Verlag von Wilhelm Hertz .
(Beſſerſche Buchhandlung.)
Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten.
Meinen Jugendfreunden
Emanuel Geibel und Heinrich Kruſe.
Vorwort.
Indem ich dem amtlichen Berufe, der mir ſeit 1856 in
Göttingen, ſeit 1869 an der Berliner Univerſität oblag, in
der Weiſe zu entſprechen ſuchte, daß ich in jeder Rede einen
Gegenſtand der Alterthumswiſſenſchaft behandelte, welcher ge¬
eignet ſchien, das Intereſſe aller Gebildeten in Anſpruch zu
nehmen, entſtand zwiſchen den einzelnen Feſtreden ein unge¬
ſuchter Zuſammenhang, ſo daß eine Sammlung derſelben unter
dem gemeinſamen Titel, den ich ihr gegeben habe, erſcheinen
kann. Zwölf derſelben ſind in der Aula der Georgia Auguſta
bei der jährlichen Preisvertheilung am vierten Junius gehal¬
ten worden und zum größeren Theil in den »Göttinger Feſt¬
reden« 1864 herausgegeben. Mit den an Königs Geburtstag
in der Berliner Aula gehaltenen vereinigt, bilden ſie zuſam¬
men eine Reihe von Zeugniſſen des deutſchen Univerſitäts¬
lebens in einer für die vaterländiſche Geſchichte ſo wichtigen
Periode, und wer die in der Inhaltsangabe beigefügten Jah¬
reszahlen beachtet, wird die Zeitverhältniſſe, unter denen
die einzelnen Reden gehalten ſind, überall anklingen hören,
wenn ich auch nur einmal (1871) den Gegenſtand der Rede
[VI]Vorwort. ganz aus der Gegenwart entnommen habe. Außer den Uni¬
verſitätsreden ſind zwei Vorträge (17 und 21) aufgenommen
worden, welche ich als Sekretar der K. Akademie der Wiſſen¬
ſchaften in öffentlichen Sitzungen derſelben gehalten habe.
Der fünfte Vortrag iſt im Namen des Architektenvereins in
Berlin am Schinkelfeſte gehalten, der folgende im »wiſſenſchaft¬
lichen Vereine«, der in der Singakademie ſeine Vorträge hält.
Es iſt die ſchönſte Aufgabe der klaſſiſchen Philologie,
das Unvergängliche von dem, was im Alterthume gedacht und
geſchehen iſt, lebendig zu erhalten und für die Mitwelt frucht¬
bar zu machen. Möge der Beruf unſerer Alterthumswiſſen¬
ſchaft, dieſer Aufgabe zu genügen, ſo wie die unverſiegbare
Lebensfülle der antiken Welt ſich auch in dieſer Sammlung
bewähren!
[]
Inhalt.
- Seite.
- 1. Das Mittleramt der Philologie (4. Juni 1857.)1
- 2. Das alte und neue Griechenland (4. Juni 1862.)22
- 3. Rom und die Deutſchen (4. Juni 1860.)41
- 4. Der Weltgang der griechiſchen Cultur (4. Juni 1853.)59
- 5. Die Kunſt der Hellenen (An Schinkel's Geburtstag 13. März 1853.)78
- 6. Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung (Im wiſſen¬
ſchaftlichen Vereine 1870.)94 - 7. Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt (22. März 1872.)116
- 8. Der Wettkampf (4. Juni 1856.)132
- 9. Arbeit und Muße (22. März 1875.)148
- 10. Die Unfreiheit der alten Welt (4. Juni 1864.)163
- 11. Die Freundſchaft im Alterthume (4. Juni 1863.)183
- 12. Die Gaſtfreundſchaft (22. März 1870.)203
- 13. Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten (4. Juni 1861.)219
- 14. Der Gruß (22. März 1873.)237
- 15. Wort und Schrift (4. Juni 1859.)251
- 16. Der hiſtoriſche Sinn der Griechen (4. Juni 1866.)269
- 17. Philoſophie und Geſchichte (Leibniztag in der K. Akademie der Wiſſ. 1873.)287
- 18. Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens (4. Juni 1860.)301
- 19. Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme (4. Juni 1867.)321
- 20. Die Weihe des Siegs (22. März 1871.)341
- 21. Die Idee des Königthums in ihrer geſchichtlichen Entwickelung
(Geburtstag Friedrich's II. in der K. Ak. der W. 1874.)356 - 22. Große und kleine Städte (22. März 1869.)369
I.
Das Mittleramt der Philologie.
Jede Feier, welche den alltäglichen Gang unſerer Be¬
ſchäftigungen unterbricht, hat ihre weſentliche Bedingung in
der Gemeinſamkeit. Denn es liegt jeder öffentlichen Feier das
Bewußtſein zu Grunde, daß alles Gute und Schöne, zu deſſen
Verwirklichung der Menſch berufen iſt, ihm erſt dann recht
gelinge, wenn er nicht mit vereinzelter Kraft ſeinem Ziele
gegenüber ſtehe, ſondern mit Anderen zu einem Vereine ver¬
bunden, in deſſen Mitte alle Lebensthätigkeiten ſich ſteigern
und alle Einzelkräfte ſich ſtärken, ordnen und veredeln. Im
Anſchluſſe an ein größeres Ganze, an Haus und Stamm, an
Staat und Kirche, iſt das Beſte, was Menſchen gelungen iſt,
zu Stande gekommen. Das iſt die Ueberzeugung, welche jeder
Feſttag neu beleben und ſtärken ſoll. Denn bei den ſelbſtiſchen
Trieben, welche unſerer Natur eingepflanzt ſind, regen ſich
überall die Sondergelüſte, die lauernden Feinde jeder größeren
Gemeinſchaft.
Darum hat man zu allen Zeiten den geordneten Staat
als das Schwierigſte und Größte betrachtet, was menſchliche
Weisheit hervorbringen kann, weil in ihm eine Menge eigen¬
williger Perſönlichkeiten in einen höheren Geſammtwillen auf¬
gehen, und die Alten haben dieſe ſittliche Grundlage politiſcher
Vereinigung in dem ſchönen Worte ausgedrückt, daß es die
Freundſchaft ſei, welche den Staat zuſammenhalte.
Wenn nun ſchon im großen Kreiſe der Staatsgemeinſchaft
dieſe einträchtige Geſinnung ſo unentbehrlich iſt, wie im Chor¬
geſange die Harmonie der Stimmen, wie viel mehr in dem
engen Kreiſe von Berufsgenoſſen, die täglich für einen gemein¬
ſamen Zweck mit einander arbeiten, die recht eigentlich dazu
berufen ſind, ſich gegenſeitig zu ergänzen und mit Rath und
That einander nahe zu ſein! Wahrlich, hier iſt die gegen¬
ſeitige Befreundung nicht nur ein anmuthiger Schmuck, nicht
nur das Ehrenkleid der Anſtalt, ſondern ihr Lebensprincip.
deſſen Verläugnung ihr Gedeihen ſofort gefährden würde.
Dies fühlen wir Alle, und nirgends ſcheint mir eine Beweis¬
führung dieſes Satzes weniger am Orte zu ſein, als in der
Aula unſerer Univerſität, welche, ſo lange ſie beſteht und blüht,
dieſe geiſtige Genoſſenſchaft als ihr beſtes Gut erkannt und
gepflegt hat. Sie iſt der Boden, aus dem wir Kraft ent¬
nehmen, ſo oft wir ihn berühren; ſie iſt die Lebensluſt, in
der wir uns ſtärken und erfriſchen, und je weniger es bei
uns, wie etwa zwiſchen Haus- und Familiengenoſſen, ein an¬
geborenes und inſtinktartiges Gefühl iſt, das uns verbindet,
um ſo mehr ſoll es ein freies, ſittliches und bewußtes ſein,
ein Gefühl des geiſtigen Zuſammenhanges, in welchem wir,
wenn auch aus Nord und Süd und unter Einwirkung vieler
ſcheinbarer Zufälligkeiten hier vereinigt, dennoch des feſten
Glaubens ſind, daß Jeder von uns auch nach einer höheren
Ordnung der Dinge an ſeinem Platze ſtehe und unter den
gegebenen Verhältniſſen mit ſeinen Amtsgenoſſen zu wirken
berufen ſei. Auf dieſem Gefühle des Zuſammenhangs und
der brüderlichen Einigkeit beruht das Wohl des Ganzen wie
das aller einzelnen Theilnehmer, und jede Univerſitätsfeier
fordert uns auf, von Neuem zu reiner Harmonie die Saiten
zu ſtimmen.
Aber es wäre doch nicht wohl um unſer Gemeinweſen be¬
ſtellt, wenn dieſe Harmonie nur auf der Stimmung des Wohl¬
wollens und auf der Freude an einem vertraulichen Zuſammen¬
leben beruhte; ſie muß einen andern, einen breiteren und
feſteren Boden haben, und zwar im Gegenſtande des Berufs,
[3]Das Mittleramt der Philologie. in der Wiſſenſchaft ſelbſt, deren Pflege uns verbindet. Das
Weſen einer deutſchen Univerſität beruht auf der Auffaſſung
der Wiſſenſchaft als eines Ganzen; es ſteht und fällt mit
dieſer Auffaſſung.
So wenig aber auch dieſe Wahrheit in ihrer allgemeinen
Geltung angefochten wird, ſo ſchwierig iſt ihre Verwirklichung,
und dieſe Schwierigkeit — wer fühlt es nicht? — wächſt von
Tage zu Tage. Die Alten hatten noch das ſchöne Vorrecht,
das menſchliche Wiſſen als einen Schatz zu betrachten, deſſen
Aneignung dem Einzelnen gelingen könne, und in ihren Sprachen
wird die Wiſſenſchaft als eine einheitliche bezeichnet. Seitdem
aber nach Zerſprengung der mittelalterlichen Formen die Wiſſen¬
ſchaft eine neue und freie Entwickelung genommen hat, iſt auch
auf ihrem Gebiete die Theilung der Arbeit immer nothwendiger
geworden, immer engere Felder ſind mit ſcharfen Linien um¬
gränzt; jeder einzelne Zweig hat eine beſondere Geſchichte und
Litteratur und nimmt ein ganzes, arbeitsvolles Menſchenleben
in Anſpruch. Auf dieſer Arbeitstheilung beruht, wie Niemand
verkennen kann, die ganze Bedeutung der wiſſenſchaftlichen
Leiſtungen in den einzelnen Fächern, und doch ſteht ein großes,
wichtiges Gut dabei auf dem Spiele. Dieſe Gefahr wird
gefühlt; es wird beklagt, daß die Gelehrten mehr neben ein¬
ander, als mit einander arbeiten, daß ſie ſich in ihren Einzel¬
fächern immer ſtrenger und enger abſondern, daß die Scheide¬
wände immer höher und undurchſichtiger werden. Die wiſſen¬
ſchaftlichen Organe, welche zu großem Nutzen nationaler Bil¬
dung unter Betheiligung der hervorragendſten Männer unſeres
Volks die gemeinſamen Intereſſen wiſſenſchaftlicher Bildung
vertraten, ſind nach einander verſtummt; die Verſuche, ſie durch
neue zu erſetzen, ſind meiſtens geſcheitert, und wie die Gelehrten
mehr als ſonſt ihre beſonderen Wege gehen, ſo wirkt dies auch
auf die Jugend zurück, welche frühzeitig anfängt, die beſonderen
Kenntniſſe ihres Studienfachs allein in das Auge zu faſſen,
ohne den allgemeinen Wiſſenſchaften die Aufmerkſamkeit zu
widmen, welche früher als Bedingung jeder höheren Bildung
angeſehen wurde.
Die Klage über die zunehmende [Entfremdung] unter den
Wiſſenſchaften bezeugt, wie tief in uns das Bedürfniß wohnt,
ſie als ein Ganzes anzuſehen. Wir können dies Gefühl ein
philoſophiſches Bedürfniß nennen; es iſt ein Streben nach all¬
gemeinen Wahrheiten, das nicht bloß in einzelnen, unſtäten
Erſcheinungen auftritt und nicht bloß als ein beſonderes Fach
neben den anderen ſich geltend macht, ſondern wie ein Grund¬
ton alle tiefere Forſchung begleitet; ein Streben, das ſich nicht
zufrieden giebt bei dem Erfolge einzelner Facharbeiten und
bei der Löſung beſtimmter Probleme, ſondern aus den ent¬
legenſten Gebieten der Forſchung die Gedanken immer wieder
heimführt zu dem gemeinſamen Urſprunge alles Denkens und
Forſchens, wo die höchſten Fragen des menſchlichen Geiſtes
auch die nächſten ſind.
Wollen wir dies Gefühl ſchelten oder als eine Schwäche
verurtheilen? Gewiß nicht; denn wenn unſerm Volke ein
beſonderer wiſſenſchaftlicher Beruf zu Theil geworden iſt, ſo
liegt er am deutlichſten in dieſer geiſtigen Ungenügſamkeit
bezeugt, in dieſem Durſte nach Erkenntniß, welcher im Ein¬
zelnen keine Befriedigung findet. Denn wie aus enger Stuben¬
luft der geſunde Menſch ſich hinausſehnt in die freie Atmoſphäre,
wo er tiefer und voller Athem holen kann, ſo hat auch der
Geiſt ein gerechtes Bedürfniß, aus dem umgränzten Fache, in
das er ſich mit aller Kraft vertieft hat, zur Erkenntniß des
großen Zuſammenhangs der Dinge vorzudringen. Darin liegt
die Bewahrung vor einem handwerksmäßigen Betriebe der
Wiſſenſchaft, darin zugleich das nationale Gepräge und die
Weihe deutſcher Wiſſenſchaft.
Wenn alſo dies allgemeine wiſſenſchaftliche Streben ein
philoſophiſches iſt, ſo könnten wir wohl das alle Univerſitäts¬
ſtudien Verbindende, nach dem wir ſuchen, mit keinem treffen¬
deren Namen bezeichnen, als mit dem der Philoſophie, und
wer würde ſich ſträuben, ſeine beſondere Wiſſenſchaft der
Weisheitsliebe unterzuordnen, welche wir als Anfang und
Ende, als Keim und Blüthe aller menſchlichen Forſchung an¬
ſehen müſſen?
Dieſe Philoſophie kann aber, wenn ſie in der That das
aller Einzelforſchung zu Grunde liegende, allgemeine wiſſen¬
ſchaftliche Bewußtſein ausſprechen, wenn ſie das todte und
gleichgültige Nebeneinander der einzelnen Fächer zu einem
lebendigen und organiſchen Ganzen verbinden ſoll, nicht eine
ſolche ſein, welche vornehm und ſpröde den andern Fächern
gegenüber ſteht und die Wahrheit ausſchließlich in einer be¬
ſtimmten Lehrform geltend machen will. Denn dogmatiſcher
Eigenſinn iſt dasjenige, was gewiß am allerwenigſten geſchaf¬
fen iſt, Verſchiedenartiges zu verbinden und Gegenſätze zu
verſöhnen. Denn er iſt ſeiner Natur nach unverträglich und
reizt zum Widerſpruche; die Freiheit unbefangener Forſchung
fühlt ſich gefährdet und verletzt, wenn die Philoſophie der¬
ſelben gewiſſe Formen aufnöthigen, ja wohl gar ihre Reſultate
aus höheren Standpunkten voraus beſtimmen will, ſo daß dem
Fachgelehrten die unwürdige Stellung zugemuthet wird, daß
er handwerksmäßig die Aufgaben nachzurechnen habe, welche
eine divinatoriſche Intelligenz ſchon gelöſt hat.
Die leidenſchaftliche Stimmung, mit welcher ſich die Wiſſen¬
ſchaften gegen jede Bevormundung dieſer Art aufgelehnt haben,
iſt noch nicht verſchwunden; die Philoſophie aber hat längſt
andere Wege eingeſchlagen, und jener Mann ſelbſt, welcher
zuletzt mit dem königlichen Anſehen des Weltweiſen unter uns
wandelte, hat in ernſtem Schweigen, deſſen Siegel erſt der
Tod gelöſt hat, ſein halbes Leben darauf hingewendet, durch
die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes den Geheimniſſen der
Philoſophie näher zu kommen.
Die geſtörte Eintracht zwiſchen der Philoſophie und den
anderen Wiſſenſchaften konnte in der That nicht beſſer und
fruchtbarer wieder hergeſtellt werden, als indem ſie ihre Auf¬
gabe darin erkannte, die Thatſachen zu begreifen, die That¬
ſachen in der Geſchichte des menſchlichen Geiſtes, indem ſie
der Entwickelung des denkenden Bewußtſeins durch alle Stufen
nachdenkend folgt, andererſeits die Thatſachen der natürlichen
Welt, indem ſie die den flüchtigen Erſcheinungen zu Grunde
liegenden Geſetze aufſpürt und der Arbeit des Forſchers mit
[6]Das Mittleramt der Philologie.fördernder Theilnahme zur Seite geht, einſeitigen Richtungen
und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien
Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So ſchließt
ſich die Philoſophie, welche das wiſſenſchaftliche Bewußtſein
jeder Zeit zu klarem Selbſtbewußtſein zu führen berufen iſt,
derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die
Hauptrichtung der heutigen Wiſſenſchaft bezeichnen dürfen, ich
meine die geſchichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um ſo mehr
berechtigt ſind, auf die beiden großen Hälften des menſchlichen
Wiſſens auszudehnen, als unſere Sprache ſelbſt das Wort
Geſchichte auf das Gebiet der Naturwiſſenſchaften überträgt.
Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬
ſchichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswiſſenſchaft
kennt kein Recht als das geſchichtlich gewordene; die Medicin
hat, ſo weit ſie theoretiſche Wiſſenſchaft iſt, kein anderes Ziel,
als das mit den Naturwiſſenſchaften gemeinſame, in die Ge¬
ſchichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, ſo viel Gruppen
von Thatſachen es giebt, welche einen geſchloſſenen Kreis bil¬
den und eine beſondere Forſchung in Anſpruch nehmen, ſo
vielfach gliedert ſich die große Wiſſenſchaft und mögen nun
dieſe Thatſachen in der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes
vorliegen oder in der Bewegung der Geſtirne, in Raum- und
Zahlverhältniſſen, in dem beſeelten Organismus, in den irdi¬
ſchen Stoffen oder in den unſichtbar wirkenden Kräften der
Natur, ein Streben geht durch alle Forſchung hindurch, in
dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen
den Trieb, in den Erſcheinungen die Urſache, in dem Zufälli¬
gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den
Zuſammenhang zu erkennen. In dieſem Sinne geht alles
wiſſenſchaftliche Forſchen in Menſchen- und Naturgeſchichte auf.
Wenn nun eine Wiſſenſchaft vor allen anderen Geſchichte
heißt, ſo hat dies darin ſeinen Grund, daß uns hier die Ge¬
ſchichte werdend entgegentritt, daß wir Menſchen ſelbſt mit
allem, was wir ſind, in dieſem Werden mitten inne ſtehen,
und wie der Menſch dem Menſchen näher iſt als Thier und
Pflanze, von denen er ſich nährt, als die Luft, in der er
[7]Das Mittleramt der Philologie. athmet, ſo iſt auch ſeine Geſchichte zu kennen unſer nächſtes
und tiefſtes Bedürfniß. Die Beziehung zu ihm bleibt doch
auch in aller Naturbetrachtung das Ziel der Forſchung; denn
jedes erkannte Naturgeſetz iſt doch nichts Anderes, als das
Durchbrechen einer Schranke, welche den Menſchengeiſt hem¬
mend umgiebt, eine neue Verbindung und Verſöhnung zwiſchen
der Maſſe des Stoffs und dem lebendigen Geiſte, welcher aus
göttlichem Odem im Menſchen lebt. Und ſo gewiß wie jeder
Einzelne ein Glied des großen Geſchlechts iſt und ſich ſelbſt
nur verſtehen kann im Zuſammenhange des Ganzen, ſo iſt
das Zurückgehen in die Geſchichte der Menſchheit für Jeden
unter uns ein Beſinnen auf ſich ſelbſt, ein Vertiefen des eige¬
nen Bewußtſeins, eine Aneignung deſſen, was von Rechts¬
wegen ſein Eigenthum iſt. In der geſchichtlichen Forſchung
entfaltet der Menſchengeiſt ſeiue erfolgreichſte Thätigkeit; er
vernichtet die Schranke, welche die kurze Spanne eines Einzel¬
lebens von dem Vorangegangenen trennt; er rettet aus der
Zeiten Fluth, was nicht für einen vorübergehenden Augenblick,
ſondern für alle Jahrhunderte Bedeutung hat. Er begnügt
ſich nicht, allgemeine Geſetze zu erkennen und den zerriſſenen
Zuſammenhang der Erinnerung wieder herzuſtellen, ſondern
mit ſchöpferiſcher Kraft, welche zu der Forſchung hinzutreten
muß, weiß er das Todte zu erwecken und das Verblichene mit
neuem Leben zu beſeelen, ſo daß die edelſten Geiſter, welche
Spuren ihres Wirkens zurückgelaſſen haben, wie Zeitgenoſſen
um uns ſtehen und gleichſam in vertraulichem Wechſelgeſpräche
mit uns verkehren.
Eine ſolche Geſchichtsforſchung kann keine iſolirte Stellung
neben den anderen Wiſſenſchaften einnehmen, ſondern wie jedes
Studienfach ſeine nahe Beziehung zum Menſchen und ſeiner
Geſchichte hat, ſo kann auch der Hiſtoriker, wenn er ſich nicht
mit Erzählung äußerlicher Begebenheiten begnügen will, ſeiner
hohen Aufgabe nicht genügen, ohne mit freiem Blicke das
ganze Menſchenleben zu umfaſſen und ſo überall die Gebiete
der andern Wiſſenſchaften, der Rechtswiſſenſchaft, der Theo¬
logie, wie der Naturkunde zu berühren.
Nur ein Theil der Menſchengeſchichte ſcheint ein ganz
abgeſchloſſener zu ſein, ein nach Raum und Zeit abgelegenes
Gebiet der Forſchung, ich meine die Geſchichte des Alterthums,
deſſen Völker und Staaten faſt ſpurlos vorübergegangen ſind.
Seitdem aber iſt, wie uns unſere Jahresrechnung täglich ins
Gedächtniß ruft, ein neuer Anfang gemacht worden, und was
jenſeit deſſelben liegt, ſcheint mehr als alles Andere dem
Sonderintereſſe eines einzelnen Fachs anheim zu fallen.
Und doch iſt es ſo ganz anders! Dennoch iſt gerade dieſer
Theil der allgemeinen Geſchichtskunde bei dem Auseinander¬
gehen der Univerſitätsſtudien, wie mir ſcheint, vorzugsweiſe
berufen, ein Band des Einverſtändniſſes und ein Mittelpunkt
gemeinſamer Intereſſen zu werden.
Freilich iſt ein Gegenſatz da zwiſchen Antik und Modern;
eine Kluft zwiſchen allem Vorchriſtlichen und Nachchriſtlichen,
wie ſie in der Geſchichte nicht größer vorhanden iſt. Aber
gerade deshalb hat auch der Theil der Geſchichte die größte
Aufgabe, welcher jene getrennten Hälften zu verbinden und
den Zuſammenhang des geſchichtlichen Bewußtſeins, wo er am
vollſtändigſten zerriſſen ſcheint, wieder herzuſtellen hat. Denn
wenn die, Gegenwart ununterbrochen von der Vergangenheit
zu lernen hat, ſo hat ſie ohne Zweifel dort am meiſten zu
lernen und von dort am meiſten einzutauſchen, wo bei einem
hohen und unerreicht gebliebenen Grade der Ausbildung alle
Lebensverhältniſſe von den unſrigen durchaus verſchieden ſind
und ihnen fremd gegenüber ſtehen.
Aber die alte Welt iſt uns keine ferne und fremde geblie¬
ben. Sie war verloren und iſt wieder gefunden, und dies
Wiederfinden der alten Welt iſt eine Epoche in der neueren
Culturgeſchichte geworden. Dadurch iſt die Menſchheit nicht
nur von Neuem in den Beſitz reicher Güter eingeſetzt worden,
welche ihr abhanden gekommen waren, ſondern es ſind auch
ſo viel neue Lebenskräfte geweckt und gelöſt worden, daß da¬
durch an innerer Energie die Völker erſtarkten und innerhalb
ihrer eigenen Geſchichte zu den größten Leiſtungen befähigt
wurden.
Kein Volk hat ſich dieſen Segen ſo angeeignet, wie das
deutſche, und ſeine bedeutendſten Thaten auf dem Gebiete der
geiſtigen Entwickelung, die That der Reformation wie die Voll¬
endung ſeiner nationalen Litteratur, beruhen auf der Befruch¬
tung, welche der deutſche Geiſt aus dem Alterthume gewonnen
hat. Der Geiſt des Alterthums iſt eine Macht der Gegen¬
wart, eine überall nahe und einflußreiche Wir ahnen es ſelbſt
kaum, wie die Perioden, in denen wir denken und ſchreiben,
die Bilder der Sprache, die wir anwenden, wie der Maßſtab
unſerer Beurtheilung geiſtiger Erzeugniſſe, wie die Formen
der Gebäude und Gefäße, wie Kunſt und Handwerk unter dem
Einfluſſe jenes Geiſtes ſtehen. So iſt es allmählich dahin
gekommen, daß kein Theil der Menſchengeſchichte uns näher
und innerlich verwandter iſt, als das klaſſiſche Alterthum.
Dieſen Zuſammenhang zu erweiſen iſt auf einer deutſchen
Univerſität am wenigſten nöthig, weil hier bei den Lehrern
wie bei den Jüngern der Wiſſenſchaft die klaſſiſche Bildung
der gemeinſame Boden iſt, auf welchem ſie Alle ſtehen. Aber
ſie wird nicht nur als die nothwendige Vorbedingung aller
Gelehrſamkeit vorausgeſetzt, um dann bei Seite gelegt zu
werden, ſondern es werden faſt in allen Fächern die Gelehrten
durch eigene Forſchung in das Alterthum zurückgeführt, wo
alle Wiſſenſchaft zu Hauſe iſt.
Selbſt die Theologie kann das heidniſche Alterthum nicht
verabſäumen, wenn ſie, wie es ihre Aufgabe ſein muß, die
Entwickelung des religiöſen Bewußtſeins im ganzen Verlaufe
der Menſchengeſchichte zu verfolgen ſucht. Hat man doch längſt
der oberflächlichen Anſicht entſagt, nach welcher die alten Völker
ſich gleichgültig gegen das Göttliche verhalten haben ſollen,
nach welcher ihre Götter nur Spielzeuge der Phantaſie und
die mächtigſte Kraft, welche eine Menſchenbruſt beſeelen kann,
die des religiöſen Glaubens, ihnen fremd geweſen ſein ſoll.
Die Gegenſätze im Gottesbewußtſein ſind auch in der alten
Welt das bewegende Princip der Geſchichte geweſen; ſie ſind
es, um deren willen die Völker auseinander gegangen ſind
und die Sprachen ſich geſpalten haben. Auch im heidniſchen
[10]Das Mittleramt der Philologie. Alterthume erkennen wir die verſchiedenen Stufen einer reine¬
ren Anſchauung des Göttlichen, eines Abfalls zum Götzen¬
dienſte und der aus dem Götzendienſte zum unſichtbaren Gotte
zurückſtrebenden Sehnſucht edlerer Geiſter. Auch die klaſſiſche
Welt hat ihr Prophetenthum; ſie hat ihre Ahnungen und An¬
ſchauungen, welche erſt auf einer höheren Stufe ihre Berechti¬
gung und Erfüllung erlangt haben; es iſt, wie der Apoſtel
ſagt, der Schatten von dem, was zukünftig war.
Wenn ich aber verſuche, der Alterthumskunde unter den
geſchichtlichen Wiſſenſchaften vorzugsweiſe den Beruf der Ver¬
mittelung zwiſchen den verſchiedenen Studienfächern zuzueignen,
kann es nicht meine Anſicht ſein, daß ſie ſelbſt in vornehmer
Abgeſchloſſenheit inmitten der Wiſſenſchaften throne, den an¬
deren unentbehrlich, ſich ſelbſt genügend. Freilich hat ſie, wie
jede Wiſſenſchaft, ihre beſondere Technik und Methode, deren
ſorgſame Pflege eine ihrer wichtigſten Aufgaben iſt, weil ſonſt
Unordnung und Verwilderung eintritt. Aber daneben hat ſie,
wie die andern Fächer, ja, ich darf wohl ſagen, mehr als
alle andern das Bedürfniß eines lebendigen Verkehrs mit den
übrigen Zweigen der Gelehrſamkeit.
Denn zunächſt, wenn die Philologie ſein will, was ihr ſchö¬
ner Name ausſagt, Liebe zum Logos, d. h. zu der im Worte
ſich kundgebenden Thätigkeit des menſchlichen Geiſtes, kann ſie
dann gleichgültig bleiben gegen das Schöne und Bedeutende,
welches in ſpäteren Jahrhunderten dem ſchöpferiſchen Menſchen¬
geiſte gelungen iſt? Muß ſie nicht ſtreben, den Sinn für künſt¬
leriſchen Ausdruck des inneren Lebens durch Vergleichung der
ſchiedenſten Leiſtungen aller Völker und Zeiten auszubilden,
und ſind nicht in der That für Ilias und Odyſſee die Nibe¬
lungen und Gudrunlieder ein Schlüſſel des Verſtändniſſes ge¬
worden, um die ihrer Entſtehung nach geheimnißvollſte aller
Dichtungsarten, das volksthümliche Epos, zu begreifen? Ja
die Philologie wird, indem ſie die Klänge alter Zeit mit
ganzer Seele ſich und der Gegenwart aneignet, unwillkürlich
zum Nachſchaffen und Nachdichten angeregt. Sie muß alſo von
den Dichtern des eigenen Volks die Herrſchaft der Sprache
[11]Das Mittleramt der Philologie. lernen; ſie muß ſelbſt kunſtbewußt und kunſtbegabt ſein, um
die Trümmer der alten Poeſie zu beleben, ſie hinüber zu tra¬
gen in unſere Welt, und nicht bloß um die verlorene Schöne
zu klagen, ſondern das Weſen antiker Kunſt, den im gebundenen
Worte ungebundenen Geiſt kräftig und lebendig darzuſtellen.
Wenn ſich aber die Philologie eine weitere Aufgabe ſtellen
muß, als das Vermächtniß der alten Litteratur zu hüten, wenn
ſie das Leben der alten Welt im ganzen Umfange zu umfaſſen
ſtrebt, und zwar nicht aus einem Gefühle der Ueberhebung und
des Uebermuths, wie es die Alten im Bilde des Ixion dar¬
ſtellten, ſondern aus der Ueberzeugung, daß ſich das Alterthum
nicht ſtückweiſe begreifen laſſe: tritt ſie da nicht mit allen Ge¬
bieten neuerer Wiſſenſchaft in eine vielſeitige und fruchtbare
Verbindung? In anderen Gebieten geſchichtlicher Forſchung
iſt eine fachmäßige Abgränzung der verſchiedenen Seiten des
Menſchenlebens nothwendig geworden. Die Philologie kann
in ihrem Bereiche keine Schranken anerkennen, welche Litteratur
und Staatsleben, Recht und Religion von einander trennen.
Sie wird, wenn ſie durch die Straßen von Rom und Athen
wandert, auf jedem Schritte an die verſchiedenartigſten Be¬
ziehungen des menſchlichen Lebens erinnert. Sie kann an
den Altären nicht vorübergehen, ohne der Geſchichte des reli¬
giöſen Bewußtſeins nachzuſinnen; ſie kann den Berathungen
der Volksverſammlungen, den Abſtimmungen der Geſchwornen¬
gerichte nicht beiwohnen, ohne den Trieb zu empfinden, auch
neuere Rechtsordnungen kennen zu lernen; ſie muß ſich durch
Beobachtung und Erfahrung in Stand ſetzen, ein Bild bürger¬
licher Zuſtände zu entwerfen, auf daß die Geſchichte des Alter¬
thums nicht wie ein Schattenſpiel erſcheine, ſondern ſeine Hel¬
den vor uns handeln wie Menſchen von Fleiſch und Blut in
menſchlicher Geſellſchaft.
Darum iſt für philologiſche Studien nichts hemmender,
als die Stubenluft beſchränkter Fachkenntniß, nichts nothwendi¬
ger und heilſamer, als eine ausgedehnte Kunde menſchlicher
Dinge, und ein guter Philologe muß mit den Alten ſagen,
daß ihm nichts Menſchliches ferne ſtehe. Beſſer, als alles
[12]Das Mittleramt der Philologie.Andere beweiſt dies die Geſchichte der Wiſſenſchaft. Denn aus
keinem anderen Grund erkennen wir in Scaliger den größten
Philologen, als weil er der italiäniſchen Einſeitigkeit gegen¬
über ſeinen hellen und freien Blick auf alle geiſtigen Intereſſen
ausdehnte, und während er an den religiöſen Bewegungen ſei¬
ner Zeit und ſeiner Nation mit Herz und Kopf vollen Antheil
nahm, in unermüdlicher Forſchung Morgen- und Abendland,
Bibel und Klaſſiker, Grammatik und Sachkunde, Textkritik und
chronologiſche Geſchichte in urkräftigem Geiſte umfaßte.
Seit Wiederherſtellung der Wiſſenſchaften ſind die größten
Reſultate immer durch die Verbindung verſchiedener Fächer
gelungen. In Scaliger's Vaterlande haben die vereinten Be¬
ſtrebungen von Jurisprudenz und Philologie den Grund ge¬
legt zu einem großartigen Aufbaue der römiſchen Alterthümer.
So wie ſich die Philologie von dieſen weiteren Geſichtspunkten
zurückzog, ſank ſie zu den Leiſtungen eines kleinmeiſterlichen
Sammelfleißes hinab, bis in neuerer Zeit durch Niebuhr und
Savigny die alte Vereinigung wieder hergeſtellt wurde, um
in kurzer Zeit Außerordentliches zu leiſten. Niebuhr's Geiſt
hat die ganze Philologie mit neuen Lebensſtrömen befruchtet,
weil er in ihr Gebiet mit dem umfaſſenden Blicke des Staats¬
manns und Hiſtorikers hineintrat, und die außerordentlichen
Leiſtungen des Mannes, deſſen Jubelfeſt neulich auch unter
uns mit freudiger Theilnahme gefeiert worden iſt*), beruhen ſie
nicht vorzugsweiſe darauf, daß er Geſichtspunkte, welche dem
engeren Kreiſe philologiſcher Gelehrſamkeit ferne lagen, zum
erſten Male geltend gemacht, daß er ſich nicht begnügt hat,
mit dem Auge des Enthuſiasmus die alte Welt zu betrachten,
ſondern auch die materiellen Grundlagen der alten Staaten an
das Licht geſtellt und ſo eine antike Staatswirthſchaftslehre
begründet hat, an deren Möglichkeit vor ihm kaum Einer ge¬
dacht hatte, daß er mit dem Geiſte des Hiſtorikers die ver¬
witterten Steinſchriften der Hellenen zu einem zuſammenhängen¬
den Urkundenwerke, zu einem Archive helleniſcher Geſchichte
vereinigt, daß er endlich mit dem feinen Sinne eines Mathe¬
[13]Das Mittleramt der Philologie. matikers die Zahl erfaßt hat, wo ſie in Leben, Kunſt und
Wiſſenſchaft eine maßgebende Bedeutung hatte, daß er Maß
und Gewicht den Alten nachgewogen und nachgerechnet und
ſo eine völkerverbindende Kette, welche vom Euphrat bis zum
Tiber reicht, wieder hergeſtellt hat?
So reich belohnt die Philologie den, welcher mit edler
Geiſteskraft neue Hülfsquellen der Forſchung ihr eröffnet;
denn ſo reich ſie in ſich iſt, ſo kann ſie doch ihrer Natur nach
den anregenden Verkehr mit anderen Wiſſenſchaften nicht ent¬
behren. Im Gefühle dieſer Bedürftigkeit erhält ſie ſich friſch
und lebendig; dieſer Austauſch iſt die Bürgſchaft ihres Fort¬
ſchritts, die Quelle ihres Reichthums. Es iſt ein Reichthum,
welcher nicht zur Selbſtüberſchätzung und zum Wiſſensdünkel
führen kann. Denn je freier der Umblick, je höher die Geſichts¬
punkte, je umfaſſender die Forſchung, um ſo mehr wird ſie zu
dem Geſtändniſſe genöthigt:
Unſer Wiſſen iſt nichts; wir horchen allein dem Gerüchte.
Der Hochmuth des Wiſſens iſt vielmehr dort zu Hauſe, wo
eine beſchränkte, einſeitige und engherzige Richtung vorherrſcht.
Aber auch in ſich ſelbſt enthält die Philologie Manches,
was ihr die Fähigkeit und den Beruf giebt, zwiſchen den ver¬
ſchiedenen Zweigen der Gelehrſamkeit ein verbindendes Glied
zu ſein. Ich denke zunächſt an den Gegenſatz zwiſchen Ge¬
ſchichte und Naturkunde, d. h. zwiſchen dem Gebiete menſch¬
licher Freiheit und dem der natürlichen Nothwendigkeit. Freilich
ſind es auch im Alterthume freie und ſittliche Mächte, welche
die Welt bewegen. Aber dennoch, wer will es leugnen, daß
hier die Geſchichte viel mehr Verwandtſchaft mit einem natür¬
lichen Prozeſſe hat? Denn erſtens liegen hier die Entwicke¬
lungen geſchloſſen vor, und wir können die Geſetze nachweiſen,
nach denen die Völker groß geworden und wieder zurück¬
gegangen ſind. Und dann war die ganze alte Welt mehr
dem natürlichen Leben hingegeben, und erſt nachdem ſie ihr
Leben vollendet hatte, ein Volk nach dem andern, und mit
dem großen Reichscenſus unter Kaiſer Auguſtus das indivi¬
duelle Leben der einzelnen Völker gleichſam officiell aufgehoben
[14]Das Mittleramt der Philologie.war, da traten die göttlichen Kräfte in das Menſchenleben
hinein, und ſeit dem erſten Pfingſtfeſte wirkt ein Geiſt auf
Erden, der unberechenbar in ſeiner Kraft die Menſchen nicht
mehr zurückſinken läßt in den Bann der Natur, in die Knecht¬
ſchaft des natürlichen Werdens und Vergehens. Seitdem iſt
alſo ein anderer Maßſtab für die Geſchichte da, weil ganz
neue Factoren in dieſelbe eingetreten ſind. Menſchen und
Völker können wiedergeboren werden und die Bedeutung ihres
Daſeins hängt weſentlich davon ab, wie weit ſie ſich die dar¬
gebotenen Heilskräfte der überſinnlichen Welt aneignen.
Ohne die Weihe zu verkennen, welche dadurch das Menſchen¬
geſchlecht und ſeine Geſchichte empfangen hat, dürfen wir doch
behaupten, daß die vorchriſtliche Zeit ein ganz beſonderes
Intereſſe hat, indem ſie uns die Geſchichte in ihrer rein menſch¬
lichen Geſtalt vor Augen führt und weil die betrachtende Wiſſen¬
ſchaft ihr Ziel hier am vollſtändigſten erreichen kann. Derſelbe
Gott, der heute regiert, hat auch die alte Welt gelenkt, er hat
ſich auch ihr bezeugt und hat ſeinen Geiſt aufleuchten laſſen
in Sokrates und Plato, aber er hat die Völker ihre Wege
dahingehen laſſen, auf daß ſie in der verſchiedenſten Weiſe
zeigen ſollten, was aus natürlicher Kraft der Menſch vermöge.
In dieſer Beziehung glaube ich von einer Analogie reden
zu dürfen, welche zwiſchen der Geſchichte der alten Völker und
der Naturkunde beſteht. Die Völker ſind Kinder ihres Landes.
Die Begabung des Bodens, die Beſchaffenheit der Atmoſphäre,
die Verhältniſſe der Temperatur, die Nähe oder Ferne des
Meeres, die Form der Küſte ſind maßgebende Bedingungen
der Volksgeſchichte. Ein Athen iſt nicht denkbar als an dem
Platze, wo es die Hellenen gegründet haben, nur in dieſer
Luft, auf dieſer Halbinſel, in der Nähe dieſer marmor- und
ſilberhaltigen Gebirge. Auch die Hauptplätze neuer Cultur
werden immer einen Theil ihrer Bedeutung der natürlichen
Lage verdanken, aber jeder Fortſchritt der Cultur iſt eine Be¬
freiung von dieſen Beſtimmungen, ein Zurückdrängen der na¬
türlichen Einflüſſe, eine Entfeſſelung des Geiſtes.
Während nun die älteren Völker des Alterthums in jener
[15]Das Mittleramt der Philologie.natürlichen Gebundenheit mehr oder weniger geblieben ſind,
haben ſich die klaſſiſchen Völker zu einer Freiheit des geiſtigen
Lebens erhoben, welche innerhalb der gegebenen Beſchränkung
das höchſte Maß reicher Entfaltung gewonnen hat. Hier alſo
finden wir den vollen Reiz freier Geſchichtsentwickelung mit
der Klarheit und Ueberſichtlichkeit eines organiſchen Lebens
und der Nothwendigkeit eines Naturproceſſes verbunden.
Ja, auch der wichtigſte Gegenſtand aller Philologie, der
Schlüſſel jedes Verſtändniſſes und zugleich das unergründliche
Gebiet tiefſter Forſchung, die Sprache, — ſteht ſie nicht recht
eigentlich in der Mitte zwiſchen Geſchichte und Naturkunde,
iſt ſie nicht beiden Gebieten der Wiſſenſchaft innerlich ver¬
wandt? Auf der einen Seite ein natürlich Gewordenes, das
keines Menſchen Witz erſonnen und gebildet hat, das aus der
Natur des menſchlichen Weſens mit Nothwendigkeit hervorgeht
und deſſen Geſtaltung von der Willkür des Einzelnen eben ſo
unabhängig iſt, wie der Organismus des Leibes und wie der
Bau der Pflanze; auf der anderen Seite aber eine freie That
des Geiſtes, welcher nirgends den Stoff ſelbſtändiger zu be¬
herrſchen ſcheint. Darum giebt es kein treueres Abbild des
Volks- und Menſchengeiſtes, als die Sprache; mit der Feſt¬
ſtellung ſeiner Sprache beginnt die ſelbſtändige Geſchichte jedes
Volks, und der Einzelne bekundet ſeine geiſtige Reife, indem
er der Sprache mächtig iſt. So wunderbar vereinigt ſie in ſich
das Weſen freier Selbſtbeſtimmung und natürlicher Entwickelung,
ſo durchdringt ſich in ihr Freiheit und Nothwendigkeit.
So iſt, glaube ich, die Philologie auch durch die Natur
ihrer Objecte zu einer vermittelnden Stellung zwiſchen den
Studienfächern der Univerſität berufen, und da es ſich hierbei
nicht um Vorrang und Vorrechte handelt, ſondern nur um
die Gunſt einer allſeitigen Theilnahme, ſo dürfte ich wohl
hoffen, keinem Widerſpruche zu begegnen, wenn nicht vielleicht
ein Punkt mit ſcheinbarer Gültigkeit mir entgegen gehalten
werden ſollte.
Alle Achtung, ſagt man den Philologen, vor euren Stu¬
dien; unſchätzbar iſt ihre ſorgſame Pflege, um unſere Jugend
[16]Das Mittleramt der Philologie.zu wiſſenſchaftlichem Streben heranzubilden. Aber ihr könnt
es Niemand verargen, wenn ſich das vorwiegende Intereſſe
den Wiſſenſchaften zuwendet, welche jetzt in voller Entwickelung
vorwärts ſchreiten. Man muthet alſo der Philologie eine
beſcheidene Zurückhaltung zu; man weiſt ihr gleichſam einen
anſtändigen Witwenſitz an mit allerlei nützlichen Beſchäftigungen
für ihre alten Tage. Das Alterthum liegt ja abgeſchloſſen
hinter uns. Man darf es nicht ungeſtraft bei Seite laſſen,
man ſoll fortfahren die Klaſſiker zu leſen, zu erklären und zu
verbeſſern; aber wo iſt da Gelegenheit zu neuen Ergebniſſen
der Wiſſenſchaft, welche im Stande wären, eine allgemeine
Theilnahme zu erwecken?
Freilich iſt das Alterthum etwas Abgeſchloſſenes und hinter
uns Liegendes, aber das Alte iſt darum nicht abgethan. Die
Berge ſtehen da ſeit den Tagen der Schöpfung und doch findet
man immer neue Metalladern und neue Schätze, welche den
Menſchen unerwartete Dienſte leiſten. Wer ſagt euch denn,
daß die Schachte des Alterthums erſchöpft ſeien? Wie die
Natur nach den verſchiedenen Frageſtellungen immer andere
Anworten giebt, in ſich ein ewig Gleiches und doch jeder
Generation ein Anderes und Neues, ſo auch das Alterthum,
deſſen Auffaſſung von der geiſtigen Richtung jedes Zeitalters
weſentlich bedingt iſt.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als ſich in
Deutſchland eine Nationallitteratur bildete, wurde auch das
Alterthum neu erfaßt und die Kunſtwerke, längſt zur An¬
ſchauung ausgeſtellt, fingen an zu reden. Als dann am Ende
des Jahrhunderts die ungeheure Erſchütterung der geſellſchaft¬
lichen Ordnung die Geiſter aller Orten aus gewohntem Trei¬
ben erweckte, als Alles in Frage geſtellt wurde, was bis dahin
gegolten hatte, da konnte auch der Wiſſenſchaft nirgends mehr
das Oberflächliche genügen, nirgends das Herkömmliche und
Angenommene als ſolches ſich behaupten. Mit der Gegen¬
wart veränderte ſich auch das Alterthum, und das Rom, welches
aus den Niebuhr'ſchen Forſchungen auftauchte, war wie eine neue
Welt, von welcher in den alten Theſauren nichts zu finden war.
Nun verband ſich mit der Tiefe der Forſchung von Neuem
die Weite der Umſicht. Denn wie es dem Wanderer geht,
welcher in der Morgendämmerung ein Gebirgsland überblickt:
erſt ſieht er nur vereinzelte Spitzen, welche in das Sonnen¬
licht hervorragen wie Inſeln im Meere; aber wie die Sonne
ſteigt, ſo treten allmählich die Bergjoche hervor, dann auch
die tieferen Thäler mit den Schluchten und Wegen, welche die
Gipfelhöhen unter einander verbinden, und endlich liegt die
Gegend in großem Zuſammenhange dem Auge unverſchleiert
vor: ſo iſt es auch mit dem Alterthume gegangen. Denn es
iſt nicht lange her, ſeit Rom und Athen auf einſamen Höhen
lagen, wie unvermittelte Wundererſcheinungen, während jetzt
immer deutlicher ein großer Zuſammenhang zu Tage tritt;
eine allgemeine Geſchichte der alten Welt, von welcher man
vor Kurzem noch keine Ahnung hatte.
Ein ſolcher Fortſchritt war nicht anders möglich, als
durch Auffindung neuer Erkenntnißmittel, welche der Geſchichts¬
kunde eben ſo weſentliche Dienſte leiſten, wie der Naturwiſſen¬
ſchaft die Erfindung neuer Inſtrumente. Namentlich ſind die
Sprache und die Denkmäler als neugewonnene Geſchichts¬
quellen zu betrachten. Denn ſeit man in der Sprache einen
natürlichen Organismus erkannt hat, iſt ſie nicht nur des ein¬
zelnen Volkes älteſte Urkunde, ſondern weit über ſeine Geſchichte
hinaus reicht nun die urkundliche Kenntniß; der Stammbaum
der Völker kann mit immer größerer Vollſtändigkeit und
Sicherheit wieder hergeſtellt werden und durch die vergleichende
Sprachwiſſenſchaft iſt nicht nur in den großen Zuſammenhang
der Menſchengeſchlechter ein neuer Blick eröffnet, ſondern auch
in die natürliche Beſchaffenheit und die Eigenthümlichkeit der
einzelnen Völker.
Die andere Erkenntnißquelle finde ich in den Denkmälern
des Alterthums. Nur der Stumpfſinn kann es einen Zufall
nennen, daß erſt die Schätze der alten Litteratur wieder auf¬
gefunden ſind und dann, als dieſe zum großen Theil verar¬
beitet waren, die Maſſe der Denkmäler mit dem Boden, welchem
ſie angehören. Der tiefer Schauende muß darin eine Vorſehung
Curtius, Alterthum. 2[18]Das Mittleramt der Philologie. anerkennen, deren Verſtändniß uns die Bürgſchaft giebt, daß
auch das wiſſenſchaftliche Leben und Fortſchreiten der Menſch¬
heit nach göttlichen Plänen geleitet wird.
Wenn nun in Folge großartiger Entdeckungen faſt alle
Hauptſtätten der alten Geſchichte wieder aufgefunden worden
ſind, wenn der Gang der alten Cultur in den religiöſen Ur¬
kunden von Indien und Iran einen Anknüpfungspunkt ge¬
wonnen hat, wenn die Cultur von Babel und Aſſur aus dem
Schutthaufen Meſopotamiens wieder aufgetaucht iſt, wenn die
perſiſchen Reichsurkunden in Bild und Schrift uns deutlich
vorliegen, wenn Aegypten mit dem ſtarren Ernſte ſeiner vier¬
tauſendjährigen Geſchichte an das Tageslicht getreten und
dadurch nicht nur ein breiter und tiefer Hintergrund gewonnen
iſt für Griechenland und Rom, ſondern auch die Quelle mannig¬
faltiger Cultur, die aus jenen Ländern gefloſſen iſt, ſich nach¬
weiſen läßt: ſo darf ſich die Alterthumswiſſenſchaft wohl neben
die Naturwiſſenſchaften ſtellen; denn den wiſſenſchaftlichen Werth
der Entdeckungen wird an dieſer Stelle Niemand von dem
Geſichtspunkte praktiſcher Nutzbarkeit abhängig machen. Die
hiſtoriſchen Wiſſenſchaften vermögen freilich nicht unerkannte
Kräfte aufzubieten, um dieſelben als Sendboten und Laſtthiere
dem Menſchen dienſtbar zu machen, aber ſie vertiefen des
Menſchen eigenſtes Bewußtſein, indem ſie die lebende Gene¬
ration in Verbindung ſetzen mit verſchollenen Thatſachen, die
vor Jahrtauſenden der menſchliche Geiſt hervorgebracht hat.
Mühſam ringt die Wiſſenſchaft mit dem aufgehäuften
Stoffe; ſie ſtrebt darnach, die Wechſelbeziehungen der verſchie¬
denen Völkerracen und Einzelvölker der alten Welt zu ent¬
räthſeln; ſie ſucht eine allgemeine Geſchichte der Religion, der
Cultur, der Kunſt, der Schrift im Alterthume zu begründen,
und von den großen Erweiterungen der hiſtoriſchen Kenntniß
bleiben auch ſelbſt die engſten Fachſtudien des Philologen nicht
unberührt. Schon können die Keilſchriften auf dem heiligen
Berge an der Oſtgränze Aſſyriens benutzt werden, um den
Text Herodot's feſtzuſtellen und zu erklären.
Wenn alſo das Intereſſe, das im Kreiſe der Univerſitäts¬
[19]Das Mittleramt der Philologie.ſtudien die Alterthumskunde in Anſpruch nehmen will, von
der Bewegung der Wiſſenſchaft abhängig iſt, ſo kann man
dreiſt behaupten, daß an wichtigen Entdeckungen kein Theil
der Geſchichte in neueſter Zeit reicher geweſen iſt, daß keine
ſo wie dieſe in gährender Bewegung und lebendigem Fort¬
ſchritte begriffen iſt.
Freilich giebt es eine Philologie, welche ſich gegen alles
neue Licht, das in ihre Bücherkammer fällt, abſperrt und den
engſten Kreis der Studien ängſtlich innehält. Aber an unſerer
Univerſität iſt von jeher die Philologie in anderem Sinne und
größerem Stile gepflegt worden. In dieſem Sinne iſt ſie
hier von Geßner begründet worden, der ſchon mit ſicheren
Zügen die weite Aufgabe der Wiſſenſchaft andeutete. Nach
ihm hat Heyne, ein Mann voll Sinn für das Ganze und
Große, hier eine philologiſch-hiſtoriſche Schule begründet, in
welcher quellenmäßige Forſchung und lebendige Anſchauung
des Alterthums gefordert wurde. Unberechenbar iſt der Ein¬
fluß, welcher von dieſer Schule ausgegangen iſt. Sie hat
recht eigentlich den Blick geöffnet für eine umfaſſende Geſchichte
des Alterthums. Hier ſind durch Heeren die Handels- und
Verkehrsverhältniſſe zuerſt in den Geſichtskreis der Philologie
hereingezogen worden; hier ſind die von Niebuhr, dem Vater,
der von Göttingen aus ſeine ruhmvolle Wanderung antrat,
abgeſchriebenen Keilſchriften zuerſt entziffert. Von Heyne
und Heeren bekennt der Geſchichtſchreiber Aegyptens, welcher
durch eigene Arbeit und Anregung Anderer die ägyptiſche
Wiſſenſchaft unter den Deutſchen begründet hat, die ganze
Anregung zu ſeinen hiſtoriſchen Forſchungen empfangen zu
haben, und auch die Forſchung über den Zuſammenhang
Griechenlands und Phöniziens, welche neuerdings ſo wichtig
geworden iſt, wurde ſchon im Jahre 1793 durch eine Göt¬
tinger Preisfrage angeregt.
Auf dem anderen Gebiete der klaſſiſchen Alterthumskunde
war Heyne der Vorgänger von Wolf und von Böckh, aus
deſſen Schule O. Müller, welcher hier in die von Heyne ge¬
ebnete Bahn eintrat, ſtammte. Wie Müller ſich am Eingange
2*[20]Das Mittleramt der Philologie. ſeiner erſten Schrift an die Küſte von Attika ſtellt, um dort
das Meer von Aegina zu überſchauen, ſo war es ihm Be¬
dürfniß, ſich überall mit lebendiger Seele mitten in das Alter¬
thum zu verſetzen, es als ein Ganzes aufzufaſſen und zu
durchdringen, überall Leben verbreitend, neue Geſichtspunkte
anregend, Fernliegendes glücklich verbindend. Für kein Men¬
ſchenleben hätte man geglaubt, mehr eine lange Dauer in
Anſpruch nehmen zu dürfen, als für das ſeinige, deſſen For¬
ſcherpläne ſo großartig angelegt waren. Zu ſeiner Thätigkeit
ſtand nach manchen Rückſichten die ſeines Nachfolgers in einem
Gegenſatze, da das Beſtreben deſſelben vorzüglich darauf zielte,
das Erkannte zu umfaſſen, die Ergebniſſe der Wiſſenſchaft zu
ordnen und feſtzuſtellen. Er gehört in die Reihe der großen
Conſervatoren der Wiſſenſchaft, welche aus tiefem und ernſtem
Verlangen nach abgerundetem Wiſſen die Unterſuchung an
beſtimmte Zielpunkte zu führen und in feſter Form abzu¬
ſchließen geneigt ſind. Doch iſt der Gegenſatz zwiſchen Män¬
nern, wie Müller und Hermann, nur ein ſcheinbarer. Denn
in Wahrheit iſt der Wiſſenſchaft nichts heilſamer, förderlicher
und nothwendiger als ein ſolcher Wechſel von Beſtrebungen,
von denen die einen mehr anregender, die andern mehr ab¬
ſchließender Natur ſind, jene neue Saat auszuſtreuen, dieſe die
Ernte einzufahren befliſſen ſind.
Ein wirklicher Abſchluß freilich wird nicht erreicht und
die vorwärts eilende Forſchung ſprengt immer von Neuem
die ſpröde Form der in Paragraphen geordneten Lehrſätze.
Dieſe Erfahrung darf uns nicht entmuthigen. Denn darin
liegt die Weihe der Wiſſenſchaft, daß ſie niemals fertig wird.
Darin unterſcheidet ſich unſer Beruf von dem gewöhnlichen
Treiben der Welt, daß hier nach nahen, greifbaren Zielen
gejagt wird, während die Zielpunkte unſerer Arbeit idealer
Natur ſind und jenſeit der Gegenwart, jenſeit der eigenen
Lebensfriſt liegen. Es iſt eine ſelbſtverläugnende und ſelbſt¬
vergeſſende Thätigkeit, welche die Forſchung von uns verlangt;
dadurch behütet ſie uns vor jedem ſatten Wiſſensdünkel und
lehrt uns erkennen, daß nicht der volle Beſitz der Wahrheit,
[21]Das Mittleramt der Philologie.ſondern das raſtloſe Streben nach ihr das Weſen menſchlicher
Wiſſenſchaft iſt.
In einem ſolchen Streben faßt die Univerſität Lehrende
und Lernende zuſammen. Das iſt die wahre geiſtige Gemein¬
ſchaft, die auch bei dieſer Feier uns von Neuem in das Be¬
wußtſein treten ſoll. Zu dieſem Streben verpflichten ſich Alle,
welche unſerm Gemeinweſen ſich anſchließen, und darum ver¬
bindet ſich unſere Univerſitätsfeier mit der öffentlichen Hand¬
lung, in welcher das erfolgreiche Streben gekrönt wird und
neue Ziele des Strebens aufgeſtellt werden.
II.
Das alte und neue Griechenland.
So oft ich am heutigen Tage vor Ihnen zu reden hatte,
habe ich, wie es jeder Feier dieſer Art angemeſſen iſt, einen
wiſſenſchaftlichen Gegenſtand von allgemeiner Bedeutung be¬
ſprochen und meine Perſon, wie billig, dabei gänzlich zurück¬
treten laſſen. Heute darf ich vielleicht eine Ausnahme machen.
Denn da ich erſt vor wenig Tagen von einer Reiſe heimge¬
kehrt bin, auf welcher mich die Freundſchaft meiner Amtsge¬
noſſen mit treuſter Theilnahme begleitet hat, ſo würde es
Ihnen ſelbſt, wie mir vorkommt, unnatürlich erſcheinen, wenn
ich auf dieſe Reiſe heute gar keine Rückſicht nähme, und je
deutlicher ich mir ſelbſt bewußt bin, daß ich mich aller Orten
als ein Glied Ihrer Genoſſenſchaft gefühlt habe, um ſo mehr
halte ich mich für berechtigt, und gewiſſermaßen für verpflichtet,
die Scheu, bei öffentlicher Gelegenheit Perſönliches zu berühren,
heute zu überwinden und meine Rede an die eben vollendete
Reiſe nach Griechenland und Italien anzuknüpfen, indem ich
im Rückblicke auf die dort empfangenen Eindrücke mich darüber
ausſpreche, wie ſolche Reiſen in die wiſſenſchaftlichen Beſtre¬
bungen, denen wir obliegen, eingreifen.
Eine Erörterung dieſer Art würde in Beziehung auf
einen Naturforſcher ſehr überflüſſig ſein. Denn ihm bietet
jede Wanderung Stoff zur Forſchung und Belehrung, und
jede Reiſe, welche ihn in Gegenden führt, die bei größerem
[23]Das alte und neue Griechenland.Reichthume an Lebensformen noch weniger durchſucht ſind,
erweitert ſeinen wiſſenſchaftlichen Geſichtskreis; Land und Luft
bieten dem Auge täglich neue Erſcheinungen und das Netz,
das durch die Tiefe des Meers gezogen wird, führt immer
neue Wunder der Schöpfung an das Tageslicht.
Anders verhält es ſich mit dem Philologen und dem
Hiſtoriker. Sie leben mit ihrer Wiſſenſchaft in einer Welt,
die den Sinnen entrückt iſt; hier ſcheint von dem geiſtigen
Blicke, der die echte Ueberlieferung von der entſtellten zu unter¬
ſcheiden weiß, von dem geiſtigen Verſtändniſſe der Vorzeit
und ihrer Schriftwerke Alles abzuhängen. Und wenn nun
der Philologe ins Beſondere das reiche Gebiet der alten
Litteratur durchmißt, den Zuſammenhang derſelben ergründet,
die Sprache in ihrem natürlichen Organismus und ihrer ge¬
ſchichtlichen Entwickelung erforſcht, ſo liegt da ein nicht leicht
zu erſchöpfendes Arbeitsfeld vor ihm. Auch haben ausge¬
zeichnete Männer eine Beſchränkung der Philologie auf Sprache
und Litteratur dringend empfohlen und nur auf dem Gebiete
einer alſo vorſichtig beſchränkten Disciplin die Ausbildung
einer feſten Methode und einen ſicheren Fortſchritt für möglich
erachtet.
Heutzutage werden dieſe Begränzung nur Wenige noch
ernſtlich verlangen. Jede willkürliche Einengung eines wiſſen¬
ſchaftlichen Arbeitsfeldes iſt unhaltbar und bleibt auch für
das engere Gebiet, dem ſie zu gute kommen ſoll, ohne Nutzen.
Aber auch für den, welcher ſeiner Neigung zu Folge auf
das Studium der alten Litteratur ſich beſchränkt, kann die
Anſchauung der klaſſiſchen Länder nicht gleichgültig ſein. Auch
die Auserwählten einer Nation, ihre Dichter, Hiſtoriker, Redner
und Philoſophen, ſind ohne den Hintergrund der geſammten
Nationalität nicht zu verſtehen und dieſe wiederum nicht ohne
die Naturbeſchaffenheit des Landes. Wer die Alten nur aus
Büchern kennt, dem erſcheint die Welt derſelben leicht, wie auf
einem andern Himmelskörper gelegen, fremdartig und unbe¬
greiflich, und doch war es eine menſchliche und von den Aeußer¬
lichkeiten des Lebens abhängige Welt gleich der unſrigen,
[24]Das alte und neue Griechenland.ja noch viel weniger als dieſe von dem Boden, dem ſie an¬
gehört, abzulöſen.
Es iſt ja auch eine alte und weitverbreitete Ueberzeugung,
daß man die geiſtige Entwickelung eines Volks in ſeiner Hei¬
math am Beſten verſtehen und würdigen könne. So zogen
einſt die Römer, je mehr ſie erkannten, daß ihre einheimiſche
Bildung mit der griechiſchen ſich verſchmelzen müſſe, wenn ſie
eine Weltbildung gewinnen wollten, welche ihnen zugleich die
Berechtigung zur Weltherrſchaft gäbe, immer zahlreicher nach
Athen, um dort einige Jugendjahre zuzubringen und im Haine
des Akademos attiſche Philoſophie zu ſtudiren. Perſönliche
Bekanntſchaft mit den wichtigſten Stätten antiker Bildung
ſchien den vornehmen Römern eben ſo wünſchenswerth, wie
jetzt den auf höhere Bildung Anſpruch machenden Engländern,
welche unter den Neueren am Entſchiedenſten daran feſthalten,
die klaſſiſchen Studien als Grundlage aller höheren Cultur
anzuſehen.
Es iſt im Grunde ein allgemein menſchliches Gefühl, daß
wir den Schauplatz großer Thaten und Entwickelungen wie
geweiht durch dieſelben anſehen und uns auf ihm denen näher
fühlen, welche dort gelebt haben. Dies Gefühl kann das ver¬
ſtändige Maß überſchreiten. Denn ſicher nennen wir es eine
Täuſchung, wenn man die Anweſenheit im heiligen Lande in
der Weiſe überſchätzt, daß man nicht nur zur Veranſchaulichung
der geſchichtlichen Vorgänge daraus Vortheil ziehen will, ſon¬
dern auch für das Verſtändniß der Lehre, die dort zuerſt ge¬
predigt wurde, und für die Aneignung ihres Inhalts, oder
gar mit Schwärmern glauben wollte, daß das Gebet an den
heiligen Stätten wirkſamer ſei als anderswo.
Auch in Beziehung auf das klaſſiſche Alterthum iſt man
von Uebertreibung nicht frei geblieben, wenn man z. B. ge¬
glaubt hat, daß gewiſſe Gedichte nur an dem beſtimmten Platze,
auf dem ſie gedichtet worden, verſtändlich würden. Denn da
die Dichtung der Alten nur in ſeltenen Fällen beſchreibend iſt,
giebt es auch nur wenig Stellen, wo die richtige Erklärung
von einer genauen Ortskenntniß geradezu abhängig iſt; die
[25]Das alte und neue Griechenland. höchſten Leiſtungen geiſtiger Entwickelung erheben ſich ja über¬
haupt ſo weit über den Boden, welcher ſie getragen hat, daß
derſelbe für die Erkenntniß derſelben gleichgültig wird, und
die ganze Wiſſenſchaft vom griechiſchen Alterthume iſt fern
von Griechenland und durch Männer, die es nicht als Augen¬
zeugen kannten, zu der jetzt erreichten Höhe geführt worden.
So gewiſſenhaft wir uns aber von jeder phantaſtiſchen
Ueberſchätzung der Ortſanſchauung fern halten, um ſo ent¬
ſchiedener dürfen wir auch die wirklichen Vortheile derſelben
anerkennen und der Gunſt der Verhältniſſe dankbar gedenken,
durch welche es jetzt auch uns Deutſchen immer leichter ge¬
macht wird, auf dem klaſſiſchen Boden einheimiſch zu werden.
Es iſt zunächſt ein Genuß der edelſten Art, dadurch zu einem
lebendigeren Verſtändniſſe der alten Geſchichte in ihren ein¬
zelnen Zügen ſo wie in ihrer ganzen Entwickelung zu gelangen.
Die alten Namen, ſeit der Kinderzeit Allen bekannt, hören auf
ein bloßer Klang zu ſein; man hat die Form der Berge, die
Lage der Städte, das Ufer der Flüſſe vor Augen. Man ver¬
gegenwärtigt ſich die Wanderungen der Stämme, wenn man
die gaſtlich geöffneten Golfe von Argos und Attica anſchaut;
man ſieht von den Höhen Cumae's und Tauromeniumus aus
die erſten Anſiedler griechiſcher Zunge an den weſtlichen Ge¬
ſtaden landen und begreift unter dem Himmel Siciliens und
Campaniens die eigenthümliche Entwickelung, welche die griechi¬
ſchen Colonien im Gegenſatze zum Mutterlande genommen
haben. Man ſieht im Golfe von Salamis das Gedränge der
Schiffe mit allen Einzelheiten des Kampfes vor Augen, man
theilt die Angſt der Athener, wenn man das nahe Dekeleia
ſich von den Truppen des Agis beſetzt denkt. Es behält auch
für Athen Goethe's Wort ſeine Wahrheit. »Wer den Dichter
will verſtehn, mußt in Dichters Lande gehn,« wenn nämlich
die erhöhte Freude, mit welcher man in den Olivengärten des
Kolonos ſeinen Sophokles lieſt, auch ein innigeres Verſtänd¬
niß ſeines Geiſtes hervorruft und wenn man an der heiligen
Bucht von Eleuſis ſich die Einflüſſe vergegenwärtigt, unter
denen Aeſchylos' Geiſt heranreifte. Man empfängt ja von der
[26]Das alte und neue Griechenland. eigenthümlichen Schönheit der Landſchaft, von Himmel und
Meeresbucht dieſelben Eindrücke, welche ſich den Gemüthern
der großen Dichter einprägten, und wer ein Auge dafür hat,
der dankt ſeinem Schöpfer für den erſten attiſchen Sonnentag,
welcher in ſeine nordiſchen Bücherſtudien hineinleuchtet.
Man kann das Genußreiche ſolcher Eindrücke einräumen,
ohne denſelben eine höhere, wiſſenſchaftliche Wichtigkeit zuzu¬
ſchreiben. Für den Einzelnen haben ſie gewiß eine ſolche,
und die lebendige Aneignung hiſtoriſcher Thatſachen, wie ſie
ihm dadurch gelingt, wird auch der Wiſſenſchaft ſelbſt zu gute
kommen, abgeſehen davon, daß bei vielen geſchichtlichen Vor¬
gängen, wie dies nicht weiter erörtert zu werden braucht, die
genaue Ortskenntniß nicht bloß zur Veranſchaulichung, ſondern
auch zum Verſtändniſſe unentbehrlich iſt. Was nun aber nur
auf klaſſiſchem Boden in vollem Maße kennen gelernt und
durch keinerlei Hülfsmittel erſetzt werden kann, das ſind die
Monumente des Alterthums, die ſich als lebendige Zeugen alter
Tüchtigkeit an Ort und Stelle erhalten haben. Was in den
Muſeen an Bildwerken vereinigt iſt, das ſind meiſtens Parade¬
ſtücke ſpäterer Zeit, glänzende Schauwerke aus verſchiedenen
Epochen in bunter Reihe und fremdartiger Umgebung will¬
kürlich zuſammengeſtellt, wo eins den Eindruck des andern
ſtört, ſo daß der Beſchauer kaum zu der Sammlung des Geiſtes,
die jedes Kunſtwerk verlangt, und noch weniger zu einem
rechten Verſtändniſſe gelangen kann. Hier ſtehen die Denk¬
mäler auf heimathlichem Boden, in ihren urſprünglichen Grup¬
pen bei einander, durch zerſtörende Barbarei beſchädigt und
geſchändet, alles Schmucks entkleidet, nur nackte und unvoll¬
ſtändige Gerippe, aber dennoch in ihren Hauptformen klar
und verſtändlich, weil Alles ſolider Steinbau iſt und bei dem
organiſchen Zuſammenhange aller Theile ein Glied das andere
erklärt, ſo daß das Lückenhafte in gleicher Weiſe ergänzt
werden kann, wie der Naturforſcher aus einzelnen Gliedern
den geſammten Bau eines Körpers mit voller Sicherheit her¬
ſtellen kann.
Für das Studium der alten Monumente giebt es aber
[27]Das alte und neue Griechenland. keinen zweiten Ort wie die Burg von Athen. Hier ſtehen ſie
auf der ſcharf umgränzten Hochfläche überſichtlich neben ein¬
ander, öffentliche Bauwerke ſehr verſchiedener Art, aber den¬
noch alle zuſammengehörig, alle bezüglich auf den Dienſt der
Göttin, die, mit Poſeidon vereint, an heiligſter Stätte verehrt
wurde; alles Werke einer Stadt, deren Geſchichte die bedeu¬
tungsvollſte und uns bekannteſte des Alterthums iſt, Werke,
die von den Griechen ſelbſt als die höchſten Leiſtungen natio¬
naler Kunſt angeſehen wurden und welche durch zahlreiche in¬
ſchriftliche Urkunden beleuchtet werden. Dieſe Werke ſind ſeit
hundert Jahren durch Zeichnungen und Beſchreibungen be¬
kannt; ſie ſind ſeitdem wiederholt gemeſſen und beurtheilt
worden und nichts deſtoweniger auch heute noch ein uner¬
ſchöpfter Gegenſtand der Forſchung. So oft man zu ihnen
hinaufſteigt, drängen ſich neue Eindrücke, neue Wahrnehmungen
auf. Der erſte Eindruck kann kein anderer ſein als der einer
tiefen Wehmuth. Wo mit unendlichem Aufwande von Fleiß
und Arbeit und Mitteln jeglicher Art das Vollkommenſte vereinigt
war, was Menſchenhände jemals geſchaffen, ſieht man ein
wüſtes Trümmerfeld, einen Schauplatz grauenhafter Verwüſt¬
ung. Erſt wenn ſich das Auge daran gewöhnt hat, iſt es
möglich, an dem, was von Hallen, Gebälk und Giebel erhalten
iſt, mit frohem Erſtaunen hinauf zu blicken; man freut ſich
der großen Gedanken, welche die Gründer ſolcher Werke beſeelt
haben, der Würde und Kraft, die in jeder ſtämmigen Marmor¬
ſäule ſich ausſpricht, des unnachahmlichen Fleißes in der
Fügung der Steine, der bewundernswürdigen Treue im Kleinen,
auch an ſolchen Stellen, welche einſt dem Auge ganz entzogen
waren. Aber je länger wir verweilen, um uns auf dieſem
geweihten Raume einheimiſch zu machen, je mehr wir das
Weſen der Sache zu erfaſſen ſuchen, um ſo mehr Fragen
drängen ſich auf.
Lange hat man die Tempel ſehr äußerlich betrachtet und
iſt bei der Form ſtehen geblieben, indem man alle umſäulten
Gebäude für einerlei Bauwerke anſah. Tiefere Forſchung
hat hier unterſcheiden gelehrt und es hat eine Betrachtung
[28]Das alte und neue Griechenland.begonnen, die man füglich derjenigen vergleichen kann, welche
in Betreff natürlicher Organismen die phyſiologiſche genannt
wird, d. h. eine Betrachtung, welche ſich nicht begnügt, die
einzelnen Bauglieder zu meſſen, zu benennen und zu beſchreiben,
ſondern die Funktionen der einzelnen Glieder; die Beſtimmung
der verſchiedenen Räumlichkeiten und ihre Benutzung zu reli¬
giöſen und ſtaatlichen Zwecken erforſcht. Dadurch ſind eine
Menge neuer Geſichtspunkte hervorgetreten; nun ſtellt man
ganz andere Fragen an die erhaltenen Monumente und erhält
neue Antworten und Aufſchlüſſe. Erſchwert ſind dieſe For¬
ſchungen dadurch, daß die Gebäude der Akropolis nicht bloß
durch Exploſionen und Erderſchütterungen gelitten haben, ſon¬
dern auch dadurch, daß ſie bei Einführung des Chriſtenthums
auf die allergewaltſamſte Weiſe umgeſtaltet worden ſind. Aber
dennoch finden ſich noch heute auf dem ſo vielfach mißhandelten
Fußboden des Parthenon in ſchwachen und allmählich ver¬
löſchenden, aber jetzt noch unverkennbaren Linien die Spuren
der alten Säulenhallen im Innern der Cella; es finden ſich die
Spuren der Querwände, der alten Schwellen und Thüröff¬
nungen, welche für die Kenntniß der urſprünglichen Raumein¬
theilung ſo wichtig ſind. Draußen an den Säulenhallen ſieht
man die Spuren der Vergitterung, welche zur Aufbewahrung
des Staatsſchatzes nöthig war, und ſelbſt die vorperikleiſchen
Bauwerke können in zahlreichen Bruchſtücken erkannt und ge¬
würdigt werden. So manches Räthſelhafte alſo auch im Ein¬
zelnen noch übrig bleiben mag, indem man entweder That¬
ſachen wahrnimmt, die man nicht zu erklären vermag, oder
über gewiſſe Theile, der Gebäude unter den Trümmern ver¬
geblich nach Auskunft gebenden Ueberreſten ſucht, ſo haben
doch die neueſten Unterſuchungen von Neuem gezeigt, wie un¬
erſchöpflich die Fundgrube von Belehrung iſt, welche das
Trümmerfeld der Akropolis darbietet.
Dann, von den großen Monumenten abgeſehen, die Fülle
kleiner Denkmäler, von denen nur auf dem Boden des Alter¬
thums ein Ueberblick zu gewinnen iſt. Es ſind unſcheinbare
Arbeiten, an Kunſtwerth unbedeutend und doch für die leben¬
[29]Das alte und neue Griechenland. dige Kenntniß der alten Welt oft viel bedeutſamer als die
bewundertſten Prachtſtücke europäiſcher Muſeen. Ich meine
namentlich die Fülle, von Reliefbildern, Gelegenheitsarbeiten
attiſcher Handwerker, die gewohnheitsmäßig nach herkömm¬
licher Weiſe verfertigt wurden. In ihnen ſpiegelt ſich am
Treuſten die Sitte des Landes; ſie zeigen uns den Menſchen
am Anſchaulichſten im täglichen Verkehre mit ſeinen Göttern,
in den Nöthen und Freuden ſeines Lebens. Dahin gehören
die zahlloſen Weihetafeln, bei den verſchiedenſten Gelegenheiten
unter prieſterlicher Autorität den Göttern dargebracht, und die
vielen Denkmäler aus den öffentlichen Gymnaſien; darunter
ganze Reihen von Standbildern, aus denen man den Athenern
eine neue Hermenſtraße aufbauen könnte, mit Porträtköpfen
und Unterſchriften, welche uns eine große Zahl hervorragen¬
der Perſönlichkeiten der Stadt kennen lehren, wie denn über¬
haupt an Schriftſteinen eine ſolche Fülle, namentlich in Athen,
zu Tage gekommen iſt, daß der Schriftgebrauch in allen Formen
aufs Genaueſte zu verfolgen iſt, von der ſorgfältigſten Ein¬
meißelung bis zum flüchtigen Schreiben mit einer dinten¬
artigen Farbe. Dahin gehören ferner die lebensvollen Dar¬
ſtellungen aus den ſtädtiſchen Paläſtern, die Gruppen der in
voller Uebung begriffenen Jünglinge zu Fuß und zu Roß,
die vielen und höchſt mannigfaltigen Denkmäler von Siegern
in den öffentlichen Wettkämpfen, die Poſtamente geweihter
Dreifüße; dann die vielen auf den Cultus bezüglichen Dar¬
ſtellungen, namentlich die zahlreichen Nymphenreliefs, die uns
recht anſchaulich machen, wie volksthümlich gerade dieſer Cultus
in Attica war. Endlich die unabſehliche Fülle von Grabreliefs,
welche in den Muſeen auch nicht in den vornehmeren Kreis
der Antiken zugelaſſen zu werden pflegen, und doch zeigen ſie
uns gerade die Helenen von einer Seite, von welcher wir ſie
am Wenigſten zu kennen und anzuerkennen pflegen, nämlich
von Seiten ihrer tiefen Gemüthlichkeit und ihres zarten Sinns
für Familienglück und eheliche Treue. Denn diejenigen, welche
ſo ſchlicht, ſo warm und wahr empfundene Familienbilder
darzuſtellen wußten und dargeſtellt zu ſehen liebten, die hatten
[30]Das alte und neue Griechenland. wahrlich ein lebendige Empfänglichkeit für das Glück der
Häuslichkeit und den Segen gegenſeitiger Liebe. In allen
dieſen Gattungen iſt eine Fülle von Denkmälern vorhanden,
welcher auch die eifrigſte Veröffentlichung nicht nachzukommen
im Stande iſt. Nur auf klaſſiſchem Boden kann man ſich
dieſer reichen Anſchauung und Anregung in vollem Maße er¬
freuen.
Trotzdem klagt man freilich, wenn man des urſprüng¬
lichen Reichthums gedenkt, über die Maſſe des Verſchwundenen.
Wie tief verſchüttet iſt der Boden, auf dem die Alten wandelten,
wie ſehr zum Nachtheile der Wiſſenſchaft die neue Stadt auf
die alte gebaut! Indeſſen haben auch hier unſere eigenen
Erfahrungen recht deutlich gezeigt, daß man doch auch in
Athen nicht darauf beſchränkt ſei, die zufällig ſichtbaren Spuren
und Ueberreſte der alten Welt aufzuſuchen. Man durchbohrt
die Schuttdecke, welche auf dem Boden der Hellenen lagert,
und es öffnen ſich neue Quellen der Erkenntniß und ein Ein¬
blick in die verſunkene Welt iſt geſtattet. So fanden wir
ſtaunend in dem mehrfach und vergeblich durchſuchten Raume
des dionyſiſchen Theaters, als unter einer 20 Fuß hohen
Schuttlage, nicht nur die wohlerhaltenen Stufen, auf denen
die Athener den Tragödien ihres Aeſchylos zuſahen, und die
Treppenſtufen, die zwiſchen jenen hinaufführten, zum Vorſchein
kamen, ſondern auch die marmornen Ehrenſeſſel am unteren
Rande des Zuſchauerraumes, in verſchiedenen Reihen wohl¬
erhalten neben einander, als wenn ſie noch geſtern benutzt
worden wären. Auch würde, wenn die Würdenträger der
Stadt heute wiederkehrten, kein Rangſtreit um die Ehrenſitze
zu befürchten ſein, denn an jedem Seſſel ſteht die Würde des
Staatsbeamten oder Prieſters deutlich aufgeſchrieben, der zu
dem beſtimmten Sitze berechtigt iſt. Der Sitz des Dionyſos¬
prieſters iſt mit reichem Relief vor allen ausgezeichnet. Wie
anſchaulich wird uns jetzt der Scherz des Ariſtophanes, wenn
er den geängſteten Dionyſos auf der Bühne vortreten und
bei ſeinem Prieſter Schutz ſuchen läßt! Das ſind Entdeckungen
wie in Pompeji und Herculanum, nur um ſo wichtiger, als
[31]Das alte und neue Griechenland.Athen an geſchichtlicher Bedeutung die Städte am Veſuv
übertrifft.
Auch an einem zweiten Orte hat man den Boden befragt
und nicht umſonſt. Es ſchwebte nämlich eine für den Hiſtoriker
und Philologen peinliche Ungewißheit über die Lage des Orts,
wo ſich die Athener ſeit älteſten Zeiten als Bürgerſchaft ver¬
ſammelten. Mir ſchien längſt die gewöhnliche Annahme un¬
haltbar, aber ſie hatte fanatiſche Anhänger und es galt den
Verſuch, ſtatt auf der Oberfläche des heutigen Bodens Jahr
aus Jahr ein fortzudisputiren, auf dem des urſprünglichen eine
entſcheidende Antwort zu finden. Sie iſt erfolgt und dadurch
über die eigentliche Bedeutung der älteſten und ehrwürdigſten
Bauanlage Athens eine unzweifelhafte Aufklärung gewonnen.
Durch ſolche Arbeiten iſt es möglich, auf dem Boden der
alten Wohnplätze heimiſch zu werden und dieſelben auf wiſſen¬
ſchaftlichem Wege wieder herzuſtellen. Verſuche dieſer Art
mögen dem Laien mißlich, ja abenteuerlich vorkommen, und
er mag lächelnd darauf hinweiſen, welchen Erfolg es haben
könnte, wenn Einer nach Jahrtauſenden eine Stadt der gegen¬
wärtigen Welt aus unſcheinbaren und vereinzelten Bautrüm¬
mern wieder reconſtruiren wollte. Indeſſen iſt es bei den
Städten der Griechen doch anders; ſie haben in ihren felſigen
Wohnplätzen ſich alſo eingerichtet, daß dieſelben in vollem
Maße zu Denkmälern ihrer Exiſtenz geworden und die
Spuren derſelben unverkennbar ſind; der Boden wird alſo un¬
mittelbar zu einer Quelle hiſtoriſcher Erkenntniß, zu einer
Urkunde der Geſchichte. Können wir nicht — um auch hier
von der wichtigſten aller Stätten des Alterthums zu reden —,
wenn wir den Boden Athens durchwandern, der ganzen Ent¬
wickelung der Stadt, der ganzen Bewegung ihrer Geſchichte
in den Hauptſtufen Schritt für Schritt folgen? Und zwar
ſind auch hier, wie an ſo vielen Orten, die älteſten Zeiten
die am Deutlichſten bezeugten. Wir ſehen die Spuren zahl¬
loſer Felswohnungen, welche, von Ciſternen, Treppen, Terraſ¬
ſen, Altären, Gräbern umringt, die ſüdlichen und ſüdweſtlichen
Abhänge der Hügel Athens bedecken, mit freiem Blicke auf
[32]Das alte und neue Griechenland. die See, deren friſchen Anhauch man hier genoß. Hier ſaßen
die alten Kranaer mit ihrem Boden gleichſam verwachſen,
eng zuſammengeſchaart in knapp gemeſſenen Wohnräumen,
deren Maßſtab Einem wieder vor Augen tritt, wenn man die
Straßen von Pompeji durchwandert und durch die offenen
Hausthüren in die beſcheidenen Stuben eintritt. Die Quelle
am Iliſſos ſetzte dieſe älteſte Bevölkerung mit dem oberen
Lande in Verbindung; uralte Altarplätze vereinigten an den
Feſttagen die Bewohner des Küſten- und des Binnenlandes,
lange ehe die Götter bildlich verehrt und ihre Tempel auf
der Burghöhe errichtet waren. Dann wurde beim Fortſchritte
ſtädtiſcher Entwickelung die Burg der religiöſe und politiſche
Mittelpunkt der noch immer ſeewärts gerichteten Stadt, bis
nach dem Sturze der alten Geſchlechterherrſchaft eine neue
Epoche damit eintrat, daß der Markt und mit ihm der Schwer¬
punkt des ſtädtiſchen Lebens nach Norden verlegt wurde, von
den rauhen Felshöhen in die bequemere Niederung, aus dem
Adelsquartiere nach dem Sitze bürgerlicher Induſtrie. Die
Zeit der Kämpfe verlangt eine neue Organiſation. Alt- und
Neu-Athen wird zu einer großen Feſtung vereinigt und The¬
miſtokles, der aus ſeiner Wohnung in Melite von früh an
die ganze Stadtlage überblicken konnte, ſchafft dies bewunderns¬
würdige Mauerſyſtem, eines der denkwürdigſten und folgen¬
reichſten Menſchenwerke. Die Hügelrücken, die ſich von Natur
ſchon gleichſam verlangend zum Meeresrande vorſchieben,
werden die Träger der Mauerarme, welche die Häfen in die
ſtädtiſche Befeſtigung hereinziehen. Die zur Seebeherrſcherin
gemachte Stadt wird dann durch die Prachtbauten des Pheidias
gekrönt. So weit die Entwickelung der Stadt aus eigner
Kraft und einheimiſchen Mitteln. Dann lebt ſie von der
Gunſt philhelleniſcher Fürſten, die ſich nicht beſſer ehren zu
können glauben, als wenn ſie Athen ſchmücken, der Ptolemäer,
Attaliden, Seleuciden, endlich der römiſchen Weltherrſcher.
Die Moſaikböden des Hadrianiſchen Neu-Athen, das ſich wie¬
der zur Kalirrhoe, der alten Nährerin der Stadt, hinabzog,
ſind gerade in den letzten Wochen aus dem Schutte hervor¬
[33]Das alte und neue Griechenland.gezogen. Es giebt keine Epoche der Stadt, welche nicht in
Denkmälern bezeugt wäre, und ſind die Werke ſelbſt ver¬
ſchwunden, ſo ſind, wie bei manchen Theilen der Stadtmauern,
wenigſtens die zur Aufnahme der Steinquadern gemachten
Ebnungen und Einſchnitte des Felſens ſichtbar, ähnlich den
Fußſpuren, welche untergegangene Thiergeſchlechter der Ober¬
fläche des Bodens eingedrückt und als einzige Zeugen ihres
Daſeins zurückgelaſſen haben.
Wer begreift nicht die Freude jeder gelungenen Wande¬
rung, die Genugthuung, welche nach langem Suchen in Staub
und Sonnengluth die kleinſte Entdeckung gewährt! Dazu
kommen die zahlreichen Spuren alter Fuß- und Fahrwege,
welche uns die Bewegung des täglichen Lebens deutlich machen,
die wie Kunſtwerke anzuſchauenden Hafenanlagen mit den
genau zu meſſenden Schiffshäuſern, die Quellgebäude und die
im Felſen gehauenen Kanäle, in denen noch heute das Ge¬
birgswaſſer in vollen Strömen unter den Gaſſen der Stadt
hinrauſcht, die heimlichen Grotten, im Felſen ausgehöhlt, mit
ihren Vorplätzen, Stufen und zahlreichen Niſchen, in denen
die Weihgeſchenke aufgeſtellt waren, die ehrwürdigen Inſchriften,
die an alter Stelle dem gewachſenen Felsboden eingegraben
ſtehn, als ſollten ſie für ewige Zeiten den Platz der dort ver¬
ehrten Gottheit zueignen. Sie erkennen, in eine wie vielſeitige
und lebendige Berührung man mit dem Alterthume tritt, wie
lehrreich und erfreulich es iſt, in allen dieſen Anlagen den
Gedanken und Abſichten der Alten an Ort und Stelle forſchend
nachzugehen und wie allen Schwierigkeiten zum Trotze eine
hiſtoriſche Topographie doch auf ein allmähliches Gelingen
hoffen kann. Ja, die Schwierigkeit des Aufſpürens erhöht
den Reiz, während an einem Orte wie Pompeji das Intereſſe
dadurch abgeſtumpft wird, daß man hier Alles gar zu bequem
hat und ſich ohne viel Mühe ein Adreßbuch anlegen kann,
in welchem man Haus für Haus mit Namen und Stand des
Bewohners einträgt.
Endlich gehört zu dem, was auf klaſſiſchem Boden den
Philologen anzieht und beſchäftigt, die im Volke lebende
Curtius, Alterthum. 3[34]Das alte und neue Griechenland. Ueberlieferung aus den Zeiten der Alten. Tönen doch um
die Küſten des Mittelmeers ſchon die Sprachen uns entgegen,
wie ein fortklingendes Echo des Alterthums, des römiſchen
wie des griechiſchen! Wie vertraut klingen uns in Hellas die
alten Namen der Inſeln, Berge und Städte entgegen, wie
anregend iſt es, die in der Schule erlernten Vokabeln nun
praktiſch verwerthen und die todte Sprache als eine lebende
gebrauchen zu lernen! Aber auch hier iſt nicht bloß Genuß
und Reiz, ſondern es iſt von ſprachgeſchichtlichem Intereſſe,
der Ueberlieferung ſorgfältiger nachzugehen und ſich zu über¬
zeugen, wie in abgelegenen Bergwinkeln, in einzelnen Mund¬
arten und den Redeweiſen gewiſſer Stände, wie der Schiffer
und Hirten, echt helleniſche Ausdrücke, die man für längſt ver¬
ſchollen hielt, aus homeriſcher Zeit durch alle Jahrhunderte
ſich erhalten haben.
Aber nicht bloß in der Sprache, auch in der Sitte, im
Volksglauben, im Cultus — wie lebendig tritt uns nicht
überall die Ueberlieferung entgegen! Sie wird in einzelnen
Beziehungen, wie es auch in Italien geſchieht, von den Ein¬
heimiſchen überſchätzt, iſt aber im Ganzen ſo unverkennbar und
weit verzweigt, daß es eine der anziehendſten Aufgaben iſt,
ihr mit ſorgſamer Forſchung nachzugehen in den Gründungs¬
legenden der Kapellen, in den an die Heiligenbilder ſich an¬
ſchließenden Sagen, in den Formen der Weihung, den prieſter¬
lichen Symbolen und Religionsgebräuchen. So erinnern am
Charfreitag, wenn jede Gemeinde ihren Chriſtus beſtattet, die
Umzüge des Volkes lebhaft an die Trauerfeſte der Alten,
wenn ſie ihre dem Hades verfallenen Götter bejammerten.
Der Sarg iſt nach alter Sitte mit Roſen bedeckt. Mit Weih¬
rauchgefäßen ſitzen die Frauen vor den Thüren, an denen der
Zug mit gellenden Klageliedern vorüberzieht, während an den
Freudenfeſten der heutigen Kirche der die ganze Stadt erfül¬
lende Lichterglanz uns die Kerzen und Fackelfeſte des alten
Götterdienſtes in das Gedächtniß ruft.
Die Beobachtungen, welche ſich in ſolcher Fülle demjenigen
aufdrängen, welcher in den klaſſiſchen Ländern verweilt, gehen
[35]Das alte und neue Griechenland.über die beſonderen Intereſſen der Alterthumswiſſenſchaft
weit hinaus, ſie haben ein allgemein geſchichtliches Intereſſe.
Namentlich wird man, ſo wie man in die Atmoſphäre jener
Länder eintritt, durch die eignen Eindrücke lebhaft angeregt,
ſich die Einflüſſe der klimatiſchen Verhältniſſe klar zu machen.
Wir Nordländer pflegen für den Süden zu ſchwärmen und
ſchon bei den Namen Neapel und Athen durchzuckt uns die Vor¬
ſtellung einer glücklicheren Exiſtenz. Und wer wird nicht auch,
wenn er die verſchiedenen Zonen vergleichen lernt, das Glück
des Südens d. h. namentlich der ins Mittelmeer geſtreckten
Halbinſelländer empfinden! Wer fühlt nicht, wie die Welt
des Lichts und der Wärme die normale Entwickelung der
Menſchen an Körper und Geiſt wohlthuend erleichtert, wie der
Menſch des Südens ſo vieler Mühſeligkeiten enthoben iſt, die
den Nordländer niederdrücken und abſtumpfen! Darum iſt
noch immer im Süden eine gewiſſe Intelligenz und Gewandt¬
heit des Geiſtes verbreiteter, als im Norden, und während bei
uns ſchon ein gewiſſer Grad von Wohlſtand erforderlich iſt,
um den Druck des Klimas nicht zu empfinden, iſt jenſeit
der Alpen ſorgenfreie Lebensfreude und frohes Selbſtgefühl
ein allgemeines Gut. Darum iſt auch die Kluft zwiſchen den
Ständen weniger groß und eine gewiſſe Gleichartigkeit der
Bildung leichter zu erreichen. Und dann, weil die Natur
nicht als feindliche Macht dem Menſchen gegenübertritt, lebt
er alle Jahreszeiten hindurch harmloſer und vertrauter mit
ihr, und das maßvoll Harmoniſche, das in ihrem Leben waltet,
in ihren Formen ſich ausſpricht, theilt ſich unwillkürlich auch
ſeinem Leben mit. Wer hat nicht im Süden den beruhigen¬
den Eindruck empfunden, welchen das friedliche Gleichmaß
einer langen Reihe milder Tage und Nächte, der erfreuende
Glanz eines heitern Himmels, die durchſichtige Klarheit einer
reinen Luft auf das Gemüth ausübt! In geheimnißvoller,
aber unverkennbarer Weiſe hat dies auch auf das Kunſtleben
der Alten eingewirkt, auf die klare und maßvolle Ruhe, welche
in ihrer Bau- und Bildkunſt waltet, ſowie auf den Rhythmus
ihrer Worte und Gedanken. Goethe wie Platen zeugen für
3 *[36]Das alte und neue Griechenland.einen ſolchen noch heute wirkſamen Einfluß des ſüdlichen
Himmels, und auch jüngere Dichter haben es erfahren, daß
man in den klaſſiſchen Ländern unwillkürlich zu rhythmiſchen
Maßen greift.
Aber dem Segen geht der Unſegen zur Seite. Die Leich¬
tigkeit des Lebens läßt die ſittliche Spannkraft nicht zu voller
Entwickelung kommen und aller Himmelsgunſt zum Trotz ſind
die ſchönſten Mittelmeerländer weit hinter den Ländern zurück¬
geblieben, von denen man zuweilen glauben möchte, daß ſie
nur mißbräuchlich oder aus Mangel an beſſerem Platz von
Menſchenkindern bewohnt werden. Einem Gifte gleich hat
des Südens Sonne am Mark der Nordländer gezehrt, die
ſich von ihrem Reize haben feſſeln laſſen und das Sprichwort
bewähren, daß man nicht ungeſtraft unter Palmen wandle.
Auch Einheimiſchen, die im Norden gelebt, erſcheint es un¬
möglich, im Vaterlande ihr arbeitſames Leben fortzuſetzen.
Man iſt faſt dahin gekommen, anzunehmen, daß einem Natur¬
geſetze zu Folge dem Südländer keine ſolche Energie des
geiſtigen Lebens zuzumuthen und von den ſüdlichen Staaten
keine volle und ſelbſtändige Entwickelung bürgerlicher Ordnung
und ſolider Rechtsverhältniſſe zu erwarten ſei, daß die Wiſſen¬
ſchaft mit ihren höchſten Anforderungen, daß die Religion in
ihrer einfachen Wahrheit und ihrem ſittlichen Ernſte dort keinen
Boden finde.
Wenn wir ſolche Beobachtungen machen, wie groß er¬
ſcheinen uns dann die Alten, welche alle Vortheile des Südens
zu verwerthen wußten, ohne den Nachtheilen zu erliegen! Es
wird ſo viel vom Cultus der Schönheit bei den Alten geredet
und die äſthetiſche Seite des Griechenthums über die Maßen
betont. Das wahrhaft Bewunderungswürdige — das iſt die
Energie und Conſequenz in Allem, was die Hellenen der guten
Zeit gemacht haben, die reſolute Durchführung ihrer Lebens¬
aufgaben in Staat, Wiſſenſchaft und Kunſt, die Klarheit der
Gedanken, der volle und wahre Ausdruck derſelben in ihren
Werken und die unerreichte Tüchtigkeit auch in den geringſten
Leiſtungen. Wie ſehr beſchämen ſie dadurch auch unſere Zeit,
[37]Das alte und neue Griechenland.die mit ihrer Cultur ſo groß thut! Die griechiſchen Werk¬
meiſter würden noch heute auf jeder Weltausſtellung ihre
vollen Preiſe gewinnen, und wenn das glänzende Neapel von
dem Schickſale Pompeji's betroffen würde, ſo wäre die Ver¬
ſchüttung des Muſeums der größte Verluſt, und man hätte
nichts Wichtigeres zu thun, als die geretteten Meiſterwerke
alter Kunſt und Induſtrie zum zweiten Male aus der Aſche
zu holen.
Wie man alſo nur auf klaſſiſchem Boden die alte Welt
in ihrer vollen Realität kennen zu lernen und zu würdigen im
Stande iſt, und zwar nach ihren örtlichen Verſchiedenheiten
(denn wie verſchieden zeigt ſich auch in den Stadtruinen und
Kunſtreſten das Griechenthum Attica's, Siciliens und Cam¬
paniens!) — ſo auch den Gegenſatz der alten und neuen Welt.
Die weltgeſchichtlichen Momente des erbitterten Kampfes treten
uns lebendig entgegen. Sämmtliche Alterthümer Athens zeugen
davon, wie mit wahnſinnigem Fanatismus alle Bildwerke,
auch die harmloſeſten Grabreliefs, wie Teufelswerk betrachtet
und verſtümmelt worden ſind, als wenn die Vernichtung ihrer
Schönheit ein Gottesdienſt wäre. Man ſieht, mit welcher
Mühe die Felsaltäre zerſchlagen worden ſind, und erkennt
daran, daß dieſe älteſten Stätten eines bildloſen Cultus bis
zuletzt mit beſonderem Eifer gepflegt worden ſind. Und den¬
noch konnte das Gefühl einer gewiſſen Anhänglichkeit und
Ehrerbietung nicht ganz zurückgedrängt werden; dennoch zog
ſich der neue Gottesdienſt an die Stätten des alten. Jede
Kapelle iſt ein Fingerzeig für die Statiſtik des alten Cultus;
Feſte und Gebräuche aller Art ſind in die neue Zeit herüber¬
genommen und ſelbſt von Bildwerken ſuchte man nun die
Bruchſtücke zuſammen, um ſie, wie es noch heute geſchieht,
an Kapellen und Wohnungen als Schmuck einzufügen und ſo
dem völligen Untergange zu entziehen.
Und nun das jetzige Volk. Nimmt es nicht auch ein
allgemeines Intereſſe in Anſpruch? Der neue Eintritt des
Griechenvolks in die Geſchichte und das Wiederaufleben ſeiner
alten Sprache — das ſind Thatſachen, wie ſie ſelten in der
[38]Das neue und alte Griechenland. Geſchichte vorkommen, Thatſachen, die erſt allmählich ganz
beurtheilt werden können. Wer nach längerer Zeit Griechenland
wiederſieht, der erſtaunt, mit welchem Geſchicke auch die unteren
Schichten des Volks ein reineres Griechiſch ſich aneignen, und
dieſes Idiom breitet ſich auch in den nicht griechiſchen Theilen
der Bevölkerung mächtig aus; Albaneſer und Wlachen gehen mehr
und mehr in die griechiſche Nationalität auf. Das zeugt für
ihre Lebenskraft. Aber jede ſtaatliche Entwickelung bedarf eines
zureichenden Materials und eines Raumes von angemeſſener
Größe und Begränzung. Hier iſt nur der willkürlich abgetrennte
Bruchtheil einer Nation, dem alle Erforderniſſe zu einem ſelbſt¬
ſtändigen Gedeihen fehlen. Dem kleinen Volke mangelt es
nicht an Rührigkeit und hohen Zielen. Man bereitet ſich vor,
ſchon jetzt einen geiſtigen Mittelpunkt für die Küſtenſtämme
griechiſcher Zunge zu bilden; die Univerſität Athen hat ſchon
eine centrale Bedeutung und ihre Zöglinge ſind die Träger
der nationalen Hoffnungen in Theſſalien, in Macedonien, auf
den ioniſchen Inſeln, in Kreta und Klein-Aſien. Aber die
Zuſtände einer völligen Unzufriedenheit mit der Gegenwart
und eines ausſichtsloſen Harrens auf beſſere Tage ſind natür¬
lich wenig geeignet, die ruhige Entwickelung des Staats,
welcher der Kern des Zukunftſtaats ſein ſoll, zu fördern. In
fruchtloſer Gährung zehren ſich die Kräfte auf, während die
einzig ſichern Grundlagen des nationalen Wohlſtandes verab¬
ſäumt bleiben. Auf allen Gebieten höherer Intelligenz wer¬
den Fortſchritte gemacht, welche der Bildungsfähigkeit des
Volks das glänzendſte Zeugniß geben, aber die Bildung be¬
ſteht vorzugsweiſe in Aneignung ausländiſcher Cultur, die aus
den verſchiedenen Ländern Europa's zuſtrömt und zu einer
nationalen Volksbildung ſich nicht leicht verſchmelzen wird.
Auch der Zuſtand der Landesſprache iſt ein künſtlicher und
unſicherer. Man hat es aufgegeben, die Vulgärſprache als
Sprachidiom feſtzuhalten, man ſucht der alten Sprache näher
und näher zu kommen. Aber je mehr dies geſchieht, um ſo
mehr fallen die noch geduldeten Ueberreſte einer verdorbenen
Sprache auf. Wo iſt da die Gränze? Einſtweilen ſucht ſich jeder
[39]Das alte und neue Griechenland.Schriftſteller zwiſchen Altem und Neuem ſeinen eignen Weg,
und ſo viel Talent ſich darin auch offenbart, ſo iſt die künſt¬
liche Haltung des Neugriechiſchen doch für dieſe Entwickelung
einer nationalen Litteratur in hohem Grade hemmend; es fehlt
ihr die friſche Unmittelbarkeit einer im Volke erwachſenen
Sprache, wie ſie doch allein im Stande iſt, das Organ na¬
tionaler Dichtung und Rede zu ſein.
So hat die Wiedergeburt des griechiſchen Volks mit
vielen und eigenthümlichen Schwierigkeiten innerer und äußerer
Art zu kämpfen. Eine glückliche Ueberwindung iſt nur dann
zu hoffen, wenn das Volk inne wird, daß es nicht vorwärts
kommen kann, wenn es ſeine beſte Kraft in Parteireibungen
zuſetzt und ſein höchſtes Intereſſe den Fragen einer unſtäten
Tagespolitik zuwendet. Es kann von den großen Zielen, die
dem Volke vorſchweben, nichts gelingen, wenn es ſich nicht
mit vollem Ernſte von Grund auf ſittlich und religiös erneuert,
durch ſtrenge Zucht in Schule und Haus eine arbeitſame und
pflichttreue Jugend erzieht und ſo allmählich den geſunden Kern
einer griechiſchen Nationalität bildet. Denn man kann es
den heutigen Bewohnern der klaſſiſchen Länder nicht ernſthaft
genug vorſtellen, daß es eine arge Täuſchung ſei, wenn Völker,
welche durch Elend und Schmach aller Art Jahrhunderte lang
geſunken ſind, auf einmal durch ein haſtiges Greifen nach
äußeren Formen und modernen Staatseinrichtungen ohne
innere Erneuerung und ſittliche Wiedergeburt hohe nationale
Ziele erreichen zu können glauben.
Wer als Freund des Alterthums nach Hellas kommt, wie
ängſtlich verſchließt er ſein Ohr dem unheimlichen Parteige¬
zänke der Gegenwart! Ernſt und ſchweigſam wandelt er über
die Stätten der alten Geſchichte; es iſt, als fürchte er durch
loſe Rede die Geiſter derer zu verletzen, die hier einſt ſo
Großes gedacht und geſchaffen haben. Ein tiefer Ernſt liegt
über Land und Meer ausgegoſſen, und, wenn das Sonnenlicht
erloſchen iſt, ſo blicken uns die grauen Felsberge von Attica
wie entſeelte Geſtalten an, deren Wiedererweckung zu neuem
Leben nur durch ein Wunder gelingen könne. Der Gang der
[40]Das alte und neue Griechenland.Völkergeſchichte tritt Einem lebendig entgegen, und wie Sul¬
picius einſt ſeinem gebeugten Freunde Cicero ſchrieb, daß er
auf ſeiner Fahrt durch den ſaroniſchen Golf bei dem Anblicke
ſo vieler Plätze alten Ruhmes, die nun wie Leichen da lägen,
erkannt habe, wie thöricht es doch ſei, wenn der einzelne
Menſch um ſein Mißgeſchick verzweifle und den Göttern grolle:
ſo vergeſſen auch wir an ſolchen Plätzen das Kleine und
Eigene und denken den Gerichten Gottes nach, welche hier an
den Völkern vollzogen ſind. An denſelben Stätten wird man
aber auch deſſen inne, was an menſchlichen Werken unvergäng¬
lich iſt. Denn die Marmorſäulen, unter denen wir ſtehen, ſind
die Zeugen einer Zeit, wo alle edlen Triebe, die der Menſchen¬
ſeele eingepflanzt ſind, kräftig entfaltet waren, wo die Ein¬
zelnen im Ganzen lebten, als Glieder einer Gemeinde, welche
Alles an die Ehre des Vaterlandes ſetzte, wo die Wiſſenſchaft
nach ewiger Wahrheit rang und die Kunſt im Dienſte der
Götter ihre höchſten Ziele ſuchte.
Darum wird man auch auf klaſſiſchem Boden den Auf¬
gaben der Gegenwart nicht entfremdet. Man kehret heim mit
erfriſchter Kraft, mit geſtärkter Liebe zum wiſſenſchaftlichen
Berufe, mit erhöhter Liebe zum Vaterlande. Deutſche Wiſſen¬
ſchaft hat uns nach Athen geführt und ihre Fackel hat unſere
Wege auf griechiſchem Boden beleuchtet. Denn wir traten dort
in die Fußtapfen des Mannes, welcher von hier aus einſt
dieſelbe Pilgerfahrt unternahm. *)Dankbar haben wir in Athen
vereinigten Genoſſen die Grabſäule auf dem Kolonos bekränzt
und ſein Andenken ehrend zugleich uns ſelbſt gelobt, an unſerm
Theil die Ehre deutſcher Wiſſenſchaft unbefleckt zu erhalten
und die Liebe zu ihr in der deutſchen Jugend fortzupflanzen.
III.
Rom und die Deutſchen.
Sie haben mir ſchon einmal geſtattet, bei dem heutigen
Feſte an perſönlich Erlebtes anzuknüpfen und Eindrücke einer
Frühlingsreiſe für meine Junirede zu verwerthen. Ich nehme
es dankbar an, wenn Sie mir dies auch heute geſtatten, denn
wer könnte ohne tiefe Eindrücke, welche zur Mittheilung drän¬
gen, aus der Stadt heimkehren, die man nach menſchlichem
Maßſtabe die ewige nennt! Eine Reihe von Städten hat es
im Alterthum gegeben, welche Jahrhunderte lang Mittelpunkte
der Menſchengeſchichte geweſen ſind, Babel und Ninive, Suſa,
Tyrus und das hundertthorige Theben. Sie haben aber alle
ihre ſcharfgemeſſene Zeit gehabt; dann ſind ſie vom Erdboden
verſchwunden und ihre Stätte iſt von kommenden Geſchlechtern
gemieden worden. Rom aber — wie oft hat es verlaſſen
und zerſtört werden ſollen! Wie oft ſind ſeit dem Seufzer
des Scipio angſtvolle Ahnungen vom Ende ihrer Stadt durch
die Seele der Römer gezogen! Wie oft ſchien der jüngſte Tag
vorhanden zu ſein, an dem ſie den unterjochten Völkern Buße
zahlen ſollte! Aber ſie iſt immer eine Weltſtadt geblieben,
nach dem Untergange der Republik als Sitz der Cäſaren, nach
dem Sturze des heidniſchen Fürſtenſitzes als die Stätte der
Apoſtel- und Märtyrergräber, und auch nach dem Aufhören
päpſtlicher Weltherrſchaft iſt Rom bis auf den heutigen Tag
[42]Rom und die Deutſchen. für einen großen Theil der Chriſtenheit die geiſtliche Haupt¬
ſtadt geblieben, für alle Gebildeten aber ein Mittelpunkt geiſti¬
ger Intereſſen, eine hohe Schule für Wiſſenſchaft und Kunſt.
Die Menſchen lieben es, mit zäher Pietät an gewiſſen
Orten feſtzuhalten und den Begriff von Heiligkeit und Macht
unauflöslich mit ihrem Namen zu verbinden. Auch kann es
nicht befremden, wenn alle romaniſchen Völker an der Stadt
feſtgehalten haben, welcher ſie ihre Sprache und Cultur ver¬
danken; für ſie iſt Rom ja die gemeinſame Mutterſtadt. Aber
gerade die Deutſchen ſind es, welche von allen Nationen die
nächſten und wichtigſten Beziehungen zu Rom gehabt haben,
ſie, welche durch die mächtigſten Naturſchranken von Italien
getrennt leben, welche von den Bewohnern der Halbinſel in
Anlage und Sitte grundverſchieden ſind, welche ſie mehr als
alle anderen Völker gehaßt haben und von ihnen gehaßt wor¬
den ſind, — und dennoch haben ſie nie von einander laſſen
können, dennoch hat der Gedanke, daß Rom die Metropole
der Welt ſei, nirgends ſo tiefe Wurzel geſchlagen wie bei den
Deutſchen; kein Volk iſt mehr nach Rom gepilgert, hat mehr
um Rom geſtritten und gearbeitet, als das unſrige. Dieſe
Thatſache hat mich diesmal beſonders beſchäftigt, während
ich durch die Straßen Roms wandelte, und darum laſſen Sie
mich auch heute dem Gedanken nachgehen: Rom und die
Deutſchen.
Welch eine Fülle von Wechſelbeziehungen tritt uns hier
ſeit früheſter Zeit entgegen! Denn ſchon die erſte geſchichtliche
That der Deutſchen war ein Zug nach Italien. Zurückge¬
wieſen, weil ihre Zeit noch nicht gekommen war, lebten ſie
nach blutigem Kampfe als friedliche Nachbarn oder Bundes¬
genoſſen Roms und lernten die Herrlichkeit der Kaiſerſtadt,
den großartigen Staatsorganismus, die immer mehr ſich aus¬
gleichende Cultur der Reichsländer kennen und bewundern.
Aber auch ſie nöthigten den Römern Bewunderung ab. Rom
ahnte in ihnen die künftigen Träger der Weltherrſchaft und
erzitterte bei dem Gedanken, daß die Stämme dieſes willens¬
ſtarken und freiheitſtolzen Volks einmal ein einiges und damit
[43]Rom und die Deutſchen. auch unüberwindliches Volk werden könnten. Lange ſaßen ſie
ruhig an den Gränzen, ja ſie ſtellten Rom ihre Kräfte zur
Verfügung und trugen weſentlich dazu bei, den morſchen Reichs¬
bau aufrecht zu erhalten. So ging ganz allmählich und in
Rom ſelbſt die Wehrkraft und mit ihr die Macht des Staats
an die Deutſchen über, und ſie waren daher, als des Reichs Auf¬
rechterhaltung endlich unmöglich wurde, die berufenen Erben.
Ein deutſcher Heerführer nach dem andern griff nun nach
der Krone Italiens; von den Deutſchen hing es ab, ob Rom
nach ſeinen zwölf Jahrhunderten noch ferner fortbeſtehen ſollte
oder nicht. Die Gefahr war groß. Wie von einem Dämon,
ſagte Alarich, fühle er ſich immer von Neuem gegen Rom
getrieben, daß er die Stadt zerſtören ſolle, und die Chriſten
dachten nicht anders, als daß Rom ſo gut wie Ninive und
wie Jeruſalem durch Feuer vertilgt werden müſſe. Wie er
aber die Stadt in ſeiner Gewalt hatte, hielt eine wunderbare
Scheu den Arm des Gothenkönigs zurück; er konnte das Un¬
geheure nicht ausführen, denn die Vernichtung Roms ſchien
dem Weltuntergange gleich zu ſein.
Wenn die Schonung Roms bei den Weſtgothen die Folge
eines dunkeln Gefühls war, ſo war ſie bei Theodorich das
Ergebniß einer klaren und beſonnenen Politik. Er wollte nicht
als Barbarenkönig in die Stadt einziehen, ſondern als ein
römiſcher Imperator; in ihm finden wir den Sinn der Deut¬
ſchen für geſchichtliche Größe und ihre ehrerbietige Achtung
des Alterthums ſchon deutlich ausgeſprochen. Er liebt Rom,
er ſchützt es gegen die Barbaren wie gegen die Römer ſelbſt,
und in ſeinem Sinne fuhr ſeine Tochter Amalaſunta fort, an
der friedlichen Verſchmelzung der Deutſchen und Römer in
Rom zu arbeiten. Große Culturaufgaben wurden ſchon klar
erkannt und kräftig in Angriff genommen; aber die Gegenſätze
des Alten und Neuen waren zu unvermittelt; es bedurfte eines
neuen Bindemittels zwiſchen Rom und den Deutſchen und das
war die Kirche.
Das geſetzgebende Anſehen des römiſchen Bisthums be¬
ruhte weſentlich auf den deutſchen Stämmen und namentlich
[44]Rom und die Deutſchen. auf den Angelſachſen. Sie haben daſſelbe zuerſt in vollem
Maße anerkannt, ſie haben die ſtammverwandten Völker zu
gleicher Verehrung angeleitet, vornehmlich die Franken. So
kam es, daß die fränkiſchen Fürſten für das römiſche Bisthum
in Italien eintraten; von allen Nachbarn unabhängig, ſollte
Rom der freie Sitz kirchlicher Oberleitung ſein; aus der
Verbindung mit Byzanz gelöſt, wurde es durch Carl von
Neuem ein Mittelpunkt der Welt, das Haupt des Abendlan¬
des. Es war nicht mehr eine matte Fortſetzung des alten
Römerſtaats, ſondern eine Wiedergeburt deſſelben durch deut¬
ſchen Geiſt, eine neue Schöpfung, in welcher ſich die großen
Traditionen des Alterthums mit dem Chriſtenglauben und
der ihm dienſtbaren Volkskraft der Deutſchen verſchmelzen
ſollten, eine großartige, hoffnungsreiche Schöpfung, welche
die kriegsmüde Menſchheit beruhigen, verſöhnen und in fried¬
licher Gemeinſchaft ihren höchſten Bildungszielen entgegen¬
führen ſollte.
Als dieſe Ideen durch die Ottonen erneuert wurden, war
ihre Durchführung nicht mehr ſo leicht wie unter Carl dem
Großen. Der Widerſtand jenſeit der Alpen war gewachſen.
Aber die wachſenden Schwierigkeiten erhöhten nur den Eifer;
ſie ſteigerten ihn zu einer Art von Leidenſchaft, mit der man
die Stellung im fernen Rom für den wichtigſten Geſichtspunkt
deutſcher Politik anſah. Welche andere Nation würde ſolche
Opfer gebracht haben für eine idealiſtiſche Politik, deren Ziele
immer unklarer, deren Geſichtspunkte immer phantaſtiſcher
wurden? Unter dem dritten der Ottonen wurde die römiſche
Politik zu einem krankhaften Cultus, der mit Rom getrieben
wurde; der junge Sachſenfürſt hörte auf ein Deutſcher zu
ſein; ein ewiges Heimweh zog ihn nach dem Tiberſtrande,
und die univerſale Richtung, welche von jeher mit der römi¬
ſchen Politik verbunden war, wurde ſo weit getrieben, daß
nun auch griechiſche Sprache und Sitte am römiſch-deutſchen
Hofe Eingang fand, daß Byzanz, von deſſen Einflüſſen man
das Abendland glücklich befreit hatte, wieder zu einem Vor¬
bilde gemacht wurde; es war ein Zurückſinken zu jener unge¬
[45]Rom und die Deutſchen. ſunden Miſchung verſchiedenartiger Culturen, in welcher ſich
das abgelebte Cäſarenthum bewegt hatte.
So haben nach den Gothen die Franken und die Sachſen
um Rom geworben. Ihnen folgten die Salier wie die Stau¬
fen. Der König aus dem Luxemburger Hauſe erneuerte die
deutſche Hofburg auf dem Aventin, welche von den Ottonen
gegründet war, und in der Santa Sabina ſehen wir noch die
Grabſteine der deutſchen Ritter, welche, um Heinrich VII. ge¬
ſchaart, in wildem Straßenkampfe für die Idee des römiſchen
Reichs deutſcher Nation geblutet haben. Von Italien nicht
zu laſſen war eine heilige Tradition. Es war wie die Liebe
zu einer Zauberin, von deren Reizen umſtrickt man der Hei¬
math vergaß, eine Liebe ohne Gegenliebe. Denn auch den
Ghibellinen waren die Waffen der Deutſchen nur Mittel für
ihre Zwecke. Im Ganzen wurde das Kaiſerthum als Fremd¬
herrſchaft empfunden, und während die Deutſchen für Italien
ſchwärmten, war kein Deutſcher daſelbſt vor Gift ſicher.
Wir bewundern die unverwüſtliche Energie, mit welcher
unſre Fürſten und Völker, nicht aus Eroberungsgier, ſondern
im Dienſte einer großen Idee, um Rom gekämpft und an
Rom gearbeitet haben. Wir erkennen, wie in dieſen Kämpfen
die Volkskraft geſtählt, der Volksgeiſt gehoben worden iſt.
Aber die herrlichſten Siege riefen nur neue Schwierigkeiten
hervor, und die ganze von Carl dem Großen überkommene
Politik war eine in ſich unmögliche geworden. Der Kirche
Schutz ſollte dem weltlichen Fürſten eine Weihe geben, aber
die mächtig gewordene Kirche wollte nicht geſchützt und geleitet
ſein. Die beiden auf unverbrüchliche Gemeinſchaft angewieſe¬
nen Aemter an der Spitze der Chriſtenheit traten ſich als
unverſöhnliche Feinde gegenüber, und ſo wurde das, was der
Menſchheit eine Bürgſchaft des Friedens ſein ſollte, die Quelle
eines unaufhörlichen Kriegszuſtandes der Chriſtenwelt bis in
das vierzehnte Jahrhundert hinein. Zum Danke für Alles,
was die Kirche durch unſere Kaiſer geworden war, war Rom
der natürliche Verbündete aller antikaiſerlichen und antideut¬
ſchen Beſtrebungen; aus dem neutralen Boden außerhalb des
[46]Rom und die Deutſchen. Gebiets der einzelnen Nationalitäten war es der Herd aller
Beſtrebungen geworden, welche die ſelbſtändige Entwickelung
der chriſtlichen Völker zu hindern, ihre geiſtige und bürgerliche
Freiheit ihnen zu verkümmern ſuchen.
Und dennoch — wie ſchwer wurde es den Deutſchen ſich
von Rom loszumachen! Als Luther nach Rom kam, war er
römiſcher, als die Römer. Mit der Andacht des frömmſten
Pilgers begrüßte er die Kuppeln der dreimal heiligen Stadt,
verehrte alle Reliquien und glaubte in der Hauptſtadt des
Reiches Gottes Gott ſelbſt näher zu ſein. Auch ihm iſt es
nicht gelungen, das ganze Vaterland frei zu machen, und wenn
die Forderung: »Rom ſoll deutſch ſein!« auch lange aufge¬
geben iſt, ſo iſt doch die andere: »die Deutſchen ſollen römiſch
ſein!« noch keineswegs verklungen. Denn noch heute giebt
es bei uns eine Partei, deren wahre Heimath jenſeit der
Alpen liegt und welcher die Ehre des Vaterlandes gleichgültig
iſt gegen die Intereſſen römiſcher Prieſtermacht. Aber das
Volk hat ſich losgeſagt, und je feſter die Bande waren, welche
es mit Rom verknüpft gehalten hatten, um ſo mehr mußte
die Befreiung von Rom der Anbruch eines neuen Volkslebens
ſein, nicht nur auf dem kirchlichen Gebiete und in der ſtaat¬
lichen Entwickelung, ſondern auch in allgemeiner Bildung.
Auch in Kunſt und Wiſſenſchaft herrſchten die Italiäner;
ſie ſahen auf die Barbaren im grauen Norden mit vornehmem
Mitleide herab, und die Deutſchen ließen ſich dieſe Betrach¬
tungsweiſe in aller Demuth gefallen. Sie waren freilich voll
von unverdroſſenem Eifer, ſie hatten ſchon unter den Ottonen
die römiſche Kunſtwelt kennen gelernt und bildeten in der Hei¬
math römiſche Denkmäler nach, wie Biſchof Bernward in
Hildesheim; aber ſie blieben zurück und wurden von Neuem
weit überflügelt, als in Italien die große Bewegung der
Geiſter begann, nämlich die Wiederbelebung des Alterthums,
als Petrarca mit der Scholaſtik brach und die Idee einer aus
dem Alterthume genährten, freien menſchlichen Bildung mit
ſeinem feurigen Geiſte erfaßte. Dieſe Idee war der Keim
einer neuen Weltbildung, aber zunächſt konnte ſie nur in Ita¬
[47]Rom und die Deutſchen.lien gedeihen. Was die Transalpiner ſich erſt mühſam er¬
werben mußten, war ein natürlicher Beſitz der Italiäner, ein
ihnen zugefallenes Erbe. Die Sprache der Alten war ihnen
eine leicht verſtändliche, das Intereſſe für das Alterthum eine
Sache des Patriotismus. Die Erinnerungen des Alterthums
umgaben den Römer von Kindheit auf; bei natürlicher Ge¬
wandtheit und lebendigem Formſinne fand er ſich leicht in die
Dichter der Kaiſerzeit, verſtand ihre Eleganz und gewöhnte
ſich, ſie wie Zeit- und Volksgenoſſen zu leſen. Die Bildwerke
drängten ſich ihm auf als Schmuck ſeiner Wohnungen und
Paläſte; man mußte ſammeln, das Geſammelte ordnen und
zu verſtehen ſuchen. Man kam gleich in das Ganze hinein,
in einen großen Zuſammenhang ſchriftlicher und monumentaler
Ueberlieferung.
Freilich bezogen ſich dieſe Vorzüge der Italiäner nur auf
das römiſche Alterthum. Aber nun hatten ſie das Glück, daß
auch die griechiſchen Lehrer, aus Byzanz flüchtig, zuerſt zu
ihnen kamen, um ihnen die Schätze helleniſcher Weisheit mit¬
zubringen und zu entſiegeln. Nun waren ſie wieder, wie zur
Cäſarenzeit, im Beſitze des ganzen Vermächtniſſes des klaſſi¬
ſchen Alterthums; nur bei ihnen konnte man Einblick und
Eintritt in die Schatzkammer deſſelben gewinnen, und mit er¬
höhtem Stolze fühlte ſich Italien als das Haupt von Europa,
als den Lehrmeiſter aller Völker. Auch das Papſtthum, durch
die Wirren am Ende des Mittelalters in ſeinem Anſehn tief
erſchüttert, erkannte in dem Humanismus ein willkommenes
Mittel, neuen Glanz und Einfluß zu gewinnen Es ſuchte in
Anlage von Muſeen und Bibliotheken Florenz zu überbieten
und brachte es dahin, daß die römiſchen Biſchöfe als die be¬
rufenen Hüter aller Schätze des Alterthums angeſehen wurden,
ſo daß ſelbſt deutſche Fürſten die in deutſchen Fürſtenſitzen
erbeuteten Handſchriften in die Vaticana ſchickten.
Indeſſen haben ſich die Deutſchen nicht einſchüchtern laſſen.
Sie erkannten die Bedeutung des geiſtigen Aufſchwungs in
Italien; ſie bewunderten ihn, ſie kamen und lernten, aber ſie
ſchlugen bald ihre eigenen Wege ein und es bildete ſich ein
[48]Rom und die Deutſchen. entſchiedener Gegenſatz zwiſchen welſcher und deutſcher Wiſſen¬
ſchaft. Denn gerade weil die Deutſchen dem klaſſiſchen Alter¬
thume von Hauſe aus ſo viel fremder und unbeholfener gegen¬
über ſtanden, haben ſie um ſo mehr ihre ganze Kraft daran
geſetzt, um dieſe Nachtheile zu überwinden, und ſind deshalb,
anſtatt ſich in einer ſpielenden Nachahmung des Alterthums
zu gefallen, um ſo tiefer in den Kern deſſelben eingedrungen.
Sie konnten nicht daran denken, es in ſeinen äußeren Formen
künſtlich wieder herzuſtellen oder das Eigene für das Fremde
hinzugeben. Sie nahmen es wie einen Bildungsſtoff in ihr
Inneres auf, um an Erkenntniß zu wachſen. Während die
Italiäner genießen wollten und deshalb an den Texten der
Dichter wie an den Statuen die Schäden verſteckten, um nur
etwas Ganzes vor Augen zu haben, wurde der deutſche Fleiß
nicht müde, die Ueberlieferung zu prüfen und das Echte vom
Unechten zu ſcheiden. So hat ſich, wie auf dem kirchlichen
Gebiete, ſo auch in der Wiſſenſchaft der Norden vom Süden
frei gemacht, und der von Rom frei gewordene Geiſt iſt es
in Frankreich, in Holland, England und Deutſchland geweſen,
welcher die eigentliche Alterthumswiſſenſchaft gegründet hat.
Kaum ein Jahrhundert hat der italiäniſche Humanismus, ſein
Monopol aufrecht zu erhalten vermocht; ja, die Deutſchen
griffen ſelbſt ſchon frühzeitig in die Entwickelung der italiäni¬
ſchen Studien ein. Während Aeneas Sylvius, der Apoſtel
des Humanismus, Deutſchland noch wie ein Heidenland durch¬
zog, führten die Deutſchen drüben ſchon die Buchdruckerei ein
und riefen in Rom eine Litteratur der Klaſſiker ins Leben.
Denn es konnte ja bei dem ſpröden Gegenſatze, welcher
zunächſt eintreten mußte, als Deutſchland ſich der Bevormun¬
dung Italiens entzog, auf die Dauer nicht bleiben. Rom
war nicht mehr das Ziel deutſcher Kaiſerpolitik, es war nicht
mehr die geweihte Stätte, wo man der ſündentilgenden Macht
der Gottheit gewiſſer zu ſein glaubte; auch das Orakel in
Sachen der feineren Bildung war es nicht mehr. Aber der
Zug blieb, welcher das nördliche Binnenland und die ſüdliche
Halbinſel unauflöslich mit einander zuſammenhält, und wenn
[49]Rom und die Deutſchen. dieſer Zug dieſſeit der Alpen lebhafter als jenſeits gefühlt
wurde, ſo iſt die Zudringlichkeit der Deutſchen nur ein Zeichen
ihrer größeren Rührigkeit und eines kräftigeren Bildungs¬
triebes. Denn die Pilgerfahrten unſerer Künſtler und Ge¬
lehrten, welche von Jahr zu Jahr in immer dichteren Zügen
über die Alpen gehen, ſind nicht bloß das Ergebniß Zer¬
ſtreuung ſuchender Reiſeluſt, ſie ſind nicht eine Sache der
Laune und des Luxus, ſie haben vielmehr eine gewiſſe Noth¬
wendigkeit, und große Culturintereſſen knüpfen ſich an dieſel¬
ben; denn es handelt ſich um die Ausbeutung der Schätze,
die nur dort zu heben ſind, um eine friedliche Eroberung,
welche beiden Parteien zu gute kommt.
Wir ſprechen zunächſt von der Kunſt. Sie iſt von der
Oertlichkeit abhängiger, als die Wiſſenſchaft; ſie iſt ein zarte¬
res Gewächs, welchem der ſüdliche Himmel unberechenbare
Vortheile darbietet; ſie kann nicht als Treibhauspflanze ge¬
zogen und nicht als Luxuspflanze in die Fremde verführt
werden. Auch im Süden bedarf es außerordentlicher Verhält¬
niſſe, wenn die volle Entwickelung gelingen ſoll. Es bedarf
einzelner Schulen, welche in ſtiller Zurückgezogenheit die Keime
pflegen; dann müſſen die Meiſter der Schulen wandernd zu¬
ſammen kommen, »Vaterland und Welt muß auf ſie wirken;«
und wenn ſie ihre Erfindungen ausgetauſcht, wenn ſie neidlos
von einander gelernt haben, dann bedarf es eines Orts, wo
mächtige Gunſt und reichliche Mittel vorhanden ſind, um das
gereifte Kunſtvermögen zu großen Leiſtungen zu veranlaſſen,
in denen es der inwohnenden Kraft in vollem Maße bewußt
wird. So war es einſt in Athen, ſo war es in Rom unter
Julius II., der mehr, als ſein gefeierterer Nachfolger mit Pe¬
rikles genannt zu werden verdient. Gleich nach ihm begann
man die Kunſt zum Dienſte der Laune herabzuwürdigen, —
aber die Werke der großen Zeit ſind geblieben, ein Vermächt¬
niß einzig in ſeiner Art, und wenn nun in derſelben Stadt
auch von der anderen, dem Menſchengeſchlechte gegönnten, von
der helleniſchen Kunſtblüthe die zahlreichſten und ſchönſten
Denkmäler vereinigt ſind, ſo darf Rom in der That als der
Curtius, Alterthum. 4[50]Rom und die Deutſchen. Ort gelten, der von dem, was hohe Kunſt iſt, allein eine Vor¬
ſtellung zu geben vermag.
Solche Werke gehören nicht Rom, ſondern der Menſch¬
heit an, und dies haben vor Allen die Deutſchen erkannt,
welche nicht müde geworden ſind, das menſchliche Geiſtesleben
in ſeiner Einheit zu begreifen. Wie eifrig haben ſchon unſere
alten Meiſter, Dürer und Holbein, von den Italiänern ge¬
lernt, und was unſre heutige Malerei betrifft, ſo beginnt ihr
Aufſchwung mit dem Tage, da Asmus Carſtens 1795 in der
Caſa Battoni ſeine Zeichnungen ausſtellte. Alles war erſtaunt
in Rom; ſo fremdartig erſchienen ſie, bis man inne wurde,
daß der bäueriſche Mann von den äußerſten Nordmarken
Deutſchlands in bewundernder Betrachtung der Koloſſe des
Quirinals und der vatikaniſchen Gemälde zu Werken von ſo
großem Stile und ſo tiefen Gedanken begeiſtert worden war.
Cornelius folgte; er erneuerte mit ſeinen Freunden im Bar¬
tholdy'ſchen Hauſe die monumentale Malerei; Malerei und Archi¬
tektur verbanden ſich wieder mit einander; die deutſche Kunſt
war wieder aufgelebt in ungeahnter Herrlichkeit und Rom
war ihre Wiege; nur in Rom hatte ſie erſtehen können, »wo
noch der Geiſt der großen Meiſter ſchwebt und wirkſam
ſchwebt.« Es war die klaſſiſche Kunſt, in ihrer ewigen Wahr¬
heit von deutſchem Auge erkannt, von deutſcher Kraft wieder
belebt, und wie wenig dabei die Individualität der einzelnen
Künſtler zu Schaden kam, erkennt man, wenn man Männer
wie Carſtens, Cornelius, Overbeck mit einander vergleicht, die
alle in Rom ihre geiſtige Heimath fanden.
Die Poeſie kann, wenn ſie eine nationale bleiben will,
nicht in gleichem Maße an vergangene Kunſtepochen anknüp¬
fen; ſie iſt ja auch ihrer Natur nach von örtlichen Anſchauun¬
gen unabhängiger, und doch, welche Bedeutung hat Rom für
unſere Poeſie gehabt, und wer kann in Rom verweilen ohne
den Spuren Goethe's nachzugehen! Künſtleriſche Muße konnte
er auch anderswo finden, aber nirgends ſonſt einen Ort, wo
Gefühl, Beobachtung, Urtheil, wo der ganze Menſch ſo gleich¬
mäßig in Anſpruch genommen wird ohne das Gedränge klein¬
[51]Rom und die Deutſchen.licher Intereſſen und Rückſichten, welche in der Heimath den
Menſchen umſponnen halten. Iſt doch die Ueberſchätzung
dieſer Dinge noch eine Schwäche der Deutſchen, mit ihrem
kleinbürgerlichen Standesgeiſte verbunden. Der Eine fühlt
ſich vor Allem als Beamten, der Andere als Gelehrten, der
Dritte als Soldat. Das verſchwindet an einem Orte wie
Rom; die Nebendinge werden gleichgültig, das wahrhaft
Große und Bedeutende wächſt unmittelbar an den Menſchen
heran, das Bewußtſein erweitert ſich, man fühlt ſich von der
Würde der Gegenſtände getragen; es tritt eine Stille ein,
welche verſöhnend, befreiend, heilend wirkt, wie es Goethe
empfand, der ſeine tiefſte Sehnſucht hier wie in einem lange
geſuchten Heimathlande geſtillt fand. Und dann erwacht in
wunderbarer Weiſe mit der Luft, die man einathmet, mit den
Bergformen, die den Horizont bilden, mit den Geſtalten, zwi¬
ſchen denen man wandelt, ein künſtleriſcher Formſinn, wie er
dem Nordländer von Hauſe aus nicht eigen zu ſein pflegt.
In einer gewiſſen Einſeitigkeit zeigt ſich dies bei Platen, in
ſchönſter Anmuth bei Goethe, und inſofern können wir neben
den Schöpfungen von Thorwaldſen und Cornelius auch Taſſo
und Iphigenia nennen unter den Werken neuerer Kunſt, welche
unter der Gunſt der römiſchen Sonne gereift ſind und welche
uns den Boden von Rom doppelt theuer machen.
Eine ſchwierigere Aufgabe war es, unſere Wiſſenſchaft,
namentlich die Alterthumswiſſenſchaft, in Rom einheimiſch zu
machen. Hier war die Ueberlegenheit der Eingeborenen viel
begründeter und eine gewiſſe patriotiſche Eiferſucht viel be¬
rechtigter. Hat doch die kleinſte Stadt Italiens ihre einhei¬
miſchen Ortsführer und Geſchichtſchreiber, wie viel mehr mußte
in Rom ſeit Beginn der humaniſtiſchen Richtung Orts- und
Denkmälerkunde zu Hauſe ſein! Wer hier mit offenen Sinnen
aufwuchs, mußte ſich von ſelbſt in die Alterthümer einleben.
Spielend lernte er die Marmorarten unterſcheiden, die Züge
der Cäſarenbüſten ſich einprägen, die Baureſte verſtehen und
ergänzen, die Bildwerke deuten. Kunſtliebe gehörte zum guten
Tone, Kunſtbeſitz und Kennerſchaft zu dem, was man in keinem
4*[52]Rom und die Deutſchen. vornehmen Hauſe vermiſſen mochte. Akademien beſtanden zur
Pflege der Wiſſenſchaft, und in kleineren Kreiſen Auserwählter
über ältere und neuere Erwerbungen ſich zu unterhalten galt
für die Würze feinerer Geſelligkeit. Auch die Fremden wurden
ja erſt Kenner, indem ſie durch längern Aufenthalt Römer
wurden, wie es mit Rafael Mengs der Fall war. Wie ſchüch¬
tern betrat deshalb auch Winckelmann die Schwelle der Stadt,
welche er als die hohe Schule aller Kunſtſtudien verehrte!
In trüben Verhältniſſen aufgewachſen, ſchon über die Mitte
des Lebens hinaus, in ſich unklar und unſicher, ein dieſſeit
wie jenſeit der Alpen unbekannter Gelehrter — ſo kam er
nach Rom, ein Laie, der Alles, vor Allem die Kunſt zu ſehen,
hier erſt zu lernen hatte.
Und doch war ſeine Ankunft ein Ereigniß für die Alter¬
thumskunde in Rom. Denn jetzt erſt erkannte man dort, daß
es auch für die römiſche Antike nicht gleichgültig ſei, ob Je¬
mand im Homer und Platon zu Hauſe ſei, und obwohl die
Römer nur zögernd auf einen Standpunkt eingingen, welcher
ihrem italiſchen Nationalgefühle nicht recht entſprechen wollte,
ſo mußten ſie doch die Ueberlegenheit anerkennen, welche dem
fremden Manne ſein griechiſches Wiſſen verlieh; der ſächſiſche
Gelehrte wurde Aufſeher der ſtädtiſchen Alterthümer Roms
und die erſte Autorität in römiſcher Wiſſenſchaft. Wußte man
wohl, daß man damit den Vorrang anerkannte, welchen die
deutſche Bildung durch die Reformation gewonnen hatte?
Winckelmann erfuhr den vollen Segen des römiſchen Le¬
bens; ſein ganzes Weſen wurde gehoben und frei, ſein Auge
geöffnet, ſeine Sprache veredelt. Aber er blieb ein Deutſcher
und ſein Ehrgeiz war nicht, den Römern zu gefallen, ſondern
den Deutſchen ein Werk zu hinterlaſſen, welches dem Volke
Ehre machte; und als Deutſcher ging er weit über die Ge¬
ſichtspunkte italiäniſcher Gelehrſamkeit hinaus, indem er die
griechiſch-römiſche Kunſt in ihrem Zuſammenhange erkannte
und eine Wiſſenſchaft gründete, welche ſeitdem einer der wich¬
tigſten Zweige der Humanitätsſtudien geblieben iſt.
Nach Winckelmann war Niemand thätiger auf dieſem Ge¬
[53]Rom und die Deutſchen. biete, als Georg Zoega, gleich Carſtens an der Nordgränze
Deutſchlands heimiſch, aber von italiäniſcher Abſtammung und
in der That eine Heimath in Rom ſuchend, ein Archäolog in
großem Sinne, Kunſt und Geſchichte, Morgen- und Abendland
umfaſſend, noch heute ein unentbehrlicher Führer im alten Rom.
Seit Winckelmann und Zoega iſt die Thätigkeit der Deut¬
ſchen in Rom nie wieder abgeriſſen, ſondern ſtetig angewachſen;
vor Allem in dieſem Jahrhundert, deſſen ganz beſonderer
Beruf es von ſeinem Beginne an geweſen iſt, unſere Heimath
eng und enger mit dem klaſſiſchen Boden zu verbinden. Die¬
ſen Trieb, der ſich gerade bei Söhnen des fernſten Nordens
am kräftigſten geltend zu machen pflegt, finde ich bei Keinem
der Aelteren in ſo liebenswürdiger Weiſe ausgebildet wie bei
Otto von Stackelberg, dem eſthländiſchen Edelmanne, der,
wie Zoega, in Göttingen gebildet wurde und in ſeltner Weiſe
begabt war, das Kunſtſchöne an der Antike zu empfinden und
Andere empfinden zu laſſen. Aber wie viel andere Spuren
deutſcher Forſcher ſind dem klaſſiſchen Boden eingedrückt, dem
ſie eine für alle Zeit fruchtbringende Thätigkeit gewidmet
haben! Ich erinnere nur an die bahnbrechenden Forſchungen
des Freiherrn von Rumohr und an unſern Otfried Müller,
für welchen Rom der Ort war, an dem und für den er zu¬
letzt mit voller Kraft und im Zuſammenhange gearbeitet hat,
wo er ſeine alten Studien über die Stämme der Halbinſel
und die überſeeiſchen Culturverbindungen Mittelitaliens mit
friſchem Eifer wieder aufnahm.
Aber nicht bloß einzelnen Gelehrten blieb es überlaſſen
die durch Winckelmann eröffnete Verbindung zwiſchen Rom
und Deutſchland fortzuſetzen; auch von Staatswegen und na¬
mentlich von unſerm Staate geſchah Alles, um dieſe Verbin¬
dung zu pflegen und dem Werthe, den man auf ſie legte, wür¬
digen Ausdruck zu geben.
Im Herbſt 1802 ſtieg Wilhelm von Humboldt in der
Villa Malta ab, ein Staatsmann und Denker, der aber auch
Dichter genug war, um nach Goethe's Weiſe in Rom zu
ſchwelgen, und zugleich die Größe der römiſchen Eindrücke
[54]Rom und die Deutſchen. benutzte, um ſelbſt in geiſtiger Kraft auszuwachſen, ſeinen geiſti¬
gen Beſitz abzurunden und ſeines wiſſenſchaftlichen Berufs
ſicherer zu werden, der treue Pfleger aller höheren Beſtrebun¬
gen der Deutſchen in Rom. Als ſein Hausgenoſſe und Freund
wurde Welcker in Rom heimiſch, der mit der ganzen Tiefe
des deutſchen Weſens ſich der Kunſtforſchung hingab, der
ſelbſtändigſte Nachfolger Winckelmann's und wie dieſer beſon¬
ders beſtrebt, die griechiſche Kunſt, die lang verkannte, in Rom
zu Ehren zu bringen, darin ganz übereinſtimmend mit Hum¬
boldt, dem das Helleniſche unbedingt das Werthvollſte am
Alterthume war, der Mittelpunkt ſeiner Gedanken und Nei¬
gungen.
Um ſo wichtiger war, daß ihm ein Niebuhr folgte. Sei¬
ner Natur war jede Schwelgerei, auch die geiſtigſte, zuwider;
er konnte den epikureiſchen Zug bei Humboldt ſo wenig wie
bei Goethe billigen; er hatte die Kunſt nicht, ſich ſelbſt zu
vergeſſen, ohne welche Rom nicht Rom iſt. Immer wachſam
und geſpannten Geiſtes, ſah er in Rom nur Stoff zur Arbeit,
unbenutzte Schätze der Erkenntniß, ungelöſte Aufgaben. Er
war ſittlich zu zartfühlend, um ſich über das entartete Rom
beruhigen zu können, er war zu deutſch, um ſein Vaterland
leicht zu entbehren, zu ernſt und wahr, um ſich in anmuthige
Traumbilder einwiegen zu laſſen. Er aber hat das unver¬
geßliche Verdienſt, daß er der deutſchen Wiſſenſchaft in Rom
einen feſten Sitz gegründet und nach der einſeitigen Bevor¬
zugung des Griechiſchen die Studien über römiſche Geſchichte
und Ortskunde unter den deutſchen Römern ins Leben ge¬
rufen hat.
Freilich hatten die Römer ſelbſt ſchon lange daran gear¬
beitet. Sie gaben ſchon im Anfange des ſechzehnten Jahr¬
hunderts Werke heraus, welche das »wiederhergeſtellte Rom«
enthalten ſollten, und in der überſchwänglichen Zeit Leo's X.
faßte man ſogar den Plan, die alte Stadt planmäßig aus dem
Schutte hervorzuziehen. Aber dieſer Gedanke ging mit Rafael
zu Grabe und jene Arbeiten blieben Verſuche, weil man ohne
breite und geſicherte Grundlage etwas Fertiges aufbauen wollte.
[55]Rom und die Deutſchen. Auf Niebuhr's Anregung traten nun deutſche Gelehrte in dieſe
Arbeit ein; er ſelbſt ſchrieb ſeinen Abriß der Stadtgeſchichte
Roms; ſein Nachfolger im Amte, Bunſen, war der thätigſte
Förderer des deutſchen Werks über die dortigen Alterthümer,
und wie die älteſte Quelle chriſtlicher Zeit über Rom das Wan¬
derbuch eines nordiſchen Pilgers, des Anonymus vom Kloſter
Einſiedeln, iſt, ſo iſt auch der ganze Ausbau der Geſchichte
Roms im Alterthum und Mittelalter und die wiſſenſchaftliche
Behandlung ſeiner Denkmäler, ſo weit ſie bis jetzt gelungen iſt,
in der Hauptſache eine Frucht deutſcher Arbeit.
Das Capitol, welches nach dem Theater des Marcellus
der Sitz unſrer Geſandtſchaft geworden war, ſollte aber in
noch ganz andrer Weiſe eine Stätte deutſcher Wiſſenſchaft
werden. 1825 vereinigte ſich eine Anzahl junger Gelehrter
— darunter Gerhard, Stackelberg, Panofka — und bildete
unter dem Namen der »hyperboreiſchen Freunde« in Rom eine
fröhlich forſchende Genoſſenſchaft. Man erkannte die Noth¬
wendigkeit, für ein Studium, welches ſo ſehr wie die Denk¬
mälerkunde regſamen und weitverbreiteten Austauſch verlangt,
einen Mittelpunkt zu ſchaffen, von welchem aus alle Erweite¬
rungen archäologiſcher Kenntniß in Wort und Bild raſch zur
Kenntniß aller Mitforſcher und Alterthumsfreunde gelangen
könnten. So erwuchs das römiſche Inſtitut. Auf dem tar¬
peiſchen Felſen gründete nun die deutſche Wiſſenſchaft ihren
eigenen Herd, nicht in einem Palaſte, wie ihn Frankreich ſei¬
nen Kunſtjüngern in Rom einrichtete, ſondern in beſcheidenen
Räumen, von kleinen Anfängen beginnend. Aber von Jahr
zu Jahr iſt es unter dem Schutze der preußiſchen Krone kräf¬
tiger ausgewachſen und wirkſamer geworden, auf fremdem
Boden die Wiſſenſchaft in deutſchem Geiſte pflegend, In- und
Ausländer, ſo weit das Intereſſe für klaſſiſche Denkmälerkunde
reicht, zu gemeinſamer Thätigkeit vereinigend. Die jungen
Deutſchen eignen ſich hier alle Vortheile an, welche ſonſt den
gebornen Italiänern vorbehalten waren, und dieſe wiederum
werden durch deutſchen Geiſt gehoben. Die Engherzigkeit iſt
verſchwunden, mit welcher man ſich früher in Italien gegen
[56]Rom und die Deutſchen.jede Unterſuchung verſchloß, die auf eine Schmälerung des ita¬
liſchen Autochthonenruhms hinauslaufen könnte und jeden
Zweifel an der vollen Selbſtändigkeit einheimiſcher Culturent¬
wickelung als einen Frevel gegen Rom denuncirte. Cavedoni
wie Avellino haben ſchon ganz in deutſchem Geiſte gearbeitet
und die vorzüglichſten der jetzt lebenden Gelehrten, namentlich
de Roſſi und Roſa, ſehen das deutſche Capitol als den Mittel¬
punkt der römiſchen Studien an und rechnen hier vor Allem
auf Verſtändniß und Förderung. Dieſen Erfolg verdankt das
Inſtitut den trefflichen Männern, welche demſelben nach und
neben einander als Geſchäftsführer gedient haben. Um nur
der Verſtorbenen zu gedenken, nenne ich Kellermann, Emil
Braun und Wilhelm Abeken. Der Erſte gründete hier die
Inſchriftenkunde; der Zweite wird den meiſten Deutſchen,
welche in den vierziger und funfziger Jahren zu Rom ver¬
weilten, unvergeßlich ſein, ein Mann der edelſten Begabung
von Herz und Geiſt, von Winckelmann'ſchem Enthuſiasmus,
der ſich in ſeiner Behandlung des Alterthums in gewiſſer
Weiſe den Italiänern anſchloß, indem er wie dieſe der herge¬
brachten Ueberlieferung ungern widerſprach, wenn ihre Rich¬
tigkeit nicht vollſtändig widerlegt war, während Abeken, der
früh Vollendete, im Sinne ſeines Lehrers Otfried Müller mit
Vorliebe hiſtoriſche Geſichtspunkte verfolgte und mit vorſich¬
tiger aber ſicherer Hand die Grundzüge einer Kunſt- und
Culturgeſchichte Mittelitaliens entwarf. Dieſe Männer und
ihre Nachfolger haben den Stamm gebildet, an welchen die
kommende und gehende deutſche Jugend ſich anſchließt und
zwar ſo, daß ein Jeder ſein beſonderes Arbeitsfeld findet,
auf welchem er Gelegenheit hat, der Wiſſenſchaft Dienſte zu
leiſten. Dazu gehört denn auch in vorzüglichem Grade die
Ausbeutung der litterariſchen Schätze Roms; auf dieſe Weiſe
haben die Deutſchen ſich die palatiniſchen Handſchriften zurück¬
erobert und die Vaticana, ſo viel an ihnen lag, zu dem ge¬
macht, was ſie den Verträgen nach ſein ſollte, zu einem Ge¬
meingute der gebildeten Welt.
So iſt eine Pflanzſtätte deutſcher Wiſſenſchaft auf dem
[57]Rom und die Deutſchen.Capitole erwachſen, welche durchaus einzig in ihrer Art iſt,
und wenn wir noch dazu nehmen, daß auf derſelben Höhe
auch der evangeliſchen Predigt eine würdige Stätte gegründet
und den kranken Deutſchen heimathliche Pflege bereitet worden
iſt, ſo darf man dieſe capitoliniſche Colonie im beſten Sinne
als ein Ehrendenkmal des deutſchen Vaterlandes bezeichnen
und im Namen deſſelben dem Fürſtenhauſe dankbar ſein, wel¬
ches für unſere geiſtigen Intereſſen in Rom ſo kräftig geſorgt
und die alten Beziehungen zwiſchen Rom und den Deutſchen
ſo weiſe erneuert hat.
Spiegelt ſich aber in dieſen Beziehungen nicht auf eine
merkwürdige Art der ganze Charakter der Deutſchen, iſt nicht
ihre Ehre und Größe, wie ihre Schwäche und Demüthigung
immer mit Rom im Zuſammenhange und iſt nicht jede Ver¬
änderung der Beziehungen zu Rom zugleich eine Entwickelungs¬
epoche der Deutſchen?
Seit die Deutſchen in die Geſchichte eingetreten ſind,
haben ſie ſich nie auf die Heimath und ihre nächſten Aufgaben
beſchränken können. Voll Anerkennung und Bewunderung für
jede geſchichtliche Größe, haben ſie Alles, was menſchlich iſt,
in ihr Gebiet hereingezogen, haben alle weltbewegenden Ideen
mit voller Wärme ergriffen und nichts iſt ihnen zu fern und
fremd geweſen, das ſie ſich nicht anzueignen verſucht hätten.
Dabei ſind ſie öfter, als andere Nationen in die Lage gekom¬
men, daß ſie das Erreichbare und Nothwendige verſchmähten,
um das Unmögliche zu gewinnen; ſie ſind mehr, als Andere
Täuſchungen, Irrgängen und Demüthigungen ausgeſetzt ge¬
weſen, aber ſie haben mit zäher Ausdauer immer neue Wege
verſucht, und ſo haben ſie auch, nachdem ſie ſich von dem
Drucke Roms frei gemacht hatten, in voller Unabhängigkeit
den geiſtigen Austauſch, auf den Italien und Deutſchland
von Natur angewieſen ſind, aufs Neue begonnen. Seit¬
dem keines der beiden Länder des andern Freiheit gefährdet,
findet auch deutſche Bildung jenſeit der Alpen überall Ein¬
gang und die Arbeit der Deutſchen hat beſſeres Gedeihen, als
je zuvor.
So lernen wir auch hier unſer Volk kennen als das Volk
der Arbeit, welches keine Ruhe hat, ſo lange noch ein Quell
geiſtiger Erkenntniß unbenutzt geblieben iſt, und wenn ſich
jene nordiſchen Freunde in Rom die Hyperboreer nannten, ſo
laſſen wir uns gerne an die liebliche Sage von den Opfer¬
gaben erinnern, welche vom Nordrande der Erde nach Delos
gebracht wurden, dem Urſitze des apolliniſchen Cultus, welcher
die nahen und fernen Städte zu einer großen Gemeinde ver¬
einigte. Dieſe Idee von der Gemeinſamkeit aller geiſtigen
Intereſſen der Menſchheit und dem einheitlichen Zuſammen¬
hange aller wahren Erkenntniß haben die Deutſchen niemals
aufgegeben; darum huldigen ſie den Stätten, von denen Kunſt
und Weisheit ausgegangen iſt, und verbinden die Völker zu
gemeinſamer Pflege des geiſtigen Beſitzes, deſſen Geltung über
den Kreis der einzelnen Völker und Zeiten hinausgeht; ſie
ſind das prieſterliche Volk, welches berufen iſt, in reinen Hän¬
den die ewigen Güter der Menſchheit zu tragen.
VI.
Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
Als wir im vorigen Jahre zur akademiſchen Feier hier
verſammelt waren und unſere Gedanken ſich mit dem beſchäf¬
tigten, was bei aller Mannigfaltigkeit der Fachſtudien als die
gemeinſame Aufgabe unſerer wiſſenſchaftlichen Arbeit angeſehen
werden könnte, fanden wir einen ſolchen Mittelpunkt in der
hiſtoriſchen Forſchung, welche darauf ausgeht, in Natur und
Menſchenwelt die gegebenen Thatſachen zu begreifen. Aber
wie weit gehen doch die beiden Richtungen dieſer Forſchung
auseinander! Der Naturforſcher fühlt ſich am Ziele, wenn er
das Geſetz erkannt hat, nach welchem ſich unabänderlich die¬
ſelben Erſcheinungen unter gleichen Bedingungen wiederholen
müſſen. Aber wann iſt der Geſchichtsforſcher am Ziele, wann
kann er auch auf einem noch ſo eng begränzten Gebiete die
Unterſuchung für geſchloſſen anſehen! Denn wenn durch
Sammlung, Prüfung und Sichtung der Ueberlieferung die
Thatſachen feſtgeſtellt und nach ihrer Zeitfolge geordnet ſind,
was wiſſen wir dann von dem Volke, deſſen Geſchichte uns
beſchäftigt? Nicht mehr, als wir von einem Menſchen
wiſſen, deſſen äußeren Lebensgang wir uns haben erzählen
laſſen. Unſere Theilnahme wird angeregt und der Wunſch
geweckt, ihn näher kennen zu lernen. Jede nähere Bekannt¬
ſchaft aber beginnt erſt dann, wenn ſein inneres Leben uns
entgegentritt, wenn wir ſeinen Bildungsgang, ſein ſittliches
Streben, ſeine wiſſenſchaftlichen Ziele kennen lernen. Haben
[60]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.wir dieſen Genuß des inneren Verkehrs gekoſtet, ſo erhalten
nun auch alle äußeren Thatſachen, welche bis dahin nur die
Neugierde befriedigen konnten, eine tiefere Bedeutung für uns.
Ebenſo iſt es mit der Völkergeſchichte. Die Völker ſind
ja auch in gewiſſem Sinne Individuen; es ſind geſchicht¬
liche Perſönlichkeiten, welche unter dem Einfluſſe unendlich
vieler Beſtimmungen äußerer und innerer Art ihr eigenthüm¬
liches Gepräge erhalten haben, und das, was am Ende doch
unſer höchſtes Intereſſe in Anſpruch nimmt, iſt das Verſtänd¬
niß ihres Charakters. Die Wiſſenſchaft ſucht dieſes Intereſſe
zu befriedigen, und wie der Naturforſcher von dem Aeußeren
der Pflanze auf die verborgene Bewegung ihrer Säfte, von
dem Gliederbau des Thierkörpers auf den innerlichen Lebens¬
proceß übergeht, ſo dringt auch der Hiſtoriker immer mehr
von außen nach innen vor, um in der Mannigfaltigkeit der
Ereigniſſe den einheitlichen Zuſammenhang, in dem Geſchehen
das Werden, in den Erſcheinungen die wirkenden Kräfte zu
erkennen. Aber bei der geſchichtlichen Entwickelung ſind keine
Geſetze mathematiſcher oder phyſikaliſcher Art nachzuweiſen;
hier laſſen ſich die Faktoren nicht zu Formeln verbinden,
welche den Schlüſſel des Verſtändniſſes bilden; wir ſtehen auf
dem Gebiete ſittlicher Freiheit. Darin liegt der große Reiz,
aber auch die unendliche Schwierigkeit derjenigen hiſtoriſchen
Forſchung, welche wir die culturgeſchichtliche nennen können.
Sie iſt in weſentlichen Punkten von der äußeren Geſchichte
unterſchieden. Sie iſt arm an Quellen; denn nur die äußeren
Thatſachen, welche Aufſehen erregen, werden von den Zeitge¬
noſſen bezeugt und dem Gedächtniſſe der Nachkommen aufbe¬
wahrt, aber nicht die täglichen Lebensgewohnheiten. Im
Stillen, allmählich und unbewußt vollzieht ſich die innere Ent¬
wickelung der Völker; die wichtigſten Einflüſſe ſind vollendet,
wenn das Selbſtbewußtſein erwacht, und was an Denkmälern
alter Cultur erhalten iſt, kann wohl von den Höhenpunkten
gewiſſer Richtungen, aber nicht von dem bis dahin zurückge¬
legten Wege Zeugniß geben.
Die Culturgeſchichte hat aber noch ganz andere Gebiete;
[61]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. ſie geht in jeder Richtung über die ſcharf gezogenen Gränzen der
Staatengeſchichte hinaus. Völker, welche nach geſchichtlicher
Ueberlieferung in keinerlei Beziehung zu einander geſtanden
haben, treten wie zu einem engen Familienkreiſe zuſammen.
Man erforſcht mit einem Eifer, welcher faſt den Sinn für das
Eigenthümliche der einzelnen Völker abzuſtumpfen droht, die
gemeinſamen Sagen und Sitten der indogermaniſchen Nationen
und ſucht dann wiederum die kreuzenden Einflüſſe, welche aus
der Vermiſchung verſchiedener Völkerfamilien hervorgehen,
nachzuweiſen. Die Culturgeſchichte geht aber nicht nur über
die hiſtoriſchen Anfänge der Völker zurück, ſondern auch über
die Schlußpunkte der Staatengeſchichte hinaus und begleitet
die Bildung, welche ein Volk im Verlaufe ſeiner Geſchichte
erworben hat, auf ihrer Wanderung zu anderen Völkern.
Hier gerade treten uns am deutlichſten die Spuren eines
großen Zuſammenhangs, eines geſchichtlichen Organismus
entgegen.
Nirgends iſt das Verhältniß von Staaten- und Cultur¬
geſchichte merkwürdiger, als in Griechenland. Einerſeits ſind
ſie beide auf das Engſte mit einander verbunden; denn nirgends
iſt die Cultur eines Volks im Staate, in der Religion, in
Kunſt und Wiſſenſchaft ſo ſcharf ausgeprägt wie bei den Hel¬
lenen. Keine Cultur — ich rede von der höhern Geiſtes¬
bildung — tritt uns ſo urſprünglich und volksthümlich ent¬
gegen wie die griechiſche. Andererſeits hat ſie ſich ſo von
ihrem Volke abgelöſt und ſteht in einem ſo weltgeſchichtlichen
Zuſammenhange, daß ſie nicht einer Nation, ſondern der
Menſchheit anzugehören ſcheint. Es iſt, als ob für ſie, nicht
für ſich das Volk gelebt habe. Darum knüpft ſich auch an
ſeine äußere Geſchichte kein höheres Intereſſe, als daß ſie
uns nachweiſt, unter welchen Verhältniſſen ſolche Ergebniſſe
innerer Entwickelung zur Reife kommen konnten. Ja es tritt
erſt nach Abſchluß der Staatengeſchichte, nach dem politiſchen
Tode des Griechenvolks die wahre Macht deſſelben zu Tage,
indem ſein unſterblicher Theil, das iſt ſeine geiſtige Bildung,
durch den Abbruch hinfälliger Formen zu frei wirkender Geltung
[62]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.kommt. Kein Volk, welches in eine höhere Entwickelung ein¬
getreten iſt, hat ſich dieſer Macht entziehen können; es muß
ihren Einfluß abwehren oder anerkennen, und die Stellung,
welche es ihr gegenüber einnimmt, iſt bis auf den heutigen
Tag für die Bildungsſtufe der Menſchen und Staaten ent¬
ſcheidend geblieben. Dieſe unvertilgbare, von Land zu Land
ſchreitende, durch alle Jahrhunderte fortwirkende, aus Schutt
und Vergeſſenheit immer neu erſtehende Lebenskraft der griechi¬
ſchen Cultur iſt gewiß eine der denkwürdigſten Thatſachen
menſchlicher Geſchichte. Geſtatten Sie mir, die Stellung,
welche die verſchiedenen Völker zu ihr eingenommen, in kurzem
Ueberblicke anzudeuten; es iſt eine Betrachtung, welche uns
aus den fernſten Welt- und Zeiträumen mitten in die Gegen¬
wart und in den Feſtſaal unſerer Univerſität zurückführt.
Die griechiſche Cultur hatte noch lange nicht ihre volle
und allſeitige Entwickelung gewonnen, als ſie ſchon von den
anderen Völkern gewürdigt und anerkannt wurde. Wo griechiſche
Anſiedler an fremden Küſten landeten, begründeten ſie eine
höhere Lebensordnung, welche die Bewunderung der barbari¬
ſchen Stämme erwecken mußte. Sie lehrten ſie mildere Sitten
und behaglichere Lebensgewohnheiten annehmen, das Land
vortheilhafter anbauen und in einen gewinnreichen Verkehr
eintreten. Die Freundſchaft, welche der hiſpaniſche König
Arganthonios den Phokäern erwies, indem er ſie einlud zu
ihm überzuſiedeln, und, als ſie die Heimath nicht aufgeben
wollten, von ſeinem Gelde ihre Stadtmauern aufbauen ließ,
iſt ein Zeugniß jener dankbaren Anerkennung, welche die Bar¬
baren ihren griechiſchen Handelsfreunden zollten. Indeſſen war
dieſe Anerkennung griechiſcher Cultur für die Griechen ſelbſt
kein ungetrübtes Glück. Denn dieſelben Städte, welche man
ihrer Bildung und ihres Wohlſtandes wegen bewunderte,
reizten auch die Eroberungsluſt der Nachbarſtaaten, und ſo
geſchah es, daß um dieſelbe Zeit, in welcher die Blüthe der
griechiſchen Küſtenorte von den Binnenländern erkannt wurde,
auch die Kämpfe mit den Barbaren begannen und die erſten
Nothſtände griechiſcher Städte eintraten.
Denn dies gerade iſt eine merkwürdige Thatſache, wir
können ſagen, ein Geſetz in der Geſchichte der griechiſchen
Cultur, daß jedes Mal, wenn ein Theil des Volks die Selbſt¬
ſtändigkeit einbüßt, ſeine Bildung in neuen Kreiſen Anerken¬
nung und Einfluß gewinnt, als wenn die Vorſehung darin
eine Entſchädigung für das verlorene Gut der Freiheit hätte
geben wollen.
Cröſus war, wie Herodot bezeugt, der erſte unter allen
Barbaren, welcher griechiſche Städte zinspflichtig gemacht hat,
und dieſe erſte Unterwerfung der Hellenen iſt wiederum ein
Sieg derſelben, eine geiſtige Eroberung geweſen, und ihr
erſter Zwingherr war zugleich einer der erſten Philhellenen.
Hatten doch ſeine Kriege keinen anderen Zweck, als die Hülfs¬
mittel der Küſtenſtädte ſeinem Reiche zuzueignen, war er doch
auf das Eifrigſte befliſſen, die Blüthe des griechiſchen Lebens
nicht nur zu ſchonen, ſondern auch auf alle Weiſe zu pflegen.
Griechiſche Kunſt und Wiſſenſchaft zog er an ſeinen Hof;
er ehrte mit freigebiger Hand die Orakel, beſchenkte die jen¬
ſeitigen Städte und half die Tempel griechiſcher Gottheiten
prachtvoll erneuern. Sein Ziel war kein anderes als die Her¬
ſtellung eines Reichs, in welchem griechiſche Bildung herrſchte.
Ganz entſprechende Verhältniſſe finden wir in Aegypten.
Nachdem ſich das Land einmal dem Fremdenverkehre geöffnet
hatte, dauerte es nicht lange, bis daß die eigentliche Stärke
des Pharaonenreichs auf den Griechen beruhte. König Amaſis,
welcher die Städte auf Cypern zinspflichtig machte, war zu¬
gleich, wie Cröſus, ein voller Philhellene, gaſtfreundlich gegen
alle Griechen, immer bereit, den Ankommenden Plätze zur An¬
ſiedelung und zur Gründung von Altären zu geben; er ſuchte
Freundſchaft mit griechiſchen Fürſten, Familienverbindung mit
griechiſchen Städten; er ſteuerte, wie ein Hellene, zum Auf¬
baue des delphiſchen Tempels und beſchenkte die heiligen
Stätten helleniſcher Götterverehrung.
Unter allen Barbaren aber, welche mit den Griechen in
Berührung gekommen ſind, iſt ihnen kein Volk ſo ſtolz und
feindſelig gegenüber getreten wie die Perſer. Sie hatten
[64]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. einen Widerwillen gegen das griechiſche Weſen, wie ſie das¬
ſelbe in Ionien kennen lernten; ſie verabſcheuten den Bilder¬
dienſt und konnten Bürger, die den ganzen Tag auf dem
Markte mit Hin- und Herreden zubrachten, nicht als rechte
Männer anerkennen. Wir wiſſen, wie Kyros die Hellenen
verachtete, und wie ſeine Nachfolger, die Achämeniden, die Be¬
kämpfung der Griechen als das Ziel ihrer Politik verfolgten.
Und doch, wie bald ändert ſich das Verhältniß, wie bald zeigt
ſich auch hier ein Verſtändniß für die Bedeutung griechiſcher
Cultur!
Wir ſehen, wie griechiſche Wiſſenſchaft und zwar zuerſt
die Wiſſenſchaft griechiſcher Aerzte, vor denen die Kunſt des
Morgenlandes zu Schanden wird, Achtung und Einfluß am
Perſerhofe gewinnt; der Perſerkönig kennt keinen größeren
Wunſch, als Städte zu beſitzen, in welchen Männer wie De¬
mokedes gebildet werden können. Er kennt die Bedeutung der
Ionier für ſein Reich; er macht ſich ihre Klugheit und Tüchtig¬
keit bei ſeinen Feldzügen zu Nutze; er nimmt aus ihnen ſeine
Rathgeber, er führt die griechiſche Sprache als eine Reichsſprache
ein; er läßt durch griechiſche Männer die Gränzmeere ſeines
Reiches auskundſchaften, und trotz ihres Bilderhaſſes konnten
ſich die Perſer, dem Eindruck griechiſcher Kunſt nicht verſchließen,
wie ſie dieſelbe zuerſt in Sardes kennen gelernt hatten. Schon
Kyros hatte Bildwerke von dort weggeführt, um ſie in den
Binnenſtädten ſeines Reiches aufzuſtellen, und griechiſche
Künſtler, wie Telephanes, arbeiten für die Paläſte des Darius
und Xerxes. Auf ihrem Rachezuge gegen Athen huldigen die
Perſer den Gottheiten von Delos; die Eroberungen der Städte
werden benutzt, um ihre Einwohner mitten in das Perſerreich
zu verpflanzen und dieſem neue Lebenskräfte und Bildungs¬
ſtoffe zuzuführen. Wie wenig aber auch der große Völkerkrieg
ein zerſtörender ſein ſollte, zeigt am Beſten Mardonios, der
kühnſte Vorkämpfer Aſiens gegen Europa. Denn er war ſo
wenig geſonnen, das helleniſche Leben zu zerſtören, daß er
ſelbſt in Ionien die alten Verfaſſungen mit ihrer freien Ge¬
meindeordnung herſtellte, und vor der Schlacht bei Platää
[65]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. ſehen wir ihn zu Gaſt geladen in der Stadt der Thebaner,
um ihn her an jeder Tafel einen Perſer und einen Griechen
vereinigt. Es war ein Freundſchaftsmahl zwiſchen den beiden
einſt ſo feindſeligen Nationen, ein Vorſpiel jener Verſöhnungs¬
feſte des Abend- und Morgenlandes, wie ſie Alexander in
Suſa veranſtaltet hat.
So ſehen wir, wie bei den Hauptfeinden des griechiſchen
Volks, bei den Lydern, Aegyptern und Perſern an Stelle des
Haſſes und der Verachtung eine Anerkennung ſich geltend
macht, welche die helleniſche Cultur ihnen abnöthigt. Es iſt
keine reine philhelleniſche Geſinnung, keine freie Hingebung
an die unverkennbare Ueberlegenheit des helleniſchen Geiſtes,
ſondern eine mehr oder weniger klare Vorſtellung von der
Macht der griechiſchen Cultur und die Erkenntniß der großen
Vortheile, welche den orientaliſchen Staaten aus der Verbin¬
dung mit den Griechen erwachſen müßten. Von dieſem Stand¬
punkte aus wurden die Barbarenkönige Philhellenen.
Ganz andere Geſichtspunkte treten uns bei den Völkern
entgegen, welche den Griechen ſtammverwandt waren, bei den
Völkern des breiten Berglandes, von dem die eigentlichen
helleniſchen Landſchaften nur ſüdliche Verzweigungen ſind.
Bei ihnen war ein näheres Verſtändniß der helleniſchen Cultur,
eine innerliche Aneignung derſelben möglich; ſie konnten ſelbſt
zu Hellenen werden, und je mehr ſich dieſe Völker durch friſche
Naturkraft den erſchöpften Kleinſtaaten überlegen fühlten, um
ſo eher konnten hier begabte Fürſtengeſchlechter den Gedanken
faſſen, ſelbſt in die griechiſche Geſchichte einzutreten, ſie über
die engen Gränzen ihrer Heimath zu erweitern und die Kräfte
aller griechiſchen Stämme unter königlicher Obmacht zu ver¬
einigen. Dieſer Gedanke tauchte zuerſt in Theſſalien auf; die
Ausführung blieb den Macedoniern vorbehalten. Freilich war
dies Volk ſelbſt den Hellenen ſehr entfremdet, aber eine Ver¬
mittelung bildeten die Familien griechiſcher Abkunft, welche
im macedoniſchen Hochlande Fürſtenmacht erlangt hatten; zu
ihnen gehörte das Königshaus der Argeaden, welche es ver¬
ſtanden, die macedoniſchen Stämme um ſich zu ſammeln, ein
Curtius, Alterthum. 5[66]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. Reich zu ſchaffen, dies Reich gegen die Küſte auszudehnen
und zunächſt in ihrem eigenen Gebiete griechiſche Cultur ein¬
zuführen. Dies Werk begann der erſte macedoniſche Alexander,
der während der Noth des Perſerkriegs in griechiſchem Intereſſe
unabläſſig thätig war, der Freund Pindar's, der Gaſtfreund
Athens, der mit dem Namen des Philhellenen geehrt und in
Olympia ſelbſt als Hellene anerkannt wurde. Den zweiten
Schritt that Philipp, indem er den helleniſirten Staat zu einer
Großmacht erhob und die Hülfskräfte der ganzen macedoniſch¬
griechiſchen Halbinſel unter ſeine Gewalt brachte. So war
die geiſtige Macht, welche auch die Barbaren anerkannt hatten,
mit äußerer Macht verbunden; die Klugheit der Griechen mit
der Naturkraft der Bergvölker, welche von allen verweichlichen¬
den Einflüſſen der Cultur unberührt geblieben waren. Was
konnte einer ſolchen Macht widerſtehen!
Im Gefühle dieſer Siegeskraft zogen um dieſelbe Zeit
die beiden Alexander aus, der Epirote nach Italien, der Mace¬
donier nach Aſien, Beide von der Ueberzeugung belebt, daß
die griechiſche Cultur eine Macht ſei, welche die Welt durch¬
dringen müſſe. Die Ueberzeugung war richtig, aber ſie irrten,
wenn ſie glaubten, dieſen geiſtigen Sieg durch Waffengewalt
und nach ihren Plänen ausführen zu können.
Der Schüler des Ariſtoteles glaubte ein voller Hellene zu
ſein und doch fehlte ihm das erſte Kennzeichen des wahren
Hellenen, der Sinn für das Maß und die ſittliche Scheu vor
unbeſonnener Ueberhebung. Das maßlos Begonnene zerfiel, ehe
es gegründet war. Nicht auf einmal, nicht in dem großen Ma߬
ſtabe und der glänzenden Weiſe, wie es der ſelbſtſüchtige Er¬
oberer erſtrebt hatte, ſondern allmählich, in kleinen Kreiſen, vollzog
ſich die beabſichtigte Wirkung. Im Innern der Städte wirkte
der helleniſche Geiſt, indem ſich Gemeinweſen bildeten, wie ſie der
Orient noch nicht gekannt hatte, Bürgerſchaften, verfaſſungsmäßig
gegliedert und geordnet und von ſelbſt gewählten Vorſtänden
regiert. Auch die Fürſten achteten und ſchätzten dieſe republi¬
kaniſchen Ordnungen und die ſyriſchen Könige bewarben ſich
ſelbſt um Gemeindeämter in Antiochien. Hier bildete ſich alſo
[67]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. ein neues Philhellenenthum; es beruhte auf einer Pietät, wie
ſie von Pflanzſtädten der Mutterſtadt erwieſen wurde. Die
neuen Städte waren Pflanzſtädte, aber nicht, wie die alten
Colonieen, von einzelnen Städten ausgeſendete, ſondern überall
hatten ſich Hellenen der verſchiedenſten Herkunft zuſammen ge¬
funden. Darum wendete ſich das gemeinſame Heimathsgefühl
vorzugsweiſe der Stadt zu, in welcher zuerſt die Volksbildung
eine ſolche allgemeine Gültigkeit erlangt hatte, daß ſie als die
gemeinhelleniſche angeſehen werden konnte. So empfing Athen
ſchon die Erſtlinge von der Siegesbeute Alexander's, die Perſer¬
rüſtungen aus der Schlacht am Granikos, und während die
Stadt ſelbſt kraft- und thatenlos darniederlag, wurde ſie mit
Lorbern geſchmückt und erhielt, als die geiſtige Metropole
der orientaliſchen Städte, eine neue Glorie. Das waren die
unſterblichen Ehren, welche ſie ihrem Perikles verdankte. Die
Könige des Morgenlandes wetteifern ihr zu huldigen; die
Gebäude, Bildwerke und Feſte Athens werden bei ihnen nach¬
geahmt, ſie prägen auf ihre Münzen attiſche Symbole. Die
unvollendeten Tempel der Athener werden von den Seleuciden
ausgebaut, die Ptolemäer ſchicken ihnen nicht nur Kornſchiffe,
ſondern ſchmücken auch die Stadt mit einem prachtvollen Gym¬
naſium; die Pergamener wiſſen ihre Kriegsthaten nicht beſſer
zu verherrlichen, als indem ſie auf den Mauern der Akropolis
ihre Siege über die Gallier in Bildwerken darſtellen; kappa¬
dociſche Fürſten erneuen das perikleiſche Odeion und ſelbſt He¬
rodes der Idumäer ſucht ſein neu gegründetes Fürſtenthum in
die Reihe der helleniſtiſchen Staaten einzuführen, indem er die
Stadt der Athener mit ſeinen Weihgeſchenken anfüllt. Die
Fürſten von Damascus, die Könige Parthiens legen ſich als
Ehrentitel den Namen der Philhellenen bei.
Während die griechiſche Cultur den Orient bis Indien
und Turan durchdrungen hatte, war der Weſten dieſer großen
Umwandelung fern geblieben. Wohl war von den Küſten,
welche im Bereiche griechiſcher Seefahrt und Anſiedelung
lagen, mancherlei Bildung in Italien eingedrungen und hatte
auch zum Aufbaue des römiſchen Staats weſentlich beigetragen.
5*[68]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. Aber die kleinen Republiken hatten Italien nicht zu helleniſiren
vermocht, und eben ſo wenig war dies den gewaltſamen Ver¬
ſuchen helleniſtiſcher Fürſten gelungen; Rom ſollte ſelbſt nach
Griechenland kommen, um hier die Macht griechiſcher Cultur
zu empfinden.
Es kann nicht meine Abſicht ſein, die Epoche zu ſchildern,
da die beiden Zweige des großen Völkergeſchlechts ſich von
Neuem begegneten. In getrennten Wohnſitzen, auf verſchiede¬
nen Culturwegen waren ſie weit auseinander gegangen, ohne
daß das Gefühl der urſprünglichen Zuſammengehörigkeit und
das gegenſeitige Verſtändniß ſich ganz verloren hätte. Mit
praktiſchem Sinne hatte der Römer ſein Haus und ſeinen Staat
geordnet, auf bäuerliches Leben ſeine Sitte gegründet und in
ſtrenger Zucht zu erhalten geſucht, nüchtern und verſtändig,
ſpröde und mißtrauiſch gegen Alles, was den nächſten Zwecken
des bürgerlichen Lebens ferne lag. In dieſer Beſchränkung
lag die Stärke des Römerthums. Aber wie arm und kahl
erſchien es nun, als ſich die reiche Fülle des griechiſchen Le¬
bens zur Vergleichung darbot! Da ſchloſſen ſich den Römern
ungeahnte Quellen geiſtiger Freude und Belehrung auf, wäh¬
rend die Griechen ihrerſeits dem kernhaften und mächtigen
Bürgerſtaate ihre Bewunderung nicht verſagen konnten. Die
urtheilsfähigen Männer beider Nationen mußten erkennen, wie
der einen mangele, was die andere beſitze, und wie deutlich
ſie zu gegenſeitiger Ergänzung berufen ſeien. Das waren die
Ideen des Kreiſes, welchem Polybios angehörte. Er lebte
ſich in Rom ein, ohne ſeinen achäiſchen Patriotismus aufzu¬
geben, und ſein Schüler, der jüngere Scipio, blieb ein voller
Römer, aber geadelt und gehoben durch ſeine warme Liebe
für Griechenland.
Auf dieſer zarten Linie konnte ſich aber das römiſche
Philhellenenthum nicht erhalten. Schon in der nächſten Gene¬
ration drang es in alle Schichten der Bevölkerung ein und
zerſetzte das römiſche Weſen. Es begann ein hartnäckiger
Kampf gegen die moderne Miſchbildung, aber er konnte keinen
dauernden Erfolg haben. Rom bedurfte einmal, ſeit es Welt¬
[69]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. macht geworden, einer neuen Cultur von weiterem Geſichts¬
kreiſe, und dieſe bot ſich ihm in der griechiſchen dar, welche
ſeit Alexander eine Weltbildung geworden war. Wenn es auch
bis in die Kaiſerzeit hinein nicht an Leuten fehlte, welche
alles Unglück Roms von der Einführung griechiſcher Weisheit
herleiteten, ſo iſt doch andererſeits gewiß, daß nirgends die
griechiſche Cultur auf den verſchiedenen Stationen ihrer Wande¬
rung ſo große Wirkungen hervorgebracht hat, wie in Rom.
Sie griff hier in alle Gebiete des geiſtigen Lebens ein; ſie
trug dazu bei, die Schrift- und Sprachgeſetze des Lateiniſchen
zu ordnen, ſie rief eine ganze Litteratur in Proſa und Poeſie
hervor, die ungleich reicher und lebenskräftiger war als Alles,
was im helleniſirten Oriente der Nachſommer griechiſcher Lit¬
teratur hervorzubringen vermocht hatte. Die bildende Kunſt
fand hier eine neue Heimath und erſtarkte an neuen Aufgaben
zu einer dauernden und inhaltreichen Nachblüthe. In der Be¬
redſamkeit führte der geſunde Sinn der Römer von den Aus¬
artungen des aſiatiſchen Stils zu der klaſſiſchen Einfachheit
des Atticismus zurück; auch die Philoſophie fand ihre Stätte
in Rom und römiſche Tugend richtete ſich in den Zeiten tiefen
Verfalls an den Lehren der Stoa noch einmal empor.
Die alten Staatsformen, welche ſich überlebt hatten, wären
auch ohne das Eindringen fremder Sprache und Sitte zuſammen¬
gebrochen. Nun aber bildete ſich aus der Verſchmelzung beider
Culturen gleichſam eine neue Nationalität, und dieſe iſt es,
worauf Cäſar ſeine Reichsidee gründete. Die Herrſchaft der Cä¬
ſaren beruht auf der Erkenntniß, daß das römiſche Weſen keine
nationale Berechtigung mehr beſitze, und das kaiſerliche Rom
ſuchte alle Beziehungen auf, welche die Stadt mit dem griechi¬
ſchen Oſten verknüpfen. Athen ward die zweite Heimath der
Römer. Unter Auguſtus vereinigten ſich die Fürſten ſeiner
Zeit, um durch gemeinſchaftliche Beiträge den Zeustempel in
Athen zu vollenden, und alle Philhellenenkönige der früheren
Jahrhunderte wurden von Hadrian überboten, der neben der
Theſeusſtadt ſein neues Athen aufbaute. Man ſchmückte die
Mumie, um den Geiſt zu ehren, welcher hier ſeine Wohnung
[70]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.gehabt und von hier aus alle Völker des Mittelmeers durch¬
drungen hatte. In der Monarchie der Cäſaren vollendete ſich
ein griechiſches Weltreich, nicht nur in weiterem Umfange, als
es Alexander gelungen war, ſondern auch von reicherem In¬
halte; denn die Macedonier ſelbſt brachten nichts hinzu als
äußere Macht, die Römer aber verſchmolzen ihre Nationalität
mit der griechiſchen.
Die eigentlichen Weltüberwinder aber waren nicht die
Römer, ſondern die Griechen, deren geiſtiger Kraft keine eben¬
bürtige und widerſtandsfähige Macht entgegengetreten iſt, bis
das Chriſtenthum in die Welt eintrat.
In wunderbarer Weiſe hat die helleniſche Cultur ihm
vorgearbeitet. Sie hat das Morgenland aus ſeiner Trägheit
aufgerüttelt; ſie hat den Verkehr der Völker ausgedehnt und
ein gemeinſames Organ für ihre geiſtigen Intereſſen geſchaffen.
In ſemitiſchen Ländern eingebürgert, hat die Sprache der Grie¬
chen ihre klaſſiſche Sprödigkeit aufgegeben und iſt dadurch fähig
geworden, die Weisheit des Orients aufzunehmen und einen
Inhalt darzuſtellen, welcher ihrem Geiſte urſprünglich wider¬
ſtrebte. Die helleniſche Bildung hat die Auflöſung der alten
Staatsformen beſchleunigt und dadurch die Hemmniſſe hinweg¬
geräumt, welche in ſtreng geſchloſſenen und ſelbſtgenugſamen
Nationalitäten dem Chriſtenthume entgegenſtanden; ſie hat die
alten Glaubensformen aufgelöſt und in jener Vermengung ein¬
heimiſcher und fremder Götterverehrung, wie ſie im ganzen
Gebiete des Hellenismus eintrat, die volle Glaubensleere der
Zeit zu Tage gebracht; zugleich hat ſie aber auch den menſch¬
lichen Geiſt zu ſelbſtthätiger Annahme und Verarbeitung gött¬
licher Lehre geſtärkt und ſo in zwiefacher Weiſe die Welt für
die Wahrheiten der Offenbarung vorbereitet.
Und iſt nicht trotz des tiefen Gegenſatzes zwiſchen Hellenen¬
thum und Chriſtenthum auch eine merkwürdige Verwandtſchaft
zwiſchen beiden? Iſt nicht beiden gemeinſam die Fähigkeit und
der Beruf, von den Völkern, denen ſie urſprünglich angehören,
ſich abzulöſen und in ungeſchwächter Lebenskraft von einer
Nation zur andern überzugehen? Und iſt nicht dieſer Fort¬
[71]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. ſchritt bei beiden in der Weiſe erfolgt, daß immer eine äußere
Demüthigung und Bedrängniß der ſiegreichen Ausbreitung
voranzugehen pflegte, ſo daß die Hellenen ſagen konnten, wie
die Chriſten: Wir ſiegen, wenn wir getödtet werden? Ferner
hat die helleniſche Cultur, wie das Chriſtenthum, ein geiſtiges
Weſen, welches nicht in äußere Formen aufgeht, innerlich er¬
griffen aber zu einer Kraft wird, welche den ganzen Menſchen
faßt und aus träger Gewohnheit aufrüttelt, eine Macht, welche
bezwingt und zugleich befreit, welche das Urſprüngliche und
Angeborene nicht unterdrückt, ſondern erzieht und läutert, um
die Menſchen zu ihrer wahren Natur zurückzuführen. Denn
die Verklärung des Menſchlichen iſt es ja, was auch die hel¬
leniſche Lebensweisheit erzielt, und Paulus konnte ſich in
Athen auf die Dichter des Volks berufen, welche bezeugten,
daß die Sterblichen von göttlicher Natur und Herkunft, alſo
zur Gottähnlichkeit geſchaffen und in ein perſönliches Verhält¬
niß zu Gott zu treten berufen ſeien.
In aller Stille und ohne äußerliches Aufſehen iſt in Hellas
die Weltbildung, in Judäa die Weltreligion gereift, und wie
die Römer trotz alles Sträubens ſich vor den verachteten
Griechen haben demüthigen müſſen und wie die größten Helden
der alten Welt, Alexander und Cäſar, nichts Dauerhaftes zu
Stande gebracht haben, als was ſie im Dienſte der griechiſchen
Bildung gethan haben, ſo haben ſich die Gebieter der Erde
auch der neuen Weltmacht nicht entziehen können; wider Willen
ſind ſie im Kampfe gegen, dieſelbe nur die Werkzeuge ihrer
Ausbreitung geworden und am Ende haben die ſtolzen Cä¬
ſaren das Kreuz zu ihrem Feldzeichen gemacht und an der¬
ſelben Religion, welche ſie als einen wahnſinnigen und gefähr¬
lichen Aberglauben Jahrhunderte lang verfolgt hatten, das
Reich zu verjüngen geſucht, wie ihre Vorgänger am Hellenismus.
Ihr Staat war keiner Wiedergeburt fähig. Er dauerte
fort, auf daß durch ſeine Vermittelung die griechiſch-römiſche
Bildung und das Chriſtenthum den neuen Völkern mitgetheilt
werde, welche ſich an des Reiches Gränzen gelagert hatten.
Jene Bildung war zu matt und abgeſtanden, als daß ſie im
[72]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.Stande geweſen wäre einen tieferen Eindruck zu machen. Um
ſo mehr fand das Chriſtenthum geſegnete Aufnahme. Die
ganze germaniſche Volksbildung knüpft ſich an daſſelbe an;
es verbindet ſich aufs Engſte mit der Nationalität der Völker
und wirkt Jahrhunderte lang allein oder wenigſtens ſo vor¬
wiegend, daß die halb verklungenen Erinnerungen des Alter¬
thums nicht zur Geltung kommen konnten.
In dem letzten Staate, welcher auf griechiſch-römiſcher
Bildung beruhte, mußte Griechenland noch einmal untergehen,
damit nunmehr in vollen und fortan nicht mehr unterbrochenen
Strömen die Weisheit der alten Welt in die neue hereinſtröme.
Die helleniſche Cultur tritt nun zum zweiten Male auf
den Schauplatz der Geſchichte, um ſich zu meſſen mit den
Kräften der neuen Zeit. Auf dem Boden Italiens wird die
Sprache der Hellenen wieder lebendig; das vor Jahrhunderten
Gedachte und Geſchriebene ergreift die Gegenwart mit friſcher
Kraft und von Neuem beſtimmt ſich die Entwickelung der
Völker darnach, ob und wie ſie dieſe Cultur bei ſich aufnehmen.
Die Italiäner waren die zunächſt Berührten; ſie empfingen
den elektriſchen Strom in voller Stärke. Sie ſtanden der alten
Welt am nächſten und lebten mitten zwiſchen ihren Denkmälern,
in Städten, deren alter Ruhm aus den wiedergefundenen Schrif¬
ten hervorleuchtete; alſo verband ſich mit der Liebe zum Alter¬
thume das ſehnſüchtige Verlangen, die Herrlichkeit ihres Volks
wieder herzuſtellen. Auch die Kirche, welche, wie einſt der
römiſche Staat, am meiſten Urſache hatte ſich gegen die enthu¬
ſiaſtiſche Anerkennung der von Griechenland ſtammenden Bil¬
dung zu ſträuben, wird mit fortgeriſſen. Es iſt, als ob man
umkehren wollte aus der neuen in die alte Zeit; die platoniſche
Philoſophie wird in das Leben eingeführt; die Ideale helleni¬
ſcher Götter und Heroen beſeelen Poeſie und Bildkunſt und
der Fürſt der Chriſtenheit ſetzt die Kuppel des Pantheon auf
den Neubau ſeines Domes.
Dieſelbe Begeiſterung, welche Italien ergriffen hatte, ging
auch nach Frankreich hinüber. Freilich hat hier die Wiſſen¬
ſchaft ſich kühn und kräftig vom italiäniſchen Geſchmacke frei
[73]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.zu machen gewußt; aber in der Litteratur war es doch das
romaniſche Blut, welches die Stellung der Franzoſen zur an¬
tiken Cultur vorzugsweiſe beſtimmte. Ihre mittelalterliche
Poeſie hatte ſich erſchöpft, und ehe ſie dazu gelangten, aus
einheimiſchen Keimen eine neue Kunſt zu entwickeln, welche für
die verſchiedenartigen Beſtandtheile des Volks eine vereini¬
gende, nationale Geltung gewinnen konnte, wurden die Muſter¬
werke des Alterthums ihnen dargeboten. Die innere und
äußere Vollendung derſelben machte ſolchen Eindruck, daß man
durch nahen Anſchluß an dieſe Vorbilder am ſicherſten zur
Gründung einer eigenen klaſſiſchen Litteratur zu gelangen
hoffte. Es war aber vorzugsweiſe das römiſche Alterthum,
welches, als das den Romanen nähere und verſtändlichere,
dieſe Wirkung übte; man nahm Virgil ſtatt Homer, Seneca
ſtatt Sophokles zum Vorbilde. Die Kirche, welche den weiter
und tiefer greifenden Einfluß des griechiſchen Studiums fürch¬
tete, begünſtigte dieſe Richtung und eben ſo der angeborene
Sinn des Volks, welcher feſte Normen von praktiſcher An¬
wendbarkeit ſuchte, namentlich in der ſchwierigſten Kunſtgat¬
tung, im Drama, das von allen am meiſten Schule und Er¬
fahrung verlangt. Obgleich man alſo gerade in Frankreich
die Erneuerung der alten Kunſt die Wiedergeburt nannte, iſt
es doch zu einem wirklichen Wiederaufleben derſelben nicht
gekommen, ſondern zu einer äußerlichen Nachahmung, welche
eine vielfach irregeleitete und mißverſtändliche war. Darum
hat ſie auch keine freie Entwickelung zur Folge gehabt, ſondern
eine Dienſtbarkeit des Geiſtes, welcher ſich ſelbſt durch falſche
Autoritäten die läſtigſten Feſſeln anlegte. Es hat nicht an
Widerſpruch noch an entſchiedener Auflehnung gegen dieſen
Regelzwang gefehlt, aber eine Verſöhnung zwiſchen den Gegen¬
ſätzen iſt nicht zu Stande gekommen.
Die anderen Völker verhielten ſich zurückhaltender gegen
die neue Ausbreitung der antiken Cultur, ſo die Spanier,
welche aus mancherlei Gründen ihren römiſchen Vorfahren
entfremdeter und den italiäniſchen Einflüſſen unzugänglicher
waren. Am unabhängigſten ſtanden die germaniſchen Nationen
[74]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. der alten Bildung gegenüber; hier fand ſie langſamer Ein¬
gang, weil ſie einer ſpröderen Volksthümlichkeit begegnete.
Wie wenig vermochte die Anſchauung der Antike bei unſern
alten Meiſtern die eigenthümliche Kunſtweiſe zu verändern!
Die langſame Wirkung war aber um ſo wichtiger und inhalts¬
reicher.
Das deutſche Volk hat die großen, geiſtigen Bewegungen,
welche den Uebergang aus dem Mittelalter in die neue Zeit
begleiteten, am gründlichſten durchgemacht. Da aber im ſech¬
zehnten Jahrhundert neben den Quellen der alten Bildung
auch die der chriſtlichen Religion wieder bekannt wurden,
wandten ſich die Deutſchen dieſer Entdeckung mit ſolcher Be¬
geiſterung zu, daß ſie ſchon deshalb dem Einfluſſe der griechiſch-
römiſchen Bildung nicht ungetheilt und einſeitig huldigen konn¬
ten. Vielmehr wurden auch die neuen Hülfsmittel, welche die
klaſſiſchen Studien darboten, den kirchlichen Intereſſen dienſt¬
bar, und die Philologie hat der Theologie getreulich beige¬
ſtanden, um die religiöſe und wiſſenſchaftliche Selbſtändigkeit
der Deutſchen wieder herzuſtellen. Sie ſind zuſammen ſtark
geworden, aber auch die Erſchöpfung, welche folgte, traf beide
gemeinſam. Die Theologie entartete zu trockenem Dogmatis¬
mus, und die Humaniſten waren ſo wenig im Stande, die
Gegenwart in lebendiger und heilſamer Gemeinſchaft mit dem
klaſſiſchen Alterthume zu erhalten, daß die deutſche Litteratur
zu unwürdiger Nachahmung ausländiſcher Muſter herabſank
und ſich unter das Joch von Regeln beugte, welche aus mi߬
verſtandenen Kunſtlehren der Alten abgeleitet waren.
Es iſt bekannt, unter welchen Kämpfen unſer Volk dieſe
geiſtige Fremdherrſchaft abgeworfen hat, wie die dumpfe At¬
moſphäre durch das ſcharfe Wehen des Leſſing'ſchen Geiſtes
gereinigt wurde und die Deutſchen ſich am Alterthume wieder
verjüngten und aufrichteten. Jetzt erſt trat für ſie die volle
Wirkung der alten Cultur ein; die nationale Sprödigkeit war
überwunden. Winckelmann wendete den vollſten Enthuſiasmus,
deſſen ein deutſches Gemüth fähig iſt, dem Alterthume zu;
Heimath und Glaube waren ihm gleichgültig in der entzückten
[75]Der Weltgang der griechiſchen Cultur. Anſchauung der Antike. Wie im Mittelalter Paläſtina, ſo
wurde Rom und Hellas ein geweihtes Land, ein Ziel von
Pilgerfahrten, um auf dem Boden des Alterthums den Alten
ſelbſt ſich näher zu fühlen, und als auf dem Boden von Hellas
neues Leben ſich regte, als von der Erhebung ſeiner jetzigen
Bewohner die Kunde zu uns herüberkam, welche Theilnahme
zeigte ſich da in unſerem Vaterlande! Kaum hat die Erhebung
eines deutſchen Landes gegen fremden Zwang jemals ſolchen
Eifer hervorgerufen, und mit mehr Uneigennützigkeit, als die,
alten Philhellenen, welche zu ihrem eigenen Ruhme die Stadt
der Athener ſchmückten, gaben die neuen Philhellenen Gut und
Blut für die Wiederherſtellung von Hellas.
Blicken wir zurück auf den Gang der helleniſchen Cultur
und ihre Beziehung zu den verſchiedenen Völkern. Die Bar¬
baren der alten Welt huldigten ihr, weil ſie in derſelben eine
Macht erkannten, welche ihnen zu äußeren Zwecken dienſtbar
ſein ſollte; die Macedonier, weil ſie die allgemeine Berechti¬
gung derſelben erkannten und ſich berufen fühlten, ſie geltend
zu machen, die Römer, weil ſie in dieſer Cultur die Ergän¬
zung ihrer eigenen Nationalität fanden. Als ſie dann in die
mittelalterliche Welt eintrat, fand ſie Völker vor, deren ganze
Bildung auf einer Religion beruhte, welche ihr fremd und
unverſöhnt gegenüberſtand. Hier konnte ſie unmöglich wieder
eine ſo allgemeine und unbedingte Geltung erlangen, wie es
in der alten Welt der Fall war, aber dennoch hat ſie, je nach¬
dem ſie lauter und rein oder aus getrübter Quelle, mit blinder
Anerkennung oder mit ſelbſtändiger Thätigkeit aufgenommen
worden iſt, auf das geiſtige Leben der Völker einen ſehr be¬
ſtimmenden Einfluß geübt. Nachdem unſer Volk dieſen Ein¬
fluß in den verſchiedenſten Formen an ſich erfahren hat, liegt
ihm auch heute noch vor allen anderen die Aufgabe ob, in
Wiſſenſchaft und Leben die wahre Bedeutung der griechiſchen
Cultur und ihr Verhältniß zur chriſtlichen Bildung darzuſtellen.
Das Chriſtenthum iſt gewiß berufen, die Welt zu über¬
winden, auch die heidniſche Welt, alſo auch das, was in uns
von vorchriſtlicher Bildung iſt. Aber dieſe Ueberwindung ſoll
[76]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.keine Ausweiſung ſein, als wären es dämoniſche Kräfte, welche
ausgetrieben werden müßten, um dem göttlichen Geiſte Platz
zu machen. Wenn wir in den hinter uns liegenden Ent¬
wickelungsſtufen der Menſchengeſchichte den großen Zuſammen¬
hang erkannt haben, ſo können wir als letzte Aufgabe keine
andere erkennen als die, den Gegenſatz jener geiſtigen Mächte,
welche wir die beiden Hauptfaktoren der Culturgeſchichte nen¬
nen können, in uns zu verſöhnen.
Es iſt keine leichte Aufgabe. Es iſt ein hohes Ziel, das
uns geſetzt iſt, wenn wir die Bildung der alten Welt in uns
verarbeiten ſollen, ohne uns durch die alle Geiſteskräfte in
Anſpruch nehmende Fülle des Stoffs und die Mannigfaltigkeit
der auf uns wirkenden Eindrücke den einfachen Sinn rauben
zu laſſen, welcher dankbar anerkennt und freudig ergreift, was
unſere Zeit vor der alten voraus hat. Aber wir dürfen vor
der Größe dieſer Aufgabe nicht feige zurückweichen; es iſt recht
eigentlich die Aufgabe gelehrter Bildung; es iſt unſere Lebens¬
aufgabe. Sie verbindet uns unter einander um ſo mehr, weil
kein Einzelner im Stande iſt ſie für ſich zu löſen, weil die
Welt des Alterthums, wie die Natur, nur durch gemeinſame
und ſich gegenſeitig ergänzende Beſtrebungen immer vollſtän¬
diger erkannt werden kann.
Aber es handelt ſich hier nicht um ein bloßes Erkennen,
ſo daß man das Erkannte auf ſich beruhen und dahin geſtellt
ſein laſſen könnte. Die wahre Verſöhnung zwiſchen helleniſcher
und chriſtlicher Bildung kann nur im Leben vollzogen werden.
Wie die Griechen einmal das Ziel einer freien und har¬
moniſchen Erziehung, wie ſie das Weſen des Staats, als einer
für menſchliche Entwickelung unentbehrlichen Gemeinſchaft, wie
ſie die Grundregeln eines vernünftigen Denkens und die Grund¬
ſätze wahrer Kunſt erkannt und beſtimmt haben, das bleibt
für alle Zeiten gültig. Der unermüdliche Eifer, mit welchem
ſie auf dem Gebiete der Staatsordnung wie der Kunſt und
Wiſſenſchaft nach dem Höchſten gerungen haben, kann und
ſoll ein Vorbild bleiben, deſſen tägliche Anſchauung uns vor
Stumpfſinn und Trägheit bewahrt. Vor einſeitiger Ueber¬
[77]Der Weltgang der griechiſchen Cultur.ſchätzung deſſen, was ſie geleiſtet haben, ſchützt das Studium,
je tiefer es eindringt; ein unfreies und äußerliches Nachmachen
hat niemals lebendige Frucht getragen, während aus der inne¬
ren Vermählung des deutſchen und griechiſchen Geiſtes neue
Schöpfungskraft entſprungen und das Vollendetſte unſerer Litte¬
ratur und Kunſt hervorgegangen iſt. Wir ſollen ja auch die
Hellenen nicht als ſolche lieben und bewundern, ſondern, wie
jede wahre Liebe Gottesliebe iſt, ſo ſind auch diejenigen die
wahren Philhellenen, welche das Göttliche lieben, das ſich in
dem Streben jenes Volks offenbart, und wer von ihnen das
raſtloſe Suchen nach der verborgenen Wahrheit gelernt hat,
wird der nach ihrer Zeit den Menſchen offenbar gewordenen
um ſo froher und gewiſſer ſein.
Wenn wir alſo den Geiſt der Alten uns aneignen, ohne
der Untreue gegen unſer Volk und Vaterland ſchuldig zu wer¬
den; wenn wir uns frei machen von der Herrſchaft eines will¬
kürlichen Zeitgeſchmacks, ohne uns gegen die Forderungen und
Bewegungen der Gegenwart abzuſchließen, wenn wir in der
Schule der Alten den geiſtigen Blick geklärt, den Wahrheits¬
ſinn geſchärft, die menſchlichen Anlagen frei und allſeitig ent¬
wickelt haben, und wir dann im Vollbeſitze helleniſcher Bildung
dem Chriſtenthum huldigen, als der göttlichen Ordnung, in
welcher nicht nur das Geſetz des alten Bundes, ſondern auch
alles Frühere, das von Gott ſtammt, ſeine Erfüllung findet:
ſo wird jene große Aufgabe, auf welche als letztes Ziel die
inhaltreiche Geſchichte der helleniſchen Cultur hinweiſt, die
wahre Verſöhnung der alten und neuen Welt, allmählich voll¬
zogen werden.
V.
Die Kunſt der Hellenen.
Je mehr ſich die Bildung unſerer Zeit in mannigfaltige
Richtungen und Fächer zerſplittert, um ſo dankbarer ehren
wir der hervorragenden Männer Genius, welche die trennen¬
den Schranken ſiegreich überwinden und das geſammte Geiſtes¬
leben ihres Volks mit heilſamer Wirkung durchdringen. Zu
ihnen gehört der Mann, deſſen Andenken wir heute in ernſter
Erhebung feiern. Denn Schinkel verdient nicht bloß unter
unſeren größten Baumeiſtern genannt zu werden und ſeine
Bedeutung beſchränkt ſich nicht auf den Ruhm, welchen aus¬
gezeichnete und mannigfache Kunſtſchöpfungen ihrem Urheber
ſichern; er hat in dem vaterländiſchen Kunſtleben eine Rich¬
tung von allgemeiner Wichtigkeit ſo energiſch angebahnt und
ſo geiſtvoll vertreten, daß Alle, denen die höheren Intereſſen
unſerer Bildung am Herzen liegen, ſeinem Genius huldigen
müſſen.
Die Ueberzeugung davon allein kann es geweſen ſein,
welche die Ordner dieſer Feier veranlaßt hat, diesmal den
Feſtredner außerhalb des Kreiſes ihrer Kunſtgenoſſen zu ſuchen,
und die volle Berechtigung jener Ueberzeugung anerkennend,
habe ich die Scheu, vor Künſtlern über Kunſt zu reden, über¬
wunden, damit ich, ſo viel an mir liegt, ein entſchiedenes und
freudiges Zeugniß ablegte, wie ſehr Schinkel's Größe auch
außerhalb des Kreiſes der Kunſtgenoſſen lebendige Anerkennung
[79]Die Kunſt der Hellenen.finde. Und wie ſollten zu ſolcher Anerkennung nicht diejenigen
vor allen Anderen berufen ſein, welche es zu ihrer Lebensauf¬
gabe gemacht haben, die Schätze des Alterthums als treue
Hüter zu verwalten! Denn wenn ſie aus dem Strome der
Völkergeſchichte das ewig Gültige zu retten, das Entſtellte und
Verſchüttete zu ſäubern, das Erſtorbene neu zu beleben ſuchen,
ſo haben ja auch ſie in dieſem Streben Schinkel zu ihrem
Vorbilde.
Wohl lehnt ſich auch hier der Widerſpruch auf, welcher
in der menſchlichen Natur ſo leicht ſich gegen jede begeiſterte
Anerkennung regt, und das für Kraft haltend, was im Grunde
nur Schwäche iſt, fragt die Welt, der das heute Neue mehr
gilt, als das ewig Wahre: Warum ſo viel Preis einem Manne,
der nichts Größeres thun konnte, als auf eine vor Jahrtau¬
ſenden dageweſene Kunſtzeit hinweiſen, wie ein rückwärts ge¬
wandter Prophet! Solcher Einrede gegenüber iſt es der Alter¬
thumswiſſenſchaft eigenſtes Intereſſe, Schinkel's Ruhm zu ver¬
treten; denn auch ihr wird der Kranz vom Haupte geriſſen,
wenn das Alte, weil es vergangen, auch abgethan ſein, wenn
es wie eine verblichene Schattenwelt hinter uns liegen ſoll,
der Gegenſtand einer unfruchtbaren Sehnſucht oder einer rein
hiſtoriſchen Wißbegier, ohne Beziehung auf unſer heutiges Le¬
ben und Denken. Unſere Wiſſenſchaft ſoll vielmehr der Opfer¬
grube des Odyſſeus gleichen, an welcher die Schatten der Unter¬
welt Geſtalt und Sprache gewinnen, um wie Lebende mit uns
zu reden, und wenn es wahr iſt, was Niebuhr ſagt, daß der,
welcher Verſchwundenes in das Leben zurückruft, die Seligkeit
des Schaffens genießt, ſo wird auch der Forſcher, je glücklicher
er auf ſeiner Bahn fortſchreitet, einem ſchaffenden Künſtler
immer ähnlicher. Ihn führt der Inhalt zur Form, das Er¬
kennen zum Bilde, die Forſchung zum Anſchauen. Vom ent¬
gegengeſetzten Standpunkte kommt ihm der Künſtler entgegen.
Dieſen führt das Bilden zum Erkennen — denn, von tieferem
Streben geleitet, wird er bald inne, wie alles Nachzeichnen
und Nachformen antiker Muſter eine Sklavenarbeit iſt, ein
Zahlen- und Buchſtabendienſt, wenn die Geſetze, aus denen
[80]Die Kunſt der Hellenen.jene Muſter entſtanden ſind, ihm unverſtanden bleiben. Ihn
führt die Anſchauung zur Forſchung — denn wie ein quälen¬
des Räthſel ſteht ihm jede Bildform des Alterthums gegenüber,
ſei es ein Tempel, ein Götterbild oder ein Dreifuß, wenn er
nicht in das geiſtige Leben des Volks eindringt, aus welchem
dieſe Geſtalten hervorgewachſen ſind. So reichen ſich bildende
Kunſt und wiſſenſchaftliche Forſchung die Hand, und wenn ſie
es thun in voller Erkenntniß des gemeinſamen Ziels und der
gegenſeitigen Unentbehrlichkeit, ſo iſt das eine Weihe von
Schinkel's Andenken und jede Frucht, die aus jener Verbindung
entſpringt, ein Ehrenmal Schinkel's.
Aber nicht nur das Verhältniß der Gegenwart zum Alter¬
thume iſt in unſerer raſtlos vorwärts jagenden Zeit ein viel¬
fach angefochtenes; den Begriff der helleniſchen Cultur ſelbſt
ſehen wir bei der Erweiterung der Alterthumsſtudien in Frage
geſtellt.
Die alte Welt gleicht einem durch breite Meeresflächen
von uns getrennten Lande, deſſen Küſtenſtriche und Inſelgrup¬
pen bei fortſchreitender Entdeckung zu einem immer größeren
und zuſammenhängenderen Welttheile anwachſen. Ungenannte
Völker, unbekannte Stätten alter Geſchichte treten nach ein¬
ander in unſern Geſichtskreis; unſere Vorſtellung vom Alter¬
thume iſt in ſteter Ausdehnung begriffen. Es liegt aber in
der Natur der Sache, daß man früher das Einzelne kennt,
als den Zuſammenhang des Ganzen, und wie bei ſinkendem
Nachtnebel erſt die Höhen frei werden und inſelartig neben
einander emporragen, während die Thalſenkungen lange im
Dunkel bleiben, ſo ſind es auch die verſchiedenen Culminationen
der antiken Cultur, welche völlig iſolirt neben einander dazu¬
ſtehen ſchienen — die aſiatiſche, die ägyptiſche, die griechiſch-
römiſche. Die zwiſchen liegenden Lücken füllte man mit ſolchen
Vorſtellungen aus, wie ſie gerade der wiſſenſchaftlichen Stim¬
mung entſprachen. So lange die alte Geſchichte ganz unter
dem Einfluſſe der Theologie ſtand, war man bemüht, Alles,
Worte wie Sachen, unmittelbar aus dem Oriente herzuleiten.
Später, als das Helleniſche in ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit
[81]Die Kunſt der Hellenen. aufgefaßt wurde, ſuchte man wieder mit einer gewiſſen Eifer¬
ſucht alles Fremde von den Hellenen fern zu halten, als wenn
bei Nachweiſung eines auswärtigen Einfluſſes ihre Ehre auf
dem Spiele ſtände.
Jetzt ſind die älteren Culturen des Morgenlandes in un¬
gleich beſtimmteren Formen vor unſere Augen gerückt. Dem
ägyptiſchen Volke kann man an ſeinen unverwüſtlichen Denk¬
mälern eine Geſchichte von mehr als vier Jahrtauſenden nach¬
rechnen, ſo daß, was etwa dem trojaniſchen Kriege gleichzeitig
iſt, vom ägyptiſchen Standpunkte aus, als etwas ſchon halb
Modernes, geringerer Aufmerkſamkeit würdig erſcheint. Die
aſſyriſche Welt mit ihrer Rieſenſtadt, mit ihren Königspaläſten
und Bilderſälen, welche ebenſo viel Muſeen der alten Ge¬
ſchichte ſind, ſteht wie durch ein Wunder enthüllt vor uns.
Der Geſichtskreis iſt ein anderer geworden; ein breiter, tiefer
Hintergrund hat ſich jenſeit der helleniſchen Cultur entfaltet,
von welchem ſie nicht abgelöſt werden kann. Zahlreiche Nieder¬
laſſungen, namentlich ſemitiſcher Stämme, laſſen ſich immer
deutlicher an den griechiſchen Küſten nachweiſen; die wichtigſten
Erfindungen des geſelligen Lebens wie die Beſtimmungen von
Maß und Gewicht bilden eine Kette ununterbrochenen Zu¬
ſammenhanges vom Euphratthale bis Italien; religiöſe Vor¬
ſtellungen und Gebräuche von unverkennbarer Verwandtſchaft
ziehen ein geheimnißvolles Band durch die Mythologien der alten
Völker, und aus der Beobachtung dieſer merkwürdigen That¬
ſachen bildet ſich jetzt eine allgemeine Culturgeſchichte des Alter¬
thums, von welcher man noch vor Kurzem keine Ahnung hatte.
Dadurch iſt die Stellung der Hellenen den älteren Völkern des
Morgenlandes gegenüber eine Hauptfrage hiſtoriſcher Forſchung
geworden, und wie auch in der Wiſſenſchaft jede energiſch ver¬
folgte Richtung ihren Rückſchlag nach ſich zu ziehen pflegt, ſo
iſt der Otfried Müller'ſchen Anſicht eine andere auf dem Fuße
gefolgt, welche in Religion und Sitte, in Philoſophie und
Kunſt den Griechen nichts Eigenes mehr laſſen will, und
während man ſonſt keine größeren Gegenſätze kannte als
Hellenenthum und Philiſterthum — ſo hat man jetzt die Lehre
Curtius, Alterthum. 6[82]Die Kunſt der Hellenen. aufgeſtellt, daß der ſemitiſche Stamm der Philiſtäer die grie¬
chiſche Halbinſel bevölkert und ihre Geſchichte begründet habe.
Unbefangene Forſchung führt uns indeſſen zu anderen Er¬
gebniſſen. Wir ſehen das griechiſche Land von einem uns ver¬
wandten Zweige der ariſchen Völkerfamilie, den Pelasgern,
bewohnt, die ſeit uranfänglicher Völkerwanderung dort ange¬
ſiedelt waren. Während in Aegypten und Aſien mächtige
Reiche, mit allen Erfindungen des Kriegs und Friedens aus¬
geſtattet, blühten, lebten ſie im Dunkel autochthoniſcher Zuſtände
und opferten, zu den ragenden Gipfeln ihrer Waldgebirge
emporſteigend, auf einfachen Erd- und Aſchenaltären dem
höchſten der Götter. An ihren Küſten landeten, um Purpur¬
muſcheln, Kupfer, Bauholz und Sklaven zu gewinnen, die
fremden Seefahrer und neugierig eilten die Kinder des Landes
hinab, um die am Strande ausgeſtellten Wunderdinge orienta¬
liſcher Induſtrie, phöniziſches Glas und Thongeſchirr, aſſyriſche
Teppiche und vielerlei bunten Schmuck einzutauſchen. Damals
waren ſie die Barbaren, und da ſie Alles zu lernen hatten,
was ſeit Jahrtauſenden ſchon in den geſegneten Niederungen
des Nil und Euphrat ſich die Menſchheit erworben hatte, ſo nah¬
men ſie begierig das Dargebotene an. Von den auf Küſten¬
inſeln und Vorgebirgen angeſiedelten Phöniziern lernten ſie
Alles, was dem Menſchen die Herrſchaft über die Natur ver¬
leiht: ſie lernten meſſen und rechnen, ſie lernten Stein, Holz
und Metall bearbeiten, ſie lernten des Gebirgs Schätze an
das Licht fördern, Dämme ziehen und Sümpfe trocknen, ſie
lernten Schiffe bauen und begannen ängſtlich die von ſidoni¬
ſchen Schiffern eröffneten Seebahnen nachzufahren.
Bei dieſen Zuſtänden ſollte es nicht bleiben. Es löſten
ſich aus den Völkermaſſen der nördlichen Landſchaften einzelne,
durch edle Begabung und Unternehmungsgeiſt hervorragende
Kriegerſtämme und drangen gegen Süden vor, die pelasgiſchen
Völker zu unterwerfen. Mit dieſer Unterwerfung beginnt die
Geſchichte Griechenlands. Nachdem ſeine Bewohner von den
Fremden ſo viel erlernt hatten, als zur Begründung eigener
Cultur nöthig war, beginnt der abſtoßende Gegenſatz gegen
[83]Die Kunſt der Hellenen. alles Ausländiſche. Europa ſcheidet ſich von Aſien; in ſtür¬
miſchen Jahrhunderten geht die alte, mit dem Morgenlande
verwachſene Ordnung der Dinge zu Grunde und wie die Io¬
nier, Achäer, Dorier ihre Staaten gründen, ſo erhebt ſich auf
dem Boden pelasgiſcher Völkerſchaften die helleniſche Welt.
Daß dieſe Welt im Vergleiche mit allem früher Dageweſe¬
nen etwas durchaus Neues ſei, das zeigt ſich ſchon aus den
örtlichen Bedingungen, welche jetzt, bei dem Eindringen der
geſchichtbildenden Stämme ihre volle Bedeutung erhalten. Das
von Meer und Gebirge durchſchnittene Land war nicht beſtimmt,
die Geſchichte des Orients fortzuſetzen. Während im Oriente
gleiche Culturen über Maſſen von Völkerſtämmen ausgebreitet
ſind und der Glanz ſeiner Reiche auf Vernichtung jeder Sonder¬
berechtigung, auf gleichförmiger Vereinigung unabſehlicher
Ländergebiete beruht — ſo entfaltet ſich hier die größte
Mannigfaltigkeit auf engſtem Raume. Die Möglichkeit der
Abgränzung und Abwehr in ſcharf gegliederten Bergkantonen
weckt den Trieb nach ſelbſtändigen Gauverfaſſungen; die Ar¬
beitsnöthigung, die der kargere Boden ſeinem Bewohner auf¬
legt, verhütet orientaliſche Erſchlaffung, und anſtatt daß namen¬
loſe Menſchenmaſſen durch Despotenlaunen getrieben werden,
erhebt ſich hier der Menſch zur geiſtigen Freiheit, für die er
geſchaffen iſt.
So iſt das Volk der Griechen mit dem geſammten Alter¬
thume verbunden, ſo löſt es ſich wiederum von dem Mutter¬
ſchoße orientaliſcher Geſchichte ab, um den größten Fortſchritt
zu bezeichnen, welchen aus inwohnender Kraft die Menſchheit
der alten Welt gemacht hat. Der Gedanke einer harmoniſchen
Ausbildung der geiſtigen und leiblichen Natur iſt zuerſt von
den Griechen gedacht und mit raſtloſer Energie verwirklicht
worden; ſie haben gezeigt, daß der Menſch berufen ſei, ſeinen
Werken eine von Maſſe und Ausdehnung unabhängige Be¬
deutung zu verleihen, eine innere Größe, die auf der Selbſt¬
beſchränkung beruht; ſie haben dem Maße über das Maßloſe,
dem Geiſt über die Materie den Sieg verſchafft. Das iſt die
originellſte That, die ein Volk gethan hat, und je mehr wir
6*[84]Die Kunſt der Hellenen. jenſeit der helleniſchen Welt die rückwärts liegende Vergangen¬
heit überblicken, deſto freier löſt ſich von ihr in ſeinem geſchicht¬
lichen Berufe das Volk der Hellenen.
Wir haben alſo volles Recht von einem helleniſchen Staate
zu reden, in welchem zuerſt die Menſchen, von kaſtenmäßiger
Beſchränkung frei, ſich gegenſeitig als Glieder einer ſittlichen
Lebensordnung anerkannt haben; von einer helleniſchen Wiſſen¬
ſchaft, in welcher der Gedanke zuerſt in ſelbſtbewußter Kraft
die Dinge der Außenwelt wie die Geſetze der eigenen Natur
ergründet hat, vor Allem aber von einer helleniſchen Kunſt,
der eigenthümlichſten Schöpfung dieſes Volks.
Keinem der Völker, welche die Geſchichte nennt, fehlt der
Keim kunſtbildender Thätigkeit, der auf einer gewiſſen Stufe
nationaler Entwickelung wie eine ſproſſende Naturkraft mit
innerer Nothwendigkeit hervortritt. Namentlich war den Völ¬
kern des Alterthums der unbewußte Trieb eingepflanzt, ſich in
dauerhaften Denkmälern zu bezeugen, deren Wiederentdeckung
einſt in ſpäten Jahrhunderten die Menſchheit über ihre Ver¬
gangenheit belehren ſollte. Wer die Schauplätze der alten
Geſchichte durchwandert, ſollte glauben, ihre Völker hätten
nichts gethan, als gebaut und gebildet. In ſeiner vollen Ent¬
faltung erſcheint dennoch dieſer Trieb erſt bei den Griechen;
als Hellene hat der Menſch ſein ſchöpferiſche Thatkraft zuerſt
nach allen Richtungen hin und durch alle Organe hindurch
vollſtändig erprobt.
Das natürlichſte Organ der Kunſt iſt das Wort, der bild¬
ſamſte Stoff für den Ausdruck des Innern, und weil die Kunſt
ihrem Weſen nach den Gegenſatz des Gebundenen und Unge¬
bundenen verlangt, ſo iſt das durch Maß und Rhythmus ge¬
feſſelte Wort das Organ der Kunſt, welcher die Griechen den
allgemeinen Namen ſchöpferiſcher Thätigkeit — Poeſie — als
Ehrennamen verliehen haben. Wie vollſtändig ſich dieſe Kunſt
bei ihnen entfaltet habe — einem Baume gleich, welchem des
Jahres Ungunſt keine Blüthe und keinen Fruchtkeim verküm¬
mert hat — das lehrt die Geſchichte der helleniſchen Dicht¬
kunſt, eine Wiſſenſchaft, welche zugleich eine praktiſche Kunſt¬
[85]Die Kunſt der Hellenen. lehre, eine Poetik für alle Zeiten genannt werden kann. Bei
der Poeſie und der ihr verwandten Muſik hat der Trieb
nationaler Kunſt unter den meiſten Völkern ſeine Befriedigung
gefunden, aber nicht bei den Hellenen. Es quälte ſie die todte
Maſſe des Unorganiſchen, welche ſie umſtarrte; es drängte ſie,
auch das dem Menſchengeiſte Fernſte und Fremdeſte, Stein und
Erz aus den dunkeln Tiefen der Bergſpalten hervorzuziehen
und dem trägen Stoffe ein höheres Sein zu verleihen, indem
er ſich unter ihrer Hand in bedeutungsvolle, zweckerfüllte,
lebenathmende Formen fügen mußte — das iſt das Reich der
bauenden und bildenden Künſte, deren verſchiedene, durch Stoff
und Zweck bedingte Gattungen ſich in Hellas zuerſt ebenbürtig
neben einander entwickelt haben. Dieſe Künſte, welche noch
mehr, als die Poeſie Gemeingut des ganzen Volks genannt
werden konnten, ſtanden nicht in bunter Mannigfaltigkeit loſe
neben einander; wir ſehen ſie nicht auf ihre Einzelgattung
eiferſüchtig, ſich eigenſinnig gegen einander abſperren, eine jede
im beſonderen Virtuoſenthume ſich groß dünkend — vielmehr
harmoniſch unter einander verbunden, zu einem großartigen
und neidloſen Zuſammenwirken, welches im Dienſte der Gott¬
heit ſeinen Mittelpunkt und ſeine Weihe fand.
So wenig wir den großen Culturzuſammenhang zwiſchen
Griechenland und dem Oriente läugnen, ſo entſchieden müſſen
wir doch die Kunſt in dieſem Sinne, in dieſer reichen Ver¬
zweigung und dieſer innern Einheit des Lebensprincips eine
national-griechiſche nennen, die von allem früher oder ſpäter
Dageweſenen weſentlich verſchieden iſt. Aehnliche Formen der
Plaſtik wie der Architektur mögen ſich vereinzelt in älteren
Kunſtperioden nachweiſen laſſen — damit verhält es ſich wie
in der Natur, welche auf unteren Entwickelungsſtufen gewiſſe
Formen vorbildlich auftreten läßt, um ſie erſt auf höheren
Stufen zur vollen Bedeutung gelangen, zur vollen Wahrheit
werden zu laſſen.
Bei den meiſten Völkern wird in günſtigen Zeitläuften
die Kunſt wie ein Gegenſtand des höheren Lebensgenuſſes
eingeführt und bleibt von Modelaunen, perſönlichen Einflüſſen
[86]Die Kunſt der Hellenen.und Zufälligkeiten abhängig, welche ihre Richtung, ihr Be¬
ſtehen und Vergehen beſtimmen, ohne daß dadurch die Natur
des Volks weſentlich verändert werde. Der Hellenen ganze
Nationalität war aber auf die Kunſt angelegt; das Schöne,
als die in die Sinnlichkeit tretende Offenbarung des Guten,
war ihnen ein Lebensbedürfniß, das ſie nicht ruhen ließ, an
ſich und um ſich die Idee der Schönheit darzuſtellen; darum
war die Kunſt ein ſo weſentlicher Theil ihres Lebens und
Strebens, deſſen Verſtändniß ohne ſie unmöglich iſt. Sie iſt
das verklärte Abbild, das beſſere Selbſt des Volks. Denn
im geſelligen und öffentlichen Leben da zeigen ſich die Griechen
— wer wollte das aus blinder Schwärmerei läugnen? — ſo
unzuverläſſig, eitel, leichtfertig und neuerungsſüchtig; in ihrem
Kunſtleben dagegen wie ernſt und beharrlich, wie klar und
vernünftig, treu ſich ſelbſt und dem überlieferten Geſetze! Daher
der erziehende Einfluß der Kunſt, daher ihre Kraft, den Men¬
ſchen in ſeinen Neigungen zu läutern und aus den niederen
Sphären der Sinnlichkeit emporzuheben. Das Unſittliche ſollte
für die Kunſt nicht da ſein und ihre Schönheit keine höhere
Bedeutung haben, als die Seelen zum Guten und Göttlichen
hinzuziehen. Darum verſchmähte ſie täuſchenden Sinnenreiz;
ſie war enthaltſam und keuſch, wie die Natur beſtrebt mit den
geringſten Mitteln den Zweck zu verwirklichen, vom inwoh¬
nenden Geſetze ganz erfüllt und darum durch und durch wahr
und echt.
Das ſind die Kennzeichen, welche unter allen Völkern der
Erde allein die Hellenen ihrer Kunſt aufgeprägt haben.
Wie in Beziehung auf das räumliche Beiſammenſein der
Völker ſich zwei entgegenſtehende Anſichten gebildet haben,
deren eine jedes Volk in möglichſt abgeſchloſſener Selbſtgenüg¬
ſamkeit iſoliren will, während die andere freieſten Verkehr und
freieſten Austauſch verlangt, damit jedes Land ſeine beſonderen
Kräfte auf das Ungezwungenſte entfalte — ſo giebt es auch
in Beziehung auf die durch Zeiträume geſchiedenen Völker der
Geſchichte einen ähnlichen Gegenſatz der Meinungen. Die Einen
wollen jedes Zeitalter unabhängig von dem anderen; ein jedes
[87]Die Kunſt der Hellenen. ſoll ſein Recht, ſeine Philoſophie, ſeine Kunſt und Wiſſenſchaft
frei aus ſich hervorbringen; die Anderen aber erkennen unter
den Völkern der verſchiedenen Zeiten eine große Gemeinſchaft,
innerhalb welcher ſie kein abgelöſtes Einzelleben anerkennen
können; ſie ſehen namentlich die großen Culturvölker alter und
neuer Zeit zu gemeinſamer Handreichung, zu wechſelſeitiger
Ergänzung in einem heiligen Bunde vereinigt. Dieſe Anſicht
iſt die hiſtoriſche und wer Schinkel's Andenken feiert, kann
nicht anders als zu ihr ſich bekennen.
Wenn wir an eine Vorſehung glauben, welche nicht erſt
mit unſerer Zeitrechnung begonnen hat, die allgemeine Welt¬
geſchichte und Weltbildung nach einem großen Plane zu ordnen,
ſo erkennen wir deutlich, wie von den hervorragenden Völkern
des Alterthums jedes ſeine unvergängliche Miſſion hat. Denn
was ein Volk in hoher Vollendung hervorbringt, das geht
über daſſelbe hinaus und wird welthiſtoriſch. So haben die
Römer den Beruf gehabt, den Begriff des Staats in einer
Weiſe zu verwirklichen, wie er in der Geſchichte der Menſch¬
heit nicht dageweſen war. Der griechiſche Staat blieb immer
ſeinem Weſen nach eine Stammverbindung; er theilte daher
das natürliche Leben der Stämme, er blühte und welkte mit
ihnen. Die Römer aber, von Anfang an aus verſchiedenen
Stämmen zuſammengewachſen, die ſich auf den Tiberhügeln
vereinigten, gründeten ihren Staat auf eine höhere, das von
Natur Verſchiedenartige verbindende Einheit und dadurch wurde
er befähigt, mit beiſpielloſer Lebenskraft ſich Schritt für Schritt
bis an die Gränzen der Welt auszudehnen. Ihr Reich iſt
wiederum jüngeren Erben der Weltgeſchichte anheimgefallen,
aber die Norm, nach welcher ſie ihr Zuſammenleben geregelt
haben, iſt bei allen gebildeten Völkern der Erde die Grund¬
lage des Rechtszuſtandes geworden.
Was die Römer für das Recht, das ſind die Hellenen für
Wiſſenſchaft und Kunſt geweſen — oder ſollen wir glauben,
daß ſo hoch Vollendetes nur für das Ländchen Hellas beſtimmt
war und für die kurze Spanne Zeit, die wir die griechiſche
Geſchichte nennen? Wie einſeitig und vergänglich waren die
[88]Die Kunſt der Hellenen.äußeren Formen dieſer Geſchichte — entweder ſpartaniſche
Starrheit, welche das bewegte Leben in eiſerne Feſſeln ſchla¬
gen wollte, oder eine feſſelloſe Volksbewegung, wie in Athen,
wo ſich wie im zehrenden Fieber die menſchlichen Kräfte auf¬
rieben! Dieſe Gegenſätze, im engen Lande ſchroff gegen ein¬
ander ausgebildet, zerriſſen ſo früh das Band der Einigkeit
und zerſtörten ſo ſchnell die griechiſche Unabhängigkeit, daß
ſelbſt die glänzendſte Zeit der Nationalmacht, die der Perſer¬
kriege, nur wie eine Pauſe der Bürgerfehden erſcheint, welche
der griechiſchen Freiheit das Grab gruben. Die helleniſchen
Staaten ſind zu Grunde gegangen im Mutterlande wie in den
Colonien, entweder von rohen Siegern zertrümmert oder in
allmählichem Siechthume abſterbend; nachdem der Genius des
Lebens von ihnen gewichen, waren alle Anſtrengungen ihrer
nachgeborenen Helden, eines Demoſthenes und Philopoimen,
nicht im Stande, die Geſchichte des Volks wiederherzuſtellen
— ihre Kunſt aber verließ das ſieche Vaterland und, dem
Siegerſchritte Alexander's folgend, durchdrang ſie den Orient,
der nun, aus ſeiner Lethargie aufgerüttelt, zum erſten Male
von den weſtlichen Ländern Sprache, Sitte und Religion,
Wiſſenſchaft und Kunſt empfing. Mit Staunen ſahen wir in
den letzten Jahrzehnten griechiſche Städte in den entlegenſten
Bergwinkeln Vorderaſiens auftauchen mit Marmortempeln und
Markthallen, mit Gymnaſien, Theatern und Stadien und was
im Mutterlande die Kunſt an Großartigkeit nicht zu verwirk¬
lichen vermocht hatte, das gelingt ihr in Pergamus und An¬
tiochien. So war das Ende der griechiſchen Geſchichte für
die griechiſche Kunſt der Anfang ihres Weltganges, der ſie
von Syrien nach Rom führte, auf daß ſie mit ihrem Schmucke
die Hauptſtadt Italiens als Weltbeherrſcherin kröne.
Mit Rom ſank die helleniſche Kunſtwelt in Schutt und
Vergeſſenheit; nun ſchien es, als wenn in der That die Miſſion
der alten Welt eine erfüllte und abgeſchloſſene wäre. Völker
roher Kraft, welche von der Geſchichte der klaſſiſchen Länder,
die ſie unterjochten, nichts wiſſen wollten, erfüllten die von
anderen Gedanken bewegte Welt und an den Reſten der Ver¬
[89]Die Kunſt der Hellenen. gangenheit, welche als einſame Zeugen derſelben über dem
Boden ſtehen geblieben waren, gingen die Menſchen gedanken¬
los und mit ſtumpfen Sinnen vorüber. Wer wollte die Größe
jener Jahrhunderte verkennen, die ihre tiefe Sehnſucht nach
dem Göttlichen nicht nur in Heerzügen und Schlachten, ſondern
auch in tiefſter Forſchung und in unvergänglichen Denkmälern
bezeugt haben! Aber zu einer harmoniſchen Ausbildung der
geiſtigen Kräfte gelangten die Menſchen nicht, und als die
Völker ſich in ruheloſem Drängen erſchöpft hatten, — da öff¬
nete ſich die Schuttdecke, welche die alte Welt von der neuen
trennte. Die Schriften der Alten wurden wieder geleſen, ihre
Bildwerke hervorgezogen, ihre Sprachen neu belebt und wie
Sophokles von den attiſchen Oelbäumen ſingt, daß ſie, durch
Zeus beſchützt, von keiner Gewalt ausgerottet werden könn¬
ten — ſo trieb der verſtümmelte und verſchüttete Stamm
helleniſcher Kunſt, ſo wie er von Neuem mit Licht und Sonnen¬
wärme in Berührung kam, in unverſiegter Lebenskraft Blätter
und Blüthen.
Man hat die Entdeckung der neuen Welt mit allem Auf¬
wande gelehrter Forſchung ergründet — wollte man eine Ge¬
ſchichte der Wiederentdeckung des Alterthums ſchreiben, man
würde erkennen, wie unter ſichtbarer Leitung der Vorſehung
die Schätze nach einander aus dem Schutte der Vergeſſenheit
befreit ſind, wie aus dem geöffneten Grabe der alten Welt
friſches Leben in die neue Zeit hinübergeſtrömt, wie endlich
unſere Welt durch Aneignung des Alterthums nach und nach
eine andere geworden iſt. Anderer Völker Geſchichte, Litteratur
und Kunſt kann man ſein Leben lang ſtudiren und man bleibt
innerlich doch, was man geweſen iſt; in das helleniſche Kunſt¬
leben kann ſich Niemand mit wahrer Hingebung verſenken,
ohne eine umbildende Kraft an ſich zu erfahren. Darum macht
die klaſſiſche Bildung, mag ſie auf dem Wege wiſſenſchaftlicher
Forſchung oder bildlicher Anſchauung erworben ſein, eine durch¬
greifende Scheidung in der menſchlichen Geſellſchaft.
So ſehr dieſe Erfahrung für die Lebenskraft des Alter¬
thums zeugt, ſo könnte doch eine Einwirkung ſolcher Art ge¬
[90]Die Kunſt der Hellenen. fährlich erſcheinen und unheimliche Beſorgniß erwecken. Wir
wollen uns ja doch nicht ſelbſt verlieren, noch auf die beſon¬
dere Berechtigung unſerer Zeit und unſerer Nation verzichten.
Und in der That, wenn die helleniſche Kunſt, mit Begeiſterung
ergriffen, dahin wirkte, daß ſie das Angeborene und Urſprüng¬
liche abtödtete und im beſten Falle keinen anderen Erfolg hätte,
als daß ein eingepfropftes Reis auf fremdem Stamme ein
künſtliches Gedeihen gewönne — ſo hätten wir ein Recht, uns
vor der überwältigenden Macht des helleniſchen Kunſtgeiſtes zu
fürchten. Aber verhält es ſich ſo? Wir Deutſche müſſen dies
beim Rückblick auf unſere Vergangenheit verneinen. Seit ſich
die Kunſt des Mittelalters erſchöpft hat, ſehen wir in unſerer
Poeſie alles Große an das Alterthum ſich anſchließen; ja den
ſeltnen Vorzug einer zwiefachen Zeit klaſſiſcher Schöpfungen
verdankt unſer Vaterland der geiſtigen Berührung mit dem
Alterthume, und die innigſte Verſchmelzung des helleniſchen
und deutſchen Geiſtes bezeichnet nach unſer Aller Einverſtänd¬
niß den Höhepunkt unſerer Litteratur. Die unverwelklichſten
Lorbern ſchlingen ſich um die Dichtungen Goethe's, welche
man eben ſowohl helleniſch wie deutſch nennen könnte, und
anſtatt daß das Urſprüngliche und Nationale in dieſer Ver¬
bindung erdrückt wäre, finden wir gerade in der helleniſch an¬
geregten Zeit zum erſten Male wieder den vollen und tiefen
Inhalt unſers inneren Lebens in die Poeſie hineingetragen
und den zerriſſenen Zuſammenhang mit unſerer germaniſchen
Vorzeit wiederhergeſtellt. Durch Homer ſind wir zu den Nibe¬
lungen gekommen, die Hellenen haben uns zu uns ſelbſt und
zur Natur zurückgeführt. Wie die ewig gültige Religion ſich
darin bewährt, daß ſie die Naturen der Menſchen wie der
Völker nicht abtödtet, ſondern ſie zu einer höheren Indivi¬
dualität ſteigert — ſo zeigt ſich auch die wahre Kunſt darin,
daß ſie überall, wo ſie aufgenommen wird, ein neues und
eigenthümliches Leben entzündet.
Eine ſolche Verbindung einheimiſcher und helleniſcher
Kunſt iſt nur bei den Deutſchen vollzogen worden. Andere
Litteraturen haben ſich auch unter die Geſetzgebung der Hel¬
[91]Die Kunſt der Hellenen. lenen geſtellt, aber ſie haben todte Formeln und abſtrakte Re¬
geln von ihnen zu gewinnen geſucht, und ſich dem Buchſtaben
derſelben in blindem Gehorſam unterworfen. Daraus iſt
eine Sklaverei geworden, deren Joch der aufſtrebende Volks¬
geiſt zerbrechen mußte, und die Folge davon iſt auch auf dem
Gebiete der Kunſt ein Schwanken zwiſchen Despotismus und
Anarchie geweſen. Unſer Volk hat den Geiſt der Alten, wie
wir es ſo treffend auszudrücken vermögen, ſich zu eigen ge¬
macht; er iſt unſer Saft und Blut geworden.
Dieſe Aneignung iſt aber nicht vollendet, die Einwirkung
des Alterthums keine geſchloſſene. Was wir in der Poeſie
unſers Volks als eine vollendete Thatſache nachweiſen können,
iſt im Gebiete der bildenden Kunſt kaum begonnen. Das bil¬
dende Alterthum iſt uns überhaupt ſpäter aufgeſchloſſen, als
das denkende und dichtende; die Entdeckung der Monumente
iſt erſt nach langer Friſt auf die der Schriftwerke gefolgt und
deshalb auch die Kunſtgeſchichte der am letzten entwickelte Theil
der Alterthumswiſſenſchaft. Der Mann ſelbſt, in deſſen Haupte
der Gedanke einer griechiſchen Kunſtgeſchichte geboren iſt, er¬
faßte ihn mehr als eine dämmernde Ahnung, als daß er ihn
durchzuführen im Stande geweſen wäre. Wie ferne ſtand doch
Winckelmann der Welt griechiſcher Kunſt, wie war beſonders
ihre Baukunſt ihm ein gänzlich Verſchloſſenes, und indem er
mehr ſeine eigenen Empfindungen bei der entzückten Anſchauung
der Kunſtwerke beſchrieb, als die Werke ſelbſt und ihre in¬
wohnenden Bildungsgeſetze, ſo wirkte er im Ganzen mehr als
poetiſch anregender und ſittlich erhebender Schriftſteller, als
daß er die alte Kunſt in unſer Leben einzuführen vermocht hätte.
Wie es des Dichters bedurfte, um in einer Iphigenia die
innigſte Vermählung des helleniſchen und deutſchen Geiſtes
darzuſtellen, ſo bedurfte es auch eines künſtleriſchen Genius,
die Wiedergeburt helleniſcher Kunſt auf deutſchem Boden aus
der Sphäre ſentimentaler Sehnſucht in die Wirklichkeit zu
führen und ſie in unwiderſprechlichen Thaten vor Aller Augen
darzuſtellen. Dieſer Genius war Schinkel — und wenn die
Gedanken, die ich zur Ehre ſeines Andenkens an einander
[92]Die Kunſt der Hellenen. gereiht habe, uns in ſcheinbar weit entlegene Räume der Welt¬
geſchichte und in die verſchiedenſten Fächer geiſtiger Thätigkeit
geführt haben, ſo leiten ſie doch alle zu dem Manne zurück,
welcher wie ein Jeder, der in unſerer Zeit etwas Großes
leiſten will, im Mittelpunkte der Menſchengeſchichte ſtehen und
zwei Welten in ſeinem Geiſte tragen muß.
Säulen nach griechiſchem Maße hat man lange vor
Schinkel aufgerichtet, aber eine doriſche Halle, an eine mo¬
derne Fenſterwand hinangeſchoben, macht eben ſo wenig ein
griechiſches Gebäude, wie ein Citat aus dem Demoſthenes
einer Parlamentsrede den Stil klaſſiſcher Beredſamkeit auf¬
prägt. Die Alten ſind uns nicht deshalb in ihren Werken
erhalten, um von uns citirt zu werden, ſondern damit wir
das darin enthaltene ewig Wahre und Gute feſthalten. Die
genialſten Philoſophen der chriſtlichen Welt haben keine ande¬
ren Geſetze des Denkens zu erſinnen vermocht, als die, welche
Ariſtoteles in ſeiner Logik entwickelt hat; ſo wird auch keine
Folgezeit die Geſetze bildender Kunſt umzuſtoßen vermögen,
welche die Griechen in Marmor geſchrieben haben. Das aber
iſt Schinkel's Verdienſt, daß er einem ſelbſtſüchtigen und zucht¬
loſen Originalitätstriebe gegenüber der Welt gezeigt hat, wie
wohl einer vollbürtigen dichteriſchen Schöpferkraft jene Weis¬
heit und Selbſtbeherrſchung anſtehe, die ſich demüthig unter
die Zucht des als wahr erkannten Geſetzes beugt.
Die griechiſche Muſe iſt als Dienerin übermüthiger
Herrſcherpracht aus ihrem Vaterlande nach Aſien und Afrika
gewandert, ſie iſt als Sklavin nach Rom geſchleppt, um dort
in den Paläſten der Welteroberer mit ihren Reizen zur Schau
zu ſtehen — als die freie Tochter von Hellas iſt ſie zuerſt
wieder bei uns erſtanden, um in ihrer keuſchen Schönheit unſer
Leben zu erfreuen, unſeren Sinn zu erheben und uns aus der
unerträglichen Sklaverei der Mode zu befreien. Seit den
Tagen des Perikles iſt zuerſt wieder bei uns mit vollem und
geiſtigem Verſtändniſſe helleniſcher Kunſtgeſetze zu bauen ver¬
ſucht worden — es fragt ſich, ob auch dies Beſtreben wie
eine Modelaune vorübergehen und vergeſſen werden, oder ob
[93]Die Kunſt der Hellenen. es wie ein gährendes Lebensprincip in unſere deutſche Kunſt
aufgenommen werden ſoll. Die Trägheit der menſchlichen
Natur ſträubt ſich gegen den unbequemen Einfluß einer um¬
bildenden Kraft; der menſchliche Hochmuth wehrt ſich gegen
die Anerkennung überlieferter Geſetze. Aus beiden Gründen
ſucht man ſich mit der alten Kunſt abzufinden; man will ſie
weder ganz verabſäumen noch ganz anerkennen, und während
jeder Gebildete über den lacht, welcher ſich den Anſchein geben
will einer Sprache mächtig zu ſein, während er ohne Kenntniß
ihrer Geſetze nur Silben und Wörter zuſammenreiht, ſo läßt
man ſich in der Kunſt das Kauderwelſch unverſtändig ange¬
wendeter Formen mit übertriebener Nachſicht gefallen. So
ungeduldig der Geiſt nach Fortſchritt drängt, eine geſunde
Fortentwickelung iſt nicht möglich, wenn wir das Vermächtniß
des Alterthums von uns weiſen, und ſoll der Weg, den
Schinkel gebahnt hat, wirklich die Entwickelungsbahn deutſcher
Kunſt werden, ſo liegt uns eine zwiefache, unabweisbare Auf¬
gabe vor. Zuerſt die fortſchreitende Erkenntniß der helleniſchen
Bauweiſe und der in ihr liegenden Vernunft, und zweitens
der entſchloſſene Wille, dieſe Grundſätze echter Kunſt mit aller
ſittlichen Kraft zu vertreten zum Segen einer Zeit, die mehr
als jede andere ihre Söhne ermahnt, auf allen Gebieten des
geiſtigen Lebens an dem ewig Gültigen feſtzuhalten. Darum
Heil den Männern, welche auf ſolchem Wege, bauend und
bildend oder forſchend und lehrend, an dem Lebenswerke
Schinkel's fortarbeiten!
VI.
Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre
Beſtimmung.
Die öffentlichen Gebäude, welche von der Akademie bis
zur Spree die Prachträume unſerer Stadt einfaſſen, ſind ein¬
zeln ſowohl wie in ihrem Zuſammenhange Allen verſtändlich;
man erkennt leicht, wie die Mannigfaltigkeit derſelben den
verſchiedenen Richtungen des öffentlichen Lebens entſpricht und
inſonderheit mit der Geſchichte unſeres Staats in enger Ver¬
bindung ſteht. Nur ein Gebäude ſteht fremdartiger da und
weiſt ſchon durch ſeine ioniſche Vorhalle auf eine ganz andere
Welt hin. Wer alſo über die menſchlichen Dinge nachzudenken
gewohnt iſt, dem werden ſich, wenn er vor dem Muſeum ſteht,
allerlei Fragen aufdrängen über die Bedeutung des Namens,
über die Veranlaſſung ſolcher Anlagen und die Beſtimmung
derſelben, und je weniger vorauszuſetzen iſt, daß er aus der
Inſchrift des Architravs oder aus den Schriften, welche ihm
an der großen Freitreppe angeboten werden, über dieſe Fragen
zu erwünſchter Klarheit gelange, um ſo geeigneter ſchien es
mir, ſie in dieſen Räumen einmal zur Sprache zu bringen;
denn es ſind Fragen, welche das uns Nächſtliegende betreffen
und zugleich geſchichtliche Entwickelungen von allgemeinem In¬
tereſſe berühren.
Von den Muſen müſſen wir anfangen, und wenn dieſer
Name bei Vielen unter uns die Erinnerung wach ruft, wie
[95]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. ſie mit viel Mühe, aber immer ſchwankendem Erfolge die
Namen, Wahrzeichen und Geſchäfte der neun Jungfrauen ſich
einzuprägen verſucht haben, ſo kann man zu ihrer Beruhigung
ſagen, daß dieſe weibliche Akademie der Künſte und Wiſſen¬
ſchaften in verhältnißmäßig ſpäter Zeit entſtanden, von Ge¬
lehrten gemacht iſt und daß ſie nicht im Volksbewußtſein der
Hellenen wurzelt. Dem Volke waren die Muſen Naturgeiſter,
Nymphen, welche an Quellen und Flüſſen zu Hauſe waren.
Denn die Quelle, welche durch den dürren Felſen bricht, war
dem Hellenen die edelſte Gottesgabe, und er kannte keinen
anſprechenderen Aufenthalt, als die kühle Felsgrotte, in wel¬
cher das Waſſer ſich ſammelt. War nun ein Quell auf ein¬
ſamem Berghaupte entſprungen, erſchien er um ſo mehr als
ein beſonderer Segen, als ein Wunder der Gnade. Die
friſche Bergluft, das Rauſchen der Wälder erhöhte den wohl¬
thuenden Eindruck und rief eine freudig erhobene Stimmung
hervor, welche die Grundbedingung poetiſcher Hervorbringung
iſt. So erhielten die Quellen den Ruhm begeiſternder Kraft,
ſo wurden die Nymphen zu Muſen und einzelne Bergquellen
zu hervorragenden Stätten des Muſendienſtes. Es entſtand
das Heiligthum der pieriſchen Muſen am Olympos, der Mu¬
ſenhain am Helikon, wo die Hippokrene durch den Hufſchlag
des Flügelpferdes geöffnet ſein ſollte. Die wilde Bergland¬
ſchaft erhielt durch die Hand der Kunſt Reiz und Bedeutung.
Es wurden Altäre gegründet und Verſammlungsplätze für die
Feſtgenoſſen eingerichtet. Weihgeſchenke wurden im Schatten
der Bäume aufgeſtellt und Bilder der Muſen ſowie der in
den Wettkämpfen bewährten Künſtler. Denn in dieſen Mu¬
ſenheiligthümern kamen diejenigen zuſammen, welche ſich der
Kunſt widmeten. Hier wurden die Sangesweiſen ausgebildet,
die Inſtrumente erfunden und vervollkommnet. Meiſter der
Dichtkunſt thaten ſich hervor, Schulen bildeten ſich, in denen
nach zünftiger Weiſe gewiſſe Kunſtrichtungen gepflegt wurden;
ſo am Olympos eine orphiſche Schule, am Helikon eine Schule
des Heſiodos. Man pflegte die Ueberlieferung, man ſammelte
Urkunden über Kunſtweiſen und Künſtler, und wie um alle
[96]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.Quellen eine natürliche Vegetation aufſprießt, ſo um die Mu¬
ſenquellen ein geiſtiges Leben von reicher Mannigfaltigkeit,
Poeſie, bildende Kunſt und Wiſſenſchaft. Das ſind die äl¬
teſten Muſeen.
Solche Anlagen blieben nicht auf Helikon und Olympos
beſchränkt; ſie verbreiteten ſich nach allen Stätten des helle¬
niſchen Landes. Man ſuchte dabei den Charakter der Länd¬
lichkeit feſtzuhalten, wie es den Quellnymphen entſprach, und
legte vor den Städten die Muſeen an, ſo vor Athen am
Iliſſos, und am Kephiſos in der Akademie, wo Platon den
Muſen opferte. Auch in Stageiros war ein Muſenhain, wo
die Jugend, welcher Ariſtoteles angehörte, zu höherer Bildung
angeleitet wurde. Ja, kein Dienſt iſt ein ſolches Kennzeichen
des helleniſchen Weſens geworden, wie der mit Apollon ver¬
bundene Dienſt der Muſen. Sie bringen überall zum Guten
das Beſte, ſie werden dadurch auch den Göttern unentbehrlich
und für die Hochzeit von Peleus und Thetis war kein edlerer
Schmuck zu erſinnen, als daß, von Apollo geführt, die Muſen
das Brautlied ſangen.
Dieſer Muſendienſt folgte den Hellenen, wohin ſie gingen,
und diente dazu, die nachgeborenen Griechenſtädte, die Grün¬
dungen Alexander's und ſeiner Feldherren, als ebenbürtige
Töchter von Hellas zu beglaubigen.
Es hatte ſich aber der Begriff des Muſendienſtes mit der
Bildung weſentlich verändert. Die ſchaffende Kraft war er¬
lahmt und in demſelben Grade hatte der Trieb der Forſchung
ſich über alle Gebiete der Natur und des Geiſteslebens aus¬
gedehnt. Die ariſtoteliſche Philoſophie war der Lebensodem
dieſes Zeitalters und nach dem Maßſtabe des Koloſſalen, wie
ihn die Zeit liebte, wurde in Alexandreia ein Muſeum ge¬
gründet, eine prachtvolle Staatsanſtalt, welche den Gelehrten
mitten im Lärme der Weltſtadt einen Aufenthalt ſicherte, wo
ſie ſorgenfrei und ſtill der Wiſſenſchaft leben konnten. Aber
nicht bloß Ruhe und Muße wurde ihnen gewährt, ſondern
auch das Material der Forſchung in großartigſter Weiſe zu¬
ſammengebracht, und die Urkunden des Morgenlandes ſah
[97]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. man zum erſten Male mit den Werken helleniſcher Dichter
und Philoſophen in einer Bibliothek, einem gemeinſamen Ar¬
chive des Menſchengeiſtes, vereinigt.
So fremdartig, ſo neu dieſe Schöpfung erſcheint, ſo ſteht
ſie dennoch mit den alten Ueberlieferungen in unverkennbarem
Zuſammenhange. Hatte doch auch Sophokles einen den Mu¬
ſen geweihten Verein gegründet, deſſen Mitglieder an be¬
ſtimmten Tagen zuſammenkamen, um die ſchönen Künſte ge¬
meinſam zu pflegen; auch Ariſtoteles' Schüler hatten in Athen
als Sammelort gleichgeſinnter Männer ein Muſeum geſtiftet.
An ein Muſenheiligthum ſchloſſen ſich auch in Alexandreia die
Säle, Hallen und Sammlungen an; ein Muſenprieſter war
der Vorſtand des Gelehrtenvereins. In den Bücherſälen ſtan¬
den die Büſten der Autoren, wie der Dichter Standbilder auf
dem Helikon; ja die Sammlungen ſelbſt hatten ihr beſchei¬
denes Vorbild in den Handſchriften heſiodiſcher Gedichte, welche
man in dem Muſenhain des Helikon aufbewahrte.
Dieſe Traditionen gehen auch durch die römiſche Zeit,
ſeit die Römer Griechen zu werden ſuchten. Einer der ge¬
lehrteſten aller Römer, M. Terentius Varro, hatte auf einer
Flußinſel ſeinen Studienort, den er ſein Muſeum nannte; eine
ſolche Inſel war es auch, wo Cicero unweit der väterlichen
Villa mit ſeinen Freunden philoſophiſche Unterredungen hielt.
Die Nähe fließender Gewäſſer ſchien hier, wie am Iliſſos und
in der Akademie, zum Wohnſitze der Muſen unentbehrlich. Ja,
ſo mächtig war die aus dem früheſten Alterthume ſtammende
Ueberlieferung, daß man die Muſeen gern in Form von Nym¬
phengrotten mit überhangendem Felsgewölbe baute und den
Fußboden mit bunten Steinen auslegte, in denen man Kräuter,
Moos und dergl. nachbildete, wie es ſich in Ufergrotten findet.
Daher kommt ja auch der Name Muſivum oder Moſaik, der
ſich nur daraus erklärt, daß die Muſen der Hellenen ur¬
ſprünglich nichts Anderes als Quellnymphen waren.
Was die Alten Muſeum nannten, iſt alſo von dem, was
wir hier darunter verſtehen, weſentlich verſchieden, und inſo¬
fern täuſcht der Name, welchen wir in goldnen Lettern über
Curtius, Alterthum. 7[98]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.der Eingangshalle leſen. Eine andere Frage iſt, ob nicht
auch im Alterthume Anlagen vorhanden waren, welche als
Schatzkammern von Kunſtdenkmälern unſern Muſeen entſprachen.
Hier müſſen wir gleich zweierlei unterſcheiden, gewordene
und gemachte Muſeen.
Die erſteren waren vorhanden, ſo lange es eine öffent¬
liche d. h. für die gemeinſamen Intereſſen des Staats und
der Religion thätige Kunſt gab. Muſeen waren die Königs¬
paläſte von Aſſyrien und Aegypten, wenn darin ein Pracht¬
raum an den andern ſich reihte, um durch ſeine künſtleriſche
Ausſtattung von neuen Siegen und Eroberungen ein monu¬
mentales Zeugniß zu geben.
Bei den Hellenen war die Religion der Boden, in wel¬
chem die Kunſt wurzelte. Um die Gottheit zu ehren, arbeitete
der menſchliche Geiſt unabläſſig, ging von einer Erfindung
zur anderen über, vom Leichten zum Schweren fort, das ein¬
mal Erlernte zähe feſthaltend; immer mehr der Stoffe Herr,
immer ſicherer befähigt, in jedem, auch dem ſprödeſten Ma¬
teriale dasjenige zum Ausdruck zu bringen, was das Menſchen¬
herz bewegen kann. Indem man ſich nun beeiferte, die Gott¬
heit, mit dem Beſten, was man bieten konnte, zu erfreuen,
mit den vollſten Garben des Feldes, den kräftigſten Thieren
der Heerde und ebenſo mit den edelſten Geſtalten menſchlicher
Jugend, welche im Tempeldienſte, in Feſtreigen oder im Wett¬
kampfe den Landesgöttern vor Augen traten: ſo wurde auch
von Allem, was unter ihrem Schutze den Menſchenkindern
gelungen war, der Zoll des Danks dargebracht. Der See¬
fahrer und Fiſcher, der Krieger, der Kaufmann, der Jäger —
Jeder brachte etwas ſeinem Berufe Entſprechendes. So wur¬
den in jedem Stoffe und jedem Maße die Huldigungen dar¬
gebracht, denn die Götter verſchmähen auch des Aermſten Gabe
nicht, während die Reichen es als Pflicht anſahen, ihrem
Vermögen Entſprechendes zu bringen. So wurden die Weih¬
geſchenke ein Spiegelbild des bunten Menſchenlebens und ein
Maßſtab der in allen Gattungen und auf allen Stufen ver¬
tretenen Kunſtentwickelung.
Im Tempel von Epheſos ſah man das Bild der Nacht,
eine der ehrwürdigſten Incunabeln griechiſcher Kunſt, und da¬
neben aus der Zeit des Pheidias eine ſo ſtattliche Reihe von
Amazonenſtatuen, daß man ſie aus einer vom Tempelinſtitute
ausgegangenen Concurrenz erklärte; man ſah dort die ſchönſten
Gemälde des Apelles und die Silberbecher des Mentor, deſſen
Werke die Tiſche der römiſchen Großen zierten.
Unter prieſterlicher Aufſicht wurden in den Tempeln und
vor denſelben, im Schatten des Tempelhains oder in beſon¬
dern Schatzgebäuden die Gegenſtände aufbewahrt und von
Tempeldienern erklärt; es waren die vollſtändigſten Muſeen,
die erſten Zielpunkte aller Reiſenden. Hier ſchaute man die
Reliquien der Heroenzeit, die Waffen berühmter Helden; hier
zeigte man die denkwürdigen Ueberreſte früherer Culturperio¬
den, wie z. B. die Silberbarren, die vor Einführung des
Geldes gebraucht worden waren, im Heratempel von Argos.
Die Tempelparks waren mit ſeltenen Thieren und Gewächſen
ausgeſtattet. Hier war unendlicher Stoff zur Unterhaltung
und Belehrung vereinigt; hier alſo auch ein Sammelort derer,
welche ihren Blick über die nächſten Lebensſphären auszudehnen
ſuchten. Daher ſaßen Männer, wie Plutarch, auf den Stufen
des delphiſchen Tempels, in deſſen anregender Nähe einige
ſeiner inhaltreichſten Geſpräche geführt worden ſind.
Das ſind die Muſeen, welche ſich im Laufe der Jahr¬
hunderte von ſelbſt gebildet haben, die aus dem geſchichtlichen
Leben des Volks hervorgewachſenen, die Tempelhöfe von
Epheſos und Samos, die Heiligthümer Olympia und Delphi,
die Akropolis von Athen.
Als nun unter Alexander und ſeinen Feldherren neue
Königsſtädte als Pflanzſtätten helleniſcher Bildung aufgebaut
wurden, wollte man das, was die geweihten Stätten des
Mutterlandes auszeichnete, in die neuen Gründungen über¬
tragen. Man wollte dem Boden die Geſchichte, welche ihm
fehlte, künſtlich erſetzen, wie man es etwa in Amerika machte,
indem man als Centrum des Staats ein Capitol anlegte, um
ſchon dadurch anzuzeigen, daß man nicht von vorn anfangen
7*[100]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. wolle, ſondern das Erbe europäiſcher Geſchichte in die neue
Welt herüber nehme. So ſammelte Alexander ſelbſt in Pella,
ſo wurden Makedonien, Epirus und Thracien helleniſirt. Bei
der ſyriſchen Prachtſtadt Antiocheia wurde ein Heiligthum des
Apollo, »Daphne,« gegründet; die ſchönſte Quelle des Hains
hieß wie die delphiſche Quelle Kaſtalia; man ließ ein genaues
Nachbild des Zeuskoloſſes in Olympia aufrichten; ebenſo von
der Göttin des Parthenon. Anderes wurde im Original er¬
worben, und dazu war Sikyon der geeignetſte Platz, der
Hauptmarkt des Kunſthandels. Aratos beſorgte den Ptole¬
mäern Gemälde, und nicht bloß Werke der Malerei, deren
Blüthe in die Zeit nach Alexander hinabreicht, wurden an¬
gekauft. Auch für die Vorſtufen der Kunſtentwickelung zeigte
man Intereſſe, wie die Chariten des Bupalos beweiſen, eines
der älteſten Werke griechiſcher Plaſtik, das man in den Ge¬
mächern des Königs Attalos aufbewahrte. Am meiſten ge¬
ſchah in Alexandreia. Hier war man, wenn man helleniſchen
Kunſtgenuß wollte, ganz auf das Sammeln angewieſen, weil
man ſich bei allen neuen Kunſtwerken an die in Aegypten
einheimiſche Kunſt anſchloß. Hier hatte man zur Zeit der
ptolemäiſchen Seemacht am meiſten Mittel, Kunſtwerke aus
allen umliegenden Küſtenländern herbeizuſchaffen, und war in
Benutzung dieſer Mittel am wenigſten gewiſſenhaft.
Der ſtatuenreiche Hain von Daphne, die Paläſte der Per¬
gamener und Ptolemäer, die Reſidenz des Königs Pyrrhos
in Ambrakia — das ſind diejenigen Plätze, wo wir die erſten
gemachten Muſeen nachweiſen können, und die Anhäufung von
Kunſtſchätzen gehörte ſo ſehr zu der Tradition des helleniſtiſchen
Königthums, daß auch jener wilde Fürſt, welcher mit der ganzen
Leidenſchaft des Haſſes alle Kräfte des Orients gegen Rom
aufbot, Mithridates Eupator, ſich mit dem Glanze einer An¬
tikenſammlung umgab. Zweitauſend Onyxgefäße ſah man in
ſeiner Kunſtkammer auf dem Bergſchloſſe Talaura.
Die Fürſten Aſiens und Aegyptens mußten ihre Reſi¬
denzen mit griechiſcher Kunſt ausſtatten, um dieſelben mitten
im Barbarenlande als Tochterſtädte von Hellas zu legitimiren
[101]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. und ihre Geſchichte zu ergänzen. Wie anders war das Ver¬
hältniß der Römer zu Griechenland!
Von Hauſe aus den Griechen verwandt und ebenbürtig,
hatten ſie eine reiche Geſchichte hinter ſich und kamen als
Sieger in die Städte der Griechen, um an Stelle der er¬
ſchöpften Kleinſtaaten den Seefrieden zu hüten und den herren¬
los gewordenen Orient zu regieren.
Indeſſen traten die Herren der Welt den griechiſchen
Kunſtwerken mit einer merkwürdigen Unentſchloſſenheit gegen¬
über; ſie ſchwankten, ob ſie dieſelben als gewöhnliches Beute¬
gut behandeln ſollten, oder ob ſie darin die Götter achten
müßten, die gemeinſam verehrten, in deren Dienſte die Werke
entſtanden ſeien. Die prieſterlichen Behörden wurden gefragt,
wie man Heiliges von Profanem unterſcheiden ſolle, und ſchlie߬
lich wurden die Bedenken ſo überwunden, daß man das den
Göttern Genommene andern Göttern wiedergab und nament¬
lich denjenigen, welchen man vor dem Auszuge oder am Tage
der Entſcheidung eine Stiftung gelobt hatte.
So behielt Marcellus, welcher über die erſte Griechen¬
ſtadt triumphirt hatte, nur einen Himmelsglobus für ſich und
weihte alles Andere, was er aus Syrakus gewonnen, den
Gottheiten Honor und Virtus, welchen er vor dem Thore,
das nach Sicilien führte, ein Heiligthum baute. M. Fulvius
weihte nach Beſiegung der Aetoler ein Heiligthum dem Her¬
kules und den Muſen, Andere Heiligthümer der Fortuna.
C. Soſius, der als Legat des Antonius in Syrien gekämpft
hatte, baute einen Apollotempel, Cn. Domitius, der den Schif¬
fen ſein Glück verdankte, um dieſelbe Zeit einen Tempel des
Neptunus.
So füllte ſich Rom mit Siegesdenkmälern, welche zu¬
gleich die erſten Sammlungen griechiſcher Antiken waren und
bald zu den größten Merkwürdigkeiten der Stadt gehörten.
Es waren auch Tempelmuſeen, Denkmäler zu Ehren des Staats
und ſeiner Götter; ſie wurden aber, je mehr zu Ende der
Republik die einzelnen Perſönlichkeiten als ſolche hervortraten,
Denkmäler des perſönlichen Ehrgeizes. Man ſprach von den
[102]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.»Monumenten des Marius,« von dem »ſoſiſchen Apollon.« Es
war die höchſte Befriedigung des römiſchen Großen, wenn er
ein neu gebautes Heiligthum dem Volke öffnen konnte, und
Lucullus bat ſich vom Mummius korinthiſche Statuen aus,
um ſeinen Fortunatempel zu decoriren: nach der Eröffnung
wollte er ſie zurückgeben; er that es aber nicht und der gro߬
geſinnte Mummius fragte nicht weiter darnach.
So behandelte man die Bildwerke als ein Spielzeug der
Eitelkeit, aber bald knüpfte ſich daran eine ernſtere Bedeutung
als man beabſichtigt hatte. Im Tempelhofe des Apollo So¬
ſianus ſtanden Niobe und ihre Kinder, in des Domitius Nep¬
tunustempel der Zug der Seegötter von Skopas. Solche
Werke ließen ſich nicht gleichgültig anſehen; die ſpielend be¬
gonnene Beſchäftigung mit der alten Kunſt offenbarte eine
allmählich umbildende Kraft. Der ſpröde Römerſinn ſchlug
in eine leidenſchaftliche Kunſtliebhaberei um, welche epidemiſch
um ſich griff. Damit gingen auch die Traditionen der Re¬
publik allmählich unter. Rom wurde ſelbſt eine helleniſtiſche
Stadt und bedurfte nun ebenſo wie einſt Antiochien und Alex¬
andrien und Pergamos helleniſcher Denkmäler, um ſeine Ge¬
ſchichte zu ergänzen und den Hintergrund, welcher der Gegen¬
wart fehlte, künſtlich zu erſetzen. Nun mußte man, um die
neue Zeit zu charakteriſiren, die griechiſche Kunſtwelt in viel
ausgedehnterem Maße ausbeuten; es war jetzt ein Staats¬
intereſſe, und da man doch nicht mit roher Gewalt die Griechen¬
ſtädte plündern wollte, ſo war es für Octavian ein großer
Gewinn, daß Kleopatra ihm vorgearbeitet hatte. Denn was
mit Gewalt nach Alexandrien entführt worden war, trug man
kein Bedenken nach Rom zu bringen.
Nun begann eine neue und mannigfaltige Reihe kunſt¬
ſinniger Stiftungen, eins der wichtigſten Kennzeichen der Cä¬
ſarenzeit, die Vorbereitung einer neuen Ordnung der Staats¬
geſellſchaft und doch an alte Sitte ſich anſchließend. Denn
wie die Feldherren der Republik, ſo gelobte Julius Cäſar am
Tage von Pharſalos der Stammmutter Venus, ſo Octavian
bei Philippi einen Tempel dem »Rächer Mars.« Dieſe Stif¬
[103]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.tungen wurden aber in einer ganz anderen Weiſe ausgeführt;
denn an die Tempelbauten ſchloſſen ſich große umſäulte Plätze,
durch Mauern vom ſtädtiſchen Gedränge freigehalten, für ge¬
richtliche Geſchäfte eingerichtet und außerdem den gebildeten
Ständen zur Belehrung und zum Genuſſe. Denn die Tempel¬
hallen umſchloſſen eine Reihe von Sehenswürdigkeiten; Cäſar
ſelbſt hatte ſechs Sammlungen geſchnittener Steine dort nie¬
dergelegt.
Die Blüthe dieſer Anlage war der Tempel des pala¬
tiniſchen Apollo, desjenigen Gottes, welcher vorzugsweiſe be¬
rufen war, die helleniſch gebildeten Nationen mit einander zu
verſchmelzen. In den Hallen war die griechiſche und die la¬
teiniſche Bibliothek aufgeſtellt; im Innern ſah man unter zahl¬
reichen Weihgeſchenken die Bildſäule des Skopas hervorragen,
an den Thüren die Schickſale der Niobiden in Elfenbein, im
Giebel alte Skulpturwerke aus der Schule von Chios, vor
dem Eingange die ehernen Stiere des Myron.
Das waren alſo Muſeen, wie die alten Tempel Griechen¬
lands und Italiens, aber abſichtlich angelegte, politiſche Stif¬
tungen in religiöſer Form, um Rom den helleniſchen Pracht¬
ſtädten gleichartig zu machen, Denkmäler von Siegen, welche
über die Weltherrſchaft entſchieden, aber zugleich in ſo liberaler
Weiſe auf den Nutzen des Volks berechnet, wie nichts Früheres.
Denn auch die Thermen wurden Kunſtmuſeen, an denen das
Volk ſich in der Muße der Badeſtunde erfreuen ſollte. Das
Meiſterwerk des Lyſippos ließ Agrippa vor ſeinen Thermen
aufſtellen und in den Titusthermen ſtand Laokoon.
Das war der im guten Sinne demokratiſche Geiſt, wel¬
cher mit der helleniſchen Kunſt herübergekommen war; ihm
huldigten die Cäſaren und hier begegnete die dynaſtiſche Po¬
litik dem Sinne der Republikaner, welchen die Hoffart der
Nobilität verhaßt war, welche nur in ſelbſtſüchtiger Abſicht
ſammeln wollte.
Lange gedachte man in Rom an die großartige Rede des
Agrippa, in der er öffentlich geſagt hatte, man thue beſſer,
ſämmtliche Gemälde und ſämmtliche Bildwerke in Rom zu
[104]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. Staatseigenthum zu machen, als ſie in den Landhäuſern
reicher Privatleute zu vergraben. Julius Cäſar war es, der
auch hier den richtigen Weg gewieſen hatte. Auf ſeinen Rath
hatte Aſinius Pollio ſeine reiche Antikenſammlung dem Pu¬
blikum zur Benutzung geöffnet. Das war in gewiſſem Sinne
das erſte europäiſche Muſeum, inſofern es ein nicht geweihter
Raum war, in welchem mit Auswahl und paſſender Anord¬
nung eine Reihe von Kunſtwerken aufgeſtellt war, mit der
Beſtimmung zur allgemeinen Bildung beizutragen.
Was die ſpätern Kaiſer für Kunſtſammlungen thaten, war
eine ſchmähliche Entartung des von Cäſar Begonnenen; keine
Siegesdenkmäler, keine frommen Stiftungen, ſondern eine ge¬
waltthätige Ausplünderung der unerſchöpflichen Vorraths¬
kammern von Hellas. Elende Freigelaſſene zogen als fürſt¬
liche Commiſſarien aus, um Alles, was des Mitnehmens
würdig ſchien, mitzunehmen. Allein aus Delphi wurden 500
Erzbilder weggeſchleppt.
Hadrian gab dem Hellenismus der Cäſaren eine neue
Richtung; er ließ das Sehenswürdigſte von dem, was er an
Gebäuden und Kunſtwerken auf ſeinen achtzehnjährigen Reiſen
durch die klaſſiſchen Länder geſehen hatte, in ſeiner Villa auf
das Genaueſte nachbilden. Man ſollte die Denkmäler des
Alterthums in ihrer urſprünglichen Umgebung und Gruppirung
ſehn; es waren ähnliche Geſichtspunkte, wie ſie neuerdings bei
Gründung des Kryſtallpalaſtes maßgebend geweſen ſind, aber
man ging viel weiter, indem man die berühmteſten Hallen in
Athen und Delphi, ja ſelbſt das theſſaliſche Tempethal am
Fuße des Sabinergebirges herſtellte. Es war eine in das
Spielende ausartende Schwärmerei für das Antike.
Als nun am Boſporus ein neues Rom emporſtieg, da
bedurfte es zu ſeiner Legitimation einer gleichen Ausſtattung,
wie die alte Siebenhügelſtadt, und nun wandte ſich der Zug
griechiſcher Kunſtwerke, welcher ſeit fünf Jahrhunderten nach
Weſten gegangen war, wieder gegen Oſten. Auf dem einen
Platze des Hippodroms wurden ſechzig der aus Rom ent¬
führten Bildwerke aufgeſtellt. Eben ſo mußte Antiocheia einen
[105]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. Theil ſeiner Schätze wieder abgeben; Athen, Rhodus, Klein¬
aſien wurden gebrandſchatzt. In langen Reihen ſtanden die
Götter der alten Welt vor den Palaſtfronten und in den
Hallen; die öffentlichen Bäder waren Muſeen, in der Sophien¬
kirche kamen über 420 Statuen zuſammen, Herkunft und Be¬
deutung der geſchichtlichen Denkmäler wurde durch Inſchriften
angegeben und ein eigenes Hofamt ſorgte für die Sammlungen,
welche das Herrſchaftsgeſchmeide der neuen Weltſtadt waren.
Indeſſen ſchien es, als ob die Kunſtwerke des Alterthums
nur deshalb in Rom und Byzanz angehäuft worden wären,
um bei den Feuersbrünſten und andern Kataſtrophen, denen
die Großſtädte vorzugsweiſe ausgeſetzt waren, maſſenweiſe
unterzugehen. Neue Stadtquartiere erhoben ſich über dem
Schutte, der die alte Herrlichkeit bedeckte, und wo ſich hier
und da etwas auf der Oberfläche erhalten hatte, waren die
Augen der Menſchen gehalten; man ſah nichts, man wußte
nichts zu erkennen und zu würdigen.
Es ſollte aber durch jene Schuttdecke nicht für immer die
alte Welt von der Gegenwart getrennt bleiben. Nachdem
ſchon mehrfach eine Ahnung von der verſunkenen Wunder¬
welt und eine Sehnſucht nach ihren Schätzen ſich angemeldet
hatte, kam endlich ein Trieb von unwiderſtehlicher Kraft zum
Durchbruch, welcher den Menſchen keine Ruhe ließ, bis die
auseinander geriſſenen Hälften der Menſchheit wieder zuſam¬
men kamen. An Stelle gleichgültiger Beſchränktheit trat ein
Wiſſensdurſt, dem kein Genüge zu ſchaffen war; die Augen
öffneten ſich für das, an dem man ſtumpfſinnig vorbeigegangen
war. Auch das Ferne ſuchte man auf, und als Cyriacus,
der erſte aller wiſſenſchaftlichen Reiſenden jener Zeit (um 1430),
gefragt wurde, weshalb er ſich doch mit Inſchriften und Denk¬
mälern abquäle, antwortete er: »um die Todten aufzuwecken.«
Nicht das äſthetiſche Intereſſe war maßgebend, ſondern das
hiſtoriſche; darum war auch der kleinſte Ueberreſt von Be¬
deutung und je weniger erhalten war, je mehr Alles hervor¬
geſucht und zuſammengebracht werden mußte, um ſo lebhafter
ſteigerte ſich der Sammeleifer.
Die Privatleute gingen voran. Petrarca vor Allen, Cy¬
riacus von Ancona, Poggio, der berühmte Florentiner, der
bei ſieben Päpſten Staatsſecretair geweſen iſt, Leonardo Bruno,
Pomponius Laetus. Man ſammelte kleine Antiquitäten, die
leicht zu erwerben und aufzuheben waren. Beſchriebene Steine
zogen in der leſedurſtigen Zeit vor Allem an, dann Büſten,
am meiſten unterſchriebene. Denn nun tauchten auf einmal
die Geſichter der Männer wieder auf, deren Namen und Tha¬
ten die neugefundenen Bücherrollen meldeten. Man ſammelte,
um ſich an großen Vorbildern zu erheben. Poggio war in
ſeinem Studio von Philoſophenbüſten umgeben. Zur Illuſtra¬
tion der Geſchichte ſuchte man möglichſt vollſtändige Münz¬
reihen mit den Köpfen der Cäſaren, welche wie lauter Heroen
erſchienen. Petrarca ſchenkte eine Sammlung Carl dem Vierten
in Mantua, damit er ſolche Vorbilder täglich vor Augen habe.
Die Studienzimmer einſamer Forſcher, welche ſich die
geiſtige Welt, in der ſie lebten, auch äußerlich zu vergegen¬
wärtigen ſuchten, waren die erſten Muſeen der neueren Zeit.
Dann kamen die Fürſten Italiens; zuerſt das Haus Eſte.
Iſabelle, die Gemahlin Franz des Zweiten von Mantua,
legte, ſoviel bekannt, die erſte Gemmenſammlung an (1470);
auch von den Münzen unſrer Sammlung tragen noch manche
das Zeichen des Adlers als Zeugniß, daß ſie einſt der Galeria
d'Eſte angehört haben. Man folgte in Ferrara, in Mailand
und bald wurde ein zierliches Käſtchen mit wohl erhaltenen
Anticaglien zum unentbehrlichen Beſtandtheile jedes fürſtlichen
Haushalts in Italien.
In größerem Stil wirkten die Mediceer in Florenz, wo
Cosmo ſammelte auf Donatello's Rath und dann ſeine Nach¬
folger Pietro und Lorenzo. Hier wurde das Sammeln zu¬
erſt wieder, wie in der Cäſarenzeit, vom Staatsintereſſe aus
ins Auge gefaßt, und als einmal der Sinn erwacht war, da
öffnete ſich auch der Schoß des klaſſiſchen Bodens; die Götter
der alten Welt kamen zum zweiten Male an das Licht. Bei
Porto d'Anzo entſtieg Apollo jugendfriſch dem Schattenreiche;
es folgten Laokoon, der Torſo, Ariadne.
Mit den Mediceern kam die Liebe zu den Antiken nach
Rom und auf den päpſtlichen Stuhl. Die Vorhallen der
Cardinäle füllten ſich mit Statuen, Julius II. ließ nach Kunſt¬
werken graben; man faßte ſelbſt mit Rafael's Beirath den
großartigen Plan, ganz Rom wieder aufzudecken und die Stadt
wie ein großes Muſeum des Alterthums wieder herzuſtellen.
Das Capitol wurde durch Michel Angelo ganz in antikem
Sinne umgeſtaltet.
Indeſſen erfolgten auch in Rom noch manche Rückſchläge
und immer tauchte die Vorſtellung wieder auf, als ſei die
alte Welt eine von Gott verlaſſene, von Dämonen erfüllte ge¬
weſen und deshalb jede Berührung mit ihr gefährlich. Erſt
mit Anfang des vorigen Jahrhunderts war dieſer Standpunkt
überwunden, und nachdem die früheren Päpſte noch mehr als
Edelleute geſammelt hatten, wurde es jetzt Staatsprincip, den
Stuhl Petri mit einer glänzenden Auswahl von Antiken zu
umgeben; es wurde Ehrenſache Kunſtmuſeen zu gründen. Cle¬
mens XII. und Benedict XIV. ſtifteten das Capitoliniſche Mu¬
ſeum, Clemens und Pius VI. das Pio-Clementinum, und wie
Auguſtus ſein Palatium mit helleniſchen Werken geſchmückt
hatte, ſo hielten die helleniſchen Götter jetzt ihren Einzug in
die Prachträume des Vatikans.
Dieſe wichtige Epoche in der Geſchichte der Muſeen war
dadurch hervorgerufen, daß die Päpſte in der Liebe zur Kunſt,
welche Rom vor allen Städten der Welt auszeichnete, hinter
den römiſchen Familien nicht zurückbleiben durften. Antiken¬
beſitz war der Stolz des hohen Adels, der Hauptſchmuck aller
Paläſte und Villen, von denen ſo manche ihren ganzen Ruhm
den Meiſterwerken danken, mit denen ihr Name auf immer
verbunden iſt. Es war die Zeit des Aleſſandro Albani, der
für Clemens die Alterthümer zuſammengebracht hatte, die den
Stamm des Capitoliniſchen Muſeums bilden; es war das Zeit¬
alter Winckelmann's. Der reiche Römer kannte keine größere
Befriedigung, als wenn er nach der Mahlzeit ſeinen Gäſten
neue Erwerbungen oder Aufſtellungen zeigen konnte; neue Funde
bildeten das Tagesgeſpräch der vornehmen Welt. Man er¬
[108]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.zählt vom Cardinal Albani, daß er ſich, wenn er von einer
neuen Fundſtätte gehört, raſch in vollen Ornat geworfen und
an den Platz begeben habe, wo die Leute, von ſeiner Er¬
ſcheinung verwirrt, ihm dies oder jenes überlaſſen hätten, für
das er ihnen in den nächſten Tagen ſo viel, als ihm gut
dünkte, gegeben habe. Unerſchöpflich erwies ſich der Boden,
und wenn Poggio ſeiner Zeit ſechs Statuen kannte, die ſich
in Rom erhalten hätten, glaubte man 1787 daſelbſt ebenſoviel
Statuen als Menſchen zählen zu dürfen.
Man betrachtete das Sammeln von Kunſtwerken, in wel¬
chem nun das Staatsoberhaupt mit den reichen Bürgern wett¬
eiferte, als eine rein römiſche Angelegenheit, die Betheiligung
Fremder als eine Anmaßung; ja es galt für Hochverrath,
wenn Jemand daran denken ſollte, antike Bildwerke in das
Rebelland nordiſcher Barbaren zu ſchleppen oder zu verhandeln.
Als das erſte Breve dieſes Inhalts 1524 erlaſſen wurde,
hatte das Beiſpiel der Mediceer ſchon jenſeit der Alpen ge¬
wirkt, zunächſt bei den romaniſchen Fürſten, welche am we¬
nigſten als Barbaren zurückſtehen wollten. Franz I. benutzte
Primaticcio und Benvenuto Cellini zu großartigen Ankäufen;
Heinrich II. folgte. Als Vaſari nach Fontainebleau kam,
glaubte er ſich nach Rom verſetzt. In Spanien begann man
unter Carl V., beſonders aber war es Philipp IV., der Aran¬
juez ausſtattete. Zu Winckelmann's Zeit wurden die Nord¬
länder mehr und mehr in das Kunſtintereſſe hereingezogen
und von den deutſchen Fürſten benutzten nicht wenige einen
römiſchen Aufenthalt zu Erwerbungen. So entſtanden die
Muſeen in den Schlöſſern von Gotha, Caſſel, Wörlitz, Arolſen.
Im Berliner Schloſſe hatte der Große Kurfürſt die erſte
namhafte Sammlung zu Stande gebracht und mitten unter
den harten Sorgen für des Staats ungefährdeten Beſtand
dieſelbe ſeiner beſonderen Aufmerkſamkeit würdig gehalten.
Er nahm zu ihrer Verwaltung und Bearbeitung den pfälziſchen
Bibliothekar Lorenz Beger in ſeine Dienſte, durch den die
erſte wiſſenſchaftliche Veröffentlichung eines deutſchen Kunſt¬
muſeums zu Stande kam. 1776 kamen die Alterthümer durch
[109]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. Friedrich den Großen nach dem ſogenannten Antikentempel in
Potsdam und bald erfolgte durch denſelben König eine gro߬
artige Vermehrung, namentlich durch Ankauf der Polignac'ſchen
Sammlung, welche aus der Fundſtätte des Neroniſchen Pa¬
laſtes und aus Tusculum ſtammte.
Dieſe Stiftungen und Erwerbungen ſtanden ſämmtlich
unter römiſchem Einfluſſe; es waren Broſamen, welche von
den vollen Tiſchen der Römer gelegentlich abfielen.
Nach Winckelmann iſt es anders geworden. Rom iſt nicht
das Centrum geblieben, weder als Fundort noch als Sitz der
Autorität. Die großgriechiſche Kunſtwelt wurde unter Lava
und Aſche hervorgezogen; Hellas und Kleinaſien, die Heimath
der Antike, wurden wieder entdeckt, und ſeit dieſer Epoche
haben die Kunſtmuſeen eine ganz andere Bedeutung erlangt.
In Rom, wo man zum größten Theile nur heimathloſe
Bildwerke hatte, mußte der äſthetiſche Geſichtspunkt vorherrſchen.
Nur eine Auswahl erkannte der Vatikan als hoffähig an;
tadelloſe Schauſtücke ſo glänzend wie möglich aufzuſtellen war
der maßgebende Geſichtspunkt. Jetzt empfing man die Kunſt¬
werke aus dem mütterlichen Boden und nun trat der Staat
in Vortheil, welcher mit allen anderen Küſten auch die des
Mittelmeers beherrſchte. Darum hat ſich in der von Rom
unabhängigen Richtung kein Muſeum ſo raſch und glänzend
entwickelt wie das 1753 geſtiftete und 1759 eröffnete britiſche
Muſeum. Da ſind Aegypten und Meſopotamien, Attika, Karien
und Ionien, Rhodos, Kyrene durch ganze Gruppen einheimi¬
ſcher Kunſt- und Schriftdenkmäler vertreten. Man geht in
ſeinen Sälen von einer Landſchaft, von einer Stadt zur an¬
dern; man ſchaut der Vergangenheit klar in das Auge. Es
iſt das großartigſte hiſtoriſche Muſeum der Welt.
In Deutſchland war man auf einen beſcheidneren Ma߬
ſtab angewieſen. Was aber durch kluge Benutzung der Um¬
ſtände im vorigen Jahrhundert noch geleiſtet werden konnte,
zeigen die Dresdener Sammlungen, und in ihrer Art noch
bewunderungswürdiger iſt diejenige Sammlung, deren Grün¬
dung ſich an den erſten römiſchen Aufenthalt des Königs
[110]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. Ludwig I. von Bayern während des Jahres 1805 anknüpft,
eine Sammlung, welche dadurch einzig in ihrer Art iſt, daß
ſie von Anfang an nach einem Plane, nach den würdigſten
Geſichtspunkten, mit dem lauterſten Geſchmacke und vollkomm¬
ner Sachkenntniß im Laufe eines Menſchenalters durch einen
kunſtſinnigen Fürſten und ſeinen techniſchen Rathgeber Martin
Wagner zu Stande gebracht iſt.
In einem merkwürdigen Gegenſatze zur Glyptothek ent¬
ſtand um dieſelbe Zeit unſer Muſeum, die Schöpfung eines
Fürſten, welcher keiner perſönlichen Neigung folgte, ſondern
im Anſchluſſe an die Tradition des Großen Kurfürſten und
Friedrich's des Großen und in pflichttreuer Erfüllung ſeines
königlichen Berufs die Ehre des Staats wahrnahm, welcher
nach ſeiner kriegeriſchen Erhebung und Machterweiterung einer
Anlage bedurfte, welche Zeugniß davon ablegte, wie man auch
die Künſte des Friedens zu ehren wiſſe. Er ſammelte nicht
auf öffentliche Koſten für ſich, ſondern er gab, was ſein war,
dem Volke. »Das in der Akademie der Künſte einzurichtende
Muſeum,« verfügt er am 12. October 1820, »ſoll außer den
dazu beſtimmten Sammlungen auch diejenigen Kunſtwerke
aus meinen Schlöſſern, Palais, Gärten und Galerien er¬
halten, welche dazu würdig erachtet werden.« Hirt wurde
beauftragt, alles für ein wiſſenſchaftlich geordnetes Muſeum
Brauchbare auszuwählen; bei der weiteren Ausführung des
königlichen Gedankens war Schinkel der leitende Genius. Unter
Altenſtein's Oberleitung betheiligten ſich Rauch, Tieck, Wach,
Waagen an dem Werke; Wilhelm von Humboldt kehrte als
Vorſitzender der Muſeumscommiſſion noch einmal zu den öffent¬
lichen Geſchäften zurück. Niebuhr, Bunſen, Rumohr halfen
aus der Ferne. Am letzten Auguſt 1830 richtete Humboldt
im Namen der Commiſſion ſeinen Schlußbericht an den König;
das Werk war vollendet, die Frucht ernſter Arbeit, an welcher
eine Reihe von Männern, auf die das Vaterland ſtolz iſt,
wetteifernd betheiligt geweſen ſind.
Man hatte dabei alle Schwierigkeiten, welche in einer
für glänzende Erwerbungen ungünſtigen Zeit lagen, und da¬
[111]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. für nur den Vortheil, daß man alle früheren Erfahrungen
benutzen, alle Mißbräuche und Irrwege vermeiden und den
höchſten Geſichtspunkten folgen konnte.
Wozu aber hatten im Laufe der Jahrhunderte die Kunſt¬
denkmäler der alten Zeit nicht dienen müſſen! In den Land¬
häuſern der Italiäner und Engländer waren ſie ein Gegen¬
ſtand ariſtokratiſcher Liebhaberei, im Vatikan die Herolde einer
Fürſtenmacht, welcher alle Herrlichkeit der Welt huldigen mußte.
Sie waren benutzt worden, um neu geſchaffenen Herrſchaften
den Adel der Geſchichte zu erſetzen, und Barbarenfürſten als
Träger helleniſcher Geſittung erſcheinen zu laſſen. Man hat
die Götter und Heroen an den blutigen Siegeswagen gebun¬
den, und wie einſt Rom und Byzanz, ſo auch die neue Cä¬
ſarenſtadt durch ſie als Weltmetropole kennzeichnen wollen.
Ueberall haben ſie einer gröberen oder feineren Selbſt¬
ſucht gedient und ſind zu Zwecken, welche ihnen ganz fremd
ſind, verwendet worden. Hier iſt das Vermächtniß des Alter¬
thums um ſeiner ſelbſt willen zur Schau geſtellt, und während
anderswo, wie in Verſailles, die fürſtlichen Kunſtſchätze erſt
durch eine Staatsumwälzung dem Volke zugänglich wurden,
ſind die Terraſſen von Sansſouci ihrer berühmten Statuen¬
gruppen durch den königlichen Beſitzer ſelbſt aus freiem An¬
triebe zu Gunſten eines öffentlichen Inſtituts beraubt worden,
und eben ſo wurden das neue Palais, das Marmorpalais,
die Schlöſſer in Berlin und Charlottenburg entleert, um für
höhere Volksbildung diejenigen Hülfsmittel herbeizubringen,
deren eine umfaſſende Kunſtkenntniß nicht entbehren kann.
Denn das war der zweite Geſichtspunkt, welcher bei
Gründung eines deutſchen Kunſtmuſeums vorherrſchen mußte,
die Vielſeitigkeit. Die Sammlungen des klaſſiſchen Bodens
haben meiſt einen beſtimmten Kunſtbezirk, den ſie vertreten,
und darauf ruht ihre Bedeutung. Wir werden nur in attiſchen
Sammlungen die Kunſt der Athener überblicken können und
nur in Neapel die Kunſtwelt Campaniens. Die ruſſiſchen
Sammlungen ſind vorzugsweiſe auf die alten Städte der Krim
angewieſen; in den römiſchen Galerien ſieht man den Ge¬
[112]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.ſchmack der Kaiſerzeit vertreten. Unſere Muſeen können nur
dadurch eine Bedeutung gewinnen, daß ſie das geſammte
Kunſtleben der Vergangenheit zur Ueberſicht bringen und da¬
zu bedürfen ſie, da der Erwerb von Originalen immer ein
ſehr beſchränkter und von Zufälligkeiten abhängiger bleibt,
namentlich für das Gebiet der Skulptur, einer Ergänzung —
durch Abgüſſe. Die älteren Muſeen waren zu vornehm, um
Abgüſſe aufzunehmen, obgleich ſchon Franz I. den Werth der¬
ſelben erkannte und durch Primaticcio eine Auswahl römiſcher
Kunſtwerke abformen ließ, ein Beiſpiel, welchem Karl III. von
Spanien gefolgt iſt und dadurch die Bildung der Rafael
Mengs'ſchen Sammlung veranlaßt hat.
Bei uns ſind die Gipsabgüſſe als unentbehrlicher Theil
eines wiſſenſchaftlichen Kunſtmuſeums zu voller Anerkennung
gekommen durch den Bau des neuen Muſeums, in welchem
König Friedrich Wilhelm IV. ein unvergängliches Denkmal
ſeiner Kunſtliebe und ſeiner edlen Fürſorge für die höheren
Volksintereſſen geſtiftet hat Die Gipsſammlung ergänzt die
Antikenſammlung, wie das Kupferſtichkabinet die Gemälde.
Sie iſt die einzige Sammlung, welche man, von der Zufällig¬
keit des Angebots unabhängig, mit mäßigen Mitteln zu einer
relativen Vollſtändigkeit methodiſch erweitern kann.
Von den wiſſenſchaftlichen Forſchungen, denen unſer Dop¬
pelmuſeum mit ſeinen Gemälden und Bildwerken, ſeinen Zeich¬
nungen, Stichen und Geweben, ſeinen Arbeiten in Metall,
Thon, Moſaik und Glas, ſeinen Münzen, Gemmen und hiſtori¬
ſchen Alterthümern unerſchöpflichen Stoff darbietet, läßt ſich
in Kürze nicht reden; nur davon noch ein Wort, was es, von
den Studien des Kunſtforſchers und des Künſtlers abgeſehen,
dem Gebildeten ſein kann.
Des Tags Geſchäfte ſind für die Meiſten der Art, daß
ſie für Dinge, welche des Eifers nicht würdig ſind, alle Kräfte
in Bewegung ſetzen. Je haſtiger und athemloſer dies ge¬
ſchieht, um ſo mehr wird der Menſch von den Kleinigkeiten
des Augenblicks überwältigt und ſeinen wahren Intereſſen
entfremdet; er verliert ſich ſelbſt. Da iſt es die Kunſt, welche
[113]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. ihm die höheren Ziele vor Augen ſtellt, und das Kunſtmuſeum
ein Ort der Sammlung, wo wir uns auf die ideale Welt be¬
ſinnen, für die wir geſchaffen ſind, wo wir, von der Tyrannei
des Augenblicks befreit, einer großen Vergangenheit ſtill und
ernſt gegenübertreten, wo wir in einer freieren und geſunderen
Luft athmen. Die matte Seele wird erfriſcht, indem ſie den
alten Meiſtern nachdenkt und nachfühlt, was nicht möglich iſt,
ohne daß ſie ſelbſt ihre Schwingen regt und den Staub ab¬
ſchüttelt. Der Geiſt gewinnt neue Spannkraft und auch für
die Dinge der Gegenwart erſt den richtigen Maßſtab.
Jede Zeit neigt zur Selbſtüberſchätzung und die unſrige
nicht am wenigſten. Hier ſtehen wir vor einer Welt geiſtiger
Schöpfungen, von denen die der klaſſiſchen Epochen der Art
ſind, daß wir bekennen müſſen, unſere Zeit ſei außer Stande,
Ebenbürtiges zu ſchaffen.
Und wie iſt der Menſch zu jenen Höhenpunkten geiſtiger
Kraft gekommen? Durch kühnes Wagen Einzelner, durch
ehrgeiziges Jagen nach Originalität? Nein, ſondern durch
Treue in der Ueberlieferung, durch gewiſſenhafte Aneignung
des Erlernten und ein emſiges Streben ſchrittweiſe vorwärts
zu kommen.
Und wo lagen, fragen wir weiter, die Impulſe zu dieſer
ſelbſtvergeſſenen Arbeit von Meiſtern und Schülern, die eine
Kette bilden, welche durch Jahrhunderte reicht?
Sie lagen nicht in Aufgaben des praktiſchen Lebens, von
denen in unſerer Welt alle großen Erfindungen und die be¬
wundertſten Leiſtungen ausgehen, ſondern in allen Werken
echter Kunſt, namentlich des Alterthums, von den koloſſalen
Gruppen bis zu den engen Feldern der Münzen und Edel¬
ſteine, überall treten uns die Beziehungen auf die unſichtbare
Welt als die urſprünglichen entgegen. Der Glaube an ſie
und die Ueberzeugung, daß das Verhältniß zu ihr von allen
menſchlichen Verhältniſſen das nächſte und wichtigſte ſei, hat
im Menſchen das Kunſtvermögen geweckt; aus dem Gefühle
ſeiner unbedingten Abhängigkeit ſind die gewaltigſten Werte
geboren, welche menſchlicher Energie gelungen ſind, und ſo
Curtius, Alterthum. 8[114]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung.verſchieden auch die Auffaſſungen und Darſtellungen des Gött¬
lichen ſind, ſo geht doch ein »Ehre ſei Gott in der Höhe«
wie ein ſtiller Chor durch alle Räume eines Kunſtmuſeums
hindurch und wir werden eingedenk, wie alle Erfindungen der
Technik und alle Fortſchritte erfahrungsmäßiger Kenntniſſe
dem Menſchen niemals dasjenige erſetzen können, was ihn zu
echten Kunſtſchöpfungen befähigt.
Die Muſeen ſollen uns mit der Vergangenheit verbunden
halten und uns davor bewahren, einſeitig modern zu werden.
Wie einſt in Antiochien und Alexandrien, in Rom und Byzanz,
ſo ſollen ſie auch bei uns auf die Grundlagen hinweiſen,
welche die Bildung der Gegenwart tragen. So aufgefaßt,
werden die öffentlichen Sammlungen Plätze geſchichtlicher Welt¬
betrachtung, ja ſie werden dann auch in dem Sinne, den wir
zuerſt beſprochen haben, im echt helleniſchen Wortſinne Muſeen,
d. h. Stätten des Muſendienſtes, ſtiller Sammlung geweiht
und dem fruchtbaren Nachdenken über die Ziele des geiſtigen
Lebens und die Geſetze ſeiner Entwickelung.
Gewiß hat unſer Muſeum den Zwecken der königlichen
Gründer in hohem Grade entſprochen; es iſt der Gegenſtand
einer ſtets wachſenden Theilnahme, es iſt ſchon jetzt ein Centrum
geworden, von dem vielſeitige Kunſtkenntniß ausſtrömt und
Material für Kunſtſtudien verbreitet wird; auch dürfen wir
ſagen, daß es mit der höhern Jugendbildung viel enger ver¬
bunden iſt, als die an Originalwerken erſten Ranges ungleich
reicheren Muſeen des Auslandes.
Eine andere Art der Betheiligung iſt freilich im Aus¬
lande viel größer als bei uns. Im Louvre wie im britiſchen
Muſeum trifft man in allen Räumen Gegenſtände, welche in
zwiefacher Weiſe Denkmäler ſind, Denkmäler der Kunſt und
Denkmäler einer patriotiſchen Betheiligung von Privatmännern
an einer Anſtalt, deren fortſchreitende Vervollkommnung die
Ehre des Vaterlandes iſt.
Bei uns iſt man auf jedem Gebiete des öffentlichen Le¬
bens zu lange gewohnt geweſen, Alles die Regierung thun
zu laſſen und ſich auf den Standpunkt des kritiſchen Beobach¬
[115]Kunſtſammlungen, ihre Geſchichte und ihre Beſtimmung. ters zurückzuziehen. Aber es wird anders werden und es iſt
ſchon anders geworden.
In Köln zeigt man mit gerechtem Stolze das durch den
edeln Sinn eines Bürgers geſchaffene Muſeum, das jedem
Fürſten Ehre machen würde, und in unſrer Stadt hat ein
Mitbürger dem Staate einen reichen Kunſtſchatz vermacht, zu
deſſen würdiger Aufnahme unter den Auſpicien unſeres regie¬
renden Königs ein dritter Kunſtpalaſt emporſteigt, wo die
neue Zeit neben der alten zu ihrem Rechte kommen wird.
Es handelt ſich ja aber nicht um Stiftungen ganzer
Sammlungen. Wie viel könnte erreicht werden, wenn das
Muſeum in ſeinem Streben nach Veranſchaulichung des ge¬
ſammten Kunſtlebens durch edlen Bürgerſinn unterſtützt würde,
damit es ſein hohes Ziel ſchneller, vollſtändiger, des Vater¬
landes immer würdiger, erreichen könne! Das wäre ein
Zeichen, daß unſer Muſeum kein fremdartiges Glied in der
Reihe unſrer ſtädtiſchen Prachtgebäude iſt, ſondern daß es den
Sinn für das Schöne und Große erweckt hat. Das wäre,
nachdem unſere Könige vorangegangen ſind und den edelſten
Schmuck ihrer Gärten und Schlöſſer dem Volke zur Bildung
und zum Genuſſe dargebracht haben, des Volkes beſter Dank
gegen ſeine Könige und die ſicherſte Bürgſchaft für das Ge¬
deihen einer Anſtalt, welche die idealen Intereſſen der Stadt
und des Staats zu vertreten hat. Wie glücklich würde ich
deshalb ſein, wenn dieſe Stunde dazu beigetragen hätte, nicht
nur die Geſchichte der Kunſtſammlungen in alter und neuer
Zeit klarer zu machen, ſondern auch in Dieſem oder Jenem
einen Eifer zu entzünden, an der Fortbildung unſrer Samm¬
lungen fördernden Antheil zu nehmen und ſo das königliche
Werk mehr und mehr zu einem nationalen zu machen!
8*
VIl.
Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt.
Wir ſind heute in den Räumen unſerer Univerſität ver¬
ſammelt, um Kaiſer Wilhelm, unſern geliebten König und
Herrn, in Sein neues Lebensjahr mit unſern Segenswünſchen zu
geleiten und für Alles, was wir in Ihm und durch Ihn haben,
Gott in feſtlicher Gemeinſchaft zu danken. Die rechte Feſt¬
freude ſchließt den Ernſt des Nachdenkens nicht aus und darum
werden wir auch der Frage nicht ausweichen, wie weit der
Segen, der dem Vaterlande durch die Thaten unſeres Königs
zu Theil geworden, verwirklicht oder in fortſchreitender Ver¬
wirklichung begriffen ſei.
Die Frage liegt nicht fern. Denn unläugbar machen
auch wir die Erfahrung, daß heiß erſehnte und mit Jubel
begrüßte Friedenszeiten, wenn ſie wirklich eingetreten ſind,
nicht die volle Befriedigung gewähren, welche man erwartet
hatte. Vielmehr zeigt ſich nach der Spannung aller Gemüther
auf ein gemeinſames Ziel, die auch unter den ſchwerſten Ver¬
hältniſſen etwas in ſich Beglückendes hat, nach dem entſchloſſe¬
nen und freudigen Zuſammenwirken aller Volkskräfte ein Aus¬
einandergehen derſelben nach verſchiedenen Zielen, eine gewiſſe
Abſpannung, die allen perſönlichen Neigungen Spielraum läßt,
eine peinliche Unſicherheit des Handelns. Die Ziele ſind nicht
[117]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. mehr von außen gegeben, ſie wollen geſucht und gefunden
ſein. Man fühlt, daß man nicht in die alten Gleiſe zurück¬
kehren könne, daß die Anſprüche überall geſtiegen ſeien, aber
wie ſie erfüllen, wie den großen, idealen Aufgaben des Frie¬
dens gerecht werden?
Das iſt eine Frage, die uns Alle nahe angeht, und je
verſchiedenere Anſichten darüber laut werden, um ſo mehr
dürfte es der Bedeutung des Tags entſprechen, wenn wir die
Beſchaffenheit jener Aufgaben in Erwägung ziehen und dar¬
über nachdenken, wie weit die Erledigung derſelben als eine
Staatsangelegenheit zu betrachten ſei. Es kann aber, wie
ich glaube, an dieſer Stelle nicht ſchicklicher darüber gehandelt
werden, als wenn wir in die Vergangenheit blicken und aus
der Geſchichte zu lernen ſuchen, was an den Stätten, welche
uns als leuchtende Muſter vorſchweben, ſo oft von den edelſten
Friedensgütern, von Wiſſenſchaft und Kunſt, die Rede iſt,
auf Veranſtaltung des Staats für die Pflege derſelben ge¬
ſchehen iſt.
Bei keinem Volk der Erde ſind die geiſtigen Grund¬
lagen des Staatswohls und der Staatsmacht in gleichem
Grade anerkannt worden, wie bei den Hellenen. Das iſt ein
Charakterzug des Volks, welchen wir durch alle Verfaſſungen
und alle Perioden ihrer Geſchichte verfolgen können. In
Troizen zeigte man auf dem Markte das Muſenheiligthum,
bei welchem der Urkönig Pittheus ſelbſt ſeine Unterthanen in
den ſchönen Künſten unterwieſen haben ſollte, und die Verab¬
ſäumung derſelben erſchien als ein ſolcher Frevel, daß noch
Polybios die bürgerliche Zerrüttung und den Untergang einer
arkadiſchen Stadt als die gerechte Folge derſelben darſtellt.
Als Mytilene die Herrſchaft von Lesbos an ſich bringen wollte,
glaubten die Bürger kein wirkſameres Mittel anwenden zu
können, als daß ſie in den anderen Inſelſtädten die höheren
Lehranſtalten eingehen ließen. Die Einführung der homeri¬
ſchen Gedichte und anderer Gattungen von Kunſt und Litte¬
ratur war mit den wichtigſten Epochen bürgerlicher Geſetzge¬
bung eng verflochten. Dichter und Philoſophen galten dem
[118]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt.Auslande gegenüber als die würdigſten Vertreter ihrer Staaten
und wurden zu den wichtigſten Geſandtſchaften benutzt. Den
Thebanern erklärte Epaminondas, wenn ſie Athen den Vor¬
rang in Griechenland ſtreitig machen wollten, ſo müßten ſie
auch die Propyläen der Akropolis an den Aufgang der Kadmea
verſetzen. König Philipp ließ die Gebeine des Linos nach
Makedonien bringen, um ſeine Herrſchaftsanſprüche dadurch
zu begründen, daß er ſeine Heimath als den Urſitz helleniſcher
Poeſie in Erinnerung brachte, und von Alexander ſagte man,
daß er mehr durch Ariſtoteles als durch Philipp die Macht
empfangen habe die Welt zu überwinden.
Daß in der Bildung der Bürger die Macht der Staaten
ruhe, war die allgemeine Anſicht, aber die Bildung wurde ſehr
verſchieden aufgefaßt. Denn diejenigen Staaten, welche alles
Gewicht auf unveränderte Fortdauer der überlieferten Satzungen
legten, mußten auch die geſammte Erziehung darauf einrichten
und Alles fernhalten, was die Jugend in der unbedingten
Hingabe an das Beſtehende irre machen könnte. In Athen
dachte man zu hoch von der geiſtigen Bildung, um ſie als
Staatsmittel im Sinne einer conſervativen Politik zu verwen¬
den, und man dachte vom Staate zu hoch, um ſeinen Be¬
ſtand von einer Verkümmerung der menſchlichen Natur ab¬
hängig machen zu wollen. Athen iſt der erſte Staat, welcher
es gewagt hat, die freie Ausbildung des Menſchen als die
beſte Vorbereitung des Bürgers anzuſehen, und indem man
ſich dabei auf den angeborenen Lerneifer verließ ſowie auf
die Macht der Ueberlieferung, durch welche die leibliche und
geiſtige Jugendbildung geregelt war, enthielt man ſich von
Staatswegen jedes Eingriffs in eine Angelegenheit, welche man
als eine häusliche angeſehen wiſſen wollte. Darum gab es
keinen Schulzwang, keinen öffentlich anerkannten Lehrplan oder
Lehrſtand, und das ſoloniſche Unterrichtsgeſetz beruhte im
Weſentlichen auf dem Satze, daß, während in den übrigen
Staaten Verpflegung der Eltern als unbedingte Pflicht der
Kinder geſetzlich anerkannt war, dies in Athen ausdrücklich
auf diejenigen beſchränkt wurde, welche ihren Kindern die ge¬
[119]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. bührende Erziehung gegeben hatten. Mit Verſäumniß dieſer
Pflicht waren alle Elternrechte verwirkt.
Pflege der geiſtigen Anlagen galt für etwas eben ſo
Selbſtverſtändliches wie ausreichende Körperpflege, und wie
es bei dem einzelnen Menſchen ein verletzendes Mißverhältniß
iſt, wenn dem voll entwickelten Leibe die entſprechende Geiſtes¬
reife fehlt, ſo muß auch der Staat bei erweiterter Macht¬
ſphäre und höheren Zielen von ſeinen Angehörigen eine
reichere Bildung verlangen.
Wie lebendig empfanden das die Athener, von denen
Ariſtoteles ſagt, daß ſie nach den Perſerkriegen mit neuer
Begier ſich jeder Wiſſenſchaft befleißigten! Ruhm und Gold
war ihnen in ungeahnter Fülle zu Theil geworden und doch
erſchienen ſie ſich bedürftiger als je zuvor. Sie mußten nun,
das fühlten ſie, durch geiſtige Schätze ihr Erkenntnißgebiet
erweitern, um zwiſchen dem innern und äußern Leben das
richtige Gleichgewicht herzuſtellen, um in den neuen Beruf
hinein zu wachſen und für ihn nachzureifen.
So ging Athen aus innerer Triebkraft vorwärts und
betrachtete ſeine großen Siege nicht als einen verdienten Lohn,
nicht als den Abſchluß einer ruhmvollen Laufbahn oder als
einen Ruhepunkt, von dem man ſelbſtzufrieden zurückblicken
konnte, ſondern als einen Sporn zu verdoppelter Thätigkeit,
als den Anfang eines neuen Lebens mit höheren Geſichts¬
punkten und ernſteren Pflichten.
Unmittelbarer und ſelbſtändiger war die Thätigkeit des
Staats für die bildende Kunſt; aber auch hier handelte er
nicht nach Willkür und eignem Ermeſſen, ſondern wie es die
Volksſitte forderte. Er verfuhr nicht anders, als jeder Ein¬
zelne zu thun ſich gebunden fühlte, wenn er nach gewinnreicher
Seefahrt oder glücklicher Lebensrettung das Opfer des Danks
in einem ſinnreichen Kunſtwerke darbrachte. Des Sieges Beute
ſtand ja dem Sieger nicht zu freier Verfügung, ſondern die
Staatsgottheit hatte ihren Antheil daran, welcher zuerſt ab¬
gehoben werden mußte. Der Staat hatte alſo nur die Auf¬
gabe, in größerem Maßſtabe als die Kräfte Einzelner es
[120]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt.vermochten, die Dankopfer zu weihen, und indem dies nach
gemeinſamen Plänen von Staatsmännern und Künſtlern unter
begeiſterter Theilnahme der ganzen Gemeinde geſchah, iſt bei
den Athenern das Vorzüglichſte zu Stande gekommen, was
jemals aus Staatsmitteln für bildende Kunſt geſchehen iſt. In
kleinen Stadtgemeinden langſam gereift, erſtarkte ſie zu einer un¬
geahnten Leiſtungsfähigkeit, indem der ſiegreiche Staat ihr einen
großen Inhalt darbot, indem ihr die Aufgabe wurde, die Idee
des Staats, die geiſtige Macht, auf welcher er ruhte, und die
nationalen Ziele, welche er verfolgte, in zuſammenhängenden
Denkmälern darzuſtellen.
Aber nicht bloß in Dreifüßen, Standbildern und Tempel¬
häuſern wurde der Zoll des Danks dargebracht. Das Volk
ſelbſt erſchien vor den Göttern, um ſich mit ſeinen geiſtigen
und leiblichen Fähigkeiten zu zeigen. Das waren die Volks¬
feſte, und hier hatte der Staat am meiſten Gelegenheit, zur
Förderung der Künſte ununterbrochen thätig zu ſein; hier läßt
ſich am deutlichſten nachweiſen, wie Staatshülfe gefordert und
geleiſtet wurde.
Denn es galt allgemein für eine der wichtigſten Aufgaben
der Verwaltungsbehörden, den Kreislauf der Jahresfeſte zu
überwachen und jede einzelne Feier ſo zu beaufſichtigen, daß
keine Störung das frohe Zuſammenſein trübe, die Feſt- und
Uebungslokale aus Staatsmitteln herzuſtellen, indem man den
größten Werth darauf legte, daß auch die Uebungen der Jugend
in ſolchen Räumen ſtattfänden, wo ſie jeden Morgen den Ein¬
druck des Schönen und Würdigen in ſich aufnähme; ferner
nach Maßgabe des wachſenden Staatseinkommens die herge¬
brachten Feſte immer mannigfaltiger auszuſtatten, indem man
alle fruchtbaren Keime neuer Kunſtgattungen, Dithyrambos,
Tragödie, Komödie, in den Kreis der ſtädtiſchen Wettkämpfe
hereinzog. Das war ſo wenig wie die Ausführung der Bauten
eine ehrgeizige Laune Einzelner oder ein hauptſtädtiſcher Luxus,
ſondern ein nothwendiger Fortſchritt in der vollkommenen
Darſtellung des helleniſchen Geiſteslebens, welche Athens Beruf
war. Bei dem großen Dionyſosfeſte, das unter Aufſicht des
[121]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. erſten der neun Archonten begangen wurde, trat die Muſe
unmittelbar in den Staatsdienſt. Der Dichter reicht ſein
Stück bei dem Beamten ein und dieſer, den der Zufall des
Looſes für das laufende Jahr an dieſe Stelle gebracht hat,
entſcheidet darüber, ob ein Sophokles zur Concurrenz zuge¬
laſſen werden ſoll oder nicht. Es bildet ſich eine Gruppe
dramatiſcher Poeten, welche einen gewiſſen amtlichen Charakter
haben und anſehnliche Staatsbeſoldungen beziehen, um für
den Bedarf der öffentlichen Feſte, die jährlich neue Dichtungen
verlangen, mit der nöthigen Muße ſorgen zu können.
Bezahlung poetiſcher Werke war den Griechen urſprüng¬
lich etwas Anſtößiges, weil die Würde und Freiheit der Poeſie
dadurch beeinträchtigt ſchien; man fühlte, wie leicht ihr reiner
Quell getrübt werde. Wer Sold giebt, macht auch Anſprüche,
denen ſich der Empfangende nicht entziehen kann, und da, wo
die lockende Ausſicht auf Gewinn poetiſche Tafelrunden bildete,
welche ſich um freigebige Fürſten, wie Piſiſtratos und Hiero,
ſammelten, da traten auch mancherlei Schäden höfiſcher Kunſt
und mancherlei Mißklänge, ſelbſt bei ſo hervorragenden Geiſtern,
wie Pindar, Simonides, Ibykos zu Tage.
Im attiſchen Freiſtaate lagen ſolche Gefahren ferner und
ungezwungen fügten ſich die den Volksfeſten entſprungenen
Dichtungen in den Organismus des ſtädtiſchen Feſtcyclus, als
wenn ſie von Anfang an dafür geſchaffen wären. Aber hier
traten andere Gefahren ein; es kam zu Conflikten zwiſchen den
Staatsrückſichten und der Autonomie, welche der Genius in
Anſpruch nehmen muß. Die namhafteſten Dichter wurden in
Staatsproceſſe verwickelt, die Staatsbeſoldung wurde beſchnit¬
ten, die Maskenfreiheit des dionyſiſchen Feſtſpiels einer ſtrengen
Cenſur unterworfen, und das geſchah in der Zeit der vollen¬
deten Demokratie; ein Beweis, daß die unmittelbare Berührung
zwiſchen Staat und Dichtkunſt und die Verflechtung derſelben
in die Intereſſen des Staats auch dort, wo das freie Wort
Grundprincip der Verfaſſung war, Uebelſtände hervorrief.
Auch die Gattungen der Kunſt verändern ſich in der Zucht
ſtädtiſcher Ausbildung, wie die Gewächſe in künſtlicher Garten¬
[122]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt.pflege, die zwar ſtattlicher und prächtiger werden, aber immer
etwas an urſprünglichem Reize einbüßen.
Kunſt und Künſtler bedarf das Gemeinweſen; ohne ſie
iſt der antike Staat gar nicht zu denken. Die Wiſſenſchaft
ſteht ihm ferner. Auch ſie entwickelte ſich unmittelbar aus
dem Geiſte des Volks, ſich ſelber unbewußt und allmählich
fortſchreitend, ſo wie ein Räthſel nach dem anderen in der
Menſchenſeele aufdämmerte und die ſchlummernde Denkkraft
weckte.
Dieſe Entwickelung erfolgte aber nicht ſo wie die der
Kunſt in vollem Einklange mit dem Volksleben und reifte
nicht ſo wie dieſe den Bedürfniſſen des Staats entgegen.
Sie war ſelbſtändiger, rückſichtsloſer und es kam auch in
Athen zu Kampf und Streit, als der philoſophiſche Gedanke
von harmloſer Naturbetrachtung auf die menſchlichen Dinge
überging, alles Beſtehende auf das Recht ſeines Beſtehens
unterſuchte und jede Ueberlieferung in Frage ſtellte. Die
Sophiſten waren die Erſten unter den Hellenen, welche aus
der Virtuoſität im Denken und Reden einen Lebensberuf
machten, und da ſie als Volkslehrer umherzogen und die
Jugend um ſich ſammelten, befand ſich der antike Staat ihnen
gegenüber in einem Zuſtande der Nothwehr.
Das beſte Gegenmittel gegen die Sophiſtik lag in der
echten Philoſophie, welche für das Alte, das haltlos geworden,
etwas Höheres und Beſſeres bieten konnte. Aber der Staat
war nicht im Stande dieſe Kräfte zu ſeiner Erneuerung zu
verwerthen. Die attiſche Philoſophie wirkte in engen Kreiſen,
welche von der Stadt und ihrem Treiben fern, in ſtolzer Un¬
abhängigkeit als beſondere Gemeinden beſtanden mit ihren
aus ihrer Mitte erwählten Führern, welche Prieſtern gleich
den Herd höherer Erkenntniß hüteten, eine Folge von Schul¬
häuptern, welche auf dem einmal geheiligten Boden von Attika
einander ablöſten, Einer dem Andern das Scepter übergebend.
Dennoch iſt auch der Staat Athen an der Förderung
der Wiſſenſchaften nicht unbetheiligt geblieben und es iſt ein
merkwürdiges Zeichen von echt hiſtoriſchem Sinne, daß hier
[123]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. zuerſt auf öffentliche Veranſtaltung die Urkunden des geiſtigen
Lebens der Hellenen geſammelt und geordnet wurden, daß
man hier ſchon in der Tyrannenzeit eine öffentliche Bibliothek
anlegte und daß man nicht nur auf die Vollſtändigkeit, ſondern
auch auf die Reinheit der Ueberlieferung das Augenmerk rich¬
tete, wie an einem glänzenden Beiſpiele das Staatsexemplar
der Tragödien beweiſt. So finden wir hier die Keime und
Vorbilder deſſen, was in der helleniſtiſchen Zeit geſchehen iſt.
Als nämlich die griechiſchen Städte ihr politiſches Leben
geſchloſſen hatten, trat die geiſtige Arbeit, welche in ihnen
allmählich zu Stande gekommen war, als die Hauptſache her¬
vor; das erſchien jetzt als der eigentliche Inhalt der griechi¬
ſchen Geſchichte. Das war der Schatz, deſſen man jetzt erſt
recht bewußt wurde, das geiſtige Capital, welches man hüten,
mehren und in den weiteſten Kreiſen verwerthen müſſe. Die
Wiſſenſchaft wurde nun eine Staatsangelegenheit erſten Rangs;
die Gelehrten traten aus ihrer Zurückgezogenheit in die glän¬
zendſten Stellungen und jene Forderung, mit welcher der zum
Tode gehende Sokrates ſeine Richter erbittert hatte, indem ſie
als eine wahnſinnige Selbſtüberhebung angeſehen werden
mußte, wurde nun von den Großen der Erde in überſchwäng¬
lichem Maß erfüllt. Denn ſie gewährten den Vertretern hel¬
leniſcher Wiſſenſchaft als Ehrenbürgern öffentlichen Unterhalt
am Staatsherde, wie es in den alten Republiken mit den
olympiſchen Siegern geſchah, ehrten ſie, welche in ſorgenfreier
Muße an den Geſchäften des Staats unbetheiligt waren, als
die größten Wohlthäter deſſelben und ſtatteten ſie mit fürſtlichen
Privilegien aus. Die Erſten in der Reihe der Ptolemäer und
Pergamener hatten wahre Liebe zur Wiſſenſchaft; ſie ſuchten
wie Perikles aus perſönlicher Neigung den Umgang der Ge¬
lehrten und hatten eigene Freude, wenn ſie mit ihnen durch
die Räume wandelten, wo die geiſtigen Schätze des Morgen-
und Abendlandes zum erſten Male vereinigt waren. Es war
aber ihr Verhalten von Anfang an auch eine ſehr bewußte
Politik; denn die Nachfolger Alexander's hatten zum Beherr¬
ſchen des Orients keinen anderen Rechtstitel als den der
[124]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. helleniſchen Bildung, und die hervorragenden Träger derſelben
waren alſo in der That die Stützen der Throne und Bürgen
ihres Anſehens. Daher auch die Eiferſucht der Höfe auf ein¬
ander, welche ſelbſt auf die Richtung der Studien Einfluß
hatte. Die Gelehrten von Pergamon mußten den Alexan¬
drinern entgegentreten, weil die Höfe ſich einander anfeindeten.
Uneigennütziger, freier waren die Beſtrebungen der Rhodier.
Sie hatten keinen Hof als Reizmittel zu bieten, aber die
Ehre ihres Bürgerrechts lockte die Auswärtigen; ſie konnten
an Umfang der Sammlungen und an Glanz der wiſſenſchaft¬
lichen Inſtitute den fürſtlichen Rivalen nicht nachkommen, aber
an wiſſenſchaftlichem Ruhme blieb die Stadt nicht zurück.
Man war beſtrebt, die Forſchung mit dem Jugendunterrichte
in fruchtbare Verbindung zu ſetzen, man ſuchte die gewonnenen
Reſultate überſichtlich zu ordnen, um die einzelnen Fächer der
Gelehrſamkeit in ihrer geſchichtlichen Entwickelung darzuſtellen.
Rhodos iſt in weiſer Pflege der Wiſſenſchaften am meiſten in
die Fußtapfen der Athener getreten.
Athen ſelbſt war inzwiſchen eine helleniſtiſche Stadt ge¬
worden, d. h. es lebte von den Erinnerungen der Vergangen¬
heit, und die aus allen Gegenden beſuchten Gymnaſien der
Stadt, in denen leibliche und geiſtige Jugendbildung jetzt ver¬
einigt war, machten die vornehmſte Sorge der öffentlichen
Behörden aus, während die Philoſophenſchulen ſich nach wie
vor in voller Unabhängigkeit erhielten.
Ein Geſetz, welches ihren Beſtand von obrigkeitlicher Be¬
willigung abhängig machte, mußte zurückgenommen werden,
weil Lehrer und Schüler auswanderten und die Athener bald
inne wurden, daß ſie die Stadt ihres ſchönſten Schmucks be¬
raubten. Denn auf dieſem Gebiete behaupteten ſie noch zu¬
letzt eine gewiſſe Hegemonie und konnten ſich kraft der Weihe,
die auf ihrem Boden ruhte, den Prachtanlagen von Alexandreia
und den vielen unter römiſchem Principate entſtehenden grie¬
chiſchen Schulen gegenüber als die wahre Metropolis aller
höheren Erkenntniß in Ehren erhalten.
Die Römer traten unwillkürlich in die Fußtapfen der hel¬
[125]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. leniſtiſchen Staaten; denn der Uebergang aus der Stadtrepublik
in das Weltreich konnte nur gelingen, wenn die Eigenthüm¬
lichkeiten der einzelnen Völker mehr und mehr in griechiſche
Bildung aufgingen. Daher die Menge neuer Bildungsanſtalten,
die mit Athen wetteiferten, bis an die Küſte von Gallien.
Unter den Antoninen regte ſich wieder ein philhelleniſcher Zug
von beſonderer Stärke. Man wollte das Vaterland der ge¬
meinſamen Bildung ehren, man wollte Athens philoſophiſche
Geltung nicht der freien Pietät überlaſſen, ſondern mit kaiſer¬
lichem Siegel beſtätigen und verbürgen. Es wurden alſo für
die verſchiedenen Sekten der attiſchen Philoſophie in Athen
von Staatswegen Lehrſtühle errichtet, »Throne«, wie ſie
genannt wurden, mit kaiſerlicher Freigebigkeit ausgeſtattet,
mit kaiſerlichen Schulvorſtehern beſetzt, welche theils zu wiſſen¬
ſchaftlicher Arbeit, theils zu mündlichem Vortrage vorzugs¬
weiſe beſtimmt waren. Dem edlen Marc Aurel wurde dieſe
Stiftung als beſonderes Verdienſt angerechnet, als eine aller
Welt erzeigte Wohlthat. In der That war es aber eine
Pflanzung auf dürrem Boden. Man konnte nichts als das
Alte wiederholen, daher mußte auch dies in hohlem Dogma¬
tismus erſtarren und verknöchern; es war, alſo kein Verluſt
für die Welt, als die künſtlich geſchaffenen Schulen durch
kaiſerliches Machtgebot auch wieder aufgehoben wurden.
Was lehren uns dieſe Rückblicke in das Alterthum?
Sie zeigen uns, wie verkehrt es ſei, den Staat für die
Gebiete des geiſtigen Lebens verantwortlich zu machen, wo
volle Selbſtändigkeit die Grundbedingung des Gedeihens iſt.
Welche weltliche Macht kann die Grundlagen ſchaffen, aus
denen allein wahre Kunſt hervor blüht, die harmoniſche Stim¬
mung des Volks, die begeiſterte Freude am Schönen, die An¬
hänglichkeit an der Ueberlieferung, die des Ausdrucks bedürf¬
tige Dankbarkeit für den Segen der Gottheit! Welche äußere
Macht kann den Zug der Erkenntniß im Volke wecken und
erhalten? Wo Wiſſenſchaft und Kunſt ſich am glücklichſten
entfaltet haben, iſt von Staatswegen am wenigſten geſchehen.
Aeußere Einflüſſe, auch die begünſtigenden, haben Uebelſtände
[126]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt.hervorgerufen, oder es iſt bei dem beſten Willen und den
reichſten Mitteln nichts erreicht.
Wer kennt die antoniniſchen Profeſſoren von Athen, wäh¬
rend die alten Weiſen, die, vom Staate gänzlich unbeachtet,
mit ihren Freunden unter den Platanen der Akademie und des
Lykeion wandelten, noch heute unſer Aller Lehrer und Meiſter
ſind! Das damalige Athen war die Schule der Welt. Seit¬
dem man ein officielles Erziehungshaus aus Athen gemacht
hat, iſt es nur eine hiſtoriſche Merkwürdigkeit.
Soll ſich der Staat alſo vollkommen gleichgültig verhalten,
wenn er auch ſo gut wie die Staaten des Alterthums ſeine
Stärke in der Bildung der Bürger ſieht, ſoll er unthätig zu¬
ſchauen und ein Gebiet meiden, deſſen Boden ſo ſchlüpfrig iſt?
Das wäre eine gewaltſame Trennung zuſammenhängender
Lebenskreiſe, das wäre ein Grundſatz, der auch in den voran¬
gehenden Betrachtungen keine ausreichende Begründung findet.
Wir werden vielmehr einen anderen Schluß ziehn, welchem ich
eine doppelte Faſſung geben möchte.
Erſtens iſt ſeit der Zeit Alexander's jedes Culturvolk ein
helleniſtiſches, in ſofern es den unabweislichen Beruf hat, das,
was die Griechen gedacht und gedichtet haben, zu ſeinem Eigen¬
thum zu machen und weiter zu bilden. Die griechiſche Cultur
iſt bei uns ſo wenig zu Hauſe, wie in den Ländern der Dia¬
dochen und deshalb kann ſie nicht ſo, wie es im Mutterlande
geſchah, ſich ſelbſt überlaſſen bleiben. Vielmehr müſſen nach
dem ruhmwürdigen Vorgange der Ptolemäer, Pergamener
und Rhodier auch unſere Staaten ihre Ehre darin ſuchen,
Wiſſenſchaft und Kunſt als eine Grundlage ihres eignen Be¬
ſtandes auf alle Weiſe zu pflegen und dort, wo die Kräfte
Einzelner nicht ausreichen, mit öffentlichen Mitteln freigebig
einzutreten. Dieſem Sinne verdanken wir die großen Samm¬
lungen zur Geſchichte des menſchlichen Wiſſens und die immer
vollkommnere Ausrüſtung aller der Anſtalten, in welchen die
Kenntniß des Weltalls raſtlos gefördert oder die Möglichkeit
gegeben wird, der Natur auf allen Gebieten ihres Schaffens
[127]Die öffentliche Pflege von Wiſſenſchaft und Kunſt. durch immer neue und zwingendere Frageſtellungen ihr Ge¬
heimniß abzugewinnen.
Die geſchichtliche Forſchung iſt um ſo ſchwieriger ge¬
worden, je maſſenhafter das Erbgut ſich angeſammelt hat,
welches wir anzutreten berufen ſind. Um ſo nothwendiger
iſt die umfaſſende Sammlung aller ſchriftlichen und bildlichen
Denkmäler der Vergangenheit, die Aufräumung des Schutts,
welcher den Boden der alten Cultur deckt, aber auch — die
Aufdeckung des Verſchütteten.
Dieſe Aufgabe konnte den helleniſtiſchen Fürſten nicht in
den Sinn kommen, weil ſie neben den wohl erhaltenen Denk¬
mälern der klaſſiſchen Zeit die eigenen Werke aufrichteten.
An uns aber tritt ſie immer dringender heran, wenn ſie auch
bis heute noch nicht die ihrer Bedeutung entſprechende Be¬
rückſichtigung gefunden hat.
Zeigt denn nicht jedes Jahr von Neuem, wie viel von
dem Vermächtniſſe des Alterthums noch in der Tiefe des
Bodens ruht, über den man ſo gedankenlos hinwegging, und
zwar nicht nur unter der Aſchendecke der Vulcane, ſondern
auch unter Erde und Kies, womit Flüſſe, wie der Alpheios,
die anliegenden Tempelhaine vorſichtig zugedeckt haben? Iſt
es recht, daß wir edle Werke des menſchlichen Geiſtes im
Schoße der Erde liegen und verderben laſſen? Würden wir
ſo gleichgültig ſein, wenn wir alte Schriftrollen wenig Fuß
unter der Oberfläche geborgen wüßten und ſind helleniſche
Denkmäler von Erz und Stein weniger werth?
Bedarf doch die Alterthumswiſſenſchaft, welche eine Reihe
von Aufgaben ſo weit gelöſt hat, als es der Beſtand der
Ueberlieferung geſtattet, ſo dringend neues Materials, um mit
den andern Wiſſenſchaften, welche in Herbeiſchaffung des
Materials unabhängiger geſtellt ſind, Schritt halten zu können!
Hier iſt Kunſt und Wiſſenſchaft mit gleichmäßigem Intereſſe
betheiligt. Hier ſind bei richtigem Zuſammenwirken der dem
Staat verfügbaren Kräfte mit mäßigem Aufwande die wich¬
tigſten Ergebniſſe zu erzielen, hier bieten ſich auch unſerm
Staate die ruhmvollſten Friedenswerke dar.
Der Staat ſoll aber nicht bloß nach helleniſtiſchem Vor¬
gange ſeine Mittel in Bewegung ſetzen, um der Forſchung
Wege zu bahnen und Stoff zu liefern. Warum ſollten wir
denn — und das iſt der zweite Punkt — nur die Nachfolger
der Hellenen zu Vorbildern nehmen und nicht die Hellenen
ſelbſt? Damit ſoll keine Verläugnung des Vaterländiſchen
und Volksthümlichen gemeint ſein, ſondern die entſchloſſene
Aneignung deſſen, was im Helleniſchen das echt Menſchliche,
das Gute und deshalb ewig Gültige iſt.
Alſo ſoll der Staat, wie ich es ausdrücken möchte, zu
Wiſſenſchaft und Kunſt ſich öffentlich bekennen, und zwar
nicht im Sinne der Höfe von Alexandreia und Pergamon,
welche bei der Pflege derſelben immer noch etwas Anderes
im Auge hatten, fremdartige Ziele verfolgten und ſich ſelbſt
verherrlichen wollten, vielmehr in dem echt helleniſchen
Sinne, der das Gute um ſeiner ſelbſt willen liebt, in dem
Sinne, der in Kunſt und Wiſſenſchaft nicht einen Luxus ſieht,
welcher nach Befriedigung der eigentlichen Staatsbedürfniſſe
auch einige Berückſichtigung verdiene, ſondern die edelſte Seite
des Volkslebens, welche ohne ſchweren Schaden nicht verab¬
ſäumt werden dürfe, einen Quell unerſchöpflicher Lebenskraft
und das unentbehrliche Gegengewicht gegen das ruheloſe
Jagen nach Beſitz und Genuß.
Das Gemüth des Volks gleicht ſo gut wie das des Ein¬
zelnen dem platoniſchen Zwiegeſpanne, an welchem das eine
Roß in raſtloſer Sehnſucht nach oben ſteigt, während das
andere dem Staube zugekehrt iſt. Der Staat ſoll das edle
Roß pflegen, ohne es in ſeinen Dienſt nehmen oder ihm ſeine
Bahn vorzeichnen zu wollen. Er hat keinen Grund ſich vor
dem freien Gedanken zu fürchten, wie es die alten Republiken
thaten, wenn ſie die Throne ihrer Schutzgötter wanken ſahen.
Wir glauben an die Wahrheit, welche durch alle Anfechtungen
und Verkennungen ſiegreich hindurch dringen muß; wir wiſſen,
daß Irrungen der Wiſſenſchaft nur auf wiſſenſchaftlichem
Wege berichtigt werden können.
Kunſtſchöpfungen muſtergültiger Art ſind der Vorzug
begünſtigter Zeiten und die einmal vorhandenen gelten mit
Recht als Schätze der Menſchheit. Ihre Wiſſenſchaft muß
aber jede Zeit haben; die Wiſſenſchaft iſt in viel höherem
Grade, als es im Alterthum der Fall war, ein Gemeingut
geworden, ein Zug des Volks, und der Staat kann nicht um¬
hin, die Arbeit der Gedanken, an welcher in verſchiedenſter
Form die Beſten ſeiner Angehörigen Theil nehmen, als ſeine
edelſte Kraftquelle anzuerkennen. Denn er iſt ſich bewußt, daß
dieſe Arbeit das Volk geſund erhält und ſeine Leiſtungsfähig¬
keit ununterbrochen ſteigert, während träge Genußſucht an
ſeinem Marke zehrt und jede Staatsgemeinſchaft unvermeid¬
lich zu Grunde richtet.
Der Staat wird dieſe Arbeit um ſo wirkſamer fördern,
je mehr er, dem helleniſchen Grundſatze folgend, alle fremden
Ziele fernhält, der Kraft des Guten im Menſchen vertraut
und nur die Hemmniſſe zu beſeitigen ſucht, welche ihrer freien
Entwickelung entgegen wirken.
Bei uns ſind größere Schwierigkeiten zu überwinden als
in dem Lande, wo Kunſt und Wiſſenſchaft zu Hauſe ſind, und
was dort die natürliche Gunſt der Verhältniſſe gewährte,
muß vielfach durch künſtliche Veranſtaltung erſetzt werden.
Das Leben iſt mühſeliger und hängt ſich mit ſeiner Sorgen¬
laſt an die Menſchenſeele, wenn ſie zu freiem Aufſchwunge die
Flügel regt. Die Muße iſt für die, welche ihrer am meiſten
bedürfen, ein ſchwer zu gewinnendes Gut und der zu über¬
wältigende Arbeitsſtoff wird immer unermeßlicher.
Um ſo mehr wird der Staat es ſich angelegen ſein laſſen,
den geiſtig Arbeitenden des Lebens Laſt zu erleichtern und
die Sorge zu verſcheuchen, damit ſie mit der Freude des
Geiſtes, ohne welche nichts Schönes geſchaffen werden kann,
wirken können, damit die, welche das Volk lehren und ſein
geiſtiges Kapital mehren, im öffentlichen Leben die ihrer Be¬
deutung entſprechende Stellung einnehmen und offenkundiges
Zeugniß ablegen, wie man im Staate die geiſtigen Güter zu
ſchätzen wiſſe.
In allen dieſen Punkten ſind wir aber nicht berechtigt,
nur Anforderungen zu ſtellen, Anſprüche zu erheben und mit
kritiſchem Auge aufzumerken, was etwa der Staat zu Stande
bringen könne, ſondern es iſt eine Aufgabe aller Gebildeten,
es iſt die Aufgabe des Volks, die Werthſchätzung der geiſtigen
Güter fortdauernd zu heben, und wenn ein Krieg, der um die
Unabhängigkeit des Landes geführt wird, nicht anders gelingen
kann als durch eine freithätige Betheiligung des geſammten
Volks, ſo noch viel weniger die Aufgabe des Friedens.
Was in helleniſtiſchem Sinne geſchieht, das kann ge¬
macht werden; dazu ſind guter Wille, ſtaatsmänniſche Umſicht
und ein gefüllter Staatsſchatz ausreichend.
Was in helleniſchem Sinne geſchehen ſoll, iſt nicht für
Geld und Macht zu haben; es muß aus dem Geiſt geboren
ſein und alle Veranſtaltungen, welche nur von Amtswegen
erfolgen, ſind auf dieſem Gebiete wirkungslos.
Wir ſtehen jetzt, wer will es läugnen? an einem entſchei¬
denden Wendepunkte unſerer Geſchichte.
Es kommt darauf an, daß das Gefühl einer idealen Ge¬
meinſchaft, das in den Tagen der Gefahr ſo lebendig war,
im Frieden nicht erkalte und in ſelbſtſüchtige Beſtrebungen
ſich verliere. Es kommt Alles darauf an, daß unſer Volk die
Kraft bewähre ſich treu zu bleiben, damit die hohen Güter,
welche zur Zeit äußerer Ohnmacht unſere Stärke und im Zu¬
ſtande der Zerriſſenheit unſer Band waren, jetzt nicht entwerthet
werden. Bei dem glänzendſten Gewinn würden wir ſonſt im
Verluſte ſein und bei allem Siegesglanze unſern ſchönſten
Kranz einbüßen.
Feſter als je müſſen wir uns um jene Güter ſchaaren,
damit jede Anwandlung von Verweichlichung und Ueppigkeit
überwunden werde; der ideale Zug des deutſchen Volks muß
kräftiger werden, als zuvor, um die niederen Triebe, welche
in Wohlſtand und Frieden anzuwachſen drohen, mit ſich fort¬
zureißen, auf daß ein Athemzug des höheren Lebens auch
unſer tägliches Treiben durchdringe, daß auch jeder ſinnliche
Genuß verklärt und jedes Gaſtmahl ein Sympoſion werde.
Als unſer König mit feſtem Schritt Seine ſelbſtändige
Regierung antrat, war es einer der erſten Punkte, auf welchen
Er Sein Augenmerk lenkte, ob Preußen nach wie vor an der
Spitze der geiſtigen Bewegung in Deutſchland ſtehe. In
Seinem Sinne alſo handeln wir, wenn wir in dieſer feſtlichen
Stunde uns deſſen bewußt werden, was das Vaterland von
uns verlangt, und wir können Ihm für Seine Kriegsarbeit
und Seine Heldenſiege keinen beſſern Dank darbringen, als
daß wir, wie die Athener nach den Perſerkriegen, unſern Eifer
erhöhen, um die Güter des Friedens, um deren willen Er in
den Kampf eingetreten iſt, in vollen Ehren zu erhalten und
nach Kräften zu mehren.
So gebe Gott, daß, wie die Arbeit des Kriegs, ſo auch
die Werke des Friedens unter der landesväterlichen Fürſorge
unſers geliebten Königs wohl gelingen, daß Volk und Land
in echtem Friedensſchmucke Sein königliches Auge noch lange
erfreue!
VIII.
Der Wettkampf.
Sie kennen Alle jenes Gemälde, in welchem ein geiſt¬
voller Künſtler unſerer Tage es gewagt hat, mit kühner Hand
den Anfang aller Menſchengeſchichte darzuſtellen. Der Rieſen¬
bau, der als ein Denkmal titaniſchen Uebermuths in den Him¬
mel ſteigen ſollte, iſt durch die Hand des göttlichen Zorns
gehemmt und die Geſchlechter der Menſchen, aus ſchmachvollem
Frohndienſte befreit, trennen ſich in Gruppen, um von nun
an verſchiedene Bahnen einzuſchlagen.
Mit trägem Schritt zieht in der Mitte ein Volk dahin,
das von niederen Lüſten beherrſcht die Bilder der Götzen,
welche hier zu Schanden geworden ſind, in dumpfem Wahn
umklammert hält; zur Linken ſehen wir eine edlere Schaar,
eine Gruppe von Hausgenoſſen, traulich verſammelt um das
Haupt eines Patriarchen, welcher mitten unter dem Toben der
Völker wie ein guter Hirt die Seinen zuſammenhält; zur
Rechten aber ſprengt eine Jünglingsſchaar in das Land, um
mit ſtürmender Hand die Welt zu gewinnen.
Während der Sohn des Sem rückwärts blickend noch ver¬
ſenkt iſt in den Anblick des lebendigen Gottes, der ſich im
Strafgerichte offenbart hat, ſind die Japetiden nur vorwärts
gerichtet; im frohen Gefühle entfeſſelter Kraft eilen ſie in die
Bahn wetteifernder Thatenluſt. Bald laſſen ſie die andern
[133]Der Wettkampf. Völkergruppen weit hinter ſich zurück und beginnen, in Stämme
und Zungen mannigfach gegliedert, unter einander den großen
Wettkampf, indem ſie über die gegen Abend gelegenen Hoch-
und Tiefländer der Erde raſtlos ſich ausbreiten und an ihre
Schritte den Gang der Weltgeſchichte feſſeln.
Dieſe Stämme haben alle den männlichen Trieb der Thaten¬
luſt als Erbtheil empfangen; ſie ſind alle zu ſtaatgründenden
Völkern geworden; ſie haben ſich in Heldenliedern bezeugt, ſie
haben in Bild- und Bauwerken bleibende Denkmäler auf Erden
hinterlaſſen. Je weiter ſie aber im Oſten zurückgeblieben ſind,
um ſo früher erſcheinen ſie uns in ihrer lebendigen Entwickelung
gehemmt, in unbeweglichen Lebensformen erſtarrt, oder auch mit
fremdartigen Beſtandtheilen dergeſtalt verwachſen, daß jener
Grundzug der ariſchen Völker verhüllt oder verwiſcht worden iſt.
Um ſo reiner tritt er uns wieder entgegen, wenn wir aus
Iran und Meſopotamien zu jenen Stämmen kommen, die
früher und weiter gegen Abend gewandert ſind, die im klein¬
aſiatiſchen Halbinſellande Wohnung gemacht und mit Vorliebe
ſolche Gegenden aufgeſucht haben, wo Meer und Gebirge ſich
durchdringen. Wie nahe liegen die Wohnſitze der Lycier den
Gränzen aſſyriſcher Machtbildung und welch' ein Gegenſatz
zwiſchen den entnervten und in äußerlicher Pracht verkomme¬
nen Geſtalten, die uns in den Paläſten von Ninive entgegen¬
treten, und jenem apolliniſchen Volke, das ſein enges Land
zwiſchen Fels und Meer ſo heldenmüthig allen Barbaren gegen¬
über vertheidigt hat, deſſen Kunſt, wie unzählige Denkmäler
bezeugen, das Gepräge jenes höheren Lebens trägt, welches
das untrügliche Kennzeichen des helleniſchen Völkergeſchlechts
dieſſeit und jenſeit des ägäiſchen Inſelmeeres iſt! Wenn Sie
daher, hochverehrte Anweſende, dem raſchen Gedankenzuge von
Babel bis Ionien gefolgt ſind, ſo werden Sie jetzt dem Ver¬
treter des klaſſiſchen Alterthums, welchem Sie die Ehre gönnen
an dieſem Tage Ihr Redner zu ſein, wie ich hoffe, um ſo
lieber geſtatten, auf dem Gebiete zu verweilen, an deſſen Gränze
er Sie geführt hat, und den Gedanken näher zu entwickeln,
daß jener Grundzug des ariſchen Volkscharakters — wett¬
[134]Der Wettkampf. eifernde Thatenluſt — bei den Hellenen in größter Reinheit
und vorbildlicher Bedeutung ſich uns offenbart.
Sollte ich Ihnen mit einem Worte ein Kennzeichen des
helleniſchen Lebens angeben, durch das es ſich von dem aller
anderen Völker unterſcheidet — ich würde ſagen, es ſei der
Kranz. Ja der Kranz iſt das Wappenzeichen der Hellenen,
das Symbol ihrer eigenthümlichen Macht und Größe. Warum
erſchraken ſonſt die ſtolzen Feldherren im Gefolge des Xerxes,
als ſie hörten, daß während des Anrückens ihrer Land-
und Flottenheere die Griechen am Alpheios um Olivenkränze
ſtritten? Sie erſchraken, weil ihnen die Ahnung aufging von
einer ihnen durchaus neuen Schätzung des Lebens, von einer
Anſicht, die nicht im behaglichen Beſitze, im ruhigen Genuſſe,
ſondern im Ringen und Streben den Werth des menſchlichen
Daſeins ſuchte, und dieſer Anſicht, das fühlten ſie, müſſe eine
ganz eigene Art des Heldenthums entſprießen. Es war aber
nicht nur in Delphi und Olympia, es war überhaupt nicht
nur in den Schranken der Rennbahn, daß die Hellenen ihre
Wettkämpfe hielten; ihr ganzes Leben, wie es uns in der
Geſchichte des Volks vorliegt, war ein großer Wettkampf.
Ein Wettkampf — zunächſt der Stämme. Zwar ſehen
wir auch in der orientaliſchen Geſchichte die verſchiedenſten
Stämme mit einander ringen; ein Volk erhebt ſich über das
andere und drängt es aus ſeiner Stelle; aber hier gilt es nur
einen beſtimmten Beſitz. Iſt dieſer gewonnen, ſo folgt das
Leben wieder den alten Gleiſen; mit Erreichung des Ziels
hört das Streben auf, und der Stämme Eigenthümlichkeit
verſchwindet.
Die helleniſche Geſchichte beginnt, ſo wie ſich die Stämme
einander gegenübertreten; ſie beſteht weſentlich in der Wechſel¬
wirkung derſelben und ſchließt, ſo wie dieſe aufhört.
Freilich treten ſie nicht gleichzeitig auf. An der Oſtſeite
des griechiſchen Meers erwacht das geſchichtliche Leben, in
den Küſtenländern Kleinaſiens, wo helleniſche Stämme ihrer
Kraft und ihres Berufs bewußt werden. Aber kaum haben
ſie den älteren Seevölkern die Kunſt der Schifffahrt abgelernt,
[135]Der Wettkampf.ſo fahren ſie weſtwärts von Küſte zu Küſte, um die jenſeitigen
Bruderſtämme zu erwecken und zum Wettkampfe aufzurufen.
Zunächſt ſind ſie die Gebenden. Sie bringen Schrift und
Maß, ſie lehren neue Götter kennen und verehren, ſie lehren
Städte bauen und Staaten gründen. Aber während des Em¬
pfangens erſtarken die Binnenvölker; ein Stamm nach dem
andern unter ihnen erhebt ſich, und ſo wie ſie aus den engen
Bergkantonen hervortretend mit dem Meere in Berührung
kommen, gewinnen ſie Namen und Bedeutung. Nun drängen
ſie die jenſeitigen Stämme bei Seite, nun gründen ſie eigene
Staaten — achäiſche, äoliſche, doriſche — und je mehr dieſe
Staaten in Städten ihren Mittelpunkt finden, um ſo beſtimmter
prägt ſich der Stämme Eigenthümlichkeit in Verfaſſung, Kunſt
und Sitte aus, um ſo lebhafter entbrennt der große Wett¬
kampf. Denn nun bilden ſich nicht nur die Hauptunterſchiede
aus, die des doriſchen und ioniſchen Weſens, ſondern auch
innerhalb der Stämme beginnt der Städte Wettkampf, nament¬
lich bei den Ioniern, welche nur in der mannigfaltigſten Ent¬
wickelung ihre Befriedigung finden.
Blicken Sie auf die Küſte Kleinaſiens! Auf einem Raume,
welchen man mit heutiger Geſchwindigkeit in kurzer Tages¬
fahrt durchmeſſen könnte, erheben ſich zwölf Städte neben ein¬
ander und jede Stadt iſt eine Welt für ſich. Niemals iſt ſo
viel Geſchichte wieder auf ſo engem Raum zuſammengedrängt
geweſen, niemals in regem Wetteifer der Kräfte ſo viel Energie
entfaltet worden. Jede Stadt ſucht ihren Beruf. Die eine
iſt landeinwärts gerichtet; ſie iſt beſchäftigt den Binnenhandel
an ſich zu ziehen, die reichen Flußthäler auszubeuten, Lydien
und Hellas zu verbinden. Die anderen Städte ſind ganz der
See zugekehrt, unter einander wetteifernd unbekannte Meere
zu durchſchiffen, neue Länder und Völker, neue Schätze der
Erde zu entdecken. Milet dringt durch die Pforten des Pontus;
aus dem Schleier nordiſcher Nebel zieht es die unermeßlichen
Kornebenen Scythiens, während es zugleich die Wunder des
Nillandes aufſchließt; den fernen Weſten entdecken die kühnen
Seefahrer aus Samos und Phokaia, die ebenſowohl Kriegs¬
[136]Der Wettkampf. leute wie Kauffahrer waren. Zur Sicherung ihrer Handels¬
verbindungen gründen ſie ihre überſeeiſchen Factoreien, dieſe
erwachſen zu blühenden Tochterſtädten, welche an den Ufern
des Don wie an Rhone und Ebro die Pflanzſchulen helleni¬
ſcher Sitte wurden.
Milet war die Königin der Meere, ein griechiſches Tyrus,
der Markt der Welt. Athen und Sparta waren Winkelſtädte
gegen Milet — ja das ganze Griechenland, das wir das
eigentliche zu nennen pflegen, war an Wohlſtand, Glanz und
Weltbildung von den weſtlichen und öſtlichen Colonien weit
überflügelt.
Aber in dieſem Gedeihen lag der Keim der Entartung.
Und worin zeigte ſich dieſe? In nichts Anderem als daß die
üppigen Städte dem Principe des helleniſchen Lebens untreu
wurden; der Wetteifer erſchlaffte, die Spannkraft erlahmte in
trägem Wohlbehagen des Genuſſes. Darum erblich der Glanz
des ſchönen Ioniens, ja des ganzen Stammes Geſchichte hätte
ſich raſch zu Ende geneigt, wenn nicht Athen ſie aufgenom¬
men hätte.
Die Armuth war die Geſpielin helleniſcher Größe. Auf
Attika's dürftigerem Felsboden hatte ioniſche Volkskraft ſich
geſund erhalten in der Abwechſelung von Arbeit und Genuß,
in der glücklichen Verbindung von Freiheit und Zucht, von
Tapferkeit und Kunſtpflege.
Nun wurde der Wettkampf, in welchem ſich die Geſchichte
der Hellenen vollzieht, mehr und mehr ein Wettkampf zweier
Staaten. In Sparta war doriſche Stammesart am kräftigſten
ausgeprägt; Sparta ſtand an der Spitze der Nation, als der
Verfall Ioniens anfing; es hatte einen weiten Vorſprung vor
Athen. Aber die Ferne des Ziels ſchreckt den Muthigen nicht;
ſie ſpannt nur um ſo höher ſeine Kraft. Bald ſah Sparta
ſich überflügelt und wurde nun immer ſpröder, immer abge¬
ſchloſſener und ſchwerfälliger, je freier Athen ſich entfaltete, je
freudiger es in den Schranken voraneilte. Ja als zum gro߬
artigſten Wettkampfe die Perſernoth alle Kräfte des Griechen¬
volks aufrief, da hat Athen in der Schule der ſchwerſten
[137]Der Wettkampf.Drangſale, mit unglaublicher Anſtrengung und Opferfreudig¬
keit den Ehrenkranz gewonnen. Es hat die ſittliche Idee der
griechiſchen Geſchichte am tiefſten erfaßt, am vollſtändigſten
verwirklicht, und was für den olympiſchen Sieger der Geſang
des Pindar war, das iſt für Athen die Rede des Perikles, in
welcher er die Gräber des Kerameikos weihte und zugleich —
ſeinen Mitbürgern zur Erhebung, allen nachfolgenden Men¬
ſchengeſchlechtern zur Bewunderung — ein lebensvolles Bild
deſſen entfaltete, was unter göttlichem Segen durch der Bürger
wetteifernde Tüchtigkeit Athen geworden war.
Zum Tode verwundet kam Athen aus dem Bürgerkriege
hervor, aber, ſo oft es ſich erholt, beginnt es von Neuem den
Wettkampf gegen Sparta wie gegen Theben, mit dem der
weit zurückgebliebene Stamm der Aeolier noch einmal in die
Schranken eintritt; es erneuert Makedonien gegenüber ſeinen
geſchichtlichen Anſpruch die erſte Stadt der Hellenen zu ſein
und ſeine letzten Verſuche ſind auch die letzten Athemzüge der
griechiſchen Geſchichte.
Es iſt unrecht, die griechiſche Staatengeſchichte im Ver¬
gleiche mit anderen gering zu ſchätzen und den raſchen Verlauf
derſelben, ihre ruheloſen Kämpfe und Gährungen als einen
Beweis dafür anzuführen, daß die Hellenen zur Löſung poli¬
tiſcher Aufgaben nur geringe Befähigung beſeſſen hätten.
Der beſte Gegenbeweis iſt die Thatſache, daß die Hellenen
alle Gattungen von Staatsverfaſſungen bei ſich ausgebildet,
ihre verſchiedenen Formen klar ausgeprägt und zugleich eine
für alle Zeit maßgebende Staatslehre begründet haben. Ein
Volk, deſſen Geſchichte mit der Politik des Ariſtoteles abſchließt,
iſt gewiß kein unpolitiſches. Aber je mehr die edelſten Staaten
des Alterthums in der freien Entfaltung aller menſchlichen
Anlagen ihren Beruf erkannten — denn auch der einzelne
Staat war eine Paläſtra bürgerlicher Tüchtigkeit, wo dem
Beſtbewährten als Preis Macht und Ehre ertheilt wurde —,
um ſo raſcher verzehrten ſich die Kräfte, um ſo kürzer war
die Lebensdauer jener Staaten. Dazu kommt, daß nach der
Schwäche menſchlicher Natur jener Wetteifer der Staaten zum
[138]Der Wettkampf. blutigen Kampfe wurde. Auch Athens Ehrgeiz, ſo edler Quelle
er entſprungen war, iſt zur rückſichtsloſeſten Herrſchſucht aus¬
geartet, und ſo iſt die vom Wetteifer entfachte Flamme der
Begeiſterung ein Feuer geworden, das im Brande des Bürger¬
kriegs die Blüthe der Staaten frühzeitig vernichtet hat.
Lauterer und wohlthätiger iſt der Wetteifer auf dem Ge¬
biete geblieben, auf welchem Alle bereit ſind der Hellenen volle
Bedeutung anzuerkennen. Denn während ihren Staatsbildun¬
gen — ſo lehrreich allen Zeiten ihre Betrachtung ſein wird —
doch keine über den Kreis ihrer Volksgeſchichte hinausreichende
Gültigkeit zugeſchrieben werden kann, ſind ſie in Kunſt und
Wiſſenſchaft bis heute die Geſetzgeber geblieben, und dieſe welt¬
geſchichtliche Stellung verdanken ſie jenem Triebe, der ihnen
keine Ruhe ließ, bis ſie das Ihrige gethan hatten, um alle
dem Menſchen verliehenen Kräfte zu entwickeln und dieſelben
bis zur vollſtändigen Ausbildung durch den Reiz des Wett¬
eifers in Spannung zu halten.
Die ganze Poeſie der Hellenen iſt im Wettkampfe groß
gezogen. In den Paläſten der Fürſten, an den Grabhügeln
der Helden, vor den Tempeln der Götter, auf den vollen
Märkten der Städte wetteiferten die Rhapſoden. In dieſen
Kämpfen erſtarkte die epiſche Kunſt zu jener vollen Kraft und
Sicherheit, in der uns von Anfang an das griechiſche Epos
entgegentritt. Als Wettgeſang vor dem verſammelten Volke
blieb die Kunſt auch bei vollendeter Meiſterſchaft durchaus na¬
tional; ſie konnte nicht erſtarren in ſchulmäßigen Formen, noch
in Künſtelei und Willkür des Geſchmacks abirren. Sie ſchloß
ſich den Neigungen und Stimmungen der verſchiedenen Stämme
an, und während dem Phlegma ackerbauender Aeolier das
lehrhafte Epos zuſagte, gaben die feuriger bewegten, thaten-
und wanderluſtigeren Stämme dem Heldenliede Homer's den
Preis vor Heſiod.
Im Wetteifer der Stämme bildete ſich die griechiſche
Muſik, ordneten und gründeten ſich die nationalen Weiſen lyri¬
ſcher Kunſt. Im Namen der Götter wurden die Hymnenſänger
aufgeboten, und es empfing den Ehrenpreis, wer bei dem Weih¬
[139]Der Wettkampf.feſte des neuen Tempels die große Diana von Epheſus am
herrlichſten gefeiert hatte.
Am vollkommenſten aber entfaltete ſich helleniſcher Wett¬
eifer in der vollendetſten Kunſtgattung — im Drama. Denn
ein großartigeres Schauſpiel bürgerlichen Wetteifers hat die
Welt nicht geſehen, als wenn zu des Dionyſos Ehren die
Feſtchöre aufzogen, welche die reichen Bürger Athens im Na¬
men der Stämme, denen ſie angehörten, ausgeſtattet und ein¬
geübt hatten. Hier traten alle Geiſteskräfte, mit denen die
Hellenen geſegnet waren, alle Künſte, die in Athen blühten, in
brüderlichem Wetteifer zuſammen. Die Baukunſt empfing die
Bürger und Gäſte in ihren Marmorhallen und ſchmückte die
Bühne mit Hülfe der Malerei und Plaſtik; die Orcheſtik ord¬
nete die Tänze, die Muſik beſeelte die Chorlieder, der Schau¬
ſpieler dachte ſich in die Seele der Heroen hinein, deren
Thaten und Leiden er dem Volke vorführte — Alles aber
diente wetteifernd der königlichen Kunſt, der Poeſie, die das
Ganze leitend zuſammenhielt. Wenn in ſolchem Geiſte nach
dem Höchſten gerungen wurde, ſo begreift man, daß die Athe¬
ner ihrem von Land- und Seeſiegen heimkehrenden Helden
keine größere Ehre zu erweiſen wußten, als daß ſie ihm zwi¬
ſchen den wetteifernden Chören des Aeſchylos und Sophokles
das Urtheil des Preisrichters anheimgaben.
Alle Kunſt der Griechen war an unmittelbare Anerkennung
von Seiten des Volks gewöhnt. Der Geſchichtſchreiber las
dem Volke ſeine Geſchichte vor, die Meiſter und Schüler der
bildenden Kunſt wetteiferten in Darſtellung der Götter und
Heroen vor dem Volke. Das ganze Volk wurde überall in
die Intereſſen der Kunſt hereingezogen; es wurden Alle zum
Prüfen, zum Urtheilen gewöhnt und lernten von Jugend an
durch begeiſterte und ſelbſtthätige Theilnahme den Genuß er¬
höhen. So wurde die Kunſt, ſo namentlich das Theater den
Griechen eine Volksſchule im höchſten Sinne des Worts.
So ſehr es aber auch der freie Wettkampf der Kräfte
war, der wie der belebende Hauch durch die geſammte Thätig¬
keit, durch alle Leiſtungen der Griechen hindurchwehte, ſo waren
[140]Der Wettkampf.ſie doch weit entfernt, den Trieb, welchen der Wetteifer anregt,
ſeiner natürlichen Beſchaffenheit zu überlaſſen, in welcher er
mehr zum Schlechten als zum Guten führt. Sie haben den
wilden Trieb gezähmt, ſie haben ihn geſittigt und veredelt,
indem ſie ihn der Religion dienſtbar gemacht haben.
An ſich ſcheint die Religion, in welcher Form ſie ſich auch
darſtellen mag, am wenigſten geeignet und berufen zu ſein,
den Trieb des Wetteifers zu erwecken. Im Gefühle des Un¬
vermögens wurzelnd, demüthigt ſie den Menſchen der Gottheit
gegenüber und anſtatt ihn zu eigenwilligen Kraftäußerungen
und neuen Erwerbungen anzuſpornen, verpflichtet ſie ihn am
Gegebenen feſtzuhalten und in ſelbſtverläugnender Treue den
väterlichen Ueberlieferungen anzuhangen. Wie ſehr die Helle¬
nen dieſe Bedeutung der Religion zu würdigen wußten, be¬
weiſt die muſterhafte Treue, welche ſie mitten in der ruheloſen
Bewegung ihres bürgerlichen Lebens den überlieferten Ord¬
nungen des Gottesdienſtes bewahrt haben, und wenn die
Propheten des alten Bundes ihre immer wankelmüthigen Lands¬
leute auf die Heiden hinweiſen: Gehet hin in die Inſeln
Chitim und ſchauet, ob es daſelbſt ſo zugehe, ob die Heiden
ihre Götter ändern! — ſo findet dies auf alle Hellenen, nament¬
lich auf die Athener Anwendung; es hat in religiöſen Dingen
kein conſervativeres Volk gegeben.
Indeſſen tritt ja das Volk nicht bloß im Gefühle der
Machtloſigkeit und Hülfsbedürftigkeit ſeinen nationalen Göttern
gegenüber, ſondern auch beim Opfer des Danks für den em¬
pfangenen Ernteſegen, und es ſcheint die freudige Anerkennung
und Aneignung deſſelben vor den Göttern die natürlichſte Form
des Dankes zu ſein. Darum finden wir bei Hellenen wie bei
Barbaren die Opfer mit Opfermahlzeiten, mit frohen Feſten
und Luſtbarkeiten verknüpft. Hier aber tritt uns gerade die
Eigenthümlichkeit des helleniſchen Weſens recht deutlich ent¬
gegen. Bei den andern Völkern beſteht die Feſtfreude im
Vollgenuſſe der irdiſchen Güter; die Hellenen kannten eine
höhere Freude, und dieſe fanden ſie in der durch jugendlichen
Wetteifer geſteigerten und durch Theilnahme des ganzen Volks
[141]Der Wettkampf. begeiſterten Uebung ihrer Seelen- und Körperkräfte. Denn
um ihre Götter zu ehren, glaubten ſie nicht nur die Erſtlings¬
früchte der Felder, die kräftigſten Thiere ihrer Heerden, ſon¬
dern vor Allem die Blüthe der Jugend in ihrer Geſundheit
und Kraft den Göttern darſtellen zu müſſen, und zwar nicht
bloß in feierlichen Aufzügen, in feſtlichen Tänzen, ſondern auch
in freudigem Wettkampfe ſollten ihre Jünglinge zeigen, daß
ſie die reichlich empfangenen Gottesgaben zu voller Entwicke¬
lung zu fördern nicht träge geweſen ſeien. So ſind die Wett¬
kämpfe ein Opfer des Danks, deſſen die Götter ſich freuen.
Darum ſind alle regelmäßigen Wettkämpfe, die wir in
geſchichtlicher Zeit nachweiſen können, an Götterfeſte geknüpft;
ihre Schauplätze ſind urſprünglich die Tempelhöfe, die eigent¬
lichen Zuſchauer die Götter. Ihnen wird ja Alles verdankt,
was zum Wettkampfe befähigt, die Spannkraft der Muskeln,
die im Laufe ausdauernde Bruſt, die Harmonie der Glieder,
die Stimme des Geſangs wie die geiſtbeſeelte Rede — was
alſo immer an Ehre und Gewinn dadurch erworben wird,
gebührt von Rechtswegen der Gottheit. Der Menſch hat neben
ihr keinen Anſpruch. Die gewonnenen Dreifüße werden alſo
zum dauernden Schmucke um das Haus des Gottes aufge¬
ſtellt, und wer den goldenen Siegespreis, den er mühevoll
genug errungen hat, etwa heimtragen wollte, der würde dem
Gotte das Seine nehmen, er würde der Strafe des Tempel¬
raubes verfallen, und die Gemeinde, welche ihn ſchützen wollte,
müßte aus der Genoſſenſchaft des gottesdienſtlichen Vereins
ausgeſtoßen werden.
Je deutlicher ſich die Hellenen in ihrem Volksbewußtſein
von den Barbaren unterſcheiden lernten, um ſo lauterer und
eigenthümlicher haben ſie die Idee des Wettkampfes entwickelt,
und diejenigen unter ihnen, welche jenen Gegenſatz am kräf¬
tigſten darzuſtellen berufen waren, die Dorier, haben am ent¬
ſchiedenſten dahin gewirkt, jede Rückſicht auf Eigennutz und
alle unreinen Beimiſchungen zu entfernen. Die Werthpreiſe
verſchwinden, damit Keiner, den ſchnöder Gewinn anlockt, an
den heiligen Schauſpielen ſich betheilige. Der Kranz von
[142]Der Wettkampf. Blättern, der Laubzweig, die wollene Binde haben ja keinen
andern Werth, als daß ſie Symbole des Sieges ſind, die von
den Göttern ſelbſt — wie die dem Timoleon von der Tempel¬
decke auf das Haupt fallende Binde — oder in der Gottheit
Namen von den ſtellvertretenden Preisrichtern vor den Augen
des Volks ausgetheilt werden.
Der Kranz iſt vom Baume, welcher dem Gotte heilig iſt.
Wer mit dem Kranze angethan wird, ſtellt ſich dadurch als
ein dem Gotte Zugehöriger dar; er wird ihm zugeeignet und
gleich wie das Opferthier bekränzt wird, damit es als gött¬
liches Eigenthum gegen jede unheilige Menſchenhand ſicher ge¬
ſtellt werde, wie Häuſer, Straßen, Plätze durch ihre Bekränzung
den Göttern ſinnbildlich zugeeignet werden, deren Laub ſie tra¬
gen — ſo wurde auch der Sieger, wie ein den Göttern wohlge¬
fälliges Opfer mit Binden geſchmückt, mit Kränzen geweiht. Auf
alten Vaſenbildern ſehen wir den ſtolzen Sieger, dem das be¬
neidenswertheſte Erdenglück zu Theil geworden iſt, dargeſtellt,
wie er ſich demüthig den ſtarken Arm umbinden läßt, um dann
im Tempel vor den Augen des Gottes Palmzweig und Kranz zu
empfangen. Auch die Kränze pflegte der Sieger nicht als Eigen¬
thum mitzunehmen, ſondern im Heiligthume der heimathlichen
Gottheit, die ſeine Jugend gnädig behütet hatte, aufzuhängen.
Damit ſteht noch ein Anderes in nahem Zuſammenhange,
nämlich daß in den Schranken nicht geſtattet war mit roher
Kraft zuzufahren oder nach eigenen Gelüſten den Kampf zu füh¬
ren. Es wurde ja Niemand zugelaſſen, welcher nicht nach helle¬
niſchem Brauche kunſtmäßig ſeine Kraft ausgebildet hatte, und
Keiner empfing den Siegerkranz, welcher ſich nicht allen feierlich
beſchworenen Normen des Kampfes willig unterworfen hatte.
So haben die Hellenen durch einfache Bräuche und Satzun¬
gen den Menſchen auf des Glückes Gipfel demüthig zu halten
gewußt; ſie haben den Sporn des Wetteifers angewendet, um
ſich gegen des Fleiſches Trägheit zu ſchützen, aber ſie haben
den Eifer von allem Selbſtiſchen zu klären geſucht, ſie haben
den wilden Trieb des Ehrgeizes geordnet und veredelt durch
die Zucht des Geſetzes und der Religion.
Was ſie als Ziel erſtrebten, liegt deutlich vor uns; in
dieſem Streben offenbart ſich uns der Geiſt der Hellenen auf
der Höhe ſeiner ſittlichen Kraft, und die Anerkennung deſ¬
ſelben ſollen wir uns nicht etwa durch den Gedanken verleiden
laſſen, daß jenes Streben in Wirklichkeit ein durch Leidenſchaft
vielfach getrübtes, durch Schwäche gehemmtes geweſen ſei.
Das iſt freilich leicht zu erkennen und nachzuweiſen. Aber
wenn ein Mann, mit herrlichen Gaben geſchmückt, ſegensreich
in unſerer Mitte gewirkt hat, ſo werden wir doch, wenn wir
ſein Leben und Wirken darſtellen, nicht bei den Mängeln und
Schwächen verweilen, welche er mit allen Weſen ſeiner Art
theilte, ſondern vorzugsweiſe bei dem Großen und Ausgezeich¬
neten, bei der beſonderen Kraft, die Gott in ihm uns hat
offenbaren wollen. Ebenſo dürfen und ſollen wir auch die
Völker des Alterthums betrachten. Dieſer Idealismus iſt das
ſchönſte Vorrecht der klaſſiſchen Philologie. Denn was ein
Einzelner, was ein Volksſtamm in der Blüthe ſeiner Kraft,
im höchſten Aufſchwunge ſeiner Natur, in ſeinen beſten Tagen
und Stunden iſt, das iſt er wirklich und ganz, und das ſollen
wir zur Erinnerung unſerem Gemüthe einprägen.
So lange die Hellenen in dieſer Weiſe um den Kranz
kämpften, waren ſie ein mächtiges, ein unüberwindliches Volk;
ſo wie ihre Schwungkraft ermattete, verlor der Kranz ſeine
Bedeutung und blieb nur als eitler Schmuck in Geltung. Die
Kirchenväter eiferten gegen die Bekränzung, weil ſie in ihr
nur eins der auffallendſten Zeichen heidniſcher Götterverehrung
ſahen. Uns aber ſoll der helleniſche Kranz kein Aergerniß
ſein, ſondern das Symbol eines auch für uns vorbildlichen
Strebens.
Dieſer Standpunkt iſt durch die ehrwürdigſte Autorität
unſerer Kirche vertreten. Denn derſelbe Mann, der auf dem
Areopag den unbekannten Gott verkündete und ſtatt des Kran¬
zes das Kreuz mit der Dornenkrone in Hellas aufrichtete —
wie ſehr liebt er es, ſich ſelbſt in ſeinem Ringen und Laufen
einem Wettkämpfer zu vergleichen, wie eindringend ermahnt
er ſeine Korinther, ihren iſthmiſchen Kampfhelden nachzueifern,
[144]Der Wettkampf. wie treffend hebt er in ſeinen Briefen die vorbildliche Bedeu¬
tung der helleniſchen Agoniſtik hervor! Dieſe findet er zunächſt
in der Enthaltſamkeit, der ſich der Kämpfer befleißigen muß,
um ſeinen Leib leicht und kampfrüſtig, ſeine Glieder ſchwung¬
kräftig zu erhalten; zweitens iſt es der Gehorſam, der gefor¬
dert wird, die Verläugnung aller ſelbſtſüchtigen Willkür, die
Anerkennung einer feſten Ordnung, in welcher dem Kleinode
nachgejagt werden ſoll; es iſt endlich — wie es die Alten in
den Erzbildern ihrer Olympioniken unnachahmlich darzuſtellen
wußten — das Sich-vorwärts-ſtrecken des ganzen Menſchen
nach Einem Ziele, zu dem Alle berufen werden, zu dem Viele
laufen, aber nur Wenige gelangen.
So ſollen alſo auch wir das Große, das im Alterthume
offenbar geworden iſt, nicht bloß erkennen und ſchön finden;
wir ſollen nicht ſchwärmen in bewundernder Erinnerung an
das hohe Streben der Hellenen, ſondern wir ſollen das, was
daran ewig gültig iſt, der Vergangenheit entreißen und uns
mit kräftigem Entſchluſſe aneignen. Denn nicht für ſich, ſon¬
dern für alle kommenden Geſchlechter haben die Hellenen den
Barbaren alter und neuer Zeit gegenüber die Wahrheit an
das Licht gebracht, daß nicht das Beſitzen und Genießen, ſon¬
dern das Ringen und Streben bis ans Ende des Menſchen
Beruf und ſeine einzige wahre Freudenquelle ſei.
Man hat den Deutſchen wohl die Ehre erwieſen, ihnen
ein beſonderes Verſtändniß des helleniſchen Weſens zuzutrauen.
Gewiß iſt, daß unſer Volk in ſeiner ganzen Entwickelung durch
eine Reihe wichtiger Analogien auf die Geſchichte der Hellenen
hingewieſen iſt. Die Geſchichte beider Völker iſt nicht nur
aus der ihrer Stämme erwachſen, ſondern hat den Charakter
einer ſolchen länger feſtgehalten, als bei anderen Völkern der
Fall iſt. In Hellas wie in Deutſchland hat ſich das lebendige
Sonderbewußtſein der Stämme gegen den Abſchluß einer aus¬
gleichenden Staatsordnung geſträubt und alle Verſuche ver¬
eitelt, die gemeinſame Volksthümlichkeit in allgemein gültigen
und dauerhaften Staatsformen auszuprägen. Hier wie dort
iſt die nationale Einheit ein geiſtiger, ein innerlicher Beſitz
[145]Der Wettkampf.geblieben, eine über den einzelnen Stämmen und Staaten
ſchwebende Idee. Um ſo mehr iſt die geiſtige Verwirklichung
derſelben ein Gegenſtand des Wetteifers geworden, indem von
den begabteren Stämmen jeder nach ſeiner Weiſe in Glauben
und Sitte, in Kunſt und Wiſſenſchaft das nationale Bewußt¬
ſein auszubilden geſtrebt hat, und was in dieſem großen
Wettkampfe der Kräfte Gutes und Schönes gelungen iſt, das
iſt bei den Deutſchen wie bei den Griechen des ganzen Vol¬
kes Geſamtbeſitz geworden, und wer kann verkennen, wie viel
auch unſere Bildung, unſere Litteratur dieſem Wettkampfe
verdankt.
Zur Theilnahme an dieſem Wettkampfe, der uns die friſche
Strömung und den Reichthum des inneren Volkslebens ver¬
bürgt, ſind vor Allen die Univerſitäten unſeres Vaterlandes
berufen; ja ſie ſollen dieſen Kampf in ſeiner reinſten Form,
in ſeiner vollen Idealität darſtellen. Nirgends ſollte lebendiger
als hier der gemeinſame Beſitz vaterländiſcher Bildung als
das theuerſte Erbe, das wir von den Vätern empfangen haben,
erkannt und erfaßt werden; hier ſoll es mit treuen Händen
gepflegt und mit Hinblick auf das gemeinſame Ziel unver¬
droſſen erweitert werden. Andererſeits hat aber auch jede
einzelne der deutſchen Hochſchulen nach ihrer örtlichen Lage,
ihren Verhältniſſen und ihrer eigenen Vergangenheit ihren be¬
ſonderen Beruf, ihre eigenthümliche Bahn. Jeder iſt die Frei¬
heit, jeder die Pflicht gegeben nach dem höchſten Kranze zu
ringen.
Aber iſt nicht auch jede unſerer Univerſitäten für ſich be¬
rufen, ein Kampfplatz des Wetteifers zu ſein? Werden nicht
die Männer, denen das Lehramt anvertraut iſt, je brüderlicher
ſie im Gefühle des gemeinſamen, hohen Berufs zuſammen¬
ſtehen, um ſo lebendiger mit einander wetteifern in Erweckung
der Jugend, in Förderung der Wiſſenſchaft? Ja dieſer Wett¬
eifer erſtreckt ſich weit über die Gränze des zeitlichen Zuſam¬
menlebens; denn die geiſtigen Genoſſenſchaften gehen durch
Generationen hindurch, und wenn die Hellenen ihre Helden¬
gräber mit Kampfſpielen ehrten, um zu zeigen, daß die Tu¬
Curtius, Alterthum. 10[146]Der Wettkampf. genden der Väter nicht mit ihnen in das Grab geſunken ſeien,
ſo feiern wir das Gedächtniß der theuern Männer, die uns
angehört haben, durch den Eifer ihre Tugenden fortzupflanzen,
ihr Andenken lebendig zu erhalten und in ihre Arbeit rüſtig
einzutreten. Die Jugend aber — wie könnte ſie aus ſo vielen
Städten und Gauen des Vaterlandes hier zuſammenſtrömen,
ohne daß dadurch die in den Einzelnen ſchlummernden Kräfte
zu gemeinſamem Streben geweckt, zum freudigen Wetteifer
begeiſtert werden ſollten!
An Eifer und Wetteifer fehlt es freilich nirgends unter
den Menſchen und von Jahr zu Jahr rennen ſie mit ſteigender
Ungeduld durch einander, damit Einer dem Andern den Preis
abjage. Aber da handelt es ſich um Gewinn und Beſitz, um
Ehre und Einfluß oder eitlen Sinnengenuß; unſer gemeinſamer
Beruf fordert einen Wetteifer, wie ihn die Hellenen geübt
haben, den Wetteifer, welcher in der freien Entfaltung aller
Kräfte, im ſelbſtverläugnenden Streben nach dem höchſten Ziele
ſeine volle Befriedigung findet.
Daß ich am heutigen Tage gerade dieſe Richtung meinen
Gedanken gegeben habe, kann Sie nicht befremden. Denn ich
darf ja im Namen einer Univerſität reden, deren Gründung
von dem hochherzigen Gedanken ausgegangen iſt, daß ein
deutſcher Staat durch Zuwachs an Macht und Ehre zugleich
die Verpflichtung empfange, in der Förderung deutſcher Wiſſen¬
ſchaft mit allen Nachbarſtaaten zu wetteifern, einer Univerſität,
welche den Gedanken ihres königlichen Gründers unter Gottes
ſichtlichem Segen verwirklicht, die, ſeit ſie in die Schranken
eingetreten iſt, viel unverwelkliche Ehrenkränze gewonnen hat
und mit den auserwählteſten Namen deutſcher Nation ver¬
wachſen iſt.
Ich brauche um ſo weniger zu beſorgen, daß ich Fern¬
liegendes zum Gegenſtande dieſer Rede gewählt habe, wenn
ich bedenke, wie der König, welcher dem Gründer der Georgia-
Auguſta auch in der Liebe zu ihr nachgefolgt iſt, ſeinen Ge¬
burtstag uns für alle Zeiten zum Feſttage gemacht hat. Denn
indem er dieſen Tag zur Austheilung der erworbenen Preiſe
[147]Der Wettkampf. wie zur Verkündigung neuer Preisaufgaben beſtimmt hat,
konnte er dabei doch keine andere Abſicht haben, als die Idee
des geiſtigen Wettkampfs, ſo zu ſagen, mitten in unſer Leben
hineinzuſtellen und in jährlicher Feier immer von Neuem uns
vor die Seele zu führen.
Wenn nun der Gedanke des königlichen Gründers ſich
alſo vererbt und in ſeinem erhabenen Hauſe ſich bis heute
ſo lebendig erhalten hat, wie wir es Alle mit ehrerbietigem
Danke anerkennen, wenn eine erleuchtete Regierung den Ruhm
der Georgia-Auguſta wie das koſtbare Vermächtniß zu hüten
und auf alle Weiſe zu fördern als eine ihrer heiligſten Ver¬
pflichtungen anſieht, ſo liegt es alſo nur an uns, daß die Zu¬
kunft unſerer Univerſität ihrer Vergangenheit entſpreche und
daß wir dazu Alle, jung und alt, in freudigem Wetteifer das
Unſere beitragen.
IX.
Arbeit und Muße.
Arbeit und Muße bilden den Gegenſatz, der das Leben
beherrſcht. Er iſt durch kein Naturgeſetz geregelt, wie Ebbe
und Fluth oder wie das Ein- und Ausathmen der Bruſt, ſon¬
dern dem Willen anheim gegeben. Darauf beruht ſeine Be¬
deutung für das ſittliche Leben; deshalb beurtheilen wir die
Bildung eines Menſchen darnach, wie er ſeine Muße genießt,
und die richtige Theilung zwiſchen Arbeit und Muße bleibt
eine der höchſten Aufgaben der Lebenskunſt, welche man nie
zu Ende lernt. Da wir nun heute nach des Winters Arbeit
in ſchöner Muße vereinigt ſind, den Feſttag zu feiern, dem
wir durch eine wiſſenſchaftliche Betrachtung die unſerm Beruf
entſprechende Weihe zu geben ſuchen, ſo geſtatten Sie mir
Ihre Aufmerkſamkeit darauf zu lenken, welche Stelle die Muße
im Menſchenleben einnimmt und wie ſich in der Auffaſſung
derſelben die Völker und Zeiten unterſcheiden.
Wenn wir die Wörter: Muße, müßig und Müßiggang
zuſammenſtellen, bemerken wir ſchon, wie zarter Natur der
Begriff iſt, um den es ſich handelt. Er hat auch eine merk¬
würdige Geſchichte. Denn dem Gymnaſiaſten, der an einem
heißen Sommertage ſeinen Schuldienſt antritt, will es ſchwer
einleuchten, daß schola »Muße« bedeute.
Uns pflegt die Muße inmitten der Arbeit als eine er¬
ſpruch mit dem Brahmanismus entſtandene neue Anſchauung
[149]Arbeit und Muße. quickende Pauſe zu erſcheinen; den Griechen erſchien ſie als
der normale Zuſtand und ſie hatten für den Begriff des
Geſchäfts nur den Ausdruck Ascholia d. h. Unmuße. Ebenſo
verhält es ſich mit otium und negotium. Wollten wir alſo
unſere akademiſchen Verhältniſſe nach dem Vorbilde der klaſſi¬
ſchen Völker betrachten, ſo könnten wir die Semeſter nur als
Unterbrechung der Ferien anſehen.
Im Allgemeinen kann man ſagen, daß Völker und Länder
ſich darnach unterſcheiden, ob ſie die Arbeit auf Koſten der
Muße oder dieſe auf Koſten jener vortreten laſſen. Blickt
man auf den Winter einer nordiſchen Stadt zurück, ſo wird
hier, wie Jeder mir zugeſtehen wird, auch die geſellige Er¬
holung mit ſolchem Kraftaufwande betrieben, daß die Muße
zur Arbeit wird. Kehrt ein Südländer von uns in die Hei¬
math zurück, ſo pflegt er zu klagen, daß er die hier gewohnte
Anſpannung des Studiums nicht lange fortſetzen könne, und
die Arbeit verwandelt ſich nach und nach in eine von ſeiner
Laune abhängige Ausfüllung behaglicher Mußeſtunden.
Freilich beruht dieſer Unterſchied nicht unbedingt auf dem
Breitengrade und dem durchſchnittlichen Barometerſtande eines
Landes; auch in heißen Zonen iſt kräftig gedacht und geſchaffen
worden, ſo lange die Volkskraft lebendig war. Das bezeugen
die Heroenſagen der Inder. Da iſt Arbeit und Muße voll ent¬
wickelt und zu fruchtbarſter Wechſelwirkung gekommen. Denn
wo Poeſie gedeiht, iſt ſie die Frucht edler Muße, und Heldenlied
iſt ohne Heldenthum nicht denkbar. In der geſchichtlichen Zeit
aber verwiſcht ſich der Gegenſatz, der jedem geſunden Volks¬
leben unentbehrlich iſt, und wir ſehen, wie das Ziel des
Strebens nicht mehr in die Erledigung praktiſcher Aufgaben
geſetzt wird, ſondern in eine den perſönlichen Willen vernich¬
tende und alle Thatkraft lähmende Hingabe an die Betrach¬
tung des Ueberſinnlichen, in eine immer völligere Rückkehr
des Einzelweſens in die Gottheit.
Wie ſehr aber dieſe Auffaſſung mit Land und Volk zu¬
ſammenhängt, geht daraus hervor, daß auch die im Wider¬
[150]Arbeit und Muße. von Gott und Welt, wie ſie der Buddhismus aufſtellt, darin
auf daſſelbe hinauskommt, daß auch ſein Ideal ein Ver¬
löſchen der Individualität iſt, ein der Welt Abſterben, ein
Nicht-Wollen und Nicht-Handeln — und wenn auch bei kräf¬
tigeren Naturvölkern, denen dieſes Ideal nicht munden wollte,
ein allgemeinerer Begriff von Glück und Wonne an die Stelle
trat, ſo hat er doch in Indien ſelbſt den orientaliſchen Cha¬
rakter immer behauptet, nach welchem volle Apathie die Vor¬
ausſetzung eines glücklichen Lebens iſt und alſo die Abwechſe¬
lung von Arbeit und Muße vollkommen aufgehoben wird.
Ganz anders war es mit den Bergvölkern Irans, mit
den Medern und Perſern, ſo lange ihr Volksgeiſt kräftig war.
Hier war ein mattherziges Verzagen, eine träge Indifferenz
unmöglich. Hier wurde jeder Einzelne in den großen Gegen¬
ſatz hereingezogen, welcher die Geiſterwelt wie die Völker und
Länder in zwei Heerlager ſchied. Die Religion verlangte
Parteinahme und Kampf; ſie forderte unverdroſſene Arbeit in
Feld, Wald und Garten; ſie verpönte nur das gewinnſüchtige
Geſchäft und wies die beſchauliche Andacht, in welche das
Leben der Inder aufging, den Feiertagen und Feierſtunden zu.
So war eine einfache und vernünftige Lebensordnung
begründet, wie ſie ſich bei allen Zweigen des ariſchen Völker¬
geſchlechts wiederholt; auch bei den Griechen, ſo lange ſie als
Pelasger weſentlich Landbauer waren und mit eigener Hand
den Boden beſtellten. In dieſem Zuſtande iſt ein großer Theil
des Volks lange geblieben; diejenigen aber, mit welchen die
Perſer in Berührung kamen, die auf den Inſeln und Küſten
anſäſſigen Griechen waren mehr als irgend ein anderes Glied
des ariſchen Völkergeſchlechts mit den ſeefahrenden Semiten in
Berührung gekommen, welche Handel und Induſtrie im Archi¬
pelagus eingeführt und mit ihrer Unruhe die Griechenwelt er¬
füllt haben. Der Kaufmarkt wurde nun der Mittelpunkt der
Küſtenſtädte, und weil der Perſerkönig in dieſem Zuſtande die
Griechen kennen lernte, verachtete er ſie, wie Herodot ſagt, als
ein entartetes Volk, welches außer Stande ſei, einen mann¬
haft gebliebenen Widerſtand zu leiſten.
Kyros ſah nur die Schattenſeite, und es iſt unläugbar,
daß die Erwerbsluſt, welche keinen regelmäßigen Wechſel von
Arbeit und Muße, keine feſten Ziele und Zeiten hat wie der
Landbau, die ſittliche Geſundheit der Griechen frühzeitig an¬
gegriffen und ihren Stammcharakter weſentlich verändert hat.
Andererſeits beruht aber die ganze Vielſeitigkeit und Frucht¬
barkeit des Griechenthums darauf, daß es zwei verſchiedenen
Culturkreiſen angehört, und wir erkennen in ihm deutlich einen
doppelten Zug, den ariſchen Stolz, der jeden kaufmänniſchen
und induſtriellen Erwerb verachtete, und die den Phöniziern
abgelernte Betriebſamkeit, die in raſtloſer Geſchäftigkeit Alles
zu verwerthen ſuchte, was die Natur darbot oder ihr Fleiß
hervorbrachte.
Dieſer Gegenſatz hat eine wohlthätige Gährung erzeugt;
er hat Nachdenken und Anſtrengung hervorgerufen, und in
dem Beſtreben ihn richtig zu vermitteln ſind die Griechen über
die Einſeitigkeit der älteren Völker hinausgegangen, haben die
verſchiedenen Richtungen des Menſchenlebens zuerſt klar über¬
blickt und eine ihnen durchaus eigenthümliche Lebensordnung
aufgeſtellt.
Merkwürdig iſt, wie ſie dazu das Ausländiſche benutzten.
Von den Phöniziern haben ſie Menſchenraub und Menſchen¬
handel kennen gelernt. Dadurch wurde die Möglichkeit gege¬
ben, einen Stand heimathloſer Leute zuſammen zu bringen,
auf welchen die Landeskinder die Laſt der Tagesarbeit wälzen
konnten. Nun theilt ſich das Geſchlecht der Menſchen dar¬
nach, ob ſie Muße haben oder nicht. Der Unfreie, ſagt Ariſto¬
teles, hat keine Muße; für ihn giebt es nur Arbeitszeit und
Arbeitspauſe. Auch für das unreife Alter iſt ſie nicht vor¬
handen. Erſt der voll Entwickelte tritt in ihren Genuß ein,
wie der erwachſene Hausſohn in den Beſitz des Erbes. Sie
iſt das höchſte aller Güter, das wahre Leben, weil ſie allein
freie Verfügung über Zeit und Kraft geſtattet. Aber dieſer
Schatz will verwaltet ſein und dazu bedarf es einer Vorbil¬
dung. Der Muße muß ein würdiger Inhalt gegeben werden,
ſonſt geht der Menſch an ihrem Genuß zu Grunde. Das
[152]Arbeit und Muße. alſo iſt die neue Bedeutung, welche die Hellenen der Muße
gegeben haben, daß ſie nicht mehr das Gegentheil der An¬
ſtrengung iſt, wie bei den Barbaren, welche nach der Arbeit
nichts Anderes zu thun wiſſen, als ſich der Völlerei und
ſtumpfen Trägheit zu ergeben. Die Griechen erkannten, daß
ohne Thätigkeit kein Lebensgenuß vorhanden ſei. Die Muße
ſoll alſo nur eine andere Art der Thätigkeit ſein; die Thä¬
tigkeit der Muße hat aber das Eigenthümliche, daß ſie durch
keinerlei äußere Bedürfniſſe hervorgerufen iſt, ſondern eine
vollkommen freiwillige, ſelbſtgewählte und freudige, deshalb
aber keine launenhafte und regelloſe, ſondern eine ſo geord¬
nete Thätigkeit, daß ſich alle geiſtigen und körperlichen Kräfte
dabei harmoniſch entfalten, und indem ſie dafür gewiſſe Nor¬
men aufgeſtellt haben, wie ſie ihrem Volkscharakter entſprachen,
haben ſie den Genuß der Muße zu einer nationalen Kunſt
ausgebildet, welche mehr als alles Andere das Weſen des
helleniſchen Volks zum Ausdruck bringt.
Als die zehntauſend Griechenherzen beim Anblick des
Meers wieder aufathmeten, was war das Erſte, womit die
matten Krieger ihre Rettung feierten, und der erſte Genuß der
Muße nach unſäglicher Noth? Sie richteten am Geſtade eine
Rennbahn ein, um ſich in fröhlichem Wettkampfe wieder als
Hellenen zu fühlen. Auf dem unvergleichlichen Bilde helleni¬
ſchen Lebens, wie es die Ficoroniſche Ciſte uns vor Augen
ſtellt, ſehen wir einen der Argonauten, der eben dem Schiffs¬
raum entſtiegen iſt, an einem aufgehängten Schlauche Uebungen
des Fauſtkampfes anſtellen, nur um der Freude willen, nach
langer Haft die Glieder wieder frei bewegen und alle Muskeln
anſpannen zu können, während der dickbäuchige Silen, welcher
daneben ſitzt, den Thoren auslacht, welcher ſich ohne Noth
anſtrengt.
Der Gymnaſtik, welche die leiblichen Kräfte zu harmoni¬
ſcher Thätigkeit anſpannt und dadurch eine unverſiegbare Quelle
froher Befriedigung wird, entſpricht die geiſtige Thätigkeit,
die freie, ſich ſelbſt regelnde, kunſtgerechte, welche der Muße
Inhalt und Weihe giebt. Die Mnſik hat, wie Ariſtoteles ſagt,
[153]Arbeit und Muße. den Beruf, die Menſchen zu lehren, wie ſie ſich in rechter
Weiſe freuen ſollen. So erhielt das Saitenſpiel ſeine Be¬
deutung für das Leben der Griechen, das, mit der Ausrüſtung
moderner Tonkunſt verglichen, ſo armſelige Geräth der ſieben¬
ſaitigen Leier — und wo hat doch ein geringes Werkzeug
ſolche Macht entfaltet, wo iſt es ſo ſehr das Wahrzeichen und
der ideale Mittelpunkt eines reich entfalteten Volkslebens ge¬
worden, wie die Leier bei den Hellenen, das Symbol helleni¬
ſcher Muße! Von ihr dachten ſie, daß ſie Himmel und Erde
beherrſche. »Denn auch des Kriegs wilder Gott,« ſangen ſie,
»läßt ſtarrender Speere Gewühl hinter ſich und labt ſein Herz
an Liedesluſt. Auch die Herzen der Götter durchdringt der
Saiten Zaubergewalt, von der Hand des Apollon gepflegt
und der Kunſt holder Muſen«.
Die Muſenkunſt ſtattete die Feſte ſo herrlich aus, daß
die Bürger, allen Geſchäften entrückt, Tage lang in voller
Spannung den Wettkämpfen ihrer Dichter zuhörten. Auch
beim häuslichen Mahle kreiſte die Leier, und wie man das ge¬
ſellige Zuſammenſein durch geiſtigen Genuß zu adeln, durch
Scherz und Ernſt zu würzen wußte, zeigte Platon's Gaſtmahl
in einem verklärten Abbild. Ja, wenn wir noch heute unab¬
läſſig beſchäftigt ſind, den ganzen Reichthum deſſen, was von
den Griechen in ihrer Muße gedacht und gedichtet iſt, immer
vollſtändiger zu würdigen, ſo hat man in der That den Ein¬
druck, als wenn bei ihnen das natürliche Verhältniß umgekehrt
und des Volks ganze Arbeit in die Ausſtattung der Muße
verlegt worden ſei.
Und doch war dies immer nur die andere Seite ſeiner
Thätigkeit, die Ergänzung der praktiſchen Wirkſamkeit, welche
mit unbeſchränkter Energie dem Ausbau der Verfaſſungen, der
Leitung des Gemeinweſens, der Vertheidigung ſeiner Unab¬
hängigkeit zugewendet war. In der Pflege der muſiſchen
Künſte war aber die volle Freiheit des geiſtigen Lebens
ſo ſehr die Hauptſache, daß man die Meiſterſchaft in einer
einzelnen Kunſt auf Koſten jener Freiheit nicht erkaufen
wollte; Geſang und Saitenſpiel als ein beſonderer Lebens¬
[154]Arbeit und Muße. beruf aufgefaßt, galt ſchon für Unfreiheit, für eine »begränzte
Sklaverei«.
Die Pflege der Muße war eine öffentliche Angelegenheit.
Für die Muße des Volks hat die Architektur die großartigſten
Werke errichtet, die Theater, Stadien und Hippodrome, die
parkartigen Gymnaſien und die Marmorhallen an den Märkten,
wo die Bürger zwiſchen Statuen und hiſtoriſchen Wandgemäl¬
den in traulichem Geſpräche auf und nieder wandelten.
Auch die bildende Kunſt konnte nichts Anmuthenderes dar¬
ſtellen, als den Genuß der Muße, ſei es in den Geſtalten der
Olympier, der »leicht lebenden«, welche in ſeliger Ruhe neben
einander lagern, oder in der Gemeinſchaft der Bürger an
ihren großen Jahresfeſten. In Satyrgeſtalten ſtellte ſie die
niedrige Art der Muße dar, das gedankenloſe Hinträumen im
Waldesſchatten oder am plätſchernden Brunnen, das dolce far
niente des ſüdlichen Naturmenſchen, und die höhere Muße in
der angelehnten Geſtalt des Apollon, deſſen Ausruhen nur die
geiſtige Sammlung iſt, welcher neue Lieder entkeimen.
Ja, die Muße iſt der geſegnete Mutterſchoß alles deſſen,
wodurch die Hellenen vorbildlich geworden ſind; ſie iſt die
nothwendige Vorausſetzung ihrer Geiſtescultur, wie der Mar¬
mor für ihre Tempel. Aber auch in Griechenland war ein
großer Unterſchied nach Zeiten und Orten.
Viele Stämme ſind immer auf dem Standpunkte eigen¬
händiger Landwirthſchaft geblieben, wie die binnenländiſchen
Peloponneſier. Bei Anderen machte ſich der ſemitiſche Er¬
werbstrieb in vorherrſchender Weiſe geltend; ſo namentlich in
Korinth und Aigina. Die richtige Ausgleichung iſt nur in
Athen ernſtlich erſtrebt und eine Zeitlang einzig gelungen.
Das zeigt ſchon Solon, der Kaufmann, Dichter, Philoſoph
und Geſetzgeber.
Im Leben der Athener iſt aber keine größere Epoche ein¬
getreten, als die ſiegreiche Beendigung der Perſerkriege, und
zwar deshalb, weil ſie, wie Ariſtoteles ſagt, nach denſelben
»mehr Muße gewannen«. Von dem Maß der Muße macht
alſo der große Geſchichtskenner die eigenthümliche Entwickelung
[155]Arbeit und Muße. Athens abhängig, indem die Bürger nun mit kühnem Selbſt¬
gefühl über den Nothbedarf des Lebens hinausgingen und
jedem geiſtigen Fortſchritt folgten.
Niemals aber iſt das Verhältniß von Arbeit und Muße
in gleichem Grade ein Gegenſtand der Staatskunſt geworden
wie im perikleiſchen Athen. Hier wurde einerſeits jeder Ar¬
beit die volle Ehre gegeben und des Bürgers Kraft in Krieg
und Frieden angeſpannt, andererſeits eine Fülle des geiſtigen
Genuſſes dargeboten als wohlverdienter Lohn der Tapferkeit,
um der ſteigenden Unruhe des Lebens durch eine auf das
Würdigſte angewandte Muße das Gleichgewicht zu halten, um
die Athener zu gewöhnen, das Schöne ohne Verweichlichung
zu lieben und mit dem offnen Sinn für Wiſſenſchaft und
Kunſt die pflichttreue Arbeitſamkeit des Bürgers zu verbinden.
Alt-Italien iſt im Ganzen der ariſchen Lebensauf¬
faſſung treuer geblieben als die griechiſche Halbinſel mit ihrer
mehr zerſetzten und tiefer durchwühlten Bevölkerung. Der
Italiker blieb in näherm Zuſammenhange mit dem Boden
und richtete darnach Arbeit und Muße ein. Darum tritt auch
die Freude an der Natur und an dem ſtillen Zuſammenleben
mit ihr viel kräftiger hervor. Sie wurde auch feſtgehalten,
als mit der griechiſchen Bildung der Genuß griechiſcher Muße
ſich einbürgerte und als man, wie Seneca thut, Muße ohne
Wiſſenſchaft mit dem Zuſtand eines lebendig Begrabenen ver¬
glich. Man machte in Italien einen ſtärkeren Unterſchied
zwiſchen Stadt und Land, als es bei den Griechen der Fall
war, denen die Stadt der Mittelpunkt aller Lebensrichtungen
war. Man gewöhnte ſich, Geſchäft und Muße räumlich zu
trennen, und glaubte, nur in ländlicher Zurückgezogenheit dich¬
ten und philoſophiren zu können.
In der Weltſtadt Rom wurden alle angeſtammten Lebens¬
anſchauungen erſchüttert; man ſuchte nach neuen Haltpunkten
und gerieth unter den Einfluß ausländiſcher Volksſitten und
namentlich orientaliſcher Gebräuche, welche durch uralte Gel¬
tung und feſte Ueberlieferung auf die rathlos ſchwankenden
Gemüther Eindruck machten. Da mußten ſie aber beſonders
[156]Arbeit und Muße. den Ernſt bewundern, mit dem die eingewanderten Juden in¬
mitten aller Unruhe und Zerſtreuung an ihrem altväterlichen
Sabbath feſthielten und ſo wurde ſchon in den erſten Zeiten
des Principats der Einfluß der ſiebentägigen Woche bemerk¬
bar, die mit ihrem regelmäßigen Ruhetage in der Geſchichte
der Muße die wichtigſte Epoche bezeichnet.
Muße und Gottesdienſt hangen freilich bei allen Völkern
nahe zuſammen, wie Feſte und Ferien. Frei von den Sorgen
des Berufs, fern von Hader und Streit, gereinigt von aller
Unſauberkeit des Alltagslebens und in ſtiller Sammlung ſoll
man vor den Göttern erſcheinen und ihnen aus dem ganzen
Jahre, auf das ſie Anſpruch haben, in jedem Monate gewiſſe
Zeitfriſten weihen, wo ſie in ihr volles Recht eintreten; feſte
oder bewegliche Feiertage, wo die Menſchen ohne Unterſchied
von Rang und Stand in ihrer Allen gemeinſamen Bedürftig¬
keit und Verpflichtung der Gottheit nahen.
Der Wechſel von Arbeits- und Mußetagen erſchien auch
den Alten als etwas ſo Urſprüngliches, ſo Unentbehrliches und
mit der Religion Zuſammenhängendes, daß ſie darin nicht
eine Erfindung menſchlicher Klugheit, ſondern eine göttliche
Ordnung erblicken; wie Platon ſagt, aus Erbarmen mit dem
mühſeligen Leben der Sterblichen habe die Gottheit die Tage
feſtlicher Erholung eingerichtet und ihnen dazu Apollon und
die Muſen nebſt Dionyſos beigeſellt.
Mit der Häufung der Feſtlichkeiten und dem äußeren
Glanz iſt aber die urſprüngliche Bedeutung des Feſtweſens
und ſeine ſittliche Wirkſamkeit immer mehr zurückgetreten. In
üppigen Seeſtädten wie Tarent gab es mehr Feier- als Werk¬
tage, und die Verwilderung des Feſtjahrs, die Verweltlichung
des öffentlichen Cultus und die Zerſtörung einer vernünftigen
Abwechſelung von Arbeit und Muße hat weſentlich dazu bei¬
getragen, die Geſundheit des antiken Volkslebens zu unter¬
graben.
Darum mußte der gemeinſamen Grundanſchauungen un¬
geachtet die moſaiſche Stiftung Griechen wie Römern als
etwas weſentlich Neues erſcheinen. An Stelle des unruhigen
[157]Arbeit und Muße. Schwankens zwiſchen heiligen und profanen Zeiten, an Stelle
einer künſtlichen Theilung in ganze und halbe Feiertage, war
hier ein einfacher und feſter Rhythmus gegeben von Arbeit
und Ruhe, eine weiſe Ausgleichung zwiſchen den Anſprüchen
des Lebens und dem Anrechte Gottes an das Menſchenherz,
und während die Hellenen ihrem Feſtliede die Zaubergewalt
zuſchrieben, auch die Götter in den Genuß menſchlicher Muße
hereinzuziehen, heiligt bei dem Volk der Theokratie Gott die
Muße der Menſchen, indem er auch in der Sabbathruhe ihr
Vorbild iſt.
Auf der moſaiſchen Stiftung ruht die Lebensordnung,
welche allen neueren Culturvölkern gemeinſam iſt, befreit von
dem Charakter phariſäiſcher Werkheiligkeit und durch die Oſter¬
weihe zu neuer Bedeutung verklärt.
Sie hat ſich bewährt als eine Ordnung, welche die prak¬
tiſche Thätigkeit nicht beeinträchtigt, ſondern die Volkskraft
erhält und ſteigert. Sie iſt unentbehrlich, wenn das religiöſe
Geſammtleben eines Volks zum Ausdruck kommen ſoll; ſie iſt
eine ſtete Mahnung, daß der Menſch zweien Welten angehört,
und daß er nicht ohne unerſetzlichen Schaden an ſeiner Seele
zu nehmen, in die Unruhe des Sichtbaren aufgehen kann.
Wo dieſe Lebensordnung gehalten wird, iſt ſie der ſchönſte
Schmuck von Stadt und Land, denn alles Schöne und Er¬
freuende beruht im Leben wie in der Kunſt auf der die Be¬
wegung regelnden Ordnung und auf der rhythmiſchen
Gliederung des Mannigfaltigen. Darin unterſcheidet ſich ja
das Geiſtige vom Thierleben, das Beſeelte von der mechani¬
ſchen Bewegung. Darum giebt es nichts Unſchöneres als ein
wüſtes Einerlei regelloſer Vielgeſchäftigkeit, wenn das Menſchen¬
leben einem Ameiſenhaufen gleicht, wo Tag aus Tag ein Alles
in ununterbrochener Haſt an einander vorüberrennt.
Der richtige Wechſel von Arbeit und Muße, auf dem die
Geſundheit und Anmuth des Lebens beruht, tritt da am
ſicherſten ein, wo der Lebensberuf eine äußere Thätigkeit
fordert. Da regelt ſich der Wechſel von ſelbſt; jede Pauſe
wird als eine Wohlthat empfunden, weil ſie dem Menſchen die
[158]Arbeit und Muße. Freiheit giebt, ſich dem hinzugeben, was ſeinem Herzen lieb
iſt; jeder Tag hat ſeinen Feierabend, der wie ein milder Thau
auf die Erde kommt, und wer im Süden gelebt hat, wo die
Menſchen naturgemäßer ihr Daſein einrichten, der weiß, welche
Poeſie in der Abendſtunde liegt, wenn die Glocken zum Ave
Maria anſchlagen und eine ſelige Ruhe über Stadt und Land
ſich ausbreitet.
Viel ſchwieriger wird die Lebensführung, wo die Thei¬
lung zwiſchen Arbeit und Muße keine gegebene iſt, wo das
ganze Leben dem gewidmet iſt, was bei der großen Mehrzahl
der Menſchen, die überhaupt zu einem geiſtigen Leben erwacht
ſind, den Inhalt glücklicher Mußeſtunden bildet. Sie ſind wohl
die wahrhaft Freien; ſie wandeln gleichſam in einer höheren
und reineren Atmoſphäre, unbenommen von den Tagesfragen,
die heute alle Welt aufregen und morgen verklungen ſind, fern
vom verwirrenden Treiben der Partei, dem Ewigen und un¬
bedingt Gültigen unverwandt zugewendet, um mit geſammelter
Kraft die menſchliche Erkenntniß zu erweitern.
Aber die geiſtige Erwerbsluſt iſt ziellos wie die welt¬
liche, und je mehr ſich die Forſchung über den Stoff erhebt
und den Geſetzen nachgeht, welche allen Erſcheinungen zu
Grunde liegen, um ſo raſtloſer zieht ſie den Menſchen mit ſich
fort. Darum iſt der ſcheinbar Freiſte der am meiſten Ge¬
bundene und der in Muße Schwelgende entbehrt ihrer am
meiſten; denn ſeine Arbeit hat keinen natürlichen Ruhepunkt,
ſein Tagewerk keinen Feierabend. Wenn die müde Welt aus¬
ruht, bleiben ſeine Gedanken in voller Anſpannung und ein
ungelöſtes Problem erhält ihn Tag und Nacht in Aufregung.
Das Leben des Forſchers iſt von den Hellenen als das
des Menſchen würdigſte, reinſte und erhabenſte anerkannt
worden. »Glückſelig der Mann,« ſagt Euripides in den Wor¬
ten, welche von den Athenern auf Anaxagoras bezogen wurden,
»glückſelig der Mann, ſo der Forſchung Gebiet durchwandelt
und nicht an verderblichem Zwiſt Theil hat, der nie Unrechtes
gewollt. Sein Blick ſchaut ſtill in der ew'gen Natur nie al¬
ternde Ordnung; er prüft, wie ſie ward und wodurch ſie ent¬
[159]Arbeit und Muße. ſtand. Ja ſolchem Gemüth kann nimmer der Keim unlauterer
Thaten entſprießen.«
Dennoch hat ſich bei den Hellenen erſt ſpät ein beſonderer
Stand ausgebildet, deſſen Geſchäft in der Muße liegt, und
als er ſich bildete, traten ſofort mancherlei Gefahren und
Uebelſtände zu Tage.
Die Sophiſten waren die Erſten, welche vom Wiſſen Pro¬
feſſion machten und dadurch den Grundſatz der Hellenen ver¬
läugneten, welche jede einſeitige Virtuoſität für eine Mißbildung
hielten. Sie trennten ſich zugleich vom Gemeindeleben; ſie ſuchten
ſich über jede örtliche Beſchränktheit zu erheben, von jeder Ueber¬
lieferung frei zu machen, Alles nach theoretiſchen Geſichtspunkten
zurecht zu legen und zu reformiren. Wer läugnet, daß ſie eine
Fülle fruchtbarer Keime der Erkenntniß an das Licht gefördert
haben! Aber die ſchöne Harmonie, die Unmittelbarkeit und frohe
Sicherheit des antiken Lebens, woraus die Kunſtſchöpfungen der
klaſſiſchen Zeit hervorgegangen ſind, war dahin, und während
die großen Philoſophen, Sokrates, Platon, Ariſtoteles Alles
daran ſetzten, mit dem Volksbewußtſein in Einklang zu bleiben,
indem ſie den Inhalt deſſelben klärten, vertieften und vielſeitig
verwertheten, machte die Sophiſtik einen Riß, welcher niemals
geheilt worden iſt.
Die großen Weiſen von Hellas nannten ihre Wiſſenſchaft
nur »Liebe zur Weisheit,« weil ſie ganz aus dem unwider¬
ſtehlichen Drange nach Erkenntniß hervorgegangen war und
keinerlei äußeren Zweck hatte. Was ſie gefunden, ſollte kein
Standesbeſitz ſein; ſie theilten es mit, wie die Sonne ihr
Licht ausſtrömt, die empfänglichen Geiſter erhellend und er¬
wärmend. Von den Sophiſten wurde die Wiſſenſchaft, welche
ſich als ein Zweig am Stamme des Volkslebens beſcheiden
und ſtill entwickelt hatte, zu einem Ziergewächs gemacht, welches
der Eitelkeit diente, und als eine Nutzpflanze gezogen, um
Ehre, Geld und Einfluß zu erlangen. Tugend und Weisheit
wurde in Lehrkurſen für ſo und ſo viel Minen feilgeboten.
Der gewerbmäßige Betrieb der Wiſſenſchaft war eine
Umkehr der normalen Verhältniſſe und ſie rächte ſich an dem
[160]Arbeit und Muße. Stande ſelbſt, der die Muße zum Geſchäfte und das Wiſſen
zu einer Erwerbsquelle gemacht hatte. Die talentvollſten So¬
phiſten haben nur vorübergehenden Glanz gewonnen und wir
kennen ſie nur aus dem, was die Vertreter der volksthüm¬
lichen Weisheit gegen ſie geſagt haben.
Während aber die Gründer der Sophiſtik, die Zeitgenoſſen
des Perikles, an der gewaltigen Bewegung der Zeit ihren
vollen Antheil hatten und zum Theil eine ſchöpferiſche Geiſtes¬
kraft zeigten, wurden die Nachzügler immer kümmerlicher und
ärmer. Die aus der Iſolirung hervorgehende Einſeitigkeit
wurde immer größer; die Wiſſenſchaft ohne lebendigen Inhalt
artete in einen trocknen Formalismus aus, in eine pedantiſche
Schulweisheit, welche die Menſchen lächerlich machte, die darin
ihre Lebensaufgabe ſuchten und ſie mit anſpruchsvollem Dünkel
vortrugen. Daher der üble Klang des Worts »Scholaſtikos,«
d. h. des ganz der Muße Lebenden, der älteſten Benennung
eines Gelehrten von Fach, mit welcher man ſchon im Anfang
der Kaiſerzeit einen verknöcherten Pedanten bezeichnete, und
wir erinnern uns Alle der köſtlichen Scholaſtikosgeſchichten,
welche uns auf der Schulbank die Elemente des Griechiſchen
verſüßten.
Die Lehre, welche aus dieſen Betrachtungen folgt, iſt eine
wohl zu beherzigende, die uns nicht immer klar vor Augen
ſteht. Sie lautet, daß die wahre Wiſſenſchaft an keinen Ge¬
lehrtenſtand gebunden iſt, daß volle Gelehrtenmuße eine ge¬
fährliche Mitgift iſt, und unſer Lebensberuf mancherlei Ent¬
artungen ausgeſetzt iſt, wie das Beiſpiel der erſten Profeſſoren,
der Sophiſten, und ihrer Nachfolger zeigt.
Wir werden in unſerer Art zu denken und zu wirken
immer zwiſchen den Sophiſten und Philoſophen der Hellenen
unſern Standpunkt zu nehmen haben. Entweder iſt das Er¬
kennen unſer alleiniges Ziel oder ein Mittel zum Zweck, in¬
dem das Streben nach Erkenntniß von allerlei Nebenrückſichten
auf äußere Vortheile allmählich ſo überwuchert wird, daß
unter dieſen Schlinggewächſen der edle Baum abſtirbt. Ent¬
weder löſen wir uns vom Volke, dem wir angehören, und
[161]Arbeit und Muße. wollen etwas Beſonderes ſein, eine bevorzugte Kaſte, welche
auf die Ungelehrten hinabſieht und ihren eigenen Maßſtab
für die menſchlichen Güter und Ziele hat, oder wir bleiben
ein lebendiges Glied am Ganzen, dem wir nur an unſerm
Theil zu dienen ſuchen, und erkennen rückhaltlos an, daß das
durch keine Wiſſenſchaft vermittelte ſittliche Leben, daß die
Kräfte des Glaubens und der Liebe, auf welchen Kirche,
Staat und Haus beruhen, immer die höchſten Güter des
Volks bleiben, welche auch wir um keine wiſſenſchaftliche Er¬
werbung preisgeben möchten.
Schwer und verantwortlich iſt wohl vor allen anderen
der Beruf derer, denen Arbeit und Muße frei anheimgegeben
ſind. Erleichtert wird uns aber die Aufgabe dadurch, daß ja
die Forſchung nicht unſer einziges Tagewerk iſt, daß wir
nicht bloß immer mehr zu lernen, ſondern auch zu lehren be¬
rufen ſind, daß die Jugend des Vaterlandes uns anvertraut
iſt. Ohne ſtetiges Fortſchreiten im Erkennen wird das Lehren
zu einer handwerksartigen Thätigkeit. Vor der Einſeitigkeit
des Gelehrtenlebens und der nach der Schwäche des menſch¬
lichen Weſens ihr leicht anhaftenden Selbſtgenügſamkeit be¬
wahrt uns aber der Lehrberuf, den wir ohne Selbſtverläug¬
nung, ohne Liebe, ohne freudige Hingabe an die Jugend und
an das Vaterland, für das ſie heranwächſt, nicht erfüllen können.
So kommt auch in unſer Leben der für ein geſundes Menſchen¬
leben unentbehrliche Gegenſatz von Arbeitspflicht und freier
Muße, und es gilt auch uns der köſtliche Wahlſpruch echter
Lebensweisheit:
Und bei welchem Feſte tritt uns dies lebendiger in die
Seele als am heutigen Tage, da ſich die Pforten unſerer
Aula wieder für die Feier geöffnet haben, welche uns in jedem
Jahre mit voller Begeiſterung und tiefem Dankgefühl vereinigt!
Wann fühlen wir lebendiger als heute, daß wir nichts
für uns ſind, daß wir keinen abgeſchloſſenen Stand bilden
und daß wir durch unſeren beſonderen Beruf dem nicht ent¬
Curtius, Alterthum. 11[162]Arbeit und Muße. fremdet ſind, was heute ein großes Volk mit Jubel und Stolz
erfüllt? Haben wir aber etwas vor Anderen voraus, ſo iſt es
nur etwa dies, daß wir noch klarer erkennen, wie ſelten es in
der Weltgeſchichte iſt, daß ein glorreiches Fürſtenhaus ſo groß
und mächtig innerhalb eines freien Volkes ſteht, daß ein Fürſt,
ſo geſegnet von Gott, in ſo edler Demuth ſeinen Siegerkranz
trägt und bis in ſein Greiſenalter unermüdlich für das Vater¬
land arbeitet.
Auch Er hat keinen Feierabend, an dem Er von Seinem
Tagewerk ausruht. Aber Sein Alter krönt das hohe Bewußt¬
ſein, nichts für Sich gewollt zu haben, der frohe Hinblick auf
ein blühendes Haus, in dem die Tugenden der Hohenzollern
fortleben, und auf ein Volk, das, von Ihm zum erſten Male
geeinigt, in der gemeinſamen Liebe zu Ihm ſich ſelbſt veredelt
und neu geſtaltet.
Wir fürchten Gott ſei Dank! keinen Neid der Götter. Wir
ſehen in dem, was gelungen iſt, eine Bürgſchaft der Zukunft.
Wir danken Gott, daß er uns Kaiſer Wilhelm gegeben und
bis heute in Heldenkraft erhalten hat, wir bitten ihn, Sein
ehrwürdiges Haupt in Gnaden zu behüten.
X.
Die Unfreiheit der alten Welt.
Wir bewundern den Erfindungsgeiſt des menſchlichen Ge¬
ſchlechts, welches unabläſſig geſchäftig iſt, ſein angeborenes
Vermögen zu ſteigern, alle Beſchränkungen zu beſeitigen und
ſeinen Wirkungskreis nach allen Seiten auszudehnen. Wie
das Kind zum reifen Manne, ſo verhält ſich der natürliche
Menſch zu dem, der die Geheimniſſe der Schöpfung ergründet
und ihre Kräfte ſich dienſtbar gemacht hat, der in ſeinem Be¬
wußtſein alles Wichtige vereinigt, was je auf Erden erdacht
und erfunden worden iſt, der ſein Machtgebiet ſo erweitert,
daß ſein Blick und ſeine Gedanken durch alle Fernen der Zeit
und des Raumes reichen.
Dieſem Eroberungszuge des menſchlichen Geiſtes folgen
wir mit Bewunderung durch die Jahrhunderte der Geſchichte;
aber noch überraſchender iſt es, wenn wir den Erfindungsgeiſt
des Menſchen in entgegengeſetzter Richtung thätig ſehen, indem
er, ſtatt neue Wirkungskreiſe zu gewinnen, die ihm von Natur
verſagt ſind, ſich vielmehr da beſchränkt, wo er zur vollen
Herrſchaft den natürlichen Beruf hat. Das iſt das Gebiet
der ſittlichen Freiheit. Sie iſt die Grundkraft ſeines Weſens,
die Quelle jeder höheren Lebensfreude, das Theuerſte und
Eigenſte, was der Menſch beſitzt. Darum ſollten wir denken,
daß zu allen Zeiten kein Gut höher geſchätzt und eifriger ge¬
11 *[164]Die Unfreiheit der alten Welt. hütet worden ſei. Die Geſchichte lehrt uns das Gegentheil.
Sie zeigt uns, daß die Menſchen von jeher geneigt geweſen
ſind, auf den vollen Beſitz jenes Gutes zu verzichten und daß
ſie in ihrem Scharfſinne unerſchöpflich geweſen ſind, um für
die inneren Entſchlüſſe äußere Beſtimmungen ausfindig zu
machen und die Freiheit des Willens, welche keine Macht der
Welt uns entreißen kann, in künſtlicher Weiſe ſich ſelbſt zu
beſchränken.
Es iſt natürlich, daß wir von dieſen beiden widerſprechen¬
den Richtungen des menſchlichen Geiſtes mit Vorliebe die
erſtere verfolgen, welche ſich in ſeiner fortſchreitenden Macht¬
erweiterung und Selbſtbefreiung bezeugt; um ſo lehrreicher
aber erſcheint es für die Kenntniß des Menſchen und ſeiner
Geſchichte, auch den Zug zur Unfreiheit, welcher durch die
Menſchen und Völker geht, nach ſeinen Gründen und in ſeinen
Erſcheinungsformen zu beachten.
Der Grund deſſelben iſt ein zwiefacher. Einmal lebt in
jedem Menſchenherzen das tief begründete Gefühl, daß der
ſchlimmſte Feind unſeres Glücks der Zweifel ſei und nichts
mehr unſer Gemüth verſtimme und unſere Kräfte lähme, als
ein Zuſtand der Unklarheit und Unſchlüſſigkeit. Darum iſt
der Märtyrer, der für ſeine Ueberzeugung Verfolgung und
Tod leidet, unendlich glücklicher, als der, welcher ohne An¬
fechtung ſein Leben lang zwiſchen rechts und links mit matter
Seele hin und her ſchwankt. Dieſem quälenden Zuſtande
durch freie Selbſtentſcheidung ein Ende zu machen, dazu be¬
darf es eines Aufwandes von ſittlicher Kraft, welchem ſich die
menſchliche Trägheit gern entzieht. Sie ſchiebt die Wahl von
ſich, um damit die Qual los zu werden; ſie giebt einen koſt¬
baren Beſitz hin, um die daran haftenden Verpflichtungen nicht
zu übernehmen, ſie ſucht nach äußeren Beſtimmungsgründen,
um ſich die inneren zu erſparen.
Es giebt aber auch einen edleren Grund, welcher den
Menſchen zu einer freiwilligen Beſchränkung ſeiner perſön¬
lichen Freiheit veranlaßt. Er liegt in der Erkenntniß, daß
nicht bloß ſein äußeres Handeln innerhalb geſetzlicher Schranken
[165]Die Unfreiheit der alten Welt. ſich bewegen müſſe, wenn bürgerliche Ordnung beſtehen ſolle,
ſondern daß es auch für ſein ſittliches Verhalten Geſetze gebe,
welche nicht ungeſtraft verletzt werden dürfen. Er ahnt eine
ſittliche Lebensordnung, aber wie ſoll er ſie kennen, wie ſich
hüten, unbewußt gegen ſie zu verſtoßen? In der Unruhe ſei¬
nes Herzens ſucht er nach den ungeſchriebenen Geſetzen, nach
dem unſichtbaren Geſetzgeber und ſeinem Willen. Er hat das
feſte Vertrauen, daß die Gottheit, welche dieſe Unruhe in ihn
gelegt, ihn in ſeiner Rathloſigkeit nicht verlaſſen könne, und
je inniger ihm die Gottheit mit der ſichtbaren Schöpfung ver¬
wachſen ſcheint, um ſo weniger mag er zweifeln, daß ſie ſich
ihm am Himmel oder auf der Erde bezeuge; daher bedürfe
es nur eines wachſamen Auges und eines ernſtlichen Suchens,
um die göttlichen Winke in den natürlichen Erſcheinungen zu
entdecken. Dies iſt der andere, der religiöſe Grund, welcher
die Menſchen veranlaßt von äußeren Zeichen ihre freie Selbſt¬
beſtimmung abhängig zu machen.
Freilich hat derſelbe nur bei den Völkern ſeine Berechti¬
gung, welche, in ihrem Gottesbewußtſein ſich ſelbſt überlaſſen,
auf unſicheren Spuren dem göttlichen Willen nachgehen. Er
gilt nicht für diejenigen, welchen die ſittliche Lebensordnung
offenbart iſt, welche den ſittlichen Geſetzgeber nicht ahnen, ſon¬
dern kennen und damit zugleich ſeinen ausgeſprochenen Willen.
Hier ſollte von keiner Unſicherheit, von keinem Umhertaſten
und Umherſuchen die Rede ſein, um ſo weniger, wenn außer
der urſprünglichen Mittheilung des göttlichen Geſetzes im
Laufe der Volksgeſchichte noch andere Mittheilungen erfolgen,
um das verdunkelte Gottesbewußtſein wieder aufzuhellen und
die Irrenden auf den rechten Weg zu führen. Doch zeigt
uns gerade das Volk des alten Bundes, wie die menſchliche
Natur ſich den ſtrengeren Forderungen immer zu entziehen
ſucht und, ſtatt aus dem göttlichen Geſetze die richtigen Nor¬
men des Handelns abzuleiten, ſich lieber abwendet von dem
Lichte der Wahrheit und in die dunkeln Gänge des Aberglau¬
bens ſchlüpft, um ohne ſittliche Anſtrengung auf einem ge¬
wiſſermaßen mechaniſchen Wege ſich von dem in Kenntniß zu
[166]Die Unfreiheit der alten Welt. ſetzen, was in einem vorliegenden Falle das Rechte ſei. Der
Zaun, welcher das theokratiſche Volk von allen anderen Völ¬
kern ſchied, wurde immer durchbrochen; mit dem Götzendienſte
des Heidenthums brach auch die Unfreiheit deſſelben ein, und
ſo kommt es, daß wir gerade aus der Geſchichte Israels jene
Gebräuche kennen lernen, welche bei den umwohnenden Völkern
erſonnen worden waren, um den göttlichen Willen und die
Beſtimmung der Sterblichen zu erkennen.
Ein Hauptſitz auch für dieſen Zweig menſchlicher Erfin¬
dung war die alte Weltſtadt Babel. Hier finden wir zuerſt
die Anwendung des Looſes, die Benutzung der Amulette, das
Beſchauen der Leber des Opferthiers; hier gewann die ganze
Schickſalskunde durch ihre Verbindung mit der Wiſſenſchaft
der Chaldäer und namentlich mit der Aſtronomie zuerſt einen
beſtimmten Charakter, welchen ſie in den verſchiedenſten Län¬
dern und Zeiten bewahrt hat. Wer kann läugnen, daß es
eine großartige Anſchauung war, welche den Menſchen darauf
brachte, ſein Schickſal an die Geſtirne zu knüpfen? Ueber den
verworrenen und raſtlos wechſelnden Zuſtänden der Menſchen¬
welt wandeln ſie in ungetrübter Klarheit und heiliger Ord¬
nung ihre Bahnen, und je gründlicher man an dem wolken¬
loſen Himmel Meſopotamiens dieſe Ordnung verſtehen lernte,
um ſo weniger iſt es zu verwundern, daß man nicht nur die
Zeiten des Jahrs und die denſelben entſprechenden Geſchäfte
des Menſchen zu Lande und zu Waſſer nach ihnen regelte,
ſondern, weiter ging und das ganze Menſchenleben unter den
Einfluß der Geſtirne ſtellte. Wo war die Gränze ihrer Wir¬
kungen zu finden, wo löſte ſich die Kette des geheimnißvollen
Zuſammenhangs? Die Weisheit des Morgenlandes war am
wenigſten geneigt, hier Gränzen zu ziehen; ſie gab ſich mit
Vorliebe der Anſchauung eines kosmiſchen Ganzen hin, aus
welchem kein Glied ſich abſonderte, und bildete darnach ihr
Syſtem der Weltbetrachtung aus. Nach dem Auf- und Nieder¬
gange der Himmelskörper berechnete ſie die Perioden, in wel¬
chen ſich die Geſchicke der Völker vollendeten; in künſtliche
Zahlenſyſteme ſchloß ſie die geſchichtlichen Entwickelungen ein
[167]Die Unfreiheit der alten Welt.und beſtimmte nach himmliſcher Conſtellation das Erdenleben
jedes einzelnen Menſchen.
Die Griechen lernten dieſe Lehre in Aegypten kennen und
hielten ſie für eine Erfindung dieſes Landes. Sie fanden dort
jeden Monat, jeden Tag und jede Tagesſtunde einer beſtimmten
Gottheit zugetheilt, und nach der Stunde, in welche eines
Menſchen Geburt fiel, glaubte man, ſei ſein Leben, ſein Cha¬
rakter, ſein Ende im Voraus entſchieden. Mit peinlicher Sorg¬
falt wurde jedes Zeichen aufgeſchrieben und der Erfolg des¬
ſelben vermerkt, um auf dieſe Weiſe ein immer vollſtändigeres
Lehrſyſtem auszubilden.
Dieſe Lehren und Künſte gingen von einem Volke zum
andern; ſie erfüllten in höheren und niederen Formen das
ganze Morgenland, wo ſie aller Verbote des Koran zum
Trotze bis auf den heutigen Tag einheimiſch geblieben ſind.
Sie blieben aber nicht auf das Morgenland beſchränkt, ſon¬
dern wurden mit den andern Künſten, Wiſſenſchaften und
Gottesdienſten zu den Völkern gebracht, welche am weſtlichen
Meere wohnten.
Für dieſe Vermittelung waren nun von beſonderer Wich¬
tigkeit die Gränzgebiete zwiſchen beiden Hälften der alten
Welt, die Küſtenländer Kleinaſiens, das halb dem einen, halb
dem andern Continente angehört, namentlich die ſüdlichen
Küſtenländer, welche den Wohnſitzen der ſemitiſchen Völker am
nächſten waren und ſelbſt ſemitiſche Bevölkerung aufnahmen,
die Länder am Südabhange des Taurus, Cilicien, Pam¬
phylien, Lycien, Karien, ſo wie die Inſelländer Cypern und
Kreta. Das ſind die Gegenden, wo die beiden für alle Ge¬
ſchichtsentwickelung wichtigſten Völkergeſchlechter zuſammen¬
trafen, wo das ſchwärmeriſche Naturgefühl und religiöſe Ge¬
müthsleben des einen mit dem klaren, nach Maß und Ord¬
nung ringenden Geiſte des andern ſich durchdrang und aus
dieſem anregenden Verkehre zwiſchen ſemitiſcher und ariſcher
Volksthümlichkeit ein reiches Culturleben ſich entwickelte.
Die Griechen wußten, was ſie dieſen Gegenden verdankten;
ſie kannten ſie als die Heimath wichtiger Gottesdienſte, als
[168]Die Unfreiheit der alten Welt.die Wiege der zu ihnen verpflanzten prophetiſchen Kunſt. Der
Stammvater des kariſchen Volks galt ihnen für den Erfinder
weiſſagender Vogelſchau; in Cilicien waren uralte Stätten der
Weiſſagung, mit welchen man die griechiſchen Sehergeſchlechter
des Amphiaraos, Kalchas u. A. in Verbindung wußte. An
der Gränze Kariens und Lyciens wohnten die Telmeſſier, auf
deren Söhnen und Töchtern die Gabe der Weiſſagung ruhte;
aus Lycien ſtammt Olen, der erſte Prophet der Griechen, und
von den Pamphyliern hatte man wunderbare Kunde ihrer
magiſchen Künſte. Hier iſt keine ſcharfe Gränzlinie zu finden,
welche das Gebiet orientaliſcher Ideenkreiſe abſchlöſſe. Wie
bei den Orientalen, ſo war auch bei den Hellenen die Gewäh¬
rung der Schickſalszeichen mit der Religion verbunden; ſo bei
dem uralten Dienſte des in den Eichenwipfeln rauſchenden
Zeus, der das Schilfrohr heiliger Seen bewegenden Artemis,
beim Dienſte des Poſeidon, des Hermes, des Herakles, überall
waren den Menſchen Mittel geboten, ſich von dem Willen der
unſichtbaren Herren der Welt zu unterrichten, und alle im
Oriente erſonnenen und techniſch ausgebildeten Mittel der
Schickſalskunde, Würfel und Loos, Traumbild und Conſtella¬
tion, Zeichen am Himmel und an der Erde, Opferrauch und
Lichterſcheinungen, Stimmen und Bewegungen der Thiere, von
den Fiſchen und Schlangen bis zu dem Adler, welcher die ein¬
ſamen Berggipfel umkreiſt, Alles finden wir auch bei den
Griechen in deutlichen Spuren wieder.
Aber das Erbe des Morgenlandes wurde nicht einfach
herübergenommen, ſondern umgeſtaltet und ſo zu einem natio¬
nalen Beſitze gemacht, und dieſe Aneignung galt für eine ſo
wichtige That, daß ſie den Heroen zugeſchrieben wurde, welche
als Begründer der nationalen Bildung an der Schwelle helle¬
niſcher Volksgeſchichte ſtehen, wie Siſyphos der Weiſe und
Prometheus, das Urbild helleniſcher Denkkraft.
Wo und wie dieſe Umbildung ſtattgefunden habe, das iſt
ein Geheimniß und wie alles Werden in der Geſchichte unſerm
Blicke entzogen. Aber das ſcheint mir gewiß zu ſein, daß die
weſentliche Umgeſtaltung ſchon in jenem Küſtenlande geſchah,
[169]Die Unfreiheit der alten Welt. wo von der kräftigen Berührung der beiden Volksgeſchlechter
eine gleichſam elektriſche Strömung ausging, welche eine er¬
höhte Lebensthätigkeit hervorrief und für die Anfänge euro¬
päiſcher Geſittung Epoche machte. In Lycien leuchtet ein gei¬
ſtiges Leben auf, welches von dem orientaliſchen grundver¬
ſchieden iſt; das iſt die Morgenröthe helleniſcher Cultur. Bei
dem lyciſchen Volke, welches zwiſchen Fels und Meer ſeine
hohen Burgen gegründet, ſeine bürgerlichen Gemeinſchaften
weiſe geordnet, ſein ganzes Land mit energiſcher Kunſtthätig¬
keit ausgeſchmückt und gegen jeden Feind mit heroiſcher Frei¬
heitsliebe vertheidigt hat — da entwickelt ſich aus den trüben
und unreinen Elementen ſinnlicher Naturdienſte ein keuſcher
Dienſt des Lichtgottes, in welchem Geiſt und Materie, Gott
und Welt klar aus einander treten, ein ſittlicher Gottesdienſt,
welcher lautere Hände und reines Gewiſſen fordert, der Dienſt
des Apollon, mit welchem die griechiſche Mantik ihre natio¬
nale Geſtalt erhalten hat.
Hier iſt die Verbindung zwiſchen Schickſalskunde und Re¬
ligion, welche ſchon im Morgenlande vorhanden war, in der
Weiſe veredelt, daß ſie nicht mehr eine gelegentliche und gleich¬
ſam zufällige iſt, ſondern dem Gotte ſelbſt vom oberſten Lenker
der Geſchicke das Amt gegeben iſt, der Offenbarungsbedürftig¬
keit der Menſchheit entgegen zu kommen. Seinem Propheten¬
amte dienen nun die elementaren Kräfte wie die Opferflammen
und die Zeichen am Himmel, die weiſſagenden Vögel wie die
begeiſternden Quellen in den Grotten der Muſen und Sibyllen,
welche wie Apollon ſelbſt in Kleinaſien zu Hauſe ſind. Sein
Dienſt verbindet beide Geſtade zu einer gleichartigen helleni¬
ſchen Welt und der Stammvater des Volkszweigs, der dieſe
Verbindung vorzugsweiſe zu Stande gebracht hat, Ion iſt es,
welcher in Delphi ſeines Vaters Heiligthum hütet und als
Augur in Attica Tempel gründet.
Und was iſt es nun, was dieſer helleniſchen Mantik ihren
nationalen Charakter giebt? Vor Allem die Freiheit des
Geiſtes, welche ſich auch da behauptet, wo ſich der Menſch
einer höheren Leitung unterordnet, die Anerkennung des Ge¬
[170]Die Unfreiheit der alten Welt. wiſſens als einer von allen Himmelszeichen unabhängigen
Stimme Gottes in des Menſchen Bruſt und der im Gewiſſen
bezeugten perſönlichen Verantwortlichkeit, welcher man ſich nicht
feige entziehen kann, ohne zugleich ſeine edelſten Rechte preis
zu geben. Die Erfüllung ſolcher Pflichten, welche dem ſittlichen
Menſchen klar ins Herz geſchrieben ſind, macht darum der
Hellene nicht von ängſtlicher Naturbeobachtung abhängig, und
als der köſtlichſte Wahlſpruch dieſes ſittlichen Freiheitsmuthes
ſchwebt uns Allen das Wort des homeriſchen Helden vor der
Seele, welcher ſich unwillig losreißt, als man ihn eines übeln
Vorzeichens wegen vom Kampfe zurückhalten will:
ſtammt,
horchen.
zu ſtreiten.
Dieſes Freiheitsgefühl offenbart ſich auch in den Formen
der Mantik. Die Naturerſcheinungen, auch Todtenbeſchwörung,
Traumgeſichter und Würfelloſe treten zurück und der menſch¬
liche Geiſt wird ſelbſt der Träger und das Organ des höheren
Wiſſens. Freilich nicht in ungebundener und eigenwilliger
Freiheit. Vielmehr iſt der Seher dem ſich offenbarenden Gotte
gegenüber leidend, niedergeworfen von ſeiner Macht und über¬
wältigt; wie eine Laſt liegt auf ihm des Gottes Mittheilung.
Aber dennoch iſt er nicht bloß ein todtes Werkzeug und ein
zufälliges Mittel, ſondern, ſo lange die Mantik ihre Ehre
hatte, waren die Seher Auserwählte des Volks, und es ver¬
einigten ſich in ihnen zwei ſehr verſchiedene Eigenſchaften, die
Empfänglichkeit für eine Begeiſterung, welche den Menſchen
aus ſich heraushebt, und andererſeits die Klarheit, der Scharf¬
ſinn und die kunſtmäßige Sicherheit in der Enträthſelung und
Anwendung der göttlichen Winke, ſchwärmeriſche Verzückung
und nüchterner Verſtand, ein Außer-ſich-ſein und die höchſte
Beſonnenheit.
Und dann iſt es nicht bloß ein neugieriges Forſchen nach
verborgenen Dingen, was die Hellenen zum Apollon führte.
Heißt es doch vom Propheten Epimenides, daß er nur über
geſchehene Dinge weiſſagte. Es handelte ſich alſo im Allge¬
meinen um die richtige Beurtheilung der menſchlichen Ange¬
legenheiten, wobei man ſich mit der Gottheit im Einklange
fühlen wollte. Nicht um die Wechſelfälle des Irdiſchen handelte
es ſich, ſondern um die unwandelbaren Ordnungen des gött¬
lichen Rechtes, welche dem Menſchen lebendig in die Seele
treten ſollten, weil man wußte, daß dann auch im Einzelnen
die quälenden Zweifel ſich beſeitigen würden. Es war nach
dem Ausdrucke der Alten »ein Rath pflegen mit den Göttern.«
Am nächſten war man ihnen beim Opfer, welches die durch
die Tagesgeſchäfte unterbrochene Lebensgemeinſchaft mit den
Göttern wieder herſtellte. Hier erwartete man alſo am eheſten
eine freundliche Mittheilung. Daher die wachſame Aufmerk¬
ſamkeit auf alle Opferzeichen, die Altarflamme, die Schlacht¬
thiere, die während der Feier eintretenden Ereigniſſe — Alles
war bei dieſem Zuſammenhange bedeutungsvoll. Hier iſt alſo
kein Verkehr mit dunkeln, namenloſen Schickſalsmächten, ſon¬
dern ein Umgang mit perſönlichen Weſen, welchen man mit
kindlichem Vertrauen naht, feſt überzeugt, daß ſie mittheilend
und leutſelig ſein werden. Hier iſt kein dumpfes Verzichten,
keine muthloſe Reſignation; hier werden die geiſtigen Kräfte
nicht gelähmt und zurückgedrängt, ſondern zur höchſten Reg¬
ſamkeit erweckt. Darum bezeichnet auch »Mantik« dem Wort¬
ſinne nach die erregte Denkkraft, und der Gott der Mantik,
der nicht in ſtummen Zeichen, ſondern in lebendigen, menſch¬
lichen, kunſtvoll geſtalteten Worten ſich kund giebt, iſt zu¬
gleich der Muſaget, der Gott der Poeſie und Wiſſenſchaft,
der Ordner und Pfleger des Staatslebens. Wie an den
Strahlen einer kräftigen Frühlingsſonne entfaltet ſich die ganze
Blüthe des nationalen Lebens an den Sitzen der helleniſchen
Mantik.
Denn darin zeigt ſich nun die beſondere Ausbildung der
Mantik bei den Griechen, daß ſie der Willkür, welcher hier
[172]Die Unfreiheit der alten Welt. der größte Spielraum gegeben iſt, Schranken ſetzten, indem
ſie nicht dem Einfluſſe einzelner Perſonen, welche die mantiſche
Kunſt gewerbmäßig trieben, ſich hingaben, ſondern Anſtalten
gründeten an geweihten, durch Götterzeichen beglaubigten
Stätten, Orakelſitze, welche die umwohnenden Stämme zum
Volke vereinigten, das Völkerthümliche in Sitte, Recht und
Glauben hüteten und jeden geſunden Fortſchritt des leiblichen
und geiſtigen Volkswohls förderten.
So erwuchs inmitten von Hellas ein mantiſches National¬
heiligthum, das wirkſamſte Schutzmittel gegen die Unſitten und
Mißbräuche des Aberglaubens, ein centrales Heiligthum von
ſolcher Bedeutung, daß von dem Verhältniſſe, in welchem die
einzelnen Staaten zu ihm ſtanden, auch ihre Stellung in der
vaterländiſchen Geſchichte abhängig war. Was außer Ver¬
bindung mit Delphi war, blieb in aller höheren Cultur zurück,
wie Arkadien und die Landſchaften am Acheloos. Auch Böotien
blieb zurück mit ſeinen vielen einheimiſchen Orakeln und hier
begegnen wir am meiſten Spuren eines orientaliſchen Aber¬
glaubens, ängſtlicher Tagewählerei, Traumdeutung u. ſ. w.,
während dagegen die beiden Staaten, welche ſich der delphi¬
ſchen Mantik am engſten anſchloſſen, auch den andern Staaten
in kräftiger Entwickelung vorangingen.
Aber auch zwiſchen ihnen iſt ein merkwürdiger Gegenſatz.
In Sparta ruhte das ganze Staatsgebäude auf mantiſcher
Grundlage, die Staatsgrundgeſetze waren delphiſche Orakel¬
ſprüche. Aber dies genügte nicht. Das öffentliche Leben wurde
in weſentlichen Punkten von Himmelszeichen und Seherſprüchen
abhängig gemacht. So erfolgte die neue Beſtätigung der Kö¬
nige im neunten Regierungsjahre erſt nach einer günſtig aus¬
fallenden Himmelsbeobachtung; auch die Ephorenwahl ſcheint
an Auſpicien geknüpft geweſen zu ſein und Traumgeſichter,
die im Tempel der Paſiphae erblickt waren, wurden geltend
gemacht, um politiſche Maßregeln durchzuſetzen. So iſt der
Staat des Lykurgos nicht nur von Delphi in einer beſchränken¬
den Abhängigkeit geblieben, ſondern auch in andere Formen
der Unfreiheit verfallen und hat ſich zu einer vollen Selbſt¬
[173]Die Unfreiheit der alten Welt. ſtändigkeit und Klarheit des bürgerlichen Lebens nicht zu er¬
heben vermocht.
Anders verhielt es ſich mit Athen. Athen hing mit großer
Pietät an Delphi und ſorgte gewiſſenhaft für einen ununter¬
brochenen Verkehr mit dem Heiligthume. Es war ja der
geiſtige Herd des gemeinſamen Volksthums und mit der Liebe
zu ihm wurden alle Tugenden gepflegt, welche den Hellenen
vom Barbaren unterſchieden. Athen verehrte den Sitz des
Apollon als oberſte Autorität in allen Fragen des heiligen
Rechts; es war mit ihm durch regelmäßige Geſandtſchaften
verbunden, und es gab daſelbſt eigene von Delphi beſtätigte
Beamte, die mit der Auslegung der pythiſchen Sprüche und
Satzungen betraut waren. Aber man wußte den delphiſchen
Einfluß auf das religiöſe Gebiet zu beſchränken und ſich im
öffentlichen Leben von allen auswärtigen Einwirkungen frei
zu machen, namentlich ſeit den Perſerkriegen, da Delphi der
Volksſache untreu wurde. Mit der Beſiegung des Orients
wurde auch auf geiſtigem Gebiete jeder Ueberreſt von Unfrei¬
heit beſeitigt, jede prieſterliche Bevormundung aufgehoben.
Mit ungehemmter Thatkraft gab man ſich dem klar erkannten
Berufe der Stadt hin und machte Athen ſtatt Delphi zum
geiſtigen Mittelpunkte der Hellenen.
Aber ſo wie Athen von dieſem Höhenpunkte ſeiner ſitt¬
lichen Kraft herunterſtieg, ſo wie das klare Bewußtſein des
Staats ſich verdunkelte, wie ſeine Politik unſicher, ſeine Unter¬
nehmungen maßlos und darum unglücklich wurden, da gewannen
auch die dunkeln Mächte wieder Gewalt über die Gemüther.
Schon im ſiciliſchen Kriege offenbarten ſich die unheilvollen
Einflüſſe geiſtiger Befangenheit, und der Aberglaube, welcher
nur in untern Kreiſen ſein Weſen heimlich fortgetrieben hatte,
trat ungeſcheut hervor. Orakelkrämer und Zeichendeuter wurden
in der Stadt des Perikles mächtig, ausländiſche Gottesdienſte
drangen ein, Traumbücher gingen von Hand zu Hand, die
Aſtrologen des Morgenlandes beherrſchten die Gemüther und
dem Chaldäer Beroſos errichtete man Standbilder als einem
Wohlthäter des Volks. Was half den Athenern die geprieſene
[174]Die Unfreiheit der alten Welt. Weisheit ihrer Sophiſten, welche den Menſchen zum Herrn
der Welt und ſein Urtheil zum Maße aller Dinge machen
wollten? Sie entriſſen ihm nur die letzten Haltpunkte und
drängten das Gemüth in ſeiner Rathloſigkeit immer tiefer in
die Bande der Unfreiheit.
Das einzige Mittel war, die Keime des geſunden Volks¬
bewußtſeins, welches noch in den Athenern lebte, zu pflegen
und zu läutern. Das that Sokrates. Er ehrte aufrichtig den
frommen Sinn, der ſich in der Befragung der Götter offen¬
barte; er erkannte in der Mantik eine durch nichts Anderes
zu erſetzende Art der Frömmigkeit, welche er ſelbſt übte und
Anderen empfahl; es war ihm gewiſſermaßen eine geſteigerte
Gebetsübung. Aber er ſuchte die volksthümliche Weiſe zu
verinnerlichen; er wies in echt helleniſcher Weiſe auf die ent¬
ſcheidende Stimme des eignen Gewiſſens hin, den Gott in des
Menſchen Bruſt, den untrüglichen Rathgeber, welcher den Auf¬
richtigen nicht im Stiche laſſe. Auch Platon faßte als echter
Hellene die Mantik als einen traulichen Verkehr zwiſchen
Menſch und Gottheit auf; das ſchöne und zarte Verhältniß
ſeiner Vaterſtadt zu Delphi ſtellte er in verklärtem Bilde dar,
und je ernſter es die ſpätern Philoſophen mit den ſittlichen
Aufgaben nahmen, um ſo mehr ſuchten ſie auch der Mantik
ihre Ehre zu erhalten.
Aus denſelben Gegenden Kleinaſiens, woher die Hellenen
ihre Zeichen- und Wunderlehren empfangen haben, ſind gleiche
Anregungen auch weiter gegen Abend verbreitet, haben die
italiſche Halbinſel durchdrungen und auf die Geſchichte Roms
einen tiefgreifenden Einfluß gewonnen.
Rom iſt keine Stätte neuer Erfindungen geweſen. Die
Entwickelung ſeiner Größe beſtand darin, daß es das, was
Italien an geiſtiger Cultur und Lebenskraft beſaß, in immer
weiteren Kreiſen ſich aneignete, und ſeit den erſten Anfängen
iſt auch griechiſche Sitte auf den Tiberhügeln anſäſſig geweſen.
Was aber das Verhältniß der Menſchen zu den Schickſal
lenkenden Göttern betrifft, ſo hatten ſich an den Gränzen von
Latium beſonders zweierlei Glaubensformen ausgebildet, welche
[175]Die Unfreiheit der alten Welt. ſich wie Tag und Nacht einander gegenüberſtanden. Am Meer¬
buſen von Neapel hatte Apollon ſeine Weiſſageſtätten aufge¬
richtet, nördlich vom Tiberfluſſe herrſchte die etruskiſche Mantik.
Gewiß ſtammt auch dieſe aus Vorderaſien durch Vermittelung
griechiſcher Seevölker. Wie in den Götternamen und Sagen,
in den Grab- und Tempelformen, ſo läßt ſich auch hier eine
gleichartige Grundlage nicht verkennen. Aber wie die Namen
und Formen, ſo ſind auch die Dinge ſelbſt unter der Hand
der Etrusker zu einem Widerſpiele, zu einer Karikatur des
Urſprünglichen geworden. Hier iſt nicht der Geiſt der Frei¬
heit, der uns anweht, ſo wie wir die Gränzen des Morgen¬
landes verlaſſen, ſondern ein knechtiſcher Geiſt, welcher mit
der Angſt des Sklaven den Göttern naht und ſich einem uner¬
bittlichen Verhältniſſe kriechend unterwirft.
Die Römer ſchwankten nicht, welcher Richtung ſie ſich
anſchließen ſollten. Die eine blieb ihnen immer ein Fremdes,
die andere nahmen ſie mit ihren griechiſchen Formen und
ihrem apolliniſchen Spruchorakel in ihr eigenes Gemeinde¬
leben auf.
War doch auch im Allgemeinen das Verhalten Roms in
der Wahrung der ſittlichen Freiheit dem der Griechen ent¬
ſprechend. Wir finden dieſelbe Abneigung gegen das unklare
Weſen der Traum- und Sterndeuterei, gegen den ungeſichteten
Wuſt abergläubiſcher Ueberlieferungen; daſſelbe Beſtreben aller
mißbräuchlichen Willkür entgegen zu wirken und keine Prieſter¬
macht zu dulden, welche nach Standesintereſſe die Geheimniſſe
göttlicher Wiſſenſchaft verwaltete. Die Erforſchung des Schick¬
ſals iſt auch hier keine vorwitzige Neugier, kein Mittel, ſich
eigene Entſchlüſſe und Anſtrengungen zu erſparen, ſondern ſie
iſt beſtimmt, für das richtige Handeln leitende Normen zu
finden und namentlich für das öffentliche Handeln, für das
Leben des Staats in Krieg und Frieden.
Aber bei aller Verwandtſchaft welche Verſchiedenheit! Die
römiſche Divination unterſcheidet ſich von der griechiſchen
Mantik, indem bei ihr die praktiſchen Geſichtspunkte vorherr¬
ſchen. Hier iſt keine Ekſtaſe, keine poetiſche Erregung, keine
[176]Die Unfreiheit der alten Welt. ſo nahe Verbindung mit der freien Sittlichkeit des menſchlichen
Gemüths und den ſittlichen Aufgaben, ſondern ſie tritt mehr
und mehr in den Dienſt der praktiſchen Politik, ſie wird ein
Mittel für die Zwecke des Staats. Demgemäß wird ſie wie
alles Staatliche feſt geordnet und in geſetzliche Form gebracht,
was bei den Griechen freierer Behandlung und volksthüm¬
lichem Herkommen überlaſſen blieb. So hatten die Griechen
die Vogelſchau wie die Römer; auch ihnen galten die zwiſchen
Himmel und Erde lebenden Geſchöpfe für die natürlichen Ver¬
mittler beider Welten, für die Vertrauten der Götter. Keine
Thiergattung haben ſie ſorgfältiger und liebevoller beobachtet;
nirgends iſt Ariſtoteles beſſer unterrichtet. Aber die Römer
brachten die Anſchauung ihrer Vorgänger in ein feſtes Syſtem,
in eine Lehrform, die einen Theil ihrer nationalen Wiſſenſchaft
bildete; die freie Inſpiration, der von Natur offene Blick für
die Winke der Gottheit trat zurück vor der ſtrengen Beobach¬
tung geſchriebener Satzungen. Die göttlichen Mächte wurden
zu einer regelmäßigen Theilnahme am Gemeindeleben heran¬
gezogen, ſie gehörten mit zu den unentbehrlichen Elementen
des Verfaſſungslebens durch alle Zeiten der Geſchichte Roms.
Der König des Himmels war auch das unſichtbare Ober¬
haupt des Staats; nach ſeinen Willenszeichen wurde das
irdiſche Herrſcherthum eingeſetzt, von ihnen war die Anerken¬
nung und Weihe aller Könige abhängig. Doch hütete man
ſich wohl dieſem Staatsgrundſatze unbedingte Geltung zu geben,
wodurch jede freie Entwickelung des öffentlichen Lebens ge¬
hemmt worden wäre, denn eine Theokratie ohne Offenbarung
des göttlichen Geſetzes muß zu einer drückenden und willkür¬
lichen Hierarchie werden. Darum erfolgten die Himmelsbeob¬
achtungen durch die von der Gemeinde berufenen Träger der
Staatsgewalt; die Macht wurde ihnen von der Gemeinde ge¬
geben und nur als Ergänzung der ſo übertragenen Amtsvoll¬
macht die göttliche Anerkennung eingeholt. Beſondere Genoſſen¬
ſchaften ſorgten für die Aufbewahrung und Vervollſtändigung
der Wiſſenſchaft von den göttlichen Zeichen, aber man ließ
den unmittelbaren Verkehr des Staats mit ſeinen Göttern
[177]Die Unfreiheit der alten Welt. nicht unterbrechen, keinen Zwieſpalt eintreten zwiſchen geiſt¬
lichen und weltlichen Gewalten, zwiſchen dem religiöſen und
dem ſtaatsrechtlichen Gebiete. Der Gründer Roms war auch
der erſte Augur der Stadt.
Das Königthum wurde aufgehoben, aber die Himmels¬
zeichen, unter denen es gegründet war, blieben, um ohne Bruch
die neue Verfaſſung an die alte anzuknüpfen und auch die
neuen, jährlich wechſelnden, Gemeindevorſtände bei den Göttern
des Staats zu beglaubigen. Der unmittelbare und amtliche
Verkehr mit ihnen war aber nur denen geſtattet, welche voll¬
berechtigte Mitglieder der alten Staatsgemeinſchaft waren.
Sie betrachteten ſich als eine geſchloſſene Gemeinde den Göt¬
tern gegenüber und an keinem Standesvorrechte haben die
Patricier zäher feſtgehalten, auch nachdem mit den Ehren¬
ämtern des Staats der Verkehr mit den Göttern deſſelben den
Neubürgern geſtattet werden mußte.
Nun erhielten die Auſpicien wieder eine neue Bedeutung
im Staatsleben. Sie dienten dazu, das Rangverhältniß der
Staatsämter zu beſtimmen, je nachdem die Inhaber derſelben
in größerem oder geringerem Umfange, in mehr oder minder
feierlicher Weiſe die Götter für die Gemeinde zu befragen
berechtigt waren. Je mehr ſich aber zwiſchen Volk und Senat
der Gegenſatz ſchärfte, um ſo mehr wurden die Auſpicien eine
Waffe des inneren Parteikampfes, eine Schutzwaffe der Regie¬
rungspartei gegen die demokratiſchen Bewegungen, und ihr
Gebrauch in der Weiſe ausgebildet, daß man mit Hülfe eines
Auſpicienberichts jede bedenklich werdende Volksverſammlung
ſprengen, ja ſchon durch Anmeldung einer Himmelsbeobachtung
eine Verſammlung verhindern und ſo die wichtigſten Rechte
des Volks illuſoriſch machen konnte.
Eine Verfaſſung, in der ſolche Vorkehrungen unentbehrlich
ſchienen, um den Freiſtaat zu erhalten, wo ein Parteimittel
dieſer Art von den ſogenannten Wohlgeſinnten in feierlichen
Ausdrücken als eine der ehrwürdigſten Grundfeſten des Staats¬
gebäudes geprieſen werden konnte, gab ſchon dadurch ihre eigene
Hinfälligkeit deutlich zu erkennen. Aber die Auſpicien über¬
Curtius, Alterthum. 12[178]Die Unfreiheit der alten Welt. lebten die hinſterbende Republik und mußten nach den Bürger¬
kriegen dazu dienen, der aus der Revolution entſtandenen neuen
Ordnung der Dinge den Charakter der Legitimität zu ver¬
leihen. Octavian wollte nicht nach Kriegsrecht fortregieren;
darum bedurfte er als lebenslängliches Staatsoberhaupt einer
göttlichen Anerkennung, und ſie erfolgte dadurch, daß Jupiter
ihm bei Antritt ſeines erſten Conſulats zwölf Geier am Himmel
erſcheinen ließ. Das war daſſelbe Himmelszeichen, durch welches
Roms erſter König beglaubigt worden war. Nun war Octa¬
vian als zweiter Romulus anerkannt; nun gingen von ihm
die neuen Amtsvollmachten aus und er ſelbſt beherrſchte nun,
mit dem Krummſtabe des Augur in der Hand, als vollberech¬
tigtes Oberhaupt die römiſche Welt.
Uebrigens ging es in Rom wie in Hellas. In demſelben
Grade, wie die nationale Kraft des Lebens erſchlaffte, ermat¬
tete auch die Kraft zur Abwehr des Fremdartigen und dem
Volksſinne urſprünglich Widerſtrebenden. Die Freiheit des
ſittlichen Handelns im öffentlichen und Privatleben ging zu
Grunde. Alle chaldäiſchen, ägyptiſchen und etruskiſchen Weis¬
ſagekünſte drangen ein; das Fremdartigſte und Abgeſchmackteſte
übte den größten Reiz; man gab ſich widerſtandslos dem
Gefühle hin, daß keine menſchliche Kraft dem Verhängniſſe
ſteuern könne, das über Rom ſich erfülle; die Providenz der
Götter wurde zu einem blinden Schickſale und zu Tacitus’
Zeit war es eine vollkommen fataliſtiſche Weltanſchauung,
welche die Gemüther beherrſchte.
So ging die alte Welt in Verzweiflung und ſtumpfer
Reſignation zu Grunde. Zu helfen war nur durch einen Glau¬
ben, welcher wieder Hoffnung erweckte, durch eine Religion,
welche eine Zukunft hatte. Die ſterbenden Chriſten hatten die
Lebenskraft ihres Glaubens bezeugt; hier oder nirgends war
ein neuer Boden zu gewinnen. Um aber darauf den Staat
zu gründen, bedurfte es nach römiſchem Bewußtſein wiederum
einer unmittelbaren göttlichen Willensbezeugung, und nachdem
alſo die Auſpicien dem Königthume, dem Geſchlechtsadel der
älteren, dem Amtsadel der ſpäteren Republik, und endlich dem
[179]Die Unfreiheit der alten Welt. Principate gedient hatten, knüpfte Conſtantinus an ein neues
Himmelszeichen, die in den Wolken ſchwebende Chriſtusfahne,
den neuen Anfang, welchen er machen wollte, und ſchloß da¬
mit jene lange Reihe der die Geſchichte Roms begleitenden
Auſpicien.
Wir bewundern die Conſequenz, mit welcher man die in
Italien vorgefundenen Religionsgebräuche in Rom verwerthete,
die Klugheit, mit welcher man ſie für die Zwecke des Staats
in ſeinen verſchiedenen Formen ausbildete. Aber wir ſehen
auch, wie im Laufe der Geſchichte das Religiöſe gänzlich ent¬
heiligt und verweltlicht wurde, wie das aus tiefem Bedürfniſſe
der Menſchenſeele Hervorgegangene in einem dürren und ſeelen¬
loſen Schematismus erſtarrte. Was wir in Sparta an ein¬
zelnen Spuren erkannten, iſt in Rom zu einem vollkommenen
Syſteme der herrſchenden Regierungspolitik ausgebildet wor¬
den, und wenn auch Einzelne noch in ſpäten Zeiten die
Auſpicien als etwas Althergebrachtes und Nationales mit einer
gewiſſen Ehrerbietung betrachteten, ſo war doch das ganze
Auguralweſen Jahrhunderte lang ein Spott aller Verſtändigen,
und der ſchnöde Mißbrauch göttlicher Dinge zu einer unwür¬
digen Parteitaktik, das hohle Formweſen mit ſeiner heuchleri¬
ſchen Unwahrheit mußte jedem ernſter Fühlenden widerwärtig
ſein und das Volk entſittlichen.
Ueberblicken wir die Völker der alten Welt, ſo finden wir
alſo bei allen denſelben Zug zur Beſchränkung der eigenen
Freiheit, daſſelbe Bedürfniß, alle wichtigeren Entſchlüſſe von
Beſtimmungen abhängig zu machen, die ſie außer ſich ſuchen,
daſſelbe Bewußtſein der Abhängigkeit von einem höheren Willen,
deſſen Kenntniß für den Sterblichen von größter Bedeutung
iſt, damit er nicht zu ſeinem Schaden mit ihm in Streit ge¬
rathe. Wir finden aber zunächſt einen großen Unterſchied
zwiſchen Abend- und Morgenland. Denn trotz der allmählichen
Uebergänge und der vielen Verknüpfungen, welche immer mehr
zu Tage treten, ſind es doch zwei verſchiedene Welten. In
der einen herrſcht eine pantheiſtiſche Anſchauung, bei welcher
alles Einzelne ins Ganze verſchlungen wird, das Sonderleben
12*[180]Die Unfreiheit der alten Welt. ſich in das Allgemeine verliert und die Unterſchiede verſchwim¬
men. Dabei kann perſönliche Freiheit, eigene Verantwortlich¬
keit, Maß und Schönheit des ſittlichen Lebens, das in der
Freiheit wurzelt, nicht beſtehen. Die zufällige Geburtsſtunde
entſcheidet über das ganze Menſchenleben und Zahlen herrſchen
ſtatt des freien Willens. Wo ſolche Weltanſchauung gilt, iſt
auch im bürgerlichen Leben nur die Monotonie einer despoti¬
ſchen Reichsverfaſſung möglich. Im Abendlande dagegen finden
wir, je begabter ſeine Völker ſind, um ſo mehr einen kräftigen
Widerwillen gegen die Schickſalszahlen der Babylonier, welche
dem Menſchen ſeine heiligſten Rechte verkümmern und ihm die
Freude an der Gegenwart, die friſche Thätigkeit im Leben,
in Wiſſenſchaft und Kunſt zerſtören. Darum haben die griechi¬
ſchen Dichter, Philoſophen und Geſchichtſchreiber die Idee des
blinden Fatums aus der Menſchenwelt zu verdrängen geſucht
und ſtatt ſeiner im ſittlichen Wollen die bewegenden Kräfte
nachgewieſen. Im Sinne helleniſcher Lebensweisheit dankt
Horaz den Göttern, daß ſie die Zukunft dem Menſchen ver¬
hüllt haben; er ſoll ſie nicht ängſtlich berechnen, ſondern künſt¬
leriſch geſtalten.
Aber freilich macht Wohnort und Volksthum keinen un¬
bedingten Gegenſatz, denn wir ſehen, wie die edelſten Stämme
des Abendlandes ſich nur in der Zeit ihrer Blüthe jene Unab¬
hängigkeit zu bewahren vermochten. So wie ihre nationale
Kraft erlahmte, büßten ſie auch die Freiheit des Verſtandes
und des Willens ein, wie dies aller Orten die unausbleibliche
Folge ſittlicher Schwäche iſt. Daher die Macht der Unfreiheit
auf Erden, die Maſſe abergläubiſcher Vorſtellungen und Mittel,
welche ein Volk dem andern abgeſehen, ein Geſchlecht dem
anderen übergeben hat, ein fluchbeladenes Erbe, an dem die
Menſchheit ſchleppt wie an einer Kette, welche ſie nicht los
werden kann.
Unter allen Völkern aber, welche auf ſelbſtgewählten Wegen
Gott zu ſuchen hatten, ſind es ohne Zweifel die Hellenen,
welche bei der Unterordnung des Eigenwillens unter äußere
Beſtimmungen ſich ihre Freiheit am Beſten gewahrt und der
[181]Die Unfreiheit der alten Welt. richtigen Löſung der ſittlichen Aufgabe des Menſchen am
nächſten gekommen ſind. Ihre Mantik hat ſich von dem Stoff¬
lichen am meiſten abgelöſt; ſie haben bei dem tiefſten Bedürf¬
niſſe nach göttlicher Leitung die Selbſtändigkeit des menſch¬
lichen Bewußtſeins feſtgehalten und das Zeugniß des Gewiſ¬
ſens ſich niemals trüben laſſen, daß der Menſch durch eignes
Wollen und Thun ſein Verhältniß zur Gottheit beſtimme und
keiner dunkeln Nothwendigkeit Sklave ſei. Darum hat die
griechiſche Mantik nicht beklemmend und beſchränkend auf den
Geiſt des Volkes gewirkt, ſondern iſt mit allen edelſten Be¬
ſtrebungen deſſelben, mit Kunſt, Wiſſenſchaft und Geſetzgebung
in engſter Verbindung geweſen; ſie hatte nicht den Zweck, eine
ſelbſtſüchtige Neugier zu befriedigen, ſondern die ewigen Sitten¬
geſetze, deren Hüter die Götter ſind, den Menſchen ins Ge¬
dächtniß zu rufen. Darum iſt die helleniſche Prophetie der
des alten Bundes am verwandteſten, denn ſie war eine hohe,
dem ganzen geiſtigen Leben Richtung gebende Macht und zu¬
gleich eine ſolche, welche unabläſſig thätig war, alle Glieder
des weitvertheilten Volks zuſammenzuhalten, die Nation geiſtig
zu einigen, das Fremde fern zu halten und ein ideales Volks¬
thum zu pflegen.
Irrthum und Wahrheit ziehen ſich in unauflöslicher Ver¬
kettung durch alles menſchliche Streben hindurch, aber nirgends
mehr als da, wo der Menſch die ſinnliche und die überſinn¬
liche Welt mit einander zu verbinden ſucht. Der Irrthum
liegt in dem Zwange, welchen er der Gottheit anthun will,
in beſtimmter Form und nach ſeiner Laune ihren Willen kund
zu geben; die Wahrheit in der Erkenntniß, daß alles menſch¬
liche Handeln, wenn es Gedeihen haben ſoll, mit dem gött¬
lichen Willen in Uebereinſtimmung ſtehen muß. Er muß in
letzter Inſtanz das Entſcheidende ſein, Gott muß im Menſchen
herrſchen. Das iſt die Theokratie, zu welcher alle Völker der
Erde die Stimme des Gewiſſens hingeführt hat. Iſt nun die
Gottheit ein blindes Schickſal, ſo wird die Theokratie zum
Despotismus, die Beſchränkung der Freiheit zur Vernichtung
derſelben und der Menſch zum Sklaven. Iſt aber die Gott¬
[182]Die Unfreiheit der alten Welt. heit ein perſönlicher und denkender Geiſt, ſo kann der Menſch
ihre Gedanken zu den ſeinigen machen, und in ſofern ſie den
ſeinigen verwandt, aber unendlich reiner und höher ſind, braucht
er ſich ſelbſt nicht nur nicht zu verlieren, ſondern er wird im
Umgange mit der Gottheit kräftiger und vollkommener, klarer
und ſelſtbewußter und dem Endziele ſeiner menſchlichen Ent¬
wickelung immer näher gerückt. So haben ſchon die Hellenen
den ſcheinbaren Widerſpruch zwiſchen Freiheit und Theokratie
zu löſen gewußt und dabei die höchſte Stufe ihres ſittlichen
Bewußtſeins erreicht. Denn Gott ſegnet jedes aufrichtige
Suchen nach ihm; er hat auch die Weiſen des Morgenlandes,
die nach dem Sterne des Heils ausſchauenden, in ihrer Weiſe
an die Stätte geführt, wo mit der vollen Offenbarung des
göttlichen Weſens auch die volle Löſung der menſchlichen Auf¬
gabe gegeben iſt. Nun iſt das Bangen und Sehnen des
Heidenthums erfüllt. Nun quälen den Menſchen nicht mehr
die Zeichen, welche am Himmel geſchehen, nun braucht er nicht
ängſtlich auf die Stimmen der Natur zu lauſchen. Nicht in
Ahnungen der erleuchteten Seele bezeugt ſich Gott als den
leutſeligen Freund der Sterblichen, ſondern er giebt ſich ſelbſt,
voll und ganz, er läßt uns die Rathſchlüſſe ſeiner ewigen Liebe
in ihrem großen Zuſammenhange erkennen, und je mehr wir
ihrer im Gange der Völkergeſchichte, in den Geſetzen der Natur
und in den Erfahrungen des eigenen Herzens bewußt werden,
um ſo völliger löſt ſich das alte Räthſel des menſchlichen Da¬
ſeins und immer ſiegreicher erheben wir uns aus allen Zwei¬
feln zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
XI.
Die Freundſchaft im Alterthume.
Es iſt bekannt, wie ſehr das Verhältniß des Menſchen
zu den irdiſchen Gütern ſich verändert, und die Wiſſenſchaft
ſucht dem wechſelnden Werth derſelben durch die verſchiedenen
Zeiten und Länder zu folgen. Aber auch die geiſtigen Güter
ſind ähnlichen Schwankungen unterworfen; auch ſie verändern
ihre Stellung unter einander, ſo daß die einzelnen derſelben
in ihrer Bedeutung für das geſammte Volksleben höher oder
niedriger zu ſtehen kommen. Dieſe Veränderungen hängen
mit der ganzen Volksſitte eng zuſammen, und es iſt deshalb eine
anziehende Aufgabe, ihnen nachzugehen. Die allgemeine Ge¬
ſchichte kann die inneren Bewegungen des Volksbewußtſeins
nur gelegentlich berühren, und in der Geſchichte der Philo¬
ſophie kommen ſie nur dann zu ihrem Rechte, wenn ſie ſich
in Lehrbegriffen ausgeprägt haben. Auch widerſtreben dieſe
zarteſten Seiten des geſchichtlichen Lebens einer ſtreng wiſſen¬
ſchaftlichen Methode. Um ſo mehr eignen ſie ſich zu gelegent¬
licher Behandlung und namentlich an ſolchen Feſten, wie das
unſrige iſt, wo die Univerſitätsgenoſſen verſammelt ſind, um
einer Betrachtung von allgemein wiſſenſchaftlichem Intereſſe
ihre Aufmerkſamkeit zu ſchenken. Unſer gemeinſames Intereſſe
aber gilt den geiſtigen Gütern, um deren Werthſtellung es ſich
[184]Die Freundſchaft im Alterthume. handelt. Ja, um noch näher an das anzuknüpfen, was uns
zu einer echten Gemeinſchaft verbindet, ſo laſſen Sie mich
heute von dem Gute der Freundſchaft reden, und zwar von
der beſonderen Bedeutung, welche dieſelbe im Alterthume für
die ſittliche Erziehung, für die wiſſenſchaftliche Bildung und
für das bürgerliche Gemeinweſen gehabt hat.
Der Werth der geiſtigen Güter wird nicht auf dem Markte
des Lebens feſtgeſtellt, ſondern in dem engeren Kreiſe derer,
welche den Trieb nach ſittlicher Vervollkommnung in ſich tragen
und pflegen. Dieſem Triebe ſteht ein anderer feindlich gegen¬
über, das iſt der Trieb der Selbſtſucht. Der ſittlich rohe
Menſch ſtellt ſich in den Mittelpunkt der Welt und weiſt, je
nachdem er geartet iſt, durch Gewalt oder Liſt, Alles zurück,
was ſeinen Eigenwillen hemmt. Dieſe Eigenwilligkeit muß
ein Gegengewicht haben, wenn die menſchliche Geſellſchaft nicht
ein Kampfplatz entfeſſelter Leidenſchaften werden ſoll. Die
Geſellſchaft ſchützt ſich gegen die Anmaßungen der Einzelnen
durch die Sitte, welche der Wille der Geſammtheit feſtſtellt;
die Sitte wird im Geſetze anerkannt und ſeinen Satzungen
müſſen ſich Alle unterordnen, welche an den Vortheilen der
Gemeinſchaft Theil nehmen wollen; die Einen aus innerer
Uebereinſtimmung, die Anderen aus Furcht vor der Strafe.
Das Geſetz erzieht den Menſchen. In der verſtändigen Unter¬
ordnung unter daſſelbe lernt er die Tugend, welche die Griechen
für die Grundtugend hielten, die Sophroſyne, die Tugend des
Maßhaltens, der weiſen und beſonnenen Selbſtbeſchränkung in
Wort und Handlung. Er wird ein gerechter Menſch. Aber
dieſe Gerechtigkeit iſt nur eine äußerliche; ſie hemmt den Aus¬
bruch der Selbſtſucht, aber den Trieb kann ſie nicht entfernen.
Das eigentlich ſittliche Bedürfniß bleibt alſo unbefriedigt.
Die Religion giebt dem Rechte eine höhere Weihe. Die
Götter ſchützen das, was nach Kenntnißnahme ihres Willens
Recht im Staate geworden iſt, die Gottesfurcht unterſtützt die
Ehrfurcht vor den Geſetzen. Es ſtellt aber die Religion auch
ihre eigenen Forderungen an den Menſchen. Sie verlangt,
daß er die Götter über ſich anerkenne, ſie vor den Menſchen
[185]Die Freundſchaft im Alterthume bekenne, ihnen huldige und von jeder Läſterung und Entweihung
ſich fern halte; alſo ſie nimmt auch ihrerſeits den Trieb der
Selbſtſucht in heilſame Zucht und übt die Tugend der So¬
phroſyne in einer höheren Sphäre, als der einer bloß bürger¬
lichen Geſetzlichkeit. Die Götter verlangen eine höhere Rein¬
heit. Apollo ſtraft den, der ſich erfrecht, mit den Wünſchen
unreiner Selbſtſucht ſeinem Orakel zu nahen.
Trotzdem war die griechiſche Religion auch auf ihrer
höchſten Stufe, der des delphiſchen Apollodienſtes, außer Stande,
den Menſchen frei zu machen vom Joche der Selbſtſucht.
Wohl demüthigte ſich der religiöſe Menſch in Opfer und
Gebet vor den unſichtbaren Gewalten, wohl fühlte er bei allen
großen und kleinen Angelegenheiten die Unentbehrlichkeit gött¬
licher Hülfe; auch näherte ihn die Kunſt den Göttern und
zeigte ihm im Antlitze des olympiſchen Zeus die Fülle ſeiner
Macht und Gnade, aber die Triebe des menſchlichen Herzens
wurden nicht umgewandelt; dazu erſchöpfte ſich das Weſen der
Religion zu ſehr in äußerlichem Thun. Es muß aber ein
Innerliches ſein, was den Menſchen wahrhaft frei macht, ein
neues Lebensgeſetz, welches das alte verdrängt, das ihn lehrt
ſich ſelbſt zu finden, indem er ſich verliert, und durch volle
Hingabe erſt recht ſein eigen zu werden. Nur durch die Liebe
iſt eine rechte Ueberwindung der Selbſtſucht möglich, und da
von einer Liebe der Gottheit zum Menſchengeſchlechte die alte
Welt kein Bewußtſein hatte, ſo konnte auch ihre Frömmigkeit
keine Gegenliebe ſein und ihre Religion keine perſönliche Hin¬
gebung veranlaſſen.
Um ſo wichtiger waren nun die menſchlichen Beziehungen,
die Stätten gegenſeitiger Menſchenliebe. Und wie hoch ſtand
den Alten der Herd des Hauſes, der heilige Mittelpunkt der
Familie, wie lebten ſie auch mit den abgeſchiedenen Hausge¬
noſſen in treuer Gemeinſchaft fort, und wie ängſtlich ſorgte
jedes Gemeinweſen dafür, daß kein Herdfeuer erlöſche! Wie
für die Altäre des Landes, kämpften die Bürger für den
Herd ihrer Wohnhäuſer, durch welchen ſie ſich mit dem Vater¬
lande unauflöslich verbunden und der vollen Bürgerehren
[186]Die Freundſchaft im Alterthume. theilhaftig wußten. Aber hier erkennen wir auch den eigenthüm¬
lichen Standpunkt der Alten. Die Ehe iſt nur möglich auf
dem Boden der ſtaatlichen Gemeinſchaft, und ſie iſt für die
Erhaltung derſelben unentbehrlich. Sie gehört alſo nicht in
die Sphäre deſſen, was der Neigung des Einzelnen anheim¬
gegeben iſt; ſie iſt eine Bürgerpflicht, von deren Erfüllung
die bürgerliche Stellung abhängig iſt. Perſönliche Beglückung
und ſittliche Veredlung ſind wenigſtens nicht die Zielpunkte
der Eheſchließung; darum war dieſelbe eine Sache der nüch¬
ternſten Erwägung, und es ſchien bedenklich, ja ungehörig,
Herzensſtimmungen darauf einwirken zu laſſen. Die Frau
hatte keine ebenbürtige Stellung neben dem Manne, die Familie
war nur die erweiterte Perſönlichkeit des Hausvaters, die
Liebe deſſelben zu den Seinigen alſo nur eine feinere Art von
Selbſtliebe.
Die Liebe, welche den Eigenwillen überwinden ſoll, muß
eine durchaus freie ſein, unabhängig von Naturtrieben und äuße¬
ren Rückſichten, ein Bund gleich geordneter Perſönlichkeiten, und
darauf beruht nun die beſondere Bedeutung der Freundſchaft
im Alterthume, daß ſie für die höchſten Zwecke menſchlicher
Ausbildung, auf welche, wenn auch unbewußt, jede unverdorbene
Menſchenſeele hinſtrebt, das erſetzte, was uns Religion und
Familienleben iſt. Die Alten haben Ehebund und Freund¬
ſchaftsbund niemals auf gleiche Stufe geſtellt und wenn ſie
verglichen, ſo haben ſie im Sinne David's geurtheilt, wenn
er zu ſeinem Jonathan ſagte: Deine Liebe iſt mir ſonder¬
licher geweſen, denn Frauenliebe iſt. Ja man kann ſagen,
daß nur hier ein freies, von allen äußeren Rückſichten unab¬
hängiges, Verhältniß gegeben war, in dem der Menſch ganz
aus ſich heraustreten konnte, ein volles Verhältniß menſchlicher
Gegenſeitigkeit, ein freies Geben und Nehmen. Alſo kamen
die höchſten Tugenden, Wahrhaftigkeit und Treue, Liebe und
Selbſtverläugnung, nur hier zu voller Wirkſamkeit, in ihr
überhaupt das ſittliche Leben zu ſeiner reichſten Entfaltung.
Auch die Sprache giebt uns lehrreiche Winke über die
eigenthümliche Auffaſſung des Freundſchaftsbegriffs bei den
[187]Die Freundſchaft im Alterthume. Griechen. Philos heißt »lieb« und iſt in dieſem Sinne von
ſo umfaſſender Bedeutung, daß es Alles, was uns ans Herz
gewachſen, ja Alles, was uns zu eigen geworden iſt, bezeichnet,
ſo daß es faſt nur ein gemüthlicherer Ausdruck für die beſitz¬
anzeigenden Fürwörter geworden iſt. Zweitens bezeichnet es
die thätige Richtung des Gemüths auf den Gegenſtand des
Wohlgefallens, es hat alſo ſchon an und für ſich einen an¬
muthigen Doppelſinn, »lieb und liebend.« Auch im zweiten
Gebrauche macht die Sprache einen feinen Unterſchied. Als
Eigenſchaftswort bezeichnet philos eine Herzensſtimmung, welche
vorübergehend und auch einſeitig kein kann, als Subſtantiv
aber gleichſam den Stand, in welchen ein Menſch eingetreten
iſt, das dauernde Verhältniß der Freundſchaft, welches nur
als ein gegenſeitiges gedacht werden kann.
Daraus folgt ſchon, daß Philia ein viel weiterer Begriff
iſt als »Freundſchaft,« während andererſeits Eros viel enger
iſt als unſer »Liebe.« Philia iſt die erfolgte Aneignung, die
wohlbegründete Uebereinſtimmung, der ſichere Beſitz des Ge¬
liebten, während Eros das einſeitige Verlangen iſt und eine
begehrliche, von Sinnlichkeit getrübte Aufregung des Gemüths.
Dem Eros iſt die Eris verwandt; er bringt Unruhe und
Verwirrung, während mit dem Begriffe Philia der des Frie¬
dens, der Klarheit und Heiterkeit verbunden iſt.
Dieſe Philia iſt die eigentliche Seele des antiken Lebens.
Sie giebt demſelben einen Hauch der Gemüthlichkeit, welcher
ſich wie ein zarter Duft über die klare Geſtaltenwelt des
Alterthums ausbreitet und uns mehr als alles Andere anzieht.
Sie iſt das unſerm Weſen Verwandteſte; ſie vertritt das, was
der neueren Welt die Romantik iſt, den Zug von Schwärmerei,
welche aus dem Frauendienſte und dem Werben um Frauen¬
minne beruht.
Darum hat ſie auch die Dichtung der Hellenen beſeelt.
Homer iſt nie ſchwungvoller und ergreifender, als wenn er
die Freundſchaft von Achilleus und Patroklos beſingt, und
mitten unter dem wüſten Getümmel ſelbſtſüchtiger Leidenſchaften,
welches das Lager der Achäer erfüllt, iſt dieſe Liebe wie eine
[188]Die Freundſchaft im Alterthume. Oaſe, auf welcher unſer Blick mit Freude ruht, wo ſich das
Menſchenherz in ſeinen Tiefen aufſchließt. Die Freundesliebe
iſt der mächtigſte aller Triebe, er durchbricht alle anderen
Rückſichten, er bricht auch den Bann des Hades.
Bei Nacht weilt der Schatten des Patroklos am Lager
des Genoſſen und fliegt im Kampfe ſeinem Wagen voran.
Achill gelobt auch im Reiche dumpfer Vergeßlichkeit dem Freunde
Treue zu halten, und zum Zeichen ungeſtörter Vereinigung
werden ihre Aſchenreſte in einem Gefäße beſtattet. Dies iſt
kein erdichtetes Zeichen ſchwärmeriſcher Zärtlichkeit, ſondern
auch in der geſchichtlichen Zeit ſehen wir mehrfach, welchen
Werth Freunde darauf legten, neben einander im Grabe zu
ruhen. So kamen Pythagoreer nach Theben, um die Gebeine
des Lyſis heim zu holen, weil ſie glaubten, er müſſe, um
wohl zu ruhen, unter ſeinen Genoſſen beſtattet ſein, und die
Gräber der Freunde Philolaos und Diokles waren ſo ange¬
legt, daß man von einem zum andern hinüberſehen konnte.
Darum ſtellte Polygnotos auf ſeinem delphiſchen Ge¬
mälde die Freunde dar, wie ſie zu traulichen Gruppen in der
Unterwelt vereinigt waren. Denn auch die bildende Kunſt hat
die Freundſchaft verherrlicht, nicht in froſtiger Allegorie, ſon¬
dern in lebenswarmen Geſtalten. So finden wir auf einem
anmuthigen Bilde Achilleus ſorgſam bemüht, ſeinen verwun¬
deten Gefährten zu verbinden; ſo ſehen wir auf der Fico¬
roniſchen Ciſta, welche in leicht geritzten Umriſſen ein bewun¬
dernswürdiges Bild des helleniſchen Lebens vor uns aufrollt,
unter den Argonauten zwei Jünglinge dargeſtellt, deren Einer
den Arm um den Nacken des Andern legt, das lieblichſte Bild
zärtlicher Zuneigung. So ſtehen in ſtattlicher Marmorgruppe
Oreſt und Pylades bei einander, zu gemeinſamer That ſich
rüſtend, und in ganz entſprechender Gruppe hat die Kunſt
auch Oreſtes und Elektra dargeſtellt, die Geſchwiſter als
Freunde, wie ſchon Homer den Familienbanden die Freund¬
ſchaftsverbindungen gleichgeſtellt, und auch die Gattenliebe
wird auf den Denkmälern der alten Kunſt weſentlich als ein
Bund der Freundſchaft dargeſtellt.
Es lag im Volkscharakter der Griechen tief begründet,
daß die Freundſchaft eine ſo hervorragende Bedeutung hatte
und daher auch für andere Liebesverhältniſſe den Typus her¬
gab. Sie entſprach unter allen engeren Verbindungen am
meiſten dem angeſtammten Sinne für Gleichheit, welcher ſich
beeinträchtigt und ſelbſt verletzt fühlte, wenn man das em¬
pfangene Gute nicht in vollem Maße zurückgeben konnte.
Man wollte dem Freunde ſo wenig im Wohlthun, wie dem
Feinde im Schadenthun nachſtehen. Dies hängt wieder mit
der Luſt des Wetteifers zuſammen, welche die Spannkraft
des Hellenenvolks war, mit dem geſelligen Triebe deſſelben
und der Freude am Austauſche der Gedanken wie an dem
gemeinſamen Beſtehen von Gefahren, wenn es galt, unberech¬
tigte Zumuthungen und Angriffe zurückzuweiſen. Ja, die
Freiheitsliebe war die rechte Luft, in welcher die Freundſchaft
Gedeihen fand, und ſo ſehen wir, wie alle die Eigenthümlich¬
keiten, welche den Hellenen vom Barbaren unterſcheiden, dazu
angethan waren, der Freundſchaft eine beſondere Geltung zu
ſichern.
Sie war ein Grundpfeiler des Volkslebens, ein heiliger
Erbbeſitz, welcher wie alle volksthümlichen Stiftungen ſeine
heroiſchen Vorbilder und Stifter hatte. Sie war nicht bloß
ein Genuß, ein lieblicher Schmuck des Lebens, eines der Glücks¬
güter, das man dankbar hinnimmt, wenn man einmal ein
Sonntagskind iſt, ſondern ein unentbehrlicher Beſtandtheil,
das tägliche Brot des ſittlichen Lebens, das weſentliche Gegen¬
mittel gegen alle Anwandlungen von Engherzigkeit und Selbſt¬
ſucht, ein Sporn der Tugend — denn nur durch ſie kann man
Freunde haben und nur gute Menſchen können Freundſchaft
halten.
So erſetzte die Freundſchaft das, was der Religion der
Alten an ethiſcher Kraft abging; ſie wurde ſelbſt eine Art
Religion, denn göttlicher Führung fühlte man ſich hier am
meiſten bedürftig. Gott ſchafft die Freunde für einander, und
er muß ſie zuſammenbringen. Die Freundſchaft iſt das Band
der Edelſten im Volke, und die Hellenen liebten es ſo ſehr,
[190]Die Freundſchaft im Alterthume. ſich Geiſtesverwandte als Freundespaare zu denken, daß ſie
auch ſolche Männer als Freunde auffaßten, welche durch Zeit
und Raum weit von einander getrennt waren, wie Lykurg
und Homer, König Numa und Pythagoras.
Die Freundſchaft blieb die ganze Geſchichte hindurch der
Prüfſtein helleniſcher Tugend; wer helleniſch geſinnt ſein wollte,
mußte ſich durch ſie bewähren. Das fühlte auch der große
Macedonier, als er die Miſſion antrat, die helleniſche Tugend
über die Gränzen von Hellas hinaus zu einem Gemeinbeſitze
der gebildeten Menſchheit zu machen, und erneuerte ſelbſt in
ſeinem Bunde mit Hephäſtion das Vorbild der Freundſchafts¬
bündniſſe heroiſcher Zeit. »Auch dieſer iſt Alexander,« ſagte
er von ihm, als bei einer Begrüßung der Freund mit dem
Könige verwechſelt wurde. Er blieb ein guter König und
ein edler Hellene, ſo lange er es verſtand, Freund zu ſein.
Auch das griechiſche Volk büßte ſeine Ehre ein, als die Freund¬
ſchaft aufhörte, eine ſittliche Macht zu ſein. Die Philia wurde
zur Polyphilia, zur Vielfreundſchaft, d. h. ſie entartete in ein
ehrſüchtiges Streben nach Anhang und Parteimacht.
Wenn die Freundſchaft ſo mit dem tiefſten Grunde des
ſittlichen Bewußtſeins verwachſen war, ſo mußte auch die
Philoſophie der Griechen, ſo wie ſie die einſeitige Naturbe¬
trachtung aufgab und eine ethiſche wurde, ihr eine beſondere
Aufmerkſamkeit zuwenden. Die Ethik ging ja, wie die Phyſik,
von gegebenen Thatſachen aus, von den Formen, Kräften und
Geſetzen des ſittlichen Lebens, wie es im Volke ſich darſtellte,
und da mußte die Idee der Freundſchaft einer der fruchtbarſten
Gegenſtände ethiſcher Unterſuchungen werden. Denn wenn
dieſe ſich vorzugsweiſe um die Begriffe der Tugend, der
Pflicht und der geiſtigen Güter bewegten, ſo trafen hier alle
drei Geſichtspunkte zuſammen, und hier konnte am Beſten von
allgemein Verſtandenem und Zugegebenem zu wichtigen Folge¬
rungen fortgeſchritten werden.
So erklärt ſich die Thatſache, daß von Sokrates an die
Philoſophie ſich ſo eingehend mit der Freundſchaft beſchäftigt
und ſie zum beſonderen Gegenſtande der ſorgfältigſten Unter¬
[191]Die Freundſchaft im Alterthume. ſuchungen gemacht hat, ja, daß auch diejenigen Philoſophen,
welche im Ganzen die geiſtigen Güter, entwertheten, wie die
Epikuräer, ängſtlich beſtrebt waren, die Vereinbarkeit ihrer
Ethik mit der Freundſchaft zu erweiſen.
Die Freundſchaftslehre iſt das rechte Erkennungszeichen
der helleniſchen und jeder helleniſirenden Ethik, und auf keinem
Gebiete iſt das, was das Volksbewußtſein in Spruch und
Sitte ausgeprägt hatte, ſo wie hier als gute Münze in den
Gebrauch der Wiſſenſchaft übergegangen. Es kam nur darauf
an, das urſprüngliche Gepräge recht kenntlich zu machen, den
Schmutz zu entfernen, dem nichts entgeht, was im Leben
Umlauf hat, das gemeine Bewußtſein zu erheben und das
Volk aus ſeiner eignen Sitte zu belehren. Und wie merk¬
würdig ergänzen ſich hierin die drei großen Philoſophen!
Sokrates faßt die Freundſchaft von ihrer praktiſchen Seite
auf und benutzt die Uebereinſtimmung Aller über die Unent¬
behrlichkeit derſelben im Haushalte des menſchlichen Daſeins,
um recht handgreiflich nachzuweiſen, wie auch der Nothbedarf
des Lebens mit dem ſittlich Guten unzertrennbar verbunden ſei.
Platon geht auf die Keime zurück, aus denen in der
Tiefe der Seele Liebe und Freundſchaft mit Naturnothwendig¬
keit entſtehen; er knüpft an den im Volke weit verbreiteten
Erosdienſt an, um die Liebe als die Grundkraft des ſittlichen
Lebens zu verherrlichen. Sie iſt der treibende Keim des Gött¬
lichen im Menſchenherzen, die Sehnſucht, die ihm inmitten
der irdiſchen Dinge keine Ruhe gönnt, und wenn dieſe Sehn¬
ſucht nicht unſtät hin- und herflattert, von Trugbildern getäuſcht,
wenn ſie nicht ausartet in eine krankhafte Sentimentalität, die
nur ſich ſelbſt ſucht, wenn ſie durch Beſonnenheit auf ihr rechtes
Ziel geleitet und durch Gemeinſchaft mit Gleichgeſtimmten im
kräftigen Emporſtreben geſtärkt wird: dann wird ſie die eigent¬
liche Schwungkraft der Menſchenſeele, vermöge welcher ſie ſich
aus der Zeitlichkeit und Leiblichkeit in die Gemeinſchaft der
Gottheit erhebt.
Während die platoniſche Lehre ganz von der Idee der
Liebe durchdrungen iſt und alle ſittliche Vollkommenheit auf
[192]Die Freundſchaft im Alterthume.Liebe und Freundſchaft zurückgeführt wird, verfährt Ariſtoteles
in der Weiſe, daß er die Freundſchaft wieder von ihrer realen
Seite, als ein durch die Natur gegebenes, durch die Sitte
ausgebildetes Verhältniß des geſelligen Lebens erörtert. Mit
dem prüfenden Auge eines Naturforſchers unterſucht er ſie in
allen ihren Erſcheinungsformen, er giebt gewiſſermaßen eine
Phyſiologie und Pathologie der Freundſchaft. Es iſt der
populärſte Theil ſeiner Philoſophie, und man fühlt der liebens¬
würdigen Wärme ſeiner Darſtellung an, wie er hier recht auf
dem Boden volksthümlicher Anſchauungen ſteht, welche er nur
zu ordnen und zu verbinden, tiefer und fruchtbarer zu machen
ſucht. Als echter Grieche hält er an der Gleichheit als der
nothwendigen Freundſchaftsbedingung feſt, und darum müſſen,
wenn nicht eine höchſt ſeltene Ausgleichung des beſtehenden
Standesunterſchiedes eintritt, die irdiſchen Machthaber, welche
ſonſt auf der Höhe des Lebensglücks und im Ueberfluſſe der
Güter zu ſtehen ſcheinen, doch das Köſtlichſte aller menſchlichen
Güter entbehren, deſſen ſich der Aermſte und Niedrigſte in
vollem Maße erfreuen kann.
Wenn die volksthümliche Idee der Freundſchaft von der
Philoſophie alſo verwerthet worden iſt, ſo liegt ſchon darin
ausgeſprochen, daß jene Idee über den engeren Kreis der ſitt¬
lichen Lebensrichtungen hinausreichte, daß ſie in das Gebiet
des Wiſſens eingriff und mit dem Erkenntnißtriebe in Ver¬
bindung trat. Die Alten wollten ja von ſolcher Unterſcheidung
überhaupt nichts wiſſen. Wenigſtens als zuerſt mit voller
Energie eine das Menſchenleben erfaſſende Philoſophie zum
Durchbruche kam, da wollte man um keinen Preis das geiſtige
Leben in zwei Hälften aus einander gehen laſſen; da ſollte
keine Kluft zwiſchen Erkenntniß und Sittlichkeit, zwiſchen
Denken und Wollen ſein. Ohne Wiſſenſchaft keine Tugend,
keine Tugend ohne Wiſſen! Beides kann ja nur Eines zum
Gegenſtande haben, das Gute, und auf dies Eine hin ſollen
ungetheilt alle Muskeln der geiſtigen Kraft geſpannt ſein.
Nur in dieſer Vereinigung aller Kräfte des Bewußtſeins iſt
die Vollendung des geiſtigen Lebens zu ſuchen. Wen feſſelt
[193]Die Freundſchaft im Alterthume. nicht dieſe kühne Forderung, wen ergreift nicht die unvergäng¬
liche Wahrheit, die in ihr liegt?
Freilich haben auch die Hellenen dieſen Standpunkt nicht
feſtzuhalten vermocht. Denn ſo wie ſich das Nachdenken auf
ſolche Gebiete erſtreckte, wo die unmittelbare Beziehung auf
das ſittliche Verhalten wegfiel, da mußten die Sphären des
Denkens und des Handelns ſich trennen. Aber ſo weit blieb
Platon dem ſokratiſchen Standpunkte vollkommen treu, daß er
das Erkennen vom Kerne der Perſönlichkeit nicht ablöſte; das
Licht der Erkenntniß ſoll den ganzen Menſchen erfüllen, und
wenn ſpäter die Aufgaben der theoretiſchen und praktiſchen
Thätigkeit auch in größrer Breite auseinander treten, ſo hat
doch ſelbſt Ariſtoteles den Boden ſokratiſcher Lehre, den eigent¬
lichen Mutterboden helleniſcher Lebensweisheit, nicht ganz
verlaſſen. Auch ihm vereinigen ſich beide Richtungen in einer
Spitze.
Unter dieſen Umſtänden verſteht man vom griechiſchen
Standpunkte aus die Bedeutung perſönlicher Zuneigung, auch
wo es ſich um Wiſſenſchaft handelt. Die Wiſſenſchaft iſt keine
Waare, welche an einen beliebigen Empfänger verſendet wer¬
den kann, um von dieſem ohne Weiteres in ſeinem Hausweſen
verwerthet zu werden. Auch giebt der Lehrende nicht vom
Katheder herab, was er gerade von dem Vorrathe ſeines
Wiſſens abzuheben für gut findet, und überläßt es dem Zu¬
falle, ob das Gegebene das gerade Paſſende ſei und ob es
richtig aufgefaßt werde. Nein, der wahre Lehrer giebt ſich,
ſeine Perſon, ſeine ganze Perſon, und der rechte Zuhörer
wünſcht, wie Sokrates dem Agathon ſagt, daß die Weisheit
ihm ſo zu eigen werde, wie aus dem volleren Becher das
Waſſer durch einen Wollenfaden in den leereren hinüberfließt,
bis in beiden das gleiche Maß vorhanden iſt. So iſt alles
wahre Lehren auf Geben und Nehmen, auf volle Gegenſeitig¬
keit und Gemeinſamkeit des Beſitzes, auf perſönliches Zuſam¬
menſein, auf Liebe und Freundſchaft gegründet. Was trieb
denn jenen wunderlichen Mann in Athen, auf allen Straßen
und Plätzen umherzugehen, und die Leute am Mantel zu zupfen
Curtius, Alterthum. 13[194]Die Freundſchaft im Alterthume. und mit Dieſem und Jenem ein Geſpräch anzuknüpfen? Warum
ſetzte er ſich dem Gelächter, der Verſpottung und ſchnöden
Zurückweiſung aus? Er hoffte doch unter Hundert oder Zwei¬
hundert Einen zu finden, welcher ihm ſeine Seele hingebe, der
ihm etwas mitzutheilen oder von ihm zu empfangen habe,
der einen Wiſſenstrieb in ſich fühle, welcher richtig gepflegt
als Keim eines neuen Lebens ſich hervordränge, anfangs
ängſtigend und verwirrend, dann aber doch der Urſprung eines
hohen Menſchenglücks. So wurde die Wißbegierde ein Trieb
zur Freundſchaft und die Freundſchaft wiederum der Anfang
fruchtbarer, ſegensreicher Belehrung; ein Anfang, welcher durch
keinen anderen erſetzt werden konnte.
Aber nicht nur die Erweckung bedurfte der Freundſchaft,
ſondern auch die Pflege des angeregten Wiſſenstriebes. Viele
der Seelen, die gewonnen waren, wandten ſich wieder ab
vom ſtillen Platze der Selbſterkenntniß, auf welchen ſie Sokrates
geſtellt hatte, durch den Strom des Lebens wieder fortgeriſſen;
Andere aber blieben, Wenige, aber eine treue Schaar, eine
Gruppe von Freunden, wie Hausgenoſſen um einen Herd
verſammelt, deſſen heilige Flamme ſie nicht erlöſchen laſſen
wollten.
Noch mehr als bei den Sokratikern, war bei den Pytha¬
goreern die Freundſchaft mit der Forſchung eng verbunden;
was dort freier Anſchluß war, galt hier als Satzung. Daher
hieß Pythagoras der Geſetzgeber der Freundſchaft, und durch
eine ordensmäßige Verpflichtung war hier die Gemeinſchaft
der geiſtigen Güter auch auf die leiblichen ausgedehnt. Die
Sophiſten ſtanden iſolirt, weil Jeder etwas für ſich ſein und
gelten wollte, weil ſie Kenntniſſe und Fertigkeiten feilboten,
welche äußerlich übernommen und angelernt werden konnten.
Je tiefer aber eine Philoſophie den ganzen Menſchen ergriff,
um ſo mehr war die Freundſchaft die nothwendige Form der
Mittheilung und der Bewahrung.
Die Freundſchaft ging mit der griechiſchen Bildung zu¬
ſammen in andere Länder hinüber und verband diejenigen
unter einander, welche es zu ihrer Aufgabe machten, die aus¬
[195]Die Freundſchaft im Alterthume. wärtige Bildung in ihrer Heimath einzubürgern, wie die
Männer des ſcipioniſchen Kreiſes, in welchen uns Cicero's
Schrift von der Freundſchaft verſetzt. Griechen und Römer,
Imperatoren und Philoſophen waren in traulicher Genoſſen¬
ſchaft vereinigt, eine neue Geſchmacksbildung feſtzuſtellen; es
miſchte ſich die Ariſtokratie der Geburt mit der des Talents.
Denn auch darin iſt die Freundſchaft der Alten ein weſentliches
Förderungsmittel der Bildung geweſen, daß ſie die ſchroffen
Gegenſätze der Geſellſchaft ausglich und Menſchen der verſchie¬
denſten Herkunft und Lebensſtellung zu gemeinſamer Thätigkeit
vereinigte. So finden wir den afrikaniſchen Freigelaſſenen
als Luſtſpieldichter wohl angeſehen im Hauſe des Scipio
Aemilianus, ſo treffen Athener und Thebaner harmlos bei
Sokrates zuſammen; als Zuhörer Platon's befreundet ſich
Hermias der Bithyner mit Ariſtoteles, und dieſe Freundſchaft
dauerte fort, als Hermias aus einem Sklaven Herrſcher von
Atarneus und Aſſos geworden war.
So geht die Freundſchaft in enger und einflußreicher
Verbindung neben der Wiſſenſchaft her, und mit feinem Sinne
hat der Künſtler, welcher die »Apotheoſe Homer's« gebildet
hat, unter den Gruppen, welche dem Altmeiſter huldigen, die
allegoriſchen Figuren der Freundestreue und der Weisheit,
Piſtis und Sophia, als zwei ſich umſchlungen haltende Ge¬
fährtinnen dargeſtellt.
Endlich muß die Philia, wenn ſie ein ſolcher Grundzug
des griechiſchen Lebens war, der Antrieb zur Erkenntniß wie
zur Tugend, auch im Staatsleben ſich bezeugt haben, denn
alle beſten Kräfte waren ja dem öffentlichen Leben zugewendet.
Darum mußte die Freundſchaft auch die Grundlage der poli¬
tiſchen Tugend ſein, und je ſorgfältiger der Staatsorganismus
ausgebildet war, um ſo mehr waren die im Menſchenherzen
wurzelnden Kräfte, die Bande perſönlicher Zuneigung zwiſchen
Bürgern und Bürgerſöhnen wie zwiſchen Altersgenoſſen, für
das Intereſſe des Staats verwerthet. Und zwar waren es,
dem helleniſchen Sinne gemäß, auch hier nicht die von Natur
gegebenen Verhältniſſe, welche für das Gemeinweſen benutzt
13 *[196]Die Freundſchaft im Alterthume. und geregelt wurden, ſondern freie Verbindungen, Wahlver¬
bindungen. So wählte ſich in Kreta und Sparta der gereifte
Mann einen Knaben, welchen er im Geiſte der Verfaſſung, in
der Sitte des Landes und in der Waffenkunſt aufzog. Er
ſollte ihm, wie der griechiſche Ausdruck ſagt, den Geiſt des
Gemeinweſens »einhauchen« und der Knabe durch perſönliche
Hingabe an ſeinen väterlichen Freund in den Staat hinein¬
wachſen; ſie war das geſetzlich verordnete Bildungsmittel der
Jugend. Aber auch die Erwachſenen lebten mit einander in
genoſſenſchaftlichen Kreiſen und lagerten auch im Frieden wie
Zeltgenoſſen bei einander, um ſtets eingedenk zu ſein, daß
jeder Einzelne erſt der Gemeinde und ſeinen Gefährten ange¬
höre, und dann ſeinem Hauſe. In der Schlacht ſtanden die
durch Freundſchaftsſchwur Verbundenen bei einander und dem
Eros galt das Opfer, welches den Kampf eröffnete.
So ruhte des Staates Heil auf der Freundſchaft, welche
in größeren und kleineren Kreiſen ſeine Mitglieder vereinigte;
ſie war das Palladium des Staats, und während ſonſt überall
ein ſtrenges Geſetz waltete und die Bewegung des Eigenwillens
eng umſchränkte, ſo war hier in wohlverſtandenem Staatsin¬
tereſſe volle Freiheit gelaſſen, weil man die Kraft der Liebe
im Staate nicht entbehren wollte, und dieſe ihrer Natur nach
nur in der Luft der Freiheit gedeihen kann. Hier behielt das
Menſchliche ſein Recht und ſchützte den Staat vor Erſtarrung
in ſeelenloſem Mechanismus.
Aehnliche Ideen, wie die in Kreta und Sparta verwirk¬
lichten, waren in den Pythagoreern lebendig, deren Weisheit
ja auf denſelben pythiſchen Gott zurückgeführt wurde, welchen
auch die doriſchen Staaten als ihren Geſetzgeber verehrten.
War hier die Freundſchaft von Anfang an der Eckſtein des
Staatsweſens, ſo war es dagegen das Ziel pythagoreiſcher
Freundſchaft, eine beſtehende Staatsgeſellſchaft ſittlich zu er¬
neuern, indem die beſten Bürger ſich zuſammenſchloſſen, um
in ihrer Mitte das wahre Volksthum zu pflegen, wie die
Eſſener im Volke Iſrael, und von ſich aus den politiſchen
Geiſt zu verbreiten, der den Staat retten ſollte. Aus den
[197]Die Freundſchaft im Alterthume.Colonien wurden die Keime pythagoreiſcher Politik wieder
nach dem Mutterlande gebracht und fanden in Theben ein
neues Gedeihen. Epaminondas und Pelopidas ſind die Muſter¬
bilder einer Freundſchaft, welche im Stande war, einen kleinen
verkommenen Staat groß und berühmt zu machen, und an
die heilige Schaar der thebaniſchen Freunde knüpfen ſich die
letzten Erinnerungen griechiſcher Freiheitskämpfe.
Das waren einzelne Verwirklichungen des helleniſchen
Ideals, aber die Ueberzeugung ging durch alle Staaten und
Stämme hindurch, daß der Bürger Freundſchaft die erſte Be¬
dingung des Gemeinwohls ſei. Aller Orten waren es die
Uebungsplätze der Jugend, welche zugleich die Stätten der
Freundſchaft, der Verfaſſungstreue und Freiheitsliebe waren,
und deshalb hatten die Tyrannen, wo ſie immer in Griechen¬
land auftraten, nichts Eiligeres zu thun, als die ſtädtiſche Ring¬
ſchulen zu ſchließen. Ferner dienten die öffentlichen Feſte, die
gemeinſamen Speiſungen der Bezirksgenoſſen dazu, den Geiſt
brüderlicher Genoſſenſchaft unter den Bürgern zu ſtärken.
Die Geſetzgeber, ſagt Ariſtoteles, bemühen ſich mehr um die
Freundſchaft, als um die Gerechtigkeit; denn wenn die Bürger
Freunde ſind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit.
Alſo war die Freundſchaft das oberſte Staatsgeſetz; ſie
war die höhere ſittliche Ordnung, in welche die äußere Pflicht¬
treue und Geſetzlichkeit ſich verklärte, und es waltete der
ſtaatenhütende Zeus als Freundſchaftsgott, als Zeus Philios,
ſegnend über den Staaten. Ja es war den Griechen die
Freundſchaft ein allgemeines Weltgeſetz, und ſie konnten ſich
den Staat im Olymp ſo wenig wie den irdiſchen Staat ohne
Freundſchaft denken. Wo ſie nicht iſt, da iſt Dunkel und
Chaos; nur durch ſie beſteht im Himmel und auf Erden Maß
und heitere Ordnung und Geſetz. In der Freundſchaft bewährt
ſich die Tugend des Einzelnen, auf ihr beruht der Beſtand
der Geſellſchaft. Darum iſt auch bei Ariſtoteles die Philia
der Abſchluß der Ethik und das bindende Glied, durch welches
mit der Ethik die Lehre vom Staate zuſammenhängt. Es
[198]Die Freundſchaft im Alterthume.wird ſchwer ſein für die Wiſſenſchaft der Politik eine beſſere
Anknüpfung, eine würdigere Begründung zu finden.
Eine ſolche Bedeutung für Sittlichkeit, Wiſſenſchaft und
öffentliches Leben hat die Freundſchaft in ſpäteren Zeiten nicht
wieder gehabt. Das Verhältniß der geiſtigen Güter zu ein¬
ander mußte ein weſentlich anderes werden, ſeitdem die Ehe,
die Familie, die religiöſe und ſtaatliche Gemeinſchaft ſich in
neuer Weiſe geſtaltet haben. Die Kräfte, welche die Freund¬
ſchaft nährten, ſind in andere Formen des ſittlichen Lebens
übergegangen. Ja an ſich iſt die Freundſchaft der Hellenen
etwas ſo Beſchaffenes, daß für ſie in unſerer Sitte gar kein
Platz zu ſein ſcheint. Denn zu der antiken Freundſchaft gehört
als nothwendiger Gegenſatz die Feindſchaft. Wer keinen Feind
hat, ſagten die Alten, der hat auch keinen Freund, und hielten
den erſt für einen rechten Mann, welcher ſeinem Freunde Freund
und ſeinem Feinde Feind zu ſein, der Gutes wie Böſes zurück¬
zugeben wiſſe. Wie verträgt ſich das mit der allgemeinen
Menſchenliebe, welche die Seele chriſtlicher Ethik iſt?
Dann iſt auch die Stellung der einzelnen Tugenden eine
ganz andere geworden. Sie ſtehen nicht mehr ſo geſondert,
ſo ſelbſtändig, in ſo plaſtiſchen Umriſſen vor unſerm Bewußt¬
ſein; ſie verſchwimmen in einander und werden mit Forde¬
rungen verbunden, welche außerhalb des eigentlichen Gebiets
der Sittenlehre liegen. Während die Religion im Alterthume
die Ethik freiließ, iſt die neuere Ethik von der Glaubenslehre
abhängig, und ſo werden auch die einzelnen Tugenden in
ihrer Unabhängigkeit beeinträchtigt. Endlich noch ein großer
Unterſchied. Den Alten war die Ausbildung der irdiſchen
Verhältniſſe Alles. Sie ahnten ein Jenſeits, ſie glaubten an
eine Vergeltung, aber ſie lebten für das Dieſſeits und wendeten
ihre volle Energie der Geſtaltung des öffentlichen Lebens zu.
Daher hatten die geſelligen Tugenden eine ganz andere Be¬
deutung, Politik und Ethik eine ganz andere Verbindung.
Im Chriſtenthume lag von Anfang an eine transſcendentale
Richtung. Der Menſch iſt ein Pilger, der ſich nicht zu tief
einlaſſen darf mit einer Welt, die ihm fremd iſt und ſein ſoll;
[199]Die Freundſchaft im Alterthume. er lebt hier, um ſich in eine unſichtbare Reichsordnung einzu¬
bürgern, und gegen die Pflichten und Rechte dieſes Bürger¬
thums erblaßt die Bedeutung der irdiſchen Ordnungen, alſo
auch der Pflichten, die man für ſie hat, und der Tugenden,
welche ſie fordern, alſo auch der Freundſchaft.
So wie daher in der chriſtlichen Welt Richtungen ein¬
treten, welche ſich dem Standpunkte griechiſcher Humanität mit
Vorliebe zuwenden, wird auch ſofort die Freundſchaft wieder
in ihre alten Rechte eingeſetzt. Man denke an den Freund¬
ſchaftscultus zur Zeit Petrarka’s; es war die Romantik des
Humanismus, welche ſich als eine geiſtreiche Umgangsform
erhielt, aber keine ethiſche Bedeutung gewann. Es waren
aufgewärmte Empfindungen, denen die innere Wahrheit fehlte;
man ſtudirte ſich die alten Tugenden ein und liebte ſich nach
Cicero's Lälius.
Die antike Freundſchaft hat ſich nie als Treibhauspflanze
ziehen laſſen. Sie war zu ſehr mit dem ganzen Leben der
Alten verwachſen, namentlich mit dem öffentlichen Leben. Dies
war die ſtärkende Luft, welche die Freundſchaft geſund erhielt
und männlich. Daher iſt ihr nichts unähnlicher, als jene
weichliche Gefühlsſchwelgerei moderner Dichterkreiſe, welche
gerade dem öffentlichen Leben am fernſten ſtanden.
Viel ernſter und bedeutender für die Geſchichte der antiken
Freundſchaftsidee war die Richtung, welche im engliſchen
Deismus ihren Ausdruck fand. Hier führte die Bewunderung
des Alterthums und ſeiner großen Charaktere zu einer prüfen¬
den Vergleichung der chriſtlichen Lehre und der alten Ethik;
aus dem Vergleiche wurde ein offener Angriff auf das Chriſten¬
thum, und namentlich wurde demſelben die Vernachläſſigung
der Freundſchaft zum Vorwurfe gemacht. Sie werde als ein
Uebriges behandelt und ein Unweſentliches; ſie werde vielleicht
gar für ſchädlich geachtet, indem ſie den Einzelnen in ſeinem
Heilseifer aufhalte und zerſtreue. Wenn aber Jeder nur für
ſein Seelenheil ängſtlich beſorgt ſei, ſo ſei das nichts als ein
verfeinerter Egoismus, ein lohnſüchtiges Streben. Shaftsbury
vermißt die Selbſtändigkeit der einzelnen Tugenden, die ſich
[200]Die Freundſchaft im Alterthume. einſt wie Aeſte eines ſtarken Baums in der Luft der Freiheit
und Gemeinſamkeit geſtaltet hätten. Er will die Tugenden
wieder frei machen von der Lehre; er zürnt dem Chriſtenthume,
das uns für großmüthige Freundſchaft keinen Antrieb gebe
und keine Muſter aufſtelle.
Schroffer iſt der Gegenſatz zwiſchen der alten und neuen
Welt im Gebiete des Sittlichen nicht ausgeſprochen worden.
Iſt er aber begründet? Sollte die chriſtliche Welt in der
That verkürzt und verarmt ſein, gerade an den höchſten Lebens¬
gütern, die in dem Boden der Liebe wurzeln? Iſt doch das
Chriſtenthum ſelbſt begründet worden in einem Jüngerkreiſe,
welcher mit ſeinem Haupte zuſammen das verklärte Bild der
Freundſchaft iſt und gleichſam die Erfüllung alles deſſen, was
jemals durch Freundesbündniſſe erſtrebt worden iſt, um Staat
und Geſellſchaft zu erneuern! Und fällt denn wirklich die
Freundesliebe mit dem Feindeshaſſe? Haben nicht ſchon die
Alten die höhere Wahrheit erkannt und Platon es offen aus¬
geſprochen, daß es mit der Tugend unverträglich ſei, Anderen
Böſes zu wünſchen? Die Religion der Liebe kann unmöglich
die Freundſchaft aufheben, ſie giebt jedem menſchlichen Bunde
erſt die rechte Weihe; ſie giebt uns auch erſt die rechten
Waffen, um Alles zu beſeitigen, was die Freundſchaft trübt und
verletzt.
Merkwürdig iſt, daß es ein Philologe war und zwar kein
Geringerer als Richard Bentley, welcher das Evangelium,
gegen die Angriffe der Deiſten vertheidigte und ſelbſt Geiſt¬
liche darauf hinweiſen mußte, daß der griechiſche Freundſchafts¬
begriff im Neuen Teſtamente erweitert und verklärt werde;
aus der Philia werde die »Philadelphia«, die Bruderliebe,
und die »Agape« — das war das neue Wort für die chriſt¬
liche Liebe, welche nun an Stelle der Philia die Welt er¬
füllen und beſeelen ſollte. Die Tugenden der Alten, und
namentlich die Freundſchaft, waren die Lichtſtreifen, welche der
aufgehenden Sonne vorleuchteten. Die einzelnen Strahlen
verſchwinden, wenn die volle Sonne hinter den Bergen hervor¬
getreten iſt. Aber ſind ſie darum weniger vorhanden, weil
[201]Die Freundſchaft im Alterthume. ſie in der Lichtfülle verſchwinden? Sie ſind da, nach wie vor,
nur kräftiger, feuriger, belebender! Denn wenn dem ganzen
menſchlichen Streben höhere Ziele geſetzt ſind, ſo müſſen ja
in demſelben Maße alle geiſtigen Vereinigungen inhaltreicher
und bedeutungsvoller ſein. Der Menſch kann und ſoll dem
Menſchen mehr ſein, als es je im Alterthume der Fall war.
Darum ſind auch innerhalb der großen Verbrüderung
die engeren Verbindungen gewiß nicht in ihrem Rechte beein¬
trächtigt. Als Freundespaare zogen die Boten aus, welche
das Evangelium der Liebe in die Welt trugen, und als das¬
ſelbe zum zweiten Male an das Licht trat, waren es wiederum
Freunde und Freundeskreiſe, welche nur in ihrem Zuſammen¬
ſein den Muth und die Kraft fanden, eine neue Epoche des
chriſtlichen Bewußtſeins zu begründen. Solche Zeiten des
Uebergangs, welche Heldenmuth verlangen, bedürfen auch im
beſonderen Maße der Freundſchaft, der heroiſchen Freundſchaft,
wie ſie Schleiermacher genannt hat.
Aber keine Zeit kann ſie entbehren, denn jede trägt eine
Zukunft in ſich, deren Gewinn nicht ohne Kampf erworben
werden kann. Kein menſchlicher Kreis kann ohne ſie beſtehen,
am wenigſten der Kreis deutſcher Univerſitätsgenoſſen!
Ja gewiß ſind unſere Univerſitäten vorzugsweiſe berufen,
die Stätten der Freundſchaft in ihrer von Zeit und Volksthum
unabhängigen und ewigen Gültigkeit zu ſein. Hier weht die
Luft der Freiheit, der Gemeinſamkeit, des Wetteifers, in
welcher die helleniſche Freundſchaft ihr Gedeihen fand. Sollen
die Alten uns beſchämen in der Werthſchätzung der höchſten
Menſchengüter? Das ſei ferne! Hier entſcheidet ſich ja der
Jünglinge ganzes Leben nach der Art, wie ſie Freunde ſuchen
und finden, und der Segen, welcher auf der Arbeit der Männer
liegt, hängt davon ab, wie ſie Freundſchaft halten können.
Denn nur durch ſie ſind wir das Ganze, das wir ſein ſollen;
nur durch ſie iſt es möglich, daß die Forſchungen der Einzelnen
ſich gegenſeitig fördern und beleben, daß unſer Geiſt die volle
Wahrheit ergreife und die Wiſſenſchaft aus der Fachgelehr¬
ſamkeit zur rechten Weisheit ſich erhebe. Darum ſoll die
[202]Die Freundſchaft im Alterthume. Freundſchaft bei uns und an uns in ihrer dreifachen Wirk¬
ſamkeit ſich vollkräftig bezeugen, in ihrer ſittlich erziehenden,
ihrer die Erkenntniß fördernden und endlich in ihrer das Heil
des Vaterlandes begründenden Macht.
Ja hierin iſt ohne Frage ihre Bedeutung am größten
und hier kann ihr Segen am wenigſten entbehrt werden.
Denn Staaten wie Völker beſtehen durch das Band der Freund¬
ſchaft. Sie iſt die Lebenskraft, welche die verſchiedenartigen
Elemente zum Dienſte des Organismus bindet; ihr Erlöſchen
iſt der Tod deſſelben.
Wo aber ſoll dieſe ſtaat- und volkerhaltende Liebe gepflegt
werden, wenn nicht vor Allem bei uns? Wenn der Partei¬
hader unabläſſig geſchäftig iſt, aufzulöſen und zu trennen, was
zuſammengehört, wenn jedes Mittel benutzt wird, um die An¬
dersdenkenden zu verketzern, wenn ſelbſt der Name Gottes
gemißbraucht wird, um gleichſam zu ſeiner Ehre den giftigen
Samen von Haß und Mißtrauen auszuſtreuen: ſo ſollen wir
an unſerm Theile nicht müde werden, zu ſammeln und zu
bauen und zu ſtärken den Geiſt der Eintracht und des Ver¬
trauens. Die großen Entſcheidungen der Volksgeſchichte liegen
nicht in vorübergehenden Parteiſiegen noch in einzelnen Ereig¬
niſſen, welche die Tagesblätter füllen, ſondern in dem ſittlichen
Verhalten des Volks, in der Stärkung ſeines Rechtsgefühls,
in der Pflege ſeiner geiſtigen Güter, in der wachſenden Gewi߬
heit, daß über allen Gegenſätzen, die ſich noch bekämpfen, wie
ein feſter Stern das Bewußtſein einer unverbrüchlichen Ge¬
meinſchaft ſteht.
XII.
Die Gaſtfreundſchaft.
Der heutige Tag iſt ein Feſttag, an welchem die öffent¬
lichen Anſtalten des Vaterlandes ſich alle als Glieder eines
Ganzen fühlen und jede in ihrer Weiſe die Freude darüber
ausdrückt, daß auch ſie unter der Obhut eines geliebten Königs
am Gedeihen des Staats ihren Antheil habe; ein Tag, an
welchem jede ein Zeugniß davon ablegen möchte, daß ſie ihres
Berufs froh und ihrer Aufgabe ſich wohl bewußt ſei.
Der Beruf einer Univerſität iſt es, das wiſſenſchaftliche
Leben in ſeiner Geſammtheit darzuſtellen, aber nicht bloß das
der gegenwärtigen Generation; denn die Wiſſenſchaft iſt auch
das Gedächtniß des Menſchengeſchlechts; ſie will nicht bloß
Neues und Neuſtes bringen, ſondern auch dem früher Gedachten
nachdenken, damit von dem einmal gewonnenen Schatze der Er¬
kenntniß des Wahren und Guten kein Goldkörnchen verloren
gehe, und dabei, ſcheint mir, hat es immer einen beſonderen
Reiz, dasjenige zur Anerkennung zu bringen, was ſich als
echtes Gold ſeit Anfang der Menſchengeſchichte bewährt hat,
denn das iſt das echt Menſchliche, welches auch durch das
Licht der göttlichen Offenbarung nur noch mehr zu Ehren
gekommen iſt; das ſind die ewigen Wahrheiten, in deren dunk¬
lerer oder hellerer Erkenntniß die Erleuchteten aller Jahr¬
hunderte gewandelt haben, die Blüthen des ſittlichen Lebens,
[204]Die Gaſtfreundſchaft. welche unter günſtigen Verhältniſſen bei allen Völkern zur
Entfaltung gekommen ſind, die Erbgüter oder Erbtugenden
des Menſchengeſchlechts, und wenn ich mich umſchaue auf
dieſem Gebiete, ſo finde ich keinen Gegenſtand, deſſen Be¬
trachtung uns die Macht des ſittlichen Lebens in gleicher
Klarheit vor Augen ſtellte, der zugleich mit dem Berufe einer
deutſchen Univerſität wie mit der Geſchichte unſeres Staats
enger zuſammenhinge, alſo auch der feſtlichen Veranlaſſung,
welche uns heute vereinigt, würdiger wäre, als die Tugend
der Gaſtfreundſchaft.
Man rechnet ſie wohl zu denen, welche fernen Zeiten und
Ländern mehr angehören, als den unſrigen, aber das hat
doch, ſo Gott will, keinen anderen Sinn als den, daß bei uns
die Tugenden überhaupt nicht als beſondere Kräfte oder Lei¬
ſtungen angeſehen und geehrt werden, ſondern mehr als Früchte
eines Baums, einer gemeinſamen Wurzel des göttlichen Lebens
im Menſchen, entwachſen. Wenn alſo auch uns ein »herberget
gerne« zugerufen wird, ſo iſt das doch weniger eine einzelne
Forderung, als eine Mahnung, die uns darauf aufmerkſam
macht, daß, wenn die Früchte des Baums fehlen, auch die
Wurzel nicht geſund ſein könne. Dieſe Geſammtanſchauung
einer ethiſchen Lebensordnung konnte den Alten nicht klar ſein;
bei ihnen ſind die verſchiedenen Tugenden freie Geſtalten, jede
für ſich in feſten Umriſſen ausgeprägt.
Von dieſem allgemeinen Unterſchiede abgeſehen zeigt ſich
nun gerade in Betreff der Gaſtfreundſchaft eine merkwürdige
Uebereinſtimmung der heiligen Ueberlieferung bei allen höher
gearteten Völkern. Wie der Gott des alten Bundes bei Abra¬
ham und Lot einkehrt, ſo ziehen auch die Götter der Hellenen
als Fremdlinge ungekannt auf Erden umher und klopfen an
die Thüren der Menſchenkinder; wo ſie aber Aufnahme fin¬
den und dienſtfertige Aufmerkſamkeit, laſſen ſie reichen Haus¬
ſegen zurück.
So Zeus und Hermes bei Philemon und Baucis, deren
Hütte ſie vor den hereinbrechenden Fluthen ſchützen, wie die
Zwerge des Grindelwalds die Häuſer ihrer Gaſtfreunde; ſo
[205]Die Gaſtfreundſchaft.die Dioskuren bei Laphanes im arkadiſchen Hochlande, deſſen
Haus ſo herrlich gedeiht, daß fortan die Vorräthe nie ver¬
ſiegen und kein Wanderer vorübergelaſſen zu werden braucht.
So die ſchmerzenreiche Demeter, welche, in ihrem Irrſal gaſt¬
lich aufgenommen, die Hauskinder mit göttlicher Kraft nährt
und den Segen ihrer Myſterien zurückläßt. Hier iſt in den
verſchiedenſten Formen ein Gedanke ausgeprägt, und zwar
kein anderer als der, den das apoſtoliſche Wort ausſpricht:
Gaſtfrei zu ſein vergeſſet nicht, denn durch daſſelbige haben
Etliche, ohne es zu wiſſen, Engel beherbergt.
Das iſt gerade etwas Beſonderes bei der Tugend der
Gaſtfreundſchaft, daß hier auch bei den Griechen Religion
und Ethik in engem Zuſammenhange ſtehen, wie er ſonſt nur
ſelten zu Tage tritt. Zeus fordert ſie und ſtraft ihre Ver¬
abſäumung; ſie wird als das ſicherſte Kennzeichen eines gottes¬
fürchtigen Sinns angeſehen, darum kleiden ſich die Götter
ſelbſt in das menſchliche Elend, um an ſich zu erproben, wie
man den Armen und Obdachloſen auf Erden begegne; darum
wacht des Zeus Auge über ſie und der Himmelskönig tritt
für diejenigen ein, welche auf Erden Niemand haben, der ſich
ihrer annimmt. So wird aus dem verachteten Fremdling ein
Gottesmann, ein Ehrwürdiger, deſſen leiſeſte Kränkung dem
Tempelfrevel gleich kommt; denn durch den Oelzweig in ſeiner
Hand ſtellt er ſich in die Hut des Gottesfriedens, in den
Schutz des Zeus Xenios.
Als eine religiöſe Verpflichtung wird die Gaſtfreundſchaft
auch von den Tempelinſtituten empfohlen, theils durch fromme
Legenden, welche den Segen der Götter bezeugen, theils durch
die dem Gottesdienſt dienende Kunſt. So ließ man in der
delphiſchen Pilgerhalle mitten unter den Gräuelſcenen der
Zerſtörung Ilions die Familie der Antenoriden malen, welche,
der Chriſtengruppe auf Kaulbach's Bilde gleich, friedlich
und harmlos aus der brennenden Stadt auszieht. Denn
Antenor war des Menelaos Gaſtfreund geweſen, darum er¬
hielt er freies Geleite, nach demſelben Rechte, nach welchem
[206]Die Gaſtfreundſchaft. Rahab mit Hab und Gut und allen Ihrigen aus Jericho ent¬
laſſen wurde, weil ſie die Kundſchafter Iosua's beherbergt hatte.
Den homeriſchen Gedichten fühlen wir an, wie tief im
Volksleben der Hellenen die Gaſtfreundſchaft wurzelt, in wie
feſten Formen ſie ſich ſchon damals ausgeſtaltet hatte. Bei
keiner Tugend iſt das Verhältniß der Gegenſeitigkeit ſo ſinnig
aufgefaßt und die Uebung derſelben ſo zu einer ethiſchen Kunſt
ausgebildet. Denn es handelt ſich nicht bloß um äußere
Dienſtleiſtungen. Der Wirth ſoll dem Gaſte mit zarter Rück¬
ſicht begegnen und ſich hüten, ihm durch Neugier läſtig zu
fallen oder durch zudringliche Nöthigung; denn die ſelbſt¬
ſüchtige Gaſtfreundſchaft einer Kirke iſt das Zerrbild der wahren.
Der Gaſt ſchuldet Beſcheidenheit, Zurückhaltung, dankbare An¬
erkennung. Beiden aber ſoll aus flüchtiger Begegnung ein
dauerndes Verhältniß entſtehen. Dazu dienen die Erinnerungs¬
gaben, die Gaſtgeſchenke und Wahrzeichen, an denen ſich Kin¬
der und Kindeskinder als Solche erkennen, welche durch Zeus
Xenios zu einer Wahlverwandtſchaft verbunden ſind.
Durch die Gaſtfreundſchaft erweitert ſich das Haus und
tritt in mannigfaltige Beziehungen ein, welche eine heilſame
Bewegung veranlaſſen und wichtige Verbindungen eröffnen.
Als Miltiades, des Kypſelos Sohn, die thrakiſchen Sendboten
von der Straße in ſein Haus rief und ihnen Herberge anbot,
war die Folge, daß die Gäſte ihm das erbliche Fürſtenthum
in ihrer Heimath antrugen und Athen am Helleſpont Macht
gewann.
Denn nicht nur in den patriarchaliſchen Zeiten homeriſchen
Angedenkens iſt Griechenland ein Sitz der Gaſtfreundſchaft
geweſen; ſondern es iſt dieſer Tugend treu geblieben. Durch
ſie unterſchied ſich helleniſcher Boden vom unwirthlichen Sky¬
thenſtrande; ſie hat mit gemüthlichen Beziehungen die helleni¬
ſche Welt durchdrungen, ſie hat das weit Getrennte verknüpft
und ſich in der Zeit höchſter Spannung als ein ſtarkes Band
des Friedens und nationaler Verbrüderung bewährt.
Als Sybaris zerſtört wurde, legten alle Bürger von Milet
Trauer an und ſchoren ſich das Haupt; die Handelsverbin¬
[207]Die Gaſtfreundſchaft. dungen der beiden Seeſtädte waren in die trauliche Form des
gegenſeitigen Gemeindegaſtrechts eingekleidet. Trotz aller Eifer¬
ſucht zwiſchen Athen und Theben wurde der thebaniſche Dichter
doch von den Athenern zum Gaſtfreunde gemacht; man zeigte,
daß man die Männer zu erkennen wiſſe, welche der Nation
angehörten. Delphi nahm einen beſonderen Antheil an der
Pflege des Gaſtrechts und benutzte es, um fremde Fürſten und
Völker mit den Hellenen in Verbindung zu bringen oder ein¬
zelne Hellenen durch das Gaſtrecht an dem gemeinſamen Herde
von Hellas auszuzeichnen.
Es war die Gaſtfreundſchaft alſo nicht nur ein Schmuck
des einzelnen Hauſes und ein Segen deſſelben, ſondern auch
eine bürgerliche Tugend, ein Grundſatz des öffentlichen Lebens,
ein charakteriſtiſches Kennzeichen der verſchiedenen Staaten, je
nachdem ſie gaſtlich oder ungaſtlich ſind.
Ungaſtlich ſind alle Staaten, ehe ſie in größeren Verkehr
eintreten, wie das abgelegene Phäakeneiland, wo Odyſſeus
gerathen wird, ſtill und ohne Umſchauen vor ſich hinzugehen,
weil er ſonst als Fremdling kränkenden Worten ausgeſetzt ſein
würde. Eines Abſchluſſes gegen außen bedürfen die Staaten,
um ſich in ihrer Individualität auszugeſtalten und ihr volles
Daſein zu gewinnen; es iſt die Selbſtſucht eines noch unreifen
und in ſich unſicheren Lebens, dieſelbe, welche wir bei allen
Kindern wahrnehmen. So finden wir namentlich die Ge¬
meinden des Alterthums in ſchroffer Iſolirung, eine neben
der anderen, eine jede eiferſüchtig ihre Gränzen hütend und
einer geſchloſſenen Aktiengeſellſchaft gleich alle Vortheile der
Gemeinſchaft ihrem engen Kreiſe vorbehaltend. Der nächſte
Nachbar iſt ein Ausländer und hat kein Eherecht, kein Beſitz¬
recht, keinen Anſpruch auf Schutz.
Dieſe Abſperrung darf aber nicht zu lange dauern, ſonſt
tritt eine Erſtarrung oder Verknöcherung ein, und der Lebens¬
proceß wird zu einem todten Mechanismus, wie es in Sparta
der Fall war, wo man ein überkünſtliches Staatsgebäude
durch angſtvolle Iſolirung erhalten wollte. Wird die Ab¬
ſperrung zu ſpät aufgehoben, ſo bleibt eine gewiſſe Rohheit
[208]Die Gaſtfreundſchaft. unvermeidlich zurück und alle Uebel, welche man hatte ab¬
wehren wollen, treten dann im Uebermaße ein, wie die ver¬
heerende Macht einer Fluth um ſo größer iſt, je länger ſich
das Waſſer hinter dem Deiche angeſtaut hat. So wurde in
Sparta Geldgier und Ungleichheit des Vermögens ärger, als
in irgend einem andern der griechiſchen Staaten, und das ab¬
geſchloſſene Aegypten wurde ſeit Pſammetichos durch fremdes
Volk dergeſtalt überſchwemmt, daß die Fortführung einer na¬
tionalen Geſchichte unmöglich wurde.
Die normalen Verhältniſſe lernen wir in Athen kennen,
deſſen Glück darin beſtand, daß es in ſtiller Zurückgezogenheit
ſich ordnete und dann zu rechter Zeit ſeine Thore öffnete, um
die Geſchlechter aufzunehmen, welche durch den Sturz der
homeriſchen Dynaſtien und die damit zuſammenhängende Um¬
wälzung des helleniſchen Continents heimathlos geworden
waren. Aus dem Reiche des gereniſchen Neſtor kamen Männer
herüber, welche in den Künſten des Kriegs und Friedens wohl
erfahren waren; reiche Bildung ſtrömte in die attiſche Halb¬
inſel ein, und es ſammelte ſich neben dem eingeborenen Land¬
adel eine Gruppe jüngerer Geſchlechter, welche nun vorzugs¬
weiſe die Träger der Bewegung wurden und derjenigen Ideen,
die den Inhalt der attiſchen Geſchichte bilden; Kodros, Solon,
Peiſiſtratos, Perikles gehören dem zugewanderten Adel an.
Hier wurde das richtige Maß des Eignen und Fremden,
das richtige Gleichgewicht zwiſchen dem Beſondern und Ge¬
meinſamen gefunden; die Schroffheit individueller Ausbildung
milderte ſich bei Zeiten, ohne daß das Charakteriſtiſche ver¬
wiſcht wurde. Hier iſt die Gaſtfreundſchaft das weſentlichſte
Erziehungsmittel des Staats geweſen, und bei keinem andern
Staat iſt ſie in gleicher Weiſe das bewußte Programm ſeiner
Politik geblieben. Das berühmteſte Denkmal der Stadt war
der Altar des Mitleids, auf deſſen Stufen kein Fremdling
vergebens den Bittzweig niedergelegt hatte; ſein höchſter Ruhm,
daß es mit Gut und Blut für die Herakliden eingetreten war,
welche ſich in ſeinen Schutz begeben hatten. Unter den Pi¬
ſiſtratiden trat Athen in den vollen Weltverkehr ein, und die
[209]Die Gaſtfreundſchaft. wohlgepflegten Heerſtraßen, mit Hermen ausgeſtattet, die auch
dem einſamen Wandrer Auskunft ertheilten und einen guten
Spruch auf den Weg mitgaben, kennzeichneten das Land als
einen Sitz edler Gaſtlichkeit. Die Seemacht Athens beruhte
darauf, daß allen geſchickten Werkleuten aus Hellas freier Zu¬
zug geſtattet wurde; um den Kern der eigentlichen Bürger
bildete ſich ein Stand von Schutzgenoſſen, deſſen Pflege Pe¬
rikles ſich ganz beſonders angelegen ſein ließ, und Kephalos
war gewiß nicht der Einzige, welchen er ſeiner edlen Sitte
und Bildung wegen durch perſönliches Zureden veranlaßte,
nach Athen überzuſiedeln. Der Gaſtfreundſchaft verdankte Athen,
daß es durch Polygnotos ein Sitz der erſten Malerſchule
wurde, durch Anaxagoras ein Sitz der Philoſophie; mit Phe¬
rekydes und Herodot bürgerte ſich die Geſchichtſchreibung ein,
mit Phaeinos die Aſtronomie. So, wie Athen an Demoſthenes
wieder einen Staatsmann hatte, welcher der Vergangenheit
Würdiges von den Bürgern verlangte, war der Schutz hülfe¬
ſuchender Fremden wieder die erſte Forderung, wie die Reden
für Rhodos und Megalopolis bezeugen. Als aber die ſelbſt¬
ſtändige Geſchichte der Stadt zu Ende war, blühte ſie fort
als ein Mittelpunkt der Wiſſenſchaft, deren Jünger aus allen
Weltgegenden in den Peiraieus einzogen, und erſt mit dem
Dekrete Juſtinian's, welcher das Gaſtrecht aufhob und die
Philoſophen auswies, hörte Athen auf zu leben, denn die
Seele ſeiner Geſchichte war die Gaſtfreiheit.
In Italien zeigt ſie ſich noch deutlicher als eine geſchicht¬
liche Macht; denn die älteſte Urkunde mittelitaliſcher Geſchichte
iſt das Verzeichniß der Gemeinden, welche durch Gaſtrecht ver¬
bunden am Quell der Ferentina das Bundesopfer und Feſt¬
mahl hielten. Kraft des Gaſtrechts iſt aus dieſen Gemeinden
ein Volk erwachſen; mit dem Anſchluſſe an dieſe Gemeinſchaft
iſt Rom in die Geſchichte eingetreten; hier hat es politiſche
Ideen aufgenommen und ſeine erſte Schule durchgemacht; an
Alba Longa's Stelle wurde ihm das Ehrenrecht, die Schweſter¬
ſtädte zu bewirthen; mehr und mehr in den Mittelpunkt ge¬
ſchoben, hat es hier vorausſchauen, leiten, herrſchen gelernt.
Curtius, Alterthum. 14[210]Die Gaſtfreundſchaft. Die Latiner gingen ſchließlich in die Römer auf und der
Bundestag an der Ferentina wurde wieder, was er urſprünglich
geweſen war, ein harmloſer Feſttag und Feſtſchmaus benach¬
barter Gaugenoſſen.
Mit der ſteigenden Machtſtellung Roms, welche auf dem
Verhältniſſe zum latiniſchen Opfervereine beruht, war auch
die Ausbildung ſeiner Rechtsanſchauungen unzertrennlich ver¬
bunden. Denn nachdem das bürgerliche Recht feſtgeſtellt war,
mußte man immer mehr auf ſolche Fälle Rückſicht nehmen,
wo Fremde und Bürger einander gegenüber ſtanden; man
konnte nicht umhin, die Rechte und Gewohnheiten der Aus¬
länder kennen zu lernen und zu vergleichen; man übte den
Blick, man ſchärfte das Urtheil, man fand neben den Ab¬
weichungen auch gewiſſe gemeinſame Rechtsnormen, und ſo
entwickelte ſich ein Völkerrecht, welches mit dem freieren Geiſte
der Humanität auf das bürgerliche Recht zurückwirkte. So
erwuchs ein fruchtbarer Völkerverkehr, und wenn man die
Terraſſe, von welcher die Vertreter gaſtbefreundeter Nationen
den Feſtſpielen als Ehrengäſte beiwohnten, den Griechenſtand
nannte, ſo entnehmen wir ſchon daraus, daß nach Verſchmelzung
mit den Latinern der nächſte Fortſchritt darin beſtand, daß
Rom mit den Griechen, namentlich den in Gallien anſäſſigen,
in gaſtfreundliche Beziehungen trat, und ſo iſt die Stadt von
Stufe zu Stufe im internationalen Verkehr weiter geführt
und durch die Gaſtfreundſchaft für ſeinen Weltberuf allmählich
ausgebildet worden.
Auch in der Religion herrſchte urſprünglich ein Geiſt
ſpröder Ausſchließlichkeit und Ungaſtlichkeit. Jede Gemeinde
hatte ihren Gott, deſſen Bild oder Wahrzeichen das Unter¬
pfand ihres Heils war; jede Gemeinde hatte den ihrigen für
ſich, ſo daß Keiner von fremdem Stamme zu ihm eingehen
durfte, um Opfer oder Weihegaben darzubringen. Einführung
neuer Götter war alſo Hochverrath, weil ſie die Prärogative
der Staatsgottheit ſchmälerte, und man hielt in einigen Ge¬
genden feierliche Umzüge mit Waffenſpielen, in welchen das
Austreiben der Eindringlinge über die Gränzen des Landes
[211]Die Gaſtfreundſchaft.ſymboliſch ausgedrückt wurde. Wenn ſich alſo verſchiedene
Gaue oder Stämme mit einander verſchmelzen wollten, ſo
mußten ſie ſich zuerſt zu gegenſeitiger Anerkennung ihrer Gott¬
heiten verſtändigen, wie Latiner und Sabiner in Rom ſich
einigten, wie nach ſchweren Kämpfen Pallas und Poſeidon
friedlich neben einander auf der Burg von Athen unter einem
Dache angeſiedelt wurden. So iſt auch hier durch Gaſtfreund¬
ſchaft eine heilſame Erweiterung des Geſichtskreiſes einge¬
treten; auch die Götter machen Freundſchaft und jede Aus¬
ſöhnung von Götterzwiſt, jede Aufnahme jüngerer Gottheiten
bezeichnet eine neue Entwickelungsſtufe der Stadtgeſchichte,
einen Fortſchritt im Zuſammenwachſen der Stämme zum Volke.
Vorzugsweiſe iſt es Apollon, der jüngſte der Olympier,
welcher die Stämme ſammelt, indem er ihre Götter einigt.
Er macht den Wirth bei den Theoxenien, dem Feſte der Götter¬
freundſchaft in Delphi, wo die Götter zu Gaſte geladen bei
gemeinſamem Male zuſammenkamen, die Beſten des Volks um
ſich verſammelnd. Der Kreis der Olympier iſt nur die Spie¬
gelung der durch gegenſeitiges Gaſtrecht mit einander ver¬
ſchmolzenen Stämme und mit der Zwölfzahl wurde im Himmel
wie auf Erden der Kreis der Berechtigten abgeſchloſſen.
Der Götterkanon war eine politiſche Schöpfung, ein Denk¬
mal des Siegs des nationalen Geiſtes über den cantonalen
Particularismus. Er erhielt ſich in Ehren, ſo lange der na¬
tionale Geiſt ſtark genug war, ihn zu tragen. Mit dem Ein¬
brechen des Kosmopolitismus war auch dieſer Abſchluß nicht
mehr zu halten. Die Nationen verloren das Vertrauen wie
zu ſich, ſo auch zu ihren Göttern, und im Gefühle des Ban¬
kerotts machte man Anleihen beim Auslande; des Morgen¬
landes Götter verdrängten die einheimiſchen; Iſis, Serapis
und Mithras regierten anſtatt der Olympier, und zuletzt fanden
unter anderen heiligen Geſtalten, mit denen man es einmal
verſuchen wollte, Abraham und Chriſtus gaſtliche Aufnahme
in der Hauskapelle der Cäſaren.
So iſt das Gaſtrecht mit den wichtigſten Entwickelungen
der antiken Menſchheit verbunden; ſeine Geſchichte iſt eine
14 *[212]Die Gaſtfreundſchaft. Geſchichte der alten Cultur; die Ausbildung deſſelben in der
Sitte des Hauſes, im Staats- und Religionsweſen iſt eine
der anziehendſten Seiten der griechiſch-römiſchen Welt, die
edelſte Blüthe des klaſſiſchen Alterthums.
Im Gaſtrechte iſt aber die Ethik der alten Welt über ſich
ſelbſt hinausgegangen. Sie iſt hier inniger als auf andern
Gebieten mit der Religion verbunden, ſie hat erfolgreicher als
ſonſt die Selbſtſucht bekämpft, die Selbſtſucht der Einzelnen
wie der Gemeinden, und Homer verwundert ſich über ſeine
eigenen Helden, daß ſie um der Gaſtfreundſchaft willen mitten
im Schlachtgetümmel einen Waffentauſch vollziehen, bei welchem
ganz gegen griechiſche Gewohnheit der Verluſt des Einen wie
der Gewinn des Andern garnicht in Frage kommt. Durch
das Gaſtrecht iſt ein Geiſt der Gewiſſensfreiheit und milden
Duldung, ein Geiſt der Brüderlichkeit in die alte Welt aus¬
gegangen; wir ſehen eine Menſchenliebe thätig, welche im
Fremdling die Gottheit ehrt, vor welcher kein Anſehen der
Perſon gilt, eine Liebe, welche alle Schranken überſteigt, die
menſchlicher Dünkel aufgerichtet hat, um höhere und niedrigere
Gattungen von Menſchenkindern feſtzuſtellen. Sie hat mit
göttlicher Wärme das Eis geſchmolzen, mit welchem einſeitiges
Vorurtheil die Herzen der Alten umpanzert hielt. Durch ſie
ſind auch, als die Zeit erfüllt war, die ſprödeſten Völker des
Alterthums zuſammengekommen, denn die Gaſtfreundſchaft,
welche der Apoſtel Petrus von dem Hauptmann Cornelius
annahm, war der Anfang einer Verſchmelzung der klaſſiſchen
und der jüdiſchen Welt, der Uebergang in eine neue Epoche
der Menſchengeſchichte, wo die Idee, welche im antiken Gaſt¬
recht wie eine Ahnung auftaucht, daß vor Gott, alſo auch für
uns alle Menſchen gleich berechtigt ſind, als Grundwahrheit
anerkannt und in vollem Maße verwirklicht werden ſollte.
Auf Grund des Chriſtenthums als einer Weltreligion iſt
denn auch das dem Gaſtrechte entſprungene Völkerrecht in der
Weiſe zur Geltung gekommen, daß mehr und mehr die Na¬
tionen alle zu einer Gemeinſchaft verbunden worden ſind, und
wenn in der chriſtlichen Welt der Geiſt der Milde und Gaſt¬
[213]Die Gaſtfreundſchaft. lichkeit auf grobe Weiſe verletzt worden iſt, ſo hat dies vor¬
zugsweiſe darin ſeinen Grund gehabt, daß Grundſätze des
Alterthums in mißbräuchlicher Weiſe auf die geſellſchaftlichen
Zuſtände der neuen Welt angewendet worden ſind. Dazu ge¬
hört namentlich die Idee einer Staatsreligion.
Sie iſt, wie wir ſahen, aus dem Weſen des antiken Staats
mit Nothwendigkeit hervorgegangen, ſie iſt zum Zuſammen¬
halten und zur Kräftigung der kleinen Gemeinden von größter
Wichtigkeit geweſen und hat ſich, ſo weit wir die Geſchichte
überblicken, ungefährlich erwieſen. Denn nur in ſehr ſeltenen
Fällen hat ſie durch Verbindung mit anderen Parteiintereſſen
eine verderbliche Macht gewonnen und ſolche Opfer verlangt,
wie Sokrates. Sie wurde erſt gefährlich, als im Gegenſatze
zu den antiken Staatsreligionen eine Religion auftrat, welche
mit dem Staate nichts zu ſchaffen haben wollte, ſondern nur
den einzelnen Menſchen aufſuchte, um ihn und ſein Haus ſelig
zu machen. Eine ſolche Religion entzog dem Staatsweſen
ein weſentliches Element, ſie drohte den Menſchen demſelben
zu entfremden. Darum raffte das abſterbende Heidenthum
ſeine letzten Kräfte und Alles, was noch in Rom an Haß
gegen das Ausland und von Abſcheu gegen die Juden vor¬
handen war, zuſammen, um mit einem Fanatismus, welcher
ihm ſonſt fremd war, die das Leben der Staatsgeſellſchaft
bedrohenden Elemente gewaltſam auszuſtoßen.
Die Verfolgung, welche es zu erdulden hatte, hat das
Chriſtenthum nur verherrlicht und geſtärkt; aber viel ver¬
hängnißvoller wurde ihm ſein Sieg. Denn nun wurde ihm
ſeiner innerſten Natur zuwider der Charakter eines Staats¬
bekenntniſſes aufgeprägt; der Cäſarenſtaat wollte durch die
neue Religion neue Siegeskraft gewinnen und es erwuchs
eine Verbindung zwiſchen Religion und Staatsgewalt, welche
das bedenklichſte Erbtheil iſt, das die neue Welt von der alten
überkommen hat, indem der Chriſtenſtaat daraus ſein Recht
und ſeine Verpflichtung herleitete, die von ſeinem Bekenntniſſe
Abweichenden als ſchlechte Bürger, ja als Staatsverbrecher
[214]Die Gaſtfreundſchaft. zu behandeln, ebenſo wie das heidniſche Rom es mit den
Chriſten gemacht hatte.
Dieſes Aeußerſte von unmilder und ungaſtlicher Regie¬
rungsweiſe beruhte, wenn ſie auch von Fürſten ausging, welche
ſich die allerchriſtlichſten nannten, auf einer verkehrten An¬
wendung antiker Staatsmaximen, und über keine Verkehrtheit
hat die Geſchichte ihr Urtheil klarer ausgeſprochen. Davon
zeugen die Erinnerungen, welche dem Namen eines Philipp IV.,
eines Ferdinand II., eines Ludwig XIV. folgen; davon zeugt
der jetzige Zuſtand der Länder, wo in Folge blutiger Gegen¬
reformationen der Staat ſeine eigenen Kinder ausgeſtoßen
oder hingeopfert hat.
Die einem feſtlichen Tage geweihte Betrachtung kehrt ſich
von dieſen Schattenſeiten ab und wendet ſich lieber dahin, wo
man, wie im alten Athen, die Gaſtfreiheit zum Grundſatze der
Politik gemacht hat, und das führt uns zu dem Staate, in
dem und mit dem wir heute feiern.
»Was thut Gott dem Hauſe Brandenburg für Gnade,«
ſagte Friedrich Wilhelm I., als die Salzburger ihre ſchöne
Heimath verließen, um zu Tauſenden und aber Tauſenden in
des Königs Lande überzuſiedeln, ſchon in der Ferne einge¬
laden und nun mit Freuden empfangen, unter feſtlichem Glocken¬
geläute von Ort zu Ort geleitet. Er folgte darin dem Bei¬
ſpiele ſeiner Vorfahren, vor Allem dem des Großen Kurfürſten,
welcher die Aufhebung des Edicts von Nantes unverzüglich
und auf die Gefahr hin, mit dem mächtigen Frankreich in
Conflikt zu kommen, in echt evangeliſchem Sinne beantwortete,
indem er den Betroffenen die Hand reichte, den Flüchtigen
forthalf, den Geretteten Heimath und Obdach gab. Und das
that er nicht aus politiſcher Berechnung, nein, ſein Herz trieb
ihn, er konnte nicht anders; er ſchrieb ſelbſt die Wege und
Nachtſtationen auf und kümmerte ſich um Alles; er behandelte
die Schwergeprüften nicht bloß mit weichherzigem Mitleide,
ſondern mit der Ehrerbietung, wie ſie ſchon die Alten dem
Heimathloſen zuwendeten; er ehrte ihre Tradition, ihre Sprache
und pflegte mit väterlicher Milde ihre Eigenthümlichkeit, und
[215]Die Gaſtfreundſchaft. je weniger dabei das Eigene geſucht war, um ſo reichlicher
ſtrömte der Segen zu, der Engelſegen, welcher dem gaſtfreien
Manne in das Haus kommt. Denn die, welche um ihres
Gewiſſens willen Hab und Gut und Heimath aufgaben, waren
gewiß nicht die Schlechtſten ihres Volks; es waren Träger
idealer Intereſſen, Männer der Freiheit, Männer des Muths
und ſelbſtbewußter Kraft. Bei ihrer Aufnahme empfing das
Vaterland ungleich mehr als es gab. Talent und Geſchick¬
lichkeit aller Art, Gelehrſamkeit, Bildung, feine Sitte — wer
kann in kurzem Worte zuſammenfaſſen, was Preußen und
Berlin den Colonien verdanken! Die königliche Tugend wurde
eine Tugend von Stadt und Land; ſie erfüllte das Volk mit
frohem Stolze und gab dem Kurfürſtenthum das Gefühl eines
werdenden Großſtaats. Dogmatiſche Zänkereien wurden bei
tief religiöſer Erregung glücklich vergeſſen und engherzige
Vorurtheile beſeitigt, denn der ſchönſte Segen der Tugend,
welche wir mit dem Namen der Gaſtfreiheit ehren, iſt die
geiſtige Freiheit, das weite Herz, der unbeſchränkte Blick, die
freudige Anerkennung jedes geiſtigen Fortſchritts ohne Anſehen
der Perſon.
So iſt Preußen in Stand geſetzt worden, ſich die Kräfte
der begabteſten Nationen, die geiſtige Regſamkeit der Fran¬
zoſen, ſowie die reichen Gaben der jüdiſchen Bevölkerung an¬
zueignen, ohne Gefahr zu laufen, ſeinen geſchichtlichen Cha¬
rakter einzubüßen oder ſein deutſches Gepräge zu verwiſchen.
Der Staat der Hohenzollern hat einem ſpröden Partikularis¬
mus niemals huldigen können und die Reihe der Marmor¬
büſten, welche, um acht vermehrt, heute unſere Aula ſchmücken,
legt Zeugniß davon ab, wie man aus allen Gebieten des
Vaterlandes die Lehrer herbeigerufen hat; kaum der vierte
Theil beſteht aus geborenen Preußen. Man hatte aber dabei
in der That keinen anderen Geſichtspunkt als den, welchen
Perikles für Athen im Auge hatte, daß nämlich alle Inter¬
eſſen des nationalen Geiſtes ſolche Pflege des Staats ge¬
nießen ſollten, daß jeder Volksgenoſſe in ihm ſich heimiſch
fühle, ohne ſein Angeſtammtes aufzugeben. Daher haben ja
[216]Die Gaſtfreundſchaft.auch die Preußen in allen Zeiten der Spannung und des ge¬
reizten Gegenſatzes zwiſchen Nord und Süd die ihnen ge¬
ſpendeten Zeichen von Abneigung, Haß und Erbitterung nie¬
mals erwidert, und zwar war das durchaus keine tugend¬
hafte Selbſtbeherrſchung beſonderer Art, ſondern eine ſittliche
Unmöglichkeit, welche ſich aus der Erziehungsgeſchichte unſeres
Staats erklärt. Im vollen Bewußtſein eines ununterbrochenen
und unentbehrlichen, gaſtlichen Austauſches hat es ſich nie¬
mals in einem Gegenſatze zum Süden zu fühlen vermocht.
So bezeugt ſich die Gaſtfreundſchaft in neuen wie in
alten Zeiten als eine Quelle von Macht und Gedeihen, als
einen Grundpfeiler geiſtiger Größe, als einen weſentlichen
Factor der Staatengeſchichte.
Aber, ich denke, ſie geht uns noch näher, noch unmittel¬
barer an. Denn dieſe Hallen, in denen wir heute unſers
Königs Geburtstag feiern, ſind ſie nicht auch ein Tempel der
Gaſtfreiheit, ſind wir nicht die Wirthe, welche die Jugend,
die uns ihr freies Vertrauen ſchenkt, mit dem ausrüſten, wo¬
durch ſie in Stand geſetzt wird, ſelbſtändig dem Vaterlande
zu dienen? Und zwar geben wir nicht, wie andere Wirthe,
nur etwas auf unſere Veranſtaltung Bereitetes, ſondern wir
geben uns ſelbſt, unſere eigene Perſon, das Beſte, was wir
haben, unſere geiſtige Erfahrung und Erkenntniß, unſere Ueber¬
zeugung von göttlichen und menſchlichen Dingen, im Geben
ſelbſt wieder empfangend, am Eifer der Jugend uns erfri¬
ſchend, an der überzeugenden Kraft die Richtigkeit unſerer Mit¬
theilung erprobend. Das alſo iſt die edelſte Form gaſtlicher
Gegenſeitigkeit, ein Geben und Nehmen, wobei Keiner ärmer
wird und Jeder gewinnt. Dieſer Geiſterverkehr iſt es, der
unſerm Berufe ſeine Bedeutung giebt, und wie geweiht er¬
ſcheint uns dieſes Haus, wenn wir uns vergegenwärtigen,
wieviel geiſtige Bande hier geknüpft, wieviel elektriſche Ströme
geiſtiger Anregung von hier in alle Welt ausgegangen ſind!
Aber nicht auf dieſes Haus bleibe unſer Beruf be¬
ſchränkt; auch im Leben ſollen wir die Kunſt edler Gaſtfrei¬
[217]Die Gaſtfreundſchaft. heit, die von den Beſten aller Nationen wetteifernd gepflegte,
allen Mißformen gegenüber zu vertreten wiſſen und, wie es
den Männern der Wiſſenſchaft geziemt, überall dafür ein¬
ſtehen, daß wahre Geſelligkeit auf geiſtigem Austauſche be¬
ruhe, der das Gemüth erwärmt und den Geſichtskreis er¬
weitert. Wo Sinnengenuß ſich vordrängt oder eitle Prunk¬
ſucht, da fühlt ſich wie bei jedem Uebermaße der feinere
Sinn verletzt; der Geiſt wird gedämpft, und man erkennt,
daß die zarte Linie überſchritten iſt, welche die Ueppigkeit
trennt von jener Gaſtfreiheit, welcher die Verheißung des Se¬
gens gegeben iſt.
Die Betrachtung der Gaſtfreundſchaft iſt ſo reich an er¬
freulichen Geſichtspunkten, daß ſie mir des Tags nicht un¬
werth ſchien, an welchem unſere Univerſität die Freude hat,
die Leiter, Gönner und Freunde ihrer wiſſenſchaftlichen Ar¬
beiten als Gäſte in ihrem Hauſe zu ſehen, nicht unwürdig
des Feſttags ſelbſt, an dem jeder öffentlichen Anſtalt geziemt,
von ihrer Berufsfreudigkeit ein Zeugniß abzulegen. Wenn
aber die Gaſtfreiheit in der That einer der Grundzüge preu¬
ßiſcher Geſchichte iſt, ſo führt ſie uns ja auch unmittelbar
auf die erhabene Perſon unſeres Fürſten, der darin nicht
nur dem Beiſpiele ſeiner großen Ahnen gefolgt iſt, ſondern
in hervorragendem Grade gezeigt hat, daß eine ſelbſtſüchtige
Staatspolitik Seinem Herzen von Anfang an fremd war,
und kein wahrheitsliebender Mann wird im Stande ſein,
eine andere Triebfeder Seiner vaterländiſchen Politik nachzu¬
weiſen, als die, daß er an dem, was Preußen Gutes hat,
alle Deutſche Theil nehmen laſſen und wiederum das preu¬
ßiſche Weſen durch der Nachbarn Art und Sitte in heilſamer
Weiſe ergänzen möchte.
Und Sein Werk — deſſen freuen wir uns heute mit Dank
gegen Gott — geht ſicher vorwärts, weil es nicht auf Men¬
ſchenlaune beruht, ſondern auf geſchichtlicher Nothwendigkeit,
d. h. auf göttlichem Willen. Schon iſt der Deutſche in frem¬
den Zonen nicht mehr auf mitleidige Gaſtfreundſchaft an¬
gewieſen, ſondern fühlt ſich unter deutſcher Flagge ſicher und
[218]Die Gaſtfreundſchaft. durch geachtete Vertreter des Vaterlandes geſchützt. Wir aber
können im Sinne unſeres Königs für Ihn und für uns Alle
heute nichts heißer erflehen, als daß Sein Lebenswerk Ihm
friedlich und völlig gelinge, die größte Aufgabe königlicher
Gaſtfreiheit: einem großen obdachloſen Volke ein Haus zu
bauen und ihm ein Vaterland wiederzugeben.
XIII.
Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.
Wenn wir in den Schriften der Alten leſen, ſo ſind es
nicht nur durch Würde des Gedankens, durch Tiefe des Ge¬
fühls und lebendige Kraft der Sprache ausgezeichnete Stellen,
welche unſere Aufmerkſamkeit feſſeln, ſondern nicht ſelten ſind
es ganz ſchlichte und einfache Worte, welche ohne beſondere
Betonung, ohne Beabſichtigung eines tieferen Eindrucks nieder¬
geſchrieben ſind, die uns aber dennoch in eigenthümlicher
Weiſe ergreifen, weil ſie uns in die Gedankenwelt des Alter¬
thums einen Einblick eröffnen. Zu ſolchen Stellen gehört nach
meinem Gefühle auch diejenige, wo Herodot im vierten ſeiner
Bücher die thrakiſchen Stämme nennt, welche dem Perſerkönige
huldigen mußten, und unter ihnen die Geten, »welche an die
Unſterblichkeit der Seele glauben.« Durch dieſe einfache Aus¬
ſage wird der Volksſtamm unſerer Aufmerkſamkeit empfohlen;
der Geſchichtſchreiber weiß nichts Bezeichnenderes und Be¬
deutenderes von ihm zu melden, er betrachtet dieſen Glauben
offenbar als ſeinen eigentlichen Charakterzug.
Geſtatten Sie mir, an dieſe unſcheinbaren Worte anzu¬
knüpfen und auf Anlaß derſelben eine Seite des Alterthums
zu berühren, für welche wir gewiß Alle ein nahes Intereſſe
fühlen. Die nationale Wichtigkeit, welche Herodot dem Un¬
ſterblichkeitsglauben beimißt, führt uns zu der Frage, welche
Bedeutung derſelbe im Sinne der Griechen und welchen Ein¬
fluß er auf die Entwickelung derſelben gehabt hat.
Dieſe Betrachtung erlaubt uns nicht, ausſchließlich bei
den Griechen ſtehen zu bleiben; ſie gehören einem weiteren
Völkerkreiſe an, von welchem wir ſie nicht ablöſen können,
wenn wir ihr religiöſes Leben in das Auge faſſen. Denn wie
der einzelne Menſch ſich unter günſtigen Verhältniſſen in zwie¬
facher Weiſe entwickelt, indem er einmal eine Fülle neuer An¬
ſchauungen, Begriffe und Erfahrungen ſelbſtändig erwirbt,
andererſeits aber auch gewiſſe Vorſtellungen und Ueberzeu¬
gungen, welche ſchon bei beginnendem Selbſtbewußtſein in
ihm waren, allmählich entwickelt, abklärt und durch Zweifel
und Anfechtungen hindurch immer feſter ſich aneignet: ſo fin¬
den wir auch bei den Völkern eine gleiche Entwickelung, und
ſo wenig wir die des einzelnen Menſchen begreifen können,
wenn wir nicht die geiſtige Atmoſphäre kennen, in welcher er
geboren und aufgewachſen iſt, die Ueberlieferung ſeiner Hei¬
math, ſeines Standes und ſeines Vaterhauſes, ſo wenig können
wir das geiſtige Leben eines Volks vollſtändig begreifen, wenn
wir nicht die Vorſtellungen kennen, welche es als ein gemein¬
ſames Beſitzthum mit anderen Völkern getheilt hat, die ſpäter¬
hin ihre eigenen Wege gegangen ſind. Deshalb iſt es ja für
die Geſchichte des menſchlichen Geiſtes von ſo unſchätzbarer
Wichtigkeit, daß der gemeinſame, geiſtige Beſitz jenes Zweigs
der Menſchheit, welchem die Inder, die Griechen und die
Deutſchen angehören, von Jahr zu Jahr immer klarer her¬
vortritt und, Dank ſei es den unermüdlichen Erforſchern morgen¬
ländiſcher Weisheit! immer leichter auch von denen benutzt
werden kann, welche nicht unmittelbar aus den Quellen zu
ſchöpfen vermögen.
Die Inder ſind das älteſte der Brudervölker. Sie haben,
wie wir ſagen dürfen, das gemeinſame Vaterhaus am ſpäteſten
verlaſſen und die Tradition deſſelben am treueſten bewahrt.
Darauf beruht die über indiſche Alterthumskunde weit hinaus¬
gehende Bedeutung ihrer Religionsſchriften; darum haben auch
für alle verwandten Stämme die Veden einen urkundlichen
Werth; denn ſie enthalten eine in ſich zuſammenhängende Fülle
religiöſer Vorſtellungen, welche die Inder unzweifelhaft nicht
[221]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. erſt nach ihrer Trennung von den Brudervölkern gewonnen
und ausgebildet haben. Da finden wir das menſchliche Herz
im kindlichen Geſpräch mit Gott, welchen es kennt als den,
welcher im Lichte wohnt und die Sünde haßt; da leuchtet das
Bild des Einen Gottes durch den Dunſtkreis mythologiſcher
Vorſtellungen, welche daſſelbe umziehen und das einheitliche
Sonnenlicht in bunten Farbenbrechungen wiederſtrahlen, kräftig
hindurch; da iſt die Ewigkeit der Gottheit und alles deſſen,
was aus ihr ſtammt, der feſte Inhalt eines kindlichen Glaubens.
Aber kommen wir hier nicht ſchon auf den Gegenſatz der
Inder und Hellenen, wie ihn vor kurzem ein deutſcher Ge¬
lehrter, einer der geiſtvollſten Forſcher auf dem Gebiete der
Veden, in ſeinem engliſchen Werke über die alte Sanskrit¬
litteratur ausgedrückt hat? Der Inder hat ſein Auge nur für
die jenſeitige Welt offen; die ſichtbare iſt ihm eine nichtige,
die unſichtbare die allein gewiſſe. Alles Einzelleben hat für
ihn nur Werth, ſo weit es an dem göttlichen Sein Antheil
hat. Darum iſt er gleichgültig gegen Freude und Leid des
irdiſchen Lebens, durch welches er wie ein Fremder der Ewig¬
keit zuwandert; in ſich zurückgezogen und ängſtlich befliſſen,
jede verunreinigende Gemeinſchaft mit der ſinnlichen Welt zu
vermeiden. Dem Griechen dagegen iſt die irdiſche Wirk¬
lichkeit Alles; da iſt ein energiſches Heimathsgefühl, ein
unermüdlicher Trieb, ſich in Gemeinde und Staat einzurichten
und das Leben hienieden in möglichſter Vollkommenheit dar¬
zuſtellen. Das ganze innere Leben will ſich in der Sichtbarkeit
ausdrücken, alle Stoffe werden herangezogen, um der künſtleri¬
ſchen Werkthätigkeit dienſtbar gemacht zu werden, und die ge¬
ſammte Volksgeſchichte bildet mit ihrem bunten Wechſel und
raſchen Verlaufe einen vollſtändigen Gegenſatz zu den gleich¬
förmigen Zuſtänden, in welchen die Inder Jahrhunderte träu¬
mend verlebt haben.
Dieſer Gegenſatz tritt uns am grellſten entgegen, wenn
wir die Griechen Homer's in das Auge faſſen. Da ſehen wir
tapfere, lebensfrohe Stämme, welche aus ihrer alten Heimath
verdrängt, eine neue ſich gewinnen, ein herrliches Land, wo
[222]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. ſie unter einer milderen Sonne ein neues, hoffnungsreiches
Leben beginnen. Da iſt die Gegenwart Alles, und bei dem
Glanze des äußeren Lebens tritt das ſtillere Leben des Geiſtes
zurück, wie es wohl bei Jünglingen der Fall iſt, welche ſich
zum erſten Male einer ruhmvollen Thätigkeit mit voller Seele
hingeben und von den glücklichen Erfolgen derſelben ganz in
Anſpruch genommen ſind. Da iſt die Luſt am Leben auf das
Höchſte geſteigert und jede Mahnung an das Ende deſſelben
wird ſcheu vermieden. Das Jenſeits iſt den homeriſchen
Griechen eine Welt des Grauens, Hades der Verhaßteſte der
Götter, und jammernd gehen die Seelen hinunter. Da heißt
es: Lieber Tagelöhner ſein im Lichte der Sonne, als König
bei den Schatten, die ohne Saft und Kraft ein farbloſes Da¬
ſein friſten, ein ödes Einerlei!
Die homeriſchen Gedichte ſind die Spiegelbilder der Griechen
in einer beſtimmten Zeit und unter beſtimmten örtlichen Ver¬
hältniſſen. Wer wollte es wagen, die Vorſtellungen einer
ernſteren und religiöſeren Lebensauffaſſung darum jünger zu
nennen, weil ſie ſich in dem ritterlichen Epos nicht finden, in
das ſie gar nicht hineinpaſſen? Bei Homer ſelbſt finden wir
ſchon Widerſprüche, welche deutlich genug verrathen, daß im
Bewußtſein des Volks auch andere Vorſtellungen vorhanden
waren, die ſich zurückdrängen, aber nicht beſeitigen ließen.
Dieſe ernſtere Form griechiſcher Lebensanſchauung tritt uns
zuerſt bei den Dichtern entgegen, welche in unzweifelhaftem
Zuſammenhange mit dem Heiligthume zu Delphi ſtehen, bei
Heſiod in den ihm verwandten Sängern. Da iſt nicht mehr
die fröhliche Unmittelbarkeit der homeriſchen Welt; da tritt
in ſcharfen Zügen der Schmerz über verlorenes Glück hervor,
das Gefühl des Lebensdrucks, das Bedürfniß nach Verſöhnung
mit der Gottheit, um die urſprüngliche Lebensgemeinſchaft mit
ihr wiederherzuſtellen. Die Geiſterwelt tritt in den Vorder¬
grund, das jenſeitige Leben wird in ein beſtimmtes Verhältniß
zum dieſſeitigen geſetzt; das eine entſpricht dem andern. Hades
iſt der Strafort für die, welche ſich gegen die göttlichen Ord¬
nungen aufgelehnt haben, während der Gerechten ein ewiges
[223]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. Glück wartet. Und dieſe Anſicht iſt nicht etwa eine Prieſter¬
lehre oder eine abſonderliche Theorie, ſondern ein Stück
Volksbewußtſein, ein allgemeiner Glaube, von dem Ariſtoteles
im Eudemos bezeugt, daß er ohne Unterbrechung aus ſo hohem
Alterthume ſich behauptet habe, daß es ſchlechterdings unmög¬
lich ſei, die Zeit ſeiner Entſtehung und den Urheber deſſelben
zu bezeichnen. Damit ſtimmt überein der greiſe Kephalos,
welcher in jenem lieblichen Geſpräch bei Platon das Alter
preiſt, das den Menſchen von der Herrſchaft der Sinnlichkeit
frei mache, und namentlich das Alter deſſen, welcher der Gott¬
heit und ſeinen Nächſten gegeben habe, was ihnen zukomme,
und deshalb mit reinem Gewiſſen dem Jenſeits entgegen gehen
könne, wo einem Jeden nach ſeinen Thaten vergolten werde.
Denn das ſeien die alten Ueberlieferungen, die freilich von
Vielen verlacht würden, deren Wahrheit aber — dem Einen
zum Schrecken, dem Andern zum Troſte — immer unwider¬
ſprechlicher einleuchte, je näher das Ende heranrücke. Darum
wird dies ja auch als die echt helleniſche Weisheit den Bar¬
baren gegenüber geltend gemacht, daß über Glück und Unglück
eines Menſchenlebens ſich erſt am Ende deſſelben urtheilen
laſſe. Das ganze Leben iſt nur eine Vorbereitung, und am
glücklichſten iſt derjenige, welcher mit einer That der Selbſt¬
aufopferung aus dem Leben ſcheidet. So ſchwer alſo auch
der Bann des Todes auf der alten Welt liegt, ſo finden ſich
dennoch Beiſpiele genug davon, daß die Alten, auch wenn ſie
nicht im Feuer der Schlacht, ſondern einſam und mit klarem
Bewußtſein den dunkeln Weg betreten ſollen, nicht etwa nur
mit ſtumpfer Ergebung in das Unvermeidliche, ſondern mit
hohem Muthe und freudigem Sinne in den Tod gehen, weil
ſie das Leben nicht für das höchſte Gut achten, die Schande
aber für ein größeres Uebel als das Sterben. So finden
wir, um der Euthanaſie eines Sokrates nicht zu gedenken,
auch Männer von viel geringerem ſittlichen Werthe, welche
durch einen freudigen Tod ihr ganzes Leben verklärt haben.
So trank Theramenes den Giftbecher mit großartiger Faſſung;
ſo ging Philokles, der attiſche Feldherr, der von dem tücki¬
[224]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. ſchen Lyſandros verurtheilt war, nachdem er gebadet und
Feierkleider angelegt hatte, den Seinen freudig in den Tod
voran, und was iſt rührender als das Ende der Athener, die ihrer
Stadt den Arginuſenſieg erfochten hatten! Sie werden das
Opfer eines ſchnöden Rechtsbruchs, und doch iſt ihr letztes
Gebet, daß dieſe That der Stadt keinen Unſegen bringe,
ihre letzte Bitte, daß die Opfer des Danks, welche ſie für den
Sieg gelobt hätten, von ihren Mitbürgern ausgerichtet werden
möchten. So beſiegeln ſie im Tode die Ueberzeugung, daß
Unrecht leiden beſſer ſei, als Unrecht thun, und iſt ein ſolcher
Heldenmuth denkbar, wenn er nicht auf Hoffnungen beruht,
welche über die ſichtbare Welt hinausgehen?
Aber wir brauchen nicht an einzelne Momente zu erinnern,
um die Bedeutung des Unſterblichkeitsglaubens für die Griechen
klar zu machen; wir wiſſen ja Alle, daß keinerlei Ueberlieferungen
und Geſetze bei ihnen ſo heilig waren, wie diejenigen, welche
die Ehre der Todten betrafen; daß keine Sünde ſchwerer war,
als die an einem Verſtorbenen begangene, ſei es aus Fahr¬
läſſigkeit oder böſer Abſicht, durch That oder läſterndes Wort.
Nach dem blutigſten Kampfe ſehen wir die feindlichen Par¬
teien zuſammentreten, um ſich in ſtillſchweigender Uebereinkunft
zur Beſtattung der Gebliebenen zu vereinigen. Liegt dieſem
Eifer für die Ehre der Todten nicht die Ueberzeugung zu
Grunde, daß die Geehrten nicht nur leben und zwar in einem
erhöhten, reineren und deshalb beſonderer Ehrerbietung wür¬
digen Zuſtande, ſondern daß ſie auch perſönlich dabei betheiligt
ſind, ob und wie die Liebeswerke für ſie ausgeführt werden,
und daß ihre Geſinnung auch für die Ueberlebenden nichts
Gleichgültiges ſei? Die Todten ſind keineswegs Abgeſchiedene,
im fernen Hades allen irdiſchen Beziehungen Entrückte; ſie
ſind vielmehr mit dem Volke im Ganzen ſo wie mit den ein¬
zelnen Häuſern im allernächſten und ununterbrochenen Zu¬
ſammenhange. Die Götter des Volks ſind die Götter ſeiner
Väter. Mit den Tempeldienſten iſt die Verehrung derer ver¬
bunden, welche die Tempel geſtiftet haben; ihre Gräber ſind
im Heiligthume, hier walten ſie als ſegnende Landeshüter,
[225]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. alſo ſind auch ſie, die Ahnen des Stammes, als Lebendige
gedacht; denn kein Gott iſt ein Gott der Todten, ſondern der
Lebenden. In dieſen ſeinen Ahnen fühlt das Volk durch alle
Generationen hindurch ſich eins; ihre Gräber ſind die Unter¬
pfänder eines rechtmäßigen und geheiligten Landbeſitzes; ſie
ſind die theuerſten Gegenſtände unter allen, welche zu dem
gemeinſamen Inventar der Landſchaft gehören; ſie ketten Volk
und Land an einander und die Pflicht ihrer Vertheidigung iſt
das ſtärkſte Band, welches die Glieder eines Volks zuſammen¬
hält. Auch die Scheidung der Grabſtätten und Wohnräume
iſt keine urſprüngliche, ſie iſt mehr aus polizeilichen als aus
religiöſen Geſichtspunkten hervorgegangen und war am wenigſten
dazu beſtimmt, die Todten aus der Gemeinſchaft der Lebenden
zu entfernen. Denn wie die Urväter des Staats und die
Wohlthäter deſſelben als ſegenskräftige Heroen mit ihm fort¬
leben, ſo lebt auch die Familie mit ihren hingeſchiedenen Mit¬
gliedern fort; die Ahnen wiſſen um Alles, was im Hauſe vor¬
geht; die ihnen dargebrachten Opfer dienen dazu, die Gemein¬
ſchaft immer zu erneuern und die gegenwärtigen Geſchlechter
mit der Vorzeit in Zuſammenhang zu erhalten. Die gewiſſen¬
hafte Beſorgung dieſes frommen Dienſtes iſt das Kennzeichen
eines wackern Bürgers; ſie iſt die Bedingung des öffentlichen
Vertrauens; ſie wird auch von Seiten des Staats als eine
weſentliche Vorausſetzung der öffentlichen Wohlfahrt angeſehen;
denn dieſe wird gefährdet, wenn einer der Verſtorbenen zürnt.
Darum gab es öffentliche Ahnentage, an denen alle Familien
der Stadt das Andenken ihrer Verſtorbenen feierten, und wenn
dieſes Todtenfeſt auch den Namen des Geburtsfeſtes trug, ſo
ſcheint es, als liege hier die Anſicht zu Grunde, welche die
Griechen bei den Indern wiederfanden, daß nämlich der Tod
nichts Anderes ſei als die Geburt zu einem neuen, und zu
dem wahren Leben.
Daß dieſer Gedanke auch den Griechen nicht fremd ge¬
weſen ſei, bezeugt ihre bildende Kunſt, indem ſie die hin¬
raffenden Todesgöttinnen als Nymphen darſtellt, welche die
wie Kinder geſtalteten Seelen mild umfangen und dieſelben
Curtius, Alterthum. 15[226]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. an ihrer mütterlichen Bruſt mit der Nahrung eines neuen
Lebens tränken. So zeigt ſie uns jener Grabthurm, welcher
ſich unter den Trümmern von Xanthos ſo wunderbar erhalten
hat, eines der ehrwürdigſten Denkmäler des Alterthums, ein
unſchätzbares Zeugniß des tiefen Sinnes, mit welchem die
Kunſt das Sterben darzuſtellen wußte, die heitere Kunſt der
Hellenen, wie ſie gewöhnlich genannt und dabei ſo aufgefaßt
wird, als wenn ſie Alles fern hielte, was die Tiefen des
Menſchenherzens aufregte, und nur im vollen Sonnenlichte
des Lebens ihr fröhliches Spiel triebe! Und doch iſt nach
keiner Richtung hin die bildende Kunſt der Alten erfindſamer
und thätiger geweſen, als in Beziehung auf die Todten. Ihre
Wohnſtätten waren dauerhafter und kunſtvoller, als die der
Lebenden. Für keinerlei Privatbauten finden wir einen gleichen
Eifer, ſo daß hier die Geſetzgebungen einſchreiten mußten, um
einem übermäßigen Aufwande zu ſteuern. Ein Schmuck des
Landes, zogen ſich die Gräber an den beſuchteſten Heerſtraßen
entlang, zum deutlichen Zeichen, daß man ſie dem Auge mög¬
lichſt nahe haben wollte; ſie waren von Gartenbeeten und
Sitzplätzen umgeben, von hohen Bäumen beſchattet und mit
Inſchriften ausgeſtattet, welche den ununterbrochenen Verkehr
zwiſchen Lebenden und Todten auf das Deutlichſte ausſprechen.
Denn nicht nur der Abſchiedsgruß tönt gleichſam ſichtbar dem
Verſtorbenen nach, ſondern auch dieſer ſpricht den Wanderer
an. Gruß und Gegengruß wird gewechſelt. Je tapferer und
gebildeter eine bürgerliche Gemeinde war, um ſo eifriger be¬
thätigte ſie ſich in der Aufmerkſamkeit für ihre abgeſchiedenen
Genoſſen, um einerſeits ihre Ruheſtätte ſo ſicher wie möglich
zu machen und andererſeits die Gemeinſchaft mit ihnen bildlich
zu bezeugen. So ſehen wir auf den attiſchen Denkſteinen
Gatte und Gattin Hand in Hand ihren Bund erneuen, wir
finden die Glieder der Familie in voller Zahl vereinigt; der
Verſtorbene, als der durch den Tod Verklärte, bildet nach wie
vor den Mittelpunkt des gemeinſamen Mahles; Frau und
Kinder ſind zugegen, ſowie die Diener und die Hausſchlange,
das heilige Symbol des Ortsgenius, welcher jede Cultusſtätte
[227]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. hütet. Auch die Heroenſage wird benutzt, um dem Volks¬
glauben gemäß die Hoffnungen der Menſchenſeele auszudrücken.
Namentlich dient Herakles, das Vorbild menſchlicher Kraft und
Tugend, als ein Bürge der Unſterblichkeit, und wie er, der
treue Dulder, endlich zu den Göttern erhöht iſt, ſo hoffen
auch die Menſchen nach ihren Kämpfen und Arbeiten auf ſüße
Ruhe und Kampfeslohn. Das bedeutet der ruhende Heros
auf den Grabſteinen der Griechen. Aber auch als Held er¬
ſcheint er, der die Pforten des Todes bewältigt, der den
Kerberos bindet und mit gewaltigem Arme die Alkeſtis aus
der Tiefe des Hades emporhebt, um ſie dem Gatten zurück¬
zugeben. Doch wie könnte ich auch nur in flüchtiger Andeu¬
tung die Fülle ſinnreicher Erfindung erſchöpfen wollen, mit
welcher die Kunſt der Hellenen im Tode das Leben zu bilden
gewußt hat!
Iſt es aber nur die bildende Kunſt, welche ſich dieſem,
ihr ſcheinbar ſo fremdem Gebiete mit ſolchem Eifer zugewendet
hat? Haben die Dichter etwa in näherem Anſchluſſe an Homer
dieſe Gedanken ſich ferne gehalten?
So könnte es ſcheinen, und es iſt nicht zu läugnen, daß
die Gedanken an jenſeitiges Leben zu denjenigen gehören,
welche die Hellenen in einer ſehr natürlichen Scheu und Blö¬
digkeit mehr durch die ſtumme Poeſie des Symbols, als durch
ausführliche Rede auszudrücken liebten. Indeſſen bedarf es
doch nur der Erinnerung an einige der bekannteſten Werke
der attiſchen Bühne, um zu erkennen, wie die Verſtorbenen
den Mittelpunkt dramatiſcher Entwickelungen bilden. So iſt
es ja mit Agamemnon, der in den Choephoren des Aeſchylos
als ein ſelbſtbewußtes und perſönliches Weſen herbeigerufen
wird; durch Lieder und Opferſpenden beſchworen, nähert er
ſich der Oberwelt, ein mächtiger Bundesgenoſſe ſeiner An¬
gehörigen. So iſt auch Oedipus, der Verſtorbene, ein ſegen¬
ſpendender, das Land ſchützender Heros, und Sophokles ſtellt
uns ſein Ende nicht nur als eine Erlöſung vom Jammer der
Erde dar, ſondern auch als eine Entſühnung des fluchbeladenen
Erdenſohns, als eine Begnadigung und Verklärung ſeiner
15 *[228]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.Perſon. Endlich bewegt ſich ja auch der ganze Gedankengang
der Antigone um nichts Anderes als um die Forderungen
eines Todten. Antigone bricht das Gebot des Tyrannen; ſie
vollführt den »frommen Frevel,« weil ſie der höchſten Liebes¬
pflichten eingedenk iſt, welche kein Menſchenwort beſeitigen
kann, weil ſie weiß, daß ſie »längere Zeit den Unteren gefallen
muß, als den Oberen.«
Aber ſo kräftig auch in den Werken der Kunſt wie in der
Volksſitte der Griechen die Beziehung der dieſſeitigen Welt
auf die jenſeitige und der Glaube an die perſönliche Fort¬
dauer der Menſchenſeele uns entgegentritt, ſo einflußreich der¬
ſelbe war, um die Stadt- und Staatsgemeinſchaft ſo wie die
Familie in ihren wechſelnden Generationen zuſammenzuhalten,
ſo war dem Bedürfniſſe der Hellenen doch noch nicht Genüge
geſchehen. Die Geiſterwelt trat dennoch im Geräuſche des
täglichen Lebens ſo wie in dem öffentlichen Gottesdienſte zu
ſehr zurück; die überlieferten Sagen, denen der wackere Ke¬
phalos traute, waren zu unbeſtimmt und unverbürgt; ſie
wurden auch immer mehr verachtet, je mehr die Sophiſtik
mit ihrer dünkelhaften Scheinbildung den Glauben der Väter
erſchütterte und zu einem troſtloſen Materialismus führte.
Denn wenn man wie Kritias im Blute die Menſchenſeele
ſuchte, ſo konnte freilich von keinem Fortleben des Verſtorbenen
die Rede ſein. Darum führte die quälende Ungewißheit über
das Schickſal der Seele und die unſtillbare Sehnſucht nach
unvergänglichem Weſen dahin, daß neben der Volksreligion
beſondere Anſtalten ſich bildeten, um dem Bedürfniſſe vollerer
Befriedigung zu genügen. Es waren Heilsanſtalten, welche
die Lücken der öffentlichen Religion ergänzten. Darum war
aber das, was ſie darboten, nicht etwas willkürlich Erfundenes,
von Philoſophen Erdachtes und außerhalb jedes Zuſammen¬
hanges mit der Götterwelt Stehendes, ſondern es knüpfte ſich
an die vom ganzen Volke verehrten Gottheiten an, an die
älteſten und ehrwürdigſten Göttinnen, welche vorzugsweiſe
von den ackerbauenden Stämmen angerufen wurden und des¬
halb im ritterlichen Epos Homer's zurücktreten. In ihrem
[229]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. Dienſte, welcher den gleichförmigen Kreislauf der Jahres¬
geſchäfte begleitete, entwickelte ſich die Vorſtellung, daß das
in den Schoß der Erde verſenkte Samenkorn in ſeinem Auf¬
keimen ein Bild der aus dem Grabesdunkel zum Leben er¬
wachenden Seele ſei. Dieſer einfache Gedanke wurde in einem
engeren prieſterlichen Kreiſe gepflegt, er wurde vertieft und
erweitert und ſo denen, welche Verlangen darnach trugen, als
eine der großen Menge verhüllte Wahrheit feierlich mitgetheilt,
nachdem ſie ſich durch Gelöbniſſe und Reinigungen dazu vor¬
bereitet hatten; geheimnißvolle Handlungen, welche die Ge¬
müther mächtig zu ergreifen geeignet waren, dienten dazu,
den Inhalt jener Mittheilungen zu etwas Selbſtgeſchautem
und Selbſterlebtem zu machen. Obgleich nun dieſe Geheim¬
dienſte oder Myſterien in einem gewiſſen Gegenſatze zur öffent¬
lichen Religion ſich ausgebildet hatten, ſo machten ſie ſich doch
als eine ſo weſentliche Ergänzung derſelben geltend, daß auch
der Staat, namentlich der attiſche Staat, in deſſen Bereiche
dieſe Myſterienlehren ihre reichſte Entwickelung erhalten hatten,
ſie als einen unentbehrlichen Theil des Cultus anerkannte,
deſſen Schutz und Pflege ſeine beſondere Aufmerkſamkeit in
Anſpruch nahm. Ja, die Myſterien wurden der allerheiligſte
Theil der geſammten Staatsreligion, und während man in
Betreff der übrigen Götter- und Heroenwelt dem Scherze und
Spotte einen Spielraum geſtattete, ſo umgab die Myſterien¬
gottheiten, welche das Volk mit beſonderer Ehrfurcht ſeine
»beiden Göttinnen« nannte, eine unantaſtbare Feierlichkeit.
Die Verſündigung gegen ſie war es, welche Alkibiades ſtürzte,
und die Herſtellung der eleuſiniſchen Feier ſein glänzendſtes Ver¬
dienſt, nachdem er ſich mit ſeinen Mitbürgern ausgeſöhnt hatte.
Es waren aber dieſe Myſterien nicht etwa bloß für die
abergläubiſche und ungebildete Volksmenge von ſolcher Be¬
deutung, ſondern die hervorragendſten Geiſter des Volks
preiſen den Segen der Myſterien und danken ihnen das Beſte,
was ſie haben. Selig iſt, ſingt Pindar, wer nicht unter die
Erde geht, ohne die eleuſiniſchen Weihen geſehen zu haben;
er allein kennt des Lebens Ende und den von Gott verliehenen
[230]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.neuen Anfang deſſelben. Aeſchylos wird uns vorgeführt, wie
er zur Demeter betet, die ſeinen Geiſt aufgezogen habe, und
wie er nichts Höheres erſtrebt, als daß ſeine Kunſt ihrer
Weihen ſich würdig erweiſe. Sophokles endlich hat in ſeiner
erſten und ſeiner letzten Tragödie die Göttinnen von Eleuſis
verherrlicht, als die Spenderinnen geiſtiger Kraft und ſüßer
Tröſtung. Wie ſehr aber auch die bildende Kunſt von dieſen
Ideen befruchtet worden ſei, bezeugt am deutlichſten das Ge¬
mälde Polygnot's in Delphi, welches die Unterwelt darſtellte.
Da müſſen Alle büßen, welche die Segnungen der Myſterien
verſchmäht haben; ſie ſchöpfen ohne Ende Waſſer in durch¬
löcherte Gefäße, zum Zeichen, daß ihr ganzes Thun und Trei¬
ben auf Erden ein zweck- und zielloſes geweſen ſei; die Ein¬
geweihten aber, welche die Myſteriengeräthe im Schoße
tragen, haben darin das Unterpfand einer ſeligen Fort¬
dauer; und während die homeriſchen Helden, denen die
Gegenwart Alles war, trauernd im Schattenreiche da ſitzen,
ſind Jene mit voller Perſönlichkeit und voller Empfänglichkeit
für die ihnen verbürgten Freuden in die Unterwelt eingetreten.
Jetzt ſind die lieblichſten Wieſengründe dort, wo Homer nur
düſtere und unfruchtbare Bäume kannte; jetzt iſt auch für das
Reich des Dunkels die Sonne aufgegangen, in deren Lichte
ſich die Eingeweihten eines ungetrübten Glücks freuen. Nun
iſt das Dieſſeits eine Schattenwelt, das Jenſeits ein ewiger
Lichttag. Nun iſt der auf unvordenklicher Ueberlieferung
ruhende Sprachgebrauch, die Todten die Seligen zu nennen,
ein bewußter Glaube geworden. Nun tritt auch die Kunſt,
welche nur zurückhaltend und mit zaghafter Symbolik die Ge¬
heimniſſe des Jenſeits berührt hatte, entſchloſſener vor. Sie
wagt es, die Geſchichte der Menſchenſeele durch die Prometheus¬
ſage, die ſelige Verklärung derſelben durch Darſtellungen aus
dem Leben des Dionyſos und der Aphrodite, das Wiederſehen
der durch den Tod Getrennten durch Proteſilaos und Orpheus
auszuſprechen.
Solche umfaſſende Bedeutung haben dieſe aus dem Un¬
ſterblichkeitsverlangen hervorgegangenen Heilsanſtalten gewon¬
[231]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. nen. Die ihnen Angehörenden bilden ein Volk im Volke; ſie
ſtehen der ſich ſelbſt überlaſſenen Welt als die von der Eitel¬
keit derſelben Erlöſten, von der Todesfurcht Befreiten, als die
Begnadigten gegenüber; hier iſt alſo eine religiöſe Gemeinde,
für deren Vereine Gemeindehäuſer eingerichtet werden, wie ſie
ſonſt der helleniſche Cultus nicht kannte; hier iſt unſtreitig etwas,
was ſich dem Begriffe einer Kirche annähert, welche die Men¬
ſchen aus der Welt zu ſich ruft mit den Verheißungen einer
nur bei ihr zu findenden Befriedigung und dieſe Verheißungen
ihnen durch heilige Handlungen verbürgt. Dieſe Aehnlichkeit
zeigt ſich endlich auch darin, daß die Myſterien zwar das
nationale Leben ſtärkten, indem ſie die Verehrung der vater¬
ländiſchen Götter ihren Genoſſen einſchärften, andererſeits
aber auch über die nationalen Gränzen und Schranken hinaus¬
gingen. Denn da es ein allgemein menſchliches Intereſſe war,
welches jene Anſtalten vertraten, ſo wurde frühzeitig auch
Nichtgriechen die Aufnahme geſtattet, während die Tempel der
Landesgottheiten den Angehörigen fremder Stämme unzugäng¬
lich blieben.
Wenn alſo hier im Gegenſatze zu dem ausſchließenden
Charakter der alten Religionen eine gewiſſe Verbrüderung der
Stämme vorbereitet wurde, ſo erklärt ſich auch, wie gerade
bei dem, was die Myſterien lehrten, ein lebhafter Auſtauſch
einheimiſcher und fremder Ueberlieferungen ſtattgefunden hat,
und der Eifer, mit welchem die Griechen den Lehren anderer
Völker nachgingen, aus denen ſie ihre eignen Unſterblichkeits¬
hoffnungen ergänzen und ſtärken konnten, zeigt wiederum, wie
tief das Bedürfniß derſelben in ihrem Herzen wurzelte. Aegypten
war hier von beſonderer Bedeutung. Denn der Glaube an die
göttliche Herkunft, die unzerſtörbare Natur und die perſönliche
Verantwortlichkeit der Menſchenſeele war ein feſter Beſitz des
ägyptiſchen Volksbewußtſeins, und der tiefe Ernſt, mit welchem
die Aegypter an dieſem Glauben feſthielten, ſo wie die be¬
wunderungswürdige Energie, mit welcher ſie die Sorge für
die Todten zu einer ihrer wichtigſten Lebensaufgaben machten,
konnten ihren Eindruck auf die Griechen nicht verfehlen. Sie
[232]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten.haben ſich ſelbſt als Schüler der Aegypter auf dieſem Gebiete
bekannt. Später forſchten ſie ſorgfältig nach, bei welchen
Völkern doch wohl zuerſt die Unſterblichkeit gelehrt worden
ſei; man wollte die Urquelle des gemeinſamen Glaubens auf¬
finden, man ging auf die Chaldäer und auf die Inder zurück;
man wandte ſich endlich auch zu den Völkern des Nordens,
welche man ſonſt als Barbaren verachtete. Denn je mehr ſich
die Hellenen von ihrer eigenen Bildung überſättigt fühlten,
um ſo mehr ſingen ſie an die freien Naturvölker in ihren ge¬
ſunden Lebensverhältniſſen und ihrer einfachen Frömmigkeit
zu bewundern. Und da konnte ihnen nichts merkwürdiger ſein,
als daß ſie den Unſterblichkeitsglauben, welchen ſie als einen
beſonderen Schatz der weiſeſten Schriftvölker angeſehen hatten,
in der Ueberlieferung einfacher Naturvölker wiederfanden. Ein
ſolches Volk waren die Geten in Thracien, von denen unſere
Betrachtung ausging, ein Volk, welches auch den Römern von
ihren Dichtern als ein Vorbild hingeſtellt wurde. Sie lebten
und ſtarben für den Glauben, daß die Seelen der Tapferen
zu dem Gotte ihrer Väter verſammelt würden, wie die der
nordiſchen Völker zu Odinn heimfahren. Dieſelbe Vor¬
ſtellung findet ſich auch in den Veden, und wenn ſich auch ſonſt
von den Geten nachweiſen läßt, daß ſie mit den Indern ganz
beſtimmte Gebräuche theilen, wie z. B. das Opfern der Frau
auf dem Grabe des Gatten, ſo dürfen wir wohl nicht zweifeln,
daß auch ihr Unſterblichkeitsglaube zu jenem Erbtheile gehört,
welches ſie aus dem gemeinſamen Vaterhauſe mitgebracht und
vor allen anderen mit beſonderer Treue gehütet haben.
Zu einem ſolchen Aufbewahren des Ueberlieferten war ein
Volk wie das der Hellenen nicht gemacht; ſie haben bei ihrem
vielbewegten Geiſtesleben und der Unruhe ihrer geſchichtlichen
Entwickelung den gemeinſamen Glauben mehr als die ver¬
wandten Völker ſich entſchwinden laſſen, aber ſie haben doch
nicht ohne ihn leben können; ſie haben ihn aus eigenen und
fremden Ueberlieferungen immer wieder hervorgeſucht, ſie haben
ihn, wie wir geſehen haben, für ihr geſamtes Volksleben
verwerthet, für die Befeſtigung von Staat und Familie, für
[233]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. die Erweiterung und Vertiefung ihres religiöſen Bewußtſeins
und für die Befruchtung ihrer Kunſt, der bildenden Kunſt ſo
wohl wie der Poeſie; ſie haben endlich mit der ihnen eigenen
Denkkraft den Inhalt dieſes Glaubens auch wiſſenſchaftlich zu
ergreifen und als den Beſtandtheil einer in ſich zuſammen¬
hängenden Weisheitslehre ſich zu einem feſten geiſtigen Beſitz¬
thume zu machen geſucht.
In Ionien, wo die homeriſchen Vorſtellungen zu Hauſe
waren, lernte man Leib und Seele unterſcheiden, aber nur
zaghaft löſte man das Geiſtige vom Stofflichen, weil die im
Sinnlichen befangenen Ionier ſich ſchwer entwöhnen konnten,
im Sichtbaren die Wirklichkeit zu erkennen. Anaxagoras fand
den Geiſt, aber nicht als einen perſönlichen, und darum konnte
er dem Unſterblichkeitsbedürfniſſe keine Bürgſchaften geben. An
der entgegengeſetzten Seite der griechiſchen Welt, im griechi¬
ſchen Italien, entwickelte ſich zuerſt eine Philoſophie, welche
den Gegenſatz homeriſcher Lebensanſchauung zu voller Geltung
brachte. Denn während bei Homer das wahre Ich des Men¬
ſchen der Leib und der leibhafte Menſch allein die volle Per¬
ſönlichkeit iſt, ſo faßten die Pythagoreer im Anſchluſſe an die
Myſterien die Seele als das Weſentliche im Menſchen auf,
als die ſich ſelbſt bewegende und frei beſtimmende Einheit;
der Körper iſt ihr nicht nur ein Fremdes, ſondern auch eine
Feſſel, eine Kerkerhöhle, ein Grab; das dieſſeitige Leben iſt
ein Leben im Grabe, das jenſeitige das wahre Sein in Licht
und Freiheit.
Von den Anregungen der ioniſchen und italiſchen Philoſophie
befruchtet, wurde Athen der Boden, auf welchem auch dieſer
Zweig der Erkenntniß zu ſeiner Blüthe gelangte und Früchte
trug, an denen auch unſer Glaube ſich ſtärken und nähren
kann. Sokrates ſchöpfte nicht, wie etwa die Pythagoreer, aus
den Lehren auswärtiger Weisheit; er hielt an den Thatſachen
ſeines ſittlichen Bewußtſeins feſt, in denen er ſich mit der Volks¬
religion im Einklange fühlte. Ueberzeugt von der Fortdauer
der Menſchenſeele in einem durch ihr irdiſches Verhalten be¬
dingten Zuſtande, ging er aus freiem Entſchluſſe und mit
[234]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. heiterem Gemüthe dem Tode entgegen, ein Held des Glaubens
und der ſittlichen Zuverſicht zu dem, was er, nach Wahrheit
ſuchend, als Wahrheit gefunden hatte; auch darin ein echter
Grieche, daß er bei aller Sicherheit ſeiner Hoffnung doch nur
ſehr behutſam und mit größter Zurückhaltung über die Zukunft
der Seele ſich äußerte. Seinem Schüler war es vorbehalten,
den Glauben, in welchem Sokrates geſtorben war, philoſophiſch
zu begründen. Es kann der ſittlich Handelnde ſo wenig wie
der philoſophiſch Denkende ohne eine Ewigkeit auskommen;
es muß alſo zur Beruhigung des Menſchen — denn in Jedem
wohnt, wie Platon ſagt, ein furchtſames Kind, welchem bange
iſt um die dunkle Zukunft, als könne in ihr Seele und Be¬
wußtſein verloren gehen —, es muß nicht nur geahnt, gehofft
und geglaubt, ſondern auch erkannt, gewußt und gegen alle
Einwendungen feſtgeſtellt werden, daß der Menſch ſein Ziel
über dieſer Welt habe. Platon's Phädon iſt gleichſam der
Schlußakkord, in welchem das durch vielerlei Widerſprüche hin¬
durch gehende Ringen des helleniſchen Geiſtes nach Unſterblich¬
keit harmoniſch ausklingt; hier findet man das volksthümliche
Bewußtſein, Religion und Myſterienlehre ſo wie das Er¬
gebniß wiſſenſchaftlicher Forſchung vereinigt; das Bedürfniß
des Herzens wird als eine Forderung des denkenden Geiſtes
nachgewieſen; es iſt ein Hymnus auf die Unſterblichkeit der
Seele und zugleich ein Meiſterwerk dialektiſcher Kunſt, welche
zu dem zurückführt, was in kindlicher Einfalt die Ahnen der
indogermaniſchen Völker geglaubt und bekannt haben.
Wir gingen vom Unterſchiede zwiſchen Indern und Hel¬
lenen aus. Wir überzeugten uns, wie mächtig auch bei den
Hellenen auf den verſchiedenſten Stufen ihrer Entwickelung und
in den verſchiedenſten Kreiſen ihres Volkslebens der Unſterb¬
lichkeitsglaube geweſen iſt, wie Gott auch ihnen die Ewigkeit
ins Herz gelegt hat und wie ſich auch in der Auffaſſung und
Geſtaltung dieſer Idee ihr hochbegabter Sinn bewährt hat.
Mancherlei iſt uns entgegengetreten, was an die Ueberliefe¬
rungen unſerer eigenen Religion erinnern mußte, und gewiß
iſt Niemand unter uns, welchem ausgeſprochene oder ange¬
[235]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. deutete Vergleiche dieſer Art als eine Profanation erſcheinen
könnten. Denn das iſt ja ein herrliches Zeugniß für die
Offenbarung, daß alles wahrhaft Menſchliche in ihr ſeine
Erfüllung findet, und das iſt doch eine der würdigſten Auf¬
gaben der Wiſſenſchaft, dieſen großen Zuſammenhang des echt
Menſchlichen und darum ewig Gültigen in den Völkern aller
Zeiten nachzuweiſen; das iſt die Aufgabe der wahren Philo¬
logie, welche Niebuhr eine Vermittlerin der Ewigkeit nannte.
Der hohe Glaube, welcher Plato begeiſterte, trägt und
hebt ja auch uns, und zwar nicht nur in einzelnen, feierlichen
Momenten, ſondern unausgeſetzt und mitten in unſern täg¬
lichen Arbeiten; ohne ihn wären wir nichts als armſelige
Tagelöhner, durch ihn erhält Alles, was wir beginnen, Be¬
deutung und Zuſammenhang. Denn daß die Anſchauung eines
jenſeitigen Lebens nicht zur Geringſchätzung des irdiſchen Da¬
ſeins und zu einer Verabſäumung ſeiner Aufgaben führe, er¬
kennen wir an demſelben Volke, das wir heute in ſeinem Ver¬
hältniſſe zur Unſterblichkeitslehre betrachtet haben. Freilich
galt bei den Griechen der uralte Wahrſpruch, daß nicht ge¬
boren zu ſein das allerbeſte Loos wäre; freilich kamen auch
bei ihnen Leute vor, welche, wie der Sophiſt Antiphon ſagt,
das gegenwärtige Leben nicht leben, ſondern mit allem Eifer
auf ein zukünftiges ſich vorbereiten, ſo daß ihnen die Zeit
unterdeß ungenutzt verſtreiche. Aber aus dieſen Lebens¬
anſchauungen tritt uns nur wieder aufs Neue entgegen, wie
deutlich die Hellenen ſich deſſen bewußt waren, daß die Menſchen¬
ſeele zu einem höheren, freieren und ihrem Weſen entſprechen¬
deren Daſein berufen ſei. Sonſt haben ſie von allen Völkern
der Erde am wenigſten in trüber Melancholie das irdiſche
Daſein verabſäumt, und daß ihr Unſterblichkeitsglaube die
Energie des Handelns nicht lähmte, beweiſt Niemand beſſer,
als Sokrates. Denn wer war bis zum letzten Athemzuge
treuer als er den Geſetzen des Staats und eifriger für ſeine
Freunde? Auch die Pythagoreer führte ihre Seelenlehre keines¬
wegs zu einer melancholiſchen Auffaſſung des Menſchenlebens;
ſie wurden nicht zu Träumern und Schwärmern, welche etwa
[236]Die Idee der Unſterblichkeit bei den Alten. nach Weiſe der Inder nur darnach trachteten, ſich mit ihrem
Bewußtſein ganz in die göttliche Weltſeele zu verſenken, ſondern
gerade bei ihnen finden wir die ernſteſte Sittenlehre und das
kräftigſte Streben nach Verwirklichung eines vollkommenen
Staats. Jene Thraker endlich, »welche an die Unſterblichkeit
der Seele glaubten«, waren die Tapferſten von allen Stamm¬
genoſſen, als es galt, ihre Freiheit zu vertheidigen.
Es ſoll ja auch das dieſſeitige Leben zu dem jenſeitigen
nicht im Gegenſatze ſtehen, ſondern ſchon dieſſeits ein wahr¬
haft geiſtiges, d. h. ewiges ſein. Sokrates freute ſich auf
den Tod, weil er ihn erlöſen würde von dem, was ihn in
ſeinen Betrachtungen ſtörte; ſein eigenſtes Leben wollte er
alſo nur fortſetzen unter günſtigeren Verhältniſſen und in
höherem Luftkreiſe die Flügel der Seele, die hier gebundenen,
entfalten. So ſoll bei uns Allen die Luft der Ewigkeit in
die Enge des täglichen Geſchäftslebens eindringen, und bei
welchem Lebensberufe ſoll dies mehr der Fall ſein, als bei
dem, welcher, wie der ſokratiſche, der Erforſchung der Wahrheit
zugewendet iſt? Die Beziehung auf das Ewige iſt es, welche
uns Kraft der Ausdauer und Selbſtverläugnung giebt; ſie
lehrt uns in der Wiſſenſchaft das Weſentliche vom Unweſent¬
lichen unterſcheiden und bewahrt uns dadurch vor der Krankheit
einer dünkelhaften und geſchmackloſen Vielwiſſerei; ſie macht
die Erkenntniß zur Tugend und die Forſchung zu einem
Gottesdienſte. Die wahre Wiſſenſchaft iſt nur in der Sphäre
des Unendlichen zu begreifen. Sie ſtellt uns in die Gemein¬
ſchaft mit den vergangenen Generationen, deren Gedanken
uns immer klarer entgegenleuchten, ſie verlangt, daß wir den
kommenden Geſchlechtern vorarbeiten. Alſo auch ſo ſtehen wir
auf jedem Punkte inmitten eines ewigen Lebens. Die Menſchen¬
geſchlechter eilen vorüber; eines reicht dem anderen die Fackel
der Erkenntniß. Thun wir das Unſrige, daß ſie hell leuchtend
in die Hände unſerer Nachkommen gelange!
XIV.
Der Gruß.
Auch dem begabten Redner würde bange ſein, wenn er
beim Betreten dieſes Platzes ſich ſagen müßte, daß er durch
ſeine Worte der heutigen Feier Bedeutung und Inhalt zu
geben berufen ſei. Aber nicht das Reden und Redenhören
iſt die Hauptſache, ſondern unſer Zuſammenſein, und die
Weihe des Feſtes liegt darin, daß wir uns in voller Zahl
hier bei einander ſehen, daß wir den Staub des Alltagslebens
von den Füßen geſchüttelt haben, daß wir, der Sorgen und
Mühen ledig, mit freiem Geiſte in gehobener Stimmung, von
denſelben Gefühlen dankbarer Freude tief und lebendig durch¬
drungen, in dieſen ehrwürdigen Räumen zuſammen ſind, um
die Wiederkehr des vaterländiſchen Feſttags zu begrüßen, und
ich erkenne meine ſchöne Aufgabe darin, daß ich nicht Neues
zu erſinnen und Fernliegendes heranzuziehen habe, ſondern
Ihre Empfindungen auszuſprechen und der Träger des Grußes
zu ſein, welchen wir dem geliebten Könige zu Seinem Geburts¬
tage darbringen.
Wohl iſt ſcheinbar nichts geringfügiger, nichts äußerlicher
und flüchtiger als ein Gruß. Nichts wird im täglichen Leben
weniger geachtet, gedankenloſer hingeſprochen, gleichgültiger
überhört — und doch, davon ſind wir heute Alle überzeugt,
[238]Der Gruß.doch iſt der menſchliche Gruß keine leere Form; er iſt nicht
bloß eine Sache des Anſtandes oder der guten Gewohnheit.
Jeder von uns iſt ſich bewußt, wie er oft ſchon aus dem
erſten Gruße einen ſehr beſtimmten Eindruck von dem Cha¬
rakter eines Mannes erhalten hat; im Gruße geben die Men¬
ſchen am unverhohlenſten zu erkennen, was ſie von ſich und
Anderen denken. Ja, es iſt der Gruß etwas mit dem geiſtigen
Leben ſo Verwachſenes, daß man nach der Art des Grußes
die verſchiedenen Zeitalter und Völker der Geſchichte unter¬
ſcheiden kann.
Ich denke, es liegt uns am Tage des Feſtgrußes nicht
fern, dieſem Gedanken nachzugehen.
Als Herodot durch die Städte Aegyptens ging, fiel ihm
Eins beſonders auf, worin ſich die dortige Bevölkerung von
allen Hellenen unterſchied. Er vernahm keinen freundlichen
Gruß auf der Straße, ſondern ſtumm und ernſt gingen die
Menſchen an einander vorüber, indem Einer vor dem Andern
den Arm zum Knie hinunterſenkte. Es war ein Zeichen der
Unterwürfigkeit, durch welches der Niedrigere dem Vorneh¬
meren ſeine Huldigung darbrachte.
Herodot's Wahrnehmung führt uns auf einen der weſent¬
lichſten Gegenſätze der Menſchengeſchichte.
Bei den Völkern des Orients trat das Menſchliche vor
dem Amtlichen, das Innere und Weſentliche vor dem Zufälli¬
gen und Aeußerlichen zurück. Der Abſtand in Rang und
Beſitz, der Unterſchied zwiſchen Vornehmen und Geringen und
namentlich zwiſchen Fürſt und Unterthan war ein ſo durch¬
greifender, daß der Werth der Perſönlichkeit ganz aufgehoben
wurde. Mit der Stirn am Boden mußte man den Großherrn
verehren, wie ein Weſen höherer Art, wie eine Gottheit, zu
welcher man nicht würdig ſei die Augen aufzuſchlagen.
Als Konon am Perſerhofe verhandelte, zog er es deshalb
vor, auf die angebotene Audienz zu verzichten; denn wenn er
ſelbſt, der längere Zeit unter den Orientalen gelebt hatte, auch
perſönlich bereit war, die landesübliche Huldigung darzu¬
bringen, glaubte er es doch als Athener vor ſeiner Vater¬
[239]Der Gruß. ſtadt nicht verantworten zu können, wenn er den knechtiſchen
Gruß leiſtete.
Die Griechen haben ſich auch in dieſem Punkte nicht auf
einmal vom Orient und ſeinen Sitten frei gemacht. Dachte
man ſich doch das alte homeriſche Königthum noch mit üppiger
Pracht umkleidet und ließ Agamemnon auf Purpurteppichen
in ſeinen Palaſt ſchreiten. Erſt allmählich ſonderten ſich die
beiden Welten und im Gegenſatze zu dem überſchwänglichen
Weſen des Orients trat auf allen Gebieten des öffentlichen
und häuslichen Lebens das Einfache, Maßvolle und Vernünf¬
tige ein, wodurch ſich das Helleniſche vom Barbariſchen unter¬
ſcheidet. So auch im Gruß, und bei keinem Volke hat ein
ſchlichter Gruß als nationales Symbol und charakteriſtiſches
Kennzeichen des Volks ſich ſo glücklich ausgebildet und feſtge¬
ſtellt, wie bei den Hellenen.
Grüße dieſer Art ſind unüberſetzbar. Das fühlen wir
gleich, wenn am Eingange von Briefen ein »Freude zuvor«
die Stelle des »Chaire« vertritt, deſſen leichte Anmuth, der
Charis verwandt, in fremder Zunge unerreichbar iſt.
Und was iſt der Sinn des Spruchs? Nicht Sinnenluſt
und üppiger Genuß, ſondern harmloſe Freude an allem Guten
und Schönen, womit die Götter die Menſchen geſegnet haben,
dankbares Wohlbehagen an der Welt, in welcher das Volk
ſich glücklich fühlte.
Darum iſt das »Freue dich« der Wahlſpruch, mit dem
es ganz verwachſen iſt, die von allen beſonderen Anläſſen un¬
abhängige, allgemeine Anſprache, der fröhliche Wechſelgruß
auf Straßen und Plätzen, der lebendige Ausdruck einer hei¬
teren Lebensgemeinſchaft, wie ihn Herodot in den Städten
des Orients vermißte. Denn wo Despotie und kaſtenmäßige
Scheidung der Stände herrſcht, muß trüber Ernſt, Mißtrauen
und Furcht wie eine ſchwere Wolke auf dem Leben laſten.
Die Griechen ſind die Erſten geweſen, welche Freundſchaft
und brüderlichen Sinn als die Grundbedingung jedes Gemein¬
weſens erkannt haben. Daraus ergiebt ſich die Theilnahme
an des Nächſten Wohlergehen, das Bewußtſein einer familien¬
[240]Der Gruß. haften Zuſammengehörigkeit, die gemeinſame Freude an dem
unter göttlichem Schutz gedeihenden Staate.
Darum galt dieſelbe Anſprache für Götter und Menſchen,
für Hohe und Niedrige, für Nahe und Ferne, für Lebende
und Todte, in Krieg und Frieden, beim Kommen und Gehen.
Es war der freudige Zuruf, mit dem man beim Mahle
nach der Sättigung mit Speiſe ſich zum Wechſelgeſpräche wen¬
dete. Es war der ſchriftliche Gruß im Briefe, mit dem man
ſeit dem glorreichen Tage von Sphakteria auch die Staats¬
depeſchen eröffnete. Mit dem Freudengruß auf der Lippe ſank
der Bote nieder, welcher die Kunde des marathoniſchen Siegs
nach Athen brachte.
Auch das Lebloſe beſeelte und belebte man durch Sinn¬
ſprüche und Grüße; Becher und Geräthe, Pforten der Häuſer
und Städte, Hermen, Brunnen, Quellorte, Ruheplätze, Weg¬
weiſer. Denn auch der Wanderer ſollte ſich auf einſamem
Wege nicht verlaſſen fühlen, ſondern eine freundliche Anſprache
finden, ein Willkommen, eine wohlthuende Kundgebung leut¬
ſeliger und gaſtfreundlicher Geſinnung.
Vor Allem aber ſtattete man die Gräber mit Grüßen aus,
weil man die Abgeſchiedenen nicht in dem gewohnten Kreiſe
bürgerlicher Gemeinſchaft miſſen wollte, und ihnen galt der¬
ſelbe Gruß, welcher die Lebenden unter einander verband. Er
wird auf Stein geſchrieben wie ein Nachruf, welcher dem Vor¬
übergehenden in den Mund gelegt wird, und ſo werden die
Gräberſtraßen zu Wohnplätzen der Verſtorbenen, welche mit
den überlebenden Geſchlechtern in ſtetigem Verkehr bleiben.
Wir ſehen, welche Bedeutung das feinſinnige Volk der
Hellenen dem Gruße gegeben hat, wie kennzeichnend derſelbe
für ihr ſittliches und bürgerliches Verhalten geweſen iſt.
Lange Zeit haben ſie ihren Wahlſpruch feſtgehalten und
mit ihm die ſchöne Harmonie des Lebens, deren Ausdruck er
war. Mit bewundernswürdiger Energie haben ſie das Un¬
günſtige fern zu halten, die Mißklänge zu überwinden und im
Schönen zu leben verſtanden. Als aber die Harmonie zerriß,
verlor auch der Gruß der Freude ſeine nationale Bedeutung.
Um die Zeit, da die Sophiſtik aufkam und die Unmittel¬
barkeit des Lebens zerſtörte, fing das Chaire an altmodiſch
zu werden und die Modernen ſagten: »Aspazomai«, ich
grüße dich.
Die Philoſophen, welche ſich vom Volke trennten und
Sondergemeinden bildeten, brachten eigene Grußformeln auf.
Man ſuchte inhaltreichere Anſprachen, die zugleich als Wahr¬
zeichen dienen konnten, und wollte nicht mehr für Götter und
für Menſchen denſelben Gruß. Platon wählte als ein beſſeres
Symbol für das Wohlverhalten an Leib und Seele das »eu
prattein«, und ſo verſchiedenartige Schulen, wie die der Pytha¬
goreer und der Epikureer, begegneten ſich darin, die Geſund¬
heit (die innere wie die äußere meinten ſie damit) als höchſtes
Gut und Inhalt ihrer Glückwünſche feſtzuſtellen.
Zur alten Sicherheit des nationalen Grußes iſt man nie
wieder zurückgekommen: ja, das Grundprincip deſſelben, wo¬
durch ſich die Hellenen von den Barbaren losgemacht hatten,
wurde verläugnet. Zuerſt durch einen Mann aus Herakliden¬
ſtamme, einen Feldherrn Sparta's, welcher ein Eiferer für
altſpartaniſche Zucht geweſen war, durch Lyſander, der auf
dem ſchlüpfrigen Boden Aſiens zu Fall kam, den erſten unter
allen Hellenen, welcher ſich Altäre anzünden und in Hymnen
begrüßen ließ.
Das zweite Opfer war Alexander. Er hörte auf Hellene
zu ſein, als ſein freier Geiſt von der Luft des Orients um¬
düſtert wurde, als er den knechtiſchen Gruß, die fußfällige
Huldigung erſt geſtattete und dann forderte. Helleniſcher Frei¬
muth machte die letzten Anſtrengungen, den nationalen Gruß
ihm gegenüber zu retten und ſein gottesläſterliches Anſinnen
zurückzuweiſen. Umſonſt. Der Zögling des Ariſtoteles wollte
ſich zu einem Götzen erniedrigen und die Geſandtſchaften,
welche ihn im Namen von Hellas begrüßten, zogen nun be¬
kränzt hinüber, wie Proceſſionen.
Als die bürgerlichen und ſittlichen Ordnungen von Hellas
aus den Fugen gingen und damit auch der althelleniſche Volks¬
gruß aufhörte eine Wahrheit zu ſein, wurde er eine Sache
Curtius, Alterthum. 16[242]Der Gruß. wechſelnder Modelaune und ein Gegenſtand ſophiſtiſcher Spie¬
lerei. Lucian hat eine eigene Schrift verfaßt, um ſich darüber
zu rechtfertigen, daß er einmal am Morgen anſtatt des üblichen
Chaire »gute Geſundheit« gewünſcht hatte.
Der Römergruß war von Anfang an ernſter und prak¬
tiſcher. Er ging nicht, wie der griechiſche, auf die Blüthe
des Daſeins, der Freude Glanz, ſondern auf die Grundbedin¬
gung alles Lebens und Wirkens, auf männliche Kraft und
Geſundheit.
Wie bei den Griechen, ſo waren auch die Römergrüße,
das Salve und Vale, urſprünglich nicht an beſtimmte Anläſſe
gebunden; auch ſie wurden ſowohl an Götter gerichtet als
an Abgeſchiedene; auch ſie verbanden, ſo lange die alte Sitte
beſtand, alle Stände des Volks gleichmäßig unter einander.
Die Römer waren förmlicher als die Griechen, umſtänd¬
licher und mehr Freunde des Amtlichen und Feierlichen.
Die Unterſchiede wurden ſchärfer hervorgehoben. Ihr
Ave iſt ſchon ein Gruß, in welchem ein Gunſtſuchen enthalten
iſt, und der deshalb dem Verhältniß des Clienten zum Patrone
beſonders entſprechend gefunden wurde.
Schon die republikaniſchen Staatsmänner legten hohen
Werth darauf, feierlich gegrüßt zu werden; ſie erkannten darin
einen Maßſtab ihrer Popularität und betrachteten das Wech¬
ſeln der Grüße auf Straßen und Plätzen als eine Sache von
öffentlicher Wichtigkeit.
Es war aber eine häßliche Nachäffung bürgerlicher Gleich¬
heit und Leutſeligkeit, wenn die vornehmen Herren, von
ihrem Nomenclator begleitet, die Begegnenden mit ihren
Namen begrüßten, ihnen bieder die Hand ſchüttelten und zarte
Verbindlichkeiten zuriefen, während ihnen die Leute im Grunde
vollkommen gleichgültig oder verächtlich waren.
Wenn hier ſchon in republikaniſcher Zeit viel Gemachtes
und Unwahres vorkam, ſo nahm dies in raſcher Steigerung
zu, als alle üblichen Begrüßungen auszeichnender Art, Zuruf
von Ehrennamen, Empfang mit Tücherſchwenken und Glück¬
wünſche, in ſolenner Wiederholung taktmäßig eingeübt, auf
[243]Der Gruß.eine Familie übertragen wurden, welche ſich, wie das make¬
doniſche Haus unter der griechiſch redenden Menſchheit, über
dem Römervolk in einſamer Größe erhob.
Eine Zeitlang offenbarte ſich der ſchwankende, unklare
Zuſtand des öffentlichen Rechts im Gruße. Rangklaſſen bildeten
ſich, je nachdem man in der erſten oder in der zweiten Gruppe
von Vertrauten zur Begrüßung des Staatsoberhaupts zuge¬
laſſen wurde. Die Begrüßung ſelbſt verlor ihre Einfachheit
und Würde. Clienten ſah man vor ihren Herren, Bürger
vor dem Fürſten auf den Knieen. Bilder lebender Menſchen
wurden angebetet. Alles Maßloſe des orientaliſchen Unweſens
brach herein, da die geſunde Kraft ausging, welche nöthig iſt
Maß zu halten und vergiftende Anſteckung abzuwehren.
In ausländiſchen Purpur wurden die neuen Götter ge¬
kleidet; immer geſchmackloſere und pomphaftere Grußformeln
wurden erſonnen, um ſich ſelbſt zu erniedrigen und den Macht¬
haber zu erhöhen. Gedankenloſe Acclamationen wurden in
langen Reihen wiederholt und die Zahl der Wiederholungen
in amtlichen Protocollen römiſcher Senatsverhandlungen ſorg¬
fältig verzeichnet.
So ſind die beiden Brudervölker, die Völker des Geſetzes
und der Freiheit, nach Erſchöpfung ihrer ſittlichen Kraft der
Unfreiheit des Orients wieder anheim gefallen und die Ge¬
ſchichte zeigt uns, wie ich denke, deutlich genug, wie dieſe
innere Umwandlung bei Griechen und Römern in der Sitte
des Grußes ſich zu erkennen giebt.
Innerhalb des Orients hatte ſich aber ein Volk von dem
Verderben frei gehalten, welches darin ſeine Wurzel hatte, daß
man ſterbliche Menſchen wie Götter grüßte, das Volk, welches
den lebendigen Gott als ſeinen Gott verehrte, und dies ihm
eigenthümliche Verhältniß mußte auch auf die Art, wie es
ſeine Grüße und Glückwünſche ausdrückte, beſtimmend einwirken.
Bei dem Volke der Theokratie mußte alles Heil von oben
kommen. Hier können wir auch die Form des Zuſpruchs, in
welchem die klaſſiſchen Völker ihr keckes Selbſtgefühl aus¬
ſprachen, die imperativiſche Form: »Sei froh, ſei geſund!«
16 *[244]Der Gruß.nicht erwarten; hier iſt Gott der Gruß, Jehova der Segen¬
ſpender.
Aber auch der Inhalt des Grußes iſt ein anderer, und
es tritt uns hier zuerſt der Spruch entgegen, der ſeitdem
nicht wieder verklungen iſt: »Friede ſei mit Dir und Deinem
Hauſe!«
Der Friedensbegriff hängt mit dem Gottesbegriffe eng
zuſammen. Das Volk Gottes wohnt auf heiligem Boden und
genießt den Tempelfrieden; Keiner darf ihm ſchaden. Inſofern
iſt der Friede nichts Anderes als volle Sicherheit und Ge¬
borgenheit, ungeſtörtes und wohlverbürgtes Wohlergehen.
Es taucht aber ſchon ein anderer Begriff auf, der ver¬
borgene Keim eines geiſtigen Sinnes, welcher über den äuße¬
ren Glücksſtand hinausgeht, der Begriff eines inneren Glücks,
welches mit dem ſittlichen Wohlverhalten verwachſen iſt.
»Großen Frieden,« heißt es, »haben, die das Geſetz Gottes lieb
haben.«
Damit iſt das ſemitiſche Volk kraft der ihm eigenthüm¬
lichen Tiefe des Gefühls und Empfänglichkeit für religiöſe
Ideen über Römer und Griechen hinausgegangen. Es hat
das Glück, welches allen menſchlichen Grüßen und Wünſchen
zu Grunde liegt, auf ſeine Quelle zurückgeführt, die Freude
des Lebens, die Kraft des Wirkens auf das normale Ver¬
hältniß der Seele zur Gottheit und die daraus entſpringende,
von allen Aeußerlichkeiten unabhängige, innere Zufriedenheit.
Dieſen Inhalt hat das Neue Teſtament aufgenommen, ent¬
faltet und verklärt; und ſo iſt der Gruß geworden, welcher
ſeitdem durch die Chriſtenheit tönt, der uns Allen theure Friede¬
gruß, in welchem das tiefſte Bedürfniß und das höchſte Gut
der Menſchenſeele erſt offenbar geworden iſt. So können wir
auch hieran erkennen, wie die wichtigſten Entwickelungsſtufen
der Menſchengeſchichte im Grüßen ſich ausgeprägt haben.
Sollen wir aber den menſchlichen Gruß nur vom geſchicht¬
lichen Standpunkte betrachten und nicht auch erwägen, was
er für unſer Leben iſt?
Was unſer Leben reich und bedeutend macht, was ihm
[245]Der Gruß. Reiz und Anmuth verleiht, ſind die Beziehungen zu anderen
Menſchen, die anregenden und belebenden Wechſelwirkungen,
in denen wir ſtehen. Jede wohlthuende Anregung unſeres
Gemüths empfinden wir wohl wie einen Gruß und nennen
ſie ſo, auch wenn kein Grüßender da iſt.
So erſcheint es uns wie ein Gruß aus dem Vaterlande,
wenn auf weiter Meeresöde die heimiſche Flagge am Horizonte
auftaucht oder in fremder Seeſtadt plötzlich ein Lied der Hei¬
math unſer Ohr berührt. Das ſind Symbole einer geiſtigen
Gemeinſchaft, es ſind geiſtige Berührungen, welche auf einmal
ganze Reihen von Empfindungen wach rufen.
Alle wahren Grüße ſind Gedanken der Liebe. Für das
materielle Leben werthlos, keimen ſie abſichtslos aus der
Tiefe des erregten Gemüths und geben Zeugniß von dem
Schatze treuer Zuneigung, welchen wir als unſern eigenſten
und edelſten Beſitz anſehen dürfen; ſie vergegenwärtigen uns
den unſichtbaren Kreis derer, mit denen wir einmal in eine
wahre Lebensgemeinſchaft eingetreten ſind.
Mit jedem Gruße wird die Schranke der Selbſtſucht, welche
ſich immer ſo leicht wieder um das Menſchenherz ſchließt,
durchbrochen; jeder wahre Gruß wird wie jedes gute Wort
unmittelbar aus einer freien Bewegung des Innern geboren.
Die Bewegung iſt aber nicht an das Wort gebunden.
Grüße ohne Worte ſind oft die wirkſamſten und innerlichſten.
Das Auge des Menſchen iſt ehrlicher als die Lippe und ein
offener Blick, ein Druck der Hand täuſcht uns ſeltener als
freundliche Rede.
Mitten im Gedränge des Lebens kann die Freundeshand,
welche wir in der unſrigen fühlen, uns von der Nähe eines
zuverläſſigen Beiſtandes lebendig überzeugen und uns mit
neuem Muthe beſeelen. Es giebt Momente, wo man das
ausführende Wort ſcheu vermeidet, aus Furcht das Zartgefühl
zu verletzen, wenn man gerne eine warme Zuſtimmung be¬
zeugen möchte. Da iſt eine ſymboliſche Handlung, ein ſtummes
Zeichen willkommen, wie der Kranz, von dem Goethe die edle
Fürſtin ſagen läßt:
[246]Der Gruß.
Es giebt endlich Momente der Begrüßung, die von ſo
ergreifender Bedeutung ſind, daß jedes Wort auf der Lippe
erſtirbt, weil es zu armſelig erſcheint. So bei jedem unver¬
hofften, langentbehrten Wiederſehen, bei jedem Abſchiede, der
uns das Herz bricht. Oder denken Sie Sich eine jener Scenen,
welche uns neuerdings durch Bilder mehrfach vergegenwärtigt
ſind, denken Sie Sich unſern König, wie Er das Lazareth durch¬
wandernd, zu einem Schwerverwundeten an das Lager tritt
und ihm die Hand reicht, um ihm im Namen des Vaterlandes
den letzten Dank darzubringen. Iſt in dem feuchten Blick, in
dem Druck der Hand nicht Alles geſagt, was in einen ſolchen
Gruß gelegt werden kann? Iſt das tief ſchmerzliche Verſtum¬
men nicht beredter als jede Anſprache?
Alles Tiefſte, was eine Menſchenſeele faſſen kann, iſt
ſeiner Natur nach unausſprechlich. Jedes Gebet iſt ein Gruß,
der nicht in Worte aufgeht; alle Religion wurzelt in der
Ueberzeugung, daß zwiſchen dem Sichtbaren und Unſichtbaren,
wo keine Worte mehr gewechſelt werden, wirkſame Lebens¬
beziehungen ſtattfinden, auf dem Glauben, daß, wie der Volks¬
mund es ausſpricht, auch Gott die Menſchen grüßt.
Gewiß ſind auch die deutſchen Grüße in vollem Maße
charakteriſtiſch. Es ſpiegelt ſich in ihnen die reiche Mannig¬
faltigkeit des nationalen Lebens nach Stämmen und Gauen,
nach Religion und Sitte, ſo daß es unmöglich iſt, in Kürze
davon zu reden. Es bezeugt ſich in ihnen das tiefe Gemüths¬
leben unſeres Volks, aber auch ſeine Neigung zur Zerſplitte¬
rung und, unſere alte Schwäche, die Unſelbſtändigkeit dem
Auslande gegenüber. Denn nur daraus erklärt es ſich, daß
in der täglichen Begrüßung, welche doch vor Allem ein na¬
tionales Gepräge zu haben pflegt, ausländiſche Formeln ſich
ſo feſt haben ſetzen können, daß ſie im Volksmunde wieder
umgemodelt worden ſind, damit ſie auf dieſe Weiſe einen wär¬
meren Ton und volksthümlicheren Klang erhalten ſollten.
Es iſt die freundliche Begrüßung eine Blüthe des menſch¬
lichen Lebens, welche nirgends fehlt, wo es ſich geſund und
frei entfaltet. Es iſt ein Zeugniß der geiſtigen Mächte, welche
im Menſchenleben wirkſam ſind, daß wir mit einem einfachen
Gruße, der aus dem Herzen kommt, ſo viel geben und ſo
viel empfangen können. Dieſes Geben und Empfangen iſt
ein Bedürfniß jedes nicht in Selbſtſucht erſtarrten Menſchen;
es iſt das geiſtige Athmen, ohne welches wir uns keine
Menſchenbruſt und keine menſchliche Gemeinſchaft in geſundem
Zuſtande denken können. Wir müßten es als die beklagens¬
wertheſte Verarmung anſehen, wenn Einer von dieſer Wechſel¬
wirkung ausgeſchloſſen wäre, wie wir ein Haus beklagen
müßten, in dem die Grüße ausgeſtorben wären. Ein finſterer
Geiſt müßte daſelbſt Wohnung gemacht haben, ein von den
Sorgen um das eigene, enge Weſen ganz belaſteter Sinn.
Je freier und froher das Herz iſt, um ſo mehr ſtrebt es
hinaus, mit Andern in Beziehung, in lebendige Fühlung zu
treten.
Wer am friſchen Morgen durch das Gefilde geht, kann
nicht ſtumm an dem vorübergehen, der deſſelben Weges kommt.
Man fühlt ſich auch dem Unbekannten nahe und geleitet ihn
an ſein Tagewerk mit freundlichem Zuſpruch.
Die Nähe der Stadt ſpürt man an den verſtummenden
Grüßen. Die Menſchen werden einander gleichgültig, die
Maſſen rennen wie die Ameiſenzüge in ſtummer Geſchäftigkeit
an einander vorüber, und nur die engſten Beziehungen werden
im Gruße ausgeſprochen, entweder die vorübergehenden, die
den Tagesgeſchäften angehören, oder die dauernden, welche
in einem gemeinſamen Berufe wurzeln und innerhalb des
wogenden Menſchentreibens engere Kreiſe bilden.
Hier erhält der Gruß eine beſondere Bedeutung.
Wir haben ſchon an den Gemeinden der alten Philoſophen
geſehen, wie ſie zum Ausdrucke ihrer engeren Gemeinſchaft
eigene Grüße eingeführt haben, welche als Erkennungszeichen
dienen ſollten. Auch bei Genoſſen praktiſcher Berufsthätigkeit
giebt es ſolche Grüße, welche die Begegnenden einander zurufen,
[248]Der Gruß. um ſich bei ihrer mühevollen, gefährlichen und vereinſamenden
Arbeit durch das Gefühl treuer Genoſſenſchaft zu ſtärken.
Ein ſolches Symbol haben wir nicht, die wir in dieſen
Räumen zuſammen wirken, ſchon deshalb nicht, weil wir uns
um keinen Preis nach Art eines Ordens von der großen
Lebensgemeinſchaft unſeres Volks abſondern möchten.
Das Bedürfniß feſter Gemeinſchaft kann aber nirgends
lebendiger ſein als bei uns, ſowohl was die Forſchung betrifft
als auch die Lehre, und bei einem Berufe, der auf lauter per¬
ſönlichen Beziehungen beruht und auf einem ſtetigen Geben und
Empfangen, da iſt der Geiſt der Offenheit, der Herzlichkeit
und des gegenſeitigen Vertrauens, wie er in Gruß und Gegen¬
gruß ſich offenbart, ein beſonders unentbehrlicher; es iſt der
gute Hausgeiſt, welcher in dieſen Räumen waltet.
Wir haben das Glück, mitten in der vollen Bewegung der
Gegenwart und doch abſeiten vom lauten Markte der Welt un¬
ſerem Berufe leben zu können, und was die anderen Menſchen,
wenn ſie bei ihrem Jagen nach Beſitz und Ehre ſich einander
im Wege ſtehen, zu entzweien geeignet iſt, hat für unſere Ge¬
meinſchaft keine Gefahr.
Die Erkenntniß iſt ein Gut, das nicht beſtimmt iſt, Sonder¬
beſitz zu ſein, ein gemeinſames Gut wie das Licht, an dem
die Menſchen ſich freuen, ohne daß Einer dem Andern im
Wege ſteht — und doch iſt das Feld der Wiſſenſchaft ein Feld
des Streits, und zwar nicht nur jenes edlen Streits, in
welchem die Kräfte wachſen und die Wahrheit zu Tage ge¬
fördert wird, ſondern auch des unedlen Streits, in welchem
der Geiſt verläugnet wird, welchen wir als den einer friedlichen
Genoſſenſchaft pflegen ſollen.
Das zeigt ſich beſonders auf dem Gebiete, wo nicht nach
mathematiſcher Methode von einer Stufe der Erkenntniß zur
anderen fortgeſchritten werden kann, ſondern wo es ſich um
philoſophiſche oder hiſtoriſche Erkenntniß handelt, um Gegen¬
ſtände, welche mit den Tagesfragen in Verbindung ſtehen, um
Ueberzeugungen, welche jedem Denkenden wichtig ſind, um
Forſchungen, wo die Wahrheit nicht mit der Richtigkeit der
[249]Der Gruß. Methode zuſammen fällt, wo nicht bloß der rechnende Ver¬
ſtand, die meſſende und wägende Prüfung, die ſcharfe Beob¬
achtung in Anſpruch genommen werden, ſondern alle Kräfte
des Geiſtes und Gemüths, wo wir das Ergebniß der For¬
ſchung, wenn es zum Ausdruck kommen ſoll, uns perſönlich
aneignen und mit unſerm Urtheilen und Empfinden durch¬
dringen müſſen. Hier iſt ein unbedingt Gültiges nicht in
gleichem Grade zu erreichen und die Wahrheit erſcheint uns
nur in dem bunten Prisma menſchlicher Individualiät.
Je lebhafter nun der Eifer der Forſchung iſt, um ſo ent¬
ſchiedener ſehen wir den Einen gegen den Andern in die
Schranken treten, und anſtatt ſich zu freuen an der Mannig¬
faltigkeit der Gaben und an der Verſchiedenheit der Stand¬
punkte, von denen die Gegenſtände angeſehen werden, ſind ſo
Viele bereit, mit herbem Widerſpruche alles von ihrer Auf¬
faſſung Abweichende zu verneinen und rückſichtslos den Stab
zu brechen über das, was ihrer Richtung widerſpricht.
Solches Verfahren zerreißt die Gemeinſamkeit, die wir
als unſer beſtes Gut anſehen ſollten. Denn das Gedeihen
der Wiſſenſchaft und die Ehre des Gelehrtenſtandes beruht
darauf, daß Alle, welche ernſthaft die Wahrheit ſuchen, nach
gegenſeitiger Verſtändigung ſtreben, und daß wir uns unaus¬
geſetzt einander neidlos fördern, ergänzen und berathen. Das
iſt der Gruß und Gegengruß auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft,
die brüderliche Genoſſenſchaft, die wechſelſeitige Handreichung
bei dem gemeinſamen Tagewerke.
Das Gefühl der Gemeinſamkeit neu zu beleben, iſt die
rechte Bedeutung eines Tages wie des heutigen; dies Gefühl
iſt das Feierkleid, in welchem wir vor unſerem Könige er¬
ſcheinen und Ihm den gemeinſamen Feſtgruß darbringen.
Mit Stolz und Freude empfinden wir heute, wie ver¬
ſchieden Sein Thron iſt von jenen Fürſtenſitzen des Morgen¬
landes, welchen ein freier Athener ſich nicht glaubte nähern zu
dürfen. Der preußiſche Thron iſt um ſo feſter gegründet, je
ferner ihm jeder falſche Cultus, jede entehrende Selbſterniedri¬
gung geblieben iſt, je mehr die für Griechen und Römer un¬
[250]Der Gruß. verſöhnlichen Gegenſätze, Königthum und Geſetz, Souveränität
und Bürgerfreiheit, Gehorſam und Liebe ſich zu einem har¬
moniſchen Ganzen verſchmolzen haben.
Heute empfinden wir in vollem Maße, welche Weihe auf
dem Gruße liegt, der aus dem Herzen kommt; denn wir
wiſſen, daß in dieſem Feſtſaale ſowie in den tauſend und
abertauſend Plätzen, wo innerhalb des Vaterlandes oder in
fernen Ländern oder auf deutſchen Seeſchiffen dieſer Tag ge¬
feiert wird, ein Gefühl, ein Gedanke, ein voller Segensgruß
die Herzen durchſtrömt. Alles iſt, einer unſichtbaren Gemeinde
gleich, um ein theures Haupt verſammelt, und dies einſtimmige
Grüßen — iſt es nicht ein Zeugniß von der Geſundheit des
Staats, eine Bürgſchaft ſeiner Größe, ein Siegel ſeiner Macht?
In dieſen, dem Gedächtniß der Zeiten geweihten Räumen
ſind wir berufen, uns alles Schöne und Gute, mit dem die
Alten uns vorangegangen ſind, alſo auch die Grüße, worin
ſie das zuſammen gefaßt haben, was einem Menſchenleben
Werth und Bedeutung verleiht, zu eigen zu machen.
So dürfen wir auch unſerm Könige den vollen Gruß der
Freude darbringen, wie ihn die Hellenen einander zuriefen,
denn die theuer erworbene Siegesfreude umſchwebt Sein Haupt,
und der freudige Dank für das im Kampf Erſtrittene; mit
dem alten Römergruße erflehen wir für Ihn die feſte Dauer
der Kraft und Stärke, welche Ihm durch Gottes Gnade bis
in das höhere Alter ſo herrlich erhalten iſt. Ihm weihen
wir endlich den Gruß des Friedens, im Sinne der äußeren
Sicherheit und Größe, welche Er dem deutſchen Vaterlande
gegeben hat, ſowie in dem höheren Sinne des inneren Frie¬
dens, welcher aus der Gerechtigkeit ſtammt und aus dem
hohen Bewußtſein, ſelbſtlos das Gute gewollt und nur für
das Vaterland gelebt zu haben.
XV.
Wort und Schrift.
Das heutige Feſt richtet unſern Blick auf die Ziele der
Wiſſenſchaft, deren gemeinſamer Dienſt das Band iſt, welches
uns zu einer geiſtigen Genoſſenſchaft vereinigt. Denn indem die
Preiſe vertheilt und die neuen Aufgaben verkündigt werden,
an denen die Jugend ihre Kräfte üben ſoll, werden auch die
Lehrer unwillkürlich an die Aufgaben erinnert, welche ſich ein
Jeder in ſeinem Fache für ſeine Forſchung ausgewählt hat.
Dieſe Aufgaben ſind aber nur ſcheinbar der Wahl des Einzelnen
anheimgegeben. Denn wie nach dem Sprichworte ein Tag den
andern lehrt, ſo ſtellt auch ein Tag dem anderen neue Fragen
und die Univerſitäten ſind vorzugsweiſe berufen, dieſelben zum
klaren Bewußtſein zu bringen. Für die geſchichtliche Forſchung
giebt es jetzt aber kaum eine Frage von allgemeinerem Intereſſe,
als die nach dem geiſtigen Zuſammenhange unter den Völkern
der alten Welt. Denn mit den großen Entdeckungen auf dem
Gebiete älteſter Menſchengeſchichte, welche unſerer Zeit vorbe¬
halten waren, iſt der Begriff des Alterthums ſelbſt ein weſent¬
lich anderer für uns geworden; wo man ſonſt von vorn an¬
fangen zu können glaubte, ſieht man ſich jetzt in der Mitte
vielſeitiger Beziehungen, welche in frühere Zeiten und ältere
Staaten zurückweiſen, und der menſchliche Geiſt kann nicht
anders, als mit ſteigender Wißbegierde dieſen neu eröffneten
Bahnen nachgehen.
Wo ſich aber ein ungeahnter Zuſammenhang aufſchließt,
da iſt der erſte Eindruck überall kein anderer, als der, daß
das Einzelne und Beſondere vor dem Gemeinſamen und
Uebereinſtimmenden zurücktritt. So iſt es in der Sprach¬
wiſſenſchaft gegangen, nachdem man den großen Zuſammen¬
hang der Völkerzungen entdeckt hatte; der Charakter der ein¬
zelnen Sprachen ſchien gänzlich zu verſchwinden, bis ſich wieder
eine neue Richtung geltend machte, welche die Beſonderheit der
verſchiedenen Sprachgruppen und das unterſcheidende Gepräge
der Einzelſprachen zu ihrem Rechte kommen ließ. So wird
auch in einem der jüngſten Zweige der Wiſſenſchaft, der ver¬
gleichenden Mythologie, nur durch Verbindung beider Rich¬
tungen die Wahrheit gefunden werden. Die wichtigſten Fragen,
welche hierher gehören, betreffen das griechiſche Volk, inſofern
ſeine Stellung zum früheren Alterthume eine Lebensfrage der
allgemeinen Bildungsgeſchichte iſt, und um ihrer genügenden
Beantwortung näher zu kommen, müſſen wir vornehmlich
einen Grundſatz feſthalten, welcher nur zu häufig außer Acht
gelaſſen wird, den Grundſatz nämlich, daß wir uns die Aus¬
breitung geiſtiger Bildung nicht wie einen Strom vorzuſtellen
haben, der mit phyſiſcher Nothwendigkeit unaufhaltſam vor¬
dringt, ſondern unſere Aufgabe vorzüglich darin erkennen, daß
wir die beſonderen Bedingungen aufſpüren, unter denen ein
Volk von dem anderen früher oder ſpäter, raſch und auf ein¬
mal oder mit zögernder Zurückhaltung, die Erfindungen, Künſte
und Wiſſenſchaften annimmt. Ein deutliches Beiſpiel giebt die
wichtigſte aller menſchlichen Erfindungen, die Schrift.
Ueber keinen Gegenſtand alter Culturgeſchichte iſt in unſerer
Zeit ſoviel neuer Stoff zugetragen worden, und alle früheren
Anſichten darüber erweiſen ſich immer ungenügender, je weiter
ſich der Ueberblick über das Schriftweſen des Alterthums er¬
öffnet. Bei den Aegyptern finden wir auf Denkmälern, welche
dem vierten Jahrtauſend vorchriſtlicher Zeit angehören, Papy¬
rusrolle und Dintenfaß unter den gewöhnlichen Geräthen des
täglichen Lebens, und nachdem die mit Schrift überſchütteten
Paläſte der alten Königsſtädte Aſiens zu Tage getreten ſind,
[253]Wort und Schrift. kommen ganze Schriftſammlungen und Bibliotheken aſſyriſcher
Fürſten zu Tage.
Die Griechen ſelbſt ſchrieben die Erfindung und Verbrei¬
tung der Schrift vorzugsweiſe den Phöniziern zu, welche als
gewinnſüchtige Handelsleute in ihr Land gekommen ſind, aber
unendlich mehr gegeben als genommen haben, indem ſie
dazu dienen mußten, die Frucht der morgenländiſchen Bildung
als neue Ausſaat auf den jungfräulichen Boden Europa's
auszuſtreuen. Wenn nun die Griechen mit dem ſchriftkundigen
Morgenlande in ſo früher und folgenreicher Verbindung ge¬
ſtanden haben, daß ſie von dort Maß und Gewicht, Seefahrt,
Sternkunde, Zeitrechnung, Gottesdienſte, Künſte und Kunſt¬
fertigkeiten aller Art ſich aneigneten, ſollten ſie, das lern¬
begierigſte Volk der Welt, die wichtigſte aller Erfindungen des
Morgenlandes nicht ſofort in ihrer ganzen Bedeutung erkannt
und mit beſonderem Eifer ſich zu eigen gemacht haben? Das
ſcheint unglaublich, und deshalb wird von Vielen ein aus¬
gedehnter Schriftgebrauch ſchon in die erſten Anfänge der
griechiſchen Cultur geſetzt. Da nun von der richtigen Beurthei¬
lung dieſer Streitfrage unſere ganze Vorſtellung von der Bil¬
dungsgeſchichte der Hellenen abhängig iſt, ſo wird es mir
vergönnt ſein, einige Geſichtspunkte geltend zu machen, welche
auf dieſe wichtige Frage bezüglich ſind.
Was bei den orientaliſchen Völkern zuerſt eine umfang¬
reichere Anwendung der Schrift veranlaßt hat, wird ſchwer
zu beſtimmen ſein; eine ihrer früheſten und wichtigſten An¬
wendungen war aber ohne Zweifel die Aufzeichnung von Ge¬
ſetzen, welche die unwandelbare Richtſchnur des Glaubens und
der Volksſitte ſein ſollten. Hier iſt die Aufzeichnung etwas
ſo Weſentliches, daß die Tafeln des Sinai geſchrieben aus
Gottes Hand an Moſe gelangen; der oberſte Geſetzgeber iſt
auch Urheber der Schrift, die eingegrabene Schrift iſt Gottes
Schrift. Aehnliches finden wir bei allen Völkern, deren Re¬
ligion auf einem Geſetze beruht. Die Aegypter hatten heilige
Bücher, die der Gott Thoth geſchrieben haben ſollte; den In¬
dern galt Brahma als Schreiber der Geſetze, die des Manu
[254]Wort und Schrift. Namen trugen; die Babylonier hatten ihre heiligen Urkunden,
die von Xiſuthrus aufgezeichneten, in Sippara, der Schrift¬
ſtadt, vergraben. Auch die Völker Irans hatten in den ge¬
ſchriebenen Lehren Zarathuſtra's einen feſten Kanon ihres reli¬
giöſen Lebens. Hierin beſteht ja aber der wichtigſte Unter¬
ſchied zwiſchen den Orientalen und den Hellenen, daß dieſe
kein von den Vätern überliefertes Geſetz hatten. Ihr Beruf
war es, frei und ledig von jedem Geſetzeszwange, in Geiſt
und Natur den Schöpfer zu ſuchen und die im Menſchen
ruhende Gottesidee in Philoſophie und Kunſt freithätig zu
entwickeln. Darum war ihnen die Schrift von Anfang an
von geringerer Bedeutung und hatte nicht die religiöſe Weihe,
wie bei den genannten Völkern. Denn was bei ihnen an
geſchriebenen Tafeln in den Heiligthümern vorhanden war,
diente nur als Mittel, um gewiſſe Cultusregeln und äußerliche
Ordnungen des Gottesdienſtes feſtzuſtellen, aber nirgends finden
wir eine Spur von religiöſen Grundgeſetzen und Glaubens¬
lehren, welche aus Gottes Hand hervorgegangen ſein ſollten,
und keinen ihrer nationalen Götter verehrten ſie als Erfinder
der Schrift.
Während die Griechen im religiöſen Glauben dem Ge¬
wiſſen der Einzelnen eine unbegränzte Freiheit einräumten,
haben ſie auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts die Noth¬
wendigkeit geſetzlicher Gebundenheit in vollem Maße empfunden.
Hier legten ſie den größten Werth auf eine feſte Ueberlieferung;
hier alſo, ſollte man denken, wäre die Schrift ihnen beſonders
willkommen geweſen, um den Rechtsboden zu ſichern. Und
dennoch hat kein griechiſcher Staat mit einer Verfaſſungs¬
urkunde begonnen. Die berühmteſten Verfaſſungen haben Jahr¬
hunderte lang ohne Schriftgeſetz beſtanden; denn ſie beruhten
auf der durch Götterſpruch geheiligten Sitte, welche ſich in
den Bürgern lebendig darſtellen und gleichſam immer neu er¬
zeugen ſollte. Darum ſollte dies Geſetz nicht als ein äußer¬
liches ihnen gegenüber ſtehen, ſondern in ihnen leben, wie die
Stimme ihres eigenen Gewiſſens. Erſt als die freie Sitt¬
lichkeit des bürgerlichen Lebens erſchüttert und die Harmonie
[255]Wort und Schrift. der Staatsgemeinſchaft getrübt war, als Parteien ſich bildeten
und damit Mißtrauen und Eiferſucht zwiſchen den verſchiedenen
Bürgerklaſſen erwachte, ſtellte ſich das Bedürfniß geſchriebener
Geſetze ein. Aber auch dann wollte man zunächſt keine Grund¬
geſetze der Verfaſſung, ſondern Aufzeichnung von Strafrechten,
um der richterlichen Willkür zu ſteuern. Erſt in ſolchen Staaten,
welche ſich aus Bürgern verſchiedener Herkunft neu bildeten
und alſo kein Erbtheil gemeinſamer Sitte hatten, vornehmlich
alſo in Pflanzſtädten, wurde es nöthig ein öffentliches Recht
zu gründen, ein Recht, das aus Vergleichung der an ver¬
ſchiedenen Orten geltenden Rechte entſtand, alſo ein Werk
künſtlicher Zuſammenſetzung, welches ein innerliches Eigen¬
thum der Bürger nicht ſein konnte und ihnen deshalb äußer¬
lich, in geſchriebenen Satzungen vor Augen geſtellt werden
mußte. Je verwickelter nun auch im Mutterlande die Lebens¬
verhältniſſe wurden, und je mehr ſich die alten Bürgergemeinden
durch fremden Zuzug zerſetzten, um ſo mehr dehnte ſich der
Gebrauch geſchriebener Geſetzgebungen aus; aber immer blieb
im griechiſchen Volksgeiſte eine Stimmung zurück, welche ſich
gegen die Herrſchaft des Buchſtabens ſträubte, im Gerichts¬
weſen ſowohl wie im Verfaſſungsleben. Was das Erſtere be¬
trifft, ſo trugen ſchon die Geſchworenengerichte, wie ſie ſich in
Athen ausgebildet hatten, dazu bei, daß im Ganzen mehr
nach dem Geiſte der Geſetze als nach dem Buchſtaben ent¬
ſchieden wurde. Die Richter waren nicht dazu da, einen be¬
ſtimmten Geſetzparagraphen auf den vorliegenden Fall anzu¬
wenden, ſondern vielmehr aus ihrem in der Zucht des Ge¬
ſetzes gebildeten Rechtsgefühle zu entſcheiden; eine freie und
ſelbſtändige Thätigkeit ward in Anſpruch genommen, und die
Kunſt wortklauberiſcher Anwälte hat auf dem attiſchen Forum
niemals einen Boden gefunden. Darin liegt neben dem edlen
Streben nach geiſtiger Auffaſſung des Rechts auch eine un¬
verkennbare Einſeitigkeit und Schwäche. Darum ging den
Griechen, ſo große Verdienſte ſie um die Rechtsbildung ſich
auch erworben haben, doch die Schärfe juriſtiſcher Bildung
ab, und niemals haben ſie einen Juriſtenſtand gehabt, welcher
[256]Wort und Schrift. dem römiſchen an ſittlicher Haltung zu vergleichen und wie
dieſer im Stande geweſen wäre, in den Zeiten des Verfalls
eine Stütze nationaler Geſinnung zu werden.
Auch im öffentlichen Rechte blieb die Abneigung gegen
die Autorität ſchriftlicher Satzung. Die ungeſchriebenen Geſetze
galten immer als die heiligſten des Staats, und nur durch
die Umſtände gezwungen, gingen die Geſetzgeber daran, die
ungeſchriebene Sitte in die ſchlechtere Münze des geſchriebenen
Buchſtabens umzuſetzen, welcher das Herkommen ſcheinbar be¬
feſtige, aber zugleich veräußerliche und dadurch unſicherer mache;
darum thaten ſie Alles, um der Vermehrung der Geſetze vor¬
zubeugen, weil die Bürgſchaft, welche ſie gewährten, durch
jede Neuerung erſchüttert würde. Zaleukos ſelbſt, der erſte
Urheber ſchriftlicher Geſetze, verglich dieſelben mit Spinn¬
geweben, welche Mücken und Fliegen einfangen könnten, von
jedem größeren Thiere aber zerriſſen würden. Auch nachdem
in den Perſerkriegen die griechiſchen Geſetzesſtaaten ſich ſo
herrlich bewährt hatten, gab die Philoſophie von den ver¬
ſchiedenſten Standpunkten aus jener Abneigung, welche die
Anhänger alter Volksſitte gegen die geſchriebenen Verfaſſungen
hatten, Ausdruck und Begründung. Man fand es widerſinnig,
die ewig wechſelnden Verhältniſſe des Lebens unter die Herr¬
ſchaft des unlebendigen und verallgemeinernden Buchſtabens
zu ſtellen; man verglich das Geſetz einem ſtarren, eigenſinnigen,
der gegebenen Verhältniſſe unkundigen Menſchen, und verlangte
ſtatt ſeiner Herrſchaft die eines vernünftigen Menſchen, der mit
freiem Willen die Gemeinde lenke und in ſeiner Perſon das
Geſetz darſtelle.
Ariſtoteles tritt dieſen Feinden der Schriftgeſetze und
ihrem unklaren Eifer mit der einfachen Bemerkung entgegen,
daß feſte Normen einmal unentbehrlich ſeien im Staate und
daß es doch zweckmäßiger ſei, wenn dieſe nicht in dem Ge¬
müthe eines von Leidenſchaften bewegten Menſchen, ſondern
in Geſetzen enthalten wären, welche von allen perſönlichen
Stimmungen unabhängig ſind.
Auch die geſchriebenen Geſetze ſollen den Bürgern möglichſt
[257]Wort und Schrift.nahe gebracht und gleichſam zu Gemüthe geführt werden;
darum werden ſie von der Jugend gelernt; es werden Männer
beſtellt, welche ſie der Gemeinde in muſikaliſcher Weiſe vor¬
tragen, als die perſönlichen Vertreter des Geſetzes. Denn auf
perſönlichem Verkehre beruhte das Gemeinweſen der Griechen.
Daher hatten ſie eine ſo entſchiedene Abneigung gegen jede
Vergrößerung des Gemeinweſens, welche ein perſönliches Zu¬
ſammenwirken aller Bürger unmöglich machte und andere
Mittel der Verſtändigung als das des lebendigen Worts er¬
heiſchte. Die bürgerliche Gemeinde hat, wie jedes organiſche
Weſen, ihr Maß, das ſie nicht überſchreiten darf, wenn ſie
ihrer Beſtimmung entſprechen ſoll. Wie eine zu kleine Ge¬
meinde der Selbſtändigkeit entbehrt, die ſie haben muß, wenn
ſie ein eigener Staat ſein will, ſo die zu große Stadtgemeinde
der Ueberſichtlichkeit. Es müſſen alle Staatsgenoſſen einander
kennen können, damit die Wahl der Vorſtände nicht vom
Zufalle abhänge; es muß der Feldherr ſeine Truppen, der
Volksredner die Gemeinde kennen, um erfolgreich wirken zu
können. Auch darf ja, ſagt Ariſtoteles, indem er ſich den
Vorſtellungen altgriechiſcher Stadtpolitik auf das Genauſte an¬
ſchließt, die Bürgerverſammlung ſchon deshalb nicht allzugroß
ſein, weil ſonſt kein Herold ausfindig gemacht werden könnte,
deſſen Stimme im Stande wäre, ſie zu beherrſchen. So wird
die Möglichkeit eines mündlichen Verkehrs und einer perſön¬
lichen Bekanntſchaft zum Maßſtabe für die Größe des Staats
genommen.
Unter den Wiſſenſchaften hat keine das Bedürfniß ſchrift¬
licher Aufzeichnung früher empfunden, als die Arzneiwiſſen¬
ſchaft. Hier fühlte man die Nothwendigkeit, eine Menge von
Thatſachen zu ſammeln, und zugleich die Unmöglichkeit, die¬
ſelben ohne äußere Hülfe im Gedächtniſſe zu behalten. Gerade
hier tritt uns aber der Gegenſatz zwiſchen den Griechen und
den Schriftvölkern des Morgenlandes recht deutlich entgegen.
Bei den Aegyptern gab es mediciniſche Syſteme von geſetzlicher
Autorität, in denen für jede Krankheit eine beſtimmte Behand¬
lungsweiſe vorgezeichnet war, und der Arzt war gebunden, ſich
Curtius, Alterthum. 17[258]Wort und Schrift. darnach zu richten; alſo auch er war weſentlich ein Schrift¬
gelehrter und Geſetzkundiger. Erſt wenn er eine beſtimmte
Zahl von Tagen die vorgezeichnete Kur ohne Erfolg ange¬
wendet hatte, durfte er nach eigenem Ermeſſen verfahren; that
er es früher, ſo geſchah es auf ſeine Gefahr. Die Griechen
machten ſich auch hier nicht zum Sklaven des Buchſtabens,
ſondern behandelten die Medicin als eine freie Wiſſenſchaft,
als eine perſönliche Kunſt, und die Gegner des Verfaſſungs¬
ſtaats konnten ſich darauf berufen, daß ein Regieren nach
Geſetzesparagraphen eben ſo unthunlich ſei und eben ſo wenig
Vertrauen erwecke, wie ein Heilverfahren nach ſchriftlichen
Regeln; eine Analogie, welche Ariſtoteles mit vollem Rechte
zurückweiſt, weil bei dem Arzte nicht leicht vorausgeſetzt werde,
daß ſein Verfahren unter dem Einfluſſe perſönlicher Abſichten
und Stimmungen ſtehe; bei einem Herrſcher ſei es aber anders.
Wenn wir ſo auf dem Gebiete der Religion, des Staats¬
lebens und der Erfahrungswiſſenſchaften bei den Griechen eine
unverkennbare Abneigung gegen eine ausgedehntere Anwendung
der Schrift und jede Autorität derſelben finden, ſo kann es
noch weniger überraſchen, wenn wir daſſelbe auf dem Gebiete
der freiſten, geiſtigen Thätigkeit, des künſtleriſchen Schaffens
wahrnehmen. Dieſe Thatſache iſt, weil ſie den Schlüſſel zum
Verſtändniß der griechiſchen Litteratur giebt, am gründlichſten
beſprochen; ſie iſt für Alle, die ſehen wollen, auf das Klarſte
erwieſen. Was aber gegen die Annahme, daß große Helden¬
geſänge ohne Schrift entſtehen und ohne Schrift Jahrhunderte
lang im Munde des Volkes ſich erhalten können, an Bedenk¬
lichkeiten laut geworden iſt, das wird durch die zahlreichen
und unzweifelhaften Analogieen anderer Litteraturen, welche
nach und nach bekannt geworden ſind, immer vollſtändiger
beſeitigt. Es handelt ſich hier aber nicht allein um das ho¬
meriſche Epos, ſondern alle Dichtung der Hellenen hat, wie
ſie aus der Liebe zu Geſpräch und Geſang hervorgegangen iſt,
dieſen Charakter perſönlicher Mittheilung immer behalten. Alle
Lieder, alle Dramen waren gemacht, um unter perſönlicher
Betheiligung des Dichters dem hörenden Volke vorgetragen
[259]Wort und Schrift. zu werden; Pindar ſchickt, wenn er nicht ſelbſt die jugendlichen
Chöre einüben kann, ſeinen Preisgeſang nicht als todte Schrift
über das Meer, ſondern ſein Sangmeiſter überbringt ihn, als
ein lebendiger »Briefſtab der Muſen«. Selbſt der älteren
Geſchichtſchreibung wird ja der Vorwurf gemacht, daß man
ihr das Streben, ein hörendes Publikum zu feſſeln, zu ſehr
anmerke. Herodot's Erzählungen wurden von Schauſpielern
vorgetragen, und ſelbſt die gedankenſchweren Gedichte der
Philoſophen, wie Empedokles und Xenophanes, lebten im
Munde von Rhapſoden.
Wir, die wir von Kindheit auf an das Leſen gewöhnt
ſind, überſetzen mit unbewußter Fertigkeit den tonloſen Buch¬
ſtaben in die Laute der Sprache und erwecken das todte Wort
zu neuem Leben, wie der Muſikkenner beim Leſen einer Par¬
titur die Harmonieen hört und der Naturforſcher in der ge¬
trockneten Pflanze die auf dem Felde blühende vor Augen hat.
Aber drängt es nicht auch uns, ſolche Dichterworte, die uns
beſonders ergreifen, ſelbſt wenn wir allein ſind, laut zu ſprechen,
und erkennen wir nicht dadurch an, daß das ſtumme Leſen
nur ein Nothbehelf iſt? Fühlen nicht auch wir die volle Wir¬
kung eines Dichterwerks erſt dann, wenn es uns als ein
Ganzes vorgetragen wird, wenn wir nicht, wie beim Leſen
geſchieht, am Einzelnen prüfend verweilen oder verwandten
Gedankenverbindungen nachgehen, ſondern, von der lebendigen
Kraft des Wortes fortgezogen, uns dem Eindrucke des Ganzen
völlig hingeben? Je lebhafter ein Menſch für Poeſie empfindet,
um ſo höher ſteht ihm ohne Zweifel das lebendige Wort, um
ſo leichter wird er ſich den Standpunkt der Griechen zu eigen
machen, bei denen die Kunſt nicht ein äußerlicher Schmuck,
ſondern ein ſo weſentliches Element des Lebens war, daß ſie
ihr ein Maß von Ernſt, Kraft und Zeit zuwendeten, wovon
wir uns kaum einen Begriff machen können. Bei uns iſt es
ja ein Vorzug höherer Bildung und Wohlhabenheit, an den
Genüſſen, welche die Kunſt darbietet, Theil nehmen zu können;
bei den Griechen war ſie es, welche das religiöſe Bewußtſein
des Volks trug und leitete, welche den Feſten bürgerlicher
17*[260]Wort und Schrift. Gemeinſchaft Weihe und Bedeutung gab und die Menſchen
durch alle Lebensverhältniſſe begleitete. Wie viel weniger
konnten ſich die Griechen an dem Nothbehelfe der Schrift ge¬
nügen laſſen!
Und dann, wie viel mehr ging den Hellenen verloren,
wenn ihnen ein Dichterwerk geſchrieben vorlag, als uns, da
ſich die moderne Poeſie von den verſchwiſterten Künſten immer
mehr abgelöſt hat! Die Meiſterwerke unſerer Dichter ſind
keiner wirkungsvolleren Reproduktion fähig, als daß ſie, mit
vollem Verſtändniſſe geſprochen, an unſer Ohr gelangen, und
wie ſelten haben die darſtellenden Künſtler ein ſolches Maß
von Anlage und Bildung, um unſern Anſprüchen zu genügen!
Die neuere Kunſt iſt geiſtiger; ihr Genuß iſt von allen äuße¬
ren Mitteln unabhängiger, aber freilich auch beſchränkter und
unvollſtändiger. Die griechiſche Poeſie konnte als geſchriebenes
Wort gar nicht gewürdigt werden. Lied und Geſang waren
Eins; der Rhythmus, der mit dem Inhalte zuſammenhing
wie Leib und Seele, konnte in ſeiner reichen Mannigfaltigkeit,
dem Ausdrucke wogender Empfindung, ohne künſtleriſchen Vor¬
trag nicht verſtanden werden; der Tanz trat dazu, um die
innere Bewegung plaſtiſch darzuſtellen; die edelſten Kunſtwerke
kamen in feſtlicher Gemeinſchaft zur Aufführung, wodurch die
begeiſternde Wirkung vollendet wurde.
Etwas Anderes iſt es freilich mit den Werken, welche nicht
auf künſtleriſchen Vortrag berechnet und nicht an die verſam¬
melte Bürgergemeinde gerichtet ſind, ſondern an den Einzelnen,
welchen ſie belehren wollen; ſie ſetzen einen ausgedehnten
Schriftgebrauch und ein leſendes Publikum voraus. Aber wie
ſpät hat ſich auch die proſaiſche Litteratur bei den Griechen
entwickelt, wie langſam entfernte ſie ſich von dem Charakter
der poetiſchen Darſtellung! Selbſt die Philoſophie, welche doch
mehr als alle anderen Wiſſenſchaften in das Bewußtſein des
Einzelnen einzudringen ſucht und ſich ihrer Natur nach von
der Oeffentlichkeit zurückzieht, wie lange ſträubte ſie ſich da¬
gegen, Schriftweisheit zu werden! Das fühlen wir vor Allen
Platon an, in welchem der helleniſche Sinn für den Genuß
[261]Wort und Schrift. und den Segen des geiſtigen Austauſches ſeinen höchſten Aus¬
druck erhalten hat. Sorgfältig prüft er die Wirkung des ge¬
ſchriebenen und des mündlichen Worts und findet doch nur in
dieſem die wahre Kraft zur Erweckung und Leitung wahrheits¬
ſuchender Gemüther. Die Schrift gilt ihm nur als Erinnerungs¬
zeichen, nicht als die eigentliche Trägerin der Weisheit, wie es
die Rede iſt, welche unmittelbar in das Gemüth des Empfäng¬
lichen niedergeſchrieben wird und keinem Mißverſtändniſſe aus¬
geſetzt iſt; das Wort verliert ſeine elektriſche Kraft, ſowie der
Zuſammenhang zerriſſen wird zwiſchen ihm und der Menſchen¬
ſeele, in welcher es mit dem Gedanken zugleich geboren iſt.
Darum ſind auch die letzten Wahrheiten von Platon's Lehre
nur in mündlicher Ueberlieferung fortgepflanzt worden, wie in
den Geſetzgebungen die höchſten Satzungen, die ungeſchriebenen
waren. In dem aber, was Platon geſchrieben hat, ſucht er
den Charakter ſchriftlicher Mittheilung ſo viel wie möglich
zurücktreten zu laſſen, den Lehrvortrag in Geſpräch und das
todte Wort in das lebendige umzuwandeln. So ſehr endlich
auch Platon die ſchriftlichen Vermächtniſſe älterer Philoſophen
zu ſchätzen wußte und ſo mancherlei er ſelbſt aus Bücher¬
rollen gelernt hat, ſo hält er doch an dem Grundſatze der
Hellenen feſt, daß der weiſe ſei, der von Natur viel wiſſe, und
begründet ihn durch ſeine Lehre, daß alles Wiſſen eine Er¬
innerung ſei, ein Sich-Beſinnen auf die ewigen Wahrheiten,
welche unbewußt in der Bruſt des Menſchen ruhen.
Gewiß haben auch die Hellenen die Bedeutung der Schrift
erkannt und die Macht zu würdigen gewußt, welche dem menſch¬
lichen Geiſte aus ihr erwächſt. Sie haben dieſelbe zur Er¬
haltung ihrer geiſtigen Schätze auf das Erfolgreichſte benutzt;
dem bibliothekariſchen Eifer der Piſiſtratiden verdanken wir
ja unſern Homer und Heſiod. Mit ihrem künſtleriſchen Sinne
haben die Athener auch das Schriftweſen aufgefaßt und fort¬
gebildet, und die herrliche Größe ihres Staates bezeugen neben
dem Parthenon die zahlloſen Marmorſteine, welche die Schätze
der Stadtgöttin, den Schoß der Bundesgenoſſen, den Beſtand
der Land- und Seemacht aufrechnen, und frühzeitig hat man
[262]Wort und Schrift. begonnen, einzelne Thatſachen, die dem Gedächtniſſe leicht ent¬
ſchwinden, wie die Namen der Könige, der Prieſter, der Sieger
in den Feſtſpielen aufzuzeichnen. Aber gerade in dieſem Punkte,
wo die Schrift das Gedächtniß der Geſchichte ſtützt, iſt doch
ihre Bedeutung von den Griechen auffallend vernachläſſigt
worden, wenn wir vergleichen, was in dieſer Beziehung
namentlich die Aegypter geleiſtet haben. Es fehlte den Griechen
der nüchterne Sinn, welchen das Intereſſe für chronologiſche
Geſchichte vorausſetzt. Sie faßten die Menſchengeſchichte zu
ſehr von ſittlichen Geſichtspunkten auf; ſie ſuchten in ihr zu
ſehr Belehrung und Erhebung des Gemüths, um die einfache
Treue hiſtoriſcher Berichterſtattung würdigen zu können. Darum
waren ſie in der Aufbewahrung und Benutzung geſchichtlicher
Urkunden nachläſſig, und ihre Geſchichtſchreiber haben nur in
der Zeitgeſchichte Großes geleiſtet. Je mehr die nationale
Sitte in Verfall gerieth, um ſo mehr nahm die Bedeutung
des Schriftweſens zu; je mehr Geſetze in Stein geſchrieben
wurden, um ſo weniger lebten ſie im Geiſte der Bürger, um
ſo verworrener wurde ihr Rechtsbewußtſein. Als Bürgerkrieg
und Parteiweſen die Harmonie zerſtörten, deren die Kunſt
zu ihrem Gedeihen bedarf, und die Sophiſtik den Glauben der
Väter erſchütterte, da begann in Athen die Leſe- und Bücher¬
wuth, welche Ariſtophanes beſpöttelt; da begann eine Litteratur
für gebildete Leſer und damit ging die nationale Dichtung zu
Grunde. Wie lange ſich aber aus alter Sitte eine Gering¬
ſchätzung des Schriftweſens erhielt, geht ſchon daraus hervor,
daß man den Beruf deſſen, der ſich vorzugsweiſe mit Schreiben
zu befaſſen hatte, als einen ſehr niedrigen anſah; ſelbſt die
Aufſicht über das Staatsarchiv übertrug man einem öffent¬
lichen Sklaven, und während ſonſt die von außen eingebürgerten
Erfindungen ihren ausländiſchen Charakter ganz verloren, be¬
hielten die Buchſtaben lange Zeit den Namen der phönikiſchen
Zeichen.
Wenn man jetzt mehr als je den einzelnen Völkern der
Geſchichte in Sprache und Sitte ihre Eigenthümlichkeit abzu¬
lauſchen ſucht, ſo wird man nicht umhin können, in dem Wider¬
[263]Wort und Schrift. ſtreben gegen das Schriftweſen einen charakteriſtiſchen Zug des
griechiſchen Volks zu erkennen. So wird es erklärlich, wie
ſchon in den homeriſchen Gedichten die Kenntniß einer Zeichen¬
ſchrift erwähnt wird und doch Jahrhunderte vergehen, bis der
Zeitpunkt eintritt, wo der Schriftgebrauch eine ſolche Aus¬
dehnung gewinnt, um in das geiſtige Leben des Volks einzu¬
greifen. Denn je wichtiger eine Erfindung iſt für die geſammte
Volksentwickelung, um ſo weniger iſt ihre Annahme ein bloß
äußerlicher Akt, und je mehr eine Nation zu einer ſelbſtändigen
Cultur den Beruf empfangen und den Anfang gemacht hat,
um ſo mehr weiß ſie das Fremde zur rechten Zeit aufzunehmen
und in ſich zu verarbeiten, während Völker, die wenig Eigenes
haben, im Ganzen und Großen die fremde Cultur annehmen
und in dieſelbe aufgehen.
Wir betrachten die Griechen als die erſten Urheber einer
großen und allſeitigen Litteratur, welche für die ſpäteren
Völker eine vorbildliche geworden iſt. Die Bedeutung der¬
ſelben beruht aber weſentlich darauf, daß ſie ſo lange von
jedem Einfluſſe der Schrift frei geblieben, daß ſie ſo ſpät erſt
im ſtrengen Sinne des Worts eine Litteratur geworden iſt.
Wir loben nicht, wenn wir von Jemand ſagen, er ſpreche wie
ein Buch; wir rühmen vielmehr ein Buch, deſſen Sprache uns
wie eine volksthümliche Rede anſpricht. Darin giebt ſich unſere
Abneigung gegen die Schriftſprache zu erkennen. Was wir ſo
nennen, wird aber dadurch hervorgebracht, daß die Sprache
durch die Schrift ein Gegenſtand des Nachdenkens wird, daß
ſie die Unmittelbarkeit und Unbefangenheit, die Wärme des
friſch aus dem Geiſte Geborenen verliert. Es bildet ſich leicht
etwas Unnatürliches und Froſtiges, und es bedarf genialer
Naturen, eines Luther, eines Leſſing und Goethe, um die
Schriftſprache von ihrem Stelzengange zur Natur zurückzu¬
führen und den Boden des Volksthums wieder zu gewinnen.
Von dieſen Nachtheilen blieb die Kunſt der Griechen unberührt,
ſie blieb lange Zeit friſch und naturwüchſig und erhielt ſich
die Anmuth des volksthümlichen Klanges. Wie ſehr unter¬
ſcheidet ſich dadurch die helleniſche Dichterſprache von der
[264]Wort und Schrift. lateiniſchen, und wie bald erkennt man in Griechenland ſelbſt
die Einwirkung des überhand nehmenden Schriftgebrauchs!
Was Plato gelang, iſt keinem Zweiten gelungen; Iſokrates
und ſeinen Schülern merkt man ſchon an, daß ſie beim Schreiben
an das Schreiben dachten.
Auch für die Einheit eines Volks und den ungeſtörten
Zuſammenhang aller Staatsangehörigen iſt es nicht gleich¬
gültig, ob die Sprache früher oder ſpäter unter den Einfluß
der Schrift kommt. Denn das Leſen wie das Schreiben iſo¬
lirt den Menſchen; wer viel in Büchern lebt, läuft Gefahr,
ſich den Anſchauungen und Sitten ſeiner Mitbürger zu ent¬
fremden; durch die bequeme Gelegenheit, welche ſich ihm dar¬
bietet, ſich nach eigenem Belieben zu belehren, wird er gegen
den höheren Reiz lebendiger Wechſelrede abgeſtumpft und
ſelbſt ungelenk im mündlichen Verkehre. Darum trennt die
Schrift die zuſammenwohnenden Menſchen, während ſie die
durch Zeit und Raum getrennten vereinigt. Die Gebildeten
ſondern ſich vom großen Haufen; es entſtehen allmählich zwei
Klaſſen von Menſchen, welche ſich im Denken und Sprechen
gegenſeitig immer unverſtändlicher werden. Eine ſolche Spal¬
tung widerſprach aber durchaus dem Sinne der Alten, nament¬
lich der Athener, und wir begreifen, wie ſehr die ſpäte Ent¬
wickelung des Schriftweſens dazu beitragen mußte, nicht nur
Sprache und Dichtkunſt der Hellenen volksthümlich zu erhalten,
ſondern auch der bürgerlichen Geſellſchaft die Einheit und
Gleichheit zu bewahren, worauf das Gedeihen der alten Re¬
publiken beruhte. Diejenigen Vortheile aber, welche die Schrift
für die Ausbildung der Sprache gewährt, indem ſie zu einem
tieferen Verſtändniſſe ihres Organismus und zu einer voll¬
kommeneren Benutzung derſelben anleitet, waren für die Griechen
unweſentlicher, weil ſie vermöge ihrer natürlichen Anlage auch
ohne Nachhülfe der Schrift zu einer vollkommenen Beherr¬
ſchung ihrer Sprache gelangt waren.
Wort und Schrift, das ſind auch jetzt noch die beiden
Angelpunkte aller geiſtigen Bildung, und jene von den Rhe¬
toren des Alterthums viel behandelte Frage, ob Schrift oder
[265]Wort und Schrift. Wort zu geiſtiger Mittheilung vorzüglicher ſei, würde uns
noch mehr als ſie in Verlegenheit ſetzen, wenn wir gezwungen
wären, nach einer Seite die Entſcheidung zu geben.
Haben wir die Liebe zu dem lebendigen Worte und die
treue Pflege deſſelben als etwas erkannt, wodurch die Griechen
ſich von den älteren Völkern, von den Schriftvölkern des
Morgenlandes unterſcheiden, ſo ſtehen wir mit unſerer Bil¬
dung gewiſſermaßen zwiſchen Griechen und Orientalen, oder
vielmehr über dem Gegenſatze, den ſie bilden. Unſere Religion
und Sitte beruht auf einer Schrift, welche wir als eine hei¬
lige Urkunde und als eine Norm unſeres ſittlichen Lebens an¬
erkennen. Sie giebt uns, zugleich den Standpunkt für die
Beurtheilung der ganzen Menſchengeſchichte, indem ſie alle
wahrhaftigen Offenbarungen Gottes an die Menſchen, alſo
die ganze Geſchichte des von Gott geleiteten Gottesbewußt¬
ſeins der vorchriſtlichen Menſchheit umfaßt. Um ſie bewegt
ſich die ſeit Beginn unſrer Aera verfloſſene Menſchengeſchichte,
weil das Schickſal der Völker weſentlich davon abhängt, ob
ſie dieſe Schrift und wie ſie dieſelbe angenommen haben. Sie
öffnet uns endlich auch den Blick in den noch unvollendeten
Theil der Geſchichte und beſtimmt unſere Anſicht von dem
Endziele derſelben. Alſo ſind wir nicht wie die Griechen dar¬
auf angewieſen, in uns und um uns zu ſuchen nach dem leben¬
digen Gott und durch eigene Forſchung unſrer Beſtimmung
bewußt zu werden, ſondern wir haben die Ueberlieferung feſt¬
zuhalten, wir haben das Gegebene uns anzueignen, wir ſind
gebunden wie die Schrift- und Geſetzesvölker des Morgen¬
landes. Indeſſen lehrt uns dieſelbe Schrift, daß der Buch¬
ſtabe tödte, aber der Geiſt lebendig mache; ſie berechtigt und
fordert die volle Anwendung aller geiſtigen Kräfte; ſie will,
daß ihr Inhalt in lebendigem Worte und fortſchreitender Er¬
kenntniß ſich immer neu erzeuge und immer neue Geſtalt ge¬
winne; ſie will alſo, daß geſetzliche Gebundenheit und helleniſche
Freiheit in uns ſich verſöhne; denn nur aus dieſer Verſöhnung
kann die wahre Befriedigung des Geiſtes erwachſen, nach der
wir Alle ringen.
Neben den heiligen Schriften ſteht das litterariſche Ver¬
mächtniß von Jahrtauſenden, und über dieſem Erbe, deſſen
Beſitz wir immer vollſtändiger anzutreten ſuchen, wuchert von
Jahr zu Jahr eine neue Litteratur, welche, je mehr das Wiſſen
ſich verallgemeinert, deſto mehr in das Unermeßliche anwächſt,
um das, was ſeit den Anfängen der Wiſſenſchaft über gött¬
liche und über menſchliche Dinge gedacht und beobachtet wor¬
den iſt, in jeder Form und Faſſung dem lebenden Geſchlechte
darzubieten. So kommt es, daß immer entſchiedener die Mei¬
nung laut wird, es verliere das Wort mehr und mehr ſeine
Bedeutung; es könne ſich die Jugend ſchneller und vollſtändiger
aus Büchern belehren, es würden die Hörſäle durch die Biblio¬
theken überflüſſig. Einer ſolchen Anſicht gegenüber müſſen
wir immer wieder zu den Hellenen zurückkehren und eine ein¬
ſeitige Ueberſchätzung des geſchriebenen Worts mit allem Ernſte
bekämpfen.
Die wahre Wiſſenſchaft ſoll Erkenntniß und Weisheit
werden; dieſe bilden aber den innerlichſten Beſitz des Menſchen;
denn ſie gehen in ſein ſittliches Bewußtſein über und geben
ſeiner ganzen Perſönlichkeit das eigenthümliche Gepräge. Durch
perſönliche Berührung kann deshalb allein die richtige Vor¬
ſtellung von dem gewonnen werden, was die Wiſſenſchaft uns
ſein ſoll; darum wird die perſönliche Lehrweiſe immer die
ſegensreichere und wirkungsvollere bleiben, weil ſie einen be¬
deutenderen ſittlichen Einfluß geſtattet, während ein Lernen
ohne dieſen Einfluß leicht zu dem Glauben verleitet, daß die
Wiſſenſchaft etwas ſei, das wie eine Marktwaare von Hand
zu Hand gehen könne, ohne daß die Perſon des Menſchen
dabei betheiligt ſei. Bevorzugte Naturen können ungeſtraft
beſondere Wege gehen; der natürliche Weg heilſamer Einwir¬
kung wird immer der bleiben, daß, wie die Bedeutung der
Religion uns in einem frommen Manne und die der Kunſt
in einem geborenen Künſtler am lebendigſten vor Augen tritt,
ſo auch das Weſen der Wiſſenſchaft in einem wahren Gelehrten
erkannt werde. Je maſſenhafter aber die Litteratur anwächſt,
um ſo mehr wird es eine Kunſt, dieſe Maſſe des Stoffs mit
[267]Wort und Schrift. klarem Blicke zu beherrſchen, und wenn dieſe Kunſt mitgetheilt
werden kann, ſo geſchieht es durch perſönliches Beiſpiel.
Ferner giebt es ja in allen Wiſſenſchaften ſchwebende
Fragen, welche die Gemüther in Spannung halten und ſelbſt
die Leidenſchaften aufregen. Wer den Gang der Wiſſenſchaft
kennt, weiß, wie gering die Hoffnung iſt, daß durch fortgeſetzte
Arbeit der Forſcher und Schriftſteller auch nur in den wich¬
tigſten Punkten eine Uebereinſtimmung derer, die auf Urtheil
Anſpruch machen, erzielt werde. Je mehr man den Stoff
geiſtig zu durchdringen ſucht, um ſo weiter pflegen die Auf¬
faſſungen nach der Verſchiedenheit der Individualität aus ein¬
ander zu gehen. Kein gewiſſenhafter Lehrer kann ſeine Auf¬
faſſung als die unbedingt wahre geltend machen; aber der
Hörer kann in ungleich vollkommenerer Weiſe als der Leſer
von der Ueberzeugung durchdrungen werden, daß es dem Lehrer
um die Wahrheit ein heiliger Ernſt ſei, und indem dieſer
Eindruck ſich ihm einprägt und ihn zu gleichem Ernſte an¬
feuert, empfängt er dadurch eine beſſere Gabe, als wenn er
eine Reihe fertiger Reſultate nach Hauſe trägt. Wohl bezeugt
ſich auch in Büchern das geiſtige Gepräge eines Mannes,
aber wie die Perſönlichkeit in ihnen zurücktritt, ſo auch der
Charakter. Jede mündliche Lehre iſt eine That, welche wir
perſönlich vertreten; ſie iſt nicht dem Mißverſtändniſſe und
dem Mißbrauche ausgeſetzt, wie das gedruckte Wort, deſſen
Wirkung wir nicht berechnen können, das ſo häufig ohne das
volle Bewußtſein ſittlicher Verantwortlichkeit in die Welt hinaus¬
geſchickt wird und, wie alle ferntreffenden Waffen, oft den
Feigen dem Tapferen gleichſtellt. Je mehr alſo die Wiſſen¬
ſchaft ein Theil unſerer Perſönlichkeit iſt, je mehr es dahin
kommt, daß nach dem Grundſatze der Alten Tugend und Er¬
kenntniß nur die verſchiedenen Seiten echter Bildung ſind, um
ſo mehr wird die ſchriftliche Mittheilung an Kraft und Segen
hinter der mündlichen zurückſtehen.
Wie nahe dieſe Betrachtungen unſern akademiſchen Beruf
angehen, leuchtet ein. Sie ſind aber nicht beſtimmt, ängſtliche
Gemüther über die Zukunft unſerer Univerſitäten zu beruhigen;
[268]Wort und Schrift. ſie ſollen auch nicht bloß an die Jugend gerichtet ſein, um ſie
vor der Täuſchung zu bewahren, daß im Bücherleſen ein Erſatz
für das Hören zu finden wäre, ſondern ſie enthalten ganz
beſonders für die Lehrer der Wiſſenſchaft eine Aufforderung
vom höchſten Ernſte. Ihre Sache iſt es, das lebendige Wort
in vollen Ehren zu erhalten, den durch nichts zu erſetzenden
Segen deſſelben kräftig zu erweiſen, mit ihrer ganzen Per¬
ſönlichkeit für ihre Wiſſenſchaft einzutreten und, was ſie geben,
aus dem Schatze eigener Lebenserfahrung darzureichen. Als
ein Vorbild unſeres Berufs haben wir die Hellenen, welche
den Schriftvölkern der älteren Zeit gegenüber das freie Wort
zu voller Geltung gebracht haben. Sie lehren uns, was
lehren ſei, und Platon's Akademie bleibt ewig das Vorbild
jedes akademiſchen Unterrichts. Denn ſo Vieles auch jetzt
anders ſein muß, ſeit ſich das menſchliche Wiſſen in eine
Menge von Fachkenntniſſen geſpalten hat, und das Umfaſſen
des Ganzen, das Erfaſſen der einen Wiſſenſchaft immer mehr
ein faſt übermenſchliches Geiſtesvermögen erfordert, ſo können
und ſollen wir doch die Hauptſache feſthalten, daß nämlich
die Rede des Lehrers eine Seelenleitung werde, daß das
lebendige Wort den Geiſt des Jünglings lebendig mache und
ihm zeige, wie er inmitten der zerſtreuenden Maſſe äußerer
Eindrücke die innere Sammlung ſich bewahre und den feſten
Kern einer Perſönlichkeit, die nichts annimmt, ohne es ſich
wahrhaft anzueignen, und die aus allen Zweifeln, Kämpfen
und Anſtrengungen immer geläuterter und geſünder hervorgeht,
ſo wird mehr und mehr alles Wiſſen in Können, alles Lernen
in Erkennen, alle Schulweisheit in Lebensweisheit ſich ver¬
wandeln. Wenn wir in dieſer Auffaſſung unſers Berufs einer
Meinung ſind, ſo wird auch der heutige Feſttag unſerer Uni¬
verſität dazu beitragen, das Gefühl treuer Gemeinſchaft und
feſter Uebereinſtimmung im Denken und Handeln, in Lehre
und Wiſſenſchaft unter uns zu erhöhen.
XVI.
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Wenn wir von hiſtoriſcher Wiſſenſchaft ſprechen, ſo deuten
wir ſchon durch die Benennung an, daß wir die Griechen als
diejenigen anſehen, welche auch dieſes Gebiet geiſtiger Arbeit
zuerſt eingerichtet haben. Dieſe Anſicht hat etwas Befrem¬
dendes; denn es iſt bekannt, daß von den Griechen ſelbſt die
Völker des Morgenlandes als die Gründer und Meiſter der
Geſchichtskunde mit unverhohlener Ehrerbietung anerkannt wur¬
den und daß im Nillande Erinnerungen von Jahrtauſenden
aufgezeichnet waren, als man in Hellas die erſten Anfänge
einer geſchichtlichen Litteratur machte. Darum zogen die Helle¬
nen nach Aegypten, um ſich von dem Alter menſchlicher Cultur
einen Begriff zu machen, und mit ſtolzer Würde riefen ihnen
die dortigen Prieſter zu: »Ihr Hellenen bleibt ewig Kinder!
Jung und unerfahren ſeid ihr Alle und habt kein durch das
Alter erprobtes Wiſſen«! Nachdem aber die Griechen eine
eigene Geſchichtswiſſenſchaft begründet hatten, iſt es ihnen
keineswegs gelungen, ſich als Hüter geſchichtlicher Wahrheit
eine ſonderliche Anerkennung zu verſchaffen. Die gründlichſten
Forſcher, welche unter ihnen lebten, traten in wichtigen und
der Erinnerung nahe liegenden Punkten dem entgegen, was
bei ihren Landsleuten allgemeine Geltung hatte; keiner ihrer
Hiſtoriker iſt von mancherlei Anſchuldigungen frei geblieben
und der Nation im Ganzen hat man die Tugend der Zuver¬
[270]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. läſſigkeit ſo wenig zuerkannt, daß ſchon im Alterthume arg
geſcholten worden iſt auf das Lügenvolk der Griechen, welches
Einem Alles zu glauben zumuthe oder, höflicher ausgedrückt,
eine ſolche Miſchung von Dichtung und Wahrheit vorbringe,
daß es ſchwer ſei den Kern von Wahrheit herauszuſchälen.
Unter dieſen Umſtänden halten wir es für eine Aufgabe von
allgemeinem culturgeſchichtlichen Intereſſe, wenn wir den
hiſtoriſchen Sinn der Griechen in das Auge faſſen, um zu
erkennen, wie weit die Vorwürfe begründet ſind, welche ihnen
in dieſer Beziehung gemacht werden.
Gewiſſe Schwächen auf dem Gebiete geſchichtlicher Wiſſen¬
ſchaft ſind in der Naturanlage der Griechen tief begründet
und mit den edelſten Kräften ihres Volksgeiſtes in engem Zu¬
ſammenhange. Ich meine beſonders die Lebhaftigkeit des
griechiſchen Geiſtes und den Trieb nach ſelbſtändiger Thä¬
tigkeit, welcher ſich an einem bloßen Einſammeln von That¬
ſachen nicht genügen ließ, wie es doch zur Begründung ſicherer
Erfahrungskenntniſſe nothwendig iſt. Wie die Griechen in
Betrachtung der natürlichen Erſcheinungen verfuhren, indem
ſie ohne genügende Durchforſchung des Gegebenen gleich den
letzten Gründen der Dinge nachſpürten und die Entwickelung
einer ſoliden Naturkenntniß dadurch hemmten, daß ſie voreilig
zur Naturphiloſophie übergingen, ſo machten ſie es auch in
der Geſchichte. Auch hier zeigen ſie denſelben Mangel an
nüchterner Methode und beſonnener Zurückhaltung. Sie hatten
von Natur eine Abneigung gegen alles Regelloſe und Maſſen¬
hafte; ſie wollten überall ordnen und geſtalten, und ſo geſchah
es, daß gerade ihr Bedürfniß nach Geſetz und Regel ſie zu
willkürlicher Behandlung des Stoffs verleitete. Anſtatt die
Gränzen erfahrungsmäßiger Kenntniß feſtzuſtellen und vor¬
ſichtig einzuhalten, gingen ſie keck darüber hinaus und con¬
ſtruirten unerforſchte Zeit- und Welträume nach Linien und
Zahlen, welche keine andere Begründung hatten, als daß ſie
dem Streben nach Ueberſichtlichkeit und Regelmäßigkeit ent¬
ſprachen. So theilt Hekataios die Königsreihen von Aſſur
in zwei Dynaſtieen von gleicher Länge; ſo mußte einer ge¬
[271]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. wünſchten Symmetrie zu Liebe das kaſpiſche Meer eine Bucht
des Nordmeers ſein, wie das perſiſche Meer der Südſee, und
nach der Vorausſetzung, daß die Donau in Richtung und
Länge dem Nile entſpreche, entwarf Herodot ſeine Karte von
den Wohnſitzen der Scythen.
Dieſe falſche Syſtematik verband ſich mit gewiſſen volks¬
thümlichen Anſchauungen, mit denen eine unbefangene Welt¬
betrachtung unverträglich war. Im Bewußtſein ihrer Vor¬
züge betrachteten ſich die Hellenen als ein bevorrechtetes Ge¬
ſchlecht unter den Völkern der Erde, als den einzigen Zweig der
Menſchheit, welcher zu einer vollen Entwickelung des geiſtigen
Lebens in Geſetzgebung, Kunſt und Wiſſenſchaft berufen ſei.
Von dieſem Standpunkte aus konnten ſie den anderen Nationen,
welche ſie als untergeordnete Racen anſahen, keine unpar¬
teiiſche Beachtung zuwenden und ihre ganze Geſchichtsbe¬
trachtung mußte eine einſeitige ſein. Daran knüpften ſich an¬
dere Vorurtheile. Man dachte ſich die Herde des geiſtigen
Lebens auch als räumliche Mittelpunkte. Darum mußte die
Erde das Centrum der Welt ſein und Hellas, mit Delphi in
der Mitte, das Centrum der Erde. Traf man alſo im Oſten
des Meeres verwandte Stämme, ſo mußten dieſe von Weſten
nach Oſten eingewandert ſein. An dieſen nationalen An¬
ſchauungen hielt man mit Zähigkeit feſt, auch nachdem die
Wiſſenſchaft ſie längſt widerlegt hatte, und verketzerte noch im
zweiten Jahrhunderte v. Chr. die großen Aſtronomen, die
Vorgänger des Copernicus, weil ſie den heiligen Herd der
Welt zu bewegen wagten.
Mit dem Streben nach ſyſtematiſcher Anordnung hängt
eine andere Richtung zuſammen, welche die unbefangene Auf¬
faſſung des Thatſächlichen noch mehr beeinträchtigen mußte;
das iſt die Abneigung gegen die Willkür des Zufalls. Die
Griechen wollten in der Poeſie dem Zufalle keinen Spielraum
laſſen, weil er die Einheitlichkeit menſchlicher Handlungen zer¬
ſtört, und da ſie ihren künſtleriſchen Sinn überall geltend
machten, wollten ſie das Zufällige auch aus der Geſchichte
verdrängen. Auch in ihr ſollte Alles mit innerer Nothwen¬
[272]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. digkeit zuſammenhängen, ſie ſollte in Darſtellung allgemeiner
Wahrheiten mit der Poeſie wetteifern. Mit feinem Sinne
folgte man den Spuren der göttlichen Gerechtigkeit, die der
Menſchengeſchichte eingeprägt waren; an der Maſſe der That¬
ſachen ging man gleichgültig vorüber und wendete ein volles
Intereſſe nur den Begebenheiten zu, in welchen man fand,
was man ſuchte, einleuchtende Rathſchlüſſe der weltregierenden
Götter, welche den Gottesfürchtigen nicht fallen laſſen und die
Ungerechtigkeit an Völkern, Städten und Familien ſtrafen.
Wer wird dieſe ideale Auffaſſung unbedingt verwerfen? Ihr
einſeitiges Vorherrſchen mußte aber der Wiſſenſchaft ſchaden;
die Ueberlieferung mußte eine lückenhafte bleiben und unwill¬
kürlich mußte man dahin kommen, die Ueberlieferung den
ethiſchen Geſichtspunkten anzubequemen. Sie wurden auf Koſten
des wirklichen Sachverhalts zur Geltung gebracht; man legte
ſich die Thatſachen ſo zurecht, daß ſie an geiſtigem Inhalte
reicher und bedeutungsvoller wurden.
So ſahen die Griechen in den gleichzeitigen Niederlagen
der Barbaren in Hellas und Sicilien ein Gericht der Götter
über frevelhafte Eroberungsgelüſte. Damit nun das Plan¬
mäßige der Vorſehung noch augenſcheinlicher werde, mußten
die Schlachten bei Himera und Salamis auf einen Tag fallen;
eben ſo mußten die Hellenen in Plataiai und Mykale an dem¬
ſelben Tage geſtritten haben und die in Aſien kämpfenden
durch wunderbare Vermittelung inne werden, daß ihre Waffen¬
brüder in Böotien gleichzeitig für dieſelben Götter und daſſelbe
Vaterland kämpften.
Man gewöhnte ſich ſo ſehr, in der Geſchichte den Aus¬
druck gewiſſer Ideen zu finden, daß man auch wiederum die
Ideen in Geſchichte umſetzte und aus ihnen Geſchichte machte,
nicht um ſich und Andere zu täuſchen, ſondern um die Wahr¬
heiten eindringlicher zu machen, als wenn ſie in Lehrform
mitgetheilt würden. So verfuhr man namentlich mit gewiſſen
Lieblingsgedanken des Volks, denen wir daher in den ver¬
ſchiedenſten Formen wieder begegnen. Ein ſolches Lieblings¬
thema iſt die enge Verbindung, in welcher die Künſtler und
[273]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. Weiſen mit der Gottheit ſtehen, und die Weihe, welche auf
ihren Perſonen ruht. Mißwachs und Krankheit tritt ein, wenn
fremde Meiſter, die zu Ehren der Gottheit arbeiten, durch den
Neid einheimiſcher Fachgenoſſen aus einem Lande ausgetrieben
werden. Mit Wunderhänden retten die Götter den frommen
Sänger aus drohender Gefahr oder rächen ſeinen Tod an dem
ſichern Frevler. Ein gottgeſandter Traum hindert den feind¬
lichen Feldherrn das Leichenbegängniß des Sophokles zu ſtören.
Sokrates und Platon werden am Geburtsfeſte der Gottheiten
geboren, mit welchen ihre geiſtige Thätigkeit in beſonderem
Zuſammenhange zu ſtehen ſchien.
So zieht ſich die Sagenbildung, Menſchliches und Gött¬
liches durch unzählige Fäden verbindend, tief in die Geſchichte
hinein, und wir können ſagen, daß die poetiſche Thätigkeit,
wie ſie bei andern Nationen in aufgeregten Zeiten zu erwachen
pflegt, bei den Hellenen etwas Bleibendes war, ſo lange ihr
Volksgeiſt lebendig war. Wuchernden Schlingpflanzen gleich
ſchließen ſich ſinnreiche Legenden an alle Tempel, Statuen und
Weihgeſchenke an. Das Nemeſisbild in Rhamnus ſollte aus
einem Marmorblocke gemeißelt ſein, welchen die Perſer in
ihrem Uebermuthe heran geſchleppt hätten, um ein Denkmal
ihrer Beſiegung von Athen daraus zu machen, und das uralte
Blitzmal im Tempel von Olympia deutete man als ein Wahr¬
zeichen, welches Zeus dem Phidias gegeben habe, um ihm
ſeine Zufriedenheit mit dem vollendeten Tempelbilde auszu¬
drücken. So bildete ſich überall ein Durcheinander von Wahr¬
heit und Dichtung, an dem man ſeine Freude haben kann,
wenn man die fröhliche Triebkraft des Volksbewußtſeins ins
Auge faßt, welches wie ein üppiger Boden Saat und Wild¬
kraut emporſchießen läßt, während es für den Hiſtoriker eine
peinlich ſchwierige Aufgabe iſt, Wirkliches und Erdichtetes zu
ſcheiden. In manchen Fällen ſind ſichere Kennzeichen vor¬
handen; man ſieht, daß gewiſſe Erzählungen nur gemacht ſind,
um einen Gedanken zum Ausdrucke zu bringen oder einen be¬
ſtehenden Gebrauch zu erklären; das Wunder verräth die Spur
der dichtenden Phantaſie oder die Wiederkehr derſelben Züge
Curtius, Alterthum. 18[274]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. in verſchiedenen Ueberlieferungen. Aber in vielen Fällen fehlen
die ſicheren Kennzeichen, und zwar nicht nur bei Erzählungen,
welche ſich für hiſtoriſche Ueberlieferung ausgeben, ſondern
auch bei Ausſprüchen, welche bedeutenden Männern zugeſchrieben
werden. Es iſt bekannt, welche Fülle von Denkſprüchen im
Munde des Volks lebte und wie ein guter Theil helleniſcher
Lebensphiloſophie in ihnen niedergelegt war. Die angeborene
Gabe gnomiſcher Ausdrucksweiſe wurde bei den Hellenen ſorg¬
fältig geübt, und es gelang ihnen, im entſcheidenden Augen¬
blicke ein Wort zu ſagen, wie es nicht treffender erſonnen
werden konnte, aber eben ſo häufig wurde auch nachträglich
ein Wort in Umlauf geſetzt, welches für einen beſtimmten Vor¬
gang ſo paſſend war, daß es in die Erzählung deſſelben auf¬
genommen wurde und zu ihrer dramatiſchen Belebung diente.
Wie ſchwer iſt es, über die hiſtoriſche Gültigkeit ſolcher Aus¬
ſprüche zu urtheilen! Wer will z. B. mit Sicherheit ent¬
ſcheiden, ob bei Thermopylai wirklich die berühmten Worte
geſprochen ſind, daß es ſich im Schatten der feindlichen Ge¬
ſchoſſe um ſo beſſer fechten laſſe? Die Griechen ſelbſt hatten
nicht das Bedürfniß, Echtes und Unechtes mit kritiſcher Kälte
aus einander zu halten; ſie glaubten, was ſie gerne hörten,
was inhaltsvoll war und charakteriſtiſch, und was den Um¬
ſtänden und Perſonen entſprach. Die innere Wahrheit feſſelte
und befriedigte ſie, die hiſtoriſche Wirklichkeit war ihnen gleich¬
gültig; ſie wurde umgeſtaltet, wo ſie ihren Neigungen nicht
entſprach, und ſchwerlich haben es viele Athener dem Thuky¬
dides Dank gewußt, daß er zuerſt den wirlichen Hergang beim
Sturze der Tyrannen mit der nüchternen Wahrheitsliebe des
Hiſtorikers feſtgeſtellt hat.
Wir halten es für die Aufgabe der Geſchichtsforſchung,
bei wichtigen Culturepochen die allmähliche Vorbereitung der¬
ſelben, das Zuſammentreffen aller mitwirkenden Urſachen und
die ſtufenweiſe fortſchreitende Entwickelung nachzuweiſen. An¬
ders war es bei den Griechen. Wie ſie die Naturereigniſſe
nicht auf namenloſe Kräfte und abſtrakte Geſetze zurückführten,
ſondern auf perſönliche Weſen, die man ſich frei handelnd
[275]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. dachte, ſo wollte man ſich auch die großen Ereigniſſe der Ge¬
ſchichte, die Gründungen von Staaten und Staatsordnungen,
die Stiftungen heiliger Weihen, die Einführung von Künſten,
welche ein hochgeſchätzter Volksbeſitz geworden waren, nicht
als etwas allmählich und unter mannigfaltigen Einflüſſen zu
Stande Gekommenes denken, ſondern als die freie That eines
Mannes, als die Gabe eines von den Göttern begnadigten
Menſchen. Wo kunſtfleißige Dädaliden ihre Werkſtätten hatten,
da gab es auch einen Dädalos, der zuerſt und auf einmal
den formloſen Bildklötzen die Glieder gelöſt und athmendes
Leben eingehaucht haben ſollte. Wo Homeriden ſangen, mußten
ſie auch einen Homeros haben und der Sitz ihrer Schule
wurde der Ort ſeiner Geburt. Nun konnten zwar diejenigen,
welche dieſen Ueberlieferungen ruhig nachdachten, ſchwerlich
verkennen, daß der Stammvater der vielen Homeridenge¬
ſchlechter, der Sohn des Flußgottes, eben ſo wenig wie die
anderen heroiſchen Stammväter von Geſchlechtern und Völkern,
Pelasgos und Hellen, Kadmos und Dädalos, ein Weſen ihres
Gleichen ſei, aber es war nicht Sitte anders von ihnen zu
ſprechen und zu denken; man wollte ſich von der naiven Volks¬
anſchauung nicht trennen, man ſcheute ſich, ihr mit vornehmem
Beſſerwiſſen gegenüber zu treten. Man hatte kein Gefallen
daran, das, was als ein Ganzes vorlag, in ſeine Elemente
aufzulöſen; man wollte Einem, und zwar einem beſtimmten
und bekannten Manne, Alles danken und ſtellte ſich ihn ſo
leibhaftig vor, daß auch ſein äußeres Bild in feſten Zügen,
wie ein nach dem Leben gemachtes, dem ganzen Volke gegen¬
wärtig war.
Dies Feſthalten an der Perſönlichkeit hängt mit der ganzen
Anſchauungsweiſe der Hellenen zuſammen; ſie führten Athen
mit ſeiner Demokratie auf Theſeus zurück, ſie nannten lykur¬
giſch und ſoloniſch, was ohne Aufwand von Studium und
Scharfſinn als einer viel ſpäteren Zeit angehörig ſich erkennen
ließ. Man ſtellte in einzelnen Perſonen, wie in Solon und
Kroiſos, die verſchiedenen Culturen der alten Welt einander
gegenüber. Man ließ diejenigen, welche in geiſtigem Zuſammen¬
18*[276]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie König
Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬
ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬
mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang
nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen
Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger
Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde,
und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den
Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben.
Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬
chiſchen Geiſtes, in welcher ſich eine wiſſenſchaftlichere Ge¬
ſchichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine ſo tief und
vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte.
Man denke, was ſeit Anfang der Olympiaden auf engem
Raum in den zahlloſen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬
rende Bewegung ſtattfand, da ſich die neuen Staaten auf den
Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren
Kämpfen ihre gegenſeitigen Verhältniſſe geſtalteten. In den
meiſten Staaten folgten raſche Umſchwünge auf einander, Um¬
ſturz des Fürſtenthums, Aufhebung der Geſchlechtsprivilegien,
Gewaltherrſchaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen
bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles,
den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬
tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und dieſe
Geſchäftigkeit bezog ſich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬
heiten, auf Regierung und Geſetzgebung, auf Ausbildung der
Feſte, auf Gymnaſtik und Kunſt, ſondern es ging weit über
die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬
deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzſtädte an
allen Geſtaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die
Gemeinden waren, um ſo unmittelbarer wurde Alles in die
raſtloſe Geſchäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand
unbetheiligt, es blieb kein Platz ſtiller Beſchaulichkeit; man
hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung
war zu mächtig, um ſie überſehen und beherrſchen zu können;
man machte zu viel Geſchichte, um Geſchichte zu ſchreiben.
[277]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. Um ein Gegenbild vor Augen zu haben, denke man an Aegyp¬
ten, das abgeſchloſſene, ſelbſtgenugſame Flußland, das in ſeinen
von der Natur vorgezeichneten Lebensgewohnheiten Jahr¬
tauſende lang verharrte. Seit König Menes, ſagt Herodot,
habe ſich in Aegypten nichts verändert; alſo mit dem Anfange
der Geſchichte hört die eigentliche Geſchichte auf, welche doch
ohne eine lebhafte Culturbewegung nicht zu deuten iſt. Dort
hatte man Muße, Alles zu regiſtriren, Denkmäler und Geräthe
mit Schrift zu überkleiden, und ſchon aus der Langenweile,
die, wenn Herodot Recht hat, im Nillande geherrſcht haben
muß, mag man ſich die Schreibſeligkeit Aegyptens erklären
im Gegenſatze zu der Abneigung der älteren Hellenen gegen
umfaſſenderen Schriftgebrauch.
Es liegt alſo nicht bloß an dem Volkscharakter, ſondern
auch an den geſchichtlichen Verhältniſſen, wenn die Griechen
in der Ausbildung ihres hiſtoriſchen Sinns hinter anderen
Völkern zurück geblieben ſind. Wo Geſchichtskunde gedeihen
ſoll, bedarf es eines Standpunkts, von dem man die menſch¬
lichen Dinge überblicken kann. Solchen Ueberblick hatten im
älteren Griechenland nur die Prieſterſchaften, welche an den
Hauptplätzen des nationalen Gottesdienſtes ihren Sitz hatten.
Hier allein hatte man einen freieren Horizont, hier über¬
ſah man Mutterland und Colonien; von hier leitete man,
ſo lange es möglich war, die inneren Entwickelungen ſo wie
die Anſiedelungen im Auslande, hier zeichnete man die Be¬
gebenheiten der griechiſchen Welt auf. Aber die Aufzeichnung
erfolgte von Anfang an in prieſterlichem Intereſſe; ſie ſollte
dazu dienen, das Anſehen der gottesdienſtlichen Anſtalten zu
ſtützen, indem ſie darauf ausging, in den Wendungen menſch¬
licher Schickſale die genaue Erfüllung göttlicher Wahrſprüche
nachzuweiſen. Die Geſchichte ſollte eine Rechtfertigung der
Orakel ſein, ein Antrieb für Fürſten, Gemeinden und Privat¬
leute, ſich vor allen Unternehmungen in Delphi Rath zu holen,
und wie lange dieſe Tendenz die Geſchichtſchreibung beherrſcht
hat, zeigt Herodot am deutlichſten.
Für eigentliche Staatengeſchichte fehlten in Griechenland
[278]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. die Anregungen, welche die Reiche des Morgenlandes dar¬
boten, die ein feſtes Centrum hatten, von denen aus über
Wohl und Wehe von Millionen entſchieden wurde; die An¬
regungen, welche von Dynaſtien ausgehen, deren Intereſſe es
iſt, eine Reichsgeſchichte zu haben und die Heerzüge, Bünd¬
niſſe, Eroberungen, Tributzahlungen in Jahrbüchern zu ver¬
zeichnen. Nur hier hat ſich ein Archivweſen ausgebildet, das
in den griechiſchen Republiken ſehr vernachläſſigt blieb, und
eine genaue Chronologie. Wie bezeichnend iſt dagegen für die
Griechen ihre ungenaue und nach unſerm Maßſtabe dilettan¬
tiſche Art der Zeitbeſtimmung! Da werden auch bei den ſorg¬
fältigſten Berichterſtattern die mit allen Einzelheiten erzählten
Hergänge nur nach Sommer und Winter eingetheilt; die Jahre
werden nicht von beſtimmten Anfangspunkten gezählt oder nach
allgemein gültigen Normen bezeichnet, ſondern nach Gemeinde¬
ämtern, die von Stadt zu Stadt verſchieden ſind, und nicht
bloß in der kunſtmäßigen Geſchichtſchreibung, ſondern in den
Urkunden ſelbſt, vermißt man bis in ſpäte Zeit eine deutliche
und zweckmäßige Datirung. Von den größeren Epochen aber
erhielt keine allgemeinere Geltung; jede einzelne wurde wieder
verſchieden berechnet und Herodot mußte an die Dynaſtien
des Morgenlandes anknüpfen, um chronologiſche Haltpunkte
zu gewinnen. Erſt als die Volksgeſchichte der Griechen ſchon
abgelaufen war, kam die Olympiadenrechnung zu allgemeiner
Geltung, und alexandriniſcher Gelehrſamkeit blieb es vorbe¬
halten, den ganzen Geſchichtsſtoff chronologiſch zu ordnen.
Auch hier finden wir bei den Griechen eine Abneigung gegen
das Fachwerk, gegen alles mehr Aeußerliche und Mecha¬
niſche; eine Einſeitigkeit, deren nothwendige Folge die Un¬
vollſtändigkeit und Unordnung der nationalen Ueberlieferung
ſein mußte.
Mit den ſtaatlichen Zuſtänden, welche der Entwickelung
geſchichtlicher Wiſſenſchaft ungünſtig waren, hängt auch die
Zerſpaltung des Volks zuſammen und die feindliche Spannung
zwiſchen Staaten und Stämmen, unter deren Einfluß eine
wahre Volksgeſchichte nicht zu Stande kommen konnte. Und
[279]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. doch konnte ein Grieche viel eher über einen fremden Staat
gerecht urtheilen, als über die Gegenpartei in der eignen
Stadt. Die Griechen waren von Natur ein leidenſchaftliches
Volk; je größer die Energie des politiſchen Lebens wurde,
um ſo mehr warf ſich die ganze Heftigkeit ihres Tempera¬
ments auf dieſe Seite, und wo eine demokratiſche Verfaſſung
die volle Redefreiheit verbürgte, waren alle Schranken der
Convenienz beſeitigt. Auf dem Markte drängte ſich Tag für
Tag die Bürgerſchaft zuſammen, redſelig, neugierig, ſpottluſtig.
Alles wurde in die Oeffentlichkeit gezogen; jede Lächerlichkeit,
jeder Fehltritt dem Publikum preisgegeben und ein treffender
Spottname ſorgte dafür, daß der Makel nicht ſo ſchnell ver¬
geſſen wurde. Am meiſten hatten natürlich die hervorragenden
Perſonen unter der Freizüngigkeit zu leiden und darum wurde
die Geſchichte der großen Bürger von Athen am meiſten ent¬
ſtellt. Der Marktklatſch ging auch in die Litteratur über,
theils durch die Komödie, welche unbekümmert um die Pflicht
der Treue ihre Porträtfiguren ausmalte, theils durch die
Hiſtoriker, welche zeitgenöſſiſche Geſchichte ſchrieben und die¬
ſelbe mit Anekdoten zu würzen befliſſen waren. Wer weiß
nicht, wie ſehr die Ueberlieferung durch den in Haß und Vor¬
liebe thätigen Parteigeiſt entſtellt iſt und daß dieſe leiden¬
ſchaftliche Erregtheit in alle Verhältniſſe überging und auch
die edelſten Geiſter ergriff! Nicht nur die Rhetoren behan¬
delten die Geſchichte nach ihren augenblicklichen Redezwecken
und wußten ihren Mitbürgern, um ihrem Stolze zu ſchmeicheln,
glorreiche Erfolge ihrer Politik vorzuſpiegeln, welche in dieſer
Weiſe niemals errungen worden waren, ſondern auch die Ver¬
faſſer größerer Geſchichtswerke ſahen die ganze Folge der Be¬
gebenheiten nur von einſeitigem Parteiſtandpunkte an, Xenophon
als Lakoniſt, Polybios als Achäer. Auch zwiſchen Akademie
und Lyceum herrſchte eine Spannung, welche die Philoſophen
gegen einander ungerecht machte; ja als die Gegenſätze des
politiſchen Lebens ſich längſt abgeſtumpft hatten, gingen die
Parteitendenzen noch immer fort, und in der peripatetiſchen
Schule erſchienen Schriften, die es ſich zur Aufgabe ſtellten,
[280]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.über alles Unrecht, an dem die attiſche Demokratie Schuld
ſei, ein möglichſt vollſtändiges Sündenregiſter aufzuſtellen.
Das ſind die Schwächen der Griechen auf dem Felde der
Geſchichte, und daraus erklärt ſich, warum ſie als Pfleger
geſchichtlicher Wahrheit keine ſo allgemeine Anerkennung ge¬
funden haben, wie in Poeſie, bildender Kunſt, Philoſophie und
Beredſamkeit, und warum ſie in einem der wichtigſten Zweige
höherer Cultur nach dem Urtheile weiſer Männer ihres eig¬
nen Volks hinter den Völkern des Morgenlandes zurückge¬
blieben ſind.
Aber ſind ſie denn in der That zurückgeblieben?
Das iſt die Frage, welche uns auf die andere Seite der
Betrachtung führt.
Gewiß hat die Geſchichte der Hellenen lange einen ſagen¬
haften Charakter behalten. Ihre Künſtler haben die Hiſtoria
dargeſtellt, wie ſie Weihrauch ſtreut in die Opferflamme, welche
vor dem Homeros entzündet iſt, und man hat in der urtheilsloſen
Ueberſchätzung des Dichters einen Beweis für die lang an¬
dauernde Unreife des geſchichtlichen Sinns gefunden. Aber
man erwäge den eigenthümlichen Charakter der griechiſchen
Volksſage! Da ſind keine Nebelbilder, die in unſichere Däm¬
merung zerfließen, keine ſymboliſchen Figuren, die nur etwas
bedeuten ſollen, was dem religiöſen Glauben angehört; ſondern
helle, lebensvolle Geſtalten, die in beſtimmten Gegenden zu
Hauſe ſind und beſtimmten Stämmen angehören. Es ſind
Geſtalten, im Morgendufte der Sage vergrößert und verklärt,
aber keine Phantaſiegebilde, ſondern es ſind hiſtoriſche Ge¬
ſtalten; was ſie vollbringen, ſind wirklich vollbrachte Thaten
griechiſcher Stämme, deren Ruhm auf ihre alten Heerfürſten
übertragen iſt. Die Mauern von Ilion und Mykenai zeugen
noch heute von der Herrſchermacht dieſer Fürſten, von ihrem
Reichthum und ihren auswärtigen Verbindungen. Wie lange
hielt man die lykiſchen Baumeiſter in Argolis für eitel Fa¬
belei, jetzt ſind wir im Stande, an den Burgmauern von Ar¬
golis die lykiſche Technik nachzuweiſen. Mit bewunderungs¬
würdiger Treue haben die Hellenen ihre Sage gehütet; ſie
[281]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. war der natürliche Niederſchlag deſſen, was das Volk über
ſeine Vorzeit wußte; was ſich aber ſo im Volksbewußtſein
feſtgeſetzt und als Ausdruck deſſelben bewährt hat, trägt einen
Kern unzweifelhafter Wahrheit in ſich. Die ſorgfältigſten Er¬
mittelungen können täuſchen, Herodot und Thukydides können
irren, aber die echte Volksſage iſt, richtig verſtanden, das Ge¬
wiſſeſte, was es giebt.
Die Muſe des Epos war die Tochter der Erinnerung;
der Sänger war der Hüter derſelben, das lebendige Archiv.
Darum war kein Gegenſatz zwiſchen Dichtung und Geſchichte.
Die Geſchichte der Hellenen war poetiſcher als bei andern
Völkern, aber die Poeſie geſchichtlicher. Inhalt des Epos
war das bewegte Menſchenleben im Staate und im Kriege,
zu Land und zu Meer; die Darſtellung deſſelben alſo die beſte
Schule des Gedächtniſſes, die beſte Vorübung für jede ge¬
ſchichtliche Darſtellung, und je enger ſich die ſpätere Poeſie
dem Epos anſchließt, um ſo mehr theilt ſie dieſe hiſtoriſche
Richtung. Jedes Gedicht Pindar's, das den eben gewonnenen
Sieg feiert, knüpft das Glück der Gegenwart an die Vorzeit
an; wie Herodot, ſo faßte Aeſchylos die vorzeitigen und gegen¬
wärtigen Kämpfe zwiſchen Aſien und Europa in ein Bild zu¬
ſammen. Mit echt hiſtoriſchem Sinne nahm die griechiſche
Kunſt das Gegenwärtige nie als einen einzelnen Punkt, ſondern
in lebendigem Zuſammenhange mit der Vergangenheit, und
eben ſo lebte man der Ueberzeugung, daß man ſpäteren Ge¬
ſchlechtern Rechenſchaft zu geben habe. So weiſt Pindar den
Tyrannen von Syrakus auf das Urtheil der Geſchichte hin:
»Laß dich nicht von Schmeichlern bethören. Der Spruch der
Nachwelt richtet über unſer Leben durch Geſchichtſchreiber und
Sänger!« Als ſich nun der Geſchichtſchreiber vom Sänger
trennte und ſeinem beſonderen Berufe nachging, fand er im
griechiſchen Staatenleben freilich keinen Stoff zu einer äußer¬
lich regiſtrirenden Annaliſtik, einer im conventionellen Stile
abzufaſſenden Hof- und Reichsgeſchichte, aber er fand einen
Stoff, der ſich garnicht bearbeiten ließ, ohne daß man in die
inneren Beziehungen des menſchlichen Lebens eindrang, eine
[282]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. Geſchichte, welche ſich nicht einförmig um einen Mittelpunkt
bewegte und von den Launen einzelner Machthaber beſtimmt
wurde, ſondern eine inhaltreiche, vielſeitige Volksgeſchichte, in
welcher zum erſten Male alle Formen bürgerlicher Gemein¬
ſchaft klar zu Tage traten. Dies reiche und raſch pulſirende
Leben zu umfaſſen, würde für die geſchichtliche Kunſt eine über¬
mäßig ſchwere Aufgabe geweſen ſein, wenn nicht erleichternde
Umſtände hinzugetreten wären. Dahin gehört die Einfachheit
der geſelligen Verhältniſſe, die Unabhängigkeit ihrer Ent¬
wickelung von fremden Einflüſſen, die Kleinheit der Schau¬
plätze, die Oeffentlichkeit des Gemeindelebens und endlich das
Normale im Entwickelungsgange der Geſchichte. Denn wenn
man wahrnahm, daß in den verſchiedenſten Staaten um die¬
ſelbe Zeit das Fürſtenthum in Geſchlechterherrſchaft überging,
dann die Hebung des Mittelſtandes eintrat, dann die Durch¬
gangsperiode der Tyrannis und endlich die Zeit der Geſetz¬
gebungen, welche den Staaten ihr geſchichtliches Gepräge gab,
ſo mußte ſich aus dieſer Wahrnehmung die Vorſtellung einer
nicht zufällig, ſondern geſetzmäßig ſich entwickelnden Volksge¬
ſchichte ergeben. Hier war eine rein äußerliche Betrachtung
der Dinge unmöglich; hier mußte die Geſchichte gleich Cultur-
und Sittengeſchichte und Verfaſſungsgeſchichte werden, und in¬
dem der dankbare Stoff mit dem künſtleriſchen Sinne, der
dem Volke eigen iſt, geſtaltet wurde, erwuchs hier zuerſt eine
Volksgeſchichte im vollen und höchſten Sinne des Worts.
Auf die einzelnen Leiſtungen einzugehen iſt nicht dieſes
Orts, wo nicht eine Geſchichte der hiſtoriſchen Kunſt der
Griechen gegeben werden ſoll, ſondern nur eine Charakteriſtik
ihres geſchichtlichen Sinns und der Verhältniſſe, unter denen
er ſich entwickelt hat. Alſo ſoll nur in kurzen Worten noch
angedeutet werden, wie die Hellenen dem Gange der Welt¬
begebenheiten gefolgt ſind.
Als Kind der Sagenpoeſie begann die, Geſchichte mit
Sammlung der Erinnerungen, die aus der Vorzeit nachklangen.
Die erſte ſelbſtthätige Forſchung aber entwickelte ſich am Fer¬
nen und Fremden. In Verbindung mit Handel und Coloni¬
[283]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.ſation erfolgte die Auskundſchaftung der Meere und Länder;
die Küſten wurden aufgezeichnet, ihre Einwohner beſchrieben.
Dadurch bekam die Geſchichte der Griechen ihren Hintergrund,
die Gränzen zwiſchen Hellenen und Barbaren wurden abge¬
ſteckt, das Nationalbewußtſein geweckt; der Schauplatz der
Geſchichte war erforſcht, aber die Geſchichte fehlte, die zu einer
einheitlichen Darſtellung geeignet geweſen wäre.
Da beginnt das erſte große Drama; der Verſuch der
Barbaren, Griechenland und ſeine Colonien in die perſiſch¬
phönikiſche Geſchichte herein zu ziehen, und die Abwehr dieſes
Verſuchs. Dem Kampfgetümmel folgt wie ein Echo das Werk
Herodot's, und zwar iſt es kein hochtrabender Panegyricus,
ſondern ein ruhiges ernſtes Weltgemälde, in welchem Freund
und Feind mit hohem Wahrheitsſinne beurtheilt werden; auch
der Ruhm Athens, des Vorkämpfers im Freiheitskriege, iſt
nicht das Ziel, welches er als Parteigänger im Auge hat,
ſondern nur das Ergebniß unbefangener Beurtheilung. Athen
betritt die glorreiche, aber dornenvolle Bahn eines Staats,
welcher im zerfallenen Vaterlande zur Führung ſich berufen
fühlt; der Kampf zwiſchen dem perikleiſchen Athen und Sparta
iſt die nächſte Epoche. Kaum entbrennt der Krieg, ſo erkennt
Thukydides die entſcheidende Bedeutung deſſelben für das Va¬
terland; der Mann, der wie ein Wunder daſteht in der Ge¬
ſchichte des griechiſchen Geiſtes; ſo eigenartig iſt er in ſeinem
ganzen Weſen; ein voller Grieche und doch frei von allen
Schwächen, die wir an ſeinem Volke kennen gelernt haben;
mitten im attiſchen Parteitreiben ſtehend und doch mit einer
unbegreiflichen Erhabenheit und Ruhe des Geiſtes daſſelbe
überblickend; ein Mann ohne Vorgänger und Nachfolger, von
einer Schärfe des Blicks für hiſtoriſche Verhältniſſe, wie wir
ſie nur bei Ariſtoteles wiederfinden.
So wie ſich neben dem erſchöpften Griechenland das make¬
doniſche Reich erhebt, deſſen Fürſten mit klarem Bewußtſein
das Ziel verfolgen, durch Verbindung helleniſcher Bildung
mit nordiſcher Volkskraft die Führung Griechenlands an ihr
Haus zu bringen, ſo erkennt auch Theopompos den Mittel¬
[284]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. punkt der weiteren Geſchichte in Philippos und macht ihn
zur Hauptperſon ſeines Geſchichtswerks.
Dann folgen die Griechen einerſeits dem Zuge Alexander's
und beginnen ihre Arbeit im helleniſchen Morgenlande, indem
ſie die Archive deſſelben öffnen, die Schätze der dort geſam¬
melten Weisheit verwerthen und im griechiſchen Sinne phöni¬
kiſche, babyloniſche, ägyptiſche, indiſche Geſchichte bearbeiten,
andererſeits behandeln ſie die eigene Volksgeſchichte in neuem
Sinne. Darin können wir aber wohl mit Recht ein ganz be¬
ſonderes Zeugniß für die Energie des geſchichtlichen Sinnes
der Hellenen erkennen, daß ſie die heimathliche Staatenge¬
ſchichte, nachdem die Staaten ihre geſchichtliche Bedeutung ein¬
gebüßt hatten, nicht bei Seite werfen und dem Reize des
Neuen folgen, ſondern in richtigem Verſtändniß des beſonders
reichen Inhalts ihrer Geſchichte den vollendeten Entwickelungen
mit geſammeltem Geiſte nachdenken, und es beginnt mit dieſem
Nachdenken eine neue Methode geſchichtlicher Betrachtung, deren
Grundzüge Ariſtoteles entwirft. Man ſichtet und ordnet die
ganze Erinnerung von Jahrhunderten, man ſammelt Urkunden,
man ergänzt und berichtigt die Ueberlieferung, man gruppirt
und beurtheilt die verſchiedenartigen Verfaſſungen, beobachtet
die Uebergänge und Entartungen und ſucht gleichſam eine
Phyſiologie des Gemeindelebens in geſunden und kranken Zu¬
ſtänden zu entwerfen. Alles wird herangezogen: die Volks¬
gebräuche, die Sprache, die Sprichwörter, und ſo entwickelt
ſich aus dieſer rückwärts gewendeten Betrachtung in der Schule
des Ariſtoteles eine wiſſenſchaftliche Culturgeſchichte, wie ſie
kein anderes Volk von ſeiner eigenen Vergangenheit beſitzt.
Die ethiſche Behandlung der Geſchichte, nach welcher der
griechiſche Geiſt von Anfang an geſtrebt hat, wird jetzt im
Sinne ſtrenger Wiſſenſchaft vollzogen, Philoſophie mit Ge¬
ſchichte in die rechte Verbindung geſetzt und ein Schatz von
hiſtoriſcher Erkenntniß zuſammengetragen, deſſen trümmerhafte
Ueberreſte noch heute eine unerſchöpfliche Quelle politiſcher
Belehrung ſind.
Es haben aber die Hellenen mit dieſer Ernte nicht ab¬
[285]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. geſchloſſen, wie denn auch das geſchichtliche Leben noch nicht
erloſchen war. Es erfolgten neue und glückliche Freiheitsbe¬
ſtrebungen, neue Staatenbildungen; im Achäerbunde erhebt ſich
der älteſte Hellenenſtamm zu verjüngter Kraft, und wie es
ſich in Theopomp's Zeit um das Verhältniß zu Makedonien
handelte, ſo jetzt um das zu Rom. Und da tritt uns nun der
helle Geiſt des Polybios entgegen, welcher, mitten in den
Weltbegebenheiten ſtehend und handelnd, zugleich den noth¬
wendigen Gang derſelben erkannte. Obgleich ein begeiſterter
Patriot, ſieht er doch ein, daß Griechenland nur als Glied
des neuen großen Weltganzen, deſſen Führer die Römer ſind,
fortbeſtehen könne. Dabei gereicht es ſeinem helleniſchen Ge¬
fühle zur Beruhigung, daß nicht der Zufall mit den Schick¬
ſalen der Völker ſpiele und daß Roms Größe nicht ein Erfolg
des blinden Glücks ſei, ſondern eine durch Tugend erworbene
und von den Göttern gewollte. Ihm gebührt daher die Hege¬
monie in dem Staatenſyſteme, welchem die Hellenen ſich ein¬
ordnen müſſen, und ihr Glück hängt davon ab, daß ſie ſich
mit dem Herrn der Welt geiſtig ſo verſtändigen, wie Polybios
ſelbſt mit den bedeutendſten Römern ſeiner Zeit.
So ſteht Polybios zwiſchen den beiden Hauptvölkern der
alten Welt mit einer ſo großartigen Miſſion, wie ſie einem
Hiſtoriker ſelten zu Theil wird, auf einem Wendepunkte der
alten Geſchichte, auf dem er rückwärts und vorwärts ſchaut.
Denn er erkennt auch, daß daſſelbe Rom, deſſen Weltherr¬
ſchaftsberuf er vertritt, im Kriege mit Hannibal Wunden em¬
pfangen habe, von denen die Volkskraft Italiens ſich nicht
wieder erholen könne, und er ſagt es voraus, daß auch Roms
Herrſchaft durch Sittenverderbniß und Eroberungsſucht ſeinem
Verfalle entgegengehe. Das ſind, im Zeitalter der Scipionen
ausgeſprochen, Andeutungen, welche von einer Reife des Ur¬
theils zeugen, die nur aus der Verbindung hiſtoriſcher For¬
ſchung und philoſophiſcher Bildung, wie ſie bei den nach¬
ariſtoteliſchen Griechen vorkommt, ſich erklären läßt.
Als nun das kaiſerliche Rom die Verſchmelzung der helle¬
niſchen und italiſchen Cultur, für welche Polybios gewirkt
[286]Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. hatte, durchführte, da waren es wiederum nicht Römer, ſon¬
dern Griechen, welche den neuen, Standpunkt der Geſchichte
auch in der Wiſſenſchaft geltend machten. Dionyſios durch¬
forſchte die römiſche Vorzeit, um ſeinen Landsleuten die Römer
als ein ebenbürtiges und ſtammverwandtes Volk darzuſtellen.
Diodoros faßte die Geſchichte aller Völker zuſammen, welche
Rom als Erbſchaft untergegangener Reiche beherrſchte, und
Strabon entwarf ſein großes Weltgemälde, mit philoſo¬
phiſchem Geiſte das Ganze umfaſſend und zugleich mit
hiſtoriſcher Gelehrſamkeit das Einzelne durchdringend.
So kommen wir zu dem Schluſſe, daß die Hiſtorie mit
Recht ihren griechiſchen Namen trägt. Bei den Griechen iſt
ſie als Wiſſenſchaft zu Hauſe; ſie haben Erd- und Völkerkunde
mit Staatengeſchichte, Ethik mit Politik in die fruchtbarſte
Verbindung geſetzt; ſie haben nicht eine Philoſophie der Ge¬
ſchichte als beſondere Wiſſenſchaft, ſondern die Geſchichte ſelbſt
mit philoſophiſchem Geiſte als eine ethiſche Wiſſenſchaft ge¬
gründet. Sie haben bei allen Wendepunkten der Volksent¬
wickelung Männer gehabt, die mit hellem Blick die Bedeutung
der Gegenwart erkannten, ſie haben auch für die anderen
Völker gedacht und geſchaffen, ihre Ueberlieferungen geordnet,
ihren geſchichtlichen Beruf ihnen gedeutet. Gewiß haben wir
alſo ein gutes Recht, ſie trotz ihrer Schwächen auch auf dem
Gebiete der Geſchichte als ein hervorragend begabtes Volk
anzuſehen, und den mancherlei Verirrungen gegenüber, welche
auch in neuſter Zeit auftauchen, indem man die Geſchichte der
Menſchheit als einen Tummelplatz blinder Naturgewalten dar¬
ſtellen und ſolche Betrachtungsweiſen einführen will, bei welchen
man ſich von der irrigen Annahme eines freien Menſchen¬
willens und einer göttlichen Weltregierung losmachen ſoll,
haben uns die Hellenen ein Vorbild gegeben, wie wir in der
Geſchichte das Walten ſittlicher Mächte und die Offenbarung
eines göttlichen Willens zu erkennen haben. Sie haben der
hiſtoriſchen Forſchung die Weihe gegeben, welche zu erhalten
unſere Aufgabe iſt.
XVII.
Philoſophie und Geſchichte.
Wir feiern in den beiden Männern, welchen die jähr¬
lichen Gedenktage gewidmet ſind, dem Philoſophen unter den
Königen und dem Könige unter den Philoſophen, den Stifter
und den Erneuerer unſerer Akademie. Die Erneuerung ſollte nur
eine würdigere Herſtellung der urſprünglichen Stiftung ſein.
Indeſſen wurde in weſentlichen Punkten von dem Früheren
abgewichen, und merkwürdiger Weiſe gerade in dem Punkte,
daß die Philoſophie, welche durch den Philoſophen von Fach
ausgeſchloſſen worden war, weil die Spekulation mehr eine
Sache des einſamen Forſchers als eine durch gemeinſame
Arbeit zu löſende Aufgabe ſei, durch König Friedrich in den
Kreis der akademiſchen Fächer hereingezogen wurde. Dieſe
Neuerung wurde in dem Statut von 1746 als eine beſonders
wichtige hervorgehoben, und während ſonſt der univerſale
Charakter der Wiſſenſchaft ſo ſehr betont wurde, daß die da¬
malige Weltſprache als ſolche das allein angemeſſene Organ
der Akademie zu ſein ſchien, wurde in dieſer Angelegenheit
der nationale Geſichtspunkt hervorgehoben. Denn, ſagte man,
wenn die junge Anſtalt es auch in der Mathematik und Phyſik
einſtweilen noch nicht mit der Académie des sciences und in
der Philologie noch nicht mit der Académie des inscriptions
et belles lettres aufnehmen könne, ſo werde ſie, die würdige
Tochter Leibnizens, als Vertreterin des nationalen Gedankens
[288]Philoſophie und Geſchichte.d. h. des den Deutſchen eingeborenen Zugs zur Spekulation,
ſich bald einen ehrenvollen Platz unter den Akademien erwerben.
Das waren die vom König ſelbſt ausgehenden, von Mauper¬
tuis, dem Nachfolger Leibnizens, beredt vertretenen Geſichts¬
punkte bei der Neugründung der Akademie.
Die Abweichung von Leibniz bewährte ſich nicht; die für
ſpekulative Forſchung beſtimmte Abtheilung konnte mit den
anderen nicht zu gleichem Gedeihen gelangen. Als man ſich
um 1820 in der Akademie mit einer Reform des Statuts
ernſtlich zu beſchäftigen anfing, wurde als Thatſache anerkannt,
daß die philoſophiſche Klaſſe ſich ſeit längerer Zeit in einer
ſchwierigen Lage befinde, und Schleiermacher machte zuerſt
die Anſicht geltend, daß die Klaſſe, um neues Leben zu ge¬
winnen, aus ihrer Sonderſtellung heraustreten müſſe. Die Mei¬
nungen der Akademiker gingen weit aus einander. Ancillon
beſtand darauf, daß die philoſophiſche Spekulation als eine
charakteriſtiſche Seite des deutſchen Geiſtes in einer beſonderen
Abtheilung vertreten bleibe; das Aufgeben derſelben würde
auf die öffentliche Meinung einen ungünſtigen Eindruck machen.
Savigny wollte eine mathematiſche, eine phyſikaliſche, eine
hiſtoriſche und eine philologiſche Klaſſe. Indeſſen gewann die
Anſicht, daß man durch Vereinigung von je zwei Abtheilungen
den Klaſſenverhandlungen mehr Inhalt und Bedeutung geben
müſſe, mehr und mehr Anhang. 1827 gingen die Mathe¬
matiker und Phyſiker mit der Verſchmelzung ihrer Klaſſen
voran, und nachdem ſich in Schleiermacher, der mit dem aus¬
drücklichen Vorbehalt, Philoſoph zu bleiben, aus der Philo¬
ſophenklaſſe in die hiſtoriſch-philologiſche übergetreten war,
die Vereinigung auch dieſer Klaſſen thatſächlich ſchon vollzogen
hatte, wurde die Organiſation der beiden Doppelklaſſen ein¬
geführt. Die Philoſophie behielt ihre akademiſche Stelle, und
mit ihr wurden, da man einen dreifachen Klaſſennamen ver¬
meiden wollte, die Geſchichte im weiteſten Sinne des Worts
verbunden, ſo daß die Philologie ihr zugerechnet wurde.
So iſt dem Schwanken in Gruppirung der Fächer ein
Ende gemacht, und wenn ich heute auf die Fuſion der Klaſſen,
[289]Philoſophie und Geſchichte. die Grundlage unſerer jetzigen Einrichtung, zurückkomme, ſo
geſchieht es nicht, um dieſelbe einer Kritik zu unterziehen, ſon¬
dern nur um daran über die Stellung der akademiſchen Wiſſen¬
ſchaften zu einander und ins Beſondere über das Verhältniß
der Philoſophie zur Geſchichte einige Bemerkungen anzuknüpfen,
welche an dem Ehrentage des großen Philoſophen und Hiſto¬
rikers nicht unangemeſſen ſcheinen dürften.
Es kann zunächſt befremden, die Philoſophie von der
mathematiſch-phyſikaliſchen Klaſſe getrennt und mit der Ge¬
ſchichte verbunden zu ſehen.
Die Mathematik wird ja ſeit alten Zeiten als die unent¬
behrliche Schule des philoſophiſchen Denkens angeſehen und die
Forſchung des Mathematikers in ihren höchſten Sphären iſt ja
der reinen Spekulation am nächſten verwandt; ſie iſt die voll¬
endetſte Vereinigung zwiſchen exaktem Wiſſen und theoretiſchem
Denken. Und wenn die Naturforſcher auch gegen alle voreiligen
Conſtructionen und gegen jede von Seiten der Philoſophie be¬
anſpruchte Bevormundung ihrer Arbeiten energiſchen Proteſt er¬
hoben haben, ſo ſtrebt doch auch von ihren Forſchungen jede
vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Thatſächlichen zum Geſetz.
Jedes richtig angeſtellte Experiment ſetzt ein philoſophiſches Den¬
ken voraus; die Fragen nach Materie, Kraft, Zweck, denen Keiner
aus dem Wege gehen kann, ſind philoſophiſche Probleme und der
größte Skeptiker kann die Berechtigung ſeines Standpunkts nur
durch philoſophiſche Argumente erweiſen.
Die Geſchichte aber iſt bei der unermeßlichen Fülle ein¬
zelner, nach Zeit und Raum entlegener, nur in zufälliger Aus¬
wahl überlieferter Thatſachen für philoſophiſches Denken un¬
zweifelhaft der allerſprödeſte und widerſtrebendſte Stoff, und
zu keinem Fache iſt es der Philoſophie weniger gelungen feſte
Stellung zu gewinnen.
Es ſind auch von ihrer Seite im Ganzen wenig ernſt¬
hafte Verſuche dazu gemacht. Denn die Liebe zur Geſchichte
ſetzt ein reges Intereſſe für ſtaatliches Leben in ſeinen ver¬
ſchiednen Formen voraus. Dies iſt aber ſeit den Tagen des
Ariſtoteles bei den Männern der philoſophiſchen Speculation
Curtius, Alterthum. 19[290]Philoſophie und Geſchichte. ſelten vorhanden geweſen. Nachdem Ethik und Politik aus
einander gegangen ſind, iſt bis auf die neuere Zeit immer der
einzelne Menſch in ſeinem Verhältniß zu Gott und Welt, mit
ſeinen Pflichten und Aufgaben der eigentliche Gegenſtand phi¬
loſophiſcher Forſchung geweſen, nicht aber der dem Gemeinde¬
leben angehörige. Wo der Sinn für bürgerliches Gemein¬
weſen fehlt, kann das geſchichtliche Studium keinen feſſelnden
Reiz üben. Daher die Gleichgültigkeit der Philoſophen gegen
daſſelbe von den Zeiten der Stoa an, das völlige Auseinander¬
gehen von Philoſophie und Geſchichte, und wer zuerſt von
Leibniz' univerſaler Thätigkeit hört, wird gewiß weniger dar¬
über ſtaunen, daß der Philoſoph mathematiſche Methoden ent¬
deckt, als daß er Annalen geſchrieben hat. In ſeines Nach¬
folgers Herbart Syſtem iſt für Geſchichte kein Platz vorhanden
und die neueſte Philoſophie hat ſie aus ihrem Gebiete geradezu
ausgewieſen; ja ſie hat ihr, weil ſie einer philoſophiſchen Be¬
handlung unfähig ſei, ſelbſt den Namen einer Wiſſenſchaft
abgeſprochen; denn ſie ſei nur ein mehr oder minder lücken¬
haftes Wiſſen von einzelnen Thatſachen.
Indeſſen hat es Philoſophen gegeben, welche vor der
wüſten Maſſe des hiſtoriſchen Materials nicht zurückſchreckten
und nicht nur die gelegentliche Verwerthung deſſelben für ihre
Zwecke, ſondern ſeine vollſtändige Verarbeitung und ſpecula¬
tive Bewältigung als eine unerläßliche Aufgabe des philoſo¬
phiſchen Denkens hinſtellten. So iſt die Philoſophie der Ge¬
ſchichte ein weſentlicher Theil des Hegel'ſchen Syſtems geworden,
und welcher Hiſtoriker weiß nicht, wie fruchtbar dieſer kühne
Schritt geweſen iſt, wie der Blick für geſchichtliche Entwickelung
ſich dadurch geſchärft hat, wie manche Vorurtheile beſeitigt und
neue Einblicke in den Zuſammenhang der Culturen geöffnet
ſind! Aber ein nach beiden Seiten befriedigendes Reſultat iſt
auch ſo nicht erreicht worden. Denn wenn man in der Ge¬
ſchichte nur einen mit logiſcher Nothwendigkeit ſich vollziehen¬
den Proceß ſieht, in welchem die Völker willenloſe Werkzeuge
der Idee ſind, ſo wird die Unbefangenheit der Beobachtung
und das warme Intereſſe an der Fülle des Sonderlebens in
[291]Philoſophie und Geſchichte. Stamm und Stadt darunter leiden, es wird der raſtlose For¬
ſchungstrieb und der ſcharfe Blick für die Mannigfaltigkeit
der geſchichtlichen Erſcheinungen bei dieſer Beobachtungsweiſe
abgeſtumpft werden müſſen. Deshalb ſind andere Verſuche
gemacht worden, um nicht ſowohl die Geſchichte einem Syſteme
der Philoſophie einzureihen, als vielmehr neue Methoden aus¬
findig zu machen, um ſie aus ihrer Sonderſtellung heraus
und mit dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften in einen frucht¬
baren Zuſammenhang zu bringen.
Die Scheidung iſt eine willkürliche und ſtörende, ſchrieb
Renan, der ſelbſt nur zögernd von den Naturwiſſenſchaften
zum geſchichtlichen Studium übergegangen und bei dem glän¬
zenden Aufſchwunge der erſteren zuweilen an ſeinem Entſchluß
irre geworden war, in ſeinem berühmten Briefe an den Che¬
miker Berthelot. Die Naturwiſſenſchaften ſtellen zuſammen
eine große Entwickelungsgeſchichte dar, eine Reihe von Pe¬
rioden, deren letzte die Geſchichte des Menſchen iſt. Volle Er¬
kenntniß iſt nur im Ueberblick des Ganzen möglich. Die Natur¬
geſchichte von den Atomen beginnend, aus denen die Welt ent¬
ſteht, iſt nur die Vorgeſchichte der eigentlichen Geſchichte. Mit
liebenswürdigem Enthuſiasmus begrüßte unſer verſtorbener Ge¬
noſſe, der ehrwürdige Heinrich Ritter die kühnen Anſchauungen
des franzöſiſchen Gelehrten, den Verſuch einer neuen Reichs¬
ordnung im Gebiete der Wiſſenſchaften, und dieſen Grundſätzen
wird man im Schoße einer Akademie um ſo weniger wider¬
ſprechen wollen, da jedem der beiden großen Forſchungsgebiete
die ihm eigenthümliche Methode unverkümmert bleibt.
Anders iſt es, wenn man den Unterſchied zwiſchen mathe¬
matiſch-phyſikaliſcher und hiſtoriſcher Forſchung beſeitigen, wenn
man die Methode der einen auf die andere übertragen und
der Geſchichtſchreibung dadurch eine neue Zukunft bereiten will,
daß man ſie in die Reihe der exakten Wiſſenſchaften einführt.
Das iſt die von engliſchen und franzöſiſchen Autoren energiſch
geforderte, auch bei uns von einigen Seiten ſehr beifällig auf¬
genommene Reform des hiſtoriſchen Studiums. Darnach ſollen
die Lehren vom Menſchen und von den Ordnungen in Staat
19*[292]Philoſophie und Geſchichte. und Geſellſchaft neben Mathematik und Aſtronomie als Bio¬
logie und Sociologie mit gleicher Methode behandelt werden.
Das Forſchen nach Lebensgeſetzen in der bürgerlichen
Geſellſchaft wird trotz des wenig empfehlenden Namens der
neuen Disciplin, wenn es ernſthaft genommen wird, nur an¬
regend und fruchtbar wirken können. Im Allgemeinen aber
kann man ſich der Anſicht nicht verſchließen, daß hier mit
Gewaltſamkeit vereinigt werden ſoll, was ſeinem Weſen nach
grundverſchieden iſt. Die Geſtirne wandeln ihre gemeſſenen
Bahnen, Menſchen und Völker können aber irre gehen und bei
verſchiedenen ſich darbietenden Möglichkeiten ſich falſch ent¬
ſcheiden. Das Gebiet der ſittlichen Freiheit und Verantwort¬
lichkeit darf der Hiſtoriker ſich nicht verkümmern laſſen.
Als dieſe Verſuche gemacht wurden, der Geſchichte, der un¬
fügſamſten aller Disciplinen, den Charakter ſtrengerer Wiſſen¬
ſchaftlichkeit zu geben oder ſie ganz in die Philoſophie herein¬
zuziehen, hatte ſich ſchon längſt in freierer Weiſe und ohne künſt¬
liche Theorie ein fruchtbares Verhältniß zwiſchen Philoſophie
und Geſchichte in Deutſchland gebildet.
Wie konnte es anders ſein! Seit ſich die Philoſophie aus
den Feſſeln der Scholaſtik befreit hatte, konnte ſie für ihre Moral,
Politik und Religionswiſſenſchaft der Geſchichte nicht entbehren,
und andererſeits mußte ſich jeder Hiſtoriker einer Erweiterung
ſeines Geſichtskreiſes durch philoſophiſche Studien bedürftig
fühlen, um für alle im Menſchenleben wirkſamen Kräfte ein
Verſtändniß zu haben und das geiſtige Leben in ſeiner Tota¬
lität auffaſſen zu können. Es iſt, wie W. von Humboldt ſagt,
ohne poetiſchen und philoſophiſchen Sinn um einen Geſchicht¬
ſchreiber ſchlecht beſtellt.
Die Philoſophen von Fach haben ſich meiſt nur gelegent¬
lich mit Geſchichte befaßt und auch die »Braunſchweigiſchen
Annalen« haben mit der Monadenlehre keinen theoretiſchen
Zuſammenhang. Leibniz zeigte ſich nur auch hier als den
großen Organiſator geiſtiger Arbeit, indem er in richtiger
Erkenntniß deſſen, was zur Gründung einer hiſtoriſchen Dis¬
ciplin nöthig war, auf Urkundenſammlung und Quellenfor¬
[293]Philoſophie und Geſchichte. ſchung drang und in mühevoller, ſelbſtverläugnender Stoffarbeit
mit glänzendem Beiſpiel voranging.
Doch konnte ein Geiſt wie der ſeinige ſich nicht mit Ge¬
ſchichte beſchäftigen, ohne daß man den Philoſophen erkannte,
der auch in der Einzelforſchung den Blick für das Ganze und
Große nicht verläugnete. Er fand auch hier neue Methoden,
die erſt von nachgeborenen Geſchlechtern ausgebeutet wurden,
wie ſeine Hinweiſung auf die Sprachen als Urkunden des
Menſchengeſchlechts zeigt. Er betonte die culturgeſchichtlichen
Seiten des Völkerlebens, Recht, Sitte und Religion, was in
einer Zeit, wo die Fürſtenhöfe als ausſchließliche Mittelpunkte
der Geſchichte angeſehen wurden, doppelt wichtig war. Er
ging mit ſeinem Blick von den Annalen eines Geſchlechts auf
die Weltgeſchichte über, und wenn er Gedanken ausſprach,
wie ſie in dem Satze enthalten ſind: le présent est chargé du
passé et gros de l'avenir, ſo waren dies damals neue Ge¬
ſichtspunkte.
Die Idee der Entwickelung war der Geſchichte fremd ge¬
blieben. Man begnügte ſich entweder mit trockner Stoffſamm¬
lung und äußerlicher Aufreihung des Ueberlieferten, oder man
ſtellte die Geſchichte unter den Einfluß fremdartiger Geſichts¬
punkte, welche von den Anfängen chriſtlicher Wiſſenſchaft her
maßgebend geblieben waren, indem man an die bibliſche Ueber¬
lieferung anknüpfte und nach den Monarchien im Buche Daniel
die Staaten der alten Welt behandelte, wie Melanchthon that
und Boſſuet.
Zur Befreiung der Geſchichte und zur Vergeiſtigung ihrer
Aufgabe wirkte nun in Leibnizens Sinne vor Allen Herder,
indem er, ein Feind jedes ſyſtematiſchen Zwangs, die Maſſe
des geſchichtlichen Stoffs nach allen Seiten hin mit philoſo¬
phiſchen Gedanken durchdrang, Natur- und Menſchengeſchichte
im Zuſammenhange erfaßte, dem Menſchengeiſte auf allen
Spuren ſeiner Wirkſamkeit folgte und zum erſten Male phyſio¬
logiſche Geſetze in der moraliſchen Welt zur Anwendung brachte.
Leibniz hatte nur auf dem engſten Gebiete heimiſcher Staats¬
geſchichte gearbeitet und nur gelegentlich in die allgemeine
[294]Philoſophie und Geſchichte. Geſchichte Ausblicke gethan, wie auch in ſeiner metaphyſiſchen
Weltbetrachtung nur für das Individuelle und für die Menſch¬
heit eine Stelle zu finden iſt. Herder's Verdienſt war es, daß
er die Idee des Volks zur Geltung gebracht und das Volks¬
thümliche zum Gegenſtande wiſſenſchaftlicher Betrachtung ge¬
macht hat. Durch ihn lernte man die verſchiedenen Ent¬
wickelungsſtufen der Nationalität kennen, junge und alte Völker
unterſcheiden, beide mit beſonderen Gattungen der Kunſt, ſo
daß die erhaltenen Denkmäler derſelben als Spiegel hiſtoriſcher
und vorhiſtoriſcher Zuſtände benutzt wurden. Der ganze Menſch
mit ſeinem Dichten und Denken wurde Gegenſtand geſchicht¬
licher Betrachtung, Homer und die Bibel hiſtoriſche Quellen,
und was bis dahin nie zuſammen genannt war, ſalomoniſche
Dichtung und das Minnelied, Oſſian und der Geſang ameri¬
kaniſcher Indianer, das deutſche Heldenlied und das Skolion
der Hellenen wurden als Stimmen der Völker unter gemein¬
ſame Geſichtspunkte geſtellt.
So wurde die Geſchichte durch die Verbindung mit Phi¬
loſophie und Poeſie neu befruchtet, und wer kann ermeſſen,
wie Herder's Ideen zur Philoſophie der Geſchichte, welche
wie Samenkörner in die Welt ausgeſtreut wurden, nach allen
Seiten anregend und fruchtbringend gewirkt haben!
Andererſeits war bei dem unſtäten Intereſſe für alles
Menſchliche, dem geiſtreichen Herumflattern von einer Blüthe
zur anderen der Mangel an Vertiefung in das Einzelne fühl¬
bar. Herder ſelbſt verweilte mit Vorliebe in dem Zwielichte
vorgeſchichtlicher Zuſtände und achtete bei Betrachtung des
Volksthümlichen nicht auf das Beſondere und Charakteriſtiſche,
ſondern auf das Allen Gemeinſame, da er in den Einzelweſen
und Einzelvölkern nur das Abbild der Menſchheit erkennen
und allen Völkern der Erde nur ein Ziel, die Darſtellung des
rein Menſchlichen, ſtellen wollte.
So war dem Entdecker des Volksthümlichen das wahre
Volksthum doch wieder unter den Händen entſchwunden oder
vielmehr nie zur vollen Geſtaltung gelangt. Wie bei Leibniz
war auch hier unter dem Einfluß des philoſophirenden Ge¬
[295]Philoſophie und Geſchichte. dankens das Beſondere in das Typiſche, das Individuelle in
das Allgemeine zu ſehr verflüchtigt und das eigentlich hiſto¬
riſche Intereſſe nicht zu ſeinem Rechte gekommen.
Um dieſem Mangel abzuhelfen, bedurfte es einer For¬
ſchung, die, dem ſpeculativen Intereſſe abgewendet, ins volle
Leben hineingriff und, von warmer Heimathsliebe beſeelt, das
Sonderleben einzelner Stämme und Städte, den Mikrokos¬
mus des bürgerlichen Gemeinweſens in der Fülle ſeiner ſitt¬
lichen und rechtlichen Geſtaltung zum Kerne des Studiums
machte. Das iſt zuerſt durch Juſtus Möſer geſchehen, und
wie durch ihn auch für die entlegenſten Gebiete ein neues
Leben begonnen hat, lehrt die Geſchichte des Alterthums. Sie
iſt eine weſentlich andere geworden, ſeit man die Stämme und
Städte als die eigentlichen Träger des geſchichtlichen Lebens
erkannt und mit eindringender Forſchung ergründet hat, wie
es auf dem Boden des Griechiſchen durch Böckh und Otfried
Müller geſchehen iſt.
Seitdem iſt die Geſchichte zu ſo ſelbſtändigem Leben er¬
ſtarkt, daß ſie weder zu befürchten hat, von Seiten philoſo¬
phiſcher Syſteme einen Zwang zu erfahren, der ihre freie Be¬
wegung beeinträchtige, noch durch eine zu lockere, philoſophiſch¬
äſthetiſche Betrachtung, wie die zum Humanitätsprincipe Herder's
führende war, ihren Ernſt einzubüßen und an ihrem Gehalt
verkürzt zu werden. Der Verſuch, die Geſchichte vom Stand¬
punkt eines Syſtems behandeln zu wollen, erſcheint jetzt kaum
mehr möglich und ebenſo wenig kann man ernſtlich daran
denken, neben der Geſchichte eine Philoſophie der Geſchichte
als beſondere Wiſſenſchaft aufzuſtellen, welche gleichſam einen
Extrakt der Geſchichte gäbe.
Darum ſollen aber Philoſophie und Geſchichte ſich nicht
den Rücken kehren, ſondern, wenn ſich kein äußerliches, gleich¬
ſam officielles Band herſtellen läßt, ſollen ſie ſich innerlich um
ſo feſter mit einander verbinden. Philoſophie iſt die Waffen¬
rüſtung zu jeder wiſſenſchaftlichen Aufgabe und der Hiſtoriker
wird bei den eigenthümlichen Schwierigkeiten der ſeinigen am
wenigſten darauf verzichten dürfen.
Der Phyſiker hat mit Thatſachen zu thun, welche ihm
nur als Material gelten. Er beobachtet, wägt, mißt, rechnet
und erwartet ruhig von der Natur die Beantwortung der an
ſie geſtellten Fragen, und wenn der Menſch Gegenſtand der
Forſchung iſt, ſo iſt der einzelne nur ein Exemplar ſeiner Gat¬
tung. Der Geſchichtſchreiber aber ſteht zwiſchen Individuen,
zu denen er in perſönliche Beziehung tritt, die ſeine Zu- oder
Abneigung erwecken, und ſo ernſtlich er auch befliſſen iſt, jede
ſubjective Regung zurück zu drängen, muß er doch aus ſeinem
Gefühl heraus entſcheiden, wo das bloße Zeugenverhör nicht
ausreicht, und ſein Urtheil kann nicht wie das Reſultat einer
Naturbeobachtung durch mathematiſche Methode bewieſen wer¬
den. Bei dieſer ſchwierigen Aufgabe kommt Alles auf volle
Unbefangenheit und Gerechtigkeit an, auf die unbedingte Frei¬
heit eines philoſophiſch gebildeten Geiſtes, der ſich von allen
ſtörenden Einflüſſen angeborener Vorurtheile oder einſeitiger
Weltanſchauung in religiöſen und in politiſchen Fragen gelöſt
hat. Denn wenn z. B. engliſche Geſchichtſchreiber ihre Kennt¬
niß des praktiſchen Staatslebens auch mit großem Erfolg ver¬
werthet und eine eindringendere Betrachtung des antiken Staats
dadurch weſentlich gefördert haben, ſo kann doch die Geſammt¬
anſchauung der Geſchichte darunter nur leiden, wenn ſie, anſtatt
mit vollkommener Unparteilichkeit, vom Standpunkte eines
Whig oder Tory ins Auge gefaßt wird.
Es gehen aber auch durch die Wiſſenſchaft gewiſſe Strö¬
mungen, welche, wie Ebbe und Fluth wechſelnd, auf das ge¬
ſchichtliche Urtheil einwirken. Auch in der wiſſenſchaftlichen
Betrachtung der Dinge giebt es Moden. Man ſchwärmt zu
Zeiten für gewiſſe Verfaſſungsformen; man iſt zu einer Zeit
beſonders beſtrebt, den Culturzuſammenhang ganzer Zeitalter
nachzuweiſen, zu andern Zeiten die Individualität der Einzel¬
völker kräftig hervorzuheben. Von einem Standpunkt wird der
prieſterliche Einfluß auf die Entwickelung der Völker geltend ge¬
macht, von andrer Seite mit fanatiſchem Eifer dagegen proteſtirt.
Solchen Stimmungen gegenüber, welche gewiſſe Zeiten
und Kreiſe beherrſchen, bedarf es einer durch philoſophiſches
[297]Philoſophie und Geſchichte. Denken erworbenen Selbſtändigkeit, um durch ſtörende Ein¬
flüſſe unbeirrt das hohe Ziel voller Unparteilichkeit zu erringen.
Mit der hiſtoriſchen Unbefangenheit iſt es aber auch un¬
verträglich, wenn man darauf ausgeht, gewiſſe Geſetze, nach
denen ſich wie nach einer höheren Mechanik die menſchlichen
Dinge bewegen ſollen, in der Geſchichte zu finden. Die wahr¬
haft philoſophiſche Betrachtungsweiſe wird vielmehr darin
liegen, daß man ohne alle vorgefaßten Geſichtspunkte mit
reiner Erkenntnißliebe in den Stoff eindringt und die volle
Befriedigung darin findet, daß man das fragmentariſch Ueber¬
lieferte in ſeinem Zuſammenhange und das Vollendete in ſei¬
nem Werden verſtehe.
Die Geſchichte gleicht einem Gewebe, deſſen Fäden ſich auf
jedem Punkte in zwei Richtungen kreuzen. So ſtehen alle That¬
ſachen mit Reihen gleichzeitiger ſo wie mit Reihen vorangegange¬
ner und nachfolgender Thatſachen in unauflöslicher Verbindung.
Ein figurenreiches Gewebe kann nur, wenn es fertig iſt,
überſehen und von einem gewiſſen, nicht zu nahen Stand¬
punkte aus gewürdigt und verſtanden werden. Das Verſtänd¬
niß der Weltgeſchichte iſt alſo eine übermenſchliche Aufgabe.
Annähernd kann ſie aber dort am meiſten verwirklicht werden,
wo wir einen begränzten Theil des Weltgemäldes überſchauen,
und darum iſt in der Geſchichte des Alterthums das höchſte Ziel
wiſſenſchaftlicher Geſchichtsbetrachtung am eheſten zu erreichen.
Freilich ſteht die Geſchichte des Alterthums hinter der
neuern Geſchichte in großem Nachtheil. Für die letztere ſtrö¬
men, wenn ein verſchloßner Archivſchrank ſich öffnet, friſche
Quellen hervor und geben zu Werken neuer Belehrung reich¬
lichen Stoff. Die neuen Quellen der alten Geſchichte fließen
ſpärlich, und es wird keine geringe Selbſtverläugnung erfor¬
dert, um immer von Neuem den Verſuch zu machen, die zer¬
riſſenen Fäden der Ueberlieferung herzuſtellen und verſprengte
Quellenzeugniſſe neu zu verwerthen. Aber wir haben doch
keine ſo in allen Entwickelungsſtadien überſichtliche, auf heimi¬
ſchem Boden erwachſene und mit ihm verknüpfte Geſchichte wie
die der klaſſiſchen Völker. Das viel mißbrauchte Gleichniß
[298]Philoſophie und Geſchichte. vom Weltgerichte hat hier am meiſten Wahrheit, und wenn es
nicht geſtattet iſt, mit dem Reize kleiner Züge die Darſtellung
zu beleben, wie es dem Hiſtoriker der neuern Zeit möglich iſt,
ſo entgeht man der Gefahr, den Blick durch die Maſſe der
Einzelheiten zu verwirren und dem zuletzt Erkundeten zu große
Bedeutung beilegen zu wollen.
Die alte Geſchichte gleicht einem Frescobilde, das ſchlicht
und ernſt in großen Zügen die Völkergeſchichte darſtellt.
Dazu kommt, daß die alten Völker, weil ſie ſich mehr aus
ſich heraus entwickelt haben, eher eine biographiſche und pſycho¬
logiſche Darſtellung geſtatten, wo ſich gewiſſe, dem individuellen
Leben entſprechende Entwickelungsgeſetze ungezwungen darbieten.
Deshalb iſt ja auch nirgends ſo früh wie bei den Griechen
der Sinn für geſchichtliche Betrachtung wach geworden, ein
Sinn, den wir einen philoſophiſchen nennen können, weil er
von Anfang an die einzelnen Dinge in größerem Zuſammen¬
hang anzuſchauen geſucht hat.
So ſieht Herodot den einzelnen Krieg, den er beſchreibt,
als Glied einer Kette an, welcher er ſich mit Nothwendigkeit
einfügt. Thukydides erkennt den geſetzmäßigen Verlauf der
vaterländiſchen Geſchichte in dem gleichzeitigen Aufkommen der
Tyrannen an den verſchiedenſten Orten. Mit wahrhaft ſpe¬
culativem Sinn beurtheilt er den Eindruck, welchen auf einen
Wanderer in ſpäten Jahrhunderten einerſeits die Ruinen von
Sparta, andrerſeits die von Athen machen würden, und den
großen Staatenkrieg erfaßt er von Anfang an in Bezug auf die
ganze Geſchichte und als eine innere Kriſis des Volkscharakters.
Mit dem Auftreten Philipp's erkennt Theopomp den Beginn eines
neuen Zeitalters und Polybios ebenſo mit Roms Weltherrſchaft.
Wie die Entwickelung der Volksgeſchichte von Stufe zu Stufe ge¬
leitet wurde, iſt ſie auf jeder Entwickelungsſtufe von den gleich¬
zeitigen Hiſtorikern richtig erkannt worden.
Außerdem ſind aber auf dieſem Boden neben einander
politiſche Organismen in ſolcher Fülle zu Tage getreten, daß
daraus nicht nur eine ſyſtematiſche Kenntniß der verſchiedenen
möglichen Formen des bürgerlichen Gemeinweſens gewonnen
[299]Philoſophie und Geſchichte. werden konnte, ſondern auch eine genaue Beobachtung der¬
ſelben in geſunden und kranken Zuſtänden, eine Phyſiologie
und Pathologie des Staatslebens, wie ſie von Ariſtoteles
begründet wurde, ſobald der eigentliche Lebensproceß der
vaterländiſchen Entwickelung beendet war.
Eine Geſchichte, welche ſolche Geſchichtſchreibung hervor¬
gerufen und die erſte folgenreiche Verbindung zwiſchen Philo¬
ſophie und Geſchichte veranlaßt hat, bleibt gewiß für die im
echten Sinne philoſophiſche Geſchichtsbetrachtung ein vorzüg¬
licher Gegenſtand, und jede Zeit wird ihrem Standpunkte und
ihrem beſondern Bedürfniſſe nach an dieſer Aufgabe fort¬
arbeiten.
Seit Leibniz iſt die Stellung der Philoſophie eine weſent¬
lich andere. Die einzelnen Fächer ſind ſelbſtändige Wiſſen¬
ſchaften geworden und die Vertreter derſelben ſind nicht ge¬
ſonnen, ſich von Männern, welche an der Facharbeit unbethei¬
ligt ſind, Methoden vorſchreiben und Ziele ſtellen zu laſſen
oder von ihnen die Verwerthung ihrer Arbeiten zu erwarten.
Es iſt im Reich der Wiſſenſchaft gegangen wie in den Staa¬
ten des Alterthums, in denen es eine Zeit gab, wo das ganze
öffentliche Leben im Königthum beſchloſſen war, das ſchirmend
und pflegend über dem Ganzen waltete, bis die einzelnen
Seiten des Gemeindelebens ihre Organe erhielten, und das¬
jenige Amt, welches urſprünglich das einzige im Staate ge¬
weſen war, zu einem Ehrenamte wurde, das man zwar im
Staate nicht miſſen wollte, aber von allen maßgebenden Ein¬
flüſſen ängſtlich fern hielt. Auch in der Kunſt gab es Zeiten,
wo der Baumeiſter dem Bildner wie dem Maler ſein Arbeits¬
feld anordnete und Niemand läugnet, daß, wenn dieſe Ober¬
leitung eine von der richtigen Einſicht getragene iſt, die größten,
auf anderem Wege nicht zu erzielenden Reſultate gewonnen
werden können. Sind aber die einzelnen Künſte einmal jeder
Geſammtleitung entwachſen, ſo iſt die alte Reichsverfaſſung
mit ihrer monarchiſchen Spitze nicht wieder herzuſtellen.
So kann auch die Philoſophie ihre königlichen Voll¬
machten nicht mehr geltend machen; ſie iſt in Gefahr, daß
[300]Philoſophie und Geſchichte.man ihr von Seiten der einzelnen Fächer nur die unlösbaren
Probleme übrig läßt, während man ſie, wo ein fruchtbarer
Fortſchritt der Forſchung geſtattet iſt, argwöhniſch beobachtet
und jedem Uebergriff vorzubeugen ſucht.
Man hat daher die Philoſophie mit einer Frau ver¬
glichen, welche von ihren Kindern mit Undank belohnt und in
dem Hauſe, das ſie geſtiftet und eingerichtet hat, ihres Haus¬
rechts verluſtig gegangen iſt.
Indeſſen legen doch alle Territorialſtreitigkeiten zwiſchen
Philoſophie und Fachwiſſenſchaft ein Zeugniß davon ab, daß
es noch einen großen Zuſammenhang giebt, der ſich durch keinen
Widerſpruch beſeitigen und durch keine künſtlich gezogenen Gränz¬
linien zerſchneiden läßt, ein untheilbares Reich des Gedankens,
das Niemand aufgeben will, wenn es auch, wie im deutſchen
Reiche, hie und da zu peinlichen Competenzfragen kommt.
Je größer die Gefahr iſt, daß die einzelnen Fachwiſſen¬
ſchaften einander ganz entfremden und ihre Vertreter ohne
gegenſeitiges Verſtändniß neben einander hergehen, um ſo un¬
entbehrlicher und um ſo ehrwürdiger wird das Amt der Phi¬
loſophie, welche, auf der Höhe der Erkenntniß weilend, ohne
den einzelnen Wiſſenſchaften ihre Selbſtändigkeit zu mißgönnen,
über die Fachwände hinüber mit königlichem Auge das Arbeits¬
feld überſchaut, auf entlegenen Gebieten den gleichen Zug des
Geiſtes ſpürt, im Gewirre der Stimmen die leiſen Accorde der
Uebereinſtimmung heraushört und die gemeinſamen Ergebniſſe
für den Fortſchritt des menſchlichen Erkennens allmählich zu
Tage fördert.
So bleibt ſie der Lebensgenius der Wiſſenſchaft, und zwar
nicht bloß als eine Wiſſenſchaft neben den anderen, ſondern
als der allen gemeinſame und in allen lebendige Odem, eine
mit der anderen verbindend und in allen das Gefühl des ge¬
meinſamen Herdes erhaltend. So bewährt ſich ihr Mutter¬
recht, nachdem die Kinder mündig geworden, als ein mütter¬
licher Segen, welcher den Geiſt des Hauſes wahrt und die
zerſtreuten Hauskinder zuſammenhält.
XVIII.
Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
Man hört unter den Menſchen von nichts mehr reden,
als von guten und ſchlechten Zeiten, und darunter werden
nicht bloß vorübergehende Verhältniſſe verſtanden, welche günſtig
oder ungünſtig auf den Wohlſtand einwirken, ſondern man
glaubt auch ganze Geſchichtsperioden in dieſer Weiſe unter¬
ſcheiden zu können und hört wohl gar Einzelne darüber
klagen, daß es ihnen nicht beſchieden ſei, einer anderen, glück¬
licheren Generation anzugehören. Denn der Grundzug ſolcher
Betrachtungen iſt immer ein Gefühl des Mißbehagens und
der Unzufriedenheit mit den Zuſtänden der Gegenwart, und
ſo lange wir die Menſchen kennen, betrauern ſie ein verlorenes
Glück und hoffen immer von Neuem auf die Herſtellung eines
Zuſtandes, welchen ſie als den normalen anſehen und auf den
ſie ein gewiſſes Anrecht zu haben glauben. Wie viel Mittel
ſind nicht erſonnen worden, um dieſe Hoffnung zu verwirk¬
lichen! Da wurden wichtige Begebenheiten benutzt, um von
ihnen eine neue Zeitrechnung zu beginnen, als ſollte nun auf
einmal das Alte vergeſſen und zu guter Stunde ein neuer
Anfang gemacht werden. Neue Gottesdienſte und Opferbräuche
wurden eingeführt, Tempel geweiht, Feſte und Feſtſpiele ge¬
ſtiftet, Sühnungen ganzer Gemeinden, Städte und Länder
vorgenommen, um einen neuen, reinen Anfang zu gewinnen.
Oder man knüpfte ſeine Hoffnungen an ſolche Wendepunkte,
[302]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. welche mit ewigen Ordnungen der Natur zuſammenhängen
ſollten. Man ſuchte in den Sternbildern des Himmels, wie
in den Büchern der Sibylle nach dem Ablaufe großer Welt¬
perioden, welcher eine Rückkehr der goldenen Zeit, eine Ver¬
jüngung und Wiedergeburt der Menſchheit zur Folge haben
ſollte. So verkündete Virgil den Anbruch eines neuen Sä¬
culums, und Octavian feierte es, als die Welt kriegsmüde
ihm zu Füßen ſank, mit glänzenden Staatsfeſten. Inzwiſchen
brach in aller Stille der neue Welttag wirklich an, das an¬
genehme Jahr des Herrn, aber die Chriſten, die es verkün¬
deten, erhielten zur Antwort, daß der Verheißung des Friedens
die Erfüllung fehle; ärger, als je zuvor, ſehe es in der Welt
aus, und Oroſius ſchrieb ſeine Weltgeſchichte, um den Heiden
zu beweiſen, daß die früheren Zeiten wenigſtens nicht freier
von Noth und Elend geweſen ſeien.
So geht das Sehnen der Menſchen durch ihre ganze Ge¬
ſchichte hindurch und ihre Klage tönt, leiſer oder vernehmlicher,
aus allen Jahrhunderten uns entgegen. Wenn wir aber den¬
noch nicht umhin können, gute und ſchlechte Zeiten zu unter¬
ſcheiden, ſo denken wir nicht an das Glück des Einzelmenſchen,
denn dieſes beruht doch zuletzt auf der Harmonie des geiſtigen
Lebens, und wie unter den Wellen in aller Stille die Meeres¬
tiefe ruht, ſo kann auch in den trübſten Zeiten das Menſchen¬
herz ſeines Friedens gewiß und darum glücklich ſein. Eben
ſo wenig kann von dem Glücke der Völker, die zu einer Zeit
gelebt haben, im Allgemeinen die Rede ſein, weil hier die
Ungleichartigkeit der Zuſtände jede gemeinſame Beurtheilung
unmöglich macht. Wir können alſo nur von einzelnen Völkern
und Staaten reden, und je mehr dieſe ein organiſches Ge¬
ſammtleben haben, um ſo mehr werden die einzelnen Glieder
Glück und Unglück des Ganzen theilen. Darum treten uns
auch in der alten Geſchichte die verſchiedenen Stufen des ge¬
meinſamen Wohlbefindens am deutlichſten entgegen, die Zeiten
der Dürre, der Ermattung, des Verfalls, und wiederum ſolche,
welche von friſchem Lebensodem beſeelt und von einer kraft¬
vollen Entwickelung erfüllt ſind, wo das Volksleben gleichſam
[303]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. in voller Blüthe ſteht. Dies ſind die Lichtpunkte und Sonnen¬
tage der Geſchichte, deren Vergegenwärtigung unſer Herz er¬
freut, und bei feſtlichen Anläſſen iſt es wohl vergönnt, bei
ſolchen Zeiten anſchauend zu verweilen. So laſſen Sie uns
heute einen Abſchnitt dieſer Art in das Auge faſſen, und zwar
den Höhenpunkt der attiſchen Geſchichte; laſſen Sie uns das
Glück des perikleiſchen Athens in der Weiſe prüfen, daß wir
daran erkennen, welche Züge es vorzugsweiſe ſind, die uns
berechtigen, einer Zeit den Namen einer großen und glück¬
lichen zu geben.
Um das Glück einer Zeit zu beſtimmen, bedarf es vor
Allem eines Maßſtabs, und dieſer iſt kein unmittelbar ge¬
gebener. Denn ſo ſehr die Menſchen alle darin einverſtanden
ſind, daß ſie glücklich ſein wollen, ſo weit ſind ſie in der Be¬
ſtimmung deſſen, was ſie Glück nennen, von jeher aus einander
gegangen und noch heute pflegt jedes Lebensalter, jede Bil¬
dungsſtufe, ja, jede Menſchennatur ein anderes Ideal zu haben.
Die Meiſten haben freilich immer das Weſen des Glücks darin
gefunden, daß es etwas außerhalb aller Berechnung Liegendes
und von der Thätigkeit des Menſchen durchaus Unabhängiges
ſei; die Weiſen des Alterthums haben uns aber ſchon einen
anderen Standpunkt kennen gelehrt. Sie haben erkannt, daß
das, was alle Menſchenſeelen nach ihrem innerſten Naturtriebe
erſtreben, unmöglich etwas Derartiges ſein könne, was ein¬
zelnen Begünſtigten durch Zufall in den Schoß falle und eben
ſo leicht dem Beſitzer wieder abhanden komme. Es könne
daſſelbe vielmehr nichts Anderes ſein, als die Verwirklichung
deſſen, worauf die menſchliche Natur angelegt ſei, die Erfüllung
ihrer ſittlichen Zwecke. So haben die Griechen den Begriff
des Glücks der Sphäre des Zufälligen entrückt und ihn, als
den des höchſten Gutes, kühn und ſicher in die Mitte ihrer
Sittenlehre geſtellt; ſie haben die Begriffe von Tugend und
Glück unzertrennlich mit einander verbunden. Auf dieſem
Standpunkte ſehen wir Solon dem eitlen Lyderkönige gegen¬
über ſtehen und mit ihm ſind die größten Philoſophen des
Alterthums bis Ariſtoteles hinauf im Einklange geblieben.
[304]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.Ihnen werden auch wir uns hier um ſo lieber anſchließen,
da nach ihren Grundſätzen menſchliche Tugend und menſch¬
liches Glück ſich nur in der Staatsgemeinſchaft verwirklichen
konnte, und werden alſo das Weſen eines glücklichen Staats
darin erkennen, daß er bei allen ſeinen Angehörigen eine der
Tugend gemäße, volle Entfaltung aller ſittlichen Kräfte nicht
nur geſtattet, ſondern auch möglichſt anregt und fördert.
Die erſte Vorausſetzung iſt alſo die, daß ſolche der Ent¬
faltung fähigen Kräfte vorhanden ſind, die dem Staate eine
Zukunft verbürgen. Aber es müſſen nicht nur ungeſchwächte
und bildungsfähige Kräfte da ſein, ſondern ſie müſſen auch
ſchon angeregt, geübt, in Anſtrengung bewährt und dadurch
zum Bewußtſein gekommen ſein, wenn ſie der vollkommenen
Entfaltung, in welcher wir das Weſen des glücklichen Zu¬
ſtandes erkennen, nahe ſein ſollen. Eine ſolche Zeit der Er¬
weckung hatte Athen durchlebt, ehe es in die perikleiſche Zeit
eintrat. Kühnes Muths hatte die kleine Bürgerſchaft mit dem
mächtigſten Weltreiche angebunden, indem ſie den aufſtändiſchen
Ioniern Hülfe gewährte; aber dieſer Hülfszug war kein thö¬
richtes und abenteuerliches Unternehmen, ſondern er ging von
dem klaren Bewußtſein aus, daß helleniſches Volk nicht be¬
ſtimmt ſei in Dienſtbarkeit der Barbaren zu ſtehen, und von
der richtigen Erkenntniß, daß die beiden Meerſeiten zu ge¬
meinſamer Geſchichte berufen ſeien, deren Mittelpunkt Athen
ſein müſſe. Es war der erſte Schritt einer unabhängigen
und nationalen Politik, die erſte That einer Großmacht. Frei¬
lich hatte ſich Athen dadurch in einen unabſehlichen Krieg ver¬
wickelt, aber es war ein nothwendiger, ein gerechter und ein
ſegensreicher. Denn alle Verluſte an Gut und Menſchenleben
wurden weit überwogen durch die geiſtige Erhebung, welche
der Gewinn des Sieges war. Nachdem man Stadt und Land
preisgegeben, war die Idee des Staats, als einer von äußerem
Beſitze unabhängigen Gemeinſchaft neu geboren, und die Idee
des Hellenenthums den Athenern in neuer Kraft aufgegangen.
Da war alſo an ein behagliches Ausruhen auf den gewon¬
nenen Lorbern nicht zu denken, ſondern wie man erſt nach
[305]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. Beginn des Kampfes die Kriegsmittel herbeigeſchafft hatte,
ſo mußte auch nach dem Siege erſt die volle Berechtigung zu
demſelben gewonnen werden. Auch der Geiſt verlangte neue
Erwerbungen, einen weiteren Geſichtskreis, eine höhere Bildung;
es war eine tief bewegte, eine gährende und in ſich arbeitende
Zeit des Uebergangs. Denn noch beſtand in männlicher Kraft
das alte Athen, die Generation der Marathonkämpfer, den
väterlichen Sitten treu ergeben, mäßig, ſchlicht und bürgerlich,
als deren Kern ſich die Familien betrachteten, die ſeit unvor¬
denklichen Zeiten den Boden von Attika beſtellten. Daneben
drängte ſich das jüngere Athen vor, in jener Zeit aufgewachſen,
die Themiſtokles mit ſeinem Geiſte beſeelte, da man Häfen
und Werften baute, Schiff auf Schiff in raſtloſer Geſchäftig¬
keit von Stapel ließ und alles junge Volk ſich mit Ruder und
Segel übte. Da wurde der Blick von den väterlichen Fluren
ins Weite gerichtet, wo Inſel an Inſel ſich reihte, die bis
zu den fernſten Küſten auf Athens Schutz zählten. Damit
begann ein Aufſchwung der Gewerbe, ein Trieb zu Unter¬
nehmungen, ein Hang zu raſchem Handelsgewinne, wodurch
die Stille des bisherigen Lebens vollſtändig unterbrochen war.
Nun kamen dazu die anregenden und aufregenden Berührungen
mit den Städten Ioniens, wo eine Forſchung begonnen hatte,
welche ſich der Welt der Erſcheinungen kühn entgegenſtellte,
die den menſchlichen Geiſt aufrüttelte aus ſeinem behaglichen
Dahinleben und ihn frei machte von dem Anſehen des Her¬
kömmlichen. Eine neue Bewegung begann, indem Alles in
Frage geſtellt wurde, um entweder verworfen oder ſicherer
als bisher gewonnen und beſeſſen zu werden. Mit dem Zweifel
begann der Kampf und das Ringen nach bleibender Wahr¬
heit; neben den praktiſchen Tugenden, wie ſie der Bürger in
Krieg und Frieden zu gemeinem Nutzen bethätigt hatte, ent¬
falteten ſich neue Tugenden, indem der Geiſt ohne äußere
Zwecke nach der Anſchauung des Ewigen und Göttlichen trachten
lernte, die Tugenden der Erkenntniß und der Weisheitsliebe.
Alſo die erſte und weſentliche Vorausſetzung des Staats¬
glücks war vorhanden, eine Fülle von Lebenskräften, in einem
Curtius, Alterthum. 20[306]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. Staate vereinigt, und zwar in einem Staate, der das glück¬
lichſte Maß der Größe hatte, nicht gefährdet durch eine zu
große Kopfzahl, welche den Staat ſchwächt anſtatt ihn zu
ſtärken, indem ſie Unordnungen hervorruft und die klare Ueber¬
ſichtlichkeit unmöglich macht, wie ſie den republikaniſchen Ge¬
meinden des Alterthums unentbehrlich war; andrerſeits aber
auch nicht an abnehmender Bürgerzahl leidend, wie Sparta,
deſſen Leitung dadurch mehr und mehr in die Hände eines
ſich verengernden Familienkreiſes gerieth, ſondern eine voll¬
kräftig blühende Bürgergemeinde, deren Geſundheit auf Mäßig¬
keit und gymnaſtiſcher Uebung beruhte, ein Bürgerſtaat, der es
durch Fleiß und Klugheit zu einem allſeitigen Wohlſtande ge¬
bracht hatte, ſelbſtgenugſam in Krieg und Frieden, durch ſeine
Mauern dem Feinde unnahbar und durch ſeine Flotte im
Stande allen Mächten am Mittelmeere die Spitze zu bieten,
ein Staat, an welchen ſich eine große Menge gewerbthätiger
Inſaſſen angeſchloſſen hatte, die dem Staate, deſſen Schutz
ſie genoſſen, mit Treue anhingen, ein Staat endlich, der reich
an Sklaven war, welche dem Bürger die niederen Arbeiten
abnahmen und ihm die zur Entwickelung bürgerlicher Tugen¬
den unentbehrliche Muße verſchafften, ohne daß ſie, wie die
Heloten, eine feindlich lauernde und ſtaatsgefährliche Menge
bildeten.
Unter dieſen Umſtänden kam es nur darauf an, daß die
in Athen vorhandenen Kräfte, die geübten und bewährten ſo¬
wohl wie die neu angeregten und ihrer Entwickelung harren¬
den, zu einem feſten und klar erkannten Ziele geleitet wurden,
damit ſie nicht etwa zerſtörend oder hemmend einander ent¬
gegenwirkten. Eines feſten Ziels bedarf ja zu ſeinem Heile
der Staat ſo wohl wie der einzelne Menſch; denn glücklich
kann nur der ſein, welcher weiß, was er will. Die Entſchie¬
denheit des Willens verdoppelt unſere Kraft und iſt die Quelle
jeder freudigen Gemüthsſtimmung. Darum halten wir einen
gewiſſen Geiſt für unſer beſtes Gut, darum betrachten wir
mit Vorliebe das Leben ſolcher Männer, welche ganz dahin
gegeben waren an die Macht einer Idee, und vertiefen uns
[307]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. am liebſten in ſolche Abſchnitte der Geſchichte, in welchen alle
beſſeren Volkskräfte nach einem Ziele ſtreben. Wenn wir da¬
her berechtigt ſind zwiſchen guten und ſchlechten Zeiten zu
unterſcheiden, ſo dürfen wir wohl diejenigen für die bevor¬
zugten halten, welche von einem großen und bewußten Berufe
erfüllt ſind.
Einen ſolchen Beruf hatte Athen, und zwar war es kein
willkürlich gemachter und kein von ehrgeizigen Parteiführern
erſonnener, ſondern ein ſolcher, der ſich aus der Vergangen¬
heit mit Nothwendigkeit ergab, den die Geſchichte der Stadt
und des Volks forderte, ein attiſcher zugleich und ein helle¬
niſcher Beruf.
Eine faſt unzählige Menge von Gemeinden hatte das
helleniſche Volk in ſeinen Gebirgsthälern und Küſtenlandſchaf¬
ten gegründet; in der Anlage einzelner Städte, im Ausbau
ſcharf begränzter Cantonalſtaaten war das Mögliche geleiſtet;
denn auch außerhalb ihres engeren Land- und Seegebiets
hatten die Hellenen kühn jeden Platz ſich angeeignet, der ihren
Handelszwecken entſprach; überall hatten ſie mit überlegener
Geiſteskraft die Barbaren zurückgedrängt und an den fernſten
Geſtaden ihre Sprache, Sitte und Religion feſtgehalten. Jetzt
war es an der Zeit die zerſtreuten Kräfte zu ſammeln und
nach einer ſeit Jahrhunderten fortſchreitenden Zerſplitterung
des Volks die Einheit deſſelben wieder zur Geltung zu bringen.
Einſt war Delphi der Träger der griechiſchen Volksein¬
heit geweſen, aber es hatte längſt ſeine Macht verloren und
durch ſeine feige Haltung in den Freiheitskriegen jedes An¬
recht auf Oberleitung der helleniſchen Angelegenheiten einge¬
büßt. Auch Sparta hatte ſeine Führerſchaft verloren und
zwar durch den ſchnöden Egoismus ſeiner Politik, durch die
Schlechtigkeit ſeiner Heerführer und die gänzliche Unfähigkeit
größere Unternehmungen zu leiten. Darum hatte ſich in der
Stunde der Noth das ganze jenſeitige Hellas an Athen an¬
geſchloſſen, und niemals iſt ein Staat auf eine gerechtere
Weiſe zu einer Großmacht geworden; denn durch ihre Thaten
hatten die Athener ein Nationalgefühl wieder geſchaffen, und
20 *[308]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. die Möglichkeit einer freien Fortentwickelung der griechiſchen
Staaten war ihr Verdienſt. Aber dieſer Ruhm war es gerade,
welchen die Anderen ihnen nicht gönnten. Sparta, dem die
kleinen Kantone gewohnheitsmäßig anhingen, wollte keine Macht
neben ſich anerkennen und ſuchte nur nach Gelegenheit, Athen
zu ſchaden; die Mittelſtaaten, namentlich Korinth und Theben,
ſchürten unaufhörlich die Erbitterung, theils aus Aerger über
die Machtſtellung eines Staats, den ſie als ihres Gleichen an¬
geſehen hatten, theils aus Abneigung gegen die volksthüm¬
lichen Einrichtungen des attiſchen Staats. Sie wollten ein¬
mal von der Größe Athens nichts wiſſen und betrachteten
dieſelbe nur wie eine ungehörige Unterbrechung der griechi¬
ſchen Geſchichte.
Und doch ruhte die ganze Geſchichte auf der einen Stadt!
Denn nachdem ſie Griechenland gerettet und eine neue Bahn
gebrochen hatte, ging ſie allein auf derſelben vorwärts, wäh¬
rend die Anderen nur eigenſinnig trotzen, hemmen und ver¬
neinen konnten. Sie mußte nun, unbekümmert um den Neid
der Kleinen und die Mißgunſt der Böswilligen, aus eigener
Kraft die ferneren Aufgaben der griechiſchen Volksentwickelung
durchführen und für Alle allein die Gränzen hüten, das Meer
ſichern und die griechiſche Cultur auf dem Gebiete der Kunſt
und Wiſſenſchaft zu vollkommener Geſtaltung zu bringen ſuchen.
Fürwahr ein großer Beruf für eine einzelne Stadt, aber zu¬
gleich ein ſolcher, deſſen Bahn klar vorgezeichnet war; ein
idealer Beruf und doch ein unmittelbar praktiſcher, an welchem
ſich jeder Bürger perſönlich betheiligen konnte und betheiligen
mußte, ein Beruf endlich, welcher ſeinen reichen Lohn in ſich
trug, indem er für alle Staatsangehörigen eine Erziehung
zur Tapferkeit, zu freier Geiſtesbildung und uneigennütziger
Vaterlandsliebe war.
Glücklich preiſen wir den Staat, welchem ein ſo großer
und ſo beſtimmter Beruf vorliegt, ein Beruf, der kein halt¬
loſes Schwanken geſtattet, der die Gedanken vom Kleinlichen
und Selbſtiſchen abzieht, der die höchſten Ziele zu den nächſten
macht und alle menſchlichen Tugenden als Bürgerpflichten
[309]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. fordert. Aber in welcher Form, in welcher Verfaſſung ſollte
es Athen gelingen einem ſolchen Berufe zu genügen?
Athen ſtand am Ende einer Reihe von Verfaſſungszu¬
ſtänden. Unter einem ſtarken Erbkönigthume hatte der Staat
Einheit und Kraft gewonnen; das königliche Geſchlecht war
von dem anwachſenden Adel nach und nach ſeiner Vorrechte
beraubt worden; aus dem Parteizwiſte der Adelsgeſchlechter
war die Tyrannis erwachſen und nach ihrem Sturze wurden
die Hoheitsrechte des Staats der Bürgerſchaft übergeben,
welche ſich durch gleichmäßige Bethätigung einer aufopfernden
Vaterlandsliebe das Recht erworben hatte, daß alle ihre Mit¬
glieder gleichen Zutritt zu den Aemtern der Regierung und
gleichen Antheil an der Geſetzgebung erhielten. Die Demo¬
kratie war nunmehr die zu Recht beſtehende Verfaſſung, und
die außerordentliche Siegeskraft, welche die Bürgerſchaft ent¬
wickelte, zeigte deutlich, daß dieſe Verfaſſung die für Athen
wahrhaft angemeſſene ſei; es konnte keine geeigneter ſein, um
eine wetteifernde Anſpannung der Kräfte, eine allgemeine Hin¬
gebung und Opferbereitſchaft hervorzurufen. Aber mit Opfern
und Kriegsmuth allein war es nicht geſchehen; auch die beſten
Geſetze halfen hier nicht aus. Athen bedürfte nach den Siegen
einer feſten, beſonnenen und klugen Leitung der öffentlichen
Angelegenheiten, es bedürfte eines kräftigen, perſönlichen Re¬
giments, es bedurfte eines Mannes, wie Perikles war.
Perikles war kein ſelbſtſüchtiger Parteimann und kein
neuerungsſüchtiger Demagoge, der mit der Vergangenheit des
Staats brechen wollte. Er entſtammte ſelbſt dem älteſten
Landesadel und zugleich dem Geſchlechte der Alkmäoniden,
das zu dem jüngeren Adel gehörte und die Idee der Be¬
wegung im Staate vertrat. Mit der Vorzeit des Landes eng
verwachſen, war er aber zugleich von den Intereſſen der Ge¬
genwart lebendig erfüllt. In ihm lebten die Gedanken des
Themiſtokles, nur daß er mit Beſonnenheit und Gerechtigkeit
ausführen wollte, was Jener in Haſt und gewaltthätig er¬
zielte; denn er war als Staatsmann gewiſſenhaft und uneigen¬
nützig wie Ariſtides, und dabei als Feldherr glücklich und un¬
[310]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. überwindlich wie der Sohn des Miltiades. Aber die Lage
des Staats verlangte mehr, als eine Vereinigung der Vor¬
züge, welche die früheren Staatsmänner Athens ausgezeichnet
hatten. Athen bedurfte einer königlichen Leitung; aber ein
Königthum läßt ſich nicht ſchaffen, wenn es untergegangen iſt.
Auch der Adel konnte nicht wieder an die Spitze treten; denn
wenn es auch im Volke an alten Geſchlechtern nicht fehlte,
welche noch immer durch reichen Beſitz und angeſtammte Tüch¬
tigkeit eine politiſche Bedeutung ſich bewahrt hatten, ſo hatten
ſie ſich doch in den Freiheitskriegen nicht bewährt; in ihren
Kreiſen hatte ſich mannigfache Hinneigung zum Nationalfeinde
gezeigt, die Erhaltung ihrer Standesrechte hatte ihnen höher
gegolten, als des Volks Ruhm und Ehre, und was Athen be¬
trifft, ſo hatte ſich hier deutlich gezeigt, daß die Ariſtokratie
ihre Vaterſtadt lieber unter Sparta gebeugt, als in freier
Verfaſſung aufblühen ſehen wollte. Die ernſte Mahnung der
Geſchichte, daß alle politiſchen Rechte verwirkt werden, wenn
die Inhaber derſelben ſich in frevelhaftem Selbſtdünkel der
Bewegung der Zeit entgegenſtemmen, hatte ſich auch hier bewährt;
der Adel hatte die Führerſchaft verloren und ſeine Schuld
war es, daß die Demokratie die allein mögliche Verfaſſung war.
Aber auch ſie war praktiſch unmöglich. Denn wie kann
die Leitung eines ausgedehnten Reichs, das aus weitzer¬
ſtreuten und locker verbundenen Gliedern beſteht und überall
angefeindet und bedroht wird, einer Bürgermenge überlaſſen
werden, die auf offenem Markte tagt und in ihrer Geſammt¬
heit unfähig iſt, verwickelte Staatsverhältniſſe zu behandeln!
Nicht ſelten ſind in der Geſchichte ſolche Fälle eingetreten,
wo ein Staat plötzlich in Verhältniſſe kommt, in denen die
hergebrachte Verfaſſung ſich für den erweiterten Beruf un¬
tauglich erweiſt, und es fehlt dann nicht an kühnen Männern,
welche die Mängel abzuſtellen ſuchen. So erkannten in Gela
die Söhne des Deinomenes, daß das ganze Griechenthum in
Sicilien auf die Dauer nur durch eine ſtarke Concentration,
durch die Aufrichtung einer Reichsmacht erhalten werden könne.
Gelon machte daher mit Liſt und Gewalt Syrakus zum Mittel¬
[311]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. punkte eines Inſelreichs, und wenn er ſich auch nachträglich
durch allgemeines Stimmrecht die ertrotzte Gewalt beſtätigen
ließ, ſo war er doch ein Gewaltherr und das Schickſal ſeines
Hauſes war das eines Tyrannenhauſes. In dem unter einer
lahmen und unwürdigen Familienherrſchaft ſtehenden Rom er¬
kannten die Gracchen die Nothwendigkeit einer neuen Staats¬
leitung, eines perſönlichen Regiments, wenn Rom ſeinem Welt¬
berufe genügen ſollte, aber ſie brachten es nur zur Revolution
und ihre Gedanken konnten am Ende nur aus den Trümmern
der ganzen zu Recht beſtehenden Verfaſſung ausgeführt wer¬
den. Auch in Freiſtaaten neuerer Zeit iſt die Verfaſſung that¬
ſächlich aufgehoben worden, wenn dieſelben in politiſche Be¬
ziehungen von größerem Umfange eintraten, wie z. B. in
Florenz, als die Mediceer mit erblicher Macht an der Spitze
des Gemeinweſens ſtanden. In allen Fällen dieſer Art, wo
aus praktiſchen Gründen die Staatsordnung als untauglich
beſeitigt wird, finden wir, daß mehr oder minder ſchroff das
Recht gebrochen wird und daß unberechtigte Gewalten, wie
die des Geldes, des ſoldatiſchen Anhangs und der durch
ſchlechte Mittel erworbenen Volksgunſt, den Staat an ſich reißen.
Nur eine Macht giebt es, welche in allen Zeiten die wahr¬
haft berechtigte iſt, das iſt die Macht des Geiſtes, die Macht
hervorragender Einſicht und Tugend. In dem Maße, wie
dieſe zur Geltung kommt, iſt jede Verfaſſung eine normale
und gute, wie der Seelenzuſtand des Einzelnen ein wohlge¬
ordneter iſt, wenn die zur Herrſchaft berufenen Seelenkräfte
die niederen Triebe leiten; in dieſer Beziehung giebt es alſo
in der That nur eine einzige richtige Verfaſſung, die wahre
Ariſtokratie. Und darin beſtand nun das unvergleichliche Glück
Athens, daß ihm in der Zeit ſeiner ſchwierigſten Aufgaben
eine ſolche Verfaſſung zu Theil wurde, und zwar ohne Ge¬
waltſamkeit, ohne ſogenannte »rettende Thaten« und ohne
Rechtsbruch.
Wir dürfen dies wohl als etwas der griechiſchen Nation
Eigenthümliches anſehen, daß bei ihr ſeit älteſten Zeiten geiſtige
Bildung als eine Macht im Staate angeſehen worden iſt.
[312]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.Ihre Könige ſchon waren Lehrer des Volks; die Macht
Delphi's beruhte auf der dort vereinigten Wiſſenſchaft und die
älteſten Philoſophen, wie Thales, Empedokles, Parmenides,
waren einflußreiche Staatsmänner. Der große Gelehrte He¬
kataios hatte eine einflußreiche Stimme bei den Ioniern, und
als durch die Verſchmähung ſeines Raths die Erhebung mi߬
lungen war, half er noch durch ſeinen Einfluß das Schickſal der
Beſiegten mildern, gerade ſo wie wir am Ende der griechiſchen
Geſchichte Polybios thätig ſehen, ſeinen Einfluß bei den
Siegern zu Gunſten ſeiner Landsleute geltend zu machen.
Wie ſehr man den Beſitz hervorragender Welt- und Menſchen¬
kenntniß als Bedingung einer würdigen Amtsführung im Staate
anſah, bezeugt noch der gelehrte und philoſophiſch gebildete
Strabo, der ſein bewunderungswürdiges Lehrbuch der Erd¬
kunde für ſolche ſchrieb, die ſich zu ſtaatsmänniſcher Thätig¬
keit vorbereiten wollten.
Dieſer echt helleniſche Geſichtspunkt hatte vorzugsweiſe
ſeine Geltung in Athen, und wenn nun Perikles hier kraft
des unveräußerlichen Herrſcherrechts überlegener Geiſteskraft
die erſte Stelle im Staate beanſpruchte, ſo kam ihm dabei
der Umſtand zu gute, daß um ſeine Zeit eine neue Seite
helleniſcher Bildung und damit eine neue Kraft des helleni¬
ſchen Geiſtes ſich entfaltete. Perikles war einer der Erſten
in Athen, die philoſophiſch gebildet waren. Als Schüler und
Freund des Anaxagoras hatte er einen Standpunkt gewonnen,
den Keiner mit ihm theilen konnte. Er ſtand außerhalb der
Menge und darum konnte er ſie bewegen; er war als Phi¬
loſoph über ihre Vorurtheile erhaben; als Philoſoph hatte er
einen ſtets auf hohe Ziele gerichteten Sinn, überlegene
Denkkraft, unerſchütterliche Faſſung, Klarheit des Urtheils und
eine Fülle von Geſichtspunkten, die er mit Geiſtesgegenwart
beherrſchte. Alſo die Forderung, von welcher Plato die Mög¬
lichkeit einer glücklichen Reform des geſellſchaftlichen Lebens
abhängig macht und die gewöhnlich von allen platoniſchen
Forderungen am meiſten belächelt zu werden pflegt, daß
nämlich Philoſophen im Staate herrſchen müßten, dieſe For¬
[313]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. derung wurde, ſo weit ſie vernünftig iſt, durch Perikles ver¬
wirklicht.
Aber wie war denn ein ſolches Herrſchen möglich, inner¬
halb einer vollendeten Demokratie, deren Grundſatz es iſt,
keine Autorität dem Volke gegenüber anzuerkennen, jede Macht
durch Theilung zu beſchränken und auch die beſchränkte Macht
nur auf kurze Friſt zu verleihen, um den Gegenſatz von Re¬
gierenden und Regierten möglichſt aufzuheben?
Freilich war das Staatsweſen der Athener darauf angelegt,
daß ſoviel wie möglich alle Bürger abwechſelnd regieren und
gehorchen ſollten, aber ſie haben niemals das Heil ihres Staats
dem Unweſen einer unbedingten Maſſenherrſchaft preisgegeben.
Sie haben ihre Beamten erlooſt, weil ſie glaubten, daß zu
den laufenden Verwaltungsgeſchäften jeder ihrer Mitbürger
die genügende Vorbereitung beſitze, und das Loos hat die
Stadt vor vielem Unſegen der Wahlumtriebe und Parteikämpfe
bewahrt; aber ſie haben demſelben niemals eine unbedingte
Berechtigung eingeräumt. Das Amt der Heerführung, mit
welchem ausgedehnte Vollmachten in Beziehung auf die aus¬
wärtigen Angelegenheiten und die öffentliche Sicherheit ver¬
bunden waren, ſo wie die oberſte Finanzſtelle ſind immer den
Männern des allgemeinen Vertrauens vorbehalten worden.
Dieſe Aemter ſtiegen an Anſehen, ſo wie die Loosämter an
Bedeutung verloren. Es bedurfte alſo nicht der Aufhebung
des Looſes, wie ſie in Florenz erfolgte, um die Herrſchaft
der Mediceer zu befeſtigen, ſondern Perikles regierte den Staat,
ohne eine ſeiner Inſtitutionen zu verletzen; er regierte ihn als
der erwählte Mann des öffentlichen Vertrauens, als Berather
der Bürgerſchaft, als Oberfeldherr der Republik, als Aufſeher
ihrer Finanzen und endlich als Bevollmächtigter der Gemeinde
zur Ausführung der öffentlichen Bauten. So vereinigte ſich
in der perikleiſchen Stadt das Gute der verſchiedenſten Staats¬
formen. Sie hatte den unverkennbaren Vorzug einer Demokratie,
welche Alle zu gleicher Theilnahme am Staatsweſen heran¬
zieht, jeden einzelnen Bürger für das Heil des Ganzen ver¬
[314]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. antworlich macht, Willkür, Einſeitigkeit, Mißbrauch der Ge¬
walt, Unredlichkeit der Politik möglichſt verhütet und die größte
Kraftentwickelung hervorruft. In dem allgemeinen Wetteifer
bewähren ſich die Beſten der Bürger, und indem dieſen die
Vertrauensämter übertragen werden, ſo verbindet ſich mit der
Volksherrſchaft der jedem Gemeinweſen unentbehrliche Segen
einer wahren Ariſtokratie. Der ſeltenſte und glücklichſte Fall
iſt aber ohne Zweifel der, wenn ſich Einer als der Beſte be¬
währt. Dann iſt ſcheinbar freilich die Demokratie aufge¬
hoben, denn es herrſchen nicht Alle, ſondern Einer, nicht der
Erſte, Beſte, ſondern der Erſte und Beſte; aber dennoch konnte
eine ſolche Herrſchaft nur aus dem Boden der Demokratie
ſich entwickeln, denn dieſe hat ja gerade darin ihre politiſche
Berechtigung, daß in ihr ohne alle Nebenrückſichten der unbe¬
dingt Beſte an die erſte Stelle rücken kann. Er ſtellt die
Tugend, welcher Alle nacheifern, das Geſetz, welchem Alle
dienen, in ſich perſönlich dar. Anſtatt des todten Buchſtabens
ſteht ein perſönliches Weſen im Mittelpunkte, wie es zu allen
Zeiten ein Bedürfniß der menſchlichen Natur geweſen iſt, ein
Mann, der immer das Ganze im Auge hat, und mit jenem
königlichen Blicke, wie ihn Plato entwickelt, die Dinge be¬
herrſcht. Und ein ſolcher König war Perikles inmitten der
Republik, kein Parteihaupt, darum frei und unabhängig; ein
gerechter König, indem er nicht das Seine ſuchte, ſondern,
von aller Hoffart fern, ein arbeitvolles Leben ganz dem Staate
widmete; ein legitimer Fürſt, indem er durch freiwillige An¬
erkennung ſeiner Mitbürger herrſchte; ein ſchlichter Bürger und
dennoch ein geborener Herrſcher, denn er war mit Gaben ſo
außerordentlicher Art ausgerüſtet, daß er nicht nur das Recht,
ſondern auch die Pflicht hatte, durch dieſelben zu herrſchen.
Er hatte die Kraft des Genius, welche die zerſtreuten Ele¬
mente magnetiſch anzieht und ihnen Bewegung und Richtung
giebt. Seine Herrſchaft war um ſo ſicherer, je verſtändiger
und tugendhafter ſeine Mitbürger waren; er hob ſie empor,
wenn er ſie leitete; es verſtummten in ihnen die niederen Be¬
gierden, wenn er zu ihnen redete. Das war die ethiſche
[315]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. Kraft ſeines monarchiſchen Regiments, und ſo dürfen wir
wohl ſagen, daß ſich das Gute der verſchiedenen Staatsformen
auf die ſeltenſte Weiſe in dieſer Staatsleitung vereinigte.
Aber was den Inhalt der perikleiſchen Politik betrifft,
lag nicht in ihr der Keim des Bürgerkriegs, war nicht die
Schwäche und Demüthigung der anderen Bundesſtaaten Vor¬
ausſetzung und Ziel der Größe von Athen, war Perikles' Re¬
giment nicht eine Herausforderung gegen Sparta und wie
kann man die Vorbereitung des entſetzlichſten Bürgerkriegs
eine glückliche Periode nennen?
Freilich haben ſchon im Alterthume Feinde und Spötter
Perikles den Anſtifter des Kriegs genannt; freilich war er
vorzugsweiſe der Gegenſtand des Haſſes von Sparta, das
ſeine Ausweiſung als Unterpfand des Friedens verlangte;
aber dieſe Forderung beruhte nur darauf, daß man in Perikles
die Macht Athens erkannte, wie aus gleichem Grunde der
Feind unſers deutſchen Vaterlandes die Ausweiſung ſeines
größten Staatsmanns verlangte. Perikles hat nie einen Haß
gegen die anderen Staaten gezeigt. Er hat alle unberechtigten
Oberhoheitsgelüſte ruhig und entſchloſſen zurückgewieſen; er
hat die Ummauerung Athens vollendet, Heer und Flotte ge¬
ordnet, den Staatsſchatz geſammelt, damit ſeine Vaterſtadt
jeden Augenblick kriegsbereit ſei und ſelbſtgenugſam; er hielt
die Bündner auch wider ihren Willen feſt, weil er den kleinen
Inſelſtädten nicht das Recht zugeſtehen konnte, nach eigener
Laune ihre Politik zu beſtimmen und dadurch die mit viel
Blut erkaufte Sicherheit des griechiſchen Meers in Frage zu
ſtellen, aber er war ein entſchiedener Gegner aller Eroberungs¬
gelüſte, er war ein Mann des Friedens, weil nur im Frieden
Athen das Werk, zu dem es berufen war, ausführen konnte,
und dies Werk war ein nationales.
Ein politiſches Vaterland gab es nicht mehr. Der in
den Freiheitskriegen erneuerte Staatenbund war aus einem
Schutze der nationalen Entwickelung eine Feſſel derſelben ge¬
worden und endlich durch Sparta's Schuld aufgelöſt worden.
Perikles verſuchte neue Einigungen, aber umſonſt. Athen
[316]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.blieb auf ſich angewieſen. Es mußte alſo die geiſtigen Güter,
die den nationalen Gemeinbeſitz bildeten, um ſo treuer pflegen,
um ſo raſtloſer dahin ſtreben, das Bild eines vollkommenen
Griechenthums bei ſich darzuſtellen, und ſeine Schuld war es
nicht, wenn daſſelbe ein vollſtändiges Gegenbild von Sparta
wurde. Es handelte ſich alſo nicht bloß um eine achtungge¬
bietende Machtbildung dem Auslande gegenüber, ſondern auch
um eine Ausgleichung der Stammesunterſchiede, um eine Ver¬
bindung der noch im Gegenſatze ſtehenden Volkskräfte, um
eine Ausſöhnung alter und neuer Bildung; denn die Auf¬
klärung drang von Ionien unaufhaltſam ein. Abwehren ließ
ſie ſich nicht, aber es kam darauf an, den Glauben der Väter
feſtzuhalten, mit welchem die Volksſitte und Volkskraft unauf¬
löslich verbunden war, und dieſe Verſöhnung war die Auf¬
gabe der Kunſt, wie ſie von Pheidias und Sophokles geübt
wurde. Indem in Athen vereinigt wurde, was bis dahin in
den verſchiedenen Stämmen und an verſchiedenen Orten ſich
entwickelt hatte, entſtand aus der Vereinigung etwas weſentlich
Neues; es entſtanden Kunſtwerke, die weder doriſch noch ioniſch,
ſondern attiſch und, zugleich echt helleniſch waren. Es ent¬
wickelten ſich auch ganz neue Richtungen, wie in der Philo¬
ſophie, in der Beredſamkeit und in der Geſchichtſchreibung.
Herodot und Thukydides ſind als Hiſtoriker ſo verſchieden wie
möglich von einander, aber in dem Einen ſtimmten ſie über¬
ein, daß der Staat des Perikles den Mittelpunkt ihrer Ge¬
ſchichtsanſchauung bildete. Und alle die großen Leiſtungen
der Stadt in Wiſſenſchaft, Poeſie und Bildkunſt, ſie gehörten
nicht einem auserwählten Kreiſe der Geſellſchaft an, ſie
bildeten nicht den Schmuck eines Hofes, ſie dienten nicht
zu prahleriſcher Schauſtellung des erworbenen Wohlſtandes,
ſondern ſie gehörten dem Gemeinweſen an, wirkten bildend
und läuternd auf alle Angehörigen deſſelben und kamen durch
Betheiligung der ganzen Bürgerſchaft zu Stande. Jeder
Bürger mußte ſtolz ſein auf eine Vaterſtadt, die ſolches leiſten
konnte, ja jeder gebildete Hellene mußte ſich in Athen zu Hauſe
fühlen und anerkennen, daß in der Stadt des Perikles das
[317]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. wahre Hellas ſei. War alſo ſein Wirken nicht ein echt na¬
tionales, und war es nicht ein Glück für Athen, wie es ſich
ſelten wiederholt, einem ſo hohen Berufe in ſolcher Weiſe ge¬
nügen zu können?
Aber, ſagt man, ſo glänzend immerhin der Zuſtand des
perikleiſchen Athens war, als einen glücklichen dürfen wir ihn
kaum preiſen, da er doch nur ein Moment war in der Volks¬
geſchichte; der raſche Verfall zeigt ja, auf wie unſicheren Grund¬
lagen jenes Glück beruhte. Soll damit die Blüthe Athens
als eine künſtlich getriebene und deshalb vergängliche be¬
zeichnet werden, ſo widerſpricht dem der Charakter der ganzen
Zeit und ihrer Werke. Was ſie geleiſtet hat, iſt durch den
überſchauenden Blick des Einen Mannes nach allen Seiten
gefördert worden; aber eine willkürlich hervorgerufene, durch
äußere Mittel und um äußerer Zwecke willen angeregte, durch
Ueberreizung beſchleunigte können wir die Entwickelung Athens
nicht nennen, ſondern ſie iſt aus dem Volke mit friſchen Trie¬
ben hervorgegangen, national und geſund. Oder ſoll etwa
gar die Zeitdauer den Maßſtab des Glücks abgeben? Das
würde freilich vollſtändig dem widerſprechen, was wir im
Einverſtändniſſe mit den Weiſen Griechenlands als das Weſen
des Glücks erkannt haben. Dann müßte eine lange Reihe
kümmerlicher Jahre einem kurzen, inhaltreichen Leben in voller
Kraft der Geſundheit, dann müßte das lange, kränkelnde Da¬
ſein des ſpartaniſchen Staats der Vollblüthe des attiſchen
Lebens vorgezogen werden!
Die Staaten des Alterthums lebten raſcher, als die
neueren, ſchon deshalb weil ſie kleiner waren und ihre Bürger¬
ſchaften abgeſchloſſene Körperſchaften; jeder öffentliche Unfall
betraf unmittelbarer jeden Einzelnen, jeder Verluſt wurde
ſchwerer erſetzt, jede Veränderung war durchgreifender. Da¬
her ſind die Kriſen des Verfaſſungslebens häufig ſo plötzlich
eingetreten, und in manchen Staaten können wir beinahe nach
Jahr und Tag den Wendepunkt des inneren Lebens beſtimmen.
In Athen war die Umänderung beſonders plötzlich und über¬
raſchend; ſie war aber nicht die Folge der von Perikles ge¬
[318]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. leiteten Entwickelung, ſondern allgemeiner Entwickelungsge¬
ſetze, denen keine Macht des Geiſtes die alten Staaten ent¬
ziehen konnte, und dazu kamen Unfälle von unberechenbarer
und unwiderſtehlicher Beſchaffenheit, welche den Kern der Bür¬
gerſchaft zerſtörten. Und ſollte Perikles, wenn er die kurze
Dauer der Größe Athens vorausſah, etwa anders gehandelt
haben? Sollen wir die Energie unſers Strebens nach der
muthmaßlichen Dauer des Erfolgs abmeſſen, dann wäre De¬
moſthenes ein Thor und Verbrecher geweſen, dann würde von
Heldenſinn und Heldenthat in der Geſchichte nicht mehr die
Rede ſein.
Und war denn nach Perikles' Tode auf einmal Alles vor¬
bei? Wer wagt das zu behaupten? Freilich verſtimmten
ſich bald die Saiten, die Harmonie trübte ſich; niedere Rich¬
tungen gewannen die Oberhand. Aber der Segen, der jeder
großen Zeit folgt, blieb auch hier nicht aus. Die perikleiſchen
Denkmäler blieben der beſte Schatz der Stadt für alle Jahr¬
hunderte; Athen blieb auch ohne Perikles unüberwindlich, ſo
lange es den Grundſätzen ſeiner Politik folgte; es blieb der
heimathliche Herd aller höheren Richtungen des helleniſchen
Geiſtes, und ſo lange noch Lebenskräfte vorhanden waren,
haben die Athener im Andenken an jene große Zeit immer
ſich ſelbſt wiedergefunden.
Eines freilich kehrte niemals wieder. Das war die Uni¬
verſalität des griechiſchen Geiſtes, wie ſie ſich in Perikles dar¬
geſtellt hat. Große Feldherren, Staatsmänner, Philoſophen
und Redner hat Griechenland noch in bedeutender Anzahl
hervorgebracht, und mit der Trennung der verſchiedenen Rich¬
tungen wurde in den einzelnen Fächern ſogar eine größere
Meiſterſchaft erreichbar. Er aber war, wie der Erſte, ſo auch
der Letzte, der alle Kräfte des griechiſchen Geiſtes harmoniſch
in ſich entfaltete und an dem entſcheidenden Wendepunkte der
nationalen Entwickelung den Beſitz der Vorzeit mit dem Ge¬
winn der Neuzeit zu verbinden wußte, ein Altathener zugleich
und ein Ionier, dem Herkommen treu und ein Führer der
Bewegung. Auch die Macht weiblicher Bildung hat er zuerſt
[319]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. in ihrer Bedeutung erkannt. Freilich giebt es Viele, welche
ſich nicht eher beruhigen, bis ſie an jeder Größe die Schwächen
und Gebrechen aufgeſpürt haben, um ſich dem unbequemen
Gefühle bewundernder Anerkennung zu entziehen. Aber das
Weſen und die Bedeutung eines Mannes liegt doch nicht in
den Schwächen und Unvollkommenheiten, die er mit allen
Sterblichen theilt, ſondern in dem, was ihn auszeichnet vor
der Menge derſelben und ihm ſeinen hiſtoriſchen Charakter
giebt. Mißgünſtigen Menſchen mag es ärgerlich ſein, daß
uns nichts Glaubwürdiges überliefert iſt, was die ſittliche
Würde des Perikles beeinträchtigt; wir prägen nur um
ſo lieber die Züge des großen Mannes unſerem Gedächt¬
niſſe ein und freuen uns der dauernden Bedeutung ſeines
Lebenswerks.
Denn wir, denen im perikleiſchen Athen das merkwür¬
digſte Staatsleben vor Augen tritt, die wir in ſeinen Denk¬
mälern das Weſen echter Kunſt wieder gefunden haben, die
wir die belebende Berührung jener Geiſter, die Perikles wie
ein Muſaget um ſich ſammelte, täglich an uns ſpüren, wir
werden doch nicht von kurzen und vergeblichen Beſtrebungen
jener Zeit reden? Bloßer Nachruhm iſt ein eitles Ding, aber
nicht ſo eine durch Jahrhunderte dauernde Wirkung, welche
unter den verſchiedenſten Völkern die Liebe zum Guten und
Schönen weckt. Das Bewußtſein, nicht für eine kurze Gegen¬
wart, ſondern für die kommenden Geſchlechter zu wirken, hat¬
ten Perikles und ſeine großen Zeitgenoſſen, und dies Be¬
wußtſein war ihnen ein Troſt für vielfältige Verkennung,
Läſterung und Verfolgung und ein Quell des Lebensmuths;
es war zugleich die höchſte Weihe, welche auf dem Glücke des
perikleiſchen Athens lag.
Alſo auch wir haben unſeren Antheil daran. Auch für
uns, die wir heute hier verſammelt ſind, hat Perikles gewirkt,
und die Wiſſenſchaft iſt es, welche uns dieſe Wirkung zu gute
kommen läßt. Sie iſt das Band, welches alle Generationen
verbindet und die Nachgeborenen zurückweiſt auf die Wohl¬
thäter unſeres Geſchlechts. Es iſt kein guter Geiſt, welcher
[320]Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. uns zuruft: Weh dir, daß du ein Enkel biſt! Denn alles
Große und ewig Gültige, was die Vorzeit hervorgebracht hat,
iſt unſer, und dies überreiche Erbgut immer voller der Gegen¬
wart anzueignen, iſt die Aufgabe aller Anſtalten, in denen
die Wiſſenſchaft gepflegt wird, vor allen die der Univerſitäten.
Wir ſollen alſo keinen trüben Epigonenſtimmungen nachhängen;
wir ſollen nicht die »Trümmer hinübertragen und klagen um
die verlorene Schöne«, ſondern, unſeres Reichthums froh, das
Zertrümmerte aufbauen, das Vergangene ins Leben rufen
und die Schätze der Weisheit heben. Wir brauchen nicht
ängſtlich und ſcheu unſere Hände davon zurück zu halten; »es
iſt Alles Euer«, ſagt uns das apoſtoliſche Wort. Die alten
Staaten wurden freilich gefährdet, wenn zu der nationalen
Bildung eine andere, fremdartige hinzutrat, weil dadurch die
volksthümliche Grundlage des Gemeinweſens erſchüttert wurde.
Unſer Culturleben ſteht, Gott ſei Dank! auf anderen Grund¬
feſten. Wie wir daher unſere wahre Jugend mit hinüber
nehmen ſollen in das reife Alter, ſo dürfen und ſollen wir
auch das Alterthum, ſo weit ſeine vorbildliche Bedeutung
reicht, in die Gegenwart verpflanzen und Lebenskräfte daraus
nehmen. Die Melanchthonfeier hat uns ja von Neuem daran
erinnert, wie unſere heiligſten Intereſſen mit den wahren Hu¬
manitätsſtudien unzertrennlich verbunden ſind. In dieſem
Sinne haben wir auch heute das Glück des perikleiſchen
Athens betrachtet, im Sinne des echt akademiſchen Wahlſpruchs:
Es iſt Alles unſer!
XIX.
Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
Unter den vielen Ausſprüchen, welche uns von Staats¬
männern des Alterthums überliefert ſind, hat kaum einer in
gleichem Grade die Aufmerkſamkeit erregt, wie die Beſtim¬
mung Solon's, daß derjenige Bürger, welcher in Zeiten der
Bewegung parteilos bleibe, ſein Bürgerrecht verwirke und ehr¬
los ſein ſolle. Iſt die Parteiung, fragt man überraſcht, nicht
eine Krankheit des Gemeinweſens? Iſt es alſo nicht eine Pflicht
aller Wohlgeſinnten, ſich von der Anſteckung fern zu halten,
und beruht nicht das Heil des Staats darauf, daß in ſtürmi¬
ſchen Zeiten eine Anzahl von Bürgern vorhanden iſt, welche
frei von aller Aufregung und unbeirrt durch den Gegenſatz
der Tagesſtimmungen nur das Wohl des Ganzen im Auge
haben? Und wie verträgt es ſich mit der geſamten Thätigkeit
eines Mannes, welcher ſelbſt über den Parteien ſtand und
durch Verſöhnung derſelben eine friedliche Staatsordnung be¬
gründete, daß er hier zum Bürgerkampfe auffordert und die
Theilnahme daran als eine Bürgerpflicht hinſtellt?
Das Geſetz Solon's iſt nur im Zuſammenhange mit dem
helleniſchen Volksleben verſtändlich. Freilich iſt Parteiung ſo
alt wie die Geſchichte. Denn alles Werden beruht darauf,
daß Theile vom Ganzen ſich löſen und in Gegenſatz zu ein¬
ander treten. Jede Volksgeſchichte beginnt mit der Gliederung
Curtius, Alterthum. 21[322]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. in Stämme; die Weltgeſchichte, ſo weit wir von einem Beginne
derſelben reden können, mit dem Gegenſatze, welcher ein bis
dahin einiges Völkergeſchlecht ſcheidet, und die Sprache giebt
noch heute Zeugniß von den Spaltungen, welche im Gottes¬
bewußtſein der Völker eintraten, von den feindlichen Span¬
nungen innerhalb der von Natur verbundenen Menſchengruppen.
Alſo jede geſchichtliche Bewegung geht vom Gegenſatze der
Partei aus. Aber im Morgenlande erſtarrt die Bewegung;
die Kaſten Indiens ſind verſteinerte Parteien und die Kämpfe,
aus denen ſie hervorgegangen, früh verſchollen. Bei den
Iraniern iſt die geſchichtsbildende Bewegung viel deutlicher;
bei ihnen herrſcht keine zurückgezogene Beſchaulichkeit, ſondern
für ſie iſt das ganze Leben ein Kampf. Von böſen und guten
Geiſtern umgeben, ſoll Jeder nach eigener Wahl ſich frei ent¬
ſcheiden; er ſoll Partei nehmen und mit allen Waffen ſtreiten
für das Reich der Wahrheit und des Lichts. Bei ihnen fin¬
den wir eine reiche Volksgliederung und eine große Mannig¬
faltigkeit des Sonderlebens. Aber ſie geht unter in der Mo¬
notonie despotiſcher Reiche, in welchen keine anderen Parteien
zur Geltung kommen, als die am Hofe entſtehen und den
Thron betreffen. Auch die edelſten Stämme, wie die Perſer,
erliegen dem lähmenden Einfluſſe aſiatiſcher Reichsbildung.
Dagegen iſt bei den Hellenen der Trieb der Sonderung von
Anfang bis zu Ende herrſchend geblieben.
Schon in der homeriſchen Welt ſehen wir Prieſter- und
Königthum einander feindlich gegenüber; die Edlen erheben
ſich wider den König und erſchüttern die Macht ſeines Hauſes;
auch das Volk, obwohl noch eine dunkle Maſſe, meldet ſich
ſchon mit ſeinen Anſprüchen, wie die grelle Stimme des Ther¬
ſites bezeugt. Nach dem Sturze des Königthums betrachten
die Geſchlechter ſich als die Inhaber des Staats; aber ſo wie
der Seehandel aufblüht und mit dem Wohlſtande das Selbſt¬
gefühl ſteigt, da erhebt ſich die Gemeinde und verlangt Rechte
von dem Staate, der weſentlich auf ihrer Kraft beruht. Edel¬
leute von den Ihrigen zurückgeſetzt, treten an die Spitze der
Gemeinde; der ſiegreiche Führer wird der Obmann des Staats.
[323]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. Er beugt den Adel, er fördert Handel und Gewerbe, er zieht
das Landvolk in die Mauern herein. Das ſtädtiſche Leben
blüht auf, mit ihm das Feſtweſen und die Kunſt. Aber der
Volksführer wird der Volksſache untreu; er ſucht nur eignen
Vortheil und ſtrebt, von Söldnern umgeben, nach dynaſtiſcher
Gewalt. Bald ſteht Alles gegen ihn; der freiſinnige Adel
verbündet ſich mit dem Volke und nach dem Sturze der Ge¬
waltherrſchaft ſucht man den Staat der Herrſchaft einzelner
Stände und Parteien auf immer zu entziehen, durch geſchriebene
Rechtsnormen jeder Willkür vorzubeugen und das Geſetz zur
Herrſchaft zu bringen.
Nun iſt die Idee des helleniſchen Staats verwirklicht,
aber damit iſt keine Ruhe gewonnen, kein Abſchluß erreicht.
Auf Grund voller Rechtsgleichheit betheiligt ſich nun Alles am
öffentlichen Leben; alle Fragen der inneren und äußeren Po¬
litik werden zur Parteiſache, und der Parteikampf wird im
Oſtrakismos geſetzlich organiſirt. Eine Partei nach der anderen
bringt ihren Führer an das Ruder und die volle Demokratie,
welche in keinem anderen Orte als in Athen eine Zeitlang
mit Ehren beſtanden hat, bewährte ſich nur dadurch, daß ſie
es möglich machte, durch freien Parteikampf die wahrhaft be¬
deutendſten Männer an die Spitze des Staats zu bringen.
Der Letzte war Demoſthenes. Der Parteigeiſt überdauerte
aber die politiſche Geſchichte Athens. Er ging auf andere
Gebiete über, er lebte fort in den geiſtigen Gemeinden der
Philoſophen, ähnlich wie in Rom die Juriſtenſchulen an die
Stelle der politiſchen Gegenſätze traten. Noch in Byzanz fin¬
den wir die Nachklänge jener volksthümlichen Bewegung; die
Parteien der Rennbahn ſind die letzten Ausläufer und zugleich
die klägliche Parodie jener Gegenſätze, in welchen ſich das
Leben des helleniſchen Volks von Anfang an bewegt hat.
Wenn nun Solon ſeine Mitbürger kannte, wenn er die
geiſtigen Triebe in ihnen nicht binden, ſondern löſen und ent¬
falten wollte, wenn er ſeine Verfaſſung als ein Werk anſah,
das im Kampfe der Gegenſätze ſich bewähren und fortbilden
ſollte: ſo konnte er freilich keinen Bürger leiden, der ſich dieſem
21*[324]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. Kampfe entzog, der es bequem fand, demſelben wohlgeborgen
zuzuſchauen und die Entſcheidung abzuwarten, um ſich dann
den Siegern anzuſchließen. Wenn eine ſolche Geſinnung Nach¬
folge fände, ſo würde die Stadt Gefahr laufen, einer Minder¬
zahl entſchloſſener Parteigänger als Beute in die Hände zu
fallen. Daher ſah Solon eine feige Neutralität als Verrath
am Vaterlande an, als ein Verbrechen, durch welches die
Bürgerehre verwirkt werde.
Findet auf dieſe Weiſe Solon's Ausſpruch in dem Charakter
des Volks ſeine Erklärung, ſo ergiebt ſich daraus auch die Bedeu¬
tung der alten Geſchichte für die allgemeine Betrachtung der
menſchlichen Dinge; denn keine Zeit iſt lehrreicher und anziehen¬
der für uns als die einer lebhaften Parteibewegung. Da ſind
alle Kräfte in Spannung, da tritt im Guten wie im Böſen die
wahre Natur des Menſchen zu Tage. Die Partei bringt das
ſtehende Waſſer in Fluß, ſie macht das Epos der Geſchichte
zum Drama; ja, wir werden aus Zuhörern und Zuſchauern
zu unmittelbaren Theilnehmern. Wie wir als Kinder für
Hektor oder für Achilleus ſchwärmten, ſo treten wir auch als
Männer in den Kampf der Parteien ein; wie müſſen das Für
und Wider in uns ſelbſt zur Entſcheidung bringen, und die
neue Lebenswärme, welche ſeit Niebuhr in die Betrachtung
des Alterthums eingedrungen iſt, beruht ſie nicht weſentlich
darauf, daß er ſich nicht begnügte, mit dem kühlen Verſtande
des Kritikers die überlieferten Thatſachen zu prüfen, ſondern
bei jeder Parteibewegung, wie ein echter Bürger nach dem
Herzen Solon's, ſich die Gewiſſensfrage vorlegte: Auf welcher
Seite würdeſt du geſtanden haben? Nur auf dieſe Weiſe wird
die Geſchichte zu einer Bildungsſchule des politiſchen Urtheils,
zu einer ethiſchen Wiſſenſchaft.
Auf dieſe Weiſe lernen wir auch in der alten Geſchichte
das Weſen der Partei und ihre verſchiedenen Arten am gründ¬
lichſten kennen. Wir erkennen als die älteſte derſelben die¬
jenige, welche auf natürlichen Unterſchieden beruht. Die Stämme
einer Nation, von Natur verſchieden begabt, entfremden ſich
einander, nachdem ſie in getrennten Wohnſitzen ihre beſonderen
[325]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.Sitten und Mundarten ausgebildet haben; die Entfremdung
führt zu Mißgunſt und Eiferſucht, ſo daß die zu gegenſeitiger
Ergänzung und Förderung berufenen Bruderſtämme als Volks¬
parteien ſich feindlich gegenübertreten.
Aus der Gliederung der bürgerlichen Geſellſchaft geht
eine zweite Art der Parteiung hervor, wenn Herren- und
Bauernſtand, Edelleute und Gewerbtreibende, Alt- und Neu¬
bürger um den Antheil am Gemeinweſen hadern. Auch dieſe
Spaltungen ſchließen ſich an natürliche Unterſchiede an, wenn
in gewiſſen Gegenden einzelne Stände vorherrſchen, hier der
große Grundbeſitz, dort das Hirtenvolk, oder die Fiſcher und
Seefahrer; die Spaltung der Geſellſchaft kann aber auch aus
rein geiſtigen Geſichtspunkten hervorgehen, wenn es ſich z. B.
um die Abwehr oder Einführung einer auswärtigen Cultur
handelt, wie in Rom um die helleniſche, in Athen um die
ioniſche Bildung. Die dritte Art beruht auf der Verſchieden¬
heit der Anſicht von ſtaatlichen Einrichtungen; das ſind alſo
die eigentlich politiſchen Parteien in ihrer unendlichen Mannig¬
faltigkeit, unter denen es, ſo lange Staaten beſtehen, immer
zwei Hauptrichtungen gegeben hat, eine, welche mehr im Ge¬
winnen eines Neuen und Beſſeren, die andere, welche mehr
im Erhalten des Bewährten das Heil des Ganzen ſieht.
Dann lehrt uns aber das Alterthum auch die richtige
Würdigung der politiſchen Parteiung; denn die Beſchäftigung
mit demſelben macht es uns durchaus unmöglich, ſie nur als
Krankheitserſcheinung aufzufaſſen. Auch die Unterbrechung der
friedlichen Entwickelung erſcheint uns als eine Kriſis des Volks¬
lebens, welche mit einer gewiſſen Nothwendigkeit eintritt. Da¬
her finden wir gleichzeitig an den verſchiedenſten Orten Griechen¬
lands dieſelben Gährungen, aus denen die Tyrannis hervor¬
ging. Es ſind die Zeichen einer Bewegung, welche durch
Aufſtellung und Ueberwindung von Gegenſätzen unaufhaltſam
fortſchreitet; es ſind Durchbrüche einer neuen Zeit, in denen
gebundene Kräfte frei werden und junge Triebe ſich Bahn
machen. Nur in ſolchen Bewegungen kann der werdende Staat
ſich ausgeſtalten und Form gewinnen; je geſunder er ſich aber
[326]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. entwickelt, je mehr der Geiſt der Freiheit, der Gerechtigkeit, des
Gemeinſinns ihn durchdringt, um ſo mehr wird der Kampf
der Parteien eine Uebungsſchule aller geiſtigen Lebenskräfte
ſein. Er fördert das Ganze, indem er durch offenen Gegen¬
ſatz der Meinungen Vorurtheile beſeitigt ſo wie vor Einſeitig¬
keit und Irrwegen bewahrt; er fördert den Einzelnen, indem
er ihn nöthigt, in Wort und That eine wohlgeprüfte Meinung
muthig zu vertreten.
Das iſt der wohlthätige Antagonismus der Partei, die
ſicherſte Bürgſchaft des Fortſchritts und einer gedeihlichen Zu¬
kunft. Er trennt nicht nur, ſondern er verbindet auch; er
ſteigert die perſönliche Theilnahme am Wohle des Staats, für
welchen Alles wetteifernd bemüht iſt. Die Parteikämpfe ſind
die Wehen, welche neuen Entwickelungen vorangehen; nach
angſtvoller Spannung der Gemüther folgt eine höhere Gewi߬
heit und der Staat wird Allen um ſo theurer, je mehr um
ihn gebangt, geſtritten und gearbeitet worden iſt. Aus jeder
Kriſis geht er reicher und voller hervor. Einem Parteiſiege
verdankte Athen den Schmuck ſeiner Tempel; aus den Partei¬
kämpfen gingen die Colonien hervor, welche die Herrſchaft der
Griechen über alle Mittelmeerküſten ausdehnten; Beredſamkeit
und dialektiſche Methode ſind Früchte des Parteikampfes; aus
ihm ſind endlich die höchſten Kunſtwerke des Geiſtes entſprungen,
die noch heute vorbildlichen Geſetzgebungen, in denen der flu¬
thenden Bewegung Maß und Form gegeben iſt. Wahrlich,
wenn wir die arme Geſchichte parteiloſer Staaten mit der
überreichen Culturentwickelung einer Stadt vergleichen, welche,
wie Athen, von einem Parteikampfe zum anderen überging:
dann begreifen wir das große Wort des Herakleitos, welcher
den Kampf den Vater der Dinge nannte und des kurzſichtigen
Dichters ſpottete, der den Wunſch ausgeſprochen habe, daß doch
aller Streit zwiſchen Göttern und Menſchen ein Ende nehmen
möchte.
Aber es giebt neben dem guten Streite auch einen böſen;
beide trennt eine feine Gränzlinie, und wenn uns die Geſchichte
lehrt, daß durch Parteikampf die Staaten groß geworden ſind,
[327]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.ſo lehrt ſie noch viel vernehmlicher, daß dieſelben durch Par¬
teiung untergegangen ſind. Dies iſt dort am deutlichſten, wo
die Staaten ſchon im Verfalle begriffen ſind und in ihrem
allgemeinen Siechthume die Erſchütterung heftiger Partei¬
bewegung nicht mehr vertragen. Sie ſind mit ihren mi߬
bräuchlichen Einrichtungen ſo verwachſen, daß die Angriffe
auf dieſelben die Exiſtenz des Staats gefährden. So war es
mit den Angriffen, welche in Rom gegen die Nobilität ge¬
richtet waren.
In dieſem Falle zerſtört die Partei nur, was untergehen
mußte, und bringt ein wankendes Gebäude zum Fall. Sie
untergräbt aber auch die Kraft des geſunden Staats und
zwar zunächſt durch ihren Einfluß auf die Sittlichkeit. Wer
ſich einer Partei anſchließt, giebt immer etwas von ſeiner
Selbſtändigkeit auf; denn ohne gegenſeitiges Nachgeben kann
keine Parteimacht zu Stande kommen. Dadurch entſteht Un¬
freiheit und Unwahrheit. Man gewöhnt ſich, nicht mehr rein
und voll aus dem eigenen Bewußtſein heraus zu handeln und
die Stimme des Gewiſſens zu überhören. Die Ruhigeren
werden von den Heftigeren fortgezogen und in der Leiden¬
ſchaft geht die Tugend der Beſonnenheit unter. Dieſe ſitt¬
lichen Gefahren bedrohen den Staat noch nicht unmittelbar,
ſo lange der Gemeinſinn alle Sonderbeſtrebungen überwiegt.
So wie aber die Idee des Staats ihre Kraft verliert, ſo wie
dieſe untergeordneten Bildungen, die nur zu einer vorüber¬
gehenden Exiſtenz im Organismus berechtigt ſind, eine ſelbſt¬
ſtändige, dauernde und vom Ganzen unabhängige Wirkſamkeit
ſich anmaßen, dann beginnen die krankhaften Zuſtände.
Dieſe Erſcheinungen zeigen ſich zuerſt bei Parteien, welche
ſich überlebt haben. Ihre Zeit iſt vorüber, aber ſie halten
mit eigenſinnigem Trotze an ihren Anſichten feſt. So werden
aus Parteien Cliquen oder Factionen. Parteien können und
ſollen ohne Erbitterung ſein; das Weſen der Faction iſt die
Gehäſſigkeit und Verbiſſenheit; ihre Kampfart iſt die Wühlerei
und Intrigue, ihre Waffen ſind giftige Pfeile, die aus dem
Dunkeln fliegen. Hier entwickelt ſich zuerſt eine Feindſchaft
[328]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. wider den Staat; hier bilden ſich im Gegenſatz zu den arbeiten¬
den und ſchaffenden Parteien die auflöſenden, auf das Unglück
des Staats lauernden und zerſtörenden. Nun beginnt der Kampf,
in dem ſich zeigen muß, ob der Organismus kräftig genug iſt,
das Gift auszuſcheiden oder zu überwinden. Es iſt aber in der
Regel ein unglücklicher Kampf; denn wenn auch die Patrioten
zeitweilig die Oberhand behalten, ſo erhitzt ſich doch die Leiden¬
ſchaft immer mehr, die Parteien haſſen ſich gegenſeitig mehr
als den gemeinſamen Feind, die Saat des Böſen wuchert
übermächtig und es tritt eine allgemeine Zerrüttung ein, wie
es in Griechenland ſeit dem fünften Jahre des großen Städte¬
kriegs der Fall war. Alle Anſichten von Sitte und Recht,
ſelbſt die Bedeutungen der Wörter veränderten ſich. Beſonnene
Vorſicht, ſagt Thukydides, nannte man Feigheit, Mäßigung
träge Unentſchloſſenheit; zufahrende Hitze aber pries man als
männlichen Muth. Nur der Schmähredner fand Glauben. Der
Parteipflicht gegenüber galt keine andere Verpflichtung und
beſchworene Ausſöhnung nur ſo lange, als die Mittel zur An¬
feindung fehlten. Unter ſolchen Verhältniſſen beſteht der Staat
nur noch äußerlich fort; der Lebensgenius iſt entwichen und
die Kräfte, welche er zu gemeinſamem Dienſte gebunden ge¬
halten hatte, gehn feſſellos aus einander.
Die Betrachtung des Weſens und des Einfluſſes der Par¬
teien im Alterthume führt uns unmittelbar auf einen zweiten
Geſichtspunkt, zu der Frage, wie ſich in Betreff des Partei¬
weſens zur alten Zeit die neue verhalte. Den natürlichen
Menſchen der Heidenwelt zügelte in ſeiner Luſt zu haſſen keine
Religion, und die alten Ariſtokraten ſcheuten ſich nicht bei ihren
Göttern zu ſchwören, daß ſie keine Gelegenheit verabſäumen
wollten, dem Volke Böſes zu thun. Aber das Chriſtenthum,
das mit einem Friedensgruße in die Welt eintritt, kann doch
unmöglich den Parteikampf auf Erden dulden.
So ſcheint es, und doch erfüllt es unſere Erwartungen
nicht. Freilich bietet es Frieden jeder einzelnen Seele und
jedem Hauſe, in welchem man ſeine Botſchaft aufnimmt. Aber
für die Welt iſt es keine Religion des Friedens geworden.
[329]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. Sie geht vielmehr mit ſcharfer Scheidung durch alle Menſchen¬
kreiſe hindurch und der erſten Friedensbotſchaft folgte ſogleich
die inhaltſchwere Weiſſagung: Siehe, dieſer iſt geſetzt zu einem
Zeichen, welchem widerſprochen wird! So wird das Partei¬
weſen gewiſſermaßen ſanctionirt, und unbeſchadet unſerer per¬
ſönlichen Verpflichtung, nach Kräften mit allen Menſchen Frieden
zu halten, wird es als eine Nothwendigkeit anerkannt, als
eine Weltordnung, welche unentbehrlich iſt, damit die Herzen
der Menſchen offenbar werden, damit Wahrheit und Lüge ſich
ſcheiden.
Zugleich iſt nun ein neuer Gährſtoff da, und zwar der
gefährlichſte von allen. Im klaſſiſchen Alterthume gab es
keine Bekenntnißſtreitigkeiten; es kommen wohl einzelne Ver¬
folgungen von Irrlehrern vor, aber die religiöſen Ketzereien
waren im Grunde auch nur politiſche Verbrechen. Die Re¬
ligion wurde nur als Staatscultus geſchützt. Nun erfolgte
aber die verhängnißvolle Uebertragung des antiken Princips
auf das Chriſtenthum, und wenn auch ſchon früher Parteien
in der Gemeinde beſtanden, welche nothwendig waren und
heilſam zu ihrer Entwickelung, wie der Apoſtel ſagt: »es iſt
gut, daß Rotten unter euch ſind«: ſo iſt doch erſt ſeit der
Verſchmelzung des Geiſtlichen und Weltlichen jene Reihe von
Parteiungen entſtanden, welche die Erde mit Blut getränkt
haben. Sie waren ſchlimmer als alle, welche das Alterthum
kannte. Die Partei wurde Gewiſſensſache; die Parteiwuth
glaubte ſich himmliſchen Lohn verdienen zu können, und indem
Bekenntnißformen einer myſteriöſen Dogmatik zu Bedingungen
ſtaatsbürgerlicher Rechte wurden, drängte ſich in das Heiligſte
eine ſchmutzige Selbſtſucht ein, welche, mit Heuchelei verbunden,
gewiß die widerwärtigſte aller Erſcheinungen iſt, in denen die
Parteiung jemals unter den Menſchen aufgetreten iſt.
Ein zweiter Unterſchied in der Parteibildung alter und
neuer Zeit beruht auf der Form der Staaten. Der Hellenen
ganze Energie war der Geſtaltung des politiſchen Sonder¬
lebens zugewendet. Ihrem künſtleriſchen Sinn widerſtrebte
das Maſſenhafte; ſie liebten das Ueberſichtliche und Begränzte.
[330]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.In kleinerem Maßſtabe konnte der Staat eher als Kunſtwerk
ausgebildet werden, und derſelbe Grundtypus wiederholte ſich
in unendlicher Mannigfaltigkeit des Rechts, der Sitte, des
Cultus, der Münze und Jahresrechnung; ſelbſt die Götter
waren ſtädtiſch. In den Verſuchen einer Reichsbildung hatten
ſie wenig Erfolg; auch der römiſche Staat ging an der un¬
geſchickten Ausdehnung einer ſtädtiſchen Verfaſſung auf ein
ganzes Land zu Grunde. Wo ſich nun in der neueren Zeit
ſtädtiſche Parteikämpfe finden, wie in Deutſchland, Italien und
den Niederlanden, da zeigen ſie die größte Aehnlichkeit mit
dem Alterthume; da finden wir denſelben Hader zwiſchen Adel
Bürgern, zwiſchen Voll- und Halbbürgern, zwiſchen amtsfähi¬
gen und ausgeſchloſſenen Ständen. Ganz anders aber in den
Großſtaaten mit ihren ungleich verwickelteren Lebensverhält¬
niſſen und ihren Menſchenmaſſen. Dieſe kommen viel ſchwerer,
als einzelne Bürgerſchaften, in Bewegung. Iſt ſie aber ein¬
getreten, ſo iſt eine Leitung derſelben, eine Beſchränkung auf
beſtimmte Ziele und eine vernünftige Mäßigung unendlich
ſchwieriger. Es iſt nicht der Bürger, ſondern der Menſch,
welcher in ſeinem tiefſten Weſen aufgeregt wird. Allgemeine
Begriffe mit vieldeutigen Schlagwörtern, wie ſie das Alter¬
thum nicht kannte, abſtracte Ideen ſocialen und politiſchen In¬
halts fanatiſiren das Volk mit ihrer dämoniſchen Gewalt und
die verwilderte Maſſe ergeht ſich in Gräueln einer Revolution,
die bei den Alten in ſolcher Maßloſigkeit nicht vorkommen
konnte. Andererſeits liegt es in der Natur der Großſtaaten,
daß ſie viel ſeltener als ſtädtiſche Republiken in allgemeine
Aufregung gerathen; die Bewegungen vertheilen, die Gegen¬
ſätze beruhigen ſich leichter; die Geſichtskreiſe ſind weiter, die
Intereſſen mannigfaltiger; eine Parteirichtung kreuzt und lähmt
die andere. Auch iſt mit dem Fortſchritte moderner Cultur
die freie Bewegung des Einzelnen, die Anerkennung berechtigter
Meinungsverſchiedenheit und eine vernünftige Toleranz noth¬
wendig in ſtetiger Zunahme. Endlich iſt es ein entſchiedener
Vorzug der neuen Zeit, daß ſie Einrichtungen beſitzt, welche
die Parteibewegung mäßigen und ordnen. In unſern Ver¬
[331]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. faſſungsſtaaten wird die Leitung des Ganzen durch feſte Par¬
teien weſentlich erleichtert. Ihre Bewegung gleicht der des
Pendels, welcher den Gang eines Uhrwerks regelt, oder dem
Pulsſchlage, an welchem man den innern Zuſtand eines Volks
prüfen und erkennen kann.
Groß- und Kleinſtaaten ſind aber nicht immer nach Zeiten
und Ländern geſchieden; ſie beſtehen auch neben einander in
demſelben Volke, ſo daß ſich die Sphären der einen und der
anderen kreuzen. Dadurch treten unvermeidliche Conflikte
ein, und die Berechtigung des Theils dem Ganzen und des
Kleinen dem Großen gegenüber wird zu einer Parteifrage,
von deren endgültiger Entſcheidung das Schickſal ganzer Na¬
tionen abhängt.
Dieſe Frage zieht ſich durch die ganze Geſchichte der
Hellenen hindurch; ihre praktiſche Löſung haben nur die Athener
verſucht und ihre unvergeßliche Heldenzeit beruht darauf, daß
nach Mißlingen aller föderativen Einrichtungen der eine kleine
Staat für ſich allein die Aufgabe übernahm, welche der Ge¬
ſamtheit oblag. Athen wehrte mit ungeheuren Opfern die
Fremdherrſchaft ab, hielt allein eine ſchlagfertige Macht, um
das Meer frei zu erhalten; Athen allein nahm gaſtfreundlich
alle Volksgenoſſen bei ſich auf, ſuchte in gemeinſamen Grün¬
dungen die Stämme zu verſchmelzen und Alles, was dem
Namen der Hellenen Ehre machte, zur Blüthe zu bringen.
Der Dank, den es erntete, war Scheelſucht und Mißgunſt,
giftiger Haß gegen die, welche ſich anmaßten, etwas Beſſeres
ſein zu wollen; die Bruderſtämme hatten keine andere Antwort
als die, welche die Söhne Jakob's ihrem Bruder Joſeph gaben:
Wie, ſollen wir kommen uns vor dir zu neigen? — und an
dieſem Joſephshaſſe iſt das ganze Volk in blutigen Kämpfen
politiſch und ſittlich zu Grunde gegangen.
Die Hellenen haben über ihr Stadtbürgerthum ihren beſten
Schatz, die Vaterlandsliebe, eingebüßt, und ähnliche Gefahren
drohen überall, wo das Geſamtvaterland nicht das unmittel¬
bare Vaterland iſt. Freilich wäre es Thorheit, darum jede
Bildung von Sonderſtaaten in einem großen Volksganzen als
[332]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.ein nationales Unglück anzuſehen; vielmehr iſt der mannig¬
faltige Segen, welcher ſich daran knüpft, auch durch blutige
Reibungen nicht zu theuer bezahlt. Aber das Normale bleibt
doch immer, daß das Volk zum Staate werde. So wird es
erſt in vollem Maße eine geſchichtliche Perſönlichkeit, ſo wird
das von der Natur Vorgebildete durch den Menſchengeiſt voll¬
endet. Der Volksſtaat hat im vollſten Maße die Eigenſchaft,
welche Ariſtoteles als Hauptbedingung und Ziel jedes wahren
Staats bezeichnet, die Autarkie (d. i. die auf eigenen Mitteln
ruhende, ausreichende Selbſtändigkeit), und daher die größte
Dauerhaftigkeit und innere Ruhe, weil nichts Ungleichartiges
beigemiſcht und nichts Gleichartiges ausgeſchloſſen iſt, während
die Miſchſtaaten durch innere Widerſprüche in Aufregung er¬
halten werden, und die Theilſtaaten, ſofern ſie auf willkürlichen
Einrichtungen beruhen und eine auswärtige Ergänzung ihrer
Macht ſuchen oder durch internationale Tractate ſich decken
müſſen, immer eine gewiſſe künſtliche und deshalb unſichere
Exiſtenz haben. In ſtaatlicher Gemeinſchaft kommt das Volk
zum vollen, ruhigen Selbſtbewußtſein, zum inneren Frieden
wie zur äußeren Geltung; ſie hebt die Menſchen durch hohe
und mannigfaltige Pflichten; ſie öffnet allen Kräften der Nation
den weiteſten Spielraum; ſie bietet erſt den ganzen Segen eines
wahren Vaterlandes.
Deshalb zieht auch durch die Völker alter und neuer Zeit
eine geheime Macht zu einem ſolchen Ziele, als ihrer wahren
Beſtimmung, hin, und es kommt für ihr Heil Alles darauf
an, daß die rechte Zeit engerer Einigung nicht verſäumt und
der einzig mögliche Weg nicht eigenſinnig verſchmäht werde.
Sonſt geht der Segen der Vergangenheit verloren und die
Volksgeſchichte wird nicht fortgeführt, ſondern abgebrochen. So
ging es den Hellenen, welche vom Uebermaße ihres Sonder¬
lebens erſchöpft die erſehnte Einigung unter der Macht eines
fremden Scepters fanden. Bei ihnen iſt die Saat des Partei¬
haſſes am vollſten aufgegangen. Wir müſſen aber, um nicht
ungerecht zu ſein, erkennen, daß auch keinem Volke der Erde
der rechtzeitige Uebergang aus der Zerſplitterung in die Ein¬
[333]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. heit ſo ſchwer gemacht worden iſt, wie den Hellenen, ſchwerer
als irgend einem Volke der neueren Geſchichte.
Bei der Vergleichung zwiſchen den Parteien alter und
neuer Zeit tritt uns endlich ein dritter Unterſchied entgegen.
In der antiken Welt war der Menſch weſentlich Bürger; er
ging ganz in dem Staat auf; die Staatsgemeinſchaft war die
einzige Erziehung zur Sittlichkeit, die einzige Schranke ſeiner
Selbſtſucht. Er war mit dem Staate in Kriegs- und Friedens¬
zeiten auf das Unmittelbarſte verflochten; er verbrachte die
Tage außerhalb des Hauſes, auf dem Markte und in den
Verſammlungen, durch den Dienſt der Sklaven eines großen
Theils von Arbeit und Lebensſorge überhoben. In der neuern
Welt ſind alle Lebensverhältniſſe ungleich mannigfaltiger und
verwickelter; da giebt es mehr Pflichten, mehr einſame Arbeit
des Berufs, mehr Kampf um die Exiſtenz. Der Einzelne hat
eine Menge von Beziehungen, welche über die heimathlichen
Intereſſen weit hinausgehen; andererſeits ſind es wieder die
allerengſten Beziehungen, welche ihn vorzugsweiſe in Anſpruch
nehmen, die der Familie, und der moderne Menſch iſt nur zu
geneigt, ſich in dieſer engſten Lebensſphäre behaglich einzu¬
ſpinnen, indem er ſich alle Anforderungen des Staats fern zu
halten ſucht, als wenn es eine fremde und feindliche Macht
wäre, welche ſeine Kreiſe ſtörte. Die Folge iſt, daß ihn auch
die politiſchen Fragen in der Regel viel kühler laſſen und daß
er nur dann mit erregterer Seele in den Parteikampf eintritt,
wenn er glaubt, daß die Bewegung ſeine ganze Exiſtenz be¬
trifft, wenn es ſociale Fragen ſind, in welchen es ſich um die
perſönlichen Verhältniſſe handelt, um Mein und Dein, um
Ruhe und Wohlſtand des Hauſes.
Auch die Alten ehrten das Haus; ſie betrachteten es als
eine religiöſe Gemeinde mit feſtgeordneten Gottesdienſten und
der Staat ſorgte dafür, daß dieſe Stiftungen nicht untergingen.
Mit dem Ahnencultus pflanzten ſich auch wohl gewiſſe poli¬
tiſche Traditionen und Parteirichtungen von Geſchlecht zu Ge¬
ſchlecht fort; aber während man den Zuſammenhang der auf
einander folgenden Geſchlechter ſehr feſt hielt, war die zur
[334]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.Zeit beſtehende Familiengenoſſenſchaft bei Weitem nicht von
der Bedeutung, welche ſie in neuerer Zeit hat. Sie war
kein Kreis, der den Einzelnen vom Ganzen trennte, keine
ſelbſtändige Mittelſtufe zwiſchen Bürger und Staat, kein
Gegengewicht gegen die Oeffentlichkeit. Daher die unbe¬
gränzte Bewegung, welche von der politiſchen Parteiung
ausging; nirgends war ein Ruhepunkt, nirgends ein neutraler
Boden.
Dies mußte anders werden, als die Ehe aufhörte nur
als ein Mittel für die Staatszwecke zu gelten. Die Familie
erhielt eine größere Selbſtändigkeit, wie dies von Anfang an
in dem Charakter der germaniſchen Völker lag; das Haus
wurde eine Welt für ſich, eine Freiſtätte des individuellen
Lebens, ein Rückzugsort aus der Unruhe der Außenwelt. Da¬
mit trat auch die Frau aus der untergeordneten Stellung
heraus; ſie wurde die Pflegerin eines ſtillen Glücks, welches
die Stürme des Parteitreibens nicht erſchüttern ſollten, ſie
half die Bewegung der Leidenſchaften dämmen, daß ſie nicht
ſchrankenlos Alles überfluthe.
Aber bei dieſem Berufe haben ſich die Frauen nicht immer
genügen laſſen; ſie haben ſich ſelbſt an dem Parteileben be¬
theiligt und dadurch einen Einfluß gewonnen, welcher ohne
Zweifel mit zu den Punkten gehört, in denen ſich die Par¬
teien alter und neuer Geſchichte von einander unterſcheiden.
Bei dieſem Einfluſſe iſt eine doppelte Gefahr. Denn die
Frauen ſind, wenn ſie einmal aus den Gränzen ihres nächſten
Berufs herausgetreten ſind, ihrer Natur nach der fanatiſiren¬
den Gewalt einer Parteiſtimmung in beſonderm Grade unter¬
worfen und tragen dann am meiſten dazu bei, die Erregung
der Gemüther auszubreiten und die allgemeine Leidenſchaftlich¬
keit zu ſteigern. Die andere Gefahr liegt in ihrem Einfluſſe
innerhalb des Hauſes. Denn je mehr das Haus an Bedeu¬
tung gewonnen hat, um ſo mehr auch das Gut des Haus¬
friedens, und deshalb iſt es nur zu natürlich, daß die Männer,
um ſich dies Gut zu erhalten, nicht ſelten ihrer beſſeren Ueber¬
zeugung untreu werden; ein ſolcher Einfluß aber, wie leicht
[335]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. erſichtlich iſt, gereicht dem allgemeinen Wohle zum Nachtheile,
er trübt den offenen Gegenſatz der Meinungen und erſchwert
die Verſtändigung. Wie ſollen wir alſo über die Betheiligung
der Frauen an den Streitigkeiten des Tages urtheilen? Ich
glaube, ſie iſt vollberechtigt, wo es ſich um Fragen handelt,
in denen ein wahres, menſchliches Gefühl und ſittlicher Tact
den Ausſchlag geben können, alſo wo es gilt, gegen einen
nationalen Feind die zum Widerſtande entſchloſſene Partei zu
ſtärken oder die Freiheit der Ueberzeugung mit Bekenntnißtreue
zu vertreten. Da wird die Begeiſterung eines weiblichen Ge¬
müths auch den Mann kräftigen und der heiligen Sache zum
Siege helfen. Etwas Anderes iſt es, wenn die Stimme des
Gefühls nicht unmittelbar entſcheiden kann und ſoll, wenn
die richtige Beurtheilung der Fragen von Erwägungen ab¬
hängt, welche außerhalb der Sphäre eines weiblichen Ge¬
müths liegen, wenn es gilt, Tagesereigniſſe im Zuſammen¬
hange der Geſchichte aufzufaſſen und von der unantaſtbaren
Rechtsſphäre des Einzelnen ſolche Rechte zu unterſcheiden,
welche in die Wandelungen der öffentlichen Verhältniſſe un¬
vermeidlich hereingezogen werden. Die Frau wird ihrer Natur
nach am Gewohnten hängen; das Nächſte wird ihr immer das
Wichtigſte ſein und perſönliche Theilnahme alle ſachlichen Rück¬
ſichten zurückdrängen. Dieſe Einſeitigkeit hängt mit den edelſten
Zügen der weiblichen Seele zuſammen, mit ihrer Treue, ihrer
Aufopferungsfähigkeit, mit der Tiefe und Wärme ihres Ge¬
fühls. So weit alſo eine Gefühlspolitik berechtigt iſt, ſo weit
iſt es auch eine ſelbſtändige Theilnahme der Frauen; weiter
aber nicht.
Und gewiß findet jede edle Frau von ſelbſt die Schranke
des Gebiets, auf welchem ihr Einfluß mitbeſtimmend ſein ſoll,
und am ſicherſten wird ſie wiſſen, daß dort ihre Stelle nicht
iſt, wo giftiger Groll und Bruderhaß genährt wird. Es liegt
bei den Parteikämpfen neuerer Zeit unendlich viel in den
Händen der Frauen; ſie haben eine ganz andere Macht und
deshalb auch eine ganz andere Verantwortlichkeit, als im
Alterthume. Sie können am meiſten dazu beitragen, Unfrieden
[336]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. zu verbreiten, Freundſchaften zu zerſtören und krankhaften Ver¬
ſtimmungen einen chroniſchen Charakter zu geben; ſie können
den Keim des Uebels, an dem Völker zu Grunde gehen, in die
harmloſen Kinderſeelen übertragen und dadurch das Wohl des
Vaterlandes ſchwer beſchädigen; ſie können aber auch reichen
Segen ſtiften, wenn ſie ihren Beruf darin erkennen, die über
allem Parteigeiſt erhabenen Güter des Lebens mit treuer
Hand zu pflegen; in allem Wechſel das Ewige, bei allen
Spaltungen das Gemeinſame feſtzuhalten, die Gegenſätze zu
mildern, den Frieden zu hüten und in der Liebe zum Vater¬
lande ihre Kinder zu erziehen.
Das ſind die weſentlichſten Geſichtspunkte, unter denen
ſich die Parteien der neuen Zeit denen des Alterthums gegen¬
über ſtellen laſſen. Nun laſſen Sie mich zum Schluſſe noch
einige Worte darüber ſagen, welches die Stellung einer deutſchen
Univerſität in den Tagen des Parteigegenſatzes ſein ſoll, wo¬
bei ich keinen ſehnlicheren Wunſch habe, als daß ich das, was
ich ſage, im vollen Einverſtändniſſe mit Ihnen und gleichſam
aus Ihrer Aller Herzen heraus rede.
Die Wiſſenſchaft hat zum öffentlichen Leben im Laufe
der Zeit ſehr verſchiedene Stellungen eingenommen, und es iſt
merkwürdig, daß dort, wo praktiſche Politik und forſchende
Speculation ſich zuerſt entwickelt haben, zwiſchen beiden Rich¬
tungen ſehr früh ein ſchroffer Gegenſatz eingetreten iſt. Hera¬
kleitos verurtheilte mit unbedingter Verachtung das geſammte
Treiben des Volks, und Platon wendete ſich mit ſo tiefer Ver¬
ſtimmung von den öffentlichen Angelegenheiten ab, daß er des¬
halb von Niebuhr als ein ſchlechter Patriot geſcholten worden
iſt, der nicht werth ſei, ein Athener zu heißen. Heutzutage
wird Keiner die Anſicht vertreten, daß völlige Parteiloſigkeit
und ungeſtörtes Stillleben die mit einem wiſſenſchaftlichen
Berufe allein verträgliche Lebensweiſe ſei. Wir ſind Alle über¬
zeugt, daß der Wiſſenſchaft zu ihrem eignen Gedeihen die freie
Luft des Lebens unentbehrlich iſt; ſie ſoll aber ihren Werth
auch darin bewähren, daß ſie für die Beurtheilung der Tages¬
fragen den Blick ſchärft und den Geiſt aufhellt. Denn wenn
[337]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. das ſchwierigſte Problem moderner Politik darin liegt, daß
die wahre Einſicht immer nur der Beſitz einer geringen Zahl
von Volksgenoſſen iſt, während doch dem Volke im Ganzen
ein beſtimmender Antheil an der Staatsleitung nicht vorent¬
halten werden kann: ſo iſt dies Problem nur ſo zu löſen,
daß jene Minorität immer mehr mit wahrer Einſicht aus¬
gerüſtet werde, damit ſie im Stande ſei den Einfluß auszuüben,
welcher in allen Staatsverfaſſungen das unveräußerliche Recht
einer geiſtigen Ariſtokratie iſt, um die Menge, welche zwiſchen
trägem Stumpfſinn und unklarer Aufregung hin und her
ſchwankt, mit überlegener Geiſteskraft zu leiten. Und dazu ſoll
doch gerade auf unſern Univerſitäten die Ausrüſtung gegeben
werden. Hier müſſen alſo alle Probleme gründlich durchge¬
arbeitet, alle Streitfragen mit ernſter Wahrheitsliebe erwogen
werden. Hier muß auch in ſittlicher Beziehung der Jugend
das Beiſpiel gegeben werden, wie man ſich in Zeiten der
Parteiung zu verhalten habe.
Und da darf man zuerſt mit guter Zuverſicht ſagen, daß
alle Gefahren einſeitiger Parteirichtung hier viel geringer,
alle Auswüchſe eines verkehrten Parteitreibens hier unmöglich
ſein ſollen. Das Suchen nach Wahrheit iſt unſer gemeinſamer
Beruf. Je freier und mannigfaltiger es ſich geſtaltet, um ſo
reicher iſt die Blüthe unſerer Genoſſenſchaft; in der Lauter¬
keit des Strebens liegt die Weihe unſeres Berufs. Darum
iſt es unſere erſte Pflicht, dies Streben in jedem Genoſſen zu
ehren, und zwar muß dies eben ſo wohl von wiſſenſchaftlichen
wie von allen andern redlich gewonnenen und männlich aus¬
geſprochenen Ueberzeugungen gelten; Mißachtung aber iſt nur
gegen den berechtigt, welcher aus egoiſtiſchen Gründen ſeine
Ueberzeugung ändert oder unſelbſtändig hin und her ſchwankt.
Denn die ſoloniſche Zumuthung gilt auch für uns in allen
vaterländiſchen Fragen, und je unabhängiger die Stellung der
Gelehrten iſt, um ſo wichtiger auch ihre Entſcheidung. Ge¬
reinigt aber und abgeklärt vom Bodenſatze des Gemeinen ſoll
ſich in ihrer Gemeinſchaft das Parteiweſen zeigen. Wenn es
daher in anderen Lebenskreiſen vorkommt, daß man ſich von
Curtius, Alterthum. 22[338]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. denen, die anderer Farbe ſind, ſchnöde abwendet, ihren Charakter
verdächtigt und es für unmöglich erklärt, mit Leuten dieſer Art
umzugehen: ſo ſind dies Kennzeichen einer ſo niedrigen Bildungs¬
ſtufe, daß ſie auf deutſchen Univerſitäten, welche ihre Ehre un¬
befleckt erhalten, nicht vorkommen können. Hämiſche Partei¬
intrigue iſt eben ſo unmännlich wie undeutſch, und wiſſen¬
ſchaftlichen Männern geziemt es nicht, fachliche Gegenſtände
in das Gebiet des Perſönlichen zu übertragen. Politiſche Pro¬
gramme ſollen auch keine Glaubensartikel ſein, denn wo es
ſich um die Beurtheilung einer in voller Bewegung begriffenen
Gegenwart handelt, da hat Jeder zu lernen, und die gemein¬
ſamen Erfahrungen ſollen eine Verſtändigung erleichtern, damit
nicht eine wohlberechtigte Verſchiedenheit der Auffaſſung zur
Spaltung werde. Dort aber, wo am wenigſten abſichtliche
Unwahrheit, wo am wenigſten Beſchränktheit, Vorurtheil und
unmännliche Gereiztheit vorauszuſetzen iſt, da muß doch offen¬
bar die Verſtändigung am beſten gelingen. Deshalb ſind die
Univerſitäten berufen ſie herbeizuführen und die über den
Widerſprüchen des Tags ſich erhebende Einſicht im ganzen
Vaterlande zur Geltung zu bringen. Denn auch die Gegen¬
ſätze, welche noch zwiſchen Nachbarſtämmen etwa beſtehen, und
die doch wahrlich nicht beſtimmt ſind, als ſolche beſtehen zu
bleiben, ſondern die fruchtbaren und belebenden Elemente einer
neuen Einheit zu werden — wo können ſie beſſer zur Aus¬
gleichung kommen, als an den Stätten, wo Männer und Jüng¬
linge aus Nord und Süd zuſammentreffen, um eine vater¬
ländiſche Wiſſenſchaft zu pflegen, welche jene Gegenſätze längſt
überwunden hat? Wenn aber den Gelehrten wohl der Vor¬
wurf gemacht wird, daß ſie von theoretiſchen Standpunkten
die Thatſachen anſchauen und das nicht anerkennen wollen,
was ihren Principien widerſpricht: ſo wäre doch ein ſolcher
Eigenſinn auch mit dem Geiſte der Wiſſenſchaft unverträglich.
Denn wenn ſchon die Natur auf allen Gebieten das menſch¬
liche Fachwerk zu Schanden macht und die Feſſeln ſprengt,
welche ihr eine ſchulmäßige Syſtematik anlegt: wie viel we¬
niger wird ſich die lebendige Entwickelung der Völker eine
[339]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. ſolche Feſſelung gefallen laſſen und ſich nach den Paragraphen
akademiſcher Compendien richten!
Vor ſolchen Verirrungen bewahrt der geſchichtliche Sinn,
deſſen treue Pflege eine der wichtigſten Aufgaben unſerer Uni¬
verſitäten iſt. Der geſchichtliche Sinn duldet keine ungerechte
Leidenſchaftlichkeit, er macht die ſchlimmſten aller Parteirich¬
tungen unmöglich, nämlich diejenigen, welche abſtracte Grund¬
ſätze ohne Rückſicht auf die gegebenen Verhältniſſe mit zähem
Starrſinn durchführen wollen; er behütet uns vor den Ge¬
fahren, welche das Feſthalten überwundener Parteiſtandpunkte
der Staatsgemeinſchaft bringt, er verhindert die Trennung des
Alters und der Jugend in ihrer Auffaſſung der Zeit, eine
Trennung, welche nach beiden Seiten nachtheilig wirkt; er lenkt
unſern Blick von den Nebenpunkten auf die Hauptſache, er
zeigt uns die Bedürfniſſe des Volks und die Ziele, zu welchen
ſeine Entwickelung drängt; er läßt uns in den Wegen, welche
ſie nimmt, auch wenn ſie mit unſeren Wünſchen nicht über¬
einſtimmen, eine höhere Leitung erkennen, welcher wir uns
nicht in thörichtem Hochmuth widerſetzen, auch nicht mißmuthig
fügen, ſondern welcher wir mit Selbſtverläugnung dienen und
förderlich ſein ſollen mit allen Kräften, die uns Gott gegeben
hat. Der wahrhaft geſchichtliche Sinn iſt auch immer der
vaterländiſche Sinn, und wo dieſe zuſammen an einer Uni¬
verſität blühen, da wird ſie die richtige Stellung im Kampfe
der Parteien einnehmen.
Zwiſchen Volksgenoſſen, ſagt Plato, kann kein Krieg ſtatt¬
finden, ſondern nur ein Bürgerzwiſt, aus welchem ſie, wenn
auch nach blutigen Auseinanderſetzungen, zum Bewußtſein der
Gemeinſchaft zurückkehren. Wie viel mehr muß in dem enge¬
ren Kreiſe von Männern, welche in ſich die Volksgemeinde
vertreten, wenn ſie Alle das Ganze im Auge haben, nach jedem
Auseinandergehen, wie es in bewegter Zeit unvermeidlich iſt,
ſich immer wieder die wahre Einheit herſtellen, die Lebens¬
bedingung ihres gedeihlichen Zuſammenwirkens, namentlich
an einer Univerſität, welche ſich der beſonderen Pflege des
geſchichtlichen wie des nationalen Sinns rühmt! Unſerm Volke
22*[340]Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. iſt es beſchieden, ſich unter ſchwerer Arbeit ſein Vaterland zu
gewinnen. Eine gewaltige Arbeit liegt noch vor uns, aber
das Ziel iſt gegeben, der Weg gebahnt und die Zeit des
Haders vorüber. Mehr als je tritt jetzt an einen Jeglichen
unter uns die Forderung heran, daß er in ſeinem Kreiſe Gutes
ſchaffe, daß er in feſtem Gottvertrauen und aufrichtiger Bruder¬
liebe an das gemeinſame Werk Hand anlege und das deutſche
Vaterland aufbaue.
XX.
Die Weihe des Siegs.
Die beiden Reden, welche zuletzt an dieſer Stelle gehalten
worden ſind, waren Kriegsreden. Die eine ſah dem beginnen¬
den Kampfe ins Auge, die andere folgte dem in vollem Gange
begriffenen über die Schlachtfelder; heute iſt es der beendete
Krieg, des Königs Heimkehr, der glorreiche Friede, der Aller
Gedanken in Anſpruch nimmt, und wenn es ſonſt erlaubt
ſchien, der Feſtrede an Königs Geburtstag einen vom Feſt¬
anlaſſe unabhängigen Inhalt zu geben, — heute iſt es un¬
möglich, von etwas zu reden oder reden zu hören, was zur
Perſon unſers Königs und Seinen Thaten nicht in unmittel¬
barer Beziehung ſteht. Wollten wir aber die Tagesereigniſſe
in ihrem geſchichtlichen Zuſammenhange zu begreifen ſuchen,
ſo iſt auch dazu, das fühlen wir Alle, die Zeit noch nicht
gekommen. Noch ſtehen wir überraſcht, überwältigt ihnen
gegenüber. Wir waren ja ein langes Menſchenleben hindurch
an kleine und enge Verhältniſſe gewöhnt. Nach den Siegen
von Leipzig und Waterloo mußten wir fortfahren, von den
ausländiſchen Hauptſtädten alle Entſcheidungen europäiſcher
Fragen zu erwarten und der nach langen Verhandlungen er¬
folgende Beitritt eines deutſchen Kleinſtaats zum Zollvereine
gehörte zu den Epoche machenden Ereigniſſen vaterländiſcher
Geſchichte. Höheres ins Auge zu faſſen war ſtaatsgefährliche
Ueberſpannung, und in ſtummer Reſignation ſollte man die
[342]Die Weihe des Siegs. unüberſteigliche Kluft anerkennen, welche die deutſche Nation,
die zur Tantalusqual eines ewig erfolgloſen Ringens verur¬
theilte, von dem Ziel ihrer Wünſche trennte. So iſt uns noch
immer zu Muthe wie Menſchen, die aus dunkeln Wohnräumen
zum erſten Male an das Tageslicht kommen. Es wird uns
noch ſchwer, mit geblendeten Augen die volle Wirklichkeit deſſen,
was wir erlebt haben, zu faſſen, und unwillkürlich gedenkt
man der Worte, welche ein attiſcher Redner ſagte, als das
Reich, das Jahrhunderte lang die gebietende Continentalmacht
geweſen war, zuſammenbrach und alle Verſtändigen inne wur¬
den, daß man an einem Wendepunkte der Geſchichte ſtehe.
»Was iſt,« ſagte Aeſchines nach der Schlacht von Arbela, »in
dieſen Tagen nicht Alles wider Hoffen und Erwarten ge¬
ſchehen! Das iſt kein gewöhnliches Menſchenleben; wir wer¬
den auch kommenden Geſchlechtern ein Wunder ſein!«
Und nun der heutige Tag — welch ein Tag! Unſers
Königs Geburtstag zum erſten Male der Geburtstag des
deutſchen Kaiſers, zum erſten Male ein Feſttag für Deutſch¬
land und alle Deutſchen um ein ehrwürdiges Haupt in Liebe
geeint! Der Tag redet, und alle Worte, welche zu ſeinen
Ehren laut werden, können nur einen Inhalt haben, nur
einen Klang, wie die Kirchenglocken, welche durch Städte und
Dörfer klingen, wie die Lieder, in denen ſich gleichzeitig fern
und nah die Gemeinden zu einem Glauben bekennen. Wer
könnte und möchte heute Beſonderes, Eigenes, Selbſterfundenes
geben! Sollen wir uns alſo aus dem unausſprechlichen Ge¬
fühle des Danks gegen Gott für die gnädige Bewahrung
unſers geliebten Königs und Seine glorreiche Heimkehr zu
einer Betrachtung ſammeln, ſo kann der leitende Gedanke kein
anderer ſein als der, welcher alle Herzen erwärmt und auf
Aller Lippen ſchwebt, es iſt der Sieg, ſeine Weihe und ſeine
Bürgſchaft.
Denn das iſt klar; nicht jeder Sieg iſt von gleichem
Werth und das bloße Niederwerfen des Feindes, das ſtolze
Gefühl, der Stärkere zu ſein, kann es nicht ſein, was den
Werth des Siegs beſtimmt. Auch die Größe der beſtandenen
[343]Die Weihe des Siegs. Gefahr giebt nicht den Ausſchlag noch der äußere Gewinn,
ſondern das, worauf es ankommt, iſt die Gerechtigkeit der
Sache; denn der Krieg iſt von allen Aergerniſſen das größte
und wehe dem, durch welchen ſolch Aergerniß kommt! Meiſtens
beginnen aber die Kriege ſo, daß bei allmählich wachſender
Spannung ſchwer zu entſcheiden iſt, wo die Verantwortlichkeit
liegt. Hier war es anders, und das iſt die größte Weihe
unſres Siegs, daß in Mit- und Nachwelt Keiner im Stande
ſein wird, unſerm Könige den Friedensbruch zuzuſchieben.
War unſer Feind nicht einem raufluſtigen Gladiator gleich;
welcher keine Ruhe hat, ſo lange man ſagen kann, daß in der
bekannten Welt Einer vorhanden ſei, der die Waffen beſſer
als er zu führen wiſſe? Jede Waffenthat, die er nicht voll¬
bracht hat, ſchreibt er ſich als Niederlage an. Wer aus ſolchen
Gründen Frieden bricht, opfert Leben und Gut des Volks dem
Götzen einer frevelhaften Ehrſucht. Von unſerer Seite war
der Krieg ein ſolcher, welchen auch die blindeſten Friedens¬
apoſtel nicht verdammen können. Denn die Völker würden
auf jede Selbſtachtung verzichten und in ſtumpfe Genußſucht ver¬
ſinken, wenn ſie dem übermüthigen Nachbarn geſtatten wollten,
ſich bei jeder ihm gefälligen Gelegenheit in ihre Angelegen¬
heiten einzudrängen. Von deutſcher Seite war der Krieg bis
auf die Höhen von Paris ein Vertheidigungskrieg und
unſer König hat kein anderes Ziel erſtrebt, als dem deutſchen
Volke das beſcheidene Recht zu ſichern, innerhalb ſeiner Gränzen
vor fremder Ungebühr ſicher wohnen und ſeinen Bedürfniſſen
gemäß ſich einrichten zu dürfen. Darum haben wir mit Gott
in den Krieg ziehen können, darum haben wir den köſtlichen
Troſt, daß unſere Todten für eine gerechte Sache gefallen ſind.
Gerechte Kriege ſind immer große Epochen im Völkerleben.
Es ſind Tage der Prüfung, in denen die Völker fühlen lernen,
was ihnen anvertraut iſt und wofür ſie verantwortlich ſind.
Die wahren Werthe der menſchlichen Dinge treten zu Tage,
das Kleine verſchwindet, das Große und Allgemeine erfüllt
die Seelen ganz. Es trennt ſich, was nur äußerlich zuſammen¬
hängt, wie die trocknen Blätter, die der erſte Sturm abſchüttelt;
[344]Die Weihe des Siegs. was aber in innerer Lebensgemeinſchaft ſteht, kommt jetzt
erſt zu vollem und frohem Bewußtſein derſelben. Das ſind
die natürlichen und geſunden Verhältniſſe, wie ſie immer vor¬
handen ſein ſollten, aber ſie zeigen ſich nur als Ausnahme¬
zuſtände im Völkerleben, weil es außerordentlicher Umſtände,
bedarf, um den ſelbſtiſchen und verneinenden Geiſt in den
Menſchenherzen zu überwinden und die idealen Kräfte einmal
zur Herrſchaft zu bringen.
Das ſind diejenigen Kriege, in denen ſich nach göttlichem
Rathſchluſſe der Fluch in Segen verwandelt, die gerechten
Kriege, die aller Noth und aller Thränen ungeachtet geweihte
Zeiten ſind, Zeiten der Erhebung und Läuterung, Feſtzeiten
voll wunderbarer Lebenswärme und nachhaltender, vorbildlicher
Bedeutung. Darum lauſchen wir noch heute ſo gerne auf die
Kunde von Marathon und Salamis; darum glühten uns die
Wangen, wenn unſere Väter aus den Freiheitskriegen er¬
zählten — und nun ſind wir ſelbſt gewürdigt worden ſolche
Zeiten zu erleben, die bewegenden Kräfte der Geſchichte in uns
und um uns zu ſpüren, zum erſten Male in vollem Maße zu
empfinden, was ein Volk iſt und was unſer Volk iſt. War
es uns doch ſelbſt ein Wunder, wie Kälte und Mißtrauen auf
einmal verſchwunden war, wie ohne alle Verabredung das
ganze Volk auf einmal wie ein Mann da ſtand und den völlig
unerwarteten Krieg einſtimmig mit Jubel begrüßte, nicht aus
frivolem Leichtſinn, ſondern von dem frohen Muthe beſeelt,
welcher die Menſchen immer durchdringt, wenn ſie mit zweifel¬
loſer Entſchloſſenheit an ein großes Werk hinantreten und
dabei ihrer wachſenden Kräfte bewußt werden.
Deutſchland, der geographiſche Begriff, jetzt auf einmal
ein einmüthig handelndes, beſeeltes Weſen und das künſtliche
Drathnetz den Nervenverzweigungen gleich, welche die Glieder
des Leibes zu gemeinſamer Empfindung einigen, ſo daß in
allen Städten gleichzeitig die Siegesfahnen wehten, die Glocken
anſchlugen und die Herzen jubelten!
Und auch in den deutſchen Ländern, deren Söhne nicht
mit den Unſrigen im Felde ſtanden, ſahen wir zu unſerer
[345]Die Weihe des Siegs. unausſprechlichen Freude die Siegesfeuer auf den Alpenſpitzen
lodern. Ja, an allen Küſten des Weltmeers, wo deutſcher
Fleiß des Landes Schätze verwerthet, in den fernſten Berg¬
winkeln der neuen Welt, wo die Axt eines Deutſchen den
Wald lichtet, wo die Brüder ſonſt ſo leicht unſerer vergaßen
oder mitleidig auf die Kinder der alternden Europa hinabſahen,
wie haben ſie über Land und Meer die Bruderhand geſtreckt,
wie haben ſie Glück und Noth getheilt, wie haben ſie geſpendet,
geholfen, ermuthigt! Mit ſo freudigem Stolze haben wir
uns noch niemals Deutſche nennen können! O wohl uns,
daß wir dieſe Einigkeit des Volks, dieſe Macht der Treue,
dieſe Allgegenwart der Liebe erfahren haben, das Zeugniß
unſerer gerechten Sache, die Frucht und Weihe des gerechten
Kriegs!
Für eine gerechte Sache iſt auch das Unterliegen ſchön;
unſere Sache war aber die überall ſiegreiche, und ſo lange es
Menſchengeſchlechter giebt, welche in der Völkergeſchichte die
Spuren göttlicher Gerechtigkeit aufſuchen, wird man bei dieſem
Kriege mit Vorliebe verweilen. Denn die auf das Böſe im
Menſchen rechneten, ſind mit ihrer Rechnung zu Schanden
geworden. Argliſtig ſuchten ſie die preußiſche Sache von der
deutſchen zu trennen und gaben dadurch den Anſtoß, daß wir
uns inniger als je vereinigten. Die Rheinbundzeiten wurden
endlich geſühnt und mitten im Feindeslande das Reich her¬
geſtellt, deſſen Verhinderung der eigentliche Endzweck ihres
Angriffs geweſen war. Da bewährten ſich wohl die Worte,
welche uns von Kindheit auf im Gedächtniß ſchweben: Ihr
gedachtet es böſe mit mir zu machen, aber Gott hat es gut
mit mir gemacht, und das iſt die ſchönſte Weihe unſres Siegs,
daß wir ihn wie eine volle Gottesgabe entgegennehmen dürfen.
So lange es daher ein Volk der Deutſchen giebt, wird es
unſerm Könige dankbar ſein, daß Er Seiner Friedensliebe
ungeachtet mit ſo ſtarkem Muthe und zweifelloſem Gottvertrauen
den Krieg angenommen und mit Seinem, von Ihm neu ge¬
ſchaffenen, tapfern Heere ſo herrlich durchgeführt hat. Denn
die Einheit, die Er uns gebracht, iſt nicht etwa nur ein Schmuck
[346]Die Weihe des Siegs. unſers nationalen Lebens, nach dem wir uns lange geſehnt
hatten, eine Bedingung politiſcher Macht, eine Bürgſchaft des
Friedens und des wirthſchaftlichen Gedeihens, ſondern die
unerläßliche Vorausſetzung unſers Heils. Die Nation mußte
geſammelt werden, wenn ſie nicht untergehen ſollte, wie einſt
die edelſten Völker der alten Welt, die Hellenen ſowohl wie
das Volk Iſrael, durch verſäumte Einigung zu Grunde ge¬
gangen ſind. Die Zerſplitterung ſchädigte unſere weſentlichſten
Intereſſen. Denn ſchlimmer als jeder ehrliche Krieg waren
die endloſen Ränke und Fehden zwiſchen den deutſchen Cabi¬
netten, die Reibungen zwiſchen den Nachbarn, die hämiſche
Scheelſucht des einen auf den andern, die Unmöglichkeit Recht
zu erlangen bei zweifelloſem Friedensbruche. Trübſinn lag
auf den Herzen der Vaterlandsfreunde und lähmte ihre Energie;
in vergeblichen Mühen rieben ſich die edelſten Kräfte auf und
das Unkraut der Zwietracht wucherte. Darum iſt König Wil¬
helm der Retter des Vaterlandes, und nicht eines einzelnen
Siegs wegen iſt Er, einem römiſchen Feldherrn gleich, von
ſeinen Legionen zum Imperator ausgerufen, ſondern was ſeit
Jahrhunderten ſich im Stillen vorbereitet hat, was von pro¬
phetiſchen Blicken längſt geſchaut und zuletzt vom ganzen Volke
als nothwendig erkannt war, das hat ſich endlich, da die Zeit
erfüllet war, vor unſern Augen vollzogen.
Alte Sagen erzählen uns von dem Blute der Helden,
welches ſich in Blumen verwandelt, die in jedem Frühjahr
das Gedächtniß der Todten erneuern. So iſt aus dem Blute,
das unſere Krieger aus Nord und Süd in treuer Waffen¬
genoſſenſchaft vergoſſen haben, das edle Reis deutſcher Einheit
erwachſen, ein köſtliches Gut, um theuern Preis erworben,
das wir zu Ehren unſerer Brüder zu pflegen haben. Denn
niemals iſt mit ernſterer Feier der Grundſtein eines Reiches
gelegt, vollgültiger und rechtmäßiger keine Fürſtenwahl voll¬
zogen worden. Unſere Väter waren froh dieſen Tag zu ſehen
und ſind im Glauben an ſeine Zukunft heimgegangen. Heute
iſt er erſchienen. Heute iſt das deutſche Volk zum erſten Male
wieder um ſeinen Kaiſer verſammelt, heute iſt ein Frühlings¬
[347]Die Weihe des Siegs. anfang für unſere vaterländiſche Geſchichte, der Anbruch eines
Tags, an welchem die Sonnenwärme der Liebe und Treue ſo
Gott will mit ſteigender Macht alle Mächte der Finſterniß
überwinden und alles Nachtgevögel verjagen wird.
Das iſt die Weihe des Siegs und in der Weihe liegt
auch die Bürgſchaft ſeiner Beſtändigkeit. Denn nur bei rohen
Stämmen beſteht der ganze Sieg im Niederwerfen des Gegners;
edleren Völkern iſt der Sieg nur Mittel zum Zweck und nur
als ein Uebergang zu dauernden Zuſtänden werthvoll.
Auch die helleniſche Siegesgöttin war keine Göttin der
Gewalt, keine beutegierige Bellona. Sie war überhaupt keine
Göttin für ſich, ſondern nur eine Eigenſchaft der ſtadtſchirmen¬
den Gottheit, deren Segenskraft ſich vor Allem darin bewährte,
daß ſie ihre Gemeinde vor Niederlage und Unehre behütete,
und als man ſpäter die Eigenſchaften der Götter ablöſte, um
ſie als beſondere Weſen zu verehren, baute man nach glück¬
lichen Feldzügen nicht der Nike Altäre, ſondern der Friedens¬
göttin, und es war alſo ganz im Sinne der Hellenen gedacht,
als unſer König nach der Uebergabe von Paris anordnete, daß
erſt der Friedensabſchluß als Siegesfeſt gefeiert werden ſolle.
Der Werth eines Siegs liegt alſo in der Beſtändigkeit
ſeines Erfolgs, und wie kann es dafür eine beſſere Bürgſchaft
geben, als die, daß der gewonnene Sieg nicht ein einzelnes Ge¬
lingen geweſen iſt, ſondern das Ergebniß einer durch lange Arbeit
wohl begründeten Ueberlegenheit. Fragen wir aber nach der
Begründung derſelben, ſo ſind es gewiß nicht die Maſſen der
Krieger noch die Vorzüge ihrer Waffen, ſondern es ſind ſitt¬
liche Eigenſchaften und geiſtige Mächte, welche auf den fran¬
zöſiſchen Schlachtfeldern die Entſcheidung gegeben haben, ſo
gut wie bei Marathon und Salamis. Die Hellenen ſiegten,
weil ſie Mann für Mann wußten, wofür ſie kämpften; jeder
Einzelne fühlte, daß das Vaterland auf ihn zähle. Ein ſolches
Heer iſt unbeſiegbar und darum iſt die Sieghaftigkeit eine
Eigenſchaft, für deren Bewahrung ein Volk verantwortlich iſt.
Und dies führt uns auf den Antheil, welchen auch unſere
Univerſität am Siege in Anſpruch nehmen darf, und zwar
[348]Die Weihe des Siegs. nicht nur durch unſere Amtsgenoſſen, welche das Glück hatten
ſich am Feldzuge perſönlich betheiligen zu können, auch nicht
nur durch unſere Studenten, welche ihrer Väter würdig ſich
wie 1813 und 14 aus dieſen Hörſälen zu den Fahnen drängten
und ihr jugendfriſches Leben für das Vaterland einſetzten,
ſondern auch durch die geſamte Thätigkeit unſerer Anſtalt.
Denn der Geiſt, den wir hier zu pflegen haben, iſt derſelbe,
welcher zu jeder ernſten Lebensaufgabe tüchtig macht; es iſt
keine aus vielerlei Stücken künſtlich zuſammengeſetzte Rüſtung,
ſondern es iſt ein geiſtiger Zug, der Zug zum Ewigen, der
Trieb nach Erkenntniß, der Ernſt der Ueberzeugung, die Be¬
ſonnenheit des Urtheils, es iſt mit einem Worte der deutſche
Wahrheitsſinn, deſſen volle Bedeutung uns durch den Gegen¬
ſatz von Neuem recht vor Augen getreten iſt.
Denn was iſt von Anfang an unſerm Feinde verderblicher
geweſen als der Mangel an Wahrheitsſinn? Verwöhnt und
verzogen von den andern Völkern, welche ſeine Sprache nach¬
ſprechen und ſeine Moden nachäffen und den Grad der darin
erlangten Fertigkeit zum Maßſtabe höherer Bildung machen,
glaubte er in der That einen Vorrang zu beſitzen, welchen
keine Nation der Erde ihm ſtreitig machen könne. Selbſtüber¬
hebung iſt der Keim ſeines Unglücks geweſen; denn darin
wurzelt alle Sorgloſigkeit und Fahrläſſigkeit und jene völlige
Täuſchung über die Zuſtände des Nachbarvolks, das man im
tiefſten Frieden zu überfallen wagte.
Der deutſche Wahrheitsſinn iſt zweitens ein Geiſt der
Freiheit, ein Geiſt, der ſich nicht beugt unter die Macht ein¬
zelner Kreiſe, die ſich als Vertreter des Volksgeiſtes vordrängen,
und einzelner Schlagwörter, die als Parolen ausgegeben wer¬
den. Nirgends iſt pomphafter als im Nachbarlande die Freiheit
als Menſchenrecht und Staatsprincip proclamirt worden, und
nirgends hat man das unveräußerlichſte Menſchenrecht, das
der freien Selbſtprüfung, leichtfertiger preisgegeben und nir¬
gends ſich auf unwürdigere Weiſe von unberechtigten Minori¬
täten knechten laſſen.
Endlich, was die Hauptſache iſt, die ſittliche Macht, welche
[349]Die Weihe des Siegs.in dem Wahrheitsſinn liegt. Denn wenn wir etwas mit Stolz
unſer nennen, ſo iſt es die unauflösliche Verbindung zwiſchen
dem Forſchergeiſte, welcher unſere Wiſſenſchaften beſeelt, und
dem ſittlichen Zuge, welcher nach den ewigen Zielen und
Normen des Lebens ſucht. Darauf beruht die Univerſalität und
die Idealität deutſcher Geiſtesbildung. Darum ſtrebt Jeder
von uns unwillkürlich über das Fach hinaus zum Allgemeinen,
vom Einzelnen zum Ganzen, und Jeder ſucht in der großen
Bewegung der Geiſter zu bleiben, welche von der Reformation
her ununterbrochen fortwirkt. Es iſt kennzeichnend für unſere
Bildung, daß ſie in dem Momente, wo ſie eine national¬
deutſche wurde, gleich die höchſten Probleme erfaßte und von
Fragen anhob, welche ſich um das Heil der Seele bewegten.
Seitdem kann man Ethik und wiſſenſchaftliche Arbeit nicht
mehr trennen, ohne den Charakter deutſcher Wiſſenſchaft zu
verläugnen, und zu den treibenden Kräften, welche mit der
Reformation in unſerm Volke lebendig geworden ſind, gehört
vor Allem das Gefühl eigner Verantwortlichkeit, das Jeder
in ſeinem Gewiſſen trägt, nicht als einen unbequemen Stachel,
ſondern als das Unterpfand voller Menſchenwürde, als den
Sporn raſtloſer Pflichttreue, als die Bürgſchaft einer freien
Perſönlichkeit, welche die ewigen Geſetze des ſittlichen Lebens
nach eigener Entſcheidung anerkennt. Hier begegnen ſich die
Männer, welche den verſchiedenſten Standpunkten angehören,
Luther, Leſſing, Kant, Schleiermacher. Niemand hat auf
deutſches Geiſtesleben Einfluß gewinnen können, welchem dieſer
Grundzug fehlte, und es iſt im Grunde ein Zug des Geiſtes,
welcher den Denker zwingt vor keinem Probleme zurückzu¬
weichen und der unſern Soldaten antreibt, mit ruhigem Schritte
dem Kugelregen entgegenzugehen oder mit erkaltender Hand
das Banner zu umklammern, das er für König und Vaterland
zu tragen hat. Ja, darin erkennen wir recht die geſchichtliche
Aufgabe unſeres Volks, daß es die ſcheinbaren Gegenſätze
von Freiheit und Gehorſam, von perſönlicher Unabhängigkeit
und ſittlicher Gebundenheit überwinde; es ſoll den Wahn
zerſtören, als ob das die beſten Weltbürger ſeien, die nur an
[350]Die Weihe des Siegs. das Weltliche denken, und das die beſten Staatsmenſchen,
welche nicht über den Staat hinausdenken; es ſoll den Beweis
liefern, daß das Volk das ſtärkſte iſt, in welchem das Gewiſſen
am lebendigſten iſt und welchem die ewigen Geſetze des ſitt¬
lichen Lebens bei jedem Schritte vor Augen ſtehn.
Mit der Reformation haben ſich die Wege getrennt, welche
die Völker gegangen ſind; heute zeigt es ſich, mit welchem
Erfolg.
In unſerm Nachbarſtaate hat man mit rückſichtsloſer
Energie dahin gearbeitet, daß mit dem Namen Frankreich das
Höchſte bezeichnet werde, was ein Franzoſe denken könne.
Man hielt es für einen die Volkskraft lähmenden Idealismus,
für unpatriotiſchen Schwärmergeiſt, wenn der Einzelne dem
Staatswillen gegenüber ſein Gewiſſen geltend machen, wenn
Jemand Gott mehr als den Menſchen gehorchen wolle. Man
glaubte dem Vaterlande einen Dienſt zu erweiſen, wenn man
diejenigen, welche den Muth hatten für ihren Glauben zu
ſterben, als Rebellen ausrottete; man hielt die Unterdrückung
der Gewiſſensfreiheit, die Verengung und Verödung des
geiſtigen Lebens für einen Gewinn, wenn nur die Allgewalt
des Staatsgedankens gefördert werde. Dieſem Zwecke zu
Liebe hat man das Blut, von dem wir ſagen dürfen, daß es
das reinſte und edelſte des Landes war, in Strömen vergoſſen.
Der augenblickliche Erfolg war ein großer und vielbewun¬
derter, und wie häufig hat man der allgewaltigen Concentration
Frankreichs gegenüber die idealiſtiſche Zerfahrenheit der Deut¬
ſchen beklagt oder verächtlich angeſehen!
Aber das Ende?
Wir ſind gewiß fern davon, dem ſo tief gedemüthigten
Volke jetzt mit phariſäiſchem Selbſtgefühle richtend gegenüber
treten zu wollen. Aber je weniger die gegenwärtige Generation
für des Uebels Urſprung verantwortlich iſt, um ſo offener
dürfen wir unſere Ueberzeugung ausſprechen, daß die ſchwerſten
Schäden des unglücklichen Landes, die Despotie eines haupt¬
ſtädtiſchen Pöbels, die Unfreiheit der öffentlichen Meinung,
das troſtloſe Schwanken zwiſchen Unglauben und Aberglauben
[351]Die Weihe des Siegs. die Nemeſis iſt für das Blut der Hugenotten, und daß Frank¬
reichs Niederlage mit der Unterdrückung deſſelben Geiſtes zu¬
ſammenhängt, deſſen voller Entfaltung unſere Nation ihre
Siegeskraft verdankt.
Bewahrung der Siegeskraft, Bürgſchaft des Siegerglücks —
das iſt ſeit älteſten Zeiten ein Problem menſchlichen Nach¬
denkens, der Inhalt philoſophiſcher und politiſcher Betrach¬
tungen der verſchiedenſten Art. In zwei Punkten aber ſtimmen
ſie wohl alle überein; ſie erkennen die Friedenszeiten als die
Zeiten des Völkerglücks und bezeichnen den Wankelmuth als
das Kennzeichen der Siegesgöttin, deren Eigenthümlichkeit es
ſei, an keinem Platze der Erde heimiſch zu werden.
So dachten die Alten, und die ganze Geſchichte des Alter¬
thums iſt ein Weg über Schlachtfelder und zwiſchen Trümmer¬
ſtätten. Sie wird von dem Ringen einzelner Großmächte nach
unbedingter Gewaltherrſchaft erfüllt und da war keine Ruhe
möglich, ſo lange ebenbürtige Staaten einander gegenüber
ſtanden.
Erſt als die Gegenſätze ſich abgeſchliffen, als eine gemein¬
ſame Bildung, die griechiſche, und ein gemeinſames Recht, das
römiſche, den Erdkreis umſpannte, konnte man endlich an einen
auf dauernder Siegeskraft beruhenden Weltfrieden glauben.
Wer ſollte ihn ſtören?
Im Innern regte ſich kein Widerſpruch; die Gränzen
waren geſichert. Das galliſche Volk, einſt der Schrecken Roms,
durch Cäſar gebändigt, und als Auguſtus, aller Parteien
Herr, nach Beilegung neuer Unruhen im Frühjahr 13 v. Chr.
aus Gallien glorreich in die Hauptſtadt heimkehrte, gründete
er auf dem Felde des Mars den Altar des Friedens. Damals
begrüßte ihn Horaz in ſchwungvollen Oden als den gottent¬
ſtammten Hüter des romuliſchen Volks; damals wurden ihm
Statuen errichtet, auf deren Panzer der herauffahrende Sonnen¬
gott die neue Aera, den Anbruch eines neuen Welttags, be¬
zeichnete. Die günſtigen Ausſichten mehrten ſich, als man ſah,
daß auch wohlgeſinnte Männer den Cäſarenthron gewinnen
und behaupten konnten, und die Hofkünſtler wurden nicht müde
[352]Die Weihe des Siegs. alle bildlichen Vertreterinnen des Friedensglücks, die Felicitas,
Securitas, Abundantia um den Thron der neuen Erdengötter
zu verſammeln. Unter Hadrian ſchrieb Plutarch ſeine Schrift
vom Siegesglücke der Römer und blickte wie aus einem ſichern
Hafen unerſchütterlicher Weltruhe behaglich in die früheren
Zeiten des Glückwechſels zurück. Fortuna, ſagt er, die den
Aſſyrern und den Perſern ſchon früh den Rücken gekehrt, habe
dann Makedonien durcheilt; ſie habe den Ptolemäern und
Seleuciden eine kurze Blüthe gegönnt, den Carthagern dann
und wann gelächelt — endlich ſei ſie nach Rom gekommen und
habe da ihre Natur verändert; ſie habe ihre rollende Kugel
verlaſſen, ihre Flügel abgelegt, die Schuhe ausgezogen, um
ſich häuslich einzurichten, um ihre wahre und letzte Heimath
mit den Schätzen aller Länder und Zeiten auszuſtatten.
Hundert Jahre ſpäter begannen im Norden und Oſten
die Umwälzungen, welche durchgreifender waren als Alles, was
die Alten erlebt hatten, und über den Trümmern der mit
Weltbeute überladenen Cäſarenpaläſte bauten Bettelmöche ihre
ſchmutzigen Zellen, deren melancholiſches Vespergeläute Gibbon
auf den Gedanken brachte, das großartigſte Spiegelbild vom
Verfalle menſchlicher Siegesgröße zu entwerfen.
Täuſchen wir uns auch wie Plutarch, wenn wir an die
Größe unſers ſiegreichen Volks glauben?
Wir ſtehen, Gott ſei Dank, auf anderem Boden. Wir
wiſſen, daß ſeit dem erſten Pfingſtfeſte göttliche Lebenskräfte
in den Völkern lebendig ſind, ſo daß ſie nicht mehr wie die
des Alterthums den Geſetzen der Natur unterliegen und wie
die Blätter des Waldes grünen und abfallen. Uns quält
nicht die Angſt vor dem Neide der Himmliſchen, wir haben
keine Schutzgötter, welche aus der umlagerten Stadt in das
Heerlager des Siegers überſiedeln; wir brauchen für unſer
Reich, das neu gegründete, nicht mit ängſtlichem Augurblicke
nach den Wahrzeichen des Himmels auszuſchauen, um Bürg¬
ſchaften für ſeinen Beſtand zu finden.
Es wird uns bleiben, ſo lange die Deutſchen ſich ſelbſt
treu bleiben und dem Geiſte, in welchem ſie ſtark geworden
[353]Die Weihe des Siegs. ſind. Und das iſt ja die beſondere Freude, welcher wir an
dieſem Siegesfeſte ſo gerne Ausdruck geben, daß die Liebe zur
Wahrheit, die der Genius dieſes Hauſes iſt, ſich als eine
Quelle der Siegeskraft bewährt hat und daß das viel beſpöttelte
Denkervolk ſich nicht umzuwandeln brauchte, ſondern daß es
mit ſeinem ganzen Idealismus, mit ſeinem in Natur und
Geſchichte ſich verſenkenden Forſcherſinne, mit ſeiner ganzen
Gedankenwelt in den Krieg gezogen iſt und nach dem Urtheile
unſers Königs und Seiner Heerführer nicht trotzdem, ſondern
deswegen geſiegt hat.
Auch iſt unſer Reich kein ſolches, welches auf Unterwerfung
ausgeht und deſſen Beſtand von der Erſchöpfung der umwoh¬
nenden Völker abhängt. Es iſt von Anfang ein Friedensreich
und ein Bollwerk der Freiheit. Den Alten ſchien die Erde
zu eng, um mehrere Herrſchaften gleichzeitig zu tragen. Den
Großen Alexander ſtellte man dar, wie er zum Zeus ſagte:
»Die Erde beſorge ich, behalte du deinen Himmel!« In
gleichem Sinne wollte Rom herrſchen, und überall wo römiſche
Traditionen fortleben, ſind immer von Neuem Weltherrſchafts¬
gedanken aufgetaucht. Die Deutſchen aber ſind die berufenen
Vertreter der Völkerfreiheit; ſie haben den heiligen Beruf,
dem Zwange jeder Weltherrſchaft entgegenzutreten, mag er
vom alten oder vom neuen Rom, von Römern oder Romanen
ausgehen, und je feſter wir daran halten, nur unſer Volk zu
einigen und unſere Volksgüter zu verwerthen, um ſo weniger
brauchen wir vor dem Wankelmuthe des Siegesglücks zu zittern.
Was uns aber am meiſten mit frohem Vertrauen erfüllt
und dem heutigen Feſttage ſeine beſondere Weihe giebt, iſt
das Bewußtſein, daß in den Ereigniſſen der Gegenwart nicht
der Zufall ſein unheimliches Spiel treibt, ſondern göttliche
Rathſchlüſſe ſich mit wunderbarer Klarheit vor unſern Augen
vollziehn.
Oder können wir daran zweifeln, wenn wir der Führung
der Hohenzollern nachdenken, wie ſie von der ſchwäbiſchen
Alp niederſteigen mußten, um in langer Arbeit die Stämme
des Nordens zu ſtaatlicher Macht zu erziehen, und nun als
Curtius, Alterthum. 23[354]Die Weihe des Siegs. Kaiſergeſchlecht den Brüdern in Schwaben zurückgegeben
werden? Wahrlich, wenn ſich in der Entwickelung dieſer ge¬
ſchichtlichen Verhältniſſe nicht das Walten der Vorſehung in
einer ſo unverkennbaren Weiſe bezeugte, ſo würde König Wil¬
helm Sich nie bereit gefunden haben, die Laſt einer neuen
Krone auf Sein Haupt zu nehmen. Er folgte dem göttlichen
Rufe, den Er in der Geſchichte vernahm.
Wie denkwürdig erſcheint uns doch auch die Lebensführung
unſres Königs! Glorreiche Jahre des Jünglings, da Er an
den gewaltigen Kämpfen Theil nehmen und auf dem Wege,
den Scharnhorſt gewieſen hatte, lernen konnte, was ein Volk
ſiegreich macht! Dann lange Jahre mannigfaltiger Gedulds¬
prüfung, Zeiten der Stockung, ſchwüler Beklommenheit und
einer auf allen Verhältniſſen laſtenden Zerriſſenheit des Vater¬
landes. In aller Stille iſt aber unſer König raſtlos beſtrebt
geweſen, Sich auf den Beruf, der Ihm möglicher Weiſe zu¬
fallen konnte, ernſtlich zu rüſten und hat dabei die Stellung
Preußens zu Deutſchland vorzugsweiſe in das Auge gefaßt.
Selbſt in dem Jahre wildeſter Aufregung hat Er, durch keine
Verkennung irre gemacht, durch keine Ungerechtigkeit erbittert,
die deutſchen Parlamentsverhandlungen mit geſpannter Theil¬
nahme begleitet, wie Seine »Bemerkungen zu dem Geſetz-Ent¬
wurfe über die deutſche Wehrverfaſſung« beweiſen.
Unerwartet zur Regierung berufen, wollte Er, der ältere
Mann, kein anderes Verdienſt in Anſpruch nehmen, als daß
Er die verwirrten Wege ordnen helfe und Seinem Sohne die
Bahn ebne. Und nun liegen die verworrenen Verhältniſſe des
Vaterlandes wie ein böſer Traum hinter uns; was unerreich¬
bar ſchien, iſt verwirklicht. Der Preußiſche Kronprinz hat die
ſüddeutſchen Truppen um ſein ſiegreiches Banner geſammelt,
der deutſche Reichstag iſt im Schloſſe der Hohenzollern eröffnet
und Deutſchland feiert heute den Geburtstag ſeines Kaiſers,
der von den Schlachtfeldern Frankreichs zum zweiten Male
heimkehrend als Greis vollendet, was Er als Jüngling be¬
gonnen hat.
Und ſehen wir, wie unſer König dieſe Erfolge, wie ſie
[355]Die Weihe des Siegs. ſelten einem Sterblichen zu Theil werden, entgegengenommen
hat, ſo bewährt ſich in vollem Maße, was geſagt iſt: Dem
Demüthigen giebt Gott Gnade und dem Aufrichtigen läßt er
es gelingen!
Dürftige Worte können dem Ruhme unſers Königs nichts
hinzuthun noch die Liebe und Treue ſteigern, welche uns be¬
ſeelt. Wir fühlen Alle die unausſprechliche Weihe, welche auf
dem heutigen Tage ruht. Wir können nichts thun, als daß
wir auch unſererſeits des Volkes Dank dem Könige ausſprechen
für alle Sorge, Arbeit und Gefahr, welche Er in dem blutigen
Kriege für das Vaterland beſtanden hat, daß wir das Gelübde
thun, nicht müde zu werden, den deutſchen Geiſt, den ſiegbrin¬
genden, den Geiſt der Gottesfurcht, der Treue, der Wahrheits¬
liebe in der Jugend zu pflegen, und endlich Gott zu bitten,
daß er über dem theuren Haupte unſers Königs auch ferner
in Gnaden walten und Sein Werk für alle Zeiten ſeg¬
nen möge!
23*
XXI.
Die Idee des Königthums
in ihrer geſchichtlichen Entwickelung.
Niemals iſt wohl ein litterariſches Mißverſtändniß mehr zum
Guten ausgeſchlagen als der Irrthum Friedrich's des Großen
in Betreff der Meinung Macchiavelli's. Denn indem er dem
Buche vom Fürſten die Abſicht zuſchrieb, ein allgemein gültiges
Lehrbuch ſein zu wollen, wurde er durch die Aufwallung eines
edlen Zorns dazu getrieben, eine Gegenſchrift abzufaſſen, in
welcher er ſich ſelbſt darüber klar wurde, was er vom Berufe
des Fürſten halten ſollte. Der Antimacchiavell iſt von allen
ſeinen Schriften diejenige, deren Entſtehung die zufälligſte,
deren Veranlaſſung die äußerlichſte iſt, und doch iſt ſie der
erſte und vollſte Ausdruck ſeiner Perſönlichkeit; denn er hat
ſich in ihr als den geborenen Fürſten offenbart, der die Läſte¬
rung ſeines Standes nicht ertragen kann, und hier tritt er
Voltaire und allen franzöſiſchen Einflüſſen zuerſt ſelbſtändig
gegenüber. Es iſt keine Gelegenheitsſchrift, ſondern eine könig¬
liche That, indem er das Programm ſeines Lebens aufſtellt,
an das er fortan gebunden war. Es enthält aber die Schrift
von ihrer Bedeutung für ſeine Perſon abgeſehen ſo viel Neues
und Eigenthümliches, daß ſie in der Geſchichte der monarchi¬
ſchen Principien eine Epoche macht, und es dürfte des heutigen
Tags, der dem Andenken des großen Königs gewidmet iſt,
[357]Die Idee des Königthums.nicht unwürdig ſein, von dieſem Standpunkt den Antimacchiavell
in das Auge zu faſſen.
Es giebt aber für den, welcher der Entwickelung der
menſchlichen Geſellſchaft nachforſcht, kaum einen Gegenſtand
von feſſelnderem Intereſſe als die Geſchichte des Königthums.
Es iſt von Anfang an ein Gegebenes wie Staat und Familie.
Kein Menſch hat es erſonnen, kein Volk zuerſt bei ſich ein¬
geführt, und bis auf den heutigen Tag iſt es unmöglich ein
Königthum zu ſchaffen, wie man andere Aemter nach Bedürf¬
niß einrichtet. Es gehört zu den Urformen der Geſellſchaft,
welche nie verbraucht ſind. Im bunten Wechſel der irdiſchen
Dinge hat es ſich als die dauerhafteſte aller öffentlichen In¬
ſtitutionen bewährt, obgleich keine auf gleiche Weiſe in den
Kampf der Gegenſätze hereingezogen worden iſt. Und zwar
ſind es nicht blos die Träger der Krone geweſen, welche ſie
durch ihre perſönlichen Tugenden im Anſehen gehoben oder
durch Mißbrauch und Unfähigkeit entwürdigt haben, ſondern
das Königthum ſelbſt iſt bald als die einzige und nothwendige
Staatsform angeſehen worden, bald als ein unnützer Luxus,
dem man bei vorgeſchrittener Volksbildung entſagen müſſe.
Man hat es als den Grundſtein ſtaatlicher Macht, als die
Bürgſchaft wahrer Freiheit und den Hort des öffentlichen
Wohlſtandes geprieſen und wieder als eine Feſſel, die den
Fortſchritt hemme, und als eine Quelle von Mißbräuchen an¬
gefeindet. Man hat den blutigen Sturz des Königthums als
einen Triumph der Menſchheit gefeiert, und doch haben die,
welche ſtolz darauf waren mit allen Vorurtheilen der Ver¬
gangenheit am entſchloſſenſten gebrochen zu haben, zu den
ſchlechteſten Surrogaten des Königthums ihre Zuflucht nehmen
müſſen und geben uns die ernſte Lehre, daß diejenigen Völker
am unglücklichſten ſind, welche nicht mit und nicht ohne König
leben können.
So hat die Idee des Königthums ihren Gang durch die
Weltgeſchichte gemacht, wie ein Glaubensſatz, welcher angefoch¬
ten, verworfen, verhöhnt, aber nicht aus dem Wege geſchafft
werden kann, und da kein geſchichtliches Volk umhin gekonnt
[358]Die Idee des Königthums. hat, dieſer Idee gegenüber ſeine Stellung zu nehmen, ſo iſt
die Geſchichte des Königthums ein lehrreicher Spiegel für die
verſchiedenen Zeiten und Volkszuſtände.
Es geht aber durch die Vorſtellungen vom Königthume
eine Scheidelinie und bildet bei aller Mannigfaltigkeit im
Einzelnen zwei große Gruppen; es iſt der Gegenſatz des
Abend- und Morgenlandes, welcher die Culturwelt des Alter¬
thums beherrſcht und auch in die neue Zeit bedeutender hin¬
übergreift, als wir uns deſſen bewußt zu ſein pflegen; denn
es iſt nicht bloß ein örtlicher Gegenſatz, um den es ſich han¬
delt, ein Gegenſatz, der nach Gebirgen und Meerſunden be¬
ſtimmt wird, ſondern ein ethiſcher.
Im Morgenland iſt das Königthum eine Thatſache, an
der nichts zu ändern iſt, eine Nothwendigkeit, der man ſich
fügt wie einer Naturmacht, die nach unberechenbaren Geſetzen
bald Segen, bald Verderben ſendet. Beides iſt ein Fatum,
dem man ſich ſklaviſch unterwirft. Es giebt keine Staaten,
ſondern nur Reiche; es giebt keine Bürgerſchaften, ſondern
nur Haufen von Unterthanen. Herrſcher werden beſeitigt und
die Dynaſtien wechſeln, aber das Herrſcherthum bleibt das¬
ſelbe. Der Orient iſt nicht im Stande geweſen ein anderes
Syſtem hervorzubringen; bei allen Geſetzgebungsverſuchen
bleibt der Sultan ein Sultan und die Annäherung an euro¬
päiſche Culturſtaaten kann wohl den Kern des Alten auflöſen,
aber nichts Neues, Lebensfähiges hervorbringen.
Das Abendland iſt der Boden der Arbeit. Es hat Alles
vom Orient empfangen, aber nichts gelaſſen wie es war. Alles
iſt in der Werkſtätte des Geiſtes umgeſchmolzen und neu ge¬
macht. Jedes Volk ſucht dem Arbeitsſtoffe das Gepräge ſeiner
Eigenthümlichkeit zu geben, aber die Arbeitskraft iſt nicht
immer dieſelbe. Wenn ſie nachläßt, ſo nähert ſich das euro¬
päiſche Weſen unwillkürlich dem Orient und läuft Gefahr, in
ſeinen Fatalismus und ſeine Monotonie zu verſinken.
Im Orient hat ſich das Herrſcherthum von dem Urſprung,
in dem es wurzelt, von Stamm und Familie nie gelöſt. Es
iſt die auf das Reich übertragene Hausvatergewalt. Was aber
[359]Die Idee des Königthums.dem Hausweſen die Weihe giebt, die Gegenſeitigkeit der Liebe
und perſönlichen Anhänglichkeit, konnte bei dieſer Uebertragung
nicht erhalten werden. Es bleibt nur das negative Element,
das Unbedingte eines Willens, welcher nach innen und außen
keine Schranke anerkennt. Denn das gehört weſentlich zum
Charakter orientaliſcher Despotie, daß nur ein Herr und ein
Reich da ſein ſoll, neben welchem nichts Gleichberechtigtes be¬
ſteht. Jede Gränze erſcheint wie ein Abbruch, jedes Inne¬
halten als Schwäche und feiges Zurückweichen. Alle Völker
ſollen wie in ein Haus geſammelt werden und das Haupt
deſſelben der König der Könige ſein, der Eine, welchem die
Völker aller Zungen unterthänig ſind, der vom höchſten Gott
berufene Herr der Welt. So bekämpften die Achämeniden in
Auramazda's Auftrage Griechenland, das von perſiſchen Waffen
nie berührte, wie eine abtrünnige Provinz und der Perſerfürſt,
welcher nach Xerxes zuerſt wieder den Boden Europa's betre¬
ten hat, glaubte ſich, wie berichtet wird, unſerm Kaiſer gefällig
zu erweiſen, indem er zu ſeinen Gunſten auf Deutſchland ver¬
zichtete.
Die göttliche Autoriſation aber, welche bei allen Dynaſtien
des Morgenlandes wiederkehrt, iſt in Aegypten am vollſtän¬
digſten durchgeführt, indem hier der lebende Pharao ſelbſt zum
Hausgenoſſen der Götter wird und ſich ſelbſt wie einem Gotte
Opfer darbringt. Dafür iſt aber auch ſein ganzes Leben Tag
für Tag vom Morgen bis Abend dem Zwange eines von den
Prieſtern feſtgeſetzten Ceremoniells unterworfen, ſo daß ihn
Diodor ausdrücklich den anderen Fürſten gegenüberſtellt, welche
thun könnten, was ſie wollten. So führte die maßloſe Aus¬
nahmeſtellung, welche einem Sterblichen über alle anderen
verliehen wurde, dahin, auch dieſem Einen, welcher der allein
Freie ſein ſollte, alle Freiheit zu nehmen, und wenn es auch
im Orient einzelne wahre Selbſtherrſcher gegeben hat, ſo ſind
es doch im Allgemeinen nicht freithätige Individuen, ſondern
dunkle, unperſönliche Mächte, Prieſterſchaften und Hofparteien,
welche, auf die Macht der Gewohnheit und die Trägheit der
[360]Die Idee des Königthums. Völker geſtützt, von einem unſichtbaren Centrum aus die Schick¬
ſale der Reiche beſtimmt haben.
In Europa wird Alles anders. Wie die Landmaſſen ſich
theilen und gliedern, wie die Sprachen ſofort einen reicheren
Vocalismus entfalten, welcher dem Bedürfniß nach klarerem
Ausdruck entgegenkommt, ſo tritt auch auf dem Gebiete des
öffentlichen Lebens an die Stelle aſiatiſcher Einförmigkeit die
größte Mannigfaltigkeit; Völker und Menſchen individualiſiren
ſich und zwiſchen Volk und Fürſt bildet ſich ein wechſelſeitiges
Verhältniß. In Epirus beſchworen die antretenden Könige
einen Vertrag mit dem Volk und bei den Makedoniern war
das Königthum von Anfang an ein durch Geſetz geregeltes
Amt. In Griechenland iſt die ganze Energie des ſtaatbilden¬
den Geiſtes, der Gemeindeentwickelung zugewendet und darum
hat es ſich unter allen Ländern am meiſten von der Urform
des Staats entfernt. Doch haben die Griechen zuerſt das
Weſen des Königthums und ſeine nach den Nationalitäten
verſchiedenen Formen philoſophiſch begriffen, und auch im
praktiſchen Staatsleben iſt das Königthum ihnen niemals fremd
geworden. Sparta verdankt das Anſehen, welches es bei allen
conſervativ geſinnten Hellenen genoß, dem Umſtande, daß es das
heraklidiſche Königthum an der Spitze ſeines Staats erhalten
hatte, und die Athener bewahrten ſich wie einen ehrwürdigen
Hausrath patriarchaliſcher Vorzeit durch alle Stadien einer
demokratiſchen Entwickelung ihren König und ihre Königin.
Wo Gewaltherren ſich aufthaten, ſuchten ſie ihre Herrſchaft
dadurch populär zu machen, daß ſie ſich an die Traditionen
des Königthums anſchloſſen, und als man die ſchlimmen Fol¬
gen einer ſchrankenlos entwickelten Gemeinfreiheit gekoſtet hatte,
erwachte wie eine Art von Heimweh die Sehnſucht nach einem
perſönlichen Regiment. Die hervorragendſten Denker der nach¬
perikleiſchen Zeit waren entſchiedene Royaliſten; man ſchaute
mit unverhohlener Bewunderung ſelbſt auf die Alleinherrſcher
der Barbaren. Platon hielt es für die bedeutendſte Aufgabe,
einen Thronerben philoſophiſch erziehen zu können und als
Philippos den erſten Denker der Zeit an ſeinen Hof berief,
[361]Die Idee des Königthums. ſchien ſich erfüllen zu ſollen, was den edelſten Hellenen als
Ideal vorſchwebte. So wie aber Alexander die Schwindel
erregende Höhe eines aſiatiſchen Königthrons beſtiegen hatte,
verſchwanden vor ſeinem Auge die Unterſchiede der Völker, die
ihm zu Füßen lagen; er vergaß die Lehre des Ariſtoteles, daß
man die Barbaren despotiſch, die Hellenen hegemoniſch regieren
müſſe. Er ging auf das ägyptiſche Vergötterungsſyſtem ein
und auch unter ſeinen Nachfolgern erwies die helleniſche Bil¬
dung ſich unfähig, dem berauſchenden Genuſſe orientaliſcher
Alleinherrſchaft zu widerſtehen, bis ſich in der dritten Gene¬
ration auf europäiſchem Boden das makedoniſche Königthum
wieder ernüchterte und in die Wege einer vernünftigen Staats¬
leitung einlenkte.
Die Römer haben das Königthum noch fruchtbarer für
den Staat zu machen gewußt. Sie verdanken ihm ja die
dauerhafte Grundlage ihres öffentlichen Rechts; ſie haben nicht
nur eine Erinnerung an das Königthum feſtgehalten wie die
Athener, und nicht nur in außerordentlichen Fällen zu einem
Wahlkönigthum auf Zeit ihre Zuflucht genommen, wie die
griechiſche Aeſymnetie war, ſondern ſie haben ein beſonderes
Amt in ihrer Republik eingerichtet, um in demſelben alle Voll¬
machten, welche ſich aus dem Königthum in die verſchiedenen
Magiſtraturen zerſplittert hatten, von Neuem zu ſammeln, wenn
es galt die durch nichts zu erſetzende rettende Macht des König¬
thums für den Staat in Anſpruch zu nehmen.
Dieſe für Ausnahmsfälle beſtimmte Concentrirung der
amtlichen Gewalt mußte eine dauernde werden, ſeitdem ſich
für das zu einem Weltreiche angeſchwollene Stadtgebiet das
republikaniſche Aemterſyſtem als unmöglich erwies; und als
auf den Feldern von Pharſalos und Thapſos die Entſcheidung
gefallen war, ſchickte Cicero ſich an, die Lehren, welche Ariſto¬
teles ſeinem Zöglinge gegeben, für den neuen Herrn der Welt
zu verwerthen.
Aber philoſophiſche Reflexionen waren für die Ausbildung
des Cäſarenthums nicht maßgebend, ſondern das anſteckende
[362]Die Idee des Königthums. Beiſpiel des helleniſchen Orients, der, in Schlaffheit und Knechts¬
ſinn verſunken, jedem Machthaber Weihrauch zu ſtreuen und
göttliche Ehren darzubringen bereit war. Auch das Römer¬
thum zeigte ſich unfähig, dem betäubenden Gifte zu widerſtehen,
das mit furchtbarer Schnelligkeit den klaren Geiſt europäiſcher
Geſittung umdüſterte. Der Sohn des Germanicus ließ ſich ſchon
bei Lebzeiten als einem Gotte huldigen, dem neuen Helios, den
die anderen Fürſten wie Trabanten umgaben. Der Weltherr¬
ſchaftsſchwindel erſchien alſo mit Despotismus und Abgötterei
wieder unzertrennlich verbunden. Die glücklichen Zeiten, in
denen die Gegenſätze von Alleinherrſchaft und Freiheit über¬
wunden wurden, waren nur vorübergehende Lichtblicke, die das
Gewölk durchbrachen. Im Ganzen verſank nach einem unerbitt¬
lichen Fatum das Römerthum, nachdem ſeine Lebenskraft er¬
ſtorben, in orientaliſche Erſtarrung und dieſe Entwickelung
vollendete ſich, als auch der Boden der Republik verlaſſen und
die ſchon beim Beginn des Principats beabſichtigte Verlegung
der Reichshauptſtadt aus Europa an die Schwelle des Orients
vollzogen ward. Der römiſche Cäſar zog ſich aus der Ge¬
meinſchaft des Volks zurück und ließ ſich mit dem geſchmack¬
loſen Pomp des orientaliſchen Herrſcherthums umhüllen. Nach
hierarchiſchem Ceremoniell wurde der Hofſtaat geregelt und
die Hand Gottes, wie ſie auf den Münzen Conſtantin's aus
den Wolken ragt, reicht dem Imperator die Krone der Welt¬
herrſchaft.
Das römiſche Imperatorenthum hat auch in die neuere
Zeit ſeinen Einfluß erſtreckt. Durch den Anſchluß an daſſelbe
hat ſich das deutſche Königthum, welches von Anfang an, wie
das der Makedonier, Griechen und Römer, einen ſtaatlichen
Charakter hatte und im Verein mit der Gemeinde die Gränzen
hüten und die Rechte ſeiner Angehörigen ſchützen ſollte, weſent¬
lich verändert. Mit der Erhebung zum Auguſtus traten die
orientaliſchen Ideen, welche als ein verhängnißvolles Erbe aus
dem Cäſarenthum übernommen wurden, in die deutſche Welt
ein und das tragiſche Schickſal eines Otto des Dritten lag
darin, daß er von dem Taumel maßloſer Herrſchaftsideen
[363]Die Idee des Königthums.trunken von der heimiſchen Sitte ſich losriß, wie Alexander,
und den Boden unter den Füßen verlor.
Die Idee von einem Herrn und einem Reiche wurde
aber um ſo verhängnißvoller, da ſich der Verwirklichung des
neuen Imperatorenthums eine zweite Macht gegenüberſtellte,
welche ebenfalls unbedingte Herrſchaft in Anſpruch nahm.
Im Oriente hatte das Alleinherrſcherthum eine im Ganzen
unangefochtene Stellung, weil ſich die Prieſterſchaft weſentlich
mit ihm identificirt hatte und das unſichtbare Centrum der
weltlichen Ordnung bildete. Jetzt erhob ſich eine geiſtliche
Macht, die in ihrem eignen Fürſten gipfelte, welcher ſich ſeiner¬
ſeits alle Attribute orientaliſcher Alleinherrſchaft beilegte und
den Anſpruch auf eine die Welt umſpannende Herrſchaft erhob,
der Menſchen und Völker unterworfen ſind, ohne es zu wollen
und zu wiſſen. Dieſe Herrſchaft ſollte freilich eine nebengeord¬
nete und ihren eigenen Lebenskreis verwaltende ſein. Indeſſen
konnte ſie, als im beſonderen Auftrage Gottes handelnd, in der
That nicht anders als eine wirkliche Ueberlegenheit in Anſpruch
nehmen. Wenn daher auch ein Mann, wie Thomas von
Aquino in ſeinem an den jungen König von Cypern gerichte¬
ten Regentenſpiegel noch ſo würdig und verſtändig von dem
weltlichen Fürſtenregimente ſpricht, ſo trägt er doch kein Be¬
denken die ſelbſt mit ariſtoteliſchen Worten unterſtützte Schlu߬
folgerung zu ziehen, daß ein vom kirchlichen Bekenntniß ab¬
weichender Fürſt dadurch ſelbſtverſtändlich ſeines Herrſcher¬
amts verluſtig gehe.
Dieſer Macht gegenüber gab es nun eine zwiefache Mög¬
lichkeit; man mußte ſie als Gegner anſehen oder als Bundes¬
genoſſen. Das deutſche Kaiſerthum hat den Kampf aufgenom¬
men und iſt daran verblutet. In den romaniſchen Völkern
ſtellte ſich das weltliche Fürſtenthum in den Dienſt der Gegen¬
macht und erlangte, von prieſterlichen Inſtitutionen umgeben,
wie es im Orient der Fall geweſen war, den Völkern gegen¬
über den höchſten Grad von Machtfülle, welcher in europäiſchen
Staaten erreicht worden iſt; ſo die Herrſchaft Philipp's II.
und ſeiner Nachfolger, die der Bourbonen in Frankreich, der
[364]Die Idee des Königthums. Nepoten in Italien. Die Idee des Gemeinweſens, welche für
das Königthum des Occidents das charakteriſtiſche Merkmal
iſt, war ſo weit verloren, daß alle Bewegung nur von Einem
ausging, in deſſen Perſon der Staat verkörpert ſchien.
Was aber an Despotien, geiſtlichen wie weltlichen, in
Europa zu Stande gekommen iſt, unterſcheidet ſich von denen
des Orients dadurch, daß hier die Vollherrſchaft des Einzelnen
die einheimiſche Regierungsform war; Land und Volk waren
damit in Uebereinſtimmung und darum konnte auch die ma߬
loſe Willkürherrſchaft einen harmloſeren und patriarchaliſchen
Charakter tragen.
Auf dem Boden europäiſcher Völker hat ſie immer nur
durch Umſturz des Beſtehenden oder durch Entartung der Völker
zu Stande kommen können. Darum wurde bei dem ſteten Ge¬
fühle der Unſicherheit das Syſtem eines künſtlichen Zwangs
viel abſichtlicher ausgebildet, und während dem Orient zu allen
Zeiten ein gewiſſes Gehen- und Gewährenlaſſen eigen geweſen
iſt, hat man hier, wo zur Freiheit geſchaffene Völker nieder¬
gehalten werden mußten, alle geiſtigen Regungen der ſchärfſten
Controle unterziehen müſſen.
Solche Politik iſt nicht ohne Erfolg geweſen und wenn
große Völker, welche aus einander zu fallen drohten, durch
ſtraffe Concentration ihre Einheit gerettet und dadurch eine
politiſche Ueberlegenheit über ihre Nachbarſtaaten erlangt haben,
ſind ſolche Despotien, ſo lange ſie von Erfolg begleitet waren,
mit einem Nimbus von Glorie umgeben geweſen.
Je kleiner die Staaten waren, um ſo mehr wurde die
Tyrannis zu einem Zerrbilde, und zu ihrer Rechtfertigung
konnte im beſten Falle nichts Anderes vorgebracht werden,
als daß bei einer Verwahrloſung aller Landesintereſſen, bei
zunehmender Sittenloſigkeit und wechſelnder Fremdherrſchaft
kein anderes Mittel vorhanden ſchien, einer vollſtändigen Auf¬
löſung vorzubeugen. Knechtiſch geſinnte Völker müſſen dem
Looſe der Knechtſchaft verfallen und können nur durch Zucht¬
ruthen gebeſſert werden.
So dachte der große Florentiner, als er, an jedem andern
[365]Die Idee des Königthums.Heilmittel für das unglückliche Italien verzweifelnd, nur noch
durch Anwendung der ſchärfſten Gifte eine günſtige Kriſis zu
erzielen hoffen konnte. Für die Entwickelung ſeines Vaterlan¬
des war ſein Buch ohne Erfolg, aber außerhalb deſſelben und
weit über die Zeit hinaus, in die es eingreifen ſollte, hat es
durch Jahrhunderte lebendig fortgewirkt, bei Fürſten, Staats¬
männern und Hiſtorikern das Nachdenken anregend, Zuſtim¬
mung oder Widerſpruch hervorrufend.
Freilich hat es auch bei den romaniſchen Völkern nie an
Stimmen gefehlt, welche dem unbedingten Herrſcherthum, ohne
ſeine Nothwendigkeit in Abrede zu ſtellen, edlere Ziele vor¬
ſchrieben als das der klugen, macchiavelliſtiſchen Conſequenz.
Petrarca ſchrieb an den Herrn von Padua, er müſſe nicht
Herr ſeiner Bürger ſein, ſondern Vater des Vaterlandes, er
müſſe ſie lieben wie Kinder, ja wie Glieder ſeines Leibes, und
Fénélon rief ſeinem Zögling, als er Dauphin wurde, ins
Gewiſſen, daß nicht Alle um des Einen, ſondern Einer um
Aller willen da ſei.
Aber etwas ganz Anderes als dieſe wohlmeinenden An¬
ſprachen, eine wirkliche Epoche in der Geſchichte des König¬
thums war es doch, als ein deutſcher Kronprinz einen Anti¬
macchiavell ſchrieb und darin nicht etwa bloß die Schärfen
milderte, die äußerſten Mittel ablehnte und einige Lichtſeiten
des Fürſtenthums geltend machte, ſondern ein ganz anderes
Princip aufſtellte, mit dem er ſich unbewußt den edelſten Ideen
anſchloß, welche jemals im Königthum vertreten geweſen ſind,
und ſich von allen Irrwegen am entſchiedenſten fern hielt.
Denn Keiner war freier als Friedrich von der unklaren
Ueberſchwänglichkeit orientaliſcher Vorſtellungen, welche dem
Glanze des Königthums wie ein Schatten gefolgt ſind, Keiner
entfernter von den Anſprüchen auf eine von der Gottheit pri¬
vilegirte Ausnahmeſtellung, welche aller menſchlichen Verpflich¬
tungen enthöbe. Ihm war das Königthum, wie in Rom und
Athen, ein Amt zum gemeinen Nutzen aller Angehörigen, und
während er von Höfen umgeben war, in welchen Treibjagden
und Prunkfeſte die wichtigſten Staatsangelegenheiten waren, und
[366]Die Idee des Königthums. von Staaten, welche als Anhängſel genußſüchtiger Höfe be¬
trachtet wurden, ſtellte er ſeine ganze Perſon in den Dienſt
des Staats und übernahm aus eigenem Entſchluſſe die Laſt
einer ungeheuern Arbeit; denn der Staat, dem er ſich weihte,
mußte erſt geſchaffen, ja die Idee des Staats erſt wieder ge¬
weckt werden. Waren doch damals die beſten Deutſchen, auch
Leſſing und Winckelmann, vaterlandsloſe Menſchen! Man hatte
ſich der Dienſtleiſtung für das Gemeinweſen ganz entwöhnt
und kannte kein höheres Lebensglück als ein ungeſtörtes Ge¬
nießen, das Jeder nach ſeiner Weiſe auffaßte. Eine ſolche
Zeit war es, in der Friedrich den Staat wiederum in den
Mittelpunkt unſeres Denkens und Handelns ſtellte und anſtatt
kleinbürgerlicher Behaglichkeit die Arbeit am öffentlichen Leben
als den Zweck unſers Daſeins angeſehen wiſſen wollte.
Bei der unbedingten Ueberlegenheit ſeines Geiſtes, bei
ſeiner alles Große und Kleine umfaſſenden Regententhätigkeit
hatte er mehr Recht als irgend ein Fürſt des achtzehnten Jahr¬
hunderts zu ſagen: der Staat ruht auf mir, ich bin der Staat!
Aber gerade in dieſem Punkt hat er von dem Einfluſſe roma¬
niſcher Civiliſation am entſchiedenſten ſich losgemacht, nicht
in der Theorie vom Staate, in welcher er Rouſſeau folgte,
aber in ſeinem Handeln, indem er, von dem Zuge eines edlen
und reinen Wollens ſicher geleitet, dieſelbe Ueberzeugung be¬
währte, welche die Weiſen des Alterthums gelehrt hatten, daß
der Staat das Urſprüngliche und Ganze ſei, dem der Einzelne
als Theil und Glied ſich ein- und unterzuordnen habe, und
in der That war er bereit, wie der alte König von Athen,
jeden Augenblick ſein Leben für das Vaterland als Opfer hin¬
zugeben.
Er hat ſeiner Ueberzeugung ein eigenthümliches Gepräge
gegeben, indem er mit dem ritterlichen Sinne, den das Alter¬
thum nicht kannte, das »ich dien« als Wahlſpruch auf ſeinen
Königsſchild ſchrieb und im Sinne des Chriſtenthums, deſſen
Lehre ihm für das menſchliche Zuſammenleben als höchſte
Richtſchnur galt, der Anſicht war, daß der, welcher der Größeſte
unter den Seinen ſein wolle, der Dienende ſein müſſe.
So iſt chriſtliche Demuth mit edlem Fürſtenſtolz und dem
vollberechtigten Selbſtgefühl einer genialen Natur in dem Aus¬
ſpruche vereinigt, daß der König der erſte Diener des Staats
ſei, und dies Wort iſt nicht der Ausdruck einer Stimmung,
nicht der Nachklang äußerer Anregung, ſondern das ungeſuchte
Ergebniß eigenſter Ueberzeugung, mit welcher nach mancherlei
Irrungen und Schwankungen der junge Fürſt der Schwelle
des Throns entgegenging. Er ſah den Staat von Feinden
umgeben, von inneren Schwierigkeiten eingeengt; er erkannte,
daß derſelbe ſich ausdehnen oder untergehen müſſe; er war
ſich bewußt, daß er perſönlich die Ziele des Staats beſtim¬
men, für ſeine Ehre eintreten und ſich, im Volke erſt die Or¬
gane ſchaffen müſſe, um einen deutſchen Staat, der in allem
Guten voranſchreite, zu verwirklichen; er mußte auf viele Mi߬
erfolge gefaßt ſein. Dennoch hat er ſich nicht geſcheut, den
höchſten Maßſtab aufzuſtellen, nach dem auch er beurtheilt ſein
wollte, und er hat den Wahlſpruch, den er als Jüngling auf¬
ſtellte, mit gewiſſenhafter Treue durchgeführt, ein voller Selbſt¬
herrſcher, wie ihn ſeine Zeit verlangte, aber ein Solcher,
welcher mit ſeinen Dienern in Krieg und Frieden unabläſſig
arbeitete und die Mitglieder aller Stände mehr und mehr zu
ſelbſtthätiger Theilnahme an der Arbeit des Gemeinweſens
heranbildete.
So hat er das Problem, an welchem die Völker Europa's
ſeit dem Beginn ihrer Geſchichte gearbeitet haben, die Ver¬
bindung zwiſchen Fürſtenthum und Freiheit, glücklicher als
einer ſeiner Vorgänger gelöſt, indem er die über dem Gegen¬
ſatze ſchwebende Einheit zur Geltung brachte. Er hat dem
Herrſcherthum den Charakter gegeben, den es nach Ariſtoteles
auf dem Boden des europäiſchen Volksthums haben ſoll, den
Charakter der Hegemonie, d. h. der Leitung freier Menſchen
zu einem gemeinſam erkannten Ziele. Er hat das Königthum
vom Schmutze der Selbſtſucht befreit, mit dem es behaftet
war, ſo daß es wie ein Goldſtück, das lange von Hand zu
Hand gegangen war, wieder in ſeinem wahren Glanze und
ſeinem echten Gepräge kenntlich wurde. Dadurch hat er auch
[368]Die Idee des Königthums.ſeinem Hauſe und ſeinem Staate die Bahn gewieſen, und ſo
lange in Preußen, durch freie Liebe verbunden, Fürſt und
Volk den gemeinſamen Dienſt für Recht und Wahrheit in
Krieg und Frieden mit freudiger Pflichttreue leiſten werden,
wird der Adler ſeinen Flug nicht ſenken. Darum ſegnen wir
das Andenken Friedrich's und ſein unvergeßliches Wort: Der
König iſt der erſte Diener des Staats!
XXII.
Große und kleine Städte.
Von allen Univerſitäten des Vaterlandes iſt die unſrige
vorzugsweiſe berufen, den heutigen Tag freudig und dankbar
zu begehen, nicht nur weil das Auge des Königs unmittelbar auf
uns gerichtet iſt, ſondern auch deshalb, weil die Blüthe unſerer
Univerſität mit der des Staats auf das Genauſte zuſammen¬
hängt. Denn je mehr mit dem Anſehen des Staats auch das
der Hauptſtadt im Steigen iſt und je mehr die Deutſchen ſich
gewöhnen, von hier die Entſcheidung ihrer wichtigſten An¬
gelegenheiten zu erwarten, um ſo mehr wird auch die Jugend
ſich angezogen fühlen und den großen Entwickelungen, welche
ſich hier vollziehen, eine Zeitlang nahe zu ſein wünſchen.
Wir ſehen aber der ſteigenden Bedeutung der Hauptſtadt und
ihrem Wachsthum nicht mit ungemiſchten Empfindungen zu; es
beſchleicht uns vielmehr ein unheimliches Gefühl, wenn unſere
Stadt wie nach einer unaufhaltſamen Naturnothwendigkeit
immer mächtiger anſchwillt. Wohin ſoll das führen, fragen
wir, und wie weit entſpricht das großſtädtiſche Leben den
geiſtigen Intereſſen? Darüber hören wir auch in unſeren
Kreiſen ſehr verſchieden urtheilen.
Die Einen nennen daſſelbe eine Verwöhnung, welche es
unmöglich mache, ſich jemals wieder in engere Kreiſe einzu¬
leben, die Anderen ſehen darin eine Reihe von Entbehrungen,
die ſich ſchwer ertragen. Daher finden wir auf der einen
Curtius, Alterthum. 24[370]Große und kleine Städte.Seite ein Drängen nach den Hauptſtädten, als wenn dort
allein Glück und Befriedigung zu finden wäre, andererſeits
Abneigung, Ueberdruß und Sehnſucht nach anderen Lebens¬
formen. Wie dieſer Widerſpruch zu beurtheilen ſei, iſt eine
Frage, deren Erwägung des feſtlichen Tags nicht unwerth
erſcheint, zumal wenn wir ihr auf dem Wege geſchichtlicher
Betrachtung näher zu kommen ſuchen und wenn ſich dabei
auch für unſere Gemeinſchaft einige Geſichtspunkte ergeben
ſollten, deren Beherzigung der Würde des Tags entſpricht.
Die Abneigung gegen die großen Städte iſt kein perſön¬
liche Laune Einzelner, ſondern es liegt ihr etwas Allgemeines
und Angeſtammtes zu Grunde; ſie liegt uns Deutſchen im
Blute. Wir kennen unſere Altvordern nicht anders, als daß
ſie allem Stadtleben abgeneigt waren, und zwar mit vollem
Bewußtſein. Sie ſahen es als eine Falle an, in der ſie zu
Schaden kommen müßten, als ein der Geſundheit des Volks
drohendes Gift. Wie das Wild im Gehege ſeines angeſtammten
Muths vergeſſe, ſo glaubten ſie innerhalb ſtädtiſcher Mauern
entarten zu müſſen.
Bei weiterem Umblick finden wir, daß das Widerſtreben
gegen gedrängte und geſchloſſene Wohnſitze nicht den Germanen
allein eigen iſt, ſondern allen mit ihnen verwandten Volks¬
ſtämmen, und zwar iſt das vorſtädtiſche Leben derſelben kein
durchaus vorgeſchichtliches, ſo daß man ſich denken könnte, es
ſtamme das Bild deſſelben aus einer Zeit, wo man, vom
Stadtleben überſättigt, die Gründung von Städten als eine
Art Sündenfall anſah, welche die Menſchen klüger und ge¬
ſchickter, aber auch unreiner und unglücklicher gemacht habe:
ſondern man kann Glieder des großen Völkergeſchlechts noch
heute in ſolchem Zuſtande nachweiſen. Als im Anfange dieſes
Jahrhunderts der erſte Europäer die Thäler von Kabul be¬
reiſte, feſſelten ihn die in voller Urſprünglichkeit erhaltenen
Gauverfaſſungen der dortigen Stämme, und unſer trefflicher
Hiſtoriker Wilken machte ſofort darauf aufmerkſam, daß ſich
hier ganz ähnliche Verhältniſſe vorfänden, wie ſie Herodot und
Xenophon von den Perſern, Tacitus von den Germanen meldeten.
Wir brauchen aber nicht ſo weit zu gehen. Bei Völkern
iſt es ja möglich, ſie gleichzeitig und in benachbarten Räumen
auf verſchiedenen Entwickelungsſtufen kennen zu lernen, und
ſo zeigt uns die griechiſche Geſchichte, welche durchſichtiger und
überſichtlicher als irgend eine andere vor unſern Augen liegt,
in Arkadien und andern Binnenlandſchaften beiderlei Volkszu¬
ſtände neben einander, ſo daß die ländlichen Kantone dazu
dienen, die in den Städten raſcher aufgezehrte Kraft zu erſetzen.
Ja, nicht nur im Lande, ſondern auch in ſeinen Bewohnern
finden wir, ſo zu ſagen, die beiden Culturſtufen gleichzeitig
vereinigt, wenn wir den Arkader Philopoimen die Staatsge¬
ſchäfte mit der Arbeit am Pfluge und im Weinberge an dem¬
ſelben Tage verbinden ſehen. Dies iſt ein Ueberreſt altpelas¬
giſcher Sitte, der gemeinſamen Grundlage italiſcher und griechi¬
ſcher Cultur, derſelben Sitte, auf welcher Roms Größe ruht.
Es iſt das energiſche Feſthalten am bäuerlichen Leben, die
Anhänglichkeit an die eigene Hufe, welche viele Generationen
hindurch bei einem Geſchlechte verbleibt, der ſtärkende Ruheplatz
für den vom öffentlichen Dienſte Ermüdeten, der Ort der
Sammlung für neue Wirkſamkeit.
Italien zeigt dieſelben Gegenſätze wie Griechenland zwi¬
ſchen den in ſtädtiſcher Entwickelung voraneilenden und den in
bäuerlichem Stillleben verharrenden Stämmen. Aber das
Sonderleben der Stämme war dort von der Natur nicht in
gleicher Weiſe geſchützt und deshalb mußte das Ringen gegen
das Uebergewicht der Latiner und der durch ſie vertretenen
ſtädtiſchen Concentration ſo erfolglos bleiben. Aber merkwürdig
iſt, wie beharrlich dennoch der Widerſtand der Italiker gegen
die hauptſtädtiſchen Anſprüche war und wie energiſch der Kampf
der Unabhängigkeit geführt wurde, nicht nur mit blutiger
Waffe, ſondern auch mit dem Schwerte des Geiſtes. Die
Satire wurde ſchon durch Lucilius ein Organ der Oppoſition
der Landſchaft gegen die Stadt. Varro, der Sohn des ſabi¬
niſchen Hochlandes, des italiſchen Arkadiens, klagt bitter, daß
man ihn aus ſeinem reinen Leben in den Schmutz des Rath¬
hauſes hereingezogen habe, ja noch zur Zeit Trajan's tritt
24 *[372]Große und kleine Städte. uns der trotzige Unabhängigkeitsſinn des Volskers in Juvenal
entgegen, der ſich aus dem Gewühle der Stadt nach ſeinem
Aquinum zurückzieht und in jener Satire, welche eine ganze
Nachkommenſchaft ähnlicher Gedichte hervorgerufen hat, ſeinem
Unwillen über die Unerträglichkeit einer Großſtadt Luft macht.
So verbreitet und ſo zähe iſt nicht nur bei unſern Stamm¬
vätern, ſondern auch bei den verwandten Völkern die Abneigung
gegen ſtädtiſche Concentration, und es iſt daher kein Wunder,
wenn auch bei den ſpäten Enkeln von dieſem Sinne etwas
übrig iſt und auch unter ihnen noch Viele ſind, welche ſich das
ſtädtiſche Leben nicht ohne Einbuße an behaglicher Unabhängig¬
keit vorſtellen können.
Wenn nun die Mauerringe gefallen ſind, welche nach ger¬
maniſcher Anſicht den Bürger zum Gefangenen machten, wenn
auch von ſonſtiger Freiheitsbeſchränkung innerhalb der Städte
im Ernſte nicht mehr die Rede ſein kann, ſo muß die Ab¬
neigung gegen dieſelben, wo ſie vorhanden iſt, noch andere
Quellen haben; ſie wird weniger gegen das ſtädtiſche, als
gegen das großſtädtiſche Weſen gerichtet ſein; ſie wurzelt,
wenn ich recht urtheile, in einem äſthetiſchen Mißbehagen,
welches wir nicht als Enkel der taciteiſchen Germanen, ſondern
als Schüler der Hellenen, als Zöglinge des klaſſiſchen Alter¬
thums empfinden.
Die Hellenen ſind die Meiſter des Stadtbaus; ſie ſind
auch hierin unſre Lehrer und maßgebenden Vorbilder.
Zwar gab es lange vor allen Anfängen griechiſcher Ge¬
ſchichte großartige Stadtanlagen. Die Städte am Euphrat
und Tigris waren Stapelplätze des Flußhandels, der Ge¬
birge und Meer verbindet, und Kreuzpunkte der Caravanenzüge,
Mittelpunkte erobernder Reiche und Sitze von Reichsfürſten,
deren Hofperſonal ſchon einer Stadtbevölkerung glich. Jeder
Dynaſt baute eine neue Reſidenz und es wuchſen die Städte
in das Unermeßliche. Drei Tage gebrauchte man um Ninive
zu durchwandern und Babel war ſo weitläufig, daß ein Theil
der Stadt in den Händen der Feinde war, während man im
Mittelpunkte derſelben noch Feſte feierte und Reigen aufführte.
Wie anders die Griechenſtädte! Die Griechen waren auch
hierin ein Kunſtvolk, ihre Stadt ein Kunſtwerk. Worin zeigt
ſich aber hier der Charakter des Kunſtſchönen? Etwa in der
Anmuth landſchaftlicher Lage oder im Aufwande von Pracht
und Schmuck? Keineswegs; der Begriff des Schönen iſt ein
viel tieferer und geiſtigerer; er ſtammt aus der Idee des
Maßes und der Ordnung. Das Schöne, ſagt Ariſtoteles, darf
eine gewiſſe Größe nicht überſchreiten, denn ſo wie es nicht
mehr überblickt werden kann, geht die Einheit verloren, welche
das Viele zu einem Ganzen verbindet. Dieſe Einheit kann
aber keine vollſtändige ſein, wenn die einzelnen Theile da ſein
oder fehlen und beliebig an dieſer oder jener Stelle ſich be¬
finden können; ſie müſſen vielmehr alle in zweckvollem Zu¬
ſammenhange ſtehen, jeder an ſeiner Stelle, einer dem andern
unentbehrlich und einem Hauptzwecke dienend.
Darum iſt der helleniſche Kunſtſinn ein Feind alles Will¬
kürlichen und Unbegränzten, ein Feind zufälliger Anhäufung,
ein Feind des Maſſenhaften, weil es Einheit ohne Gliederung
iſt, und ebenſo des Vielen, welches keine Einheit bildet.
So aufgefaßt, findet der Begriff des Kunſtſchönen ſeine
volle Anwendung auch auf die Stadtgründungen. Die helleniſche
Stadt iſt darauf berechnet, daß ſie ein überſichtliches Ganze
ſei, daß im Theater, auf dem Markte, im Volksverſammlungs¬
raume die ganze Bürgerſchaft vereinigt ſei und daß des Herolds
Ruf ſo wie des Redners Stimme jeden Bürger erreiche. Auf
einer mäßigen, aber ſcharf umgränzten Hochfläche ſtehen die
Tempel der ſtadthütenden Gottheiten, unten das Stadthaus
mit dem Stadtherde, am Markte gelegen; der Markt in der
Niederung, wo die Wege vom Binnenlande und vom Geſtade
zuſammentreffen; vor dem Thore am Fluße Stadium und
Ringplätze. Die Bürger ſollten ſich einander kennen und als
Glieder einer Gemeinſchaft fühlen, damit Jeder vor dem An¬
deren ſich ſcheue, Herkommen und Sitte zu verletzen. In
Familien, Geſchlechter und Geſchlechtsvereine gegliedert, waren
ſie um ſo überſichtlicher. Dennoch vermied man jede Ueber¬
füllung. Zehntauſend war eine normale Bürgerzahl; die
[374]Große und kleine Städte. doppelte war das Kennzeichen einer Großſtadt und als Athen
auf das Dreifache ſtieg, ging es ſchon über das Maß hinaus.
Auch in Betreff des Stadtumfangs hatte man gewiſſe Normen;
denn es kann doch nicht zufällig ſein, daß für drei Städte,
Theben, Athen und das ſchon unter König Servius ſtark hel¬
leniſirte Rom, dieſelbe Zahl von Stadien, 43, als Maß des
Mauerrings angeführt wird. So ängſtlich ſorgte man für
die Begränzung von Raum und Zahl.
Wie die Hellenen verfuhren, erkennt man am deutlichſten
in den Colonialländern. Da wurde z. B. am campaniſchen
Golfe zuerſt Kyme gegründet, dann, als die Stadt voll war,
eine Meile davon Puteoli, dann weiter in derſelben Richtung
das erſte Neapolis und als auch dies ſein Maß erreicht hatte,
hart daneben, aber als beſondere Stadt, eine neue Neuſtadt,
ſo daß die frühere zur Palaeopolis wurde. Es war eine
Art von Naturtrieb in den Hellenen, der ſie keine zu große
Menſchenanhäufung dulden ließ; ſo wie dieſe einzutreten drohte,
löſte ein Theil ſich ab und gründete, einem ausziehenden
Bienenſchwarme gleich, ein neues Gemeinweſen. Nur ſo glaubte
man Zucht und Sitte aufrecht erhalten zu können, nur ſo im
Sinne des ſtadtordnenden Apollo zu handeln, des Gottes der
Harmonie und des Maßes, nach deſſen Satzungen die ſaubere
und überſichtliche Klarheit äußerer Einrichtungen nur ein
Symbol jener höheren Ordnung war, welche in der Seele des
Einzelnen ſo wie in der Gemeinſchaft der Bürger herrſchen ſollte.
Dieſe Art der Anſiedelung war vortrefflich, inſofern die
Städte zur Ausbreitung griechiſcher Bildung dienen ſollten,
höchſt unvortheilhaft aber für die Entwickelung ſtaatlicher
Macht; denn ſie veranlaßte eine fortſchreitende Zerſplitterung
der Volkskraft. Dieſem Uebelſtande vorzubeugen dienten die¬
jenigen Orte, welche über das nächſte Thalgebiet hinaus
Machtanſprüche geltend machten und Gruppen kleinerer Städte
um ſich ſammelten, Vororte, deren Stellung wiederum darauf
beruhte, daß ſie Mittelpunkte der Bildung zu werden ſuchten,
wie Samos und Athen zur Zeit ihrer Tyrannen, und wie die
Stadt der Mytilenäer, welche die anderen Inſelſtädte zu über¬
[375]Große und kleine Städte.wältigen ſuchten, indem ſie alle Anſtalten des höheren Unter¬
richts ſich vorbehielten. Hier zeigt ſich der erſte Verſuch, über
den Kreis des Kantonalen hinauszugehen, den Charakter des
Oertlichen abzuſtreifen und dem Nationalen einen Ausdruck
zu geben.
Indeſſen handelte es ſich hier nur um Einigung benach¬
barter Stammgenoſſen. Eine neue Art von Städten erwuchs
aus den Orten, wo Angehörige verſchiedener Stämme an
einem Stadtherde verſammelt wurden. Dies geſchah in Syrakus,
als Gelon eine Menge neuer Bürger hereinzog, daſſelbe in
den Gründungen des Perikles, dort aus dynaſtiſcher Politik,
damit die ungeordnete Menge nur in dem Fürſtenhauſe ihren
Halt und Zuſammenhang habe, hier aus nationalen Geſichts¬
punkten, um Angehörige verſchiedener Stämme mit einander
zu verſchmelzen. Das waren Großſtädte nach dem Maße des
griechiſchen Alterthums, wie auch Athen ſelbſt eine ſolche wer¬
den ſollte; Städte, welche beſtimmt waren, Reichsmittelpunkte
zu werden. So ſehr aber auch den Griechen gelungen iſt, was
durch Gründung von Cantonſtädten und durch Erhebung ein¬
zelner unter ihnen zu vorörtlichen Städten erreicht werden
kann, wirkliche Großſtädte haben ſie nicht gehabt, weil ſie nur
Stadtverfaſſungen, aber keine Reichsverfaſſungen zu ſchaffen
wußten. Griechiſche Großſtädte ſind erſt im Oriente zu Stande
gekommen, als die Griechen nicht mehr Träger einer eignen
Geſchichte waren, ſondern nur das Material zu weiterer Cultur¬
entwickelung.
Was aber die Griechen zuerſt mit voller Klarheit erkannt
und werkthätig durchgeführt haben, daß die Stadt ein mit
künſtleriſcher Intelligenz geordnetes Ganze ſein müſſe, deſſen
Schönheit auf dem Maße beruht: das fühlen wir Alle ihnen
nach und erfahren es auch an uns ſelbſt, wenn wir im Vater¬
lande wandern und in eine Stadt kommen, die beim erſten
Anblick den wohlthuenden Eindruck glücklicher Begränzung auf
uns macht, eine Stadt, die auf wohl gewähltem Boden wie
ein Bild vor uns liegt, wo örtliche Sitte und väterliche Ueber¬
lieferung uns vertraulich anſpricht. Nicht ins Unendliche dehnen
[376]Große und kleine Städte.ſich die Häuſermaſſen und Straßenzüge, ſondern die Stadt¬
quartiere lagern ſich überſichtlich um hochragende Kirchen,
deren Glocken, Allen bekannt und Allen vernehmlich, zu ge¬
meinſamer Freude und Trauer die Bürger ſtimmen.
Wer kennt nicht den Zauber einer ſolchen Stadt und
wer unter uns fühlt nicht, wenn er ihr angehört, lebenslang
ein leiſes Heimweh?
Aber wir lernen aus der Geſchichte, daß es einem Volke,
welches nicht nur Cultur entwickeln, ſondern der ſelbſtändige
Träger derſelben bleiben und eine dauerhafte Geſchichte haben
will, nicht fromme, nur Städte nach griechiſchem Maßſtabe zu
haben, daß wir alſo höheren Zwecken zu Liebe bereit ſein
müſſen, auf die Behaglichkeit kleinerer Städte zu verzichten.
Freilich lebt es ſich leichter, wo die geſelligen Beziehungen
überſichtlich und alle Verhältniſſe durch örtliche Sitte geregelt
ſind. Man fährt wie auf einem Fluſſe, von der Strömung
getragen, zwiſchen nahen Ufern, welche bequeme Anfahrten
geſtatten und leichte Orientirung gewähren. Die Großſtadt
gleicht dem Meere, wo ſich Jeder ſeine eigene Bahn in den
Wellen ſuchen und die Sterne kennen muß, um ſein Ziel zu
erreichen. Hier wird erſt die Kunſt der Schifffahrt erlernt
und der Muth erprobt. Je freier der Horizont, deſto kühner
geht der Blick auf das Große und Ganze; aus der Heimath
wird ein Vaterland, wo Leute aus verſchiedenen Gauen ſich
mit einander einleben und ihrer großen Gemeinſchaft bewußt
werden.
Als die Perſer Griechenland überflutheten, da waren es
nicht die bäuerlichen Gemeinden, welche den Kampf für die
Freiheit aufnahmen, ſondern eine Stadt war die Vorkämpferin,
dieſelbe, welche durch Themiſtokles zur Großſtadt gemacht
war, und bis zum Ende iſt Athen allein der Herd nationaler
Geſinnung geblieben.
Daß Handel, Gewerbfleiß und Kunſt großer Städte be¬
dürfen, um zu voller Entwickelung zu gelangen, bedarf keines
Nachweiſes; ich glaube aber, daß die Energie des Willens,
welche große Städte in Anſpruch nehmen, jeder Art geiſtiger
[377]Große und kleine Städte.Thätigkeit zu gute kommen muß, und wenn es hier mehr
Anſtrengung koſtet, die nöthige Ruhe zu gewinnen, ſo iſt das,
was wir uns erringen, dann um ſo mehr unſer eigen, und wir
fühlen uns auf dem engeren Beſitze um ſo freier und unab¬
hängiger, gleich den Männern am Seeſtrande, welche ſich
durch Dämme der eindringenden Fluthen erwehren. Es liegt
im Gegenſatze eine wunderbare Macht. Je höher die Wellen
des äußeren Lebens gehen, um ſo mehr tritt auch die Reaction
ein, welche wie eine wohlthätige Naturmacht immer darauf
ausgeht, in den das Volksleben bewegenden und tragenden
Kräften ein normales Gleichgewicht herzuſtellen; darum werden
Weltgetümmel und tiefſtes Stillleben, Weltglanz und höchſte
Einfachheit, Weltluſt und ſtrengſter Forſcherernſt immer neben
einander gefunden werden.
Darum ſind die Großſtädte nicht bloß Sammelplätze des
Erworbenen und Stätten alexandriniſcher Bildung, ſondern
ſie ſind von jeher auch in hohem Grade produktiv geweſen.
Denn die Berührung zwiſchen verſchiedenen Volkselementen
erregt eine gewiſſe elektriſche Strömung, ruft höhere Wärme
und energiſchere Lebensthätigkeit hervor. Was für Licht und
Weisheit vom alten Babel ausgeſtrömt iſt, wird alle Tage
deutlicher. Aber um näher Liegendes anzuführen, die erſten
Weltſtädte Griechenlands waren die kleinaſiatiſchen Küſten¬
plätze, und wir hätten keinen Homer, wenn nicht in Smyrna
Aeolier, Achäer und Ionier zuſammengeſtrömt wären. Milet,
der erſte Tummelplatz des griechiſchen Welthandels, war auch
die Wiege aller forſchenden Wiſſenſchaft. Syrakus wurde
durch die Miſchung ſeines Stadtvolks eine Schule des Dramas
wie der Redekunſt und mitten im Gewühle zeichnete Archimedes
ſeine Kreiſe. Jene Philoſophie aber, nach welcher wir noch
heute unſere Gedanken ordnen und unſere Urtheile bilden, iſt
ſie etwa in klöſterlicher Abgeſchiedenheit zu Stande gekommen
oder auf Straßen und Plätzen einer Großſtadt? Sokrates
war ein eingefleiſchter Großſtädter. Berge und Bäume, ſagte
er, blieben ihm ſtumm, aber Unerſchöpfliches lernte er an und
von den Menſchen. Wie die Vorgänger des Sokrates im
[378]Große und kleine Städte. Gedränge großer Städte zu Philoſophen geworden ſind, ſo
konnte man ſich auch nach ihm keine Philoſophenſchule außer¬
halb Athen denken. Die höchſte Blüthe nationaler Dichtung,
das Drama, das ernſte wie das komiſche, konnte nur in der
großen Stadt ſich entwickeln. Ja ſelbſt die Dichtungsarten,
welche aus der Ueberſättigung an ſtädtiſcher Cultur und aus
dem Widerſpruche hervorgingen, ſind in den Großſtädten ent¬
ſtanden. Theokrit lebte bald in Alexandrien bald in Syrakus,
und der polternde Satiriker aus Aquinum war immer wieder
in der lärmenden Subura zu finden.
Bei allen leicht fühlbaren Uebelſtänden giebt doch das
großſtädtiſche Leben gewiſſe Bürgſchaften für geſunde Ent¬
wickelung, wie ſie ſonſt nicht zu finden ſind. Die Bewegung
derſelben iſt das beſte Mittel gegen jede Einſeitigkeit; ſie duldet
nicht, daß gewiſſe Stimmungen dauernd vorherrſchen oder krank¬
hafte Verſtimmungen chroniſch werden. Sie bringt Menſchen
aller Stände zuſammen, ſie leitet den Einzelnen immer vom
beſonderen Fache zu den allgemeinen Intereſſen des Vaterlan¬
des und der Menſchheit zurück; ſie befreit von Vorurtheilen,
ſie läßt Kleines und Großes im richtigen Verhältniſſe auf¬
faſſen. Gewiß weiß man nirgends mehr als bei den Deut¬
ſchen die in jeder anderen Zunge unausſprechliche Gemüth¬
lichkeit zu ſchätzen, deren ſich die kleineren Städte vorzugsweiſe
rühmen. Um ſo unbefangener iſt daher das Urtheil, welches
die Sprache fällt, indem ſie mit dem Worte »kleinſtädtiſch«
einen ſehr beſtimmten Tadel ausſpricht, dem entgegengeſetzten
Worte aber keine Nebenbedeutung anhängt.
Großſtädte ſind die Plätze, wo nicht nur die nationale
Bildung Abrundung und Vollendung erhält, ſondern auch die
Uebergänge zu neuen Bildungsformen ſich vorbereiten, wo ge¬
ſchichtliche Mächte ſich zuerſt als ſolche offenbaren und welt¬
bewegende Ideen zum Durchbruche kommen. Während die
Athener unter Demoſthenes' Leitung ihr Blut hingaben für die
Größe von Athen, hatte ſich hier ſchon eine durchaus andere
Anſchauung Bahn gemacht, welcher die Macht der einzelnen
Stadt gleichgültig war gegen die Ausbreitung der dort ge¬
[379]Große und kleine Städte.reiſten Cultur, die Idee des Hellenismus. In den Gro߬
ſtädten aber, welche dieſe Idee in das Leben gerufen hat,
zeigte ſich wiederum zuerſt, daß die Ausbreitung griechiſcher
Bildung einen höheren Endzweck habe, als die Verherrlichung
des Griechenthums; ſie wurden inmitten der Landſchaft, welche
im Schatten des Heidenthums verharrte, die Urorte der chriſt¬
lichen Welt, und die Prachtſtadt am Orontes war es, wo eine
Chriſtengemeinde zuerſt ſo anſehnlich wurde, daß man ihre
Anhänger wie ein beſonderes Volk anzuſehen und zu benen¬
nen anfing.
Im Alterthum herrſcht eine Art von Selbſtaufopferung
der Völker. Sie gehen unter, nachdem ſie dasjenige hervor¬
gebracht haben, was, als ihr beſſeres Theil, Gemeingut der
Menſchheit werden ſoll, ihr Recht, ihre Kunſt oder Wiſſen¬
ſchaft. In der neuen Welt iſt kein ſolcher Gegenſatz zwiſchen
nationaler und menſchlicher Bildung. Wir können alſo den
großen Aufgaben, welche uns obliegen, um ſo freudiger ins
Auge ſchauen, und je mehr wir aus der Geſchichte lernen,
welche Bedeutung für nationale Einigung, für nationale Bil¬
dung und für wichtige Fortſchritte menſchlicher Cultur die
Großſtädte haben, um ſo höher werden wir von dem, was
wir zu leiſten haben, denken. Nicht als wollten wir einen
Rang vor Anderen in Anſpruch nehmen; unſer Vorrecht ſoll
kein anderes ſein, als daß wir unter größeren Schwierigkeiten
und auf einem ausgeſetzteren Poſten das Banner der Wiſſen¬
ſchaft zu halten haben. Hier iſt nicht, wie in eigentlichen Uni¬
verſitätsſtädten, Alles zum Vortheile des Gelehrten und ſeinen
Lebensbedürfniſſen entſprechend eingerichtet; vielmehr muß er
unter mancherlei Ungunſt ſeinen Zielen treu zu bleiben und
die Uebelſtände einer Großſtadt durch weiſe Oekonomie der
Kräfte auszugleichen ſuchen. Aber mit den Schwierigkeiten
wächſt die Lebenskunſt, mit dem Widerſtande die Kraft. Wir
fühlen, daß den Geſchäften des Tages gegenüber, welche Aller
Gedanken in Anſpruch nehmen, die zeitloſen und idealen In¬
tereſſen um ſo energiſcher vertreten werden müſſen. Je lauter
und verwirrender die Gegenwart, um ſo unentbehrlicher iſt
[380]Große und kleine Städte. der Blick auf das Alterthum und ſeine ſtille Größe; je zer¬
ſtreuender das äußere Leben, um ſo nothwendiger die Vertie¬
fung des Geiſtes in ſich und das Forſchen nach den letzten
Gründen. Wo alle Kräfte in voller Anſpannung wirken, da
muß auch die Wiſſenſchaft ihre ganze Macht entfalten, nicht
nur prüfend und ſichtend, ſondern auch bauend und geſtaltend;
Irrthum bekämpfend und den Verſtand ſchärfend, aber auch
den Geiſt erhebend, das Gemüth erwärmend, den ganzen
Menſchen ergreifend, damit allem Tande der Welt das wahr¬
haft Werthvolle, dem Prunke das Einfache, dem Zufälligen
das in ſich Nothwendige, dem Flüchtigen und Vergänglichen
das Ewige in voller Berechtigung gegenübertrete.
Und wie trotz aller Unruhe des Lebens hier gearbeitet
und geſchaffen werden könne, davon zeugt der Ruhm eines
Alexander von Humboldt, welcher die ganze Fülle des über
die Natur der Dinge Erforſchten in ihrem kosmiſchen Zuſam¬
menhange umfaßte, der die Fäden aller bedeutenden Forſchun¬
gen und Unterſuchungen in dieſer Stadt und in ſeiner Hand
zu vereinigen ſuchte; davon der Ruhm der Männer, welche
hier der Forſchung neue Bahnen öffneten. Nicht gehemmt,
ſondern gefördert durch die große Stadt, haben ſie auch die
Wiſſenſchaft in großem Stile behandelt und vom Staube der
Gelehrtenſtube frei gemacht. Sie haben ihren Arbeiten das
reine Gepräge klaſſiſcher Würde zu geben gewußt, wie Savigny;
ſie haben mit einem durch umfaſſende Lebenskenntniß geſchärf¬
ten Blicke das Dunkel entlegener Zeiten erhellt, wie Böckh;
und ein Mann wie Schleiermacher — wer kann ihn ſich an¬
ders denken als inmitten einer von allen Culturintereſſen be¬
wegten Hauptſtadt?
Die Entwickelung menſchlicher Cultur zeigt ſich vornehm¬
lich darin, daß Gegenſätze, welche früher unvermittelt waren,
überwunden werden; auf Ueberwindung derſelben und ihrer
ſtörenden Einflüſſe beruht der Fortſchritt zur Freiheit, in
welchem wir, ſo Gott will, ſtetig begriffen ſind.
Wenn die Deutſchen einſt vor der Stadt als dem Grabe
ihrer Unabhängigkeit und Volksſitte ein Grauen hatten, ſo
[381]Große und kleine Städte.ſind ſpäter die Städte gerade die Plätze geweſen, wo der
ſchwere Bann des Feudalismus gebrochen, wo die bürgerliche
Freiheit wie die der Gewiſſen errungen und dem deutſchen
Volksgeiſte ſeine Unabhängigkeit wieder gegeben iſt.
In Deutſchland wie in Griechenland ſind es die Städte
geweſen, in welchen die edelſten Güter des Volks erworben
worden ſind. Vor dem einſeitigen Stadtleben aber, an dem
die Griechen zu Grunde gegangen ſind, behütet uns die Liebe
zu Wald und Flur, welche wir von unſern Altvordern ererbt
haben. In Griechenland haben ſich die Bürgerſchaften einzelner
Städte mit einer Staunen erregenden Energie zu Mächten
der Geſchichte, ja der Weltgeſchichte erhoben, aber es fehlte
die ſichere Grundlage; je übermäßiger die Anſtrengung, um ſo
vollſtändiger die Erſchlaffung, um ſo aufzehrender die fieber¬
hafte Aufregung, welche den Mangel an Kraft erſetzen ſollte.
Athen behielt immer einen familienhaften Charakter und iſt
nie zur Großſtadt ausgewachſen.
In Italien wiederum wurde alles geſchichtliche Leben,
das in Gauen und Städten ſo fröhlich blühte, durch die auf¬
ſaugende Macht einer Stadt getödtet. Es entſtand eine öde
Monotonie, wie ſie bei uns unmöglich iſt. Denn der deutſche
Freiheitsſinn hat ſich keine Metropole, weder diesſeit noch
jenſeit der Alpen, gefallen laſſen und wird eine unglückſelige
Centraliſation der geiſtigen Intereſſen nie über ſich ergehn
laſſen. Darin alſo treffen unſere germaniſchen, wie unſere
helleniſchen Sympathien zuſammen, daß wir, wenn auch die
Vergrößerung der Hauptſtädte unaufhaltſam fortſchreitet, den
Einfluß derſelben auf das richtige Maß zu bringen und zu¬
nächſt für uns ſelbſt die Vortheile des großſtädtiſchen Lebens
wohl zu verwerthen ſuchen, ohne den Gefahren deſſelben zu
erliegen.
Das Leben einer bewegten Hauptſtadt iſt nicht gemacht,
die Schwächen zu pflegen, wie ſie jeder Stand, ſo auch der
des Gelehrten zu haben pflegt. Es verzieht und verwöhnt
ihn nicht; es verlangt eine ſtete Selbſtverläugnung, denn auf
dem großen Tummelplatze menſchlicher Kräfte kann auch der
[382]Große und kleine Städte.Begabteſte ſich nur als eine unſcheinbar wirkende Kraft und
ſeine Leiſtung als einen Tropfen im Meere anſehen. Aber
dadurch fühlen wir unſer Streben nicht entwerthet, ſondern
geadelt, und was in dieſem Streben ſich zu einander gefunden
und mit einander verbunden hat, wird um ſo feſter zuſammen¬
halten, weil es im Gedränge des Lebens geſchloſſener Reihen
bedarf, um ſolchen Richtungen, welche der Strömung der
großen Welt nicht folgen, freie Bahn zu machen. Dann wird
von dem, was der Schmuck kleinerer Univerſitäten zu ſein
pflegt, das wahrhaft Werthvolle auch uns nicht entgehen; die
Freundſchaft wird den weiten Kreis mit traulichen Beziehungen
durchdringen und dem großſtädtiſchen Leben die wohlthuende
Wärme geben, welche zu einem wahren Menſchenleben unent¬
behrlich iſt.
Wir Deutſche ſind vor Allen dazu berufen, die Vergangen¬
heit zu ergründen, aber das Vergangene nicht nachzuahmen,
ſondern Höheres zu erſtreben. Auch ein Athen kann und ſoll
keine einzelne Stadt des Vaterlandes werden, aber wir können
erreichen, was die Athener nie erreicht haben, namentlich Eines,
daß unſere Wiſſenſchaft nicht den Bürger dem Staate entfremde,
wie es die Wiſſenſchaft zur Zeit Platon's that und dadurch
den Staat untergraben half, in deſſen Schutz ſie groß gewor¬
den war. Unſere Univerſität iſt ſchon durch ihre Lage darauf
hingewieſen, daß ſie ein unentbehrliches Glied iſt in der Reihe
der Anſtalten, auf denen das Heil des Staats beruht, und
je weniger es hier engere Kreiſe ſind, welche unſere Intereſſen
umgränzen, um ſo völliger ſchließen wir uns an das Große
und Ganze, um ſo lebendiger fühlen wir, was das Vaterland
von uns erwartet.
Und ſo kehren wir zu dem Anfange und Anlaſſe unſerer
Rede zurück, zu dem Gedanken, welcher uns heute hebt und
erwärmt, daß nämlich unſere Univerſität vor allen anderen
berufen iſt, das Geburtsfeſt des Königs mit freudigem Danke
zu begehen und daß ſie ſtolz darauf iſt, bei dem großen Lebens¬
werke, zu welchem unſer König von Gott berufen iſt, der
fortſchreitenden Einigung der deutſchen Stämme, dem Werke,
[383]Große und kleine Städte. durch welches die deutſche Geſchichte vor dem Ausgange der
griechiſchen bewahrt wird, an ihrem Theile mitwirken zu dürfen.
Schmeichelnde Lobpreiſung iſt nicht im Sinne preußiſcher
Könige, am wenigſten in dem König Wilhelm’s. Denn die
Geſchichte wird viel von Ihm zu ſagen haben, aber nichts
Schöneres als dies, daß ſie keinen Fürſten kenne, welcher den
vollen Lorber des Siegers mit anſpruchsloſerem Sinne erworben
und getragen, keinen, der ſo, von allen perſönlichen Rückſichten
frei, nur die Sache des Vaterlandes im Auge gehabt habe.
Uns geziemt es wohl, dieſe menſchliche Seite an unſerm Lan¬
desherrn beſonders hervorzuheben und uns der ſittlichen Weihe
zu freuen, welche dadurch Seiner Regierung zu Theil wird.
Denn darin liegt auch eine Gewähr dauernden Segens und
eine Bürgſchaft bleibender Erfolge für das Vaterland.
Appendix A
Weimar. — Hof-Buchdruckerei.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Alterthum und Gegenwart. Alterthum und Gegenwart. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bk06.0