen
selbst die Freiheit und Emanzipation, die Revolte und das
Uebermenschentum auf den Fahnen tragen.
Noch Solovjew und Lecky sprechen von der „Ueber-
legenheit der Deutschen“ auf dem Gebiete der rationalen
Philosophie. Solovjew im Kampfe gegen den slawophilen
Chauvinismus, den er zu demütigen hoffte 37). Lecky in
seiner „Geschichte der Aufklärung“, die im übrigen eines
der schönsten Dokumente christlicher Gesinnung ist. Was
ist das aber für eine traurige Ueberlegenheit, die Gott zum
Menschen erniedrigt, um sich selbst zu erhöhen; die überall
zur Enttäuschung und Katastrophe führt, weil sie ihr Mass
verkennt, und die deshalb überall in die Bevormundung,
[143] die Staatsmaschinerie und ein zynisches Zwangssystem
mündet! Solange wir nicht, anschliessend an die menschlich
reine Tradition unserer wahrhaft Grossen, uns der Irratio-
nalität unseres eigensten Wesens entsinnen, werden wir
nur Spreu im Winde sein, und solange wir die Irrationalität
nicht im Widerspruch des Menschen mit Gott; das Unlogische
aller menschlichen Existenz nicht im Widerspruch des Ideals
mit der Wirklichkeit empfinden; — solange werden uns
die edelsten Errungenschaften des europäischen Geistes und
aller Menschlichkeit im Götzenglauben an unsere rohe
Ueberlegenheit verschlossen bleiben; solange werden wir
nichts von alledem verstehen, was man gegen uns vorbringt;
solange werden wir Barbaren bleiben trotz aller Anstren-
gungen und Tüchtigkeit.
Man berufe sich doch nicht länger auf die „Göttin
Vernunft“, die Abschaffung der Religion und des Gottes-
glaubens durch die Ereignisse von 1793! Die Prinzipien
der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit, die weiterwirkten, sind tief christlich und
göttlich. Die Sklavenbefreiung und der Kommunismus, die
in dieser Revolution wieder auflebten, gerade sie sind christ-
lich. Die Evangelisten und die Apostel, die Kirchenväter
und Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer und
teilweise die Mönche, die Quäker, die russischen Sektierer,
gerade sie sind Sozialisten 38).
Der christliche Sinn der französischen Revolution konnte
Europa und dem französischen Geiste nicht lange verborgen
bleiben, wenn auch die Aufklärung es war, die den ersten
Anstoss zur Revolution gab. Hat man 1793 die Religion
abgeschafft, so wurde sie 1801 bereits wieder eingeführt
und über die Hälfte der französischen Nation wurde streng
römisch-katholisch. Und war durch die französische Revo-
lution auch ein für allemal das ekklesiastische Dogma
erschüttert, so ist doch die ganze intellektuelle Entwicklung
Frankreichs von 1801 an ein immer bewussteres Sichwieder-
[144] besinnen auf die christliche Tradition, ein immer tieferes
Erfassen und Ausgestalten hoher christlicher Werte. Ich
spreche nicht vom Parade-Katholizismus und Prokatholikentum
der Geister zweiter und dritter Ordnung. Ich spreche von
jenem mächtigen Kathedralenbau einer christlichen Apologie,
die Frankreich von Chateaubriand, De Maistre und Lammenais
bis zu Charles Péguy, André Suarès und der Pascal-Schule
Boutroux's, unabhängig von der Kirche zu immer mensch-
licherer und tieferer Symbolik führte, zu stets luzideren
und umfassenderen Gebilden, und zuletzt zu einem nationalen
Jeanne d'Arc-Kult von zartester Sublimität 39).
Sollte Cardinal Mercier Gegenpapst werden und eine
Kirche der christlichen Intelligenz begründen: — eine seiner
ersten Massnahmen müsste sein, ein der neuen Zeit ent-
sprechendes Uebersetzungskollegium de propaganda fide
einzusetzen, dessen Aufgabe darin bestünde, die Universalität
der christlichen Renaissance ad oculos zu demonstrieren
und die in Bereitschaft stehende orientalische Kirche mit
der occidentalen wieder zu vereinen 40). Die Zeiten sind
reif. Ein gemeinsamer Glaube lebt auf. Jene deutschen
Prokatholiken aber, die ihre Sympathien und Erwartungen
während des Krieges zum kompromittierten päpstlichen
Stuhle Benedikts wanden, werden unter dieser Aegide weder
die grosse Rupture zwischen Gut und Böse vollziehen, von
der Frau Annette Kolb so begeistert spricht 41), noch die
soziale Civitas dei, die den erwähltesten Geistern so innig
am Herzen liegt 42). Sie werden nur der Reaktion dienen
und jener Verwesung in Christo, die das Postament des
heutigen Papsttums bildet.
Und um auch davon zu sprechen: Jede Theodizee,
die die Bestialität dieses Krieges als „Grimm Gottes“ zu
defaitistischen und fatalistischen Zwecken benützt und damit
einerseits die Rebellion verhindern, anderseits eine Philo-
sophie des Irrationalen glaubt begründen zu können, ist
Mystifikation, nicht Mystik; sie anerkennt den Antichristen,
[145] sie spricht ihm sogar Göttlichkeit zu und lässt Messen lesen
zu seiner Besänftigung, statt ihn abzuschaffen. Solche Theo-
dizee versucht heute 43) das germanophile Papsttum, doch
sie scheint nur in Deutschland Schule zu machen, wo nichts
so absurd sein kann, um nicht Beifall zu finden und das
Dekorum einer fruchtlosen Intelligenz zu fristen 44).
4.
Die hohle Grosssprecherei, die im Gefolge Napoleons
überall ihren Einzug hielt, fand nirgends so lebhafte Be-
wunderung wie in Deutschland, und nirgends einen so
treulichen Niederschlag, wie in der Philosophie Hegels und
seiner Nachfolger. Wirklichkeitsfetischismus und Erfolgmoral,
Bejahung von Karriere, Ehrgeiz und Leidenschaft noch in
der zweifelhaftesten Ausprägung; Ueberlegenheitspose und
Mangel an Selbstkritik —: das sind die Motive, die den
Bewusstseinsinhalt des Atheismus ausmachen.
Doch so wenig der Osten, so wenig liess sich der
Westen vom Hegelianismus bestechen. Jene Sekte rus-
sischer Hegelianer in Moskau, der Stankjewitsch, Bjelinsky,
Ogarjew und Bakunin angehörten, zerstreute sich rasch und
erlangte keineswegs eine Bedeutung, die die weitwirkende
Produktivität der deutschen Philosophie beweisen könnte 45).
Stankjewitsch starb früh. Bjelinsky und Herzen gingen be-
geistert zur Theorie des französischen Sozialismus über. Und
auch Bakunin hatte nach seinem eigenen Geständnis bereits
1842 die Hegel'sche Philosophie durchschaut und „in sich
beiseite gebracht“ 46). In „Anarchie und Staatstum“ (1873)
wandte er sich sogar gegen die radikalsten Junghegelianer
mit den Worten: „An der Spitze dieser Partei stand Lud-
wig Feuerbach, den die logische Konsequenz nicht nur
zur Leugnung jeder göttlichen Welt, sondern auch zur Leug-
nung der Metaphysik selbst führte. Weiter konnte er nicht
gehen. Er selbst blieb trotz alledem ein Metaphysiker. Er
10
[146] musste seinen gesetzlichen Liquidatoren, den Vertretern der
Schule der Materialisten oder Realisten weichen, deren grösster
Teil übrigens, wie die Herren Büchner, Marx und andere mehr,
nicht verstanden und nicht verstehen, sich von der Herrschaft
des metaphysischen, abstrakten Gedankens zu befreien“ 47).
Selbst der hervorragendste russische Hegelianer also, der
Geister wie Tschaadajew und Proudhon in die Hegel'sche
Phänomenologie einführte 48), kam von seinem Glauben an die
deutsche „Geistesüberlegenheit“ bald zurück. Jener „germa-
nische philosophische Idealismus“, den Solovjew rühmt, —
gerade in Bakunin fand er später einen prinzipiellen Gegner 49).
Im Westen stiessen die Junghegelianer mit ihrem
Selbstbewusstsein und ihrer Wirklichkeitsdoktrin auf den-
selben Widerstand des religiösen Geistes, auf den der Na-
poleonismus und Rationalismus in Russland stiess 50). Im
Herbst 1843 siedelten Arnold Ruge und Karl Marx nach
Frankreich über, um nach dem Eingehen der „Deutschen
Jahrbücher“ die „Deutsch-französischen Jahrbücher“ in
Paris herauszugeben. Bei der Gründung dieser Zeitschrift
ereignete sich, was sich immer ereignet, wenn Deutsche von
der Zensur gezwungen werden, im Auslande zu publizieren.
Die Verbreitung in der Heimat stösst dann auf „unüber-
brückbare Hindernisse“ und die Finanzen versagen. Noch
heute zieht man daraus nicht den Schluss, dass nur ein
resoluter Bruch mit der patriotischen Klique und der Ver-
zicht auf jegliche Zweideutigkeit eine neue Basis zu schaffen
vermag und den Gedanken erweitert. Der jungdeutschen
Emigration von 1843 gelang es so wenig, die Franzosen
von der deutschen Ueberlegenheit zu überzeugen, wie es
der neudeutschen von 1914/18 gelang, die europäische
Idee zu exaltieren und neue Prinzipien dem eigenen Lande
zuzuführen 51). Die Herausgeber der „Deutsch-Französischen
Jahrbücher“, an denen Heine, Herwegh, Jacoby, Marx, Engels
und Ruge mitarbeiteten, erfuhren von seiten der französischen
Intellektuellen eine Ablehnung.
[147]
Franz Mehring, der zwar ein grosser Marxist, aber auch
ein grosser Patriot ist, hat sich darüber bitter geäussert 52).
„Lammenais hielt den Herausgebern einen zweistündigen
Vortrag über seine religiösen Mucken und erklärte dann,
er werde ihre Taten abwarten, ehe er sich daran beteilige“.
Louis Blanc, „dieser ängstliche Kleinbürger, konnte nicht
von der süssen Gewohnheit lassen, sich die Kämpfe des
praktischen Lebens in irgend einer Religion zu verhimmeln
und sich dadurch ihr erschöpfendes Verständnis zu ver-
rammeln“ 53). „Einige hatten zugesagt (Lamartine z. B.), aber
nichts geliefert, andere sagten in manchmal nicht erfreulicher
Weise ab“. Mehring verkennt aber in krasser Weise und
ungerecht wie alle Marxisten und gerade die Ueberzeugtesten
sind, die damalige intellektuelle Situation. Er spricht von
Lammenais' „religiösen Mucken“. Sollte er den grossartigen
prinzipiellen Kampf nicht kennen, den Lammenais gerade
damals mit der Kirche ausfocht? Haben die Marxisten so
sehr die Wahrheit und die Methode gepachtet, dass sie
nur noch für Marx-Zitate empfänglich sind? „Wir hoffen“,
schrieb Lammenais, „das Reich der Gewalt zu Boden zu
schmettern und an seine Stelle das Reich der Gerechtig-
keit und der Liebe zu setzen, welches zwischen den Gliedern
der grossen Menschenfamilie jene Einigkeit erzeugt, in der jedes
Individuum als Teil des Ganzen gilt und am allgemeinen Wohl
teil hat“ 54). Sind das religiöse Mucken? Der Atheismus der
Enzyklopädisten hatte ihn abgestossen, wie ihn die Megalo-
manie und der Atheismus der Junghegelianer abstiess. Er
suchte die Emanzipation der Menschheit in der Macht
religiösen Brüderbewusstseins und er brach, als er die Frei-
heit nicht fand, kühn und konsequent mit der Kirche und
demselben Papst Gregor, der ihn einen neuen Bossuet und
den letzten der Kirchenväter hatte rühmen lassen. Sind die
Kapitel IV, XIII, XX, XXXV und XXXVI der „Paroles d'un
Croyant“ religiöse Mucken oder aktuellste Prophetie, und
haben wir in unserer sozialistischen Literatur diesem grossen
[148] Vorläufer Charles Péguys auch nur etwas Aehnliches an
die Seite zu stellen? 55) Es wäre wohl an der Zeit, sich
daran zu erinnern, dass Ludwig Börne, den Mehring frei-
lich ebenso als Spiesser abtun wird, wie Heine ihn abtat,
diese „Paroles d'un Croyant“ 1834 ins Deutsche übertrug,
weil er es für möglich hielt, „durch ein Bündnis zwischen
politischem und religiösem Radikalismus“ eher als mittels
rationaler Philosophie „dem heillosen und infamen Treiben
der deutschen Regierungen ein Ende zu machen“!
Und Louis Blanc, der ängstliche Kleinbürger: — hatte
er Unrecht, wenn er die deutsche Jugend „zwar beglück-
wünschte, dass sie anfange, ihre Aufmerksamkeit auf die
Praxis des Lebens zu richten“, aber sie vor dem Atheismus
warnte, „da der Atheismus in der Philosophie die Anarchie
in der Politik zur notwendigen Folge habe“? Wenn er
sie darauf aufmerksam machte, dass sie als Junghegelianer
durch ihr Bekenntnis zu Diderot, Holbach und den fran-
zösischen Materialisten um fast ein Jahrhundert zu spät
kamen? Verhimmeln sich die Marxisten nicht die intellek-
tuellen Kämpfe des praktischen Lebens heute viel ärgerlicher
und blinder in ihrem famosen Klassenkampf? Wo wagt
denn einer mit der päpstlichen Kirche des Marxismus zu
brechen und einen geläuterten Sozialismus zu restituieren? 56)
Was ist denn Marx den Vertretern des damaligen Westens
gewesen? Zunächst ein schlechter Charakter, und es ist nicht
erhört worden, dass man unter Franzosen, Engländern oder
Russen ein grosser Mann bleiben und doch ein schlechter
Charakter könne gewesen sein.
Ob Marx und sein Kreis sich in Paris, Brüssel oder
London präsentierten, immer sind es dieselben Klagen über
perfides, spiesserhaftes und verleumderisches Wesen, die sich
in den Briefen und Memoiren der damaligen Führer finden,
und man fälscht die Geschichte, wenn man die Gründe
hierfür aus Chauvinismus den andern zuschiebt, statt sie bei
sich zu hause zu suchen. Bakunin über Marx (Brüssel, De-
[149] zember 1847, an Georg Herwegh): „Die Deutschen, Hand-
werker, Bornstädt, Marx und Engels, vor allem Marx, treiben
hier ihr gewöhnliches Unheil. Eitelkeit, Gehässigkeit,
Klatscherei, theoretischer Hochmut und praktische Klein-
mütigkeit; Reflektieren auf Leben, Tun und Einfachheit,
literarische und diskurierende Handwerker und ekliges Lieb-
äugeln mit ihnen, „Feuerbach ist ein Bourgeois“, und das
Wort Bourgeois zu einem bis zum Ueberdruss wieder-
holten Stichwort geworden, alle selbst aber vom Kopf
bis zu Füssen durch und durch kleinstädtische Bourgeois ...
ich halte mich fern von ihnen und habe ganz entschieden
erklärt, ich gehe in ihren kommunistischen Handwerker-
verein nicht und will mit ihm nichts zu tun haben“ 57).
Alexander Herzen über die Marxisten in London: „ ... Die
Bande verkannter deutscher Staatsmänner, die das Genie
erster Grösse, Marx, umgaben. Sie bildeten aus seinem
misslungenen Patriotismus und seiner fürchterlichen Prätention
eine Art Hochschule der Verleumdung und Verdächtigung
aller Leute, die mit grösserem Erfolge als sie selbst auf-
getreten waren“ 58). Und Proudhon zum „Libell eines Doctor
Marx“ über seine „Philosophie des Elends“: „ein Gewebe von
Grobheiten, Verleumdungen, Fälschungen und Plagiaten“ 59).
Ich habe die Zeugnisse dreier führender Geister des
damaligen Westens nebeneinander gestellt. Sie zeigen eine
merkwürdige Uebereinstimmung und erklären zur Genüge
die Abneigung, die man Marx und seinem Kreise nach
kurzer Bekanntschaft überall entgegenbrachte. Das kam
daher: die Deutschen fühlten sich als Vertreter des „aus-
erwählten Volkes in der Philosophie“, als Verkörperer des
Weltgeistes und der Weltseele. Ihr hohes doktrinäres Selbst-
bewusstsein liess sie keinen Augenblick an ihrer inneren
Ueberlegenheit zweifeln. In den grossen runden Flaschen
ihrer Köpfe trugen sie den Spiritus der absoluten Idee. Ihre
Rechthaberei machte sie zu unerfreulichen Räsonneuren, und
wo sie von ihrer Gottähnlichkeit stillere Geister nicht zu
[150] überzeugen vermochten, dort schimpften sie „Bourgeois,
Spiesser, Utopist“.
Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem
Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche
Literatur der französischen und englischen Sozialisten des
beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus über-
haupt nicht existieren würde, — durch die despotische Eifer-
sucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland
entfernt und verfehmt. Die Diktatur Marxens und das Apostel-
tum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge
des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch,
dass Ideenkonflikte von so ausserordentlicher prinzipieller
Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in
ganz bewusster Entstellung nach Deutschland gelangten 60).
Jene Polemik sans façon aber, der sogenannte „Mistgabelstil“,
der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie
eignete, hielt der Bewegung gerade die junge bürgerliche
Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien,
Russland, Frankreich und England die begeisterten Vor-
kämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es
dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend
in seinen Bannkreis zu ziehen.
Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegel'schen
Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man
mit nach Paris? Heine spricht von den „Schriftstellern des
heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen
wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr
die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion,
und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel
sind“ 61). Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirk-
lichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf.
Italiener behaupten, der Sammelruf „Jungdeutschland“ selbst
sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische
Aufsätze „Unterweisung für die Verbrüderten des jungen
Italien“, „Manifest der Giovine Italia“ und „Vom jungen
[151] Italien“ alle 1831 und 1832 erschienen, und, bei Mazzinis
Mitarbeit an deutschen Journalen, in Deutschland nicht ge-
ringeres Aufsehen erregten als im übrigen Europa 62).
Für Jungdeutschland charakteristisch ist der Mangel
einer freiheitlichen Tradition, verbunden mit dem Mangel
an Praxis und einem klar sichtbaren Angriffspunkt. Man
litt unter der Zensur aller fünfzig Duodezfürsten und ihrer
Polizei, ohne doch die Zentralkabinette der Humboldt und
Metternich systematisch angreifen und kompromittieren zu
können 63). Revolutionen von allen Seiten her (Griechenland,
Flandern, Italien, Frankreich) und kritische Fortschritte in
der Philosophie begünstigten eine Art Sympathie-Rebellentum
von Hörensagen. Aber die Reaktion im Leibe infolge Ver-
giftung durch Fichte und Hegel, blieb es beim Lärm. Man
nannte wohl Goethe einen „gereimten“ und Hegel einen
„ungereimten Knecht“ (Börne); man brach mit der besten
klassizistischen Bildungstradition, ohne die neue preussische
jedoch ganz zu begreifen. Schlimmer war, dass weder eine
Kritik des klassizistischen, noch des Hegel'schen Systems
in grossen Formen das Volk erreichte. Die protestantisch-
rationalistische Philosophie galt für revolutionär (siehe
Heine), Feuerbach für ultrarevolutionär. Man glaubte sich
Voltaire bei weitem überlegen, schon deshalb, weil man
in der Evangelienkritik mit dialektischen Methoden den
grösseren Anschein von Tiefsinn verband und hielt das
Uebertrumpfen im Atheismus für Freiheitsgeist 64). Was man
aber für Hoffnungen daran knüpfte, das verrät wiederum
Heine: „Wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz,
zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten
Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen
Dichter so viel singen und sagen. Die alten steinernen
Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt
und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen,
und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor
und zerschlägt die gotischen Dome“ 65).
[152]
Die grossen Reaktionsmächte der Zeit wurden syste-
matisch nicht vorgestellt. Eine weltmännisch-liberalistische
Politik kam nicht auf. Selbst Heine, der Ansätze zeigt, ver-
griff sich im Ziel und im Mass. Man war Räsonneur,
Frondeur und Rebell ohne Wirklichkeit, trotzdem man als
Hegelianer gerade im Wirklichkeitssinn (und in hundert
andern Dingen) den Franzosen sich überlegen fühlte. Die
Theologen, Bruno Bauer und seine Jünger, empfanden sich
(nach Mehring) als „persönliche Inkarnationen der Kritik,
des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewusstsein im
Gegensatz zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes
spiele“ 66). Und doch übersah man den Zusammenhang
Hegels mit dem Geiste des Talmud, einen Zusammenhang,
der meines Wissens selbst Marx nicht zu Bewusstsein kam;
und übersah den Mendelsohn'schen Messianismus, der sich
in Hegels „auserwählter“ Philosophie so bewusst schon zur
Geltung brachte. Was Grillparzer von dem Junghegelianer
Hebbel sagte, als dieser in den vierziger Jahren nach Wien
kam 67): er wisse alles, er wisse sogar, wer Gott sei, — das
traf genau so auf die politischen Junghegelianer zu, die zwischen
Paris, Brüssel, Köln und London aufgeregt und unerschütter-
lich überzeugt von der Weltbedeutung der Hegel'schen
Reglementierungs- und Disziplinarparagraphen, aber ohne
jene letzte Offenheit, die wirklich bereit ist, neue Ideen
liebevoll aufzunehmen, in der Schnellpost fuhren.
Die Revolution von 1848 brachte es an den Tag. Das
kontrerevolutionäre Prinzip, dessen Schüler man war, wider-
sprach den Anforderungen, die die Wirklichkeit stellte.
Geist-Surrogat und Sprach-Surrogat erwiesen sich gleicher-
massen als unzulänglich, das Wesen der Dinge zu treffen.
Die blasphemische Stellung Hegels zur Freiheit, seine Staats-
und Rechtsphilosophie, sein Amoralismus, entmannte die
Aktion, und es ergab sich, alles in allem, jene Verwirrung,
die an eine verpfuschte Operette mehr als an eine Revo-
lution erinnert. Die politische und theologische Naivetät
[153] bildeten schlimmere Barrikaden als die auf den Strassen. Der
von Marx und Engels neu entdeckte Sozialismus sabotierte
das Zusammengehen mit der bürgerlichen Opposition und
Herweghs badischer Bauernlegion. Der zynische Nihilismus
Stirners blieb in der Weinstube sitzen. Und die Berliner
Barrikadenkämpfer waren Leute, deren Namen überwiegend
auf sky und ic endigten; Führer der Dresdener Maiaufstände
waren Russen und Polen.
Instruktiv ist ein damaliger Briefwechsel. Berlin, August
1848, Bakunin an Herwegh: „Deutschland stellt jetzt das
interessanteste und sonderbarste Schauspiel dar: nicht ein
Schattenkampf, — ein Kampf von Schatten, welche sich für
Wirklichkeiten nehmen und doch in jedem Augenblick ihre
unermessliche Schwäche fühlen und unwillkürlich zeigen. Die
offizielle Reaktion und die offizielle Revolution wetteifern in
Nichtigkeit und Dummheit, und dabei alle hohlen, philoso-
phisch-religiös-politisch-gemütlich-gewichtigen Phrasen“ 68).
Oder Köthen, 8. Dezember 1848, Bakunin an Herwegh:
„Nirgends ist der Bourgeois ein liebenswürdiger Mensch,
aber der deutsche Bourgeois ist niederträchtig mit Gemüt-
lichkeit. Selbst die Art dieser Leute, sich zu empören, ist
empörend. Dies mein letztes und wirklich ein sehr begrün-
detes Urteil: wenn die deutsche Nation bloss aus der
grossen, leider zu grossen Masse der Spiessbürger, der
Bourgeois bestünde, aus dem, was man heute das offizielle,
sichtbare Deutschland nennen könnte, — wenn es unter
dieser offiziellen deutschen Nation nicht Stadtproletarier,
besonders aber eine grosse Bauernmasse gäbe, dann würde
ich sagen müssen: es gibt keine deutsche Nation mehr,
Deutschland wird erobert und zugrunde gerichtet werden“ 69).
Bakunin stand 1848 — man weiss das in Deutschland
noch heute kaum — im Mittelpunkte der Konspiration, er
sprach aus Erfahrung. Er war der Führer der Dresdener Mai-
aufstände, befreundet mit Ruge, Varnhagen von Ense, Jacoby,
Wagner, Röckel, Heubner, und damals auch noch mit Marx.
[154]
Wenn es einen gemeinsamen Gedanken gab, der alle
Parteien gleichzeitig leitete, so war es der Gedanke der
deutschen Einheit; die republikanische Auffassung jedoch,
die Mazzini den italienischen Einheitsbestrebungen zu verleihen
wusste, war in verschwindender Minderheit. Was wirklich die
Köpfe bewegte, war — ob man es sich eingestand oder
nicht — , der napoleonisch-macchiavellistische Kaisergedanke,
dessen Glanz und Gewalt den deutschen Kleinbürger vom
ersten Jahr des Empire an beherrschte. Napoleon rief das
mittelalterliche Hohenstaufentum aus der Rumpelkammer
hervor. Predikanten wie Arndt zählten der Nation an den
Fingern die Heldentaten der Kaiser von Otto bis Konradin
vor, und es handelte sich nur darum, ob Preussen oder
Oesterreich die neue deutsche Einheit und das Kaisertum
„annehmen“ würden.
Und wiederum Bakunin über die Revolution von 1848,
— es ist das Zutreffendste, was über diese Revolution
geäussert wurde: „Wären die deutschen Demokraten
weniger doktrinär und dafür revolutionärer gewesen, als
sie es in Wirklichkeit waren; hätten sie, statt ihr Heil in
National- und Provinzparlamenten zu suchen, die Hand
jener spontanen Bauernbewegung reichen wollen; hätten
sie sich dazu mit dem städtischen Proletariat verbunden, —
so wäre bei der allgemeinen Verwirrung und der voll-
kommenen Ohnmacht, in der sich die Regierungen befanden,
im März und April der Triumph einer ernstlichen Revo-
lution in Deutschland möglich gewesen. Die deutschen
Parlamente von 1848 brachten, was alle Parlamente der
Welt in Zeiten der Revolution bringen: sehr viele Phrasen
und eine Flut wenn nicht direkt reaktionärer, so doch die
Reaktion begünstigender Akte. Die deutschen Parlamente
von 1848 haben für die Freiheit Ernstes und Bleibendes
tatsächlich nicht geleistet. Sie bereiteten im Gegenteil die
Elemente der gegenwärtigen deutschen Einheit vor. Und
so kann man sagen, dass der Pseudorevolutionarismus der
[155] deutschen Patrioten von 1848 für den Bismarckianismus
von 1871 war, was in Frankreich der General Cavaignac
für Napolen III: ein Vorläufer“ 70).
5.
Einem deutschen Handwerksburschen, Wilhelm Weitling,
gebührt die Ehre, jenes Bündnis zwischen politischem und
religiösem Radikalismus, von dem Börne spricht, nicht nur
gesucht, sondern vertreten und in weitverzweigten Brüder-
schaften, die sich über den ganzen Westen Europas er-
streckten, als neues geistiges Ideal aufgestellt zu haben.
Die Romantiker hatten die Handwerksburschenpoesie
wieder entdeckt; Weitling, der Handwerksbursche, fand
wieder: die Idee des Urchristentums. „Es sind besonders
die Handwerksburschen“, schrieb Heine in der „Romantischen
Schule“; „gar oft auf meinen Fussreisen verkehrte ich mit
diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen, angeregt von
irgend einem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volks-
lied improvisierten oder in die freie Luft hineinpfiffen. Die
Worte fallen solchem Burschen vom Himmel herab auf die
Lippen und er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind
dann noch poetischer als all die schönen poetischen Phrasen,
die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln“ 71).
Da hat man ein Bild Wilhelm Weitlings. Die Hand-
werksburschen, die Weitlings „Bund der Gerechten“ ange-
hörten, zeigten einen Idealismus, ein Feuer und einen
Opferwillen, die der bürgerlichen Gesellschaft verloren ge-
gangen schienen. „Von ihrem Bildungstrieb und Wissens-
durst“, schreibt Mehring, „kann man sich nicht leicht eine
zu hohe Vorstellung machen“. Sie besoldeten Lehrer, von
denen sie sich in den verschiedenen Wissenszweigen unter-
richten liessen; sie gaben ihre ganzen Ersparnisse her für
den Druck wichtiger Schriften 72).
Weitling wurde geboren 1808 als preussischer Untertan
[156] zu Magdeburg. Er war ein Schneider und wanderte sieben
Jahre lang kreuz und quer durch Deutschland. 1830 soll
er sich mit satirischen Versen an den sächsischen Tumulten
beteiligt haben. Dann kam er nach Paris und lebte dort
bis 1841. Seine „Garantien der Harmonie und Freiheit“
(1842) enthalten die erste theoretische Begründung des
deutschen Kommunismus und sind eines der hervorragendsten
Dokumente der sozialistischen Literatur; sein „Evangelium
der armen Sünder“ (1845) eines der schönsten und rührend-
sten Zeugnisse deutschen Geistes. Durch Wilhelm Weitling
wurden Karl Marx sowohl wie Michael Bakunin mit dem
Kommunismus bekannt, und Weitlings Name wird unver-
gessen bleiben als edler Beweis dafür, dass der Sozialismus
auch in seinen deutschen Anfängen keineswegs eine Interessen-
politik, sondern ein hohes geistiges Ideal war.
Marx war noch Redaktor der „Rheinischen Zeitung“,
als er die Sätze schrieb: „Wo hätte die Bourgeoisie, ihre
Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet, ein ähnliches
Werk wie Weitlings „Garantien der Harmonie und Freiheit“
in bezug auf die Emanzipation, die politische Emanzipation,
aufzuweisen. Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittel-
mässigkeit der deutschen Literatur mit diesem masslosen
und brillanten literarischen Debut der deutschen Arbeiter;
vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Pro-
letariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen
Schuhe der Bourgeoisie, so muss man dem deutschen
Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien“ 73). Friedrich
Engels nannte Weitling den „einzigen deutschen Sozialisten,
der wirklich etwas getan habe“, und Bakunin schrieb,
als er 1843 mit Herwegh nach Zürich kam, wo er nicht
nur die „Garantien“, sondern den eben aus Lausanne ein-
getroffenen Weitling auch persönlich kennen lernte: „Man
muss sich hüten, den Kosmopolitismus der Kommunisten
mit dem des vorigen Jahrhunderts zu verwechseln. Der
theoretische Kosmopolitismus des vorigen Jahrhunderts war
[157] kalt, indifferent, reflektiert, ohne Boden und Leidenschaft;
es war eine tote und fruchtlose Abstraktion, ein theoretisches
Machwerk, das keinen Funken von produktivem, schaffen-
dem Feuer in sich enthielt. Dem Kommunismus dagegen
kann man keinen Mangel an Leidenschaft, an Feuer
vorwerfen. Der Kommunismus ist kein Phantom, kein
Schatten; in ihm ist eine Wärme, eine Glut verborgen, die
gewaltig nach Licht strebt; eine Glut, die nicht mehr zu
unterdrücken ist, und deren Entladung gefährlich, ja schreck-
lich werden kann, wenn die bevorrechtigte Klasse ihm nicht
mit Liebe, mit Opfer und mit einer vollständigen Aner-
kennung seines weltgeschichtlichen Berufs diesen Uebergang
zum Licht erleichtert“ 74).
Das war die politische Seite. Die religiöse Wirkung
war nicht geringer. Ludwig Feuerbach, dem ein Handwerks-
bursche die „Garantien der Harmonie und Freiheit“ über-
brachte, rief aus: „Wie war ich überrascht von der Gesin-
nung und dem Geiste dieses Schneidergesellen! Wahrlich,
er ist ein Prophet seines Standes. Wie frappierten mich der
Ernst, die Haltung, der Bildungstrieb! Was ist der Tross
unserer akademischen Burschen gegen diesen!“ 75) Und
Bakunin: „Seit das Christentum nicht mehr das zusammen-
haltende und belebende Band der europäischen Staaten ist
— was verbindet sie noch? Was hält noch in ihnen die
Weihe der Eintracht und Liebe aufrecht, die durch das
Christentum über sie ausgesprochen war? Der heilige Geist
der Freiheit und der Gleichheit, der Geist der reinen
Menschlichkeit, der durch die französische Revolution unter
Blitz und Donner der Menschheit geoffenbart und durch
die stürmischen Revolutionskriege als Same eines neuen
Lebens überall verbreitet wurde. Dieser Geist ist es, aus
dem der Kommunismus entstand; dieser Geist verbindet
jetzt auf eine unsichtbare Weise alle Völker ohne Unter-
schied der Nationen; diesem Geiste, diesem erhabenen Sohne
des Christentums widerstreben jetzt die sogenannten christ-
[158] lichen Regierungen und alle monarchischen Fürsten und
Gewalthaber, weil sie wohl wissen, dass ihr selbstsüchtiges
Treiben nicht imstande sein wird, seinen flammenden Blick
zu ertragen“ 76).
Weitlings religiöser Kommunismus kam aus Frankreich
und England. In England sprach Owen von der positiven
Religion, dem persönlichen Eigentum und der unzertrenn-
baren Ehe als einer „Dreieinigkeit des Bösen“, und Owen
war es, der Weitling, als dieser auf der Flucht nach
London kam, den „Führer der deutschen Kommunisten“
nannte 77).
Ein Buch von Marie Wollstonecraft über die Frauen-
rechte (1792) und Godwins Schilderungen des sozialen
Elends in seinem Werke „Enquiry concerning Political
Justice and its Influence on Morals and Happiness“ hatten
Franz von Baader angeregt zu dem Satze: „Man muss zeigen,
dass Könige, Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre
sind“ 78). In Frankreich aber gab Buchez den religiösen
Momenten des Saint-Simonismus eine praktische Wendung,
indem er verlangte, die Gebote der christlichen Moral auf
sozialem Gebiet zu verwirklichen. Louis Cabet lehrte unter
ungeheurem Beifall: „Der ikarische Kommunismus ist das
Christentum, das Jesus Christus eingesetzt hat, in seiner
ursprünglichen Reinheit, denn das Christentum ist das Prinzip
der Bruderliebe, der Gleichheit, der Freiheit, der Assoziation
und der Gütergemeinschaft“ 79). Béranger rief aus: „Völker,
schliessen wir eine heilige Allianz!“ Lammenais, der das
Priestertum des Volkes aufstellte und in so vielen Dingen
Prophetengabe besass, warnte vor sozialistischen Systemen,
durch die „die Völker zu einer Sklaverei verurteilt würden,
wie die Welt sie noch nicht gesehen habe“; die „den
Menschen zu einer blossen Maschine, zu einem Werkzeug
herabsetzen, ihn unter den Neger, ja sogar unter das Tier
stellen würden“. Und noch Proudhons „Philosophie des
Elends“, desselben Proudhon, der in seinen Mussestunden
[159] die Apokalypse des heiligen Johannes las, zeigt deutlich genug
die christliche Hilfsbereitschaft, die ihn zu seiner Kritik des
Eigentums führte. Ist es ein Zufall, dass jene beiden Männer,
die Bakunin die Begründer des revolutionären Sozialismus
nennt 80), Cabet und Louis Blanc, zugleich revolutionäre
Christen waren?
Weitling hat nach Franz Mehring „die Schranke nieder-
geworfen, die die Utopisten des Westens von der Arbeiter-
klasse schied“. Das ist Weitlings historisches Verdienst, nicht
aber seine heutige Bedeutung.
„Nachdem die französische Revolution eines jeden In-
dividuums Menschenrechte und -pflichten proklamiert hatte“,
schreibt Bakunin 81), gelangte sie in ihrer letzten Konsequenz
zum Babouvismus. Babeuf, einer der letzten reinen und
energischen Charaktere, deren die Revolution so viele ge-
schaffen und wieder vernichtet hat, vereinigte in einzig-
artiger Weise die alten politischen Traditionen seines Landes
mit den modernsten Ideen einer sozialen Revolution. Als
er sah, dass die Revolution in ihrer ökonomischen Lage
unmöglich und einer weiteren radikalen Aenderung unfähig
geworden war82), schuf er, getreu dem Geiste dieser Revolu-
tion, die am Ende doch jede individuelle Initiative durch
die allmähliche Staatsaktion ersetzt hatte, ein politisch-soziales
System, nach welchem die Republik als Ausdruck des
Kollektivwillens der Bürger alles individuelle Vermögen
konfiszieren und es im Interesse aller verwalten sollte. Zu
gleichen Bedingungen sollten jedermann Erziehung, Unter-
richt, Existenzmittel, Vermögen zukommen, und jedermann
ohne Ausnahme sollten gezwungen sein, nach Massgabe
seiner Kräfte und Fähigkeiten ebenso Muskel- wie Nerven-
arbeit zu leisten. Die Babeuf'sche Verschwörung misslang.
Er wurde mit mehreren seiner Freunde guillotiniert. Aber
sein Ideal einer sozialistischen Republik starb nicht mit
ihm. Seine Idee wurde von seinem Freunde Buonarotti,
dem grössten Konspirator seines Jahrhunderts, in ihren
[160] Bruchstücken gesammelt und als kostbarstes Vermächtnis
der neuen Generation übergeben“.
In den von Buonarotti gegründeten Geheimgesell-
schaften der Schweiz, Belgiens und Frankreichs lebten die
kollektivistischen Ideen weiter, trafen sie mit der romantisch-
religiösen Bewegung zusammen und entwickelten den Kom-
munismus 83). Von Buonarottisten erhielt Weitling seine erste
Förderung, auf Buonarottistische Brüdergemeinden gründete
er seinen „Bund der Gerechten“. Vorbild war ihm dabei
allem Anschein nach jener „Bund der Geächteten“ in Paris,
dem Börne angehörte, und dessen Statut bereits 1834
forderte: Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands, Begrün-
dung und Erhaltung der sozialen und politischen Gleich-
heit, Freiheit, Bürgertugend und Volkseinheit 84).
Die Idee einer brüderlichen Durchdringung Europas
im Sinne des Urchristentums ist für Weitling Bedingung
auch der politischen Wiedergeburt. Hierin ist er wahrhaft
modern. Man glaube doch nicht, dass das Wissen die
Religion ausschliesst oder die ökonomische Analyse den
Christus. Sie schliessen das theokratische Dogma aus und
den Jenseitskult, nicht aber die Liebe, das Herz und den
Opfermut. Die Gerechtigkeit ist es, auf der man bestehen
muss. Ihre Voraussetzung aber ist die exakte Wissenschaft
von den natürlichen Grenzen und Rechten.
Zu Weitlings Anhängern und Brüdern zählten nicht
nur Handwerker und Arbeiter, sondern auch Bürgerliche
und Besitzer. Gerade die werbende Kraft seiner Idee ist
bezeichnend für ihn. Die Hassphilosophie, die durch Marx
und den Klassenkampf im deutschen Proletariat aufkam, lag
ihm durchaus fern 85). Weitling lehnte die Jungdeutschen ab,
nicht weil er sie für „Bourgeois“ hielt, — er hätte sie dafür
halten dürfen —, sondern weil sie „im Reiche des Ueber-
sinnlichen nach Abstraktion im Trüben fischten“. „Kommt
alle her“, schrieb er im „Evangelium der armen Sünder“,
„die ihr arbeitet, die ihr mühselig, beladen, arm, verachtet,
[161] verspottet und unterdrückt seid; wenn ihr Freiheit und
Gerechtigkeit für alle Menschen wollt, dann wird dies
Evangelium euren Mut von neuem stählen und eure Hoffnung
frische Blüten treiben. Die entmutigten schwachen Herzen
wird es stärken, und in das Herz des Zweiflers die Macht
der Ueberzeugung giessen. Auf die Stirn des Verbrechers
wird es den Kuss der Verzeihung drücken und die finstern
Mauern ihrer Kerker mit einem Schein der Hoffnung lichten.
Der Liebe und der Freiheit Glut wird es in aller Sünder
Herzen schütten. So geschehe es“ 86). Von Voltaire spricht
er wie Erneste Hello, der ihn einen Farceur nannte: „Die
Religion muss zerstört werden, um die Menschheit zu be-
freien, dies war der Grundsatz Voltaires und anderer.
Lammenais und vor ihm viele christliche Reformatoren wie
Karlstadt, Thomas Münzer und andere zeigten, dass alle
demokratischen Ideen der Ausfluss des Christentums seien“ 87).
Er verschmähte nicht die Ergebnisse der Evangelienkritik,
er meinte nur, es sei nicht seine Aufgabe, die Widersprüche
ans Licht zu ziehen, wie David Strauss es getan habe, sondern
das Wesentliche und Mögliche, worauf das Christentum
beruhe, als wahr anzunehmen und daraus das Prinzip des
Christentums zu ermitteln 88). Die deutschen Philosophen
nannte er Nebler. „Hegel ist für mich ebenso ein Nebler.
Ich darf ihn so nennen, obgleich ich nichts von ihm gelesen
habe. Warum? Weil niemand mir sagen konnte, was
er wollte, obgleich die ganze deutsche Nebelphilosophie
von ihm ein grosses Geschrei macht“. Für ihn hat in
der Weltgeschichte nicht schlechthin Vernunft regiert; ihm
ist sie nichts als eine „grosse Räubergeschichte“, worin
die ehrlichen Leute zu allen Zeiten die Geprellten waren.
„Aus der Freiheit und der Harmonie der Begierden und
Leidenschaften entsteht alles Gute und aus der Unter-
drückung und Bekämpfung derselben zum Vorteil einiger,
alles Böse“ 89). „Eine vollkommene Gesellschaft hat
keine Regierung, sondern eine Verwaltung, keine Gesetze,
11
[162] sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier
gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeits-
formeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung;
hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu
regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder
Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest
menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur
uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere
physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern“ 90). Er
will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel
treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend
sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten
Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die „letzte
Waffe der Armen gegen die Reichen“. Seine Religion ist
die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Lieder-
lichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion
und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie
die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und dass
er behauptete, der HERR habe von liebenden Frauen sich
aushalten lassen, warf ihn für 10 Monate ins Gefängnis 91).
Aber „ein neuer Messias wird kommen“, prophezeite er,
„um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den
morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zer-
trümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit
leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird
niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Ab-
grund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Ver-
achteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die
Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der
Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist“ 92).
Nein, der Weitling'sche Kommunismus war keine
Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestal-
teten; er war eine Philosophie des Elends wie die des
grossen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld,
und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in
[163]
der eine materielle und geistige Katastrophe die ganze
Nation bedroht; wo der Arbeiter aus Interesse ebenso
schuldig wurde wie jeder andere Bürger, und aus den
Betroffenen jeder Klasse ein neues Proletariat sich bildet,
ein neues Verbrechertum und ein neuer Elendsabgrund.
Was aber Weitling 1843 vom Evangelium der Kleriker
sagte, gilt heute ebenso vom Sozialismus der Marxisten:
„Wohl, ihr Herren, ihr habt es bewiesen, ihr habt ein
Evangelium der Tyrannei, der Bedrückung und der Täuschung
daraus gemacht, ich wollte eines der Freiheit, Gleichheit
und Gemeinschaft, des Wissens, der Hoffnung und der
Liebe daraus machen. Wenn jene sich irrten, so geschah
es aus persönlichem Interesse; wenn ich mich irre, so ge-
schieht es aus Liebe für die Menschheit. Meine Absicht
ist bekannt und die Stellen, aus denen ich schöpfe, ange-
merkt. Der Leser mag nun lesen, prüfen, urteilen und
glauben, was er will“ 93).
Aus dem zentralen Punkte der Bergpredigt kommen
diese Sätze. Sie handeln vom „radikalen, revolutionären
Christus“, von der christlichen Republik 94). Vor dem
Essäertum zerstäuben Nützlichkeit, Interesse, Staat, Despotie;
zerstäuben Rassenhass und patriotische Lüge, „die den
wütendsten Feinden des Fortschritts und der Freiheit aller
zum letzten Notanker ihrer Irrtümer, zum Rettungsbalken
ihrer Vorrechte dient“. Für Deutschland ist es geschrieben,
wenn Weitling sagt: „Welche Liebe kann heute wohl der
zum sogenannten Vaterlande haben, der nichts darin zu
verlieren hat, was er nicht in allen fremden Ländern wieder
zu finden imstande ist“? Und ein deutsches Versprechen
ist es, wenn Weitling seinen französischen Freunden in Aus-
sicht stellt: „Ihr werdet in der Folge sehen, dass uns die
Idee, aus der Welt ein Zuchthaus oder eine Kaserne machen
zu wollen, anekelt. Ihr werdet sehen, dass wir nicht die
persönliche Freiheit der allgemeinen Gleichheit zum Opfer
bringen wollen, da es gerade dieser natürliche Freiheitstrieb
[164] ist, der uns zu Verteidigern des Prinzips der Gleichheit
macht“ 95). Wem aber soll der „freie Rhein“ gehören?
„Das Volk, welches zuerst das reine Prinzip der Nächsten-
liebe zu verwirklichen sucht, wird ohne Schwertstreich
die Herzen aller Völker erobern. Darin liegt die Lösung
der Rheinfrage, sonst gibt es keine“.
Mehring findet, auch dieser sei ein Utopist gewesen,
und er verbindet mit dem Wort, wie alle Marxisten, etwas
absprechend Richtendes. Warum wohl? Was heisst denn
das: ein Utopist sein? Utopist sein heisst in der Marx'schen
Terminologie Ideen äussern, die nicht verwirklicht werden
können oder richtiger, deren Wirklichkeit dem Marxismus
widerspricht. „Die Freiheit kann verwirklicht werden“,
dieser Hegel'sche Satz terrorisiert auf dem Umweg über
Marx noch heute die Geister. Aber ist er deshalb auch
richtig? Der Kampf gegen die Utopie hat unermesslichen
Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der
er entsprang, trug nicht wenig zu jener „geistreichen“ Im-
potenz bei, deren Vertreter zu den Rezepten schworen, trotz-
dem der Geschichtsverlauf hundertmal sie verwarf 96). Der
Kanzleihegelianismus aber, der ja ebenfalls gegen die „Uto-
pisten“ wütete, ging nur noch einen Schritt weiter wie die
Marxisten, wenn er behauptete: die Freiheit ist bereits ver-
wirklicht, im Gesetz. Es ist eine wahre Erlösung, dass sich
endlich gerade aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen
erheben, die die verpönte „Utopie“ in ihr Recht wieder
einsetzen wollen. Nettlau und Guillaume zerstörten das
Märchen von Bakunins „Utopie“ 97); Brupbacher zerstörte
die Marx-Legende 98); und es mag eine Philosophie eintreffen,
die mit den Wirklichkeitsutopisten aufzuräumen gewillt ist.
Gewiss, die Utopie hat ihre Gefahren. In Zeiten
revolutionärer Spannung und himmelschreiender Massen-
vergewaltigung kann sie verächtlich sein; sie entzieht edle
und wertvolle Kräfte, auf die die Gesellschaft Anspruch
hat, der Aktion. Aber andererseits: ist der verwirklichte oder
[165] in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und
muss nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Resi-
duum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist
für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muss es nicht
immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn
die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll?
Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem
Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege
zeigen? Und sind die grossen Praktiker nicht ebenso unge-
recht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Ver-
sunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune
weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?
Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine
Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten
Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig,
Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht
waren alle jene französischen „Utopisten“ und Jesusschwärmer
gar keine Utopisten, sondern nur — Franzosen? Und
vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen,
gar nicht so sehr Verwirklicher grosser Ideen, als vielmehr
— Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!
6.
War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen
Kommunismus, so wurden zwei jüdische Geister, Ferdinand
Lassalle und Karl Marx, die Begründer der deutschen
Sozialdemokratie. Die Tatsache, dass Weitling heute nahezu
vergessen ist, während von jüdischer Seite die Sozial-
demokratie „nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deut-
schen Geistes“ bezeichnet wird 99), ist ermunternd genug,
einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutsch-
land unerlässliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Voraus-
schicken möchte ich, dass es mir durchaus fernliegt, dem
Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten
[166] Material zu liefern. Ich würde mich vielmehr glücklich
schätzen, der sozialen, jüdischen und deutschen Emanzipation
gleicherweise einen Dienst zu leisten.
Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie muss
in erster Linie als eine Etappe im jüdischen Emanzipations-
kampf betrachtet werden. Hermann Cohen, der jüngst
verstorbene Vorkämpfer des deutschen Judentums, hat die
Bezüge nachgewiesen, die seit Luthers Uebersetzung des
alten Testaments und Moses Mendelsohns Ritualreform den
jüdischen mit dem deutschen Geiste verbinden. Seine auf-
schlussreiche Broschüre „Deutschtum und Judentum“ stellt
zwischen der jüdischen Messiasidee und dem protestantischen
Staatsgedanken eine Allianz fest, deren Tiefe und Bedeutung
gerade Cohen nachdrücklichst betont 100). Ich bin ganz
seiner Meinung, dass diese Allianz besteht, und ich stimme
ihm zu, wenn er die Gründung der deutschen Sozialdemo-
kratie vorzüglich innerhalb dieser Allianz beurteilt wissen
will, aber ich bin nicht der Ansicht, dass die Herrschaft
dieser Art jüdisch-deutschen Geistes der Welt und Deutsch-
land selbst zum Heile gereicht, und ich möchte sagen,
weshalb ich nicht dieser Ansicht bin.
Zunächst scheint mir der deutsche Anteil an diesem
Bündnis nicht spezifisch und stark genug. Jener quasideutsche
Staatsgedanke ist ein Produkt der lutheranischen Entwick-
lung viel mehr als des deutschen Volkes und setzt die
jüdische Theologie voraus. Der autoritäre Obrigkeitsstaat,
den Cohen von der Reformation herdatiert, ist eher alt-
testamentarisch, paulinisch und römisch, als deutsch; er
steht im Gegensatz zum Sinn, wenn auch nicht durchaus
zum Wortlaut des neuen Testaments, und nur Luthers
Buchstabenglaube, der die jüdische Theologie zur deutschen,
machte und den jüdischen Messianismus zum deutschen,
gab ihm seine Sanktion. In dem Augenblick, wo der Nach-
weis erbracht werden kann, dass die „protestantische Staats-
idee“ von der jüdischen Theologie ihre Macht bezieht, fällt
[167] die importierte Autorität dieses Staatsgedankens, und seine
orientalischen Elemente, Despotie und Prostration, Isolierung
im Anspruch das auserwählte Volk zu sein, Unterordnung
unter eine göttliche Abstraktion, Ausbeutung durch egoistische
Prinzipien, werden verschwinden vor der eigentlichen, rein
menschlichen Mission sowohl des Deutschtums wie des
Judentums.
Hermann Cohen betrachtet die deutsche Sozialdemo-
kratie mit Recht als ein Hauptbollwerk dieser autoritären
Allianz. Doch sie war mehr. Man vergegenwärtige sich das
Ziel, das er dem jüdisch-deutschen Einvernehmen stellt,
nämlich einen Staatenbund zu errichten, dessen Mittelpunkt
und Vormacht Deutschland ist; einen Staatenbund, der
gleichwohl den „Frieden der Welt begründen und in ihm
die wahrhafte Begründung einer Kulturwelt stiften wird“! 101)
Indem es Karl Marx gelang, die jüdische Internationale
mit der sozialistischen zu verbinden und den deutsch-
jüdischen Messianismus an die Spitze beider Internationalen
zu stellen; indem Lassalle das Proletariat gleichzeitig an das
Preussentum fesselte — war ideell die Diktatur des Deutschju-
dentums, die jüdisch-junkerliche Weltherrschaft gesichert. Es
bedurfte nur noch des Weltkrieges zu ihrer Bestätigung 102).
Wer der Ansicht ist, dass die messianische Vorherr-
schaft irgend eines Staates den Frieden und die Wohl-
fahrt der Welt bedeutet, der wird Paulus und Luther, den
preussisch-protestantischen Staatsgedanken und Hegel, der
wird den Macchiavellismus Fichtes und Treitschkes, die
„deutsche“ Sozialdemokratie der Herren Marx und Lassalle,
der wird Walter Rathenaus Staatskommunismus und Cohens
Staatsmetaphysik befürworten müssen. Wer aber der andern
Ansicht ist, dass nicht die Ausbeutung der Welt, sondern
die Wohlfahrt, Freiheit und Selbständigkeit der Individuen
Sinn dieses Daseins ist, der wird einem prussifizierten Europa
unter jüdischer Direktive nicht allzuviel Erwartung entgegen-
bringen, sondern die Alternative stellen: Christus oder Jehova.
[168]
Eine Etappe im jüdischen Emanzipationskampf nannte
ich die Gründung der deutschen Sozialdemokratie, und dieser
Anschauung ist gerade auch Cohen. „Für den deutschen
Arbeiter, für die Mehrheit des deutschen Volkes“, schreibt
er, „ist dadurch der geschichtliche Begriff des Juden von
jener Beschimpfung erlöst, durch deren sprungweise Er-
neuerung auch das Vaterland Lessings auf verhängnisvolle
Abwege zeitweilig verlockt wurde“ 103). Während aber Cohen
das Verdienst der Marx und Lassalle in der Anerkennung
und Stärkung der deutschen Staatsidee sieht, sehe ich keinen
Anlass, über den damit für das Judentum errungenen Vor-
teilen den Preis zu vergessen, den Europa dafür zahlte:
die Auslieferung der sozialen Idee an den messianisch un-
sozialen, preussisch-deutschen Gewalt- und Erfolgsstaat;
die Ermöglichung des furchtbarsten aller Kriege, die Ver-
nichtung von 20 Millionen Menschenleben und den Ruin
Deutschlands. Denn, das sollte eigentlich keines Hinweises
bedürfen, der Sozialismus verhält sich zur deutschen Sozial-
demokratie, wie die Freiheit sich verhält zu ihrer Falle und
zu jener „Freiheit im Gesetz“, die Hegel und mit ihm die
gesamte protestantische Philosophie postulierten.
Bakunin hat in seiner Schrift „Aux citoyens rédacteurs
du Réveil“ (1869) die Frage aufgeworfen, wie weit jüdischen
Naturen überhaupt der freie Sozialismus entsprechen konnte 104).
„Ihre Geschichte hat ihnen lange vor der christlichen Aera
schon eine wesentlich merkantile und bürgerliche Richtung
gegeben, und daher kommt es, dass sie als Nation betrachtet
vorzugsweise von der Arbeit der andern leben und eine
natürliche Abneigung und Furcht vor Volksmassen haben,
die sie im übrigen demonstrativ oder heimlich verachten.
Die Gewohnheit, auszubeuten, entwickelte zwar hervorragend
ihre Intelligenz, gab ihr aber zugleich eine bedauerliche
Richtung zum Exklusiven, die sowohl den Interessen wie
den Instinkten des Proletariats widerspricht. Ich weiss wohl,
dass ich mich, indem ich so freimütig meine intimsten Ge-
[169] danken über die Juden ausspreche, grossen Gefahren aus-
setze. Viele teilen diesen Gedanken, aber nur wenige wagen,
ihn offen auszusprechen. Die jüdische Sekte stellt heute in
Europa eine viel furchtbarere Macht dar als die katholischen
und protestantischen Jesuiten. Sie regiert despotisch im Handel
wie in der Finanz. Sie hält drei Viertel des deutschen
Journalismus und einen sehr beträchtlichen Teil des Jour-
nalismus der andern Länder besetzt. Wehe also demjenigen,
der das Ungeschick hat, ihr zu missfallen“ 105).
Von Antisemiten werden diese Sätze immer zu Unrecht
aufgetischt werden. Sie gehen weit übers Ziel und finden
ihre Erklärung nur in dem unerbittlichen Vernichtungskrieg,
den die sozialistischen Deutschjuden von 1870, alle die
Hess, Borkheim, Marx in zeitweiliger Allianz mit Liebknecht
und sogar mit Bebel gegen Bakunin und die föderalistische
Internationale führten. Aber es muss doch zugestanden
werden, dass die exploitatorische und merkantile Tradition
den jüdischen Geist tiefer besessen hält als ihm selbst zu
Bewusstsein kommt, und nicht zu unterschätzen ist die
generelle Methodik der jüdischen Rasse, in der nicht die
Leistung des Einzelnen entscheidet, sondern das Resultat,
zu dem seine konspiratorische Arbeit oft erst nach Gene-
rationen führt. Der Einzelne opfert sich für die jüdische
Idee. Der Einzelne kann Revolutionär sein, er kann seine
Rasse scheinbar verraten. Die Entwicklung aber wird be-
weisen, dass er doch nur ihr allein verantwortlich war. Karl
Marx kann man als Juden nicht beurteilen, ohne erlebt zu
haben, wie ein späterer Jude, Walter Rathenau, die von
Marx und Lassalle organisierten und politisierten Massen mit
staatskommunistischen Vorschlägen der Regierung und der
Expropriation direkt auszuliefern versucht 106).
Die Hingabe sowohl Marxens wie Lassalles zu Beginn
ihrer Laufbahn ist nicht zu bezweifeln. Zwar lässt sich kein
grösserer Gegensatz denken als das Ideal der Weitlingianer,
an deren Spitze sie traten, und die positive Methode ihrer
[170] dialektischen und autoritären Begabung. Aber die politische
Entrechtung eines Breslauer Juden der 40er Jahre wie
Lassalle, und die rechnerische, im Talmud geschärfte
Intelligenz eines aus Rabbinergeschlecht stammenden
Geistes wie Marx versprachen der proletarischen Bewe-
gung grundsätzlich die grösste Förderung. Gerade jüdi-
scher Revolutionäre bedurfte ein antisemitischer Staat wie
das Preussen der Junker und eine wirtschaftliche Situation
wie die Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,
wenn der Freiheitsidee neue Heroen erstehen sollten. Nie-
mand fühlte sich je so entrechtet wie Lassalle, niemand
sich für die Kritik des Kapitals so geschaffen wie Marx.
Gerade dem jüdischen Rebellen war ein Aktionsfeld geboten,
wenn er seine persönliche Emanzipation und die seiner
Rasse identifizierte mit der entrechteten Schicht seiner Zeit,
dem Proletariat. Der hart aufsässige Enthusiasmus Lassalles
und das tief in die Wirtschaftsprobleme einschneidende
Temperament Marxens schienen berufen, sich zu ergänzen,
um als Ziel mit ebenso grossem politischem Wagemut wie
ökonomischem Wissen die politische und soziale Emanzi-
pation des Deutschtums sowohl wie des Judentums zu
erwirken.
Wie kam es, dass die Emanzipation gleichwohl aus-
blieb und an ihre Stelle eine Partei trat, die zwar die letzten
und modernsten Prinzipien einer sozialen Revolution zu
vertreten schien, aber verhältnismässig rasch in den Bürger-,
Beamten- und Militärstaat einging? Marx sowohl wie
Lassalle hüteten sich, den Staat anzugreifen; lehnten es
ab, sich ausserhalb der offiziellen Machtaspirationen zu
stellen; Marx insbesondere verfolgte, als er die Gefahren
seines Systems durchschaut sah, erbittert alle in dieser Hinsicht
vorgebrachten Bedenken 107). Die deutschen Rebellen waren
sehr unduldsam gegen den Bonapartismus wie gegen den
Zarismus, den Bismarckianismus aber förderten sie instinktiv.
Theoretisch predigten sie die Revolution, praktisch aber
[171] liebäugelten sie mit dem zentralistischen Reichssystem und
wollten nicht abseits stehen, als der Erfolg und Milliarden-
segen hereinbrach 108).
Ein Wort Bakunins bezeichnete treffend ihre historische
Situation: „Wie der Doctor Faust, verfolgten diese her-
vorragenden Patrioten zwei Ziele, zwei Tendenzen, die
einander widersprachen: sie wollten zugleich eine mächtige
nationale Einheit und zugleich die Freiheit. Indem sie zwei
unversöhnliche Dinge vereinbaren wollten, lähmten sie das
eine mit dem andern, bis sie schliesslich, durch die Erfah-
rung belehrt, sich entschlossen, die Freiheit zu opfern, um
die politische Macht zu erobern. Und so kommt es, dass sie
gegenwärtig (1871) damit beschäftigt sind, auf den Ruinen —
nicht ihrer Freiheit, denn sie waren nie frei, — sondern
ihrer liberalen Träume, ihr grosses prusso-germanisches
Kaiserreich zu errichten“ 109).
VIERTES KAPITEL.
1.
Lassalle wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren,
wo nach Eduard Bernstein bis zum Jahre 1848 die Juden
nicht einmal formell emanzipiert waren. Das Bewusstsein,
von jüdischer Herkunft zu sein, war ihm, ebenfalls nach
Bernstein, „eingestandenermassen noch in vorgeschrittenen
Jahren peinlich“ 1). Nach seinem erst um 1890 veröffent-
lichten Tagebuch ist es die Qual seiner jüdischen Abstam-
mung, die ihn leitet und die den Schlüssel gibt für sein
Leben. Schon als Fünfzehnjähriger schreibt er: „Ich könnte
wie jener Jude in Bulwers ‚Leila‘ mein Leben wagen, die
Juden aus ihrer jetzigen drückenden Lage zu reissen. Ich
würde selbst das Schaffot nicht scheuen, könnte ich sie
wieder zu einem geachteten Volke machen“ 2). Sein Lieb-
lingstraum ist, „an der Spitze der Juden, mit den Waffen
in der Hand, sie selbständig zu machen.“ Der Stachel der
Torturen, von denen er spricht, drängt ihn, sich um jeden
Preis Anerkennung und Geltung zu verschaffen. Alle seine
hochfliegenden Pläne gelten der jüdischen Emanzipation.
Er führt den sogenannten „Kasettenprozess“ der Gräfin
Hatzfeld, führt ihn mit allen Mitteln, Spionage, Bestechung,
Klatsch und Schmutz, nur um als jüdischer Ritter einer
adligen Dame den Beweis zu liefern, dass das Talent
entscheidet, nicht der Geburtsadel eines preussischen
Junkers, gegen den der Prozess sich richtet. Seine Pas-
sion, durch aussergewöhnliche Unternehmungen zu ver-
blüffen, entspringt einem Heisshunger nach Glanz, Macht
und Ruhm.
Einen jüdischen Alzibiades erlebt Deutschland. 1845
[173] tragen ihm Leipziger Weitlingianer ihre Führung an.
37 jährig stellt er sich an die Spitze einer Bewegung, mit
deren freiwilligem Verzicht auf Genuss, Macht und Ruhm,
ja mit deren kommunistischer Intention, von Weitlings
christlicher Idee ganz zu schweigen, er nicht das Geringste
gemeinsam hatte; denn typisch wie sein Ziel, diese Bewe-
gung „zu einem Heerbann für seine hochfliegenden Pläne
zu gestalten“ 3), ist der Vorwurf, den Marx ihm später machen
konnte, er habe das „Kommunistische Manifest“ gefälscht
oder nicht verstanden.
Er lässt sich von seiner Freundin Hatzfeld phantasti-
sche Unterredungen mit Bismarck vermitteln und schlägt
ihm, kurze Zeit vor Ausbruch des Krieges von 1866, der
als Bruderkrieg keineswegs Aussicht auf Volkstümlichkeit
hatte, die Oktroyierung des allgemeinen Wahlrechts und
Produktivgenossenschaften mit Staatsmitteln vor, zwei Vor-
schläge, die einem groben Vertrauensbruch der ihm blindlings
ergebenen Arbeiterschaft gegenüber gleichkamen 4). Seine
masslose Eitelkeit gefällt sich in der Rolle eines Vertrauten
Bismarcks, dem er von allen seinen Veröffentlichungen durch
das Sekretariat des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“
ein Doppelexemplar in verschlossenem Kuvert mit der Auf-
schrift „persönlich“ senden lässt 5); und der Ehrgeiz, Bräuti-
gam eines adligen Fräuleins zu werden, zeigt diesen selt-
samen jüdischen Revolutionär bereit, zum Katholizismus
überzutreten, bei Ministern zu antichambrieren und junker-
liche Duelle auszufechten 6). Er verwechselt in naivster
Weise den äusseren mit dem inneren Adel. Er kennt keine
Rücksichten und Hemmungen, wenn seine „Ehre“ (bei
Junkern!) und seine Karriere (unter Deutschen!) auf dem
Spiele steht, und gleichwohl schwuren auf dem „Gothaer
Einigungskongress“ zwischen Marxisten und Lassalleanern
(1875) zwei Drittel der jungen sozialdemokratischen Partei auf
seinen Namen. Zu spät verrieten seine Tagebücher das Ge-
heimnis seiner Pläne, in denen das Proletariat nur die Rolle
[174] eines von ihm benutzten Instrumentes spielte, die Rolle
einer Waffe, mit der er die persönliche Kraftprobe zu
liefern gedachte.
Man kennt die schmeichelhaften Worte, die Lassalle
für die deutschen Arbeiter fand: „Sie sind der Fels, auf
welchen die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll!“
Oder messianisch: „Der deutsche Volksgeist ist die meta-
physische Volksidee und seine Bedeutung besteht darin,
dass die Deutschen die hohe weltgeschichtliche Bedeutung
haben, aus dem reinen Geiste heraus (!) demselben nicht
bloss eine reale Wirklichkeit, sondern sogar die blosse
Stätte seines Daseins, sein Territorium zu schaffen!“ 7)
Um so erstaunlicher, wie viel Nachsicht Eduard Bernstein
noch 1892 für die delikate Natur der Lassalle'schen Verhand-
lungen mit Bismarck besitzt. Bismarck schrieb zwar 1878
„Was hätte Lassalle mir bieten und geben können! Er hatte
nichts hinter sich! In allen politischen Verhandlungen ist
das do ut des eine Sache, die im Hintergrunde steht, wenn
man auch anstandshalber einstweilen nicht davon spricht“,
und er hatte darin Recht! Aber ist es, nachdem das ‚all-
gemeine Wahlrecht‘ und die ‚Sozialgesetzgebung‘ der pro-
letarischen Opposition die Spitze abbrachen, angebracht,
mit fast Lassalle'schem Stolz hierauf zu antworten: „Etwas
konnte Lassalle ihm immerhin geben. Die Sache war nur
die, dass es nicht genug war, um Bismarck zu bestimmen“ 8)?
Ist es die Rasse, die auch bei Bernstein spricht und zu
schützen versucht? Mit welch beschämender Nachsicht
versucht sie es!
Bismarck charakterisierte Lassalle sehr richtig: „Er war
einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen,
mit denen ich verkehrt habe, ein Mann, der ehrgeizig im
grossen Stile war, durchaus nicht Republikaner; er hatte
eine ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung.
Seine Idee, der er zustrebte, war das deutsche Kaisertum,
und darin hatten wir einen Berührungspunkt. Ob das deutsche
[175] Kaisertum gerade mit der Dynastie Hohenzollern oder mit
der Dynastie Lassalle abschliessen sollte, das war ihm viel-
leicht zweifelhaft, aber monarchisch war seine Gesinnung
durch und durch“ 9). Hierzu bemerkt Mehring, bei diesen
Unterredungen sei Bismarck der arme Teufel gewesen und
sein Versuch, mit dem Sozialismus Kirschen zu essen
(doch wohl Lassalles Versuch, mit Bismarck Kirschen zu
essen), habe denn auch damit geendet, dass Bismarck die
Steine bekam 10). Das ist jedoch eitel Grosssprecherei, wie
überhaupt die Sozialdemokratie unterm Einfluss des
„Idealismus“ zur Renommage neigt 11). Lassalles Schwäche
lässt sich nicht bemänteln. Er selbst gesteht: „Ich weiss
nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-repu-
blikanische Gesinnungen habe wie Einer, so fühle
ich doch, dass ich an der Stelle des Grafen Lavagna (in
Schillers Fiesko) ebenso gehandelt und mich nicht damit
begnügt hätte, Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach
dem Diadem meine Hand ausgestreckt hätte. Daraus ergibt
sich, wenn ich die Sache bei Lichte besehe, dass ich bloss
Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren, ich
würde mit Leib und Leben Aristokrat sein“ 12). Und am
Ende seiner Karriere: „Ach wie wenig Sie au fait in mir
sind! Ich wünsche nichts sehnlicher, als die ganze Politik
loszuwerden. Ich bin der Politik müde und satt. Zwar ich
würde so leidenschaftlich wie je für dieselbe entflammen,
wenn ernste Ereignisse da wären oder wenn ich die Macht
hätte oder ein Mittel sähe, sie zu erobern — ein solches
Mittel, das sich für mich schickt (!); denn ohne höchste
Macht lässt sich nichts machen“ 13).
Diese Gesinnung ist keineswegs als vorübergehende
Depression oder als Scherz aufzufassen. Sie drückt die Ent-
täuschung Lassalles über das Misslingen seiner allerpersön-
lichsten Machtpläne aus. Sie begleitete Lassalles Leben,
und lebte in seiner Partei auch fort nach Lassalles Tode,
als seine Testamentsvollstreckerin, eben jene Gräfin Hatzfeld,
[176] auf die zweideutigste Weise versuchte, die Partei der Regierung
in die Hände zu spielen 14).
Man darf sich heute nicht über Scheidemann und den
Parteivorstand wundern, wenn Heroen des deutschen Sozia-
lismus die Korruption selbst züchteten. Heines Wort, dass
die preussische Regierung sogar von ihren Revolutionären
Vorteil zu ziehen weiss, auf Lassalle traf es zu. Lassalle
wusste und schrieb an Marx: „Die preussische Justiz scheinst
du in einem noch viel zu rosigen Lichte betrachtet zu
haben. Da habe ich noch ganz andere Erfahrungen an
diesen Burschen gemacht. Wenn ich an diesen zehnjährigen
täglichen Justizmord denke, den ich erlebt habe, so zittert
es mir wie Blutwellen vor den Augen, und es ist mir, als
ob mich ein Wutstrom ersticken wollte!“ 15) Gleichwohl
konnte er sich nicht entschliessen, resolut mit diesem
System zu brechen und sich ins Volk zu werfen, sondern
verlangte 1863, als die Annexion Schleswig-Holsteins in
Frage stand, Preussen solle mit einem „revolutionären“
Entschlusse das Londoner Protokoll zerreissen und die
Fetzen den europäischen Grossmächten ins Gesicht werfen 16).
Und vor denselben Richtern, die den „täglichen Justizmord“
doch praktizierten, sagte er gelegentlich: „Wie breite Unter-
schiede Sie und mich auch trennen, das uralte Vestafeuer
der Zivilisation, den Staat, verteidige ich mit Ihnen gegen
jene modernen Barbaren“ 17).
Als 1866 dann der Krieg mit Oesterreich bevor-
stand, erklärte Bebel als Opponent in einer Versammlung
von Fortschrittlern und Nationalvereinlern, die ihre
Bedenken vorbrachten: man solle doch nicht so furcht-
sam sein; aus dem Krieg könne etwas ganz anderes
hervorgehen, als die Kriegführenden dächten. Was
sollte wohl daraus hervorgehen? Die Revolution oder ein
kaiserliches Grossdeutschland? Der „Sozialdemokrat“, das
Organ des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ bot
Preussen ein Bündnis an zur Herstellung eines „freien und
[177] einigen Deutschland“, I. B. von Schweitzer, jener Nachfolger
Lassalles, den seine deutschen Genossen im Auslande selbst
als Spion Bismarcks verschrien, betonte nach Mehring
„namentlich, dass er und die Arbeiter seiner Richtung dem
Auslande gegenüber auf preussischer Seite ständen“ 18). Von
den beiden damaligen Fraktionen warfen die ‚Lassalleaner‘
den ‚Eisenachern‘ vor, es sei ihnen mit dem proletarischen
Klassenkampf nicht ernst, sie seien „Halbsozialisten“; die
Eisenacher aber rächten sich, indem sie in ihrem „Volks-
staat“ schrieben: „Wäre Lassalle nicht von selbst gekommen,
so hätte Bismarck ihn erfinden müssen“ 19).
Lassalle versuchte als Jude ein Arrangement zu treffen
mit der protestantisch-liberalistischen Tradition seines Vater-
landes. Das verlieh seinen Argumenten eine gewisse Basis
und Kraft, seinem Enthusiasmus Schwung. Einen Ausgleich
seiner Aspiration und Begabung scheint er empfunden zu
haben im Attachement an Ulrich von Hutten und Franz
von Sickingen, jene beiden ritterlichen Oppositionelle des
16. Jahrhunderts, die Luther ein Bündnis anboten wider
den Papst und für ein einiges Deutschland; und eine sym-
pathetische Vorliebe für Fichte und Hegel, die spekulativen
Macchiavellisten. In einem Versdrama „Franz von Sickin-
gen“ (1859) zeigt dieser buntscheckige „Sozialist“ sich als all
das, was er nicht hätte sein dürfen, wenn er als Rebell für die Frei-
heit auftrat; zeigt er sich als Vernunftapologet, Schwert-
apostel und Monarchist.
„Ehrwürdiger Herr! Schlecht kennt ihr die Geschichte,
Ihr habt ganz Recht, es ist Vernunft ihr Inhalt“,
lässt er sich hegelianisch vernehmen. Oder: nachdem er
Oekolampadius (ist das ein Pseudonym für Weitling?) von
der Entweihung der Liebeslehre durch das Schwert hat
sprechen lassen, bringt er einen „Panegyrikus auf das
Schwert“, an dem Bismarck und die Pangermanisten
aller Zeiten ihre helle Freude haben konnten, und der
schliesst:
12
[178]„So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet
Das Herrliche, das die Geschichte sah,
Und alles Grosse, was sich jemals wird vollbringen,
Dem Schwert zuletzt verdankt es sein Gelingen“20).
Eine hübsche Prophezeiung von 1871 und eine Pro-
phezeiung noch des Herrlichen, dessen liquidierende Zeugen
wir heute geworden sind. Dass Bismarck aber in seiner Tage-
buchnotiz den Nagel auf den Kopf traf, wenn er diesen Mann
keinen Republikaner, sondern einen Monarchisten nannte,
bestätigen die Worte Sickingens zu Hutten:
„Was wir wollen — — — — — —
Das ist ein ein'ges, grosses, mächt'ges Deutschland,
— — — — — — — — — —
Und machtvoll auf der Zeit gewalt'gem Drang
Gestützt, in ihrer Seele Tiefen wurzelnd
Ein — evangelisch Haupt als Kaiser an der Spitze
Des grossen Reichs“ 21).
Monarchisten mögen in Frankreich Gründe anführen,
die diskutabel sind. Das französische Königtum hat der
Welt Jeanne d'Arc und die französische Literatur geschenkt.
In Deutschland dürfte es etwas mehr Anstrengung kosten,
der Monarchie Geschmack abzugewinnen. Stellt sich aber
an die Spitze eines Weitlingianerklubs ein streberischer
Aventurier, ohne die Prinzipien seiner ersten Anhänger auch
nur zu diskutieren, so sollten sozialistische Geschichts-
schreiber endlich auch in Deutschland die Jugend aufmerk-
sam machen, dass leider ein Pseudorebell einer der frühesten
Führer war.
2.
Hatte Lassalle eine deutsche Tradition für sich, so ist
es typisch für Marx, dass er mit ihr brach und im franzö-
sischen und englischen Ausland neue Prinzipien suchte.
Der jüdische Emanzipationskampf findet in Marx einen
[179] Vertreter von ungleich tieferer, grundsätzlicher Bedeutung.
Fast hat es den Anschein, als sei das Judentum in der Figur
Marxens aufgehoben. Das ist jedoch nur eine Täuschung.
Marx begann als Student der Rechtswissenschaften und
der Philosophie. 1842 trug er sich noch mit der Absicht,
sich als Dozent für Philosophie zu habilitieren. Als seinem
Freunde und Studiengenossen, dem Theologen Bruno Bauer
die venia legendi entzogen wird, geht Marx 24jährig als
Redaktor der „Rheinischen Zeitung“ in den Journalismus
über. Damit beginnt seine Laufbahn als Gelehrter und
Revolutionär, als Jude und Preusse, als Pamphletist und
Organisator.
Das jüdische Problem tritt bei Marx nicht nur tiefer
und energischer, sondern auch differenzierter und in grösse-
rem Umriss zutage als bei Lassalle. Es darf nicht nach
seinen einzelnen Aeusserungen und Werken beurteilt wer-
den, es ergibt sich nur aus dem Zusammenhang seiner
Persönlichkeit mit der geistigen und politischen Situation
seiner Zeit, ja seines Jahrhunderts. Die Sympathien und
Antipathien Marxens entscheiden dabei oft mehr als sein
persönliches Geständnis, und man würde das Werk dieses
Mannes, der einer der verantwortlichsten Führer der Nation
wurde, sehr unterschätzen, wenn man seine Prätention mehr
im Auge behielte, als den politischen Umkreis, in den er
sich stellte.
Mit ungestümem Temperament tritt Marx zur Zeit
Jungdeutschlands auf. Erst völlig im Banne der Hegel-
schen Doktrinen, deren talmudistische Dialektik, deren theo-
logischen Autoritätsglauben und abstrakte Subordinations-
methode er nie bezweifelte, ist er bemüht, unter Bauers
und Feuerbachs Einfluss mit Hegel'schem Werkzeug eine
realistische Antithese gegen die Hegel'sche Philosophie auf-
zustellen: eine Welt schonungsloser Verneinung sowohl auf
politischem, wie auf ökonomischem und religiösem Gebiet;
eine Welt der Materialität gegen die theologisch-idealistische
[180] Theodizee; eine Welt der Revolte gegen den verhätschelten
Staat; des Wissens gegen den Glauben, des Proletariats
gegen die Bourgeoisie. Sein doktrinärer Widerspruch, sein
gewollt antithetisches System zwangen ihn zu Gewaltsam-
keiten und Gegensätzen, die heute nicht mehr aufrecht zu
erhalten sind. Gegensätze wie Materialität und Idealismus,
Wissen und Glauben, Proletariat und Bourgeoisie gibt es
kaum mehr in solch schneidender Schärfe wie Marxens
Methode sie vortrug. Auch schätzen wir nicht mehr Kritik
für Kritik und die Negation um ihrer selbst willen. Aber
das Nein auf das Ja, der Widerspruch, der als Rebellentum
galt, war immerhin neu und von Wert einer Zeit gegen-
über, die mit stets schmunzelndem Wohlgefallen sogar noch
den Abgrund bewundern konnte.
Die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ zeigen den
Jüngstdeutschen Marx als ebenso scharfsichtigen wie selbst-
bewussten Kämpfer. In politischer Hinsicht zeigte er sich
radikal in einem Masse, dass eine Steigerung kaum mehr
denkbar war. Neben den heftigsten Ausfällen gegen die
Monarchie findet sich eine fast zynische Verachtung aller
derer, die sich beherrschen lassen. Der „Philisterstaat“
Friedrich Wilhelms IV. ist es, dem unter offenbarer Nach-
wirkung romantischen Geniekultes sein ganzer Hass und
Abscheu gilt. „Die Philisterwelt ist die politische Tierwelt,
und wenn wir ihre Existenz anerkennen müssen, so bleibt
uns nichts übrig, als dem status quo einfacher Weise Recht
zu geben“. „Dem Philister gehört die Welt, um so genauer
müssen wir diesen Herrn der Welt studieren. Es hindert
uns also nichts, unsere Kritik an die Kritik der Politik, an
die Parteinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe
anzuknüpfen“ 22).
Louis Blanc hatte Recht, wenn er sagte, das sei ein
löblicher Vorsatz. Aber hat Marx ihn befolgt? Hat er
den „Herrn der Welt“, den Philister, studiert? Er analysierte
die Anfänge Friedrich Wilhelms als den Versuch eines ge-
[181] scheiten Monarchen, den Philisterstaat auf seiner eigenen
Basis aufzuheben, einen Versuch, der scheiterte und zum
alten Diener- und Sklavenstaat zurückführte. Aber er glaubte
dann, das Philistertum bestehe nur im Besitz, und die Säku-
larisation der Privilegien durch das Proletariat beseitige
auch das Philistertum, und diese rein ökonomische Auf-
fassung des „Bourgeois“, die die Ideologie unterschätzte,
die übersah, dass nur der Verzicht auf den Besitz die mo-
ralische Macht hat, das Philistertum aufzuheben, wurde sein
Evangelium. So trieb er die Analyse der Bourgeoisiemacht,
des Kapitals, bis zur Auflösung, und rührte doch im geringsten
nicht an jenen „Schlaf der Welt“, vor dem Hebbels Kan-
daules Jahrzehnte später noch warnte; nicht im geringsten
an die eigentlichen, ideologischen Ursachen des deutsch-
österreichischen Philisterstaates, dessen tausendjährige Dorn-
röschentradition sich keineswegs dem Besitz, sondern den
spezifisch deutschen Lastern der geistigen Trägheit und
Trunkenheit, und dem moralischen Quietismus mittelalter-
licher Dogmen verdankte, unter denen das heilige römische
Reich deutscher Nation seit Olims Zeiten verwahrlost und
brach lag. Wie konnte man ernsthaft von einer politischen
oder sozialen Revolution sprechen, ehe das religiöse Phi-
listerium zu Bewusstsein gebracht war? Ehe das Märchen
vom toten, gekreuzigten Gotte beseitigt war, und die gött-
liche Aktivität wieder aufstand? Erst Schopenhauer und
Nietzsche haben bei uns die Kritik des Moral-Philisteriums
zu schreiben versucht. Ein Programm aber wie das da-
malige Marxens: „Selbstverständigung der Zeit über ihre
Kämpfe und Wünsche“ musste notwendig an der Oberfläche
bleiben, solange es unter „Kämpfen“ nur die wirtschaft-
lichen Klassenkämpfe und unter „Wünschen“ nur die Auf-
teilung der Genüsse verstand. Es bedurfte ganz anderer
als kritischer Mächte, die gesamte Welt aus dem Schlafe
zu rütteln, ehe heute an ihre Aenderung geschritten werden
kann, und dies ist der Grund, weshalb nur ein Lärmen
[182] blieb, was da so aufgeregt vor Bismarcks Zeiten nach Re-
volution schrie.
Das Eine sah Marx, dass Deutschland hinter den anderen
Staaten unendlich weit zurückblieb. Er fand, Deutschland
sei längst noch nicht dort angelangt, wo Frankreich schon
vor 1789 stand; sah, dass Deutschland zwar keine moderne
Revolution mitgemacht, dafür aber die Restaurationen aller
anderen Völker geteilt habe. „Ich gebe zu, sogar die Scham
ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil,
diese Elenden sind noch Patrioten“. „Die Deutschtümelei
ist sogar in die Materie gefahren; während das Problem
in Frankreich und England lautet: Politische Oekonomie
oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es
in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des
Privateigentums über die Nationalität“ 23). Einzig die Philo-
sophie, und zwar die Hegel'sche findet Anerkennung. Sie
ist ihm „die einzige, mit der offiziellen modernen Gegen-
wart al pari stehende deutsche Geschichte“ 24). Das war
die Hegel'sche Philosophie zwar nicht, wenigstens wurde
sie in Paris nicht al pari anerkannt, und Paris entscheidet
nun einmal über den letzten Wert von Philosophien. Aber
sie bot immerhin die Möglichkeit eines antithetischen Systems
der Un-Vernunft, das, in Hegel'schen Massen aufgestellt, al
pari mit der historischen Entwicklung Europas hätte stehen
können25), und wenn weder Marx, noch Bauer, noch Feuer-
bach ein solches System lieferten, so blieb ihnen als dok-
trinären Atheisten, Materialisten und Anthropomorphisten das
Verdienst, zwar die englische und französische Aufklärung
von Grund aus zu verstehen, nicht aber den neuen christ-
lichen Geist, den in England und Frankreich das Elend
des Proletariats wachrief. Marx irrte sich genau wie Heine,
wenn er, von Hegel und Feuerbach erfüllt, die protestan-
tische Philosophie als Ausgangspunkt einer Revolution über-
schätzte. Nicht nur, dass die politische Situation in Deutsch-
land, zerrissen und zerspalten wie sie war, in keiner Weise
[183] die französische und englische Parallele ertragen konnte.
Philosophien und Systeme haben selbst heute noch im
deutschen Volk gar keine Wurzel. Anzunehmen also wie
Marx, die Theorie der Philosophie werde die Massen er-
greifen und dadurch Macht gewinnen 26), hiess leere Ver-
sprechungen machen oder sich täuschen.
Aufschlussreicher als die Stellung zur Nation und zur
Philosophie ist die Stellung des jungen Marx zur Religion.
Sie führt ihn in einer Polemik mit Bauer zum jüdischen
Problem und zwingt ihn, seine innersten Ueberzeugungen
zu formulieren. Ein Aufsatz „Zur Judenfrage“ in den
„Deutsch-französischen Jahrbüchern“ ist für die Beurteilung
Marxens von der grössten Wichtigkeit. Bauer hatte in seiner
„Kritik der evangelischen Geschichte“ (1841) hervorgehoben,
dass der Weltherr in Rom, der alle Rechte repräsentiere,
der Leben und Tod auf seinen Lippen trage, an dem Herrn
der evangelischen Geschichte, der mit einem Hauch seines
Mundes den Widerstand der Natur bezwinge oder seine
Feinde niederschlage; der sich schon auf Erden als den
Weltherrn und Weltrichter ankündige, einen feindlichen
Bruder zwar, aber einen Bruder habe 27). Bauers Kritik
streifte bereits bedenklich den alttestamentarischen Obrig-
keitsgott Jehova, den rächenden, strafenden Judengott.
Ludwig Feuerbach vollends analysierte im „Wesen des
Christentums“ (1841) die jüdische Religion als die Religion
des selbstischen Interesses. „Die Juden haben sich in ihrer
religiösen Eigentümlichkeit bis heute erhalten. Ihr Prinzip,
ihr Gott ist das praktischste Prinzip der Welt —, der
Egoismus, und zwar der Egoismus in der Form der Reli-
gion. Der Egoismus ist der Gott, der seinen Diener nicht
zu schanden werden lässt. Der Egoismus ist wesentlich
monotheistisch, denn er hat nur eines, nur sich zum Zwecke.
Der Egoismus sammelt, konzentriert den Menschen auf
sich, aber er macht ihn theoretisch borniert, weil gleich-
gültig gegen alles, was nicht unmittelbar auf das Wohl des
[184] Selbst sich bezieht“ 28). Und wiederum meinte Bauer, so
lange die Juden Juden blieben, könnten sie nicht emanzipiert
werden; das aber sei für die Juden, die sich von jeher
dem geschichtlichen Fortschritt widersetzt und in ihrem
Hasse aller Völker sich das abenteuerlichste und beschränk-
teste Volksleben geleistet hätten, deren Religion tierische
Schlauheit und List sei, ausserordentlich schwer, wenn nicht
unmöglich 29).
Durch solche Kritik und Betrachtung war die jüdische
Religion und Absonderung tief kompromittiert, und so findet
sich in Marxens Polemik mit Bauer jener verzweifelte
Sprung aus der Tradition seiner Väter, den Marx mit dem
Satze unternimmt: die Kritik der Religion sei die Voraus-
setzung aller Kritik. Ohne die humanistisch sich neigende
Haltung Feuerbachs einzunehmen, der die jüdischen Ele-
mente des offiziellen Christentums abzulösen gedachte mit
erlöster Liebe des Menschen zum Menschen, also mit dem
neuen Testament, warf Marx die Religion als Kategorie
beiseite wie ein verbrauchtes Gewand, ohne in Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit, die er ja ebenfalls später für
Phrasen erklärte, einen Ersatz zu finden. Die Religion ist
ihm jetzt „die phantastische Verwirklichung des Menschen“,
„das Opium des Volkes“, denn in der Religion „kommt
das menschliche Elend zum Ausdruck, und durch sie wird
gleichzeitig das Bewusstsein eingeschläfert“; die Aufhebung
der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die
Forderung seines wirklichen Glücks“ 30). Aber nicht genug
damit. Marx wendet sich gegen die ebenfalls kompromit-
tierte ökonomische und egoistische Voraussetzung dieser
Religion, den „weltlichen Grund des Judentums, den
Schacher“ und dessen „weltlichen Gott, das Geld“ 31). Er
zeigt im Judentum ein „allgemeines, gegenwärtiges, anti-
soziales Element“, das um so gefährlicher geworden sei,
als auch das Christentum sich wieder in das Judentum auf-
gelöst habe und der praktische Christ wieder Jude geworden
[185] sei. Er trifft auf die „chimärische Nationalität des Juden“'
die Nationalität des Geldmenschen und Kaufmanns, und
gelangt am Ende dieser Selbstzerfleischung zu dem Schlusse:
„Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Eman-
zipation der Gesellschaft vom Judentum“. Er wurde damit
zum Apostaten, aber es wäre nur zu wünschen, dass diese
letzte Offenheit den Angehörigen jeder Rasse zu eigen wäre.
Für diese Untersuchung ist es wichtig, festzustellen,
dass also Marxens Kritik des Kapitals seiner eigenen Auf-
fassung nach ursprünglich eine Kritik des Judentums dar-
stellen soll, und es ist wichtig, zu betonen, dass sein Auf-
satz „Zur Judenfrage“ von 1844 nicht nur das religiöse,
sondern auch das ökonomische Problem im Hinblick auf
die politische Emanzipation der Juden behandelt. Seine
Irreligiosität und sein Auftreten gegen das Kapital sind
Opfer des Juden, der, da er seine eigene Religion und die
Finanzwut seiner Rasse zu opfern gezwungen ist, jegliche
Religion und jegliches Eigentum geopfert wissen will 32).
Einen Unterschied zwischen altem und neuem Testa-
ment erkennt Marx nicht an. Ein gegen den Staat gerich-
tetes oder wenigstens ausserhalb des Staates konstituiertes
Christentum im Sinne Weitlings und Tolstoi liegt ihm ganz
fern. Die Trennung von Kirche und Staat, ohne beide ein-
ander entgegenzusetzen, genügt ihm. Und so versucht er, uns
glauben zu machen, dass „dort, wo der Staat ein politischer
Staat ohne Staatsreligion ist“, die Judenfrage „gänzlich ihren
theologischen Charakter verliert und zu einer weltlichen
Frage wird“ 33).
Die Frage: wie sollen die Juden weiterhin „emanzipiert“,
wie soll das Vorurteil gebrochen werden, das gegen sie
besteht, führt ihn begeistert zum Kommunismus, dem er eine
streng materielle, Religion und Moral zerstörende Wendung
gibt. Er ist geschickt genug, sich nicht nur gegen die pri-
vilegierte Religion, den „christlichen Staat“ (und zwar leider
mehr gegen die Christlichkeit als gegen den Staat) zu
[186] wenden, sondern auch gegen das privilegierte Kapital. Er
hofft, als ob solcher Optimismus nicht sträflich wäre,
innerhalb Preussens und der gemeinsamen Staatsidee die
Elemente eines neuen Staates vorbereiten zu können, in
dem die Wissenschaft die Theologie ablöst und der Gelehrte
den Rabbi 34).
So wie die Reformation theoretisch begonnen wurde,
soll auch die Revolution der Zukunft theoretisch begonnen
werden. Vom Proletariat, und zwar von dem durch die
Fabrik schon halb militarisierten Fabrikproletariat, soll diese
Revolution ausgehen. Das Proletariat wird das Kapital und
die Produktionsmittel säkularisieren; das atheistische Pro-
letariat wird mit der Religion die Judenfrage wegräumen
und zugleich die Geldwirtschaft. Die Vergewaltigung ist
nicht die Fabrik, die Maschine, die Entpersönlichung durch
Akkordarbeit, sondern nur die Usurpation dieser Abstrakta
durch ein noch abstrakteres Abstraktum, das privilegierte
Kapital, das Geld.
Marx entfaltet eine fieberhafte wissenschaftliche Tätig-
keit. Proudhons Kritik des Eigentums wird eine „Art Offen-
barung“ für ihn. Babeuf und Owen, Saint-Simon und
Fourier lösen Hegel ab. Noch schreibt er in Briefen: „Ich
bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflan-
zen, im Gegenteil. Wir müssen den Dogmatikern nachzu-
helfen suchen, dass sie ihre Sätze sich klar machen“ 35),
und doch schreibt er auch schon, dass die religiösen und
politischen Fragen in die „selbstbewusste menschliche Form“
gebracht werden sollen. Noch findet er, „der Kommunismus,
wie ihn Cabet, Dezamy und Weitling etc. lehren, ist eine
dogmatische Abstraktion“ 36), und doch wird er später
unduldsamer als der Papst gegen Andersgläubige. Während
das Proletariat in Deutschland „erst durch die herein-
brechende industrielle Bewegung zu werden beginnt“,
gelangt er bereits zur Auffassung, dass die politische
Oekonomie, und sie allein, die Analyse der bürgerlichen
[187] Gesellschaft ermöglicht und sieht er in der grobmateriellen
Produktion die Geburtsstätte für alle Geschichte 37).
Seltsam genug: dieser Revolutionär ohne revoltierbare
Nation hat ein Interesse an der industriellen Zentralisierung,
weil sie ein deutsches Proletariat schaffen wird, und auf diesen
Zustand arbeitet er hin, weil er ein zentralisiertes Proletariat
braucht für die Emanzipation, die er träumt. So wird er
nach Brupbachers treffendem Wort der „ökonomische Psy-
choanalytiker“ und „technische Verstand“ der Arbeiter-
bewegung, und obgleich ihm die französischen und eng-
lischen Klassenkämpfe viel mehr Voraussetzungen liefern
als die deutschen, empfindet er besonders seinen franzö-
sischen Lehrern gegenüber doch nur wenig Dankbarkeit,
ja sogar eine gewisse Feindschaft 38). Das rein intellektuelle
Interesse steht im Vordergrund, nicht die Liebe. Der Ehr-
geiz, Autorität und Führer zu sein, diktieren ihm, nicht das
Herz und der Glaube an Menschenrechte 39). Wohlgefallen
am eigenen Geist ersetzt ihm die Religion, und für den
Stachel des Apostatentums rächt er sich durch eine hämisch-
sarkastische, mitunter wohl auch perfide Polemik, wenn er
im Allerheiligsten, seiner Eitelkeit, sich verletzt fühlt 40).
Weitlingianer und Buonarottisten sind es, an deren
Spitze er, aus Paris vertrieben, 1845 in Brüssel tritt. So
paradox die Berufung Lassalles durch Anhänger Weitlings
war, so paradox ist es, dass die konspiratorische Führung
des kommunistischen Handwerkervereins in Brüssel gerade
an Marx übergeht. „Weisst du“, plaudert er 1848 in Berlin,
„ich stehe jetzt an der Spitze einer so wohldisziplinierten
sozialistischen Geheimgesellschaft, dass, wenn ich einem
ihrer Mitglieder sagen würde: töte Bakunin, er dich töten
würde“ 41). Weitlings Urchristentum mit der unendlichen
Bedeutung des Individuums und der Freiheit, abgelöst von
einem abstrakt subordinierenden und herrschsüchtigen jüdi-
schen Gelehrten hier, von einem ehrgeizigen jüdischen
Flagellanten dort! Beide aber als Staatsdoktrinäre und
[188] Wissenschaftsabsolutisten Hegel'scher Provenienz in tiefem
innerem Widerspruch mit dem Brüderbewusstsein, wie es
in den Weitling'schen Zirkeln der vierziger Jahre im Auf-
leben begriffen war ! 42).
Das Wissen, wo es als höchstes Prinzip auftritt, tötet
notwendig den Enthusiasmus, den Geist und jenen aus irratio-
nalen Quellen fliessenden menschlichen Instinkt, der für die
Konflikte die einfachste Lösung findet. Das Wissen multi-
pliziert die Probleme, die Begeisterung löst und vereinfacht
sie. Das Wissen lähmt und verwirrt, die Begeisterung stärkt
und befreit. Das Wissen wird unter Marxens Führung zum
Tabernakel des Weltgeistes, dessen erhabener Besitzer Karl
Marx der Stifter wird einer Doktrin, an der so wenig ge-
rüttelt werden darf, wie am allein seligmachenden Glauben
der katholischen Kirche.
Hiess es bei Weitling noch: „Wir armen Sünder
glauben auch alle an Gott, obwohl wir nicht viel davon
sprechen und selten zu ihm beten; was aber wissen wir
von Gott? Nichts“ 43), so ist jetzt die Losung: „Selbstver-
ständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ 44).
Hiess es bei Weitling noch: „Christus ist ein Prophet der
Freiheit, seine Lehre ist die der Freiheit und Liebe. Dieser
Christus muss uns armen Sündern Freund und Bruder
sein, kein übernatürliches, undenkbares Wesen, sondern wie
wir, denselben Schwächen unterworfen“ 45), so wurde nun
aus dem in 20 Sprachen auf der Londoner Mitgliedskarte
des kommunistischen Arbeitervereins stehenden Motto „Alle
Menschen sind Brüder“, die Parole „Proletarier aller Länder,
vereinigt euch!“ 46)
Nach der gelenkigen Abfertigung unbequemer Rivalen
blieb die Arbeiterbewegung denn auch „vom christlichen
Sozialismus“ wie Mehring verkündet, „nicht lange mehr
behelligt“. Als Marx und Engels auf dem Londoner Bundes-
kongress 1847 ihr „Manifest der kommunistischen Partei“
vorlegten, wussten sie (ebenfalls nach Mehring), „dass in
[189] harten Klassenkämpfen nichts ausgerichtet wird mit jener
dünnen und unfruchtbaren Stimmung, die der Philister sein
menschliches Mitleid und seine sittliche Entrüstung nennt“ 47);
„keine Spur von Sentimentalität war in ihnen“. Aber dann
ist es auch eine Philisterphrase, von ihnen zu sagen: „sie
liebten das helle Lachen der Kinderwelt; am Christus der
Bibel gefiel ihnen nichts so sehr als seine Kinderfreund-
schaft“ 48).
Für Marx war die Ware gleich Arbeitskraft und die
Arbeitskraft gleich Ware. Die revolutionäre Klasse war ihm
„von allen Produktionsinstrumenten die grösste Produktiv-
kraft“ 49); er addierte sogar den Lebensunterhalt seiner Herden-
tiere wie ein abgefeimter Kapitalist zum Herstellungspreis
der Ware. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verdarben
ihm als Imponderabilien notwendig die Rechnung, und man
kann sogar sagen, dass Marx als erster Deutscher dem Be-
griff „Menschenmaterial“ zu theoretischem Ausdruck verhalf.
War der Materialismus solcher Betrachtungsweise
„revolutionär“, protestierend? Marx lieferte nicht nur der
Arbeiterbewegung, er lieferte auch dem kritisierten Kapital
die handfesten Begriffe. Und es ist doch merkwürdig genug,
dass sich 1867, als das „Kapital“ erschien, nach Freiligraths
Zeugnis „am Rheine viele junge Kaufleute und Fabrik-
besitzer für das Buch begeisterten“ 50). Arbeitern ohne
Gymnasialbildung musste es bei seinem undurchdringlichen
Stil notwendig verschlossen bleiben.
3.
Hat Marx die Religion seiner Väter wirklich verraten?
Ist sein spiritueller Materialismus, die desillusionierende
Betrachtungsweise, die er Kritik nennt, im konventionellen
Sinne nicht jüdisch geblieben? Und spiegelt sich darin
nicht viel mehr die Anschauung des Fabrikherrn wieder
als die des Arbeiters? Gewiss, er verlangte im „Kommu-
[190] nistischen Manifest“ die Expropriation der „Bourgeoisie“
und den Uebergang der Produktionsinstrumente an das
Proletariat. Das waren, solange die Gegensätze so schnei-
dend zutage traten wie in der ersten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, unmissverständlich Prinzipien einer sozialen Re-
volution. Aber er schrieb auch von „Arbeitszwang“ und
„Armeen von Arbeitern“ 51), und wenn man diese Dinge
umdreht, heissen sie „Zwangsarbeit“ und „Arbeiterarmee“.
Wohin musste seine Umsturzpartei gelangen, wenn er das
Staatsmonopol bestehen liess? Wenn er, 1847, den Feuda-
lismus von der Bourgeoisie für „zu Boden geschlagen“
halten konnte 52), während dieser Feudalismus wenige Jahr-
zehnte später eine Militärmacht aufstellte, die, auf den Namen
Bismarcks getauft, den Kontinent erzittern liess; und 1871
sogar riet, auf dem Boden des gerade von ihm doch so
grimmig befehdeten Bourgeoisstaates den parlamentarischen
Kampf aufzunehmen? 53)
Marx zerlegte den Mechanismus der Fabrik, des Kon-
tors und des Marktes. Er war ein glänzender Wirtschafts-
analysator. Seine Zweiklassenteilung Proletarier—Bürger ver-
gass jedoch in der Rechnung den beide sehr bald
beherrschenden Junker, und von dem Moment an, wo in
Deutschland der souveräne Junkerstaat mittels Wahlrecht
und einer umfassenden Sozialgesetzgebung den Proletarier
zum Bürger und Beamten arrivieren liess, um ihn für die
Armee zu gewinnen, hatten der Fabrikarbeiter sowohl wie
Marxens System zunächst aufgehört, die Freiheitsprinzipien
zu verkörpern 54).
Marxens Internationale war von allem Anfang an nicht
die der Freiheit, der Religion oder Moral, sondern die der
Wirtschaftsinteressen und des Arbeitsmarktes, eine Staats-
doktrin κατ᾽ ἐξοχὲν. Jene nach seinen eigenen Worten
„chimärische Nationalität des Juden“, die Internationale des
Geldmenschen und Kaufmanns ist es, die ihn beschäftigt.
Dass er die Bedarfs- und Gebrauchsgegenstände über die
[191] religiösen und ideellen stellte, die Materie über den Geist,
— diese Ueberschätzung des Schachers, die mit dem An-
spruch einer Philosophie auftritt, trotzdem sie im Reich der
Idee nichts zu suchen hat, diese Umwertung aller Werte,
ist sein Werk. Seine Internationale ist weder die Weit-
ling'sche des Christentums, noch die Bakunin'sche einer
auf die Arbeitssolidarität gegründeten Freiheit und Huma-
nität, sondern eine Internationale des Angebots und der
Käuflichkeit, der moralischen Destruktion 55). Sie zielt auf
die Abschaffung der Qualität und der Ritterlichkeit ab, auf
die Verflachung der nationalen und persönlichen Individuen.
Ihre zynische Ueberzeugung ist: der Profit regiert die Welt.
Der Profit ist — die Weltseele.
Nach Marx sind die Probleme überall gleich, weil mit
dem Aufschwung der Industrie der Häuptling von Owambu
und der Telegraphenbeamte in Stockholm gleicherweise
Röllchen tragen; nach Marx bestimmt in Amerika, England
und Russland gleicherweise „das Kapital“ die letzten Ziele
der Nation, weil der Weizen dort wie hier riecht, auch
ebenso schmeckt und nur im Preis differiert 56). Marx ist
weit davon entfernt, aus der universalen Materialität, die er
erkannt zu haben glaubt, den Schluss zu ziehen, dass dieser
Zustand aufgehoben werden muss, und zwar durch seinen
Gegensatz, die universale Idealität. Er erkennt ihn vielmehr
an, er wird sein Prophet. Indem er bemüht ist, ihn überall
nachzuweisen und ihn sogar als Prinzip der Geschichte
aufzustellen, depraviert er als einer der tödlichsten Volks-
feinde die letzte Kraftquelle der Moralität, die Armut, das pro-
letarische Volk.
Die für Marx charakteristische Geringschätzung der
kulturellen und sittlichen Unterschiede zwischen den Völ-
kern stellt sich nicht zufällig gerade im System eines
Deutschjuden dar. Hervor ging die marxistische Internatio-
nale aus der Desperation eines deutschen Patrioten, der
sein Volk weder wirtschaftlich noch moralisch auf der
[192] Höhe des übrigen Europa sah und bei einer General-
gleichmacherei alles zu gewinnen, nichts aber zu verlieren
hatte 57). Das Desinteressement aber am nationalen moralischen
Wettstreit, der Anationalismus des Juden, ist doppelt schlimm
für uns Deutsche, die wir der nationalen und menschlichen
Emanzipation nie allzuviel Kräfte gewidmet haben 58).
Die grosse christliche Bewegung, die auf das Auftreten
Napoleons folgte, verkannte Marx völlig. Er zerlegte haar-
scharf die materielle Situation des Fabrikarbeiters, aber er
verweigerte ihm ein seelisches Residuum und die Kraft,
sich gegen die Entwertung seiner Persönlichkeit im autori-
tären Staat zu behaupten. Zum Vorteil des Staates und
Unternehmertums zerstörte er mit vollem Bewusstsein den
Freiheitsgedanken. Indem er nur Quantum und Masse be-
dachte, führte er denselben nihilistischen, auflösenden Geist
in das Proletariat ein, der die Finanz beherrschte, revoltierte
er zwar die Wissenschaften, nicht aber die Personen. Seine
unduldsame Haltung gegen allen Individualismus, der in
der Arbeiterbewegung sich geltend machte, musste not-
wendig den Enthusiasmus verwirren und furchtbar werden,
wenn der Einzelne erst begann, seine menschliche Mission
über der Interessenpolitik zu vergessen.
Es hat an Warnungen vor dieser „Philosophie“ diktatur-
lüsterner Notdurft nicht gefehlt. Um so mehr, da sie nicht
nur auf den moralischen, sondern auch auf den politischen
Idealismus verzichtete. Im Frühjahr 1868, zur selben Zeit,
da Marxens „Kapital“ erschien und die „Internationale“ ihre
ersten Kongresse abhielt, schrieb Michael Bakunin in einem
Briefe an Chassins „Démocratie européenne“ in Paris:
„Ich bedaure gleich Ihnen die Verblendung jener hoffen
wir an Zahl nicht allzu beträchtlichen Arbeiterpartei in
Europa, die sich einbildet, dass sie ihren materiellen Inter-
essen desto besser dient, je mehr sie sich in den politischen
Fragen ihres Landes jeder Intervention enthält, und die
glaubt, sie werde ökonomische Gleichheit und Gerechtig-
[193] keit auf einem anderen Wege als auf dem der Freiheit er-
langen können. Die Gleichheit ohne die Freiheit ist eine
heillose Fiktion, geschaffen von Betrügern, um Dummköpfe
zu täuschen. Die Gleichheit ohne die Freiheit bedeutet den
Staatsdespotismus. Unser aller grosser Lehrer Proudhon
sagte in seinem schönen Buche von der „Gerechtigkeit in
der Revolution und in der Kirche“, die unglückseligste
Kombination, die kommen könne, sei die, dass der Sozia-
lismus sich mit dem Absolutismus verbände; die Bestrebun-
gen des Volkes nach ökonomischer Emanzipation und ma-
teriellem Wohlstand mit der Diktatur und der Konzentration
aller politischen und sozialen Gewalten im Staat. Mag uns
die Zukunft schützen vor der Gunst des Despotismus; aber
bewahre sie uns vor den unseligen Konsequenzen und Ver-
dummungen des doktrinären oder Staatssozialismus. Seien
wir Sozialisten, aber werden wir nie Herdenvölker ....
Suchen wir die Gerechtigkeit, jede politische, ökonomische
und soziale Gerechtigkeit auf keinem andern Wege als auf
dem der Freiheit. Es kann nichts Lebendiges und Mensch-
liches gedeihen ausserhalb der Freiheit, und ein Sozialismus,
der sie aus seiner Mitte verstiesse oder sie nicht als ein-
ziges schöpferisches Prinzip und als Basis annähme, würde
uns geradenwegs in die Sklaverei und die Bestialität
führen“ 59).
Wie stand Marx zur politischen Freiheit? Wie stand
die Sache der Juden im „christlich-germanischen“ Staat?
Hören wir Mehring, einen der berufensten Kenner: „Der
christlich-germanische Staat misshandelte, unterdrückte, ver-
folgte die Juden, während er sie zugleich duldete, begün-
stigte, ja liebkoste. Im 18. Jahrhundert hatte der alte Fritz
(Friedrich II.) die Juden vollständig rechtlos gemacht, ihnen
aber zugleich einen weitreichenden Schutz gewährt, haupt-
sächlich deshalb, um ‚Handel, Commerce, Manufakturen,
Fabriquen‘ zu fördern. Der philosophische König gab den
Geldjuden, die ihm bei seinen Münzfälschungen und sonsti-
13
[194] gen zweifelhaften Finanzoperationen halfen, die Freiheit von
christlichen Bankiers“. „In den vierziger Jahren des vorigen
(19.) Jahrhunderts verfolgte Friedrich Wilhelm IV. die Juden
mit allen möglichen Scherereien, aber das jüdische Kapital
wurde deshalb nicht weniger durch die ökonomische Ent-
wicklung gefördert. Es begann sich die herrschenden Klassen
zu unterwerfen und schwang seine Geissel über die be-
herrschten Massen, über das Proletariat als Industrie-, und
weit mehr noch über die grosse Masse der kleinbäuerlichen
und kleinbürgerlichen Klassen als Wucherkapital.“ 60).
Gegen die jüdische Idee, als die „Religion des
selbstischen Interesses“, war Feuerbach aufgetreten. Gegen
das unter königlichem Schutze stehende „jüdische Kapital“
versprach Marx in seinem Aufsatze „Zur Judenfrage“ die
Feder zu führen. Aber das war eine prekäre Sache. Man
musste den königlichen Schutz und das Kapital zugleich
angreifen, wenn man gegen das letztere etwas ausrichten
wollte. Gegen den „Philisterstaat“ Front machen, hiess nur
das Problem divergieren, und vom „christlich“-germanischen
Staat sprechen, hiess ebenfalls nur den Blick von der viel
wesentlicheren jüdisch-germanischen Staatsidee ablenken, die
immer bewusster die Grundlage des Preussentums bildete.
Marx, der missglückte Professor, entschloss sich, den privi-
legierten Besitz anzugreifen, es beim königlichen Schutze
aber bewenden zu lassen.
Für seine Ansicht über das Verhältnis vom Gelde zum
Souverän ist eine Stelle in seiner Kritik der Proudhon'schen
„Philosophie des Elends“ bezeichnend. Nach Proudhon
waren Gold und Silber zu Geld geworden durch die sou-
veräne Weihe, die ihnen das Siegel des Monarchen auf-
drückte. Proudhons System war anarchisch. Die Abschaffung
des Geldes bedeutete für ihn zugleich die Abschaffung der
Monarchie und des Staates. Marx dagegen betonte: „Man
muss jeder historischen Kenntnis bar sein, um nicht zu
wissen, dass die Souveräne sich zu allen Zeiten den wirt-
[195] schaftlichen Verhältnissen fügen mussten, aber ihnen nie-
mals das Gesetz diktiert haben. Sowohl die politische wie
die bürgerliche Gesetzgebung proklamieren, protokollieren
nur das Wollen der ökonomischen Vorsehung. (!) Das Recht
ist nur die offizielle Anerkennung der Tatsache“ 61).
In diesen Sätzen findet sich nicht nur der Marx'sche
Superlativismus, der die Resultate gerade der französischen
Wirtschaftskritik übertreibt, es findet sich bereits auch die
völlige Verkennung der preussischen Dynastie, die sich gerade
seit Friedrich II. entschlossen hatte, selber die Vorsehung
zu spielen und ihre lieben Geldjuden dazu heranzuziehen.
Und es findet sich darin die später bei Marx und den
Marxisten immer wiederkehrende Geneigtheit, die Monarchie
trotz ihrer ungeheuren theologischen und militärischen Stützen
als eine passagere, vom Kapital abhängige Erscheinung dar-
zustellen, während man zu bemerken unterlässt, erstens dass
der Monarch in gewissen Staaten der grösste Grundbesitzer
und Kapitalist ist, zweitens dass infolgedessen die Finanz
das grösste Interesse an der Aufrechterhaltung der Dynastie
besitzt, wofür drittens die Dynastie mit allen ihr zu Gebote
stehenden Machtmitteln und Repräsentationstiteln die kapi-
talistische Ausbeutung fördert. Die einseitige Bekämpfung
des Industriekapitals durch einen gegen die agrarische Junker-
dynastie nachsichtigen Juden konnte von Bismarck sogar
als eine besondere Demuts- und Ergebenheitsgeste aufgefasst
werden, und wenn Marx auch die Mitarbeit am amtlichen
Staatsanzeiger ablehnte, — der Antrag wurde ihm gestellt 62)
— so ist doch durch eine Publikation des preussischen
Pressechefs Otto Hammann bekannt geworden, dass die
preussisch-deutsche Regierung bereits unter Caprivi die
marxistische Opposition gegen die Industriekonzerne ganz
bewusst gewähren liess, ja dass gerade einer der Gründe
für Bismarcks Entlassung sein kurzsichtiger Terror gegen-
über der Sozialdemokratie war. 63)
Marxens Kampf geht um die jüdische Aktionsfreiheit
[196] in der proletarischen Gesellschaft; nach Beseitigung der
beiden stärksten Hindernisse, der „bürgerlichen“ Ideologie
(alias Moral) und der staatlich geschützten Religion (alias
Christentum). Wozu aber den Staat selbst bekämpfen, der
in Deutschland wie nirgends sonst eine Zwangsmacht dar-
stellt? Wozu auch nur die Monarchie angreifen, die vor-
erst den Juden schützt, später aber von selbst verschwindet?
Ist sie doch nur eine zufällige Verwaltungsform! Trägt sie
doch dazu bei, die Masse gefügig zu machen, sie zum
willigen Instrument abzurichten, dem jede Autorität, auch
die eines Gelehrten, gebieten kann, wenn er versteht, mit
dem Anschein profundester Rebellion die Geste des Men-
schenfreundes zu verbinden!
Marx bekämpfte das Kapital, aber innerhalb einer ge-
schonten Monarchie, deren Willkürregiment ihn trotz eines
Korrespondenten wie Lassalle nicht weiter beunruhigt. 64)
Ja, er sympathisiert mit den offiziellen Erfolgen des Junker-
staates. Beförderten sie doch den Zentralismus, den Marx
für seine Verelendungstheorie braucht, trugen sie doch dazu
bei, das Schwergewicht der Arbeiterbewegung allmählich
nach Deutschland zu verlegen. Und darin konspirierte er
mit Lassalle, der ja ebenfalls vom preussischen Geiste sich
allerhand Nutzen für die Organisation der „revolutionären“
Arbeitermassen versprach. Als aber die Revolution nicht hielt,
was sie erst versprochen hatte — erlebte man nicht, dass
Hermann Cohen 1915 in seiner zitierten Schrift gerade die
Staatstreue der Marx und Lassalle der antisemitischen Auto-
kratie in Rechnung stellte?
Es ist interessant genug, die historische Entwicklung
des politischen Marxismus zu verfolgen. Im „kommunisti-
schen Manifest“ von 1847 kämpft „die kommunistische
Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt“, noch
„gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Mo-
narchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei“ 65).
1848 aber, als es Ernst wird mit der deutschen Revolution,
[197] wenden sich Marx und Engels nicht nach Berlin, sondern
bleiben, literarisch beschäftigt, in dem weniger gefährlichen
Köln, dekretieren gegen die „Revolutionsspielerei“ Herweghs
in Baden und spinnen Intrigen gegen den „Panslavismus“
desselben Bakunin, der als erster Europäer in Prag die
Auflösung Preussens, Oesterreichs und der Türkei verlangt 66).
Jener Passus im „Kommunistischen Manifest“ scheint
eine Konzession Marxens an energische demokratische Strö-
mungen innerhalb der Emigrantenbewegung gewesen zu
sein. Denn 1843, bei der Lektüre von Weitlings „Garan-
tien“ nimmt er bereits jene Scheidung vor, die Bakunin in
seinem oben zitierten Briefe an Chassin als Ausflucht vor
der politischen Intervention bekämpft: „dass Deutschland
einen ebenso klassischen Beruf zur sozialen Revolution habe,
wie es zur politischen unfähig sei“; und 1847 in der Pole-
mik mit Proudhon leugnete er die selbständige Macht der
Souveräne, die doch gerade damals in Preussen infolge
einer zielbewussten Hauspolitik und eines Bündnisses mit den
schlimmsten romantischen Mächten der Reaktion schrullen-
hafter und selbstbewusster dekretierte als irgendwo sonst 67).
Unter dem nachhaltigen Eindruck der Ereignisse von
1849 rückt Marx noch entschiedener von der „politischen
Intervention“ ab. Warum wohl? Sanktioniert denn die
Aussichtslosigkeit einer Sache den Verzicht auf die notwen-
dige Stellungnahme? Wenn es auch richtig ist, dass, um
mit Marx zu reden, eine politische Revolution ohne die
soziale „die Pfeiler des Hauses stehen lässt“, so ist es doch
ebenso richtig, dass eine soziale Revolution ohne die poli-
tische — wenigstens solange sich die Dinge in der Theorie
aufhalten —, die Rechnung ohne den Wirt macht. Beide aber
sind wertlos, ja unmöglich ohne die moralische Revolution,
und von der wollte Marx freilich nichts hören.
„Das Resultat der Bewegungen von 1848/49“, schreibt
Brupbacher, „war, dass Marx nach dieser Zeit im schroffen
Gegensatz zu Bakunin durchaus nicht mehr an die Mög-
[198] lichkeit einer nahen Revolution glaubte“ 68). Um so mehr
musste es darauf ankommen, die Freiheitsprinzipien sorg-
fältig zu prüfen und sie vor allen ihnen im Wege stehenden
oder sie gefährdenden Elementen zu hüten. Je stärker der
preussische Staat wurde, desto reinlicher und energischer
galt es, von ihm abzurücken; galt es, nicht nur seine ökono-
mischen, sondern auch seine politisch-moralischen Grundlagen
zur Diskussion zu stellen, das heisst: die seit 1848 deutlich
zutage tretende Einheits- und Zentralisationsbewegung auf
ihre Gefahren hin zu analysieren.
Marx hat diese Aufgabe nicht anerkannt. Er verfolgte
erbittert alle in dieser Hinsicht innerhalb der Internationale
seit 1868 vorgebrachten Ideen. Mit allen ihm zu Gebote
stehenden erlaubten und unerlaubten Mitteln wandte er sich
gegen die föderalistisch-anarchische Richtung, wie gegen
das christliche Hilfsideal. „Wie von den Demokraten das
Wort Volk zu einem heiligen Wesen gemacht wird, so
von uns das Wort Proletariat!“ Marx wollte sich damit
gegen die „Phrase der Revolution“ gewandt haben, gegen
die bürgerlichen Begriffe von Freiheit, Gleichheit und Brü-
derlichkeit, in die das Proletariat nach dem Willen der
„Bourgeoissozialisten“ ‚gehoben‘ werden sollte. Er war
also wohl mit den Anarchisten der Meinung, dass das Pro-
letariat aus sich selbst heraus neue, vereinfachte, menschlichere
Formen der Gesellschaft zu produzieren habe, und einen
andern Sinn durfte die Konservierung des Proletariates auch
nicht haben, wenn klassenbewusstes Proletariat nicht gleich-
bedeutend mit klassenbewusster Unfreiheit, klassenbewusstem
Bildungsmangel und klassenbewusstem Elend sein sollte.
Man kann zwar philosophisch den Primitivismus einer
unausgeprägten, entrechteten Menschenschicht gegen eine
entartete, entwurzelte, unterdrückende und ausbeutende
Gesellschaft ausspielen — ist das aber nicht schon eine
Frivolität? Ist nicht die grosse Aufgabe des Sozialismus
Vertiefung der Menschlichkeit? Die Diktatur des Proletariats
[199] aufstellen, hiess auf die Emanzipation verzichten, zu Gewalt-
methoden greifen und die Grundlagen der Gesellschaft
zerstören. Wir haben die Lehre des Bolschewikentums. Die
Eroberung der politischen Macht vorschlagen (Eroberung
also eines verbrauchten politischen Systems), hiess auf
die eigentümlichsten moralischen Kräfte der Masse ver-
zichten, ja sie der Korruption ausliefern, und dieser pseudo-
rebellische Widerspruch in Marxens politischem Programm,
das gleichwohl mit aller Arroganz der Unfehlbarkeit auf-
trat, war es, was die grossen Vorzüge seiner ökonomischen
Kritik aufwog und ihn ganz wie Lassalle in eifersüchtigerem
Wettstreit mit den Vertretern der offiziellen Politik, als mit
den grossen Emanzipatoren der Menschheit erscheinen
liess 69).
Gegen den „Bonapartismus“ zur Rechten, gegen den
„Zarismus“ zur Linken hatte Marx die Donnerkeile des
Jupiter. Für den in der Maienblüte seiner Abscheulichkeit
stehenden Bismarckianismus aber nur eitel Nachsicht und
Naivität. Engels an Marx, 11. September 1868: „Da Du
Beziehungen zu Vermorel hast, könntest Du nicht dafür
sorgen, dass er nicht solche Dummheiten über Deutsch-
land schreibt? Er versteift sich darauf, zu verlangen, dass
Napoleon III. sich liberalisiert, bürgerlich liberalisiert, und
dann Deutschland den Krieg erklärt, um es von der Ty-
rannei Bismarcks zu befreien! Diese Kröten etc. etc.“ 70).
Und Marx an Engels, 20. Juli 1870, als dann, von Bis-
marck provoziert, der Krieg ausbrach: „Die Franzosen
brauchen Prügel. Siegen die Preussen, so wird die Zen-
tralisation der Staatsgewalt nützlich der Zentralisation der
deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Uebergewicht wird
ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiter-
bewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen (!),
und man hat bloss die Bewegung von 1866 bis jetzt in
den beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, dass die
deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der
[200] französischen überlegen ist. Ihr Uebergewicht auf dem
Welttheater (!) wäre zugleich das Uebergewicht unserer
Theorie über die Proudhons“ 71). Eine seltsame Logik und
Argumentation: preussische Siege bringen das „Ueberge-
wicht“ über die Theorie Proudhons! Unterscheidet sich
diese Ansicht von der Lassalles, dass durch das Schwert
zuletzt alles Herrliche vollendet wird?
Brupbacher leitet Marxens geringe Wertung des Frei-
heitsbegriffes aus der „Besitznahme von Marx durch Hegel“
ab. „Marx wird durch Hegel zum Propheten der Idee der
historischen Notwendigkeit für die Vergangenheit, aber auch
für die Zukunft. Er wird Mitwisser der Gesetze des Welt-
geistes und erhält das harte rücksichtslose Selbstbewusstsein
der Wissenden gegenüber den Unwissenden. Er wird wie
Engels die Schweizer, die für ihre Freiheit kämpfen, Re-
aktionäre schelten, weil die Weltgeschichte Zentralisation
verlangt und sie für Föderalismus und Freiheit eintreten.
Er hat nicht das Bewusstsein, ein Autoritär zu sein, aber
er weiss, die Weltgeschichte ist autoritär, und er ist ihr
Diener auf Erden“ 72). Das heisst idealistische Erklärungen
finden für sehr materielle Beweggründe. Es ging um die
Macht, und Marx wusste das Proletariat tüchtig zu hand-
haben.
Ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, wo der
Weltgeist mit Preussen denn eigentlich hinwollte und ob
der Weltgeist nicht samt Preussen zum Teufel unterwegs
sei, trat Marx bereits 1852 gegen Bonaparte auf. Und die
zweite Auflage seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des
Louis Bonaparte“ erschien just 1869, als der deutsch-
französische Krieg vor der Türe stand! Statt den österreichisch-
preussischen Rivalitätsstreit um die deutsche Kaiserkrone
seiner hohen Aufmerksamkeit zu würdigen, wandte er sich
1866 in seinem Pamphlet „Herr Vogt“ wiederholt mit den
heftigsten Ausfällen gegen die „verrottete bonapartistische
Wirtschaft“. Statt die Thronbesteigung Wilhelm I., die Heeres-
[201] reform und die Blut- und Eisenpolitik derer von Roon und
Bismarck mit einem Gedenkblatt zu versehen, enthalten
die Statuten der „Internationale“ (1864) in aller Allgemein-
heit nur den hinterhältigen Paragraphen, dass die politische
Aktion der ökonomischen als Mittel unterzuordnen sei 73).
Die Erstausgabe des „Kapital“ (1867) enthält noch den
später verschwundenen Passus: „Wenn in Europa die Ent-
wicklung des kapitalistischen Einflusses gleichen Schritt
hält mit dem wachsenden Militarismus, den Staatsschulden
und Steuern etc., möchte die vom Halbrussen und ganzen
Moskowiter Herzen so ernst prophezeite Verjüngung Europas
durch die Knute und obligate Infusion mit Kalmückenblut
schliesslich doch unvermeidlich werden“ 74). 1868 aber, als
die Luxemburger Streitfrage mit dem Krieg zwischen
Deutschland und Frankreich drohte, erscheint auf dem
Berner Kongress der „Friedens- und Freiheitsliga“ mit
Marx'schen Instruktionen der Deutschjude Borkheim, um
gegen die „Friedensagitation“ zu sprechen, die nur aus-
gespielt werde gegen eine „Einzelregierung Zentral- und
Westeuropas“ (also Deutschland) und in deren Hintergrund
Russland, der „erklärte Feind der ökonomischen Entwick-
lung“ stehe 75).
Wer sich einen Begriff davon machen will, mit welchen
Mitteln Marx gegen den „Panslavismus“ auftrat, ohne den
Pangermanismus mit einem Wort zu erwähnen, der lese
zwei Schriften Bakunins „Aux citoyens rédacteurs du Réveil“
(1869) und in „L'Empire knoutogermanique“ von 1870/71
den Abschnitt „L'alliance russe et la russophobie des Alle-
mands“. Es ist kein Zufall, dass beide Schriften um die Zeit
des deutsch-französischen Krieges erschienen. Sie enthüllen
restlos nicht nur den mit der Bismarckpolitik konspirierenden
Charakter der Marx'schen Aktion und eine der unerhörtesten
Verleumdungskampagnen; sie beweisen auch, dass Marxens
Panslavistenhetze, in die alle deutschen und deutsch-jüdischen
Sozialisten seiner Zeit einstimmten, schon damals als das
[202] erkannt wurde, was sie war, ein Versuch deutscher Patrioten,
die Aufmerksamkeit von dem in Aussicht stehenden pan-
germanischen Kaiserreich auf das „die westliche Kultur
bedrohende“ Russland abzulenken 76).
Wie sehr Bakunin Recht behielt, als er schon 1871
das neue deutsche Reich als eine grössere Gefahr für die
Zivilisation empfand als das zaristische Russland, hat die
russische Revolution von 1917 erwiesen, und es ist nicht
nur sehr zu bedauern, sondern es kennzeichnet die Wut
und Nachhaltigkeit der marxistischen Intrige, dass die für
die Beurteilung Marxens wichtigsten Schriften Bakunins
noch 1918 ins Deutsche nicht übersetzt sind. Etwas mehr
Kenntnis dieser Dinge hätte vielleicht 1914 in Deutsch-
land und 1915/1916 auf den Konferenzen von Zimmer-
wald und Kienthal dazu beigetragen, die Stellungnahme zu
erleichtern.
Man kann bei den Geschichtsschreibern der deutschen
Sozialdemokratie immer wieder in der gehässigsten Varia-
tion die dunkle Nachricht vernehmen, dass ein gewisser
Utopist Bakunin die erste (deutsche) Internationale gesprengt
habe. Warum er diese Frivolität beging, vernimmt man
nicht. So soll es hier mit klaren und unzweideutigen
Worten stehen: weil er sie als ein Propagandainstitut für
die Bismarck'schen Pläne empfand, wie wir heute die
Reste der zweiten (sozialdemokratischen) Internationale, die
marxistische Zimmerwald-Kienthal-Gründung, als ein Pro-
pagandainstrument Ludendorffs bekämpfen und die Beweise
in den Friedensverträgen von Brest-Litowsk vorzeigen 77).
Die Marx'sche Doktrin vom abstrakten internationalen Ka-
pital, gegen das in erster Linie revoltiert werden müsse,
und das überall, ja in England und Amerika despotischer
als sonstwo, die Herrschaft führe, enthüllt sich als die Aus-
flucht eines patriotischen Juden, der über die mit kontinen-
talen Ansprüchen auftretende Militärautokratie seines Landes
hinwegtäuschen wollte; hinwegtäuschen wollte über die
[203] Tatsache, dass der Sitz der Weltseele, Berlin, seit 1871
Sitz der Weltreaktion geworden war 78).
Vielleicht schlägt einmal die Stunde der allgemeinen
Völkerverbrüderung. Dann hat den deutschen Gedanken
die Arbeit aller Generationen Europas genährt. Solange
aber ist die Exaltierung der wichtigsten Idee Europas und
der Welt, der Freiheit, nicht möglich, als in einem Volk
von der Grösse des deutschen, die primitivsten Voraus-
setzungen dafür fehlen. Die Zeit theoretischer Versprechungen
ist vorbei. Die ganze Welt wartet auf uns. Werfen wir die
Gewaltmethoden und die Sophistik ab, und die neue In-
ternationale ist gegründet. Die marxistische Pseudologie
hat Russland ins Verderben gestürzt und den Despotismus
stärker gemacht als je. Sie versucht heute Revolutionen
in Frankreich und Italien zu provozieren, um im eigenen
Lande den Militärgeist zu retten; denn Bevormundung,
„Ordnung und Sicherheit“ erscheinen dem deutschen Phi-
lister und auch Proleten bequemer und weniger schrecklich
als Rebellion. Unsere historische Schuld ist zu gross.
Bekennen wir es! Gestehen wir's zu! Wir werden nicht
eher Versöhnung finden, als bis wir in weissen Fahnen die
Freiheit tragen.
4.
Die Bedeutung des preussischen Junkertums und sein
detestabler Einfluss auf die deutsche Politik konnten nur
deshalb im Auslande unterschätzt werden und 1914 über-
raschen, weil man im deutschen Parteileben in den wenigen
Jahrzehnten seines Bestehens zu wenig politische Schule
und zu viele patriotische Hemmungen hatte.
Ueber kein Thema ist in Deutschland so wenig ge-
schrieben worden, wie über den deutschen Adel. Und wenn
schon geschrieben wurde, so mit einer himmelschreienden
Harmlosigkeit, mit einer jeder Nerven- und Phantasiekraft
[204] baren Devotion; ohne allen Blick für den volksfeindlichen Cha-
rakter seiner Ränke, für die Gefährlichkeit seiner erheuchelten
oder verschimmelten nationalen Beteuerungen; ohne die
leiseste Skepsis seiner Gedankenarmut und säbelsicheren
Staatsräson gegenüber. Ganz und gar aber ohne jene bis
zum Exzess gehende Eindringlichkeit, die dem Gegen-
stand angemessen gewesen wäre und die von unserer,
der Rebellen Seite, auch der ausserdeutschen Mitwelt Neues
sagen konnte.
Wer kennt im Auslande Franz Mehrings „Lessinglegende“,
in der sich das fridrizianische Junkertum und die ver-
tuschende Zuhaltetaktik deutscher Universitätsprofessoren in
die Geisselhiebe eines überlegenen Gelehrten teilen? Wer
glaubte bei uns zu hause auch nur an die Möglichkeit
ehrlicher Entrüstung und den Fanatismus, der Hermann
Roesemeiers krass plakatierende Junkerskizzen mit grimmiger
Ironie erfüllt? Und ist es nicht ebenso traurig wie wahr,
dass bis zum Erscheinen von Hermann Fernaus Ostelbier-
buch „Das Königtum ist der Krieg“, das einen ungeschminkten
Abriss der preussischen Verfassungsgeschichte und des
Junkertums enthält, Mehrings Pamphlet gar vereinsamt
blieb?
Das ist nur für denjenigen überraschend, der die Ge-
schichte der deutschen Zensur und die Tradition der
deutschen Staatsidee nicht kennt; der die Herabstimmung
der freiheitlichen Forderungen durch ein rückständiges Par-
lament und die überwältigende Bestechlichkeit physikalischer
Kraftleistungen für deutsche Gemüter ausser acht lässt.
Mit einer Naivität und Hingabe, wovon noch 1917 Herr
Walter Rathenau verzeichnen konnte, dass man „bis an die
äusserste Grenze der Kraft jede geforderte Leistung her-
gibt“, hat das Volk seinen Fürsten gedient. „Pflichtbewusst-
sein ist nicht der Ausdruck dieses Verhältnisses, noch
weniger ist es blinder Gehorsam, weil freie Neigung mit-
spielt, am nächsten ist es kindlicher Folgsamkeit verwandt“ 79).
[205] Bezeichnend für solche Gesinnung ist, dass man während
des Krieges jegliche Warnungsstimme im Lande wider-
standslos ersticken oder verdächtigen durfte; bezeichnend,
dass man ohne nennenswerte Empörung im Reichstag nicht
nur Liebknecht und Dittmann verurteilen, Muehlon und
Lichnowsky für geisteskrank erklären konnte, sondern auch
den 70 jährigen Mehring in Schutzhaft nahm.
Die Reden und Schriften dieser ausgezeichneten Männer
sind weiten Kreisen bekannt. Gleichwohl möchte ich mir nicht
versagen, Adel und Junkertum auch in ihrem ideellen Zu-
sammenhang etwas näher zu beschreiben. Ihre drei
Haupteigenschaften sind:
1. Die Verkrampfung in die theokratische Ideologie des deut-
schen Mittelalters, die sie als Sachwalter der heiligsten nationalen
Ueberzeugungen gegen befremdliche internationale Strömun-
gen (Sozialismus, Pazifismus und Judentum) erscheinen lässt 80).
2. Die aristokratisch-sporthafte Auffassung des Soldaten-
tums, worin sie sich seit dem fridrizianischen Zeitalter
dem um Hab und Gut besorgten Zivilisten und der soge-
nannten Nützlichkeitsmoral überlegen fühlten; ihr Idealismus
und Heroismus sozusagen, eine bäurisch dandyhafte Phi-
losophie von der Nichtsnutzigkeit des Privatmanns und der
Wertlosigkeit des Lebens, der in der Politik ein ebenso
dreister wie grober Macchiavellismus entspricht 81).
3. Ein skrupelloser Zynismus, der nicht nur weite Kreise
der bürgerlichen Intelligenz, sondern auch des werktätigen
Volkes zu verführen wusste; der sich trotz Ludwig XIV.
und der französischen Revolution, trotz 1830 und 1848
gegen Christlichkeit und Aufklärung, gegen Humanität und
Menschenrechte so wohl zu behaupten wusste, dass man
heute fast sagen kann, diese Begriffe seien dem Bewusst-
sein der Nation entschwunden.
„Es soll schwer sein“, sagt Mehring, „in der ganzen
Weltgeschichte eine Klasse aufzufinden, die durch so lange
Zeit so arm an Geist und Kraft und so überschwenglich
[206] reich an menschlicher Verworfenheit gewesen ist wie die
deutschen Fürsten vom fünfzehnten bis zum achtzehnten
Jahrhundert“ 82). Das ist der Ausgangspunkt.
Den zum Jenseits gewandten phantastischen österrei-
chischen Kaisern zur Zeit der Reformation gelang es nicht,
diesen Adel zu bändigen. In Frankreich führte die Unter-
werfung der Provinzialfürsten zu jenem Hofadel, der die
Blüte der französischen Literatur schuf. In England passte
sich der die Revolution überlebende Adel den Interessen
des Volkes an. Ja, im russischen Dekabristenaufstand ver-
schwor sich der Adel sogar im Sinne der Volksemanzipa-
tion und gegen seine eigenen Privilegien wider den Zaren.
In Deutschland aber? „Deutschland wimmelt von Fürsten“,
schrieb in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Kenner
der deutschen Höfe, Graf Manteuffel, „von denen drei
Viertel kaum gesunden Menschenverstand haben und die
Schmach und Geissel der Menschheit sind. So klein ihre
Länder, so bilden sie sich doch ein, die Menschheit sei für
sie gemacht, um ihren Albernheiten als Gegenstand zu
dienen. Ihre oft sehr zweideutige Geburt als Zentrum allen
Verdienstes betrachtend, halten sie die Mühe, ihren Geist
und ihr Herz zu bilden, für überflüssig oder unter ihrer
Würde. Wenn man sie handeln sieht, sollte man glauben,
sie wären nur da, um ihre Mitmenschen zu vertieren, in-
dem sie durch die Verkehrtheiten ihrer Handlungen alle
Grundsätze zerstören, ohne die der Mensch nicht wert ist,
ein Vernunftswesen zu heissen“ 83). Die Intelligenz aber —
sympathisierte oder fluchte sie? Von Luther bis Rathenau
trugen die hervorragendsten Geister zur Stärkung dieses
Adels bei, indem sie sich begnügten mit der „intelligiblen
Freiheit“, die, ob sie Musik, Transzendenz, innere Civitas
Dei oder „Freiheit eines Christenmenschen“ hiess, auf ein
freiwilliges oder notgedrungenes Abdanken hinauslief und
sogar auf eine verstockte, servile, zwinkernde Konspiration
wider die Weltmoral.
[207]
Ueberall waren die Vorrechte des Adels mit dem Auf-
kommen des Bürgertums beschnitten worden, nur, dank
Luther, in Deutschland und Preussen nicht. Die Bauern-
kriege versanken im Blutbad. Drei weitere Revolutionen
gingen spurlos vorüber. Der preussische Junker, der ver-
wegenste von allen, sass und sitzt noch heute auf seinem
Dominium wie ein König, mit dem Bewusstsein, sein
Stammbaum ist ebenso alt, wenn nicht älter als der seines
Dienstherrn. Die alten Begriffe von Lehensherrschaft und
Vasallentum blieben bestehen. Die alten augsburgischen
Begriffe von gottgewollter Abhängigkeit leben noch heute.
In dem skurrilen Verhältnis Bismarcks zu Wilhelm I. genossen
noch unsere Väter ein Beispiel davon. Bismarck: „Er kann
nicht lügen, ohne dass man es merkt“. Der König: „Mein
grösstes Glück, mit Ihnen zu leben“. Der Vasall beherrscht
seinen Fürsten, setzt ihm zu, fasst ihn beim Porte-épée,
macht ihn schamrot in einer Unterhaltung über Pietismus.
Der König, eingeschüchtert, ist ihm verfallen wie die Taube
dem Habicht. „Warum“, fragt der Junker, „wenn es nicht
Gottes Gebot ist, soll ich mich sonst diesen Hohenzollern
unterordnen? Es ist eine schwäbische Familie und nicht
besser als die meine“ 84). Als 1848 die Truppen unter den
Steinwürfen der Menge auf Königs Befehl zurückgehen
müssen ohne zu feuern, rät er den Generalen ganz offen
zur Insurrektion. Kadavergehorsam kennt er nicht. Oberster
Kriegsherr? Zum Lachen! Nur vor der Kanaille gilt es
Dekorum zu wahren.
In Preussen zeigt das Naturburschentum der Junker
die rührigste Farbe. Mit einem „üppig wuchernden, zahl-
reichen, scheusslichen Krautjunkergeschlecht“ balgt sich
der Grosse Kurfürst um die Kontribution für sein
stehendes Heer 85). Die Junker sind pfiffig. Der Bauer muss
schliesslich die Lasten tragen. Friedrich Wilhelm I., Be-
gründer der preussischen Hausmacht, dekretiert im Jahre
1717, dass „die Junkers ihre Autorität wird ruinieret wer-
[208] den. Ich aber stabiliere die souveräineté wie einen rocher
von bronce“. Doch schon Friedrich II. sieht sich gezwungen,
mit den Junkern zu paktieren, „sintemalen des Edelmanns
Söhne das Land defendieren und die Rasse davon so gut
ist, dass sie auf alle Art meritieret, conservieret zu wer-
den“ 86). Friedrich Wilhelm I. ging ärgerlich prügelnd mit
dem Stock durch Berlin, wenn er nach dem Rechten sah,
und noch Friedrich II. lässt seine Journalisten ausprügeln.
In deutschen Geschichtsbüchern findet man das schnurrig
genug, als vergilbte Historie, aber noch 1918 erlebte man
den Prozess gegen den mecklenburgischen Junker von
Oertzen zu Roggow, der einen Schnitter sich entkleiden
liess, ihn an einen Baum schnürte und ihm 50 Hiebe mit
der Reitpeitsche auf den nackten Körper zeichnete.
Es ist wohl ohne weiteres klar, dass in dem völlig
verrohten Knuten- und Schinderstaate Preussen von milderen
Regungen schwerlich die Rede sein konnte. Was die viel-
gerühmte Toleranz unter Friedrich II. betrifft, so hat Lessing
ihr ein Denkmal gesetzt, das gerade heute wieder eine
gewisse Aktualität erlangt hat. In einem Brief an Nicolai
vom August 1769 schreibt er: „Sagen Sie mir von Ihrer
Berlinischen Freiheit zu denken und zu schreiben ja nichts.
Sie reduziert sich einzig und allein auf die Freiheit, gegen
die Religion (siehe Marx und Nietzsche) so viele Sottisen
zu Markt zu bringen, als man will; und dieser Freiheit
muss sich der rechtliche Mann nun bald zu bedienen
schämen. Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin
versuchen, über andere Dinge so frei zu schreiben ...,
dem vornehmen Hofpöbel so die Wahrheit zu sagen ...,
lassen Sie einen in Berlin auftreten, der für die Rechte der
Untertanen, der gegen Aussaugung und Despotismus seine
Stimme erheben wollte ... und Sie werden bald die Er-
fahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag
das sklavischste Land von Europa ist“ 87). Man vergleiche
auch die Auszüge aus den Briefen Winkelmanns, die Mehring
[209] mitteilt und aus denen die tiefste Verzweiflung eines preus-
sischen Untertanen Friedrich II. spricht.
Nach der Niederlage von Jena und Auerstädt (1806)
ist das preussische Junkertum gezwungen, sich bürgerliche
Heeresreformen gefallen zu lassen. Scharnhorst und Gnei-
senau als Revolutionäre, weil sie die „Junkerstellen“ im
preussischen Heer abschaffen und die „Freiheit des Rückens“,
das heisst die Abschaffung der Prügelstrafen, erwirken! Im
Handumdrehen aber erzwingt die junkerliche Fronde die
Entlassung zweier reformlerischer Freiherren, des von Stein
und des von Hardenberg, dieweil der eine eine Art „preus-
sischen Volksstaats“, der andere versöhnlicher, eine „Revolu-
tion im guten Sinne“ verlangte. Die Reformen ermöglichen
es gerade, dass unter Preussens Führung die „Befreiungs-
kriege“ unternommen werden können, und diese verhelfen
der Reaktion wieder zur Herrschaft 88).
Die Philosophie aber, die grosse Führer- und Verführerin
zu Freiheit und Volkswohl, die Schutzheilige und Madonna
der Menschheit gegen die Attentate der Usurpatoren, diese
unsere Jeanne d'Arc der Erlösung vom Dunkel und allen
Verbrechen wider die Sozietät — wo blieb sie? „In einer
weltgeschichtlichen Komödie“, schreibt Mehring, „hatte
der preussische Korporalstock die deutsche Philosophie
in immer höhere Höhen getrieben, bis er, was eine ge-
witterschwangere Wolke war, für ein harmloses Kamel oder
Wiesel ansah“ 89).
Die romantisch-teutschen Ideen verbanden sich mit dem
Protestantismus, die Reichsherrlichkeit des feudalen Mittel-
alters mit der protestantischen Prätention einer Ablösung
der päpstlichen Autokratie durch das preussische Summe-
piskopat. In Hegels Philosophie wurde System, was unter
Friedrich Wilhelm IV. Philisterideal war: der exaltierte,
vertiefte, der kirchlich begründete Absolutismus. „Es drängt
mich“, erklärte der König im April 1847 bei Eröffnung des
vereinigten Landtags, „zu der feierlichen Erklärung: Dass
14
[210] es keiner Macht der Erde je gelingen soll, Mich zu be-
wegen, das natürliche, gerade bei uns durch eine innere
Wahrheit so mächtig machende Verhältnis zwischen Fürst
und Volk in ein konventionell-konstitutionelles zu wandeln,
und dass ich es nun und nimmermehr zugeben werde, dass
sich zwischen unseren Herrgott im Himmel und dieses Land
ein beschriebenes Blatt, gleichsam als eine zweite Vorsehung
eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren“ 90).
Es war am Vorabend der Revolution. Dem von englisch-
französischen Revolutionsideen gestärkten Bürgertum riss
die Geduld. Am 18. März 1848 war der patentierte Stell-
vertreter Gottes gezwungen, zu dekretieren: „Der König
will, dass Pressfreiheit herrsche; der König will, dass der
Landtag sofort berufen werde; der König will, dass eine
Konstitution auf der freisinnigsten Grundlage alle deutschen
Lande umfasse etc. etc.“
Die Nation liess sich düpieren. Sie redete und schwatzte,
räsonnierte und zankte, aber sie handelte nicht. Sie war
über ihren eigenen Erfolg so verblüfft, wie die Junker ver-
blüfft waren über das sonderbare Schicksal ihres bislang
so absoluten Königs. Die Parallele zur heutigen Situation
liegt erschreckend nah. Am 27. April 1849 bereits hatte sich
das Junkertum von seinem Schreck wieder erholt. Die
preussische Regierung jagte die zweite Kammer auseinander.
Am 28. April lud sie diejenigen Regierungen, die mit ihr
die „deutsche Einheit gründen wollten“, zu gemeinsamen
Konferenzen nach Berlin ein, versicherte, dass für unvorher-
gesehene Fälle alles Nötige bereit sei, und bot sich für
etwaige Bedürfnisse in „gefährlichen Krisen“ sogar nach
auswärts an. Die Hofkamarilla schien zwar beseitigt. Aber
Wilhelm I. richtete als „leidenschaftlicher Soldat“ alsbald
sein berühmtes Militärkabinett ein. Leiter dieses Kabinetts
wurde von Manteuffel, Kriegsminister der junkerliche Hetzer
von Roon, und der letztere erklärte gleich bei seiner Be-
rufung, dass er „von der ganzen konstitutionellen Wirt-
[211] schaft nie etwas gehalten habe“. Militärkabinett und Kriegs-
ministerium heckten zusammen den neuen Mann aus: den
Junker Otto von Bismarck.
5.
Die Umkehr der Moralbegriffe, die Luther vornahm,
indem er der Brutalität deutscher Fürsten des 16. Jahr-
hunderts die päpstliche Würde, der Obrigkeit und dem
Staate göttliche Kraft verlieh, bestätigt die Erbsünde unserer
Nation, ihren paradoxalen Freiheitsbegriff, das Wohlbehagen
im Zustande der Barbarei. Mereschkowski nannte die Re-
formation den „zweiten Einbruch der Barbaren“ in die
lateinischen Sitten 91). Und in der Tat: die Freude an der
geglückten Zerstörung — die sogenannte Schadenfreude —
und die Heiligsprechung der Profanation sind der Sinn
des Lutheranismus, dessen Gipfel ist: die Verherrlichung
aller Attentate auf den Geist, die Abschaffung der Moral
und des Allmenschentums, die Zerstörung der Religion und
des Menschheitsgewissens.
Die Weltseele musste Bismarck erfinden, um Europa
an einem flagranten Beispiel zu zeigen, worin man in
Deutschland sich einig ist und was einer vermag, der die
deutschen Freiheitsbegriffe versteht. Man hat Bismarck „von
allen Deutschen den deutschesten Mann“ genannt 92), und
wenn die Bismarcktürme aller deutschen Gaue etwas be-
weisen, dann mit Recht. Er hat die Nation tiefer entfesselt
als Luther und Nietzsche. Er war der „freieste“ Deutsche.
Selbst vor den schlimmsten Instinkten scheute er nicht
zurück. Er hat die Nation an den Tag gebracht wie keiner
vor ihm, unmissverständlich und ohne Bedenken.
Der Begriff deutsch steht selbst unter Deutschen keines-
wegs fest, und unter Ausländern nur als Schimpfwort. Her-
vorragende Führer haben sich vergebens bemüht, eine Norm
aufzustellen, was eigentlich deutsch sei. Sie widersprachen
[212] sich alle. Fichte kam dem Problem am nächsten. Deutsch
sein, heisst originell sein, fand er. Und da er Lutheraner
war, bedeutete das, die Originalität bestehe im Bruch mit
der Tradition, in jenem stets neu und von vorne Beginnen,
das die Ideen verneint, statt sie auszubauen, das den Ge-
danken bekämpft, kaum dass er gefunden ist. Deutsch sein,
heisst quer zu der Menschheit stehen; deutsch sein, heisst
alle Begriffe verwirren, umwerfen, beugen, um sich die
„Freiheit“ zu wahren. Deutsch sein, heisst babylonische
Türme errichten, auf denen in zehntausend Zungen der
Unsinn Anspruch auf Neuheit macht; Deutsch sein, heisst
renitente Systeme voller Sophistik ersinnen aus einfacher
Furcht vor Wahrheit und Güte.
Mit solcher Philosophie ist man Widersacher und Sonder-
ling. Mit solcher Philosophie ist man Nörgler und Volks-
feind, flieht man die Realität und das Elend und Opfer,
bleibt man in Konstruktionen, Verschrobenheiten; stammelt,
verneint man und schwebt in der Luft. Das erklärt zur
Genüge den Beifall, den Bismarck fand, als er bestimmte:
deutsch sein, heisst Erfolg haben, gleichviel mit welchen
Mitteln. Es war überraschend, dass einer es wagte, sozial
zu sprechen, gleichviel mit welcher Gesinnung. Es war
eine plausible und handliche Formel, die viel Spintisieren
und fruchtloses Grübeln beendete; auf die sich heisshungrig
alle die torturierten Gemütsmenschen stürzten, die gerne
Geschäfte machten, dieweil es verboten war. Das Leben
bekam einen Sinn, die Nation einen Sinn, Verschlagenheit
wurde jetzt Recht, Gerissenheit wurde Moral. Keine Faxen
mehr, seien wir praktisch! 93)
Und Bismarck hatte Erfolg, eminenten Erfolg, wenigstens
für den Augenblick von einigen Jahrzehnten. Mit den ver-
wegensten Mitteln „öffnete er Deutschland die Bahn“; war
er der deutscheste Mann; glückte es ihm, Alldeutschland
berauscht und gefesselt der Junkerschaft auszuliefern, wie
ein geschickter Detektiv sein Opfer erst ködert und dann
[213]
überrumpelt. Alle Kronen schmiedete er gewaltsam zum
Ring, und daran band er ein grosses Volk in entsetzlicher,
heute dem Volke noch kaum zu Bewusstsein gekommener
Sklaverei. Wenn aber sein System nun zusammenbrach?
Das Erfolgsystem, das Gewaltsystem, das Betrugsystem, die
moralische Freibeuterei? Was blieb dann vom Deutschtum
übrig? Was mehr als ein Jammer?
„Roter Reaktionär, riecht nach Blut, später zu gebrau-
chen“, soll Friedrich Wilhelm IV. gesagt haben, als er
Bismarck fürs Erste von der Ministerliste strich 94). Der
verschuldete, arme und hungrige Landjunker Bismarck war
ein Kind seiner romantischen Zeit. Als Romantiker las er
Byron und Shakespeare, als Junker den Macchiavell. Es
war die Zeit, da erbötige Hegelianer die Offenbarungen
der Weltseele übersetzten in den Jargon der preussischen
Bürokratie, und einer von ihnen schrieb eine Rechts- und
Staatsgeschichte, worin der preussische Staat auftrat als
Riesenharfe, ausgespannt im Garten Gottes, um den Welt-
choral zu leiten. Gegen diese Bürokratie, deren Pünktlich-
keit, Ordnung und Stabilität das Königtum stützte, kämpften
die Junker. Für sie brauchte die Vernunft der preussischen
Monarchie nicht erst aus der Weltseele abgeleitet zu wer-
den. Das war ihnen zu hoch und abgeschmackt, Schön-
geisterei.
Den Widerwillen gegen die staatsrechtlich argumentie-
rende Bürokratie, die sich allerhand auf ihr akademisches
Wissen zugute tat, teilte auch Herr von Bismarck. Nicht
dass er Volksrechte geltend machte, wie sollte er auch?
Dem Deichhauptmann war die „Schreiberkaste“ zuwider.
Er fand vielmehr die delikaten Worte: „Die Bürokratie ist
krebsfrässig an Haupt und Gliedern. Nur ihr Magen ist
gesund, und die Gesetzesexkremente, die sie von sich gibt,
sind der natürlichste Dreck von der Welt“ 95). Man beachte
den Neid in der Magenfrage und die Anspielung aufs
Naturrecht, das damals noch im Gelehrtentum spukte!
[214]
Die Romantik Bismarcks ist von der üblichen Romantik
etwas verschieden. Sie ist eine junkerliche Romantik. Von
all den abenteuerlichen geistigen Exkursionen seiner Zeit,
die instinktiv zurück zum Mittelalter strebte, blieb ihm
allein der Machtgedanke jener frühen Kaiser, der Scharf-
richterglaube an die gewaltsame Lösung von Konflikten,
die Shakespearewelt voll monströser Intrige, der Glaube an
Blut und Eisen als Universalmittel politischer Kuren; und
so selbstbewusst er gegen die Ideologen, Träumer und
Phantasten auftrat, so sehr blieb er seiner junkerlichen
Kraft-, Rauf- und Zechromantik treu 96). Das Raubritter-
und Vasallentum, der blutige Sadismus altteutscher Lands-
knechtsmetzeleien, der rostige Waffenspektakel elisabetha-
nischer Trauerspiele — in Bismarck fanden sie ihren
spätesten Apologeten, geschwächt durch Nervenkrisen und
Weinkrämpfe, beargwöhnt von einem fadenscheinigen
„Christenglauben“, der in beständigen Konflikt geriet mit
den Wirtschaftsproblemen des 19. Jahrhunderts, aber be-
klatscht vom ganzen egoistischen Pseudo-Nationalismus der
Lutherschule. Wo konnte jene feudal-heroische Reichsherrlich-
keit des Mittelalters, die in der Rumpelkammer und auf dem
habsburgischen Throne moderte, überhaupt noch einmal auf-
erstehen, wenn nicht in Hinterpommern, in Preussen? Aber
musste sie noch einmal auferstehen? Das ist eine andere
Frage.
Der ungeduldig sich langweilende junge Herr von
Bismarck, dem es bevorstand, sich „noch einige Jahre mit
der Rekruten dressierenden Fuchtelklinge zu amüsieren,
dann ein Weib zu nehmen, Kinder zu zeugen, das Land
zu bauen und die Seelen seiner Bauern durch planmässige
Branntweinfabrikation zu untergraben“ (seine eigenen Worte),
leidet an „Verwilderung und Liebesmangel“. Der „Um-
gang mit Pferden, Hunden und Landjunkern“ (seine
eigenen Worte) ruiniert ihn. Er ist eine Art Rimbaud ohne
Paris. Zu Königs Geburtstag wird er sich „besaufen und
[215] Vivat schreien“. Im ersten Rang der Oper benimmt er sich
„so flegelhaft wie möglich“ 97). Aber während Rimbaud
seine hochbrandende Charität aus der Verkommenheit des
Kontinents zu den Negern trägt und am Ende seines Lebens
in Marseille nach blendenden Wirren und Abenteuern sich
schluchzend zu Jesus bekennt, ist Bismarck im Sachsenwald
ein Kaliban mit umgeschnalltem Schleppsäbel und doppelten
Tränensäcken, dem zwei grosse Tränen betbrüderlich aus
den Augen rinnen, als Dryander ihm aus der Bibel zitiert:
„Vor unseligem Grosswerden behüte uns, o Herr“ 98).
Der schwarze Tag von Olmütz, wo Preussen 1850 von
Oesterreich eine so komplette Abfuhr erlebte, dass sich die
richtigen Junker, nach Mehring, wie Katzen in Baldrian
wälzten, dieser Tage lenkte den Blick seines romantischen
Königs auf ihn. Bismarck, der 1848 noch die deutsche
Einheit als Gefährdung der preussischen Junkerherrlichkeit
verstand und als ein echter Teufel in die Menge feuern
lassen wollte, wird Vertreter des gedemütigten Preussischen
Hofes am wiederhergestellten Frankfurter Bundestage, und
so beginnt seine Laufbahn.
Die Aera Bismarck ist typisch junkerlich. Gekenn-
zeichnet in der inneren Politik durch Staatsstreiche, Massen-
verbote, „Maulkorb“gesetze und alle empörenden Gewalt-
massregeln einer mit dem Polizeiknüppel argumentierenden
Militärdiktatur. In der äusseren Politik erst durch allererge-
benstes Zukreuzekriechen (Olmütz), dann durch ein frich-
fröhliches Schieben (die sogenannten „dilatorischen Ver-
handlungen“), dann durch Düpierungsmanöver (1866 und
1870) und zuletzt durch eine weltgeschichtliche Provokation,
die preussisch-deutsche Reichsgründung. In der Diplomatie
ergänzen sich Anmassung, bäurischer Jesuitismus und fröm-
melnde Heuchelei, um den völligen Mangel einer moralischen
Ueberzeugung zu verdecken. Ziel ist gleichwohl die Herr-
schaft über den Kontinent.
Einige Kernsprüche Bismarcks, Parade- und Gemein-
[216] plätze von ebenso unbewiesener wie selbstgewisser Wucht,
mögen die erschreckende Geistesarmut belegen. „Revolu-
tion machen in Preussen nur die Könige“. (Zu Napoleon III.,
Abschiedskonferenz, 1862). Oder: „Die einzige gesunde
Grundlage eines grossen Staates ist der staatliche Egoismus,
nicht die Romantik“. (Vor dem preussischen Landtag, 1853).
Oder: „Die Einflüsse und Abhängigkeiten, die das prak-
tische Leben mit sich bringt, sind gottgewollte Abhängig-
keiten, die man nicht ignorieren soll und kann etc. etc.“ 99).
Als er gegen Oesterreich rüstet, hält er die „Phrase vom
Bruderkrieg“ für nicht stichfest. Es gibt nur eine „un-
gemütliche Politik, Zug um Zug und bar“. Und an An-
drassy schreibt er nach Abschluss des deutsch-österrei-
chischen Defensivvertrages von 1879: „Si vis pacem, para
bellum. Nicht unsere guten Absichten, nur unsere ver-
bündeten Streitkräfte sind die Bürgen des Friedens“ 100).
In seinen „Gedanken und Erinnerungen“ gesteht er: „Das
europäische Recht wird durch europäische Traktate ge-
schaffen, wenn man aber diese Traktate nach den Grund-
sätzen der Gerechtigkeit und der Moral für haltbar hielte,
wäre das eine Illusion“. Und erst im Alter wächst dieser
„ehrliche Makler, der das Geschäft wirklich zustande bringen
will“ nach den Worten seines Predigers „in eine immer
freiere und weitere Frömmigkeit hinein“ und bringt denen,
die „keine Offenbarung mehr glauben“ (!) im Reichstag von
1882 zum Bewusstsein, dass „ihre Begriffe von Moral, Ehre
und Pflichtgefühl wesentlich nur die fossilen Ueberreste
des Christentums ihrer Väter sind“ 101).
Ist der Staat an sich schon die Negation der Mensch-
lichkeit, und der preussische insbesondere, weil seine mili-
tärischen, juridischen und theologischen Grundlagen die
Grausamkeit und den Hohn korrumpierter Klassen systematisch
zur Geltung bringen, so muss er unter der Despotie einer Per-
sönlichkeit wie Bismarck unerträglich und für die ganze Welt
eine um so empörendere Herausforderung werden, je weniger
[217] die Nation, die ihm zum Opfer fällt, ein Empfinden dafür
zeigt. Aber nicht nur die Gewalt, noch mehr empört seine
pharisäerhafte Unaufrichtigkeit.
Bismarck ist ebenso typisch Protestant wie Junker.
Ja, man kann sagen, dass er dem Begriff des Protestan-
tismus unter Deutschen zu einer Renaissance verholfen
hat: durch Einbeziehung romantischer Kaiserideen, die
wesentlich auf das vorlutheranische Mittelalter zurück-
gingen 102). Als Privatperson: er geht zum Abendmahl,
und Tränen rollen ihm über die Wangen. Es handelt
sich jedoch nicht um das Mysterium der Liebe, sondern
um den Staat, „denn im Reiche dieser Welt hat Er (der
Staat) das Recht und den Vortritt“. Er hält Betstunden ab
mit seinem Prediger, aber dem Konsul Michahelles legt er
seines Glaubens Zeugnis ab: „Ja, wir stehen alle in Gottes
Hand, und in solcher Lage ist der beste Trost ein guter
Revolver, damit man die Reise wenigstens nicht allein an-
zutreten braucht“ 103). Durch die Ausnahmegesetze gegen
die Sozialisten werden 500 Familien brotlos. Die Höhe
der gerichtlich verhängten Freiheitsstrafen verteilt sich auf
1500 Personen und beläuft sich auf etwa 1000 Jahre. Aber
die berühmte Sozialgesetzgebung, einer der grössten und
verhängnisvollsten Korruptionsversuche aller Zeiten, erfolgt
„im Anschluss an die realen Kräfte des christlichen Volks-
lebens“ und ist eine Eingabe „praktischen Christentums“,
wie das stehende Heer des Grossen Kurfürsten eine Eingabe
praktischen Christentums und protestantischer Armenpflege
war 104).
Wann überzeugt man sich in Deutschland, dass jener
Mönch von Wittenberg ein Verhängnis war? Oder besteht
noch ein Zweifel, dass infolge seiner Religion Gott selbst
zu Bismarcks Zeiten auf die Deutschen herunterkam? Wenn
Friedrich Naumann fand: „Die katholische Gegenreformation
war das Grab des deutschen Geistes an der Donau“, so
nannte man Bismarck den „zweiten Luther“, den „grössten
[218] der Protestanten“, denn er verdrängte ja die reformations-
feindliche Dynastie Habsburg aus Deutschland und ersetzte
sie durch das Haus Hohenzollern. Wenn die „Preus-
sischen Jahrbücher“ für 1900 von den Befreiungskämpfen
schreiben konnten: „Der Genius Luthers zog in dem Früh-
lingsbrausen des Jahres 1813 vor seinem heiligen Volke
einher wie die Feuersäule vor dem Volke Israels in der
Wüste“, wie sehr hatte dann jener Superintendent Meyer recht,
der Bismarcks Kaiserreich als die „nationale Krönung des
Reformationswerkes“ bezeichnete! Einen rosigen Blick in
die Zukunft aber eröffnete Treitschke, indem er verkündete:
„Es ist Preussen, die grösste protestantische Macht der
Neuzeit, welche den andern dazu helfen wird, die Fesseln
der allumspannenden Kirche abzuschütteln“ 105).
Da hat man neben der protestantischen Politik auch
die protestantische Philosophie: sie „schüttelt die Fesseln
ab“. Der Krieg ist für Bismarck „doch eigentlich der natür-
liche Zustand des Menschen“. Das Jägerleben ist „doch
eigentlich das dem Menschen natürliche“. Also Jagd auf
Tiere und Menschen. „Gefangene?“, ruft er in Versailles
aus, „dass sie noch immer Gefangene machen. Sie hätten
sie der Reihe nach füsilieren sollen!“ Und als man ihm
von verlassenen Häusern spricht, deren Wertsachen für die
Kriegskasse konfisziert worden seien, lobt er dies und meint:
„Eigentlich sollten solche Häuser niedergebrannt werden,
nur träfe das die vernünftigen Leute mit, und so geht es
leider nicht 106). Eigentlich. Eigentlich ...
Wie Bismarck blasphemisch zur Religion steht, so steht er
höhnisch zum Volke. Das Parlament nennt er ein „Haus der
Phrasen“, was sich gut sagen lässt, wenn man geladene
Gewehre hinter sich weiss, und er hält dafür: die äussere
Politik, die er zu seiner Privatsache gemacht hat, sei schwer
genug; durch „dreihundert Schafsköpfe“ könne sie nur noch
mehr verwirrt werden. Ein Gemütsmensch, ohne Zweifel;
„von allen Deutschen der deutscheste Mann“. Kennt er
[219] praktische Rücksicht? Praktische Güte? Er kennt nur
praktische Brutalität. Er folgt „dem Naturtrieb ohne grosse
Skrupel“. Ihn empört es nun einmal, wenn ein preussischer
General sich mit der Bevölkerung von Tours, die die
weisse Fahne hisst, in Verhandlungen einlässt. Er, Bismarck,
hätte „mit Granaten gegen die Kerls“ fortgefahren, bis sie
„400 Geiseln herausgeschickt hätten“ 107). Es ist die satt-
sam bekannte, in ihrem rüden Tonfall immer wiederkeh-
rende Sprache der Junker, die nicht erst Schule zu machen
brauchte, und die zwischen Feinden und den eigenen
Volksgenossen nicht einmal einen Unterschied kennt.
Es ist jene wüste Instinktbarbarei, welcher schöngeistige
Feuilletonisten wie Herr Emil Ludwig vergebens den
Goethe'schen Mantel der Dämonie und der Problematik
umzuhängen bemüht sind. Es ist jene Erhebung der heiligen
Blut- und Gewaltmenschen, die den preussisch-deutschen
Parnass auszeichnet 108).
Das Aufkommen Bismarcks und seiner Gesinnung be-
deutet: dass die Bestialität sich fürder ihres Namens nicht
mehr zu schämen braucht; dass sie Philosophie wird. Das
Aufkommen Bismarcks bedeutet die Vorbereitung des dritten
und letzten Einbruchs teutscher Barbarei in die romanische
Zivilisation: den Weltkrieg von 1914. Pascal und Rous-
seau, wenn sie vor Ueberhebung warnten und auf die nahe
Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier hinwiesen,
meinten ein Demutsideal. Bismarck und Nietzsche, indem
sie die Tierinstinkte als den eigentlich menschlichen Natur-
zustand bezeichneten, rissen die Humanität nieder und
forderten den Dompteur, als Nihilisten und Zyniker. Das
Ueberhündische wird heroisches Ideal, wieder ist der Weg
gefunden, auf dem man originell ist, und die Ueber-
zeugung verbreitet sich: auch moralische Erfolge werden
mit dem Ellenbogen erstritten, mit Drohungen erlistet, mit
Gerissenheit erschoben.
Will man erfahren, worin Frankreich und Russland
[220] 1914 sich verbunden fühlten, so schliesse man endlich
nicht mehr vom eigenen schlimmen Motiv auf das der
andern, sondern lese in Léon Bloys „Sueur du sang“ jenes
Kapitel „Bismarck chez Louis XIV.“ nach, aus dem zu er-
sehen ist, dass das Volk der Bloy und d'Aurevilly 1871 nicht
anders die Preussen empfand als das Volk Leo Tolstois
1813 die übermenschlichen Franzosen. Bismarck erscheint
als „une combinaison de goinfre, de goujat et de sangui-
naire cafard qui déconcerte“, und das Haus der Frau Com-
tesse de Jessé, das der Herr Kanzler bewohnte, wird mit
Säuren desinfiziert, nachdem der Herr Kanzler es wieder
verlassen hat 109).
6.
Es ist eine kaum genügend beachtete Tatsache, dass
dem System Bismarcks und seiner Nachfolger in Deutsch-
land kein ebenbürtiger Gegner erwuchs; kein Antipode und
Apologet überlegener Artung, der im Namen der Nation
protestierte und die geistige Macht besass, Bismarcks Argu-
mente zu entkräften, wenn nicht für diese, so für die nächste
Generation.
Dem Welfen Windthorst, Bismarcks stärkstem Gegner
im Parlament, gelang es zwar, den Eindruck zu erwecken,
„als wenn so ruchlose Leute in der Regierung unseres
Königs sässen, die den heidnischen Staat anstreben“; als
sei das Schulaufsichtsgesetz von 1872 „dazu bestimmt, das
Heidentum, einen Staat ohne Gott, bei uns einzuführen,
als seien der Herr Abgeordnete für Meppen (Windthorst)
und die Seinigen hier noch die alleinigen Verteidiger Got-
tes“ 110). Aber Bismarck spielte den päpstlichen Anspruch
alleiniger Gnadenverwaltung gegen ihn aus, und es gelang
ihm damit, die „Heiterkeit“ der lutheranischen Mehrheit auf
seine Seite zu bringen. Auch erklärte sich Windthorst ja
selbst für das „monarchisch-christliche Prinzip im Staate“ 111),
und auf dieser Basis sank seine Opposition zur kirchlichen
[221] Interessenpolitik herab. Die Kulturkampf-Initiative war auf
Seiten Bismarcks gegen die römische Kirche, statt umgekehrt,
und es gelang dem Kanzler, damit sogar die Sympathie
rationalistischer Rebellen zu gewinnen, die auf politischem
Gebiet seine wildesten Gegner waren.
Für die Sozialdemokratie bekannte sich August Bebel
im neuen Reichstag „zum Atheismus auf religiösem, zum
Republikanismus auf politischem, und zum Communismus
auf wirtschaftlichem Gebiete“, und gewiss war Bebel über-
zeugt, damit eine Formel tödlicher Feindschaft aufgestellt zu
haben. Aber er war doch bei all seiner ehrlichen Tapfer-
keit ein preussisches Soldatenkind, das bereit war, für eine
anständige Sache auch den „Schiessprügel auf den Buckel
zu nehmen“, und leider musste man den junkerlichen Krieg
von 1870 für solch eine anständige Sache halten. Bekannte
doch selbst Mehring noch: „Mochte Bismarck was immer
gesündigt haben, und der norddeutsche Bund wie wenig
immer mit einem Idealstaate gemein haben, so galt es, dem
Auslande endlich einmal zu zeigen, dass Deutschland ent-
schlossen und fähig sei, seinen eigenen Willen zu haben.
Durch alle diplomatischen Lügen hindurch (durch alle?)
sah das Volk nur die eine Tatsache, dass der Krieg geführt
werden müsse, um die nationale Existenz sicher zu stellen“ 112).
Erst eine 9monatige Gefängnishaft belehrte Bebel dar-
über, dass das Volk nicht für die Freiheit und nicht um
seine nationale Existenz gekämpft hatte, sondern im Gegenteil
für die Freiheit der Junker und ebenso für deren nationale
Existenz. Den „Atheismus auf religiösem Gebiete“ brauchte
Bismarck nicht zu fürchten, und den „Kommunismus auf
wirtschaftlichem Gebiete“ ebenso wenig. Den ersteren ver-
trat er selbst viel gründlicher wie Bebel, wenn auch in
pietistischer Verbrämung, den Staatskommunismus aber
durchschaute er in seiner materiellen Lüsternheit und warf
ihm die Gnaden- und Versöhnungsbrocken der Sozial-
gesetzgebung zur Stillung seines Appetits zu.
[222]
Bismarcks System war mächtiger als seine offiziellen
Gegner. In dieses System mündete der hundertjährige Mac-
chiavellismus der Nation, mündeten die autoritären Systeme
von den offiziellen Staatskirchen bis zum sozialdemokratischen
Dogmenverband. Gierig nach Geschäften, Karriere, Genuss
und Versorgung erkannten in diesem Systeme sich poten-
ziert die atheistische und materialistische Schule, die anthro-
pomorphe und die naturphilosophische. In ihm gipfelte
jene Zerstörung der Moral, deren schlimmster Repräsentant
Bismarck nach Luther und Hegel ist 113).
Man halte die Deutschen nicht für oberflächlich. Sie
sind tief, sehr tief, tiefer als der Tag gedacht. Sie graben
unterirdische Schächte und Gänge nach allen Seiten, aber
— nur in der Verschlagenheit, in der Ausflucht: wenn sie
den geraden, den aufrechten, den menschlich logischen Weg
gehen sollten; nur wenn es die Zerstörung, sei es der
Moral, der Religion oder der Gesellschaft, wenn es ihre
„Freiheit“ betrifft. Ich spreche nicht von der Musik, dem
Glanze unserer Versklavung. Ich spreche von der Ver-
sklavung selbst, jenem abgeblendeten, verkrochenen, unheim-
lichen Wesen, das unter der albernen Oberfläche eines
konzilianten, bieder schmunzelnden Optimismus die bös-
willige Rache derer übt, die, lange verderbt, ihr auf-
rechtes Manntum eingebüsst haben. Es ist die furchtbare
Tiefe, die unsere einzige Hoffnung ist, wenn wir begeistert
den Gott, statt den Teufel hinunterführen, und wieder ans
Licht kommen, reiner, begeistert, wissend, zermürbt.
Im jungen Nietzsche war Bismarck eine Gefahr geboren,
mächtig genug an Begabung und Schwung, den Götzen-
dienst aufzuheben, das Wotanschwert zu zerbrechen. Unter
Wagners sibyllischem Einfluss wuchs er heran. Tradition
der Romantiker wirkte hier fort: Abschüttelung der ver-
ruchten Entartung, Gottverschwärmtheit in menschlicher
Nähe. Aufhebung der Pedantenschulen, die da moralische
Weltordnungen erdachten und sie despotisch verhängten.
[223] Aufhebung der Herzens- und Geistesversklavung, Befreiung
unserer verschütteten, schüchternen, süssesten vox humana:
Geistige Einheit der Nation. In Wagners Musik lebten die
Baader, Novalis und Hölderlin fort; lebte der Geist der Beet-
hoven und Suso. Die materielle, wirtschaftliche, äussere Ein-
heit hatte Bismarck gesucht; mit Pöbelmethoden, grässlich
und gröblich. Die innere, geistige, höhere Einheit galt es zu
suchen und finden.
Nietzsche kam aus der besten Schule: Schopenhauers
und Wagners, zweier Kirchenväter der Romantik; zweier
der menschlichsten, unerschöpflichsten Geister, die die Nation
hervorgebracht hat. Die pessimistische Absage Schopen-
hauers rührte und leitete ihn; dessen herb nach innen
gerichteter Ueberschwang. Was war denn Schopenhauers
Pessimismus, wenn nicht die Enttäuschung eines fanatischen
Wahrheitsfreundes, der den Schwindel einer selbstherrlichen
Welt voller Illusionen, einer Welt voll goldener Herzen
und gemeinsten Philistertums durchschaute? 114). Wer hat
die „Kultur“ und das neue deutsche Reich Hegel'scher
Provenienz mit seinem Kraft- und Geistprotzentum so
gründlich abgelehnt wie er? Wer den allgemeinen Taumel
zu Genuss so bissig und unbarmherzig gegeisselt? Mag
Mehring ihn immer nach seiner Parteischablone den „Phi-
losophen des geängstigten Spiessbürgertums“ nennen 115).
Schopenhauer wusste um einen Begriff, der leider der
deutschen Entwicklung verloren ging: den der Hybris, der
Sünde und Schuld; und er wusste um einen Heroismus,
der die ganze teutsche Sozialdemokratie begräbt, den
Heroismus des Heiligen und des Asketen 116). Schopenhauer
hätte nicht Kriegskredite bewilligt, Schopenhauer nicht die
geistige Einheit der nationalen und politischen geopfert,
und nicht die menschliche Einheit der nationalen. Und
Schopenhauer hatte eine Gemeinde. Die junge intellek-
tuelle Partei seiner Zeit, auf seinen Namen schwor sie den
„ruchlosen Optimismus“ ab, der 1871 seine Saturnalien
[224] feierte und 1918 gerichtet wurde, aber noch heute darüber
nicht zur Besinnung gekommen ist. In Schopenhauer stand
Pascal wieder auf, die Apologie des Herzens und der
Tränen, die Apologie wahrhafter Vernunft und unerschütter-
licher Redlichkeit. Seine Philosophie, die an den Leiden-
schaften litt, nicht sie suchte; seine Philosophie, die die
Wunden des Gekreuzigten bluten sah aus jeglicher Kreatur;
seine tief christliche Genielehre — das Geheimnis, das
Rätsel, Gott muss erlöst werden —; seine Philosophie der
Illusion, die von den Schmerzen der Isoliertheit und der
Beschränkung hinausführte zur Kommunion aller in der
Kunst —, das war es, was Wagner und Nietzsche gleicher-
weise in seinen Bann schlug 117).
Ich möchte den individuellen Erlösungsgedanken
Schopenhauers keineswegs befürworten. Ich halte seine
Aesthetik sowohl wie sein Nirwana für eine Ausflucht und
habe dagegen denselben Einwand, den ich gegen einen
andern romantischen Begriff, den der Universalität, nicht
verschwiegen habe 118). Es handelt sich (seit der franzö-
sischen Revolution) nicht mehr darum, Selbsterlösung zu
treiben und vor der unannehmbaren Realität in die Kunst
und die Illusion zu flüchten. Es handelt sich vielmehr um
die Auflösung dieser Realität, um die Erlösung der Gesell-
schaft bis ins letzte verlorenste Glied. Es handelt sich um
die materielle und geistige Befreiung all derer, die leiden;
um die christliche Demokratie. Doch Begriffe müssen vor-
handen sein, bevor sie in fruchtbarer Weise angewandt
werden können, und so gebührt Schopenhauer und
Wagner das hohe Verdienst, dem Erlösungsgedanken in-
mitten einer Zeit überzeugtester Philisterblüte zur Wieder-
geburt verholfen zu haben 119).
Man muss die Jugendschriften Nietzsches lesen, um zu
ermessen, welch Pandämonium grosser und fruchtbarer
Gedanken diese drei Männer verband. „Der Schopen-
hauer'sche Wille zum Leben“, schreibt Nietzsche, „bekommt
[225] hier (bei Wagner) seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe
Treiben ohne Zweck, diese Extase, diese Verzweiflung,
dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Akzent der
Liebe und der Insbrunst“ 120). Und in das Studium Scho-
penhauers versunken: „Seine (Schopenhauers) Grösse ist
ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu
haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes
Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen
Scholastik. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso
die barbarisierende Kraft der Wissenschaften, er erweckt
das ungeheuerste Bedürfnis, wie Sokrates der Erwecker
eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist
vergessen gewesen, ebenso welche Bedeutung die Kunst für
das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem im Wider-
spruche, was jetzt als Kultur gilt“ 121).
Die Anwendung des Erlösungsgedankens auf die
„Kultur“: das war die Aufgabe, die einem redlichen Geiste
gestellt war. Doch Nietzsche war Protestant, auch er; von der
Selbstsucht seiner Nation und der Zeit tiefer erfasst, als er
wähnte. Unter dem Einflusse Jakob Burckhardts und der
Renaissance regen sich bald Bedenken bei ihm, sowohl
gegen Schopenhauer wie gegen Wagner, und ach, gerade
gegen dasjenige Band zwischen beiden, das er hätte stärken
müssen, und das er löste; den Geist der Schuld und des
Verzichts, den Geist der Demut und Schwäche, den Geist
der Verfehlung und Abirrung.
Der Kompromiss, den Wagner seit der Reichsgründung
mit Rom und Bayreuth einging, mit den Kommerzienräten
und Beichtvätern seiner Majestät, die hysterische Materiali-
sation der Erlösungsmusik, — Nietzsche leitete sie vom
Pesthauche einer „absterbenden Religion“ her, statt von dem
Mangel an Widerstand gegen ein prostituierendes Zwangs-
system. Statt seine Verneinung gegen den Staat zu richten,
der Religion und Gewissen entehrte, wendet sich Nietzsche,
ganz im Sinne des Staates, gegen die vermeintlichen „Ueber-
15
[226] reste“ der Religion, die er für die Schwenkung des Meisters
verantwortlich macht und von denen er behauptet, sie seien
dem „germanischen Wesen“ fremd und zuwider 122). Ja,
er bezeichnet die christliche Moral als das eigentliche
Verderben, statt eben diese Moral zum Ausgangspunkt einer
Kritik der Staatsidee zu nehmen.
Jetzt findet er: „Die Verneinung des Lebens ist nicht
mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder
Mönch sein — was ist da verneint?“ Und: „Es gibt so-
viele Arten angenehmer Empfindung, dass ich verzweifle,
das höchste Gut zu bestimmen“. Statt in die Schule des
frühen Mittelalters, begibt er sich in die der französischen
Moralisten des ancien régime, und in die Schule der Feuer-
bach, Bauer und Stirner. Den germanischen „Urtext“ sucht
er wiederherzustellen, den „eigentlichen“ Naturzustand des
Germanen, die vorchristliche Wildheit, um, wie er glaubt,
eine reine Nation nach Ausscheidung orientalischer,
jüdischer Moralismen zu erreichen; und sucht das kommende
Genie vor jener Ideenverwirrung und Stagnation zu retten,
der er Wagner verfallen sah 123). Das gewitzigte Individuum
wird ihm mit Luther, Kant und Stirner Garant des Gewissens,
und so gerät er, wenn auch aus Geschmacksgründen gegen
die Reformation, doch in ihre Bahn und in eine Position,
die dem seit 1789 neu erwachten Kollektivbewusstsein der
Völker widerspricht.
Noch in der unter Wagners Einfluss geschriebenen
„Geburt der Tragödie“ hatte er eine tragische Kultur pro-
phezeit und die Auflösung des Individuums in der Tra-
gödie befürwortet. Jetzt glaubte er radikaler zu sein, wenn
er den Kampf gegen die Kirche zum Kampf gegen das
Christentum als gegen die Philister- und Herdensanktion,
ja gegen die Moral selbst ausdehnte 124). Gerade die christ-
lichsten, menschlichsten Tugenden greift er an: Nächsten-
liebe, Mitleid, Charität. Der Pastorensohn regt sich in ihm.
Hochmut und Selbstüberschätzung des Protestanten aus
[227] altem Priestergeschlecht, geboren auf dem Schlachtfelde zu
Lützen.
Er wird „originell“, er verfällt der Erbsünde des Pro-
testantismus. Und er gerät in immer engere Sympathie-
allianz mit dem preussisch-protestantischen Pflicht- und
Soldatengeist. Statt die mittelalterliche Weisheit zu exaltieren,
wie Schopenhauer es tat, hält er ihre Ideen für erschöpft
und verbraucht, wirft er wie Marx sie beiseite 125), und kann
doch keinen Ersatz dafür finden. Er statuiert eine Herren-
und Sklavenmoral und rechnet zur letzteren die Freiheits-
ideale der grossen französischen Revolution und der Evan-
gelien, zur ersteren aber die Selbstvergötterung der Renais-
sance und des vorsokratischen Hellenentums. Er hofft, die
Instinktkonfusion, den Mangel an Distanzgefühl, die deutsche
Bassesse zu treffen und zieht in seiner Verblendung vor,
es eher mit der Arroganz preussischer Zucht- und Diszi-
plinarvorschriften, als mit der hierarchischen Rangordnung
der katholischen Kirche und der geistigen Disziplin der
Mönche zu halten 126). Er glaubt, den Todesschlaf der Welt
zu erschüttern, indem er dem Teutonentum seine letzten
Gewissensketten abnimmt, und er wird wider Willen der
Herold und Totengräber jener rastaquierenden Hyänen mit
hellblauen Augen und einer Sadistenfalte um den verzerrten
Mund, die nun aus Gründen der Philosophie die nationalen
Leidenschaften aufpeitschen und hetzen.
Bei vollem Bewusstsein und im Gefühle seiner Verant-
wortung untergräbt er Schritt für Schritt und immer prin-
zipieller seine eigene Basis, gegen sein Gefühl, gegen seine
Nerven, ja gegen seine Einsicht 127), und je mehr er sich
isoliert, desto lauter nennt er diese Isolation seinen neuen
Heroismus, seine bessere Geistigkeit, seine Tapferkeit. Bis
er zuletzt, ohnmächtig zu fesseln, was er selbst entbunden
hat, jene höchste Gewalt verliert, die Gewalt über sich selbst,
die persönliche Schlüsselgewalt, und in dem Augenblick
zusammenbricht, wo er mit dem grössten Satanisten der
[228] neueren Geschichte, mit Napoleon Bonaparte, zusammentrifft,
und sich gezwungen sieht, die strengste Despotie, die
Züchtung, die Dressur zu fordern.
7.
Es kann nicht die Absicht dieser Untersuchung sein,
in den Disput theologischer Schulen einzutreten. Gleich-
wohl ergibt sich die Notwendigkeit, dafür zu stimmen, dass
die Religion völlig befreit, statt völlig vernichtet werde, und
so jene mächtigste Kaste der Intelligenz zu rütteln, die der
Priester und Seelenbeamten.
Zwei gewaltige Strömungen haben in ihrem Wider-
spruch das Gedankengebäude der Kirche errichtet: die Lehre
der offiziellen Orthodoxie und die Lehren der Heiligen,
Mystiker und der Propheten. Ich sage, in ihrem Wider-
spruch, um nicht Gegensatz zu sagen; denn oft wusste die
Orthodoxie nicht, ob ihre Heiligen Ketzer waren oder Söhne
Gottes, und diese Tatsache allein könnte zureichen, den
Begriff der Kirche als der Inkarnation Christi und der
Person Christi als der Inkarnation Gottes zu erschüttern.
Zwei Worte des Evangeliums widersprachen einander: „Du
bist Petrus, der Fels, und auf diesen Felsen will ich meine
Kirche bauen“ und: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“.
Die Evangelienkritik der verschiedensten Zeiten und
Schulen hat ergeben, dass die Evangelientexte schon von
frühesten jüdischen Ekklesiastikern und Rabbinern bearbeitet
wurden; ja dass die Apostel selbst bewusste oder unbewusste
Redakteure des göttlichen Wortes waren. Christliche Inten-
tion und guter Wille mögen mich und den Leser vor
Unheil schützen, wenn ich in theologicis die Partei Thomas
Münzers und jenes Abt Joachim nehme, die da leugneten,
dass Jesus Christus wahrhaft Gott und der Evangelientext
des 4. Jahrhunderts wahrhaft Gottes Wort sei. Jesus Christus
gab Zeugnis, die Evangelien geben Zeugnis. Gott kann
[229] weder inkarniert noch dargestellt werden. Es gibt keine
Wunder, es gab Wunderbares, mitten unter uns. Ein Wunder
wäre die vollendete Inkarnation des Ewigen in zeitlicher
Gestalt. Sie war nie, und wird nie sein. Gott und die
Freiheit sind eins. Reich Gottes auf Erden ist Sakrileg.
Sichtbare Kirche ein Sakrileg. Unfehlbarer Stellvertreter
Gottes ein Sakrileg. Theokratie, von Gott eingesetzte Ge-
walt, das Sakrileg aller Sakrilegien. Gott ist die Freiheit
des Geringsten in der geistigen Kommunion aller. Gott ist
All-Güte, All-Liebe, All-Mitleid, All-Weisheit, höchster Ge-
danke, nie zu erreichen und stets zu erstreben. Gott ist die
Qual und die Sehnsucht erdgebundener Menschen. „Söhne
Gottes“, Propheten und Heilige, werden sich ihm nähern,
um desto tiefer nur ihre Schuld an die Menschheit zu
finden.
Der Offenbarungsglaube theologischer Akademien führte
die grundlegenden Irrtümer ein, auf denen das sichtbare
Kirchengebäude errichtet wurde. Die Lehre von der Inkar-
nation Gottes in der Person Christi, erfunden gegen den
Judenhass der römischen Aristokratie und um der neuen
Lehre im abergläubigen Volke mehr Autorität zu verleihen,
schuf die absolute Heilswahrheit und eine falsche, über-
triebene, individuelle Erlösungslehre. Alles ist getan, die
Welt ist erlöst, der Mensch schuldet nichts mehr als den
Glauben. Die Lehre von der Inkarnation der vollendeten
Heilswahrheit in der Kirche schuf das Monopol der Hostien-
verwaltung. Die göttliche Intelligenz ist Privileg des Klerus,
die Unwissenheit der Laien verlangt die Bevormundung, die
Bevormundung fördert den Gegensatz eines theologischen
Adels und eines animalisch-profanen Proletariats.
Wenn das Evangelienwort von Petrus, dem Fels, und
der Kirche, die darauf gebaut werden soll, authentisch ist,
war die Sünde Christi, dass er aus einem Zeugen Gottes
zum Religionsstifter wurde; die Sünde der Apostel aber,
dass sie aus dem Buchstaben des Evangeliums einen Er-
[230] lösungsbetrieb ableiteten. Demut, Schuldgefühl und Zer-
knirschung beruhen auf freimütiger Einsicht und sind
Postulate hoher moralischer Selbstverpflichtung, die nicht
fürs Gesetzbuch dogmatischer Verfassungen taugen. An
die Liebesgebote Christi, wie sie einfach und aller Kreatur
verständlich, die Bergpredigt enthielt, knüpfte Paulus, der
bekehrte Rabbiner, seine persönliche Interpretation der per-
sönlichen Tragödie Christi, und die Lehre vom Opfertod
eines Gottmenschen mit all ihrer tiefen, aber auch volks-
fremden und schwerverständlichen Symbolik sicherte der
kirchlichen Intelligenz die Suprematie über den Laien-
verstand.
Positive Pragmatik und jüdische Exaltationslust haben
das Werk eines Meisters entstellt und ein verderbliches
Regiment für die Seelen errichtet. Im 4. Jahrhundert schloss
die Kirche einen Kompromiss mit dem heidnischen Staat,
wovon sogar Iwan Karamasow gesteht, dass es eher einem
irdischen Königreiche entsprechen sollte, sich in die Kirche
zu transformieren und auf Ziele zu verzichten, die mit der
Kirche nicht in Einklang zu bringen sind, als umgekehrt.
Und im 10. Jahrhundert schloss die Kirche einen weiteren
Kompromiss, mit der Wildheit deutscher Könige, denen sie
die Würde von Schutzherren und „Kaisern der Christen-
heit“ gegen die Zusicherung der Verbreitung des Christen-
glaubens durch das Schwert übertrug. Die theologische
und die feudale Aristokratie gingen ein patriarchalisches
Bündnis ein, das trotz aller gegenseitigen Befehdungen in
Fragen des Vorrangs eine universale Intelligenz- und Militär-
Despotie über einer gemeinsamen Herde errichtete, die all
ihren Besitz an Leib und Geist, an Gut und Blut bewusst
darzubringen und zu opfern hatte. Der Universalstaat und
seine wohlbestallten geistigen und weltlichen Beamte ver-
walten mit abgefeimter Arroganz die gesamte Arbeitskraft
leibeigener Sklaven. Die „gottgewollte Gesellschaftsordnung“,
die „gottgewollten Abhängigkeiten“, die „gottgewollten
[231] Realitäten“ datieren von da und wirken noch heute. Der
Kompromiss der Kirche mit dem Staat liess das Evangelium
der Armen in Vergessenheit fallen und rückte die Opfer-
tragödie in den Vordergrund der Betrachtung. Der Kom-
promiss der Theologie mit dem irdischen Reich abstrahierte
vom „Opfertod“ Christi blutsaugerische Ausbeutungsmethoden
den gekreuzigten Völkern gegenüber, schmorte die Ketzer
und Rebellen und verwies etwaige Glücksansprüche der
Herde auf ein besseres Jenseits. Die Theokratie wurde Züch-
tungssystem aller erdenklichen Servilität.
Nicht auf das Glück, auf das Leiden war sie gegründet.
Das Leiden war Dogma. Von göttlicher Sendung bezog
sie die Ehrfurcht, vom Glauben der Untertanen die Autorität.
Die Liebeslehre ward mit Gewalt verbreitet, das Leiden
gewaltsam aufrechterhalten oder erzwungen. Gehorsam war
höchste Tugend. Die Welt ist ein trügerischer, zu über-
windender Schein. Die allgemeine Verworfenheit bedarf
eines konzentrierenden Fürsten. Treue, Schlichtheit, Pflicht-
erfüllung finden „Gnade“. Auf dem Stellvertreter Gottes
ruht die Gnade des Himmels, auf dem weltlichen Fürsten
die Gnade des Papstes. Es ist das Christo-Chinesentum
eines Totenreiches. Die Welt ist erlöst. Gott hat gelebt.
Alles ist geschehen.
Dass die Ideologie dieses auf götzenhaften Voraus-
setzungen beruhenden Systems (die ganze Inkarnationslehre
ist Götzendienst) heute noch in Kraft und keineswegs zu
leerem Zauber und zur Zeremonie herabgesunken ist, ergibt
sich nicht nur aus der Tatsache, dass noch vor kurzem die
hierarchischen Titel des österreichischen Kaisers eine Welt
von Jesuiten und Lakaien in Bewegung hielten oder der
deutsche Kaiser als Summepiskopus der protestantischen
Kirche Pastoralreichskanzler bevorzugt hat. Nein, auch die
Servilität blieb bestehen. Noch immer finden sich freige-
borene Intelligenzen, die der katholischen oder der pro-
testantischen Staatskirche ihre Gedankensysteme anbieten.
[232] Der preussische König als summus episcopus war zugleich
Rector magnificentissimus seiner Universitäten und oberster
Chef des Generalstabs. Die Universitätslehrer waren seine
wissenschaftliche Leibgarde. Sie konnten abkommandiert
werden wie Unteroffiziere und wurden es auch.
Im theokratischen Sinne muss man die Handlungen
der deutschen und österreichisch-ungarischen Regierungen
und die Haltung der ihnen unterstehenden Volksmassen
interpretieren, wenn man den Sündenturm wahrhaft erkennen
will. Alle Vorurteile der alldeutschen Ideologie weisen
zuletzt auf Vorurteile der Theokratie und des Heiligen
römischen Reichs deutscher Nation zurück. Die Anmassung
moralischer Ueberlegenheit und des Messiasberufes, die An-
massung kultureller Superiorität, das Recht auf gewaltsame
Unterwerfung der „Randvölker“ und die Ueberzeugung
von der sittlichen Minderwertigkeit dieser Randvölker; die
Richterallüre im Kriege und in Fragen der europäischen
Politik, die Strafexpedition wegen Hochverrats gegen das
„moralische Herz und Zentrum Europas“: das alles sind
Vokabeln aus dem romantischen Wortschatz des mittelalter-
lichen Universalstaats und jener langen Jahrhunderte, da
ein gemeinsamer heiliger römischer „Kaiser der Christen-
heit“ gerade von Deutschland aus die Kulturwelt „schützte“
und Deutschland der Schauplatz seines Gepränges, aber
auch Tummelplatz seines Gesindels und seiner betrunkenen
Heerlager war.
Das christlich-germanische Dogma von der Herrschaft
Gottes über die Welt und des Geistes über die Materie,
oder von der Vormundschaft des Kaisers über seine Unter-
tanen und der Gelehrtenkaste über die unwissende Plebs,
hat dann zur Zeit der Reformation eine Spaltung erfahren.
Die Theokratie des katholischen Adels bevorzugte das Jen-
seits, die des protestantischen das Diesseits. Das Aufkommen
der Hohenzollern und die Ausdehnung ihrer Herrschaft von
Preussen auf Deutschland war nur möglich infolge der
[233] Vernachlässigung Deutschlands unter politisch universal,
religiös aber weltflüchtig gerichteten habsburgischen Kaisern
wie Rudolf II. und Karl V. Der katholische Zweig zeichnete
sich aus durch „passives“ Christentum, grössere Spiritualität,
Weltverachtung, Musik, Romantik und Geheimdiplomatie; der
protestantische mehr durch „praktisches“ Christentum, um-
fassende Versuche einer Sanierung der überkommenen Nichts-
nutzigkeit und Verschlampung, Staats- und Rechtspflege,
Gefängnis- und Armenwesen, Erziehungsanstalten, Sachlich-
keit und vollendete Zwecksetzung (Organisation genannt).
In Oesterreich dominierte die „Kulturmission“, begleitet von
Brutalitätsanfällen, in Preussen die „ehrliche“ Säbelautorität.
In Preussen ward Ideal und Sinn der Theokratie der zum
Soldaten begnadigte Sträfling (siehe Kapitel II, Abschnitt 5).
In Oesterreich der disziplinierte göttliche Schwärmer, Spion
und Schauspieler der Sinne, der weltmännische Jesuit.
Oesterreichs glänzendster Name ist Metternich, Freund des
Papstes, Bezwinger des groben Napoleon, Schöpfer der
„Heiligen Allianz“, über die er sich lustig macht, und Di-
rigent jenes „Europäischen Konzerts“ von 1815, des erlauch-
testen Reaktionskongresses theokratischer Herrscher und
Diplomaten. Preussens heiligster Name: Friedrich II., pro-
testantischer Papst (er zuerst entdeckte das), Besieger einer
„Weltkoalition“, despotisches Gerippe der Pflichterfüllung
und des Sadismus, erster Diener des Staates und Meister
einer stammelnden deutschen Intelligenz, der in französischer
Sprache er preussische Haltung beizubringen das Zeug und
die Laune hat.
Die Geschichte des Macchiavellismus in Deutschland
müsste geschrieben sein! Sie würde erstaunliche Resultate
ergeben. Sie würde zeigen: erstens, dass den preussischen
Herrschern die theologische Idee im Rivalitätskampfe mit
Habsburg aufging (unter Friedrich II.), dass aber die preus-
sischen Macchiavellisten auf Thron und Katheder diese Idee
von Anfang an nur nach ihrem Nutzwerte schätzten, so
[234] dass sich die preussische Staatsomnipotenz den symbolischen
Kaisergedanken zuerst in Deutschland (unter Bismarck),
dann auch in Oesterreich selbst (unter Ludendorff) unter-
warf und ihn als Mittel und Werkzeug benutzte. Zweitens:
dass der macchiavellistische Gedanke um die Wende des
18. zum 19. Jahrhundert mit dem christlichen Gewissen
der deutschen Philosophen in Widerspruch geriet und zu
lebhaften Systemkämpfen führte, bis unterm Einfluss Na-
poleons der praktische Geist siegte, die Ideologien zum
Teufel gingen und Bismarck mit der deutschen Reichs-
gründung ein Gebäude errichten konnte, in dem der schänd-
lichste Geschäftsmacchiavellismus mit der Fassade des
lutheranischen Gottesstaats prunkte. Es würde sich drittens
ergeben, dass selbst der protestantische „Idealismus“ der
deutschen Philosophie (Fichte, Humboldt, Hegel) auf die
romantischen Universalstaatsideen nie völlig verzichtete. Das
ontologische (Trägheits-) Prinzip ihrer Systeme entspricht
dem Dogma vom gestorbenen Gotte und der vollzogenen
Erlösung. Die Welt steht still; ihre Probleme sollen nur
mehr definiert, beschrieben, begriffen, alsdann hierarchisch
eingeordnet werden. Maskierte Geheimpolizisten der alten
Orthodoxie sind diese Philosophen, in die Welt geschickt,
um den wahren Gott, die wahre Welt und die wahre Ver-
nunft — zu lähmen. Kein anderes System ergibt sich aus
ihren Systemen. Keiner tritt klar für den Christus, keiner
tritt klar für den Teufel ein. Die radikalste Freiheitspartei
und das servilste Hofschranzentum können sich gleichzeitig
für die entgegengesetztesten Zwecke auf sie berufen.
In Summa würde sich zeigen, dass die Geschichte des
Macchiavellismus in Deutschland, in der auch Marx und
Lassalle ein Kapitel zu widmen wäre, den systematischen
Gottesgedanken des Heiligen römischen Reiches im Nütz-
lichkeitssinn pervertierte und dass diese Kämpfe um die
Bestimmung der höchsten Autorität noch heute in Deutsch-
land nicht abgeschlossen sind. Daneben aber erwiese sich
[235] der volksfremde Kastengeist und die Scholastik sogar der
humanistischen Glanzperiode Deutschlands, deren Repräsen-
tanten Kant, Fichte, Schelling, Humboldt und Hegel in
ihren politischen Spekulationen sämtlich noch von der Bös-
artigkeit und Verworfenheit der Individuen ausgehen, auf
denen der Staat zu errichten ist. Der deutsche Schulmeister,
der die Kriege von 1866 und 1870 gewonnen haben soll,
hütete sich, die liberalistische Attitüde der deutschen Denker
ins Volk und bessere Meinungen vom Volk und der
„Herde“ in die hagestolzen Gelehrtenzirkel zu tragen. Es
fehlte an Liebe, Hingabe und Leid. Russische Nihilisten,
Pioniere der Intelligenz für das Volk, gab es in Deutsch-
land nicht. Es gab nur Pedanten, Träumer und Streber.
Und so gebe ich wie zu Beginn so zum Ende in
tiefer Verehrung und Liebe Dostojewsky das Wort, der
1870 aus Dresden an Maikow schreibt: „Die Professoren,
Doctoren und Studenten sind es, die die Aufregung und
das Gezeter machen, nicht das Volk. Ein Gelehrter mit
weissen Haaren schreit: ‚Man muss Paris bombardieren!‘
So weit brachte sie ihre Albernheit, wenn nicht ihre Wissen-
schaft. Mögen sie immer Gelehrte sein, sie sind darum nicht
weniger kindisch. Eine andere Bemerkung: das Volk kann
hier lesen und schreiben, aber es ist trotzdem unglaublich
ungebildet, stupide, beschränkt und von den niedrigsten
Interessen geleitet“. Oder am 5. Februar 1871: „Sie
schreien: ‚Jungdeutschland!‘ Ganz umgekehrt ist es. Sie
sind eine Nation, die ihre Kräfte erschöpft hat, denn sie
bekennt sich zur Schwert-, Blut- und Gewaltidee. Sie hat
nicht die geringste Ahnung, was ein spiritueller Sieg ist,
und sie lacht darüber mit einer soldatischen Brutalität“.
Was Dostojewsky in Deutschland sah, war der ver-
wilderte Doctor Faust, die martialische Totenmaske einer
erschöpften Theokratie.
NACHWORT
In den vorhergehenden Kapiteln habe ich versucht,
Gesichtspunkte für eine Kritik der alldeutschen Ideologie
zu finden. Ich weiss, dass ich hierin nicht der Erste bin.
Ich schlug der deutschen Intelligenz eine Revision ihrer
Heroen vor und zeigte im deutschen Gedankenbau die
verderbliche, staatspragmatisch gerichtete protestantische
Filiation, als deren Hauptvertreter Luther, Hegel und Bis-
marck erschienen. Nochmals betonen möchte ich, dass es
die Verbindung von Religion und Staat, die göttliche
Sanktionierung der Autokratie, die Verwirklichung Gottes
und der Idee, die Ideenverwaltung durch eine wilde Staats-
autorität und das Streben nach dem militärischen „Reich
Gottes auf Erden“ war, was ich antichristlich, Blasphemie
und Satansdienst nannte. Der Protestantismus ist eine Irr-
lehre, eine Irrlehre der Katholizismus, der sich auf der
Erde etabliert. Gott und die Freiheit können nicht verwirk-
licht werden, sie sind Ideale. Staat ist ein Zustand und
Zufall, von der göttlichen Idee zu durchdringen und in sie
aufzulösen, nicht umgekehrt.
Eine Vervollständigung der Kritik des theokratischen
Systems der Mittelmächte würde ergeben, dass die Schuld-
frage in letzter Instanz sich gegen das Papsttum richtet,
als gegen das letzte Refugium militärischer Bevormundungs-
systeme, die auf die Gottesweihe und Gottesstellvertreter-
schaft sich berufen; die als Verteidiger der „heiligsten
Güter Europas“ auftraten, just als die Stunde ihrer Nieder-
lage schlug, und die damit das Gewissen der Welt zu ver-
wirren und täuschen versuchten trotz himmelschreiender
Schändlichkeiten. Die Zukunft freier deutscher Geister sehe
[238] ich in der Solidarität des europäischen Geistes gegen den
theokratischen Anspruch jeder Staatsmetaphysik: nicht nur
die wirtschaftlichen, sondern auch die intellektuellen Pro-
bleme verwalten zu wollen. Die wirtschaftliche Verwaltung
ist einem Bund freier Völker, die intellektuelle einer Kirche
freier Individuen zu überlassen. Eine Internationale produk-
tiver Natur, eine moralische Einheit der Welt und der
Menschheit sind nur möglich, wenn der protestantisch-
katholische Gottes- und Despotenstaat mit seiner wirtschaft-
lichen Stütze, einer zuchtlosen Finanz, und seiner theologi-
schen Stütze, dem unfehlbaren absolutistischen Papsttum,
hinweggeräumt ist. Unter der Last aller Verbrechen dieses
Krieges wird er zusammenbrechen. Eine Syntax freier
Gottes- und Menschenrechte aber wird die demokratische
Kirche der Intelligenz konstituieren, an die die Verwaltung
der Heiligtümer und des Gewissens übergeht.
ANHANG :
ANMERKUNGEN
UND INDEX
[[240]][241]ANMERKUNGEN
ERSTES KAPITEL, SEITE 14-51.
[243]
[244)[244]]
[247]
[248]
ZWEITES KAPITEL, SEITE 52-124.
[251]
[257]
[259]
[260]
[261]
[265]
[267]
DRITTES KAPITEL, SEITE 125-171.
[276]
[284]
[287]
[293]
VIERTES KAPITEL, SEITE 172-236.
[310]
[311]
[314]
[317]
Appendix A INDEX
- Abaelard,37
- Abt Joachim,39, 43, 228
- Andrassy,216
- Arndt,154
- Arnold von Brescia,37
- Augustinus,47
- Aurevilly,11, 58, 67, 140, 220
- Baader,38, 39, 54, 57-59, 105,
106, 118, 124, 139, 141, 158,
223 - Bab,134
- Babeuf,128, 159, 186
- Bahr,24
- Bakunin,12, 13, 21, 50, 129,
131, 136, 138, 139, 145, 146,
148, 153, 154, 156, 157, 159,
164, 168, 169, 171, 187, 191,
192, 197, 201, 202 - Ball,37
- Ballin,109
- Barrès,107
- Baudelaire,11
- Baudissin,69
- Bauer, Bruno,152, 179, 182-184,
226 - Bayle,53, 61, 99
- Bebel,17, 169, 176, 221
- Beethoven,60, 102, 223
- Benedict XV,140
- Béranger,158
- Bernstein,172, 174
- Bethmann-Hollweg,54
- Bismarck,34, 91, 93, 94, 98,
113, 131, 142, 173-178, 182,
190, 195, 199, 201, 202, 207,
211-223, 234, 237
- Bjelinsky,145
- Blanc,147, 148, 159, 180
- Bloy,6, 10, 11, 13, 67, 220
- Blücher,89, 90
- Böhme,106, 140
- Borgese,53, 105, 131, 132
- Borkheim,169, 201
- Börne,148, 151, 155, 160
- Bornstedt,149
- Borowsky,55, 56
- Bossuet,99, 147
- Boutroux,144
- Boyen,88, 89
- Brisson,76
- Brissot,128
- Brupbacher,164, 187, 197, 200
- Buchez,158
- Büchner, Georg,104
- Büchner, Ludwig,146
- Buonarotti,128, 159, 160
- Burckhardt,225
- Byron,213
- Cabet,158, 159, 186
- Cafiero,139
- Calvin,49
- Campanella,143
- Caprivi,195
- Carlstadt,41, 161
- Cavaignac,155
- Cellini,67
- Chamberlain,6, 16, 74, 87
- Chamfort,71
- Chassin,192, 197
- Chateaubriand,144
- Cherubini,102
- Chomjakow,140
- Claudel,97
- Clausewitz,89, 90
- Cloots,126
- Cohen,134, 166168, 196
- Collot-Hérbois,78
- Danilewsky,133
- Dante,16
- Danton,78
- Däubler,101
- Della Sala ed Abarca,85
- De Maistre,144
- Descartes,53
- Desmoulins,75, 78
- Dezamy,186
- Diderot,148
- Diederichs,68
- Dittmann,205
- Dolfi,139
- Dominicus,27
- Dostojewsky,1, 134, 235
- Dryander,215
- Duret,116
- Engels,146, 149, 153, 156, 188,
197, 199, 200 - Erasmus,29
- Ernst von Magdeburg,47
- Fechner,65
- Fenélon,99
- Fernau,204
- Feuerbach,145, 149, 151, 157,
179, 182-184, 194, 226 - Fichte,53, 55, 62-64, 70, 71,
73-75, 80, 81, 96, 105, 122,
142, 151, 167, 177, 212, 234,
235 - Fourier,186
- Francke,52
- Franz von Assisi,27, 103, 106,
140
- Freiligrath,189
- Freytag,64
- Friedrich Wilhelm (Grosser Kur-
fürst),84, 87, 88, 93, 94,
207, 217 - Friedrich Wilhelm I.,56, 57, 84,
86-88, 93, 117, 207, 208 - Friedrich II.,62, 79, 85, 88, 93-99,
131, 142, 193, 195, 208, 209,
233 - Friedrich Wilhelm II.,60
- Friedrich Wilhelm III.,115
- Friedrich Wilhelm IV.,180, 209,
213 - Garibaldi,135
- Gillouin,107
- Gneisenau,88-90, 209
- Godwin,158
- Goethe,8, 9, 44, 50, 63, 64, 67-70,
72, 78, 80, 95, 96, 98, 99,
101, 110, 114, 123, 151, 219 - Goncourt, Brüder,9
- Goschen,54
- Gregor VII.,14
- Gregor XVI.,147
- Grillparzer,152
- Grolmann,88, 89
- Guadet,76
- Guillaume,164
- Gutenberg,15
- Hamann,71, 195
- Hardenberg,82, 209
- Harnack,65
- Hatvany,33
- Hatzfeld,172, 173, 175
- Hebbel,152, 181
- Hegel,55, 62, 96, 105, 106,
109-112, 113-122, 129, 131,
139, 141, 142, 145, 146, 150-
152, 161, 164, 167, 168, 177,
[325]179, 182, 186, 188, 200, 209,
222-225, 234, 235, 237 - Hl. Therese,27
- Heine,9, 55, 64, 105, 107, 115,
146, 148, 150-152, 155, 176,
182 - Hello,11, 42, 67, 161
- Herder,62, 64, 68, 71, 99
- Hernandez,27
- Herwegh,146, 149, 153, 156, 197
- Herzen,12, 21, 145, 149
- Herzog Johann von Sachsen,42
- Hess,169
- Heubner,153
- Hindenburg,34, 60
- Holbach,148
- Hölderlin,8, 103, 223
- Hrabanus Maurus,63
- Huch, Ricarda,46
- Humboldt, Wilhelm von,72, 79,
81, 82, 96, 108, 109, 114, 151,
234, 235 - Hume,54, 58
- Hutten,29, 177, 178
- Huysmans,17
- Ignatius von Loyola,84
- Isnard,77
- Jacoby,146, 151
- Jeanne d'Arc,144, 178, 209
- Kant,53-60, 67, 68, 70, 72, 80,
82, 86, 87, 96, 105-107, 111,
112, 116, 117, 122, 139, 142,
226, 235 - Karl der Grosse,48
- Karl V.,233
- Karl VI.,93
- Karl August von Weimar,80
- Kassner,61
- Katharina II.,99
- Kleist,69, 96
- Klopstock,50, 64, 70, 99
- Kolb, Annette,144
- Körner, Chr. Gottfr.,70, 80
- Krapotkin,12
- Kraus,3
- Kühn, Sophie,103
- Lamartine,147
- Lammenais,129, 144, 147, 158,
161 - Lamprecht,65
- Landauer,103
- Larochefoucauld,71
- Lassalle,162, 165, 167, 170, 172,
174-179, 187, 196, 199, 200,
234 - Lavater,70
- Lecky,28, 142
- Leibnitz,105
- Lemaître,107
- Lenin,12, 74
- Leonardo da Vinci,163
- Lessing, Gotth. Ephr.,64, 66,
68, 70, 95, 98, 168, 208 - Lessing, Theodor,20
- Lichnowsky,205
- Lichtenberg,52-54, 68, 82, 83,
120 - Liebknecht, Wilh.,169, 205
- Locke,54, 58
- Louis Bonaparte,200
- Ludendorff,202, 234
- Ludwig XIV.,93, 205, 220
- Luther,6, 15-32, 34-37, 39,
41-51, 53, 55, 56, 63, 65,
66, 72, 87, 102, 105, 116, 122,
166, 167, 177, 206, 207, 211,
218, 222, 226, 237 - Macchiavell,23, 110, 142, 213
- Maikow,235
- Mann, Heinrich,10
- Mann, Thomas,97
- Manteuffel,206
- Marat,74
- Marsiglio von Padua,23
- Marx,65, 116, 129, 139, 146,
148-150, 152, 153, 156, 160,
162, 164, 165, 167-170, 172,
176, 178, 181-202, 208, 227, 234 - Masaryk,97
- Matthison,52
- Maurras,10, 107
- Max von Baden,19
- Mazzini,42, 129, 135, 136, 150,
151, 152, 154 - Mehring,98, 147, 148, 152, 155,
159, 164, 175, 177, 188, 193,
204, 205, 208, 209, 215, 221,
223 - Melanchthon,31, 39, 44, 47, 51
- Mendelsohn, Moses,60, 152, 166
- Mercier,57, 67, 106, 132, 144
- Mereschkowsky,135, 211
- Metternich,64, 78, 82, 105, 108,
136, 151, 233 - Michahelles,217
- Mignet,79
- Moeller van den Bruck,81, 82,
108, 109 - Moltke, Hellmuth von,91
- Moltke, Generalstabschef,91
- Mommsen,65
- Montaigne,53, 71
- Muehlon,205
- Müller, Kanzler,24
- Münzer,8, 37-44, 46-48, 51,
106, 107, 128, 129, 143, 161, 228 - Muravjew-Apostol,12
- Napoleon I.,16, 24, 78, 80, 94,
100, 110, 131-133, 137, 138,
145, 154, 192, 228, 233, 234 - Napoleon III.,155, 216
- Naumann,20, 21, 22, 30, 32,
127, 217 - Netschajew,12
- Nettlau,164
- Nicolai, Chr. Fr.,208
- Nicolai, F. G.,53, 54, 110, 120
- Nietzsche,1, 9, 25, 33, 50, 55,
65, 72, 79, 112, 133, 138, 139,
142, 181, 208, 211, 219, 222
bis 225 - Novalis,20, 102, 223
- Nowikow,99
- Oekolampadius,177
- Ogarjow,12, 145
- Origines,4
- Ortiz,27
- Otto I.,14
- Otto III.,14
- Owen,158, 186
- Pascal,28, 99, 106, 107, 132,
140, 144, 219, 224 - Paulus,33, 132, 167, 230
- Péguy,11, 144, 148
- Pestalozzi,70, 74
- Pestel,12, 129, 133
- Plato,123
- Proudhon,128, 129, 146, 149, 158,
162, 186, 193, 194, 197, 200 - Raabe,29
- Ranke,40
- Rathenau,31, 61, 65, 122, 123,
127, 142, 167, 169, 204, 206 - Reclus, Elisée,139
- Renan,11
- Rimbaud,214, 215
- Robespierre,16, 74, 78
- Roeckel,153
- Roesemeier,204
- Rohrbach,53
- Rolland,11
- Roon,201, 210
- Rousseau,54, 77-79, 81, 100,
101, 122, 219 - Rudolf II.,233
- Ruge, Arnold,131, 146, 153
- Ruysbroek,108
- Rylejew,12, 133
- Saint-Just,78
- Saint-Simon,186
- Samarin,140
- Scarron,53
- Scharnhorst,88-90, 209
- Scheler,15, 20, 80, 84, 127
- Scheidemann,176
- Schelling,64, 70, 73, 106, 134,
139, 235 - Schickele,26, 27, 37, 127
- Schiller,53, 62, 64, 69, 70, 82,
95, 96, 98, 133 - Schlegel, Fr.,43, 72, 101, 104,
106, 133 - Schlieffen,90
- Schopenhauer,10, 39, 55, 115,
118, 181, 223-225, 227 - Schwarz, Berthold,2
- Schweitzer,177
- Serno-Solovjewitsch,12
- Shakespeare,6, 213
- Sickingen,177, 178
- Sidney,54
- Solovjew,135, 142, 146
- Sombart,13, 22, 127
- Spalatin,42
- Spener,52
- Spinoza,58
- Staël,64, 107
- Stankewitsch,145
- Stein, Freiherr vom,89, 209
- Stendhal,133
- Stirner,153, 226
- Storch, Niclas,41, 59
- Strakhow,133
- Strauss, David,16
- Suarès,144
- Suso,223
- Talleyrand,82
- Tetzel,22
- Thomas von Aquin,57, 140
- Tolstoi,12, 42, 129, 132, 133,
135, 185, 220 - Treitschke,6, 16, 61, 62, 64, 67,
88, 95, 132, 142, 167, 218 - Tschaadajew,107, 123, 134, 136,
146 - Tschernischewsky,12
- Vallès,42
- Varnhagen von Ense,153
- Vauvenargues,71
- Vermorel,199
- Voltaire,53, 54, 77, 79, 96, 102,
139, 151, 161 - Wagner, Richard,34, 60, 153,
222-226 - Walther von der Vogelweide,38
- Wedekind,133
- Weitling,128, 129, 155, 156,
158-160, 162, 163, 165, 173,
179, 185-188, 191, 197 - Wieland,64, 99
- Wilhelm I.,200, 207, 210
- Wilhelm II.,125
- Wilson,73
- Winckelmann,55, 208
- Windthorst,220
- Wolf, Fr. Aug.,68
- Wolff, Christian von,56
- Wollstonecraft, Marie,158
- Wundt,65
- Zimmermann,32, 35, 51.
Appendix A.1
1919
BUCHDRUCKEREI GOTTFR. ISELI
BERN
Besinnungen, 11.-20. Tausend, Duncker \& Humblot, München,
1915. S. 143.
Rundschau“, Berlin, Jan. 1918.
„Die Fackel“.
katholische Exaltation „Der Genius des Krieges“, Kurt Wolff,
Verlag, Leipzig 1915, und deren Verteidigung „Die Ursachen des
Deutschenhasses“, Kurt Wolff, Verlag, Leipzig 1917.
et C°, Paris 1915, p. 261. „Aujourd'hui les nôtres sont sept fois
plus mauvais, qu'ils ne l'avaient jamais été auparavant. Nous
volons, nous mentons, nous trompons, nous mangeons et buvons
avec excès et nous adonnons à tous les vices ... Nous autres
Allemands, nous sommes devenus la risée et la honte de tous
les peuples; ils nous tiennent pour des pourceaux ignominieux
et obscènes ... Si l'on voulait maintenant peindre l'Allemagne,
il faudrait la représenter sous les traits d'un truie.“
chenland“, Reclam-Verlag, Leipzig.
26. März 1827 war als Märtyrer in Wien Beethoven gestorben,
völlig verarmt und gebrochen.
vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen 1749-1803“ eine um-
fassende Sammlung von Briefen zum Teil berühmtester Freunde
Goethes publizierte, ergab sich das Bild einer von pastoraler
Zopfigkeit torturierten genialen Persönlichkeit, die mit zunehmen-
dem Alter von anspruchsvoller Ignoranz, frömmelndem Klatsch
und dummdreistem Besserwissen immer tiefer bis zu Verzicht,
Lähmung und Hoffnungslosigkeit in sich selbst zurückgetrieben
wurde. Man stellte deshalb dem Herausgeber auch die Gewissens-
16
[242] frage, ob es wohl angebracht war, diese Briefsammlung der Oeffent-
lichkeit ungekürzt zu übergeben.
Troll“ sind noch heute in Deutschland nicht abgeschlossen. Denn
die Pamphletliteratur gegen den „Judenjungen“ blüht wacker
weiter. Man kennt den Versentwurf Richard Dehmels für ein
solches Denkmal. Und noch Alfred Kerr konnte zwischen 1910
bis 1914 zu einiger Berühmtheit gelangen durch sein Eintreten
für ein Heine-Denkmal. In Hamburg wehrte man sich verzweifelt
dagegen.
Fall Wagner. Ein Musikantenproblem.
„Ich habe zusammengebunden und gesammelt was Individuen
gross und selbständig macht. Ich sehe, wir sind im Aufsteigen:
wir werden der Hort der ganzen Kultur in Kürze sein“.
Reims“ seines Buches „Nous et Eux“, Emile Paul Frères,
Paris 1915.
dorf, Paris 1915, quarante-deuxième édition, p. 17.
Gensfleisch zum Gutenberg das „Katholikon“ des Johannes di
Balis, das am Schluss folgende Worte, gleichsam das Testament
Gutenbergs, enthielt: „Unter dem Schutze des Höchsten etc. etc.
ist dies Buch im Jahre der Menschwerdung des Herrn 1460 in
dem tätigen Mainz, einer Stadt der berühmten deutschen Nation,
welche die Huld Gottes durch ein so hohes Licht des Geistes und
durch ein freiwilliges Geschenk den andern Nationen der Erde
vorzuziehen und auszuzeichnen gewürdigt hat etc. etc. gedruckt und
vollendet worden“.
Wilhelm II., der sich zuhause auf die Kaisertreue, draussen aber
auf die bolschewikische Propaganda stützt.
préface de Camille Huysmans. Appelbergs Boktryckeri A.-G.,
Uppsala 1917.
sichtigung der hauptsächlichsten sozialen Bewegungen des Mittel-
alters“, Leipzig 1876.
des grossen Bauernkriegs“) zitiert einen Ausspruch des damaligen
habsburgischen Kaisers Maximilian I., der beweist, dass die
habsburgische Hauspolitik die Bedeutung der lutherischen Rebellion
von dem Augenblicke an begriff, da dieselbe politischen Einfluss
gewann. Siehe S. 24, Text und Anmerkung 18.
Inzwischen kam die wahre Gesinnung des Prinzen an den Tag
durch seinen Brief vom 12. Januar 1918 an den Fürsten Alexan-
der zu Hohenlohe.
Verlag, Berlin 1918.
Verlag Jakob Hegner, Hellerau 1917, S. 53.
Leipzig.
„Aktion“, Berlin 1918.
schrift „Hochland“, Jos. Kösel'sche Buchhandlung, München, und
die Besprechung seiner „Ursachen des Deutschenhasses“ durch
Friedrich Meineke in der „Neuen Rundschau“ Berlin, Jan. 1918.
„Aktion“, Berlin, Nr. 47/48, 1917.
A. J. Herzen und Ogarjow“, Bibliothek russischer Denkwürdig-
keiten, Bd. 6. Herausgegeben von Dr. Th. Schiemann, Cotta,
Stuttgart 1895.
mus“ der „Süddeutschen Monatshefte“, München Okt. 1917.
Stuttgart 1906. S. 21.
Bauernkriegs“, Stuttgart 1840/44, Bd. I, S. 345.
Januar oder Februar 1918.
dem allerdings keine grosse Presse das Leben verschönte, hat
gemeint: «Der Krieg wird einmal ein Anachronismus sein. Glauben
Sie mir, die Zivilisation wird ihre Revanche nehmen. Die Siege
werden einmal ohne Kanonen und Bajonette errungen werden».
Jener Mönch hingegen, der die Reformation zu verantworten hat,
Luther, hat auch ein Buch auf dem Gewissen, das solchen Titel
trägt: «Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können?» In
diesem Buch finden sich folgende Unglaublichkeiten ...“ (es folgt
das Zitat.)
„Weissen Bücher“, Leipzig 1910.
Einflusses der Aufklärung in Europa“, 2. Bd. S. 16, C. F. Winter'sche
Verlagsbuchhandlung, Leipzig u. Heidelberg 1868.
ihm. Im Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauers Heiligen- und
Asketenlehre wiederholt sich Luthers Verhältnis zum Mönchsideal.
„Kritik unerfüllbarer Ideale. Wir müssen es dahin bringen, das
Unmögliche, Unnatürliche, gänzlich Phantastische in dem Ideale
Gottes, Christi und der christlichen Heiligen mit intellektuellem
Ekel (!) zu empfinden. Das Muster soll kein Phantasma sein.“
(Werke, Bd. XI.) Oder: „Neuplatonismus und Christentum, die
religiosi, die höheren Menschen! Die Reformation verwarf diese
Höheren und leugnete die Erfüllung des sittlichen, religiösen
Ideals. Luther hatte gegen die vita contemplativa viel Bosheit und
Widerspruch“ (Ebendort). Oder: „Luther, der grosse Wohltäter.
Das Bedeutendste, was Luther gewirkt hat, liegt in dem Miss-
trauen, das er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita
contemplativa geweckt hat“ (Werke Bd. IV). — Genügt aber die
Unerfüllbarkeit eines Ideals, seine Verwerfung zu rechtfertigen?
Das ist die Frage. Die ganze französische Kultur, die der Subli-
mierung traditioneller Begriffe und Symbole gewidmet ist, ver-
neint diese Frage.
Beide haben weder mit der frühesten Renaissance die seltsam
erhabene Gottesidee, noch mit der späten Renaissance die mondän-
zarte Illusion und den dekorativen, im Gestus aufgelösten Sinnen-
rausch gemeinsam. Luthers Freunde waren hartschlägige Realisten,
wenn nicht Zyniker. Das hausbacken Altfränkische war ihnen
[245] vertraut und verklärungswürdig: feiste Magistratsherren und spinöse
oder sinnig aufgetane Bürgerinnen. Das unterscheidet überhaupt
den religiösen vom zynischen Geist: ob er den Menschen in Gott
oder Gott in den Menschen auflöst. Der einzig heroische Künstler
seiner Zeit war Matthias Grünewald.
wies Nietzsche darauf hin, dass ein Renaissance-Ideal die aktiv
gegen die Kirche gerichtete Philologie als der Inbegriff der
weltlichen Kenntnisse war. Er glaubte, der Kirche sei es im
ganzen gelungen, den aggressiven Philologen in den Gelehrten-
Amateur umzuwandeln. Aber der ganze Protestantismus ist aggres-
sive Philologie in diesem Sinne. Nietzsche ist nur der letzte
Ausläufer der bereits von Luther mit soviel Ernst repräsentierten
weltlichen Poeten-Philologie der Renaissancezeit.
fession, dieses Schanddokument deutscher Gewissensversklavung.
Mit der Augsburgischen Konfession verzichteten Luther und
Melanchthon vor Kaiser und Fürsten feierlich auf die individuelle
Gewissensfreiheit, die das ursprüngliche Evangelium Luthers
gewesen war. Die Confessio Augustana konstituierte eine neue
(protestantische) Kirche, die in ihrem Verhältnis zur weltlichen
Macht nur mit der byzantinischen Kirche zu vergleichen ist,
sanktionierte im Namen Gottes den Absolutismus und setzte durch
Verleihung der höchsten geistlichen Würde an den Landesvater
soviele protestantische Päpste ein, als es protestantische Fürsten
gab. Die Augsburgische Konfession steht noch heute in Deutsch-
land in voller Kraft. Einer der wichtigsten Programmpunkte einer
deutschen republikanischen Partei ist deshalb ihre Beseitigung im
Interesse der Gewissensfreiheit.
Verlag, Berlin 1917, S. 227.
der Nachweis des Laurentius Valla, dass die konstantinische
Schenkungsurkunde an den römischen Bischof auf einer Reihe
von Urkundenfälschungen beruhte, die das Papsttum in seine
Dekretalien aufgenommen hatte.
jüdischen mit der deutschen Moral: „Dieses gekreuzte Christen-
tum hat im Katholizismus eine Form gefunden, bei der das
römische Element zum Uebergewicht gekommen ist, und im
Protestantismus eine andere, in der das jüdische Element vor-
herrscht“ (Werke, Bd. XI). „Es hat vielleicht in nichts Europa
[246] sich so sehr selbst überwunden wie in dieser Aneignung der
jüdischen Literatur“ (Ebendort). „Dass die Juden das schlechteste
Volk der Erde sind, stimmt damit gut überein, dass gerade unter
Juden die christliche Lehre von der gänzlichen Sündhaftigkeit und
Verwerflichkeit des Menschen entstanden ist, und dass sie die-
selbe von sich stiessen“ (Ebendort).
zu nennen, und trotz der radikalen Kritik, die Feuerbach und
Bruno Bauer gerade in den 40er Jahren am alten Testamente
übten.
deutsche Freiheitsglaube“. Auch der nach Regierungsintentionen
eingerichtete „Bund für Freiheit und Vaterland“ ist wohl sein
Werk. Herr Dr. Naumann ist eine Art Impressario für preussische
Freiheit geworden.
erhoben wurde, hatte erst rein politischen Sinn. Sie richtete sich
gegen eine bestimmte Regierungskamarilla. Bald aber erhob sie
sich gegen die politischen und moralischen Grundlagen eines
ganzen Systems. Ich möchte sie ausdehnen auf die historische
Entwicklung der deutschen Nation. Damit würde die Schuldfrage
als religiöses Inventar restituiert. Mit ihrer Anerkennung und
Bejahung nicht nur im politischen, sondern auch im moralischen,
philosophischen und religiösen Sinne, würde Deutschland ausser
dem Frieden auch die christliche Kultureinheit Europas wieder
errichten.
und beginnt: „Dass in der Bibel auch die Geschichte einer der
ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso aber-
gläubischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die
Geschichte des Apostels Paulus — wer weiss das, einige Ge-
lehrte abgerechnet?“
schottischen und englischen Kirchen mit der offiziellen angli-
kanischen Kirche hervorging, hat zuerst in Europa mit dem
individuellen Erlösergedanken gebrochen.
ruft Nietzsche aus. „Europa hat einen Exzess von orientalischer
Moralität in sich wuchern lassen, wie die Juden ihn ausgedacht
und ausempfunden haben“ (Werke, Bd. X).
politische Charakterlosigkeit damit hinweg, dass er dem Schüler
das Tatsachenmaterial, das dem Lehrer schon entstellt und be-
schnitten übergeben wird, nur statistisch vorträgt. Zur Begeisterung
liegt ja auch weder Anlass noch eine Direktive vor.
Gehorsamsverweigerung.
„Schreie auf dem Boulevard“.
mann, Bd. II, S. 55/56.
Göttingen, 1889, S. 20.
1842, S. 60/61.
„Ausgedrückte Entblössung des falschen Glaubens“ und Luthers
„Warnung vor den neuen Propheten an die Christen zu Antorf“.
mann, S. 128.
X, S. 109.
C. E. Förstemann, „Neues Urkundenbuch zur evangelischen Kirchen-
reformation“, 1842, S. 229/31.
Geist“. Warum sollten aber gerade die Bauern leiden und
passive Christen sein, warum nicht die Fürsten? Die Leidenslehre
hat viel Unheil verschuldet und gutgeheissen. Sie war der Haupt-
quell jenes moralischen Defaitismus, den seit Luther der Staat
an Stelle der Kirche predigte. Das Christentum hat die Mission,
Leiden zu beheben, nicht Leiden zu verhängen. Das passive,
fatalistische Christentum gehört dem Mittelalter und den despoti-
schen Kirchen- und Staatsformen an, wie das aktive, befreiende
Christentum Ideal einer neuen demokratischen Zeit ist.
zember 1917.
Mitteilungen historisch-antiquarischer Forschungen“, Bd. XII, 1867.
wort wider das geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg“, 1525.
Th. C. Strobel, „Leben, Schriften und Lehren Thomae Müntzers“,
Nürnberg 1795, S. 51/52.
Rotten der Bauern“ 1525. Luther erklärte in dieser Schrift sogar
die Aufhebung der Leibeigenschaft für einen Artikel „stark wider
das Evangelium und räuberisch“, weil damit jeder seinen Leib,
der eigen worden, seinem Herrn nehme.
Inselverlag, Leipzig 1916, S. 5.
Vergl. auch seinen Brief an den Doctor Rühl: „Der weise
Mann sagt: Cibus, onus et virga asino, in einen Bauern gehört
Haberstroh. Sie hören nicht das Wort und sind unsinnig.
So müssen sie die virgam, die Büchse hören. Bitten sollen wir
für sie, dass sie gehorchen; wo nicht, so gilt's hie nicht viel
Erbarmens. Lasse nur die Büchsen unter sie sausen, sie machen's
sonst tausendmal ärger.“
anfengers der döringischen Uffrur,“ 1525.
451/52: „Pour se convaincre de l'esprit qui charactérise l'Eglise
luthérienne en Allemagne, même encore de nos jours, il suffit
de lire la formule de la déclaration ou promesse écrite que tout
ministre de cette Eglise, dans le royaume de Prusse, doit signer
et jurer d'observer avant d'entrer en fonctions. Elle ne surpasse
pas, mais certainement elle égale en servilité les obligations qui
sont imposé au clergé russe. Chaque ministre de l'Evangile en
Prusse prête le sermon d'être pendant toute sa vie un sujet
dévoué et soumis de son seigneur et maître non pas le bon Dieu,
mais le roi de Prusse; d'observer scrupuleusement et toujours
ses saints commandements et de ne jamais perdre de vue les
intérêts sacrés de Sa Majesté; d'inculquer ce même respect et
cette même obéissance absolue à ses ouailles, et de dénoncer
[249] au gouvernement toutes les tendances, toutes les entreprises, tous
les actes qui pourraient être contraires, soit à la volonté, soit
aux intérêts du gouvernement. Et c'est à de pareils esclaves
qu'on confie la direction exclusive des écoles populaires en
Prusse! (Das Kultusministerium.) Cette instruction tant vantée
n'est donc rien qu'un empoisonnement des masses, une propaga-
tion systématique de la doctrine de l'esclavage“.
Charles Maurras, Nouvelle Librairie Nationale, Paris 1909.
den Gehorsam aufkündigen, sobald er will ... Der Vertrag ist
aufgehoben; er gibt der Kirche ihren himmlischen Schatz, den er
noch nicht angegriffen hat, unversehrt zurück und lässt ihr die
Freiheit, alle ihre Zornesschalen in der unsichtbaren Welt über
ihn auszuschütten; und sie gibt ihm seine Glaubensfreiheit wie-
der.“ (Deutscher Glaube“, S. 27.)
vom Altertum: musste sie das? Sie entdeckte den alten Wider-
spruch Heidentum - Christentum von neuem“ (Werke, Bd. X).
Doch er beging den fundamentalen Fehler, sich für das germani-
sche Heidentum, statt für das romanische Christentum zu entschei-
den. Er musste diese Entscheidung teuer bezahlen.
Geist ausser Luther auch Johannes Tauler, Luthers Lehrer in theo-
logicis, wirkte. „Wir sind“, sagte Tauler, „wegen unserer Sünde
von Natur Kinder des Zornes und des ewigen Todes und der
ewigen Verdammnis. St. Augustinus spricht: „Der Mensch ist von
einer faulen Materie, stinkend und verdorben, ein Klotz und ein
faules Holz und Erdreich und das Ende ist der ewige Tod“. (Wil-
helm Preger, „Geschichte der Deutschen Mystik im Mittelalter“,
III. Teil, S. 177, Leipzig 1893.
I., S. 252, Göttingen 1844.
wie billig, von einem Juden, von Baruch Spinoza her.
sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito
[250] ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das
Ich anzunehmen, zu postulieren, ist praktisches Bedürfnis.“
lano 1915.
eines deutschen Naturforschers, S. 343 ff., Orell Füssli, Verlag,
Zürich 1917.
(Humanismus) und durch ihn auf Marx hat Prof. Th. G. Masaryk
nachgewiesen. („Die philosophischen und soziologischen Grund-
lagen des Marxismus“, S. 35 ff., Verlag Karl Konegen, Wien 1899.)
wie Sombart noch heute verlästerten englischen „Nützlichkeits-
philosophie“.
losophie in Deutschland“, S. 84, Verlag Otto Hendel, Leipzig.
und Kirchenrat. Die erste Skizze seiner Biographie stammt aus
dem Jahre 1792.
genossen. Deutsche Bibliothek, Berlin, S. 41.
Philosophie“, S. 110.
Mehring in „Die Lessinglegende“, zur Geschichte und Kritik des
preussischen Despotismus und der klassischen Literatur. J. W.
Dietz, Verlag, Stuttgart 1913.
lässlichste Forderung. Sodann eine Bearbeitung des Neuen
Testaments mit philosophischer, moralischer und ästhetischer
Exegese als Basis einer Reform der Theologie und des Erziehungs-
wesens. Ausgangspunkt des gesamten Unterrichts ist die evan-
gelische Tradition, Gegenstand die christliche Republik. Samm-
lung und Neuausgabe der Schriften aller christlichen Heroen nach
einem grosszügigen Plan, für den Volks- und Lehrgebrauch!
genossen, S. 57.
sophen von Strassenjungen häufig Steine über den Gartenzaun
geworfen wurden.
so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen
zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte“. („Der deutsche
Mensch“, Bekenntnisse und Forderungen unserer Klassiker. Eugen
Diederichs Verlag, Jena 1915.)
wünschte ich, dass Kant die positive, namentlich die christliche
Religion nicht bloss als Staatsbedürfnis oder als eine zu duldende
Anstalt um der Schwachen willen angesehen, sondern das Fest-
stehende, Bessernde und Beglückende des Christentums ganz
gekannt hätte“. (a. a. O., S. 91.)
Perrin et C°, Paris 1918, S. 92: „nous constaterons qu'il y a ainsi
compromis les assises de l'ordre moral et qu'aujourd'hui les
héritiers de son esprit n'ont plus même foi à la valeur objective
de la science“.
Levy, Paris 1889, S. 7: „Quelles que soient les prétentions de la
Philosophie, et la force relative des systèmes qu'elle a produits
par la tête de ses plus illustres penseurs, elle n'est au fond,
quand on y regarde, qu'un grand essai de méthode, nécessament
repris par l'intelligence humaine pour arriver à la vérité“.
dote merkwürdig, dass Kant, ehe er die „Religion innerhalb usw.“
zum Abdruck gehen liess, einen unserer ältesten Katechismen
„Grundlegung der christlichen Lehre“ (ohngefähr aus den Jahren
1732, 1733) ganz genau durchlas“. (S. 79.)
cartes bis Schopenhauer“, Kant und die Zensur, F. A. Brockhaus,
Leipzig 1917.
Hellerauer Verlag, Dresden-Hellerau 1915, S. 21.
Verlag, Jena 1914, S. 64.
und Macchiavellismus, in „L'Italie contre l'Allemagne“, Payot \& C°,
Lausanne 1917, die Kapitel besonders, in denen er von den „Räu-
bern“, von „Götz von Berlichingen“, „Faust“ und Fichtes „Reden
an die deutsche Nation“ spricht.
an fremdes Ansehen“ gesteht Fichte, „wurde den Deutschen, von
[252] denen sie vermittels der Kirchenverbesserung erst ausgegangen
war, zu neuer Anregung.“ („Deutsches Volkstum“, S. 19.)
Berlin 1917, S. 282.
zeugte, prinzipielle Individualismus ist irreligiös und in seiner
Konsequenz nihilistisch, zum Nichts, zur Vernichtung treibend.
Der Versuch der Luther, Kant und Nietzsche, auf den Individua-
lismus eine Moral, eine Religion zu gründen, musste zur Absur-
dität und zu Unheil führen. Moral und Religion sind gerade die
Disziplinen von der Beschränkung und Aufhebung des Individuums
gegenüber und in der Gesamtheit. Höchste Tugend des Indivi-
duums ist der Enthusiasmus. Das Problem der Intelligenz liegt
in der mit Trauer und Schmerz empfundenen Einsicht des Indivi-
duums in die mysteriöse Tatsache seiner Abgrenzung von der
Gesamtheit.
deutsche Geistesleben“, Sondernummer „Protestantismus“ der
„Süddeutschen Monatshefte“, München, Okt. 1917.
gangenheit und Gegenwart, 16.-24. Tausend. Eugen Diederichs,
Jena 1914, S. 24.
dem er von „frischen Nebeln einer vorsätzlichen Barbarei“ spricht.
Jemandem, der die Aussicht ins Ilmthal lobte: ‚Das ist keine
Aussicht‘, und sah dick-mürrisch dazu aus“. Es war nach seiner
Rückkehr aus Italien.
in „Prophètes du Passé“, „si, au lieu de brûler les écrits de
Luther, dont les cendres retombèrent sur l'Europe comme une
semence, on avait brûlé Luther lui-même, le monde était sauvé,
au moins pour un siècle. Luther brûlé! on va crier. Mais il y a
plus que l'économie du sang des hommes: c'est le respect de la
conscience et de l'intelligence du genre humain. Luther faussait l'une
et l'autre“.
„trat während des ersten Kriegshalbjahres an die Stelle der
[253] Kulturzeitschrift des Verlags, „Die Tat“, die aber vom März 1915
an wieder erscheint. Beide versuchen in gleichem Sinne zu
wirken: nämlich sie bereiten in Nachfolge von Fichte und
Lagarde auf volkstümlicher und religiöser Grundlage einen neuen
deutschen Idealismus vor“.
zerbrach ihm den Instinkt und war Kleistens eigentliche Krank-
heit. Man weiss auch, zu welchen Intellektkonstruktionen sich
Schiller von Kant verleiten liess, und wie Goethe gegen Kant
anging.
der damaligen Studentenverwilderung. Reclam-Verlag, Leipzig.
S. 517. Brief Schillers an Körner vom Mai 1795.
fahrenden Poesien, die gereimten Metaphysiken und Moralen“
in Schillers Musenalmanach.
mag ich auch nicht ganz: sie holt zu viel aus der Sinnenwelt.
Ueberhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir
zu viel“. Und Körner an Schiller, 11. Nov. 1790: „Auch mir ist
Goethe zu sinnlich in der Philosophie; aber ich glaube, dass es
für Dich und mich gut ist, uns an ihm zu reiben, damit er uns
warnt, wenn wir uns im Intellektuellen zu weit verlieren“.
muss man in Zeitdokumenten nachlesen, um sich ein Bild davon
zu machen. Der Berliner Buchhändler Nicolai sagte in einer Gegen-
schrift: vielleicht wäre Goethen eine kleine Züchtigung durch
Lessing, wie dieser sie vorgehabt habe, sehr heilsam gewesen.
Von Kant, dem man eine Streitschrift gegen die Xenien hatte
zustellen lassen, kam die Antwort, „dass er mit dem unwür-
digen Benehmen von Schiller und Goethe höchst unzufrieden,
vorzüglich aber gegen den Ersteren erzürnt wäre und dass er
ihre Art, sich gegen den bösartigen Angriff des Letzteren zu
verteidigen, ganz vorzüglich fände“. (Goethe in vertraulichen
Briefen, S. 596.) Lavater schrieb an den Grafen Friedrich Stoll-
berg: „Stille, kräftig, demütig, mutig wollen wir, Lieber, mit
lichtheller Weisheit und Würde dem garstigen Sanskülottismus,
[254] ohn' uns durch ihn beflecken zu lassen, entgegen arbeiten!
Goethe ist nun auch — ich hätte bald gesagt: Profoss der Sans-
külotten-Rotte geworden“. (S. 597)
hard Hauptmann, Richard Dehmel, Frank Wedekind. Von den
„Philosophen“ ganz zu schweigen.
die marxistische Internationale muss so betrachtet werden. Sie
ist eine Ausgeburt nationaler Desperation. Wenn Ledebour im
deutschen Reichstag (24. Okt. 1918) — mit erhobener Stimme —
bekennt: „Durch meine Zugehörigkeit zur internationalen Sozial-
demokratie höre ich nicht auf, ein Deutscher zu sein,“ bekennt
er sich gerade dann zu seinem Deutschtum, wenn es gelten
würde, sich nicht dazu zu bekennen. Das Bekenntnis erfolgte
gegen die Erfüllung berechtigter polnischer Ansprüche auf West-
preussen.
Hegel, ja sogar Schopenhauer setzten die allgemeine Bösartig-
keit voraus, wenn sie von den Aufgaben des Staates sprachen.
in Deutschland“, S. 110/111.
lismus gehört zu den kolossalsten Irrtümern, die jemals der
menschliche Geist ausgeheckt. Er ist gottloser und verdammlicher
als der plumpste Materialismus.“ Und Schopenhauer: „Um mich
über den intellektuellen Charakter der Deutschen und die auf
ihn zu gründenden Erwartungen zu orientieren, habe ich mir
einige feste Punkte gemacht, auf die ich vorkommenden Falls
allemal zurücksehe: 1. dass Fichte, dieser überbietende Hanswurst
Kants, selbst 40 Jahre nach seinem Auftreten noch immer neben
Kant genannt wird, als wäre er eben auch so einer. ῾´ Ηρακλεϛ
καὶ πίδηκοϛ!“ — Was sagen dazu die Herren des Verlags Eugen
Diederichs, die noch 1914 „in Nachfolge von Fichte und Lagarde
auf volkstümlicher und religiöser Grundlage einen neuen deutschen
[255] Idealismus“ vorbereiten? — Hier übrigens auch einige Sätze von
Herrn Lagarde:
„Die Christenlehre des 20. Jahrhunderts wird keine Dog-
matik sein, sondern eine Heimatkunde.“
„Dass jeder Nation eine nationale Religion notwendig ist,
ergibt sich aus folgenden Erwägungen.“
„Aber eins kann der Staat. Er kann der Religion den Weg
bereiten. Und er muss es.“
„Unsere Aufgabe ist nicht, eine nationale Religion zu
schaffen, wohl aber, alles zu tun, was geeignet scheint, einer
nationalen Religion den Weg zu bereiten.“
„Ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer
und Erlöser, Königsherrlichkeit und Herrschermacht gegenüber
allem, was nicht göttlichen Geschlechtes ist.“
„Nicht human sollen wir sein, sondern Kinder Gottes.“
1789-1814“, Reclam-Verlag, Leipzig. S. 174/175.
doktrinäre der Revolution, diese überlebt hat.
David Veit an Rahel Levin, S. 477/78.
dann Pichegru Holland und setzte eine Batavische Republik ein.
Preussen, durch Entziehung der englischen Hilfsgelder und durch
die feindselige Haltung Russlands und Englands in die Enge
getrieben, trat vom Koalitionskriege zurück und musste im Frieden
von Basel seine linksrheinischen Besitzungen Frankreich über-
lassen.
brauch Kants, S. 439/42. Es wird die deutschen Republikaner
schmerzen, dass meine Darstellung der von Nicolai widerspricht,
aber ich glaube, sie ist die Richtigere. Unsere Klassiker beweisen
nicht viel. Sie sind zweideutig. Wir müssen eine neue Tradition
schaffen.
nachdem sie von dem Reiche, das in der Entfernung nie schützte,
aber dennoch zuweilen lästig wurde, sich losgerissen hatte. Der
ganze Erfolg dieser Befreiungen lief in der Regel darauf hinaus,
dass man, anstatt ein Glied der grossen Anarchie zu bleiben,
[256] sich seine Anarchie eigens für sich selbst einrichtete, und die
Streiche, die man haben sollte, sich von nun an mit eigenen
Händen erteilte.“ (Fichte, „Macchiavell“, Kritische Ausgabe von
H. Schulz, Verlag Felix Meiner, Leipzig 1918, S. 7/8.) Was Fichte
hier beschreibt, ist das damalige Verhältnis Preussens zum „Reich“.
Und was Kant vorschwebte, war wohl als Konzession an die
drohenden Franzosen eine Auflösung des Heiligen römischen
Reichs in Adelsrepubliken, niemals aber eine preussische oder
gar deutsche Republik im heutigen Sinne.
Lebensjahren“, S. 224 von „Kants Leben in Darstellungen von
Zeitgenossen“, Deutsche Bibliothek, Berlin.
Deutschland Schule machte und wie er hier interpretiert wurde,
vergleiche man übrigens einen Ausspruch Schellings, der den Satz
von der „Freiheit, die des Zwanges Zweck“ ist, für Kants Erfin-
dung hielt: „Der Herrscher, der den freiwilligen Tugenden (sic!)
keinen Raum, der Gesellschaft keine Entwicklung gestattet, dem,
in Kants Weise zu reden, die Freiheit nicht des Zwanges Zweck
ist, ein solcher ist ein Despot“. Für den Einfluss Rousseaus auf
Kant spricht hinreichend die Tatsache, dass „ausser J. J. Rousseaus
Kupferstiche, der in seinem Wohnzimmer war, sich nichts von
dieser Art in seinem ganzen Hause befand“ (nach Borowsky).
preussische Freiheit“, Feuilleton im roten „Tag“, Berlin, Winter
1918. Moeller van den Bruck ist der Verfasser eines bei Bruns
in Minden erschienenen Prachtwerkes „Die Deutschen. Unsere
Menschengeschichte“. Das Werk „zerfällt“ in acht Bände. 1/2
„Verirrte und führende Deutsche“, 3/4 „Verschwärmte und ent-
scheidende Deutsche“, 5/6 „Gestaltende Deutsche. Goethe“, 7/8
„Scheiternde und lachende Deutsche“. Herr Moeller van den
Bruck wird voraussichtlich demnächst einen Nachtrag 9/10 „Fade
und bissige Deutsche“ bringen, worin er von dieser Notiz Kennt-
nis gibt.
zum Krieg von 1914“, Payot \& Co., Lausanne 1915, S. 5.
Politische Betrachtungen, S. 225, 243.
einer, wäre als Ehrenbürger der Revolution gehalten gewesen,
die neuen Ideale postulativ in Prosaschriften zur Geltung zu bringen,
statt sie in versifizierter Racine-Nachfolge ästhetisch und dekorativ
zu entwerten. Aus der feudal-philantropischen Humanitätsschwär-
merei wäre ein reales Wissen um die Tatsache der Inhumanität
und Unfreiheit geworden, aus dem Allerweltshumanismus ein heil-
sames Eingeständnis der „Grenzen der Nation“.
seinem wahren Wesen, 6.-10. Tausend, Franz Hanfstängel, Mün-
chen. Das Buch ist „Dem Andenken unserer Gefallenen gewidmet“
und beginnt mit Lessing- und Goethe-Zitaten.
den „alten Dessauer“, seinen Haupt-Exerzier- und Heermeister.
und sogar mit Gewalt zusammengetriebene Söldner aus der Hefe
des Auslandes. Mehring („Die Lessinglegende“, Zur Geschichte des
preussischen Despotismus) teilt Aktenstücke mit, aus denen her-
vorgeht, dass die Werber Friedrich Wilhelms I. in den an Preussen
angrenzenden Ländern vogelfrei waren und erschlagen werden
durften, wo man ihrer habhaft werden konnte. Das preussische
Heer war eine Art Fremdenlegion im schlimmsten Sinne, den
die Schauerballade mit diesem Worte verbindet. „So fand ich eine
leere, wüste Stätte und versuchte, einen Bau darauf zu errichten“,
schreibt Friedrich II. („Zur Einführung in die Denkwürdigkeiten
zur Geschichte des Hauses Brandenburg.“)
sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen,
durch praktische Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichs
der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt
desselben, und die Verkennung unserer niederen Stufe, als Geschöpfe,
und Weigerung des Eigendünkels gegen das Ansehen des heiligen
Gesetzes, ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben dem Geiste
nach, wenn gleich der Buchstabe erfüllt wurde“.
preussischer Staatsphilosoph gar nicht anders denken konnte. Die
Augsburgische Konfession macht ihn zum religiösen Instrument
seines Fürsten. Der Summepiskopus bestätigt seine Professur und
17
[258] er verpflichtet sich bei Amtsantritt, als treuer Untertan nur den
Interessen und der Würde seines Landesherrn zu dienen.
esse bei jetzigen Konjonkturen“. (Voigtländer, Quellenbücher,
Bd. 50).
culs-Brieff. De Anno 1656. (Mylius, Corpus Const. March. III.)
appliciret auf die Tactique und auf die Disciplin, derer Preussischen
Trouppen. 1753.
horst über das stehende Heer.
Stock- und Spiessrutenlaufen die allgemeine Wehrpflicht scheitern
könne. Es war eine Konzession an den romantischen Bürger,
keineswegs Freiheitsgeist. (Vergl. Delbrück, „Gneisenau“.)
Leipzig 1862/63, 3 Bände, 4. Auflage 1887.
„Zukunft“, 19. Januar 1918.
zustand, Schutzhaft und Zensur“, gehalten im Reichstag am 18. Ja-
nuar, 24. Mai und 28. Oktober 1916, („Der Freie Verlag“, Bern
1918). Als die literarische Zeitschrift „Das Forum“ in München
vom bayrischen Kriegsministerium verboten wurde, lautete die
Begründung: „Propagierung eines vaterlandslosen Aestethen- oder
Bürgertums“ und Verbreitung „unzutreffender und irreführender
Anschauungen und Urteile einzelner meist ausländischer Pazifisten
und Utopisten“. (Dittmann, S. 20.)
jonkturen“.
stoire de France, sous Napoléon écrites à Sainte Hélène“, Paris
1823, deutsch unter dem Titel „Napoleons Gedanken und Er-
innerungen“ bei R. Lutz, Stuttgart.
(Politisches Testament von 1752).
„Wenn nach meinem Tode mein Herr Neffe in seiner Schlaffheit
einschlummert, ... der Kaiser (Joseph II.) wird alles verschlungen
haben und sich schliesslich ganz Deutschland untertan machen,
dessen souveräne Fürsten er allesamt ihrer Macht berauben will, um
daraus eine Monarchie wie die französische zu formen“ (9. Mai 1782).
„Fiesco“ und „Don Carlos“ ist deutlich genug die protestantische
Adelsrevolte, getragen von humanistischer Schwärmerei. Sie lebten
politisch in der Zeit vor Ludwig XIV. und glaubten an Reformen
von oben. Die Freiheit, die sie meinten, ist die vom Fürsten
garantierte Religions- und Denkfreiheit, die Freiheit der Sitte, im
Gegensatz zur Etikette, die freiwillige Zustimmung zum „Gesetz“.
Sie verkannten die Lehre, die gerade Friedrich II. erteilte (Poli-
tisches Testament von 1768): „Prägt es euch wohl ein, dass es
keinen grossen Fürsten gibt, der nicht den Gedanken mit sich herum-
trüge, seine Herrschaft zu erweitern“. Die rebellischen Söhne bei
Schiller zerbrechen an einem tyrannischen Patriarchat, an der
„moralischen Weltordnung“. Die Väter sind bei ihm tragisch,
nicht die Söhne. Das ist uns fremd geworden.
sich ehedem „freventlicher Antastung fast aller gekrönter Häupter
auf dem Erdboden“ gerühmt hatte. Seine Gedichte erschienen
bei Reclam.
(Mitte November 1756).
französische Jesuiten kommen lassen, die den schlesischen Adel
erziehen“. (Politisches Testament 1752).
Graf Struensee und Sokrates“, Februar 1772.
Literatur“, Einleitung. Reclam-Verlag, Leipzig.
im Jahre 1008 der Mönch Bruno von Querfurt, die das Evange-
lium predigten, von den heidnischen Preussen erschlagen. 1255
musste König Ottokar von Böhmen mit einem Kreuzheer nach
Preussen kommen. Er gründete Königsberg. Um 1400, zur Zeit
der Dietrichs und Quitzows, herrschten wildestes Faustrecht und
Räubertum in der Mark. Kein Land wurde im 30jährigen Krieg
so verwüstet wie die Mark Brandenburg. Von Berlin sagte noch
Goethe, dort hause „ein verwegener Menschenschlag“.
volution“, Bd. I, S. 43 ff. (F. A. Perthes, Gotha, 1910), wonach
Nowikow 440 verschiedene Werke herausgab, die sich vorwiegend
mit moralischen Fragen in der Art der Freimaurer beschäftigten.
Stelle: „die Unheimlichkeit des Heimwärtshörens, des der Ruhe
Zuströmens, bekam in Ambrosius und Gregorius kenntnisreiche
Meister. Ein Mönch liess das gesamte Friedensaufsuchen der
Christenheit zusammenklingen in den Worten:
und Maximen auf Fr. Schlegel entscheidenden Einfluss hatten,
lautet: «Il paraît impossible que, dans l'état actuel de la société,
il y ait un seul homme, qui puisse montrer le fond de son âme
et les détails de son charactère, et surtout de ses faiblesses à
son meilleur amis. Mais encore une fois, il faut porter le raf-
finement si loin, qu'il ne puisse pas même y être méprisé comme
acteur dans un troupe d'excellents comédiens». (Oeuvres, ed.
par P. R. Auguis, IV, 379 ff, 1824).
Akzent liegt auf dem Worte „Natur“. Goethe war viel mehr
Rousseauist als man weiss und wissen kann.
Rolland, „Beethoven“, Max Rascher, Zürich, 1918, S. 52).
Deutschland wieder geboren werden. Im Redaktionszimmer
Charles Péguys, des Herausgebers der „Cahiers de la Quinzaine“,
deren eifriger Mitarbeiter Romain Rolland war, hing ein mächtiges
Bild Tolstois. Von Tolstoi ist Leonhard Franks Novellenband
„Der Mensch ist gut“ (Max Rascher, Zürich 1917) inspiriert und
Ludwig Rubiners „Der Mensch in der Mitte“ (Verlag der „Aktion“,
Berlin 1918). Beethoven scheint man vergessen zu haben.
Leipzig, S. 39, 47, 57. Der Essay schliesst: „Sollte es nicht in
Europa bald eine Menge wahrhaft heiliger Gemüter wieder geben,
sollten nicht alle wahrhaften Religionsverwandte voll Sehnsucht
werden, den Himmel auf Erden zu erblicken? Die Christenheit
muss wieder lebendig werden. Aus dem heiligen Schosse eines
ehrwürdigen europäischen Konziliums wird die Christenheit auf-
stehen, und das Geschäft der Religionserweckung nach einem
allumfassenden, göttlichen Plane betrieben werden. Keiner wird
dann mehr protestieren gegen christlichen und weltlichen Zwang,
denn das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle
nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben als fried-
liche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden“.
Georg Müller, München, 1912, S. 136 (siehe auch die Vorrede
zu den Gedichten des Novalis, Reclam-Verlag).
erlaubt. Ich bin nicht der Meinung Franz Bleis, dass das Christen-
tum der Romantiker eine Religion war, „die aus der Antike er-
wachsen, stärker als jede andere das Heidentum in ihrem Kulte
bewahrt hatte“, wenn ich auch zustimme, dass es ein Wieder-
erwachen der Sinne „nach den theoretischen und praktischen
Kunststücken der reinen Vernunft“ war, was sensible Naturen
des protestantischen Nordens zum Katholizismus trieb. Der
„heidnische Katholizismus“, den Blei beschreibt, mit „Festen
und Umzügen, bunten Gewändern und Bildwerken, Musik und
Göttern und Göttinnen“; der „den Rausch heiligt und die Macht
des Fleisches so über alles erkannt hat, dass er sein Dogma von
der Abtötung als erstes nennt“, kurz der Renaissance-Katholizismus
der Herren Blei, Scheler, Borchard und Wiegler — man hat die
kriegerischen Konsequenzen seiner Materialität gesehen —, dieser
[262] Dekorations-Katholizismus, der die alte strenge Tradition ver-
lassen hat, mag den Brüdern Schlegel in ihren späteren Jahren
entsprochen haben. Er war nicht das geistige Reich der Baader,
Novalis und Beethoven. Von Sophie Kühn sagte Novalis: „Ich
habe zu Sophie Religion, nicht Liebe“, und von Beethoven weiss
man, dass er Mozart des Don Juan wegen verachtete. Die Pro-
fanation der Liebe war beiden Profanation des Genies. Was
Beethoven und Novalis bewegt, ist keineswegs „heidnischer
Katholizismus“, auch nicht die „Gottesverehrung durch die Gott-
beleidigung in der Sünde“, die Blei als die Moralität (!) Barbey
d'Aurevillys und Baudelaires bezeichnet (S. 116). Es ist vielmehr
die leidende Spiritualität Christi, die Zauberbrücke zum Jenseits,
die Auflösung aller Natur und des Menschen im leidenden Gotte,
der jubeln möchte. Vergl. auch Beethoven, „Gespräche 1819-20“:
„Sokrates und Jesus sind meine Vorbilder gewesen“.
„Die religiöse Aufgabe: Mitleid mit der Gottheit zu haben“.
dichten“, Juni-Nummer der „Weissen Blätter“, 1916.
Landauer, „die nicht zerstören und wettern, sondern bauen, ordnen
und segnen, brauchen wir Helden der Liebe, so ist Hölderlin
unserer Zukunft, unserer Gegenwart ein führender Geist“ (S. 211).
Verlag.
„und dennoch sag ich's, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk
mir denken, das zerrissener wäre wie die Deutschen. Handwerker
siehst du, aber keine Menschen; Denker, aber keine Menschen;
Priester, aber keine Menschen; Herren und Knechte, junge und
gesetzte Leute, aber keine Menschen. Ist das nicht wie ein Schlacht-
feld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt unter
einander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande
zerrinnt?“ Hölderlin ist einer der ersten, der die geistige Ein-
heit der Nation, wenn auch nur hymnisch, wiederherzustellen
suchte. Die ganze Romantik ist eine Literatur und Musik gegen
Luther und Kant, gegen die individualistische und aufgeklärte
Charakterbildung und Philosophie. Eine Konspiration, wenn man
will, eine Freimaurerei. Franz von Baader und Goethe tragen
die religiöse Ureinheit des Mittelalters und seine Symbolik des
Abgrunds herein in die Neuzeit. Schopenhauer bleibt mächtiger
Hort des Sturzes der Intellektualphilosophie und verflachenden
[263] Alexandrinertums. Beethoven entfesselt die enthusiastischen und
dithyrambischen Kräfte der Nation. Wagner führt sie bis zu
Dante, Ambrosius und Giotto zurück. Süssigkeit der Madonnen,
Zentralverwaltung der Heiligtümer! Die Musik als der Inbegriff
aller magischen und priesterlichen Doktrinen. Nietzsche als erster
sucht den Geist dieser Musik ins Leben zu wenden, die Autoritäten
und Pseudomoralen des heiligen römischen Reichs zu stürzen
und alle Ungeheuer barbarischen Dunkels, barbarischer Härte,
barbarischer Spaltung ins Helle zu jagen. Doch die Musik ist
jetzt selbst schon blasphemisch und gottlos, im Widerspruch
mit ihrer hochstrebenden Intention, pervertiert vom grossen
Philisterreich. Nietzsche entdeckt es zu spät. Und er selbst ist nur
Ketzer, nur Protestant. So ist die Bedingung unseres Genesens:
Zusammenbruch dieses Philisterreichs, zurück zur scholastischen
Philosophie und liturgischen Mystik! Zurück in die Zeit vor der
Reformation!
und seine Beziehungen zur Romantik“, „Wissen und Leben“,
Zürich, Frühjahr 1918.
aus fort bei Schopenhauer und Wagner. Bei Nietzsche und
Kassner noch findet sich das Ideal des „Heiligen der Erkenntnis“,
das ebenfalls von der Romantik (in ihren indischen Studien) ent-
deckt ist.
bei Novalis ein „Schwester Blume“. Heine vergleicht ihn mit
dem arabischen Zauberer, der nach Willkür jeden Stein zu be-
leben weiss. „Novalis sah überall Wunder und liebliche Wunder:
er belauschte das Gespräch der Pflanzen, er wusste das Geheimnis
jeder jungen Rose, er identifizierte sich endlich mit der ganzen
Natur, und als es Herbst wurde und die Blätter abfielen, da starb
er.“ („Die romantische Schule“, S. 72, Hendel, Verlag, Halle.)
Vergl. auch Franz von Baader, der auf Novalis stark ein-
wirkte: „Sieh die Blume, wie sie sich ihrem Bräutigam, der
Sonne, entgegenwendet! Sie sauget Licht, pranget und blühet.
Nacht, Finsternisse umgeben sie, sie welkt. Das geht täglich vor
unsern Augen vor, nach physischen Gesetzen, wie man sagt.
Und sollten im Innern der Dinge, in der Geisterwelt, diese Ge-
setze nicht wirken? Ist denn mein Geist so isoliert, abgetrennt,
willkürlich, als wir wähnen? Nein, er wendet sich hinauf zum
Quell und zu der Sonne aller Wesen, und Licht und Wahrheit und
[264] Güte und himmlische Wollust füllt ihn, alles nach denselben ewigen
physikalischen Gesetzen! Ein wahrer Influxus, den unser Selbst-
gefühl beweist. Einzig wahre Philosophie und Physik allen Gebetes.“
land“, S. 36.
und Fichte weit überragt. Es ist scharf wie jener und kräftig wie
dieser, und hat dabei noch einen konstituierenden Seelenfrieden (!),
eine Gedankenharmonie (!), die wir bei Kant und Fichte nicht
finden, da in diesen mehr der revolutionäre Geist (!) waltet. Hegel
war ein Mann von Charakter.“
1852“ schreibt er: „Ich bekenne unumwunden, dass alles, was
in diesem Buche namentlich auf die grosse Gottesfrage Bezug
hat, ebenso falsch wie unbesonnen ist. Ebenso unbesonnen wie
falsch ist die Behauptung, die ich der Schule nachsprach, dass
der Deismus in der Theorie zugrunde gerichtet sei und sich
nur noch in der Erscheinungswelt kümmerlich hinfriste. Nein,
es ist nicht wahr, dass die Vernunftkritik, welche die Beweis-
tümer für das Dasein Gottes, wie wir dieselben seit Anselm von
Canterbury kennen, zernichtet hat, auch dem Dasein Gottes selbst
ein Ende gemacht habe. Der Deismus lebt, lebt sein lebendigstes
Leben, er ist nicht tot, und am allerwenigsten hat ihn die neueste
deutsche Philosophie getötet. Diese spinnwebige Berliner Dialektik
kann keinen Hund aus dem Ofenloch locken, sie kann keine Katze
töten, wie viel weniger einen Gott“.
der Religion und Philosophie“, S. 34), „müssen immer mit den
materiellen Interessen eine Allianz schliessen, um zu siegen“. Das sind
allerdings keine Romantiker, das sind Positivisten aller Wege.
Das sind die Herren Heine, Marx, Lassalle, Rathenau: Adoptiv-
protestanten aus materialistischer Wahlverwandtschaft.
„Vorlesungen über das Gottmenschentum“, Eugen Diederichs, Jena.
Vergl. auch Th. G. Masaryk, „Russland und Europa“, Bd. I,
S. 250, wo der Nachweis geführt wird, dass nicht nur die grossen
russischen Orthodoxen (Samarin, Chomjakow und Kirejevskij)
von Baader beeinflusst waren, sondern auch der Begründer der
Heiligen Allianz, Alexander I. Da der erste Entwurf der Heiligen
Allianz von Baader herrührt, kann man wohl sagen, dass er es
war, der den atheistischen Positivisten Napoleon stürzte.
oft ich es mit Pascal fühlte, das wir mit allem Spekulieren und
Demonstrieren immer ohne Gott in der Welt sind. Wahrlich
dein metaphysischer Gott ist ein so feines, lauteres Spiritus-
flämmchen, das weder erleuchtet noch erwärmt, und bei dem
jeder gute Entschluss erfriert.“ 1796 erschien seine Abhandlung
„über Kants Deduktion der praktischen Vernunft und die ab-
solute Blindheit der letzteren“. Es folgte ein Aufsatz „über den
Affekt der Bewunderung und der Ehrfurcht“ (1804). Es folgte
1823 eine Auseinandersetzung „über den Zwiespalt des religiösen
Glaubens und Wissens als die geistige Wurzel des Verfalls der
religiösen und politischen Sozietät“. Baaders magischer Einfluss
auf die Romantiker war gross. Nicht nur Novalis, sondern auch
Fr. Schlegel, Goethe und Schelling gingen in seine Schule. Der
Rationalismus und die Hegelei drängten ihn jedoch in den Hinter-
grund. Hier sind grossartige Schätze einer christlichen Philosophie
von unwiderstehlicher Heilkraft zu heben.
das Christentum“ (1839). Er hielt die ganze moderne Philosophie
von Descartes und Locke an für eine Geisteskrankheit, die gleich-
wohl nicht imstande gewesen sei, die gesunde Konstitution der
menschlichen Denkkräfte für immer zu zerstören, und sah das
Herannahen einer grossen sittlichen Katastrophe. 1786 schrieb
er: „Aerzte und alle Naturweise bekennen es einmütig, dass das
Fleisch alles, so da lebet, verdorben ist. Die allgemein über-
handnehmende Geistes- und Nervenschwäche, und Aufklärung
in unserm gesitteten Menschenvolke ist ein leider untrügliches
Symptom einer uns allgemein bevorstehenden Revolution. Leibhaft
sind wir mit allem unserem sinn- und gottlosen Dichten, Tun
und Zerstören das en miniature und als Zwerge der Schwäche und
elender, siecher Ohnmacht, was jene Riesen vor der Sindflut, jene
Fleisches-Türme und Heroen en gros waren. Jene Himmels-
Türmer sündigten durch gigantische Unternehmungen, und wir
Himmels-Stürmerlein durch Nichtigkeit. Das Herz ist das Erste,
was im kleinen Tröpfchen Lymphe, in und aus dem das Menschen-
gebilde bereitet wird, sichtbar scheint; und wahrlich dessen Bil-
dung ist es, worauf die ganze Tragikomödie abzweckt.“
wesentliche Institution. Am Protestantismus schätzte er die Ne-
gation der hierarchischen Despotie, sah aber in seinem Gefolge
die weltliche Beherrschung der Kirche, die Cäsaropapie. Beiden
Kirchen gegenüber zog er die gräco-russische als mustergiltige
[266] kirchliche Organisation vor. In einer 1818 erschienenen Abhand-
lung „Der morgenländische und abendländische Katholizismus
mehr in seinem inneren wesentlichen als in seinem äusseren
Verhältnisse dargestellt“ heisst es: „Die Vornehmheit, mit welcher
sowohl Romanisten als viele Protestanten im Abendlande auf die
polizeiliche Abhängigkeit der gräco-russischen Kirche als ecclesia
pressa herabblicken zu können vermeinen, steht ihnen übel an, indem
sie wissen könnten, dass gerade eine solche Abhängigkeit nicht
essentiell, sondern nur akzidentiell besteht, wovon aber das Ge-
genteil sowohl bei der römischen als protestantischen Kirche
statthat, indem jene sich der weltlichen Souveraineté nicht anders
zu entziehen weiss als durch unbedingte Untertänigkeit unter
einen geistlichen Souverain, so wie die protestantische Kirche
sich zwar der Untertänigkeit unter einen geistlichen Zwingherrn
entzogen hält, aber nur damit, dass sie den weltlichen Landes-
herrn als Oberhirten und Oberbischof anerkennt.“ — In einem
Briefe an Varnhagen von Ense (1824) nennt er den Protestantis-
mus das „grosse Unterhaus der Kirche“, und in einem weiteren
Briefe schreibt er: „Der Protestantismus soll seinen status quo
herstellen. Die Evangelischen sollen — ein Evangelium haben.
Kann aber der Protestantismus diesen status quo nicht herstellen,
pereat!“ (Kleine Schriften, Leipzig 1850, S. 380/82). Seine
ekklesiastischen Hoffnungen waren untrüglich auf die Wieder-
vereinigung der morgen- und abendländischen Kirchen gerichtet.
Bei der morgenländischen Kirche glaubte Baader einer der kor-
porativen Natur der Kirche entsprechendere kollegiale Form des
Kirchenregiments zu finden, ursprünglich reinere Formen in der
Verwaltung der Sakramente, einen reineren Begriff von den Be-
dingungen, unter deren der unfrei gewordene Mensch von der
Macht der Sünde und Schuld befreit werden könne. Die idealistische
deutsche Philosophie war ihm nur ein Vorläufer der Auflösung
des Protestantismus.
S. 253, Bd. XI der Gesammelten Schriften.
timent de la présence de Christ sans correspondant dans le
passé“. („Le Germanisme et la croisade américaine“, Atar,
Genève 1918.)
Schriften.
die preussische Freiheit“.
Leben“, Duncker \& Humblot, Berlin, 1844, S. 48.
„Jena, Montag, den 13. Oktober 1806, am Tage, da Jena
von den Franzosen besetzt wurde und der Kaiser Napoleon in
seinen Mauern eintraf: Den Kaiser, diese Weltseele, sah ich
durch die Stadt zum Recognoszieren hinausreiten. Es ist in der
Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu
sehen, das hier auf einen Punkt concentriert, auf einem Pferde
sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Wie
ich schon früher tat, wünschen nun Alle der Franzosen Armee
Glück, was ihr bei dem ganz ungeheuren Unterschied ihrer An-
führer und des gemeinen Soldaten von ihren Feinden (den
Preussen!) auch gar nicht fehlen kann. So wird unsere Gegend
von dem Schwall bald befreiet werden“. — Ein seltsamer Patriot,
wird man sagen! Und doch behauptet sein Herausgeber, dass
er „das Höchste“ gab, was „deutscher Idealismus überhaupt
geschaffen hat“. (Siehe Liz. Dr. K. P. Hasse, Vorwort zu „Hegels
Philosophie“, Deutsche Bibliothek, Berlin 1917.)
Habilitationsschrift lauteten: I. „Contradictio est regula veri, non
contradictio falsi“, II. „Syllogismus est principium Idealismi“.
da hat man die ganze Blasphemie des Protestantismus. Die Ein-
heit des Göttlichen und Menschlichen, repräsentiert vom preus-
sischen Soldatenkönig, da hat man den doktrinären Satanismus,
dessen die lutheranische Theologie sich schuldig machte.
Rede. Ueberall nur von den Tugenden der Stände, des Staates,
der Gesamtheit. Sein Aberglaube ist der Begriff, das Kollektivum.
Ein Reich von Begriffen soll die persönliche Immoral vergessen
machen und den moralischen Quietismus entschuldigen. Seine
Philosophie ist eine Flucht ins Abstraktum. Der Widerspruch,
den er an den Anfang seiner Philosophie setzt, hebt die Moral
auf, indem Gott und der Teufel gleiche Rechte geniessen. Der
Widerspruch, Hegels persönlichstes Problem, (ausgedrückt durch
These und Antithese) soll in der Synthese, im höheren Begriff
[268] vergessen und begraben werden. Da hat man auch den „ideolo-
gischen Ueberbau“, den Marx meinte, und als dessen Basis und
Realität er den gröbsten Materialismus und Fatalismus erkannt
und bezeichnet hat. Alle jene abstrusen dialektischen Prozesse, mit
denen Hegel und Marx in der Geschichte zur Moralität zu gelangen
glaubten, sind nur verzweifelte Versuche, über die ursprüngliche
Immoral und ekelhafte materialistische Begehrlichkeit hinweg-
zutäuschen. Niemand hat tiefer als Erneste Hello (in seinem
grossmütigen Buche „Philosophie et Athéisme“, Neuausgabe
Perrin \& Co., Paris 1903) den moralischen Nihilismus der Hegel-
schen Philosophie aufgedeckt. „Par cette théorie de l'identité
des contraires, où Hegel a-t-il été conduit? Si, en effet, l'affir-
mation et la négation sont identiques, toutes les doctrines
deviennent égales et indifférentes. Hegel proclame l'égalité, l'identité
de l'être et du néant. Voilà l'erreur radicale, fondamentale, immense
de ce siècle-ci; voilà la négation mère; voilà ce doute absolu,
qui est l'absence même de philosophie, érigé en philosophie
absolue“. Und er bezeichnete auch die Wurzel dieser Philosophie
des Nichts: „le grand malheur, le pêché originel de la société
moderne: le protestantisme“ (L'Allemagne et le Christianisme,
S. 247-260).
das auserwählte Volk der Juden erinnert.
„Kant'schen Philosophie, der ursprünglich Preussischen, seine
eigene Philosophie in den wesentlichsten Punkten verdankte“,
und das trifft auch zu.
gegen Hegel aufgestellt, mit denen sie auf der absoluten Un-
vernunft der Geschichte einen neuen (heroischen) Idealismus zu
errichten hofften. Die Ekrasierung Gottes aus dem Weltgetriebe,
die Schopenhauer vornahm, ist eine Ekrasierung der optimistischen
Hegel'schen Voraussetzung einer universalen Vernunft. Die
wahrhafte Theodicee war für Hegel „die Rechtfertigung Gottes
in der Geschichte“ (Philosophie der Geschichte). „Nur die Einsicht“,
schrieb er, „kann den Geist mit der (preussischen) Weltgeschichte
und der (preussischen) Wirklichkeit versöhnen, dass das, was
geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott,
[269] sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist“. Fast wörtlich hatte
sich Kant in der „Kritik der praktischen Vernunft“ so geäussert).
sische Absolutismus. „Die Regierung ruht in der Beamtenwelt (!)
und die persönliche Entscheidung des Monarchen steht an der
Spitze; denn eine letzte Entscheidung ist ... schlechthin not-
wendig“. Oder: „Allerdings ist es für ein grosses Glück zu
halten, wenn einem Volk ein edler Monarch zugeteilt ist; doch
auch das hat in einem grossen Staat weniger auf sich, denn dieser
hat die Stärke in seiner Vernunft“. Oder: „Es sollen die Wissen-
den regieren, οἱ ἂριστοι, nicht die Ignoranz und die Eitelkeit des
Besserwissens“. (Philosophie der Geschichte) Der preussische
Militär- und der Hegel'sche Intellekt-Absolutismus erklären sich
gleicherweise aus den menschlich und moralisch verzweifelten
Zuständen der vom 30 jährigen Krieg und den Habsburgern her
fortwirkenden Volksverwahrlosung.
lagen des Marxismus“) hat klar und bündig gezeigt, wohin der
„Trieb der Perfektibilität“ und der Glaube an die „historischen
Naturgesetze“ bei dem schlimmsten Schüler Hegels, bei Marx führte,
— zur moralischen Anarchie. Religion und Moral (die Ideologie)
sind abgetan. Das Fatum herrscht. Die Entwicklung, die die
Vernunft ist, wird alles selbsttätig entscheiden und die Moral
lautet einfach: Wer die Macht hat, hat das Recht. Moral ist jetzt
„Anerkennung der Tatsachen“, bei aller Freiheit, moralisch oder
unmoralisch handeln zu können. Die Entfesselung des Verbrecher-
tums ist die Folge.
das die Reformation errichtete, nicht politischen, sondern religiösen
Ursprungs und sein Herold nicht jener Luther war, der die Augs-
burgische Konfession guthiess, sondern jener Roger Williams,
der von gewaltigem, tief religiösem Enthusiasmus getrieben, in
die Einöde auszog, um ein Reich der Glaubensfreiheit zu gründen.
(vergl. J. Jellinek, „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte“, 1895, S. 42).
ausserordentliche Weise, bald durch ansehnliche Remunerationen,
bald durch splendide Reisegelder, und ging auch aufs Freund-
lichste auf möglichste Realisierung anderer Wünsche desselben
ein. Alles stellt ihn zufrieden und die kühnsten Hoffnungen für
seine Wirksamkeit breiten sich mit behaglichem Lächeln aus.
[270] Wer weiss, was für Perspektiven sich seinem gewaltigen Geist
noch vorspiegelten! Wer weiss, ob er nicht in die Regierung
selbst einzutreten sich Aussicht machte“. So Rosenkranz, S. 318/319.
Sie Beikommendes, mein lieber Herr Doctor, wenigstens als einen
Beweis an, dass ich nicht aufgehört habe, im Stillen für Sie zu
wirken. Zwar wünschte ich mehr anzukündigen, allein in solchen
Fällen ist manches für die Zukunft gewonnen, wenn nur einmal
ein Anfang gemacht ist. Der ich recht wohl zu leben und Sie
gesund und froh wieder zu sehen wünsche“ etc. (Rosenkranz, S. 223)
Hegel'schen „Philosophie“ zustimmte. Er hatte eine gewisse
Bonhommie für den trockenen Schwaben, der so wacker die
preussische Konjunktur für seine Karriere zu nutzen verstand.
Er ahnte wohl nicht die Folgen. 1821 schickte er Hegel einen
Weinbecher mit dem ironischen Begleitwort:
„Dem absoluten
empfiehlt sich
Schönstens
zu freundlicher Aufnahme
das Urphänomen“.
Im „Faust“ aber stehen die Worte, die wie ein Motto noch
heute die Hegel'sche Philosophie begleiten:
„Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der nach unendlichen Rezepten
Das Widrige zusammenschmolz“.
in Deutschland“, S. 121-124.
Introduction et Notes de Marius-Ary Leblond (unter Mitarbeit
von Barrès, Huret, Lichtenberger, Rolland, Schuré, Seignobos,
Sembat, Wetterlé u. a.), Paris, Albin Michel, 1917.
„Gesammelte Schriften zur philosophischen Erkenntniswissen-
schaft als spekulative Logik“, herausg. von Dr. Franz Hoffmann,
Leipzig 1851.)
Internationalen Akademie für das Studium speziell der histo-
rischen und politischen Wissenschaften vor, als der wichtigsten
für die Begründung und Ausbildung eines Internationalen
[271] Rechts. („Europeen Peace Institution“, 1874 in „The Chronicle“).
Freilich sind wir Deutsche an der Errichtung solcher Akademien
mehr als alle anderen Völker interessiert.
kungen, S. 287.
im Zeitalter der Mechanisierung und Entgermanisierung.
dans le monde moderne“, Cahiers de la Quinzaine VIII/5, 1906)
pflichtet mir bei, wenn er nicht nur die Trennung von Staat und
Kirche empfiehlt, sondern auch die Trennung von Staat und Meta-
physik. „Le parti intellectuel moderne a infiniment le droit d'avoir une
metaphysique, une philosophie, une religion, une superstition
tout aussi grossière et aussi bête qu'il est nécessaire pour leur
faire plaisir. J'entends sinon le droit civique, du moins le droit
social, politique, enfin le droit légal. Mais ce qui est en cause
et ce dont il s'agit, ce qui est le débat, c'est de savoir si l'Etat
moderne a le droit et si c'est son métier, son devoir, sa fonction,
son office d'adopter cette métaphysique, de se l'assimiler, de
l'imposer au monde en mettant à son service tous les énormes
moyens de la gouvernementale force. Il n'y a pas de méta-
physique universellement démontrable, et ainsi politiquement et
socialement valable. Quand donc l'Etat, fabricant d'allumettes
et de contraventions, comprendra-t-il que ce n'est point son affaire
que de se faire philosophe et métaphysicien. Nous avons le
désétablissement des Eglises. Quand aurons-nous le désétablis-
sement de la métaphysique? Faudra-t-il que ce Monde sans Dieu,
par un retournement que sans doute vous n'escomptiez pas,
devienne à son tour un nouveau catéchisme gouvernemental,
enseigné par les gendarmes, avec la bienveillante collaboration
de messieurs les gardiens de la paix?“ („Oeuvres choisies 1900
- 1910“, Bernhard Grasset, Paris). Heute, wo die marxistische
Staatsmetaphysik verzweifelte Anstrengungen macht, die Diktatur
zu erlangen, sind diese Sätze eines früheren Freundes von Jean
Jaurès nicht genug zu beherzigen.
teilt von Dr. Tim Klein, Sondernummer „Die deutschen Träumer‘,
der „Süddeutschen Monatshefte“, April 1918.
Georg Müller, München, 1916.
Blätter“, November 1916.
die Krämerfreiheiten, die vermeintlichen, gottlosen, verflachenden
Freiheiten. Man vergisst dabei nur, dass die Entwicklung in den
westlichen Demokratien beim Jahre 1830 nicht stehen blieb,
sondern allmählich zur religiösen Durchdringung und Vertiefung
jener „Freiheiten“ führte. Wir kämpfen heute durchaus nicht
mehr wie in den Zeiten der Heiligen Allianz als Verteidiger
theologischer Heiligtümer gegen ein rationalistisches Heidentum,
sondern umgekehrt: man macht uns den heiligen Krieg als auf-
geklärten Satanisten und Antichristen, mehr als es selbst den
politischen Führern der Entente zu Bewusstsein kommt. Aus
der Fusion von Ideen Calvins und Rousseaus entsprang in gross-
artiger Weise der Gedanke des Kreuzzugs gegen die deutsche
Ideologie.
gegnet: „Que nous ont-ils apporté ces Tourgénief, Herzen, Outine,
Tschernischevsky? Au lieu de la beauté divine, dont ils se
moquent, nous voyons chez eux une vanité affreuse, un orgueil
frivole“. (Serge Persky, „La vie et l'oeuvre de Dostojevsky“,
Payot \& Co, Paris, 1918). Bjelinsky!, ruft man. Und wieder
Dostojevsky: „Cet homme n'était pas capable de se mettre lui-
même et ceux qui conduiraient le peuple, à côté du Christ pour
tirer de là une comparaison. Il ne remarqua pas combien il y
avait en lui et en eux de vanité, de haine, d'impatience et sur-
tout d'amour- propre. Il ne s'est jamais demandé: Que mettons-
nous à sa place? Est-ce nous mêmes qui sommes si dignes?
Il n'était content que lorsqu'on trouvait de mauvais côtés chez
les Russes“. (Ebendort)
Kultur“ ergibt, dass ein krasser Naturfetischismus gerade dort
[273] herrschte, wo man die „moskowitische Barbarei“ am meisten
fürchtete: in Deutschland. Die Identification des göttlichen mit
dem menschlichen Denkprozess, die Ableitung des Geistes aus
der Materie, zwei Grundanschauungen der deutschen Philosophie
des 19. Jahrhunderts, bedeuteten die Zerstörung der Idee und die
Verherrlichung des Naturzustandes. Der Katholizismus hatte
den Primat des Geistes allzu despotisch geschützt. Die Refor-
mation aber und ihre Tochter, die französische Revolution, hoben
mit den Privilegien der Intelligenz, mit der Versklavung der Natur
bedauerlicherweise zugleich auch den ewigen Widerspruch
zwischen diesen beiden feindlichen Reichen auf: gerade die Ger-
manen fanden ihr Genie in der Entfesselung und Bejahung der
natürlichen Leidenschaften, (Schiller, Kleist, Wagner, Nietzsche),
während die Romanen und Sklaven, kurz die katholischen Völker,
im allgemeinen ihre geistige Arbeit der Sublimierung und Ele-
vation, der Befreiung von den Geistes-, von den Körper- und
Naturfesseln widmeten. Die unter dem Einfluss Napoleons ent-
standene anthropomorphe Schule der Herren Feuerbach, Stirner,
Marx und Nietzsche, die so überzeugt ihre vereinten Katapulte
gegen den „göttlichen Irrwahn“ richtete, hatte keinerlei Ver-
anlassung, Barbarei von draussen zu befürchten. Sie mag
es sich von den Dostojewsky, Strachow, Danilewsky, Solojew
gesagt sein lassen, dass ihr menschlicher Grössenwahn tausendmal
schlimmer und der Aufklärung dringender bedürftig ist, als die
„reaktionäre“ Dogmatik einer wenigstens prinzipiell auf dem
richtigen Wege haltenden Orthodoxie.
Piper \& Co, München, 1908, Religion und Revolution.
Töpelmann, Giessen, 1915. Wörtlich: „indessen erfordert nicht
nur die aktuelle Not, sondern das Verhältnis unserer Zukunft
zu Russlands Imperialismus vor allem die Nennung des viel-
leicht gewaltigsten russischen Poeten Dostojewsky, der die
ganze Gefahr des byzantinischen Christentums und des Fanatis-
mus jener orientalischen Mystik in sich enthält, mit seiner Kraft
sie entfaltend und verhüllend. Erst wenn wir alle diese falschen
Literaturgrössen der Ausländerei (sic!) in ihrer Differenz von uns
erkannt und überwunden haben werden, erst dann wird unser
Sieg allmählich ein vollständiger werden“. (S. 43).
hunderts mit dem Geiste der Romantik“, Georg Bondi, Berlin, 1914.
18
[274] Das Buch schliesst: „In welche Farbe sind sie also gekleidet,
die Bilder der neuen Geister, der Tatfrommen, Erdfrohen, der
Ueberwinder der Romantik? Von Stahl ist die Rede, die Rede
von Feuer, und von Kanonenschlag! Fortinbras: „Geht, heisst
die Truppen feuern!“ (S. 208).
(deutsch bei Eugen Diederichs, Jena) war gegen den Antichristen
Nietzsche gerichtet.
des Russes n'est ni le communisme, ni la possesion des forces
méchaniques: ce peuple croit qu'il n'aura le Salut que par
l'union universelle en Christ: voilà ce qu'est le socialisme russe“
(Persky, S. 454). Und Tolstoi: „Trachtet am ersten nach dem
Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches
alles zufallen: Dies ist das einzige Mittel zur Erreichung der Ziele
des Sozialismus“ (Leo Tolstois Tagebuch 1895-1899, herausg.
von L. Rubiner. Max Rascher, Verlag, Zürich, 1918, S. 163).
Oeuvres, tome VI, p. 110.
rungen aus dem Leben Mazzinis“ (1861), übersetzt und einge-
leitet von S. Flesch, Leipzig, Reichenbach'sche Verlagsbuchhand-
lung, 1911, S. 28.
Anwendung des Begriffs Napoleon auf die Philosophie. „Die
zwei grossen Tentativen, die gemacht worden sind, das 18. Jahr-
hundert zu überwinden: Napoleon, indem er den Mann, den
Soldaten, den grossen Kampf um Macht wieder aufweckte“ etc.
(„Der Wille zur Macht“, Aphorism. 104). Und Bakunin nannte
Napoleon, „diesen vermeintlichen Bezähmer des Demokratismus“
einen „würdigen Sohn der Revolution, der ihre nivellierenden
Prinzipien in ganz Europa mit siegender Hand verbreitet hat“.
(„Die Reaktion in Deutschland“, 1842 in Ruges „Deutschen Jahr-
büchern“, Dresden).
André Suarès („Nous et eux“), den Italiener G. A. Borgese („Italia
e Germania“ und „La guerra dell' Idee“), den Russen Wladimir
Solovjew („Die Rechtfertigung des Guten“).
trat gegen Bakunin zuerst in einem Artikel der Halbmonats-
[275] schrift „La Roma del Popolo“ auf, indem er von politisch-reli-
giösem Standpunkt aus die Commune angriff (Lugano, Früh-
jahr 1871); dann, als sich die weltberühmte Polemik entspann,
auch sein Freund Aurelio Saffi in dem mazzinistischen Journal
„L'Unità italiana“ (Milano, September 1871). Dostojewsky suchte
Bakunin und dessen Freund Netschajew mit den Figuren des
Schigalew und Werkowensky in den „Besessenen“ zu treffen.
„Chigalev expose son utopique projet de l'organisation de
l'humanité“, schreibt Persky, „Dostojevsky souligne le fait que
ce projet doit annuler tous les systèmes de Plato, de Rousseau,
de Fourier, applicables selon Chigalev à des moineaux et non
à une société humaine d'un caractère purement rational“.
porelle ou humaine procède directement de l'autorité spirituelle
ou divine. Mais l'autorité c'est la négation de la liberté. Dieu,
ou plutôt la fiction de Dieu est donc la consécration et la cause
intellectuelle et morale de tout esclavage sur la terre, et la liberté
de l'homme ne sera complète que lorsqu'elle aura complètement
anéanti la fiction néfaste d'un maître céleste. („Dieu et l'Etat“,
Oeuvres tome I, P. V. Stock, Paris, 1895, p. 283). Und: „Sous
la bannière de Dieu qui se trouve maintenant? Depuis Napoléon III
jusqu'à Bismarck; depuis l'impératrice Eugénie jusqu'à la reine Isa-
belle et entre elles le pape avec sa rose mystique que galamment
il présente, tour à tour, à l'une et à l'autre: ce sont tous les empe-
reurs, tous les rois, tout le monde officiel, officieux, nobiliaire et
autrement privilégié de l'Europe, soigneusement nomenclaturé dans
l'almanach de Gotha; ce sont toutes les grosses sangsues de l'in-
dustrie, du commerce, de la banque, les professeurs patentés et tous
les fonctionnaires des Etats; la haute et la basse police, les gen-
darmes, les geôliers, les bourreaux, sans oublier les prêtres cons-
tituant aujourd'hui la police noire des âmes au profit des Etats;
ce sont les généraux, ces humains défenseurs de l'ordre public
et les rédacteurs de la presse vendue, représentants si purs de
toutes les vertus officielles. Voilà l'armée de Dieu“. („Réponse
d'un International à Mazzini“, Oeuvres tome VI, P. V. Stock, Paris,
1913, p. 110/111). Aber er traf damit nicht die Armee Gottes,
sondern die Armee des Teufels, der wir heute noch einige andere
Elemente hinzuzurechnen haben, als da sind: materialistische
Staatssozialisten, rationalistische „Aufklärer“, Propheten des ge-
sunden Menschenverstandes, die wahren Jacobs der sozialdemo-
kratischen Ausruferei, kommunistische Geldfetischisten und Gene-
ralgleichmacher des Göttlichen mit der Gemeinheit.
folgern zustatten. Allerhand Sottisen gegen die Religion vorbringen
zu dürfen, war in Preussen seit Friedrich II. gerne erlaubt. Dieser
Umstand allein hätte genügen sollen, gegen die Freigeisterei
und den Atheismus skeptisch zu stimmen. Es charakterisiert die
Freiheit, dass sie zur Sklaverei führt, wenn sie sich gegen die
Gottesidee richtet.
breiteten Schriften „Confidentielle Mitteilung International Working
mens Assoziation Central Council London“ nebst Brief an Kugel-
mann, vom 28. März 1870, (mitgeteilt und in ihrem unerhörten
Inhalt glossiert von Dr. Fritz Brupbacher, „Marx und Bakunin“.
S. Birk \& Co, München, S. 79 ff.) und „Angebliche Spaltungen in
der Internationale“ (Mai 1872), deren Richtigstellung und Kom-
mentar James Guillaume in seinen Erinnerungen gegeben hat.
Vergl. auch James Guillaume, „Karl Marx Pangermaniste et
l'Association Internationale des Travailleurs de 1864 à 1870“,
Armand Colin, Paris, 1915. „Um sich eine rechte Vorstellung
zu machen“, schreibt Brupbacher von der zweiten Schrift, „lese
man die „Konfidentielle Mitteilung“ nochmals nach und erhebe
sie in die zehnte Potenz“.
beide Schriften Bakunins gekannt hat. In „Fédéralisme Socialisme
et Antithéologisme“ (1867) finden sich Gedankengänge zur Gene-
alogie der Moral, die fast wörtlich bei Nietzsche wiederkehren.
Und die Lektüre von „Dieu et l'Etat“ kann Nietzsche durch eine
gemeinsame Freundin, Malvida von Meysenbug, vermittelt worden
sein. „Dieu et l'Etat“ wurde nach der ersten Veröffentlichung
(1882) in fast alle wichtigeren Sprachen übersetzt.
théologisme“ und „Dieu et l'Etat“ entstanden als Antwort auf
einen päpstlichen Syllabus vom Winter 1864. Gerade die toskanische
Freimaurerei, an die Bakunin Empfehlungen von Mazzini hatte,
führte damals einen heftigen Kampf gegen das Papsttum.
Zukunft“, herausg. von Dr. Franz Hoffmann, Verlag H. Bethmann,
Leipzig, 1856, S. 12, 18.
ich nicht. Sie wurden mir von einer Schwester des Ordo templi
[277] Orientalis (O.T.O.) mitgeteilt und für diese Arbeit zur Verfügung
gestellt.
Philosophie“, schreibt Masaryk („Russland und Europa“, Studien
über die geistigen Strömungen in Russland, Bd. I, S. 250/251),
„erscheint immer grösser. Baader hat mit Russland längere Zeit
eine intime Verbindung gehabt; in einer Denkschrift an den
Kaiser Alexander I., an den Kaiser von Oesterreich und den
König von Preussen hat er 1814 die Grundlinien der Heiligen
Allianz vorgearbeitet und wahrscheinlich die Begründung derselben
gefördert. Die Denkschrift („Ueber das durch die französische
Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innigeren
Verbindung der Religion mit der Politik“) war dem Fürsten Go-
lizyn, dem Freunde Alexanders I. und damaligen Minister für
geistliche Angelegenheiten, gewidmet, und er erhielt längere
Zeit eine ansehnliche monatliche Remuneration dafür (140 Rubel).
Alexander I. beauftragte Baader 1815 ein religiöses Werk für
den russischen Klerus zu verfassen. Baader wollte in Petersburg
eine archäologische Akademie gründen, durch welche er die in-
nigere Verbindung von Religion, Wissenschaft und Kunst und
auch die Aussöhnung der drei Kirchen fördern wollte. Er begab
sich 1822 nach Russland, musste aber vor Riga umkehren, weil
sein enthusiastischer Gönner und Reisebegleiter, Baron Yxküll,
Benjamin Constant besucht hatte und in Ungnade fiel. Diese
Unvorsichtigkeit kostete Baader auch seine Remuneration“.
Um Baaders Entwurf für die heilige Allianz nicht mit den reak-
tionären und knebelnden Massnahmen zu verwechseln, die Met-
ternich später praktizierte, muss man den Inhalt dieses Entwurfs
kennen. „Der von den drei Monarchen von Russland, Preussen
und Oesterreich persönlich geschlossene Bund setzt in der Ur-
kunde vom 26. September 1815 fest, dass sich die Monarchen
nur von den Vorschriften der christlichen Religion, nämlich der
Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens werden
leiten lassen; sie wollen, weil nach der Heiligen Schrift alle
Menschen Brüder sind, künftig als Brüder handeln, ihre Unter-
tanen sollen sich als Glieder einer Nation betrachten: die Mo-
narchen sehen sich nur als Bevollmächtigte der göttlichen Vor-
sehung an, um die drei Zweige derselben Familie zu regieren, und
erkennen keinen anderen Souverän an, als Gott, Christus, das
Lebenswort des Allerhöchsten.“ („Russland und Europa“, Bd. I.,
S. 80). Barbey d'Aurevilly sympathisierte mit diesem Entwurf
(„Les prophètes du Passé“, p. 171) und Metternich war es, der
[278] sich über den Vorschlag Alexanders lustig machte, indem er
Geschäftsrücksichten geltend machte. Uebrigens musste auch
er bekennen: „Die Heilige Allianz war nicht eine Stiftung zur
Niederhaltung der Volksrechte, zur Beförderung des Absolutis-
mus und irgendeiner Tyrannei. Sie war lediglich der Ausfluss
einer pietistischen Stimmung des Kaiser Alexander und eine
Anwendung der Grundlagen des Christentums auf die Politik.
Aus einer Verbindung religiöser und politisch-liberaler Elemente
hat sich unter dem Einfluss der Frau von Krüdener und des
Herrn von Bergasse die Idee der Heiligen Allianz entwickelt.
Niemand ist genauer als ich in der Kenntnis aller auf dieses
‚lauttönende Nichts‘ bezüglicher Verhältnisse“. (Fürst von Met-
ternich, Nachgelassene Papiere, I, 214).
S.104. Hier auch seine Meinung über Kommunismus und Sozietät:
„Eine wahrhafte Gemeine können die Menschen nur dann bilden,
wenn sie mit Gott verbunden sind. Im bloss äusserlich aggregierten
Leben des modernen Staates hat jeder seine eigene (schlechte, weil
abstrakte) Selbständigkeit, die er sogar den Uebrigen entgegen-
setzt und die damit nicht bloss Gleichgültigkeit, sondern ver-
steckte Feindschaft ist. Das grosse Reich Gottes hat keinen an-
deren Sinn, als die Menschen in eine wahrhaft organische Innung
zu bringen, und zwar, weil nur in dieser lebendigen Gemeinschaft
Gott Alles in Allem geworden ist, als der eine und derselbe
Lebensgeist, der sich in jedem auf einzige Weise manifestiert.
Und deshalb bedarf Jeder aller Andern, um die Totalität der
Manifestation Gottes zu bewerkstelligen. Jeder ist unentbehrlich,
denn jeder hat eine andere Gabe. Auf diesem Geheimnis der
Verteilung der Manifestation beruht die conjunctio in solidum der
Menschheit.“ (Werke II, S. 73).
an der preussischen Universität Erlangen. Nach der misslichen
Oktober-Schlacht 1806 hielt er es nicht für „mit seinem Gewissen
vereinbar“ in dem vom Feinde besetzten Berlin zu bleiben, sondern
flüchtete über Pommern nach Königsberg. Er blieb zur Verfügung
des Königs und wurde am 20. Dezember 1808 „von jetzt an bis
zu hergestellter Ruhe an der hiesigen Universität als ordentlicher
Professor angestellt“. Dazu heisst es in seinem Ernennungs-
patent: „Ihm wird zugleich die Zensur der hiesigen Zeitungen
aufgetragen und deshalb zur Pflicht gemacht, dabei zu sehen,
dass die Nachrichten von den Kriegs- und anderen öffentlichen
[279] Begebenheiten nicht in einem verführerischen, den Patriotismus
niederschlagenden Tone erzählt, gegenteilig alle Anlässe, um
den Mut der Untertanen zu beleben, gehörig benützt werden“.
(mitgeteilt von Robert Prutz, „I. G. Fichte in Königsberg“, Bei-
lage 181 zur „Allgemeinen Zeitung“ 1893, München). „Nach beiden
Richtungen“, schreibt der Herausgeber seines „Macchiavell“,
„war er nun tätig; er hielt Vorlesungen, solange er Hörer hatte,
und waltete als Zensor, bis ihm dieses Amt abgenommen wurde“.
(I. G. Fichtes „Macchiavell“ nebst einem Briefe des Generals
von Clausewitz an Fichte, Kritische Ausgabe von H. Schultz,
Verlag Felix Meiner, Leipzig, 1918, S. VII.)
Solovjew ist hier sehr ungerecht gegen seine Landsleute und
der Verlag hat die Schrift, die die Nichtigkeit der russischen
Literatur und die „Sünden Russlands“ beweisen soll, wohl nur
aus chauvinistischen Gründen als Separatdruck erscheinen lassen.
hin. „Die sozialen Ideen treten, wenn man will, gleichzeitig nicht
allein mit der politischen Oekonomie auf, sondern selbst mit der
allgemeinen Geschichte. Jeder Protest gegen die ungerechte Ver-
teilung der Arbeitsmittel, gegen den Wucher, gegen den Miss-
brauch des Eigentums — ist Sozialismus. Das Evangelium und
die Apostel, — um hier nur von der neuen Welt zu reden —
predigen Kommunismus. Campanella, Thomas Münzer, die
Wiedertäufer, teilweise die Mönche, die Quäker, die mährischen
Brüder, der grössere Teil der russischen Schismatiker sind Sozia-
listen“. („Die Feinde des Sozialismus“, Nr. 41/42 der „Aktion“,
Berlin, 1917.)
des André Suarès über Charles Péguy möchte ich folgenden
charakteristischen Passus zitieren, den ich Oktober 1916 für die
„Weissen Blätter“ übersetzte: „Man bilde sich nicht ein, Jeanne
d'Arc sei für Péguy ein literarisches Sujet. Jeanne d'Arc ist
sein Lebenswerk, seine Aufgabe, seine Mission. Er betrachtete
sich gesandt und geboren für Jeanne d'Arc wie Joinville für
den heiligen Ludwig. Sein erstes Buch, mit 25 Jahren, ist
eine Jeanne d'Arc. Er gestand mir, dass er sein ganzes Leben
über Jeanne d'Arc zu schreiben gedenke, sollte er hundert Jahre
alt werden. Zwanzig und selbst dreissig weitere Bände schreckten
ihn nicht. Er widmete alles insgeheim Jeanne d'Arc. Er über-
setzte alles in Jeanne d'Arc, steigerte es in eine höhere Realität.
Jeanne d'Arc war für Péguy zuletzt das passionierte Frankreich in
[280] seiner höchsten Gegenwart. Der wahre Christ lebt unaufhörlich
in der Passion Jesu Christi. Péguy ward nicht müde zu leben
in der Passion unserer lieben streitbaren Frau von Orléans. Alle
seine Werke, seine Pamphlete, Abhandlungen, seine Reden an
und über sich selbst, sind nur die Kämpfe und Scharmützel der
heiligen Jeanne im 20. Jahrhundert.“
marques IV“, Nouvelle Revue Française, November 1917), „s'il
ne gardait pas le regret et la superstitíon de la force temporelle.
Fût-il seul, fût-il sans ville, sans Vatican et sans armée, il aurait
l'autorité, qui est l'âme du pouvoir. Mais quoi? il ne serait pas
seul; pour armée il aurait toutes les foules catholiques, et elles
mêmes qui ne vont pas à la messe; pour ville, toute l'Occident;
pour Vatican le monde entier. Faites en l'essai: allez-vous en,
pape Benoît, et laissez la tiare au cardinal Mercier.“
Berlin 1916, französisch bei Atar, Genf 1917.
verzweigten edlen Aktion und der von ihm herausgegebenen
Zeitschrift „Summa“.
philosophen Rudolf Otto, „Das Heilige. Ueber das Irrationale
in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“,
Trewendt \& Grenier, Breslau 1917. Schon Jacob Böhme verlegte
den „Grimm“, das alttestamentarisch-teutonische Pathos, in das
Wesen des Göttlichen und liess alle seine weiteren Manifesta-
tionen aus dieser „Uroffenbarung“ hervorgehen. So findet Rudolf
Otto, vom alten Testament und Luther ausgehend, den dunklen,
grausigen, und von den Evangelien ausgehend den hellen, fas-
zinierenden Grund bei seiner Analyse des Heiligen und des
Gottesgefühls. Die Irrationalität entsteht hier nur aus dem Be-
wusstseinswiderspruch in der Heiligen Schrift.
Geistesleben dieser Zeit war zweifellos durch ein rein philo-
sophisches Gepräge ausgezeichnet, aber es kam in keinem philo-
sophischen Werke zum Ausdruck. Vollkommen ausgeprägte Er-
innerungsdenkmäler hat uns diese Zeit nicht geschenkt, ausser
einigen zusammenhangslosen Inschriften, will sagen Aufsätzen,
die teilweise von der Weltanschauung westlicher Philosophen
inspiriert, zum Teil gegen sie gerichtet waren.“
[281] zu Richard Wagner während des Dresdner Maiaufstandes 1849.
(R. Wagner, „Mein Leben“, Volksausgabe.)
sich von der Herrschaft des metaphysischen, abstrakten Gedankens
völlig zu befreien. Die intellektualistischen Werke unserer jüngsten
Philosophen beweisen es. In Zeiten, die mehr wie je die Identifi-
kation des Autors mit dem geschriebenen Wort verlangen, ist
das besonders schlimm. In Deutschland kam zur umschweifigen
Bonhommie und Inkonsequenz des Denkens die talmudistische
Freude am Räsonnement.
„Erinnerungen“ von „endlosen Gesprächen über Phänomenologie“,
die Bakunin 1847 in Paris mit Proudhon über Hegel führte.
„Bakunin wohnte damals bei Adolph Reichel, in einer äusserst
bescheidenen Wohnung jenseits der Seine, in der Rue de Bour-
gogne. Proudhon pflegte öfters hinzugehen, um Reichels Beet-
hoven und Bakunins Hegel zu hören, doch dauerten die phi-
losophischen Debatten länger als die Symphonien. Sie erinnerten
an den berühmten «Abendgottesdienst», den Bakunin mit Chom-
jakow bei Tschaadajew und der Jelagina im Gespräche über
denselben Hegel nächtelang abzuhalten pflegte.“
Mazzinis (1871) schrieb er: „Hier, was uns in jungen Jahren so
sehr revoltierte und was der Grund war, weshalb wir alle mehr
oder weniger Idealisten waren. Wir fühlten uns, dank unserer
jugendlichen Phantasie und dem jugendlich hitzigen Blute, das
in unsern Adern glühte, so unendlich, dass selbst die Unendlich-
keit der sichtbaren Welt uns zu eng erschien. Wir sahen mit
Verachtung auf sie herab und flogen sehr hoch. Wohin? In die
Leere der Abstraktion, ins Nichts. Ja, unsere Unendlichkeit war
das Nichts, das „absolute Nichts“, das wir eifrigst mit phantas-
magorischen Gebilden, mit den Träumen unserer Delirien-Ein-
bildung zu erfüllen suchten. Als wir aber diese Gebilde näher
betrachteten, sahen wir, dass unsere Phantasien und Träume, an-
scheinend so unendlich und reich, nichts als bleiche Reproduk-
tionen und monströse Uebertreibungen derselben wirklichen Welt
waren, die wir mit soviel Verachtung behandelten. Und begriffen
schliesslich, dass wir, wenn wir uns so hoch, bis ins Leere, er-
hoben, nicht reicher, sondern im Gegenteil an Herz und Geist
ärmer wurden; nicht mächtiger, sondern im Gegenteil ohnmächtig.
Sahen schliesslich ein, dass wir mit unserm kindlichen Vergnügen,
träumend die unermessliche Leere, Gott, das von unserer eigenen
[282] Abstraktions- oder Negationskraft geschaffene Nichts zu beleben
— dass wir, sage ich, die Gesellschaft, uns selbst, unsere ganze
reale Existenz im Stiche liessen und dafür Propheten, Träumer,
religiöse, politische und ökonomische Exploiteure der „göttlichen
Idee von der Welt“ wurden. Und dass wir, auf der Suche nach
einer ideellen Freiheit ausserhalb der Bedingungen der wirklichen
Welt, uns selbst zur traurigsten und schändlichsten Abhängigkeit
verurteilten. Wir begriffen, dass wir, um unser Erdengeschick zu
erfüllen, jeden unserer Gedanken und unsere Anstrengungen einzig
auf die Emanzipation der menschlichen Gesellschaft auf dieser
Erde zu richten hätten.“ (Max Nettlau, Michael Bakunin, Eine
Biographie, hektographiertes Manuskript, Bd. I, S. 37, London, 1900.
Westlertum der Bjelinsky, Herzen, Turgenjew, Tschernischewsky
etc. unerbittlich. Das grosse Denkmal dieses Kampfes gegen die
„selbstbewussten Rebellen“ sind die „Besessenen“. „Pour Dosto-
jevsky“, schreibt Persky, „le parti révolutionnaire est avant tout
un groupe de coquins à qui manque l'intuition de la vérité et qui
ont été saisis et emportés par le vent du libéralisme occidental.
Tous sont des déracinés du sol populaire, des démons, des
possédés.“ Er erhoffte eine Transformation aller Klassen mit
Hilfe der religiösen Idee und drohte den Apologeten des Atheismus
mit der Gegenrevolution und dem Untergang ihres apokalypti-
schen Babylon.
deutschen Zeitschriften „Die weissen Blätter“ (Herausgeber René
Schickele) und „Zeitecho“ (Herausgeber Ludwig Rubiner) ver-
suchten wohl das internationale Verständnis zu fördern. Beide
konnten sich jedoch nicht entschliessen, völlig mit den deutschen
Vorurteilen zu brechen, und so blieb ihre Wirkung sowohl
nach Deutschland wie nach dem Auslande auf jene Kreise
beschränkt, die noch heute den Sinn dieses Krieges, die Ein-
ordnung einer gegen die Sozietät rebellierenden Nation, nicht
zugeben wollen.
S. 157/58, I. H. W. Dietz, Nachflg., Stuttgart, 1903.
gerade bei Louis Blanc reichliche Anleihen machte für das „Kom-
munistische Manifest“, während umgekehrt von Anleihen Louis
Blancs für sein 1847 erschienenes Werk „Organisation du travail“
nichts bekannt geworden ist. Bereits 1833 begann Louis Blanc
in seiner Zeitschrift „Revue du Progrès“ mit der Veröffentlichung
[283] seines Systems des Staatssozialismus. (Vergl. Wladimir Tscher-
kessow, „Blätter aus der Geschichte des Sozialismus; die Lehren
und Handlungen der Sozialdemokratie“, 1893; vergl. auch Arturio
Labriola, „Die Urheberschaft des kommunistischen Manifestes“,
Berlin 1906, worin die Feststellungen Tscherkessows bestätigt
werden, und Pierre Ramus, „Marx und Engels als Plagiatoren“
in der „Freien Generation“, Heft 4, 6, 8, 1906/07). Selbst Kautsky
musste zugeben, dass die grundlegenden Ideen des „Kommu-
nistischen Manifestes“ nicht original und keine grossen Ent-
deckungen von Karl Marx und Friedrich Engels waren, wie dies
bis dahin Kautsky, Bebel u. a. behauptet hatten. (Kautsky, „Das
Kommunistische Manifest ein Plagiat“ in der „Neuen Zeit“,
Stuttgart, Nr. 47, 18. August 1906, S. 693-702). Marx selbst
gestand 1857, dass er 1842 weder Oekonomik noch Sozialismus
gekannt habe. Das Studium der Oekonomik habe er in Paris
(also 1843) begonnen. (Vorrede zur „Kritik der politischen
Oekonomie“).
menais' „Paroles d'un croyant“, deutsch von Ludwig Börne, Re-
clam-Verlag, S. 15). In seinem „Versuch über die Gleichgültigkeit
gegen religiöse Dinge“, 1817, der den Herren Sozialdemokraten
übrigens noch heute zu empfehlen ist, betonte er: „Die durch die
Sünde verderbte spekulative Vernunft ist an sich nicht imstande,
die Wahrheit zu erkennen. Die Wahrheit ist vielmehr durch gött-
liche Offenbarung gegeben, die Vernunft hat also diese als einzige,
untrügliche Richtschnur anzuerkennen“. Aber von Sünde, Schuld,
Sühne, und wie dergleichen unangenehme Dinge mehr heissen,
will ja die höchst selbst- und klassenbewusste deutsche Führer-
und Verführerschaft des Proletariats nichts wissen. Wie viel
weniger von Offenbarung, es handle sich denn um ihre eigene
platte Doktrin.
einer jungen deutschen Republik gewidmet sei: „Lasst euch von
eitlen Worten nicht täuschen. Viele werden euch zu überreden
suchen, dass ihr wahrhaft frei seid, weil sie auf ein Blatt Papier
das Wort Freiheit geschrieben und es an allen Strassen ange-
heftet haben. Die Freiheit ist keine Ankündigung, die man an
den Strassenecken liest. Sie ist eine lebendige Macht, die man in
sich und um sich fühlt, der Schutzgeist des häuslichen Herdes,
die Bürgschaft der geselligen Rechte. Hütet euch also vor denen,
die sagen: Freiheit, Freiheit, und sie durch ihre Werke zer-
stören.“ (S. 63, „Worte eines Gläubigen“, Reclam).
freiem „Aufruf zum Sozialismus“ (Berlin, 1912) ich hier gerne
gestehe, dass seine Bedeutung noch 1914 meine Einsicht
übertraf.
gration.
Das „Libell eines Doctor Marx“ ist Karl Marxens „Misère de la
philosophie. Réponse à la philosophie de la misère de M. Prou-
dhon“, Bruxelles et Paris, 1847, deutsch von Ed. Bernstein und
Karl Kautsky, 1892.
slavismus, Agententum und persönlicher Eifersucht auf Marx in
seinem grossen und hervorragenden Geschichtswerk weiter.
Während er Dilettanten wie Borkheim und Hess nur weil sie im
grossen Lichtkreis der Marx'schen Sonne standen, über Gebühr
unterstreicht, ist von Bakunins Föderalismus und Anti-Etatismus,
von seiner Marxkritik und seinem aktiven Humanitätsideal, das
viele deutsche Wurzeln hat, kaum die Rede. Bd. II, S. 176
kann man lesen, dass Bakunin „am eifrigsten daran gearbeitet
hat, den Bund (die herrliche marxistische Internationale) zu
zerrütten“; S. 370, dass er „den ideologischen Ueberbau mit
der ökonomischen Unterlage verwechselte“, trotzdem weder das
Eine noch das Andere haltbar ist. Die ganze Internationale war
sich bis zur Londoner Konferenz (1871) darüber einig, dass die
Wahlaktion dem ökonomischen Emanzipationskampf als Mittel
unterzuordnen sei. Während Bakunins System von seiner ersten
Formulierung (1867) bis zu seinem Tode konsequent dasselbe
blieb, die Beteiligung an den bürgerlichen Parlamenten und be-
sonders am prusso-germanischen Parlament bekämpfte, hat gerade
Marx durch seine Schwenkung zur Wahlpolitik 1871 die Interna-
tionale in staatliche Gruppen aufgelöst, und damit recht eigent-
lich die völkerverbindende Idee des Sozialismus zerrüttet und
korrumpiert. Auf dem berüchtigten Haager Kongress (1872), wo
Marx nach Mehring die Internationale vom „anarchistischen Roste“
säuberte, während er sich tatsächlich nur auf dem Reptilien-
wege eine Mehrheit gegen die föderalistische und antistaatliche
Opposition zu sichern wusste, vollzog Marx seine Reaktion gegen
den humanistischen Geist der Internationale, der schon damals
den Zentralismus der Bismarck und Marx zu identifizieren begann.
„Der Kongress“, schreibt Mehring (IV, S. 54), „sagte sich durch
[285] einen feierlichen Beschluss von jeder Verantwortung für das
Treiben der Bakunisten los“ (wer hatte ihm diese Verantwortung
übertragen?) „und stiess Bakunin nebst einem seiner Helfers-
helfer aus dem Bunde“. Der „Helfershelfer“ war James Guillaume,
Freund Bakunins und Führer der berühmten Jurassienne. Nirgends
ist in Mehrings vierbändigen Werk, das alle Sottisen und Lächer-
lichkeiten der deutschen sozialdemokratischen Entwicklung auf-
zählt, von ihm die Rede. Und doch hat gerade Guillaume eine
„Geschichte der Internationale“ geschrieben, die man wenigstens
mit der „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“ vergleichen
sollte, um sich ein Urteil zu bilden. Es geht nicht an, länger
Geheimpolitik und Sektendogmatik mit einer der wichtigsten An-
gelegenheiten der Menschheit zu treiben. Deutsche Gesamt-
ausgaben der Werke Bakunins und James Guillaumes würden
die nützlichsten Dienste leisten.
Mazzinis in einem von Dr. Wirth in Zweibrücken herausgegebenen
demokratischen Journal. Vergl. auch Anmerkung 84.
nicht unterschätzt werden. Wenn es auch erst heute mit Marx,
Bakunin und Nietzsche zu populärer Wirkung gelangt, so stellt es
doch die erste reine, reale, gesellschaftlich rebellierende Philosophie
des neueren Deutschland dar und zählt damit zu den wahrhaft
klassischen Leistungen der Nation. „Wer von mir nichts weiter
sagt und weiss“, schrieb Feuerbach (Werke I, S. XIV, XV), „als:
ich bin Atheist, der sagt und weiss soviel von mir wie Nichts.
Die Frage, ob ein Gott ist, oder nicht ist, der Gegensatz von
Theismus und Atheismus gehört dem 18. und 17. Jahrhundert
an. Ich negiere Gott, das heisst bei mir, ich negiere die Negation
des Menschen, ich stelle an die Stelle der illusorischen, phantasti-
schen, himmlischen Position des Menschen, welche im wirklichen
Leben notwendig zur Negation des Menschen wird, die sinnliche,
wirkliche, folglich notwendig auch politische und soziale Position
des Menschen“. Durch seine Identifikation der Vernunft mit
der Liebe („Die Liebe ist Vernunft“, Werke I, S. 119), überhaupt
durch Betonung der diesseitigen Aufgaben und Pflichten, rückte
er in höchst produktiver Weise dem herrschenden theokratischen
System zu Leibe, und Masaryk bestätigt, dass Feuerbachs
Einfluss gerade auf Marx „sehr bedeutend war, viel bedeuten-
der als man bisher anzunehmen pflegt“. Feuerbach schrieb:
„Der Zweck meiner Schriften, so auch meiner Vorlesungen ist,
[286] die Menschen aus Theologen zu Anthropologen, aus Theophilen
zu Philanthropen, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des
Diesseits, aus religiösen und politischen Kammerdienern der
himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien,
selbstbewussten Bürgern der Erde zu machen“ („Vorlesungen
über das Wesen der Religion“). Und Marx hierzu: „Erst Feuer-
bach, der den Hegel auf Hegel'schem Standpunkt vollendete und
kritisierte, indem er den metaphysischen absoluten Geist in den
wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur auflöste,
vollendete die Kritik der Religion, indem er zugleich zur Kritik
der Hegel'schen Spekulation und daher aller Metaphysik die grossen
und meisterhaften Grundzüge entwarf“ („Die heilige Familie“, 1845,
S. 220). Auf Feuerbach fussend gelangte Marx dann zur „umwäl-
zenden Praxis“: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden
interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“. — (Vergl.
über das Verhältnis Feuerbach-Marx, das die Grundzüge der
jungdeutschen Rebellion aufhellt, Th. G. Masaryks eingehende
Analyse in „Die philosophischen und soziologischen Grundlagen
des Marxismus“, Carl Konegen, Wien 1899, ein heute leider
vergriffenes Buch, das zum Besten der Marx-Literatur gehört,
weil es zugleich die Phraseologie des Edelprotestantismus aus der
Feuerbach-Schule (bei Stirner, Marx, Nietzsche) und die eklektische
Aphoristik des Marx'schen philosophischen Systems aufhellt.
letzten Gedanken verraten, der allen diesen Systemen zugrunde liegt,
und der eben das Gegenteil ist von allem, was wir bisher Gottesfurcht
nannten. Die Philosophie hat in Deutschland gegen das Christentum
denselben Krieg geführt, den sie einst in der griechischen Welt
gegen die ältere Mythologie geführt hat, und sie erfocht hier
wieder den Sieg. In der Theorie ist die heutige Religion ebenso
aufs Haupt geschlagen, sie ist in der Idee getötet, und lebt nur
noch ein mechanisches Leben, wie eine Fliege, der man den
Kopf abgeschnitten, und die es gar nicht zu merken scheint,
und noch immer wohlgemut umherfliegt (1835!). Wir haben jetzt
Mönche des Atheismus, die Herrn von Voltaire lebendig braten
würden, weil er ein verstockter Deist ist. Ich muss gestehen,
diese Musik gefällt mir nicht, aber sie schreckt mich auch nicht.
Mit dem Umsturz der alten Glaubensdoktrinen ist auch die ältere
Moral entwurzelt. Die Massen tragen nicht mehr mit christ-
licher Geduld ihr irdisches Elend, und lechzen nach Glückselig-
keit auf Erden“. („Briefe über Deutschland“, Zur Geschichte der
Religion und Philosophie, S. 129-31.)
damit meinte?
druck des christlichen germanischen Dogmas von der Herrschaft
Gottes über die Welt, des Geistes über die Theorie“, sagt Mehring,
„so war die „Allgemeine Literaturzeitung“ (an der jene Leute
mitarbeiteten) die kritische Karikatur, in der sich die Hegel'sche
Philosophie selbst ins Absurde trieb.“ („Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie“, Bd. I, S. 195). Die „Allgemeine Literatur-
zeitung“ erschien seit Dezember 1843 in Charlottenburg. Gegen
sie richtete sich 1845 „Die Heilige Familie oder Kritik der kriti-
schen Kritik, gegen Bruno Bauer und Konsorten, von Friedrich
Engels und Karl Marx“, übrigens ein typisches Beispiel dafür, wie
Marx mit früheren Freunden zu verfahren pflegte, denen er einiges
verdankte. Bruno Bauer gehörte zusammen mit Max Stirner
noch 1842 zum Mitarbeiterkreis der „Rheinischen Zeitung“, als
Marx deren Redaktion übernahm. Er war Marxens Studienfreund
und Intimus, der ihn in die Hegel'sche Philosophie einführte.
helden Holofernes, Golo und Kandaules bestätigen die Prahlerei
und das Räsonnement der Hegel'schen Schule. Napoleon und
Jungdeutschland — : das ist die philiströs-genialische Mischung,
die noch Richard Wagners Uebermenschentum und Spekulation
belebt.
jurassienne“, Manuskript, 1872, mitgeteilt von Nettlau, Biographie
Bd. I, S. 94.
und Freiheit“ in zweitausend Exemplaren herzustellen, teilten
sich dreihundert Arbeiter in die Kosten und nahmen dafür Bücher
in Zahlung; vier Arbeiter gaben ihre ganzen Ersparnisse im
Betrag von 200 Franken für den Druck her.
Republikaner“, Juni 1842, mitgeteilt von Nettlau, Bd. I, S. 55-60.
fangenschaft und Entlassung) nach London; in einem grossen
[288] Meeting begrüssten die deutschen, englischen und französischen
Sozialisten der Weltstadt den ‚mutigen und talentvollen Führer der
deutschen Kommunisten‘, wie ihn Owens Organ nannte“. Das
war wohl 1845 oder 46, jedenfalls aber in der Zeit, bevor Marx nach
London kam. Damals traten in Paris auf den von der schwei-
zerischen Polizei veröffentlichten Kommunistenbericht hin drei-
hundert deutsche Handwerksburschen in Weitlings „Bund der
Gerechten“ ein. Ein deutsches Fabrikproletariat existierte kaum.
Zukunft“, S. 102: „Die Schilderung des sozialen Elends in Eng-
land bei Godwin erregt sein ganzes Mitgefühl. Sein Tagebuch
enthält ausführliche Auszüge aus seinen Werken. Godwins mau-
rische Ideen begleiteten ihn“.
utopischen Thomas Moore und durch Owen zu kommunistischen
Anschauungen. Er formulierte die religiösen Grundlagen des
Kommunismus so begeistert, dass man ihn als Handlanger der
Heiligen Allianz denunzierte. Mehring bestätigt übrigens: „Cabet
traf in diesem Punkte das Empfinden des modernen Proletariats,
das in den Anfängen seines Emanzipationskampfes gerne den
Blick auf das Christentum zurücklenkt. Indem Dezamy den Kom-
munismus auf den Atheismus und Materialismus zu begründen
suchte, verfuhr er weit konsequenter als Cabet (?), erlangte aber
nicht entfernt einen gleichen Einfluss auf die Arbeiter“.
logisme“, P. V. Stock, Paris, 1895: „Les idées communistes ger-
mèrent dans l'imagination populaire. Elles trouvèrent depuis 1830
jusqu'à 1848 d'habiles interprêtes dans Cabet et M. Louis Blanc,
qui établirent définitivement le socialisme révolutionnaire“. (p. 37.)
dass der ursprüngliche Kollektivismus aus einer Reihe von prak-
tischen Vorschlägen bestand, die einer speziellen ökonomischen
Situation entsprachen. Er war ein Liquidationssystem, das die
Freiheitsideologie der Revolution mit den erschöpften Finanzen
in Einklang zu bringen suchte.
anfänglich wesentlich verschieden war vom Kommunismus, der sich
erst später anschloss. Der Kollektivismus (Babeufs Erfindung) ist
politisch, positiv; der Kommunismus, dessen Tradition auf die
Evangelien und das Essäertum zurückweist, ist ursprünglich religiös-
idealistisch. Die Vermengung der verschiedenen kollektivistischen
[289] und kommunistischen, der praktischen und utopischen Systeme
führte zum doktrinären Staatskommunismus der Marxisten, der
weder als praktisches System der heutigen ökonomischen Situation
entspricht, noch sich als religiöses System jene Sittenreinheit und
den Opfergeist bewahrt hat, der alle Individuen der christlichen
Brüdergemeinde gleichmässig erfüllte. Der Kollektivismus wird
auch heute noch jenen Ländern am meisten entsprechen, wo ein
verlorener Krieg die Finanzen und die Wirtschaft vernichtet hat.
Er enthält eine ganze Anzahl überaus nützlicher Vorschläge für
einen sozialen Neuaufbau, wobei jedoch zu bedenken ist, dass
die Liquidation je nach dem ökonomischen und intellektuellen
Bildungsgrade in Deutschland andere Bedingungen vorfindet als
etwa in Russland oder der Türkei. Der Kommunismus aber als
eine allgemein-menschliche, utopische Bewegung kann zwar mit
dem Programm des Kollektivismus zusammentreffen, wird aber
nur dort einen wirklichen Boden finden, wo eine stark religiöse,
katholische Tradition vorgearbeitet hat. Das war in Russland der
Fall, und deshalb konnte dort, wo Niederlage und religiöse
Tradition zusammentrafen, der Bolschewismus, dieser Zwitter
aus Jacobinertum und Evangelium, eine so mächtige Resonnanz
finden.
Hauptstadt der europäischen Revolution und hier entstand, als
ein öffentlicher Volksverein zur Unterstützung der süddeutschen
Opposition von der französischen Regierung unterdrückt worden
war, im Jahre 1834 die erste geheime Organisation der deutschen
Flüchtlinge, der „Bund der Geächteten“. Sein Zweck war nach
den Statuten: Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands, Be-
gründung der sozialen und politischen Gleichheit, Freiheit, Bürger-
tugend und Volkseinheit. Er verfolgte demokratisch-republikanische
Ziele, wie die französische Gesellschaft der Menschenrechte, und
wie diese war er als hierarchisch-abgestufte Verschwörergesell-
schaft mit unbedingtem Gehorsam gegen die geheimen Oberen
organisiert. Organ des Bundes war die Monatsschrift „Der Ge-
ächtete“, herausgegeben seit 1834 von Venedey. Sie begann mit
einem schwärmerischen Aufsatz Börnes über die „Worte eines
Gläubigen“, die Lammenais eben veröffentlicht hatte. Auch
Venedey selbst knüpfte an Lammenais an ... Kurz nach der
Stiftung des Bundes war auch in der Schweiz die erste Orga-
nisation deutscher Flüchtlinge entstanden. Von hier aus hatte
Mazzini im Februar 1834 einen bewaffneten Einfall nach Savoyen
unternommen, wobei ihn deutsche Revolutionäre unterstützten.
19
[290] Der Savoyer Zug missglückte und nun bildete Mazzini ein Junges
Europa der Völker gegen das alte Europa der Könige. Es
estand aus einem Jungen Deutschland, einem Jungen Italien und
einem Jungen Polen, denen sich später ein Junges Frankreich
und eine Junge Schweiz anschlossen. In seiner Akte der Ver-
brüderung, die aus dem April 1834 datiert, werden Freiheit,
Gleichheit und Humanität als die drei unverletzlichen Elemente
genannt, aus denen allein die Lösung des sozialen Problems
hervorgehen könne“. — Man beachte die Tatsache, dass also die
Emigrantenbewegung der 30 er Jahre, von Lammenais und Mazzini
geführt, eine religiös-demokratische Bewegung war. 1839 gingen
dann Karl Schapper und Heinrich Bauer nach längerer Haft von
Frankreich nach London und gründeteten dort gemeinsam mit Josef
Moll, einem Uhrmacher aus Köln, am 7. Februar 1840 einen
öffentlichen „Arbeiterbildungsverein“. Zugleich stellten sie den
„Bund der Gerechten“ wieder her und verlegten seinen Schwer-
punkt nach London. Das Hinzukommen Marxens vertrieb aus
der schwärmerisch-idealistischen Bewegung durch seinen Posi-
tivismus den Opfermut. Man könnte auch sagen, dass Hegel der
Vater dieser Korruption eines hohen Gedankens war. Die Re-
ligion brauchte nicht beseitigt, sie brauchte nur vertieft und mit
der Wissenschaft in Einklang gebracht zu werden. Dazu war
Marx nicht geschaffen.
Proletariats!, dekretiert diese Hassphilosophie. Je gerechter
aber Forderungen sind, desto strenger sollten deren Anwälte
über ihre eigene Moral und die Moral der ihnen vertrauenden
Individuen und Massen wachen. Dazu bedarf es zunächst eines
Rechtsbewusstseins. Man sollte annehmen, dass eine Partei der
Entrechteten die Begriffe von Freiheit und gegenseitiger Ach-
tung, die Wissenschaft von den natürlichen Gesetzen und Grenzen
besonders entwickelt hätte, kurz, dass sie die form- und mass-
vollste wäre. Welche Deroute und Verwirrung aller Moral-
und Freiheitsbegriffe herrschen dagegen im deutschen klassen-
bewussten Proletariat! Steriler Doktrinarismus, aufdringliche und
opportuinistische Politik, Animalität, Pseudowissenschaft und
Vernachlässigung alles wahrhaften, nicht nur materiellen, sondern
auch geistigen Elends regieren das arrivierte Parteiprogramm.
Und diese Partei, die dem wirklichen Elend nicht lange mehr
standhalten wird, soll die moralische Kraft finden, die Inter-
nationale zu fördern!
[291] Zürich, Mai 1843, konfisziert, dann 1845 erschienen unter dem
Titel „Das Evangelium eines armen Sünders“, Bern, Jenni Sohn,
S. III/IV.
sondern benützt werden, um die Menschheit zu befreien. Christus
ist ein Prophet der Freiheit, und er darum uns ein Sinnbild
Gottes und der Liebe“.
lage des Verfassers, 1842, S. 117.
Sünder“ war überschrieben: „Jesus reist mit sündigen Weibern
und Mädchen im Lande herum und wird von ihnen unterstützt“.
Die Verhaftung und Bestrafung Weitlings wegen Gotteslästerung
erfolgte auf Betreiben des Zürcher Kirchenrats und erregte grosses
Aufsehen; um so mehr, da ein Regierungsbericht über die kom-
munistischen Umtriebe in der Schweiz die Folge war. Von den
wichtigeren Schriften über Prozess und Bewegung nenne ich:
„Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vor-
gefundenen Papieren“, Kommissionalbericht von Dr. Bluntschli,
Zürich, 1843; „Der Schriftsteller Wilhelm Weitling und der Kom-
munistenlärm in Zürich“, Bern 1843, und „Die geheimen deut-
schen Verbindungen in der Schweiz seit 1833“, Basel 1847.
einer christlichen Republik dargelegt. Er zitiert Math. 23, Vers 8,
11 und 12, und folgert: „Aus diesem geht hervor, dass die
Monarchie mit dem Christentum unvereinbar ist, oder deutlicher,
dass ein Christ nicht Monarch sein kann. Desgleichen geht daraus
hervor, dass in einer christlichen Republik Niemand sich eine
politische Gewalt anmaassen, noch dieselbe annehmen darf, denn
der Christ soll weder ein Recht, noch eine Gewalt, noch einen
Befehl über seine Mitmenschen ausüben, der Christ soll gar kein
Amt annehmen, in welchem er gezwungen ist, zu richten und
zu strafen, wenigstens soll er es nur in der Absicht annehmen,
das Regieren, Befehlen, Strafen u. s. w. dadurch aufhören zu machen.
Ferner soll in einer christlichen Republik Niemand vornehm,
Niemand gering, Niemand Herr oder Knecht sein, noch sich
Meister nennen, oder sonst Ehrentitel sich beilegen lassen. Dies
haben zu Zeiten der Reformation die Wiedertäufer wohl begriffen,
[292] welche, obwohl sie in den damaligen Kriegen dem Einfluss der
Reichen verbunden, dennoch bis auf den heutigen Tag an einigen
damals aufgestellten Grundsätzen festhielten. So nehmen sie
z. B. gar kein öffentliches, obrigkeitliches Amt an, welches es
auch sei; sie beschwören nicht, werden nicht Kaufleute, Wirte
und Soldaten; und glaubten von Jesus, dass er nicht Gottes
Sohn gewesen sei, sondern der Heiligste von allen Heiligen.
Ein anderer ihrer damaligen Grundsätze war der: Kein Christ
kann mit gutem Gewissen irgend ein Eigentum, welches es auch
sei, besitzen; sondern alles, was jeder einzelne besitzt, muss in
die Gemeinschaft gegeben werden.“ (S. 83/84). Man vergl. damit
Dostojewskys soziales Credo: „Der Christ, der wahre, ideale,
vollendete Christ, sagt: ‚Ich muss meine Güter mit meinen
armen Brüdern teilen. Ich muss allen dienen‘. Der Kommunard
sagt: ‚Du musst mit mir teilen, weil ich arm bin, du musst
mir dienen‘. Der Christ hat Recht, der Kommunard Unrecht“.
Der Evolutionismus, die Katastrophentheorie, der Klassenkampf,
die Eroberung der politischen Macht, die materialistische Ge-
sichtsauffassung, der Animalismus und Amoralismus — was ist
denn von alledem heute nicht durch die Wissenschaft widerlegt?
Schon zur Zeit seiner Blüte nannte Bakunin den Marxismus eine
Utopie. Die Verwirklichung der Freiheit durch die Wahlbe-
teiligung an Bismarcks Parvenustaat — dieser politische Gipfel-
punkt des Marxismus in den 70 er Jahren, bedeutete er nicht
auch den moralischen und ideellen Verfall? Das war schon die
Auffassung der Mehrheit in der ersten Internationale. Und wider-
legt die Katastrophe, in der wir uns heute befinden, — eine Ka-
tastrophe, die nicht sowohl wirtschaftliche, als moralische Ursachen
hat —, nicht die ganze Schule? Man bleibe doch bei den Tatsachen
und lasse die Dogmen beiseite! Die heutige Situation fordert neue
Methoden, sowohl der Philosophie, wie der praktischen Politik.
Die heutige Liquidation erfordert ein neues moralisches und
religiöses System, eine freiere Geschichtsbetrachtung, eine gewitzigte
„Katastrophentheorie“, eine Neuorientierung von Grund aus. Kein
neuer deutscher Systematiker wird aufbauen können ohne eine
umfassende Exaltation und Sublimierung des Schuldbegriffes. Die
moralische Revolution ist die Voraussetzung jeder sozialen und
politischen. Die Schuldfrage allein (die Frage nach dem, was
jeder schuldet und verschuldet hat), verbürgt eine Wiedergeburt
und die Rettung vor äusserstem materiellem und geistigem Elend.
3 Bände), die leider Manuskript blieb. Guillaume durch Herausgabe
der Werke (P. V. Stock, Paris, 1895-1913), und sein Geschichts-
werk „L'Internationale. Documents et Souvenirs“ (P. V. Stock,
Paris, 1905-1910, 4 Bände). Bakunins Föderalismus freier Pro-
duktivgenossenschaften ausserhalb des historischen Staates wäre
zur Zeit Bismarcks eine stärkere Garantie der Freiheit und Wohl-
fahrt gewesen, als Marxens Lehre von der Staats- und Wirt-
schaftszentralisation, die zwar den Proletarier arrivieren liess,
aber ihn dann durch den Krieg in doppeltes Elend stürzte.
Der Zentralismus zerstört, der Dezentralismus fördert Moral und
Freiheit.
München, 1911.
Töpelmann, Giessen, 1915, S. 33.
an den Ufern des Rheins sich angesiedelt. Unter Karl dem Grossen
verbreiteten sie als Reisende überall hin die deutsche Sprache.
Dabei pflegen sie zugleich eifrig die Wissenschaft ihrer Religion;
die Schulen von Worms, Mainz, Speyer werden blühende jüdische
Gelehrtenschulen. Solche gibt es zwar auch in Spanien und
Frankreich, aber Südemann weist in seiner „Geschichte des Er-
ziehungswesens und der Kultur der abendländischen Juden“
darauf hin, dass sie dort ohne den inneren Einfluss bleiben, den
die deutschen Juden gewinnen. Dieser Kontakt mit ihrer deut-
schen Umgebung, diese Beeinflussung, der die deutschen Juden
innerlicher als anderwärts zu ihrer Umgebung sich hingegeben
(sic!), spricht eben wieder für die Urwüchsigkeit dieses Verhält-
nisses (!). Hier waren sie seit den Vorzeiten Germaniens ansässig,
hier bleiben sie bodenständig, hier werden sie niemals vollständig
ausgetrieben wie anderwärts, wie in Frankreich und in England;
hierher kehren auch solche wiederum zurück, die, wie nach Polen
und Russland, von hier ausgewandert waren, als die schreck-
lichen Verfolgungen beim schwarzen Tode in Deutschland
überhandnahmen.“ (Cohen, S. 19). Heute aber nach Moses Men-
delsohn, der das Deutschtum „zu einer Lebenskraft des Juden-
tums herangezogen hat“ (S. 25), nach Herder, mit dem ihnen
„der Messias im deutschen Geiste wieder erstand“ (S. 30), „fühlen
wir uns als deutsche Juden in dem Bewusstsein einer zentralen
Kulturkraft, welche die Völker im Sinne der messianischen Mensch-
heit zu verbinden berufen ist. Wenn es wieder einmal zum
[294] ernstlichen Bestreben nach internationaler Verständigung und
wahrhaft begründetem Völkerfrieden kommen wird, dann wird
unser Beispiel als Vorbild dienen dürfen (!) für die Anerkennung
der deutschen Vormacht in allen Grundlagen des Geistes- und
Seelenlebens.“ (S. 37). So aufrichtig ist selten gesprochen worden.
siehe Nettlau, Bd. II, S. 370), der auf die psychologischen Affinitäten
zwischen Marx und Rotschild verweist. „Wo ökonomische Zen-
tralisation besteht, dort besteht notwendig auch eine finanzielle“.
Der Staatskommunismus Marxens und der Finanzkonzern Rot-
schilds berühren sich. Daher das besondere Interesse der Juden
am Staatskommunismus. Er stellt eine ungeheure Staatsbank in
Aussicht und zugleich die völlige Freiheit innerhalb einer mate-
rialisierten Welt.
Paris, 1911. Die Schrift ist heute noch ausserordentlich lesenswert
und sollte endlich ins Deutsche übertragen werden.
wunderte er sich, dass B. darin die Hess und Borkheim angriff,
statt „leur chef de file“, Karl Marx. Bakunin antwortete: „Je n'ignore
pas que Marx a été l'instigateur et le meneur de toute cette calom-
nieuse et infâme polémique qui a été déchaînée contre nous. Pour-
quoi l'ai-je donc ménagé, l'ai-je même loué, en l'appelant géant?
Pour deux raisons, Herzen. La première c'est la justice. Laissant de
côté toutes les vilenies qu'il a vomies contre nous, nous ne saurions
méconnaître, moi du moins, les immenses services rendus par lui
à la cause du socialisme, qu'il sert avec intelligence, énergie et
sincérité depuis près de vingt-cinq ans en quoi il nous a indu-
bitablement tous surpassés“ (p. 213). Er fährt fort: „La deuxième
raison, c'est une politique et une tactique que je crois très juste.
Il pourrait arriver, et même dans un bref delai, que j'engageasse
une lutte avec lui, non pour offense personnelle, bien entendu,
mais pour une question de principe, à propos du communisme
d'Etat, dont lui-même et les partis anglais et allemand qu'il dirige,
sont les plus chaleureux partisans. Alors ce sera une lutte à
mort. Si à l'heure qu'il est j'avais entrepris une guerre ouverte
contre Marx lui-même, les trois quarts des membres de l'Inter-
nationale se seraient tournés contre moi et je serais en desavan-
tage, j'aurais perdu le terrain sur lequel je dois me tenir. Mais
en m'engageant dans cette guerre par une attaque contre la
[295] gueusaille, dont il est entouré, j'aurais pour moi la majorité. De
plus, Marx lui-même, qui est plein de cette Schadenfreude, que
tu lui connais bien, sera très content de voir ces amis mal en
point“ (p. 234). Man weiss, wie der Kampf zwischen Bakunin
und Marx, zwischen freiem föderativem Sozialismus und
zentralistischem Staatskommunismus endete. Es gelang Marx
mit Hilfe einer künstlichen Stimmenmehrheit B. aus der Inter-
nationale ausschliessen zu lassen (Kongress zu Haag, 2.-7 Sep-
tember 1872). Aber die eigentliche Mehrheit, auf Seiten der
föderalistischen Idee, zwang die wenigen Anhänger Marxens,
den Generalrat von London nach New York zu verlegen (Kon-
gress zu St. Imier, 15. Sept. 1872), und hielt nach dieser Vertrei-
bung noch glänzende Kongresse ab (Genf 1873, Brüssel 1874).
Der Föderalismus hatte das Feld behauptet. Bakunin starb am
3. Juli 1876 in Bern.
1917. Rathenaus Ideal ist eine Vertrustung der Industrie- und
Bankkonzerne von Staats wegen, nach Säkularisation der soziali-
stischen Ideen und unter militärischer Oberleitung der preussi-
schen Monarchie. Protestantische Blätter verglichen sein Buch
mit Luthers Aufruf „An den christlichen Adel teutscher Nation“.
vorgebracht, wo der Sozialismus kaum getrennt von der klein-
bürgerlichen Demokratie auftrat, und ein strenger Marxist wie
Mehring noch 1917 ein Wundertier war. Alle kamen von draussen.
Niederlage der Pariser Kommune, als Marx und Engels den
Generalstatuten der Internationale jene Interpretation gaben, die
die Wahlaktion in den Vordergrund stellte, den Geist der bis-
herigen Internationale verletzte und deren Spaltung hervorrief.
(Vergl. Brupbacher, „Marx und Bakunin“, S. 104-109, und James
Guillaume („L'Internationale“, tome II). In den Statuten der
Internationale war festgelegt worden, „dass die ökonomische
Emanzipation des Proletariats das grosse Ziel sei, dem jede
politische Aktion als Mittel (as a means) untergeordnet werden
müsse“. „Wir waren himmelweit davon entfernt, zu denken“,
schreibt Guillaume, „dass eines schönen Tages jemand die Worte
as a means in anderer Weise interpretierte und behauptete, in
ihnen zu entdecken, dass sie den Sozialisten die Pflicht auferlegen,
Wahlpolitik zu betreiben, bei Androhung des Ausschlusses.
Ausserdem hatten wir gezeigt dass wir der Anwesenheit oder
Abwesenheit der Worte „als Mittel“ oder „als einfaches Mittel“
[296] keinerlei Bedeutung zuschrieben, da wir keine Ahnung hatten von
der speziellen Bedeutung, die Marx und seine Getreuen diesen
Worten zuschrieben“. Der strittige Punkt der Resolution, die Marx
und Engels auf der Londoner Konferenz zur Genehmigung brachten,
begann: „In Erwägung, dass gegen die kollektive Gewalt der
besitzenden Klassen das Proletariat als Klasse nur dann auftreten
kann, wenn es sich als besondere politische Partei konstituiert“ und
schloss: „ruft die Konferenz den Mitgliedern der Internationale in
Erinnerung, dass in dem Kampfzustand der Arbeiterklasse ihre
ökonomische und ihre politische Betätigung untrennbar verbunden
sind“ (Brupbacher, S. 108).
1870/71, Oeuvres, tome II, P. V. Stock, Paris, 1907, p. 417/418.
Auch diese Aeusserung bestätigt Guillaume: „Dès sa constitution
sous l'inspiration de Marx, la Socialdémocratie allemande a été
un parti impérialiste, c'est-à-dire visant à la fondation d'une Alle-
magne centralisée, fût-ce par le militarisme prussien, et voyant
en Bismarck un collaborateur qu'il fallait se résigner à subir“.
(„Karl Marx Pangermaniste“, p. III).
graphischen Einleitung, herausg. von Eduard Bernstein, Bd. I,
S. 18, Berlin, Vorwärts-Verlag, 1892.
lutionäre „deutsche Soldaten- oder Arbeiterregimenter am Bosporus
stehen“ (Brief an Carl Rodbertus-Jagetzow, 8. Mai 1863).
zur Zeit der Gründung der Internationale) wiederholte und ein-
gehende Besprechungen unter vier Augen mit dem damaligen
Herrn von Bismarck hatte, ist heute über jeden Zweifel sicher-
gestellt. Die langjährige Vertraute Lassalles, die Gräfin Sophie
von Hatzfeld hat es im Sommer 1878, als Bismarck sein Knebe-
lungsgesetz gegen die deutsche Sozialdemokratie einbrachte, aus
eigener Initiative Vertretern derselben unter Hinzufügung der
näheren Umstände mitgeteilt, und als der Abgeordnete Bebel
die Sache im deutschen Reichstag zur Sprache brachte, gab Bis-
marck Tags darauf zu, Zusammenkünfte mit Lassalle gehabt zu
haben, und suchte nur in Abrede zu stellen, dass es sich dabei
[297] um politische Verhandlungen gedreht habe. Bebel hatte, gestützt
auf die Mitteilungen der Gräfin Hatzfeld, gesagt: ‚Es drehte
sich bei diesen Unterhaltungen und Unterhandlungen um zweierlei:
erstens um Oktroyierung des allgemeinen Stimmrechts und zwei-
tens um die Gewährung von Staatsmitteln zu Produktivgenossen-
schaften‘.“ — Lassalles Sympathie für den Machtpolitiker Bismarck
ging so weit, dass er, als 1863 die Schleswig-Holsteinische Frage
auf die Tagesordnung kam, allen Ernstes entschlossen war, auf
einer Hamburger Massenversammlung eine Resolution einzu-
bringen des Inhalts, Bismarck sei verpflichtet, die Herzogtümer
gegen den Willen Oesterreichs und der übrigen deutschen Staaten
zu annektieren. Zur Zeit des Krimkriegs (1857) hatte Lassalle
die besten Beziehungen zum preussischen Kabinett, und zugleich
zu Karl Marx in London, dessen Korrespondent er war.
spricht. Spione werden angestellt, die die Familie Dönniges (die
Eltern der Braut) beobachten und jeden ihrer Schritte rappor-
tieren müssen. Durch die Vermittlung Hans von Bülows wird
Richard Wagner ersucht, den König von Bayern zu veranlassen,
zugunsten Lassalles bei Herrn von Dönniges zu intervenieren,
während dem Bischof Ketteler von Mainz der Uebertritt Lassalles
zum Katholizismus angeboten wird, damit der Bischof seinen
Einfluss zugunsten Lassalles geltend mache“ (S. 176).
besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes mit
der gegenwärtigen Geschichtsperiode“ (Frühjahr 1862), das zweite
aus einer Festrede „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung
des deutschen Volksgeistes“, gehalten am 19. Mai 1862 in der
Berliner „Philosophischen Gesellschaft“ zum 100jährigen Geburts-
tage Fichtes (mitgeteilt von Bernstein, S. 103, 105). Auch hier
wieder zeigt sich die lebhafte Einwirkung des chauvinistischen
Geistes der protestantischen Philosophie.
Bd. III, S. 118.
schriften, die Mehrings Lassalle-Darstellung begleiten: „Lassalles
Feldzugsplan“, „Lassalles Schlachtenplan“, „Die rheinische Heer-
schau und der Sturm auf die Bastille“. Dabei ist Lassalle zeit seines
Lebens nie an der Spitze einer bewaffneten Macht gestanden,
[298] wie etwa Mazzini und Garibaldi, noch hat man für ihn und seine
Ideen je rebellisch zu den Waffen gegriffen. Mehring selbst
gesteht: „Von den Tausenden, die atemlos an Lassalles Lippen
gehangen hatten, schrieben sich höchstens Hunderte in die Liste
des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins ein, und von diesen
Hunderten erfüllten kaum Dutzende die Pflichten, die sie damit
übernahmen.“ (III, 141).
demokraten, dass er das „Klassenbewusstsein“ der Arbeiter ge-
schaffen habe. Das „Klassenbewusstsein“ in Deutschland ist ein
euphemistischer Ausdruck für die preussische Militarisierung und
Disziplinierung, deren politisches Instrument Lassalle war. Man
hat 1866, 1871 und 1914 gesehen, was es mit dem Klassenbe-
wusstsein auf sich hatte. Man sieht heute (November 1918) bei
der sogenannten Revolution, wie die Sozialdemokratie bis in die
Reihen ihrer Unabhängigen hinein sich als Gendarmerie- und
Sicherheitsinstitut bis zur reaktionären Einberufung der Konsti-
tuante gebrauchen lässt. Schon 1847 sahen sich Marx und Engels
genötigt (in der „Deutschen Brüsseler Zeitung“) gegen den „könig-
lich preussischen Regierungssozialismus“ zu schreiben. 1864 war
der „leitende Kopf“ des „Sozialdemokrat“ (Organ des Allgemeinen
Deutschen Arbeitervereins, Mitarbeiter Engels, Herwegh, Hess,
Marx, Liebknecht) Jean Baptiste von Schweitzer, ein Mann der
von der „bedeutenden Politik“ Bismarcks sprach, den „alten Fritz“
(Friedrich II.) als „mächtiges Genie“ pries und mit seinen Bis-
marckartikeln den Anschein erweckte, als solle die junge Arbeiter-
partei in aller Aufrichtigkeit borussifiziert werden. Ein anderer Nach-
folger Lassalles, Bernhard Becker, karikierte noch die persönliche
Diktatur Lassalles im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, indem
er sich als „Präsident der Menschheit“ aufspielte. Und von der
Testamentsvollstreckerin Lassalles, jener Gräfin Hatzfeld, berichtet
Mehring, dass sie „in ihrer Verblendung die preussische Bundes-
reform als die Erfüllung von Lassalles nationalem Programm
auffasste, ja dass ihr ganzes patriotisches Treiben seit 1866
darauf hinauslief, den ‚Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‘ zu
einem Werkzeug Bismarcks zu machen, mochte sie nun mit dem
‚grossen Minister‘ in näherer oder fernerer Verbindung stehen
und die reichen Geldmittel, die sie aus dem Fenster warf, aus
ihrem eigenen Vermögen oder aus anderen Fonds schöpfen“.
Was damals aber Bismarck war, ist heute Hindenburg. Bernstein
[299]rühmt als das „grosse, unvergängliche Verdienst“ Lassalles —:
die Arbeiterschaft „zum Kampfe einexerziert, ihr, wie es im Liede
heisst, Schwerter gegeben zu haben“. (S. 185.)
erst Bethmanns Erfindung.
dass Lassalles Bekenntnis zur revolutionären Demokratie und zu-
gleich zum allgemeinen Stimmrecht des damaligen Preussen-
staates ein Widerspruch war, den man „nicht ungestraft in seinem
Gemüte hegt“. („Ferd. Lassalle, ein literarisches Charakterbild“,
Berlin, 1877). Das kam von der Hegel- und Fichteschule und
vom Optivprotestantentum, dem ausser Lassalle auch Heine und
Marx verfielen. Lassalle war begeisterter Hegelianer. In seinem
„System der erworbenen Rechte“ (1861) bezeichnete er die He-
gel'sche Rechtsphilosophie als den ersten Versuch, das Recht
„als einen vernünftigen, sich aus sich selbst entwickelnden Orga-
nismus nachzuweisen“, und wenn er auch eine „totale Reformation“
der Hegel'schen Philosophie verlangte, so wollte er mit seiner
Auffassung des Positiven und Historischen „als notwendiger
Ausflüsse der jederzeitigen historischen Geistesbegriffe“ doch
nur erweisen, „dass die Hegel'sche Philosophie noch weit mehr
recht hatte, als Hegel selbst wusste, und dass der spekulative Be-
griff noch weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
Hegel selbst erkannt hatte“ (Vorwort zum „System der erworbenen
Rechte“). Wie viel freier zeigt sich dieser Erstickung des Natur-
rechts gegenüber die Rechtsphilosophie etwa des Jesuiten Victor
Cathrein und anderer katholischer Rechtslehrer des 19. Jahrhunderts,
die weit davon entfernt, das Ideal darzustellen, aber auch ohne
den Anspruch, revolutionär zu sein, der positivistischen Ver-
flachung entgegenarbeiteten. (Vergl. Victor Cathrein S. I., „Die
Grundlagen des Völkerrechts“, Ergänzungshefte zu den „Stimmen
der Zeit“, Kulturfragen, Heft 5.)
gungskongress“ (22.-27. Mai 1875) fand die Verschmelzung der
beiden Fraktionen zur sozialdemokratischen Partei statt. Die
Konfusion des Gothaer Programms zeigt sich übrigens darin,
dass es zugleich eine revolutionäre Forderung erhob (den „vollen
Arbeitsertrag“), und eine bürgerliche Reform verlangte („durch-
greifende Arbeiterschutzgesetzgebung“), also den bestehenden
Staat anerkannte. Die grossen Ideenkämpfe der I. Internationale
[300] (1864-1874) hatten nach Mehrings Zeugnis „gar nicht oder so
gut wie garnicht“ eingewirkt. Die Gräfin Hatzfeld hatte mit ihrer
„stets gefüllten Kriegskasse“ (etwa seit 1868) die Hauptagitatoren
der Partei gewonnen, während Schweitzer die Arbeiterbewegung
„in die breiteren und freieren Bahnen des Kommunistischen Mani-
festes“ führte. Marx selbst hatte bis dahin bei seiner unpopulären,
schwerverständlichen Schreibweise nur auf einige Führer gewirkt,
mit denen er in persönlicher Korrespondenz stand. Ueberhaupt
kümmerten sich ja Marx und Engels, die in London thronenden
Parteipäpste, nach Eduard Bernstein „immer nur um die Welt-
republik und die Revolution; was aus Deutschland wurde, war
ihnen ganz egal“. (S. 47.) Die Führer der französischen, jurassischen,
belgischen, italienischen und spanischen Internationale fanden das
Reformprogramm der deutschen Sozialdemokratie verächtlich, deren
Prinzipien verworren, deren Führer indiskutabel. Das änderte
sich erst um 1870 herum, als Marx, nach den deutschen Siegen,
auf der Londoner Konferenz plötzlich mit der politischen Wahl-
aktion und als Diktator der Internationale im Namen des nach
Deutschland verlegten „Schwerpunktes der Arbeiterbewegung“
aufzutreten versuchte. (Haager Kongress, 1872.) Jetzt beschäftigte
man sich prinzipiell mit den deutschen Doktrinen, und der Erfolg
war die Verabschiedung des deutschen Generalrats von London
nach New York.
Brupbacher, „Marx und Bakunin“, S. 13.
Französische Jahrbücher, S. 75 ff.
Ein System der universalen „Unvernunft“ wäre die eigentliche
Antithese gewesen.
Bd. I, S. 127.
Französische Jahrbücher, S. 72. Es ist dieselbe Verwechslung von
Religion und Missbrauch der Religion, Verwechslung der zeitlichen
Form mit der ewigen Idee, die auch drei andere grosse Feuerbach-
[301] schüler (Stirner, Bakunin und Nietzsche) als resolute Anthropomor-
phisten und bewusste oder unbewusste Protestanten das Kind mit
dem Bade ausschütten liess. „Der Protestantismus“, sagt Masaryk,
„hat aus Gott einen Menschen gemacht: Christus der Mensch
ist der Gott des Protestantismus“. Und leider glaubte auch
er 1899 noch, dass der Protestantismus durch seine „prakti-
sche Negation Gottes“ das Denken gekräftigt habe, „bis sich
schliesslich in ihm die Philosophie kundtat“. (Th. G. Masaryk,
„Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxis-
mus“, S. 24.)
S. 209.
fallen und sich zu berauschen an der eigenen Leidenschaft, Ver-
zweiflung oder Radikalität, eignet nicht nur dem orientalischen
Judentum, sie eignet allen Egozentrikern und Absolutisten. Bei
Kleist und Wagner findet sich dieser überbietende, sich selbst
und den Gegenstand zerfleischende Geist, ganz besonders auch
bei Lasalle, der, als er Oesterreich als reaktionäres Prinzip ein-
mal erkannt hatte, auch wollte, dass der Staatsbegriff Oesterreich
„zerfetzt, zerstückt, vernichtet, zermalmt, in alle vier Winde zer-
streut“ werde.
Judentum wird voraussichtlich seinen „religiösen“, exklusiv kon-
spiratorischen Charakter beibehalten und dadurch in kurzer Zeit
gerade in einem kritiklosen Volke alle wichtigeren Stellen in
Presse, Verwaltung und Politik besetzen. Es ist deshalb von
doppelter Wichtigkeit, die deutsch-jüdische, autoritäre Staats-
doktrin mit religiösen Prinzipien zu bekämpfen.
sich Marx prinzipiell gegen jeden Staat ausspricht. Masaryk hat
sie zusammengestellt. („Die Grundlagen des Marxismus“, Seite
390-394). Sie stammen aus der Zeit vor 1848 und bekämpfen
unter dem Einfluss Feuerbachs und Proudhons mit demselben
Temperament den „Christlichen Staat“, die Theokratie, (siehe
Deutsch-französische Jahrbücher, S. 187 und 207), wie Marx
unter dem Einflusse Hegels vorher im Staat den „eigentlichen
Führer der Gesellschaft“ sah. Bereits im „Kommunistischen
Manifest“ von 1847, unterm Einflusse Louis Blancs, kommt er
wieder zum Staat zurück (Staatssozialismus und Eroberung der
politischen Macht), ohne zu berücksichtigen, dass die preussische
Staatsidee mit der französischen weder nach Stabilität noch
[302] nach Abscheulichkeit verglichen und gleichgesetzt werden kann.
Die Enttäuschung der Jahre 1848/49 bestärkt ihn in seinen poli-
tischen Anschauungen, und die deutschen Siege von 1870/71 lassen
ihn sogar das Wahlsystem befürworten. Man muss sich hüten,
diese verschiedenen Marxe durcheinander zu werfen oder aus
der wissenschaftlichen Aufzählung der einzelnen Widersprüche
eine Art arithmetisches Mittel zu ziehen. Marx war ein grosser
Elektiker, ein riesig aufsaugender Schwamm fremder Ideen. Was
er in Frankreich als besonders radikal und aussichtsvoll kennen
lernte, das akzeptierte er für sein System, ohne den relativen
Stand der deutschen Entwicklung in Betracht zu ziehen.
sophie“, Brüssel, 1847.
Mehring, „nichts anderes als die Anerkennung des egoistischen
bürgerlichen Individuums (!) und der zügellosen Bewegung der
geistigen und materiellen Elemente. Die Menschenrechte befreien
den Menschen nicht von der Religion (!), sondern geben ihm
die Religionsfreiheit; sie befreien ihn nicht vom Eigentum, sondern
verschaffen ihm die Freiheit des Eigentums; sie befreien ihn nicht
vom Schmutze des Erwerbes, sondern verleihen ihm vielmehr die
Gewerbefreiheit. Die Anerkennung der Menschenrechte durch
den modernen Staat hat keinen anderen Sinn als die Anerken-
nung der Sklaverei durch den antiken Staat“. („Geschichte der
deutschen Sozialdemokratie“, Bd. I, S. 175.) Seltsam nur, dass
Marx sich für die jüdischen Menschenrechte so begeistert ein-
setzte: „Er sagt nicht nur, dass, sondern er beweist auch, wes-
halb der Jude den unanfechtbarsten Anspruch auf den Genuss
der Menschenrechte hat“. (S. 176.)
Morago): die Tatsache, dass er Marxens „Kapital“ nicht sofort
nach Erhalt lobte, habe genügt, ihm die heftige Ungnade
Marxens einzutragen. — Das „Kapital“ erschien 1867, das erste
öffentliche Rencontre zwischen Marx und Bakunin ereignete sich
1868 auf dem Kongress zu Basel. Bakunin war der Erste, der
das „Kapital“ und das „Kommunistische Manifest“ ins Russische
übersetzte.
[303] „Deutschen Brüsseler Zeitung“ schrieb: „Die sozialen Prinzipien
des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt. Die
sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Naturnot-
wendigkeit einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse.
Die sozialen Prinzipien des Christentums erklären alle Nieder-
trächtigkeiten der Unterdrücker gegen die Unterdrückten ent-
weder für gerechte Strafe der Erbsünde oder sonstiger Sünden.
Die sozialen Prinzipien des Christentums predigen die Feigheit,
die Selbstverachtung, die Erniedrigung, die Unterwürfigkeit, die
Demut, kurz alle Eigenschaften der Canaille. Die sozialen Prin-
zipien des Christentums sind duckmäuserisch, und das Proletariat
ist revolutionär.“ Diese Sätze trafen auf die protestantische und
katholische Theokratie, nicht aber auf die sozialen Prinzipien des
Christentums zu, wie Münzer, Cabet, Weitling sie neu formulierten,
und wie Marx sie wohl gut genug kannte, um einen Unterschied
gelten zu lassen. Marxens antichristliche Aktion geht irrtümlicher-
weise von der Voraussetzung aus, dass die Analyse des Bewusst-
seins, das sogenannte „Wissen“, die Religion und den Glauben
ausschliesst. Ueber seinen Bruch mit Weitling vergl. Mehring
Bd. I, 330: „Der utopistische Dünkel Weitlings (!) war nicht mehr
zu kurieren, und so blieb nichts übrig, als der Entwicklung des
Proletariats diesen Hemmschuh aus dem Wege zu räumen“.
Hat je ein dreisteres Jakobinertum im Reich des Gedankens
existiert?
wissenschaftlichen Kommunismus war aufgepflanzt“. Aber James
Guillaume weiss es besser: „Es ist nicht wahr, dass die Inter-
nationale eine Schöpfung von Karl Marx war. Er war an den
vorbereitenden Arbeiten, 1862 bis September 1864, durchaus nicht
beteiligt. Er schloss sich der Internationale an, als sie soeben
durch die Initiative englischer und französischer Arbeiter zustande-
gekommen war. Wie der Kuckuck kam er und legte sein Ei in
ein fremdes Nest. Sein Plan vom ersten Tage an war, aus der
grossen Arbeiterorganisation ein Instrument seiner persönlichen
Ansichten zu machen“. („Karl Marx Pangermaniste“, p. II) Nicht
einmal das Motto der Internationale stammt ursprünglich von
Marx. Bereits Jean Meslier (1664-1733) schrieb: „Proletarier,
vereinigt Euch! Vereinigt Euch, wenn Ihr das Herz habt, Euch
von all Eurem gemeinsamen Elend zu befreien! Ermutigt Euch
[304] einander zu einem edlen und wichtigen Unternehmen... Vereint
wird es den Völkern gelingen... Alle Streitigkeiten und Feind-
seligkeiten gegen einander müssen die Völker unterdrücken, allen
Unwillen gegen die gemeinsamen Feinde, gegen die übermütigen,
überstolzen... Menschen wenden, die sie elend machen und
ihnen die besten Früchte ihrer Arbeit rauben“. (Jahrbuch der
Freien Generation für 1914, redigiert von Pierre Ramus, 5. Band,
Zürich, S. 30.)
Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, herausg.
von Dr. Karl Grünberg, IV. Jahrgang, Leipzig 1913, S. 112.
Kautsky, Vorwärts, Berlin, 1917, S. 45.
Autoren des „Kommunistischen Manifestes“, dass sie auf prak-
tische Forderungen kein besonderes Gewicht mehr legten, sich
vielmehr „im Grossen und Ganzen mit allgemeinen Grundsätzen“
begnügen wollten, und in der Ausgabe von 1883 setzte Engels
auseinander, „der durchgehende Grundgedanke“ des Manifestes
sei der historische Materialismus. Erst in der Vorrede von 1890
(zur Zeit der Entlassung Bismarcks und des Eisenacher Programms)
kann man wieder lesen, dass Marx an den endlichen Sieg der
im Manifest niedergelegten „Grundsätze“ glaube. Jetzt wurde
auch der Streit zwischen den beiden durch die Namen Lassalle
und Marx gekennzeichneten sozialdemokratischen Richtungen
endgiltig beigelegt. (Erfurter Parteitag 1891.) Der Halle'sche
Parteitag (1890) hatte beschlossen, dass die „Wissenschaft“ im
Programm zu vollen Ehren gelangen solle. Die Wissenschaft:
das war in der Hauptsache das „Kommunistische Manifest“,
Elaborat eines deutschen Gelehrten, verschroben, utopisch und
doktrinär.
sie noch heute. Das deutsche „Proletariat“ unterschied sich vor
dem Krieg und unterscheidet sich noch heute nicht nur ökono-
misch und ideell, sondern vor allem in seiner Stellung zur preus-
sisch-protestantischen Staatsidee so ungeheuer von jedem anderen
Proletariat der Welt, dass der internationale Begriff Sozialdemo-
kratie dieses Proletariat mit den andern wirklich nur durch die
[305] gemeinsame rote Fahne verbindet. Die deutsche Staatsidee (vor
der ich mit diesem Buch warnen möchte), ist mit dem Staats-
gedanken keines anderen Volkes zu vergleichen, was Grausam-
keit, Härte und Unmenschlichkeit betrifft. Da aber der Sinn der
Sozialdemokratie gerade ist, dass sich in ihr der allgemeine
soziale Gedanke auf die nationale Staatsidee bezieht, so hätte
man bei einiger Kenntnis des antisozialen Charakters unseres
Staates billigerweise zu der Erkenntnis kommen müssen, dass
eine sozialdemokratische Internationale mit einer grossen deutschen
Partei überhaupt nicht möglich ist und im Ernstfall scheitern müsse.
Die Sozialdemokratie schliesst, solange nicht eine nach gemeinsamen
Gesichtspunkten geordnete Weltrepublik besteht, überhaupt jede
gemeinsame internationale Aktion aus. In Deutschland gelang
es dem Preussentum, die Sozialdemokratie als revolutionäre Partei
völlig unschädlich zu machen. Die deutsche Sozialdemokratie ist
bis auf verschwindende Minderheiten eine kleinbürgerlich-mili-
taristische Organisation, von der nichts zu erwarten ist als ihre
Zerstörung von seiten einer neuen moralischen Idee. Niemals
hat in Deutschland auch nur eine universale demokratische Partei
bestanden, die den notwendigen Boden und die Voraussetzung
des Sozialismus hätte schaffen können, wie das in den übrigen
Kulturländern der Fall war.
geistertsten Marxschüler, die ihrem Meister Denkmäler setzen und
an ihrer Marx-Universität frühere Agenten der „Okrana“ an-
stellen, haben es an den Tag gebracht. Die Utopie und der
Macchiavellismus Marxens, seine Amoral und sein Jakobinertum
hätten deutlicher nicht ad absurdum geführt werden können, als
in der volksfeindlichen, antisozialen und landesverräterischen
Aktion der Lenin, Trotzky, Zinovjew, Radek und Konsorten.
Dass die Käuflichkeit nur eine Konsequenz der Warenphilosophie
und des Materialismus ist, beweisen die Dokumente über die
Beziehungen der Bolschewiki zur deutschen Heeresleitung, Gross-
industrie und Finanz, die vor einigen Monaten vom amerikanischen
Committee on Public Information in Washington veröffentlicht
wurden und soeben auch als Broschüre (im „Freien Verlag“,
Bern) erscheinen. Es ist ein Symptom, dass es in Frankreich
gerade die Partei Jean Longuets, eines Enkels von Karl Marx
ist, die heute trotz der Entlarvung der deutschen Fiktion den
Zwangskommunismus noch stützt.
Marxisten das „internationale Kapital“ die Schuld. Nach Marx
20
[306] war ja der Feudalismus bereits 1847 „zu Boden geschlagen“.
Dass dieser Bodenschlag 1870 und 1914 dem Fass den Boden
ausschlug, das wollen die deutschen „Internationalisten“ keines-
wegs zugeben. So lächerlich ihr höchst nationaler Stolz ihre
Junkerkaste schützt — lächerlicher noch ist, dass es ihnen ge-
lang, in allen angrenzenden Ländern Proselyten zu machen und
Verteidiger zu finden.
schriften, insbesondere in jenem Aufsatze „Zur Kritik der Hegel-
schen Rechtsphilosophie“ in den Deutsch-Französischen Jahr-
büchern, den ich Kap. IV, S. 181/82 zitiere.
ein warnendes Beispiel sein: während sich die Zimmerwäldler
auf die internationale Ideologie einliessen, arbeiteten die Bolsche-
wiki wie Besessene an der nationalen Destruktion: am Verrat
der Nation, an der Expropriation der Nation, an der Entfesselung
des nationalen Verbrechertums. Der Zimmerwaldianismus wurde
die Firma und das Aushängeschild, womit sie ihre nationalen
Gewalttaten deckten.
diesen Brief gelesen hat, beweisen die Entstellungen, mit denen
er ihn in seiner Allianzbroschüre („L'Alliance de la Démocratie
socialiste“ etc., pag. 85) zitierte, und von denen Nettlau schreibt,
dass sie es gerade waren, die ihn auf das Original aufmerksam
machten. Marx versuchte aus diesem Briefe Bakunins Zustimmung
zur Wahlaktion zu beweisen, während dieser unter „politischer
Intervention“ etwas sehr anderes, nämlich Sturz des Empire ver-
stand. — Ch. L. Chassin war Mitglied der von Bakunin 1864 be-
gründeten „Fraternité internationale“; die „Démocratie euro-
péenne“ war also eigentlich eine bakunistische Gründung. Die
betreffende Nummer enthielt u. a. Briefe von Victor Hugo,
Michelet, Jules Barni, Aristide Rey; von Garibaldi, Garrido,
Albert Richard.
Bd. I, S. 169/170.
Bucher an Marx, um ihm die Mitarbeit am amtlichen Staats-
anzeiger anzutragen. Als er damit bei Marx abblitzte, wandte er
sich mit demselben Anliegen an den Privatdozenten Eugen
Dühring. Dühring ging auf die Mitarbeit am Staatsanzeiger ein,
um sich bald mit der Redaktion zu überwerfen. Trotzdem er-
[307] schien im April 1866 Wagener bei ihm und bestellte für den
„intimen Gebrauch“ des Staatsministeriums eine Denkschrift
über die Frage, wie „etwas für die Arbeiter getan“ werden
könne. Dühring lieferte auch dies Pensum ab. Dann wurde
Schweitzer am 9. Mai aus der Haft entlassen“.
Hobbing, Berlin, 1918, S. 3 und 131 ff. Hammann war Presse-
chef unter Caprivi, Hohenlohe, Bülow und Bethmann. Bezeichnend
ist, dass ihm zwar die „auf lauter groben Kategorien, ‚Arbeiter-
klasse‘ und ‚Kapitalistenklasse‘, ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘, ‚Mensch-
heit‘ und ‚Menschentum‘ aufgebaute Marx'sche Gedankenwelt“
nicht gefällt, dass er aber „als Beispiel für die gleissende Sprache
und die beispiellose, mit lauter schillernden Gegensätzen arbei-
tende Dialektik“ Marxens einen längeren Passus aus dem „Kom-
munistischen Manifest“ zitiert, in dem zu lesen ist, dass „die
Bourgeoisie die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen
an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen
und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig ge-
lassen habe als das nackte Interesse, als die gefühllos bare Zah-
lung“; worin der bösen Bourgeoisie vorgeworfen wird, dass sie
„die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen
Begeisterung, der spiessbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten
Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“ habe etc. etc. Das
Buch erschien im Frühjahr 1918, vor der grossen Offensive gegen
Paris, in einer Zeit, in der sich die Bolschewiki als konsequente
Marxisten mit der „passageren“ preussischen Heeresleitung über
die „bourgeoisen“ westlichen Demokratien einig waren.
war, geht aus folgendem Passus der Lassalle-Biographie Eduard
Bernsteins hervor: „Es ist nicht unmöglich, dass Lassalle durch
Verbindungen der Gräfin Hatzfeld, die ziemlich weit reichten,
davon unterrichtet war, dass sich in den oberen Regionen
Preussens ein neuer Wind vorbereite. Wie weit diese Ver-
bindungen reichten, geht aus Informationen hervor, die Lassalle
bereits im Jahre 1854, beim Ausbruch des Krimkrieges, an Marx
nach London gelangen liess. So teilt er Marx unterm 10. Fe-
bruar 1854 den Wortlaut einer Erklärung mit, die einige Tage
vorher vom Berliner Kabinett nach Paris und London abgegangen
sei, schildert die Zustände im Berliner Kabinett — der König
und fast alle Minister für Russland, nur Manteuffel und der
Prinz von Preussen für England — und die für gewisse Even-
tualitäten von demselben beschlossenen Massregeln, worauf es
[308] heisst: ‚Alle die hier mitgeteilten Nachrichten kannst Du so
betrachten, als wenn Du sie aus Manteuffels und Aberdeens
eigenem Munde hättest!‘ Vier Wochen später machte er wieder
allerhand Mitteilungen über beabsichtigte Schritte des Kabinetts,
gestützt auf Mitteilungen ‚zwar nicht aus meiner offiziellen, aber
doch aus ziemlich glaubhafter Quelle‘. Am 20. Mai 1854 klagt
er, dass seine ‚diplomatische Quelle‘ eine weite Reise angetreten
habe. ‚Eine so vorzügliche Quelle, durch die man kabinettsmässig
informiert war, zu haben, und dann auf so lange Zeit wieder
verlieren, ist überaus ärgerlich‘. Aber er hat immer noch Neben-
quellen, die ihn über Interna des Berliner Kabinetts unterrichten,
und ist u. a. ‚zeitig vorher von Bonins Entlassung etc. benach-
richtigt worden‘.“ — (S. 27) Es besteht danach kaum ein Zweifel,
dass das Berliner Kabinett sich von den guten Beziehungen zu
Herrn Lassalle mancherlei versprach, und man sollte einmal
nachprüfen, wie Marx die guten Informationen verwertete. 1849
hatte Lassalle noch flammende Entrüstung für die „schmachvolle
und unerträgliche Gewaltherrschaft“, die „über Preussen herein-
gebrochen“: „Warum zu soviel Gewalt noch soviel Heuchelei?
Doch das ist preussisch“. Und: „Vergessen wir nichts, nie, nie-
mals. Bewahren wir sie auf, diese Erinnerungen, sorgfältig auf,
wie die Gebeine gemordeter Eltern, deren einziges Erbe ist
der Racheschwur, der sich an diese Knochen knüpft“. 1854 aber
hat er seine „kabinettsmässigen Informationen“, und 1857 erwirkt
er durch die Vermittlung Alexander von Humboldts (desselben
Humboldt, der in Paris die Demokraten der Deutsch-Französischen
Jahrbücher ausweisen liess) vom König von Preussen die Er-
laubnis, seinen Wohnsitz in Berlin nehmen zu dürfen. Es gehört
schon eine gute Dosis Naivität dazu, all dies „interessant“,
nicht aber zweideutig und kompromittierend zu finden. „Ihn
dürstete nach Anerkennung, nach Ruhm, nach Taten, und dazu
bedurfte er des Bodens der Hauptstadt“, so Bernstein. Nun, die
Scheidemann, Radek und Parvus dürstet es ebenfalls nach An-
erkennung, nach Ruhm und Taten ! Nach Lassalles Informationen
zur Zeit des Krimkriegs erscheint aber auch Marxens anti-
slavische Politik in neuer Beleuchtung.
erklärt die Revolution aus ihrer Machtvollkommenheit die Des-
potenstaaten .. aufgelöst das preussische Reich ... aufgelöst
Oesterreich .. aufgelöst das türkische Reich .. aufgelöst das
russische Reich .. aufgelöst also, umgestürzt und neugestaltet
[309] den ganzen Norden und Osten Europas .. und das Endziel von
allem: die allgemeine Föderation der europäischen Republiken,
und das alles im Namen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüder-
lichkeit aller Nationen“.
übrigens bezeichnend, dass nirgends die Staatsidee so gewaltsam
und omnipotent auftrat als in Preussen-Deutschland und doch sich
nirgends so wenig eine anarchistische, ausserstaatliche, diese
Staatsidee bekämpfende Partei fand.
an Engels vom 11. September 1868: „Unsere Assoziation (die
„Internationale Arbeiter-Assoziation, Generalrat London, Leitung
Karl Marx) hat grosse Fortschritte gemacht ... Bei der nächsten
Revolution, die vielleicht näher ist, als es scheint, werden wir (das
heisst Du und ich) dies mächtige Instrument in unserer Hand
haben. Vergleiche damit das Resultat der Operationen von Maz-
zini etc. während dreissig Jahren! Und alles das ohne Geld,
und trotz der Intrige der Proudhonisten in Paris, Mazzinis in
Italien, und der Odger, Cremer, Potter in London, die uns
beneiden; und trotzdem wir Schultze-Delitzsch und die Lassal-
leaner in Deutschland gegen uns hatten. Wir können wirklich
sehr zufrieden sein!“ (James Guillaume, p. 54, zurückübersetzt.)
die Franzosen „Kröten“ sind, ist ausserordentlich lehrreich, und die
Vorschrift, wie sie sich gegen Deutschland zu benehmen haben,
selbst wenn sie eine Revolution machen, noch unverschämter als
die hier zitierte Stelle. Die volkserzieherische Wirkung der Marx und
Engels kann man nach solchen Kraftworten unschwer ermessen.
am 12. Juli 1870 eine Adresse an die Deutsche Arbeiterschaft
gerichtet, die mit den Worten begann: „Frères d'Allemagne, au
nom de la paix, n'écoutez pas les voix stipendiées ou serviles
qui cherchent à vous tromper sur le véritable esprit de la France.
Restez sourds à des provocations insensées, car la guerre entre
nous serait une guerre fratricide“. Dass diese Adresse, unter-
zeichnet u. a. von Tolain, Murat, Avrial, Pindy, Theisz, Camé-
linat, Chauvrière, Langevin, Landrin, Malon, aufrichtig war, be-
wies die Commune. Marxens hier zitierter Brief bezog sich aus-
drücklich auf diese Adresse; denn er beginnt: „Ich schicke Dir
den Réveil“. Es war die Nummer des Réveil vom 12. Juli, in
der die Adresse erschienen war. (James Guillaume, p. 84.)
und Engels anfänglich etwas ganz anderes bedeutete, als sie später
hineininterpretierten. 1864 kam es ihnen darauf an, die politische
Intervention in den Angelegenheiten der nationalen Politik der
ökonomischen Emanzipation unterzuordnen, das heisst, die Bis-
marckische Politik möglichst gewähren zu lassen. 1871 aber, auf
der Londoner Konferenz, nach den glänzenden Bismarcksiegen,
fürchteten sie, den Anschluss zu versäumen. Also schoben sie
jetzt das Mittel der politischen Aktion in den Vordergrund und
legten es im Sinne einer parlamentarischen Reformpartei aus.
dergleichen nie gefordert oder prophezeit hat. Herzen glaubte
an die verjüngende Kraft der russischen Dorfgemeinde, des Mir,
an die regenerative Bauernkraft Russlands, dem westlichen „Ver-
fall“ gegenüber. Er glaubte an den ungebrochenen naiven Idea-
lismus des russischen Volkstums. Keineswegs aber verlangte er
eine „obligate Infusion mit Kalmückenblut und eine Verjüngung
durch die Knute“. Das war nur der gewissenlose Superlativismus
Marxens und eine seiner böswilligen Entstellungen in der Hetze
gegen die „Panslavisten“.
jurassienne“, Manuskript 1873 (mitgeteilt von Nettlau). Bakunin
bemerkt dazu: „Wenn Herr von Bismarck auf den Genfer Kon-
gress einen Agenten hätte schicken wollen, — hätte er eine
andere Sprache führen können? Im Augenblick, da er mit furcht-
baren Mitteln den Sturz der französischen Hegemonie und die
Begründung der deutschen Herrschaft auf deren Trümmern vor-
bereitete, — wäre es nicht von seinem Standpunkte aus hervor-
ragende Politik gewesen, die öffentliche Aufmerksamkeit von
seinen Rüstungen und dem deutschen Ehrgeiz auf die viel fernere
Gefahr einer Drohung Russlands abzulenken? War das nicht
Pangermanismus, der sich Europa unter dem frommen Vorwand
berechtigten und gemeinsamen Hasses gegen den Panslavismus
anempfahl? Hiess das nicht Deutschland von allem politischen
und sozialen Unheil, das es angerichtet hat und das es heute
(1873) in monströsem Masse verbreitert, reinwaschen, dafür aber
die Schuld auf seinen leider nur allzu gefügigen und getreuen
Schüler Russland schieben?“ — Die Friedens- und Freiheits-
kongresse von Genf und Bern (1867/68) waren in der Haupt-
sache von Westschweizern und Franzosen einberufen und
beschickt. In Mittelpunkt ihrer Aktion stand der Russe Bakunin.
auch Lassalle, Bebel und Wilhelm Liebknecht. Noch 1914 fiel
fast die gesamte deutsche Sozialdemokratie auf das Märchen vom
russischen Angriffskrieg herein. Es war tüchtig vorgearbeitet:
ein halbes Jahrhundert lang.
Zimmerwald-Kienthal“ von S. Grumbach, Benteli A.-G. Bümpliz-
Bern, 1916, die bestätigt, dass der doktrinäre Verzicht auf die
Landesverteidigung und die marxistische Wirtschaftsideologie es
waren, die Russland der obersten deutschen Heeresleitung aus-
lieferten. Präsident der Zimmerwald—Kienthal-Gründung war der
germanophile Schweizer Sozialdemokrat Robert Grimm, Haupt-
wortführer Genosse Radek und der Grossinquisitor der „ver-
bürgerlichten“ Internationale, Ulianow Lenin, dessen Ueber-
schätzung der revolutionären Neigungen des deutschen Prole-
tariats sich noch bei weitem utopischer zeigte, als sein Versuch,
den Marxismus zu „verwirklichen“. Lenin sowohl wie seine
russischen Genossen Trotzky und Zinovjew nennen sich „revolu-
tionäre Marxisten“. Die groben Irrtümer Lenins hinsichtlich der
deutschen Mentalität sind samt und sonders in seinem Marxismus
beschlossen. Gleich Marx hielt er den preussisch-französischen
Krieg von 1870 bis zum Sturze Napoleons für einen „Freiheits-
krieg“: „Im deutsch-französischen Kriege beraubte Deutschland
Frankreich, aber dies ändert den grundlegenden historischen
Charakter dieses Krieges nicht, der viele Millionen Deutsche von
der feudalen Zersplitterung und Unterdrückung durch zwei Des-
poten, den russischen Zaren und Napoleon III. befreite“. (Lenin
und Trotzky, „Krieg und Revolution“, herausg. von Eugen Levin-
Dorsch, Grütli-Verlag, Zürich, 1918, S. 102). Mit Marx versuchte
er, noch am 8. April 1917 die internationale Arbeiterschaft glauben
machen, das deutsche Proletariat sei „der treueste und zuver-
lässigste Bundesgenosse der russischen und der internationalen
Revolution“ (Ebendort, „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter“
S. 159). Und gleichwohl hat er den Marxismus, von dessen
„lebendiger revolutionärer Seele“ er noch heute überzeugt zu
sein scheint, schlechter verstanden als der preussische General-
stab, sonst hätte er nicht schreiben können: „In Wirklichkeit
wird diese (deutsche) Bourgeoisie zusammen mit den Junkern alle
ihre Kräfte, ohne Rücksicht auf den Ausgang des Krieges an-
strengen, um die zarische Monarchie gegen die Revolution in
Russland zu schützen“ (S. 137). Oh nein! Dieser Generalstab (von
der anti-slavistischen Bourgeoisie, auch der sozialdemokratischen,
[312] gar nicht zu reden), wusste sehr wohl, dass sich mit „revolu-
tionären Marxisten“ bei weitem besser arbeiten lässt, als mit
einer von religiöser Feindschaft getragenen Monarchie. Und die
Ereignisse bewiesen, dass es dem Generalstab gelang, Russland
durch seine Marxisten gründlicher zu ruinieren, als zehn schreck-
liche Iwans es vermocht hätten.
ration“ nach dem Kongress der anti-autoritären Internationalisten,
1873: „So ist Euer Sieg, der Sieg der Freiheit und der Inter-
nationale gegen die autoritäre Intrige, vollständig. Aber bevor
wir uns trennen, gestattet mir noch einen letzten brüderlichen
Rat: Meine Freunde, die internationale Reaktion hat ihr Zentrum
heute nicht mehr in diesem armen Frankreich — so possierlich von
der Versailler Versammlung dem Sacré-Cœur geweiht —, sondern
in Deutschland, in Berlin; und ihre beiden Vertreter sind ebenso
gut der Sozialismus von Marx als die Diplomatie Bismarcks.
Diese Reaktion setzt sich als Endziel die Veralldeutschung Eu-
ropas und droht zu dieser Stunde alles zu verschlingen und um-
zukehren. Sie hat der Internationale, die heute nur noch aus den
autonomen und freien Föderationen besteht, den Krieg aufs
Messer erklärt. Wie die Proletarier aller anderen Länder, sollt
auch Ihr, obgleich Ihr zu einer heute noch freien Republik ge-
hört, die Reaktion bekämpfen, denn sie steht zwischen Euch und
dem Endziel, der Emanzipation des Proletariats der ganzen Welt“.
(Brupbacher, „Marx und Bakunin“, S. 160).
Wörtlich beginnt dies Zitat: „Dieses hingebungsvolle Unter-
schichten- und Untertanenbewusstsein erfüllt in Preussen Mil-
lionen von Seelen und dringt bis hinauf in das freiere (!) Bürger-
tum, wo es dann freilich verderbte und sittlich gefährliche Formen
annimmt. In seiner reinsten Form zeigt es kindlich schöne
Züge (!) und fügt sich in das glückliche Patriarchenverhältnis,
das uns in jeder Völkerjugend rührt. Volkspsychologisch sind
diese Züge von hohem Wert; sie schaffen die disziplinierbarste
und organisierbarste Masse, die wir kennen etc. etc“. Der solchen
Galimathias schreibt, erlässt heute als „Führer der Nation“ und
Präsident der A. E. G. Aufrufe an die Jugend und versteht es
auch sonst, die „spekulative“ deutsche Tradition bestens zu
handhaben.
einen geläuterten Nationalismus, der das Heil der Menschheit
nicht in der Umgehung der Nation und im Verzicht auf ihre
[313] spezifischen Hilfsmittel und Traditionen, sondern gerade in der
Erfüllung und Sublimierung der nationalen Idee, in der Ausprägung
und Gewissenserhebung ihrer wahrhaft menschlichen Leistungen
erblickt. Das Herz der Nation zur Menschheit tragen, das ist
die Aufgabe verantwortlicher Geister.
Herren Dr. Max Scheler und Prof. Werner Sombart, letzterer in
seinem Buche „Händler und Helden“, das Nietzsches Angriff
auf den „philosophischen Geist überhaupt“ für seine faden-
scheinige Beweisführung in Anspruch nimmt und damit die „platte
englische Krämermoral“, den Common sense der Bentham,
Spencer, Godwin, Owen, Hume, zu erschlagen sucht. „Deutsch
sein heisst Held sein!“
und Kritik des preussischen Despotismus und der klassischen
Literatur“, S.76.
Krieg“, Benteli A.-G., Bümpliz-Bern, 1918, S. 27/29.
sich übrigens über die Denkfreiheit unter Friedrich II. so ge-
äussert. Aehnlich schrieb auch Sir Charles Hanbury Williams
1750 aus Berlin: „Es ist gar nicht zu glauben, wie dieser pater
patriae sich um seine Untertanen sorgt: er lässt ihnen in der
Tat keine andere Freiheit als die des Denkens. Ich denke Hamlet
sagt irgendwo: Dänemark ist ein Gefängnis. Das ganze preus-
sische Gebiet ist ein solches im buchstäblichen Sinne des Wortes“.
Oder der italienische Dichter Alfieri in seiner Selbstbiographie
über einen Aufenthalt 1770 in Preussen: Berlin sei ihm vorge-
kommen wie „eine grosse Kaserne, die Abscheu einflösst“, der
ganze preussische Staat aber „mit seinen vielen Tausend be-
zahlter Satelliten wie eine ungeheure ununterbrochene Wach-
stube“. Oder Lord Malmesbury, 1772: „Berlin ist eine Stadt,
wo es weder einen ehrlichen Mann, noch eine keusche Frau
gibt. Eine totale Sittenverderbnis beherrscht beide Geschlechter
aller Klassen. Die Männer sind fortwährend beschäftigt, mit
beschränkten Mitteln ein sehr ausschweifendes Leben zu führen,
die Frauen sind Harpyen, denen Zartgefühl und wahre Liebe
unbekannt sind und die sich jedem preisgeben, der sie bezahlt“
(S. 250).
Zeit zu Zeit gerade dann gestattet werden, wenn der Despotis
mus neuer Kraftzufuhr bedarf. Die Revolution ist eine Art ver-
einfachter Beamtenselektion und Karriere. Man sollte sich warnen
lassen, heute, Dezember 1918, wo wieder, wie 1848, eine National-
versammlung bevorsteht und in politicis eine Verwirrung herrscht,
die sich von der um 1848 in keiner Weise unterscheidet, weder
im Mangel an Energie auf Seiten der Rebellen, noch im Mangel
an Dreistigkeit auf Seiten der Reaktion. Deutschland erscheint
unfähig, Revolutionen, selbst wenn sie ihm aufgezwungen werden,
zu erfassen und im volksfreundlichen Sinne durchzuführen.
verrücktesten preussischen Monarchen, „und doch scheinbar
liberal, ganz vollgepfropft mit mittelalterlichen Vorstellungen und
doch, wie er sich im Gegensatz zu seinem Vater selbst nannte,
ein „moderner Mensch“, versuchte er die Herrlichkeit eines
romantischen teutschen Mittelalters und die Prächtigkeit einer
römischen Herrscherkirche mit den Freiheitsideen (!) des Pro-
testantismus und des 19. Jahrhunderts zu verbinden. Die „Schrei-
berkaste“ war ihm zuwider. Und darum hatte das Junkertum
sein Wohlgefallen an diesem Herrscher. Es umgab ihn mit
„Heiligen und Rittern“, entfremdete ihn völlig seinem Volk und
seiner Zeit und lullte ihn in Weihrauch und herrliche Redensarten
von Gottesgnadentum ein“. („Das Königtum ist der Krieg“, S. 45.)
R. Piper \& Co., München, 1918, S. 96, Von der religiösen Lüge
des Nationalismus.
F. Bruckmann A. G., München, 1916, in dem Kapitel „Bismarck
der Deutsche“, S. 40.
schäftsgeist war es, was Bismarck so rasch zum Heroen erhob.
Die abstrakte, volksfremde Ideologie (der deutsche Träumer)
hatte die Nation so furchtbar verwildern lassen, dass der Ge-
schäftsgeist, der jetzt zutage trat, an Immoralität den „Kapi-
talismus“ jeden anderen Landes überbot. Die alldeutschen Ver-
bände (Junkertum und Schwerindustrie), Händler und Helden in
innigem Verband, wuchsen in kurzem zu jener ungeheuren, die
deutsche Politik und das Wirtschaftsleben fast unumschränkt
beherrschenden Macht, die seit den 80er Jahren mit vollem Be-
wusstsein auf einen neuen segensreichen Krieg, auf den Welt-
[315] krieg hinarbeitete. Die religiöse Weihe aber gab diesem Bunde
Luther. „Sobald Luther erhaben wird, wird er praktisch“, schrieb
Chamberlain und er selbst unterstrich den Satz und fügte hinzu,
dass der praktische Geist nach seinem Dafürhalten sogar „die
Achse dieser gewaltigen Persönlichkeit ausmacht“. („Deutsches
Wesen“, S. 51, Martin Luther, ein ergänzender Abschnitt zu den
„Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“).
Bd. II, S. 217. (Brief an Wagener.)
Machtromantik führte, hat unter Deutschen seit Konstantin Frantz
besonders Prof. Fr. W. Förster systematisch bekämpft. (Vergl.
„Bismarcks Werk im Lichte der grossdeutschen Kritik“ in der
„Friedenswarte“ Bern, Januar 1916): „Die rein individualistische
Grossmachttheorie ist nur eine kurze Phase, eine Verwirrung, sie
konnte nur in jenem Interregnum aufkommen, in dem die mittel-
alterliche Vorstellung der civitas humana zerfallen war, ohne
dass neue grosse weltorganisatorische Ideen an ihre Stelle ge-
treten wären. .. Diese Entwicklung kann nun allerdings nicht
durch blosse politische Vorschläge in Gang gebracht werden.
Es kommt vielmehr darauf an, dass die junge Generation in
Deutschland sich gründlich von der Bezauberung freimacht, mit
der die falsche Romantik der neuen Reichsgründung die Seelen
der älteren Generation umsponnen, deren ganzes Denken über
völkerpolitische Probleme verengt und es im Namen der Real-
politik den realsten Tatsachen und Bedürfnissen der neueren
Weltentwicklung entfremdet hat“.
Berlin 1917, S. 19/28.
jungen Rimbaud liegt sehr nahe. Auch Rimbaud ist in seiner
Jugend ein „Desperato des Instinkts“; von seinen gallischen
Vorfahren hat er die „Idolatrie und die Liebe zum Sakrileg“.
Christus ist ihm ein „éternel voleur des énergies“, Moral „une
faiblesse de cervelle“. Germanisch und barbarisch, sagte man
von ihm, brachen seine Verse in die französische Kultur ein.
„Ich war niemals aus diesem Volke, war niemals Christ. Ich bin
von der Rasse, die beim Todesurteil sang; ich verstehe die Ge-
setze nicht, habe keine Moral, bin ein roher Mensch“. (So Rim-
baud, und fast ebenso Bismarck) Aber — und hier trennen sich
die Wege dieser beiden so verwandten Geister — Rimbaud findet:
[316] „Die minderwertige Rasse hat alles bedeckt — Volkstum, wie
man sagt, Vernunft, Nation, Wissenschaft“. Und er zieht daraus
den Schluss: „Das Böseste ist, diesen Kontinent zu verlassen,
wo die Tollheit herumstreicht, um diese Armen mit Geisseln zu
versehen“. Er wird Heiliger, Gott und hilfreicher Medizinmann
verschollenen Negerstämmen im schwärzesten Sudan. „Ich bin
ein Tier, ein Neger; aber vielleicht bin ich gerettet. Ihr seid
falsche Neger, Wahnsinnige, Wilde, Geizige“. In inbrünstigen
Gebeten stirbt er am 10. November 1891. Welcher von diesen
beiden Männern war der grössere Held? Die Frage ist an das
Volk und die Jugend gerichtet.
C. H. Beck, München, 1895, Bd. V, S. 293. Der Brief ist datiert
18. Dezember 1879 und bezieht sich auf das „schliessliche Er-
gebnis unserer Anstrengungen“ (den Vertrag vom 7. Oktober 1879).
Beachtenswert ist, dass Bismarck den französischen Botschafter
in Wien, Herrn Teisserance de Bort, von den vorhergehenden
Verhandlungen unterrichtet hatte, dabei aber den friedlichen
Charakter des deutsch-österreichischen Bündnisses betonte. Bis-
marck hatte sich am 21. September 1879 nach Wien begeben
und verhandelte dort mit Andrassy, dem Baron Haymerle und
dem ungarischen Ministerpräsidenten Tisza, sowie mit Kaiser
Franz Joseph selbst. Dieses Parabellum-Bündnis war der Keim
des Krieges von 1914. Seine Vorbereitung bedeutet einen Betrug
gegenüber Frankreich.
testant. Rom ist ihm ewig wesensfremd geblieben. Sein Wissen
von den Mächten der Welt, sein starker Verstand, seine Selb-
ständigkeit, vor allem sein weit über die Grenze der Religion
hinausragender Glaube an die eigene Absolution drängten ihm
den Protestantismus geradezu auf. Es klingt, als hätte es Luther
selbst geschrieben, wenn man ihn am Abend des entscheidenden
Juli 1870 ein Lied im Gesangbuch lesen, einen Eintrag über diesen
bedeutungsvollen Tag machen und die plattdeutschen Worte
hinzufügen sieht: ‚Dat walt Gott und dat kolt Isen‘ (Das walte
Gott und das kalte Eisen)“. Herr Emil Ludwig (Cohn aus Breslau)
fährt fort: „Bismarcks Protestantismus hat eine besondere Fär-
bung; man möchte ihn preussisch nennen. Er nennt sich Gottes
Soldat; sein Amt werde er tun; ‚dass Gott mir den Verstand
dazu gibt, ist seine Sache‘.“
marck von der Universität Giessen zum Ehrendoktor der Theo-
logie ernannt. Das lateinische Elogium widmete diese Ehrung „dem
reichbewährten, vornehmsten Ratgeber der evangelische Könige
von Preussen, der erlauchten Stütze der evangelischen Sache in
aller Welt, welcher darüber wacht, dass die evangelische Kirche
gemäss ihrer Eigenart und nicht nach fremdartigem, für sie ver-
derblichem Vorbilde regiert werde; dem tiefblickenden Staats-
manne, der erkannt hat, dass die christliche Religion, allein
Heil bringen kann der sozialen Welt; die christliche Religion,
die ihm die Religion den tatkräftigen Liebe, nicht der Worte,
des Herzens und Willens, nicht der blossen Spekulation ist; dem
einsichtigen Freunde aller deutschen Universitäten, der zumal
den evangelischen Fakultäten teuer geworden ist durch die Ent-
schlossenheit, mit der er für deren Freiheit eintrat, ohne die sie
dem Evangelium und der Kirche nicht dienen können“. Und
Bismarck erwiderte (22. November) dankend: „Meinem Eintreten
für duldsames und praktisches Christentum verdanke ich diese
Auszeichnung etc.“ (Dr. Hans Blum, „Bismarck und seine Zeit“,
Bd. VI. S. 323).
Deutschland anti-katholisch?“, Burns \& Oates Ltd., London 1918.
Man erinnere sich übrigens, damit auch der Humor nicht fehlt,
jener Worte des Prinzen Heinrich von Preussen am Vorabend
seiner Abreise nach China im Jahre 1897: „Mich zieht nur eines:
das Evangelium Ew. Majestät christlicher Person im Auslande zu
künden, zu predigen jedem, der es hören will, und auch denen,
die es nicht hören wollen“. Wilhelm II. als Jesus, und der
Prinz Heinrich, sein Bruder, als Apostel! Wann wird man
beginnen, Preussen den umgekehrten Kulturkampf zu machen?
Bismarcks Reden, Briefe, „Gedanken und Erinnerungen“, die
Memoirenwerke von Booth, Busch, P. Hahn, Hofmann, Keudell
etc. etc., sowie die von Brauer, Marcks und v. Müller neuerdings
gesammelten Erinnerungen).
blätter“ Leipzig 1899, III. Bd.), woraus folgende Aeusserungen
Bismarcks Erwähnung verdienen; „Frankreich ist eine Nation
von Nullen, eine Herde .. Es waren 30.000.000 gehorsame
Kaffern, jeder Einzelne von ihnen ohne Klang und Wert — nicht
einmal mit den Russen und Italienern auf einen Fuss zu stellen,
[318] geschweige denn mit uns Deutschen“ (Bd. I, S. 200). Oder: „Wenn
wir in unserem Kreise nicht alles mit Garnisonen versehen können,
so schicken wir von Zeit zu Zeit fliegende Kolonnen nach solchen
Orten, die sich rekalzitrant benehmen, erschiessen, hängen und
sengen“. Oder: „Für jeden Tag Rückstand sollen den Gemeinden
fünf Prozent des Betrages mehr abgefordert werden. Fliegende
Kolonnen mit Geschützen sollen vor die sich härtnäckig wei-
gernden Ortschaften rücken, sich die Steuern herausbringen
lassen, und, falls dies nicht ohne Verzug geschieht, mit Beschies-
sung und Anzünden vorgehen“. Und weiter: „Ich (Bismarck)
denke, wenn die Franzosen erst Zufuhr an Lebensmitteln gekriegt
haben und dann wieder auf halbe Ration gesetzt werden und
wieder hungern müssen, das wird wirken. Es ist wie mit der
Prügelbank. Wenn da etwas länger gehauen wird — hinterein-
ander — so macht das nicht viel aus. Aber wenn ausgesetzt
wird und nach einer Weile wieder angefangen, das ist unerwünscht“.
(Bd. II, 57/58, 81/82, und 84).
Dokumente alldeutscher Kriegwut in Prof. O. Nippolds berühmten
Buche „Der deutsche Chauvinismus“ (Bern, K. J. Wyss Erben,
1913 und 1917), insbesondere die den Tatsachen durchaus ent-
sprechende Aeusserung eines Medizinalrat Dr. W. Fuchs vom
12. Januar 1912: „Welche Männer ragen denn am höchsten in
der Geschichte der Nation, wen umfängt der Herzschlag der
Deutschen mit heissester Liebe? Etwa Goethe, Schiller, Wagner,
Marx? O nein, sondern Barbarossa, den grossen Friedrich, Blücher,
Moltke, Bismarck, die harten Blutmenschen. Sie, die tausende
von Leben hinopferten, sie sind es, welchen aus der Seele des
Volkes das weicheste Gefühl, eine wahrhaft anbetende Dankbar-
keit entgegenströmt. Weil sie getan haben, was wir jetzt tun
sollten. Weil sie so tapfer, so verantwortungsfreudig waren, wie
sonst keiner“. „Nun muss aber die bürgerliche Moral“, fährt
der Medizinalrat fort, „alle jene Grossen verdammen; denn der
Volksgenosse hütet nichts ängstlicher als seine bürgerliche Moral,
— und trotzdem huldigen seine heiligsten Schauer den Titanen der
Bluttat! etc.“ — Heil dem grossen Psychoanalytiker Fuchs! Er hat
die Wahrheit, die lauterste Wahrheit gesprochen und das Rätsel
aufgedeckt. Das schlechte Gewissen des deutschen Volkes ist
seine — Moral. Das Verbrechen ist seine Natur, Rebellen aber
sind diejenigen, die das Naturrecht der Bluttat restituieren! Das
ist das Geheimnis der deutschen Geistesgeschichte.
[319] crit de „L'Exégèse des liens communs“, Georges Crès \& Co.,
Paris, 1914, p. 186/88.
zum Schulpflichtgesetz (vergl. Dr. Hans Blum, Bd. V, S. 49/56).
Bd. IV, S. 5.
gibt nur noch Staatsphilosophie und Kriegswirtschaft. Die Gobi-
neau, Treitschke und Chamberlain beherrschen den Denkapparat.
Vergl. Dr. H. Roesemeier, „Die Wurzeln der neudeutschen Menta-
lität“ (Der Freie Verlag, Bern, 1918): „Der führende Geist des
neuen Deutschland — übrigens sein einziger literarischer Ver-
treter von urwüchsiger Kraft und Fülle der Persönlichkeit — wurde
Heinrich von Treitschke, der Historiker, der im preussisch-deut-
schen Reiche Bismarkischer Nation den Gipfel der Weltentwick-
lung erblickte, der die Hegel'sche Vergottung des Staates aus
der Sphäre abstrakten Denkens in die Wirklichkeiten praktischer
Politik überführte, der den Grund legte zu dem furchtbaren England-
hass, wie er die jetzige Generation der deutschen Intelligenz
beseelt. Gar nicht hoch genug einzuschätzen ist Heinrich von
Treitschkes Einfluss auf die neudeutsche Mentalität“. (S. 25.)
„vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden“, das Leben
bezeichnete er als einen „fortgesetzten Betrug, im kleinen wie
im Grossen“. (Schopenhauers Werke, Bd. II, S. 674, Ausgabe
von Eduard Grisebach, Reclam-Verlag, Leipzig). Interessant ist
die Bemerkung des Biographen, Johannes Volkelt hierzu: „Ist
nicht Schopenhauers Weltverwerfung und Lebensverneinung längst
als schrullenhaft bekannt! Besonders die gegenwärtige Jugend
ist erfüllt von dem Durste nach stark herausgelebtem Glück, nach
Genussempfindungen, die alle Lust wie sie von den früheren
Geschlechtern gespürt wurde, an Mannigfaltigkeit, Neuheit und
ausschöpfender Tiefe weit übertreffen sollen; und sie ist zu-
gleich voll des kühnen Glaubens an die Erreichbarkeit solchen
Glücks“. (Johannes Volkelt, „Artur Schopenhauer, Seine Persön-
lichkeit, seine Lehre, sein Glaube“, Fr. Frommanns Verlag, Stutt-
gart 1900, S. 1).
des Kommunistischen Manifestes im Jahre 1848 war es mit der
bürgerlichen Philosophie in Deutschland vorbei. Ihre patentierten
Vertreter an den Hochschulen kochten allerlei eklektische Bettel-
[320] suppen, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abgestandener wurden.
Für die philosophischen Bedürfnisse der Bourgeoisie aber sorgte
eine Reihe von Modephilosophen, von denen einer den anderen
ablöste, je nach der wechselnden Entwicklung des Kapitalismus.
Von Anfang der fünfziger Jahre bis etwa in die Mitte der sech-
ziger war Schopenhauer der Mann des Tages, (!) der Philosoph
des geängstigten Spiessbürgertums, der wütende Hasser Hegels,
der Leugner jeder historischen Entwicklung, ein Schriftsteller nicht
ohne paradoxen Witz (!), nicht ohne ein reiches, wenn auch
mehr weitläufiges, als eindringendes und umfassendes Wissen,
nicht ohne einen Abglanz der klassischen Literatur, die er zum
Teil noch unter Goethes sonnenhaften Augen mit erlebt hatte,
aber in seiner duckmäuserigen, eigensüchtigen und lästernden Weise
doch recht das geistige Abbild des Bürgertums, das, erschreckt
durch den Lärm der Waffen, sich zitternd wie Espenlaub auf
seine Rente zurückzog und die Ideale seiner grössten Zeit wie
die Pest verschwor.“ Wahrlich ein klassisches Urteil! Der wütende
Hegelhasser, das ist es! Die Hegel'sche Philosophie mit ihrem
Glauben an die in der Geschichte selbsttätig sich immer mehr
verwirklichende Vernunft, der Hegel-Marx'sche Evolutionismus,
der freilich galt Schopenhauern als „halb verrückt“.
hören wir plötzlich, dass die Welt an sich einen moralischen
Sinn habe. Die stärksten Ausdrücke sind für Schopenhauer noch
immer kaum stark genug, wenn er die naturalistische Weltan-
schauung brandmarken will. Er hält es für den ‚fundamentalen‘
und ‚verderblichsten Irrtum‘, ja für ‚eigentliche Perversität der
Gesinnung‘, wenn der Welt ‚bloss eine physische, keine mora-
lische Bedeutung‘ gegeben wird. ‚Die Hauptsache des mensch-
lichen Lebens ist sein ethischer, für die Ewigkeit geltender Wert‘.
Schon in seiner Jugend bemerkte Schopenhauer gegen Schelling,
dass das Moralische das Allerrealste sei, dem gegenüber alles,
was sonst real erscheint, in Nichtigkeit versinke“. — Man vergleiche
die darauffolgenden Ausführungen über Sünde, Schuld und Busse
(S. 251/56): „Jetzt darf von einer heiligen moralischen Ordnung
der Welt — freilich ist sie von furchtbarer Art — die Rede sein.
Das Leiden der Welt rechtfertigt sich durch die zugrunde liegende
Schuld. Mann kann aus Schopenhauer den guten Sinn heraus-
lesen: das Bejahen des Lebens sei eben als gieriges, besinnungs-
loses Bejahen die Urschuld“.
stalt Wotans (des Kriegs- und Schlachtengottes) kam Schopen-
[321] hauers „schuldvoller Wille“ als Wesen der Welt zu erhabenem
Ausdruck. (Vergl. Artur Prüfer „Die Bühnenfestspiele in Bayreuth“,
Leipzig, 1899, S. 110 ff).
„Tiefe Begierde nach Wiedergeburt als Heiliger und Genius. Ein-
sicht in das gemeinsame Leid und die Täuschung. Scharfe
Witterung für das Gleichartige und die gleichartig Leidenden.
Tiefe Dankbarkeit für die wenigen Erlöser“. („Schopenhauer als
Erzieher“, Werke Bd. X, S. 319).
aus dem Januar 1874“).
deutschen Geist, gegen den romanischen“ (Werke Bd. X, S. 446).
Und: „Wagner fand einen ungeheuren Zeitpunkt vor, wo alle Re-
ligion aller früheren Zeiten in ihrer dogmatischen Götzen- und
Fetischwirkung wankte: er ist der tragische Dichter am Schluss
der Religion, der Götterdämmerung (Ebendort S. 457). Bald aber
betont er selbst: „Will man behaupten, dass der Germane für
das Christentum vorgebildet und vorbestimmt gewesen sei, so
darf es einem nicht an Unverschämtheit fehlen. Denn das Ge-
genteil ist nicht nur wahr, sondern auch handgreiflich. Woher
sollte auch die Erfindung zweier ausgezeichneter Juden, des Jesus
und der Saulus, der zwei jüdischsten Juden, die es vielleicht ge-
geben hat, gerade die Germanen mehr anheimeln als andere
Völker? Beide meinten, das Schicksal jedes Menschen und aller
Zeiten vorher und nachher nebst dem Schicksale der Erde, der
Sonne und der Sterne, hänge von einer jüdischen Begebenheit
ab: dieser Glaube ist das jüdische non plus ultra. Wie reimt sich
diese höchste moralische Subtilität, welche einen Rabbiner- und
nicht einen Bärenhäuter- Verstand so geschärft hat, ... die
priesterliche Hierarchie und das volkstümliche Asketentum, die
überall fühlbare Nähe der Wüste, und nicht die des Bärenwaldes
—, wie reimt sich das alles zum faulen, aber kriegerischen und
raubsüchtigen Germanen, zum sinnlich kalten Jagdliebhaber
und Biertrinker, der es nicht höher als bis zu einer rechten und
schlechten Indianerreligion gebracht hat und Menschen auf Opfer-
steinen zu schlachten noch vor zehnhundert Jahren nicht verlernt
hatte“? (Werke Bd. XI.)
Festspiele, nahm ich bei mir von Wagner Abschied. Ich vertrage
21
[322] nichts Zweideutiges; seitdem Wagner in Deutschland war, condes-
zendierte er Schritt für Schritt zu allem, was ich verachte, selbst
zum Antisemitismus. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in
Wahrheit ein morsch gewordener verzweifelnder décadent, sank
plötzlich hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze
nieder.“ („Nietzsche contra Wagner“ (1888), S. 246). Warum denn
nicht hülflos? Warum nicht zerbrochen? Weshalb durfte er das
nicht?
„Ecce homo“ (1888), „Dionysos gegen den Gekreuzigten“. Und
an Georg Brandes schrieb er (20. November 1888): „Das Buch
heisst „Ecce homo“ und ist ein Attentat ohne die geringste Rück-
sicht auf den Gekreuzigten; es endet in Donnern und Wetter-
schlägen gegen alles, was christlich oder christlich infekt ist, bei
denen einem Hören und Sehen vergeht. Ich bin zuletzt der erste
Psychologe des Christentums“.
Narkosen“. Der Nachsatz lautet: „aber werden sie solchen Völ-
kern gegeben wie den Germanen, so sind sie reine Gifte“ (Werke
X, 407).
ist eine wirkliche Convention, hier ist Zwang, Ernst und Disziplin,
auch in Betreff der Form. Sie ist aus dem Bedürfnis entstanden.
Freilich weit entfernt vom ‚Einfachen und Natürlichen‘! Seine
Stellung zur Geschichte ist empirisch und darum zuversichtlich
lebendig, nicht gelehrt. Sie ist, für einige Personen, fast mythisch (!).
Sie geht aus von der Zucht des Körpers und von der peinlichst
geforderten Pflichttreue. Goethe ist sodann vorbildlich: der un-
gestüme Naturalismus (!), der allmählich zur strengen Würde
wird ... “ (Werke X, S. 279 „Vom Nutzen und Nachteil der
Historie für das Leben“, 1873).
Schopenhauers auf mir! Und kann man anhänglicher gegen Sie
gesinnt sein als ich?“ (Werke Bd. XI, aus der Zeit von „Mensch-
liches, Allzumenschliches“, 1875/79).
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Ball, Hugo. Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bk1q.0