Eine Ausſchweifung.
Verlag der J. G. Cotta'ſchen Buchhandlung
Nachfolger.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart.
Fenitſchka.
[][]Es war im September, der ſtillſten Zeit des Pa¬
riſer Lebens. Die vornehme Welt ſteckte in den See¬
bädern, die Fremden wurden ſcharenweiſe von der drücken¬
den Hitze vertrieben. Trotzdem drängte ſich an den
ſchwülen Abenden auf den Boulevards eine ſo vielköpfige
Menge, daß ſie der Hochſaiſon jeder andern Stadt im¬
mer noch genügt hätte.
Max Werner flanierte nach Mitternacht über den
Boulevard St. Michel, als er in eine kleine Geſellſchaft
ihm bekannter Familien hineingeriet. Sie hatten mit
durchreiſenden Freunden ein Theater beſucht, und wollten
nun dieſen Herren und Damen ein wenig „Paris bei
Nacht“ zeigen, — nämlich erſt in einem charakteriſtiſchen
Nachtcafé des Quartier latin einkehren, und dann, im
Morgengrauen, um die Stunde, wo die Stadt ſchläft,
den intereſſanten Trubel bei den Hallen betrachten, wenn
der verödete Platz ſich mit den Marktleuten belebt, die
ihre Waren vom Lande einfahren und ſie ausbreiten.
Nach einigem Zögern und Schwanken von ſeiten der
Damen entſchied man ſich für das Café Darcourt, das
um dieſe Stunde ſchon überfüllt war mit den Griſetten
und Studenten des Quartiers, und beſetzte ein paar der
[8]— 8 —kleinen Marmortiſche draußen, die auf dem Trottoir,
mitten unter den Paſſanten, an den weitgeöffneten, hell¬
erleuchteten Fenſtern entlang ſtanden.
Max Werner kam neben eine junge Ruſſin zu ſitzen,
die er zum erſtenmal ſah, — ihren langklingenden Namen
überhörte er bei der Vorſtellung, doch wurde ſie von den
anderen einfach als „Fenia“ oder „Fenitſchka“ angeredet.
In ihrem ſchwarzen nonnenhaften Kleidchen, das faſt
drollig unpariſeriſch ihre mittelgroße ganz unauffällige
Geſtalt umſchloß, und eine beliebte Tracht vieler Züricher
Studentinnen ſein ſollte, machte ſie zunächſt auf ihn kei¬
nerlei beſonderen Eindruck. Er muſterte ſie nur näher,
weil ihn im Grunde alle Frauen ein wenig intereſſierten,
wenn nicht den Mann, dann mindeſtens den Menſchen
in ihm, der ſeit einem Jahre doktoriert hatte, und nun
ein brennendes Verlangen beſaß, in der Welt der Wirk¬
lichkeit praktiſch Pſychologie zu lernen, ehe er von einem
Katheder herab welche las: was ihm einſtweilen noch keine
begehrenswerte Zukunft ſchien.
An Fenia fielen ihm nur die intelligenten braunen
Augen auf, die jeden Gegenſtand eigentümlich ſeelen-offen
und klar — und jeden Menſchen wie einen Gegenſtand
— anſchauten, ſowie der ſlaviſche Schnitt des Geſichtes
mit der kurzen Naſe: einer von Max Werners Lieblings¬
naſen, die da vernünftigen Platz zum Kuſſe laſſen, —
was eine Naſe doch gewiß thun ſoll.
Aber dieſes gradezu blaß gearbeitete, von Geiſtes¬
anſtrengungen zeugende Geſicht forderte ſo gar nicht zum
Küſſen auf.
Anfangs ſprachen ſie kaum miteinander, denn im
[9]— 9 —Innern des Lokals, neben demſelben Fenſter, an deſſen
Außenſeite ſie ſaßen, ſpielte ſich eine erregte Scene ab,
die aller Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Dort befanden
ſich zwei Pärchen am Tiſch, die ihre Unterhaltung mit
Scherzreden und Neckereien begannen, und damit endeten,
ſich fürchterlich zu zanken.
Das eine der beiden Mädchen — wenig ſchön und
am Verblühen, aber trotzdem ein unverwüſtlich graziöſes
Pariſer Köpfchen — wurde ſchließlich vom Gegenpaar
mit einer Flut häßlicher Schmähreden überſchüttet, ohne
daß ihr eigner Begleiter ihr auch nur im mindeſten bei¬
geſtanden hätte. Vielmehr ſtimmte er bei jedem erneuten
Angriff johlend in das brutale Gelächter der beiden an¬
dern ein, das ſich bald auch auf die benachbarten Tiſche
fortpflanzte, wo neben den erhitzten halbbezechten Män¬
nern die geputzten Genoſſinnen des mißhandelten Ge¬
ſchöpfs mit lärmender Schadenfreude ihre Konkurrentin
niederjubelten.
Durch die ſchwere, dumpfe, vom Tabaksrauch und
vom Dunſt der Menſchen, Gasflammen und Getränke
erfüllte Luft des Lokals ſchallten die rohen Stimmen
laut bis zu dem Tiſch draußen hinüber, an dem es ganz
ſtill geworden war. Auf den Geſichtern der Damen
prägten ſich deutlich Mitleid, Ekel, Entrüſtung und eine
gewiſſe Verlegenheit darüber aus, einer ſolchen Situation
beizuwohnen; eine von ihnen knüpfte furchtſam ihren
Schleier feſter. Niemand aber war ſo benommen von
dem, was er ſah, wie Fenia.
Sie hatte von allem Anfang an mit ſachlichem
Intereſſe um ſich geblickt, jede Einzelheit, die ihr auf¬
[10]— 10 —fiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber
wurde ſie ganz ſichtlich von einer ſo intenſiven Anteilnahme
erfüllt, daß ſie zuletzt, — offenbar ganz unwillkürlich, wie
außer ſtande länger paſſiv zu verharren, — ſich langſam
erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausſtreckte,
als müſſe ſie eingreifen oder Halt gebieten. Im ſelben
Augenblick ward ſie ſich ihrer ſpontanen Bewegung bewußt,
hielt ſich zurück, und errötete ſtark, wodurch ſie plötzlich
ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos ausſah.
Während ſie aber ſo daſtand, traf ihr Blick den der
Griſette, die in ihrer Ratloſigkeit und Verlaſſenheit an¬
gefangen hatte zu weinen, ſo daß große Thränen ihr
über die heißen geſchminkten Wangen rollten, und ihre
Lippen ſich konvulſiviſch verzogen. Unter dem langen,
eigentümlichen Blick, den ſie mit Fenia austauſchte, ver¬
änderte ſich der Ausdruck des weinenden Geſichts; von
Fenias Augen ſchien eine Hilfe, eine Liebkoſung, eine
Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Einſamkeit dieſes
getretenen Geſchöpfes aufhob. Man konnte vom Tiſch
aus deutlich den Stimmungswechſel auf ihren Zügen ver¬
folgen, denn ſie ſaß faſt grade gegenüber am Fenſter.
Ein Danken, Staunen, Nachſinnen, — ein momen¬
tanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und
deren Schmähreden ließ ihre Thränen verſiegen, und
ſie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr
ſich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter ſeinen
ſchäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob.
Da ſtieß er ſie brutal mit dem Ellenbogen an und
forderte ſie auf, ſich zu beeilen.
Sie ſchüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte
[11]— 11 —im Pariſer Argot, die man draußen nicht deutlich ver¬
nehmen konnte, die aber eine äußerſt deutliche Gebärde
der Geringſchätzung und Ablehnung begleitete. Er machte
eine verdutzte Miene und rief dadurch neues Gelächter her¬
vor. Diesmal jedoch galt es ihm, dem Geprellten, der
mit wütendem Geſicht das Lokal verließ.
Das Mädchen nahm ihr fadenſcheiniges Seiden¬
mäntelchen von der Stuhllehne, hing es um, und ſchaute
dabei mit einem ſtolzen und leuchtenden Blick zu Fenia
hinüber, die unbeweglich ſtehn geblieben war, — eine
ganz wunderlich ernſte, ergriffene Geſtalt inmitten der
verſchleierten Damen und der buntgekleideten, lachenden
Dämchen um uns her.
Gleich darauf ſah man ihren Schützling aus der
Thür treten und am Tiſch vorüberkommen. Aber da
geſchah etwas allen ganz Unerwartetes: denn neben Fenia
blieb das Mädel ſtehn, öffnete die Lippen, wie um ſie an¬
zuſprechen, und plötzlich, mit einer impulſiven Bewegung,
deren Natürlichkeit eine mit ſich fortreißende Anmut be¬
ſaß, ſtreckte ſie Fenia beide Hände entgegen.
Dieſe ergriff die dargebotenen Hände und ſchüttelte
ſie mit herzhaftem Druck. Einige Augenblicke lang ſtan¬
den ſie da und lächelten einander an wie Schweſtern,
während alle verblüfft, intereſſiert, amüſiert um die
beiden herum ſaßen. Dann entfernte ſich das Mädchen mit
einer Kopfneigung gegen die andern und verſchwand im
vorüberhaſtenden Menſchenſtrom.
Man lachte über das kleine Drama, man ſcherzte
über Fenias „Erfolg“ und neckte ſie nicht wenig. Sie
ſelbſt war ſehr einſilbig geworden.
Eine der Damen mißverſtand ihren ernſthaften Ge¬
ſichtsausdruck und bemerkte:
„Ja, chérie, eine ziemlich unerbetene und unbequeme
Freundſchaft! Sie könnte Ihnen eines ſchönen Tages
recht peinlich werden, wenn dies Weſen Sie irgendwo
auf der Straße wiederfindet und Sie auf das intimſte
begrüßt, — zur Ueberraſchung derer, die vielleicht mit
Ihnen gehen.“
„Das brauchen Sie nicht zu fürchten,“ widerſprach
Max Werner raſch, „ich wette darauf, daß dieſes Mäd¬
chen ohne merkbaren Gruß an Ihnen vorübergehen wird,
falls es Ihnen je begegnet. Anderswo würden Sie
vielleicht von ihrer Dankbarkeit verfolgt werden, — die
Franzöſin würde es für eine ſchlechte Dankbarkeit halten,
Sie eventuell dadurch zu kompromittieren. Das iſt der
franzöſiſche Takt, — der Takt einer alten Kultur, die
allmählich bis in alle Schichten eines Volkes durch¬
dringt und ihm ſeine faſt inſtinktive Intelligenz giebt.“
„Ich würde ſie aber gern wiederſehen!“ ſagte Fenia
leiſe.
„Um was zu thun?“
„Ich weiß es nicht. Aber was mich vorhin ſo ent¬
ſetzte, das war das Gefühl, als ob dieſe Mädchen gleich¬
mäßig ſowohl von den Männern wie von den Genoſ¬
ſinnen preisgegeben würden, — als ob ſie gradezu wie
in Feindesland lebten. — Ich habe noch nie ſo viel höh¬
niſche Verachtung geſehen, wie in den Mienen der Män¬
ner, — ſo viel höhniſche Schadenfreude wie in den Blicken
der andern Mädchen. — Und das iſt hier im Lokal,
wo ſie ſozuſagen bei ſich iſt, unter den Ihrigen. — Außer¬
[13]— 13 —halb nun erſt! — O ich denke mir, ein ſolches armes
Ding muß nach einer freundlichen, einfach menſchlichen
Berührung lechzen.“
„Das iſt richtig. Manchmal ſind ſie ſehr dankbar
dafür. Ich hab es mitunter auch ſchon beſtätigt ge¬
funden.“
„Sie?“ Fenia heftete voll Intereſſe ihre hellbraunen
Augen auf ihn. Sie war ganz und gar bei der Sache.
„Warum nicht ich?“
„Weil ich mir vorſtelle, daß ſolche Mädchen einem
jeden Mann mit Mißtrauen begegnen, — müſſen ſie
nicht annehmen, er wolle von ihnen etwas ganz andres
als ihr Vertrauen?“
„Donnerwetter!“ dachte er und ſah ſich Fenia ge¬
nauer an. Dieſer Grad von Unbefangenheit, womit
ſie über ſo heikle Dinge mit einem ihr ganz fremden
Manne ſprach, hier, in Paris, in der Nacht, in dieſem
Café, — und dabei ein Ausdruck in ihren Mienen, als
unterhielten ſie ſich über fremdländiſche Käfer.
Waren Griſetten, junge Männer, Nachtcafés und
Liebesabenteuer ihr wirklich dermaßen fremdländiſche
Käfer?
„Dieſe Annahme würde ihr Vertrauen dem Manne
gegenüber vermutlich gar nicht beeinträchtigen,“ entgegnete
er inzwiſchen Fenia auf ihre Frage, „denn daß er neben
ſeiner menſchlichen Anteilnahme vielleicht auch von ihnen
als — als Frauen etwas empfangen will, das halten
ſie für ganz natürlich. Das Gegenteil würde wohl gar
ihre Eitelkeit kränken und keinesfalls ihr Selbſtbewußt¬
ſein heben.“
Er blickte bei ſeinen Worten um ſich, ob der kleinen
Geſellſchaft, die längſt zu andern Geſprächsſtoffen über¬
gegangen war, die Unterhaltung vernehmbar ſei, und
beugte ſich näher zu Fenia, um mit gedämpfterer Stimme
fortfahren zu können.
„Es iſt auch gar nicht ſo verwunderlich, wie es
Ihnen vielleicht ſcheint,“ bemerkte er, „denn Sie dürfen
nicht vergeſſen, daß es ſich dabei nur um eine dieſen
Weſen ganz geläufige Verkehrsform handelt, — um eine
ſo gewohnte und geläufige, daß ſie in ihr unwillkürlich
alles und jedes zum Ausdruck bringen, auch Seelen¬
regungen der Freundſchaft, Dankbarkeit oder Sympathie,
die in die ſinnliche Aeußerungsform nicht genau hinein¬
paſſen. Es iſt eben ihre Art von Sprache geworden.“
Auch die vertrauliche Nähe, in der er das zu Fenia
ſagte, und ſie gleichſam mit ſich iſolierte, ſtörte ſie augen¬
ſcheinlich nicht; ſie ſenkte den Kopf und ſchien nach¬
zudenken.
Nach einer kurzen Pauſe fragte ſie lebhaft:
„Sie meinen alſo, auch dieſe Mädchen hegen oft
rein kameradſchaftliche Geſinnungen Männern gegenüber
und äußern ſie nur — nur — ſozuſagen nur falſch?
Das kann ich mir ſchwer vorſtellen. Denn wenn es auch
die ihnen gewohnteſte Sprache iſt, worin ſie alles und
jedes ausdrücken, — alle Menſchen haben doch verſchie¬
dene Bezeichnungen für total verſchiedene Dinge.“
„Glauben Sie? Ich meinerſeits glaube viel eher,
daß auch in unſern Ständen ſich eine ganz ähnliche Be¬
obachtung machen läßt. Unſre Mädchen und Frauen
werden ſo daran gewöhnt, mit den Männern ihrer Um¬
[15]— 15 —gebung eine rein konventionelle, ganz unſinnliche Verkehrs¬
form zu üben, daß ſie in dieſer Sprache auch das noch
ausdrücken, was ganz und gar nicht ſo abſtrakt gemeint
iſt. Wie manches Mädchen meint mit einem Mann
nichts als Geiſtesintereſſen und Seelenfreundſchaft zu tei¬
len, während ſie, — oft unbewußt, — nichts andres
begehrt als ſeine Liebe, ſeinen Beſitz. — Für eine kleine
Griſette iſt die menſchliche Anteilnahme eines Mannes
das bei weitem ſeltenere, gewiſſermaßen ausgeſchloſſene,
— für die Dame unſrer Geſellſchaft iſt es die rückſichts¬
loſe Auslebung des Weibes.“
Kaum hatte er dieſe Tirade vorgebracht, als unglück¬
licherweiſe die Geſellſchaft aufbrach. Mitten im Stühle¬
rücken und Durcheinanderreden faßte eine von den Da¬
men Fenia unter den Arm und ſchnitt ihm ihre Ant¬
wort ab. Es kam nicht mehr über ein höchſt unin¬
tereſſantes Geſchwätz aller mit allen hinaus.
Dennoch flanierte er neben ihnen her durch die
nächtlichen Straßen, machte im „Chien qui fume“ das
unvermeidliche Nachteſſen von Zwiebelſuppe und Auſtern
mit, und beſchaute ſich mit den andern in der Früh¬
dämmerung durch die breiten Spiegelfenſter des Reſtaurants
das großartig maleriſche Bild der Wareneinfuhr in die
Hallen. Dabei erfuhr er von einem ruſſiſchen Jour¬
naliſten, der Fenias Eltern gekannt hatte, wenigſtens
etwas vom äußern Umriß ihres Lebens. Von Geburt
war ſie Moskowitin, begleitete aber ſchon früh ihren er¬
krankten Vater, einen ehemaligen Militärarzt, nach Süd¬
deutſchland und der Schweiz, wo ſie ihre Univerſitäts¬
ſtudien begann, — und nach ſeinem Tode mit Hilfe von
[16]— 16 —mühſamem Nebenerwerb, Stundengeben und Ueberſetzungen
aller Art hartnäckig fortſetzte. In Zürich ſchien ſie mit
lauter ihr befreundeten Männern zuſammen zu ſtudieren,
— einer von ihnen hatte ſie in den Herbſtferien auch
hierher, nach Paris, begleitet, war dann aber nach Ru߬
land abgereiſt.
Kam daher dieſer merkwürdig ſchweſterliche, geſchlechts¬
loſe Anſtrich, den ſie ſich gab, als gäbe es für ſie auf
der Welt nur lauter Brüder? Oder war es nicht viel
wahrſcheinlicher, daß dies unendlich unbefangene Betragen
nur den äußeren Deckmantel abgab für ein ganz freies
Leben? Sie mußte doch ſchon recht viel von der Welt
und den Menſchen kennen, — mehr als eines der wohl¬
behüteten jungen Mädchen unſrer Kreiſe.
Immer wieder ſchweiften ſeine Augen und ſeine Ge¬
danken zu ihr hinüber, von der er argwöhnte, ſie
halte ſich eine höchſt kluge und gelungene Maske vor.
Steckte nicht hinter dieſem Nonnenkleidchen, das unter
den andern Toiletten faſt auffiel, etwas recht Leicht¬
geſchürztes, — hinter dieſem offenen, durchgeiſtigten Ge¬
ſicht nicht etwas Sinnenheißes, worüber ſich nur ein Tölpel
täuſchen ließ? — Spielte nur ſeine eigne Phantaſie
ihm einen Streich, oder erinnerte Fenia nicht an die
Magerkeit, Geiſtigkeit und ſtiliſierte Einfachheit einer
modern präraphaelitiſchen Geſtalt, die ſo keuſch aus¬
ſchauen will, und doch geheimnisvoll umblüht wird von
verräteriſch farbenheißen, ſeltſam berauſchenden Blu¬
men — —?
Jedenfalls ging etwas Aufregendes von Fenia über
ihn aus und reizte ihn ſtark, trotz der Abneigung, die
[17]— 17 —ihm damals jede ſtudierende oder gelehrte Frau ein¬
zuflößen pflegte. Ja, er nahm's faſt als Beweis, daß
Fenia nur zum Schein eine ſolche ſei —.
Beim Verlaſſen des Reſtaurants wurde noch der Vor¬
ſchlag laut, die lange Nachtſchwärmerei mit einer Fahrt
ins Bois de Boulogne abzuſchließen, aber ein vielſtim¬
miges Gähnen proteſtierte dagegen. Uebrigens ließ
ſich auch an keiner Straßenecke ein Fiaker blicken. End¬
lich entſchloß man ſich, zu Fuß den Heimweg anzutreten,
jeder Herr begleitete eine der Damen nach Hauſe, und
Max Werner gelang es, Fenia auf ſeinen Anteil zu be¬
kommen.
Schon drang die Sonne durch den Morgennebel
und übergoß Paris mit jenem köſtlichen Frührotſchein,
den die feuchte Luft über den Ufern der Seine erzeugt.
„Das iſt ganz herrlich!“ rief Fenia und blieb mitten
auf der Straße ſtehn, ſetzte aber ſogleich ſehr proſaiſch
hinzu:
„Wenn ich jetzt eine Taſſe ſtarken Kaffee bekommen
könnte! Dann brauchte ich mich zu Hauſe nicht erſt
niederzulegen, und der Tag wäre nicht verloren.“
„Sie ſehen nicht müde aus, ſondern ganz wunder¬
bar klaräugig,“ bemerkte er und ſah ſie an, „es wird
Ihnen offenbar leicht, eine Nacht nicht auszuruhen.“
Sie nickte.
„Ich bin's gewöhnt,“ ſagte ſie, „ich habe vorzugs¬
weiſe nachts bei den Büchern geſeſſen. Wenn's um einen
her ſo ſtill iſt —“
„Das klingt doch wirklich rein wahnſinnig, wenn
man ein junges Mädchen ſo etwas ſagen hört,“ er¬
Lou Andreas-Salomé, Fenitſchka. 2[18]— 18 —widerte er faſt gereizt, denn es mißfiel ihm heftig, „ich,
ſo wie ich hier ſtehe, bin eben erſt der Bücherſtudiererei
entlaufen wie dem ärgſten aller Frondienſte. Und Sie
— ein Weib — ſpannen ſich freiwillig hinein.“
„Warum ſoll denn das ein Frondienſt ſein?“ ſie
blickte erſtaunt auf — „das, was unſern Geſichtskreis
erweitert, uns das Leben aufſchließt, uns ſelbſtändig
macht —? Nein, wenn irgend was in der Welt einer
Befreiung gleicht, ſo iſt es das Geiſtesſtudium.“
„Sie iſt imſtande und benutzt dieſen Heimweg, —
mitten auf der Straße, im Morgennebel, — zu einem
philoſophiſchen Disput über den Wert des Geiſtes¬
ſtudiums für das Leben!“ dachte er faſt erbittert, und
entgegnete im Bruſtton ſeiner feſteſten Ueberzeugung:
„Aber, mein Fräulein! da irren Sie ſich nun wirk¬
lich! Es iſt im Gegenteil das Beſchränkendſte, Ein¬
ſchränkendſte, was es auf der Welt giebt! Und eigent¬
lich verſteht ſich das ja von ſelbſt. Die Wiſſenſchaft
führt an der Wirklichkeit des Lebens, mit all ſeinen
Farben, all ſeiner Fülle, ſeiner widerſpruchsvollen Man¬
nigfaltigkeit, völlig vorbei, — ſie erhaſcht von alledem
nur eine ganz blaſſe, dünne Silhouette. Je reiner, je
ſtrenger und ſicherer ihre Erkenntnismethoden ſind, deſto
bewußter und größer dann auch ihr Verzicht auf das
volle, das wirkliche Erfaſſen ſelbſt des kleinſten Lebens¬
ſtückchens. — — Deshalb iſt der Wiſſenſchafter, der ihr
dient, an ſo viel Selbſtkaſteiung gebunden, an ſo viel
bloße Schreibtiſchexiſtenz und geiſtige Bleichſucht.“
Während er redete, überlegte er ſich zugleich, daß
der Weg bis zu Fenias Hotel ſehr kurz ſei, und machte
[19]— 19 —deshalb auf alle Fälle einen Umweg, obwohl der Him¬
mel ſich bezog. Sie bemerkte auch gar nichts davon,
weder von der Himmelstrübung noch vom Umweg.
„Für uns Frauen, — für uns, die wir erſt ſeit ſo
kurzem ſtudieren dürfen, iſt es durchaus nicht ſo, wie Sie
da ſagen,“ widerſprach ſie, ganz eingenommen von ihrer
Sache; „für uns bedeutet es keine Askeſe und keine
Schreibtiſchexiſtenz. Wie ſollte das auch möglich ſein!
Wir treten ja damit nun grade mitten in den Kampf
hinein, — um unſre Freiheit, um unſre Rechte, —
mitten hinein in das Leben! Wer von uns ſich dem
Studium hingiebt, thut es nicht nur mit dem Kopf,
mit der Intelligenz, ſondern mit dem ganzen Willen,
dem ganzen Menſchen! Er erobert nicht nur Wiſſen,
ſondern ein Stück Leben voll von Gemütsbewegungen.
Was Sie von der Wiſſenſchaft ſagen, klingt ſo, als ſei
ſie nur noch die geeignetſte Beſchäftigung für Greiſe, für
abgelebte Menſchen. Aber vielleicht ſeid nur ihr greiſen¬
haft. Bei uns begeiſtert ſie die Starken, die Jungen,
die Friſchen!“
„Ja, wiſſen Sie denn, was das beweiſen würde,
wenn es wirklich ſo iſt?“ fragte er ärgerlich, und ſtu¬
dierte dabei mit verliebtem Wohlgefallen den Anſatz des
braunen Haares an ihren Schläfen, der eine reizende
kleine Linie bildete; „es beweiſt einfach, daß Ihr Ge¬
ſchlecht zurück iſt, daß es da lebt, wo wir vor Jahrhun¬
derten ſtanden. Etwa da, wo wir für jede wiſſenſchaft¬
liche Erkenntnis auf den Scheiterhaufen gerieten, oder
mindeſtens in öffentlichen Verruf. Damals hatte aller¬
dings das Leben für die Wiſſenſchaft noch etwas ver¬
[20]— 20 —dammt Charakterſtählendes und zog die ganze Exiſtenz
eines Menſchen in die abſtrakteſten Erkenntnisfragen
hinein. Aber ſolange das ſo iſt, iſt auch die feinſte
geiſtige Kultur noch nicht möglich, — die Kultur von
heute, die über den Dingen ſchwebt, — und von der
die Frauen nichts wiſſen, wenn ſie ſtudieren.“
„Aber wenn ſie nicht ſtudieren?“ fragte ſie ſpottend.
„Jawohl. Dann bekommen ſie durch den Mann
eine Ahnung davon.“
„Bitte, — wo ſind wir?“ unterbrach mich Fenia,
und blieb ſtehn.
„Werden Sie nicht böſe! Im Eifer des Gefechts
ſind wir von der kürzeſten Heimwegslinie abgewichen.
— — Aber ich wußte wohl: hier muß ſchon ein kleines
Lokal offen ſein, wo Sie Kaffee bekommen können,“
fügte er ſchnell hinzu und führte ſie ein paar Schritt
weiter, — „ich konnte nicht vergeſſen, daß Sie ſo ſchmerz¬
lich nach Kaffee verlangten.“
Das kleine Café, vor dem ſie ſtanden, wurde aller¬
dings grade geöffnet. Aber auf ſo frühe Beſucher war
es noch keineswegs eingerichtet. Der Beſen, der drinnen
über die Dielen fuhr, fegte ihnen mächtige Staubwolken
entgegen, und die Stühle ſtanden noch friedlich auf die
Tiſche geſtülpt da, wie während der Nachtzeit.
„Ich glaube, es iſt noch weit nach meinem Hotel,“
meinte Fenia bedenklich, — „iſt nicht jetzt ein Fiaker —“
„Nach Ihrem Hotel iſt es freilich ein wenig weit,“
fiel er ihr ſchnell in die Rede, „aber wenn Sie — — —,
ich kann es gar nicht ertragen, daß Sie um den er¬
ſehnten Kaffee kommen. Sie müſſen jetzt ja noch viel
[21]— 21 —durſtiger ſein. Ich weiß einen Ort, wo Sie ſelbſt um
dieſe frühe Stunde ganz vorzüglichen bekommen.“
„Wo denn? Ganz nah?“
„Ganz nah. Keine zehn Häuſer weit. Denn wir ſind
hier zwar etwas entfernt von Ihrem Hotel, aber deſto
näher bei dem meinen. Und meine Hotelwirte ſind auf
die merkwürdigſten Kaffeeſtunden eingerichtet. Gehen wir
hin. Ich laſſe dann von dort einen Fiaker beſorgen.“
„Bei mir wird, glaub ich, der Speiſeſaal nicht ſo
früh aufgemacht,“ meinte Fenia etwas verwundert, „aber
wenn es ſo iſt — gehen wir meinetwegen.“
Ihre einfache Bereitwilligkeit irritierte ihn beinahe.
Die mit ihr durchwachte Nacht hatte ſeine verliebte Neu¬
gier bis zu nervöſer Erregung aufgereizt. Wie, wenn er
ſie gar nicht in den allgemeinen Speiſeſaal führte? konnte
ſie denn das wiſſen? Höchſt wahrſcheinlich war dieſer
wirklich noch nicht auf. Aber ſeine eignen Zimmer
lagen daneben.
Eine Art von ſtiller Wut kam in ihn, ſeine Unklar¬
heit über dieſes Mädchen quälte ihn. War es wohl mög¬
lich, daß ſie einem wildfremden jungen Menſchen ſo weit
entgegenkam, ſich ihm ſo arglos anvertraute, wenn das
alles nicht bloßes Raffinement war? Lachte ſie etwa
im ſtillen über ihn? Oder von welchem fernen Stern
war ſie auf das Pariſer Pflaſter gefallen?
Ach, er war noch ſehr jung damals! Die Weiber
taxierte er ganz beſonders deshalb noch ziemlich falſch,
weil er Angſt hatte, für einen leichtgläubigen Dummkopf
gehalten zu werden. Und was die ſtudierenden Frauen an¬
betraf, gegen die er eine ſolche Abneigung beſaß, ſo mußte
[22]— 22 —er ſich geſtehen, daß er ſie eigentlich noch nicht kannte,
denn die Frauen ſeiner intimeren Bekanntſchaft gehörten
ganz und gar nicht zu dieſer Raſſe.
Er führte Fenia in das Hotel garni, wo er
wohnte, ließ ſie einige Stufen hinaufſteigen und öff¬
nete im breiten Korridor die Thür zu einem Zimmer
neben dem Speiſeſaal.
Es war nicht ſein Zimmer, ſondern eine momentan
unbeſetzte große, helle Hinterſtube mit Saloneinrichtung,
die er zu benutzen pflegte, wenn bei ihm aufgeräumt
wurde. Als ſie eintraten, kratzte jedoch nebenan ſein
kleiner weißer Spitz, den er einer alten Straßenver¬
käuferin abgehandelt hatte, aufgeregt über die lang er¬
wartete Rückkunft ſeines Herrn, unter leiſem Gewinſel
an der Thür. Max Werner ließ ihn herein, und er
ſchoß unter freudigſtem Wedeln und Bellen auf Fenia
und ihn zu, als gehörten ſie zuſammen.
Fenia war zaudernd ſtehn geblieben, nicht recht be¬
greifend, wo ſie ſich hier befand. Sie bückte ſich un¬
willkürlich zu dem Hund nieder, der ſich indeſſen zwiſchen
ihnen hingeſetzt hatte und ſie befriedigt anſah, richtete
ſich aber ebenſo raſch wieder auf und wollte etwas ſagen,
als ihr Blick Max Werners Geſicht traf.
Er hatte ſie ohne irgend eine klare Abſicht hier
hereingeführt. Wie ſie jedoch nun wirklich daſtand, in
dieſem Zimmer, in dieſer völligen Abgeſchloſſenheit mit
ihm allein, in dieſem ſchlafenden Hotel, auf deſſen Gängen
es noch ſo totenſtill war, daß man hinter den halb¬
geſchloſſenen Fenſterjalouſien das vergnügte Zwitſchern
eines Spatzen im Hofe hörte, — da, — ja, als Fenia
[23]— 23 —da aufſchaute, ſah ſie ihn zitternd vor Erregung über
ſie geneigt, ganz nahe über ihrem Geſicht, und im Begriff,
ſie mit beiden Armen zu umfaſſen.
Sie ſchrie nicht auf. Sie zuckte nur zurück, bückte
ſich ſchnell, um den Schirm aufzunehmen, der ihr bei
der Begrüßung des Hundes entglitten war, und wandte
ſich zur Thür.
„Wie ſchade!“ ſagte ſie dabei.
Es entfuhr ihr faſt bedauernd, zugleich im Ton
außerordentlichen Erſtaunens.
Er ſtand einen Augenblick verdutzt da.
Dann ſchwoll eine plötzliche Raſerei in ihm auf, —
ein blinder wütender Drang, ihr nur ja nicht den Willen
zu thun, und ohne noch ſelbſt recht zu wiſſen, was er
eigentlich damit bezweckte, ſtürzte er an ihr vorbei zur
Thür, riß den Schlüſſel heraus, drehte ihn von innen
im Schloß herum und ſteckte ihn darauf in ſeine Taſche.
Fenia war wie eine Salzſäule ſtehn geblieben. Sie
war furchtbar erblaßt. Ihre Blicke irrten durch das
Zimmer, durch das Fenſter in den Hof, wo der Spatz
ſchrie, und blieben dann am hellen Klingelknopf der
elektriſchen Glocke haften.
Aber konnte ſie den Garçon herbeiläuten und ſich
von ihm zu dieſer Stunde in dieſer Stube mit dem
Fremden finden laſſen? — Und in den Hof hinunter¬
ſpringen konnte ſie ja doch auch nicht. —
Sie richtete ihre Augen, tief erſchrocken, groß und
fragend, auf ihn, grade als frage ſie ihn danach, was
nun zu thun ſei. Einen Augenblick lang war etwas Hilf¬
loſes und Hilfeheiſchendes über ihrer ganzen Geſtalt, wie
[24]— 24 —über einem im Wald verirrten Kind. — Aber nur einen
Augenblick. Dann ſiegte ein andres Gefühl. Ihr Blick
lief an ihm hinab, und ihre Lippen wölbten ſich in einem
unausſprechlich beredten Ausdruck des Ekels, — der Ver¬
achtung —.
Seine Hand fuhr, ohne daß er es ihr im geringſten
anbefohlen hätte, in ſeine Taſche und zog, ohne ſich um
den Lümmel zu kümmern, der dumm, rot und wie ein
Schulknabe daſtand, den Schlüſſel heraus. Als aber die
Hand Fenia den Schlüſſel reichte, begleitete er dieſe un¬
freiwillige Gebärde mit einem Gemurmel:
„Ich — vorhin, als ich die Thür zuſperrte, da
mißverſtanden Sie mich, — ich wollte doch nicht etwa,
— nein, überhaupt nichts, — ich wollte ja nur, daß
Sie nicht in dieſer Stimmung fortgehen ſollten, — nicht
aufgebracht und zornig gegen mich.“
Die ſeltſame Logik dieſer Worte ſchien ihr nicht
einzuleuchten. Ihr Geſicht trug noch immer denſelben
Ausdruck, der es faſt verzerrte, — als ſäße ihr eine
Raupe am Halſe und kröche langſam weiter.
Sie ergriff den Schlüſſel und ging ſehr ſchnell, ohne
ein Wort, aus der Thür.
Er hinterdrein. Hinter ihm der Spitz.
Einen Hut hatte er nicht aufgeſetzt, ſie wäre ihm
entwiſcht, während er ihn vom Tiſch holte. Und er fühlte
ſich gänzlich unfähig, ſie ſo gehen zu laſſen, — auf im¬
mer, — ohne ein Wort, — lieber wollte er ihr nach¬
laufen, — ja das wollte er, — wie ein verliebter Pudel,
— verliebt in dieſem Augenblick zum Närriſchwerden. —
Ganz nah am Hotel ſtanden ein paar Droſchken.
[25]— 25 —Die ledernen Verdecke waren herabgelaſſen, ein feiner
Regen fing an, vom Himmel niederzurieſeln. Im ein¬
förmig grauen Morgenlicht haſteten ein paar Zeitungs¬
verkäufer, ein verſchlafener Bäckerjunge vorüber. Die
Straße entlang klapperte ein Gemüſekarren.
Ehe es Fenia noch gelang, den Kutſcher auf ſeinem
Bock wachzurufen und in den Fiaker einzuſteigen, waren
ſie ſchon zur Stelle, Max Werner und der Spitz, letz¬
terer in höchſter Aufregung dazwiſchen bellend.
„Hören Sie mich an!“ ſagte er atemlos zu Fenia
und half ihr unter das Verdeck zu gelangen, „hören Sie
mich an! ſehen Sie mich an! Nein, — ſehen Sie mich
nicht an,“ verbeſſerte er ſich, ſeines verwirrten Aus¬
ſehens, ſeines hutloſen Kopfes gedenkend, — „aber Sie
ſehen ja, daß ich über meine eigne, wahnſinnige Dumm¬
heit außer mir bin! Sagen Sie mir, daß Sie mir ver¬
zeihen, — ſagen Sie mir ein Wort, — gehen Sie nicht
ſo, — ich meine: fahren Sie nicht ſo.“
Er wußte durchaus nicht mehr, was er eigentlich
ſagte.
Der Kutſcher war ſchwerfällig vom Bock geklettert,
hatte ſeinem Pferde den Futtereimer abgehängt, nahm
dem Tier die Schutzdecke vom Rücken und faltete ſie be¬
dächtig.
Fenia ſchaute indeſſen unter dem Schirmdach des
Verdeckes hervor, in ſich zuſammengeſchmiegt wie eine
weiche Katze, und ſah Max Werner ganz groß und
ernſt an.
„Verzeihen?“ wiederholte ſie, — „ich will Ihnen
noch mehr ſagen: da iſt gar nichts zu verzeihen. Denn
[26]— 26 —ich bin ebenſo dumm geweſen wie Sie, indem ich Ihnen
folgte, ohne Sie und Ihren Speiſeſaal auch nur ein bi߬
chen zu kennen. Ja, das war ſehr dumm, und ſo ſind
wir quitt, denn Sie ſind auch nur ſo dumm geweſen,
weil Sie mich nicht kannten. — Wir haben beide die¬
ſelbe Entſchuldigung dafür, daß wir es nicht beſſer wu߬
ten. — Denn obgleich ich ſo viel unter Männern ge¬
weſen bin, ſehen Sie, ſo hat es ſich für mich immer ſo
glücklich getroffen, daß es immer die anſtändigſten Män¬
ner von der Welt waren. Ja wahrhaftig. Sie ſind
der erſte unanſtändige — Mann, den ich —“
Sie brach ab, wie ſelbſt erſchrocken über das belei¬
digende Wort, womit ihre lange Rede abſchloß. Der
Kutſcher war auf den Bock geſtiegen, der Gaul zog an,
und Fenia drückte ſich errötend ins Dunkel des Verdecks,
während der Fiaker mit ihr davonraſſelte.
Max Werner ſtand auf dem Straßendamm und fuhr
mechaniſch, mit düſterm Geſicht, nach ſeinem Kopf, um
den Hut zu lüften, — der nicht darauf ſaß.
[]
In den darauffolgenden Tagen drängte es ihn ſehr,
Fenia aufzuſuchen oder ihr zu ſchreiben, doch zauderte er
immer wieder und unterließ es. Erſt nach längerer Zeit,
als er ſchon mit einigem Humor an ſeine Eſelei zurück¬
dachte, that er es trotzdem; aber da war Fenia, —
Fiona Iwanowna Betjagin hieß ſie, — bereits wieder
nach Zürich abgereiſt.
Indeſſen ſchien es des Schickſals Wille, daß ſie ſich
wiederfinden ſollten, als ſie beide längſt nicht mehr dran
dachten.
Ein Jahr ging hin. Max Werner verbrachte es,
nach ſeiner Rückkehr aus Paris, in der öſterreichiſchen
Heimat, wo ihn ſeit einiger Zeit etwas Liebes feſthielt
und ſeine Reiſeluſt merklich abſchwächte. Da erhielt er
eines Tages einen Brief ſeiner einzigen Schweſter, die ſich
den letzten Monat bei einer nach Rußland verheirateten
Freundin auf deren Gut aufgehalten hatte: ſie zeigte ihm
ihre Verlobung mit einem in der Nähe von Smolensk
begüterten Landedelmann an, und ſandte ihm zugleich
einen ſchönen Gruß von Fiona Iwanowna Betjagin, —
einer Verwandten ihres zukünftigen Mannes, die im
Auslande ſtudiert und kürzlich promoviert habe.
Tief im Winter, Mitte Januar, reiſte Max Werner
[28]— 28 —zur Hochzeit ſeiner Schweſter in die ruſſiſche Provinz.
Dort, auf dem Gut von deren Freunden, wo eine Un¬
menge fremder Gäſte untergebracht waren, ſah er mitten
im Trubel der feſtlichen Vorbereitungen Fenia wieder.
Als er ſie zuerſt erblickte, hätte er ſie faſt nicht
wiedererkannt, obgleich er nicht hätte ſagen können, worin
die überraſchende Veränderung gegen den Pariſer Eindruck
liegen mochte.
Fenia ſaß in läſſiger Haltung zwiſchen einigen Be¬
kannten, ihre rechte Hand in träger Gebärde mit der
Innenfläche nach oben gekehrt im Schoß, und ſeltſam
feſtlich und feierlich im leuchtenden Weiß ihres ſeidenen
Kleides. Während ſie heiter lachte und ſprach, ſah ſie
doch zerſtreut aus, als verträumten ſich ihre Gedanken
ganz wo anders hin.
Ihre Geſtalt ſchien voller herangeblüht zu ſein, in
allen ihren Bewegungen lag etwas Weiches, Abgerun¬
detes, was ſie nicht beſeſſen hatte, und was ihr eine har¬
moniſche Schönheit gab. Fenia war ſchöner geworden,
als zu erwarten ſtand.
Ja, ſchöner, — doch den beunruhigenden Reiz von
damals übte ſie nicht mehr auf Max Werner aus, —
das Widerſpruchsvolle, Geheimnisvolle, was ihn damals
an der fremden Studentin anzog und abſtieß, ſchien von
ihr abgeſtreift zu ſein, ſeitdem das Weib, das er ſo un¬
ruhig in ihr geſucht hatte, in ihrem Aeußeren voller
hervorgetreten war.
Das fühlte er trotz der herzlichen Freude, womit
er ſich von Fenia bewillkommnet ſah. Sie begrüßte in
ihm ſogleich den neuen Verwandten, und beide lachten
[29]— 29 —ſie miteinander über ihren gemeinſamen verblichenen Pa¬
riſer „Liebesroman“, der gar ſo kurz geweſen.
Bei der Hochzeitstafel ſetzte Fenia ihn neben ſich,
und ſie tranken, zugleich mit vielen andern Paaren, ſo¬
gar Brüderſchaft, an der jedoch nie ordentlich feſtgehalten
wurde, Max Werner fiel der große Ernſt auf, womit
Fenia ihm alle Einzelheiten und deren Bedeutung wäh¬
rend der griechiſch-katholiſchen Trauung, die der prote¬
ſtantiſchen folgte, zu erklären bemüht war. Ihn in¬
tereſſierten wohl die verſchiedenen Zeremonien, die er da
ſah, doch konnte er eine etwas ketzeriſche Bemerkung
über ihre Ueberflüſſigkeit nicht unterdrücken.
„Ueberflüſſig?!“ ſagte Fenia erſtaunt, fügte jedoch
ſchnell hinzu: „nun freilich, für einen Fremden, der's
mitmachen muß. Für mich iſt es gradezu köſtlich, ſo
unterzutauchen in Weihrauchduft und Geſang und Kind¬
heitserinnerungen. Ich bin ja ſo viele Jahre fortgeweſen.
— — Und jetzt erſt fühle ich mich wieder zu Hauſe, wo
all dies Altvertraute wieder um mich iſt. — — Ru߬
land hat auch darin den großen Vorzug vor andern
Ländern, daß man ganz ſicher iſt, alles auf dem alten Fleck
wieder vorzufinden. Da iſt kein Haſten von Fortſchritt
zu Fortſchritt, — es iſt alles jahraus, jahrein dasſelbe.“
Ueber dies vaterländiſche Kompliment mußte Max
Werner lachen.
„Auch ein Grund, ſeine Heimat zu verehren!“ be¬
merkte er heiter, „aber in dieſem beſondern Fall —
denken Sie — denkſt du — doch auch nicht mehr wie
einſt als Kind. Dieſe langen Trauungszeremonien ſind
ihres tieferen Sinnes ja doch entkleidet.“
Fenia ſchüttelte den Kopf.
„Durchaus nicht! im Gegenteil! Streift man die
äußere Form ab, was iſt der tiefere Sinn? Er lautet
etwa: da ſind zwei Menſchen, die ſich zuſammenthun wol¬
len für immer, — vermutlich weil ſie ſich lieben, —
aber nicht nur zum Zweck ihrer perſönlichen Verliebtheit,
ſondern zu einer gemeinſamen Aufgabe, — ſozuſagen
im Dienſt eines Höheren, Dritten, worin ſie ſich erſt
unlöslich verbinden. Sonſt iſt die ganze Unlöslichkeit
zwecklos. Nein, ſie wollen darin über das nur Perſön¬
liche, rein Gefühlsmäßige hinaus, — ob ſie es nun
Gott nennen, oder Heiligkeit der Familie, oder Ewig¬
keit des Ehebündniſſes, — das gilt dafür gleich. — —
In jedem Fall iſt es etwas andres, — auch etwas
durchaus Anderwertiges, als nur Liebe zwiſchen den Ge¬
ſchlechtern.“
„Mein Gott, Fenia Iwanowna!“ ſagte Max Werner
ganz konſterniert, „Sie können einem wahrhaftig das
ganze Heiraten verleiden! Mir läuft förmlich eine Gänſe¬
haut über den Rücken. Zum Glück irren Sie ſich.
Unlöslich iſt die Geſchichte wenigſtens nicht. Es giebt
ja doch Ausſicht auf Scheidung —“
Fenia zuckte die Achſeln.
„Mag ſein — bei euch. Da drückt eben die Form
den Inhalt nicht mehr voll aus. Hat alſo auch die ihr
zukommende Schönheit und Feierlichkeit nicht mehr. Da
kann ich mir ganz gut denken, daß ihr vielleicht leicht¬
ſinniger drauf los heiratet. — — Wir aber, — — ehe
wir es thun, werfen wir uns auf die Kniee — ganz ſo,
als ob wir das Entgegengeſetzte thun und auf Lebens¬
[31]— 31 —zeit unſre perſönlichen Genußrechte in einem Kloſter auf¬
geben wollten.“
Es war Max Werner noch ebenſo angenehm und
anregend wie früher, mit Fenia zu disputieren, wenn
ihre Meinungen auch ebenſo aufeinanderſtießen wie da¬
mals in Paris. Aber wie in ihrem Aeußeren erſchien
Fenia ihm auch in ihren Meinungen jetzt weit frauen¬
hafter als früher, und vielleicht bewirkte es grade dieſer
Umſtand, daß ſie ſich in der kurzen Woche faſt unaus¬
geſetzten Zuſammenſeins ſchließlich eng befreundeten.
Die einfache Schweſterlichkeit ihrer Umgangsformen,
die er damals mit ſo argwöhniſchen Augen angeſehen
hatte, wurde ihm hier im fremden Lande unendlich ſym¬
pathiſch, und ſehr bald erkannte er auch im Schlichten,
arglos Vertrauenden des Benehmens einen ſpezifiſch ſla¬
viſchen Zug der Mädchen und Frauen. Fenia unter¬
ſchied ſich von den andern nur wenig, — am wenigſten
durch den Umſtand, daß ſie ein ſo langes Studienleben
geführt hatte. Der Ausdruck ihres Naturweſens war viel
ſtärker als irgend etwas Angelerntes.
Endlich kam es ſogar dazu, daß Max Werner Fenia
den größten Vertrauensbeweis gab, indem er ihr andeu¬
tete, was ihn jetzt ſo ganz an ſeine Heimat feſſelte und
ihn dahin zurückzog. Sie erfuhr, daß er ſeit Jahres¬
friſt heimlich verlobt ſei.
Er geſtand es ihr während einer großen Schlitten¬
partie, die alle Gutsgäſte gemeinſam bei prachtvollem
Winterwetter in die verſchneite waldreiche Umgebung
unternahmen. Fenia und ihr deutſcher Freund kamen
zuſammen in eine der niedrigen zweiſitzigen „Salaski“
[32]— 32 —zu ſitzen, die beim hellen Schellengeklingel der flinken
kleinen Pferde pfeilſchnell über die hartgefrorene Schnee¬
fläche dahinſauſten.
Auf Max Werners Geſtändnis bemerkte Fenia mit
lebhaftein Intereſſe:
„Eine wirklich ganz ‚heimliche‘ Liebe? Ich meine
ſo, daß wirklich niemand, ſelbſt die Nächſten nicht, etwas
davon ahnt? Das muß ja ſehr ſchwer durchzuführen
ſein.“
„Das iſt es auch. Doppelt ſchwer, weil Irmgard
eine Norddeutſche iſt und das Leben nichts weniger als
leicht nimmt. Jede Heimlichkeit jagt ihr hinterher tage¬
langes Entſetzen ein. Kleiner norddeutſcher Adel, der
in alten, feſten Familientraditionen groß geworden iſt.“
„Wie ſind Sie denn miteinander bekannt gewor¬
den?“ fragte Fenia, „denn Sie, mein Lieber, machen
doch umgekehrt einen leichtlebigen Eindruck auf uns junge
Mädchen.“
„Bitte, bitte! Ich bin nicht immer wie in Paris.
Für Irmgard war ich anfangs eine Art Ausweg und
Rettung aus der etwas engen geiſtigen Atmoſphäre ihres
Hauſes. Damit fing es an.“
„Und deshalb hält Ihre Braut Sie für einen Tu¬
gendbold?“ fragte Fenia ſpottend.
„O nein! Sie hält mich im Gegenteil für viel
ſchlimmer, als ich bin. Das iſt meiſtens ſo. Aber das
ſchreckt ſie nicht ab. Sie liebt wie eine Königin, die
gewählt, ohne zu verlangen. Das iſt die trotzigſte Art von
Mädchenſtolz.“
„Doch nur eine Maskerade für lauter übergroße
[33]— 33 —Demut,“ fiel Fenia lebhaft ein, „— ach, wie deutſch
iſt das! Aber da bringt ſie Ihnen doch lauter Opfer.
Leiden Sie denn nicht darunter?“
Max Werner machte unter ſeiner geliehenen Pelz¬
kappe ein verlegenes und pfiffiges Geſicht.
„— Leider nein!“ bemerkte er kleinlaut. „In dieſer
Selbſtüberwindung und ſtolzen Demut liegt etwas, was
unſereinen entzückt. Es ſteigert die gegenſeitige Liebe,
glaub ich —.“
Fenia ſchwieg einige Minuten. Irgend ein Gedanke
ſchien ſie zu beſchäftigen. Dann äußerte ſie plötzlich:
„Und trotzdem, — trotz all dieſen ſchwierigen Um¬
ſtänden, — will ſie Sie noch nicht heiraten?“
Max Werner ſah ſo verblüfft aus, daß Fenia zu
lachen anfing.
„— Nicht heiraten —? ja, wie denn? Das iſt ja
nur — — eigentlich bin ich ja doch nicht recht in der
Lage dazu,“ entgegnete er, noch immer ganz verdutzt von
dieſer unerwarteten Auffaſſung, „— ſie würde natür¬
lich gern ſo bald als möglich —. Ich habe meinen ſehr
kleinen Vermögensanteil früher ſchon ſo ſehr zu Reiſen
und Studienzwecken angegriffen, daß ich erſt eine Pro¬
feſſur haben müßte.“
Fenia verfiel in Nachdenken. Sie ſaß mit geſenktem
Geſicht, als horche ſie aufmerkſam auf das Schellen¬
geklingel der Schlittenpferde. Aber es mußten liebe und
angenehme Betrachtungen ſein, die ſie hegte, denn ſie
ſaß ſo glücklich in ſich zuſammengeſunken da, und auf
ihrem von der Kälte rotgehauchten Geſicht blieb ein
Lächeln ſtehn —.
Nach den letzten Hochzeitsfeierlichkeiten reiſte Max
Werner zuſammen mit Fenia nach St. Petersburg,
wo er ſich noch etwas umſehen wollte, ehe er nach
Deutſchland zurückging. Fenia mietete ſich in einer
maison meublée des Rewſkij Proſpekts ein, um ſich in
Ruhe für ihre künftige Lehrthätigkeit vorzubereiten. Ihn
führte ſie gleich bei ihren einzigen Petersburger Verwand¬
ten ein, ins Haus ihres Onkels, des Mannes einer verſtor¬
benen Schweſter ihrer Mutter, weil man dort deutſch
ſprach und deutſche Intereſſen pflegte. Der Onkel war von
baltiſchem Adel, Admiral in ruſſiſchem Dienſt und unter¬
hielt mit ſeinen drei Töchtern die gaſtfreieſte Geſelligkeit.
Den größten Teil der erſten Tage ſeines Aufent¬
halts widmete Max jedoch eingehenden Beſichtigungen
der Hauptſtadt. Einmal, nachdem er ſo lange in den
Kunſtſälen der Eremitage verweilt hatte, als das ſpär¬
liche Winterlicht irgend zuließ, verlangte es ihn nach
einem ausgiebigen Spaziergang, und ſo ging er noch den
ganzen Newskij Proſpekt hinunter, von dem man ge¬
wöhnlich nur eine gewiſſe Strecke, zwiſchen der Admira¬
lität und dem Moſkauer Bahnhof, zu ſehen bekommt.
Hinter dem Moſkauer Bahnhof iſt es nicht mehr der
Newskij der vornehmen Nachmittagspromenade. Die
breite ſchnurgerade Straße mit ihrer Einfaſſung von
Kirchen und Paläſten macht eine ſcharfe Wendung und
verändert plötzlich ganz ihren Charakter. Anſtatt der
eleganten Spiegelſcheiben der großen Magazine trifft
man gewöhnliche Warenbuden und billige Bazare, deren
niedrige Arkaden am Trottoir entlang laufen; anſtatt
der europäiſchen Hotels, Wirtshäuſer zweiten und dritten
[35]— 35 —Ranges und Schnapskeller mit grellen Plakaten über
der Thür. Immer weniger herrſchaftliche Schlitten ſau¬
ſen über den feſtgeſtampften bläulichen Schnee, immer
volkstümlicher werden die Trachten der vorübergehenden
Menſchen, — bis endlich von ferne, im blitzenden Schein,
den die Winterſonne den goldenen Kuppeln entlockt, —
das Alexander-Newskijkloſter herüberſchimmert.
Schon eine ganze Strecke vor dem Kloſter wird die
Straße beinahe dörflich und erhält einen ſozuſagen geiſt¬
lichen Anſtrich. Weißbeworfene Gebäude mit goldenen
Kreuzen oder goldener Strahlenform über dem Thor,
Wohlthätigkeitsanſtalten, Kapellchen, fromme Aſyle er¬
heben ſich zwiſchen den kleinen, niedrigen, demütigen
Wohnhäuſern, die auch nur noch weiße Kleidchen an¬
zulegen wagen. Und darüber ragt die gewaltige wei߬
goldene Himmelsſtadt mit ihren Kloſtermauern, Kuppeln
und Kirchen gegen den blaßblauen Winterhimmel empor,
— umhaucht vom Weihrauch, der aus ihren Heilig¬
tümern dringt, umſtanden von geweihten Buden, wo
Betperlen, Räucherkerzen und Kränze verkauft werden,
umklungen von Glocken und Chorälen, — das Ganze
eine unbeſchreibliche Symphonie von Weiß und Gold in¬
mitten dieſer weißen Schneelandſchaft unter den letzten
goldenen Sonnenſtrahlen.
Und dahinter der weite, weite Kloſtergarten im tiefen
Winterfrieden.
Max Werner wollte grade in den Garten eintreten,
als er zu ſeiner Ueberraſchung Fenia darin erblickte; ſie
ſtand dicht am Eingang, an das goldblitzende Staket ge¬
lehnt, und wendete ihm den Rücken zu.
„Fenia Iwanowna, gehen Sie ins Kloſter?“ ſagte
er ihr über die Schulter.
Sie wandte ſich verwundert, nicht erſchrocken, um,
und entgegnete aus der Pforte tretend:
„Ich habe mir das Kloſter angeſehen — — Und nun
geh ich zu meinem Onkel, — jour fixe, Sie wiſſen ja!
Ich ſpeiſe dort. Haben Sie nichts Beſonderes vor? Dann
kommen Sie doch mit, Sie ſind ja ein für allemal zur
Familientafel geladen.“
„Ich will es ſehr gern thun, Fenia, ſchon um Sie
zu begleiten. Wollen wir bei dieſem ſanft ſibiriſchen
Wetter die Promenade zu Fuß machen?“
Sie nickte, und indem ſie ihr Geſicht mit dem vor¬
gehaltenen Bibermuff vor dem ſcharfen Winde ſchützte,
ſchaute ſie ſich aufmerkſam nach allen Seiten um. Dann
ſchritt ſie eine Zeitlang einſilbig neben ihrem Begleiter her.
„Wie ſind Sie nur darauf verfallen, grade hierher
zu kommen,“ fragte ſie plötzlich, — „dieſen Teil des
Newskijs beſuchen ſo wenige. Man kann faſt ſicher ſein,
daß man —“
„Wäre es nicht viel berechtigter, wenn ich Sie
daſſelbe fragte?“ bemerkte er neckend, „ein Spaziergang
für eine junge Dame ohne Begleitung iſt das doch gar
nicht. Ich glaubte Sie in die tiefſten Studien ver¬
tieft, habe Sie zartfühlend nur deshalb nicht aufgeſucht,
— ich ſtelle Sie mir ja ſeit Paris immer noch wie be¬
ſeſſen von Fleiß vor, — und ſtatt deſſen bummeln Sie
hier herum.“
„Ja, bummeln iſt das richtige Wort,“ ſagte ſie in
zufriedenem Ton, — „wiſſen Sie, mit dem Fleiß iſt es
[37]— 37 —ganz vorbei. Ich lebe jetzt ja auch in einer ſolchen
Uebergangs- und Zwiſchenzeit, — nicht wahr? Bis zu
der mir verſprochenen Anſtellung. Und wie genieße ich
das! Wiſſen Sie, es war Zeit, nach dem langen Arbeits¬
fieber. Jetzt ſtrecke und recke ich mich, wie auf einem
rechten Faulbett, — ordentlich wie eine Rekonvaleszentin
fühl ich mich, — da lebt man ganz anders. — Paſ¬
ſiver, lauſchender, aufnehmender. — Man wacht nicht,
man ſchläft aber auch nicht. —“
„— Man träumt!“ ergänzte er aufs Geratewohl.
Fenia ſah mit einem raſchen Blick zu ihm auf. Dann
ſchwieg ſie.
„Eigentlich haben wir alſo die Rollen getauſcht,“
meinte er, „denn ich bin dieſes Jahr recht fleißig ge¬
weſen. — — Aber wie wird es Ihnen denn ſchmecken,
nach dieſer Zwiſchenzeit ein ſchwieriges Lehramt auszu¬
üben, — graut Ihnen nicht davor?“
Sie lachte.
„So weit hinaus kann ich im Augenblick nicht vor¬
wärts denken. — — Aber das wird recht ſchlimm ſein,
denn es iſt mir eigentlich ſtets ſehr anziehend geweſen.“
Darauf ſchwieg ſie wieder mit nachdenklichem Ge¬
ſicht, als beſchäftige ſie etwas Unausgeſprochenes. Sie
gelangten inzwiſchen auf den belebten Teil des Newskijs,
wo die ſie umdrängende Menſchenmenge, die ſie jeden Augen¬
blick trennte, ohnehin die Unterhaltung erſchwert hätte.
Hinter der Polizeibrücke ſank die Sonne. Lange
blaue Schatten liefen über den Schnee und ſchufen jene
nordiſche Winterdämmerung, in der man ſchon mitten
am Tage nichts mehr recht deutlich erkennt, und dennoch
[38]— 38 —fremdartig davon berührt wird, daß hier und da hinter
den Schaufenſtern die erſten Flammen aufzucken.
Das vorüberflutende Leben und Treiben auf der
glänzenden Hauptſtraße paßte ſich der Stimmung dieſer
Stunde wunderbar an, denn trotz all des Gewühles war
nichts Lautes, nichts Buntes, nichts Aufdringliches an
dem ganzen Bilde, ſondern eine gedämpfte und diskrete
Eleganz; das faſt lautloſe Durcheinanderjagen der Schlit¬
ten, das etwas beinah Geſpenſtiſches haben konnte, die
gleichförmige dunkle Kleidung der pelzvermummten
Damen, die langſam, ohne Haſt, faſt feierlich ſich
vorbeibewegten, die Totenſtille der breiten tief ver¬
ſchneiten Nebenſtraßen, in denen die Welt plötzlich auf¬
zuhören ſchien, gaben allem eine Art von verträumter
Poeſie, die vom lebensvollern und trivialern Lärm andrer
Großſtädte ſcharf abſtach. Selbſt die Ecken und harten
Umriſſe der Häuſer hatte der Froſt mit blitzenden Eis¬
kruſten abgeſtumpft und verwiſcht, und in der kalten,
kryſtallklaren Luft erſtarb jeder Ton, — Menſchenſtimme
oder Schlittenglöckchen, — ganz eigentümlich hell und
fein wie ferner Geſang.
Fenia war gegenüber der Kaſanſchen Kathedrale vor
einem hell erleuchteten Schaufenſter ſtehn geblieben. Sie
ſchlug den Schleier über ihre Pelzmütze zurück und be¬
trachtete die neuen Auslagen der Paſettiſchen Kunſthand¬
lung. Ganz vorn lagen die drei mittelmäßigen, aber
ſehr populären Illuſtrationen zu Lermontoffs „Dämon“:
die Verführung Tamaras durch den Dämon, ihre Hingabe
an ihn, ihr Tod durch ihn.
Fenia wies mit dem Muff darauf hin
[39]— 39 —
citierte ſie lächelnd und ging weiter.
„Was iſt das?“ fragte Max Werner.
„Improviſierte Ueberſetzung,“ entgegnete ſie, „ſo
ſpricht der böſe Dämon, nachdem er den Engel Tamaras
in die Flucht geſchlagen hat. — — Dieſe Bilder treffen
Sie hier in allen Häuſern, — Photographien, Gips¬
ſtatuetten. — Ich entſinne mich ihrer ſo gut aus meiner
Kindheit, auch wir beſaßen ſie zu Hauſe. Es iſt trau¬
lich, ſie wiederzuſehen.“
„Rechte Bilder für ein junges Mädchen,“ bemerkte
er, „haben Sie ſich nicht auch die Liebe ſehr dämoniſch
vorgeſtellt? Kampf mit dem Engel, — hölliſche Selig¬
keiten, — bengaliſche Beleuchtung, — Weltuntergang.“
Sie ſagte lachend:
„Ich? O nein. Ich ſtelle ſie mir ganz — aber ſo
ganz — anders vor.“
In den großen milchweißen Glaskuppeln hoch über
der Mitte des Straßendamms erſtrahlte urplötzlich das
elektriſche Licht und übergoß mit einemmal die dämmer¬
dunkle Straße mit ſeinem blendenden Mondſchein.
Als Fenias Geſicht in dieſer unerwarteten Helle
neben Max Werner auftauchte, erſchien es ihm, mit dem
kindfrohen Blick und lachenden Munde, durchaus ver¬
ſchieden vom nachdenklichen Frauengeſicht im Kloſter¬
garten bei den letzten Sonnenſtrahlen. Ihre Mienen
wechſelten im Ausdruck ſo ſehr, daß ſie faſt auch in der
[40]— 40 —Form zu wechſeln ſchienen; nur wie ein promovierter
Doktor ſah ſie niemals aus, eher wie alles andre.
„Ich wäre wirklich neugierig,“ bemerkte er, „wie
Sie ſich die Liebe denken würden, wenn Sie daraufhin
examiniert werden ſollten, anſtatt auf Philologie, Ge¬
ſchichte ꝛc.“
„Wie ich ſie mir denken würde? O ganz einfach.
So ganz einfach und geſund. Ich würde ſie dann ſicher
mit den Dingen vergleichen, die am allerwenigſten dä¬
moniſch und romantiſch ſind. Mit dem guten geſegneten
Brot, womit wir täglich unſern Hunger ſtillen, mit dem
friſchen erhaltenden Luftſtrom, dem wir jeden Tag unſre
Stube öffnen. Mit einem Wort: mit dem Wichtigſten,
Schönſten und Selbſtverſtändlichſten, dem wir alles ver¬
danken, und wovon wir am wenigſten Phraſen machen.“
„Das iſt gar nicht übel geſagt! — Aber doch wohl
noch etwas andres erwartet ihr davon: die große Sen¬
ſation des Lebens, — glauben Sie nicht? — vor allem
die Senſation.“
Sie ſchüttelte den Kopf.
„Ich nicht. Dann ginge ja das Koſtbarſte, was
man damit empfängt, verloren, denk ich mir.“
„Was iſt denn nach Ihrer Meinung das Koſtbarſte,
was die Liebe Euch geben kann?“ fragte er lächelnd.
Sie bog in die Admiralität ein und entzog ihm
damit den Blick auf ihr Geſicht.
„Frieden!“ ſagte ſie leiſe.
„Frieden!“ dachte er zweifelnd und folgte ihr in
das goldſtrotzende, weitläufige Gebäude, wo der Ad¬
miral Baron Michael Ravenius einen Seitenflügel be¬
[41]— 41 —wohnte. Irmgard würde ihm ſchwerlich eine ſolche Ant¬
wort gegeben haben, — ſind die ruſſiſchen Mädchen phleg¬
matiſcher, oder proſaiſcher? — fragte er ſich. Oder ſprach
Fenia nicht nur deshalb in dieſer Weiſe, weil ſie wie
ein Blinder von der Farbe ſprach? Möglicherweiſe hatte
ihr Temperament hier ſeinen blinden Fleck.
Oben im Empfangsſalon des Admirals war leider
noch der jour fixe im vollen Gange. Um die Geſell¬
ſchafterin und die beiden älteren Töchter herum ſaßen
noch etwa ein Dutzend blitzender Uniformen und dunkler
Damentoiletten und machten jene überaus angeregt er¬
ſcheinende und überaus langweilige und langweilende
Konverſation, wofür die konventionell abgeſchliffene
Eleganz der franzöſiſchen Sprache ſich ſo beſonders gut
eignet. Es war ganz amüſant, den tadelloſen Mecha¬
nismus dieſes Kommens, Sprechens und Fortgehens der
durcheinanderſummenden Menſchen zu beobachten, von
denen jeder etwa eine Viertelſtunde blieb, um dann
von der zweitjüngeren Tochter des Hauſes durch eine
Flucht von Sälen bis in das Vorzimmer geleitet zu wer¬
den, wo zwei Diener in Matroſenlivree ihn in Empfang
nahmen.
Etwa noch eine Stunde lang vollzog ſich das mit
der Regelmäßigkeit und Genauigkeit eines Uhrwerks.
Dann ging der letzte der Gäſte, und der Baron Rave¬
nius, ein hagerer alter Herr mit überariſtokratiſchen
Händen und Füßen und ſtark gelichtetem grauem Haar
und Bart, reichte ſeiner Nichte Fenia mit altmodiſcher
Galanterie den Arm, um ſie zur Mittagstafel zu führen,
wo er ſorgſam den Stuhl für ſie abrückte.
[42]— 42 —
Max Werner folgte mit der älteſten Tochter Nadeſchda,
— bereits verlobt mit einem Attaché der deutſchen Bot¬
ſchaft. Hinter ihnen die Geſellſchafterin mit den beiden
andern Mädchen, von denen die jüngſte noch zur Schule
ging, — und ganz zum Schluß die perſiſche Windhündin
des Barons, Ruſſalka, die, ſilberhaarig, lang, ſchmal und
vornehm, eine unverkennbare Aehnlichkeit mit ihrem
Herrn beſaß.
Während des Eſſens wartete man meiſtens auf die
Eröffnung der Unterhaltung durch den Hausherrn. Heute
ſprach er nach genoſſener Suppe wie folgt:
„Man redet immer viel davon, daß in der deut¬
ſchen — überhaupt in der ausländiſchen — Kolonie hier
der Klatſch zu Hauſe ſei. Es hat natürlich ſo eine
Kolonie, ſelbſt wenn ſie noch ſo groß iſt, im fremden
Lande leicht den Charakter einer Kleinſtadt, Man wird
leichter in böſen Leumund geraten, als anderswo. —
— Wie haſt du es zum Beiſpiel anderswo gefunden,
Fenia?“
„Darauf hab ich wirklich nur wenig geachtet, Onkel
Miſcha,“ antwortete Fenia, „es mag ſehr wohl der Fall
ſein, daß auch ich oft tüchtig verklatſcht worden bin,
weil ich mich abſolut nicht um den Schein kümmerte,
aber ich hatte immer einen genügenden Schutz an echten
Kameraden, die das nicht bis an meine Ohren heran¬
kommen ließen.“
„Exponiert genug haſt du dir freilich dein Leben
eingerichtet,“ bemerkte der Baron, „mir faſt unbegreif¬
lich ſorglos. Aber man muß dir nachſagen, daß du es
verſtanden haſt, vortrefflich ans Ziel zu kommen. Alle
[43]— 43 —Achtung davor, — und vor dem Ernſt, womit du
deine Jugend zugebracht haſt.“
Alle warteten mit einiger Spannung auf die Pointe
dieſes Geſprächs, denn wenn der Baron mit ſeiner würde¬
vollen Umſtändlichkeit ſo weit ausholte und ſich in aller¬
lei geographiſchen oder ſozialen Allgemeinbetrachtungen
erging, ſo beabſichtigte er meiſtens, etwas höchſt Spezielles
vorzubringen. Umſonſt hatte er ſicher nicht die Klatſch¬
ſucht der ausländiſchen Kolonien feſtgeſtellt und zugleich
ſeiner Achtung für Fenia vor ſeinen Töchtern ſo oſten¬
tativ Ausdruck gegeben.
Aber bei der Mittagstafel kam das „Spezielle“ nicht
mehr. Erſt als nach aufgehobener Tafel die beiden jün¬
gern Töchter mit der Geſellſchafterin fortgegangen waren,
und man in einem kleinen Wohngemach neben dem
Speiſeſaal bei einer Taſſe Kaffee Zigaretten rauchte,
wandte ſich der alte Baron plötzlich an Fenia mit den
Worten:
„Mein liebes Kind, du ſiehſt mich recht beunruhigt,
— ich ſchwankte wirklich, ob ich dir Mitteilung von der
Sache machen ſollte, — aber ich möchte doch die Ge¬
legenheit benutzen, wo Herr Werner zugegen iſt, —
vielleicht wird er Rat wiſſen.“
Fenia hatte ſich läſſig in einem Lehnſtuhl aus¬
geſtreckt und ſtemmte ihre Füße gegen den ſilberhaarigen
Rücken der Ruſſalka, die vor ihr lag und, die lange feine
Schnauze auf die Vorderpfoten gedrückt, leiſe wedelte.
„Aber was iſt denn nur los, Onkel Miſcha?“ fragte
Fenia neugierig.
„Sage mir, mein liebes Kind, beſitzeſt du Feinde?
[44]— 44 —Du weißt, es kann eine Ehre ſein, Feinde zu haben!
— — Kennſt du irgend jemand, der ein Intereſſe
daran hätte, dich zu verleumden?“
Sie ſchaute erſtaunt und lächelnd auf.
„Ich?! — — ſicher nicht. — Hat ſich ein
ſolcher Böſewicht gefunden?“
„Das wird ja ordentlich intereſſant,“ bemerkte Max
Werner und ſtand auf, „da könnte ich am Ende noch hier
für Fenia gegen irgend einen ſibiriſchen Drachen zu Felde
ziehen?“
Aber der Onkel teilte die heitere Stimmung nicht;
ſeine Miene blieb ſo feierlich und beſorgt wie zuvor.
„Ich bitte euch, es ernſt zu nehmen,“ ſagte er, beide
Hände auf den Lehnen ſeines Seſſels, — „laß jetzt das
Spiel mit der Hündin, Fenia! Es iſt eine ganz abſcheu¬
liche Verleumdung, worum es ſich handelt. Jemand
behauptet, dich geſehen zu haben, — zu ſehr vorgerückter
Nachtſtunde in einer entlegenen Straße, — zuſammen
mit einem Herrn.“
„Wer iſt es, der es behauptet?“ warf Fenia ein.
„Das eben möchte ich durchaus ermitteln: die erſte
Quelle des Klatſches,“ erwiderte der Onkel unruhig, „mir
iſt die Mitteilung vom ſchändlichen Gerücht durch einen
erprobten alten Freund des Hauſes zugegangen, der ſich
mit mir darüber aufregt.“
„Mein Gott! daß du das ſo ruhig nehmen kannſt!“
murmelte Nadeſchda, die neben Fenia ſaß, und langſam
ihren Kaffee ſchlürfte, „ich war ganz außer mir, wie ich
davon erfuhr. Wie ſchlecht iſt die Welt! Ich zerbrach
mir dermaßen den Kopf darüber, daß ich faſt meine
[45]— 45 —Migräne bekam. — — Bei dir wird es auch noch mor¬
gen nachkommen.“
„Ich zerbreche mir den Kopf nicht. Bis morgen
werf ich es weit — weit hinter mich!“ ſagte Fenia,
und ihr Geſicht leuchtete auf.
Max Werner blickte auf ſie.
Ihr Kopf lag an die Stuhllehne zurückgelehnt, die
Augenlider waren ſo tief geſenkt, daß ſie den Blick ganz
verdeckten. Aber ihre Lippen wölbten ſich ein wenig, —
ein wenig nur, doch ſo überzeugend beredt im Ausdruck,
als ſei ihnen ein Trank zu nah gekommen, vor dem es
ſie ekelte.
Urplötzlich erinnerte dieſer Ausdruck der vollen
roten Lippen Max Werner an etwas, — an das Er¬
lebnis im Hotelzimmer in Paris, — und durch dieſen
Umſtand umſtrahlte in dieſem Augenblick in ſeinen Augen
Fenia eine eiſige, unanzweifelbare Reinheit.
Wie oft mochte ſie in ihrem freien Studienleben im
Auslande Verachtung empfunden haben für die Menſchen,
deren billige Klugheit ihre Freiheit mißverſtand, und deren
weiſes Urteil auf den erſten beſten Schein hereinfiel!
„Vielleicht löſt ſich die Sache als ein unglückliches
Mißverſtändnis auf,“ meinte Max Werner. „Ließe es ſich
nicht feſtſtellen, wie die Dame gekleidet geweſen ſein ſoll?“
Der alte Ravenius blickte raſch auf.
„Jawohl! die Kleidung ſtimmt genau. Langer
Mantel, Fuchspelz, — Mütze, Muff und Kragen von
Biberfell.“
„Jawohl, es iſt recht ſchlimm!“ bemerkte Max Werner,
„in Paris oder Berlin oder Wien könnte der Anzug einer
[46]— 46 —Dame ſchon ein Erkennungszeichen abgeben. Aber hier?
Hier ſind die Damen auf das leichteſte einer Verwechs¬
lung ausgeſetzt. Denn ſie ſind alle gleichmäßig dunkel
vermummt, höchſtens drei, vier Pelzſorten variieren. Jede
Dame muß eigentlich darauf gefaßt ſein, ein paar Doppel¬
gängerinnen zu beſitzen.“
„Das iſt wirklich wahr!“ beſtätigte der Baron
ganz erfreut, „darauf vor allem müßte man hinweiſen!
Darauf gründet ſich vielleicht der Klatſch. — — Und
dann, denken Sie an die dichten Winterſchleier, die
man hier trägt! Und oft ſind es nicht einmal Schleier,
ſondern die feinen, weichen Orenburger Wollgewebe, die
unſre Damen wie ein weißes Spinngewebe vor das Ge¬
ſicht binden, wenn es ſtark friert, — namentlich abends.
— Reine Unmöglichkeit, dann jemand zu erkennen.“
„Lieber Onkel Miſcha!“ unterbrach ihn Fenia, „bitte,
gieb dich mit dieſer Geſchichte nicht ab. Ich will es ein¬
fach nicht! Es iſt mir fatal und gänzlich ungewohnt,
daß andre ſich um meinen Ruf abängſtigen, — wenn
der gläſern iſt, — — ich bin's nicht!“
Der Baron erhob ſich und berührte mit ſeinen langen
kühlen Fingern leicht, liebkoſend Fenias Wange.
„Du darfſt nicht ſo ſprechen!“ verwies er ihr ihre
Worte; — „du weißt, dein guter Vater hat dich ſo frei
erzogen, wie ich es für meine Töchter weder gewünſcht,
noch jemals geſtattet haben würde. Aber du haſt ihm
Ehre gemacht! Und du biſt, wenn nicht meine Tochter,
ſo doch unſer teures Familienmitglied, für das ich ein¬
ſtehe überall und in allem. C'est convenu. N'en par¬
lons plus.“
Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬
koſende Hand ihres Onkels, als der alte Herr ſo einfach
und vornehm zu ihr ſprach. Aber in ihre ruhige Stirn
grub ſich die erſte kleine Falte bei ſeinen guten Worten
ein. Offenbar empfand ſie es nur peinlich, daß irgend
jemand für ſie einſtehen, verantworten, ſchützende oder
verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte
nicht nach dem Schutz der Familie, und erſchien ihr
vermutlich ebenſo lächerlich wie unbehaglich, mit einem¬
mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden.
Unwillkürlich verſetzten Max Werners Gedanken Irm¬
gard in die gleiche Lage, und er ſah, wie ſie ſchon bei
der bloßen Vorſtellung um vernichteten Mädchenruf litt
und blutete. Beſaß ſie wirklich ſo viel mehr Menſchen¬
furcht, ſo viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein!
dafür kannte er ſie zu gut. Aber was die öffentliche
Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte ſie ſelbſt
bis zu gewiſſem Grade auch. Wenn ſie in Zwieſpalt
mit der vorgeſchriebenen Lebensführung geriet, dann
geriet ſie auch mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt. Daher mitten
im Rauſch eines Kuſſes das Erzittern geheimer Angſt,
als beſäßen die Wände Ohren, — daher das Gefühl,
daß die Liebe ſowohl der Genius ihres Lebens, als auch
der allmächtige Dämon und Verſucher ſei, dem Gewalt
gegeben iſt, den Engel zu verſcheuchen. — Irmgard er¬
wartete von der Liebe nicht — Fenias „Frieden“.
Während alle in der Plauderecke verſtummt waren,
und Max Werner ſeine Gedanken ſo weit forttrugen aus
dem Kreiſe, worin er ſich befand, ſtand Fenia auf und
trat, begleitet von der Ruſſalka, an eines der hohen
Fenſter ihm grade gegenüber.
Mit etwas erhobenen Händen faßte ſie in die ſchweren
dunkelroten Damaſtvorhänge, die geſchloſſen vor dem
Fenſter herabhingen, und ſchob ſie ein wenig auseinander,
um hinausſehen zu können.
Max Werner fiel ihre eigentümlich ſchöne Rücken¬
linie in dieſer Haltung mit gehobenen Armen und vor¬
geneigtem Kopfe auf, und ſeine Blicke blieben darauf
ruhen. Noch immer hatte ſie die Vorliebe für dunkle,
ſchlichtfallende Kleider, und noch immer trug ſie ihr Haar
in zwei lichtbraunen Flechten kranzförmig um den Kopf
geſchlungen.
Irgend etwas trieb ihn, ſich ihre ein wenig ge¬
zwungene Haltung gelöſt zu denken, paſſiv geworden, —
er meinte vor ſich zu ſehen, wie ihre Hände den Vor¬
hang zuſammenfaſſen und vor das Geſicht ziehen, — wie
der Kopf ſich tiefer und tiefer herabneigt in die ſchweren
tiefrotſchimmernden Falten, — wie der Rücken gebeugt
iſt, — die Schultern weiche, gleitende Linien bekommen,
— bis die ganze Geſtalt in ſich geſunken daſteht und,
das Antlitz im Vorhang geborgen, weint. —
Es war wie eine Zwangsvorſtellung, aber nicht
durch ſeeliſche Eindrücke oder Mutmaßungen hervorgerufen,
ſondern wie ein maleriſcher Zwang, der in den Linien
lag, die durchaus in dieſer Weiſe zuſammenfließen woll¬
ten, — hartnäckig, alle Wirklichkeit fälſchend.
Aber dafür ging von dem Illuſionsbilde eine faſt
ſeeliſche Wirkung aus, — etwas von dem widerſpruchsvollen
Zauber, den Fenia urſprünglich für ihn beſeſſen hatte. —
Er fuhr ſich über die Augen, die zu ſchmerzen an¬
fingen, — nervös geworden.
Da ſagte mitten in das Schweigen hinein Na¬
deſchda in ihrem feſt anerzogenen, ihr eingewöhnten Be¬
wußtſein, daß es ſchicklich ſei, ſich irgendwie zu unter¬
halten:
„Heute abend muß draußen herrliches Wetter ſein.“
Fenia wandte ſich raſch zu ihr um.
Die Hände unwillkürlich noch ausgebreitet, den Vor¬
hang wie einen ſchweren Flügel hinter ihrem Rücken,
ſtand ſie da, ein Bild ſorgloſer Geſundheit und lächeln¬
der Freude, und rief hell:
„Bitte, Onkel Miſcha! nehmen wir eine große
Troika und fahren wir Schlitten!“
Lou Andreas-Salomé, Fenitſchka. 4[]
Das Hotel de Paris, wohin Max Werner bei ſeiner
Ankunft in Petersburg geraten war, befand ſich zur Zeit
grade im Zuſtand einer teilweiſen Renovierung, wes¬
halb man ſeine ſchönſten Zimmer, diejenigen mit der
Ausſicht auf den Iſaaksplatz und die Iſaakskathedrale,
ſämtlich geſperrt hielt. Infolge der daraus entſtandenen
Ueberfüllung in den übrigen Räumlichkeiten ſah er ſich
auf einen Winkel angewieſen, wo er, eingeklemmt zwiſchen
einem Ungetüm von Ofen und einem feſt verklebten,
unaufſchließbaren Fenſter, faſt zu erſticken meinte. So
zog er denn an einem der folgenden Tage aus, und
fand ſchließlich in einem echt ruſſiſchen Gaſthof, der
„Sſewernaja Goſtiniza“, auf dem entferntern Teil des
Newskijproſpekts ein ihn anſprechendes, preiswürdiges
Zimmer mit viel Licht und freiem Blick über den weiten
Platz vor dem Moskauer Bahnhof.
Den Abend nach ſeinem Umzug dorthin paſſierte ihm
etwas Seltſames.
Müde der Kramerei und der Scherereien des Nach¬
mittags, flanierte er ganz ohne Ziel ein gutes Stück
jenes Newskijendes hinab, deſſen unbelebte Straße er
[51]— 51 —kürzlich vom Moskauer Bahnhof bis zum Alexander-
Newskijkloſter hin mit Intereſſe ſtudiert hatte.
Da, etwa zwanzig Minuten vom Kloſter, in dieſer
des Abends völlig vereinſamten Gegend, hält ein Schlit¬
ten mit drei Pferden und klingelnden Schellen am
Trottoir.
Ein Paar iſt im Begriff hineinzuſteigen. Der Herr
groß, elegant gewachſen, in eng anliegendem kurzem Pelz,
— die Dame von Fenias Wuchs, mit Biber an Kragen,
Muff und Mütze.
Sie wendete Max Werner beim Einſteigen den Rücken
zu. Nur ſekundenlang erhaſchte er ein Stückchen ver¬
lorener Profillinie im Licht der hier nur ſpärlich brennen¬
den Gaslaternen, — und doch! — es mußte Fenia ſein!
Er zweifelte nicht daran, — ja, er zweifelte ſo
wenig, daß er nicht wagte, ſeinen Schritt anzuhalten,
oder ſie anzurufen, oder zu grüßen, — und im nächſten
Augenblick ſauſte der Schlitten in der Richtung des
Kloſters nach den Stadtgrenzen hinaus.
Er zog die Uhr. Es war elf vorüber.
Eine ungeheure Spannung bemächtigte ſich ſeiner.
Fenia! ſollte Fenia ihn zum zweitenmal in ſeinem Leben
zum Dummen gemacht haben, — dieſes Mal im entgegen¬
geſetzten Sinn wie damals? Er war jetzt genau ſo ge¬
neigt geweſen, in Fenia nur das herb Unſchuldige zu
ſehen, als ſei es ein für allemal ihre Eigenart und
Signatur, wie er in Paris geneigt geweſen war, da¬
hinter ein beſondres Raffinement zu wittern.
Warum nur? Warum hatte er in beiden Fällen
ihr Weſen ſo typiſch genommen, ſo grob fixiert? fragte
[52]— 52 —er ſich. Es war ganz merkwürdig, wie ſchwer es fiel,
die Frauen in ihrer reinmenſchlichen Mannigfaltigkeit
aufzufaſſen, und nicht immer nur von der Geſchlechts¬
natur aus, nicht immer nur halb ſchematiſch. Sei es,
daß man ſie idealiſierte, oder ſataniſierte, immer verein¬
fachte man ſie durch eine vereinzelte Rückbeziehung auf den
Mann. Vielleicht ſtammte vieles von der ſogenannten
Sphinxhaftigkeit des Weibes daher, daß ſeine volle, ſeine
dem Mann um nichts nachſtehende Menſchlichkeit ſich mit
dieſer gewaltſamen Vereinfachung nicht deckte.
Am nächſten Morgen war es Max Werners erſter
Gedanke, Fenia einen Beſuch zu machen.
Sie wohnte etwa eine halbe Stunde den Newskij¬
proſpekt weiter zur Admiralität hinauf in einem ganz
aus chambres meublées beſtehenden Hauſe. Unten im
behaglich durchheizten Treppenraum, der oft eleganter
zu ſein pflegt als die Wohnungen ſelbſt, nahm ein Por¬
tier mit prächtigen Silberlitzen auf ſeiner Livree den
Ankommenden die Pelze ab. Auf der teppichbelegten
Treppe begegnete man auch gewöhnlich der Wirtin, einer
Provinzlerin in loſem, weit nachſchleppendem Kattunrock,
die hier von früh bis ſpät umherſtrich und überall eine
gewiſſe Unruhe und Unordnung um ſich verbreitete. Außer
ihrem Ruſſiſch radebrechte ſie nur noch ein fehlerhaftes
Franzöſiſch, Deutſch war ihr gänzlich fremd.
Fenia beſaß einen eignen Eingang von der Treppe
in ihr Wohnſtübchen, das ſich in ein ſchmales Schlaf¬
gemach öffnete. Das Fenſter war ganz vollgeſtellt mit
ſchönen Blattpflanzen, die in der gleichmäßigen ruſſiſchen
Zimmertemperatur ſo vortrefflich gedeihen. Neben dem
[53]— 53 —Fenſter, über eine Näharbeit gebeugt, ſaß Fenia, als
Max Werner eintrat.
Sie blickte auf und ſtreckte ihm mit Herzlichkeit die
Hand entgegen.
„Das iſt ſchön, daß Sie kommen. Setzen Sie ſich
dorthin. Ich meinte geſtern abend, ich würde Sie bei
meinem Onkel treffen. — Setzen Sie ſich. Wollen Sie
rauchen?“
„Sie waren geſtern abend bei Ihrem On¬
kel? Waren Sie lange da?“ fragte er mit ſchlecht ver¬
hehltem Intereſſe, und fügte deshalb ſchnell hinzu: „Nun,
hat er ſich über die Klatſchgeſchichte beruhigt?“
„Bis zum Thee blieb ich. — Dieſe alberne Geſchichte
hab ich ihm ziemlich ausgeredet,“ ſagte Fenia ruhig,
und ſtichelte an ihrer Arbeit. Sie hatte heute eine weiße
Morgenbluſe an, worin ſie weit jünger ausſah, kindlicher.
Ihre beiden Flechten hingen ihr den Rücken hinunter.
„Dann wird die arme Dame, die da geſehen wor¬
den iſt, alſo wohl nicht weiter durch Nachforſchungen
behelligt werden. Sonſt hätte dabei noch das Drollige
herauskommen können, daß ſie plötzlich irgend eine eigne,
vielleicht recht delikate Angelegenheit an die große Glocke
gehängt ſieht, — um Ihretwillen, Fenia. Thäte Ihnen
das nicht leid?“ bemerkte er halb ſcherzend, halb ironiſch.
Fenia hörte nicht auf den ironiſchen Ton hin. Sie
ſtützte das Kinn auf die Hand, ſah ihn an und ſagte
unwillig:
„Ja, wiſſen Sie, das iſt doch wirklich etwas Ab¬
ſcheuliches! Ich meine, daß den Frauen in manchen Be¬
ziehungen die Heimlichkeit einfach aufgezwungen wird!
[54]— 54 —Daß ſie auch noch froh ſein müſſen, wenn ſie gelingt, —
und vom Mann wie etwas Selbſtverſtändliches erwarten,
daß er ſie durch ſeine Diskretion, ſeine Schonung, ſeine
Vorſicht ſchütze und beſchirme. — Ja, es mag notwendig
ſein, ſo wie die Welt nun einmal iſt, aber es iſt das
Erniedrigendſte, was ich noch je gehört habe. Etwas ver¬
leugnen und verſtecken müſſen, was man aus tiefſtem
Herzen thut! Sich ſchämen, wo man jubeln ſollte!“
Sie erregte ſich an ihren eignen Worten. Ihre
Wangen brannten, und ihre Augen wurden tief und
blitzend.
Die ein wenig frivole Spannung, in der Max
Werner heute zu ihr gekommen war, verlor ſich mehr
und mehr; je länger er ihr zuhörte, deſto menſchlicher
kam er ihr nah. Er bemühte ſich, ganz ſo zu thun, als
hielte er ihre Erregung für durchaus ſachlicher Natur,
und als handle es ſich für ſie lediglich um einen ihrer
beiderſeitigen ungeheuer philoſophiſchen Dispute.
„Sie vergeſſen doch etwas ſehr Weſentliches, Fenitſch¬
ka,“ warf er ein, „nämlich daß die öffentliche Meinung
meiſtens doch nur die Hälfte der Schuld trägt. Denn
zur andern Hälfte liegt es ja doch ſchließlich im Weſen
aller intimen Dinge ſelbſt, daß ſie geheim bleiben wollen,
— daß ihnen jede Entblößung vor fremden Augen und
Ohren das Zarteſte ihrer Schönheit nimmt. Manchen
ſenſitiven Menſchen empört ſchon die offizielle Trauung
gegen die Ehe, — wie viel weniger könnte nun ein ſol¬
cher eine andre Form der Liebe, eine nicht allgemein
anerkannte Liebe öffentlich bloßſtellen, — wie könnte er
etwas ſo unendlich Intimes und Verwundbares mitten
[55]— 55 —in einen rohen Kampf hineinzerren, — ſozuſagen auf die
Straße ſtellen zwiſchen den Pöbel —“
Fenia hatte ſehr aufmerkſam zugehört.
„Ja,“ ſagte ſie langſam, „ſo mögen wohl Männer
urteilen, — — ihr, denen alles geſtattet iſt, und für
die darum auch kein andrer Beweggrund zu einer Ge¬
heimhaltung vorzuliegen braucht, als nur ſolch ein innerer.
Aber für uns iſt das ganz etwas andres. Wir fühlen
das wohl auch, — ja ſicher noch viel feiner und
ſcheuer als ihr, — —aber wir fühlen auch den Schein
von Feigheit, der auf uns fällt dadurch, daß wir der
Heimlichkeit zu bedürfen glauben. Eine jede Heimlich¬
keit ſcheint nicht aus Feingefühl, ſondern aus Menſchen¬
furcht da zu ſein, — —und dann demütigt es uns auch,
wenn wir uns von Menſchen achten und verehren laſſen
müſſen, deren ganze Anſchauungsweiſe uns vielleicht ver¬
dammen würde im Falle unſrer Offenheit.“
„Das kann unangenehm ſein!“ gab er zu, „aber
ſobald es nur ein Opfer iſt, das wir bringen, und nicht
ein erlogener Erfolg, den wir ſuchen, — kann man ſich
doch wohl darüber hinwegſetzen. All dies iſt ja nur der
Schein der Feigheit, — das klar zu erkennen und ruhig
zu tragen, wäre eigentlich erſt die rechte Ueberlegenheit
über die menſchlichen Vorurteile. Meinen Sie nicht?
Sonſt iſt man doch eigentlich nur ein Wahrheitsprotz.“
Fenia ſchüttelte den Kopf und blickte nachdenklich
in das Fenſter hinein, wo zwiſchen den Doppelſcheiben
dicke weiße Wattſchichten jeden Luftzug abſperrten, und
mit Waldmoos und bunten Papierblumen häßlich genug
ausgeſchmückt waren.
Man konnte ihren beweglichen Mienen aufs deutlichſte
anſehen, daß ſie über irgend einen Gedanken mit ſich
ſelbſt ins reine zu kommen verſuchte.
„Ach, Ueberlegenheit! Was ſoll mir die!“ ſagte ſie
darauf wegwerfend, „wir haben nun einmal das Ver¬
langen, für das, was uns am teuerſten iſt, auch am
offenſten einzutreten; und wir ſchätzen ſogar ganz unwill¬
kürlich den Wert einer Sache ein wenig danach ab, ob
wir ſie zu einer Geſinnungsſache machen würden, — ob
wir für ihr Recht kämpfen können.“
„Mein Gott! die Frauen ſind jetzt aber auch ſo ent¬
ſetzlich kampfluſtig geworden!“ bemerkte er lachend, —
„ſo entſetzlich poſitiv und aggreſſiv, daß es kaum zum
Aushalten iſt! Sehen Sie, das kommt nun von all der
Frauenbefreiung und Studiererei und all dieſen Kam¬
pfesidealen, — — — Die Frauen ſind die reinen Em¬
porkömmlinge! Verzeihen Sie, — — es liegt ja etwas
ganz Jugendliches und Kräftiges drin, aber es hat nicht
den vornehmen Geſchmack. Alles zur Diskuſſion zu ſtellen,
ſelbſt das Undiskutierbarſte, alles in die Oeffentlichkeit
zu werfen, ſelbſt das Intimſte, — — finden Sie das
etwa ſchön? Ich nicht! Es vergröbert alle Dinge un¬
geheuer, fälſcht ſie ins Rationaliſtiſche hinein, wiſcht alle
zarten Farbennüancen fort, ſetzt allem gräßliche grelle
Schlaglichter auf —“
Obwohl Fenia gegen ihn ſtritt, ſo ſah ſie ihn doch
ganz unverkennbar ſo an, als ob ſie ſich ganz gern
widerlegt ſähe.
Während er ſo ſchön ſprach, dachte er an etwas ganz
andres: „Wer mochte dieſer Mann ſein? Ob er ſie
[57]— 57 —ſchon lange liebte? oder ob es nur ein loſes Liebesaben¬
teuer war? Sie war ſo friedlich und glücklich, — der
Klatſch erſt hat ſie aufgeſtört,— — — ob ſie ſeiner ſo
ganz ſicher war —?“
Schließlich brach er, durch dieſe Nebengedanken be¬
hindert, ſeine Rede ab und platzte ungeduldig heraus:
„Aber das ſind ja überhaupt doch nur Bagatellen!
Für zwei Liebende bleibt die Hauptſache doch immer,
wie ſie zu einander, nicht wie ſie zur Welt ſtehen.
— — — Wie lange das Glück währen mag, wie
gefeſtigt es iſt, — oder ob man ſich bei der erſten Not
wieder verläßt, — das quält viel mehr.“
Um Fenias Lippen glitt das ſorgloſe unbefangene
Lächeln, das für ſie charakteriſtiſch war.
„Warum ſoll denn das quälen?“ fragte ſie halb
verwundert und halb phlegmatiſch, — „ich könnte mir
gar nicht denken, daß ich einen Mann, den ich lieb ge¬
habt habe, grade in der Not verließe.“
Dermaßen naiv klang das, daß er faſt hell auf¬
gelacht hätte.
Er wurde ſogar plötzlich ganz irre an ſeinen be¬
ſtimmteſten Mutmaßungen. — —
An den verlaſſenen M a n n hatte er nicht grade ge¬
dacht! — — Führte ſie ihn vielleicht doch hinters Licht?
Wäre ſie nun doch wieder in Wirklichkeit die unſchuldige
Fenia, ſo wäre das ja einfach, um aus der Haut zu fahren.
Etwas nervös griff er in Fenias Garnröllchen, die
auf ihrem Nähtiſch herumlagen, ſpielte mit ihnen und
legte ſie unſchlüſſig wieder hin. Er war gradezu ver¬
drießlich.
Endlich ſtand er auf, um fortzugehn. Aber jetzt
konnte er ſich doch nicht enthalten, zu bemerken:
„Wiſſen Sie übrigens, daß ich kürzlich Ihre Doppel¬
gängerin ebenfalls zu ſehen geglaubt habe?“
„Ach!“ machte Fenia frappiert, und fragte nach
kurzem Schweigen:
„Wann denn?“
„Geſtern abend. Nicht ſehr weit vom Kloſter, wo
wir uns neulich trafen. Sie ſtieg mit einem Herrn in
einen Schlitten und ſauſte mit klingelnden Schellen davon.
— — — Ich habe ſie übrigens nur von hinten ge¬
ſehen,“ fügte er ſchnell hinzu, denn plötzlich zweifelte er
durchaus nicht länger, und ſchämte ſich ſeiner unritter¬
lichen Aufwallung. „Alſo vielleicht ſieht ſie Ihnen auch
nur von hinten ähnlich, Fenitſchka.“
Sie erhob ſich von ihrem Stuhl und las mit ge¬
ſenkten Augen von ihrem Rock die Fäſerchen und Fädchen
ab, die beim Nähen daran hängen geblieben waren.
Sie ſah blaß und in ſich gekehrt aus. Sehr lieb
ſah ſie aus.
Ihm that es weh, er verwünſchte ſich und blickte
mit Anſtrengung fort.
Da reichte Fenia ihm zum Abſchied die Hand.
„Nun, — und wenn ſie mir auch von vorn geglichen
hätte, — Ihnen das Geſicht zugekehrt hätte, — mein
Geſicht, — was hätten Sie ſich dann gedacht?“ fragte
ſie und ſah ihn dabei an.
Er hielt ihre etwas kalte, etwas nervös zuckende
Hand in der ſeinen, beugte ſich darüber und drückte zwei
Küſſe darauf.
„Liebe Fenitſchka!“ murmelte er, — „ich würde mir
auch dann nichts weiter gedacht haben, als nur: welche
frappante Aehnlichkeit.“
Dies geſchah am Vormittag.
Am Abend wollte Max Werner in die kaiſerliche
Oper und kehrte nach ſieben Uhr in ſeinem Hotel ein,
um ſich dazu umzukleiden.
Sein Zimmer lag zwei Treppen hoch, dem Treppen¬
aufſtieg ſchräg gegenüber.
Als er im Hinaufſteigen einmal aufblickte, ſah er
von oben herab eine verſchleierte Dame kommen, die er
durch Haltung und Bewegung faſt augenblicklich erkannte.
Es war Fenia.
Ihn durchblitzte förmlich der Schreck, ihr in den
Weg gekommen zu ſein. Dieſe erſte jähe Ueberraſchung
in ſeinen Zügen konnte er hinterdrein nicht wieder gut
machen, mit ſo unbeteiligter Miene er dann auch, fremd
und harmlos, auf der Treppe an ihr vorbeizugehn ſuchte.
Sie zauderte einen Augenblick auf der Stufe, wo
ſie einander begegnet waren.
Dann, blitzſchnell, drehte ſie ſich um, eilte ihm die
übrigen Stufen nach, erreichte ihn grade noch, als er
im Begriff ſtand, ganz entſetzt in ſeinem Zimmer zu ver¬
ſchwinden, und riß den Schleier von ihrer Mütze.
„Mar!“ ſchrie ſie leiſe, heiſer, mit zugeſchnürter
Kehle; „nein! das hier ertrag ich nicht!“
In höchſter Beſtürzung blieb er ſtehn, und ſeine er¬
ſchrocken forſchenden Blicke irrten über ſie weg nach der
Treppe, ob auch niemand ihren Aufſchrei gehört habe.
Dann ſtieß er die ſchon aufgeſchloſſne Zimmerthür
[60]— 60 —auf und ſchob Fenia ſo eilig er konnte hinein. Denn
vom untern Stockwerk wurden Stimmen laut, und einer
der Tatarenkellner geleitete fremde Herrſchaften hinauf.
„Liebe Fenitſchka!“ murmelte er faſſungslos und
horchte geſpannt nach dem Gang.
Sie ſtand, den Schleier in ihrer Hand zuſammen¬
gekrampft, und zitterte am ganzen Leibe, während ſie
mit einem wilden Blick um ſich ſah und hinter ſich, —
als ſtände da irgend jemand.
„Nein! nein! ich will das nicht! ich ertrag das
nicht!“ rief ſie außer ſich, — „Sie glauben, mich mit¬
leidig ignorieren zu müſſen, — und jetzt wieder — — —
mich ſchützen, — ich bin doch keine Verbrecherin, die
man aus lauter ritterlicher Schonung nicht erkennt,
— — o nein, pfui!“
Und ſie brach in leidenſchaftliches Weinen aus.
Er ſchob den einzigen bequemen Lehnſeſſel heran und
drückte ſie ſanft hinein.
„Beruhigen Sie ſich doch nur ein wenig, Fenitſchka,“
ſagte er, — „was ſind denn das für Ideen — Ver¬
brecherin, — Unſinn! Wollen Sie etwas trinken? Wein,
— Limonade? — Knöpfen Sie den Pelz ein wenig
auf, Sie erſticken mir ſonſt noch hier. Darf ich ihn
ein wenig aufknöpfen?“
Sie ſtieß ſeine Hand hinweg und weinte weiter.
Er kniete neben ihr auf den Teppich hin und bückte
demütig den Kopf.
„Ach, Fenia!“ ſagte er lachend, „was ſind Sie doch
für ein verrückter Kerl! — Wenn Sie wütend ſind, ſo
zauſen Sie mich, bitte, am Haar, — ſchlagen Sie mit
[61]— 61 —Ihren lieben Fäuſten drein, — das dürfen Sie thun.
— — Aber mit ſolcher Hingebung zu weinen! — Wer¬
den Sie wieder ruhig und lieb, ja? — — Sonſt ſperre
ich Sie wahrhaftig ein, und ſtelle Sie in den Winkel.
— — — Wiſſen Sie nicht mehr, wie ich Sie mal ein¬
geſperrt habe in Paris? Ach ja, damals haben Sie mich
einigermaßen mißhandelt. Aber jetzt — jetzt ſind wir
doch Freunde, feſte, gute Freunde! Etwa nicht, Fenia?
Ich gehe für Sie durchs Feuer, wenn Sie wollen.“
Sie nahm ihr Taſchentuch vom Geſicht und ſah ihn
mit ihren naſſen, geröteten Augen an.
„Wie ſollte ich wiſſen, daß Sie hier wohnen,“ ſagte
ſie mit noch von Thränen erſtickter Stimme, — „Sie waren
ja doch im Hotel de Paris. — — Sonſt wäre ich —
hätte ich — —“ ſie ſtockte und wurde verwirrt.
„Ja, das war eine entſetzliche Dummheit von mir,
es Ihnen nicht rechtzeitig zu ſagen, daß ich jetzt hier — —
aber andrerſeits, wiſſen Sie, konnte ich ja auch nicht
wiſſen, daß Sie —,“ murmelte er, und ſetzte in leichtem
Ton hinzu: „— nun, was macht es denn! Soll ich Ihnen
einen Schlitten beſorgen? Waren Sie im Fortgehn?“
Fenia ſprang auf, und eine Blutwelle ergoß ſich
über ihr verweintes Geſicht. Sie ſah zornig und bei¬
nah wild aus.
„Hören Sie mich!“ rief ſie entſchloſſen, „wozu ſpielen
Sie Komödie mit mir, wozu faſſen Sie mich wie eine
zerbrechliche Puppe an, der man gern was vormachen
kann, wenn man ſie nur ſchön in Watte packt! Ich
weiß ſehr gut, daß Sie alles wiſſen! Nun wohl, ſo
wiſſen Sie es denn! Ja, ja, ja, es iſt ſo! Ich kam
[62]— 62 —hierher, weil ich neulich hier in meinem Zimmer etwas ver¬
geſſen habe. Denn ich habe hier ein Zimmer. — — —
Und geſtern nacht, — geſtern nacht war ich es, die in
den Schlitten ſtieg mit einem Mann, den ich lieb habe!“
Er fand ſie herrlich, wie ſie mit fliegendem Atem
das ſagte. Herrlich wie ein Menſch, der Gefahren trotzt,
wie ein Menſch im Todesſprung, oder vor dem Feinde,
vor dem Schuß, den er nicht in den Rücken erhalten
will. In ihrem Geſicht prägte ſich ein verzweifelter
Heroismus aus, und in ihren Blicken zitterte dennoch
das ganze Entſetzen vor der Heimlichkeit, vor der Ver¬
folgung, — und vibrierte in ihrer Stimme.
Er faßte ihre Hände und küßte ſie.
„Danke, Fenia!“ ſagte er ernſt, „ich danke Ihnen!
Nein, wir wollen keine Komödie ſpielen, — wir haben
es beide nicht nötig, — nicht wahr? Dafür aber neh¬
men Sie mich zum Freunde und Bundesgenoſſen an, ja?
— — Ich weiß wohl, daß nur der elende Zufall mich
zum Mitwiſſer gemacht hat. Aber laſſen Sie es keinen
Zufall bleiben, machen Sie ein Vertrauen daraus! Darf
ich es ſo auffaſſen?“
Sie zog ihre Hände aus den ſeinen, hob ſie an ihre
Schläfen, als ſei ihr der Kopf am Zerſpringen, und
ſchaute ihn ganz ratlos und kindlich an.
„Wiſſen Sie, das iſt wie eine Erlöſung! — Wie
eine Erlöſung!“ ſagte ſie, — „wie eine Erlöſung, daß
es ausgeſprochen iſt! Wenn ich es doch ſchnell hinaus¬
ſchreien könnte, — hinaus! hinaus! Allen in die Ohren!
So daß niemand es erſt mit ſeiner Neugier zu erſchleichen
braucht! — — — Ach, ein Grauſen hab ich in letzter
[63]— 63 —Zeit bekommen, — ja, ein ſolches Grauſen, als ob lauter
Geſpenſter um mich herumliefen, — ein Grauſen, wie
ich es als kleines Kind manchmal im Traum gehabt
habe, wenn jemand hinter mir war, und ich lief und
lief, — — und doch nicht vorwärts konnte.“
Es durchſchauerte ſie, Ihre Augen öffneten ſich
ganz groß und erſchreckt.
„Sie müſſen ſich zuſammennehmen, Fenia!“ ſagte
Max Werner in beſtimmtem Ton und faßte ihre Hand,
„augenblicklich ſind Sie in einem Zuſtand, wo Sie ſich
fortwährend ſelbſt verraten würden. Ich laſſe Sie ſo
nicht fort. — — Dies Grauſen, wovon Sie ſprechen,
müſſen Sie beherrſchen, es darf Ihnen nicht über den
Kopf wachſen, hören Sie? Es iſt Nervenüberreizung, es
wird vorübergehn, Fenitſchka.“
Sie hatte den Pelzmantel vorhin zurückgeworfen
und auf die Seſſellehne hinter ſich niedergleiten laſſen.
Sie ſtand im Kleide, aber ſcheu, wie auf dem Sprung.
Ihre Blicke gingen flüchtig durch das Zimmer, über die
ihr fremde Umgebung, als frage ſie ſich nun erſt, warum
ſie eigentlich hergeraten ſei, warum ſie verweile.
Max Werner fürchtete, daß nach dem erſten, faſt
willenloſen Ausbruch ſie ſich plötzlich von ihrer eignen
Offenheit kalt und peinlich berührt fühlen könnte, —
unter der Situation leiden, worin ſie ſich ihm gegen¬
über befand. Er fügte deshalb ſchnell hinzu:
„Sehen Sie ſich nicht erſt hier um, es iſt kein
herrlicher Aufenthaltsort, das geb ich zu! Aber da Sie
einmal bei mir zu Beſuch ſind, entlaufen Sie mir nicht
gleich wieder, Fenitſchka. Setzen Sie ſich ein wenig her,
[64]— 64 —hier iſt niemand, der Sie beunruhigen oder belauſchen
kann, — denken Sie ſich, Sie ſeien ruhig zu Hauſe. — —
Und wiſſen Sie, daß in dieſem ſelben Zimmer Ihnen
jemand nahe iſt, der auch ‚das Grauſen‘ hat überwin¬
den müſſen — um meinetwillen, Fenia, — jemand, den
Sie innig lieben würden.“
Damit hatte er das richtige Wort getroffen. Sie
ſetzte ſich wieder und blickte ihn erſtaunt und erwartungs¬
voll an, — für den Augenblick von ſich ſelbſt abgelenkt —.
„Iſt ‚ſie’ hier? Wo?“ fragte ſie leiſe.
„Nein, ſie ſelbſt nicht. Aber dort im Handkoffer, —
da liegen wohlverſchloſſen in einer Kaſſette alle ihre Briefe.
Und ſo ſind Sie hier in feiner, lieber Menſchennähe,
Fenia, das dürfen Sie glauben. Dieſe Briefe würden
Ihnen erzählen, wie gern auch ſie offen gegen alle Welt
wäre, — und es doch nicht darf.“
„Ja, ja!“ fiel Fenia etwas haſtig ein, — „genau
ſo iſt es eigentlich auch bei uns.“
„Haben Sie ihn hier in Rußland getroffen?“
„Nein. Er iſt mir hierher nachgereiſt.“
„Alſo kein Ruſſe.“
Sie ſah erſtaunt auf.
„Kein Ruſſe?! — — Ach ſo, — ja, warum ſollten
Sie nicht meinen, daß es ein Ausländer ſein könnte — —.
Kein Ruſſe! nein, das wäre mir unfaßlich. Für mich
liegt eine ganze Welt darin, daß er ein Ruſſe, —
mein Landsmann, mein Bruder, ein Stück von meines¬
gleichen iſt.“
„Sie haben doch aber mit Ausländern ſchon ſo früh und
ſo vertraut verkehrt, ſtudiert, — wie leicht hätte einer —“
„Ja, verkehrt, ſtudiert!“ unterbrach ſie ihn. „Und
damals dachte ich auch wohl: die Liebe, das iſt ſicher nur
die höchſte Fortſetzung ſolcher kameradſchaftlichen Freund¬
ſchaft, wo man ja ſchon ſo vieles teilt —.“
„Aber keinen davon haben Sie geliebt?“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Nein. Nie. Um man¬
chen, der um deswillen fortging, trauerte ich. Aber was
konnte das ändern? Ich wartete darauf, daß die Freund¬
ſchaft in mir bis zur Liebe ſtiege — —. Sie ſtieg auch
zuweilen, — immer höher und höher, — aber nicht in
die Liebe hinein, — ſie wurde dann zugleich immer
dünner und ſpitzer, — — und eines Tages brach ſtets
die Spitze ab.“
„Alſo iſt es ſchließlich auch gar nicht einer Ihrer
eigentlichen Geiſteskameraden geweſen?“
„O nein!“ ſagte ſie lebhaft, — „es war einer, mit
dem ich noch nichts teilte. Den ich kaum kannte. —
Grade nach Beendigung meiner Studien, während einer
Erholungsreiſe. — — Ja, und im Grunde trieb es mich
auch nicht, mit ihm dies und das zu teilen, — oder
irgendwohin dort oben hinaufzuklettern, wo die Spitzen
doch immer abbrachen. — — Dazu war ich auch zu ange¬
ſtrengt und erholungsfroh. — — Aber mich trieb es faſt
von der erſten Stunde an, zu ihm hinzutreten und ‚du!‘
zu ihm zu ſagen.“
Sie hatte den Kopf geſenkt und ſprach mit einem
glücklichen Lächeln um die Lippen. Sie ſah bei ihren
Worten ganz weltentrückt und bräutlich aus. Er ſchaute
ſie mit Entzücken an.
„Ja, ſo geht es nun im Leben zu,“ beſtätigte er,
Lou Andreas-Salomé, Feniſchka. 5[66]— 66 —bemüht, ſie in der ſchönen Stimmung zu erhalten, „man
macht ſich große Theorien, man will geiſtig zuſammen¬
paſſen und will ſich auf Herz und Nieren prüfen, —
und ſchließlich wählt man einander doch in der Gunſt der
Stunde, und ohne alle weitern Kennzeichen.“
„Aber das ſind ja die allertiefſten Kennzeichen!“
rief ſie erſtaunt, — „das iſt ja eben der ungeheure Irr¬
tum, zu glauben, daß ,Geiſt‘ und ,Seele‘, und wie alle
dieſe ſchönen Dinge im Menſchenverkehr heißen, etwas
Edleres oder Tieferes ſind, als ſie. Nein, das weiß ich
beſſer! Beſonders der Geiſt, der iſt ſchon durchaus nicht
edler, ſondern das Gröbſte und Pöbelhafteſte iſt er, und
ſaugt ſich mit ſeinem kalten Intereſſe unterſchiedslos an
die allerverſchiedenſten Menſchen an, um ſie loszulaſſen,
ſobald er ihnen ihr Intereſſantes entnommen hat. Das
hab ich oft gethan, — pfui! — — Aber auch die ſo¬
genannten ſeeliſchen Freundſchaften! Etwas wähleriſcher
ſind ſie, aber auch ſie kann man zu mehreren Menſchen
haben, mehrere können ſich folgen, denn man bekommt
ja auch in ihnen nur ein Teilchen des ganzen Menſchen,
und giebt nur ein Teilchen. — — Man bleibt bewußt,
— geizig, — genügſam.“
Was ſie da ſagte, kam ihr aus dem tiefſten über¬
zeugten Herzen. Sie verkündete es wie eine jauchzend
errungene Lebenserkenntnis, — ſie war ſtolz darauf.
„Sie ſind ein rätſelhaftes Mädchen, Fenia!“ ſagte
Max Werner. „Und ich — ich habe Sie für kühl ge¬
halten — —. Oder doch wenigſtens nicht recht zugäng¬
lich für den wirklichen Rauſch. Wer ſo jahraus, jahrein
mit Männern umgehn und ſtudieren kann, ohne jemals
[67]— 67 —in das überzuſchlagen, was — nun, was in ſolchen
Fällen doch wohl das Gewöhnlichſte iſt —“
„Das Gewöhnlichſte?! Nein, das glaub ich ſchon
nicht. — Es iſt ja das Seltenſte und Vornehmſte, was
es im Leben geben kann. So ſehr, daß alles andre
daneben nur noch ſchäbig und gemein ausſieht —“
„Sie meinen das wirklich — — — ?“
„Ja, ſicherlich, mein Gott! Wie kann man daran
zweifeln! Wie können Sie es, der ſelber geliebt wird!“
rief ſie, rot überflammt von Erregung, und ſprang auf,
— „da kommt nun etwas und nimmt einen hin, und man
giebt ſich hin, — und man rechnet nicht mehr, und hält
nichts mehr zurück, und begnügt ſich nicht mehr mit Halbem,
— man giebt und nimmt, ohne Ueberlegung, ohne Be¬
denken, faſt ohne Bewußtſein, — der Gefahr lachend,
ſich ſelbſt vergeſſend, — mit weiter — weiter Seele und
ohnmachtumfangenem Verſtande, — — und das, das
ſollte nicht das Höhere ſein? Darin ſollten wir nicht
unſre Vornehmheit, unſern Adel haben? — —“
Sie ſtand da, von ihren eignen Worten berauſcht,
und ſah ſo ſchön aus —.
Er hütete ſich wohl, die Einwände laut werden zu
laſſen, die ihm auf der Zunge ſaßen.
Fenia erwartete auch keine Antwort. Sie ver¬
ſtummte, beſann ſich einen Augenblick auf die Wirklich¬
keit und ſagte dann mit ihrer gewöhnlichen Stimme:
„Helfen Sie mir in den Pelz. Ich will jetzt end¬
lich nach Hauſe fahren.“
Er hielt ihr den Pelzmantel hin und bemerkte
bittend:
[68]— 68 —
„Aber doch nicht allein? Soll ich Sie nicht nach
Hauſe begleiten? Sie ſind jetzt doch in ganz beruhigter
und fröhlicher Stimmung, nicht wahr, Fenia, — ich
kann mich darauf verlaſſen?“
Sie nickte.
„Ja. Mag's nun kommen, wie es Luſt hat. Ich
kann nicht lange ſo gequält leben. Ich muß ſorglos
leben, oder gar nicht. Darum ſind Heimlichkeiten mir
ſo unſäglich wider die Natur. — — Froh bin ich, daß
ich jetzt wenigſtens zu Ihnen offen ſprechen kann. — —
Aber bitte, begleiten Sie mich nicht. Der Portier unten
wird mich in den Schlitten ſetzen. Ich möchte lieber
allein ſein.“
„Wie Sie wünſchen. Aber zum mindeſten gehen
Sie nicht ſo fort, Fenia, — möchten Sie ſich nicht er¬
innern — nach allem, was wir nun gemeinſam haben, —
daß wir ſchon einmal Brüderſchaft getrunken haben?
Möchteſt du nicht, wenn du nun zu mir ſprichſt, mich
ein bißchen weniger ſteif anreden?“
„Ja gewiß. Du — und Bruder — von heute
an!“ entgegnete ſie herzlich und ernſt. „Ich werd es
nicht vergeſſen. Ich nehm es als einen feſten Bund.“
„Danke, — und die Bundesbeſiegelung?“ fragte er
und hielt ihre Hand noch feſt, als ſie auf die Thür
zuging. Da hob ſie den Kopf und gab ihm einen Kuß
auf den Mund, — einen herzlichen, unbefangenen Kuß.
Aber ihre Lippen brannten noch von den leiden¬
ſchaftlichen Worten, die ſie vorher geſprochen.
[]
Max Werner blieb keine zwei Wochen mehr in Pe¬
tersburg, aber in der Rückerinnerung kam es ihm immer
wie eine weit längere Zeitſtrecke vor, ſo reichen Inhalt
empfingen dieſe Wochen durch ſeine neue Beziehung zu
Fenia.
Selten ein Tag, wo er ſie nicht ſah, ſelten einer,
wo er nicht den ungewohnten Reiz einer ſo zutraulichen
weiblichen Nähe ohne alle erotiſchen Nebengedanken durch¬
koſtete. Es ſchien ihm ein gradezu idealer Fall, ge¬
ſchaffen dank ihrer beiderſeitigen Benommenheit von einer
andern Liebe, und ganz beſonders begünſtigt durch Fenias
Gewohnheit, ſich Männern gegenüber zwanglos gehn zu
laſſen.
„Ein Mädchen wie Irmgard erſchließt ſich nur, wo
es liebt, und hält ſich ſonſt ſtets in der etwas kalten
Strenge ihrer Mädchenhoheit zurück, — verſchloſſen und
herb. Aber ſchließt ſich denn ein Weib wirklich auf, wo
es liebt? Täuſcht es ſich nicht unwiſſentlich darüber?“
fragte er ſich oft.
So zum Beiſpiel ſprach Fenia ſicher zu dem
Manne ihrer Liebe mit viel rückhaltloſerer Intimität als
zu ihm, — aber that ſie es nicht auch weniger einfach
und ſachlich, — unbewußt bemüht, alles Verwandte in
[70]— 70 —ihm und ihr hervorzukehren und einander zu vermählen,
alles Störende zu beſeitigen?
Ihm gegenüber fiel das fort, und er ſah ſie manch¬
mal vor ſich gleich einem Modell, deſſen Seelenformen
er nur abzubilden brauchte, — nicht ſo, wie eine Geliebte
vor ihm ſtehn würde, deren ſeeliſche Reize ſo individuell
wirken, daß ſie das klare Urteil beſtechen und verwirren,
— ſondern wie ein Stück weiblichen Geſchlechtes in der
beſtimmten Verkörperung, die ſich Fenia nannte. Zum
erſtenmal glaubte er, dem Weibe als ſolchem nah zu
kommen, indem er Fenia immer näher kam.
Perſönliches aus ihrem Liebesleben erzählte ſie ihm
nie. Sein Wiſſen um dieſes Ereignis wirkte nur wär¬
mend und belebend auf allen, was ſie ſonſt miteinander
teilten. Seine Gedanken indeſſen kreiſten mehr als ein¬
mal um den ihm fremden Menſchen herum, dem dies
liebe Geſchöpf zugehörte, und je nach Laune und Stim¬
mung machte er ſich von ihm die allerverſchiedenartigſten
Vorſtellungen.
Während einer Abendgeſellſchaft beim alten Baron,
wohin er Fenia begleitet hatte, erwähnte ſie gegen ihn
zum erſtenmal wieder der heimlichen Angelegenheit, wo¬
durch ſie Freunde geworden waren.
Das Souper war eben beendet, und man ſtand
oder ſaß zwanglos in kleinern Gruppen zuſammen, wie
der Zufall es grade gab. Er hatte ſich lange mit Ra¬
deſchda und ihrem Verlobten unterhalten, — dem Typus
eines Brautpaars, das ſich gern iſolieren möchte, und
ſtatt deſſen ſeine Blicke und Worte an alle verteilen muß.
Jetzt näherte er ſich Fenia, die im Augenblick allein,
[71]— 71 —— und wie immer in lächelnder Beobachtung des bunten
Menſchenbildes, — hinter einer Palmengruppe am Fen¬
ſter ſaß, und blieb vor ihr ſtehn.
„Weshalb ſchauſt du mich ſo an?“ fragte Fenia.
„Ich vergleiche dich im ſtillen mit der andern
Braut hier im Saal; — an der armen Nadeſchda iſt heute
alles erzwungene Höflichkeit und verhaltene Sehnſucht;
ſie hat rote heiße Flecken auf den Wangen, und ihre
Augen glänzen zu ſehr.“
Fenia lachte.
„Hoffentlich bemerkt der Onkel das nicht!“ ſagte ſie.
„Und über dir, wie du da ſitzeſt, iſt eine ſolche
ſelige Ruhe ausgegoſſen.“
„Ich habe eigentlich gar keinen Grund, ſo ſelig zu
ruhen,“ entgegnete Fenia, aber ihre vollen warmen
Lippen lächelten immer noch, — „denn heute haben ‚wir‘
uns zum erſtenmal — gezankt.“
„O das iſt mir höchſt intereſſant,“ bemerkte er
ziemlich eifrig und zog einen Stuhl heran — „darf ich
wiſſen, was der Anlaß war?“
Jetzt ſah ſie ernſter aus, eine kleine Falte ſchob ſich
ſogar zwiſchen ihre Augenbrauen, die über der Stumpf¬
naſe ganz nah zuſammenkamen.
„Der Anlaß iſt ganz gleichgültig. Der Grund iſt
einfach: er iſt gequält und gereizt,“ ſagte ſie.
„Mein Gott! er, der es ſo gut hat?“
„Er leugnet eben, daß er es gut hat,“ fiel ſie ein,
„aber die Wahrheit iſt: er iſt viel anſpruchsvoller ge¬
worden. — — Wir haben uns immer nur ſtundenweiſe
geſehen — von allem Anfang an, — und nicht einmal
[72]— 72 —täglich. — — Sich zu allen möglichen Tagesſtunden, im
Hellen, — — zu allen möglichen Beſchäftigungen und
Ausgängen zu treffen, iſt doch nun einmal einfach un¬
möglich.“
„Und das iſt es alſo, was er will?“
„Ja. Er ſagt, das ſei das einzig Natürliche. Alles
andre ſei Qual. Nach ſeiner Auffaſſung ſollte man ſich
überhaupt ſo gut wie gar nicht trennen. — — Dabei
ſieht er ein, daß wir uns des entſtandenen Klatſches
wegen eher ſeltener ſehen ſollten.“
„Sage mir nur, Fenitſchka, warum machſt du es
dir nicht leichter, — warum führſt du ihn zum Bei¬
ſpiel nicht hier bei deinem Onkel ein, — wär er nur
anerkanntermaßen dein Freund, wie ich, — ſo — ſo —“
Sie ſah ihm grade in die Augen.
„So könnte er insgeheim viel bequemer mein Ge¬
liebter ſein, nicht wahr?“ vollendete ſie.
„Mach doch nicht gleich ſolche Augen! was ſteht
dem eigentlich entgegen?“ warf er ein.
Sie ſagte nur leiſe, ohne ihren Blick von dem ſei¬
nen zu laſſen:
„Es würde häßlich werden! Und ich will, daß es
ſchön iſt.“
„Nun, ſtreiten läßt ſich über dergleichen ja nicht.
Aber dir ſelbſt fällt es doch wohl ebenſo ſchwer, wie ihm,
euren Verkehr nicht nach Belieben ausdehnen zu können,
— daher ſchlug ich es nur vor.“
Sie ſenkte die Augen und ſchien nachzudenken, wie
ſie es ſo oft mitten im Geſpräch that. Eine leichte Röte
ſtieg dabei in ihre Wangen.
[73]— 73 —
„Ja, weißt du, für mich iſt es ja eigentlich wieder
anders als für ihn,“ erwiderte ſie darauf zögernd, „— ich
kann nicht recht ſagen, woran das liegen mag. Aber
jedenfalls wär es ja für mich nichts ſo Seltenes und
Neues, mit einem Manne alle möglichen Intereſſen
und Beſchäftigungen zu teilen, — alle Stunden des
Tages in anregender und geiſtig fördernder Weiſe zu ver¬
bringen. Ihm iſt das neu. — — Ich — ja, ich ſehne
mich lange nicht ſo ſtark danach. — — Würdeſt du
es thun?
„Ich?!“ fragte er etwas unſicher und dachte an
Irmgard, „— ich glaube, das würde außerordentlich
nach meinen Stimmungen wechſeln. — — Aber ver¬
gleiche mich doch nicht mit deinem — — deinem — —.
Er iſt vielleicht fürchterlich konſequent und ernſthaft?“
Sie lachte leiſe auf, voll Schalkhaftigkeit.
„Nein, das iſt er nun doch nicht. Jung und lieb iſt
er, — von allen meinen Bekannten und Freunden der am
wenigſten ernſte. — Wir fingen nicht grade mit der Philo¬
ſophie an, — er hatte keine Ahnung, daß ich mit der
was zu thun gehabt hatte. Im Gegenteil, er hielt mich
urſprünglich für recht leichtlebig, — weil ich ſo frei zu
leben ſchien. — — Ihr ſeid eben rechte Menſchenkenner!“
fügte ſie mit einer kleinen verächtlichen Grimaſſe hinzu.
„Was ſagte er denn, als es ihm allmählich auf¬
ging, daß er einen promovierten Doktor vor ſich hatte?“
„Ach, das iſt ihm ja niemals aufgegangen. Davon
hat er nicht viel zu ſehen bekommen. — — Aber doch
ſagt er jetzt, er habe früher nicht gewußt, daß, man mit
einer Frau geiſtig ſo ſtark verſchmelzen könne, — und
[74]— 74 —hätte er es nur geahnt, ſo würde er mich von allem
Anfang an ſo anſpruchsvoll geliebt haben, wie jetzt, —
mit ſolchen Anſprüchen an alle meine Zeit und jeden
meiner Gedanken.“
Max Werner ſchwieg dazu und dachte ſich im ſtillen
mancherlei. Ein paar Minuten ließen ſie, ohne zu reden,
das Stimmengewirr der Menſchen um ſich herumſummen;
einer der Diener in Matroſenlivree kam zu ihnen mit
ſeinem ſilbernen Tablett voll Obſt und Süßigkeiten, ein
paar der Gäſte fingen an, ſie in ihrem Verſteck zu be¬
merken. Fenia ſchaute mit blinzelnden Augen in den
Kerzenglanz, ſie beobachtete nicht mehr, ſie träumte. Aber
immer noch lag die ſelige Ruhe über ihren Zügen aus¬
gebreitet.
„Weißt du noch, wie du mir mal auf dem Rewskij,
vor Paſettis Kunſtverlag, ſagteſt: das Koſtbarſte, was
Liebe giebt, das iſt Frieden?“ fragte Max unwillkürlich.
Sie nickte und atmete tief auf.
„Ja! Vom erſten Augenblick an war es ſo. Dank ihm,
daß ich Frieden kenne! Ein ſo tiefes Ausruhen und Ge¬
nügen. Nicht einmal Sehnſucht, — nicht Qual nach
mehr, — nicht alle dieſe innern Kämpfe, — wie er ſie
jetzt durchmacht. Ich verſtehe das einfach nicht. — —
Ich ruhe wie in einer Wiege, weißt du, — die leiſe ge¬
ſchaukelt wird, — darüber blauer Sommerhimmel, und
ringsherum blühende Wieſe, — hochſtehende, üppige
Wieſe voll Klee und langen Halmen, ſo wie ſie kurz vor
dem Mähen iſt, — — hier in Rußland haben wir ſo
wundervolle ſolche Wieſen. — — Oder vielleicht lieg
ich auch nur wie eine Kuh im friſchen Wieſengras mitten
[75]— 75 —unter den gelben Butterblumen, — ſo friedlich proſaiſch.
Nein, ich kann nicht nachdenken. Ich bin ſo glückſelig
verdummt. — Es langt grade noch, um drüben die blöde
Unterhaltung mitzumachen,“ fügte ſie hinzu und erhob
ſich aus ihrer läſſigen Haltung, weil einige der Gäſte
auf ſie zukamen. —
Als Max Werner dieſen Abend heimging, mußte er
viel an Fenia denken, und in der Nacht ſchlief er un¬
ruhig und träumte von ihr. Sie trug einen Kranz von
gelben Ranunkeln im Haar und ſaß im Gras. Wie er
ſich aber zu ihr ſetzen wollte, wehrte ſie ihn ab und ſagte,
er ſolle beſſere Haltung vor ihr bewahren, denn ſie ſei
die Wieſenherzogin. „Ach, Fenitſchka, warum haſt du
nur gelbe Ranunkeln auf dem Kopf, — Roſen würden
dir viel ſchöner ſtehn,“ bemerkte er zu ihr, auch noch
im Traum galant, und wagte nicht ſich hinzuſetzen.
Sie aber ſah ihn mit demſelben ſtrengen Blick an, wie
geſtern bei ſeinem Vorſchlag, ihren Freund bei ihrem
Onkel einzuführen, und entgegnete mit herzoglicher Hoheit:
„Auch die Ranunkeln färbt dieſelbe Sonne.“
Er erwachte durch die Anſtrengung, dies tiefe Wort
gehörig zu enträtſeln. Es war ſchon ſpät am Vormittag,
und er beſchloß, in die Eremitage zu gehn. Unterwegs
jedoch traf es ſich, daß er ſtatt deſſen zu Fenia in ihre
Wohnung hinaufſtieg.
Zu ſeinem Bedauern fand er ſie nicht zu Hauſe.
An dieſem Morgen war er ein wenig verliebt in Fenia;
er wußte nicht, ob ſein Traum hiervon die Urſache, oder
die Wirkung ſei.
Langſam und etwas mißmutig ging er den Weg
[76]—76 —nach ſeinem Hotel zurück. Es ſchneite ſchwach, in win¬
zigen, harten Körnchen, die an Hagelgraupen erinnerten
und auf dem Sand, womit die Trottoirs beſtreut
waren, weiß und rund liegen blieben wie Perlen. Der
Himmel hing tief, tief herab, grau und lichtlos, und
unter ſeinem gleichförmigen Schiefergrau ballten und
ſtopften ſich noch große weiße Wolken gleich Federkiſſen;
es ſah wahrhaftig aus, als habe der Himmel droben ſich
gut auswattiert, um ſich vor der Kälte bei den Men¬
ſchenkindern unten zu ſchützen.
Unterwegs traf er Fenia. Er ſah ſie auf der an¬
dern Seite des Trottoirs und ging über den Straßen¬
damm auf ſie zu; ſie bemerkte es, blieb ſtehn und war¬
tete auf ihn.
„Ich hatte dir einen Beſuch zugedacht,“ ſagte er,
während ſie ſich die Hand ſchüttelten, „fand dich aber nicht,
und fürchtete ſchon, dich heute nicht mehr zu ſehen. Da¬
her bin ich dem Zufall jetzt doppelt dankbar.“
Sie ſah ihn lächelnd und nachdenklich an.
„Ich bin ihm auch dankbar!“ entgegnete ſie, —
„deinen Beſuch hätt ich nämlich nicht angenommen —.
Keinen Beſuch, der heute kommt. — Und nun, wo ich dich
unerwartet treffe, merk ich, daß ich mich drüber freue,
mit dir zu gehn und zu plaudern. — — So wenig
kennen wir uns ſelbſt.“
„Woher kommſt du denn?“ fragte er im Weiter¬
gehn.
„Von einem zweckloſen Hin- und Hergehn. Ich
ertrug's in der Stube nicht. Ertrag's aber auch draußen
nicht. Ich habe entſetzliche Sorgen, Max. — — Denke
[–77–]–77–dir, — vielleicht kann ich ‚ihn‘ nur noch wenige Male
wiederſehen.“
Er blieb ſtehn.
„Wie das, — warum?!“
„Es hat ſich ſo zugeſpitzt — all das mit den Heim¬
lichkeiten. Wir ſind nicht mehr ſicher, — nirgends mehr.
Es geht einfach nicht mehr. Es geht abſolut nicht,“
„— Und gar kein Ausweg? man findet ihn ja doch
ſchließlich in ſolchen Fällen,“
Fenia ſchüttelte den Kopf.
„Im Auslande zu leben wäre einer, — ja. Aber
ich bin hier durch meine Stellung gebunden, und habe
keine andern Exiſtenzmittel. Und im Ausland wär
es dasſelbe — in einer Stellung. Es ſcheint, man muß
reich ſein dazu. Lehrerinnen ſind, ſcheint es, davon aus¬
geſchloſſen.“
„Aber deshalb könnt ihr doch nicht auseinander¬
gehn?!“
Fenia lachte dazu unwillkürlich. Ihr ganzer froher
Unglaube an irgend ein Auseinandergehn lachte aus
ihren Augen. Aber die Augen waren gerötet wie vom
Weinen.
„Wir haben eben die Wahl zwiſchen zwei Unmög¬
lichkeiten,“ ſagte ſie, noch lächelnd, und ging langſam
weiter, „— ich war ſo tief im Glück und Frieden, weißt
du, daß ich noch ganz dumm bin: ich begreif’s noch gar
nicht, daß es Sorgen giebt — im Himmel.“
Sie ſtanden an ihrer Hausthür.
„Höre, Fenia,“ bat er, „laß uns doch noch ein
wenig zuſammen bleiben, — kann ich nicht hinein?“ —
Sie hatte die Thür geöffnet, und der Portier mit
den Silberlitzen kam dienſtbefliſſen herbei, wollte hinter
ihr ſchließen, und händigte ihr zugleich zwei inzwiſchen
eingelaufene Briefe ein.
Fenia blieb auf der Schwelle ſtehn, beſah die Brief¬
adreſſen und bemerkte dabei zu Max:
„Ich beabſichtigte eigentlich noch nicht, hinaufzugehn,
wir können alſo gern noch ein wenig draußen bleiben,
— aber ich erwartete Nachrichten, und deshalb“ — ſie
warf einen ſchalkhaften Seitenblick auf ihn und fügte
hinzu: „— Dieſen einen, ſiehſt du, der ohne Marke her¬
gebracht worden iſt, den muß ich gleich leſen. Es han¬
delt ſich um die Verabredung einer Stunde zu heute —
oder morgen.“
Er ließ ſie leſen, während ſie die Straße lang¬
ſam entlang ſchritten, und muſterte dabei ungeduldig
den Sand und Schnee auf dem Trottoir zu ſeinen Füßen.
Heute morgen kam ihm Fenias Auserwählter etwas in
die Quere.
Als Fenia aber den Brief eingeſteckt hatte und, wie
ihm ſchien, Minuten vergingen, ohne daß ſie ſprach,
ſah er ſcharf nach ihr hin.
Der Ausdruck ihres Geſichtes hatte ſich ganz ver¬
wandelt, — zum Erſchrecken verwandelt hatte er ſich.
Sie war erblaßt, um den Mund ein geſpannter, ner¬
vöſer Zug, ihre Augen blickten mit einer gewiſſen ver¬
wirrten Anſtrengung grade vor ſich hin.
„Fenia!“ ſagte er halblaut, „— was iſt dir? was
iſt denn geſchehen? Steht im Brief irgend etwas
Schlimmes?“
[79]— 79 —
„Iſt er tot, — — — untreu?“ fuhr es ihm durch
den Kopf, und er konnte ſeine eignen Gefühle dabei
nicht recht deutlich unterſcheiden.
„Nein, — nein!“ widerſprach ſie haſtig, „— es iſt
nur, — ja, etwas Schlimmes.“
„Kann ich es nicht wiſſen? — — Nein, natürlich
nicht, wenn du nicht magſt.“ —
„Doch, — warum denn nicht? — — Es iſt ja,“
— ſie ſtockte, und ſetzte dann leiſe, faſt ſcheu hinzu:
„Er will, daß wir uns heiraten ſollen.“
„Heiraten!“
Er rief es zuerſt ganz konſterniert; gleich darauf
bemerkte er aber ſelbſt: „Ja, lieber Gott, warum auch
nicht? Das iſt doch eigentlich ganz natürlich? Haſt du
denn nicht ſelber ſchon an dieſes Ende gedacht?“
„— Ich? — Nein, — ich, — es ſchien ja aus äu¬
ßern Gründen zunächſt ſo ganz unmöglich, — ich meine:
es ging eben noch nicht, — ſo daß man nicht daran
denken konnte, — — nicht zu denken brauchte,“ er¬
widerte ſie, noch ebenſo ſcheu und verwirrt, — bedrückt.
„Nun — und jetzt?“
„— Er hat irgend eine Anſtellung im Süden er¬
halten, — was weiß ich, ach, ich weiß nicht. —
— Mir iſt ſo furchtbar zu Mut,“ ſagte ſie hilflos, und
ſah aus, als ob ſie gleich anfangen wollte loszuweinen.
Max Werner bog in eine kurze breite Nebenſtraße
ein, wo ſie vor der Menſchenmenge auf dem Newskij¬
proſpekt ſicher waren. Nur ein paar Kinder rutſchten
ſpielend und ſchreiend auf einem ſchneefreien Eisſtreifen
längs dem Damm umher.
„Aber, Fenitſchka, auf dem Gut, während der Hochzeit
meiner Schweſter, warſt du ja noch ſo vollgeſtopft mit
den allergraulichſten Ehebetrachtungen!“ ſagte Max Werner
beruhigend, „— willſt du denn nicht —“
Sie blieb ſtehn und ſah mit ihren großen, klaren,
ſo eigentümlich ſeelenoffenen Augen zu ihm auf.
„Iſt es dir jemals ſo vorgekommen, — in dieſer
ganzen Zeit, — als ob ich heiraten wollte?“
„Nein, — das wohl nicht,“ gab er zu, „aber es
mußte ſchließlich —“
„Ich konnte es auch gar nicht wollen!“ unterbrach
ſie ihn, „ſage mir, will es denn etwa einer von euch,
— will es ein junger Menſch zum Beiſpiel, der ſeine ganze
Jugend drangeſetzt hat, um frei und ſelbſtändig zu wer¬
den, — der nun grade vor dem Ziel ſteht, — auf der
Schwelle, — der das Leben grade um deswillen lieb ge¬
wonnen hat, — um des Berufslebens willen, um der
Verantwortlichkeit willen, um der Unabhängigkeit willen!
— Nein! Ich kann es mir einfach nicht als Lebensziel
vorſtellen, — Heim, Familie, Hausfrau, Kinder, — es
iſt mir fremd, fremd, fremd! Vielleicht nur jetzt, —
vielleicht nur in dieſer Lebensperiode. Weiß ich's? —
Vielleicht bin ich überhaupt untauglich grade dazu. — —
Liebe und Ehe iſt eben nicht dasſelbe.“
Sie ſprach raſch und erregt, ſie vergaß ganz, wo
ſie war, und lehnte ſich einfach mit dem Rücken gegen
eine Hausmauer, vor der ſie gerade ſtanden. Dies war
ſicher kein geeigneter Aufenthalt für eine ſolche Unter¬
haltung; Max Werner fürchtete, ſie könnte mit ihrem
Tuchpelz an der weißbeworfenen Hauswand feſtfrieren,
[81]— 81 —und außerdem rieſelten die kleinen, feinen, runden
Schneekörnerchen unabläſſig um ſie nieder. Aber da¬
bei war er ſelbſt in einiger Spannung und Erregung;
er war, offen geſtanden, bezüglich des Mannes, der da
ſoeben Fenia einen Heiratsantrag gemacht hatte, nicht ganz
ohne Schadenfreude, — — aber da hinein miſchte ſich
ein ganz ſonderbares Gefühl, — faſt ein verblüfftes,
beleidigtes, — faſt, als ſei er es, den ſie abgewieſen
habe. — — Das war die Verblüffung über ihre Worte,
— Worte einer Frau, die ganz ſo ſprach, als ſei ſie
ein Mann, und als ſei es eine unerhörte Zumutung,
einen Mann, ſeinesgleichen, zu heiraten. —
„Das iſt mir denn doch noch nicht vorgekommen,
Fenitſchka,“ ſagte er, und trat von einem Fuß auf den
andern, denn ihn fror ſehr, „— dieſe ſpitzfindige Unter¬
ſcheidung zwiſchen Liebe und Ehe. — Wenn du deiner
Liebe ſicher biſt, dann dürfen dich auch die Schwierig¬
keiten des Ehelebens nicht abſchrecken, — die wahre
Liebe ſetzt ſich drüber hinweg, — glaube ich. Und dann,
ſiehſt du, ſoll es ja auch grade ſo ſchön ſein, alles mit¬
einander zu teilen, — und beſonders, wenn es für im¬
mer iſt, — und ſelbſt wenn Krankheit, oder Sorge, oder
ſonſtige Unannehmlichkeiten mitunterlaufen, — nun, ſo
hat man doch dafür ein wahrhaftes, wirkliches Stück
Leben miteinander gelebt, — und grade das will die
Liebe, — ſie will doch nicht etwa nur den Genuß? O
nein, bewahre! ſie hat ſozuſagen die Tendenz zur Ehe.“
Fenia hörte ganz anfmerkſam, mit zur Seite ge¬
neigtem Köpfchen zu; unendlich lieb ſchaute ſie dabei
aus, mit ihren halbgeöffneten Kußlippen, — wie jemand
Lou Andreas-Salomé, Fenitſchka. 6[82]— 82 —ungefähr, der einer gar erſtaunlichen Mär und Kunde
lauſcht.
„— Denkſt du das wirklich?“ fragte ſie zweifelnd
und erwartungsvoll, „— ich meine, denkſt du ſo im
tiefſten Ernſt? Haſt du denn jemals dieſe Dinge ſo em¬
pfunden, wie du da ſagſt, — grade ſo?“
„— Ich? — — Nun, ich ſelbſt grade nicht.
— — Aber ich hab es von andern gehört,“ bemerkte
er etwas kleinlaut.
Sie bückte enttäuſcht den Kopf.
„Von andern gehört!“ wiederholte ſie.
Sie that ihm leid. Offenbar hatte ſie von ſeinen halb
ironiſch gemeinten Worten eine Art von Hilfe in ihren Zwei¬
feln erwartet, — war er doch ihr Freund! Es drängte
ihn über die Maßen, ſie wieder beruhigt und heiter zu ſehen.
„Aber Fenitſchka,“ redete er ihr zu, „was kommt
denn auf mich an! Bin ich denn ein Vorbild auf dieſem
Gebiet?! — Nein, — nicht wahr? Und überhaupt, was
ſo ein Mann darüber ſpricht! Ihr Frauen empfindet
ſchließlich doch anders, — beſſer, feiner. — Aus der
Ueberzeugung heraus ſprach ich. Glaube mir, ihr wollt
im Grunde doch die Dauer und vollkommne Zuſammen¬
gehörigkeit, — das weiß ich von der, die mich lieb hat,
Fenia. Denn wollte ſie das im Grunde nicht, wollte
ſie nicht ſo inbrünſtig das ganze Leben mit mir teilen,
ſo wär es ja keine rechte Liebe, ſondern nur eine —
eigentlich eine reine Sinnen —“
„Sondern nur eine rein ſinnliche Leidenſchaft, —
nur eine ſinnliche,“ ergänzte Fenia mit bedeckter Stimme,
ſah ihn an, und wurde plötzlich blaß.
„Ach Unſinn, Fenia, — ich —“
Sie antwortete nicht, ſondern ſtand nur regungslos
da, und in ihren Mienen prägte ſich etwas ganz Er¬
greifendes aus, das ihn verſtummen machte.
Wohl ſchaute ſie ihn noch an, aber ſichtlich ohne
ſich deſſen bewußt zu werden, wohin ſie gerade ſchaute;
ihre ganze Seele war nach innen gekehrt, — hielt gleich¬
ſam den Atem an.
Ihre Augen öffneten ſich weit, eine Art von Ent¬
ſetzen flog durch ſie hindurch, es war, als ſchlüge eine
plötzliche Erkenntnis, einem Blitze gleich, ihr mitten durch
die Seele.
Und langſam ergoß ſich über ihre Wangen, ihre
kleinen Ohren, über den Hals, ſoweit das Pelzwerk da¬
von einen Fleck ſehen ließ, — eine warme tiefe Röte,
— immer flammendere Röte. Und ehe Max Wer¬
ner ſich's verſah, wandte ſie ſich von der Hausmauer
fort, an der ſie lehnte, und enteilte ihm plötzlich mit
ſchnellen Schritten.
„Fenia! Fenitſchka!“ rief er beſtürzt, und griff un¬
willkürlich nach ihr. Aber er griff ins Leere. In we¬
nigen Sekunden ſchon war ſie um die Ecke gebogen, und
entſchwand ihm unter den Menſchen, die auf der Haupt¬
ſtraße vorüberſtrömten.
Der Eindruck war ein ganz ſeltſamer. Obgleich ſie
mit geſenkten Stimmen zu einander geredet, — und
mehr noch geſchwiegen, als geredet hatten, war ihm mit
ihrem Verſchwinden doch, als ſei mit einemmal eine laute,
gewaltige Unterhaltung verſtummt.
Still, ganz totenſtill lag die breite Nebenſtraße, wo
[84]— 84 —ſie geſtanden, plötzlich da, wie eine ſchlafende ver¬
ſchneite Welt.
Und ganz verwunderlich klang aus dem tiefen Schnee
jetzt wieder das helle Geſchwätz der beiden umherrutſchen¬
den Kinder auf dem Fahrdamm und tönte hinter
Fenitſchka drein.
[]
Max Werner hatte das Gefühl, daß er Fenitſchka
nach dieſer Begegnung nicht gleich wieder aufſuchen dürfe,
— daß ſie augenblicklich keinem Menſchen Geſellſchaft
brauchen könne. So ließ er den ganzen nächſten Tag
verſtreichen, ohne ſie zu ſehen.
Ein Brief von Irmgard kam am Vormittag; er
beantwortete ihn ſofort, und berechnete zugleich das
Datum ſeiner Ankunft in München.
Seine Abreiſe aus Rußland war von ihm längſt
auf dieſe Tage feſtgeſetzt worden, aber noch nie hatte
es ihn ſo gedrängt, wie heute, Irmgard wieder in die
Arme zu ſchließen. Und Fenia, trotzdem er ſich erſt
geſtern ein wenig in ſie verliebte, trug die Schuld daran.
— Denn plötzlich wollte es ihm weit weniger ſelbſtver¬
ſtändlich erſcheinen als bisher, daß Irmgard ihn ſo ſtark
und treu liebe, wie ſie es that, — es drängte ihn da¬
her, ihr das Geſtändnis ihrer Liebe aufs neue aus den
Augen und von den Lippen zu leſen.
Im Grunde wußte er wohl: der Zweifel, der über
Fenia gekommen, konnte über Irmgard niemals kom¬
men, — ganz zweifellos liebte ſie ihn und ging ganz in
dem Wunſch auf, mit ihm für immer das Leben zu
teilen, — in jedem Sinn es mit ihm zu teilen. Ja,
[86]— 86 —er wußte es, aber es beglückte ihn anders als bisher,
und ſtimmte ihn dankbarer, weicher.
Er ſagte ſich, daß er für Irmgard von vornherein
glücklicherweiſe mehr bedeute, als für Fenia ein Mann
augenblicklich bedeuten konnte. Er bedeutete für ſie
zugleich das einzige ſie belebende Geiſteselement inmitten
ihrer konventionellen Familienkreiſe, — er hatte mit
ihrer Liebe, ihren Sinnen zugleich auch ihre geiſtigen
Bedürfniſſe geweckt und angeregt, ihre geiſtige Sehnſucht
auf ihn und ſeine Entwickelung bezogen.
Das machte ſeiner Meinung nach einen gewaltigen
Unterſchied! Wenn ein Mann mitunter eine Frau weniger
tief und abſolut liebt, als ſie ihn, ſo mochte es nicht zum
wenigſten damit zuſammenhängen, daß ſie für ſein ge¬
ſamtes Geiſtesdaſein meiſtens eine geringere Bedeutſam¬
keit beſeſſen hat, als er für ſie. Er erholt ſich mehr
bei ihr, als daß er ihrer außerhalb der Liebe bedarf. —
— — So erholte Fenia ſich vielleicht von ihren eignen
geiſtigen Kämpfen und Anſtrengungen bei dem Mann ihrer
Liebe. Nach Jahren konzentrierteſter Studien, aſketiſchen
Lebens eine unbewußt vollzogene, ganz naiv hingenom¬
mene Reaktion —. Erſt der Heiratsantrag rührte ihre
friedlich ruhenden Gedanken darüber plötzlich auf, ließ
ſie erwachen, — ſich klar werden.
Dem andern mußte die Vorſtellung, daß ſie ihn
nicht genügend liebe, um ihr ganzes Leben an ihn zu
binden, natürlich völlig fern liegen. Man nimmt ja
wohl von minderwertigen Frauen an, daß ihre Neigung
eventuell der Tiefe und Treue entbehren werde, — hoch¬
ſtehenden Frauen gegenüber erſcheint es als ein Sakri¬
[87]— 87 —legium. Und doch, fragte ſich Max Werner, können
dafür denn nicht dieſelben Gründe maßgebend ſein, die
den Mann ſo leicht dazu verführen, ſeiner Liebe nur
einen Teil ſeines Innern zu öffnen, ihr Grenzen zu ziehen,
ſie neben, und nicht über ſeine ſonſtigen Lebens¬
intereſſen zu ſetzen? Die Frau, die ihr Leben ganz ſo
einrichtet und in die Hand nimmt wie der Mann, wird
natürlich auch in ganz ähnliche Lagen, Konflikte und Ver¬
ſuchungen kommen wie er, und nur, infolge ihrer langen
anders gearteten Frauenvergangenheit, viel ſchwerer daran
leiden.
Am Nachmittag traf er den alten Baron Ravenius
auf der Straße und erfuhr von ihm, das Fenia krank
ſei, — wenigſtens habe ſie Hausarreſt.
„Wahrſcheinlich hat ſie ſich in ihrem Eifer über¬
arbeitet!“ fügte der Baron bekümmert und kopfſchüttelnd
hinzu.
Max ging ſofort zu ihr. Noch während er die
Treppe hinaufſtieg, öffnete ſchon die Wirtin im Kattun¬
morgenrock die Thür zum erſten Stockwerk und blickte
mit einem widerwärtigen Ausdruck ſpähender Neugier
heraus, wer da komme. Als ſie ihn erkannte, verän¬
derte ſich ihre Miene, ſie war etwas enttäuſcht und wurde
zugleich wohlwollender.
Er gab ihr ſeine Karte und ließ fragen, ob Fenia
ihn empfangen könne. Der Beſcheid kam ſofort zurück,
er möge nur eintreten.
Fenias Zimmer war künſtlich verdunkelt. Die Vor¬
hänge vor dem Fenſter waren niedergelaſſen, und ſie ſelbſt
lag, in einem Schlafrock von feinem weichem Stoff, auf
[88]— 88 —ihrer Ottomane ausgeſtreckt, das Haar in zwei hängen¬
den Flechten und die Hände hoch über dem Kopf ver¬
ſchränkt.
„Was, Fenitſchka, — du biſt krank?“ fragte er beim
Eintreten und kam zu ihr.
Sie ſchüttelte den Kopf.
„Bin nicht krank. Möchte nur dafür gelten.
Menſchen ſehen, ausgehn, ausfahren, iſt mir jetzt un¬
leidlich, — nein, unmöglich. Ich danke dir aber, daß
du da biſt.“
Möglich, daß ſie nicht krank war, aber ſie ſah ganz
ſo aus. Selbſt in dieſer künſtlichen Dämmerung ſah ſie
blaß und erſchöpft aus, und unter ihren Augen zogen
ſich tiefe Schatten. „Fenitſchka,“ bemerkte er, indem er
einen Stuhl zu ihr heranzog, „mir öffnete vorhin deine
Wirtin die Thür, — widerwärtig ſchaute das Frauen¬
zimmer heraus, — wie das ſchönſte Exemplar von einem
Spion. Iſt es dir nicht aufgefallen?“
„Ja, ſie iſt jetzt ganz beſonders neugierig und mi߬
trauiſch geworden. Sie achtet darauf, wer zu mir kommt.
— — Wenn jetzt ein Klatſch entſteht, ſo entſteht er von
hier aus. Ich habe ſelbſt ſchuld dran.“
„Aber dann darfſt du hier doch nicht bleiben! Den
Hals umdrehen werd ich der Kanaille! Seit wann iſt
es denn?“
„Ich war unvorſichtig. — — ,Er' iſt einigemal
hier geweſen,“ entgegnete Fenia apathiſch.
„Das hätteſt du ſchon lieber vermeiden ſollen,“
ſagte er beſorgt, „warum auch grade hier?“
Sie zuckte die Achſeln.
[89]— 89 —„Uns auswärts zu treffen, iſt uns ja auch ſchlecht
bekommen. — — Ach, laß doch! Es liegt ſo gar nichts
dran,“ fügte ſie freundlich hinzu.
Ihre Stimme fiel ihm auf. So ſanft und lieb
klang ſie, daß ſie Rührung in ihm weckte. Aber ein ſo
matter Ton klang darin mit, — — und weckte auch
Sorge, wie man ſie etwa am Krankenbett von leb¬
haften Kindern fühlt, wenn ſie plötzlich gar zu artig und
gut werden. —
Sie ſchwiegen eine Zeitlang.
Endlich ſagte er:
„Ich war geſtern nicht bei dir, weil ich nicht wußte,
ob du mich ſehen wollteſt. Aber gedacht hab ich an
dich — —“
Sie unterbrach ihn mit einem Lächeln:
„Ich auch an dich. Und an die erſte Zeit unſrer
Bekanntſchaft — weißt du? Denk' nur — mir hat
ſogar in der Nacht davon geträumt.“
„Von Paris?“
Sie richtete ſich etwas auf, ſtützte ſich mit der
einen Hand auf das Polſter der Ottomane und ſah ihn
an. Das Stirnhaar hing ihr ein wenig wirr ins
Geſicht.
„Verſtehſt du dich auf Traumdeutung? — — ach,
übrigens Unſinn, — aber ich will dir erzählen. — —
Es war in Paris, ja. In dem Nachtcafé, weißt du?
Ihr ſaßet alle da am Tiſch, — ganz wie damals. — —
Und ich war auch da. Aber ich war nicht bei euch am
Tiſch.“
„Sondern?“
[90]— 90 —
Sie legte ſich wieder zurück, und ſchloß die Augen.
„Sondern irgendwo da. — — Irgendwo unter den
Griſetten.“
„Ich verſtehe nicht recht, Fenia. Das iſt ja ein
ganz dummer Traum.“
„Nicht ſo dumm, wie du meinſt — —. Aber
woher ſollten Träume eigentlich auch klug ſein? Ich
glaube, unſre klugen Gedanken wirken nur wenig mit
am Traumgewebe. — — Nein, alle die klugen Gedanken,
die wir uns ſo allmählich erwerben, alle die aufgeklärten
und vernünftigen Anſichten, die träumen wir wohl nur
wenig. — — Im Traum taxieren wir uns anders,
— uns und die Dinge, — verworren und wirr vielleicht,
aber doch ſo ganz naiv.“
„Aber was redeſt du nur eigentlich, Fenia? — —
Du taxierteſt dich im Traum —? Nun, und?“
„Nun, und da fand ich offenbar, daß ich mitten
unter die Griſetten gehörte.“
Er ſprang unwillkürlich auf.
Ein kurzer Laut des Unwillens entſchlüpfte ihm.
Er wollte gegen ſie aufbrauſen, gegen dieſe Selbſt¬
erniedrigung, die ihn empörte und für ſie beleidigte, aber
er beſann ſich.
„Du biſt krank,“ ſagte er, „du biſt es wirklich, wie
könnteſt du ſonſt ſo ganz den Kopf verloren haben. —
Fenia, ich erkenne dich gar nicht wieder. Wußteſt du
denn nicht, was du thateſt? —“
„Nein, genau gewußt hab ich es erſt im Augen¬
blick, als ich mich binden ſollte. Bis dahin verwechſelte
ich es wohl — mit einer vollen, ganzen Liebe.“
[91]— 91 —
„Ich glaube, du verwechſelſt es jetzt — mit etwas
zu Geringwertigem. — Denn über die Wirkung wenig¬
ſtens war doch keine Täuſchung möglich, — über alles,
was dich ſo ſchön und ſelig erſcheinen ließ. Ich ſah es
doch ſelbſt, Fenia. Und du ſelbſt, ſagteſt du nicht ſo
wunderſchön: es gäbe dir Frieden?“
Sie verſchränkte die Arme wieder über dem Kopf,
und ſchaute mit einem ſonderbar ſtillen Ausdruck gegen
die Decke.
„Frieden!“ wiederholte ſie. — „Sieh, er wußte
wohl, daß von der Liebe keineswegs Frieden zu erwarten
iſt, — nein, durchaus kein Frieden. — Wie viel Schwanken
und Quälen, wie viel Seelenarbeit und Seelenwandlung
mag's geben, ehe ein Menſch ſich ſo tief in den andern
hineinpflanzt, — ja, ſo tief, daß die beiden nun wirklich
aus einer Wurzel weiter wachſen müſſen, wenn ſie ge¬
deihen wollen. — — So war's bei ihm, — und als
es nun ſo weit war nach allem Kämpfen, — da wurd
es ihm aber auch ſo klar und einfach, — ſo ganz klar,
daß wir eins ſind und einander die einzige Hauptſache
im Leben. — — Mit ſo guten, leuchtenden Augen
ſpricht er davon. — — Wie willſt du's da wohl ändern,
daß ich mich — daß ich mich ſchäme.“
Die letzten Worte ſtieß ſie undeutlich heraus, und
ſprang von der Ottomane auf.
„— Frieden —? Ja, es war ſo etwas, — ein ſo
träge ſeliges Ruhen war es. — Aber ſeitdem ich er¬
wacht bin, — ſeitdem ich ſo klar weiß, was es iſt,
und erkenne — — nein! ich kann's nicht ertragen!“
ſagte ſie plötzlich wild, „— mich ſelbſt kann ich nicht
[92]— 92 —ertragen in dieſem Zuſtand von —; fort muß ich, das
iſt es! Das Schwerſte, das Notwendigſte —“
„Fort von ihm?“ fragte er beſtürzt, „haſt du daran
gedacht?“
„Es ergiebt ſich von ſelbſt, wenn wir uns nicht
offiziell binden wollen. So wie die Lage ſich zugeſpitzt
hat. Heimlich können wir uns nicht mehr ſehen. Da¬
durch iſt er zuerſt auf den Entſchluß verfallen, um jeden
Preis die Heirat zu ermöglichen.“
„Und er weiß, — weiß er, daß du fort willſt von
ihm — ?“
Sie ſah ihn verſtändnislos an. Ihre Augen brannten
wie die einer Geſtörten.
„Nein. Wiſſen darf er's nicht. — — Wie käm
ich ſonſt fort —? Das begreif ich jetzt. Aber doch
wollt ich's ihm ſagen, — ich rief ihn dazu her.“
„Und was ſagteſt du ihm?“
„Was ich ihm geſagt habe?! Ich wollte ihm
ſagen, ihn bitten: geh fort von mir, — geh auf im¬
mer von mir fort! Aber ich bat ihn nur: bleib bei
mir! bleib bei mir!“
Und ſie warf ſich in ausbrechendem Schluchzen über
die Ottomane und vergrub ihr Geſicht in den Polſtern.
Max blieb daneben ſtehn, minutenlang, ſchweigend.
Er verſuchte dann, ihr gut zuzureden, aber ſie wehrte nur
mit der Hand ab, und hörte nicht auf zu weinen. End¬
lich murmelte ſie:
„Laß mich allein, — bitte, laß mich ganz allein!“
Da verließ er leiſe das Zimmer und ging, aufs
äußerſte beſorgt und beunruhigt, nach Haus. Den ganzen
[93]— 93 —Abend kam ihm Fenia nicht aus dem Sinn, — dieſe ganz
neue Fenia, die er gar nicht erkannte. Kein Menſch konnte
ihr jetzt helfen, und doch ſchien es ihm ganz unmöglich,
ſie in ihrer Seelenverfaſſung ſich ſelbſt zu überlaſſen.
Der nächſte Tag war ein Sonntag. Am Morgen
ſprach er ſchon gegen zehn Uhr wieder vor. Er fragte
die Wirtin, ob Fenia zu ſehen ſei, und erhielt darauf in
ihrem ſchlechten Franzöſiſch die kriechend-freundliche Ant¬
wort: „ja, ſie ſei ſicher zu ſehen, denn ſie erwarte ohne¬
hin Beſuch.“
In dieſem Augenblick ſtieß Fenia die Thür ihres
Zimmers zur Treppe ſelbſt auf. Als ſie ihn erblickte,
ſtand ſie wie verſteinert. Sie war im Straßenkleide, blaß,
ernſt, faſt kalt im Ausdruck, — völlig anders als geſtern.
„Das iſt ein großes Unglück!“ ſagte ſie, als die
Wirtin in ihrer Wohnung verſchwunden war, und ließ
ihn zaudernd auf der Schwelle ſtehn, „— ein wahres
Unglück iſt es, daß du gekommen biſt.“
„Mein Gott, Fenitſchka! ich will dich doch nicht
ſtören! ich komme ein andermal. Ich geh alſo wieder.“
„Nein, nein! es iſt unmöglich, daß du fortgehſt,“
verſetzte ſie, und faßte ihn beim Aermel, als er ſich wen¬
den wollte, „— verſteh doch! Er kommt gleich, — er
muß gleich eintreten —“
„Nun, und?“
„Nun, ich kann ihn nicht empfangen, wenn ich dich,
vor den Augen der Wirtin, nicht empfangen konnte.“
Er wollte etwas erwidern, da ging unten eine
Thür, jemand ſtieg die erſten Stufen hinauf.
Fenia zog ihn an der Hand in ihr Wohnzimmer.
[94]— 94 —Ueber ihr Geſicht flog etwas Aufblitzendes, das er nicht
verſtand, — irgend ein Gedanke kam wie eine Erleuch¬
tung über ſie.
„Geh hier hinein!“ ſagte ſie, und öffnete zu ſeinem
grenzenloſen Erſtaunen die kleine Thür zu ihrem Schlaf¬
ſtübchen.
„— Hier hinein —?!“
Sie blickte ihn mit tiefernſten, glänzenden Augen an.
„Biſt du mein Freund?“
„Das weißt du, Fenia.“
„Dann habe Dank, daß du gekommen biſt. Dann
leiſteſt du mir vielleicht in dieſem Augenblick den einzigen
Dienſt, den ein lieber, — nur ein lieber, naher Freund
mir leiſten kann. Bleib dort in der kleinen Stube,
bis — bis er wieder fortgegangen iſt. Du darfſt alles
hören, — es iſt nichts, was nicht ein dritter hören
dürfte. — — Aber wenn du hier wieder durchgehſt, —
beachte mich nicht.“
Er ſtarrte ſie an —. Etwas ſo Entſchloſſnes ſprach
heute aus ihrem Weſen — —; ſie kam ihm vor wie der
Fuchs, der ſich die eingeklemmte Pfote ſelbſt abreißt,
um ſich zu befreien.
Hatte ſie plötzlich erkannt, daß ſeine Anweſenheit
ihr helfen könnte, — etwa dazu helfen, „nur zu ſprechen,
was ein dritter hören durfte,“ um nicht wieder in die
Worte auszubrechen: „bleib bei mir, bleib bei mir“ — —?
Es blieb nicht viel Zeit zum Sichbedenken. Kaum
hatte Max die kleine Schlafſtube betreten, und war die
Thür hinter ihm zugefallen, als es ſchon an der Vorder¬
thür klopfte.
[95]— 95 —
Er ſah ſich in dem ſchmalen Raum, den das Bett faſt
ganz einnahm, flüchtig um, und lehnte ſich ans Fenſter.
Dort ſtand zwiſchen rot und blau geſtickten grauleinenen
ruſſiſchen Vorhängen ein Roſenſtock mit einer einzigen,
eben aufbrechenden Knoſpe. In der Wandecke daneben
brannte das ewige Lämpchen vor dem üblichen Mutter¬
gottesbild.
Max Werner fühlte ein heftiges Unbehagen. Welch
eine ſeltſame Rolle ſpielte er doch da in Fenias Leben!
Man vernahm nur undeutlich, was nebenan ge¬
ſprochen wurde, überdies redeten ſie ruſſiſch miteinander.
Trotzdem antwortete Fenia unwillkürlich mit halber
Stimme.
Daneben hörte man ein volles, weiches Organ,
— „ſeine“ Stimme. Er ſprach und lachte, wie man im
Glück lacht und ſpricht.
Nach kurzer Zeit wurde irgend etwas auf dem
Gang draußen laut. Es begann jemand vor Fenias Thür
ſo eigentümlich zu ſchlürfen und herumzutreten. Vielleicht
war es die Wirtin in ihrer abſcheulichen ſpionierenden
Neugier, — vielleicht auch nur ein Fremder.
Jedenfalls fingen ſie drinnen plötzlich an deutſch
zu ſprechen. Aber nun ließ Fenia ihre Stimme noch
mehr ſinken.
„Warum ſprichſt du nur ſo leiſe heute?“ fragte
„er“ ſie erſtaunt, „— deutſch verſteht ja hier keine
Seele. — Und weißt du wohl, grade daß du ſo rückſichts¬
los laut geſprochen haſt, — manchmal, bei Gelegenheiten,
wo es gefährlich war, — das liebte ich ſo an dir. Du
wollteſt nicht unvorſichtig ſein, — aber du vergaßeſt es
[96]— 96 —immer wieder, — deine Stimme wußte von nichts Heim¬
lichem, — ſie klang ſo kindlich und hell. — — Deine
helle Stimme! Immer hör ich ſie, wenn ich allein bin.
Deine Stimme — das biſt du.“
Nach einer Weile ſagte er:
„Nein, ich will nicht lange bleiben. Nicht, wenn
ich nur gewiß bin, — ganz gewiß, daß du in wenigen
Tagen zurückkehrſt. Iſt das ganz gewiß?“
„Glaubſt du mir nicht?“ fragte Fenia.
Max Werner wollte nicht zuhören. Es war albern
und lächerlich, hier zu ſtehn und das anhören zu müſſen.
Er lehnte ſich gegen das Fenſter und blickte hinaus. Die
Straße lag in ſonntäglicher Vormittagsruhe da. Von
ungezählten Kirchen begannen langſam, eine nach der
andern, die Glocken zu läuten. Die verſchiedenen Got¬
tesdienſte gingen zu Ende.
Es ſchien, daß drinnen Abſchied genommen wurde.
„Er“ ſagte, mit anderm Ton als bisher, ſchwer,
gepreßt:
„Ja, nur wenige Tage. — Aber ich weiß nicht,
wie mir iſt. — — Könnteſt du jemals vergeſſen, was
wir uns ſind, Fenia?“
In dieſem Augenblick erſt erinnerte Fenia ſich nicht
länger jemandes Anweſenheit. Es war, als ſtürze ſie
in die Kniee, oder an ſeine Bruſt, — in dieſem Augen¬
blick war ſie nur mit ihm allein. —
„Niemals! niemals!“ ſagte ſie weinend, außer ſich,
„niemals kann ich es vergeſſen, daß ich dein bin.“
Und mit einem Ausdruck, der Max durch alle Nerven
ging, fügte ſie hinzu:
„Ich danke dir! ich danke dir!“ — —
— — — — — — — — — — — —
Ein Stuhl wurde fortgeſchoben. Man vernahm
nichts mehr. Nichts als das Geläute der Glocken, das
lauter und lauter anſchwoll und mit ſeinen feier¬
lichen Klängen wie ein Lobgeſang das ganze kleine
Zimmer erfüllte, — — und alle Glocken ſangen und
klangen:
„Ich danke dir! ich danke dir!“
— — — — — — — — — — — —
Sie hatte ſich in dieſer Stunde für immer von ihm
getrennt, — getrennt aus einem unerträglichen Zwie¬
ſpalt heraus, in den ſie mit ſich ſelber geraten war, aber
ſie dankte ihm, — ſie riß ſich los, um entſchloſſen in eine
ganz andre Exiſtenz zurückzukehren, aber ſie dankte ihm,
— und wenn ſie an ihn zurückdachte, vielleicht noch in
ihren ſpäteſten Tagen, würde ſie denken wie heute, über
allen Zwieſpalt hinaus:
„Ich danke dir! ich danke dir!“
— — — — — — — — — — — — —
Als es nebenan längſt ſtill geworden war, und
Max die Thür öffnete und eintrat, ſtand Fenia am
Fenſter.
Sie wendete ihm den Rücken zu. Mit den Händen
hatte ſie in die Vorhänge hineingefaßt und ihr Geſicht
darin verborgen. Er ſah nur die gebeugte Rücken¬
linie, und es durchfuhr ihn das Gefühl, als hätte er
dies alles ſchon einmal erlebt —.
Aber er hatte nur in ſeiner Phantaſie Fenia ſchon
einmal trauernd und gebeugt geſehen. —
Stumm ſchritt er durch das Wohnzimmer, und ging
hinweg, wie ſie es gewünſcht hatte, ohne ſie zu beachten
oder anzureden.
Zwei Tage ſpäter reiſte er aus Rußland fort, ohne
Fenitſchka wiedergeſehen zu haben. Sie wollte es ſo.
Eine Ausſchweifung.
[][]Hier in meinem lichten Atelier iſt es endlich zur
Ausſprache zwiſchen uns gekommen, und nirgends anders
durfte es auch ſein, — denn von ſämtlichen Männern,
die ich gekannt, gehörſt du am engſten und intimſten in
alles das hinein, was mich als Künſtlerin angeht: mehr
vielleicht noch, wie wenn du ſelbſt ausübender Künſtler
wärſt. Wenigſtens kommt es mir immer vor, als übte
ich mit Kunſtmitteln das ein wenig aus, was du mit dem
ganzen Leben lebſt, in deiner reichen Art, die Dinge voll
und ganz zu nehmen und ihnen zu lebendiger Schönheit
zu verhelfen. Für ſolch ein volles, ganzes Ding nahmſt
du auch mich, und liebteſt darum mich vor allen andern,
— ich weiß es wohl. In meinen Bildern und Skizzen,
denen niemand ſo fein nachgegangen iſt wie du, ſchien
dir mein ganzes Ich enthalten zu ſein, und dahinter
— ach dahinter lag nur eine alte Jugendſchwärmerei,
die kaum von der Wirklichkeit berührt worden iſt. Du
haſt darin ja auch recht. Und doch — und doch —?
Warum trennten wir uns dann bis auf weiteres, warum
gehſt du jetzt umher mit zögernder, halb ſchon verſagen¬
der Hoffnung auf unſre Zukunft, — und ich, anſtatt in
fröhlicher Arbeit vor meiner Staffelei zu ſtehn, warum
ſitze ich hier am Tiſch gebückt, tief gebückt, und ſchreibe
[102]— 102 —und ſchreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in
meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn,
und mein Eingeſtändnis, daß ich nicht mehr kann, was
ich ſo heiß möchte, — nicht mehr mit voller Kraft und
Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein ausgegebener,
erſchöpfter Menſch wäre?
Handelte es ſich um Ueberwindung von Vorurteilen,
um zu vergebenden Leichtſinn und Fehl im üblichen Sinn,
— o handelte es ſich doch darum! Du, ſo ohne Be¬
denklichkeiten zweiten Ranges, du, der jegliches verſteht
und mitfühlt, würdeſt mir dadurch nicht verloren gehn.
Aber das iſt es nicht, und dennoch iſt es ſo: mich hat
eine lange Ausſchweifung zu ernſter und voller Liebe un¬
fähig gemacht.
Jetzt, wo ich mir das klar zu machen verſuche, kommt
der Gedanke voll Erſtaunen über mich: wie viel weniger
unſer Leben von dem abhängt, was wir bewußt erfahren
und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Ner¬
veneindrücken, die mit unſrer individuellen Entwickelung
ſchlechterdings nichts zu ſchaffen haben. Seit ich über¬
haupt denken kann, ſeit ich von eignen Wünſchen und
Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunſt entgegen¬
gegangen, habe ich mich an ihr entzückt, oder um ſie ge¬
litten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich wid¬
men durfte, in irgend einem Sinne ſchon im Umkreis
der ihr verwandten Senſationen gelebt. Und trotzdem
würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der
Kunſt kaum die Rede ſein, und kaum würde ſie ärmlichſten
Raum finden, rieſengroß aber müßte in den Vordergrund
treten, was doch in meinem individuellen Bewußtſein
[103]— 103 —kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft
undeutlich geblieben iſt.
An einem heißen Sommertag, weit hinten an der
deutſch-galiziſchen Grenze, wo mein Vater damals in Gar¬
niſon ſtand, ſaß ich einſt als ganz kleines Mädchen auf
dem Arm meiner frühern Amme und ſah zu, wie ſie
von ihrem Mann über den Nacken geſchlagen wurde,
während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen.
Der kraftvolle gebräunte Nacken, den ſie der Hitze wegen
offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als
ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte
meine galiziſche Amme mir ſo glückſelig ins Geſicht, daß
mein Kinderherz meinen mußte, dieſer brutale Schlag
gehöre zweifellos zu den beſondern Annehmlichkeiten ihres
Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der
Fall, denn weil ſie ſich, mit der faſt hündiſchen Anhäng¬
lichkeit mancher ſlaviſchen Weiber, geweigert hatte, unſer
Haus zu verlaſſen, nachdem ſie mich neun Monate lang
mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete ſie nun immer,
ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen
und weder Liebe noch Zorn für ſie übrig behalten. Jeden¬
falls prügelte er ſie oft, wenn er kam, und niemals
tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als
nach ſolch einem feſtlichen Wiederſehen.
Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach¬
her, — ja ſelbſt noch jahrelang nachher, — ſind mir ſpur¬
los verblichen. Aber etwas von der faſt wolluſtweichen
Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner
Amme in jenem Augenblick iſt mir ſpäter oft noch im
Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem
[104]— 104 —glückſeligen Klang ihres gedämpften Lachens und mit dem
Eindruck der brütenden Sonnenwärme um uns. Wer
will abwägen, wie unendlich zufällig, wie rein äußerlich
bedingt es vielleicht iſt, wenn mir bei dieſer Erinnerung
zum erſtenmal ein wunderlicher Schauer über den Rücken
gelaufen ſein mag? Sind es aber nicht tauſendfach Zu¬
fälle, die unſer verborgenſtes Leben mit heimlicher Gewalt¬
thätigkeit durch das prägen, was ſie früh, ganz früh, durch
unſre Nerven und durch unſre Träume hindurchzittern
laſſen? Oder liegt es vielleicht noch weiter zurück, und
zwitſchert uns, ſchon während wir noch in der Wiege
ſchlummern, ein Vögelchen in unſern Schlaf hinein,
was wir werden müſſen, und woran wir leiden ſollen?
Ich weiß es nicht, — vielleicht iſt es auch weder eines
Zufalls noch eines Wundervögelchens Stimme, die es
uns zuraunt, ſondern längſt vergangener Jahrhunderte
Gewohnheiten, längſt verſtorbener Frauen Sklavenſelig¬
keiten raunen und flüſtern dabei in uns ſelber nach: in
einer Sprache, die nicht mehr die unſre iſt, und die wir
nur in einem Traum, einem Schauer, einem Nerven¬
zittern noch verſtehn —.
Meine Eltern ſah ich immer nur in wahrhaft muſter¬
hafter Ehe, — in einer jener Ehen, die gewiß ſelten genug
vorkommen, wo das heranwachſende Kind in ſeiner
intimen Umgebung faſt nichts wahrnimmt, als wohl¬
thuende Harmonie ohne Erregungen. Mit dieſer Har¬
monie verhielt es ſich aber ſo: mein liebes Mütterchen
that alles, was mein Vater wollte, er aber alles, was
ich wollte. Seiner urſprünglichen Abſtammung nach
vielleicht wendiſchen Blutes, war er von beiden der Tem¬
[105]— 105 —peramentvollere, Glänzendere, voll von künſtleriſchen, wenn
auch vernachläſſigten Anlagen und der unſinnigſten Zärt¬
lichkeit für das einzige Kind, das auffallend ſeiner eignen
Familie mit ihrem dunkeln Ton und ihrer faſt ſüdlichen
Bläſſe nachſchlug. Er gab mir mit Enthuſiasmus den erſten
Zeichenunterricht und dispenſierte mich von allen bürger¬
lichen Kleinmädchenbeſchäftigungen. Meine gute Mutter
ſchüttelte wohl manchmal über uns beide den Kopf, doch
da ich an Heftigkeit des Temperaments und der Wünſche
dem Vater am meiſten glich, ſo liebte ſie mich am
hingebendſten grade in dem, worin ich ihr am frem¬
deſten war, und hieß alles gut. Ich aber ging inzwiſchen
umher und diente glückſelig jedem leiſeſten Wink dieſer
Eltern, deren Liebe in mir zuſammenlief, und alles nach
ihrem Willen aus mir hätte formen können wie aus er¬
wärmtem Wachs, das dem zarteſten Druck nachgiebt.
In meinem ſiebzehnten Jahre wurden wir von der
galiziſchen Grenze nach Brieg in Schleſien verſetzt, und
bezogen dort die ſchöne Obriſtenwohnung im Villenviertel
unten am Fluß. Von Brieg aus ſollte ich noch weiter
fort, ich ſollte nun endlich unter der Leitung eines tüch¬
tigen Lehrers der erſehnten Kunſt zugeführt werden. Von
dieſem Plan träumten mein Vater und ich auf das ernſt¬
lichſte, doch kam es ganz anders, weil er zu kränkeln
anfing, ſo daß keine Rede davon ſein konnte, ihn zu ver¬
laſſen. Ich aber, — ich verliebte mich über Hals und
Kopf in meinen Vetter Benno Frensdorff.
Von Benno hatte ich ſeit meiner Kindheit viel im
Hauſe ſprechen hören, und immer im Tone außergewöhn¬
licher Achtung. Er war, früh verwaiſt, mit Hilfe meiner
[106]— 106 —Eltern erzogen worden, und fiel ſchon als Knabe durch
den unheimlichen Fleiß auf, womit er, immer um be¬
zahlte Nachhilfeſtunden bemüht, das Gymnaſium abſol¬
vierte. Dann ſtudierte er Medizin, und befand ſich jetzt
als Hilfsarzt in der Kreisirrenanſtalt von Brieg, wo ich
ihn zum erſtenmal kennen lernte.
Die vorzüglichen Eigenſchaften, die man an ihm
rühmte, hatten mir nur einen ganz vagen Eindruck ge¬
macht. Aber eine andre ſeiner Eigenſchaften that es mir
augenblicklich an: Benno war ſchön. Schöne Menſchen
ſind immer mein ganzes Entzücken geweſen, und wenn
auch mein künſtleriſcher Geſchmack heute etwas andres
darunter verſteht als damals, ſo muß ich doch Benno
auch heute noch zugeben, daß er in ſeiner jungen Männlich¬
keit, mit dem ernſten blonden Kopf und dem hohen Jüng¬
lingswuchs, wie man ihn nicht oft findet, ganz auffallend
gut ausſah. Wenigſtens ſtach er genugſam von den ge¬
ſchniegelten Referendaren und Lieutenants ab, die auf
der Eisbahn und in den Kaffeekränzchen uns jungen Mäd¬
chen den Hof machten, und es gab ihm ſchon etwas
Apartes, daß er durchaus keine Zeit fand, mit uns
Schlittſchuh zu laufen und Kaffeekränzchen zu beſuchen,
ſondern ſchweigſam beiſeite ſtand und durch ſeine Brillen¬
gläſer jeden daraufhin zu beobachten ſchien, ob er nicht
auch in ſein Narrenhaus gehöre.
An Benno bin ich in einem erotiſchen und äſthe¬
tiſchen Rauſch zum Weibe erwacht; meine Neigung zu
ihm war ſo zutraulich und leidenſchaftlich zugleich, daß in
mir, die ja auch nur Liebe gekannt hatte, nie der ge¬
ringſte Zweifel an ſeiner Gegenneigung entſtand, obgleich
[107]— 107 —Benno mich nicht ſtark beachtete. Er hat mir ſpäter
geſagt, eine Werbung um mich ſei ihm bei ſeinen
geringen Zukunftsausſichten und bei ſeiner ſcheuen Dank¬
barkeit gegen meine Eltern ſtets ganz toll und undenk¬
bar erſchienen. So kam es denn, daß im Grunde ich
um ihn warb; mit berauſchter Zuverſichtlichkeit ging ich
ihm entgegen, näher, immer näher, und in kurzem war
ich ſeine Braut.
Sich ſo zu verlieben, hätte wohl auch einer andern
paſſieren können, ſelbſt mit anderm Temperament als
meines. Daß dieſe Liebe erwidert wurde und zur Ver¬
lobung führte, iſt ein unglücklicher Zufall; hätten wir
uns nun raſch heiraten können, ſo wäre wohl für mich
die Enttäuſchung auf dem Fuße gefolgt, oder aber
es würde die Mutterſchaft mich vielleicht in meinem
ganzen Weſen ſtark verwandelt haben. Von alledem trat
nichts ein, wir konnten noch nicht bald heiraten, und
unter den gefährlichen Liebkoſungen des Brautſtandes
ſteigerte ſich mein junger Liebesrauſch zu einer Sehnſucht
und Gemütsſpannung, die das ganze übrige Leben förm¬
lich entfärbte.
Um dieſe Zeit ſtarb mein Vater, indem er mit
tiefem Vertrauen meiner Mutter und mir Benno zum
Hüter und Berater beſtellte. Monate voll ſchwerer Trauer
folgten; meine Mutter und ich, die beiden unſelbſtändigen,
verwöhnten Frauen, warfen alle unſre Hoffnung auf
Benno allein.
Zunächſt wurde die Wohnung im Villenviertel ge¬
räumt und ein Haus bezogen, das neben der Irren¬
anſtalt ſtand, wo Benno ſein Dienſtzimmer hatte. Es
[108]— 108 —war ein altmodiſch gebautes Haus, in deſſen Erdgeſchoß
außer uns einer der angeſtellten Aerzte wohnte, über
uns aber der Rendant der Irrenanſtalt mit ſeiner Frau
und zwei Töchtern. Als wir dorthin umzogen, kam es
mir vor wie eine Ueberſiedlung nach einem ganz frem¬
den Ort, obwohl dieſes Brieger Viertel gar nicht weit
vom älteſten Mittelpunkt der Stadt, vom Rathaus und
von den Gartenanlagen auf dem ehemaligen Wallgraben,
entfernt iſt, und ich oft genug den mächtigſten Gebäude¬
komplex, den Brieg beſitzt, zum Himmel hatte aufragen
ſehen: die Kreisirrenanſtalt und das Zuchthaus. Aber
erſt jetzt ſah ich ſie wirklich: das erſte auf zwei Seiten
von ſchönem Park umgeben, das andre von einer haus¬
hohen Mauer umſchloſſen, die einen Kranz ſpitziger
Eiſenſtacheln trug, und an deren Fuß Haufen ſchneiden¬
der Glasſcherben lagen. Trotz dieſer Verſchiedenheit aber
glichen ſie einander im düſtern Geſamteindruck, den ſie
machten, beides Gefängniſſe leidender Menſchheit, von
denen die ganze Straße einen eigentümlich ſchwermütigen
Anſtrich erhielt.
Unſre Vorderfenſter ſahen gradezu auf das hohe
Mauerwerk mit den Eiſenſtacheln, durch die Seitenfenſter
des Wohnzimmers aber erblickte man, über den park¬
umſtandenen Hof des Irrenhauſes hinweg, die vergit¬
terten Scheiben der Abteilung für Tobſüchtige.
Am Abend nach unſerm Einzug, während die alten
zierlichen Barockmöbel mit ihren Goldleiſten und ge¬
ſchweiften Beinen noch ziemlich ratlos umherſtanden und
nicht recht wußten, wo in dieſen langen, niedrigen Stuben
unterzukommen, erfaßte mich ein Ausbruch wilder Ver¬
[109]— 109 —zweiflung. Meine arme Mutter war ſo erſchrocken, daß
ſie am liebſten gleich wieder fortgezogen wäre. Sie er¬
wog in aller Geſchwindigkeit ganz im Ernſt ſchon einen
ſolchen Plan.
„Denn wir müſſen ja nicht notwendig hier wohnen,
— nicht wahr, Benno? wir können es ja ſchließlich auch
in einer andern Straße,“ meinte ſie.
Benno hatte ſich kurz nach ihr umgewandt, er ant¬
wortete aber nichts, ſondern ging nervös im Zimmer auf
und ab. Erſt als meine Mutter hinausgegangen war,
um für das Abendbrot zu ſorgen, hielt er inne, kam auf
mich zu und umfaßte mich raſch und heftig.
„Adine!“ flüſterte er heiß an meinem Ohr, „— wenn
ich nun hier, grade hier mit allen meinen Zukunfts¬
ausſichten Fuß faſſe —? Und ich erhoffe das für uns!
Wirſt du mich dann auch allein hier am Irrenhauſe
wohnen laſſen?“
Ich ſah ihn zaghaft an.
„—Könnte das ſein? wird es — wird's ſo ſein?“
Er nickte nur leiſe.
Ich ſchwieg, und drückte mein Geſicht gegen ſeine
Schulter und umſchlang feſter ſeinen Nacken. Ich war
ſchon beſiegt, als er mich nur in die Arme nahm. Na¬
türlich blieb ich auch jetzt ſchon, wo er war, natürlich
wollte ich, was er wollte.
Auch für die Zukunft. Aber unſer gemeinſamer
Zukunftstraum, der ſich nun hier verwirklichen ſollte,
und etwas wie eine unverſtandene Angſt floſſen ſeltſam
ineinander über in einem ſchwachen Gruſeln, womit ich
mich leidenſchaftlicher, banger an ſeine Bruſt ſchmiegte.
Meine Mutter trat herein, und als ſie uns ſo zu¬
ſammenſtehen ſah, ſeufzte ſie erleichtert auf.
„Nun iſt wohl alles wieder gut?“ bemerkte ſie fra¬
gend, und ſah Benno an wie einen, der für alles Rat weiß.
Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit:
„Von Rechts wegen und meinen Wünſchen nach
müßte Adine in goldenem Königspalaſt wohnen. Aber
ſie hätte mich ja nicht lieb, bliebe ſie nicht hier.“
Die nächſten Tage ging ich umher und beobachtete
unausgeſetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung.
Meine tiefſte Aufmerkſamkeit erregte das Zuchthaus uns
gegenüber. Bisweilen konnte man zu einer beſtimmten
Morgenzeit einige Zuchthäusler ſehen, die gefeſſelt ſchräg
über unſere Straße zu irgend welcher Arbeit in einen
der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden. Seitdem ich
das bemerkt hatte, ſtand ich ſtundenlang mit müßig nie¬
derhängenden Armen am Fenſter und wartete auf dieſen
Anblick.
Benno traf mich dabei an und ſchüttelte unzufrieden
den Kopf.
„Du biſt ein kleiner Faulpelz geworden, Adine,“
ſagte er, „ich kann nicht begreifen, was dir dran liegt,
die Burſchen anzuſehen.“
„Ach, ſieh nur hin,“ verſetzte ich gequält, „ſieh nur,
wie ſie vorübergehn, ohne jemals den Blick zu heben.
Ich habe verſucht, ſie zu grüßen. Wir würden ſie doch
ſo herzlich gern grüßen, nicht wahr? Aber ſie ſehen es
gar nicht, ſie wollen es vielleicht gar nicht ſehen, — —
vielleicht haſſen ſie uns im ſtillen? — — und leben doch
ſo dicht bei uns, — ſo dicht, — bis ſie ſterben.“
„Du mußt eine vernünftige Beſchäftigung haben,“
antwortete Benno darauf, „du wirſt doch keine krank¬
hafte und ſentimentale Pflanze werden, Adine? Das
kommt nur vom Müßiggang.“
Er hatte mehr recht, als er wußte: Jahre nachher
iſt ein Sträflingskopf mein erſter künſtleriſcher Erfolg
geweſen. Die Möglichkeit, mich künſtleriſch in ſtrenger
Arbeit zu entwickeln, und mich auf dieſem mir einzig
natürlichen Wege von allen neuen Eindrücken zu ent¬
laſten, würde mich bald wieder froh gemacht haben.
Aber die Beſchäftigung, die Benno für mich im
Sinne hatte, führte mich in die Küche und an die Näh¬
maſchine. Meiner Mutter leuchtete das vollkommen ein,
es war ja auch die nächſtliegende Vorbereitung für mein
zukünftiges Leben.
Am Kochherd und bei der Nähmaſchine befreundete
ich mich mit der älteſten Tochter des Irrenhausrendanten,
der über uns wohnte, mit Gabriele, einem lang auf¬
geſchoſſenen, rothaarigen, ſommerſproſſigen Backfiſch. Sie
hatte unendlich viel im Hausſtand und für die kleine
Schweſter zu thun; obgleich ſie aber zwei Jahre jünger
war als ich, erledigte ſie alles immer außerordentlich
raſch und gut. Deswegen bewunderte ich Gabriele, wäh¬
rend ſie mich, trotz einer gewiſſen Liebe, etwas verachtete.
Eines Abends, als wir bei einer Näherei in meiner
Stube ſaßen, ſprach ſie es ganz offenherzig aus.
„Es iſt albern, daß du dich ſo mühſt, da du ja viel
lieber malen und zeichnen möchteſt,“ ſagte ſie, „ich will
dir nur ſagen, daß mir dieſe Arbeiten ganz ebenſo ver¬
haßt ſind wie dir.“
„Dir?! Aber Gabriele, dann machſt du es ja grade
wie ich!“ bemerkte ich voll Sympathie mit dem uner¬
warteten Leidensgefährten.
Sie ſchüttelte den Kopf.
„Ich thu's für ein Verſprechen: daß ich dann ſpäter
zum Oberlehrerinnenexamen lernen darf — in Berlin,“
verſetzte ſie, und konnte ein Lächeln der Genugthuung
nicht zurückhalten. „Manchmal lerne ich jetzt ſchon heim¬
lich des Nachts dafür vor — oder in Freiſtunden. Siehſt
du, das hat einen Sinn! Aber du — du willſt ja nur
heiraten.“
„Bin ja verlobt, Gabriele,“ ſagte ich leiſe und ſelig.
„Man ſoll nicht verlobt ſein,“ meinte Gabriele
geringſchätzig, und betrachtete ihre langen rötlichen Hände,
„— ein Mann, huh! ich könnte davonlaufen. Warum
du nur alles thuſt, was er will?“
„Ich möchte gern ganz ſo werden, wie er will,“
entgegnete ich unruhig, und fühlte plötzlich deutlich, daß
ich gar nicht ſo war, wie er wollte, und daß Gabriele
mir gewaltig imponierte. Sie that ja nur zum Schein
Frondienſte, in Wirklichkeit hatte ſie ihr eignes Ziel
dabei.
Gabriele bemerkte halblaut und dringend:
„Mal du doch auch heimlich! Zeichne heimlich. Hat
er's verboten?“
„Nein, nein!“ rief ich heftig, „er hat mir ſogar
vorgeſchlagen, Stunden zu nehmen. Aber ich —“
„Nun?“ unterbrach Gabriele mich geſpannt.
„— Ich glaube, ich liebe die ganze Kunſt nicht
mehr, — nur ihn,“ ſagte ich, faſt zitternd während ich
[113]— 113 —es ausſprach, aber im geheimſten Herzen war es doch nur
Furcht, die mich von meiner geliebten Kunſt hinweg¬
ſcheuchte, Furcht wie vor der großen Verführung, der
nichts widerſteht: ich fühlte, daß ſie mich losreißen würde
von allem, was Benno wollte, und was ich alſo ſelbſt
wollte, und mich ihm ganz fremd machen würde —.
Ich konnte Gabriele nicht einmal um ihre ſichere
Kampfesfreude gegen ihre ganze Umgebung beneiden,
denn ich war ja ſo leidenſchaftlich bereit zu unterliegen,
und ſollte ich ſelbſt darüber in tauſend Stücke gehn.
Das Ideal einer kleinen Brieger Hausfrau, das ihr nur
läſtig und lächerlich erſchien, und das ſie deshalb nur ſo
nebenher, mit halber Kraft, verwirklichte, trug für mich
geheimnisvolle Märtyrer- und Asketenzüge; ich ging einen
Weg der gewaltſamen Selbſtkaſteiung aus lauter hilf¬
loſer Liebesſehnſucht.
Die Folgen blieben nicht aus. Ich wurde blaß
und mager, und von immer krankhafterer Unſicherheit
und Reizbarkeit. Benno, der ohnehin die Grenzen des
Normalen allzu eng ſteckte, und bei all ſeinen eingeheimſten
Kenntniſſen doch noch wenig Lebenserfahrung beſaß,
ſchien beſorgt, meine Mutter fing an ratlos zu trauern.
Der ärztliche Ausdruck, der zuweilen in Bennos ohne¬
hin ſo ernſtem Geſicht vorherrſchte, machte mich noch
ſcheuer; ich war ja jetzt ſeiner Liebe keineswegs mehr
ſo naiv ſicher wie einſt: je untauglicher ich mir ſelbſt
für alles vorkam, was er mit mir vorhatte, deſto un¬
fehlbarer und autoritativer kam er mir vor, und ſeine
Liebe als etwas nur durch Selbſtüberwindung ſicher zu
Erringendes.
Durch dieſe gewaltſame Unterordnung unter ihn
vermiſchte ſich in meiner Leidenſchaft das Süßeſte mit
dem Schmerzlichſten, faſt mit dem Grauen. Das iſt ja
gewiß nicht der Fall, wo ein Weib ſchon an ſich viel
untergeordneter iſt als der Mann. Sonſt aber kann es
zu einer furchtbaren Würze der Liebe werden, zu einer
ſo ungeheuren Aufpeitſchung der Nerven, daß das ſeeliſche
Gleichgewicht notwendig verloren gehen muß.
Oft wenn ich abends ſchon zur Ruhe gegangen war,
hörte ich an den gedämpften Stimmen, die bis zu mir
herübertönten, wie Benno und meine Mutter noch lange
im Zwiegeſpräch bei einander blieben. Ich ahnte nicht,
was ſie miteinander berieten. Ich erfuhr es erſt, als ge¬
ſchah, was endlich geſchehen mußte: als Benno unſre
Verlobung auflöſte.
Seltſamerweiſe habe ich von dieſem entſcheidenden
Vorgang keine bis in die Einzelheiten präziſe Erinnerung
behalten. Kaum weiß ich noch, was er mir ſagte, —
nur meine eigne Stimme höre ich noch, und wie ich auf¬
ſchrie in Schmerz und Entſetzen, wie ich niederſtürzte
vor ihm und die Hände zu ihm aufhob —.
Von jener Stunde aber ging zwingend eine Macht
aus, die in meiner Phantaſie Bennos Bild übertrieb
und fälſchte, die ihn hart und grauſam, ſtreng und ſtark
bis zur Ueberlebensgröße erſcheinen ließ. Konnte es anders
ſein? Wär er ſonſt dazu imſtande geweſen, mich trotz
aller meiner demütigen Bemühungen unwürdig zu befin¬
den und hinwegzuſtoßen?
Meine Mutter weinte viel, gab ihm jedoch in allen
Stücken recht, und reiſte mit mir ins Ausland, wo ich
[115]— 115 —mich erſt erholen, dann aber ganz meinen alten Wün¬
ſchen gemäß entwickeln ſollte. Als ich von Benno fort¬
kam, meinte ich, daß er mich zu lauter jämmerlichen
Scherben zertreten habe. Lange Zeit litt ich halb be¬
ſinnungslos. Dann aber ſiegte das Glück, meiner Kunſt
leben zu dürfen, und erwies ſich als ſtärker als die alte
Jugendleidenſchaft. Einem Traum gleich, den man beim
vollen Erwachen nicht mehr feſtzuhalten vermag, ſank
ſie ins Schattenhafte hinab.
Meine Mutter zog ſpäter wieder zu Benno nach
Brieg, und nur im Sommer ſah ich ſie auf Wochen,
oder auch auf Monate bei mir. Ich ſelbſt verbrachte etwa
ſechs Jahre in tüchtiger Arbeit, bei manchen Entbehrungen
und Anſtrengungen, dann richtete ich mir hier in Paris
mein kleines Atelier ein, — und das war eine ſchöne
Zeit: eigentlich die erſte ganz ſorgenfreie, ganz erfolg¬
reiche Zeit. Zum erſtenmal atmete ich auf und nahm
das Leben endlich auch wieder von ſeiner heitern Ge¬
nußſeite.
Da, — vor einem Jahr ungefähr, es war gegen
Weihnachten, — entſchloß ich mich plötzlich zu einer kur¬
zen Heimfahrt.
Meine Mutter hatte ſchon in ihren Briefen dringend
darum gebeten, aber den Ausſchlag gab ein Brief von
Benno ſelbſt. Ich empfing ihn während eines kleinen
Einweihungsſchmauſes in meinem Atelier und konnte ihn
nur raſch, in Gegenwart von andern, durchleſen. Dennoch
machte der Anblick der altvertrauten Handſchrift mit ihren
feſtgefügten runden Buchſtaben einen ganz ſeltſam auf¬
regenden Eindruck auf mich.
Benno ſchrieb unter dem Vorwand, den Wunſch
meiner Mutter auch ſeinerſeits noch zu unterſtützen. In
Wirklichkeit trieb ihn jedoch etwas andres zu dieſem
Brief: auf Grund von allerlei umlaufenden Gerüchten
ſchien er beunruhigt über meine „allzufreie“ Lebens¬
geſtaltung, wie er ſie nannte, und hielt ſich für ver¬
pflichtet, mich vor Verleumdungen zu warnen, — oder
auch vor mir ſelbſt.
Ganz klar war es nicht, was von beidem er meinte.
Seine Worte enthielten viele philiſtröſe Bedenklichkeiten,
über die ich lächeln mußte, auch viel Unkenntnis des
Provinzlers und Fachmenſchen hinſichtlich des Lebens in
Weltſtädten und unter Künſtlern. Ja, das wußte ich ja
nun längſt: Benno verkörperte nicht gerade den Begriff
eines unfehlbaren Idealhelden, ſondern mochte das Pracht¬
exemplar eines eingefleiſchten Pedanten und Moraliſten
ſein. Ungefähr das Gegenteil von all dem, was jetzt
meine leicht gefeſſelte Phantaſie entzücken und verführen
konnte. Aber daß er ſich erdreiſtete, ſo zu ſchreiben,
daß er ſich für verpflichtet hielt, ſo zu kontrollieren, was
ich thun durfte und nicht thun durfte, — er, der mich
ja nicht einmal geliebt, — nein, geliebt hatte er mich
nicht, ſondern fortgeſtoßen —.
Ich konnte über eine unerklärliche Erregung nicht
Herr werden, während ich unter meinen Gäſten umher¬
ging, und lachte und ſcherzte.
In dieſem Augenblick fiel mein Blick auf eine auf¬
geſchlagene Mappe, worin ich einige wertvolle Kunſt¬
blätter aufbewahrte und die eben von einer jungen Malerin
beſehen wurde. Obenauf lag die bekannte Radierung
[117]— 117 —Klingers „Die Zeit den Ruhm vernichtend“. Wie
manches Mal ſchon hatte ich den gepanzerten Jüngling an¬
geſchaut, der, eherne Allmacht im Antlitz, dem vor ihm
niedergeworfenen Weibe erbarmungslos mit dem Fuß in
die Lende tritt ——.
Plötzlich weckte er irgend eine Ideenaſſociation in
mir, plötzlich rührte er an irgend etwas, — und eine
lang, lang vergeſſene, eine tote Senſation meines eignen
Lebens regte ſich dunkel —.
Ich kann mit Worten nicht deutlich ſchildern, wie
es war. Ich glaube nicht, daß ich dabei an eine be¬
ſtimmte Situation gedacht habe, zum Beiſpiel an Bennos
brutale Löſung unſrer Beziehungen, oder daran, daß ich
mich damals von ihm „zertreten“ fühlte, oder überhaupt
an ſeine Perſon, — aber doch hing es mit ihm zuſam¬
men, als mir ein Schauer über den Rücken ging, —
ein Schauer von ſo lähmend intenſiver Erſchütterung,
daß ich unwillkürlich vor dem Bilde die Augen ſchloß.
Ich nahm nur noch mechaniſch an der Unterhaltung
teil, innerlich blieb ich tief benommen, denn mir war,
als ſtarrte ich durch meine ganze Umgebung hindurch auf
etwas, das ſich nur lange verborgen gehalten hatte, aber
doch immer dageweſen ſein mußte, gleich ſchattenhaftem
Hintergrund, — oder als ſänke mein ganzes glückliches
gegenwärtiges Leben langſam zu meinen Füßen nieder,
wie ein dünner blumengeſtickter Schleier, und dahinter
ſtände hoch aufgerichtet das Wirkliche, Weſenhafte, —
— ja was? etwas wie die Silhouette eines gepanzerten
Mannes? oder Benno ſelbſt, der mich in den Armen
hielt und mich den erſten Liebesrauſch lehrte, und das
[118]— 118 —erſte Grauen vor der Abhängigkeit der Liebe? — —
oder lag es nicht vielleicht weit, weit zurück in jener
fernſten Kindheit, wo ich noch auf dem Arm meiner gali¬
ziſchen Amme ſaß, und die Sommerſonne heiß um uns
brütete, und wo von der erhobenen harten Hand des
Mannes ein feuerroter Striemen auf dem demutsvoll
geneigten Frauennacken blieb —? — —
[]
Einige Tage ſpäter befand ich mich auf der Reiſe
nach Brieg. Während der langen Eiſenbahnfahrt er¬
zählte ich es mir ſelber wohl hundertmal, wie wunder¬
lich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen
werde, aber zugleich freute ich mich all dieſes Engen und
Kleinen, als des heimatlich Vertrauten, was ich nun
wiederſehen ſollte; es durfte ſich nicht weiterentwickelt
haben, ſondern mußte, um zu wirken, genau ſo geblieben
ſein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die
ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr
ein Erinnerungsbuch wäre.
Es reute mich nicht mehr, Paris verlaſſen zu haben,
trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen
wollen, — und doch lag in der Stimmung, worin ich
dieſe Reiſe unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leicht¬
ſinn, der von dunkeln Senſationen träumte, als in allen
Genüſſen, zu denen ich mich dort hätte verleiten laſſen
können.
In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an.
Den Tag meines Eintreffens hatte ich abſichtlich nicht
gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging
langſam über den Wallgraben unſrer Steinſtraße zu.
Es ſchneite. Ein mächtiger Wind, von Norden
[120]— 120 —daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die
ſchleſiſche Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich ein¬
geſargt im tiefen weißen Winterſchnee. Bei dieſem
Wetter waren die winkligen Gaſſen trotz der Weihnachts¬
zeit noch ſtiller, noch menſchenleerer als ſonſt, und in den
Häuſern brannten die Lampen hinter feſt zugezogenen
Vorhängen.
Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten
Laternenſchein nicht gerade viel erkennen, aber das ſah
ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade
die alte charakteriſtiſche Stadtphyſiognomie ſich im Lauf
der Jahre verjüngt zu haben ſchien. Schon vermißte
ich an den ſchmalen alten Häuſern hier und da das
köſtlichſte Giebelwerk, und überall hatte die ſchlechte Glätte
billiger Moderniſierung begonnen, die verfallende Schön¬
heit zu erſetzen. Auch Brieg ging alſo vorwärts! es
war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf
deſſen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fort¬
ſchritt des Lebens mit ſeinen praktiſchen Anforderungen,
der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene,
hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem
Wege geräumt.
Als ich bei unſern großen, einförmigen Anſtalts¬
gebäuden anlangte, ſah ich ganz nah am Eingang unſers
Hauſes einen Mann ſtehn, im weiten Mantel und eine
Fellmütze auf dem Kopfe.
Er ſtand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen,
während ich mich am Parkgitter des Irrenhauſes entlang
ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenſchein fiel
ihm in den Rücken, ſo daß ſeine Züge im Dunkeln
[121]— 121 —blieben, aber ich wußte doch ſofort, daß, es Benno war.
Mich ergriff eine kindiſche Freude, ſo groß, wie ich ſie
nie für möglich gehalten hätte, zugleich mit dem Ver¬
langen ſtehn zu bleiben.
Aber das erlaubte der Sturm nicht; er blies mich
von hinten an, als wehe er mich ihm einfach entgegen.
Ich konnte merken, wie an meinem Reiſehut der zurück¬
genommene Schleier zerrte und flog, gleich einem un¬
geduldig aufflatternden gefeſſelten Vogel.
Und jetzt kam Benno mir langſam entgegen.
„Dina!“ rief er mit unterdrückter Stimme, noch
eh ich bei ihm war.
„Da biſt du ja!“ ſagte ich froh, ließ achtlos meine
kleine Reiſetaſche auf den Schneeboden gleiten und ſtreckte
ihm beide Hände entgegen, „— haſt du mich denn er¬
kannt?“
„Adine! ſo unerwartet und unangemeldet, — von
niemand empfangen!“ äußerte er wie in tiefem Stau¬
nen, und dann: „Erkannt — ja, erkannt, noch eh ich
wußte, daß du es ſein könnteſt. An deinem Gang.
Nur grade am Gang. Dies ſorglos wiegende Schlen¬
dern, — nur du gehſt ſo, — es ſieht aus, als ob es
auf der Welt nur lauter geebnete Wege gäbe, oder als
ſchritte ein unſichtbares Weſen vor dir her, das ſie dir
ebnet. — — Und du kommſt im Schnee — — zu
Fuß?“
„Ja freilich, zu Fuß, von Stein zu Stein, über
das bekannte alte Pflaſter. Es war ja noch früh. Schön
war's. Der Schnee, der fiel ſo dicht; — das alte
Brieg! wie es ausſah im Schneeſturm!“
Dabei blies uns der Wind immerzu die breiten
Flocken ins Geſicht, während wir daſtanden und ſprachen,
wie wenn ich bereits zu Hauſe wäre, wie wenn ich dazu
nicht erſt einzutreten brauchte.
Benno hob meine Reiſetaſche vom Boden auf und
bemerkte:
„Deine Mutter, Tante Liſette, wird ganz außer ſich
vor Freude ſein. Sie konnte es kaum noch erwarten.“
„Ich gehe leiſe zu ihr hinein, — gieb mir den
Schlüſſel,“ ſagte ich und trat neben ihm ans Haus,
„— oder kommſt du mit?“
Er ſchüttelte den Kopf und wies nach der Irren¬
anſtalt hinüber.
„Ich muß noch dorthin, — ſtets um dieſe Stunde
noch einmal inſpizieren —. Alſo auf morgen. Schlaf
gut daheim.“
Ich gab ihm beim Eintreten noch einmal die Hand.
„Auf morgen!“ wiederholte ich heiter, „da ſeh ich
dich alſo eigentlich wieder. Denn heut haben wir uns
ja noch keineswegs wiedergeſehen. Zwei Stimmen im
Dunkeln! Zwei Stimmen, die dem Wiederſehen voraus¬
gelaufen ſind. — — Und die nun aufhören müſſen zu
ſchwatzen.“
„Gute Nacht, Adine, Nimm die Hand fort, du
klemmſt dich,“ ſagte er beim Schließen der Thür. Das
klang ſo nüchtern und ängſtlich, daß ich unwillkürlich
noch einmal zwei Finger in die Thürſpalte ſteckte. Ich
rief hinaus:
„Ich muß dir noch ſagen: es iſt ſchön, daß
wir uns getroffen haben — im Schneegeſtöber am
[123]— 123 —Hauſe. Es iſt ja nur ein Zufall, aber grade darum
iſt's ſchön.“
Die Thür fiel ins Schloß. Einen Augenblick lang
ſchien Benno draußen noch ſtill zu ſtehn, wie wenn er
lauſchte, — dann kniſterte der Schnee unter den lang¬
ſam ſich entfernenden Schritten.
Auch ich, drinnen im ſchwach erhellten Hausflur,
ſtand noch und horchte, — ich horchte noch auf die bei¬
den verklungenen Stimmen im Dunkeln, als ob ſie mir
ein langes Märchen erzählten, und eigentlich ein neues
Märchen, — meine frohe, faſt übermütige Stimme,
die weit heller als die ſeine, und dann ſeine gedämpfte,
zögernde Stimme, aus der ſo vieles — ſo ſeltſam
vieles unter den alltäglichen Worten hervorſprach, und
die Worte förmlich leer und ſinnlos machte durch dieſen
Unterklang —.
— — — — — — — — — — — —
Am nächſten Tage wurde ich durch einen lang¬
gezogenen ſchrillen Glockenton geweckt, der aus einem der
Arbeitshöfe des Zuchthauſes herüberſchallte.
Meine Mutter, im großen Ehebett an der gegen¬
überliegenden Längswand, ſchlief noch, oder that ſo, um
mich nicht zu ſtören. Durch das Fenſter ſchimmerte hell¬
grau das Morgenlicht über die ausgeblichenen Cretonne¬
vorhänge mit ihren luſtigen grünen Blumen und Vögeln,
und jedes einzelne der alten Möbelſtücke ſah mich vertraut
und grüßend an.
Ich dehnte mich voll Behagen in meinen Kiſſen. In
dieſer ſüßen Indolenz der Stimmung war es herrlich,
ſich hier ein wenig pflegen und verziehen zu laſſen. Bald
[124]— 124 —genug kam ich ja wieder in mein eignes Leben draußen
zurück, in mein eignes Schaffen und Genießen.
Mein Blick fiel auf das liebe faltige Geſicht im
weißen Nachthäubchen, das über der verblaßten grün¬
ſeidenen Steppdecke herausſchaute. Ohne dieſe gute Mutter
mit ihren bereitwilligen Liebesopfern hätt ich mir nie
meine freie, glückliche Künſtlerexiſtenz erringen können.
Damit mir das gelingen möchte, ſaß ſie nun hier ſo ge¬
duldig und einſam ohne Tochter, und mühte ſich heim¬
lich damit ab, ſich für Malerei zu intereſſieren, was doch
ſo ganz hoffnungslos war. Der Offizierskreis in Brieg,
ihr einſtiger alter Geſellſchaftskreis, äußerte ſich ziemlich
tadelnd über dieſe fernlebende Tochter, und ich wußte
wohl, daß meine Mutter mich dann verteidigte wie eine
Löwin ihr Junges, und daß die Leute ſich des Todes ver¬
wunderten, bis zu welchen modernen Anſchauungen ſie
ſich dabei zuweilen verſtieg. Aber in Wirklichkeit war
ſie weder eine Löwin noch ein moderner Bahnbrecher,
ſondern ganz einfach eine einſame alte Frau, deren
Lebensauffaſſung himmelweit von der ihres Kindes ent¬
fernt war —.
Ich glitt geräuſchlos aus dem Bett, kam auf nackten
Sohlen zur Halbſchlummernden und umhalſte ſie ſtürmiſch.
„Mama, meine liebe Mama! wie bin ich froh, bei
dir zu ſein, und wie dank ich dir für alle dieſe ſchönen
— ſchönen Jahre! Jetzt auf einmal fällt es mir aufs
Herz, wie viel du mir geſchenkt haſt, — immerfort ge¬
ſchenkt, und nichts dafür bekommen, du liebſte aller Müt¬
ter du!“
Meine Mutter ſtreichelte mich beſchwichtigend über
[125]— 125 —den bloßen Arm, und öffnete ihre blaſſen blauen Augen
mit einem Ausdruck voll zärtlichen Glücks.
„Ich wurde ſchon ganz müde vom Liegenbleiben, du
Langſchläferin,“ ſagte ſie, ſich ermunternd, „ich glaube
wirklich, mir ſind die Glieder eingeſchlafen. Jetzt laß
mich raſch in die Kleider kommen, Kind.“
„Wo ſteckt denn eigentlich Benno am Morgen?“
fragte ich, und fuhr in die Strümpfe.
„Ich habe ihn nebenan im Wohnzimmer gehört, ehe
du wach wurdeſt. Er wollte dich wohl ſchon begrüßen.
Jetzt aber könnteſt du zu ihm gehn, während er ſeinen
zweiten Thee bei ſich im Zimmer nimmt, — das iſt
bald. Es wäre freundlich von dir, — du mußt gut
gegen ihn ſein, hörſt du? Er iſt ein ſo vortrefflicher
Menſch, Adine. Du mußt dich nicht dran ſtoßen, wenn
er dir einmal ein wenig ſchroff vorkommt.“
„Dran ſtoßen? ach nein, Mama, im Gegenteil.
Das gehört ja ſo unabänderlich zu ihm. Ohne das würde
es gar kein Wiederſehen ſein.“
„Du biſt es nicht gewöhnt. Biſt verwöhnt, mein Kind.“
„Eben darum, Mama,“ bemerkte ich, und kam vor
den Spiegel, um mein Haar aufzuflechten. Unwillkürlich
riß ich an den dunkeln Strähnen, die ſich eigenwillig
unter dem Kamm lockten, denn ich hatte, was ich eigent¬
lich nie habe: Eile.
Die Mutter ſaß halb angekleidet, mit im Schoß
gefalteten Händen, daneben und betrachtete mich mit be¬
ſorgter Zärtlichkeit im Geſicht.
„— War es ſchön, — der Einweihungsſchmaus in
deinem Atelier?“ fragte ſie zerſtreut.
[126]— 126 —
„Ja, ſchön — und luſtig! Später erzähl ich
dir —“
„Aber lieber nur mir allein, Adine, denn Benno —“
„Nun, was iſt mit Benno?“
„Ja, ſtell dir vor, er macht ſich ſo leicht Gedanken
deinetwegen, — weil du ſo frei für dich lebſt, und weil
du ſo viel mit dem Tomaſi biſt, der Atelier an Atelier
mit dir wohnt, — und überhaupt —“
„So. Thut Benno das?“ bemerkte ich, und fühlte,
wie eine Blutwelle mir ins Geſicht ſchoß.
„Ja. Aber warum erröteſt du denn darüber? Du
biſt ja ganz rot geworden, — wirklich, Adine. Was iſt
es mit dem Tomaſi?“ fragte die Mutter ängſtlich.
„Aber nichts! Du kennſt ihn ja. Wir ſind eben
Kollegen.“
„Nein, ſage mir nur eins: du glaubſt doch nicht, daß
du dich in jemand verliebt haben könnteſt in dieſer Zeit?“
„Das kann ich wirklich nicht ſo genau wiſſen,
Mama.“
„Aber Jeſus, Kind! ſo etwas weiß man doch! — —
Nun, übrigens, dann iſt es auch nichts,“ ſagte die Mutter
beruhigt, und griff nach ihrem Kleide.
Ich ließ den Kamm ſinken und betrachtete im Spiegel
nachdenklich mein eignes Bild. Mir fuhr der Gedanke
durch den Kopf, daß ich Benno auf ſeinen eigentüm¬
lichen Brief ziemlich wahrheitsgemäß hätte antworten
können: „wenn die Gerüchte unrecht haben, und du mit
deinen geheimen Zweifeln auch, ſo iſt das nur dein
eignes Verdienſt. Du haſt mich vielleicht auf lange
Zeit für mancherlei untauglich gemacht durch den allzu
[127]— 127 —ſtark gewürzten Wein, den ich bei dir getrunken habe.
Dagegen fällt jeder andre Rauſch ab.“
Laut ſagte ich:
„Ich bin übrigens ganz unſchuldig dran, daß ich
mich nicht einmal gehörig verliebe. Es iſt ſonderbar
genug.“
„Das kommt, weil du malſt, mein Kind,“ be¬
merkte die Mutter ſo reſigniert, daß ich anfing zu lachen.
„Nun ja, wenn du nicht malteſt, ſo würdeſt du
wohl verheiratet ſein, — und ich würde einen kleinen
Enkel haben!“ fügte ſie etwas verdrießlich hinzu.
Ich nahm ſie beim Kopf und küßte ſie.
„Ach, beim Malen iſt man eigentlich immer etwas
verliebt. — — Man malt immer irgend etwas Ver¬
liebtes aus ſich heraus, ſcheint mir. — — Aber all das
iſt ſo fein und flüchtig und wunderlich, und heiraten läßt
es ſich nicht. Wie ſchaff ich dir alſo einen kleinen
Enkel?“
Meine Mutter hatte brummend ihren Kopf frei¬
gemacht, ſie ſeufzte nur, und ſah ſchweigend nach dem
Kaffeetiſch. In ihrem heimlichen Innern war ſie ſo froh,
daß wir wieder zuſammen daſaßen und unſern Morgen¬
kaffee tranken, daß ihr kein Unſinn, den ich ſprach, etwas
anhaben konnte. Manchmal mochte ſie allerdings ein wenig
verwirrt werden über das viele, was ich ihr ſchon vor¬
geredet hatte, und was von ihrer Mutterſeele ganz fried¬
lich neben ihren eignen Anſichten und Auffaſſungen be¬
herbergt und verarbeitet wurde. Mutterboden mag wohl
ein fruchtbarer Boden ſein, worauf die verſchiedenſten
Dinge durcheinander wachſen und gedeihen können, aber
[128]— 128 —Mühe mocht es ihr wohl bisweilen machen, ſich in dieſem
zärtlichen Krautgarten zurechtzufinden, über dem, alles
ſegnend, eine ſo große Sonne der Liebe ſchien —.
Nachdem ich mein Frühſtück beendet hatte, ging ich
ſofort zu Benno hinüber. Seine Zimmer waren von
denen meiner Mutter durch den weiten, ganz primitiv
mit roten Ziegelſteinen ausgelegten Hausflur getrennt, und
wurden früher von einem andern der Hilfsärzte bewohnt.
Seit längerer Zeit bekleidete Benno eine ſehr angeſehene
Stellung an der Irrenanſtalt, als eine Art von Bevoll¬
mächtigtem des Direktors, der alt und kränklich war, und
ihn zu ſeinem Nachfolger vorgeſchlagen hatte. Die Briefe
meiner Mutter erzählten mir ſtets Wunderdinge von
Bennos Tüchtigkeit und fieberhaftem Berufsfleiß.
Ich pochte leiſe an die Thür ſeines Studierzimmers,
doch niemand antwortete darauf. Ich öffnete ſie und
blickte hinein. Niemand war anweſend.
Vor dem Kaminofen, worin ein helles Feuer brannte,
ſtand zwiſchen zwei Seſſeln ein Metalltiſchchen, worauf
alles zum Theetrinken vorbereitet war. Ein blankes
Keſſelchen dampfte über einer Spiritusmaſchine. Jeden¬
falls war Benno ſchon hier geweſen und wieder abgerufen
worden.
Ich ſetzte mich in einen der Seſſel und ſchaute mich
um. Sehr viel behaglicher ſah es hier aus als in dem
häßlichen, kahlen Dienſtzimmer, das Benno ehemals im
Irrenhauſe innegehabt, und das ich immer nur mit Grau¬
ſen beſucht hatte, denn jedes Geräuſch dort und jeder An¬
blick entſetzten mich. Und dennoch that es mir jetzt faſt
leid, daß ich ihn hier wiederſehen ſollte, und nicht in dem
[129]— 129 —Rahmen, der dort zu ihm gehörte. Ich behandelte ihn in
dieſer pietätvollen Regung unwillkürlich ganz als Bild —.
Da ging die gegenüberliegende Thür auf, und Benno
trat aus ſeinem Wartezimmer herein.
„Grüß dich Gott!“ ſagte er mit ſeiner verhaltenen
Stimme und kam, faſt etwas ungeſchickt, mit ausgeſtreckter
Hand auf mich zu. Als ich meine Hand hineinlegte, hielt
er ſie einige Sekunden lang feſt und hinderte mich da¬
durch, mich aus meiner halbruhenden Lage aufzurichten.
„Bleib ſitzen! grade ſo, wie du geſeſſen haſt, aber
den Kopf hebe, und gegen das Licht; ich muß dich doch
deutlich wiederſehen,“ ſagte er wie entſchuldigend.
Ich fand keine Entgegnung und gehorchte nur, den
Kopf zurücklehnend und den Blick zu ihm hebend, wäh¬
rend ich fühlte, daß ich unter dem ſeinen errötete.
„Wie geſund und hell und glücklich du ausſchauſt,
— — und wie ſchön!“ ſagte er treuherzig. Aber zu¬
gleich wurde er befangen und trat etwas zurück.
Ich überflog ſeine ganze Geſtalt und ſein Geſicht.
Das Geſicht erſchien mir zu ſehr gealtert in dieſen ſechs
Jahren. Die unausgeſetzte, nervenaufreibende Thätigkeit
hatte verfrühte Falten in ſeine Stirn gezogen und das
weiche aſchblonde Haar an den Schläfen ein wenig ge¬
lichtet. Ob er wohl noch die intereſſanten, furchterwecken¬
den Irrenarztaugen hat? dachte ich und ſuchte ſeinen
Blick. Aber auf den Gläſern der Brille blitzte und
glitzerte das Morgenlicht, und mir kam der Gedanke, wie
viel öfter ich überhaupt dieſes alles verdeckende Brillen¬
funkeln geſehen hätte, als den dahinter vermuteten Augen¬
ausdruck.
Das Waſſer im Keſſelchen zwiſchen uns brodelte heftig,
und um das Schweigen zu brechen, bemerkte ich heiter:
„Ich bin zu deinem Frühſtück hergekommen, wie
du ſiehſt. Wirſt du mir auch zu trinken geben?“
Er deutete auf eine zweite Taſſe, die bereit ſtand,
und äußerte zögernd:
„Ich hoffte, du würdeſt kommen. — — Willſt du
nicht, — — wenn es dir nicht — — willſt du
mir nicht die Freude machen, uns den Thee zu bereiten?“
Ich erhob mich und griff nach dem Theetopf. Aber
während ich mit dem Geſchirr hantierte, trat wieder das
Schweigen ein, und ich fühlte mit Verlegenheit, wie
Benno, der ſtumm daſaß und rauchte, den Blick nicht
von meinen Händen ließ.
Es war etwas ſo ganz andres, ſich im vollen, nüch¬
ternen Tageslicht wiederzuſehen, als am Abend vorher in
der Schneenacht. Man ſcheut ſich unwillkürlich vor all
den leiſe mitflüſternden Erinnerungen, die ſchwer ſind
von alten Träumen, und die ſich in der hellen Wirk¬
lichkeit des Tages nicht zurechtfinden können, ſondern
allem unverſehens phantaſtiſche dichter aufſetzen, — blaſſe,
myſtiſche Lichtlein —.
„Es geht nicht an, daß wir hier ſtumm daſitzen,“
dachte ich unruhig und ſagte ſchließlich hoffnungslos, nur
um irgend ein lautes Wort zu finden, ſcherzend:
„Du willſt wohl aufpaſſen, ob ich bei meinem Farben¬
kleckſerberuf noch zur geringſten weiblichen, häuslichen
Arbeit tauglich geblieben bin.“
„Ach nein,“ verſetzte er ſo ernſthaft erſtaunt, daß
man ſeiner Stimme anhörte, von wie weit er eben
[131]— 131 —herkam, „— du biſt ja, — du haſt ja andres zu thun
gehabt. Jedenfalls Intereſſanteres. Beſonders Paris iſt
ja die große Stadt aller Genüſſe.“
„Das iſt ſie gewiß, aber die große Stadt der Arbeit
iſt ſie auch, des raſtloſen Weiterarbeitens,“ verſetzte ich,
und ſchob ihm ſein Glas Thee zu.
Er rührte mit dem Löffel darin herum, dann fragte
er unvermittelt:
„— Der Tomaſi, — wie iſt denn der?“
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken über die
unbeholfene Art, wie der Pedant und Moraliſt aus ihm
herausrückte.
„Von meinen Kollegen iſt er mir der liebſte Genoſſe,“
gab ich zu, „ich danke ihm viel Anregung und Freund¬
ſchaft. Als ich mir den linken Arm verſtaucht hatte und
der Ausſtellung wegen ſo eilen mußte, um doch noch
fertig zu werden, da hat mir der Tomaſi die beſten hellen
Morgenſtunden geopfert, und mir den Arm untergeſchoben
und mir die Palette gehalten. Das kann nämlich nur
ein ſehr lieber Freund thun.“
„Den Arm ſo ausdauernd unterſchieben, — das
glaub ich,“ meinte Benno, und rauchte ſo ſtark und un¬
ausgeſetzt, daß eine Wolke um ihn ſtand.
Ich lachte, ganz lebhaft geworden.
„Nein, aber die Palette halten,“ verbeſſerte ich,
„denn der linke Arm mit der Palette arbeitet mit, mußt
du wiſſen, er muß lebendig zu einem ſelbſt gehören.“
Benno ſtieß gewaltſam die Aſche, die ſich kaum noch
an ſeiner Zigarre angeſetzt hatte, am Glasteller ab.
„Lebendig zu einem ſelbſt. So kann natürlich nur
[132]— 132 —ein Künſtler zu dir gehören,“ bemerkte er, und ſtand un¬
motiviert auf, ohne mich anzuſehen.
Dabei ſah ich plötzlich das Finſtre, Gequälte in
ſeinem Geſicht. Mitten aus der Plauderei heraus, wo¬
bei ich für den Augenblick gar nicht mehr an ihn ge¬
dacht hatte, ſah ich ihn plötzlich ſo, wie ihm wirklich zu
Mute war: in mühſam verhaltener Erregung, — in
zorniger Eiferſucht —. Daher alſo ſein Brief! Das
war nicht pedantiſche Moraliſterei geweſen, — nein, —
Liebe —.
Es kam ganz unerwartet über mich, ein Blutſtrom,
der raſch und heiß zum Herzen quillt, und ein Erſchrecken.
Ja, eigentlich ein nachträgliches Erſchrecken: denn wenn
ich das geahnt hätte in der erſten Zeit unſrer Tren¬
nung, — geahnt, daß auch er leide, und daß er mich
liebe, — ich wäre ja beſinnungslos zurückgeſtürzt zu ihm.
Jetzt freilich konnte ich das nicht mehr wollen. Aber
auch er ſollte es nicht wollen. Nein, auch er ſoll es nicht,
dachte ich, und mein Herz ſchlug zum Zerſpringen. Denn
ihm, ſeinem Willen, dieſem harten, engen, bewußten
Willen, bin ich ſchon einmal erlegen.
Die Erinnerung daran durchrieſelte mich heiß und
beinah lähmend.
Benno blickte mich ſtaunend und ungläubig an. In
meinem Mienenſpiel mochte ſich etwas von dem verraten,
was in mir vorging. Eine Möglichkeit mochte in ihm
aufdämmern, mich wieder zu faſſen. Wenigſtens ſchien
es mir ſo, — und da ſchien es mir gradezu, als käme
er mit einer Rieſenkeule bewaffnet auf mich zu, um mich
niederzuſtrecken.
„— Benno —!“ ſagte ich ſchwach, erſchrocken, wie
jemand, der ſich wehren ſoll, und nicht kann.
Der ſchwache Ausruf durchzitterte ihn förmlich. Mein
Gebaren mußte ihn in eine Zeit zurückverſetzen, wo mir
dieſes furchtſame Geſicht und dieſe furchtſame Stimme
ihm gegenüber natürlich waren. Unwillkürlich, wortlos,
faſt ohne zu atmen, beugte er ſich über mich —.
Da ſtreckte ich angſtvoll meine Hand gegen ihn aus,
ſie mit einer unſichern Bewegung zwiſchen ſeine und
meine Augen ſchiebend, als müßte ſie ihm meinen Blick
verdecken und mich ſeinem Blick entziehen, wie einer un¬
kontrollierbaren Macht, die noch einmal mich mir ſelber
rauben könnte.
„— Nein — nein! — nicht! zu ſpät!“ murmelte ich.
Er richtete ſich auf und legte die Hand über die
Augen.
Ohne ein Wort der Erwiderung verließ er das
Zimmer.
Ich ſtarrte ihm nach. Ich weiß nicht, wie lange
ich da noch ſitzen blieb, in ſeinem Zimmer, in ſeinem
Seſſel.
Ich war ja heimgekommen, um Reminiscenzen zu
feiern. Um in ein paar alte Erinnerungen niederzu¬
tauchen. Ich wollte mich ſogar an all dem freuen, was an
ihnen meinem jetzigen Geſchmack widerſtand, — denn all
das gehörte ja zu ihnen, und auf mein wirkliches Leben
hatte es keinen Einfluß.
Dies da aber war keine Erinnerungsgewalt geweſen.
Nein, dies da war eine Lebensgewalt, eine Wirklichkeits¬
gewalt, die mich ſelber bedrohte. Konnte ich nicht fort?
[134]— 134 —konnte ich denn nicht fliehen? kannte ich denn nicht die
Folgen, den Zuſammenbruch von allem, ja von allem,
was meinem Weſen und meinem Leben Wert gab?
Ja, das alles wußte ich. Ich wußte auch, daß ſich
mein Leben niemals wahrhaft mit Benno verknüpfen
ließ, — und daß es keine Liebe zu ihm war, die mich
hielt.
Keine Liebe, — etwas Dunkleres, Triebhafteres,
Unheimlicheres — —.
Wie ein Blitz, — Warnung und Symbol zugleich, —
glitt an meiner Seele das Bild der Klingerſchen Radie¬
rung vorüber —.
Nein, — ich konnte nicht fort.
[]
Am Nachmittag beſann ich mich darauf, daß ich ſeit
meiner Ankunft Gabriele noch nicht begrüßt hatte, und
ſtieg die Treppe zur Rendantenwohnung hinauf.
Faſt gleichzeitig betrat Gabriele von der Straße her
den Hausflur unten, am Arm ein großmaſchiges Markt¬
netz, aus dem ſich allerlei Gemüſeſorten hervordrängten.
Sie lief raſch ein paar Stufen aufwärts, ehe ſie mich
aber oben ſtehn ſehen konnte, wurde ihre Aufmerkſam¬
keit durch Benno abgezogen, der grade über den Flur
ſchritt, um aus ſeinen Wohnräumen zu meiner Mutter
hinüberzugehn.
Gabriele beugte ſich über die Treppenbrüſtung.
„Guten Abend, Herr Doktor!“ rief ſie ihn an, „ich
bin ganz böſe auf Sie. Geſtern und vorgeſtern nacht
brannte ja wieder ſo ſpät Licht in Ihrer Studierſtube.
Ich kann den Schein ſehr gut von oben bemerken! Sie
arbeiten aber wirklich zu ſpät.“
„Ich muß wohl, Fräulein Gabriele,“ antwortete
Benno, „übrigens geben Sie mir gewiß an Fleiß nichts
nach. Aber ich verſpreche Ihnen, heut abend früher
auszulöſchen und mich brav ſchlafen zu legen.“
Das iſt ja ein drolliges Verſprechen! dachte ich, inner¬
[136]— 136 —lich beluſtigt, als Gabriele aufſchaute, mich bemerkte
und mir nun eilig die Treppe nachſprang.
„Gott, wie lieb von dir, zu kommen!“ rief ſie atem¬
los und umarmte mich mit der alten Mädchenherzlichkeit,
„ich wäre ſchon ſelbſt bei dir geweſen, mochte euch nur
nicht gleich ſtören.“
„Wie hübſch du geworden biſt!“ ſagte ich und
betrachtete ſie voller Freude. Gabriele glich gar nicht
mehr dem langen, rothaarigen Backfiſch von ehedem; ihr
rötliches, ſehr feines und krauſes Haar umſprühte förm¬
lich leuchtend ein Geſicht von den zarteſten weißroten
Farben, und von den Sommerſproſſen ſchienen nur ein
paar ganz pikant wirkende Tupfe über der Naſenwurzel
übrig zu ſein. Größer als ich, auch von derberm Knochen¬
bau, bot ſie ein Bild blühender Kraft.
Sie hatte die Thür aufgeſchloſſen und führte mich
in das wohlbekannte Eßzimmer mit der karrierten Wachs¬
tuchdecke auf dem langen Tiſch und dem Nähtiſch am
Fenſter. An dieſem Fenſter, das von der ſtarken Zimmer¬
wärme leicht beſchlagen war, lehnte ihre jüngere Schwe¬
ſter Mathilde, Mutchen genannt, zwiſchen den weißen
Mullvorhängen und malte mit dem Zeigefinger myſtiſche
Buchſtaben auf die Scheibe.
„Mit dem bißchen Ordnen der Tiſchwäſche hätteſt
du auch fertig werden können, ſcheint mir,“ bemerkte
Gabriele verdrießlich, und warf einen Blick über die
Stöße von Servietten, die neben einem halbgeleerten
Wäſchekorb auf den Stühlen umherlagen, „es giebt ohne¬
hin vor Weihnachten noch viel zu thun.“
Mutchen fuhr bei unſerm Eintritt ein wenig zu¬
[137]— 137 —ſammen und drehte ſich ſo geſchwind herum, daß der
kurze Mozartzopf in ihrem Nacken mitflog. Sie war eine
ganz allerliebſte kleine Perſon von etwa achtzehn Jahren,
und der heiterſte Uebermut blitzte aus ihren hübſchen
Augen. Als ich ſie herzlich begrüßte und ſie fragte, ob
ſie ſich meiner auch noch erinnere, da ſah ſie mich mit
großen, liſtigen Augen an und atmete tief auf.
„O ja!“ ſagte ſie, „aber damals waren Sie an¬
ders —. O, ſo wie Sie, — ja, ſo möchte ich ausſehen!“
„Aber warum denn, Mutchen? was iſt denn mit
mir?“ fragte ich verwundert über dieſen Ton.
Sie flog auf mich zu, küßte mich und flüſterte
lachend:
„Ich meine nur, weil Sie ſo ausſehen, daß jeder¬
mann — jeder Mann — Sie gern haben muß.“
„Wirſt du aufhören, mit ſolchen Dingen zu tän¬
deln!“ rief Gabriele aufgebracht, die eben ihre Sachen
abgelegt und nur die letzten Worte recht gehört hatte, „du
biſt das unnützeſte Geſchöpf auf der Welt. Es iſt nicht
das geringſte Vernünftige mit ihr aufzuſtellen,“ fügte ſie
unwillig, zu mir gewandt, hinzu, während Mutchen
trällernd entfloh.
„Ich kann mir denken, daß ſie dir auch jetzt noch
zu thun giebt,“ ſagte ich, „überhaupt hab ich dich innig
nach dem Tode eurer Mutter bedauert. Denn nun biſt
du natürlich hier gebundener als je. Und du hatteſt doch
ganz andre Pläne.“
„Ich habe ſie noch — für einen gewiſſen Fall, wenn
der eintritt,“ antwortete Gabriele und ſetzte ſich zu mir,
„aber es iſt mir einſtweilen recht, hier zu ſein und den
[138]— 138 —Hausſtand weiterzuführen. Das kann ich dir nicht er¬
klären. Doch ſei gewiß, gegen meinen Willen thät ich's
nicht.“
Ich ſchaute ſie nicht ganz ohne die alte unwillkür¬
liche Bewunderung an, wie ſie das ſo feſt und ruhig aus¬
ſprach.
„Das glaub ich von dir,“ erwiderte ich, „mir
wärs unmöglich, etwas ſo gegen meine intimſte Umgebung
durchzuſetzen.“
„Dir —?!“ Gabriele lachte; „du haſt ja grade
dein Ziel gegen deine ganze Umgebung durchgeſetzt.“
„Durchgeſetzt? — nein, nichts. Alles nur geſchenkt
bekommen,“ bemerkte ich leiſe.
Sie zuckte die Achſeln.
„Du bekommſt es eben geſchenkt, — wir andern
müſſen es erobern. — — Aber nur eine thörichte Heirat
hätte dich aus dem Geleiſe werfen können.“
„Das könnte auch dir noch paſſieren, Gabriele.“
Sie wurde ſehr rot und entgegnete heftig:
„Du meinſt doch nicht etwa, daß die Brieger Herren
dafür in Betracht kämen? Die ſind heute noch genau
ſo ſchlimm, wie ſie damals waren.“
„Wie denn: ſchlimm?“ fragte ich.
„Noch ebenſo anmaßend und dünkelhaft und zurück¬
geblieben in ihren Anſchauungen, angefangen vom klein¬
ſten Beamten bis hinauf in die Offizierskreiſe. Nur die
Form iſt je nach ihrem Stande verſchieden, das Weſen
iſt daſſelbe. Glaubſt du, auch nur einer von ihnen ahnte
etwas davon, daß wir doch nicht mehr denken wie unſre
Mütter und Großmütter? Daß wir nicht mehr lauter
[139]— 139 —Käthchen ſind, die wimmern: ‚mein hoher Herr!’ ſondern
daß wir unſer eigner Herr geworden ſind? — kurz, daß
wir mit den alten knechtiſchen Vorſtellungen aufräu¬
men —.“
„Ach, thun wir das wirklich?“ fragte ich ganz er¬
ſtaunt, „nein, denke nur! wer thut denn das eigentlich?“
„Das weißt du nicht? Adine, du ſcherzeſt wohl!
Du, die ſo weit herumgekommen iſt, du, die ſich ſo frei
entwickelt hat, — ja, was haſt du denn die ganze Zeit
gethan?!“
„Ich? ich habe ja gemalt!“ ſagte ich ganz betreten.
„Nun ja, gemalt! Aber während man malt, denkt
man doch an etwas! Haſt du denn dabei nie über
Liebe und Ehe nachgedacht, und wie die ſich zu unſern
perſönlichen Rechten verhält? Das iſt ſehr unrecht von
dir. Und dir lag das doch nah genug: denn eigentlich
iſt doch deine Verlobung daran geſcheitert. Nur daran:
denn wenn irgend ein Mann dazu imſtande geweſen iſt,
ſich in dieſem Punkt vernünftig erziehen zu laſſen, ſo iſt
es jedenfalls Doktor Frensdorff.“
Ich ſchüttelte verwundert den Kopf.
„Darin irrſt du dich, Gabriele. Seine zauberhafteſte
Wirkung war ſeine Tyrannei. Und ſo iſt es wohl meiſtens.“
Gabriele warf einen forſchenden Blick auf mich.
„Du redeſt wie deine eigne Urgroßmutter!“ be¬
merkte ſie kurz.
„Unſre armen Urgroßmütter!“ ſagte ich lächelnd,
„die wußten freilich rein gar nichts von ſolchen Neuerungen.
Die einzige Form ihrer Liebe war wohl Unterordnung,
— in dies Gefäß ſchütteten ſie alle ihre Zärtlichkeit.
[140]— 140 —Sollte nicht auch in uns was davon übrig ſein? was
machen wir dann mit ſolchem ererbten koſtbaren alten
Gefäß?“
„Wir ſtellen es meinetwegen in den Nippesſchrank
zu andern Kurioſitäten, wenn es nicht ſchon ſo löcherig
iſt, daß wir es hinauswerfen müſſen,“ antwortete Ga¬
briele und ſtand unruhig auf, „ich haſſe alten Plunder!
er paßt doch nicht zu den Anforderungen des praktiſchen
Lebens.“
„Vielleicht nicht. Aber er kann den praktiſchen Ge¬
rätſchaften ſo unendlich überlegen ſein durch ſeine Schön¬
heit,“ bemerkte ich, ſtand aber gleichfalls auf, um nicht
all das zu ſagen, was mir auf dem Herzen lag. „Wir
reden darüber heute nicht zu Ende, Gabriele, aber ganz
außerordentlich fortgeſchritten ſeid ihr ja hier in Brieg!“
Gabriele kämpfte mit etwas, was ihr nicht über die
Zunge wollte. Sie äußerte nur noch zögernd:
„Du biſt eben eine Künſtlerin, Mine. Ich ſage ja
nicht, daß du mit Gefühlen ſpielen würdeſt, aber ihre
Tauglichkeit fürs Leben iſt dir doch nicht alles, — wenn
ſie dich irgendwie künſtleriſch anregen. Aber — — du
kannſt damit leicht Menſchen unglücklich machen.“
Sie errötete, ihre Stimme wurde unſicher, und ſie
ging ſchnell zu alltäglichern Geſprächsſtoffen über. Wäh¬
rend wir weiter plauderten, mied ſie meinen Blick, und
ich den ihren. Aber ich that es ohne die geringſte
Ahnung von dem, was ſich in ihrem Herzen an Befürch¬
tungen regte: ſie jedoch begriff aus meinem Schweigen
alles. —
Ich verſpätete mich bei Gabriele ſo ſehr, daß bei uns
[141]— 141 —meine Mutter und Benno ſchon mit dem Abendbrot auf
mich warteten, als ich herunterkam.
„Das thut mir leid; ich wußte nicht, daß ihr ſo
genau die Minute einhalten müßt,“ bemerkte ich etwas
erſchrocken und nahm eilig meinen Platz am Tiſch ein,
„wie du ſiehſt, bin ich noch immer unpünktlich, Benno.“
„Es iſt nur an mir, mich zu entſchuldigen,“ verſetzte
er, ohne mich anzuſehen, „denn es iſt ſehr Iäſtig, daß
man um meinetwillen ſo genau ſein muß. Das iſt eben
der Sklavendienſt. Sklaverei von früh bis ſpät, und
keine Möglichkeit, einmal frei und menſchenwürdig auf¬
zuatmen.“
Meine Mutter blickte mit Befriedigung vom einen
zum andern, ſeelenfroh, daß ihre beiden „Kinder“ ſich
in Liebenswürdigkeiten überboten. Sie hatte im ſtillen
davor gezittert, daß wir uns am Ende ſchlecht vertragen
würden.
Ich ſah unverwandt Benno zu, wie er zerſtreut und
haſtig aß, was er grade auf dem Teller hatte. End¬
lich konnt ich mich nicht enthalten zu bemerken:
„Wie ſeltſam, daß du ſo von deinem Beruf ſprichſt,
Benno. Grade als ob er dich zum Sklaven, und nicht
zum Herrn machte. Oder als ob du ebenſogut einen
ganz andern Beruf haben könnteſt, oder auch gar keinen
Beruf, oder —“
„— Und warum ſcheint es dir denn ſo ganz un¬
denkbar, daß ich einen andern Beruf ausfüllen könnte,“
unterbrach mich Benno nervös.
„Warum? Das weiß ich nicht. Ich kann es mir
einfach nicht anders vorſtellen, als daß du Irrenarzt in
[142]— 142 —Brieg, — oder ſonſtwo — biſt. Ich meine, das iſt kein
Zufall, ſondern ein Beweis, wie dein Beruf mit dir ver¬
ſchmolzen iſt.“
Er erwiderte gereizt:
„Es iſt vielmehr ein Beweis, wie ſehr ein Menſch
bei ſtrenger, einſeitiger Berufsarbeit verſtümmelt, in ſei¬
ner vollen Entwickelung verkürzt wird. Deshalb nehmt
ihr ſo ohne weitres den Berufsmenſchen in uns ſchon
für den ganzen Menſchen.“
„Verſtümmelt, verkürzt?“ wiederholte ich ſtaunend,
„aber Benno, entwickelt ihr euch denn nicht dabei ſo
ſehr, daß ſchon die Frauenzimmer es euch neidiſch nach¬
thun wollen? Schließlich wählt ihr ja den Beruf.“
„Um in ihm irgend ein paar Fähigkeiten und Fertig¬
keiten auszubilden, — ja,“ fiel er ein, „um mehr als
das zu thun, dazu gehört Zeit und Geld, alſo iſt es nur
für die wenigſten. Was meinſt du wohl, was von
unſerm ganzen nicht beruflichen Innenleben zur Ent¬
wickelung kommt, wenn man in ſolchem Zeitmangel lebt,
wie etwa ich gelebt habe? Mir kommt es vor, ſo lange
ich zurückdenken kann, ſchon von der Schulbank her, als
hätte ich niemals Zeit gehabt, und als wären daraus die
ſchlimmſten Fehlgriffe entſtanden, die ich je begangen habe.“
Ich ſchwieg. Ich wußte ja von ſeiner überbürdeten
Studienzeit, ſeiner raſtloſen Arbeit bei geringſten Mit¬
teln, faſt ohne Muße, und ich gab ihm recht. Aber daß
es Benno war, der ſo ſprach, konnte ich nicht begreifen.
Wann hätte er ſich je mit Mängeln ſeiner Entwickelung
herumgeſchlagen? Wann ſich je in ſeiner ſelbſtbewußten
Sicherheit beirren laſſen?
Meine Mutter fragte dazwiſchen:
„Wie iſt es denn morgen mittag, Benno? ißt du zu
Hauſe?“
„Wahrſcheinlich nicht. Es iſt weit über Land, wo
ich hin muß. Wir bringen den Kranken wohl gleich
mit,“ entgegnete er zerſtreut, beendete etwas haſtig ſein
Abendeſſen und ſtand auf.
„Du entſchuldigſt wohl, es wartet jemand auf mich,“
bemerkte er zur Mutter, und dann, ſchon bei der Thür,
wandte er ſich noch einmal zu mir und ſagte zögernd:
„Ich wollte dich noch fragen, ob du nicht — ich
wollte dich bitten, morgen vormittag, — natürlich falls
du nichts andres vorhaſt, — ob du mir nicht wieder
etwas Geſellſchaft leiſten willſt. So wie heute. Es iſt
meine liebſte Stunde.“
Dabei ſah er eilig und beſchäftigt aus und ſah nie¬
mand an, während er redete.
„Gewiß! ich will kommen,“ ſagte ich ein wenig
leiſe. Dabei ſchlug auch ich die Augen nicht auf. Meine
Glieder wurden mir bleiſchwer. Ich ſtützte die Arme
auf den Tiſch und den Kopf darauf. „Wenn ich doch
aus dem Hauſe ginge und den Nachtzug nach Paris
nähme!“ dachte ich.
Meine Mutter hatte von Benno wieder auf mich
geblickt; ihre Augen leuchteten, und wer kann wiſſen,
welche Hoffnungen in ihr aufſtiegen und welche Mutter¬
wünſche, während ſie umherging und das Dienſtmädchen
beaufſichtigte, das den Tiſch abräumte. Dieſes war eine
arme entlaſſene Inſaſſin des Irrenhauſes, wie meiſtens
unſer Geſinde.
[144]— 144 —
Nach einer Weile ſchien in einer Droſchke Beſuch
vorzufahren. Meine Mutter trat in den Flur hinaus
und kam bald darauf mit einer kleingewachſenen jungen
Dame zurück, die an einem Krückſtock ging.
„Die Baroneſſe Daniela hatte gehofft, Benno an¬
zutreffen,“ bemerkte die Mutter, indem ſie uns mitein¬
ander bekannt machte, „ich habe ſie gebeten, bei uns ein
wenig zu warten, weil Benno nur vorübergehend in
Anſpruch genommen iſt.“
„Ich wollte Herrn Doktor Frensdorff nur einen Augen¬
blick ſprechen,“ ſagte die Baroneſſe mit einer höchſt wohl¬
lautenden ſanften Stimme zu mir, „nur um zu hören,
ob ich morgen kommen darf. Denn ich kann nicht immer
von Hauſe fortkommen. — Aber vielleicht wiſſen Sie
überhaupt gar nicht, daß ich ſeine Schülerin bin?“
„Nein! Davon wußte ich allerdings nichts,“ ver¬
ſetzte ich, ſie ins Wohnzimmer geleitend, wobei ich ſehen
konnte, wie ſtark ſie in den Schultern und Hüften ver¬
wachſen war, „— aber unmöglich ſtudieren Sie Medizin?“
Die Baroneſſe Daniela mußte bei dieſer Zumutung
lachen, und ihr blaſſes, ſchmales, merkwürdig altblickendes
Geſicht verjüngte und verſchönte ſich dabei. „Nein, nein!“
wehrte ſie ab, und ſetzte ſich mühſelig hin, „richtig ſtu¬
dieren kann ich ja überhaupt nicht. Aber Herr Doktor
Frensdorff treibt viel Schönes mit mir, Litteratur, Ge¬
ſchichte, ſogar etwas Philoſophie.“
„Was Tauſend! Benno thut das?“ unterbrach ich
ſie überraſcht, „aber wann kommt er denn dazu?“
„Ja, er thut es aus Güte für mich. Ich bin näm¬
ich ſeine Patientin geweſen. Eh ich zu ihm kam, war
[145]— 145 —ich ganz entſetzlich unglücklich. Er aber hat mich gelehrt,
glücklich zu werden.“
„Indem er Ihnen ſolche Studien erſchloß?“
Sie ſchüttelte den blonden Kopf.
„Nein. Indem er mich darüber aufklärte, daß das,
woran ich kranke, unheilbar iſt, und daß ich mich damit
abfinden muß. Unheilbar verwachſen bin ich, — nein,
werden Sie nicht verlegen für mich!“ fügte ſie ſehr lieb
im Ton hinzu, und legte ihr kleines blaugeädertes Händ¬
chen auf meine Hand, „Sie ſehen ja, ich kann ſo ganz
ruhig davon ſprechen.“
Und als ich ihre Hand umfaßt hielt, und ſie die
ſtumme Anteilnahme, das große lebhafte Intereſſe in mei¬
nen Augen leſen mochte, da fuhr ſie vertrauensvoll fort:
„Mich haben die Menſchen ſo ſehr damit gepeinigt,
daß ſie mir aus lauter Mitleid vorredeten, ich würde
mich bis zum erwachſenen Alter grade wachſen und wer¬
den wie andre auch. Aber je älter ich wurde, — ich
bin jetzt neunzehn, — deſto beſſer begriff ich, daß ſie
mich betrogen, und wagte doch nicht, es irgendwen merken
zu laſſen oder mich gegen irgendwen auszuſprechen. Denn
bemitleidet leben zu müſſen, das iſt doch wie Tod, nicht
wahr? Ueber dieſem innern Zwang und erſtickten Kum¬
mer wurde ich zuletzt ſchwermütig. Und nun wurde Herr
Doktor Frensdorff ins Haus gerufen. Er brauchte nicht
lange, um die Sachlage zu durchſchauen! Er fing damit
an, mich die Wahrheit ertragen zu lehren. Ach, er hat
es nicht leicht gehabt, das können Sie glauben! Ich
habe bei ihm geweint und geſchrieen, und ſchließlich lernte
ich bei ihm wieder lachen.“
In mir wurde alles Wärme und Zärtlichkeit, als
ich ſo dem feinen, ſympathiſchen Stimmchen zuhörte. Das
beſeelte Geſicht da vor mir, mit ſeinem Ausdruck von
Mut, Glück und Leiden, wirkte ſo ſtark auf meine durch
alle Eindrücke leicht erregten Sinne, daß ich die kleine
Verwachſene am liebſten an mich gezogen und geküßt hätte.
Auch gemalt und für mich behalten hätte ich gern
dies intereſſante kleine Geſicht. Darüber achtete ich nur
noch zerſtreut auf ihre Worte.
Um es nicht merken zu laſſen, ſagte ich:
„Ich kann mir ſehr gut denken, daß in dieſer kleinen
Provinzialſtadt mit ihrem Mangel an geiſtigen Intereſſen
Benno Ihnen durch ſein Eingehn auf alles ein wahrer
Halt und Troſt iſt. Aber wahrſcheinlich ſind Sie es ihm
nicht minder.“
„Nein, ich bin ihm wohl nichts,“ ſagte ſie ſehr ernſt¬
haft, „oder richtiger: ich wäre ihm wohl nichts, wenn
ich nicht ein Krüppel wäre, der ihn braucht und ihm leid
thut. Aber das iſt ja grade das Herrliche und Merk¬
würdige: daß es ſo glücklich macht, ſich ihm gegenüber
klein und gering vorzukommen und nur ſein Mitleid zu
verdienen. Daß er ſich zu mir herabbeugen muß, und
daß ich alles nur durch ihn habe, — das hab ich eben
vor all den glücklichen, geſunden, anſehnlichern Menſchen
voraus, nicht wahr? Dafür gönn ich ihnen gern ihre
Schönheit und Kraft, und bin zufrieden mit meinem Ge¬
brechen und meiner Schwäche. — Aber ich weiß gar
nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle,“ fügte ſie
lächelnd hinzu, „Sie ſehen ſo gut aus: vielleicht lachen
Sie nicht darüber.“
„Nein, ich lache nicht darüber,“ ſagte ich aufs
tiefſte ergriffen und ſchloß die kleine Schwärmerſeele
in die Arme, wie ein Schweſterchen, das ich bis auf den
Grund ihrer ſeligen thörichten Romantik verſtand. Ob
ſie wohl eine Ahnung davon hat, daß ſie ihn liebt?
dachte ich mit furchtſamem Herzen.
Da fuhr ſie plötzlich in meinen Armen zuſammen,
ſo ſehr, daß ihr ganzer armer kleiner Körper erzitterte.
„Was iſt — ?“ fragte ich erſchrocken und ſtand auf.
Sie lauſchte.
„— Es iſt ſein Schritt!“ ſagte ſie leiſe.
[]
Als ich am nächſten Vormittag zu Benno hinüber¬
ging, war er ſchon da, aber ein Angeſtellter des Irren¬
hauſes war noch bei ihm und ſtand wartend neben dem
Schreibtiſch, an dem Benno ſaß und einige Papiere
ordnete.
Ich zündete den Spiritus unter dem Theekeſſelchen
an, und ſetzte mich auf eine breite mit Leder überzogene
Ottomane an der Hinterwand des Zimmers. Auf einem
dicht heran geſchobenen niedrigen Tiſch lagen durch¬
einander allerlei Bücher und broſchierte Schriften. Nach
dem geſtrigen Geſpräch mit der kleinen Baroneſſe wun¬
derte ich mich nicht mehr, zwiſchen der Fachlitteratur
die verſchiedenſten andern Geiſteswerke zu finden, von
denen ich früher nie geglaubt hätte, daß ſie ſich bis zu
Benno verirren würden.
Zweifellos war dieſe Bereicherung und Vermehrung
ſeiner Intereſſen ein vorteilhafter Wechſel; nur zu ſeiner
ganzen Eigenart, von der Schroffheiten und Engen
mir völlig unabtrennbar ſchienen, wollte er nicht recht
ſtimmen.
Nachdenklich langte ich einen abgegriffenen klein¬
gedruckten Band hervor, der zu einer ältern Schillerausgabe
gehörte; offenbar durchſtöberte Benno den alten Familien¬
[149]— 149 —ſchrank im Wohnzimmer, um ſich litterariſch zu bilden,
und war jetzt alſo bei Schiller angelangt.
Dieſe Bemerkung kam mir ohne allen Hohn, — ich
freute mich drüber, daß er im Grunde doch noch ganz
derſelbe blieb, — Pedant und unmodern.
„Wallenſteins Tod“. Mitten im Band kniſterte
ein breites trockenes Epheublatt und ließ das Buch ſich
dort von ſelbſt öffnen. Ein langer feiner Bleiſtiftſtrich
den berühmten Monolog an Max entlang:
— — Ich las es ganz arglos; mir fiel nicht ein,
daß jemand hier „ſie“ für „er“ geleſen haben könnte.
Aber auch zu mir ſprach es wie ein Liebesgedicht —.
Benno war aufgeſtanden, er hatte den Mann ab¬
gefertigt und wandte ſich mir zu.
„Ach laß das,“ bemerkte er mit einem Anflug von
Verlegenheit, als er mich mit dem Buch in der Hand
ſitzen ſah, „hier giebt es nichts, was dich intereſſieren
könnte. Wir redeten ja ſchon geſtern davon, daß man
in allem unwiſſend und ein Stümper bleibt, was nicht
zum Beruf gehört. Ich kann nur wieder ſagen: leider!
[150]— 150 —Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigſte, wer
zugleich Welt und Leben mit umfaſſen könnte.“
Ich legte das Buch aus der Hand, beſorgte den
Thee und entgegnete zögernd:
„Früher dachteſt du doch ganz anders darüber,
Benno. Du urteilteſt über alles als Mediziner ab und
ließeſt keinen Einwand gelten. Wodurch iſt denn das
nur ſo gekommen?“
Er war an das Fenſter getreten und blickte auf die
verſchneite Straße hinaus, die von den gegenüberliegen¬
den Gefängniſſen verdunkelt wurde.
„Dadurch, daß ich dich verlor!“ ſagte er halblaut.
Ich wagte nichts zu erwidern. Ich verharrte
regungslos. Aber ich dachte bei mir: „Das war ja durch¬
aus dein eigner Wille, dieſer Verluſt.“
Ohne ſich vom Fenſter abzuwenden und ohne nach
mir hinzuſehen, fuhr er mit halber Stimme fort:
„Ja, dadurch allein. Sonſt wär ich wohl lebens¬
lang ſo geblieben wie damals: für meine eigne Perſon ge¬
wiß nicht anmaßend, ſondern voll Beſcheidenheit, aber
voll Ueberſchätzung und Dünkel hinſichtlich meiner un¬
fehlbaren Weisheit, als Fachmenſch. Aber da erkannte
ich allmählich, wodurch ich dich verloren hatte: durch den
Mangel an Einſicht in das, was dir not that, durch
Mißverſtehen alles deſſen, was kraftvoll und geſund in
dir war, und nur deshalb krankhaft erſchien, weil man
deine Entwickelung unterband, weil man dich nicht in den
Stand ſetzte, es künſtleriſch aus dir herauszugeben —“
„— Das war gut ſo,“ unterbrach ich ihn mit An¬
ſtrengung, „— die Zukunft hat es bewieſen. Sie hat
[151]— 151 —bewieſen, wo meine Tüchtigkeit. liegt. — — Nicht da,
wo wir ſie ſuchten —.“
„Scheinbar: ja,“ verſetzte er faſt heftig in unter¬
drücktem, gequältem Ton, „ſcheinbar hatt ich ja recht,
aber warum? Nur, einzig und allein nur, weil wir von
vornherein einen entſetzlichen Fehler gemacht haben. Ich
meine in deinem Verhalten zu mir. Anſtatt dich durch
die Grenzen und Schranken meiner Unerfahrenheit ein¬
zuengen, hätt ich mich durch dein reicheres Weſen hinaus¬
leiten laſſen ſollen ans ihnen, — grade wie es mir ja
durch dich während unſrer Trennung geſchehen iſt.“
„Nein, o Benno, nein!“ fiel ich ein, „dann wärſt
du ja gar nicht du ſelbſt geweſen.“
„Ich ſpreche dich ja bei dieſem begangenen Fehler
durchaus nicht von Mitſchuld frei!“ ſagte er eindring¬
lich, „nein, wie ſehr, wie ſehr warſt du ſelbſt ſchuld
daran! Schuld durch deine Folgſamkeit und Fügſamkeit,
ſchuld durch deine leidenſchaftliche Selbſtunterwerfung und
den kritikloſen Glauben an meine thörichte Unfehlbarkeit.
Hätteſt du mich nur nicht über dich geſtellt, ſondern
neben dich, — ach, lieber noch unter dich, als ſo hoch
hinauf.“
„Dann hätt ich dich nicht geliebt,“ ſagte ich leiſe.
„Ach Kind,“ verſetzte er mit gedämpfter Stimme
und wendete ſich vom Fenſter fort, „— warum liebt
ich dich denn? mir ſelbſt unbewußt doch um deswillen,
worin du thatſächlich über mir ſtandeſt, etwas Selteneres,
Feineres, Glanzvolleres warſt als ich. Ich kam aus der
Dürftigkeit, aus der Dunkelheit zu dir wie ins Licht.
— — Sieh, warum ſoll das auch nicht ſein? Es ſind
[152]— 152 —ja grade ſolche Frauen, die uns vor der Seelenöde ret¬
ten, die unſre Berufsmonotonie ergänzen —. Im Beruf,
da mögen wir ja die Ueberlegenen ſein, mögen beſtim¬
men, befehlen, unterweiſen, was uns unterſtellt iſt, —
aber der Frau gegenüber, die wir lieben: glaube mir,
da fällt dieſer ſchlechte Ehrgeiz fort. Da werden wir
wieder gut und einfach und Kinder, und wollen uns gern
beſchenken, uns gern die ſchönſten Träume erzählen laſſen,
— mit unſerm Kopf in eurem Schoß.“
Ich hatte mich in dem Seſſel niedergelaſſen, die
Arme aufgeſtützt und das Geſicht in den Handflächen ver¬
graben. Er ſollte mir nicht in das Geſicht ſehen, das
nichts zu verſchweigen verſtand. Er ſollte nicht ſehen,
wie ſeine Worte auf mich wirkten — gleich einem feinen,
langen, ſchmerzenden Stich durch alle Nerven.
Eine ſtaunende und enttäuſchte Traurigkeit legte
ſich über mich, als er ſo von ſeiner Liebe ſprach, —
eine Traurigkeit, als gölte dieſe Liebe gar nicht mir,
ſondern als liebte er ſozuſagen an mir vorbei ins Leere
hinein.
Als ich noch immer ſchwieg, kam Benno näher,
ſetzte ſich mir gegenüber an das Kaminfeuer und ſagte
nach einer Pauſe:
„Siehſt du, von dieſen innern Umwälzungen iſt
auch meine äußere Exiſtenz beeinflußt worden. Du mußt
nicht denken, daß ich ewig hier bleiben will. Ich will
nicht den Direktorpoſten hier, und habe Ausſichten in
einer größern Stadt — —. Nun, davon ein andres
Mal. Ich wollte dir nur ſagen, weshalb ich hier ſo un¬
ſinnig viel gearbeitet habe, — du dachteſt wohl, weil
[153]— 153 —ich ganz aufgegangen wäre hier im Winkel. Aber das iſt
nicht ſo. Mit einem Ziel vor Augen, einem einzigen
Ziel, hab ich wie verrückt gearbeitet — und auch ge¬
ſpart und gegeizt, — der reine Hamſter —.“ Er bückte
den Kopf gegen das Feuer und lächelte ein wenig: es
ſah beinah kindlich froh aus.
Ich hatte die Hände ſinken laſſen und ſchaute auf
ihn, und eine unausſprechliche Weichheit kam über mich.
Ich ſah den blonden Kopf mit dem gelichteten Haar an
den Schläfen, dem nervöſen Zug um den Mund, und
mit dem etwas angeſtrengten, geſpannten Ausdruck,
der faſt nie mehr von ſeinem Geſichte wich. Und ich
ſah vor mir die Oede, durch die er gewandert war,
die Summe von Arbeit und Einſamkeit, die hinter ihm
lag. Wie ein neuer, zuvor nie in ſeiner Wirklichkeit
von mir geſchauter Menſch kam er mir vor; der „ge¬
panzerte“ Mann meiner Backfiſchromantik legte ſeine
Rüſtung ab, und dahinter ſtand ein kindguter, liebe¬
bedürftiger Menſch, der keinen, — nein keinen, mit har¬
tem Fuß niederzutreten vermöchte.
„Um den Hals fallen ſollte man ihm, und ihm alles
Liebe anthun!“ dachte ich weich und erſchüttert. Aber
in meinem Herzen blieb dennoch dieſelbe große Traurig¬
keit und Enttäuſchung, wie wenn er mir etwas Bitteres
zu leide gethan hätte.
Er ſtand in ſeiner Unruhe wieder auf und ſagte be¬
fangen:
„Was es mich damals gekoſtet hat, — nur deine
Mutter weiß es, was es mich gekoſtet hat, dich fort¬
zulaſſen. Du durfteſt es ja nicht wiſſen. Und um deinet¬
[154]— 154 —willen mußte es ſein. Ich ſchuldete deinen Eltern ſo
viel, — ich hätte ja auch nie um dich zu werben ge¬
wagt, — ich konnte dich nicht kranken und verkümmern
laſſen. Jetzt, — jetzt würd es anders ſein, Adine.“
„— Benno — !“ ſagte ich leiſe, verwirrt, wie geſtern,
und auch in abwehrender Furcht wie geſtern, vor den
Worten, die nun kommen mußten. Aber es war doch
nicht dieſelbe Furcht, und nichts erzitterte in mir dabei
in lähmendem Unterliegen, und nichts durchſchauerte mich,
wie geſtern. Ich dachte in dieſem Augenblick überhaupt
nicht an mich, ſondern nur allein an ihn, und alles, was
ich fürchtete, war, ihn leiden zu ſehen, ihm weh thun
zu müſſen.
Nie, noch nie bin ich ihm menſchlich, in menſch¬
licher Anteilnahme, mitempfindend ſo nahe geweſen, —
nie aber auch war ich gleichzeitig ſo fern von ihm, ſo
weit, weit fort, — als Weib.
„Ja, vielleicht haſt du recht!“ ſagte ich atemlos,
überſtürzt, und richtete mich auf, „— vielleicht hätten
wir von allem Anfang an anders miteinander ver¬
ſchmelzen können, ohne Kampf, ohne Hemmnis, auch ohne
Unterordnung oder Ueberordnung des einen oder des an¬
dern! Einfach in der Freude und im Rauſch unſrer
friſchen Jugend. Ja vielleicht! Vielleicht giebt es eine
ſolche Liebe, und iſt ſie möglich und iſt ſie ſchön,“ —
ich ſtockte, und ein Schmerz, den ich ſelbſt nicht begriff,
machte mir die Bruſt eng; ich fügte mühſam hinzu:
„— aber das iſt verſcherzt, das iſt für mich zu ſpät —“
„Nein, — nicht! bitte, ſage nichts!“ bat er haſtig
und durch meinen plötzlichen Ausbruch erſchreckt, „— du
[155]— 155 —ſollſt gar nicht ſo übereilt — du ſollſt dir Zeit laſſen,
— prüfen —; nur mir von der Seele ſprechen mußt ich
es gegen dich —“
Er brach ab, weil im anſtoßenden Wartezimmer eine
Thür knarrte; ein leichtes Geräuſch, wie von einem Stock,
der den Boden berührte, wurde hörbar.
Benno blickte unruhig auf die kleine Standuhr auf
dem Kaminſims.
„Unmöglich kommt ſie ſo früh,“ murmelte er ver¬
wirrt, „ich habe ihr doch geſtern abend die Stunde
genannt.“
Doch ſchon pochte es leiſe, und er öffnete die Thür
ins Wartezimmer. Vor ihm, ganz hell vor Freude, Er¬
wartung und Ungeduld, ſtand die kleine Baroneſſe.
Sie begrüßte mich wie eine alte Bekannte, ohne
irgend etwas von der Benommenheit zu merken, worin
ſie Benno und mich vorfand; ſie war dazu ſelbſt zu
benommen.
„Wir ſind geſtern ſchon ganz ſchnell die beſten
Freunde geworden,“ erklärte ich Benno, der ihr den
Krückſtock aus der Hand nahm und ihr den bequemſten
Seſſel heranrückte.
„Das wundert mich gar nicht,“ erwiderte er mit
der ruhigen und beruhigenden Stimme, die er als Arzt
zur Verfügung zu haben ſchien, wie eine bereitliegende
Maske, „du würdeſt auch in ganz Brieg ſchwerlich einen
zweiten Menſchen finden, mit dem du ſo gut zuſammen¬
paßt, wie die Baroneſſe Daniela.“
„Nicht in allem!“ ſagte die kleine Verwachſene lä¬
chelnd, „man dürfte uns zum Beiſpiel ſchon nicht zuſammen
[156]— 156 —auf der Straße ſehen; wie ſchön würd ich da nach¬
humpeln müſſen.“
Benno warf ihr durch ſeine Brille einen forſchenden
Blick zu.
„Grade deshalb!“ bemerkte er, „denn wären Sie
ſo ſchlank gewachſen wie eine Tanne im Walde, ſo wür¬
den Sie in andrer Hinſicht ſchwerlich ſo hoch in die Höhe
gewachſen, ſondern recht oberflächlich ausgefallen ſein,
und unſrer Dina in allen Stücken nachhumpeln müſſen.“
Sie ſtrahlte ihn ſtatt jeder Antwort mit ihren dank¬
baren, glücklichen Augen an, und ich ſah es ihr an, wie
völlig geborgen ſie ſich vorkam, — auf eine Stunde
vor allem Ungemach geborgen, und mit ihm zu zweit
allein.
„Ich gehe nun hinüber,“ äußerte ich und gab ihr
die Hand, „ich denke aber, daß wir bald wieder mit¬
einander plaudern.“
„Bald, ja!“ verſetzte ſie zerſtreut und blickte unver¬
ſehens Benno an, ſtatt mich, „— wenn man mich nur
bald wieder herläßt. Jetzt gibt es ſo viele Abhaltungen
vor Weihnachten. Deswegen mußt ich heute ſchon ſo
früh kommen, — ſpäter käm ich nicht frei.“
Ich verließ das Zimmer faſt mit einer wunderlichen
Regung von Neid. Ja, ich beneidete beinah die kleine
Verwachſene um die harmloſe Romantik, womit ſie da
drinnen bei Benno ihren Anteil an Menſchenglück ſich
vorweg nahm. Sie konnte ihn hoch über ſich ſtellen,
ſich ſelbſt demütig unter ihn, ohne daß dieſe halb er¬
träumte Situation ſich jemals zu ändern brauchte, ohne
daß die Wirklichkeit des Lebens ſie jemals in ihren Illu¬
[157]— 157 —ſionen und Phantaſien ſtören würde, — denn Leben und
Wirklichkeit blieben ihr doch wohl immer fern.
Sie ſetzte jetzt den Becher an die Lippen und
nippte von derſelben Sklavenſeligkeit, woran ich mich
einſt Benno gegenüber ſo bis zur bewußtloſen Selbſt¬
vernichtung berauſcht hatte, — und die es für mich ihm
gegenüber nun nicht mehr gab. Und arglos hielt er ihr
dieſen betäubenden, gefährlichen Trank an die Lippen.
Von mir aber, die damit bis in die letzten Nervenfaſern
vergiftet geweſen war, heiſchte er ebenſo arglos, daß ich,
mit ernüchtertem Herzen und ernüchterten Augen, ihn lie¬
ben ſollte —.
Bei uns im Wohnzimmer traf ich Gabriele. Meine
Mutter ſchien eben erſt von Weihnachtsbeſorgungen in
der Stadt heimgekehrt zu ſein; ſie ſtand noch im Hut
da und trug die einzelnen Ausgaben in ihr Notizbüchel¬
chen ein.
Gabriele drehte ſich raſch nach mir um und rief:
„Ich bin nur da, um dich zu fragen, ob du nicht
heute abend ein wenig zu uns heraufkommen willſt? Es
ſind lauter alte Bekannte bei uns, die neugierig ſind,
dich wiederzuſehen, wie du dir wohl denken kannſt.“
„Ja, danke. Vielleicht. Nimm es lieber nicht als
gewiß,“ entgegnete ich, von der Vorſtellung erſchreckt,
den Abend geſellig verbringen zu ſollen, und ſetzte mich
an den Tiſch, auf dem mehrere aufgeſchnürte Pakete mit
blitzenden Anhängſeln zum Chriſtbaum lagen.
„Auf mich mußt du keine Rückſicht nehmen,“ be¬
merkte die Mutter und legte ihr Notizbuch neben mich
hin, „ſo früh, wie ich's gewohnt bin, kannſt du dich ohne¬
[158]— 158 —hin nicht zur Ruhe begeben. Aber ich wache nicht davon
auf, wenn du ſpäter ins Schlafzimmer kommſt.“
Ich langte nach dem kleinen abgenutzten Bleiſtift
am Notizbuch und begann zerſtreut auf dem harten grau¬
weißen Paketumſchlag zu zeichnen.
„Doktor Frensdorff kommt wohl ſicher nicht mit
herauf?“ fragte Gabriele zögernd.
„Schwerlich,“ verſetzte die Mutter, „er fährt mit¬
tags weit über Land und kehrt erſt ſpät zurück.“
„Alſo nicht!“ bemerkte Gabriele in ſo merkwürdig
reſigniertem Ton, daß ich unwillkürlich aufblickte.
Ich vermochte in dem geſenkten Geſicht, das von
feinem Kraushaar wie von einer leuchtenden Wolke um¬
ſchattet wurde, nichts zu leſen. Aber jetzt nachträglich
fiel mir Gabrielens fortwährendes Erröten bei unſerm
geſtrigen Geſpräch und manches ihrer Worte auf.
Faſt kam mir ein Lächeln. Wenn ſie wirklich in
Benno verliebt war, ſo mußte man es humoriſtiſch nen¬
nen, um wie verſchiedener, ja einander ausſchließender
Eigenſchaften willen wir drei uns für ihn intereſſiert
hatten. Was iſt nun ein Menſch weſentlich andres, als
was wir uns aus ihm zurechtmachen?
Aber von uns dreien traute ich Gabriele das beſte
Urteil über ihn zu. Vermutlich hatte ſie ganz recht damit,
daß ſie eine paſſende Frau für Benno wäre, von der
er ſich dann ſicher auch genau ſo erziehen ließe, wie es
ſich nach Gabrielens Meinung für die Frau von heute
ſchickte.
Da bemerkte Gabriele:
„Doktor Frensdorff iſt überanſtrengt und über¬
[159]— 159 —beſchäftigt, daher geht er nirgends hin. Jemand ſollte
ihm das ausreden. Das ſollteſt du thun, Adine.“
„Er hört doch nicht drauf,“ meinte die Mutter und
ging hinaus, um ihren Hut abzulegen.
„Auf dich würd er wohl hören,“ ſagte Gabriele
halblaut.
Ich ließ überraſcht den Bleiſtift fallen und ſah
ſie an.
„Wär es dir denn im Ernſt angenehm, wenn ich
mich drum kümmerte oder ihn beeinfluſſen wollte?“
„Ja. Wenn es zu ſeinem Wohl dient,“ verſetzte
Gabriele finſter.
Etwas von meiner alten Bewunderung für ſie regte
ſich in mir. Und eine warme Bereitwilligkeit, ihr zu
helfen. Sie ſollte wiſſen, daß ich ihr nicht in den
Weg treten würde.
„Meine Sache iſt das aber gar nicht,“ ſagte ich
raſch und in leichtem Ton, während ich fortfuhr zu zeich¬
nen, „du weißt ja: ich gerate lieber ſelbſt unter je¬
mandes Einfluß. Ich will aber beides nicht. Es iſt
alſo beſſer, wenn dir das zugehört, und niemand anders
teil dran nimmt.“
Gabriele ſtand auf.
„Ich muß hinaufgehn, um nach unſerm Mittag
zu ſehen, auf Mutchen iſt kein Verlaß,“ bemerkte ſie
ruhig, dann aber, als ich ihr die Hand gab, ſah ſie mir
feſt und faſt etwas hochmütig in die Augen und fügte
ernſt hinzu:
„Was uns wahrhaft gehört, Adine, das nimmt nie¬
mand uns fort. Was uns wahrhaft gehört, das fällt
[160]— 160 —uns zu, früher oder ſpäter. Daher ſind alle kleinlichen
Sorgen um Dein und Mein niedrig. Alles was wir zu
thun haben iſt, ſelber vorwärts zu gehn; wer zu uns
gehört, geht mit, wer das nicht thut,“ — ſie hielt inne
und atmete tief auf, — „der — ja der darf uns auch
nicht aufhalten.“
Ich beugte mich, etwas verdutzt, über mein Paket¬
papier. Leidenſchaftsloſigkeit und Ueberzeugungskraft ſind
gewiß hohe Tugenden. Und ich —? Ach, ich!
Ich blickte erſt wieder verwundert auf, als die Mutter
wieder eintrat und mir über die Schulter ſah.
„Aber das iſt ja die kleine Baroneſſe!“ rief die
Mutter überraſcht, „nur gar ſo ſchön, wie du ihren Kopf
gezeichnet haſt, iſt ſie doch nicht, Kind.“
„Nicht ſchön —? — Uebrigens iſt es eigentlich
auch nicht grade die Baroneſſe Daniela. Es iſt nur das
Glück, Mama.“
„Das Glück — ?!“
„Ja. So ungefähr ſchaut es aus. Aus ſolchen
Augen ſchaut es das Leben an.“
„Arme Daniela,“ meinte die Mutter, „ſie hat es
ſchwer genug im Leben. Weißt du, daß ſie auch grade
eine Majorstochter ſein muß, wo ſo viel laute Geſellig¬
keit im Hauſe herrſcht —. Man möchte ihr ſchon ein
wenig Glück zu Weihnachten wünſchen, als Chriſt¬
geſchenk.“
„Ach Mama, kein Menſch weiß ja ſo recht, was der
andre ſich wünſcht. Ich könnte mir zum Beiſpiel Da¬
nielas Schickſal wünſchen. Oder einfach zu Weihnachten
einen ſchön gewölbten Buckel, Mama.“
„Aber Dienchen! ſo ſündhafte Scherze ſoll man
nicht machen.“
Das Dienſtmädchen kam herein und brachte die ein¬
gelaufene Poſt. Sie überreichte die paar Kartenbriefe
mit einer Würde auf dem Präſentierteller, als wären es
mindeſtens hochwichtige Depeſchen.
„Ich möchte wohl wiſſen, warum die Anna immer ſo
feierlich thut,“ bemerkte ich, nachdem ſie wieder hinaus¬
gegangen war, „wenn ſie abends die Lampe bringt,
trägt ſie ſie auch vor ſich her wie eine Gottesfackel.“
„Sie iſt krank geweſen. Das iſt ihr von der Krank¬
heit verblieben.“
„Was — die Feierlichkeit?“
„Die Wahnvorſtellung, als ob alles, was ſie thut,
die feierlichſte Bedeutung hätte. In ihrer Geiſteskrank¬
heit war ſie nämlich ganz glückſelig. Da hat ſie gemeint,
beim Kaiſer von China zu dienen. Das kann ſie ſich in
ihren Manieren noch nicht recht abgewöhnen. Aber Benno
meint, das ſchade nichts.“
„Und das nennt man nun Wahnſinn!“ ſagte ich
ſeufzend. „Eine Fähigkeit, ſo beglückende Illuſionen ein¬
fach feſtzuhalten. Ich glaube, Mama, ich wünſche mir
zu Weihnachten außer dem Buckel auch noch einen ganz
niedlichen kleinen Wahnſinn.“
„Aber, Kind! Du redeſt ja ſchon den reinen Wahn¬
ſinn!“ meinte die Mutter unwillig, und las ihre Karten¬
briefe.
Ich legte die Arme auf den Tiſch und den Kopf
darauf. Der Kopf war mir ſo leer, und das Herz
ſo ſchwer, wie nach einer Vergeudung und Erſchöpfung
Lou Andreas-Salomé, Fenitſchka. 11[162]— 162 —aller Kräfte. Und dabei war der Morgen doch ſo idylliſch
friedlich verlaufen. Ohne Not hatte ich mich vor den
Morgenſtunden bei Benno gebangt, als drohte mir in
ihnen eine Gefahr, die heimlich anzieht, wie Schwindel
und Abgrund —. Da war gar kein Abgrund. Flache
grüne Wieſe, eine Landſchaft geſchaffen zum Schäfer¬
idyll — —.
Und Sehnſucht und Enttäuſchung und ein Widerwille
gegen alles, was nicht Abgrund und Gefahr ſein wollte,
wachten in mir auf. In mir erwachte ganz dieſelbe
Gemütsſtimmung und Gemütsſpannung, in der ich mich
damals von Benno losriß, — weil mir der volle Becher
zwiſchen den Lippen zerſchellte.
[]
Ungern entſchloß ich mich gegen Abend, zum Ren¬
danten in die kleine Geſellſchaft zu gehn. Aber es wäre
mir ebenfalls ſchwer gefallen, dieſen Abend neben meiner
Mutter im Wohnzimmer zu ſitzen und mit ihr heiter und
eingehend zu plaudern. So kleidete ich mich denn auf
ihr Zureden um und ſchickte mich an hinaufzugehn, um
Gabriele nicht zu kränken.
Als ich aus unſern Stuben in den Hausflur trat,
fand ich ſeltſamerweiſe die Thür nach der Straße weit
offen. Eh ich ſie zumachte, blieb ich einen Augen¬
blick lang auf der Schwelle ſtehn und ſchaute hinaus.
Draußen war es unwirtlich und häßlich. Der Froſt
zeigte Neigung, in Tauwetter überzugehn; die Schnee¬
ſchicht lag nur noch dünn und klebrig auf der Straße,
und ein feiner Winternebel verſchleierte das gelbe Licht
der Laternen.
Da, wie aus der Erde gewachſen, ging ein junger
Mann draußen vorüber und grüßte. Die Straße war
er nicht herabgekommen, ich hätte ſeinen Schritt durch
den getauten Schnee hören müſſen.
Ich ſchloß die Thür, von der feuchten Kälte durch¬
ſchauert, als im ſelben Augenblick jemand von der Hof¬
ſeite durch das Hinterpförtchen in den Flur huſchte.
Ich wandte mich um und erkannte Mutchen.
Mutchen ſah erſchrocken aus; in einen Mantel ge¬
hüllt, aus dem das helle Geſellſchaftskleidchen hervor¬
leuchtete, ſtand ſie wie verſtört da und horchte nach
oben, wo das Geräuſch herabkommender Schritte hörbar
wurde.
Dann lief ſie plötzlich auf mich zu, faßte mich am
Arm und flüſterte haſtig und ängſtlich:
„Ach, laſſen Sie mich um Gottes willen zu Doktor
Frensdorff hineinſchlüpfen, — er iſt nicht zu Hauſe, —
bitte, bitte, ich erkläre Ihnen gleich —“
Ich ſtieß die Thür zu Bennos Wartezimmer auf
und zog Mutchen dort hinein.
„Was iſt denn geſchehen? vor wem fürchteſt du dich?
wer bedroht dich?“
„Ich glaube, das Mädchen geht nach Bier,“ flüſterte
Mutchen atemlos; „— bitte, bitte, ſagen Sie nur Papa
oder gar Gabriele nichts, — nein? Sie haben's ja ge¬
ſehen, Sie ſtanden ja an der Hausthür, als Doktor
Gerold vorüber mußte.“
„Doktor Gerold? war das der, der eben vorüber¬
ging? wer iſt es denn? und wozu heimlich?“
Mutchen ſchmiegte ſich in der dunkeln Stube an
mich und flüſterte halb ſchüchtern, halb ſchelmiſch:
„— Wozu?! — ja, wie ſoll man denn anders?
Haben Sie denn nie einen lieb gehabt? Ich kann ihn
doch nicht plötzlich da oben hinſtellen zwiſchen Papa
und die Tanten und Verwandten. Sie würden ja auf
den Tod erſchrecken. Abgeſehen davon, daß Gabriele
mich — na!“
[165]— 165 —
„Ihr ſeid wohl heimlich verlobt, Doktor Gerold
und du?“
„Ich glaube,“ ſagte Mutchen zögernd.
„Du glaubſt es nur?! Du weißt nicht, ob ihr ver¬
lobt ſeid?“
„Ja, kann man denn das ſo ganz genau wiſſen?“
Mutchens Stimme klang kläglich, „wir ſind noch ſo jung
alle beide, er kann ja eigentlich noch gar nicht etwas ſo
Feſtes — — ach du, kann man denn daran denken,
wenn man jung iſt und einen lieb hat?“ ſetzte Mutchen in
raſchem Stimmungswechſel reſolut hinzu und merkte nicht
einmal, daß ihr das vertrauliche „Du“ entſchlüpft war.
„Laß mich jetzt ſchnell hinauf, ehe die Guſte mit dem
Bier wiederkommt. Und ich danke dir! Nicht wahr,—
o nicht wahr, du verrätſt es nicht? Von dir glaub ich's,
eine andre würd ich nicht einmal erſt drum bitten.“
„Warum dann mich, Mutchen?“
„Ich weiß nicht. Du ſchauſt ſo aus. So, als
müßteſt du's verſtehn.“
„Nun, Mutchen, verraten werd ich dich nicht. Aber
unter einer Bedingung, hörſt du? nur wenn du mir alles
ſagſt, — wenn du mir morgen ſagſt, was eigentlich
zwiſchen euch iſt. Verſprichſt du mir das?“
„Ja, ja!“ murmelte Mutchen, küßte mich haſtig und
ſchlüpfte aus dem dunkeln Zimmer.
Ich ſtand und ſchüttelte den Kopf.
„Ich bin wirklich eine ſchöne Autorität für ſolchen
Mutchen-Fall!“ dachte ich ratlos, „was ſoll das nützen,
wenn ſie mir auch alles erzählt? kann ich etwa entſchei¬
den und eingreifen? Gewiß thut ſie unrecht mit dieſen
[166]— 166 —Heimlichkeiten. Gewiß, — vielleicht. Vielleicht hat ſie
auch ganz recht.“
Ich tappte mich in die daneben gelegene Studier¬
ſtube, wo die Zündholzſchachtel ſtets auf dem Rauch¬
tiſchchen lag, und machte Licht.
Jetzt, nach dieſem Zwiſchenfall, mochte ich nicht,
wenigſtens nicht gleich, zu Gabriele hinaufgehn, — am
liebſten hätt ich es ganz gelaſſen.
Auf dem Kaminſims, zu beiden Seiten der kleinen
Standuhr, ſtanden zwei Bronzeleuchter mit dicken Wachs¬
kerzen, die durch die Länge der Zeit förmlich von
Staub vergraut waren. Ich zündete eine davon an
und ſah in Gedanken verſunken in die gelbe ruhige
Flamme.
Welch ein keckes, leichtblütiges Ding dieſes Mutchen
mit ihren achtzehn Jahren ſein mußte! Ich ſelbſt war
anders geweſen zu dieſer Zeit, trotzdem ſie eben verſichert
hatte, ich ſchaute grade ſo aus, „als verſtände ich das“.
Und wer weiß! vielleicht hatte es auch nur der Zu¬
fall ſo gefügt. Der Zufall, der mich in eine rechte
Schwärmerei voll Traumromantik führte, weil er mich
von raſcher Erfüllung der Liebeswünſche fernhielt.
Mutchen aber war nicht in lebensfremden Träumen
groß geworden, ſie war ein rechtes Kind ihrer Zeit, das
das Leben allzu früh ſo geſehen hatte, wie es iſt, und ſich
nun mit heitern, liſtigen Augen einen Ausweg erſpähte
aus den ſie beengenden ſtrengen Mädchenſitten. Heute
liebte ſie Doktor Gerold, wie ſie behauptete; aber viel¬
leicht hatte ſie ſich ſchon in der Tanzklaſſe heimlich mit
halbwüchſigen Gymnaſiaſten angeſtoßen und ſich auf die
[167]— 167 —künftigen Liebesabenteuer gefreut wie auf ihr aller¬
ſchönſtes Jugendvergnügen.
Man konnte das bedauern. Man konnte in ſolchem
Fall ſie ſelbſt bedauern, die ein koſtbares Kapital un¬
achtſam in kleiner Münze verſtreute. Aber warum be¬
dauerte man dann nicht wenigſtens auch den raſenden
Gefühlsverbrauch, die erſchlaffende Gefühlsausſchweifung
in den jugendlich romantiſchen Marlittiaden von uns
andern? Verliefen die etwa harmloſer als ein Leichtſinn
wie der Mutchens, nur weil man durch ſie am Leibe keinen
Schaden nimmt, und weil ihre feinern und intimern
Korruptionen des ſeeliſchen Lebens nach außen unmerk¬
barer bleiben? In Wahrheit iſt es vielleicht minder ge¬
fahrvoll, ſich bei oberflächlichen Genüſſen zu zerſtreuen,
als hinabzuſinken in allerlei ſchwüle, dunkle Tiefen alter
Gefühlselemente, gegen deren Ueberreizung die geſunden
warmen Reize des Lebens nicht aufkommen —.
Ich hatte mich auf das Fußende der Ottomane ge¬
ſetzt und horchte unentſchloſſen nach oben, von wo das
Geſumme durcheinanderredender Stimmen zu mir drang,
und wo jetzt gar ein luſtiger Walzer auf dem Klavier
geſpielt wurde.
Da trat jemand von draußen in den Hausflur, man
hörte, wie er ſich den lockern Schnee von den Stiefeln
ſtampfte, ein Männerſchritt näherte ſich, — dann wurde
die Thür zur Studierſtube geöffnet, und Benno ſtand
auf der Schwelle.
Ich wandte den Kopf nach ihm und ſagte entſchul¬
digend:
„Ich meinte, du kämſt erſt ſpät heim. Verzeih, daß
[168]— 168 —ich hier ſitze. Mama glaubt mich oben in der Geſell¬
ſchaft. Ich ſoll auch hin. Zauderte aber hier, und blieb.
Es war ſo ſchön ſtill hier.“
Er antwortete nicht. Im Thürrahmen ſtand er
ſtill und ſchaute herüber zu mir. Seine Augen hingen
an dem elfenbeinfarbenen Wollkleide, das ich angezogen
hatte, und langſam ſtieg ſein Blick daran herauf bis zu
meinem Geſicht. Das ſeine erſchien mir blaß und
ſeltſam.
Von ſeinen Lippen kam ein Laut, — kein Wort,
nur ein ſchwacher, kurzer Laut, — und eh ich es noch
hindern, eh ich noch aufſtehen konnte, lag er vor mir
auf dem Teppich und umfaßte mich mit ausgeſtreckten
Armen und geſchloſſenen Augen, und bedeckte meine Hände,
meinen Hals, meinen Schoß mit Küſſen.
Er küßte mich, ohne mich loszulaſſen, ohne in ſei¬
nem Ungeſtüm nachzulaſſen, ohne mir Atem zu laſſen.
Er küßte mit einer Gewaltſamkeit und Benommenheit,
womit er mich faſt brutaliſierte, während er mich lieb¬
koſte. Er küßte ſo, wie jemand trinkt, der, an der
Stillung ſeines Durſtes verzweifelnd, ſchon verſchmachtend
am Boden gelegen hat. Er küßte mit der Sehnſucht,
Inbrunſt und Dankbarkeit jemandes, der ſich mit unaus¬
ſprechlicher Wonne vom Tode freiküßt.
Ich regte mich nicht und wehrte ihm nicht. Ich
gab leiſe ſeinen Bewegungen nach, ohne ſie zu erwidern.
Ich fühlte mit ſtaunendem Mitleid dieſen Ausbruch einer
lange, lange und mit entſagender Kraft zurückgedämmten
Leidenſchaft, die ſich in dieſem Augenblick blindlings
ſättigte. Und während ich ſeinen unſinnigen Küſſen nach¬
[169]— 169 —gab, regte ſich in mir etwas Wunderliches, ganz Zartes
und beinahe Mütterliches, — die Hingebung einer Mutter,
die einem weinenden Kinde lächelnd ihre nahrungſchwellende
Bruſt öffnet.
So ruhte ich, feſt von ſeinen Armen umſchloſſen,
die Augen weit offen zur Decke emporgerichtet, und dabei
ging es mir ſtill und beinah ehrfürchtig durch den Sinn,
— wie keuſch wohl das Leben dieſes Mannes hingegangen
ſei —.
Benno ließ mich endlich frei, mit einem ächzenden
Laut, als ob er ſich eine Wunde zufügte. Zugleich ſprang
er zitternd vom Boden auf und ſagte mit einem Aus¬
druck leidenſchaftlicher Verzückung auf ſeinem Geſicht:
„Ich danke dir! Du mein einziger, geliebteſter aller
Menſchen, ich danke dir! Ich wäre erſtickt und zerbrochen,
wenn du mich zurückgeſtoßen hätteſt!“
Es fiel ihm nicht ein, nicht einen einzigen Augen¬
blick lang fiel es ihm ein, daß ich vielleicht ſeinen Rauſch
nicht geteilt haben könnte. Um ins Mitempfinden des
andern einzugehn, dazu gehört gewiß Liebe, aber bei
einem gewiſſen Grad der Liebesleidenſchaft ſchlägt ſie
zurück in ſo beſinnungsloſen Egoismus, daß ſich daraus
keine Fühlfäden mehr in die äußere Welt erſtrecken, ſei
es auch die Gefühlswelt des geliebten Menſchen, und daß
ein ſtörender Mißton einfach dadurch unmöglich gemacht
wird, daß man ihn eben nicht aufnimmt und nicht ver¬
nimmt. Liebesleidenſchaft iſt wie die letzte und äußerſte
Einſamkeit.
So befangen Benno noch heute morgen geſchwankt
und gezweifelt hatte, ſo ſiegesſicher fühlte er ſich jetzt.
[170]— 170 —Alle ängſtliche Ueberlegung, alle Mutloſigkeit war von
ihm genommen. Ich richtete mich langſam auf, ohne
die Augen von ihm zu wenden.
Sonderbarerweiſe beſchäftigte mich dabei eine ganz
gleichgültige Kleinigkeit. Benno hatte, während er auf
den Knieen lag und mich küßte, ſeine Brille verloren.
Sie lag auf dem Teppich neben der Ottomane, und die
Gläſer, die ſonſt ſeinen Blick verdeckten, glänzten im
Kerzenlicht.
Und da ſchauten mir nun ſeine Augen brillenlos
entgegen, ſo wie ſie in Wirklichkeit waren, — blau und
treuherzig, mit dem etwas unſichern, etwas ſtarren Blick
derer, die ſich immer ſcharfer Gläſer bedienen — — .
Benno machte eine gewaltige Willensanſtrengung,
um ſich zu faſſen und zu beruhigen, trat zurück und ſagte:
„Verzeih mir. Ich wollte dir Zeit laſſen, — ich
hätte es vielleicht ſollen, aber ich konnte nicht länger,
Adine. Sieh, den ganzen Tag, den ganzen ſchrecklichen
Tag trug ich eine ſinnloſe, würgende Angſt mit mir
herum. Eine Angſt, weil du heute früh etwas geſagt
hatteſt von ‚zu ſpät‘, oder — oder ‚verſcherzt‘ haſt du
geſagt, — etwas Aehnliches; — ſiehſt du, der Zweifel
brachte mich von Sinnen.“
Und er griff haſtig, wie um mich nun auch wirklich
ſich nicht entgehen zu laſſen, nach meinen Händen und
ſetzte ſich neben mich, dicht zu mir gebeugt.
„Liebſte! — ſag' mir ein Wort,“ bat er mit einem
glücklichen Lächeln, — und mein Blick mied ſcheu den
ſeinen.
Dieſe leuchtenden treuherzigen blauen Augen, dieſes
[171]— 171 —ganze von Glückszuverſicht verklärte Geſicht klagte mich
laut an.
Ich ſelbſt klagte mich an, und erſchrak über das
Geſchehene. Und doch hätt ich nicht anders zu handeln
vermocht, auch wenn es gegolten hätte, noch einmal zu
handeln in den tollen vorübergeſtürmten Minuten ſeines
Rauſches. Beſſer, tadelloſer wär es zweifellos geweſen,
ihm zu ſagen: „Küſſe mich nicht! täuſche dich nicht! ich
liebe dich nicht!“ Aber wie konnte ich ihn im Durſten
und Darben zurückſtoßen und ſorgſam abwägen, was
das Richtigere, das Tadelloſere war —
„Vielleicht fehlt mir jeder Stolz! vielleicht jede
Scham!“ dachte ich, „und jetzt? und hinterher? was ſoll
ich thun? wie ihn aufklären und kränken? Ach, ich kann
ihn nicht kränken! Kann ihn nicht durch Mitleid belei¬
digen. Ich bin ein feiges — ein ganz feiges Geſchöpf!“
Jetzt fiel Benno doch meine Stummheit und innre
Ratloſigkeit auf. Etwas wie eine dunkle Unruhe ging
durch ſeine Augen und machte ſie rührend, wie erſtaunte
Kinderaugen.
„Adine, — ich — — ſprich zu mir!“ rief er faſt
laut, „ich halt's nicht aus! Warum ſprichſt du nicht?“
„Lieber Gott!“ dachte ich, „hilf mir doch! gieb mir
ein, was ich thun ſoll. Niemals, niemals kann ich ihm
die ganze Wahrheit ſagen! niemals, niemals ihn vor
mir demütigen, — ihn, den ich einſt, ach einſt — !
Lieber laß mich klein und verächtlich werden in ſeinen
Augen, daß er ſelber mich nicht mehr will, nicht mehr
liebt. Laß mich lieber ganz zunichte werden, — Staub
zu ſeinen Füßen —.“
„Dina —!“ ſagte er mit erſtickter Stimme, und
man konnte ſehen, wie ihn ein Schreckgefühl durchrieſelte.
Ich mochte ja vor ihm daſitzen wie ein Bild der Selbſt¬
anklage und Verwirrung. Und da mochten ſeine Zweifel
plötzlich heraufſteigen, — Zweifel, die er mit ſich herum¬
getragen, — Zweifel, die ihm erſt vor einer Woche den
Brief an mich diktiert hatten, — Zweifel an der Un¬
berührtheit meines Mädchenlebens.
„— Nein nein!“ entfuhr es ihm wild abwehrend,
grade als widerſpräche er jemand, „— nein, es kann
nicht ſein! Nicht das kann es ſein, — Adine, auf meinen
Knieen will ich es dir zuſchwören, daß du mir das Höchſte,
das Reinſte biſt, das, wovor ich kniee, und das ſchon
der leiſeſte Schatten eines Mißtrauens entſtellen würde.
Was liegt an der ganzen Welt! Wenn du nur biſt, die
du warſt!“
Ich ſtieß einen Seufzer aus, mir war wie einem
Erſtickenden, der Luft bekommt. Unwillkürlich falteten
ſich meine Hände. Ja, dies war ein Ausweg, — der
Schatten von Mißtrauen, der Zweifel, der Brief, —
wenn Benno an all das glaubte, dann war es ein Aus¬
weg. Allzu hergebracht ſtreng dachte er doch in dieſem
einen Punkt, und allzuſehr hatte ſeine Phantaſie mich
verklärt, um darüber mit ſeiner Liebe hinwegzukom¬
men —.
Benno war aufgeſprungen, er ſtarrte mich an und
atmete kurz.
Er hatte nach der Lehne des zunächſtſtehenden Stuhles
gegriffen und umfaßte ſie gewaltſam mit beiden Händen,
als wollte er ſie zerbrechen. Der ganze Mann zitterte.
Mit heiſerer rauh klingender Stimme brachte er
hervor:
„Wenn du — — haſt du — — iſt ein an¬
drer — —“
Und als ich noch immer ſchwieg, ging er langſam
auf mich zu, und leiſe, ganz leiſe, als fürchtete er ſich vor
ſeiner eignen Stimme, ſagte er mit herzerſchütterndem
Ausdruck:
„Dina! — Dina! ſage, daß es nicht wahr iſt!
daß du keine —“
Es durchfuhr mich in dieſem Augenblicke doch, wie
von einem elektriſchen Schlag. Ich hörte nichts mehr und
ſah nichts mehr, ein ſeltſamer Schwindel ſchien mir alle
Gegenſtände und alle Gedanken zu verrücken und zu ver¬
wandeln.
„Staub zu ſeinen Füßen, — jetzt bin ich ihm das
wirklich!“ dachte ich mir noch dumpf, und irgend eine
unklare Vorſtellung dämmerte dunkel in mir auf, daß
ſich da ſoeben etwas Sonderbares begäbe: irgend eine
wahnſinnige Selbſterniedrigung und Selbſtunterwerfung,
— irgend ein ſich zu Boden treten laſſen wollen —.
Und doch löſte ſich dabei etwas in meiner innerſten
Seele, was ſich bis zum äußerſten geſtrafft und ge¬
ſpannt hatte wie ein Seelenkrampf, — und es über¬
flutete mich mit einer zitternden Glut, und es ſchrie auf
und frohlockte — —.
Und dennoch war dieſe ganze Situation kein wirk¬
liches, kein wahrhaftes Erleben, ſondern ſie war von
mir nur geſchaffen, von Benno nur geglaubt, — ſie war
nur ein Schein, ein Bild, ein Traumerleben, — ein
Nichts. — — — — —
Ich weiß nicht, ob ich auf der niedrigen Ottomane
ſitzen blieb, oder ob ich in die Kniee ſank und mein Geſicht
in die Hände drückte, — jedenfalls hab ich dies meinem
innern Verhalten nach gethan und habe ſo verharrt. Damit
ſchloß für mich dieſe Scene; damit ſchloß meine Beziehung
zu Benno.
Trotzdem würde ich ja nie, im ganzen Leben nicht,
imſtande ſein, die Liebe eines Mannes zu ertragen, der
mich wirklich auf die Kniee feſtbannen oder mich in
meiner Individualität ähnlich vergewaltigen wollte, wie
Benno es ehedem unwiſſentlich verſucht hatte. Aber was
hilft mir dieſe Erkenntnis? Hilft ſie mir etwa dazu,
nun auch voll und ſtark und wahrhaft hingebend zu lieben
ohne dieſe furchtbaren Nervenreize? Nein! Wenn ich das
ſeitdem je geglaubt habe, ſo erwies es ſich ſofort als
ein bloßes Trugſpiel, ja eben als ein unwillkürliches
Spiel ohne Dauer und Tiefe. Es iſt, wie wenn ich
mich feſtgenagelt fühlte zwiſchen der Oberflächlichkeit Mut¬
chens und der hyſteriſchen Romantik der kleinen Ver¬
wachſenen, dazu beſtimmt, zwiſchen dieſen beiden Polen
des Gefühls hin und her zu pendeln wie zwiſchen Leicht¬
ſinn und Wahnſinn —.
Denn ich kann wohl als Künſtlerin entzückt und
erregt werden, und zugleich mit tiefſter Sympathie nach
einem mir teuren Menſchenweſen langen, — aber alles
was dem Weib in mir an den Nerv greift, alles was
inſtinktiv tiefer greift, als Freundſchaft und Phantaſie zu¬
ſammen vermögen, — alles das iſt dunkel jenem letzten
Schauer verwandt, der vielleicht eine lange, unendliche
Generationen lange Kette duldender und ihres Duldens
[175]— 175 —ſeliger Frauen in mir wunderlich und widerſpruchsvoll
abſchließt — —.
Auch meine Mutter gehörte ja in irgend einem
Sinne zu dieſen Frauen.
In der Nacht, die der Scene mit Benno folgte,
wachte ſie plötzlich von dem unterdrückten Weinen auf,
das aus meinem Bett hinüberdrang.
Sie richtete ſich auf und horchte beſorgt.
„Gute Nacht, mein liebes Kind?“ ſagte ſie leiſe,
fragend.
„Gute Nacht, liebe Mama,“ erwiderte ich.
„Wann biſt du denn von Rendants gekommen? Haſt
du noch gar nicht geſchlafen?“
„Ich war gar nicht oben, Mama. Ich war bei
Benno im Arbeitszimmer.“
„Aber Kind, du weinteſt ja! — — War Benno
zu Hauſe?“
„Er kam nach Hauſe.“
Meine Mutter verſtummte. Sie mochte erraten, daß
es zwiſchen uns eine Ausſprache gegeben hatte, denn nach
einer längern Pauſe hob ſie wieder an:
„Adine, mein Kind, du verlangſt zu viel vom Leben
und von den Menſchen. Du bringſt dich noch um dein
Glück. Alles in der Welt koſtet Opfer, und am meiſten
das Glück. Mag ſein, daß Benno manches anders will als
du. Den heutigen Frauen ſcheint es ſchwer, dem Mann
dienſtbar zu ſein, aber glaube mir, es iſt noch das Beſte,
was wir haben, und ich bin es deinem lieben Vater auch
immer geweſen. Auf die Länge lieben wir keinen Mann
ſo recht, wie den, der uns befiehlt —“
„Ach Mama, das glaub ich gern.“
„Nun, — aber —?“ meiner Mutter Stimme klang
ängſtlich geſpannt.
„Aber Benno iſt ganz andrer Meinung darüber,
Mama.“
Meine Mutter verſtummte wieder, diesmal völlig
verblüfft. Sie hatte mir ja ſo gut zureden wollen, und
hatte mir nun, ohne es zu wiſſen, abgeredet. Lange er¬
trug ſie das nicht, mein liebes Mütterchen. Und im
Drange ihres Herzens, zu helfen und das Glück zu bauen,
wie ſie es meinte, verleugnete ſie heldenmütig alle ihre
heiligſten Ueberzeugungen für mich und ſagte etwas un¬
ſicher:
„Ach Kind, Schattenſeiten hat am Ende ja auch
eine Ehe, wo der Mann herrſcht. Du kannſt dir doch
denken, daß das nicht immer grade leicht für die Frau
iſt. Wenn ich ſo zurückdenke, iſt es auch nicht immer
angenehm geweſen.“
Ich mußte in all meiner Betrübnis lächeln, und
ihre fromme Lüge rührte mich. Und plötzlich überfiel
mich die Angſt, die Mutter könnte jemals, durch einen
unſeligen Zufall, aus Bennos Weſen erraten, was ich
dieſen glauben ließ.
Darauf durfte ich es nicht ankommen laſſen, dieſer
Möglichkeit mußte ich vorbeugen.
Und ich glitt aus dem Bett und ſchlich mich zu ihr
hin. Ich taſtete nach dem lieben Kopf im Nachthäubchen.
„Mama!“ flüſterte ich, „gieb mir noch einen Kuß.“
„Ja, mein Herzenskind. Weine nur nicht mehr.
Ich kann's nicht ertragen.“
„Nein, Mama. Aber höre, was ich dir ſagen will.
[177]— 177 —Sollte Benno einmal — du haſt mir ja erzählt, weißt
du, geſtern morgen wie wir aufſtanden, daß Benno ſich
Gedanken macht über mein Leben draußen. Nun, ſollte
dir einmal vorkommen, als ob er das wirklich thue, ſo
achte nicht drauf. Laß ihn dabei, ſtreite nicht mit
ihm, — aber du, laß dich nicht davon anfechten.“
Die Mutter hatte ſich haſtig aufgerichtet. Sie griff
ängſtlich nach meinen Händen und zog ſie an ſich, wie
um mich zu ſchützen.
„— Benno —? — — was iſt geſchehen? Sage
mir, was geſchehen iſt! Hat Benno dir unrecht gethan?!
Weinteſt du deshalb? Das darf er nicht! Sag es mir,
mein Kind. Wie darf er das thun! Kein Menſch ſoll
dir ein Haar krümmen, hörſt du? Und ich — ich lag
hier ſo getroſt und ruhig, und als ich ſchlafen ging, da
dachte ich an euch beide, und ich dankte in meinem
Herzen Benno, und betete zu Gott für ſein Glück, für
ihn und für dich. Und er — er ging hin und that dir
unrecht!“
Ich legte leiſe meine Hand auf die Lippen der
Mutter und barg das Geſicht in dem Kiſſen neben ihrem
Kopf. Mir wurde plötzlich ſo klar, — ſo ganz klar, daß
was ich Benno nur glauben ließ, ja doch eine Wahrheit
war, wenn nicht heute, ſo doch morgen, und daß, gleich¬
viel was ich als Künſtlerin erreichen würde, aus meinem
Liebesleben, aus meinem Leben als Weib, der Ernſt ver¬
loren gegangen war.
Und mich überkam heimlich und heiß eine kindiſche
Sehnſucht, mich zur Mutter zurückzuretten und zurück
in die erſte Jugend, die nicht wiederkam.
„Mama!“ flüſterte ich, „Benno iſt gut, du mi߬
verſtehſt das: ihn mußt du lieb — ſehr lieb mußt du
ihn haben. Bete du nur getroſt weiter für ſein Glück,
und hilf ihm zu einem Glück. Und für mich bete, —
ach bete, Mama, — daß er unrecht behalte — !“
- Holder of rights
- Kolimo+
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- TextGrid Repository (2025). Collection 1. Fenitschka. Eine Ausschweifung. Fenitschka. Eine Ausschweifung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bjxp.0