[][][][][][][][[I]]
Psychologie als Wissenschaft,

neu gegründet
auf Erfahrung, Metaphysik, und
Mathematik.


Zweyter, analytischer Theil.

Königsberg,: 1825.
Auf Kosten des Verfassers, und in Commission bey
August Wilhelm Unzer.

[[II]][[III]]

Vorrede.


Man wird sich erinnern, daſs gleich im Anfange
des ersten Theils von einer natürlichen Umwand-
lung gewisser Begriffe gesprochen wurde, welche
den Philosophen unwillkührlich begegne, wäh-
rend sie dieselben bearbeiten. Mit Recht erwar-
tet man im vorliegenden zweyten Bande genauere
Auskunft darüber, wie die Möglichkeit solcher
Umwandlung, so fern sie nicht absichtlich voll-
zogen wird, in den allgemeinen psychologischen
Gesetzen gegründet ist. In der That werden wir
die Formen der Erfahrung, — welche bloſs darum
a priori in uns zu liegen scheinen, weil sie, von der
Materie der Empfindung unabhängig, die Resultate
der Complicationen und Verschmelzungen aus-
drücken, — allmählig vor unsern Augen hervor-
treten, und der Wissenschaft zu fernerer metho-
discher Umarbeitung gleichsam entgegenkommen
sehen. Aber ein besonderer Fall, wiewohl er
nur dem Gebiete der Meinungen angehört, ver-
dient schon hier, in der Vorrede, die sich na-
türlich an das jetzige Publicum wendet, eine
Erwähnung.


* 2
[IV]

Als Jakobi sich entschloſs, sein berühmtes
Gespräch mit Lessing bekannt zu machen: da
muſste er darauf gefaſst seyn, daſs die Leser
sich in zwey Partheyen theilen würden, je nach-
dem seine, oder Lessings Auctorität bey ihnen
gröſser, und sie selbst entweder mehr dem Den-
ken, oder dem Fühlen geneigt wären. Die bey-
den Partheyen haben sich gebildet; und stehn
bis heute einander gegenüber. Nun muſs jede
neue Lehre sich gefallen lassen, bey Allen, die
von ihr hören, irgend eine Befangenheit in die-
sen Streit anzutreffen; und das ist hier um
desto gewisser der Fall, weil die Partheyen gar
wohl wissen, daſs die Psychologie, deren Zu-
stimmung nicht fehlen darf, wofern die von
ihnen angegebenen Erkenntniſsweisen als zuläng-
lich betrachtet werden sollen, für sie keineswe-
ges gleichgültig seyn kann. Daher so verschie-
dene Lobreden auf die Vernunft; die fast klin-
gen, als wäre sie ein Orakel, das man bestechen
muſs, damit es weissage wie man verlangt. Die
Psychologie war schwach genug, logische Klas-
senbegriffe der innern Ereignisse für reale See-
lenvermögen zu halten; darum hofft man noch
einmal auf ihre Schwäche; man spart keine Zu-
dringlichkeit, sie auch noch für intellectuale An-
schauungen und Ahndungen zu gewinnen, die
freylich noch etwas weiter als jene von der Wahr-
heit entfernt seyn würden.


Was aber war der Gewinn, welchen die ge-
lehrte Welt erlangte, als sie erfuhr, Lessing
sey Spinozist gewesen? Dies, wenn das Gewinn
heiſsen kann, daſs der Spinozismus allgemeiner
bekannt wurde. Früher war er, wie ein Gespenst,
[V] von Wenigen im Dunkeln mit Grauen gesehen
worden; jetzt zeigte es sich, daſs er bey hellem
Mittage gewissen kirchlichen Lehrsätzen nach-
folgt wie ihr Schatten. Diejenige Umwandlung
der Begriffe nun, welche hiebey unwillkührlich
vorgeht, könnte heutiges Tages, wo der Spino-
zismus für die Religion der Aufgeklärten gilt,
und wo Jeder entweder klug wie Lessing, oder
doch unterrichtet wie Jakobi seyn will, ohne
Bedenken ausführlich vorgetragen werden; allein
um eindringlicher zu reden, verweise ich lieber
auf die Geschichte. Man weiſs, daſs Spinoza
durch Des-Cartes seine philosophische Bil-
dung empfing. Wer nun die Werke des Des-
Cartes
lieset, der sieht, daſs derselbe, nachdem
er seine ersten Zweifel überwunden hat, gar bald
wiederum sich den gewohnten Jugend-Eindrük-
ken überläſst, und daſs er ganz auf ähnliche
Weise, wie die Kirche zu thun pflegt, die er-
sten Religionsbegriffe entwickelt. Anfangs wird
Gott als auſserweltliches Wesen vorausgesetzt.
Wie könnte man anders?


Den Menschen, der eignen Willen hat, und
der stolz darauf ist, den eignen Sinn durchzu-
setzen, weiset ja die Kirche hin zu Gott; sie
sucht dabey durch die stärksten Motive auf den
Willen zu wirken; also ist sie weit entfernt, zu
glauben, dieser Wille, so roh wie sie ihn an-
trifft, sey schon ein göttliches Leben im Men-
schen. Um aber den Sünder zu demüthigen,
um den Gläubigen zu stärken, ist ihr kein Aus-
druck zu hoch, kein Geheimniſs zu wunderbar;
einzig beschäfftigt mit ihrem Zwecke, bemerkt
sie nicht, daſs es für sie eine Gefahr der Ueber-
[VI] treibung giebt. Und doch, wie leicht wäre es,
einen überspannten Theismus aufzustellen, aus
welchem sich geradezu ergäbe: eine solche Sin-
nenwelt, wie die unsrige, mit ihrer Zeitlichkeit,
Vergänglichkeit, Schwäche, mit ihrem unsichern,
von Manchen ganz abgeleugneten Fortschritte
zum Bessern, — der, wenn er auch geschieht,
doch nur allmählig, vielfach unterbrochen, mit
steter Gefahr der Rückfälle, zu Stande kommt,
und niemals vollbracht wird, — könne gar nicht
existiren; dürfe nicht einmal in der Erscheinung
vorkommen. Denn die Allmacht und Weisheit,
ganz abgewendet vom Todten und vom Schlech-
ten, schaffe nur vollkommen reine Geister; auch
diesen aber lasse sie nichts übrig zu thun; in-
dem sie nichts Fehlendes dulde, vielmehr alles
selbst vollbringe, damit es richtig vollbracht
werde. — Ein solcher Theismus ist consequent!
Aber wachend kann man ihn nicht vesthalten;
denn es ist das Wesen des Wachens, daſs man
empfänglich sey für die Erfahrung; die ihn wi-
derlegt. Eben so leicht nun kann es geschehen,
daſs man die Schöpfung und Erhaltung der Welt
so stark sublimire, bis die Welt sich von ihrem
Urheber nicht mehr sondern läſst. Sind die
Dinge nichts ohne ihn, so verliert in Hinsicht
ihrer, (wie Des-Cartes bemerkte) das Wort
Substanz seinen wahren Sinn. Man braucht
alsdann nur noch, mit Spinoza, denselben Ge-
danken anders auszusprechen: so ist Gott
die einzige Substanz. Folglich sind die Dinge
nur eine Form seines Daseyns; und aus der
Weltschöpfung wird eine bloſse Umwandlung
des einzig wahren Seyns. Dahin ging ganz und
[VII] gar nicht die Absicht der Lehre; aber das findet
in ihr unwillkührlich die erste Reflexion, die
sich auf sie richtet!


Noch ohne Rücksicht auf den Streit, der
sich hier erhebt, und, achtlos auf fremdes Ei-
genthum, auch über die Fluren der Psychologie
sich fortwälzt, kann man nicht umhin zu be-
dauern, daſs sich das wahre Verhältniſs der
Kirche zur Religions-Philosophie so sehr ver-
schoben hat. Was wollte denn eigentlich die
Kirche? Gewiſs wollte sie mehr ermahnen, als
lehren; wenigstens wollte sie einen sehr allge-
meinen Unterricht für Jedermann ertheilen, um
die Menschen in der Gesinnung zu vereinigen,
wenn sie auch im Denken von einander abgin-
gen. Hier nun befindet sie sich in dem Falle
des Redners; der den Affect, welchen er aufre-
gen will, zwar allerdings selbst empfinden muſs,
doch aber sich von ihm nicht darf überwältigen
und fortreiſsen lassen, sondern vor allen Dingen
für die Aufrechthaltung seiner eigenen Beson-
nenheit zu sorgen hat. Diese Besonnenheit, die-
ser Verstand der Kirche sollte die Religionsphi-
losophie seyn. Sie ist es aber freylich nicht,
wenn sie das Alles, was die Kirche in ihrer Be-
geisterung geredet hat, buchstäblich vesthält,
statt es auf seine ursprüngliche Absicht und Mei-
nung zurückzuführen. — Schon Platon wuſste
das Princip der Endlichkeit, dessen auch der
reinste Theismus nicht enthehren kann, wenn
er für diese Erde taugen will, — so zu fassen,
daſs dadurch keine andern, keine engeren Schran-
ken, als nur diejenigen, welche das sichtbare
Universum nun einmal unwiderleglich darthut,
[VIII] herbeygeführt wurden; er hielt die Dinge, (wie
man gegen Spinoza durchaus thun muſs,) dem
Seyn nach auſser Gott; und doch in Hinsicht
dessen, was sie sind, wenigstens was sie für
uns
sind, bedeuten, und werth sind, — un-
terwarf er sie der Vorsehung. So war der Pan-
theismus, dieser gefährliche Feind, den die Kirche
unvermerkt in ihrem eignen Schooſse hervor-
bringt und ernährt, vermieden. Nun wird zwar
wohl die Kirche niemals die Sprache des Pla-
ton
reden; sie kennt aus der Geschichte die
Misdeutungen, welche daraus entstehn können.
Aber wenn einmal nicht gefragt wird, was man
in Reden, die sich an Viele wenden, sagen solle,
sondern was die Denkenden denken werden,
dann findet es sich, daſs die Lehre des Platon
besser ist, während die des Spinoza besser
klingt. Und dieses findet sich um desto gewis-
ser, da die Kirche nicht bloſs dem Pantheismus
abgeneigt ist, welcher das Princip der Endlich-
keit in Gott hineinversetzt, sondern auch, und
zwar nicht minder, demjenigen überspannten
Theismus, der, um jenes für lästig gehaltene
Princip zu verflüchtigen, oder vielmehr zu igno-
riren, (denn das Verflüchtigen gelingt nicht,)
sich von der Erfahrung absichtlich hinwegwen-
det, und in allerley Formen sich durch eine
vorgeschützte Unwissenheit zu helfen sucht. Kann
die Kirche eine solche Hülfe annehmen? Sie
will ja leben und wirken in unserer Welt! Sie
weiſs sehr gut, daſs sie auf dem irdischen Bo-
den steht; ja noch mehr, sie hat eine alte, noch
jetzt nicht ganz erloschene Neigung, das Princip
der Endlichkeit sogar zu idealisiren und zu per-
[IX] sonificiren. Daher die Hölle und der Teufel.
Der Magnetismus im menschlichen Geiste —
kein neues, magisches, sondern ein natürliches
und wirksames Princip, nämlich das bekannte
Streben nach Effect, welches nicht eher ruht,
als bis die Gegensätze zu ihrem Maximum ge-
steigert sind, — macht sich überall Pole, auch
wo man keine sieht; wie hätte er den Gegenpol
des Himmels weglassen können? Platons Lehre
nun ist nichts als die äuſserste Milderung dieser
Polarität. Hingegen der freye Abfall der bösen
Geister, (eine förmliche Rebellion im Reiche
Gottes,) ist deren schärfste und härteste Spitze;
nicht bloſs Gegensatz, sondern Trotz wider den
Allerhöchsten! Gewiſs ein poetischer Trotz! Aber
consequent ist dessen Zulassung für den Begriff
des heiligsten Wesens eben so wenig, als der
Pantheismus; vielmehr muſs man eingestehen,
daſs die Langmuth gegen den Fürsten der Fin-
sterniſs, um das Gelindeste zu sagen, die unbe-
greiflichste aller göttlichen Eigenschaften, das
geheimste der Geheimnisse seyn würde.


Wir blicken jetzt zurück auf jene streiten-
den Partheyen, und überlegen, welches Schick-
sal sie wohl der Philosophie bereiten mögen?
Jede von beyden will siegen; aber schon der
erste Anfang des Streits konnte zeigen, daſs die
Burg des Pantheismus eben so vergeblich bela-
gert als vertheidigt wurde. Vergebens schmei-
chelt man sich, die Schellingische Schule
werde allmählig verstummen; denn lange vor
Schelling, und unabhängig von Lessing, ha-
ben sehr ausgezeichnete Köpfe das vergötterte
Weltall des Spinoza für den erhabensten Ge-
[X] danken gehalten, dessen die menschliche Ver-
nunft mächtig werden könne. Für die bloſse
Contemplation ist Gott ohne Welt ein völliges
Dunkel; sie will Etwas erblicken; sie will Vieles
umfassen; sie will Alles vereinigen. Sie sucht
für die schon anderwärts erworbenen Kenntnisse
einen Ruhepunct des Wissens. Sie verlangt
auch eine Art von Gefühlsphilosophie; aber das
Gefühl der bloſsen Betrachtung will sich nicht
vermengen mit den andern, dem menschlichen
Leben entsprossenen Gefühlen, denen die Vor-
sehung
Bedürfniſs und Linderung ist. Den-
noch lassen auch diese Gefühle sich nicht hin-
wegschaffen; das Leben erzeugt sie jeden Au-
genblick von neuem. Daher wird der Streit
fortdauern; und die Philosophie wird in diesem
Falle schwach bleiben durch innern Krieg! Oder
wollen wir annehmen, eine von beyden Partheyen
besönne sich auf ihr eigenes Unrecht, und ginge
freywillig über zu der andern? Vielleicht füh-
len die in der Burg, daſs sie Unrecht haben;
daſs sie engherzig einem lediglich contemplati-
ven Wohlbehagen sich hingaben; vielleicht er-
weitert sich ihr Gemüth, und sie lassen nun das
wärmere Gefühl gelten für das wahre. Was
wird daraus entstehn? Man verbannt die Klar-
heit der Reflexion, unterjocht den kalten Ver-
stand; es giebt alsdann nur positive Auctoritä-
ten im geistigen Gebiete; man glaubt und ahn-
det, weil man glauben und ahnden will. Die
Philosophie wird in diesem zweyten Falle un-
vermeidlich eine alte Geschichte, eine veraltete
Sitte. Redekünste treten an ihre Stelle; man
disputirt höchstens noch zum Schein; der klügste
[XI] Redner überlistet den, welcher sich weniger auf
die Kunst versteht, den Geist durchs Gemüth
zu beherrschen. Oder endlich, setzen wir den
dritten Fall, daſs die Belagerer der Burg frey-
willig die Hand zum Frieden bieten, weil sie
einsehn, daſs sie, für ihre Personen, Unrecht
haben zu streiten, während ihre innersten Ge-
danken, bey aufrichtiger Entwickelung, dem
Pantheismus zustreben. Dann wird in der Burg
ein Versöhnungsfest gefeyert werden, wobey der
gefährlichste Feind vergessen ist; nämlich der
Boden selbst, auf welchem die Burg erbauet
wurde. Dieser Boden ist vulkanischer Natur.
Auch der Pantheismus hat seine innere Gährung,
seine nothwendige Umwandlung; er ist nicht
das Palladium des Wissens. Denn ein Urwesen,
das sich ohne Noth und Zweck aus einer Form
in die andere wirft, ist ein ungereimtes Ding;
es existirt nicht; es kann nicht einmal gedacht
werden. Da jedoch die nothwendigsten Um-
wandlungen der Begriffe oft gerade diejenigen
sind, welche die menschliche Trägheit am spä-
testen vollzieht: so wollen wir uns für jetzt den
Pantheismus als Sieger denken, und nur fragen,
was alsdann die Philosophie zu erwarten habe?
Was anderes werden die Sieger thun, als ihre
Ansicht überall anbringen, durchführen, die ganze
Natur derselben unterwerfen, und in den Meta-
morphosen der Dinge, wovon uns ohnehin die
Erfahrung belehrt, lauter offenbare Bestätigun-
gen ihrer Lehre erblicken? Aber die Lehre wird
alsdann den Punct erreicht haben, wo sie, gleich
Fichtes Staate, sich selbst überflüssig macht
und aufhebt. Denn um die Dinge so veränder-
[XII] lich, und in der Veränderung dennoch behar-
rend, zu sehen, wie sie sich wirklich den Sinnen
darstellen, dazu braucht man keine Lehre; das
bloſse Auge verbunden mit witzigen Combina-
tionen, die sich von selbst darbieten, sieht davon
genug für Den, welchem so etwas genügen kann.
Also auch in diesem Falle ist es mit der Philo-
sophie zu Ende; denn ihr Werk ist abgethan,
und man kann sie weiter nicht gebrauchen.


Wer wird sich verhehlen, daſs alle drey
Fälle schon längst wirklich neben einander statt
finden, weil ihre Voraussetzungen theilweise zu-
gleich erfüllt wurden? Schon während man noch
stritt, hatte man zugleich den Empirismus und
der Schwärmerey Thür und Thor geöffnet; man
hatte nach allen Seiten hin Blöſsen gegeben.
Jetzt wird die philosophirende Symbolik von
den Philologen, das Naturrecht von den Rechts-
historikern, die Naturgeschichte Gottes *) von
den Supernaturalisten, die Naturphilosophie von
den Physikern zurückgewiesen und überflügelt!
Es fehlte nur noch, daſs eine philosophische
Schule selbst auf den Einfall kam, alles Denken
sey bloſse Wiederhohlung des unmittelbaren
Wissens, und könne die Erkenntniſs nicht im
Geringsten erweitern; auch diese Behauptung,
die bloſs die Frage übrig läſst, warum denn
nicht Alles sich von jeher von selbst ver-
stand
? wird jetzt laut gepredigt! — Das ist die
Geistesnahrung, wovon das Publicum lebt, wel-
[XIII] chem nunmehr dieses Buch muſs übergeben
werden! Und zwar in einem Zeitpuncte, wo es
an allen Orten Psychologien und Anthropolo-
gien geregnet hat.


Daſs die Schulen ihren alten Irrthum in
allerley Formen gieſsen, und ihm unter andern,
zur Abwechselung, einmal solche Namen geben,
die von der Seele, und vom Menschen, herge-
nommen sind, dies ist eine gleichgültige Sache.
Daher ist nicht nöthig, hier einzelne Beyspiele
anzuführen. Wiewohl, was könnte mich hin-
dern, ein paar Bücher, die mit jenen Titeln ver-
sehen sind, näher zu bezeichnen, worin die Un-
kenntniſs des geistigen Thuns und Wesens sich
versteckt hinter transscendentalen Kosmogonien,
und hinter Hypothesen über den Kern der Erde?
Und ein drittes, worin die Psychologie verbo-
gen ist durch den Zweck, sie einem längst fer-
tigen Systeme, dessen Vorurtheile sollten beybe-
halten werden, als Grundlage unterzuschieben?
Und ein viertes, dessen Verfasser sich mit sei-
nem Recensenten in der unvermeidlichen Am-
phibolie der transscendentalen Freyheitslehre her-
umdreht, vermöge welcher in einem Augenblicke
der freye und der gute Wille identisch gesetzt
werden, im nächsten aber, wann man das Böse
erklären will, die Freyheit sich in ein völlig ge-
setzloses Vermögen verwandelt, welchem zwar
die Vernunft ein Gesetz vorhält, aber dergestalt,
daſs der Erfolg rein zufällig bleibt. Und ein
fünftes, sechstes, siebentes, deren Verfasser zwar
mit Recht auf die Seite durchgängiger Naturord-
nung treten, aber keinen Begriff haben von gei-
stiger
Natur, nichts kennen als Materie, und
[XIV] selbst diese verkennen; daher sie um so mehr
den Geist verletzen und beleidigen. Und ein
achtes, worin mein Lehrbuch der Psychologie
nachgeahmt und entstellt, aber nicht angeführt
wird. Und ein neuntes, zehntes, und wer weiſs
wie viele sonst, worin die Abtheilung der See-
lenvermögen (die freylich Niemandem genügen
kann) zwar verändert wird, aber mit erkünstel-
ten Theilungsgründen; und mit Beybehaltung der
Meinung, Alles komme auf innere Wahr-
nehmung an
, — als hätten wir heute einen
schärfern innern Sinn, wie Kant oder Locke!
Den guten Willen aller dieser Schriftsteller be-
zweifle ich nicht; wenn aber dereinst ein [Ge-
schichtschreiber]
ein hartes Urtheil fällt, und etwa
von ihnen sagt: sie wuſsten, daſs die Psy-
chologie schwach war; darum gingen
sie statt behutsamer, desto dreister mit
ihr um
, dann fragt es sich, ob ihre Werke sie
vertheidigen können, worin das Schwerste und
Wichtigste leicht genommen ist?


Das einzige Bedeutende, was der Psycholo-
gie neuerlich begegnet ist, besteht in jenen vor-
erwähnten, ihr zugemutheten Anschauungen,
Offenbarungen, Ahndungen, die jede Parthey
nach ihrer Art näher bestimmt, um ihre Reli-
gionsansichten dadurch zu sichern. Diese Zumu-
thungen sind für jede nüchterne, wenn auch nur
empirische Psychologie, so durchaus unerträglich,
daſs man hoffen kann, sie werden nützlich seyn
durch Hervorrufung einer kräftigen Reaction *).
[XV] Man glaube nicht, daſs die Kirche sie dagegen
beschützen werde! Ihr sind die Vernunftoffenba-
rungen oft genug angeboten worden; sie kennt
deren wandelbare Natur, und empfindet sehr
stark das Bedürfniſs der Vestigkeit in diesen
ohnehin wandelbaren Zeiten. Man glaube eben
so wenig, daſs der innere, selbstständige Werth
der Gefühle, aus welchen jene Zumuthungen
hervorgehn, ihnen Nachdruck geben werde. Denn
dieser Werth wird gar nicht angefochten, viel-
mehr sehr gern anerkannt; aber geleugnet wird,
daſs er der Werth eines Beweises sey. Sehr gut
gemeint, sehr schön empfunden ist Manches,
was gleichwohl nur einen poetischen, keinen
wissenschaftlichen Werth besitzt. Sehr tiefe Ge-
fühle kann ein Individuum in sich erzeugen,
ohne daſs darum die Lehre vom Gefühlvermö-
gen, oder gar die vom Anschauen und Erken-
nen nur den geringsten Zusatz bekäme. Die
subjective, individuale Natur der Gefühle, ihr
inniger Zusammenhang mit der Zeitgeschichte,
und mit den Partheyungen, die sie herbeyführt,
ist eben so bekannt, als die eigenthümliche Weich-
heit derjenigen Charaktere, die sich darin gefal-
len, Gefühle zu Grundlagen ihrer Ueberzeugung
zu machen.


Der Leser weiſs übrigens schon aus dem
ersten Theile dieses Werks, daſs es viel zu alt
*)
[XVI] ist, viel zu lange im Pulte gelegen hat, um die
Absicht einer Reaction gegen die heutige Zeit in
sich zu tragen. Der Schluſs dieses Buchs wurde
im Jahre 1814 geschrieben. Seitdem sind all-
mählig manche Zusätze gemacht worden; so daſs
ein kritischer Geist, wie sie heute sind, wohl
auf den Einfall kommen könnte, verschiedene
Federn nachzuweisen, die daran geschrieben und
interpolirt hätten. Wohl nicht sicherer, als eine
solche Kritik, ist das Vorgefühl des Verfassers,
dieses Buch werde nach einem oder ein paar
Jahrzehenden anfangen zu wirken, wann die
Umwandlung dessen was jetzt die Köpfe trübt,
soweit wird vorgeschritten seyn, daſs die Natur
der Sache einen und den andern von selbst auf
die Bahn hinleiten kann, die man hier zuerst
betreten, und soweit es gelingen wollte, verfolgt
sieht. So späte Ereignisse können den Verfas-
ser für seine Person wenig interessiren. Nichts
desto weniger hegt er den Wunsch, daſs die
seltenen Menschen, welche im Stande sind, sich
von den Einflüssen des Zeitalters frey zu erhal-
ten, die zuvor beschriebene Lage der Philoso-
phie, — worin sie durch Diejenigen, die ihre
Pfleger seyn wollten, nun einmal ist versetzt
worden, — vest ins Auge fassen, und wohl be-
herzigen mögen; denn ihre Pflichten sind um
desto gröſser, je schwerer ihnen die Erfüllung
derselben von allen Seiten gemacht wird! Sie
sollen bedenken, daſs jedes System, je weniger
es von der nothwendigen Umwandlung der Be-
griffe erkennt, desto weniger dieselben leiten
kann, und desto sicherer von ihr ergriffen und
fortgerissen wird. Sie sollen ferner bedenken,
daſs
[XVII] daſs ein Publicum, welches die Nothwendigkeit
solcher Umwandlung nicht einsieht, gerade des-
halb die wechselnden Systeme für bloſs spie-
lende Erscheinungen hält. Sie sollen durch die
Geschichte belehrt seyn, daſs der Faden dieser
Umwandlungen Gefahr läuft, vor der Zeit sei-
ner Abwickelung zerrissen zu werden, sobald
ein öffentlicher Unglaube an Systeme als solche,
dahin strebt, dieselben im Entstehen zu vernich-
ten. Griechenland verlor den Faden, als seine
besten Köpfe Skeptiker wurden; sie wurden es
aber, als die Anregung, welche die Natur dem
Denken giebt, überwogen wurde von dem Ab-
schreckenden, welches der Streit der Lehrmei-
nungen mit sich bringt. Deutschland steht jetzt
auf demselben Puncte! Und die Fluth der Jour-
nale, welche den Tag beherrschen, weil es für
die Jahrzehende keine sichere Herrschaft mehr
giebt, steigert bey uns das Uebel noch weit hö-
her. — Die Philosophie gilt in solchen Zeiten
für einen geistigen Luxus; und es finden sich
Menschen genug, deren rasche Federn sich zu
Dienerinnen dieses Luxus herabwürdigen. Diese
geben der Philosophie den letzten Stoſs. Sie
werden sie auch bey uns vernichten, wenn nicht
der reinste Wille, verbunden mit ächter specu-
lativer Kraft, sich entgegenstemmt, und in dem-
selben Geiste fortarbeitet, welcher die groſsen
Denker der Vorzeit getrieben hat.


Ganze Jahrhunderte können philosophiren,
und mit allem Fleiſs und Eifer sich streiten und
Schulen bilden, ohne daſs darum die Philoso-
phie selbst (die nur Eine ist, soviel auch von
Philosophieen in der Mehrzahl geplaudert
II. **
[XVIII] wird,) nur einen Schritt weiter käme. Hätte
der ächte Tiefsinn der Eleaten sich mit dem
richtigen Geschmack des Platon und der logi-
schen Uebung und Gelehrsamkeit des Aristo-
teles
vereinigt: so würden die Griechen die
wahre Philosophie gefunden haben. Statt des-
sen ging nach Aristoteles die Wissenschaft
stets rückwärts. Die Stoiker predigten und die
Epikuräer conversirten nur, um die Skepsis zu
ernähren; Arkesilaus und Carneades waren
die eigentlichen Häupter ihrer Zeit; ihr Saamen
wuchs auf, wie Cicero und Sextus Empiri-
cus
es bezeugen; die frühern richtigen Anfänge
waren unwiederbringlich verloren. Die Skepsis
fand endlich ihr Grab in der Schwärmerey. So
verwandelt sich der bis zur Demokratie verdor-
bene Staat endlich in die Tyranney; wie Pla-
ton
längst gelehrt hat. In diesem Spiegel mag
auch die heutige Zeit sich beschauen. Das Ende
des vorigen Jahrhunderts erzeugte eine hohe
Fluth, welche das Schiff hätte über die Klippen
tragen können; aber ungeschickte Lootsen trie-
ben es aus dem Fahrwasser. Der rechte Augen-
blick ist verloren gegangen. Gleichwohl besitzt
dieses Zeitalter unermeſsliche Hülfsmittel, wie
kein früheres; und der rechte Augenblick würde
sogleich wieder da seyn, wenn man sich ernst-
lich anstrengen wollte! Aber die Faulheit,
nach Fichten das Grundlaster des Menschen,
läſst es dahin nicht kommen. Deutschland ist
nur für positive Gelehrsamkeit regelmäſsig flei-
ſsig; für eigentliche Kunst oder Wissenschaft
hat es Anwandlungen, welche kommen und wie-
der gehn.


[XIX]

Hätte nun bey den Griechen zu jener Zeit,
da die Stoiker mit angenommenem Ernst, in der
That aber nach Art der Modephilosophie aller
Zeiten, ein Gemenge aus Reminiscenzen berei-
teten, indem sie Weltseele und Vorsehung, Na-
turphilosophie und Divination, magere Trug-
schlüsse und aufgeblasene Paradoxa durchein-
ander wirrten, — hätte damals Einer versuchen
wollen, ein ächtes, in sich zusammenhängendes
Denken zurückzuführen: welcher Weg würde
ihm zu diesem Versuche offen gestanden haben?
Doch wohl kaum ein anderer, als Zurückwei-
sung zu den alten, zwar noch verehrten, aber
doch groſsentheils vergessenen, Denkern; nicht
um ihre Lehrsätze (denn die waren nicht ver-
loren, sie waren vielmehr das Metall, was man
fortwährend umprägte, um die neuen Münzen
zu verfertigen,) sondern um die Art ihres For-
schens, die Antriebe ihres Strebens zu erneuern;
und um eben in den Puncten durchzudringen,
wo sie mitten in den Schwierigkeiten stecken
geblieben waren. Damit möchte sich denn ganz
natürlich die Ermahnung verknüpft haben, den
Glauben an die gütige und gerechte Vorsehung
lieber in seiner sokratischen Einfachheit und
Natürlichkeit zu lassen, als ihn durch dialektische
Künste zu ängstigen, und in Streitigkeiten zu
verwickeln; das Lob des philosophischen Erfin-
dungsgeistes dagegen lieber auf den Feldern des
eigentlichen Wissens zu suchen, wo noch genug
Arbeit zu verrichten, genug zu säen und zu
ärndten sey.


Was diese Andeutung sagen will: wird ohne
groſsen Commentar verständlich seyn. Schon
** 2
[XX] die Vorrede des ersten Theils enthielt die Bitte,
der Leser wolle sich zurückversetzen in die Pe-
riode, da Kant, Reinhold, und Fichte blü-
heten; den gegenwärtigen zweyten Theil wird
schwerlich Jemand verstehen, ohne diese Bitte
zu erfüllen! Insbesondere mit Kant wird man
den Verfasser so lebhaft beschäfftigt finden, als
ob es noch nie Jemanden hätte einfallen kön-
nen, zu behaupten, daſs heut zu Tage Kants
Schriften wenig mehr gelesen würden, und der
jetzigen Generation nur noch obenhin bekannt
seyen. Gute Beobachter wollen zwar so etwas
bemerkt haben; vielleicht aber ist es noch eben
Zeit, sich zu stellen, als ob man davon nichts
wüſste. Fortdauernde Beschäfftigung mit den
Werken eines groſsen Mannes ist die Art von
Ehrenbezeugung, die ihm gebührt; jede andre
kann er entbehren. Sehr leicht wäre es sonst
gewesen, die häufige Polemik gegen Kant, den
Worten nach weit mehr zu mildern, als für nö-
thig ist erachtet worden; ohne dabey der Auf-
richtigkeit im mindesten Abbruch zu thun. Zum
Ueberflusse sey indessen hier noch bezeugt, daſs,
indem der Verfasser während der letzten Ueber-
arbeitung dieses Buchs die Kritik der reinen
Vernunft von neuem durchlief, die Gröſse des
mit Recht hochberühmten Werks so deutlich,
wie noch niemals zuvor, in den einfachen, wür-
devollen Umrissen desselben vor ihn hintrat.
Weit mehr, als der Inhalt verlieren konnte, ge-
wann die Form. Und selbst die Seelenvermö-
gen ertheilten nun dem Ganzen einen ähnlichen
Reiz, wie durch einen Mythenkreis das darauf
gebauete Epos zu erhalten pflegt. Leser, welche
[XXI] im Stande sind, diesen Reiz zu empfinden, wer-
den das vorliegende Buch nicht darum der Ver-
kleinerungssucht beschuldigen, weil es, seinem
Hauptzwecke gemäſs, der Vernunftkritik beynahe
Schritt für Schritt auf dem Fuſse folgen muſste.


Im Allgemeinen wird dieser zweyte Theil
meiner Arbeit einer weit gröſsern Menge von
Lesern zugänglich seyn, als der erste, dessen
Metaphysik und Mathematik nur auf einen klei-
nen Kreis rechnen kann. Wenn man es nicht
verschmäht, durch Seiten- und Hinter-Thüren
in ein Gebäude einzugehen, dessen Hauptein-
gang eine etwas steile Treppe unvermeidlich for-
derte: so wird man solcher Nebenthüren hier
eine groſse Menge antreffen. Denn hier ist von
sehr bekannten Gegenständen die Rede; und
man wird die Bemühung des Verfassers nicht
verkennen, durch auffallende, aus der Mitte der
Erfahrung gegriffene Züge dasjenige deutlich
vor Augen zu stellen, was der Analyse sollte
unterworfen werden. Freylich verträgt auch die-
ser Theil nicht das gedankenlose, halb träu-
mende Lesen, woran Manche durch eine Un-
zahl von schlechten Büchern, die nicht anders
gelesen werden können, sich gewöhnt haben;
wie sie durch ihre ewigen Misverständnisse ver-
rathen. Aber hinweggesehen von Denen, die
von philosophischen Schriften nur die äuſsern
Umrisse sehn, und den Ton hören wollen: giebt
es doch immer noch eine Menge von achtungs-
werthen Männern, welche zum Verstehen so-
wohl den Willen als die Kraft besitzen, und de-
nen an der Sache gelegen ist! Diese nun er-
suche ich, zu bedenken, daſs die natürliche Ver-
[XXII] wickelung der psychologischen Erfahrungen durch
keinen wissenschaftlichen Vortrag auf einmal kann
dargestellt werden; sondern daſs man sich bald
unbequeme Trennungen, bald auch ein Hinüber-
greifen aus einem Gegenstande in den andern
muſs gefallen lassen; wobey freylich bald die
Sache, bald die logische Ordnung scheinen kann,
verletzt zu werden. So habe ich es nicht ver-
meiden können, die Lehre von den Begierden
gleich Anfangs zwar zu berühren, aber sehr viel
weiter nach hinten erst fortzusetzen; und dage-
gen von den Gefühlen ausführlich schon in den
ersten Paragraphen zu handeln. Denn jene muſs-
ten vorzugsweise in ihrem Gegensatze gegen die
sogenannte praktische Vernunft betrachtet wer-
den; hingegen bey den Gefühlen kam es haupt-
sächlich darauf an, die räthselhafte Verbindung
zwischen Gemüth und Vorstellungsvermögen zu
erklären; und diese Erklärung hielt ich für ein
so dringendes Bedürfniſs, daſs ich, um die in-
nere Erfahrung klar genug zu vergegenwärtigen,
gleich Anfangs den ganzen Gefühlszustand des
Menschen zu schildern suchte, ohne mich darum
zu bekümmern, ob hiebey von den Gefühlen des
höher gebildeten Menschen, oder von den nie-
dern gesprochen werde, die eigentlich allein in
diesen Vordergrund gehören. Bey solchen Li-
cenzen wird natürlich auf die Gefälligkeit des
Lesers etwas gerechnet; der, wenn er die Sache
aus andern Gesichtspuncten betrachten, z. B. den
Zusammenhang der Begierden mit den Gefüh-
len genauer verfolgen will, sich alsdann die im
Vortrage getrennten Theile nach dieser seiner
Absicht näher zusammenrücken muſs. Das Haupt-
[XXIII] Augenmerk des Verfassers konnte kein anderes
seyn, als überall die psychologische Analyse in
die Bahn der synthetischen Untersuchung zurück-
zulenken; aus welcher, sobald man sie anzuwen-
den weiſs, die Erfahrung begreiflich wird. Der
Selbstthätigkeit solcher Leser, die dem Buche
von vorne herein nicht überall folgen konnten,
bleibt es überlassen, sich das ganze Werk nach
ihrem Bedürfnisse umzuwenden; dergestalt,
daſs sie aus der Analyse auf die dazu gehörige
Synthesis zurück schlieſsen, und aus jener sich
diese, soweit sie können, verständlich machen.
Dies wird ihnen groſsentheils gelingen; denn
man braucht weniger die Rechnung selbst, als
den allgemeinen Begriff derselben, um wenig-
stens von dem gröbern Theile der bisher herr-
schenden Irrthümer sich zu befreyen. Hingegen
vollkommenere Ausführung des Ganzen wird
durchaus einen sehr gebildeten mathematischen
Geist erfordern; der sich aus den synthetischen
Principien mancherley mögliche Fälle zu con-
struiren vermöge, um diejenigen auszuwählen,
die zu gegebenen psychologischen Phänomenen
passen. Der Verfasser hat sich nie für einen
Mathematiker gehalten; er weiſs nur zu gut, wie-
viel er Andern zu thun übrig läſst.


Was der Aufmerksamkeit des Lesers am
meisten muſs empfohlen werden, ist das Stu-
dium der Lehre von den Reihenformen; auf
welche, gewiſs gegen die allgemeine Erwartung,
beynahe die ganze Untersuchung über die soge-
nannnten Kategorien zurückführt *); und ohne
[XXIV] welche selbst über Verstand und Vernunft sich
nichts Deutliches sagen läſst. — Die Abhand-
lung über diese vermeinten Seelenvermögen
wird dem minder geübten Leser auf den ersten
Blick sehr zerrissen scheinen; denn, abgesehen
von den vorbereitenden Betrachtungen der Ein-
leitung, findet sich ein Theil derselben im vier-
ten Capitel des ersten Abschnitts, ein anderer
Theil erst im dritten und vierten Capitel des
zweyten Abschnitts. Allein wenn dies Unord-
nung scheint, so liegt die Schuld an der bishe-
rigen übeln Gewohnheit der Psychologen. Die
Erklärung des gemeinen Denkens, und seiner
Hauptbegriffe, ist ein durchaus verschiedener
Gegenstand von der Frage nach der Möglichkeit
des eigentlichen Wissens, und schon des Stre-
bens nach diesem Wissen mit Gefahr eines man-
nigfaltigen Irrthums. Die gewöhnlichen Lehren,
welche dies und jenes vermengen, stellen den
gemeinen Verstand zu hoch; den wissenschaftli-
chen zu niedrig. Daraus entsteht erstlich eine
zu groſse Kluft zwischen Mensch und Thier, die
zwar unserm Stolze schmeichelt, aber von der
Erfahrung nicht bestätigt wird; — zweytens eine
ganz ungebührliche Erniedrigung des menschli-
chen Wissens, dessen speculativer Aufschwung
sich in eine nicht bloſs lächerliche, sondern ge-
radezu unmögliche Thorheit verwandeln würde,
wenn nichts anderes, als ein Kategorien-Ver-
stand
*)
[XXV] stand und eine glaubende Vernunft dabey zum
Grunde läge. Die gemeine Psychologie hat den
Menschen zugleich nach Oben und nach Unten
gezerrt; ihn mit eben soviel Unmuth als Ueber-
muth erfüllt, die wahre Psychologie muſs das
doppelte Unheil dieser falschen Selbstbetrach-
tung wieder gut machen. Insbesondere muſs der
Metaphysik, die so wenig zum Dogmatismus er-
starren, als in sublimer Schwärmerey davon flie-
gen darf, ein, zwar bescheidener, jedoch vester
Muth zu einer regelmäſsigen Bewegung zurück-
gegeben werden. Für den Glauben wird immer
noch ein unendlich weiter Raum übrig bleiben,
wohin jene Bewegung des Wissens gar nicht
einmal gerichtet ist.


Soll ich endlich noch einige Worte sagen
über den Anstoſs, den Mancher nehmen könnte,
weil in der Einleitung dem Herrn v. Haller,
der jetzt das allgemeine Vorurtheil wider sich
hat, einige Auctorität in seiner Sphäre, der
Politik, ist eingeräumt worden? Wohl eher hätte
man Ursache zufrieden zu seyn, daſs hier auf
ein merkwürdiges psychologisches Phänomen
hingewiesen wird; denn Herr v. Haller ist ein
solches. Nicht eifrige Kunstliebe, nicht Fröm-
meley, nicht politischer Egoismus erklärt die
bekannten Schritte dieses Mannes. Das aber ist
gewiſs, daſs die Vaterlandsliebe des Schwei-
zers
schwer verwundet wurde durch jene Staats-
umwälzung, welche Frankreich mit Arglist und
Gewalt erzwang. Und womit endete die Bitter-
keit, die sich, auf gerechte Weise veranlaſst, seit-
dem in ihm vestsetzte? Nicht bloſs damit, ihn der
Römischen Kirche zuzuführen; sondern sie hat
II. ***
[XXVI] ihn dahin gebracht, sein Vaterland zu mei-
den
; und selbst französisches Bürgerrecht an-
zunehmen, wenn anders eine neuerlich gedruckte
Notiz ganz sicher ist. — Möchten doch Dieje-
nigen, die es nicht fassen können, daſs der
Mensch sich theoretisch widersprechende Vor-
stellungsarten bildet, indem er auf nothwendige
Beziehungen nicht achtet, — sich vorläufig ein-
mal darin üben, die häufig vorkommenden Fälle
im praktischen Leben genau zu betrachten, wo
sich Einer mit offenen Augen Schicksale berei-
tet, denen zu entgehen, vermöge der ursprüng-
lichen Natur seiner Motive, durchaus seine gröſste
Sorge hätte seyn müssen. Solche Fälle wird
man natürlich finden; aber nicht minder natür-
lich sind jene ersteren. Die Erfahrung hat Man-
ches längst gesagt, was die Theorie nur deutli-
cher ausspricht. Aber wie Viele sind wohl De-
ren, die mit vollem Rechte den Vorwurf ableh-
nen dürften, daſs sie ihre Vorurtheile mehr lie-
ben, als Theorie und Erfahrung? Mag daher
auch immerhin dies Buch nur für Wenige les-
bar seyn; wer es darauf ankommen läſst, man
solle ihm seine Vorurtheile gewaltsam entreiſsen,
der mag sie behalten!


[[XXVII]]

Inhalt des zweyten Bandes.


  • Einleitung.
  • Zweyter, analytischer Theil.
  • Erster Abschnitt. Vom geistigen Leben überhaupt.
  • Erstes Capitel. Ueber die Verbindung der sogenannten drey
    Hauptvermögen der Seele. §. 103 — 105.
  • Zweytes Capitel. Von den Affecten und den Leidenschaften, nebst
    Rückblicken auf das Vorige. §. 106 — 108.
  • Drittes Capitel. Vom räumlichen und zeitlichen Vorstellen.
    §. 109 — 116.
  • Viertes Capitel. Von den ersten Spuren des sogenannten obern
    Erkenntniſsvermögens. §. 117 — 124.
  • Fünftes Capitel. Von der Apperception, dem innern Sinne, und
    der Aufmerksamkeit. §. 125 — 128.
  • Zweyter Abschnitt. Von der menschlichen Ausbildung
    insbesondere.
  • Erstes Capitel. Von den Hülfsmitteln der Ausbildung, welche
    dem Menschen von Natur eigen sind; und von deren Erfol-
    gen, den Kategorien der innern Apperception. §. 129 — 131.
  • Zweytes Capitel. Vom Selbstbewuſstseyn. §. 132 — 138.
  • Drittes Capitel. Von unserer Auffassung der Welt, und den da-
    mit verbundenen Täuschungen. §. 139 — 145.
  • Viertes Capitel. Von der höhern Ausbildung. §. 146 — 152.
  • Dritter Abschnitt. Von den äuſsern Verhältnissen des
    Geistes.
  • Erstes Capitel. Von der Verbindung zwischen Leib und Seele.
    §. 153 — 159.
  • Zweytes Capitel. Von denjenigen Geisteszuständen, worauf der
    Leib einen bemerkbaren Einfluſs hat. §. 160 — 168.
  • Schluſs.
[[1]]

Einleitung.


Von der Erfahrung sind wir ausgegangen, zur Erfah-
rung kehren wir zurück. Denn alle Speculation, die
nicht auf einem vesten, das heiſst, unbestreitbar gege-
benen
Grunde beruht, ist leeres Hirngespinst; und selbst
als Uebung im Denken nur von zweydeutigem Werthe.
Allein in der Behandlung der Erfahrung zeigt sich ein
bedeutender Unterschied zwischen dem synthetischen, und
dem jetzt folgenden analytischen Theile der Psychologie.


So wie die mathematische Physik, wollte sie gleich
Anfangs die ganze Masse der Erfahrungen, die wir über
die Körperwelt besitzen, zu ihrem Gegenstande machen, —
wollte sie von chemischen, elektrischen, [magnetischen]
Kräften, von Licht und Wärme, von tropfbaren und ela-
stischen Flüssigkeiten auf einmal reden, — sich in die
unheilbarste Verwirrung stürzen würde; wie sie dagegen
fürs erste sich begnügt, unter allen bewegenden Kräften
nur Eine, die Schwere nämlich, in Untersuchung zu neh-
men: eben so haben wir aus dem unermeſslichen Vorrath
empirisch-psychologischer Thatsachen das einzige Factum
des Selbstbewuſstseyns herausgehoben, und in ihm den
Stoff und die Aufforderung zu einer langen, noch jetzt
nicht geendigten Arbeit gefunden. Es kommt nicht allein
darauf an, die Erfahrung aufzufassen, sondern sie zu ver-
arbeiten. Die Speculation muſs nicht bloſs Grund haben,
sondern sie muſs in dem Grunde kräftig wurzeln, und die
Wurzel muſs einen fruchtbaren Baum erzeugen. Dazu
gehört Zeit; in der That mehr Zeit als die Lebensdauer
II. A
[2] eines einzelnen Menschen. Mag indessen der Baum fer-
ner wachsen; für mich ist es nöthig, meine Bemühungen
nunmehr auf andre Weise fortzusetzen.


Dem analytischen Theile der Psychologie, der sich,
was die Tiefe der Untersuchung anlangt, auf den syn-
thetischen verläſst, kommt es zu, sich einen Werth von
anderer Art zu verschaffen, nämlich durch die Weite
des Gesichtsfeldes, das er umspannt. Er muſs das gei-
stige Leben im Ganzen auffassen; daher gehört eigent-
lich das ganze Thierreich in seine Sphäre; und es ist das
erste Kennzeichen mangelhafter psychologischer Darstel-
lungen, wenn man ihnen ansieht, daſs sie bei Gegenstän-
den, in Ansehung deren sich Menschen und Thiere gleich-
artig zeigen, doch von der Beobachtung jener erstern al-
ein abgezogen sind, und auf die letztern nur mit Zwang
übertragen werden können. Andererseits ist freylich alle
Beobachtung der Thierwelt so beschränkt, so unsicher,
und besonders so innig mit physiologischen Dingen ver-
webt: daſs ich wenigstens für mich darauf Verzicht thue,
einen positiven Gewinn aus dieser groſsen Klasse von
Thatsachen zu ziehen; genug wenn es mir glückt, einer
natürlichen Auslegung dessen, was die Thiere uns zeigen,
nicht durch übereilte Behauptungen in den Weg zu
treten.


Je gewisser ich nun in dieser Hinsicht eine Unvoll-
ständigkeit meiner Arbeit voraussehe: desto mehr wünschte
ich, nach einer andern Richtung hin die psychologische
Untersuchung zu erweitern. Der Mensch ist Nichts auſser
der Gesellschaft. Den völlig Einzelnen kennen wir gar
nicht; wir wissen nur soviel mit Bestimmtheit, daſs die
Humanität ihm fehlen würde. Noch mehr: wir kennen
eigentlich nur den Menschen in gebildeter Gesellschaft.
Der Wilde ist uns nicht viel klärer wie das Thier. Wir
hören und lesen von ihm; aber wir fangen sogleich un-
willkührlich an, unser eignes Bild in ihm, als einem Spie-
gel, wieder aufzusuchen. Eine schlechtere Art, zu beob-
achten, kann es nun gar nicht geben; denn wenn das
[3] Wort Erschleichen irgend einen Sinn hat, so hat es
diesen: in ein fremdes, gegebenes Phänomen so-
gleich die alten bekannten Dinge wieder hin-
einzudenken
. Uebrigens, wenn wir auch diesen Feh-
ler zu vermeiden stark genug wären: wie Viele von uns,
die wir uns mit Psychologie beschäftigen, sind in Neu-
Seeland gewesen? Wie Viele haben Gelegenheit, die
Wilden in ihren Wohnsitzen zu beobachten? —


Wir müssen uns begnügen, den heutigen gebildeten
Menschen zum unmittelbaren Gegenstande unserer Be-
trachtung zu machen. Aber diesen wenigstens müssen
wir so vollständig als möglich auffassen. Er ist ein Pro-
duct dessen, was wir Weltgeschichte nennen. Wir
dürfen ihn nicht aus der Geschichte herausreiſsen.


In ihm setzt sich eine geistige Production fort, de-
ren Anfang nicht in ihm liegt. Anregungen, die jetzt
allgemein an Jeden gelangen, der nicht etwa zu den Zi-
geunern gehört, waren ursprünglich höchst seltene Er-
zeugnisse der auſserordentlichsten Geister, oder auch
groſser Massen von Menschen, die sich innig berührten,
oder heftig zusammenstieſsen. So kann es wenigstens
seyn, und schon auf die bloſse Möglichkeit müssen wir
Rücksicht nehmen.


Dieser Umstand macht, daſs man sich einer richti-
gen Auffassung der psychologischen Thatsachen nicht
auf einmal, und auf einem geraden Wege fortgehend,
sondern nur allmählig, mit abwechselnd hin und her ge-
lenkten Schritten wird annähern können. Der Einzelne
ist nicht vollständig aufgefaſst ohne die Geschichte; aber
die Geschichte entsteht rückwärts aus der Zusammenwir-
kung der Einzelnen; und aus diesem Grunde sollte die
Psychologie zuerst das Individuum erklären, und erst
später zur Geschichte kommen. Allein wir können die
Erfahrungsgegenstände nicht aus ihren einfachen Bestand-
theilen zusammensetzen; und wie der Krystall zuerst seine
Gestalt in einer gröſsern Masse offenbart, aus welcher
dann auf die Grundform der kleinsten Theile geschlos-
A 2
[4] sen wird, eben so zeigen sich manche psychologische
Gesetze wirklich deutlicher in den groſsen Umrissen der
Geschichte als bey dem einzelnen Menschen; und manche
irrige Vorstellungen, deren Widerlegung nicht leicht ist,
so lange sie den Einzelnen treffen, entblöſsen sich von
selbst, wenn sie auf ein gröſseres Ganzes angewendet
werden. So ist z. B. das Gleichgewicht von Eu-
ropa
ein längst bekannter Gegenstand, obgleich die Un-
tersuchung über das Gleichgewicht der Vorstellun-
gen in uns
, manchem neu und fremd klingen mag.
Auch hat, meines Wissens, noch niemand daran gedacht,
einer Familie, oder gar einem Staate, die transscen-
dentale Freyheit
beyzulegen; während dieser Irrthum
in Ansehung des einzelnen Menschen sich unter den
Philosophen des Zeitalters in Deutschland allgemein ver-
breitet hat. — Wir werden daher den einzelnen Men-
schen nicht bloſs vollständiger auffassen, wenn wir
ihn als einen Theil des Menschengeschlechts ins Auge
nehmen, sondern wir werden ihn auch leichter erken-
nen, wenn wir zuerst sein vergröſsertes Bild im Staate
beschauen.


Wem wird hier nicht Platons Republik einfallen?
Bekanntlich ist dies Werk eigentlich keine Staatslehre,
sondern eine Untersuchung über den Begriff dessen, was
Recht sey. Allein nachdem im ganzen ersten Buche,
und in einem Theile des zweyten, die Schwierigkeit, das
Recht zu bestimmen und in seiner unbedingten Würde
darzustellen, ist erwogen worden: wendet sich Platon
zum Staate wie zu einer gröſsern, und leichter lesbaren
Abschrift dessen, was im Original für schwache Augen
mit allzukleinen Buchstaben ausgedrückt sey.


Es ist nun auch meine Absicht, einige Grundzüge
der Politik zu benutzen, um dadurch den entsprechen-
den psychologischen Gesetzen, die im ersten Theile die-
ses Werkes entwickelt worden, mehr Deutlichkeit zu
verschaffen; weil ich keine lichtvollere Anwendung der-
selben zu finden weiſs, und gleichwohl sehr viel daran
[5] gelegen ist, daſs sich der Leser erst jene psychologischen
Gesetze, wie sie durch Rechnung gefunden worden, ge-
läufig mache, ehe ich nach Art der Vernunft-Kritiken
unternehme, die Psychologie zur Aufhellung der Meta-
physik zu benutzen. Dies Letztere ist mein eigentlicher
Hauptzweck in dem vorliegenden zweyten Theile; jenes
erstere ist nur das Mittel zum Zwecke. Daher werde ich
keinesweges, dem Platon nachahmend, mich in die
Staatslehre vertiefen; sondern bloſs soviel aus diesem Ge-
biete entlehnen, als mir zur Einleitung, und zur Vorberei-
tung auf schwierigere Gegenstände nützlich seyn kann.


Jedoch darf ich mich nicht so eng beschränken, daſs
aus der Kürze Dunkelheit entstehen könnte, die leicht
zu irrigen Auslegungen Anlaſs geben möchte. Um Mis-
deutungen zu begegnen, schicke ich zwei Bemerkungen
voran.


Erstlich: ich werde hier nur eine Seite der Staats-
lehre in Betracht ziehn; die rein theoretische, welche viel-
leicht Mancher die Kehrseite nennen möchte. Diese
Einseitigkeit darf ich mir erlauben, weil ich längst die
andre Seite, die der praktischen Ideen, beleuchtet habe;
nämlich in meiner praktischen Philosophie; und zwar auf
eine Weise, wodurch Niemand zum politischen Schwär-
mer verbildet, wohl aber vielleicht hie und da Jemand
vor Schwärmerey ist gehütet worden.


Zweytens: um jeden Gedanken, als ob ich versteck-
ter Weise auf die heutigen Staaten zielte, rein abzu-
schneiden: will ich offen anzeigen, wie ich, falls dies
meine Absicht wäre, zu Werke gehn würde. Alsdann
nämlich wäre nach meiner Ueberzeugung zuerst von dem
Umstande zu reden, daſs die heutigen europäischen Na-
tionen zu ihrer Sicherheit einer stehenden Kriegsmacht
bedürfen. Daher würde ich den Grad der militärischen
Spannung eines jeden Staates untersuchen; und hiebey
unterscheiden, welche Staaten in einer solchen Spannung
sich ihrer Lage nach befinden müssen, welche andre
dies nicht nöthig haben, und wiederum welche zu schwach
[6] sind, um dadurch etwas Wesentliches erreichen zu kön-
nen. Hieraus würde sich der natürliche innere Zustand
der verschiedenen Staaten groſsentheils entwickeln las-
sen; besonders wenn man hinzunähme, daſs zur Kriegs-
macht nicht bloſs Truppen, sondern auch Geld und Ver-
stand gehört; und daſs der Erwerb dieser drey Requisite
an sehr verschiedene Bedingungen geknüpft ist. So
fruchtbar nun diese Betrachtungen werden könnten, so
wird man sie doch in dem Nachfolgenden nicht finden.
Sie gehören nicht hieher; und ich empfinde kein Bedürf-
niſs, Alles zu sagen, was ich denke; am wenigsten über
Dinge, die hundert Andre besser verstehn.


Platon muſste seiner Absicht gemäſs, den Staat von
der Seite der praktischen Ideen auffassen; und wirklich
hat er eine der Ideen, die der Harmonie zwischen
Einsicht und Wille
, (die nämliche, welche ich in-
nere Freyheit
nenne,) trefflich entwickelt.


Sein Hauptgedanke ist, daſs die Einsichtsvollen re-
gieren, die Starken sie unterstützen, und das Volk ge-
horchen solle; so daſs Jeder das Seinige thue, und
sich auf seinen Beruf beschränke. Hingegen Viel-
geschäftigkeit
ist beym Platon soviel als Ungerech-
tigkeit
. Darüber ist nun die eigentliche Idee des Rechts
bey ihm im Dunkeln geblieben; desgleichen die übrigen
praktischen Ideen, welche alle gleichmäſsig ins Licht zu
setzen, und gehörig zu verknüpfen, eigentlich seine Auf-
gabe gewesen wäre. Jedoch, so fern er nicht den Staat
in der Wirklichkeit, sondern nur die Idee desselben
zeichnen wollte, (freylich ist er diesem Vorsatze nicht
ganz getreu geblieben, sondern hat mit angenehmer Nach-
lässigkeit sich gehen lassen,) kann man ihn nicht sowohl
einseitig, als unvollständig nennen; denn die Idee der innern
Freyheit ist wirklich die erste von allen; und diejenige,
welche sich auf alle übrigen bezieht, um sich in ihnen zu
realisiren, so fern man von Realität in der Ideenwelt über-
haupt reden kann. Ueber dies Alles bitte ich meine prak-
tische Philosophie nachzusehn, und gehörig zu vergleichen.


[7]

Meiner jetzigen Absicht gemäſs sollte ich am näch-
sten mit einem andern Manne, dem bekannten Anti-Pro-
testanten, Herrn von Haller, zusammentreffen; in des-
sen Handbuche der allgemeinen Staatenkunde,
des darauf gegründeten allgemeinen Staats-
rechts, und der allgemeinen Staatsklugheit
, von
religiöser Schwärmerey eben so wenig als von eigentli-
chem Staatsrechte, etwas zu finden ist; der aber dage-
gen näher, als irgend ein andrer mir bekannter Schrift-
steller, dabey war, den wirklichen Staat im Allge-
meinen
richtig darzustellen; ein groſses Verdienst, wenn
er wenigstens dieses Ziel völlig erreicht hätte. Für ei-
nen Schmeichler muſs man ihn nicht halten; sein Patri-
monial-Fürst soll kein Recht einer directen willkührlichen
Beschatzung der Unterthanen haben, sondern in der Re-
gel seine Ausgaben aus eigenem Vermögen bestreiten;
die Beyhülfe der Unterthanen muſs gesucht und bewil-
ligt werden *). Die Conscription ist nach ihm ein Ge-
schenk des philosophisch genannten Jahrhunderts, des
erdichteten speculativen Staatssystems, das sich für Frey-
heit-bringend verkündigte, und Sclaverey gebracht hat;
er will dagegen, daſs die Hülfsleistung von Seiten der
Unterthanen im Kriege des Fürsten nur auf moralischer
Pflicht, auf eigenem Interesse, und auf besondern Dienst-
verträgen beruhen soll **). Sein Fürst ist eigentlich ein
sehr reicher Herr, an den sich die Dürftigen freywillig
angeschlossen haben, so daſs sie nun zu seinem Hause
gehören. „Jeder Mensch, den Glück und Um-
„stände vollkommen frey machen, wird eo
„ipso
ein Fürst
. Das aliis imperare ist, um sich nach
„Art der Logiker auszudrücken, nur das genus proxi-
„mum
, das nemini parere der character specificus eines
„Fürsten oder einer Republik. Es ist daher unrichtig,
„und führt zu gefährlichen Verirrungen, beyde nur Re-
[8]genten und Regierungen zu heiſsen, und so die
„Benennung nur von einem einzelnen Nebenumstande,
„und nicht, wie ehemals, von dem Wesen der Sache
herzunehmen *).“ Es scheint doch, daſs die Fürsten
und die Republiken anderer Meinung sind. Denn warum
führen sie Löwen, Adler, Leoparden und andere dro-
hende Zeichen in ihren Wappen, — warum ging schon
bey den alten Deutschen der freye Mann stets in Waf-
fen, als deshalb, weil die Unabhängigkeit behauptet seyn
will durch Gewalt, und durch die Anstrengung des Herr-
schens? Vollkommene Unabhängigkeit, die keiner Ge-
walt bedürfte, und von der kein Theil der Kraft durch
die Anstrengung des Herrschens gebunden oder ver-
braucht
würde, ist überirdisch, so lange es wahr bleibt,
daſs ein Mensch den andern fürchtet, und des andern
bedarf. Schon diese Probe kann zeigen, daſs auch Herr
von Haller, bey allem Schelten auf die Philosophen,
doch immer noch ein wenig in den Lüften schwebt, und
sich noch nicht ganz auf den rauhen Boden der Erde
herabgelassen hat. So gehts, wenn Einer, der über
Staatsklugheit schreibt, sich vom Staatsrechte nicht los-
sagen will! Das unselige Vermengen der theoretischen
und der praktischen Philosophie hat von jeher beyde zu-
gleich verdorben; und deshalb ist an gesetzmäſsige
Verbindung
beyder nun vollends nicht zu denken.
Eine solche Unabhängigkeit und vollkommene Freyheit,
wobey das Regieren und Herrschen zum Nebenum-
stande
herabsänke, wäre freilich eine schöne moralische
Aufgabe; aber sie kann auch nur durch moralische Kräfte
gelöset werden. Unter guten und gebildeten Menschen
ist sie längst gelöset; gegen sie bedarf es keiner Anstren-
gung des Herrschens.


Jedoch an den Fragepunct, der mir hiebey im Sinne
liegt, und den man in meiner Untersuchung über die
Wirkungsart roher, nicht moralischer Kräfte, wie
[9] sie etwa in den Zeiten des Faustrechts waren, weiter-
hin leicht erkennen wird, — hat vielleicht Herr von Hal-
ler
nicht einmal gedacht. Seine Aufmerksamkeit ist ei-
gentlich auf einen andern, wiewohl mit jenem eng ver-
bundenen Gegenstand gerichtet. Er nennt seine Fürsten
und Republiken darum vollkommen unabhängig, damit
ihre Gewalt ursprünglich sey, und nicht erst über-
tragen
. In diesem Puncte, über welchen er eifrig ge-
gen die von ihm sogenannten Philosophen streitet, werde
ich ihm nicht widersprechen. Vielmehr, wenn vom wirk-
lichen Staate die Rede ist, bin ich völlig der Meinung,
daſs übertragene Macht nicht veststehn, folglich nicht
Macht seyn würde. Und selbst vom Standpuncte der
praktischen Philosophie aus betrachtet, kann man sagen:
es ist im Allgemeinen, und hinweggesehen von Orten
und Zeiten, für den Staat gleichgültig, woher die Macht
stammt, wenn sie nur da ist, und richtig gebraucht wird.
Der Bürger, der Unterthan, gehorcht der Obrigkeit, die
Gewalt über ihn hat; er beurtheilt nicht das Recht des
Herrschers; ihm liegt nur an der Wirkung der Herr-
schaft. Und warum sollte man Herrn von Haller wi-
dersprechen, wenn er behauptet: „der Mächtigere
„herrschet, sobald man seiner Macht bedarf
;“
ja wenn er sogar ausdrücklich hinzusetzt: „Die Macht
„allein giebt nur Ansehen, und noch keine
„Herrschaft; zur Bewirkung der letztern muſs
„ein Bedürfniſs hinzukommen
*). Diese Worte
sind zwar keine scharfe Bezeichnungen eines Rechts-
Verhältnisses; und noch weniger genügen sie als Aussa-
gen dessen, was, laut Zeugniſs der Geschichte, sich zu
ereignen pflegt: jedoch können sie kein Motiv abgeben,
um Herrn von Haller in Hinsicht seines groſsen Eiferns
wider die Philosophen, Gleiches mit Gleichem zu ver-
gelten. Vielmehr könnte daraus leicht ein Streit entstehn,
der am Ende nicht viel mehr als Wortstreit wäre.


[10]

Das bisher Angeführte zeigt ein Schwanken zwischen
Staatsrecht und Staatsklugheit; es ist billig und nützlich,
ein paar andre Züge bemerklich zu machen, woraus die
richtige Beurtheilung des wirklichen Staats hervorgeht.


Nachdem Herr von Haller den Misbrauch der
Macht darein gesetzt hat, daſs sie Bedürfnisse schaffe,
statt sie zu befriedigen: fährt er fort: „Allein den
„möglichen Misbrauch der höchsten Gewalt, d. h. derje-
„nigen, die keine höhere über sich hat, durch mensch-
„liche Einrichtungen hindern zu wollen, ist ein Pro-
„blem, welches sich selbst widerspricht.“ Genau
dieses Nämliche habe ich gleichzeitig mit Herrn von Hal-
ler
, und unabhängig von ihm, gelehrt, und noch etwas
weiter ausgeführt *). Ueber das bekanntlich vorgeschla-
gene Mittel, die Theilung der Macht, urtheilt Herr von
Haller folgendes: „Es ist unbegreiflich, wie die von
„Montesquieu erdichtete Idee von einer Theilung der
„Gewalten in gesetzgebende und vollziehende (und
richterliche) so sehr in alle Köpfe hat eindringen
„können. Allein bey der Unwissenheit von den Dingen
„selbst, sucht man sich mit dergleichen, bloſs logi-
„schen
, Distinctionen, herauszuhelfen, die ohne Reali-
„tät einen leeren Schein von Wissenschaft an sich tra-
„gen.“ Vollkommen wahr! Die Politik befindet sich
mit dieser Theilung der Gewalt genau in demselben Falle,
wie die Psychologie mit ihren Seelenvermögen; sie kann
die drey Gewalten nicht als eine vollständige Thei-
lung deduciren; sie kann die Grenzen zwischen ihnen
nicht vestsetzen; sie kann das Causalverhältniſs unter
denselben weder seiner Möglichkeit nach begreiflich ma-
chen, noch angeben wie es seyn sollte; sie kann daher
das Getrennte nicht wieder vereinigen. Sie hat bloſs
zerrissen, und keinesweges getheilt. Denn es ist son-
nenklar, daſs eine bloſs gesetzgebende Macht, wenn sie
[11] nichts ausführen soll, gar keine Macht ist, weil sie gar
nichts wirkt. Es ist eben so klar, daſs eine bloſs aus-
führende Macht, ganz abhängig von der ihr entfremde-
ten Gesetzgebung, nichts anders ist, wie die Armee ohne
den König; diese ist bekanntlich keine Macht; und es
ist viel daran gelegen, daſs sie es niemals werde! Es
ist wiederum klar, daſs der Richter abhängt von dem,
welcher ihn einsetzt, so wie von dem, welcher seinen
Richterspruch vollziehen wird; ja daſs er überhaupt nur
durch die Duldung und den guten Willen Dessen exi-
stirt, der wirklich die Macht, — die eine und untheil-
bare, — in Händen hat.


Auf einem Boden kann nur eine Macht seyn; das
ist der evidenteste Satz der ganzen Politik. Sind ihrer
mehrere, so kann man sich auf keine verlassen; ihr Streit
steht bevor, oder bricht aus, vernichtet eine, oder die
andre, oder beyde.


Die Unbegreiflichkeit, welche Herr von Haller darin
findet, daſs so viele sonst gute Köpfe sich mit jener
offenbaren Ungereimtheit getragen haben, läſst sich näher
beleuchten; und indem ich es thue, wird der Leser meine
Absicht, weswegen ich gerade hier — scheinbar am un-
rechten Orte — von diesen Dingen rede, deutlich ein-
sehen.


Zuvörderst: der Begriff des Staats, als einer Gesell-
schaft, die geschützt sey durch eine in ihr selbst lie-
gende Macht, ist ein vollkommener Widerspruch.
Denn die Macht kann eben so gut zerstören, als
schützen. Sollte die Gesellschaft dagegen gesichert
seyn, und zwar durch eine in ihr selbst liegende Macht,
so wäre diese Macht, a) nothwendig sehr viel stärker
als die erste, denn sonst entstünde ein Kampf mit zwei-
felhaftem Ausgange, also kein Schutz; b) dadurch würde
die vorige Macht gebunden, also unnütz, und c) die
zweyte Macht wäre nun noch gefährlicher, als die erste;
und das Bedürfniſs des Schutzes wäre nicht befriedigt,
sondern gesteigert.


[12]

Zweytens: Wenn der Staat, schon seinem Begriffe
nach, unmöglich ist, so kann er nicht existiren, und hat
niemals und nirgends existirt.


Drittens: Hier widerspricht die Erfahrung! Es gab
und giebt Staaten; wir alle leben in ihnen, und empfin-
den keinesweges eine solche Furcht, wie wir nach obi-
ger Entwickelung nothwendig müſsten.


Also viertens: Der obige widersprechende Be-
griff des Staats ist kein richtiger Ausdruck des
Wirklichen. Er muſs sich versteckter Weise
beziehen auf Merkmale,
die in ihm nicht ge-
dacht wurden, die ihm aber gleichwohl zukom-
men und das Widersprechende in ihm auf-
heben
.


Derjenige, welcher den ersten Theil dieses Werkes
aufmerksam gelesen hat, weiſs nun ohne Zweifel, was
ich will. Nicht Politik zu lehren, ist meine Absicht, son-
dern eine Wiederholung dessen zu veranlassen, was
ich oben, in dem ganzen ersten Abschnitte des ersten
Theils, gelehrt habe.


Der Begriff des Staats ist nur ein neues, sehr auf-
fallendes Beyspiel von solchen Begriffen, die gegeben
sind in der Erfahrung, und die sich gleichwohl wider-
sprechen.


Daſs man die Ungereimtheit dieses Begriffs, so lange
er seine nothwendigen Beziehungspuncte noch nicht
gewonnen hat, und durch sie ist ergänzt worden, nicht
wahrnimmt, nicht eingesteht, nicht entwickelt, nicht hin-
wegräumt; — daſs man sich dagegen in unnütze Strei-
tigkeiten verwickelt, sich in Partheien theilt: — das ist
nichts als ein neues Beyspiel zu jenen metaphysischen
Streitigkeiten, über das Ich, über die Substanz, über
die Causalität, über das Continuum, ja selbst über
das Universum. Alte Gewohnheit, und alte Gemäch-
lichkeit, das ist die nächste, und allgemeinste Erklärung,
nicht bloſs jener Unbegreiflichkeit, wie man sich bey der
bloſs logischen Distinction der drey Gewalten habe be-
[13] ruhigen können, (worüber Herr von Haller klagt,) son-
dern der noch viel weiter reichenden Unbegreiflichkeit,
wie man, mit und ohne Logik, eine Metaphysik
Jahrtausende lang hat suchen können, ohne auch nur
den ersten, einzig nothwendigen Schritt zu thun, durch
welchen man sich ihr hätte nähern können.


Indessen findet sich doch ein sehr wichtiger Unter-
schied zwischen dem Begriffe des Staats, und den me-
taphysischen Begriffen. Der Staat ist ein unendlich wich-
tiger praktischer Gegenstand; er ist von den gröſsten,
rechtschaffensten, würdigsten und klügsten Männern nicht
bloſs besprochen, sondern auch behandelt worden; und
zwar bey den verschiedensten Verfassungen, in ruhigen
sowohl als in unruhigen Zeiten. Die Ansichten dieser
Männer waren freylich höchst verschieden; aber wie un-
zulänglich auch ihre Theorieen im Allgemeinen seyn
mochten, in der Praxis konnten sie nicht dasjenige, wor-
auf die ganze Möglichkeit des Staats überhaupt beruht,
verfehlen; sie müssen es im Einzelnen erkannt haben,
wenn sie es auch nicht mit wissenschaftlicher Genauig-
keit ausgesprochen haben.


Fragt man den gemeinen, verständigen Bürger, warum
er nicht den Wahnwitz des Caligula, nicht die Grau-
samkeit des Nero, — und überhaupt keinen orientali-
schen Despotismus fürchte; so wird er antworten: „das
„kommt bey uns nicht vor! Es ist nicht Sitte. Es fällt
„dem Fürsten nicht ein; oder setzen wir den äuſsersten
„Fall, es fiele ihm, wie ein böser Traum, so etwas ein,
„so würde er sich dennoch enthalten, die Nation in Ver-
„suchung zu führen.“


Und fragt man den groſsen, vom Herrn von Hal-
ler
so hart angeklagten, Montesquieu, wie denn seine
vertheilten Gewalten zusammen wirken sollen: so antwor-
tet er in dem berühmten Capitel von der englischen
Verfassung *), Ces trois puissances devroient former un
[14] repos, ou une inaction. Mais comme, par le mouve-
ment nécessaire des choses, elles sont contraintes d’aller,
elles seront forcées d’aller de concert
.


In beyden Aussagen liegt die Andeutung derjenigen
psychologischen Kräfte, worauf der Begriff des Staats
sich versteckter Weise bezieht; dergestalt, daſs er in
dem Grade
realisirt wird, als in welchem Grade diese
Kräfte in ihm sind und wirken. Die Beziehungs-Puncte
aber sind: theils die Sitte, theils die Nothwendigkeit, daſs
die Geschäfte gehen, sammt der Anerkennung und Ein-
sicht, daſs sie gehen müssen. Diese Nothwendigkeit
selbst aber ist theils eine innere, theils eine äuſsere. Es
wird am deutlichsten seyn, wenn ich von der letztern
zuerst rede.


Viele Staaten können gar nicht begriffen, und ihrer
Möglichkeit nach erklärt werden, wenn man nicht ihre
äuſsern Verhältnisse zugleich mit in Betracht zieht. Von
der Art war das alte republicanische Rom. In ihm war
in der That die Gewalt getheilt; und eben darum erblickt
man in seinem Innern während ganzer Jahrhunderte nichts
als einen Staat, der in jedem Augenblick im Begriff steht,
sich durch bürgerliche Unruhen aufzulösen. Man preise
nur ja nicht die Verfassung des alten Roms; sie taugte
gar nichts; denn sie ernährte fortwährend zwey Par-
theyen, deren jede beständig auf gelegene Zeiten hoffte,
um das Uebergewicht zu erlangen. Diese Partheyen wa-
ren auch nicht in Ruhe, wie Montesquieu meint oder
will, sondern sie regten sich, wann sie konnten; und
das werden alle Partheyen zu allen Zeiten thun. Aber
es gab dort eine sehr nothwendige „Bewegung der
„Dinge“
; wodurch die streitenden Kräfte „gezwungen“
wurden, (forcées!) eine gemeinsame Richtung zu neh-
men; welches sich denn zum Theil in Sitte und Ge-
wohnheit
verwandelte. Rom war nämlich der allge-
meine Feind aller Nachbarn. Und die glücklichen Krie-
ger waren Eins in dem Stolze des Sieges, wie in der
Noth vorübergehender Unfälle. Der Baum lebte, so lange
[15] er wuchs. Als der Druck, der von auſsen her Alles zu-
sammenhielt, nachlieſs, brach das Unheil los. Blutver-
gieſsen in den Straſsen Roms wurde nun Sitte. Die Im-
peratoren setzten die Sitte fort, so lange sie sich fürch-
teten. Die Furcht hörte späterhin auf, Ruhe trat ein,
(für eine Zeitlang,) aber kein wahrer Staat. Ein solcher
war auch nie vorhanden gewesen. Die erste Probe des
wahren Staates ist die, daſs er den Frieden ertragen
könne.


Will man nun die Geschichte der Staaten begreifen:
so fange man vor allen Dingen damit an, die Kriege,
welche sie geführt haben, abgesondert zu betrachten,
und so genau als möglich die Wirkung des Druckes zu
schätzen, die dadurch angezeigt wird. Man gehe weiter,
und überlege die Furcht vor dem äuſsern Drucke, welche
mitten im Frieden, mitten im gröſsten Glanze noch übrig
bleibt. Und man wird finden, daſs die meisten Staaten
eigentlich gar nicht wissen, was sie seyn würden, wenn
sie ganz allein stünden, ganz sich selbst überlassen wä-
ren. Eben so, wie der Mensch nicht weiſs, wer er
seyn würde auſser aller Gesellschaft.


Es steht uns nun allerdings frey, in der Idee ei-
nen ganz allein stehenden Staat auszusinnen. Wollen
wir uns ein speculatives Vergnügen machen, — und uns
dabey vor übereilten Anwendungen auf die Wirklichkeit
hüten, — so können wir auch überlegen, wie wohl eine
Kraft beschaffen seyn müſste, die gegen den Misbrauch
der Macht den gesuchten Schutz leistete. Eine solche
Kraft müſste gar nicht von selbst activ seyn (wie die
Römischen Tribunen so oft gegen den Senat wirkten,)
sondern nur auf auſserordentliche Reizungen müſste sie
einen Gegendruck leisten, der seiner Natur nach nicht
über den vorgeschriebenen Punct hinausgehn könnte. —
Hiebey fallen mir die Gesetze der Verschmelzungshülfen
ein, die ich im ersten Theile beschrieben habe. Aber
wenn es auch gelingen könnte, daraus die psychologische
Natur der Sitte begreiflich zu machen: so ist doch der
[16] Leser noch lange nicht genug vorbereitet, um eine solche
Untersuchung anzustellen.


Nachdem ich über den Begriff des Staats, als einen
widersprechenden, gleichwohl in der Erfahrung gegebe-
nen, und in so fern auflösbaren Begriff, der durch
Nachweisung seiner verborgenen Beziehungen muſs er-
gänzt werden, so viel gesagt habe, als zur Erinnerung
an die ähnlichen metaphysischen Probleme des ersten
Theils dienlich war: setze ich meinen Weg weiter fort
zu den Grundsätzen der Statik und Mechanik; die es
wohl noch mehr, als jene, bedürfen werden, durch eine
auffallende Anwendung geläufiger gemacht zu werden,
ehe ich sie für die eigentliche Psychologie benutze.


A. Bruchstücke der Statik des Staats.


Die im zweyten Abschnitt des ersten Theils aufge-
stellten Lehren sind nicht unmittelbar aus dem Be-
griff eines erkennenden Wesens abgeleitet; sie passen
vielmehr auf alle innern Bestimmungen irgend welcher
Gegenstände, so fern dieselben unter einander entgegen-
gesetzt sind, und dergestalt zusammentreffen, daſs sie
nach dem Maaſse ihres Gegensatzes einander hemmen,
daſs ihr Gehemmtes sich in ein Zurückstreben zum vo-
rigen Zustande verwandle, und daſs die noch ungehemm-
ten Reste zu Gesammtkräften verschmelzen.


Die in der Gesellschaft wirksamen Kräfte sind un-
streitig ihrem Ursprunge nach psychologische Kräfte.
Sie treffen zusammen, so fern sie sich darstellen durch
Sprache, und durch Handlungen in der gemeinsamen
Sinnenwelt. In der letztern hemmen sie einander; das
ist das allgemeine Schauspiel streitender Interessen, und
gesellschaftlicher Reibungen. Auch die Verschmelzung
ist ohne Zweifel vorhanden; doch um diese kümmern
wir uns für jetzt noch nicht.


Das Zusammentreffen hängt hier von sehr verschie-
denartigen Bedingungen ab, unter denen die räumliche
Nähe
[17] Nähe oder Entfernung der Menschen am auffallendsten
ist. So gewiſs, wie das Zusammenwirken der Vorstel-
lungen im Bewuſstseyn, ereignet es sich niemals. Und
man muſs deshalb darauf gefaſst seyn, die Resultate nach
den Umständen mannigfaltig beschränkt zu finden.


Auch der Hemmungsgrad ist hier sehr veränderlich.
Und wo physische Gewalt ins Spiel kommt, da geht die
Hemmung nicht bloſs bis zur Unterdrückung, sondern
manchmal bis zur Vernichtung der Kraft. Alles dies hat
Einfluſs; aber indem man sich vorbehält, denselben in
Abrechnung zu bringen, kann man dennoch im Allge-
meinen die Statik des Geistes auch dann zur Grundlage
der Betrachtung machen, wann es darauf ankommt, das
Gleichgewicht in der Gesellschaft zu bestimmen. Man
lernt dadurch wenigstens beobachten, wenn sich auch
sehr wenig a priori erkennen läſst; man lernt fragen;
und die Erfahrung wird antworten.


Wir nehmen also an, daſs unter zusammenlebenden
Menschen dieselben Verhältnisse eintreten, die nach dem
Obigen unter Vorstellungen in Einem Bewuſstseyn statt
finden. Wir untersuchen die Folgen der gegenseitigen
Hemmung.


Diese Hypothese ist von dem bekannten bellum
omnium contra omnes
eben so weit entfernt, als von ih-
rem Gegenstücke, dem ursprünglichen Gesellschafts-Ver-
trage. Man wird die Resultate am leichtesten finden,
wenn man die Menschen nicht mehr ganz einzeln ste-
hend, sondern durch die natürliche Geselligkeit schon
in verschiedene, gröſsere und kleinere Gruppen vereinigt,
annimmt. Alsdann werden viele, sehr ungleiche Kräfte
in Conflict gerathen. Doch eben dies findet, wiewohl
nicht in dem Grade, auch schon da statt, wo leibliche
und geistliche Anlagen, Vortheile und Beschwerden des
verschiedenen Lebensalters, des Geschlechts, der Glücks-
umstände, vorhanden sind.


Das Erste nun, was dem Leser einfallen wird, sind
die bekannten Schwellen des Bewuſstseyns; die
II. B
[18] sich hier in Schwellen des gesellschaftlichen
Einflusses
verwandeln. Es leuchtet nämlich unmittel-
bar ein, daſs wenige stärkere, oder von Anhängern
unterstützte Personen, eine wie immer groſse Zahl
von schwächern, einzeln stehenden Individuen, bey
nur einigermaaſsen starkem Conflicte aller Kräfte gegen-
einander, nach den oben entwickelten Rechnungen, völ-
lig unwirksam
machen können und müssen. Alsdann
bleibt aber zwischen den stärkern Personen oder Par-
theyen ein Druck und Gegendruck, wie wenn jene Schwa-
chen gar nicht vorhanden gewesen wären. Von der Thä-
tigkeit eines Jeden wird ein Theil gebunden; Niemand
bleibt ganz frey von der Hemmung. (Der völlig und
absolut-Unabhängige des Herrn von Haller ist nirgends
in der Rechnung zu finden.) Auch kann Einer, oder
Eine Parthey, die ganz allein aus der Menge hervorragt,
die Schwächern, wenn sie einander nahe gleich sind,
niemals ganz zu Boden drücken, sondern es müssen der
Mächtigern Mehrere, einander entgegenstrebende, vorhan-
den seyn, wofern das Angegebene erfolgen soll.


Die mathematischen Beweise dieser Sätze liegen, un-
ter Voraussetzung unserer Hypothese (welche mehr oder
weniger zutreffen wird) vollständig, und ohne irgend ei-
ner Erläuterung zu bedürfen, in den §§. 41—56.


Man muſs aber die Hypothese nicht unbehutsam dem
heutigen gesellschaftlichen Zustande europäischer Län-
der anpassen wollen; denn von unsern ausgebildeten ge-
sellschaftlichen Verknüpfungen, welche als das Gebäude
über dem Grunde errichtet sind, und ihn gleichsam be-
decken, und verbergen, ist hier durchaus nicht die Rede.
Vielmehr ist das Vorstehende ein Hülfsmittel, um von
dem Zustande solcher Zeiten einen Begriff zu erlangen,
in welchen es eine Menge ganz kleiner Ortschaften und
Gemeinden gab, die einander fremd waren, und für die
Fremder und Feind gleich galten; — oder besser, in
welchen selbst die kleinsten Gemeinden noch fehlten,
und eben im Begriff waren zu entstehen.


[19]

Sie entstanden aber aus der Verschmelzung nach der
Hemmung. Es vereinigten sich die, welche nicht bis zur
Schwelle herabgedrückt waren. Hingegen die völlig Un-
terdrückten konnten an der Vereinigung keinen Theil
nehmen. Und die Vereinigung unter jenen war weder
eine gleiche, noch eine vollständige; sondern ihr Werth
für jeden Einzelnen bestimmte sich nach den Pro-
ducten aller Reste, paarweise genommen. (Vergleiche
§. 63—70.)


Zu diesem einfachen Grundtexte der Statik des Staats
mögen nun noch einige Bemerkungen kommen.


1) Das Wort Staat bezeichnet einen vesten Stand
der gegenseitigen Lage der Menschen. Die Vestigkeit
ist das Gegentheil der Schwankung; der Staat ist Gleich-
gewicht, im Gegensatze der Unruhe. Daſs aber das
Gleichgewicht niemals vollkommen, jedoch sehr bald bey-
nahe
eintreten könne: wissen wir aus der Mechanik des
Geistes. (§. 74.)


2) Die vorausgesetzte Ungleichheit der Kräfte, ein
Werk der Natur, des Glücks, der Umstände — kann
auf die verschiedenste Weise angenommen werden. In
den allermeisten Fällen wird sie so groſs seyn, daſs,
wenn man successiv die stärkste Kraft, und die nächste,
und so fort, hinwegdenkt, doch immer noch die Uebrig-
bleibenden unter einander in ein solches Gleichgewicht
treten würden, wodurch eine Menge der Schwächeren
unter die Schwelle des gesellschaftlichen Einflusses fallen
müſste. Man erinnere sich hiebey an solche Perioden
der Geschichte, wo das Oberhaupt fiel, und mit ihm die
edelsten Geschlechter untergingen.


3) Diejenigen, welche unter die Schwelle fallen, müs-
sen ihrer Bedürfnisse wegen, sich aufs Bitten legen, sie
werden sich zum Dienen gebrauchen lassen. Sie schlie-
ſsen sich also bestimmten Personen an, die auf ihre
Dienste zählen. So lange nun nicht die Gemeinde (die
nach der Hemmung Verschmolzenen sich ihrer annimmt,
gehören sie jenen, als ihren Herrn; sie werden von den-
B 2
[20] selben als ein nutzbares Eigenthum betrachtet; und hie-
gegen haben sie kein Mittel, als den Versuch, zu ent-
fliehen, ohne zu wissen, wohin. So entsteht das Ver-
hältniſs der Freyen und Unfreyen.


4) Vermöge eines psychologischen Grundes entsteht
unter denen, welche die Gemeinde bilden, eine neue Ab-
theilung. Die Mitglieder derselben beobachten einander;
das heiſst, jeder erzeugt in sich die Vorstellungen
aller Andern. Gesetzt, diese Vorstellungen seyen ihrer
Stärke nach ursprünglich in demselben Verhältnisse, wie
die, nach der Hemmung noch frey gebliebene,
und daher noch sichtbare
, Kraft der vorgestellten
Personen: so beginnt nunmehr in dem Geiste eines je-
den Beobachters eine neue Hemmung unter diesen Vor-
stellungen. Auch hier ereignet es sich abermals, daſs
die Reste der Vorstellungen bey weitem ungleicher aus-
fallen, als die Vorstellungen ursprünglich waren; und daſs
Viele unter die Schwelle des Bewuſstseyns fallen, neben
wenigen Hervorragenden. So scheiden sich diese We-
nigen, die Angesehenen, von denen, die nicht beach-
tet werden, den Gemeinen.


5) Da jedoch die Kräfte nicht wirklich so un-
gleich sind als sie scheinen: so fühlt Jeder für seine
Person, daſs er mehr ist, als er gilt. Hingegen täuscht
er sich über die, welche ihm gleich sind, er hält sie
für schwächer, als er sich fühlt. Daher verschmilzt,
in seinem Bewuſstseyn, sein Selbstgefühl viel näher, als
es der Wahrheit nach sollte, mit der Vorstellung Des-
sen, der in der Gemeine das höchste Ansehn hat. Für
diesen Angesehensten nun, dem Alle sich nähern, ent-
steht hieraus ein neuer Vortheil; sie richten sich nach
seinen Bewegungen; er ist Fürst, selbst noch ehe er es
wollte. Mit ihm sind Alle mehr verschmolzen, als unter
einander; sie hängen an ihm; er findet sie lenksam.
Das ist die älteste, die natürliche Monarchie; keine ab-
solute, denn die Lenksamkeit hat ihren bestimmten Grad,
und sie kann sehr leicht durch Unbehutsamkeit verdor-
[21] ben werden; keine beschränkte, denn es giebt noch keine
Gesetze. Man denke an Odysseus, oder Nestor, oder
an die Häuptlinge der schottischen Clane.


6) Der Fürst steht nun in zweyen merkwürdigen
Verhältnissen zu seinem Adel — denn das sind die An-
gesehenen neben ihm, so fern er sie dafür erkennt, —
und zu den Gemeinen. Am lenksamsten für ihn sind
die Gemeinen; denn bey ihnen weicht die scheinbare
Kraft am meisten ab von der wahren; ihr Selbstgefühl
erhebt sie am weitesten über ihre Geltung, und nähert
sie dadurch am entschiedensten dem Fürsten. Aber die
Gemeinen würden in ihrer Geltung nicht so herabge-
drückt seyn, und folglich der Fürst nicht so hoch über
ihnen stehn, ohne den Adel. Daher sind Adel und Ge-
meine auf ganz verschiedene Weise wichtig für den
Fürsten. Es kann nicht fehlen, daſs er dies im Laufe
der Zeit wahrnehme, und dem Adel eine gewisse mitt-
lere, vortheilhafteste Stellung zu geben suche. — Man
vergleiche hier im §. 55. die beyden Gleichungen A und
B; welche zeigen, daſs die mittlere Kraft b zwischen
zweyen ziemlich nahen Gränzen liegen muſs, um nicht
unnöthig groſs, und doch stark genug zu seyn, damit c
neben a und b auf der Schwelle verharre.


7) Der natürliche Gegenstand der Besorgniſs für
den Fürsten sind die Ersten neben ihm; denn sie kön-
nen durch die kleinste Veränderung ihm gleich werden.
Das natürliche Hülfsmittel ist, daſs er diejenigen, welche
er am lenksamsten und am wenigsten gefährlich findet, —
die Gemeinen, — nicht zu heben, aber in eine nähere
Verbindung unter einander zu bringen sucht. Ruft er
sie nun zusammen, giebt er ihnen gemeinsame Angele-
genheiten: so verschmelzen sie weit inniger; sie werden
Bürger. Man denke an die Geschichte; an das, von
den Fürsten begünstigte Emporkommen der Städte.


Anmerkung.


Wie man dem Gebirge ansieht, es sey ehedem
Meeresboden gewesen: so kann man es dem Bürger-
[22] verein ansehn, daſs er sich unter einem Drucke stärkerer
Kräfte gebildet hat. Die bürgerliche Gleichheit ist kein
ursprüngliches Natur-Product; die natürlichen Ungleich-
heiten sind nicht bloſs an sich zu groſs, sondern sie
wachsen durch die angegebenen psychologischen Gründe
in ihren Folgen immer höher; und es findet sich keine
Gegenkraft, welche eine rückgängige Bewegung hervor-
bringen könnte. Republiken sind nur möglich, wenn ein
Druck vorhanden war, der zwar späterhin verschwunden
ist, aber erst, nachdem er die Ungleichheiten zurück ge-
drängt, und den Boden gleichsam geebnet hatte; also
wenn der Bürgerverein bleibt, nachdem das regierende
Haus entweder unterging, oder sonst irgendwie von ihm
getrennt wurde. Auch muſs die bürgerliche Gleichheit
immer mit Absicht, mit gutem Willen oder mit Kunst,
erhalten werden, oder sie hört bald auf; denn sie hat
stets den inneren Widerstand zu überwinden, den die
wahre, noch vorhandene oder neu entstandene Ungleich-
heit der Bürger entgegensetzt, die sich ins Gleichgewicht
zu setzen sucht. Darum ist das Leben in Republiken an
gar manche Beschränkungen gebunden, die in Monarchien
wegfallen. Man vergleiche z. B. Montesquieu im esprit
des loix, liv. V., chap.
5. u. s. w.


8) Wird aber der Bürgerverein dem Fürsten zu
mächtig: so ist natürlich, daſs er nun auch dem Adel
eine innere Verknüpfung zu geben, ihn in ein Corps zu
verwandeln sucht. Es ist aber diese Verknüpfung nicht
bloſs die spätere, sondern auch weit weniger innig. Denn
persönliches Selbstgefühl des Individuums liegt in der
Natur des Adels; auch sind seine Glieder weniger zahl-
reich, und der Gewinn der Verbindung nicht so groſs
als bey den Bürgern durch ihre Menge.


Anmerkung.


Wenn der Fürst beyde corpora hatte bilden helfen,
und er alsdann verschwindet: so sollte die Aristokratie
an seine Stelle treten. Aber aus obigem Grunde wird
[23] sie schwerlich verhindern, daſs nicht neben ihr die De-
mokratie sich erhebe; wie in Rom, nachdem die königli-
che Macht sich durch ihren eignen Misbrauch vernichtet
hatte. — Man weiſs, wie viel Anstrengung sie aufbot,
um sich in Venedig zu erhalten. Indessen versteht sich
von selbst, daſs besondere Umstände dies alles sehr stark
modificiren können. Alle psychologischen Kräfte sind
höchst beweglich; kommt eine fremde Kraft hinzu, so
verrückt sie das Gleichgewicht wenigstens für den Au-
genblick; unterdeſs kann sich leicht etwas ereignen.


9) Eine völlige Umänderung des Vorstehenden ent-
steht oftmals durch Krieg und Eroberung. Doch muſs
man hier drey Fälle unterscheiden. Der Krieg wird ent-
weder geführt als eine Jagd im Groſsen, aus bloſser Lust,
das Leben zu zerstören, und den Raub zu genieſsen.
Oder ein Volk sucht bessere Wohnsitze, um dieselben
anzubauen; sein Kriegszug ist eine Wanderung. Oder
endlich, es strebt, seine Macht zu erweitern und zu be-
vestigen. Der erste dieser drey Fälle gehört gar nicht
hieher; denn die Wuth des Zerstörungsgeistes, wie sie
sich im Orient zu zeigen pflegt, erlaubt den Kräften
nicht, ins Gleichgewicht zu treten, sondern vernichtet
sie; oder läſst sie höchstens so lange fortarbeiten, bis
zum neuen Raube die Beute reif und beysammen ist.
Weit eher können wir die andern Fälle mit den psycho-
logischen Grundsätzen vergleichen.


10) Ein wanderndes Kriegsvolk hat einen gemeinsa-
men Zweck; dadurch bildet es eine Gesellschaft im
eigentlichen Sinne; und die Einzelnen sind hier nicht erst
nach, sondern vor der Hemmung verschmolzen. (§. 67.
und 71.) Wenn diese Gesellschaft sich als Gefolge
oder Geleite eines Heerführers darstellt, so ist dies ei-
nestheils die Wirkung des Umstandes, daſs der Heer-
führer den Aufwand vorläufig bestreitet, theils davon, daſs
die Gefahr in dem fremden Lande, welches erobert wer-
den soll, zur Einheit der kriegerischen Maaſsregeln zwingt,
mithin nur Ein Oberbefehl kann anerkannt werden. Ist
[24] aber der Zweck erreicht: dann verschwindet das Band
der Gesellschaft: oder es muſs von neuem geknüpft wer-
den. Sind die neuen Wohnsitze gewonnen: so will Je-
der bequem wohnen; der Heerführer theilt den Gewinn,
die Einzelnen nehmen ihre Loose in Empfang; und die
Gesellschaft würde aufgelös’t seyn, nachdem Jeder mit
seinem Antheil an der Beute davon ging, — wenn man
in dem neuen Lande gefahrlos wohnen könnte. Man
kann es nicht, die Gesellschaft sollte also erneuert wer-
den, mit verändertem Zweck, nämlich dem des Schutzes
wider die besiegten Feinde. Sie erneuert sich wirklich;
unter dem nämlichen Oberhaupte, dem noch stets krie-
gerisch gerüsteten Heerführer; aber sie kann nicht wie-
der die vorige Innigkeit der Verbindung erlangen; denn
das Kriegsheer ist verändert. Wer auf seinem Loose,
(dem Allodial-Gute) wohnen will, der muſs sich hal-
ten gegen die Feinde, mit denen er getheilt hat; dahin
geht die Richtung seiner Kraft. Das Oberhaupt hat das
gröſste Loos, folglich die meisten Feinde, nämlich an
der alten Bevölkerung; seine Spannung ist schon des-
halb die gröſste; überdies kommt ihm zu, für Alle zu
wachen. Auf Jene, die mit ihren eignen Loosen be-
schäftigt sind, kann er nicht mit Sicherheit zählen. Sein
eignes Besitzthum, und seine nächsten Getreuen, müssen
ihm aushelfen. Diesen Getreuen, die sich dergestalt an
ihn angeschlossen haben, daſs sie nicht neben ihm als
Glieder der Gesellschaft zu gelten, sondern, ohne alle
Hemmung
, seiner Person anzugehören, und dieselbe
unmittelbar zu verstärken begehren, — diesen Dienern,
oder dienstwilligen Freyen, theilt er von seinem
Gute mit, doch unter Bedingungen, wie es die Umstände
erfordern. In diesem Kreise seiner Vasallen ist er
nicht bloſs Fürst, sondern Herrscher in strengem
Sinne. — Die Diener ahmen nun allmählig dem Herrn
nach; sie selbst werden Herren. Die Allodien weichen
den Lehnen; und gegen die zu hoch gestiegenen Lehns-
träger erheben sich aus dem Schooſse der Macht, jün-
[25] gere Kinder, nämlich Ministerialen und Briefadel.
Die Geschichte lehrt dies ausführlicher.


11) Bey weitem einfacher ist der dritte Fall. Hat
sich der Sitz der Macht nicht verändert durch die Erobe-
rung: so wird zwar der fortdauernd zu besorgende Wi-
derstand die Spannung der Macht um etwas vermehren;
doch bey weitem weniger als im vorigen Falle, wo Freunde
und Feinde vermischt wohnten. Der Machthaber wird
dadurch nur mehr Herrscher als zuvor, denn der Vor-
theil der Eroberung ist für ihn. Es versteht sich, daſs
von so verwickelten Verhältnissen, wie wir heute kennen,
nicht die Rede ist; sonst müſste überlegt werden, ob
nicht manchmal die wachsende Spannung bedeutender
sey als der Vortheil?


12) Die allgemeinste Wirkung des Krieges ist die,
daſs er groſse Staaten bildet. Denn nur durch seine
heftigen Bewegungen kommen die Kräfte, welche in ent-
fernten Gegenden erzeugt wurden, in Berührung. Allein
obgleich nach der Hemmung allemal Verschmelzung der
Reste folgt, so reicht doch dieser Begriff nicht zu, um
die Verbindung weit getrennter Provinzen zu bezeichnen,
die in spätern Zeiten darum noch zu Einem Staate ge-
hören, weil einst der Krieg sie zusammengedrückt hat.
Vielmehr paſst hier, wo keine gegenseitige Hemmung
statt findet, der Begriff der Complication (§. 57. u. s. f.)
die jedoch theils mit der wachsenden Entfernung im um-
gekehrten Verhältnisse steht, theils durch sehr viele andre
Umstände veränderlich ist. In Zeiten, wo es für ein
Wagestück galt, funfzig Meilen weit zu reisen, *) konnte
die Kraft der Complication kaum vergleichbar seyn mit
der in unsern Tagen, wo nicht bloſs Chausseen und Ei-
[26] senbahnen, sondern auch ein gleichartiger Unterricht, und
eine durchgehends ähnliche conventionelle Bildung, den
geistigen wie den leiblichen Verkehr unterhalten. Den-
noch verlangt man offenbar zuviel, wenn man hofft, der
Bürgersinn, wie ihn eine Stadt erzeugt, solle in einem
groſsen Reiche gleichmäſsig verbreitet seyn. Jede Stadt
behält ihren Radius, in dessen Weite ihre Anziehung
merklich ist. Aus den Städten sammt ihren Umgebungen,
besteht jede Provinz, aus den Provinzen der Staat. Und
das Oberhaupt des Staats ist vermöge der Geschäfte weit
inniger mit jeder einzelnen Provinz verbunden, als diese
unter einander. Im Mittelpuncte der Geschäfte aber er-
zeugt sich eine ganz andre Art von Complication und
von Trennung; es ist die logische, nach den verschiede-
nen Verwaltungszweigen, unter den Räthen, welchen die-
selben zugetheilt werden.


Dies erinnert an denjenigen Theil der Politik, wel-
chen ich hier zu berühren keine Veranlassung habe. Er
begreift alle künstlichen, absichtlich gemachten Verhält-
nisse, die ganze Wirkung der Gesetze, die aus der
Reflexion, aus dem Selbstbewuſstseyn des Staats hervor-
gehn; sammt denjenigen Verfassungen, die sich vertrags-
mäſsig mögen gebildet haben. Meine Absicht war, an
die Hauptbegriffe der Statik des Geistes zu erinnern, ich
komme jetzt zur Mechanik.


B. Bruchstücke der Mechanik des Staats.


Wir haben im §. 74. das allgemeine Grundgesetz
gefunden, nach welchem die Hemmungssumme allmählig
sinkt. Dieses heiſst hier soviel als: Die Ungleichheit
im Staate nimmt immer zu, so lange ein gege-
benes System von Kräften, die zugleich anfin-
gen ins Gleichgewicht zu treten, unverändert
das nämliche bleibt
. Dabey sinkt eine der schwä-
chern Kräfte nach der andern zur statischen Schwelle;
[27] und so oft dies geschieht, beschleunigt sich die Bewe-
gung für jede der übrigen plötzlich. Im Ganzen aber
wird die Bewegung stets langsamer, und nä-
hert sich ins Unendliche einer Gränze, die nie-
mals vollkommen erreicht wird
*). — Es wird
nicht nöthig seyn, historische Belege anzuführen. So
viele Modificationen auch das Gesagte durch hinzukom-
mende Umstände leidet, so bin ich doch überzeugt, daſs
man es ohne Mühe in der Geschichte wieder erken-
nen wird.


Anders verhält es sich, wofern das System der Kräfte
nicht das Nämliche bleibt. Kommt zu denen, die schon
nahe im Gleichgewichte waren, eine neue: so sicht man
die Regel der nunmehr entstehenden Bewegung in dem
Capitel von den mechanischen Schwellen. (§. 77.
bis 80.) Die älteren Kräfte scheinen Anfangs groſsen
Verlust zu erleiden, allein sie gerathen in stärkere Span-
nung; dadurch erheben sie sich wieder; und oftmals kön-
nen sie, nachdem sie schon völlig unterdrückt zu seyn
schienen (auf der mechanischen Schwelle waren) sich voll-
kommen wieder zu ihrem alten Stande erheben, mit wirk-
licher Unterdrückung der neu hinzugekommenen Kraft.
Es mag der Mühe werth seyn, ein paar leichte Corolla-
rien hier beyzufügen.


1) Man täuscht sich leicht, wenn man politische
Kräfte schätzen will, die sich mit andern entgegengesetz-
ten schon ins Gleichgewicht gesetzt hatten. Sie sind
dann allemal weit stärker als sie scheinen. Man sieht
nämlich nur ihre Reste nach der Hemmung; gleichsam
den über der Oberfläche des Wassers hervorragenden,
nicht aber den eingetauchten Theil; und doch richtet sich
ihre Wirksamkeit nach ihrer ganzen Stärke, die sogar noch
[28] durch Verschmelzungshülfen (wegen Verbindung der
Reste aus früherer Hemmung,) vergröſsert seyn wird.


2) Man kann sich abermals täuschen, und noch
leichter wie zuvor, — wenn man die erste groſse Nach-
giebigkeit wahrnimmt, mit welcher sie auf den Impuls
der neu hinzukommenden Kraft anfangen zu sinken. Ge-
rade dann, wann sie ganz unterdrückt scheinen, haben
sie ihre gröſste Spannung.


3) Eine Täuschung von anderer Art würde erfolgen,
wenn man die Geschwindigkeit der anfänglichen Bewe-
gungen, sey es des Steigens oder des Sinkens, für gleich-
förmig halten wollte. Alle psychologischen Kräfte, deren
Wirkungsart nicht besonders verwickelt ist, bringen solche
Veränderungen hervor, deren Lauf eine kurze Zeit lang
nahe gleichförmig ist, aber sehr bald langsamer wird,
wiewohl niemals völlig zum Stillstande kommt.


Bevor ich weiter gehe, müssen ein paar allgemeine
Bemerkungen Platz finden.


Es ist der beständige Fehler der falschen Politik,
Kräfte niederzudrücken, mit denen man sich besser ver-
binden sollte. So macht es nicht bloſs die türkische
Despotie, sondern auch die häſsliche Demokratie zu Athen
(die weder dem Xenophon noch dem Platon gefiel,)
wuſste nichts besseres als ihren Ostracismus. Klüger
wenigstens war Napoleon, der seine Herrschaft durch
Verbindung mit allen Partheyen bevestigte; so jedoch,
daſs Er selbst der allgemeine Mittelpunct blieb. — Wird
eine Kraft niedergebeugt, so wird sie entweder vernichtet;
dann schwächt sich der Staat, denn er kann die Kräfte
nicht nach Belieben schaffen, sondern nur benutzen;
oder sie geräth in Spannung; dann ist ein verborgener
Feind geschaffen, mit dem man irgend einmal wird strei-
ten müssen.


Da nun der Staat an seiner Gesammtstärke alle die,
gewöhnlich sehr zahlreichen, Kräfte verliert, welche, ver-
möge der Ungleichheit, unvermeidlich auf die statische
Schwelle fallen, (denn seine Stärke resultirt nur aus der
[29] Verschmelzung nach der Hemmung,) was soll geschehn?
Will man, daſs die stärkeren Kräfte geschwächt werden,
um mit den andern ins Gleichmaaſs zu treten? Das ist
jener Berührungspunct der Extreme, des revolutionären
und despotischen Geistes. Will man, daſs die schwä-
cheren sich stärken? Das läſst sich zum Theil bewirken,
oder wenigstens veranlassen, durch Hinwegräumung von
Hindernissen; aber man bekommt es niemals ganz in
seine Gewalt. Die natürlichen Ungleichheiten bleiben,
und wirken fort. Jedermann weiſs, daſs Weiber und
Kinder niemals mit den Männern, Lohnknechte und Fa-
brik-Arbeiter niemals mit den Herrn auf dieselbe Linie
können gestellt werden; anderer Beyspiele nicht zu ge-
denken; die meistens darauf hinaus laufen, daſs die Ar-
beit vollbracht werden muſs durch Menschen die sich
ihr widmen.


Man kann also nur die schwächern Kräfte mit den
stärkern in Verbindung setzen; man muſs suchen, den
Hemmungen durch die Complicationen und Verschmel-
zungen zu begegnen; indem man zugleich die Hemmungs-
grade (die streitenden Interessen) möglichst vermindert;
und die Berührungen der zu stark und zu entschieden
entgegengesetzten Kräfte zu vermeiden sich bestrebt.
(Das letztere geschieht vorzüglich, indem man Jedem
eine eigenthümliche Sphäre seines Wirkens anweiset;
wovon die Beschützung der Rechts-Gränzen durch gute
Justizpflege das bekannteste Beyspiel ist.)


Dahin nun streben längst alle geordnete Staaten;
aber es läſst sich nicht ganz vollbringen. Nicht Alles
kann sich mit Allem compliciren und verschmelzen. Es
bleibt die Entfernung durch weite Räume in groſsen Staa-
ten; Verschiedenheit der Gewohnheiten und Meinungen
in verschiedenen Ständen, u. s. w.


Also erzeugt sich, anstatt Einer allgemeinen Verbin-
dung Aller mit Allen, eine Menge von kleineren Grup-
pen; anstatt einer unmittelbaren Verknüpfung giebt es
einen Zusammenhang durch Mittelglieder; die Men-
[30] schen ordnen sich in Reihen und in Gewebe von
Reihen
; so daſs Jeder seinen Platz habe in einem klei-
nen Kreise, dessen Radien jedoch weiter fortlaufen, und
einen Weg zeigen, den man durch das Ganze der Ge-
sellschaft verfolgen könne.


Dies nun ist der Punct, den ich erreichen wollte.


Der wichtigste Theil der ganzen Mechanik des Gei-
stes ist die Lehre von den Vorstellungsreihen. (§. 86
bis 92. und §. 100.) Dort ist der Grund aller Ord-
nung
im menschlichen Geiste nachgewiesen; die An-
wendung davon auf die Gesellschaft würde zeigen, wie
es zugeht, daſs jeder Mensch sich an einer bestimmten
Stelle unter den übrigen findet, die ihm in den verschie-
denen Reihen der Unterordnung und Nebenordnung zu-
kommt. Wohlgeartete Bürger im wohl eingerichteten
Staate halten sich selbst an dieser ihrer Stelle; sie wir-
ken an ihrem Platze, sie wirken das, was sie zu thun
haben, indem sie zugleich das erreichen, erwerben, ge-
nieſsen, was dieser ihrer Stelle zukommt. Sie greifen
Andern nicht vor; allein sie setzen voraus, daſs die frü-
hern Glieder in der Reihe, so weit sie dieselbe überse-
hen können, schon gehandelt haben, und es ist in ihnen
ein Streben, daſs zu den nachfolgenden Gliedern die all-
gemeine Thätigkeit, wozu sie ihren Beytrag geben, wei-
ter fortlaufen möge. Vermöge dieses Zusammenhangs
wirkt der Reiz, welcher an irgend einem Puncte in der
Gesellschaft angebracht ist, dergestalt fort, daſs er sich
durch das Ganze verbreitet; die vorhandenen Reihen und
deren Verwebungen sind die Conductoren, an denen er
fortläuft.


Jenes merkwürdige Weiterstreben, das wir im
§. 100. gefunden haben; jenes Wirken wider sich
selbst, um andern Platz zu machen
, läſst sich hier,
wo vom wohlgearteten Staatsbürger die Rede ist, leich-
ter anschaulich machen, als dort, wo es in den Vorstel-
lungen, den Gliedern der Reihen, gefunden wurde. Dem
Menschen in der Gesellschaft ist zwar von Natur ein
[31] eben solches vordringendes Streben eigen, wie den Vor-
stellungen; aber theils will er nicht allein vordringen,
sondern in Verbindung mit Anderen, die ihm nahe stehn, —
theils, was hier die Hauptsache ist, richtet sich sein
Streben dergestalt auf das Gesammtwirken Aller, welche
mit ihm in Verbindung stehn, daſs er selbst zurücktritt,
wenn an den Andern die Reihe ist, sich hervorzuthun.
Man könnte in Versuchung gerathen, darin eine Aeuſse-
rung der Moralität zu suchen; allein dies Zurücktreten
ist nichts mehr als das Pausiren des Musikers, welcher
voraussetzt und will, daſs die übrigen Stimmen fortfah-
ren, damit das Tonstück, was ihm vorschwebt, vollstän-
dig, im rechten Tacte und Vortrage, herauskomme.
Weder in dem Musiker, noch in dem Staatsbürger, könnte
ein solches Streben seyn, wäre es nicht zuvor, nach den,
im ersten Theile entwickelten, mathematisch-psychologi-
schen Gesetzen, in den Vorstellungen begründet. Denn
der Musiker spielt seine Noten in solcher Ordnung, sol-
chem Rhythmus, wie er sich die Töne denkt; sein Vor-
trag ist der unmittelbare Ausdruck des Strebens in sei-
nen Vorstellungen. Der Bürger fühlt sich auf gleiche
Weise getrieben zum regelmäſsigen Handeln mit Andern,
und in Uebereinstimmung mit Andern; dergestalt, daſs,
wenn sie säumten, er sie ermahnen würde, das Ihrige zu
thun; darum, weil für ihn in dem Gedanken seines eignen
Thuns schon das dazu gehörige Thun der ihm nahe
Stehenden mit inbegriffen, mit einbedungen ist. Der Lauf
seiner Vorstellungen wird aufgehalten, das darin wirk-
same Streben erleidet eine Hemmung
, wofern
er seine Nächsten nicht vollführen sieht, was ihnen
zukommt.


Was nun hier, als ob es die Wirkung eines Na-
turtriebes wäre, vor Augen liegt, das muſs erklärt und
begriffen werden aus jenen Gesetzen der Mechanik des
Geistes.


Die Kraft der Ordnung im Staate ist nun die
Gesammtkraft aus allen den einzelnen Kräften, welche
[32] sich in den einzelnen Staatsbürgern regen, um ein Theil-
chen der allgemeinen Ordnung im nächsten Kreise, worin
Jeder steht, zu erzeugen oder zu erhalten. Unmöglich
könnte von einem, oder von wenigen Puncten aus, eine
so groſse Masse von Menschen in Ordnung gehalten
werden, wenn nicht in Allen, oder doch in den Meisten
ein solches Streben wäre. Der geringste Wind würde
diese Masse, wenn sie nicht durch sich selbst verbunden
wäre, aus einander stäuben; und bey der geringsten ent-
standenen Unordnung würde das Gebäude, da es aus so
beweglichen Steinen besteht, wie die Köpfe und die Ge-
müther der Menschen sind, in allen Puncten aus einan-
der fahren. Statt dessen zeigt bekanntlich jeder, nur
leidlich geordnete Staat, eine ungeheure Kraft, sich nach
den heftigsten Erschütterungen wieder herzustellen.


Aber diese Kraft ist bey weitem nicht in allen Staa-
ten und zu allen Zeiten die nämliche; sie ist gerade so
verschieden an Art und Gröſse, wie die Structur der
Reihen, die sich im Staate aus Menschen, — in den
Köpfen der Menschen aus Vorstellungen gebildet haben.
Schon im ersten Theile ist erwähnt worden, daſs die
Reihen, und so auch die Reihen von Reihen, ja die
Reihen von Complexionen, und deren Verwebun-
gen, höchst mannigfaltige Gestalten haben, daſs sie ver-
dorben werden können, und daſs sie in ihrem Ablaufen
sehr häufig wider einander anstoſsen. Dies erwartet die
Kunst des Staatsmannes! — Wohl zusammen ge-
fügte Reihen sind der Sitz des Lebens und der Gesund-
heit für den Geist und für den Staat; das Gegentheil
droht Krankheit und Tod.


Man redet von der Organisation des Staats; hier
hat man das rechte Wort; aber darum noch nicht den
rechten Begriff. Denn was ist ein Organismus? Worin
besteht das organische Leben? Wem es Ernst ist, dies
erforschen zu wollen: der fange damit an, sich umzu-
sehn im Staate! Hier kann er weit mehr lernen, als je-
mals der Staatsmann lernen wird vom Anatomen und
vom
[33] vom Physiologen. Denn der Staat besteht ganz deutlich
aus einer endlichen Zahl von Menschen; diese sind
zufällig in demselben beysammen; man kann auch Je-
den, einzeln genommen, befragen um seine Gesinnung,
und beobachten in seinem Handeln. Hingegen die leben-
digen Leiber bestehn aus Materie; diese ist nach dem
irrigen Vorgeben fast aller Physiker und Metaphysi-
ker ins Unendliche theilbar; aus diesem Irrthume hilft
keinesweges die Erfahrung; man kann die einzelnen Theile
nicht beobachten; man sieht zwar, daſs die Nahrungsmit-
tel zufällig hineinkommen, aber es ist schwer, diesen
Wink der Erfahrung zu verstehen; und unsre Zeit hat
sich nun vollends in die Unwahrheit verliebt: im Or-
ganismus gehe das Ganze den Theilen voran
.


Sollte sich jemals ein Staatsmann dahin verlieren,
diesen Irrthum auf den Staat zu übertragen, so wird er
wenigstens den Zwang fühlen müssen, den ihm unauf-
hörlich die Erfahrung entgegensetzt.


So gewiſs aber, allen falschen Auslegungen zum
Trotz, die Analogie zwischen dem Staate, dem Organis-
mus, und dem System der Vorstellungen im denkenden
Geiste, wirklich vorhanden ist: eben so gewiſs wird auch
dereinst die wahre Psychologie bis dahin durchdringen,
wo jetzt noch, im Scheine von Irrlichtern, Gespenster
umherschweben. Das heiſst: die nämlichen Grundsätze
der Mechanik des Geistes, welche die Reizbarkeit der
Vorstellungsreihen erklären, werden auch das organische
Leben, als eine Verkettung einfacher Wesen, und die
lebendige Kraft des Staats, als einer Verbindung von
einzelnen Menschen, auf ähnliche Weise begreiflich ma-
chen. Dann wird man die Kunst des Staatsmanns bes-
ser schätzen, — aber auch die unendlich höhere Kunst,
welche das organische Leben schuf, reiner verehren
als heute.


Ungeachtet der erwähnten Analogie zwischen dreyen
Gegenständen, die beynahe das Wichtigste sind, was in
die Sphäre der menschlichen Untersuchung fällt, muſs
II. C
[34] man sich doch hüten, die Aehnlichkeit zu übertreiben.
Dahin gehören folgende Bemerkungen:


1) Weder der menschliche Geist noch der Staat
haben ursprünglich die Beschaffenheit eines bestimm-
ten organischen Keims *). Hätten sie ihn: so würden
Erziehungskunst und Staatskunst sich in eine Art von
Gärtnerey verwandeln, die nur dem Keime Gelegenheit
giebt, sich zu entwickeln, ihn aber nicht umschaffen kann.
Aber beyde, der Geist und der Staat, nähern sich
allmählig
der Natur eines organischen Wesens; indem
jeder Grad von schon empfangener Bildung dazu beiträgt,
die Art von Assimilation zu bestimmen, wodurch das
Neue vom Alten angeeignet wird.


2) Der lebende Organismus hat seine Perioden des
Wachsens und Abnehmens; man hat dies oftmals auf
Staaten übertragen, als ob sie schwach würden vor Alter.
Da ich hier die Grundsätze der Mechanik des Geistes
angewandt habe, so könnte ich in Versuchung gerathen,
eben dieselbe Behauptung anzuknüpfen an die Lehre von
der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94—99.). Allein
[35] dazu ist kein Grund vorhanden. Die Einheit des Staats
ist zusammengesetzt aus den Individuen, den absterben-
den und heranwachsenden. Hingegen die Einheit der
Seele ist die strengste, die es geben kann, und gerade
daher rührt, wie am gehörigen Orte gezeigt worden, die
Abnahme der Empfänglichkeit. (Jede vollkommene Selbst-
erhaltung, um dies nochmals kurz zu wiederhohlen, ist
einfach, wie das einfache Wesen, das sich selbst erhält;
denn es ist in ihr sich selbst vollkommen gleich.
Darum ist sie eine absolute Einheit, die eben so wenig
wachsen kann, als sie aus Theilen besteht. Wenn aber
ihre Bedingung, das Zusammen, nur unvollkommen ein-
tritt: dann erzeugt sie sich Anfangs in minderem Grade;
und dieser Grad kann erhöht werden, bis er der Einheit
gleich wird, nur nicht weiter. Die Möglichkeit der Er-
höhung bis zur vollen Einheit ist die in jedem Augen-
blicke noch übrige Empfänglichkeit. Das Gesetz, nach
welchem dieselbe continuirlich abnimmt, findet sich im
§. 94.)


Was in der Gesellschaft, folglich mittelbar im Staate,
altert und sich abstumpft, das ist die Empfänglichkeit für
öfter angewendete Formen der Kunst und der Wissen-
schaft. Die lebhafte, allgemeine Aufregung, welche ehe-
dem Wieland und Klopstock hervorbrachten, kann
sich auf die nämliche Weise nicht wiederhohlen. —
Wenn der Staat die neuen Eindrücke fürchtet (wie die
Alten den neuen Tonweisen der Musiker eine gefährliche
Wichtigkeit beylegten,) so kann ihn die Abstumpfung
trösten.


Kunst und Wissenschaft wirken weder so viel, als
der erste Eifer, der erste Stoſs neuer Eindrücke, zu ver-
sprechen scheint; noch so wenig, als die nachmalige
Kälte glauben macht, denn theilweise gehemmte Kräfte
wirken noch immer in dem Verhältnisse ihrer vollen Stärke,
nur ruhiger.


Wenn aber im Staate die Ungleichheit dergestalt
anwächst, daſs ganze Klassen unterdrückt werden, weil
C 2
[36] ihnen Niemand half, und weil das Glück freyes Spiel
fand, Güter und Vorrechte auf wenigen Puncten anzu-
häufen: dann freylich befällt den Staat die Auszehrung;
aber man muſs darum nicht sein höheres Alter anklagen.
Nicht die Jahre schaden ihm, sondern Mangel an Vor-
sicht in den wichtigsten Puncten.


Diese Bruchstücke der Mechanik des Staats schlieſse
ich mit derselben Erinnerung, wie jene der Statik; ich
habe nämlich nicht vom künstlichen, sondern vom kunst-
losen Mechanismus des Staats zu sprechen Veranlassung
gehabt. Alle Wirkung der Reflexion, folglich der po-
sitiven Gesetze
, muſste bey Seite gesetzt werden,
weil die psychologischen Vorarbeiten des ersten Theils
darüber noch kein Licht geben. Nur die allgemeine Be-
merkung will ich beyfügen: daſs die Gesetze, indem sie
den natürlichen Neigungen der Menschen einen Zügel
anlegen, die Continuität unterbrechen, womit der Na-
tur-Mechanismus, sich selbst überlassen, fortwirken würde.
Aber er gleicht dem Strome, der anschwillt vor dem
Damme. Hat er dessen Höhe erreicht, so stürzt er hin-
über, und reiſst ihn fort. Der kluge Staatsmann läſst es
dahin nicht kommen; seine Kunst gleicht der des Was-
serbaues.


Das Vorstehende konnte dienen, durch eine auffal-
lende Anwendung auf vielbesprochene Gegenstände die
Erinnerung an den ersten Theil zu beleben und zusam-
menzudrängen. Aber noch eine andre Vosbereitung ist
nöthig für diesen zweyten Theil; der bey seinen Haupt-
gegenständen nur in so fern die Anwendung der frü-
hern Lehren auf die Erfahrung gestattet, als diese letz-
tere durch Analyse dafür empfänglich gemacht wird.


Wenn ein Kasten vor uns stände, in welchem etwas
eingepackt läge, das wir einzeln besehen wollten: so
würden wir es unmöglich in der Ordnung auspacken
können, in der es hineingekommen war; sondern nur in
[37] der umgekehrten. Oben auf liegen würde das, was zu-
letzt hineingelegt war; und wollten wir nicht Alles durch
einander werfen, und es mannigfaltiger Beschädigung
aussetzen, so müſsten wir das, was beym Einpacken sei-
nen Platz am Boden gefunden hatte, nicht zuerst her-
ausreiſsen, sondern zuletzt herausnehmen.


Die Erfahrung zeigt den Menschen in zeitlicher Ent-
wickelung begriffen. Als reife Männer beobachten wir
uns zum Behuf der Psychologie; aber für diejenigen Zu-
stände, in welchen wir als kleine Kinder die ersten räum-
lichen und zeitlichen Sinnes-Anschauungen bildeten, die
Muttersprache uns aneigneten, uns selbst von den Din-
gen unterschieden, die Begriffe von Ursachen und Wir-
kungen in uns erzeugten, u. s. w. haben wir die Erinne-
rung völlig verloren. Und doch beginnen die empiri-
schen
Psychologien von dem, in Hinsicht dessen für
Jeden die einzig ächte, nämlich seine eigne unmittelbare
Erfahrung, unwiederbringlich entflohen ist! Die Sinn-
lichkeit
, meint man, sey das gemeinste, darum das
leichteste!


Freylich jetzt und hier, da wir die Grundlinien der
Statik und Mechanik des Geistes schon haben, ist es
auch richtig, von dem auszugehn, was sich zuerst durch
den psychologischen Mechanismus bildet; und so werden
wir tiefer unten wirklich verfahren. Aber wo hätten Die-
jenigen anfangen sollen, die nun einmal das undankbare
Geschäft, mathematische Gegenstände ohne mathemati-
sches Auge zu betrachten, über sich nahmen? Unstreitig
da, wo die hellste Gegend der Erfahrung ist; da, wo die
Dichter sich am freyesten bewegen; mitten im Leben,
worin der Mann sich mit seines Gleichen vereinigt findet;
und bey den obersten der sogenannten Seelenvermögen
am liebsten; denn was man ihnen zuschreibt, das ist das
Neueste, was entstand; und im Kasten liegt es oben auf.


Auch von Vernunft und Verstand ist zwar genug
geredet worden; aber es ist nicht überflüssig, auch hier
noch davon zu reden. Der Weg muſs gezeigt werden,
[38] der für Andre offen lag; wir brauchen zu dem Ende nur
wenige Schritte auf diesem Wege zu gehn, und wenn er
gleich zunächst nur zu Namen-Erklärungen, und zu
Erläuterungen von nicht gröſserem Werthe führt, so
wird doch dadurch gar mancher Irrthum, der späterhin
blenden könnte, im Voraus abgelehnt. Wir versetzen
uns demnach für eine kleine Weile auf den Standpunct
der empirischen Psychologie; um von dort aus die obern
Vermögen zu betrachten.


Beruft man sich auf Erfahrung: so muſs man sie in
sinnlicher Klarheit hinstellen; wenige scharfe Züge reichen
zu. Verstand hat der Mann; Unverstand zeigt das Kind
und der Knabe; ihm ähnlich ist der, welcher den Ver-
stand verlor.


Dort schlägt das kleine Mädchen ihre Puppe mit
der Ruthe; denn die Puppe ist unartig! Dort spielen die
kleinen Knaben mit bleyernen Soldaten; die gröſseren
tragen selbstgeschnitzte Weidenzweige statt der Degen
an der Seite, einige spielen Pferde; sie haben den Bind-
faden in den Mund genommen, um Zaum und Zügel
vorzustellen. Wenn der Mann das thäte: so würde man
sagen, er habe den Verstand verloren.


Die Scheiterhaufen der Inquisition nennt man nicht
unverständig, sondern vernunftwidrig; denn der
Verstand des Egoismus leuchtet hervor neben der Schwär-
merey; aber diese Art des Cultus ist gerade so vernünf-
tig wie der Dienst des Moloch, in dessen glühende Arme
das Kind von der Mutter geworfen wurde. Auch wer
die Lehren der Astronomie leugnet (um ein rein theo-
retisches Beyspiel anzuführen), ist unvernünftig. Und
nicht minder unvernünftig Jeder, der wissentlich, und un-
berufen, in sein Verderben rennt. Am empörendsten für
die Vernunft ist eine vollendete, vorbedachte Schandthat
eines gleichwohl nicht schändlichen Menschen. Mit Ent-
setzen und Schaudern denke ich an den unglücklichen
Sand. Man fühlt sich zerrissen, wie man seine That
[39] auch überlegen möge. Doch hinweg von diesem Bilde!
Zurück zu gewöhnlichen, zu gemeinen Dingen! — —


In Gesellschaft findet man unverständig denjenigen,
der sich bekannter Beziehungen, wodurch sein Gespräch
doppelsinnig wird, nicht erinnert; hingegen den, welcher
ohne Grund wissentlich Andere reizt, nennt man un-
vernünftig.


Die unartige Puppe, die bleyernen Soldaten, wo-
durch verstoſsen sie wider den männlichen Verstand?
Durch ähnliche Ungereimtheit, wie der Traum wider das
Wachen. Diese Ungereimtheit sieht das Kind nicht; es
sieht nicht Bley, nicht Holz; es denkt nicht an die Weich-
heit des Metalls; von dem harten Krieger und seiner Span-
nung weiſs es noch wenig; es ist ihm nicht geläufig, Holz
und Mensch wie Stoff und Kraft gegen einander zu stel-
len. Es ist vertieft in die Bedeutung seines schlechten
Symbols, so weit es sie kennt; und bedarf nicht mehr
zur Illusion und zur Unterhaltung. Es betrachtet nicht die
wahre Qualität des Gegenstandes; so wenig wie derjenige,
der Unkluges redet, indem er Ort und Zeit und Gesell-
schaft aus den Augen verliert. Thäten die Vorstel-
lungen ihre volle Wirkung
, erhielten sie ihre ganze
Entwickelung, so wie es den vorgestellten Gegen-
ständen
angemessen ist, so würde der Unverstand fühl-
bar werden. Kluge Maaſsregeln gehn aus von der Um-
sicht, berichtigen sich durch Beobachtung, erweitern sich
durch Berechnung der möglichen Erfolge, gelangen zur
Ausführung durch stete Besonnenheit und Gegenwart
des Geistes.


Darum stellte ich längst die Definition auf: Ver-
stand ist das Vermögen, uns im Denken nach
der Qualität des Gedachten zu richten
*).


[40]

Hingegen Vernunft ist das Vermögen, dasjenige zu
vernehmen, wofür der Unvernünftige taub ist; und das
sind — Gründe. Also: Vernunft ist das Vermö-
gen, zu überlegen, und nach dem Ergebniſs der
Ueberlegung sich zu bestimmen
.


Dem Unvernünftigen (z. B. dem Inquisitor)
muthen wir an, daſs er anderen Betrachtungen
Gehör gebe; dem Unverständigen, daſs er seine
eigenen, schon vorhandenen Gedanken vollends
entwickele
.


Kein Wunder, daſs man Begriffe dem Verstande
zueignet, und Schlüsse der Vernunft. Jene bestimmen
die Qualität des Vorgestellten; diese fügen eins zum an-
dern, den Untersatz zum Obersatze. Aber dadurch allein
würde noch keine brauchbare Namenerklärung gewonnen
seyn; wie tiefer unten ausführlicher soll gezeigt werden.
Hier kümmern wir uns nicht um die Bestimmungen der
Schulen, sondern um den Sprachgebrauch; denn wir
reden nicht von wirklichen Dingen, sondern vom Sinn
der Worte, von den allgemein vorhandenen Auffassun-
gen, die durch sie angezeigt werden. Wir meinen dem-
nach nicht, es gebe nun wirklich ein besonderes
Vermögen, das dazu bestellt sey, die Gedanken nach der
Qualität des Gedachten zurechtzustutzen; auch nicht, es
sey wirklich die Sache eines eignen Vermögens, zur
Ueberlegung, zur innern Berathschlagung die sämmtlichen
stimmfähigen Meinungen und Absichten zu berufen, wäh-
rend ihres Votirens und Streitens das Protokoll zu füh-
ren, und das letzte Resultat in die innere Gesetzsamm-
lung einzutragen: wohl aber bemerken wir, daſs etwas
dem ähnliches wirklich in uns vorgeht; wir fassen es auf,
heben es weg, und sehen nach, was tiefer darunter ver-
borgen liegen möge?


[41]

A. Vorläufige Betrachtung des Verstandes nach
seinen Beziehungen.


Da der Verstand die Fähigkeit ist, sich im Vorstel-
len nach der Qualität des Vorgestellten zu richten; da
ferner der Verstand spät erwacht, sich langsam entwik-
kelt, bey den Thieren fast ganz zu fehlen scheint: so
richten sich nicht immer, nicht ursprünglich und von
selbst, die Vorstellungen nach der Qualität des Vor-
gestellten.


Nun ist zuvörderst klar, daſs hier nicht von jenen
einfachen Vorstellungen die Rede seyn kann, die wir
im ersten Theile meistens betrachteten, und etwa mit
a, b, c, bezeichneten; um sie als Gröſsen in der Rech-
nung zu behandeln. Denn diese einfachen Vorstellun-
gen, — die man Empfindungen nennt, wenn man
auf den Augenblick ihres ersten Entstehens hinweisen
will, — haben kein Vorgestelltes auſser sich
selbst
, mit dessen Qualität sie zusammenstimmen könn-
ten oder auch nicht. Es sind innere Zustände der Seele,
die man nur uneigentlich Vorstellungen nennt, da sie
kein Bild eines Gegenstandes geben.


Demnach sind wir in der Region der zusammen-
gesetzten
Vorstellungen. Und es wird noch überdies
ein Unterschied angenommen zwischen dem zusammen-
gesetzten Vorgestellten, wie es sey, unabhängig vom
Vorstellen; und dem wirklichen Geschehen eben dieses
Vorstellens, das mit jenem übereinstimmt oder
auch nicht.


Nach diesem Unterschiede brauchen wir nicht weit
zu suchen. Die Erfahrung erinnert uns fürs erste an
unzählige Gegenstände, denen es zukommt, auf bestimmte
Weise vorgestellt zu werden, indem sie sich zur
Wahrnehmung darbieten; so daſs, wenn einmal Einer
sie anders vorstellt, ihm sogleich hundert andre Men-
schen zurufen, er habe sich geirrt.


[42]

Aber zweytens wissen wir aus der Lehre von den
Complicationen und Verschmelzungen, daſs der wirkliche
Actus des Vorstellens allemal von bestimmten Repro-
ductions-Gesetzen abhängt, die sich sogleich bilden, in-
dem die einfachen Empfindungen zusammen kommen,
und sogleich wirken, indem, sey es auch nur nach der
geringsten augenblicklichen Hemmung, die Vorstellungen
sich wieder heben. Wir wissen, daſs hier alles auf die
Ordnung und Stärke der Auffassungen ankommt;
und überdies, daſs zufällige Hemmungen die Reprodu-
ction der Reihen, und ihrer Verwebungen, sehr leicht
verkürzen und verkümmern, — ja daſs eine Reihe, an
welcher einige Glieder fehlen, neue falsche Verbin-
dungen
eingehn kann, die sie nicht würde zugelassen
haben, wenn sie sich im Bewuſstseyn vollständig ent-
wickelt hätte. (So gehts im Traume.)


Wir werden uns also nicht wundern, wenn ein zer-
streuter Mensch, der nicht recht zuhört und zusieht, ab-
weicht von der Qualität des Vorgestellten, wie der ge-
naue Beobachter es findet; oder wenn ein Trunkener
oder Träumender, dessen Vorstellungsreihen einer unge-
wöhnlichen Hemmung unterworfen sind, Zeichen des Un-
verstandes giebt.


Was aber die Kinder angeht, so können sie mitten
in Kinderspielen doch für ihre Jahre verständig genug
seyn. Nur den Verstand der Männer muſs man von
ihnen nicht fordern, aus dem einfachen Grunde, weil es
bey den Männern eine Menge von Verbindungen,
und gerade deshalb von Gegenkräften unter den Vor-
stellungen giebt, welche zu erwerben jene noch nicht
Zeit und Gelegenheit hatten. Dasselbe gilt von den
Thieren, die auch in ihrer Art verständig genug seyn
können, obgleich sie dem Menschen, der sie mit frem-
dem Maaſse miſst, unverständig dünken.


Der Verstand bezieht sich also auf die Zusammen
setzung der Vorstellungen, sammt den davon abhängen-
den Reproductions-Gesetzen; und das Verständig-Wer-
[43] den bezieht sich auf die fortschreitende Vermehrung und
Berichtigung der vorhandenen Vorstellungsreihen. Bey
jeder solchen Berichtigung muſs ein Stoſs erfolgen, denn
die ablaufende Reihe wird dadurch in dem Puncte ge-
hemmt, wo die Berichtigung eintritt; sie wird genöthigt,
hier ein neues Glied aufzunehmen.


Wir kennen diese Stöſse aus der Erfahrung; es sind
die Urtheile, wodurch den Subjecten wider Erwarten
Prädicate gegeben werden.


Wäre hiebey kein Stoſs erfolgt, so würde die Vor-
stellung, welche das Prädicat ausmacht, ohne Weite-
res
mit der des Subjects verschmolzen seyn. Das heiſst:
man könnte die Fuge oder den Kitt zwischen beyden
nicht wahrnehmen, welchen man gewöhnlich die copula
nennt; sondern es wäre ganz unmerklich eine solche
Verbindung eingetreten, wie wir sie unzählig oft zwischen
den Partial-Vorstellungen einer Anschauung finden.
Wie wenn Einer sich das Gesicht eines Andern merkt,
ohne sich die Verbindung der Nase, der Augen, des
Mundes, u. s. w. in eben so vielen Urtheilen auseinan-
derzusetzen, als wie viele Combinationen darin liegen.


Also in jedem Falle, in welchem der sogenannte
Actus des Urtheilens merklich wird, muſs ein solcher
Stoſs, wie zuvor beschrieben, statt finden. Das Subject,
welches ein Prädicat eben jetzt bekommt, muſs zuvor
eine anders bestimmte Vorstellung gewesen seyn;
jedoch pflegen wir dieselbe in den meisten Fällen eine
unbestimmte zu nennen, nämlich wenn die Bestim-
mung im Dunkeln blieb.


Hier kann wiederum die Erfahrung zu Hülfe kom-
men. Sie versorgt uns mit unzähligen Vorstellungen,
denen Unbestimmtheit, das heiſst, eine Frage nach
Bestimmungen
, anklebt, darum, weil sie vielfach
und entgegengesetzt sind bestimmt worden. Aus
einer Menge groſsentheils gleichartiger Anschauungen,
erzeugt sich eine Gesammt-Vorstellung, welcher das
Streben inwohnt, alle ungleichartigen Nebenbestimmun-
[44] gen mit sich hervorzuheben, die den einzelnen Fällen
eigen waren. Dies Streben ists, welches den Stoſs des
Prädicats auffängt, sobald die Gesammtvorstellung von
neuem Subject eines Urtheils wird. Man kann das Ge-
sagte unmittelbar anknüpfen an den §. 101.


Es ist dort gezeigt, daſs gerade das Uebermaaſs
entgegengesetzter Verbindungen es ist, wodurch eine
Vorstellung dahin gelangt, daſs sie für isolirt gelten
kann, und nunmehr für neue Verbindungen bereit liegt,
wobey bloſs ihre Qualität die bestimmende Ursache aus-
macht; welches denn bey den logischen Anordnungen
der Begriffe geschieht. Davon wird weiter unten aus-
führlich geredet werden. Aber es ist einer der ärgsten,
wie der gemeinsten, Misgriffe, deren sich die empirische
Psychologie schuldig gemacht hat, den Verstand für das
Vermögen der Begriffe (oder auch, Vermögen, durch
Begriffe die Gegenstände zu denken) zu erklären (wo-
bey noch obendrein, um einen zweyten Fehler zu be-
gehn, Begriffe für allgemeine Vorstellungen aus-
gegeben werden, als ob es keine einzelnen Begriffe
gäbe). Diese Definition ist viel zu eng; und sie taugt
deshalb Nichts; auch dann noch, wann wir von dem
Vorurtheil der Seelenvermögen ganz hinwegsehn. Die
empirische Psychologie muſs dem Sprachgebrauche genü-
gen; und dieser erlaubt schlechterdings nicht, nach der
Cultur der Begriffe die Gröſse des Verstandes abzumes-
sen. Frauen, Staatsmänner, Feldherrn, Künstler, Kauf-
leute, suchen den Verstand in keiner logischen Schule;
obgleich sie hier allerdings diejenige, zwar wichtige, aber
ziemlich eng beschränkte species des Verstandes suchen
sollten, welche von der Anordnung und scharfen Bestim-
mung der Begriffe abhängt.


Der logische Zuschnitt der Gedanken ist nicht ihre
Bewegung, und doch ist diese noch nöthiger als jener,
wenn sie sich nach der Qualität des Gedachten richten
sollen. Wenigstens im Leben; denn anders verhält sichs
in der Wissenschaft, der nicht vorgeschrieben ist, sie
[45] solle an einem bestimmten Tage fertig seyn. Daher sind
die Köpfe, welche viel Verstand in einer gegebenen
Zeit
haben, weit verschieden von groſsen Denkern, de-
nen er leicht fehlen kann in dem Augenblick, wo man
ihn fordert; denn die Vertiefungen des wissenschaftlichen
Denkens richten sich zwar nach den Begriffen, aber nicht
nach der Uhr.


Man gewöhne sich endlich gleich hier an eine Un-
terscheidung, die öfters nöthig ist; die des Absichtli-
chen
und Unabsichtlichen. Es giebt ohne allen
Zweifel eine starke Selbstbeherrschung, durch welche
man sich zwingt, seine Gedanken nicht von der Quali-
tät des Gedachten abschweifen zu lassen; diese Selbst-
beherrschung ist der Nerv des Philosophirens. Aber sehr
mit Unrecht würde man den ganzen Verstand auf diese
Absicht zurückführen. Die natürliche Leichtigkeit, womit
kluge Köpfe das Verwickelte richtig durchschauen und
behandeln, ist auch Verstand; und darüber können sich
nur diejenigen wundern, welchen im Ernste jedes Seelen-
vermögen Eins und ein Ganzes ist, das man denn frey-
lich nicht zerstückeln und zersplittern darf!


B. Vorläufige Betrachtung der Vernunft nach
ihren Beziehungen.


Die Analyse der Vernunft ist merklich schwerer, als
die des Verstandes. Zum Theil schon deswegen, weil
man sich leicht versucht fühlt, die Betrachtung sogleich
auf die species, theoretische und praktische Vernunft, zu
richten, und darüber den allgemeinen Charakter dessen,
was Vernunft heiſst, nämlich Ueberlegen und Ent-
scheiden
zu verfehlen.


Das erste Merkmal der Ueberlegung nun ist, daſs
sie Zeit braucht, damit sich eine Reihe von Vorstellun-
[46] gen entwickeln. Also bezieht sich die Vernunft (nämlich
die endliche, die ein empirischer Gegenstand ist,)
wiederum auf die Reproductionsgesetze, die wir aus der
Mechanik des Geistes kennen.


Allein es kommt etwas hinzu, wodurch das Ueberle-
gen sich vom Reproduciren des Gedächtnisses und der
Phantasie unterscheidet.


Zuvörderst: die Reproduction wird innerlich beobach-
tet. Nun beruht alle Beobachtung auf einem unbestimm-
ten Erwarten dessen, was kommen könnte. Also ist hier
ein unbestimmtes Vorstellen zugegen, dergleichen
nur eben zuvor beym Verstande, und seinem Uebergange
ins Urtheilen, bemerkt wurde. In der That kann man
den Gegenstand, welcher überlegt wird, — den Frage-
punct, — ansehn als ein noch unbestimmtes Subject, dem
ein Prädicat bevorsteht.


Die Vernunft bezieht sich also auf eine Theilung
des geistigen Thuns in wenigstens zwei Theile, die
sich verhalten wie Beobachtetes und Beobachter; oder
kürzer, wie Object und Subject.


Zweytens: der Ueberlegende beobachtet nicht bloſs
in sich die Reproduction einer bekannten, oder einer zu-
fällig neu entstehenden Reihe, — wie wenn er das frü-
her Memorirte wiederhohlen, oder dem Spiele seiner
Phantasie zuschauen wollte, — sondern er erwartet ein
Ereigniſs, das sich innerlich zutragen soll, wodurch eine
noch nicht vorhandene Bestimmung seiner Gedanken ein-
treten wird. Dazu kann eine Reihe allein nicht hinrei-
chen; es müssen deren zwey, oder mehrere seyn, die
auf einander treffen; die irgendwie zusammenstoſsen.


Die Vernunft bezieht sich also nicht bloſs
auf die Theilung des Objects und Subjects,
sondern auch auf eine Theilung in dem Objecti-
ven, welches zusammenstoſsen soll
.


Hieraus sieht man, daſs der Syllogismus eins der
leichtesten Beyspiele für das Thun der Vernunft darbie-
tet, aber das Beyspiel ist nicht der Begriff selbst; und
[47] es war eine sehr enge Definition, da man die Vernunft
für das Vermögen zu schlieſsen erklärte.


Indem wir die Erfahrung zurückrufen, und uns der
oftmals langen und zweifelnden Ueberlegungen erinnern,
sehn wir, daſs die Entscheidung keinesweges immer so
rasch erfolgt, wie in einem gewöhnlichen Schulbeyspiele
der Logiker. Dies liegt zum Theil an der Länge der
Reihen, die sich nur allmählig entwickeln, und oft rück-
wärts und seitwärts sich ausbreiten, (wie wenn Beweise
und Beläge der Prämissen gesucht werden;) oftmals aber
tritt der Beobachter hervor; er ist afficirt worden von
dem Zusammenstoſs; er nimmt Parthey, weil Streit unter
den Reihen war, und es erfolgt ein Machtspruch statt
der Entscheidung. Oder er sondert die Partheyen, um
sie zu vereinigen. Kurz, es geht im Innern, wie in be-
rathschlagenden Versammlungen. Auch bleibt oft der
Mensch selbst nach der Ueberlegung noch innerlich in
Zwiespalt; [besonders] wenn dieselbe nicht vollständig
war; das heiſst, wenn nicht alle Gedankenreihen, die zu-
sammenstoſsen konnten, sich entwickelt haben, und die
säumigen erst später nachkommen.


Ist nun die Vernunft ein Seher, der Offenbarungen,
oder ein Monarch, der Befehle ertheilt? Ich glaube, sie
begnügt sich mit dem bescheidenen Titel eines Präsiden-
ten, oder beständigen Secretairs. Bestimmter darf ich
hier nicht sprechen, denn ich befinde mich im Felde der
Namen-Erklärungen, und davon abhängiger Analysen,
wodurch Untersuchungen nur vorbereitet, aber nicht ab-
geschlossen werden können.


Zum mindesten aber ist hier der Sprachgebrauch
dergestalt beobachtet worden, daſs nun alles Gesagte mit
gleicher Leichtigkeit bezogen werden kann auf die theo-
retische, wie auf die praktische Vernunft.


Denn die Beschaffenheit der Reihen, welche sich
entwickeln sollen, ist unbestimmt geblieben. Und die
Vernunft, als solche, bezieht sich demnach nicht
auf bestimmte Reihen, noch auf einen bestimmten Ur-
[48] sprung derselben. Wir haben freylich etwas vernommen
von einer reinen Vernunft, die einen Vorrath von
Ideen und Befehlen in sich trage; aber die Thatsache
gehört zu den bestrittenen; und dergleichen muſs man in
empirischen Untersuchungen nicht mit den unbestrittenen
vermengen; auch können wir dieselben für jetzt noch
nicht füglich mit den Grundsätzen der Statik und Me-
chanik des Geistes in Verbindung bringen; viel weniger
die Erklärung zulassen: die Vernunft sey das Ver-
mögen der Principien
.


Aus dem Vorstehenden wird der Leser nun ohne
Zweifel den Satz klärlich einsehn: der Verstand hat
Vernunft
. Denn wie könnte man immer seine Gedan-
ken nach der Beschaffenheit des Gedachten einrichten,
ohne manchmal Ueberlegung zu Hülfe zu nehmen? —
Eben so klar ist ein zweyter Satz: die Vernunft hat
Verstand
. Denn wie könnte die Ueberlegung zur rich-
tigen Entscheidung führen, wenn die Gedankenreihen, die
in der Ueberlegung sich entwickeln, nicht der Beschaf-
fenheit des Gedachten gemäſs wären? Eben so leicht
würde man beweisen können, daſs beyde, Verstand und
Vernunft, auch ein Gefühlvermögen und ein Begehrungs-
vermögen haben; da beyde sich bestreben, zu denken;
und es fühlen, wenn sie zum Ziele ihres Strebens ge-
langen. Wer wird sich darüber wundern? Jedes See-
lenvermögen ist längst in unsern Psychologien gewohnt,
als eine vollständige Person handelnd aufzutreten; es fehlt
nur noch, daſs der Verstand neben den andern Vermö-
gen, die er schon hat, auch noch Verstand — die Ver-
nunft neben den übrigen Vermögen, die sie schon längst
besitzt, auch noch Vernunft bekomme!


Doch ich würde den Leser beleidigen, wenn ich die-
sen Scherz verlängern wollte. Die nächste Absicht der
zuvor gegebenen Analysen des Verstandes und der Ver-
nunft, — das heiſst, der Begriffe, welche der Sprachge-
brauch mit diesen Worten verknüpft, um ein paar na-
türliche Ansichten des geistigen Lebens damit zu bezeich-
nen,
[49] nen, — wird erreicht seyn, wenn man aus der kurzen
Probe gesehn hat, wie eine bloſse Zergliederung des em-
pirisch-Gegebenen dann aussieht, wann sie ohne Ein-
mischung von Hypothesen angestellt wird; und wie wenig
auf diesem Wege kann gewonnen werden. Sie giebt
nämlich dann keinen Irrthum, aber auch wenig Wahr-
heit; nichts besseres und nichts schlechteres ist von der
eigentlichen empirischen Psychologie zu sagen. Die Ana-
lysen der übrigen sogenannten Vermögen sind leichter,
bey einiger Aufmerksamkeit kann Jeder sie selbst fin-
den, es mag auch nützlich seyn, sie von den obern Ver-
mögen zu den niedern fortschreitend (aus dem oben an-
gedeuteten Grunde,) weiter zu vollführen; allein ich werde
mich nicht dabey aufhalten. Es wird jetzt schon soviel
Licht auf einige wichtige Puncte des bevorstehenden
Weges gefallen seyn, als nöthig ist, um ihn anzutreten;
insbesondre liegt uns nunmehr als Thatsache vor Augen,
daſs in unserm Geiste mehrere Vorstellungsmas-
sen
zusammen wirken, wenn wir auch noch nicht ein-
sehn, in wie fern sie gesondert, oder verknüpft seyn mö-
gen. Die eigentlichen Aufschlüsse hierüber lassen sich
nicht anders erlangen, als indem wir mit der Analyse
allemal sogleich bey ihrem Anfange diejenige Hülfe ver-
binden, die wir uns im synthetischen Theile bereitet ha-
ben. Und dies nun ist unser Vorsatz.


Wie schon oben bemerkt, können wir mit unserm
vollen Rechte die Analyse da anfangen, wo wir die frü-
hesten Producte des, seinen Grundgesetzen nach uns
schon bekannten, geistigen Mechanismus erwarten dürfen.
Die obige Analyse des obern Vermögens, — womit jede
nackte, von keiner synthetischen Nachforschung unter-
stützte, empirische Psychologie anfangen sollte — gehört
demnach nicht mit in die Reihenfolge der bevorstehen-
den Untersuchungen; welche dort, wo sie auf Verstand
und Vernunft zurückführen, schon mit mehreren Hülfsmit-
teln ausgerüstet seyn müssen. Sondern wir beginnen in
der gewöhnlichen Ordnung von dem, was man das Un-
II. D
[50]terste im menschlichen Geiste nennt, nur nicht von
dem bloſsen sinnlichen Vorstellungs vermögen, welches
eine Abstraction ist, sondern von der Gesammt-Erschei-
nung des Vorstellens, Fühlens, und Begehrens, wie sie
bey allen lebenden Wesen, so fern wir sie beobachten
können, angetroffen wird. Man wird in dem gegenwär-
tigen Werke, welches die Psychologie neu begründen,
aber nicht bis ins kleinste Detail verfolgen soll, keine
Abhandlung über die einzelnen Sinne und sinnlichen Ge-
fühle erwarten, — wir können überall nur die gröſsern
Parthien, und deren gegenseitige Verhältnisse im Auge
haben. So werden wir nun auch an jene Gesammt-Er-
scheinung des Vorstellens, Fühlens und Begehrens, zwar
sogleich eine Betrachtung der wichtigsten Klassen der
Gemüthszustände anknüpfen; aber nur das Allgemeinste
erwägen, ohne uns um die Arten der Affecten, der Lei-
denschaften, u. s. w. zu bekümmern. — Fast gleich-
zeitig mit den ersten Gefühlen und Begehrungen beginnt
auch der psychologische Mechanismus schon die Rei-
hen
der Vorstellungen zu produciren, deren Formen un-
ter den Benennungen Raum und Zeit am meisten be-
kannt sind; sie werden uns ziemlich lange beschäftigen,
und uns sehr bestimmt an die Mechanik des Geistes er-
innern; ohne mehr als die ersten Elemente einer unab-
sehlichen Untersuchung darzubieten, welche auf andere
Arbeiter wartet. Darauf wenden wir uns zu denjenigen
Anfängen des obern Vermögens, von denen man nicht
hinreichenden Grund hat, sie ausschlieſsend dem Men-
schen beyzulegen; und wir rechnen hieher auch den in-
nern Sinn, dessen Verwandtschaft mit der Vernunft
schon oben, bey der vorläufigen Analyse der letztern,
wird aufgefallen seyn. Vom Gedächtniſs und der Phan-
tasie werden wir aber nicht besonders sprechen; denn
die Reproduction ist in Hinsicht ihrer ersten Gründe und
Gesetze sehr sorgfältig im ersten Theile behandelt wor-
den; und das Detail müssen wir überall weglassen.


Die erwähnten Untersuchungen zusammengenommen
[51] nun geben die Hauptumrisse eines Bildes vom geistigen
Leben überhaupt; ohne Unterschied zwischen dem Men-
schen und den höheren Thieren. Und ein solches Bild
muſs der bestimmteren Schilderung des menschlichen
Geistes nothwendig vorausgehn, wenn man aus der Ver-
wunderung über den Menschen, in welchem soviel Un-
gleichartiges beysammen zu wohnen scheint, jemals her-
auskommen will. Es ist eine alte Bemerkung, daſs sich
das Thier einer weit vollkommenern Einheit mit sich
selbst zu erfreuen scheint, als der Mensch; auch sind
die Thiere von einer Art einander sehr ähnlich, während
beym Menschen beynahe jedes Individuum seine eignen
Kennzeichen hat, und die Menschheit, in Hinsicht des
Geistigen, nur ein Abstractum ist, das man aus den ver-
schieden gearteten Exemplaren kaum herauszufinden ver-
mag. Daher scheint der Mensch das Product einer
neuen Gährung zu seyn, welcher der psychologische Me-
chanismus sich nicht nothwendig zu unterwerfen braucht;
und deren wichtigste Ursachen wohl in den geselligen
Reibungen liegen dürften. Könnte man nun die Ruhe-
puncte finden, bey welchen, ohne Aufregung durch das
gesellschaftliche Leben, der psychologische Mechanismus
stehen bleiben würde; so hätte man den Begriff einer
sich selbst genügenden geistigen Existenz, ohne thierische
Instincte, welche aber als das Urbild, als das Beste an-
gesehen werden möchte, was dem Thiere erreichbar wäre,
ohne in die Unruhe des Menschen hineinzugerathen. *)
Und eine solche Existenz müſste sich aus den Principien
der Statik und Mechanik ableiten lassen, für welche dann
die hinzutretenden Bedingungen des Lebens, wie sie bey
den einzelnen Thiergeschlechtern sich finden, nur Be-
schränkungen wären. Der erste Abschnitt dieses zweyten
D 2
[52] Theils, welche die angedeuteten Untersuchungen in sich
faſst, mag als Vorarbeit dazu angesehen werden.


Dem unruhigen Daseyn des Menschen ist alsdann
der zweyte Abschnitt gewidmet. Nach den ersten Be-
trachtungen über die natürlichen Vorzüge des Menschen
folgt daselbst die erneuerte Untersuchung über das Ich,
wodurch der erste Abschnitt des ersten Theils ergänzt
wird. Man wird eine sehr unruhige, sehr wandelbare
Ichheit darin finden. Hieran knüpfen sich eben so wan-
delbare Auffassungen der Welt, die sich, wie schon am
Ende des ersten Theils bemerkt, in keine veste Katego-
rien einschlieſsen lassen; so wenig, als die höhere Aus-
bildung, von der zuletzt gesprochen wird, eine veste
Richtung und Begränzung in sich trägt. Hiemit schlieſst
der zweyte Abschnitt, und mit ihm die eigentliche Psy-
chologie. Glücklich, wenn auch das Buch damit schlie-
ſsen dürfte! Aber das erlaubt die heutige Zeit nicht.
Durch eine Physiologie, die nicht bloſs empirisch ist,
und die neuerlich einen wundernswürdig raschen Lauf
genommen hat, wird die Psychologie in Gefahr gesetzt,
umgerannt zu werden, wenn sie sich nicht hütet. So
lange als möglich habe ich gesucht, ihr auszuweichen;
und schon dies allein würde mich abgehalten haben, mei-
nem Buche den jetzt üblichen Titel einer psychischen
Anthropologie
zu geben, wenn ich auch nicht andre
Gründe dagegen hätte. *) Aber am Ende fand ich doch
nöthig; die allgemeinen Untersuchungen, welche ich über
die Materie angestellt habe, hier zu benutzen, um den
heutigen Biologen wenigstens etwas mehr Vorsicht zu
empfehlen; indem es noch Ansichten — und auch Gründe
dafür — in Ansehung des materiellen Daseyns und des
[53] leiblichen Lebens giebt, an die sie in der That nicht
aufs entfernteste gedacht haben. Indeſs mache ich mir
wenig Hoffnung, diese Herrn zu überzeugen. Die Meta-
physik ist so oft todt gesagt worden, daſs sich das Le-
ben längst ihrer Aufsicht entbunden glaubte, und um
desto williger, in der Theorie wenigstens, mit sich spie-
len lieſs. Nun ist zwar schon Mancher des Spiels müde
geworden; aber man findet in der Regel, daſs Diejeni-
gen, die sich einmal das Geständniſs ablegen muſsten,
in der Theorie geirrt zu haben, von diesem Zeitpuncte
an bloſs noch auf reine Erfahrung hören mögen; für jede
neue Theorie aber taub sind. Und dies ist einer von
den Gründen, weshalb ich den letzten Abschnitt dieses
Buchs nicht ausführlicher bearbeitet habe. Die Leser,
für welche ich schrieb, wissen ohne Zweifel, daſs man
den Geist nicht herleiten kann aus dem Leibe; und um
der Versuchung, in welche sie durch falsche Theorien
gerathen könnten, Widerstand zu leisten, dazu werden
sie am Ende dieses Buchs mehr Hülfe finden, als sie
brauchen. Eine philosophische Beleuchtung der Physio-
logie erfordert durchaus die genaueste metaphysische Aus-
einandersetzung der Lehre von der Materie und vom in-
telligibeln Raume; diese aber ist den psychologischen
Untersuchungen völlig fremdartig; und wer sie in einem
Anhange zu den letztern vollständig verlangt, der weiſs
nicht, was er fordert.


Anmerkung.


Die Anmaaſsung der Physiologie gegen die Psycho-
logie, als ob sie dieselbe ihren höchst schwankenden
Meinungen, die im besten Falle mit den offensten Be-
kenntnissen der Unwissenheit gerade in den wichtigsten
Puncten zu endigen pflegen, — unterordnen könnten:
ist heut zu Tage so allgemein, daſs man sie nicht etwa
bloſs bey den sogenannten Naturphilosophen, sondern
auch bey solchen Schriftstellern findet, welche sich durch
kritischen Geist und geordnete Schreibart eben so sehr
[54] als durch groſse Gelehrsamkeit und Erfahrung auszeich-
nen. Ihre Entschuldigung liegt freylich in der Schwäche
der Anthropologien, die sie vorfanden; allein ich kann
mich damit nicht begnügen; wer sich von jenen Anmaa-
ſsungen imponiren läſst, für den habe ich umsonst ge-
schrieben. Daher werde ich sogleich dieser Einleitung
ein paar Worte beyfügen, die wenigstens dazu dienen
können, mich mit jenen Herrn auseinanderzusetzen.


Herr Professor Rudolphi spricht in der Vorrede
zu seiner Physiologie folgendes merkwürdige Wort:
„Wenn alle Verfasser physiologischer Werke befragt
„werden sollten, welches darunter sie für das Erste hiel-
„ten, so kann Niemand etwas dagegen haben, wenn sie
„das ihrige nennen; allein, wenn man sie weiter fragt,
„welches sie für das zweyte halten, so bin ich überzeugt,
„daſs sie alle ohne Ausnahme Hallers Physiologie nen-
„nen werden. Was allen Verfassern aber das zweyte
[scheint], ist gewiſs das Erste.“


Demnach wird es ja wohl nicht unschicklich seyn,
wenn ich Hallers Phyſiologie in Beziehung auf das
Verhältniſs zwischen Seele und Leib hier anführe. In
den primis lineis phyſiol. Cap. VII., §. 556., sagt er
von der Fortpflanzung der Empfindung des Nerven in
die Seele: Nihil ultra ſcitur, niſi nasci in anima cogita-
tionem novam, quotiescunque mutatio, in quocunque ſen-
ſorio nata, ad primam eius nervi originem perfertur, qui
patitur
. Und im §. 569.: aliam naturam animae
eſſe a corpore
, infinita demonſtrant, maxime ideae,
et adfectiones animae, quibus nihil in ſenſu reſpondet.
Quis enim ſuperbiae color, aut quaenam magnitudo eſt
invidiae? curioſitatis? cuius nihil ſimile in animalibus eſt;
neque id bonum, quod concupit, gloria, novarum idearum
quaſi adquiſitio, ad aliquam corpoream [voluptatem] referri
poteſt. Poteſtne corpus ita duplices vires adi-
piſci, ut eius infinitae particulae in unam maſ-
ſam coalescant, quae non ſuas adfectiones ſo-
las conſervent, ſibique repraeſentent, ſed in
[55] unam, communem, totalem cogitationem conſen-
tiant, quae ab omnium attributis differat,
omnia tamen ea attributa recipiat, et comparet?
Eſtne aliquod exemplum corporis, quod absque
externa cauſa ex quiete in motum transeat, mo-
tus directionem absque occurrente alia cauſa
mutet, reflectat, ut in anima obſervatu facilli-
mum eſt
? — Et tamen haec anima, adeo diverſa a
corpore, arctiſſimis cum eo ipſo conditionibus religatur.

Und wie endet der groſse Mann sein Werk? Mortui
hominis cadaver putredini traditur. Ita adeps et aqua,
et gluten, reſoluta avolant; terra ſuis deſtituta vinculis
ſenſim dilabitur, et ad humum se admiscet: Anima eo
abit, quo Deus iuſſerit
, quam in morte non de-
ſtrui
vel ex frequente phaenomeno arguas: plurimi enim
mortales, quando nunc corporis vires diſſolutae dilabun-
tur, ſereniſſimae et vegetae, et laetae demum mentis
ſigna edunt
.


Mit dieser, nicht von mir aufgestellten, Auctorität
mögen nun ein paar entgegengesetzte Meinungen vergli-
chen werden; man sehe zu, welche von beyden ihr am
nächsten kommt!


Herr Prof. Rudolphi sagt in seiner Physiologie,


§. 3. folgendes. „Der Organismus ist nicht nur die
Quelle der körperlichen, sondern auch der geistigen
Thätigkeit. — Sollte jedoch die psychische Seite
des Lebens
hier eben so ausführlich behandelt werden,
wie die physische, so würde es die Gränzen einer —
Vorlesung überschreiten!“


§. 225. dagegen lautet: „Auſser der geistigen Kraft,
die ganz für sich steht, scheint es mir hinreichend,
von der allgemeinen Erregbarkeit die Spannkraft, Mus-
kelkraft, und Nervenkraft zu unterscheiden.“


§. 227. „Das Daseyn oder Hinzutreten eines
Geistes oder einer Seele zum Körper erklärt uns das
Leben nicht im Geringsten,“ (Sehr wahr! Die Seele
ist nicht zum Dienste der Physiologie vorhanden.)


[56]

Blicken wir nun in den zweyten Theil jenes Wer-
kes hinein: so sehen wir sogleich, daſs das Versprechen,
die geistige Kraft allein für sich hinzustellen, nicht ge-
halten worden, vielmehr dieselbe wirklich wie eine psy-
chische Seite des Lebens
(das heiſst, wie ein Stück-
chen Modephilosophie,) der Physiologie eingemengt ist.
Denn es wird dort der Plan der Untersuchung so ange-
legt, daſs die Lehre von dem Empfindungsleben
zerfällt in die vom Nervensystem, von der Empfindung,
von den äuſsern Sinnen, und — viertens! — von dem
Seelenleben
. Da ist denn wirklich in bunter Reihe,
untergeordnet dem Empfindungs-Leben, die Rede
von der Urtheilskraft so gut als von den Thierseelen,
und von dem Willen ebensowohl als vom Schlaf-
Wandeln!


So lange die Physiologie so aussieht, kann die Psy-
chologie mit ihr in keine Gemeinschaft treten.


Das Seelenleben ist — ein verführerisches Wort,
aber kein Begriff, der ein wissenschaftliches Gepräge hat.
Freylich beginnt hier der Sprachgebrauch die Verwirrung,
indem er den Ausdruck Leben für zwey ganz und gar —
nicht entgegengesetzte, — sondern disparate, keiner Ver-
gleichung fähige, Begriffe, zugleich anwendet. Alle phy-
siologischen Erscheinungen, sowohl jene, vermöge
deren die Nerven als Leiter der Sinnes-Affectionen und
der Willens-Regungen betrachtet werden, als die der
Irritabilität und der Ernährung, fallen in den Raum.
Aber alle Fragen, wie Materie, gleichviel ob todt oder
belebt, im Raume existiren und wirken könne, fallen in
die Metaphysik. Wenn dieses forum seine Schuldigkeit
nicht thut, so haben das die Physiologen nicht zu ver-
antworten; wollen sie aber über jene Fragen nicht bloſs
mitreden, sondern mit untersuchen, so müssen sie — das
ist unerlaſslich! — erst Metaphysiker werden. Alles, was
sie, ohne diese Bedingung zu erfüllen, darüber vorbrin-
gen, ist so beschaffen, daſs statt dessen nichts anderes
als ein ganz reines, unumwundenes Bekenntniſs der völ-
[57] ligen Unwissenheit am rechten Platze gewesen wäre.
Vollends aber die psychologischen Untersuchungen
mit den physiologischen vermengen, ist nicht bloſs ein
metaphysischer, sondern ein logischer Fehler. Die psy-
chologischen Erscheinungen fallen nicht in den Raum;
sondern der Raum selbst, mit allem, was in ihm wahrge-
nommen wird, ist ein psychologisches Phänomen; und
zwar eins der ersten und zugleich der schwersten für die
Psychologie, die sich in der Behandlung desselben sehr
ungeschickt benehmen würde, wenn sie dabey von der
Nervenkraft zu reden anfinge. Denn ihre Frage ist
nicht, woher die Empfindungen kommen? sondern, wie
die Empfindungen, wenn sie da sind, gleichviel woher?
ja sogar gleichviel was auch das Empfundene sey? —
als dann die räumliche Form annehmen mögen.


Nun aber behaupte ich weiter, daſs der Unterschied
zwischen todter und belebter Materie, das heiſst, zwischen
Physik und Physiologie, nicht eher begriffen werden
könne, als bis man den Geist durch Hülfe der Psycho-
logie kennt. Denn in jedem der unzählbaren (nicht un-
endlich-vielen) Elemente des organischen Leibes — so-
wohl in der Pflanze als im Thiere, — ist ein Analogon
der geistigen Ausbildung, welches man unmöglich auf
der Oberfläche der Erscheinungen finden kann. Ein
Fragment unserer eignen geistigen Bildung nehmen
wir innerlich wahr; dieses Fragment ergänzt die specula-
tive Psychologie, gestützt auf Metaphysik, zu einer wis-
senschaftlichen Einsicht; alsdann kommt ihr eine andre,
gleichfalls metaphysische Wissenschaft, die Naturphilo-
sophie, mit dem Begriffe der Materie entgegen; einer
solchen Materie nämlich, wie man sie durch Chemie und
Mechanik kennt; nun erst läſst sich weiter fragen, wie
wohl eine Materie beschaffen seyn würde, deren einzelne
Elemente nicht bloſs durch ihre ursprüngliche Qualität,
sondern auch durch eine, der geistigen analoge, Bildung,
bestimmt wären? Nun läſst sich einsehen, daſs eine so
geartete Materie im Raume durch Bewegungen erschei-
[58] nen müsse, die nicht bloſs nach mechanischen und che-
mischen Gesetzen geschehen können. Und dann endlich
tritt die Erfahrung hinzu mit ihrer Aussage, es gebe
wirklich solche Materie, an der die Erklärungen der Me-
chanik und Chemie nothwendig scheitern müssen; es gebe
aber sehr verschiedene Stufen, in welchen sich dieselbe
über die chemischen und mechanischen Gesetze erhebe;
diese Stufen seyen nicht bloſs an den Pflanzen und Thie-
ren überhaupt, sondern an den einzelnen Theilen und
Systemen derselben verschieden; auch steige in der so-
genannten Assimilation solche Materie, die als Nahrungs-
stoff aufgenommen worden, continuirlich höher in ihrer
Bildung; wie denn dieses Alles nach jenen, a priori ge-
fundenen, Gründen nicht anders zu erwarten war.


Aber der Sprachgebrauch benennt mit dem Worte
Leben — erstlich die innern Erscheinungen der gei-
stigen
Bildung, welche wir in uns wahrnehmen; zwey-
tens die räumlichen Erscheinungen, wodurch Pflanzen
und Thiere sich über Metalle und Steine, Luft und
Wasser erheben. Wenn nun diese räumlichen Erschei-
nungen (wie so eben gesagt) nichts anders sind als Re-
sultate der innern Bildung; die nicht erscheinen kann,
auſser in unserm Bewuſstseyn von dem, was in uns vor-
geht: so ist in dem Worte Leben die schlimmste Ver-
mengung, die nur irgend sich denken läſst. Nicht an-
ders, als ob Einer die Gedanken eines Individuums
verwechseln wollte, mit den Worten anderer Indivi-
duen; oder genauer, das Innere des Einen mit den äu-
ſsern Zeichen
vom Innern nicht bloſs Eines An-
dern,
sondern Vieler, ja unzählig vieler zusammen-
wirkender
Andern
. Diese Verwechselung ist um de-
sto ärger, je unvollkommner einerseits unser Wissen
von uns selbst, so wie die dunkele innere Wahrneh-
mung es darbietet; je mangelhafter andererseits unsre
Kenntniſs der physiologischen Thatsachen; je entfern-
ter
endlich die Analogie unseres Innern mit dem, was
in den einzelnen Elementen der Thiere und
[59] Pflanzen auf allen den unzähligen Bildungs-
stufen derselben
vorgeht. Ja! kennten wir dieses
letztere genau, dann erst würde die ungeheure Schwie-
rigkeit hervortreten, aus den innern Zuständen die
äuſsern, räumlichen Veränderungen zu erklä-
ren
. Und das gröſste Unglück ist, daſs unsre Physiker
von dieser Aufgabe nicht einmal den ersten Begriff ha-
ben. Sie wissen gar nicht, daſs Materie überhaupt,
gleichviel ob todte oder lebende, nichts anders ist als
das Resultat der innern Zustände, worein sich
die einfachen Elemente gegenseitig versetzen
.
Sie wissen es nicht, obgleich es ihnen schon Chemie
und Mineralogie so deutlich vor Augen legen, als die
Erfahrung dergleichen Dinge aussprechen kann. Ein
paar dürftige Hypothesen von Polaritäten, elektrischen
Kräften, — und das allmächtige Wort Leben, — diese
sollen alle jene ungeheuren Klüfte und Lücken unseres
Wissens bedecken; damit ja Niemand sich einfallen lasse,
zu Fleiſs und Genauigkeit im speculativen Denken auf-
zufordern! Aber ich lasse mich dadurch nicht abhalten.


Herr Professor Rudolphi wird mir nach diesen
Erklärungen verzeihen, wenn ich den Streit, den er in
seinem §. 324. mit mir angefangen hat, nicht fortsetze.
Es gereicht mir zur Ehre, daſs er auf mein Lehrbuch
der Psychologie einige Rücksicht hat nehmen wollen;
allein so sehr ich wünschte, mit einem so ausgezeichne-
ten Gelehrten in Untersuchung gemeinschaftlich eintreten
zu können, so müſsten doch die Anfangspuncte unserer
Discussion ganz anders gewählt werden, wenn einige
Hoffnung des Erfolgs vorhanden seyn sollte. Auf jeden
Fall aber ist gerade Herr Prof. Rudolphi derjenige un-
ter den Physiologen, (so weit ich sie kenne,) dem ich
noch am ersten mich nähern könnte; denn jene Puncte,
worin er von meiner Ansicht sich freylich weit entfernt,
charakterisiren, wie es mir scheint, nicht sowohl ihn, als
vielmehr die jetzige Lage der Wissenschaft, der jeder ein-
zelne Gelehrte natürlich mehr oder weniger nachgeben wird.


[60]

Diejenigen aber, welche dem Empirismus zugethan
sind, könnten, wenn sie wirklich für die Lehren der Er-
fahrung Empfänglichkeit besitzen, aus dem heutigen Zu-
stande der Physiologie lernen, wie viel, oder vielmehr
wie wenig, die bloſse Erfahrung leiste. Als empirische
Gelehrsamkeit steht die Physiologie auf einer Höhe, die
Niemand verachten wird, sie wandelt überdies im Lichte
der heutigen Physik; gleichwohl hat sie begierig, wie der
Schwamm das Wasser, jene Naturphilosophie in sich
gesogen, die eben deswegen nichts weiſs, weil sie damit
anfing, das Universum a priori zu construiren. Gegen
diesen Irrthum hat keine andre Wissenschaft sich so
schwach, so zu allem Widerstande unfähig gezeigt, als
eben die Physiologie. Das Gerede vom Leben ist das
todte Meer geworden, in welchem der philosophische
Untersuchungsgeist ertrunken liegt, so daſs er jetzt, wo-
fern überhaupt eine Art von Auferstehung für ihn zu hof-
fen ist, sich in ganz unbefangenen Köpfen von neuem
erzeugen muſs.


[[61]]

Zweyter,
analytischer Theil
.


[[62]][[63]]

Erster Abschnitt.
Vom geistigen Leben überhaupt.


Erstes Capitel.
Ueber die Verbindung der sogenannten drey
Hauptvermögen der Seele.


§. 103.

Vorstellen, Fühlen, und Begehren, sind bekanntlich
die drey obersten Klassenbegriffe, durch deren Zusam-
menfassung man das geistige Leben, ohne Rücksicht auf
den Unterschied zwischen dem Menschen und den Thie-
ren (welchen wir in diesem ersten Abschnitte noch bey
Seite setzen,) glaubt bezeichnen zu können. Allein, wie
man sie zusammenfassen müsse, um die Einheit des gei-
stigen Lebens richtig zu erkennen? Das ist die Frage,
welche man aus bloſser Erfahrung nicht beantworten
konnte; und woran wir nun zuerst uns wagen wollen, um
zu sehen, ob unsre synthetischen Untersuchungen etwas
Brauchbares zur Verzeichnung der äuſsersten Umrisse
der Psychologie geleistet haben? Denn hoffentlich wird
für jetzt noch Niemand verlangen, daſs wir den Faden
der Nachforschung über das Selbstbewuſstseyn, schon
hier wieder aufnehmen sollten; die auſserordentlich [gro-]
ſsen Schwierigkeiten dieses Gegenstandes, (den wir dem
folgenden Abschnitte vorbehalten,) werden in frischem
Andenken seyn; und es will sich noch nicht zeigen, daſs
[64] die Statik und Mechanik des Geistes dieselben erleich-
tert hätten.


Nothwendig aber müssen wir einen Augenblick bey
der Vorfrage verweilen: ob wohl Jemand jetzt noch ge-
neigt sey, die Seelenvermögen wieder herbeyzubringen,
und sie mit den zuvor nachgewiesenen Kraft-Aeuſserungen
der Vorstellungen selbst in Verbindung zu setzen. Die
Lehren vom Gedächtniſs und von der Einbildungskraft,
von der Sinnlichkeit und der Vernunft, werden ohne
Zweifel noch lange ihre Liebhaber behalten; allein hier
kommt es nur darauf an, ob wohl mit und neben den
Gesetzen der Mechanik von der unmittelbaren und der
mittelbaren Wiedererweckung der Vorstellungen, an eine
Wirksamkeit solcher besondern Vermögen, wie Gedächt-
niſs und Einbildungskraft, könne gedacht werden? Hier
möchte denn doch wohl Jedermann in Verlegenheit ge-
rathen, wenn er angeben sollte, wie die Seelenvermögen
eingreifen in die schon in vollem Gange begriffene Thä-
tigkeit der Vorstellungen selbst! Nach welchen Ge-
setzen
sollte es doch geschehen, daſs die, schon gesetz-
mäſsig wirkenden, Vorstellungen gestört würden von je-
nen, ihnen fremden, Gewalten? — Vermuthlich nach
gar keinen Gesetzen;
denn bekanntlich ist an genaue
Bestimmung der Bedingungen, wann, wie, und wie stark
sich irgend eins der Seelenvermögen rege oder nicht,
noch niemals in den Psychologien zu denken gewesen;
die Vermögen sind sammt und sonders lauter transscen-
dentale Freyheiten.


Wenn man nun fürs erste auch nur soviel einsieht,
daſs wenigstens einige Functionen des Gedächtnisses und
der Einbildungskraft ohne die dazu bestimmten Vermö-
gen von Statten gehn; — und daſs sich der hierüber
aufgestellten Theorie die genannten Vermögen nicht
schicklich mehr anfügen lassen: so wird man ein gerech-
tes Miſstrauen auch gegen die andern Seelenvermögen,
deren vermeinte Functionen noch nicht erklärt sind, zu
fassen nicht umhin können.


In
[65]

In der That aber sind wir schon um ein Beträchtli-
ches weiter vorgerückt. Denn wenn man die Statik und
Mechanik aufmerksam durchläuft: so findet man darin
nicht bloſs Spuren des sogenannten Erkenntniſsvermö-
gens, sondern auch Nachweisungen solcher Gemüths-
zustände, die zu den Gefühlen müssen gerechnet wer-
den. Hierüber sind nur noch einige Erläuterungen nö-
thig, welche der folgende §. enthalten soll.


Mit den Gefühlen hängen die Begierden sehr nahe
zusammen. Auch von diesen werden wir die einfache-
ren Regungen bald kennen lernen.


Demnach ist die Frage: ob die Vermögen des Vor-
stellens, Fühlens und Begehrens nur zufällig beysammen
seyen, oder ob sie wesentlich zusammengehören? schon
so gut als beantwortet; und es wird sehr bald einleuch-
ten, daſs man dieselben bis zu den niedrigsten Thieren
hinab stets verbunden zu finden erwarten müsse; wie die-
ses auch der Erfahrung entspricht.


Aber man findet auch durch das ganze Thierreich
die Wahrscheinlichkeit, daſs alle geistig lebende Wesen
etwas von den Vorstellungen des Räumlichen und Zeit-
lichen besitzen. Man findet bey höheren Thieren sogar
Spuren von allgemeinen Begriffen, wenigstens von Er-
wartung ähnlicher Fälle; desgleichen vom Verstehen der
Zeichen, die man ihnen giebt; wobey zu bemerken, daſs
nicht alle Sprache nothwendig Wortsprache seyn muſs;
und, was den innern Sinn anlangt, so hat man keinen
zureichenden Grund, ihnen diesen gänzlich abzusprechen.
Die natürliche Vermuthung, daſs zu der ursprünglichen
Verknüpfung des Vorstellens, Fühlens und Begehrens
auch die eben genannten Vorstellungsarten mit gehören,
wird im Folgenden bestätigt werden.


Hingegen die eigentlich sogenannten oberen Vermö-
gen, durch welche der Mensch sich über das Thier er-
hebt, werden wir zwar nicht als einen unabhängigen,
selbstständigen Zuwachs zum niederen Vermögen, jedoch
als eine weitere Entwickelung kennen lernen, die bey den
II. E
[66] Thieren nicht genug begünstigt, vielmehr so sehr er-
schwert ist, daſs sie nicht merklich werden kann.


Bey allen Aufschlüssen hierüber wird dies der wich-
tigste Umstand seyn, daſs wir uns der Frage nach dem
Causal-Verhältnisse der Seelenvermögen, nach ihrem
Einflusse auf einander, im Voraus überhoben finden; in-
dem jene, aus der innern Erfahrung bekannte, rasche
und beständige Abwechselung des Vorstellens, Fühlens,
Begehrens, mit allen dazu gehörigen Modificationen, wo-
bey keins dieser Drey die andern ganz verdrängt, viel-
mehr jedes fast immer zugleich auch die übrigen beyden
in sich schlieſst, so daſs eigentlich nur das Uebergewicht
unter ihnen wechselt, — sich uns von selbst als der ein-
zig natürliche und nothwendige Verlauf der geistigen Er-
eignisse wird zu erkennen geben.


In der That sind es nur Abstractionen, denen wir
uns hingeben, — es sind Benennungen a potiori, mit
denen wir uns behelfen, wenn wir sagen, ich fühle, oder
ein andermal, ich begehre, oder wiederum ein andermal,
ich denke. Denn jedesmal, indem wir fühlen, wird irgend
etwas, wenn auch ein noch so vielfältiges und verwirrtes
Mannigfaltiges, als ein Vorgestelltes im Bewuſstseyn vor-
handen seyn; so daſs dieses bestimmte Vorstellen in die-
sem bestimmten Fühlen eingeschlossen liegt. Und je-
desmal, indem wir begehren, fühlen wir zugleich die
Entbehrung, und haben auch dasjenige in Gedanken,
was wir begehren; so wie jedesmal, indem wir denken,
eine Thätigkeit wirksam ist, die, wenn sie aufgehalten
würde, wenn sie sich durch Hindernisse durchdrängen
müſste, alsbald sich als ein Begehren, den Gedanken
hervorzuhohlen, verrathen würde. Gedanken, kann man
sagen, sind die Begierden, die im Entstehen sogleich
erfüllt werden; Begierden hingegen sind aufgehaltene
Gedanken, die sich dennoch ins Bewuſstseyn drängen;
Gefühle endlich sind zusammengewachsene Begierden, die
einander entweder aufheben oder befriedigen. Doch in die-
sen Ausdrücken liegt keine wissenschaftliche Genauigkeit.


[67]

Bevor wir dies alles mit mehr Bestimmtheit erörtern,
soll hier noch eine allgemeine Erinnerung statt finden,
welche nicht vergessen werden darf, wenn man sich in
psychologischen Untersuchungen wissenschaftlich orientiren
will. Diese nämlich, daſs eine nicht geringe Vertraut-
heit mit den Ansichten des Idealismus nöthig ist, um
die psychologischen Probleme richtig aufzufassen.


Es giebt überhaupt keinen gründlichen Realismus,
als nur allein den, welcher aus der Widerlegung des
Idealismus hervorgeht. Wer unmittelbar auf das Zeug-
niſs der Sinne sich beruft, wenn von der Realität der
Auſsendinge die Rede ist, der ist unwissend in den er-
sten Elementen der Philosophie.


Die Welt, welche uns erscheint, ist unser Wahr-
genommenes; also in uns. Die reale Welt, aus welcher
wir die Erscheinung erklären, ist unser Gedachtes; also
in uns. Dem gemäſs sollten wir unser eignes Ich, Allem
zu Grunde legen. Aber hievon ist die Unmöglichkeit
und völlige Ungereimtheit, im Anfange des ersten Theils
dieses Buchs ausführlich nachgewiesen; und diese Unge-
reimtheit würde nur noch gröſser werden, wenn man
(nach Fichte) das reine Ich zugleich denken wollte als
ursprünglich setzend ein Nicht-Ich. Daraus entspringt
die Ueberzeugung, daſs wir, um uns selbst, sammt
unsern Vorstellungen von der Welt, denken zu
können; und um hiebey nicht in eine bodenlose Tiefe
des Unsinns zu gerathen, ein mannigfaltiges Reales in
allerley Verhältnissen und Lagen, voraussetzen müssen;
dessen Bestimmungen die allgemeine Metaphysik soweit
beschreibt, als sie zur Denkbarkeit der Erfahrung nö-
thig sind.


So gewiſs nun solchergestalt die wahre Philosophie
streng und vollkommen realistisch ist: so bleibt es den-
noch wahr, daſs alle Gegenstände des gemeinen und des
philosophischen Wissens lauter Vorstellungen sind; daſs
alles Anschauen und Denken, alle Entbehrung und Be-
friedigung der Begierden, alle Lust und Unlust, in die
E 2
[68] Eine groſse Klasse der psychologischen Ereignisse fällt,
und also auch einer psychologischen Erklärung bedarf.
Obschon die allgemeine Metaphysik lehrt, daſs man auch
die von uns unabhängige, reale Welt durch Begriffe des
Raums und der Zeit denken müsse, so darf man sich
doch nicht einbilden, daſs dieser Raum und diese
Zeit gleichsam von auſsen her in die Seele kämen, und
in die Wahrnehmungen der Sinne hinübergingen; son-
dern in dem ganz unreimlichen Vorstellen müs-
sen die räumlichen Bestimmungen des Vorgestellten
sich von vorn an erzeugen. Obschon zur Befriedigung
unserer Begierden wirkliche, reale Gegenstände nöthig
sind: so dringen doch diese Gegenstände nicht in die
Seele; was uns unmittelbar befriedigt, das ist eine
bloſse Vorstellung, in einem psychologisch zu bestim-
menden Verhältnisse zu andern, schon vorhandenen Vor-
stellungen. Obschon wirkliche Schwingungen von Kör-
pern auſser uns nöthig sind, damit wir harmonische Ver-
hältnisse von Tönen mit Lust vernehmen können: so ge-
schieht doch nicht das Mindeste, was mit diesen Schwin-
gungen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hätte, in
der Seele selbst; sondern etwas ganz Heterogenes (Ver-
schmelzungen vor der Hemmung) muſs in uns geschehn,
woraus diese, und auf ähnliche Weise auch andere Lust-
gefühle, sich rein psychologisch erklären lassen. Mit ei-
nem Worte, die Psychologie hat mit dem Idealismus
alle Fragen gemein; nur nicht die Antworten. Und die
Seele wohnt zwar in einem Leibe, auch giebt es corre-
spondirende Zustände des einen und der andern; aber
nichts leibliches geschieht in der Seele, nichts rein-gei-
stiges, das wir zu unserm Ich rechnen könnten, geschieht
im Leibe; die Affectionen des Leibes sind keine Vor-
stellungen des Ich, und unsre angenehmen und unange-
nehmen Gefühle liegen nicht unmittelbar in dem begün-
stigten und gehinderten organischen Leben *).


[69]
§. 104.

Wir gehn nunmehr an das Geschäfft, die Gefühle
und Begehrungen in dem Kreise des Bewuſstseyns auf-
zusuchen; das heiſst, in der Mitte desjenigen Vorstellens,
was in jedem Augenblicke von der schon geschehenen
Hemmung noch übrig ist. Eine negative Bestimmung
muſs vorausgehn, um die Gränzen abzustecken, inner-
halb welcher man die positiven zu suchen hat.


Die Zustände des Vorstellens, Begehrens und Füh-
lens, sind sämmtlich Zustände des Bewuſstseyns;
folglich kann ihre unmittelbare Erklärung nicht
liegen in demjenigen, was die Statik und Me-
chanik von Vorstellungen lehrt, sofern sie sich
nicht im Bewuſstseyn befinden
.


Dahin nun gehört zuvörderst alles dasjenige, was
wir oben ein Streben vorzustellen genannt haben.
Wenn demnach im gemeinen Leben, oder auch wohl in
philosophischen Untersuchungen, von Bestrebungen
gesprochen wird, deren man sich bewuſst sey, so
sind diese niemals geradezu selbst jenes Streben vorzu-
stellen, wenn sie schon darin ihre nächste Ursache fin-
den können. Das wirkliche Streben vorzustellen, ist, wie
wir längst wissen, nur in so fern vorhanden, als die
Vorstellungen nicht wirklich von Statten gehn, als ihr
Object verdunkelt ist, oder mit andern Worten, als sie
aus dem Bewuſstseyn verdrängt sind, und folglich nicht
mehr im Kreise der innern Wahrnehmung liegen. Hin-
gegen die Bestrebungen deren man sich bewuſst ist, kön-
nen überall nicht unmittelbar für wirkliche Bestrebungen
gelten; sie sind Phänomene, über deren Realität erst
ihre Erklärung den Ausspruch thun muſs.


Manche Philosophen stehn in dem Wahne, der ei-
gentlich reale Begriff der Kraft komme uns im Selbst-
*)
[70] gefühle, im Gefühle des eignen Strebens, Wollens, und
Handelns. Daraus entsteht eine heillose Pfuscherey in
der allgemeinen Metaphysik, die an Psychologie nur gar
nicht mehr erlaubt zu denken. Metaphysische Begriffe
können überall nicht durch Gefühle bestimmt werden; in
der Psychologie aber muſs man sich sehr hüten, die noch
ungeläuterten metaphysischen Begriffe, die wir aus dem
gemeinen Denken
auf uns selbst zu übertragen
pflegen, nicht in dieser rohen Gestalt für Offenbarungen
des Selbstbewuſstseyns zu halten; da sie nicht einmal zu
richtigen Ausdrücken der Phänomene taugen, welche sich
der innern Wahrnehmung darbieten. Wir können von
realen Kräften, Vermögen, Strebungen, gar Nichts un-
mittelbar in uns wahrnehmen; und alle Einbildungen der
Art, von der rohen Leibeskraft bis zur transscendentalen
Freyheit, sind nur Beweise, daſs es eben an der Wis-
senschaft fehle, die wir hier suchen.


Es folgt nun, zweytens, von selbst, daſs auch das
Sinken unserer Vorstellungen nicht unmittelbar dasje-
nige seyn kann, worin die Zustände des Vorstellens,
Wollens, und Fühlens bestehn. Denn die sinkenden
Vorstellungen verschwinden aus dem Bewuſstseyn gerade
in so fern und gerade um so viel, als sie sinken. —
Schon oben ist daran erinnert worden, daſs man sein
eignes Einschlafen nicht wahrnehmen kann; dasselbe gilt
von dem Einschlafen jeder einzelnen Vorstellung auch
während der Zeit, da der Mensch übrigens wacht. Ja
es gilt von jedem Grade der Verdunkelung einer noch
zum Theil wachenden Vorstellung. Und daher ist kein
Uebergang zu einem mehr gehemmten Zustande für sich
selbst fähig, eine Bestimmung dessen abzugeben, was in
uns geschieht, in so fern dieses genau das nämliche seyn
soll, was wir in uns wahrnehmen.


Es bleibt also zur nächsten Erklärung des Vorstel-
lens, Begehrens und Fühlens nichts anderes übrig, als
nur das Bestehen unserer Vorstellungen im Bewuſstseyn,
und das Emporsteigen derselben zu einem kläreren Be-
[71] wuſstseyn. Denn von den vier möglichen Bestimmungen
der Vorstellungen, daſs sie entweder im Bewuſstseyn ste-
hen, oder sich im gehemmten Zustande befinden, oder
daſs sie steigen, oder daſs sie sinken, — hievon sind
zwey abgewiesen; und wir müssen nun nachsehn, was
die übrigen beyden leisten können.


Daſs eine Vorstellung im Bewuſstseyn bestehe, heiſst
bekanntlich nichts anderes, als nur, daſs sie eben jetzt
ihr Object wirklich vorstellt. Besteht eine Vorstellung
des Blauen im Bewuſstseyn, so wird das Blaue nun
wirklich vorgestellt. Desgleichen, daſs eine Vorstellung
steige, heiſst nichts anderes, als, daſs sie ihr Vorgestell-
tes jetzo klärer, mit mehr Intension vorbilde, als unmit-
telbar zuvor, da sie noch in einem mehr gehemmten Zu-
stande war.


Offenbar bezieht sich dieses alles bloſs auf das soge-
nannte Vorstellungsvermögen; und es möchte bald schei-
nen, als müſsten wir doch am Ende noch auf ein eignes
Vermögen des Begehrens und Fühlens zurückkommen.
Doch die scheinbare Verlegenheit verschwindet durch
folgende Bemerkungen:


1) Wenn eine Vorstellung steht im Bewuſstseyn,
so ist ein Unterschied, ob sie selbst mit den hemmen-
den Kräften im Gleichgewichte ruht, oder aber ob sich
an ihr eine hemmende und eine emportreibende Kraft
das Gleichgewicht halten. Im ersten Falle befindet sie
sich in Hinsicht des vorhandenen Grades von wirklichem
Vorstellen, in einem unangefochtenen Zustande; denn
da sie im Gleichgewichte ruht, so muſs die Hemmungs-
summe gesunken, das heiſst, der Nöthigung zum Sinken
Genüge geleistet seyn. — Hingegen im zweyten Falle
ist der Nöthigung zum Sinken keinesweges Genüge ge-
schehn; die Vorstellung besteht vielmehr wider diese
Nöthigung, und trotz derselben, indem eine andre mit-
wirkende Kraft, z. B. eine Verschmelzungshülfe, oder
eine ganze Summe solcher Hülfen, ihr nicht erlaubt, dem
Drucke, von dem sie getroffen wird, nachzugeben. —
[72] Dieser Unterschied ist kein Unterschied für das Vorstel-
len; vielmehr das Vorgestellte hat im einen und im an-
dern Falle die gleiche Klarheit. Dennoch ist dieser Un-
terschied für das Bewuſstseyn vorhanden, denn er be-
trifft die Vorstellung gerade in wie fern sie wacht, und
nicht gehemmt ist. Mit welchem Namen sollen wir nun
die letztere Bestimmung des Bewuſstseyns, da ein Vor-
stellen zwischen entgegenwirkenden Kräften eingepreſst
schwebt, benennen, zum Unterschiede von jener ersten
Bestimmung, da dasselbe, nicht hellere und nicht dunk-
lere Vorstellen, vorhanden ist, ohne eine Gewalt zu er-
leiden? Wie anders werden wir den gepreſsten Zustand
bezeichnen, als durch den Namen eines mit der Vorstel-
lung verbundenen Gefühls?


2) Wenn eine Vorstellung steigt: so ist ein Unter-
schied, ob sie sich selbst überlassen steige, (etwa nach
dem Gesetze des §. 81.) oder ob ihr in diesem Steigen
ein Hinderniſs begegnet, das nur nicht völlig stark genug
ist, ihr das Steigen gänzlich zu verwehren; oder ob noch
antreibende, vielleicht auch nur begünstigende Kräfte
(nach §. 87.) mitwirken. Die nähern Modificationen hie-
von können sehr mannigfaltig seyn, wie schon die obi-
gen, zur Mechanik des Geistes gehörigen Untersuchun-
gen deutlich genug zeigen. Auch diese Unterschiede
können nicht unbewuſst bleiben, denn sie betreffen das
wirkliche Vorstellen. Aber sie sind nicht Gegenstände
des Vorstellens, sondern Arten und Weisen, wie das
Vorstellen sich ereignet; diese Bestimmungen des Be-
wuſstseyns, in so fern sie über das bloſse Vorstellen hin-
ausgehn, können nur Gefühle heiſsen. Dabey nun sind
sie die Begleiter aufstrebender, und eben deshalb
wirksamer Vorstellungen, es verbinden sich also mit
den schon erwähnten Bestimmungen des Bewuſstseyns
noch Wirkungen und Abänderungen theils in andern
Vorstellungen und Gefühlen, theils vielleicht in der
Wahrnehmung, wenn nämlich ein äuſseres Handeln,
also eine Thätigkeit des Organismus nach physiologi-
[73] schen Gründen hinzugekommen ist. — Mit welchem
Namen sollen wir nun die fortlaufenden Uebergänge aus
einer Gemüthslage in die andre bezeichnen, deren her-
vorstechendes Merkmal das Hervortreten einer Vorstel-
lung ist, die sich gegen Hindernisse aufarbeitet,
und dabey mehr und mehr alle andern Vorstellungen
nach sich bestimmt, indem sie die einen weckt, und die
andern zurücktreibt? Man wird keinen andern Namen
finden, als den des Begehrens. *) Denn dieses eben
unterscheidet sich von dem Gefühle, so wie vom Vor-
stellen, dadurch, daſs es nicht als ein Zustand, sondern
nur als eine Bewegung des Gemüths gedacht werden
kann; wie daraus klar ist, daſs es bey gegebener Gele-
genheit sogleich handelnd ausbricht, oder, wenn die Ge-
legenheit fehlt, wenigstens Pläne zum künftigen Handeln
hervorruft. Diese Pläne aber sind nichts anders als zu-
sammengetriebene Vorstellungen, welche wegen ihrer
Verschmelzungen und Complicationen mit jener aufstre-
benden, sich sämmtlich nach ihr richten, ja sich so zu-
sammenfügen müssen, daſs aus ihnen keine, oder doch
die geringste mögliche Hemmung, für jene vorherrschende,
entspringe. — Will man aber, um hiegegen Einwürfe
zu machen, den Versuch anstellen, sich eine unbewegte,
völlig vestgehaltene Begierde zu denken, so wird man
leicht bemerken, daſs hiebey Verwechselungen vorgehn.
Zwar giebt es allerdings Stillstände im Begehren, (so-
bald die hemmenden Kräfte Spannung genug erlangen,)
und nach denselben neue Ausbrüche, (durch neu gege-
bene oder erweckte Vorstellungen); aber die Stillstände
sind unbehagliche Gefühle, und die neuen Ausbrüche
sind neues Begehren. Jene sind Pausen im Begeh-
ren; und nur dann, wann sie von kurzer Dauer sind,
werden sie so wenig bemerkt, daſs man die Begierde als
fortdauernd ansieht.


[74]

3) Wenn eine Vorstellung sinkt: so ist ein Unter-
schied, ob sie ohne Weiteres den hemmenden Kräften
nachgiebt; oder ob sie, zwar sinkend, und vielleicht durch
immer zunehmende Hemmung fortgetrieben, doch durch
Verbindungen gehalten, oder durch neue Wahrnehmun-
gen verstärkt, noch zaudert, aus dem Bewuſstseyn vol-
lends zu entweichen. Auch dieser Unterschied muſs sich
im Gefühle verrathen; und überdies ist hieraus das Ver-
abscheuen
herzuleiten. Dieses ist eigentlich auch ein
Begehren; aber nicht ein Begehren, das in irgend einer
einzelnen, hervorragenden Vorstellung seinen Sitz hätte,
wie die Begierde im gewöhnlichen Sinne. Vielmehr liegt
es in dem ganzen Systeme zusammenwirkender Vorstel-
lungen; die sich wieder eine einzelne, sie alle drückende
Vorstellung, in Freyheit zu setzen streben, und die da-
mit aus irgend einem Grunde nicht sogleich zu Stande
kommen können. Begierde und Abscheu kommen darin
überein, daſs in beyden gewisse Vorstellungen gegen ein-
ander drängen. Aber sie unterscheiden sich durch das
Object, das in ihnen am lebhaftesten vorgestellt wird.
In der Begierde ist die Vorstellung des begehrten
Gegenstandes
zugleich die lebhafteste und die herr-
schende; im Abscheu ist die einzelne Vorstellung
des verabscheuten Gegenstandes klärer als jede einzelne
der gegenwirkenden Vorstellungen; aber alle gegen-
wirkenden zusammengenommen
ergeben ein herr-
schendes Totalgefühl, und bilden eine Gesammtkraft,
durch deren Thätigkeit die Gemüthslage auf ähnliche
Art in einen continuirlichen Uebergang versetzt wird, wie
beym Begehren.


Zu allem diesem kommt nun noch


4) die ganze Mannigfaltigkeit solcher Gemüthszu-
stände, welche aus der Verschmelzung vor der Hem-
mung, oder dem dahin zielenden Streben, entspringen
müssen. Man vergleiche hier die §§. 71. und 72. Man
gehe ferner zurück zu §. 61; 66; und besonders zum
§. 87. Allein um hierüber deutlicher zu sprechen, ist
[75] eine Analyse nöthig, die wir dem Folgenden vorbe-
halten.


Genug, wenn man jetzt einsieht, nicht bloſs daſs
die Zustände des Vorstellens, Begehrens und Fühlens
in der innigsten Verbindung stehn, und mit einander
zum geistigen Leben gehören: sondern auch, wie sie
verbunden sind, indem die Begierden und Gefühle nur
Arten und Weisen sind, wie unsre Vorstellungen sich
im Bewuſstseyn befinden.


Allein das Ungewohnte dieser Ansicht steht ihr im
Wege. Es wird nöthig seyn, zu dem Gewohnten zurück
zu gehn, und es mit dem so eben Vorgetragenen zu ver-
gleichen.


Machen wir zu einer solchen Vergleichung einen
kurzen Versuch, bloſs in einer kleinen Probe. Ich nehme
eins der neueren, mit Achtung aufgenommenen, psycho-
logischen Werke zur Hand; Maaſs von den Gefüh-
len
; nicht in der Absicht, gegen dieses Werk zu pole-
misiren, da man in hundert älteren und noch neueren
Schriften eben so groſse, und gröſsere, Fehler finden
würde; sondern damit der heutige Zustand der Wissen-
schaft zu Tage komme; und weil die Gefühle in einem,
ihnen insbesondere gewidmeten Werke doch am er-
sten erwarten können, mit Anfmerksamkeit behandelt zu
werden.


Gleich im Anfange des ersten Abschnitts, S. 14. u. s. w.
lese ich folgendes: „Die gröſste Stärke haben Gefühle,
„(so wie alle Empfindungen überhaupt,) unter übrigens
„gleichen Umständen, alsdann, wann sie uns noch neu
„und ungewohnt sind.“


Schon hier ist eine starke Verwechselung ganz hete-
rogener Dinge. Die Neuheit der Empfindungen,
wenn die Rede ist von Wahrnehmungen, begünstigt
darum ihre Stärke, weil die Empfänglichkeit (welches
Wort in dem obern genau bestimmten Sinne zu nehmen
ist,) dafür noch nicht erschöpft ist. (Vergleiche oben
§. 94., wo wir diesen Gegenstand der Rechnung unter-
[76] worfen haben.) Die Neuheit der Gefühle, nämlich von
Lust und Unlust, ist deshalb für ihre Stärke wichtig,
weil die Gemüthslage, die aus den wider einanderwirken-
den Vorstellungen entspringt, nicht haltbar ist, sondern
sich, eben durch die Thätigkeit dieser Vorstellungen
selbst, insbesondre durch das Sinken der Hemmungs-
summen, allmählig in einen ruhigern Zustand verlieren
muſs. Uebrigens kann Niemand behaupten, daſs die Ge-
fühle gerade im Augenblicke des Entstehens ihr Maxi-
mum hätten, wie dieses von der Stärke der augenblick-
lichen Wahrnehmung gilt, nach obigen Lehrsätzen.


Herr Professor Maaſs fährt fort:


„Denn 1) Je mehr ein Gefühl noch neu und unge-
„wohnt ist, desto weniger Fertigkeit hat das Gefühlver-
„mögen schon erlangt, dasselbe aufzufassen, und desto
„mehr muſs es sich also dabey anstrengen. Je mehr
„dies aber der Fall ist, desto mehr beschäfftigt uns das
„Gefühl, und desto stärker ist es also.“


Sollen wir dies wörtlich nehmen: so ist das Gefühl-
vermögen nicht etwan ein Vermögen, Gefühle zu er-
zeugen
, sondern irgend welche, vermuthlich schon vor-
handene, Gefühle aufzufassen. Wir wollen nicht fra-
gen, woher denn die aufzufassenden Gefühle kommen,
und wie sie in das Gefühlvermögen hineinkommen mögen.
Nur folgendes dringt sich auf: Eine Fertigkeit macht
ihren Besitzer geschickter zu seinem Geschäfft, und das
Werk dieser Fertigkeit wird durch sie selbst gröſser und
vollständiger. Hier aber lernen wir ein Vermögen (näm-
lich das Gefühlvermögen,) kennen, das seine Sachen um
so besser macht, je weniger Fertigkeit es hat; und des-
sen Product, (das Gefühl,) um so geringfügiger ausfällt,
je mehr die Fertigkeit zunimmt!


„2) Alles Neue spannt die Aufmerksamkeit an, und
„setzt die Kräfte in Bewegung. Denn es giebt, oder
„verspricht, (wenn auch oft nur dem Scheine nach), eine
„Erweiterung unserer Erkenntniſs und eine Vermehrung
[77] „von Gegenständen des Gefühls und des Begehrens.
„Alle Kräfte aber haben ein angebornes Bestreben, sich
„zu äuſsern, und regen sich, sobald sich nur Veranlas-
„sung darbietet. Daher muſs alles Neue, und folglich
„auch ein neues Gefühl, bloſs darum, weil es neu ist, die
„Aufmerksamkeit anspannen, und alle unsre Kräfte in
„Bewegung setzen.“


Wir lernen hier, daſs nicht bloſs die Seele ange-
borne Kräfte besitzt, sondern daſs den Kräften wiederum
Bestrebungen angeboren sind; daher vermuthlich aber-
mals den Bestrebungen gewisse fernere Bestimmungen wer-
den angeboren seyn. Es ist ein schlimmes Zeichen für eine
Kraft, wenn sie, statt ohne Weiteres zu thun, was ihres
Amts ist, erst noch ein Bestreben hat, und auf Veran-
lassungen wartet. Solche wartende Kräfte sind gar nicht,
was ihr Name verheiſst; sie sind misgeborne Kinder ei-
ner falschen Physik oder Metaphysik; dergleichen frey-
lich in der Bücherwelt genug herumlaufen. Das Schei-
dewasser im Glase wartet nicht, daſs ein Metall sich
darbiete, um aufgelöset zu werden; sondern der Physiker
ists, welcher die wartende Kraft in das Scheidewasser
hineindichtet; die wahre Metaphysik aber könnte ihn ei-
nes Bessern belehren.


Warum denn mögen die neuen Gefühle stärker seyn,
die älteren schwächer? Verliert sich etwa das angeborne
Bestreben mit der Zeit? Gesetzt, der Magnet habe ein
angebornes Verlangen nach Eisen: so wird dies Verlan-
gen gewiſs stärker, je länger man ihm sein Eisen läſst;
denn bekanntlich trägt er je länger desto mehr! Warum
ist es anders mit dem Streben des Gefühlvermögens,
Gefühle aufzufassen? — Man sieht, der zweyte Grund
ist = o; daher bleibt es bey dem ersten; die Fertigkeit
zu Fühlen wird gröſser, darum werden die Gefühle —
schwächer!


Weiterhin kommt bey Herrn Maaſs noch die Be-
merkung vor, das Gefühlvermögen halte die zu starken
[78] Gefühle nicht lange aus, weil jede endliche Kraft, je
stärker sie angespannt wird, um so eher wieder nachlas-
sen und erschöpft werden muſs.


Wäre es mir um eine Instanz zu thun: so würde
ich verschweigen, daſs meine Metaphysik alle räumlichen,
anziehenden und abstoſsenden Kräfte verwirft; und als-
dann fragen, ob denn die anziehende Kraft der Sonne
gegen die Erde, oder die anziehende Kraft des Sauer-
stoffs gegen den Wasserstoff, etwan unendliche Kräfte,
und darum ausgenommen sind von der Regel, daſs an-
gespannte Kräfte nachlassen müssen? Jetzt aber will ich
lieber fragen, was für ein Begriff hinter dem Worte
Anspannung verborgen sey, — welches bekanntlich
zunächst nur auf die Körperwelt, auf vergröſserte räum-
liche Ausdehnung paſst; und dessen Anwendung auf das
Gefühlvermögen zwar vortrefflich ist im rhetorischen Ge-
brauche, aber sehr mislich an den Orten, wo es der
empirischen Psychologie nach ihrer Laune beliebt, nun
einmal nicht bloſs empirisch seyn, sondern auch etwas
erklären zu wollen. Ich selbst habe mich oben des
Ausdrucks Spannung auch für geistige Kräfte bedient;
aber diesen Ausdruck schon im §. 42. genau erklärt,
woraus unter andern hervorgeht, daſs die Spannung der
Vorstellungen ihre Kraft im geringsten nicht vermindert,
erschöpft, oder abnutzt, sondern stets auf gleiche Weise
die Bedingung ihrer Wirksamkeit ausmacht. Und so
gebührt sichs für Alles, was mit Recht den Namen der
Kraft trägt.


§. 105.

Wir können nunmehr die Analyse der Gefühle un-
ternehmen, so weit sie für diesen Abschnitt gehört. Da-
bey muſs aber vorausgesetzt werden, daſs der Leser sich
in die Beobachtung seiner selbst versenke; das Fühlen
ist seine eigne Sache; und nur zur Reflexion darüber,
zur Sonderung des sehr verwickelten Mannigfaltigen, wel-
ches er finden wird, kann die Theorie ihn leiten.


Man erinnere sich zuerst der Bemerkung, welche
[79] schon in der Einleitung, den vorläufigen Analysen des
Verstandes und der Vernunft voranging; daſs man nicht
anfangen muſs bey dem Ersten und Frühesten, welches
in unserer Kindheit entstand, als wir noch nichts in uns
beobachten konnten; sondern bey dem Neuesten, eben
jetzt im Werden Begriffenen, welches eben darum, weil
es gegenwärtig geschieht, sich auch gegenwärtig beobach-
ten läſst. Dies muſs erst gleichsam oben abgehoben
werden, ehe man das tiefer Liegende, gleichsam Ver-
schüttete, heraus hohlen kann, welches man verunstalten
würde, wenn man es voreilig ergreifen wollte.


A.Nun findet sich jeder Mensch an irgend
einem Platze in der Gesellschaft
. Er gehört ent-
weder zu den Dienenden, oder zu den gemeinen Freyen,
oder zu den Angesehenen, oder er steht an der Spitze;
(man vergleiche die Sätze über die Statik des Staats in
der Einleitung;) welche Bestimmungen mancher Modifi-
cationen fähig sind, die Jeder für sich selbst aufsuchen
kann. Hievon hängt der äuſsere Umriſs seines Gefühls-
zustandes ab. Er ist nämlich bis auf einen gewissen
Grad eingetaucht in die allgemeine gesellschaftliche Hem-
mung. Gewisse Hoffnungen sind ihm abgeschnitten, und
Aussichten versperrt; hiedurch ist die Möglichkeit solcher
Gefühle, wie sie aus den ganz gehemmten, demnach für
ihn so gut als nicht vorhandenen Vorstellungen, hätten
entstehen können, aufgehoben. Der ganz Arme kennt
nicht die Gefühle des Reichen als solchen; er ist frey
von den Sorgen der Güterverwaltung; der Unwissende
weiſs nichts vom literarischen Ehrgeize; dem Bauern
kann nicht die Empfindlichkeit des Angesehenen für die
Kränkungen der Ehre beywohnen. Es giebt zwar Ein-
zelne, die sich in höhere Stände hinein phantasiren;
allein die groſsen Dichter wären nicht so auſserordent-
lich selten, wie sie wirklich sind, wenn jenes Phanta-
siren, welches die gesellschaftliche Hemmung abzuwer-
fen scheint, in den wirklichen Zustand, in die wah-
ren Gefühle der Höheren einzudringen fähig wäre,
[80] ohne sich den mannigfaltigsten Täuschungen zu unter-
werfen.


Was die Hemmung übrig läſst, das bestimmt eben
sowohl das Feld der Gefühle, als den Horizont der Vor-
stellungen.


Jeder fühlt sich mit der ihm noch übrigen Regsam-
keit seiner Vorstellungen irgendwo, in bestimmten Punc-
ten, geklemmt von der Gesellschaft. Man erinnere sich
an das Stehen und Steigen der Vorstellungen wider eine
Hemmung; wovon im vorigen §. die Rede war.


Man begreift nun sogleich, daſs diese groſse Klasse
von Gefühlen in verschiedene Arten zerfällt, je nachdem
das Streben, was gegen die Gränze drängt, an sich be-
schaffen ist. Anders fühlt sich der moralische Mensch
gedrückt von der Last des Bösen in der Welt; anders
der wagende Kaufmann von denen, die neben ihm spe-
culiren; anders der Gelehrte und Denker in der Mitte
entgegenstehender Theorien; anders der Feldherr, wel-
cher zwischen Sieg und Niederlage schwebt. Aber ge-
nau besehen, ist das Gefühl, geklemmt zu seyn, in allen
solchen Fällen von einerley Art; und die Verschieden-
heit liegt nicht in diesem Gefühle selbst, sondern in der
Beymischung irgend eines andern Gefühls, was
in der Vorstellungsmasse, die gegen die Hem-
mung drängt, schon an sich enthalten ist
. So
liegt ein eigenthümliches Gefühl in dem sittlichen Ge-
dankenkreise des Menschen, welches das nämliche bleibt,
auch wenn die Gesellschaft der Guten und Bösen ganz
weggenommen wird, ein anderes Gefühl in dem Suchen
und Erlangen oder Verlieren des Reichthums, welches
von der Reibung wider Andre, die eben dahin streben,
nicht abhängt, eben so hat die wissenschaftliche Evidenz,
und der Besitz der Kenntnisse, eigne, starke Gefühle,
die (glücklicherweise!) von dem Getöse des literarischen
Markts zwar für Augenblicke unterbrochen werden, aber
in sich unverändert bleiben; und selbst der Feldherr, ob-
gleich dessen Spannung ganz vom Kriege abzuhängen
scheint,
[81] scheint, wird doch noch ein Gefühl der Zuneigung für
den vaterländischen Boden, oder eine Abneigung gegen
den fremden, in sich haben können, welches in das Ge-
fühl der Krieg-Führung sich zwar einmischt, so lange
der Krieg dauert, aber früher entstand und später nach-
bleibt. — Die Unterscheidung, welche wir hier gemacht
haben, bietet uns eine sehr wichtige Analogie dar für
das Folgende.


B.Den äuſsern Hemmungen in der Gesell-
schaft ähnlich sind die inneren zwischen den
verschiedenen Vorstellungsmassen
. Hier gehe
man zurück zu der, in der Einleitung gegebenen, vor-
läufigen Analyse der Vernunft. Man vergegenwärtige
sich den Zustand der Ueberlegung. Es sey z. B. ein
ungerechter Angriff abzuwehren. Soll es mit Worten,
soll es mit Gewalt geschehen? Was ist zu hoffen von
der Gewalt? Wird sie nicht die Kräfte des Gegners
noch mehr concentriren und spannen? Was ist zu er-
langen durch Worte? Läſst sich der Gegner versöhnen?
Kann man sogar den Feind umschaffen in den Freund?
Könnte man ihn vielleicht bloſs durch Satyre demüthi-
gen? Könnte man ihn durch Groſsmuth beschämen?
Oder ist es rathsamer, ihn zu beschäfftigen, ihm ander-
wärts zu thun zu geben, seine Hülfsmittel zu theilen, ihn
in neue Feindschaften zu verwickeln, ihm Freundschaft
zu heucheln, und alsdann mit Arglist und Trug ihn im
Netze zu fangen? — Aber hier erhebt sich das mora-
lische Urtheil; und in die Ueberlegung mischt sich der
Schreck! Konnte ein so schändlicher Gedanke in mir
aufsteigen? Bin ich ein Neuling, ein Schwächling im
Dienste der Tugend, so sehr, daſs die ersten Grund-
sätze des ehrlichen Mannes in mir wanken? Welche
Abwesenheit des Geistes? Wohin könnte sie führen!
Zurück zu andern Gedanken, andern Mitteln, Auswegen,
Plänen! Sie müssen sicher, kräftig, aber tadelfrey, schick-
lich, würdig seyn, und vor allen Dingen den Streit nicht
noch mehr aufregen, sondern ihn möglichst besänftigen. —
II. F
[82] Nachdem nun solche Mittel und Maaſsregeln gefunden
sind, welche allen Rücksichten Genüge leisten, endigt
die Ueberlegung in ein Gefühl der innern Harmonie,
und der Entschluſs stellt sich vest; auch beginnt nun
von neuem das gewohnte Handeln in den Kreisen des
täglichen Lebens, welches, so lange die Ueberlegung
dauerte, war gehemmt worden; nicht ohne ein Gefühl
eines Druckes wie von auſsen her; indem die täglichen,
gewöhnlichen Geschäffte gleichsam ungeduldig wurden,
und nicht länger warten wollten.


Diese unvollkommne Skizze hat längst von den Dich-
tern ihre mannigfaltige Ausmalung erhalten. Aber hier
kommt es nicht an auf den Schmuck, sondern auf Un-
terscheidung der verschiedenen, zusammenstoſsenden Ge-
dankenzüge; deren jeder, in gewissem Grade, den an-
dern widerstrebt; und zwar so, daſs jeder von den an-
dern eine gewisse neue Aufregung und Lenkung annimmt;
nur allein das moralische Urtheil ausgenommen, welches,
so fern es wacht, unbiegsam vest steht; dagegen aber
Gefahr läuft, mit Glimpf oder Gewalt — durch Sophi-
sterey oder durch die Begierde, ja oftmals und ganz be-
sonders, durch die groſse Geläufigkeit des weltklugen
Handelns, niedergedrückt zu werden. Daſs der letztere
Fall wiederum zwiefach ist, indem das moralische Urtheil
entweder betäubt, oder verachtet wird (der Unterschied
der Schwäche und des Bösen,) gehört nicht hieher.


Ueberhaupt ist die Gegenwart des moralischen Ur-
theils für unsre jetzige Untersuchung nichts Wesentli-
ches, sie dient hier bloſs als ein bekanntes und vorzüg-
lich passendes Beyspiel für den Stoſs, den eine Vor-
stellungsreihe von der andern erleidet
, und für
das Gefühl, welches daraus entsteht. Vergleicht
man aber diesen Stoſs mit jener gesellschaftlichen Hem-
mung, von welcher vorhin die Rede war: so wird auf-
fallen, daſs jetzt beyde wider einander wirkende Kräfte
in Einem und demselben Bewuſstseyn vorhanden sind;
während dort die Gesellschaft von auſsen her wirkte und
[83] klemmte. Welche von zweyen zusammenstoſsenden Vor-
stellungsreihen wollen wir nun vergleichen mit der äu-
ſsern
hemmenden Kraft; und welche andre mit dem
Gegenstreben, worin, nach dem Obigen, das Gefühl
der Klemmung
enthalten war? Offenbar können wir
sie beyde mit dem letzteren vergleichen. Also entsteht
auch hier das nämliche Gefühl der Klemmung, aber nicht
einmal, sondern zweymal. Und nun muſs noch be-
dacht werden, daſs jede der geklemmten Vorstellungsrei-
hen, gerade so wie oben, ihr eigenthümliches Ge-
fühl in sich selbst enthalten kann. Also haben wir ein
vierfaches Gefühl, wenn zwey Vorstellungsreihen zu-
sammenstoſsen, und ein schnell wechselndes, wenn, wie
in der vorhin kurz bezeichneten Ueberlegung, ihrer viele
schnell nach einander hervordringen.


In jenem Beyspiele war nun noch etwas mehr ent-
halten, nämlich nach der Klemmung während der Ueber-
legung noch die Harmonie, worin sie sich auflöset.
Darauf werden wir später zurückkommen.


C. Das Gegenstück zu der zwiefachen Klemmung,
sowohl in der Gesellschaft, als in unserm eignen Innern,
ist das Lebensgefühl, welches uns immer, wenn gleich
oft bis zum unmerklichen geschwächt, begleitet. Ich rede
hier nicht von dem organischen Gemeingefühl der Phy-
siologen. Was den beschäfftigten und gesunden Mann
nur selten so stark anwandelt, daſs es sich über der
Schwelle des Bewuſstseyns halten könnte, während es
freylich den Hypochondristen (und vielleicht nicht viel
minder den sanguinischen Lüstling) unaufhörlich necken
mag. Der Anfangspunct meiner Untersuchung liegt im
Gebiete der Psychologie, und zwar im Capitel von der
unmittelbaren Reproduction; (§. 81—85;) und auch die
mittelbare Wieder-Erweckung hängt damit zusammen.
Was wir geistiges Leben nennen, das ist ohne Zwei-
fel jenes fast continuirliche Hervorquellen neuer Gedan-
ken, die freylich auch der lebhafteste Kopf nicht aus
sich selbst allein schöpft, die er aber doch veranlaſst,
F 2
[84] indem er die Anreizung dazu, die man Unterhaltung
und Beschäfftigung nennt, in der Auſsenwelt aufsucht.


Auf den ersten Blick möchte man glauben, dieses
Hervorsteigen der Vorstellungen, die nach aufgehobener
Hemmung sich in Freyheit setzen, und mit ihren Ver-
schmelzungshülfen auch andre emporheben, — werde un-
mittelbar gefühlt. Allein das Gegentheil ist im vorigen §.
gezeigt. Aufhören der Hemmung ist Aufhören der Ver-
dunkelung, also Vermehrung des wirklichen Vorstellens,
aber schlechthin nichts weiter. Um jenes Lebensgefühl
zu begreifen, wollen wir ein ähnliches Verfahren anwen-
den, wie zuvor; nämlich zuerst ein äuſseres Verhält-
niſs in Betracht ziehn, um alsdann das innere analoge,
leichter zu verstehen.


a) Wenn Jemand im äuſsern Handeln (dessen
Möglichkeit wir hier nicht zu erklären haben) seine Ge-
danken realisirt, und ihm nun diejenigen Anschauungen
zu Theil werden, die jenen Gedanken entsprechen: so
verliert er darum nicht die Erinnerung an den frühern
Zustand der Dinge. Vielmehr, die ganze Umgebung,
und von den Merkmalen des behandelten Ge-
genstandes alle diejenigen, die unverändert ge-
blieben sind, reproduciren ihm denselben Zu-
stand seiner Vorstellungen, welcher zuvor,
durch die frühere Lage der jetzt abgeänderten
Dinge, war gebildet worden
. Die Folge ist, daſs
auch der Zustand des Begehrens, dessen Ausdruck die
Handlung war, zurückgerufen wird. Dieses Begehren
nun, so vielfältig und mannigfach wie es in den sämmt-
lichen frühern, jetzt reproducirten Zuständen war, löset
sich auf in die Anschauung des Vollbrachten, oder glück-
lich Gewonnenen; und die Befriedigung, welche in dem
Uebergange dieser Auflösung gefühlt wird, ist desto stär-
ker, je weiter der Mensch zurückschaut zu einem länger
vergangenen Zeitpuncte; je mehrere Bestrebungen, die
seitdem sich realisirt haben, er zusammenfaſst. — Um
dies richtig zu verstehn, muſs man in den vorigen §. zu-
[85] rückblicken, und das unter 1) und 2) dort Gesagte hier
anwenden. Es kommt nämlich darauf an, daſs wir uns
das Streben der Vorstellungen, welches zuerst gerade
als derjenige Zustand derselben bezeichnet wurde, da sie
aus dem Bewuſstseyn verdrängt sind, jetzt in das
Bewuſstseyn herein
versetzt denken. Sonst könnte
es nicht ein Gefühl ergeben, welches ohne Zweifel im
Bewuſstseyn ist. Nun wissen wir längst, daſs die For-
derung sehr leicht, sehr stark, und sehr mannigfaltig
kann erfüllt werden, wenn eine Vorstellung mit Vielen
andern verbunden ist; weil alsdann der Druck, den
sie leidet, sich jenen Verbundenen mittheilt, von welchen
gleichsam getragen, sie unter dem Drucke besteht*).
So gewiſs dieses Bestehen eine Bestimmung der Art und
Weise abgiebt, wie die Vorstellung im Bewuſstseyn
ist: eben so gewiſs macht auch die Erlösung aus dem
nämlichen Drucke
eine Bestimmung der Art und
Weise aus, wie die Vorstellung im Bewuſstseyn ist. In
dieser Erlösung liegt die Befriedigung des Begehrens.
So oft, und so vielfach man sich in die frühere Lage
des Begehrens zurückversetzt, eben so oft erneuert sich
die Befriedigung. Und eben dies thut der Mensch un-
aufhörlich, weil ihm immer eine kürzere oder längere
Strecke seines frühern Lebens vorschwebt; wäre es auch
nur, daſs er einen Brief schriebe, dessen schon hinge-
schriebene Worte ihm beym Ueberblick über das nächst-
vorhergehende stets alle Momente des Begehrens, ver-
möge dessen er schrieb, gegenwärtig erhalten. — Daher
fühlt sich der Mensch in jedem Augenblicke seines Da-
seyns als vorwärts oder rückwärts gehend; mit bestimm-
ter Geschwindigkeit, und folglich auch mit entsprechen-
der Intensität des frohen oder beklommenen Lebensge-
fühls. Hiezu jedoch giebt nun auch das Folgende einen
höchst wichtigen Beytrag.


[86]

b) Wir versetzen jetzo wiederum das äuſsere Ver-
hältniſs ins Innere. Wir wissen schon, daſs es im In-
nern verschiedene Vorstellungsmassen giebt, und Jeder
kann sich dies durch Beobachtung seiner selbst leicht
näher bestimmen. Wer im Begriff ist, irgend eine gei-
stige Arbeit (etwa des Rechnens, oder des Denkens,
oder des Dichtens,) zu unternehmen: der wartet nun auf
die Gedanken, welche ihm kommen werden. Er hat sich
im Allgemeinen durch den Zweckbegriff von seiner Arbeit
bestimmt, zu welcher Klasse die Gedanken gehören sol-
len; er weiſs im Allgemeinen, wie und wozu er sie ge-
brauchen will. Dieses Wissen ist eine Vorstel-
lungsmasse für sich allein
. Nun kommen die Ge-
danken, oder sie bleiben aus. Das Kommen an sich, so
fern es lediglich nach den Reproductionsgesetzen geschieht,
ohne nähere Bestimmung, wird eben so wenig gefühlt,
als das Ausbleiben. Aber aus den gesammelten und ge-
fügten Gedanken entsteht allmählig ein Ganzes, welches
den Umriſs ausfüllt, den der Zweckbegriff bestimmte.
Dies geschieht mit bestimmten Graden von Geschwindig-
keit und Genauigkeit. Dadurch befriedigt sich das Be-
gehren, was im Zweckbegriffe lag. Der Mensch fühlt,
daſs er in seinem Innern weiter kommt. Er wird es desto
mehr fühlen, je weiter er zurück schaut, je mehr er sich
in den Zustand seines frühern Wartens auf sich, seiner
Ansprüche an sich, zurückversetzt. Ja er trägt oft ge-
nug ein solches Begehren, und solche Ansprüche, in
späterer Zeit auf eine frühere hinüber, als ob er sie da-
mals schon gemacht hätte, und sie nunmehr erfüllt
fände. — Im Zusammenwirken mit Andern, und schon
im Gespräch, wodurch auch eine Art von gemeinschaft-
lichem Werke entsteht, geht Alles schneller und leich-
ter; das gesellige Lebensgefühl hat daher weit mehr In-
tensität als das des Einzelnen, allein das Phänomen ist
mehr zusammengesetzt.


D. Sowohl für jene, unter A und B erwähnten
Gefühle der Klemmung, als für diese, unter C bezeich-
[87] neten, des Fortkommens, müssen nun die nähern Be-
stimmungen dadurch aufgesucht werden, daſs man die
eigenthümlichen Gefühle unterscheidet, welche schon,
unabhängig vom Zusammenstoſs oder von der Förderung,
in den Partial-Vorstellungen liegen, aus denen
die Massen und Reihen bestehn. Auf das Verdienst,
dieselben vollständig aufzuzählen, mache ich nicht An-
spruch; allein es ist offenbar, daſs dahin diejenigen Ge-
fühle gehören, welche man Lust und Unlust, Ange-
nehmes
und Unangenehmes, und ästhetische Ge-
fühle
nennt. Was ich darüber im Allgemeinen sagen
kann, besteht in Folgendem:


1) Jede Vorstellungsreihe, welche nach den im
§. 100. angegebenen Gesetzen sich zu evolviren im Be-
griff ist, wird in der Regel unter den mannigfaltigen,
gleichzeitig gegenwärtigen Vorstellungen und Zuständen
irgend etwas antreffen, wodurch ihre Bewegung, wenn
nicht ganz gehindert, so doch mehr oder weniger er-
schwert wird. Trifft es sich nun, daſs zugleich auch eine
andre Reihe sich entwickelt, welche wider das nämliche
Hinderniſs wirkt, so begünstigen sich beyde Reihen ge-
genseitig
durch Besiegung dieses Hindernisses. Sie
sind nämlich beyde in so fern als Begierden zu be-
trachten, wiefern sie sich gegen das Hinderniſs hervorar-
beiten; und beyde Begierden werden hier eine durch die
andre befriedigt, in so weit sie einander zu Hülfe
kommen.


2) So oft ein paar Vorstellungen durch den Lauf
der übrigen dergestalt zusammengeführt werden, daſs sie
in ihrem Begegnen sogleich verschmelzen: so entsteht
aus ihnen eine neue Gesammtkraft, wodurch das statische
Gesetz, von welchem ihr Bestehen unter den Hindernis-
sen abhängt, zu ihrem Vortheile verändert wird. So-
gleich gewinnt also das Ablaufen der mit ihnen verbun-
denen Reihen eine neue Energie; und die, nach dem
eben zuvor Gesagten, darin liegende Begierde, erhält
eine Befriedigung. Dies erkennt man ohne Mühe in
[88] dem erhöhten Lebensgefühl, welches mit jedem neu ge-
bildeten Syllogismus, ja mit jeder neuen Combination
jeder neu gewonnenen Ansicht verbunden ist.


3) Es scheinen nun zuvörderst alle Gefühle der Lu-
stigkeit und Munterkeit zu dem ersten, und theilweise
auch zu dem zweyten der beyden hier angegebenen Fälle
zu gehören, denn eine oft schnelle, manchmal auch lang-
samere, stets aber aus mehrern, correspondirenden
Vorstellungsreihen zusammengesetzte Bewegung und
neue Aufregung des Geistes ist leicht darin zu spüren.
Diese Gefühle sind es, welche ich, sammt ihrem Gegen-
theile, ganz eigentlich durch die Worte Lust und Un-
lust
, dem Sprachgebrauche gemäſs glaube bezeichnen zu
müssen. Weiter unten mehr davon!


4) Es giebt eine Menge von Gegenständen, de-
ren eigenthümliche Beschaffenheit es mit sich bringt, ja
von denen ein Theil sogar künstlich darauf eingerichtet
ist, daſs ein auffassender Geist, ein Zuschauer, wenn er
sich ihnen hingiebt, und nicht schon von entgegenwir-
kenden Gedanken angefüllt ist, in mehrere Vorstellungs-
reihen eingeführt werden muſs, deren correspondirendes,
sich gegen Hindernisse gemeinsam aufarbeitendes Ablau-
fen, die zuvor beschriebene gegenseitige Befriedigung mit
sich bringt. Es giebt ferner Beschäfftigungen, die
darauf eingerichtet sind, daſs sie mancherley, zum Theil
dem Zufall überlassene, Combinationen von ähnlicher
Wirkung, wie jene Gegenstände, hervorbringen können.
Solche Beschäfftigungen, in so weit sie auſserdem kei-
nen Zweck haben, nennt man Spiele; jene Gegenstände
aber, in so fern sie von der Wirkung, auf die sie be-
rechnet sind oder scheinen, ein Prädicat erhalten, gehö-
ren zu der Klasse der ästhetischen Gegenstände;
und ihre Aehnlichkeit mit dem Spiele ist durch die Sprache
längst anerkannt, denn man redet vom Spiele eines
Künstlers
, vom Schauspiele, u. d. gl.


5) Damit ist aber nicht gesagt, daſs Alles Aesthe-
tische nur Spiel sey
, wie Manche sich einzubilden
[89] scheinen. Das Wort Spiel drückt nur die Abwesenheit
des ernsten, vestgestellten, nothwendigen Zwecks aus.
Aber die ästhetische Natur, selbst des Spiels, liegt nicht
in dieser Negation, sondern sie ist rein positiv, und be-
steht eben so gut mit dem tiefsten, strengsten, heiligsten
Ernste, als mit derjenigen Entfernung von Sorgen, wor-
auf der Künstler bey seinem Zuhörer rechnet. Diese
Beseitigung der Angelegenheiten und Pflichten des täg-
lichen Lebens dient nur, um Platz zu gewinnen für den
neuen Ernst, den die, keinesweges immer scherzende
und schmeichelnde, Kunst, an die Stelle setzen will.
Alle Künste weihen sich der Religion; und wenn sie nun
in ihrer Zusammenwirkung den Menschen wirklich über
das Irdische emporgetragen haben, wollen wir dann sa-
gen, sie haben gespielt?


6) Im §. 71. und 72. war die Rede von der Ver-
schmelzung vor der Hemmung
. Es wurde gezeigt,
daſs dieselbe von einer ganz eigenthümlichen Art des
Strebens der Vorstellungen abhänge, wobey ihre Stärke
ganz und gar nicht, sondern bloſs ihr Hemmungsgrad
in Betracht kommt. Das Gegentheil desselben ist der
Grad der Gleichartigkeit; und man wird sich erin-
nern, daſs Vorstellungen, in so fern sie als gleichartig
zu betrachten sind, in ein völlig ungetheiltes Eins zusam-
menflieſsen müssen; daſs eben deshalb solche Paare von
Vorstellungen, die sich, eine mit der andern verglichen, in
Gleichartiges und Entgegengesetztes zerlegen lassen, in
Hinsicht des Gleichartigen zusammenflieſsen sollten,
welches sie jedoch nicht können, weil sich das Gleichar-
tige vom Entgegengesetzten nicht in der Wirklichkeit,
sondern nur in Begriffen — durch zufällige Ansich-
ten
— trennen läſst *). Hieraus entsteht ein innerer
Streit zwischen der Kraft, die zur Verschmelzung treibt,
[90] und den entgegengesetzten Kräften; und es giebt ver-
schiedene Resultate dieses Streits, je nachdem die Kräfte
gröſser oder kleiner, das heiſst, je nachdem der Grad
der Gleichartigkeit, folglich der Hemmungsgrad, gröſser
oder kleiner angenommen wird. Die Berechnung darüber
ist in den angeführten Paragraphen, wenigstens zum
Theil, geführt worden. Aber auf welchen Gegenstand
soll sie angewendet werden? — Schon dort wurde erin-
nert, daſs sie auf die Intervalle einfacher Töne, auf
die ersten Elemente der Musik paſst. Gleichwohl ist
offenbar, daſs die Töne, als solche, gar kein besonde-
res Vorrecht haben, sich die Anwendung jener Rech-
nungen ganz allein zu vindiciren. Die Sphäre derselben
muſs weit gröſser seyn; denn der Begriff des gröſsern
oder kleinern Hemmungsgrades gehört zu den allgemein-
sten, die es für die ganze Psychologie nur geben kann;
und bloſs das ist dabey zu bedenken, daſs hier von ein-
fachen
Vorstellungen, die wir Empfindungen zu
nennen pflegen, die Rede ist; also nicht von jenen Rei-
hen und Geweben, wobey allemal die Reproductionsge-
setze, und das in ihnen liegende Begehren, zunächst das
Gefühl bestimmen.


Nun hat man zwar sehr Ursache, die Anwendung
der allgemeinen Gesetze aller Verschmelzung vor
der Hemmung
, zuerst bey den Verhältnissen der Töne
zu versuchen. Denn dieser Gegenstand ist bey weitem
am einfachsten, und am bekanntesten. Es ist auch ganz
unwidersprechlich, daſs die Unterschiede der Consonanz
und Dissonanz in der Musik einzig und allein durch das
Intervall jedes Paars von Tönen, das heiſst, durch den
Hemmungsgrad, bestimmt wird; diese Thatsache liegt
deutlich vor Augen. Man mag nachsehn, was ich in den
Hauptpuncten der Metaphysik, und im zweyten Heft des
Königsberger Archivs darüber gesagt habe.


Allein es ist nicht erlaubt, hiebey stehn zu bleiben.
Die Farben sind ja auch einfache Empfindungen mit be-
stimmten Hemmungsgraden zwischen jedem Paare. Sollte
[91] es denn für sie keine Verschmelzung vor der Hem-
mung
geben? — Man hat wohl von Farbenklavieren
gehört; und es hat demnach gewiſs Menschen gegeben,
welche den Farben-Contrast, der in der Malerey so un-
streitig wirksam ist, nach Analogie der Tonkunst benut-
zen wollten. Warum das nicht gelingen konnte, liegt
am Tage. Das Farbenklavier muſste irgend welche ge-
färbte Figuren abwechselnd dem Auge darbieten. Aber
die Wahl dieser Figuren war in jedem Falle wichtiger
als die Wahl der Farben; wegen der ästhetischen Be-
urtheilung des Räumlichen, welcher man nicht auswei-
chen konnte, und doch hätte ausweichen müssen, wenn
die Farben hätten die Rolle der Töne in der Musik
übernehmen sollen.


Also ist es die fremdartige Einmischung eines an-
dern
Aesthetischen, welches die, aus der Verschmelzung
vor der Hemmung sonst entspringende, ästhetische Be-
urtheilung, im Gebiete der Farben verdunkelt; da man
niemals Farben ohne Formen wahrzunehmen im Stande
ist. Hiezu kommt nun allerdings noch der eigenthüm-
liche Unterschied der Tonlinie, die nach zwey Seiten ins
Unendliche geht, und der Farben, die nur ein begränz-
tes, obwohl flächenförmiges, und in so fern gröſseres
Continuum bilden; doch hieraus allein würde man die
Unbedeutsamkeit der Farbenspiele im Vergleich mit den
Tonspielen um so weniger begreifen, da ja auch die
Musik eigentlich nur der Octave bedarf, innerhalb wel-
cher sie alle ihre Verhältnisse beysammen findet. —


Wir müssen aber unsern Weg noch weiter fort-
setzen. Denn es giebt auſser den Tönen und den Far-
ben noch unzählig viele andre Empfindungen. Nur
nicht einfache Empfindungen! wird man sagen, und
dies gerade ist der Punct, auf den wir zielten. Geruch
und Geschmack vermögen schon nicht mehr, die Em-
pfindungen gesondert darzubringen; aus Essig und Zucker,
aus dem Duſte der Lilie und Nelke, wird ein Mittleres
für die Zunge und die Nase. Es ist also die Frage, ob
[92] sie je ein wahrhaft Einfaches dargeboten haben. War
nicht schon der saure Geschmack, und eben so, der
süſse, ein Zusammengesetztes? Desgleichen der Geruch
der Lilie ein Gemisch aus Empfindungen, die wir nicht
scheiden können; und der Duft der Nelke ein anderes
Gemisch? — Diese Frage läſst sich aus einem metaphy-
sischen Grunde bestimmt bejahen. Alle einfachen Selbst-
erhaltungen der Seele müssen gerade so einfach seyn,
wie sie selbst. Dafür nun kann man wohl den einfachen
Ton, die reine Farbe, annehmen; allein nicht den Ge-
ruch und Geschmack, sobald sie sich nicht mehr begnü-
gen, irgend ein Empfundenes als dieses oder jenes,
das man wieder zu erkennen und von andern zu unter-
scheiden vermöge, darzustellen, sondern es uns auch
noch obendrein als ein Angenehmes oder Unan-
genehmes
aufdringen. Hier ist schon Ueberfluſs, schon
keine reine Einfachheit, sondern Mischung aus anderm
Einfachen, das wir nicht kennen
. — Wie aber,
wenn es uns bekannt würde? Dann ohne Zweifel wür-
den wir die Gesetze der Verschmelzung vor der Hem-
mung darauf anwenden. Dann würden, wie bey den
Tönen, und minder deutlich bey den Farben, einige Zu-
sammensetzungen uns gefallen, andre misfallen. — Dür-
fen wir uns denn wundern, wenn die Mischungen, welche
Geruch und Geschmack aus unbekannten Ingredienzien
zusammensetzen, uns bald angenehm sind, bald unange-
nehm? Was wir erwarten muſsten, trifft zu. Es fehlt
bloſs die Möglichkeit, die Bestandtheile der Mischungen
einzeln zu betrachten, die Hemmungsgrade derselben zu
untersuchen, und darnach, wie in der Musik, mit eigner
Wahl die Zusammensetzung anzuordnen. Darum ver-
schmilzt
bey diesem Angenehmen, und seinem Gegen-
theil, die Summe der einfachen Empfindungen
mit dem Gefühl der Annehmlichkeit oder Unan-
nehmlichkeit
*). Und da wir das Gefühl nicht Uns
[93] gegenüber stellen können, findet sich auch hier kein
vestbestimmter Gegenstand, den wir zum Sub-
ject eines Urtheils machen könnten
; folglich tritt
an die Stelle des ästhetischen Urtheils hier das bloſse
Fühlen; und hiemit ist das Angenehme getrennt vom
Gebiete des Schönen.


Ungeachtet nun auf diese Weise das sinnlich An-
genehme und Unangenehme, mit allen dahin gehörigen
körperlichen Sensationen, (denn das Gesagte ist nicht
nothwendig auf Geruch und Geschmack eingeschränkt,)
seine höchst wahrscheinliche Erklärung im Allgemeinen
erhält: so zeigt sich doch auch eben hierin die Unmög-
lichkeit, demselben jemals näher auf die Spur zu kom-
men. Denn kein Rosengeruch und kein Zahnschmerz
läſst sich analysiren; und kein Einfaches ist gegeben,
woraus man unternehmen könnte, beydes zu construiren.
Physiologische Erklärungen aber würden hier ganz am
unrechten Orte seyn, da wir zuerst wissen wollen, was
sich im Bewuſstseyn ereigne, ehe uns die Frage in-
teressiren kann, wie die Bedingungen desselben, welche
auſserhalb des Bewuſstseyns liegen mögen, beschaffen
seyen. Diese zweyte Frage hat gar keinen Beziehungs-
punct, bevor die erstere beantwortet ist.


Also ist die Sinnlichkeit — zu welcher man das
Entstehen der einfachen Empfindungen, der Gefühle des
Angenehmen und Unangenehmen, und die Auffassungen
des Räumlichen und Zeitlichen rechnet, — kein so leich-
ter Gegenstand, daſs die Psychologen, welche ihre Ana-
lysen hier, als bey dem leichtesten Puncte, anfingen, be-
sonderes Lob verdienten. Die Entstehung der einfachen
Empfindungen muſs aus der metaphysischen Lehre von
den Selbsterhaltungen erklärt werden. Die Gefühle des
Angenehmen und Unangenehmen erfordern die, nicht
eben leichte, Betrachtung über die Verschmelzung vor
der Hemmung. Und die Vorstellungen des Räumli-
chen und Zeitlichen, die wir bald näher ansehen wol-
len, beruhen auf der Verschmelzung nach der Hem-
[94] mung, und den daraus entspringenden Reproductions-
Gesetzen.


7) Die Verschmelzung vor der Hemmung kann
nun zwar bey sinnlichen Empfindungen vorkommen, und
dieselbe in ein Gefühl verwandeln: aber sie ist kei-
nesweges an die Sinnlichkeit
(als eine Receptivi-
tät, und Passivität gegen den Leib,) gebunden. Man
gehe in den §. 72. zurück, und man wird finden, daſs
durchaus Nichts auf die Frage ankommt, woher die ver
schmelzenden Vorstellungen stammen, sondern Alles le-
diglich darauf, daſs sie da seyen. Wären die Vorstel-
lungen aller Töne in der Tonlinie dem Menschen ange-
boren, könnte er durch bloſse Spontaneität je zwei und
je drei oder vier solcher Vorstellungen ins Bewuſstseyn
bringen; hörte er dagegen niemals ein Instrument, nie-
mals eine Singstimme: gleichwohl würde, gerade wie jetzt,
für ihn die Octave das Verhältniſs des vollen Gegen-
satzes, die Quinte (deren Gleichartigkeit ne-
ben beyden Gegensätzen gerade auf die stati-
sche Schwelle fällt, also unwirksam gemacht wird,) das
der Octave in Hinsicht der Consonanz am nächsten ste-
hende Intervall seyn; die falsche Quinte, deren Gleich-
artigkeit den Gegensätzen gerade gleich ist, die stärkste
Dissonanz ergeben, (wegen des stärksten möglichen, un-
ausgeglichenen Widerstreits zwischen den drey durch die
Zerlegung entstandenen Kräften;) ja es würden sich auch
für ihn die Töne des reinen Accordes gegenseitig in drey
Kräfte brechen, nahe im Verhältniſs der Zahlen 3, 4,
und 5, oder genauer so, daſs auch hier die schwächste,
in der Brechung entstehende Kraft, neben den andern
auf der statischen Schwelle sey *); und auch für ihn
würde es nicht mehr und nicht weniger als zwey reine
[95] Accorde geben können. Denn die Gründe, warum dies
alles so seyn muſs, sind ganz allgemein, und für den
körperlosen Geist genau die nämlichen wie bey uns sinn-
lichen Menschen; trotz allen den thörichten Versuchen,
Dinge dieser Art von Schwingungen der Nerven, oder
gar der Saiten und Luftwellen abhängig zu machen; da-
mit ja die Psychologie auf immer die Sclavin der Phy-
siologie und der Physik bleiben möge!


Dasselbe, was hier von den Gefühlen in der Ver-
schmelzung vor der Hemmung bemerkt worden, gilt nun
auch, und sogar noch auffallender, von jenen andern
Gefühlen, deren Sitz in den zugleich ablaufenden Rei-
hen, ihrer gegenseitigen Begünstigung oder Hem-
mung
, zu suchen ist. So gewiſs diese bey sinnlicher
Lust und Unlust, während aller rauschenden Vergnügun-
gen, aller flüchtigen, aus vorübergehendem Kitzel entste-
henden Genieſsungen, zutrifft; und so weit man auch
das Symbol solcher Lust, nämlich Tanz nach der
Musik
, ausdehnen kann in seiner Bedeutung: eben so
gewiſs können die zugleich und in Verbindung
ablaufenden Reihen auch eben so wohl ganz un-
abhängig seyn von den Sinnen
; und alsdann das
reinste geistige Wohlseyn, oder sein Gegentheil er-
zeugen. Daher jene Harmonie nach geendigter Ueberle-
gung, oder beym Ueberblick wohldurchlebter Jahre, oder
beym Durchdenken consequenter Systeme, zusammen-
stimmender Beweise, kluger, nützlicher, und wohlthätiger
Anstalten und Einrichtungen.


8) Daher darf man sich gar nicht wundern, in der
Reihe der, aus der letztern Quelle entspringenden Ge-
fühle auch jene einfachen und ursprünglichen Billigungen
und Misbilligungen zu finden, auf deren Hervorhebung
und deutlichen speculativen Darstellung die praktische
Philosophie
beruht. Mehrmals hat man von mir die
psychologische Erörterung des Ursprungs der praktischen
Ideen gefordert; meist mit einem Vorurtheil, welches die
mindeste Bekanntschaft mit ästhetischen Gegenständen
[96] irgend einer Art hätte widerlegen können; nämlich als
ob die ästhetische Evidenz durch psychologische Erklä-
rung derselben irgend etwas an Sicherheit und Stärke
gewinnen könnte; obgleich man längst weiſs, daſs ein
Gedicht, wenn es nur verständlich ist, sich von Analysen
und Commentaren keinesweges eine gröſsere Wirkung
zu versprechen hat; und daſs Aufklärungen über die Ent-
stehung und Verfertigung der Kunstwerke zwar wohl dem
Künstler, aber nicht dem Werke, eine gröſsere Bewun-
derung schaffen können. Und wahrlich! die praktische
Philosophie wird, in Ansehung ihrer ersten Gründe,
der Psychologie niemals den geringsten positiven Zusatz
an Kraft und Werth verdanken, aber sie ist den neu-
gierigen Blicken der letztern einmal ausgesetzt; sie leidet
überdies von hineingetragenen Irrthümern falscher Psy-
chologie, die nur durch wahre Psychologie können fort-
geschafft werden. Daher will ich es nicht vermeiden,
Denjenigen, welche in diesem Puncte mehr Neugierde
haben als ich, wenigstens meine Meinung zu sagen, wie
sie ihre Untersuchung anzustellen haben, wenn sie sich
nicht in Täuschungen über die wichtigsten Gegenstände
verwickeln wollen.


Zuerst haben sie zu verhüten, daſs sie hier nicht die
Frage von der wahren Natur des Willens einmengen.
Diese müssen sie nothwendig ganz unbestimmt lassen;
denn, wie Kant sehr richtig bemerkt hat, die Sittenlehre
muſs nicht bloſs für Menschen gelten; sie muſs uns so-
gar in unserer Gottesverehrung Licht geben; der gött-
liche Wille ist aber sicherlich kein Gegenstand einer
menschlichen Psychologie.


Auch liegt in den ersten Grundgedanken der prak-
tischen Philosophie nicht der mindeste Anspruch, den
wirklichen Willen zu lenken, und auf ihn zu wirken;
welches, wenn es Statt fände, freylich die Forderung
herbeyführen könnte, man müsse den Willen, um über
ihn Gewalt zu erlangen, erst seiner wahren Beschaffen-
heit nach kennen. Allein die Grundgedanken der prak-
tischen
[97] tischen Philosophie sind keine Befehle, sondern Urtheile
des Lobes und Tadels, über einen Gegenstand, nicht
wie er ist, sondern wie er gesehen wird.


Darum muſs zuerst die Frage so gestellt werden:
Wie wird der Wille gesehen? Wofür wird
er allgemein gehalten? Welche Vorstellung
von ihm liegt den Urtheilen zum Grunde, durch
welche er gelobt und getadelt wird
?


Nun ist offenbar, daſs der Wille als Anfangs-
punct von Reihen
betrachtet, und daſs sein Sitz mit-
ten im Wissen gesucht wird. Die Handlungen näm-
lich, welche man ihm zuschreibt, sind die ersten Glieder
gewisser Reihen von Ereignissen. Der Anfangspunct von
Reihen ist nach gemeinen Begriffen so viel als eine erste
Ursache
, worüber vorläufig §. 102. zu vergleichen ist;
tiefer unten wird mehr davon vorkommen. Aber man
sucht keinen Willen da, wo kein Wissen ist; und ob-
gleich der Wille allerdings für einen Anfangspunct ge-
halten wird, so setzt man doch voraus, das Wissen sey
der Boden, in dem er entspringe; und hiedurch unter-
scheidet man ihn von allen blind wirkenden, keiner Aus-
wahl fähigen Kräften.


In diesem Begriffe wird sogleich ein Widerspruch
gefühlt, wenn das Wissen einen andern Weg zeigt, als
das Wollen geht. Eine solche Erscheinung bietet dem
Zuschauer zwey Reihen dar, deren Ablaufen zu vereini-
gen ihm nicht gelingt; während im Gegentheil, wenn das
Wissen sich gleichlautend ausspricht, wie die Handlun-
gen den Willen verkündigen, alsdann die Reihen in der
Beobachtung des Zuschauers einander begünstigen.


Ferner zieht der Wille selbst mehrere Linien; er
tritt auch in Verhältnisse zu andern Willen, die gleich-
falls dem Zuschauer als Anfangspuncte von Reihen vor
Augen stehn. In allen Fällen dieser Art, (von denen
die praktische Philosophie die allgemeinen Begriffe voll-
ständig zur Beurtheilung vorlegt) entspringen für den
Zuschauer gewisse bestimmte Gefühle, die von der eigen-
II. G
[98] thümlichen Art und Weise abhängen, wie in ihm die
Reihen mit einander gehen oder wider einander stoſsen.


Daſs der Zuschauer völlig unbefangen sey, wird da-
bey vorausgesetzt. Es soll nicht an ihm, sondern le-
diglich an der jener ihm dargebotenen Reihen liegen,
welches Gefühl sie in ihm erregen. Darum spricht
er seine Gefühle in der Form einer Beurtheilung des
Gegenstandes aus. Und der Gegenstand heiſst aus eben
diesem Grunde mit Recht ein ästhetischer. Denn was
ist ein ästhetischer Gegenstand? Nichts anderes als ein
solcher, dessen bloſse Vorstellung geeignet ist,
in dem ihm hingegebenen, affectlosen Zuschauer
ein bestimmtes Gefühl zu erregen
.


Uebrigens versteht sich von selbst, daſs in der Be-
trachtung der Willens-Verhältnisse, aus deren Beurthei-
lung die praktischen Ideen entspringen, der Wille nicht
so erscheint, als ob wirkliche, bestimmt anzugebende
Reihen, die aus einzelnen Gliedern bestünden, von ihm
abliefen. Er ist nur der Anfangspunct möglicher Rei-
hen; und Alles beruht hier auf dem ihm zugeschriebenen
nisus, gewissen Reihen, die aus ihm hervorzutreten im
Begriff sind, ihre Richtungen anzuweisen. —


Im gegenwärtigen Paragraphen muſste Mancherley
berührt werden, das erst weiterhin mehr entwickelt wer-
den kann. Der fühlende Mensch sollte sich in der ge-
gebenen kurzen Darstellung so viel als möglich wieder
erkennen, zu diesem Behuf war nöthig, das Knäuel so
zu nehmen, wie es vorliegt; und nicht gar zu ängstlich
diejenigen Gefühle abzusondern, die nur erst bey höhe-
rer Ausbildung entstehen können.


Zweytes Capitel.
Von den Affecten und den Leidenschaften; nebst
Rückblicken auf das Vorhergehende.


§. 106.

Eine vollständige, und möglichst sichere, Analyse
der Begehrung und des Gefühls würde sich nicht unmit-
[99] telbar an die allgemeinen Begriffe vom Begehren und
Fühlen wenden dürfen. Denn diese Begriffe sind aus
Erfahrungen
durch eine weit fortgesetzte Abstraction
gewonnen worden. Sondern die Wissenschaft würde
von unten auf steigend, zuerst die ganz speciellen Arten
der Begierden und Gefühle aus den unmittelbar ge-
gebenen Thatsachen
, den ächten Erfahrungs-Prin-
cipien, zu erkennen suchen; und alsdann die höhern
abstracten Begriffe allmählig bilden, nicht aber dieses
Geschäfft als vom gemeinen Verstande schon vollbracht,
voraussetzen, wobey mancherley Fehler können mit un-
tergelaufen seyn, wenigstens die Begriffe selbst keine
völlige Bestimmtheit erlangen werden. Dies ist der Gang,
der ganz besonders die weitläuftigen, ins Einzelne ge-
henden, Abhandlungen ziemen würde, dergleichen jener
zuvor genannte Psychologe über die Leidenschaften und
über die Gefühle geschrieben hat; dies das Verfahren,
woraus man das Streben nach einer ächt analytischen
Methode erkennen sollte, die vor allem Anderen dahin
sehen muſs, daſs sie die zu analysirenden Be-
griffe unmittelbar aus der Quelle schöpfe
. Ein-
gestreute Beyspiele machen den Fehler nicht gut, der in
der ganzen Anlage steckt, wenn die Analyse, anstatt ge-
bührender Maaſsen von den eigentlichen Thatsachen
zu den Begriffen und allgemeinen Sätzen, vielmehr ge-
rade verkehrt vom Allgemeinen zum Besondern hin,
gleich einer synthetischen Nachforschung über Gegen-
stände des reinen Denkens, ihre Richtung nimmt. —


Aber die Auffassung der einzelnen Thatsachen, wor-
aus die allgemeinen Begriffe von Begierden und Gefüh-
len erhalten werden, ist vermischt mit physiologischen
Beobachtungen; ja diese Thatsachen sind eben sowohl
physiologische als psychologische Thatsachen, in so fern
wir sie als Erkenntniſsgründe gebrauchen, und von ihnen
auf ihre realen Bedingungen und Ursachen schlieſsen
wollen. Daher führen sie in einen dichten Wald der
mannigfaltigsten Nachforschungen; der schwerlich wird
G 2
[100] durchdrungen werden, wenn man nicht vorläufig das
Bekannteste der Thatsachen des Bewuſstseyns nach
seinen klärsten Merkmalen, mit den synthetischen
Principien der Statik und Mechanik vergleicht, um nach-
zusehen, in wiefern man von diesen die Erklärung des
Vorgefundenen erwarten kann, und wie sich mit ihnen
die physiologischen Gründe verbinden lassen. Es ist
wichtig, daſs man in schwierigen und verwickelten Un-
tersuchungen immer von demjenigen anfange, welches
am unmittelbarsten einleuchtet, und am wenigsten Zwei-
fel aufregt. Einen solchen Punct von vorzüglicher Klar-
heit aber hoffen wir jetzt zu finden, indem wir zu den
Affecten fortgehn, deren Erklärung aus den Gründen
der Mechanik und Statik des Geistes sich beynahe nicht
verfehlen läſst.


Bekanntlich sind es die Affecten und die Lei-
denschaften
, die man als die stärksten Aeuſserun-
gen des Fühlens und Begehrens betrachtet. Wir kön-
nen also hoffen, in ihnen vorzüglich deutliche Merkmale
für die Analyse und zur Vergleichung mit der Synthese
anzutreffen.


Sogleich kommen uns die ersteren mit ihrer Einthei-
lung in rüstige und schmelzende Affecten entgegen;
oder, wie Carus sie besser nennt, entbindende und
beschränkende Affecten. Die Eintheilung selbst giebt
hier das Hauptmerkmal des eingetheilten Begriffs zu er-
kennen; die Affecten nämlich sind Gemüthsla-
gen, worin die Vorstellungen beträchtlich von
ihrem Gleichgewichte entfernt sind
; und zwar
dergestalt, daſs die rüstigen Affecten ein gröſseres
Quantum des wirklichen Vorstellens ins Bewuſstseyn
bringen
, als darin bestehen kann, die schmelzenden
ein gröſseres Quantum daraus verdrängen, als wegen
der Beschaffenheit der vorhandenen Vorstellungen dar-
aus verdrängt seyn sollte.


Sind aber wohl die Affecten, genau genommen selbst
die Kräfte, von denen die Vorstellungen sich regieren
[101] lassen? — Nach unsern vielfältigen Erörterungen bedarf
dies gar keiner neuen Widerlegung. Vielmehr liegt die
Kraft in den Vorstellungen selbst; nicht die Affecten
sind das Bindende und Entbindende, sondern, wenn
durch gewisse Vorstellungen andere entbunden werden,
so daſs sie ihre statischen Puncte weit übersteigen, dann
bezeichnet man die hieraus entspringende Gemüthslage
mit dem Namen des rüstigen Affects; wenn im Gegen-
theil durch einige Vorstellungen andere tief unter ihre
statischen Puncte herabgedrückt werden, — wenn wohl
gar eine Menge derselben auf der mechanischen Schwelle
verweilen muſs, — alsdann bekommt die so entstandene
Gemüthslage die Benennung des beschränkenden Affects.


Hieraus ergiebt sich augenblicklich das Vorüberge-
hende aller Affecten. Die Gemüthslage muſs sich dem
Gleichgewichte vermöge der allgemeinsten Gesetze des
psychologischen Mechanismus wieder nähern, sobald die
Spannung der Vorstellungen groſs genug wird, um die
den Affect erregenden Ursachen zu überwinden.


Hieraus erklärt sich ferner das körperlich Angreifende
aller Affecten, sobald überhaupt ein Zusammenhang zwi-
schen Gemüthslagen und dem Organismus eingeräumt
wird. Denn man bedenke die Gewalt, welche auf einer
Seite eine auſserordentlich vergröſserte Hemmungssumme,
(bey den rüstigen Affecten); oder auf der andern Seite
eine Menge von Vorstellungen, die auf der mechanischen
Schwelle, oder derselben nahe sind (bey den schmelzen-
den) ausüben muſs. Die Gesetze, nach welchen dadurch
die Geschwindigkeit in der Veränderung der Gemüths-
lage zunimmt, sind in den obigen Untersuchungen zu
erkennen; und von dieser Geschwindigkeit hängt ohne
Zweifel die Anstrengung ab, welche dem Organismus in
seinen begleitenden Bewegungen angemuthet wird.


Am alleroffenbarsten paſst die gegebene Erklärung
auf den Schreck. Was hier durch eine plötzliche, den
vorhandenen Vorstellungen fremdartige, neue Wahrneh-
mung im Gemüthe bewirkt werde, das wird sich beynahe
[102] gänzlich aus §. 77. u. s. f. erkennen lassen. Nicht min-
der verräth sich beym Zorne der Anwachs entbundener
Vorstellungsmassen, bey der Furcht das Drängen ver-
haltener Vorstellungen gegen die wenigen noch im Be-
wuſstseyn vorhandenen. Es zeigt sich ferner eben in den
angegebenen Merkmalen das Aehnliche des Zorns und
der Begeisterung, so wie das Unterscheidende der Furcht
von der Behutsamkeit.


Allein um die Affecten näher kennen zu lernen,
müſsten wir ohne Zweifel die Qualität der verschiedenen
Gefühle in Betracht ziehn, durch welche sich die Affecten
unterscheiden.


Dieses erinnert an die oben erwähnte, den Psycholo-
gen gewöhnliche Ansicht, die Affecten seyen gesteigerte
Gefühle. Verhält es sich also, alsdann muſs es so viele
Affecten geben als Gefühle, und das Maaſs der Gefühle
muſs zugleich das Maaſs der Affecten seyn.


Oben ist bemerkt worden, daſs die Gefühle in ge-
wissen Arten und Weisen, wie unsre Vorstellungen sich
im Bewuſstseyn befinden, ihren Sitz haben; indem an-
dere hemmende und emportreibende Kräfte darauf ein-
wirken. Hiebey kommt es nicht darauf an, wie viele
Vorstellungen im Bewuſstseyn vorhanden seyen; auch
nicht darauf, ob diejenigen Vorstellungen, welche die
Einwirkung erleiden, sich gerade in einem mehr oder
minder gehemmten Zustande befinden, welcher Unter-
schied sich vielmehr auf das Vorstellen als auf das Füh-
len bezieht; sondern darauf, wie stark das Drängen der
mit einander und wider einander wirkenden Kräfte aus-
falle. Mit Beyseitsetzung mancher nähern Bestimmun-
gen, die hier noch nicht eingesehen werden können, läſst
sich das Wesentlichste durch folgendes Gleichniſs er-
läutern: man denke sich einen Hebel, und die Bedingun-
gen seines Gleichgewichts. Gesetzt, dies Gleichgewicht
wäre verletzt: so neigte sich derselbe nach der einen
oder andern Seite; damit vergleiche man das Steigen und
Sinken der Vorstellungen also die objectiven Bestimmun-
[103] gen des Bewuſstseyns, welche nicht Gefühle genannt
werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während
sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent-
fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht
werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde
er sie fühlen, wenn er Bewuſstseyn hätte; und immer
anders und anders fühlen, je nachdem gröſsere oder klei-
nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären.
Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müſste
mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede-
nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen
oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider
einander wirkenden Kräften gedreht würde.


Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise
darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor-
stellungen sich im Bewuſstseyn befinden; ganz andre
Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin-
gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar
sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen
wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann.
Folglich ist es unrichtig, daſs die Affecte ge-
steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie-
denes Maaſs für Affecten und Gefühle; ja die
ersten und die andern gehören gar nicht zusam-
men wie Art und Gattung; sondern es sind ver-
schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man-
nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See-
lenzustände
.


Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge-
schlossen wurde, das liegt schon bey bloſser Analyse so
klar vor Augen, daſs es nie hätte können verfehlt wer-
den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen,
Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet
werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die
Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh-
rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle
seyn! — Anders schloſs Wolff; er hatte noch kein
[104] eignes Fachwerk für die Gefühle; darum sind seine
Affecten, Begehrungen und Verabscheuungen *).


Wie sehr Unrecht thut man doch gerade den edel-
sten Gefühlen, indem man sie zu einem, noch obendrein
unbestimmbaren, Mittelmaaſs verurtheilt, auf daſs sie nicht
in Affect übergehn! Man betrachte das Selbstgefühl, mit
welchem Jemand sich bey empfangener Kränkung vor
Gegen-Beleidigungen hütet, indem er die Hoffnung faſst,
seine Ehre werde vest genug stehn, und er dürfe ver-
zeihen! Wenn dieses Selbstgefühl auch nicht ohne Affect
ist, so wird doch Niemand den Affect für so stark hal-
ten, wie dieses höchst lebhafte Gefühl. Oder man nehme
das reinste, zugleich äuſserst süſse, Gefühl der Freund-
schaft, besonders in Augenblicken, nicht der Noth und
Dienstleistung, sondern des bloſsen Gesprächs, welches
eine vollkommene Zusammenstimmung der innersten Ge-
sinnungen entfaltet. Kein anderes Gefühl wird mehr als
dieses, beglücken; aber der Affect, der es begleitet, ist
äuſserst gelinde; die Seele kommt dadurch eher in Ruhe
als aus der Ruhe. Man nehme endlich die Gemüths-
stimmung aller charactervollen Männer, in den Augen-
blicken, da sie etwas wichtiges vest beschlieſsen: gewiſs
ist der Entschluſs vom lebhaftesten Gefühle begleitet;
aber Affecten konnten sich eher in die vorgängige Ue-
berlegung mischen; in den Abschluſs der Ueberlegung
kann bey dem besonnenen Manne sich der Affect nur
durch einen Rest menschlicher Schwäche einen geringen
Einfluſs verschaffen.


§. 107.

Wie der Affect zum Gefühle, so soll sich die Lei-
denschaft zur Begierde verhalten **). Werden wir das
zweyte Verhältniſs gesunder finden als das erste?


[105]

Kant, so viel ich weiſs, war der erste, der über-
haupt Affecten und Leidenschaften, die bis dahin ver-
wirrt unter einander gelegen hatten, gehörig sonderte.
Bey Wolff steht noch die Ruhmsucht zwischen der
Reue und der Schaam; ja es heiſst bey ihm: gloria eſt
affectus
, u. s. w.


Seitdem nun sind die Leidenschaften zu den Be-
gierden gezogen, und zwar zu den sinnlichen Begier-
den *), wodurch der Begriff der Sinnlichkeit eine Aus-
dehnung bekommt, die statt aller Widerlegung dienen
sollte. Denn so gehören die Wahrnehmungen nach Ver-
hältnissen des Raums und der Zeit in eine Klasse mit
den Strebungen des Lüstlings, und zugleich mit dem,
nur all zu oft leidenschaftlichen, Enthusiasmus für Frey-
heit und Vaterland, ja für Religion und Wissenschaft;
und die Sinnlichkeit muſs sich in vielen Fällen geradezu
in das Gebiet der Vernunft versteigen, um durch diese
die Gegenstände der Leidenschaften nur erst kennen
zu lernen
, während sie sonst gewohnt ist, selbst die
ersten Anfänge der Erkenntnisse darzubieten! —


Wie bey allen Erfahrungsbegriffen, wird auch hier
die Analyse erleichtert werden, indem wir in den Umfang
des Begriffs der Leidenschaft hinabsteigen, wodurch wir
der Erfahrung, also der Erkenntniſsquelle, näher kommen.


Fassen wir auf der einen Seite die Leidenschaften
für sinnliche Genüsse, die Spielsucht, die Sucht nach
Neuigkeiten, Curiositäten, u. s. w. zusammen, auf der
andern die Rachsucht, Eifersucht, Ruhmsucht, und ihres
Gleichen: so fällt leicht der Unterschied ins Auge, daſs
jene in etwas Aeuſseres versinken, diese das eigne Selbst
hervorheben, und dagegen das Aeuſsere herabdrücken.
Daneben findet sich alsdann eine dritte Klasse, die bey-
derley Kennzeichen vermengt. Der Geiz ist versunken
in das Geld, und zugleich in das eigne Selbst, in die
[106] Anschauung der eignen Person als des Besitzers; die
Habsucht erhöht noch dazu das eigne Selbst vor Anderen,
die sie beraubt; der Fanatismus aller Art ist versunken
in Verehrung seines Götzen, und zugleich will er die
Verehrer dieses Götzen, die Seinigen, allein glänzen
sehn, und den Anblick eines andern Cultus nicht dulden.


Nehmen wir nun rückwärts den Weg der Abstraction,
so sehen wir, daſs im Allgemeinen jeder Leiden-
schaft eine herrschende Vorstellung zum Grunde
liegt, die nicht etwan nur einmal, nur auf Ver-
anlassungen, sondern fortwährend, und ver-
möge einer bestehenden Disposition des Ge-
müths, sich als Begierde äuſsert
. Wo die Vor-
stellung des begehrten Gegenstandes nicht selbst die
herrschende ist, wo vielmehr ihr Hervorstreben groſsen-
theils durch andre, mit ihr verbundene bestimmt wird,
da ist keine Leidenschaft.


Die Begehrungen des Sinnengenusses sind alsdann
nicht
Leidenschaften, wenn sie nur zu Zeiten, durch
Naturbedürfnisse veranlaſst, hervortreten. Die Sorge für
Ehre und Geld ist nicht an sich selbst Leidenschaft,
wenn sie ausgeht von der Nothwendigkeit, Vertrauen zu
besitzen für eine Wirksamkeit und für den Umgang un-
ter Menschen, die Kosten bestreiten zu können für einen
anständigen Lebensunterhalt. Die Regungen des Fana-
tismus werden sich legen, so bald die Untersuchung sei-
nes Gegenstandes beginnt; und derjenige wird nicht fa-
natisch verfahren, der aus Einsicht in die Gründe seines
Cultus handelt.


Was ist es, das durch die Leidenschaften zunächst
leidet? Es ist die Fähigkeit, sich nach Motiven zu be-
stimmen, sich nach den Umständen zu richten, in wie-
fern
diese ein solches Handeln widerrathen, wozu die
Leidenschaft antreibt. — Verwandelt man diese Fähig-
keit in ein Gemüthsvermögen, etwan unter dem Namen
des Verstandes oder der Vernunft, so kommt sogleich
die Ungereimtheit zu Tage, daſs die Leidenschaften das-
[107] selbe Vermögen unterdrücken, welches sie doch auch zu
ihrem Dienste gebrauchen; als ob die Metapher, der
Verstand sey ein Sklave der Leidenschaften geworden,
ein exacter philosophischer Begriff wäre, und als ob
man dem Verstande, gleich dem Sklaven, einen Willen
und einen zweyten Verstand beylegen könnte, vermöge
deren er sich in die Sklaverey, in die er unglücklicher-
weise gerathen, nun auch zu schicken wisse!


Um den Begriff einer Leidenschaft gehörig fassen
zu können, bedarf es keines Vermögens, wogegen die
Leidenschaft sich stemme, und eben so wenig eines an-
dern Vermögens, woraus sie selbst hervorgehe; denn
ihre Gewalt ist offenbar und geradezu die Ge-
walt der herrschenden Vorstellung
*)selbst, die
sich gegen eine stets erneuerte Hemmung auf-
arbeitet
. Wohl aber bedarf es der Voraussetzung ei-
ner richtigen Verbindung und eines richtigen Verhältnis-
ses der verschiedenen Vorstellungen unter einander, wel-
ches vorhanden seyn sollte, so daſs im Gegensatze
mit demselben
die Leidenschaft aus einer übermä-
ſsig
starken und übel verbundenen Vorstellung oder
Vorstellungsmasse entspringe.


Leidenschaften sind demnach nicht selbst Begierden
(Acte des Begehrens,) sondern Dis positionen zu Be-
gierden, welche in der ganzen Verwebung der
Vorstellungen ihren Sitz haben
. Und aus diesem
Grunde läſst sich begreifen, daſs es nicht bloſs einzelne
Leidenschaften, sondern leidenschaftliche Naturen
giebt, ja daſs überhaupt der Zustand der Roh-
heit in der Regel mit allgemeiner Leidenschaft-
lichkeit behaftet ist
. Denn je mehr die Vorstellun-
gen vereinzelt geblieben, je weniger sorgfältig und regel-
[108] mäſsig sie unter einander verknüpft sind, desto gewaltsa-
mer wirkt jede für sich allein, sobald sie aufgeregt ist;
und erweckt und erträgt nur diejenigen, welche, ohne sie
zu hemmen, mit ihr in Verbindung treten können. Man
vergleiche hier den §. 76. Was Wunder, daſs wilde
Völkerschaften der Leidenschaftlichkeit unterliegen; daſs
in der Barbarey gerade die Leidenschaften zuerst anfan-
gen verständig zu werden, indem die herrschenden, und
selbst nicht beherrschten Vorstellungen sich allmählig die
übrigen Vorstellungen unterwerfen, sie mit sich, und da-
durch sie unter einander verbinden, und sie nach sich
discipliniren?


Diesen Durchgang durch die Barbarey, dessen Ue-
bergang in wahre Cultur höchst unsicher, und keineswe-
ges nothwendig ist, erspart den Kindern gebildeter Men-
schen die Erziehung. Und eben darin unter anderm zeigt
sich die gute Erziehung der frühesten Jahre, daſs sie
den Kindern die Leidenschaftlichkeit unmöglich macht,
indem sie jeder Spur davon sogleich Zwang entgegen-
setzt, und die ganze Masse der Vorstellungen schon
während des Entstehens in einen solchen Fluſs bringt,
daſs keine einzelne zu einer heftigen Aufregung gelan-
gen kann.


Was Wunder endlich, daſs auch selbst die wahre
Cultur, daſs die ächt moralische Gesinnung ihre Leiden-
schaften hat? Die Vorstellung der Gottheit, ja die abs-
tracte Vorstellung der Tugend, oder des Rechts, der
Freyheit, der Gleichheit, oder selbst jeder erste beste
theoretische Begriff irgend einer Wissenschaft, habe eine
vorzügliche Stärke erlangt; sey aber entweder gar nicht
oder schlecht verbunden mit den Begriffen von den ge-
sellschaftlichen Verhältnissen der einzelnen, wirklichen
Menschen unter einander: alsbald wird man sehen, wie
unvernünftig bey gegebener Gelegenheit die letztern ge-
mishandelt, wie ungestüm die erstern durchgesetzt, und
wie dabey den niedrigsten Affecten, diesen gewöhnlichen
[109] Gesellen der aufgeregten Leidenschaften, so viele Frey-
heiten zugestanden werden!


§. 108.

Nachdem wir die Affecten von den Gefühlen unter-
schieden, die Leidenschaften vielmehr für Dispositionen
zu Begierden als für stärkere Acte des Begehrens er-
kannt haben: bleibt in dieser Gegend der Untersuchung
noch Einiges theils nachzuhohlen, theils zu ergänzen
übrig, wodurch die vorigen Paragraphen, (besonders
§. 105.) nicht noch mehr sollten angeschwellt werden.
Zuerst muſs ich von dem Cirkel sprechen, in welchem
bey manchen Schriftstellern Gefühl und Begierde sich zu
drehen scheinen.


Fragen wir hierüber Herrn Maaſs, so antwortet er
uns in seinem Werke über die Gefühle (Th. I. S. 39.)
„Ein Gefühl ist angenehm, so fern es um sein selbst
„willen begehrt, unangenehm, so fern es um sein selbst
„willen verabscheuet wird.“ Aber in dem Werke über
die Leidenschaften (Th. I. S. 2.) lernen wir, man be-
gehre, was als gut, man verabscheue, was als böse
vorgestellt werde; und weiterhin, (S. 7.) die Sinnlichkeit
stelle das als gut vor, wovon sie angenehm afficirt
werde, das Gegentheil als böse. So sind wir im
Cirkel herumgeführt, das Angenehme ist das Begehrte,
das Begehrte ist das Angenehme. Wobey wir billig fra-
gen müssen, ob denn dieses oder jenes ursprünglich be-
stimmt sey? Ob das Begehrungsvermögen zuerst begehre,
und sein Begehrtes nun angenehm empfunden werde;
oder ob das Gefühl zuerst das Angenehme vom Gleich-
gültigen und vom Unangenehmen unterscheide, und als-
dann sich die Begehrung zu dem Herausgefühlten hin-
lenke?


Es ist offenbar, daſs eben die Schwierigkeit dieser
Frage den obigen Cirkel veranlaſst hat.


Carus, (in seiner Psychologie S. 399 u. s. w.)
nachdem er mehrere irrige Meinungen geprüft hat, er-
klärt sich also: nur das Gefühl werde angenehm, was
[110] unser Selbstgefühl verstärke, und dies geschehe nur
durch inniges Inne-Werden unsrer eignen im
Fortschreiten begriffenen Verstärkung unsrer
Kraft
. Aber hier ist das Klärere durch das Dunklere
erklärt; und man darf wohl von den angenehmen Gefüh-
len behaupten, daſs sie es sich nur gefallen lassen, von
der Reflexion hintennach als Selbstgefühle in uns hin-
ein versetzt zu werden, indessen sie selbst uns gar oft aus
uns heraus versetzen.


Eberhard in seiner Preisschrift: allgemeine Theorie
des Denkens und Empfindens *), S. 78. der neuen Aus-
gabe, spricht von einer Vereinigung der geringe-
ren Perceptionen
, woraus das Angenehme entspringe.
Hierbey bemerkt er Abstufungen der Vereinigung, mit
deren Hülfe er aus dem nämlichen Princip die Auf-
fassungen des Angenehmen, Schönen, Guten, und
Wahren erklärt. Darin liegt eine richtige Ahndung,
die wir mehr ins Licht zu setzen haben.


Die Gefühle der Lust und Unlust sind specifisch
verschieden vom Angenehmen und Unangenehmen. Nicht
auf die erstern paſst die Zusammenstellung mit dem Schö-
nen, Guten, und Wahren; wohl aber paſst sie auf das
Letztere.


Die Gefühle der Lust und Unlust sind es, welche
von der Art und Weise abhängen, wie sich unsre Vor-
stellungen im Bewuſstseyn befinden; und zum reihenför-
migen Ablaufen angeregt sind. Den Vorstellungen selbst,
(insofern sie nicht etwa schon eine veste Construction
erlangt haben,) ist eine solche Art und Weise zufällig;
die daraus entspringenden Gefühle sind ihnen alsdann
eben so zufällig.


[111]

Wie es einer Vorstellung vermöge ihrer Verbindun-
gen und der hinzukommenden Aufregungen begegnen
kann, daſs sie sich als Begierde äuſsert, eben so trifft
es sich wohl auch, daſs mit ihren verschiedenen Stellun-
gen im Bewuſstseyn heute Lust, morgen Unlust verbun-
den ist, ohne daſs darum sie selbst etwas mehr als ein
gleichgültiges Object ins Bewuſstseyn zu bringen hätte.
Dergleichen bemerken wir bey allen Gegenständen unsrer
Beschäfftigung; sie kommen uns bald gelegen, bald un-
gelegen, nach den Umständen.


Ganz anders verhält es sich mit dem eigentlich An-
genehmen und Unangenehmen. Wem es in diesem Au-
genblicke völlig ungelegen ist, sich zu baden, der kann
gleichwohl mit dem eingetauchten Finger prüfen, ob das
schon bereitete Bad eine angenehme Wärme habe. Wer
Wohlgerüche scheut, als ungesund, oder sie verachtet,
der kann dennoch einen Ausspruch darüber thun, ob dies
oder jenes angenehmer rieche. Wer einen körperlichen
Schmerz höchst gelassen erduldet, wird ihn dennoch un-
angenehm nennen, so daſs der Schmerz ein Prädicat be-
kommt, was vom Erdulden desselben unabhängig besteht.


Auf diese Weise giebt es eine, nicht eben gar groſse,
Anzahl von Gefühlen, denen ihre Annehmlichkeit oder
Unannehmlichkeit wesentlich zugehört. Jede solche
Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit ist von eigner
Art
, jede hat ihren eignen Grad; der darum nicht grö-
ſser noch kleiner wird, ob man ihr viel oder wenig
Wichtigkeit beylege; wofern nicht etwa die Empfänglich-
keit des Fühlenden sich ändert, welches nicht hieher
gehört.


Es fehlt nicht viel daran, daſs die Aussage von sol-
cher Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit die Form
eines Urtheils bekomme. Wirklich spricht man oft: die-
ser Wind ist unangenehm, der elektrische Schlag ist un-
angenehm. Allein bey genauer Prüfung zeigt sich ein
Fehler im Subjecte solcher Sätze. Nicht der bewegten
Luft, nicht dem hervorspringenden Funken, kommt jenes
[112] Prädicat zu; auch ist es nicht so gemeint, sondern unsrer
eignen Empfindung beym Eindringen jener Luft oder die-
ses Funkens, schrieben wir die Annehmlichkeit oder Un-
annehmlichkeit zu. Nun läſst sich aber die Empfindung
gar nicht vorstellen, auſser als angenehm oder unange-
nehm. Sie, als das wahre Subject des Satzes, schlieſst
dergestalt das Prädicat in sich, daſs nicht einmal Raum
ist für einen analytischen Actus der Aufmerksamkeit, der-
gleichen sonst vorgeht, wo ein Subject unter eins seiner
Merkmale subsumirt wird. Daher kann man jene Sätze
beynahe tautologisch nennen; besonders da der Begriff
des Unangenehmen, in seiner Allgemeinheit, äuſserst
dunkel ist, und man sich fast nothwendig auf etwas un-
mittelbar Gefühltes besinnen muſs, um ihn zu verstehen;
welches denn im Falle jener Sätze nichts anderes seyn
wird als eben ihr Subject.


Merkwürdig aber bleibt immer die Neigung, den Be-
griff des Angenehmen oder des Unangenehmen als Prä-
dicat zu gebrauchen. Gesetzt, es wäre möglich, das Sub-
ject für dies Prädicat anders aufzufassen, so, daſs
in dem Denken des Subjects nur nicht unmittelbar das
Prädicat schon läge, sondern daſs noch eine Fortrückung
möglich bliebe vom Denken des Subjects zum Denken
des Prädicats, daſs also in der That der Actus des Ur-
theilens könnte ausgeübt werden: alsdann käme eine
Klasse von Urtheilen zum Vorschein, die in psycholo-
gischer Hinsicht
den Gefühlen des Angenehmen und
Unangenehmen nahe verwandt wäre, wenn sie schon in
ihren Folgen sich weit von ihnen entfernen möchte.


Dieses nun ist wirklich der Fall, und zwar bey den
ästhetischen Urtheilen. Man prüfe das Urtheil:
dieses Bild ist schön. Zuvörderst, nicht die Lein-
wand, oder die Pigmente, oder die dadurch reflectirten
Lichtstrahlen sind schön, sondern unsre eigne Vorstel-
lung, in welcher die Auffassungen aller Theile des Bil-
des sich vereinigen. Diese nähere Bestimmung ist ganz
ähnlich jener, da wir das Unangenehme nicht dem Winde
noch
[113] noch dem Funken, sondern unserem Gefühle zuschrie-
ben. Allein nun tritt die Verschiedenheit hervor. Unsre
Vorstellung des Bildes läſst sich zerlegen in die ganze
Summe ihrer Theil-Vorstellungen; aber von allen ein-
zelnen gefärbten Puncten, die wir sahen, ist kein einzi-
ger schön; also auch nicht ihre Summe, so lange sie
bloſs als Summe gesehen wird. Nun kann man aber
wirklich das Bild sehen als eine bloſse Summe sichtba-
rer Stellen; und ohne Zweifel wird es also gesehen von
Thieren, von Kindern, vom rohen Volke, das, wie man
zu sagen pflegt, keinen Sinn hat für das Schöne. Und
auch der Kenner muſs einen Uebergang machen von dem
Sehen des Aggregats von Farben zu dem Sehen des
Schönen in dem Bilde; er muſs sich die Verhältnisse
erst herausheben, er muſs der Vorstellung dieser Ver-
hältnisse eine kleine Weile zu ihrer Ausbildung gönnen,
ehe der Unterschied zwischen seinem Sehen und dem
des Volkes fertig wird. Dieser Uebergang gleicht dem
vom Subjecte zum Prädicate im ästhetischen Urtheile;
jenes ist die bloſse Materie des Wahrgenommenen, die-
ses entspringt in der Auffassung der Form.


Was aber mag leichter seyn zu ergründen, das, was
beym ästhetischen Urtheile, oder was bey den Gefühlen
des Angenehmen und Unangenehmen in der Seele vor-
geht? Offenbar das erste. Denn beym ästhetischen Ur-
theile sind uns die Partial-Vorstellungen gegeben, die
zusammen das Schöne ausmachen; auch können wir mit
ihnen experimentiren, sie mannigfaltig abändern, und be-
merken, wie dadurch das Schöne sich ins Schönere oder
ins Häſsliche verwandelt. — Es giebt ja so einfache
ästhetische Urteile, daſs sich bey ihnen alles, was ihr
Gegenstand ins Bewuſstseyn bringt, der Rechnung un-
terwerfen läſst; daher es möglich seyn muſs, alles aufs
vollständigste kennen zu lernen, was bey diesen Urthei-
len in der Seele sich ereignet. Dieses sind bekanntlich
die Grund-Urtheile der Musik, über das Consonirende
oder Dissonirende zweyer und dreyer Töne.


II. H
[114]

Die Vergleichung dieser ästhetischen Urtheile mit
den Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen wirft,
wie schon oben gezeigt worden, ein Licht auf die Natur
der letztern; nämlich iu Rücksicht auf die Frage: was
doch bey ihnen das Gefühlte vor einem bloſsen Vorge-
stellten auszeichnen möge? Worin der Grund des Vor-
ziehens und Verwerfens liegen möge, welches bey ihnen
Angenehmes vom Unangenehmen, so wie dieses beydes
vom Gleichgültigen, dem bloſsen Vorgestellten, — un-
terscheide? Wir kennen schon folgende Antwort: Das
Vorgestellte im Gefühl des Angenehmen oder
seines Gegentheils, ist nicht einfach, sondern
zusammengesetzt aus Partial-Vorstellungen,
die sich von einander im Bewuſstseyn nicht ab-
sondern lassen, die aber unter einander in ähn-
lichen Verhältnissen stehn, wie die Partial-
Vorstellungen bey ästhetischen Gegenständen
.
Kennt man daher die letzteren, so wird man sich einen
Begriff machen können von jenen. Dem gemäſs wird
sich auch über die, anfangs aufgeworfene Frage wegen
des Cirkels, worin das Angenehme und das Begehrte
sich zu drehen scheinen, etwas bestimmteres sagen las-
sen. Nämlich das eigentlich Angenehme und sein
Gegentheil gehen der darauf sich richtenden
Begierde voran
; (abgesehen davon, daſs auch dieses,
so wie jedes Gleichgültige, zufälliger Weise ein Ge-
genstand der Begierde werden kann, wobey zu bemerken,
daſs der Erfahrung gemäſs gar nicht selten sogar das an
sich Unangenehme begehrt wird, z. B. wenn es den Reiz
der Neuheit hat.) — Allein das bey weitem gröſste Quan-
tum der Lust und Unlust, die im menschlichen Leben
vorkommt, hängt nur in geringem Grade ab von dem
eigentlich Angenehmen und Unangenehmen; indem dar-
über viel öfter die im §. 104. unter Nro. 1. 2. 3. bezeich-
neten Gemüthslagen entscheiden; aus denen Gefühle
und Begierden zugleich
entspringen, welche an
gar keine Qualität des Vorgestellten gebunden
[115] sind, sondern sich nach dem durch Umstände
bestimmten psychologischen Mechanismus rich-
ten
. Hier ist die Entbehrung mit Unlust verbunden; die
Befriedigung aber darum mit Lust, weil die Begierde
voranging
, die ihrem Gegenstande einen ihm au-
ſserdem nicht zukommenden Werth
beylegte.


Hievon wollen wir nun eine kurze Anwendung ma-
chen auf die Leidenschaften, von denen wir wissen, daſs
sie die Stämme sind, aus denen ein heftiges Begehren,
sich gleichartig wiederhohlend, hervorwächst. Es kann
uns nämlich jetzt nicht mehr wundern, wenn wir sehen,
daſs die Leidenschaften den seltsamsten und widrigsten
Contrast nicht bloſs mit dem bilden, was wirklich zum
Wohlseyn des Menschen gehört, sondern auch mit dem,
was er als sein wahres Glück anerkennt, was er bey ru-
higer Ueberlegung wirklich anstrebt, ja selbst was er in
seinen Phantasien sich als heitern Lebensgenuſs ausmalt.
Dies könnte nicht Statt finden, wenn die zu Leidenschaft
ten gesteigerten Begierden in irgend einem wesentlichen
Zusammenhange stünden mit den Gefühlen des Ange-
nehmen und Unangenehmen.


Weit davon entfernt, stören sie noch überdies das
heitere Spiel mannigfaltiger Vorstellungsreihen, woraus
die Lustgefühle hervorgehn. Die Leidenschaften sind
vielmehr der Ausdruck des rohen psychologischen Me-
chanismus, wie er sich da erzeugt, wo natürliche Begier-
den lange unbefriedigt bleiben; wo alte Gewohnheiten
ohne Schonung Gewalt erleiden; wo betäubende Genie-
ſsungen oftmals wiederkehren; wo einerley Affect sich
unbewacht und ungedämpft durch fortwährende Reizung
erneuert; wo das wahre ästhetische Urtheil ungebildet
hlieb, und dagegen vorgespiegelte Güter und Uebel den
Geist lange beschäfftigen; und wo die Spannung, der
Krampf, welcher in solchen Lagen entstand, die Vor-
stellungsreihen hier hemmte, dort verknüpfte, so daſs die
Reproductionsgesetze sich darnach einrichten, von allen
Seiten auf denselben Punct zurückführen, und hiedurch
H 2
[116] unter wechselnden Umständen doch immer dasselbe Lei-
den erneuern. Hat sich nun früherhin die gesunde Ue-
berlegung ausgebildet: so ist so lange noch Hülfe gegen
die Leidenschaft, wie lange sie nicht durch ihre Regun-
gen bis zum eigentlichen Affecte aufsteigt, in welchem,
weil die Vorstellungen aus dem Gleichgewichte kamen,
auch der Leib — die Nerven und das Blut — in eine
Aufregung gerathen, die nicht sogleich vorübergeht, son-
dern gegen den Lauf der Vorstellungen hemmend zu-
rückwirkt. Kommt es erst dahin: so gleicht der Anfall
der Leidenschaft mehr oder weniger dem Traum und
dem Wahnsinn; das Uebel läſst zwar nach, aber nur
um künftig desto furchtbarer wiederzukehren. Der Mensch
bedarf alsdann Hülfe von auſsen: und nur zu oft über-
liefert ihn das Bewuſstseyn dieses Bedürfnisses solchen
Seelenärzten, die das Schlimme noch schlimmer machen.


Man hat unter mancherley nähern Bestimmungen
oftmals, nicht bloſs gerathen, sondern versucht, eine Lei-
denschaft durch die andre zu bezwingen. Es giebt ja so-
gar Lobredner der Leidenschaften; es finden sich Leute,
die zum Beyspiel einer Nation, welche bis dahin von
politischen Leidenschaften wenig wuſste, gern dergleichen
einimpfen möchten! — —


Daſs auch gute Aerzte zuweilen durch ein künstli-
ches Geschwür, — welches sie wieder heilen können,
und das in ihrer Gewalt bleibt — dringende Gefahren
vorläufig abwenden, ist bekannt. Wer sich aber ein-
bildet, man könne aus entgegengesetzten Leidenschaften
die moralische Gesundheit erzeugen, der gleicht den Po-
litikern, welche im Ernste zwey Mächte auf Einem Bo-
den begehren. Nicht Ruhe, sondern völlige Zerrüttung
ist davon die nothwendige Folge.


Weit besser ist ein anderes Mittel, welches unsre
Moralisten seit Kant zu sehr verschmäht haben. Es ist
eine verständige Glückseligkeitslehre, welche das Be-
wuſstseyn des wahrhaft Angenehmen und Erfreulichen
zurückführt. Ein Mensch, der ein anhaltend genuſsrei-
[117] ches Leben führt, ist darum keinesweges gut und edel,
aber er ist gesund! Hierauf werde ich weiterhin, bey
den Betrachtungen über die Ausbildung der Maximen,
zurückkommen.


Am sichersten ist es ohne Zweifel, der Entstehung
von Leidenschaften vorzubeugen. Dazu ist aber nicht
bloſs die eigne Aufmerksamkeit des Menschen auf sich
selbst, sondern auch eine solche äuſsere Lage und Be-
handlung nöthig, die ihn vor heftigen Reizungen, und
vor dem Mangel des Unentbehrlichen schütze. Barbari-
sche Behandlung macht Barbaren! Man kennt die Schil-
derungen der heutigen Griechen. — Dagegen hat man
neuerlich die unerwartete Erfahrung gemacht, daſs selbst
reiſsende Thiere durch gute Pflege, welche ihren Bedürf-
nissen abhilft und zuvorkommt, sanftmüthig erhalten wer-
den können. Was hindert uns, anzunehmen, daſs die
Raubsucht des Tigers und der Hyäne eine Leidenschaft
sey, die aus unbefriedigtem heftigen Hunger entstand,
und alsdann habituel wurde? *) Wir sehen wenigstens,
daſs der Kettenhund, durch sein langes Leiden, eben so
wohl bösartig gemacht wird, als dies beym Menschen der
Fall seyn würde.


Dies erinnert an eine andre Aehnlichkeit zwischen
Menschen und Thieren in Ansehung des Tempera-
ments
**), welches auf Affecten und Leidenschaften ei-
[118] nen so groſsen und unläugbaren Einfluſs hat. Bekannt-
lich ist das Temperament nicht bloſs bey einzelnen
Thieren, sondern noch weit auffallender bey den Thier-
gattungen
verschieden. Das phlegmatische Rind, der
sanguinische Sing-Vogel, der cholerische Hund, — und
soll ich sagen, die melancholische Eule? — sind stark
von der Natur gezeichnet; und wir können uns nicht
weigern anzuerkennen, daſs der Organismus seinen mäch-
tigen Einfluſs auf Gemüthsbewegungen hiedurch sehr deut-
lich documentirt. Die Folgen solcher Verschiedenheiten
greifen ins Leben tief genug ein. Wenn wir aus einem
Hause ins andre ziehn, so geht der Hund willig mit
uns, und läſst sichs beym neuen Ofen eben so wohl seyn
als beym alten, sobald er nur die Erlaubniſs hat, in Ge-
sellschaft seines Herrn zu leben; — aber die Katze will
uns nicht folgen; sie bleibt in der alten Wohnung, ge-
treu dem Heerde und den Schlupfwinkeln, die sie kennt,
anhänglich mehr für das Todte als für das Lebendige.
Warum? Ohne Zweifel hat die Katze niemals ganz den
ersten Affect überwunden, den der Mensch ihr bey
der ersten Annäherung einflöſste; und das war die Furcht.
Beym Hunde hingegen ist es der Zorn, der seiner Natur
nach schneller vorübergeht. Daher bleibt der Hund stets
unvorsichtig; die Katze aber hütet sich; sie ist schlau, weil
sie sich fürchtet. Wir wollen die Physiologen nicht fra-
gen, welches von den beyden Thieren hierin Recht oder
Unrecht habe? Sie würden sonst ohne Zweifel die Katze
loben müssen, die, viel klüger als der Hund, sich gewis-
sen grausamen Experimenten entzieht, so lange sie kann.
Sollte aber wohl die vergleichende Anatomie jemals da
hin kommen, uns über den Grund, weshalb das Tempe-
rament und der erste natürliche Affect bey Verschiedenen
verschieden sind, Aufschluſs zu geben? Wenn die Phy-
siologen es dahin bringen, so werden sie uns etwas von
dem lehren, was wir zu wissen verlangen; während sie
bisher (z. B. in der Angabe des Sitzes verschiedener
Seelenvermögen,) freygebig gewesen sind mit Antworten,
[119] zu denen in der wahren Psychologie leider! die entspre-
chenden Fragen nicht angetroffen werden.


Im dritten Abschnitte wird gezeigt werden, daſs, un-
geachtet das Leben des Geistes und das Leben des Ge-
hirns zwey durchaus verschiedene Dinge sind, dennoch
wegen des Causalverhältnisses zwischen Leib und Seele,
die Abhängigkeit der letztern von jenem noch ohne
allen Vergleich gröſser
müſste erwartet werden, als
sie sich in der Wirklichkeit findet. Dem gemäſs müſste
auch der Mensch, in welchem Grade er über die Thiere
hervorragt, in demselben Grade stärker einen entschie-
denen Gattungscharakter in Hinsicht des Temperaments
und des ersten Affects zeigen, als dieses bey den Thier-
gattungen der Fall ist. Aber gerade das Gegentheil!
Was wir beym Menschen in der zu erwartenden Ver-
gröſserung antreffen, und mit den Namen der verschie-
denen Temperamente belegen, das ist nichts anderes als
die vergröſserte Verschiedenheit, die sich bey den ein-
zelnen
Thieren von einerley Gattung ganz deutlich
vorfindet. Ich habe nicht Lust, von meinen zwey Hun-
den zu erzählen; man wende sich an Jäger, und an
Pferdekenner, und man wird von jener Verschiedenheit
genug zu hören bekommen. Die Unterschiede des Tem-
peraments sind beym Menschen unbegreiflich gering ge-
gen die scharfe Zeichnung des allgemeinen mensch-
lichen
Temperaments, (das, wenn wir die individualen
Verschiedenheiten gegen einander aufheben, wohl gleich
Null seyn dürfte,) welche statt finden müſste, wenn
psychische Anthropologie das rechte Wort wäre
statt Psychologie. Aber gesetzt, der Mensch fehlte
auf der Erde: dann würde kein Zuschauer aus den übri-
gen Thieren eine zusammenhängende empirische Psycho-
logie herausdeuten können; er müſste sich mit einer psy-
chischen Zoologie
begnügen. Denn je tiefer wir zu
den niedrigern Thierarten herabsteigen: desto mehr ver-
liert sich die Psychologie in die Physiologie.


[120]

Drittes Capitel.
Vom räumlichen und zeitlichen Vorstellen.


§. 109.

Begierden und Gefühle sind so sehr mit unsern
Vorstellungen des Umgebenden verflochten, daſs eine
tiefer eindringende Untersuchung der einen und der an-
dern sich unvermeidlich in Erörterungen über unsre Art
und Weise, die Dinge in der Welt aufzufassen, ver-
wickeln muſs. Aber das Verwickelte wird nur verständ-
lich nach vorgängiger Kenntniſs des Einfacheren. Daher
lassen wir die bisher gelieferten Anfänge der Untersu-
chung über Begierden und Gefühle jetzt fürs erste lie-
gen *) und wenden uns zu den Hauptformen der weltli-
chen Vorstellungsarten; unter denen bekanntlich die räum-
lichen und zeitlichen sich zu allererst zur Analyse dar-
bieten.


Hier bemerke man zuerst den Unterschied zwischen
räumlichen und zeitlichen Vorstellungsarten auf einer
Seite, und Vorstellungen des Raumes und der Zeit auf
der andern. Jene sind unstreitig allen Menschen eigen,
dergestalt, daſs Niemand ihre erste Entwickelung in frü-
her Kinderzeit nachzuweisen unternimmt, da sie jenseit
der ersten Puncte liegt, die das Gedächtniſs zu erreichen
vermag. Allein wenn Manche behaupten, Raum und
Zeit selbst, diese leeren Formen für Körper und Be-
gebenheiten, würden als unendliche gegebene Gröſsen
von uns vorgestellt: so muſs man sich dabey sogleich
erinnern, daſs das Unendliche eine wissenschaftliche Vor-
stellungsart ist, zu der sich ungebildete Köpfe nicht er-
heben, wenn sie gleich von einem Etwas jenseit der
ihnen bekannten
Sinnensphäre eine Ahndung haben.
Nicht einmal die drey Dimensionen des Raumes und des
[121] Räumlichen werden ursprünglich unterschieden; wer
dies annimmt, erschleicht eine Thatsache, die sich nicht
nachweisen läſst.


Setzen wir nun fürs erste die Vorstellungen des
Raumes und der Zeit ganz bey Seite, und halten uns an
denen des Räumlichen und Zeitlichen: so scheint es
zwar auf den ersten Blick, als hätten wir hier einen recht
klaren Gegenstand, welchem die Analyse ohne Mühe
seine Merkmale abgewinnen werde. Denn das Räum-
liche und Zeitliche läſst sich ja messen und zählen! Es
läſst sich im eigentlichen Verstande mit Händen greifen,
und wird durch die Worte unserer Sprachen unmittelbar,
ohne Metaphern, (die vielmehr von ihm entlehnt sind),
bezeichnet! Auch haben wir es nur mit den gemeinsten
Vorstellungsarten zu thun; und die metaphysischen Fra-
gen, nach dem wahren Wesen des Körperlichen, nach
der Möglichkeit des Veränderlichen bekümmern uns hier
gar nicht.


So wahr dieses ist: eben so bekannt ist dagegen
auch, daſs der Sinn für räumliche Auffassungen in den
frühesten Kinderjahren eine Uebung erlangt, die ursprüng-
lich nicht vorhanden war, welche aber, einmal ange-
nommen, sich nicht wieder abstreifen läſst
.
Die Hand des Kindes lernt erst greifen, das Auge lernt
erst sich gehörig richten; aber der Erwachsene vollzieht
unwillkührlich, was er gelernt hat; er trübt sich unwill-
kührlich die reine sinnliche Wahrnehmung durch Zu-
sätze, die seine vorhandene Ausbildung hineinmischt. Wie
mit dem Räumlichen, also auch mit dem Zeitlichen. Wir
messen die Zeit, durch Vergleichung mit bekannten Zeit-
gröſsen, mit Secunden, Minuten, Stunden, Tagen; wir
theilen kleine Zeitabschnitte mit Leichtigkeit in Hälften
und in Dritttheile; und wer einmal an rhythmische Auf-
fassungen gewöhnt ist, bey dem stellen sie sich überall
ein, ohne sein Wollen und Zuthun. Aber es giebt Men-
schen ohne solche Uebung und Gewöhnung; es giebt
deren, die über die rohesten Unterscheidungen des Lang-
[122] samern und des Schnelleren nicht hinauskommen. Uns
in den Gemüthszustand derselben zurück zu versetzen,
nachdem wir ihn einmal überschritten haben, wird uns
nicht gelingen; dagegen werden wir uns um so eher von
der Einbildung hinreiſsen lassen, als sey eine so ausge-
bildete, ja künstliche Auffassung des Zeitlichen und des
Räumlichen, wie uns nun einmal anklebt, eine wahrhaft
ursprüngliche menschliche Anlage. —


Diejenigen endlich, welche mit heutiger Schul-Phi-
losophie sich zu beschäfftigen gewohnt sind, müssen sich
an diesem Puncte die dringende Warnung gefallen las-
sen, nicht in die gemeine Verwechselung zweyer gänzlich
verschiedenen Untersuchungen zu gerathen. Die Frage,
wie wir zu unsern Vorstellungen des Räumlichen und
Zeitlichen kommen mögen, nämlich zu den gemeinen,
und von Kindheit auf gehegten Vorstellungen, — eben
die Frage, die uns hier beschäfftigt, — muſs nothwendig
gesondert werden von der völlig heterogenen Frage, ob
wirklich etwas auſser uns in räumlichen Verhältnissen
existire? Was diese letztere Frage anlangt, die in die
allgemeine Metaphysik (oder, mit dem alten Namen, in
die Ontologie,) hineingehört: so wird sie von Leibnitz
bejahet, während Kant alle positive Beantwortung der-
selben verbietet. Aber was sind Kants Gründe? Er
sucht zu beweisen, die räumlichen Formen entspringen
aus einer Urform unserer Sinnlichkeit, sie kommen kei-
nesweges von auſsen in uns hinein. Gesetzt, das werde
eingeräumt: ist nun damit Leibnitz widerlegt? So we-
nig, daſs er vielmehr gerade das nämliche auf das be-
stimmteste behauptet. Denn nach der prästabilirten Har-
monie entspringen alle unsere Vorstellungen in uns selbst,
aus der eigenen Anlage unserer Seele, ohne den gering-
sten Causal-Zusammenhang mit dem, was drauſsen ist.
In Leibnitzens Lehre bestehen zwey ganz verschiedene
Behauptungen völlig mit einander; die eine psychologische:
Raum und Zeit sind Vorstellungen, die sich lediglich
aus unserer ursprünglichen Anlage entwickeln, (so wie
[123] alle unsere Vorstellungen;) die zweyte allgemein-meta-
physische, die wahren Wesen, welche von uns abhängig
existiren, sind wirklich auf räumliche Weise auſser uns,
und auſser einander; die wahren Begebenheiten, welche
theils auſser uns, theils in uns vorgehen, sind wirklich
zeitliche Begebenheiten, und das Zeitliche ist keineswe-
ges eine bloſs menschliche, sondern in der wahren Er-
kenntniſs eines jeden Vernunftwesens unentbehrliche Vor-
stellungsart. — Ich behaupte mit Leibnitz den letztern,
metaphysischen Satz; ich behaupte wider Leibnitz
und Kant
das Gegentheil jenes erstern, psychologischen
Satzes; ich werde über meine psychologische Behaup-
tung hier Rechenschaft ablegen, während mich der allge-
mein metaphysische Satz, über den ich anderwärts ge-
sprochen *), hier gar nichts angeht.


Dennoch wird es im Anfange meiner Entwickelung
scheinen, als müsse ich mit Leibnitz[und]Kant gerade
in dem Puncte zusammenstimmen, worin ich ihnen bey-
den widerspreche. Der Leser aber wird mich am leich-
testen verstehn, wenn er es über sich erhalten kann, we-
der an Leibnitz noch an Kant zu denken, sondern
lediglich dem Faden meiner Untersuchung zu folgen.


§. 110.

Schon im §. 103. wird aufmerksam gemacht auf die
vollkommne Intensität alles unseres Vorstellens, wegen
der völligen Einheit und Einfachheit der Seele. Alle
Unterschiede des Rechts und Links, Oben und Unten,
die in unserem Vorgestellten vorkommen, verschwin-
den gänzlich, sobald von dem Actus des Vorstellens
selbst die Rede ist. Oder vielmehr — da doch das Vor-
stellen dem Vorgestellten vorauszusetzen ist, — sie sind
in dem Vorstellen noch gar nicht vorhanden; dieses ruhet
in dem Einen und untheilbaren Schooſse der Seele; und
es bleibt auch in demselben; es kann gar nicht aus
[124] demselben heraus — folglich auch gar nicht wirklich
auseinander treten.


Mag also immerhin die allgemeine Metaphysik ihren
Satz behaupten, es gebe wirklich Wesen auſser uns, und
auſser einander; mag, auf irgend eine, rechtmäſsige oder
unrechtmäſsige Weise, die Physiologie sich mit jener in
Verbindung setzen, und erzählen von dem Bilde auf der
Netzhaut des Auges, worin alle Proportionen der äuſse-
ren, wirklichen Gegenstände, sich unverändert wiederfin-
den: das alles fällt zusammen, es wird ein ungeschiede-
nes Chaos, sobald daraus ein wirkliches Vorstellen in der
Seele entspringt. Sie, die Seele, muſs nun ganz von
vorn an die völlig vernichteten Raum-Verhältnisse er-
zeugen; und dieses muſs sie leisten, ohne ihre Vorstel-
lungen nur im allergeringsten auseinanderrücken zu kön-
nen; sie muſs es so leisten, daſs, während das Vorstel-
len intensiv bleibt, sein Vorgestelltes doch auseinan-
der trete.


Allein das Vorgestellte ist eben weiter nichts als nur
ein Vorgestelltes; es ist nichts wirkliches; also tritt auch
nicht wirklich etwas auseinander; sondern das wirkliche
psychologische Ereigniſs des räumlichen Vorstellens ist
etwas völlig Unräumliches. — Man kann leicht zeigen,
daſs auch das Vorstellen des Zeitlichen etwas solches
st, worin sich Nichts von der dadurch vorgestell-
ten
Zeit befindet. Dabey aber entstehn leicht Verwech-
selungen zwischen dem successiven Vorstellen und
dem Vorstellen des Successiven; daher bleiben wir
fürs erste beym Vorstellen des Räumlichen; welches im-
merhin, ohne Sorge wegen eines möglichen Misverstandes
auch räumliches Vorstellen genannt werden kann, eben
darum, weil es kein Vorstellen giebt, das selbst etwas
Räumliches wäre.


Nun muſs aber doch das Vorstellen des Räumlichen
gewisse Aehnlichkeiten haben mit dem Räumlichen selbst,
weil sonst das Vorgestellte dieses Vorstellens eher alles
andere als ein Räumliches seyn würde.


[125]

Ohne Mühe sieht man: es muſs ein mannigfaltiges
Vorstellen seyn; ferner ein verbundenes und geordnetes.
Ja die Ordnung läſst sich näher bestimmen. Sie muſs
für jede Dimension gleichen der Ordnung der Buchsta-
ben a, b, c, d, e, u. s. w.; dergestalt, daſs jeder von
diesen der erste seyn könne, aber daſs zwey bestimmte
andre, (die nächsten zu beyden Seiten,) mit ihm zuerst
verbunden seyen, noch zwey andre nur mit der Ver-
bindung jener mit ihm
, und so ferner. Sey c der
erste; mit ihm sind ohne weiteres verbunden b und d;
hingegen a und e nur mit der Verbindung des b mit c,
und des d mit c. Sey b der erste; so ist mit ihm ohne
weiteres verbunden c, aber d mit b nur so fern c mit b
verbunden ist.


Doch diese analytische Betrachtung des räumlichen
Vorstellens, und der Erscheinung eines Neben einan-
der
geordneten, würde entweder gar nicht, oder nur mit
groſsem Aufwande künstlicher Speculation so weit fort-
geführt werden können, bis sich aus ihr die wirkliche
geistige Thätigkeit, die dabey zum Grunde liegt, mit Be-
stimmtheit erkennen lieſse. — Die Synthesis muſs uns
zu Hülfe kommen; ja sie bietet sie uns dar, auf eine
völlig unzweydeutige Weise.


§. 111.

Wir wollen zuvörderst versuchen, den Leser so
schnell und so gerade als möglich auf den Hauptpunct
hinzuweisen; ohne uns gleich in das Einzelne der nöthi-
gen Erläuterungen zu verlieren.


Aus der so eben angestellten analytischen Betrach-
tung (die übrigens auf die Zeit und die Zahl eben so
gut paſst als auf den Raum,) läſst sich wenigstens so
viel erkennen, daſs auf Abstufungen in der Verbin-
dung der Vorstellungen
alles ankommen müsse.


Diese haben wir aber in der Mechanik des Geistes,
(§. 86—91. und §. 100.) mit einer früherhin niemals er-
reichten Genauigkeit kennen gelernt. Und hieher sind
wir demnach durch die Analyse gewiesen; es fragt sich
[126] nur, welche Modificationen die dortige allgemeine Unter-
suchung annehmen könne und müsse, um die gesuchten
Erklärungen zu liefern. So viel leuchtet gleich von selbst
ein, daſs eine geringe Anzahl von Vorstellungen, wie die
dortige P, π, π′, π″, u. s. w. und eine eben so kleine
Anzahl bestimmt verschiedener Reste r, r′, r″, u. s. w.,
hier nicht zureichen könne; denn beym sinnlichen Auf-
fassen des Räumlichen giebt jede kleinste, farbigte oder
betastbare, Stelle, ihre eigne Vorstellung; und jede Vor-
stellung verschmilzt mit allen andern. Es muſs also die
Anwendung jener allgemeinen Lehren eine unermeſsliche
Mannigfaltigkeit in sich schlieſsen.


Nun ist es gewiſs, daſs, während wir sehen und
tasten, eine unermeſsliche Menge, nicht bloſs von Vor-
stellungen
, sondern auch für jede einzelne unter ihnen,
(wenn man anders eine einzelne herausheben kann, wel-
ches z. B. beym Anblick des gestirnten Himmels, unter
Voraussetzung eines guten Auges, allerdings eintritt,)
eine unermeſsliche Menge von Abstufungen ihres
Verschmelzens
mit den übrigen entsteht. Folglich ist
so viel unzweifelhaft, daſs wirklich die Reproductionsge-
setze, welche in der Mechanik nachgewiesen worden, hier
zur Anwendung kommen. Gesetzt demnach, wir dächten
nicht daran, eine Erklärung des räumlichen Vorstellens
zu suchen: so müſsten wir doch schon der Theorie we-
gen, und bloſs a priori, irgend eine Folge von diesen
Reproductionsgesetzen, die nicht unterlassen könne, im
empirischen Bewuſstseyn merklich zu werden, erwar-
ten und durch die innere Erfahrung aufzufinden uns
bemühen.


Unter welchen Bedingungen aber entstehn die ver-
schiedenen Abstufungen des Verschmelzens einer jeden
Vorstellung mit allen übrigen? — und unter welcher
neuen Bedingung gelangen die aus den verschiedenen
Abstufungen entstandenen Reproductionsgesetze zur Wirk-
samkeit?


Die ganz einfache Antwort auf beydes zugleich ist:
[127] wenn man das beschauende Auge und den tastenden
Finger vorwärts und rückwärts bewegt.


Denn beym Vorwärtsgehn sinken allmählig die er-
sten Auffassungen, und verschmelzen, während des Sin-
kens sich abstufend, immer weniger und weniger mit den
Nachfolgenden. Beym mindesten Rückkehren aber gera-
then sämmtliche früheren Auffassungen, begünstigt durch
die eben jetzt hinzukommenden, die ihnen gleichen, ins
Steigen; und mit diesem Steigen ist ein nisus zur Repro-
duction aller übrigen verbunden, dessen Geschwindigkeit
genau dieselben Abstufungen hat wie die zuvor gesche-
hene Verschmelzung.


Dies nun ist das Wesentliche, was der Leser su-
then muſs sich gleich jetzt so deutlich zu denken, als es
ihm gelingen will. Er wird alsdann gewahr werden, daſs
jede Vorstellung allen ihre Plätze anweis’t, in denen
sie sich neben und zwischen einander lagern müssen;
während doch der Actus des Vorstellens rein intensiv ist
und bleibt.


Das ruhende Auge aber sicht keinen Raum. Dies
ist in der Erfahrung etwas schwer zu erkennen, weil wir
so leicht den längst bekannten Raum erschleichen und
einschieben. Doch versuche man, ganz starr vor sich
hinzusehen; man wird spüren, daſs der Raum schwindet,
und daſs, im Bemühen, ihn wieder zu gewinnen, man
sich über einer kaum merklichen Bewegung des Auges
ertappen kann. Beym Beschauen neuer Gegenstände
ist übrigens die unaufhörliche Regsamkeit, womit der
Blick die Gestalt umläuft, sehr leicht wahrzunehmen.


Die räumliche Auffassung liegt also nicht in der
allerersten, unmittelbaren Wahrnehmung, hier kann sie
nicht liegen, denn es ist evident, daſs die vollkommne
Intensität des Vorstellens, so lange noch die Vorstellun-
gen in eine einzige Masse zusammenschmelzen, und so
lange jede für alle nur einen einzigen, gleichennisus
der Reproduction aufzubieten hat, alle Räumlichkeit auf-
hebt. Vielmehr kommt allerdings aus dem Innern etwas
[128] hinzu, welches der Wahrnehmung die räumliche Form
giebt. Aber dieses Etwas ist nicht ein Seelenvermögen:
sondern es sind die schon vorhandenen Vorstellungen,
welche in ihrem Wieder-Hervortreten ein gewisses Ge-
setz befolgen; ein Gesetz der Ordnung, nach welchem
jede auf das Hervortreten der Mit-Verbundenen wirkt.
Sofern nun die augenblickliche Wahrnehmung mit diesen
schon geordneten Vorstellungen verschmilzt, wird sie
selbst geordnet; und ist daher allerdings die fortdauernde
Wahrnehmung in einem beständigen Uebergange zur
räumlichen Form begriffen.


Man kann nun das Auge und den Finger aus der
Voraussetzung weglassen: so bleibt übrig, daſs die Seele
auf irgend eine Weise, (wenn man will, bloſs aus sich
selbst,) Vorstellungen erzeuge, die auf die nämliche
Weise, wie jene, mit einander zuvörderst verschmelzen;
worin noch nichts Räumliches liegt; daſs alsdann andere
und wieder andere Vorstellungen eintreten, während jene,
nun auch verschmelzend mit den hinzukommenden, im
Bewuſstseyn sinken, (statt der vorigen Annahme, das
Auge bewege sich vorwärts;) daſs die Seele noch einmal
neue, aber den erstern völlig gleichartige, Vorstellungen
erzeuge, (vorhin: daſs das Auge rückwärts gehe;) woraus
denn folgt, daſs die Gesunkenen wieder hervortreten.
Wenn man nun alle Umstände so annimmt, daſs die
Verschmelzung die nämliche werde, wie unter Voraus-
setzung des sehenden Auges und des tastenden Fingers:
so wird der Erfolg ebenfalls der nämliche seyn müssen;
indem jede Regung einer Vorstellung in ihrem eignen
Hervortreten zugleich alle, von ihr ausgehenden, Ver-
schmelzungshülfen anregt. — Diese Erklärung kann also
auch der Idealist und der Leibnitzianer gebrauchen; aber
die besondere angeborne Anlage, nach welcher die mensch-
liche Seele nun einmal eigensinniger Weise soll genö-
thigt worden seyn, sich alles räumlich vorzustellen, was
ihr Sichtbares und Fühlbares vorkommt, diese muſs er
weglassen.


Im
[129]

[Im Zusammenhange der ganzen Metaphysik kann es
übrigens bestimmt behauptet werden, daſs wir die äuſsern
Gegenstände darum räumlich geordnet wahrnehmen, weil
sie wirklich räumlich geordnet sind. Denn jenes Repro-
ductions-Gesetz hängt von den vielfach abgestuften Ver-
schmelzungen ab; die Verschmelzungen hängen von der
Wahrnehmung ab; woher kommt nun der Wahrneh-
mung dieses Abgestufte? Aus der allgemeinen Meta-
physik weiſs man, daſs in der Seele gar nichts dafür
prädisponirt seyn kann, daſs vielmehr die Wahrnehmun-
gen sich nach Störungen der Seele durch von ihr ver-
schiedene Wesen richten, daſs in diesen Störungen keine
andre Regelmäſsigkeit seyn kann, als solche, die auſser
der Seele, und unabhängig von ihr, begründet seyn muſs,
man weiſs endlich eben daher, daſs man den Wesen ei-
nen intelligibelen Raum zugestehen muſs, in welchem sie
sich bewegen, und daſs nach ihren Bewegungen sich ihre
Störungen unter einander, folglich auch diejenigen Stö-
rungen richten, welche die Seele erleidet. Dem gemäſs
entscheidet die Räumlichkeit, welche den Wesen (zwar
nicht als reales Prädicat) zukommt, auch über diejenige
erscheinende Räumlichkeit, welche die Seele ihren
sinnlichen Vorstellungen zuschreiben muſs.]


Die gegebene Erklärung ist noch nicht entwickelt;
man kann sie aber entwickeln vermittelst der Bestimmung
des Reproductionsgesetzes, das sich aus den schon an-
geführten Untersuchungen der Mechanik des Geistes er-
geben wird. Es ist also in unserer Gewalt, dasjenige
nachzuweisen, was bey den räumlichen Auffassungen in
uns vorgeht; ja es muſs möglich seyn, für jede Figur,
die wir im Raume wahrnehmen, das besondere,
ihr zugehörige Gesetz anzugeben, vermöge des-
sen sie gerade als diese und als keine andere
Figur erscheint
. Dies ist der Punct, woran die Er-
klärung aus vorausgehenden angebornen Formen in der
Seele, nothwendig scheitert, indem daraus nicht klar wird,
II. I
[130] warum ein Wahrgenommenes so, ein anderes anders
geformt
erscheine.


In die unabsehliche Weite dieser Untersuchungen
mich zu verlieren, kann hier nicht meine Absicht seyn;
nur etwas weniges werde ich hinzufügen, um die Gründe
und das daraus zu Erklärende näher zusammen zu rücken.


§. 112.

Die Reproductionsgesetze, worauf hier alles beruht,
lassen sich zwar bey gehöriger Vergleichung unserer An-
nahme mit den angeführten Sätzen aus den Grundlinien
der Mechanik des Geistes, deutlich genug erkennen.
Leichter faſslich aber läſst sich der ganze Gegenstand
machen, wenn wir eine minder verwickelte Frage, deren
Beantwortung zwar schon im §. 100. gegeben worden,
uns hier noch einmal vergegenwärtigen.


Es ist bekannt, daſs eine Reihe von Wahrnehmun-
gen nicht bloſs in Hinsicht der Materie des Gegebenen
(der einzelnen sinnlichen Empfindungen), sondern auch
als Reihe, als bestimmt geordnete Folge, vom Ge-
dächtnisse
aufbehalten wird. So beruhen die Worte
nicht bloſs auf Sprachlauten, sondern auf bestimmten Fol-
gen von Sprachlauten; als solche werden sie behalten
und verstanden, keinesweges aber verwechselt mit den
mancherley Anagrammen, die man daraus machen kann.


Wie geht es nun zu, — wie ist es nur denkbar,
daſs dergleichen Reihenfolgen gemerkt und reproducirt
werden? Nachdem die Total-Auffassung der gegebenen
Reihe von Wahrnehmungen geendigt ist: machen alle
dazu gehörige Partial-Vorstellungen ein intensives Eins.
Und in dieses Intensive würde gerade dasselbe hineinge-
kommen seyn, wenn in einer andern Folge die nämli-
chen und gleich starken Wahrnehmungen wären gege-
ben worden. Auch alsdann wären alle die nämlichen
Vorstellungen in der Seele gewesen, geblieben, aufbe-
halten; auch alle mit allen verbunden; was unterscheidet
denn noch jetzt, nachdem die Wahrnehmung sammt der
ihr eigenthümlichen Succession vorbey ist, den davon
[131] zurückgebliebenen Seelen-Zustand von allen andern, die
durch eine andere Succession der nämlichen Wahrneh-
mungen konnten hervorgebracht werden? Ja was bewirkt
eine so feine Unterscheidung, daſs wir sogar den Rhyth-
mus, in welchem die gegebene Reihe der Wahrnehmun-
gen fortschritt, mit aufbehalten?


Um die Antwort zu finden, überlegen wir zuerst
bloſs die Art der Verschmelzung für zwey auf einander
folgende Wahrnehmungen; und halten uns der Kürze
wegen an die Formel: , im §. 86.,
worin das Wesentlichste dessen, was die nachfolgenden
Untersuchungen lehren, gleichsam vorbedeutet ist.


Die Wahrnehmung P gehe voran; die Wahrneh-
mung Π folge nach. Jede von beyden besteht aus einer
Menge von momentanen Auffassungen während der Dauer
des Auffassens. Jede momentane Auffassung von P be-
ginnt augenblicklich zu sinken, nachdem sie gegeben
war; (§. 95.) und alle sind um etwas gesunken, — die
frühern mehr als die späteren, indem Π eintritt. Die
momentanen Auffassungen von Π sind im ungehemmten
Zustande, indem sie schon anfangen, mit den zum Theil
gehemmten von P zu verschmelzen. Folglich ist gewiſs
am Ende, der Rest ρ von Π, gröſser als der mit ihm
verschmolzene Rest r von P; wenn wir übrigens P und Π
gleich setzen. Nun mögen beyde Vorstellungen im Be-
wuſstseyn sinken. Gesetzt aber, es erhebe sich eine von
beyden aufs neue: so wird ein Unterschied seyn in der
Reproduction der einen durch die andre, je nachdem sich
P oder Π wieder erhob.


P trete zuerst hervor: so strebt es, das Quantum ρ
zu reproduciren, die Kraft aber, die es anwendet, ist
nur = r. Diese schwache Kraft soll ein groſses
Werk vollbringen; dazu nimmt sie sich viel
Zeit
, wie in der Formel zu erkennen ist.


Π trete zuerst hervor: so strebt es, das Quantum r zu
reproduciren. Die Kraft, die es dazu anwendet, ist = ρ;
I 2
[132] und statt ρ kommt nun r.
Die Wirkung der stärkeren Kraft eilt jetzt
viel schneller ihrer minder weit gesteckten
Gränze zu
.


Statt P und Π nehmen wir jetzt eine Folge von
Wahrnehmungen, a, b, c. Hier wird das sinkende b
zugleich mit dem mehr gesunkenen a und dem minder
gesunkenen c verschmolzen seyn. Gesetzt, nach einer
Weile werde eine, dem b gleichartige Vorstellung neu
gegeben: so erhebt sich b, und mit ihm zugleich a und c,
aber auf verschiedene Weise. Nämlich b ist jetzt für a,
was zuvor Π für P, aber zugleich ist b für c, was vor-
hin P für Π. Also b hebt a schneller, aber min-
der hoch; es hebt zugleich c langsamer, aber
höher
. Dadurch wird a wie ein vorangehendes, c wie
ein nachfolgendes vorgestellt.


Oder aber, es werde eine, dem a gleichartige Vor-
stellung neu gegeben. So hebt sich a; und mit ihm stei-
gen b und c; aber in so fern auf verschiedene Weise,
als von a mehr verschmolzen ist mit b wie mit c, da-
her es b schneller, aber darum nicht höher hebt
als
c. So läuft hier die Reproduction in der nämlichen
Folge, worin die Wahrnehmung gegeben war. — Die-
ses muſs man näher bestimmen durch die Untersuchun-
gen über das Maximum und das nachfolgende Sinken der
reproducirten Vorstellung (§. 88. u. s. w.)


Oder endlich, es werde eine dem c gleichartige Vor-
stellung neu gegeben: so erhebt sich c, und reproducirt
a und b. Nun war c mit diesen beyden zugleich ver-
schmolzen; dabey befand es sich selbst in einerley Zu-
stande, allein ein gröſseres Quantum von b, ein kleine-
res von a ist mit c verschmolzen. Die Geschwindigkeit
also, welche c dem a und dem b ertheilt, ist eine und
dieselbe Function der Zeit, allein mit einer verschiedenen
Constante; und es wird dadurch ein gröſseres
Quantum von b als von a gehoben
. Die Erinne-
[133]rung an das Mehr-vergangene ist schwächer als die an
das Näherliegende. Diese Reproductionsgesetze
müssen ganz genau gemerkt werden
.


Nun wird man auch die Reproduction der Rhyth-
men begreifen können. Man mag a, b, c, als Noten
von verschiedenem Zeitwerthe betrachten: so ist nur nö-
thig zu bedenken, daſs bey längern Noten die ersten
momentanen Auffassungen, (welche wegen der abneh-
menden Empfänglichkeit die stärksten sind,) mehr Zeit
haben zu sinken, bevor sie mit den nachfolgenden No-
ten verschmelzen, und daſs sie eben deshalb langsamer
reproduciren; dagegen die kürzeren Noten aus dem um-
gekehrten Grunde eine schnellere Reproduction des Nach-
folgenden bewirken.


Uebrigens ist wohl zu bemerken, daſs wir hier nur
eine Reproduction in ähnlicher Folge haben, als worin
die Wahrnehmung gegeben wurde; also eine Vorstel-
lungs-Reihe;
aber noch keine Vorstellung des Suc-
cessiven als eines solchen, vielweniger eine Vorstellung
der Zeit selbst. Dies muſs unter andern deshalb beach-
tet werden, damit es nicht scheine, als ob die Vorstel-
lung des Räumlichen, die auf einem successiven Vor-
stellen beruht, deshalb die Vorstellung von etwas Suc-
cessivem als Merkmal enthalte.


§. 113.

Von dem Vorstehenden die Anwendung auf das
Räumliche zu machen, ist leicht. Eine bunte Fläche
gehe in gerader Richtung vor dem Auge vorüber, — oder
auch, es sey das Auge, was sich umgekehrt bewege, und
die Fläche bleibe in Ruhe: so würde hiebey, ganz wie
oben, eine Folge von Wahrnehmungen entstehen, wenn
jedesmal nur der Mittelpunct des Gesichtsfeldes sichtbar
wäre, und alles Umgebende völlig finster. Statt dessen
ist der mittlere Theil des Gesichtsfeldes am meisten
sichtbar; das seitwärts Liegende aber ist um desto un-
bedeutender, weil nach der Hemmung die Reste der
Vorstellungen verhältniſsmäſsig noch weit mehr an Stärke
[134] verschieden ausfallen, als die Vorstellungen selbst. (Man
vergleiche §. 44.) So nun entsteht zwar etwas mehr ver-
wickeltes, aber doch ähnliches, wie vorhin.


Aber das Auge, wenn es eine Gestalt auffassen will,
bewegt sich, wie schon oben erinnert, nicht in Einer ge-
raden Linie, sondern es läuft hin und wieder. Durch
jede Bewegung vorwärts erzeugt sich eine Menge von
Reproductionsgesetzen; durch jede Bewegung rückwärts
werden sie wirksam, wegen des erneuerten Anblicks des
früher Geschehenen. Was ist schneller, als die Bewe-
gungen eines geübten Auges *); und was also wird schnel-
ler fertig als eine räumliche Auffassung?


Da aber der Begriff des Raumes auf dem Merkmale
des Auſsereinander beruht, so wollen wir jetzt noch
genauer die psychologische Möglichkeit erwägen, daſs et-
was als auſsereinander könne wahrgenommen werden.


Das Auſsereinander erfordert einen Punct auſser
dem andern
; und strenge genommen weiter gar Nichts,
nicht einmal ein Mittleres zwischen beyden; wie
sogleich daraus erhellt, daſs, wofern ein solches Mittleres
vorhanden ist, alsdann dasselbe sich auſser Jedem
der beyden
, dadurch getrennten, Puncte, befindet, folg-
lich zur Darstellung des Auſsereinander nun schon Einer
der beyden Puncte überflüssig wird, und die einfachste
Darstellung des Auſsereinander schon überschritten ist.
Woher es nun komme, daſs dennoch die Phantasie sich
sträubt, sich etwas als Auſsereinander vorzustellen ohne
ein Mittleres dazwischen, — wobey ihr noch obendrein
Geometer und Philosophen so kräftig als möglich das
Wort geredet haben, — davon wird sich der Grund auf
dem Wege der psychologischen Forschung entdecken.


[135]

Ferner, das Auſsereinander erfordert gleichmäſsi-
ges Vorstellen beyder
, auſsereinander gelegenen
Puncte. Denn es seyen a und f die beyden Puncte:
so ist nicht minder f auſser a, als a auſser f; beyde tra-
gen gleichviel bey zu dem Auſsereinander; und dasselbe
schlieſst die Vorstellung beyder in gleichem Grade in sich.


Es kann scheinen, als würde dieser letzte Umstand
sich aus den erwähnten Reproductionsgesetzen nicht hin-
reichend erklären lassen. Denn das beschriebene succes-
sive Vorstellen reproducirt zwar von jedem Puncte aus
die übrigen, näheren und entfernteren, in ihrer Ordnung;
aber dabey ist die Vorstellung Eines Punctes die repro-
ducirende, diejenige also auch, welche vor allen andern
lebhaft hervortritt, während da, wo wir zweyer Puncte
Entfernung auffassen, unserer Meinung nach keiner von
beyden vorherrschend soll aufgefaſst werden.


Dennoch gebe man Acht auf sich selbst, was da
vorgehe, wo man die Entfernung zweyer Puncte mit den
Augen messen will. Man wird wohl wahrnehmen, daſs
es Mühe kostet, den einen Punct nicht mehr noch we-
niger als den andern zu sehen, und einen ruhigen Blick
auf beyde gleichmäſsig zu vertheilen. Man wird sich
leicht überzeugen, daſs ursprünglich das Auge zwischen
beyden hin und hergeht, daſs es die Entfernung vorwärts
und rückwärts durchläuft; daſs dadurch zwey Repro-
ductionsgesetze
gebildet werden, indem jeder von
beyden Puncten
, erst das Mittlere, Zwischenliegende,
und dann den andern Punct reproducirt. Man wird ein-
sehn, daſs erst nachdem das hiemit verbundene zwie-
fache
successive Vorstellen sich ins Gleichgewicht ge-
setzt hat, erst nachdem beyde entgegengesetzte
Reproductionen wider einander zu laufen be-
ginnen
, jene gleichmäſsige Vorstellung des Auſserein-
ander möglich wird; die also noch weiter von der ur-
sprünglichen, gegebenen Empfindung absteht, als das
erste Auseinandertreten, die erste räumliche Ausbreitung
des Wahrgenommenen. Daher würde man das eigent-
[136] liche und vollkommene Auſsereinander besser einen Be-
griff
, als eine Anschauung nennen.


In dieser Erläuterung haben wir nun schon ange-
nommen, es gebe zwischen den beyden Puncten ein Mitt-
leres; dieses Mittlere werde durch die Vorstellung eines
jeden seiner Endpuncte eiliger reproducirt, als der an-
dere Endpunct; und so schiebe eine jede Reproduction
das Mittlere gerade so zwischen die Endpuncte, wie es
wirklich dazwischen liegen möge. Sollten wir nun dieses
Zwischenliegende gar nicht entbehren können? Sollten
die Puncte wirklich in einander schwinden, wenn das
Zwischenliegende wegfiele? Und ist es denn wirklich
nicht möglich, sich zwey nächste Puncte, genau an ein-
ander liegend, vorzustellen?


Gewiſs ist es unmöglich, so lange wir in dem Kreise
der hier beschriebenen, sinnlichen Vorstellungsart ver-
bleiben.


Denn das räumliche Vorstellen beruht, wie wir ge-
sehen haben, auf einer abgestuften Verschmelzung einer
Vorstellung mit einer Reihe anderer Vorstellungen. Wenn
nun die Vorstellung a verschmolzen ist durch ihren Rest
r mit b, durch ihren kleineren Rest r′ mit c, durch ihren
noch kleineren Rest r″ mit d, u. s. w. was würde nöthig
seyn, damit c und d so nahe erschienen, daſs nichts
mehr dazwischen Platz hätte? Nichts geringeres, als daſs
zwischen den Resten r′ und r″ kein mittlerer, folglich
zwischen den durch sie bestimmten Reproductionsgesetzen
für c und d ebenfalls kein mittleres Statt finden könnte.
Nun aber besteht die Vorstellung a gewiſs nicht aus den
Differenzen ihrer Reste; sie besteht überhaupt nicht aus
Theilen; sondern verschiedene Grade der Verdunkelung
erleidet sie zufälligerweise durch andre Vorstellungen;
und sie kann deren unendlich viele erleiden. Und diese
unendlich vielfache Möglichkeit, zwischen je
zwey Resten, wie
r′undr″, noch unzählige andre
zu bestimmen, die ebenfalls ihre Verschmelzun-
gen eingegangen seyn könnten, ist der Grund
[137] der unendlichen Theilbarkeit des sinnlichen
Raums
.


Dieser psychologische Grund hat mit den geometri-
schen Gründen für die unendliche Theilbarkeit des Raums
nicht das geringste gemein; aber er unterstützt, unerkannt,
den Glauben an die letztern auf das kräftigste, indem
jede Bemühung, sich ein sinnliches Bild von anein-
ander liegenden Puncten zu machen, unfehlbar mislingt;
welches denn, etwas übertrieben, so ausgesprochen zu
werden pflegt: wir können uns keine aneinander liegen-
den, und doch gesonderten Puncte gedenken. — Wenn
nun auf der andern Seite die Metaphysik zeigt, daſs man
sich ein Continuum nicht denken könne, und daſs der
Begriff des Auſsereinander völlig verdorben werde, sobald
man sich erlaube, aneinander liegende Puncte für inein-
ander schwindend auszugeben, wobey man Extension und
Intension vermische: so ist es nicht die gröſsere Gründ-
lichkeit der Geometrie, sondern es ist ein psychologisch
erklärbares Vorurtheil, welches die Untersuchungen der
Metaphysik zurückweis’t. Eigentlich ist gar kein Streit
zwischen der Geometrie und Metaphysik über das Con-
tinuum; denn auch die Metaphysik kommt in ihren Con-
structionen auf dasselbe; sie kann es nur nicht als pri-
märe Vorstellungsart zulassen, sondern muſs es in den
Rang der secundären verweisen; daher sie denn auch
nicht duldet, daſs geometrische Raumbegriffe unmittelbar
auf die Materie, als das, wenigstens scheinbare, Reale
im Raume, angewendet werden *).


§. 114.

Jetzt noch einige, zum Theil sehr nothwendige, und
für die richtige psychologische Theorie des Raums un-
entbehrliche Bemerkungen über das Auffassen der be-
stimmten Gestalten
im Raume.


Erstlich: Keine Gestalt wird gesehen, ohne Gegen-
sätze im Farbigten. Man denke sich eine Figur mit
[138] unsichtbarer Tinte gezeichnet. Die Figur ist vorhanden;
ihr Umriſs wird auch gesehen, aber er wird nicht eher
unterschieden, als bis durch ein hinzukommendes
Mittel die Zeichnung eine, von der übrigen Fläche ab-
stechende Farbe bekommt. Diese abstechende Farbe
hält den Blick an, der über die Fläche forteilen will; sie
fängt gleichsam das Auge innerhalb des Umrisses, und
macht es an demselben herumlaufen; dadurch wird die
Gestalt erkannt.


Zweytens: schon ein einziger abstechender Punct
wird bemerkt auf einer gleichfarbigen Fläche *); und ein
einziger Flecken wird um so auffallender, je reiner übri-
gens die Fläche ist. Was geht hier vor? Diese Frage
kann durch die bloſse Erwähnung des Contrastes nicht
beantwortet werden; denn wenn man auch mit dem
Worte Contrast einen hestimmten Begriff verbindet,
so muſs man sich doch wundern, daſs die ganze Masse
des Vorstellens, welches die Auffassung einer weiſsen
Fläche erzeugt, nicht die schwache Vorstellung eines
kleinen, dunkeln Punctes beynahe gänzlich hemme; man
muſs sich wundern, daſs, scheinbar gegen alle statische
Gesetze, die schwache Vorstellung sogar vorzugsweise
heraustrete. Wir erinnern uns hier vor Allem der ab-
nehmenden Empfänglichkeit für die Wahrnehmung der,
überall entgegenkommenden Farbe der Fläche; der mehr
geschonten Empfänglichkeit für die Auffassung des ein-
zelnen Punctes. (Vergl. §. 94.) Ferner: indem der
Blick, die Fläche durchlaufend, an den Punct stöſst, er-
leidet die Vorstellung der Farbe der Fläche ein plötzli-
ches Sinken, (§. 77.) Ueberdies verschmilzt die Vor-
stellung des Punctes mit jener der Fläche, (nämlich mit
jeder Stelle der Fläche in einem eigenen, bestimmten
Grade,) und zwar erhält sie hier eine sehr beträchtliche
[139] Verschmelzungshülfe, (vergl. §. 69.) Rückt also der
Blick wieder über den Punct hinaus, oder faſst er auch
nur zugleich mit demselben das Umliegende auf: so trei-
ben doch, wegen der Verschmelzung, alle neuen Auffas-
sungen der Fläche die, zwar zum Sinken gedrängte, Vor-
stellung des Punctes wieder hervor, in so fern sie die
frühern, ihnen gleichartigen, aber mit jener verschmolze-
nen, Vorstellungen fortdauernd beleben. Hieraus kann
man erkennen, was in der Seele vorgehe, indem sie be-
schäfftigt ist im Merken auf den Punct in der Fläche.


Drittens: die Richtung des fortlaufenden Blickes
durchschneide eine auf der Fläche gezeichnete Linie
(oder auch den Umriſs einer Gestalt). Das Auge wird
an der Linie fortlaufen; und zwar in einem stumpfen
Winkel gegen seine vorige Richtung. Denn es wird
Anfangs, indem der Blick die Linie schneidet, gleichsam
von zwey Kräften getrieben; eine davon ist eben jene
Verschmelzungshülfe, welche auch schon auf den einzel-
nen Punct das Auge zurückwirft; die aber jetzt nur nö-
thig hat, senkrecht auf die, überall gleichgefärbte Linie
das Auge, nachdem es die Linie durchschnitten hatte,
oder zu durchschneiden im Begriff war, zurückzuwenden;
anstatt der andern Kraft dient die einmal vorhandene
Geschwindigkeit des forteilenden Blickes. Diese Zusam-
menwirkung ändert unaufhörlich, und sehr schnell, die
Direction, in welcher der Blick fortgeht, bis die letztere
mit der Linie zusammentrifft. Man muſs dabey beden-
ken, daſs der Anfang der Abänderung nicht erst dann
geschieht, wenn der Mittelpunct des Gesichtsfeldes auf
die Linie trifft, sondern sobald der Contrast zwischen
der Linie, und dem jenseits gelegenen Theile der Fläche
merklich werden kann.


Viertens: in geringer Entfernung von der Linie sey
gleich Anfangs ein Punct aufgefaſst, und dessen Vorstel-
lung, wie sich versteht, verschmolzen mit den übrigen
Auffassungen. Indem das Auge an der Linie fortläuft,
entfernt es sich von diesem Puncte; die Vorstellung des-
[140] selben wird gehemmt, aber eben dadurch gespannt, und
dasselbe begegnet der Verschmelzungshülfe. Zugleich
nimmt die Empfänglichkeit für die Auffassung der überall
gleichfarbigen Linie ab. Abgesehen nun von andern, etwa
störenden Umständen, kommt ein Augenblick, wo die Vor-
stellung des Punctes mächtiger vordringt, als daſs die fort-
gehende neue Auffassung sie zurückhalten könnte; dann
sucht das Auge den Punct; es kehrt zurück, und faſst ihn
mit der durchlaufenen Strecke der Linie zusammen.


Fünftens: das eben beschriebene wird mannigfaltiger
und verwickelter, wenn mehrere Puncte der Linie gegen-
über stehn; wenn mehrere Linien neben einander sicht-
bar sind; wenn diese Linien zusammenhängen, oder in
allerley Richtungen einander kreuzen. Es wird nicht
bloſs mannigfaltiger, sondern auch bequemer, wenn die
Linien gekrümmt sind, so daſs sie das an ihnen fortlau-
fende Auge von selbst auf die gesuchten Puncte zurück-
führen; wie z. B. die Kreislinie, die das Auge niemals
weiter vom Mittelpunckte entfernt. Hieraus kann man
beurtheilen, was geschehn müsse, wenn in einem Kreise
ein Punct sichtbar ist, aber nicht in der Mitte; oder
wenn der Kreis unrichtig gezeichnet ist. So etwas ist
häſslich; und wir sind also hier an der Pforte der
ästhetischen Urtheile über das Räumliche.


Ueberhaupt aber ist kein Zweifel, daſs es müsse
a priori bestimmt und berechnet werden können, welche
Bewegungen, welches Umherlaufen des Blickes, einer
jeden Gestalt zukomme, unter der Voraussetzung, daſs
das Auge sich der Gestalt hingebe, und keinem fremden
Antriebe folge. Eben so gehört zu jeder Gestalt ein end-
licher Ruhepunct für das Auge, dem es im Umherlaufen
sich wenigstens annähern soll. Wäre jenes und dieses
bekannt, so würde man dem ungeübten Auge seine Wege
vorzeichnen, es würde einen Unterricht im Sehen geben
können. Wäre die Pädagogik weiter ausgebildet, als sie
ist, so müſste man hierauf in Rücksicht der Anschauungs-
übungen aufmerksam machen.


[141]

Uebrigens liegt in dem Ganzen dieser Bemerkungen
eine physiologische Voraussetzung, nämlich daſs sich
das Auge dem Antriebe der Vorstellungen ge-
mäſs bewege
. Dies geschieht eben so gewiſs, als wir
die Hand nach den begehrten Gegenständen ausstrecken;
die Gründe des einen und des andern aber werden eine
allgemeine Beleuchtung erhalten im letzten Abschnitte
dieses Buchs.


Man wird nach diesen Vorerinnerungen nun leichter
die Wirkung derjenigen, aus der Erfahrung bekannten,
Umstände beurtheilen können, von welchen die Auffas-
sung eines räumlichen Ganzen abhängt. Deren sind,
nach Beyseitsetzung der Begriffe, die etwan auf einen
Gegenstand möchten übertragen werden, — hauptsäch-
lich vier, die geschlossene Gestalt, die gegen den
Hintergrund abstechende Farbe, die Beschäfftigung des
Auges innerhalb des Umrisses, und, was am wichtigsten
ist, die Bewegung des Ganzen vor dem Hinter-
grunde
.


In Ansehung der geschlossenen Gestalt können die-
jenigen Figuren Zweifel erregen, deren Umriſs nur durch
nahe stehende Puncte angedeutet wird. Das Auge springt
hier leicht über die Zwischenräume weg; man könnte fast
sagen, es fülle sie aus; wenn sie nicht um gar zu groſse
Abstände von einander entfernt sind. Verschiedene Ur-
sachen wirken dabey zusammen. Theils verschmilzt so-
gleich die Vorstellung eines Puncts mit den nächsten des
Hintergrundes, wohin das Auge von ihm kommt; theils
wird der Punct noch fortdauernd gesehen, weil das Ge-
sichtsfeld nicht aufs Centrum beschränkt ist; und, da-
durch gehoben, wird die Vorstellung des Puncts, die zu-
gleich wegen der Auffassung des Hintergrundes sinken
soll, in den Zustand des Begehrens versetzt (§. 104.),
theils endlich giebt es eine physiologische Nachwirkung
des Reizes im Auge, wie jene, vermöge deren eine glü-
hende Kohle, im Kreise geschwungen, den ganzen Kreis
leuchtend auszufüllen scheint. — Kommt das Auge aus
[142] der Mitte der Figur gegen die Gränze hin: so bewegt sich
das ganze Gesichtsfeld, als eine ungetheilte Einheit; da-
her können selbst Puncte die Fortschreitung aufhalten.


Was die Färbung anlangt: so dürfte man beynahe
den Satz aufstellen, daſs entweder der Gegenstand, oder
der Hintergrund, schlicht seyn müssen, damit die Figur
zusammengefaſst werde. Sind beyde bunt: so giebt es
keine zulängliche Bevestigung der Gränzen, an welche
anstoſsend, der Blick zurückkehren sollte. Dies wird am
stärksten dann empfunden, wenn viele krumme Linien
sich in einander einwickeln. Wer kennt nicht das Ge-
schlinge der Himmelskarten, und die Beschwerde, die
man überwinden muſs, um die Figuren aus dem allge-
meinen Gewirre herauszusondern?


Die Beschäfftigung des Auges innerhalb der Figur
setzt voraus, daſs Figur in Figur, eine Zeichnung in
der andern, enthalten sey; wodurch der Blick selbst in-
nerhalb des Umrisses vielfältig aufgehalten, zurückgewor-
fen, umhergeführt wird; wie es bey den allermeisten sinn-
lichen Gegenständen der Fall ist, über die man nicht so
leicht hinwegkommt, wie über eine einfache geometrische
Zeichnung. Die Wirkung der in einander eingeschalte-
ten Figuren ist im Allgemeinen eine verstärkte Auffas-
sung durch die Verweilung; während über eine ganz ein-
farbige Fläche das Auge sehr schnell hinweggleitet; da
es mit schon erschöpfter Empfänglichkeit noch immer
dasselbe sieht: die nähern Bestimmungen dieser Wir-
kung können sehr mannigfaltig seyn. Es kommt alles
darauf an, wie die verschiedenen Reproductionsgesetze,
welche aus den einzelnen Zügen der Zeichnung entstehn,
zusammen passen. Je nachdem sie einander im Ablau-
fen der Reihen begünstigen oder widerstehen, ist der
Gegenstand schön oder häſslich. Ein leichtes Bey-
spiel der Begünstigung geben die vielen Parallelen in
Werken der Architectur, die durch ein einziges schief
liegendes Parallelogramm könnten entstellt werden, wie
etwa durch ein schiefes Fenster, u. d. gl.


[143]

Endlich die Bewegung des Ganzen vor seinem Hin-
tergrunde, (sey sie auch nur scheinbar, wie wenn uns
im Spazierengehn ein Baum vor der dahinter liegenden
Landschaft vorüberzuwandeln scheint,) hat offenbar die
Folge, daſs sich das Ganze losreiſst von der Umgebung.
Allein diesen Punct müssen wir, der Folgen wegen, ge-
nauer überlegen.


Aehnliche Reproductionsgesetze, wie die zwischen
den Partialvorstellungen des Ganzen, verknüpfen auch die
Vorstellung des Ganzen mit denen der Umgebung. Wer
den Spiegel an der Wand erblickte, der wird an der
Wand zuverlässig vermöge der Reproduction den Spie-
gel vermissen und suchen, nachdem derselbe weggenom-
men ist. Hängt aber nunmehr der Spiegel an einer
neuen Wand: so entsteht eine neue Verschmelzung.
Wird die Stelle des Spiegels abermals verändert: so
sollten jene beyden Wände, als seine Umgebung, zu-
gleich reproducirt werden; allein schon jetzt entsteht eine
Hemmung unter den Reihen, welche stets gröſser wird,
wenn der Spiegel seinen Platz noch öfter verändert. Von
der solchergestalt allmählig vollständiger erfolgenden Iso-
lirung
der Vorstellungen war schon im §. 101. die Rede;
allein dort konnte noch nicht derjenige Hauptumstand ins
Licht gesetzt werden, welcher die Vorstellungen des
Räumlichen als solche betrifft.


Es bewege sich ein Gegenstand continuirlich vor ei-
nem bunten Hintergrunde vorüber. Da seine stets ver-
änderte Umgebung immer mit ihm verschmilzt; so muſs
in der gesammten Reproduction aller Umgebungen sich
endlich jede bestimmte Zeichnung und Färbung durch
gegenseitige Hemmung auslöschen; aber das Gemeinsame
aller dieser Reproductionen, nämlich die Ordnung des
Zwischenliegenden, also die Räumlichkeit, muſs dennoch
bleiben. Daher nun der Raum selbst, in welchem wir
jeden sichtbaren oder fühlbaren Gegenstand, als in eine
unbestimmte Umgebung, hineinversetzen, sobald wir ihn
denken! Was ist dieser Raum? Nichts anderes als eine
[144] unzählbare Menge höchst gehemmter Reproductionen, die
von dem Gegenstande nach allen Richtungen ausgehn.


Nachdem für eine Menge gesehener Gegenstände ein
solcher Umgebungs-Raum in der frühesten Kindheit ein-
mal war erzeugt worden: konnte es nicht fehlen, daſs
jede neue Gesichtsvorstellung, indem sie ihre ganz oder
nahe Gleichartigen zurückrief, sich auch in deren Umge-
bungsraum versetzte, sich etwas davon aneignete. Für
das reifere Alter hat sich ein solcher Ueberfluſs an lee-
rem Raume gesammelt, daſs wir gegenwärtig auf ihm
alle unsre Bilder zeichnen, ihn durch sie bestimmen.


Hierauf nun endlich gründet sich ein sehr merkwür-
diges psychologisches Phänomen, nämlich die Repro-
duction wegen der Gestalt
. Sie ist etwas so All-
tägliches, daſs man sie an einem ganz leichten Beyspiele
zureichend erkennen wird. Es ist uns gleich, ob eine
Schrift schwarz auf weiſs, oder (auf der Schiefertafel)
weiſs auf schwarz vor unsern Augen liegt; wir lesen sie
auch eben so leicht, wenn sie mit rother Tinte, oder mit
goldenen Buchstaben geschrieben ist. Wie kann das
seyn? Sicherlich nur durch eine Reproduction der ein-
mal bekannten Zeichen. Aber wer die schwarzen Buch-
staben gelernt hat, wie können dem diese schwarzen Fi-
guren wieder einfallen, wenn er die rothen oder die gold-
nen sieht? Zwischen den einfachen Empfindungen roth
und schwarz ist Hemmung; das Gegentheil der Repro-
duction. Diese letztere konnte unmittelbar durchaus
nicht erfolgen; gleichwohl geschieht sie mit gröſster Leich-
tigkeit. Also ist ein Mittelglied dazwischen getreten; und
dies ist eben jenes dunkle Raumbild, welches sich auf
gleiche Weise an Rothes und Schwarzes anschlieſst, und
aufgerufen vom einen, sogleich das andere herbeyführt,
von welchem es eine ähnliche Bestimmung erhielt. Es
ist der gemeinste Stoff, den wir haben, viel wohlfeiler als
alle sinnlichen Empfindungen; wir verarbeiten ihn unauf-
hörlich, mengen, versetzen und verfälschen alles mit
ihm, — und kennen ihn doch nicht, wenn er uns
in
[145] in der Metaphysik als ein unendliches Nichts entge-
gentritt!


Daſs nun mit der Reproduction wegen der Ge-
stalt
auch Hemmung wegen der Gestalt verbunden
seyn kann, versteht sich von selbst. Und hier schlieſst
sich diese Untersuchung an jene gegen das Ende des
§. 100.


Anmerkung.
Ueber räumliche Constructionen
.

Der Raum hat in seinem Ursprunge nur zwey Di-
mensionen
; er ist eine Ebene. Beym ersten Entstehen
des räumlichen Vorstellens bildet sich sogar nur eine
Linie, und zwar eine gerade; denn das erste Repro-
ductionsgesetz erzeugt sich nur in so fern, als in der
Bewegung des Gesichtsfeldes ein Vorwärts und Rück-
wärts angenommen werden kann (§. 111.). Und dieses
Reproductionsgesetz ist Anfangs nur eins; seinem Wege
kann man nur zwey völlig entgegengesetzte Richtungen
zuschreiben. Allein das räumliche Auffassen des Gefärb-
ten oder Betasteten ist noch keine Vorstellung des
Raumes selbst
; der, wie vorhin gezeigt, erst von der
Bewegung der Gegenstände auf ihrem Hintergrunde all-
mählig erzeugt wird. Wenn es dahin kommt: dann ist
längst das Vorwärts und Rückwärts nach allen Richtun-
gen in der Ebene des Gesichtsfeldes geläufig geworden.
Hingegen die dritte Dimension kann bekanntlich ursprüng-
lich nicht gesehen werden; man muſs sie als etwas hin-
zukommendes um so mehr betrachten, da die Vorstel-
lung des ganzen vollständigen Raumes sich in die drey
Combinationen: Länge und Breite, Länge und Dicke,
Breite und Dicke
, immer wieder auflöset.


Man setze nun einen Punct auf die Ebene.
Dieser Punct, als im Raume befindlich, ist der Anfang
aller möglichen Richtungen in der Ebene; und die Vor-
stellung desselben steht im Begriff, nach allen Richtun-
gen gleichmäſsig auseinander zu gehn. Der Punct ist
II. K
[146] nichts anders als ein concentrirtes System aller Repro-
ductionen, die zur Darstellung des Auſsereinander geeig-
net sind. Wer daran nicht glauben will: der versuche
einmal den Punct ohne die Ebene, und überhaupt ohne
alle Umgebung — das heiſst, ohne alle davon ausge-
hende reihenförmige Reproduction zu denken. Das wird
nicht gelingen; man kann den Punct nur irgendwo
denken.


Man ziehe eine Linie. Das heiſst, man bewege
den Punct. Im ersten Beginnen dieser Bewegung wird
demnach aus allen möglichen Reproductionen, die von
ihm ausgehn konnten, eine hervorgehoben; aber die
nunmehr hervortretende Vorstellung gleicht vollkommen
der vorigen, daher betrachtet man sie als dieselbe, als
den nämlichen Punct, von dem man sagt, er, der eine
und gleiche
, bewege sich. Also ist das ganze System
von Richtungen, die von ihm ausgingen, von einerley
Vorrückung ergriffen, und alles, was darin mag unter-
schieden werden, ist um gleich viel von der Stelle ge-
kommen. — Soll nun die Vorrückung eben so gleich-
mäſsig fortgesetzt werden: so wird die Linie gerade.
Und die gerade Linie ist diejenige, deren Nor-
malen
(oder andre von ihr seitwärts ausgehende Rich-
tungen) sich stets parallel fortbewegen während
sie selbst gezogen wird
.


Es mag wohl sehr befremden, daſs ich den für so
räthselhaft gehaltenen Parallelismus ganz unbedenklich in
die Erklärung *) der geraden Linie hineinbringe. Allein
mit allem Respect gegen die Mathematiker, mit denen
ich hier nicht gern streiten möchte, bitte ich, daſs man
auf sich Acht gebe, was man thue, wenn man in Ge-
danken eine Linie zieht. Jedermann wird bekennen, daſs
ihm dabey ein Raum vorschwebe, der seitwärts von
[147] der Linie liegt, und den sie selbst in der Mitte durchschnel-
det. Dieser Raum gehört nun freylich nicht in die Er-
klärung, die man von der Linie gern geben möchte,
um bloſs die in ihr liegenden Merkmale anzugeben; aber
er gehört sehr wesentlich zur psychologischen Beschrei-
bung dessen, was im Geiste während des Ziehens der
Linie vorgeht; denn die Puncte, zu denen man gelangt,
wären nicht Raumpuncte, wenn sie nicht den nisus in
sich trügen, nach allen Seiten zu reproduciren. Bewegt
sich ein Punct, so nimmt er diesen nisus überall hin
mit, wohin er kommt. Soll er sich selbst in diesem nisus
nicht stören: so muſs die Linie gerade fortgehn, wie so-
gleich noch klärer werden wird.


Man ziehe zwey convergirende Linien. Bey
der mindesten Convergenz, und indem man nur anfängt,
ihr gemäſs den Zug zu beginnen, drängen und streiten
schon die seitlichen Reproductionen wider einander, denn
die Forderung der Convergenz bedeutet gerade so viel,
als: man soll im Fortgange das, von beyden Linien
her sich begegnende, Zwischen-Schieben (durch
die Reproductionsgesetze) nunmehr vermindern; wodurch
diesen Gesetzen offenbar Abbruch geschieht. — In dem
Augenblicke, wo die Linien sich schneiden, wird den
Reproductionen die gröſste Gewalt angethan; nach dem
Durchkreuzen hingegen werden sie wiederum in Freyheit
gesetzt. Und nun folgt eine andre Art von Anstrengung.
Man muſs nämlich, um die sich immer weiter entfernen-
den Linien doch noch in Gedanken zusammenzuhalten,
immer mehr zwischen sie einschieben; das heiſst, man
muſs sie selbst langsamer vorrücken lassen, damit den
seitlichen Reproductionen Zeit gelassen werde, einander
zu begegnen. Zieht man die Linien zu rasch: so ent-
läuft eine der andern.


Man ziehe eine krumme Linie. Man soll also
die Richtung, in der man fortgeht, jeden Augenblick än-
dern. Beym ersten Beginnen hatte man ohne Zweifel
eine Richtung, das heiſst, ein gleichmäſsiges Fortgehen
K 2
[148] des Anfangspuncts mit allen seinen Reproductionen. Jede
solche Reproduction, die, wenn man sie ins Bewuſstseyn
höher hebt, selbst eine Seitenlinie ergiebt, und nun wie-
derum von jedem ihrer Puncte aus seitwärts re-
producirt
, — war um gleichviel fortgeschoben; das
heiſst, sie war zum zweytenmale dargestellt, und so ne-
ben sich selbst gelegt, daſs die zuvor beschriebene Con-
vergenz oder Divergenz nicht eintreten konnte. — Jetzt
aber soll die erste Linie sich krümmen. Also müssen
ihre correspondirenden Seitenlinien nunmehr die vorige
Negation der Convergenz oder Divergenz verlieren; das
heiſst, sie müssen convergiren und divergiren; wobey eine
Gewalt, die wir unsern Vorstellungen anthun, dunkel
gefühlt wird. Daher wird das Krumme zum Symbol
des Falschen und des Bösen; hingegen das Gerade zum
Symbol des Rechten.


Man ziehe Parallelen, gleichviel ob krumme
oder gerade
. Hier kommen uns glücklicherweise die
Mathematiker zu Hülfe; die den Parallelismus krummer
Linien längst auf die seitliche gleich groſse Reproduction
zurückgeführt haben, indem sie fordern, man solle alle
Normalen einer Curve ziehen, hierauf gleiche Stücke ab-
schneiden, und die Endpuncte verbinden, um die Paral-
lele jener Curve zu haben. Warum denn bey den ge-
raden
Linien so groſse Umstände? —


Die Geometrie nimmt den Punct, als liegend
in der Ebene, und als beweglich in derselben
,
an. Dieses ihr erstes Gegebenes, um dessen Ursprung
sie sich nicht kümmert, sollte sie gleich Anfangs doch
wenigstens analysiren. Statt dessen springt sie ab von
der Sache; sie construirt zwey, drey, von einander unab-
hängige Linien, läſst sie zum Dreyecke zusammen stoſsen,
und meint nun erst recht in ihrem Elemente zu seyn,
wenn sie anfangen kann, von der Congruenz der Dreyecke
zu reden. Kein Wunder, daſs ihr hinterher die Begriffe
fehlen, die sie übersprang, als es Zeit war, sie zu ent-
wickeln. Bekanntlich kommen bey den Parallelen drey
[149] Umstände vor, die zusammen gehören: das Nicht-
Schneiden, der gleiche Abstand, und die gleiche
Richtung
. Diese drey Umstände muſsten gleich in der
Construction der Parallelen mit gleicher Deutlichkeit, und
in ihrer nothwendigen Verbindung, zugleich hervortreten;
aber die künstlichen Mittel, durch die man sie hinten-
nach zusammenfügen will, sind nichts als Nothbehelfe,
welche selbst dann, wenn sie vor der geometrischen Kri-
tik sich rechtfertigen könnten, (wenn das, was die Geo-
meter unter dem Namen einer Parallelentheorie noch im-
mer suchen, gefunden würde,) die frühere Vernachläs-
sigung nicht wieder gut zu machen im Stande wären.
Ich weiſs nicht, ob ich es den Geometern werde recht
machen können; aber auf folgendes will ich aufmerksam
machen.


Die Ebene umgiebt den Punct, der in ihr liegt;
und man kann aus ihm in sie treten. Man vollziehe
dies Heraustreten mit der mindesten Bewegung, aber auf
eine bestimmte Weise. Alsdann ergiebt sich:


1) Der Punct, den man verlieſs, liegt nun mitten
zwischen
der Stelle, wohin man gelangt ist, und einer
andern, von der man sich genau um eben soviel
entfernt
hat, als um wieviel man fortrückte. Geht man
rückwärts, das heiſst, tritt man wieder in den Punct, aus
dem man kam, so nähert man sich jener Stelle um eben-
soviel.


2) Bey der ersten Fortrückung hat man einen Theil
der Ebene dergestalt durchschnitten, daſs dieselbe zu
beyden Seiten liegen blieb; und man ist neben dem,
was zerschnitten wurde, vorübergegangen. Ohne Zweifel
konnte man auch in dieses Nebenliegende der Ebene
aus dem Puncte übergehn; man kann also auch jetzt den
gemachten Uebergang dergestalt verändern, daſs er in
das Nebenliegende der einen oder der andern Seite ein-
trifft. Aber diese beyden Veränderungen sind entgegen-
gesetzt; der erste Uebergang liegt mitten zwischen
ihnen, die Veränderung nach der einen Seite hin ist also
[150] Entfernung von der andern. Oder mit andern Worten:
auch für die Drehung giebt es zwey Richtungen.


3) Jeder Uebergang liegt auf diese Weise zwi-
schen zweyen andern. Die Ebene aber umgiebt den
Punct gleichförmig. Also ist die Möglichkeit der Verän-
derung des Uebergehens allenthalben um den Punct
herum gleichförmig; oder kurz, die Radien des Kreises
um den Punct liegen allenthalben gleich dicht.


4) Alle Krümmung ist Drehung; die gerade
Linie aber verfolgt eben in so fern einerley
Richtung, in wiefern sie die Drehung vermei-
det
. Um dies einzusehn: überlege man nur die ein-
fachste, — wenn man will, unendlich kleine Fortrückung.
Da der Punct, welcher eine Linie beschreibt, jede Stelle,
die er durchläuft, fortdauernd bezeichnet, (er wird näm-
lich in Gedanken überall da, wo er war, auch vestgehal-
ten; sonst würde die gezogene Linie hinter ihm verlö-
schen): so versetzt er sich mit allen von ihm ausgehen-
den Richtungen von einem Orte zum andern. Beym
Fortrücken nun zieht er jene eben zuvor (1) bezeichnete
Stelle, von der man sich um eben soviel entfernt, als
das Fortrücken beträgt, — hinter sich her; sie muſs in
den vorigen Ort des Puncts fallen, welcher genau die
Mitte ist zwischen ihrem vorigen und seinem jetzigen
Platze. Dies liegt unmittelbar in dem Grundbe-
griffe des Zwischen, welcher der wahre Ursprung
aller Reihenformen ist
. Wiederholt sich das Fort-
rücken: so zieht entweder der Punct wiederum dieselbe
Stelle hinter sich her; — oder eine andre. Im letztern
Falle geschicht zweyerley zugleich; vorn eine Krümmung,
hinten eine Drehung. Im ersten Falle bleibt hinten die
Richtung, und vorn geht die Linie gerade fort.


5) Man betrachte den Punct an zweyen Orten auf
der geraden Linie, die er beschrieben hat. Man verän-
dere an beyden Orten die Richtung um gleichviel; nach
einerley Seite abwärts von der geraden. So ist die Rich-
tung, die man beydemale erhält, ehen so gewiſs dieselbe,
[151] als der Punct noch derselbe ist; weil auch alles Uebrige
gleich ist. Zieht man nun gerade Linien in die zweymal
erhaltene Richtung hinaus: so muſs auch diese Handlung
des Ziehens als eine und dieselbe angesehen werden,
und beyde Linien müssen stets gleich lang seyn. Sie
können sich nie schneiden, ja, ohne besondere Anlässe
kann nicht der Gedanke ihres Schneidens entstehn, weil
im Durchschnittspuncte verschiedene Richtungen zusam-
menstoſsen muſsten; es soll aber keine Krümmung, also
auch keine Drehung vorgefallen seyn. Der Eine, unge-
theilte Actus des Ziehens beyder zugleich, führt die an-
fängliche Linie, welche ihre Entfernung zuerst bestimmte,
(gleichviel ob unmittelbar oder vermittelst eines davon ab-
hängenden Perpendikels) stets mit sich fort, so daſs von
ihr die Fläche eines wachsenden Parallelogramms beschrie-
ben wird. Dabey kann nie eine Drehung vorfallen.
Denn jede der beyden Linien zieht immer nur einerley
Stelle hinter sich her, deren Winkel gegen die anfäng-
liche gerade, ein für allemal bestimmt ist. Geschähe
aber das Ziehen ungleichmäſsig: dann freylich würde die
Linie zwischen den jedesmaligen Endpuncten sich, indem
sie die Fläche beschreibt, zugleich drehen; und dies müſste
sich verrathen, indem man diejenigen Endpuncte zusam-
menfaſste, die durch den gleichmäſsigen Zug hätten ent-
stehen sollen.


Ohne Zweifel wird man diesen Gedanken ein mehr
geometrisches Kleid geben können; allein darauf kommt
es mir nicht an. Auch muſs der Gegenstand in der Me-
taphysik noch etwas anders behandelt werden wie hier.
Doch in der Erklärung der Parallelen kommen beyde
Untersuchungen überein; es sind vervielfältigte Dar-
stellungen Einer Richtung
. Darauf gründet sich das
Nicht-Schneiden und der gleiche Abstand ganz unmittel-
bar; die Unmöglichkeit des Schneidens ist die Identität
der Richtung; und der Abstand (oder statt seiner die
dritte durchschneidende Linie, welche das Parallelogramm
schlieſsen hilft) hält die Darstellungen dieser Richtung als
[152] ein Vieles auseinander. Läſst man den Abstand schwin-
den, so fallen die Parallelen in Eine Linie zusammen;
gestattet man das Schneiden, so entzweyt man die Rich-
tung. Der psychologische Ursprung der Parallelen ist
das Vesthalten des allgemeinen Begriffes der Rich-
tung; während der Punct, von dem man ausgeht, an ver-
schiedene Orte zugleich hinversetzt wird. Könnte man
den allgemeinen Begriff der Richtung auf der Tafel zeich-
nen, so würden die Geometer schwerlich je über Paral-
lelen gestritten haben; da man es nicht kann, werden sie
vielleicht ewig darüber streiten.


Die übrigen räumlichen Constructionen lassen sich
zum Theil aus dem Vorigen leicht ableiten (so ist
z. B. das Perpendikel auf eine Linie, psychologisch be-
trachtet, nichts anders als die von derselben seitwärts
gehende Reproduction, nachdem in ihr alles Entgegen-
gesetzte sich gehemmt hat, wie man aus der Zerlegung
der Richtungen sogleich findet;) theils würden sie hier
zu weitläuftig werden.


Aber merkwürdig ist, daſs, nachdem einmal geome-
trische Constructionen auf dem leeren oder als leer be-
trachteten Raum in Gang gekommen sind, sie sich über-
all, mit und ohne Willkühr einschieben; — so wird eine
Reihe von Bäumen als eine gerade Linie, ein Polygon
von mehr als etwa sechs Seiten als ein Kreis gesehen, —
ja daſs sie sich aufdringen, als das, was seyn sollte,
im Gegensatz der Sinnendinge wie sie sind. Dies ist zu-
nächst nur ein Zeichen des Uebergewichts der ältern,
längst vielfach verknüpften und ausgebildeten Vorstellungs-
massen über die momentanen, mit schwacher Empfäng-
lichkeit erzeugten, neuen Wahrnehmungen; ästhetische
Urtheile können noch hinzukommen, und das eigentliche
Sollen herbey bringen, welches allemal, wo es vorkommt,
von ihnen ausgeht, und ihren Gegensatz gegen das
Wirkliche bezeichnet.


§. 115.

Betrachtungen über die dritte Dimension bis zu denen
[153] über das Solide *) versparend, kommen wir jetzt auf die
Vorstellungen des Zeitlichen. Diese sind offenbar mit
denen des Räumlichen sehr nahe verwandt; daher wird
das Vorstehende hier nur einige Modificationen erhalten.


Das Zeitliche, mit seinem bestimmten Unterschiede
des Vorher und des Nachher, gestattet keine solche, auf
gleiche Weise wider einander laufende, Reproductions-
folgen, wie das Räumliche (§. 113.). Dennoch genügt
auch hier nicht das einfache Ablaufen einer Vorstellungs-
reihe, welches von einer einzigen reproducirenden Vor-
stellung ausgehn könnte, nach §. 112. Vielmehr, die
Vorstellung des Zeitlichen als eines solchen kommt darin
mit der des Räumlichen überein, daſs eine Strecke
desselben auf einmal vorliegen muſs, wie sie
eingeschlossen ist zwischen ihrem Anfangs- und
Endpuncte
. Ein flieſsendes Vorstellen, fortgleitend
von dem Anfangspuncte zum Endpuncte, würde zwar
selbst Zeit verbrauchen; aber es würde die Zeit nicht
darstellen, indem es von dem Successiven einen Theil
über dem andern fahren lieſse, anstatt das ganze Succes-
sive zusammenzufassen.


Beyde, der Anfangs- und der Endpunct, gehören
gleich wesentlich zur Auffassung des Zeitlichen, und müs-
sen darin mit gleicher Klarheit vorkommen. Daſs sie
aber mit einander nicht verwechselt werden, dafür sorgt
schon die Wahrnehmung selbst, welche das Zeitliche zu
unserer Kenntniſs bringt. Denn sie gestattet nicht, daſs
wir in ihr, wie in der räumlichen Auffassung, jeden be-
liebigen Punct zum ersten machen, und die Reproductions-
folgen nach Gefallen rückwärts und vorwärts kehren.
Vermöge der Verschmelzung, die in dem zeitlich wahr-
genommenen entstehen muſs, reproducirt zwar jeder Punct
sowohl Vorhergehendes als Nachfolgendes, aber jedes auf
verschiedene Weise. Hierüber ist im §. 112. ausführlich
geredet worden.


[154]

Wir brauchen also nur eine Voraussetzung anzu-
nehmen, unter welcher der Anfangspunct und der End-
punct einer Zeitstrecke gleiche Klarheit im Bewuſstseyn
erlangen können; alsdann wird sich das Uebrige von
selbst finden. Gesetzt demnach, von einer Reihe wohl
verschmolzener successiver Wahrnehmungen werde am
Ende die erste und die letzte wiederholt: so reproducirt
jede von beyden das zwischenliegende, aber jede nach
ihrer Art. Die Reproduction des Endpuncts stellt die
ganze Reihe auf einmal vor Augen, aber mit rückwärts
abnehmender Stärke, so daſs die vordersten Glieder der
Reihe wie in einen dunkeln Hintergrund treten. Zugleich
durchläuft die Reproduction des Anfangspunctes alle
Glieder von vorn nach hinten: oder eigentlich, sie wirkt
auf alle zugleich, aber läſst die frühern eiliger als die
spätern hervorkommen, so daſs die ganze Reihe in ei-
nem solchen unaufhörlichen Uebergehn in allen ihren
Theilen schwebend erhalten wird, wie es der wirklichen
successiven Wahrnehmung analog ist.


Indem nun jene erste Reproduction gleichsam eine
Perspective in die Ferne eröffnet, und die zweyte aus
dieser Ferne etwas näher kommen läſst: fehlt noch das
Merkmal, das Entfernte sey nicht; es fehlt die Negation
in dem Begriffe des Aufhörens. Aber wenn man von
dem Zeitlichen als einem Sinnlichen und Anschaulichen
redet, so wird man dieses Merkmal in dem Nacheinan-
der nun schon entbehren müssen. Denn wie auch der Un-
terschied zwischen Anschauungen und Begriffen möchte
bestimmt werden, so wird doch Niemand behaupten, daſs
eine Negation könne angeschaut werden. Daraus ergiebt
sich, daſs, wie oben von dem Auſsereinander im eigent-
lichsten Sinne, eben so hier von dem Nacheinander zu
sagen ist, die Vorstellung desselben sey vielmehr ein Be-
griff als eine Anschauung. Bis an die Gränze der Be-
griffe aber haben wir beyderley Vorstellungen nunmehr
verfolgt und ihren Ursprung psychologisch erkannt.


Es bleiben nun noch einige Bemerkungen über die
[155] Zeit zu machen übrig, welche theils jenen frühern über
den Raum analog sind, theils ihrerseits Veranlassung ge-
ben können, den Raum genauer zu untersuchen.


Am Ende des §. 114. haben wir gesehen, wie die
Vorstellung des Raumes selbst, verschieden von de-
nen des Räumlichen entsteht. Das dunkle Bild des leeren
Raums ist ursprünglich das Gemisch der gegenseitig bey-
nahe gänzlich sich hemmenden Reproductionen, welche
von der Vorstellung eines Gegenstandes ausgehn, des-
sen Bewegung vor einem bunten Hintergrunde man zu-
vor beobachtet hat. Natürlich bildet sich auf ähnliche
Weise eine Vorstellung der leeren Zeit. Um den Ge-
genstand so deutlich als möglich in der Erfahrung zu
erblicken: erinnern wir uns, daſs die leere Zeit am stärk-
sten dann wahrgenommen wird, wenn sie als Pause in
der Rede oder in der Musik vorkommt. Gesetzt, der
Prediger auf der Kanzel, der Lehrer auf dem Katheder,
stocke mitten in seinem Vortrage; oder es sey in einem
Tonstück (wie die Componisten zuweilen absichtlich thun)
ein ganzer Tact Pause für alle Instrumente absichtlich
angebracht: so wird jeden Augenblick der Fortgang des
Vortrages erwartet; und in diesem Erwarten mehr als je-
mals sonst, die leere Zeit wahrgenommen. Man kann
auch das letzte Beyspiel abändern. Mitten in einer sehr
vollstimmigen Musik, worin, wie etwan in der Fuge, ein
Gewühl von Melodien gleichzeitig durcheinander fuhr, sey
auf einmal nur eine Stimme hörbar, welche eine lange
Note aushält, während alle übrigen Stimmen schweigen.
Hier wird nicht leere Zeit eintreten, denn man hört fort-
während die ausgehaltene Note. Aber dagegen wird die-
ser eine Ton als dauernd wahrgenommen; warum?
weil auf ihn die Töne der andern Instrumente, welche
man erwartet, aber nicht hört, übertragen werden. Der
Grund liegt hier ganz klar am Tage. Die Bewegung
des bis dahin vernommenen Vortrags hat die Vorstellun-
gen dergestalt aufgeregt, daſs sie alle mit einem unbe-
stimmten Streben
zur Reproduction fortwirken. Un-
[156] bestimmt ist es jedoch nur in so fern, als die zuletzt auf-
gefaſsten Theile des Vortrags früher schon mannigfaltig
mit andern Vorstellungen in den verschiedenen Abstu-
fungen ihrer Reste verschmolzen waren. Aus dieser Ur-
sache löschen sich die Reproductionen beynahe aus, und
es bleibt nichts als die Form derselben, das Nacheinan-
der, noch merklich. Anders verhält es sich, wenn mit-
ten in einer bekannten Melodie die Pause eintritt.
Hier ist die Reproduction bestimmt; sie ruft den gewohn-
ten Fortgang herbey.


Jedermann weiſs, daſs mit dem Warten sich ein
sehr unangenehmes Gefühl verbinden kann. Wenn
in dem bekannten Vortrage (eines Liedes, eines Ge-
dichts, eines Schauspiels) eine Stockung eintritt: so er-
gänzt zwar der Hörer sogleich das Nächstfolgende; allein
eben dadurch rückt in ihm die bekannte Reihe weiter
vor; fängt nur der Redner oder Sänger nach seiner Ver-
spätung da wieder an, wo er vorhin stehn blieb, so ver-
schiebt
sich die Reihe der Wahrnehmungen gegen die
der Reproductionen; die Glieder beyder Reihen, welche
gleichmäſsig ablaufen muſsten, treffen falsch auf einan-
der; und dies stört nicht bloſs die Vorstellungen einzeln
genommen, sondern auch das an sie geknüpfte, von ihnen
fortwährend ausgehende Streben zum fernern Repro-
duciren.


Aber auch wenn die Reihe der Wahrnehmungen
noch nicht zuvor bekannt war: so ist dennoch ihre Un-
terbrechung widrig. Das Gefühl der leeren Zeit
ist an sich unangenehm
. Warum? Weil es aus
Reproductionen von entgegengesetzter Art entsteht, die
sich, eben indem sie ins Bewuſstseyn fortwährend vor-
dringen, gegenseitig Gewalt anthun. Hieher gehört das
peinliche Gefühl der Langenweile; analog dem des
wüsten leeren Raums. Die Pause in der Musik gleicht
einer leeren Stelle in einem alten Gemälde, von welchem
hie und da die Farbe abgeschabt ist; oder auch dem
Loche in einem Kleide.


[157]

Gesetzt, wir haben ein Gespräch geführt, das oft-
mals abbrach; und immer von neuem angesponnen, doch
niemals recht in Zug kam: so sagen wir am Ende, die
Zeit sey uns lang geworden. Hier kommt nun zu den
unangenehmen Empfindungen während der Pausen noch
etwas anderes. Wir irren uns in Hinsicht der verflosse-
nen Zeit; wir schätzen sie unrichtig; unsre Uhr sagt uns,
es sey nicht, wie wir meinten, eine ganze, sondern nur
eine halbe Stunde verflossen. Dagegen, wenn ein Ge-
spräch so fortläuft, daſs sein Anfangspunct uns während
der ganzen Zeit mit allem, was hinzukommt, wohl ver-
schmelzend noch gegenwärtig bleibt am Ende: dann täu-
schen wir uns auf entgegengesetzte Weise; wir haben
Mühe, zu glauben, daſs schon soviel Zeit verlaufen sey.
Um dies zu erklären: erinnere man sich an die Eigen-
thümlichkeit der rückwärts gerichteten Reproduction.
In der Reihe a, b, c, d, e, stehe man am Ende bey e.
Diese letzte Vorstellung ruft die vorhergehenden jedesmal
simultan zurück; aber abgestuft; so weit die Verschmel-
zung reicht. Waren damals, als e eintrat, a und b schon
ganz gesunken: so kann jenes nur d, und minder c her-
vorrufen. Indem, hiedurch freyer von der Hemmung,
sich nun durch eigne Kraft c höher hebt: steigen allmählig
auch a und b. Aber eben diese Vorstellungen konnten
auch unmittelbar von e hervor gehoben werden, wenn
nur damals, als die Reihe sich bildete, a und b noch
im Bewuſstseyn gegenwärtig blieben, indem e hinzutrat.
Ueberdies fällt die Abstufung verschieden aus, je nach-
dem die Reihe in ihrem Entstehen sich zusammenfügt.
Wäre das ganze a, das ganze b, und so ferner, völlig
ungehemmt gewesen, als e, das letzte Glied, hinzukam:
so würde gar keine Abstufung in der Reproduction seyn;
und e würde die vorigen Glieder gar nicht als ein Ver-
gangenes, sondern als ein Gegenwärtiges reproduciren.
Dieser Aufhebung der Zeitform nähert sich nun die Re-
production um so mehr, je gröſsere Reste der frühern
Glieder sich mit den späteren vereinigt haben; die ver-
[158] flossene Zeit erscheint also in diesem Maaſse kürzer;
im umgekehrten Falle desto länger.


Es ist nun nicht schwer einzusehn, daſs die Lange-
weile zwey entgegengesetzte Ursachen haben kann. Steht
der Zuhörer hoch über dem Vortrage, der ihm gehalten
wird, so langweilt er sich; steht er tief darunter, so be-
gegnet ihm dasselbe. — Im ersten Falle schiebt er als
gedankenreicher Kopf seine eignen, schnell hervorsprin-
genden Vorstellungen überall zwischen ein, und drängt
hiedurch die Glieder der ihm dargebotenen Reihe gleich-
sam auseinander, so daſs sie nicht gehörig verschmelzen
kann; überdies hemmt er als Kritiker durch seinen Ta-
del die einzelnen Glieder, welches die vorige Einwirkung
noch vermehrt. Der Ungebildete würde sich dem Vor-
trage hingegeben, und die ihm dargebotene Unterhaltung
fröhlich genossen haben. Dagegen wenn auf gebildete,
kenntniſsreiche Männer eine Unterhaltung berechnet ist:
so gehören zu der dargebotenen Reihe alle die Gedan-
ken, die sie selbst hinzuthun sollen. Man redet mit ihnen
eine bekannte Sprache; die aber für den Unkundigen
nichts bedeutet. Das Unverstandene giebt dem Letzte-
ren verworrene Reproductionen; und eben diese sind der
Sitz der Langenweile.


Wir können hier noch die Frage berühren, wie weit
überhaupt die psychologische Möglichkeit reiche, den
Unterschied der Zeiten wahrzunehmen. Es ist gewiſs,
daſs wir diese Möglichkeit als in sehr enge Gränzen ein-
geschlossen betrachten müssen. Wenn eine Folge von
Vorstellungen in solchen Zeitabschnitten gegeben wird,
welche dem Vorrücken des Erdballs um einen Fuſs, oder
gar dem Fortschritte des Lichts um einen Zoll, entspre-
chen: so ist kein Zweifel, daſs hunderte solcher Vorstel-
lungen, wiewohl sie nach einander eintreten, für uns als
absolut gleichzeitig zu betrachten sind. Um nun wenig-
stens etwas Licht auf diesen dunkeln Gegenstand zu wer-
fen: mache ich zwey Bemerkungen:


1) Während eine Vorstellung allmählig sinkt, und
[159] mit ihren verschiedenen Resten sich den nachfolgenden
anschlieſst: welche von diesen Resten sind geschickter,
die Zeit fein zu zertheilen, die ersten, gröſseren, oder
die letzten, kleineren? Offenbar jene. Denn wir wissen,
daſs die Bewegung des Sinkens Anfangs am geschwinde-
sten geschieht; daher werden die Unterschiede der grö-
ſsern Reste beträchtlicher, als die der kleinern, wenn
übrigens die nachfolgenden Vorstellungen im gleichblei-
benden Zeitmaaſse gegeben werden. Also werden auch
die davon abhängenden Geschwindigkeiten der Repro-
duction mehr verschieden seyn; worauf ganz allein der
bemerkbare Unterschied der Zeiten beruht.


2) Kann denn auch die feinste Zertheilung der gröſs-
ten Reste einer Vorstellung im Bewuſstseyn merklich
werden? Die Antwort fällt verneinend aus. Soll die Re-
production mit verschiedener Geschwindigkeit, gemäſs der
Gröſse der Reste, erfolgen: so müssen diese Reste wirk-
sam seyn können; das heiſst, die ganze Vorstellung muſs
wenigstens bis auf den Grad ins Bewuſstseyn ungehemmt
hervorgetreten seyn, welcher dem gröſsten derjenigen
Reste gleich ist, deren gesondertes Wirken man verlangt.
Also müſste sie ganz und gar ungehemmt wieder her-
vortreten können, wenn auch die Unterschiede unter den
gröſsten ihrer Reste, die ihr selbst beynahe gleich sind,
einen merklichen und entsprechenden Unterschied in den
Geschwindigkeiten der davon abhängenden Reproductio-
nen ergeben sollten. Aber sie kann niemals ganz un-
gehemmt wieder hervortreten, wie wir schon im §. 82.
gesehn haben. — Die kleinsten Zeittheilchen, welche
Jemand unterscheiden kann, hängen demnach davon ab,
wie hoch er seine Vorstellungen ins Bewuſstseyn wieder
zu erheben vermöge. Wenn nun zu den allgemeinen
psychologischen Hindernissen noch besondere individuelle
hinzukommen: so nähert sich sein Zustand theils dem
des Schlafenden, welchem gar keine Zeit flieſst, theils
dem, welcher aus einer fixen Idee oder fixen Begierde
hervorgeht. Denn sobald irgend eine Art von Erstarrung
[160] anstatt des gewöhnlichen Flusses der Vorstellungen ein-
tritt, so kann die Zeit nicht mehr wahrgenommen werden.


§. 116.

Beynahe so wichtig, als das Entstehen der Reihen,
ist das Abbrechen und Verändern derselben. Eigentlich
sollten alle successive Vorstellungen während des gan-
zen Lebens eine einzige Reihe bilden. Aber oft genug
werden wir innerhalb eines zusammengefaſsten Ganzen
beschäfftigt und aufgehalten (§. 114.); oft genug dringen
Vorstellungen aus unserm Innern hervor, welche das fer-
nere Merken auf die Wahrnehmung abschneiden (§. 95
bis 97., wenn S\>βφ); endlich, was am merkwürdig-
sten ist, wenn eine Reihe durch Versetzung ihrer
Glieder verändert wird, so ändern sich die dadurch be-
stimmten Reproductionen. Durchläuft die Ternion a b c
alle ihre sechs Versetzungen: so verschmilzt jedes Glied
auf gleiche Weise mit allen, und die Reproductionen
kreuzen sich nach allen Richtungen; das bestimmte Zwi-
schen
verschwindet; es erzeugt sich dagegen die unbe-
stimmte Vorstellung des Vielen. Der Anblick einer
Heerde, einer Schaar von Menschen, oder selbst
nur unser Umhergehn unter einer Menge von Gegen-
ständen, giebt die Beyspiele dazu. — Das Viele wird
näher bestimmt theils durch den allgemeinen Begriff
des in ihm vorhandenen Gleichartigen, theils durch Zahl-
begriffe
. Von allgemeinen Begriffen handelt das nächste
Capitel. Hier aber mag ein schicklicher Ort seyn, um
im Vorübergehn etwas über die Vorstellung von der
Zahl zu sagen. Ein Gegenstand, der zwar in der That
noch zu früh kommt, den aber ein ziemlich gangbarer
Irrthum hieher versetzt. Denn seit Kant hat man oft
genug wiederholt, die successive Addition von Einem zu
Einem ergebe diese Vorstellung, welche hiemit an die
Zeit gebunden sey.


Zu dieser Meinung hat offenbar die gemeine Ope-
ration des Zählens den Anlaſs gegeben, in welcher die
Zahl
[161] Zahl n+1 erzeugt wird aus der nächstvorhergehenden
Zahl n, durch Zusetzung der Einheit.


Dem gemäſs denkt man sich die Zahlen bestehend
aus Einheiten; allein die Eins selbst weiſs man nicht zu
erklären; und wenig fehlt, daſs man sie gar für eine an-
geborne Idee halte.


Es ist hier einer von den Fällen, wo eine Verlegen-
heit entsteht, weil man vergiſst, zu einem Beziehungsbe-
griff seinen Beziehungspunct aufzusuchen, und diesen als-
dann genau vestzuhalten. Man besinne sich nur zuvör-
derst, daſs beym Zählen allemal Etwas vorhanden ist,
welches gezählt wird; und daſs die Vorstellung von die-
sem Etwas immer gleichartig bleiben muſs, indem be-
kanntlich ungleichartige Dinge, z. B. Federn, Papierbo-
gen, Siegellackstangen, sich nicht zusammenzählen lassen,
es sey denn, daſs man sie als gleichartig (durch den
allgemeinen Begriff der Schreibmaterialien) auffasse. Jede
Zahl nun bezicht sich auf solche Weise auf einen allge-
meinen Begriff des Gezählten; dieser Begriff aber kann
ganz unbestimmt bleiben, indem für die Zahlbestimmung
es gänzlich gleichgültig ist, was man zähle. Gleichwohl
muſs man die Beziehung auf diesen unbestimmten Be-
griff stets vor Augen behalten, sonst wird man verleitet
zu jener falschen Vorstellungsart, von Einheiten als Be-
standtheilen der Zahlen. Zu der Zahl 12 denke man
hinzu den allgemeinen Begriff eines Stuhls, oder eines
Thalers, so wird man gewahr werden, daſs sich die Zahl-
bestimmung ungetheilt, und auf einmal, dem Begriffe an-
schlieſst; und daſs es unter den zwölf Stühlen nun weder
einen ersten, noch einen zwölften Stuhl giebt, weil der
Gedanke von allen zusammen schlechthin zugleich gefaſst
wird. Uebrigens kann man allerdings das Dutzend suc-
cessiv durchzählen, und es besteht alsdann auch aus allen
einzelnen Stühlen; aber die Zahl zwölf besteht darum
doch nicht aus zwölf Einheiten, denn die Einheit würde
auf diese Weise in den Platz des allgemeinen Begriffs
von dem Zählbaren treten, (also das sich Beziehende
II. L
[162] in den Beziehungspunct verwandelt werden;) wäh-
rend die Eins vielmehr selbst eine Zahl ist, das heiſst,
eine von den möglichen Antworten auf die Frage: wieviel?


Es entstehn die gröſseren Zahlen nicht aus der Eins,
sondern gerade umgekehrt die Eins aus der Mehrheit. Denn
wenn ein Gegenstand nur einmal vorhanden ist, so fällt
der allgemeine Begriff, und dessen Anwendung, zusam-
men; und nur in den Fällen einer Mehrheit des Gleich-
artigen kann der Gattungsbegriff desselben, welcher
der Beziehungspunct und folglich die conditio sine qua
non
des Zahlbegriffs ist, von den einzelnen Gegen-
ständen
ursprünglich unterschieden werden. Sind aber
schon Begriffe einer Mehrheit, wenn auch noch nicht
völlig bestimmte Begriffe der gröſsern Zahlen, vorhan-
den, dann bedarf man auch der Eins, die nun das
Einzelne bezeichnet, was man aus der gröſsern
Menge absondert oder ihr entgegensetzt
.


Wenn aber auch eingeräumt werden könnte, daſs
die Zahlen durch successive Addition von Einheiten ent-
ständen; so würde daraus noch ganz und gar nicht fol-
gen, daſs irgend etwas von Zeitbestimmung oder Succes-
sion in den Vorstellungen der Zahlen enthalten sey.
Vielmehr fordert die Zahl die vollkommenste Simultanei-
tät, und löscht die Succession des Durchzählens, wodurch
man bis zu ihr gelangt seyn mag, gänzlich aus. Die
Zahl hat demnach mit der Zeit nicht mehr gemein, als
hundert andre Vorstellungsarten, die auch nur allmählig
konnten erzeugt werden. So gelangen wir auch im Raume
aus einer bekannten Gegend nach und nach durch Er-
weiterung unseres Gedankenkreises in die unbekannten
und entlegenen; das Erstaunen über die Entfernung der
Sonne, der Fixsterne, der Nebelflecke, ist noch weit stär-
ker als das über Trillionen oder Centillionen in Zahlen;
zum Zeichen, daſs wir in den entfernten Räumen nicht
heimisch sind, sondern langsam und mühsam uns dahin-
aus fortbewegen. Wer wird darum zweifeln, daſs im
Raume Alles zugleich sey? Oder wer wird die Vor-
[163] stellung des Raums von der Vorstellung der Zeit ab-
hängig machen?


Endlich der eigentlich wissenschaftliche Begriff der
Zahl, welcher kein andrer als der des Mehr und Min-
der, und dabey empfänglich ist nicht nur für alle Brüche,
sondern auch für alle irrationale Gröſsen: dieser ist von
noch früherem Ursprunge als die ganzen Zahlen. Denn
das Mehr und Minder erkennt man gar leicht an Raum-
gröſsen. Einerley Reproduction giebt einerley Raum-
gröſsse; darauf beruht das Messen mit dem Auge; aber
wenn die Reproduction entweder nicht ausreicht,
um sich einem Gegebenen anzupassen, oder wenn
sie sich gehemmt findet, ehe sie zu Ende kommt,
so wird in jenem Falle ein Mehr, in diesem ein
Minder bemerkt
. Die allgemeinen Begriffe hievon,
und mit ihnen auch die bestimmten Zahlbegriffe, bilden
sich allmählig aus wie alle andern allgemeinen Begriffe;
wovon das Weitere im nächsten Capitel.


Viertes Capitel.
Von den ersten Spuren des sogenannten obern
Erkenntniſsvermögens.


§. 117.

Vorwärts schreitend in der Richtung, die wir im
Anfange des dritten Capitels genommen, trifft die Ana-
lyse jetzt zunächst auf das Factum, daſs wir nicht bloſs
ein Räumliches und Zeitliches überhaupt, sondern räum-
liche Dinge und zeitliche Begegnisse, die sich mit
den Dingen zutragen
, wahrzunehmen glauben. Nun
kann zwar auf keine Weise eingeräumt werden, daſs in
den gemeinen Vorstellungen der Dinge schon der Be-
griff der Substanz, in denen der Begegnisse der Be-
griff von Wirkungen gewisser Kräfte, enthalten sey;
L 2
[164] und eben so bestimmt muſs geläugnet werden, daſs nach
Kants Behauptung, (§. 15. der Kritik der reinen Ver-
nunft,) eine besondere Verstandeshandlung nöthig
sey, um das Mannigfaltige einer Anschauung zur Einheit
eines Objects zu verbinden. Allein die Psychologen,
welche sich durch Unterscheidung der Seelenvermögen
ein Verdienst zu erwerben glaubten, haben nun einmal
den Verstand in die Auffassung der Dinge eingemischt;
sie rechnen auch einstimmig den Verstand zum obern
Erkenntniſsvermögen; daher wird nach dem gangbaren
Sprachgebrauche die Ueberschrift dieses Capitels nicht
unpassend seyn für die darin abzuhandelnden Gegen-
stände.


Zur bequemeren Uebersicht erst einige Vorerinne-
rungen! Wir beschäfftigen uns in diesem ganzen Ab-
schnitte mit dem geistigen Leben überhaupt, also noch
nicht mit dem Eigenthümlichen der menschlichen Ausbil-
dung. Da nun das obere Vermögen der Vorzug des
Menschen vor den Thieren seyn soll: so müſsten wir
dieses Vermögen hier noch gar nicht berühren. Allein
die ganze Unterscheidung zwischen Mensch und Thier
ist so höchst schwankend, daſs die Psychologen sogar
ausdrücklich den Thieren ein analogon rationis einräu-
men; gleichsam eine schwache Nachahmung der mensch-
lichen Vernunft; während doch ohne Zweifel jedes Thier
in seiner Art eine ursprüngliche Vollständigkeit besitzt,
so gut wie der Mensch.


Ferner: drey Hauptpuncte sind es, welche wir in
diesem Capitel betrachten werden; die Vorstellungen von
Dingen, die Gesammt-Eindrücke gleichartiger Gegen-
stände, und die Urtheile. Hiebey ist vorläufig zu mer-
ken, daſs die Ausbildung der ächten allgemeinen Begriffe,
welche mit den Gesammt-Eindrücken ähnlicher Gegen-
stände nicht verwechselt werden dürfen, den Urtheilen
nicht vorangeht, sondern erst durch dieselben zu Stande
kommt, und also ihnen nachfolgt.


Eben so nöthig ist es, zu merken, daſs das An-
[165] schauen, welches gewöhnlich zur Sinnlichkeit gerechnet
wird, erst viel tiefer unten, nach der Lehre vom Selbst-
bewuſstseyn, kann in Betracht gezogen werden.


Desgleichen wolle man hier nicht nach dem innern
Sinne fragen. Er soll den Gegenstand des folgenden
Capitels ausmachen. Für jetzt haben wir andre, noch
dringendere Angelegenheiten zu besorgen.


Zur Uebersicht kann es nützlich seyn, wenn ich an
diesem Orte die schon in der Einleitung gegebenen Ana-
lysen von Verstand und Vernunft wieder in Erinne-
rung bringe; und daran noch ein paar Nebenbestimmun-
gen knüpfe.


Verstand nenne ich das Vermögen, sich im Denken
nach der Qualität des Gedachten zu richten.


Das Gegentheil hievon ist der Unverstand, der sich
als Mangel an Fassungskraft, als Zerstreutheit, Thorheit,
Verblendung durch Affecten äuſsert.


Die Qualität des Gedachten ist unabhängig von der
Stärke, welche zufällig eine Vorstellung vor andern be-
sitzt, und eben so von ihrer momentanen Aufregung.
Aber zur Qualität des Gedachten gehört


1) die Achnlichkeit und Verschiedenheit in demsel-
ben. Daher ist der Verstand ein logisches Vermögen.


2) Die Verknüpfung. Daher ist dem praktischen
Verstande stets die ganze Lage der Dinge gegenwärtig;
daher auch werden Zeichen verstanden, Sprachen ge-
lernt, u. dgl. m.


Vernunft nenne ich das Vermögen der Ueberlegung.
In dieser aber werden mehrere Vorstellungen, oder de-
ren schon vorhandene Verbindungen, im Bewuſstseyn
zusammen gehalten; sie durchdringen sich gegenseitig
und geben ein gemeinschaftliches Resultat.


Das Gegentheil hievon ist die Unvernunft, die keine
Gründe hören will oder kann; daher auch die Schwäche
der Kinder und der Thiere, die sich über den Eindruck
des Augenblicks nicht erheben können; und die Verblen-
dung der Leidenschaften mit ihrer falschen Vernunft.


[166]

Die Ueberlegung kommt vor


1) bey Prämissen eines Schlusses. Daher ist auch
die Vernunft ein logisches Vermögen.


2) Bey der Erweiterung der Begriffe zum Unendli-
chen und Unbedingten. Nach einer gegebenen Regel
des Fortschritts werden hier einige Fortschreitungen wirk-
lich gemacht, und dann die Möglichkeit der noch zu
machenden in einen Gedanken zusammengefaſst.


3) Beym Wählen unter Zwecken; also bey der
Veststellung praktischer Maximen. Daher ist die Ver-
nunft ein moralisches Vermögen.


Die Erläuterungen hievon werden sich allmählig dar-
bieten. Soviel sicht man auf den ersten Blick, daſs nach
diesen Erklärungen Verstand und Vernunft einander nicht
coordinirt werden können, weil sie sich nicht mit Ge-
nauigkeit ausschlieſsen. Allein darin eben liegt der Feh-
ler, den man begeht, daſs man sie coordiniren will, um
daraus reale Seelenvermögen machen zu können. Gute
Namenerklärungen müssen dem Sprachgebrauche ange-
messen seyn; und der geht nicht darauf aus, daſs die
Begriffe einander vollkommen ausschlieſsen sollen; er
bezeichnet oftmals nur verschiedene Gesichtspuncte für
einerley Erscheinungen, durch die Verschiedenheit der
Worte. Jetzt kehren wir zurück in den Zusammenhang
des Vortrags.


§. 118.

Die Gränze zwischen dem obern und untern Erkennt-
niſsvermögen wird durch eine Verschiedenheit der Erklä-
rungen darüber, die sich bey Wolff und Kant, den
hauptsächlichsten Absonderern der Seelenvermögen, fin-
det, — nicht wenig zweifelhaft gemacht. Wolff setzt
die Deutlichkeit der Erkenntniſs zum Scheidepuncte; da-
her beginnt auch seine Lehre vom obern Erkenntniſsver-
mögen mit der Aufmerksamkeit, welche die Theil-
vorstellungen einzeln hervorhebe. Kant (in der Anthro-
pologie, S. 25.,) ist hiemit sehr unzufrieden; er beschul-
digt Leibnitzen, als Platoniker angeborne reine Ver-
[167] standesanschauungen (Ideen) angenommen, und in de-
ren Beleuchtung und Verdeutlichung alle wahre Erkennt-
niſs gesetzt zu haben *); er will dagegen, daſs die Pas-
sivität
der Sinnlichkeit, die Spontaneität des Ver-
standes, den Unterschied machen solle. Hieher gehört
jener §. 15., u. s. w. der Kritik der reinen Vernunft, wo
Kant etwas sehr wichtiges zu lehren glaubt, indem er
erinnert, aller Analysis müsse eine Synthesis vorangehn;
und diese sey eine Handlung des Verstandes, auch
wenn sie nur das Mannigfaltige der Anschauung in die
Vorstellung Eines Objects vereinige.


In der That ist dieses ein sehr wichtiger, sehr durch-
greifender und verderblicher Irrthum für die ganze
Kantische Lehre. Denn freylich muſsten wohl Seelen-
vermögen angenommen und abgetheilt werden, wenn das
Mannigfaltige der Anschauung nicht anders zusammen-
kommen, nicht anders Objecte zu erkennen geben konnte,
als nachdem sua sponte gleichsam ein höherer Geist, der
Verstand, den sinnlichen Stoff ergriffen und geformt
hatte! Schwerlich giebt es im ganzen Gebiete der Wis-
senschaften ein stärkeres Beyspiel von unnützer Bemü-
hung, das zu erklären, was sich schlechthin von selbst
versteht.


Wie sollen denn wohl die mehrern Vorstellungen
Eines erkennenden Subjects es anfangen, getrennt zu
bleiben? Was denkt man sich bey dieser Trennung?
Etwa daſs die Vorstellungen auſser einander liegen?
Und was denkt man sich bey der Verbindung der zuvor
[168] Getrennten? Etwa daſs irgend ein besonderes, neues
Bindungsmittel
dazu komme? Das wohl nicht; aber
was denn sonst? — —


Alle unsere Vorstellungen, bloſs und ledig-
lich darum, weil sie in uns beysammen sind,
würden ein einziges, aus gar keinen Theilen be-
stehendes, gar keiner Art von Absonderung fä-
higes, Object vorstellen, — und zwar eben so-
wohl ein unzeitliches als ein unräumliches Ob-
ject; — wenn die bekannten Hemmungen und
Gegensätze der Vorstellungen nicht wären
.


Was nun die Hemmungen nicht trennen,
(unmittelbar oder mittelbar,) das bleibt beysammen,
und wird vorgestellt als Eins
.


Man frage also gar nicht, wie es zugehe, daſs, wenn
wir z. B. eine Glocke wahrnehmen, und sie durch ihre
verschiedenen Merkmale als Ein Ding auffassen, die Farbe
und Gestalt der Glocke mit ihrem Klange und ihrer Härte
und Kälte zusammengefaſst werde. Man frage auch nicht,
welche Verstandeshandlung aus Blättern und Zweigen,
Blüthen und Früchten, den Aesten und dem Stamme,
einen Baum construire. Sondern man frage lieber, warum
nicht die Glocke auch noch mit dem Gebälke, woran sie
hängt, der Baum auch noch mit dem Boden, worin er
steht, zusammengefaſst, und für ein einziges Ding gehal-
ten werde? Darauf ist alsdann die Antwort, daſs aller-
dings diese letzte Art der Auffassung die ursprüngliche
ist; daſs wir die gleichzeitige Umgebung nur bloſs darum
nicht als Ein Ding, sondern als eine Summe von Din-
gen ansehen, weil diese Umgebung zerreiſst, indem die
Dinge von ihren Plätzen rücken, oder auch der Sinn
bald mehr bald weniger von ihnen zusammen faſst, oder
endlich der Standpunct des Wahrnehmenden geändert
wird; wobey neue Complexionen von Vorstellungen ge-
bildet werden, die mit den früheren in mancherley Hem-
mungsverhältnisse gerathen. Nichtsdestoweniger aber blei-
ben auch die früheren Complexionen noch wirksam; so
[169] entstehen Ganze und Theile; so bleibt, in unserer
Vorstellung, der Baum im Walde, und der Wald in
der Landschaft. — Ganz auf die nämliche Weise geht es
mit denjenigen Associationen, worauf die Erwartung
ähnlicher Fälle
beruht. Diese verknüpft eben so gut
für den Wahrsager das Zeichen mit dem vorbedeuteten
Erfolge, als für den Physiker die Wirkung mit der Ur-
sache. Ursprünglich ist jedes Vorhergehende
ein Vorzeichen
, lediglich darum, (und ohne alle andre
Bedeutung, als) weil die Vorstellung desselben
mit der des nachfolgenden in Ein Bewuſstseyn
zusammenkommt und verschmilzt
. Bey fortgehen-
der Erfahrung aber zerreiſst auch hier das Band an gar
vielen Stellen; Vorstellungsfolgen von entgegengesetztem
Ausgange bey gleichem Anfange müssen in der Wahr-
nehmung sich bilden und in der Seele sich hemmen; da-
gegen verstärken einander die vielemal wiederhohlten
gleichartigen Vorstellungsfolgen, und machen die Grund-
lage der gemeinen Lebensklugheit.


Soll nun dergleichen Synthesis den Hauptcharakter
des Verstandes bestimmen, so giebt es in der ganzen
Psychologie kaum etwas, das sich so sehr von selbst
verstünde als der Verstand. Auch ist alsdann das Fun-
dament der Lehre vom Verstande enthalten in den Ca-
piteln der Statik des Geistes, die von Complicationen
und Verschmelzungen handeln; und bey denen wir uns
schon auf die Einheit der Seele, als auf den für sich
vollständigen und zulänglichen Erklärungsgrund der Ver-
bindung, gestützt haben. Soll aber der Verstand sich als
Eigenthümer der Begriffe von Substanz und Ursache zei-
gen, so werden wir einen solchen wohl als etwas aus-
schlieſsend menschliches betrachten, und demnach für
jetzt noch zur Seite lassen müssen. Denn eine Substanz
ist etwas ganz anderes als ein sinnliches Ding, das heiſst,
als eine Complexion von Merkmalen, bey der noch nach
keinem Prineip der Einheit gefragt ist, weil das Ding
ohne Weiteres für Eins gegolten hat. Eben so, eine
[170] Ursache ist etwas ganz anderes als ein Vorzeichen, an
dessen Zusammenhang mit dem Erfolge ohne Umstände
geglaubt wird, weil der psychologische Mechanismus die
eine Vorstellung nach der andern vermöge einer Ver-
schmelzungshülfe zu Tage fördert.


Während nun Kant sich viel zu viel Mühe macht
mit denjenigen Verknüpfungen, wodurch das Mannigfal-
tige der Empfindung gruppirt wird zu Dingen und Bege-
benheiten: ist er dagegen bis zur äuſsersten Vorschnel-
ligkeit freygebig mit dem: Ich denke, welches, wie er
sagt, alle unsre Vorstellungen muſs begleiten können.
Bey diesem Können dringt sich die Frage auf, warum
es sie denn nicht wirklich überall begleitet?
Wann und unter welchen Umständen, nach welchen Ge-
setzen
, diese Begleitung wirklich eintritt? Nach wel-
chen andern Gesetzen sie unter andern Umständen aus-
bleibt? Eine Frage, die freylich eine allgemeine Satyre
auf alle Seelenvermögen enthält. — Wir aber haben
oben gesehen, (ganz im Anfange des ersten Theils die-
ses Buchs,) daſs der Begriff des Ich an innern Wider-
sprüchen leidet; daher es sogar um das Begleiten-
Können
eine bedenkliche Sache ist. Denn entweder
ist das Begleitende wirklich die ächte Vorstellung des
Ich, — so fragt sich, woher denn diese widersprechende
Vorstellung ihren Ursprung nehme, und warum sie sich
den Wahrnehmungen anhängen möge: oder es ist nicht
die ächte Vorstellung des Ich, als der Identität des Ob-
jects und Subjects; — dann fragt sich, welche Verwandt-
schaft sie mit derselben habe, warum sie mit jener ver-
wechselt werde, — und überdies noch wie oben, wie es
zugehe, daſs sie sich mit den übrigen Vorstellungen ver-
knüpfe. Daſs man alle diese Fragen hat überspringen
können, beweiset nichts anderes, als daſs man von einer
Psychologie zwar viel redete, aber nicht einmal die ersten
Bedingungen überdachte, unter denen sich Jemand schmei-
cheln dürfte, diese Wissenschaft zu besitzen. Uebrigens
ist die Erwähnung des Selbstbewuſstseyns völlig unnöthig
[171] da, wo man nur wissen will, wie unsre Vorstellun-
gen von Objecten sich ursprünglich aus den
einfachen Empfindungen der einzelnen Sinne
zusammensetzen
; und die überflüssige Einmischung
dient nur, diese Frage, die wir eben zuvor beantwortet
haben, zu verdunkeln.


§. 119.

Wie das Factum zwar seine Richtigkeit hat, daſs
die einzelnen sinnlichen Vorstellungen im Bewuſstseyn
vereinigt (eigentlich gruppirt) werden; aber Kants An-
nahme eines vereinigenden Vermögens unzulässig ist:
eben so unterliegt zwar die Thatsache keinem Zweifel,
daſs aus Wahrnehmungen Begriffe, und aus undeutli-
chen Begriffen deutliche Begriffe entstehen; aber eine
eigentliche Scheidewand zwischen einem untern und obern
Erkenntniſsvermögen, wie dergleichen Wolff hier zu
finden glaubte, — so daſs es wohl Wesen geben könne
oder gar wirklich gebe, die das eine besäſsen und das
andere entbehrten, — ist ein Hirngespinnst; und der
Deus ex machina, den man Verstand nennt, und der
sogar (z. B. von Hoffbauer) als ein productives
Vermögen beschrieben wird, kommt der Wissenschaft
um nichts gelegener, wenn er Begriffe erzeugen, als wenn
er die Synthesis der Wahrnehmungen besorgen will.


Allein die Masse der in einander verstrickten Irrthü-
mer, mit denen uns sogar die gangbaren Logiken ent-
gegenkommen, nöthigt uns, hier etwas weitläuftiger zu
werden als bey dem vorigen Gegenstande; und mit einer
Vorerinnerung anzufangen.


Wenn wir auch von dem Verstande und der
Vernunft nur Worterklärungen verlangen: so finden
wir gerade heutiges Tages die ärgste aller nur immer
denkbaren Verwirrungen. — Die entferntern Ursachen
zu dieser Verkehrtheit haben schon die frühern bessern
Denker gegeben. Diesen schien es bequem, sich hier,
wie anderwärts, an die Logik zu lehnen, ohne zu über-
legen, ob es denn auch die Sache der Logik sey, das
[172] Verlangte zu leisten, und für die ihr angehängten Mei-
nungen Bürgschaft zu übernehmen. Die Logik redet von
Begriffen, Urtheilen, Schlüssen. Daraus machte man
drey verborgene Qualitäten der Seele, ein Vermögen zu
begreifen, ein anderes zu urtheilen, ein drittes zu schlie-
ſsen. Nun fanden sich in der gemeinen Sprache die
Worte Verstand und Vernunft (intellectus et ratio);
diese muſsten doch etwas bedeuten, sie muſsten zu etwas
gebraucht werden. Wie konnte man sie besser anwen-
den, als indem man dem Verstande das Begreifen, der
Vernunft das Schlieſsen auftrug. Ein neuer Name für
das mittlere Vermögen zwischen beyden war nöthig —
und die Urtheilskraft wurde geschaffen.


Ein wenig später besann man sich, daſs noch einiges
Andere in dem menschlichen Vorstellen und Denken sich
ereigne, wofür auch Namen da seyn müſsten. Das Handeln
nach Ueberlegung, nach Gründen, besonders nach sittlichen
Maximen, wird im gemeinen Leben vernünftiges Handeln
genannt; also muſste die Vernunft nicht bloſs theoretisch
seyn, sondern auch praktisch. So wurde das Vermögen
zu Syllogismen, zugleich das Vermögen der obersten
praktischen Gesetzgebung, — und nun entstand die Auf-
gabe, nachzuweisen, was für eine wirkliche, nicht bloſs
logische, Gemeinschaft, was für eine reale Einheit sich
möge ausdenken lassen, woraus der Syllogismus und das
Gewissen zusammengenommen hervorgehn könnten, so
jedoch, daſs dabey keinem andern Seelenvermögen etwas
von seinem schon angewiesenen Eigenthum geraubt werde.
Weder das Gewissen noch der Syllogismus besitzen Ge-
wandtheit genug, um sich in eine für sie nicht passende
Gesellschaft zu fügen und zu schicken; eine solche aber
schienen diese beyden, einander gewiſs sehr ungleichar-
tigen Gegenstände, jeder dem andern, zu leisten; was
Wunder also, wenn endlich beyde den Platz räumen
muſsten, und der neuerdings erfundenen intellectualen
Anschauung
überlassen wurde, das Wort Vernunft
zu ihrem Schmuck zu gebrauchen. — Nach solchem
[173] Beyspiele haben denn auch die Urtheilskraft und der
Verstand sich manches ähnliche müssen gefallen lassen.
Jene, die ihr Wesen in der Bejahung und Verneinung
hatte, bekam noch das Geschäfft, Schönes und Häſsli-
ches zu erkennen; welches in der That mit dem gram-
matischen Geschäffte, Sätze und Perioden zu bilden, un-
gefähr so viel Aehnlichkeit hat, als das Gewissen mit
dem Syllogismus. Der Verstand aber muſste neben den
übrigen Begriffen, ihren Gegensätzen und Unterordnun-
gen, noch Kategorien aufnehmen, und in diese, man
weiſs nicht, nach welcher Regel, das Mannigfaltige der
räumlichen und zeitlichen Wahrnehmungen vertheilen.


So ist das Fachwerk beschaffen, welches man als
Regulativ für die wichtigsten Untersuchungen auſstellte,
und lange Jahre hindurch, in der Meinung, hierin die
Erkenntniſs der geistigen Natur, wie sie sey und wirke,
zu besitzen; — ehrfürchtig anwendete!


Weit entfernt, daſs die Logik sich dafür verbürge,
hat vielmehr sie selbst, wenigstens in der Darstellung,
darunter leiden müssen. Wo ist die Logik der neuern
Zeit, die nicht mit psychologisch seyn sollenden Erzäh-
lungen von dem Verstande und der Vernunft anhübe?
Gleichwohl ist dieser Fehler gerade so arg, als wenn eine
Sittenlehre mit einer Naturgeschichte der menschlichen
Neigungen, Triebe, und Schwachheiten beginnt.


Beyde, Logik und Ethik, haben Vorschrif-
ten
aufzustellen
, nach welchen sich, hier das Denken,
dort das Handeln richten soll, obgleich es sich eins wie
das andere, aus psychologischen Gründen gar oft in der
Wirklichkeit nicht darnach richtet, und nicht darnach
richten kann. Die Schärfe dieses Gegensatzes zwischen
dem Sollen und dem Können ist die schneidendste, die
es giebt; unsre Moralisten aber eben so wenig als unsre
Logiker sind bis heute dahin gekommen, sie gehörig zu
begreifen. Jene stumpfen sie ab durch die transscenden-
tale Freyheit, welche vorgeblicherweise alles kann, was
sie will; und diese verderben sie, indem sie meinen, die
[174] Lehre von den Begriffen vorbereiten zu müssen durch
die vom Verstande, gleich als ob in der Reihe unserer
Erkenntnisse der Verstand den Begriffen voranstünde,
während kein Mensch vom Verstande reden würde, wüſste
er nicht zuvor, was Begriffe sind, und was begreifen
und verstehen heiſst. Man kann, wenn es nöthig scheint,
durch eine vollständige Induction beweisen, daſs keine
einzige von allen, der reinen Logik unbestreitbar ange-
hörigen Lehren, von den Oppositionen und Subordina-
tionen der Begriffe bis zu den Kettenschlüssen, irgend
etwas psychologisches voraussetze. Die ganze reine Lo-
gik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des
Inhalts unserer Vorstellungen (obgleich nicht speciell mit
diesem Inhalte selbst) zu thun; aber überall nirgends mit
der Thätigkeit des Denkens, nirgends mit der psy-
chologischen, also metaphysischen, Möglichkeit desselben.
Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die
angewandte Sittenlehre, psychologischer Kenntnisse, in
so fern nämlich als der Stoff seiner Beschaffenheit nach
erwogen seyn muſs, den man, den gegebenen Vorschrif-
ten gemäſs, bilden will.


Damit nun aber doch in die Worte Verstand und
Vernunft ein Sinn hineinkomme, oder besser, damit
man denjenigen Sinn dieser Worte erkenne, welcher
allen denen gemeinschaftlich vorschwebt, die sich übri-
gens mit ganz verschiedenen Neben-Bestimmungen der-
selben bedienen: wäre es dienlich gewesen, zu bedenken,
daſs man den Verstand von der Sinnlichkeit als etwas
Höheres zu unterscheiden, die Vernunft aber der-
selben als etwas sie besiegendes entgegenzusetzen
pflegt. Verstand und Sinnlichkeit bestehen mit einan-
der, indem jener ausarbeitet, was diese darbietet. Ver-
nunft
und Sinnlichkeit dürfen einander nicht zu nahe
kommen, sonst leugnet jene, was diese behauptet; und
verbietet die eine, was die andere fordert. Hiemit tref-
fen die im §. 117. und schon in der Einleitung gegebe-
nen Erklärungen zusammen; in so fern nach denselben
[175] der Verstand seinen Stoff nicht ändert, die Vernunft
aber aus der Ueberlegung neue Resultate ziehen kann.


§. 120.

Um nun näher zur Sache zu kommen, müssen wir
zuerst eine Sonderung machen zwischen Begriffen in lo-
gischer, und in psychologischer Bedeutung.


Jedes Gedachte, bloſs seiner Qualität nach
betrachtet, ist im logischen Sinne ein Begriff
.
Dabey kommt es zuvörderst nicht an auf den Umfang
der Begriffe, denn es giebt sowohl einzelne Begriffe,
d. h. solche, denen kein Umfang zukommt, als solche,
unter denen andere enthalten sind *). Ferner kommt
Nichts an, auf das denkende Subject; einem solchen
kann man nur im psychologischen Sinne Begriffe zueig-
nen, während auſserdem der Begriff des Menschen, des
Triangels, u. s. w. Niemanden eigenthümlich gehört.
Ueberhaupt ist in logischer Bedeutung jeder Begriff nur
einmal vorhanden
; welches nicht seyn könnte, wenn
die Anzahl der Begriffe zunähme mit der Anzahl der,
dieselben vorstellenden Subjecte, oder gar mit der An-
zahl der verschiedenen Acte des Denkens, wodurch, psy-
chologisch betrachtet, ein Begriff erzeugt und hervorge-
rufen wird.


Für Manche wird dieser, freylich gar nicht schwie-
rige, Gegenstand, dadurch am geschwindesten klar wer-
den, wenn ich bemerke, daſs die entia der ältern Philo-
sophie, selbst noch bey Wolff, nichts anderes sind,
als Begriffe im logischen Sinne. Wolffs Ontologie
enthält eine Menge von logischen Sätzen, die in eine
Metaphysik gar nicht gehören; sie enthält unter andern
ein ganzes Capitel de ente ſingulari et univerſali. Die
Einmengung dieser Universalien in die Metaphysik hängt
mit einem, durch das Mittelalter hindurch stets wirksa-
men Reste des Platonismus zusammen, wovon auch bey
[176]Locke sich Spuren finden, nämlich in den Meinungen,
die er anführt, um sie zu bestreiten, wie im dritten Ca-
pitel des dritten Buchs, wo er klagt: the former of theſe
opinions, which ſuppoſes theſe eſſences, as a certain
number of forms or molds, wherein all natural things,
that exiſt, are caſt, and do equally partake, has, I ima-
gine, very much perplexed the knowledge of natural things
.
Locke selbst aber, mit seiner real and nominal eſſence,
unterwirft sich dem Misbrauche des Wortes, den er in
folgenden Ausdrücken rügt: the learning and diſputes of
the ſchools having been much buſied about genus and
ſpecies, the word eſſence has almoſt loſt its primary
ſignification, and inſtead of the real conſtitution of things,
has been almoſt wholly applied to the artificial conſtitu-
tion of genus and ſpecies
. — Auch der alte Satz: eſſen-
tiae rerum ſunt immutabiles
, gehört hieher. Er bedeutet
nichts anderes, als: die Begriffe sind etwas völlig
Unzeitliches
; welches von ihnen in allen ihren logi-
schen Verhältnissen wahr ist, daher auch die aus ihnen
gebildeten wissenschaftlichen Sätze und Schlüsse für die
Alten so wie für uns, — und am Himmel wie auf Er-
den, — wahr sind und bleiben.


Aber die Begriffe in diesem Sinne, in welchem sie
ein gemeinschaftliches Wissen für alle Menschen und
Zeiten darbieten, sind gar Nichts psychologisches. Im
Gegentheil, wir werden in Hinsicht der allgemeinen
Begriffe bald erkennen, daſs der Zustand eines
Menschen, in welchem das Gedachte scines in-
dividuellen Denkens ein Gattungs- oder Art-
Begriff im strengsten Sinne seyn würde, etwas
idealisches ist, welches niemals vollkommen zu
erreichen steht
. Doch wir müssen die Allgemeinheit,
welche einigen Begriffen zukommt, für jetzt noch ganz
bey Seite lassen.


In psychologischer Hinsicht ist ein Begriff diejenige
Vorstellung, welche den Begriff in logischer Bedeutung,
zu ihrem Vorgestellten hat; oder, durch welche der letz-
tere
[177] tere (das Vorzustellende) wirklich vorgestellt wird. So
genommen hat nun allerdings ein Jeder seine Begriffe
für sich; Archimedes untersuchte seinen eignen Be-
griff vom Kreise, und Newton gleichfalls den seinigen;
es waren dies zwey Begriffe im psychologischen Sinne,
wiewohl in logischer Hinsicht nur ein einziger für alle
Mathematiker. — Auf den ersten Blick scheint vielleicht
diese Unterscheidung eine müſsige Subtilität; das Gegen-
theil wird sich bald zeigen.


Zuvörderst müssen wir jetzt den Begriff in psycho-
logischer Bedeutung entgegensetzen der Empfindung, der
Einbildung, der Erinnerung; dann wird das Eigenthüm-
liche des Begriffs besser hervortreten.


Gesetzt, es sey in irgend einer Seele ohne Weite-
res eine gewisse Vorstellung, — so wie wir in den Grund-
linien der Statik des Geistes anzunehmen pflegten, ohne
uns darum zu bekümmern, woher diese Vorstellung ent-
sprungen, und wie sie ins Bewuſstseyn gekommen sey, —
alsdann ist diese Vorstellung ein Begriff; und wäre es
auch nur die Vorstellung der rothen Farbe, ja selbst nur
die einer bestimmten Nüançe derselben mit einer bestimm-
ten Gestalt des Gefärbten. Denn Allgemeinheit ist gar
kein wesentliches Erforderniſs zu einem Begriffe.


Nun aber findet sich in keiner Seele so ganz von
selbst eine Vorstellung; die Seele ist vielmehr ursprüng-
lich eine vollkommene tabula rasa, ohne alles Leben
oder Vorstellen. (§. 32.) Demnach giebt es keine ur-
sprünglichen Begriffe, auch keine Anlagen dazu; sondern
alle Begriffe sind etwas Gewordenes. Das erste
Werden einer Vorstellung erfordert eine Selbsterhaltung
der Seele gegen eine ihr fremdartige Störung. (§. 94.)
Die werdende Vorstellung nun heiſst Empfindung oder
Wahrnehmung. So nennt man sie während der gan-
zen Dauer der Störung, (des sinnlichen Eindrucks), ohne
in der gemeinen Sprache darauf Acht zu geben, daſs
eigentlich nur die momentanen Auffassungen den Zustand
des Empfindens ausmachen, während das dadurch erzeugte
II. M
[178] Vorstellen in der Seele bleibt, und sich in so weit zu
einer Totalkraft sammelt, als die von Anfang an eintre-
tende Hemmung es gestattet.


Wenn bey gegebener Gelegenheit diese Totalkraft,
nachdem sie schon völlig gehemmt war, ihr Vorgestelltes
wieder ins Bewuſstseyn bringt, (nach §. 81—93.) dann
heiſst sie Einbildung; und hieraus kann Erinnerung
werden, wofern dieselbe in Verbindung mit einer ganzen
Reihe verschmolzener Vorstellungen, vollends wenn die-
selben etwas Zeitliches zu erkennen geben, (§. 116.) wie-
der hervortritt.


Sehen wir nun auf die Art und Weise, wie unsre
Vorstellungen ins Bewuſstseyn kommen, so sind diesel-
ben immer, entweder Wahrnehmungen oder Einbildun-
gen, von welchen letztern die Erinnerungen nur eine Spe-
cies ausmachen. Wann denn haben wir Begriffe?


Wir haben dieselben nicht irgend einmal, zu
einer gewissen Zeit; wir haben sie nicht neben und
auſser den Wahrnehmungen und Einbildungen *), son-
dern wir schreiben uns Begriffe in so fern zu, in
wiefern
wir abstrahiren von dem Eintritt unse-
rer Vorstellungen ins Bewuſstseyn
, und dagegen
darauf reflectiren, daſs sie sich darin befinden, und ihr
Vorgestelltes (den Begriff im logischen Sinne) nun
in der That erscheinen lassen.


Allein mit dieser Erklärung wird man noch nicht
ganz zufrieden seyn. Denn man ist nicht gewohnt, sich
vermöge einer willkührlich vorzunehmenden, oder zu
unterlassenden, Abstraction, seine eignen Vorstellungen
bald als Begriffe, bald als Einbildungen zu denken. —
Aber eine willkührliche Abstraction geht nur hier, in der
Wissenschaft vor. Was die gemeine Auffassung anlangt,
[179] so liegen in unserm Vorstellen selbst, Unterschiede, ver-
möge deren die Art ihres Eintritts ins Bewuſstseyn sich
bald verräth, bald unbemerkt bleibt.


Nämlich so lange die Vorstellungen mit ihren räum-
lichen und zeitlichen Associationen behaftet ins Bewuſst-
seyn kommen, verrathen sie sich als reproducirte Wahr-
nehmungen, als Einbildungen. Bringt aber eine Vor-
stellung nichts als sich selbst
: dann bedarf es kei-
ner Abstraction, denn die Thätigkeit ihrer Wiedererhe-
bung ist ohnehin kein Gegenstand des Bewuſstseyns. —
Uebrigens gehört die Frage, wie wir es machen, unsre
Vorstellungen zu beobachten, und sie entweder als
Einbildungen, oder als Begriffe anzuerkennen, noch gar
nicht hieher.


Die Hauptfrage aber, worauf die Untersuchung über
den Ursprung der Begriffe zu reduciren ist, läſst sich aus
dem eben Gesagten schon erkennen. Es ist diese: wie
kommen unsre Vorstellungen los von den Com-
plicationen und Verschmelzungen, in welche
sie bey ihrem Entstehen, und bey jedem Wie-
dererwachen unvermeidlich gerathen
?


Offenbar ist diese Frage um so schwerer, je einfa-
cher die Begriffe sind, auf welche man sie anwendet.
Die zusammengesetztern Begriffe sind aus wenigeren
Verbindungen frey geworden, und bilden sich daher leich-
ter und früher.


Die Frage wird in ihrer Wichtigkeit fühlbarer, und
in Verbindung mit einigen Nebenfragen gesetzt werden,
wenn wir die Forderung, daſs der Begriff im psycholo-
gischen Sinne den logischen Begriff zu seinem Vorgestell-
ten haben solle, noch näher betrachten.


1) Sehen wir auf den Inhalt eines logischen Begriffs:
so wird derselbe, wofern er nicht einfach ist, mehrere
Merkmale einschlieſsen. Jedes dieser Merkmale ist ihm
gleich wesentlich wie die übrigen; keins gehört mehr
oder weniger zu ihm, als die andern. Nun soll der psy-
chologische Begriff zu diesem logischen sich verhalten
M 2
[180] wie die Vorstellung zu ihrem Vorgestellten. Folglich
wird jener um so unvollkommner seyn, je ungleicher
die Stärke ist, mit welcher die Elemente des complicir-
ten Vorstellens sich beysammen finden.


2) Die Merkmale des Begriffs gehören, logisch ge-
nommen, alle vollkommen genau zu einander. Aber
die Psychologie kennt unvollkommne Complicationen,
(§. 63. etc.), diese werden, als Begriffe betrachtet, ent-
weder zu viel oder zu wenig
Verbindung darbieten.


3) In logischer Hinsicht hat jeder Begriff seine
Stelle unter den übrigen, die ihm durch irgend eine Clas-
sification angewiesen wird. Uebersetzen wir dies in eine
psychologische Forderung: so sollen die Begriffe, aus
ihren zufälligen Verschmelzungen
nicht bloſs her-
aus
, sondern in andre, ihnen wesentlich zukommende,
hineingerückt werden.


4) Der Classification gehören alle Begriffe, die auf
dergleichen Subordinationsstufe stehen, in gleichem Grade
an. Alle ungleichmäſsige Auffassung der verschiedenen
coordinirten Gegenstände bringt also einen Fehler in das
psychologische System der Begriffe.


Betrachten wir dagegen den psychologischen Ursprung
der Vorstellungen, so bemerken wir:


5) Unsre Vorstellungen erwachsen allmählig aus mo-
mentanen Auffassungen, aus gleichartigen, wiederhohlten,
und zum Theil verschmolzenen Wahrnehmungen, bey
welchen noch obendrein verwickelte Gesetze der abneh-
menden und erneuerten Empfänglichkeit Statt finden.
Alles Eigne und Zufällige, was ein gewisses gleichartiges
Vorstellen vermöge der Elemente und Umstände, aus
und unter denen es zusammengeflossen ist, noch an sich
tragen mag, müſste es billig ablegen, um bloſs und
ganz das Vorstellen seines Vorgestellten, und sonst
nichts
, zu seyn; alle Zustände des Begehrens und Füh-
lens, in die es gerathen kann, müſsten wegbleiben, wenn
es vollständig die Function eines Begriffs im psychologi-
schen Sinn erfüllen sollte. — Wo, nach gewohnter
[181] Redensart, der Verstand vom Affecte verdunkelt wird,
da ist nicht eine gewisse Kraft, Verstand genannt, un-
wirksam geworden, sondern groſsentheils sind es die
Vorstellungen selbst, welche sonst ganz ruhig ihr Vor-
gestelltes ins Bewuſstseyn bringen und alsdann Begriffe
heiſsen, jetzt aber vermöge einer Spannung, in die sie
gerathen, nach ganz anderen Gesetzen wirken, als nach
solchen, die sich aus den logischen Verhältnissen ihrer
Vorgestellten
würden erklären lassen.


Man sieht hieraus, was es für eine Aufgabe ist, Ver-
stand zu haben; vollends wenn wir noch hinzunehmen,
daſs auch das Denken, oder der fortgehende Fluſs unse-
rer Begriffe, sich nach der Qualität des Gedachten, oder
der Begriffe im logischen Sinne, richten soll.


§. 121.

Alles Bisherige diente nur, die bloſse Frage nach
dem Ursprung der Begriffe deutlich zu machen. Jetzt
müssen wir die Mechanik des Geistes zu Rathe ziehn,
um zu vernehmen, wie viel wohl der psychologische Me-
chanismus, so weit wir ihn bis jetzt kennen, für die Er-
zeugung der Begriffe thun möge.


Im §. 99. haben wir gesehn, daſs, wenn einerley
Vorstellung vielemal mit solchen Pausen gegeben wird,
in denen die frühere Auffassung jedesmal zur statischen
Schwelle sinken kann; alsdann die während jeder Pause
erneuerte Empfänglichkeit zwar anfänglich einen beträcht-
lichen Zuwachs durch neue Auffassung gestattet, aber
endlich die Empfänglichkeit beynahe plötzlich wieder er-
lischt, weil eine sehr beträchtliche Summe des
Vorstellens
aus den früheren Wahrnehmungen sich
sogleich beym Eintritte der neuen Wahrnehmung her-
vordrängt.


Hiemit wollen wir verbinden, was wir von den Com-
plicationen und Verschmelzungen wissen; dergleichen bey
jeder einzelnen unter den wiederhohlten gleichartigen
Wahrnehmungen werden vorgekommen seyn, und zwar
bey jeder auf andre Weise, weil zu verschiedenen Zei-
[182] ten nicht alle begleitenden Umstände gleich zu seyn
pflegen.


Stehen wir nun zuvörderst still bey zweyen gleichar-
tigen Wahrnehmungen: so ist offenbar, daſs während
der zweyten sich die erste als Einbildung reproducirt,
und zwar sammt den Verschmelzungen und Complicatio-
nen, in die sie als Wahrnehmung gerathen war. Na-
mentlich also werden die räumlichen Associationen wie-
der ins Bewuſstseyn kommen.


Gehen wir zur dritten unter den gleichartigen Wahr-
nehmungen, so reproduciren sich die erste und zweyte,
jede mit ihren Verbindungen. Aber hier giebt es schon
eine Hemmung, indem die Verbindungen der einen und
der andern sich nicht gleich seyn werden.


Gehn wir aber zur zehnten, zur hunderten, zur tau-
senden jener wiederhohlten Wahrnehmungen: so ist
offenbar, daſs die verschiedenartigen Associationen aller
vorhergehenden sich bey deren Reproduction so gut als
auslöschen müssen. Dabey kann denn freylich auch von
jeder einzelnen unter den gleichartigen Reproducirten nur
ein geringes Quantum ins Bewuſstseyn kommen, weil auf
sie die Hemmung, die ihre Verschmolzenen leiden, zum
Theil fortwirkt. Allein alle zusammengenommen ergeben
dennoch ein bedeutendes Quantum, welches eine einzige
Totalkraft ausmacht. Das Vorgestellte dieser Totalkraft
nun wird einem Begriffe sehr nahe kommen. Hiemit
hängt die Untersuchung des §. 101. zusammen. Wenn
zwey Reihen von gleichartigen Anfangspuncten zu entge-
gengesetzten Gliedern fortlaufen: so entsteht eine wach-
sende
Hemmung; je öfter dies unter mehrern Reihen
sich wiederhohlt, desto mehr verkürzen sich die Rei-
hen, weil durch die Hemmung die hintern Glieder un-
merklich werden; endlich geht die Verkürzung beynahe
in Isolirung über, wenn sich die hintern Glieder so
gut als ganz aufheben.


Man mache sich nun dieses durch Beyspiele klärer.
Wir haben einen und denselben Menschen, in allerley
[183] Stellungen, mit verschiedener Miene und Kleidung, an
verschiedenen Orten gesehen. Wir sehn ihn noch ein-
mal, — oder nur sein Name wird genannt; — die To-
tal-Vorstellung
von diesem Menschen, welche nun
hervortritt, ist der Begriff desselben; wohl unterschie-
den von dem Bilde oder der Einbildung, welche wird
hervorgerufen werden, sobald durch Angabe gewisser
Zeit-Umstände an eine bestimmte Situation erinnert
wird, in der wir den nämlichen Menschen irgend ein
mal
gesehen haben. Denn in solchem Falle reproducirt
sich die damals gewonnene Vorstellung in vorzüglicher
Stärke mit allem ihrem Beywesen; und nun sehen wir
den Menschen gerade in der Kleidung, mit der Miene
und Gebehrde, worin er sich eben damals darstellte. —
Eigentlich sollte der Begriff dieses Individuums ganz frey
seyn von den Zufälligkeiten, deren schwache Beymischung
auch der vorhin erwähnten Total-Vorstellung immer noch
anhängt. Man sieht leicht ein, daſs es dahin nicht eher
kommen kann, als wenn eine Handlung des Entgegen-
setzens vorgeht, welche die Zufälligkeiten ausdrück-
lich für etwas abzusonderndes erklärt. Allein die Mög-
lichkeit einer solchen Handlung liegt für jetzt noch fern.
Sie setzt voraus, daſs eine höhere Reflexion die eigne
Vorstellung zu ihrem Vorgestellten mache, und sie als
solche bearbeite.


§. 122.

Ganz analog dem ersten Entstehen der individuellen
Begriffe ist das der allgemeinen. Eine Menge ähnlicher
Gegenstände wird wahrgenommen. Die daraus entsprun-
genen Vorstellungen schmelzen zusammen; nach gegen-
seitiger Hemmung durch die widerstreitenden Bestimmun-
gen. Das Gleichartige erlangt in der Total-Vorstellung
ein bedeutendes Uebergewicht über dem Verschieden-
artigen.


Hiebey ist jedoch zu bemerken, daſs die Merkmale,
durch welche ein einzelner Gegenstand wahrgenommen
wird, meistens eine vollkommene Complexion bilden
[184] werden; indem sie wenigstens groſsentheils gleichzeitig,
und überdies durch verschiedene Sinne aufgefaſst werden,
deren Vorstellungs-Reihen sich unter einander nicht hem-
men. (Vergl. §. 57. u. s. w.) Aber vollkommene Com-
plexionen bleiben sich in allen ihren Zuständen immer
ähnlich. (§. 61.) Daher kann in der Total-Vorstellung
aller ähnlichen Gegenstände das Unähnliche aus den voll-
kommenen Complexionen nicht nur nicht entweichen; es
kann auch nicht einmal zu dem mit ihm complicirten
Aehnlichen ein anderes, als sein ursprüngliches Verhält-
niſs annehmen. Aus diesem Grunde bleibt immer viel
fremdartiger Zusatz bey der Total-Vorstellung, der sie
hindert, dem wahrhaften allgemeinen Begriffe recht nahe
zu kommen. Um diese zu erreichen, bedarf es hinten-
nach einer absichtlichen, ja selbst einer wissenschaftlichen
Bearbeitung.


Allein eine merkwürdige Annäherung an das Allge-
meine durch die Vorstellungsart des Viclfältigen darf
hier nicht übergangen werden.


Zuerst sey von einer gewissen Art von Dingen ein
einzelnes Exemplar wahrgenommen. Dann werde von
der nämlichen Art eine Menge beysammen gefunden.
So verschmilzt die einzelne frühere, jetzt reproducirte
Vorstellung, mit jeder von den jetzt gegebenen. Wie-
derum erscheine ein einziges Exemplar derselben Art.
So verschmelzen sämmtliche zuvor gegebene mit diesem
einzelnen. Es ist sichtbar, wie sich hier die Vorstellung
von Vielem, und von Einem unter Vielen erzeugt.
Und gewiſs ist dieses der Nothbehelf, dessen sich der
ungebildete Mensch anstatt der allgemeinen Begriffe
durchgängig bedient. Er sieht ein Haus, und erkennt es
für ein Haus; aber schon die Sprache erinnert durch den
unbestimmten Artikel, daſs hier keine logische Subsum-
tion des Hauses unter den zugehörigen, streng-allgemei-
nen Begriff, vor sich gehe; sondern daſs dieses Haus
als Eins unter Vielen, aufgefaſst werde; als Eins, wobey
die Bilder vieler zuvor gesehenen Häuser sich ins Be-
[185] wuſstseyn drängen, die sich nur nicht entwickeln können
wegen der Hemmung durch ihre Gegensätze, daher es
bey der vorhin beschriebenen Total-Vorstellung blei-
ben muſs.


Solche Total-Vorstellungen können ganz eigentlich
verworrene Vorstellungen heiſsen, in Ansehung des
nach der Hemmung verschmolzenen Ungleichartigen, was
sie mit sich führen. Da sie nun gleichwohl im gemeinen
Denken die Stelle der ächt-allgemeinen Begriffe vertre-
ten, so finden sie in den Philosophen aller Zeiten ihre
beständigen Widersacher und Verfolger. Nichtsdestowe-
niger sollen wir anerkennen, daſs auch die deutlichen
Begriffe, in welchen der Gegensatz des Allgemeinen ge-
gen jedes ihm unterzuordnende Besondere ausdrücklich
zum Bewuſstseyn gebracht wird, sich aus dem Schooſse
jener natürlichen Verworrenheit zuerst haben entwickeln
müssen *).


Wir sind jetzt mit den Begriffen ungefähr so weit,
wie oben (§. 118.) mit den Vorstellungen von Dingen
und Begebenheiten. Es ist Zeit nachzusehn, wie weit
wir in die Nähe der Urtheile und Schlüsse werden vor-
dringen können, ohne mehr als das bisher Bekannte vor-
auszusetzen.


§. 123.

In der Logik habe ich die Lehre von den Urtheilen
angefangen von der Betrachtung der Frage**); indem
die Bejahung oder Verneinung, welche das Wesentliche
jedes Urtheils ausmacht, sogleich zwey Arten der Urtheile
von einander scheidet: so daſs man gleich mit der Ein-
theilung anheben müſste, wenn man nicht dasjenige Bey-
sammenseyn des Subjects und Prädicats zuvor erwägen
wollte, in welchem dies letztere jenem gleichsam begegnet,
[186] ohne ihm noch zugeeignet oder abgesprochen zu seyn.
Der Logik ziemt ein solcher Gang, eben darum weil sie
nicht Psychologie ist, und es ihr ganz gleich gilt, ob
wirklich im menschlichen Denken jedem Urtheile die Frage
vorangehe, deren Entscheidung es enthält, oder nicht.


Hingegen in der Psychologie kommt es nicht unmit-
telbar darauf an, was in dem Urtheile das Gedachte,
sondern welcher der Lauf des Denkens sey. Dieser nun
hebt so wenig allemal von einer bestimmten Frage an,
daſs vielmehr sein Wesentliches viel tiefer liegt, und viel
häufiger vorkommt, viel ursprünglicher sich ereignet, als
alles, was eine kenntliche logische Form an sich trägt.


Man betrachte zuerst die ganz einfachen Ausrufun-
gen, wie: Feuer! — Land! — Der Feind! — Der
König
! — Hoffentlich wird man diese nicht nach Art
der Grammatiker für bloſse Ellipsen erklären, bey denen
der Rufende eigentlich dächte: Dort steht ein Haus
in Flammen! Dort wird eine Küste sichtbar!
Der Feind rückt heran! Der König kommt oder
steht dort
! — So viel Weitläuftigkeit machen die Ge-
danken des Rufenden nicht. Sondern er bezeichnet ein
bloſses Erkennen des Gesehenen. Der Anblick geht
voran, die Vorstellung, die er unmittelbar giebt, weckt
eine frühere Vorstellung, welche mit jener verschmilzt;
dieser früheren gehört, wie der Name, so das Furchtbare
oder Erfreuliche, was den Rufenden in Affect versetzt.
Denn der bloſse unmittelbare Anblick einer Flamme ist
nicht so gar schrecklich, so wenig wie die Gesichts-Vor-
stellung einer entfernten Küste besonders erheiternd. —
Ob nun gleich in jenen Ausrufungen weder Subject noch
Copula abgesondert hervortreten, so sind sie doch sehr
leicht psychologisch zu erkennen, während sie im logi-
schen Sinne wirklich fehlen. Die unmittelbare Wahr-
nehmung giebt das Subject; die Verschmelzung ist das,
was die Copula zu bezeichnen hätte; die frühere, erwa-
chende und mit jener ersten verschmelzende Vorstellung
nimmt die Stelle des Prädicats ein. Aber eben darum,
[187] weil die Verschmelzung plötzlich geschieht, und schon
vollzogen ist, ehe sie einen Ausdruck findet, kann die
Logik das in Eins Verschmolzene nicht als Beyspiel eines
Urtheils brauchen, denn in einem solchen müssen die
constituirenden Bestandtheile deutlich zu unterscheiden
seyn.


Offenbar nun giebt es zahllose Fälle, die jeden Au-
genblick vorkommen, in welchen alles sich genau so ver-
hält wie in jenen Ausrufungen, nur daſs der Affect fehlt,
und deshalb auch sein Ausbruch durch die Sprache un-
terbleibt. Jedes bekannte Ding, das uns eben jetzt zu
Gesichte kommt, bewirkt eine Wahrnehmung, eine Wie-
der-Erweckung, und eine Verschmelzung, ohne daſs uns
darum ein Laut entführe, vollends ohne daſs wir den
höchst einfachen Vorgang in eine logische Form bräch-
ten. Die Sache geschieht unbemerkt; und nachdem sie
geschehn ist, erkennt Niemand mehr die Fugen, in wel-
chen die frühere und die neue Vorstellung an einander
geschmolzen sind.


Fragt man nun weiter, unter welchen psychologi-
schen Bedingungen denn die logische Form des Urtheils
wirklich zum Vorschein komme: so bietet sich die Ant-
wort von selbst dar. Dann ohne Zweifel, wann die Ver-
schmelzung durch irgend einen Umstand erschwert und
verzögert wird, so daſs bey ihr Anfang, Mittel, und Ende
sich hinreichend aus einander sondern, um jedes für sich
zum Worte kommen zu können. In den Anfang stellt
sich alsdann das Subject; denn es ist die zuerst vorhan-
dene Vorstellung, vielleicht schon im Sinken begriffen,
während die des Prädicats noch steigt; jedoch so, daſs
die vom Subject ausgehenden Reihen eben in ihrem Stre-
ben zur Evolution begriffen sind, indem das Prädicat
hinzukommt, und hiemit einen Theil jenes Strebens be-
friedigt, einen andern hemmt, oder überhaupt entschei-
dend auf dasselbe einwirkt. In der Mitte zeigt sich die
Copula, der Ausdruck derjenigen Veränderung der Ge-
müthslage, welche sich in der Verschmelzung ereignet.
[188] Zuletzt kommt das Prädicat, eben darum weil dessen
Vorstellung erst noch im Steigen begriffen ist. — Leichte
Beyspiele von der erschwerten und verzögerten Verschmel-
zung sind die, wo das Subject in einer Veränderung eines
seiner Merkmale beobachtet wird; z. B. der Feind flieht,
oder wo das Urtheil einen Beweis erfordert, das heiſst,
wo die Verschmelzung nur mit Hülfe eines Mittelgliedes
geschehen kann. Im ersten Falle entsteht eine Hem-
mung zwischen dem neuen Merkmale und dem frühern
entgegengesetzten, das jetzt entweicht. Im zweyten Falle
haben andre mögliche Vorstellungsarten so lange die
Freyheit, sich einzudrängen, bis der Beweis geliefert und
durchdacht ist. Wenn indessen die andern möglichen
Vorstellungsarten nicht erwachen, vielleicht weil sie noch
gar nicht vorhanden sind, so geschieht auch hier die
Verschmelzung bald genug, wie sich bey der Leichtgläu-
bigkeit zeigt, die nicht urtheilt, sondern eine einfachere
Wirkung des psychologischen Mechanismus ist. Man
denke sich demnach überhaupt das Subject als eine un-
bestimmte Frage; das heiſst, als eine solche, die kein
bestimmtes Prädicat angiebt; denn wenn auch dieses in
manchen Fällen angegeben wird, (in der bestimmten
Frage), so hängt doch davon die Bildung des Urtheils
nicht ab. Wohl aber muſste das Subject selbst irgend
welchen
Bestimmungen zustreben.


Hier ist auch der Ort für die wichtige Untersuchung
über den Ursprung des Begriffs der Verneinung.
Denn für angeboren kann derselbe eben so wenig gelten,
als irgend ein anderer; gegeben werden kann er auch
nicht, denn alles Wahrgenommene ist ein Positives.
Für sich allein ist er bedeutungslos; er muſs auf etwas
bezogen werden, das er verneine. Und selbst der Ge-
danke eines bloſsen Non A würde in keines Menschen
Kopf kommen, so lange keine Veranlassung wäre, den
bis dahin positiv gedachten Begriff von A jetzt auf ein-
mal als ein aus irgend einem Gedanken Auszustoſsendes,
Wegzuschaffendes, oder auch nur als ein daran Fehlen-
[189] des vorzustellen. Es kann also wohl kein Zweifel seyn,
daſs der Begriff der Negation seinen Sitz in einer Abs-
traction von den negativen Urtheilen habe. Und wann
denn entstehen negative Urtheile?


Zuerst läſst sich an ihnen bemerken, daſs ihr Prä-
dicat nicht durch die unmittelbare Wahrnehmung kann
dargeboten seyn, daſs es also aus dem Vorrathe der
Seele, von innen her zu dem Subjecte hinzukommen
muſs. Aber es würde nicht hinzukommen, wenn nicht
das Subject, als die vorangehende Vorstellung, es her-
beyriefe, die Vorstellung desselben erweckte. Wie kann
nun ein Subject eine solche Vorstellung erwecken, die
ihm als Merkmal nicht zukommt? Unmittelbar gewiſs
nicht. Wer in diesem Augenblicke etwas Weiſses sieht,
dem wird nicht das Urtheil einfallen: Weiſs ist nicht
schwarz
; denn die Vorstellung des Schwarzen wird viel-
mehr gehemmt durch die des Weiſsen. Nothwendig also
muſs da, wo ein negatives Urtheil auf natürlichem Wege
entspringen soll, die zuerst erweckte Vorstellung eine
andere seyn, welcher aber vermöge einer Complication
oder Verschmelzung jene anhängt, die den Platz des ne-
gativen Prädicats einnehmen soll. — Ich gehe beym
Eintritt des Winters aufs Feld. Mir fällt ein bekannter
Baum auf, weil er jetzt entlaubt da steht. Hier erzeugt
sich das Urtheil: der Baum hat keine Blätter; er
ist nicht belaubt
. Nämlich der Anblick des Baums
erweckt die frühere Vorstellung desselben, also auch die
des Laubes, mit welchem er ehedem bekleidet war. Diese
tritt hervor wider die Hemmung durch den Anblick, und
wird auf diese Weise ein Verneintes.


Hiebey wird man sich erinnern an die obige Erklä-
rung der Begierde; die gerade auch in dem Aufstreben
wider eine Hemmung ihren Sitz hat (§. 104.). Und in
der That ist es bekannt, daſs eben das Vermiſste, das
Versagte, schon als solches das Begehrte zu seyn pflegt.
Daſs aber nicht alles Verneinte begehrt wird, liegt, wie
leicht einzusehen, an zweyen Gründen; erstlich und haupt-
[190] sächlich daran, daſs die verneinte Vorstellung bey weitem
nicht immer die vorherrschende, das Gemüth im Ganzen
genommen bestimmende ist; zweytens auch daran, daſs,
wenn diese Vorstellung stark genug, und mit andern
starken Vorstellungen wohl complicirt ist, sie alsdann
fast ungehindert ins Bewuſstseyn treten, und nur bloſs
nicht verschmelzen wird mit der momentanen Auffassung,
die ihr entgegengesetzt ist. In diesem letztern Falle wird
dagegen die momentane Auffassung sogleich nach ihrer
Entstehung stark gehemmt werden, und es wird eine
Weile dauern, ehe sie sich zu einer bedeutend wirksa-
men Totalkraft ansammeln kann. (Vergl. §. 95.) Die
Folge davon wird man sogleich in einem Beyspiele er-
kennen. Ein blühender Baum wurde gesehen; jetzt sind
die Blüthen gefallen, aber die Früchte angesetzt. Wer
ihn jetzt wieder sicht, der urtheilt zuerst negativ: der
Baum ist ohne Blüthen
, und hintennach erst positiv:
er hat aber Früchte. — Wer dagegen zum ersten-
mal in seinem Leben einen Baum, und diesen sogleich
voll von Früchten sähe, der würde keins jener beyden
Urtheile fällen. Welche Urtheile ihm wirklich in den
Sinn kämen, die würden bestimmt seyn durch andre,
früher gekannte baumähnliche Dinge. Hätte derselbe
früherhin Schiffe mit Masten und Segeln gesehen, so
würde er jetzt urtheilen: dieser Mast hat keine Se-
gel; er hat aber Aeste, Laub, Früchte
, u. s. w.
Man glaube nicht, daſs eine solche Reminiscenz zu weit
hergehohlt sey. Kinder übertragen noch viel heteroge-
nere Erinnerungen auf ihre jetzigen Wahrnehmungen;
und es ist das geringste, wenn ihr Bilderbuch ihnen in
jeder nur irgend menschenähnlichen Figur diese oder jene
bekannte Person vergegenwärtigt. Erst nachdem ein gro-
ſser Reichthum von Vorstellungen angesammelt ist, fügen
sich die passenden zusammen, und verdrängen die Ur-
theile nach entfernten Aehnlichkeiten. —


Nach diesen Auseinandersetzungen wird es nun klar
seyn, daſs wir das Wesentliche in dem Act des Urthei-
[191] lens, so wie das Ursprüngliche der Begriffe, (§. 121. 122.)
eben so wohl bey Thieren erwarten müssen, als bey
Menschen. Denn die Grundbedingungen für den Ur-
sprung der Begriffe und Urtheile liegen ganz allgemein
in dem Mechanismus der Vorstellungen überhaupt, und
erfordern, wenn wir den Sprach-Ausdruck abrechnen,
noch nichts ausschlieſsend Menschliches. Anders verhält
es sich mit dem Aufbewahren der Urtheilsform. Diese
geschieht erst durch die Sprache; welche den, an sich
flüchtigen, Uebergang vom Subjecte zum Prädicate fixirt.
Auch liegt in der Vieldeutigkeit der Worte ein
Grund, die Urtheilsform häufiger anzuwenden; indem
das Wort, wodurch man einen vorliegenden Gegenstand
benannt hat, in einer Unbestimmtheit schwebt, welcher
durch Angabe eines oder mehrerer Prädicate muſs nach-
geholfen werden, um den Ausdruck für die Sache ein-
zurichten.


§. 124.

Fast unvermerkt finden wir uns hier auf die be-
rühmte Lehre von den Kategorien und Kategoremen
geführt, die nach der gangbaren Vorstellungsart ein ur-
sprünglicher Schatz seyn sollen; ja das unentbehrliche
Mittel, um Erfahrung aus den Empfindungen zu bereiten,
welche (so meint man) dergleichen Begriffe dem Ver-
stande auf keine Weise zuführen konnten. Verhielte es
sich wirklich so, dann wäre hier ganz der unrechte Ort,
davon zu reden. Nicht dem geistigen Leben überhaupt,
sondern nur den Vernunftwesen würden die Kategorien
angehören. Die Erfahrung der Thiere wäre nicht nach
Quantität und Qualität bestimmt; denn sie hätten nicht
die Begriffe von Einheit und Vielheit, nicht die des
Wirklichen und Fehlenden (Realität und Negation); auch
nicht des Handelnden und Leidenden (Causalität), nicht
des Möglichen und Unmöglichen, in ihre Empfindung
hineintragen können; da sie von dem Besitze des Ver-
standes und seiner ursprünglichen Ausstattung ausgeschlos-
sen sind. Das einzige, was die empirische Psychologie
[192] darüber zu sagen nöthig hat, ist: beobachtet die
Hunde
! — Aber die wissenschaftliche oder speculative
Psychologie darf so lakonisch nicht reden. Sie muſs zei-
gen, daſs die Erfahrung sich nothwendig so bildet, wie
es, auf dem Standpuncte der Reflexion, den Kategorien
gemäſs gefunden wird; dergestalt, daſs aus der gebilde-
ten Erfahrung allerdings durch Reflexion die erwähnten
Begriffe herausgehoben werden können, nicht, weil sie
zuvor in die Erfahrung hineingetragen wären, (als ob sie
früher, unabhängig von derselben, vorhanden gewesen
wären,) sondern weil sie nichts anderes anzeigen, als die
allgemeine Regelmäſsigkeit der Erfahrung nach den Ge-
setzen des psychologischen Mechanismus.


Ich behaupte, daſs die Kategorien unabhängig von
den Empfindungen darum zu seyn scheinen, weil zu der,
ihnen entsprechenden, Form der Erfahrung, die Eigen-
thümlichkeit unserer Empfindungen von Farben, Tönen,
Gerüchen, u. s. w. nichts Wesentliches beyträgt. Hät-
ten wir ganz andere Sinne und durch dieselben ganz an-
dere Klassen von Empfindungen, — so jedoch, daſs die
Empfindungen jeder einzelnen Klasse unter einander ent-
gegengesetzt wären, und einander hemmten, wie jetzt; die
Empfindungen verschiedener Klassen aber sich complicir-
ten, wie jetzt; auch das Zusammentreffen und das suc-
cessive Eintreten der Empfindungen eben so geschähe,
wie jetzt: dann würde unsre Erfahrung einen ganz an-
dern Inhalt, aber die nämliche Form haben, wie jetzt;
und die hinzukommende höhere Reflexion würde die näm-
lichen Kategorien daraus absondern, wie jetzt.


Wäre aber die Gleichzeitigkeit und die Folge der
Empfindungen beträchtlich verändert: dann würde auch
die Form der Erfahrungen sich verändert haben. Unser
Denken correspondirt mit den Erscheinungen darum,
weil ihre Regelmäſsigkeit ihm die seinige gegeben hat;
denn es ist durch sie und für sie gebildet worden. Wä-
ren dagegen in einer Seele nur drey einfache Empfindun-
gen, und es kämen keine neue hinzu: so würde in
Hin-
[193] Hinsicht ihrer die ganze Psychologie sich auf die ersten
Gründe der Statik und Mechanik, jene Lehren von den
Schwellen des Bewuſstseyns und vom Sinken der Hem-
mungssumme, beschränken; an Kategorien aber wäre
nicht zu denken; der psychologische Mechanismus würde
zu solchen Erzeugnissen weder Gesetze noch ein Vermö-
gen in sich tragen.


Den Beweis dieser meiner Behauptungen soll man
nun schon längst nicht mehr verlangen; er liegt deutlich
genug im Vorhergehenden. Einige Auseinandersetzungen
kann man wünschen; und ich werde sie geben.


Die erste nothwendige Bemerkung ist, daſs hier von
dem metaphysischen Werthe der Kategorien, das
heiſst, von ihrer Fähigkeit, wahre Erkenntnisse zu
schaffen, nicht im Geringsten die Rede ist. Sie bezeich-
nen die Form, welche unsre gemeine Erfahrung hat;
und das reicht vollkommen hin, um sie sehr wichtig und
sehr interessant zu machen. Wir wollen unsern Geist
kennen lernen, wie er wirklich ist; und wir halten uns
weit entfernt von idealischen Träumen, wie wir ihn gern
haben möchten, wenn wir uns selbst beliebig machen und
einrichten könnten.


Die zweyte Bemerkung: Es mag wohl seyn, daſs aus
den Kategorien etwas mehr werden kann, wenn man sie
absichtlich bearbeitet. Aber in solcher Arbeit sind sie
schon nicht mehr die Formen des Denkens, das heiſst,
die Bestimmungen der Art und Weise, wie das Denken
wirklich geschieht: sondern Objecte desselben; und da-
von kann hier nicht die Rede seyn.


Die dritte Bemerkung: Nur in der Abstraction kann
man die Kategorien von den Reihenformen trennen: ihre
wirkliche Erzeugung ist mit den Reproductionsgesetzen,
wodurch Raum und Zeit entstehn, [aufs] innigste verwebt *).


II. N
[194]

Und die vierte Bemerkung: Eben darum darf man
nicht hoffen, sie vollständig zu besitzen, wenn die auffal-
lendsten derselben in einem kleinen Täfelchen symme-
trisch beysammen stehn. Die Constructionen, wozu die
Reihenformen veranlassen, sind unerschöpflich; und an
diesem Reichthum nehmen die Kategorien Theil. Auch
schreitet die Reflexion im weitern Ausbilden der einmal
gewonnenen Begriffe unmerklich und ohne Ende fort.
Das, was dem Versuch, die Kategorien vollständig zu
finden, voran gehn, oder ihn wenigstens begleiten müſste,
wäre eine allgemeine Grammatik; welche vollendet zu be-
sitzen wohl Niemand glauben wird. Aristoteles suchte
mit groſsem Rechte die Kategorien in der Sprache.


Der eben genannte Denker ist wohl unstreitig der
erste, welcher überhaupt von Kategorien geredet hat.
Bey der Frage: was sind Kategorien? wird also zu-
erst und vorzüglich seine Auctorität in Betracht kommen;
besonders wenn die spätere Bearbeitung so voll von Feh-
lern ist, wie die Kantische.


Aristoteles nun deutet zuerst an, er wolle nicht
von Urtheilen reden, sondern von unverbundenen Begrif-
fen. Jeder von diesen aber zeige entweder ein Ding
an, oder ein Wieviel, oder u. s. w. Man sieht, Ari-
stoteles
suchte das Allgemeinste, wodurch sich
angeben lasse, was unser Vorgestelltes sey
. Er
suchte die Klassen der Begriffe. Von diesen han-
delt er nur vier eigentlich ab, nämlich Realität, Quan-
tität, Relation
, und Qualität. Andere werden bloſs
genannt; unter ihnen das Wo und das Wann; woraus
sich zeigt, daſs er zwar nicht die Reihenformen selbst,
wohl aber die Bestimmung der Gegenstände in Anse-
hung ihrer, mit zu den Kategorien rechnete.


Auch durch die Kantischen Kategorien sollen Ob-
jecte der Anschauungen
gedacht werden; so lautet
*)
[195] wörtlich Kants Erklärung gleich hinter der Aufzählung
der Kategorien.


Um desto mehr hätte Kant Ursache gehabt, wenig-
stens die erste der Aristotelischen Kategorien unverrückt
an ihrem Platze zu lassen, nämlich das Ding, die Sache
(οὐσία). Denn das gerade ist die einzige gemeinschaft-
liche Voraussetzung, wovon er mit dem Aristoteles aus-
gehn konnte: es solle von Erkenntniſs — Begriffen
(gleichviel ob in Bezug auf wahre oder bloſs schein-
bare
Erkenntniſs) die Rede seyn; sonst hätte Aristo-
teles
eben so gut die sogenannten Prädicabilien, welche
in die Logik gehören, oder die allgemeinsten Klassenbe-
griffe der Aesthetik, Schön, Häſslich, Gut, Böse,
mit unter die Zahl der Kategorien versetzen können; da
sie allerdings zu den allgemeinsten Bestimmungen des
Vorgestellten zu rechnen sind.


Damit nun gleich die erste Kategorie das anzeige,
wovon hier überhaupt die Rede ist: stelle ich mit Ari-
stoteles
die οὐσία an die Spitze; auf Deutsch, das
Ding überhaupt; denn von Substanz im metaphysischen
Sinne wissen wir hier noch nicht das Geringste, und es
ist einer von Kants stärksten Misgriffen, in diesem
Puncte der gemeinen falschen Uebersetzung des Worts
οὐσία nachgegangen zu seyn. Das Wort sagt nichts
weiter als: das Wirkliche; und damit man ja nicht
etwa sich hier, am unrechten Orte, in tiefsinnige Meta-
physik verirre, sagt Aristoteles recht deutlich: seine
ersten οὐσίαι seyen zum Beyspiele dieser bestimmte Mensch,
dieses bestimmte Pferd; die zweyten οὐσίαι aber seyen
Arten und Gattungen, wie Mensch, Pferd, Thier. Ganz
so muſs die Sache genommen werden, wenn von der ur-
sprünglichen Bildung unserer Erfahrung, von den ersten,
gemeinen Begriffen der sinnlichen Objecte die Rede ist.
Nur freylich ist der Weg von hier bis zur Kritik der
Vernunft etwas weiter, als ihn Kant sich gemacht hat.


Die andern hieher gehörigen Kategorien sind nun
bloſs in so fern Kategorien, als sie im Dienste der er-
N 2
[196] sten stehn; sich auf sie beziehen; kurz, als sie anzeigen,
wie denn ein Ding gedacht werde. Nun ist im Begriffe
des Dinges noch unbestimmt gelassen, was es sey. Es
kommt aber gar kein Vorgestelltes zu Stande, wenn nicht
irgend Etwas vorgestellt wird als ein Solches und kein
Anderes. Demnach ist nothwendig die zweyte Kategorie
die der Eigenschaft. Wobey zu bemerken, daſs die
Eigenschaft entweder durch die Elementar-Vorstellungen,
woraus die ganze Vorstellung des Dinges besteht, unmit-
telbar bestimmt wird, oder durch deren reihenförmige
Verbindung. Im ersten Falle heiſst die Eigenschaft im
engern Sinne Qualität, im zweyten Quantität.


Allein die Vorstellungen, welche das Wie des Din-
ges anzeigen, können noch über das eigentliche Was
hinausreichen. Oder, die Vorstellung des Dinges kann
einen bestimmten Grund des Ueberganges zu andern
Vorstellungen in sich tragen. Dies ergiebt die Kategorie
der Relation, mit ihren Unterarten.


Endlich gehört hieher noch der in der Urtheilsform ent-
springende, aber von da auf Begriffe vielfältig übertragene
Begriff der Verneinung; welchen Kant ausdrücklich,
obgleich am unrechten Orte, unter den Kategorien auf-
zählt; während Aristoteles zwar Anfangs, da er nur
von unverbundenen Begriffen reden will, ihn bey Seite
setzt, späterhin aber doch, bey Gelegenheit der Gegen-
sätze und der Veränderung in seine Abhandlung auf-
nimmt *).


Sollen nun bloſs die allgemeinsten Klassen der Be-
griffe von Gegenständen, die in der äuſsern Anschauung
können gegeben werden, nachgewiesen, und deren Ueber-
schriften mit dem Namen der Kategorien benannt wer-
den: so möchte man schwerlich mehr derselben finden
als die angezeigten. Denn daſs Einheit, Vielheit, Allheit,
der Quantität untergeordnet sind, daſs Wo, Wann,
Lage, Thun, Leiden
, zur Relation gehören, daſs
[197]Unmöglichkeit, mit ihren beyden in verschiedener
Beziehung genommenen Gegentheilen, der Möglichkeit
und der Nothwendigkeit *), nur eine nähere Bestimmung
der Verneinung ist; dies ist so einleuchtend, daſs es
kaum der Entwickelung bedarf. — Will man dagegen
sich einmal auf das Untergeordnete einlassen, so kann
man unterordnen ohne Ende; wie sowohl Aristoteles
als Kant gethan haben; jener durchgängig in der gan-
zen Abhandlung, dieser im §. 10. der Vernunftkritik.


Mit einigen der bekanntesten Unterordnungen kann
man die Tafel der Kategorien nunmehr so stellen:


Hier stehn Ding und Verneintes einander mit bes-
serm Rechte gegenüber, als bey Kant die Quantität und
die Modalität; denn das Ding ist überhaupt das Gesetzte,
Positive. Eben so Eigenschaft im weitesten Sinne, und
Verhältniſs, wovon jene die innern Bestimmungen im Be-
[198] griffe des Dinges selbst, dieses die äuſsern, in der Zu-
sammenstellung desselben mit andern, bezeichnet. Fer-
ner sind hier nicht vier Titel zu Kategorien, sondern
vier Haupt- oder eigentliche Kategorien aufgestellt,
deren Untergeordnetes unter einander keine Symmetrie
bildet, noch irgend erwarten läſst; eben darum, weil die
Haupt-Kategorien unter einander völlig verschieden sind.
Alle Symmetrie würde in meinen Augen unter solchen
Umständen nur Verdacht erregen.


Wie entstehn nun die Kategorien?


Erstlich: wie entsteht die Vorstellung des Dinges? —
Soll die Frage sich auf die Zusammenfassung der Merk-
male des einzelnen Dinges beziehen: so liegt der Grund
in der Complication der Partial-Vorstellungen wegen der
Einheit der Seele; so daſs der Actus des Vorstellens nur
Einer ist, so weit die Verbindung reicht. Soll aber der
Ursprung der Vorstellung vom Dinge überhaupt ange-
geben werden: so muſs man zurückgehn zum Gesammt-
Eindrucke, der aus den Reproductionen unzähliger, zum
Theil ähnlicher Dinge sich allmählig zusammen zu setzen
nicht umhin konnte. Dieser Gesammt-Eindruck über-
trägt sich auf unvollkommne, neue Wahrnehmungen am
leichtesten. Ein verschlossener Kasten erregt die unbe-
stimmte Vorstellung dessen, was darin seyn möge; ein
von fern gesehener Gegenstand läſst errathen, was man
bey der Annäherung finden werde; eine Reise verspricht
viel Neues, man weiſs noch nicht was; aber die aufge-
regten dunkeln Bilder sind ganz unstreitig nichts anderes
als Zusammensetzungen aus altem Stoffe. Vermuthun-
gen, was doch das Unbekannte seyn möge, haben oft
getäuscht; die Besorgniſs neuer Täuschung schlägt nun
die bestimmteren Züge, welche man dem Unbekannten zu
leihen geneigt ist, vollends nieder; nnd nach der Ver-
neinung aller besondern Bestimmungen soll bloſs ein
Vorstellen, dessen Vorgestelltes sich ausgelöscht hat,
übrig bleiben. Diese Zumuthung wird niemals völlig er-
füllt; aber die Vorstellung gilt nun für die ganz allge-
[199] meine des Dinges überhaupt. — Das nämliche kommt
vor, wenn wir ein Wort in einer uns unbekannten Sprache
hören, oder unbekannte Schriftzüge erblicken; auch hier
ist ein Gemisch von Vorstellungen im Begriff hervorzu-
treten; aber alle nähere Bestimmtheit wird zurückgewie-
sen, es bleibt das ganz unbestimmte Streben, irgend et-
was zu setzen, welches durch das Wort bezeichnet werde,
noch übrig; ein Beyspiel zu dem Begriffe des gedach-
ten
Dinges, so wie die frühern zu dem des gegebe-
nen
gehörten. Uebrigens ist es Aristoteles, dessen
δεύτεραι οὐσίαι mich veranlassen, des gedachten Dinges
neben dem gegebenen zu erwähnen; er versteht nämlich
darunter die Arten und Gattungen.


Zweytens, wie entsteht die Vorstellung der Eigen-
schaft? Die Antwort ist bey der Lehre vom Ursprunge
der Urtheile gegeben; und hängt mit dem nächst-Vor-
hergehenden unmittelbar zusammen. In der Vorstellung
des Dinges liegt fortwährend das Aufstreben bestimmter,
aber entgegengesetzter, und einander hemmender, frü-
herer Wahrnehmungen. Sobald nun die zuvor unbe-
kannten Gegenstände theilweise bekannt werden, entstehn
Urtheile; die gefundenen Merkmale werden Prädicate
eben in so fern, als sie von jenem Entgegengesetzten,
das zugleich aufstrebte, Einiges hervortreten lassen mit
Zurückdrängung des Uebrigen. Je öfter durch derglei-
chen Urtheile jener unbestimmte Begriff des Dinges, (oder
auch andre, unter ihm stehende, minder allgemeine Be-
griffe gewisser Gattungen und Arten,) sind bestimmt
worden: desto mehrere werden der Vorstellungen, welche
den Platz und Rang von Prädicaten einnehmen; ein
Proceſs, der im Laufe des Lebens immer fortgeht, ohne
daſs es möglich wäre, für ihn besondere Epochen vest-
zutetzen. Die geistige Ausbildung macht, der Erfahrung
zufolge, nur kleine, kaum merkliche Schritte.


Etwas schwerer zu erklären ist der Begriff der Quan-
tität, so fern derselbe allem Uebrigen, was Eigenschaft
heiſsen kann, gegenüber tritt. Hier muſs man sich zuerst
[200] erinnern, daſs viele Auffassungen zusammengenom-
men keineswegs ursprünglich als Vieles aufgefaſst
werden; und zwar gerade wegen der Verbindung, die sie
eingehn. Ohne die Reproductionsgesetze, die Eins zwi-
schen
Anderes setzen, würde es eben so wenig jemals
eine Kategorie der Quantität gegeben haben, als einen
Raum und eine Zeit; denn die Einheit der Seele würde
die Theile des Vielen so völlig verschlingen, und in sich
versenken, daſs gar kein Mannigfaltiges mehr in ihm
könnte geschieden werden; — genau so, wie die Einheit
jedes einzelnen Dinges zu Stande kommt, wie groſs auch
die Anzahl und die Verschiedenheit der Merkmale seyn
möge, deren Vorstellungen zusammengenommen die Vor-
stellung des Dinges selbst sind. Man muſs sich daher
dasjenige vergegenwärtigen, was oben über Raum, Zeit,
und Zahl gesagt worden; und man muſs dies alles jetzt
näher bestimmen durch die allgemeine Ueberlegung, daſs
Gesammt-Eindrücke des Aehnlichen, wie zu allen Be-
griffen, eben so auch zu Gröſsenbegriffen die Grundlage
abgeben können. Am Ende des §. 114. war von der
Reproduction wegen der Gestalt die Rede. Man erwei-
tere dies auf die Reproduction gleicher Rhythmen, und
gleicher Fortschreitungen unter den Zahlen; man bedenke,
welche Verschmelzung oft wiederhohlter, ähnlicher Grö-
ſsen-Vorstellungen nothwendig vor sich gehn müsse;
man wird auf diese Weise den Weg zu den Gröſsen-
Begriffen geöffnet finden.


Was insbesondere die Zahlen anlangt: so scheint
hier alles Zwischen-Liegende, welches die darin enthal-
tenen Einheiten trennen könnte, zu mangeln; daher denn,
nach der obigen Bemerkung, ihre Vielheit ganz zusam-
men fallen, und jede Zahl gleich Eins werden sollte.
Allein gerade dies beweis’t, daſs die Zahlbegriffe nichts
Primitives sind, und daſs ihnen eine dunkle Voraus-
setzung anklebt, die man nachweisen muſs, um sie zu
verstehn. Die ursprünglichen Zahlen sind Anzahlen ge-
sonderter Gegenstände; wie zwölf Stühle, zwölf Personen.
[201] Zwischen diesen lag ein Raum, als sie wahrgenommen
wurden, aber ihre Anordnung war veränderlich, sie zeig-
ten sich den Versetzungen unterworfen. Also hemm-
ten sich die bestimmten Reihen, welche die Wahrneh-
mung erzeugt hatte. Dennoch blieb das Streben, ver-
möge dessen die Vorstellung eines jeden Einzelnen im
Begriff war, zu den andern überzugehn; und wiewohl ein
so sehr sich selbst verdunkelndes Streben sich kaum in-
nerlich beobachten läſst, so darf daran doch nicht ge-
zweifelt werden, da sich die Sache unzweydeutig aus der
Theorie der Reihenformen ergiebt. — Nachmals bilde-
ten sich die allgemeinen Begriffe des Stuhls, der Per-
son, überhaupt des gezählten Gegenstandes. In ihn soll-
ten nun die einzelnen Vorstellungen zusammenfallen;
denn er wird auf alle übertragen. Aber gerade umgekehrt
muſs dies Drängen zur Einheit die Spannung jenes Stre-
bens, welches die Einzelnen gesondert hält, vermehren.
Und das Uebergehn von der Einheit des allgemeinen
Begriffs zu der Sonderung des Einzelnen, unter ihm Ent-
haltenen, ist das Wesentliche des reinen Zahlbegriffs,
des ächten Multiplicators; denn die reinen Zahlen sind
nichts anderes als eben Vervielfältigungen, die selbst
wiederum durch allgemeine Begriffe gedacht werden, in
welchen das Entgegengesetzte der gezählten Gegenstände
sich nahe ausgelöscht hat. — Uebrigens ist doch jenes,
den Zahlen inwohnende Streben zur Sonderung allerdings
auch in der Erfahrung leicht genug zu erkennen, nämlich
an seinen Wirkungen. Alle Zahlen suchen sich ausein-
anderzusetzen; sie streben zur Gestaltung. Daher die
allgemeine Neigung, sie bald als Abscissen und Ordina-
ten darzustellen, bald als figurirt zu betrachten; bald so-
gar ihnen mystische Eigenschaften beyzulegen, denen
ästhetische Urtheile versteckt zum Grunde liegen, ähnlich
jenen, worauf das räumliche und rhythmische Schöne be-
ruht (§. 114.). Alle geraden Zahlen zum Beyspiel ha-
ben einen fühlbaren Vorzug vor den ungeraden, weil sie
sich in correspondirende Hälften zerlegen lassen. Aber
[202] die Zahlen sieben, dreyzehn, und andre Primzahlen,
gelten für unglücklich; so sehr, daſs der dreyzehnte
Mensch, als überflüssig neben der so leicht anzuordnen-
den Zahl zwölf, sterben muſs, wenn er das harmonische
Dutzend gestört und gleichsam auseinander gedrängt hat. —
Solche mystische Thorheit ist zu allgemein, um nicht aus
einem psychologischen Grunde zu entspringen. — Die
groſsen Zahlen sind bekanntlich für uns bloſse Namen,
denen wir ohne das künstliche Hülfsmittel der Potenzen
und Producte gar keine Bedeutung würden geben kön-
nen. Doch klebt ihnen das Gefühl der Schwierigkeit an,
die in ihnen liegenden Reihen ganz zu durchlaufen.


Drittens: Die Vorstellung des Verhältnisses erfordert,
daſs zwey Puncte einer Reihenform gegen einander ge-
halten werden, um den Uebergang von einem zum an-
dern zu bestimmen. Dies kann so vielfältig geschehen,
als Reihenformen sind gebildet, und die Arten des Ue-
berganges bestimmt worden. Wollten wir, im gegen-
wärtigen Zusammenhange, Ort und Lage auslassen: so
würde gerade dasjenige mangeln, was sich zuerst und
von selbst darbietet, denn die bekannteste aller Reihen-
formen ist der Raum; die übrigen Reihenformen sind alle
nur Analogien desselben, und minder ausgeführte Pro-
ductionen. Auch das arithmetische und geometrische
Verhältniſs im Zahlen-Gebiete kann als analog jenen
räumlichen Verhältnissen angesehen werden; es wird nicht
nöthig seyn, so leichte Sachen zu erläutern. Schwerer
ohne Zweifel scheint das Verhältniſs der Aehnlichkeit,
oder das noch einfachere zwischen Bild und Original,
wovon jenes die nähere Bestimmung ist, denn Aehnliche
verhalten sich gegenseitig wie Abbild und Urbild. Hier
muſs man, wie bey der Zahl, bemerken, daſs die Vor-
stellungen zweyer durchaus Aehnlichen in der Einheit der
Seele völlig zusammenfallen würden, wenn nicht irgend
eine Nebenvorstellung sich dazwischen schöbe. (Man
wird dabey an Leibnitzens unrichtiges, doch nicht ganz
ohne psychologischen Grund behauptetes, principium in-
[203] discernibilium
denken.) Ferner soll das Bild ein zwey-
tes, das Original ein Erstes seyn. Wer aber das Bild
erblickt, der erkennt darin das Original; zurückschauend
vom Zweyten auf das Erste. Also geht hier die Bewe-
gung in der Reihenform rückwärts; welches nur möglich
ist, wenn die ganze Vorstellung des Bildes verschmol-
zen ist mit einem Theile der Vorstellung des Origi-
nals (§. 100. und 112.). Davon kann nun der Grund
schon in der Zeitfolge gesucht werden; denn in der Re-
gel ist das Original (wie schon das Wort sagt) das frü-
here, und das Bild erst nach ihm gemacht. Allein dies
reicht nicht aus. Es giebt auch Vorbilder, Modelle,
nach
denen das Hauptwerk gearbeitet wird. Der Begriff
des Bildes beruht eben so wenig auf der Zeitfolge, als
auf dem Umstande, daſs Eins sich nach dem Andern
richten solle; denn beydes leidet eine Umkehrung. Das
Vorbild, wie das Nachbild, weiset auf den Hauptgegen-
stand; beyde sind um so vollkommener, je mehr, über
ihm, sie selbst vergessen werden. Man denke an die
Illusion im Panorama, im Schauspiel. (Wobey freilich
nicht zu überschen ist, daſs während der Illusion der
Begriff des Bildes wegfällt.)


Nach diesen Vorerinnerungen wird nun diejenige Art
von Reihenformen leichter ins Auge fallen, worin das
Bild und sein Gegenstand einander gegenüber stehn. Es
ist die Reihe des Wichtigern, und des minder-Bedeu-
tenden; oder, am einfachsten, der stärkern und der schwä-
cheren Vorstellungen; allein die Art, wie sich daraus
eine Reihe bildet, bedarf einer Erläuterung. Wenn meh-
rere Gegenstände sich zugleich zur Wahrnehmung dar-
bieten, so wird derjenige; dessen Eindruck der ſtärkste
ist, zuerst aufgefaſst, er giebt den Anfangspunct der
Reihe. Erst nachdem die Empfänglichkeit für ihn bis auf
einen gewissen Grad abgenommen hat, (§. 94.) und die
entstandene Vorstellung mit den frühern, hemmenden,
weit genug ins Gleichgewicht getreten ist: können auch
die schwächern Wahrnehmungen anderer Gegenstände
[204] durch gehörige Verschmelzung ihrer Elemente zu einer
endlichen Stärke anwachsen; (man weiſs aus den Unter-
suchungen der §§. 94—97., daſs S \< β φ seyn muſs,
wenn nicht die Perceptionen im Entstehen erdrückt wer-
den sollen *)); und indem solchergestalt ein Gegenstand
nach dem andern dazu gelangt, sich hinreichende Auf-
merksamkeit
zuzueignen: ordnet sich die Succession,
worin das gleichzeitig Gegebene zusammentritt, nach der
Stärke des Eindrucks und der Empfänglichkeit; welche
beyden Gröſsen hier als ein Product (β φ) in Betracht
kommen. — In dieser Reihe nun nimmt der Gegenstand
des Bildes einen frühern Platz ein, als das Bild selbst;
und das Verhältniſs zwischen beyden prägt sich um desto
bestimmter aus, je weiter die Distanz von jenem zu die-
sem ist. Um desto mehr nämlich schiebt die Vorstel-
lung des Gegenstandes zwischen sich und das Bild, wenn
sie ja noch in ihren Reproductionen bis zu demselben
hingelangt; hingegen die Vorstellung des Bildes reprodu-
cirt wegen der Aehnlichkeit unmittelbar jene des Gegen-
standes, womit sie, in ihrer ganzen Stärke, verschmilzt. —
Wenn zwey Brüder einen gleich starken Eindruck auf
uns machen, so wird für uns keiner das Bild des an-
dern, sondern nur der zweyte, den wir später sehen, er-
innert an den früher Gekannten. Aber der Bruder eines
groſsen Mannes bleibt immer der Bruder; das Bild
von jenem. Im metaphysischen Sinne ist das Bild die
bloſse Qualität des Gegenstandes ohne seine Realität.
Da ist die Distanz beyder, die zwischen Etwas und Nichts;
das heiſst, sie ist unendlich. Daſs hiemit der Werth
des Bildes, welcher ihm zugesprochen werden mag, wenn
ästhetische Urtheile hinzukommen, in keiner nothwendi-
gen Gemeinschaft stehe, sondern davon ganz unabhängig
[205] seyn könne, leuchtet von selbst ein. Gleichwohl hat der
ästhetische Werth der Ideen einen sichtbaren Einfluſs
auf Platons Welt-Ansicht gehabt, nach welcher die
Ideen, wie das Vornehmste, so auch das eigentliche
Reale sind, wozu unsre sogenannte wirkliche Welt nur
den Widerschein hinzufügt. — Vielleicht findet man ei-
nen Einwurf in solchen Bildern, die aus kostbaren Stof-
fen bestehen; dergleichen ein goldenes Kalb seyn würde.
Aber hier ist das Gold nicht das Bild, und das Bild
nicht das Gold, sondern überhaupt eine todte, träge
Masse, und als solche weit unter der Würde des leben-
den Thieres. Indessen könnte Einer die Sache umge-
kehrt betrachten; verliebt in die groſse Masse Goldes,
und durch jedes lebende Kalb an sie erinnert, könnte er
auch alle Kälber als Bilder jener Masse ansehn. — Es
giebt auch Bilder; die den Originalen zum Erschrecken
ähnlich sind, wie bemalte Statuen und Wachsfiguren,
todte Körper, die sich, Gespenstern gleich, in den Kreis
der Menschen drängen, und die Vorstellung des Abgebil-
deten so stark hervorheben, daſs die Erwartung mensch-
lichen Handelns, Sprechens, Fühlens, gewaltsam wider
die starren Bilder anstoſsen muſs. Doch hierin ist vieles
abhängig von der Gewohnheit. Wer die Bilder als Bil-
der betrachtet, erschrickt nicht; hingegen Kinder erschrek-
ken selbst vor Gemälden, weil sie nicht einmal hier da-
hin gelangen, die Distanz von dem Menschen zu der be-
malten Leinwand zu durchlaufen, sondern sich von den
Augen des Bildes wirklich gesehen glauben. —


Bey bloſs ähnlichen Gegenständen, von welchen nicht
mit Bestimmtheit einer als das Bild des andern angese-
hen wird, geht die Vergleichung rückwärts und vorwärts;
das heiſst, es wird zufälliger weise der eine als der zweyte
aufgefaſst, welcher an den andern, den ersten, erinnere;
und so wechselsweise. Dies läſst sich leicht erkennen
bey den Abweichungen von der Aehnlichkeit. Hier ist
der eine Gegenstand ein abweichender, wenn der andre
die Regel giebt, wornach er müſste verändert werden,
[206] um die Aehnlichkeit vollständig zu machen; aber er selbst
kann eben so gut zur Regel dienen für den andern, falls
derselbe soll als nachgiebig und veränderlich gedacht wer-
den. Den Vorzug, die Regel und das Original zu seyn,
und die Zurücksetzung, nur ein Bild zu seyn, ertheilt
man also hier nach Belieben und abwechselnd, oder viel-
mehr durch unbemerkbare Umstände veranlaſst, dem ei-
nen oder dem andern.


Die übrigen Verhältniſsbegriffe sind ihrem Ursprunge
nach aus dem Vorhergehenden leichter zu erklären. Aller
Besitz, alles, was die Sprache durch den Genitiv aus-
drückt, wie Vater, Sohn, Herr, Diener, Sache und Ei-
genschaft in ihrem gegenseitigen Verhältnisse, bezeichnet,
daſs der Gegenstand, dem etwas zugeschrieben wird,
in so fern als der Boden anzusehen ist, der dem Zu-
geschriebenen Platz darbietet, wohin es könne gesetzt
werden. Man erkennt hier sogleich die dunkel gedachte
Flächenform, welche daher rührt, daſs der Besitzer, —
der, welchem etwas zugeschrieben wird, als Anfangspunct
mehrerer Reihen ist gedacht worden, die, wenn sie nicht
zusammenfallen sollen, so vorgestellt werden müssen, als
ob sie etwas zwischen sich schöben (wie schon im §. 100.
bemerkt worden). Daher die alten Ausdrücke: ὑποκει-
μενον, subjectum,Unterliegendes, welches erwartet,
daſs man etwas darauf setzen werde, was darauf ruhen
könne. So ruhet das Prädicat auf dem Subjecte, nicht
wie ein schwerer Körper, der fallen will, sondern weil es
die aus dem Subjecte hervorstrebenden Reihen, wodurch
dasselbe ein Bestimmbares ist, niederdrückt bis auf eine,
der es Freyheit giebt sich zu entwickeln. — Die Inhä-
renz
(des Merkmals in der Complexion, [mit] welcher zu-
sammen es für ein Ding gilt,) ist hievon ein speciel-
ler Fall.


Das Wirken und Leiden bedeutet auf dem Stand-
puncte dieser Betrachtung noch nichts weiter, als was
der bekannte Ausdruck: das kommt davon! anzeigt,
worüber im §. 102. schon gesprochen worden, und wo
[207] das Wort selbst die ablaufende Reihe deutlich aus-
spricht. —


Viertens: Vom Ursprunge der Verneinungen ist oben
geredet worden (§. 123.). Dieselben erzeugen sich in
den Urtheilen; allein mit diesen übertragen sie sich auf
Begriffe, sobald letztere auf eine unpassende Weise als
Subjecte und Prädicate zusammengerückt werden; und
die Begriffe treten alsdann als Entgegengesetzte aus-
einander. Man achte hier zuerst auf das Wort Gegen,
adversus, contra; und auf den Ausdruck Opposition.
Alle diese Worte verkündigen die Reihenform, die bey
der Verneinung hinzugedacht wird. Schon im §. 100.
wurde erwähnt, daſs, wenn die Vorstellungen Gelegen-
heit haben, nach ihrer Qualität zu verschmelzen, dasselbe
dem Hemmungs Grade umgekehrt gemäſs geschieht.
Solche Gelegenheiten finden sich allmählig für die Be-
griffe; will man daher z. B. Schwarz und Weiſs vereini-
gen, so trennen sie sich gewaltsam, indem sie alle mitt-
lern Farben, (hier die verschiedenen Nüançen des Grau),
mit denen jedes von beyden näher verschmolzen ist, zwi-
schen sich schieben, und nun wie in bestimmter Entfer-
nung aufgestellt, einander gegenüber stehn; oder, wenn
bloſs das Streben, in solche Entfernung auseinander zu
treten, gefühlt wird, einander entgegen gesetzt werden;
welcher Ausdruck unbestimmter lautet, weil dem Streben
nicht gelingt, ein klares Bild des Zwischenliegenden her-
vorzubringen. Dies hätte man schon längst aus bloſser
Analyse der Sprache erkennen sollen.


Es ist aber vorzugsweise die Veränderung der
sinnlichen Dinge, welche zur Entgegensetzung Veranlas-
sung giebt. Denn sie muthet uns an, einem Subjecte,
in welchem ein gewisses Merkmal schon liegt, jetzt des-
sen entgegengesetztes zuzueignen.


Hier wird eine Unmöglichkeit gefühlt; und in dem
sogenannten Satze des Widerspruchs ausgesprochen, es
ist unmöglich, daſs ein Ding Entgegengesetztes
zugleich sey
; wo das Wort Zugleich die Reihenform
[208] der Zeit zu Hülfe nimmt, um doch auf irgend eine
Weise die geforderte Auseinandersetzung zu [gewinnen].
Bey sichtbaren Dingen leistet der Raum dieselben Dienste;
es ist unmöglich, daſs ein Ding an der nämlichen
Stelle
schwarz und weiſs, rund und eckigt sey; hinge-
gen an verschiedenen Stellen ist beydes neben einander
möglich (weil diese Verschiedenen nicht wirklich Ein
Ding sind).


Soviel über die Kategorien. Einen Nachtrag wird
man im folgenden Abschnitte finden. — Es würde ein
unangenehmes Geschäfft für mich seyn, die Kantische
Lehre über diesen Gegenstand vollständig zu beleuchten.
Soviel springt in die Augen, daſs bey Kant die Qualität
nur dem Namen nach dasteht, denn er hat ihr nichts
anderes untergeordnet als Realität und Negation, die
nichts weniger sind als Qualitäten; und daſs die Rela-
tion viel zu eng beschränkt ist. Von Substanz und Ur-
sache wird weiterhin ausführlich zu reden seyn. Kants
Irrthum, als ob er das Vermögen des menschlichen Ver-
standes ausgemessen hätte, gab der Philosophie viel
Muth und viel Uebermuth; und wird deshalb in der Ge-
schichte der Wissenschaft auf immer denkwürdig blei-
ben. Wer weitern Stoff zum Nachdenken wünscht, kann
ihn in dem zwar nicht sonderlich geordneten, aber reich-
haltigen Aufsatze des Aristoteles finden.


Die sogenannten Prädicabilien, Gattung, Art, und
was dahin gehört, sind nicht eben schwer zu erklären.
Ein Ding zeige sich veränderlich; so wird es in seinen
verschiedenen Zuständen mit sich selbst verglichen. Zwi-
schen mehrern Dingen bildet sich die Vergleichung der-
gestalt aus, daſs verschiedene Individuen dersel-
ben Art
, und weiterhin verschiedene Arten der-
selben Gattung
, eben als solche erkannt und betrach-
tet werden. Man begegne z. B. einer Menge von Hun-
den. Jeder folgende reproducirt die ganze Masse von
Vorstellungen, die der vorhergehende dargeboten hatte.
Der eben jetzt gesehene bildet nun das Subject für die
nega-
[209] negativen Prädicate, die ihm zukommen, weil er nicht
so
gestaltet, nicht so gefärbt ist, wie die vorigen; dann
für die positiven, weil er anders gebaut, anders ge-
färbt ist, u. s. w, Indem aber die Aehnlichkeiten aller
Hunde dennoch vorwiegen, und jeder als Einer unter
Vielen vorgestellt wird, (§. 122.) behalten die sämmtli-
chen Subjecte der entstehenden Urtheile immer die Be-
stimmung, daſs sie Hunde vorstellen, durch ihre Prädi-
cate aber werden daraus Hunde von verschiede-
ner Art
.


Es werde ferner eine kleinere Masse von beständi-
gen Merkmalen jener gröſsern Masse gegeben, ohne
hemmende Zusätze. So reproducirt sich zunächst die
ganze Masse auch mit den übrigen beständigen Merkma-
len; dann aber treten auch diejenigen Bestimmungen her-
vor, welche früherhin solchen Massen bald negativ, bald
positiv sind beygelegt worden. Dies giebt den Gemüths-
zustand des Fragens, ob auch diese oder jene Bestim-
mung zugegen seyn möge. — Wir sehen z. B. ein blü-
hendes Gewächs. Wir setzen sogleich voraus, das Ge-
wächs habe eine Wurzel irgend einer Art; denn dies
gehört zu den beständigen Merkmalen der Vorstellungs-
masse, die hier reproducirt wird. Aber ob die Blüthe
auch rieche, ob sie angenehm rieche, ob die Wurzel
etwan eine Zwiebel sey, u. d. gl. das sind die Fragen,
welche entstehn, indem in diesen Hinsichten sich meh-
rere entgegengesetzte Merkmale in der Erinnerung dar-
bieten.


Fünftes Capitel.
Von der Apperception, dem inneren Sinne, und
der Aufmerksamkeit.


§. 125.

Der innere Sinn gehört für den Psychologen zu den
gefährlichen Klippen, denen er sich nur mit groſser Vor-
II. O
[210] sicht nahen darf. Das kann man schon schlieſsen aus
den Widersprüchen, die wir gleich Anfangs im Begriff
des Selbstbewuſstseyns nachgewiesen haben. Aus dieser
Ursache wird es nicht zu sehr befremden, daſs so vieles
Andere und Leichtere vorangeschickt wurde, und wir erst
jetzt an die Erklärung desjenigen Gegenstandes gehn, den
die Meisten (unter ihnen Wolff und Kant,) in die
ersten Zeilen bringen; nicht eben in der Meinung, ein
Problem aufzustellen, sondern vielmehr den Grundstein
zu allem nachfolgenden zu legen *).


Wenn der innere Sinn ein Vermögen ist, das die
Seele so geradehin unter andern Vermögen auch noch
hat
, so müssen wir hier die schon oft erhobene Frage
wiederhohlen: wann wirkt denn dies Vermögen, und
wann bleibt es unthätig? Nach welchen Gesetzen
ereignet sich eins und das andere? — Und da der innere
Sinn ein Vermögen der Selbst-Beobachtung seyn soll,
diese aber auf höhere Potenzen ohne Ende steigen kann,
indem der Actus des Beobachtens sich wiederum beob-
achten läſst, und dies neue Beobachten abermals beobach-
tet werden kann, und so fort, — warum schlieſst der in-
nere Sinn, der sich über die erste Potenz, der Erfah-
rung gemäſs, zuweilen wirklich erhebt, nicht auch alle
andern Potenzen in sich? Warum ist es sogar um die
einfache Selbstbeobachtung, wenn sie anhaltend und ha-
bituell wird, ein so äuſserst misliches Ding, daſs Kant
(im Anfange der Anthropologie,) denjenigen, der ein Ge-
schäfft daraus macht, sich selbst zu belauschen, aus triff-
tigen Erfahrungsgründen vor dem Irrenhause zu war-
nen nöthig findet?


Aus dem allgemein-metaphysischen Princip, daſs
kein Wesen, auch die Seele nicht, eine ursprüngliche
Mannigfaltigkeit von Anlagen enthalten kann, folgt so-
[211] gleich, daſs die Wahrnehmung unsrer eignen Zustände
und Vorstellungen gar nicht auf einer besondern Prädis-
position beruhe; daſs sie vielmehr auf eben so natürli-
chem Wege, wie alles Andere, in der Seele erst wer-
den
muſs, und daſs sie alsdann gerade so weit und nicht
weiter reicht, als wie weit sie geworden ist. Ein ge-
wisses Quantum von Selbst-Beobachtung erzeugt sich
unter gewissen Umständen aus gewissen Ursachen; als-
dann geschicht die Selbst-Beobachtung wirklich, und in
andern Fällen unterbleibt sie, weil keine Möglichkeit
ihres Geschehens vorhanden ist.


Wenn nun die Selbstbeobachtung wirklich vor sich
geht, wer ist alsdann der Beobachtende, und wer wird
beobachtet? Hoffentlich wird man nicht antworten: Ich
selbst bin das eine und das andere
. Denn dieser
Ich, der da Object und Subject zugleich seyn will, ist
als ein völliges Unding nun einmal bekannt. In der Seele
sind nur Vorstellungen; aus diesen muſs alles zusammen-
gesetzt werden, was im Bewuſstseyn vorkommen soll.


Also: Eine Vorstellung, oder Vorstellungs-
masse, wird beobachtet; eine andere Vorstel-
lung,
oder Vorstellungsmasse, ist die beob-
achtende
.


So paradox dieser Satz allen denen klingen muſs,
die in unerkannten Widersprüchen nun einmal leben
und weben: so leicht fügt er dem Ganzen unserer Grund-
sätze sich an; und so passende Aufschlüsse giebt er über
die Thatsachen, die den innern Sinn charakterisiren.


Wir haben bisher vielfältig, und noch ganz zuletzt
in der Betrachtung über das Entstehen der Urtheile, von
der Wirkung gesprochen, welche eine neu eintretende
Wahrnehmung auf die schon vorhandenen älteren Vor-
stellungen haben muſs, die sie erweckt, mit denen sie
verschmilzt, die sie aber auch hemmt, und von denen
sie gehemmt wird, insofern ein Gegensatz zwischen der
neuen Vorstellung und der älteren vorhandenen oder er-
weckten sich bildet.


O 2
[212]

Es ist ganz offenbar, daſs alles dies eine Erweite-
rung leidet, auf den Einfluſs, den mehrere, in der
Seele vorhandene, und im Bewuſstseyn sich
gleichzeitig entwickelnde, Vorstellungsreihen,
unter einander ausüben müssen
.


Es gebe eine Reihe von Vorstellungen m, n, o, p, q,
die bey ihrem Entstehen successiv gegeben sind, und sich
nun bey der Reproduction in der nämlichen Folge wie-
der zu entwickeln streben, nach §. 112. Zugleich sey
eine andre Reihe in der Seele vorhanden, P, P, p, π,
und jetzt werde wahrgenommen eine Complexion P m,
oder P n, oder P m, oder irgend eine dergleichen, die
aus jeder der Reihen ein Element enthält. Sogleich be-
ginnen zwey Reproductionen, jede mit dem Bestreben,
sich nach ihrem eignen Gesetze zu entfalten. Aber jede
von beyden enthält die Vorstellung p; es sind nämlich
zwey gleichartige Vorstellungen, die wir beyde p nennen;
eine in der ersten Reihe, die andre in der zweyten.
Nothwendig müssen sie, während sie sich allmählig er-
heben, in Verschmelzung eingehn; und dadurch sich ge-
genseitig verstärken. Denn es ist für jede von beyden
gerade soviel, als ob in äuſserer Wahrnehmung etwas
gleichartiges gegeben würde. Zugleich wird hiedurch eine
Veränderung in dem ganzen Verhältniſs der wir-
kenden Kräfte
hervorgebracht, weil eben durch die
Verschmelzung eine neue Gesammtkraft erzeugt wird; und
die Reproductionen können nicht ganz so fortlaufen, wie
eine jede nach ihrem inwohnenden Gesetze gesollt hätte.


Diese Annahme läſst sich nun auf die mannigfaltigste
Weise abändern. Man kann — ja man muſs, um das
zu erreichen, was jeden Augenblick wirklich in uns vor-
geht, — ganze Complexionen setzen statt der einfachen
Vorstellungen m, n, o, p, … und P, P, p, … Diese
Complexionen mögen gleichartige, beynahe gleichartige,
mehr oder weniger entgegengesetzte Elemente enthalten.
Das wird die mannigfaltigsten Perturbationen in dem Ab-
laufen der Vorstellungsreihen bewirken.


[213]

Ehe wir weiter gehn, muſs hier im Vorbeygehn an-
gemerkt werden, daſs die angenommenen Umstände reich
an Veranlassungen zu sehr mancherley Gefühlen seyn
werden. Denn die ablaufenden Reihen mögen nun ein-
ander begünstigen, etwa nach §. 87., oder hindern: so
entstehen hieraus Gefühle der Lust und Unlust eben in
so fern, als dadurch noch andere Zustände der Vorstel-
lungen bestimmt werden auſser dem Steigen und Sinken
der letztern. (§. 104—106.) Ja diese Gefühle sind als
ästhetische Prädicate von Gegenständen zu betrach-
ten, wenn die mehrern, zugleich aufgeregten Reihen auf
bestimmte Weise aus der nothwendigen Auffassung der
Gegenstände hervorgehn. So ist das räumliche und
rhythmische Schöne ohne allen Zweifel hieher zu
rechnen, weil in demselben alles darauf ankommt, wie
mehrere, zugleich in Gang gesetzte, Reproductionen in
ihrem Ablaufen einander begegnen. (§. 114.)


Um aber unserem jetzigen Zielpuncte uns zu nähern,
setzen wir endlich, statt der bloſsen Reihen von Vorstel-
lungen oder Complexionen, ganze Massen, oder solche
Mengen von Vorstellungen, die zum Theil vollkommen,
zum Theil unvollkommen complicirt und verschmolzen
sind, und in denen viele Reihen, wie man will, mit ein-
ander verwebt und verwickelt seyn mögen. Aber hier
müssen wir zuerst die Möglichkeit nachweisen, daſs in
einem menschlichen Geiste mehrere solche Massen vor-
handen seyn können, ohne sich so in einander zu ver-
weben, daſs sie zusammen nur eine Masse ausmachen
würden. Denn dies ist ohne Zweifel der Zustand, wohin
sie, wegen der Einheit der Seele, sich fortdauernd neigen.


Man wird sich am leichtesten orientiren, wenn man
sich die Gedanken vergegenwärtigt, zu denen verschie-
dene Orte und Beschäfftigungen veranlassen. Z. B. die
Kirche, das Schauspielhaus, das Büreau, der Garten,
das Schachbrett, das Kartenspiel, u. d. gl. Man wird
nun sogleich wahrnehmen, daſs jedem dieser Dinge eine
eigene Vorstellungsmasse entspricht, welche, wenn sie im
[214] Bewuſstseyn Platz nimmt und sich mit allen ihr zugehö-
rigen Vorstellungsreihen ausbreitet, dann gegen jede andre
eine hemmende Gewalt äuſsert, die nicht bloſs von der
Qualität der einzelnen, in ihr enthaltenen Vorstellungen,
sondern ganz besonders von dem Rhythmus der ganzen
Vorstellungsreihen nach §. 112., und von den eigenthüm-
lichen Gefühlen, die damit verknüpft sind, abgeleitet wer-
den muſs. Daher hönnen die mehrern Massen nur in
schwache Berührung kommen, wenigstens nicht leicht so
innig sich verweben, daſs nicht die eigenthümliche Wir-
kungsart einer jeden noch deutlich erkennbar bliebe.
Wie oft aber eine Berührung unter ihnen entsteht, —
besonders wenn eine der Massen beträchtlich stärker oder
aufgeregter ist als die andre, — so oft ereignet sich et-
was, wobey die gemeine Psychologie eine Wirksamkeit
des innern Sinnes zu Hülfe ruft.


Der Deutlichkeit wegen erinnern wir zuerst an den
äuſsern Sinn. Die Auffassungen desselben werden apper-
cipirt oder zugeeignet, indem ältere gleichartige Vorstel-
lungen erwachen, mit jenen verschmelzen, und sie in ihre
Verbindungen einführen. Angeregte Erwartung befördert
die Apperception; so beobachten wir ein Schauspiel, indem
gleich der Anfang desselben eine Menge von Vorstellun-
gen in Bewegung bringt, wie das Stück wohl fortgehn
könnte; mit welchen alsdann der wirkliche Verlauf
in allerley Verhältnisse der Hemmung und Verschmel-
zung eintritt. — Dasselbe nun geschieht auch inner-
lich
; ohne daſs die Auffassungen von auſsen gegeben
werden. Wenn wir rechnen, so beobachten wir die Zah-
len, die sich aus der Rechnung ergeben. Alle Zahl-Vor-
stellungen sind aufgeregt; von diesen unabhängig bringt
die Rechnung selbst gewisse Zahlen zum Vorschein; so
wie aber die letztern herauskommen, treffen sie auf jene
schon wartenden Vorstellungen, theils hemmend, theils
sich mit ihnen verbindend.


Hier ist der innere Sinn vorhanden, wenn auch die
[215] appercipirte Vorstellung nicht immer als unsere Vor-
stellung Uns zugeeignet wird, wovon tiefer unten.


§. 126.

Eine Verschiedenheit jedoch zwischen der Apper-
ception der innern Wahrnehmung und der äuſsern dringt
sich auf, die uns den Weg zu versperren scheint.


Nämlich bey der äuſsern Wahrnehmung ist offenbar
diese selbst das Appercipirte; und die aus dem Innern
hervorkommende, mit ihr verschmelzende, Vorstellungs-
masse ist das Appercipirende. Die letztere ist die bey
weitem mächtigere; sie ist gebildet aus allen frühern Auf-
fassungen; damit kommt die neue Wahrnehmung auch
bey der gröſsten Stärke der momentanen Auffassung nicht
in Vergleich, zudem wegen der abnehmenden Empfäng-
lichkeit; — und deshalb muſs sie sich gefallen lassen,
hineingezogen zu werden in die schon vorhandenen Ver-
bindungen und Bewegungen der älteren Vorstellungen.


Aber bey der innern Wahrnehmung, wo beydes, das
Appercipirte und das Appercipirende, innerlich ist, kann
man wohl anstehen und fragen: welche Vorstellung wird
hier zugeeignet, und welche ist die zueignende?
Bey ein paar Vorstellungsreihen, wie wir oben, ohne
weiteren Unterschied, angenommen haben, muſs dieses
schlechterdings zweifelhaft bleiben; und daraus sehen wir,
daſs in denjenigen Fällen, wo sich deutlich dasjenige
offenbart, was man den innern Sinn zu nennen gewohnt
ist, noch eine nähere Bestimmung hinzukommen werde.


Wir haben hier Ursache, der Analogie mit der äu-
ſseren Wahrnehmung nachzugehen. Denn offenbar ist
der psychologische Begriff des inneren Sinnes ein
nachgebildeter Begriff, der die Aehnlichkeit gewisser
Thatsachen des Bewuſstseyns mit denen der äuſseren
Wahrnehmung ausdrücken soll. Die zuerst vom innern
Sinne redeten, erfuhren in sich selbst etwas, das sie nur
mit den Auffassungen durch Auge und Ohr und Getast,
zu vergleichen wuſsten. Eine Aehnlichkeit also muſs da
[216] seyn; und wir werden sie leicht finden, wenn wir uns
das Verhältniſs einer innern Vorstellungsreihe zu einer
andern analog denken mit dem Verhältnisse des äu-
ſserlich Wahrgenommenen zu den ihm von Innen her
entgegenkommenden Vorstellungsmassen.


Erstlich also: die Perception geht allemal voran vor
der Apperception; hingegen die letztere ist das nachblei-
bende. Sie gleicht dem langsam, aber sicher, fortgehen-
den Geschäffte der Assimilation. Dies zeigt sich ganz
klar bey der äuſsern Wahrnehmung. Das neu Aufge-
faſste drückt Anfangs auf die vorhandenen Vorstellun-
gen; es drängt sie gegen die mechanische Schwelle hin,
(§. 77.) so fern sie ihm entgegengesetzt sind; es hebt
die ihm gleichartigen vorhandenen Vorstellungen im er-
sten Anfange nur langsam hervor, (§. 82. 97.); allein
sehr bald wird dies Hervortreten lebhafter, (ebendaselbst);
dagegen wird die momentane Auffassung schwächer we-
gen der abnehmenden Empfänglichkeit, (§. 94.) und das
Aufgefaſste wird mehr und mehr gehemmt, wenn nicht
das ihm entgegenkommende Gleichartige es verstärkt und
aufrecht hält.


Zweytens: die von Innen her entgegenkommenden
Vorstellungsmassen sind die stärkeren, die dominirenden;
und die neu Aufgefaſste, wie schon oben bemerkt, muſs
sich gefallen lassen, von diesen an ihren Platz gestellt
zu werden.


Beydes wollen wir nun anwenden auf die innere
Wahrnehmung. Wir setzen also voraus: eine schwä-
chere, weniger tief
in dem ganzen Gedankenkreise
eingewurzelte Vorstellungsreihe, sey aufgeregt, und ent-
wickele sich nach ihrer Art im Bewuſstseyn; dabey sey
eine andere, stärkere, tiefer liegende, obgleich jetzt
mehr im Gleichgewichte mit sich selbst und mit den übri-
gen Vorstellungen ruhende Gedankenmasse, entweder
schon im Bewuſstseyn, oder sie werde eben durch irgend
welche Glieder jener vorigen geweckt, und in Bewegung
gebracht; (wobey man immer die Reproductionsgesetze
[217] der §§. 81—91. und besonders noch des §. 112. sich
gegenwärtig erhalten muſs.) Wiefern nun zwischen bey-
den Vorstellungsreihen etwas entgegengesetztes ist, folgt
Anfangs jene erstere, mehr aufgeregte, ihrem eigenen
Zuge; sie drängt die andre zurück, nämlich in Hinsicht
auf diejenigen Elemente, die gerade den Gegensatz bil-
den; eben dadurch aber setzt sie dieselbe in Spannung,
und nur um so kräftiger dringt nun die andre, ohnehin
aufgerufen durch das Gleichartige beyder, hervor; jetzt
formt sie die erstere nach sich, indem sie an den
gleichartigen, mit ihr verschmelzenden Elementen sie
gleichsam vesthält, in andern Puncten sie zurücktreibt,
und ihr dadurch eine Menge von passiven Bewegungen
ertheilt, bey denen dieselbe weder hoch ins Bewuſstseyn
emporsteigen, noch gegen die Schwelle herabsinken kann,
sondern still stehen muſs; während die stärkere sich nach
eigenen Gesetzen entwickelt, und von immer mehreren
Seiten an die erstere anschlägt.


So geschieht es, wenn wir einen plötzlichen Einfall,
den irgend ein verborgener psychologischer Mechanismus
hervortreibt, (man sehe zum Beyspiel §. 85. gegen das
Ende,) näher besehen, ihn wie ein Object fixiren, ihn
der Prüfung unterwerfen. So geschieht es, wenn ein
Affect anfängt sich abzukühlen, (vergl. §. 106.); wenn
nun die durch ihn zurückgedrängten Vorstellungen ihren
Platz wieder einnehmen, aber zugleich aus der schon
schwindenden Vorstellungsmasse des Affects die gleich-
artigen Elemente hervorhohlen, und damit die ganze
Masse in ihrer sinkenden Bewegung anhalten, sie wieder
vorführen, ohne sie doch ihrer eigenen Entwickelung zu
überlassen; woraus eine Menge von peinlichen Ge-
fühlen
entstehen kann, indem nur alle Elemente, die
zu der Vorstellungsmasse des Affects gehören, einge-
klemmt sind zwischen den andern der gleichen Masse (die
durch alle ihre Complicationen und Verschmelzungen ei-
nen beständigen Einfluſs auf einander auszuüben streben,)
und zwischen der überwiegenden Gewalt der wiederge-
[218] kehrten stärkeren Vorstellungen. Hierin liegt eine Be-
stätigung dessen, was oben über die Gefühle gesagt ist;
s. §. 104. — So geschieht es vollends bey der morali-
schen Selbstkritik, bey dem Rückblick auf ganze Reihen-
folgen von Gesinnungen und Handlungen. Die zu die-
sen Reihenfolgen gehörigen Vorstellungen erleiden schon
dadurch eine Gewalt, daſs sie als eine Zeitstrecke be-
trachtet und gemustert werden, welches geschieht, indem
die jetzt herrschende Vorstellungsmasse in verschiedene
Puncte jener Reihenfolgen zugleich eingreift, und da-
durch die in denselben wirksamen Reproductionsgesetze
auf mehr als Eine Weise in Thätigkeit setzt. (§. 115.)
Hiezu kommt nun noch das Widerstreben der nämlichen
Reihenfolgen wegen ihres Inhalts; die Anstrengungen von
Begierden und Affecten, welche in ihnen gegründet sind,
verbunden mit der Bändigung eben dieser Aufregungen
durch die Macht der sittlichen Ueberzeugungen, aus de-
nen ein ganzes Gemälde dessen hervorgeht, was hätte
gedacht, gewollt, und gethan werden sollen, während das
Gegentheil als wirklich geschehen der Erinnerung vor-
schwebt. In einem solchen Kampfe der Vorstellungsmas-
sen gegen einander, können die bitteren Schmerzen der
Reue nicht ausbleiben. Sie erzeugen sich daraus, daſs
die Vorstellungen von dem, was geschehn ist, in sehr
vielen Puncten verschmelzen müssen mit den Vorstellun-
gen von dem, was hätte geschehen sollen; daſs sie aber
dieser Verschmelzung nicht nachgeben können, weil sie
dabey aus ihren eigenen Complicationen und Verschmel-
zungen herausgerissen werden. Der Conflict, der hier
entsteht, ist schon dann schmerzlich fühlbar, wenn alte
angenommene Meinungen eine Berichtigung erleiden sol-
len; die sie so lange als immer möglich von sich stoſsen;
dergestalt, daſs eine solche Berichtigung selbst dann nicht
immer von Statten geht, wenn moralische Grundsätze
einer pflichtmäſsigen Wahrheitsliebe hinzukommen.


§. 127.

Jetzt können wir uns mit der Frage beschäfftigen,
[219] unter welchen Umständen die innere Wahrnehmung wirk-
lich erfolge, unter welchen andern sie ausbleibe.


Die gemeine Meinung unterscheidet bey der ausblei-
benden innern Wahrnehmung Fälle, in denen sie hätte
erfolgen können und sollen, von andern, in welchen sie
nicht sey zu verlangen gewesen, oder auch sich gar nicht
denken lasse. Z. B. Jemand übereilt sich, er erzählt,
was er verschweigen sollte, er lacht oder gähnt, wo da-
durch der Anstand verletzt wird. Hier hätte er die er-
sten Regungen bemerken, und ihnen widerstehen sollen.
Dasselbe kommt bey Affecten und Leidenschaften vor,
in dem Augenblicke, wo sie den Menschen seinen bes-
sern Gesinnungen entführen. — Dagegen erwartet man
das Aufmerken auf seine innern Zustände nicht von dem
schwachen und ungebildeten Menschen; nicht von dem
Kinde; am wenigsten von dem Thiere. Aber auch von
dem gebildeten Manne verlangt man es nicht in Zustän-
den der Begeisterung; man hält es nicht für möglich,
daſs ein Dichter und Erfinder über die Gedankenfolge
Rechenschaft ablege, die ihn allmählig bis auf den Punct
geführt habe, worauf er bewundert wird. Und man würde
Demjenigen nicht einmal glauben, der da vorgäbe, alle
Motive seiner Handlungen vollständig aufzählen und ab-
wägen, die Falten seines eignen Herzens gänzlich durch-
schauen zu können.


Vergleichen wir hiemit unsre zuvor aufgestellte Theo-
rie: so sehen wir, daſs Alles darauf ankomme, ob die
appercipirende Vorstellungsmasse vorhanden, ob sie stark
genug war, theils um der zu appercipirenden in ihrem
Steigen zu widerstehen, theils um dieselbe in ihrem Sin-
ken vestzuhalten, ob sie dazu genug Berührungspuncte
mit jener, genug Gleichartiges hatte *); endlich wie bald
sie in Wirksamkeit trat, wie schnell sie sich der andern
[220] bemächtigte, oder im Gegentheil, wie lange sie dieselbe
noch einer eignen freyen Bewegung überlieſs.


Die appercipirende Vorstellungsmasse kann nicht aus
neuen, noch in wenigen Verbindungen befindlichen Vor-
stellungen bestehn; nur in den vielfach zusammengeflos-
senen und durch einander verstärkten Totalkräften wird
man sie suchen dürfen. Also vorzüglich in den Begrif-
fen, (§. 121.) und in den daraus gebildeten Urtheilen,
die man auch Maximen nennen kann. Von dem ge-
bildeten Menschen verlangt man, daſs er Maximen habe;
man muthet ihm an, daſs diese stark genug, daſs sie
rasch und lebendig und in ihrem Wirken unermüdet
seyen, um ihm gegen das Unkluge, Unanständige, Un-
sittliche, was freylich in einem jeden Menschen sich re-
gen könne, zuverlässigen Schutz zu gewähren. Aber so
genau kennt man den psychologischen Mechanismus nicht,
um zu wissen, wie viel Kraft die Maximen haben müs-
sen, und wie wenig stark die Phantasien und Affecten
seyn müssen, wenn diese von jenen sollen schnell genug
wahrgenommen, und zum Gegenstande der Betrachtung
gemacht werden. Auf jeden Fall läſst sich zu jeder Stärke
der roheren Aufregungen eine andere Stärke der entge-
genwirkenden Vorstellungen hinzudenken, welche hinrei-
chen würde, um jene zu überflügeln, zu fixiren, zu be-
herrschen. Und dies sind also diejenigen inneren Wahr-
nehmungen, deren Möglichkeit man im allgemeinen vor-
aussetzt.


Hingegen bey einer schnellen, rasch vorübergehen-
den, sehr mannigfaltigen, sehr neuen Entwickelung von
Gedanken; oder auch bey sehr schwachen Vorstellungen,
welche von dem geringsten Drucke auf die Schwelle ge-
worfen werden: da ist die innere Wahrnehmung weder
möglich, noch auch wird sie für möglich gehalten. Hier-
über belehrt die allgemeine Erfahrung einen Jeden deut-
lich genug. Höchstens wird in solchen Fällen etwas ge-
fühlt, das sich nicht aussprechen läſst
. Das heiſst,
die andern, stärkeren, älteren, ruhiger liegenden Vorstel-
[221] lungsreihen, gerathen durch jene in eine ungewöhnliche
Bewegung; es verschmilzt mit ihnen etwas unbedeutend
Weniges von jenen; sie erhalten einen leichten Anflug,
und treten, mit diesem behaftet, höher ins Bewuſstseyn
hervor; aber die Verschmelzung isst zu schwach, als daſs
durch Hülfe derselben das schon Entflohene könnte voll-
ständiger zurückgerufen, und in allen seinen Theilen ei-
ner genauern Bestimmung, einer weitern Formung durch
die mächtigern Vorstellungsmassen unterworfen werden.


Diesen Fällen gegenüber stehn diejenigen, wo die
Schuld der mangelnden inneren Wahrnehmung an den
Vorstellungsmassen liegt, die die Apperception bewirken
sollten. In den früheren Kinderjahren sind dieselben noch
gar nicht gebildet; darum bleibt hier der einfachste, ro-
heste Mechanismus der kaum gewonnenen Vorstellungen
sich selbst überlassen, es ist kein Faden vorhanden, woran
die zufälligen Aufregungen derselben könnten aufgerichtet
werden. Erleidet der Geist einen Druck durch Organi-
sationsfehler: so werden die vorhandenen älteren und
mächtigern Massen in ihrer Wirksamkeit gegen die jün-
geren unaufhörlich gestört; dasselbe geschieht in Zustän-
den der Berauschung und der entflammten Leidenschaf-
ten. Sind endlich diese Massen im eigentlichsten Ver-
stande nur bloſse Massen, bloſse Anhäufungen ohne
innerliche Ausbildung und Anordnung, wie bey rohen
Menschen: so können sie unmöglich auf das ihnen im
Bewuſstseyn Begegnende eine solche Wirkung äuſsern,
wie dies bey dem gebildeten Manne sich ereignet.


Uebrigens ist nun klar, daſs die innere Wahrneh-
mung allemal geschieht, wann und in wie weit sie ge-
schehn kann; und daſs sie nur dann ausbleibt, wenn sie
aus irgend einem Grunde verhindert, oder durch gar kei-
nen Grund hervorgebracht war. Für die gesetzlosen Spiele
der sogenannten transscendentalen Freyheit ist hier
kein Platz; man kann aber schon ahnden, worauf das-
jenige beruht, was man mit Recht Freiheit des Willens,
der Aufmerksamkeit, der Besonnenheit, nennen mag;
[222] ein Gegenstand, zu welchem wir uns jetzt allmählig im-
mer näher werden hingeführt finden.


Unter den ferneren Bemerkungen, die sich uns dar-
bieten, ist die nächste ohne Zweifel die, daſs nicht bloſs
zwey Vorstellungsmassen, sondern auch drey oder mch-
rere einander im Bewuſstseyn begegnen, wecken, formen
und über einander herrschen können. So geschieht es,
daſs der Mensch nicht bloſs den letztvergangenen Gedan-
ken tadelt, sondern wiederum des Tadels spottet, und
den Spott bereut. — Ferner, unter den mehreren
Vorstellungsmassen, deren jede folgende die vorherge-
hende appercipirt, oder von denen wohl auch die dritte
sich die Verbindung oder den Widerstreit der ersten
und zweyten zu ihrem Gegenstande nimmt, muſs irgend
eine die letzte seyn; diese höchste appercipirende
wird nun selbst nicht wieder appercipirt
.


Weiter: blicken wir auf die früher betrachteten Ge-
genstände zurück; so findet sich keiner, der nicht nähere
Bestimmungen bey Gelegenheit der innern Wahrneh-
mung erhielte. Daſs Gefühle, Affecten, Begierden, durch
sie gemildert werden, ist schon bemerkt; offenbar aber
müssen auch dieselben dadurch vermehrt und mannigfal-
tiger werden. Welche Ausbildung, welche Ausgleichung
und Erhebung zu Normal-Gestalten (dergleichen die
Geometrie zu ihrem Gegenstande macht,) die räumlichen
Vorstellungen gewinnen, wenn die jüngeren durch die
früher erworbenen appercipirt werden: dies wäre eine sehr
interessante Untersuchung, wenn wir uns hier damit be-
fassen könnten. Daſs die Begriffe bey innerer Wahr-
nehmung gleichsam chemisch auf einander wirken, daſs
sie einander zersetzen, und in neue Verbindungen ein-
gehn müssen, daſs dabey Urtheile in Menge zum Vor-
schein kommen werden: dies alles läſst sich gleichsam in
der Ferne erkennen; es mag aber für künftige Untersu-
chungen dahingestellt bleiben.


Endlich müssen wir jetzt aussprechen, was sich ohne
Zweifel dem Leser längst aufgedrungen hat, nämlich daſs
[223] wir hier in der Nähe des Selbstbewuſstseyns uns
befinden. Die früherhin so mühsam gesuchte Ichheit
kann sich uns nicht lange mehr entziehen. Und wahr-
scheinlich werden die Meisten es sehr beschwerlich finden,
dieses Centrum, ja diese Seele bey den bisher erwähn-
ten Gegenständen zu entbehren. Sie werden fragen, ob
es denn Begriffe, Urtheile, und innere Wahrnehmungen
geben könne, ohne Selbstbewuſstseyn? Ob auch nur ir-
gend ein räumliches Object sich auffassen lasse ohne
Subject, dem es gegenüber stehe?


Die nun solchergestalt eine Menge leicht vorherzu-
sehender Einwendungen gegen unsre Darstellung im Sinne
tragen, diese mögen mit sich selbst überlegen, was denn
wohl für einen Begriff von dem Vorstellungs-Kreise der
Thiere, und insbesondere der edleren Thiere, sie sich
zu machen geneigt seyen? Wollen sie deuselben eine
vollkommene Ichheit zugestehn? dergleichen nach allen
äuſsern Zeichen sogar dem menschlichen Kinde eine ge-
raume Zeitlang fehlt! Aber räumliche und zeitliche Vor-
stellungen, die erstern in beträchtlicher Ausbildung, fer-
ner die roheren Anfänge von Begriffen, Urtheilen, und
selbst von inneren Wahrnehmungen, können den edlern
Thieren nicht abgesprochen werden. Daher gehört dies
alles in die Sphäre derjenigen allgemeineren Betrachtun-
gen, welchen dieser erste Abschnitt gewidmet war.


§. 128.

In den Kreis der Apperceptionen fällt auch ein gro-
ſser Theil dessen, was man Aufmerken nennt. Allein
hier müssen verschiedene Bedeutungen des Worts von
einander gesondert werden. Daſs die Aufmerksamkeit in
die willkührliche und unwillkührliche zerfällt; daſs die letz-
tere wiederum zum Theil von der Reproduction abhängt,
zum Theil auch hievon unabhängig, durch zwey positive
Ursachen, die Stärke des Eindrucks und die Empfäng-
lichkeit, und durch zwey negative, den Hemmungsgrad
und die Abweichung vom Gleichgewichte der frühern
Vorstellungen, bestimmt wird: dies muſs aus der Abhand-
[224] lung de attentionis mensura als bekannt vorausgesetzt
werden; deren gröſster Theil nur genauere Berechnung
des im §. 95. behandelten Problems ausmacht. Doch ei-
nen Hauptgedanken muſs ich daraus hier anführen.


Ursprünglich ist Aufmerksamkeit nichts anderes als
die Fähigkeit, einen Zuwachs des Vorstellens zu erzeu-
gen. Die Gröſse dieser Fähigkeit sey = X, so ist Xdt
der Zuwachs im Zeitlichen dt; aber eben derselbe ist
auch gleich dem Anwachs des Ueberschusses, um wel-
chen die Wahrnehmung in der Zeit t gröſser ist als de-
ren Gehemmtes, also = d(z—Z) in der Bedeutung des
§. 95. demnach aus Xdt = d(z—Z) folgt ,
und die Berechnung dieses veränderlichen Differential-
quotienten ist unmittelbar die Bestimmung der Aufmerk-
samkeit; welche meistens in einem nothwendigen Abneh-
men begriffen, doch auch in seltenen Fällen Anfangs eine
kleine Zeitlang wachsend befunden wird; wie in der ge-
nannten Abhandlung ausführlich ist dargethan worden.


Auf diesen Begriff der, von den primären Ursa-
chen bestimmten, Aufmerksamkeit wird aber derjenige nur
mit Mühe kommen, der sie auf analytischem Wege un-
tersucht. Er hat erstlich zweyerley abzusondern und bey
Seite zu setzen, nämlich den Entschluſs, aufzumerken,
welcher der Auffassung vorangeht, und das innerliche
Wiederhohlen des Gemerkten, (das Memoriren,) wo-
durch die schon geschehene Auffassung eingeprägt wird.
Dann muſs noch abgeschieden werden das Merken aus
Begierde (zum Theil bloſser Neugierde), und der Zu-
stand gereizter Empfindlichkeit, mit dem öfter eine
falsche Aufmerksamkeit des Erschleichens und Misverste-
hens, als die wahre Sammlung des Gegebenen, verbun-
den zu seyn pflegt. Endlich bleibt nun die bloſs apper-
cipirende
Aufmerksamkeit übrig, von der wir hier haupt-
sächlich zu reden haben; würde aber auch die Apper-
ception hinweggedacht, dann erst käme jene zuvor er-
wähnte, bloſs von den vier primären Ursachen abhän-
gende
[225] gende Aufmerksamkeit zum Vorschein. Man
sieht, daſs wir hier mit einem sehr zusammengesetzten
Gegenstande zu thun haben.


Das appercipirende Merken, welches Reproduction ei-
ner älteren Vorstellungsmasse voraussetzt, ist am bekann-
testen und auffallendsten bey den Meistern jeder Kunst
und Wissenschaft, die sogleich den gegen die Regeln
derselben begangenen Fehler spüren. Wie schneidet ein
Sprachschnitzer ins Ohr des Puristen! Wie beleidigt ein
Miston den Musiker! oder ein Verstoſs gegen die Höf-
lichkeit den Weltmann! Wie schnell sind die Fortschritte
in einer Wissenschaft, deren Anfangsgründe so scharf
eingeprägt waren, daſs sie sich mit gröſster Leichtigkeit
und Bestimmtheit reproduciren lassen; wie langsam und
unsicher hingegen werden die Anfänge selbst gelernt,
wenn nicht die noch einfachern Elementar-Vorstellungen
gehörig dazu prädisponirt waren. — Das Merken durch
Apperception zeigt sich schon bey kleinen Kindern sehr
deutlich, wenn sie in der ihnen noch unverständlichen
Rede der Erwachsenen die einzelnen bekannten Worte
plötzlich auffassen und nachlallen; ja schon bey dem
Hunde, der den Kopf umwendet und uns ansieht, indem
wir von ihm sprechen und seinen Namen nennen. Nicht
weit davon entfernt ist das Talent zerstreuter Schulkna-
ben während der Lehrstunde, den Augenblick wahrzuneh-
men, wo ein Geschichtchen erzählt wird; ich erinnere
mich an Schulklassen, worin während eines wenig inter-
essanten Unterrichts bey schlaffer Disciplin beständig
ein summendes Plaudern zu hören war, das jedesmal eine
Pause machte, so lange die Anekdoten dauerten. Wie
konnten die Knaben, da sie gar nichts zu hören schie-
nen, den Anfang der Erzählung ergreifen? Ohne Zwei-
fel hatten die Meisten stets wenigstens Etwas von dem
Lehrvortrage vernommen; es fehlte aber demselben die
Anknüpfung an frühere Kenntnisse und Beschäfftigungen,
daher fielen die einzelnen Worte des Lehrers, so wie
II. P
[226] sie gesprochen wurden, der Hemmung anheim, und die
Auffassungen blieben unverschmolzen; sobald hingegen
alte Vorstellungen erwachten, deren starke Verbindung
Reihen hervorzurufen im Begriff war, mit welchen sich
das hinzukommende Neue leicht vereinigte, entstand eine
Totalkraft aus Altem und Neuem, wodurch die zerstreu-
enden Gedanken wenigstens auf die mechanische Schwelle
getrieben wurden. Ich will mich hier nicht bey pädago-
gischen Dingen aufhalten; sonst wäre leicht zu zeigen,
wie nothwendig es für die Kunst des Unterrichts ist, alle
Parthien desselben, — aber besonders die gröſsern Um-
risse, — dergestalt im Voraus anzuordnen, daſs die Mög-
lichkeit
des Merkens auf das Nachfolgende aus den
früher gewonnenen Kenntnissen hervor gehe; und daſs
diese Möglichkeit, so weit sie vorhanden ist, stets aufs
Vortheilhafteste benutzt werde. (Diejenigen, welche sich
noch heute mit der höchst thörichten Streitigkeit zwi-
schen Humanismus und Philanthropinismus tragen, würden
davon ohnehin nichts verstehn.) Keineswegs bloſs für
den Erzieher, sondern in einer viel weitern Sphäre gilt
die Erinnerung: man müsse vor allen Dingen überlegen,
daſs Jeder, während er einem Vortrage zuhört, in der-
selben Zeit irgend etwas Anderes denken würde, wofern
der Vortrag nicht wäre; denn dieses Andere bildet die
hemmende Kraft, welche muſs überwunden werden, wenn
das Merken möglich seyn soll. Das Umgekehrte zeigt
sich dann, wann wir an den Abschnitt eines interessan-
ten Buches gekommen sind, und uns noch für eine kleine
Weile in dem Eindruck so gefangen fühlen, daſs wir zu
eigenen Betrachtungen nicht kommen können. Die hem-
mende Kraft ist hier völlig verschwunden, das anziehende
Buch hat durch lebendige Darstellung (besonders durch
das Poëtisch-Anschauliche eines Homer, — oder eines
Walter Scott,) unsere Gedankenreihen so entfaltet,
so fortgelenkt, wie sie, ihrem innern Triebe nach, sich
zu entwickeln bereit waren; dann ihren Strom, wenn er
stark genug aufgeregt war, durch Hindernisse verdichtet,
[227] (ein Punct, wovon anderwärts *) die Rede seyn wird,)
um ihn theilweise wieder frey zu lassen, und ihn mit hin-
reichender Energie nach verschiedenen Richtungen zu
spalten, zu verbreiten, nach mancherley Wechseln wie-
der zu sammeln und in einem geräumigen Bette fortflie-
ſsen zu lassen. Fortwährend ist hier die Apperception
thätig gewesen; immer hat das Neue gepaſst zum Frühe-
ren, immer war es darauf eingerichtet, die aufgeregten
Fragen zu beantworten **), um uns in neue Fragen zu
verwickeln; nie war das Eine gleichgültig für das Andere;
und indem selbst anscheinende Kleinigkeiten späterhin die
Anknüpfungspuncte für wichtige Folgen abgaben, gewann
dadurch die nämliche Vorstellungsmasse eine neue Wir-
kungsart, und eine andre Form ihrer Verwebung, um sich
das Hinzukommende in vielen Puncten zugleich anzueig-
nen. — Daſs nun eine solche Apperception nicht bloſs
eine äuſsere seyn kann, sondern auch eine innere: be-
darf nach dem, was zuvor über den innern Sinn gesagt
worden, keiner Erläuterung mehr. Ohne Zweifel muſste
sie bey dem Dichter früher eine innere seyn, ehe sie für
den Leser eine äuſsere werden konnte. Hätte nicht der
Dichter seine zuströmenden Gedanken appercipirt, so
hätte er nicht wählen, verwerfen, nicht ordnen und aus-
bilden können, und der Leser würde in ihm nur den ge-
schmacklosen Phantasten erblicken.


Die vorhergehenden Capitel wiesen hin auf das All-
gemeine, was der psychologische Mechanismus schon
bloſs darum aus den Empfindungen bereitet, weil die ver-
schiedenen Klassen derselben in der Einen Seele mit
P 2
[228] ihren Gegensätzen successiv so zusammentreffen, wie die
Ordnung der äuſsern Natur es mit sich bringt. Daher
Raum, Zeit, Zahlen, Kategorien; die nämlichen für Alle;
selbst wenn die Sinne nicht die nämlichen wären. Darin
treffen Menschheit und Thierheit zusammen, und der
Unterschied liegt bloſs in dem Mehr oder Weniger der
Entwickelung; die bey unsern bekannten Thieren auf der
Erde allerdings durch mancherley Nebenumstände gehin-
dert ist, wovon man den Begriff des thierischen Daseyns
im Allgemeinen wohl befreyen könnte, ohne gerade das
eigenthümliche Gebiet der menschlichen Cultur zu be-
rühren.


Das Gegenstück fängt an sich jetzt zu offenbaren.
Zwar nicht alle innere Apperception können wir mit
Grunde den Thieren absprechen. Aber daſs wir uns hier
in einer ganz andern Sphäre befinden, das verräth sich
schon durch das minder Bestimmte der Resultate, die
wir erhalten. Die Apperception richtet sich nach den
älteren, den früher erworbenen und seit längerer Zeit ge-
bildeten Vorstellungsmassen in ihrem Verhältniſs zu den
späteren, minder starken, minder verschmolzenen, welche
eben darum zu jenen in einem Verhältnisse der Abhän-
gigkeit stehen. Wer kann denn sagen, wie diese ver-
schiedenen Vorstellungsmassen eigentlich beschaffen seyen?
Und wie sie dem gemäſs wirken? Das Allgemeinste hie-
von wird im nächsten Capitel dargestellt werden. Aber
die zufälligsten Umstände des äuſsern Lebens, in Ver-
bindung mit der Organisation, können und müssen dar-
auf einflieſsen. Die Erfahrung bestätigt das. Sie zeigt
uns in dem Merken, dem Appercipiren der Menschen
die gröſsten Verschiedenheiten. Einige Menschen sehen
und hören Alles, was in ihre Umgebung kommt; man
darf sie nur rufen, wenn etwas verloren ist, so finden sie
es; aber sie werden gefürchtet von denen, die etwas zu
verbergen haben. Sehr sichtbar kommt nicht bloſs die
Beschaffenheit und [Verknüpfung] der appercipirenden Vor-
stellungsmassen hiebey in Betracht, sondern auch ganz
[229] besonders die Frage, wieviel davon zugleich über der
Schwelle des Bewuſstseyns sich erhalten kann. Physio-
logische Hemmung, reizbares Temperament, Vertiefung
in gewisse Fragen oder Sorgen, die fortdauernd den Kopf
einnehmen, sind gegenwirkende Kräfte, welche die Sphäre
der Apperception enger beschränken. — Wir sehn hier
ein wichtiges Princip der Individualität. Sogar der
Einzelne ist in diesem Puncte von sich selbst verschie-
den, nach Alter und Geschlecht, nach Lagen und Lau-
nen; sein Merken und Nicht-Merken, sammt Allem was
davon abhängt, bleibt ihm Zeitlebens ein Räthsel. Für
den aufmerksamen Erzieher wird dies Räthsel noch bey
weitem gröſser. Die offenen Augen und Ohren der einen,
der Stumpfsinn der andern, in Allem was Beobachtung
erfordert, bey gleicher Behandlung unter gleichen Um-
ständen, — dieser Unterschied ist eine unläugbare That-
sache, die den Erfolg der sorgfältigsten Behandlung im
hohen Grade ungewiſs macht.


Faſst man die Menschheit überhaupt ins Auge: so
verschwinden diese Unterschiede als unbedeutend gegen
den Abstand des Menschen und des Thiers. Die Mensch-
heit ist ein Individuum nach vergröſsertem Maaſsstabe.
Die Stärke und Thätigkeit der Reflexion, (einer nähern
Bestimmung der Apperception,) ist der Sitz, wiewohl nicht
der erste Grund, ihrer geistigen Ueberlegenheit.


[[230]]

Zweyter Abschnitt.
Von der menschlichen Ausbildung
insbesondere.


Erstes Capitel.
Von den Hülfsmitteln der Ausbildung, welche
dem Menschen von Natur eigen sind; und
von deren Erfolgen, den Kategorien der
innern Apperception.


§. 129.

Weder beweisen noch auch nur wahrscheinlich machen
läſst sich die Hypothese, daſs die menschlichen Seelen
eine eigene Art von Seelen ausmachen, in deren Be-
schaffenheit ursprünglich die menschliche Ausbildung vor-
bestimmt sey. Vollends eine Mehrheit von Anlagen in
dem einfachen Wesen der Seele, ist eine metaphysische
Ungereimtheit; wie wir mehrmals erinnert haben.


Die analytische Untersuchung über das Eigenthüm-
lich-Menschliche muſs von solchen Thatsachen ausgehn,
die zu den unbezweifelten Grund-Charakteren der Mensch-
heit gehören. Sie muſs zuerst die nächsten und offen-
barsten Folgen derselben hervorheben, und alsdann zu-
sehen, welche nähere Bestimmungen sich aus deren Ver-
bindung mit der allgemeinen Beschaffenheit des geistigen
Lebens ergeben.


[231]

Der Mensch hat Hände; er hat Sprache. Er
durchlebt eine lange, hülflose Kindheit; und nur da,
wo diese Kindheit von erwachsenen Menschen gepflegt
ist, sieht man ihn beträchtlich über das Thier sich erhe-
ben. Von der Gesellschaft, in welcher er heranwächst,
ist er äuſserst abhängig in Ansehung des Grades von
Bildung, den er erreicht.


Das Wesentliche ist hier die Masse von Vorstellun-
gen, und die Verarbeitung derselben, welche aus den
angezeigten Eigenthümlichkeiten des Menschen entsprin-
gen muſs. Die Betrachtungen, welche sich darüber an-
stellen lassen, sind bekannt genug; und wir dürfen ihrer
nur erwähnen, um sie mit unsern frühern Untersuchun-
gen in Verbindung zu setzen.


Beachtet man ein junges Thier, zu der Zeit, wo es
spielt, wie wir sagen, oder besser, wo es die äuſsern
Gegenstände nach seiner Art betastet, sie hin und her
wirft, und ihnen die mannigfaltigen Erscheinungen, welche
sie darbieten können, abzugewinnen sucht: dann muſs es
auffallen, wie sehr dem Thiere die Hände fehlen, schon
bloſs in so fern dadurch die Dinge genöthigt werden, ihre
sinnlichen Kennzeichen zu offenbaren. Das Thier kann
nichts eigentlich greifen, nichts bequem zur Anschauung
hinstellen; es erfährt nichts von allen dem, was durch
den Gebrauch der Hände das menschliche Kind aus den
Versuchen lernt, die es mit den Dingen vornimmt.
Deshalb bleibt der Vorstellungskreis des Thiers schon in
seinen allerersten Anfängen hinter dem menschlichen zu-
rück. Hier macht der Elephant mit seinem Rüssel, so
wie der Affe mit seinen, der Hand ähnlichen Werkzeu-
gen, gewissermaaſsen eine Ausnahme, die offenbar ihre
bedeutenden Folgen hat.


Dabey müssen wir die Frage erheben, ob das Thier
so mannigfaltiger Sensationen durch die gleichen Sinne
fähig sey wie der Mensch? Der scharfe Geruch mancher
Thiere scheint dennoch das Wohlriechende nicht zu ken-
nen. Auch das Bunte der Farben macht auf sie nicht
[232] den Eindruck, den man erwarten müſste, wenn sie die
Farben wie wir unterschieden. Da es sogar Menschen
giebt, die nach Kants Ausdruck alles gleichsam im Kup-
ferstich sehen *), so ist leicht zu erwarten, daſs wenig-
stens vielen Thiergattungen keine vollkommnere Sinnes-
empfindung zugetheilt seyn möge; — wodurch wiederum
der ursprüngliche Vorrath an Elementar-Vorstellungen
eine sehr bedeutende Verminderung erleidet.


Vereinigt sich nun beym Menschen die Hand mit
den für mannigfaltigere Eindrücke empfänglichen Sinnen,
um an jedem Dinge eine bedeutend gröſsere Zahl von
Merkmalen ursprünglich aufzufassen: so ist doch noch
wichtiger das Handeln, welches von der Hand den Na-
men wie die Möglichkeit erhalten hat.


Mit denjenigen Gefühlen, die unmittelbar aus den
Bewegungen und Beugungen der Hand und ihrer Finger
entstehen, compliciren sich die Vorstellungsreihen, wo-
durch die Veränderungen der durch jene Bewegungen
behandelten Gegenstände aufgefaſst werden. Aus den Com-
plicationen entstehen Reproductionsgesetze, nach welchen
wiederum rückwärts auch die Vorstellungsreihen, durch wel-
che eine ähnliche Veränderung der Gegenstände gedacht
oder begehrt wird, die zugehörigen Gefühle hervorrufen.
Hieraus erklärt sich das Handeln, wenn wir noch
den physiologischen Umstand hinzunehmen, daſs mit dem
Wieder-Erwachen der Gefühle, welche früherhin durch
die Bewegung der Hand hervorgebracht wurden, auch
ein Austoſs gegeben ist, der nun rückwärts dieselbe Be-
wegung hervorbringt. Was diese Verbindung des Lei-
bes und der Seele anlangt, so wird darüber im folgenden
Abschnitte etwas gesagt werden. Hier haben wir es noch
bloſs mit den Verbindungen der Vorstellungen unter ein-
ander zu thun.


Das eben bemerkte gilt nun zwar von allen beweg-
lichen und zugleich empfindlichen Theilen des Leibes,
[233] von allen Gliedmaaſsen, der Thiere sowohl als der Men-
schen; und es erklärt sich daraus jede Art des leiblichen
Handelns, auch ohne Hände. Aber die menschliche Hand,
durch ihre ausgezeichnete Geschicklichkeit, bewaffnet die
Strebungen und Begehrungen des Geistes ungleich voll-
ständiger, ungleich erfolgreicher, als dies bey den Thier-
geschlechtern der Fall seyn kann. Die Hand macht aus
jeder körperlichen Masse einen Diener und Verkündiger
des Willens; ja sie macht aus einem Klotze vermittelst
eines andern Klotzes durch Schlagen, Stoſsen, Reiben,
endlich ein passendes Werkzeug für bestimmte Absich-
ten; aus den ersten Werkzeugen werden andre kunstrei-
chere; und aus der Zusammensetzung der Werkzeuge
werden Maschinen. Auf diesem Wege bilden sich zahl-
lose Beobachtungen und Erfahrungen, die den Gedan-
kenkreis bereichern; und beynahe an jede Begehrung
knüpft sich die Vorstellung eines Mittels, wodurch die-
selbe könnte befriedigt werden.


§. 130.

Das Sprechen ist ursprünglich eine Art des Handelns.
Anfangs schreyet das Kind, anstatt zu sprechen; und be-
sonders bey eigensinnigen Kindern, deren Wünsche auf
ihr Geschrey mehrmals sind befriedigt worden, sieht man
deutlich, wie die Begierde das Schreyen in Dienst nimmt,
und dasselbe gerade wie ein Werkzeug gebraucht. Auf
ganz ähnliche Weise werden späterhin die articulirten
Laute angewendet, welche mit den Vorstellungen der
Gegenstände und ihrer Veränderungen sich compliciren.
Denn es bedarf kaum einer Erinnerung, daſs die Worte
der Muttersprache mit ihren Bedeutungen vollkommene
Complexionen
bilden; deren Bewegungen aus den da-
hin gehörigen Gesetzen der Statik und Mechanik des
Geistes zu erklären sind.


Die Hemmungen unter Complexionen hängen be-
kanntlich von den Hemmungen unter ihren Elementen ab.
(§. 58. u. s. w.) Also müssen auch die Hemmungen der Vor-
stellungen von Dingen bedeutende Modificationen anneh-
[234] men wegen der Hemmung unter den Vorstellungen der blo-
ſsen Worte. Und was das auffallendste ist: auch solche
Vorstellungen, die einander für sich allein nicht hemmen,
wie schwarz und süſs, oder wie ein Ton und ein Geruch,
gerathen doch in eine Hemmung durch die an sie ge-
knüpften Zeichen; indem sowohl die Vocale als die Con-
sonanten der zugehörigen Benennungen, ja endlich die
dazu nöthigen Schriftzüge, unter einander entgegengesetzt
sind. — Noch mehr: die ganzen Massen und Reihen
von Vorstellungen, welche auf einmal, oder doch mit
mancherley gleichzeitigen Bewegungen ins Bewuſstseyn
treten, können nicht eben so zum Worte kommen; sie
müssen sich, um ausgesprochen zu werden, in eine Rei-
henfolge ausstrecken; und sie können, nachdem sie aus-
gesprochen sind, als eine Zeitreihe überschaut werden. —
Das Sprechen ist eine Arbeit. Wie diese von einer
Vorstellungsmasse abhängt, in welcher der Begriff des
Zweckes herrscht und beharrt, während die Vorstellun-
gen der successiv anzuwendenden Mittel in einer bestimm-
ten Folge ablaufen: so auch muſs der ganze auszuspre-
chende Gedanke dem Sprechenden beständig vorschwe-
ben, doch so, daſs die hineingehörigen Theilvorstellungen,
und besonders die der hervorzubringenden Sprachlaute, sich
in einer regelmäſsigen Succession entwickeln. Dies muſs
mannigfaltigen Einfluſs auf die Gedanken selbst haben.


Doch die wichtigste Wirkung erfolgt erst da, wo
die Sprache zum Gespräch wird; sie erfolgt in der Ge-
sellschaft
.


Durch das Gespräch kann nämlich eine anhal-
tende und zusammenhängende Beschäfftigung
des Geistes mit dem Abwesenden und Vergan-
genen
entstehen. Wenn Einer die zufällige Erinnerung
an ein Abwesendes ausspricht: so erwachen in dem An-
dern Associationen, welche, abermals ausgesprochen, dem
Ersteren zur Verlängerung des Fadens Gelegenheit ge-
ben, an welchem sie von nun an beyde fortspinnen. Die
hörbaren Worte, und die Gegenwart einer mitredenden
[235] Person, leihen auch dem Abwesenden eine Art von Ge-
genwart; und das Abweichende der zusammenstoſsenden
Vorstellungsarten nöthigen einen Jeden zu einer neuen
Bearbeitung der eigenen Gedanken.


Hiebey leistet sowohl das Aussprechen und Heraus-
sagen, als die Absicht, dem Andern etwas mitzutheilen,
wesentliche Dienste.


In dem Augenblick des Aussprechens hebt sich die
Vorstellung gerade dessen, was eben jetzt ausgesprochen
wird, zu einer Höhe im Bewuſstseyn, auf der sie allein
steht, indem sie für diesen Augenblick allem Uebrigen
den Zugang zum Worte versperrt. Auf dieser Höhe
kann sie sich nicht nur nicht halten, sondern sie sinkt
auch unfehlbar um so tiefer zurück, je mehr Gewalt sie
gegen die übrigen Vorstellungen ausgeübt, oder je mehr
sie nach unserm gewohnten Ausdrucke, dieselben in
Spannung gesetzt hat. Nach ihr erhebt sich die jezt am
meisten gespannte, oder durch den herrschenden Haupt-
gedanken hervorgetriebene, nun um so freyer, da das
vorige Steigen jener, sie nicht mehr hindert. So kommt
nach und nach an alle die Reihe, ausgesprochen zu wer-
den. Und die ganze Reihe wird Gegenstand der innern
Wahrnehmung, indem die ausgesprochenen Worte und
der Sinn, den sie als Worte geben können, gleichsam
wieder aufgefangen wird von der nämlichen Vorstellungs-
masse, welche in diesen Worten, passender oder un-
passender, vollständiger oder unvollständiger, ihren Aus-
druck gefunden hat.


Die Absicht, dem Andern etwas mitzutheilen, bringt
vollends Ordnung in die Rede, und unterscheidet sie von
zerstreut ausgestoſsenen Lauten. Gerade so, wie über-
haupt jede Arbeit dadurch in einen regelmäſsig fortlau-
fenden Zug gebracht wird, daſs in jedem Augenblick das
Schon-Vollführte unterschieden wird von dem noch zu
Vollbringenden. Indessen wegen der Voraussetzung, daſs
der Andere, dem etwas mitgetheilt werden soll, schon
als Person aufgefaſst sey, können wir an diesem
[236] Orte noch nicht deutlich entwickeln was dabey vorgche;
vielmehr gehört der Gegenstand zum Theil in das fol-
gende Capitel.


Wie äuſserst folgenreich aber die Verweilung bey
dem Abwesenden und Vergangenen, wovon gespro-
chen wird, ausfallen müsse, dies ist nicht schwer einzu-
sehn. Dadurch wird die Last der unmittelbaren sinnli-
chen Gegenwart, welche ohne Zweifel das Thier fort-
dauernd drückt, hinweggehoben; dadurch werden die älte-
ren Vorstellungen in sehr viele neue Verbindungen ge-
bracht, und eben durch diese Verbindungen in ungleich
stärkere Totalkräfte umgewandelt. Man erinnere sich
hiebey der Grundsätze über Verschmelzungen und Com-
plicationen; und auch des Umstandes, daſs zugleich stei-
gende Vorstellungen inniger verschmelzen, als zugleich
sinkende; (§. 93.). Dieses nun ist ohne Zweifel die we-
sentlichste Grundlage der eigentlich menschlichen Ausbil-
dung, daſs es für den Menschen eine innere Welt
giebt, die, wenn sie gleich Anfangs selbst nur äuſsere
Dinge vorstellt, doch dem eben jetzt sinnlich Gegen-
wärtigen widersteht; so daſs der Mensch aus dem Strome
der Zeit einen Fuſs herauszusetzen, und den Augenblick
zu vergessen vermag, dessen Eindrücke sonst nur abge-
rissene Reminiscenzen aus der Vergangenheit zugelassen,
aber eben durch das Abreiſsen die Vergangenheit selbst
zerstört haben würden.


Oder giebt es für das Thier eine Vergangenheit?
Kann es die jetzige Zeit unbemerkt flieſsen lassen, um
sich in der früheren einen Standpunct zu wählen, von
wo es vorwärts und rückwärts schaue? — Besäſse das
Thier eine Vergangenheit, so hätte es auch eine Zukunft.
Denn es ist leicht zu sehen, daſs nur die einmal gebil-
dete Vorstellung von einer längern Zeitstrecke, auf ver-
schiedene Zeitpuncte als auf Anfangspuncte darf übertra-
gen werden, um auch über den gegenwärtigen fortgescho-
ben, die Aussicht in die Zukunft, mit allen ihren Erwar-
[237] tungen, Hoffnungen, Befürchtungen, in eine unbestimmte
Form hinaus zu eröffnen.


Das Gespräch kann die Vorstellungen des Vergan-
genen und Abwesenden vesthalten, stärken, ausbilden;
aber ob dieser Keim der Menschheit sich entwickeln solle
oder nicht: das hängt von tausend Nebenumständen ab.
Erinnert man sich der wilden Nationen, z. B. der Busch-
männer an der Südspitze von Afrika, so sicht man wohl,
daſs im Menschen nicht allemal die Menschheit gedeiht.


Doch hat die Natur noch eine wichtige Veranstaltung
getroffen, welche hiebey dem Menschen weit wohlthätiger
wird als dem Thiere. Sie beschäfftigt durchgängig das
Erwachsne mit den Bedürfnissen des Neugebornen; aber
den Menschen zeichnet sie aus durch seine Nacktheit,
seine Schwäche und Unbehülflichkeit, durch die Lang-
samkeit seiner Entwickelung. So spannt sie die Sorgfalt
der Mutter, und bey der geringsten Bildung auch des
Vaters, weit höher; sie hält Kinder und Eltern weit län-
ger zusammen; sie nöthigt das menschliche Geschlecht
zu einem mehr geselligen Leben, und zu gegenseitigen
Diensten.


In der langen Kindheit sammeln sich überdies die
Vorstellungen weit mehr an, bevor aus dem Handeln in
der Auſsenwelt eine Routine entsteht, an die sie fortan
gefesselt werden könnten. Das menschliche Kind weiſs
viel mehr als das Thier, wann beyde in Hinsicht der
Versuche mit ihren Gliedmaaſsen, auf dem gleichen Puncte
stehn. Daher sind die Versuche des ersteren weit man-
nigfaltiger und belehrender. Sie dauern auch länger fort,
je weniger sie Anfangs der Bedürftigkeit entsprechen, der
sie abhelfen sollten.


In den gebildeten Zuständen endlich macht allein
die lange Kindheit eine regelmäſsige Erziehung möglich.
Hieraus erklärt es sich groſsentheils, warum gerade die
schönsten Länder der Erde, bey abgekürzter Kindheit,
weniger menschliche Bildung erzeugen.


[238]

Doch genug von Betrachtungen, die jeder Unterrich-
tete nach Belieben verlängern kann. Fragt man nach
einem specifischen Charakter der Menschheit, der sie
nicht körperlich, sondern in Ansehung des geistigen
Lebens, ursprünglich und allgemein auszeichne; und der
nicht auf einem Mehr oder Weniger beruhe: so gestehe
ich, daſs ich einen solchen nicht kenne, und für nicht
vorhanden halte. Ich berufe mich dabey nicht auf die
Unmöglichkeit, in eine Thierseele hineinzuschauen; ob-
gleich manches darin vorgehn kann, das wir nicht einmal
ahnden; und obgleich vieles sehr wahrscheinlich darin
vorgeht, was diejenigen gern läugnen möchten, die den
Menschen durch eine scharfe Linie meinen vom Thiere
absondern zu müssen. Ich berufe mich auch nicht auf
die groſsen Verschiedenheiten der zahlreichen Thierge-
schlechter unter sich; indem ich vielmehr gern einräume,
daſs hier nur von den wenigen edlern Thiergattungen die
Rede seyn könne, welche dem Menschen zunächst ste-
hen; weil ein Unterschied, der über sie erhebt, ohne
Zweifel vor dem ganzen Thierreiche Auszeichnung giebt.
Wohl aber besorge ich, daſs man die groſsen Unter-
schiede, die aus dem Mehr und Weniger, in Rücksicht
des Vorraths und der Verbindung der Vorstellungen,
entstehn müssen, niemals ernstlich genug erwogen habe;
und zudem bin ich völlig überzeugt, daſs man viel zu
voreilig das Selbstbewuſstseyn, die sittlichen Gesetze, die
Begriffe vom Unendlichen und von der Gottheit, nebst
andern ähnlichen, für etwas ursprüngliches, nicht weiter
abzuleitendes gehalten, und dadurch die Speculation nicht
gefördert, sondern beschränkt und gehindert habe, ihr
Werk gehörig durchzuführen. Denn es ist reiner Ver-
lust für die Speculation, wenn man das zu Erklärende
absolut hinstellt, und es der Frage, warum es also sey,
und wie es mit Anderem zusammenhänge, ohne weiteres
durch die Behauptung entzieht, es sey nun einmal so
und nicht anders
. — Nicht einmal der am Ende des
vorigen §. angegebene Charakter, der Blick in die Zu-
[239] kunft, ist für den Menschen schlechthin unterscheidend.
Denn jedes Thier wird schon durch seine Begierden we-
nigstens um etwas über den gegenwärtigen Moment hin-
ausgeführt; da die Befriedigung der Begierde nothwendi-
gerweise als etwas künftiges vorgestellt, wenn gleich kei-
nesweges durch einen abgesonderten Begriff des
Künftigen, gedacht werden muſs. — Noch weniger aber
können jene Begriffe vom Ich, vom Unendlichen, u. s. w.
die Menschheit allgemein charakterisiren. Das Kind in
seiner frühesten Periode hat sie nicht; der Wilde kommt
ihnen vielleicht nicht so nahe als manches Thier. Aber,
sagt man, die Anlage dazu ist doch vorhanden! Das
sagt man, nämlich in der Hoffnung, die Metaphysik
werde so geduldig seyn, sich die ursprünglichen Anlagen
gefallen zu lassen. Wenn sie nun nicht so geduldig ist,
so wird man es schon darauf müssen ankommen lassen,
ob vielleicht eine fortschreitende Psychologie dies alles
als Producte einer Veredelung erklären könne, zu welcher
der Mensch wegen der vorzüglichen Hülfsmittel gelangt,
die von der Gunst seines höchsten Bildners ihm sind zu-
getheilt worden.


Anmerkung.

Es ist eine herrschende Liebhaberey, die Vorzüge
des Menschen vor den Thieren nicht bloſs zu bemerken
und anzuerkennen, sondern zu bewundern und zu über-
treiben. Wie man früher die Rasse der europäischen
Menschen anpries, und andre Rassen, als seyen sie zu
unedel, aus der Gemeinschaft des gleichen Ursprungs mit
jenen ausschloſs, ohne dazu hinreichende Gründe zu ha-
ben *): so thut man jetzt so spröde gegen die Thiere,
als ob die Psychologie (nicht etwan wegen unserer sub-
jectiven Beschränktheit des Wissens, sondern an sich,
[240] und in der Wahrheit,) nichts anderes wäre als Anthro-
pologie, und als wenn z. B. die Aufmerksamkeit des
Jagdhundes, die Fähigkeit des Pferdes, den rechten Weg
zu finden, wenn der Reiter ihn verloren hat, lauter Dinge
wären, die sich von selbst verstünden, oder die man
wohl den Physiologen überlassen könne. Ich ersuche
den Leser, bloſs zur Probe den §. 128. in seinen Bezie-
hungen auf die Mechanik des Geistes zu durchdenken;
und dann nach diesem geringen Maaſsstabe, einmal die
Gröſse der Unwissenheit, wenn auch nur obenhin, zu
schätzen, worin sich Diejenigen befinden, die über die
Thiere so leicht hinwegkommen!


Diese Unwissenheit, die schon anfängt beym Begriffe
der rohen Materie, und alsdann fortwächst durch alle
Stufen bis zum Menschen hinauf, erzeugt das Vornehm-
thun des Menschen; und zugleich die groſse Bewunde-
rung, womit er sich selbst deshalb anstaunt, weil ihm zur
Erklärung seines eignen Daseyns alle Vorbegriffe fehlen.


Insbesondere ist bey einigen Physiologen, wie es
scheint, eine Neigung vorhanden, das, was sie ander-
wärts verderben, hier wieder gut zu machen. In ihrer
Einbildung ist das Gehirnleben ein geistiges Leben; da
man ihnen nun wegen ihres Materialismus gerechte Vor-
würfe macht, so suchen sie sich herauszuhelfen, indem
sie das menschliche Gehirn als etwas ganz besonders
Vortreffliches auszeichnen, obgleich jeder Unbefangene
einsieht, daſs eben hier, in der Gemeinschaft der Gehirne,
deren Bau nur solche Unterschiede zeigt, die gegen die
Aehnlichkeit
beym Menschen und bey den höhern
Thieren geringfügig sind, ganz offenbar Menschheit und
Thierheit nahe zusammen gränzen; so daſs man die Kluft,
die sich zwischen beyden findet, an ganz andern Stellen
auf der Leiter der organischen Wesen erwarten sollte.


Früherhin glaubte man, daſs denjenigen Thieren, die
zunächst auf den Menschen folgen, die Sprachwerk-
zeuge
fehlten; und hierin schien ein Hauptgrund des
Unterschiedes zu liegen, da die Sprache der Anfang aller
ge-
[241] gesellschaftlichen Bildung ist. Wenn man den Hund
bellen, das Pferd wiehern hört, so kann man wohl auch
nicht auf den Gedanken kommen, daſs diesen sonst klu-
gen Thieren das Sprechen mechanisch möglich wäre;
vielmehr liegt die Erwartung nahe, sie würden, wenn ihre
Stimmritze nur einige Gelenkigkeit besäſse, daraus etwas
machen, das ihrem übrigen Betragen angemessen wäre,
und hierin das Hülfsmittel zwar nicht einer menschli-
chen, doch einer höhern Ausbildung finden, als sie jetzt
besitzen.


Sehr auffallend war mir daher bey Rudolphi (Phy-
siologie §. 32.) die Behauptung: „mechanische Hin-
dernisse sind gewiſs nicht Schuld daran, daſs
die Thiere keine Sprache besitzen
.“ Ich weiſs
nicht, ob ich dieselbe recht verstehe. Nicht mecha-
nisch; also psychisch
; — das scheint, nach dem
Zusammenhange zu urtheilen, der beabsichtigte Sinn
zu seyn.


Soll sich nun wirklich dieser Satz auch auf die Hunde
beziehen? Auf sie, die auf so mancherley Weise an
menschlichen Angelegenheiten Theil nehmen; die dem
Menschen so gern Folgsamkeit beweisen, und ihm Hülfe
leisten? Also während Papageyen und Elstern auf mensch-
liche Töne merken, und sie nachahmen, ohne von dem,
was der Mensch wünscht und will, das Geringste zu fas-
sen, kann der Hund, des Jägers und des Hirten treuer
und geschickter Gehülfe, nur bellen und heulen, — oder
vielmehr, er könnte sprechen, und versucht es doch
niemals auch nur im Geringsten? —


Herr Professor Rudolphi redet an jener Stelle ei-
gentlich von den Affen; und es scheint fast, als habe er
an Hunde, Pferde, Elephanten, nicht gedacht. Daſs aber
die turpissima bestia, welche dem Menschen am meisten
ähnlich seyn soll, sich doch wohl mehr äuſserlich als im
Wesentlichen, (in Hinsicht des Nervensystems, und des
Einflusses desselben auf den Geist,) dem Menschen
nähere, schlieſse ich aus dem Umstande, daſs die Affen
II. Q
[242] der heiſsen Zone angehören, und daſs keine einzige Art
dieses zahlreichen Geschlechts sich weiter verbreitet hat,
während ein ganz besonderer Vorzug des menschlichen
Leibes in seiner Biegsamkeit für die verschiedenen Kli-
mate liegt. Die Biegsamkeit und Nachgiebigkeit des Or-
ganismus ist aber, wie sich im dritten Abschnitte zeigen
wird, gerade die Hauptsache; er braucht nur den psy-
chologischen Mechanismus nicht zu hindern; alle posi-
tive Mitwirkung wollen wir ihm gern erlassen; wenn näm-
lich vom Nervensystem die Rede ist; und hinweggesehen
von der bekannten Verknüpfung des Geistes mit der Au-
ſsenwelt durch Empfindung und Bewegung.


Daher halte ich den Einfall eines Franzosen, die
Affen sprächen nicht, weil sie nichts zu sprechen hätten,
wenigstens nicht für geeignet, auf alle Thiere ohne Un-
terschied ausgedehnt zu werden. — Ich kann mich nicht
rühmen, die Hunde genauer zu kennen, als Jeder sie
kennt, oder kennen lernen könnte, der ein paar derglei-
chen um sich hat; allein auf diesem ganz gemeinen
Wege, und bey einiger Aufmerksamkeit auf die übrigen
bekannten Hausthiere, bin ich — ganz unabhängig von
aller Theorie, und mit absichtlicher Abstraction von der-
selben, zu der Meinung gekommen, daſs nicht bloſs die
Hunde sprechen würden, wenn sie Sprachwerkzeuge hät-
ten*), sondern auch, daſs andre Thiere, die schon weit
hinter ihnen stehn, noch mehr durch das Unbehülfliche
ihrer äuſsern Organe, als in geistiger Hinsicht be-
schränkt sind.


Die Einbildung aber, als ob die Ehre des Menschen
bey solcher Ansicht etwas leiden könne, ist eine so lä-
cherliche Schwachheit, daſs ich nicht Lust habe, darüber
noch ein Wort zu verlieren. Und die Erfahrungen, auf
[243] welche es hiebey ankommt, sind so unabhängig von dem
groſsen Werkzeuge der physiologischen Entdeckungen, —
dem anatomischen Messer, — daſs es sich sogar noch fragt,
ob Derjenige, der sich zu einer Vivisection entschlieſsen
kann, jemals Gelegenheit haben wird, einen Hund genau
zu beobachten. Denn wie fein dies Thiergeschlecht die
Menschen unterscheidet, wie bestimmt es das Benehmen
zurückgiebt, was ihm widerfährt, das sieht man desto
deutlicher, je sorgfältiger man darauf merkt. Uebrigens
ist meine Meinung von den Thieren nur eine Meinung:
mehr Nichts als das sind aber auch die positiven Behaup-
tungen, die man in den Anthropologien zu lesen pflegt:
„alle Laute, welche die Thiere von sich geben, wenn
sie auch einander dadurch anlocken oder warnen, seyen
nur mechanische Zurückwirkungen ihres Körpers auf ei-
nen in demselben erregten Reiz; und werden von ihnen
ohne Absicht auf Mittheilung der Erkenntnisse hervor-
gebracht.“


Diese Worte (die Sache ist allbekannt,) schreibe
ich ab aus Schulzens Anthropologie; mit einigem Be-
dauern, daſs auch dort von dem Wunderbaren der
Sprache, mit Beyfalle für Herdern, in Ausdrücken ge-
redet wird, die mir zu stark scheinen.


Worin liegt denn das Wunderbare der Sprache?
In ihrem Ursprunge oder in ihren Wirkungen? Wir
wollen beydes näher ansehn; vorläufig bemerke ich nur,
daſs schon Herr Hofrath Schulze selbst die Erklärung
des Ursprungs angedeutet hat.


Wenn Sprache, ihrem Begriffe nach, absichtliche
Mittheilung der Gedanken durch willkührliche Zeichen
ist, so konnten die ersten Mittheilungen unmöglich durch
Sprache geschehn. Denn willkührliche Zeichen müssen
verabredet werden, sonst würden sie entweder nicht
verstanden, oder höchstens errathen werden; auf das Er-
rathen aber kann der Sprechende nicht rechnen. Die
Sprache setzt also Verabredung, diese aber setzt Sprache
voraus; mithin drehen wir uns im Kreise. Man schlage
Q 2
[244] nun den Weg ein, den man durch die Methode der Be-
ziehungen kennt; das heiſst, man entschlage sich des
ungereimten Gedankens; und setze dessen Gegentheil an
die Stelle. Die ersten Mittheilungen also geschehen ent-
weder nicht absichtlich, oder nicht durch willkührliche
Zeichen; sie waren nicht Sprache. Gleichwohl verstand
man einander; und glaubte sich verstanden. Dies errieth
man aus dem zusammenstimmenden Handeln, welches
den gemeinsamen Gedanken gemäſs war; es konnte aber
leicht zusammenstimmen, wenn man unter gleichen Um-
ständen gleiche Bedürfnisse hatte. Die Naturlaute, oder
zufälligen Aeuſserungen bey Gelegenheit des gemeinsa-
men Handelns, reproducirten sich bey Jedem in wieder-
kehrender Lage; riefen Jedem den nämlichen Gedanken
zurück; und waren mit Erwartung eines ähnlichen ge-
meinsamen Handelns von beyden Seiten ohne weiteres
Fragen und Zweifeln verknüpft. Wie es zugehe, daſs
Einer den Andern verstehe; und ob er wohl verstehn
oder misverstehn werde? Das wurde nicht gefragt noch
bedacht; sondern das Handeln war es, worauf, ohne alles
Denken an das Denken des Andern, die Erwartung
und die Aufmerksamkeit sich richtete. Blieb nun aber das
erwartete Handeln des Andern aus, dann legte man mehr An-
strengung in den damit complicirten Laut, auf eine Weise
und aus einem Grunde, worauf im §. 150. mehr Licht
fallen wird. Da fing die Absichtlichkeit des Sprechens
an; die Willkühr in der Ursprache aber ist eine Fiction,
wie die Contracte, worauf die Staaten ursprünglich sol-
len gegründet seyn. Die einmal verstandenen Zeichen
veränderten sich durch Abkürzung, und durch Zusam-
mensetzung; beydes wechselsweise; so daſs aus abgekürz-
ter Zusammensetzung die Flexionen und Derivationen
entstanden. Daſs späterhin die Sprache sich fortbildete
wie die Werkzeuge, deren roheres stets das bessere
verfertigen hilft, versteht sich von selbst, und bedarf
keiner Erläuterung. Die Willkühr nahm Platz, als die
Sprache schon nicht mehr Ursprache war, so wie die
[245] Contracte in die Staaten kommen, nachdem sie schon
stehen.


Etwas schwerer mag die Frage von der Wirkung
der Sprache seyn; doch hat man auch hievon zu viel
Aufhebens gemacht. Daſs man vermittelst der Sprache
denke, ist ganz unrichtig. Man kann nicht ohne die
Worte denken, nachdem die Vorstellung der letztern mit
den Begriffen complicirt ist, weil der psychologische Me-
chanismus an die Complication gebunden ist, und voll-
kommne Complicationen unter gar keinen Umständen
können getrennt werden; so, daſs mit Sicherheit aus der
Trennung auf die Unvollkommenheit der Verbindung zu
schlieſsen ist. Die Summe aber, oder der Grad des Vor-
stellens, oder die Innigkeit der Verbindung unter den
Merkmalen eines Begriffs, dies alles, worauf die Wirk-
samkeit unserer Vorstellungen beruht, wächst nicht im
geringsten durch das angeheftete Zeichen. Eine Täu-
schung, als ob ein Ding ohne Namen nur unvollständig
erkannt wäre, kann daher entstehn, weil, nachdem alle
andere Dinge den Ballast eines Worts an sich tragen,
dem Namenlosen ein Zusatz zu fehlen scheint, wenn es
mit jenen ins Gleichgewicht treten soll. So bildet sich
wohl auch Einer, der eine fremde Sprache, noch auſser
der Muttersprache gelernt hat, ein, es fehle ihm etwas
an der Kenntniſs des Gegenstandes, den er in die fremde
Zunge nicht übersetzen kann!


Aller Vortheil der Sprache beruhet auf dem geselli-
gen, gemeinsamen Gebrauch; auf der Verlängerung und
Berichtigung der eignen Gedanken durch die der Andern.
Aber für den Einzelnen ist das Anheften der Gedanken
an die Sprache sogar nachtheilig. Denn hiedurch treten
für ihn die mehr und die minder verstandenen Worte, —
diejenigen, die für ihn mehr und weniger Sinn haben, —
scheinbar in Einen Rang. Daher so viel thörichter
Wortkram, und so viel Eitelkeit, Unlauterkeit, falsche
Schätzung des Wissens, Dreistigkeit des sinnlosen Plau-
derns!


[246]

Eher würde dem Einzelnen die Schrift behülflich
seyn können. Diese fixirt wirklich manchmal die Gedan-
ken, um sie zu Objecten des weiter fortschreitenden Den-
kens zu machen. Das zeigt sich jedoch weit mehr beym
Rechnen, und beym Aufbehalten des Geschichtlichen, als
beym Philosophiren, dem vielmehr das voreilige Nieder-
schreiben unreifer Einfälle unsäglichen Schaden zufügt.
Man weiſs, wie Platon die Buchstaben verklagt; und
Homer bedurfte ihrer nicht.


Diejenigen, welche die intellectuale Anschauung an-
preisen, und das discursive, in der Sprache ausgedrückte
Denken herabsetzen, haben in so fern nicht ganz Un-
recht, als das Kleben am Symbol, wenn man sich darauf
lehnt und stützt, das wahre Wissen zerbröckelt, und das
Scheinwissen einschwärzt. Es wäre nur zu wünschen,
daſs jene selbst sich aus dem Wust ihrer Worte her-
auszuarbeiten verstünden. Gäbe es eine intellectuale An-
schauung: so würde ihr Angeschautes unaussprechlich
seyn. Gerade dieselbe Eigenschaft hat aber auch das
wahre Wissen, welches aus dem discursiven Denken am
Ende hervorgeht. Resultate vieljähriger Forschungen be-
dürfen vieler Worte, um vorgetragen zu werden, aber
der Vortrag, der alle diese Worte auf Einen langen Fa-
den reihet, ist nicht das Wissen selbst, welches in bey-
nahe ungetheilter Ueberschauung die ganze Kette der
allmählig ausgebildeten Gedanken trägt und vesthält.


§. 131.

So wenig nun auch eine scharfgezogene Gränzlinie
zwischen Mensch und Thier kann gerechtfertigt werden:
so bestimmt läſst sich gleichwohl der Grund angeben,
weshalb in dem Gedankenkreise des gesellschaftlich le-
benden Menschen sich Keime entwickeln müssen, deren
Ausbildung beym Thiere so unmöglich ist, daſs eine un-
geheure Kluft in der Gesammt-Erscheinung der Mensch-
heit und Thierheit daraus nothwendig entstehen muſs.
Um dies zu begreifen, gehe man zurück zur innern Ap-
perception.


[247]

Es ist nämlich klar, daſs auch die innere Wahr-
nehmung, wenn sie durch die äuſsere nicht gestört wird,
und wenn der Wechsel der aufsteigenden Vorstellungen
einigermaaſsen lebhaft ist, — ihre Reihen bilden muſs,
die aus der Succession und Verschmelzung jener Vor-
stellungen entspringen; gerade so wie die äuſsere Wahr-
nehmung diejenigen Reihen bildet, die uns die Auſsen-
welt bereitet. Nur hängt das innere Erscheinen der Vor-
stellungen vom psychologischen Mechanismus ab, dessen
continuirliche Bewegung keine so scharf abgeschnittenen,
so plötzlich ganz hervortretenden, und in groſser Fülle
gleichzeitig beharrenden Objecte liefern kann, wie sich
dergleichen, den äuſsern Sinnen, und besonders dem
Auge, darzubieten pflegen. Dagegen wird die Reihe des-
sen, was im Innern erscheint, gleichmäſsiger fortlaufend
die Zeit ausfüllen können; statt daſs auf eine ganz un-
bestimmte Weise die Auſsendinge bald sehr rasch wech-
selnd, bald wieder ohne irgend eine merkliche Abände-
rung während mehrerer Stunden, kommen und gehen,
oder stehen und beharren.


Auch werden sich Reihen aus dem was innerlich
erscheint, und dem was äuſserlich hinzukommt, zusam-
mensetzen, wenn das letztere den Fluſs des Vorherge-
henden zwar unterbrechend, aber doch nicht gewaltsam
verderbend, sich einmischt. Die stärkeren Vorstellungs-
massen werden alsdann Eins mit dem Andern appercipi-
ren und formen. — Unterbrechungen der Art entstehen
natürlich dann, wann etwas gesehen, gehört, gefühlt wird,
das mit den eben in Bewegung begriffenen Vorstellungs-
reihen sich näher verbinden kann.


Gesetzt nun, es gäbe für diese, entweder gnnz oder
zum Theil aus dem innern Flusse der Vorstellungen er-
zeugten Reihen, ähnliche Gesetze, wie für die, welche
gemäſs der Succession der Empfindungen zusammenschmel-
zen: so würden für dieselben Reihen nicht bloſs Zustände
der Involution und Evolution eintreten; sondern auch eine
vielfältige Reproduction und Verschmelzung solcher Rei-
[248] hen, die gleiche Anfänge haben; daher aber auch eine
ähnliche Verkürzung und Isolirung, wie wir schon
im §. 101., und wieder im §. 121., wo von den Begrif-
fen
die Rede war, bemerkt haben. Wenn wir nun hier
auch unter Begriffen nur Gesammt-Eindrücke des Aehn-
lichen verstehn: so ist doch vorauszusehn, daſs die nämli-
che logische Cultur, wodurch die sinnlichen Gesammt-Ein-
drücke zu Begriffen im eigentlichen Sinne verarbeitet wer-
den, auch Begriffe der innern Apperception erzeu-
gen könne, wofern nur erst der Stoff dazu vorhanden ist.


Indessen fehlt es hier nicht an Schwierigkeiten. Sind
wir denn auch mit den gleichartigen Vorstellungen, die
sich im Innern erheben, im nämlichen Falle, wie mit
gleichartigen Empfindungen? Wir wollen uns einmal das
Vorstellen als eine Masse denken, welche im Laufe der
Zeit anwächst, und sich in der Seele sammelt. Wenn
nun eine Empfindung reproducirend wirkt auf eine ältere
gleichartige Vorstellung, und mit derselben verschmilzt,
(nach §. 82. u. s. w.), so wissen wir gewiſs, daſs die
Verschmelzenden zwey verschiedene Portionen dieser
Masse ausmachen. Die ältere Vorstellung konnte nicht
wieder Empfindung werden, (§. 82.) es ist aber Empfin-
dung hinzugekommen, wozu ein bestimmtes Quantum der
Empfänglichkeit nöthig war, (§. 94.); also bildet sich ge-
wiſs in der Verschmelzung beyder eine neue Gesammt-
kraft aus zweyen, zuvor nicht identischen Theilen. Aber
bey den, im Innern wiederhohlt aufsteigenden gleichartigen
Vorstellungen, ist dieses nicht eben so deutlich. Hier ist
keine Empfindung. Dagegen kann eine und dieselbe Portion
des Vorstellens sich zu verschiedenen Zeiten ins Be-
wuſstseyn erheben. Wer nun glaubte, hier seyen zwey
verschiedene Massen des Vorstellens in Bewegung, der
müſste freylich schlieſsen, die zweyte werde reproduci-
rend wirken auf die erste, (durch Hinwegräumen der
hemmenden Kräfte, wie immer,) darauf werde Verschmel-
zung, und Erhebung der von jenen beyden ausgehenden
Reihen, endlich Verkürzung dieser Reihen, Isolirung, und
[249] Bildung eines allgemeinen Begriffs folgen. Aber dies
Alles wären Trugschlüsse, wofern die vermeinten zwey
verschiedenen Massen des Vorstellens vielleicht nur eine
einzige wären, die sich mehrmals ins Bewuſstseyn zu er-
heben Gelegenheit gefunden hätte. — Unstreitig müssen
wir vor dieser Verwechselung auf der Hut seyn, denn es
kann sich so ereignen. Aber es kann auch, und wird
vielfältig der andere Fall wirklich eintreten. Denn die
Massen der sinnlichen Empfindungen, welche diesem
Allen zum Grunde liegen, und woraus eben die Reihen,
von denen wir reden, sich wieder erheben, — bilden
sich bey sehr verschiedenen Gelegenheiten; und bieten
einen sehr reichen Vorrath dar, der keinesweges bey sei-
nem Entstehen schon sich mit allen seinen gleichartigen
Theilen so vereinigt, daſs dieselben keine gesonderte
Bewegung mehr haben könnten. Davon war schon im
§. 125. die Rede, wo die Möglichkeit mehrerer Vorstel-
lungsmassen gezeigt wurde; und es kam nur darauf an,
wiederum hieran zu erinnern.


Wichtiger scheint eine andre Schwierigkeit. Wenn
die reproducirende Vorstellung eben jetzt durch den äu-
ſsern Sinn gegeben wird, so ist sie im ungehemmten Zu-
stande, und kann hiedurch einen starken Druck ausüben,
wodurch das Hemmende zurückgetrieben, und der ältern
gleichartigen Vorstellung freyer Raum geschafft wird.
Allein wie wenn alles bloſs innerlich vorgeht? Die re-
producirende Vorstellung ist dann selbst eine vorüber-
schwindende Reihe; kaum wird sie Zeit haben, eine andre
gleichartige so hoch emporsteigen zu machen, daſs eine
bedeutende Verschmelzung erfolgen könnte, sie wird schon
zu ihren mittlern Gliedern vorgerückt seyn, während nur
eben die ersten Glieder der andern sich regen; und die
mindeste Hemmung zwischen ihnen, wird beyde herab-
drücken. Oder ist die andre stark genug, so überflügelt
sie jene; sie wird nun die vorzugsweise vergegenwärtigte,
und es erfolgt wiederum keine merkliche Verschmelzung.
Alles ist hier zu unstet und flüchtig.


[250]

Dieser Nachtheil, worin die Bildung von Begriffen
dessen was bloſs innerlich vorgeht, sich gegen die der
Auſsendinge befindet, ist so offenbar, und zugleich so
fühlbar, wenn wir unsre Gedanken absichtlich bearbeiten
wollen: daſs ein sehr groſser Unterschied eintreten muſs,
wenn in einem Falle besondere Hülfsmittel vorhanden
sind, um die Verschmelzung zu begünstigen, während
in andern Fällen dieselben mangeln.


Wenn nun der Mensch durch die Werke seiner
Hand, und noch weit mehr im Gespräch, veranlaſst wird,
sich solche Zustände, da Vorstellungen ursprünglich von
innen heraus thätig waren und sind, länger gegenwärtig
zu erhalten, und durch Beschäfftigung mit dem Abwe-
senden und Vergangenen öfter zurückzurufen, so muſs
er dadurch einen auſserordentlichen Vorzug in Hinsicht
der Begriffe von innern Ereignissen, vor andern leben-
den Wesen erlangen, welchen die erwähnten Veranlas-
sungen fehlen. Und so finden wir es wirklich. Wir
haben keine deutlichen Zeichen, daſs die Thiere sich
von dem, was in ihnen vorgeht, Gesammt-Eindrücke bil-
deten; vielmehr überwiegt bey ihnen die Auffassung der
Auſsendinge, wie es zu erwarten war. Aber beym Men-
schen, selbst auf niedern Culturstufen, ist Beschäfftigung
mit innern Ereignissen das Vorherrschende des ganzen
Gedankenkreises; denn Jeder sucht die Gesinnungen
der Andern zu erkennen; ihr Empfinden, Streben und
Wirken giebt ihm mehr zu denken als Steine und Bäume;
er lebt gesellig, freundlich oder feindlich; und das könnte
er nicht ohne Begriffe von innern Zuständen.


Aus den verschmolzenen Reihen, die sich in ihm er-
zeugten, sind mächtige Vorstellungsmassen gebildet; in
diesen liegt nun die appercipirende Kraft, womit er beob-
achtet und deutet, sowohl was in ihm selber fernerhin
sich ereignet, als auch was die Andern neben ihm thun,
und was in ihnen vorgeht.


Sollen nun die allgemeinsten Begriffe, die zur Ap-
perception dienen, Kategorien heiſsen, — und das sind
[251] offenbar in Hinsicht der Auſsendinge die gewöhnlich so-
genannten Kategorien, — so wird es deren eben so wohl
für die innern Ereignisse, als für die Auſsen-Welt ge-
ben. Nur mit dem sehr natürlichen Unterschiede, daſs
sie nicht Dinge — etwas Stehendes, Beharrendes, —
sondern ein Geschehen andeuten werden; weil alles
Innerliche im steten Vorüberschwinden ist, und nur als
ein Flieſsen, Uebergehn, als eine Reihe von nicht deut-
lich getrennten Gliedern, kann vorgestellt werden. Doch
kann hier nicht der Begriff des Geschehens an die Spitze
gestellt werden, weil dieser nicht auf das Innere allein
beschränkt ist; wohl aber können folgende Hauptbestim-
mungen des innern Geschehens als Kategorien der
innern Apperception
angesehen werden:


Wegen der Worte Handeln und Sich bewegen
bedarf es wohl kaum noch der Bemerkung, daſs diesel-
ben hier in dem Sinne gebraucht werden, wie man sie
auf lebende Wesen bezieht, um deren innere Aufregung
[252] zu bezeichnen, wovon die äuſsere Causalität nur das Zei-
chen ist.


Der Leitfaden, nach welchem die vier Haupt-Kate-
gorien gefunden sind, ist leicht zu entdecken. Das Em-
pfinden verhält sich zum Handeln wie Herein und Her-
aus
;
Wissen und Wollen sind Darin; doch jenes ge-
gen den Eingang, dieses gegen den Ausgang (als bevor-
stehendes Handeln) hingewendet. Die untergeordneten
Begriffe sind hier eben so wenig, als bey den obigen
Kategorien, die sich auf Dinge beziehen, vollständig an-
zugeben.


Es ist der Mühe werth, zu fragen, wofür doch die
Kategorien der innern Apperception jenen Männern gel-
ten mögen, die in den Kategorien ein ursprüngliches Ei-
genthum des Verstandes zu erblicken glauben. Etwa für
empirische Begriffe? Doch wohl nicht in dem Sinne, als
ob dieselben unmittelbar in der Erfahrung gegeben
wären? Welche Erfahrung giebt denn wohl (um nur
vom Leichtesten zu reden,) den Begriff des Sehens? —
Jedermann weiſs, daſs das Auge sich selbst nicht sieht.
Gerade so wenig sieht das Sehen sich selbst; es sieht
die Farbe; diese ist sein einziger Gegenstand. Oder
meint man, das Sehen werde als eine innere Handlung
wahrgenommen? Wie sieht denn diese innere
Handlung aus
? Man beschreibe doch das, was der
innere Sinn thue, oder empfange, in demselben Augen-
blick wo der äuſsere Sinn — der, so viel man bemerken
kann, während des Sehens ganz allein thätig ist, — sich
in die Farbe vertieft! Dasselbe gilt vom Hören, vom
Fühlen, und so weiter.


Wäre nun der Umstand, daſs man den Ursprung
unserer Vorstellungen aus der Empfindung nicht so gar
leicht entdecken und erklären kann, schon ein zureichen-
der Grund, gewisse Begriffe für angeboren, oder für ur-
sprüngliche Formen unseres Erkenntniſsvermögens zu hal-
ten: so möchte man nur immerhin den Begriff des Em-
pfindens, der unmittelbar gar nicht empfunden werden
[253] kann, sammt allen seinen untergeordneten, sogleich auch
für eine solche ursprüngliche Form ausgeben.


Als Kant die Geometrie aus der reinen Anschauung
des Raums erklärte, da vergaſs er die Musik mit ihren
synthetischen Sätzen a priori von den Intervallen und
Accorden; die er eben so aus der Tonlinie hätte erklä-
ren müssen. Als er die dinglichen Kategorien aufstellte,
da vergaſs er die sämmtlichen Begriffe des innern Ge-
schehens, gleich als ob sein an Kategorien gebundener
Verstand nicht nöthig hätte, sich von dem, was in uns
vorgeht, Begriffe zu bilden. Hatte denn von allen sei-
nen zahlreichen Nachfolgern keiner eine hinlängliche Ver-
anlassung, diese Lücke wahrzunehmen? Oder wer hat
sie wahrgenommen?


Wann eine Farbe in der Empfindung gegeben wird:
dann ist vor ihrem Eintreten irgend ein inneres Vor-
gestelltes dem Bewuſstseyn gegenwärtig. Wird dieses
nicht zu heftig gehemmt: so verschmilzt es mit der Em-
pfindung, und es entsteht eine Reihe von wenigstens
zweyen Gliedern. Wird späterhin dieselbe Farbe noch-
mals gegeben; so reproducirt sich nicht bloſs die ältere
Vorstellung der Farbe, sondern auch das vorhergehende
Glied, und zwar als ein Vorhergehendes; es reproducirt
sich ein Uebergehen, und die Farbe wird als eintre-
tend nach
etwas Anderem, vorgestellt. — Unzählige
Vorstellungen solches Eintretens verschmelzen; und ge-
ben den Gesammt-Eindruck, aus welchem der Begriff
des Sehens, das heiſst zunächst, des Erscheinens der
Farbe, sich späterhin bildet. Eben so das Erscheinen
des Tones, das Eintreten des Gefühls, und so ferner.


Diese Betrachtung reicht weiter. Wer des Andern
Stimme hört, weiſs hiemit und hiedurch, daſs derselbe
in der Nähe ist; und allgemein: durch das Zeichen er-
fährt
man die Sache. Wenn nämlich die Empfindung
einen Theil einer Complexion oder Reihe schon früher
ausmachte, so ist ihr erneuertes Erscheinen zugleich das
Erscheinen, das Eintreten des mit ihr Verbundenen. —
[254] Während nun das Wissen nur sein Gewuſstes weiſs,
gerade wie das Sehen nur die Farbe sieht: bildet sich
doch auf diesem Wege der Begriff vom Eintreten des
Gewuſsten
, und sehr häufig vom Beantworten einer
Frage (nach §. 124. am Ende). Also wiederum der
Begriff vom Uebergehen aus der Frage ins Entschei-
den derselben.


Noch deutlicher sieht man die Vorstellung einer
Reihe in den Begriffen des Begehrens oder Anstre-
bens
, und des Verabscheuens, oder Zurückstoſsens;
womit sich auſser den Gemüthszuständen noch eine Reihe
äuſserer Anschauungen zum Begriffe des Handelns ver-
binden kann.


Allein es ist kaum möglich, sich über diese Gegen-
stände deutlich auszudrücken, ohne das Selbstbewuſstseyn
dabey mit in Rechnung zu bringen. Wir sind an den
Punct gekommen, wo die Lehre vom Ich nunmehr an-
fängt, sich gleichsam herbeyzudrängen. Oder wer kann
vom Sehen, vom Denken, vom Wollen reden, ohne daſs
einem Jeden das: Ich sehe, ich denke, ich will, da-
bey einfällt?


Daher soll hier das Vorstehende nur in so fern er-
läutert werden, als die unmittelbare Vorbereitung zur
Untersuchung des Ich darin enthalten ist.


Man achte zuerst genau darauf, in welcher Richtung
die vorbeschriebenen Reihen laufen, um nichts miszuver-
stehn. Wir reden von einer Reihe wie a, b; aber der-
gestalt, daſs wir zuerst des zweyten Gliedes b erwähnen.
Ohne uns nun darum zu bekümmern, wie die Reihe von
b zu c, d, e, fortlaufen möge, bemerken wir nur, daſs
b ein vorhergehendes Glied, a, simultan, aber nicht suc-
cessiv, so weit hervorhebe, wie das Vorhergehende mit
ihm verschmolzen ist. Hier ist also kein wirkliches Ab-
laufen, welches sonst rückwärts gehen würde, sondern
ein Voraussetzen, so, wie jedes spätere Glied seine
vorhergehenden voraussetzt. Würde hingegen ein an-
dermal zuerst a ins Bewuſstseyn kommen, alsdann liefe
[255] wirklich die Reihe von a zu b, c, d, successiv fort. In
unserm Falle ist b die Farbe, oder der Ton, als ein
eben jetzt Eintretendes; weil nun dergleichen einfache
Empfindungen schon sehr oft auf irgend ein innerlich
Vorgestelltes, welches a heiſsen mag, gefolgt sind, so
bringen sie, bey jeder Erneuerung, durch Reproduction
der frühern ähnlichen ein dunkel Vorausgesetztes mit sich
ins Bewuſstseyn; welches für sie einen Anfangspunct bil-
den könnte. Da sich dies unsäglich oft wiederhohlt, so
bekommt die zwar dunkle Vorstellung des Vorausgesetz-
ten eine sehr groſse Stärke; ähnlich jener des Umge-
bungsraumes
für jeden sichtbaren Gegenstand, (§. 114.).


Aber gerade wie auf dem Raume ein Punct wahr-
genommen werden kann, als Bestimmung desselben,
(alsdann nämlich ist die Vorstellung des Raumes die
appercipirende, und die des Puncts die appercipirte,)
so kann auch jenes dunkel Vorausgesetzte eine Be-
stimmung sich aneignen, wenn eben besonders lebhafte
Vorstellungen oder Gefühle gegenwärtig sind, indem das
Gesehene, Gehörte, oder überhaupt das Empfundene, ein-
tritt. Dieses Empfundene reproducirt nun, wie immer,
sein Vorausgesetztes; und gerade als mit einem sol-
chen
, verschmilzt es zugleich mit jener lebhaften, wie
immer sonst beschaffenen Vorstellung. Also wird diese
letztere von dem Vorausgesetzten, dem gleichsam dun-
keln Grunde, ergriffen und angeeignet.


Jetzt wollen wir noch von den übrigen Kategorien
der innern Apperception jene des Denkens näher be-
trachten, weil das Ich, dem wir entgegengehen, als das
Sich-Denkende anzusehen ist.


Mit einer Reihe a, b, c, d, sey eine Vorstellung A
in allen Gliedern verschmolzen. Wenn die letztere sich
hebt, muſs jene sich evolviren; denn es ist alsdann für
alle Glieder der Reihe gleich viel Grund des Hervortre-
tens vorhanden (§. 100.). Nun gebe es für A noch andre
Vorstellungen B, C, u. s. w. (die auch mit ihren Rei-
hen verbunden seyn mögen); und zwar so, daſs A, B,
[256] und C, in einem gelinden Schweben gegen einander be-
griffen seyen, wie Vorstellungen, die wenig an Stärke
verschieden, zusammen im Bewuſstseyn bestehen können.
(Man denke hier zurück an §. 44., und §. 74.). Wäh-
rend die Reihe a, b, c, d, abläuft, bietet sie sich der
Apperception durch B und C dar, wofern nur die, an
B oder C geknüpften Reihen, irgend welche Glieder der
Reihe a, b, c, enthalten. Daſs in einem solchen Flie-
ſsen
und Auffangen der eignen Vorstellungen, welches
sich mannigfaltig wiederhohlt, drängt, und durchkreuzt,
das Denken bestehe, kann Jeder in sich selbst beobach-
ten. — Es kömmt nun sehr häufig zu diesem, eben
in Gang gesetzten, oder schon im weitern Verlaufe Be-
griffenen, Denken, das Empfinden hinzu; dessen Voraus-
gesetztes alsdann, nach der obigen Auseinandersetzung,
zu dem Denken in das Verhältniſs der Apperception tritt.


Mit Recht können wir nun dem Empfundenen den
Namen des Objects geben. Denn es schwebt im Be-
wuſstseyn als zweytes Glied einer Reihe, deren erstes,
das Vorausgesetzte, jetzt bestimmt durch das Denken
charakterisirt ist. Nur nicht allein und ausschlieſsend
durchs Denken; denn an der Stelle desselben, oder mit
ihm verbunden, wird sich eben so oft das Wollen und
das Fühlen befinden. Dies Alles nun zusammengenom-
men ergiebt die Complexion, die sich allmählig in der
Stelle jenes von der Empfindung Vorausgesetzten bilden
muſs. Das Vorausgesetzte, oder das Subject, ist dem-
nach nicht bloſs das Denken, sondern ein Denken-
des
; weil Denken nur ein Bestandtheil der ganzen Com-
plexion ist. Das nämliche Subject wird nun auch als
dasjenige vorgestellt, zu welchem das eintretende Em-
pfundene, Sichtbare, u. s. w. hinzukommt; und dies
Hinzukommen zum Subjecte ist eigentlich der Begriff des
Empfindens, des Sehens, u. s. f.


Noch vor allen weitern Entwickelungen mag man hie-
mit die auffallende Bemerkung verbinden, daſs gerade die
Empfindungen des äuſsern Sinnes es sind, welche sich
am
[257] am kräftigsten zeigen, um dem in Traum oder Träumerey
Versunkenen das nüchterne und klare Selbstbewuſstseyn
zurückzurufen. Wie können sie das, da sie doch gar
nicht Theile unserer Vorstellung von Uns selbst ausma-
chen? Sie führen ihr uraltes Vorausgesetztes, wie es
sich durchs ganze verflossene Leben gebildet hat, dun-
kel und stark zugleich mit sich herbey; nun liegt der Bo-
den vest, nun ist die Unterlage (das Subject) vorhan-
den, auf welche die eben jetzt gegenwärtigen Gedanken
und Gefühle sich übertragen, um den jetzigen Zustand
des Subjects näher zu bestimmen. So bekommt dieses
Subject zugleich ein Prädicat und ein Object; und ist
demnach Subject in doppeltem Sinne.


Nachdem wir Object und Subject haben, wollen wir
das Ich suchen.


Zweytes Capitel.
Vom Selbstbewuſstseyn
.


§. 132.

Das Ich soll die erste Person seyn, der jede zweyte,
vollends jede Sache, gegenüber steht. Gleichwohl wissen
wir aus den Untersuchungen des ersten Theils, daſs die
Vorstellung des Ich, wenn man sie losreiſst aus ihren
Reihen, gar kein Object hat. Daher liegt jetzt ganz
sichtbar folgendes vor Augen: Das Ich ist ein Punct,
der nur in so fern vorgestellt wird und werden
kann, als unzählige Reihen auf ihn, als ihr ge-
meinsames Vorausgesetztes, zurückweisen
. Kein
Wunder, daſs es ein dunkler Punct ist! Ein natürli-
ches Geheimniſs, wie ein Schriftsteller es nennt, der es
als ein Vorstellendes noch obendrein viel zu früh meinte
begriffen zu haben *). Man mag es auch eine dunkle
II. R
[258] Gegend nennen, oder ein dunkles Behältniſs, aus dem
gar Mancherley herausragt, das man rückwärts, bis ins
Innere verfolgen möchte, aber nicht kann; selbst in der
Wissenschaft nicht, denn diese bringt es höchstens bis
zu allgemeinen Formeln, die das Individuelle zwar unter
sich, aber nicht in sich fassen. —


Wir standen am Ende des vorigen Capitels bey der
Brücke zwischen Object und Subject. Das hellste Licht
fällt auf diese Brücke von der Seite der Objecte her.
An die Seite des Subjects stellt die Apperception sehr
Vieles, was wir weiterhin mit analysirender Aufmerksam-
keit, die sich nicht scheuen darf, selbst ins Kleine zu
gehn, verweilender betrachten wollen. Aber was auch
dasselbe seyn möge: jene Reihe, worin das Empfundene
mit seinem Vorausgesetzten liegt, muſs dazu gelangen,
wirklich abzulaufen, so daſs zuerst das Vorausgesetzte
als ein wahrhaft Erstes hervortrete. Durch Regungen
des Wollens und Handelns, worin die Bewegung auf
jener Brücke von der Seite des Subjects zum Objecte
hinläuft, geschieht das am leichtesten. Sehr natürlich
erklärte daher Fichte, in der Sittenlehre: das Ich finde
sich ursprünglich als wollend. Und sehr häufig bedeutet
das Ich im gemeinen Leben nichts weiter, als die mit
den Objecten zusammenstoſsende Regsamkeit, in dem
beständigen Verkehr auf jener Brücke. Nicht allemal er-
scheint das Ich als getheilt in Object und Subject. —
Indessen erfordert der vollständige Begriff des Ich nicht
minder, daſs Jenes, was wir bisher nur als Subject, als
Vorausgesetztes der Objecte kennen, auch selbst in den
Platz des Objects, folglich das Subject, als das Voraus-
gesetzte, ihm gegenüber trete. So geschieht es vorzugs-
weise in den Fällen, wo der Mensch sich selbst anredet,
von sich etwas verlangt; oder wenn die Dinge eine Auf-
gabe zu enthalten scheinen, einen Gedanken von einer
Veränderung darbieten, die mit ihnen vorgehn könnte
oder sollte. Hieraus entsteht eine Zumuthung, dazu die
schon ehemals in ähnlichen Fällen angewendete Thätig-
[259] keit zu erneuern. Die Vorstellung eines solchen Thuns
ist unabhängig von dem jetzigen Fühlen und Begehren;
sie wirkt aber aufregend auf dasselbe, wenn auch ein
Zurücksinken nachfolgt. Hier ist das Ich innerlich ge-
theilt; es steht dennoch als ein einziges Subject den äu-
ſsern Objecten gegenüber. Am vollständigsten wird die
Theilung des Ich im Moralischen. Da geht die Zumu-
thung, zu handeln oder nicht, von den ästhetischen Ur-
theilen aus, oder (wenn man das Wort moralisch in
einem weitern Sinne zu nehmen sich erlaubt,) von Be-
rechnungen der Klugheit. Während solcher Beurthei-
lung oder Berechnung liegt entweder im Menschen selbst
ein sehr groſser Theil derjenigen Vorstellungen, die in
ihm aufgeregt werden können, ganz ruhig, und kann eben
deshalb durch die Zumuthung gleich einer zweyten Per-
sönlichkeit in Bewegung gerathen, — oder, was bey wei-
tem leichter und ursprünglicher sich ereignet, die Zumu-
thung kommt von einem Andern, einem Gefährten; sie
bildet sich in der Gesellschaft, und wird nur innerlich
verstanden und nachgeahmt. — Und noch auf eine andre
Weise wirkt die Gesellschaft auf die Ichheit; sie nimmt
in ihr einen pluralis an; es giebt ein Wir. Theils in-
dem Mehrere gemeinschaftlich einem andern Haufen, oder
einem Werke gegenüber stehn; theils sogar indem jene
Theilung des Ich, in Allen gemeinschaftlich vorkommt;
denn auch an Gesellschaften richten sich Zumuthungen,
und werden von ihnen mit vereintem Thun erfüllt. Ja
sogar auf den Einzelnen verpflanzt sich dieses Wir.
Ursprünglich erscheint ihm alsdann eine innere Mannig-
faltigkeit seines Könnens. Daher endlich die Höflichkeit
der neuern Sprachen, die selbst den Einzelnen als eine
vielfältige Persönlichkeit anredet. — Diese Vorerinne-
rungen können vielleicht dienen, um unsern Gesichtskreis
vorläufig zu erweitern. Wir wollen jetzt mit dem Leich-
testen den Anfang machen, um uns das Schwere nicht
noch zu erschweren.


Kant beginnt seine Anthropologie mit dem Lobe
R 2
[260] der Ichheit, als eines unendlich wichtigen Vorzuges des
Menschen vor allen andern auf Erden lebenden Wesen.
Wiewohl er nun gar nicht zweifelt, daſs derjenige, der
das Ich noch nicht sprechen kann, es dennoch in Ge-
danken habe: so fügt er doch mit der, dem wahrhaft
vortrefflichen Denker natürlichen Aufrichtigkeit, Folgen-
des hinzu: „Es ist aber merkwürdig, daſs das Kind, was
„schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät
„(vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt durch
„Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Per-
„son sprach, (Karl will essen, gehen, u. s. w.) und daſs
„ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu seyn scheint,
„wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen; von
„welchem Tage an es niemals mehr in jene Sprechart
„zurückkehrt. — Vorher fühlte es bloſs sich selbst,
„jetzt denkt es sich selbst. — Die Erklärung dieses
„Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer
„fallen.“


Ein minder groſser Philosoph hätte vielleicht geglaubt,
die Erklärung sey schon geleistet durch den angegebe-
nen Unterschied zwischen dem Sich fühlen und Sich
denken. Kant im Gegentheil vermiſst noch immer die
Erklärung, er vermiſst sie gerade an der Stelle, wo er
jene Unterscheidung gemacht hat. Und wahrlich! er zeigt
sich in diesem Vermissen mehr in seinem Lichte, als an
andern Stellen, wo er mit dem Ich, als der ärmsten und
gehaltlosesten aller Vorstellungen, und mit dem Ich
denke
, das alle andre Vorstellungen soll begleiten kön-
nen, so gar leicht fertig wird.


Wir haben unsre Untersuchungen mit Nachweisung
der Widersprüche in dem Gedanken: Ich, begonnen;
und wenn wir noch immer nicht wüſsten, was denn an
dem Ich eigentlich das Denkbare sey, möchten wir wohl
noch weniger wissen, was denn das Fühlbare am Ich
seyn möge. Ich hoffe, daſs keiner meiner Leser geneigt
sey, sich in diesen Schlupfwinkel eines unbestimmten
Gefühls zu verkriechen.


[261]

Dagegen aber werden wir uns erinnern, daſs wir
jetzo auf analytischem Wege wandeln; daſs es sich ge-
bührt, die Gegenstände der Analysis so zu nehmen, wie
sie gefunden werden; daſs also auch jenes: Von sich
selbst in der dritten Personreden
, welcher Sprech-
art
ohne allen Zweifel auch eine ihr angemessene Denk-
art
zugehört, aus der sie ihren Ursprung nimmt, — uns am
füglichsten zuerst beschäfftigen werde; indem die Erfah-
rung vermuthen läſst, daſs hierin eine Vorbereitung zur
eigentlichen Ichheit liegen möge. Vielleicht wird die Er-
klärung dieses Phänomens nicht so schwer fallen, als die
Nichtbeachtung desselben die Erklärung des Selbstbewuſst-
seyns schwer machen würde.


Die dritte Person, als welche das Kind sich selbst
bezeichnet, findet ihre erste Grundlage in der Auffassung
des Leibes, sowohl im Sehen und Betasten der eignen
Gliedmaaſsen als durch die körperlichen Gefühle. Hier-
aus entsteht eine höchst zusammengesetzte Complexion;
ganz eben so wie sich die Vorstellungen der Dinge um
uns her bilden, welche ursprünglich auch nichts anders
sind als Complexionen von Merkmalen, oder, wie man
in Hinsicht des Vorgestellten, (nur nicht in Hinsicht des
Vorstellens, und seines Mechanismus,) auch sagen kann,
Aggregate von Merkmalen. Denn die Merkmale (das
darf man nie vergessen,) werden durch gar kein Band
verknüpft, sie werden auch durch gar keine Hand-
lung
der Synthesis zusammengefügt; lediglich wegen der
Einheit der Seele, und wegen der stets gleichzeitigen,
oder doch beynahe gleichzeitigen, Auffassung, compliciren
sich alle Vorstellungen dieser Merkmale zu einem einzi-
gen ungetheilten Actus des Vorstellens, zu einer einzi-
gen Totalkraft. Daſs das Vorgestellte dieser Totalkraft
ein Mannigfaltiges, ein Zusammengesetztes ist, wird ur-
sprünglich gar nicht bemerkt; der gemeine Verstand fragt
nicht nach einem Grunde der Einheit, vermöge deren die
Summe der Merkmale für Ein Ding gelte; er fragt nicht,
mit welchem Rechte man diese usurpirte Einheit ohne
[262] alles Band, das sich aufweisen lieſse, ferner bestehen las-
sen solle. Alles dieses zu fragen bleibt der Philosophie
überlassen; die sogar selbst sich lange und nur zu lange
in dieser Frage verwickelt, ehe sie dieselbe nur rein aus-
sprechen lernt. Man vergleiche §. 118.


Gerade so nun, wie überall bey der Vorstellung ei-
nes jeden Dinges die Merkmale im gleichzeitigen Vor-
stellen eine Complexion bilden, wie diese Complexion
vielemal wieder ins Bewuſstseyn gerufen wird, und als-
dann neue Merkmale aufnimmt; wie sie zu Urtheilen,
bald positiven bald negativen, das Subject darbietet,
(§. 123.) — so verhält es sich auch mit derjenigen ersten
Vorstellung von uns selbst, die aus der Wahrnehmung
unseres Leibes, und unserer Gefühle entspringt. Nur ist
dabey zu bemerken, daſs unsre Gefühle sich ursprünglich
in diejenigen Vorstellungen hineincompliciren, welche den
äuſsern Dingen angehören. Darum wird das Feuer heiſs
genannt, obgleich die Hitze lediglich unser unangenehmes
Gefühl ist. Eben so bezeichnen die Worte hart und
weich, und zahllose andre, eigentlich unser Gefühl bey
der Berührung gewisser Körper; und gelten dennoch für
Prädicate dieser Körper. Allein da die Hand, oder ein
andrer Theil des Leibes, erst dem heiſsen oder harten
Körper nahe kommen muſs, wenn die Wahrnehmung
dieser Prädicate des Körpers eintreten soll: so bekommt
auch die Hand das Merkmal, daſs es sie schmerze; und
dies um so mehr, da der Schmerz noch dauert, wenn
schon jener Körper entfernt ist. — Auf ähnliche Weise
nennt man die Farben hell und dunkel; ja sogar Orte,
Zimmer, u. d. gl. werden so unterschieden; obgleich dies
sich bloſs auf unser Sehen bezieht. Nichtsdestoweniger
complicirt sich das Erscheinen der Gegenstände auch mit
dem Gefühl des Oeffnens der Augenlieder, und das Ver-
schwinden jener mit dem Gefühl der Schlieſsung der letz-
teren. Sehr viele Erfahrungen sind nöthig, um diejeni-
gen Empfindungen, welche zuerst auf die Gegenstände
als deren Merkmale übertragen wurden, auch noch in
[263] einem andern Sinne mit der Auffassung des Leibes, der
übrigens für ein Ding gilt wie die andern, zu verbin-
den. Daſs der Leib seine Gefühle mit sich herumträgt,
während die übrigen Auſsendinge an ihren Plätzen blei-
ben, ist hiebey die Hauptsache. Denn hier wie bey allen
Vorstellungen für sich bestehender Dinge, kommt es dar-
auf an, daſs die Anfangs zu viel befassenden Com-
plexionen späterhin auf dasjenige beschränkt
werden, was bey der Bewegung beysammen
bleibt
. Auf das Zerreiſsen der Umgebung, und die da-
durch entstehende Sonderung der Dinge, ist schon oben
aufmerksam gemacht worden. (§. 118.)


Wir hätten nun jene dritte Person, wenn wir nur
erst eine Person überhaupt hätten. Hier wird man sich
erinnern, daſs die Auffassung der eignen, und der frem-
den Personen, der Erfahrung gemäſs so ziemlich gleich-
zeitig erfolge. Ursprünglich unterscheidet gewiſs das Kind
nicht zwischen Sachen, Thieren, und Menschen. Wir
werden jetzt suchen, uns von dieser Seite der Auflösung
des Problems zu nähern.


§. 133.

Voran folgende Frage: was mag wohl leichter, und
eher ausgebildet werden, die Vorstellung des Todten oder
des Belebten? Vielleicht sagt man: die des Todten, denn
sie ist einfacher, und also faſslicher. Allein man be-
denke die Complexionen, welche aus der eignen Empfin-
dung beym Berühren der Gegenstände, vollends beym
Anschlagen an dieselben entspringen. Das Kind sey von
einem fallenden Körper getroffen: so oft es denselben
von neuem fallen sieht, reproducirt sich die Erinnerung
an den Schmerz; und nach einigen Erfahrungen über den
Zusammenhang des Schmerzes mit der getroffenen Stelle,
wird in jeden Gegenstand, auf welchen dieser Körper
fallen möchte, auch dieser Schmerz hineingedacht. Auf
diese Weise ist es natürlich, daſs Anfangs alle Gegen-
stände für empfindende gehalten werden.


Allein in derselben Betrachtung ein wenig weiter
[264] fortschreitend, können wir leicht die ersten Unterschei-
dungen des Lebenden und des Todten entdecken. Der
Schmerz bringt Aeuſserungen durch Ton und Bewegung
hervor; auch von diesen complicirt sich die Vorstellung
mit jenen ersten Auffassungen. Welcher fremde Gegen-
stand nun die nämlichen Aeuſserungen zu erkennen giebt,
der ruft die Erinnerung an den Schmerz nur um so leb-
hafter herbey; hingegen andre Gegenstände, die sich tref-
fen und schlagen lassen, ohne solche Zeichen zu geben,
erhalten dadurch zuvörderst das negative Prädicat, daſs
bey ihnen diese Aeuſserungen vermiſst werden; und in
diese Negation verwickelt sich auch der Schmerz selbst,
so fern er mit seinem Zeichen vollkommen complicirt ge-
dacht wurde. Das heiſst, diese Gegenstände werden als
unempfindlich angesehen.


Nachdem dieser Unterschied des Empfindenden vom
Unempfindlichen einmal gemacht ist, bedarf es nur noch
eines Schrittes, um auch den ersten Begriff zu fassen
von Dingen, welchen Vorstellungen von andern
Dingen inwohnen
; — ein roher Ausdruck, durch den
ich absichtlich die erste Rohheit dieser Auffassung be-
zeichne.


Mit dem Bemerken der getroffenen und empfindli-
chen Stelle, z. B. der Hand oder des Fuſses, werden
sich die übrigen räumlichen Auffassungen verbinden.
Daher zieht das Kind die Hand weg, auf daſs sie nicht
von einem Schlage, der sie bedroht, getroffen werde;
und so läuft auch das Thier vor der nahenden Gefahr.
Nun beobachte Eins das Andre, das eine Bewe-
gung macht, durch die es dem Schmerze ent-
geht
. Zuverlässig begreift jenes die Absicht des andern.
Es begreift, dem Andern müsse inwohnen ein Schmerz,
den es noch nicht empfinde; d. h. eine Vorstellung des
künftigen Schmerzes, dem es sich entziehe. Noch mehr:
auch ein Bild des drohenden Gegenstandes müsse ihm
inwohnen, da es sonst den Schmerz, der ihm bevorstand,
nicht hätte ahnden können. Allgemein ausgedrückt lau-
[265] tet dieses so: diejenigen Gegenstände, welche nicht bloſs,
wenn sie berührt werden, zurückwirken, sondern auch
bey, und selbst nach Annäherung eines andern entfern-
ten Gegenstandes, sich in einer solchen Bewegung zei-
gen, welche durch die Eigenthümlichkeit desselben Ge-
genstandes genau bestimmt scheint: diese werden nicht
bloſs als empfindend und vernehmend, sondern als er-
kennend
, d. h. als empfangend die Beschaffenheit des
Gegenstandes, als besitzend und bewahrend sein, ihm
ähnliches, Bild, angesehen. So halten wir für todt, was
sich nicht rührt, wenn wir ihm einen andern Körper nahe
bringen; hingegen für empfindend und wahrnehmend, was
sich nach dem angenäherten zu richten scheint.


Das Kind sehe den Hund, der heulend vor dem auf-
gehobenen Stocke läuft. Unfehlbar denkt das Kind den
Schmerz vom Schlage in den Hund hinein; aber als ei-
nen künftigen, denn, noch ist der Hund nicht geschla-
gen. Es denkt überdies den Stock in den Hund hinein,
denn vor diesem läuft der Hund; aber nicht den wirk-
lichen
Stock, denn der ist auſser dem Hunde; also den
Stock ohne seine Wirklichkeit; d. h. das Bild des
Stockes. Denn es ist schon oben erinnert, daſs eben
dadurch ein Bild vom abgebildeten Gegenstande sich un-
terscheidet, daſs es der Realität desselben entbehrt, wäh-
rend es ihm übrigens in allem gleicht. So ist also das
Kind dahin gekommen, dem Hunde die Vorstellung des
Stockes beyzulegen, und diese Vorstellung von de-
ren Gegenstande zu unterscheiden
. Das Kind
hat nun eine Vorstellung von einer Vorstellung;
ein sehr wichtiger, wiewohl sehr leichter Fortschritt, und
eine unentbehrliche Vorbereitung zum Selbstbewuſstseyn.


Man glaube ja nicht, daſs hiemit eine Ueberlegung
verbunden sey, wie doch das zugehn möge, daſs dem
Hunde ein Bild des Stockes inwohne. Es gehört gereif-
tes Nachdenken dazu, um es wunderbar zu finden, daſs
einem Leibe, einem Körper, die Vorstellungen äuſserer
Dinge inwohnen können. Mit dieser Frage auf gleicher
[266] Stufe steht die andre, wie doch die mancherley heteroge-
nen Eigenschaften des nämlichen Dinges mit der Sub-
stanz desselben verbunden seyn mögen. Aber auf jener
niedrigen Stufe, wo zuerst vorstellende, lebendige We-
sen, als solche aufgefaſst werden, da ist diese Auffassung
nichts anderes als eine bloſse Complexion, die unter an-
dern Merkmalen auch dieses enthält, daſs in ihr Bilder
seyen von den äuſsern Dingen, durch welche ihre Bewe-
gungen bestimmt werden. An einen Grund des Zusam-
menhangs dieser Bilder mit den übrigen Bestimmungen
der nämlichen Complexion, wird hier noch nicht gedacht,
also auch nicht darnach gesucht.


Wo nun immer in irgend eine Bewegung sich eine
Absicht derselben hineindenken läſst: da wird das Kind,
und der kindliche Mensch, sie hineindenken. Einmal in
dieses Gleis hineingerathen, verläſst die Association der Ge-
danken es nicht leicht wieder. Wenn Kinder: Warum?
fragen, so zielt die Mehrzahl dieser Fragen nach einer
End-Ursache; und die roheren Nationen bevölkern Wald
und Flur und Himmel und Meer mit Gottheiten, weil
ihnen Alles um Alles sich zu bekümmern, also auch Al-
les von Allem zu wissen scheint. Eigentliche Kräfte, vol-
lends mit mathematischer Regelmäſsigkeit, sind viel schwe-
rer zu fassen; — und noch heute ist, anstatt derselben,
die transscendentale Freyheit, die nach ihrem praktischen
Gesetze sich ohne Gesetz entweder richtet oder auch
nicht, das Schooſskind unserer Philosophen.


Es erhält demnach die Vorstellung von dem Vorstellen,
und von vorstellenden Wesen, die wir in einem weiteren
Sinne des Worts, Personen nennen können, frühzeitig
eine vorzügliche Stärke; und bildet sich zu einem, zwar
noch rohen, allgemeinen Begriffe, nach der Ansicht des
§. 121. und 122. An alles Vorkommende knüpft sich dieser
Begriff, je nach den Veranlassungen, entweder als positives,
oder als negatives Prädicat. Es ist kein Zweifel, daſs er
auch die im vorigen §. betrachtete Complexion, deren erste
Elemente die Wahrnehmung des eignen Leibes darbie-
[267] tet, gar bald zu einer Person erheben werde; aber frey-
lich noch nicht zu einer ersten Person, auch nicht zu
einer zweyten, und sogar nicht eher zu einer dritten Per-
son im strengeren Sinne, als bis in diese Person auf
irgend eine Weise ein Selbst hineingedacht wird; das
wir nun näher zu untersuchen, und von einem Ich noch
zu unterscheiden haben.


§. 134.

Es giebt nicht bloſs ein Ich selbst, sondern auch
ein Du selbst; ja auch ein Er selbst und Es selbst.
Das Wasser bahnt sich selbst seinen Weg, — die Blu-
men, die Saamenkapseln öffnen sich selbst, — der bren-
nende Körper zerstört sich selbst: — was bedeutet in
allen diesen Fällen das Selbst?


Offenbar giebt es hier zwey zusammenhängende Ge-
dankenreihen, die einerley Vorstellung aufregen. Das
Wasser flieſst in einem vertieften Wege fort; die Ver-
tiefung muſs durch irgend eine Kraft entstanden seyn;
diese Kraft nun gehört dem nämlichen Wasser, welches
in dem ausgehöhlten Bette flieſst. Daher die Reciproci-
tät in jenem Satze: das Wasser selbst bahnt sich sei-
nen Weg. — Allgemein: Es werde vorgestellt eine Com-
plexion a A α; von a laufe eine Gedankenreihe a, b, c,
fort; dadurch werde eine zweyte Reihe c, β, ά hervorge-
rufen: so muſs, wegen der Gleichartigkeit des ά mit α,
nach dem bekannten Mechanismus der Vorstellungen mit
α die ganze Complexion a A α im Bewuſstseyn steigen;
ja die Bewegung würde im Cirkel unablässig fortlaufen,
würden nicht andre Vorstellungen dadurch gespannt; und
darunter gar leicht auch solche, die fähig sind, diese
ganze Vorstellungsmasse zu appercipiren, und ihre freye
Bewegung zu hemmen, ohne sie ganz zu unterdrücken.
(§. 126. 127.)


Eine solche dritte Vorstellungsmasse, welche das
Zusammenfallen jener beyden Reihen in einem identi-
schen Puncte, appercipirt, ist gewiſs dann vorhanden,
wann das Wort Selbst, der Ausdruck eines allge-
[268] meinen Begriffs solcher Identität
, auf den vorkom-
menden Fall angewendet wird. Ursprünglich aber muſste
sich der Begriff des Selbst erst erzeugen; und zwar
gerade aus jenem Zusammenfallen, Verschmelzen, und
mit vereinter Kraft Hervortreten der beyden gleich-
artigen Elemente zweyer in einander zurücklaufenden
Vorstellungsreihen. Es versteht sich, daſs solcher Fälle
sehr viele vorkommen und sich unter einander im Be-
wuſstseyn verbinden müssen, ehe der allgemeine Begriff
der Identität und Reciprocität, die das Selbst ausdrückt,
sich bilden kann.


Daſs nun lebende Wesen jeden Augenblick zu sol-
chen Beobachtungen Gelegenheit geben, die nur mit
Hülfe des Begriffs vom Selbst können gedacht werden,
liegt offenbar vor Augen. Jedes absichtliche Han-
deln
, wie es unmittelbar aus einer Begehrung hervor-
geht, (§. 129. gegen das Ende), zeigt dem Beobachter
einen Handelnden, der für sich selbst etwas zu errei-
chen sucht; denn wessen die Thätigkeit ist, des-
sen
wird auch die Befriedigung seyn
. Das Thier
sucht nach Nahrung; es selbst wird sie genieſsen. Je-
mand öffnet eine Thüre; er selbst wird hinausgehn. —
Noch mehr: der Mensch bewegt Hand und Fuſs; er
selbst sieht diese Bewegung. Oder umgekehrt: er sieht
einen Gegenstand, den er durch seine Bewegung vermei-
den muſs; er selbst macht die vermeidende Bewegung.


Kommt zu dergleichen Handlungen die innere Wahr-
nehmung (§. 126. u. s. w.) so kann es nicht fehlen, daſs
auf die mannigfaltigste Weise das Selbst angewendet
werde zur Bestimmung derjenigen Complexion, deren
Grundlage die Auffassung des eignen Leibes darbietet,
und die auſserdem nach dem vorigen §. schon als ein
Ding, dem Vorstellungen anderer Dinge beywohnen, be-
kannt ist. Das Kind, welches sein: Karl will essen,
gehen
, u. s. w. ausspricht, findet in jedem Augenblicke
sich selbst als den Mittelpunct seiner Bestrebungen, Ge-
nieſsungen und Beobachtungen. Und nun läſst sich je-
[269] nem Ausdrucke: es fühlt sich selbst, noch ehe es
sich denkt, wenigstens ein leidlicher Sinn unterlegen.
In dem Mechanismus der Vorstellungen entsteht jedesmal
eine Veränderung, indem die Vorstellungsreihen in sich
selbst zurücklaufen. Die gleichartigen, zusammentreffen-
den und verschmelzenden Elemente bilden eine Total-
kraft, welche sich ins Bewuſstseyn höher hebt. Dabey
wird überdies der schon durch frühere ähnliche Ereignisse
entstandene Begriff von dem eignen Selbst wieder her-
vorgerufen, und erhält hiemit eine neue Verstärkung.
Das Ganze dieser Gemüthsbewegung, da dieselbe kein
einzelnes, bestimmtes Object ins Bewuſstseyn bringt,
wohl aber vielerley Vorstellungsreihen in eine, wiewohl
schwache, Aufregung versetzt, — kann allerdings ein
Gefühl genannt werden; wie man so oft sagt, man habe
etwas dunkel gefühlt, wenn irgend eine Verbindung von
Vorstellungen vorgeht, die zu schwach, um sich beträcht-
lich über die Schwelle des Bewuſstseyns zu erheben, den-
noch unter den übrigen, vorhandenen Vorstellungen auf
einen Augenblick das Gleichgewicht verrücken. Dieser
Gegenstand muſs durch fortgesetzte Untersuchungen der
Mechanik des Geistes auch fernere Aufklärungen erhal-
ten. Soviel aber ist gleich hier offenbar, wie in der
Vorstellung des Menschen von sich selbst, nothwendig
das Selbst den Kern des Sich abgeben müsse; indem
fast alle die gemeinsten Wahrnehmungen und Gefühle
des eigenen Leibes in dem Kreise der Reciprocität um-
laufen. Man denke sich ein paar Kinder, die um ein
Stück Brod streiten: jedes will das Brod für sich; und
so ist ihm das eigne Selbst, und auch das Selbst des
Anderen, vollkommen klar.


Anmerkung.

Der Begriff der Selbstheit, und wenn man will, der
Selbstbestimmung, hätte weit eher einen Platz unter den
Kategorien verdient, als der Begriff der Gemeinschaft,
welches Wort, ganz wider den Sprachgebrauch, bey
[270]Kant soviel heiſsen soll, als Wechselwirkung. Diese
letztere ist ihrem wahren Begriffe nach nichts als Cau-
salität zweymal gedacht, rückwärts und vorwärts zwischen
zwey Dingen. Daran knüpfte Kant sogar den ganz un-
erträglichen, durch ein bloſses Sophisma eingeführten,
für die Metaphysik und Physik grundverderblichen Satz
von einer allgemeinen Wechselwirkung aller Substanzen
im Raume. Doch von Kants falschen Causalitäts-Be-
griffen wird tiefer unten die Rede seyn. Wie es mög-
lich war, daſs er, sammt allen seinen Nachfolgern, den
seiner Schule so wichtigen Begriff der Selbstbestimmung,
oder, wie Fichte sagte, der in sich zurückgehen-
den Thätigkeit
, bey den vorgeblichen Stammbegriffen
des menschlichen Verstandes mit aufzuführen vergaſs, ist
kaum zu begreifen.


Oder soll man glauben, er habe ihn absichtlich ver-
schmäht, als von Kategorien die Rede war? Er habe
diesen Schatz für die moralischen Begriffe aufbehalten
wollen? Freylich ist in seiner Antinomien-Lehre, wo
der Begriff der transscendentalen Freyheit, mit sehr löb-
licher Vorsicht, als ein bloſs theoretischer Begriff, ohne
praktische Beziehung behandelt wird, noch von keiner
Selbstbestimmung im strengen Sinn die Rede. Er läſst
hier die Freyheit zwar von selbst anfangen, das heiſst
aber noch nicht soviel als durch sich selbst; jenes
von selbst ist nur absolutes Werden, hingegen der Be-
griff der Selbstbestimmung erfordert ganz ausdrücklich eine
Activität des Bestimmens, woraus eine Passivität des
Bestimmt-Werdens in dem nämlichen Subjecte entstehe *).
Aber wenn dies eine absichtliche Scheidung war, damit
die praktische Vernunft allein als die Activität der Selbst-
bestimmung in der moralischen Freyheit auftrete: so blieb
diese Scheidung immer ein offenbares Versehen. Denn
die Kategorien muſsten wenigstens für die Erfahrung zu-
[271] reichen; und schon in dieser brauchen wir den Begriff
der Selbstbestimmung höchst nöthig zur Unterscheidung
des Lebenden vom Todten. Wir sehen einen Körper
in Bewegung. Dazu ist, nach den empirischen Begrif-
fen, worüber die Kategorien herrschen, eine Ursache nö-
thig; (für die Metaphysik würde diese Behauptung, wenn
sie in voller Allgemeinheit ausgesprochen wird, eine arge
Uebereilung seyn; allein das gehört nicht hieher.) Wo
liegt nun diese Ursache? Wächst die Pflanze, und be-
wegt sich das Thier, weil ein äuſserer Anstoſs geschah?
Wir beobachten; und finden die Antriebe, welche von
auſsen kommen, bey weitem nicht genügend, um die Be-
wegungen zu erklären. Also verlegen wir die gesuchte
Ursache in den Gegenstand selbst hinein; wir denken
uns den Keim als antreibend sich selbst zur Entwicke-
lung; das Thier als aufregend sich selbst, um von der
Stelle zu kommen. Hier ist der Begriff der Selbstbe-
stimmung, mit dessen Bejahung wir Leben, mit dessen
Verneinung wir das Todte setzen; so daſs er überall zur
Anwendung kommt.


Ueber den psychologischen Mechanismus in der Vor-
stellung der Selbstbestimmung läſst sich noch etwas hin-
zusetzen. Wenn die Complexion a A α, mit welcher eine
Reihe a, b, c, β, α verbunden ist, sich hebt: so ge-
schieht zweyerley zugleich. Die Reihe wird durch α si-
multan, aber abgestuft, rückwärts (von α nach a hin)
gehoben; und zugleich läuft sie successiv von a nach α;
diese Bewegungen müssen in jedem Gliede auf eigne
Weise einander begegnen. Wenn wir einen Cirkel an-
schauen, und auf der Peripherie mit unserm Blicke um-
herlaufen: so schwebt uns zugleich von dem Puncte her,
wo wir ausgingen, auch schon der Theil des Umkreises
dunkel vor, zu dem wir erst kommen sollen; und das
Zusammentreffen geschieht nicht plötzlich im Ausgangs-
puncte, sondern schon vorher allmählig.


§. 135.

Man betrachte nun noch einmal die Complexion von
[272] Merkmalen, welche sich zusammensetzt aus den Wahr-
nehmungen des eignen Leibes, den Gefühlen der kör-
perlichen Lust und Unlust, den Vorstellungen von Bil-
dern äuſserer Dinge, welche Bilder als dem Leibe in-
wohnend, und mit ihm umherwandernd, angesehen wer-
den; endlich den Bemerkungen jener nur eben zuvor be-
schriebenen Selbstheit: man erwäge, wie diese Comple-
xion sich beym Menschen weiter und anders ausbilden
werde als beym Thiere, vorausgesetzt daſs der Mensch
nicht ganz allein, und im Stande der Wildheit, sondern
unter Bedingungen der Ausbildung überhaupt lebe und
gedeihe.


Zuvörderst, die Wahrnehmungen des eignen Leibes
machen dieselbe Complexion zu einem räumlichen Mit-
telpuncte aller Ortsbestimmungen
; und nach den
Entfernungen von diesem wird die Erreichbarkeit be-
gehrter Gegenstände
geschätzt.


Zweytens, die körperlichen Gefühle bezeichnen un-
aufhörlich ein Etwas, das an diesem Orte gegenwär-
tig
, und doch nicht ein bloſses Raum-Erfüllendes sey,
und das nur an diesem, zwar selbst unter den übrigen
Dingen beweglichen Orte sich antreffen lasse. Sie un-
terscheiden dieses Etwas von allem Anderen, das sich
auſser diesem Orte befindet.


Drittens: der nämliche bewegliche Ort ist der Sam-
melplatz
aller der Bilder von äuſsern Dingen, die ihm
inwohnen; diese Bilder werden eben dadurch ein Inne-
res
im Gegensatze gegen die äuſseren Dinge, die übri-
gens an ihren Orten vest stehen bleiben, (wenigstens
gröſstentheils,) während jenes Innere sich unter ihnen
umherbewegt.


Viertens: dieser Sammelplatz der Bilder umgiebt sich
mit ausfahrenden und eingehenden Strahlen, vermöge der
Verabscheuungen und Begehrungen; denn alles Ver-
abscheuete soll sich von da entfernen, alles
Begehrte näher heran kommen
. Dieses Sollen wird
durch
[273] durch die Hand und ihre Bewegungen jeden Augenblick
sinnlich dargestellt.


Fünftens: Ebendaselbst erscheint auch der Anfangs-
punct aller der Bewegungen
, die physiologisch mit
körperlichen Gefühlen, und durch diese psychologisch mit
den Regungen des Begehrens zusammenhängen, (man
sehe §. 129. gegen das Ende;) und die eben dadurch als
Handlungen aufgefaſst werden, daſs sich mit ihnen das
Begehrte als Erfolg complicirt. Demnach wird der Sam-
melplatz der Bilder zugleich als der Mittelpunct für Be-
gehrtes und Verabscheutes, und hiemit in engster Ver-
bindung auch als Principium von Veränderungen in
den äuſsern Dingen, also als äuſserlich thätig vor-
gestellt.


Sechstens: Ebendahin wird auch das innerlich Wahr-
genommene mit allen seinen nähern Bestimmungen ver-
legt werden, wofern die Bestandtheile des innerlich
Wahrgenommenen als Bilder äuſserer Dinge erkannt
werden, wie nach §. 133. leicht geschieht, sobald zugleich
die äuſsere Wahrnehmung ihren Fortgang hat. Das letz-
tere fehlt im Traume; daher gaukelt dieser eine Auſsen-
welt vor, die beym Erwachen sogleich nach Innen ver-
legt
, und zu dem Sammelplatze der Bilder hin verwie-
sen wird, auch wenn der Traum nichts ungereimtes
enthält. —


Nun überlege man, wie diese Complexion, die im
Laufe der Zeit
unaufhörlich neue Zusätze bekommt,
und für die es beym Menschen eine Vergangenheit und
eine Zukunft giebt, sich weiter ausbilden müsse.


Die Wahrnehmungen des eigenen Leibes sind ohne
Zweifel Anfangs sehr mannigfaltig und mächtig; allein
nachdem ihr Kreis durchlaufen ist, ermattet die Empfäng-
lichkeit für sie, und sie bilden eine wenig auffallende,
ziemlich ruhige Grundlage für das Ganze. Etwas ähnli-
ches begegnet mit den körperlichen Gefühlen, die wenig
mehr als eine augenblickliche Gewalt haben, und nur da-
durch mächtig werden, wenn sie lange Zeit gegenwärtig
II. S
[274] bleiben, oder sich oft und periodisch wiederhohlen, wie
die Gefühle von Hunger und Durst.


Hingegen der Sammelplatz der Bilder, der beym
Menschen von seinem ersten Entstehen an ungleich rei-
cher werden muſs, als beym Thiere (§. 129.), dieser ge-
winnt unaufhörlich bey dem Kinde in gebildeter mensch-
licher Gesellschaft; er gewinnt fortdauernd beym Knaben,
dem Jüngling und dem Manne. Denn es giebt immer
etwas Neues zu sehen, zu hören und zu lernen; und al-
les Gesehene, Gehörte und Gelernte kommt zu dem
Vorrathe der Bilder, die in dem Inneren, entgegengesetzt
allem Aeuſseren, ihren Platz haben. (Denn in der Au-
ſsenwelt kann ihnen kein Platz angewiesen werden.) In
der ganzen Complexion also, welche der Mensch als sein
eignes Selbst denkt, ragt über die andern Bestimmungen
diejenige hervor, daſs dieses Selbst ein vorstellendes, ein
wissendes, ein erkennendes sey; und das Uebergewicht
dieser Bestimmung wächst immer mit den Fortschritten
der Bildung.


Nach den Umständen kann auch in der nämlichen
Complexion jede der noch übrigen Bestimmungen immer
mehr Stärke bekommen. Begehrungen und Verabscheuun-
gen vervielfältigen sich gar sehr bey fortschreitender Aus-
bildung; nicht weniger wächst das Kraftgefühl dessen, der
seine Hände gebraucht, und sie mit Werkzeugen und
Maschinen bewaffnet, — ein Gefühl, das in der Schnel-
ligkeit seinen Sitz hat, womit im Augenblick des Begeh-
rens sich auch sogleich die Vorstellung einer Thätigkeit
darbietet, durch welche das Begehrte sich realisiren werde.


Aber nicht in gleichem Verhältnisse mit der Masse
der Vorstellungen von eigner äuſserer Thätigkeit, wächst
die Menge der inneren Wahrnehmungen, deren Entwik-
kelung dagegen mehr bey einer ruhigen Existenz ge-
dacht, und alsdann dem Selbstbewuſstseyn eine merklich
andre Farbe giebt, als bey den äuſserlich sehr geschäfti-
gen Menschen.


Erinnern wir uns jetzt noch an die Wirkung des
[275]Gesprächs, daſs es beym Abwesenden und Ver-
gangenen
verweilen macht (§. 130.), so sehen wir hierin
erstlich das Mittel, wodurch der Mensch sich die Vor-
stellung der Zeit ungleich weiter und vollkommner als
das Thier, auszubilden vermag; denn indem er bey ver-
schiedenen vergangenen Ereignissen verweilt, entstehn
zwischen den Zeitpuncten dieser Ereignisse, Zeitreihen,
(§. 115.), deren mehrere aneinandergefügt, eine immer
gröſsere Zeitstrecke ergeben werden, und aus deren To-
tal-Vorstellungen sich etwas, einem allgemeinen Begriffe
ähnliches, (§. 122.), nämlich eine Vorstellung von einem
Laufe der Dinge überhaupt, erzeugen muſs, das vermöge
der Associationen auf verschiedene Zeitpuncte fortgetra-
gen, sowohl in eine frühere Vergangenheit als in die
Zukunft hinausreicht. — Eben so muſs auch alles räum-
liche Vorstellen sich ausbilden durch das Verweilen beym
Abwesenden, durch das Verknüpfen der verschiedenen
räumlichen Reproductionen, die von mehrern entlegenen
Gegenständen in Gedanken ablaufen. (Vergl. §. 113. 114.)


Durch den letztern Umstand wächst die äuſsere Welt;
es wächst auch ihr Gegensatz gegen die innere; es wächst
das Verlangen, immer mehr Bilder von der äuſsern Welt
einzusammeln.


Allein bey weitem wichtiger für die Ausbildung des
Selbstbewuſstseyns ist jenes Schauen in Vergangenheit
und Zukunft. Seine früheren Zustände als frühere,
und in diesen Zuständen sein eignes Individuum erblik-
kend, findet der Mensch dieses Individuum mit anderen
Gefühlen, als mit den jetzt gegenwärtigen; dadurch er-
scheinen die jetzigen sowohl als die ehemaligen, zufäl-
lig
, denn sie erscheinen als wechselnd, indem sie ver-
mittelst negativer und positiver Urtheile (§. 123. 124.)
für verschiedene Zeiten demselben Individuum sowohl ab-
gesprochen als zugesprochen werden. Hiemit wird auch
das Ungewisse der zukünftigen Zustände eingesehen, de-
nen nun das Individuum selbst als das bleibende entge-
gensteht.


S 2
[276]

Die Auffassung des Abwesenden und Vergangenen
zusammengenommen vollendet auch erst die Ablösung
der eignen Person von der Umgebung. Jemand, der
immer nur in Einem Zimmer gelebt hätte, würde zwar,
wegen seiner Beweglichkeit im Zimmer, nicht seine Per-
son und die Sachen im Zimmer für Ein Ding halten,
(§. 132. am Ende, und §. 118.); aber doch würde er
sich und diese Sachen immer wenigstens in unvollkomm-
nen
Complexionen (§. 63.) vorstellen, so lange er sich
nicht in andern Umgebungen befunden hätte. Das Kind
weint, wenn es allein an einem unbekannten Orte bleibt,
nicht bloſs seiner Bedürftigkeit wegen, sondern weil die
Vorstellungen der bekannten Umgebung jetzt, in der un-
bekannten, eine Hemmung erleiden, die sich vermöge
des Mechanismus der Complexionen, auf die Vorstellung
von seiner eignen Person fortpflanzt. Selbst der mehr
herangewachsene Mensch empfindet eine ähnliche Hem-
mung im Dunkeln; er singt, er spricht und schreyet, um
etwas von sinnlicher Wahrnehmung zu haben, das mit
der Vorstellung von ihm selbst zusammenhänge. Sogar
unsre Kleidung wächst mehr oder weniger mit dem Ich
zusammen. — Indem aber der Mensch sich in mancher-
ley Umgebungen bewegt, und in jeder neuen sich der
abwesenden und vergangenen erinnert, wird ihm für sein
eignes Selbst jede Umgebung mehr und mehr als zufällig
erscheinen.


Ist er ferner dahin gekommen (durch Erfahrungen
und Erzählungen), daſs ihm ein ganzes menschliches Le-
ben in Einer Zeitstrecke erscheint, worin der Leib seine
Gestalt und Gröſse verändert: so lös’t sich auch einiger-
maaſsen die Auffassung des eigenen Leibes, wie sie jetzt
ist, ab von der Complexion, deren Grundlage sie An-
fangs hergab. Doch als ganz zufällig für die eigne Per-
sönlichkeit erscheint der Leib erst auf höheren Culturstu-
fen, nachdem der Tod den Verfall des Leibes vor Au-
gen gelegt, und sich eine Ahndung von Fortdauer auch
ohne diesen Leib gebildet hat, — welches bekanntlich
[277] am leichtesten durch die Träume geschieht, worin, zwar
noch mit einem Schatten des Leibes, ein Verstorbener
wieder erscheint. Ein Mittelglied geben hier die Erfah-
rungen vom Fortleben nach Verstümmelungen; wodurch
zunächst die Zufälligkeit einzelner Gliedmaaſsen für die
Persönlichkeit offenbar wird, und dann die Frage ent-
steht, ob nicht vielleicht jeder Theil des Leibes entbehr-
lich wäre in der Complexion, die nun noch aus den Bil-
dern der äuſsern Dinge, aus dem Begehren und Verab-
scheuen, und aus dem Uebrigen besteht, was die innere
Wahrnehmung darbietet. Wie selten jedoch der Mensch
sein Ich vom Leibe ganz losreiſst, das mögen die häufi-
gen Verordnungen auf den Todesfall beweisen, welche
so lauten: Hier, und auf diese Weise, will Ich
begraben seyn
!


Auf der andern Seite aber zeigen sich auch die Bil-
der äuſserer Dinge, sammt der Möglichkeit dergleichen
aufzunehmen, und sammt dem Begehren, Wirken, und
inneren Wahrnehmen, als etwas zufälliges für den
Leih
; sobald aus Beobachtungen schlafender Men-
schen der Zustand des Schlafes genauer bekannt gewor-
den ist, den Jeder auch bei sich selbst vorauszusetzen, Ur-
sachen genug findet. Doch die Erfahrungen vom Eintritt
des Schlafes nach der Ermüdung, und von der Möglich-
keit, den Schlafenden aufzuwecken, lassen bald erken-
nen, daſs hier ein leiblicher Zustand obwalte, der die
Bilder der äuſsern Dinge nicht vertilge, sondern sie,
die noch vorhandenen, nur in ihrer Wirksamkeit hem-
me. Immer sind sie also, diese Bilder oder Vorstel-
lungen, im Grunde dasjenige, was als das am meisten
Beständige, Veste und Beharrende in der ganzen Com-
plexion angesehen wird. Jedoch kann dieses nicht von
irgend einem einzelnen unter den Bildern, gesagt
werden; denn sobald die innere Wahrnehmung eine Zeit-
strecke überschaut, findet sie die Bilder als kommend
und gehend
, im mannigfaltigsten Wechsel. Aber eben
dieser Wechsel selbst, nämlich der Lauf der Vorstel-
[278] lungen, oder das Vorstellen überhaupt, und endlich
als das am meisten Beharrliche erkannt; und so bekommt
nun dieselbe Complexion, die anfangs über den Wahr-
nehmungen des eignen Leibes sich zusammenhäufte, zu
ihrem Haupt-Charakter das Vorstellen, sammt dem,
damit innigst verflochtenen, Begehren und Fühlen.
Dieser Haupt-Charakter ist demnach etwas in seinen nä-
hern Bestimmungen, (was für Gegenstände vorgestellt
werden,) unaufhörlich wechselndes; das Beständigste ist
etwas durchaus Flüchtiges, das nur, in einem allgemeinen
Begriffe gedacht, für ein Beständiges kann angesehen
werden.


Fassen wir alles zusammen: so ergiebt sich eine
Complexion, von der alle ihre Grundbestand-
theile können verneint werden, so daſs keiner
derselben ihr wesentlich zu seyn scheint
. Wie
wichtig diese Bemerkung zur Erklärung des Ich sey, wird
sich zeigen, indem wir in den §. 28. zurückblicken. Dort
wurde schon gefunden, daſs die Ichheit auf einer man-
nigfaltigen objectiven Grundlage beruhe, wovon jeder
Theil ihr zufällig sey, in so fern die übrigen Theile noch
immer das Ich stützen würden, falls jener weggenommen
wäre.


Auch erinnert man sich hier vielleicht jener Meinung
eines andern Schriftstellers, nach welcher von einem Be-
wuſstseyn des Gegenstandes geredet würde, nicht wie er
ist, sondern daſs er ist (§. 21.). Einem solchen Ge-
genstande sieht allerdings eine Complexion, von der alle
Merkmale können verneint werden, ähnlich genug. Aber
wenn sie wirklich alle auf einmal verneint werden, so fällt
der ganze Gegenstand weg. Wenn hingegen eine Com-
plexion bezeichnet wird mit …m n o p...., wo die Puncte
bedeuten, daſs etwas weggelassen ist, statt dessen auch
m n o p konnten hinweggenommen werden, wofern dagegen
etwa d e f, oder f g h, blieben: so bietet eine solche Com-
plexion immer noch für ein hinzutretendes x oder y,
einen Punct der Anknüpfung dar. Hiemit mag vorläufig
[279] die Anmerkung des §. 27. verglichen werden; wenn man
hinzudenkt, daſs die Merkmale m n o p in ihren verschie-
denen Reihen liegen.


§. 136.

Jetzt wollen wir versuchen, das Selbstbewuſstseyn zu
beschreiben, wie es wirklich ist; nur nicht etwan wie es
seyn müſste, um ein Reales (die Substanz der Seele) zur
Erkenntniſs zu bringen. — Wir verhehlen uns hiebey
nicht, daſs das wirkliche Ich ein Raum- und Zeit-We-
sen ist; aber mit folgenden nähern Bestimmungen:


1) In wiefern der eigne Leib zum Ich gerechnet
wird, befindet sich die Vorstellung desselben nicht im Zu-
stande der Evolution, sondern der Involution.


Man weiſs aus der Lehre vom Raume, daſs alle
Räumlichkeit auf Verwebung von Reihen beruht. Wenn
diese sich evolviren, so werden die Theile des Räumli-
chen auseinander gesetzt, sie kommen als ein Vieles ne-
ben einander zum Bewuſstseyn. Geschieht dies in An-
sehung des Leibes, so kommen Vorstellungen, wie:
mein Kopf, mein Arm, mein Fuſs, zum Vorschein.
Keiner dieser Theile ist je für das Ich gehalten worden;
sondern diese Vereinzelung hat auf die Frage vom Sitze
des Ich, des Geistes, der Seele geführt. Und je bestimm-
ter ein solcher Theil sich einzeln ausgedehnt und beweg-
lich zeigt, desto weniger wird man ertragen, ihn als den
Sitz der Seele zu betrachten. Der Mensch sucht densel-
ben nicht auf der Oberfläche, die er sieht, sondern in-
wendig; und am liebsten im Kopfe, den das Auge un-
mittelbar nicht gewahr wird. — Involvirte Reihen dagegen
gelten für Einheiten, wie schon im §. 100. (in der An-
merkung) gesagt wurde. Und wer von Sich redet, der
denkt in der Regel nicht an jene Frage vom Sitze der
Seele; unterscheidet auch nicht Leib und Seele.


2) Als Zeitwesen hat Jeder seine Lebensgeschichte,
aber die Vorstellung Ich erzählt keine Geschichte; zu ihr
gehört das Präsens: Ich bin! Demnach steht sie in
der Gegenwart; aber nicht als ein Neues, sondern als ein
[280] längst Bekanntes und Vorhandenes. Die Zeitreihe wird
nicht als ablaufend, sondern als abgelaufen vorgestellt;
so, daſs ein geringer Theil derselben, rückwärts genom-
men, genügt; indem die frübern Glieder unmerklich sich
im Dunkeln verlieren. Man kennt schon aus §. 100. die
rückwärts gerichtete, nicht successive, sondern simultane,
aber abgestufte Reproduction; und ihren Unterschied von
der vorwärts gehenden, wirklich ablaufenden. Soll hin-
gegen die Lebensgeschichte hinzugedacht, und das Ich
wirklich als Zeitwesen vorgestellt werden, so gehört dazu
eine Verbindung beyder Arten der Reproduction. (§. 115.)


3) Gleichwohl liegt in den wichtigsten geistigen Ele-
menten der Vorstellung Ich, im Empfinden, Erfahren,
Begehren, ursprünglich, sobald das Subject gesetzt
wird
, ein Vorwärtsgehen, wenn auch nur durch eine
unendlich kleine Reihe; wie die Reihe a b im §. 131.
Wiewohl nun solche Reihen keine bestimmte Succession,
und am wenigsten von endlicher Gröſse, anzeigen, so
wird doch durch sie das Ich als ein Trieb gedacht,
wenn auch ganz unbestimmt, ohne Angabe des Woher
und Wohin.


4) Soll die dunkle Vorstellung dieses sehr zusam-
mengesetzten Triebes deutlich hervortreten: so muſs sie
sich entwickeln als ein Trieb zum Empfinden, zum Er-
fahren, zum Denken, zum Handeln u. s. w., nach den
Kategorien der innern Apperception. Allein hier fehlt
immer zur vollen Deutlichkeit die bestimmte Richtung
des Triebes von einem Puncte zum andern. Um sie zu
gewinnen, muſs ein äuſserer Punct, ein Gegenstand
gesetzt werden, zu welchem hin, eine Reihe sichtbarer
Veränderungen gehe. Am deutlichsten also wird das
Ich erscheinen in äuſserer Thätigkeit.


Diese aber kann hier kein blindes Wirken seyn.
Die Elemente der Vorstellung Ich, und deren Complica-
tion, bringen es mit sich, daſs das Thun angesehen
werde als Eins mit dem Abbilden desselben, dem Wis-
sen. Und das hat eine zwiefache Bedeutung; denn das
[281]Thun ist zugleich ein Geschehen. Das Thun, durch-
drungen vom Wissen, ergiebt das Wollen; das Gesche-
hen, durchdrungen vom Wissen, ergiebt das Verneh-
men und Fühlen dessen, was gethan worden. Das Ich
ist vorstellend im Handeln; und vorstellend nochmals,
indem es für sich gehandelt hat. Es weiſs, was es zu
thun im Begriff ist, und weiſs auch, was es that.


5) Man bemerke nun, daſs hieraus durch eine Ab-
straction der reine Begriff des Ich in aller Strenge
sehr leicht zu erhalten ist. Es braucht nur das äuſsere
Handeln weggelassen zu werden. Alsdann bleibt statt
der nach auſsen gehenden Thätigkeit ein bloſses Wissen,
das nun keinen Gegenstand mehr hat; und statt des Vor-
nehmens und Auffassens der äuſsern Thätigkeit ein Ver-
nehmen jenes Wissens; welches letztere sich demnach
in ein Gewuſstes verwandelt. Solchergestalt bekommen
wir den Begriff vom Wissen des Wissens, welches, da
es ohne irgend einen Unterschied in Einem Puncte lie-
gen soll, identisch gesetzt wird, bloſs behaftet mit dem
Gegensatze des Objects und Subjects, oder des Wissens
und Gewuſst-Werdens.


Also haben wir den Stoff gefunden, aus welchem
sich die Schule ihr Abstractum bereitet. Hier sind wir
angelangt auf Fichte’s Gebiet.


6) Aber die Schule würde die Abstraction, die sie
selbst gebildet, leicht erkennen, wenn nur ein willkührli-
ches Denken darin läge. Nicht das Ich, sondern das
handelnde, nach auſsen hin wirkende Ich wäre dann das
Gegebene; von dem bloſsen Ich aber würde man spre-
chen wie von dem Allgemein-Begriff der Farbe oder des
Tons, der nichts zu sehen noch zu hören darbietet.


Wir haben im §. 29. gefunden, daſs die mannigfal-
tigen Vorstellungen, welche dem Ich zur objectiven
Grundlage dienen, sich unter einander aufheben müssen,
wenn die Ichheit möglich seyn soll. Dem gemäſs muſs
so gewiſs, als das Ich sich wollend und handelnd findet,
auch das Gegentheil eintreten. Und dieser Forderung
[282] wird, wie die Erfahrung lehrt, auf mehr als eine Weise
Genüge geleistet.


Jene vorwärts gehende Richtung, um derentwillen
das Ich als ein Trieb gedacht wird, ist im Allgemeinen
die vom Subject zum Object, nach §. 131. Das Bevor-
stehen der Empfindungen muſs eben so, wie vorhin die
äuſsere Thätigkeit, als begleitet vom Wissen auf dop-
pelte Weise gedacht werden. Wissend geht das Ich
der Empfindung entgegen; und abermals wissend empfängt
es sie sammt dem ihr anhängenden Wissen. So ge-
schieht es, daſs das Ich Sich empfindet.


Dies wird deutlicher in besonderen Fällen. Genie-
ſsend giebt das Ich sich hin der Lust; leidend giebt es
sich hin dem Schmerze. Mit der Lust und dem Schmerze
empfängt es sich selbst wieder. Diese Hingebung liegt
schon in der bloſsen Neugier, oder dem Beobachten
dessen, was da wird gegeben werden. In allen Fällen
ist die Hingebung das Gegentheil des Wirkens und
Handelus.


Auch hievon kann die vorerwähnte Abstraction ge-
macht werden; nur ist sie nicht so leicht wie dort, wo
das Ich als äuſsere Causalität erscheint, die man ohne
Mühe sowohl von demjenigen Wissen unterscheidet, das
in der Absicht des Handelns liegt, als von dem andern
Wissen, das in dem Auffassen des Erfolgs der Hand-
lung enthalten ist.


Dies ist die Seite des Ich, in welche sich Fichte
nicht finden konnte. Sein Ich war frey; die Auſsenwelt
war nur ein scheinbares Widerstreben, eine Reizung für
die Freyheit, daſs sie sich zeige um zu siegen. Daneben
konnte eine wahre Naturlehre nicht bestehen. Schel-
ling
hatte hier Recht zu widersprechen.


Die Hingebung kennen wir vorzugsweise in der
Liebe; und in der Frömmigkeit. Kein Wunder, wenn
die Mystiker, ihrerseits übertreibend, das wahre Ich nur
im Ertödten des Wollens und im Aufgeben des eignen,
selbstständigen Daseyns zu finden glauben.


[283]

Das wahre Ich ist dasjenige, in welchem
jenes Entgegengesetzte zum Gleichgewichte
gelangt ist
. Mit richtigem Gefühle pflegen die Dichter
erst ihren Helden hoch zu heben im Glanze des Thuns,
Besitzens und Schaffens; dann ihn fallen zu lassen; bey-
des damit er zu sich selbst komme.


Zur Vollständigkeit der Betrachtung ist hier noch zu
bemerken, daſs von dem, was wir zu thun, oder dem
wir uns hinzugeben glauben, die Wirklichkeit des Er-
folgs abweichen kann. Alsdann finden wir uns getäuscht.
Die Täuschung hebt das Ich nicht auf; denn wenn die
vorige Abstraction gemacht würde, so fiele das Objective,
worin der Gegensatz liegt, ganz heraus, und das bloſse
sich selbst begegnende Wissen bliebe rein zurück. Aber
die Ichheit complicirt sich hier mit einem schmerzlichen
Gefühl. Mit der Täuschung verglichen, erlangt die
Wahrheit ihren Werth.


Die Täuschung kann sich augenblicklich entdecken;
sie kann auch allmählig, spät, nach langem Zweifel zum
Vorschein kommen. Oft genug durchdringt sie die ganze
Lebensgeschichte des Menschen, und giebt ihr ein bitte-
res Nachgefühl. Aber das ist nicht wesentlich. Hinge-
gen allerdings wesentlich ist der Druck, die Last, welche
das Ich darum in sich trägt, weil es nur durch den
Wechsel zwischen den mancherley Arten des Thuns und
der Hingebung von der, im Einzelnen ihm zufälligen, im
Ganzen ihm nothwendigen Objectivität, deren es zur
Stütze bedarf, und die doch nicht sein wahres Selbst
ausmacht, kann gereinigt werden.


Diese Last empfindet noch wenig das unbefangene
Kind, welches den Personen, die es sprechen hört, darum
das Wort Ich nachahmt, weil es bemerkt, daſs sie es
dann gebrauchen, wann der Sprechende und der, von
welchem die Rede ist, einer und derselbe ist. Es trifft
indessen schon jetzt den wahren Sinn des Worts; denn
indem es spricht, weiſs es, was es sagen will, und ver-
nimmt auch sein Gesprochenes. Es braucht nur über-
[284] haupt zu sprechen, um Sich zu finden; mit Recht also
bezeichnet es den Sprechenden der eignen Rede mit dem
Worte Ich. Später erst, wenn aus Vorsicht das Meiste,
was über die Lippen unwillkührlich zu gleiten im Begriff
war, zurückgehalten wird, tritt das stille, innerliche Spre-
chen an die Stelle der lauten Rede; vorher war Ich Der,
welcher von Sich sprach; jetzt wird es Der, welcher sich
selbst denkt. Denn die Gedanken machen sich am leich-
testen kenntlich als zurückgehaltene Worte.


§. 137.

In der Gesellschaft, und in der Mitte der Natur-
Ordnung, bekommt in mancherley Hinsicht das Ich eine
andre Färbung.


Weit entfernt, als ein wundervolles Räthsel, mit
nothwendiger Beziehung als ein zufälliges, sich
selbst aufhebendes
, Mannigfaltiges anerkannt zu seyn,
gilt es gerade umgekehrt für den bekanntesten aller Ge-
genstände, für das einzig unmittelbar Gewuſste und Durch-
schaute; für selbstständig und absolut Eins.


Denn die geheim gehaltenen Worte scheinen inner-
lich zu sagen, was Andre erst durch die laute Rede er-
fahren. Eine zusammenhängende Folge von Empfinden,
Denken und Handeln liegt der innern Apperception vor
Augen; während Andre, so lange sie nicht sprechen, es
ungewiſs lassen, welches bey ihnen der Uebergang seyn
werde von dem Empfinden zum Handeln durch das in
ihnen verborgene Denken. Die Andern sind schon für
das Kind beständige Räthsel; es fragt sie, so oft es darf.
Es wird auch gefragt, und merkt nur zu gut, daſs es
etwas verhehlen kann. — Die äuſsern Gegenstände schei-
nen alle mancherley zu verbergen; ihre Oberfläche um-
giebt das Innere; ihre Merkmale kommen erst beym Be-
sehen, Herumwenden, Oeffnen, Probiren, allmählig zum
Vorschein; auch muſs erst ein Raum durchlaufen wer-
den, um sie finden, betrachten, untersuchen zu können.
Das Ich ist sich immer gegenwärtig. Es bewegt sich um-
her in ihrer Mitte, und entfernt sich frey von jedem, des-
[285] sen Nähe nicht länger erwünscht ist. Es hat sich immer
beysammen. Denn die kommenden Gedanken durchlau-
fen keinen Raum; während für einen ankommenden Kör-
per sich allerdings verschiedene Stellen unterscheiden las-
sen, wo er ist gesehen worden. — Also, verglichen mit
Anderem, ist das Ich bekannt, selbstständig, und Eins.


Ferner, im Gespräch findet die Ichheit fortdauernd
Nahrung. Jenes Uebergehen vom Denken zum Empfinden
und Erfahren, worauf die Bestimmung des Subjects, und
die Voraussetzung desselben vor dem Objecte, beruhet,
(§. 131.), geschieht jeden Augenblick, indem der Spre-
chende seinen Gedanken dem Andern mittheilt, damit
ihn dieser antwortend ergänze. Hìer ist immer die Ant-
wort das Eintretende, Hinzukommende, zu ihrem Voraus-
gesetzten, dem Denken. Und hier findet unaufhörlich das
Ich sich selbst, denn das Gespräch ist in gleichem Maaſse,
und in schneller, steter Abwechselung, theils Wirksam-
keit, theils Hingebung (§. 136.). Dieselbe Folge, wie
das Gespräch hat nun auch die Lebensweise, das Thun
und Leiden im geselligen Zustande; nur nach vergrö-
ſsertem Maaſse. Und was ist selbst das Verhältniſs des
Menschen zur Natur anders, als ein abwechselndes Wir-
ken und Hingeben?


Aber die Gesellschaft erweitert noch obendrein, und
beschränkt auch hinwiederum, das Wirken, und die
Pläne dazu, durch den Besitz und dessen Gränzen. Sie
macht etwas aus dem Menschen; giebt ihm Bilder des-
sen, wofür er gelten soll; unterwirft ihn den Meinungen
und Vorurtheilen. Um desto mehr wird die ganze Com-
plexion, die wir Ich nennen, was sie ohnehin war, näm-
lich höchst veränderlich; denn sie ist genau genommen
keinen Augenblick dieselbe. Sie kann überdies keine
vollkommene Complexion seyn, weil gar Mancherley
entgegengesetztes in sie hinein kommt. (Man erinnere
sich der Grundlehren über Complexionen aus den Ele-
menten der Statik des Geistes.) Vielmehr, sehr verschie-
dene Bestandtheile derselben treten bey verschiedenen
[286] Anlässen und Umständen vorzugsweise ins Bewuſst-
seyn. Meldet sich der Leib durch ein körperliches Ge-
fühl, so erheben sich die älteren Vorstellungen gleichar-
tiger Gefühle, sammt den Erinnerungen an gewisse be-
gleitende Lebensumstände. Soll irgend eine Arbeit ge-
macht werden: so regen sich Vorstellungen ehemaliger
Beschwerden bey gleicher Arbeit, ehemals gebrauchter
Mittel und angestrengter Kräfte. Zeigt sich ein Vortheil
zu gewinnen, ein Genuſs zu erhaschen, so erwachen Be-
gierden, mit welchen zugleich sich eine genuſsreiche Ver-
gangenheit in Gedanken vergegenwärtigt. Nun kommt
zwar bey allen solchen Anlässen die ganze Complexion
in einige Bewegung, aber doch in eine sehr ungleiche;
so daſs der mit dem Worte Ich benannte Gegenstand,
wiewohl er immer ein und derselbe seyn soll, sich oft-
mals kaum ähnlich sieht.


Erwacht aber vollends irgend einmal (was bey vie-
len Menschen freylich nie geschieht,) die ernstliche Frage:
Wer bin ich denn? so müssen sich nach einander
zwey ganz entgegengesetzte Bemerkungen aufdringen. Die
erste: daſs für eine einfache und bestimmte Antwort auf
diese Frage, es viel zu viel ist an dem ungeheuern Vor-
rathe der mannigfaltigsten Merkmale in der Einen Com-
plexion, die das eigne Selbst darstellen soll. Die zweyte:
daſs, wenn man anfängt abzusondern und auszuscheiden,
was alles entbehrliches, unstetes, sich selbst aufhebendes
in jener Complexion angetroffen wird, alsdann gar
Nichts
durchaus Vestes und Tüchtiges, am wenigsten
etwas solches, das von Relationen frey, das rein selbst-
ständig wäre, übrig bleibt, woran und worin man Sich
selbst ein für allemal erkennen könne.


Was die erste Bemerkung anlangt, so wird sie klä-
rer werden durch eine sehr viel weitere Ausdehnung, die
sie im folgenden Capitel erhalten muſs, wo wir sie wie-
der finden werden bey der Frage, was sind die sinn-
lichen Dinge, die wir durch Complexionen ih-
rer Merkmale kennen lernen
. Die zweyte Bemer-
[287] kung erhält ihre Erläuterung in dem Schlusse des §. 135.
Und überdies noch in den ersten Untersuchungen über
das Ich, bey welchen wir im §. 24—26. unsern Faden
angesponnen haben. Man wird finden, daſs aus dem §.
135. ein unmittelbarer Uebergang in die Reflexionen des
§. 25. offen steht, so daſs dieser die Fortsetzung von je-
nem zu enthalten scheint; und wir können jetzt die an
ganz verschiedenen Orten dieses Buches vorkommenden
Betrachtungen gleichsam in Eine Linie legen *).


Zuerst nämlich findet der Mensch Sich (aber noch
nicht als Ich) in äuſserer Wahrnehmung, nebst den Ge-
fühlen von körperlicher Lust und Unlust. Er sieht seine
Hände, er betastet seinen Leib, er sieht selbst dieser
Betastung zu, und fühlt sie zugleich in den betastenden
und den betasteten Gliedern. Weiterhin kommt die Bey-
legung von Bildern äuſserer Dinge, die Voraussetzung
des Subjects vor den Objecten; die Bestimmung des Sub-
jects als Trieb, sowohl zum Thun als zur Hingebung;
sammt der innern Wahrnehmung. Noch später wird der
Besitz und das Wechseln der Bilder, sammt dem was
daran hängt, für das Vornehmste und Wesentlichste er-
kannt; der Mensch schreibt sich eine Seele, ja selbst ei-
nen Charakter zu, und achtet dieses für vorzüglicher als
den Leib. Auf dieser Stufe wird die innere Wahrneh-
mung für die Erkenntniſsquelle des wahren Selbst ange-
sehen; und es ist dieses der Standpunct der meisten ge-
bildeten Menschen. Nun aber kommt die philosophische
Reflexion; diese macht wiederum der innern Wahrneh-
mung die ächte Selbsterkenntniſs streitig; sie will nicht
von dem Zeitwesen, dem Individuum, sondern von
dessen beharrlicher Grundlage
unterrichtet seyn.
Jetzt entdeckt es sich allmählig, daſs die Wahrnehmung
des eigentlichen Seelen-Wesens, der Substanz der Seele,
gänzlich mangele; und daſs eine solche Substanz müsse
[288]hinzugedacht seyn, auf eine Weise, die wir im fol-
genden Capitel im Allgemeinen erläutern werden. Den-
noch aber bleibt das Ich, die eigentliche, immer gleiche,
Identität des Vorstellenden und Vorgestellten. Dieses
Ich erscheint als ein Gegebenes, als die sicherste, unbe-
streitbarste Thatsache des Bewuſstseyns; selbst nach Ab-
sonderung des Individuellen, was die innere Wahrneh-
mung darbot. Dafür wird eine eigne Art der Erkenntniſs
erfunden; ein reines, intellectuelles Vermögen,
(wie bey Kant und Fichte; siehe §. 26.). Fragt man
aber, was denn das sey, das die intellectuelle An-
schauung anschaue, so kommt die Ungereimtheit in dem,
vom Individuellen losgerissenen Begriffe des Ich zum Vor-
schein, die wir im §. 27. u. s. w. erwogen, und in ihren
Folgen untersucht haben.


§. 138.

Aus allem bisher Vorgetragenen muſs nun offenbar
werden, sowohl worin die Täuschung bestehe, der wir
in Ansehung des Ich beym Anfange der Untersuchung
unterworfen waren, als auch, durch welche endliche Be-
richtigung des Begriffs vom Ich wir der Täuschung uns
entledigen sollen.


Wie bey allen Begriffen, denen ein wesentliches Er-
gänzungsstück fehlt, auf das sie sich beziehen, ohne es
zu enthalten und unmittelbar anzuzeigen: so liegt auch
beym Ich die Täuschung darin, daſs man diesen Begriff
für denkbar hält, nach Absonderung von allem Indivi-
duellen. Wer, wie Kant, das Ich für die ärmste und
gehaltloseste aller Vorstellungen ansieht, wer ihr ein ab-
gesondertes Geistesvermögen anweis’t, durch das sie ohne
Beziehung, ohne nothwendigen Zusammenhang mit un-
sern übrigen Vorstellungen, für sich allein dastehn, sich
erst hintennach an die übrigen gleichsam anlegen, oder
dieselben in ihren Schooſs aufnehmen soll: — der ist
mitten in der Täuschung befangen.


Die Täuschung führt nun in Widersprüche, welche
Anfangs nicht vollkommen entwickelt werden; sie führt
auf
[289] auf metaphysische Abwege von der Art, wie Fichte sie
vielfältig durchlaufen ist.


Es ist wahr, wenn ich mich selbst betrachte, so
finde ich eine Complexion von Merkmalen, deren jedes
als zufällig erscheint. Alle meine empirischen Vorstel-
lungen könnten fehlen, sie hängen von Lebensumständen
ab; und selbst die sogenannten reinen Anschauungen und
Kategorien, welche Manchen für ein ursprüngliches Ei-
genthum gelten, sind doch nicht so mit meiner Ichheit ver-
webt, daſs ich Mich selbst allemal und nothwendig
dächte als den Vorstellenden dieser Anschauungen
und Kategorien. Es giebt nichts in meinem ganzen Ge-
dankenkreise, das ich nicht in manchen Fällen vergäſse,
wenn ich mich selbst denke und empfinde.


Aber eine Complexion von lauter zufälligen Merkma-
len, wenn diese alle von ihr abgesondert werden, wird
unfehlbar =o. Ich sollte also mich selbst als gar
Nichts
denken; als einen mathematischen Punct in der
Mitte der Dinge. Und gerade im Gegentheil, ich bin
von meiner Existenz aufs innigste überzeugt. Dieses ge-
wiſs Existirende, Was ist es denn nun? — Nachdem
alles, als was ich gewohnt war Mich zu denken, ver-
worfen ist, bleibt nichts übrig, als mein Wissen von
mir selbst. Aber dieses Mir, wen soll es bedeuten? —
Hier wiederhohlt sich die Frage nach dem eigentlichen
Objecte des Selbstbewuſstseyns; wie im §. 27. umständ-
licher entwickelt ist.


Ich kann daher jene Complexion der zufälligen Merk-
male keinesweges ganz entbehren. Nicht nur finde ich
im gemeinen Selbstbewuſstseyn allemal mich selbst wirk-
lich
mit irgend welchen zufälligen Prädicaten behaftet, —
als denkend, handelnd, leidend, fühlend, — sondern es
muſs auch so seyn; und ich würde mich sonst gar nicht
finden.


Ein zweyter Punct der Täuschung liegt in der Iden-
tität
, welche zwischen dem Vorgestellten und dem Vor-
stellenden statt haben soll. Hier wollen wir zuerst be-
II. T
[290] merken, daſs sehr allgemein eine Vorstellung
für eine einzige gehalten wird, wenn sie schon
nichts anders ist als ein Aggregat von zum
Theil verschmolzenen Elementar-Vorstellun-
gen
. Wir sehen uns einen Gegenstand eine Weile an;
dann kehren wir uns weg und sagen: nun habe ich doch
eine Vorstellung von dem Dinge. Niemanden fällt es
ein, daſs sein Vorstellen des Gegenstandes eine Total-
kraft ist, die während des ganzen Zeitverlauſs sich aus
allen den unendlich vielen momentanen Auffassungen ge-
bildet hat; nach §. 94. u. s. w. Oder wir gehn mit ei-
nem Werkzeuge, mit einer Person um; wir sehen sie
vielemal, wir nehmen Gehör und Gefühl zu Hülfe, um
unsre Kenntniſs davon zu vollenden; viele Totalkräfte,
deren jede der eben erwähnten gleicht, sind hier ver-
schmolzen, und wirken zusammen in unsrer erlangten
Kenntniſs: allein unbekannt mit dem Mechanismus der
Vorstellungen halten wir uns an das Vorgestellte;
dieses wird für Eins genommen, weil die ganze Comple-
xion aller jener Totalkräfte zusammenwirkt; daher schrei-
ben wir uns Eine Vorstellung der Einen Sache oder Per-
son zu.


Was heiſst es nun, wenn man sagt: das Ich ist
im Bewuſstseyn gegeben als die Identität des Denkenden
und des Gedachten? In Beziehung auf diese Identität
ungefähr soviel, als ob Jemand sagt: der Schreibetisch,
an welchem ich heute arbeite, ist mir gegeben als der-
selbe, an welchem ich gestern schrieb. Soll dies bedeu-
ten: die Wahrnehmung dieses Tisches, heute und ge-
stern, ist eine und dieselbe, so liegt die Täuschung am
Tage. Gerade im Gegentheil, das Quantum Empfäng-
lichkeit, welches gestern durch die Wahrnehmung er-
schöpft wurde, trägt das seinige bey, um die heutige
neue Wahrnehmung etwas geringer zu machen (§. 100.);
denn das nämliche Vorstellen kann sich nicht zweymal
erzeugen. Dennoch entsteht, gemäſs der heutigen Em-
pfänglichkeit, heute eine neue Wahrnehmung; diese be-
[291] findet sich in gar keinem Hemmungsverhältnisse mit der
gestrigen gleichartigen, und daher würden sie vollkom-
men verschmelzen, wenn nur die gestrige sich heute ganz
ins Bewuſstseyn erheben könnte. Dieser Mangel wird
jedoch nicht gefühlt, denn was im Bewuſstseyn nicht vor-
handen ist, und zwar nach Gesetzen der Statik, das
bestimmt keine Zustände des Bewuſstseyns; wie aus allem
obigen bekannt ist. Die beyden Vorstellungen verschmel-
zen also ohne fühlbares Hinderniſs; wir aber merken
nichts von einem solchen Ereigniſs, denn wir sind, eben
durch die verschmelzenden Vorstellungen, beschäfftigt
mit dem Gegenstande, den sie beyde zusammengenom-
men darstellen. Nur indem wir uns an den Unterschied
zwischen gestern und heute erinnern, fällt es uns ein,
den nämlichen Gegenstand als einen heute und gestern
wahrgenommenen, dennoch aber als denselben in beyden
Zeitpuncten zu bezeichnen.


Nicht weit hievon verschieden ist das Ereigniſs, wenn
jene Complexion, die das eigne Selbst anzeigt, von ih-
ren zahlreichen Armen ein paar, oder auch mehrere, zu-
gleich ausstreckt, die, wenn sie ins Bewuſstseyn kommen,
zusammenfallen, und eine und dieselbe Complexion von
zwey verschiedenen Seiten mit sich emporheben. Ist ei-
ner dieser Arme diejenige Vorstellungsreihe, wodurch die
eigenen Bilder, und deren Wechsel, das Sprechen-Wol-
len, oder das Denken, und Wissen, vorgestellt wird; so
mag der andre Arm seyn was er will: es wird sich in
den allermeisten Fällen finden, daſs unter den Gegen-
ständen jenes Denkens und Wissens auch ein Bild von
dem andern Arme vorkommt. Hiemit haben wir einen
Act des Selbstbewuſstseyns; ein Wissen und ein zuge-
höriges Gewuſstes in der nämlichen Complexion; eine
scheinbare Identität des Denkenden und Gedachten.
Gleichwohl sind jene beyden Arme der Complexion zwey
unter sich verschiedene Vorstellungsreihen, die nur als
Abbild und Urbild einander entsprechen, und die beyde
vermöge ihrer Verbindung mit den übrigen Theilen der
T 2
[292] Complexion, ein und dasselbe Ding ins Bewuſstseyn
hervorstellen, dessen sowohl das Gewuſste als auch das
Wissen sey. Dieses Ding heiſst in der gemeinen Sprache
Ich; obgleich die Speculation den Begriff des Ich anders
bestimmt.


Die Speculation, so lange sie noch nicht den noth-
wendigen Zusammenhang zwischen dem Ich und dem In-
dividuum eingesehen, so lange sie noch nicht den psy-
chologischen Mechanismus kennen gelernt hat, vermöge
dessen alles complicirte als Eins, und zwey Ele-
mente einer Complexion als ein und dasselbe
Ding erscheinen, indem sie einander gegensei-
tig ins Bewuſstseyn hervorheben
: die Speculation
also in ihrem Beginnen, beschäfftigt sich mit dem all-
gemeinen Begriffe
der Ichheit, wie ihn alle Indivi-
duen auf gleiche Weise zu haben scheinen, indem sie
alle von sich in der ersten Person reden. Da hierin eine
Identität des Denkenden und Gedachten liegt, so nimmt
sie dieses streng; sie fordert, das Gedachte solle der
Actus des Denkens selbst seyn, welches sich aufhebt.
(§. 27.) Sie erklärt jedes Gedachte, das von dem Den-
ken verschieden ist, für ein Nicht-Ich. Und sie muſs
hierin streng verfahren, weil sie sonst keinen bestimmten
Begriff haben würde, an dem sie sich halten könnte.


Indem sie aber den aufgedeckten Widersprüchen
entgehen will, findet sie, daſs dem Ich eine Mannigfal-
tigkeit fremder, und zwar unter einander entgegengesetz-
ter Objecte müsse geliehen werden, die hintennach wie-
der abzusondern seyen. (§. 29.) Eben dasselbe haben
wir jetzo durch eine Analysis gefunden, wobey die zuvor
synthetisch gewonnenen Kenntnisse zu Hülfe genommen
wurden. Wir sehen: zu dem eignen Selbst werden An-
fangs eine Menge von Bestimmungen gerechnet, die alle
Demselben angehören sollen, der auch von ihnen
weiſs
; aber auch alle diese Bestimmungen lassen sich
für zufällig erklären und wieder absondern, denn sie alle
werden als wechselnd, als bald gegenwärtig bald abwe-
[293] send im Selbsthewuſstseyn erkannt, — welcher Wechsel
von den Gegensätzen und Hemmungen, sammt den da[-]
durch bestimmten Bewegungen der Vorstellungen herrührt.


Eine dritte Täuschung endlich ist diejenige, welche
durchgängig in den älteren Fichtischen Schriften herrscht,
gegen die wir uns aber schon oben erklärt haben; als
ob alles, was im Ich sich finde, unmittelbar wegen der
Natur des Ich auch wieder ein Gewuſstes werden müsse;
so daſs man der höhern Reflexionen, durch welche die
niederen selbst Gegenstände des Vorstellens werden, im
Ich so viele postuliren dürfe, als man nur immer brauche
zur Erklärung der Phänomene. Nach dieser Ansicht
dreht sich das Ich ohne Ende im Wirbel, indem es un-
aufhörlich sein eignes Subject zum Objecte macht für ei-
nen höhern subjectiven Act des Vorstellens, der alsbald
abermals das Vorgestellte werden muſs für ein neues
Vorstellen — wunderbar genug dergestalt, daſs über dem
Ablaufen dieser unendlichen Reihe keine Zeit verflieſse,
denn sonst würde das Ich niemals fertig, sondern bliebe
immer im Entstehen begriffen. An diesen Irrthum hängt
sich die transscendentale Freyheit, die in der That gar
keinen bessern Boden für sich finden kann. Der Irrthum
selbst wird begünstigt durch das Selbstbewuſstseyn bey
denen Personen, deren innere Wahrnehmung einen ho-
hen Grad von Ausbildung erlangt hat. Denn hiedurch
wird es möglich, jede Vorstellungsreihe, die sich eben
erhob, sinken zu lassen und sie zugleich durch eine andre
zu appercipiren. Ich finde mich denkend an mich selbst,
aber durch den Vorsatz Mich zu beobachten, entdecke
ich jenes Finden, und wiederum Mich als findend das
Finden, und abermals Mich als vorstellend das Finden
jenes Findens u. s. f. So kann man ein künstliches
Spiel mit sich selbst eine Zeitlang fort treiben, nur
daſs nichts dem ähnliches der Natur unserer Seele, die
überall nicht ursprünglich ein Ich, ja nicht einmal ur-
sprünglich ein vorstellendes Wesen ist, als eine eigen-
thümliche Qualität zugeschrieben werde. Irgend eine ap-
[294] percipirende Vorstellung ist jedesmal die letzte; die nicht
wieder ein Vorgestelltes wird. Und das Ich, als Gege-
benes, ist ganz und gar ein Vorgestelltes; auch das dem
Object identisch geglaubte Subject ist selbst unvermerkt
Object einer Vorstellungsreihe, die im Bewuſstseyn ist,
ohne daſs wir uns ihrer bewuſst werden; (Vergl. §. 4.
18. 125.)


Man möchte nun auf einen Augenblick bey der Frage
anstehen, ob denn nach Abzug aller dieser Täuschun-
gen von der Ichheit noch etwas übrig bleibe? oder ob
nicht vielmehr dieser Begrift gänzlich müsse verworfen
werden?


Durch Thatsachen des Bewuſstseyns läſst sich diese
Frage nicht entscheiden. Dadurch wird der Anfangs-
punct
der Untersuchung vestgestellt, aber nicht das
Resultat; vielmehr, eben indem durch das Gegebene
die Nothwendigkeit der ganzen Untersuchung, und ihre
Gültigkeit in dem Sinne verbürgt ist, daſs sie sich mit
keinem Hirngespinnst beschäfftige; nöthigt sie uns auch,
das Resultat gelten zu lassen, selbst dann, wenn es von
dem Anfang weit abweichen sollte. Am wenigsten aber
kann ein Begriff, wie der des Ich, in seinen Merkmalen
durch das Bewuſstseyn vestgesetzt werden; nachdem wir
gesehen, daſs derselbe während des Laufes der mensch-
lichen Ausbildung einer beständigen Veränderung, einem
Wachsen und Abnehmen unterworfen ist, bis er endlich,
von der Speculation ergriffen, sich in Widersprüche
verliert. (§. 137.)


Daſs die Ichheit in völliger speculativer Strenge nicht
bestehen könne, war schon entschieden, als wir diesen
Begriff der Methode der Beziehungen überlieferten, die,
indem sie die Wurzel des Widerspruchs ausreiſst, den
Begriff unvermeidlich einer Abänderung, wenn schon der
kleinsten möglichen, unterwirft. (§. 34.) Dieselbe Me-
thode giebt dagegen sogleich einen vorläufigen Umriſs
desjenigen Begriffs, in welchen sich der gegebene nach
gesetzmäſsiger Bearbeitung verwandeln muſs. Für das
[295] Ich weis’t sie uns an, zu suchen nach einer Identität des
Vorstellenden mit einem, noch zu bestimmenden, Zusam-
men mehrerer Objecte. Sollen wir nun das Problem für
aufgelös’t erkennen, so muſs klar werden, erstlich wer
der Vorstellende, zweytens was das Zusammen der meh-
rern Objecte, drittens, daſs dies Zusammen und jener
Vorstellende identisch seyen. Die Erläuterung dieser drey
Puncte müssen wir an die Grundsätze der allgemeinen
Metaphysik anknüpfen, denn wir sollen jetzt nicht mehr
ein Gegebenes analysiren, sondern ein Resultat wissen-
schaftlich veststellen.


Wir gehen also zurück auf die Voraussetzung un-
serer ganzen psychologischen Untersuchung, wir nehmen
aus der allgemeinen Metaphysik als bekannt an, daſs die
Seele ein streng einfaches, ursprünglich nicht vorstel-
lendes Wesen ist, dessen Selbsterhaltungen aber gegen
mannigfaltige Störungen durch andre Wesen, Acte des
Vorstellens ergeben. (Man vergleiche §. 31—35.) Die
Seele an sich, in ihrer einfachen, übrigens unbekannten,
Qualität, — die nicht vorstellende, — kann nicht
Subject noch Object des Bewuſstseyns werden. Aber
die Seele in Hinsicht auf alle ihre Selbsterhaltungen,
welche Vorstellungen sind, ist das wahre Subject, das
Eine, ungetheilte, aber höchst mannigfaltig thätige, des
gesammten Bewuſstseyns. Wie dieses Subject sich be-
trachten läſst als Vorstellendes zu jedem Vorgestellten,
so auch in dem besondern Falle, da das Vorgestellte
ihm selbst identisch seyn soll.


Was die Objecte anlangt, so hängt deren Mannig-
faltigkeit ab von äuſseren Störungen; dennoch empfängt
zu ihnen die Seele keinen Stoff von auſsen; vielmehr
sind sie nur vervielfachte Ausdrücke für die innere, eigne
Qualität der Seele; in ihrem Beysammenseyn ist die Seele
mit sich selbst zusammen, daher auch ohne alle weitere
Vermittelung das gleichartige und gleichzeitige Vorstel-
len Eine Totalkraft ergibt, das entgegengesetzte aber
sich ausschlieſst oder sich hemmt. Die nähern Bestim-
[296] mungen dieses Zusammen, dieser Verschmelzungen und
Hemmungen, entfalten die vorgestellte Welt; in der
Mitte der Welt aber das vorgestellte eigne Selbst. Durch-
laufend die Stufen der menschlichen Ausbildung kommt
die Seele bis zur Wissenschaft; einem Werke, wozu
der Stoff sowohl als die erzeugende Kraft herrührt von
den Vorstellungen in ihrem Zusammen. Die Wissen-
schaft redet von der Seele
, als dem Grunde der
vorgestellten Welt und des eignen Selbst. In der Wis-
senschaft ist das Wissende die Seele
. Hier
ist Wissendes und Gewuſstes Eins und dasselbe; die
Seele in dem System ihrer Selbsterhaltungen. So weiſs
Ich von Mir; nicht mit angeborner, aber mit einer auf
immer erworbenen Kenntniſs. —


Drittes Capitel.
Von unserer Auffassung der Welt, und den
damit verbundenen Täuschungen.


§. 139.

Jetzt geht der Weg unserer Untersuchung gerade
über das Feld der sogenannten Vernunftkritik; denn wir
müssen nun das Geschäfft, die Formen der Erfahrung
nach ihrem Ursprunge psychologisch zu erklären, vollends
zu Ende bringen; nachdem wir über die erste Erzengung
der räumlichen und zeitlichen Vorstellungen, desgleichen
über die Entstehung und Fortbildung des Selbstbewuſst-
seyns, schon Auskunft gegeben haben. Es kommen zu-
nächst die Begriffe von Substanz und Kraft an die Reihe;
dann die Vorstellungen von Materie und Bewegung.
Daſs hiebey weder von Kategorien noch von deren Be-
schränkung auf Gegenstände der Sinne, die Rede seyn
werde; daſs unsere Absicht weit verschieden sey von der,
[297] womit Kant sein Geschäfft betrieb, braucht kaum noch
erinnert zu werden. Wir wollen nachweisen, wie dieje-
nigen Begriffe entstehn, welche die Metaphysik weiter zu
bearbeiten hat; und in so fern muſs sie da fortfahren,
wo wir abbrechen. Wir werden also hier nicht lehren,
was man sich am Ende aller Nachforschung als Substanz
und Kraft zu denken habe; — der Verfasser dieses Buchs
war darüber längst vorher mit sich einig, ehe er es un-
ternahm, die Psychologie als besondern Theil der gan-
zen Metaphysik zu bearbeiten; — sondern wir werden
erklären, wie es möglich sey, daſs der menschliche Geist
sich so sonderbare Probleme vorlege, um derentwillen
ihm eine Metaphysik zum Bedürfniſs wird.


Der bessern Vorbereitung wegen wollen wir aber
eine andre Untersuchung voranschicken, von der es viel-
leicht nicht sogleich ins Auge fällt, wie sie mit der jetzt
angekündigten zusammenhänge; — nämlich die von der
Möglichkeit des eigentlichen, deutlichen Denkens. Da-
bey wird als bekannt vorausgesetzt, daſs die Deutlichkeit
auf der Zerlegung eines Gedankens in seine Theile, ei-
nes Begriffs in seine Merkmale beruhe, — auf dem
Auseinandersetzen, welcher Ausdruck hier so wört-
lich als möglich zu nehmen ist, denn es soll dabey auch
noch an die Schätzung, wohl gar Abmessung, des Gra-
des der Verschiedenheit unter je zwey mit einander ver-
glichenen Merkmalen gedacht werden; wie wenn die
Grade der Wärme und Kälte nach dem Thermometer,
die der Schwere nach dem Gewichte bestimmt werden.


Um hierüber Rechenschaft geben zu können, müssen
wir erst gewisser Vorstellungsarten erwähnen, die recht
füglich mit Raum und Zeit verglichen, und mit diesen
unter der Benennung Reihenformen, zusammengefaſst
werden mögen. Hiebey dürfen wir nur in den §. 100.
zurückblicken.


Wie der Raum auf abgestuften Verschmelzungen
beruht: (§. 110—114.) so erzeugen sich die Vorstellun-
gen von ähnlichen Continuen allemal unter ähnlichen
[298] Umständen. Es sey demnach eine gewisse Klasse von
einfachen Vorstellungen so beschaffen, daſs, wenn viele
derselben zugleich im Bewuſstseyn sind, alsdann aus
ihrer Qualität bestimmte Abstufungen ihres Verschmel-
zens erfolgen müssen: so ordnen sich unfehlbar diese
Vorstellungen dergestalt neben und zwischen einan-
der, daſs man sie nicht anders als auf räumliche Weise
zusammenfassen, und sich darüber nicht anders als in
solchen Worten ausdrücken kann, welche dem Scheine
nach vom Raume entlehnt, eigentlich aber eben so ur-
sprünglich der Sache angemessen sind, als wenn man
sie auf den Raum bezieht.


So machen alle Töne zusammengenommen eine ge-
rade Linie
, auf welcher Intervalle mit mathematischer
Genauigkeit abgemessen werden.


So liegt, gleichfalls gerade, alles mögliche Violett
zwischen Blau und Roth, alles mögliche Orange zwischen
Roth und Gelb, alles Grün zwischen Blau und Gelb, —
wobey wir uns um die physiologischen, physischen, che-
mischen Farbentheorien gar nicht kümmern, sondern
bloſs um Vorstellungen in der Seele. So giebt es ein
bestimmtes
Violett, Orange, Grün, welches genau in
der Mitte zwischen den Extremen liegt, und derjenige
irrt sich, welcher glaubt, das Wort Mitte sey hier eine
Metapher; vielmehr würde der Begriff des Mittleren sich
aus solchen qualitativen Continuen von selbst erzeugt ha-
ben, wenn auch an keinen Raum gedacht würde.


Woher nun hier die abgestuften Verschmelzungen
kommen, das springt von selbst in die Augen. Je grö-
ſser der Hemmungsgrad, desto geringer die
Verschmelzung
. Können demnach nur alle Töne,
alle Farben, — überhaupt alle Merkmale aus einerley
Klasse, — zugleich ins Bewuſstseyn kommen: so macht
sich die Abstufung des Verschmelzens unmittelbar von
selbst. Dies ist etwas so einfaches und ursprüngliches,
daſs es der Ausbildung des räumlichen Sehens und Ta-
stens weit vorangehn würde, wenn die äuſsere Erfahrung,
[299] die solche Merkmale nur höchst sporadisch darbietet,
darauf eingerichtet wäre, sie systematisch zusammen zu
stellen.


Alle logische Coordination ist nur in so fern genau,
in wiefern sie auf specifischen Differenzen beruht, die be-
stimmte Reihenformen bilden. Man betrachte nun eine
Bibliothek, ein System der Botanik, oder jede beliebige
Klassification, so wird der Gegenstand ohne weitere Er-
läuterung klar seyn.


Die Sachen sind für uns Complexionen von Merk-
malen. Wenn aber jedes der Merkmale seinen Platz
eingenommen hat, in dem qualitativen Continuum, wozu
es gehört, — wenn die Farbe unter den Farben, der
Klang unter den Tönen, der Geruch unter den Gerü-
chen, das Gewicht unter den Graden der Schwere, u. s. w.
die bestimmte Stelle findet: so entstehn zwey Folgen
zugleich:
erstlich, die Sache zerfällt in ihre Merkmale;
zweytens: bey der Vergleichung mit andern Sachen

ergiebt sich für jedes Paar Merkmale aus derselben Klasse,
ein bestimmtes Auſsereinander, welches sich abmessen
läſst auf dem entsprechenden qualitativen Continuum.
Z. B. Zwey Metalle haben ihre Grade der specifischen
Schwere, deren Unterschied auf der Scala der Gewichte
sichtbar wird; sie haben ihre Klänge, und diese bilden
ein Intervall auf der Tonlinie; sie haben ihre Farben,
die sammt ihrer Differenz auf der Farbentabelle können
nachgewiesen werden, u. s. w.


Von diesen beyden Folgen interessirt uns für die
Untersuchung, welche bevorsteht, eigentlich nur die erste;
das Zerfallen der Sache in ihre Merkmale, deren jedes
in einem andern
qualitativen Continuum wieder ge-
funden wird.


Hieran knüpft sich der wichtige Umstand: daſs die
Merkmale als zufällig beysammen erkannt werden,
als ein Aggregat, welches wohl auch anders sich hätte
denken lassen. Unter den verschiedenen Graden der
[300] specifischen Schwere konnte wohl ein anderer mit den
übrigen Eigenschaften des Goldes verbunden seyn; auch
bieten sich andre Grade von Dehnbarkeit, Schmelzbar-
keit, u. s. w. dar, auſser den bestimmten, welche nun
eben in der Erfahrungskenntniſs des Goldes sich zeigen.
Indem die ganzen qualitativen Continuen, oder doch
gröſsere Strecken derselben, — vor Augen liegen: erblickt
man das wirkliche Ding in der Mitte anderer Möglich-
keiten; und hiemit fängt die Erfahrung an, ihren Cha-
rakter der Zufälligkeit zu enthüllen.


Nach diesen Vorerinnerungen mag uns ein Denker,
dem in neuerer Zeit nicht immer die gebührende Ehre
widerfahren ist, nämlich Locke, näher zu unserm Ge-
genstande hinführen.


Als ein Zeichen von ächtem speculativen Geiste muſs
es Locken angerechnet werden, daſs er so sehr auf-
merksam ist auf die ganz zufällige Aggregation, in wel-
cher die beysammen gefundenen Merkmale eines und des-
selben sinnlichen Dinges sich uns darbieten. Sehr ausführ-
lich, nach gewohnter Weise, und sich oft wiederhohlend,
prägt er uns ein, daſs zwischen den Merkmalen des Goldes,
den Begriffen vom gelben, vom schweren, vom schmelzba-
ren, dehnbaren, feuerbeständigen, in Königswasser auflös-
baren Körper, sich nimmermehr eine nothwendige Ver-
knüpfung, noch eine Unverträglichkeit zwischen einigen
von diesen, und irgend welchen entgegengesetzten der
andern, auffinden lasse; daſs auch alle Physik und Che-
mie dergleichen Aggregate von Merkmalen nur immer
anwachsen mache, ohne uns jemals der Einheit, in der
sie zusammenhängen sollen, näher zu bringen. Unter
andern sagt er (Book IV, Chap. VI. §. 7.): The com-
plex ideas, that our names of the ſpecies of ſubſtances
properly ſtand for, are collections of ſuch qualities as
have been obſerved to coexiſt in an unknown ſubſtratum,
which we call ſubſtance
. Diese Stelle ist nur darin feh-
lerhaft, daſs sie nicht bloſs die Verknüpfung der Merk-
male, sondern mit einem näher bestimmenden Zusatze
[301] die Verknüpfung in einem Substrat, als etwas durch
Beobachtung
Erkanntes angiebt. Das Substrat ist
hinzugedacht, aber nicht gegeben. Dennoch ist eben
dieselbe Stelle schätzbar darum, weil sie die wahre
Real-Definition der Substanz
enthält. Denn
eben dies zu den beobachteten, den gegebenen
Complexionen von Merkmalen hinzugedachte Substra-
tum, wodurch bloſs an die Stelle des formalen Begriffs:
Verknüpfung, der reale: Princip der Einheit, ge-
setzt wird, ist die Substanz. Dieser Begriff verbürgt
seine Gültigkeit, indem er sich auf das Gegebene bezieht,
in dessen Auffassung er nothwendig entstehn muſste,
so lange nicht etwa die ganze Complexion der Merkmale
für bloſse Erscheinung gehalten wurde; so lange dagegen
ein Bedürfniſs vorhanden war, derselben Complexion
Realität, nämlich Ein gemeinschaftliches Seyn
für alle verknüpften Merkmale
, beyzulegen. Diese
Gültigkeit des Begriffs ist noch nicht Erweis von der
Wahrheit, daſs so etwas vorhanden sey; im Gegentheil,
das gemeinschaftliche Seyn der verknüpften Merkmale ist
eine metaphysische Ungereimtheit; es ist einer von jenen
Widersprüchen, aus deren gehöriger Behandlung die
metaphysischen Lehrsätze hervorgehn. Nichts desto we-
niger ist jenes Substrat, jenes gemeinschaftliche Seyn,
der wahre, und durch die Erfahrung zwar nicht un-
mittelbar gegebene, aber nothwendig herbey-
geführte
, Begriff von der Substanz. Hingegen die Er-
klärung, Substanz sey, was nur als Subject und nicht
als Prädicat existiren könne, ist eine Namen-Erklärung,
die wohl an Logik, aber an kein Gegebenes erinnert.
Kant aber, der bey Gelegenheit der Substanz ganze
Massen von Fehlern begangen hat, begeht auch den,
daſs er, um der verkehrter Weise der Erfahrung vor-
ausgesetzten
Kategorie der Substanz hintennach
Anwendbarkeit auf Erfahrungsgegenstände zu geben, die
Zeit zu Hülfe ruft; wodurch seine Substanz ein Beharr-
liches
wird, während der wahre, und gerade durch die
[302] Erfahrung selbst herheygeführte, Begriff der Substanz
gänzlich zeitlos ist; wodurch ferner der ganze Zweig
von Untersuchung verdorren muſs, der von dem Begriff
des gemeinsamen Seyns eines Mehrfachen ausgeht; wo-
durch endlich nichts weiter gewonnen wird, als daſs man
aus dem ersten Hauptprobleme der Metaphysik, in das
zweyte, in das von der Veränderung sich verirre, indem
der Begriff des Beharrlichen nur als Gegensatz des Ver-
änderlichen etwas bedeutet. Kant würde diesen und
noch viele andre Fehler sehr leicht vermieden haben,
wenn er Locken aufmerksam gelesen, und sich auf dem
Standpuncte von dessen Untersuchung gehörig orientirt,
oder noch besser, wenn er die von Locken zur Unter-
suchung zurecht gelegten Erfahrungsbegriffe, mit seinem
Scharfsinn erwogen hätte. Dieses aber hätte freylich ge-
schehen müssen, ehe ein Kantisches System existirte.


Doch wenn Kant die Winke Locke’s in Anse-
hung des Begriffs der Substanz nicht gehörig benutzte,
so mag dies seiner allgemeinen Unachtsamkeit auf den
von ihm gering geschätzten Philosophen zugeschrieben
werden. In einem andern Falle ist Leibnitz, der
Locken Schritt für Schritt verfolgt. Wir wollen ihn
wiederum verfolgen, und uns die Stellen seiner neuen
Versuche
, wo er gegen Lockens Bemerkungen über
den Begriff der Substanz streitet, zusammensuchen. Sie
finden sich im zweyten Buche Cap. 12. §. 6., Cap. 13.
§. 19., vorzüglich aber Cap. 23. §. 1., u. s. w. endlich
im vierten Buche Cap. 6. §. 4. u. s. w.; diese, wenn ich
nicht irre, werden alle seyn. Und was ist in diesen Stel-
len der Haupt-Nerv von Leibnitzens Argumenten? Et-
was höflicher als diejenigen, die mich beschuldigten, Wi-
dersprüche willkührlich ersonnen zu haben, warnt er
Locken wider das nodum in ſcirpo quaerere; „Sie schei-
nen Sich,“ sagt er, „ohne Noth Schwierigkeiten zu ma-
„chen; und ich sehe gar nicht ein, warum die nämliche
„Sache so oft und immer wieder von neuem von Ihnen
„angegriffen wird. Wenn ich mir einen Körper denke,
[303] „der zu gleicher Zeit gelb und schmelzbar ist, und der
„Capelle widersteht, so halte ich diesen Körper für ei-
„nen solchen, dessen specifisches Wesen, so unbe-
„kannt es uns auch seiner innern Beschaffen-
„heit nach seyn mag, diese Eigenschaften als
„Grundeigenschaften enthält, und durch sie we-
„nigstens verworren erkannt werden kann
*).“


Leibnitz muſs durch Locke’s Weitläuftigkeit ge-
hindert seyn, sich in dem, von ihm zwar ausgezogenen
Werke genau umzusehn; sonst würden ihm mehrere
Stellen, unter andern folgende aufgestoſsen seyn, aus der
er sehen konnte, daſs sein Gegner wenigstens einen Theil
dessen wohl wuſste, was er ihn lehren wollte: It is evi-
dent, that the bulk, figure, and motion of ſeveral bodies
about us, produce in us ſeveral ſenſations, as of colours,
ſounds, taſtes, ſmells, pleaſure, and pain, etc.
**). Trotz
dem sagt Leibnitz: „Sie scheinen noch immer anzuneh-
„men, daſs die sinnlichen Beschaffenheiten, oder, um mich
„besser auszudrücken, daſs unsre Ideen davon, nicht von
„den Figuren und natürlichen Bewegungen, sondern le-
„diglich von dem freyen Belieben Gottes, der
„uns diese Ideen giebt
, abhängen ***).“ So misver-
stand Leibnitz einige von den frommen Aeuſserungen
Locke’s! — Aber Locke fährt in jener Stelle folgen-
dermaaſsen fort: Theſe mechanical affections of bodies
having no affinity at all with those ideas they produce
in us, etc.
Wenn solche Behauptungen dem Erfinder
der prästabilirten Harmonie nicht zusagten (weil nach der
letzteren kein Uebergang von jenen mechanischen Affe-
ctionen zu unserer Erkenntniſs statt findet): so sind sie
gleichwohl viel leidlicher, als jene verworrene Kennt-
[304] niſs des specifischen Wesens Eines Dinges durch ein
Aggregat von Eigenschaften, die nimmermehr durch
Einen Gedanken
können gedacht werden, sondern
unaufhörlich als ein neben einander liegendes
Vieles
, taub bleiben gegen unsre Forderung, daſs sie
angeben sollen, was denn das Eine, was denn die Sub-
stanz sey, der sie angehören.


Die Beschuldigung des nodum in ſcirpo quaerere
wirft allemal den Verdacht auf den Beschuldiger, daſs
Er den Knoten nicht fühle, daſs er die Frage
nicht einmal verstehe
. Welches denn gewöhnlich
bey sonst guten Köpfen daher rührt, weil sie überall ihre
eignen schon fertigen Meinungen da zur Hand haben,
wo man sich erst auf den Standpunct einer beginnenden
Untersuchung zurückversetzen sollte. Wie die Kantianer
mit ihrer, aus der kategorischen Urtheilsform (ſi diis
placet!
) hergeleiteten Kategorie der Substanz, mit ihren
Sätzen vom Beharrlichen, welches ein äuſseres Ding,
eine Materie seyn muſs, deren Grundbestimmungen in
Relationen bestehn, nämlich im Anziehen und Absto-
ſsen, — sich da in den Weg stellen, wo man nach dem
Nicht-Relativen, dem Subsistirenden, dem Zeitlos-
Seyenden; dem nicht aus der Logik sondern aus
der Erfahrung
zu erkennenden, und durch die Erfah-
rung nothwendig erzeugten Begriffe der Substanz fragt: —
so konnte auch Leibnitz, der Locken überhaupt mehr
durch Zwischenreden unterbricht, als sich bemüht mit
ihm zu untersuchen, an die Substanz nicht denken, ohne
daſs ihm die innere Thätigkeit, das Vorstellen und Stre-
ben, — er konnte an die Körper nicht denken, ohne
daſs ihm der von Leben wimmelnde Fischteich, womit
er sie zu vergleichen pflegt, dabey einfiel. Begeistert,
und beynahe berauscht, (etwas minder zwar als einige
Neuere) war er von dem Gedanken des allgemeinen Le-
bens. Daher konnte er sich in den mühsamen, aufs ge-
naueste bey der Erfahrung anhebenden Gang der Unter-
suchung nicht finden, welchen derjenige wählt, der vom
all-
[305] gemeinen Leben, von der inneren ursprünglichen Thätig-
keit der Monaden nichts hören will, das ohne vollstän-
dige Prüfung der Begriffe und Sätze nach ihrer Denk-
barkeit und nach ihren Beweisen, auf gut Glück hin be-
hauptet wird.


Mit jener Bemerkung, daſs die sinnlich bekannten
Eigenschaften der Dinge ein zufälliges Aggregat bilden,
hängt aufs genaueste zusammen und führt mit ihr zu
gleichem Ziele eine andre, daſs keins der sinnli-
chen Merkmale geradehin dem Dinge zukomme,
indem Umstände erfordert werden, damit sich
das Merkmal zeige
. (So bedarf die Farbe des Lichts,
die Klänge bedürfen der Luft, u. s. w.). Locke macht
diese Bemerkung im obigen Zusammenhange; — und
Leibnitz findet sie vortrefflich! So geschieht es, wo
einer in den Zusammenhang der Gedanken des andern
nicht eindringt; er lobt hier und tadelt dort, ohne zu
merken, wie eins mit dem andern stehe und falle.


Gleichsam um die fernern Erläuterungen vorzuberei-
ten, die ich in psychologischer Hinsicht über den Ge-
genstand zu geben habe, macht Leibnitz, seiner Mei-
nung nach wider Locke, zweymal eine sehr wahre Be-
merkung, die jedoch meiner Meinung nach weder Locke
noch irgend Jemand zu verkennen gewohnt ist, und aus
der für Leibnitzen nicht das Geringste folgt. „Die
„Erkenntniſs der Dinge in concreto betrachtet geht vor
„der Kenntniſs der abstracten Dinge allemal vorher.
„Wir kennen das Warme eher als die Wärme.“


Was ist denn hier das Warme? vermuthlich die
Substanz, welche ihren Accidenzen vorausgeht, und wohl
gar voraus erkannt wird! damit ja Niemand, auf Lockens
treffende und vielfältige Warnung achtend, daran zwei-
feln, daſs wirklich das Aggregat der Merkmale selbst
die Substanz, und unsre Erkenntniſs des einen auch,
wenigstens verworrener Weise, die der andern sey! —
Und freylich denken wir eher das Aggregat, als die ein-
zelnen Bestimmungen desselben. Denn allerdings ist
II. U
[306] keine Kantische Synthesis nöthig, um aus den einzelnen
Merkmalen ein Aggregat zu machen *); sondern die
gleichzeitigen Wahrnehmungen compliciren sich ohne
Weiteres in der Einen Seele, und es wird Ein unge-
theilter Act des Vorstellens, Eine Totalkraft, vermöge
deren das sinnliche Ding als Ein Ding vorgestellt wird,
ohne den geringsten Zweifel, ob denn auch die (noch
gar nicht unterschiedenen) Merkmale zusammengenom-
men Eins, und Was für Eins sie ausmachen? Dieser
Mechanismus der Complexionen wirkt im gemeinen Vor-
stellen der Dinge überall. Wir sehen eine Flamme, und
denken das Heiſse zugleich als leuchtend, als spit-
zig
und beweglich; es fällt uns nicht ein, nach der
Einheit von heiſs und leuchtend und spitzig und
beweglich zu fragen. Wir kennen auf die Weise und
in diesem Sinne wirklich viel früher das Warme als die
Wärme. — Hintennach, viel später, und gar nicht alle
auf einmal, sondern gelegentlich eine oder die andre,
kommen die Abstractionen; es bildet sich der Begriff der
Wärme, ein andermal des Lichts, wieder ein andermal des
Spitzigen und Beweglichen; aber erst nachdem sie alle
sich zusammengefunden haben, wird nun end-
lich entdeckt
, daſs diese Merkmale, unter dem Na-
men der Flamme zusammengefaſst, nur ein Aggregat
ausmachen, und daſs man wohl fragen könne, was denn
das eigentlich für ein Stoff sey, dem diese Merkmale
zukommen? Nun endlich erst kann von einer Substanz
die Rede seyn, nachdem man dahinter gekommen ist,
daſs das Eine Ding (dessen Einheit ein psychologisches
Phänomen war,) sich in mehrere Merkmale gänzlich auf-
lösen lasse, deren bisher blindlings vorausgesetzte Ein-
heit man noch keinesweges besitze, sondern jetzt
aufzusuchen habe
; und zwar in einem übersinnlichen
[307] Gebiete, weil die Sinne von der realen Einheit keine
Kunde geben. — Dennoch dauert der nämliche psycho-
logische Mechanismus fort; und spielt selbst den Philo-
sophen gar üble und seltsame Streiche. Sie fragen sich,
ob sie die Substanz des Dinges kennen? und antworten
sich ganz ernsthaft, daſs zwar die innere Beschaffenheit
des specifischen Wesens unbekannt seyn möge, (hier
reflectiren sie auf die übersinnliche Einheit der Substanz),
daſs aber dennoch die bekannten Eigenschaften in
demselben Wesen
, (soll heiſsen: in der Complexion
von sinnlichen Merkmalen, die nur der psychologische
Mechanismus zusammenhält) als Grund-Eigenschaf-
ten enthalten seyen
, (vermuthlich wie in einem Ge-
fäſse; dessen eigene Natur wohl gar am Ende völlig
bekannt werden würde, wenn man auch noch die übri-
gen Eigenschaften wüſste, die in dasselbe Gefäſs hin-
einkommen
, indem der Physiker dem Dinge neue
Merkmale giebt durch neue Umstände, in die er es
versetzt!) — Wer da meint, daſs ich Andern Ungereimt-
heiten zur Last lege die sie nicht begehen, der erinnere
sich, daſs die Ausdrücke von der unbekannten in-
nern Beschaffenheit, die gleichwohl sinnlich
bekannte Grund-Eigenschaften enthält
, nur so
eben zuvor aus Leibnitzens Werke abgeschrieben
wurden. Diejenigen aber, welche in den neuern Wer-
ken von Kant, Fichte, Schelling, besser orientirt
sind, als bey Leibnitz und Locke, würde ich wohl
hitten dürfen, sich doch das Nachschlagen jener älteren
Bücher empfohlen seyn zu lassen.


§. 140.

Die Erwähnung der Irrthümer, unter denen man sich
bisher bewegt hat, kann fürs erste dazu dienen, uns auf
einem empirisch psychologischen Standpuncte vester zu
stellen, den gerade diejenigen am wenigsten zu benutzen
scheinen, die von der empirischen Psychologie aus die
Vernunft, oder vielmehr die Metaphysik zu kritisiren ge-
denken. Denn die Mannigfaltigkeit der Irrthümer
U 2
[308] über Substanzen und Kräfte beweiſt factisch, daſs die
Begriffe hievon im menschlichen Geiste nicht
vest stehn, daſs sie keinesweges Kategorien
oder angeborne Begriffe sind, sondern wandel-
bare Erzeugnisse
eines durch die Erfahrung
aufgeregten, durch allerley Meinungen umher-
geworfenen, Nachdenkens, welches nur dann
erst in eine sichere und bleibende Ueberzeu-
gung übergehn wird, wenn die Wissenschaft,
Metaphysik genannt, zur Reife gelangt
. Wie
die astronomische Betrachtung, die in die Weiten des
Weltbaues hinausgeht, so muſs auch die metaphysische
Forschung, welche in die Tiefen der Natur hineindringt,
mancherley Revolutionen durchlaufen, ehe sie so glück-
lich ist, solche Begriffe zu erzeugen, welche der Er-
scheinung genugthun, und mit sich selbst zusammenstim-
men. Und wie es keine angeborne Ichheit giebt, son-
dern die Selbst-Auffassung verschiedene Perioden hat,
in denen sie sehr verschiedene Resultate giebt (§. 137.)
so auch findet der menschliche Geist, indem er die Rea-
lität der Natur zu bestimmen sucht, bald Atomen, bald
Platonische Ideen oder Pythagorische Zahlen, bald ein
Eleatisches Eins, bald einen Spinozistischen Gott, der
da ist ausgedehnt und denkend, bald Substanzen als
Substrate von Eigenschaften, bald Leibnitzische Mona-
den, bald beharrliche Träger von Veränderungen und
nach auſsen wirkenden Kräften. Meint nun ein Vernunft-
kritiker ganz dogmatisch seinen Begriff von der Sub-
stanz als eine Kategorie, als eine ursprüngliche und all-
gemeine Denkform hinstellen zu können: so läuft er nicht
bloſs Gefahr, daſs man ihm auf metaphysischem Wege
die Ungültigkeit und Undenkbarkeit seines Begriffs nach-
weise, sondern er zieht sich auch noch den Vorwurf zu,
der gesammten Geschichte der Philosophie, welche in
diesem Puncte die Geschichte des menschlichen Denkens
ist, Trotz geboten zu haben. — Ich bin so dreist ge-
wesen, in meiner Metaphysik durch die Theorie der
[309] Störungen und Selbsterhaltungen den Begriff der Sub-
stanz so umzubilden, daſs er keinem von allen den vor-
erwähnten Begriffen, keinem der bisher bekannten, sich
vergleichen läſst. Meine Substanzen sind einfach, wie
das Eleatische Eins, aber in der Mehrzahl vorhanden,
und als im (intelligibeln) Raume befindlich zu denken,
wie die Leibnitzischen Monaden; sie sind diesen Mona-
den ungleich, indem sie nicht ursprünglich leben und
wahrnehmen, aber ihnen ähnlich, indem alle ihre wahre
Thätigkeit innerlich vorgeht, und nur mit geistiger Thä-
tigkeit eine Analogie verstattet; ihre räumlichen Kräfte
sind bloſser Schein, aber dieser Schein, wiewohl verschie-
den von einer Kantischen Erscheinung, ist dennoch völ-
lig gesetzmäſsig, und zunächst bestimmt durch Gesetze
der Attraction und Repulsion, nicht minder als die Kan-
tische ſubstantia phaenomenon, die Materie; — endlich
verschwinden alle diese gemachten Vergleichungen, indem
man einsieht, daſs sie nur zufällig sind, daſs aus ihnen
der Begriff von diesen Substanzen sich gar nicht zusam-
mensetzen läſst; sondern daſs man erst aus der beobach-
teten Form der Erfahrung, die uns Dinge darstellt, welche
nichts als Complexionen von Merkmalen sind, zu der
allmählig sich entwickelnden metaphysischen Erkenntniſs
gelangen muſs, unter welchen Bedingungen die eigentli-
chen Wesen in Substanzen übergehn; um von hier
aus alle jene Vergleichungen verstehen und selbst finden
zu können. Man wird zweifeln, ob meine Theorie rich-
tiger sey als eine der früheren; und ich werde mich wohl
hüten, die Theorie durch Betheuerungen bekräftigen zu
wollen. Aber eben so wenig werde ich auf die Versi-
cherungen derer achten, die da meinen, ihre Meinung
sey die wahre Aussage von den, dem menschlichen Geiste
inwohnenden Grundbegriffen von der Substanz und der
Kraft. Ist meine Theorie unrichtig: so bestätigt sie meine
jetzige Behauptung, daſs diese Begriffe ein noch unvoll-
endetes Werk sind, an welchem der menschliche Geist
fortdauernd arbeitet; sie bestätigt meinen Satz: daſs die
[310] menschliche Auffassung der Welt im Werden
begriffen ist
.


Daraus folgt dann sogleich, daſs auch die Täu-
schungen, die in diesem Werden nach einan-
der entstehen, sehr mannigfaltig, daſs sie den
verschiedenen Bildungsstufen angemessen sind,
welche successiv erreicht werden
; daſs sie also
in kein Register, etwa von Antinomieen der reinen
Vernunft, sich einschlieſsen lassen.


§. 141.

Ursprünglich ist jede Wahrnehmung (wie roth, blau,
süſs, sauer,) rein positiv, oder affirmativ; sie stellt daher
ihr Object nicht als Merkmal oder Eigenschaft eines Din-
ges, sondern gerade so dar, wie es bleiben müſste, wenn
ihm das Seyn sollte zugeschrieben werden. (Vergl. Haupt-
puncte der Metaphysik §. 1.)


Auf den gegenseitigen Hemmungen der Vorstellun-
gen unter einander beruhen die Negationen, und die
Zweifel, ob auch das Wahrgenommene sey oder nicht
sey; endlich die Unterscheidungen der Eigenschaften, de-
nen nur ein inhärentes Seyn, und eben darum kein wah-
res
Seyn zugeschrieben wird, von den Sachen, in
welche die Realität der Eigenschaften (des ersten Positi-
ven) zurück verlegt wird.


Die Wanderung der Realität aus den Eigenschaften
in die Sachen ist nur der erste Schritt zu einer weiteren
Reise. Auf höhern Bildungsstufen entsteht die Frage
nach der Einfachheit der Stoffe. Wie vorhin den Ei-
genschaften die Sachen, so werden jetzt den Sachen die
Elemente entgegengesetzt; diese sind nun das wahre
Reale; von ihnen haben die Sachen eine geliehene
Realität, nicht anders als vorhin die Eigenschaften von
den Sachen.


Die Elemente, Feuer, Wasser, Luft, Erde, —
müssen sich weiterhin die Versuche des Chemikers ge-
fallen lassen. Nun werden Sauerstoff, Wasserstoff, Stick-
stoff, das Reale; hingegen Wasser und Luft, vorhin
[311] Elemente, haben nur noch eine geliehene, das heiſst,
keine wahre Realität. Jedoch auch hiebey bleibt es nicht,
sondern:


Der Idealist findet, daſs, wie die Eigenschaften, so
die Sachen, die Elemente, die Grundstoffe des Chemi-
kers, nur Anschauungen und Gedanken sind. Dahinter
ist das Ich, welches dem Nicht-Ich Realität leiht.


Aber auch der Idealismus wird widerlegt; einfache
Wesen, ursprünglich ohne alle Mehrheit von Bestim-
mungen, treten hervor; auf das Zusammen solcher We-
sen, wird jedes Merkmal eines sinnlichen Dinges zurück-
geführt.


So wandert der Begriff des Seyn! Er zieht
sich immer tiefer hinter das sinnlich Gegebene zurück;
und immer weiter wird der Weg von diesem Gegebenen
bis zu dem Realen, wovon es getragen, woraus es er-
klärt wird. — Aber der Begriff des Seyn muſs für jede
Bildungsstufe der Erkenntniſs sich irgendwo befinden,
weil sonst Alles als Nichts vorgestellt würde.


Wo er sich finde: das ist das Erste, Charakteristi-
sche für diese Bildungsstufe in Hinsicht der ihr zuge-
hörigen Auffassung der Welt.


Hiernach richtet sich insbesondere der Begriff der
Substanz. Da nun der erste von den zuvor bemerkten
Schritten bey allen Menschen wirklich vorkommt: so
gelten dem gemeinen Verstande die Sachen für das
Seyende, und der Name Realität stammt her von res.
Die Sachen sind, psychologisch betrachtet, Complexionen
von Merkmalen; diesen wird unmittelbar das Seyn zuge-
schrieben. Es ist also die erste, gewöhnlichste
Täuschung in der Auffassung der Welt, Aggre-
gate sinnlicher Merkmale ohne Frage nach
dem Princip ihrer Einheit, für wahre Einhei-
ten, und diese eingebildeten, durch gar Nichts

(auſser durch einen psychologischen Mechanismns) ver-
knüpften Einheiten, für real zu halten; während
man sie bey einer genauern Untersuchung nicht
[312] einmal denkbar
findet, indem ein Vieles, das
sich ohne alles Band bloſs beysammen findet,
nicht Eins seyn kann
.


Wenn aber weiterhin, vermöge der Urtheile,
den eingebildeten Einheiten ein Prädicat nach dem an-
dern einzeln beygelegt wird: so lösen sich die Einheiten
auf in lauter Prädicate; und es entdeckt sich, daſs nun
für die sämmtlichen Prädicate gar kein Subject da ist.
Jetzt folgt die zweyte Täuschung; die Stelle des
Subjects, dergleichen der Prädicate wegen nicht
wohl zu entbehren ist, wird ausgefüllt durch ein
unbekanntes Substrat
, (wie bey Locke, §. 139.)
das gleichwohl nicht als schlechthin einfach, (wie ein
wahres Wesen), sondern entweder räumlich bestimmt,
(als ein Atom,) oder als Besitzer von allerley Kräften
und Thätigkeiten, (wovon die Leibnitzischen Monaden
ein Beyspiel geben) gedacht wird; und das von hier aus
zu gar mancherley vielgestaltigen Irrthümern Gelegenheit
bietet.


Zu den ärgsten unter diesen Irrthümern gehört ei-
ner, der als Verbesserung auftritt. Der Begriff des un-
bekannten Substrats sey im Grunde gänzlich leer; man
könne ihn entbehren, indem man die daran ge-
knüpften Kräfte und Thätigkeiten
(bey deren In-
härenz in dem Stoffe sich freylich nichts denken läſst)
selbst als das wahre Reale ansehn. — Dadurch
verwandelt sich das Reale nun gar in ein Relatives, das
Schlechthin gesetzte in ein Bedingtes; denn Thätigkeiten
sind nichts ohne, von ihnen zu unterscheidende, Pro-
ducte, und Kräfte nichts ohne leidende Objecte. Sol-
len die Kräfte nicht nach auſsen gehn, so kommen, als
Extreme von Ungereimtheit, jene Wirbel zum Vorschein,
worin sich die caussa sui mit dem effectus sui herumdreht.


Die letzterwähnten Irrthümer können wir jedoch hier
nicht weiter verfolgen; wir müſsten sonst die Kritik der
Systeme einzelner Philosophen vornehmen, welches uns
viel zu weit über unser Ziel hinausführen würde. Es
[313] kommt hier nur darauf an, psychologisch zu erklären,
wie derjenige Begriff der Substanz entspringe, und
im Denken erzeugt werde
, der allgemein einem Je-
den vorschwebt, sobald es ihm einfällt, die Substanz ei-
nes Dinges von dessen Beschaffenheiten zu unterschei-
den. Und diese Erklärung ist schon geleistet. Die Er-
zeugung des Begriffs der Substanz geschieht
,
wie gesagt, durch diejenigen Urtheile, in welchen
die sämmtlichen Prädicate, einzeln genommen, den
Sachen beygelegt werden. Auf welche Weise sich der-
gleichen Urtheile, nicht etwan alle auf einmal, sondern
eins nach dem andern bey vorkommenden Gelegenhei-
ten, entwickeln, ist im §. 123. gewiesen worden. Es
müssen nun allmählig alle diejenigen Urtheile sich an-
sammeln, und zugleich ins Bewuſstseyn treten, wodurch
einer Sache ihre verschiedene Merkmale einzeln genom-
men sind beygelegt worden. Alsdann ergiebt sich zu-
vörderst eine Gleichung, oder, wenn man will, eine De-
finition für diese Sache; sie ist = allen ihren Merkmalen.


Nun aber macht sich der Gegensatz fühlbar zwischen
der Einheit der Sache und der Vielheit der Merkmale.
Die Gleichung kann also nicht bestehen. Und die vori-
gen Urtheile würden sämmtlich ungereimt werden, wenn
sie bestünde. Die Sache heiſse A; ihre Merkmale seyen
a, b, c, d, e. Wäre nun A=a+b+c+d+e, so
würde der Satz, A ist a, A ist b, u. s. w. sich in die
falsche Gleichung verwandelt haben: a=a+b+c+d+e;
oder b=a+b+c+d+e, u. s. w. Daher ändert sich
nun der Ausdruck in jedem von jenen Urtheilen. Es
heiſst nun nicht mehr: A ist a, z. B. der Schnee ist
weiſs; sondern Abesitzta, der Schnee besitzt das
Kennzeichen oder die Eigenschaft der weiſsen Farbe.
Man sagt nicht, die Substanz ist ihr Accidens, sondern,
sie hat ein Accidens. Wird dieses durch die sämmtli-
chen erwähnten Urtheile durchgeführt, so ist A nur noch
der Besitzer der sämmtlichen Eigenschaften, es ist nicht
mehr durch dieselben zu definiren, sondern es bietet nur
[314] für sie den gemeinschaftlichen Anknüpfungspunct dar, es
ist ihr Träger, ihr Substrat. Dies heiſst eben so
viel, als: der Begriff der Sache verschwindet; der Be-
griff der Substanz tritt an ihre Stelle. Die Sache
glaubte man zu kennen; die Substanz ist unbekannt.
Wer noch glaubt, zu wissen was der Schnee ist, wenn
er sagt, der Schnee sey weiſs, kalt, locker, u. s. w. oder
wer noch meint, die Qualität des Goldes anzugeben,
wenn er es als einen gelben, schweren, dehnbaren, feuer-
beständigen Körper, u. s. w. beschreibt: der denkt noch
das Gold und den Schnee als Sachen, keinesweges als
Substanzen. Erst wenn er merkt, daſs diese Dinge nicht
die Summen ihrer Eigenschaften, oder rückwärts, daſs
die Summen der Eigenschaften nicht die Dinge selbst
seyn können: dann verwandeln sich für ihn die Dinge in
Substanzen. Daher liegt die Probe davon, daſs man
wirklich auf den Begriff der Substanz gekommen sey,
wirklich diesen Begriff erzeugt habe, in nichts anderm,
als in dem Gefühl der Verlegenheit, welche aus der Frage
entstehen muſs: was ist nun die Substanz? Klar
wird dieser Begriff erst, indem man den Satz rein aus-
spricht: die Substanz ist gänzlich unbekannt, indem die
Eigenschaften, die ihr anhängen, unmöglich sie selbst
seyn können.


Daſs Locke diesen Gedanken bestimmt angiebt, ist
oben bemerkt, (§. 139.). Wenn aber andre Metaphysi-
ker von der Substanz andre Erklärungen geben, so liegt
es nicht daran, daſs sie den eben entwickelten Begriff
nicht hätten, sondern daſs sie ihn überspringen; indem
sie ihn weiter erklären oder verarbeiten wollen. Und das
ist höchst natürlich. Denn freylich kann die Metaphysik
den Begriff nicht so lassen, wie er zuerst ist erzeugt
worden. Was sie aber aus ihm machen werde? das ist
eine Frage, die in den verschiedenen Systemen eine ver-
schiedene Antwort bekommt, und die nicht hieher gehört.


§. 142.

Indem wir jetzo hinübergehn zu der Untersuchung,
[315] wie der Begriff der Causalität, auf Veranlassung des
sinnlich-Gegebenen, ursprünglich erzeugt werde: dürften
wir wohl wünschen, daſs uns hier eine eben so deutliche
und nachdrückliche Hinweisung auf den Hauptpunct, möchte
zu Hülfe kommen, wie jene von Locke, in Ansehung
des Begriffs von der Substanz. Allein schwerlich wird
eine solche in den berühmten Werken unserer Vorgän-
ger zu finden seyn. Zwar deutet auch diesmal Locke
auf die rechte Stelle; man vergleiche Capitel 26. des
zweyten Buchs. Allein er ist hier nicht ausführlich; und
am wenigsten scheint er geahndet zu haben, wie weit
sich seine Nachfolger vom rechten Wege entfernen
würden.


Unter diesen wird man hier zuerst und vorzugsweise
an einen Schriftsteller denken, dessen ich bisher nicht
erwähnt habe, und dem ich in der That, so geistreich
er seine Leser zu unterhalten weiſs, doch kein groſses
Gewicht beylegen kann. Ich meine den berühmten Da-
vid Hume
; durch dessen Untersuchungen, besonders
über den Causal-Begriff, Kant so lebhaft angeregt wurde.
Mit Vergnügen zolle ich bey dieser Gelegenheit unserm
Kant den Tribut der aufrichtigen Dankbarkeit; denn
wenn Hume auf mich äuſserst wenig Wirkung macht,
so suche ich den Grund davon einzig darin, daſs gerade
Kant, ungeachtet seiner Fehlgriffe eben in dem Puncte,
worüber er wider Humen streitet, doch im Ganzen ge-
nommen für uns Deutschen eine kräftigere Gymnastik
des Geistes bereitet hat, als diejenige war, mit welcher
Er sich behelfen muſste. —


Hume beginnt seine ganze Lehre mit der Unter-
scheidung der Eindrücke und der Begriffe; er behauptet,
die letztern seyen lediglich Copieen der ersteren *). Dies
ist ein bloſser Einfall; noch dazu ein unglücklicher Ein-
fall; endlich ein so wenig überlegter Einfall, daſs eine,
[316] gleich anzugebende, leichte Folgerung, die sich hätte
daraus ziehen lassen, und die auf den rechten Weg
hätte führen können, ihm nicht einmal in den Sinn
kommt. Die Art, wie er seinen Satz zu beweisen unter-
nimmt, ist im geringsten nicht skeptisch, wohl aber
so leichtsinnig als möglich; Leibnitz würde dazu gelä-
chelt haben. Er schiebt nämlich dem Gegner den Be-
weis zu, daſs nicht jeder Begriff, den wir untersuchen,
von gleichartigen Eindrücken die Copie, oder aus solchen
Copieen zusammengesetzt sey. Man kann ihm sogleich
damit dienen, indem man ihm nur das zunächstliegende,
den wahren metaphysischen Begriff der Substanz und
Kraft, entgegenhält; welcher, gleichviel ob wahr oder
falsch, doch wenigstens vorhanden ist. Weiter beruft
er sich auf die Unmöglichkeit, daſs der Blinde von den
Farben, der Taube von Tönen einen Begriff habe; es
versteht sich aber von selbst, daſs von solchen Begriffen,
deren unmittelbarer Gegenstand die Empfindung ist, hier
nicht geredet wird. Dabey verwechselt er noch oben-
drein die Stärke einer Vorstellung mit ihrer ungehemm-
ten Klarheit, indem er behauptet, die abgezogenen Be-
griffe seyen schwach und dunkel; die Empfindungen
stark und lebhaft. Nichts weniger! Die Begriffe sind
in der Regel stark, obgleich dunkler, die Empfindung
verhältniſsmäſsig schwach, obgleich lebhaft. Der arge
Empirismus, in welchen er nun verfallen muſs, indem er
jedem Begriffe die Gültigkeit bestreitet, dessen entspre-
chende Impression nicht kann aufgewiesen werden, ist
das gröſste Unglück, was einem Denker als solchem be-
gegnen kann, indem es ihn um den besten Gewinn bringt,
der durchs Denken mag erworben werden, und der eben
hauptsächlich in den neuen Gedanken besteht, welche,
allen Impressionen unähnlich, gerade nur Producte des
Denkens sind. Wenn aber endlich Hume uns sagt, es
gebe zweyerley Impressionen, theils solche die aus der
Empfindung, theils solche die von den ins Bewuſstseyn
zurückkehrenden Begriffen herrühren: so ist beynahe un-
[317] begreiflich, daſs seinem ersten Einfalle nicht ein zweyter
nachfolgte, der sich sogleich darbietet. Dieser nämlich,
daſs, wenn einmal die rückkehrenden Begriffe eine Quelle
von neuen Impressionen sind, sie wohl auch eben
so gut neue Begriffe erzeugen könnten. Durch diesen
einfachen Gedanken wäre Hume aus dem Gefängnisse
erlös’t gewesen, in das er sich selbst sehr unnöthiger
Weise eingesperrt hatte. Er dürfte nur den Bedingungen
und Umständen nachgespürt haben, unter denen sich aus
frühern Begriffen andere und neue entwickeln; alsdann
würden ihm diese neuen Begriffe keinesweges verdächtig
geworden seyn, gesetzt auch, daſs sie als Copieen der
ersten Impressionen sich nimmermehr betrachten lieſsen.


Was nun insbesondere die Untersuchung über den
Causalbegriff anlangt: so verdirbt sich Hume dieselbe
durch die Art, wie er sie angreift. Er räumt gleich An-
fangs der Ursache eine Priorität in der Zeit vor der
Wirkung ein; — weil sonst alle Succession ver-
nichtet würde
. Gerade das Gegentheil! Es ist eine
groſse, höchst wichtige metaphysische Wahrheit, daſs die
Succession der Begebenheiten ganz und gar nicht in
der Causalität liegt, durch die sie geschehen; man muſs
die Succession aus einem ganz andern Grunde erklären.
(S. Hauptpuncte der Metaphysik §. 9.). Hume hat hier
die richtige Consequenz gesehen; daſs, wenn die Ursache
mit der Wirkung zugleich sey, alsdann aus dem Cau-
salverhältniſs der Zeitverlauf der Begebenheiten sich nicht
erklären lasse; er hatte nur Unrecht, sich vor dieser Fol-
gerung zu scheuen. Uebrigens konnte der allerpopulärste
Begriff der Ursachen und Wirkungen ihm sagen, daſs
die vollständige Ursache mit ihrer Wirkung nothwendig
streng gleichzeitig seyn müsse, denn eine Ursache ohne
Wirkung ist ungereimt; und eine Ursache, die noch
nicht
wirkt, ist so lange ungereimt, wie lange sie
ihr Wirken aufschiebt. Weiter hin überlegt er, aus
welchem Grunde man sage, es sey nothwendig, daſs je-
des Ding, dessen Existenz einen Anfang hat, auch eine
[318] Ursache haben müsse? — Hierin liegt, aufs gelindeste
gesagt, eine gefährliche Zweydeutigkeit des Ausdrucks.
Soll das Wort Existenz soviel bedeuten als reines
Seyn
, so ist die Frage verschroben, und die drey Be-
griffe des Seyn, des Anfangs, also der Zeit, und der
Causalbegriff, sind allzumal durch ihre verkehrte Zu-
sammensetzung verdorben. (Man kann hier den zweyten
und dritten Abschnitt des vierten Theils in meinem Lehr-
buch zur Einleitung in die Philosophie vergleichen.)
Soll hingegen die Frage einen richtigen Sinn haben, so
muſs man eine solche Existenz verstehen, die wirklich
anfangen könne, also nach Römischem Sinne des Worts
exiſtere, ein hervortretendes Accidens an irgend einer
Substanz, denn nur das Accidens fällt in die Zeit, nicht
aber die Substanz. Dafür nun wird sich in der That
der Grund angeben lassen, weshalb wir schon im ge-
meinen Leben sagen, das Accidens erfordere zu seinem
Hervortreten eine Ursache; und wir werden gleich mit
Mehrerem darauf kommen. Hier aber merke man zu-
vörderst, wie leicht es geschehe, daſs die falsche Stel-
lung der Frage, die ganze Untersuchung verderbe. Ver-
änderungen
sind es, und sie ganz allein, denen Ursa-
chen zugehören. Wer den Begriff des Seyn gehörig
erwogen hat, wird nimmermehr dafür eine Ursache ver-
langen; obgleich auch Leibnitz irgendwo nach einem
zureichenden Grunde fragt, warum vielmehr etwas sey
als nichts sey. Weiter kann ich mich auf diesen rein
metaphysischen Gegenstand hier nicht einlassen.


Hume behauptet nun weiter, die Begriffe der Ur-
sache und Wirkung seyen verschieden; darum seyen
sie trennbar. Er fügt ausdrücklich den Obersatz seines
Syllogismus hinzu: Alle verschiedenen Begriffe
lassen sich trennen
. Dieser Obersatz ist so offen-
bar falsch, daſs man sich fast schämen muſs, ihn zu wi-
derlegen. Kannte denn Hume nicht das erste, merkwür-
digste, aller Speculation zum Grunde liegende Factum,
daſs es Begriffe giebt, die verschieden sind, und sich
[319] dennoch auf einander beziehen, oder in einer noth-
wendigen Verknüpfung stehn? So die drey gegebenen
Stücke eines Dreyecks mit den drey zu suchenden; so
die Basis eines Logarithmensystems und der Modulus; —
doch ich habe schon in den §§. 11. und 12. Beyspiele
angeführt, wenn dergleichen überall nöthig sind.


Hiemit jedoch ist im gegenwärtigen Falle so gar
Nichts gewonnen, daſs die Frage überall nicht hätte an-
geregt werden sollen. Darauf kommt es an, ob eine
jede Veränderung müsse betrachtet werden als eine Wir-
kung; ist dies, so versteht sich, daſs sie auch eine Ur-
sach habe.


Die Beziehung nun zwischen dem Begriff der Ver-
änderung und dem der Wirkung, vermittelst des letztern
aber auf den der Ursache, — diese ists, die Hume
nicht zu finden weiſs; und die allerdings muſs nachge-
wiesen werden, wenn der Gegenstand soll aufgeklärt wer-
den. Mit seinem Nicht-zu-finden-wissen aber vermengt
Hume noch einen, ganz heterogenen Gedanken; diesen,
daſs es kein einziges Object gebe, welches die Existenz
eines andern in sich schlieſse; was so viel heiſst, als,
wir können es keinem Dinge ansehen, oder aus unserer
Kenntniſs seiner eigenen Natur schlieſsen, daſs es
auſser sich selbst, in einem andern, leidenden Ob-
jecte eine Veränderung hervorbringen werde.


Und dies letztere ist denn der Gedanke, welcher
bey Kant sich wiederhohlt findet; „es ist gar nicht
„abzusehen, wie darum, weil Etwas ist, etwas
„anderes nothwendigerweise auch seyn müsse;“

(Kants Prolegomena S. 8.) Eine groſse Wahrheit; die
leider! abermals über den eigentlichen Fragepunct gar
nichts entscheidet. Denn die Frage war nicht, ob wir,
ausgehend von dem Dinge, das man Ursache
nennt, ihm die Nothwendigkeit seines Wirkens anmer-
ken könne, sondern umgekehrt, ob wir, ausgehend
von der Veränderung
, sie nothwendig als ein Be-
wirktes ansehen müssen.


[320]

Wenn jetzo Hume sich an die Erfahrung wendet,
so thut er es wiederum auf eine Weise, wobey er die
Winke, welche diese groſse Lehrerin ihm giebt, nicht
einmal gehörig benutzt. Die Erfahrung sagt nicht bloſs,
daſs wir einmal wahrgenommene Folgen von Begeben-
heiten associiren, und durch wiederhohlte Wahrneh-
mung ähnlicher Fälle einprägen: sondern sie lehrt auch,
daſs Naturforscher, welche die Unsicherheit solcher Er-
wartungen gar wohl kennen, und deshalb auch in der
Angabe bestimmter Ursachen zu bestimmten Wir-
kungen sehr behutsam verfahren, dennoch mit gröſster
Vestigkeit irgend eine Ursache da voraussetzen, wo
sie gegen jede Association der Einbildung sich stemmen,
oder auch, wo sie in der Beobachtung noch gar nichts
finden, das sie für die Ursache zu halten sich bewogen
fänden. Diese entschiedene Voraussetzung einer, wie-
wohl unbekannten Ursache, als ein psychologisches Phä-
nomen betrachtet, kann aus bloſser Gewohnheit, wie
Hume will, auf keine Weise erklärt werden. Hier ist
die Kantische Lehre mehr befriedigend; indem eine ur-
sprüngliche Denkform angenommen wird; — die jedoch,
als bloſse Regel der Zeitfolge, den Causalbegriff nicht
erschöpfend erklärt, und wobey immer noch die Haupt-
sachen verfehlt werden, theils in der metaphysischen
Theorie der Causalität, theils, was uns hier angeht, in
der Nachweisung des psychologischen Ursprungs jenes
Begriffs.


Das Gegentheil einer jeden Beziehung, oder eines
jeden nothwendigen Zusammenhanges, einer jeden Syn-
thesis a priori zwischen zwey Begriffen, — ist der Wi-
derspruch, welcher entstehn muſs, indem Eins, das ohne
ein Anderes nicht gedacht werden kann, dennoch ohne
dies Andere gedacht wird. Auf diesen Widerspruch
müssen wir auch im gegenwärtigen Falle unsere Auf-
merksamkeit richten.


Man denke sich die Veränderung ohne Ursache.
Sogleich wird der Gedanke entstehn, daſs die Verände-
rung
[321] rung hätte unterbleiben sollen, ja daſs sie würde unter-
blieben seyn, und dagegen das jetzo veränderte Ding in
seinem vorigen Zustande
würde beharret haben.
Wenn die anziehende Kraft der Sonne wegfiele, sagt
der Astronom, so würde jeder Planet die Richtung sei-
ner Bahn, die er einmal hat, behalten; er würde in dem
Augenblicke, da die Sonne aufhörte in ihn zu wirken,
nach der Tangente seiner Bahn fortgehn. — Gleichwohl
krümmt sich die Bahn des Planeten. Geschieht dies
ohne Ursache: so liegt der Widerspruch vor Augen, daſs,
obgleich er seine vorige Bewegung noch hat, diese doch
der Richtung nach nicht mehr dieselbe ist wie zuvor.
Eben diesen Widerspruch ergeben alle Veränderungen
ohne Ursachen. Das Veränderte soll noch dasselbe, und
auch nicht dasselbe seyn wie zuvor! — Und der Wider-
spruch kann nur gelös’t werden, indem man sich weigert,
die Veränderung als etwas der eigenen Natur des verän-
derten Gegenstandes angehöriges zu betrachten; indem
man sie vielmehr als etwas Fremdes, von auſsen einge-
drungenes bezeichnet; das also auf das Aeuſsere, auf die
stets begleitenden Umstände müsse geschoben werden.


Hier finde ich mich wieder bey der schon im §. 35.
und anderwärts gegebenen Erläuterung. Um diese hier
im psychologischen Sinne zu vollenden, also, um
nachzuweisen, wie der gemeine Verstand sich den Cau-
salbegriff denke, und wieweit er damit komme, welche
Schwierigkeiten er eben dadurch für die Meta-
physik zurücklasse
: muſs ich zuerst wieder an die
Begriffe von Sachen und von Substanzen erinnern. (§. 118.
139—141.) Dabey nun werde ich allerdings zum Theil
auf Humes Weg kommen; denn in welchem unvoll-
kommenen, schlechten, der Wissenschaft unerträglichen
Zustande sich gemeinhin und groſsentheils der Be-
griff der Ursache in den Köpfen der Menschen wirklich
befinde, das hat Hume nur gar zu treffend nachgewiesen.


Sowohl das Veränderte als das Verändernde wird
ursprünglich als eine Sache aufgefaſst. Dennoch als eine
II. X
[322] Complexion von Merkmalen. Die Veränderung besteht
darin, daſs aus der Complexion ein Merkmal (wo nicht
mehrere) entweicht, ein entgegengesetztes an die Stelle
tritt. Wegen der übrigen, beharrenden Merkmale wird
dennoch die Sache für dieselbe gehalten wie zuvor.
Während nun das neue Merkmal als ein Fremdes, von
auſsen eingedrungenes angesehen wird; (denn die alte
Vorstellung der Sache, wie sie war, und die neue, wie
sie nach der Veränderung ist, hemmen und drängen ein-
ander): schreibt man ihm gleichwohl kein selbstständiges
Daseyn zu; indem man im Allgemeinen schon gewohnt
ist, ein solches Merkmal als etwas inhärirendes zu be-
trachten; oder indem es vielleicht gar nicht einmal mög-
lich ist, ihm Selbstständigkeit beyzulegen. Hat sich z. B.
die Farbe, oder die Härte geändert, so ist man aus der
Kenntniſs der sinnlichen Dinge schon geübt, dergleichen
bloſs als Eigenschaft irgend einer Sache zu betrachten;
ändert sich aber die Richtung eines bewegten Körpers,
so läſst sich die neue Richtung, da sie eine bloſse Raum-
bestimmung ist, überall nicht für sich allein denken.
Demnach ist ein Bedürfniſs vorhanden, das in der Ver-
änderung hervorgegangene Merkmal an etwas Selbststän-
diges, an eine Sache bequemer als vorhin anzulehnen.
Dies geschieht wirklich, sobald neben dem Veränderten
jedesmal eine andre, hinzugetretene Sache beobachtet
wird; als welche sich nun muſs gefallen lassen, ein Merk-
mal aufzunehmen, das zwar mit ihr verknüpft ist, näm-
lich als Glied einer von ihr ausgehenden Reihe, (wie
wenn wir das Bley als schwer und niederdrückend, das
Feuer als verzehrend, das Scheidewasser als fressend,
den Arsenik als giftig denken;) das jedoch in ihr selbst,
die auch eine Complexion von Merkmalen ist, genau ge-
nommen nicht angetroffen wird, sondern das vielmehr in
jener veränderten Sache, (der verzehrten, zerfresse-
nen, u. s. w.) Platz genommen hat. Auf diese Weise
entsteht ein neuer Begriff, der sich an den der Sachen
nicht bloſs anhängt, sondern der sich fernern Verbes-
[323] serungen
unterwerfen muſs, so oft der Begriff der
Sachen im weitern Nachdenken ein neues Ge-
präge bekommt
. Die Sachen verschwinden; Substan-
zen treten an ihre Stelle. Diese Substanzen bekommen
Kräfte, insofern sie die Träger sind von den neuen
Merkmalen anderer Dinge. Wie dergleichen Kräfte
ihnen angehören mögen, bleibt fürs erste unbestimmt, und
eben so räthselhaft, als wie ihre eignen Accidenzen
ihnen inwohnen können; oder, um ein früheres Beyspiel
anzuführen, wie einem Leibe die Bilder anderer Dinge
und Leiber inwohnen können; (§. 133.). Der Begriff
der Kraft aber verhält sich zu dem der Ursache wie der
Begriff der Substanzen zu dem der Sachen. Die Ursache
ist die Sache, die den Ursprung der Veränderung ent-
halten soll; ohne alles weitere Kopfbrechen über die
Möglichkeit solches Ursprungs. Die Kraft hingegen ist
geheimniſsvoll wie die Substanz; sie wird in dem unbe-
kannten Innern der letztern gesucht.


Für das metaphysische Nachdenken aber ist die Un-
gereimtheit im Begriffe der Kraft auffallender als die im
Begriff der Substanz. Denn einer Substanz ihre eigenen
Prädicate als inhärirende Bestimmungen, zuzurechnen,
und gleichsam das was sie einmal hat, als ihren Besitz
anzuerkennen, das scheint minder bedenklich; allein über
sie hinausschreitend, ihr ein Prädicat aufzubürden, dessen
Spur man auſser ihr selbst, in dem leidenden Gegen-
stande suchen muſs; und hinwiederum dem letzteren ein
Vermögen zu leiden beyzufügen, das heiſst, eine
Möglichkeit, in einer gewissen Rücksicht das
Gegentheil dessen zu seyn was er ist
: eine solche
Anmuthung fällt wohl selbst denjenigen beschwerlich, die
in Hinsicht der Substanz mit den gemeinen Begriffen zu-
frieden sind; und es sogar übel nehmen, wenn man sie
auf diesem Ruhekissen nicht will schlummern lassen.


Die allgemein-metaphysischen Untersuchungen über
Substanz und Kraft gehören nicht hieher. Aber aufhel-
len müssen wir noch den psychologischen Grund des
X 2
[324] Vorurtheils, die Ursache sey der Zeit nach vor der
Wirkung. Man bemerke die doppelte Zurechnung, (wenn
der Ausdruck erlaubt ist), vermöge deren das neue, in
der Veränderung hervorgetretene Merkmal theils auf die
Sache die sich verändert, theils auf die Ursache bezogen
wird. Nach geschehener Veränderung liegt unstreitig das
neue Merkmal in derjenigen Complexion von Merkmalen,
welche für die veränderte Sache gehalten wird. Aber
aus dieser, der längst wohlbekannten, wie sie früher war,
wird es verwiesen; es wird zurückgeschoben an die Ur-
sache, deren wahres Eigenthum es seyn soll. Gleich-
wohl wenn man die Ursache als eine Sache für sich be-
trachtet, befindet es sich nicht unter ihren Merkmalen;
vielmehr, der Augenschein dringt darauf, das neue Merk-
mal sey jetzo eine Eigenschaft jener Sache, die nun ein-
mal die Veränderung erlitten hat. Was für ein Begriff
kann sich daraus erzeugen? Kein anderer als dieser: in
der vorigen Zeit, als noch das veränderte Ding sich in
seiner wahren Natur zeigte, müsse das ihm neuerlich
aufgedrungene Merkmal verborgen gelegen haben in
der Ursache; aus dieser und von dieser sey es gekom-
men; und herübergewandert an den unrechten Ort, wo
es sich jetzo befinde. So verborgen denkt man sich den
Tod im Arsenik; die Gesundheit in der Arzney; als et-
was, das im Begriff ist, daraus hervorzutreten; als eine
von da ausgehende Reihe. So muſs denn die Ursache,
die da Schuld ist an der Veränderung, schon vorher
existirt haben; und wer weiſs, wie lange sie diese Schuld
schon in ihrem Herzen getragen hat! Denn daſs die
Ursache sich selbst in einer Veränderung zeige, indem
sie wirke; daſs diese Veränderung abermals eine Ursache
erfordere, und so fort, dies ist eine spätere Bemerkung,
welche sogleich in metaphysische Speculation übergeht,
und der frühern Vorstellungsart, die wir so eben erläu-
terten, den Umsturz bereitet.


[325]
Anmerkung.

Kants Lehre von der Causalität, — obgleich auf
der Kehrseite der sogenannten kritischen Philosophie der
allerdunkelste Flecken, — möchte dennoch, wie so
Manches, vor mir in gutem Frieden ruhen: wenn nicht
dieser Irrthum in der ungeheuersten Uebertreibung noch
heute verderblich fortwirkte. Der Punct, den ich vor-
zugsweise im Auge habe, ist die vorgebliche Wechsel-
wirkung aller Substanzen im Raume. Diese hat unsre
Zeit in den Spinozismus zurückgestürzt, gegen welchen
die heutigen Kantianer einen ganz unnützen Streit füh-
ren, so lange sie selbst die Fesseln einer Lehrmeinung
tragen, die, speculativ betrachtet, durchaus grundlos und
gehaltlos ist. Was für Früchte dieselbe den heutigen
Magnetiseurs gebracht habe, die hoffentlich nächstens
durch ihren berühmten starken Willen den Sirius an
die Stelle unserer Sonne zaubern werden! — das weiſs
Jedermann. — Und wenn die heutigen Schulen bemer-
ken, daſs sie es eigentlich sind, die ich hier indirect zu
bestreiten im Begriff stehe, indem ich eine der ältesten
Wurzeln ihres Irrthums bloſs lege: so mögen sie sich
nur nicht über den Vorzug wundern, welchen ich hier
dem indirecten Angriff vor dem directen einräume. Selbst
unter dem Unrichtigen und Verfehlten giebt es eine
Wahl; das Ursprüngliche ist merkwürdiger als das Ab-
geleitete, und mit dem Verständigsten mag ich mich am
liebsten beschäfftigen.


Der allgemeinste Fehler Kants in der Lehre von der
Causalität ist das, worauf er sich am meisten zu Gute
thut; die Meinung, eine eigentlich und wahrhaft meta-
physische Untersuchung über den ächten Sinn und Grund
des Causalbegriffs, ganz beseitigt; und an deren
Stelle
eine, für sich allein zureichende Nachfrage dar-
über angestellt zu haben, wie wir in der Mitte unserer
Erfahrung und Physik dazu kommen, den genannten Be-
griff anzuwenden. — Beydes war nöthig, sowohl diese
psychologische, als jene metaphysische Untersuchung;
[326] keine vermag an der Stelle der andern auch nur das Ge-
ringste zu leisten; hier so wenig, als in der Lehre von
Raum, Zeit, und Substanz. Beydes muſs streng geschie-
den werden; denn jedes ist dem andern nur wenig ähnlich.


Es giebt Stellen in Menge bey Kant, die es verra-
then, daſs er sich von einer Forderung gedrückt fühlte,
welche anzuerkennen er sich gewaltsam sträubte. Z. B.
in den Prolegomenen §. 27.; wo er von Humes Zwei-
feln spricht, und hinzusetzt: „wir sehen eben so wenig
„den Begriff der Subsistenz ein, ja wir können uns keinen
„Begriff von der Möglichkeit eines solchen Dinges, (einer
„Substanz) machen und eben diese Unbegreiflich-
„keit trifft auch die Gemeinschaft der Dinge
,
„indem gar nicht einzusehn ist, wie aus dem Zustande
eines Dinges eine Folge auf den Zustand ganz ande-
„rer
Dinge auſser ihm, und so wechselseitig, könne ge-
„zogen werden, und wie Substanzen, deren jede doch
„ihre eigene abgesonderte Existenz hat
, von ein-
„ander, und zwar nothwendig, abhängen sollen.“ Oder
noch viel stärker in der Vernunftkritik, in der Anmer-
kung zum Systeme der Grundsätze, S. 291. „Verän-
„derung ist Verbindung contradictorisch einan-
„der entgegengesetzter Bestimmungen im Da-
„seyn eines und desselben Dinges. Wie es nun
„möglich ist, daſs aus einem gegebenen Zu-
„stande ein ihm entgegengesetzter desselben
„Dinges folge, kann nicht allein keine Ver-
„nunft sich ohne Beyspiel begreiflich, sondern
„nicht einmal ohne Anschauung verständlich
„machen;
und diese Anschauung ist — die der
„Bewegung eines Puncts im Raume
“!!!


Also ein Beyspiel besitzt die ungeheure Kraft, das
Unbegreifliche begreiflich, eine Anschauung, das Un-
verständliche verständlich zu machen! Und dieses Bey-
spiel ist die Bewegung im Raume; welche, wenn auch
nicht der Eleatische Zeno ihre Ungereimtheit deutlich
genug gezeigt hätte, doch hier ein ganz und gar untaug-
[327] liches, unpassendes Beyspiel deshalb seyn würde, weil
sie den eigentlichen Unsinn im Begriff der Veränderung
gar nicht berührt. Denn die Bewegung läſst das, Was
der bewegte Körper ist
, völlig unangetastet; er ist
an allen Orten seiner Bahn vollkommen sich selbst
gleich; er ist und bleibt Eisen, oder Holz, oder Was-
ser, oder Luft, oder was er sonst seyn möge. Die Be-
wegung beunruhigt bloſs unsre Zusammenfassung dieses
Körpers mit den andern, welchen gegenüber wir ihn im
Raume anschaueten; und wir müſsten wirklich erst durch
jene vorgebliche Gemeinschaft der Dinge im Raume, ver-
blendet seyn, wenn wir nicht uns besinnen sollten, daſs
die bloſs räumliche Gegenüberstellung nur unsre
Vorstellung von den Dingen, in welcher ganz allein
sie zusammen kommen, nicht aber die Dinge selbst angeht.


Als Kant die vorstehenden Stellen niederschrieb,
hätte die mindeste Regung eines fortschreitenden Den-
kens ihn auf den Punct führen müssen, wo die wahre
Metaphysik beginnt. Seine Klage über die Unbegreiflich-
keiten, in deren Labyrinth ihn seine sogenannten syn-
thetischen Grundsätze des reinen Verstandes — der seine
Grundsätze selbst nicht versteht, mit jedem Schritte tie-
fer hinein führten, ist wirklich, mit ganz geringer Ver-
änderung der Worte, die deutliche Nachweisung des
Widersprechenden in der Erfahrung; um derentwillen
weder sie, die Erfahrung, eine Erkenntniſs ist, noch jene
Grundsätze des Verstandes irgend einen Sinn haben,
wenn nicht die Metaphysik sie zu dem macht, was sie
seyn sollen.


Und was ist denn das, wodurch Kant sich abhalten
lieſs, eine so leichte Fortschreitung des Denkens zu ma-
chen? Was ists, das seinem Vortrage den Beyfall der
Leser auch bey solchen Behauptungen verschafft, worin
die offenbare Weigerung liegt, diejenigen Gedanken rein
aus zu denken, mit denen er sich und uns beschäfftigt?
Was ists, das er Humen entgegensetzt, diesem von
ihm selbst hoch erhobenen Skeptiker, den durch Beru-
[328] fung auf den gemeinen Menschenverstand zurückgewiesen
zu haben, er dem Reid, Oswald, Beattie, Priest-
ley
, zum groſsen Vorwurfe anrechnet?


Offen will ich es aussprechen. Es ist — der ge-
sunde Menschenverstand, und nichts weiter. Dieser soll
nicht um seine Erfahrung kommen, an welcher zu zwei-
feln er nicht erträgt.


Daſs die Erfahrung objective Gültigkeit habe, die in
sich eine absolute Vestigkeit besitze, und über den Rang
einer allgemeinen, gleichförmigen Gewöhnung der Men-
schen sich weit erhebe: behauptete Kant, und leugnete
Hume
. Stark und groſs, — gröſser als er war, würde
der letztere erschienen seyn, hätte er Gelegenheit gehabt,
die kaum verhüllte petitio principii, die ihm Kant ent-
gegensetzte, selbst aufzudecken.


Aber welchen Zorn wird diese meine Behauptung
noch heute aufregen! — Ich muſs wohl bitten, mir ge-
lassen zuzuhören. Was ich hier sage, ist gar nicht neu.
Zufällig geräth mir ein älteres Buch in die Hände, wel-
ches mir bequeme Gelegenheit giebt, einen Theil meines
jetzigen Vortrags daran zu knüpfen.


Das Buch, was vor mir liegt, hat folgenden Titel:
Grundriſs der allgemeinen Logik, und kritische
Anfangsgründe zu einer allgemeinen Metaphy-
sik von L. H. Jakob, Prof. der Philosoph. zu
Halle
. 1788.


Darin steht S. 135., folgende Anmerkung:
„Ich glaube, daſs hier der rechte Ort sey, einer Schwie-
rigkeit zu begegnen, die wichtig ist, und welche Herr
Mag. Schmid schon (Kritik der r. V. 1786. S. 220. etc.)
berührt hat. Sie lautet nämlich in ihrer ganzen Stärke
so: „Wer weiſs, ob es überall nothwendig ist,
„daſs Erscheinungen durch den Verstand ver-
„knüpft werden sollen
? Erscheinungen können ja
„wohl auch ganz andern Gesetzen unterworfen seyn,
„als Verstandesgesetzen. Es könnte seyn, daſs die
„Uebereinstimmung der Natur mit einigen Verstan-
[329] „desgesetzen ein bloſser Zufall wäre. Der Verstand
„würde dann gar nichts von der Natur fordern kön-
„nen, sondern alles von ihr erwarten müssen. Viele
„Erscheinungen sind vielleicht bloſs um der Sinnlich-
„keit willen, und sollen gar nicht durch den Verstand
„verknüpft werden.“ Diesen mir äuſserst wichtig schei-
nenden Zweifel, der mir gleich beym ersten Lesen der
Kantischen Kritik aufgestoſsen ist, und den vielleicht
alle beträchtlichen Einwürfe gegen die Gesetze a priori,
zum geheimen Grunde haben, habe ich versucht, auf
folgende Art zu heben: — da die Dinge Erscheinun-
gen sind, so hält man den Verstand für berechtigt, ei-
nige Anforderungen an die Gegenstände zu machen,
nämlich solche, die in der Natur der Sinnlichkeit ge-
gründet sind. Daher wird auch gegen den Grund-
satz der Quantität und der Qualität kein Ein-
wurf vernommen
. Wenn nun der Verstand ein
von der Sinnlichkeit isolirtes Ding wäre, so würde die-
ser den Erscheinungen keine Gesetze auflegen können.
Da aber Verstand und Sinnlichkeit in einem Subjecte
angetroffen werden, und zu einem Zwecke, der Er-
kenntniſs, vereinigt sind: so können sich ihre Gesetze
unmöglich widerstreiten, weil dadurch ihre Vereinigung
selbst aufgehoben würde. Der Verstand aber kann
sich gar nicht anders wirksam beweisen, als durch
Verknüpfung der Erscheinungen. Es wird entweder
der ganze Verstandesgebrauch zerrüttet, alle Harmonie
zwischen Sinnlichkeit, Verstand und Gegenständen ge-
stört, oder die Erscheinungen müssen auch selbst un-
ter sich den Gesetzen unseres Verstandes gemäſs ver-
knüpft seyn.“ U. s. w.


Diese Stelle ist aus einem Zeitalter, das noch nicht
so dreist war, Kant besser verstehen zu wollen, als er
sich selbst verstand. Die Forderung, Erkenntniſs ei-
ner gesetzmäſsigen Erscheinungswelt soll und
muſs in der Erfahrung liegen
, galt damals, und
zwar mit Recht, für die Grund-Voraussetzung der Kan-
[330] tischen Lehre. Hätte Hume diese Gesetzmäſsigkeit ein-
geräumt, so würde ihm wahrscheinlich niemals eingefal-
len seyn, das Causal-Princip als ein Werk der Gewöh-
nung darzustellen; denn das Gewohnte läſst sich abge-
wöhnen; und die Nachweisung eines Irrthums in der an-
genommenen Vorstellungsart ist unmittelbar die Auffor-
derung, man solle sich ihrer entwöhnen; oder wenigstens
die Möglichkeit solcher Entwöhnung eingestehen.


Mir aber giebt die vorstehende Beantwortung jenes
Einwurfs, (der sich wohl besser ausführen, aber nicht
beantworten läſst,) sogleich Gelegenheit, die vermeintlich
sichern Grundsätze der Quantität und Qualität auch noch
in Anspruch zu nehmen. Es sind die bekannten Sätze:
alles räumlich Angeschaute ist eine extensive Gröſse; und,
alles Empfundene hat eine intensive Gröſse. Der erste
Satz ist factisch falsch bey den Fixsternen; denn diese
sind für unsern Sinn durchaus nichts mehr als mathema-
tische Puncte; indem sie gerade eben so erscheinen, wie
es geschehen würde, wenn ihr Durchmesser abnähme,
und die Intensität des Lichts dagegen wüchse. Der
zweyte Satz ist in so fern metaphysisch unrichtig, als die
totale Selbsterhaltung der Seele, wovon jede graduelle
Sinnes-Empfindung nur ein Bruch ist, selbst, an sich,
gar keine Gröſse hat; so wenig wie die Seele die sich
erhält. (Für uns aber sind solche Empfindungen, die
für total gelten können, allemal mit heftigen Reizungen
des Organs verknüpft: wodurch die Empfindung mit ei-
nem Schmerze gemischt wird, der sich davon nicht tren-
nen läſst; wie wenn wir in die Mittagssonne schauen,
eine heftige, betäubende Explosion hören, u. d. gl.) Man
berufe sich also nur nicht zuversichtlich auf jene Grund-
sätze, die vielmehr eine sehr mangelhafte Kenntniſs der
Bedingungen beweisen, unter welchen sich die sinnlichen
Empfindungen erzeugen.


Daſs übrigens Verstand und Sinnlichkeit zu einem
Zwecke vereinigt wären, wird die heutige Welt schwer-
lich bereitwilliger einräumen, als ich einräume, daſs man
[331] die Möglichkeit einer Erfahrung postulire, deren Un-
gereimtheit
ich gezeigt habe; und deren Ungereimtheit
Kant selbst in den vorhin von ihm angeführten, und
ähnlichen Stellen, wider seinen Willen verräth. Aber
man sieht aus dieser zu Hülfe gerufenen, postulirten
Zweckmäſsigkeit gar leicht das richtige Gefühl hervor-
blicken, daſs, ohne sie, die objective Bevestigung der
Erfahrung durch den Verstand, sehr zweifelhaft sey.


Bey dem Allen nun darf nie vergessen werden, daſs
ich den Zwang, welchen uns die Erfahrung anthut, nicht
ableugne, vielmehr selbst zum Princip meiner Untersu-
chungen gemacht habe. Wir können die Empfindung
nicht aufheben; wir können die Complexionen und Rei-
hen, worin sie sich giebt, nicht abändern; wir können
nicht rückwärts, aber wir müssen vorwärts; und hinaus
über die gemeinen Erfahrungsbegriffe des sogenannten
gesunden Menschenverstandes; der nichts anderes ist als
ein nur kaum angefangenes Denken.


Was wollte aber Kant, was will seine Schule mit
der ewig wiederhohlten Entschuldigung: wir reden nicht
von Dingen an sich, sondern nur von Erschei-
nungen
? Nichts anders, als sich dem innerlich gefühl-
ten Antriebe zum Denken entgegenstemmen. Jene Ent-
schuldigung heiſst nichts Anderes als: für Erscheinun-
gen sind unsere Begriffe gut genug
.


Auch daran zweifle ich noch; um aber der Untersu-
chung hierüber näher zu treten, wollen wir uns zuerst
die Erfahrung, so wie sie gefunden wird, etwas vollstän-
diger vergegenwärtigen.


Sie fällt sichtbar zwischen den ungeheuern, alle
denkbare Beobachtung übersteigenden, völlig transscen-
denten Satz von der allgemeinen Wechselwirkung
alles Räumlichen, (denn die unendlich geringfügige Ge-
meinschaft des Wurms, und der Milchstraſse oder gar
der Nebelflecke, taugt besser zu rhetorischen Floskeln,
als zu irgend einem allgemeinen Erfahrungsbegriffe),
und den dürftigen, ungenügenden Satz, daſs alle Verän-
[332] derung eine Ursache habe, in die Mitte; so oft uns
irgend ein wirkliches Ereigniſs auffordert, nach seiner
Ursache zu fragen. Denn es findet sich alsdann nicht
bloſs eine Ursache, sondern ein Gewebe von Umstän-
den, die offenbar zusammenwirkten.


Nur sind wir sehr geneigt, unsre Aufmerksamkeit
hiebey auf einen ganz besonders auffallenden Punct zu
heften, und das Uebrige aus der Acht zu lassen *).


Warum sehe ich aus meinem Fenster jenen entfern-
ten Thurm? — Weil ich ans Fenster trat. Weil der
Baum weggehauen ist, der ihn verbarg. Weil die Sonne
auf den Thurm scheint. Weil ich die Augen geöffnet
habe. Weil ich ein hinlänglich scharfes Gesicht besitze.
Weil man mich aufmerksam machte. Weil mein Nach-
denken über die Gegenstände, in die ich vertieft war,
schwächer wurde.


Warum ist jener Freund krank geworden? Weil
er sich sehr erhitzt hatte. Weil ein heftiger Wind ihn
traf. Weil er sich nicht zeitig ins Bett legte. Weil
sein Arzt zu spät kam. Weil er dessen Verordnung
nicht befolgte. Weil er schon früher kränklich gewesen
war; weil er eine schwache Lunge, Leber, o. d. gl. hat;
weil er an Gicht, an Rheumatismus leidet.


Diese ganz gemeinen Beyspiele, die sich noch weiter
ausführen lassen, zeigen zwar keineswegs eine Zusammen-
wirkung des Universums, wohl aber ganz deutlich eine
Mannigfaltigkeit dessen, was man als Ursache eines
Ereignisses angeben kann. Sie erinnern, daſs der lei-
dende Gegenstand zuerst selbst als leidensfähig, als reizbar,
dann in der Mitte von andern Gegenständen, in blei-
bender Gemeinschaft mit ihnen, zu denken ist; damit
nun irgend eine von den vielen möglichen Störungen
dieser Gemeinschaft, oder auch mehrere zugleich, als
Ursachen der Veränderung angegeben werden können.
[333] Im Grunde steht der Gegenstand in einem vielfachen,
dauernden Causalverhältniſs; aber was man Ursache nennt,
ist mehr eine Abweichung, eine Anomalie in jenem Ver-
hältniſs, als das Wesentliche oder als das Ganze.


Man entdeckt nun sehr leicht, daſs die gewöhnlichen
Vorstellungsarten von der Causalität nach zwey verschie-
denen Richtungen auseinandergehn. Der Physiker, indem
er sich den ganzen Erdball vergegenwärtigt, denkt sich
alle Gravitation aller einzelnen Theile, alle chemischen
Anziehungen aller Elemente, als etwas Bestehendes, das
in verhältniſsmäſsig sehr wenigen Puncten in Verände-
rung begriffen ist. Die meisten dieser Causal-Verhält-
nisse sind dauernd, und man begeht keinen merklichen
Fehler, wenn man in Hinsicht ihrer die Zeit ganz auſser
Acht läſst.


Von ganz andrer Art sind diejenigen Causalitäten,
mit denen sich der Historiker beschäfftigt. Für ihn muſs
alles Jetzige sich darstellen als unterworfen dem Frühe-
ren; und er legt den Wirkungen eine Geschwindigkeit
bey, mit der sie fortschreiten, desgleichen eine Intensi-
tät, womit sie die Zeit erfüllen.


Diese ganz verschiedenen Causalbegriffe, (die man
ohne Metaphysik weder genau sondern, noch verbinden,
noch erklären kann,) wie verhalten sie sich zu Kants
Lehre? Hat er wirklich die beyden Gattungen trennen
wollen, indem er in der ersten, sehr ausführlichen, sich
oft wiederhohlenden Erörterung (seiner zweyten soge-
nannten Analogie) alle Veränderungen dem Causalge-
setze, und dieses wiederum gänzlich der Zeitfolge, da-
hin giebt; dann aber, (bey der dritten Analogie) auf ein
paar Blättern, gleichsam anhangsweise, als wäre von ei-
ner Kleinigkeit die Rede, alle Substanzen in Wech-
selwirkung treten läſst — um das Zugleichseyn, das
als leere Zeit nicht wahrgenommen werden kann, ob-
jectiv darzustellen? —


Sollte Jemand wirklich glauben, er habe sich den
Unterschied hiebey deutlich gedacht, so würde man
[334] wenigstens einräumen müssen, daſs es um die Ver-
knüpfung
sehr schlecht stehe. Es ist, wie vorhin an-
gedeutet, schon in der gemeinsten Erfahrung zu bemer-
ken, daſs die Grundlage der Causal-Verhältnisse dauernd,
hingegen ihr Successives nur accessorisch ist; und beym
mindesten Nachdenken leuchtet sogleich ein, daſs dieses
so seyn muſs. Eine Ursache, die noch nicht wirkt,
ist noch nicht Ursache
! Beyde müssen, ihrem ur-
sprünglichen Begriffe nach, absolut gleichzeitig seyn.
Diese unerläſsliche Bestimmung des Begriffs lieſs Kant
fahren, weil er die Kategorie anwenden wollte, und sie
nur auf das Zeitliche glaubte anwenden zu können. Aber
eben das ist falsch; und die Falschheit springt deutlich
ins Auge, weil die Anwendung den Begriff, welcher soll
angewendet werden, nicht aufheben darf, wie sie es hier
offenbar thut. Viel schwerer ist die Frage, woher es
komme, daſs sich in die Erscheinung der Wirkung
eine Succession einmischt, die ihrem Begriffe ganz fremd-
artig ist. Schon hieraus nun läſst sich schlieſsen, daſs
Kant durch die Hinterthüre herein, und durch den Ein-
gang wieder herausgegangen sey, indem er zuerst von
der Zeitfolge, dann vom Zugleichseyn die objective Dar-
stellung in der Causalität sucht. Zwey Kategorien, die
Selbstbestimmung und die Reizbarkeit, hat er ganz
vergessen, die entweder mit und neben der Wechsel-
wirkung dem allgemeinen Causalbegriff untergeordnet, oder
aber mit jener gleiche Vernachlässigung erleidend,
weggelassen werden muſsten. Von der Selbstbestimmung
war oben bey Gelegenheit des Ich die Rede; die Reiz-
barkeit wird im dritten Abschnitte vorkommen. — Nur
frage man mich nicht, ob denn auſser der Zeitfolge und
dem Zugleichseyn noch irgend welche Zeitbestim-
mungen
zu finden seyen, denen man zwey neue Kate-
gorien hätte anheften können; man frage mich auch nicht,
was denn aus der Symmetrie der Kategorientafel gewor-
den wäre, die ja nur drey Kategorien unter jedem der
vier Titel leiden kann? Ich denke, das sind Liebhabe-
[335] reyen, deren Periode vorüber ist; wo nicht, so wolle man
nur ein wenig Geduld haben; unsre Betrachtungen sind
noch nicht am Ende.


Wir müssen nun das Einzelne genauer anschn.


„Ich nehme wahr, (sagt Kant) daſs Erscheinungen
auf einander folgen. Ich verknüpfe also eigentlich zwey
Wahrnehmungen in der Zeit. Nun ist Verknüpfung
kein Werk des bloſsen Sinnes, sondern eines syntheti-
schen Vermögens. Dieses kann gedachte zwey Zustände
auf zweyerley Art verknüpfen, so, daſs der eine oder der
andere in der Zeit vorhergehe. (Nein! Das kann das
eingebildete Vermögen nicht. Sondern in der Ordnung,
wie die Empfindungen gegeben werden, verschmelzen sie
mit psychologischer Nothwendigkeit. Man sehe die Lehre
von den Vorstellungsreihen nach.) Die Zeit kann an
sich nicht wahrgenommen werden. (Das ist auch gar
nicht nöthig.) Ich bin mir also nur bewuſst, daſs meine
Imagination eines vorher, das andere nachher setze.
(Nein! meiner Imagination bin ich mir, während sich
eine Reihe von Empfindungen in mir mit bestimmter
Succession ihrer Glieder bildet, gar nicht bewuſst.) Mit
andern Worten, es bleibt durch die bloſse Wahrneh-
mung das objective Verhältniſs der einander folgenden
Erscheinungen unbestimmt. (Unrichtig, aus vorigen Grün-
den.) Damit nun dieses als bestimmt erkannt werde,
(wer hat denn diesen Zweck?) muſs das Verhältniſs
zwischen den beyden Zuständen so gedacht werden, daſs
dadurch als nothwendig bestimmt werde, welcher dersel-
ben vorher, welcher nachher, und nicht umgekehrt müsse
gesetzt werden. (Wohlan! Wir wollen uns einmal be-
liebig vorstellen, daſs wir eine solche nothwendige Be-
stimmung zu suchen hätten. Wie werden wir sie fin-
den?) Der Begriff aber, der eine Nothwendigkeit der
synthetischen Einheit bey sich führt, kann nur ein reiner
Verstandesbegriff seyn, der nicht in der Wahrnehmung
liegt; (kann eben so wenig ein bloſser Begriff als eine
Wahrnehmung, sondern muſs ein Urtheil seyn, welches
[336] aussage: es sey unmöglich, daſs man die Reihe umkeh-
ren könne. Denn die Nothwendigkeit ist nichts als Un-
möglichkeit des Gegentheils. Wer nicht versucht hat,
das Gegentheil anzunehmen, den drückt nimmermehr die
Noth, es bey dem zu lassen, was wir als nothwendig
anerkennen sollten. Das Gegentheil muſs ihn zurücksto-
ſsen, sonst bleibt er frey, über den Punct hinaus zu gehn,
wo man ihn vest heften wollte.) Jener reine Ver-
standesbegriff ist hier der Begriff des Verhält-
nisses der Ursache und Wirkung, wovon die
erste die letztere in der Zeit als Folge be-
stimmt
.


Was ist das? Wir suchten einen Begriff, der die
Zeitfolge veststellen könne; man sagt uns: hier ist einer;
den könnt ihr zu Eurem Zwecke gebrauchen. Also den
ersten besten, den wir antreffen, sollen wir, wie ein zu-
fällig gefundenes Werkzeug benutzen, ohne Ueberlegung,
wozu das Werkzeug eigentlich vorhanden sey; und ob
es für uns nicht auch andre Hülſsmittel hätte geben kön-
nen? Hätten wir eine Blume irgendwo bevestigen wol-
len, und man böte uns ein schönes seidenes Band, so
würden wir einräumen, daſs zu unserer Absicht das Band
wohl brauchbar, aber viel zu gut sey, und daſs man es
für einen bessern Gebrauch aufheben möge.


Was den wahren Causalbegriff anlangt, so ist der-
selbe völlig zeitlos; und also zu dem Zwecke, etwas in
der Zeit vestzubinden, (das noch überdies schon von
selbst darin veststand,) nicht einmal zu gebrauchen. Aber
gesetzt, man könnte jenen Bastard der Causalität, wel-
cher der Wirkung noch Zeit gönnt, während die Ur-
sache schon vorhanden ist, — jenes Kind der Bewe-
gungen
, und der psychologischen Hemmungs-
und Reproductions-Gesetze, — was wir aus der
gemeinen, ungeläuterten Erfahrung freylich lange vorher
kennen, ehe wir es metaphysisch durchforscht haben, —
hier füglich anstatt der wahren, eigentlichen Causalität
(die lediglich in den Störungen und Selbsterhaltungen
liegt,)
[337] liegt,) zum Gebrauche benutzen, und uns für den Au-
genblick eine solche Verwechselung gefallen lassen: so
wäre damit das Ziel des Kantischen Beweises noch im-
mer nicht erreicht. Denn es kam gar nicht bloſs darauf
an, zu erinnern, daſs der Causalbegriff, unter andern,
mannigfaltigen Bestimmungen, die er in sich trage, und
neben seinem übrigen vielfältigem Nutzen, auch noch
den zufälligen Vortheil gewähre, vestzustellen, was in
der Zeit hinten und vorn sey, sondern wir wollten ihn
selbst durch und durch kennen lernen; insbesondere aber
war uns daran gelegen, die Noth und Verlegenheit
zu sehen, in welche der Begriff der Verände-
rung gerathen würde, wenn man ihm die Vor-
aussetzung irgend einer Ursache wegnähme
.


Wieviel haben wir denn davon zu sehen bekommen?
Daſs sich die Reihenfolge der Veränderung umkehren
würde, wenn die Ursache sie nicht hielte? — Wenn
nur in der Veränderung überall eine, durch die Zeit
klare und begreifliche, Reihenfolge wäre! Wenn nur
nicht der Begriff der Veränderung, gerade in Anse-
hung der in ihm liegenden Zeitbestimmung hier ganz
und gar in seinem Innersten verdorben und verschroben
wäre! Wann geschieht denn die Veränderung? Etwa
dann, wann wir das vorhergehende Merkmal des Gegen-
standes in ruhiger Verweilung anschauen? Nein! Dann
hat sie noch nicht angefangen. Oder dann, wann das
nachfolgende Merkmal schon vor unsern Augen steht,
und still hält, um sich nun seinerseits zum Anblick dar-
zubieten? Wiederum nein! Dann ist die Veränderung
vorbey. Wir begreifen, daſs sie geschehn sey; und den-
ken uns einen Zeitpunct, in welchen beyde entgenge-
setzte
Merkmale, eben jetzt das eine kommend, das
andre gehend, — und gerade darum zugleich, — sich
in dem Gegenstande vorfanden. Diesen köstlichen Au-
genblick wollten wir beobachten; aber er muſs uns wohl
entschlüpft seyn. Gesehen haben wir den Widerspruch
II. Y
[338] nicht; zu denken versuchen wir, was wir eben so wenig
denkend als anschauend fassen können.


Dies Alles bey Seite gesetzt: was leistet denn nun
der Causalbegriff, nicht etwan um der Veränderung zur
Heilung ihrer innern Pein zu helfen, sondern (denn da-
von war ja die Rede) die Erscheinungen in der Zeit vest-
zustellen? Spricht er etwan zu den Erscheinungen a
und b: Eine von Euch beyden muſs die erste seyn!
Wählt nun; oder streitet; und welche von Euch den er-
sten Rang gewinnet, die soll ihn behalten! —? Nein;
er erlaubt keine Wahl, welches eine Unbestimmtheit in
der Zeit seyn würde. Also befiehlt er vermuthlich aus
eigner Macht, a solle vorangehn, und b solle folgen? —
Auch das nicht! Der Causalbegriff ist allgemein; die
einzelnen Erscheinungen a und b sind ihm völlig unbe-
kannt; es ist ihm gleichgültig, ob wir b a oder ab spre-
chen. Es liegt ihm nichts daran, ob in dem Kantischen
Beyspiele das Schiff mit dem Strome fährt, oder wider
den Strom gezogen wird; selbst die Triebkraft des Stro-
mes, und der Zug gespannter Seile sind nichts als Er-
fahrungsgegenstände; kein Begriff a priori hat gelehrt,
daſs die Körper schwer seyen, der Strom sein Gefälle
habe, die eingetauchten Körper von der Dichtigkeit des
Wassers mit fort gerissen werden, die Seile stark ge-
nug sind, um nicht zu reiſsen u. d. gl. m. Die bloſse
Anschauung des Schiffs, welches dahinfährt, giebt mir
unmittelbar die Reihenfolge seiner Bewegung, auch wenn
ich weder die Richtung des Stroms, noch irgendwo die
auf das Schiff wirkenden Kräfte sehe, weiſs und kenne.
Desgleichen, der allgemeine Causalbegriff lehrt uns gar
nicht, wie es zugegangen seyn möge, daſs Kant, in
dem Beyspiele von der Kugel, die im Küssen ein Grüb-
chen drückt, am Schlusse seiner Rede plötzlich von ei-
ner bleyernen Kugel redet, während er sich vorher mit
einer Kugel überhaupt begnügte. Wir sehen freylich
wohl, daſs ihm hintennach eine sehr nöthige Ergänzung
seines Beyspiels einfiel. Der Causalbegriff für sich allein
[339] drückte kein Grübchen; es war die aus bloſser Erfahrung
hinzukommende Natur des Bleyes dazu nöthig; eine Ku-
gel von Baumwolle hätte nicht dazu getaugt.


Kurz: die Succession der Erscheinungen ist und
bleibt einzig ein Gegebenes; und man verfehlt gänzlich
den Sinn, verdirbt gänzlich den Gehalt des Causalbe-
griffs, wenn man ihn, der sich lediglich auf den Wider-
spruch in der Veränderung bezieht, auf die Reihenfolge
der Empfindungen deutet, die nicht von ihm ein Gesetz
empfängt, sondern ihm vielmehr die nähern Bestimmun-
gen liefert, ohne die er nicht zur Anwendung auf Ge-
genstände der Erfahrung gelangen kann.


Wem nun dies Alles noch nicht hinreichende Hülfe
leistet, um aus dem gewohnten Vorurtheil herauszukom-
men: der schaffe dadurch Licht in seinem Geiste, daſs
er sich die mannigfaltigen Arten der Causalität verge-
genwärtigt, die aus der Erfahrung bekannt sind. Um
diese Betrachtung gehörig vorzubereiten, muſs man fol-
gendes überlegen. Gesetzt, Causalität sey Bestimmung
einer Zeitfolge: so ist verschiedene Causalität ver-
schiedene
Bestimmung der Zeitfolge. Gesetzt hinge-
gen, nicht alle Verschiedenheit der Causalität lasse sich
auf solche Unterschiede zurückführen, wodurch die Zeit-
folge anders und anders bestimmt wird: so muſs in dem
Causalbegriff noch ein anderes Bestimmbares liegen,
an welches sich die Unterscheidungen anfügen, und wel-
ches ihr fundamentum divifionis ausmacht. Dann ist also
der Causalbegriff wenigstens nicht erschöpft durch die
Annahme, daſs er die Succession der Erscheinungen vest-
stelle; und man kann im Aufsuchen dessen, was die Ar-
ten der Causalität unterscheidet, neue Anknüpfungspuncte
fürs Nachdenken, neue Spuren der Wahrheit finden.
Und nun frage man sich, ob wohl die tödtende Wir-
kung des Arseniks, und die wohlthätige einer Predigt,
und die chemische der Voltaischen Säule, und die An-
ziehung der Haarröhrchen, und die schmelzende Kraft
eines Brennglases, sammt den eingebildeten Wirkungen
Y 2
[340] der Zaubersprüche, der sympathetischen Curen, der von
Wundermännern verrichteten Gebete (denn auch bey
den eingebildeten Wirkungen wird der Causalbegriff
im Denken gebraucht,) alle von einerley Art seyen? Oder
ob etwan die Vermuthung zulässig sey, die Unterschiede
dieser Arten lägen in Verschiedenheiten des Zeitmaa-
ſses
, in welchem die Erscheinungen einander folgen?
Wenn nicht: woran will man denn die verschiedenen
Bestimmungen anbringen, die in allen diesen, und un-
zähligen andern Fällen, der Causalbegriff doch annimmt,
und wofür er demnach empfänglich seyn muſs —?


Hier überlasse ich den Leser sich selbst; und wün-
sche ihm, daſs er über die Bestimmbarkeit allgemeiner
Begriffe, die an der Spitze gewisser Theorien gebraucht
werden, weiter nachdenken möge; denn dies ist der ge-
meinhin vernachlässigte Punct, wovon alle Geschmeidig-
keit, das heiſst eigentlich, alle Brauchbarkeit der
Theorien abhängt.


Mein Weg geht weiter zu Kants Lehre von der
Wechselwirkung.


„Zugleich, (sagt Kant,) sind Dinge, wenn in der
empirischen Anschauung die Wahrnehmung des einen
auf die Wahrnehmung des andern wechselseitig fol-
gen kann.“


Bey dieser, durchaus falschen, Erklärung, müssen
wir sogleich stehn bleiben. Die allereinfachsten Thatsa-
chen decken hier einen, nur gar zu folgenreichen Mis-
griff auf.


Kant hatte von der Folge in der Zeit geredet, und
diese wenigstens mit Recht nicht an Substanzen, nicht
an Dinge, sondern an Zustände, an veränderliche Merk-
male der Dinge geknüpft. Das Zugleichseyn ist eine an-
dere Bestimmung in Hinsicht der Zeit; aber das Zeitli-
che, welches sich dieser abgeänderten Bestimmung un-
terwerfen sollte, muſste das Nämliche bleiben wie zuvor;
sonst hing die Rede nicht zusammen. Wir sollten vor-
her lernen, wodurch das Nacheinander der Erscheinun-
[341] gen objectiv bevestigt werde; wir erwarten nun den Un-
terricht, wie das Zugleichseyn der nämlichen Erschei-
nungen könne wahrgenommen werden. Wie geht es
denn zu, daſs Kant hier auf einmal von seinem Ge-
genstande abspringt? Lassen sich etwa bloſse Zustände
der Dinge gar nicht zugleich auffassen? — So muſs es
ihm wohl geschienen haben. Und freylich, die Zustände
der Dinge sind flüchtig; sie warten nicht, daſs man mit
seiner Aufmerksamkeit zwischen ihnen hin und her gehn,
um, wie Kant will, sie wechselseitig aufzufassen. Der
Observator auf der Sternwarte, dessen Uhr eben den
Eintritt der neuen Secunde hören läſst, würde übel daran
seyn, wenn er das Zugleichseyn des Sterns am Faden-
kreuz nicht anders wahrnehmen könnte, als durch wech-
selseitiges Auffassen bald des Sterns und bald des Pen-
delschlags. Beydes sind verschwindende Erscheinungen;
und weder die Uhr noch der Stern wollen verweilen, sie
sind schneller als der Wunsch, der sie noch einmal zu-
sammenfassen möchte. Noch viel unglücklicher wäre der
Musikdirector, der im Orchester das Zugleich von meh-
rern hundert Spielern und Sängern unaufhörlich von
neuem beobachten; und die geringste Abweichung auf
der Stelle
bemerklich machen muſs, wenn er das Zu-
gleich nicht anders wahrnehmen könnte, als durch eine
Wechselseitigkeit im Auffassen der zugleich klingenden
Töne. Hier ist es bey weitem nicht bloſs die Flüchtig-
keit der vorübereilenden Empfindungen, welche sich in
den Weg stellt: sondern der Musikdirector darf eine
solche hin und her gehende Bewegung, wie Kant ver-
langt, auch nicht einmal seinen Vorstellungen erlauben.
Seine musikalischen Gedanken müssen selbst in der ge-
messenen und continuirlichen Bewegung seyn und be-
harren, wie dort die Uhr und der Stern. Ist nicht in
seinem Geiste die unwandelbarste Regelmäſsigkeit des
Vorwärtsgehens, ohne irgend eine Ausbiegung seitwärts
und rückwärts: so wirft er den Tact um, den er für Alle
vesthalten soll. Auch bedarf er zum Auffassen des Zu-
[342] gleich nicht im mindesten des ihm vorgeschlagenen Mit-
tels. Seine Vorstellungen laufen nach den Reproductions-
gesetzen ab, die wir längst kennen, und von denen wir
wissen, daſs sie die mathematische Regelmäſsigkeit ihres
Erfolgs in sich tragen. Jede von den verschiedenen
Stimmen, aus denen die Musik besteht, bildet erstlich
ihre völlig bestimmte Zeitreihe für sich; jede empfängt
zweytens die Einschnitte, welche die andern, gleichzeitig
ablaufenden in ihr hervorbringen; diese Einschnitte sind
aber drittens durch den Tact so geordnet, daſs sie zu-
sammentreffen, denn sonst würden die Reihen einander
stören, wie es augenblicklich geschieht, sobald eine Stimme
aus dem Tacte kömmt. Solange nun die Stimmen richtig
fortlaufen, sind sie unaufhörlich zugleich; denn jede, mit
Inbegriff der ihr vorgeschriebenen Pausen, (die wesent-
lich zu ihr gehören,) füllt die ganze Zeit aus; jede bil-
det eine Linie, worauf jede andre, beliebige Puncte an
bestimmte Orte zeichnen kann, wo sie veststehn, sey es
in gegebenen Distanzen, oder mögen sie ohne Distanz
zusammenfallen, das heiſst, zugleich seyn.


Dies Alles betrifft Zustände, nicht Dinge. Kant
hingegen, weil ihm die Theorie der Vorstellungsreihen,
mithin die Erklärung der Zeit, gänzlich fehlte, half sich,
wie er konnte. Das Zugleich, welches eine Zeitbestim-
mung, und doch gerade diejenige seyn soll, in welcher
die Zeit = o gesetzt wird, verwandelt er in eine Dauer,
von unbestimmter Länge, aber groſs genug, um darin
zwey Successionen, a b, und b a, anzubringen, von de-
nen er hoffte, sie würden sich aufheben. Nun liegt zwar
in der Reihe a, b, a, sowohl a, b; als b, a. Allein
sie heben sich ganz und gar nicht auf. Man kann das
a, b, a, b, a, b, a .... beliebig wie ein Glockenge-
läute fortsetzen; es kommt kein Zugleich heraus. Gleich-
wohl ist das wechselseitige Auffassen zweyer Dinge, wenn
nicht der Begriff des Beharrens dieser Dinge hinzukommt,
nichts anderes, als ein solches Glockengeläute. Aber
eben indem Kant das Beharren der Dinge im
[343] Stillen voraussetzte
, fiel es ihm ein, hiemit die Folge
der Auffassungen, wovon er zuvor geredet hatte, zu ver-
binden, indem es nur nöthig schien, dieselbe umzukeh-
ren, um das Eigene der Succession in ihr aufzuheben.
Die Dinge hielten ja still genug, um sich eine solche
Umkehrung gefallen zu lassen! Und um dieser Be-
quemlichkeit willen
, die man von bloſsen Zustän-
den
nicht erlangen konnte, wurden nun alle Substan-
zen
im Raume, da keine vor der andern einen Vorzug
hatte, aufgeboten, um die Wahrnehmung des Zugleich
möglich zu machen.


Nach diesen Erinnerungen wollen wir nun noch ein-
mal von vorn anfangen, und dabey einräumen, daſs die
Dinge, welche wechselseitig können aufgenommen wer-
den, auf die Vorstellung ihres Beharrens in der glei-
chen
Zeit führen, wenn die des Beharrens, für je-
des einzelne
schon da ist; so wenig auch die wech-
selseitigen Wahrnehmungen an sich irgend ein Zugleich-
seyn in sich tragen.


„Man kann aber (fährt Kant fort) die Zeit selbst
nicht wahrnehmen. — Folglich wird ein Verstandesbe-
griff von der wechselseitigen Folge der Bestimmungen
dieser, auſser einander zugleich existirenden Dinge erfor-
dert, um zu sagen, daſs die wechselseitige Folge der
Wahrnehmungen im Objecte gegründet sey, und das
Zugleichseyn dadurch als objectiv vorzustellen.“


Hier beginnt ein Erschleichen, Verwechseln, ernst-
liches Benutzen eines durch bloſse Uebereilung herbeyge-
kommenen Gedankens, wovor man nicht nachdrücklich
genug warnen kann. Die wechselseitige Folge in dem,
an sich bloſs beliebigen, Hin- und Her-Schauen, erlaubt
unstreitig, daſs man bey der einen Wahrnehmung mehr,
bey der andern weniger verwieile. Wenn wir im Kanti-
schen Beyspiele, Erde und Mond abwechselnd betrach
ten, so finden wir uns gänzlich frey in diesem Anschauen;
wir können den Mond durchs Fernrohr, oder mit blo-
ſsen Augen besehen; wir können uns stundenlang vor
[344] dem Fernrohr aufhalten, ohne daſs uns der Mond im
Geringsten nöthigen sollte, nun einmal von ihm abwärts
zur Erde uns hin zu wenden; wir können zu anderer Zeit
uns mit irdischen Dingen beschäfftigen, von denen keins
uns zwingt, an den Mond auch nur zu denken. Nichts
im Monde treibt uns zur Erde, nichts an der Erde führt
auf den Mond; — denn so specielle wissenschaftliche
Fragen, wie die vom Grunde der Ebbe und Fluth, oder
von den Gesetzen des Mondlaufs, worauf einzelne Ge-
lehrte gerathen, können hier nicht in Betracht kommen,
wo von allgemeinen, jedem Menschen eigenen Verstan-
des-Begriffen die Rede ist.


Mitten im Gefühl unserer vollkommensten Willkühr,
wodurch wir uns die Folge der wechselseitigen Wahr-
nehmungen schaffen oder sie abbrechen, stört uns nun
Kant, der die Folge unseres Auffassens in die Dinge
hineinträgt, und aus der bloſsen Zeitfolge unseres An-
schauens ein Wirken und Leiden, worin Mond und
Erde gegenseitig sich versetzen, hervorruft! Und was ist
sein Grund? Die wechselseitige Folge der Wahr-
nehmungen soll im Objecte gegründet seyn
!
Wie? Woher kam uns denn jene Willkühr, mit der
wir um uns her schaueten? Die strengste Nothwendig-
keit hätte unser sinnliches Auffassen im Kreise umher
führen müssen, ohne uns einen Augenblick los zu lassen,
wenn eine Wechselwirkung der Dinge, in ihrem bestän-
digen, gleichzeitigen Beharren, uns lenkte und beherrschte.
Allein was kümmert die Objecte unser Wahrnehmen?
Und wieviel offenbaren sie uns von ihrem gegenseitigen
Einflusse? Ihr Zugleichseyn ist kein Gegenstand des
Zweifels, ist ein ganz klarer, nicht im mindesten räthsel-
hafter Gedanke; die nämliche Vorstellung der Zeit dient
uns vollkommen, um darauf, wie auf einer Linie, die
Gröſse des Nacheinander zwischen zweyen Zuständen ei-
nes sinnlichen Dinges, und auch eines zweyten, und ei-
nes dritten dieser Dinge, zu verzeichnen. Läge darin
der Einfluſs, das Causal-Verhältniſs dieser Dinge, so
[345] würden wir die ganze Natur, in ihren geheimsten Ver-
kettungen, in ihrem ganzen stetigen Schaffen und Zer-
stören unmittelbar erkennen. — Aber eine solche Schö-
pfung aus Nichts, wie hier die Umwandlung der völlig
leeren, nichts sagenden Zeitbestimmung des Zugleich-
seyns, in die Alles auf einmal andeutende (freylich nicht
nachweisende) Gemeinschaft der Substanzen, das ist ge-
rade die unglückliche, auch die redlichsten Denker
ohne ihr Wissen beschleichende
, Taschenspieler-
kunst, die man mit wahrer Speculation zu verwechseln
pflegt, um hintennach diese mit jener in dieselbe Ver-
achtung, Verdammung, zusammenzufassen.


Auch nicht der entfernteste Grund läſst sich im ge-
genwärtigen Falle zur Entschuldigung anführen, wenn
nicht der einzige, daſs Kant transscendentaler Idealist
seyn wollte. Dem Idealisten waren freylich die Substan-
zen im Raume nichts an sich, sondern alles für uns.
Allein auch diese Entschuldigung ist hier so gut als nich-
tig; so viel auch der Anfänger in der Philosophie darauf
bauen möchte. Was sind für uns die Substanzen im
Raume? Es sind Fragepuncte; Gegenstände stets er-
neuerter Versuche im Experimentiren und im Denken.
Will der Idealist sie auf seine Weise deduciren: so
mag er unternehmen uns zu zeigen, daſs, und wie für
uns eine Complexion von Fragen entstehe, welche in
einer allmähligen, fortschreitenden, partiellen Beantwor-
tung begriffen zu seyn scheinen. Daſs solcher Comple-
xionen viele unter einander durch gewisse Verknüpfun-
gen zusammenhängen, welche wir mit dem Namen eines
gegenseitigen Einflusses belegen, ist bekannt genug. Daſs
zur deutlichen Vorstellung dieser Verknüpfungen auch
die gleichzeitige Dauer als ein Merkmal und Hülfsmittel
des Denkens gehört, leugnet ebenfalls Niemand. Aber
nimmermehr darf dies eine, dürftige Hülfsmittel des Den-
kens, dem ganzen Gedanken gleich gesetzt werden.


Soll ich sagen, man bemerke bey Kant doch eine
Spur, daſs er sich im Laufe seines Irrthums wenigstens
[346] irgendwo aufgehalten fühlte? Ich wünsche es mehr, als
ich es eigentlich behaupten darf.


Nachdem er die leere Form des zeitlichen Zugleich
in eine wirkliche Verkettung der Dinge umgedeutet hatte,
lag es ihm ganz nahe, nun auch eben so mit der leeren
Form des Auſsereinander zu verfahren; mit einem Worte,
das Vacuum zu leugnen. Wirklich redet er also:
„Wären die Erscheinungen völlig isolirt, so könnte das
Daseyn der einen durch keinen Weg der empirischen
Synthesis
auf das Daseyn der andern führen. (Als
ob der Fluſs der Empfindungen eine Reise auf einer
Straſse wäre!) Denn wenn ihr Euch gedenkt, sie wä-
ren durch einen völlig leeren Raum getrennt,
so würde die Wahrnehmung nicht unterscheiden lassen,
ob die Erscheinungen objectiv einander folgen, oder zu-
gleich seyen. — Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrneh-
mung der Erscheinung im Raume von der andern abge-
brochen, und die Kette empirischer Vorstellungen würde
bey jedem neuen Objecte von vorn anfangen. Den lee-
ren Raum will ich hiedurch gar nicht widerle-
gen: denn der mag immer seyn, wohin Wahr-
nehmungen nicht reichen, und also keine em-
pirische Erkenntniſs des Zugleichseyns statt
findet; er ist aber alsdann für unsre mögliche
Erfahrung gar kein Object
.“


Wäre Kant nicht durch irgend eine Besorgniſs des
Irrthums zurückgehalten worden: so hätten diese seine
letzten Worte, nach dem ganzen Zusammenhange seiner
Lehre, anders, und viel entscheidender lauten müssen.
Wo ist denn Raum, den unsre Wahrnehmung, wenn
wir sie zum Begriff der möglichen Erfahrung steigern,
nicht erreichen könnte? Der ganze unendliche Welt-
raum ist ja nur die Form der Sinnlichkeit. Wenn dem-
nach der leere Raum dahin verwiesen wird, wohin
Wahrnehmung nicht reicht: so ist er aus Kants Lehre
ganz und gar verbannt. Es bleibt uns zu fragen übrig,
in welcher Dichtigkeit er denn erfüllt seyn müsse?
[347] Ob hier nichts von der anderwärts erwähnten Elangue-
scenz
, durch unendliche Verdünnung, zu fürchten sey?
Ob jener Weg der empirischen Synthesis nicht irgend
einen Grad von materieller Vestigkeit haben müsse, da-
mit die Wahrnehmungen darauf, wie auf gutem Pflaster,
sicher reisen können? — Und eben so ist zu fragen:
welche Intensität der Wechselwirkung unter den
Substanzen wohl die kleinste sey, mit der man sich be-
gnügen könne, um das Zugleichseyn als objective Be-
stimmung der Dinge wahrzunehmen? Oder ob wohl gar
die Wahrnehmung des Zugleichseyns an Intensität wachse
in demselben Grade, wie die Wechselwirkung selbst?
Lauter Fragen, deren Veranlassung man nur bedauern
kann. —


Gelegentlich erwähne ich hier noch des Irrthums im
Begriff der Substanz, den Kant in den Prolegomenen
§. 46. so ausspricht: „Die reine Vernunft fodert, daſs
wir zu jedem Prädicate eines Dinges sein ihm zugehöri-
ges Subject, zu diesem aber, welches nothwendiger
Weise wiederum nur Prädicat ist
, fernerhin sein
Subject, und so fort ins Unendliche, suchen sollen. Aber
hieraus folgt, daſs wir nichts, wozu wir gelangen können,
für ein letztes Subject halten sollen,“ u. s. w.


Was an diesen Behauptungen Wahres ist, habe
ich im §. 141. angegeben. Aber genau genommen, wie
Kants Worte lauten, ist hier Nichts als Irrthum. So
lange das Subject noch für ein sinnliches Ding gehalten
wird, verdient es nicht den Namen Substanz, die ihrer
Natur nach übersinnlich ist; und hat man den wahren
Begriff derselben erreicht, so kann man nicht mehr daran
denken, sie wiederum in die Reihe bloſser Prädicate stel-
len zu wollen. Der obige Regressus ins Unendliche ist
nicht reine Vernunft, sondern falsche Metaphysik, die
dem Problem, was im Begriff der Substanz liegt, ent-
laufen will, weil sie es nicht zu behandeln versteht; —
oder mit andern Worten, die den Knoten, den sie fühlt,
weiter und immer weiter schiebt, statt ihn ein für alle-
[348] mal aufzulösen. Wer dies nicht glauben will, oder meine
Metaphysik in diesem Puncte nicht versteht, der kann ja
versuchen, zu der Kantischen, unbewiesenen Behauptung,
das Subject müsse nothwendig wiederum Prädicat
werden, den Beweis nachzuliefern.


Uebrigens ist in Kants Lehre der Zusammenhang
der Gedanken in dieser Gegend sehr lose. Das Wort
Subject, welches nach verschiedenem Sprachgebrauche
bald dem Prädicate, bald dem Objecte gegenüber
steht, und in beyden Fällen einen ganz verschiedenen
Sinn hat, giebt ihm Gelegenheit, der rationalen Psycho-
logie folgenden Trugschluſs, — der, so viel ich weiſs,
früher nirgends vorkommt, aufzubürden:
Was nur als Subject gedacht werden kann, existirt
auch nur als Subject; und ist folglich Substanz.
Nun kann ein denkendes Wesen nur als Subject ge-
dacht werden;

Also existirt es nur als solches, d. i. als Substanz.


Alle drey Sätze sind richtig, aber der Schluſs ist falsch;
denn der Obersatz redet von der Substanz, d. i. dem
Subjecte, das nie Prädicat werden kann, der Untersatz
hingegen von dem denkenden Wesen als Subject für
mögliche Objecte. Wer könnte von einem solchen
Sophisma getäuscht werden, so lange er seine Gedanken
nicht ganz in die Worte hat versinken lassen?


§. 143.

Ganz ähnlich dem Vorurtheil, das die Causalität an
die Zeit bindet, ist ein anderes, eben so gemeines, nach
welchem alles Reale in den Raum gesetzt wird, und
Nirgendsseyn so viel bedeuten soll als überall nicht seyn.
Doch vom wissenschaftlichen Standpuncte aus erscheint
diese Verwechselung des Seyn mit dem Daseyn noch
befremdender als jene des Wirkens mit dem Anfangen
und Antreiben. Denn nicht bloſs der Geometer behan-
delt seinerseits den Raum und die räumlichen Constru-
[349] ctionen ganz unbekümmert um das Reale, sondern auch
der Metaphysiker, indem er von dem Geistigen zu reden
hat, findet dabey die Raumbegriffe ganz unbrauchbar zur
Bestimmung des Realen; so daſs man meinen sollte, das
Reale und das Räumliche lägen weit genug auseinander.
Und der Physiker, wenn er beydes zu verknüpfen sich
genöthigt sieht, geräth in die drückendsten Verlegenhei-
ten; er bekennt, daſs die Materie, von der er reden soll,
das dunkelste aller Dinge sey; er pflegt recht gern Ver-
zicht zu leisten auf alle Aufschlüsse über diese Realität
im Raume, so fern dieselben nicht unmittelbar aus der
Erfahrung kommen und zur Erfahrung zurückkehren.
Was bringt denn den gemeinen Verstand dazu, das
Seyn und den Raum so besonders genau mit einander
befreundet zu glauben?


Offenbar schöpft er jenes und diesen ursprünglich
aus einerley Quelle; so daſs hier wirklich die Erklärung
aus der Association und Gewohnheit am rechten Orte
seyn wird. Die nämlichen sinnlichen Erscheinungen,
welche ohne Weiteres für real gehalten werden, (§. 141.)
entfalten sich auch vermöge der besondern Form der
Verschmelzung, die sie im Bewuſstseyn annehmen müs-
sen, als ein Räumliches, (§. 110—115.) Daher kennt
Anfangs der Mensch kein anderes Reales als eben das
Räumliche, und beyde Begriffe begleiten einander, ohne
alle innere Nothwendigkeit der Verknüpfung, doch so
beständig, daſs sie die Vestigkeit einer vollkommnen
Complexion darstellen. (§. 57.)


Was aber die Art und Weise anlangt, wie das
Reale in den Raum gesetzt wird, so ist merkwürdig, daſs
dazu allemal die sämmtlichen drey Dimensionen des
Raums erfordert werden. Dieses kann in den allerersten
Auffassungen sinnlicher Gegenstände nicht gelegen ha-
ben, denn ursprünglich bieten sich dem Auge sowohl als
dem Gefühl nur Flächen dar; und es ist kein Zweifel,
daſs Anfangs die gefärbten und widerstehenden Flächen
für real genommen werden, ohne ein Bedürfniſs der drit-
[350] ten Dimension, an welche noch gar nicht gedacht wird.
Was ist es denn, das in der Folge die Vorstellung des
Soliden zur einzig brauchbaren Auffassung des räumli-
chen Realen erhebt?


Zuvörderst, das Solide selbst wird nicht ursprüng-
lich nach drey Dimensionen bestimmt. Vielmehr, diese
Dimensionen sind ein Erzeugniſs des schon zur Wissen-
schaft vordringenden Denkens. Sie sind die allgemei-
nen Begriffe von denjenigen Hauptrichtungen,
auf welche sich die sämmtlichen andern Rich-
tungen in einem körperlichen Raume zurück-
führen, oder woraus sich dieselben zusammen-
setzen lassen
. Die Erzeugung solcher allgemeinen
Begriffe setzt weit vorgeschrittene Vergleichungen voraus.
Die Hauptsache dabey ist die Erfindung des Perpen-
dikels auf eine Linie, oder derjenigen Richtung,
welche mit zweyen andern unter sich entgegen-
gesetzten
(die durch die Linie angedeutet werden)
gar nichts gemein habe, sondern, in Beziehung auf
sie, als eine völlig neue Richtung könne angesehen
werden. Nachdem diese bekannt ist, ordnen sich die
sämmtlichen möglichen Richtungen, welche durch Zu-
sammenfassung beliebiger Puncte eines vor Augen lie-
genden Körpers entstehen können, von selbst nach drey
Perpendikeln, als den Symbolen der drey Dimensionen;
auch bilden sich aus der Combination je zweyer Perpen-
dikel die drey senkrechten Durchschnittsflächen durch
den Körper. (Erklärt man das Perpendikel durch dieje-
nige Linie, welche mit einer andern vier gleiche Win-
kel
macht, so mag eine solche Definition im gewöhnli-
chen geometrischen Vortrage brauchbar seyn; aber sie
taugt nichts, wenn man psychologische Aufschlüsse über
die Erzeugung der geometrischen Begriffe verlangt.)


Wie lange nun das Solide noch nicht auf seine
drey Dimensionen zurückgeführt ist, — wie lange noch
der Mensch die Körper bloſs in den Händen herumdreht,
und sie von allen Seiten besieht, ohne in ihnen die Länge
[351] der Breite, und beyden die Dicke entgegenzusetzen: so
lange kann auch die Frage nicht erwachen, ob das räum-
liche Reale eine Dicke haben müsse, oder nicht? Denn
so lange ist der Begriff einer bloſsen Oberfläche, ohne
Dicke
, noch gar nicht vorhanden. Es ist der Versuch
noch gar nicht gemacht, eine bloſse Fläche als real der-
gestalt
zu denken, daſs ihr ausdrücklich und mit
Bewuſstseyn
die Dicke abgesprochen werde. — So-
bald hingegen der Gedanke eines solchen Versuchs ent-
steht, ergiebt sich die Unmöglichkeit sogleich aus dem
Begriffe der Fläche. Denn diese, wenn sie als eine
Scheidewand zwischen demjenigen betrachtet wird, was
sich zu beyden Seiten befindet, erscheint sogleich als ein
völliges Nichts; sie hat nichts dazwischen zu stellen,
sonst müſste ihr eine Dicke zugeschrieben werden. Ist
einmal das Reale in den Raum gesetzt, so wird auch
sein Quantum nach der Gröſse des Raums geschätzt,
den es einnimmt. Kann nun sein Platz durch ein Zu-
sammenrücken andrer Dinge von zwey entgegengesetzten
Seiten her, als ein völliges Nichts dargestellt werden, in-
dem es diesen Dingen frey steht, sich bis zur Berührung
zu nähern, so hat das Ding gar keinen Platz; es ist also
kein Reales von räumlicher Art.


Verbindet man mit dieser Betrachtung die obige, im
§. 113.; welcher zufolge der Raum aus psychologischen
Gründen als unendlich theilbar vorgestellt wird, so daſs
es in ihm nicht, wie in den Linien des intelligibelen
Raums der allgemeinen Metaphysik, einfache Bestand-
theile giebt: so zeigt sich, daſs das Solide, da es den
geometrischen Puncten, Linien, Flächen, nicht gleichen
kann, nothwendig als ein Ausgedehntes, als unend-
lich theilbare
und undurchdringliche Materie
muſs gedacht werden. Und in diesem Begriffe stecken
nun alle die Schwierigkeiten, welche durch das nachma-
lige metaphysische Denken zu Tage kommen, und in den
Streitigkeiten über Atomen und Molecülen mannigfaltig
umhergewälzt werden.


[352]

Endlich kommt noch die Beobachtung hinzu, daſs
in den allermeisten Fällen, Veränderungen erst dann er-
folgen, wann die Dinge, die man als Ursachen derselben
anzusehen sich berechtigt glaubt, den leidenden Gegen-
ständen räumlich nahe gekommen sind. Dadurch wird
der Raum zum Symbol der möglichen Gemein-
schaft der Dinge im Causal-Verhältniſs
; indem
alle Dinge, in so fern sie in Einem und demselben Raume
sind, nur scheinen ihre Entfernungen durchlaufen zu müs-
sen, um aufeinander wirken zu können. Aus der einmal
angenommenen Möglichkeit des Wirkens folgt alsdann,
daſs die Dinge, für welche diese Möglichkeit vorausge-
setzt wird, in dem Raume stets irgendwo seyn müssen.
Der Gedanke, daſs ein Ding sich aus diesem Raume
gänzlich verlöre, daſs es nirgends wäre, vernichtet den
Weg, auf welchem herbeykommend, es zu den andern
Dingen hingelangen muſs, auf die es soll wirken können.
So ergiebt sich nun ein vermeintlicher Grund der Noth-
wendigkeit, daſs in dem System der Dinge jedes einen
Ort haben müsse, und daſs, nirgends seyn, soviel heiſse,
als gar nicht seyn. Doch ist sogleich klar, daſs statt
des gar nicht seyn gesetzt werden sollte: für die
übrigen Dinge so gut als nicht vorhanden seyn
;
welches letztere, jedoch unter vielen nähern Bestimmun-
gen, auch in der Metaphysik als richtig erkannt wird.


§. 144.

Der Materie, sofern sie den Raum erfüllt, ist analog
das Geschehen in der Zeit; und jeder, im Philosophiren
nicht Ungeübte, wird sich sogleich der ähnlichen Dun-
kelheiten in diesem und jenem erinnern. Daſs aber beyde
Begriffe, sammt ihren Schwierigkeiten, den gleichen psy-
chologischen Ursprung haben, läſst sich erkennen aus
den §§. 112. bis 115.


Zuvörderst müssen wir hier bemerken, daſs die Ne-
gation im Begriffe des Aufhörens, deren Entstehung wir
im §. 115. noch vermiſsten, sich sehr leicht vermittelst
der negativen Urtheile ergiebt, nach §. 123. Veranlassung
zu
[353] zu solchen negativen Urtheilen, wie wir sie hier bedür-
fen, liefert die Beobachtung veränderlicher Dinge, an
welchen vorzugsweise der Verlauf der Zeitreihen wahr-
genommen wird. Nämlich auch nach geschehener Ver-
änderung reproduciren hier die beharrenden Merkmale,
vermöge ihrer Complicationen mit den entwichenen, den
vorigen, ja jeden früheren Zustand des veränderten Din-
ges; und dadurch geben sie die doppelte Gelegenheit zu-
gleich zum Ablaufen einer Reproductionsfolge, unter den
Bestimmungen, welche die Vorstellung des Zeitlichen er-
fordert, und zu dem verneinenden Urtheil, durch welches
die früheren Merkmale dem Dinge jetzt abgesprochen
werden. Beydes liegt beysammen in der Urtheilsform:
A ist nicht mehrB. Ein solches Urtheil aber entsteht
so vielemal, als wie viele Zeitpuncte bemerkt werden, in
denen das Ding anders geworden sey. Oder vielmehr
umgekehrt, die Vorstellungen der Zeitpuncte erzeugen
sich mit Hülfe der Urtheile, durch welche die Verände-
rungen des Dinges eine nach der andern aufgefaſst, und
in ihre Ordnung gestellt werden.


Die Zeit selbst aber ist das Abstractum des Zeitli-
chen, so wie der Raum das Abstractum des Räumlichen.
Ich habe hoffentlich nicht mehr nöthig, die Kantische
Erschleichung eines unendlichen, in reiner Anschauung
gegebenen, also vor aller psychologisch zu erklärenden
Erzeugung vorher schon fertigen, Raumes, sammt der
ihm ähnlichen Zeit, ausführlich zu widerlegen. Die Un-
wahrheit der vorgeblichen Thatsache liegt gar zu klar
vor Augen. Zwar der Geometer und der Metaphysiker
haben diese unendlichen Gröſsen im Kopfe; und sie er-
innern sich vielleicht nicht mehr an die Zeit, da sie die-
selben durch absichtliche, und der Wissenschaft ange-
hörige Constructionen erzeugten. Aber der gemeine
Mann behilft sich mit so viel Raum und so viel Zeit,
als hinreicht um die bekannten Erfahrungsgegenstände
damit zu umhüllen und darin zu ordnen. Vollends bey
Kindern muſs man oft nicht ohne Mühe die engbegränz-
II. Z
[354] ten räumlichen und zeitlichen Vorstellungsarten allmählig
erweitern. — Was aber Kants Beweis aus der Noth-
wendigkeit
der Vorstellung des Raums und der Zeit
anlangt, so ist dieser Beweis in der Form falsch, denn
er ist nicht mehr noch weniger als ein Syllogismus mit
vier Hauptbegriffen. Der Syllogismus steht so:
Was Erfahrung lehrt, enthält nie das Merkmal
der Nothwendigkeit.
Der Raum und die Zeit sind nothwendige Vor-
stellungen.


Also sind Raum und Zeit nicht aus der Erfahrung
gelernt. Der Untersatz dieses Syllogismus beruht auf
dem mislingenden Versuche, Raum und Zeit wegzuden-
ken; welches in der That nicht thunlich ist. Aber woher
diese Unmöglichkeit, und die entgegenstehende Nothwen-
digkeit? Raum und Zeit repräsentiren die Möglichkeit
der Körper und der Begebenheiten; jene wegdenken,
heiſst, diese aufheben. Nun versteht sich von selbst,
daſs, nachdem einmal die Wirklichkeit der Körper
und Begebenheiten wahrgenommen ist, es der Gipfel der
Ungereimtheit seyn würde, diese Wirklichen für
unmöglich zu erklären
. Nachdem die Erfahrung ir-
gend ein Wirkliches gezeigt hat, wird allemal der Aus-
druck der bloſsen Möglichkeit dieses Wirklichen, ein
nothwendiger Gedanke. In diesem Sinne also lehrt
die Erfahrung allerdings das Nothwendige; in diesem
Sinne ist der Obersatz des Syllogismus falsch; aber auch
in diesem Sinne ist er weder von Leibnitz noch von
Kant ursprünglich gedacht worden. Also haben wir
eine Verwechselung von Begriffen vor Augen, die wir
dem groſsen Denker nur als eine Uebereilung anrechnen
können.


Der wahre Grund, weshalb Kant den Raum und
die Zeit für ursprüngliche Formen der Sinnlichkeit hielt,
ist der zuerst von ihm angedeutete, aber nicht gehörig
entwickelte. Ich habe diesen Grund, der zwar nichts be-
weis’t, der aber wesentlich zu den Anfangspuncten der
[355] philosophischen Reflexion gehört, in meinem Lehrbuche
zur Einleitung in die Philosophie unter den ersten skepti-
schen Fragen vorgetragen; auch in den Hauptpuncten
der Metaphysik desselben in der zweyten Vorfrage er-
wähnt. Der Hauptgedanke ist: Man gebe sich Rechen-
schaft von dem, was man eigentlich in den sinnlichen
Auffassungen als Gegebenes vorfindet. Die Summe aller
gefärbten und gefühlten Stellen im Raume, ist ohne Zwei-
fel gegeben; eben so die Summe aller einzelnen, für
successiv gehaltenen Wahrnehmungen. Aber diese Sum-
men sind auch das ganze Gegebene. Und gleichwohl
enthalten dieselben keinesweges die Bestimmungen durch
Distanzen im Raume und in der Zeit. Woher kommen
denn nun diese Bestimmungen? — Will man sie nicht
für erschlichen erklären, und sich von ihnen losmachen,
(welches unmöglich ist), so muſs man sie für in uns
selbst liegende, und von uns unwillkührlich in das Ge-
gebene hineingetragene Formen halten.


Hieraus erklärt sich vollkommen die Kantische An-
sicht. Aber die Unrichtigkeit ergiebt sich schon bey der
Frage, woher nun die bestimmten Gestalten bestimm-
ter
Dinge? Woher die bestimmten Zeitdistanzen für be-
stimmte Wahrnehmungen? Diese Frage ist nach der
Kantischen Ansicht schlechterdings unbeantwortlich.


Nachdem aber vermittelst der zur Mechanik des Gei-
sles gehörigen Untersuchungen sich hat erkennen lassen,
auf welche Weise die räumlichen und zeitlichen Bestim-
mungen sich zugleich mit den Wahrnehmungen selbst
(mit der Materie des Gegebenen) psychologisch erzeu-
gen: verliert die obige Reflexion ihr Gewicht; und es
wird offenbar, daſs man nicht, mit Kant, von dem Raume
und der Zeit zu dem Räumlichen und Zeitlichen, son-
dern mit den meisten Philosophen aller Zeitalter umge-
kehrt von dem Räumlichen und Zeitlichen zu dem Raume
und der Zeit, als den daraus abgezogenen, und dann
durch neue, absichtliche Constructionen bis ins Unend-
liche erweiterten Einbildungen, die in gewissem Sinne
Z 2
[356] auch Begriffe heiſsen können, (§. 120.) fortschreiten
müsse.


Wir müssen hier einen Blick werfen auf eine Frage,
welche bey den Untersuchungen über die Mechanik des
Geistes Jedem einfallen muſste; nämlich die Frage nach
der dort oft vorkommenden Einheit der Zeit; und
nach der Vergleichung zwischen derjenigen Zeit, welche
wir als durch den Wechsel unserer Vorstellungen wirk-
lich verbraucht
denken müssen, und der vorge-
stellten
Zeit, von der wir jetzo reden. Ich habe schon
früher bemerkt, daſs ich jene Einheit der Zeit (deren
genaue Bestimmung sehr schwer seyn dürfte) ungefähr
mit unsern Minuten und Secunden glaube vergleichen zu
können. Wäre die Einheit viel kleiner als eine Se-
cunde: so müſsten ihre Brüche durch den, während der-
selben sich ereignenden, Wechsel unserer Vorstellungen,
es uns möglich machen, kleinere Theilchen einer Se-
cunde zu unterscheiden, als wir dieses zu thun im Stande
sind. Die Zeit, in welcher unser Erdball einen Fuſs
durchläuft, kann nur darum für uns unmerklich seyn,
weil während derselben unsre Vorstellungen so gut als
still stehn; das heiſst, weil die Hemmungssummen in ihr
um einen so geringen Theil sinken, der neben ihrer
eignen Gröſse verschwindet. — Aber auch viel gröſser
als eine Minute wird die erwähnte Einheit schwerlich zu
schätzen seyn; weil das Gesetz der abnehmenden Em-
pfänglichkeit während der Dauer einer Wahrnehmung
(§. 94.) sich gar zu bald fühlbar macht. Die rohe
Schätzung des Zeitmaaſses, worauf wir nach diesen Be-
merkungen die Rechnungen der Mechanik des Geistes zu
beziehen haben, läſst das Bedürfniſs der Verbesserung
eben nicht sehr empfinden, indem wir durch die Rech-
nung eigentlich nichts ausmessen wollen, sondern nur
die Kenntniſs der allgemeinen Gesetze des Laufs der
geistigen Veränderungen zu erlangen wünschen. —


Begreiflicher Weise gilt die hier versuchte Schätzung
der Zeit-Einheit lediglich für den Menschen; indem sie
[357] sich auf menschliche Erfahrung und innere Wahrneh-
mung stützt. Es ist sehr wohl denkbar, daſs für andre
Wesen ein anderes Zeitmaaſs statt findet, während gleich-
wohl die Untersuchungen der Mechanik des Geistes, und
die allgemeine Erklärung des Vorstellens der Succession,
sich auf sie nicht minder als auf den Menschen be-
ziehn. —


Wir spüren es im gemeinen Leben nur gar zu sehr,
wie unzuverlässig das unmittelbare Gefühl des Zeitver-
laufs sey; und es liegt uns nicht wenig daran, unsre Ge-
schäffte nach einem vesten Zeitmaaſse ordnen zu können.
Wie helfen wir uns? Durch Beobachtung solcher Bewe-
gungen, von denen wir annehmen, daſs sie mit gleich-
förmiger Geschwindigkeit geschehn. Die Umstände, un-
ter denen diese Annahme irrig oder wahr seyn möge,
können hier bey Seite gesetzt bleiben; ist sie aber auch
wahr, so beruhet alles auf der Voraussetzung, daſs mit
gleichen Geschwindigkeiten in gleichen Zeiten gleiche
Räume durchlaufen werden. In der That ein ganz evi-
denter Grundsatz; denn er ist rein analytisch. Der Be-
griff der Geschwindigkeit, der unmittelbar aus der Wahr-
nehmung nicht entstehen kann, weil die Geschwindigkeit
etwas intensives, und doch auſser uns ist, — bildet sich
durch dasjenige Denken, was die Gleichung aus-
sagt. Es ist der allgemeine Begriff der Bewegung in
jedem Puncte
; entstanden durch Abstraction von der
Bewegung durch einen kleinen, unbestimmten Raum, bey
deren Beobachtung wir die Vorstellung des Räumlichen
und Zeitlichen zugleich produciren. Der Begriff der Ge-
schwindigkeit ist also darauf eingerichtet, mit Raum und
Zeit nach dem obigen Grundsatze verknüpft zu werden;
welchem gemäſs wir nicht bloſs unsre unmittelbare Schät-
zung der verflossenen Zeit unbedenklich eines Irrthums
beschuldigen, sobald uns dieselbe länger oder kürzer
dünkt als unsre Zeitmesser angeben: sondern über wel-
chen wir auch alle die Schwierigkeiten zu übersehen pfle-
[358] gen, welche in dem Begriffe der Bewegung liegen, und
die schon Zeno von Elea versuchte, auszusprechen. —
Beym Durchlaufen eines Raumes verwandelt sich der
Raum in den Weg; das heiſst, alles Nebeneinan-
der
dieses Raumes muſs sich in einem Nacheinander
vollständig wiederfinden. Denn das Bewegte soll nirgends
verweilen, auch nichts überspringen; es soll die verschie-
denen Stellen seiner Bahn in eben so vielen verschiede-
nen Zeittheilchen treffen; und für jedes neue Zeittheilen
muſs es sich in einem eben so neuen Orte befinden.
Wie ungleichartig nun auch Zeit und Raum seyn mö-
gen, ihre bloſse Quantität, abstract gedacht, muſs bey
der Bewegung die gleiche seyn; das Quantum der Suc-
cession findet gewiſs seinen richtigen Ausdruck in dem
Quantum des durchlaufenen Raumes. Ein Satz, der bey
der ungleichförmigen Bewegung eben so offenbar ist, als
bey der gleichförmigen; denn auch hier sind die sämmt-
lichen Stellen des Weges gewiſs successiv durchlaufen
worden, — daher wenigstens soviel Succession als
Auſsereinander; — und das Bewegte konnte sich nir-
gends ausruhen, sonst wäre es ganz liegen geblieben, —
daher nicht mehr Succession, als Verschiedenheit in
dem Auſsereinander. Was ist denn die Zeit? Ist sie
nicht das Quantum der Succession, oder doch dessen
Maaſs? — Wenn sie dieses ist: so ist die ungleichför-
mige Bewegung ungereimt, ja alle Verschiedenheit der
Geschwindigkeit ist unmöglich. Denn bey gröſserer Ge-
schwindigkeit zeigt die Zeit weniger Succession an, als
der Raum; bey kleinerer umgekehrt; vorausgesetzt, daſs
wir einmal bey einer gewissen Geschwindigkeit (welche
zu bestimmen aber Niemand sich die vergebliche Mühe
machen wird,) Raum und Zeit als einander entsprechend
angesehen haben.


Auf diese Ungereimtheit in den Begriffen, durch
welche wir die Wahrnehmungen zu berichtigen glau-
ben, giebt nun im gemeinen Leben Niemand Acht. Auch
die Geometer bekümmern sich nicht darum; und das ge-
[359] reicht ihnen, in wiefern sie eben nur Geometer seyn
wollen, nicht zum Vorwurf. Daſs aber selbst die Meta-
physiker dabey sorglos bleiben, oder sich mit leeren Aus-
flüchten behelfen, das verzeiht ihnen ihre Wissenschaft
nicht; sondern sie büſsen ihre Nachlässigkeit durch ein
Heer von Irrthümern, ja von falsch gestellten Fragen und
im Keime verdorbenen Untersuchungen. Als Beyspiel
darf ich nur die Versuche nennen, die Succession der
Weltbegebenheiten zu erklären. —


Am Schlusse dieses Paragraphen muſs ich noch ei-
nem Anstoſse vorbeugen, welcher dem aufmerksamen Le-
sar dieses Buchs bey der Vergleichung mit den öfter an-
geführten Schriften, die mit der gegenwärtigen gewisser-
maaſsen Ein Ganzes ausmachen, wohl begegnen könnte.


Nämlich in den Hauptpuncten der Metaphysik, und
in der Abhandlung über die Elementar-Attraction habe
ich nachgewiesen, daſs der Begriff der Bewegung, oder
eigentlich der in ihm liegende der Geschwindigkeit, von
Widersprüchen gar nicht zu befreyen ist; daſs dieses
aber unschädlich ist, weil die Bewegung kein reales Prä-
dicat der Wesen darbietet. Nun könnte Jemand auf den
Gedanken kommen, eine solche Erläuterung passe zwar
auf die räumliche Bewegung, aber nicht auf die Bewe-
gung der Vorstellungen, wodurch reale Zustände der
Seele ausgedrückt werden, auf welche man keine wider-
sprechenden Begriffe übertragen dürfe. Hierauf ist zu
erwiedern, daſs der Schein des Widerspruchs nur daher
rührt, weil wir das Steigen und Sinken der Vorstellun-
gen nicht anders als mit Hülfe räumlicher Symbole be-
zeichnen können. Allein während wir dem Raume das
Aneinander, als sein Element und zugleich als sein Maaſs,
zum Grunde legen müssen, gegen welches weiterhin so-
wohl die Irrationalgröſsen als die Bestimmungen der Ge-
schwindigkeit, unvermeidliche Widersprüche bilden, —
so giebt es dagegen für die sogenannten Bewegungen
der Vorstellungen gar keine solche elementarische Gröſse,
die bey ihnen zum allgemeinen Vergleichungspuncte die-
[360] nen müſste. Sondern gerade wie die Geometer es mit
ihren Linien machen, so kann man auch hier beliebig
eine oder die andre Gröſse zum Maaſse nehmen, gegen
welche
dann die andern irrational seyn mögen. Warum
steht dieses frey? Darum, weil die Vorstellungen an sich
gar nicht Quanta sind, sondern diese ganze Betrachtungs-
art ihnen nur in demjenigen psychologischen Nachdenken
zukommt, welches Eine Vorstellung mit der andern ver-
gleicht, oder auch den Grad der Verdunkelung mit dem
des wirklichen Vorstellens zusammenhält. Ungefähr so,
wie in der allgemeinen Metaphysik die Wesen bloſs für
das zusammenfassende Denken sich im intelligibeln Raume
befinden. Oder ganz allgemein so, wie alle Gröſsenbe-
griffe lediglich als Hülfsmittel des Denkens anzusehen
sind, die sich gänzlich nach der Natur der Gegenstände,
bey denen sie gebraucht werden, fügen und schmiegen
müssen; ohne jemals reale Prädicate derselben abzuge-
ben. Ein Punct, den man vor allen Dingen völlig muſs
begriffen haben, ehe man von den Untersuchungen über
die Materie, vollends über lebende Leiber, irgend etwas
gründlich durchdenken kann.


§. 145.

Wir haben in den vorhergehenden Paragraphen
Rechenschaft gegeben über den psychologischen Ursprung
der Begriffe von Substanz, Kraft, Materie, Bewegung.
Und in dem vorigen Capitel wurde die Entstehung des
Begriffs vom Ich untersucht. Aber diese Nachforschun-
gen über die Genesis derjenigen Vorstellungsarten, an
welchen die allgemeine Metaphysik sich übt, haben sie
etwan die Schwierigkeiten vermindert, die Widersprüche
weggeschafft, welche der letztgenannten Wissenschaft so
groſse Aufgaben bereiten? Gewiſs nicht! Im Gegentheil,
es ist deutlich zu erkennen, daſs, und warum
die metaphysischen Probleme sich gegen jedes,
bloſs logische Deutlichkeit suchende Denken,
hartnäckig und unüberwindlich zeigen müssen
.
Der psychologische Mechanismus bringt es mit sich, daſs
[361] Complexionen von Merkmalen für wahre und reale Ein-
heiten gelten; daſs die Veränderung einer Ursache zuge-
schrieben wird, ohne irgend eine Auskunft über die Mög-
lichkeit des Wirkens; daſs der Raum das Reale in sich
nehmen muſs, ohne Frage, ob diese Begriffe zusammen-
passen oder nicht; daſs die Zeit, in Ermanglung einer
ursprünglich bestimmten Auffassung, nach Bewegungen
gemessen wird, welche den Begriff der Zeit mit einer
versteckt liegenden Ungereimtheit belasten. Alle diese
Verkehrtheiten sind also zwar keine qualitas occulta,
keine angeborne Erbsünde der Vernunft, aber wohl eine
erklärbare Erbsünde aller Erfahrung. Sie sind ein noth-
wendiger Durchgang für das Denken, welches, um
zur Wissenschaft zu gelangen, vergeblich ei-
nen leichtern und geraderen Weg suchen würde
.
Widersprechende Begriffe geben den Stoff zur Metaphy-
sik; und ohne Metaphysik kann die Erfahrung nicht von
Widersprüchen befreyt werden.


Dieses zwar muſs Jedem ohne Psychologie, durch
die bloſse Analyse der erwähnten Begriffe, klar seyn, ehe
er auf Metaphysik sich einläſst. Solche Klarheit ist der
wichtigste Gewinn, der durch die Einleitung in die Phi-
losophie soll erreicht werden.


Aber es schien nöthig, auch an dem gegenwärtigen
Orte diesen Punct hervorzuheben, damit offenbar werde,
wie groſs der Misgriff ist, mit welchem die sämmtlichen
Versuche der Vernunftkritik anheben. Sie wollen vor
unsern Augen jede falsche Metaphysik aus ihrem Keime
entstehen lassen. Dadurch sollen wir vor ähnlichen Irr-
thümern gewarnt werden. Sie wollen die Grundbegriffe
des Denkens in ihrem Ursprunge zeigen. Dadurch soll
sich die wahre Bedeutung dieser Begriffe von jedem fal-
schen Zusatze abscheiden. Glänzende Versprechungen
ohne allen Gehalt! Wir sehen jetzt den Ursprung der
falschen Metaphysik. Er besteht darin, daſs man die
Grundbegriffe der Erfahrung gerade so läſst, und für gut
annimmt, wie sie der psychologische Mechanismus zuerst
[362] zu Tage fördert. Er besteht in der Unterlassungs-
sünde, daſs man zur wahren Metaphysik nicht
fortschreitet
; daſs man sich nicht aufmacht, das Werk
nicht angreift, selbst nachdem Jahrhunderte und Jahr-
tausende gelehrt haben, es könne so nicht bleiben, wie
es ursprünglich in jedem menschlichen Kopfe sich fügt
und giebt. Die erste, und unvermeidliche Bedeutung je-
ner Grundbegriffe ist eben nicht die wahre, nicht ein-
mal die denkbare, sondern sie unterliegt der Kritik des
fortgesetzten Nachdenkens; die wahre Bedeutung aber
kommt erst durch die Wissenschaft, welche der Kritik
nachfolgt. Nicht die Vernunft, sondern die rohen Er-
zeugnisse des psychologischen Mechanismus sind der
rechte Gegenstand für die Kritik; und dadurch soll die
Vernunft, als die höchste Thätigkeit, ganz und gar nicht
in Unternehmungen beschränkt, sondern zu neuen Unter-
nehmungen aufgemuntert, ja aufgefordert werden. Wehe
uns, wenn Kants Kritik die beabsichtigte einschränkende
Wirkung in der That gehabt hätte. Wohl uns, wenn
die wirklich beschränkenden Einflüsse dieser Zeit über-
wunden werden durch die Aufregung, welche von Jenem,
wider seinen Willen, oder mindestens wider seine Worte,
sich herschreibt.


Viertes Capitel.
Von der höhern Ausbildung.


§. 146.

Aeuſserst auffallend ist der Contrast zwischen den
zögernden Fortschritten des metaphysischen Denkens,
und der Eile, womit andre Arten des Wissens und der
Künste, ja womit die sämmtlichen Vorzüge der eigentli-
chen Menschheit, (jenen Zweig der Speculation allein
abgerechnet,) sich entwickelt haben; — wenigstens in
der Periode des menschlichen Daseyns, von welcher die
[363] Geschichte Nachricht giebt. Denn freylich, wie langsam
vielleicht in den vorhistorischen Zeiten die ersten
Erhebungen unseres Geschlechts gelungen seyen: darüber
fehlt es beynahe eben so sehr an Vermuthungen als an
Zeugnissen, falls man sich nicht grundlosen Einfällen
überlassen will. Diejenige höhere Bildung, welche jetzo
als ein Factum dem Psychologen vor Augen steht, wird
nur ihrer Möglichkeit nach können begriffen werden; hin-
gegen den Lauf ihres Entstehens vom ersten Anfang an
zu überschauen, wie wäre das anzustellen? Welches
Fernrohr soll uns die Geheimnisse der Vorzeit nahe brin-
gen, wenn die Geschichte schweigt?


In den historischen Zeiten sehen wir die Erweite-
rung der menschlichen Kenntnisse gar sehr vom Zufall
abhangen, und die absichtliche Forschung, so wie die
Erhebung der Gemüther, scheint ein Werk weniger klei-
ner Völkerschaften, ja einzelner Menschen. Den aller-
meisten Individuen scheint es von jeher gegangen zu
seyn wie jetzt; ihnen ist ihre Cultur überliefert; wie man
sie gewöhnte, so sind sie geworden; was man ihnen vor-
dachte, das haben sie im besten Falle verstanden; was
aufgeregte Gemüther vorempfanden, das hat sich mitge-
theilt und verbreitet; was die Herrscher frey lieſsen, da-
mit haben sich die Uebrigen beholfen. Rückwärts ha-
ben die hervorragenden Menschen nur soviel ausgeführt,
als durch die Menge konnte ausgeführt werden; nur so-
viel verewigt, als die Menge bevestigte und bewahrte;
was die Menge entweder nicht verstand, oder nicht ehrte,
nicht wollte, davon ist das Meiste untergegangen; es
befindet sich nicht unter den Stützen derjenigen Bil-
dung, die heute vor uns liegt, und psychologisch erklärt
seyn will.


Diese Zusammenwirkung Weniger mit Vielen, und
daneben dennoch das Fortschreiten der höchsten Bildung
bloſs durch die Besten und Edelsten, ohne das Volk zu
berühren: dies beydes sind selbst psychologische Phäno-
mene; und die Analyse derselben würde uns vorzugsweise
[364] beschäfftigen müssen, wenn wir von der höhern Ausbil-
dung, — die auf keine Weise bloſs in Beziehung auf
den Gebildeten, sondern nur als ein Werk des Men-
schengeschlechts an und in dem Gebildeten, zu betrach-
ten ist, — hier mit einiger Ausführlichkeit handeln könn-
ten. Beschäfftigt mit der Grundlegung zur Psycholo-
gie, können wir nur einige flüchtige Züge wagen zur An-
deutung des Gebäudes, das, wenn das Glück gut ist,
sich einstens über dem Grunde erheben mag. Und selbst
diese Züge sollen nicht geschlossene Umrisse seyn, son-
dern nur Verlängerungen derjenigen Linien, die wir im
Vorigen schon gezogen finden.


§. 147.

Im vorigen Capitel waren wir zuerst beschäfftigt mit
dem Ursprunge des Begriffs der Substanz. Wir fanden
ihn in den Urtheilen, durch welche einer Complexion
von Merkmalen, die zuvor unüberlegter Weise für eine
reale Einheit galt, diese Merkmale einzeln beygelegt wur-
den, so daſs allmählig die Complexion sich völlig auf-
lös’te, und sich in eine Masse von Prädicaten verwan-
delte, zu denen nur ein unbekanntes Subject konnte hin-
zugedacht werden. Dies Resultat einer absichtlosen
Operation des Denkens war nun wiederum zu betrach-
ten als roher Stoff für die absichtlichen und methodischen
Forschungen der Metaphysik.


Ganz die nämliche Operation geht aber noch bey
andern Gelegenheiten vor, wo sie früher einen guten Aus-
gang findet, und schon für sich allein etwas Brauchba-
res hervorbringt.


Die Zersetzung der Complexionen durch die Urtheile
begegnet nicht bloſs bey unsern Vorstellungen einzelner
wirklicher Dinge: sondern auch bey den sämmtlichen
Begriffen; und dadurch, in Verbindung mit dem, was
im Anfange des §. 139. bemerkt worden, werden diese
letztern allmählig aus der Rohheit herausgehoben, in
welcher wir dieselben im §. 121. und 122. noch fanden.
In ihrer äuſsern Erscheinung ist diese Fortschreitung des
[365] menschlichen Geistes zu erkennen als Ausbildung der
Sprache. Denn die Bedeutung der Wörter genauer
bestimmen, oder zunächst nur genauer unterscheiden, und
die Wörter mit Sorgfalt wählen: Dies heiſst nichts an-
ders, als den Inhalt der Begriffe strenger begränzen.


Während der ersten Rohheit müssen sich die Wör-
ter bequemen, alles zu bezeichnen, was durch irgend eine
entfernte Aehnlichkeit diejenigen Vorstellungen, mit de-
nen sie zuerst verknüpft wurden, ins Bewuſstseyn hervor-
ruft. Wer aber von zweyen Wörtern, die ihm zur Be-
nennung eines vorliegenden Gegenstandes sich zugleich
darbieten, das eine wählt und das andre verwirft: was
geht in dessen Seele vor? Er urtheilt, das unpassende
Wort führe ein Merkmal mit sich, das dem Gegenstande
nicht zukomme. Dadurch wird dem Worte, welches
verworfen ist, ein Merkmal beygelegt; und zugleich wird
eben dies Merkmal dem vorgezogenen Worte abge-
sprochen. Dergleichen Urtheile mögen in den meisten
Fällen sehr dunkel gedacht werden, dennoch erhalten
dadurch die Begriffe ihre Gränzen, und den künftigen
logischen Erörterungen, die das nämliche klar ausspre-
chen, wird vorgearbeitet.


Die Wörter sind hier diejenigen Einheiten, welchen
die Merkmale beygelegt werden. Es mag also die Zer-
setzung der Complexionen noch so vollständig von Stat-
ten gehn: nicht leicht wird hier die Verlegenheit gefühlt,
welche sich da zeigt, wo die Complexionen reale Ein-
heiten, Substanzen, vorstellen sollen. Denn die Wörter
bilden in allen jenen Urtheilen die Subjecte; und wenn
ja bemerkt wird, daſs doch, genau genommen, die Wör-
ter nur Laute seyen, denen jene Merkmale nicht kön-
nen zugeschrieben werden, so bietet sich fürs Erste die,
meist für genügend geltende, Berichtigung dar, die Wör-
ter seyen Zeichen unsrer Vorstellungen, unserer Be-
griffe, und diesen gebe jedes der gefälleten Urtheile eine
nähere Bestimmung.


Auf dem Wege dieser Ausbildung entsteht allmäh-
[366] lig die Scheidung und Entgegensetzung zwischen den
Begriffen, und den Anschauungen sammt den Einbildun-
gen. Zu den letztern werden die Wörter gesucht;
eben dadurch charakterisiren sich jene als der Sinn, den
die Wörter mit sich bringen. — Leicht kann es
beym Fortschritt in dieser Richtung dahin kommen, daſs
nach Platonischer Ansicht die Begriffe als die Muster der
Dinge betrachtet werden. Denn die psychologische Ent-
stehung der Begriffe aus den Wahrnehmungen wird ver-
gessen oder bezweifelt; letzteres auch darum, weil manche
Begriffe durch die Urtheile so geläutert, und von zufäl-
ligen Beymischungen gesondert werden, daſs ihnen in
dieser Gestalt kein sinnliches Ding, wenn sie schon dar-
auf übertragen werden, völlig Genüge thut. Man denke
hiebey an die geometrischen Grundbegriffe.


Aber wegen ihres psychologischen Ursprungs, (nach
§. 121.) verbinden sich die Begriffe leicht mit Beyspie-
len, die uns einfallen, und mit Anschauungen, die sich
darbieten. Wären wirklich die Begriffe eine so ganz be-
sondere Art von Vorstellungen, wie sie nach manchen
Systemen der Philosophen seyn sollen, so hätten sie zwar
einen Inhalt, aber keinen Umfang; oder wenigstens ge-
hörten in diesen Umfang nur andre Begriffe, aber nicht
Anschauungen, nicht Einbildungen. Von wie vielen, wie
unbeantwortlichen Fragen über die Möglichkeit der Ver-
knüpfung der letztern mit den erstern im gewöhnlichsten
Laufe des Denkens, hätten diejenigen sich sollen gedrückt
fühlen, die ihren Rationalismus nicht glaubten rein hal-
ten zu können, wenn sie nicht den Begriffen, oder doch
gewissen Classen derselben, eine Art von adelicher Ab-
kunft beylegten, und den gemeinen bürgerlichen Ursprung
derselben aus Vorstellungen der Sinne gänzlich leug-
neten!


Hier endlich ist es nun auch möglich, im Gegen-
satze der Begriffe einen Ausdruck zu bestimmen, der we-
gen gewisser ihm anklebender Nebenvorstellungen nicht
wenig Verwirrung in den neuern Systemen angerichtet
[367] hat. Ich meine den Ausdruck Anschauung. Dabey
denkt man zunächst an die Wahrnehmung, die gewiſs
bey keiner Anschauung fehlen kann. Aber zugleich soll
die Anschauung uns etwas Objectives gegenüber stellen.
Die bloſse Wahrnehmung, selbst wenn dabey der soge-
nannte innere Sinn thätig ist, (vergl. §. 125—128.) be-
zeichnet noch kein Object als ein solches. Dazu muſs
erst das Selbstbewuſstseyn kommen, es muſs das auffas-
sende Subject dem Objecte entgegengesetzt werden.
Schon dies ist nicht ganz einfach. Das Subject ist ur-
sprünglich nicht das Entgegengesetzte, sondern das Vor-
ausgesetzte
der Objecte; (§. 131.). Aber vermöge
jener veränderlichen Complexion, die das objective Ich
ausmacht, (§. 135.), tritt das in ihr enthaltene Subject
selbst in die Reihe der Objecte; wird ein Punct, und
zwar der erste Punct, in dem Systeme derselben; daher
sieht der Mensch das Object auſser sich, und setzt es
sich entgegen, wenn zugleich das Angeschaute selbst ei-
nen zweyten, vesten Punct im Systeme der Objecte
darbietet. Dies letztere wird theils durch Bestimmungen
im Raume, theils durch Veststellung in mancherley Ge-
bieten der Qualität (§. 139.), also überhaupt durch Un-
terscheidung
dieses bestimmten Gegenstandes von an-
dern wirklichen und möglichen Gegenständen, erreicht.
Kurz: Anschauen heiſst, ein Object, gegenüber
dem Subjecte als ein solches und kein anderes
auffassen
.


Daſs in der Anschauung, als Grundbestandtheil der-
selben, Empfindung liege: versteht sich zwar von selbst.
Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr wird sie
hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Sub-
jects, als auf die der andern, davon zu unterscheidenden
Objecte. Das heiſst, die Anschauung wird verlieren an
dem, was an ihr charakteristisch ist. Also umgekehrt:
die Anschauung ist um desto vollkommener, je
weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat
.


Um dies völlig zu verstehen, erinnere man sich zu-
[368] gleich der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94.); und
der Apperception (§. 125. u. f.). Bey unserer höchst
geringen Empfänglichkeit im männlichen Alter, erzeugen
sich nur äuſserst kleine Quanta der Empfindung, aber
diese wirken als Reize auf die längst vorhandenen gleich-
artigen Vorstellungen, sammt Allem, womit die letzteren
in Verbindung stehen.


Daraus nun erklärt sich derjenige Zustand des rei-
fen Anschauens, wie wir es vollziehen, indem wir mit
Besonnenheit etwas besehen und betrachten. Wir könn-
ten mit völlig gleicher Leichtigkeit ganz andere Gegen-
stände auffassen; ja wir thun es wirklich, wenn eine
Reihe von Merkwürdigkeiten uns vorgezeigt wird. Ist
diese Reihe nicht gar zu lang und zu bunt: so belästigt
sie uns nicht im mindesten; von der hemmenden Gewalt,
welche den ersten Grund des psychologischen Mechanis-
mus ausmacht, ist dabey wenig zu spüren; am wenigsten
in Beziehung auf Uns; denn wir kommen dabey (beson-
dere Fälle abgerechnet) gar nicht aus der Fassung, füh-
len uns selbst nicht im mindesten verändert. Wohl aber
behandeln wir den Gegenstand, indem wir ihn untersu-
chen; wenigstens geht unsre Anschauung sogleich in ein
mannigfaltiges Urtheilen über. Denn er zeigt uns seine
Umrisse wie auf einem Hintergrunde zahlloser Möglich-
keiten, die wir selbst aus unserm, schon gesammelten,
schon zu Begriffen verarbeiteten, Vorrathe hinzubringen.
Die sinnliche Empfindung, unbedeutend als Masse, dient
uns nur als ein formendes Princip für den Stoff, den
wir besitzen; denn sie hebt aus diesem Stoffe einiges
heraus, und schneidet weit mehr anderes hinweg; daher
wir über den Gegenstand mehr negative Urtheile, als po-
sitive, fällen würden, wenn alles, was sich in uns regt,
Sprache finden könnte; und wenn nicht die meisten un-
serer hervortretenden Gedanken gleich im Entstehen wie-
der erdrückt würden.


Geschieht es ganz so, wie eben beschrieben worden:
dann fühlen wir uns frey im Anschauen. Denn der
Lauf
[369] Lauf unserer Vorstellungen verläſst den Gegenstand und
kehrt zu ihm zurück, ohne irgend an ihn gebunden zu
seyn. Allein bey dieser Freyheit ist schon stark auf die
willkührlichen Bewegungen unseres Leibes gerechnet, wä-
ren es auch nur Beugungen des Kopfs, oder ein Schlie-
ſsen der Augenglieder. Sonst kann es auch begegnen,
daſs der Gegenstand uns stört, wenn wir seiner Auffas-
sung nicht ausweichen können; oder auch, wir sind in
Hinsicht seiner gebunden, wenn wir uns von ihm ange-
zogen
fühlen; ja selbst wenn es nicht mehr gelingt, die
Thätigkeit des Anschauens fortzusetzen, weil wir dazu
nicht mehr aufgelegt sind.


Das Letztere macht sich besonders lästig beym ab-
sichtlichen Memoriren; einer Thätigkeit, die sich aus
vielen Anschauungen zusammensetzt, und aus ihnen, mit
Hülfe der Wiederhohlung, eine Reihe bildet. Hier muſs
vor allem jedes einzelne Glied der Reihe nicht bloſs auf-
gefaſst, sondern appercipirt werden. Also sollte eigent-
lich der Gang unserer eigenen Vorstellungen von selbst
mit der Folge der Gegenstände correspondiren, damit in
jedem Augenblick unser eigner Geist gerade den Stoff
darböte, welchen das Gegebene formen könnte. Dies ist
nun genau genommen nicht möglich, immer geschieht
dem natürlichen Flusse unserer Vorstellungen einige Ge-
walt, indem sie dem Reize nachgeben müssen, welchen
das Gegebene ausübt. Keine, selbst veraltete, Spur des
Eigensinns, darf in dem Kopfe des Menschen seyn, der
leicht memoriren soll. Es versteht sich, daſs alle phy-
siologischen Gründe, welche irgendwie der Biegsamkeit
unserer Vorstellungsreihen nachtheilig sind, auch dem
Gedächtnisse Eintrag thun; und überdies setzt allemal
das Memoriren schon eine Menge gleichartiger, mannig-
faltig combinirter Vorstellungen voraus. Daſs andre Schwie-
rigkeiten bey der Reproduction des Memorirten eintreten
können, die von denen des Memorirens zu unterscheiden
sind, kann hier nur im Vorbeygehn bemerkt werden.
II. A a
[370] Wir müssen zurückkehren zu unserer Hauptsache: der
logischen Cultur unserer Begriffe.


Diese wird bekanntlich erst vollendet durch Defini-
tionen
und Divisionen. Und man kann leicht be-
merken, daſs in dem Bemühen, eine Definition zu fin-
den, der Begriff gleichsam angeschaut, betrachtet, meh-
reren Versuchen unterworfen wird; daſs er wie ein Object,
welches wir zu fixiren suchen, vor uns schwebt. Also
wird das, was eben zuvor von der fixirenden Anschauung
gesagt wurde, hier zur Grundlage unserer Ueberlegung
dienen könne. Die Aehnlichkeit in beyden Fällen ist
um so gröſser, da, wie vorhin gezeigt, die Empfindung
beym Anschauen nicht als Vermehrung der Masse unse-
rer Vorstellung, sondern nur als Reiz, und als formen-
des Princip für unseren schon gesammelten Vorrath in
Betracht kommt. Statt der Empfindung muſs nun in dem
Falle, wo eine Definition gesucht wird, der Gesammt-
Eindruck, oder der noch rohe Begriff dienen, welchen
wir definiren wollen; dieser muſs mit hinreichender Ener-
gie im Bewuſstseyn hervortreten, oder durch wiederhohlte
Fragen, was er sey? hervorgehoben werden. Ferner
ist hier nicht bloſs nach einerley Richtung hin die Apper-
ception nöthig, sondern nach zweyen entgegengesetzten
Richtungen. Nämlich auf der einen Seite müssen die
untergeordneten Vorstellungen, auf der andern die hö-
hern Begriffe hervortreten. Wie wenn die Definition
des Vogels gesucht würde: so müſsten erstlich Vögel
mancherley Art, zweytens die Begriffe vom Thier über-
haupt, von der Bewegung im Raume, und hier insbe-
sondere vom Umherfahren in der Luft, ins Bewuſstseyn
treten. Denn die Definition, mag sie, der Kürze wegen,
per genus proximum et differentiam ſpecificam geleistet
werden, — muſs erstlich den Begriff aus mehrern höhe-
ren suchen zusammenzusetzen. (Auch die Differenz ist
in der Regel ein höherer Begriff, da sie noch mehrern
Begriffen zukommen kann, und folglich der, welchen wir
mit ihrer Hülfe definiren wollen, sich zu ihr wie die Art
[371] zur Gattung verhält; obgleich hievon Ausnahmen vorkom-
men, wie das Wiehern des Pferdes, und andre, ganz
eigenthümliche Merkmale.) Ob aber die Zusammen-
setzung gelungen sey, wird geprüft an dem Umfange des
Begriffs, und den darin enthaltenen Beyspielen; die es
verrathen, wenn die Definition zu eng ist; desgleichen
an den Beyspielen, welche zum genus und der Differenz
gehören, aus denen man erkennt, ob die Definition zu
weit ist. Denn ich rede hier nur von solchen Erklärun-
gen, die zum sogenannten analytischen Denken gehören;
nicht von der Definition durch streng wissenschaftliche
Erzeugung eines Begriffs, welches über die Sphäre mei-
ner jetzigen psychologischen Untersuchung hinaus liegt.


Der Punct, auf welchen man hier merken muſs, ist
das Entstehen einer neuen Dimension für den Lauf
unserer Vorstellungen. Die ursprüngliche Richtung der-
selben ist die zeitliche, woraus die räumliche sich bildet,
nach §. 112. und 113. Ferner haben wir im §. 139. das
Analogon derselben, die Fortschreitung in den qualitati-
ven Continuen, näher betrachtet; auch war von beydem
schon im §. 100. die Rede. Von derjenigen hingegen,
die wir hier finden, kann man sagen, daſs sie die vori-
gen senkrecht durchschneide; sie ist nämlich die der lo-
gischen Unterordnung; jene aber gehören zur Nebenord-
nung. Der Begriff, welchen wir definiren, liegt zwischen
seinen höhern und niedern. Durch doppelte Apperception
und durch die, damit verbundene, Verschmelzung, hat
er sich beyden angeschlossen; und das Denken geht durch
ihn herdurch nach zweyen entgegengesetzten Richtungen;
nur nicht auf einerley Weise. Denn er ist ein Mittel-
begriff
im Sinne des logischen Syllogismus; man kann
schlieſsen:
Der Adler ist ein Vogel,
Der Vogel ist ein Thier,
also der Adler ein Thier,

aber nicht mit umgekehrter Fortschreitung, das Thier
sey ein Vogel, der Vogel ein Adler, also das Thier ein
A a 2
[372] Adler. Soll diese falsche Fortschreitung verbessert wer-
den, so führt sie auf Divisionen. Angenommen fürs
Erste, wir gehen vom Vogel zum Adler: so hat der Adler
seinen Platz in einem jener qualitativen Continuen des
§. 139.; ist die Verschmelzung der dazu gehörigen Vor-
stellungen gehörig zu Stande gekommen, so durchläuft
das Vorstellen, gleichsam seitwärts, vom Adler abschwei-
fend, die Menge der übrigen Vögel; während der schon
bereit liegende, appercipirende Begriff des Vogels sie
alle mit sich vereinigt. Dasselbe ereignet sich in dem
Verhältnisse des Thiers zum Vogel, und diese logische
Bewegung unseres Denkens würde nicht eher endigen,
als in vollständiger Ueberschauung des ganzen Systems
unserer Begriffe, wenn alle dazu nöthigen Verschmelzun-
gen vollführt, und die Hemmungen nicht zu stark wä-
ren. — Uebrigens wird wohl Niemand fragen, warum
nicht, wenn vom Adler die Vorstellungsreihe zum Vogel
fortgeht, sie auch dann seitwärts zu den übrigen Thieren
übergehe? Denn es ist klar, daſs, wenn sie es thut,
dann die Vorstellung des Adlers gehemmt wird, und die
Reihe als solche abgebrochen ist.


Wie im Anschauen, so fühlen wir uns auch frey
im Denken, so fern es gelingt; doch weniger als im An-
schauen, weil es seltener gelingt. Gar zu oft schlägt
jene doppelte Apperception dergestalt fehl, daſs die De-
finitionen zu weit oder zu eng werden; selten liegen die
qualitativen Continuen für eine vollständige Coordination
bereit; dadurch entdecken sich Mängel und Lücken in
unserem Vorstellen, derentwegen wir nicht umhin kön-
nen, einen Tadel in unsre Selbsterkenntniſs aufzunehmen.
Dieser Tadel wirkt mehr oder weniger Anstrengung;
er weckt einen Anspruch an uns selbst, auf welchen,
wenn ihm Genüge geleistet wird, sich ein neuer Begriff
von geistiger Freyheit bezieht, der von dem vorigen,
der Willkühr im fixiren den Denken oder Anschauen,
sehr verschieden ist, weil er schon Selbstbeherrschung
in sich schlieſst.


[373]

Hier bemerken wir noch eine dritte Art von Frey-
heit; die Freyheit der Reflexion. Bey der Definition
geschieht eine Unterordnung des Begriffs unter seine
Merkmale. Durchläuft man successiv die Reihe dieser
Merkmale: so hebt sich eine Seite des Begriffs nach der
andern hervor, und das Gleichgewicht ist gestört, worin
vorher die sämmtlichen Bestandtheile des Begriffs mit
einander schwebten. Dasselbe geschieht schon in der
Vergleichung eines Gegenstandes mit andern und wieder
andern nach verschiedenen Aehnlichkeiten; wie wenn das
Glas erst mit den durchsichtigen, dann mit den zerbrech-
lichen, endlich mit den schwer auflöslichen Körpern zu-
sammengestellt wird. Der Gegenstand übt hiebey keine
merkliche Gewalt über uns aus; die Art, wie wir die
Vorstellung desselben aus dem Gleichgewichte bringen,
folgt gänzlich dem Laufe unserer Gedanken. Nur muſs
man nicht in eben diesem Gedankenlaufe die Freyheit
suchen wollen, die lediglich eine Beweglichkeit in der
Vorstellung des Gegenstandes ist.


Man kann fragen, ob diese Beweglichkeit auch bey
vollkommenen Complexionen möglich sey? Denn bey
unvollkommnen Complexionen, und bey Verschmelzun-
gen hat sie keine Schwierigkeit, indem dieselben nachgie-
big genug sind, um bey verminderter Hemmung einen
ihrer Bestandtheile, der hiedurch begünstigt wird, mehr
hervortreten zu lassen, als die übrigen, für welche die
vorhandene Hemmung sich gleich bleibt. Aber bey voll-
kommenen Complexionen gilt bekanntlich das Gesetz, daſs
alle ihre Bestandtheile untrennbar in gleicher Proportion
steigen und sinken müssen. — Nun kennen wir keine
vollkommnere Complexionen, als die zwischen den Wor-
ten und den dadurch bezeichneten Gegenständen. Gleich-
wohl, indem wir etwa das alte Schul-Beyspiel der Logiker,
Die Maus friſst Käse,
Maus ist ein einsylbiges Wort,
Also friſst ein einsylbiges Wort Käse,

durch die Bemerkung zurückweisen, daſs hier vom Worte
[374] und dort vom Thiere die Rede sey: trennen wir in der
Reflexion das Wort von der Sache. Wirklich scheint
aber in solchen Fällen die Apperception des Worts ein
neues Quantum des Vorstellens, aus dem Vorrathe
der Vorstellungen bloſser, schon vereinzelter, Sprachlaute,
herzugeben; so, wie es den Kindern beym Buchstabiren
ohne allen Zweifel begegnet, die ein Wort aus seinen
Buchstaben zusammensetzen, nachdem sie längst vorher
das nämliche Wort als Zeichen einer Sache kannten
und gebrauchten, ohne an dessen Bestandtheile auch nur
zu denken. Man sieht hier einen Umstand, der die psy-
chologischen Nachforschungen erschweren kann. Sehr
oft tritt unvermerkt ein Quantum des Vorstellens an die
Stelle des andern, und leistet Dienste, die man vom an-
dern zu empfangen glaubt und doch nicht empfangen
konnte.


§. 148.

Die vorstehenden Bemerkungen über das analytische
Denken, welches seinen Gegenstand nicht erweitert noch
verändert, mögen genügen; da sie das Wesen der Re-
flexion wenigstens im Allgemeinen begreiflich machen,
nämlich durch die Bewegung, die in den Complexionen
entsteht, wenn gleichzeitig mit ihnen andre und andre,
ihnen zum Theil gleichartige, Vorstellungen wechselnd
im Bewuſstseyn sind; woraus eine wechselnde Begünsti-
gung für das Hervortreten ihrer Bestandtheile entspringt.


Jetzt aber müssen wir zu dem Gegenstande fortgehn,
welchen Kant mit so groſsem Nachdruck zur Untersu-
chung empfohlen hat; das synthetische und erweiternde
Denken. Gewiſs liegt hierin eins der gröſsten Verdienste
Kants um die Speculation; und die Vernachlässigung
dieses wichtigen Puncts gereicht den spätern Philosophen
zum Vorwurf. Allein eine Entschuldigung für sie findet
sich in den sehr starken Misgriffen, welche begegneten,
indem Kant die Frage: wie sind synthetische Urtheile
a priori möglich? auflösen wollte.


Er tadelt Humen, nicht eingesehen zu haben, daſs
[375] seine Zweifel mit der Metaphysik zugleich die Mathema-
tik trafen. Aber er selbst wurde durch diese Bemerkung
verleitet, zwey sehr verschiedene Gegenstände nur gar
zu nahe zu rücken, und im Grunde weder den einen noch
den andern richtig zu erkennen.


Worin die Nothwendigkeit metaphysischer Sätze,
z. B. des Causalgesetzes, besteht, habe ich oft genug
ausgesprochen und gezeigt; nämlich darin, daſs ein Wi-
derspruch muſs gehoben werden, der in der Form der
Erfahrung wirklich liegt; z. B. in der Veränderung.


Hingegen in den mathematischen, combinatorischen,
und allen ähnlichen Gesetzen wird bloſs eine, einmal
angenommene Regel der Construction vestgehalten, aus
deren Verletzung Widersprüche entstehen würden.


Die oben in der Anmerkung zu §. 142. angeführten
eignen Worte Kants über die Wechselwirkung und
Veränderung zeigen dem scharf genug nachdenkenden
Leser keine bloſse Unbegreiflichkeit, sondern eine völlig
klare Ungereimtheit. Hingegen in den geometrischen
Sätzen (so fern sie nicht etwa das Continuum und das
Unendliche betreffen, worin allerdings Widersprüche lie-
gen,) hat noch Niemand etwas Ungereimtes, nicht ein-
mal etwas Unbegreifliches gefunden, sondern ihre Noth-
wendigkeit und ihre Wahrheit leuchtet vollständig ein;
indem bey ihnen gleich der erste Gedanke auch der rich-
tige ist, und man nur durch übereiltes oder absichtliches
Verletzen der einmal angenommenen Regel würde auf
Widersprüche stoſsen können.


Um diesen Gegenstand so allgemein als möglich zu
erläutern, will ich von dem, was logisch höher steht; als
alle Mathematik, nämlich von der Combinationslehre, zu-
erst ein Beyspiel hernehmen. Man betrachte folgendes
Schema der Versetzungen von vier ungleichen Elementen:
a b c d
a b d c
a c b d
a c d b
[376] a d b c
a d c b
b a c d
b a d c
b c a d
b c d a
b d a c
b d c a
c a b d
c a d b
c b a d
c b d a
c d a b
c d b a
d a b c
d a c b
d b a c
d b c a
d c a b
d c b a


Die Anfangs-Buchstaben dieser Complexionen erge-
ben die Reihea, b, c, d; aber mit sechsmal langsa-
merer Fortschreitung, als mit der, welche in der Folge
der ganzen Complexionen vorkommt. Zugleich bilden die
zweyten Buchstaben der Complexionen eine Reihe von
Reihen
; b, c, d; a, c, d; a, b, d; und a, b, c; de-
ren Fortschreitung doppelt so langsam geschieht als der
Wechsel in den beyden hintersten Stellen. Das Ganze
zeigt uns also ein System zugleich ablaufender Vorstel-
lungsreihen, aus deren jedesmaligem Zusammentref-
fen
sich jede einzelne Complexion unfehlbar erzeugt.
Hier ist keine Nothwendigkeit durch Aufhebung und Hin-
wegschaffung eines vorhandenen Widerspruchs, wie in
den metaphysischen Problemen; sondern ein zwangloses,
jedoch völlig bestimmtes Geschehen, das an den zusam-
mentreffenden Mechanismus einer Uhr und eines Ge-
[377] schäffts erinnert, auch wirklich damit in Eine Klasse von
Ereignissen gehört.


In der Geometrie kommt etwas Aehnliches vor, doch
mit einem Umstande behaftet, den wir schon oben, (§. 114.,
in der Anmerkung,) vor Augen hatten. Im Raume näm-
lich vervielfältigen sich oftmals gewisse allgemeine Be-
griffe in mehrere Darstellungen. Wie Parallelen nur ei-
nerley Richtung, vielmal gezeichnet, sind: so auch sind
z. B. Scheitelwinkel nichts anders als ein und derselbe
Unterschied zweyer Richtungen, der nach zwey entgegen-
gesetzten Seiten hin sichtbar wird. Und der Satz, daſs
alle Winkel im ebenen Dreyeck zusammen 180 Grade
ausmachen, ist völlig der Formel A=A analog; denn
wenn für zwey convergente Linien der Unterschied ihrer
Richtungen gegen eine dritte bestimmt ist, so liegt darin
unmittelbar die Ungleichheit dieses Unterschiedes, das
heiſst, die Verschiedenheit ihrer Richtungen, und eben
diese ist der dritte Winkel im Dreyeck, der nur die 180°
voll macht, welche zwischen jenen Linien an der dritten
statt gefunden hätten, wenn sie parallel gewesen wären,
Es ist längst bemerkt worden, daſs die gewöhnlichen
geometrischen Beweise hier nur einen Gedanken ausein-
anderziehn, den man, um ihn vollständig zu erreichen,
unmittelbar durchschauen muſs; die Geometrie für An-
fänger ist längst vorhanden, aber die Geometrie für Den-
ker soll noch geschrieben werden. Sie wird weniger
von der Gleichheit zweyer Figuren, deren eine unabhän-
gig von der andern vorhanden scheint, — und mehr
vom Entstehen vieler Constructionen aus Einem Princip,
zu reden haben. Sie wird z. B. in einem Dreyeck nicht
Eine Parallele mit der Grundlinie willkührlich ziehn, um
die Proportionen in den Dreyecken nachzuweisen: son-
dern, nachdem eine Seite mit zwey anliegenden Winkeln
gegeben worden, sogleich überlegen, daſs diese Winkel
sich auf die Gestalt des Dreyecks, mithin auf die Ver-
hältnisse der drey Seiten beziehen; weil die Schenkel ei-
nen Grad von Convergenz an sich tragen, (den man
[378] leicht durch einen Differentialquotienten ausdrücken kann,)
und es von diesem Grade abhängt, wie weit man die
Schenkel — stets die Grundlinie, als ihren verminderten
Abstand bezeichnend, parallel fortschiebend, — verlän-
gern müsse, damit der Abstand ganz verschwinde, und
das Dreyeck sich schlieſse. Weitere Ausführungen ge-
hören nicht hieher.


Die geometrischen, und alle ihnen ähnliche Con-
structionen, sind in ihrem Ursprunge frey, aber sie ver-
wickeln sich im Fortgange in diejenige Art von Noth-
wendigkeit, welche aus dem Zusammentreffen der ver-
schiedenen Theile einer Construction entspringen. So
fühlt auch Derjenige, der ohne weitere Veranlassung die
Gleichung
hinschreibt, sich frey; denn er konnte jede Art von arith-
metischer Verbindung eben so gut wählen; aber nachdem
die gehörige Analyse gegeben hat:
muſs er sich schon hier die, oft wiederkehrende, Frage
von der Möglichkeit der Wurzeln gefallen lassen. Denn
a und b sind hier Zeichen von Zahlen-Reihen, die auf
alle mögliche Weise zusammentreffend sollen gedacht
werden.


Diese Andeutungen dem Nachdenken des Lesers
überlassend, eile ich weiter zu der Vorstellung des Un-
endlichen
; welches Kant bey seiner Antinomien-Lehre
benutzte, um den Verstand in ein Dilemma zu verwickeln,
nach welchem ihm die Welt stets entweder zu groſs
oder zu klein ausfallen sollte. Bessere Metaphysik würde
gewarnt haben, den Begriff des Unendlichen, der, wenn
man ihn in metaphysischer Strenge nimmt, ein bloſses
Gedankending bezeichnet, mit dem, was als real auch
nur vorgestellt wird, gar nicht in Berührung zu brin-
gen; (nämlich in reiner Theorie; denn vom Praktischen
ist bier nicht die Rede.)


Aber nur zuviel hat die unglückliche Dienstbarkeit
[379] dazu beigetragen, in welche Kant sich gegen die Geo-
metrie begab, so oft er der Materie gedachte, deren
Wesen er nicht richtig erkannt hatte. Auch davon kön-
nen wir hier nicht sprechen.


Jedermann kennt aus der Mathematik die unendli-
chen Reihen, und deren Ursprung aus dem Begriff des
allgemeinen Gliedes, unter welchen fallend jedes ein-
zelne
Glied die Aufforderung mit sich bringt, noch wei-
ter fortzuschreiten. Ein solches allgemeines Glied braucht
nicht durch einen arithmetischen Ausdruck gegeben zu
seyn; die Allgemeinheit der Regel des Fortschritts, un-
ter welche jedes Erreichte wieder als Anfangsglied fällt,
ist hier das Wesentliche. Daher unendliche Räume,
Zeiten, Zahlen, und gesteigerte Qualitäten aller Art.


Die erste psychologische Frage, auf die wir hier
nöthig haben zu merken, ist diese: gelangen wir durch
solches Fortschreiten nun wirklich jemals zu einer Vor-
stellung des Unendlichen; so, als ob es uns wie eine
gegebene Gröſse vorschwebte? — Sicherlich nicht! Wir
bleiben irgendwo stehn; wissen aber, daſs wir weiter, und
wohin wir auch gelangen möchten, doch noch weiter
fortschreiten könnten. Dieser allgemeine Begriff vertritt
die Stelle der Vorstellung des Unendlichen.


Es ist hier ein ähnlicher Fall, wie bey der logischen
Cultur der Begriffe. Durch negative Urtheile sprechen
wir dem Gattungsbegriffe die specifischen Differenzen ab,
welche zur Bestimmung des ihm Untergeordneten dienen,
und eben deswegen in den Inhalt des Gattungsbegriffs
nicht gehören. Wir sollten also wirklich die Gattung
ganz frey denken von jenen Differenzen; aber eben in-
dem wir dieses Sollen anerkennen, indem wir uns ent-
schlieſsen das nicht hieher gehörige bey Seite zu setzen,
denken wir in der That daran, und sind keinesweges
ganz davon losgekommen. So wissen wir, daſs der all-
gemeine Begriff des Kreises keinen bestimmten Radius
erträgt; aber das Bild des Kreises hat dennoch in jedem
Augenblicke für uns seinen Radius. Und dies reicht für
[380] den Gebrauch zu. Eben so denken wir niemals wirklich
eine Linie ohne Dicke; aber wir wissen, daſs wir es
sollten, und das genügt.


Die wirkliche Vorstellung des Unendlichen — weit
verschieden von der, wie sie seyn sollte, und wie sie
seyn würde und seyn müſste, wenn sie wie ein ur-
sprünglich Gegebenes in unserm Geiste a priori vorhan-
den wäre, — ist nichts als eine dünne Atmosphäre, die
unsre Vorstellungen des Endlichen umhüllt; und, was
das wichtigste ist, sich an sie anlegt, und von ihnen ab-
hängt. Man zeige einem Knaben das Wachsen der Tan-
genten und Secanten, wenn der Winkel wächst; man
gehe fort bis zum Winkel von 90º; er begreift vollkom-
men, daſs nun Tangente und Secante unendlich werden,
weil sie sich nicht mehr schneiden können. Nun hat er
die Vorstellung des Unendlichen; und soll demnach über
endliche Gröſsen nicht mehr staunen. Denn hat er sie
nicht schon überschritten? — Aber jetzt unterrichte man
ihn von den Entfernungen der Himmelskörper. Das
Staunen wird sich sogleich einstellen; zum Beweise, daſs
sein Unendliches bey weitem nicht so groſs war, als diese
endlichen Gröſsen. Und das Staunen kehrt auch bey
dem Erwachsenen wieder, wenn er sich Räume denken
soll, welche zu durchlaufen das Licht Jahre, Jahrhun-
derte, — Millionen von Jahrtausenden gebraucht. Das
Erhabene bleibt zum Theil im Raume, obgleich Schiller
es daraus ganz zu vertreiben gedachte.


Der Zustand unserer Vorstellung des Unendlichen
darf uns nicht wundern. Man gehe zurück in die Me-
chanik des Geistes; zu den Reproductionsgesetzen, aus
denen die Reihenformen entspringen. Wir haben eher
das Räumliche, als den Raum; eher das Zeitliche als die
Zeit. Für das Gegebene, indem es sich gegenseitig be-
wegt, erzeugen wir einen Umgebungsraum; und Anfangs
steht nur dasjenige, was wir in einen und denselben Um-
gebungsraum setzten, für uns in räumlichen Verhältnis-
sen. Allmählig erweitert sich der Horizont, indem wir
[381] die mittlere Gegend desselben zu verrücken veranlaſst
werden; die ganze Construction bleibt dem Geiste gegen-
wärtig, aber sie heftet sich an andere Puncte. So ver-
gröſsert sich der Raum allmählig durch Uebertragung des
frühern Products auf neue Gegenstände, wobey jedoch die
neue Raumerzeugung für das eben jetzt vorliegende Gege-
bene nicht ausgeschlossen ist. Aber mehr und mehr wird
für die schon stark gewordne Vorstellung des Raums das
Gegebene zufällig. Und diese Zufälligkeit vollendet sich, in-
dem jedes einzelne Gegebene sich beweglich zeigt, während
Anderes vestgehalten wird. Solchergestalt wird endlich der
Raum selbst als das einzige Veste und Stehende gedacht;
als die voraus bestimmte Möglichkeit der Bewegung und
des Nebeneinanderseyns. Fragt man, ob diese Möglich-
keit Gränzen habe? so ergiebt sich die verneinende Ant-
wort sogleich aus der Freyheit der räumlichen Constructio-
nen; aber wir dürfen nie vergessen, daſs jener leere Um-
gebungsraum, der uns aus der Auffassung der Bewegun-
gen nothwendig entstehen muſste (§. 114.), ursprünglich
nur unbestimmt, nicht unendlich ist; und daſs, so leicht
auch jedes Gegebene ihn reproducirt und sich aneignet,
er sich doch nicht ohne absichtliches Construiren davon
ganz losreiſsen, nicht einmal davon weit entfernen kann.
Wie das Licht von irgend einem leuchtenden Puncte
ausgehn muſs, so ist auch der Raum, psychologisch be-
trachtet, eine Art von Ausstrahlung der Objecte; denn
man weiſs aus dem Vorigen, daſs er ein System von
Reproductionen ist, die eine reproducirende Vorstel-
lung (oder deren mehrere) voraussetzen.


Und wie weit geht das absichtliche Construiren, wel-
ches geschieht, indem man die reproducirende Vorstel-
lung auf das früher Construirte überträgt? So weit, bis
dessen Vergeblichkeit vollkommen einleuchtet. Liegt ein-
mal die allgemeine Regel der gleichartigen Fortschrei-
tung klar vor Augen: so gewinnt der Begriff derselben
nichts mehr durch fernere Construction; wird aber die
Reihe zu lang, so verlieren sich die ersten Glieder aus
[382] dem Bewuſstseyn, und das Zusammengefaſste will nicht
mehr wachsen.


(Das nämliche gilt, mit gehöriger Veränderung, nicht
bloſs von Gröſsen die man ins Unendliche sich ausdeh-
nen läſst, sondern auch von den Theilungen, die sich
nach einerley Regel wiederhohlen, so oft man will.)


Getrennt von praktischen Beziehungen, und gerei-
nigt von Verwechselungen, ist das Unendliche Nieman-
des Freund. Jeder fühlt, daſs er sich darin verliert, so-
bald er den Anfangspunct der Construction fahren läſst,
und keine bestimmt gesonderten Glieder mehr vor Au-
gen hat. Alsdann entsteht ein Gefühl des Schwindels.
Etwas Aehnliches würde Derjenige leiden, der in einem
Feen-Palaste von vielen Menschen umgeben wäre, die
einander durchaus glichen; er würde in jedem den an-
dern erblicken; er würde unterscheiden wollen und nicht
können; die Reihe seiner Vorstellungen würde vorwärts
streben, und doch immer auf der alten Stelle bleiben.
So auch, wenn im Unendlichen das Fortgehn nicht wei-
ter führt, weil jeder Punct immer noch die Mitte ist.
Der Traum hat ähnliche Zustände; man ist stets im Be-
griff zu thun, was nie geschieht. Kein Wunder, daſs
die Mathematiker sich gesträubt haben, das Unendliche
zuzulassen; obgleich der Begriff der Intensität des Wach-
sens oder Abnehmens vollkommen fähig ist, bestimmte
Verhältnisse (Differential-quotienten) zu bilden. Von
Kunstwerken hat man zuweilen gerühmt, daſs sie das
Unendliche offenbarten; schwerlich mit Zustimmung wah-
rer Künstler, die gerade in geschlossenen Umrissen, scharf
gezeichneten Charakteren, und im Individualisiren des
Allgemeinen ihr Verdienst suchen; den schwebenden Dunst
und Nebel aber möglichst vermeiden.


Gleichwohl hat das Unendliche, schon als solches,
seine eifrigen Verehrer. Warum? Aus zweyen merk-
würdigen psychologischen Gründen.


1) Das Unendliche wird aufgefaſst als das Unge-
hemmte, als die Sphäre der Freyheit.


[383]

Gerade darum, weil kein räumliches, kein dem Raume
analoges, endliches Object, durch eine stehende, ruhende
Vorstellung kann aufgefaſst werden, — weil vielmehr in
ihm ein nisus unzähliger Reproductionen, gemäſs den
Verschmelzungen aller Partial-Vorstellungen, thätig seyn
muſs, damit die Theile sich sondern, und jeder seinen
Platz zwischen und neben den andern einnehmen könne;
weil ferner hiedurch gewöhnlich auch früher gebildete
Vorstellungsreihen angeregt werden, die, indem sie sich
auf die einzelnen Theile des Gegenstandes übertragen,
und gleichsam mit ihren Anfangspuncten daran haften,
nun auch noch über dessen Gränzen hinaus zu gehn
streben, aber von einer Hemmung durch das jenseits
der Gränzen Liegende, oder selbst durch die Bestimmt-
heit der eigenthümlichen Form des Gegenstandes, zurück
getrieben zu werden pflegen; — also kurz, weil die Vor-
stellung des endlichen Objects ein Streben einschlieſst:
darum ist die Ueberschreitung der Gränze zuerst mit ei-
nem neuen Gefühl verbunden, welches in so fern ein
behagliches werden kann, als dadurch die zuvor gehemm-
ten Reihen nun wenigstens für einen Augenblick sich
ausbreiten können, bis eine neue Hemmung sich gegen
sie ansammelt, deren übrige Wirkung von den Umstän-
den abhängt. Das Unendliche nun droht dem, welcher
in dasselbe hinausschaut, mit gar keiner Hemmung; die
Vorstellung desselben ist eine Evolution, die so weit
reicht, als der Trieb des jetzigen Vorstellens sie trägt.
Kein Wunder, daſs hierin Freyheit eben in so fern ge-
fühlt wird, als die Begränzung im Endlichen schmerzhaft
war empfunden worden.


2) Das Unendliche wird aufgefaſst als das letzte
Hemmende, Begränzende; daher als das Erste und Un-
bedingte.


Schwerlich konnte es je einem Mathematiker einfal-
len, die späteren Glieder einer Reihe als die Bedingungen
der frühern anzusehn; am wenigsten die, welche unend-
lich entfernt sind, gerade umgekehrt als die ersten zu
[384] betrachten. Und es ist doch eine so seltsame Umkeh-
rung, welcher wir hier begegnen!


Die Gefühle deren, die sich überhaupt in der End-
lichkeit eingeschlossen finden, will ich nicht schildern.
Es ist mir genug zu bemerken, daſs selbst Kant, mit
der gröſsten Nüchternheit des Ausdrucks, für gut findet,
das Messen eines Raumes auch als eine Synthesis einer
Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten
anzusehen; und zwar darum, weil die weiter hinzuge-
dachten Räume immer die Bedingung von der Grenze
der vorigen
seyen. Was kann daraus anderes folgen,
als daſs der unendliche Raum die Bedingung unseres
Gesichtskreises sey? Und in der That stellt Kant es in
seiner ersten Antithesis als eine gewichtvolle Schwierig-
keit dar: die Sinnenwelt, wenn sie begränzt sey,
liege nothwendig in dem unendlichen Leeren
.
Ich gestehe, daſs ich noch niemals dahin gelangt bin,
darin auch nur das Geringste zu finden, was Besorgniſs
erregen könnte. Das Leere auſser der Welt belästigt
mich gerade so wenig, als das Leere in der Welt, oder
auch nur die ungleiche Dichtigkeit dessen, was den Raum
erfüllt. Da dieser letztere Umstand in der Erfahrung vor
Augen liegt, so würde ich, selbst noch vor irgend einer
metaphysischen Ueberlegung, mich sehr wundern, wenn
irgendwo und irgendwie, das Leere dem Vollen, das
Nichts dem Etwas, ein Gesetz vorschreiben, oder es in
irgend eine Verlegenheit verwickeln könnte. Aber der
Grundfehler lag hier schon in den ersten Elementen der
Raumlehre; in dem Satze, der Raum sey als ein einzi-
ges, Unendliches der reinen Anschauung gegeben. Dar-
aus verstand sich denn freylich von selbst, daſs die end-
lichen Raumtheile als durch Begränzung, durch Sonde-
rung hervorgehoben, muſsten angesehen werden; und daſs
sich zu ihnen das Unendliche wie das Erste zum Zwey-
ten verhielt. Wenn man aber nicht auf dem Stand-
puncte der Kantischen transscendentalen Aesthetik steht:
wie kommt man alsdann — und wie kamen so viele frü-
here
[385] here dazu, das Unendliche — das Letzte in unserer
Construction, zum Ersten zu machen?


Hinweggesehn von der, aus dem Obigen leicht be-
greiflichen Uebereilung, dem Anstoſsen an eine Gränze
eine begränzende Ursache vorauszusetzen, die Jenseits
liege, — obgleich durch die Reproductionsgesetze Jedes
in seinen gegebenen Distanzen gehalten wird, und nicht
nothwendig von Auſsen braucht gedrückt zu werden, —
giebt es zwey Hauptumstände, die es nur zu leicht da-
hin bringen, daſs man das Unendliche zum Ersten mache.


Erstlich: die Stellung des Menschen in der Zeit.
Hier muſs man unterscheiden zwischen unserm Handeln
und unserem Wissen. Das Handeln giebt uns die na-
türliche
Stellung im Flusse der Zeit; wir schauen auf
das was wir thun wollen, also in die Zukunft, wohin die
Zeit läuft. Aber hier genügt das Nächste; selten
arbeitet Einer bey nüchterner Ueberlegung auch nur für
das kommende Jahrhundert, die entferntern Folgen un-
seres Thuns können uns höchstens Besorgnisse, aber
keine Hoffnung einflöſsen. Ganz anders verhält es sich
mit dem Wissen. Die Gegenstände desselben liegen
dem allergröſsten Theile nach in der Vergangenheit; wir
wandeln auf Gräbern, wir büſsen alte Sünden, wir leben
von alten Capitalen. Für diese Gegenstände müssen wir,
gestellt auf den Endpunct der bis jetzt abgelaufenen Zeit,
unsre Reihenform rückwärts schauend construiren. Der
Zeit, die unsern Staat gestiftet hat, ging eine andre voran,
welche die Wälder lichtete und den Boden umgrub; ihr
voran tritt eine andre, die aus dem Meeresgrunde das
Land emporhob; und wieder eine andre, die das Son-
nensystem formte. Hier verlieren wir uns. Das Unend-
liche wird nun das Erste; unsre Blicke müssen dahinaus
gehn, indem unser Wissen soll zusammengefaſst wer-
den. Leicht vergessen wir darüber die andre Seite, die
uns nicht beschäfftigt. Oder wenn wir uns einmal um-
wenden, wenn wir uns an jeder Seite umfangen sehen
vom Unendlichen, so können wir in die Zukunft nichts
II. B b
[386] setzen, als die Zwecke der Macht, von der das Letzte
wie das Erste abhängt!


Zweytens: ein ähnliches Resultat ergiebt unsre Auf-
fassung der Dinge im Raume. Wir kennen die Materie
als theilbar; sie giebt sich uns massenweise, und wir be-
trachten wirklich, so wie Kant will, die Massen als das-
jenige, worin wir nach Belieben Theile machen können.
Dem fortgesetzten Theilen stellt sich in bloſsen Gröſsen-
begriffen nichts entgegen; in der Erfahrung widerspricht
kein augenscheinlicher Versuch; die Philosophen lassen
sich von der Geometrie überreden, mit der Materie zu
schalten, wie mit dem Raume; was die bestimmten Ver-
dichtungen, die bestimmten Krystallformen dagegen ein-
wenden, wird nicht beachtet und noch weniger verstan-
den. Die Substanz soll zwar in den Theilen liegen; aber
mit ein paar idealistischen Behauptungen schlüpfen wir
darüber leichtfüſsig hinweg; und im Nothfalle würden wir
wohl gar jenes Hülfmittel Kants gebrauchen, die Sub-
stanz wieder in ein Prädicat zu verwandeln, um sie der-
gestalt in die Flucht zu schlagen, daſs sie nur im Un-
endlichen ein Asyl finden können.


Soviel Mühe brauchen wir uns nicht zu geben. Denn
zu der ganzen bisherigen Betrachtung kommt nun noch
der Umstand hinzu, daſs ohnehin schon die Substanz
das Unbekannte ist, was hinter den Erscheinungen
gesucht wird (§. 141.). Liegt nun hinter den Erschei-
nungen auch das Unendliche: so fällt es schon dadurch,
in gewöhnlicher und gemeiner Verwechselung, mit der
Substanz zusammen. Und so haben wir denn eine un-
endliche Substanz
, ohne zu fragen, ob der Begriff
des Seyn sich mit dem des Unendlichen vertrage oder
nicht. Nun mögen die Schulen ihre Kampfplätze ebnen;
denn die Vermählung des Endlichen mit dem Unendli-
chen kann ohne Streit nicht abgehn. Aber davon mag
die Geschichte der Philosophie ihren tragisch-komischen
Bericht abstatten; wir können uns hier nicht darauf ein-
lassen; besonders da wir zu der unerfreulichen Naturge-
[387] schichte des Irrthums sogleich noch andre Beyträge lie-
fern müssen.


§. 149.

Das Unendliche *) verhält sich zum Unbedingten wie
Entlaufen zum Stillstehn, Verlust zum Besitz; daher wie
das Leere zum Vollen; wie Nichts zu Etwas.


Das Unendliche in seinem Streite mit dem Unbe-
dingten darzustellen, dies war die eigentliche Aufgabe,
welche Kant in seiner Antinomien-Lehre zu lösen hatte.
Von Rechtswegen muſste die Thesis überall das Unbe-
dingte veststellen; die Antithesis dagegen, wie getrieben
vom Geiste des Widerspruchs, überall das Unendliche
eröffnen, um dahinaus das Unbedingte zu vertreiben.
Denn was im Unendlichen geschieht, das geschieht nie-
mals; und bey den Mathematikern gilt es gleich, zu sa-
gen, die Hyperbel falle nie, oder sie falle im Unendli-
chen mit ihrer Asymptote zusammen. Dann aber wäre
freylich von keiner Dialektik der reinen Vernunft die
Rede gewesen; denn die Thesis hat entschiedenes Recht,
und die Antithesis entschiedenes Unrecht, sobald beyde
gehörig gefaſst werden. Allein vor aller weitern Erläute-
rung müssen wir erst überlegen, wie der Begriff des Un-
bedingten entstehe?


Bey aller Verschiedenheit, sind dennoch Unbeding-
tes und Unendliches darin ähnlich, daſs sie durch eine
reihenförmige Construction gedacht werden. Das Unbe-
dingte erfordert zwar nicht viele Fortschreitungen nach
einerley Regel; aber es steht dem Bedingten entgegen,
und soll für den Durchgang durch dasselbe den Endpunct
und Ruhepunct darbieten. Das Bedingte nun zuförderst
B b 2
[388] hängt schwebend an seinen Bedingungen; es fällt weg,
wenn man den Faden abschneidet. So im Verschwinden
begriffen, wofern die Bedingungen es nicht hielten, muſs
es gedacht werden; das ist, logisch genommen, die Be-
deutung desselben. Wie nun kommen wir dazu, etwas
als bedingt anzusehen? Die ursprüngliche Auffassung der
Welt, im Anschauen, und durch allgemeine Begriffe,
weiſs davon nichts. Dem gemeinen Menschen ruhet der
Erdboden; und wenn nach dem empirischen Begriffe der
Schwere etwan der Himmel droht zu fallen, so braucht
man ihm nur den Atlas oder die Säulen des Herkules
zur Stütze zu geben, dann steht er vest. Eben so gilt
jedes sinnliche Ding für ein Seyendes, eine ὀυσία; und
jedes, wovon Ereignisse herkommen, für eine ἀιτία;
so haben wir diese Begriffe oben bey den Kategorien
(§. 124.) gefunden. Nun sind zwar die Vorstellungs-
reihen ähnlicher Folgen unter ähnlichen Um-
ständen
von der Beschaffenheit, daſs sie nicht ablaufen
können, wenn ihre Anfangsglieder aufgehoben werden;
und so kann Manches als bedingt erscheinen, und als
abhängig von gewissen Bedingungen, deren es nicht ein-
mal bedarf, weil es auch unter andern Umständen mög-
lich ist. Allein wenn gleich auf diese Weise die Menge
des Bedingten sogar überflüssig groſs, und die Sphäre
der Bedingungen enger, als sie ist, erscheint: so macht
doch diese Vorstellungsart noch immer nicht das Unbe-
dingte bemerklich, und zwar gerade darum nicht, weil
dessen, was wirklich als bedingend, selbst aber unbedingt
gedacht wird, — indem die Frage, ob es bedingt sey
oder unbedingt? gar nicht erhoben wurde, — noch so
sehr Vieles vorhanden ist. Aber wir kennen auch schon
den höheren Standpunct, auf welchem diese Frage sich
einstellt, und sich überall gelten macht; dergestalt, daſs
der Boden der Sinnenwelt anfängt zu wanken, und ge-
gen seine allgemeine Unsicherheit eine veste Zuflucht
gesucht wird. Die Urtheile, welche den Dingen ihre
Prädicate einzeln beylegen, (§. 141.), sind das Schmelz-
[389] fener, worin die Dinge zerflieſsen; und zwar um desto
leichter, wenn die Veränderlichkeit der Merkmale auf
empirischem Wege zu Hülfe kommt, um das Aggregat
der Prädicate zu trennen. Dadurch verliert die Thesis,
wodurch die Dinge als Solche und keine andre gedacht
werden, ihre Vestigkeit, indem ihr Gegenstand verschwin-
det. Der Mensch erschrickt, wenn auf einmal statt des
bekannten Dinges sich ihm das dunkle, unbekannte, un-
erkennbare Substrat aufdringt, welches er mehr zu füh-
len als zu sehen glaubt, da er es in gar keine bestimmte
Form bringen kann, und nicht einmal eine Analogie da-
für besitzt. Das einzige Kennzeichen jedes einzelnen
Substrats ist, daſs es einem bestimmten sinnlichen Dinge
zugehören soll. Aber die Dinge sind Complexionen von
Merkmalen; jedes Merkmal liegt in einem qualitativen
Continuum; (§. 139.) und die Combination der Merk-
male des wirklichen Dinges ist nur eine unter vielen.
Daher wird die Vorstellung eines jeden Dinges in allen
seinen Merkmalen veränderlich; selbst dann, wenn die
Erfahrung keine Veränderung desselben vor Augen legt.
Man kann aus gegebenen Reihen von Merkmalen alle
möglichen Dinge, die sich dadurch bestimmen lassen,
durch vollständiges Combiniren leicht finden; aus der
Mitte dieser Möglichkeit erscheint nun die kleinere Menge
der wirklichen Dinge zufällig herausgehoben; und in
der Einbildung, als wären die gefundenen Mög-
lichkeiten ein wirklicher Vorrath
, fragt die mensch-
liche Neugier nach dem Grunde, vermöge dessen nun
gerade diese und keine andern Dinge wirklich geworden, —
aus dem Gebiete der Möglichkeit, gleichsam wie aus ei-
ner Vorhalle, in die Wirklichkeit hinübergetreten seyen?
Die Gedankendinge, welche wir uns selbst geschaffen
haben, wollen nicht weichen vor den gegebenen; sie su-
chen ihren Platz zu behaupten, vermöge des in ihnen
liegenden Strebens aller Vorstellungen, und aller daraus,
gleichviel wie? zusammengesetzten Complexionen.


Lieſse man alle Fehler und Verwechselungen weg:
[390] so würde sogleich einleuchten, daſs man sich hüten
müsse, das Unbedingte wiederum als eine Complexion
von Merkmalen vorzustellen. Geschieht dies, so fällt es
in das vorige Schmelzfeuer der zerlegenden Urtheile zu-
rück; welches z. B. Spinozas unendliche Substanz, die
aus Denken und Ausdehnung bestehn soll, auf keine
Weise vermeiden kann. — Wir erinnern uns freylich
hier einer zum Schutze der spinozistischen Ansicht erson-
nenen Spielerey, die Manchen, der hiedurch nicht seine
Denkkraft, sondern seine Trägheit zum Denken bewies,
getäuscht hat; die Spielerey mit einer vorgeblichen Ein-
heit des Gegensatzes, und wiederum einer höhern Ein-
heit der Einheit und des Gegensatzes. Da wir einmal
darauf gekommen sind, wollen wir das Manoeuvre nur
gleich ins Unendliche fortsetzen. Also:
für zwey Entgegengesetzte a, b, heiſse
ihr Gegensatz, α; ihre Einheit β;
für die Entgegengesetzten α, β, heiſse
ihr Gegensatz A, ihre Einheit, B.
für die Entgegengesetzten A, B, heiſse
ihr Gegensatz x; ihre Einheit, y; u. s. w.


Man sieht, daſs dies ins Unendliche geht. Die Lehre,
worauf sich die gemachte Construction bezieht, vergiſst
klüglich A, x, y, und alles folgende; sie thut daran sehr
wohl, denn der Fortgang ins Unendliche würde sogleich
verrathen, daſs nichts vereinigt, sondern eben nur mit
Worten gespielt wurde; indem man sich erlaubte, Ein-
heiten und höhere Einheiten nach Belieben zu setzen,
anstatt sie zu beweisen, oder begreiflich zu machen; wäh-
rend schon der allererste Anfangspunct, der vorgebliche
reale Gegensatz, eben deshalb ein Unding ist, weil
er in Einem und ebendemselben gesetzt seyn müſste,
welches der klare Widerspruch selbst seyn würde *).
[391] Gesetzt aber, man wolle trotz dieser handgreiflichen Un-
möglichkeit sich doch die Fiction erlauben, aus den Be-
griffen a, b, α, β, ein solches System zu machen, wie
etwa das täuschende Phänomen des Magneten dar-
stellt, wobey


  • der Nordpol = a,
  • der Südpol = b,
  • deren Gegensatz = α,
  • deren Einheit = β;

gesetzt ferner, man erlaube sich, α und β wiederum
in die Stelle von a und b zu rücken: so ist nun ganz
unabweislich, von einer Reihe sowohl das Gesetz als die
Fortschreitung gegeben; ja es giebt nun eben deswe-
gen
eine höhere Einheit der Einheit und des Gegen-
satzes, weil beyde letztern als unter sich entge-
gengesetzt
betrachtet wurden, denn sonst wäre gar
kein Bedürfniſs, sie zu vereinigen, auch nur vermeintlich
und fingirt vorhanden gewesen. Also ist nun das ganze
System
um eine Stelle weiter gerückt; und folglieh muſs
es abermals fortschreiten, weil sich A und B verhalten
wie α und β, d. h. weil sie wegen ihres Gegensatzes x,
der sichtbar vor Augen liegt, man wolle ihn nun einge-
stehn oder nicht, wiederum begehren zur Einheit y zu
gelangen; wobey sich denn das alte Spiel unfehlbar wie-
derhohlt. Genug davon!


Vorhin wurde bemerkt, man müsse verhüten, das
Unbedingte als eine Complexion von Merkmalen, die in
ihm eine wirkliche Vielheit ausmachten, zu betrachten;
welches soviel heiſst als, jedes Unbedingte ist an
sich
, und wenn man jede Relation desselben zu einem
andern Unbedingten (dergleichen sich im Allgemeinen
*)
[392] weder bejahen noch verneinen läſst) bey Seite setzt, —
sowohl innerlich als äuſserlich absolut einfach.
Hiemit ist der erste Grundgedanke der wahren Metaphy-
sik vestgestellt, um ihn aber zu finden, muſs der Ur-
sprung desselben nicht mehr gefühlt, sondern klar ge-
dacht werden. Dies nun pflegt gerade umgekehrt Statt
zu finden. Die Entdeckung, daſs den Dingen unbekannte
Substanzen zum Grunde liegen, setzt in Verlegenheit;
man glaubt sich verirrt, denn man sieht Nichts, wo doch
etwas zu sehen gefordert wird; man sucht Auswege; man
bläs’t zum Rückzuge. Aus dem Unbekannten soll die
Mannigfaltigkeit der Erscheinung erklärbar seyn; man
setzt also in das Unbekannte soviel mannigfaltige Be-
stimmungen (eſſentialia, attributa, u. s. w.) als man zum
Behuf der gesuchten Erklärungen zu brauchen gedenkt.
Und von diesem Augenblicke an ist alles verdorben.
Nun wird gegrübelt, gefühlt und phantasirt; es schürzt
sich ein gordischer Knoten für Jahrhunderte.


Es ist nöthig, hier einer höchst seltsamen Uebertrei-
bung zu erwähnen, die dem Begriffe des Unbedingten
zu begegnen pflegt; ich meine seine Verwandlung in den
des Absolut-Nothwendigen. Als ob das Seyn nicht
genügte, allem Bedingten den vesten Anknüpfungspunct
darzubieten!


Diese Uebertreibung und Verfälschung rührt her von
der Einbildung, das Seyende, bloſs als solches, sey zu-
fällig
*).


Beynahe auf einen Schlag geschieht jenes Beydes,
daſs die Dinge als veränderlich in allen ihren Merkma-
len, und daſs sie als beruhend auf einem unbekannten
Substrat angesehen werden; denn eins wie das andre
entsteht aus der Auflösung der Dinge in Merkmale, de-
[393] ren jedes, mit andern seiner Klasse (seines qualitativen
Continuums) verschmolzen, nach den psychologischen
Reproductionsgesetzen in sie hinüberflieſst; und welche
zusammen, als Vieles, durch kein angebliches Band
verbunden, der Einheit des Dinges entgegenstehn. Kann
man sich nun alle Dinge anders denken, wie sie sind;
und muſs zugleich ein verborgenes Reales zu den Din-
gen hinzugedacht werden, als ihr Träger und als Ur-
sprung ihrer Merkmale und Phänomene: so wird dieser
ihr verborgener Grund das Wirkliche abscheiden von
dem Möglichen; er wird die Dinge formen aus dem vor-
räthigen Stoff, der freylich nur in der Einbildung vorhan-
den ist. Denn sobald einmal der Fehler begangen wor-
den, den wirklichen Dingen ihr Verhältniſs zu den mög-
lichen als ein reales Prädicat beyzulegen, (obgleich die
Möglichkeit, und alle Beziehung auf sie, nur in Gedan-
ken existirt,) scheinen die Dinge in ihrem Seyn zu schwan-
ken, als ob sie ihrer Qualität nach müſsten gehalten wer-
den, um nicht etwas Anderes, eben sowohl Mögliches,
zu werden. Daſs nun der Gegensatz und die Stütze zu
solcher Schwankung nur in dem Absolut-Nothwendigen
kann gesucht werden, ist bekannt und einleuchtend. Daſs
aber dies Product alter Metaphysik, zu den ganz verun-
glückten gehört, obgleich es bey den Theologen nur gar
zu viel Beyfall gefunden, — dies sollte ich ebenfalls hier
als bekannt voraussetzen dürfen. Nothwendigkeit ist Un-
möglichkeit des Gegentheils, und kann ohne Beziehung
aufs Gegentheil gar nicht gedacht werden. Das wahrhaft
Reale aber trägt gar keine Beziehung in sich, am we-
nigsten die auf sein Gegentheil; und es ist gerade des-
halb weder zufällig noch nothwendig; sondern diese bey-
den Prädicate haben nur Sinn für unsre Vorstellungen,
wenn wir das Gegentheil zu denken unternehmen. Uebri-
gens schlieſst man gewöhnlich die Zufälligkeit aus den
Veränderungen, weil man übereilt einräumt, es gebe wirk-
lich im Realen selbst Veränderungen, und weil man den
Widerspruch, der darin liegt, nicht zu behandeln versteht.


[394]
Anmerkung I.

Kants Antinomien sind nicht bloſs der schönste
Theil seiner Vernunftkritik, sondern zugleich eine der
glänzendsten und geistreichsten Darstellungen, die jemals
ein speculativer Denker unternommen hat; in dieser Hin-
sicht mit ihm zu wetteifern, wird stets ein gefahrvolles
Unternehmen seyn und bleiben. Man glaubt ein groſses
Brennglas zu sehn, dessen Focus die sämmtlichen Strah-
len der Welt, nachdem sie von den verschiedenen Sy-
stemen der Philosophie reflectirt werden, verdichtet, und
allen Irrthum der Meinung verflüchtigt. Die Sprache selbst
ist in dieser Gegend der Vernunftkritik vortrefflich; man
hört einen unermüdlichen Redner, der das Für und Wi-
der, in der gröſsten aller Angelegenheiten des theoreti-
schen Denkens, klar vor Augen legt, und mit einem
Richterspruche salomonischer Weisheit endigt.


Von den Fehlern, die dabey sich eingeschlichen ha-
ben, ausführlich zu reden, wäre die Sache der Metaphy-
sik. Hier bemerke ich nur kurz, daſs solche Gründe,
wie das Abgelaufen - Seyn einer unendlichen Zeit, oder
die Unfähigkeit der Zeit, das Entstehen eines Dinges in
irgend einem Augenblicke zu bestimmen, oder ein Ver-
hältniſs der Dinge nicht nur im Raume, sondern auch
zum Raume, oder eine Forderung, der Materie die Un-
endlichkeit der möglichen Theilung gleich dem Raume
zuzugestehn, als ob sie, trotz ihrer unleugbar veränderli-
chen Dichtigkeit, nichts anderes wäre als realisirter Raum, —
denn doch gar zu seicht erscheinen in einer so wichtigen
Untersuchung; da man dem Leser billig zutrauen sollte,
er kenne die Leerheit des Raums und der Zeit, und
wisse, daſs diese zum Behufe unseres Vorstellens con-
struirten, ganz vom Bedürfnisse des Denkens ahhängi-
gen, Formen, schlechterdings kein Fundament irgend
welcher Rückschlüsse abgeben können auf das, was wirk-
lich ist, oder auch nur dafür gehalten werden soll *).
[395] Schlimmer als diese Fehler ist der Umstand, daſs Kan
sich von seiner falschen Causalitäts-Lehre leiten lieſs; ja
daſs er bey der dritten Antinomie gar die Thesis mit der
Antithesis verwechselte. Denn hier liegt die Freyheit, in
dem Sinne, wie Kant sie an diesem Orte bestimmt,
ganz auf der Seite der Antithesis; einestheils, weil sie,
gehörig entwickelt, auf eine unendliche Reihe führt, (in-
dem jede Selbstbestimmung eine Veränderung ist, und
jede dieser Veränderungen, wenn man einmal die Frey-
heit voraussetzt, eine frühere Selbstbestimmung erfordert;)
anderntheils, weil sie die Vestigkeit des Bodens unter-
gräbt, auf welchem alle Natur-Erklärungen ruhen sollen.
Man kann dieses kaum stärker ausdrücken, als Kant es
am Ende der Anmerkung zur dritten Antithesis selbst ge-
than hat, wo er sagt: „Es läſst sich neben einem sol-
chen gesetzlosen Vermögen der Freyheit, kaum noch
Natur denken; weil die Gesetze der letztern [durch] die
Einflüsse der erstem unaufhörlich abgeändert, und das
Spiel der Erscheinungen, welches nach der bloſsen Na-
tur regelmäſsig und gleichförmig seyn würde, dadurch
verwirrt und unzusammenhängend gemacht wird.“ Eine
so groſse Wahrheit in einem Winkelchen der Anmer-
kung zur Antithese anbringen, heiſst das Licht unter den
Scheffel stellen; und kann nur von denen mit Conse-
quenz gebilligt werden, die allenfalls auch einen frommen
Betrug für erlaubt halten; wovon doch Kant, nach sei-
nem ganzen Charakter, himmelweit entfernt war. Der
Erklärungsgrund liegt vielmehr ganz in seiner praktischen
Philosophie, die er für eine ursprüngliche Pflichten-
lehre hielt.


Das schlimmste Resultat aus allen den im Einzelnen
begangenen Fehlern ist der Umstand, daſs eine Zer-
streuung und Ablenkung von der Hauptsache hervorge-
bracht wird. Nicht die einzelnen Antinomien aber sind
*)
[396] die Hauptsache, sondern das Recht der Thesis und Anti-
thesis im Allgemeinen. Bey Kant treten beyde mit glei-
chen Ansprüchen auf; wäre dies gegründet, so könnte
man eben so gut ihre Stellung umkehren, so daſs die
Antithese zur Thesis würde, und so rückwärts. In der
That aber fühlte Kant sehr gut, daſs die Antithese nur
als Einspruch gegen das noch nicht klar genug nachge-
wiesene Recht der Thesis, und als Aufforderung, dies
Recht darzuthun, angesehen werden könne. Dies nun
kann im Einzelnen seine Schwierigkeiten haben. Wenn
z. B. in Einem Zuge behauptet wird, die Welt sey im
Raume und in der Zeit endlich: so ist die Thesis so
unrichtig abgefaſst, wie nur jemals eine richtige Forde-
rung durch Beymischung einer unzulässigen verdorben
werden kann; denn der Raum zwar ist ein Multiplicator
des Seyn, aber die Zeit multiplicirt nur Bewegungen, und
in ihr zerflieſst das Geschehen, so daſs eine Theilung
zufällig in dasjenige hineinkommt, was an sich keine
Theile hat: daher kann die Welt in der Zeit unendlich
seyn, während sie im Raume zwar nicht wie in einem
Käfig eingesperrt, sondern beweglich und bald mehr bald
weniger ausgedehnt ist, ohne daſs doch jemals, für irgend
einen bestimmten Zeitpunct, die Unbestimmtheit un-
serer, niemals vollendeten, Raumconstruction, der be-
stimmten Realität
, welche die Welt entweder hat
oder zu haben scheint, als Prädicat angeheftet werden
dürfte. — Wie dunkel nun aber auch wegen solcher
Verwechselungen, wie die eben berührte, das Recht der
Thesis scheinen möchte: so kann es doch im Allgemei-
nen nie aufgegeben werden. Denn wir setzen einmal
wirklich und unvermeidlich das, was wir erfahren; nur
die Art der Setzung läſst sich verändern, ohne daſs die
Vestigkeit derselben im Ganzen leiden darf. Wir kön-
nen einräumen, daſs die Dinge nicht so sind, wie sie er-
scheinen; aber daſs überhaupt Nichts sey, können wir
nicht einen Augenblick glauben. Ich sage: glauben;
und bin wohl damit zufrieden, wenn man sich hier an
[397]Jakobi erinnert, so wenig auch die theoretische Be-
stimmung dieses Glaubens bey Jakobi von Fehlern und
Verwechselungen frey ist. Haben wir nun das Bedingte
für unbedingt, den mittlern Theil des Gebäudes für das
Fundament gehalten, so mag man uns diesen Irrthum
zeigen; wir suchen alsdann eine tiefere Stelle, bis wir
diejenige finden, die an sich vest ist. Aber eine Anti-
thesis, welche das Veste in die Unendlichkeit hinaus ent-
fernt, raubt uns den Boden ganz und gar, und vermengt
Gedankendinge mit dem Realen. Zu sagen, die wahre
Substanz, die erste Bedingung, liege in unendlicher Ent-
fernung, ist völlig gleichbedeutend mit der Behauptung,
alles in Gedanken Erreichbare sey bedingt; und dies
heiſst: Alles ist Nichts. Es ist nicht hier mein Amt,
den metaphysischen Begriff des Seyn zu entwickeln, der
sich gar nicht dehnen, strecken, mit Gröſsen-Begriffen
amalgamiren läſst; aber was von unseren Vorstellun-
gen
des Unendlichen zu halten sey, das wenigstens muſs
der Leser, der mir bis hieher folgte, ohne meine Hülfe
sich selber sagen können. Es mag nun wohl Leute ge-
ben, die von demjenigen Unendlichen reden, welches
sie sich, indem sie davon reden, nicht vorstel-
len:
diesen aber gestehe ich meinerseits nicht folgen zu
können.


Anmerkung II.

Zu den auffallendsten Erscheinungen in Kants Ver-
nunftkritik gehört die verschiedene Behandlung des Un-
bedingten
, (im Gegensatze des Bedingten,) und der
Noumene, (im Gegensatze der Phänomene); besonders
der Mangel an Verbindung zwischen den beyden, hieher
gehörigen Theilen des nämlichen Werkes. Obgleich
ich mich hier in die Fragen nach der richtigen Structur
der allgemeinen Metaphysik nicht tief einlassen kann,
vielmehr die Aufmerksamkeit des Lesers desto mehr in
Anspruch nehmen muſs, je kürzer ich mich fasse: so
[398] wird es doch nicht überflüssig seyn, auf jenen Punct we-
nigstens hinzuweisen.


In der Abhandlung von den Phänomenen und Noume-
nen nennt Kant den letztern Begriff bloſs problematisch,
denn er sey zwar nicht widersprechend, vielmehr zur Be-
schränkung der sinnlichen Erkenntniſs unentbehrlich, allein
die Möglichkeit der Noumene sey gar nicht einzusehen;
und der Umfang auſser der Sphäre der Erschei-
nungen sey für uns leer
; so daſs sich gar kein Ob-
ject der Erkenntniſs in ihn setzen lasse.


Dieser Ausspruch ist für Kants theoretische Lehre
vollkommen consequent, und charakteristisch. Wenn ich
hierin von ihm abweiche: so geschieht es deswegen, weil
ich aus den Widersprüchen in den Erfahrungsbegriffen
weiſs, daſs man, um nur sie selbst denken zu können,
nothwendig über sie hinausgehen muſs; daher die Nou-
mene, oder einfachen Wesen, nun zwar ihrer innern, und
ursprünglichen Qualität nach gerade so unbekannt blei-
ben, wie Kant sie wollte; aber nichts desto weniger doch
irgend eine Qualität derselben oder vielmehr verschiedene,
ja zum Theil entgegengesetzte Qualitäten der verschiede-
nen Noumene, angenommen werden müssen; weil sonst
die anscheinende Existenz der Sinnenwelt schlechthin un-
möglich wäre. Was übrigens die Möglichkeit der Nou-
mene anlangt: so ist die Frage darnach widersinnig;
denn Möglichkeit ist niemals real; (dies sagen schon
die Worte;) sondern was wir reale Möglichkeit zu
nennen pflegen, ist selbst nur ein Ausdruck, der sich
aufs Geschehen, nicht aufs Seyn bezieht. Dies Bey-
des wohl zu unterscheiden, ist für alle metaphysische
Einsicht eine Grundbedingung. Real möglich nennen
wir dasjenige Geschehen, dessen Grund im Realen kann
angetroffen werden.


Der Gegensatz nun zwischen dem Seyn und dem
Schein ist derjenige, welcher uns in unserm Denken die
Pforte der Metaphysik öffnet. Der Schein ist gegeben;
darum müssen wir das Seyende setzen, und dergestalt
[399] bestimmen, daſs aus unsern Vorstellungen von dem was
erscheint, die Ungereimtheit verschwinde. In diesem
Gegensatze liegt nichts verführerisches; Niemand wird
darum, weil er das Seyn zufolge des Scheins setzt, sich
einbilden, das Scheinen sey eine wesentliche Eigenschaft
des Seyenden; oder, der Gegensatz zwischen beyden
hafte als eine wirkliche Bestimmung an und in dem Seyen-
den. Denn es wäre die klärste Ungereimtheit, den Schein,
das Widerspiel des Seyn, in das letztere irgendwie als
eine innere Bestimmung desselben einwickeln zu wollen.
Alle wahre Erklärung der Sinnenwelt muſs vor allen Din-
gen die Probe bestehn, daſs sie das Scheinen als rein
zufällig
fürs Seyn darstelle.


Allein auf einen ganz andern Weg gerathen wir
dort, wo vom Unbedingten geredet wird. Dieses soll
zwar auch das Reale, das Seyende, die Welt der Nou-
mene, bedeuten. Aber der Ausdruck, und die Verbin-
dung, worin man ihn braucht, legt den Begriff in die
Reihe des Bedingten, welche von ihm anfangend ohne
Schwierigkeit soll fortlaufen können. Die Meinung ist
hier nicht bloſs, wie vorhin, daſs wir im Laufe unseres
Denkens, dem psychologischen Mechanismus zufolge,
vom erscheinenden Bedingten zum realen Unbedingten
fortschreiten: sondern, daſs wirklich das Unbedingte an
sich das Bedingende sey, als ob diese Verknüpfung nicht
bloſs zufällig wäre, sondern in der Natur des Unbeding-
ten läge. — Eine Metaphysik, die, wie die vorkantische, —
und wohl auch diese oder jene seit Kant, — sich einer
solchen Täuschung hingiebt, hat den Faden des psy-
chologischen Mechanismus und seiner Vorstellungs-Rei-
hen nicht abgeschnitten; die Gedanken gehen in ihr nicht
wie sie sollen, sondern wie sie müssen. Es ist aber klar,
daſs, um zur Metaphysik zu gelangen, wir gegen den
natürlichen Lauf unserer Vorstellungen wenigstens eben
so viel Gewalt ausüben sollten, wie die Geometrie thut,
indem sie aus dem uns vorschwebenden Raumbilde die
einzelnen Dimensionen desselben heraussondert; und, wie-
[400] wohl niemals wirklich die Vorstellung einer Fläche ohne
Dicke, einer Linie ohne Breite, uns gelingen kann, gleich-
wohl fordert, daſs man so denke, als ob man dergleichen
Vorstellungen zu Stande gebracht hätte, indem man das
Ungehörige bey Seite setzt und ihm keinen Einfluſs ge-
stattet.


Dem analog, soll das Unbedingte so bestimmt wer-
den, als läge es in gar keiner Reihe, (auſser in
wiefern wir es aus guten Gründen absichtlich wiederum
in sorgfältig construirte Reihen einführen,) keinesweges
aber soll der psychologische Mechanismus in der Meta-
physik sein Spiel treiben; so gewiſs es auch ist, daſs un-
sere Vorstellungen des Unbedingten auf mancherley Weise
mit unseren übrigen Vorstellungen reihenförmig verwebt
sind, indem wir vom Bedingten zum Unbedingten fort-
zuschreiten uns bemühen. Sobald daraus für uns ein
Trugbild entsteht, muſs dies durch die speculativen Maxi-
men appercipirt, und verbessert werden. Die Speculation
erfordert nicht weniger Selbstbeherrschung, als die Mo-
ralität.


Was ist aber bey Kant aus jenem Unbedingten
geworden? Ein regulatives Princip des Fortschreitens
und Suchens, gleichsam zu einem unendlich entfernten
Puncte, den wir zwar niemals erreichen können, doch
so, daſs wir die Richtung wissen, die zu ihm führen
würde. Man vergleiche nun den achten Abschnitt der
Antinomienlehre mit der vorhin angeführten Lehre von
Phänomenen und Noumenen. Dort wurde ein absoluter
Stillstand an der Gränze des Sinnlichen, streng geboten;
indem die Gegend der Noumene gleichsam ein leerer
Raum sey, in welchem man gar nichts finden könne,
gar nichts suchen dürfe; hier hingegen schwebt die
Sinnenwelt in dem Umkreise eines mannigfaltigen Unbe-
dingten; etwa wie unser Sonnensystem in der Mitte der
Fixsternkugel, die uns den wichtigen Dienst leistet, Rich-
tungslinien dorthin zu ziehen, und uns mit ihrer Hülfe
zu orientiren.


An-

[401]
Anmerkung III.

In den letzten beyden Paragraphen habe ich gesucht,
diejenigen Thätigkeiten und Producte psychologisch zu
erklären, welche man vorzugsweise der sogenannten theo-
retischen Vernunft zuzueignen pflegt. Damit nun hier-
aus der Zustand des vernünftigen Menschen, wie wir ihn
in der wirklichen Welt anzutreffen pflegen, begreiflich
werde, muſs man nebenbey noch folgendes bedenken:


Erstlich, auch Diejenigen, welche sich von selbst
nicht zu den Vorstellungen des Unendlichen und Unbe-
dingten erheben würden, empfangen in der gebildeten
Gesellschaft irgend einen Unterricht, der sie dahin wei-
set. Daraus entstehn Meinungen, die unaufhörlich zwi-
schen den mehr und minder selbstständig Denkenden um-
hergeworfen, und oftmals durch die Absicht, sie zu lehren
und zu verbreiten, in Form und Materie bestimmt werden.
Mit ihnen verbindet Jeder, wie er eben kann, seine Erfahrun-
gen, seine Vorstellung von Sich, und seine Gefühle; darnach
richtet sich seine Apperception alles dessen, was er ferner
sieht, hört, und selbst bedenkt. — Je mehr aber in der Ge-
sellschaft die Wichtigkeit der Meinung erkannt wird: desto
mehrere giebt es, die ihr nachstellen und sie zu erobern su-
chen; desto mehr hüten sich die Einzelnen, ihr Meinen hin-
zugeben; desto mehr wächst die eingebildete Selbstständig-
keit des Denkens, und verschwindet die wahre Gelehrig-
keit. Darüber verliert sich das Lehren; an seine Stelle
tritt Geschwätz, das nur begehrt im Strome der Meinung
vorübergehende Strudel hervorzubringen. Und nun giebt
es Perioden der Herstellung des Bessern, mit groſsen
Wechseln und Ungleichheiten.


Zweytens, äuſserst selten findet sich Einer, der sich
selbst genug beherrscht, um theoretische Untersuchungen
rein zu halten von Rücksichten auf das, was praktisch
wichtig scheint. Daher müssen die allermeisten Lehrmei-
nungen über das Unendliche und Unbedingte, in so fern
sie psychologische Phänomene sind, dem gröſsten Theile
nach aus Nebenrücksichten erklärt werden; und nur durch
II. C c
[402] eine wissenschaftliche Abstraction sind sie im Vorher-
gehenden davon getrennt worden. Diese Abstraction aber
ist die allernothwendigste, wenn man zur Wahrheit ge-
langen will. Mit falschem Gewicht und falscher Wag-
schaale wägen alle diejenigen, welche vor der Untersu-
chung voraus schon wünschen, daſs etwas wahr seyn
möge
.


§. 150.

Wir haben noch von demjenigen zu reden, was man
praktische Vernunft nennt.


Ehe wir diesen wichtigen Gegenstand selbst verneh-
men, wird es nöthig seyn, das zusammenzustellen und zu
ergänzen, was oben (§. 104. u. f.) über das Begehren
gesagt worden.


Die einfache Begierde ist nichts anderes als eine
Vorstellung, die wider eine Hemmung aufstrebt. Hiebey
wird aber vorausgesetzt, daſs noch irgend eine andre
Kraft im Spiele sey; weil sonst auf die Hemmung ein
Sinken erfolgen müſste.


Bey den gewöhnlichen thierischen Begierden ist ohne
Zweifel diese andere Kraft eine physiologische. Da über-
haupt leibliche und geistige Zustände zusammengehören,
(wovon mehr im folgenden Abschnitte,) so halten sich,
ja erheben sich wider eine vorhandene Hemmung diejeni-
gen Vorstellungen, denen die Bedürfnisse des Leibes
entsprechen. Diesen Gegenstand setzen wir bey Seite;
man wird ihn verfolgen können, sobald die Verbindung
zwischen Leib und Seele zuvor wird in Betracht gezo-
gen seyn.


Der einfachste, rein psychologische Grund, aus wel-
chem eine Begierde entstehen kann, ist eine Verschmel-
zungs- oder Complications-Hülfe; (§. 57. u. f.). Es
sey a mit α complicirt, es werde a eben jetzt durch eine
gleichartige neue Empfindung oder Wahrnehmung re-
producirt; und zugleich sey im Bewuſstseyn die Vorstel-
lung β dem α entgegengesetzt; so wird α zugleich ge-
[403] hoben und zurückgedrängt. Ein unangenehmes Gefühl
ist davon die nächste Folge; in wiefern aber α wider
die Hemmung wirklich ansteigt, ist es Begierde. Diese
mag freilich schwach und von kurzer Dauer seyn, wenn
keine weitern Bestimmungen hinzukommen; weil sich das
Gleichgewicht sehr leicht herstellen kann. Aber gleich-
wohl ist dies das erste Element, von dem man aus-
gehn muſs.


Schon deutlicher wird die Begierde hervortreten,
wenn die dem a gleichartige Wahrnehmung sich häufig
und schnell nacheinander wiederhohlt, wodurch jedesmal
von neuem α einen Stoſs bekommt. Noch deutlicher wird
die Sache werden, wenn nicht bloſs eine, sondern meh-
rere Complicationshülfen zusammenwirken. So begehrt
man sehr merklich, und manchmal schmerzlich, das, was
in einer bekannten Umgebung an dem Gewohnten fehlt.
Es darf nur ein Stuhl in einem Zimmer an der Wand
fehlen: sogleich treiben alle Gegenstände in der Stube
die Vorstellung des Stuhles hervor, während die Auffas-
sung der leeren Wand sie hemmt. Nachdrücklichere
Beyspiele bieten sich in Menge dar, sie sind aber zu be-
kannt, um angeführt zu werden.


Doch auch unter diesen Umständen wird die Be-
gierde oftmals so flüchtig seyn, daſs man ihrer kaum inne
wird. Soll sie das Gemüth einnehmen, es anhaltend be-
schäfftigen, und sich in einer Reihe von Handlungen zei-
gen: so muſs das vorbeschriebene Ereigniſs ein gehöriges
Verhältniſs zu den sämmtlichen, während einer gewissen
Zeit im Bewuſstseyn wirksamen Vorstellungen haben.
Mit einem Worte: die Begierde muſs in Verbindung
stehn mit den Reihen von Vorstellungen, die sich so
eben im Bewuſstseyn abwickeln. Und hier werden wir
denn noch einmal zurückgeführt zu der, an wichtigen
Folgerungen so fruchtbaren, Theorie von den Reihen,
§. 112.


Man denke sich demnach eine Reihe a, b, c, d, e,
u. s. w. Daſs jede dieser Vorstellungen ein eignes Ge-
C c 2
[404] setz hat, die vorhergehenden und die Nachfolgenden zu
reproduciren, weiſs man aus §. 112.; man weiſs auch,
daſs die Reihe in derselben Folge, und, wenn das Er-
eigniſs ganz ungestört von Statten geht, sogar mit dem-
selben Rhythmus wieder hervortreten muſs, als worin sie
gegeben war. Allein hier müssen wir eine andere Seite
des nämlichen Gegenstandes zur Betrachtung darbieten.
Man überlege die verschiedenen Geschwindig-
keiten der sämmtlichen Verschmelzungshülfen,
welche a, b, c, und d, anwenden können, um e
zu heben
. Weil d minder als c, c minder als b,
b minder als a gehemmt war, indem e mit diesen allen
verschmolz (§. 112.), und nach der Gröſse der Ver-
schmelzungshülfen die Geschwindigkeit ihres Wirkens
sich richtet; weil ferner §. 87. die Hülfen nicht addirt
werden dürfen, wenn von der Geschwindigkeit, die sie be-
stimmen, die Rede ist, so folgt, daſs e am geschwinde-
sten von d, minder geschwind von c, noch minder ge-
schwind von b, u. s. w. kann gehoben werden.


Wir nehmen nun an, die Reihe a, b, c, d, e, …
reproducire sich, und zwar dergestalt, daſs jede einzelne
dieser Vorstellungen theils durch die Hülfen der andern,
theils auch durch eigne Kraft hervortrete. — Jetzt aber,
indem e sich hebt, finde dasselbe ein Hinderniſs irgend
welcher Art. Dies Hinderniſs wirkt zunächst nur auf e
selbst, und auf die Hülfe der nächstvorhergehenden Vor-
stellung d. Denn die frühern Vorstellungen c, b, a,
konnten die Geschwindigkeit von e nicht mit bestimmen,
weil sie zu langsam wirken. Die Hülfen, die sie leisten
können, hatten nicht Zeit anzulangen, wenn das, was zu
wirken sie fähig waren, schon ohne sie geschwinder ge-
schah; und eben dieses war der Fall, wegen der rasche-
ren Hülfe des d. — Allein das eingetretene Hinderniſs
hemmt das Steigen des e, und die dazu mitwirkende
Hülfe von d. Hiedurch gewinnt c die nöthige Zeit, um
seinen langsameren Beystand zu geben. Und nachdem
schon die eigenthümliche Geschwindigkeit der Hülfe von d,
[405] aufgehalten ist: müssen nunmehr allerdings die beyden
Kräfte addirt werden, welche von d und von c herrühren;
denn es kommt jetzt darauf an, die Stärke zu finden,
welche beyde gemeinsam dem Hinderniſs entgegenstel-
len. — Es sind hier zwey Fälle möglich. Entweder,
das vereinte Streben von c, d, und e bringt das Hinder-
niſs zum Weichen; dann gelangen b und a nicht mehr
zum Wirken. Oder, das Hinderniſs beharrt dennoch:
so kommt nun die Hülfe von b noch zeitig genug; ja
wenn auch diese, mit jenen vereint, die Hemmung nicht
hebt, so trägt auch a noch das Seinige bey, um e zum
Steigen zu bringen. Und dieses geht so fort, indem man
die Reihe rückwärts durchläuft, wie lang dieselbe auch
seyn möge.


Was ist das Resultat von dem allen? Daſs die
Spannung des Begehrens immer wächst, bis ent-
weder Befriedigung eintritt, oder bis alle Kräfte der
Verbindungen des e nur Eine Summe ausma-
chen
. Hiezu können sogar die nachfolgenden Vorstel-
lungen f, g, h, u. s. w. noch beytragen, in so fern sie
durch d, c, b, u. s. w. veranlaſst, ins Bewuſstseyn tre-
ten, und nun jene rückwärts gehende Wirkung ausüben,
die gleichfalls aus §. 112. bekannt ist.


Wir haben ein Resultat a priori abgeleitet, welches
in der gemeinen Erfahrung sehr bekannt ist; und welches
man in derselben, bey vorausgesetzter Verbindung zwi-
schen Seele und Leib, sehr leicht wieder erkennen wird.


Einige unsrer Handlungen nämlich können ohne
merkliches Hinderniſs geschehen, z. B. die Bewegungen
des Augapfels und der Sprachorgane; andre erfordern
das Heben und Bewegen einer schweren und trägen
Masse, oder auch eine gewaltsame Anspannung der Mus-
keln, z. B. Springen und Laufen, besonders aber das
Stoſsen und Fortführen fremder Körper, das Tragen von
Lasten, u. s. w. Jene ersteren Handlungen geschehen
beynahe ganz unvermerkt; sie sind unmittelbar begleitende
Zustände für unsre Vorstellungen, deren Lauf dadurch
[406] nicht abgeändert wird. Allein die andern wirken in dem
Maaſse ihrer Schwierigkeit dahin, daſs wir uns anstren-
gen
, und immer stärker anstrengen, bis die Ausfüh-
rung entweder gelingt oder ganz aufgegeben wird, indem
ein schmerzliches Gefühl an die Stelle des Begehrens
tritt. Liegt etwa diese Anstrengung bloſs in Nerven und
Muskeln? Wie sollte sie doch in diesen zu Stande kom-
men, hätte sie nicht zuvor in der Seele selbst Statt ge-
funden!


Die Anstrengung, sie sey nun rein geistig, oder zu-
gleich auch körperlich, wird immer desto stärker seyn,
je gröſser und je durchgreifender die Stockung, welche
das Hinderniſs in dem Kreise der Vorstellungen verur-
sacht. Denn desto gröſser wird die Summe aller ange-
regten Verbindungen, und aller zusammenwirkenden Hül-
fen. Wir haben vorhin nur eine einzige Vorstellungs-
reihe genannt; es versteht sich, daſs man dieses ausdeh-
nen müsse auf alle nur möglichen Verflechtungen vieler
Reihen untereinander.


Man bemerke ferner, daſs es hiebey ganz unbestimmt
bleibt, welche, und wie viele Vorstellungen zu der Ener-
gie des Begehrens beytragen werden; indem nur die, de-
ren zufällige Verknüpfung es nun gerade mit sich bringt,
in Spannung versetzt werden. Daraus kann man sich
nun sehr deutlich erklären, wie die gemeine Psychologie
dazu kommen konnte, ein Begehrungsvermögen anzuneh-
men, das vom Vorstellungsvermögen verschieden seyn
sollte. Jenes schien unabhängig von diesem, weil das
Objective unserer Vorstellungen, das Vorgestellte,
für die Energie des Begehrens fast gleichgültig ist. In
der vorstehenden Theorie haben wir uns um die Ob-
jecte
der Vorstellungen a, b, c, d, e, gar nicht be-
kümmert, sondern bloſs um die Art der Verschmel-
zung
; diese aber hängt noch weit mehr von der Zeit-
ordnung, worin die Vorstellungen einander im Bewuſst-
seyn begegneten, als von der Qualität des Vorgestell-
ten ab.


[407]

Man bemerke weiter, daſs, indem die Begierde vor dem
Hinderniſs wie ein Strom vor einem Damme anschwillt, zu-
gleich alle die Folgen zu erwarten sind, zu welchen die An-
sammlung vieler Vorstellungen im Bewuſstseyn Gelegenheit
geben kann. Gesetzt, mehrere Reihen, a, b, c, d, e,
und A, B, C, D, e, und α, β, γ, δ, e, und wie viele
sonst, in denen allen e vorkommt, seyen durch das Hin-
derniſs in Spannung gesetzt, — es mögen auch von je-
dem Gliede jeder Reihe noch Seitenreihen in Menge aus-
laufen, — so sind sie zugleich im Bewuſstseyn angehäuft
und vestgehalten; sie verschmelzen also mit einander,
wenn sie nicht schon zuvor unter sich verknüpft waren;
ja es entstehn die Folgen, welche im §. 125. angedeutet
worden; kurz, alles, was aus der gegenseitigen Durch-
dringung der Vorstellungen nur entstehn kann. Also sind
die Hindernisse, welche den ablaufenden Vorstellungsrei-
hen zustoſsen, höchst wichtige Bildungsmomente für
das Individuum, dem sie begegnen.


Auch dieses ist in der Erfahrung bekannt. Wer
weiſs es nicht, daſs die Schwierigkeiten, mit welchen der
Mensch zu kämpfen hat, seine Schule sind? Daſs eben
durch sie, das Schicksal jeden einzelnen auf eine beson-
dere Weise erzieht?


Sehn wir wieder auf die gewöhnliche Lehre von den
Seelenvermögen: so zeigt sich hier das scheinbare Cau-
sal-Verhältniſs, nach welchem das Begehrungs-Vermö-
gen Einfluſs haben soll auf das Vorstellungsvermögen.


Man bemerke endlich, daſs die Begehrung sich nur
in der Vorstellungsmasse ausbilden kann, zu wel-
cher die gehinderte Vorstellung gehört. Denn weiter rei-
chen ihre Verbindungen nicht. Daher das Phänomen,
daſs es gleichsam in Einer Gegend der Seele stürmen
kann, während eine andre ruhig bleibt; daſs der Mensch
von einer heftigen Begierde gepeinigt, dennoch in sich
die Kraft finden kann, sich zu mäſsigen; ja, daſs die
Mäſsigung leicht wird, — daſs die Besserung eines sehr
Verdorbenen noch möglich ist, — wenn man nur einen
[408] etwas anhaltenden Wechsel der Vorstellungsmasse im
Bewuſstseyn zu bewirken vermag.


In dem Vorstehenden haben wir den Cirkel ganz
unberührt gelassen, in welchem das Begehrte sich mit
dem Guten und dem Angenehmen drehen würde, wenn
jene ältere Philosophie Recht hätte, nach welcher man
das, was ſub ſpecie boni vorgestellt wird, begehrt, und
dagegen verabscheut, was man ſub ſpecie mali vorstellt.
Es ist hievon schon oben §. 108. die Rede gewesen, und
wir werden noch mit Wenigem darauf zurück kommen.
Hier wolle der Leser in Beziehung auf das Nächst-Vor-
hergehende sich erinnern, daſs dabey durchaus kein Un-
terschied des Angenehmen und Unangenehmen zum Grunde
gelegt ist; welches auch um so weniger geschehn durfte,
weil Erfahrungen genug vorhanden sind, nach welchen
oftmals sogar das Unangenehme begehrt wird.


Jetzt aber dürfen wir nicht länger säumen, uns der
praktischen Vernunft, unserm eigentlichen Gegenstande,
zu nähern; die selbst eine Art von Begehrungsvermögen
zu seyn scheint, wenn man sie nicht lieber als eine Re-
gel betrachten will, wornach die vorhandenen Begehrun-
gen sich richten sollen. Eine Frage, womit die Freunde
der Seelenvermögen wohl Ursache haben, sich ernstlich
zu beschäfftigen. Denn es ist gar nicht einerley, ob man
die praktische Vernunft, als oberes Begehrungsvermögen,
noch neben dem niedern hinstellt, so daſs dadurch die
Menge der ursprünglichen Begehrungen wachse: oder ob
man eine Vernunft annimmt, die selbst nichts begehrt,
wohl aber sich auf die vorhandenen Begehrungen bezieht,
so daſs für diese eine Regel entsteht, der sie sich unter-
werfen müssen. Kant, mit seiner richtigen Behauptung,
kein Sittengesetz könne eine Materie des Begehrens an-
geben, befand sich eigentlich im zweyten Falle; er ge-
rieth aber leider wieder in den ersten hinein, indem er
durch den kategorischen Imperativ der Vernunft ein ge-
bieterisches Ansehen gab, während er die ästhetischen
Urtheile über das Begehren, deren Charakter die höchste
Ruhe und Gelassenheit ist, gänzlich verfehlte.


[409]

Doch wir müssen vermeiden, gleich Anfangs vom
Sittlichen zu reden. Denn wiewohl dieses als das wich-
tigste und schönste Erzeugniſs der praktischen Vernunft
anzusehen ist, so ist es doch weder das einzige noch das
früheste. Man blättere im Homer, oder in den Samm-
lungen alter Sittensprüche; es wird sich bald entdecken,
wie dünn die eigentlich moralischen Sentenzen unter den
Maximen gemeiner Klugheit mit eingestreut sind.


Das allgemeine psychologische Problem: wie über-
haupt Maximen sich bilden können?
scheint bis-
her nicht sonderlich beachtet zu seyn. Wenigstens so
leicht ist es nicht, daſs man es schlechtweg wie eine An-
wendung des logisch allgemeinen Denkens auf die Will-
kühr, ansehn dürfte. Wenn im gewöhnlichen Unter-
richte Maximen gelernt und gelehrt werden: dann pflegt
man wohl erst zu glauben, die Maximen seyen Triebfe-
dern des Willens; hintennach sich zu wundern, daſs die
treibende Kraft nichts wirkt. Aber in solchem Falle sind
die Worte, welche von Seiten des Lehrers ein allge-
meines Wollen
ausdrückten, für den Schüler in bloſse
theoretische allgemeine Begriffe eines mögli-
chen Wollens
übergegangen, womit dessen wirkliches
Begehren in gar keiner Verbindung steht. Daher sind
auch alle Schluſsfolgen in der Moral gehaltlos, wenn nicht
die Obersätze ein wirklich vorhandenes Wollen bezeich-
nen, das alsdann gleich einem Gedanken durch die Un-
tersätze in die Conclusionen hinübergeht.


Das allgemeine Wollen muſs auf ähnliche Weise
zu Stande kommen, wie das allgemeine Denken. Also
zuerst müssen solche Vorstellungen, die im Zustande des
Begehrens sich befinden, und zwar ihrer viele ähnliche,
untereinander verschmelzen; dann muſs das Verschmol-
zene auf dem Wege der Urtheile bestimmt und begränzt
werden. Jenes nach Analogie der §. 121., 122., dieses
gemäſs dem §. 147.


Allein der Zustand des Begehrens ist ein flüchtiger,
und gar nicht wesentlicher Zustand der Vorstellungen;
wie können daraus beharrliche Maximen entstehn? —
[410] Diese Frage erfordert nunmehr eine ausführliche Unter-
suchung.


Bevor wir dieselbe eröffnen: ist vielleicht für einige
Leser nöthig zu erinnern, daſs wir hier nicht von den
bedingt gestellten Imperativen der Klugheit reden, die
unter die Formel fallen, wenn Jemand den Zweck will,
so muſs er auch die Mittel wollen. Die Frage nach der
psychologischen Möglichkeit, daſs man Mittel versuche,
um das Begehrte zu erreichen, würde uns noch einmal
nöthigen, zu den Reihen der Vorstellungen zurückzugehn;
wir überschlagen diese Frage, und beschäfftigen uns mit
den Maximen. Wie lange es aber noch zweifelhaft ist,
ob man den Zweck wolle, so lange ist noch gar keine
Maxime als solche vorhanden. Indem Jemand eine ge-
wisse Regel zu seiner Maxime erhebt, will er wirklich
den Zweck, worauf die Regel zielt. Dieses Wollen nun
ist kein vorübergehendes Begehren, sondern es liegt darin
der Charakter der Stetigkeit und Allgemeinheit. Was
aber die Mittel anlangt, deren die Maxime vielleicht als
Bedingungen erwähnt, unter denen der Zweck zu errei-
chen sey, so kümmern uns diese hier gar nicht; wir ha-
ben es bloſs mit der Activität, mit dem Triebe zu thun,
den die Maxime ausspricht.


Und jetzt vergegenwärtige man sich den Zustand
des Begehrens, so wie derselbe im §. 104., und im An-
fange dieses §. beschrieben worden. Man wird sehn,
daſs der erwähnte Zustand etwas Vorübergehendes ist,
während die Vorstellungen selbst, bleiben; daſs also das
Begehren, in seiner einfachsten Gestalt, nichts solches
ist, welches könnte in irgend einer Verschmelzung auf-
behalten werden. Eine Vorstellung, die in einem Au-
genblick ein Begehrtes bezeichnet, verliert vielleicht diese
Bestimmung im nächsten Moment; ihr Object ist jetzt
gleichgültig, und abermals im folgenden Augenblicke viel-
leicht ein Gegenstand des Widerwillens. Etwas so wan-
delbares kann den Inhalt praktischer Maximen nicht dar-
bieten.


[411]

Eben so flüchtig sind die Affecten; (§. 106.) und
daher eben so untauglich, Maximen zu stiften; wiewohl
sie sehr füglich die Gegenstände werden können, wor-
über
in praktischen Grundsätzen etwas angeordnet wird.
Dann liegt aber das thätige Princip der Maximen in hö-
hern, appercipirenden Vorstellungsmassen, die wir im
§. 126. u. f. beschrieben haben.


Es bleiben noch die Leidenschaften, die Gefühle des
Angenehmen und Unangenehmen im strengen Sinn, (de-
nen man die Lustgefühle des §. 87. in dem Falle zu-
gesellen muſs, wenn die Bedingungen derselben auf be-
harrliche Weise an den Objecten haften,) und die ästhe-
tischen Urtheile. Jede dieser Arten des Vorziehens und
Verwerfens ergiebt wirklich Maximen.


Zuvörderst die Leidenschaften. Sie sind nach §. 107.
bleibende Dispositionen zu Begierden, die in der ganzen
Verwebung der Vorstellungen ihren Sitz haben. Aus
ihnen also kömmt ein häufiges, gleichartig sich wieder-
hohlendes Begehren; welchem gemäſs die übrigen Vor-
stellungen sich stets auf ähnliche Weise fügen und schik-
ken. Nimmt man hiezu die Wiedererweckung der ähnli-
chen Vorstellungen, und ihre Verschmelzung: so sieht
man wohl, wie nach und nach ein Wollen entstehe, bey
welchem die Umstände des Zeitmoments im einzelnen
Fall, oder die Bestimmungen eines einzelnen Gegenstan-
des, sich beynahe aus dem Bewuſstseyn verlieren neben
dem Gleichartigen aller der Fälle, in denen die Leiden-
schaft wirkte und sich befriedigte. Der Zustand des
durch diese Leidenschaft aufgeregten Gemüths gleicht
also dem Denken eines rohen allgemeinen Begriffs in
dem Puncte, daſs auch hier eine Totalkraft vorhanden
ist, in welcher verworrener Weise viel Ungleichartiges
verschmolzen liegt, das von dem Gleichartigen groſsen-
theils erstickt wird. Der Mensch, der bekannt, daſs er
die Karten liebe, drückt hiemit auf einmal alle die ver-
schmolzenen Strebungen aus, die er zu verschiedenen
Zeiten, spielend mit verschiedenen Personen, vielleicht
[412] spielend verschiedene Spiele, empfunden hat; und die
nun so verschmolzen wieder erwachen, daſs in ihnen das
Streben, mit den Karten beschäfftigt zu seyn, vorherrscht,
die besondern Bestimmungen irgend eines Kartenspiels und
irgend welcher Mitspieler dagegen kein Gewicht haben.


Kaum bedarf es der Erinnerung, daſs das hier ge-
sagte, auf jede Lieblingsbeschäfftigung paſst. Aber etwas
Leidenschaftliches ist wirklich auch in jeder Lieblingsbe-
schäfftigung, in wiefern es nämlich Ueberwindung kostet,
sich von ihr zu trennen.


Eine andre, reiche Quelle gleichartig sich wieder-
hohlender Begehrungen sind die Gefühle des Angeneh-
men und Unangenehmen, in dem Sinne des §. 108. Aber
hier stoſsen wir auf einen der allerdunkelsten Gegenstände
in der ganzen Psychologie, obgleich auf einen der be-
kanntesten, gewöhnlichsten und in Ansehung dessen die
Gewohnheit es meistens gar nicht zu einer Frage kom-
men läſst. — Nicht als ob es schwer wäre, das Allge-
meine
der Maximen zu erklären, die aus den erwähn-
ten Gefühlen entspringen; sondern weil die ganz unbe-
zweifelte Thatsache, daſs wir das Angenehme begehren
und das Unangenehme fliehen, unsern Blick in eine
Tiefe hineinleitet, zu der wir kein Licht, oder doch nur
einen äuſserst schwachen, und mühsam zu gewinnenden,
Schimmer mitnehmen können. Nach gemeiner Psycho-
logie freylich wäre hier mit einem Einflusse des Gefühl-
vermögens auf das Begehrungsvermögen alles abgethan.
Und eben darum wollen wir wenigstens die Dunkelheit
der Stelle kenntlich machen, über die man so leicht hin-
wegzuschlüpfen pflegt.


Was die Thatsache selbst anlangt, so hat schon
Locke darauf aufmerksam gemacht, daſs man sie zwar
nicht leugnen, aber sehr beschränken müsse. Im 21 sten
Capitel des zweyten Buchs entwickelt er, daſs durch jene
Gefühle zwar ein Verlangen, aber noch nicht der Wille
bestimmt werde; eine Unterscheidung, auf die wir bald
kommen wollen. Den letztern, meint er, treibe vielmehr
[413] der Verdruſs, oder die Unzufriedenheit; und hiedurch
scheint er ein solches, mit dem Gefühle der Unlust
verbundenes, Streben der Vorstellungen anzudeuten, wie
wir im §. 104. beschrieben haben. Also liegt darin die
schon bekannte Bemerkung, daſs bey weitem der klei-
nere Theil unseres Begehrens von den Gefühlen des An-
genehmen und Unangenehmen (die von denen der Lust
und Unlust schon oben unterschieden wurden,) abhänge.
Dennoch ist dieser kleinere Theil vorhanden, und sehr
wichtig; ja das Räthsel liegt gerade in dem Verlangen,
von welchem Locke, noch etwas zu allgemein, zuge-
steht, daſs es mit jedem Gefühl jener Art verbunden sey.


Das eigentlich Dunkle jedoch hat seinen Sitz ur-
sprünglich in der Natur des Angenehmen und Unange-
nehmen selbst. Wir können dieses eben nur fühlen,
nicht aber es zersetzen in Begriffe, noch durch die letz-
teren es mit Sicherheit nachconstruiren. Darum entzieht
sich uns auch der Anfang und Ursprung derjenigen Be-
wegung des Gemüths, die wir als ein Verlangen nach
dem Angenehmen, als ein Wegwünschen des Unange-
nehmen, aus der Erfahrung kennen.


Nur aus Untersuchungen über gewisse ästhetische
Urtheile habe ich die wahrscheinliche Hypothese geschöpft,
das Angenehme und Unangenehme beruhe auf der Ver-
schmelzung sehr vieler Vorstellungen, die sich einzeln
nicht angeben lassen. Wäre es möglich sie anzugeben,
so würde sich das Angenehme in das Schöne, das Un-
angenehme in das Häſsliche verwandeln. Soviel nämlich
läſst sich mit Sicherheit behaupten, daſs Schönes und
Häſsliches lediglich in Verhältnissen bestehe, daſs es
folglich in der Zusammenfassung der Verhältniſsglieder,
also durch die Verschmelzung der Vorstellungen von die-
sen Gliedern vernommen werde.


Diese Erklärung des Angenehmen und Unangeneh-
men wird vielleicht scheinen dasselbe dem Aesthetischen
gar zu nahe zu rücken. Allein wir betrachten hier bey-
des in psychologischer Hinsicht; und da lehrt die Erfah-
[414] rung ganz allgemein, wie leicht eins mit dem andern ver-
wechselt werde. Die Unterscheidung des Schönen vom
Angenehmen, des Häſslichen vom Unangenehmen, ist
eine Bemühung des weit ausgebildeten Menschen, deren
Bedürfniſs er erst dann empfindet, wenn er sich die
Maximen auseinandersetzen will
, die aus jenen
beyden Classen des Vorziehns und Verwerfens entspringen.


Diejenigen Maximen nämlich, welche das Aestheti-
sche betreffen, besitzen einen groſsen und für ihre Brauch-
barkeit entscheidenden Vorzug vor denen, die aus den
Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen hervor-
gehn. Jene lassen sich deutlich denken, diese nicht.
Denn jene beziehen sich auf Verhältnisse, deren Glieder
eine gesonderte Auffassung gestatten, diese nicht also.
Ja bey gehöriger Sorgfalt kann man die ästhetischen Ver-
hältnisse absichtlich und mit Bewuſstseyn construiren;
man kann ein ganzes Feld, worin ästhetische Gegenstände
vorgekommen sind, durchsuchen, um alles, was auf die-
sem Felde möglich ist, vollständig zusammenzustellen.
Dieses ist eben die Pflicht der allgemeinen Aesthetik, die
zwar ihre Schuld noch beynahe nirgends anders, als in
Ansehung der harmonischen Grundverhältnisse der Töne,
mit Präcision gelös’t hat. Je weiter aber die Aesthetik
vorrückt, desto mehr entzieht sie ihren Gegenstand dem
rohen Empirismus, in welchem die Unterscheidung des
Angenehmen und Unangenehmen stets befangen blei-
ben muſs.


Um weiter fortzuschreiten, muſs ich aus meiner all-
gemeinen praktischen Philosophie als bekannt voraussetzen,
daſs die ethischen Principien in ihrer ursprünglichen Ge-
stalt zur Classe der ästhetischen Urtheile gehören. Sie
ergeben demnach im Laufe des Lebens, und in der Tra-
dition der Zeiten, die ihnen entsprechenden Maximen
ganz auf ähnliche Weise, wie alle ästhetischen Maximen,
ja wie alle Maximen des Handelns überhaupt entsprin-
gen: nämlich durch Verschmelzung gleichartiger Vorstel-
lungen; denen jedoch anfangs viel Ungleichartiges bey-
[415] gemischt bleibt, das nachmals durch logisches Denken
ausgeschieden wird.


Hier wolle man einen Augenblick still stehn, um
sich eine sehr nothwendige Unterscheidung zu merken.
Wenn ich sage, daſs die praktischen Maximen, und un-
ter ihnen die sittlichen, durch Verschmelzung gleicharti-
ger Vorstellungen, also auf dem Wege einer Verknüpfung
dessen, was sich im zufälligen Laufe der innern Erfahrung
darbietet, sich zuerst ergeben: so ist dieses eine psycho-
logische Angabe von dem Laufe der Ereignisse. Davon
gänzlich verschieden ist die Bestimmung der Methode,
nach welcher in der praktischen Philosophie, bey Be-
gründung derselben, solle verfahren werden. Leider ha-
ben manche Schriftsteller über die letztere Wissenschaft
ihre Aufgabe verkannt; sie haben in leichten historischen
Umrissen geschildert und erzählt, wie etwan das Sittliche
in der menschlichen Brust zu erwachen pflege; sie
haben gemeint dadurch ihre Leser am leichtesten von der
Realität der sittlichen Grundgedanken zu überreden. Das
bringt den Empirismus in die Sittenlehre, der nirgends
so sehr als hier an der verkehrten Stelle ist. Von Rechts-
wegen eiferte Kant dagegen, als gegen eine, zwar gut-
gemeinte, aber gefährliche Untergrabung aller sittlichen
Ueberzeugung. Vielmehr, in dem Vortrage der prakti-
schen Philosophie, so wie in dem der ganzen Aesthetik,
muſs man die Principien ursprünglich erzeugen;
dieses aber geschieht durch Construction der Grund-
verhältnisse
, welche, sobald sie richtig dargestellt sind,
ihre Beurtheilung sogleich zur unfehlbaren Folge haben. —
Die Kantische Berufung auf den kategorischen Imperativ,
als auf ein Factum der Vernunft; war im Grunde eben
so schwankend, als die von ihm verworfene Lehrweise.
Jedes Factum, das man als aus früherer Zeit her durch
das Bewuſstseyn
bekannt, oder überhaupt als schon
geschehen und vor Augen liegend annimmt, kann in Zwei-
fel gezogen werden, ja es muſs bezweifelt werden, wegen
der Schwankung aller innern Wahrnehmung, und we-
[416] gen der äuſsersten Leichtigkeit, in ein solches Factum
durch Erschleichung etwas hineinzuschieben. Und wie
Viele sind denn wohl, die noch jetzt an den Kanti-
schen
kategorischen Imperativ, als an ein unentstelltes,
und durch Kants Formel richtig ausgesprochenes Factum,
in vollem Ernste glauben mögen? Wie geht es zu, daſs
ein so allgemeines, in jeder Menschenbrust sich wieder-
hohlendes, Factum, nicht längst, durch edle Männer,
welche zugleich vortreffliche Denker waren, genau und
ganz zu Tage gefördert war? — Diese Fragen verschwin-
den, sobald man erwägt, daſs keineswegs von einem schon
geschehenen, sondern von einem bevorstehenden
Factum die Rede ist, indem man zur praktischen Philo-
sophie den Grund legt. Hier muſs der Zuhörer, als
ob er vom Sittlichen noch nichts wüſste, in den
Fall gesetzt werden, daſs er es eben jetzt mit
völliger Evidenz in sich hervorbringe
. Und dies
geschieht, indem man ihm gehörig darstellt, was, wäh-
rend der Betrachtung, ihm ein unmittelbares Urtheil ab-
zugewinnen nicht verfehlen kann.


Allein jetzo, im gegenwärtigen psychologischen
Zusammenhange, sprechen wir allerdings vom Sittlichen
als von einem schon Vorhandenen und längst Vorgefun-
denen. Die Beurtheilung, welche im Vortrage der prak-
tischen Philosophie ganz von vorn an hervorgebracht
wird, ist gerade so, bey tausend Vorfällen des täglichen
Lebens; — sie ist vor Jahrtausenden von Millionen Men-
schen vollzogen worden; nur ist sie nicht in abstracte
Ausdrücke gebracht, sondern sie ist kleben geblieben an
den Neben-Umständen der einzelnen Fälle. Darum ist
sie in dem Strome der Zeit und der Meinung bald un-
tergetaucht, bald wieder hervorgekommen; sie hat müs-
sen vielfältig, und bey den dringendsten Angelegenheiten
wiederhohlt werden, ehe sie ein passendes Wort, ehe sie
Auctorität gewinnen konnte.


Daſs aber die sittlichen Maximen Auctorität bekom-
men müssen: dies macht sich als das lebhafteste Be-
dürfniſs
[417] dürfniſs denen fühlbar, welche das Schauspiel des Ge-
dränges unter den verschiedenartigen, vorerwähnten Maxi-
men, unbefangen betrachten.


§. 151.

Maximen der Leidenschaften, der Gefühle vom An-
genehmen und Unangenehmen, der ästhetischen, und un-
ter ihnen, der sittlichen Urtheile, — dies sind nur erst
die Classen der Maximen. Aber jede Classe faſst wie-
derum eine Fülle von Maximen in sich, die nach den
Umständen ihrer Entstehung mehr oder minder allgemein,
und nach der Mannigfaltigkeit der Leidenschaften, der
Gefühle, der ästhetischen und sittlichen Urtheile, unter
einander verschieden, endlich nach der ganzen Individua-
lität in dem Gemüthe eines Jeden, unter sich verwebt
sind. Wenn nun bey den Vorfällen des Lebens eine
Menge heterogener Maximen, sammt den augenblickli-
chen Begehrungen und Gefühlen, im Bewuſstseyn zusam-
menstoſsen: was muſs sich daraus ergeben?


Daſs hier die praktische Ueberlegung, daſs die prak-
tische Vernunft sich zeigen müsse, wird eben so klar
seyn, als aus dem Ganzen unserer Untersuchung offen-
bar hervorgeht, die praktische Vernunft könne nicht ein
besonderes, hinzukommendes, von jenen zusammensto-
ſsenden Vorstellungsmassen verschiedenes, in sie hinein-
greifendes, und sie nach sich bildendes Vermögen seyn.
Sondern, wenn es etwas gleichsam von oben her hinein-
greifendes giebt, so hat dieses seinen Sitz in gewissen
appercipirenden Vorstellungsmassen, dergleichen wir schon
beym innern Sinne und bey der künstlerisch bildenden
Phantasie kennen lernen; und wenn die appercipirenden
Vorstellungsmassen hier einen höheren Charakter anneh-
men, um dessentwillen man ihnen den ehrenvollen Na-
men der Vernunft zugesteht, so verdanken sie dieses
hinwiederum der Natur praktischer Maximen, besonders
solcher, die schon durch logische Thätigkeit im Urthei-
len geläutert, bestimmt und verdeutlicht sind.


Die praktische Vernunft zeigt sich im Erwägen, im
II. D d
[418] Wählen, und Beschlieſsen. Das Erwägen ist eine ab-
sichtliche Hingebung an verschiedene Begehrungen und
Maximen, um sie in ihrer ganzen Stärke zum Bewuſst-
seyn kommen zu lassen. Wer erwägt hier? Die apper-
cipirenden Vorstellungsmassen; und zwar nach dem zu-
sammengesetzten Verhältnisse ihrer zuvor gewonnenen
Ausbildung, und des Einflusses, den ihnen die andern,
gleichsam gewogenen oder erwogenen, Vorstellungsmas-
sen gestatten. — Das Wählen geschieht, indem ver-
nommen wird, welches der Gleichgewichtspunct sey, zu
welchem die sämmtlichen erwogenen Vorstellungsmassen
sich hinneigen. Wer vernimmt hier? Wiederum die
appercipirenden Vorstellungsmassen, indem sie verschmel-
zen mit den übrigen, schon zum Gleichgewichte kommen-
den Vorstellungen, und zwar so verschmelzen, wie die
letztern es möglich und nöthig machen. — Das Be-
schlieſsen
geschieht, indem die sämmtlichen Vorstel-
lungsmassen, so wie sie verschmelzen, unverzüglich an-
fangen eine Totalkraft des Strebens zu bilden, und als
solche zu wirken. Wer beschlieſst hier? Das Ganze des
gleichzeitigen Bewuſstseyns. Der Beschluſs würde nicht
vest stehn, wenn nicht die durchgängige Verschmelzung
so zu Stande käme, wie sie aus den sämmtlichen Vor-
stellungsmassen sich ergeben muſs.


Begreiflicher Weise kann man die drey eben er-
wähnten Operationen nicht streng absondern. Das Wäh-
len ist nur der Uebergang vom Erwägen zum Beschlie-
ſsen. Im Erwägen ist die Wirksamkeit der appercipiren-
den Vorstellungsmassen am gröſsten, indem sie verhin-
dern, daſs von den übrigen nicht einige vorschnell ver-
schmelzen; oder nach populärem Ausdruck, indem die
Vernunft verhütet, daſs man sich nicht übereile. Dabey
würden andre Vorstellungsmassen auſser der Verschmel-
zung bleiben; sie würden den Entschluſs wandelbar ma-
chen. Im Wählen sinkt nun die Thätigkeit der apper-
cipirenden Vorstellungsmassen; sie selbst lassen sich die-
jenige Art der Verschmelzung gefallen, welche aus allem
[419] zusammenwirkenden resultirt. Warum lassen sie sich
das gefallen? Weil sie nicht anders können. Sie sind
selbst im psychologischen Mechanismus mit befangen,
und müssen auch leiden, indem die andern Vorstellun-
gen von ihnen leiden. Die geschehene Wahl ist der
Beschluſs, der sich in der neuen Richtung ankündigt,
welche nun alle Vorstellungen vermöge der neu gebilde-
ten Totalkraft erhalten.


Sind alle diese Beschreibungen noch roh: so liegt
es wenigstens zum Theil an der äuſserst verwickelten
Natur des Gegenstandes, und an seiner weiten Entfernung
von den obigen Grundsätzen des synthetischen Theils. —
Indessen können wir doch jetzt auf zwey Puncte einiges
Licht werfen; erstlich auf den Unterschied des Wollens
vom Begehren, Verlangen, Wünschen; dann auf das
Eigenthümliche des sittlichen Wollens.


Wunsch ist wohl der gelindeste Ausdruck für das-
jenige Streben, was wir oben mit der allgemeinen Be-
nennung des Begehrens belegten. Wenn man aber be-
denkt, daſs es auch heftige Wünsche giebt: so sieht
man leicht, daſs beym Verlangen, und vollends beym
Wollen, noch etwas anderes, als ein höherer Grad, muſs
hinzugekommen seyn. Was man verlangt, das glaubt
man, aus irgend einem Grunde, erreichen zu können;
was man will, dessen Erreichung setzt man be-
stimmt voraus
. Nun ist klar, warum die praktische
Vernunft als ein Mittelding, oder vielmehr als ein Zu-
sammengesetztes aus theoretischem und praktischem Ver-
mögen erscheint. Bestimmte sich die Wahl bloſs nach
dem stärkeren Begehren, und durch dessen Uebergewicht
über andere Strebungen: so würde sie von keinem hö-
heren Erkenntniſsvermögen hergeleitet werden. Allein
nichts kann beschlossen werden, ohne daſs wir es als in
unserer Macht stehend angesehen haben. Die Frage,
wie weit unser Können reiche, geht schon in die Erwä-
gung mit ein, und entfernt daraus alles, wovon nicht we-
nigstens das Versnchen in unserer Gewalt zu seyn
D d 2
[420] scheint. Daher wird es als die Grundlage des vernünfti-
gen Wollens betrachtet, daſs man seine Kräfte kenne,
und ihnen nicht mehr noch weniger zutraue als sie ver-
mögen. Zuviel übernehmen ist gemeine menschliche Thor-
heit, groſse Unbekanntschaft mit der wirklich vorhande-
nen eigenen Stärke ist thierische Dummheit.


Allein man schreibt der praktischen Vernunft, als
ihr höchstes Eigenthum, noch die sittliche Gesetzge-
bung und Regierung
zu. In diesem Sinne ent-
steht die Vernunft erst aus schon vollbrachtem
Erwägen, Wählen, und Beschlieſsen
. Denn die
sittlichen Maximen müssen vor allen andern Maximen in
den höchsten Rang erhoben seyn, ehe sie als strenge
Gesetze können verehrt werden; und besitzen sie einmal
diesen Rang, dann fallen sie nicht mehr in die Wahl,
sondern sie treten hinüber in die appercipirenden Vor-
stellungsmassen, ja ihre appercipirende Stellung wird blei-
bend; sie verwandeln sich in die beständigen Beobachter
alles dessen, was sich sonst noch im Bewuſstseyn regt.
Dadurch werden sie Charakterzüge der Per-
sönlichkeit, indem sie nun eine veste Verschmel-
zung mit dem Selbstbewuſstseyn erlangen, und
dem innern Sinne zu seiner beständigen realen
Grundlage dienen
.


Die Frage, wie die sittlichen Maximen eine solche
Auszeichnung erlangen können, ist gewiſs die wich-
tigste der ganzen Psychologie.


Aus dem Interesse für diese Frage wird man, ohne
zu irren, sichs erklären, wenn hie und da mein Bestre
ben, die Unzulässigkeit der transscendentalen Freyheits-
lehre ins Licht zu setzen, sich mit einiger Lebhaftigkeit
äuſsert. So wie Kant von der Metaphysik sagte, der
Zweck aller ihrer Zurüstungen sey die Erkenntniſs von
Gott, der Freyheit, und Unsterblichkeit, (zwar schwer-
lich mit Recht; denn die wissenschaftliche Metaphysik
kann nur durch ein rein theoretisches Interesse zu Stande
gebracht werden; und ihre ersten Anfänge zeigen schon,
[421] daſs die Freyheitslehre falsch und unnütz, die Unsterb-
lichkeit gewiſs, die Erkenntniſs Gottes auf eine Verthei-
digung richtiger, aber allgemein bekannter teleologischer
Ansichten beschränkt sey,) so könnte man mit besserem
Grunde von der Psychologie sagen, ihr praktischer Werth
beruhe hauptsächlich in ihren Aufschlüssen über die
Möglichkeit sittlicher Bildung für den Menschen, und in
den Anweisungen, die sie darüber dem Erzieher und dem
Volksbildner zu geben habe. Aber die Lehre von der
(transscendentalen) Freyheit macht alle Untersuchung
über diesen hochwichtigen Gegenstand zu Nichts; indem
sie die Sittlichkeit wie ein Wunder aus einer andern
Welt hervorbrechen läſst, ohne daſs man die geringste
Hoffnung hätte, diese Erscheinung von einem zweckmä-
ſsigen Handeln abhängig zu machen. Daher ist das prak-
tische Interesse im geringsten nicht für, sondern gänz-
lich gegen die Freyheit des Willens, wofern sie näm-
lich so wie Kant es verlangte, genommen wird. Denn
was Andre, und nicht mit Unrecht, Freyheit der mensch-
lichen Handlungen genannt haben, nämlich den Ursprung
unsres Handelns aus unserm wirklichen Wollen, im Ge-
gensatz gegen jedes maschinenmäſsige Fortpflanzen em-
pfangener Eindrücke, das ist vollkommen der Wahrheit
gemäſs, wie man aus dem Ganzen dieser Abhandlung
erkennen wird.


Die Beantwortung jener Frage nun wird vor allen
Dingen erfordern, daſs man die zuvor unterschiedenen
Classen der Maximen in Hinsicht der Haltbarkeit ver-
gleiche, die sie dann heweisen, wann sie sämmtlich in
Eine Erwägung, in Eine Wahl fallen, wo sie sich den
Vorrang streitig machen. Ohne allen Zweifel sind an
sich die Maximen der Leidenschaften die stärksten. Den-
noch unterliegen sie schon den Maximen der Gefühle
des Angenehmen und Unangenehmen, sobald sie zum
Schauspiel dienen für einen unbefangenen, leidenschaft-
losen Beobachter. Diesem erscheint die Wildheit der
leidenschaftlich handelnden Menschen als groſse Thor-
[422] heit, als ein beynahe wahnsinniges Vorüberrennen vor
den lieblichsten, einladendsten Genieſsungen, welche die
Natur mit gütigen und mit vollen Händen für den Men-
schen ausspende. So entsteht eine Glückseligkeitslehre,
welche überall umhergeht um zu warnen, man möge dem
Ausbruch der Leidenschaften vorbeugen, und sich nicht
in die heillosen Wirbel eines sich selbst verzehrenden
Strebens stürzen. Wer wollte diesen Warnungen nicht
Gehör geben? Nämlich so lange er noch nicht selbst
von der Leidenschaft ergriffen ist? — Denn wen die
Wuth schon fortreiſst, der ist taub gegen alle Glückse-
ligkeitslehre; er muſs erst still werden, um sie wieder
zu vernehmen.


So entsteht der erste Gegensatz zwischen der Moral
und dem gemeinen Leben. Allein die Glückseligkeitslehre
kann ihr eignes Fundament nicht klar nachweisen. Sie
behauptet zwar ihr Recht, so lange sie streitet wider Lei-
denschaften und zügellose Begierden; aber sie verliert
ihr Spiel, sobald sie selbstständig auftreten will. Sie
gleicht den Menschen, die auf einer niedern Stufe glän-
zen, auf einer höhern ihre Blöſsen zu Schau stellen.
Sie versucht umsonst, das Object ihrer Weisungen, die
Glückseligkeit, vor unsere Augen zu bringen; sie erin-
nert uns an unsere Gefühle von Freude und Schmerz,
und wir entdecken sogleich das Unstete, nur im Fluge
Genieſsbare der erstern, das Erträgliche und wenig Furcht-
bare des andern, sobald irgend ein ernster Zweck uns
wichtig genug scheint, um uns dem Leiden Preis zu ge-
ben. Daher muſs wiederum, sobald von einer Sittenlehre
einmal die Rede ist, die Glückseligkeit den Platz räu-
men; und jetzt kann auf dem nämlichen Platze nichts
anderes bleiben, als diejenigen Maximen, nach welchen
wir selbst in unsern eignen Augen entweder verächtlich
und schändlich, oder würdig und löblich erscheinen. Diese
Maximen behaupten sich durch den Vorzug aller reinen
und ächten ästhetischen Urtheile, daſs die Gegenstände,
worauf sie treffen, sich jederzeit deutlich hinstellen lassen,
[423] und immer die gleiche Entschiedenheit des Beyfalls und
Misfallens mit sich führen.


Wer in diesem Hafen einmal angelangt ist, der
wird, bey einiger Theilnahme für andre Menschen, nicht
säumen, auch sie hieher zu verweisen. Aber nun liegt
ihm daran, den heilsamen Lehren, die er verbreitet, auch
Gewicht zu geben. Nun sinnt er auf diejenigen Zusätze,
wodurch er am schnellsten und kräftigsten die irrenden
Gemüther fassen, lenken, treiben könne. Alle Formen
des Lobes und Tadels, der Verheiſsungen und Drohun-
gen, besonders aber die religiösen und bürgerlichen Vor-
stellungsarten, werden dem Gegenstande, den man erhe-
ben und heiligen will, so gut als möglich angepaſst. So
gewinnt das ursprüngliche sittliche Urtheil eine Verkör-
perung, die ihm die Menge leichter unterwirft, aber es
erscheint nun auch in einer Verunstaltung, worin selbst
die schärferen Denker es nicht mehr erkennen. —


§. 152.

Jede Maxime, in dem Augenblicke wo sie sich bil-
det, trägt die Bestimmung in sich, daſs sie zur Apper-
ception dienen soll für die sämmtlichen Regungen des
Begehrens, welche ihr zuwider entstehn könnten, und für
die Umstände, welche zu ihrer Anwendung geeignet sind.
Diese Apperceptien ist nämlich die erste Bedingung, un-
ter welcher die Maxime zur Wirksamkeit gelangen kann;
sonst würde der vorkommende Fall unbemerkt vorüber-
gehn, und der Mensch würde sich hintennach einer Ue-
bereilung zeihen. Ob nicht diese Bedingung selbst noch
psychologische Bedingungen habe? das fragt sich nie das
Kind, selten der Mann, und der Anhänger der transscen-
dentalen Freyheit leugnet es, weil er in diesem Puncte
die Wahrheit nicht wissen will *).


Appercipirt nun wirklich die Maxime den zu ihrem
Gebiete gehörigen Fall, (gleichviel ob zur rechten Zeit,
wo darnach verfahren werden soll, oder später mit Reue,
[424] daſs der Augenblick versäumt worden,) so gelangt dabey
das Ich zum Bewuſstseyn. Denn sie, die appercipirende
Vorstellungsmasse, worin die Maxime besteht, sieht als-
dann das Handeln, welches von innen, aus dem wis-
senden und denkenden Subjecte, nach auſsen, zu den
Objecten hin, geht oder gehen kann; sie sieht zugleich
den Erfolg, welcher in die Wahrnehmung fällt oder fal-
len konnte; sie sieht also das im Handeln von sich wis-
sende Ich; und ihre eigne Activität schmilzt mit ihm zu-
sammen, eben indem sie also sieht, und über das Ge-
sehene verfügt. Daſs hier statt des Handelns auch ein
Leiden, eine Hingebung kann gesetzt werden, ist bekannt
aus §. 136.


Da nun dieses sich so oft ereignet, als Maximen
zur Anwendung kommen: so ergiebt sich, nicht nur, daſs
die Eigenthümlichkeit des Selbstbewuſstseyns für einen
Jeden gar sehr von seinen Maximen, und von deren
Wirksamkeit abhängt, sondern auch, daſs die Intensität
des Selbstbewuſstseyns sehr gesteigert wird durch dieje-
nige höhere Ausbildung, welche allmählig die Maximen
erschafft, verknüpft, einschärft.


Zurückgeleitet durch diese Bemerkung auf die Un-
tersuchung über das Ich: wollen wir uns zugleich an je-
nes Gleichgewicht zwischen Wollen und Hingebung er-
innern, welches, wie oben (§. 136.) gezeigt, zur Reini-
gung des Ich von dem Zufälligen seiner Objectivität er-
fordert wird.


Wir können jetzt drey Stufen unterscheiden, auf
welchen dieses Gleichgewicht sich bilden und erhalten
muſs, wenn nicht eine gefährliche Abweichung von dem-
selben herbeygeführt werden soll.


Die erste Stufe zeigt uns die Untersuchung des
§. 150. Noch vor aller Bildung der Maximen entstehn
und wirken solche Vorstellungsreihen, wie dort beschrie-
ben worden; sie entstehn sporadisch, und wirken nach
Gelegenheit, ohne selbst eine veste Bestimmung von
Zwecken, von Objecten des Begehrens in sich zu tragen.
[425] Auf welchen Punct der ablaufenden Reihen nun gerade
zufällig eine Hemmung trifft, da werden die Reihen (die
man in Gedanken rückwärts verfolgen muſs,) in Span-
nung gesetzt, so lang sie nun gerade sind; und für so
lange Zeit, bis sie, falls das Hinderniſs nicht weicht,
selbst durch den Widerstand sind niedergebeugt worden.
Dies giebt den kindlichen, oder knabenhaften Zustand
eines mannigfaltigen Begehrens ohne vesten Plan, das
keine anhaltende, gleichförmige Wirkungen erzeugt, viel-
mehr unter einem stetigen Zwange bald zusammensinkt,
dagegen aber bald andre Gegenstände ergreift, oder, was
dasselbe sagt, sich in andern Vorstellungsreihen wieder
ereignet; so daſs, wann der Zwang nicht zu allge-
mein über die ganze Sphäre der kindlichen Reg-
samkeit verbreitet wird
, sich kein wesentlicher Ver-
lust an der Gesammt-Thätigkeit des jugendlichen Geistes
verspüren läſst.


Auf dieser ersten Stufe nun ist es ein Grundfehler
der Erziehung, wenn das Ich des Kindes nicht im Gleich-
gewichte des Wollens und der Hingebung gehalten wird.
Die Fehler des Uebermuths und des Unmuths entstehn
aus dem Uebergewichte nach der einen und nach der
andern Seite; beyde sind gleich schlimm; und zwar ge-
rade darum schlimm, weil sie dem Kinde die Vorstellung
von Sich und seinen Verhältnissen verderben. Daſs da-
bey die natürliche Weichheit und Biegsamkeit vermin-
dert, daſs die ursprüngliche Erzeugung des sittlichen Ur-
theils gestört wird, kann ich hier nicht ausführlich ent-
wickeln *).


Die zweyte Stufe ist die des planmäſsig handelnden
Mannes. Hier ist nöthig, Pläne von Maximen zu unter-
scheiden. Jene hängen ab von der Kenntniſs des Causal-
Verhältnisses unter den Sinnengegenständen. Sobald der
[426] Mensch das Ganze seiner Bestrebungen und Erwartungen
zusammenfaſst, und sie mit seiner Ueberschauung der
ihn umgebenden Objecte in bestimmte, bleibende Ver-
bindung setzt, hängt das flatterhafte Begehren, welches
bald diesen bald jenen Gegenstand traf, an, sich zu ver-
lieren; seine Begierden werden gleichförmiger; er empfin-
det den Druck der Auſsenwelt mehr anhaltend und zu-
sammenhängend an denselben Stellen; ungeachtet der Ab-
änderung in Einzelnheiten; er widersteht diesem Drucke
desto beharrlicher, je mehr Mittel und Anstalten er noch
in seiner Gewalt glaubt, um mit der Zeit zum Ziele zu
kommen.


Auch auf dieser Stufe nun erfordert die Gesundheit
des Geistes, daſs das Ich im Gleichgewichte gehalten
werde. Nicht bloſs die Mutter verzieht das Kind; auch
den Mann, sobald er mehr von Plänen als von Maximen
erfüllt ist, kann das Schicksal sowohl verziehen als nie-
derdrücken. Die Beyspiele sind bekannt genug; die Täu-
schungen, die Gefahren, das Unglück was daraus ent-
steht, ist es ebenfalls.


Darum soll der Mann die höhere Ausbildung erlan-
gen, welche die dritte Stufe bezeichnet; er soll durch
Maximen, und zwar durch richtige sittliche Maximen, ge-
leitet werden. Mögen die Auſsendinge ihn aufregen; nur
ihn in gerader Linie zu sich hinziehn dürfen sie nicht;
die Richtung muſs von den Grundsätzen abhängen. Daſs
nun nicht etwa die Grundsätze selbst eine Materie des
Begehrens als Triebfeder enthalten, oder mit andern
Worten, daſs sie nicht der Ausdruck eines durch sein
Object bestimmten Begehrens seyn, — den Menschen
nicht anlocken, sondern gleichsam von hinten her in Be-
wegung setzen sollen: dies hat uns Kant nachdrücklich
genug eingeschärft; ein nie genug zu schätzendes Ver-
dienst; und, wenn man diese groſse Wahrheit so hoch
aus mancherley Irrthum hervorragen sieht, beynahe ein
Wunder!


Auch auf dieser Stufe der Maximen muſs das Ich
[427] im Gleichgewichte erhalten werden; der Mensch muſs
unter ihrer Leitung sich in gleichem Maaſse duldend er-
blicken, als handelnd. Dies ist ein oft übersehenes, aber
höchst wesentliches Kriterium einer richtigen praktischen
Philosophie. Trifft es nicht zu, so kann sie viel einzel-
nes Vortreffliches enthalten, aber sie verdient dann ihren
Namen nicht; sie ist nicht praktisch. Denn sie ist als-
dann nicht fähig, den Menschen für das Leben in die
rechte Stimmung zu versetzen, ihm eine veste Haltung
zu geben. Eine bloſs anspornende, begeisternde Sitten-
lehre schleudert ihn gegen den Felsen der Nothwendig-
keit, die theils in seiner eignen, theils in der äuſsern
Natur, und in der Gesellschaft liegt; an diesem Felsen
läuft er Gefahr zerschmettert zu werden, ohne darum ei-
nen höhern Werth seines Daseyns erreicht zu haben.
Dies ist eben so gewiſs, als daſs im Gegentheil eine
schlaffe Sittenlehre, wie jene der Empiriker, deren Au-
genmerk Lust und Genieſsung ist, oder der Mystiker,
welche die Gemächlichkeit einer passiven Hingebung und
Contemplation anpreisen, den Menschen um das Bewuſst-
seyn seiner Thatkraft bringt, und ihn um seine ganze
Bestimmung betrügt.


Welcher von diesen beyden Abwegen für die Sit-
tenlehre heut zu Tage mehr zu fürchten sey, das ist
schwer zu sagen; denn unbekümmert um den heilsamen
Nullpunct des reinen Ich, sieht man sie auf jenen bey-
den Abwegen zugleich umherirren.


Fichte’s Ichlehre war bloſs anspornend; die damit
verbundene Sittenlehre entwickelte das Kantische Frey-
heits-Princip. Es ist merkwürdig, daſs Kant selbst, von
dem überspannten, rüstig sittlichen Affect, der aus die-
sem Princip natürlich entsteht, so wenig spüren läſst.
Der Grund davon kann nicht in dem strengen Pflicht-
begriff allein enthalten seyn; diesen hatte Fichte mit
ihm gemein. Die wahre Ursache davon scheint mir in
einem persönlichen Vorurtheil Kants zu liegen, welches
mit seinen Lehrsätzen nur lose zusammenhängt; und ge-
[428] gen das vorige Uebel nur dadurch Schutz leistet, daſs es
ein neues Uebel herbeybringt. Wir wissen aus Kants
Religionslehre, daſs er den Fortschritt der Menschheit
zum Bessern leugnete. „Diese Meinung,“ sagt er, „hat
„man sicherlich nicht aus der Erfahrung geschöpft, wenn
„vom Moralisch - Guten oder Bösen (nicht von der
„Civilisirung) die Rede ist: denn da spricht die Geschichte
„aller Zeiten gar zu mächtig gegen sie, sondern es ist
„vermuthlich bloſs eine gutmüthige Voraussetzung der
„Moralisten von Seneka bis zu Rousseau, um zum un-
„verdrossenen Anbau des vielleicht in uns liegenden Kei
„mes zum Guten anzutreiben, wenn man nur auf eine
„natürliche Grundlage dazu im Menschen rechnen könne.“


Von Keimen, von natürlichen Grundlagen, kann ich
nicht das Geringste einräumen, vielweniger mit jenen Gut-
müthigen voraussetzen; sie sind der Tod der Metaphysik
und der Psychologie. Ueber die Geschichte, und deren
Auslegung, würde ich ebenfalls wider Kant nicht streiten,
wenn nicht sein Gegensatz zwischen dem Moralisch-Gu-
ten und der Civilisirung, durch Uebertreibung dazu ver-
anlaſste. Zuerst aber bemerke ich, daſs die transscen-
dentale Freyheit, weil sie eine so schlechte Geschichte
statt der vortrefflichen, die man von ihr erwarten konnte,
bisher zugelassen hat, allerdings nicht die geringste Hoff-
nung darbietet, ihre Erscheinung in der Sinnenwelt werde
jemals genügender ausfallen. Während nun dieser Punct
der Kantischen Lehre in der That ganz geeignet ist, jene
niederschlagende Ableugnung alles wesentlichen Fort-
schreitens zu unterstützen: sehe ich doch einen andern
Theil der nämlichen Lehre, der zu weit günstigern An-
sichten nicht bloſs einladet, sondern berechtigt und so-
gar nöthigt. Kants Handeln nach der Idee einer allge-
meinen Gesetzgebung für alle Vernunftwesen, und zwar
nicht bloſs gemäſs dieser Idee, sondern auf ihren An-
trieb ganz allein
, — stellt die Sittlichkeit so ganz auf
die Spitze einer vollendeten, das ganze menschliche Be-
wuſstseyn durchdringenden Reflexion, daſs die niedern
[429] Zustände des noch nicht reflectirenden Menschen, der an
keine allgemeine Gesetzgebung denkt, sondern für sich,
und für Wenige, die er liebt, oder als die Seinigen be-
trachtet, lebt und sorgt, gar nicht die Sphäre erreichen
können, worin nach dieser Ansicht die Sittlichkeit allein
zu suchen wäre. Darum paſst es für Niemanden weni-
ger als für Kant, so spröde zu thun gegen die Civilisi-
rung. Denn mit ihr Hand in Hand geht die Reflexion;
und dem gemäſs müſste man sagen, die Freyheit sey
dort, wo noch der Gedanke einer allgemeinen Gesetzge-
bung nicht aufkommen kann neben dem Cultus eigen-
thümlicher National-Gottheiten, und neben einem eng-
herzigen, spartanischen oder römischen Patriotismus, der
kein politisches Leben auſser seinem engen Kreise dul-
den will, — überall nicht zur Erscheinung durchgebro-
chen; sondern sie lasse ihr Licht nur in dem Maaſse
heller leuchten, wie die Menschen sich zur Ueberlegung
dessen erheben, was mit dem Willen Aller bestehen könne.
Man sieht nun leicht ein, (oder man kann es aus der
praktischen Philosophie leicht erkennen) daſs hieran aller-
dings etwas Wahres ist. Die Sittlichkeit ist zwar nicht
ganz ein Werk der Reflexion, sondern ein Theil von
ihr liegt in natürlichen Gefühlen des Wohlwollens, die
sich unmittelbar Niemand geben kann; ein andrer
Theil ist ursprüngliche Kraft, die man im Menschen,
so wie er aus Leib und Seele schon geschaffen dasteht,
nur vorfinden und an dargebotenen Gegenständen über
kann; wieder ein andrer Theil ist richtiges ästhetisches
Urtheil, welches gar nicht vom Abstracten, sondern von
einzelnen wirklichen Fällen anzuheben, und auf niedrigen
Culturstufen sich zuweilen unerwartet, wie ein Blitz, je-
doch auch eben so vorübergehend, zu zeigen pflegt; —
aber diese einzelnen Factoren der Tugend *) sind noch
nicht die Tugend selbst; sie bedürfen noch, gesammelt,
geläutert, gesichert, durch Maximen, durch Grundsätze,
[430] durch Uebung, durch Anstrengung vestgestellt zu wer-
den; daher ist die Cultur nicht gleichgültig für das Mora-
lische, vielmehr ist sehr gewiſs, daſs man wenigstens die
Reife der Tugend nur bey dem Menschen suchen kann,
dessen Blick sich ins Allgemeine ausbreitet, und nicht
mehr von den ersten, niedrigsten Bedürfnissen eines küm-
merlichen individuellen Daseyns verdüstert wird. Ueber-
dies, wo kein feines Gefühl, da ist auch keine Tugend;
da steht es schlecht auch um jene ersten Factoren der-
selben, die zwar der Reflexion nicht das Daseyn, aber
doch Schutz verdanken gegen eine Rohheit und Wild-
heit, der sie sonst zu unterliegen pflegen. Und nun ver-
gleiche man die Beschreibungen, die wir von rohen Völ-
kern haben! Nun überlege man, wie die Erde damals
aussehn konnte, als bloſs einige wenige Puncte in Italien
und Griechenland eine Cultur besaſsen, die noch durch
Sklaven, und durch Geringschätzung des weiblichen Ge-
schlechts verdunkelt wurde! Gerade die Geschichte, die
von unserer Zeit ein beschämendes, aber von den frü-
hern
Zeiten eine Unzahl wahrhaft empörender Zeugnisse
ablegt, beweis’t den Fortschritt des Menschengeschlechts
demjenigen, der von der Sittlichkeit nicht bloſs einen
klaren Begriff hat, (sondern ausführlich-deutlich, wie
es nöthig ist, die Bestandtheile derselben und das Ganze
vor Augen sieht. — Auch ist die Ueberzeugung wenig-
stens von der Möglichkeit des Fortschreitens nicht
bloſs eine gutmüthige Voraussetzung, die man haben
und entbehren kann nach Belieben: sondern wenn von
praktischen Postulaten die Rede ist, an die man glauben
muſs, um sittlich handeln zu können, so ist für das Le-
ben gerade dieses Fortschreiten, und zwar in der Sitt-
lichkeit nach ihrem allerstrengsten Begriffe
,
der wahre und eigentliche Glaubenspunct, welcher allein
fähig ist, den Muth des Lebens und Wirkens zu halten
und zu ernähren *).


[431]

Daſs Kant dieses so wenig fühlte, daſs ein Mann
von so gesundem Verstande, so richtigem Tacte auch
auſserhalb des speculativen Gebietes, und von so weit-
greifender, anhaltender Wirksamkeit, in diesem Puncte
durch ein schwarzgefärbtes Glas sah; daſs er dadurch
sich zu der wahrhaft unseligen Behauptung eines radi-
calen Bösen
verleiten lieſs: dies verdient aufrichtiges,
tiefes Bedauern. Das Böse ist kein so groſses Geheim-
niſs, als es Denen scheint, die vom Guten keine deutli-
chen Begriffe haben. Nur wer es für einfach hält, wer
es in seine heterogenen Bestandtheile nicht zerlegt hat,
den befremdet das Daseyn desselben; wer aber vollends
in Affect geräth, indem er davon spricht, der taugt we-
der hier noch irgendwo zum gründlichen Untersuchen.
Als Seelenarzt gleicht er jenen chinesischen Aerzten, die
zwar nicht durch ihre Beschwörungsformeln. aber mit
Hülfe des Feuers, und tief ins Fleisch hineingestochener
Nadeln, zuweilen wirklich einen Kranken heilen, weil es
allerdings hie und da Krankheiten giebt, die mit so viel
Gewalt angegriffen werden müssen, und denen eine gelin-
dere, besonnenere Curart nicht so leicht an die Wurzel
kommen möchte. In den Gesprächen über das Böse ist
gelehrt worden, nicht bloſs, daſs Gutes und Böses nicht
Begriffe der Erkenntniſs, sondern der Beurtheilung durch
den gegenüberstehenden Zuschauer sind, — nicht bloſs,
daſs es aus mehrern, höchst verschiedenen Elementen
besteht, die eben so verschiedenen Reflexionspuncten an-
gehören, (welches schon aus der praktischen Philosophie
hätte bekannt seyn sollen): sondern auch, daſs es sich
mit dem Guten und Bösen verhält wie mit den Metallen,
den edeln sammt den unedeln; sie finden sich eben
*)
[432]so wenig in den Urgebirgen als in der Damm-
erde
*). Das heiſst: das Gute und Böse liegt weder in
den Dingen an sich, die wir Noumena zu nennen pfle-
gen, noch in den Phänomenen, deren Zusammenhang
mit jenen entweder gar nicht untersucht, oder verkannt
zu werden pflegt. Gutes und Böses liegt in der Mit-
telwelt
zwischen beyden.


Dies sollte nun zwar für den Leser längst keiner
Erläuterung mehr bedürfen. Allein der Sicherheit wegen
will ich etwas hinzusetzen, besonders weil dadurch Ge-
legenheit zu nützlichen Rückblicken auf das Vorgetra-
gene gegeben wird.


Zuvörderst: das Böse, vom psychologischen Stand-
puncte betrachtet, bildet keine Classe von Gegenständen
für sich allein; sondern es ist in Hinsicht seines Entste-
hens
[433] hens, Daseyns, und Wirkens, (nur nicht in Hinsicht
seiner Würdigung!) gleichartig mit Irrthum, Verwöhnung,
und falschem Geschmack; welches alles wiederum theils
in der Rohheit, die der Bildung vorangeht, theils in der
Verwilderung, die ihr nachfolgt, seinen Sitz hat.


Was nun den Irrthum anlangt: so kennt man sei-
nen Ursprung aus dem psychologischen Mechanismus.
Nicht bloſs vom Verwechseln des Mittelbegriffs im Syl-
logismus ist hier die Rede, — welches geschieht, wenn
zwey Begriffe sich wegen ihrer Aehnlichkeit reproduciren,
aber nicht hoch genug ins Bewuſstseyn gegen die Hem-
mung hervortreten, um die Strecke des qualitativen Con-
tinuums, die ihren Unterschied ausmacht, zwischen sich
schieben zu können, — sondern vorzüglich von jenem
metaphysischen Irrthum, vermöge dessen wir Complexio-
nen von Merkmalen für Dinge, und als solche für Ein-
heiten halten, bloſs darum, weil der Act des Vorstellens
wegen der Complication nur Einer ist; von diesem Grund-
irrthum also, der auch unsre Vorstellung von uns selbst
beherrscht, und uns Leib und Geist, Veränderliches und
Stetiges in uns, mit eben dem Rechte als Eins vorspie-
gelt, womit das Kugelgewölbe, woran die Sterne vest-
sitzen, als Eins unter dem Namen der Welt aufgefaſst
wird; endlich von dem Irrthum ist die Rede, vermöge
dessen wir ursprünglich vorstellende Wesen zu seyn
glauben, obgleich, wenn wir genau reden wollten, das
Wort Vorstellung erst bey den Anschauungen eintre-
ten sollte, die etwas vor uns hinstellen, (§. 147.) was
die bloſse Empfindung eben so wenig vermag, als die
bloſse Seele, die für sich weder anschaut noch auch nur
empfindet.


Man weiſs nun von dem Allen den Ursprung; man
weiſs auch, daſs diese Art von Täuschungen zwar auf-
gedeckt, aber nicht hinweggeschafft werden können. Ver-
möge der Einheit der Seele, deren Folgen durch die
Hemmung unter den Vorstellungen beschränkt werden,
entsteht ein Herausgehn aus dem bloſsen Empfinden,
II. E e
[434] (welches, für sich allein, weder Wahrheit noch Irrthum,
und überhaupt gar keine Erkenntniſs enthält); die Em-
pfindung nimmt Form an; diese Form giebt uns Wahr-
heit gemischt mit dem Irrthum; ihre weitern Verwandlun-
gen scheiden allmählig von der Wahrheit den Irrthum,
so daſs wir mit absichtlicher Anstrengung, die zum Theil
in Gewöhnung übergeht, wohl im Stande sind, beydes
aus einander zu halten. Läſst aber die Anstrengung gar
zu sehr nach, so mischt sich der Irrthum mit der Wahr-
heit, und wird um desto buntscheckiger, je weniger sie
zu ihm paſst; wie man es an den phantastischen Syste-
men sieht, die auf das kritische gefolgt sind.


Wie nun der Irrthum seine Naturgeschichte hat, so
hat auch der falsche Geschmack die seinige. Wie aus
Sand, Kies und Erz die Edelsteine, so scheiden sich aus
den wandelbaren Gemüthszuständen die unveränderlichen,
von keiner Individualität, sondern nur von der Qualität
des Vorgestellten abhängigen ästhetischen Urtheile all-
mählig heraus; und werden für die Gefühle dasselbe, was
für das theoretische Denken die Producte des sogenannten
Verstandes sind, den wir oben für das Vermögen erklär-
ten, uns im Denken nach der Qualität des Gedachten zu
richten. Aber die Ausscheidung geschieht nicht rein und
bleibt nicht rein. Das Schöne und das Beliebte, das Gute
und das Angenehme werden immer von neuem verwechselt.
Die Werke des Geschmacks, wie man sie nennt, sind
vielmehr Werke der Phantasie, das heiſst, sie entstehen,
wie die Träume, aus Reproductionen unzähliger früher
gebildeter Reihen, welche gerade deswegen, weil ihr treues
Ablaufen groſsentheils gehemmt ist, nun Verbindungen
unter einander eingehn können, die sie bey vollständiger
Evolution würden ausgestoſsen haben. Das groſse Wun-
der, was man darin findet, ist ein Geschöpf der psycho-
logischen Unwissenheit. Nothwendig müssen durch die
neue Verwebung neue psychologische Kräfte, und neue
Gemüthszustände entstehn. Wenn nun das Individuum,
worin sich dieselben bildeten, weder durch äuſsere Um-
[435] stände, noch durch physiologische Hindernisse, (wie bey
trägen Köpfen) noch durch seine eignen Zweckbegriffe
(wie bey denen, die frühzeitig sich in der Gesellschaft
einen Platz suchen,) abgehalten wird: so giebt es sich
der Wirkung jener Kräfte und Gemüthszustände hin;
appercipirt seine Träume, und formt sie gemäſs der Re-
flexionsstufe, auf der es überhaupt steht. Daher tragen
die Kunstwerke, von den rohesten bis zu den vollkom-
mensten, den Stempel ihrer Zeit, und der Stimmung des
Urhebers. Unzählige dieser Werke werden vergessen;
um ihnen Dauer, und dem Urheber Aufmunterung zu
geben, muſs ein Kreis von Zuschauern und Hörern hinzu-
kommen. Und jetzt erst fragt es sich, ob die Kunst auch
schöne Kunst war? Oder ob aus irgend welchen an-
dern Gründen die Empfänglichkeit der Zuhörer die Kunst
mit der Gunst beehrte? — Um uns den Genuſs der
Kunstwerke nicht zu rauben, sind wir oftmals viel gefäl-
liger, als wir selbst merken. Wir bequemen uns nach
Griechischer, nach nordischer Mythologie; versetzen uns
nach Italien und nach Spanien, um dieses Genusses
willen. Manchmal freylich sind wir desto eigensinniger.
Darin herrscht viel Willkühr. Man kann sich noch heute
in die Stimmung versetzen, die Rousseaus Heloise, und
Wielands Agathon erfordern; doch Manchen wird das
schwer. Was mich betrifft, so wird mir noch schwerer,
was Andern leichter dünkt; ich verhehle z. B. nicht meine
Verwunderung, daſs noch heute die niedrigen Pantoffeln
des Ariost nicht für zu schlüpfrig, die hoch rhetorisch-
dialektischen Stelzen des Calderon nicht für zu hals-
brechend geachtet werden, um einen vesten Stand auf
dem Parnaſs zu behaupten! *) — Lieber lese ich, in
E e 2
[436] Hoffnung, man werde mir meinen Geschmack lassen,
im Stillen den Walter Scott oder wie jener Unbe-
kannte heiſsen mag, dessen tragische Muse des Kothurns
nicht bedarf, weil sie im einfachen Hauskleide des Ro-
mans noch groſs genug ist; — ich lese ihn, ohne auf
die übliche Mäkeley an den Ungleichheiten seines uner-
meſslichen Reichthums zu hören, die Niemanden wundern
darf, denn er ist den Alterthümlern zu neu, den Lüst-
lingen zu kalt, und den Romantikern viel zu klug. —
Doch da ich des Ariost erwähnte, kann ich an dem,
für die Psychologie so höchst merkwürdigen Wendepuncte
seines groſsen Gedichts nicht ganz rücksichtlos vorüber-
gehn! Bekanntlich hat sich Ariost einen Helden ge-
wählt, der rasend ist; völlig rasend toll; so daſs von
dem erschütternden Shakespearschen Wahnwitz nicht die
Rede seyn kann, vielmehr die todte Stute, die er mit
sich schleppt, die Wahrheit der Vergleichung mit Ne-
bukadnezarn erhärten muſs, von dem der Dichter singt:


Er muſste toll, auf sieben Jahre, werden,

Und fressen, wie ein Ochs, das Gras der Erden.

Obgleich nun an einem solchen Rasenden nichts
mehr zu finden ist, das einen Werth haben, oder Theil-
nahme ansprechen könnte: so findet der Dichter dennoch
für gut, seine Heilung zu veranstalten, und zwar durch
keinen geringern Arzt, als den Apostel Johannes. Man
sollte meinen, ein so gleichgültiges Wunder könnte wohl
ohne lange Vorrede kurz abgethan werden; und überdies,
die Wunderkraft eines so erhabenen Heiligen genüge
sich selbst, um ein zerrüttetes Gehirn wieder zu ordnen.
Nein! eine Reise in den Mond ist dazu nöthig! Jetzt
aber erwartet man von dem unerschöpflichen Geiste des
Dichters viel Neues über den Mond zu hören. Nein!
Er schmückt den Mond wie eine Trödelbude mit den
*)
[437] verlornen Sachen der Erde. Oder, daſs ich ein besser
passendes Gleichniſs gebrauche, — wie eine Apotheke.
Denn dort findet sich das Gesuchte in einer Flasche, in
der Form eines feinen Liquors; auch ist die rechte
Flasche, wiewohl in der Mitte anderer, leicht zu unter-
scheiden; nicht allein durch ihre besondere Gröſse, son-
dern auch durch die Aufschrift:


Rolands Verstand, war drauſsen angeschrieben.“

Die poëtische Ehre dieses jämmerlich eingesperrten
Verstandes, — der gar keine Erfindungskraft, ja nicht
einmal so viel Spannkraft zu besitzen scheint, wie ein
brausendes Bier, das den Stöpsel abwirft, und davon
fliegt, — möchte bald eben so schwer zu retten seyn,
als die Ehre der unsaubern Jungfrau Fiametta, mit
welcher auch nur die flüchtigste Bekanntschaft gemacht
zu haben sich wohl Jedermann zur Schande rechnen
würde, wäre es nicht Ariost, dessen berühmter Name
dahin verleitete. — Doch Rolands Verstand ist nun
gefunden; zu welchem Zwecke? Soll wirklich aus Ver-
stand und Gehirn wieder ein Kopf werden? Daſs aus
dem Spiritus und dem Phlegma der zerlegte Wein sich
nimmermehr wieder zusammensetzen läſst, muſste doch ohne
Zweifel schon zu Ariosts Zeiten, auch ohne neuere
Chemie vollkommen bekannt seyn. Warum vertheilt der
Dichter nicht lieber den köstlichen Liquor unter seine
übrigen Helden und Heldinnen, da sie doch sämmtlich
nicht überflüssig damit scheinen versehen zu seyn? —
Der Ausweg aus dieser, und vielen andern schwierigen
Fragen, steht offen; und ich will ihn zeigen. Man muſs
die ganze Erzählung, als einen Mythos, mystisch und
symbolisch deuten. Ariost, als Seher, erblickte eine
künftige Gefahr für die Seelenvermögen. Durch die Fla-
sche, worin der Verstand eines Mannes, mit allen zwölf
Kategorien, Platz hat, deutet er auf die groſsen Krater
des Mondes, und auf dessen trockene Meere. Nun ist
klar, daſs, wenn einmal die Seelenvermögen der sämmt-
[438] lichen Menschen auf der Erde, verschwinden, ihr treuer
Gefährte, der Mond, schon seine groſsen Vorrathshäu-
ser bereit hält, damit nichts davon verloren gehe. Eine
so tröstliche Nebenbemerkung für die Psychologie, be-
darf hier hoffentlich um so weniger einer Entschuldigung,
da ja dem Ariost, der sich viel weiter und plötzlicher
abzuschweifen erlaubt, von seinen Verehrern dieses als
eine geniale Verwirrung und die Unübersehbarkeit seines
Gedichts als ein Vorzug desselben angerechnet wird.


Dem Dichter zu erlauben, was man dem Menschen
verbietet, ist eine alte Weise deren, die für die sittlichen
Beschränkungen des Lebens sich wenigstens im Traume
schadlos halten wollen. Nicht ihr individueller Geschmack
hatte sich für das Sittliche geläutert, sondern es ist ihnen
aufgedrungen worden. — Damit bunte Possen berühmt
werden, dazu ist kein ästhetisches Urtheil nöthig; das
Ergötzen eines sinnlichen Volkes, das seine phantastische
Zügellosigkeit, seine Zerrissenheit, seine Unfähigkeit, mit
sich selbst in ein würdevolles Gleichgewicht zu treten,
darin abgespiegelt sieht, — gründet diesen Ruhm; Andre
loben, was einmal berühmt ist, was aus dem Lande ihrer
Sehnsucht kommt, und vor Allem, was übergroſs als
Ganzes, glatt und zierlich in seinen Theilen erscheint;
was durch gewandte Prahlerey imponirt.


Aber jenes Ergötzen und diese Unsicherheit des Ge-
schmacks kommen darin überein, daſs beydes höchst
natürlich
ist. Oder wird Jemand dafür eine überna-
türliche Erklärung suchen? Diese Frage ist nicht unbe-
deutend; sie hängt zusammen mit der andern Frage: ob
das Böse einen übernatürlichen Ursprung voraussetze?
Die Verstimmung des Geschmacks, der sich durch falsche
Gröſse blenden läſst, bezieht sich nicht bloſs auf Dich-
terwerke, sondern auch auf den Werth der Personen;
ja selbst auf philosophische Productionen. Ariost und
Spinoza kommen darin überein, daſs beyde ein groſses
Knäuel geschaffen haben, welches den Anschauenden de-
müthigt, ihm Respect einflöſst, weil, indem er den ein-
[439] zelnen Fäden nachgehn will, er in eine Verwirrung ge-
räth, deren Grund er, bey der anscheinenden Ordnung
und Sauberkeit der Ausarbeitung, lieber in sich selbst
als in dem Werke sucht. Beyden ähnlich wirkt das
Bild des groſsen Napoleon auf den Zuschauer; der
eben weil er sich weder wie ein guter noch wie ein bö-
ser Dämon zusammenfassen läſst, das Urtheil der Men-
schen unterjocht und verdirbt. Daſs Ariost wahrhaft
klassisch, Spinoza wahrhaft überzeugend, Napoleon
ein wahrer Vater seines Reichs wäre, kann Niemand be-
haupten; gerade darum zieht sich der Urtheilende be-
scheiden zurück, und nennt sie groſs! Könnte er zu
irgend einer bestimmten Entscheidung über sie gelangen,
so würden sie ihm kleiner erscheinen. Diese Verkehrt-
heit, sich zu erniedrigen vor dem Unreinen, als ob seine
verwirrende Kraft eine Auctorität wäre; anstatt es durch
die schärfste Prüfung zu scheiden und zu läutern, und
dann vest zu halten an dem Aechten und Wahren: ist
die Grund-Wurzel, zwar nicht des eigentlichen Bösen,
aber der Unlauterkeit und Gebrechlichkeit, von der Kant
mit groſsem Rechte die Betrachtung des Bösen beginnt.
Und wieviele sind der Menschen, die auf diese Unlau-
terkeit des Geschmacks in der politischen und literari-
schen Welt speculiren! Es mag wohl ein einträgliches
Gewerbe seyn, im Trüben zu fischen! —


Schon die bloſse Bewegung eines Puncts im Raume,
macht, daſs er an jeder Stelle, wo er war, vermiſst, und
dort, wohin er ging, wiedergefunden wird; denn die Um-
gebung reproducirt in jedem Augenblicke sein Bild, so
daſs man seinen ganzen Weg anzuschauen glaubt, ob-
gleich er in jedem Momente nur an einer einzelnen Stelle
gesehn wird. Das Vermissen und Wiederfinden ist Be-
gierde und Befriedigung; deren unaufhörlicher Wechsel
aber ist Unterhaltung. So spielen Kinder mit dem Balle
und dem Kräusel; ja die junge Katze spielt mit dem
hängenden Bande und mit der Kartoffel. — Man be-
trachte nun dies als ein Gleichniſs für jene Bewegung,
[440] worin der Dichter seine handelnden und leidenden Per-
sonen in ihrer gesellschaftlichen Umgebung erscheinen
läſst: so wird das Ergötzliche bunter Erzählungen sogleich
begreiflich seyn. Wer sich ihnen hingiebt, der wird fort-
gerissen; er geräth in einen angenehmen Taumel, ja in
eine wahre Berauschung. Dabey kann von einem ästhe-
tischen Urtheile gar nicht die Rede seyn, denn dies setzt,
für alle Arten des Schönen und Guten, zu allererst eine
bestimmte Auffassung vester Umrisse und Rhythmen,
vollendetes Vorstellen gegebener Verhältnisse
voraus. Damit es eintrete, muſs das Ganze, als ein Ge-
schlossenes, überschaut seyn, und das Ergötzen, dieser
schwebende, wandelbare Gemüthszustand, muſs aufgehört
haben. Bleibt in dem Urtheile etwas von seinem Ein-
flusse zurück: so ist der Geschmack eben sowohl besto-
chen, als nach den thränenreichen Rührspielen; und es
kommt dabey nur auf den Unterschied an, wie leicht
und willig sich das Individuum dem Ergötzen oder der
Rührung hingiebt; die Verfälschung des Geschmacks, der
nun kein objectives Urtheil mehr fällen kann, ist hier wie
dort gleich groſs; und über einen so bestochenen Ge-
schmack läſst sich nicht disputiren; es sey denn, daſs Je-
mand sich zu Auctoritäten herablasse.


Das ächte ästhetische Urtheil erfordert eine Stetig-
keit des Blicks, eine gleich gehaltene Klarheit des Gei-
stes, die den wenigsten Menschen so natürlich ist, daſs
sie lange bestehn könnte ohne absichtliche, von den
herrschenden, appercipirenden Vorstellungsmassen aus-
gehende Anstrengung. Ein ungeordneter Geist ist der-
selben kaum fähig; auch in dem wohlgeordneten verur-
sacht sie auf die Länge eine Spannung, nach welcher
Erhohlung eintreten muſs. Denn alle Aufregung irgend
welcher Vorstellungsreihen gelangt nach einiger Zeit zu
einem Maximum; sie bildet gleichsam eine Fluth, worauf
Ebbe erfolgen muſs. Daſs die Fluth stets dauere, darf
man nicht fordern; vielmehr muſs man sie nutzen, so
[441] lange sie da ist. Aber man soll auch nicht mit ihr die
Ebbe verwechseln; oder gar diese ihr vorziehn.


Dahin aber neigt sich jene, schon von Fichten als
das radicale Böse dargestellte, Trägheit der Menschen.
Denn, abgesehen von den Lüsten und Bedürfnissen des
Leibes, suchen sie meistens im Leben dasselbe, was ihnen
eine unterhaltende Erzählung gewähren soll; sie wollen,
daſs ihnen die Zeit angenehm verflieſse. Dies schwächt
Gutes und Schönes; denn es stört die Beurtheilung; es
hebt die ästhetische Kritik auf, womit fortdauernd der
Mensch sich selbst im Innern beleuchten muſs, wenn er
jene scharfe Richtigkeit seines Daseyns erlangen will, die
man Moralität nennt.


Ist das ästhetische Urtheil schwach, und der Mensch
übrigens stark: so wird er in der Regel böse. Hier ist
nicht nöthig, vom Anwachsen herrschender Leidenschaf-
ten das zu wiederhohlen, was die Dichter (z. B. Shakes-
peare
im Macbeth) so oft geschildert haben. Solche
Phänomene zeigen nur ein unglückliches Misverhältniſs
in den entwickelten psychologischen Kräften; und von
ihnen kann man bestimmt behaupten, daſs es in der Ge-
walt der Erziehung gestanden hätte, ihnen zuvorzukom-
men. Sie sind übrigens unendlich mannigfaltig; denn
jede Begierde kann Leidenschaft werden (§. 107.). Aber
nicht alles Böse ist Schwäche. Es giebt auch ein posi-
tives
Böse, das sich nicht, mit Kant, auf bloſse falsche
Unterordnung der Maximen zurückführen läſst.


Vertraut mit meiner praktischen Philosophie (das muſs
ich überall, jedoch besonders hier, voraussetzen,) wird der
Leser sich schon selbst den Begriff des Bösen in alle die
Theile zerlegt haben, die durch bloſse Gegenstellung ge-
gen die zur Tugend gehörigen, in den praktischen Ideen ge-
gründeten, Bestimmungen, entstehen können. Allein nicht
alle diese Theile sind eben so psychologisch verschieden,
wie sie in der ästhetischen Beurtheilung erscheinen. Denn
sehr Vieles ist seinem natürlichen Ursprunge
[442] nach längst vorhanden, bevor es durch weitere
Entwickelung in das Gebiet der ästhetischen
Betrachtung eintritt, und dort Bedeutung er-
langt
.
Ein Beyspiel im Groſsen mag dieses klärer sa-
gen. Schon zu den Zeiten der Scipionen trug der Rö-
mische Stolz und Factionsgeist die Unruhen der Trium-
virate, und die spätere Grausamkeit der Imperatoren, im
Keime; aber wer wird darum, weil Eins sich aus dem
Andern entwickelte, das Zeitalter der Punischen Kriege,
das der Triumvirn, und jenes des Tiberius und Caligula,
in einerley Verdammungsurtheil einschlieſsen? — Wer
nun hier die nothwendige Sonderung des theoretischen
und des ästhetischen Urtheils begreift: der halte sie vest,
für alle Philosophie; sonst wird er in keiner Gegend der-
selben klar sehen können.


Betrachtet man den natürlichen Ursprung: so kann
man den ältesten Anfang des Bösen am wenigsten da
suchen, wo die praktische Philosophie ihre Darstellung
der Ideen beginnt. Die innere Freyheit ist das letzte,
was der moralische Mensch in sich bildet, und was der
Böse verhöhnt und wegwirft. Hingegen die gesellschaft-
lichen Ideen sind das Erste, wogegen der Feind im In-
nern heranwächst.


Das Herz des Menschen öffnet sich Einigen, und
verschlieſst sich Andern. Diese einfache Thatsache ist
bekannt genug; man weiſs auch, daſs ganz zufällige Asso-
ciationen darauf Einfluſs haben. In der Regel gewöhnt
sich der Mensch an Diejenigen, mit denen er in seinen
frühesten Jahren zusammenlebt; soll er von ihnen sich
trennen, so fühlt er schmerzlich, daſs ein Riſs in seinem
Innern geschieht, indem er sie nun entbehren muſs. Er
vermiſst sie, er sehnt sich nach ihnen. Dies aus der
Entstehung des Selbstbewuſstseyns, und aus den Unter-
suchungen über das Begehren (im §. 150.) zu erklären,
kann Niemanden schwer fallen. Allein der Kreis deren,
mit welchen das individuelle Ich so innig verschmilzt, daſs
es in seinem gewohnten Thun und Hingeben sich auf
[443] sie bezieht
, kann nicht groſs seyn; die Andern sind
Fremde, und werden leicht Störer, auch ohne es zu wol-
len. Und selbst hievon abgesehen, ist ein widriger, zu-
rückstoſsender Eindruck, den Einer vom Andern empfängt,
nichts Seltenes; die Gegenwart eines Menschen läſst so
Vieles hoffen, so viel mehreres fürchten, daſs man sich
nicht wundern kann, wenn Einer sich durch die Nähe
des Andern noch öfter beklemmt, als in seinem Daseyn
begünstigt und erleichtert fühlt. Solche Gefühle aber
hängen überdies sehr von dem habituellen Lebensgefühl
des Individuums ab. Eine finstre Gemüthsart ist Sache
des Temperaments; und wem eine natürliche innere Un-
behaglichkeit beywohnt, der überträgt dieselbe bey der
leichtesten Reizung auf Sachen und Personen, mit denen
er gerade zu thun hat. So geschieht es schon in den
frühesten Kinderjahren.


Also beklemmt, oder gehemmt im Laufe seines Thuns,
geräth das Gemüth in Spannung. Daraus entsteht zweyer-
ley zugleich, ein Druck nach Auſsen und nach Innen.
Jener steigert sich leicht zum Haſs, und zur Gewaltthä-
tigkeit; dieser zum Verhehlen, Verheimlichen, zu Betrug
und Lüge. Hier haben wir alle Keime des gesellschaft-
lichen Bösen; Uebelwollen, Unrecht, Unbilligkeit, nebst
der besondern Form der beyden letztern, die man Falsch-
heit nennt; aus ihr aber, in Verbindung mit dem Uebel-
wollen, entsteht die Tücke.


Dieser Ursprung des Bösen ist rein psychologisch.
Ein andrer, von etwas späterer Entwickelung, hat phy-
siologische Anlässe. Mancherley, an sich unschuldige,
Genieſsungen, sind von der Art, daſs der Leib nur ein
bestimmtes Maaſs derselben erträgt; drüber hinaus folgt
Abspannung, die auf den Geist sich überträgt; und dort
zum Theil die Form der Ueberspannung annimmt, wie
im Rausche; weil der, bekanntlich verwickelte, Proceſs
der Apperception, worauf der innere Sinn, und der voll-
ständigen Entwickelung der Vorstellungsreihen, worauf
der Verstand beruht, nicht mehr in seiner Integrität vor
[444] sich gehn kann; daher nun die Gegengewichte fehlen,
die sonst Ordnung im Innern zu halten pflegen. Ge-
wöhnt sich der Mensch an die Unmäſsigkeit, so entsteht
anhaltende Schwäche; nun ist der Boden der Tugend
untergraben, denn ihr Fundament ist die Kraft.


Nun sollte, — drittens, — der Mensch sein rechtes
Maaſs bemerken. Die ästhetischen Urtheile, in ihrer
ganzen, vollständigen Reihe, wie sie sich aufs Wollen
und Handeln beziehen, sollten hinzukommen. Sie sollten
den starken Affect der Schaam erregen; und hiemit ganz
neue Entschlieſsungen erzeugen. Der Mensch sollte Sich
vermissen, und Sich wiederherstellen. Er sollte die
Schwäche, das Uebelwollen, das Unrecht, die Unbillig-
keit, und die Falschheit, von sich ausstoſsen. Dann
würde er innerlich frey seyn. Ist nun in dem Proceſs
des Urtheilens, der Schaam, der Bestrebung, nicht Ener-
gie genug, so bleibt der Mensch innerlich unfrey. Wo-
her aber soll diese Energie kommen? Das ästhetische
Urtheil ist nur Eine geistige Thätigkeit in der Mitte un-
zähliger andern. Soll es in diese andern eingreifen: so
müssen sie nachgiebig dafür seyn. Aber eine finstre und
eine begehrliche Gemüthsart sind beyde darin gleich, daſs
sie sich gegen den Eindruck des Schönen verschlieſsen.
Kein Wunder, daſs beyde auch dem moralisch Schönen
oder Häſslichen keinen besondern Werth einräumen;
vielmehr dem aufkeimenden Gefühl desselben sich inner-
lich widersetzen. Das ist die Verstocktheit, welche
den bösen Thaten lange voran geht. Die erste An-
deutung derselben sieht man bey Kindern in ihrer sehr
ungleichen Empfänglichkeit für moralische Vorstellungen;
und zwar gerade für die Darstellung der ganz reinen,
uneigennützigen Sittlichkeit, wovon Kant viel mehr er-
wartete, als sie leistet; wenn nicht die innere Verstim-
mung zuvor gehoben war.


Daraus erzeugt sich gar leicht die eigentliche Bos-
heit. Der Mensch setzt sich hinweg über die Schaam;
und gebietet dem Gewissen, zu schweigen.


[445]

Nichts kann natürlicher seyn bey heftigen Begierden,
wenn nicht Hülfe von Auſsen kommt. In der Barbarey
liegen alle Laster; aber nicht alle Menschen, die in ei-
nerley Gesellschaft leben, sind ganz und zugleich Bar-
baren. Es erheben sich Einige, zu tadeln, zu ermahnen,
die Gottheit reden zu lassen *). Und hier nun ist der
Kampf des Guten mit dem Bösen. Jedes steigert sich
gegen das Andre. Jedes kann siegen. Aber nur das
Gute hat den beharrlichen Willen, zu siegen, durch den
ganzen Lauf der Jahrhunderte. Das Böse steckt zwar
an, aber dabey finden selbst die Bösen nicht ihren Vor-
theil. Darum siegt mehr und mehr das Gute. So ist
der natüuliche Lauf der Dinge.


Um ihn vollständiger aufzufassen, und um nicht den
Fortgang des Guten für schneller und sicherer zu halten,
als er ist, muſs man besonders auf zwey Umstände achten.
Erstlich auf das Verschlechtern des Guten durch unvoll-
kommene Auffassung und durch Misverstand. Alles Löb-
liche findet seine Nachahmer; aber auf die gute, ächte
Waare folgt die wohlfeile, unächte. Was an seiner
rechten Stelle stand, wird verschoben an die unrechte.
Was für seine Zeit aus einem edlen Streben hervor ging,
wird mit thörichtem Eifer vestgehalten, auch nachdem
seine Beziehungen verloren gingen. Was die Natur zer-
stören wollte, weil sein Werth vorüber ist, das macht
der Mensch zur Mumie. Dadurch gewinnt das Böse Ge-
legenheit, sich hinter mancherley Larven des Guten zu
verstecken. — Die zweyte Bemerkung trifft die gesell-
schaftlichen Zustände. Man erinnere sich dessen, was
oben, in der Einleitung, über die Statik und Mechanik
des Staats gesagt worden. Daraus wird einleuchten, wie-
[446] viel Mühe die Gesellschaft hat, sich zu einer vesten Ord-
nung zu erheben. Und dies geschieht Anfangs nur in
einzelnen Ortschaften. Darin gilt das Recht nebst der
Aufrichtigkeit; nach auſsen bedienen sie sich des Un-
rechts als einer natürlichen Bewaffnung. Dies Unheil
zeigt sich oft wiederkehrend auch noch im gebildeten Zu-
stande; kleine Kreise sondern sich ab, verbergen sich,
setzen List der äuſsern Gewalt entgegen, wenn man sie
nicht bereden kann, sich der gröſsern Gesellschaft an-
zuschlieſsen.


Nach allem Vorstehenden beginnt und wächst das
Böse in der Zeit. Ist es darum nur auf der Oberfläche
der Sinnenwelt anzutreffen? Hat es keine versteckten
Wurzeln, aus denen es, dem Scheine nach schon aus-
gerottet, dennoch wieder hervorsproſst? Läſst es keine
Kränklichkeit nach, wenn die Heilung gelang? Braucht
der Gesunde nicht die Möglichkeit zu fürchten und ver-
hüten, daſs es ihn von Auſsen ergreife, oder von Innen
zerrütte? — Kaum wird der Leser noch so fragen. Das
Gewebe der Vorstellungsreihen bleibt in seinen Falten,
wenn man es schon im Bewuſstseyn nicht wahrnimmt;
und von den hemmenden Kräften, durch die man seiner
falschen Spannung entgegenwirkt, wird selbst im besten
Falle ein Theil gebunden, und seiner freyen Thätigkeit
beraubt.


Um dies besser zu übersehen, darf man sich nur
den wirklichen Menschen, im Gegensatze eines poëtischen
Charakters, lebhafter vergegenwärtigen. Die Personen
der Dichter nähern sich den geometrischen Figuren; ihre
Consequenz ist ihr Verdienst, denn sie können nur da-
durch deutliche Verhältnisse bilden, worin ihr Kunstwerth
bestehn muſs. Daher begabt der Dichter sein Geschöpf
mit einer oder zwey herrschenden Vorstellungsmassen,
woraus sich alles Wollen und Handeln desselben ent-
wickeln muſs, ohne daſs in diesen Vorstellungsmassen
eine bedeutende Veränderung zugelassen werden dürfte.
Hingegen in dem wirklichen Menschen ist die Mannigfaltig-
[447] keit und die Wandelbarkeit gröſser. Schon für die Mo-
ralität giebt es nicht bloſs eine einzige, gleichmäſsig in
sich zusammenhängende Vorstellungsmasse; und dies aus
dem sehr natürlichen Grunde, weil es nicht bloſs eine,
sondern fünf praktische Grundideen giebt. Daher groſse
Verschiedenheiten unter Mehrern, und Ungleichheiten
im Individuo, in Hinsicht auf Recht, Billigkeit, Güte,
Kraft, Selbstbeherrschung. Aber auch andere ästhetische
Urtheile, und überdies die verschiedenen Lebensverhält-
nisse bilden ihre besondern Vorstellungsmassen. Der
Mensch, wie er arbeitet, und der nämliche, wie er spielt
und sich erhohlt, ist sich oftmals kaum ähnlich. Son-
derbare Liebhabereyen, Affecte, körperliche Aufregungen,
traumähnliche Zustände, haben oft jedes seine eigne
Vorstellungsmasse, die, wenn sie den Hauptplan des Le-
bens unzeitig durchkreuzt, als ein innerer Feind er-
scheint; wohl gar als ein böser Geist. Jede dieser Vor-
stellungsmassen nun hat ihren eignen moralischen Werth,
sey er positiv oder negativ. Die Summe, oder vielmehr
das psychologische Resultat dieser Werthe ist der Total-
Werth des Menschen; aber niemals erscheint diese
Summe auf einmal im Bewuſstseyn, sondern abwechselnd
steigen und sinken die Vorstellungsmassen; und bilden
eine bunte, innere Erscheinung, derentwegen der Mensch
sich bald für besser, bald für schlechter hält, als er ist.
So scheidet sich die Erscheinung von jener Mittelwelt,
die wir nicht mehr zu beschreiben brauchen; denn die
ganze speculative Psychologie ist ihre Beschreibung. Den
Uebergang zum nächstfolgenden Abschnitte aber macht
die Bemerkung, daſs die Mittelwelt, das heiſst, die blei-
benden innern Zustände der einfachen Wesen, überall
unerkannt der lebenden Natur zum Grunde liegt, wie sich
nun bald deutlicher zeigen wird.


Anmerkung.

Man erwartet vielleicht, daſs ich hier am Ende noch
etwas über die Freyheit sage. Das soll geschehen; allein
[448] nur in so weit, als es dem Leser, der bisher aufmerksam
folgte, noch willkommen seyn kann. Eine weitläuftige
Widerlegung des bekannten Irrthums wäre hier sicher
nicht am rechten Orte; es ist unmöglich, daſs Jemand,
der das Vorhergehende gefaſst hat, sich dadurch länger
täuschen lasse. Aber in Kants Behandlung des Gegen-
standes liegt einiges Belehrende; dies wollen wir her-
ausheben.


Zuerst und vor allen Dingen unterscheidet sich Kant
von denen, die auch nur einen Schritt von ihm abwei-
chen, sogleich dadurch, daſs ihm die Freyheit lediglich
ein Glaubens-Artikel ist. „Man muſs wohl bemerken,
sagt er, (Kritik d. r. V. am Schlusse der Auflösung der
dritten kosmologischen Idee,) daſs wir nicht die Wirklich-
keit der Freyheit, — ja gar nicht einmal die Möglichkeit
derselben haben darthun wollen.“ Ein himmelweiter Un-
terschied von denen, deren unvorsichtige Philosophie sich
sogar des freyen Willens unmittelbar bewuſst ist; ein
Beweis gänzlicher Unwissenheit in diesem Puncte.


Kant war überzeugt, daſs die Freyheit sogleich ver-
lornes Spiel haben würde, wenn sie in der Natur die ge-
ringste Störung anrichtete. Er wuſste, daſs kein tüchti-
ger Naturforscher sich je um sie bekümmern werde; so
wenig als die Astronomie sich um die Exegese kümmert.
Aber unglücklicher Weise hatte Kant keinen Begriff von
speculativer Psychologie; und, was noch schlimmer war,
er irrte sich in Ansehung der Grundform der praktischen
Philosophie.


Es war hergebrachte Weise der Schulen und Kir-
chen, die Moral und das Naturrecht in Form von Gebo-
ten, Vorschriften, Befehlen abzuhandeln, als ob entwe-
der der Staat oder die Gottheit mit dem Menschen rede.
Kant führte nun zwar des Menschen eigene Vernunft
redend ein; aber er lieſs sie in der alten gewohnten
Weise fortreden; und kategorisch gebieten.


Wer so anfängt, der muſs endigen mit der Freyheit,
wie sehr auch die Natur bey ihm in Ehren und im An-
sehen
[449] sehen stehn möge. Denn das Factum des Gebietens ist
alsdann das Factum des absoluten Anfangens.


Was mag denn wohl die reine Vernunft zu gebie-
ten haben? Weiſs sie denn schon etwas von dem, was
in der Welt kann ausgeführt oder auch nur versucht
werden? Wem gebietet sie denn, ehe sie wenigstens
das innere Phänomen des Begehrens und Wollens, (wel-
ches übrigens sich allemal auf gegebene Gegenstände
bezieht,) aus der Erfahrung kennen gelernt hat?


„Sie sucht das Ich durchzusetzen, wider alles Nicht-
Ich,“ antwortete Fichte, der wohl bemerkte, daſs sich
Kants kategorischer Imperativ beziehe auf Maximen,
welche Maximen sich beziehn auf ein vorausgesetztes
Wollen, welches Wollen wiederum nicht denkbar wäre
ohne die schon als bekannt vorausgesetzten sinnlichen
Gegenstände; so daſs die reine Vernunft, ohne alle diese
empirischen Voraussetzungen, zum bloſsen Gedanken-
dinge herabsinken, und das Factum des absolut-anfan-
genden, d. h. freyen Gebietens, damit verschwinden
würde.


Darum zog Fichte die ganze Natur in die Sitten-
lehre hinein; und er muſste so verfahren, wenn Kants
Anfänge sollten beybehalten werden. Wer das nicht ein-
sieht, der kennt die neuere Geschichte der Philosophie
bloſs historisch, und klebt am Buchstaben Kants.


Die Natur war nun, wider die Meinung Kants, der
Freyheit geopfert; und die Welt nach idealistischer
Weise auf den Kopf gestellt. — Daſs es so nicht blei-
ben konnte, verstand sich von selbst. Man hätte nicht
nöthig gehabt, den Spinoza herbeyzuhohlen; und man
lernte von ihm nicht einmal das, was er lehren konnte;
nämlich: daſs, wer mit der Natur anfängt, der auch mit
der Natur endigen muſs; daſs man folglich die Sittenlehre,
damit sie nicht auf jene Freyheit, jenes absolut anfan-
gende Gebieten, hinführe, auch nicht als ursprüngliche
Pflichtenlehre behandeln muſs; daſs man vielmehr der
Wahrheit um einen guten Schritt näher kommt, wenn
II. F f
[450] man sie, nach Art der Alten, entweder als Tugendlehre
oder als Glückseligkeitslehre auffaſst. Dies konnte Spi-
noza bey allen seinen Fehlern wirklich lehren; denn ob-
gleich nach ihm der Mensch sich seinen eigenen, vom
Universum unabhängigen Willen nur einbildet, und
obgleich dem eingebildeten Willen auch nur eingebildete
Handlungen entsprechen, so beurtheilt doch Spinoza
selbst dies eingebildete Wollen und Thun; zum sichern
Beweise, daſs die Stimme des Lobes und Tadels selbst
da nicht schweigt, wo man die Hoffnung, sich nach ihr
zu richten, so daſs durch sie und um ihrentwillen in die
Natur der Dinge irgend eine Bestimmung hineinkomme, —
gänzlich aufgegeben hat.


Dieser Stimme des Lobes und Tadels, welche vor-
handen ist und vernommen wird ohne alle Frage, wieviel
dadurch könne ausgerichtet werden, — von welcher un-
mittelbar die Tugendlehre aller Zeiten ausgegangen ist,
mittelbar aber die Pflichtenlehre und die veredelte Glück-
seligkeitslehre, — habe ich einen neuen Namen gegeben,
und sie ästhetisches Urtheil genannt. Warum? Weil
diese Stimme bisher immer durch allerley verstärkende
Sprachröhre war vernommen worden, und man sie end-
lich einmal aus dem bloſsen Munde, zwar schwächer aber
deutlicher, hören muſste. Dazu war der Satz nöthig:
daſs jede einzelne praktische Idee auf ursprünglicher Be-
urtheilung eines Verhältnisses beruhe, und daſs es so-
viele, und nicht mehr noch weniger Principien der prak-
tischen Philosophie gebe, als wieviele Verhältnisse mög-
lich seyen, worin sich ein Wollen dergestalt befinden
könne, daſs es Gegenstand eines ursprünglichen Lobes
oder Tadels werde. Nun war die Hauptarbeit, diese
Verhältnisse vollständig aufzufinden, und jedes ein-
zelne in seiner einfachsten Gestalt genau zu bestimmen;
diese Arbeit aber glich vollkommen der, welche zur Be-
gründung irgend eines beliebigen Theils der Aesthetik
hätte dienen müssen.


Ueber zwanzig Jahre sind verflossen, seitdem ich
[451] dieses öffentlich zu lehren anfing. Zeit genug in der
That, damit man sich hätte besinnen können, daſs wirk-
lich die menschlichen Angelegenheiten, so fern sie über-
haupt durch Ueberlegung in Ordnung gehalten werden,
von zweyerley Beurtheilungen, der theoretischen und der
ästhetischen, abhängen, die unter einander nicht streiten,
weil sie sich ursprünglich fremdartig sind, von dem Men-
schen aber fortwährend, so gut es gehn will, oder so
gut er es versteht, mit einander verknüpft werden. Aber
wie man sich einbildet, die Staaten könnten garantirt
werden durch Verfassungen, obgleich die Verfassungen
nichts anders sind als das, was die Sitte aus ihnen macht:
so sucht man auch bis auf den heutigen Tag die Frey-
heit mit der Nothwendigkeit zu vereinigen, hoffend, es
werde irgend einmal durch schöne und kluge Worte ge-
lingen, den wohlbekannten Widerspruch zwischen bey-
den dahin zu bringen, daſs er aufhöre, ein Widerspruch
zu seyn.


— exspectant, dum defluat amnis: at ille

Labitur et labetur in omne volubilis aevum.

Und warum warten sie? Wegen eines Gespenstes
von Zurechnung. Hätten sie jemals überlegt, was Zu-
rechnung sey? so würden sie gefunden haben, daſs ge-
rade die transscendentale Freyheit unfähig ist, das Sub-
ject derselben darzubieten. Denn Handlungen werden
zugerechnet, wenn man einen Willen betrachtet, als
durch sie charakterisirt. Die transscendentale Freyheit
kann aber gar nichts annehmen, das man Charakter nen-
nen dürfte. Sie ist, was sie auch thue, allemal der zu-
reichende Grund der gleich möglichen, gerade entgegen-
gesetzten Handlung. Ist ein Wille charakterisirt: so ist
durch ihn nur Einerley, und nicht zugleich das Gegen-
theil möglich; darin besteht sein positiver oder negativer
Werth. Der nicht-charakterisirte hat gar keinen Werth;
denn er hat für jede Gelegenheit des Handelns zwey ent-
gegengesetzte Möglichkeiten, welche durch ein Thun ohne
F f 2
[452] bestimmenden Grund, nicht aufgehoben werden. Die
Freyheit kann nicht durch ihre eigne That aufhören,
frey zu seyn, wodurch sie sich selbst zerstören würde.
In jenen Möglichkeiten liegen nun zwey entgegengesetzte,
gleiche Werthe, und jedes Paar ist für sich gleich Null.


So weit ist Alles leicht, und sollte von jedem An-
fänger gefaſst und behalten werden. Weit schwerer
wird die Sache, wenn man sie psychologisch entwickeln
will. Denn alsdann findet sich nicht Ein Wille, sondern
ein vielfältiges, gleichzeitiges, mehr oder minder bestimm-
tes, zum Theil widerstreitendes Wollen in den verschie-
denen zusammenwirkenden Vorstellungsmassen. Hier ist
ein unabsehliches Feld von möglichen Ereignissen; die
Zurechnung wird schwierig, weil sie nicht einfach ist,
sondern aus verschiedenen, zum Theil entgegengesetzten
Gröſsen einen Gesammtwerth bestimmen muſs; der sich
aus den Handlungen und Aussagen eines Menschen nur
mit Wahrscheinlichkeit errathen läſst, indem dieselben
theils auf das Vorbedachte, theils auf augenblickliche
Reizung, theils auf Gewohnheit, theils auf dreiste Wa-
gestücke, theils auf dringende Bedürfnisse hinweiset.
Schlechte Gehülfen in solcher Verwickelung würden die-
jenigen Naturforscher seyn, die mit einer Gefälligkeit,
welche Kant weder erwartete noch wünschte, als Kämpfer
und Retter für die Freyheit mitten in der Naturlehre
auftreten!


[[453]]

Dritter Abschnitt.
Von den äuſseren Verhältnissen des
Geistes.


Erstes Capitel.
Von der Verbindung zwischen Leib und Seele.


§. 153.

Es ist ausführlich nachgewiesen worden, daſs die Be-
trachtung unseres eigenen Selbst uns unvermeidlich in
Widersprüche verwickelt, wofern wir uns unmittelbar
durch den Begriff des Ich auffassen wollen, — gleich als
ob die Ichheit die Basis unseres ganzen Wesens wäre.
Diese Ichheit muſs an etwas angelehnt werden. Und
der Träger, welcher dem Angelehnten zum Stützpuncte
dienen soll, heiſst hier, wie überall, Substanz. Aber er
heiſst hier insbesondre Seele; weil nach allgemein me-
taphysischen Principien zuvörderst eine Substanz keiner
andern Modificationen fähig ist, als der Selbsterhaltungen
gegen Störungen durch andre Wesen, (wodurch so-
gleich die pantheistische Ansicht ausgeschlossen ist);
und weil im gegenwärtigen Falle diese Selbsterhaltungen
Vorstellungen seyn müssen, in solcher Beschaffenheit
und Verbindung, daſs daraus das Selbstbewuſstseyn oder
die Ichheit hervorgehe.


Wie werden wir nun mit dieser Seele den Leib in
Verbindung setzen? Kann er nicht vielleicht eine bloſse
[454] Erscheinung, ein System von Vorstellungen in der Seele
seyn, ohne ein wahrhaft Reales auſser der letzteren?
Der sichtbare und fühlbare, der anatomisch und physio-
logisch untersuchte Leib ist ohne allen Zweifel zunächst
nur ein System von Vorstellungen, denn er ist durchaus
ein Vorgestelltes. Allein die Erklärung dieses Systems
von Vorstellungen findet keinen Ruhepunct, wenn sie
nicht ein entsprechendes System realer Wesen auſser
der Seele, welche unabhängig von derselben existiren und
nur in eine zufällige Verbindung mit ihr gerathen sind,
zum Grunde legt. Die allgemeine Metaphysik wird rea-
listisch erst durch die Widerlegung des Idealismus.


Unser Leib erscheint als Materie im Raume. In so
fern muſs er nun weiter den allgemeinsten Principien der
Naturphilosophie subsumirt werden. Ich habe in der
schon oft angeführten Abhandlung de attractione elemen-
torum
die Construction der Materie gegeben; und man
wird darin die Beweise der nachstehenden Sätze zu su-
chen haben.


Jeder Körper ist anzusehn als ein Aggregat einfacher
Wesen, deren Summe gröſser ist, als das Quantum des
Auſsereinander in dem davon erfüllten Raume; die aber
gleichwohl diesen Raum nicht nach dem, fälschlich hie-
her gezogenen, Begriffe des geometrischen Continuum
sondern mit einem für jede Art von Körpern besonders
bestimmten Grade von gegenseitiger Durchdringung aus-
füllen. Die Undurchdringlichkeit der Materie ist ganz
und gar ein Wahn, dessen Ursprung darin liegt, daſs
die Durchdringung in denjenigen, allerdings häufigen,
Fällen, unmöglich wird, wo sie neue Attractionsverhält-
nisse zur Folge haben müſste, denen andre schon gebil-
dete, und durch eine stärkere Nothwendigkeit aufrecht
gehaltene, im Wege stehn. Die Cohäsion und Dichtig-
keit jeder Materie hängt ab von einem Gleichgewichte
zwischen Attraction und Repulsion, welches beydes nicht
von gewissen räumlichen Kräften der einfachen We-
sen, sondern von der formalen Nothwendigkeit herrührt,
[455] daſs der äuſsere Zustand, d. i. die räumliche Lage, dem
innern Zustande, d. h. den Selbsterhaltungen der Wesen,
völlig entspreche. Die Entwickelung dieser Sätze erfor-
dert zum Theil unmögliche Begriffe, welche aber im
Laufe des Räsonnements eben so ihre bestimmte Stelle
und ihren gesetzmäſsigen Gebrauch haben, wie die un-
möglichen Gröſsen in manchen mathematischen Beweisen.


Unmittelbar folgt aus dem Gesagten, daſs kein ein-
ziges Theilchen der Materie darf angesehen werden als
bloſs räumlich bestimmt, sondern daſs in jedem gewisse
völlig unräumliche, und bloſs innere Zustände, nämlich
Selbsterhaltungen vorkommen, von welchen selbst die
räumliche Constitution eines Körpers ganz und gar ab-
hängt. Vollends aber diejenigen einfachen Wesen, die
zu Bestandtheilen eines organischen Körpers dienen, tra-
gen in sich ganze Systeme von Selbsterhaltungen, ähn-
lich den Systemen der Vorstellungen in einem gebilde-
ten Geiste. Was für Systeme das seyen, dies richtet
sich nach der Art und dem Grade der Assimilation, die
sie in dem organischen Körper, dessen Bestandtheile sie
ausmachen, schon erlangt haben.


Die organische, oder vegetative Lebenskraft, — wohl
zu unterscheiden von der Seele, ist demnach keine reale
Einheit, sondern ein allgemeiner und noch sehr unbe-
stimmter Begriff, welcher hindeutet auf die gesammte
innere Bildung, das heiſst, auf die gesammten Systeme
von Selbsterhaltungen in allen Bestandtheilen des Leibes.
Sollte man sagen, was die Lebenskraft eigentlich sey?
so müſste man alle diese Elemente des Leibes einzeln
durchgehn, und beschreiben, theils, welche Bildung in
ihnen sey, welcher äuſsere Zustand, welche räumliche
Lage und Bewegung aus ihrer Bildung, und aus derjeni-
gen der zunächst liegenden Elemente zusammengenommen
erfolge.


Die Reizbarkeit ist nur in ihren Aeuſserungen etwas
räumliches. Sie hat ebenfalls ihren Sitz in der innern
Bildung, und kennten wir die letztere, so würden wir
[456] daraus jene auf ähnliche Weise bestimmen, wie aus der
Statik und Mechanik des Geistes sich die Reizbarkeit des
Geistes für neu hinzukommende Vorstellungen muſs fin-
den lassen; nur mit dem Zusatze, daſs, nachdem auf sol-
chem Wege die innern Zustände entdeckt wären, hier-
aus nun noch die entsprechenden äuſseren Zustände ab-
geleitet, und erst dadurch die Erscheinungen der Reiz-
barkeit erklärt würden.


Daſs die Lebenskraft und Reizbarkeit eines organi-
schen Individuums keine strenge Einheit sey, sieht man
schon aus den Versuchen an abgelöseten Theilen leben-
der Körper; und daſs die innere Bildung der Elemente
selbst nach ihrer völligen Trennung noch bestehe, zeigt
sich in der vorzüglichen Fähigkeit, assimilirt zu werden,
wodurch die organischen Stoffe zur gedeihlichen Nahrung
für andre, noch lebende Organismen dienen. Die Exi-
stenz der höheren Thiere und Pflanzen beruht bekannt-
lich ganz wesentlich darauf, daſs durch niedere Organis-
men jenen die Nahrung bereitet werde.


Ueber alle reale Lebenskraft in den Elementen geht
hinaus die bloſs ideale, künstlerische Einheit der leben-
den Wesen; ihre Schönheit und Zweckmäſsigkeit. Diese
existirt nur für den Beschauer; sie weiset aber denselben
hinauf zu dem höchsten der Künstler, der durch die er-
habenste Weisheit die Bildungsfähigkeit der Elemente
benutzend, ihr zuerst und allein einen Werth ertheilte.
Ohne religiöse Betrachtungen kann die Naturforschung
zwar wohl angefangen, aber nicht vollendet werden; und
die letztere wird zu allen Zeiten die Stütze der Religion
seyn und bleiben, während alles, was auf schwärmeri-
schen innern Anschauungen beruht, sich sammt diesen
Schwärmereyen selbst zum Spielwerk für die wandelbaren
Meinungen hergeben wird.


§. 154.

Zu dem Systeme von den Störungen und Selbster-
haltungen finden die Bedenklichkeiten nicht Statt, um de-
rentwillen Leibnitz den physischen Einfluſs leugnend,
[457] seine prästabilirte Harmonie an die Stelle setzte. Das
wahre Causalverhältniſs bedarf keiner Fenster in den Mo-
naden, durch die eine fremde Kraft, ihrer eignen Sub-
stanz entlaufend, hineinsteige; denn die Selbsterhaltungen
nehmen nichts fremdartiges in sich auf, sie sind gänzlich
bestimmt durch das sich selbst erhaltende Wesen, wenn
schon über die Frage, welche unter unzählig vielen mög-
lichen Selbsterhaltungen jedesmal sich ereignen solle, ent-
schieden wird durch die störenden Wesen. Daher ist
nun auch das wahre Causalverhältniſs zwischen Seele
und Leib im geringsten nicht schwieriger als das zwischen
irgend welchen anderen Wesen.


Die weniger tief forschenden, welche an den Causa-
litäten der Physik und Chemie gar nichts Anstöſsiges
finden, und ohne alle Metaphysik am besten darüber
wegzukommen meinen, — diese pflegen die Verbindung
zwischen Leib und Seele besonders deshalb anzustaunen,
weil hier die Ursache und das Bewirkte so äuſserst hete-
rogen seyen. Wie ein Körper den andern bewege, wie
ein paar Stoffe chemisch verwandt seyen, das, meinen
sie, lasse sich, wenn auch nicht gerade begreifen, doch
recht füglich auf das Zeugniſs der Erfahrung hin anneh-
men; wenn aber aus dem Bilde auf der Netzhaut eine
Gesichtsvorstellung in der Seele wird, oder wenn aus dem
Wollen eine Contraction der Muskeln entsteht, — dann
ergreift selbst die zum Nachdenken trägeren Köpfe eine
Art von heilsamen Schauder; der freylich bald wieder
durch die heillosen Maximen von Resignation auf ein
wahres Wissen, diese Sünden wider den heiligen Geist
im Gebiete der Speculation, sich stillen und unterdrük-
ken läſst.


Wir wollen zuerst von dem Falle reden, da das
Wollen der Seele Bewegungen im Körper hervorbringt,
jedoch hier bloſs noch in physiologischer Hinsicht, und
ganz im Allgemeinen, denn vom Psychologischen in die-
sem Puncte können wir erst weiterhin sprechen. Es ist
nun in dem angenommenen Falle deutlich und unzwei-
[458] felhaft, daſs Ursache und Bewirktes heterogen sind, denn
das Wollen ist ein innerer Zustand der Seele, die Zuk-
kung der Muskeln eine Raumbestimmung für deren Be-
standtheile. Allerdings muſs dazwischen etwas in der
Mitte stehn. Denn erstlich ist das Wollen ein gewisser
(oben beschriebener) Zustand der Vorstellungen, diese
aber sind Selbsterhaltungen der Seele, welche beym Wol-
len in einen minder gehemmten Zustand zurückkehren.
Ferner den Selbsterhaltungen in einem Wesen entspre-
chen nur Selbsterhaltungen in einem andern; also den
innern Zuständen des einen gehören innere Zustände
des andern zu, wenn beyde Wesen, entweder vollkom-
men oder unvollkommen, zusammen sind. Dieses aber
ergiebt sich unmittelbar aus der Grundlehre von den Stö-
rungen und Selbsterhaltungen, indem die Störung zwi-
schen je zweyen Wesen allemal gegenseitig ist, und sich
ihr nothwendig ein Paar zusammengehörige Selbsterhal-
tungen entgegenstellen müssen, welche letzteren je-
doch unter einander gar keine Aehnlichkeit zu
haben brauchen
, auſser der einzigen, daſs sie lediglich
innere Zustände, jede in dem sich selbst erhaltenden
Wesen, seyn müssen. — Jetzt werfen wir einen Blick
auf dasjenige, was, der Erfahrung gemäſs, zwischen dem
Wollen und dem Zucken der Muskeln in der Mitte steht.
Dies sind bekanntlich die Nerven; welche man ehemals
mit einem flüchtigen Safte, heutiges Tages mit einem
polarisirenden Fluidum zu begaben pflegt, dem die Ner-
ven zu Conductoren dienen sollen; obgleich man weder
weiſs, was polarisirende Naturkräfte sind, noch wie denn
diese durch das Wollen in Bewegung gerathen mögen.
Wir aber wissen wenigstens soviel, daſs die Seele mit
einem Ende der Nerven zusammen ist, als welches die
allgemeine Bedingung aller Causalität ausmacht; ferner
daſs der Nerv, der sich als ein cohärenter Faden dar-
stellt, eine Kette einfacher Wesen seyn muſs, die sich
in einem unvollkommnen Zusammen befinden; endlich,
daſs in einer solchen Kette allemal zu erwarten ist, die
[459] geringste Veränderung in dem innern Zustande eines
Wesens werde auf die Störungen und folglich auf die
Selbsterhaltungen aller Wesen in der Kette einen Einfluſs
haben. Dieser Einfluſs also kann sich, fortlau-
fend am Nervenfaden, durch den Raum fort-
pflanzen
(nur nicht durch den leeren Raum,) ohne
im geringsten selbst von räumlicher Art zu seyn
.
Er braucht sich daher auch gar nicht als Bewegung, we-
der der Nerven selbst, noch irgend eines Etwas in den
Nerven, zu verrathen; die Nerven können, ohne sich im
mindesten zu rühren, aufs höchste afficirt seyn. Scheint
hierin etwas wunderbares zu liegen, so kommt es daher,
weil man sich nicht deutlich gemacht hat, wie das Ein-
fache, an sich Unräumliche, überhaupt in räumliche Ver-
hältnisse gerathe, ja sogar den Raum erfülle; welches in
der allgemeinen Metaphysik zu erörtern ist. — Nun soll
am Ende, da wo der Nerv in den Muskel übergeht, eine
Bewegung des Muskels mit einer beträchtlichen mecha-
nischen Kraft entstehn. Hierin liegt viel Unbekanntes,
aber nichts Seltsames, nichts Unbegreifliches. In dem
Nerven sind Störungen und Selbsterhaltungen jedes Ele-
ments; dergleichen muſs es zuvörderst in den sämmtli-
chen einfachen Wesen, aus denen der Muskel zusam-
mengesetzt ist, ebenfalls geben; und da mit dem Muskel
der Nerv zusammenhängt, so müssen sich die Zustände
der Selbsterhaltungen in dem einen nach denen in dem
andern richten. Jetzt sagt die Erfahrung, daſs aus den
veränderten innern Zuständen des Muskels auch verän-
derte äuſsere, nämlich eine Annäherung der Theile des-
selben, entstehn. Damit sagt sie Nichts unerhörtes,
Nichts, was nicht schon in den ersten Anfangsgründen
der Chemie vorkäme. Die Attraction der Elemente bey
einer chemischen Auflösung geschieht mit einer unge-
heuern Gewalt, nach dem Maaſse der mechanischen
Kräfte; nichts desto weniger erfolgt sie ohne alle reale
räumliche Kraft, und ist, auf eine völlig begreifliche Weise,
bloſs die nothwendige Folge der innern Zustände des
[460] Auflösungsmittels und des auflösbaren Körpers. Was
Wunder also, wenn ein Muskel zuckt, weil die innern
Zustände seiner Theile geändert sind durch die innern
Zustände in dem Nerven, und diese durch einen innern
Zustand der Seele?


Der zweyte Fall ist gewissermaaſsen noch einfacher
als der eben beleuchtete. Vom Lichte wird der Sehenerv,
von Salzen der Geschmacksnerv, u. s. w. in neue innere
Zustände versetzt. Der Bewegungen bedürfen wir hier gar
nicht, denn die vorgeblichen Schwingungen der Nerven
können nicht nachgewiesen werden, und sind bey der ge-
ringen Anspannung der Nervenfäden, und wegen ihrer
weichen Umgebungen, eben so unwahrscheinlich, als der
Nervensaft es nur immer seyn kann. Und was folgt denn
aus diesen Affectionen der Sinnesnerven? Das allerna-
türlichste von der Welt; ein innerer Zustand der Seele,
eine Vorstellung. Hier ist gar nichts Heterogenes in der
Ursache und dem Bewirkten, denn hier mischt der Raum
sich weiter nicht ein, als in so fern die räumliche Aus-
dehnung des Nervenfadens in Betracht kommt, wovon
schon vorhin die Rede war.


Nachdem solchergestalt die Verbindung zwischen
Leib und Seele im Allgemeinen erklärt ist: muſs die
Frage vom Sitze der Seele berührt werden, über die
man sich neuerlich weit hinaus geschwungen hat, jedoch
nur auf den Fittichen groſser Irrthümer. Es hat zwar
seine Richtigkeit, daſs der Seele selbst, als einem einfa-
chen Wesen, gar keine räumliche Prädicate können bey-
gelegt werden. Aber dasselbe gilt in demselben Grade
von allen den einfachen Wesen, welche den Leib, ja
welche jeden beliebigen Klumpen Materie constituiren.
Der Klumpen als solcher ist nur in so fern real, wiefern
er eine bestimmte Menge und Zusammenordnung von
Wesen enthält, die im Causalverhältnisse zu einander
stehn. Daher man denn auch noch nie einen Klumpen
wird gesehn haben, der bloſs realisirter Raum wäre,
ohne andre Kraftäuſserungen, mindestens von Cohäsion
[461] oder Repulsion der Theile. — Gerade nun auf die näm-
liche Weise, wie die, völlig unausgedehnten, völlig un-
räumlichen Wesen, für welche, wenn man jedes einzeln
betrachtet, nicht einmal die Frage: Wo es sey? einen
Sinn hat, — gerade wie diese Wesen, aus denen die
Materie besteht, zusammengenommen räumliche Ganze,
Körper, bilden: nicht anders gebührt auch der Seele, die-
sem ebenfalls dem Raume völlig fremdartigen Wesen,
dennoch, so fern sie mit dem Leibe in einem vesten
Causalverhältnisse steht, eine bestimmte Stelle, minde-
stens eine bestimmte Gegend in dem Leibe, wo sie sich
befinde; und dieses Wo ist für die Seele genau in dem
nämlichen Sinne zu nehmen, wie für jedes Element der
Materie.


Obgleich nun der Raum, den ein einfaches Wesen
einnimmt, nur ein mathematischer Punct seyn kann, so
dürfte dennoch die Frage nach dem Sitze der Seele in
so fern vergeblich ausfallen, als man den Punct im Ge-
hirn würde bestimmen wollen, wo die Seele ihre blei-
bende
Stelle hätte. Denn das Causalverhältniſs zwischen
Leib und Seele kann entweder ganz, oder doch gröſsten-
theils unverändert bleiben, wenn schon der Seele eine (ihr
freylich gänzlich unbewuſste) Beweglichkeit zugeschrieben
wird; indem ihr innerer Zustand nicht von denjenigen
Elementen allein abhängt, von welchen sie in jedem Au-
genblicke zunächst umgeben ist, sondern auf eine sich
gleichbleibende Weise von dem ganzen System, dessen
einfache Bestandtheile einander ihre innern Zustände ge-
genseitig bestimmen. Wahrscheinlich hat die Seele keine
bleibende Stelle; sonst würde den Physiologen ein aus-
gezeichneter Mittelpunct im Gehirn aufgefallen seyn, wo-
hin alles zusammenlaufe. Aber die ganze mittlere Ge-
gend
, in welcher längst das sensorium commune ist ge-
sucht worden, kann der Seele ihren Aufenthalt darbieten.
Mag also dieselbe sich auf, oder vielmehr in der Brücke
des Varols
hin und her bewegen; nur daſs man zu
dieser Bewegung nicht etwan einen Kanal suche, denn
[462] es ist keiner nöthig; so wenig als das Licht der Poren
des durchsichtigen Körpers bedarf, den es im eigentlich-
sten Verstande überall und in jeder Richtung durch-
dringt
. Uebrigens versteht sich von selbst, daſs, wenn
die Seele sich bewegt, dieses nicht geschieht, weil sie
will, (denn sie weiſs nichts davon,) sondern daſs wie-
derum wie vorhin, ihre inneren Zustände, verbunden mit
denen des Gehirns, erst die Ursache, dann die Folge
ihres veränderten Orts seyn müssen, wegen der überall
vorhandenen Nothwendigkeit, daſs der äuſsere und der
innere Zustand gehörig übereinstimmen.


Ich führe noch an, daſs die Hypothese von der Be-
weglichkeit der Seele, also von der Veränderlichkeit des
Mittelpuncts aller Sensationen, vielleicht die kürzeste Er-
klärung für einige seltene Phänomene, wie für den thieri-
schen Magnetismus, für das Nachtwandeln, u. s. w. dar-
bieten würde. Denn diese Mitteldinge zwischen Krank-
keit und erhöheter Gesundheit erlauben schwerlich, eine
bedeutende Veränderung in der Maschine des Menschen
anzunehmen, wodurch dieselbe auch für jeden künftigen
regelmäſsigen Gebrauch zu sehr verdorben würde; eher
mögen jene Erscheinungen eine abgeänderte, jedoch
schnell auf den vorigen Zustand zurückkommende, Be-
ziehung zwischen der Seele und Leibe andeuten.


Endlich, daſs die Seele einen Ort in dem Leibe ein-
nehmen muſs, ist gewiſs; man hat also nur die Wahl
zwischen einem vesten Sitze oder einem veränderlichen
Aufenthalte. Beydes sind Hypothesen; die erste aber
hat nichts für sich, wenn nicht etwa den falschen Ge-
danken der Schwierigkeit, daſs die Seele herdurchwan-
dere durch die körperlichen Gewebe; die zweyte ist we-
nigstens viel brauchbarer, indem sie den physiologischen
Erklärungen ein weiteres Feld öffnet, worin sie sich ver-
suchen können.


§. 155.

Zwar schon oben im §. 129. ist über die psycholo-
gische Möglichkeit, daſs die Seele im Handeln sich des
[463] Leibes absichtlich als eines Werkzeuges bediene, eine
kurze Andeutung gegeben; allein es scheint passend, am
gegenwärtigen Orte diesen wichtigen Gegenstand etwas
ausführlicher, zugleich von der psychologischen und von
der physiologischen Seite, zu beleuchten. Man wird näm-
lich nicht glauben, daſs die allgemeinen Erörterungen
über die Verbindung der Seele mit dem Leibe schon
über das Absichtliche des Handelns Auskunft gegeben
hätten. Wir waren vorhin (im §. 153.) bloſs mit dem
Causalverhältnisse zwischen den heterogenen Gliedern,
dem Wollen und der Bewegung, beschäfftigt; allein die
gegebene Erklärung vermittelt bloſs den Zusammenhang
zwischen inneren Zuständen der Seele und äuſseren des
Körpers. Sie läſst unbestimmt, was für innere Zustände
der Seele diejenigen seyn mögen, auf welche der Leib
sich bewegt. Sie paſst eben so gut auf das Entstehen
der unwillkührlichen Röthe auf den Wangen bey dem
Gefühle der Schaam, als auf die Beugungen der Finger
beym Ergreifen eines äuſseren Gegenstandes.


Zuerst nun bietet sich über die absichtlichen Bewe-
gungen die Bemerkung dar, daſs bey denselben die Seele
keinesweges dasjenige unmittelbar bewirkt, was sie eigent-
lich will. Denn die Beugungen der Glieder hängen zu-
nächst ab von der Spannung gewisser Muskeln, diese
von dem Gebrauch gewisser Nerven — aber die Seele
weiſs nichts von Muskeln und von Nerven; sie ist be-
schäfftigt mit dem äuſsern Erfolge, den sie beabsichtigt.
Umgekehrt vollbringt dagegen die Seele wirklich das, was
sie nicht kennt, nicht denkt, nicht ahndet; sie setzt den
ihr unbekannten Mechanismus richtig in Bewegung; sie
faſst ihn an dem Ende an, wo er angefaſst seyn will,
um seine Dienste leisten zu können. Und eine solche
unbewuſste Wirksamkeit übt sie aus im genauesten Zu-
sammenhange mit der des bewuſsten Wollens oder Be-
gehrens.


Für sich allein betrachtet liegt nun darin, daſs zwi-
schen dem Wollen, und dem daraus erfolgenden Zu-
[464] stande der Nerven gar keine Aehnlichkeit ist, auch nicht
die mindeste Schwierigkeit. Es ist schon oben bemerkt,
daſs zwischen einem Paare zusammengehöriger Selbster-
haltungen zweyer Wesen, die einander stören, nichts
Gleichartiges auch nur darf vermuthet werden. Gerade
umgekehrt also kann nur die Uebereinstimmung zwischen
dem Wollen in der Seele und dem letzten Effect in
der Sinnenwelt, dem Vollbringen des Gewollten, den
Gegenstand der Frage ausmachen. Wenn mit dem Wol-
len, als einem innern Seelenzustande, ein ganz hetero-
gener innerer Zustand der Nerven oder der Gehirntheile,
die mit der Seele im Causalverhältniſs stehen, sich ver-
bindet: wohlan, das befremdet nicht; aber warum ist es
jedesmal ein solcher Nervenzustand, wie gerade nöthig
ist, wenn die Glieder des Leibes durch den Mechanis-
mus desselben zu der verlangten Bewegung sollen ange-
trieben werden? Hier fehlt der Zusammenhang; und es
ist nothwendig seinetwegen in die Erklärung ein Mittel-
glied einzuschieben.


Dieses aber bietet sich von selbst an, sobald wir
uns erinnern, daſs mit jeder, gleichviel ob absichtlichen
oder zufälligen, Beugung und Lenkung der Gliedmaaſsen
auch ein Gefühl verbunden ist; nämlich eine Sensa-
tion
, wodurch die Seele sich selbst erhält in derjenigen
Störung, die sie erleiden sollte wegen der passiven Affection
gewisser Nerven in den gebogenen Gliedern. Dieses Ge-
fühl complicirt sich mit dem Wollen, oder genauer, mit
denjenigen Vorstellungen, welche im Wollen das Thä-
tige sind. Und hierin liegt das Mittelglied für den er-
wähnten Zusammenhang.


Ohne weitere Vorbereitung wird sich jetzt die Sache
folgendermaaſsen erklären lassen:


Gleich nach der Geburt eines Menschen oder eines
Thieres entstehn aus bloſs organischen Gründen, unab-
hängig von der Seele, gewisse Bewegungen in den Ge-
lenken; und jede solche Bewegung erregt in der Seele
ein bestimmtes Gefühl. Im nämlichen Augenblicke wird
durch
[465] durch den äuſsern Sinn wahrgenommen, was für eine
Veränderung sich zugetragen habe; nämlich jene Bewe-
gung wird theils die Gestalt des Gliedes, in welchem sie
vorging, modificirt, theils irgend welche andre Folgen in
der Umgebung, oder überhaupt in der Sinnensphäre ge-
habt haben. So z. B. zieht ein kleines Kind Anfangs Fin-
ger und Arme unwillkührlich zusammen; während es nun
vermöge der Nerven des Arms hievon ein Gefühl erhält,
sieht es zugleich die neue Gestalt seines Arms; und wenn
die Finger irgend einen Körper hatten umklammern kön-
nen, so sieht es auch diesen jetzo dem Zuge der Hand
nachfolgen; und es findet ihn nahe vor sich in der dem-
nächst wieder geöffneten Hand. — In einer spätern
Zeit erhebt sich ein Begehren nach der beobachteten
Veränderung. Damit reproducirt sich das zuvor mit die-
ser Beobachtung complicirte Gefühl. Nun ist das letztere
eine solche Selbsterhaltung der Seele, welcher in Ner-
ven und Muskeln alle die innern und äuſseren Zustände
entsprechen, vermittelst deren die beabsichtigte Verände-
rung in der Sinnensphäre kann hervorgebracht werden.
Das Begehrte erfolgt also wirklich; und der Erfolg
wird wahrgenommen. Hiedurch verstärkt sich sogleich
die vorige Complexion; die einmal gelungene Handlung
erleichtert die nächstfolgende, und so fort.


Einige Bemerkungen werden diese Erklärung zugleich
bestätigen und weiter ausführen. — Einer gewissen
Energie des Handelns entspricht ohne Zweifel ein gewis-
ses Quantum jenes vermittelnden Gefühls, von welchem
zunächst die Bestimmung der Nerven und Muskeln ab-
hängt. Aber ein und das nämliche Quantum des Ge-
fühls, wie jeder Vorstellung, kann auf doppelte Weise
im Bewuſstseyn vorhanden seyn; entweder so, daſs eine
an sich so schwache Vorstellung sich dem ungehemmten
Zustande mehr nähere, oder daſs eine stärkere Vorstel-
lung in einem mehr gehemmten Zustande sich befinde.
(Man erinnere sich hier der ersten Grundbegriffe der
Statik des Geistes.) Nun nimmt jenes vermittelnde Ge-
II. G g
[466] fühl an Stärke immer zu, je öfter es beym Handeln er-
neuert wird. Folglich, um nicht auch seine Wirkung zu
vergröſsern, muſs es immer mehr in einem gehemmten
Zustande verbleiben. Und das geschieht der Erfahrung
gemäſs, wirklich. Denn immer dunkler wird unser Be-
wuſstseyn der nämlichen Handlungen, je mehr durch
Wiederhohlung die Fertigkeit wächst.


Zweytens: durch Uebung wächst nicht bloſs die Fer-
tigkeit; sondern unvollkommene Erfolge veranlassen neue
Versuche, und ein schärferes Aufmerken auf die Gefühle
in den Organen; (wobey die Thätigkeit des Aufmerkens
in gewissen höhern Vorstellungsmassen ihren Sitz hat,
dergleichen wir oben beym innern Sinne in Betracht zo-
gen.) Durch Versuche nun läſst sich der Kreis des mög-
lichen Handelns unbestimmt erweitern, und sehr über die
ersten Anfänge, welche von unwillkührlichen organischen
Bewegungen ausgingen, hinausdehnen.


Drittens: daſs in diesen ersten Anfängen sich alles
aus Gefühl und Beobachtung, ohne Willkühr, zusam-
mensetzt, sieht man deutlich an eigensinnigen Kindern,
die durch Schreyen ihre Umgebung regieren; ja selbst
an Thieren, denen oft auf ihre klagende Stimme gewährt
worden ist, was sie begehrten. Bey diesen wie bey jenen
werden unverkennbar die Töne immer gebieterischer, je
häufiger sie erfahren haben, daſs sie etwas dadurch aus-
richten. Ihre Laute werden für sie ein Organ des Han-
delns, so unnatürlich dies auch ist. Die Complexion
zwischen dem Schreyen und dem beobachteten guten Er-
folge wirkt nach dem allgemeinen Gange des psycholo-
gischen Mechanismus dahin, daſs, sobald das Beobach-
tete zum Begehrten wird, sich die Stimme erhebt, und
zwar nach häufiger Wiederhohlung endlich mit der Zu-
versicht des Gelingens, wodurch der Wunsch in den
Willen, die Bitte in den Befehl übergeht.


Viertens: man wolle gegen die gegebene Erklärung
nicht einwenden, daſs die Vorstellung von der Bewegung
des Arms oder des Beins oft genug ins Bewuſstseyn
[467] trete, als etwas bloſs mögliches, was man bewirken würde,
wenn man wollte; ohne gleichwohl die wirkliche Bewe-
gung hervorzubringen, wie jene Complexion es scheine
nothwendig zu machen. Dies Phänomen ist zwar als
Thatsache bekannt und auſser Zweifel; aber es ist ver-
wickelter als jenes. Die Erfahrung zeigt uns dasselbe
immer häufiger bey fortschreitender Ausbildung; da lernt
der Mensch schweigen, er lernt seine Kräfte schonen, er
lernt mit einem Worte sich zurückhalten. Dies ist
eine Wirkung der höheren, appercipirenden Vorstellungs-
massen. Hingegen das Kind realisirt in jedem Augen-
blicke unmittelbar, was ihm einfällt, sein Phantasiren ist
ursprünglich Handeln; gemäſs dem Gesetze jener Com-
plexionen, sobald ihre Wirksamkeit nicht durch eine
höhere Thätigkeit gehindert oder gelenkt wird.


Fünftens: auch ein Umstand, der den Physiologen
befremden kann, scheint nach unserer Erklärung nicht
wunderbar. Dieser nämlich, „daſs die Seele die Fähig-
„keit besitzt, nach gewissen Richtungen von innen her
„aus zu wirken, ohne daſs diese Richtung durch die
„anatomische Verbindung der Nerven bestimmt würde“*).
Das vermittelnde Gefühl nämlich leistet immer die glei-
chen Dienste, es mag nun mit den Affectionen vieler
oder weniger Nerven oder Nervenfasern zusammenhängen.
Indem es selbst reproducirt wird, erneuert es mit sich
den Gesammtzustand des Organismus, aus welchem es
seinen Ursprung zuerst erhalten hatte.


§. 156.

Bevor wir weiter gehn, wird es nöthig seyn, der
Hauptarten physiologischer Erklärungen im Allgemeinen
zu erwähnen, und nachzusehn, was jede derselben lei-
sten könne. Dieser Hauptarten zähle ich vier, um mich
fürs erste nach dem Scheinbaren zu richten; es wird sich
jedoch zeigen lassen, daſs dieselben nicht alle eine strenge
Unterscheidung gestatten, wenn man in ihre wahren
G g 2
[468] Charaktere eindringt. Ich meine die mechanische, die
chemische, die vitale, und die psychische Erklä-
rungsart. Die Bedeutung dieser Ausdrücke wird bekannt
genug seyn, höchstens mag einigen Lesern die Erinne-
rung willkommen seyn, daſs zwischen den beyden letzten
Ausdrücken die nämliche Scheidungslinie läuft, wodurch
das Leben der Pflanzen getrennt wird von demjenigen
Leben der Thiere in ihrem wachenden oder träumenden
Zustande, wodurch sie sich über die bloſse Vegetation
erheben.


Wenn ich nun behaupte, daſs die mechanische Er-
klärungsart für sich allein beynahe ganz unbrauchbar,
aber in Verbindung mit den übrigen unentbehrlich ist,
so werden die Meisten mir beistimmen. Allein man wird
anstöſsig finden, was ich sogleich hinzusetze, daſs nämlich
die chemische Erklärungsweise unter allen am wenigsten
brauchbar, ja beynahe gänzlich untauglich ist. Dies muſs
ich genauer erläutern.


Jede chemische Action besteht (nach dem, was die
Abhandlung über die Attraction der Elemente hierüber
enthält) in derjenigen Störung, welche in zweyen hetero-
genen Wesen zwey heterogene, aber zusammengehörige,
Selbsterhaltungen nöthig macht *). Und zwar sind diese
Selbsterhaltungen allein das wirkliche Ereigniſs, denn die
Störung ist eigentlich nur das, was geschehn würde, wenn
die Selbsterhaltungen ausblieben, die aber ganz unfehl-
bar erfolgen. — Angenommen nun, daſs die Wesen,
von denen die Rede ist, sich in keinen andern und näher
bestimmten Verhältnissen befinden: so ist ihre gegensei-
tige Action gar keine andre als die beschriebene; sie ist
allemal chemisch, und es giebt keine andre als chemi-
sche Action, die unmittelbar aus dem Zusammentref-
fen zweyer Wesen erfolgen könnte. — Hingegen die
[469] vitale Action setzt innere Reizbarkeit, innere Bil-
dung eines Wesens voraus. (§. 152.) Diese Bildung
erlangt aber dasselbe nur durch seine allmählige Assimi-
lation in einem organischen Körper, das heiſst, durch
ein ganzes System von Selbsterhaltungen, zu denen es
vermöge seines Aufenthalts in dem Organismus stufen-
weise gebracht wird. Es besteht nun die Reizung
bloſs darin, daſs durch eine einzige neue Stö-
rung, und derselben entsprechende Selbster-
haltung, sogleich eine Menge früher erzeugter
Selbsterhaltungen in erneuerte Wirksamkeit
gesetzt werden
; — wovon die Wiedererweckung der
älteren Vorstellungen in der Seele durch eine neu hin-
zukommende, und schon der Widerstreit älterer entge-
genstehender Vorstellungen wider die neue, nichts als
specielle Fälle sind. Es kann ferner die Reizung in ihren
nähern Bestimmungen bey einem und demselbem orga-
nischen Elemente eben so höchst verschieden seyn, wie
die mancherley Reizungen, deren eine und dieselbe mensch-
liche Seele fähig ist. — Vergleichen wir jetzt die vitale
Action mit der chemischen: worin liegt der Unterschied?
Jene ist zusammengesetzt, diese ist einfach. Jene ist erst
möglich nachdem eine Menge von Selbsterhaltungen des
nämlichen Wesens vorangingen; diese bedarf keiner sol-
chen Vorbereitung. Und nicht bloſs eine Menge, son-
dern ein geordnetes System von Selbsterhaltungen,
wie es jedesmal die Eigenthümlichkeit desjenigen Orga-
nismus ergab, der sich das reizbar gewordene Element
assimilirte: das ist der Grund, warum die Vitalität den
Chemismus übertrifft.


Kann denn nun ein Element, das schon zur organi-
schen Reizbarkeit gebildet wurde, — kann es noch auf
bloſs chemische Weise wirken? — Ungefähr so, wie
ein gebildeter menschlicher Geist dahin gebracht werden
mag, sich auf thierisch rohe Weise zu äuſsern. Man
muſs erst die Bildung in ihm unkräftig machen, durch
neue, gewaltsame Eindrücke; man muſs ihn aus dem
[470] äuſseren Zustande, zu welchem seine Cultur sich schickt,
erst ganz herausreiſsen, in einen ganz entgegengesetzten
ihn hineinzwingen, und ihn nicht zur Besinnung kommen
lassen. Denn sobald alle in ihm vorhandenen Vorstel-
lungsmassen sich ins volle Gleichgewicht setzen, wird
doch die bessere Erziehung wieder durchschimmern, und
in den ärgsten Lumpen wird ein edler Anstand sichtbar
werden. — So gerade mag auch ein vormals organisches
Element nach Auflösung der Lebens-Bande, nach der
Verwesung, sich einigermaaſsen (doch niemals ganz) in
den rohen Chemismus zürückversetzt finden: gewiſs
aber darf man während des noch kräftigen Lebens kei-
nen solchen Verfall erwarten; sondern hier ist, (um
nur zum Schluſs zu kommen) die chemische Erklärungs-
art fast ganz untauglich, weil ihre Stelle allemal von der,
ihr nicht sowohl entgegengesetzten, als vielmehr sie über-
treffenden, vitalen, wird ausgefüllt werden.


Endlich die psychische Erklärungsart, wie hängt sie
mit den vorigen zusammen? Sie setzt voraus, daſs nicht
bloſs, wie in der Pflanze, eine Menge von zusammen-
geordneten, und zum gemeinsamen Leben gebildeten
Elementen, dieses Leben mit einander wirklich führen,
und in demselben einander gegenseitig bestimmen: son-
dern daſs noch etwas Ueberschüssiges, zur organi-
schen Existenz nicht schlechthin nothwendiges, aber in
einem ganz ausgezeichneten Grade und auf ganz beson-
dere Weise Gebildetes, zugegen sey, welches in das
ganze System des lebenden Körpers aufs tiefste verfloch-
ten, dasselbe vielfältig modificire, und von ihm Modifi-
cationen empfange. Die Seele ist nicht einmal bey den
niedrigsten Thieren das, wofür ein Alter sie zu halten
schien, indem er sich scherzend so ausdrückte, sie sey
dem Thiere gegeben statt des Salzes, damit es nicht faule.
Viel eher kann man mit Reil sagen: „die Seele ist
„der natürliche Parasit des Körpers,
und ver-
„zehrt in dem nämlichen Verhältniſs das Oehl des Le-
„bens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die
[471] „Gränzen ihres Wirkungskreises erweitert werden“ *).
Es giebt Blödsinnige, die gänzlich einer Pflanze gleichen
würden, wenn man ihrem Munde die nöthige Nahrung
so beständig gegenwärtig erhalten könnte, wie die Wur-
zeln der Pflanze umgeben sind von der nährenden Erde.


Unerwartet ist es bey dem eben angeführten Schrift-
steller, wenn er dennoch der groſsen Zahl derjenigen
Physiologen beytritt, welche in der Verwunderung über
die Abhängigkeit der Seele vom Körper, besonders in
kranken Zuständen, die erstere mit dem letztern zusam-
menschmelzen, und dadurch in den Materialismus ver-
fallen. „Wie wird uns,“ fragt Reil, „beym Anblick
„dieser Horde vernunftloser Wesen,“ (im Irrenhause)
„deren einige vielleicht ehemals einem Newton, Leib-
„nitz
, oder Sterne zur Seite standen? Wo bleibt un-
„ser Glaube an unsern ätherischen Ursprung, an die
„Immaterialität und Selbstständigkeit unseres Geistes, und
„an andere Hyperbeln des Dichtungsvermögens? Wie
„kann die nämliche Kraft in dem Verkehrten anders
„seyn und anders wirken? Wie kann sie, deren We-
„sen Thätigkeit ist, in dem Cretin Jahre lang schlum-
„mern? Wie kann sie mit jedem wechselnden Mond,
„gleich einem kalten Fieber, bald rasen, bald vernünftig
„seyn?“ — Wie sie könne? Die allgemeine Antwort,
welche hinreicht wider allen Materialismus, nämlich ver-
möge des Causalverhältnisses zwischen Leib und Seele,
muſs einem Reil wohl bekannt gewesen seyn. Die nä-
hern Bestimmungen für besondre Fälle, welche der aus-
gezeichnete Mann vielleicht vermiſste, werden wir in der
Folge wenigstens vorzubereiten suchen. Fürs erste aber
[472] dürften wir wohl fragen, wie denn die in allen Gliedern
verbreitete Seele, welcher Herr Reil den Vorzug giebt,
beym Wahnsinnigen, beym Cretin vollends, so sehr krank
seyn könne, ohne das Leben und selbst ohne die Kör-
perkräfte eines solchen Menschen merklich anzufechten?
Wir haben noch nie gehört, daſs eine kranke Lunge,
ein krankes Herz, ein kranker Magen, oder nur eine
kranke Gallenblase, so unbedeutend sey für das Leben,
wie die kranke Seele. Selbst ein Geschwür an der Fuſs-
sohle, ja ein verletzter Nagel am Finger, kann durch
Brand den ganzen Körper tödten; aber mit seinen Ket-
ten mag immerhin der Rasende klirren und toben; die
Sorge ist nicht groſs, daſs er davon sterbe.


Es wird also wohl dabey bleiben, daſs die Seele nur
ein Einwohner des übrigens sich selbst genügenden Lei-
bes ist; welchem Einwohner bloſs zum Danke für die
mancherley Dienste, die ihm geleistet werden, obliegt,
einige Geschäffte zur äuſsern Unterstützung des Lebens,
insbesondre die Aufsuchung der Nahrung zu übernehmen.
Und daraus folgt denn, daſs die psychischen Erklärun-
gen in Eine Klasse fallen mit den Erklärungen durch
fremdartige Potenzen. Eine Krankheit, welche die Seele,
etwa durch Leidenschaften, durch Verdruſs und Kummer,
verursacht, wird gleichen einer durch Erkältung oder Er-
stickung herbeygeführten; denn die Verknüpfung zwischen
Seele und Leib ist nur um weniges enger (wenn gleich
beständiger,) als die zwischen dem Leibe und der
Luft, die er athmet, oder der freyen Wärme, die seine
Haut unmittelbar umgiebt. Es ist sehr gewiſs, daſs der
Leib auf die nächste Atmosphäre und auf deren Tempe-
ratur entscheidend wirkt, und von ihr Wirkungen erlei-
det; und so haben wir auch noch keinen lebendigen Leib
gesehen, von dem wir bestimmt hätten behaupten dürfen,
daſs ihm die Seele gänzlich mangele, oder gar nicht
in ihn wirke. Aber man sollte besser überlegen, wie we-
nig in manchen Fällen an diesem Gänzlich fehle!


Schon oben haben wir von der Art der gegenseitigen
[473] Einwirkungen zwischen Seele und Leib gesprochen, und
sie auf zusammengehörige Selbsterhaltungen zurückgeführt.
Dadurch fallen sie wiederum in dieselbe allgemeine Classe,
wohin auch die chemischen und vitalen gehören. Aber
wie die vitalen höher stehn als die chemischen, indem
sie von der organischen inneren Bildung jedes Elements
abhängen, so stehen die psychischen noch höher; es ist
die Ausbildung der Seele, mit welcher die Mannigfaltig-
keit ihrer Wirkungen auf den Körper anwächst, und de-
ren Stärke sich vermehrt.


Einzig und allein die mechanische Erklärungsart
weicht in so fern specifisch ab von den sämmtlichen an-
deren, als sie eine ganz neue Bedingung für die zusam-
mengehörigen Selbsterhaltungen einführt. Um dieses zu
verstehen, muſs man die Verknüpfung räumlicher Ver-
hältnisse der einfachen Wesen mit ihren Störungen und
Selbsterhaltungen, aus der allgemeinen Metaphysik ken-
nen. Man muſs vor allen Dingen die actio in diſtans
für das erkannt haben, was sie ist, nämlich für eine Lieb-
haberey deren, die ein Vergnügen darin finden, sich über
Ungereimtheiten (die sie zwar nicht einsehn, aber dunkel
fühlen,) andächtig zu verwundern. In der Metaphysik
erscheint zuvörderst der intelligible Raum dergestalt be-
stimmt, daſs in ihm die Entfernung sogleich die vollstän-
dige Unmöglichkeit des Causalverhältnisses selber ist; die
Durchdringung aber oder das Zusammen, unmittelbar die
Causalität herbeyführt. In der Erfahrung zeigen sich
nun alle Folgerungen bestätigt, welche aus den Verhält-
nissen im intelligibeln Raume abgeleitet werden, darum
können füglich intelligibler und empirischer Raum in den
Resultaten (nur nicht in den Erkenntniſsgründen) gleich
gesetzt werden. Die seltnen Fälle, in welchen die Er-
fahrung eine actio in diſtans (die übrigens nie bewie-
sen
werden kann) auf den ersten Anblick darbietet, sind
ohne Ausnahme mit dem verrätherischen Merkmale be-
haftet, daſs in ihnen von dem Mehr oder Weniger der
Entfernung auch das Weniger oder Mehr der Wirkung
[474] abhängt. Dieses ist aus der Quantität des zwischen lie-
genden Raumes schlechterdings nicht zu erklären, denn
der Raum selbst ist ein leeres Nichts. Ein reales Ver-
mittelndes muſs dazwischen liegen; das geringste wie das
gröſste Quantum leeren Raumes würde die Gemeinschaft
der Substanzen auf gleiche Weise bestimmen; — nämlich
dieselbe gänzlich unterbrechen.


Hiemit nun hängt die groſse Wichtigkeit der mecha-
nischen Erklärungen, auch in der Physiologie, zusammen.
Kann man nachweisen, daſs in irgend welchen Fällen
sich gewisse Nervenfasern contrahiren, oder genauer, daſs
nach irgend einer Dimension ihre Elemente näher
zusammenrücken, also sich vollkommner durchdringen,
als zuvor: so ist die Bedingung des Causalverhältnisses
unter diesen Elementen gewachsen, folglich deren
gegenseitiger Einfluſs gröſser geworden. Eben so umge-
kehrt. Kommt vollends irgend etwas Neues, wenn auch
nur Wärme oder dergleichen, in die Zusammensetzung
der Bestandtheile, so entstehen neue Störungen und
Selbsterhaltungen, neue innere und hiemit beynahe un-
fehlbar auch neue äuſsere Zustände. Allein überall wird
man die mechanischen Erklärungen mit den vitalen ver-
binden müssen, denn bey organischen Elementen ist
überall ihre früher gewonnene innere Reizbarkeit mit
im Spiele.


§. 157.

Nach diesen Vorbereitungen werden wir vielleicht
über die Art der Verbindung zwischen der Seele und
dem Leibe etwas Näheres zu den erst angegebenen ganz
allgemeinen Grundgedanken hinzuzufügen wagen können.


Wahrscheinlich ist nicht nur die Seele der Parasit
des Körpers, sondern mit ihr der gröſste Theil des
Nervensystems und vorzüglich des Gehirns. Da man im
Allgemeinen die Einrichtung der organischen Maschine,
sammt ihren Lebensfunctionen und der Zusammenwirkung
ihrer Theile, so ziemlich kennt; warum weiſs man über
die verschiedenen Körper, Höhlen, Hügel und Brücken,
[475] aus denen das Gehirn besteht, so wenig, oder gar nichts,
das ihren Gebrauch aufklärte, zu sagen? Warum findet
man das Gehirn verhältniſsmäſsig so groſs im Menschen,
und von einer so groſsen Blutmasse durchströmt; wäh-
rend es in niedrigern Thieren immer kleiner wird, immer
weniger Zusammenhang unter seinen Theilen zeigt, ja auf
den untersten Stufen des thierischen Lebens gar ver-
schwindet? Warum anders, als weil das Gehirn zunächst
für die Seele, aber nicht für das vegetative Leben des
Organismus vorhanden ist?


Wie nun aber das Gehirn sammt dem Nervensystem
von dem ganzen übrigen Leibe weit verschieden, und nur
in denselben eingefügt und eingewebt ist: eben so muſs
wiederum in den höheren Thieren, und namentlich
im Menschen, die Seele entweder ursprünglich als We-
sen, oder durch ihre Stellung und die daraus entsprungene
vorzügliche innere Bildung, verschieden seyn von den
übrigen Elementen des Gehirns und der Nerven. Denn
sie dominirt das System, in welchem sie sich befindet.


Man könnte sich auf einen Augenblick der entgegen-
gesetzten Meinung hingeben. Man könnte sagen: da
alle Causalität wechselseitig ist (wie eben das System
von den Störungen und Selbsterhaltungen am ausdrück-
lichsten behauptet,) so kann kein Element des Gehirns
und der Nerven in seinen inneren Zuständen unabhängig
seyn, von den Zuständen jedes andern; alle müssen allen
ihre Zustände bestimmen. Nun ist zwischen der Seele
und dem Gehirne dieselbe Wechselseitigkeit des Cau-
salverhältnisses, wie zwischen den Gehirntheilen unter
einander. Also können auch die sämmtlichen Vorstellun-
gen, Begehrungen und Gefühle, obschon in dem ein-
fachen Wesen der Seele versammelt, doch nicht

nach bloſs innern Gesetzen ihrer eignen Zusammenwir-
kung, sich richten, sondern ihr Wechsel und ihre Ver-
knüpfungen sind die Resultate aller Zustände in allen
einzelnen Elementen des Gehirns und des Nervensystems.


Aus dieser Ansicht würde etwas ganz ähnliches, und
[476] zwar bey gesunder Metaphysik, folgen, als was diejeni-
gen wollen, die neuerlich der Zersplitterung der Seele
durch alle Theile des Körpers das Wort geredet haben.
Nämlich die Abhängigkeit der Seele vom Körper würde
so groſs seyn, daſs eine Psychologie ohne Physiologie
ganz vergeblich wäre, und daſs alle Phänomene des Be-
wuſstseyns nichts als Aeuſserungen des gesammten Orga-
nismus werden müſsten.


Um diese Vorstellungsart würdigen zu können, müs-
sen wir sie ein wenig weiter ausführen. Die Meinung
ist also, daſs ein ähnlicher, innerer Mechanismus unter
den Selbsterhaltungen, die in den einzelnen Elementen
des Gehirns und der Nerven statt gefunden, und sich
angehäuft haben, in jedem solchen Elemente ungefähr
auf dieselbe Weise thätig sey, wie in der Seele; und
daſs die Mechanik des Geistes darum unendlich verwickelt
ausfalle, weil der Geist nicht von sich selbst allein ab-
hange, sondern es nur eine Gesammt-Mechanik für alle,
sich gegenseitig bestimmende Theile des Systems geben
könne. So blieben also die Auffassungen der Farben
nicht bloſs in der Seele, sondern auch in den Sehener-
ven, nach der Wahrnehmung zurück; desgleichen die
Auffassungen der Töne in den Gehörnerven; und so fort;
bey neu hinzukommenden Farben und Tönen aber gäbe
es Reminiscenzen und Reproductionen in den Elementen
der Nerven gerade wie in der Seele; ja es besäſsen
selbst jene Elemente das, was man Phantasie und Ge-
dächtniſs nennt, dergestalt, daſs auch unabhängig von
neuen äuſsern Eindrücken, das früherhin aufgefaſste in
ihnen lebendig wäre; und daſs hiedurch die Lebendigkeit
der Phantasie und des Gedächtnisses in der Seele un-
endlich erhöht würde. — Und hier hätten wir denn ohne
Schwierigkeit die oft angenommenen veſtigia rerum,
die freylich nicht materielle Ideen zu seyn brauchen,
von denen Reil fragt, wo sie Platz genug haben in dem
Gehirne eines Polyglotten-Schreibers?*) Platz brauchen
[477] sie gar nicht, denn sie sind in den Elementen, sowohl
wie die Vorstellungen in der Seele. Und wenn Reil
weiter fragt, was zu ihnen hinzukomme, damit sie sicht-
bar werden, so bietet sich sogleich die Antwort dar, sie
verwandeln sich durch ihre Gegensätze gerade so in stre-
bende Kräfte
, wie die Vorstellungen der Seele nach
den ersten Grundsätzen der Statik des Geistes. Man
sieht also, daſs auf allen Fall diese Ansicht sich würde zu
einer Theorie ausbilden lassen, die immer noch besser
wäre, als die meisten Einfälle, denen sich die Physiolo-
gen, wohl gar in der Einbildung, sie hätten philosophirt,
Preis zu geben pflegen.


Allein aus diesen Voraussetzungen folgt zuviel, und
eben darum wenig oder Nichts. Die Fälle, wo ein Sin-
nesorgan sich in dem Zustande befindet, daſs ohne An-
stoſs von auſsen dennoch seine Elemente sich auf eben
die Art selbst erhalten, wie sie es im Wahrnehmen thun,
und daher auch die Seele durch die Einbildung eines
Wahrgenommenen täuschen, — diese Fälle kommen
selten einmal vor, nämlich als kranke Zustände. Das
Ohr ist krank, wenn es von selbst singt; das Auge ist
angegriffen, wenn es nach allzustarkem Lichte die be-
kannten nachbleibenden Spectra sieht; der Nerve leidet,
der den Schmerz in einem schon amputirten Gliede nach-
ahmt. Dies alles nun, und noch viel mehreres der Art,
müſsten nicht selten einmal die kranken, sondern unauf-
hörlich die gesunden Organe bewirken; sie müſsten uns
stets in einem, der Wahrnehmung nahe kommenden Zu-
stande, — wie in einem lebhaften Traume, — erhalten,
sie müſsten bey allen neuen Wahrnehmungen ihre Re-
miniscenzen einschieben; wodurch die Erschleichungsfeh-
ler bey allen Erfahrungen ins Ungeheure anwachsen wür-
den, indem nicht bloſs die Seele, sondern die sämmtli-
chen Elementar-Bestandtheile der Sinnesnerven zu die-
sem Erschleichen beytrügen! Dagegen würde es auf die-
sem Wege gar nicht schwer halten, daſs ein animali-
sches Wesen zu einer gewissen Stufe geistiger Bildung
[478] sich erhöbe. Das Thier würde keinesweges auf die Em-
pfindungen des Augenblicks beschränkt seyn; es würde
vielmehr in jedem Zeitpuncte den Gewinn seines ganzen
bisherigen Lebens vortrefflich beysammen haben, wenn
in allen Theilen der Nerven die frühern Zustände sich
gleich wiedererweckten Vorstellungen regen, und dadurch
die Seele in der Wieder-Erinnerung unterstützen könn-
ten. — Es würden aber auch endlich die Bewegungs-
nerven ähnliche Kräfte gelten machen. Sie würden die
einmal gelernten Fertigkeiten aus eignem Triebe und Ein-
falle weiter üben; und da sie bey ihren Muskeln die
nächsten sind, so möchten die übrigen Theile des Sy-
stems Mühe haben ihnen Einhalt zu thun. Der Mensch
würde also, wie in beständig eingebildeten Wahrneh-
mungen, so in beständigen Krämpfen liegen; und die
Seele würde sich in ihrem Nervensystem in dem nämli-
chen unglücklichen Zustande befinden, wie ein schwacher
König in seinem Staate, der von Allem leidet und nichts
vollbringen kann.


Man sicht, daſs diese Ansicht zu etwas zu gebrau-
chen ist, nämlich zur Erklärung psychischen Leidens,
wie es in Fiebern und im Delirium vorkommt. Nimmer-
mehr aber schickt sich so etwas zum gesunden Zustande,
worin der Geist eine zweckmäſsige Thätigkeit ausübt.
Der Musiker sieht nicht, sondern er hört; der Maler hört
nicht, sondern er sieht; der Algebraist sieht nur so viel,
als er braucht um seine Gedanken an sinnliche Zeichen
zu heften; und jeder tüchtige Arbeiter endlich bewegt
nur diejenigen Glieder, welche der Begriff der Arbeit
und die dahin gehörigen Vorschriften bewegt wissen wol-
len. So ist im gesunden Zustande das Nervensystem
weit mehr passive Maschine, als irgend eins von
denjenigen Organen, welche nach ihren eignen Gesetzen
die ihnen zukommenden Lebensfunctionen verrichten.
Das Nervensystem allein, läſst sich bald in diesem bald
in jenem seiner Theile eine Thätigkeit gefallen, deren
Princip nicht in ihm liegt; und wofür der Einheitspunct,
[479] in welchem alle diese Thätigkeiten verknüpft sind, bloſs
in dem Vorstellungskreise der Seele sich findet.


Wie das nun möglich sey, ist allerdings schwerer
zu begreifen, als der zuvor geschilderte Zustand allge-
meiner Gegenseitigkeit des Causalverhältnisses zwischen
Leib und Seele. Der Zustand der Gesundheit, sage
ich, ist schwerer zu begreifen in dem Verhältniſs zwischen
Leib und Seele, als der der Krankheit; gerade so wie
man schon oben wird bemerkt haben, daſs unter den
rein psychologischen Gegenständen keiner eine so weit
fortgeschrittene Einsicht erfordert, als die Erklärung der
Vernunft und der Sittlichkeit.


Was aber den organischen Leib anlangt, so darf
hier niemals unerwartet seyn, was in andern Theilen der
Physik höchst bedenklich ist, nämlich die Einmischung
einer teleologischen Ansicht. In dem lebendigen Leibe
waltet überall eine höhere Kunst. Schon die Verbindung
von Elementen, die, abgelös’t vom lebenden Körper, schnell
zur Verwesung sich neigen, erregt gerechtes Erstaunen.
Wenn aber so manches andere Wunder sich überall in
diesem Organismus darbietet, wenn, um nur Eins zu nen-
nen, der Bau der halbmondförmigen Klappen in den
Hauptstämmen der Arterien so offenbar den Stempel ei-
ner absichtlichen Einrichtung trägt: so kann es nun auch
nicht befremden, wenn wir die Unterordnung des
Nervensystems unter die Seele als etwas sol-
ches
bezeichnen, das nicht aus allgemeinen Na-
turverhältnissen, sondern nur unter Voraus-
setzung einer besondern Einrichtung begreif-
lich sey, welche auf eben die Kunst muſs zu-
rückgeführt werden, von der überhaupt die hö-
hern Thiere ins Daseyn gerufen wurden
.


Wie, wird Mancher fragen, nur die höhern Thiere,
und nicht auch die niederen? Und ich werde einige
Worte zur Erläuterung einschalten müssen.


§. 158.

Bekanntlich haben manche neuere Naturforscher, ge-
[480] stützt auf Thatsachen, welche ihnen Infusionsthiere und
Eingeweidewürmer, Schimmel und Schwämme darboten,
sich zu der generatio aequivoca zurückgewendet, die in
einer frühern Periode verrufen war, und der Lehre von
Entstehung aller Thiere und Pflanzen aus Saamen den
Platz hatte räumen müssen. Anstatt nun mit nüchternem
Forschungsgeiste ihre Erfahrungen in dem Kreise zu las-
sen, worin sie sich fanden, sprangen einige jener Ge-
lehrten aus dem verhältniſsmäſsig äuſserst engen Bezirke
der erwähnten Thatsachen hinüber zu der ungeheuren
Hypothese, daſs die generatio aequivoca mittelbarer Weise
die Mutter aller lebenden Wesen sey, der höchsten wie
der niedrigsten, des Menschen wie der Tremellen und
Conferven; indem alles Leben nur von den niedern Stu-
fen der Organisation zu den höhern gelangen könne;
und der einfachere Organismus sich von Generation zu
Generation immer mehr ausbilde. „Wir glauben da-
„her,“
sagt Herr D. Treviranus in seiner Biologie *),
daſs die Encriniten, Pentacriniten, Ammoni-
„ten, und die übrigen Zoophyten der Vorwelt
„die Urformen sind, aus welchen alle Organis-
„men der höhern Classen durch allmählige Ent-
„wickelung entstanden sind. Wir sind ferner
„der Meinung, daſs jede Art, wie jedes Indivi-
„duum, gewisse Perioden des Wachsthums, der
„Blüthe und des Absterbens hat, daſs aber ihr
„Absterben nicht Auflösung, wie bey dem Indi-
„viduum, sondern Degeneration ist
.“ Wenn der
alte Heraklit unter uns wieder aufstünde, so würde er
diese Meinung vortrefflich mit seinem absoluten Werden,
seiner periodischen Weltverbrennung, seinem κοινος λο-
γος und seiner ἑιμαρμενη, zu reimen wissen.


Absichtlich habe ich hier die Worte eines achtungs-
werthen Erfahrungs-Gelehrten, nicht eines modernen
Na-
[481] Naturphilosophen angeführt. Die Irrthümer, welche die
Classe der letztern verbreitet, kommen nicht alle aus dem
Philosophiren, sie haben eine weitere Sphäre, und man
findet deren überall da, wo die Meinung schneller forteilt,
als das besonnene Denken nachfolgen kann.


Ich kann nicht hier, gegen das Ende eines psycho-
logischen Werks, entwickeln, was in die ersten Vorbe-
reitungen zur Metaphysik gehört*), nämlich die gänzliche
Unstatthaftigkeit des absoluten Werden, also auch der
vorgeblich in der Natur der Dinge ursprünglich liegenden
Entwickelung, Veredelung und Degeneration. Diese für
alles Wissen ohne Ausnahme zerstörenden Irrthümer
muſs man kennen gelernt, und von sich geworfen haben,
ehe man mit irgend einer soliden Forschung die nur im
geringsten über das Gebiet der reinen und strengen Em-
pirie sich erheben will, den Anfang machen kann.


Jene aber, die lieber eine Menge von Thatsachen
zusammenreimen, wie sie eben können, als einen einzi-
gen von den zur Naturbetrachtung unentbehrlichen Grund-
begriffen sich gehörig aufklären wollen, — sollten denn
wenigstens bedenken, welche unermeſsliche Kluft zwischen
je zwey nächsten organischen Bildungen bevestigt ist, de-
ren eine vorgeblicher Weise aus der andern entstehen
soll. Zwar die Einbildungskraft überfliegt diese Kluft, sie
findet das Pferd und den Elephanten, den Affen und den
Menschen nicht so gar sehr verschieden. Und wenn die
Natur sich ähnlichen Tanz erlaubte, wie die Phantasie,
so würde eins aus dem andern ohne Mühe entstehn kön-
nen, durch Veredelung und durch Degeneration! Warum
entsteht denn niemals aus einer geraden Richtung des
bewegten Körpers eine krummlinigte, auſser durch ein-
wirkende Kräfte? und genau gemäſs diesen Kräften?
Darum, weil die Natur sich selbst überall getreu ist
II. H h
[482] und bleibt; welche Treue das gerade Widerspiel des ab-
soluten Werdens in jeder seiner Ausschmückungen ist. —
Aber die Natur soll ja eben gesetzmäſsig verfahren in der
Entwickelung ihrer Lebensformen! Wer kennt denn nun
ein solches Gesetz, und wo soll es nachgewiesen werden?
In der Erfahrung — an Zoophyten! Die Zoophyten
also haben die Ehre, uns den Typus zu entdecken, nach
welchem die groſse Bildnerin auch da zu Werke geht,
wo sie Menschen macht! Ist jemals eine Erfahrung über
ihre Gränzen ausgedehnt, ist je eins ihrer Zeugnisse durch
eine willkührliche Auslegung misbraucht worden, so ist
es hier. Die Analogie ist hier eben so monströs, als die
Grundbegriffe ungereimt sind.


Endlich — an was für Bedingungen ist die Erzeu-
gung jener Zoophyten, die so groſse Wunder aufklären
sollen, gebunden? An die Gegenwart von solcher Ma
terie, die schon früher belebt war; überdies an
Wasser und an atmosphärische Luft*). Sind
denn das ungebildete Stoffe, von denen man sagen
könnte: so wie aus ihnen heutiges Tages zuerst
Zoophyten würden
(welches heutiges Tages so we-
nig
geschieht, als es in irgend einer Vorzeit oder Zu-
kunft kann erwartet werden, — denn man nimmt zu den
Infusionen eben nur vegetabilische oder animalische
Theile, also gebildete Stoffe,) so hätten auch die
ersten Rudimente der lebenden Natur aus Zoo-
phyten bestanden
—?**) Gerade im Gegentheil!
Es fehlt hier offenbar an dem Hauptpuncte der Verglei-
chung. Was heute zu Tage vor den Augen der Natur-
forscher sich ereignet, das erklärt sich daraus, daſs jetzo,
nachdem einmal höhere Organismen existiren, in allem
Wasser
, in der ganzen Atmosphäre, vollends also
in den zur Infusion gebrauchten animalischen und vege-
[483] tabilischen Theilen, ein Ueberfluſs an solcher, zwar form-
losen, aber dennoch innerlich gebildeten Materie vorhan-
den ist, welche das Streben nach Erneuerung ihrer alten
Lebensverhältnisse in sich trägt, und bey jeder Gelegen-
heit, wo einige dergleichen Elemente unter günstigen Um-
ständen zusammentreffen, irgend eine organische Gestalt
annimmt, als Nothbehelf, weil die vollkommnere Organi-
sation dasmal nicht zu Stande kommen kann. So ist es
zu erwarten; und nur die nähern Bestimmungen, wie weit
unter gegebenen Umständen jenes Streben sich befriedi-
gen könne, muſs man aus der Erfahrung lernen. Aber
dies paſst im geringsten nicht auf die Urzeit, da nur
eben erst der Granit und die ältesten Thongebirge sich
gebildet hatten. Damals konnten die Zoophyten nicht
wie jetzt, als Producte schon gebildeter Materie, entstehn!
Damals mochten sie entstehen aus was immer für einem
Grunde: so konnte, nach ihrem Untergange, die nun
durch sie
gebildete Materie zwar wohl streben, aber-
mals in die Gestalt von Zoophyten zurückzukehren, allein
sie war nicht aufgelegt für irgend ein höheres Lebensver-
hältniſs. Brauchbarer freylich war sie dazu geworden;
wenn etwan eine höhere Kraft hinzukam, welche Gele-
genheiten veranstaltete, wo die schon gewonnene Bildung
durch neue Störungen und Selbsterhaltungen einen Zu-
satz erlangen mochte. Und so bedurfte jeder höhere
Grad von Bildung immer neuer Anstalten; niemals konnte
der eben vorhandene Grad, und die vorhandene Art der
innern Zustände irgend eines Elements, sich selbst über-
steigen. Daſs alles stufenweise fortgebildet sey, das
mag man aus der Naturgeschichte der Erde, wie sie sich
dem Mineralogen darstellt, immerhin schlieſsen; man mag
auch annehmen, daſs gute Ursachen diesen Stufengang
bestimmt haben. Aber bey dem: es habe sich selbst
stufenweise gebildet
, wenn man es genau nimmt,
kommen alle Ungereimtheiten falscher Metaphysik, deren
Nest eben das absolute Werden ist, wieder zum Vor-
schein. Unsre Erd-Oberfläche muſs unter dem Einflusse
H h 2
[484] einer andern und höhern Kunst gestanden haben, da sie
mit Leben bedeckt wurde, — einer andern und höhern
Kunst, als die auf ihr selber erzeugt wird. Denn alles,
was wir von Veredelung und Verbesserung kennen, ist
selbst nur unter der Bedingung des schon vorhandenen
organischen Lebens denkbar. Hier ist einer von den
Puncten, wo es sich gebührt, die äuſserst beschränkte
Sphäre irdischer Erfahrungs-Erkenntniſs zu erwägen;
und eben darum nicht mehr wissen zu wollen, als man
wissen kann. Und dabey wolle man noch bemerken, daſs
hier nicht von irgend welchen angebornen Schran-
ken der Vernunft
(einem Begriffe ohne Sinn), son-
dern von Schranken des Gegebenen, des Stoffes
zur Erkenntniſs die Rede ist.


§. 159.

Es war vor der eben geendigten Abschweifung die
Rede von der Herrschaft der Seele über Gehirn und Ner-
ven; deren Elemente keinesweges mit ihr in gleichem
Range der innern Thätigkeit stehen können, weil sonst
die Erfahrung regelmäſsig solche Erscheinungen zeigen
müſste, dergleichen wir nur in Krankheitsfällen beobach-
ten. In der kunstvollen Einrichtung des Leibes muſs es
gegründet seyn, daſs diejenigen Theile, welche mit der
Seele im nächsten Causalverhältnisse stehen, derselben
ihre Einflüsse nicht weit gewaltsamer aufdringen, als dies
wirklich zu geschehen pflegt. Die höchste Gesund-
heit des Körpers ist zugleich mit dem freyesten
Gebrauche der Geisteskräfte in der Regel ver-
bunden
; eine merkwürdige Thatsache, worin der höchste
Triumph derjenigen Kunst sich zeigt, die den Menschen
bildete.


Da nun die Gröſse des Gehirns beym Menschen, als
dem freythätigsten aller irdischen Wesen so ausgezeich-
net ist, so mag es erlaubt seyn zu vermuthen, worin im
Allgemeinen das Mittel bestehe, dessen sich jene Kunst
bediente, um die Nachklänge empfangener Eindrücke in
den Sinnesnerven, und erlangter Fertigkeiten in den Be-
[485] wegungsnerven (§. 157.) für die Seele meistens unfühl-
bar zu machen. Es steht nämlich nicht bloſs die Seele
mit dem Gehirn und den Nerven, sondern es steht jeder
Theil des Gehirns mit dem andern, jeder Nerv mit dem
ganzen Systeme im Causalverhältniſs. Daher muſs jeder
innern Thätigkeit in Einem Elemente auch eine zugehö-
rige in jedem andern Elemente des ganzen Systems ent-
sprechen. Finden aber diese zugehörigen Thätigkeiten
Hindernisse in den schon vorhandenen innern oder äu-
ſseren Zuständen der Elemente, in welchen sie vor sich
gehn sollten, so müssen sie dadurch schon in ihrem Ur-
sprunge, und mehr noch in ihrer Verbreitung geschwächt
werden. Demnach wird die Dicke und Ausbreitung der
übergeschlagenen Markblätter des Gehirns, indem sie die
Menge der Elemente vermehrt, welchen jede Action der
Nerven muſs mitgetheilt werden, auch zur Dämpfung, zur
Milderung dieser Actionen dienen können; sie wird gleich-
sam ihren Ungestüm auffangen, daſs er die Seele nur
wenig oder gar nicht treffe und störe.


So hätte demnach die Seele in der Gröſse des Ge-
hirns ihren Schutz und Schirm wider die Anfälle des
übrigen Organismus, der sonst die Gewalt, welche er
von der Auſsenwelt leidet, sammt der Thätigkeit, in die
er sich dadurch versetzt findet, immerfort die Seele würde
entgelten und empfinden lassen. Das Gehirn ist frey von
unmittelbarer Affection durch die Auſsenwelt; es ist weich
und nachgiebig gegen die Blutströme, die sich in das-
selbe ergieſsen; es ist nicht zu heftigen Bewegungen,
nicht zu unentbehrlichen Lebensfunctionen gebauet. Da-
her bietet es der denkenden Seele eine ruhige Wohnung
dar; eine weite und überflüssig geräumige Wohnung!
Das letztere sicht man aus den Erfahrungen, nach wel-
chen beträchtliche Theile der Gehirnmasse konnten hin-
weggenommen werden, ohne einen plötzlich auffallenden
Schaden für das geistige Leben.


Wie anders mag es um die Seele der Insecten stehn,
bey welchen die Ganglien, die im Körper vertheilt vor-
[486] kommen, das Uebergewicht über dem Gehirne haben?
Hier finden wir Kunsttriebe; einen vorgeschriebenen Wech-
sel der Lebensart; der Gang der Vorstellungen scheint
unaufhörlich durch organische Gefühle bestimmt, deren
Sitz ohne Zweifel in der Gesammtheit aller Elemente des
Nervensystems muſs gesucht werden. Und das nämliche
ist wahrscheinlich das Loos der allermeisten Thiere, nur
die obersten Säugethiere ausgenommen. Ob der Lauf
der Vorstellungen mehr einem psychologischen, oder
einem physiologischen Gesetze folgt: dies scheint die
groſse Frage, wornach entschieden werden muſs, wiefern
ein beseelter Organismus zum Träger eines vernünftigen
Daseyns tauge. Den niedrigsten Geschöpfen kann man
geradezu mehrere Seelen beylegen, wenn anders der Name
Seele noch anwendbar ist auf solche einfache Wesen,
deren Selbsterhaltungen vielleicht mit unsern Vorstellun-
gen keine Aehnlichkeit mehr haben. Wenigstens hat
man im geringsten nicht Ursache, sich über die Theil-
barkeit der Regenwürmer und Polypen in mehrere fort-
lebende Ganze, den Kopf zu zerbrechen; nur eine zu
weit getriebene Analogie unter den verschiedenartigsten
lebenden Wesen, könnte hier, so wie anderwärts, Schwie-
rigkeiten machen. Gewiſs braucht man nicht anzuneh-
men, daſs die Seele, oder was immer im Nervensy-
stem das herrschende seyn mag, in allen Thieren ein
gleich parasitisches Daseyn habe, wie im Menschen; im
Gegentheil, das monarchische Verhältniſs jener Herrschaft
senkt sich allem Anschein nach gar sehr ins demokrati-
sche hinunter; und die niedrigsten Seelen mögen immer-
hin auch die niedrigsten Dienste, deren die Vegetation
bedarf, mit besorgen helfen.


Hinwiederum ist kein Zweifel, daſs die menschliche
Seele sich ihre schöne und wohlgelegene Wohnung noch
bequemer mache; daſs im Gehirne eine Menge von in-
nern und vielleicht selbst äuſseren Zuständen, durch die
Seele verursacht werden. Es ist kein Zweifel, daſs unter
den menschlichen Gehirnen Verschiedenheiten, theils der
[487] Bauart, theils der Bestandtheile seyn können; und es ist
daher Platz genug für die Erfahrungen, nach welchen ei-
nigen Menschen gewisse Geistesthätigkeiten leichter ge-
lingen, andern andre. Nämlich die begleitenden Mo-
dificationen
des Gehirns können leichter oder schwe-
rer von Statten gehn.


Beynahe unbegreiflich ist es dagegen, wie man sich
hat können verleiten lassen, eigenen Organen die rein
geistigen Thätigkeiten zuzuweisen, und gleichsam innere
Sinnwerkzeuge nach Analogie der äuſsern anzunehmen,
ja nicht bloſs Sinnwerkzeuge, sondern auch Organe
für moralische Eigenschaften! Die Strafe und zugleich
die Widerlegung dieser Thorheit lag in der Unmöglich-
keit, die gehörigen Classificationen und Sonderungen der
Geistesthätigkeiten auszufinden, welchen man Organe an-
weisen wollte. Uebrigens hätte auch bey der tiefsten Un-
wissenheit in wahrer Psychologie doch die Menge der
Brücken und Kreuzungen im Gehirne den Physiologen
sagen können, daſs hier Alles mit Allem in Verbin-
dung stehe! Und ein wenig Combinationslehre würde
dann auf die Frage geholfen haben, welche Leichtigkeit
oder Schwierigkeit liegen möge in der Zusammenwir-
kung
von je zweyen, oder je dreyen, oder je vie-
ren
— oder je tausenden unter den verschiedenen
Fasern und selbst unter den Elementen des Gehirns;
denn daſs auf die Möglichkeit der Zusammenwirkung ge-
rade die Hauptfrage sich richte, wird man gewahr wer-
den, man mag nun die verwickelte Construction des Ge-
hirns, oder die höchst complicirten Thätigkeiten des Gei-
stes bey einiger Bildung, in Betracht ziehn.


Wir endigen bey dem, wovon wir ausgingen. Man
hat sich gewundert über die groſse Abhängigkeit des
Geistes vom Leibe; man hätte sich wundern sollen über
die im gesunden Zustande so groſse Freyheit des Gei-
stes, über die Einheit in seinem Thun, über die weni-
gen Spuren von Einmischung einer fremden Gewalt; über
die Geduld der Hände und Füſse, welche sich nur be-
[488] wegen wann die Seele will, der Augen und Ohren, welche
nur Vorstellungen erregen, wenn etwas Aeuſseres zu se-
hen und zu hören ist; über die Leichtigkeit, womit Ge-
dächtniſs und Phantasie sich äuſsern; gleich als ob es
dabey nur auf einen psychologischen, und nicht zugleich
auf den begleitenden physiologischen Mechanismus an-
käme.


Zweytes Capitel.
Von denjenigen Geisteszuständen, worauf der
Leib einen bemerkbaren Einfluſs hat.


§. 160.

Der physiologische Mechanismus, so fern er die Ab-
wechselungen der Seelenzustände bloſs begleitet, (und
so lange, diesen letzteren gehorsam, das Nervensystem
sich übrigens durch Wirkung und Gegenwirkung aller
seiner Theile in Ruhe hält,) — kann nicht wahrgenom-
men werden in den Geistesfunctionen, die er begleitet;
vielmehr werden sich dieselben aus bloſs psychologischen
Gründen allein erklären lassen. Und es würde bloſse
Hypothesen-Sucht verrathen, wenn man sich fernerhin
in dem unbestimmt schweifenden Gedanken gefallen wollte,
daſs vielleicht ein groſser Theil der Zustände des Be-
wuſstseyns — man wisse nicht was für ein und wie
groſser Theil, — aus der Organisation des Leibes sei-
nen Ursprung nehme. Hingegen ist es dem regelmäſsi-
gen Gange der Forschung gemäſs, die einmal aufgefun-
denen Grundsätze der Statik und Mechanik des Geistes
so weit als möglich zu verfolgen; und nicht eher, als
indem eine bedeutende Divergenz zwischen den aus ihnen
zu erkennenden Gesetzen und den in der Erfahrung ge-
gebenen Erscheinungen, sich entdeckt, einen fremdarti-
gen Einfluſs vorauszusetzen, und ihm nachzuspähen. Allein
[489] selbst da, wo ein solcher Einfluſs, wenn auch nur hypo-
thetisch, zu Hülfe gerufen wird, muſs es auf wissenschaft-
liche, nicht phantastische Weise geschehen; ein Haupt-
punct, den ich sogleich mit Wenigem näher bezeich-
nen werde.


Der erste von den Geisteszuständen, die unverkenn-
bar physiologische Gründe haben, ist der Schlaf, sammt
seinem Gefährten, dem Traume. Beyde verbunden ge-
ben den Typus auch zu den meisten krankhaften Erschei-
nungen des Nachtwandelns, des Wahnsinns, des thieri-
schen Magnetismus. Daher sagt Reil: „Wir würden
„dem Bewuſstseyn und dem Wahnsinn bald auf die Spur
„kommen, wenn wir erst wüſsten, was Schlaf, was Wa-
„chen sey.”*) Der erste Begriff aber, unter welchen
unvermeidlich der Schlaf gefaſst wird, ist Negation der
sämmtlichen Thätigkeit des Vorstellens mit allen seinen
Modificationen. Und hieraus würde eine sehr einfache
Wegweisung für die Untersuchung folgen, wenn der
merkwürdige Umstand nicht wäre, daſs das Eintreten des
Schlafs und sein Aufhören unter einander sehr ungleich
sind. Nämlich bald auf das vollkommene Wachen folgt
in der Regel der tiefe Schlaf; aber nicht eben so geht
wiederum dieser in jenes rückwärts über; sondern hier
schiebt der Traum sich ein, als ein allmähliges, partiel-
les, und zugleich sehr anomalisches Wachen. Daher
kann der Schlaf nicht schlechtweg als eine wachsende
und wieder abnehmende Negation der geistigen Thätig-
keit angesehen werden, sondern es müssen nähere Be-
stimmungen und schärfere Untersuchungen hinzukommen.


Noch etwas ist vorläufig vom wirklichen Einschlafen
zu unterscheiden, nämlich das Gefühl der Ermüdung,
welches eben so zwischen Wachen und Einschlafen, wie
der Traum zwischen Schlafen und Aufwachen, in die
Mitte zu treten pflegt. Die Ermüdung, eben in so fern
sie gefühlt wird, ist keine wirkliche Abnahme der geisti-
[490] gen Thätigkeit, sondern ein Bestehen der letzteren wider
die Hemmung. (Vergl. §. 104.)


Der ganze Gegenstand würde demnach, soweit er
psychologisch ist, erklärt seyn, wenn wir aus den Grund-
sätzen der Statik und Mechanik des Geistes einsehn
könnten, erstlich, wie überhaupt eine Negation des Vor-
stellens auf das Mannigfaltige des Vorstellungskreises
wirke, zweytens, welche Verschiedenheit beym allmähli-
gen Eintreten und Aufhören dieser Negation statt finden
müsse.


Der Begriff einer Negation des Vorstellens erinnert
zunächst an das, was wir oben die Hemmungssumme ge-
nannt haben. (§. 42. u. s. w.) Diese nun hängt zwar
von den Vorstellungen selber ab, man könnte aber auf
den Gedanken kommen, der, aus psychologischen Grün-
den schon bestimmten Hemmungssumme noch wegen des
physiologischen Einflusses eine gewisse Gröſse durch
Addition beyzufügen, wodurch z. B. die Rechnung des
§. 44., wenn die zu addirende Gröſse = D gesetzt wird,
folgende Gestalt annehmen würde:

Hier sieht man sogleich, daſs ein mäſsig groſser
Werth von D vollkommen zureichen würde, um nicht
bloſs die schwächere Vorstellung b, sondern selbst die
stärkere a, gänzlich aus dem Bewuſstseyn zu verdrän-
gen, — welches eben der Zustand des vollkommnen
Schlafes erfordert. Denn man setze das von a zu hem-
mende, dieser Vorstellung selbst gleich: so kommt
welcher = a wenn a=b.


Allein diese Art zu rechnen würde voraussetzen, daſs
[491] aus den physiologischen Gründen die Gröſse D als eine
solche hervorginge, um welche schlechterdings, und ohne
Abzug, das Quantum des vorhandenen Vorstellens müſste
vermindert werden. So etwas läſst sich kaum denken.
Denn diese Negation des Vorstellens muſs aus den in-
nern und äuſseren Zuständen der sämmtlichen Elemente
des Organismus (zunächst des Nervensystems) entsprin-
gen. Es sind aber nach den ersten Grundbegriffen der
Psychologie und Naturphilosophie, alle innern sowohl als
äuſseren Zustände der Wesen in gewissem Grade nach-
giebig
, d. h. wo sie leiden machen, da müssen sie
selbst
wiederum etwas leiden.


Passender scheint es demnach, die Negation des
Vorstellens als eine mitwirkende, aber zugleich mitlei-
dende Kraft in die Rechnung einzuführen. Man nenne
also diese Kraft jetzt M, und die im Bewuſstseyn vor-
handenen Vorstellungen seyen a und b; so wird man für
a, b, und M, eben so rechnen wie oben für a, b, und c;
nur mit dem Unterschiede, daſs M nicht gerade die
schwächste der wider einander wirkenden Kräfte seyn
soll, sondern jede beliebige Gröſse haben kann. Hier
sieht man nun zwar, daſs M unendlich groſs seyn müſste,
und sowohl a, als b, ganz aus dem Bewuſstseyn zu ver-
drängen; ja daſs es damit doch nicht völlig zu Stande
kommen würde. (Vergl. den Schluſs des §. 44., wo b
dasselbe ist, was hier a seyn müſste.)


Aber man kann sehr leicht die eben gemachte Vor-
aussetzung dergestalt abändern, daſs sie den vollkomm-
nen Schlaf, oder die völlige Aufhebung alles Vorstellens
erkläre. Anstatt der einzigen Kraft M, nehme man ihrer
zwey, M und N, oder noch mehrere, deren jede mit der
andern in gegenseitiger Hemmung stehe. Alsdann braucht
jede der mehrern nur eine mäſsige Stärke, damit sie zu-
sammengenommen die vorhandenen Vorstellungen völlig
auslöschen, ganz nach den Hemmungsgesetzen, welche
oben für die Vorstellungen, die dort auch als wider ein-
ander strebende Kräfte betrachtet wurden, sich ergeben
[492] haben. Dies durch eine eigne Rechnung darzuthun wäre
überflüssig, da dieselbe sich bloſs in den Buchstaben von
der oben geführten unterscheiden würde.


Unsre jetzige Voraussetzung nun scheint allen Um-
ständen, und der Erfahrung ebenfalls zu entsprechen.
Sie erfordert, daſs wir nicht den gesammten physiologi-
schen Einfluſs als Ein Quantum, sondern als ein Man-
cherley und Vielerley, das unter sich selbst Gegensätze
bildet, in Betracht ziehn. Und was hätten wir zu der
erstern Hypothese für Grund? Der Organismus ist ein
Vieles, das gar Viele, und unter sich streitende, Ein-
flüsse auf die Seele haben mag. Gerade die Unbestimmt-
heit des Begriffs: Mehrere, ohne anzugeben Wie
viele
, schickt sich hieher, wo man über die Menge der
Causalverhältnisse zwischen Leib und Seele nichts be-
stimmen kann noch will. — Die Erfahrung aber zeigt
uns, erstlich, daſs eine unabänderliche Quantität, wie
viel das Vorstellen verlieren müsse (wie das obige D)
nicht statt findet. Denn der Schlaf kann zurückgehalten,
er kann gestört werden durch alles, was die Lebhaftig-
keit des Vorstellens erhöht. Sichtbar ist demnach die
Fähigkeit des Organismus, sich auch seinerseits um Etwas
nach den psychologischen Zuständen zu richten. Zwey-
tens, sie zeigt uns den vollkommnen Schlaf, oder etwas
demselben äuſserst nahe kommendes, (wenn man ja sich
hüten will, zuviel zu behaupten; obgleich die Gründe, um
derentwillen Manche ein fortdauerndes Vorstellen auch
im tiefsten Schlafe annehmen, nur aus falscher Metaphy-
sik entspringen.) Also die Erfahrung vereint Nachgie-
bigkeit des Organismus mit völliger Hemmung aller Vor-
stellungen; welches uns eben auf unsre zuletzt vestgehal-
tene Voraussetzung geleitet hat.


Uebrigens wird man längstens genug gewarnt seyn,
um nicht den Ausdruck: Einfluſs des Organismus
auf die Seele
, gar zu buchstäblich zu nehmen. Zu
den Vorstellungen, als inneren Zuständen der Seele, ge-
hören irgend welche innern Zustände des Gehirns; so-
[493] bald diese wegen ihres Zusammenhangs mit dem übrigen
Organismus nicht mehr statt finden können, oder, sobald
sie auch nur in ihrer Quantität vermindert werden müs-
sen, alsbald ist Negation des Vorstellens in gewissem
Maaſse vorhanden; weil die zusammengehörigen innern
Zustände der zu einem System verbundenen Wesen ein-
ander nothwendig entsprechen, folglich sich nach einander
richten müssen.


§. 161.

Ferner ist zu überlegen, was für Unterschiede beym
Eintreten und beym Nachlassen der Negation des Vor-
stellens, statt haben; und wir müssen nachsehn, in wie
weit sich daraus die Erscheinungen des Einschlafens, und
die von ihnen so sehr abweichenden des Erwachens, er-
klären mögen.


Zunächst wird Jedem beyfallen, daſs der Schlaf solche
Vorstellungen niederdrückt, die sich im Bewuſstseyn in
Thätigkeit befinden, daſs hingegen das Erwachen in dem
allmähligen Wiederaufstreben der gehemmten Vorstellun-
gen besteht.


Erinnert man sich nun aus §. 77. u. s. w. an die
Gesetze, nach welchen Vorstellungen, die zur Schwelle
sinken sollen, allemal für eine kurze Zeit diejenigen
Kräfte, von denen sie niedergedrückt werden, durch Ge-
genwirkung in gewissem Grade hemmen, und eben da-
durch zugleich die Spannung derselben vermehren: so er-
giebt sich, daſs auch die physiologischen Kräfte M, N,
u. s. w. in eine, zwar bald vorübergehende, Spannung
gerathen müssen, ehe es ihnen gelingen kann, die Vor-
stellungen wirklich in Schlaf zu bringen. Es braucht
demnach mehr Gewalt von Seiten des Leibes, um das
Einschlafen des Geistes zu bewirken, als nöthig ist, um
den einmal vorhandenen Schlaf vestzuhalten. Dabey ver
steht sich von selbst, daſs die Kräfte M, N, u. s. w.
als allmählig anwachsend müssen gedacht werden; denn
wenn sie lange vor dem Einschlafen schon existirten, be-
sonders in ihrer nachmaligen ganzen Stärke, so würde
[494] das Wachen unmöglich seyn. Indem aber wider diese
anwachsenden Kräfte die Vorstellungen noch eine Zeit-
lang sich stemmen, ergiebt sich hieraus das oben er-
wähnte Gefühl der Ermüdung, welches eben in der An-
strengung wider die Hemmung seinen Sitz hat. (Vergl.
§. 104.) Die emportreibenden Kräfte, welche das Active
der Anstrengung ausmachen, liegen hauptsächlich in den
herrschenden Vorstellungsmassen (§. 148.)


Doch die Phänomene des Einschlafens sind bey wei-
tem die einfacheren. Wenn einmal unter den physiolo-
gischen Einflüssen die Vorstellungen erliegen müssen: so
sinken sie schnell zur Schwelle; wie sich schon aus §. 75.
erkennen läſst. Hier ist also nicht Zeit zu besondern
Erscheinungen, um so weniger, da die herrschenden Vor-
stellungsmassen, die während des Wachens unter den
übrigen Ordnung halten, ihrer vorzüglichen Stärke wegen
auch die letzten seyn werden, welche aufhören zu wachen
und zu wirken.


Aber was wird geschehn, wenn nun die Hemmung
durch die physiologischen Kräfte wieder anfängt nachzu-
lassen? Hier müssen wir uns zuvörderst an die Unter-
suchungen des §. 81. und 82. wenden. Dort haben wir
gesehn, daſs sich das beginnende Wieder-Erwachen ge-
hemmter Vorstellungen nicht nach ihrer Stärke, sondern
nach dem Grade der ihnen gegebenen Freyheit richtet*).
Demnach haben in diesem Puncte die herrschenden Vor-
stellungsmassen keinen Vorzug vor den schwächern Vor-
stellungen. Vielmehr kommt hier zuerst die Frage in
Betracht, ob allen verschiedenen Parthien des vorhande-
nen Vorstellungskreises die gleiche Freyheit, sich ins Be-
wuſstseyn aufzurichten, wird gegeben werden? Die ge-
ringsten Ungleichheiten hierin können jetzo bedeutend
[495] werden; welches beym Einschlafen nicht der Fall war,
indem dort das Uebergewicht der stärksten Vorstellungen,
die sich am spätesten niederdrücken lassen, den bedeu-
tendsten Einfluſs hatte. — Nun vermuthen ohnehin die
Physiologen, daſs nicht das ganze Gehirn und Nerven-
system in allen Theilen gleichmäſsig seine Zustände beym
Einschlafen und Erwachen wechsele*). So haben wir
also auf den ersten Blick den Grund, warum ein Zustand
des wieder beginnenden Vorstellens zu erwarten ist, in
welchem die herrschenden Vorstellungen füglich mangeln
können, in welchem eben deshalb die gewöhnliche Re-
gelmäſsigkeit des Denkens wird vermiſst werden; das
heiſst, es zeigt sich im Allgemeinen die Möglichkeit des
Traums.


Aber noch mehr! Im §. 93. haben wir gesehn, daſs
selbst die Hemmungsgesetze für erwachende Vorstellun-
gen anders beschaffen sind als die für sinkende. Denn
während des Sinkens stemmen sich die Vorstellungen
mit ganzer Kraft desjenigen Gegensatzes wider einander,
in welchen sie gerathen sind, während sie sich zugleich
im Bewuſstseyn befanden; und dieser Widerstreit hleibt
während der ganzen Zeit des Sinkens der nämliche; weil
einmal die Richtung des Strebens dieser Vorstellungen
eine gegenseitige unter ihnen ist. Ganz anders verhält
es sich da, wo mehrere Vorstellungen, ohne wider ein-
ander
sich zu kehren, von einem und demselben ge-
meinschaftlichen Drucke leiden; welches der Fall ist wäh-
rend der Oberherrschaft des Leibes, der die ganze Seele
ohne Unterschied nöthigt zu schlafen. Wenn ein sol-
cher Druck anfängt nachzulassen, so, daſs verschiedenen
Vorstellungsmassen zugleich Freyheit gegeben wird ins
Bewuſstseyn wieder zu kehren: so sind Anfangs die Hem-
mungen unter diesen Massen unbedeutend; und sie können
daher ein solches Verhältniſs ihres ersten Aufwachens an-
nehmen, welches beym vollständigen Wachen nicht würde
bestehen können.


[496]

Ferner, wenn sich die Seele auf einmal in ihren wa-
chenden Zustand zurückversetzen sollte, so müſsten so-
gleich alle Reproductionsgesetze, vermöge deren die Vor-
stellungen unter einander zusammenhängen, — und un-
ter ihnen auch namentlich diejenigen, auf denen das
räumliche und zeitliche Vorstellen beruht, (§. 111—116.)
sich in voller Wirksamkeit äuſsern. Aber wir wissen,
daſs die Kraft der Verschmelzungs- und Complications-
Hülfen weit schwächer ist, als die der helfenden Vorstel-
lungen selbst; und wir kennen im Allgemeinen die Folge
davon, nämlich daſs die Wirkung einer solchen Hülfe
im Anfange nicht nur geringer, sondern auch viel langsa-
mer ist, als das Hervortreten der Vorstellungen selbst.
Nun ist zu bedenken, wie sehr die nämliche Wirkung
wird verzögert werden, wenn sie ihr physiologische Hin-
dernisse entgegenstellen; und wie leicht unterdessen andre
Vorstellungen die Oberhand gewinnen können, wodurch
jene vollends zurückgehalten wird. Darin muſs die Er-
klärung gesucht werden, warum vor dem Erwachen die
verschiedenen sich wieder erhebenden Vorstellungen an-
fangs so wirken, als ob sie aus ihren Verknüpfungen
groſsentheils herausgetreten wären. Hiemit hängt der be-
kannte und so sehr auffallende Umstand zusammen, daſs
der Traum sich an Ort und Zeit nicht kehrt, daſs er
aus den verschiedensten Gegenden Menschen und Sa-
chen zusammenführt, die nimmer zusammen seyn konn-
ten, daſs er das Widersinnigste zugleich umfaſst, indem
er gerade diejenigen, im Wachen sich augenblicklich
aufdringenden, Umstände wegläſst, worin die Ungereimt-
heit liegt.


Aber wie heterogene, und selbst einander aufhebende
Dinge der Traum auch zusammenknüpft: eine gewisse
Art von Einheit besitzt er dennoch, und zwar gerade eine
solche, die, aus begreiflichen Ursachen, den wachenden
Zuständen äuſserst häufig mangelt. Denn während wir
den Eindrücken der Auſsenwelt Preis gegeben sind, mischt
der Zufall uns das Traurige in die Freude, und das
Gleich-
[497] Gleichgültigste mit dem Wichtigsten. Dagegen hat der
Traum mehr Einheit der Gemüthsstimmung. Und dies
ist wiederum sehr natürlich. Wir erfahren stets, auch
während des Wachens, daſs Gefühle und Affecten am
entschiedensten auf den leiblichen Zustand wirken; um-
gekehrt also wird es im Traume von den Zuständen des
Leibes abhängen, welche Gemüthsstimmung, und hie-
mit welche Vorstellungen, oder wenigstens in welchen
Modificationen durch heitere oder traurige Verknüpfun-
gen, dieselben sollen aufgeregt werden. Die Art der
Freyheit, und die Beschränkung, innerhalb deren den
Vorstellungen vergönnt wird, sich zu reproduciren, diese
wird sich nach derjenigen affectiven Beschaffenheit des
Bewuſstseyns richten, die mit den leiblichen Zuständen
jedesmal zusammenpaſst. So bekommt der Traum die
Einheit eines Feenmährchens; um welche wohl hie und
da ein Dichter sich vergeblich bemüht, weil er das Wa-
chen, und dessen Gesetze, nicht los werden kann.


§. 162.

Indem ich mit diesen kurzen Andeutungen über Schlaf
und Traum mich begnüge, — weil eine weitere Ausfüh-
rung einerseits in noch unerforschte Tiefen der Mecha-
nik des Geistes eindringen müſste, andererseits die nähe-
ren Bestimmungen ohne Zweifel groſsentheils von unbe-
kannten physiologischen Gesetzen abhängen: glaube ich
gleichwohl einigermaaſsen den Typus angegeben zu ha-
ben, nach welchem nicht nur dieser Gegenstand, son-
dern auch andere verwandte, müssen untersucht werden.
Es kommt nämlich alles darauf an, daſs man die Grund-
gesetze des psychologischen Mechanismus wohl im Auge
habe, und daſs man aus ihnen selbst zu erforschen suche,
welche Modificationen sie ihrer Natur nach annehmen
können, so daſs dadurch ihre Wirkung aus dem gewohn-
ten Geleise gehoben, und dergestalt abgeändert werde,
wie es die anomalischen Erfahrungen verlangen. In den
gröſsten Irrthümern hingegen werden allemal diejeni-
gen befangen bleiben, die in die Seele etwas fremdarti-
II. I i
[498] ges kommen lassen, oder gar die psychischen Erschei-
nungen in irgend welche Organe des Gehirns verlegen.
Nur zu oft hat man die äuſsern, entfernten Ursachen
der Thatsachen des Bewuſstseyns verwechselt mit den
Seelenzuständen selbst, aus welchen unmittelbar er-
klärt werden muſste, was in der innern Wahrnehmung
vorkommt.


Ehe wir jedoch unsern Gegenstand ganz verlassen,
ist noch nöthig, einer gewissen seltsamen Art von Träu-
men zu erwähnen, bey denen das Ich sich in verschie-
dene Personen zu spalten scheint; wie wenn Johnson
im Traume sich in einem Wettstreite des Witzes be-
fand, und dabey von seinen Gegnern übertroffen wurde;
oder wenn ein Herr von Goens sich in die Schule zu-
rückträumte, und dort von einem eifrigen Mitschüler die
Beantwortung vorgelegter Fragen hören muſste, die er
selbst schuldig geblieben war *). — Diese Art von Träu-
men ist sehr wichtig für die Theorie des Selbstbewuſst-
seyns. Zwar für den consequenten Idealisten ist hier
nicht die geringste besondre Schwierigkeit. Ihm gilt der
ganze Unterschied zwischen Schlaf und Wachen nur für
Erscheinung. Daher lautet die Frage für ihn so: wie
kommt das wachende Ich dazu, sich vorzustel-
len, daſs es also geträumt habe
? Und diese Frage
ist nicht viel schwerer noch leichter, als die ganz allge-
meine, wie kommt das Ich überhaupt zur Vor-
stellung seiner zeitlichen und individuellen
Existenz
? — Allein wenn mit der realistischen Vor-
aussetzung, daſs jene Träume als wirkliche Begebenhei-
ten anzusehen seyen, sich die Annahme einer ursprüng-
lichen Ichheit verbindet, vermöge deren alles, was im In-
nern vorgeht, unmittelbar ein Gegenstand der Selbstbe-
schauung seyn soll: dann ist das Räthsel in jenen Träu-
men unauflöslich, indem dieselben das Ich als ein sich
selbst gänzlich entfremdetes, als ein Object, von welchem
das Subject sich getrennt hat, darstellen. Wie kann man
[499] eine Sache wissen, und doch nicht wissen, daſs man sie
weiſs? Ja gar sich einbilden, man wisse sie nicht, und
mit dieser Einbildung sich selbst kränken? Hier scheitert
der Kantische Satz, das Ich denke müsse alle unsre
Vorstellungen begleiten können. Hätte es gekonnt: warum
denn begleitete es nicht wirklich jene Träume, in denen
noch obendrein das eigne Ich, also das Selbstbewuſst-
seyn, eine bedeutende Rolle spielte? Man wird doch
nicht antworten, der Act des Selbstbewuſstseyns sey eine
Aeuſserung der Spontaneität eines reinen intellectuellen
Vermögens? Der also erfolgen könne oder auch nicht,
vollständig ausgeübt werde oder minder vollständig, ohne
weitern Grund? Denn die Vertheidiger der Spontaneität,
deren einige zwar Freyheit und Ichheit innig genug ver-
knüpfen, pflegen der Meinung zu seyn, der Traum sey
ohne Spontaneität, er könne nicht zugerechnet werden,
er sey das Werk irgend eines blinden Mechanismus.
Diesem Mechanismus werden sie denn wenigstens erlau-
ben, daſs es mit ihm gesetzmäſsig zugehe, daſs er voll-
bringe, was er aus zureichenden Gründen zugleich könne
und müsse, und daſs ein Mangel im Vollbringen bey
ihm allemal einen Mangel des Könnens anzeige. Also
konnten jene Träumenden sich nicht finden als die
Wissenden dessen, was sie mit unfreywilliger Liberalität
ihren Rivalen in den Mund legten. Beym Aufwachen
hingegen ergänzte sich ihr Selbstbewuſstseyn, ohne Zwei-
fel eben so unfreywillig, und vielleicht mit einigem Ver-
druſs, und mit einer Art von Reue über die Plage, die
sie sich angethan hatten, gleich als hätte es in ihrer Ge-
walt gestanden sich zu besinnen, daſs sie selbst es wa-
ren, welche die Kosten des ganzen Spiels bestritten.


Vergleichen wir nun unsre obige Theorie des Selbst-
bewuſstseyns: so zeigt sich bald, daſs diese Art von
Träumen um nichts räthselhafter ist, als jede andre.
Gleich zuerst wird uns einfallen, was sich von selbst ver-
steht, daſs irgend ein Act des Subjectiven im Ich, oder
genauer, irgend eine appercipirende Vorstellungsmasse
I i 2
[500] die letzte seyn müsse, für welche das Uebrige zum Ob-
ject wird, ohne daſs sie selbst das Object einer höheren
wäre. Warum denn sollte das nicht diejenige seyn, in
welcher die Beschämung ihren Sitz hatte, womit die
Träumenden sich für übertroffen hielten? — Daſs sie es
im Wachen nicht seyn könne, folgt sehr natürlich aus
dem Gegensatze der äuſseren Welt und der inneren, den
uns die Sinne unaufhörlich vergegenwärtigen, und durch
welchen sie uns zwingen, alle unsre Vorstellungen, die
zur Auſsenwelt nicht passen, in das Innere, in Uns selbst
hinein zu verlegen. Ist einmal die ganze Scene für einen
Traum erkannt, so muſs freylich zugestanden werden,
man habe selbst alle Rollen gespielt. Wiewohl es dem
Aberglauben auch hier nicht an der Ausrede fehlen würde,
irgend ein Dämon habe im rechten Augenblicke mit ein-
gesprochen, und die wirklich fehlende Kenntniſs sup-
plirt. — Es ist in der That nur ein Schluſs, vermittelst
dessen wir, im Wachen sogar, uns selbst für die Urhe-
ber unsrer plötzlichen Einfälle halten. Kein Andrer
kann es seyn; also Wir
! In den psychologischen
Mechanismus, den wahren Urheber, schaut kein Selbst-
bewuſstseyn; und wie dergleichen Einfälle mit unserer
Ichheit zusammenhängen, wissen wir schlechterdings nicht.
Sondern es sind dies Bestimmungen, die in das Ich fal-
len, ohne darin zu haften; zufällige Elemente für eine
Complexion, die, wenn man alles Zufällige von ihr ab-
scheiden wollte, nichts übrig behalten würde. (§. 135.)
Wohl uns, daſs es mit unsrer Seele besser beschaffen
ist, als mit unserm Ich; dem man eine sehr unverdiente
Ehre erwies, als man es über die Seele emporhob; als
man diese zu entbehren beliebte, um sich an jenem zu
halten!


Damit aber das Wunder jener Träume sich noch
auffallender vermindere, wird es gut seyn, zu zeigen, daſs
etwas Aehnliches auch im Wachen vorkomme, und daſs
es sehr vielen selbst ausgezeichneten Köpfen, bloſs aus
Mangel an Uebung in gewissen philosophischen Reflexio-
[501] nen begegnen könne. Ich nehme die Freyheit, als Bey-
spiel eine Stelle aus einem sehr schätzbaren Werke zu
benutzen, mit der Bitte, daran weiter keine üble Neben-
bedeutung zu knüpfen. In Herrn Autenrieth’s Phy-
siologie *) steht folgendes zur Widerlegung des Idealis-
mus: „Wer in Gedanken den Kopf heftig gegen eine
„Thüre rennt, wird sich plötzlich überzeugt fühlen, daſs
„das Nicht-Ich schon anderwärts müsse gesetzt seyn,
„und daſs das Setzen oder Nicht-Setzen des Nicht-Ichs
„durch das Ich eines Philosophen zum Daseyn oder
„Nicht-Daseyn der Dinge auſser uns auf der Welt nichts
„beytrage.” Abgesehen von dem hier durchblickenden
Misverstande, als ob von einem willkührlich vorzuneh-
menden oder zu unterlassenden Setzen hiebey die Rede
seyn könnte: hat Hr. A. vergessen, daſs der Idealist sich
bey einiger Besinnung sehr bald sagen würde, die Thüre,
und der Kopf, und der Schmerz, seyen, was sie für ihn
ohne allen Zweifel sind, seine Vorstellungen; indem
der Idealist gewohnt ist, überall das Ich denke beyzu-
fügen, während wir andern freylich, im gemeinen Leben
wenigstens, unsre Vorstellungen wie wirkliche Dinge zu
betrachten und zu behandeln, und z. B. eine Thüre tau-
sendmal zu öffnen und zu schlieſsen pflegen, ohne uns
zu erinnern, wie unmöglich es ist, daſs wir das Ding an
sich, welches hinter dieser Erscheinung stecken mag, je-
mals sehen oder fühlen könnten. Wenn aber es so
groſse Schwierigkeit hat, daſs Jemand selbst in dem Au-
genblicke, wo er gegen die Idealisten disputirt, zu den-
jenigen höhern Reflexionen aufsteige, die man denselben
durchaus nicht verweigern kann: warum soll es denn ei-
nem armen Träumenden nicht erlaubt seyn, auch einmal
eine Apperception, die jedem Wachenden natürlich ist,
auszulassen?


Wer dagegen in idealistischen Betrachtungen sich
übt: der bildet in sich eine appercipirende Vorstellungs-
masse, worin das Ich die Hauptperson ist, und die nun,
[502] auch lediglich vermöge eines psychologischen Mechanis-
mus, beym wissenschaftlichen Denken wenigstens sich
überall darbietet, und es nach ihrer Art verarbeitet. Der
Idealist aber ist im Irrthum, indem er seine Leichtigkeit,
alle seine Gedanken Sich zuzueignen, für ein wohlthäti-
ges Durchbrechen der reinen Ichheit durch das Indivi-
duelle hält. Was er besitzt, was jenen Andern fehlt,
was im Traume ausbleibt, weil Hemmungen statt der
Veranlassungen da sind, das Alles steht unter den glei-
chen psychologischen Gesetzen.


§. 163.

Es ist für die ganze Psychologie im hohen Grade
nützlich, wenn mit den auffallenden Anomalien in sol-
chen Zuständen, worin offenbar der Leib vorherrscht, die
minderen Fehler verglichen werden, die der gesunde,
wachende Mensch vielfältig begeht. Oft genug scheint
der Wachende zu träumen und wir sehen Tollheit ohne
Wahnsinn auch auſser dem Irrenhause. Was wir Ver-
stand nennen, nämlich in Beziehung auf das praktische
Leben, das ist groſsentheils ein Werk der Gesetze und
Sitten, der Erziehung und Gewöhnung und Uebung, ja
selbst der blinden Befolgung irgend einer Auctorität.
Genau, jedoch ohne Uebertreibung, zu erkennen, wie
und in wiefern dergleichen Bande für die Menschheit im
Groſsen nothwendig sind, ist in praktischer Hinsicht ein
höchst wichtiger Punct für die Philosophie; die unter an-
dern weit weniger mit der Geschichte zerfallen seyn würde,
hätten ihr diese Einsichten nicht zu sehr, und obendrein
zur Unzeit, gemangelt!


Man wolle mir daher verzeihen, wenn ich hier zwi-
schen Traum und Wahnsinn einiges in die Mitte stelle,
das zwar zu einer so schlechten Gesellschaft auf keine
Weise kann verurtheilt werden, aber dennoch dem For-
scher gegenwärtig seyn muſs, damit er seine Untersu-
chungen allgemein genug fasse, und in den heterogen-
sten Zuständen dieselbe Seele und dieselben Gesetze des
Vorstellens wieder erkenne.


[503]

Alles, was man Schwäche des Geistes nennen kann,
wird sich entweder auf Unwissenheit, oder auf ein
Ausbleiben des rechten Gedankens im rechten
Augenblicke
zurückführen lassen. Das letztere ist es,
was uns jetzo beschäfftigt, denn die Unwissenheit ist
überall kein psychologischer Gegenstand.


Das Ausbleiben des rechten Gedankens wird zur
Ursache positiver Verkehrtheiten, wenn eine Vorstellungs-
reihe, die von jenem Gedanken würde zurückgehalten
seyn, indem sie nun von der ihr nöthigen Hemmung frey
bleibt, hervortritt, und sich auf eine Art äuſsert, die bey
wiederkehrender Besinnung wird gemisbilligt werden.


Diejenigen Fälle, wo der rechte Gedanke zu wenig
Energie besitzt, so daſs auch wenn er ins Bewuſstseyn
tritt, er dennoch die entgegengesetzte Vorstellungsreihe
nicht überwindet, sondern sich unter ihr beugt, müssen
hier abgesondert werden; sie ergeben, im Theoretischen,
Vorurtheile, im Praktischen, moralische Verderbniſs und
eigentliche Bösartigkeit.


Aber verwandt mit Traum und Wahnsinn sind alle
die Fälle, wo ein hinlänglich starker Gedanke dennoch
seine Dienste versagt; indem er mit der Vorstel-
lungsreihe, die er nach sich bestimmen sollte,
nicht gehörig zusammentrifft
.


Erwägen wir zuvörderst das Gegentheil, die Beson-
nenheit
, in einigen Beyspielen! Man erwartet von ei-
nem klugen Kopfe, er werde in Umgangs-Cirkeln die
Verhältnisse der gegenwärtigen Personen, so weit sie ihm
bekannt sind, beachten, und kein Gespräch führen, das
einem der Anwesenden unangenehm werden muſs. Von
dem Schachspieler, daſs er die sämmtlichen Figuren in
ihren möglichen Wendungen überschaue, und sich dar-
nach richte. Von dem Staatsmanne, er überlege das In-
teresse einer jeden Macht und die Leidenschaften jedes
Mächtigen; er spüre jeden möglichen Betrug, und es
entgehe ihm kein Zeichen der ihm vortheilhaften oder
nachtheiligen Gesinnungen. Von dem Mathematiker, er
[504] habe seine Formeln, von dem Philosophen, er habe seine
Begriffe stets gegenwärtig, und bereit zu jedem passen-
den Gebrauche.


Das alles gehört sich so, es gebührt und geziemt
sich, nicht etwan als ob es dem psychologischen Mecha-
nismus in jedem nicht verstörten Kopfe also gemäſs wäre,
sondern weil es zweckmäſsig ist und schicklich; man er-
wartet es aber unter gebildeten Menschen um so eher,
weil eben um der Zweckmäſsigkeit und Schicklichkeit
willen der psychologische Mechanismus dafür pflegt ge-
bildet, darauf eingerichtet zu werden, welches bis auf ei-
nen gewissen Grad bey dem gesunden Menschen mög-
lich ist.


Offenbar aber wird hier an diesen Mechanismus ein
ihm fremdartiges Maaſs des Richtigen und Gesetzmäſsi-
gen angelegt. Hier ist von einer Richtigkeit nach prak-
tischen Regeln
die Rede; ganz etwas Anderes sind
die Naturgesetze der Mechanik des Geistes. Diese
letztern können nicht erkranken; sie sind stets gesund,
und stets dieselben, wenn sie schon bey veränderten Um-
ständen die abweichendsten Resultate von denen ergeben,
die man von dem gesellschaftlichen Menschen verlangt.


Daſs ein Gedanke genau in demselben Augenblicke
ins Bewuſstseyn eintreffen sollte, wo die praktische Noth-
wendigkeit seiner Gegenwart entsteht: ist, nach mathe-
matischer Strenge genommen, schlechterdings unmöglich.
Auch in dem witzigsten Kopfe, dem die treffendsten Ant-
worten stets zu Gebote stehn, bedürfen die Vorstellun-
gen einiger Zeit zu ihrer Bewegung, wenn schon diese
Zeit so kurz ist, daſs im Gespräch keine Lücke bemerkt
wird, weil die Gedanken der andern Personen noch viel
langsamer wandeln. Derjenige Witz aber, der eine Vier-
telstunde zu spät kommt, und in dessen Stelle sich, als
es für ihn Zeit war, eine Plattheit drängte, giebt das
erste Vorspiel zu den ernsthafteren Gebrechen, die man
dem Menschen als Mängel der Besonnenheit anrechnet.
Und jene Unbesonnenheit des groſsen Newton, der mit
[505] dem Finger einer Dame seine Pfeife stopfte, (wenn das
Geschichtchen wahr ist,) giebt das Vorspiel zu allen
Verirrungen des Wahnsinns, dem eine fixe Idee nicht er-
laubt, die Gegenstände und Verhältnisse der Welt in
ihrem wahren Lichte zu erblicken. Der nämliche Mann,
dem Jenes begegnete, war vielleicht der besonnenste
Sterbliche in seiner Wissenschaft.


Wenn nun die wissenschaftliche oder künstlerische
Vertiefung alle heterogenen Vorstellungsreihen so stark
hemmen, die Auffassung der äuſsern Wahrnehmung so
sehr stören, wahrscheinlich auch den ganzen Organismus
entschieden nach sich stimmen kann: um wieviel muſs
die Verzögerung, ja die Ausschlieſsung der rechten Ge-
danken — derjenigen nämlich, die um einer praktischen
Rücksicht willen die rechten genannt werden, — zu-
nehmen, sobald nun noch irgend welche fehlerhafte phy-
siologische Einwirkungen dazu kommen! sobald es dem
Organismus an Geschmeidigkeit fehlt, dem nöthigen
Wechsel der Vorstellungen gehörig begleitend nachzu-
folgen; sobald diejenigen Zustände, welche von den herr-
schenden Vorstellungsmassen herrühren, sich zu sehr be-
vestigen, um einem entgegengesetzten Antriebe leicht
nachzugeben!


Noch andere Beyspiele, daſs ohne alle widrigen phy-
siologischen Einflüsse, die gröſsten und gesundesten Köpfe
der Unbesonnenheit zuweilen zum Raube werden, und
daſs also da, wo im Wahnsinn dergleichen Erscheinun-
gen carricaturmäſsig vergröſsert erscheinen, der leibliche
Zustand nur vollendet, was der psychologische Mecha-
nismus schon angefangen hatte, — liefert uns die Ge-
schichte der Philosophie, in den Inconsequenzen der
Systeme; die, was das merkwürdigste ist, eine nicht bloſs
augenblickliche, sondern permanente Unbesonnenheit, ei-
nen ausgebildeten Vorstellungskreis, in welchem dennoch
die Gedanken sich nicht gehörig durchdringen, uns vor
Augen legen. Gesundheit des Geistes war ohne allen
Zweifel in ganz vorzüglichem Grade das Eigenthum des
[506] ehrwürdigen Kant; dies beweis’t alles, was man von ihm
weiſs. Dennoch ist sein System in einem Hauptpuncte
ein Beyspiel von Unbesonnenheit; und der Beweis hie-
von liegt in dem eigenthümlichen Gepräge der Philoso-
phie unserer letzten Decennien. Beschäfftigt mit den
Formen der Erfahrung, lieſs Kant die Frage nach dem
Ursprunge der einfachen Empfindungen, der Materie der
Erfahrung, anfangs auſser Acht; auch konnte und wollte
er seine Kategorie der Ursache, die nur einen immanen-
ten Gebrauch im Gebiete der Erfahrung haben sollte,
nicht dazu anwenden, von den Dingen an sich zu sagen,
und theoretisch zu behaupten, sie seyen die Ursachen
unsrer sinnlichen Empfindungen. Dem gemäſs muſste
von Dingen an sich bey ihm eigentlich gar nicht die Rede
seyn: wie die scharfsinnigsten unter den Nachfolgern sehr
bald bemerkten. Wie kam denn Kant zu der oft wie-
derhohlten, und ausdrücklichen Behauptung, daſs den
Erscheinungen gleichwohl Verstandeswesen (Dinge an
sich,) correspondiren? Seine Glaubensartikel, die um
des moralischen Interesse willen angenommen wurden,
führten ihn wieder in diese Gegend. So kam ein freyer,
ein unsterblicher Geist, so die Ueberzeugung von Gottes
waltender Weisheit, in das System. Aber auch die Dinge
an sich, von denen die Sinneserscheinungen, nach Ab-
zug der Form, ihren Ursprung haben sollten? Waren
diese auch ein Glaubensartikel? Was konnte es dem
moralischen Interesse schaden, die Materie sowohl als
die Form der Erfahrung aus dem eignen Selbst entsprin-
gen zu lassen? — So fragten sich Fichte und Schel-
ling
beym Beginn ihrer Arbeiten, und es ist bekannt
genug, daſs beyde, besonders aber der erste, Anfangs
hierin ihre leitende Idee fanden. Unter der damals sehr
allgemein verbreiteten Voraussetzung, die Kantische Lehre
sey der Hauptsache nach die wahre, glaubte Fichte
den rechten Weg einzuschlagen, indem er suchte, die
Kantische Philosophie von den Dingen an sich zu be-
freyen. — Und unbegreiflich würde es immer bleiben,
[507] wie Kant jene Unzierde seines Systems nicht gewahr
geworden sey, wenn nicht eine Association hiebey ge-
wirkt hätte. Eine reale Seele, eine reale Gottheit, schie-
nen in die allgemeinere Annahme von Dingen an sich
hineinzugehören. Unter den Flügeln von jenen erhabe-
nen Gegenständen nahmen auf diese sehr gleichgültigen
wieder ihren alten Platz ein. Dies hätte nicht geschehn
können, wäre mit mehr Schärfe der sonst so tief einge-
prägte Gedanke, nichts Uebersinnliches einzulassen, wofür
nicht das moralische Gesetz volle Bürgschaft leiste, auch
hier durchgedrungen. Und so haben wir denn wiederum
ein Ausbleiben des rechten Gedankens an der rechten
Stelle, [ungeachtet] derselbe Gedanke vorhanden, und mit
ausgezeichneter Stärke gerüstet war. Die anfängliche
Richtung des Systems führt uns abwärts von den Din-
gen an sich, die nachmalige kehrt zu ihnen zurück. Wie
konnte nun der groſse Denker ein solches System in sei-
nem Geiste tragen? Wie, wenn nicht so, daſs abwech-
selnd sein Denken bald an den vorderen, bald an den
hinteren Fäden fortlief, und daſs er gleichsam ein zwie-
faches Bewuſstseyn für die verschiedenen Theile seiner
Lehre, sich angebildet hatte.


Nach einem so ausgezeichneten Beyspiele wird man
kaum verlangen, daſs ich noch in niederen Regionen des
gemeinen Denkens ähnliche Fälle nachweise. Man muſs
wenig auf Menschen geachtet haben, wenn man nicht
weiſs, daſs sie sehr gewöhnlich mehrere Gedankenmas-
sen im Kopfe haben, die sich gegenseitig nur mangelhaft
bestimmen und durchdringen, und die, ungeachtet sie im
Widerspruche stehn, sich doch höchst friedlich in der
Einen Wohnung neben einander befinden.


§. 164.

Dennoch erhebt sich groſse Verwunderung, wenn
nach vergröſsertem Maaſsstabe ähnliche Erscheinungen
bey Kranken zu sehen sind. Nachdem Reil*) die Ge-
[508] schichte eines gebildeten Frauenzimmers erzählt hat, das
in einem periodischen Wahnsinn sich für eine flüchtige
Französin hielt, und mit vorzüglicher Feinheit diese Rolle
spielte, von der sie selbst allein getäuscht wurde: setzt
er, in Beziehung auf ihre getheilte Persönlichkeit (denn
sie war abwechselnd Teutsche und Französin, jedes für
sich im Zusammenhange, keins in Verbindung mit dem
anderen,) den Ausruf hinzu: „Wer soll diese Ge-
„schichte erklären? der Materialist oder der
„Spiritualist nach den reinen Grundsätzen der
„Psychologie? Ich fürchte, seine Kunst schei-
„tert an diesem Phänomen
.“


Das erste, was wohl Jedem hiebey einfällt, ist die
bekannte Thatsache, daſs auch ohne Wahnsinn der
Traum manchmal ähnliche Erscheinungen darbietet. Die
Träume einer Nacht werden oft genug in der andern
fortgeträumt. Verschiedene körperliche Zustände rufen
verschiedene Vorstellungsmassen auf; jede von beyden
bildet sich für sich allein aus, unbekümmert um die andre
und von derselben unberührt.


Ich kann mich hier der Frage nicht erwehren: was
wohl in den Köpfen der Schulknaben vorgehn möge, die
an Einem Morgen durch eine Reihe heterogener Lectio-
nen herdurch getrieben werden, deren jede sich am fol-
genden Tage mit dem gleichen Glockenschlage wieder-
hohlt und fortsetzt. Sollten diese Knaben wohl die ver-
schiedenen Gedankenfäden, welche da gesponnen wer-
den, unter einander, und mit denen der Erhohlungsstun-
den, in Verbindung bringen? Es giebt Erzieher und
Lehrer, die das mit einem wunderbaren Vertrauen vor-
aussetzen, und deshalb weiter nicht bekümmert sind.


Ferner, was ist wohl der Geisteszustand des Musi-
kers, der die ganz eigenthümliche Gedankenreihe seiner
Kunst, nur in wenige, und sehr zufällige Verbindungen
mit andern Gegenständen bringen kann? Wer musika-
lische Phantasie hat, wird wissen, daſs diese besonders
in recht heitern Stimmungen sehr gewöhnlich ihrem Triebe
[509] folgt, und selbst eine vielstimmige Musik im Innern auf-
führt, ohne den geringsten Zusammenhang mit den übri-
gen Gedanken, die ihren eigenen Gang in der nämli-
chen Zeit
fortgehn. Dieses möchte bald noch wunder-
barer scheinen (obgleich es an sich nicht wunderbar ist,
da die beyden Vorstellungsreihen einander nicht hem-
men, wenn nicht mittelbar durch den von beyden afficir-
ten Organismus,) noch wunderbarer, sage ich, als die
abwechselnden Vertiefungen des Künstlers in seine
musikalischen Studien und in die Geschäffte des Lebens,
die auch einander nichts mittheilen.


Soll ich endlich bis zu den Personen kommen, die
in der Kirche eine periodische Frömmigkeit empfinden,
in andern Zeiten andre periodische Stimmungen haben,
ohne gegenseitigen Einfluſs zwischen diesen und jener?


Jedoch, zurück zur aufgegebenen Frage. Bevor ich
die Beantwortung wage, ersuche ich den Leser, sich das
Gefühl der Anstrengung zu vergegenwärtigen, was wohl
Jeder, in den Augenblicken empfunden hat, da von einer,
etwas lebhaft verfolgten Beschäfftigung, ein plötzlicher
Uebergang zu einer andern soll gemacht, und hiebey
wohl gar die Erinnerung an die frühern soll vestgehalten
werden. Zum Beyspiel, einer etwas schweren Integra-
tion, die bis auf die Bestimmung der Constante fertig
ist, soll jetzt diese, mit Rücksicht theils auf die voll-
brachte Rechnung, theils auf andre verwickelte Umstände,
beygefügt werden. Oder, verständlicher zugleich und pas-
sender, ein Lauf in einer Claviermusik ist jetzt eben mit
der linken Hand eingeübt; nun soll die rechte mitspielen.
Wie erklären wir das hiebey nicht selten eintretende Ge-
fühl der Anstrengung? Zuweilen erinnert in dergleichen
Fällen eine Spur von Kopfschmerz daran, daſs hier der
Organismus Mühe habe, seine begleitenden Bewegungen
auch noch auf den Zusatz einzurichten, den der Geist
zu seiner vorigen Thätigkeit zu machen im Begriff ist.
Und Niemand wird das unerwartet oder seltsam nennen,
denn wie sollte es anders seyn, bey dem Causalverhält-
[510] niſs zwischen Leib und Seele. — Gleichwohl soll das
kranke Frauenzimmer, dessen Reil erwähnte, sich in
dem Augenblicke, da sie sich als Deutsches Mädchen
denkt, nicht bloſs ihrer französischen Persönlichkeit erin-
nern, sondern darüber die Deutsche nicht verlie-
ren
; welches offenbar nothwendig ist, damit sie inne
werde, sie habe geschwärmt. Bedenken wir doch, daſs
sie krank ist! Wie soll sie die Anstrengung aushalten,
nicht bloſs des Wechsels der Gemüthslagen, sondern
der Aufhäufung einer auf die andere, ja gar der
Stöſse, die es geben muſs, damit eine die andre Lügen
strafe? Es ist alles mögliche, (allein eben nicht zu er-
warten,) wenn sie nach ihrer Genesung neben ihrer wie-
der bevestigten Deutschen Persönlichkeit noch den Ge-
danken an die französische tragen kann, — wenn sie
alsdann irgend etwas weiſs, von allem, was die Französin
gethan und gesprochen hat. So erinnert sich freylich der
Gesunde seines Traums, weil der Organismus nachgie-
big genug ist gegen den Zusammenstoſs der widerstre-
benden Gedankenreihen, und sich bey der Gelegenheit
durch Lachen Luft macht. Wer aber nicht aufgelegt ist
zum Lachen, dem wird jede Revision seiner früheren
Verkehrtheiten entweder peinlich oder unmöglich.


Man wird nun hoffentlich einsehn, daſs weder diese
noch ähnliche Geschichten die geringste Schwierigkeit ha-
ben. Das Nil admirari taugt zwar als Maxime nichts,
denn es tödtet die Keime der Forschung; aber ich be-
kenne, daſs, wo es nicht nach vollbrachter Untersuchung,
sich als Probe wahrer Einsicht von selbst einfindet, mein
Zutrauen zu dieser Einsicht ziemlich beschränkt ausfällt.


§. 165.

Die Hauptsache, wird vielleicht jemand sagen, sey
noch unerklärt geblieben. Denn das Vorstehende be-
ziehe sich nur auf den Umstand, daſs die entgegenge-
setzten Gemüthszustände nicht in Ein Bewuſstseyn zu-
sammenkamen, wobey sie sich würden lebhaft gehemmt,
und den Organismus in eine für jetzt unmögliche Span-
[511] nung gesetzt haben. Allein es bleibe die Frage übrig,
wie überall eine Umtauschung der Persönlichkeit denkbar
sey, wie Jemand ein anderes Ich, als das seinige, haben
könne?


In der That, die Betrachtung dieses Punctes ist
noch vorbehalten. Sie bezieht sich nämlich nicht auf das
Eigenthümliche jener Geschichte, sondern auf alle die
so sehr gewöhnlichen Fälle des Wahnsinns, wo der
Mensch sich für einen Andern hält, als der Er ist. Und
wir gehen hiemit über zu demjenigen, was über den
Wahnsinn in der Kürze noch zu sagen ist, um die An-
wendbarkeit unsrer Principien auch auf diesen Gegenstand
zu zeigen.


Zuerst wolle man sich aus den obigen Untersuchun-
gen erinnern, daſs die Ichheit, wie sie bey allen sich
selbst vorstellenden Wesen vorkommt, gar keine be-
stimmte Individualität erfordert, sondern nur irgend eine,
welche übrigens in ihren nähern Bestimmungen vom Zu-
fall abhängt, der ihre mannigfaltigen Bestandtheile zu-
sammenhäuft. Man wolle sich aus der Erfahrung erin-
nern, wie die Ichheit sich bey einem und demselben
Menschen von seiner Kindheit bis zu seinem Alter gleich-
sam fortschiebt auf den verschiedenen und heterogenen
Gefühlen, Wünschen, Thaten, Gedanken, äuſseren Ver-
hältnissen, die er im Laufe der Zeit allmählig zu seinem
Selbst hinzurechnet. Man wolle bemerken, wie vielfach
verschieden der Mensch sogar im Laufe einer Stunde
seine Person ansieht, indem er sich bald als Geschäffts-
mann, bald als Familienglied, bald vielleicht als körperlich
leidend, u. s. w. auffaſst; oder indem aus der ganzen höchst
zusammengesetzten, und nicht durchgehends vest verbun-
denen Complexion, die das individuelle Ich ausmacht,
bald dies bald jenes mehr im Bewuſstseyn sich hervor-
hebt. Jede etwas beträchtliche Vorstellungsmasse enthält
ohne Zweifel irgend eine Auffassung der eignen Person;
und die Vorstellung Ich kommt im Menschen so viele-
mal zu Stande, daſs er nothwendig eine vielfältige Per-
[512] sönlichkeit bekommen müſste, wenn nicht bey gesunder
Besonnenheit alle Vorstellungsmassen einander gegensei-
tig bestimmten und sich so mannigfaltig unter einander
verknüpften.


Nun denke man sich den allmähligen Uebergang des
Verständigen zum Wahnsinn. Drückende Körpergefühle
machen ihn mehr und mehr untauglich zu seinen gewohn-
ten Verrichtungen; er findet sich nicht mehr als den thä-
tigen, planvollen, seiner Verhältnisse mächtigen Men-
schen, als den er sich sonst dachte. Dagegen müssen
jene Körpergefühle mit aufgenommen werden in die An-
gabe dessen, was er als sein eignes Selbst kennt. Diese
geben ohne Zweifel die Grundlage zu einer neuen Indi-
vidualität, welche nur braucht von den Erinnerungen an
die Vergangenheit losgerissen zu werden, und mit neuen
Gedankenmassen in Verbindung zu treten, um ein Ich
zu ergeben, das mit dem frühern nicht zusammenhängt.


Um die losreiſsende Kraft aber, wodurch das eine
vom andern getrennt, und eben deshalb das neu entste-
hende Ich solcher Bestimmungen fähig werden soll, die
dem alten gerade widersprechen, — um diese Kraft sind
wir hier gewiſs nicht verlegen. Es ist dieselbe, welche
überhaupt so oft die Gedankenfäden des Wahnsinnigen
zerschneidet, welche sein Benehmen und Sprechen mehr
oder minder desultorisch und inconsequent macht; die-
selbe, durch welche es unmöglich wird, daſs viele ver-
schiedene Vorstellungsmassen zugleich in seinem Bewuſst-
seyn gegenwärtig seyen, und auf einander einwirken. Es
ist die physiologische Hemmung des Vorstellens, welche
die Krankheit mit sich bringt. Wenn diese sich mit
irgend einer phantastischen Aufregung vereinigt, so ha-
ben wir zwey Kräfte, von denen alle Erinnerungen der
frühern Ichheit auf die Schwelle des Bewuſstseyns kön-
nen getrieben werden. Die jetzigen Körpergefühle, sammt
der eben vorhandenen Phantasie, ergeben um so siche-
rer ein neues Ich, je vester sie sich unter einander com-
pliciren
[513] pliciren, das heiſst, je ungestörter sie mit einander eine
Zeitlang haben im Bewuſstseyn verweilen können.


Daſs es in einem solchen Zustande nicht an der
Ichheit überhaupt fehlen werde, leuchtet unmittelbar ein.
So lange noch der Mensch seine Glieder kennt und will-
kührlich bewegt, so lange er sein Sprechen vernimmt,
versteht, und darin seine Gedanken wiederfindet, eben
so lange sind die ursprünglichen Grundlagen vorhanden,
worauf in der frühen Kindheit die Ichheit erbauet wurde.


Und daſs hieran die erste beste Phantasie sich vest
hänge, — mit allen den Fäden, welche aus ihr im Ver-
lauf der Zeit können gesponnen werden, — dies darf
nach der bekannten Entstehungsart aller Complexionen
kein Wunder nehmen.


Wenn aber die äuſsern Umstände, z. B. das Irren-
haus mit allem seinen Elende, den Wahnsinnigen, der
sich König glaubt, nicht von der Täuschung heilt, so ist
das die natürliche Folge von der Unfähigkeit des Kran-
ken, seine Gedanken in ihrem ganzen Zusammenhange
zu entwickeln, und hiedurch das Widersprechende wahr-
zunehmen, was sich aus ihnen ergiebt. Dies ist gerade
wie im Traume. Ich erinnere mich eines sehr lebhaften
Traums, der mich in ein offenes Grab hinabsehen lieſs.
Aber wo war dieses Grab? Nicht auf ebener Erde, son-
dern auf dem obersten Boden eines Hauses. Jeder Wa-
chende weiſs, daſs man in die Bretter nicht graben kann;
die beyden hier aufgeregten Vorstellungen würden, gehörig
verfolgt, einander aufgehoben haben. Kann nun die
physiologische Hemmung die allernächsten räumlichen
Associationen so gänzlich abschneiden: wieviel mehr Mühe
würde der Wahnsinnige haben, aus dem Betragen der
Umgebung zu lernen, er sey nicht König!


Es scheint demnach, daſs die Geistesverrückung in An-
sehung des Selbstbewuſstseyns keine besondre Schwierigkeit
habe, und daſs aus den Untersuchungen über das Ich, als
über das Product, nicht eines reinen intellectuellen See-
lenvermögens, sondern vieler einzelnen, auf bestimmte
II. K k
[514] Weise unter einander verbundenen Vorstellungen, —
sich die Möglichkeit jener Verrückung hinreichend er-
kennen lasse. Und hiemit sind wir an diejenige Gränze
unsrer ganzen Abhandlung gelangt, die wir uns gleich
Anfangs gesteckt hatten. Das Ich sollte unsre Arbeit
anfangen und endigen, es sollte gleichsam dem Rahmen
hergeben, mit dem wir sie einfassen wollten. Der abs-
tracte Begriff des Ich, wie ihn die Speculation auffaſst,
ehe sie noch seine Beziehungen kennt, gab uns den An-
fangspunct; erst nach einem langen Laufe der Untersu-
chung konnten wir mit Erfolg die Analysis des Selbstbe-
wuſstseyns vornehmen, und am Schlusse beschäfftigten
uns dessen Mängel im Traume und Verrückungen in
Krankheitszuständen.


Da wir jedoch auf unserm Wege weit mehrere Ge-
genstände, als nur das Selbstbewuſstseyn, berührt haben,
so wird es erlaubt seyn, noch einige wenige Schritte über
die gesteckte Gränze hinaus zu thun, um in jeder Rück-
sicht zum Schlusse zu gelangen.


§. 166.

Zuvörderst noch einige Betrachtungen über Geistes-
zerrüttungen. Ich knüpfe dieselben an die Eintheilung,
welche Pinel in seinem traité ſur l’aliénation mentale*),
und mit weniger Veränderung Reil**) gegeben haben.
Der letzte unterscheidet fixen Wahn, Tobsucht,
Narrheit
und Blödsinn, indem er Pinel’s drittes
Theilungsglied, eine Complication der beyden ersten,
wegläſst. Wir können also die noch übrigen vier Glie-
der als eine, von beyden gemeinschaftlich vestgesetzte
Classification, zwar nicht der Kranken, wohl aber der
Begriffe, unter welchen die Krankheiten zu subsu-
miren seyen, annehmen. Und in der That sind die Un-
terscheidungsmerkmale sehr bestimmt und brauchbar auch
für die philosophische Betrachtung.


[515]

Unter den angegebenen Arten hebe ich zuerst die
Tobsucht heraus; (manie sans delire nach Pinel.) Bey
dieser steht das Psychologische und Physiologische noch
beynahe getrennt. In den Anfällen derselben empfindet
der Kranke, der seines Verstandes mächtig ist und bleibt,
ein Brennen im Unterleibe, welches allmählig sich fort-
pflanzt zur Brust, zum Halse, bis ins Gesicht und in die
Schläfen, mit sichtbaren Zeichen von heftigem Andrange
des Bluts; endlich ins Gehirn, wobey sich eine blinde
Wuth erhebt, jeden Nahestehenden zu mishandeln, ja
selbst die geliebtesten Personen zu morden. Der Ra-
sende verabscheut in diesem Zustande sich selbst, er
warnt, man möge ihm ausweichen, da er nicht im Stande
sey, sich zu zügeln, sondern von einer unwiderstehlichen
Gewalt sich fortgerissen fühle.


Sehr richtig ohne Zweifel bemerkt Reil, daſs hier
die Krankheit nicht in der Seele, sondern im Körper
ihren Sitz habe. Denn daſs ein heftiges, beym ersten
Anfalle unbekanntes, Körpergefühl sich eine Vorstellungs-
reihe anknüpfe, die eigentlich damit in gar keiner noth-
wendigen Verbindung steht, sondern jetzt erst eine Com-
plication mit jenem Gefühle eingeht, das kann man un-
möglich Krankheit nennen. Gerade das nämliche ist der
Fall beym Geschlechtstriebe, der nur nicht das Unwider-
stehliche mit der Tobsucht gemein hat; übrigens aber
uns eben so vergeblich bey der Frage verweilen machen
würde, was für ein innerer Zusammenhang sey zwischen
solchen Gefühlen und solchen Gedankenreihen und be-
absichtigten Handlungen? Der Tobsüchtige hat früherhin
vom Morden gehört, er hat sich eine dunkle Ahndung
gebildet, wie einem Mörder zu Muthe seyn möge; keine
andre Vorstellungsreihe ist mit ähnlicher Affection ver-
bunden, daher tritt diese Ahndung hervor, die noch am
ersten mit dem jetzt vorhandenen Körpergefühl eine Aehn-
lichkeit der Stimmung hat, — und die unglücklichste
aller Complexionen ist fertig! Beym Geschlechtstriebe
hilft offenbar die Natur noch auf andre Weise nach, da-
K k 2
[516] mit die rechte Complication zu Stande komme; dennoch
sind Fälle von Verirrungen bekannt, selbst von solchen,
die schlechterdings mit keiner möglichen Wegschaffung
des physischen Reizes zusammenhängen *). Sie würden
noch häufiger seyn ohne die Romane, die bey ihren oft
schlimmen Diensten doch schon aus diesem Grunde, und
abgesehen vom poëtischen Werthe, den die allerwenig-
sten besitzen mögen, Etwas für sich haben; obgleich sie
bey einer vernünftigen Jugendbildung entbehrlich sind.


Das gerade Widerspiel in Rücksicht des angegebe-
nen Hauptpuncts, bietet uns, der unvermischten Tobsucht
gegenüber, die Narrheit dar. Während in jener der
psychologische Mechanismus seine Integrität beybehält,
ist er in dieser nicht mehr zu erkennen. Wenn diejeni-
gen, die sogern die Seele in dem ganzen Körper verthei-
len, oder doch alle Ereignisse im Bewuſstseyn zum Re-
sultat der Gesammtwirkung des Nervensystems machen
möchten, — in dem Buche der Erfahrung lesen wollen,
was aus ihrer Hypothese folgen müſste: so mögen sie
die Beschreibungen der Narrheit lesen. Bey dieser sind
zwar, wie sich versteht, alle Vorstellungen nur in der
Einen Seele; und, was mehr ist, die Seele dominirt noch
immer die Bewegungsnerven; indem der Narr, wenn er
geht eine Sache zu hohlen, noch Hand und Fuſs und
Auge nach der nämlichen Gegend hin richtet, und wenn
er spricht, die Sprachwerkzeuge in eine zusammenpas-
sende Bewegung versetzt. Aber kein Princip der Einheit
für die Gedanken ist jetzt in der Seele. Alle Vorstellun-
gen schwimmen wie auf einem Meere zerstreut umher.
Keine Reproductionsfolge kann sich abwickeln, keine
appercipirende Vorstellungsmasse thut ihre Wirkung,
kaum wird noch selten einmal ein Urtheil zu Stande ge-
bracht. Schlechterdings ohne Regel scheinen die Phan-
tasieen ihren burlesken Tanz zu halten, ohne Grund die
[517] verschiedenartigsten, vereinzelten Bilder vor die Seele zu
treten. Daſs nun gleichwohl die physische Natur niemals
gesetzlos wirkt, daſs auch in der ärgsten Narrheit alles
in der Seele und im Leibe so geht wie es eben kann
und muſs: das wird kein Naturkenner bezweifeln. Nur
ihre Zweckmäſsigkeit hat die Natur hier ausgezogen.
Wir sehn nun, daſs die organische Natur auch
auf unzweckmäſsige Weise noch leben kann
.
Wir sehen, es ist möglich, daſs statt eines psycholo-
gischen
Mechanismus, welchem das Gehirn diene, eine
Gesammt-Mechanik für die Seele und für das Nerven-
system eintrete! Bey dieser nämlich mag eher in jedem
andern Elemente des Systems, nur nicht in der Seele,
die Einheit aller innern Zustände nach eignen Gesetzen
vorhanden seyn; nun mögen die Sehenerven, den früher
erhaltenen Eindrücken gemäſs, Gesichtsvorstellungen, und
die Gehörnerven Tonvorstellungen veranlassen, so daſs
die Seele, nach gewechselten Rollen nur die begleiten-
den innern Zustände daran füge, was sonst in Beziehung
auf sie, den sämmtlichen Elementen des Gehirns zukam.
Oder vielmehr, jene Einheit ist jetzt höchst wahrschein-
lich nirgends zu finden; es geht in dem ganzen Nerven-
system, die Seele mit eingeschlossen, wie in einer allzu
zahlreichen deliberirenden Versammlung, wo zwar Jeder
für sich allein einen Plan verfolgen würde, wenn er un-
gestört bliebe, alle zusammen aber nicht einmal einen
Plan entwerfen, vielweniger ausführen können, weil bald
diese bald jene Meinung überwiegt, und Alle doch Etwas
zu den endlichen Beschlüssen wollen beygetragen haben.


Wer nicht einsieht, daſs gerade nach diesem Bilde
auch im gesunden Zustande das Treiben in Seele und
Leib gehen würde, wenn alles Mannigfaltige, und gar
Auſsereinander-liegende, des Nervensystems, jedes nach
seiner Art, und auf demokratische Weise, zusammen-
wirkte, um die Zustände des Bewuſstseyns zu ergeben:
der sehe zu, woher das Princip der Einheit, während des
vernünftigen Daseyns, kommen soll, vermöge dessen,
[518] Handlungen, Begehrungen, Gedanken in einem klugen
und charaktervollen Manne sich zweckmäſsig an einan-
der fügen. Aus der gröbern Structur des Gehirns ist da
nichts zu erklären; diese bleibt dem Narren wie dem
Weisen; mit Bewegungen irgend welcher Flüssigkeiten
ist nicht viel auszurichten, denn die sind keine Vorstel-
lungen, weder thörichte noch verständige; man wird in
dem Innern der Elemente für seine Hypothesen Platz su-
chen müssen; und am Ende, weil die Einheit aus dem
Vielen nicht kann zusammengesucht werden, sich gefallen
lassen müssen, sie in Jedem der Elemente anzunehmen;
mit Einem Worte, man wird den sämmtlichen Elemen-
ten des Nervensystems diejenige zweckmäſsige Einheit
ihrer innern Zustände zugestehen, die man Anfangs der
Seele versagte, und die Richtigkeit eines jeden noch so
unbedeutenden Gedankens von allen diesen Elementen
abhängig machen; wobey nichts, als nur die gerechte
Verwunderung gewonnen wird, daſs eine so höchst com-
plicirte Einrichtung nicht öfter sich verwirre, und daſs
nicht eine ungleich gröſsere Anzahl von Narren in der
Welt sey, als von Leuten, die ihr leidliches Maaſs von
Verstande besitzen!


Uebrigens sage ich dies den Physiologen, welche
das Räumliche als ein reales Vieles ansehn. Diejenigen,
welche sich auf eine übersinnliche Einheit berufen, von
der das Viele die Erscheinung sey, finden ihre Wider-
legung nicht hier, aber wohl in den ersten Vorbereitun-
gen zur Metaphysik.


Auch bescheide ich mich, diejenigen nicht überzeu-
gen zu können, welche aus den frühern Untersuchungen
dieses Buches nicht erkannt haben, wie wenig räthselhaft
der richtige Gang des Denkens dann ist, wenn man nur
den natürlichen Lauf der Vorstellungen, als Selbsterhal-
tungen in einem einfachen Wesen, ungestört seinen eig-
nen Gesetzen folgend sich denkt, die physiologischen
Einflüsse aber, wenn sie übermächtig werden, als die
Urheber der Anomalien in diesem Laufe ansieht. Die
[519] hierin nicht einstimmen, werden immer die Psychologie
als das Land der Wunder betrachten, und zufrieden
seyn, wenn der Vortrag dieser Wissenschaft lautet wie
ein artiges Mährchen, worin die Seelenvermögen die
Rollen der Dämonen und der Feen spielen.


Doch für diejenigen, die in solchen Fällen sich ganz
kurz mit der Weisheit und Güte Gottes helfen, habe ich
noch eine Frage. Indem ich mich ausdrücklich mit ihnen
vereinige in der Annahme, daſs diese Weisheit unsern
organischen Leib zweckmäſsig zum Leben gebildet hat;
indem ich dieser Weisheit den Gehorsam des Nerven-
systems gegen die Seele im gesunden Zustande, verdanke,
(nach §. 157. und 158.), frage ich, nicht eines religiösen
Zweifels wegen, sondern aus Liebe zur wahren Psycho-
logie: warum denn hat Gottes Heiligkeit nicht eine solche
Gesammteinrichtung des Organismus getroffen, daſs, wenn
einmal die Richtigkeit des Denkens, dann auch die
Sittlichkeit der Gesinnungen, die Rechtlichkeit der
Handlungen, hieraus hervorgehe? Warum ist nicht der
Gegensatz der Narrheit und des gesunden Verstandes
zugleich der zwischen Bosheit und Güte? — Für auf-
merksame, und mit mir einige, Leser dieses Buchs, giebt
es keine solche Frage.


§. 167.

Minder auffallend für den Psychologen, und zum
Theil minder traurig, ist das Schauspiel des Blödsinns,
als jene der Tobsucht und Narrheit. Der psychologische
Mechanismus ist beym Blödsinnigen noch zu erkennen,
aber er ist verkrüppelt. Was im Laufe der Zeit aus
dem Menschen werden sollte, das ist nicht geworden,
er ist ein Kind geblieben, — oder, beym später einge-
tretenen Blödsinn, in die Kindheit zurückgeworfen. Diese
Ansicht des Blödsinns, als einer ausgebliebenen oder
verschwundenen Bildung ergiebt sogleich, was die Er-
fahrung bestätigt, daſs diese Art von Geisteszerrüttung
mehr als die andere, der verschiedensten Grade fähig ist,
und daſs auch ihre Unterschiede fast nur Gröſsen-Unter-
[520] schiede sind. Beym vollkommenen Kretin steht die Seele
noch auf dem nämlichen Puncte, auf welchem sie etwan
bey der Geburt seyn mochte. Gar nichts von Complica-
tionen und Verschmelzungen der Vorstellungen ist zu
Stande gebracht, nirgends ist es bey der Hemmung der
letztern auf sie selbst angekommen; dagegen hat auch
der Organismus nicht, wie in der Narrheit und Tobsucht,
Vorstellungen und Gefühle herbeygeführt; sondern die
reine Negation des Vorstellens hat Alles, beynahe bis
auf die einfachsten, unmittelbaren Sensationen des Au-
genblicks, erdrückt und getödtet. Der Kretin kennt oft
nicht einmal die Theile seines Leibes; er mishandelt sich
selbst, und leidet den grausamsten Drang körperlicher
Bedürfnisse, ohne sie zu befriedigen.


Es ist ein sehr merkwürdiger, und Vieles aufklären-
der Umstand, daſs nur der Blödsinn allein unter den
Geisteszerrüttungen als angeboren vorkommt. Die an-
dern Arten sind mit der Kindheit, wie es scheint, un-
verträglich. Wenigstens fand Pinel in Bicêtre, nach
einem zehnjährigen Register, keinen Verrückten unter
funfzehn Jahren. Hieraus sieht man, daſs die andern
Arten der Verrückung Verderbnisse dessen sind was vor-
handen war; der Blödsinn hingegen als ein bloſser Man-
gel von der ersten Kindheit an existiren kann. Der Blöd-
sinnige ist ein Zwerg am Geiste. Die geringeren Grade
des Blödsinns können kaum anders als angeboren vor-
kommen. Denn wo derselbe im Laufe des Lebens ent-
steht, sey es unmittelbur oder als Verschlimmerung des
fixen Wahnsinns und der Tobsucht, da muſs eine sehr
heftige Gewalt so zerstörend auf die früher gewonnene
Bildung gewirkt haben, daſs schwerlich irgend etwas an-
deres als unbrauchbare und im Wege liegende Trümmer
davon übrig bleiben können. Hingegen der Blödsinn
von Kindheit auf kann so gelinde seyn, daſs er bloſs eine
auffallend beschränkte, dennoch gewissermaſsen in sich
abgerundete Bildung darstellt. Ich habe dieses in frü-
hern Jahren sehr genau an einem Verwandten bemerken
[521] können, der zwar zu eigentlichen Geschäfften untauglich
war, aber völlig brauchbar und willig zu kleinen häusli-
chen Verrichtungen von mancherley Art, und zu Zeiten
selbst unterhaltend durch sein Gespräch, welches einen
ziemlich ausgedehnten Gedankenkreis, und einen uner-
wartet beträchtlichen Grad von Beobachtungsgeist verrieth.
Ich kann mir nicht als möglich denken, daſs ein ähnli-
cher Geisteszustand auf eine frühere Ausbildung als Zer-
züttung derselben folge. Man würde einen verkehrten
Gebrauch der Reste von jener Bildung bemerken, der-
gleichen bey Jenem nicht statt fand, indem er sich voll-
kommen dem Verhältnisse angemessen betrug, in wel-
chem er sich einmal befand.


Eben diese Erfahrung hindert mich zu glauben, daſs
Reil das Rechte getroffen habe, indem er vorzüglich die
Urtheilskraft als das Fehlende im Blödsinn bezeichnet.
Dazu kommt die ohnehin fehlerhafte Absonderung der
Seelenvermögen, auf welche der angeführte Schriftsteller
sich gerade beym Blödsinn nur darum scheint eingelas-
sen zu haben, um sich weiterhin vergebliche Mühe zu
machen, das unrichtig Getrennte wieder zusammenzufügen.


Bedenken wir, daſs jeden Menschen ohne Ausnahme
seine Geistesbewegungen Zeit kosten, so haben wir so-
gleich, jenseits der gewöhnlichen Mitte, auf der einen
Seite das Genie, und zwar das universelle, wenn nicht
nähere Bestimmungen hinzukommen, und auf der andern
den Blödsinn, indem wir die Zeit sehr verkürzt oder ver-
längert denken. Das Genie erreicht bloſs durch seine
Schnelligkeit manche Combinationen, die dem gewöhnli-
chen Menschen nicht einfallen; und der sehr langsame
Kopf läſst auch die leichtesten Bemerkungen aus, weil
die Welt, die seinetwegen nicht langsamer geht, und die
periodischen Bedürfnisse seines physischen Lebens, die
der gewöhnlichen Regel folgen, ihm theils die Anlässe
zum Denken zu schnell vorüber führen, theils ihn unter-
brechen und verwirren, ihn beschämen und niederdrücken.
Man bemerke nur die Verlegenheit und den Unmuth des
[522] Schülers, dem der Unterricht zu schnell geht; und er-
messe alsdann den Taumel dessen, dem von Kindheit an
Alles zu rasch vorüberfährt! Wird dieser Taumel etwas
anderes seyn als Blödsinn?


Der angegebene Umstand scheint mir wenigstens
beym angebornen gelinden Blödsinn der wichtigste; und
überdies ist der Gedanke, daſs die Zeit, welche der psy-
chologische Mechanismus verbraucht, durch den physio-
logischen Einfluſs verlängert werde, so einfach und frucht-
bar, daſs er wohl verdienen möchte, zuerst und vorzugs-
weise, wenn auch nicht einzig und allein, bey näheren
Untersuchungen dieses Gegenstandes erwogen zu werden.


§. 168.

Ich komme zuletzt zu dem eigentlichen Wahnsinn,
der, wenn auch nicht immer, doch wohl in den meisten
Fällen, durch eine fixe Idee bestimmt wird. Es lieſse
sich wohl auch das Gegentheil denken, nämlich ein un-
regelmäſsig abwechselnder Wahn, der darum noch nicht
Narrheit wäre, indem jeder von den Hauptgedanken sich
in derjenigen Ausbildung zeigte, welche die Vernunft
nachahmt. Ich würde bestimmt behaupten, daſs derglei-
chen Fälle vorkommen, wenn ich von einigen mir vor-
schwebenden Beyspielen hinreichend genaue und ausführ-
liche Nachrichten hätte. Im gemeinen Leben wenigstens
kommen Menschen vor, die bald dieser bald jener Schi-
märe nachlaufen, und deren Thorheit, falls Krankheit des
Leibes sie steigerte, in einen schweifenden Wahnsinn
übergehn müſste. Auch erzählt Pinel*) von einem
Uhrmacher, der das perpetuum mobile erfinden wollte;
hiedurch unmäſsig angestrengt, und überdies durch Re-
volntions-Ereignisse geschreckt, verfiel er in den Wahn,
sein Kopf sey unter der Guillotine nebst andern gefallen,
und er trage jetzt einen fremden, den man aus Ver-
wechselung ihm aufgesetzt, da die Richter ihr Urtheil
bereueten. Hier würde doppelter Wahnsinn entstanden
[523] seyn, wenn nicht die Beschäfftigung mit dem perpetuum
mobile
, welche im Irrenhause fortdauerte, der Belehrung
durch Versuche und Erfahrung zugänglich geblieben wäre.


Verdient aber irgend eine Art der Geisteszerrüttung
den Namen der Seelen-Krankheit; so ist es gewiſs der
Wahnsinn. Hier wirkt der psychologische Mechanismus,
und oft nicht minder lebhaft und zusammenhängend wie
beym Gesunden. Aber sein Bau ist verdorben; ein un-
taugliches Rad ist in die Maschine gekommen; dadurch
wird ihr Effect ein Zerrbild von dem, was er seyn sollte.


Wer seinen Lieblingsgedanken ohne Maaſs nach-
hängt, wer seine Phantasie ein Spiel treiben läſst, das
heftige Empfindungen steigert, die man bändigen sollte,
wer äuſseren Eindrücken sich zu sehr entzieht, und die
Bekanntschaft mit der Welt verliert; wer es vernachläs-
sigt, das Gewagte seiner Vermuthungen, das Ungewisse
seiner Hoffnungen, zuverlässigen Thatsachen gegenüber
zu stellen; wer, anstatt Erkundigungen einzuziehn, anstatt
Proben anzustellen, anstatt gründliche Wissenschaft zu
studiren, lieber Meinungen ausbrütet, und diesen seine
Stimmung Preis giebt: der gräbt sich selbst die Grube,
in welche ein leichter Zufall, der das Nervensystem schwächt,
ihn hinabstoſsen kann. Was ist leichter, als daſs eine
falsche Complication von Vorstellungen sich erzeuge,
nachdem die gegenwirkenden Kräfte unthätig geworden
sind, vollends indem eine physiologische Hemmung dazu
tritt? Die Möglichkeit hievon wurde schon vorhin erwo-
gen, da von der bestimmten Art des Wahns die Rede
war, bey welcher der Kranke sich eine ihm fremde Per-
sönlichkeit zueignet. Die unvermeidlichen Folgen aber
liegen am Tage. Wer nur nicht an die Seelenvermögen
glaubt, wer z. B. nicht meint, der ganze Verstand müsse
krank seyn um eines falschen Begriffes, die ganze Ur-
theilskraft um eines unrichtigen Urtheils willen, das ganze
Gedächtniſs müsse fehlen, wo eine gewisse Reproductions-
folge in ihrer Wirkung gehemmt ist, — der sicht so-
gleich ein, daſs die Krankheit ursprünglich in einer be-
[524] stimmten Vorstellungsmasse, und in einer bestimmten fal-
schen Verknüpfung gewisser Vorstellungen ihren Sitz hat;
daſs sie sich verbreitet, indem diese Masse allmählig meh-
rere andre nach sich bildet; daſs sie um so mehr um
sich greift, je mehr die Stimmung der Gefühle, die sie
erregt, in den vorhandenen Körpergefühlen wurzelt, und
je mehr hiedurch andre Vorstellungsmassen aus dem Be-
wuſstseyn zurückgehalten werden; endlich daſs sie geheilt
wird, indem die Körpergefühle weggeräumt, die Vorstel-
lungsmassen in ihren falschen Bewegungen nachdrücklich
gehemmt, und durch die Sinne ganze Vorräthe von neuen
Wahrnehmungen herbeygeführt werden.


Jener Uhrmacher wurde geheilt, nachdem man ihm
zu arbeiten gegeben, für seinen Körper gehörig gesorgt,
und nun eine andre, seiner falschen Vorstellungsreihe
verwandte, durch einen derben Spott so getroffen hatte,
daſs er zuerst den secundären Irrthum einsah, dann den
primitiven allmählig im Stillen berichtigte, und kein Wort
mehr darüber fallen lieſs *). Es ist bekannt genug, daſs
auf ganz ähnliche Weise eingewurzelte Vorurtheile am
besten anzugreifen sind. Immer wird es darauf ankom-
men, in dem psychologischen Mechanismus eine Stelle
zu finden, wo er nachgiebig ist, diese stark zu afficiren,
zuvor aber die Gesundheit des Leibes und die Heiterkeit
des Gemüths so weit herzustellen, daſs die, dem Vor-
stellungskreise ertheilte neue Bewegung nicht gehindert
werde, fortzuwirken bis zur fehlerhaften Stelle, und dort
die nöthige Umwandlung zu veranlassen.


Im allgemeinen rühmt man die gute Wirkung der
Arbeit, und des vesten, obgleich nicht harten Betragens
gegen die Wahnsinnigen. Und wer sieht nicht, daſs
eins und das andre zu den trefflichsten Mitteln gehört,
einen fehlerhaften Gang des Vorstellens zu hemmen, ge-
wissen herrschenden und richtigen Vorstellungen das
Uebergewicht zu verschaffen, daneben dem Leibe sein
[525] Wohlseyn und der Seele ihre Herrschaft über den Leib
recht lebhaft fühlbar zu machen. —


Es giebt noch andre bekannte Zustände der Seele,
in denen sie dem Leibe auffallend unterworfen ist, wie
das Delirium im Fieber, das Nachtwandeln, der soge-
nannte magnetische Schlaf, (wofür ein besserer Name
vorhanden seyn sollte, um die so unsäglich gemisbrauchte
Analogie mit dem Magneten einmal wieder in ihre Grän-
zen zurückführen zu können,) ferner der Schwindel, der
Rausch, der Starrkrampf, u. s. w. Ueberdies kommen
noch die physiologischen Wirkungen der Gefühle und
Leidenschaften, wegen der damit verbundenen Rückwir-
kungen auf die Seele, — es kommt die Abhängigkeit des
Temperaments von dem Leibe, und so Manches Andre
in Betracht, was hier ganz übergangen ist. Meine Ab-
sicht in diesem Capitel, das als ein leicht hingeworfener
Anhang zu den früheren Untersuchungen dieses Buches
zu betrachten ist, konnte nur seyn, zu zeigen, wie das
Physiologische, was von der Psychologie nicht zu tren-
nen ist, mit den hier aufgestellten Principien der letzte-
ren in Verbindung gesetzt, durch einige der auffallend-
sten Erscheinungen könne verfolgt werden.


Schluſs.

Darüber wird sich leicht Jeder einverstanden erklä-
ren, daſs ein lebendigeres und besser gelingendes Stu-
dium der Psychologie nicht anders als von den gedeih
lichsten Folgen seyn könnte für alle Wissenschaften.
Auch das wird man hier einräumen, daſs diese Betrach-
tung sich müsse unter zwey Gesichtspuncte fassen lassen,
indem theils das Aufhören der bisherigen schädlichen
Folgen unrichtiger Psychologie, anderntheils der positive
Gewinn aus Verbesserungen dieser Wissenschaft in An-
schlag kommen kann.


Aber welches sind die bisherigen übeln Einwirkun-
gen der Psychologie auf die andern Studien? Ich ver-
suche sie kurz anzugeben.


[526]

Die Psychologie wirkte falsch auf die Logik, indem
sie, derselben sich beymischend, ihr das Anschn einer
Erzählung gab, wie es im menschlichen Denken zugehe,
anstatt einer Regel, wie es zugehn solle, und einer Grund-
lage der Kritik, wenn es nicht also zugegangen war.
Vom Mechanismus des menschlichen Denkens, der eben
so gut die Ursachen der Irrthümer als der Einsichten in
sich faſst, weiſs die Logik nicht das geringste. Bildet
sie sich ein solches Wissen ein: so belastet sie hinwie-
derum die Psychologie mit Fehlern, wie es unter andern
dort geschah, wo man die logischen Vorschriften zur
Abstraction und Determination in ein vermeintes Abs-
tractionsvermögen übersetzte, und hiemit die Untersu-
chung über den Ursprung und die allmählige Ausbildung
der allgemeinen Begriffe verdarb. (Zu vergleichen §. 119
bis 122. und §. 147.)


Die Psychologie wirkte falsch auf die Moral, indem
sie auch diese verleitete, die Frage nach dem Sollen zu
verwechseln mit der nach dem Können. Als man von
Sympathie und vom Geselligkeitstriebe redete, um aus
dergleichen natürlichen Neigungen der menschlichen Na-
tur darzuthun, wie geschickt der Mensch sey, und wie
angenehm es ihm werden müsse, wenn er nur einmal
versuchen wollte, als ein guter Bürger und als ein redli-
cher Freund zu leben: da befand man sich ganz in dem
angezeigten Irrthum, und die Auctorität der Moral gerieth
in Gefahr, indem aus psychologischen Gründen sich eben
so vortrefflich entwickeln lieſs, der Mensch sey unge-
schickt zum Guten, er sey unaufgelegt für das Recht, im
natürlichen Kampfe mit aller Welt, zur Arglist und Tücke
gehoren. Kam man von beyden Seiten her in einer fried-
lichen Mitte zusammen, so muſste die Moral eben so
gefällig werden, als die sich versöhnenden Psychologen;
sie konnte nur in so weit gelten, als sie dem Menschen
natürlich schien, und das war nicht gar weit! — Als
aber Kant sich gegen diese Verkehrtheit erhob, fing er
allerdings sein Philosophiren zum zweytenmale von vorn
[527] an, indem er bey seinem kategorischen Imperative gar
nicht nach irgend welchen theoretischen Gründen
fragte. Und so war es recht; doch bog er sogleich wie-
der aus dem Geleise, indem er nicht bloſs bey der Lo-
gik (bey der Allgemeinheit des Gesetzes) nach dem
Inhalte des ersten Princips suchte, nicht bloſs blindlings
annahm, die praktische Philosophie müsse von Gebo-
ten
ursprünglich beginnen, sondern auch sogleich auf
die Angabe eines Seelenvermögens ausging, welches
geschickt seyn sollte, das moralische Gebot ins Werk zu
richten. So kam seine transscendentale Freyheit zum
Vorschein. Wer täuschte ihn hier, wenn nicht die falsche
Psychologie, an deren verborgenen Qualitäten, die See-
lenvermögen, er einmal gewöhnt war? Und was war die
Folge? Man sieht sie in Fichte’s Sittenlehre. Die For-
mel des kategorischen Imperativ’s veraltete bald; aber
die transscendentale Freyheit blieb; und die Sittenlehre
verwandelte sich in eine Historie von den Aeuſserun-
gen dieser Freyheit. So verlor diese Wissenschaft ganz
und gar die ihr gebührende Gestalt; und Fichte’s Sit-
tenlehre ist, gerade wie Spinoza’s Ethik, zwar in man-
cher andern Absicht ein sehr schätzbares Werk, aber
zugleich ein Muster, wie man eine Sittenlehre nicht
schreiben solle. Denn sie ist von vorn herein ein theo-
retisches, und eben darum kein praktisches Werk.


Die Psychologie wirkte falsch auf die Metaphysik.
Dies ist nun vollends eine Wirkung im Groſsen, die man
sogleich gewahr wird, wenn man die ganze neuere Phi-
losophie mit jener alten bis auf Aristoteles vergleicht.
Die späteren Zeiten ergaben sich groſsentheils der Ein-
bildung, etwas recht vortreffliches und verdienstliches zu
unternehmen, wenn sie die Philosophie gewaltsam in die
Wohnungen der Menschen einklemmten, wenn sie überall
den Menschen zum Mittelpuncte der Untersuchungen und
Bestrebungen machten. So wurden jene Aufschwünge
des menschlichen Geistes vor Aristoteles, vergessen; man
begriff nicht mehr, was diejenigen getrieben hatten, die
[528] zuerst metaphysische Forschungen begannen, man ent-
fernte sich von der wahren Metaphysik, der jene schon
nahe gekommen waren, darum, weil man die ganze Auf-
gabe dieser Wissenschaft, die ungereimten Erfahrungs-
begriffe zu berichtigen, aus den Augen verlor. Statt des-
sen glaubte man, von der Seele, oder doch von dem
Gemüthe, oder mindestens doch von dem Bewuſstseyn
und den darin arbeitenden Vermögen, oder doch endlich
zum allerwenigsten von dem Ich, eine Theorie auſstel-
len zu können. Man merkte nicht, daſs man hier gerade
mit denselben Schwierigkeiten, nur in einem speciellen
und eben darum noch mehr verwickelten Falle, belastet
war, die schon die Alten genöthigt hatten, Auswege
aus dem Erfahrungskreise zu suchen, und sich in einer
Welt von Noumenen anzubauen. Freylich aber konnte
des seichten Geredes, woran sich ein gröſseres Publicum
zu erfreuen pflegt, über die Thatsachen des Bewuſstseyns
genug geführt werden. Und seitdem dieses Philosophie
hieſs, galten natürlich Platons Ideen und das Eine der
Eleaten für Träume, die erst wieder zu Ehren kamen,
als man sie durch die, leider nur zu sehr entstellenden
Brillen des Spinoza zu betrachten anfing!


Die Psychologie wirkte falsch auf die Pädagogik.
Dieser drang sie ihre Seelenvermögen, und damit das
sinnlose Problem auf, die einzelnen Vermögen sowohl als
deren Gesammtheit zu stärken und mit allerley Fertigkei-
ten auszurüsten. So ungefähr wie man die Gliedmaaſsen,
die Muskeln des Leibes, durch Uebung stärkt, weil der
Reiz zur Entwickelung des organischen Baues wirkt.
Nun erschien die menschliche Seele unter dem Bilde ei-
ner Zwiebel, die unter allerley Hüllen ihre schon orga-
nisirte Blume versteckt hält, und nur auf Nahrung war-
tet, um sich auszustrecken, und ihr Verborgenes zu ent-
falten. Demnach sollte nun auch der Seele Nahrung zu-
geführt werden, damit sie sich entwickele; es sollten die
Seelenvermögen durch allerley Gymnastik aufgeregt wer-
den. Nimmt man diese Ausdrücke für Gleichnisse, so
heiſst
[529] heiſst es von ihnen, omne simile claudicat; nimmt man
sie gar für ernsthafte Angaben dessen, was der Erzieher
zu besorgen habe, so muſs der Leser aus den Untersu-
chungen dieses Buches wissen, wie gänzlich untauglich
sie sind. Nur Einen Punct hebe ich hervor: das Wich-
tigste der Erziehung ist die sittliche Bildung; wer aber
kann diese übernehmen, wenn er sich einbildet, in der
Seele stecke schon ein organischer Bau, der, so wie er
einmal beschaffen sey, sich entwickeln müsse, weil etwas
anderes aus dieser Seele machen zu wollen, eben so thö-
richt sey, als aus einer Tulpenzwiebel eine Hyacinthe
hervorziehen zu wollen? Wie nun, wenn unser Zögling
die Organisation eines Spitzbuben in sich trägt? — Hier
hilft man sich mit der Freyheit; wieder ohne zu überle-
gen, daſs die Freyheit gerade von nichts anderem als
von Causalverhältnissen frey seyn muſs, wenn sie überall
existirt; und daſs alsdann die nicht geringere Thorheit
an den Tag kommt, eine Causalität durch Erziehung da
ausüben zu wollen, wo gar keine Causalität möglich ist. —
Was ist die Folge von dem allen? Daſs philosophirende
Köpfe, wenn die falsche Psychologie bey ihnen einhei-
misch ist, gerade die Hauptsache, die sittliche Bildung,
mit mistrauischen Augen ansehn; daſs sie den Muth nicht
haben, diesen Gedanken ernstlich zu fassen. Diese Haupt-
sache aber hinweggenommen, läſst nur einige unbestimmte
Gedanken übrig, von Cultur des Gedächtnisses, der Phan-
tasie, des Verstandes u. s. w., die zu gar nichts dienen,
als dem rohen Empirismus und der Routine, welche am
Ende die Stelle der wissenschaftlichen Pädagogik vertre-
ten, einige Lappen umzuhängen, die deren Blöſse minder
sichtbar machen.


Die Psychologie trennte sich von Politik und Ge-
schichte, mit welchen Wissenschaften sie hätte innig ver-
bunden seyn sollen. Man schrieb Lehren vom Verstande
und der Vernunft, als von Vermögen, die in jeder
Menschenseele
, bey wilden Stämmen wie bey den cul-
tivirtesten Nationen, auf gleiche Weise sich ursprünglich
II. L l
[530] befänden, und die nur geweckt zu werden brauchten,
um thätig zu seyn. Man überlegte nicht, was ein schla-
fendes Vermögen
seyn möge, noch was das Wecken
desselben bedeuten solle, — ob sich mit diesen Worten
überall ein Sinn verbinden lasse; und ob der vermeinte
Sinn sich in der Geschichte der Ausbildung des Men-
schengeschlechts wiedererkennen lasse, ohne zuerst als
ein Vorurtheil in dieselbe hineingetragen zu seyn. Man
ahndete nicht, wie wenig Verstand und Vernunft in der
Welt seyn würde, wenn nicht unter Verhältnissen
der Gesellschaft
eins und das andre erzeugt, und
durch Tradition fortgepflanzt, ja für jede Vorstel-
lungsmasse insbesondere erzeugt
und fortge-
pflanzt würde. Fand sich bey wilden Völkern ein starker,
aber auf die Verschaffung der ersten Lebens- und Kriegs-
bedürfnisse beschränkter, Verstand? Dieser Verstand muſste
einseitig gebildet seyn; wie aber bey dem vermeinten or-
ganischen
Baue des Menschengeistes sich die einsei-
tige
Bildung denken lasse? vollends wie es möglich sey,
daſs von einem ganzen und vollständigen angebor-
nen Verstande neun und neunzig Hunderttheile im tiefen
Schlafe liegen, und Ein Hunderttheil dabey ganz ordent-
lich wachen könne? Das wurde nicht bedacht. Das
Schreyende dieser Ungereimtheiten hätte die wahre Psy-
chologie aus dem Schooſse der Geschichte hervorrufen
müssen, wären die Köpfe nicht voll von Vorurtheilen ge-
wesen. Fand sich bey verschiedenen gebildeten Völkern
ein ganz verschiedener Stempel der Phantasie, der Sit-
ten und der Gesetzgebung? Man suchte dies, wie billig,
aus den Lebensumständen und den Schicksalen der Na-
tionen zu erklären. Aber dennoch war in der Psycho-
logie immer nur die Rede von einerley Einbildungs-
und Urtheilskraft, in der Meinung, daſs diese Dinge in
der ganzen Welt und zu allen Zeiten die nämlichen, an-
geborenen Vermögen wären. — Was Wunder, wenn
mit einer solchen Psychologie die Politik nichts anfangen
konnte? Aus der Psychologie erklärte sich ja gar nichts,
[531] die falsche Theorie stand von den Thatsachen getrennt,
und der Zusammenhang der letzteren unter einander lieſs
sich durch jene nicht begreifen. Wenn in müſsigen
Stunden psychologische Reflexionen angestellt wurden, die
der Geschichte nachschlichen, so brachten diese nichts
weiter zu Tage, als einen Kitt, den man in die gähnende
Spalte zwischen Theorie und Empirie hineinstrich, um
sie weniger sichtbar zu machen.


Die Psychologie behielt keine Aehnlichkeit mit der
Naturwissenschaft, deren rascher Gang die träge Schwe-
ster gänzlich hinter sich zurücklieſs. Der traurigste Con-
trast zwischen der Gesetzmäſsigkeit der Körperwelt, und
der scheinbaren Gesetzlosigkeit der Geistes-Vermögen, die
nach Lust und Laune zu wirken schienen, wann und
wieviel ihnen eben beliebte, wurde mit jeder Entdeckung
der Physiker, mit jeder Berechnung der Astronomen, stär-
ker und auffallender. So blieben diejenigen zurück, die da
meinten, von dem Menschen und für den Menschen zu
philosophiren; so blieben sie zurück hinter jenen, die den
Himmel nicht zu hoch fanden, weil sie ihn mit ihren
Beobachtungen erreichen, und seine Ereignisse durch
Rechnungen verfolgen konnten. — Man schwärmte
endlich von der Freyheit, gerade da die bürgerliche Selbst-
ständigkeit verloren ging; es ist Zeit, die Begriffe über
Freyheit und Natur des menschlichen Geistes zu berich-
tigen, damit man der geretteten Nationalität sich zu be-
dienen wisse. Aber es scheint leider! man werde zuvor
noch manche alte Sünden abzubüſsen, ältere und neuere
Irrthümer abzuschwören haben!


Wenn ein Schriftsteller seine Hoffnung, oder nur
seinen Wunsch äuſsert, daſs groſse Uebel in groſser An-
zahl verschwinden möchten durch Verbesserung eines ein-
zigen Hauptpunctes; ja wenn er selbst zu dieser Verbes-
serung einen Beytrag zu liefern versucht: dann ist man
im Publicum meistens sehr eilig, ihm Schwärmerey und
Anmaaſsung vorzuwerfen. Wiewohl sich nun das ertra-
gen läſst, schon für das Bewuſstseyn, mit redlichem Wil-
L l 2
[532] len gearbeitet zu haben: so ist es doch gut, ausdrücklich
die geäuſserten Hoffnungen mit ihren Gränzbestimmungen
zu versehen; und hierzu bietet sich die Gelegenheit, in-
dem wir jetzt zu Betrachtungen des positiven Gewinns
übergehen, der von Verbesserung der Psychologie zu er-
warten steht.


Zuvörderst, der Gedanke, daſs die Psychologie es
in genauen Erklärungen der Thatsachen jemals der Na-
turwissenschaft gleich thue, liegt in weiter Ferne, er ge-
hört zu den Dingen, von denen man nicht viel reden
muſs, weil man nicht weiſs, was die Zukunft noch leisten
möge. So viel ist offenbar, daſs die Psychologie mit
Schwierigkeiten zu kämpfen hat, die groſs sind, wegen
des Mangels an Genauigkeit in den Beobachtungen. In
wiefern sie diesen durch die Menge derselben ersetzen
könne, läſst sich nicht voraussehen; aber die Ermunte-
rung für die Forscher ist hier geringer, weil sie sich müs-
sen gefallen lassen, gleichsam im Dunkeln zu arbeiten,
indem die unmittelbare, präcise Vergleichung zwi-
schen dem synthetischen Theile der Theorie und der
Beobachtung nur selten möglich seyn wird. Und gehört
schon dazu eine eigne Geistesrichtung, so ist noch über-
dies eine eigne Vorbildung erforderlich. Niemand wird
die Psychologie vest anfassen, dessen allgemeine Meta-
physik noch im Schwanken begriffen ist.


Ferner, eine nähere Verbindung zwischen der Psy-
chologie auf der einen, der Politik und Geschichte auf
der andern Seite, wird nur sehr allmählich erfolgen kön-
nen. Nicht nur bedarf es hierbey der Vereinigung man-
nigfaltiger Kenntnisse und Einsichten: sondern die Psy-
chologie wird auch erst groſse Fortschritte machen müs-
sen, ehe das Innere des Menschengeistes durchsichtig ge-
nug werden kann, um mehr als solche Reflexionen, die
nur die ganz empirische Menschenkunde voraussetzen,
dem Historiker zu gestatten. Indessen mag doch schon
diejenige Freyheit der Betrachtung, welche aus der Hin-
wegräumung der falschen Psychologie entspringt, mit Ge-
[533] winn an Aufschlüssen verbunden seyn. Jedem Gelehrten,
also auch jedem Historiker, pflegt Etwas anzukleben von
den Irrthümern der philosophischen Schulen, die zur Zeit
seiner Bildung die herrschenden waren. Noch mehr! Ich
müſste mich sehr irren, oder die empirische Menschen-
kunde kluger Köpfe, die vielleicht alle Philosophie has-
sen, und sich auſs sorgfältigste an reine Erfahrung hal-
ten, ist allemal beladen mit Vorurtheilen, theils ihrer in-
dividuellen Stimmung, theils ihres Standes, ihres Orts
und ihrer Geschäfte. Wie sollte es anders seyn? Der
Mensch beurtheilt Andre nach sich; denn unmittelbar
kann er nun einmal in die Gemüther der Andern nicht
hineinschauen. Je mehr er das Gegengewicht verschmäht,
welches die allgemeinen Theorien wider die Zufälligkeit
der individuellen Ansichten darbieten, desto mehr muſs
er nothwendig den letztern sich Preis geben, oder er
würde mit der ganz bedeutungslosen Oberfläche der Er-
scheinungen in der Menschenwelt sich begnügen müssen,
welches unter den Historikern höchstens der Chroniken-
schreiber thut. Daher kann die Maxime des bloſsen, gar
nicht philosophirenden, Empirismus nicht anders als dem
Historiker Nachtheil bringen. Und wenn er denn durch-
aus einiger Hülfe von Seiten der Theorie bedarf, um der
Beschränktheit seiner Individualität nur erst inne zu wer-
den, so ist nun keine Frage, daſs ihm hier eine wahre
Psychologie, selbst eine noch sehr unvollendete, bessere
Dienste leisten wird, als eine falsche, die so leicht ein
Vorurtheil an die Stelle des andern setzt.


Deutlicher schon werden die Vortheile einer verbes-
serten Psychologie, indem wir auf die Pädagogik zurück-
kommen. Zwar bin ich sehr weit entfernt, irgend welche
Theile der Erziehungspraxis im Detail nach psycholo-
gischen Grundsätzen allein bestimmen zu wollen. Das
Detail hängt immer, unmittelbar und zunächst, groſsen
Theils von Beobachtung, Versuch und Uebung ab. Der
Erzieher muſs Gewandtheit besitzen, um sich nach dem
Augenblick richten und schicken zu können, er darf sich
[534] überall keiner ganz bindenden Vorschrift hingeben. Aber
er muſs doch im Voraus überlegt haben, was er vorneh-
men wolle. Er muſs einen Plan mitbringen; und er
muſs verstehen, zu beobachten. Nun hängt zwar der
pädagogische Plan ursprünglich ab von der Vestsetzung
des Zwecks der Erziehung; und diese von der praktischen
Philosophie. Allein sobald man dem Werke auch nur
in Gedanken näher treten will, ist es unvermeidlich, zur
Psychologie sich zu wenden. In denjenigen pädagogi-
schen Werken, welche hierbey die Abtheilung der See-
lenvermögen verfolgen, wird man bemerken, wie ihre
Vorschriften, auch die vortrefflichsten, in einer gewissen
Breite aus einander flieſsen; so daſs nach allen Einzelnhei-
ten immer noch die Bürgschaft für das Gelingen des
ganzen Geschäfts vermiſst wird. Es kann nicht anders
seyn. Erscheint einmal der menschliche Geist als ein
Aggregat von Seelenvermögen, so muſs die Lehre von
der Bildung desselben auch ein Aggregat von Rücksich-
ten, von Bedenklichkeiten und Warnungen, von Rath-
schlägen allerley Art, werden; bey denen man fürchtet,
eins über dem andern zu vergessen oder zu verletzen,
und nirgends solche Stützen findet, auf die man sich mit
einiger Zuversicht lehnen könnte.


Welches ist denn aber der wahre Mittelpunct, von
wo aus die Pädagogik kann überschauet werden? Es ist
der Begriff des sittlichen Charakters, nach sei-
nen psychologischen Bedingungen erwogen
. Die
Psychologie für sich allein würde auf diesen Begriff nie-
mals kommen, auſser in wiefern der sittliche Charak-
ter, der sich selten einmal deutlich und stark ausge-
prägt in der Erfahrung findet, für sie ein Phänomen ist
wie die andern alle. Daher muſs man sich die Betrach-
tung des sittlichen Charakters in psychologischer Hinsicht
erleichtern durch die vorbereitende Erwägung eines sehr
allgemeinen Phänomens, des Charakters überhaupt. Denn
dahin bringt der psychologische Mechanismus die Mehr-
zahl der Menschen, daſs gewisse Hauptbestrebungen sich
[535] bey ihnen bevestigen, und daſs die schwächeren vor je-
nen, als den stärkeren, zurückweichen. Der Hauptbestre-
bungen können jedoch mehrere seyn, die in verschie-
denen
Vorstellungsmassen ihren Sitz haben, und die
entweder zusammen oder wider einander wirken; ein äu-
ſserst wichtiger Gegenstand für die Erziehung, und be-
sonders darum, weil sie sittliche Erziehung seyn soll.
Denn gewöhnlich hat der Mensch für das Sittliche ge-
wisse eigne Vorstellungsmassen, die sich bey ihm ausbil-
den, indem er sich selbst zum Gegenstande seiner Beob-
achtung und Kritik macht. Nun hängt aber der Cha-
rakter von allen stärkeren Vorstellungsmassen und den
in ihnen begründeten Bestrebungen zusammengenommen
ab. Daher darf keine solche Masse der Sorgfalt des Er-
ziehers entgehn. Diejenigen, welche ohne sein Zuthun
entstanden, muſs er bearbeiten, aber besonders muſs er
bemüht seyn, möglichst starke und planmäſsig erzeugte
Vorstellungsmassen selbst in das Gemüth seines Zöglings
zu bringen; von solcher Beschaffenheit, daſs sich in ihnen
nach dem psychologischen Mechanismus Bestrebungen
entwickeln, die entweder selbst von sittlicher Art sind,
oder doch dem Sittlichen in der Ausführung zu Hülfe
kommen. Hierzu findet sich die wichtigste und schönste
Gelegenheit im Unterrichte; so daſs auf diese Weise die
Unterrichts-Lehre mit der von der Zucht sehr genau zu-
sammenhängt. Es ist sogar bequem für die Darstellung
der Pädagogik, die Unterrichts-Lehre voranzustellen, und
die unmittelbaren Rücksichten auf die Charakter-Bildung
nachfolgen zu lassen. Denn die Verwickelung der letzte-
ren wird zu groſs und zu schwer zu überschauen, wenn
man nicht hierbey aus der Unterrichts-Lehre manches als
bekannt voraussetzen kann. Nur wird es alsdann noth-
wendig, in der Begründung der Vorschriften zum Unter-
richte einiges noch zu verschweigen, was erst durch die
Beziehung auf die sittliche Bildung sein volles Licht er-
halten soll.


Nach diesen kurzen Erläuterungen werden vielleicht
[536] einige Leser sich leichter in den Plan meiner allgemei-
nen Pädagogik finden, von dem mir bekannt ist, daſs er
nicht bloſs öffentlichen Gegnern, sondern auch andern
Personen, hauptsächlich freylich aus Unbekanntschaft mit
meinen psychologischen und ethischen Grundsätzen, dun-
kel geblieben war. Für die Uebertreibung, als sollte oder
könnte der Zögling ganz und gar ein Geschöpf des Er-
ziehers werden, — während die menschliche Seele, streng
genommen, sogar jede einfache Empfindung aus sich
selbst erzeugt, und überdies die Erfahrung, die Familie,
und der Staat, unaufhörlich den Menschen miterzieht,
endlich der Werth des Menschen schlechterdings nur
von der Frage abhängt, was er ist, und nicht im Ge-
ringsten von der andern Frage, wie er es wurde; — für
jene Uebertreibung mögen Diejenigen, von denen sie her-
rührt, sich selber gebührend zur Rechenschaft ziehn.


Am wichtigsten endlich ist der Einfluſs, welchen von
einer besseren Psychologie das gesammte philosophische
Studium zu erwarten hat.


Hier kommt es nicht darauf an, neue psychologische
Principien denjenigen Disciplinen unterzulegen, die bisher
gewohnt waren, sich bey der Psychologie Rath zu hoh-
len. Dadurch würde man nur auf andre Weise den alten
Fehler erneuern. Gerade die einzige Naturphilosophie,
oder Kosmologie, die sich am wenigsten um Psychologie
bekümmert, ja gar in den neuesten Zeiten Miene gemacht
hat, dieselbe unter ihre Oberaufsicht stellen zu wollen,
sie allein bedarf, den Begriff der innern Bildung ein-
facher Wesen vorzufinden, den ihr die menschliche
Seele, in dem einzigen, unserer Kenntniſs zugänglichen
Beyspiele, darbietet. Die andern philosophischen Wis-
senschaften, Logik, Ethik, allgemeine Metaphysik, haben
Befreyung nöthig von der Vormundschaft, unter der sie
widerrechtlich gehalten wurden. Ihnen wird es nützlich
werden, wenn auch nur die Seelenlehre als ein strei-
tiger Gegenstand
auſser Stand gesetzt wird, auf sie
einzuwirken. Sie werden sich alsdann ihrer eignen Kräfte
[537] erinnern; jede wird, wie sie füglich kann, sich selbststän-
dig hervorarbeiten. Und in dieser Hinsicht mögen im-
merhin die psychologischen Meinungen sich theilen, ja
man mag immerhin Klage führen über die Verwirrung
die daraus entspringe. Die Ordnung kann sich von je-
nen andern Puncten her wieder einfinden; denn Logik,
Ethik, und allgemeine Metaphysik haben eigenthümliche
Principien; und jeder von ihnen ist eine eigne und be-
sondre Art angemessen diese Principien zu behandeln.
Und wenn jede nach ihrer Weise ihre Schuldigkeit er-
füllt, dann gerade werden auch die physiologischen Strei-
tigkeiten am leichtesten zur rechten Entscheidung ge-
langen.


Allein wir dürfen nicht vergessen, daſs es mit der
Ausbildung der Wissenschaften auch auf dem Wege
eines psychologischen Mechanismus einhergeht. Die
Wirkung einer Wissenschaft auf die andern richtet sich
bey weitem nicht bloſs darnach, ob ausdrücklich aus je-
ner, Principien und Lehnsätze für diese entnommen wer-
den. Sondern es giebt einen geheimen, einen [unwill-]
kührlichen Einfluſs der Rücksichten, die man im Stillen
sich zu nehmen gezwungen fühlt. Manche sind so sehr
an die Seelenvermögen gewöhnt, daſs diese Undinge, ob-
gleich an sich ohne alle Realität, doch gleich realen
Kräften wirken, indem sie als Vorurtheile und Meinun-
gen, in jenen Köpfen eine starke Herrschaft ausüben.
Viele Personen können gar nicht anders denken, als in-
dem sie sich daran lehnen; sie können es eben so we-
nig, als sie zu unterlassen vermögen ihr Denken durch
die Worte der Muttersprache im Stillen zu begleiten.
Hier würde es nichts helfen, zu protestiren gegen die
unerlaubte Einmischung; die falsche Gedankenverbindung
würde dennoch in aller Kraft fortwirken. Eine andre
Theorie allein, die den Platz für sich in Anspruch nimmt,
welchen der Irrthum usurpirte, diese kann Hülfe schaf-
fen. Nämlich für den, der aufrichtig die Wahrheit ver-
ehrt; und bereit ist, sich auf Verbesserung seiner Ein-
[538] sichten einzulassen. Ein solcher wolle ja nicht vorschnell
seine bisherige Vorstellungsart aufgeben, und eine neue
dafür eintauschen. Er wolle nur erst von der neuen An-
sicht Kunde nehmen, und sie sich als eine andre mög-
liche Denkart gefallen lassen. Dadurch wird er den gro-
ſsen Gewinn erreichen, allmählig freyer zu werden von
dem Zwange der Vorurtheile, die ihn bisher beherrsch-
ten. In dem Maaſse, wie durch sorgfältiges Studium der
ihm entgegenstehenden neuen Lehre diese Freyheit wächst,
wird er fähig werden die Prüfung sowohl des Alten als
des Neuen zu beginnen. Und in dem Maaſse der Thä-
tigkeit seines eignen Denkens wird er nun mit sich über-
legen, ob etwan beyderley Theorien sich nur gegenseitig
die Blöſsen aufdecken? so daſs eine dritte die wahre
seyn müsse? Oder ob wirklich überzeugende Gründe auf
einer von beyden Seiten vorhanden seyen? — Wenn
nun auch das Endurtheil hierüber noch schwankt und
schwebt: so ist dennoch eine solche Zeit, während
welcher neue Gedanken auch nur als mögliche Vorstel-
lungsarten die Gemüther beschäfftigen, eine Zeit vermehr-
ter Thätigkeit und schärferer Prüfung für alle jene Wis-
senschaften, die man jemals mit dem in Untersuchung
stehenden Gegenstande in Verbindung zu denken gewohnt
war. Auch für diese erheben sich neue Versuche, und
es entdecken sich bisher übersehene Hülfsmittel.


Angenommen endlich, was zu betheuern so unschick-
lich als unnütz wäre, daſs die in diesem Buche vorge-
tragenen Grundsätze Wahrheit enthalten, so steht zu
hoffen, erstlich, daſs diese Wahrheit ihre Unbiegsamkeit
einen Jeden werde fühlen lassen, der sie wider ihre Natur
würde behandeln wollen; zweytens, daſs mancher Irrthum
daran scheitern werde, theils von den vorhandenen, theils
von den im Entstehen begriffenen. Die Kenntniſs des
psychologischen Mechanismus läſst uns den Standpunct
begreifen, von wo aus wir die Dinge in der Welt be-
trachten; sie leistet gerade das, was jene an der unrech-
ten Stelle suchten, die aus gewissen ursprünglichen Schran-
[539] ken des Erkenntniſsvermögens die Bedingungen des mensch-
lichen Wissens einzusehen gedachten. Nun beruhet zwar
die Metaphysik nicht auf der Psychologie; aber sie findet
darin ihre Bestätigung, gleichsam ihre Rechnungsprobe;
dergleichen für die Vestigkeit der Ueberzeugung oft nicht
minder wichtig ist, als die Principien selbst. Und auch
für diejenigen, denen die psychologischen Resultate frü-
her bekannt werden, als sie zu einer vollständigen Ein-
sicht in den Zusammenhang derselben mit den metaphy-
sischen Gründen durchdringen, ist ein Hülfsmittel vor-
handen, wornach sie sich orientiren, wodurch sie vorläufig
einmal wahre Meinungen fassen können, eine oft sehr
nützliche Vorbereitung zum gründlichen Wissen. Denn,
wie sehr es auch die Eigenliebe kränken mag, die Welt
wird weit mehr durch die Meinung regiert, als durch die
Einsicht *); und diejenige Welt, von der ich hier rede,
ist keine andre, als das Deutsche philosophirende Publi-
cum. Dieses hat das Unglück gehabt, in den letzten De-
cennien weit von der Wahrheit abzukommen; ungefähr
in demselben Verhältniſs weiter, als es an kecken Phan-
tasien mehr Geschmack fand, und sich vom methodischen
Denken mehr entwöhnte. Die einzige Bedingung, unter
der ihm kann geholfen werden, ist, daſs zuerst sein Mei-
nungskreis eine fühlbare Veränderung erfahre; und, da
noch immer, es werde nun eingestanden oder nicht, ver-
möge der gesammten Hauptrichtung aller neuern Philo-
sophie, die Seelenlehre den eigentlichen Mittelpunct die-
ses Meinungskreises ausmacht, so kann auch noch am
ersten von diesem Puncte aus die Veränderung beginnen,
wenn schon derselbe im wissenschaftlichen Zusammen-
hange kein Anfangspunct ist. Damit ist nicht gesagt, daſs
[540] die Verbesserung gewiſs, daſs sie wohl gar bald erfol-
gen werde. Der gute Wille, der entgegen kommen muſs,
findet sich zuweilen erst mit der Zeit; zuweilen gar nicht.
Man hat wohl von Erfindungen gehört, die in Deutsch-
land gemacht, und vergessen waren; nachmals aber vom
Auslande hereingehohlt wurden; welches denn einigen
fleiſsigen Literatoren Gelegenheit gab, in veralteten Bü-
chern die vergessene Spur, und damit einen neuen Be-
weis aufzufinden, daſs ein gedeihliches Zusammenwirken
der Kräfte zu Einem Zweck, nirgends in der Welt we
niger darf erwartet werden, als in dem auf alle Weise
gespaltenen Deutschland. Soll es nun mit Gegenständen
des philosophirenden Denkens eben so gehn: so wird es
freylich lange währen, ehe für die einheimische Nachläs-
sigkeit Ersatz vom Auslande ankommt; denn bekanntlich
philosophirt man heut zu Tage in den übrigen Ländern
der Erde wo möglich noch weniger und noch schlechter
als in unserm Vaterlande.


Allein wir Deutschen sind im Begriff, so manches
Gröſsere zu bessern, oder herzustellen, daſs auch in wis-
senschaftlichen Dingen der Schluſs von den verflossenen
Zeiten auf die folgenden nicht einmal wahrscheinlich ist.
Ich wage demnach auf die Möglichkeit zu hoffen, daſs
aus meinen sorgfältigen und langjährigen Untersuchungen
das Publicum einigen Stoff zu wahren Meinungen her-
ausfinde; und daſs irgend einmal diese wahren Meinun-
gen auch bey gründlicher Prüfung in wirkliche Einsich-
ten übergehn werden.


Es ist auch möglich, daſs diese in der That sehr
eingeschränkten Erwartungen übertroffen, ja daſs sie weit
übertroffen werden. Entweder indem ein glücklicher Eifer
sich der von mir dargebotenen Anfänge bemeistert, und
schnell aus ihnen ein wissenschaftliches Ganzes schafft.
Oder indem ein gröſserer Geist erscheint, und ungeahn-
dete Belehrungen mittheilt, wodurch eine neue Bahn er-
öffnet wird. Lange habe ich in früheren Jahren nach
einer solchen Erscheinung ausgesehen; und erst spät den
[541] Gedanken ertragen gelernt, daſs ich meinen eigenen Ver-
suchen überlassen sey. Worauf ich lange vergebens ge-
harret, das ist darum nicht unmöglich geworden. Früh
oder spät findet vielleicht die Psychologie ihren Newton.
Ihm gebührt es alsdann, den Einfluſs dieser Wissen-
schaft auf die andern nicht bloſs in Worten auszudrücken,
sondern durch die That vor Augen zu stellen.

Appendix A

Gedruckt bey August Wilhelm Schade in Berlin.

[]

Appendix B Verbesserungen.

S. 27. Note Z. 1. von unten statt , , , lies , , ,
S. 36. Z. 9. v. u. statt Vosbereitung lies Vorbereitung.
— 68. Z. 9. v. o. st. unreimlichen l. unräumlichen.
— 83. Z. 13. v. u. st. des Puncts ein Comma.
— 102. letzte Zeile, fehlt vor also ein Semikolon.
— 133. Z. 5. v. o. st. α, b, c, l. a, b, c.
— 134. Z. 10. v. o. st. Geschehenen l. Gesehenen.
— 195. Z. 8. v. o. st. Erkenntniſs — Begriffen l. Erkenntniſsbegriffen.
— 217. Z. 6. v. u. st. nur l. nun.
— 221. Z. 17. v. o. st. aufgerichtet l. aufgereihet.
— 224. Z. 8. v. o. st. Zeitlichen l. Zeittheilchen.
— 278. Z. 12. v. u. st. würde l. wurde.
— 281. Z. 13. v. o. st. Vornehmens l. Vernehmens.
— 284. Z. 14. v. o. st. als l. auf.
— 290. Z. 7. und S. 442. Z. 3. v. u. st. Niemanden l. Niemandem.
— 305. Z. 5. v. u. st. zweifeln l. zweifele.
— 321. Z. 1. v. u. st. Dennoch l. Demnach.
— 344. Z. 1. v. o. hinter Mond ist als Parenthese einzuschalten: ab-
gesehen vom erforderlichen Fortrücken des
Fernrohrs
.
— 385. Z. 7. v. u. statt: Das Unendliche wird nun das Erste, lies: Das
Unendliche wird nun das Früheste, und darum
das Erste; indem die Vorstellungsreihe sich
umkehren soll
.
— 386. Z. 17. v. u. statt können lies könne.
— 456. Z. 3. v. u. st. Zu l. In.
— 507. Z. 6. st. auf l. auch.


Zusatz: Ein Kritiker hat gemeint, der erste Theil dieses Werks
gebe eine Grundlegung ohne allen Grund; weil der Verfasser sei-
nen eignen Grundsatz, auf den er Alles baue, selbstgleich
von vorne herein für falsch erkläre
. — Die Antwort ist:
Statt Grundsatz lies Grund-Begriff, (der mit Wahrheit und
Falschheit der Sätze und Urtheile Nichts gemein hat;) und
statt für falsch erklären lies: für ein Phänomen erken-
nen, das kein Reales seyn kann
.

Dergleichen sinnstörende Druckfehler bittet man künftig vor dem Schrei-
ben zu verbessern.


[][][]
Notes
*)
So nannte der treffliche Krause (früher in Königs-
berg, dann in Weimar, wo er starb,) die Schellingsche Re-
ligionslehre.
*)
Daſs überhaupt die Psychologie, so sehr sie auch durch
das von ihr ausgehende Licht alle andern, zur Metaphysik im
*)
weitesten Sinne gehörigen Untersuchungen erleichtert, doch
nicht die Stelle derselben vertreten kann: dies wird der Leser
vielfältig wahrzunehmen Gelegenheit haben. Ganz umsonst sucht
man in Lehren über Sinn, Verstand und Vernunft, den Ersatz
für das, was man anderwärts versäumte und verdarb.
*)
Man hätte dies gleichwohl schon längst vor der ge-
*)
nauern Untersuchung erwarten sollen. Denn die Sprache ver-
räth die Sache. Die Worte: Substanz und Inhärenz, sind
vom Raume entlehnt; und eine Logik zu liefern ohne räumliche
Metaphern, wie Umfang, Inhalt, u. s. w. ist ganz unmöglich.
*)
Handb. der Staatenk. §. 25. Auf dies Buch allein beziehn
sich die nachfolgenden Bemerkungen.
**)
A. a. O. §. 22.
*)
Ebendaselbst §. 14.
*)
A. a. O. §. 10.
*)
In meiner praktischen Philosophie, S. 348.; wo aber der
ganze Zusammenhang muſs nachgesehen werden.
*)
Esprit des loix, liv. XI., chap. VI., gegen das Ende.
*)
Vergl. Herrn v. Rotteck’s Allgemeine Geschichte, Bd. 5.,
S. 491. 492. »In einigen Ländern waren die Fremden völlig rechtlos.
Fremd aber war der Genosse desselben Staates; kam er nur aus
einer andern Provinz. Als unter den schwachen Karolingern die Kü-
stenbewohner Frankreichs, von den wilden Normännern gedrängt,
schaarenweise ins innere Land flohen, machte man sie da zu Sklaven!« —
*)
Ich setze Leser voraus, die Mathematik genug verstehn, um
sich hier nicht an den Worten zu stoſsen; und die wenigstens die
Reihe , , , … in infinit. zu summiren wissen.
*)
Diesen Satz will ich hier nicht beweisen; in Ansehung des
menschlichen Geistes geht er sehr leicht aus der allgemeinen Meta-
physik, und mit vermehrter Evidenz aus dem Ganzen dieses Werks
hervor. — Vor nicht langer Zeit erscholl gegen mich von zweyen,
oder gar von mehrern Seiten der Vorwurf: »Nichts bewiesen
Diejenigen, welche den Ruf ertönen lieſsen, führten durch den ganzen
Zusammenhang den factischen Beweis, daſs sie sich nicht die geringste
Mühe gegeben haben, meine längst geführten Beweise in meinen frü-
hern Schriften aufzusuchen, und verstehen zu lernen. Wer wissen
will, was ich bewiesen oder nicht bewiesen habe, der muſs meine
praktische Philosophie, meine Hauptpuncte der Metaphysik, die Ab-
handlungen de attractione elementorum und de attentionis mensura,
nebst meiner Einleitung in die Philosophie, und dem gegenwärtigen
Werke, genau kennen. Er versuche, zu widerlegen! — Uebrigens die-
nen deutlich ausgesprochene Behauptungen, ohne Beweis, zwar nicht
statt der Beweise; wohl aber zum Verstehen; auch ist das Ver-
trauen, der Leser werde sehr nahe liegende Mittelglieder eines Bewei-
ses selbst finden, in mathematischen Schriften längst üblich.
*)
Man vergleiche den Anfang der Logik, in meiner Einleitung
in die Philosophie; desgleichen mehrere hieher gehörige Stellen meines
Lehrbuchs der Psychologie.
*)
Für diesen Begriff giebt es keine Erfahrung. Die edlern
Thiere, die wir kennen, haben eine so frühzeitige Pubertät, und die
Entwickelung derselben ist bey ihnen so gewaltsam, daſs eine rein
psychologische Vergleichung mit dem Menschen unmöglich ist.
*)
Der Titel würde passen, wenn eine wissenschaftliche Psy-
chologie aus der Anthropologie als ein Theil derselben könnte heraus-
gehoben werden. Aber die Psychologie ist ein Theil der Metaphysik;
und die Somatologie ist es auch; die Anthropologie aber besteht aus
beyden, in ihrer Beschränkung auf den Menschen.
*)
Mangel an Uebung in den Ansichten des Idealismus ist gerade
der Hauptgrund, weshalb selbst [scharfsinnigen] Physiologen die Be-
*)
handlung psychologischer Gegenstände so schlecht gelingt. Sie kleben
immerfort am Räumlichen; Uebersinnliches, und genaues Denken,
sind ihnen entgegengesetzte Pole.
*)
Die Hauptsätze über das Begehren finden sich im §. 150.
*)
Dies ist schon am Ende des §. 61. erwähnt worden, und man
wird wohl thun, ihn mit §. 104. zu vergleichen.
*)
Man hat Ursache, sich hiebey an die Metaphysik zu erinnern;
aber man hüte sich vor Verwechselungen! Vorstellungen sind nicht
einfache Wesen; und vice versa.
*)
Man vergleiche hier meine praktische Philosophie, in der Ein-
leitung, S. 32—37.
*)
Die Art der Brechung, welche hier gemeint, und im zwey-
ten Heft des Königsberger Archivs (von 1811) entwickelt ist, kann
der Leser zunächst in gegenwärtigem Werke §. 98., gegen das Ende,
nachsuchen.
*)
Affectus ſunt actus animae, quibus quid vehementer vel ap-
petit, vel averſatur; vel ſunt actus vehementiores appetitus ſenſitivi
et averſationis ſenſitivae. Wolfii Pſych. empirica
§. 603.
**)
Carus Psychol. S. 306.
*)
Unter andern bey Maaſs über die Leidenschaften,
S. 58., und überhaupt in diesem Werke.
*)
Es versteht sich von selbst, daſs hier nicht von einer einfa-
chen Vorstellung, sondern von der ganzen Masse und Verbindung ein-
facher Vorstellungen die Rede ist, die den Gegenstand der Leiden-
schaft betreffen.
*)
Dies schätzbare Buch kommt in meinen Augen dem Geiste
einer ächten psychologischen Forschung bey weitem näher, als das
meiste Neuere, mir Bekannte. Es ist vom Jahre 1776; und hält sich
an Leibnitzens Lehren; ein Umstand, der für Psychologie in man-
cher Hinsicht wohlthätig seyn muſs.
*)
Zwar hat man den Thieren die Leidenschaften abgesprochen;
z. B. Herr Hofrath Schulze, (Psychische Anthropologie S. 382.)
weil Hemmung des Verstandesgebrauchs ein wesentliches Merkmal der
Leidenschaften sey. Eher würde ich mich darauf berufen, daſs die
Vernünfteley, die wahnwitzige Ueberlegung des leidenschaftlichen Men-
schen, bey den Thieren fehle. Allein die Disposition zur Begierde,
die Reizbarkeit zum Affecte, findet sich doch vor; und die Abwesen-
heit eines negativen Merkmals dürfte wenig Gewicht haben, wenn man
nicht um Worte streiten will.
**)
Wegen dieses Puncts kann §. 90. meines Lehrbuchs der Psy-
chologie nachgesehen werden. Ich glaube nicht, alle Einzelnheiten aus
jenem Buche hier wiederhohlen zu müssen.
*)
Die Fortsetzung dieser Materie kann erst im §. 150. atz finden.
*)
In den Hauptpuncten der Metaphysik, und in der Abhand-
lung de attractione elementorum.
*)
Hiebey darf man nicht gerade voraussetzen, das Auge gehe
genau auf einer Linie vorwärts und rückwärts; welches vielmehr sehr
selten geschehn wird. Aber jede, auch die kleinste, krummlinigte
Bewegung geht vorwärts und rückwärts in Ansehung des Perpendikels
auf die Sehne des Bogens.
*)
De attractione elementorum, §. 17—27.
*)
Ohne abstechende Puncte würde ursprünglich gar keine Fläche
gesehen; denn die Stellen der Fläche unterscheiden sich nur durch die
verschiedene Verschmelzung mit dem Abstechenden.
*)
Eine logische Erklärung soll es überhaupt nicht seyn, son-
dern eine psychologische Bezeichnung des nisus in unsern Vorstel-
lungen.
*)
Im §. 143.
*)
Wie schlecht dies zur prästabilirten Harmonie paſst, nach
welcher Alles ohne Ausnahme angeboren ist, springt in die Au-
gen. Ich kann mir manche verfehlte Aeuſserungen Kants gegen Leib-
nitz
kaum anders erklären, als durch die Voraussetzung, Kant habe
sich dem Eindrucke, den Leibnitzensnouveaux eſſays wohl machen
können, zu sehr hingegeben; und nicht auf die Accommodation an
Locken geachtet, über die sich Leibnitz gleich im Anfange dieses
Werks erklärt. Auch scheint Kant nicht genug Unterschied zwischen
Leibnitz und Wolff zu machen.
*)
Fälsehlich sind von einigen neuern Logikern die einzelnen
Begriffe geleugnet worden; hier sollte ein Fehler den andern decken.
*)
Zu den Einbildungen kann man auch die Erzeugungen neuer
Begriffe rechnen, wovon tiefer unten die Rede seyn wird. Uebrigens
ist in der wissenschaftlichen Sprache Einbildung nicht Täuschung,
sondern es hat dies Wort den nämlichen Sinn wie in dem Ausdrucke
Einbildungskraft.
*)
Die Fortsetzung der Untersuchung über die Begriffe folgt im
§. 147. Man vergleiche auch den §. 139.
**)
Lehrbuch zur Einleitung iu die Philosophie, im zweyten
Abschnitte, §. 52. 53.
*)
In den Prolegomenen, S. 119, wünscht Kant sich Glück, die
Formen der Sinnlichkeit von denen des Verstandes rein gesondert zu
haben. Gerade das ist ein Hauptgrund seiner Täuschungen. Er kannte
*)
den Ursprung der Reihenform nicht, und schätzte deren Sphäre viel
zu klein.
*)
Aristotelis categoriae cap. 8. et 11.
*)
Man erinnere sich, daſs Nothwendigkeit Unmöglichkeit des
Gegentheils ist.
*)
Der Leser wird wohl nöthig finden, meine ausführliche Ab-
handlung de attentionis mensura zu Hülfe zu nehmen, um sich die
Untersuchung des §. 95. geläufiger zu machen, und sie in ihren An-
wendungen bequemer zu verfolgen.
*)
Kant erklärt sogar, er sehe nicht ein, wie man so viel Schwie-
rigkeit darin finden könne, daſs der innere Sinn von uns selbst afficirt
werde. Krit. d. r. V. S. 156.
*)
Denn man vergesse nicht, daſs das Vesthalten durch Ver-
schmelzungen geschieht, und daſs die Verschmelzungen von der Gleich-
artigkeit der Vorstellungen abhängen.
*)
Im §. 150.
**)
Wenn Erwartung mit dem Merken verbunden ist, so wird
durch die ins Bewuſstseyn getretenen Vorstellungen, welche innerhalb
der Sphäre der Erwartung liegen, ein beträchtlicher Theil der Em-
pfänglichkeit im Voraus erschöpft, hingegen wird der Gegensatz ver-
mindert, nämlich für den Fall, wenn die Erfolge der Erwartung ent-
sprechen. Ein unerwarteter Erfolg findet mehr Gegensatz, aber auch
mehr Empfänglichkeit. Vergl. §. 98.
*)
Kants Anthropologie S. 55.
*)
Wenigstens nach dem Urtheile des Herrn Hofr. Schulze,
in der Anthropologie §. 37. Meine Sache ist es nicht, Parthey zu
nehmen, wo ich keine hinreichenden Entscheidungsgründe sehe.
*)
Es ist übrigens sehr gut, daſs sie nicht sprechen können.
Ihre Sprache würde höchst unvollkommen bleiben, wegen der übrigen
früher angeführten Gründe; und höben sie sich ja merklich über ihren
jetzigen Standpunct, so würde der Mensch sie nicht mehr neben sich
leiden.
*)
Reinhold in der Theorie des Vorstellungsvermögens. S. 338.
Dies Buch verdient hier verglichen zu werden; es kann zwar nicht
zur Erklärung, aber zur analytischen Deutlichkeit der Sache beytragen.
*)
Man vergleiche den vierten Abschnitt meiner Einleitung in
die Philosophie.
*)
Zur Vollständigkeit der Untersuchung gehört noch die Anoma-
lie des Selbstbewuſstseyns im Wahnsinn; wovon unten im §. 165.
*)
S. 329. im zweyten Bande der Uebersetzung der Raspeschen
Sammlung, von Ulrich.
**)
Book IV. Chap. VI. §. 28.
***)
Ulrichs angeführte Uebersetzung. Bd. 2. S. 325.
*)
Man wolle hier und im Folgenden, den §. 118. im Auge
behalten.
*)
Hume über die menschliche Natur, übersetzt von Jakob.
S. 25.
*)
Aus ältern Metaphysiken kennt man übrigens die cauſſas con-
iunctas, principales etc.
*)
Der Leser muſs hier meine Hauptpuncte der Metaphysik von
neuem durchdenken. Zur Uebung diene folgender Satz: Es ist gleich-
bedeutend, von den einfachen Wesen zu sagen; sie haben unend-
lich viele Kräfte
, oder, sie haben gar keine. Denn ihre Kräfte
beruhen auf ihren möglichen Relationen zu anderen Wesen. Deren
giebt es unendlich viele. Aber keine Möglichkeit ist real, und keine
Relation ist eine Eigenschaft.
*)
Schellings Bruno, S. 38. u. f. Aber hier will ich die Be-
merkung nicht zurückhalten, daſs in meinen Augen der Urheber des
Irrthums weit weniger verantwortlich ist, als die, welche ihn begün-
*)
stigen. Ein sehr lebhafter, sehr aufgeregter Geist ist vielen und gro-
ſsen Täuschungen unterworfen; und man kann sich eben nicht wun-
dern, wenn er sie enthusiastisch verkündigt. Aber daſs ein ganzes
gelehrtes Publicum solche Täuschungen im Laufe vieler Jahre fortwäh-
rend hegt und pflegt, ist eine Schwäche der Kritik, oder der Em-
pfänglichkeit, die sie vorfindet.
*)
Eine starke Amphibolie! Zufällig ist nicht das Seyende,
(worauf dieser Begriff gar nicht paſst;) sondern was zufällig ist, das
ist dem Seyenden, oder für das Seyende zufällig! Auch hier hat man
Bezogenes und Beziehungspunct verwechselt.
*)
Ich will nicht hoffen, daſs man mir die Anwendungen der
Mathematik, etwa auf Astronomie, oder gar auf Psychologie entgegen-
*)
setze. Bewegungen der Sterne, und gewisse Formen des innern
Geschehens, sind nicht das was ist, oder für seyend soll gehalten
werden; das wäre die ärgste aller Verwechselungen.
*)
Vergl. §. 22.
*)
Im Zusammenhange mit dem Ganzen der sittlichen Bildung
zeigt sich dies in meiner Pädagogik; insbesondere im 5. Capitel des
dritten Buchs.
*)
Oder vollends einzelne heftige Aeuſserungen derselben, die
unter dem Namen tugendhafter Handlungen bewundert zu werden pflegen.
*)
Die nothwendige Verbindung dieses Puncts mit der Voraus-
*)
setzung des waltenden guten Princips darf als hinlänglich bekannt vor-
ausgesetzt werden. Es ist nicht nöthig, damit Kants schwankenden
Begriff von der Glücks-Würdigkeit, (für die es kein mögliches Maaſs
giebt,) oder gar Fichtes idealistische Ansichten, zugleich anzu-
nehmen.
*)
Man verzeihe, daſs ich dies aus einer frühern Schrift wörtlich
abschreibe. Es ist ein Satz, den ich in der That so oft wiederhohlt
wünschte, bis er völlig durchdacht, und in allen seinen Beziehungen
verstanden seyn möchte. Wer ihn nicht einsieht, der wird niemals,
wie man es nennt, mit seinen Ueberzeugungen ganz ins Reine kom-
men. Den wesentlichen Sinn desselben könnte man auch so ausdrük-
ken: Die Psychologie, wiewohl in ihrem theoretischen Verhältniſs
der allgemeinen Metaphysik (oder Ontologie) untergeordnet, hat
dennoch eine ungleich höhere Würde. Sie ist von der ganzen Me-
taphysik derjenige Theil, wo der an sich kalte und harte Boden die-
ser Naturwissenschaft zuerst den Sonnenstrahl des ästhetischen
Urtheils empfängt und in sich saugt, um sich in einen Wohnplatz zu
verwandeln, wo das geistige Leben des Menschen gedeihen könne.
Die allgemeine Metaphysik dagegen ist eine eisigte Insel, die nur von
sehr gesunden, mit gutem Vorrath fürs Leben hinreichend versehenen
Köpfen darf besucht werden. Es hat zwar Personen gegeben, die da
hofften, das rauhe Klima dieser Insel zu verbessern, wenn sie Blumen
und edle Früchte darauf pflanzten. Aber was sie auch bringen mögen
von Gegenständen, die wohlthätig wirken aufs Gefühl, — in einer
so kalten Zone muſs es verdorren; und der Gewinn ist bloſs, daſs die
Herrn ihre Unkunde in der Geographie des wissenschaftlichen Bodens
zur Schau stellen. Eine sehr schädliche Unwissenheit! Denn es ent-
steht daraus eine Vielgeschäfftigkeit, wodurch die nothwendigen Arbei-
ten gehindert werden.
*)
Nachdem diese Aeuſserungen niedergeschrieben worden, fällt
es mir auf, daſs ein versteckter Vorwurf gegen einen meiner alten
Freunde darin zu liegen scheinen könnte, der gerade den beyden ge-
nannten Schriftstellern sein auſserordentliches Talent als Uebersetzer
zugewendet hat. Aber ich bezweifle eben so wenig Ariosts und
Calderons poëtische Ader, als ihre historische Merkwürdigkeit, nur
*)
unterscheide ich das Genie von der Richtung, die es genommen, und
von den Werken, die es hervorgebracht hat.
*)
Und was thut in solchem Falle die Kirche? Sie häuft alle
möglichen ästhetischen Eindrücke, durch Poësie, Beredsamkeit,
Musik, Malerey, Architectur. Sie weiſs demnach, wo es fehlt; nur
versieht sie es vielleicht durch Uebertreibung; sowohl im Aufdringen
heftiger, als in der Mischung gar zu bunter Eindrücke.
*)
Autenrieth’s Physiologie §. 937.
*)
Ich kann mich nicht genug wundern über die dürftige Einsei-
tigkeit, womit man neuerlich in der Elektricität das Geheimniſs der
Chemie zu finden, — und x durch y zu erklären meint. Doch unsre
Chemie ist schon zu reich, um solche Thorheit lange zu ertragen.
*)
Reils Rhapsodien über die psychische Cur des
Wahnsinns
, S. 12. Auf desselben Schriftstellers Beyträge z.
Bef. einer Kurmethode auf psychischem Wege
, kann ich,
des darin herrschenden Schellingianismus wegen, keine Rücksicht neh-
men. Dergleichen muſs an der Wurzel gefaſst werden; mit den Zwei-
gen würde man sich unnütze Mühe geben.
*)
Reils Rhapsodieen S. 116.
*)
Im dritten Bande S. 225.
*)
In die Einleitung zur Philosophie. Man kann in meinem
Lehrbuche zu derselben vergleichen die §§. 108., 113., 118.; besser
den ganzen vierten Abschnitt.
*)
Treviranus Biologie, Band II. S. 266. u. s. w.
**)
a. a. O. S. 378.
*)
Rhapsodieen S. 87.
*)
Nämlich wenn die Hemmung durch neu eintretende Kräfte
aufgewogen wird, die im gegenwärtigen Falle ebenfalls physiologisch
seyn müssen, und von der im Schlafe restaurirten Lebensthätigkeit her-
rühren können.
*)
Man sehe unter andern Reil a. a. O. S. 89.
*)
Reil a. a. O. S. 94.
*)
Theil III, S. 88.
*)
a. a. O. S. 75.
*)
S. 137. bis 176.
**)
a. a. O. S. 305.
*)
Beyträge zur Beruhigung und Aufklärung u. s. w.
von Johann Samuel Fest. 1789. Erster Band. S. 327.
*)
a. a. O. S. 66.
*)
Pinel a. a. O.
*)
Es hat Leute gegeben, die nicht laut genug ausrufen konnten:
die Welt werde durch Ideen regiert. Sie benahmen sich dabey unge-
fähr so klug, wie Einer, der seine Träume erzählt, während verschie-
dene Personen umherstehn, die abergläubig genug sind, sich die Vision
jeder nach seinem Interesse auszulegen.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 1. Psychologie als Wissenschaft. Psychologie als Wissenschaft. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bk13.0